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JO575.,25
HARVARD COLLEGE
LIBRARY
FROM THE BEQUEST OF
JAMES WALKER
(Class of 1814)
President of Harvard College
“Preference being given to works in the Intellectual
and Moral Sciences”
\
. „ ,
m —
“TER
Kritifde Gänge.
O
Von
Friederich Theod. Viſcher ,
Doctor der Philoſophie, Profeſſor der Aeſthetik und deutſchen Literauut
an der Univerſitaͤt Tuͤbingen.
Erſter Band.
—— — 6ö—
A
Tübingen,
bei Ludwig Friedrich Fues.
184.4.
"NE.
uoJ2° >
f Zn EN
\ JUL 16 1888 \
7 7 x
*
*
—
Inhalt des erften Bandes.
Seite.
Borredbe. 2 2 2 re 2 2 2 20... MI
I. Bur Sheologie.
Dr. Strauß und die Wirtemberger. . . . 3
Ueber allerhand Berlegenheiten bei Beſetzung einer vog
matiſchen Lehrſtelle in der gegenwärtigen Zeit . . 134
HI. Dur bildenden Kunfl.
Der Triumph der Religion in ven Künften, von Fr.
Doabed 2... 165
Die Aquarellfopieen von Rambour in der Gallerie u
Diflbof 22 nen. 207
Vorwort.
—— —
Es könnte eitel ſcheinen, ſeine Arbeiten ſammeln, ehe
man am Abend des Lebens ſteht, auf eine reiche Aerndte
zurückſieht und abzuſchließen gedenkt; doppelt eitel, weil die
Mängel, welche man an zurückgelegten Arbeiten leicht ſelbſt
erkennt, ſich nur durch die Stelle entſchuldigen, welche die
legteren in dem Zufammenhang eines bedeutenden Ent⸗
wicklungsganges einnehmen. Es Teuchtet aber ein, daß
meine Feine Sammlung unter einen Gefichtspunft fallt,
welcher diefen Vorwurf von ihr abhalten wird. Es hans
delt fi) bier gar nicht um mich und um eine abgefchlofiene
oder nicht abgejchloffene Laufbahn, nit um einen Rüde
bli® auf meinen Bildungsgang, fondern um einen Kampf,
in deſſen Mitte ich mit befreundeten Geiftern fiehe, und
we folcher ernftlich ift, daß man nicht gern einen Schuß
umfonft thut, fondern felbft die abgefchoffenen Kugeln ſam⸗
melt, um fie noch einmal zu laden; es handelt ſich nicht
um eine Perfon und ihre Vergangenheit, fondern um bie
Sache und die Gegenwart. Dieſe Arbeiten find in vers
Ihiedenen Zeitfchriften einzeln erfchienen, es war und ift
noch jest nad) einigen derſelben vielerley Nachfrage, man
Kritiſche Gänge, ( )
iv
or
bat mich oft aufgefordert, fie aus ber journaliftifchen Fluth,
wo jede Welle fchnell verfchwindet, herauszuziehen und
feftzubalten, und ich felbft achte fie deffen für werth, weil
fie nicht dem Tages-Intereſſe gefchrieben find, fondern,
wiewohl nicht alle durch bleibende Erfcheinungen veran-
laßt, doch bleibende Wahrheiten ausfprechen, Wahrheiten,
die auch dem Tage gelten, aber dem immer neuen Tage.
Um was es mir aber hauptfächlich zu thun war, dieß ifl
Bereinigung bes Einzelnen zu einer Gefammtwirfung. Auf
„wen das Einzelne nicht wirft, der wird vielleicht erwärmt
werben, wenn er fiebt, daß ich mir treu bin, daß ich nur
Eines will, daß der Gedanke der Freiheit und der Imma⸗
nenz unbeſtechlich ſich ſelber gleich durch alle dieſe Aufſätze
wiederkehrt; die Feinde ſollen ſehen, daß es noch Män⸗
ner und eine Geſinnung gibt, die Freunde erkennen, daß
ich ihnen gehöre mit jedem Athemzug und Wort: alle ſol⸗
Ien fich überzeugen, daß ich Iebe, was ich ſchreibe. Nicht
als fuchte ih Ruhm für mich, aber der große Zwed muß
gewinnen, wenn auch nur Ein Mann mehr mit jedem
Sclage auf denfelben Punkt fehlägt. Unfere Sache wird
beſtehen, wenn wir längſt verſchwunden ſind; darf ich hof⸗
fen, daß dann noch einige Blicke auf dieſe flüchtigen For⸗
men zurückfallen, mein redliches Streben anerkennen und
geſtehen, daß es nicht wirkungslos war, ſo fühle ich mich
hinreichend belohnt. Ich habe für mein Wollen gelitten,
werde leiden und leide gerne; andere haben mehr gelit⸗
ten, aber es ift mein Stolz, den edlen Geiſtern mich zus
4
zuzählen, welche für das Werk der Freiheit Gift, Schwert
und Flammen erduldet haben; neben ihr ruhmvoll tragis
fches Leiden darf ich das moralifche Gift, den Dolch der
Berläumbdung, die Flammen bes perfönlichen Hafles immer
fegen, womit man mich und ung verfolgt.
Ich ſuchte einen Titel für diefe Sammlung und er»
fuhr die befannte Schwierigkeit, zwiſchen trodener Kanze
ley= Angabe und Eindifher Emphaſe eine Mitte zu finden.
„Sharafteriftifen und Kritifen” iſt ſchon dDagewefen, einen -
Namen von einiger Wirfung mwünfchte mein Verleger, Als
leg, was mir einftel, Hang mir zu pathetifch, bis mir ein
wohlgefinnter Freund, dem die Terminologie afademifcher
Sträuße noch in näherem Andenken liegt, zu. bem Titel:
„Kritifhe Gänge” rieth, welchen ich denn dankbar für
den Rath alsbald aufnahm, weil er einen mäßigen frieges
rifhen Klang hat und friedfertigen Gemüthern es frei
läßt, an unfchuldigere Gänge, als die eines Zweikampfs,
zu denen.
Die Anordnung durfte ich bei diefen Arbeiten, welche
nicht im Zuſammenhang eniftanden find, ziemlich zwang⸗
los halten, Doch wird man dag zufammenbhaltende Band
wohl erfennen. Sch febte voran, was zur Theologie ger
hört, denn bier fommen die metaphyſiſchen Grundfragen
unferes Kampfes am offenften zur Sprache. Dann lieg
ih drei Anzeigen aus dem Gebiete der bildenden Kunſt
folgen, deren Einreihung an dieſem Orte durch eine Zwi⸗
ſchenbemerkung im Texte gerechtfertigt werden ſoll. Der
(1)*
VI
enge Zuſammenhang zwiſchen den Bewegungen auf dem
Gebiete der Religion und zwifchen der bildenden Kunft
leuchtet übrigens im erften Momente ein. Unſere bildende
Kunft kann nicht Handeln, ale lebten wir in einer andern
Zeit, als in der, worin Leffing fortwirft, Hegel gebaut,
Strauß geforfcht bat. Bon der bildenden Kunft führte
mich im zweiten Bande die natürliche Ordnung der Künfte
zur Poeſie; denn einen Borfchlag zu einer neuen Oper,
den ich auf diefem Wege mittheilen möchte, wollte ich nicht
an diefer Stelle, wo im Syſtem der Künfte allerdings die
Mufif auftritt, einreihben, fondern an den Schluß fegen,
wo fich das Ganze diefer Sammlung ſchon durch die Vor⸗
legung eines Plans zu einer neuen Gliederung der Acfihes
tif mit beftimmteren Gedanfen gegen die Zufunft öffnet.
Es folgt zuerft eine Kritif, welche ſich nicht unmittelbar
mit Poefte felbft, fondern der Literatur über Poefie, und
zwar. der über Göthe's Fauft beichäftigt. Der rothe Fa—
den, der diefe Beurtheilung mit dem inneren Geiſte der
ganzen Sammlung zufammenhält, wird Teicht zu finden
feyn; ed ift der Unwille über das ewige Wiederfäuen
“des Vorhandenen, über die Deutungswuth, über bie faljche
Pietät,. welche in unferer deutfchen Welt herrfcht und haust,
und fo lange diefe Schwindelgeifter walten, werden wir
weder praftifch werden, noch eine Kunſt der Wirklichfeit
und Fähigkeit des Genuffes einer ſolchen Kunft erlangen.
- Diefer Faden wäre noch deutlicher hervorgetreten, wenn
ih einen der wefentlihen Mängel des Gedichte felber,
v2
bes zweiten Theils nämlich, ftärfer, wie es fich eigentlich
gebührt, hervorgehoben hätte: den quietiftifchen Geil, dem
an der Stelle alle Schwingen finfen, wo der Held der Tras
gödie in eine große männliche Thätigfeit eingeführt wers
ben follte, und wenn ich demgemäß ben Schriftfiellern Ich»
hafter vorgerägtt hätte, daß fie diefen Mangel nicht bemerkt
haben. Gervinus legt auf diefen Punft namentlich Nach⸗
druck und zeigt auf, wie das Gedicht fammt der ganzen
deutſchen Bildung an diefem Punkt fih ſtemmte und ftodte,
Fauft if der Nevolutionär des Wiffens, er follte in's Les
ben übergehen und Revolutionär der Gefellfchaft werden;
ftatt deſſen verliebt er fich in die Helena, flubirt Neptus
nismus und Vulcanismus und wird endlih Holländer,
Den Schluß bildet die Beurtheilung zweier neueren
Dichter, welche fich in vollem Gegenfage gegenüberftehen.
Der eine, Ed. Mörife, ift Romantiker, mit der Cenſur im
Berhältniffe tiefen Friedens, ein großer Freund des Spas
zierengebeng, ein größerer der Elfen und een, Doch, auch
den tiefen Kämpfen der Bildung nicht fremd, fo weit fie
nur nicht öffentlicher ‚ fondern fubfectiver Art find. Der
andere ift durchaus modern, ganz politiicher Dichter, es
it Herwegh. Jener ift in ruhmlofem Dunfel geblieben,
diefer bat die ganze deutfche Welt mit feinem Namen ers
füllt; im Talente verhalten fie fi fo, daß diefer jenem
nicht die Schuhriemen löſen, nicht auf hundert Schritte
fih nur irgend in feine Nähe ftellen fann. Die Zufam-
menftellung beider Erfcheinungen wird einiges neue Licht auf
vim
die Säge werfen, bie ich über Politif als einen der Poefle
ſehr wideripenftigen Stoff ausgefprochen habe; fie wird
aber auch im Kleinen ein Bild von dem jegigen Zuftande
der deutſchen Dichtung geben: das Abenbroth der großen
claffifchen Periode, die Romantik, im Berglimmen, noch
einmal ſchön und edel aufftrahlend in biefegg Moͤrike ‚ der
famt allen feinen großen Fehlern doc, ſchlechtweg unter
allen Dichtern der neueften Zeit am meiften von dem
Spezifiſchen der Poefie hat; dagegen die einzelnen Signale
einer vieleicht zu hoffenden neuen Poeſie, welche aber noch
lange feine Mufit und durch gellende Mißtöne ſelbſt un«
muſikaliſch find; zwei Dichter, von denen ber entfchieden
Begabtere nicht mehr in der Zeit wurzelt, ber andere, ber
Liebling der Zeit, der ungleich talentlofer ift: eine interefe
fante Beobachtung, welche ich aber gar nicht unmittelbar
als Vorwurf gegen das Urtheil des Publifums ausgeſpro⸗
chen haben will, fondern welche zunächſt nur befagt, daß
die zeitgemäßen Stoffe noch nicht reif für die Poefie find
und daher auch feinen wahren Dichter finden. Sch hätte jehr
gerne meinen Auffag: Shafspeare und die politifche
Poeſie, welchen ich in das literar.=hiftor. Taſchenbuch von
Pruß 1844 gab, an diefer Stelle aufgenommen, wenn ihn
- mir der Berleger zum Wiederabdrud überlaffen hätte. Ich
hatte hier den rechten Mann, an dem ich zeigen Fonnte,
was Poefie ift und warum es unferer Zeit an den Be⸗
dingungen ächter Poefie gebricht, zugleich entwidelte ich
bier den Unterſchied objectiv oder gefchichtlich politifcyer
\ *
IX
und fubfertivo oder paränetifeh politischer Poefte, und bes
rief mich in ber Kritif der Herwegh'ſchen Gedichte auf
biefe Begründung Ich muß diefe Berufung bier wies
derholen.
Zum Schluffe theile ich die oben genannten zwei Ars
beiten mit, welche beftimmte Vorſchläge enthalten. Die
eine ift der Plan einer neuen Gliederung ber Aeſthetik;
es bilden diefe Ideen über den Aufbau eines fireng wife
fenfchaftlihen Syſtems des Schönen den natürlihen Ab⸗
fhluß der vorangegangenen Rritifen einzelner Erfcheinungen
im Gebiete der fchönen Kunft und Literatur. Vielleicht
nicht ganz unerfreulich it e8 dem Lefer, wenn wir mit
Muſik von einander Abfchied nehmen. Die Verlagshand⸗
fung wünſchte, daß ich meiner Sammlung auch Neues beis
füge; ich gab Daher die Beurtheilung des zweiten Bändchens
der Gedichte eines Verftorbenen hinzu und entfchloß mich,
einen Einfall über den Stoff einer neuen Oper, mit bem
ic) mid) feit einiger Zeit trage, auf Gnade ober Ungnade
bier zu veröffentlihen. Sp mag denn nad) der Anftren»
gung, welche er unter den Ingifchen Unterfuchungen bes
vorhergehenden Planes ertragen hat, der Leſer bei der
Unmaßgeblichkeit dieſes Vorſchlags fi) erholen oder durch
ein Lachen über die Mißgriffe eines mufifalifchen Laien
ſich ſchadlos halten.
Sch babe jetzt noch über die einzelnen Aufſätze dieſer
Sammlung zu fprechen. Die meiften derfelben liegen der
Zeit nach weit genug hinter mir, um fie einer unbefange-
X
nen Serbfibeurtheilung zu unterwerfen, und wenn ich zu
Anfang dieſes Vorworts mich frei von ber Eitelkeit er»
flärte, ihre Mängel durch ihre Stelle in dem Zuſammen⸗
hang meines Bildungsganges entfchuldigen zu wollen, fo
darf ih nun, nachdem ic ihren Werth nur in ihre Ge⸗
finnung gelegt habe, wenigſtens auf die allgemeine Nach⸗
ſicht Anfpruch machen, welche den Fortgang vom Unreiferen
zum Reiferen in Erwägung zieht. Umarbeiten wollte ich
feineswegs, ich hielt mich dazu gar nicht für berechtigt;
denn hätte ich damit einmal angefangen, fo wäre deſſen
‚Sein Ende gewefen und ich hätte flatt der verfprochenen
Sammlung alter eine Sammlung neuer Auffäbe geliefert.
Ich meine Alfo nicht, jene Mängel follen um meiner Pers
fon willen intereffant fein, aber mitnehmen mug man fie,
- wenn man -biefe Arbeiten haben will, wie fie zur Stunde
ihrer Entftehung warm aus dem Dfen famen, und an
den Werth des Moments zu appellicen habe ich wohl
bewegen ein Recht, weil der Kampf, worin der Moment
vorfam und wieberfehrt, Dauert. Gemäßigt habe ich eis
nige Stellen, wo mir das Unreife zu fehr in die Geſtalt
des Rohen zu verfinfen fchien und welche fo wieder ge⸗
brudt zu ſehen mein Gefühl fich firäubte, übrigens aber
bie rauhen Eden Teineswegs abgeftumpft. Man muß nicht
meinen, ich Fönne ſchreiben wie ich fchreibe oder fprechen
wie ich ſpreche, und zugleich alles Schneidende- unters
brüden; im Kampfe wirkt Niemand, der nur immer or:
bentlih und billig iſtz ein Schwert ift Fein Schwert ohne
x1
die Schärfe und man kann nicht bei Zoll und Linie bes
meffen, wie tief ed geht, wenn man einhaut. Ihr müßt
nicht meinen, ihr Eönnt und unfern Zorn und unfere Leis
denfchaft nehmen und dann etiwa eine mäßig wadere Ges
finnung zurüdbehalten; wir haben auch eine Begeifterung,
wir haben auch einen Haß und bie fogenannten Gemäßig«
ten ftehen nicht in der Mitte, fondern fie ſtehen bei den
Seinden, ihre Meinung ift nicht mäßiger Fortfchritt, ſon⸗
dern herzliches Stehenbleiben und Rückſchritt. Eine Ges
finnung ift nicht fo zahm, wie man fie freilich gern ha⸗
ben möchte. Es gibt zwar allerdings auch eine Mäßi-
gung bei der Entfchiedenheit, eine Vermittlung zwifchen
der Idee und der Wirklichfeit; man muß nicht meinen,
fie fehle ung, weil wir bie mühelofe Mäßigung der Ges
finnungstofigfeit verachten.
Hie und da habe ich mir ferner unbedeutende Ergän-
zungen und Berichtigungen erlaubt, ohne der erften und
urfprünglichen Geftalt des Zufammenhangs irgend zu nahe
zu treten. An andern Stellen Eonnte ich eine Randbemer⸗
fung nicht unterdrüden, fo 3. B. wo ich in dem Auffage
über Strauß und die Würtemberger das treuherzige Ges
ſtaͤndniß fand, daß ich über Staatsverfaffung Feine fefte
Anficht Habe. Ich war wirklich felbft überrafcht, als ich
eö wieder fand und mußte auflachen. Es war aber aud
wirklich eine Schwäche der Zeit. Der fogenannte Liberas
lismus hatte fich als feicht erwiefen, Hegel’s fatale Schat⸗
tenfeite verfinfterte noch unfere Erkenntniß, die Halliſchen
x
Jahrbücher waren in den böchften Punkten noch fehr flau
und es Fonnte einem ehrlichen Burſchen fchon zuftoßen,
ſich ffeptifch zu verhalten. Was id) aber fonft ald mans
gelhaft erkannt habe, darüber behielt ich mir Bemerkungen
für diefes Vorwort zurüd.
als ich den Aufſatz: Dr. Strauß und die Würs
temberger, das Erfte, was ich für ein Journal ver⸗
faßte, im Jahr 1838 in die Halliſchen Jahrbücher gab,
wie fehr anderd war damals noch die Stellung biefer
Zeitfchrift und unfere zu ihr! Wie fehr anders ftand eg
noch mit dem öffentlichen Urtheile überhaupt! Die Re—
daction der Jahrbücher meinte in der Lehre von der Pers
fon Chrifti noch ihre Rechtgläubigfeit dur eine falſch
angewandte Kategorie retten zu fönnen, Bruno Bauer bewies
noh Wunder und was er wollte durch fperulativen Ho»
cuspocus, Strauß war noch neu und bie fohmwäbifchen
Mitarbeiter an Fritifcher Freiheit dem Blatte voraus, Die
Zeitſchrift trug aber ein Iebendiged Bewegungs - Princip,
freilich auch ein Uebereilungs-Princip in fich, in welchem
fie fich zulegt fo überflürzte, daß fie untergegangen wäre,
wenn fie auch nicht ein Gewaltſtreich gemordet hätte.
Bruno Bauer wollte ohne Schöpfungsfraft in aufgeblafe-
ner Eitelfeit Strauß überbieten, die Jahrbücher riefen ihn
als den neuen Weltheiland aus und mißhandelten Strauß,
dem fie fo viel verdanften; Die Verbindung mit den ſchwäbi⸗
ſchen Mitarbeitern löste fich, der abitracte Geift, der nun
| in diefen Blättern herrſchte, Fonnte mit dem fchwäbifchen .
+‘.
xılI
Provinzialcharakter nicht länger Freundſchaft halten. Auch
das Publikum iſt anders geworden; man lebt in jetziger
Zeit entſetzlich ſchnell; Strauß gilt ſchon für ſo gut wie
antiquirt, den Einen, weil ſie glauben, er ſei widerlegt, da
er doch nur mißhandelt und verläumdet iſt, den Andern,
weil ſie glauben, er ſei überſchritten, weil man ſein gro⸗
ßes, organiſch vereinigtes Material benutzt und Spiritus,
auch manchen betäubenden, daraus gemacht hat. Damals
war die ganze Erſcheinung noch friſch, und friſch wie ſie
ſelbſt war, ſchrieb ich von ihr. Ich denke, meine Charaf⸗
teriſtik dürfe am Leben bleiben, wie der Mann, dem ſie
galt, lebt und leben wird mit allen jugendlichen Geiſtern,
den Befreiern der Menſchheit. Ich ging auf den Stam⸗
mescharakter zurück und verſuchte eine Vergleichung der
ſüddeutſchen Art, wie ſie ſich am gedrängteſten im ſchwä⸗
biſchen Volke ausſpricht, mit der norddeutſchen. Ich ges
ſtehe, daß ich an dieſem Verſuche keinen ſonderlichen Ge⸗
ſchmack mehr habe. Es iſt immerhin gut, wenn ein Volk
ſich Rechenſchaft über die Vertheilung ſeiner Kräfte an
feine verſchiedenen Stämme gibt, aber ich daͤchte, wir ha⸗
ben dazu noch lange Zeit, wenn wir nur erft ein Bolf
ſeyn werden. Den Gegenfag ber Stämme im Großen
babe ich nicht mit gehöriger Schärfe zufammenzufaflen ges
wußt. Statt: Berfland, wo ich diefen ald das Element
bezeichne, in welchem der norddeutſche Stammesgeift ſich
bewegt, hätte ich jedenfalls: Reflectirtheit fegen follen ;
von dem Borwiegen der einen oder andern Kraft zu re⸗
xiv
den, iſt flach, es handelt ſich um eine Form, worein alle
Kräfte gefaßt find. Dieſe Form iſt im Süden Naivität,
im Norden Reflectirtheit. Die Verftändigleit büßt im füds
lihen Charakter durch die Gemuͤthlichkeit fo wenig ein,
dag vielmeht von der fein ausgebildeten Lift und Pftffig-
feit, welhe der Schwabe mit dem Schweizer gemein bat
und welche befonders feiner großen Erwerbluft dient, aus⸗
drücklich hätte die Nede ſeyn müffen, was nicht gefchehen
it. Mit dem Vorwurf eines unpraftifchen Sinnes in
manchen Sphären der Zwedmäßigfeit wäre die Hervor⸗
bebung dieſes Zugs leicht vereinbar gewefen. Die Schils
derung des norbdeutfchen Weſens ift deßwegen namentlich,
zwar nicht falfch, aber Doch gewiß fehr mangelhaft ausge,
fallen, weil ich theils zu einfeitig blos Die großen Städte,
und von dieſen eigentlich nur Berlin im Auge hatte, theils
das Kamilienleben und die engere Gefellihaft im Norden
zu wenig fannte. Bon dem trodenen, aber firengen, kör⸗
nigen, männlichen Charakter, dem gediegenen Gemeinflun,
den der Acht altdeutfche Schlag von Bewohnern der nörds
lichſten Süftenfireden unferes Vaterlands bewahrt, von
den Bauern in Hadeln, von den Dithmarfen habe ich nichte
geſagt; dag das Familienleben fich enger und wärmer zus
fammenziehen, die mittlere Sphäre ber Geſellſchaft ſich ge⸗
fchloffener zufamınenhalten muß, wo eine ungünftige Natur
den Menfchen nach innen und in’s Zimmer weist, babe
ich überfeben, an bie Voſſiſchen Pfarrhäufer und Kartofs
felfeſte mich nicht erinnert, der norddeuiſchen Hausfrau zu
xv
wenig Fleiß zuerfannt und überhaupt diefe Tugenden der
flillen Sitte zu einfeitig meinen Landsleuten vindicirt, weil
mich die naivere Form, die fie hier tragen, gegen das
Fremde verblendete. Ebendaher habe ich eine ſchlimme
Seite des ſchwaͤbiſchen Wefens überfehen: die rohe Wild⸗
heit, welche periodif da hervorbricht, wo die innere Les
bendigfeit durch Schwerfälligfeit und Hang zum Tieffinn
gehemmt nicht flüffig mit der Objectivirät fi vermitteln,
wicht unbefangen heraustreten und genießen fann. Es ifl
leider wahr, daß die Würtembergifchen Truppen durch
ihre Rohheit und Graufamfeit überall berüchtigt und der
Schreden von Freund und Feind waren. Die Schwaben
find auch hierin die potenzirten Deutfchen, wie man fie
fhon genannt bat, fie gleichen beim alten Dieterich von
Berne, den man mit Stößen und Echlägen aufreizen muß,
dem aber dann vor Wuth Feuerflammen aus dem Munde
fahren; den altdeutfchen Riefen, welche gut und bloͤd find,
id die Furie der Kampfwuth über fie fommt, aber dann
auch einem Iosgelaffenen Bären gleichen. In der Sphäre
des öffentlichen Lebens ift das Wenige, was ich über
Staatöverfaflung fagte, fo dürftig, als meine ganze da⸗
malige Kenntniß der Sache. Ich gebe diefe ſchwache
dartie willig Preis und bitte nur, mir zu glauben, daß
ih über ben Zuftaud und die Entwidlung des politifchen
!
kbens in den bdeutfchen Staaten jebt anders ſchreiben
vide, als damald. Biel zu wenig babe ich aber auch
er Berwaltung, Rechtspflege, den Beamtenftand, den
XVI
Geiſt der Behörden im Kleinen und Großen geſagt. Es
hätte nicht unterlaſſen werben ſollen, die Gewiſſenhaftigkeit,
bie Unbeſtechlichkeit, die ängftliche Pünktlichfeit im Gange
der Gefchäfte zu fchildern, welche trotz der Fahrläſſigkeit
in mandjen Zweigen, bie fi) mit dem Bequemen und
Reinlichen befaffen, den Schwaben nachzurühmen if, aber
freilich auch den Charakter des Philifterhaften und Schrei-
bermäßigen begründet, der mit den jugendlichen und poe=
tifchen Kräften deſſelben Landes ſich fo widerfprechend
zufammenpaart. Die Schwaben treten auch Dadurch aus
der Mitte der umgebenden ſüddeutſchen Stämme heraus
und vereinigen die Tugend der Präcifion und. Straffheit,
die den Norbdeutfchen eigen ift, mit der ſüdlichen Behag⸗
lichkeit. Wer 3. B. die ſchreckliche Beſtechlichkeit, Die ges
wifjenlofe Zögerung, die Unterfcjlagungen, die völlige
Unficherbeit des Briefgeheimniffes in dem glänzenden Oeſt⸗
veich fennt, wird mit Freuden das befcheidene Schwaben-
Yand in diefer Beziehung preifen. Freilich wenn man die
Berdorbenheit der romanifchen Länder und Rußlands in's
Auge faßt, fo muß Dagegen jedes deutfche Land himmliſch
erfcheinen. Als Beweis der Moralität unferer Regierung
muß ich noch anführen, daß fie die entſittlichenden Mittel
der Staatelotterie, wo eine Regierung nicht erröthet, die
Armen und Reihen zu einem Gewinn ohne Arbeit zu
Joden und die Grofchen einzuftreichen, an denen der Bluts
Ihweiß und die Thräne der Berzweiflung hängt, bes
Zabafsmonopolsd, diefes unwürdigen Wuchers, die Dul-
xvi
dung von Spielbänfen, biefer Hauptquelle der Eorruption,
verfhmäht. Nur Eines der in dieſe Claſſe gehörigen
perfiden Mittel, das Octroi, hängt gegenwärtig brobend
über unferer Hauptftabt, Ä
Auch die Bemerkungen über das Verhältniß des
ihwäbifchen Charakters zum Bormtalente dürften vollkom⸗
mener feyn. Schon was ber Die Äußere Erſcheinung
geſagt wird, iſt unzureichend, ja falſch. Man iſt in Stutt⸗
gart, ſo groß die Noth mit den Schneidern iſt, moderner
als in den norddeutſchen Städten, und gute Kleiderfünftier
bringt in ganz Deutfchland nur Wien hervor. Der Man:
gel an Beredtſamkeit dürfte ſtärker Dargeftellt ſeyn; er hat
feinen negativen Grund in dem Mangel eines großen öfs
fentlichen Lebens, feinen pofitiven in dem falſchen Schaam⸗
gefühle der Schwaben, welches jede erhöhte Form, die
ſich an der eigenen Perfoͤnlichkeit darſtellen ſoll, für Affecta⸗
tion hält und eine Scheu davor hat, wie vor einem un⸗
heiligen Enthüllen höherer Stimmung. Es iſt kaum zu
ſagen, wie weit dieß geht und kann nicht ſtark genug her⸗
vorgehoben werden, daß dieſe falſche Schaam zum Ges
gentheile ihrer Abſicht führt, denn ein beſtändiges Sehen-
laſſen der lieben Natur iſt doch gewiß nicht ſchaamhaft.
Dagegen hat dieſe Schaamhafiigkeit ihr tiefes Recht, wo
ſie ſich vor dem Eingehen in ein unwahres öffentliches
Pathos ſcheut. Ueber den Enthuſiasmus, den man mit
dem Becker'ſchen Rheinlied trieb, iſt bei uns nur gelacht
worden. Das Orcheſter des Theaters in Stuttgaxk Ar
xVvill
dirte eine Melodie ein und erwartete an mehreren Aben-
ben, daß das Lied fürmifch gefordert werde. Endlich
wollte man nicht Tänger warten und legte die Melodie in
eine Oper ein: ein allgemeines Gelächter erfolgte. Her⸗
wegh hat bei ung fehr wenig Anklang gefunden, nicht aus
Mangel an politifchem Sinn, auch nicht, weil wir fein
Pathos für unwahr hielten, wohl aber, weil er nur pathes
tiich if. Hier war auch über din Dialekt mehr zu fagen,
als die im Auffage vorgebrachte allgemeine Bemerkung,
daß der ſchwäbiſche Dialeft zwifchen den nördlichen und
dem fränfifchen die Mitte halte, Sein Charakter if im
Unterfchied von den andern fübbeutfchen Dialeften ein
Sichgehenlaffen und eine Neigung zu Nafentönen, welche
befonderd vor m und n die Vocale trübt, Was nun aber -
das Gebiet der eigentlich fchönen Form, die Kunft, be=
trifft, fo habe ich den Schwaben Unrecht geihan, wenn ich
ihnen nur ein geringes Talent für bildende Kunft zuerfannte.
Ich widerfpreche mir felbft, wenn ich glei darauf Schick
und Wächter erwähne, weldhe neben Karfteng als die VBä-
ter der modernen Malerei daſtehen; Danneder nimmt
feinen Plag immerhin würdig zwifchen Canova und Thor=
waldfen, neuere wadere Talente, einen Rift, Neher, Ges
genbauer und Andere babe ih gar nicht gezählt. Das
"Richtige ift, daß hier daſſelbe Mißverhältniß, derſelbe Wi⸗
derfpruch unferer Provinz mit fich felbft zu beobachten ift,
wie in andern Gebieten. Ebenfo wie wir große Philos
fophen, Kritiker, Dichter erzeugen, um fie zu mißhandeln
XIX
und fortzuſchicken, iſt bisher dem Kunſttalente von oben
gar keine Pflege geworden und darüber iſt es verkümmert,
verborgen geblieben oder ausgewandert. Am ſchlechteſten
ſteht es mit der Baukunſt; auch hier fehlt aber wohl we⸗
niger das Talent, als Glanz, große Verhältniſſe, großer
Sum und Liberalität, um es auszubilden. An unfern
Dichtern hätte ich als gemeinfchaftlichen Grundzug die
Sentimentalität aus Mangel an Weltfinn hervorheben fols
len. Schiller it zwar ein ganz kosmopolitiſcher Geift,
aber von der Welt, deren Durchdrigung durch den Athem
der Freiheit fein höchſtes Intereſſe ift, hat er Fein reales
Bild. Herwegh — si parva licet componere magnis —
iR in feinem politischen Pathos ganz abſtract. Bei une
. fern romantifchen Lyrikern äußert fi) diefelbe Weltlofigfeit
in der Beſchränkung des Ideals auf alterthümlich einfache
Zuflände, ſtilles Gemüthsleben, Eingrenzung der ganzen
Scala von Empfindungen auf wenige Haupttöne. Es ver-
ſteht fih, dag ihnen dieß wieder zu gut fommt, fofern es
fie abhielt, die Jronie aufzunehmen, welche die nörblichen
Meiſter und Jünger der Schule ausbildeten, und daß es
auch in eng geftedten Grenzen eine Größe, eine Erweite⸗
rung zum Welt⸗ und Menfchheits-Gefühle gibt, wie denn
diefe dem Meifter Uhland nicht beftritten werben kann
und darf. Die Angriffe, welde von Seiten des jungen
Deutfchlands zur Zeit der Abfaffung dieſer Charakteriſtik
auf die ſchwäbiſchen Dichter gemacht wurden, führten mich
Kritiſche Saͤnge. (2)
XXx
auf die Poeſie der modernen Jerriſſenheit und der ſocialen
Emanzipation. Sch hielt Damals die Stimmungen des mo»
bernen unzufriedenen Subjects für poetiſch tractabler, ale
jet, wo ich mich überzeugt habe, Daß unfere wirkliche
Welt erfi eine andere geworben feyn muß, ehe wir wies
der eine große Porfie haben können. Einiges in diefem
Zufammenhang ©efagte hat allerdings bloßes Zeit- In-
tereffe. Bon Menzeld Polemif wird jest Niemand mehr
fprechen, Guzkow babe ich zu hart beurtheilt, er hat fich
als eine lebendige, fortfchreitende Natur erwieſen.
Ich ftieg zu den höchften Sphären auf, zur Religion
und Wiffenfchaft, ſprach zuerft von jener und beflagte die
Verbreitung des Pietismus in Schwaben. Der Pietismus
im eigentlichen gewöhnlichen Sinne wuchs jedoch nicht in
dem Grade fort, ald es damals zu befürchten war, und
hat fid) namentlich unter den Studirenden vermindertz er
bat aber um fo ftärfer in der Form einer Acceptation feis
ner Grundfäge bei übrigens völliger Gefinnungslofigfeit
oder völliger Schlechtigfeit der Gefinnung in der ganzen
Partei der Reaction um fich gegriffen.
Ich habe den Pietismus eine Krätze, eine Eiterung
der beften Säfte des Geiſtes genannt, und bin darüber
mit jener Wuth verfolgt worden, welche ich Fenne, aber
nicht fürchte. Sch bedaure, auch jetzt mit feinem befferen
Namen dienen zu Fönnen. Der jebige Pietismus unters
ſcheidet ſich zwar bekanntlich von dem urfprünglihen Spes
nerihen durch fein ganz verändertes Verhältniß zur
XXI
Zeitbildung, insbeſondere zur Wiſſenſchaf.. Dieſer ſtand
in Oppoſition gegen eine völlig verknöcherte Wiſſenſchaft,
gegen den Buchſtabendienſt der damaligen Theologie, und
wollte die Religion zu neuem innerem Leben erheben, er
war jugendlih und ſtemmte ſich gegen das Greifenhafte
der Zeitz der jegige ſträubt fi) gegen eine jugendliche
Wiſſenſchaft, welche dem Buchftabendienfte ernfllih ein
Ende macht, gegen die ganze Zeitbildung, welche ben innes
ren Kern der. Religion aus feiner Fixirung zu befreien,
als fittlihen Geift in die Wirklichkeit einzuführen frebt,
und wüthet für das Greifenhafte gegen die Jugend bes
Jahrhunderts. Darum find ihm alle diejenigen, melde
die wefentlihen Bewegungen ber ‘Zeit nicht begreifen föns
nen, zugefallen, fie find Spießgefellen des Pietismus ge⸗
worden, die Gedanfenträgheit, der Verſtandesfanatismus,
der Haß gegen den Genius hat fie ald vollfommene Bun⸗
beögenoffen feines ſchwuͤlen Grimmes ihm in fein Lager
geführt. Der unfhädlichen alten Pietiften, der Stillen im
Lande, die ic von den giftigen fehr wohl zu unterfcheiden
weiß, find wenige mehr, fie find verhetzt von den gelehr⸗
en Pietiſten und theilen ihren durchaus negativen Geift.
So unterfchieden übrigend dieſe zwei gefchichtlichen For
men des Pietismus find, fie find doch in Einer Wiege
gelegen. Die ältere Art des Pietismug konnte nur die
Dppofition gegen die Bildung, welche diefer Form des
Bewußtſeins wefentlich innwohnt, noch nicht heroorfehren.
Ihre Bedeutung lag in dem Gegenfate gegen bie Theo⸗
(2) *
xıXll
logie und Kirche, welche in rohe Geiftlofigfeit verfunfen
waren, und in foldhen Zeiten muß ſich die geiftige Leben⸗
digkeit in bie verfchloffene Innigkeit der Religion zurück⸗
ziehen. Es liegt aber auch in diefer Form der Religiofität
fhon der Keim der Negation. Sie ift nicht unbefangene,
nicht Volksreligion, fie ift durch Oppofition und Spannung
entftanden: die Bildung tritt ein und es fommt an Tag,
was fie eigentlich iſt. Aller Pretismus ift, wie dieß Märftin
v in feiner Schrift über den modernen Pietismus gründlich
nachgewiefen bat, die unnatürlihe Abftraction, den Geiſt,
ber das ganze Leben flüffig ale Iebendige Continuität durch⸗
dringen foll, zu einem befonderen machen zu wollen. Er
fordert, daß das Dogma inneres Leben werde, aber hier
bleibt er fteben; im inneren Bewußtfein foll es mın aufg
Neue firirt ftoden und gegen jede Aufweichung zu einem
unbefangenen praftifchen Geifte ſich firäuben. Daber if
biefer, in feinen Anfängen ſchöne, Verſuch einer Belebung
ber Religion viel fchlimmer als gar Feiner, die Fatholifche
Kirche in ihrer feſten Objectivität und Fryftalliichen Ver⸗
fleinerung etwas ungleich Unfchuldigeres, als diefe pifirte
Halbbelebung des Berfteinerten, diefer zurüdgetvetene
Fanatismus. Der Pietismug ift daher der geborene und
gefchworene Feind der wahren Wiflenfhaft, welche bie
Allgemeinheit und continuirliche Rebendigfeit zu ihrem Prins
zip hat und der Bildung, welche diefes Prinzip durchführt.
Das Wahnfinnige im Vietismus ift die Befonderbeit feis
nes Intereſſes für die Religion und die Ausdrücklichkeit
XXIII
der Beziehung, die er zur Bedingung der Religioſität
macht. Der Pietiſt iſt Religiöſer von metier, der Pietiſt
iſt der Profeſſioniſt der Religion, Pietiſt iſt, wer nach Re⸗
ligion riecht. Der Pietiſt behauptet, wie der wahrhaft
Religiöſe oder richtiger wie der wahrhaft Gute, daß alle
weltlichen Kräfte verklärt werben ſollen, indem fie ſich mit
dem Geiſte ber Unendlichkeit durchdringen; aber er hebt
in demfelben Athemzuge die Durchdringung und alle Mög
lichkeit derfelben vielmehr auf, Indem er jene als undurch⸗
bringlich fest. Denn fein Gott ift fo materiell vorgeſtellt,
baß er fich mit den weltlichen Eriftenzen im Raume ftößt
und nicht beide, Welt und Gott, mit- und ineinander bes
fiehen können. Daher Eennt er an der Stelle der wahren
Durhdringung nur ein Nebeneinander der ausdrüdlichen
Beziehung einer weltlichen Thätigfeit und einer Zurüds
führung berfelben auf Gott, und hiedurch entfteht der
Aberwis eines völligen Widerfpruchs, welcher einerfeite
fordert, daß das Weltliche nicht fowohl in das Göttliche
aufgenommen, als vielmehr von bemjelben ganz verzehrt
werden müffe, andererfeits aber trog diefer Meinung das
Weltliche noch feftbält und den heimlichen Stachel der
Begierde danach bewahrt. Du fagft zu einem Vietiften:
es regnet, ih will einen Schivm nehmen, und er antwor-
tet: gut, aber der wahre Schirm iſt Gott. Du fagft: ich
trage gern einen Stock, und er verfeßt: gut, aber ber
Herr allein iſt der wahre Stecken und Stab, Du fagft:
dieß Licht brennt hell ober bunfel, und er bemerktz am,
XXIV
aber die Religion iſt das wahre Licht u. ſ. w. Goit, Chri⸗
ſtus, der heil. Geiſt u. ſ. w. muß immer genannt wers
den, wenn etwas im Geiſte der Religion geſchehen ſoll; die
geiſtige Weihe febes Thuns muß ſich ale Gebet neben das⸗
felbe fielen. Dit einem Pietiften ift daher fchlechterbinge
nicht fortzufommen, zu ſprechen, zu leben, er nimmt nichts,
wie es ift, er fieht Alles gebrochen wie im Wafler, er iſt
abfofut geſchmacklos, aberwigig, pervers, er ift wahnfinnig.:
Eine Durchdringung der weltlichen Kräfte durch den
ewigen Geiſt fordert alſo der Pietiſt und meint vielmehr
eine Aufhebung, daher ſeine Verdammung der ſinnlichen
Kräfte, in welchen er das Material der ſittlichen erkennen
follte, aber nicht erfennt. Die Veredlung der finnlichen
Kräfte zu fittlichen wird in verfchiedenen Formen vollzo—
gen. Noch ehe die eigentlich fittlihe Bildung beginnt,
ergreiit die ſchöne Kunft und das Gefühl der Schönheit
überhaupt den finnlihen Menſchen auf feinem eigenen
Boden, befreit die Sinnlichfeit im Elemente der Sinnliche
feit durch) den Abel der Form von ihrer Naturrohheit,
das Gute naht, ſich dem Menfchen in der heiteren Form
des Schönen. Auch wo die fittliche Bildung Tängft ing
Werk geſetzt ift, bleibt die Grazie ihre anmuthige Begleite⸗
rin. Es ift befanntlich der edle Schiller, der biefe Wahr
heit mit hundert beredten Wendungen, am erfchöpfendften
in feinem Auffag über Die äfthetiiche Erziehung des Dien- .
fhen ausgefprodyen bat. Diefe ganze Melt, die Welt der
Schönheit, der Humanität verfchließt ſich der Pietiſt, in⸗
XXV
dem er eine Moͤglichkeit künſtleriſcher Veredlung der Sinn⸗
lichkeit, nachdem er fie in ihrer Wurzel für bös erklärt
bat, natürlich läugnen muß. Aber Dies if nicht richtig
gefagt, er verfchließt fich ihr nicht, er ſchielt auf fie hin⸗
über und wirft das Bild feiner eigenen, durch Entgegen-
fegung gereizten, verborbenen Phantafie hinter jeden uns
fihuldigen Genuß, Tanz, weltliche Mufif, Schaufpiel uf. f.
Denn verborben ift und muß feyn feine Phantafle. Die
Sinnlichkeit' hat ihr Nechtz wird es ihr weggeftritten, fo
tritt fie wie eine Kranfheit auf bie edleren Theile zurüͤck
und ed entftcht bie Phantafie- Sinnlichfeit, die heimliche
Sinnlichfeit, die Sinnlichkeit mit böfem Gewifien, die uns
ſchöne, die verfefene, zurückgeſchluckte Sinnlichfeit. Die
Sünden der verheimlichten inneren Sinnlichkeit find über,
haupt eines der größten Uebel, welche die hriftliche Bil⸗
dung ale Kehrfeite ihrer tieferen Geiftigfeit mit fich brachte;
im Pietismus muß natürlid) dies Alles verftärft zum Auge
bruch fommen, Die Muderei und was ihr verwandt, ifl
feine zufällige, fordern eine wefentliche Geburt des Pietis⸗
mus. Wenn die unfchöne, heimlich durch den Reiz einer
beftändigen Polemik entzündete Sinnlichkeit des Pietiften
zum Ausbruch) fommt, fo iſt dieß ein bezeichnender Zug,
der zu feinem Eharafter als Pietift gehört. Weberhaupt
hat ein Pietift als Pietift feine der Entfehuldigungen für
fi, auf welche die gewöhnliche menfchlihe Schwachheit
Anfpruch machen darf; denn er felbft verzeibt Feinen Feh⸗
ter, fucht fie auf, erfindet und lügt, wo er feine erlauen
XXVI
kann, iſt fiher im Hochmuthe feines Monopols; und wo er
fündigt, raͤcht fih an ihm die verläumbdete, verfolgte, ver⸗
fluchte, mißhandelte Natur, und die begangene Sünde be»
fhönigt er mit feiner Heuchelei. Kin Pietift muß ein
Heuchler feyn, denn die beftändige ausprüdliche Beziehung
jeder Stimmung und Thätigfeit auf das getrennt vorge»
ftellte Göttlihe, ber beftlänbige heilige Zorn gegen bie
Natur im Menfchen kann der Seele nicht ernft feynz fie
fft zu gefund, fie arbeitet, in der Erfranfung noch ſtark,
unter der Dede des heiligen Mantels fort, und das Um⸗
Schlagen dieſes Mantels wird zum Mechanismus, zur Ges |
wohnbeit des Scheind, zur Heuchelei. Mer Alles und '
‘jedes mit Salbung thun zu müſſen meint, ber muß ja
ein Heuchler werden,
Das eigentlich fittliche Gebiet nun entfaltet die geiflig
umgebildeten Kräfte zu dem Organismus der weltlichen
Thätigfeiten. Alle diefe Thätigfeiten läpt der Pietift nur
gelten, wenn und foweit fie in dem Sinne- feiner flets
geforderten ausdrüdlichen Beziehung gebeiligt find. Wo
daher diefe Ausdrücktichfeit nicht ift, da hat er Feine Ach
tung und fein Intereſſe. Wer fleißig iſt, iſt noch Fein
vechter Pietifl. Der rechte Pietift thut nichts, wo es nichts
zu falben, zu befehren, zu verdammen gibt. Was er aber
tyut, dem nimmt er jede Schönheit durch Die Art, wie er
es thut. Er ift z. B. wohlthätig, er fchenkt, aber dabei
müffen ihm die Beſchenkten fo viel beten, Daß ihnen bie
Freude vergeht; er betreibt die Miffion, aber es ift dabei
XXVII
nicht ſowohl auf Bekehrung der Heiden, als vielmehr auf
eine Demonſtration gegen die Ketzer im Chriſtenlande, auf
fanatiſche, hochmüthig beſcheidene Miſſionspredigten abge⸗
ſehen. Der Pietiſt achtet aber auch an Andern keine ſitt⸗
liche Thätigkeit, nicht deine Amtstreue, nicht deinen Fleiß,
nicht dein männliches Wirken; er findet überall nur fo viel
Werth, als er Heuchelei findet; wenn bu nicht heuchelſt,
fo thue Gutes, was du immer kannſt, er wird es ver
drehen, weglügen, mit feinem giftigen Schaum befprigen.
Dem Pietiften ift nichts heilig. Er hat beſchloſſen, dag
Heilige anderswo zu fuchen, als im Guten, daher kann
ihm nichts heilig ſeyn. Es gibt aud) nichts Unglaubigeres,
als einen Pietiften. Wo er Feine Heuchelei fieht, und bes
fonders wo er ſelbſt nicht feine Salbung dazu gibt, meint
er, die Welt krache in ihren Axen.
Wodurch dieſes unheimliche Bild ſich erweitert, Dieß -
ift der tiefe Haß und Grimm, Die Lebensluft des Pietifien.
Das Streben des Pietiften nach Seligfeit ift innere Hölle,
Gegen den Unbezwinglichen, gegen den Siegreichen, gegen
ben wolkenlos Heitern, gegen den fortfchreitenden Lichtgeift
unmächtig verzweifelnd zu Fämpfen tft fein Pathos; dag
Gefühl der Unmöglichkeit, ihn zu bezwingen, und die Wuth,
mit ihm dennoch zu ringen, dieſes Wollen und Nichtkön⸗
nen, biefer Wahnfinn, die Gefchichte zu negiren, bieß iſt
Das verbifiene Zähnefletfchen des Pietismus. Die Welt
ſoll nicht tanzen, nicht fingen, nidyt ins Theater geben,
nicht denfen, nicht ohne Gebet arbeitens fie ſoll es wit,
XXVIII
und ſoll es nicht und ſoll es wieder nicht; aber die Welt
tanzt, ſingt, geht ins Theater, denkt, arbeitet — und wenn
du berſteſt, ſie thut es. Wer ſich ein rechtes Bild von
den verdammten boͤſen Geiſtern machen will nach der
kirchlichen Vorſtellung, von ihrem Grimm, ihrer Wuth im
Gefühle ihrer Unmacht und Verdammniß, der muß einen
Pietiſten anſehen. Wir kaͤmpfen auch, wir ringen auch,
wir leiden, wir leiden Verläumdung, Verrath, Verfolgung,
Zurückſetzung, Bosheit aller Art, aber wir ſind hell und
heiter und ziehen nach jedem Kampfe weiter und pfeifen
unfer Lieb fo unbekümmert, wie Einer, der ſich des ewigen
Sieges feiner guten Sache bewußt if. Doch die Pietiften
find. auch glücklich; wenn Andere von Licht und Liebe le⸗
ben, fo ift Haß, Grimm, Schadenfreude, Vernichtungswuth
ihre Element, worin fie mit Zufriedenheit wühlen. Jeder
-fucht Speife nach feiner Weiſe. Als Meittel für feine
Wuth ift dem Pietiften Alles erlaubt, denn ber Zweck
heiligt die Mittel *). Das einzige offene Mittel des Pietis«
mus ift Schimpfen, Fluchen, er bat aber um fo mehr
*) Kranid.
Sn dem Stlaren mag ich gern
Und aud im Zrüben fiſchen;
Darum febt ihr den frommen Deren
Sich aud mit Zeufeln mifchen.
Weltkind.
Ja fuͤr die Frommen, glaubet mir,
Iſt Alles ein Vehikel;
Sie bilden auf dem Blocksberg hier
Gar manches Conventikel.
XIX
heimliche. Der Pietismus iſt fehr liſtig; während Die Thäs
tigfeit der Vernunft in ihm erkrankt ift, bilden fich die
unteren Kräfte des Gciftes, die Berftändigkeit insbefondere
im Dienfte des böfen Willens, zu unverhältnigmäßiger
Fertigkeit aus. Wir haben die Prinzipien des Pietismus
offen und ehrlich vor aller Welt angegriffen. Wir haben
ihn bitter gereizt, es ift ihm nicht übel zu nehmen, wenn
er ſich wehrt. Er wehre fih offen, wie wir; gegen Gründe
Kimpfe er mit Gründen. Aber der Pietismus hat uns
nicht widerlegt, nicht einmal zu widerlegen verfuchtz wir
haben ihn von vom mit dem Schwerte angegriffen, er
fällt ung von hinten mit dem Stilet an; wir haben ung
an die Sache gehalten, er hält fi) an die Perfon, er bes
lauert, umfchleicht, er Tegt Sammlungen von Stellen aus
unferen Schriften an, um fie, aus ihrem Zufammenhang
geriffen, gegen und zu benügen, er verläumdet ung bei
den höchften Behörden, er operivt gegen unfere Laufbahn,
er vergiftet und durch moraliſche Verbächtigung, und am
liebften möchte er ung, ganz und eigentlich vergiften. Es
it durchaus etwas Mörderiſches im Charakter des Pietismus.
Diefes Gemälde vollendet fih durch den geiftlichen
Hochmuth des Pietiften. Er verdammt das erlaubte Selbſt⸗
gefühl jeder gefunden Natur und rühmt fich in häßlichſtolzer
Demuth als das auserlefene Rüftzeug der göttlichen Gnade,
ehne deffen Eifer Gott felbft fterben müßte, Es arbeiten
alle edlen Kräfte der menfchlichen Natur im Pietismus,
aber auf einen falfchen Mittelpunkt bezogen, daher Ente
3ı£
ſtellt, gegen ihren Zwed verdreht, daher im Zuftanbe
giftiger Eiterung. Die fchönften und höchften Gefühle des
Gemüths Tiegen ihm zum Grunde und ſchlagen in ihr
Gegenthell um, Religion wird Gottlofigfeit, Glaube Un-
glaube, Wahrheit wird Rüge, Eifer wird moraliſche Mord⸗
ſucht. Diefer Eiter iſt anſteckend, der Pietismus ift durch
die fchillernden Farben, die feinen gährenden Sumpf be=
decken, für Menfchen von mehr Einbildungsfraft als Denfs
fähigfeit, mehr gutem Willen als Berftand, am meiften
aber für Menſchen, welche fich Durch: Ausfchweifungen ge=
ſchwächt haben und da fie an ihrem Willen verzweifeln,
fih den Willen als Gnade, die von außen kommt, vorzu⸗
ftellen ein Bedürfniß fühlen, durchaus contagiös. Darum
babe ih den Pietismus eine Eiterung, eine
Krätze genannt, |
Ueber den Neft Diefes Aufſatzes habe ich wenig Be⸗
merfungen nachzutragen. Wo von dem Zurücwandern
Der modernen Philoſophie nach Schwaben die Rede ift,
ſage ic), fie habe bei den Univerfitätsiehrern, Einen fräfs
tig freien Geift ausgenommen, feinen Eingang gefunden.
Dieß hat ſich feither verändert, In der theologifhen Tas
eultät fteht neben Dem würdigen, verehrten Baur der
ſcharfſinnige, flare, gelehrte Zeller; in der philofophifchen
zeichnet ſich durch ebenfo große Beftimmtheit ald Gründs
lichfet Schwegler aus, au Zeller liest philofophifche
Collegien und verſammelt eine große Anzahl von Zuhörern
um ſich; Durch Reif's Anfiellung bat die Lehrfreibeit einen
3ıX1
Sieg errungen; in der philologiſchen Facultät iſt es der
Drientalift Meyer, der die philofophifche Idee in dieſes
Material einführt; in der juridifchen find Bruns und
Köftlin als talentvolle Repräfentanten der phildfophifcyen
Richtung aufgetreten; in der flaatswirtbfchafttichen hat
fih Fallati die Gedanfen der Speculation auf klare ges
ſchmackvolle Weife angeeignet.
Da ich den Bildungsgang des Dr. Strauß zu ver-
folgen hatte, fo wurde von unfern Seminarien bie Redr.
Es kann jegt Niemand mehr in Zweifel ſeyn, wie ich es
damals noch war, daß dieſe Anftalten vor dem jekigen
Begriffe von Bildung und Erziehung eines Jünglings fal«
len müflen und werben; denn fie ruhen auf der mönchi⸗
ihen Borftellung, daß der Geiftlihe nicht Menſch fev.
Was an ihnen unläugbar Gutes ift, ließe ſich unter zweck—
mäßigerer Form beibehalten, wenn die Stiftungen, auf
welche fie gegründet find, in Etipendien für Studirende
alfer Facultäten verwandelt würden, melde als Bedingung
der Theilnahme eine firenge Concursprüfung zu befteben
bitten, nicht zufammenwohnten, Feiner befondern Pegal-
Aufficht unterworfen wären, wohl aber eine fpeziellere
Leitung ihrer Privatftudien, Die wohlthätige Verpflichtung
der wöchentlichen fog. Loci, der Ausarbeitung von Auf-
fäßen, der halbjährigen Prüfungen genöffen. Das Inftitut
der Repetenten könnte dabei in der Weife wohl beibehalten
werben, daß für die Studirenden der verfchiedenen Facul⸗
täten je einer oder nad) Maaßgabe der Anzahl mebrere
xııll
Repetenten aufgeftellt wären, welchen alle Pflichten ber bis⸗
berigen, außer der Dischplinar- Aufficht, welche mit dem
Zufammenwohnen fleht und fällt, oblägen. Wenn man
sur das Eine erwägt, wie viele Eltern, durch die großen
Erleichterungen verführt, welche bier ausſchließlich Die Theo⸗
logen genießen, ihre Söhne ohne alle Prüfung ihrer per⸗
fönlichen Neigung und Talente dem geiftlihen Stande
widmen, fo müßte man fi) von der Nothwendigkeit einer
folhen Veränderung überzeugen.
Zu leicht habe ich es mit der Hintanfegung der philo⸗
logiſchen und andern pofitiven Studien gegen die philoſophi⸗
fhen genommen, welche zur Zeit der Berfaffung dieſes
Auffages im hiefigen Seminar herrſchte. Dieß hut fi
inzwifchen angefangen zu verändern, Die Philofophie ſelbſt
wird jest in mehr hiſtoriſchem Geifte ftudirt, die Theolo-
gie ebenfalls,
Die wahre Stellung der Straußifchen Anficht zur
Religion babe ich milder angegeben, als ich es jegt thun
würde. Man dachte damals über Vereinbarfeit der Bor:
ftellung und des Begriffs auf philofophifcher Seite anders
als jetzt; theils weil die Speculation felbft in Diefem Punete
ungründlich war, theild weil man noch wenig Erfahrungen
gemacht hatte. ch Fönnte zwar in einem gewifjen Sinne
noch heute ſagen: Strauß fämpft nicht gegen, fondern für
die wohlverftandenen Intereſſen der Religion u. f. w.; es
liegt mir aber nichts daran, wenn mir jemand ftreitig
macht, dag, was nach der Kritif der Mythen zurücbleibt,
XXLIII
noch Religion zu nennen ſey. Es gehoͤrt zwar auch zum
Guten ein Glaube, und zwar ein viel höherer und ſtaͤrke⸗
rer, ald zu ber eigentlich fogenannten Religion; mir iſt es
aber hoͤchſt gleichgiltig, ob man mich, wenn ich Das Gute
will und thue, darum glaubig und religiös nennt oder
nicht; oder richtiger, es ift mit dieſem Xitel, wie ſich jegt
die Sachen geftaltet haben, eben nicht viel Ehre abzheus
ben und man fann leicht darauf verzichten. ine Ehre
ift es jebt, wenn man von Jemand fagen fanns er wird
verdächtigt, verläumdet, feine Treue mit Undank belohnt,
er wird verfolgt, zurüdigefegt, entlafien; und biefe Ehre
bat Strauß genofien.
Diefem Aufſatze folgt ein Sendſchreiben für die Halli⸗
hen Sahrbücher mit dem Titel: Ueber allerhand
Berlegenheiten bei Befegung einer dogmatis
hen Lehrftelle in der jegigen Zeit, Dieſe Heine
Erpertoration macht auf neue Gedanken und tiefere Bes
gründung vorhandener feinen Anſpruch. Ich hoffte damals,
fie könnte vielleicht für ein freifinniges Urtheil, das nur
durch den Nebel, welchen die Leidenſchaft und die fchiefe
Reflexion auf ſolche praktiſche Fragen werfen, hindurchzu⸗
dringen nicht genugſam orientirt ſey, einiges Moment ha⸗
ben und ſo nicht ohne alle Wirkung bleiben. Sie erſchien
zu ſpät und auch ohnedieß hätte ich wohl zu erfahren be⸗
fommen, was ich in dem Auffate felbft einräume: daß bie
Philofophie unmittelbar praftiich nicht zu wirfen berufen
fey. Nur iſt dazu fogleich hinzuzuſetzen und es tft ein
LIXXIV
Mangel der Darſtellung, daß es nicht geſchehen iſt: die
Philoſophie hat unmittelbar allerdings keinen praktiſchen
Beruf, wohl aber wird ſie, wenn ſie als allgemeine Bil⸗
dung in die Maſſe zurückgeſtrömt iſt, eine ungeheure Macht,
von welcher man gar nicht mehr fragen kann, ob ſie auch
praktiſch wirken könne und dürfe, weil fie die Praxis ſelbſt
if. Eine folhe Macht wurde 3. B. die Kantifche Anficht
ber Dinge, fie befegte beinahe ein halbes Jahrhundert
lang die meiſten Staatsdienerftellen, und liegt noch dem
Denfen der Mafie der Gebildeten zu Grunde. Die Zeit,
wo bie HegePfche Philoſophie, d. h. nicht ihr Buchftabe,
fondern ihr Geift in feiner unendlichen Entwidlungsfähig«-
feit, eine ſolche Macht werden wird, wirb fo ficher kom⸗
men, al® der Fünftige Tag. Die Stärfe ber Reaction
verfündigt ihren Sieg, denn wenn eine Lampe verlöfchen
will, flinft fie, Uebrigens war mir auch bei diefer Arbeit
die Frage über Vereinbarkeit oder Unvereinbarfeit dee
Begriffs und der Vorſtellung noch nicht fo Ear, wie jebt.
Durchfchneiden läßt fi zwar, wie ehrlich man bierüber
denfen mag, nit. Möoͤgen die philofophiich Gebildeten
über ihren Widerfpruch mit der Kirche fo aufrichtig feyn,
als fie wollen, ein Austritt aus ihr wäre nichts als ein
kindiſcher Scandal; und Theologen, welche in diefen Wis
berfpruch gerathen, wird nad) wie vor die Nothwendigkeit
treiben, geiftliche Aemter zu befleiden. Hier ift durchaus
feine Hilfe, ald daß man vor der Hand begreift, wie der
Proteftantismus felbft der Lebendige Widerſpruch ift, eine
zZIXV
Kiche zu feyn und doch die Bedingungen einer über alle
kirchliche Begrenzung hinausgehenden Bildung in ſich zu
- age. Wer aber dieß begreift — und es ift nicht ſchwer
zu begreifen, denn es liegt auf flacher Hand, — der wird
fh auch überzeugen, daß es die Plattheit aller Platiheis
ten ift, wenn man fo biftinguirt: freie Anfichten find zu
dulden, aber wer als Kicchenlehrer angeftellt werben fol,
darf ſich nicht von ber kirchlichen Lehre entfernt haben.
Unfere Abweichungen von ber Kirchenlehre haben fich nicht
neben und außer dem Proteftantismug, fondern in feinem
Schooße gebildet, der proteftantifche Geiſt ift Fein flarrer
Stein, fondern eine lebendige Kraft, welche fortwächſt und
fiher noch mit ihren Wurzeln den Stein, an ben fie freis
lich noch gebunden ift, Kirche und Autorität nämlich, in
Stüde fprengen wird.
Hierauf Taffe ich alfo die Fritifchen Arbeiten aus dem
Gebiete der bildenden Kunſt folgen. Sie fohlagen
alle mit wiederholten Schlägen auf Einen Punkt: Feine
Transcendenz, feine Mythen, Feine Allegorie, fondern Geift
der Wirklichkeit! Man wird nachſichtig feyn, wenn bafs
felbe Pathos in immer neuen Wendungen fich ausfpricht,
wenn 3. B. dreimal Cin der Kritif der Fauſt⸗Literatur
fomme ich abermald darauf zurüd) von dem Unterſchied
ziwifchen der Allegorie und ber wahren Geflalt bes Schö⸗
nen die Rebe ift, wenn ich mehr als Einmal meine Ueber⸗
zengung von der Zeitwibrigfeit der Mythenmalerei an
dem jlingften Gericht von Cornelius auseinanderſetze — ꝛc.
(3)
xxxvi
Ich war ja und bin noch mit dieſen Ueberzeugungen, de⸗
ven Wahrheit ein Kind einſieht, bei den Künftlern ein Pro⸗
phet in der Wüſte. So drang 3. B. von allem bem, was
ich hierüber feit Jahren wiederholt babe, zum erftenmal,
da bei Gelegenheit ber belgifchen Bilder einer der wenigen
benfenden Künſtler in den Jahrbüchern der Gegenwart An⸗
ſichten ausſprach, die mit den meinigen zuſammentreffen,
etwas nach München und erregte eine ſolche Ueberraſchung,
daß die confuſe dortige Kunſtkritik nichts zu thun wußte,
als in der allgemeinen Zeitung ſo ungebildet, als man es
nur erwarten konnte, zu ſchimpfen.
| Was ich in der Anzeige der Rambourfhen Aquas
rell-&opieen und der Hallmannifhen Schrift über
die Münchener und Düffeldorfer Schule gefagt habe, macht
feinen Anſpruch auf Vollftändigfeit; einiges in der letzteren
Anzeige dient zur Ergänzung von Mängeln der erfteren,
wie namentlich die Bemerkung, daß die Münchener Scdyule
mehr das hat, was man Styl nennt, Schnorr wußte ich
nicht recht zu charakteriſiren; irre ich nicht, fo Fann man
von ibm fagen, daß er bei vielem ZTrefflichen in Cha-
safteriftif, Compofition, Zeichnung von einer gewiflen oblie
gaten und fentimentalen Behandlung nicht frei if. ‚Zu
dem Charakter der Düffeldorfer Schule gehört wefentlich
das große Gewicht, das fie auf die äußere Ausftattung,
befonders auf mittelalterliche Garderobe legt, wodurd dag
Innere, das fie abſtract und fentimental zu behandeln ges
neigt if, und das Aeußere, das fie mit concreter Gelehr⸗
XXxXvii
Tamfeit ausarbeitet, unorganiſch audeinanderfält. Einen
großen Fortſchritt über die luftigen und lyriſch abſtracten
Anfänge der Schule hinaus hat Leſſing gemacht, der den
Kamen eines großen Malers wollfommen verdient. Ich
hätte mehr über feinen Huß fagen ſollen; freilich hatte
äh ihn damals noch nicht gefehen. Er bleibt in dieſem
Werfe allerdings der eigenthümlichen Beſchränkung der
Schule auf das Innerliche, die handlungslofen Zuftände,
das Piychologifche treu und gibt und nicht die ftürmifche
Bewegung des Concils, fondern eine Situation vor dem⸗
felben, worin er fih als Meifter in Charafterfüpfen zeigen
Tann, denen die zu erwartende Handlung erfi als verhal⸗
iener Zuftand vor dem Ausbruch aus den Augen fieht.
Es ift aber, innerhalb diefer Schranfen genommen, eine
wahrhaft großartige Gruppe, ein Werf der tiefften Seer
Ienmalerei,
Sch bebaure, daß der lebte zu der Abtheilung über
Kunft gehörige Auffag in den zweiten Theil verlegt, und
fo getrennt werben mußte, was in diefe Rubrik zufammen-
gehört. Ein Veberfehen während des Drudes iſt Daran
ſchuldig, und es thut mir doppelt leid, Daß die Sache nicht
mehr zu Ändern war, da biedurch ber zweite Theil an
Bogenzahl größer geworben iſt.
Die Kritik ver Literatur über Goethes Fauft
ift fehr wenig höflich ausgefallen, Dan wird bilkig einem
Manne, der biefen Augiasftall zu miften unternahm, einige
Ungebuld nachſehen; auf einen groben Klotz achört cin
G)*
XXXVIII
grober Keil. Wie entrüſtet ich aber hier gegen die rein
ſpeeulative Behandlung eines Kunſtwerks, gegen das ſtoff⸗
artige Aufſuchen philoſophiſchen Inhalts ſtatt äfthetifcher
Kritif auftrat, ich war felbft dennoch nicht ganz frei von
biefer Auffaſſungsweiſe. Es ift in diefer langen Reihe von
Beurtheilungen viel zu wenig Kritif des Gedichts als eines
gewordenen, wie es in feinen ungleichzeitigen, fragmenta⸗
rifch verbundenen Schichten aus dem Dichter, dem Unter-
fchiede feiner Entwidlungsftufen und der Gunft oder Ungunft
bes ihm eingebenden Genius zu erklären if. Es war in
mir felbft noch weit zu viel unächte Pietät. Daher habe
ih Weiße's Werk, die einzige äſthetiſche Kritif, in den⸗
jenigen Partbieen, wo er von den Fugen und Nähten ber
ungleichzeitigen, mehr oder minder gelungenen Stüde fpricht,
viel zu flüchtig beurtheilt. Freilich hatte er mir die Freude
an feinem Werfe Durch die fchiefe Auffaffung des Grund⸗
gehalts verborben.
Auch, den Mangel hat meine Kritif, daß ich das Ges
Dicht viel zu wenig als Ausdrud feiner Zeit in’d Auge ge⸗
faßt habe, wie es den innerftien Nerv jener merkwürdigen
Revolution des europäifchen, zunächft Des beusfchen Gei⸗
ſtes gegen Ende des 48ten Jahrhunderts fo durchfichtig zu
Tag legt. Nur berührt ift diefer Punkt in der Kritif yon
Meber’s Schrift, Band II, S. 114. Die Wiffenfchaft
war verfnöchert in Dogmatismus und Formalismus; bie
jugendlichen Geifter fühlten dieß und fchmachteten nach ben
„Brüften, den Quellen alles Lebens, an denen Himmel
XXXIX
und Erbe hängt, dahin die welke Bruſt ſich drängt”; aber
fein Laut Fam ihnen im weiten Reiche der damaligen Schuls
wiflenfchaft entgegen, biefe hatte noch Feine Ahnung von
einer Erkenntniß, welche effentiel, welche im Bewußtfein
der Einheit des Denfenden und Gebachten begründet zus
gleich das dialektiſche Moment der verftändigen Trennung
und ihrer Auflöfung ale Methode in fi) aufnehmen könnte.
Daber mußte der Drang nach Wahrheit ſich überflürzen,
baher wurde alle Methode, wurben alle Mittel des Er⸗
kennens verachtet und ein ungebuldiger Myſticismus fuchte
die Wahrheit mit Gewalt zu erobern. Man wollte, da
man jede Vermittlung verachtete, unmittelbar erfennen,
Auf diefem Punfte ſteht Fauft, dies iſt der Grund feiner
Zauberei, die ihm „durch Geiftes Kraft und Mund mand
Geheimniß fund thun“ fol, Dean nehme dazu den Famu⸗
Ius Wagner und des Mephiftopheles Gefpräch mit dem
Schüler, fo hat man den ganzen Zuftand der damaligen
obligaten, d. h. insbefondere afademifchen Wiffenfchaft, ehe
bie neue Philofophie feit Kant mit jugendlichen Athem ihn
erneuert hat. Nehmen wir nur ein Beifpiel aus der Na-
turwiſſenſchaft. Man hatte eine nach Äußeren Kennzeichen
rubricivende, elaffifieivende Botanif und Zoologie; ber dür⸗
ende Geift tieferer Talente forderte aber ein innereg
Band, Wir haben jegt eine organiſch phyſiologiſche Er⸗
fenniniß ber Pflanze und der Thiergeftalt in ihrem Bau
und der Stufenleiter ihrer wechfelnden Formen: eine folche
Erlenntniß fucht Fauſt, die Wiſſenſchaft reicht fie ihm nickt,
XL
fo verachtet er dieſe und will durch einen Gewaltfireid,
durch Zauber unmittelbar in's Innere der Natur eindrin«
gen. Hier begreift man, warum Schelling in |. Meth.
d. aladem, Stud. unfer Fragment ald „das eigenthüimliche
Gedicht der Deutfhen begrüßte, das einen ewig frifchen
Duell der Begeifterung eröffne, welcher allein zureichend
war, den Hauch eines neuen Lebens über bie Wiffenfchaft
zu verbreiten.” Schelling durfte aber den Fauſt nicht nur
als den Propheten des großen Prinzips ber Identitäts⸗
philofophie begrüßen, ſondern es ift ebenfo natärlih, daß
er ihn auch als Schubpatron der Mängel biefer Philofophie
willfommen hieß. Schelling verachtete, wie Fauſt, die vers
ſtaͤndige Vermittlung in der Wiffenfchaft, weil die bisherige
nur zu Verftandes- Relationen geführt hatte; Fauſt citirt
ben Erdgeift und finft vor der riefengroßen Erfcheinung
nieder: Schelling’8 Identitäts-Prinzip ift „wie aus ber
Piftole geichoflen” durch die intellectuale Anfchauung da,
und der Gedanke finft von dem vorgeblihen Berfuche, in
diefen dunkeln Grund feine Linien zu ziehen, ermattet nies
der; Fauſt wirft ſich überdrüßig in's Leben und meint mit
genialem Uebermuth feinen Schaum abſchöpfen zu können,
ohne von den Rädern feines fittlichen Complexes gepackt
zu werben: die Schelling’ihe Philofophie diente den Ro⸗
mantifern zum Schilde, denen Sittliches und Unfittliches nur
als ſchönes Schattenfpiel des Selbfigenuffes dienen follte,
Wie nun die Wiffenfchaft, fo fehnte ſich auch das Les
ben nad) einer Umgeburt. Diefe Sehnfucht theitte ſich in
xLi
zwei Formen. Der fubjective Deutfche fuchte Freiheit von
ben Banden einer veralteten Eonvenienz und einer Moral,
welche die Rechte der Perfönlichfeit nicht in Rechnung nahm,
freie Bildung durch freien Genuß und freie Thaͤtigkeit;
aber er ſtürzte mit den veralteten Gefegen auch die ewig
wahren um und wußte die abftracte Freiheit der Perföne
lichkeit nicht mit dem vernünftigen und befonnenen Eingehen
in bie Bedingungen des Lebens, dem Gefege der Noth⸗
wendigfeit, mit Zucht und Gehorfam zu vereinigen; bie’
überfprudelnden Sünglinge der Sturm: und Drang- Periode
ftanden daher an einem Abgrund, in welchem mehr als
Einer von ihnen verloren ging. Es war fein Epicureismug,
man fuchte unbegrenzte Thätigfeit fo gut wie unbegrenzten
Genuß. Goethe meinte Kunft, Poefie, Naturforihung und
die Verdienſte des Staatsmanns in fich vereinigen, Taſſo
und Antonio zugleich ſeyn zu können, nannte ſich eine Le⸗
gion, von hundert Welten trächtig, er wollte wie Fauſt
der Menſchheit Krone erringen. Auch dieß war ein Ab⸗
grund. An dieſen Abgrund führt Mephiſtopheles den Fauſt;
aus Reminiſcenzen der Jugendſünden jener Brauſezeit iſt
die vermeſſene Weite mit Mephiſtopheles, die Liebesgeſchichte
mit Greichen, ift zum Theile die Figur des Mephiſtopheles,
ift die Walpurgisnacht, in welcher ber concentrirte haut-
goüt ber Liederlichkeit qualmt, mit hellem und fittlich übers
blickendem Geifte zuſammengeſetzt. Die Abfiht if, Fauſt
durh Schuld und Reue zur Befinnung, zur männlichen
Berföhnung mit dem Leben, zu jener Durchbildung der
XLII
Perſoͤnlichkeit zu führen, welche ſich befchränft und doch frei
bleibt, welche nicht fürchtet, die innere Poefie, die edle Uns
aufriedenheit im Philifterium einzubüßen.
Die andere Form jenes Drangs nad) neuem Leben fiel
dem franzöfifchen Volke zu, die Umfchaffung bes objeckiven
Lebens, des Staats. Derfelbe Jugendrauſch wie bort in
engerer Sphäre wußte bier wohl zu zerftören, aber nicht
zu bauen. Diefe Geftalt der Revolution nahm Goethe
gar nicht auf, gegen dieſe Welt war er verfeinert; und
doch ift ed Kauft und niemand anders als Fauft, ber feit
Rouſſeau bis auf George Sand im franzöfifchen Geifte
fpuft. Freilich Tann man auch fagen, Fauft fei einmal
ein Deutfcher und jener franzöſiſche Störenfried müfle ein
Milchbruder von ihm fein, den er vergeflen habe. Goethe
gedachte im zweiten Theil feinen Helden in höhere, bedeu⸗
tendere Sphären zu führen, aber er bat es fchlecht genug
angegriffen.
Wollte man Fauft in die geforderte politifche Lage brin«
gen, ohne die Einheit ber Zeit zu fehr zu verlegen, fo
ließe fich biezu der Banernfrieg benügen, dieſe einzige
Erſcheinung in der Geſchichte des beutfchen Volkes, welche,
getragen von ben reinften und ebelften Ideen über Frei-
beit und Menfchenrecht, an der Unreifheit der Zeit, an ber
inneren Unfreiheit ber kirchlichen Reformatoren, welde hier
geradezu in Schlechtigfeit überging, aber auch an der Wild»
beit ſchrankenloſer Rachfucht und an der Uneinigkeit, wos
durch die Unternehmung fich felbft trübte, tragifch gejcheitert
XxLIII
iſt. Der Bauernkrieg wäre eine Situalton, welche alle
Ideen ber fpäteren politifchen Revolution, felbft bie neues
fien des Communismus nicht ausgefchloffen, im Keime ents
hält; fie wäre fymbolifch in dem erlaubten Sinne, burd
welchen die Wahrheit, die individuelle Haltung und ber
biftoriiche Charakter der wahren Poefie nicht aufgehoben
wird. Der Bauernkrieg wäre nur beßwegen ein Symbol
der modernen Revolution, weil er wirklich der Anfang ders
ſelben iſt. Fauſt nun müßte vorher von der Reformation
ergriffen und begeiftert fein und würde mit Jubel biefe
Frucht derfelben, bag Erwachen der politifchen Perſoͤnlich⸗
keit im Bolfe begrüßen, er würde als Anführer an bie
Spige einer Bauernfhaar treten. Seinem Enthufiasmus
müßte der Dichter die Züge des Feuergeiſts jener Zeit,
defien Schwert die Nede und deſſen Rebe ein Schwert
war, bes Ulrich von Hutten, leihen. Jetzt würde Mephi⸗
ſtopheles feine alte Rolle fortfegen. Die Situation wäre
wie gemacht dazu, Er würde bald an Fauſt's Hibe noch
fhüren und ihn dadurch zu wirklichen Ungerecdhtigfeiten, zu
Handlungen der Graufamfeit hinreißen, wozu ihm feine
Stellung alle Gelegenheit böte; bald würde er feinen En⸗
thufiasmus verhöhnen und verlachen und ihm bie ganze
Unternehmung als einen Ausbruch) thierifcher Degierben in
den Staub berunterziehen. Er würde zugleich Die Bauern
zu Greuelthaten hetzen, fein Werk wäre es, wenn fie zus
erft auf reiche Klöfter Iosftürzen, die Keller ausfaufen, bie
Pfaffen raftriren u. |. w. Würde nun Fauft, durch dieſe
XLIV
Verunreinigung des Werkes zurüdgefchredt, ſich in die Ein⸗
famfeit zurüdzieben, und, wie früher ſchon in Wald und
Höhle, wieder der reinen Betrachtung fich weihen, fo flellte
Mephiftopheles fich wieder ein und ruhte nicht, bis er ihn
zurüdgelodt hätte. Endlich aber, nach neuen Verirrungen
der Unbefonnenheit, der abſtracten Begeifterung, welche
rückſichtslos die Wirklichkeit verlegt, müßte Fauſt erleben,
daß die Unternehmung .fcheitert, und daß er felbft mit
abermals getrübten Gewiffen dafteht. Jetzt würde er fich
fagen, daß Das ganze Werf ein unreifes war und den Bors
ſatz faffen, ehe er wieder mit folder Haft in die Wirklich»
Feit übergreife, fein Inneres durch neue, anhaltende Bes
ſchäftigung mit ſich felbft erſt noch tiefer zu bilden und zu
reinigen, Dieß wäre dann der Schluß des Gedichts, nach
meiner Anficht der einzig mögliche und richtige, Eigent⸗
lich abgeichlofien Tann das Drama nicht werben, das habe
ich in meiner Kritif diefer Literatur binlänglich bewiefen.
ie Berföhnung des Idegalismus und Realismus in Den
fen und Handeln, wohin das Ganze ftrebt, kann nur ale
Merfpeetive in Ausficht geftellt werben, theils weil Fauft
überhaupt nicht. ber Held der Verſöhnung, fondern ber
Entzweiung ift, theild weil bie Darftellung der Berföhnung
als eines ruhenden, fertigen Zuftandes ebenſo philofophiich
unwahr als poetifch matt wire Pen Schluß nun würbe
dieſe Perfpectine gewiß in bet richtigen Weife eröffnen.
Was Kauft als einzelne Perfon betrifft, fo würde er ein
Dandeln mit männlicher Befonnenheit, mit Anerkennung
XLV
ber Grenze und bed Maaßes als künftige Aufgabe anſe⸗
ben. Zugleid würde das Gedicht ben Haupts Faden nicht
ganz fallen laſſen, ber fi) ja wefentlich dur Pas Ganze
hindurchziehen fol, nämlich Fauſt's Wiffenstrieb und den⸗
kende Natur, wodurch er ſich von jedem andern dramati⸗
fhen Helden unterſcheidet und jedes gegebene Verhaͤltniß
in das Demwußtfein und den Gedanken zu erheben fucht,
Durch reineres Denken Fünftig fein Handeln zu veinigen
wäre fein wohlbegründeter Vorfag, Man würde nun mit
Leichtigkeit einfehen, daß Mephiſtopheles und der Her,
Fauft und Mephiftopheles in ihren Wetten je beide ſowohl
gewonnen als verloren haben,
Allein Fauſt ift nicht bios dieſer Einzelne, er iſt der
Arebende Menſchengeiſt, er ift beſtimmter ber firebende Geift
in der großen Krife des A8ten Jahrhunderts, ba dem Des
wußtſein zuerſt feine fubjertive Unendlichkeit aufging, er iſt
noch näher gefaßt diefer Geift in der beſonderen Beftims
mung des beutfchen Naturelld, Nun würbe er aber durch
die letzte politifche Situation, obwohl fie der deutſchen Ges
fchichte angehört, vermöge ihrer vorbildenden Beziehung
auf die franzöfifche Revolution ftarf in den franzöſiſchen
Charakter übergeben. Der Schluß jedoch wäre, daß der
franzöfifche Charakter zwar raſch und entichloffen banbelt, -
aber fich überſtürzt und die Früchte nicht ärndtet, weil die
innere Bildung, aus welcher die That fließt, nicht rein
und veif if. Es würde in Ausficht geftelt, daß vielleicht
Das deutſche Bolt, das fo lange in politiichem Schlummer
XLViI
begraben nur in den Bergwerfen ber inneren Bildung
‚arbeitete, eimft noch beweifen werde, daß es auch handeln
/ am ‚ dag aber feine Handlung reiner und fruchtbarer fein
I wird, weil eine lange, gruͤndliche, tiefe Bildung des Den-
i4 fen diefer Handlung voranging. So wäre biefer Fauſt
. und biefer Schluß ein Vorbild und Zeichen unferer Sof
nungen und Zufunft.
Wie wenig mir folhe, in der Idee dieſer Tragddie
ganz nothwendig begründete Conſequenzen bei der Abfaſ⸗
fung diefer Kritifens Reihe ſchon klar waren, beweist nas
mentlih die Bemerkung Th. II, ©. 212, wo behauptet
wird, rein praftifche Situationen, wie die eines Feldherrn
oder Herrſchers taugen für den Helden nicht, weil innere
Zerwürfniffe fein eigentliche Pathos ſeien. Fauft muß
freilich Alles, was er angreift, hoch und geiftig faſſen, fa
in's Excentriſche treiben und eben dadurch fih in Schule
verfiriden, allein ber Uebergang in dag Leben und Die
Handlung ift ja gerade feine Beftimmung und fein Ziel.
Monarch freilich durfte er nicht werden, aber aus andern
Gründen; follte er übrigens je einen Thron befleigen, fo
müßte er aus allzugroßem Liberalismus, wo er auf ber
einen Seite Gutes ftiftet, auf der andern Seite das Recht
verlegen. Goethe hat etwas ber Art in den fünften Act
. aufgenommen, bie Zerfiörung der Hütte von Philemon und
Baucis, aber dieß iſt fo trüb allegorifch, wie nur etwas
in biefem zweiten Theile; aud) benügt Mephiſtopheles die
Schuld, welche Fauft Durch dieſe That der Ungebuld auf ſich
XLVII
laͤdt, gar nicht für ſich als Hauptgrund feines vermeintlichen
Gewinns der Wette. Ferner babe ich in derfelben Bemer⸗
fung ©. 242 gar nicht hervorgehoben, daß Faufll, wenn
er etwa in bie Situation des Künftlers gebracht werden
ſollte, nothwendig in die Zeit einer Kriſe ftreitender Kunſt⸗
prinzipe verfegt werden muß, denn er ift einmal ber Held
bes revolutionirenden Geiftes, Goethe felbft hat dieß wohl
gefühlt, da er ihn allegorifch benügt, den Gegenfag und
die Berföhnung des Glaffifchen und Romantifchen in felte
famen Bildern darzuftellen, freilich in derfelben troftlofen
Art, worin biefer ganze zweite Theil, der in allen Zügen
ähnliche Bruder der Wanderjahre Wilh, Meifters, verfers
tigt iſt. Die ganze Sache ift allerdings deßwegen ſchwie⸗
rig und faft unausführbar, weil eine folche Kriſe in der
Zeit, in welcher Fauft fpielt, noch gar nicht vorhanden
war, alfo die Zeit= Einheit zu gewaltfam zerriffen werden
muß. Doch im Keime bereitete fi) diefe Krife damals al⸗
lerdings vor; die humaniftifchen Studien, die Kenntniß der
Alten drangen ein, wirkten mit ber Reformation gemein«
fam, bie aſcetiſche Bildungsform des Mittelalters zu zer⸗
fören, unterbrachen aber auch auf lange Zeit die Fortbildung
der einheimifchen Poeſie. Man müßte Kauft mit Diefen Be⸗
firebungen, mit Melanchthon, Reuchlin, Eraſmus in Zufam=
menhang bringen, wenn man einen Anfnüpfungspunft finden
wollte, um jene Fünftlerifche Krifis vorbildlich in ihm darzu⸗
ftellen, ohne den gefchichtlichen Boden zu verlaffen und da⸗
durch den Helden in eine Allegorie zu verflüchtigen. —
XLVil
Ueberficht man ben zweiten Theil von Goethes Kauft, fo
bat man fo ziemlich Alles beifammen, was in dem Bil⸗
dungsgange des Dichters ein weſentliches Moment bildete,
einem Bilbungsgange, der allerdings fo bedeutend war,
daß ihn Goethe als Symbol allgemeiner Bildungswege
binftellen durfte, Der erſte Act ſcheint unter feinen ab»
ſtruſen Allegorieen die lebten jugendlichen Braufe- Jahre
au verfinnbilblichen, welche der Dichter mit dem Herzoge
von Weimar verlebte, jene Zeit, wo ee fo manche eble
Stunde im Dienfte von Wiebhabertheatern, Maskeraden
w dergl. vergeudete, während fein Inneres in dunkler
Gaͤhrung die fugendliche Wildheit der Sitten abzulegen,
die naturaliſtiſche Jugendpoeſie auezufcheiden und die ge⸗
Yäuterte Kunſtform durch das Studium der antifen Dice
tung aufzunehmen ſtrebte; ein Verſuch, ber noch nicht ges
lingen Tonnte, weil das Verhalten bes Dichters noch zu
pathologifch war CHeraufbefchtwörang der Helena, Faufl’s
flürmifcher Verſuch, fie gewaltfam an ſich gu reißen; bie
Erſtarrung Faufl’s am Ende diefes Acts iſt wohl auf die
trübe Verfiimmung des Dichters gu deuten, ehe er nad
Italien reiste). Diefe ganze Situation it aber fo gut ats
gar nicht benützt. Die Reinigung der Perſoͤnlichkeit durch
das Leben in den hoͤchſten gefelligen Kreifen, wie es auch
innerlich gaͤhren und flürmen mag, ift im Taſſo gang ans
ders und wahrhaft poetiſch dargeſtellt. Der zweite Act
ſcheint den wirklichen Uebergang zur Läuterung der Phan-
tafie und ganzen Subjectivität durch Aneignung des anii-
XLIX
ken Geiſtes und Kunſtgefühls zu bezeichnen, im Dichter
durch die Reiſe nach Italien vermittelt. Naturphiloſo⸗
phiſche Studien ziehen ſich dazwiſchen, wie ſie den Dichter
in Italien neben feinen Kunſtſtudien befchäftigten. Der
Homunculus ift wohl die geiftlofe Philologie im Gegenfag
gegen die wahre Verjüngung des Alterthums. Der dritte
Act umfaßt dann die wirfliche Verföhnung des roimanti=
fihen Gemüths mit der plaftifchen Form, der vierte und
fünfte erhebt fich in die politiiche Sphäre, wobei dem Dich»
ter feine minifterielle Thätigkeit für Bergbau, Induſtrie
u. fe w. vorfchweben mochte. Es find hiermit allerdings
alle wichtigeren Situationen gegeben, in welde der Held
noch. zu führen war, aber wie? .
Sehr derb bin ich mit Enf umgegangen; feine Briefe
waren aber auch gemacht, eine eiferne Geduld Zu brechen
Ich ſpreche eine gewilfe Empfindung, hart gehandelt zu
baben, nur bier aus, — dem H. Leutbecher babe ich es
nicht beſſer gemacht —, weil der tragifche Tod des Uns
glüdlichen jest Mitleid erregen muß. Allein das Wort:
de mortuis non nisi bene gilt in der Literatur nicht. Die
byperphilofophifche Schrift von Hinrichs habe ich aus Ach⸗
tung ‚vor den befannten Gefinnungen biefed Mannes wie
eine eingefehene und bereute Jugendſünde behandelt. Sch
fuchte eine glimpfliche Form und dieſe bot ſich als die ges
fälligfte dar. Freilich hat Hinrichs in feiner Schrift über
Schiffer fie nicht gerechtfertigt, denn dieſe hält ſich noch in
derſelben falſchen Manier des Conſtruirens. Was Einzeln
L
beiten betrifft, fo wäre wohl Einiges zu berichtigen. So
babe ich 3. B. in der Kritif vom Falfs Schrift gegen ben
vielen Mißbrauch, der mit den Worten des Mephiſtophe⸗
les: Grau, theurer Freund, iſt alle Theorie u. ſ. w. ge⸗
trieben wird, geltend gemacht, bag dieß Worte des Teufels
feien, der den Schüler verderben will, Allein der Dichter
macht bier offenbar felbft den Schalf und hat feine Freude
an feinem Mephiſtopheles; es liegt über ber ganzen Stelle
ein Zwielicht; Goethe fpricht unverkennbar in diefen Wor⸗
ten feine eigene Ueberzeugung aus, doch fo, daß ihn un⸗
beftimmt vorfchwebt, etwas Gefährliche und Unwahres
. müffe neben dem Wahren darin liegen. Daher babe ich
in der jegigen Redartion die Worte beigefeät: Mephiſto⸗
pheles hat zwar immer halb Recht und fo auch hier, aber
auch um fein Haar weiter. Ich habe mir, wie ich oben
ſchon gefagt, überhaupt erlaubt, an einigen Stellen, da ich
mich boch zu einer eigentlichen Umarbeitung nicht berech⸗
tigt glaubte, durch ſolche Einfchiebfel zu berichtigen und zu
ergänzen. Ueber den zweiten Theil hat feither auch ber
gediegene Rötſcher gefchrieben, Allein ich geftehe, bag mir
nicht weiter möglich ift, mich mit foldher unfruchtbarer
Deutung unfruchtbarer Räthſel zu befchäftigen und die mür
den Lefer mit einer vefultstlofen Prüfung derfelben zu bes
helligen. Ich achte Rötfcher hoch, aber hier gehen unfere
Wege ganz auseinander, Sch leſe nichts mehr über die⸗
fen zweiten Theil: des Faufl.
Weun irgendwo bie Berfrhiedenheit ber Empfindungs⸗
LI
weife im ſüdlichen und nördlichen Theile Deutfchlands in
die Augen fpringt, fo ift es darin, daß aud nicht eine
einzige Stimme aus dem Norden Fam, welche Zeugniß
gegeben hätte, daß man bort von Ed. Mörike auch nur
Rotiz genommen hätte. Die Berliner Jahrbücher fchlugen
mir fogar die Kritik feines Romans zurück; ich brachte fie
glucklich noch in den Halliichen unter. Die Anzeige dieſes
Romans und der Gedichte mag den Beweis felbft führen,
daß ich diefes ftehengebliebene, obwohl große Talent nicht .
überfchäge. Allerdings wird man bemerfen, daß mein Urs
theil über die Romantik zur Zeit der Abfaffung diefer Kri-
tif noch nicht gehörig reif war. Das feltfame Schattenfpiel,
das; Theobald und Larfens aufführen, har fehr fchöne Bil
der, aber die wunderliche, auf Traumwolken fchwebende
Erfindung der ganzen Situation dieſes kleinen phantaftis
fchen Drama’ hätte fchärfer beurtheilt werden follen. Die
fomifhe Figur Wilpels ift ebenfalls zu ungetheilt gelobt,
er ift doch ziemlich nebels und ffiszenhaft und bedarf der
ergänzenden perfönlichen Anfchauung der mimifchen Schnurs
ven, mit denen Mörife diefe Figur in vertrauten afademi-
fhen Kreifen heimiſch gemacht hatte. Aber Einzelnes, und
nicht wenig Einzelnes von Mörife iſt vollendet poetiſch
und wiegt Bände der anderen neueren Dichter auf; dag
Beſte gehört der naiven Poeſie an, und bier ift eben die
Grenze zwifchen dem füddeutfchen und norddeutfchen Ur—
theil; das legtere liebt Pathos und rhetoriſche Wirfung
Artrifhe Ringe (4)
Li
und fucht das Native zwar ebenfo auf, wie Der Sentimen-
tale immer das Raive fucht, aber auch mur, um ed da zu
finden, wo nicht ſowohl Naivitaͤt als vielmehr Tünftliche
Reproduction des naiven Scheines iſt. So hält man z. B.
im Norden gewöhnlich Hebel’d allemannifche Bebichte für
naiv und ächt volksthümlich, wo doch jede Spur der Härte
“und gefunden lieblichen Rohheit des im engſten Sinne natven
Liedes, des Volksliedes, fehlt.
Mörifes Bruch und Stoden ift auf dem Punkte zu
fuchen, wo er aus ber Romantif fi in die gefunde
Kunftform des immanenten Ideals zu erheben fucht und
doch mit dem einen Fuße im Traume, im Mährchen
und in der Schrulle ftehen bleibt. Allerdings iſt auch
bie Sphäre der vernünftigen Wirklichkeit, in welche fich
fein Roman unvolllommen erhebt, eine ſolche, welche,
bereits von früheren Dichtern, am meiften Goethe, durch⸗
gearbeitet, offenbar in der Kunft der neueren. Zeit bedeu⸗
tenderen, obfectiveren Sphären weichen foll; die Bildungs⸗
fämpfe des Subjects in feinen Privatzuftänden find jett
genug dagewefen, wir wollen Bölferfämpfe fehen. Aber
wir haben eben die neue Poeſie noch nicht, koͤnnen fie noch
nicht haben; fo dürfen wir und ja wohl an ber ftellens
weifen Herrlichkeit diefes Abendhimmels erfreuen. Als Ly⸗
rifer aber ift Mörife in einzelnen Liedern abfoluter Dichter.
Bon der ſchwäbiſchen Gruppe der romantifhen Schule hat
er das Naive, von der norddeutſchen das traumhaft Phan⸗
LII
taſtiſche, von der claffiſchen Verzweigung unſerer letzten
poetiſchen Bläthe das rein menſchliche, griechiſch ſchöne Ge⸗
fühl Hoͤlderlins, von Goethe die plaſtiſch edle Seelenma⸗
lerei in der Schilderung tiefer Empfindungskäͤmpfe, aber
bier verſagt ihm bie Kraft der Vollendung und des Korte
ſchritts. a
Herwegh hat den groͤßeren, zeitgemaͤßeren Gehalt, iſt
aber fo bildlos und der Unmittelbarkeit, der Objechvität
baar, welche auch von dem Lyriker zu fordern if, daß er
als Dichter neben Mörike ganz hinunterfält. Im Vater⸗
lande hat er fehr wenig Anklang gefunden, auswärts hat
man meine Beurtheilung mancher Orten als hart und un⸗
gerecht aufgenommen. Eine Reihe von Einwendungen,
welche jede Berüdfichtigung verdienen, habe ich in die Be⸗
urtheilung bes zweiten Theild der Gedichte aufgeführt und
zu beantworten gejucht.
Mein Plan zu einer neuen Gliederung Der
Aeſthetik mag fo lange ſich felbft vertheidigen, bis ich Muße
gewinne, ihn in einem Handbuche zur Ausführung zu bringen.
Ich mochte mir nicht verfagen, diefe vorläufige Ankündigung
bier aufzunehmen, um das Intereſſe auf die Fünftige
Ausarbeitung hinzulenfen. Zugleich hoffe ich durch die Aufs
nahme berfelben einigen Beweis zu geben, daß mir bie
dialeftifhe und arditeftonifche Kraft nicht ganz abgeht,
welche in den übrigen Arbeiten diefer Sammlung, bie eine
durch die Leidenfchaft der Ueberzeugung, die andere durch
.(4)*
LIV
die auflöfende Natur der Kritif häufig überfluthet fein mag.
Auch über den zum Schluffe beigefügten Vorſchlag zu ei⸗
ner neuen Oper habe ich bier nichts mehr zu fagen, als
daß man es dem in das Technifche der Mufif nicht eingeweih⸗
ten Berfaffer verzeifien möge, wenn er ſich zu wenig auf
die fpezielle muſikaliſche Durchführbarfeit einläßt. Er glaubt
aber fo viel Sinn und Verſtaͤndniß der Muſik zu haben,
um behaupten zu dürfen, daß der bier empfohlene Stoff
von muſikaliſchen Motiven fprubelt. Ob unfere Zeit einen
Componiſten für einen ſolchen Stoff hat, ift eine andere
Trage, und der ganze Gebanfe wird wohl ebenfo wie bie
Idee eines politifchen Luftfpiels ein frommer Wunſch blei-
ben. Aber ein frommer Wunfch if noch fein dummer
Wunſch; Wünfche find auch Thatfachen, bie. Wanſche einer
Zeit ſind die Seele einer Zeit.
Tübingen, den 30. Juli 1844.
Dr. Wilder.
L.
zur Theologie.
Kritifche Gänge. 1
Dr. Strauß und die Wirtemberger.
(Balliſche Jahrbücher für deutſche Wiffenfchaft und Kunſt. Jahrg. 1858. Nr. 57 ff.)
Strauß bat fich durch feine Schrift über das Leben Jeſu den
Befreiern des Geiftes vom Buchftabendienfte auf eine der Aufgabe
des Iahrhunderts würdige Weiſe angereibt. Er gehört der Zahl
jener repräjentativen Menſchen an, welche die verſchiedenen Radien
eined langen Culturprozeſſes zu einem Brennpunkte vereinigen
und, indem fie dad Gegebene und Vorbereitende zu einem bes
ftimmten Refultate abſchließen, eben dadurch eine Reihe neuer
Wirkungen eröffnen und ſchöpferiſch auftreten. Zugleich theilt ex
mit allen ihm verwandten Borkämpfern in der Gefchichte des Geiftes
dus 2008, daß diejenigen mitlebenden Generationen, bie in einer
dem Principe nach zurückgelegten und veralteten Geftalt des Geiftes
wurzeln, nur die negative Seite feiner Erſcheinung aufzufaſſen
vermögen, und, indem fle die pofitive Baſis überfehen, in ihm
nur einen zerftörenden Geift erbliden. Die Charakteriftif, die Ich
bier verſuchen will, ift nicht für dieſe Greiſe des Jahrhunderts,
fondern für diejenigen, welche, ſelbſt fugendlich, das Jugendliche
und Breiheitöfräftige in biefer Erſcheinung anzuerkennen und
Öffentlidy zu begrüßen wagen. Indem fle aus dem Privatleben
dieſes Mannes, das ich von Kindheit an faft durch alle feine
Stationen aus der unmittelbarften Nähe zu beobachten Gelegenheit
hatte, jo viele aufnehmen wird, als für die Entwicklungsgeſchichte
1»
4
feines Geiſtes ein Moment bildet, hat fle am allerwenigften bie
Abficht, diejenigen feiner Gegner zu widerlegen, welche in ihren
Invectiven das wiffenfchaftlihe Gebiet verlaffen, ihren Beind vor
das Forum des Gewiſſens gezogen und durch eingeſtreute Winke
feinen Privatcharakter verdächtigt haben: die wohlbekannte, alther⸗
gebrachte Taktik des Fanatismus. Menzel hat in dieſer Richtung
das Aeußerſte getban, und dietolle Wuth der evangeliſchen Kirchen⸗
zeitung iſt gegen bie Perfibie feiner verdächtigenden Seitenhiebe ehrlich
zu nennen. Wer bie tiefe Verworfenheit eines ſolchen Verfahrens
nicht von felber fühlt, wer im Angeſichte der Deffentlichkeit folche
gehrandtmarfte Waffen zu führen die Schamlofigfeit hat, mit dem
bat weder bie Literatur, noch bie Gefelichaft irgend ein weiteres
Wort zu reden.
Der ſtrengen Wiſſenſchaft überlaſſe ich das Gefchäft, die
Straußiſche Leiftung aus der Gefchichte der Theologie und Phi-
loſophie als nothwendiges Mefultat bisheriger Entwicklung zu
begreifen: eine jchöne Aufgabe für einen unbefangenen, über
dem Einzelkampfe befangener Kritik ſtehenden Dogmenhiftori-
ter. Ich abfirahire von diefer rein ſcientiviſchen Geite und
frage: wie kam es, daß gerabe diefe Perfönlichkeit von bem
Geiſte ver menfchlihen Bildungsgefchichte zu dem Organe berufen
wurde, das jenes Nefultat ziehen ſollte? Welche Erziehung genoß,
wie reifte diefelbe zur Erfüllung ihrer Aufgabe heran? Es erhellt
Wer ſogleich, daß wir bei dem Individuum nicht flehen bleiben
Muͤrfen, daß wir vielmehr auf den Boden ver näheren und weiteren
Vmgebungen hinausblicken müflen, in welchem biefes Individuum
wurzelt um heranwuchs. Unſere Frage beſtimmt fich alſo ſogleich
welter zu ber andern: wie kommt «3, daß gerabe dieſer Theil von
35
Deutſchland und näher dieſe Provinz dem Vaterlande und der
Menſchheit ein ſolches Individuum ſchenkte? Strauß iſt von feinen
Landsleuten zuerſt und am zahlreichſten bekämpft worden; dies
konnte man mir ſogleich als Beweis entgegenhalten, daß dieſe
Frage gar nicht aufzuwerfen ſei. Strauß mag feine Anfichten
geholt haben, wo er will, wird man mir einmwenben, in Schwaben
bat er fie nicht geholt. Schwaben hat e8 freilich von jeher gelicht,
feine edelſten Kinder zu verläugnen. Es hat Schiller erzeugt und
fortgeſchickt, es hat, Schelling und Hegel erzeugt und fortgeſchickt,
es hat Strauß erzeugt und graufam aus feiner Laufbahn geworfen.
Es iſt nicht die erfte Mutter, die ihr eigen Kind verftößt. Daß
eine geiftige Gemeinſchaft eine Erſcheinung, bie aus ihrer eigenen
Mitte hervorgegangen Ift, nicht anerkennt, daß fie in dem reifen
Propufte der in ihr ſelbſt gährenden Elemente dieſe nicht wieder⸗
findet, daß fle ihre eigenen Züge In ihrem Sohne nicht wieberer-
fennt, kann nur denjenigen befremden, ber. nicht begreift, wie bas
Gemwordene zugleich etwas ſpecifiſch Neues fein kann, das über bie
Subſtanz, aus der e8 hervorgegangen, hinausgeht und-eben darum
in einen Gegenſatz gegen biefelbe tritt, weil dieſe felbft bloß der
Factor, nicht das Facit if. Kant erkannte in Fichte, Fichte in
Schelling, Schelling in Hegel nicht den Vollender feines Princips.
Statt uns durch die Befehdung, die Strauß gerade von feinen’
Landöleuten erführt, in der Meberzeugung, daß fein Unternehmen
nicht zufällig von Schwaben ausging, irre machen zu lafien, wer⸗
den wir vielmehr eben dieſen Widerſpruch in einem weiteren und
allgemeineren begründet fehen, in welchem bie ſchwaͤbiſchen Zuſtände
mit fich ſelbſt fichen, einem Wiberfpruche zwifchen ber Freiheit und
Ziefe Des Naturells, die im Einzelnen häufig zur erfreulichiten
6
Heife gedeiht, und einer Verknöcherung und Verfaurung, welche
vielfach mit Recht getabelt wird, aber felbft wieder nur die Kehr⸗
feite beſſerer Eigenſchaften iſt. Jede wahre Charafteriftif wird die
Mängel ihres Gegenftandes nur als die andere Seite feiner Vor⸗
züge und umgekehrt ſchildern. Dies wird auch meine Aufgabe fein,
und ich Hoffe daher nicht als befangen und parteiiſch zu er»
feheinen, weder gegen meine Landsleute, noch gegen die Norb-
beutihen. Den Gegenfag der norddeutſchen und ſüddeutſchen
Natur und Bildung zu grünblicherer Debatte zu bringen, halte ich
für zeitgemäß ; die Sache tft, namentlich durch die Ausfälle einiger
hungen Schriftfteller auf vie ſchwäbiſchen Dichter, ohnedies anges
regt, es tft manches Wahre neben vielem Unwahren ausgefprochen
worden und bereitö böſes Blut vorhanden. Hat man und dies
und das mit Hecht zum Vorwurfe gemacht, fo haben auch mir
bied und das gegen die norddeutſche Art zu ſagen; fo kann denn
ein Verſuch, die Sache einmal in der Wurzel zu faffen und den
Kampf der Oereizten mit Befonnenheit zu einer Nationalfrage zu
erheben, nicht am unrechten Orte fein. Wie die wahre Betrachtung
von Differenzen zwifchen ganzen Völkern nur die fein Tann, wenn
man nachweiſt, wie die Mängel und Vorzüge auf beiden Seiten
fih durch gegenfeitigen Austaufch ergänzen würben, fo wirb ein
Selativer Gegenfab größerer Stämme innerhalb eined Volkes, in
dieſem Sinne zur Sprache gebracht, aus den Reibungen ber Pri⸗
vatleidenſchaft zu einem heilſamen Austauſche gegenfeitiger Zuges
Kändniffe und einer vernünftigen Bemühung führen, fich gegen»
feitig zu ergänzen. Kann ich mich nicht zur Höhe des ganz
Unparteilfchen erheben, jo mag die Ienfeitigen das Geflänbniß
verjühnen, daß ich 68 mir nicht zur Ehre fhägen würde, aus ber
&
7
Subflanz meines Stammes ganz heraus zu fein, wäre dies auch
möglich; hebe ich das Enge, Trifte in unferen provinziellen Zu⸗
ſtaͤnden wielleicht nicht ohne Bitterkeit hervor, jo bürfen die Dies⸗
feitigen glauben, daß ich dennoch heute, wenn ich vom Vaterlande
ſcheiden müßte, nah den Rebenhügeln des Nedars, nad ben
weichen und zutraulichen Klängen ber heimifchen Sprache, nad
all der behaglichen Vetterlichkeit und Bäslichkeit mic) mit ganzem '
Herzen zurüdjehnen würde. Darum aber muß ich inftändig bitten,
daß Niemand, was ich von relativen Gegenfügen des norbbeutfchen
und ſüddeutſchen Nature fage, abfolut nehme, oder deſſen Rich⸗
tigfeit an Individuen meſſe, in denen das Daterländifche bis zu
einem Minimum verwifcht ift.
Ich werde bei diefer allgemeinen Seite Länger verweilen, als
nothwendig wäre, um den Verf. des Lebens Jeſu, wie feine Natur
und Bildungsgefhichte prowinziell bebingt ift, zu charakterifiren.
Die Eharakteriftifen, welche dieſe Zeitfhrift zu Tiefern ſich vorge⸗
nommen hat, dürfen wohl etwas von der Natur des Epos an- _
nehmen, file dürfen in das Privatleben, das Subjective, die Breite -
gegebener Zuftände eingehen, allerlei Nebenwege und Fußpfade
einſchlagen, mitunter wohl auch an einer grünen, fehattigen Stelle
ſich etwas niederlaſſen und dem Gefange ver Vögel horchen, wenn
fie nur nicht allzuſpät wieder in den vorgefeßten Weg einlenfen ;
ber ftrenge dramatiſche Gang und die gemefiene Eile nach dem
mörberijchen fünften Acte mag den Kritiken überlaſſen bleiben.
Das ſüddeutſche Naturel im Allgemeinen repräfentirt gegen-
über dem norbbeutfchen Die Kräfte ver Sinnlichkeit im niedern wie
im höhern Sinne, frifche Genußfähigkeit, fo wie Friſche in denje⸗
nigen Thätigfeiten des Geiftes, welche den Gedanken involvirt in
8
finnliche Form, in der Geftalt des Unmittelbaren zu Tage bringen:
im Elemente ethifcher Empfindung das Gemüth, im Elemente der
Kunft die Phantafle. Wir Einnen alles in den Begriff der Naivie
tät zuſammenfaſſen, wenn nur nicht überfehen wird, daß diefer
Begriff auf bie verfchlenenften Stationen geiftiger Bildung An⸗
wendung finden kann, daß er Feineömegd bloß den Zuftand der
Kinder bezeichnet, fondern eine Tinctur, eine allgemeine Atmo⸗
fphäre, welche auch über eine reich entwickelte und vielfach reflectirte
Bildung ausgebreitet fein Tann. In diefen Elemente wird nicht
nur der zerfeßende Berftand weniger hervortreten, fondern auch der
bandelnde Wille nicht fo flraff angezogen und decidirt fein, als
wo die ganze Bildung aus der Sphäre der Naivität heraus ift.
Der Dichter fchlendert, geht ſpazieren, fteckt die Hände in die Tafche
und gafft nach den Vögeln, darüber ftößt er leicht die Naſe an
und wird ausgelacht. Nicht ald ob er im Blauen nach leeren
Idealen tagte, er ſucht das Große auch in der Gegenwart und
will, daß es geichehe. Laßt die Idee auch in der Politik einen neuen
Aufſchwung nehmen, und fein offenes Gemüth wird fich ihr freu⸗
dig aufthun. Süddeutſchland war im Mittelalter nicht nur in rein
geiftigen Dingen, fondern auch im politifcden Leben der claſſiſche
Boden Deutſchlands; der Mangel an Raſchheit des Willens und
Entſchluſſes, welchen die ſüddeutſche Naivität mit fich führt, kommt
in ganz anderen Gebieten, ald denjenigen zum Borfchein, wo das
Leben in's Große geht und Ideen berrichen. Darauf werben wir
wieder zu fprechen fonımen. Man kann auch in der Politik ein verſtän⸗
diges und ein poetifhes Princip unterfheiden: jenes tft das Princip
des über bie Individuen übergreifenden abftract Allgemeinen, dieſes
bad Princip der Individualität, wenn man will, das bemofratifche.
9
Beide Principien zu vereinigen, tft die Aufgabe des Staates. Im
Mittelalter berrichte das zmeite fo tiber das erfte vor, daß von
Staaten: hier kaum geſprochen werben kann: atomiflifcher Eigen-
wille der Einzelnen, die einander nicht entbehren konnten und doch
durch Fein zwingendes Band der Allgemeinheit zufanmengebalten
waren. Die moberne:Zeit fehuf eigentlich erft viefes Band, neben
welchem aber in den conftitutionellen Staaten des füdlichen Deutſch⸗
lands jenes Moment der Individualität als Liberalismus kämpfend
fortdauert, in Norddeutſchland dagegen, wo die gefchichtlichen Be⸗
dingungen ganz andere find, entſchieden zurücktritt. Wenn ich hier«
mit dem ſüddeutſchen Naturel auch im Politifchen das poetifche
Moment vindicire, fo will ich damit Feinedwegs fagen, daß Süb-
deutfchland die Poefle gepachtet habe, aber daß es der claſſiſche
Boden der Poefle im eigentlichen Sinne war während des Mittels
alters, weiß die Geſchichte. Von der Reformation an wurde ed
anders. Mit ihr trat das Princip der Neflerion, Kritik, ded Ver⸗
flandes, der Subfectivität, die ihre naiven Zuftände audgetreten
hat und das Allgemeine in Form des. Gedankens ſucht, in bie
deutſche Geifteöwelt ein, und mit ihr rückte der Heerd der deutſchen
Bildung immer mehr nah Norden. Preußen, der Staat bed
Proteftantismus ‚. durch die Gewalt des Verftandes auf unbedeu⸗
tenbe Bergangenbeit und mageren phyſiſchen Boden gebaut, erhob
ſich als Centrum der norddeutſchen Bildung, und es entwickelte
ſich der große Gegenſatz des norddeutſchen und ſüddeutſchen Geiſtes.
Derjenige Theil von Süddeutſchland, wo die Reformation nicht
durchdringen konnte, iſt von nun an nicht mehr der Heerd ter
deutſchen Intelligenz; mag das Gebiet der Empirie mit großer
Grünblichkeit und großem Erfolge angebaut werden, mag bie
*
10
Kunft mit veicheren Kräften der Sinnlichkeit fortblühen, mag ein
frifcherer Lebensgenuß dem norbbeutichen Gaſte ein Capua bereiten,
mag alles Liebenswürdige der naturfrifchen Kraft, der Natvität,
ber ſchlichten Gediegenheit feinen Reiz über diefe Gegenden aus⸗
breiten: die Geſchichte des deutſchen Geiftes bat hier nicht mehr
ihre Seimath, und der proteflantifhe Gaſt muß in dieſem Epiku⸗
reiſchen Elemente dennoch von Heimweh ergriffen werben.
Bon diefen Tatholifch gebliebenen Theilen fondert fih nun vor
allem Wirtemberg, das alte Wirtemberg mit Ausnahme feiner
oberſchwäbiſchen Erwerbungen, wo noch ein heiterer Katholicismus
lebt (von den fränfifchen wird nachher die Rede fein), auf eine
eigenthümliche Weife ab, oder vielmehr es bilvet ein intereflantes
Bermittlungsglied zwifchen dem Norden und Süden. Der Eigen-
thümlichkeit des Südens, der Sphäre der Naivität gehört es noch
jet unzweifelhaft an; noch wird jeder Norddeutſche hier das füh-
deutſche Behagen, das gefunde Phlegma, die frifche Genupfähigkeit,
das Gonerete und Compreſſe einer feft in fich zufamengehaltenen
Gemüthöwelt, ex wird vie wefentlichften Elemente des Mittelalters
bier finden; wie wirb er fich aber täufchen, wenn er darum meint,
ein Naturvolk vol heiterer IUufionen über die wichtigften Angeles
genheiten des menfchlichen Geiftes zu treffen! In dieſem weichen,
fheinbar durchaus behaglichen Elemente wird er auf die ſerupu⸗
Köfefte Dialektik, auf die tiefften Zweifel, auf das weiteſte Interefie
an ben fpibigften Fragen moderner Bildung, auf eine melando-
liche Entjagung, er wird auf fo viel Hamlet und Fauſt floßen,
daß feine etwaige Luft, fich zu der erwarteten Raivität ironiſch zu
verhalten, leicht ſelbſt als Natvität Eönnte zu flehen Eommen. Die
Sache ift einfach: Wirtemberg nahm bie Reformation mit einem
11
Eifer, einer Entſchiedenheit auf, wie Fein anderer fübbeutfcher
Staat. Die Religion, die Confeſſion ift eine Probe des Menfchen,
fie ift fein äußerlich umhängender Mantel, fie geht bis in bie
Fußfpite. Das Princip der Subjectivität, der Breihelt, der Re⸗
flerion in fich, der Losfagung vom Gegebenen und bloß Pofitiven,
ift identiſch mit dem bed Proteftantismus, fo Inconfequent diefer,
wie er gefchihtlich auftrat, in der Durchführung dieſes Principe
verfahren mochte. Der Proteftant ift ein für allemal entjchlofien,
aus der finnlihen Anſchauung, aus der Meinung, daß geiftige
Wahrheiten ein äußerlich Gegebenes, ein Stoff, ein Ding feien, ſich
in fich ſelbſt zurückzunehmen und nichts als wahr anzuerkennen,
was nicht ein Proceß des eigenen Bewußtſeins, eigenes Thun,
felöfterlebt und ſelbſtbegründet iſt. Er ift aus der Strömung der
Subftanz heraus und auf die eigenen Füße getreten, hat die Autos
rität abgeworfen und den Weg des Zweifeld betreten, der zwar
burh Dornen, aber doch allein zur Freiheit des Geiftes führt.
Man kann nun jagen: dad Nuturell ded in unfern Gegenden
angefledelten Volksſtammes hat eine befondere Empfänglichfeit
für dieſes weltgefchichtlihe Princip in ſich getragen, oder: bie
Aufnahme dieſes Princips bat unjer Naturell aufgeweckt und
und die Augen aufgethan; ohne Zweifel ift beides richtig. Die
Auswanderungs⸗ und Reiſeluſt der Schwaben beurkundet einen
angebornen Sinn in die Weite, einen Trieb, zu erfahren, was
b’nter ven blauen Bergen ſei, und hängt gewiß mit dieſem gei⸗
fligen Freifinne zufammen. Das Eigenthümliche aber ift, daß
hier ſcheinbar widerſprechende Kräfte ineinander verwachſen find:
das Moment der tieferen Meflerion, ver Freiheit von Autoritäten,
der Kritik, der Innerlichkeit, und zugleich vie Kräfte des Mittel-
12
alters, die Naivität, die Naturfrifche, die Naturbehnglichkeit, das
einfachtreue, fchlichte, alte, körnig fubftantielle, gebrungene Wefen.
Will man den Sinn des Wirtembergerd in ein kurzes Wort zu-
fammenfaffen: e8 iſt, was ber unlösbarfte Widerſpruch fcheint,
das Moment der Reflexion in fi, des freien und Eritifchen Gelbfi-
beiwußtfeind | ; in ber Born ver Naivität..-E8 ift hier nicht der Ort,
bie die Frage zu löſen, wie ſcheinbar fo disparate Elemente ineinander
implicirt fein önnen; wer aber überhaupt erwägt, wie bei allem
raffinirten Nivellement der modernen Zeit, wodurch alle Naivität
und nafionelle Beſonderheit aufgehoben zu werden fcheint, dennoch
ber Engländer Engländer, der Sranzofe Franzoſe, der Italiener
Italiener in al feinen Thun und Wefen bleibt, der wird auch
dieſe Erfcheinung nicht unerflärbar finden.
In dem Kleinen Gemälde der ſchwäbiſchen Art und Bildung,
bag ich hier entwerfen will, werben wir auf eine Dienge von
Widerſprüchen ftoßen, ohne und, nachdem wir biefen höchften
nicht befrembend gefunden haben, dadurch irren zu laflen; -viel-
mehr werben wir entgegengefegte Eigenfchaften, wo fie und be-
gegnen, Teicht außeinander ableiten und als die Kebrfeiten einer
und derjelben Grunbeigenfchaft einfehen. Das Individuum, defien
bebeutende Leiftung uns zu biefer Schilderung die Veranlaffung
gab,. werben wir Dadurch nicht zu weit aus den Augen verlieren,
fondern die Summe der gefammelten Bemerkungen wird und zur
Beleuchtung dieſes Charakters weſentliche Dienfte. leiſten, wir
werden eben jene Doppelnatur des ſchwäbiſchen Weſens in ihr
aufs reinfte repräfentirt finden: auf der einen Seite ben poeti⸗
ſchen Tieffinn, auf der andern bie Kraft und Kühnheit des Zwei⸗
| feld, ver Kritil. Ich weiß wohl, daß man Stranf vie erftere Seite,
13
ben Poetiſchen Tieffinn, ganz abgeſprochen und ben bloßen Scharf«
finn vindicirt hat, aber ich Hoffe, wir werben dies anders finden.
Greifen wir indeſſen nicht voraus.
Das tm allgemeinen Umriſſe oben geſchilderte ſchwaͤbiſche Na⸗
turell aus den Charakter der Race, der umgebenden Natur, der
Lebensart u. f. w. gefchichtlih zu erklären, überlaffen wir dem
Siftoriker, und deuten nur voübergehend auf die geographifche
Beitimmtheit des Landes hin. Wir haben Berge. Dieß ift wich«
tiger, ald man glaubt, auch für die geiftige Entwidelung. Berge
wirken mächtig auf die Phantafle, die duftigen Conturen anı Saunite
des Horizonte führen die Seele ind Unendliche hinaus und ſtimmen
poetifh. Wir find aber Fein Gebirgsvolk, d. 5. Fein durch großes
und zufammenhängendes Gebirge von ber Eultur abgefhlofienes
und in kindlicher Naivität zurückgehaltenes Boll. Die deutſchen
Stänme, welche fo wohnen, hat ein unglückſeliges 8008 getroffen.
Die Naivität kann ihrer höchſt verführbaren und widerſtandsloſen
Natur nach dem modernen Elemente in die Länge nicht verfchlofien
bleiben. Da nım diefe Stämme bafjelbe nicht von innen heraus
entwickelt, fich nicht aus fich felbft gebildet haben, fo kommt
ihnen die Gultur als ein verderblicher Giftftoff von außen; fie
nehmen ihre fehlimme Seite, dad Naffinement, die Corruption,
wie Wilde den Branntwein, zuerft auf, ehe die gute einzubringen
vermag. Eine Sündfluth von Reifenden trägt den Schlamm ber
Bildung in die Schweiz, und wir fehen bie Rohheit der Natur mit
den Laftern der Cultur im häplichften Bunde. Seit einiger Zeit
wird Tirol immer mehr zu Reiſen empfohlen; wie lange wird es
dauern, fo wird man flatt der alten Tiroler Menfchen finden, die mit
ihrer ehemaligen Naivität coquettiren, mit Ihrer Nationalität, ihren
44
Toͤchtern Handel treiben, an jebe ihrer Naturfchönheiten eine Bube
ſetzen, um fich den Anblick bezahlen zu laſſen, und meber Natur-
menschen mehr noch gebildete Mienfchen find. Es muß ja jo fommen,
die liebe Natur muß der Bildung weichen, aber herzzerreißend ift
diefer Anblick eines verfpäteten Uebergangs der Natur in eine über-
reife Eultur. Bald werden alle romantifche Trachten in Europa
verſchwunden fein; es fei denn, aber ven Türken, ber noch ben
Turban, dazu aber einen Brad trägt, willich nicht fehen. Wirtem-
berg liegt vom großen Verkehre allerdings zu fehr ab, um bie
nivellirende und raflrende moderne Bildung in dem Grade, wie
3.2. Baden, aufgenommen zu haben; aber e8 nahm von jeher
an allen geiftigen Fortſchritten Deutſchlands fo pofitiven Antheil,
daß es das Glück genießt, feine naive Eigenthümlichkeit bewahrt,
und doch, indem es ſich von innen heraus felbft bilvete, frühzeitig
genug vom Baume der Erfenntniß des Guten und Böſen gegeflen
zu haben, um in den Steigerungen moberner Cultur beides unter-
ſcheiden zu können.
Unſer Klima iſt günſtig, unſer Boden fruchtbar; wir erzeu⸗
gen Wein und trinken Wein. Der Schwabe iſt lebhaft und
flink wie alle Weintrinker; nur durch die blöde Oberfläche, die Ab⸗
neigung gegen alle Affectation, die er irrig auf jene gewandte Form
überträgt, die Schamhaftigfeit gegen jede allzu haftige Beweglich⸗
feit des geiftigen Intereſſes fcheint er phlegmatifch. Doch bietet unfer
Boden Leinen Teicht zu eriwerbenden Genuß, die Uebervölkerung
fordert mühfamen Fleiß. Der wirtembergifehe Bauer und Wein-
gärtner ift durch feinen Fleiß berühmt, aber auch ben andern Stän⸗
den darf man Liebe zu angeftrengter Thätigkeit nachrühmen. So
arbeitet die Natur im harten Kampfe fih ab, der. Wille fühlt ſich
19
und das gluͤckliche, aber unfrele Behagen eines Naturvolks Legt
weit hinter ung, Wir haben feinen Ueberfluß, um Epikureiſch
geſtimmt zu werben, und doch reichlich genug, um, wie alle Suͤd⸗
beutfehen, in der Kargheit des norddeutichen Flachlandes uns un⸗
heimlich zu fühlen. Man darf dem Oberdeutſchen nicht fo übel
nehmen, daß er mit einem Fleinen Schauder an die ſchmalen Biſſen
im Norden denkt; er fühlt, daß ed nicht das Schlimmfte in feinem
Nature ift, was mit der reicheren Fülle feiner Genüffe zufammen«
bängt. Ich erinnere nich, wie mich im Theater zu Berlin bei der
Aufführung eines glänzenden Ballets plößlich der Gedanke überfiel:
jo viel Pracht, und doch haben fle feinen Wein! Die Nebenhügel
des milden Schwabens thaten fi vor mir auf, ich hörte das
Jauchzen der Winzer, ein fehmerzliches Mitleid mit den Bewoh⸗
nern dieſes Fargen Bodens, ein großes Heimmeh kam über mid.
Der ſchwäbiſche Dialekt fpricht treu wie jeder Dialekt den
Volksgeiſt aus. Ich fpreche von dem Dialekte in Alt= Wirtemberg,
der zwiſchen dem des oberen und unteren Neu⸗Wirtemberg in der
Mitte fteht. Die rauhen und harten Töne, das Unfrete und Schwere
des oberſchwäbiſchen hat er ausgeſtoßen und neigt fich zu den wei⸗
cheren Formen des fränkiſchen. Die Nähe Sranfens, deffen beweg⸗
lichere und zugefpigtere Sprache, deſſen freiere Form und Sitte den
Uebergang zur norbbeutfchen Art bildet, jo wie bie frühen Ein⸗
flüffe ver Reformation als der Mutter des neuhochdeutſchen Sprach“
niederſchlags haben hier den alemanniſchen Dialekt aufgeweicht
und anfgeflärt, ohne ihm das Zutrauliche, Heimliche, Offenherzige,
Liebkofende, Naive zu nehmen. So durchdringt ſich auch bier
das Freie, Selbſtbewußte, Meflectirte mit dem finnlih Behag⸗
lichen, das Straffere mit dem behäbigen Schlendern. Die Nord⸗
16
deitihen ſind in der Nachahmung unfered Dialekts beſonders
ungtüdtih; Altbairiſch, Deſtreichiſch, Schweizeriſch, weiß der
Simmel wad noch, wird für Schwäbiſch ausgegeben, und die
Schwaben ärgern fih darüber, weil der Dialekt zu der inner-
fen Individualität gehört, und man ja Niemand zwingt, unfern
Dialekt nachzuahmen, ber es nicht verfieht. Zu den bezeih-
nenden Erſcheinungen gehört auch dies, daß vielleicht mehr als
irgendwo in Deutſchland (die Schweiz und Oeſtreich ausgenom⸗
men) auch die gebildeten Stände den provinziellen Dialekt reden,
jo daß auch nach diefer Seite das Neflectirte und durch Bildung
DBermittelte im Elemente ber Unmittelbarkeit verblieben iſt. Der
Norddeutſche befindet fih in Beziehung auf die Sprache in einer
ganz andern Situation. Da der ober- und fühbeutfche Dialekt es
war, aus dem das jeßige Hochdeutſch mit ungleich geringerem Ein-
ſchlage des Plattveutfchen fih gebildet bat, fo Liegt für den Norb-
beutfchen eine trennende luft zwiſchen feinem Dialekte und ber
gebildeten Sprache. Er Hat von feinem Dialekte aud viel weiter
zu biefer, als der Süddeutſche, ebenvaher Tpricht er fie befler,
denn er verzichtet vorneherein auf die Rechte feined Dialekts und
rebet fie von KRindesbeinen an als Kunftfprache, wodurch eine
ſolche Sertigfeit entfteht, daß fie ihm zum Dialekte, zur Natur«
ſprache wird, und derjenige, ber: die Gefchichte der deutfchen
Sprache nicht kennt und nicht weiß, daß Hochdeutſch eigentlich
Süddeutſch bedeutet, in den Irrthum geräth, das Hochdeutſche
fei in Norddeutſchland zu Haufe. Weil num der Norbdeutiche
feinen urfprünglichen Dialekt vorneherein auf die Seite legt und
nur im engſten Kreife anwendet, fo ift, indem bie Kunſtſprache
ſeine gewöhnliche iſt, ſein ganzes Bewußtſein vorneherein anders
17
- beflimmt: durch den Klang und Charakter feiner Rebe füßtt.er
fih von Haufe aus in das Clement der mobernen Reflerions-
bildung geftellt, in dad Clement der Allgemeinheit, worin von
dem Individuellen und Unmittelbaren provinzieller Naivität ab»
firahirt iſt. Ebendaher fühlt er ſich mehr als Deutſchen über⸗
haupt, während derjenige, der im Dialekte redet, ſich mehr als
Kind ſeiner Provinz fühlt. |
Das fprachliche Clement, in welchem der ſchwabiſche Ver⸗
kehr fh bewegt, führt uns von feldft zunächft auf die gefelli-
gen Bormen und Zuftände meined Vaterlandes. Es iſt nicht
zu läugnen, daß bei aller Wärme und Zutraulichkeit des geſelli⸗
gen Lebens in Schwaben weit weniger Heiterkeit, Sorglofligfeit,
unbefangene Singebung an Genuß und Zerfireuung fich finbet,
ala in den Fatholifhen Ländern Süddeutſchlands und auch in
den proteftantifehen Diftricten am Nheine und in Franken. Es
iſt etwas Nachdenkliches, Scrupulöſes, Sorgenvolles, ja Triſtes,
was den Schwaben auch in ſeinen Zerſtreuungen verfolgt. Der
Bauer, der Weingärtner, der Handwerker trinkt ſich wohl auch,
wenn die Börſe reicht, ſeinen tüchtigen Rauſch, jauchzt und tanzt,
aber wer einem fränkiſchen, bairiſchen, öſtreichiſchen, badiſchen
Volksfeſte beiwohnt, findet ein weit farbenhelleres Bild, volleres
Behagen, unbedingtere Luſtigkeit. Abgearbeitete, ſorgenvolle, ge⸗
drückte, ſubmiſſe Phyſiognomieen, die urſprüngliche Kraft und
Schönheit der Race degenerirt, verkrüppelt durch harte Arbeit;
nur der Schwarzwälder, die derbe Steinlacherin, der Aelbler
und der wohlhabende Städter erinnern dich, wie ſaftig und roth⸗
badig, großglieverig und ſtämmig urfprünglich dieſe Bevölkerung
if. Wo ſchon das Kind ſchwere Laften von Holz aus bem
Kritiſche Gänge. 2
18
Walde, ſchwere Bütten Erbe die Weinberge hinauf fchlepyen,
baden, frieren, hungern muß, da kann Fein fchöned Fleiſch
gebeihen; unfer Milttär iſt das Eleinfte und leibarmfte in ganz
Deutſchland, aber flinf,. tapfer, die Sehnen zu großer Ausdauer
gehärtet. Außer diefen äußeren Momenten haben auch ‚innere
eingewirkt, vor allem ber büflere Nigorismus, der unverfenn-
bar mit der Einführung der Reformation in unferm Lande fih
verband, — ein Moment, auf das wir wiederholt werden zurüd
kommen müffen — ein melancholifcher Lebensernft, der ſich über
bie Schmerzen und die Schuld der Enblichfeit nicht leicht hin⸗
wegtäufcht, wie eine Tatholifche Bevölkerung, welche den Kampf
ber Reue und Entfagung aus dem Innern herauswirft, auf den
Priefter abladet, durch Bußwerke und die magiſche Kraft ber
Abſolution ſich erfpart. Die Volkstracht tft eben nicht geeignet,
einen heiteren Eindruck zu machen; nur in ganz Eleinen Diftric-
ten bat fich beim weiblichen Gefchlechte romantiſcher Schnitt und
bunte Farbe erhalten, fonft herrſcht überall dad melancholiſche
Schwarz und Grau, bei den Männern hat fi gar ein halb⸗
moderner Schnitt, natürlich zur Caricatur entftellt, eingedrängt.
Sp auffallend iſt hierin der Abftich zwifchen der Fatholifchen und
proteftantifchen Bevölkerung, daß unmittelbar angrenzende Ort⸗
ſchaften nach der Eonfeffion vollftändig verſchiedene Tracht haben,
bie Fatholifchen Weiber hohe, goldgeftickte Hauben, rothe Mieder,
lange Schnürleiber, blaue und rothe Röcke, Turz alles wohl-
gefälliger, bunter, die proteſtantiſchen unfürmlid und fchwarz.
Dies beweift, daß bier ebenfalls der Rigorismus proteftantifcher
Geiftlichen im Anfange der Reformation eingegriffen haben muß.
Sole ſcheinbare Aeußerlichkeiten find wejentlicher, als man
19
glaubt: die Verbannung bed Romantiſchen aus der unmittel-
Baren Wirklichkeit verändert die ganze Geflalt des Bewußtfeins,
ober Hi ein Beweis ihrer Veränderung, am richtigften beides.
Der gefellige Ton unferer gebildeten Stände wird dem Nord⸗
beutjchen das Bild einer naiven Behaglichkeit geben. Der Schwabe
verhält fih in Rede, Geberde, Ion offen und zutraulich, er geht
fo zu jagen mit feiner ganzen Seele im Gefpräcde auf, e8 werben
ihm immer zehn Naivitäten entichlüpfen, bis einem andern
Deutſchen eine. Es ift aber um biefe Naivttät nicht etwas fo
Einfaches, als es fcheinen möchte. Zunächſt mag man es immer⸗
bin ald einen Mangel an Selbſtbewachung und Reflexion be⸗
zeichnen; ein Dingegebenjein an ven Gegenftand, ein fih Gehen⸗
laſſen und nicht auf die Hinterbeine flehen, dad ben Norddeut⸗
ſchen ‚leicht einladet, über die feheinbar kindiſche Natürlichkeit und
Ehrlichkeit mit dem Abenden Stoffe der Meflerion und Ironie
herzufahren, und, beiläufig gefagt, hierin befteht die eigenthünt«
lich norddeutſche Grobheit. Der Schwabe, der Süddeutſche über _
haupt, ift grob genug, aber feine lümmelhafte und breitſchultrige
iſt immerhin humaner, als jene ſcharfe, zweiſchneidige Grobheit,
welche aus dem Verſtande kommt. Es läßt fich einer gehen,
ſchwatzt einmal in der tollen Laune reinen Unfinn, giebt fi
aus Humor felbit in die Rolle eines Simpelhaften, fpricht in
phantaftifchen Bildern: da kommt nun ein Kluger ber, mißt
den Holden Wahnfinn nad) Geſetzen bed correcten DBerftandeg,
giebt unverſehens ein Katzenpfötchen hervor und haut dem guten
Narren eins herüber; dieſer, ber eben aufgeblüht, rückhaltslos
in dem friedlichen, warmen, behaglichen Elemente der Geſellig⸗
keit ſchwamm, erſchrickt, findet, durch den plötzlichen Friedensbruch
| 2%
20
alterirt, daS rechte Wort ber Entgegnung nicht, und muß ‚ben
Hieb auf fih figen laſſen. Died tft wohl mehr ald einem
Schwaben mehr als einmal in norbbeutfcher Geſellſchaft ger
fhehen. Der Schwabe hat wenig Saar auf der Zunge, er
kann nicht „hinausgeben“, er ift gegen ſchnelle Angriffe dieſer
Art wehrlos, er läßt zahlloſe Sottifen ungerächt auf fi
figen: Sottifen, gegen die er wohl, aber erft wenn ber Be⸗
Jeibiger weg war, im Stillen ſehr kunſtvolle, wohlgeſetzte,
ja zermalmende Neben Hält. Wenn aber bie Naivität im
Allgemeinen als eine Natürlichkeit zu betrachten if, die in
einem Zufammenhange, in welchem Fünftliche und reflectirte
Formen herrſchen, überraſchend Hervorfpringt und durch den
Contraſt mit dieſen ein Lachen erzeugt, ſo iſt die ſchwäbiſche
hierdurch keineswegs genügend erklärt. Es kommt darauf
an, welches die Urſache des Mangels an Selbſtbeobachtung und
Selbſtbewachung iſt, die jenes unvermuthete Hervortreten der
Natur veranlaßt. Bei dem Schwaben iſt dieſe Urſache Feines-
wegs geradezu in einer naturfriſchen, kindlich bewußtloſen Un⸗
mittelbarkeit zu ſuchen, vielmehr in einer Neigung zur Inner⸗
lichkeit und Contemplation, welche das Thema des Geſprächs
tief in fich hereinnimmt und, während die Unterhaltung beweg⸗
lich den Faden fallen läßt und an andern Gegenfländen Hin»
Kauft, noch innerlich damit befchäftigt ift: nun plaßt er auf ein⸗
mal mit dem Reſultate feiner Gontemplation hervor umb giebt
ein Pathos, eine Innigkeit des Interefied preis, welche die auf
ber Oberfläche fpielenden Andern lächeln macht und allerbings
nicht gerabehin zu billigen iſt.
21
Was iſt dumm? Es giebt darauf ſo viele Antworten, ala
en ea Bälter, Lebensanfichten und geiftige Kräfte giebt. Der Schwabe
erſcheint Teicht dumm, und er tft e8, wenn man darunter Dian«
gel an beftändiger Aufmerkſamkeit auf die Gegenflände und an
practiſcher Reſolutheit verſteht. Diefe Mängel können ihren
Grund in fehr pofltiven Kräften der Intelligenz haben, und fie
haben ihn in. der contemplativen Natur des Schwaben. Er ver-
tieft ſich, flatt die Dinge friſchweg zu ergreifen und zu verwen«
den, ihren formellen Zufammenhang eilig aufzufafien; dies giebt
einen Anftrih, von Blindheit, von — ich Tann e3 nicht anders
als vernagelt nennen. Da fteht er in einem Innern Summen
und Muflciren unbeflimmier Gedanken und Bilverzüge, fperrt
ben Mund auf, gafft fo. vor ich hin, und wenn es etwas zu
Holen giebt, kommt er zu fpät. Myſtificiren, übertölpeln, über
vortheilen kann man ihn Teichter als Andere. Es ift in Schwa⸗
ben bei Männern von großer Gelehrfamkeit nicht nur, fondern
auch allgemein menſchlicher Cinfiht und Bildung ein Grad von
Erfahrungslofigkeit und Mangel an Welttenntniß zu finden,
der unglaublich fcheint. Es ift etwas Simpliciſſtmusartiges in;
und; aber in biefem Schlendern, in biefem Verdummt⸗ und.
Bernageltfein: da wachen bie füßen Lieder unferer Dichter und Ä
die ewigen Gedanken unferer Philofophen. Dem Norbbeutfchen /
mit feinem weltſcharfen Verſtande geſchieht es leicht, Producte
der Phantafſie und Vernunft nach Kategorien des Verſtandes
zu meſſen; nennt er uns dumm, weil wir oft aus der Phan⸗
taſie reden, wo er nur Verſtand erwartete, weil wir vernagelt
ſtehen, nach innen wach, nach Außen ſchlaäͤfrig, während ihm
immer der Kopf am rechten Flecke ſitzt, ſo nennen wir ihn
=
22
dumm, wenn in Rede und Schrift dfters ſein relativer Mangel
an Kräften der Anfchauung, der gefunden Bildlichkeit, ver Phan⸗
tafte zum Vorſchein kommt und menn er fih in höheren prak⸗
tiſchen Sphären durch feine große Neigung zu abftractem En⸗
thuflasmus büptren Täßt. — Da ſedoch dad Wort dumm
gewöhnlich als Gegenfak von geſcheut gebraucht wird, dieſes
aber die Wachſamkeit des Verſtandes und die reſolute practiſche
Klugheit, nicht die Kräfte der Phantafie und Contemplation
bezeichnet, fo hat der Norddeutſche größ red Recht, wenn er und
dumm nennt. Die Schwahbenftreiche Taufen alle auf Dummheit
in biefem Sinne hinaus, auf Thorbeiten im Gebiete des Zweck⸗
mäßigen, und ich glaube felbft, daß man ſolche auch bei Öffent-
lichen Unternehmungen in Schwaben häufiger als anderswo findet.
Wentgftend wird man nicht Teicht irgendwo die Landſtraßen mit
folder Conſequenz über die fteilften Bergrüden geführt finden,
wo juft Daneben ein günftiges Terrain bie leichtefte Steigung
darbot; nicht leicht wird man in Dffentlichen Bauten fo verkehrte
Streiche erleben, wie in Stuttgart, wo man noch neueftens ein
Kunfigebäube an den Staub der frequenteften Chauſſee ſetzte.
Der Schwabe hat fehr wenig Beredtſamkeit; feine Rede ift
kurz, arm an Wendungen und Phrafen, aber concret, anfchau«
fh, und trifft mit einen faftigen Bilde den Nagel auf den
Kopf; darin liegt freilich das Talent zur höheren Beredtſam⸗
keit, dies ift aber keineswegs ausgebildet, der Schwabe muß ſchon
warm und poetiſch geftimmt fein, wenn es ihm fließen fol. Der
Norddeutſche Hat eine ungleich größere, ſtets zur Hand liegende
Summe von fihon geprägter Wortmünze, namentlich von abſtrac⸗
im allgemeinen Ausdrücken, bie überall bin paflen; er fagt gern
23
mehr als er weiß, und ber Schwabe weiß oft mehr als er ſagt.
Dagegen ift er weitläufig, wo er kurz fein follte, er iſt cere-
moniöd. Der Norbdeutihe fagt: guten Morgen, guten Abend,
macht eine Eurze Verbeugung, und tft aus dem Zimmer, ber
Schwabe jagt: fühl mich ehne Eorfam, macht fech8 tiefe Ver⸗
beugungen und ftolpert auf der Schwelle. Geberbe, Bewegung
ungelenf, umftändlih, breit, bequem, im Norben decidirt und
friſchweg. Wie geht ein Schwabe fo ganz anders! Wo find
in ben norddeutſchen Städten die weingrümen, arronbirten guten
alten Herren, die behaglich durch die Straße fehlenden, benen
man anfleht, daß fle mebitiren: wo trink ich einen guten? Alles
Läuft, alles eilt, als preffirte ed beftändig.
Schwaben ift immer im Nachtrabe ber Mode; als im Jahre
1832 zuerft ein ganz langer Winterüberrod, wie man fie im
übrigen Deutfhland ſchon wenigftens zehn Jahre lang trug, nad
Tübingen Fam, entbrannte ein allgemeiner, kaum zu beſchwich⸗
tigenber Aufruhr der Gemüther, und ed wurben wirklich ver»
fhiedene gute Wibe über dad Meerwunder zu Tage gefördert.
Sp induſtriös das Land tft, an Kunftfertigfeit in Artikeln der
Eleganz, namentlich was Kleidung ‚betrifft, fehlt ed ganz. Der
Stuttgarter Schneider läßt fich zahlen, wie ber Londoner, und
dafür befommft du unfehlbar verhungte Kleider. Dean kann in
Schwaben fein Kleid machen; das ift wieder ein wichtigerer Um⸗
ftand, als man glaubt. Wer verzwickte Kleider anhat, dem muß
es auch in feinen ganzen Benehmen an Sicherheit, Breiheit und
Deciflon der Formen fehlen, und dieſes wieder nach innen eine
Verſchüchterung bed ganzen Bewußtſeins bewirken. Die Chemifette
bauſcht fi auf, am Halstuche will der Knoten nicht glüdten, Mod
24
und Beinkleid ſchlottern oder preſſen, der Stiefel drückt ober lum⸗
melt, wer kann da hinſtehen und auftreten, wer kann repraͤſentiren?
In den geſelligen Genuͤſſen unſerer gebildeten Stände findet
fh noch viel altſchwaͤbiſche Zutraulichkeit, Ungenirtheit und
natve Munterkeit, in ber Weinlefe namentlich geht noch immer
Manches ‚in Herbft. Doch dürfte fi, wer bei den Schmwä-
‚binnen bie Natvität und zutrauliche Munterfeit unvermifcht zu
finden meint, die man ihnen von Alters her nachrühmt, bitter
getäuſcht finden. Unſere Frauen find nicht großftähtiih und frei
genug gebildet, um über jene idylliſche Naivität hinaus zu der⸗
jenigen Sicherheit gelangt zu ſein, in welcher die Kunſt wieder
zur Einfachheit und Unbefangenheit wird, und doch nicht naiv
genug, um unbefangen zu ſein. Eine höchſt verdrießliche Miſchung.
Das ganze Benehmen, das Zuthuliche, der Dialekt ſcheint dich
aufzufordern, du ſollſt nicht ceremoniös, nicht ſteif, nicht hoͤlzern
und prüde ſein: und ploͤtzlich ſtößt du auf eine Ceremonioſität,
auf eine Steifheit der Decenzbegriffe, auf eine abweiſende aͤngſt⸗
liche Kälte, welche auch dad Allererlaubteſte, ja das,, was Sitte
und Höflichkeit fordert, als Zubringlichfeit anſieht, jo daß du
gar nicht weißt, welchen Ton du denn nun anzufchlagen haft.
Es tft ein Schwanfen, eine Unficherheit und Linfreiheit, melche,
je liebenswürbiger das urfprünglihe Weſen der Schwäbinnen
ift, deſto mehr Ärgern und verfimmen muß. Es hängt freilich
mit der moralifchen Pedanterie zuſammen, von der wir nachher
ein Wort zu reben haben.
Es wäre dies anders, wenn unfere Frauen mehr in männ-
licher Geſellſchaft wären, und dann würden auch unfere Männer
an formeller Weltbildung, an Gumanität gewinnen. Allein
25
Schwaben ift, wie benn hierin ganz Süddeutſchland ſich von Rorb-
beutfehland charakteriſtiſch unterfcheidet, mit großer Entſchiedenheit
dem fogenannten Kneipfyfteme zugethban, d.h. der Mann, näm⸗
lich der Junggeſelle jenes Alters und großentheils auch der Fa⸗
milienvater geht Abends nach überſtandener Laſt des Tages ins
Wirthshaus, trinkt, raucht, plaudert. Die Frauen und Töchter
bleiben zu Saufe oder vereinigen ſich in Damengefellichaften, wo
wohl auch über Titerarifches gefprochen, ſogar gelefen wird, aber
ohne dad männliche Ferment nichts Kluges herauskommen kann.
Norbdeutichland beſitzt in der ausgebildeten Gejelligfeit, melche
beide Gejchlechter vereinigt, den wichtigften Hebel feiner geiftigen
Negfamkeit, Volubilität, Univerfalität. Inzwiſchen wie jegliches
Ding feine zwei Seiten hat, jo kann man auch vor der Hand
bie ſchwaͤbiſche Sitte nicht geradezu verwerfen. ragen, bie im
eine bedeutendere philoſophiſche Tiefe dringen, können in ber
Unterhaltung eines aus beiden Geſchlechtern gemifchten Theecirkels
nicht wohl erledigt werden, auf folche führen aber am Ende alle
wichtigern, "namentlich Viterarifchen Gegenftände, und es entfteht,
wenn fie dennoch in folder Unterhaltung berathen werben, leicht
eine gewiſſe Oberflächlichfeit des Räſonnements und Urtheils,
woburd die Frau fich über ihren Horizont hinausgerückt dünkt,
während fie vielleicht im Nächften und Einfachften zurückbleibt,
und jener gejunde Hausverftand, der aus dem ſchönen Elemente
geiftreihen Empfindens wohl auch in ben tiefften Dingen un«
erwartet das Richtige trifft, in einem reflectirenden Hin⸗ und
Herreden über Alle und noch einiges Andere feinen Halt ver-
-
liert. Inbeffen immerhin zugegeben, daß unfere Frauen durch
biefe Abfonderung auch an wahrer und Achter Bildung verkürzt
26
merben, fo bleiben ſie jedenfalls häuslicher. Sie nehmen weit
‚ mehr unmittelbaren Antheil an der Führung des Hausweſens,
als die Norddeutſchen; fle figen nicht im Zimmer beflänbig bei
feiner Arbeit und Hingeln, wenn es in ber Küche etwas an«
zuordnen giebt, fie gehen hübſch felbft hinaus, ſpicken den Ha⸗
fen, rücken den Braten and Feuer, und ich Habe eine fehr ges
bildete Frau aus höherem Stande angetroffen, wie fle einen
Häring pugte, und die Töchter, wie fie dad Treppengeländer
bohnten. Wir Schwaben find der Meinung, weit entfernt, daß
dadurch die Frauen fh heruntergeben, werben vielmehr Die Dinge
durch ihre Berührung geabelt und über die Sphäre ded gemeinen
Bedürfniſſes hinaus in einen gemüthlichen, freundlichen Schim⸗
mer gerüdt. Ober ſchmeckt die Suppe nicht ganz anderd, wenn
ein Tiebliches Weib fie wohl mit eigner Hand einmal auf ben
Tiſch ſetzt? Iſt es nicht ein freundlicher Anbli, wenn bir im
Vorübergehen aus der Küche ein ſchönes Paar Wangen und
Lippen und Augen, von der fuftigen Flamme des. Heerdes ge⸗
röthet, entgegenglänzt?
Und wird von ſchoͤnen Haͤnden dann
Dad fchöne Fleiſch zerleget,
Das iſt, wad einem deutfhen Mann
Gar füß dad Herz beweget. .
, Sort Amor naht und Tächelt ſtill,
Und denkt: nur taß, wer Füllen will,
Zuvor den Mund fih wife!
Auf der andern Seite darf man nicht meinen unfere Knei⸗
pen, fo abſchreckend einem Gafte ver erſte Schritt in bie rau-
chigen Spelunfen vorkommen mag, wo man bie reinften Weine
fuchen muß, fein ein DVerwilderungsort für unfere Männer.
Gier wird nicht bloß über Hunde und Pferde geſprochen, hier
27
erzeugt ſich im behaglichen Freiheitögefühle ver Wirthshauslaune
jener faftfprigende Wig, jener phantaftiihe Humor, jene Poli⸗
hinel-Naivität, Eurz jener Geift Fiſcharts, jener affenteurlich
naupengeheurliche Gapitalfpaß, der nur in ber wirthshäuslichen
Ungebundenbeit und Kameradenzutraulichkeit gedeihen Tann. Man
weiß, daß Theod. Hofmann, Devrient und And. Hinter der Wein⸗
flaſche bei Luther und Wegnern nicht ihre fehlechteften Einfälle
gehabt haben; unfere beften Talente Haben großentheild nicht
hinter dem Pulte, nicht bei der Theekanne, fondern an jenen
Orten, wo Gott feinen Arm fichtbarlich hervorſtreckt, zuerft
Wis, Phantafle, Kraft und Saft des Gedankens entwickelt, find
fih Hier in ber braufenden Jugendluſt ihrer zuerft bewußt ges
worben, um bann ihre Gaben in den Himmel der Kunft hin⸗
über zu retten, wiewohl auch nicht zu läugnen ift, daß manches
Talent fein Pfund- hinter dem MWeinglafe vergeubet und im Local⸗
witz verpufft. Mebrigens feid mir Zeugen, ihr Conti, welche fih in
* Stuttgart vorfanden, worin ein alter Stuttgarter Wirth dem Hrn.
Dr. Schiller und Peterfen zahllofe Portionen „Schonken“ und
zahlloſe Flaſchen Wein aufrechnet, und welche Heute noch nicht
bezahlt find! Uhland, Kerner, Schwab, Mörike, Strauß, möchtet
ihr die Wirthshausabende in Jugendübermuth durchſchwärmt,
die Nächte, wo ihr bei Geſang und Glaſe Wein auf den Tiſch
geſchlagen, könntet ihr ſie hergeben, ohne ein großes Stück Leben
zu vermiſſen? Und ſollten Jemand dieſe Namen nicht von hin⸗
reichendem Gewichte dünken: nun da ſteht Göthe, den vollen
Römer in der Hand, in der Mitte der Jugendgenoſſen auf der
Plateform des Straßburger Münſters und ſchaut ahnungsvoll
ins ſchöne Land hinaus. Wie viel Wahres und Köſtliches darf
4
28
vor weiblichen Ohren gar nicht gefagt werben! Nur eine. in
Theecirkeln vermeichlichte" Seele Eonnte ben trefflichen. Sim-
plieiffimus fo unverantwortlich caftrirt, ja in Ton und Wort
durch und durch entftellt herausgeben, wie von Bülow es ge⸗
than hat. Er fagt in der Vorrede, er habe alles geftrichen,
was ein zartered Gemüth verlegen könne. Was zartered Ge⸗
müth! Krankes Gemüth! Der Simpliciffinus in aber ni
für Kranke, fondern für Gefunde.
Da in Folge der gefchilderten ſchwäbiſchen Sitte dad Wohn-
haus nicht der Mittelpunkt des größeren geſelligen Verkehrs iſt,
bleibt die Familie weit enger in ſich zuſammengeſchloſſen, ats
anderswo. Sparfamfeit, Solibität, Behaglichkeit und Neinlichkeit
ohne Uebermaß find die Tugenden, wodurch das ſchwaͤbiſche Haus
fih vortheilhaft von dem öſtreichiſchen Phäakenleben, ber Ber-
ſchwendung, Putz⸗ und Genußſucht mancher badiſchen Städte,
der häufigen häuslichen Zerrüttung des Baiern unterſcheidet.
Zugleich iſt aber eine gewiſſe Enge des Horizonts, eine große
Dofis provinciell philiſterhafter Beſchränkung die Folge dieſes
enggeſchloſſenen Familienweſens; die Kleinheit des Landes und
ſeine Abgelegenheit vom größeren Verkehre kommt hinzu und
erzeugt jenes neugierige Aufgucken und Gaffen, wenn ein Frem⸗
der mit fremden Fornen und Sitten ſich ſehen läßt, was von
biefem leicht als Lingaftlichkeit angefehen wird. Wir find aber
nicht ungaftfreundlih, namentlich im Neellen nicht. Der Gaſt
wird reichlich bewirthet, behaglich logirt, und, läßt er nur un«
ferer Sitte, mie denn der Einzelne einem größeren Ganzen ge⸗
genüber ſoll, ihr Recht widerfahren, freundlich in den Kreis
der Familie gezogen. Was er aber von Anſichten, Gewohnheiten,
29
Formen Fremdes in ſich trägt, wird im Allgemeinen allerbings
mürriſch, engherzig, kleinſtädtiſch abgeurtheikt, was nur dann zu
entſchuldigen iſt, wenn er, was Manche thun, ſich in eine ge⸗
wiffe vornehme Ironie gegen und hineinwirft. Der ſchwäbiſche
Magifter, wenn er die große theologifche Route durch Nord⸗
deutfchland macht, um einige Paftoren perfünlich kennen zu ler»
nen und zu erfahren, wie-fieRöm. 5, 12. audlegen, geht in
Berlin den Vormittag über in Collegien, des Nachmittags flubirt
ei für fich, was er in Stuttgart, Ludwigsburg, Heilbronn, Tü⸗
bingen, Ulm, Beutelsbach eben fo gut hätte fludiren können;
Abends ſucht er einige Landöleute auf, um mit ihnen, wo mög-
ich bei bairiſchem Biere, Über das liebe Vaterland, und wie
bodh:da alles befier fei, zu plaudern. Emfiger! Vielgetreuer !
Barum bift du nicht zu Haufe geblieben? Die Schwaben find
ſo gut eigenliebig, als die Norddeutſchen, und werben bitterböfe,
wenn man ihre Sitten nicht vollfonımen findet. Könnte man
je ‚gegen die ſchwäbiſche Genrüthlichfeit Zweifel hegen, jo wäre
ed, weil die Schwaben felbft fo viel von Gemütlichkeit reden
und in der abgedrofchenen Entgegenfeßung von Gemüth und Ver⸗
ftand den Norddeutſchen gegenüber fich gefallen. Es entftehtaus
diefem fich Beſpiegeln in dem Auhme der Gemüthlichfeit leicht
ein Hatſcheln, ein fentimentales Freundſchaftmachen, ein Hände»
drücken, „o du Lieber, wie find wir doch fo recht di! miteinander,
fo ordentlich fett”. Trau aber dem nicht, der viel von Derzlichkeit,
Pietät, Gemüth, Kinderfinn redet: der plumpfte Egoismus tappt
unvermuthet aus dem trefflihen Gemüthe hervor, ober der ſchlei⸗
chende und raffinirte lauert hinter bem Biedermannstone. Doc
das find Auswüchſe. Es ift doch ver Mühe werth, zu unterfuchen;
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was hinter jenem geläufigen Gegenſatze ſei. Man verſteht wohl
unter Gemüth im Gegenſatze gegen ben Verſtand, der die Dinge
äußerlich bezieht, orbnet, benußt, ein finniges Eingehen in das
Innere, dad Wefen. Der Verſtändige claſſificirt eine Pflanze und
unterfucht ihre Nußbarfeit, der Gemüthliche traut ihr eine Seele
zu und lebt fi in fie hinein. Der Verſtändige ſchlägt feinen
Hund, wenn er unartig tt, ber Gemüthliche, wenn nur die Uns
art naiv ausfteht, giebt ſich den komiſchen Genuß, ſich in bie
Hundsſeele hineinzudenfen, den menfchenähnlichen Borgang in der
träumenden Monabe nachzufühlen, und der Hund bleibt ungeprit-
gelt. Der VBerftändige beurtheilt die Menfchen nach ihrer Bildung,
nad) ihrer Brauchbarfeit, und ift mehr beſchäftigt, fle zu unter«
fheiden, als in jedem, was und wie er jein mag, ben Menfchen
zu empfinden, der Gemüthliche fucht fogleich eine innere und rein
menſchliche Beziehung theils zwiſchen fih und Andern anzu«
fnüpfen, theils zwiſchen den Andern aufzufinden, darüber ver«
gibt er zu fehr die Schranken der Eonvenienz, Stände, Bildung,
und wird leicht betrogen.
Nun wäre nichts thörichter, als zu jagen, der Norddeutſche
babe Fein Gemüth. Man kann die Sache etwa fo wenden: bei
dem Schwaben bewegen fich alle übrigen Formen geiftiger Thä⸗
tigkeit mehr im Elemente des Gemüthes, bei dem Norddeutſchen
in dem des Verſtandes. Begegnen ſie fich, fo fühlt fi) der Schwabe
zuerft durch bie Verftandesfchroffheit des Norddeutſchen (bei aller
Feinheit und Freundlichkeit deſſelben) abgeftoßen, der Norbdeutiche
durch das fubftantielle Weſen des Schwaben ironiſch geftimmt.
Lernen .fie aber einander näher kennen und graben tiefer, fo
findet jener dad Gemüth unter der Eisdecke der Verſtandes⸗
31
fchärfe, diefer den Verſtand in bem meiden Stoffe bed Gemü-
thes vor, und fie fühnen fih aus, fie lernen von einander.
Der eng geſchloſſene Bamiliengeift bringt es natürlich mit
fih, daß die Glieder der Familie fehr ſpät, in gewiſſem Sinne
gar nie der Familie entwachſen. Ein ſchöner Zug kindlicher Zus
traulichfeit bildet fich dadurch in dem Individuum und es fühkt
fi$ fo zu fagen immer in feinem Taufnanıen. Was unſern
Schiller jo ungemein beliebt gemacht hat, ift gar nicht bloß bie
Höhe feiner Ideale, fondern der eigenthümlihe Zug von Zue
traulichkeit, Treuberzigkeit, der ſpecifiſch deutſch und näher ſchwä⸗
biſch iſt. Nicht nur die Liebe, wie namentlich zwiſchen Thekla
und Mar, fpricht bieje jüße, herzensgute Sprache, fondern felbft
ber Held: „Mar! Bleibe bei mir. — Geh nicht von mir, Mar!
— Mar! Du. kannft mich nicht verlaffen! Es Tann nicht fein,
ih mag's und will's nicht glauben, daß mich der Dar ver«
laſſen kann!“ Ein Schwabe ift ein Gemüth, das heute von
einer hohen Frau einen freundlichen Blick befommt und morgen
fhon Hofft, fie werde ihn in ſchweſterlicher Zutraulichkeit einen
abgerifienen Knopf an den Rock annähen.
Nehmen mir zu diefer engen Einfriedigung der Familie die
Strenge der Erziehung, den graufam geiftlofen Terrorismus
binzu, der noch die Kindheit unferer Väter und Mütter in den
Schnürleib der angftvollftien Schüchternheit und Schweigſamkeit
bannte, der dem Kinde vermehrte, auf der Straße zu lärmen
und zu jodeln, und die Sittſamkeit und Gefegtheit Erwachſener
von ihm verlangte, eine Tyrannei, bie erft jeit einigen Decennien
nachgelafien hat, fd haben wir den Erklärungsgrund für bie
fpäte Selbftftändigkeit unferer Männer: „Ein Schwabe wird
32
vor dem bierzigften Jahre nicht gefeheut”. Ganz richtig, nämlich
nicht felbftftändig. Es ift nicht gut, wenn Kinder najeweis find
und überall mitplapperh, wenn der Süngling die gefunde Milch der
Befcheidenheit verachtet, und in Norddeutſchland mag wohl mit-
unter dem Unreifen zu frühe Selbftftändigfeit eingeräumt werben,
aber bei uns herrſcht das andere Extrem. Behandle den Men-
fhen als frei und felbftftändig, fo wird er es, achte feine Men-
fhenrechte, fo lernt er fie ſelbſt achten. Bei und follen die Kinder,
wenn Fremde da find, nur hübſch ftille fein, da ſtehen fie im
Winkel, nagen am Finger, reiben fih am Simfen ab und blei⸗
ben blöde; der Iürgling wird viel zu lange als Knabe behan-
beit, beauflichtigt und bewacht, da kommt die Subjectivität nicht
zu ihren echte, da bildet fich Fein heiteres Freiheitögefühl, da
entfteht jenes unrefolute, brütende, ſerupulöſe, unſichere Wefen
der Schwaben. Ein Recenfent hat ©. Schlefter vorgeworfen, es fei
verkehrt, wenn er den Schwaben mehr Individualität und Cha-
raftertroß vindicire, als den Norbbeutfchen, man folle nord⸗
deutſche Jünglinge betrachten, ob ſie nicht ſelbſtſtändiger und
energiſcher ſeien. Es kommt hier nur darauf an, was man
Individualität heißt. Im Großen, in der Idee, im Politiſchen
iſt der Schwabe ungleich mehr von ven Rechten der Indivi⸗
dualität durchdrungen, aber in der unmittelbaren Wirklichkeit,
im Privatleben, in der Sphäre zweckmäßigen Anordnens, ſchnellen
Handelns, Antwortens und Abweiſens iſt er weit ſelbſtloſer
und blöder. Ein Schwabe lernt ſchwer befehlen. Seid mir
Zeuge, ihr gelehrten ſchwäbiſchen Jünglinge auf Reiſen, die ihr
in Gaſthöfen vernachläßigt, von groben Kellnern verhöhnt und
geneckt werdet, und ſie ſchier um Verzeihung bittet, wenn ihr
33
etwad von ihnen begehrt! Bis der Schwabe ferien Bebienten
hart anläßt, ihm einen flraffen und gemeffenen Befehl ertheilt,
muß er ſchon böfe und zornig fein, er alterirt ſich erft, aber
dann bricht er auch zu berb hervor.
Die Treue, Biederkeit, Keufchheit, Sittenreinheit, die man den
Schwaben mit Recht nachrühmt, ift bie beſſere Seite der Folgen
jened engen und firengen Bamiliengeifted. Jenes gediegene Schrot
und Korn langſam reifender fubftantieller Charaktere hat hierin
feinen Urſprung. Aber bier tft auch einer fehr üblen Seite zu
gedenken, die man und neuerdingd von Immer mehreren Seiten
vorwirft. Es ift die gegenfeitige moralifhe Beauffihtigung, ber
Tugend-Zelotismus, das jchielende, hämiſche Sichbekümmern um
das Privatleben des Nebenmenſchen, das Köpfezufammenftoßen,
Einanderzupfen und Zufammenflüften: „So recht! O Jee!
Guck au! Der do!” Ob du ein träger, gewiſſenloſer Beamter,
ein Betrüger, ein Dieb, ein Lügner, ein Barbar, ein Säufer,
ein Freſſer biſt, wird weit nicht mit der Wichtigkeit unterſucht, als
ob du nicht in einem Puncte menſchlich geweſen ſeieſt, in welchem
die Lüſternheit ſich gerne durch Erforſchung fremder Sünden für
eigene Entbehrungen entſchädigt und ſo eine viel ſchlimmere Sinn⸗
lichkeit an den Tag legt, als diejenige iſt, welcher fie nachforſcht.
Phariſãismus iſt die Springfeder und verſtärkte Wirkung dieſes Hin⸗
ſchielens nach dem Nachbar. Die Kleinheit des Landes wirkt mit,
alles iſt Vetter und Baſe, alles kennt ſich und fragt nach einander.
Glücklicher Weiſe ift jedoch derjenige, der neuerdings als Kritiker
dieſen Pharifätsmus durch ein heuchleriſches Tugendgeſchrei auf die
Spitze ſeiner Schmach getrieben hat, nicht unſer Landsmann,
Aritiſche Gaͤnge. 3
31
Wir verbitter uns, mit ihm confunbirt zu werben, wir haben
nichts mit ihm zu thun.
IH follte nun vom Staatsleben, von unſerer Berfaffung,
unſerem Liberalismus reden. Aber, ich befenne 68, von folchen
Dingen zu reden, bin ich befonders ungeſchickt; ich habe (man
mag biefed Geſtändniß als Beiſpiel ſchwäbiſcher Natvität anfehen)
über bie befte Staatsverfaſſung Feine fefte Heberzeugung, von den
Organismus eine Staates Feine Elare Anſchauung, kurz ich ver-
ftehe die Sache nicht und ſchweige *). Nur foviel-glaube ich fagen
zu Fönnen, daß dem Tadel, den unfere Liberalen von Norbbeutfch-
land aus häufig erfahren, meift ein Mangel an zureichender Kennt»
niß unferer Geſchichte und Gonflitution, an conftitutioneller Erfah⸗
rung zu Grunde: liegt, daß die achtungswerthen Charaktere, melche
die Vertheidigung des guten alten Rechtes zur Subftanz ihres
Lebens gemacht haben, keineswegs mit den von hohlen und ato-
miftifchen Staatötheorien ausgehenden modernen Liberalen zu ver⸗
wechſeln find. Uebrigens Tiegt e8, wie ſchon oben bemerkt, ganz in
der Verſchiedenheit des Naturells, daß der Schwabe das Moment
ber berechtigten Subjectivitit, der Norbbeutfche das der abftracten
Allgemeinheit im Staate in den Vordergrund ftellt. Unmittelbar
neben die ſchwäbiſche Rührigkeit, wenn e8 die Idee im Großen gilt,
drängt fi) aber in einzelnen Gebieten des Offentlichen und Offiziel-
Ien ein beifpiellofer Schlendrian, eine unverzeihliche Schlaffheit und
Trägheit, welche mit der großen Gewiſſenhaftigkeit und Pünctlich⸗
keit in ven meiften Zweigen der Verwaltung und des Rechts im
*) Sancta simplicitas!
35
größten Widerſpruch fteht. In Öffentliche Aufzüge ift Feine Orbe
nung zu bringen, da will jeder ſchlendern, mie e8 ihm beliebt; es
gibt Städte, wo die Unreinlichkeit in den Gaſſen, die nächtliche
Unficherheit durch DVerfperrung der Wege, ſcheuslichen Zuftand
des Pflafters u. f. w. in's Fabelhafte geht und fein Menſch denkt
daran, gegen eine ſtädtiſche Verwaltung, die ſolches duldet, zu Elagen.
Wie jehnt man fich bei dieſer Schlaffheit, bei diefem Mangel an
Sinn für das Gemeinfame und officieller Schärfe nach dem ſtraf⸗
fen, decidirten, durchſchneidenden nordiſchen Weſen, nach der Pünct⸗
lichkeit und Genauigkeit, die der Preuße im Dienſte zeigt!
Ich verlaſſe dieſe äußeren Gebiete und ſteige zu den geiſt i⸗
gen auf, um zuerſt über den Zuſtand der Kunſt bei uns
Giniges zu reden. | J
Daß ſich in Schwaben der plaſtiſche Genius, der Geiſt der
Anſchauung und des Bildes, wie er der ſüddeutſchen Natur be⸗
ſonders eigen iſt, nicht verläugnet, zeigt ſchon Rede und Schrift
auch außerhalb des Feldes der eigentlichen Poeſie. Der norddeutſche |
Witz bewegt ſich mit beſonderer Vorliebe in der Sphäre des ſatyriſchen .
Wortſpieles; es fehlt und an diefer Gattung auch nit, und wir
“ können manchem politiichen Wortwige der Berliner 3.B. ven hüb⸗
ſchen entgegenhalten: Männdle, zahl bald! f. Mendizabal. Aber
es ift dies nicht der Boden, worauf unjer Wig heimiſch ift, ſon⸗
dern unſer Liebling iſt der Witz, der den gegebenen Gegenſtand
durch ein wunderliches, aus der entlegenſten Sphäre aufgerafftes
Phantaſiebild beleuchtet, wobei es rein um den Muthwillen dieſes
Vergleiches, nicht um eine ſatyriſche Nebenbeziehung zu thun iſt.
„Nur einen Schoppen Wein? Das iſt, wie wenn man einen
3 *
34
Wir verbitter uns, mit ihm confunbirt zu werben, wir haben
nichts mit ihm zu thun.
Ich follte nun vom Staatsleben, von unſerer Berfaffung,
unferem Liberalismus reden. Aber, ich befenne 68, von folchen
Dingen zu reden, bin ih beſonders ungeſchickt; ih habe (man
mag dieſes Geftändnig als Beiſpiel ſchwäbiſcher Naivität anjehen)
über bie befte Stäatöverfaffung Feine fefte -Heberzeugung, von dem
Organismus eines Staated Feine Hare Anfhauung, Furz ich ver»
ftehe die Sache nicht und fehweige *). Nur foviel-glaube ich fagen
zu können, daß dem Tadel, ven unfere Liberalen von Norddeutſch⸗
land aus häuftg erfahren, meift ein Mangel an zureichender Kennt-
niß unſerer Gefhichte und Conftitution, an conftitutioneller Erfah⸗
rung zu Grunde: liegt, daß die achtungswerthen Charaktere, welche
die DVertheivigung des guten alten Rechtes zur Subftanz ihres
Lebens gemacht haben, keineswegs mit den von hohlen und ato-
miftifchen Staatötheorien auögehenden modernen Liberalen zu ver⸗
mechfeln find. Uebrigens liegt ed, wie ſchon oben bemerkt, ganz in
der Verſchiedenheit des Naturells, daß der Schwabe dad Moment
ber berechtigten Subjectivität, der Norddeutſche dad der abftracten
Allgemeinheit im Staate in den Vordergrund ſtellt. Unmittelbar
neben die ſchwäbiſche Rührigkeit, wenn es die Idee im Großen gilt,
drängt fich aber in einzelnen Gebieten des Dffentlichen und Offiziel=
Ien ein-beifpiellofer Schlendrian, eine unverzeiblicde Schlaffheit und
Tragheit, welche mit der großen Gewiffenhaftigkeit und Pünctlich⸗
feit in den meiften Zweigen der Bermaltung und des Rechts im
*) Sancta simplicitas!
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größten Widerſpruch ſteht. Im öffentliche Aufzüge iſt keine Orbr
nung zu bringen, ba will jeder ſchlendern, wie es ihm beliebt; es
gibt Städte, wo die Unreinlichkeit in den Gaffen, die nächtliche.
Unficherheit dur DBerfperrung der Wege, ſcheuslichen Zuftand
des Pflafterd u. f. w. in's Babelhafte geht und Fein Menſch denkt
daran, gegen eine ſtädtiſche Verwaltung, die folches duldet, zu Elagen.
Wie fehnt man ſich bei dieſer Schlaffheit, bei diefem Mangel an
Sinn für dad Gemeinfame und officieler Schärfe nach dem ftraf-
fen, decibirten, durchſchneidenden nordiſchen Wefen, nach der Punct⸗
lichkeit und Genauigkeit, die der Preuße im Dienſte zeigt! .
Ich verlaffe dieſe Äußeren Gebiete und fleige zu den geifti-
gen auf, um zuerft über den Zuftand ver Kunſt bei und
Einige zu reden. | .
Daß fih in Schwaben ber plaftifche Genius, der Geift der
Anſchauung und des Bildes, wie er der fübdeutfchen Natur bes
jonderd eigen ift, nicht verläugnet, zeigt ſchon Rede und Schrift
auch außerhalb des Feldes der eigentlichen Poeſie. Der norddeutſche |
Witz bemegt fich mit befonderer Vorliebe in der Sphäre des ſi atyriſchen
Wortſpieles ; es fehlt uns an dieſer Gattung auch nicht, und wir |
können mandjent politiſchen Wortwitze der Berliner z. B. den hüb-
ſchen entgegenhalten: Männdle, zahl bald! f. Mendizabal. Aber
es iſt Die nicht der Boden, worauf unjer Wig heimiſch ift, ſon⸗
bern unfer Kiebling ift der Wit, der den gegebenen Gegenftand
durch ein wunderliched, aus der entlegenjten Sphäre aufgerafftes
Phantafiebild beleuchtet, wobei e8 rein um den Muthmillen dieſes
Vergleiches, nicht um eine ſatyriſche Nebenbeziehung zu thun iſt.
„Nur einen Schoppen Wein? Das iſt, wie wenn man einen
3 *
36
Ochſen in's Horn klemmt!“ Wie anfehaulich, wie überzeugend!
und wie ganz verkehrt wäre ed, den Erfinder des Witzes, meil
ein Ochſe darin vorkommt, entweder durch die Bemerkung zu är-
gern, er habe ſich ſelbſt mit einem Ochſen verglichen, oder gar
für einen Satyrifus zu erklären, der einen Trinker mit einem
Ochſen vergleichen wollte! Frauen und Norbbeutfche fuchen hinter
ben reinen Wipe gerne fatyrifchen. Der Humorift macht ein Hans⸗
wurſftgeſicht und fagt etwas Thörichtes, einen ſchlechten Wit; da
fommt einer und ſucht verfteckte Beziehungen dahinter, verfpottet
ihn, wenn er feine findet, oder beleidigt ihn, wenn er fie gefun-
ben zu. haben glaubt. Der Schwabe liebt als Humoriſt die Selbft-
perfiflage, er fiebt es, die Gutmüthigfeit feines Spaßes dadurch zu
bemweifen, daß er fich ſelbſt nicht fhont, und feßt fein eigenes Ich
als thoͤricht: indem er dies thut, iſt er es allerdings eben nicht, und
indem er feine Naivität in's Wiſſen um dieſelbe erhebt, fteht-er
ebenfo über, als in diefer. Wie häufig aber war ich in Norddeutſch⸗
land Zeuge davon, daß ınan ihm diefe Parodie ber eigenen Naivi⸗
tät als einfache Naivität aufrechnete, oder überhaupt ein Geficht
machte, das fagte: „Was will denn der Menſch? Sonderbar!”
— Üinige jüngere norddeutſche Schriftfteller bemühen fich ficht-
bar um eine bilbfiche, concrete Darftelung, Mundt, Laube, Guz-
, Tom u. And. Das Streben in allen Ehren: aber wir haben bei
dieſen gehäuften Bildern das Gefühl des Geſuchten, Abfichtlichen,
der Treibhauspflanze. Das Bildliche eines wahrhaft und gefund
ſinnlichen Styles beſteht gar nicht bloß in den ausbrüdlichen
Metaphern, noch weniger in ihrer Häufung. Von Hegel nahmen
feine Anhänger manche jener fleiſchigen, Törnigen ſchwäbiſchen
» Bedensarten auf, beweiſen aber durch häufige unzeitige Anwen⸗
37
dung 3. B. des „von Kaufe aus”, daß bie Pflanze nicht auf
ihrem Boden gewachſen tft.
Der Norddeutſche redet einmal in vorherrſchend abftraften
Ausdrücken, daher namentlich viel in Subflantiven; was Hilft e@
nun, wenn er den abftracten Mittelpunct an allen Enden mit Blu⸗
men umftedt? Man fühlt ihn nur um fo mehr. Zur Erläuterung
nur Einen Sag von Th. Mundt aus: Kunſt der deutfchen Profa:
„Der deutiche Gedanke wird mit dem Heimweh nach dem deut⸗
fhen Worte geboren und durch alle von den Umftänben irgenb«
wie gegebenen Nöthigungen in ein fremdes Kleid bricht, mis
Schmeizerthrinen beim Alphornruf, die Sehnſucht danach aus
ihm hervor.“ Ich will hier nichts von Schweizerthränen fagen,
in welcher Wortbildung die Thräne bebandelt wird, wie ein na«
tonales Fabricat, etwa Schweizerkäfe, fondern nur auf den wider⸗
wärtigen Abftand zwifchen der Bildlichkeit im Anfange und Ende
des Satzes und zwiſchen ber ftrohdürren Abftraction der mittleren
Wendung: „von den Umftänden irgendiwte gegebenen Nöthigun«
gen in ein“ aufmerkian machen. Warum elfern die Norddeutſchen
nicht vielmehr ihrem größten Nepräfentanten, dem Manne nad), in
welchen der reine Verftand dutch vie Entſchiedenheit und Durch⸗
fichtigfeit feiner Ausbildung faft die Wirkung der Poefle erreichte?
Leſſing ſucht Teine Bilder, er redet einfach, ganz wie ein Menſch ohne
beſonderen Anfpruch auf blühende Sprache zu reben pflegt: aber
feine Rede ift dramatiſch bewegter Dialog, Frage, Antwort, Ein-
wendung, Schlag auf Schlag, Jauter Oefticufation, man fieht im⸗
mer bie Diöputirenden perfönfich vor ſich, fie ftchen auf, fie fegen fich,
ipringen wieder auf, geben fich zufrieden — lauter Queckſilber. Mein
ungrträglich aber Il und ein Styl wie Guzkow's, der Alles poin⸗
40
genug und durch Öffentliche Erklärung zu unterfcheiden wiſſen, fo
beſchuldige man fie der Unflarheit oder Saumfeligfeit, aber con«
fundire das gediegene Gemüth, das von der Poeſie eine ernfte
fittliche Grundlage mit Recht fordert, übrigens aber allerdings das
Sittliche zu einfeitig auf gewiſſe einfach naive Zuftände beichränkt,
nicht mit dem Tugendgejchrei, das, mo die Gründe ausgehen, auf
das Privatleben des Beurtheilten Halb verfteckte, giftige Anſpie⸗
Yungen mat. Wer Uhland für eine moralifirende Natur halten
fann, hat ihn nicht gelefen; er ift eine jener fubftantiellen, objec⸗
tiven, in der guten Sitte der Väter feit und ohne Wanfen verhar-
renden Naturen, er ift ein Charakter. Daß die Tendenzen des
jungen Deutſchlands, und was dahin einfchlägt, einer foldden In⸗
dividualität nicht zufagen können, daß fie das Nichtige in jenen
Anfihten fammt ber großen Summe des damit verfnüpften Fal⸗
ſchen ganz abweifen wird, leuchtet ein, aber daraus folgt noch Fein
Puritaner, noch Fein Tugendrafonneur. Kann denn ein unfreies
Genüth ſolche Balladen, foldhe ewigjunge Lieder, fo gefund und
vol vom Achten Volkstone bilden? Uhland, Schwab, Kerner find
in der Verehrung Göthe's aufgewachſen und haben Menzel's
Polemik gegen dieſen nie gebilligt ; Bemeis genug, daß ihre Denk⸗
art himmelweit von der Menzeljchen verſchieden iſt.
Sehen wir aber doch einmal an, mas das junge Deutſchland
wollte. Man muß e3 erft errathen, denn bie jungen Deutjchen
| ſelbſt Haben e8 in der großen Gonfuflon, der fie jedenfalls zu be⸗
ſchuldigen find, nirgends deutlich gefagt. Das Princip, das allen
Bewegungen des Geiftes zu Grunde liegt, ift das der Freiheit,
die nach immer vollerer und breiterer Entfaltung ringt. Die Na»
sur iſt, der Geiſt weiß ſich. Im jener gegebenen Geſchichtsepoche
41
ift aber der Geift noch mit einer Maſſe folder Zuftände behaftet,
worin er bloß ift und fich nicht frei weiß, und die Aufgabe jever
Generation ift, diefen Neft bloßer Natur im Geifte immer mehr
in Geift umzuwandeln. Sp war der Geift in der Religion unfrei,
indem er, ohne ſich Rechenſchaft zu geben, dem Poſitiven fi
unterwarf, bis die Neformation eintrat, und mit ihr — da die
Religion der Nilmeffer des ganzen Geiſtes ift — war der Bruß.
des Geiftes mit feinem bloßen Naturfein ein- für allemal gegeben,
aber erft implicite. Das proteftantifhe Princip immer weiter,
nah allen Seiten hin, auszubilden, war die Aufgabe der Folgen
zeit, und gewiß haben und die früheren Gen.rationen hierin noch
unendlich Vieles zu thun Hinterlafien. Weiße fagte in einer Kritik
Guzkow's, es ſei genug negirt, man müfle zum Affirmativen zu⸗
rückkehren. Ich glaube ſchwerlich; es gibt noch gar Manches zu
negiren. Gier ift nun für unfere gegenwärtige Frage vor Allem
bad Verhalten des Subjectd zu den fittlichen Lebensmächten zu
betrachten. Es ift ein fehöner, poetifcher Anblid, wo dad
noch ohne zu grübeln mit der beftehenden guten Sitte verwachſc
ift und durch Feine Lostrennung des Selbftbewußtfeind feine fitt4
then Zuftände fchon aus der Wogelperfpective betrachtet, w
Freundſchaft, Treue, Ehe als unantaftbare heifige Mächte geach
werben, ohne daß man fragt warum. Wenn ed aber denno
wahr ift, daß der Geift nur in dem Grade Geift ift, in welchen
. er weiß, was er thut, jo muß auch dieſe Geftalt des Bewußtſeins
fich nothwendig verändern, alle Blindheit auch in biefen Dingen‘
muß fih zum Schen erheben. Diefes Schen beginnt mit dem
Zweifel. Fängt man an, das, was man früher heilig hielt, nur
weil es die Väter dafür hielten, zu prüfen, od e8 wohl auch an
—
42
fi wirklich heilig ſei, fo nimmt dies natürlich für demjenigen
den Schein der Frivolität an, ber überſteht, daß der Zweifel
nur ein Durchgangspunkt, daß der Endzweck dieſes zerjehen-
ben dialektiſchen Vorganges nicht Serftörung ‚ jondern nur
fefteres Aufbauen fein Fan. Der ganze Schritt ift auch wirk⸗
lich gefährli , ebenjo gefährlich als der uralte Sag des Paulus,
daß der Chriſt frei fei vom Gejege, welchen, mürde er jebt
leben und feinen Satz erft aufitellen, W. Menzel ficherlih in
den Verdacht einer geheimen Krankheit würde zu bringen fuchen.
Macht fih an jenes Gefchäft der fortſchreitenden Preiheit ein
unreiner Geift, dieſer bleibt freilich bei der zerftörenden Hälfte
ftehen und reißt die Grundſäulen der Sittlichkeit, flatt fie fefter
und bauernder zu gründen , nieder, oder richtiger, er läßt
fie liegen, während der Gefunde fie nur herausninımt, um
das Fundanient zu unterfuchen, und fie dann tiefer einzufenfen,
als vorber. Bei jenen zerftörenden Thun fliehen zu bleiben,
mar nun offenbar keineswegs die Abficht der Mehrheit jener
neuerungsluſtigen Schriftſteller. Die Meinung war gut, aber ſie
waren in ihrem Denken viel zu unreif, um ſich die Aufgabe
klar machen zu können, und mußten daher nicht durch eine
falſche, ſondern durch eine verkehrt ‚begonnene gute Sache
ſcheitern. Luther meinte au einmal, wo innige Liebe zwei
Gemüther verbunden babe, bedürfe es Feiner kirchlichen Ein⸗
weihung; es war wohl ein Jugendirrthum, aber wir ſehen doch,
daß auch gute Menſchen in aller Redlichkeit auf ſolche Ideen
kommen können, und es iſt gut, wenn man darauf kommt,
denn indem man ſie widerlegt oder, richtiger zu reden, ergänzt,
lernt man erſt mit klarem Bewußtſein achten, was man ſonſt
43
blind achtete. ‚Heine nehme ich von den redlich Strebenben aus,
denn er. hat feine innere Verweſung zu offenkundig un den Tag
gelegt. Auch Guzkow fehlt es fichtbar an Harmonie des Ge⸗
můths und innerer Geſundheit, was ich keineswegs aus dem
Stoffe, wohl aber aus der Behandlung in feiner Wally be»
weifen möchte, Darzuftellen, wie der Geift des Zweifels in einer
Zeit wie die unfrige felbft die weibliche. Seele ergreift und fle
aus dem Geleife der Naivität und ſchönen Nothwendigkeit her⸗
ausreißt, ift eine der Poefle ganz würdige Aufgabe, und- daß
ber Menſch in feiner Breiheit ſich den unverhüllten Anblick der
Schönheit gönnen: dürfe... kann nur bie Srivolität und Unfltt-
lichkeit Sen Ai aber ift die Vorliebe für das Pein⸗
liche, Gräßliche, für einen Schluß in ſchrillendem mitlangeboſe⸗
wie ſie Guzkow in der Wally und in der Seraphine an den
Tag legt, und worin er ganz der neueren. franzöflichen Romantik
mit ihrer Schinderphantafte folgt, der frivole Ton, ‚in welchem
bie Religionszweifel in der Wally vorgetragen: ſind, ferner das
Zerfahrene, Saltungs- und Cinheitölofe, Zerhadte, was in
feinen Productionen durchaus ſich findet, -ein ‚Beweis, daß biefe
Perfönlichkeit Teinen: Beruf hät, etwas in der: Zitteratur umgue
geftalten. - — “
Daß aber ‚diefe ganze moherne Tendenz an ſich, weit ent«
fernt, das Unfittliche zu wollen, vielmehr, wenn fle nur fi
recht klar iſt, eine haltbarere Geftalt des Sittlichen an bie
Stelle einer wanfenden zu ſetzen die Abficht Hat, laͤßt fih z. 2.
an ber Frage nachweiſen, ob Treue gegen das der Geliebten
gegebene Wort unbeningt Pflicht fei. Iſt ed Frivolität, dies in
Zweifel zu ziehen, wenn man ſich auf den taufendfach möglichen
44
Conflict dieſer Pflicht mit anderen höheren beruft? Wenn man
fagt, e8 gebe Fälle, und zmar mehr, als es ſcheint, wo in dieſem
Berhältnifje, was fonft fttlih wäre, unfittlich wird, weil andere
Forderungen der Sittlichfeit verlegt werden, Fälle, wo die Treue
vielmehr Untreue wäre? Hätte nämlich die Treue zur Folge,
daß ein Geift in feiner Entwickelung unterbrochen, feine Thätig-
keit auf ein Gebiet hingenöthigt würde, wohin fein Talent nicht
geht, fo wäre dies Untreue dieſes Geiftes nicht nur gegen ſich,
fondern gegen ein größeres Ganze, den Staat, die Welt, welche
fordern und erwarten fünnen, daß jeber dad Vollkommenſte
möglicher Ausbildung der ihm eigenthümlichen Kräfte erftrebe und
dem Ganzen auf dem Punkte diene, wo er ihm am beften bient.
Eine ſolche Unterordnung der genannten Pflicht werben aber
Charaktere, die einfach und unkritiſch mit der alten Sitte ver-
wachjen find, nicht zugeben, außer in ertremen Källen, wie Krieg
fürd Vaterland u. dergl., wobei aber die Inconjequenz ſogleich
bervortritt, denn dann iſt zugegeben, bie in Frage ftehende Pflicht ſei
collifionsfähig, und Doch wird fie zugleich als abjolut behauptet.
Daß jede beflimmte fittlihe Macht, inden fie auf Einem Boden
nit allen anderen fittliden Mächten zujammen ift, einer Dialektif
unterliegt, die ihr nur eine bedingte Geltung übrig läßt, biefe
Dehauptung wird einem altbeutichen Charakter immer als ein
Ausflug von Frivolität und Perfidie erjheinen. Und doch, um bei
unferem Beifpiele zu bleiben, wie viele elende und wahrhaft un«
fittliche Ehen find aus jener mißverftandenen Treue hervorgegangen!
Wie überzeugend ließe fich nachweijen, daß gerade das abrupte
Denten, das bie beflimmten und durch ihre Beſtimmtheit einer
Dialektik unterliegenben fittlichen Potenzen, heute Die eine, morgen
45
Me andere — benn in einem Athemzuge kann man fle doch nicht
alle — abjolut nimmt, menn die Welt fi nad ihm richten würde,
unendliche Verftellung und Zerrüttung jeder Art in das Reich der
Sittlichkeit einführen würde — gewiß ohne böſe Abſficht: aber
e3 könnte an diefer Folge fehen, daß nıan dem Gegner wenigſtens
auch feine böſe Abficht vorwerfen darf, wie denn überhaupt An⸗
fihten als ſolche zu beurtheilen und nicht unmittelbar auf Abſichten
zu reduciren ſind.
Es wurde von jenen feuerreitenden jungen Deutſchen mit gro⸗
ßem Gehetze und Halloh zugleich eine größere Befreiung der Sinn⸗
lichkeit verlangt im Leben wie in der Poefſie, ohne daß ihre
Confuflon zu fagen mußte, ob die Emancipation in beiden Ge»
bieten gleichweit gehen folle, oder wie denn dad Ding überhaupt
zu nehmen jei/Die negative Moral ift allerdings im Leben eben
ich, ald in der Poeſie profaifch, und der fittliche Stand»
punft fol in beiden Spharen ein Verhältniß zwilchen Geift und
Sinnlichkeit vorausfegen, dad, an ſich affirmativ, fih zur Ne⸗
gation, zu einem Kampfe beider Principien fortfegt, der zum
Tragifchen und Komifchen führt, aus welchem aber endlich die :
Verföhnung beider als fittlihed Kunſtwerk eines harmoniſchen
Lebens ſich berpett Pi Poefte, die Kunft überhaupt, wird ſich
nun immer mit Vorliebe auf der erften biejer drei Stationen
aufhalten und die Sinnlichkeit als unſchuldige Schweſter des
Geifted gewähren laſſen, indem fie aus ihrem Umfreije alle Ver⸗
bältniffe entfernt, wodurch der finnlihe Genuß zu einer Ver⸗
letzung weſentlicher fittlicher Beziehungen führen würde —
„Unſre Zufriedenheit bringt keine Gefährde der Welt‘.
46
Das Leben, weil ein ſolcher colliſionsloſer Raum in feinem
Complex faft nirgends und nur vorübergehend gegeben ift, wird,
firenger und mißtrauffcher, Immer nach der zweiten jener Statio-
‚nen bindrängen, welche eine Ueberwindung ber Sinnlichkeit for
dert, um dann erſt, wenn fie im Kampfe gebrochen ift, ihr wieder
eine Stimme einzuräumen, wiewohl auch hier ſtets ein urfprüng-
lich affirmatives Verhaltniß vorauszufegen ift, wenn man nicht
3. B. in Beziehung auf die Liebe bie blasphemiſche Mei⸗
nung begen will, Gott habe fie, da fie an ſich einmal unbedingt
verwerflidh ſei, alſo im Grunde auch durch Feine Cinfeßung und
Weihe geheiligt werden könne, nur in einer ſchwachen Stunde den
ehelih Berbundenen zugeftanden und wir können nun ind Fäuſt⸗
then lachen, daß er dieſe ſchwache Stunde gehabt: dann find wir
auf dem beiten Wege, den Cölibat zu billigen, die befannte Hand⸗
Jung des Drigined zu bewundern u. ſ. w. u. f. w. Es ift nun,
um und auf die Poeſie zur befchränfen, nicht zu läugnen, daß,
fo viel Göthe gethan hat, jenen affirmativen Standpunkt gel-
tend zu machen, dennoch die Schillerfche Poeſie, auf der nega⸗
tiven Kantifhen Moral ruhen, auf den Geihmad der Maſſe
beftimmender eingewirkt hat, als die Goethiſche, daß es daher
recht gut ift, wenn von Zeit zu Zeit, wie dies in der Sturm⸗
und Drangperiobe geſchah, ein neuer Ausfall gegen biejen
Standpunkt gewagt und das Recht der Sinnlichkeit nachdrück⸗
lich reclamirt wird. Unter unfern Dichtern nun bürfte man einen
unüberwundenen Neft negativer Moral -wielleicht mit Dem meiften
Rechte an G. Pfizer tadeln; ich möchte es wenigſtens nicht auf
mich nehmen, ihn zu rechtfertigen, wenn er bie verwegenfchöne
Kunft des Akrobaten befingt und fih am Schluſſe entſchuldigt, daß
47
er einen fo niebrigen Gegenftand gewählt habe, wenn er in ſei⸗
nem Dolce far niente die Poeſie des Müfflgganges mit ge
wohnter herrlicher Barbenpracht ver Bilder entfaltet und zuletzt
meint, moralifchen Einwendungen Rebe ſtehen zu müffen. Bel
Uhland wüßte ich von dieſer moralifhen Befangenheit nichts
zu finden; fein Gemüth erſcheint, nachdem man bie ſentimen⸗
tal elegiichen Gedichte des Anfangs Hinter fih bat, harmlos
heiter und einem weltlichen Behagen, freilich mit Befchränfung
auf alterthümlich einfache Verhältniſſe, keineswegs verfchlofien ;
wer ed von Kerner nicht gelten läßt, hat die Reiſeſchatten nicht
gelefen, und bei E. Mörike fprubelt und ſprüht auf tragiſchem
Hintergrunde ein ebenfo heiterer al3 tiefer Humor.
Dies aber ift richtig, daß jene Kämpfe der nach höchſter
Freiheit des Selbftbemußtfeind ringenven, durch Zweifel geſpal⸗
tenen Subjectivität auf der Seite unferer naiven Dichter nicht
zu treffen find, am eheften bei Mörike (Maler Nolten). Pfizer
aber hat entfchieden etwas von Byron's Geiſte und iſt von
diefer Seite eine gang moderne Erſcheinung. Hier entfteht nun
freilich vorerſt die Trage, ob dieſe Zuftände,_biefe Kämpfe des
durch die Qualen. der Zerriſſenheit zu höherer Harmonie auf⸗
ſtrebenden Geiſtes überhaupt ein poetiſcher Stoff, oder nicht
beffer allein der philoſophiſchen Debatte zu überlafien feien. Ges
wiß das Erftere; ober ift es nicht ein’ erhabened Schaufpiel,
- ben Selbftbewußtfein zuzufehen , wie e8 beginnt, ſich ald den
Angel der Welt zu fühlen, dem nichts Fremdes von außen
aufgedrungen werben kann, mie es alles fcheinbar Feſte und
Dinglicde flüffig macht und in das Ich reforbirt, und in biefer
innerften Mevolution bald ben feften Grund verliert, ber Ver⸗
48
zweiflung in die Arme ftürzt, bald im Gefühle feiner ‚Kraft
muthig den Kampf fortfegt und auf die ferne Friedensinſel hin-
blickt? Iſt Goethe's Fauſt nicht erhaben? Eröffnet fih nicht
der Bruft des Inrifchen Dichter eine neue Welt unendlicher
Gefühle, wenn diefer Kampf taufendjaitig in ihr anklingt, flieht
der erzählende nicht neue reiche Bahnen vor fih, auf denen
er feinen Helden dieſen Bildungskampf im modernen Sinne
kann Tämpfen laſſen, und gewinnt nicht der dramatifche - einen
neuen Boden der bedeutendſten Entwidelungen, fei es, daß er
dieſen Kampf unmittelbar zu ſeinem Stoffe wählt und Hamlet
in neuen Geſtalten vorführt, ſei es, daß er ein Thema aus
einfacher alter Zeit mit der Haren Einſicht des modernen Gei⸗
ſtes in die dialektiſche Colliſionsfähigkeit alled Sittlihen behan⸗
beit? So gewiß nun diefe Kragen zu bejahen find, fo ift doch
bis jetzt die Aſſimilation dieſer modernen Ideen in die Poeſie
noch nicht vor ſich gegangen, und wir beſitzen außer dem —
nach anderer Seite doch ſelbſt auch poetifh mangelhaften —
Fauſt und Clavigo von Goethe noch nichts Acht Poetiſches in
biefer Richtung. Unter Heine's Liedern find bie ſchönen eben
diejenigen, wo feine Ironie und Zerriffenheit nicht zum Vor⸗
ſchein kommt. Ironie und Zerriffenheit koͤnnen ganz wohl einen
poetifchen Anblick gewähren, aber die feinige nicht, weil es eine
toquette und bübifche ift. Mundt's Madonna, Laube's junges Eu-
ropa, Kühne's Guarantaine, Guzkow's Wallg: man mag an die
fen Producten dies und jenes loben, aber poetifch find fie wahrlich
nicht; es find geiftreiche Meflerionen, es find Debatten mit Lofe
angebängtem poetiſchem Kleide, oberflächlich perfontficirte Begriffe,
ed find didaktiſche Poeſieen. Es iſt auch gar nicht zu verwundern:
49
jebe neue Idee, wie. fie zunächft als Gedanke aufgefunden und auf⸗
geftellt wird, tft eben infofern proſaiſch. Sol ſie poetifch werben,
fo muß fie erft in die Gemüther übergegangen, in succum et
sanguinem vertirt fein, fie muß gezündet, Leidenfchaften erregt
haben, dann erft wird fie poetifher Stoff. Dazu muß fie ſich aber
Zeit nehmen. Haben wir nun in. diefer Richtung noch Feine Poeſie,
fo folten wir vor der Sand froh fein, wenn wir in Tieck no
einen ſchönen Nachklang der Romantik, In unfern ſchwäbiſchen
Lyrikern noch naive Lieverbichter haben, und es ift eines der Merk⸗
zeichen der verkehrten Art, womit jene Propheten ihre Sade
begonnen haben, daß fie mit einem Bilderfturme diefer in unfere
Zeit bereindauernden guten alten Klänge begannen. „Feuerjo!
Es giebt etwas Neues, Alles, Alles wird anders““! Nun was
denn? Wo denn? Mach erft etwas Neues, fo giebt e8 etwas
Neues: wenn du nur immer fehreift, es fei etwas Neues da,
fol denn dies Geſchrei eben es fein, worin Died Neue da iſt?
Dad ift ein Laufen, ein Heben, ein unmüßiged Wefen, wo⸗
von man dad Gefühl hat, daß einem zwanzig Stimmen, jede
etwad Anderes, beftändig ind Ohr fehreien; ginge e8 nad) den
vielen Artikeln, die in norddeutſchen Unterhaltungäblättern alle
Augenblicke irgend einen Kaufmannddiener oder Studenten, ber
von Börne und Judenemancipation, von dem großen Welt
fihmerze, der auch ihm mitten durchs Herz gegangen fei u. dgl.,
ein aufgedunſenes Kraft⸗ und Saftgevicht probucirt, für einen
Meſſias der modernen Poeſie ausſchreien, fo Tönnten Homer;
Shafefpeare, Goethe, Schiller nur hübſch ordentlich abziehen,
| thr Stündchen wäre gefommen. Du fehimpfft auf Uhland; mad
einmal ein 'ächtes Volkslied, wie fein unvergleichlihes: Ich
Kritiſche Gänge. ‘ 4
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hatt’ einen Kameraden ie., mach einmal en patriotiſches, wie
fein: Wenn heut ein Geift ꝛc., mach eine Ballade, wie ber
Waller! Du fagft, er fet eintönig, in einem armen Ideen⸗
£reife drehe er fi herum; es ift wahr, Uhland ift nicht fo
beweglich, vielfeitig,, taufendfältig, wie Rückert, feine Leier
bat weniger Saiten, aber biefe geben einen vollen, runden,
urfräftigen Metallklang, oder ich möchte feine Poefle dem Glo⸗
efentone vergleichen, und Rückert's dem vieltaftigen lavier.
Ich begreife nicht, wie ©. Pfizer in feiner Schrift über Uhland
und Rückert unentfchieven laſſen konnte, welcher von beiden ber
größere Dichter fei. Entweder man giebt zu, daß das Speci⸗
fifche der Poeſie in einer durch die Phantafle erzeugten un-
mittelbaren Einheit von Bild und. Gedanken liegt, und dann
iſt Uhland's Poeſie intenftv Die ächtere, unvermifchtere, obwohl
im Umfange die ärmere, wozu man Nüdert noch hundert wei⸗
tere Vorzüge zugeftehen kann; oder man giebt es nicht zu,
und ftellt Rückert, deſſen Dichten nachweisbar vom Gedanken
ausgeht, um dieſem erft nachträglich durch die Phantafle als
Dienerin Töftliche orientaliſche Gewänder überzuwerfen, neben
oder über Uhland, aber dann iſt au ber fpecififche Linter-
fehied der Poefle und Profa verwilht. Uhland's Mufe lebt im
Mittelalter, er iſt Romantiker; aber intereffant ift es, wie er
und Schwab von der romantifhen Schule fich wieder weſent⸗
ich unterfcheiden. Sie nahmen dad phantaftifch Myſtiſche, die
brennende Farbengluth der Sinnlichkeit und die Ironie nicht auf,
welche fonft die romantifche Schule bezeichnen, ſondern holten
fih nur dad markig Feſte, menfhlih Wahre umd Biedere aus
ben Mittelalter heraus. Dies charakterifirt fie als Schwabe,
91
wiewohl ih das Glänzende und Berauſchende jener andere
Ingredienzien der Romantik auch nicht hergeben möchte. Nun
— wir find freilich der Madonnen, Nıtter, CEdelfräulein, Bur⸗
‚ gen etwas müde; andere Zeiten, andere Weiſen, bie Poefle
muß wie Alles ihre Phaſen ändern, aber_bie neue
noch nicht. de, und. die Jugend ſoll nicht die Bietät gegen eble -
Vertreter eines Älteren. Princips abwerfen. |
Wenn ih nun zu den höchſten Sphären, Religion und
Wiſſenſchaft, übergehe, und zuerft von jener rebe, fa
muß ich fogleich einer höchſt betrübenden Erfcheinung gedenken.
Der Pietismus, dieſe Krätze, weldhe die edelften Säfte des
Geiftes in Eiterung ſetzt, ift von Alters her bei und einhei⸗
mid, und verbreitet fi in immer weiteren Kreifen. Hier iſt
jogleih ein Unterſchied zu ziehen zwiſchen ven niederen unb
höheren Ständen, da die Urfachen der Verbreitung der Endes
mie in beiden verſchieden find. In den unteren Ständen mögen
zwei auf den erften Anblick fehr heterogene Urfachen diefe Krank⸗
heit erzeugen. Einerſeits mag daſſelbe Freiheitsſtreben, das
in der Politik unter ver edleren Geſtalt des Liberalismus aufe
tritt, im gemeinen Manne die Luft erzeugen, fih außer dem
öffentlichen Gottesdienſte und dem gewöhnlichen häuslichen noch
feine aparte Religion zu halten. Zugleich mit der Reformation
nahm das Sektenweſen in Wirtemmberg fehr flark überhand;
der Separatismus, der vor einiger Zeit fanatifche Anhänger
bei und hatte, ift infofern mit dem Pietismus verwandt, als
auch dieſem die Tirchlichen Formen nicht genügen und er fi
feine befondere religidfe Suppe Eochen will. Andererſeits aber
ift e8 der Hang zur Innerlichkeit, zum fepmermüthigen Tiefe
A *
32
nn, der, ben Schwaben überhaupt eigenthümlich, hier wieber
zum. Borfchein kommt. Der Pietismus iſt gerade dadurch eine
fo tief Eranfhafte Erfcheinung, daß er nicht eine einfache Une
wahrheit, fondern eine verbrehte Wahrheit zur Grundlage hat.
Er geht von dem’ Principe aus, das Außerlich gegebene Dogma
den Inneren tiefer zu affimiliren, als die öffentliche Religion
died zu beivirfen fcheint; infofern ift er mit ben Myſticismus,
ber ben Inhalt des Dogma zur Intuition und reellen Ver⸗
mählung mit feinem Innern zu erheben fucht, verwandt.
Aber unendlich geiftlofer als dieſer bleibt er auf halben
Wege ftehen und Elebt flarrer als der verhärtetfte Buchflaben-
dienſt an der bloß äußerlichen, grobfinnlicden Auffafjuhg ver
religiöfen ‚Wahrheiten, um jeden, der nicht eben fo thut, mit
dem triefenden Geifer feiner Verdammungswuth zu befprigen.
Blasphemiſch vindicirt er die Wirklichkeit dem Teufel, flatt
Gott, und indem er die Sinnlichfeit, dieſes edle Werkzeug,
diefen geflügelten Boten des Geiſtes, verdammt, flatt fie im
yernünftigen Genufje der Weltfreuden zu bilden, ftößt er fie
in einen Winkel zurück, von wo fie, verläugnet, unbewacht,
nur un fo beftialiicher als Hochmuth, Nachfucht, wilde Wolluſt
ausbricht. Gewiſſenloſe Geiftliche, uneingedenk, daß zu erbauen,
nicht durch Xergerniß zu verwirren ihre beſchworene Pflicht iſt,
zerren Fragen wie die Straußifche vor ein Publikum, vor dad
fie nicht gehören und ſchüren durch ihr Gefchret den Fanatismus
bis zur Hundswuth an. Das Widrigſte aber am Pietismus ift
die Schamtlofigfeit der Enthüllung bes geheimften Innern, das
Reden von den zarteften inneren Erfahrungen in Geſellſchaft, das
Ginmifchen heiliger Namen in jedes Bagatell, dad gemeinſchaft⸗
53
liche Beten mit Geberden ber Zerknirſchung, wobei von bem ſchö⸗
nen Spruche: wenn du beten willſt u. |. w. feine Ahnung mehr
zurüd tft; von dieſer Geite äußert er eine ebenfo große. Ab⸗
ftumpfung des Schamgefühls, als jede unzartefte Bloslegung ber
beiligften Gefühle.
Eine. tröftlihe Ausficht eröffnet ſich Hier nur durch b den P
eben berührten Umftand , daß gegenwärtig die Notiznahme von
wiſſenſchaftlichen Erſcheinungen durch die Bermittelung von Geiſt⸗
lichen auch bei den niederen Ständen den Pietismus anſchürt:
Denn fo iſt die wachſende Wuth des Pietismus zugleich die
Probe der wachſenden Freiheit des Geiſtes auf der andern
Seite. Hierin iſt nun die Haupturſache zu ſuchen, warum der
Pietismus auch am Heerde der Intelligenz, auf unſerer Uni⸗
verſität, wo er früher nur ſporadiſch vorkam, in geſchloſſenen
Maſſen bei den Studirenden der Theologie ſich immer mehr
ausbreitet. Zwar iſt die Erſcheinung der Krankheit auf dieſer
Stelle nicht unabhängig von ihrer Herrſchaft in den niederen
Ständen und hiernach die obige Diftinction nicht abjolut: zu neh⸗
men. Sünglinge aus gebilveten Ständen, wo Doch gewöhnlich
dad Kind zur vernünftigen Freiheit und zum Menfchlichen er⸗
zogen wird, geben nicht Teicht zu diefer Heerde über, bie mei⸗
fien bringen den Stoff von Baufe aus eingeengten, unfreien
Verhältniſſen mit. Daß er aber gerade gegenwärtig fo ficht-
bar um fich greift, iſt doch mefentlih aus der Dppofition zu
erklären, Die fich theils gegen die Fortſchritte der Wiſſenſchaft
theil8 gegen die veligiöfe Indifferenz ber Sonoratiorenftände
mit befonderer Schärfe da erzeugen muß, wo Theologie ſtu⸗
dirt wird. Was den Iehteren Punkt betrifft, fo ift Die Klage
4
über Mangel an Eirchlihem Sinne bei umferen gebildeten Stän-
den im Allgemeinen nicht ungegründet. : Stuttgart mat noch
am eheften eine Ausnahme; hier hat ein - gewifier Ticchlicher
Sinn ſich mehr erhalten, al3 anderswo; fonft aber frägt der
wirtembergifhe Beamte nicht viel nach Dogma und Gotteöbienft,
nur am Geburtötage feined Königs zieht er die Uniform aus
dem Schranke, fit pflichtmäßig in feinem Kirchenftuhle und
macht ein Geſicht, als wollte er. mit Falſtaff fagen: ‚wenn
ich nicht vergeffen habe, wie das Inwendige einer Kirche aus⸗
fteht, fo bin ih ein Brauerpferb”. Die ift eine Nachwirkung
bed in diefen Sphären noch nicht überwundenen Princip8 ber
Aufklärung, wie ed in Frankreich als Revolution und Atheis⸗
mus, bei und ald platter Nationalismus und als Auflöſung
der Religion in Kantifche Moral zum Vorſchein kam. Man
weiß, daß der Kantifche Subjectivismus überhaupt im Allges
meinen noch die Weltanficht der Juriften und Negiminaliften
it, während bie der Naturforfcher ſtark zum Materialismus
hinneigt; mit diefen Anſichten werben fortdauernd bie Studi⸗
renden biefer Facultäten auf der Yiniverfität influirt, und fo
Kann fich natürlich in dieſen Ständen Fein kirchlicher Sin er-
zeugen. Das Nebel ift im Grunde fo groß nit; man muß
‚zugeben, daß die Wahrheit auf verfhiedenen Wegen gefucht
werden kann, der Materialismus des Mediciners ift glücklicher
Weife gewöhnlich inconfequent, und berjenige, der dad Reli⸗
giöfe in der freilich unyolllommenen Form bed Moraliſchen
aufgefaßt bat, darf doch wohl auch getroft vor feinen Gott
treten. Unſere Prebiger find über dieſen Zuftand fehr böſe und
theilen hei Gelegenheit einen tüchtigen Treff aus; predigen fie
5
erſt befier, fo wird es ſchon anberd werben. Die Kanzelberedt⸗
famfeit if} bei und, wie die Beredtſamkeit überhaupt, wirklich
in kläglichem Zuſtande. Die ſchwäbiſche Schüchternheit verkicht
dem Canditaten ſchon bein erften Auftreten ven Mund und
nagelt ihm die Arme an die Hüfte oder an's Kanzelbret, nach⸗
ber Eommt der ſchwäbiſche Eigenfinn dazu und macht ihm weiß,
der Prediger dürfte nur fo reden, wie ihm der Schnabel ge⸗
wachſen ift, und fo bie und da mit ber Hand hervorwiſchen,
fo fei Vortrag und Action in ber beften. Ordnung: er will
nicht begreifen, daß das Predigen eine Kunft iſt. Dann die Form
der Darftelung: was kann ein Prediger wirfen! Wie unge
heuer ift die Macht der Rede! Wie kann fie die Gemüther bis
auf den unterften Grund aufwühlen und Im Sturme mit fi
fortreißen! Aber hier Hört man unter zehn Predigten gewiß immer
neun, welche ganz bemonftrativ, als follte ein bogmatifcher
Locus auögeführt werden, ihren Stoff abhafpeln. Endlich das
Berhalten zu den verſchiedenen Bildungsftufen ver. Zuhörer : bier
eröffnet fich freilich die größte Schwierigkeit für den Prediger.
Er fol und muß am Dogma feſthalten, der größere Theil feiner
Zuhörer, dem fehlichten Volfe angehörig, erwartet e8 mit Net.
Nun befteht aber der andere Theil meift aus aufgeflärten, Kan⸗
tifeh redigirten Köpfen, die für die pofttiven Lehren des Chriften-
thums allen Diagen verloren haben. Ignoriren darf er, will er
gewiſſenhaft fein, den Standpunkt der Letzteren auch nit, fon»
bern die Aufgabe ift offenbar, an ihn anzufnlipfen und ihn un«
vermerkt in bie höhere Betrachtung der Dinge hinüberzuleiten,
welche im kirchlichen Dogma bildlich enthalten ift. Sol ihm dies
gelingen, fo muß er ven Buchflaben und Körper ded Dogma fo
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viel möglich verſtecken und befto mehr feinen flüfflg gemächten
Geiſt in die Tiefe des Bewußtſeins hineinleiten. Er fol beſtimmte
Sphären der Wirklichkeit, fittliche Lebensverhältnifſe, concrete Fra⸗
gen, wie Erziehung, Bamilienleben u. |. w. zu feinem Thema wäh⸗
len und ven Zuhörer fo flimmen, daß er Luft und Liebe befommt,
diefe Verhältniſſe im Geifte des Evangeliums zu behandeln.
Dies ift offenbar die höchſte und ſchönſte Aufgabe des Kanzel-
redners. Er braucht nicht viel heilige Namen zu nennen, hei⸗
lige Geſchichten zu erzählen, er fol wirken, daß der Sohn
Gottes’ in Jedem neu geboren werde, in Jedem neu fein Er⸗
löſungswerk beginne, dann braucht er von ihm als biefer be=
flimmten einzelnen Perfon, an welche unfere Honoratioren ein⸗
mal im kirchlichen Sinne nicht mehr glauben, eben nicht immer
zu reben. Der gemeine Mann freilich möchte nur Immer mit
recht dickem dogmatifhen Stoffe die Taſchen voll befommen,
aber dieſem Gelüfte ift. nicht nachzugeben, und er wird ed end⸗
lich auch zufrieden fein, wenn einmal flatt biefer floffartigen
Maffe der aus dem Körper des Dogma befreite, flüſſig ge=
machte, ind Bewußtſein hineingeleitete Geift des Chriſtenthums
fein Herz erquidt; nur in diefem Sinne war ed gemeint, wenn
ich oben fagte, die Predigt müſſe für ihn am Dogma fefthal«
ten. Statt deſſen premirt num aber die Mehrzahl unferer Pre⸗
biger im Sinne ded Supranaturalismus den Köper ded Dogma
und macht dem recht tüchtig die Hölle Heiß, der an biefen nicht
glaubt: was Wunder, wenn unfer Kantianer zu Haufe bleibt
und feine Pfeife raucht? Der Supranaturalismus, wie er dem
Rationalismus gegenüber fi) gebildet bat, ift bekanntlich etwas
ganz Anderes, ala die altkirchliche Orthodoxie. Er vereinigt
97
bas Schlimme ſowohl von dieſer, als von ſeinem Gegner, dem
Rationalismus, in ſich und dad Gute von beiden fehlt ihm.
Bon jener hat er dad alte Dogma, von diefem die Fable Ver⸗
ſtandesmetaphyſik und den verftocten Pelagianismus aufgenom«
men, bie ihn den tieferen Sinn jened Dogma verhüllen und
nun dazu dienen müſſen, den dennoch geglaubten Buchſtaben
befjelben mit DVerftandesgründen zu flüben, d.h. mit Mitteln,
welche vielmehr gegen den Zweck find. Diefes Stützen und
Begründen hat feinen Urfprung in dem Bebürfniffe des mo⸗
bernen Bewußtſeins, nicht ald wahr anzunehmen, was fid
nicht ausweiſen kann als ein folched, worin daſſelbe bei ſich
ft: das große Recht ded Nationalismus. Don dieſer Seite
iſt der Supranaturalismus fo rationaliſtiſch, als ber dürrſte
Rationalismus, er iſt von dem Princip der Aufklärung ganz in⸗
ficirt, genießt aber ſeine Früchte nicht, ſondern da er nun dennoch
an der ausgeweideten Haut des alten Dogma hält, ſo iſt er eine
in dunkler Bewußtloſigkeit ſich ſelbſt durch und durch widerſpre⸗
chende Erſcheinung wie die Lutheriſche Abendmahlslehre, welche
die katholiſche und die Zwingliſche zu einem Neſt von Wider⸗
ſprüchen vereinigt. Dieſer Verſtandesſupranaturalismus hat unſer
wirtembergiſches Geſangbuch in den neunziger Jahren „dem heu⸗
tigen verfeinerten Geſchmacke näher gebracht“ und unſere Liturgie
geſchrieben: dort die edelſten alten Lieder unverantwortlich utelt
und neue aufgenommen, wie das:
Sch ſterb' im Tode nicht!
Mich Überzeugen Gründe,
Die ih, je mebr ich forſch',
In meinem Wefen finde u.f.w,
38
hier hat ex. Gebete und Formulare :eingefeßt, bei beren Mattigkeit
und troftlofer Irreligiofltät man fich ernſtlich nach der ſcharlach⸗
rothen Sprache bed Fanatismus fehnen Fönnte. Den ganzen
Inhalt diefer Liturgie kann man auf die Worte reduciren: Lieber
Gott, du haft und durch außerordentliche Veranftaltungen,, wor«
unter fogar Wunder vorfamen, belehrt, daß und jenfeits, wenn
wir nur recht moralifch find, die gebratenen Tauben bei übrigens
wachiender Vervollkommung in den Mund fliegen werben: zu bir,
zu dir ſchwingt unfer Geift ſich empor!
Dieſem religiöfen Zuftande gegenüber iſt e8 Fein Wunder,
wenn das tiefere religiöfe Beduͤrfniß, das in der Innerlichkeit des
ſchwäbiſchen Naturells begründet ift und" im öffentlichen Gottes⸗
dienfte zu wenig Nahrung findet, in der kranken Form des Pietid-
mus zum Vorſchein kommt, ber übrigens feiner gefährlichften
Feindin, der Speculation, gegenüber freilich ben gefchilderten
. . Gupranaturalismus auch wieder dankbar als Streitgenoffen auf
nimmt. Wo ein irreligtöfer Verſtand fi in der Religion breit
macht, muß es nothwendig auch eine unverftändige Religioſität
geben. Könnte man aber von biefem Standpunkte aus geneigt
fein, den Pietismus zu entſchuldigen, fo muß er um fo verwerf-
licher erſcheinen, wenn man erwägt, daß die fyerulative Theo⸗
Iogie, welche fih bei unferer Jugend Immer mehr Freunde
erwirbt und dem Bedürfniß einer vertieften Auffaffung der reli⸗
giöſen Wahrheiten die vollfte Befriedigung verfpricht, Daß gerabe
biefe der Gegenftand des wildeſten Haſſes der Parteien ift und feine
Lager mit immer neuen Nekruten füllt. Ihr ſteigendes Wachsthun
ift e8, woraus allein hinlaͤnglich zu erflären tft, warum gerade
jet und gerade unter unferer ſtudirenden Jugend ber Pietismus fo
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ſehr um ſich greift. Denn gerade bei und Hat fle einen entichelben-
ben neuen Schritt zur tieferen und freieren Entfaltung ihres Prin⸗
cips geihan, welcher allen denjenigen, die unfähig ober zu träg
find, im Zufammenhange zu denken — und nur ein foldher Tann
Pietift werden —, die Religion vielmehr zu zerflören, als zu ver»
tiefen ſcheint. |
Ein eigenthümliches Gewand hat unfer Pietismus dnd
A. Knapp angethan; er wurde modern, fentimental, ex bequeinte
fich ſo weit den Kindern der Welt, daß er Almanachsform ummahm
und feinen Chriftus im Frad einführte. A. Knapp hat ein anſehn⸗
liches Talent zur Poefle durch feine pietiſtiſche Umwendung ſchimm⸗
licht gemacht. Er läßt Leonidas mit feinen gefallenen Zapfern, ba
Schwert noch krampfhaft in die Kauft gepreßt, in herrlichem Zuge
zur Unterwelt wallen, dann ftoßen fie aber auf Abraham und Sara
und müffen fle küſſen. Seine poetifche Theorie ift: alled. Große
und Schöne auch aus der profanen Welt fol Stoff der Poeſie fein,
aber nur, fofern es durch eine aus drücklich e Beziehung auf
bad Chriftliche geheiligt ift, er fagt zu dem Dichter: preiſe im⸗
merbin Griechenland in feiner Herrlichkeit, aber bedaure am
Schluſſe des Gedichtes lebhaft, daß Athen Feinen Stabtpfar«
rer hatte, daß Homer Fein Gefangbuh fehrieb und Achilles
feinen Confirmationsunterriht genoß! Nichts fol in fih, im
der Grenze und Beflimmtheit feined Weſens Theil haben an
Gott, es fol erft diefer Thran priefterliher Salbung , dieſes
ChHriftoterpentinöl darüber gegoffen werben. Doch verlafen wir
biefe feuchten, dumpfen Höhlen und. fleigen in das Licht ber
Wiffenfhaft auf. Lim: die eigenthümliche Weiſe, tm
welcher die neueften Fragen ber Speculation von Strauß bes
-
60
Handelt worden find, aus dem ſchwäbiſchen Nature! begreiflich
zu machen, werfe ich zuerft einen Blick auf das Gebiet der
nicht fireng wiſſenſchaftlichen Debatte, auf die Art, mie fid
ber Schwabe im gewöhnlichen Leben zu gewiffen literariſchen
Zeitfragen von allgemeinem Intereſſe zu verhalten pflegt.
„Wer da? Raheliſt oder Bettiniſt? Göoͤſchel oder Richter?
Dieſterweg ober Leo’? Erlauben Sie gütigſt, daß ich erſt dieſes
Schöppchen Wein in Ruhe austrinke, dann will ich mich ent⸗
fheiden, vielleicht aber auch nicht. Spaß bei Seite! Der Schwabe
verhält fich, mit dem Norddeutſchen verglichen, fehr indolent zu
folchen Modefragen, mögen fie auch von mirflichem Intereffe fein
und e8 ihm an einem ſolchen im Sintergrunde gar nicht fehlen.
Wie eifrig ventilirt man foldhe Dinge in norddeutſchen Eirkeln !
Wie ſchnell machen entgegengefehte Meinungen Bartei! Der nord⸗
deutſche Geift Hat eine große Neigung zur Disjunction, zu einem
Entweder Oder, zu eifrigenm Erfaffen des einen von ‚zwei ent-
gegengefeßten PBrinciplen, und hängt dann mit einer — dies
Refultat haben mir wenigftens meine Beobachtungen gegeben, —
häufig etwas unfreien und unkritifhen Begeifterung an der Aus
torität, für die er ſich entfchieden hat, wiewohl gerade durch
bie Friction der hieraus entftehenden Polemik fein Intereffe im⸗
mer friſch, beweglich und. univerjel erhalten wird. Unter ben
Studirenden in Berlin bemerkte ich eine Seftirerei, die in Tü-
Bingen unmöglih wäre Der Schleiermacherianer hielt ed für
Srevel, bei einem Anhänger Hegel's eine theologifche Vorlefung
zu hören, dem Jünger Neander's durfte man feinen Neanber,
bem Schüler Marheineke's feinen Marheineke nicht antaften. Ich
hörte einmal. Schleiermacher mit eigenen Ohren. in ber Aeſthetik
61
bie aberwigige Benieskung vortragen: daB Rellef bilde von ber
Malerei den Mebergang zur Plaſtik fhon deswegen, weil auch bei
einem Gemälde, wenn man über deſſen Fläche binfehe, an Stel
len, wo die Barbe dicker aufgetragen fei, Fleine Erhabenheiten bes
merkt werben. Dies erzählte ich nachher zwei Anbetern Schleier-
macher's, Männern von gefeßtem Alter, um ihnen einen Spaß |
zu bereiten. Wie fhlecht Fam ih an! Man begriff gar nicht, wie
ih an Schleiermacher etwas lächerlich finden Eönne! Auch im
Hörſale Hatte ich niemand lachen fehen; in Tübingen hätte
Schleiermacher auch unter einer Schar der glühenditen Anbeter
fo etwas nicht fagen können, ohne eine große Heiterkeit zu erre⸗
gen. Wäre in Norbdeutfchland nicht wirklich eine ſolche Neigung
zu unfritifcher Entjchiedenheit für Principien, Autoritäten, wis
wäre es möglich, daß unter fo vielen Andern felbft der bewe⸗
gungsreiche, finnige Roſenkranz dem zweiten Theile von Goethe's |
Fauſt, diefem froftigen, allegorifhen, didaktiſchen, todtgebore⸗
nen Kinde einer welfen Phantafie, dieſem Probucte, das Goe⸗
the der Jüngling und Mann, Hätte man ed ihn vormeifen und
fagen können: dieſes wirft du einft in deinem Alter machen, in
unglaubigem Zorne an die Wand gefchleudert hätte, folche Wich-
tigkeit beilegte und mit einem Ernſte zu entziffern fuchte, als
fönnten wir und nicht ruhig in's Grab legen, ehe wir wiſſen,
was die Mütter und der Homunculus find? Iſt denn die Poefle _
dazu da, daß ſie und. harte Nüffe zu knacken giebt? Ich fage:
Wer
u ——
Stiefelwichfe , denke mir dabei die Flüſſigkeit der dialektiſchen
Methode, und fhreibe dann meinem Freunde: „Ich habe cin
Tüchtiges hineingeheimniffet ; fie werden etwas aufzurathen bes
kommen“.
62
In folhen Dingen verhält ſich das ſchwaͤbiſche Urtheil total
verſchieden. Der Schwabe nimmt wohl Notiz, aber er ſuspen⸗
dirt fein Urtheil und eilt nicht, fich in's Feuer der Debatte zu
begeben. Ich will ihm dies gar nicht unmittelbar als Verdienſt
anrechnen, ed ift zunächft die ſüddeutſche Bequemlichkeit, melche
fi nicht beeilen will, aus dem Behagen der Unentſchiedenheit
herauszutreten. Doch ift dieſes behagliche Element der ſüddeut⸗
ſchen Natur, zwar nicht die Wirklichkeit, wohl aber die Mög-
lichkeit der höheren, ſpeculativen Kritif: es fehlummert darin
der noch ftille und unbemußte Gedanke, daß jebe bedeutendſte gei⸗
flige Erſcheinung auch ihre Mängel hat und daß entgegengefehte
Principien erſt in einer höheren Einheit ihre Löſung finden. Die
Schwaben haben einen guten Schat von Humor ; einer Erſchei⸗
nung, die ſich als unbedingt erhaben anfündigt, ihre Grenze
aufzumweifen ift ihr Witz jederzeit aufgelegt. Geſuchte Sprache,
Bombaſt, foreirte Kraft, jede Renommage wird ſehr ſchnell ge»
fühlt und in das edle Naß des Humors untergetaucht. Einen
Dichter wie Grabbe können wir nicht als eine ſchauderhaft er⸗
habene Erſcheinung anſehen und wegen ſeiner bekannten uorali⸗
ſchen Verſunkenheit, als Hätte er den fürchterlichen Riß feiner
Seele nothwendig mit Crambambuli ausfüllen müſſen, gar noch
bedauern; er iſt und einfacher Schrayslump , der einiges Dich⸗
tertalent dadurch verderbte, daß er ſich durchaus zu einem Kraft-
und Saftgenie aufblähen wollte. Was iſt doch z. B. fein Don
Juan und Fauft für ein rohes Product! In ber bekannten Scene,
wo Don Iuan die Polizei in der Oper fo zierlichwigig neckt,
giebt er bei Grabbe dem Polizeibeamten einen Fauſtſchlag und
prügelt ihn dann zur Thür hinaus: Tann ein Menſch, der dieſes
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Einfalls fählg ft, eine Ader reinen poetiſchen Gefuͤhls Haben ?
Die perfive Ironie eines Heine iſt ung zwar eine-eitgefglättid
merkwürdige, aber nicht die unheimlich große Erſſcheinung eines
energifehen Abfalls, fondern die leere Auffpreizung eines ungen
zogenen Subjects. (Unter perfider Ironie verftche ich nicht, was
Heine 3. B. im zweiten Theile feines Salon über die Tendenz der
modernen Geiſtes, insbeſondere der deutſchen Philofophie, Tiefe _
blickendes gejagt hat, fondern feinen häßlichen Selbftgenuß im
den häßlichen Mißklängen feiner Lieder, dad charakterlos bößwil⸗
lige Ineinanderſchillern halben Lobes und halben Tadel in feiner
Darftellung der deutfchen Romantik, überhaupt jenes Ich, dem
ed mit nichts Ernft ift, als mit fih). Sp fehr Heine's Manier
durch dad große Talent, das fi von der andern Seite in ihr ofa
- fenbart, zur Nachahmung reizt, jo Hat er doch in Schwaben
meines Wiſſens Feinen Nachahmer gefunden, während fie an
andern Orten wie die Pilze auffchoffen. Auch Freiligrath — fe
wenig er übrigens in dieſe Gefellichaft gehört — ſtößt durch ein
überall fichtbared Haſchen nach Kraft und geprängter Erhabenheit
in hohem Grade ab. Wenn jened Gedicht, worin er den tragi⸗
chen Vorgang zu Ratheormac in Irland erzählt *), in feierlicher
Grandezza beginnt: „Ich Tefe jetzo wenig Zeitungsblätter“, jo
ift es ihm bereitd gelungen, und in’ vollfommene Seiterfeit zu
verſetzen, wenn er dann feine Erzählung mit den Worten fließt:
„Ich bog mich fehmeigend vor in das Kanıin, und eine Thräne
sifchte in die Kohlen‘, fo wird ed und noch vergnüglicher zu
*, Dad Gedicht fand im Morgenblatte, Ih citire aus dem Sedãchtnim
einzelne Worte vielleicht ungenau, ich ſtehe aber für dad Weſentliche
64
Muthe, da ja einer Wendung, melde bie Thräne darſtellt wie
gemeined Waſſer, nämlich mit einer akuftiihen Wirkung deſſel⸗
ben, nichts fehlt, um das ganze Wefen des Komifchen daran
zu beduciren.
Man Eannı die Achte philofophifche Methode humoriſtiſch nen⸗
nen, da fie von Feiner Wahrheit duldet, daß fie fi inſolire und
der Ergänzung durch alle andern entziehe; der Humor ift dialek⸗
tifcher Natur. Ich glaube daher behaupten zu dürfen, daß der
fehmäbifche Humor bereitd die fpeculative Anlage verräth. Der
ſchwäbiſche Genius hat e8 aber an Ort und Stelle beiwiefen, daß
er fperulativ ift. Wer es zufällig nennen will, daß der Reflexions⸗
dualismus Kant's und Fichte's von Norddeutſchen, bie poetifl-
rende Ipentitätsphilofophie Schellingd und die durch das ffepti-
{he Moment, das fie in ihre Methode aufnahm, um e8 zu über»
winden,, auch gegen ven Verftand gewaffnete dialektiſche Philo⸗
ſophie Hegels von Schwaben ausging, der mag ed; er fehe aber
zu, daß ihm dann nicht die Geſchichte überhaupt, wie fie die
Völker und Stänme zu Werkzeugen ihrer Fortſchritte gebraucht,
zu einer loſen Schnur von Zufällen werde.
Hier wird man mich ſogleich fragen: wie kommt es denn,
daß um die Philoſophie fo hochverdiente Geiſter ihr Syſtem nicht
in der Heimath ausbildeten und in dieſer die gefuchte Stätte —
Schelling und Hegel bewarben ſich um eine Lehrftele in Tübingen
und wurden um ihrer Anſichten willen abgewiefen — nicht fan⸗
den? Wenn die Schwaben ſpeculativ find, warum haben fie
denn ihre fpeculativen Köpfe ausgeftoßen? Diefer Widerſpruch
wurde ſchon oben zugegeben. Der fpeculative Geift Schwabens
wanderte in das Ausland; ob er Schwaben urfprünglich ange⸗
65
hörte, muß ſich dadurch bewähren, daß er zurückwandernd wie⸗
per daſelbſt ein Obdach fand. Wo fand er e8 aber? Bet unfern
Staatödienern nit; bei unfern Gelehrten nicht; bei unfern
Univerfitätslehrern — Einen Eräftig freien Geift ausgenommen *)
— nit; er fand ed bei einem Fleinen Häuflein Studirender,
das ſich allınalig mehr und mehr ausbreitete, von älteren zu
jüngeren Promotionen fortfegte, aber noch immer tfolirt und mit
der herrſchenden Denkweiſe des WBaterlandes im Widerfpruche
ftebt. Hier kommt es darauf an, wo man bie Intelligenz eines
Landes repräfentirt, feine geiflige Quinteſſenz findet. Deutſch⸗
land darf auf feine Univerfltäten hinweiſen und fagen: bier tft
mein Mark und mein Stolz. Die Deutfchen find das denkende
Volk durch ihre Univerfitäten, ihnen bat die Weltgefchichte bie
Neformation zu danken und der Geift jeden bedeutendften feiner
Fortſchritte. Das deutſche Philifterium übertrifft in ihnen ſich ſelbſt
und erkennt ſich in dieſem beften Auszuge feiner Kräfte ftaunend
felbft nicht wieder. Wenn in einem beutfchen Lande das edelſte
Product der heimijchen Intelligenz zuerft ausgeftoßen, und nad»
bem es zurücffehrend bei jüngeren Generationen Anerkennung ges
funden bat, auch dann noch von der Mehrzahl perborrefeirt
wird, fo ift dies derſelbe Fall, wie wenn der Fuß oder Bau
nad dent Kopfe binaufjähen und fragten: der Taufend! was
figt denn da oben für ein Ding?
Es ift bekannt, daß dad Mittel, wodurch Schwaben von
Alters her fich auf der Höhe deutſcher Geiftesbildung gehalten
bat, namentlih in feinen Schulen zu ſuchen ift und in deren
Mittelpunkte, den Elöfterlichen Erziehungs und Unterrichtsan⸗
*) ©. hierüber, fo wie Über Manches, was ſich feither verändert Bat,
dad berichtigende Vorwort,
Kritiſche Gänge. 5
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ftalten,, welche wieber ruckwaͤrts auf bie unteren Gymnaſten wir-
fen, namentlich indem fie die 2ehrer an denſelben anfpornen, ihre
Schüler dahin zu bringen, daß fle die Prüfungen zur Aufnahme
in die Seminarien beftehen, was dann auch den übrigen Schüs
Yern zu gute kömmt, die nicht Theologen find, und auf die höhe—
ren Anftalten, indem ſie ihnen ihre beiten Lehrer zu liefern pflegen.
Diefe Seminarien find — ein nener Beweis, daß in dieſer bie
Springfeder unferer Bildung zu fuchen ift — mit der Reformation
gegründet und feit einiger Zeit auch won der Fatholifchen Kirche
nachgeahmt worden. Ihre Einrichtung feße ich hier als befannt
voraus. Die niederen Seminarien, worin die Zöglinge vier Jahre
zubringen, um für die Hochſchule herangebilvet zu werden, haben
ehren vorzüglichften Werth in ven gründlichen Elaffifchen Kennt⸗
niffen, melche bier der Zögling als einen Schatz der Humanität
für fein ganzes Leben erwirbt, und wozu ſchon vorher durch den
guten Schulſack, der feit alter Zeit ein Ruhm der Wirtemberger
tft, ein tüchtiger Boden gelegt ift. Es ging ein Sprichwort: aus
einem wirtenibergifchen Magiſter kann alles werben, das in
Graf Reinhard, Pair von Frankrelch, eine glänzende Beftäti-
gung fand, und ſich namentlich auf diefe Sumanitätsftudien be
rief, welche den Geift zu einem allfeitig menjchlichen Intereffe
für jede Geftalt des Willens und Wirkend auöweiten. Uebrigens
ift der Wirtemberger als eigentlicher Philologe nicht mehr fo ge-
ſucht und berühmt wie früher; ſolche Erzlateiner und Griechen
wie fonft, Tiefern unfere Seminarien nicht mehr. Freilich haben
fi in neuer Zeit im übrigen Deutſchland die Schulen außeror-
dentlih gehoben und die Einzigkeit Wirtembergs in dieſer Bezie-
bung kann ſchon deßwegen nicht mehr behauptet werben ; eö kommt
aber noch ein wichtiger Grund Hinzu. Die Philologie wurde frü-
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ber zwar jehr gründlich, aber auch großentheils geiſtlos mecha⸗
niſch und ſehr auf Koften anderer, namentlih philoſophiſcher,
Studien getrieben. Nur daraus, daß der gründlich eingeprägte
Stoff vielfach auf vortreffliches Land fließ, find bie edlen Früchte
zu erklären, welche oben als Erzeugniß jener claſſiſchen Studien
gerühmt wurden: died kommt aber jelbft wieder auf Rechnung
unferer Anftalten, indem dieſen durch die Concuräprüfungen
ftet3 eine Auswahl beſſerer Köyfe zugeführt wird. Der wiſſen⸗
ſchaftliche Geift Hat ſich nun aber feit mehreren Decennien hierin
weientlich verändert; er dringt nicht mehr auf bloße Kenntniſſe, |
jondern auf Erkenntniß, und jo bat auch Wirtemberg, feit e8
der Welt einen großen Dichter und zwei große Philofophen geges
ben, feinen alten philologifchen Ruhm diefem höheren geopfert.
Ein Schulmann von alten Schlage fagte, er begreife nicht, wie
diefer Schelling fo berühmt geworden, er habe doch immer ein
beſſeres „Argumentle⸗ gemacht, als dieſer: noch gibt es — es
iſt unglaublich, aber ich garantire — bei und Philologen, wel⸗
che meinen, die neue Philoſophie könne ſchon darum nichts tau⸗
gen, weil man ſie nicht in's Lateiniſche überſetzen könne. Daran
läßt ſich recht erkennen, welch' ein zweideutiges Ding die frühere
Höhe unſerer philologiſchen Bildung war. Die Zöglinge unſerer
Seminarien, wenn ſie von ben niederen in dad höhere zu Tür
Bingen übertreten, werfen fih gewöhnlich mit Beijeitfegung der
Philologie auf Philojophie und Theologie, und dies ift wenig⸗
ſtens gewiß befier, ald wenn fie die Philologie in der alten Ma⸗
nier forttreiben würden.
Die großen Mängel unferer Seminar-Erziehung überhaupt aber,
um dieſe der Betrachtung ihrer höheren Vorzüge voranzuſchicken,
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haben ihre Duelle darin, Haß dieſe Anftalten zu einer Bett ge-
gründet wurden, als man fih vom Katholicismus zwar im
Principe losgeſagt hatte, aber der weſentliche Unterſchied zwifchen
ben proteftantifhen und katholiſchen Geiftlihen noch nicht Klar
war. Der Geiftlihe ſollte ein Menfch fein, wie andere, dies hatte
man eingefehen und. ven Eölibat aufgehoben, aber bis er zu öf-
/ fentlicher Wirkſamkeit hervortrete, müffe er, meinte man dennoch,
> ein Mönch bleiben. Man fpra dies, obwohl äußere Gründe
zur Wahl dieſes Locals die nächften waren, ſchon dadurch aus,
daß man die Seminarien in eben audgeleerte Klöfter verlegte und
die Clauſur, ja die Kutte einführte. Noch unfere Väter gingen
als vierzehnjährige Knaben in Tangen rauhhärigen Kutten, in
Tübingen faßen noch vor etwa fünfzehn Jahren die Seminariften
mit Ueberſchlägchen, welche jederzeit fcharfe Orbonnang waren,
hinter dem Bierfpiele und Befeuchteten die heiligen Läppchen
mit profanem Naß. — Sp war denn der vierzehnjährige Knabe
der Familie entriffen, hinter Schloß und Riegel mit zwei bis
drei Dubend Kameraden eingepferht und von der argen Welt
mit ihrer Luft abgefchloffen. Eben in diefem Alter ſoll in dem
bilofamen Gemüthe der erfte Grund nicht nur zur höheren geifti=
gen, fondern auch zur Weltbildung gelegt, namentlich der Kör-
per zu einem beweglichen, formgewandten Werkzeuge der Seele
herangezogen werden, biefe fol fih in den Befſitz ihres Leibes
fegen, damit derſelbe nicht ſtörriſch fich weigere, ihr ald Aus⸗
druck ihrer Empfindungen, ala Sand ihrer Entfchlüffe zu dienen.
Die Mutter namentlich ift gerade jegt unentbehrih, fle ſoll dem
Knaben jagen: das und jenes ift ſchicklich oder unſchicklich, to
und fo verbeugt man fich, damit man Feine Lächerliche, holperichte
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Figur macht; der werdende Jüngling fol in Geſellſchaften ges
bracht werden, fol die Bildungsfehule im Umgange mit dem ane
beren Gefchlechte beginnen; fol lernen die Berfireuungen und
Bergnügungen der Welt mit vernünftiger Freiheit genießen, fol
durch eigene Erfahrung frühe einfehen, daß in dieſen Genüſſen der
unendliche Reiz nicht zu finden fe, den die unerfahrene Phan⸗
tafte hinter ihnen fucht, damit nicht ſpät der reife Mann dieſe
Erfahrung unendlich mühfamer nachzuholen habe. Dabei bedarf
er Aufficht und Anleitung, diefe wird ihm eben im Schoofe bet
Familie. Was thut nicht allein der Umgang mit einer Schwefter,
um einen Menfchen zu bilden! Wird er aber auch ber eigene.
Familie oder fle ihm entriffen, die Korm der Erziehung, bie
er auswärts findet, muß nothwendig derjenigen jo nahe als mög«
lich kommen, die in der Famile Statt findet, er muß wo moͤglich
wieder einer Familie libergeben werden. Die Aufficht im Seminar
kann den Verluſt diefer Form der Erziehung keineswegs erſetzen.
Mögen die Vorſteher ihre Zöglinge ſo ſcharf als möglich
bewachen, ſo oft als möglich ermahnen, hier und da in thre
Familie ziehen, wie wenig iſt damit gethan, da den größeren
Theil der Zeit über der Rohere mit dem Beſſeren, derjenige,
der edlere und feinere Sitten hat, mit dem Unbeholfenen und
Rüpelhaften zuſammengeſperrt iſt und fo dieſe unreifen Mens
ſchen ihrer gegenſeitigen Erziehung überlaſſen ſind. Wenn fie
hier und da in's Städtchen zu einer Familie kommen, wenn
ſie in den Ferien alle Halbjahre die Ihrigen wiederſehen, wie
unzureichende Mittel gegen die aus dieſer Zuſammenſperrung
entſpringende Verwilderung wenigſtens im Formellen, Bere
ſchüchterung und Verdumpfung! D. Steudel ſagte zur Verthei⸗
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bigung unferer Seminarten in biefer Beziehung: Haben mir erft
einen Coelftein, zum Schleifen ift immer noch Zeit! Hier liegt
eine falfche Trennung des Inneren und ded Aeußeren zu Grunde.
Zu einem Edelſteine gehört vorneherein Menfchenfenntnig, Welt
Bildung, Sicherheit in der Form, Ablegung Inabenhafter Schüch⸗
ternheit, Sumanität. Diefes feheinbar bloß Aeußere ift gar nichts
Unwefentliches, das fo nachträglich auch noch könnte mitge⸗
nommen werben. Ober, wenn man will: weil ed unweſent⸗
lich ift, iſt es wefentlih, das Heißt: meil e8 nicht der
Mühe werth iſt, Lange Zeit auf die Form zu verwenden, fol
man bie Sache frühe abmaden, um nicht ald alter Mann
nit Derlegenheiten und Aengſten fih berumzuquälen, worüber
der ſechzehnjährige junge Menſch hinaus fein follte. Weil der
Körper bloßer Körper ift, weil er zum Mittel des Geiftes
berabgefegt werben fol, muß man ihm feinen Eigenfinn fobald
als möglich nehmen, damit es nicht zu ſpät werde und er fo
verfuöchere und verfnorre, Daß nichts mehr mit dem fleifen
alten Knechte anzufangen iſt. Iſt die rechte Beit, wo das Wachs
noch weich iſt, verſäumt, fo nützen nachher Reifen, Umgang
mit der Welt nicht3 mehr, man bleibt Zeitlebend ein halber,
ungelenker, blöder, unfreier, gebannter Menſch. Ich habe hier
nur vom Körper gefprocdhen, aber man vergeffe nicht, daß
unvollendete Bildung dieſes Organs, wie fie im Innern ihren
Sit hat, von außen wieder nad) innen fchleicht, um ein Ge⸗
fühl der Unſicherheit und Zweckwidrigkeit in der Seele felbft
zu erzeugen. Einer, der ba figt und nicht meiß, wohin mit
den Händen, ift nicht bloß mit den Händen, fondern mit der
ganzen Seele in Verlegenheit, und dieſe Verlegenheit hindert
ihn vieleicht, feine beften Gedanken herauszufagen, er hat alio,
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indem er das Aeußere verſäumte, auch das Innore verſaumt —:
kurz die Verſäumniß formeller Bildung iſt ein ſittlichos Uebel,
und 68 gehoͤrt dieſer Punkt, wie die Pflicht der Reinlichke
und manche von manchem Tugendhelden oder Gottesmanne v
achtete Ähnliche Pflicht In das Syſtem der Moral.
Im Seminar zu Tübingen haben die Zöglinge etwas mehr
Luft, aber das Uebel ift Doch nicht gehoben, und man Tennt
den Seminariften leicht an einem blöden und unfrelen Zuge,
der ihm bleibt. Seine innere Bildung fteht in einem großen .
Mifverhäktniffe zu feiner äußeren; im Gefühle dieſes Mangels
zieht er ſich auf den Werth feiner geiftigen Bildung zuräd,
und hieraus entfteht nun ein ganz eigened Geſchmackchen ‚ger
genüber dem Stubirenden in der Stadt. Er ift fih bewußt,
daß diefer den abgefperrten, firenge bewachten, immer noch in
mehreren Beziehungen mönchifch gehaltenen Commilitonen etwas
über die Achfel anfieht, er fucht dafür eine Satisfaction darin,
daß er ihn feine, durch Die viele wiffenfchaftliche Anleitung, die
er genießt, meift gediegenere und umfaſſendere geiftige Bildung
fühlen läßt, und fo entfteht eine eigene Miſchung von Barbarek,
von einem Gefühle des Gedrücktſeins und von Bildungsſtolz,
wohlweiſem Weſen, welche den Seminariften feinen Kamme⸗
raden außer dem Seminar fehwer umgänglich macht. Zu Allem
kommt noch die angeborne Schwerfälligkeit ſchwäbiſcher Natur,
und fo bleibt von biefer Erziehung lebenslang ein Reſt von
Verſchüchterung, der Geift iſt bei allem Reichthume wie mit
eifernen Meifen gebunden, er kann, wo es ſich nicht um wif«
fenfehaftliche Mittheilung handelt, nicht heraus, nicht über bie
Schwelle, er flottert und flolpert. Ich weiß dies Alles aus
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eigener Erfahrung, denn ich Bin ſelbſt durch dieſe Anſtalten
gegangen, und man mag aus dieſem Geſtändniſſe ſehen, daß
ich auch hier Niemand verletzen will.
Inzwiſchen es iſt freilich leicht, dieſe Mängel unſerer An⸗
ſtalten zu bemerken, aber ſchwer zu ſagen, wie die unverkenn⸗
baren Vorzüge derſelben ohne dieſe Mängel beſtehen könnten.
Die Einrichtung derſelben, nachdem ſie Vieles von ihrer frü«
beren Härte nachgelafien, nachdem fie fogar bunte Kleider
geftattet Hat, verharrt im Uebrigen bei ihrer Strenge aus dem
Grundſatze, daß ber Jüngling auch in den Jahren, die er auf
ber Univerfität zubringt, noch keineswegs felbfiftändig genug
it, um fich ganz überlaffen zu fein, fondern einer Leitung und
Aufficht bedarf. Wie dieſes ohne einige Elaufur und andere
Legalitätögefege durchzuführen wäre, ift fehwer zu beftimmen,
aber es wäre fehr der Mühe werth, daß unfere Univerfitäten
fih mit einer gründlichen Erörterung der Frage beichäftigten:
wie können wir die Stubirenden einer näheren Aufſicht und
Anleitung unterwerfen, ohne doch ihre Freiheit zu ſehr einzue
engen? Die Seminareinrichtungen haben Manchen vor Trägheit
und Leichtfinn bewahrt, aber auch manchen aufgewedten Kopf
zu Grunde gerichtet, deſſen Freiheitögefühl den Käfig nicht er⸗
tragen Tonnte, der aus Trotz die Geſetze zu Boden trat und
in wilden Uebermaße die lange vworenthaltenen Genüffe des
"Lebens nachholte. Breilih hängt die ganze Einrichtung mit den
urſprünglichen Stiftungen zufammen, melde ein Zufammen«
eben ber Zöglinge fordern und nur unter biefer Bedingung
ihre Wohlthaten reichen können, übrigend burch die reelle Uns
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terſtützung, die bier fo mancher Vinbemitteltere genteßt, zu bem
ſchönſten und ruhmvollſten Erſcheinungen in Schwaben gehören.
Es war bisher von den mangelhaften Seiten dieſer An⸗
ftalten die Rede; Ihre großen Vorzüge und Wirkungen follen
nicht verfannt werben. Noch abgefehen von den ſchönen Früch⸗
ten der wiſſenſchaftlichen Anleitung, welche bier der Stubirende
genießt, müffen wir auch das Schöne anerkennen, was bie
Strenge der Aufftcht, die Enge des Zufammenlebend in dem
geiftigen Leben der Zöglinge, freilih ohne das Verdienſt ihrer
Abſicht zufchreiben zu dürfen, bewirkt. Das enggemeinfchaft«
liche Heranwachſen jugendliher Naturen bildet Freundſchaften
für das Leben , geftüst auf den feflen Grund gemeinfam
durchwanderter Bildungswege des Geiſtes; man flieht ſich ge⸗
. genfeitig werden, man theilt fich die Anſichten friſch, wie fie
gewonnen find, mit, bekämpft fi, ſpornt ſich an, taufcht ſich
aus, und alles dies fo innig, wie es nur zwifchen Zimmer⸗,
Schlaf und Tiſchgenoſſen möglich if. Ich möchte die Erin«
nerung an dies Zufammenleben,, ich möchte die geiflige Ver⸗
bindung mit einer enggefchloffenen Zahl von Freunden, bie eine
gemeinfchaftliche Veberzeugung zufammenhält, worunter id) ſo⸗
gleich Strauß nenne, ich möchte diefen für's Leben gemonnenen
Schatz des Geiftes um Teinen Preis der Welt hergeben. Einer
größeren Anzahl junger Leute, die fih In dieſen Anftalten zuſam⸗
menfinden, fehlt ed nie an originellen Individualitäten, bie ent«
weber felbft witzig oder Urfache find, daß Andere wigig werden;
ein eigenthümlicher Localhumor, ein komiſcher Sagenkreis, ein
Lerifon von Spitznamen, eine Meibung erfinderifcher Nedereien
bildet fich, eine Jugendluſt, die mancher hinter den grauen Klo—
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ftermauern nicht geſucht Hätte. Hier wirft bie Friction mit dem
Bitter empfundenen Zwange als mächtiger Hebel mit, die Lift
umgeht in heiteren Maskeraden das Gefeß und parobirt den bit⸗
tern Ernft gränlicher Vorgeſetzter durch joviale Satyre.
Das Wichtigfte iſt jedoch die Anleitung In den Studien, bie
der Seminarift genießt. Die niederen Seminarien find Schulen,
der Zögling empfängt allen Unterricht von feinen Borgefegten ; ber
Seminarift in Tübingen hört Vorlefungen der Univerfitäts-Lehrer,
wie die andern Stubfrenden, aber die Folge der Vorlefungen, die
Zweige ber Wiſſenſchaft, die er fe in einem Semefter vorzunehmen
bat, find durch einen Studienplan gefeßmäßig beftimmt und er tft
der Frage, mie er feine Studien ſucceſſiv ordnen fol, überhoben,
ohne daß jedoch der Einzelne, der ein Lieblingsfach hat, allzu
fehr beſchränkt würde. Außerdem aber wird fein Studium durch
Mepetitionen, loci, Auffäge und Examina aufd wirkjamfte geför-
dert. Die Repetitionen und loci fiber Philofophte und Dogmatif,
werben von ben Nepetenten in eraminatorifcher Form gehalten ;
hier zeigt ſich, ob der Zögling feine Vorleſungen repetirt und
durch ſelbſtſtändiges Privatftudium ergänzt, hier Iernt er fühlen,
in welchen Punkte er noch ſchwach und unficher iſt, hier wird
ihm im Dialog mit dem Repetenten vieles licht, was ihm unklar
war, die Pointe in einer Sache, in einer philoſophiſchen, dog⸗
mengeſchichtlichen Streitigkeit u. f. w. Eommt ihm zum Bewußt⸗
fein. Das Wichtigfte find die Auffäge. Jeder Zögling muß halb⸗
gährlich einen größeren Aufſatz über eine burchgreifende Hauptfrage
in der Wiſſenſchaft, der das jeweilige Sentefter gewidmet ift,
abliefeen; dieſer wird som Mepetenten corrigirt, genau mit ihm
purägefprodden und dann cin Zeugniß darüber auögeftelt; am
73
Ende deb Semefterd wird ein Eleinerer Aufſatz über einen Neben«
zweig, wobei freiere Wahl ift,, eingegeben und ebenfo behandell.
Man wende gegen dieſe Arbeiten nicht ein, daß fie gezwungen
find. Mancher beginnt vielleicht die Arbeit nur aus Zwang, ber
Gegenftand hat ihm noch Fein Intereffe abgewonnen, weil er ven
Zufammenhang , das Moment in demfelben noch nicht kennt;
aber er arbeitet fi in den Stoff hinein, es ſetzt fih ein In«
tereffe in ihm an, es wächft, und er vollendet mit Eifer und Luft
die ungern begonnene Arbeit. Nun hat ihm das tiefeingreifende
Thema in die ganze Wiffenfchaft einen Blick eröffnet, er Hat für
das Ganze ein Intereffe gewonnen und arbeitet mit frifchem Muthe
weiter. Dan mag an den Seminarien tadeln, mad man will,
der Werth diefer Einrichtung ift unbeftreitbar und hat Hunderte
für die Wiſſenſchaft gemonnen. Linbegreiflicher Weiſe ift ganz
neuerdings hierein eine Aenderung getroffen, nad welcher ftatt
de3 nnifaffenderen Aufſatzes neben dem Fleineren drei kurze in
jedem Semefter eingeliefert werden follen, zu deren Ausarbeitung
nur ganz wenig Zeit gegeben ift; hoffentlich wird dieſe Maßregel,
die das Befte an der ganzen Anftalt zerftört, nicht
von Dauer fein. — Erwägt man nun, daß in der neueren Zeit
in faft alle pofltiven Wiffenfchaften, in der Theologie namentlich,
der Geift der Philofophie eingedrungen, daß dadurch jede einzelne
in das Licht eines neuen Zufammenhanges mit allem Wiſſens⸗
werthen getreten ift, nimmt man dazu, wie durd) das enge Zuſam⸗
menleben ein beflindiger Tebendiger Ideenaustauſch zwiſchen den
Zöglingen beiteht, bedenkt man endlich, daß diefe vorneherein eine
durch Prüfungen gewonnene Auswahl ver fähigeren Köpfe find,
jo wird man ſich nit wundern, wenn man unter den Seming«
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riften das univerfellfte Intereffe für allgemeine Bildung, wenn
man fle am häufigften in folhen Vorleſungen trifft, die man
nicht gehört haben muß, um ein Bacultätderamen zu machen.
Bei den übrigen Studirenden findet ih im Durchſchnitt mehr
bloßes Brodftudium, Hoch kann gerade neuerlih über Mangel
an allgemeinerem Intereffe weniger geflagt werben als je, und
man findet in Tübingen vielleicht mehr ald auf irgend einer ans»
bern Heineren Univerfltät Studirende aller Facultäten in Vorle-
fungen allgemeineren Inhalte; fo daß auch von biefer Seite her
ber Zweifel fi begründet, ob eine fo abgefchlofiene Anſtalt,
wie dieſes Seminar, ein unentbehrliches Mittel geiftiger Erzie⸗
bung fet, ob nicht die fortgefhrittene - Zeit wünſchen müſſe,
jene DVortheile, die der Semmarift in der fyftematifchen Leitung
feiner Studien beflgt, ohne den Mechanismus ber übrigen Ein-
richtungen realifirt zu ſehen. — Auch im Tatholifhen Seminar,
das in feiner Einrichtung ganz das proteftantifhe zum Mufter
genommen, nur die Strenge der Geſetze gemäß der confelflonellen
Differenz verſtärkt hat, regt ſich auf erfreuliche Weile der Sinn
für Philofophie und allgemeine Wifjenfchaften, der aber von den
Oberen fu viel möglich eingegrenzt wird ,. da namentlich der Geiſt
des Möhlerfchen Wirkens, der fehr marlirte Spuren zurüdge-
laſſen hat, eben nicht geeignet war, hierin einen liberalen Sinn
auflkommen zu lafjen.
Ein weiterer Vortheil, ven der Seminarift genießt, find
die Halbjährigen Examina, welche die Anftalt mit ihm vor«
nimmt. Außer dem Gewinne an Stoff des Wiſſens ‚ ben biefe
mittelbar durch die Nothwendigkeit der Vorbereitung zuführen,
zieht er aus ihnen den weiteren, daß er eine Fertigkeit in ſchneller,
Ran
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durch eine vorgeſchriebene Belt gebrängter Darftellung feines Wiſ⸗
ſens befommt und die Craminandenarigft ablegt, wodurch er in
ber Bacultätd» und Dienftprüfung einen wefentlihen Vorfprung
gewinnt. — Ob die, auf die Nefultate der Auffüge, loci, Se⸗
‚meftralprüfungen gegründete Location, welche von Alters ber ein
bedeutended Moment im wirtembergifchen Erziehungsweſen bilbet,
mehr Guted oder mehr Uebles flifte, greift in eine Strenge
ein, die bier nicht unterfucht werben kann.
Ih Hätte num den Zuſtand unſerer Liniverfität im Großen
zu ſchildern und von dem Geiſte der Studirenden auf den der
Lehrer überzugehen. Da ich jedoch durch die Natur meines Ge⸗
genſtandes angewieſen bin, hier nur vom Zuſtande der höchſten
Wiſſenſchaften, der Philoſophie und Theologie zu reden, dieſer
aber zur Sprache kommen muß, wenn wir der geiſtigen Ent⸗
wickelung der Perſönlichkeit folgen, welche das letzte Augenmerk
dieſer Charakteriſtik iſt, ſo breche ich hier ab, um Wiederholun⸗
gen zu vermeiden. Was wir im Gebiete der übrigen Wiſſenſchaf⸗
ten an vertrefflihen Lehrern befiten , müßte eine Darftellung
unferer Univerſität, die nicht an ſich mein Zweck ift, aufzeigen.
Meine Aufgabe ift, darzuthun, wie ſich das ſchwäbiſche Nature
zu den wefentlichften Kortfchritten in denjenigen Gebieten ber
Wiſſenſchaft verhielt, in welchen dad Mark aller Intelligenz zu
Tage kommt, und welche durch die Art, wie fie behandelt wer⸗
den, unmittelbar einen Maßſtab für den innerften Geift des Bes
handelnden abgeben. — Daß der Lebenögeift der neueren Phi⸗
loſophie auf unferer Univerfität geringen oder feinen Einfluß auf
die Behandlung der Natur=, der Staats- und der Rechtswiſſen⸗
fehaft gewonnen hat, darüber mag man fid) immerhin mit Dem
78
Gedanken beruhigen, daß bieje vorherrſchend pofitiven Gebiete
noch am eheſten ihren Weg für ſich fortgehen können, bis end⸗
lich Empirie und Philoſophie bis dahin vorgeſchritten ſein wer⸗
den, wo ſie ſich durchdringen müſſen.
Gehen wir nun zu der Perſönlichkeit über, die wir mit
beftändigem Rückblick auf dem biöher gefchilverten provinciellen
Boden, in dem fie wurzelt, zu charakterifiren gedenken, fo ift
freilich fogleih auszufprechen, daß diefe Charakteriftif nicht für
Leſer ift, welche zum Voraus befchlofien haben, Zweierlei nicht
zuzugeben und anzuerkennen. |
Das Eine: daß der Schritt, welchen nicht nur die Theolo⸗
gie, fondern der Geift überhaupt durh Strauß gethan bat,
f, von univerfell Hiftorifcher Bedeutung ſei. Ich weiß recht wohl,
daß Strauß Fein Hegel, Fein Kant, Fein Luther, noch viel mes
niger gar ein Ehriftus if. Das Wirken diefer fänmtlichen He⸗
roen des Geiſtes hatte eine doppelte Seite, eine pofltive ober
productive, und eine negative oder zerftörende; die probuctive
aber überwog und die negative war nur eine Kehrfeite derfelben.
Die religiöfen Heroen, die ich bier nannte, unterfcheiden fi
von den philofophifchen dadurch, daß jene ein zwar im Keime
oorbereiteteß, aber eben fo ſehr dennoch ſpecifiſch neues Prin⸗
cip in die Welt einführten, ohne es fuftematifh zu entwideln,
fondern jo, daß es ald unmittelbare Macht in die Gemüther
eindrang; wobei wir zunächft davon abjehen Eönnen, daß ber
Eine eine neue Religion, der Andere nur innerhalb dieſer
eine ſpeciſiſch neue Bertiefung ihres Princips realiſtrte. Die
Philoſophen dagegen fuftematifirten ein in den Geiſtern ihrer
Zeit bereitö objectiv ausgebildetes Princip zu einem Gebäude des
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bedreifenten Gedankens. Strang hat das feiner Kritik zu Grunde
liegende MPrincip, welches allerdings ſehr poſitiver Natur iſt,
das der Immanenz Gottes in der Welt; weder auf die erſte,
noch auf die zweite der genannten Weiſen producirt, ſondern
er hat es ausgebildet vorgefunden, und das Neue, was er that,
beſtand darin, daß er es nach einer Seite hin, nach welcher
es noch nicht ſeine ganze Entwickelung und Vertiefung erreicht
hatte, flüſſig machte, ſo daß, was in dieſem Gebiete noch gei⸗
ſtig unverarbeitet, unvermittelt Tag, von dieſem flüſſigen Geifte
abſorbirt wurde. So verhielt er ſich alſo zum Poſitiven aufneh⸗
mend und die negative Thätigkeit überwog. Strauß iſt kein
ſchöpferiſcher, ſondern ein kritiſcher Geiſt. Aber darum darf man
das Gemeinſame, was er mit jenen Heroen hat, nicht ver⸗
kennen, denn weder tritt bei ihm die poſitive, noch bei jenen
bie negative Seite fo weit zurüd, ald es fcheint. Oder mas
war denn der Stifter unferer Neligion anders, ald der erfte
große und durchdringende NRationalift, ber erfte große, von
Sokrates vorgebildete Ketzer, den bie Orthodoxen feiner Zeit
and Kreuz fohlugen? Die damaligen Schriftgelehrten mein-
ten gerade eben fo ohne das Poſitive in ihrer Religion nicht
beftehen zu können, wie die jebigen. Die Katholiken hielten
Luther gerade ebenfo für einen reinen Zerftörer, wie die jebigen
Eatholifchen Proteftanten die neue Kritik für rein demolirend hal⸗
ten. Man fagt gegen Strauß, was Jahrhunderte und Jahr⸗
taufende heilig gehalten, folle nicht mit frevelhafter Sand einge»
riffen werden; ganz ebendaffelbe wurde gegen Jeſus und Lus
ther vorgebracht, ganz ebendafjelbe gegen jeden Fortſchritt des
menichlichen Geiftes nicht nur in ven höheren, ſondern au in
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ben niederen die Äußere Culturgeſchichte betreffenben Sphäre;
fo Hat man die Entdeckung des Copernicus, fo die Buchdrucker⸗
Tunft als etwas Teufliſches bekämpft, und der Bauer urtheilt
fiber einen neuen einfacheren Pflug ganz ebenfo, wie der Supra=
naturalift über dad Leben Jeſu von Strauß. Don jeher Hat
fih die Menfchheit gegen ihre Wohlthäter, am meiften gegen
die Befreier des Geiſtes, mit Händen und Füßen gefträubt und
iſt mit Spießen und Stangen auf den Geift loßgegangen; denn
„aus Gemeinem iſt der Menſch gemacht und die Gewohnheit
nennt er feine Amme“. |
Umgekehrt ift in einem Unternehmen, wie das Straußifche,
weit mehr Poſitives, ald es fiheint. Die zu Grunde liegende
Metaphyſik iſt zwar nicht von Strauß aufgebaut, aber mehr
als in irgend einer Sphäre iſt in der Philofophie die Aneignung
des Fremden ein eigened Produciren, und wenn ic) das Befte,
was deutſche Philofophie erzeugt bat, frei in mich aufnehme,
fo darf ih fagen, ich habe es miterzeugt. Strauß bat ven
Stoff feiner neuteftamentlichen Kritik zum Theile aus den frü-
heren Leiſtungen diefer Wiſſenſchaft aufgenommen; aber die
Eoncentrirung des vereinzelten Stoffe in den Brennpunft einer
durshgreifenden Einheit ift wahrlih Fein bloß formelled Ver⸗
dienft, fondern war nur durch einen fehr pofitiven Act der In⸗
telligeng möglich. Dies beftätigt ſich ſchon dadurch, daß man
es mit den Einwürfen der Kritik, fo lange fie vereinzelt waren,
leicht nahm, als fie aber in dieſer gefchlofienen Phalanx vors
brangen, ihr Gewicht einen fo erfihütternden Eindruck machte.
Diefer Eindruck iſt eine Thatſache, an melcher gemeſſen die er⸗
fünftelt vornehme Geringſchätzung einiger Eleinen Geiſter, welche
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in bettelhafter Armuth an beſſeren Mitteln die ganze Erſcheinung
für unbedeutend erklären, eine mehr als Lächerlihe Holle ſpielt.
Die Hauptſache aber ift, daß jenes erfte und dieſes zweite Mo⸗
ment in Strauß ihre Wirfung vereinigen. Die Macht feiner ne»
gativen Kritik xuht. auf der Mast ſeiner pofitiven Metaphyſik.
Mit der Kritik eines platten Rationaliſten oder eines Frivolen
kann man leicht fertig werden, weil ſie keine Baſis hat, aber
wenn eine Kritik anrückt, die auf dem feſten Boden einer ächt
religiöſen Weltanſchauung ruht, dann wird es Ernſt.
Ich möchte Strauß mit einem ſcharfen Winde vergleichen;
die dicken Dünſte, die dieſer zerſtreut, erſcheinen dem äußerlichen
Anblicke freilich concreter und reeller, als ſeine reinigende Kraft,
aber in den Wirkungen fühlt man, daß die neue geſunde Luft
das Reellere iſt gegen den Qualm der Atmofphäre und die glän⸗
zenden Wolkengeſtalten.
Das Andere, was ich als anerkannt vorausſetze, iſt der
richtige Begriff der Entwickelung. Wer dieſen nicht kennt, wird
große Augen machen, wenn es zunächſt den Anſchein haben
wird, als erzähle ich die geiſtige Geſchichte nicht eines Kritikers,
ſondern eines Dichters, eines Myſtikers. Wenn er lieſt, daß
Strauß einft ein enthuſiaſtiſcher Freund der Romantik, Schel-
ling's und 3. Böhme's war, daß er für die Erſcheinungen bes
Sonnambulismus ſchwärmte, jo wird er jagen: nun, ba haben
wir's: ein haltungslofes Subject, das unflät von einem Stand»
punkte auf den andern überjpringt und wohl aud feinen jegigen
bälder oder fpäter mit dem andern Ertreme vertaufchen wird!
Einen foldden zu belehren, wie gerabe der flarfe und gefunde
Geiſt durch eine Stufenfolge einfeitiger Richtungen fich fo ent⸗
Kritiſche Gänge. 6
?
82
wickelt, daß je In ber folgenden reiferen dad Wahre aus ber vor⸗
hergehenden unreiferen als verarbeiteter Nahrungsftoff enthalten
bleibt, dazu iſt Hier nicht der Ort. Wenn ich ihn an Goethes
Biographie verweife, wird er mir ben Nüden kehren, und
wenn ich fage, eben jener frühere Myſticismus unfered Freun⸗
bes, deſſen gefunder Kern in feinem jebigen Flareren Stand⸗
punkte fortlebt, mache ſchon zum Voraus wahrſcheinlich, daß
auch feiner Kritik Keine zerftörende Metaphyſik zu Grunde liege,
fo wird er fih wieder umdrehen und mir ind Geſicht Tachen.
Laſſen wir ihn fliehen und wandern nach der Stadt Ludwigs⸗
burg mit ihren breiten menfchenleeren trafen, ihrem verfal-
Ienden großartigen Parfe, auf deren melancholiſchen Bläßen bie
Kinderwelt weiten Raum für ihre Spiele und für ihre Phan-
tafle hat, um manche unheimliche Sage, die fich befonderd an
die Hallen des öden Schlofjes knüpft, mit romantiſchem Schau⸗
der zu hegen. Hier wurde Strauß 1808 geboren, das Kind
eines wohlhabenden Kaufmanns, in deſſen Hauſe ſchlichte bür⸗
gerliche Sitte und altproteſtantiſch religiöſer Sinn, doch ohne
düftere Strenge, herrſchte. Ob in einer Familie ein guter Geiſt,
ber Geiſt der Humanität lebt, mil ich daran erkennen, wenn
in ihr dasjenige Raum hat, mas ih Familienhumor nennen
möchte: ein Verhältnig, worin die Samilienglieder, der gegen-
feltigen Achtung und Liebe ficher , fich nichts zu vergeben fürd-
ten, wenn eins ben andern geftattet, feine unſchädlichen Schwä⸗
en mit gutmüthiger Neckerei aufzuziehen. Diefer freundliche
Seiſt ging hier beſonders von der Mutter aus, einer einfachen,
zseoen Beau von kerngeſundem Gemüthe und vielem Talente
AI BilveS und der Anſchauung, fireng zur rechten Zeit, aber
— u
83
fletö bereit, daB Originelle an den Ihrigen, wo es ſich komiſch
darbot, mit Heiterkeit zu dulden und umgekehrt felbft den Kin⸗
bern den Scherz zu gönnen, ben ihnen biefe oder jene ihr ſelbſt
entſchlüpfte Naivität bereitete, ohne bie halbgelehrte Bildung,
bie jegt Sonoratiorentöchtern gegeben wird, mit ihrer ganzen
Denkweiſe im volksthümlichen Clemente wurzelnd, vol Sim
für Naturfchönhelt, eine Freundin von Volksſagen, Volkswitz,
Mähren, aber mwohlbegabt, um auch ſolche Erſcheinungen,
bie aus dem Kreife einer veflectirteren Bildung hervorgehen, zu
verſtehen und zurecht zu legen, daher keineswegs ohne Ironie
und ohne mandherlei ſkeptiſche Anfichten über orthodoxe Begriffe.
Strauß hat von ihr fein Talent, wie denn gewöhnlich bedeutende
Naturen diefed von der Mutter erben; fein Talent, d. h. zu⸗
nächſt namentlich die Gabe der Haren Anſchauung, woraus
ſowohl die poetifche Kraft, ald auch nad Einer Seite hin, ſo⸗
fern ſie nämlich durch den Verfuh, eine Sache in ihrem Detail
fich anfhaulih zu machen, auf ihre Zweifel geführt wird, bie
Spürfraft ver Kritik fließt.
Dom Vaͤter, einem etwas herb auftretenden, zum Jähzorn
geneigten, übrigens dem Zarten und Lieblihen, wu es fih in
ber Natur und Poeſie darbeut, keineswegs verfchloffenen Wanne,
hat er feine Schärfe, das muthige Eingreifen, das Giferartige,
was fich beſonders in den Streitichriften hervorgethan hat, zu⸗
gleich Beſtimmtheit und practifchen Sinn im Gebiete ded Zweck⸗
mäßigen, welcher den Kaufmannsſohn verräth und wodurch
Strauß eine ſeinen Cameraden überlegene Sicherheit auch in äu⸗
ßerlichen Verhältniſſen früh entwickelte. Doch auch unter ſeinen
theoretiſchen Gaben verdankt er ihm eine gewiſſe Liebe für Bilder
6 *
82
wickelt, daß je In ber folgenden zeiferen bad Wahre aus ber vor⸗
hergehenden unreiferen als verarbeiteter Nahrungsſtoff enthalten
bleibt, dazu iſt Hier nicht der Ort. Wenn ich ihn an Goethe's
Biographie vermweife, wird er mir ben Nüden ehren, und
wenn ih fage, eben jener frühere Myſticismus unfered Freun⸗
des, deſſen gefunder Kern in feinem jeßigen klareren Stand⸗
punfte fortfebt, mache ſchon zum Voraus wahrfcheinlih,, daß
auch feiner Kritik Keine zerſtörende Metaphyſik zu Grunde liege,
jo wird er fich wieder umdrehen und mir ind Geſicht lachen.
Laſſen wir ihn flehen und wandern nad) der Stadt Ludwigs⸗
burg mit ihren breiten menjchenfeeren Straßen, ihrem verfal-
enden großartigen Parke, auf deren melancholifchen Platzen die
Kinderwelt weiten Raum für ihre Spiele und für ihre Phan⸗
tafle hat, um manche unheimliche Sage, die ſich beſonders an
die Hallen des öden Schlofied knüpft, mit romantiſchem Schau⸗
ber zu hegen. Gier wurde Strauß 1808 geboren, dad Kind
eines wohlhabenden Kaufmanns, in deſſen Haufe [lite bür-
gerliche Sitte und altproteftantifch veligiöfer Sinn, doch ohne
düſtere Strenge, herrſchte. Ob in einer Familie ein guter Geift,
der Geift der Humanität Tebt, mil ich daran erkennen, wenn
in ihr dasjenige Raum bat, was ih Familienhumor nennen
möchte: ein Verhältnig, worin die Yamilienglieber, der gegen=
feitigen Achtung und Liebe ficher , fich nichts zu vergeben fürch⸗
ten, wenn eind dem andern geftattet, feine unſchädlichen Schmwi-
hen mit gutmüthiger Nederei aufzuzichen. Diefer freundliche
Geift ging hier befonders von der Mutter aus, einer einfachen,
naiven Frau von Ferngefundem Gemüthe und vielem Talente
des Bildes und der Anfhauung, ſtteng zur rechten Zeit, aber
83
fletö bereit, daB Driginelle an den Ihrigen, wo es ſich komiſch
darbot, mit Heiterkeit zu dulden und umgekehrt felbft den Kin⸗
bern den Scherz zu gönnen, ben ihnen biefe oder jene ihr ſelbſt
entihlüpfte Naivität bereitete, ohne die halbgelehrte Bildung,
bie jegt Sonoratiorentöchtern gegeben wird, mit ihrer ganzen
Denkweiſe im volksthümlichen Clemente wurzelnd, voll Siem
für Naturfhönheit, eine Freundin von Volksſagen, Volkswitz,
Mähren, aber wohlbegabt, um auch folche Erſcheinungen,
bie aus dem Kreife einer veflectirteren Bildung hervorgehen, zu
verftehen und zurecht zu legen, daher keineswegs ohne Ironie
und ohne mancherlei jfeptifche Anfichten über orthodoxe Begriffe.
Strauß hat von ihr fein Talent, wie denn gewöhnlich bedeutende
Naturen diefed von der Mutter erben; fein Talent, d. h. zu⸗
nächſt namentlih die Gabe der Haren Anfchauung , woraus
ſowohl die poetiihe Kraft, als auch nad) Einer Seite hin, ſo⸗
fern ſie nämli durch den Verfuh, eine Sache in ihrem Detail
fich anfchaulih zu machen, auf ihre Zweifel geführt wird, bie
Spürfraft der Kritik fließt.
Vom Vaͤter, einem etwas herb auftretenden, zum Jähzorn
geneigten, übrigens dem Zarten und Lieblihen, wo es fih in
ber Natur und Poefle darbeut, keineswegs verfchlofienen Manne,
hat er feine Schärfe, das muthige Eingreifen, das Giferartige,
was ſich befonderd in den Streitfchriften hervorgethan hat, zu⸗
gleich Beftinnmtheit und practifchen Sinn im Gebiete ded Zweck⸗
mäßigen, welcher den Kaufmanndfohn verrith und woburd)
Strauß eine feinen Sameraden überlegene Sicherheit auch in äu⸗
Berlichen Berhältniffen früh entwickelte. Doch auch unter feinen
theoretifchen Gaben verdankt er ihm eine gewiſſe Liebe für Bilder
6 *
54
des Stifffebend , mie denn der Vater, ein großer Bienenfreund,
das Leben dieſer Thiere mit wirklich poetiſchem Sinne belaufchte,
und Leichtigkeit in fiyliftifcher Darftelung. In den zartgebauten
Kinde, deflen Schmächlichkeit Urfache einiger Verzärtelung war,
ließ fich freilich die Fünftige Charakterſchärfe noch nicht erfennen.
In der Schule verrieth fih früh am der Teichten Faſſungskraft,
. dem foliden Gebächtniffe, dem gewiſſenhaften Fleiße die, Beftim-
mung zum Gelehrten, im Spiele die Originalität. Bon den
gerröhnlichen „Rnabenfpielen , worin ſich ein Fräftiger Muthwille
friegerifch austobt, war das Kind durch feinen ſchwächlichen
Körperbau, deſſen enge Bruft und hinaufgezogene Schultern eine
hektiſche Anlage befürchten ließen, ausgeſchloſſen; es bildete fich
durch das Gefühl phyſiſcher Schwäche, durch diefe Abfonderung
‚in dem zart organifirten Geifte jene Schüchternheit, Verſchämt⸗
beit, Iungfräulichfeit, die wir haufig in der Kindheit folcher
Naturen bemerken, melche mehr für bie Geiſter⸗ als für die
Körperwelt beftimmt find. Deſto munterer übte ſich der {unge
Geift im vertraulihen Scherze mit Eltern und Bruder, im fin-
nigen Spiele mit näher befreundeten Cameraden. Hier that fich
früh ein poetifches Talent in bunter Erfindung, in Anordnung
dramatiſcher Scenen, in komödiſchem Improviſiren Eund , und
ich weiß nicht leicht einen Knaben , der lieber und beſſer fyielte.
Wir jagten und oft im Mondſcheine auf der breiten Staffel
bor dem Haufe und fpielten ven geizigen Dann, ben geprügel-
ten Juben, um bann mit der Mutter oder Tante auf der Sitz⸗
bank auszuruhen und unter dem Säufeln, dad von den nahen
Linden heimlich herüberwehte, manche drollige Anekdote, mun-
ches Mährchen zu erzählen oder anzuhören.
—X
85
Der Knabe Hatte mit entſchiedener Neigung den geiftlichen
Stand erwählt, die Prüfung zur Aufnahme ins niedere Klofter
glänzend beftanden, und im Herbſte 1821 reiften wir, er von
feinem Vater, ich von meiner Mutter begleitet, nach Blaubeuren
in der Nähe von Ulm, einem Städtchen, deſſen eigenthümliche.
Landſchaft mit ihren groteöfen Felſen, Burgruinen, ihrem Flüß⸗
hen und feiner berühmten himmelblauen Quelle fhon bei dem
erſten Cintritt poetifh auf und, einer folchen wildfchönen Natur
ungewohnte, Knaben wirkte. Ein eigenthümlicher Zufall hatte
Diesmal unter der Zahl der aufgenommenen Zöglinge eine Menge
begabter, aufgeweckter , ſubjectiv und objectiv origineller Naturen
in die grauen Mauern des ehemaligen Auguftinerklofters zuſam⸗
mengeweht, und ſchon in den erſten Wochen zeigten fi bie
Wirkungen der bunten Mifhung im muthiwilligen Knabenſcherze
und unendlicher Ausgelaffenheit Eindifchen Wiged. Hier war nun
Strauß Anfangs in einer beffemmten Situation ;, bas Toben,
der Lärm, die Balgereien machten die ohnedies ſchüchterne Natur
noch ſcheuer und ein heftiges Heimweh befiel ihn, wiewohl er
an ftilleren Scherzen und Witzſpielen von Anfang an einen mun⸗
teren und fehr probuctiven Antheil nahın.: Der oberfte Borges
feßte,, bei nicht unliberalen Anfichten über Jugenderziehung ein
höchſt wunderlicher Dann, gab der Lachluft und Parodie immer
neuen Stoff, und fo fehlte nichts, um jene heiteren Zuftände,
die ich oben als eine Volge ded Zufammenlebend im Seminar
ſchilderte, bier in der vollften Xebenbigfeit hervorzurufen. Bon
der andern Seite genoffen wir im Unterrichte einen großen Vor⸗
tbeil vor andern Seminarien. Während an diefen großentheils
noch Männer von altem Style, Freunde alter mönchiſcher Strenge
3
86
und philologiſchen Buchſtabendienſtes als Lehrer angeftellt waren,
wurden mir von zwei jugendlichen Profefforen, Kern und Baur
— beide jeßt Doctoren der Theologie zu Tübingen — früh zu
höheren Anfchauungen, zu tvealer Auffaffung der alten Geſchichts⸗
und Dichtwerke geführt und ein Schwung der Betrachtung in
die jugendlichen Gemüther gepflanzt, der diefer Promotion, fo
Lange fie zufammen war, einen prägnanten Charakter lieh. In
ben fpäteren Jahren, als Profefior Kern den Sophofles, Baur
ben Thucydides und Plato mit uns las, reifte diefe Richtung
zu einer entichlebenen Idealität des Standpunktes, und ed ließ
fih vorausfehen, daß die begabteren Zöglinge fpeculative und
poetifche Tendenzen zu ihrem Lebenszwecke erwählen würden.
Strauß verband mit dem reichen Geifte, der fich frühzeitig durch
tiefes Eindringen in die alten Spraden und Geifteswerfe kund
that, den firengften Fleiß und überflügelte die meiften feiner
Gameraben. Zugleich regte fih ein Talent zur Poeſie in ihm,
das namentlich durch eine eigenthümliche Erſcheinung in Thätigkeit
gefeßt wurde, der ich hier gebenfen muß. Es wird in unfern
niederen Seminarien häufig bemerkt, daß unter ben Böglingen
mit dem Gintritt in die Sünglingsjahre ein fentimentaler Freund⸗
ſchaftscultus mit entſchieden verliehter Färbung, übrigens höchſt
unſchuldiger Art, ſich ausbildet. Es iſt wohl das erſte Keimen
der Liebe, die ihren Gegenſtand bei noch unreifem Schönheits⸗
ſinne in dem Bilde der unentwickelten männlichen Geſtalt ſucht.
Der Körper bed werdenden Sünglingd bat in den weichen For»
men, ber elaftifhen Bewegung , dem zarten Teint, dem dufti⸗
gen Roth ter Wangen und Lippen, bem hoben Klange ber
Stimme etwas Weibliches ; da nun hier bad Weihlihe am Männ-
2 @
87
lichen ift, fo iſt fein Reiz flärker, als wenn 08 da begegnet,
wo man es ohnedies erwartet, und erregt bei dem unreifen
Yunglinge ein un fo ſtärkeres Wohlgefallen, als er in feiner
Unſchuld das Geſchlechtliche am Weibe als folches nicht bemerkt
und nicht fucht. /Hhugleich quillt eben jetzt die erſte Fülle höherer
geiſtiger Gefühle und wirft ſich nun in dieſe Strömung; ſo ent⸗
ſteht jene ſchwärmeriſche Knabenliebe, deren Erinnerung mir
jetzt noch unendlich rührend iſt. Es wurden völlige Romane ab⸗
geſpielt, man herzte, küßte ſich, ſchrieb ſich Billets, trennte und
verſöhnte ſich, und ich erinnere mich, wie ich zur Zeit, da ich mit
meinen Auserwählten fhmollte, in der Abenddämmerung einen
Baumfnorren an der Duelle der Blau von Welten für deſſen
Geſtalt Hielt und nicht3 Geringeres befürdhtete, als der trauernde
Jüngling fet eben im Begriffe, in ber Verzweiflung über unjere
Trennung fi in die himmelblaue Welle zu ftürzen. Bon einer an⸗
deren Promotion weiß ich, daß diefe Knabenliebe vollfommen zu ei⸗
nem Syfteme ausgebildet war, fo da in dem Kreife von Verehrern,
der ſich um die Schönhelten ded Seminars gefammelt, Obers
und Unterfreunde mit fireng logifher Diſtinction unterfhleden
wurden. ine eiferfüchtige Leidenfchaft diefer Art war meines .
Wiſſens die Springwurzel, welche dem poetifchen Talente unferes |
Freundes zuerſt die Niegel Löfte, das ſich nun aber nach ver«
ſchiedenen Seiten bin, namentlih auch in Humoriftiicher Rich⸗
tung vielfach Eund that. Mit befonderem Vergnügen erinnere
ich mich einer Reichenrede von Strauß auf den Tod eined jungen
Hundes, ven unfer Eyhorus zufällig niedergeritten, mit dem Motto:
„Und wirft ihn unter den Huffchlag feiner Pferde —
Dad iſt dad Loos ded Schönen auf der Erde!"
88
Der Beflger des Hundes fpielte bei der Abhaltung biefer Mebe
eine vortrefflihe Rolle, ein Zögling, der das Talent der Mimi
mit folcher Leidenſchaft ausbildete, daß fein Bettnachbar des Nachts,
wenn das Licht gelöfcht war, ihm mit der Sand über das Geficht
gleiten und auf dem Wege plaftifcher Prüfung errathen mußte,
wæen er eben nachahme. Eine ganz heitere Welt geſtaltete ſich
innerhalb unſerer Kloſtermauern, wir ſpielten Theater, hielten
Maskeraden, mit glänzender Ausſtattung, komiſche Umzüge
u. dgl. Bei den Familien im Städtchen waren wir aufs Beſte
aufgenommen, man war allmälig älter geworden und lernte
weibliche Schönheit ſchätzen, an hübſchen Mädchen fehlte es nicht,
die Sentimentalität erſter Jugendliebe fand ein unendliches Feld,
man ſpielte, tanzte, die Schreiber des Städtchens wurden mit
übermüthiger Siegerkraft auf die Seite gedrängt, und die Abende,
die ich mit Strauß in einem vertraulichen Familienzirkel zubrachte,
find mir durch die ſchäumende Fülle von Humor und Gemüth,
die er hier entwickelte, unvergeßlich. Man hätte in der zwar
bageren, aber ſtolz aufgefchoffenen Jünglingögeftalt mit dem
dunfeln großen Auge und den fhönen altveutfchen Haaren den
ſchüchternen, blöden Knaben faum mehr erkannt, aber eben fo
wenig in biefem Iohannesfopfe den Eünftigen Kritiker vermuthet.
Inzwifchen Hatten fich ig der Promotion andere Richtungen ent⸗
wickelt, die er nicht theilte. Das Deutſchthum feierte damals
feine legten Bacchanalien, man turnte eifrig und wir fühlten
uns als Fünftige Vaterlandsbefreier. Ich correfpondirte damals
mit einem Gymnafiaſten in Stuttgart, der fich nicht anders, als
„Tyrannenmolch“ unterfchrieb, und lebhaft ift mir im Gedächt⸗
89
nifje, wie ich in meinen Briefen über die Zerfprengung Deutſch⸗
lands in viele Territorien Iamentirte, ohne von dem politiichen
Zuftande des Vaterlanded, oder au nur vom Geographiſchen
— denn bierin waren wir im Gymnaflum zu Stuttgart gren«
zenlos vernachläßigt worden — ben geringf:en Begriff zu haben
Strauß nahm von dieſer Erſcheinung nichts an, als den alt⸗
deutſchen Rock und das altdeutſche Haar, er verhielt ſich im/
Uebrigen zu dieſer Richtung, ſo wie zu unſerer kindiſchen Nat
ahmung burfchicofer Sitte ganz tronifh. Während wir Anderen
uns unendlich groß fühlten, wenn wir mit der coloffalen Tabaks⸗
pfeife in der Hand nah den verbotenen Wirthöhäufern flürzten
und commercirten, fo lachte er und aus und zog einen einfamen
Spatziergang vor.
Unfere vier Jahre waren um, wir zogen, von den Mäbe
hen des Städchens mit Sträußchen bunt gefhmüdt, ab; man
ches Schnupftuh winfte aus den Fenſtern, die gedrängt voll
von Zufhauern flanden, und an reichlihen Thränen von beiden
Seiten fehlte es nit. Wir traten 1825 in dad Seminar zu.
Tübingen ein; unfer Curſus war auf fünf Jahre feftgefebt, veren
die zwei erften für Philologie, Philofophie und was dazu ge⸗
rechnet wird, beftimmt waren. Bier fand ſich nun für die Bes
bürfniffe des jugendlichen Geiſtes auf eigentlich wiſſenſchaftlichem
Boden zunächft fein Bett, wohin er feine Strömung hätte neh⸗
men können, und man mußte daher, fo lange man nicht Durch
das Privatftudium an tiefere Quellen geführt wurde, fein In=
terefie an andere Dinge heften, un dem jugendlichen Geifte Luft
zu machen. In der Philofophie waren Schott, Eſchenmayer und
88
Der Beflger des Hundes fpielte bei der Abhaltung biefer Rede
eine vortreffliche Rolle, ein Zögling,, der das Talent ber Mimik
mit folcher Leidenſchaft ausbildete, daß fein Bettnachbar des Nachts,
wenn das Licht gelöfcht war, ihm mit der Hand über das Geſicht
gleiten und auf dem Wege yplaftifcher Prüfung errathen mußte,
wen er eben nachahme. ine ganz heitere Welt geftaltete ſich
innerhalb unferer Kloſtermauern, wir fpielten Theater, hielten |
Masferaden , mit glänzender Ausſtattung, Tomifche Umzüge
u. dgl. Bei den Familien im Städtchen waren wir aufs Beſte
aufgenommen, man war allmälig älter geworben umd lernte ,
weibliche Schönheit fchägen, an hübſchen Mäpchen fehlte ed nicht, ..
bie Sentimentalität erfter Jugendliebe fand ein unendliches Felb,
man fpielte, tanzte, bie Schreiber des Stäbtchend wurden mit e
übermüthiger Siegerkraft auf die Seite gedrängt, und die Abende, r
bie ich mit Strauß in einem vertraulichen Bamilienzirkel zubrachte, =
find mir durch die fhäumende Fülle von Sumor und Gemüth, F
die er hier entwickelte, unvergeßlich. Man hätte in der zwar
hageren, aber ſtolz aufgeſchoſſenen Jünglingsgeſtalt mit dem
dunkeln großen Auge und ben ſchönen altdeutſchen Haaren den —
ſchüchternen, blöden Knaben kaum mehr erkannt, aber eben fo,
wenig in diefem Johanneöfopfe den Fünftigen Kritifer vermuthet.
Inzwiſchen hatten fich ig der Promotion andere Nichtungen ent⸗ H
wickelt, die er nicht theilte. Das Deutſchthum feierte damals -,
feine legten Backhanalien, man turnte eifrig und mir fühlten 1
und als Fünftige DVaterlandöbefreier. Ich correfpondirte damals =
mit einem Gymnaflaften in Stuttgart, der ſich nicht anders, als e
„Tyrannenmolch“ unterfchrieb, und lebhaft ift mir im Gedächt⸗
ä
89
niffe, wie ich in meinen Briefen über-die Zerfprengung Deutſch⸗
lands in viele Territorien lamentirte, ohne von dem politifchen
Zuftande des DVaterlanded, oder auch nur vom Geographiſchen
— denn hierin waren wir im Gymnaſium zu Stuttgart gren⸗
zenlos vernachläßigt worden — ben geringfien Begriff zu haben,
Strauß nahm von biefer Erſcheinung nicht? an, als ven alt \
beutichen Rock und dad altdeutſche Haar, er verhielt fih im ;
Uebrigen zu diefer Richtung, . fo wie zu unferer Eindifhen Nach
ahmung burſchicoſer Sitte ganz ironifh. Während wir Anderen
und unendlich groß fühlten, wenn wir mit der colofjalen Tabaks⸗
pfeife in der Hand nach den verbotenen Wirthähäufern flürzten
und ceommercirten, fo lachte er und aus und zog einen einfamen
Spaßiergang vor. |
Unfere vier Jahre waren um, wir zogen, von den Mäd⸗
hen des Städchens mit Strüußchen bunt geſchmückt, ab; man»
ches Schnupftuh winkte aus den Fenſtern, die gedrängt voll
von Zufhauern flanden, und an reichliden Thränen von beiden
©eiten fehlte e3 nicht. Wir traten 1825 in das Seminar zu
Tübingen ein; unfer Curfus war auf fünf Jahre feftgefeßt, deren
die zwei erften für Philologie, Philofophie und was dazu ges
rechnet wird, beftimmt waren. Hier fand fih nun für die Des
dürfniffe des jugendlichen Geiſtes auf eigentlich wiſſenſchaftlichem
Boden zunächft Fein Bett, wohin er feine Strömung hätte neh⸗
men fönnen, und man mußte daher, fo lange man nicht durch
das Privatftudium an tiefere Quellen geführt wurde, fein Ins
tereffe an andere Dinge heften, um dem jugendlichen Geifte Luft
zu machen. In ver Philojophie waren Schott, Eſchenmayer und
88
Der Beſitzer des Hundes fpielte bei der Abhaltung biefer Rede
eine vortreffliche Rolle, ein Zögling, der dad Talent der Mimik
mit folcher Leidenſchaft ausbildete, daß fein Bettnachbar des Nachts,
wenn das Licht gelöfcht war, ihm mit der Hand über das Geſicht
gleiten und auf dem Wege plaftifher Prüfung errathen mußte,
- wen er eben nachahme. Eine ganz heitere Welt geftaltete fi
innerhalb unferer Kloftermauern , wir fpielten Theater, bielten
Maskeraden , mit glänzender Ausftattung,, komiſche Umzüge
u. dgl. Bei den Familien im Stäbtchen waren wir aufs Befte
aufgenommen, man war allmälig älter geworben und lernte
weibliche Schönhelt ſchätzen, an hübſchen Mädchen fehlte es nicht,
die Sentimentalität erfter Jugendliebe fand ein unendliches Feld,
man fpielte, tanzte, bie Schreiber des Städtchens wurben mit
übermüthiger Siegerkraft auf die Seite gedrängt, und die Abende,
die ich mit Strauß in einem vertraulichen Familienzirkel zubrachte,
find mir durch die ſchäumende Fülle von Humor und Gemüth,
bie er bier entwickelte, unvergeplih. Dan hätte in der zwar
bageren, aber ſtolz aufgefchofienen Jünglingögeftalt mit dem
bunfeln großen Auge und den ſchönen altdeutfchen Haaren den
ſchüchternen, blöden Knaben kaum nıehr erkannt, aber eben fo
wenig in biefem Sohannesfopfe den Eünftigen Kritifer vermuthet.
Inzwiſchen Hatten fih ig der Promotion andere Nichtungen ent⸗
wickelt, die er nicht theilte. Das Deutjchthum feierte damals
feine legten Bachanalien, man turnte eifrig und wir fühlten
und als Fünftige Vaterlandsbefreier. Ich correfpondirte damals
nit einem Gymnaſiaſten in Stuttgart, der ſich nicht anders, ale
„Tyrannenmolch“ unterfehrieb, und lebhaft ift mir im Gedächt⸗
89
niffe, wie ich in meinen Briefen über-die Zerfprengung Deutſch⸗
lands in viele Territorien lamentirte, ohne von dem politiichen
Zuftande des DVaterlanded, oder auch nur vom Geographiſchen
— denn bierin waren wir im Gymnaſium zu Stuttgart gren⸗
zenlo8 vernachläßigt worden — ben geringfien Begriff zu habens,
Strauß nahm von biefer Erſcheinung nichts an, als ven alt=
deutſchen Rock und das altveutihe Haar, er verhielt fih im
Uebrigen zu diefer Richtung, ſo wie zu unferer kindiſchen Nach⸗
ahmung burfchicofer Sitte ganz ironifh. Während wir Anderen
und unendlih groß fühlten, wenn wir mit der colofjalen Tabaks⸗
pfeife in der Hand nah den verbotenen Wirthähäufern flürzten
und commercirten, fo lachte er und aus und zog einen einfamen
Spaßiergang vor.
Unfere vier Jahre waren um, wir zogen, von den Mäd⸗
chen des Städchens mit Sträußchen bunt geſchmückt, ab; man»
bed Schnupftuh winfte aus den Fenſtern, die gedrängt voll
von Zufchauern fanden, und an reichlichen Thränen von beiben
©eiten fehlte es nicht. Wir traten 1825 in dad Seminar zu
Tübingen ein; unfer Curſus war auf fünf Jahre feftgefeht, deren
die zwei erften für Philologie, Philofophie und was dazu ges
rechnet wird, beftimmt waren. Hier fand fih nun für die Bes
[Pu
*
———
dürfniſſe des jugendlichen Geiſtes auf eigentlich wiſſenſchaftlichem
Boden zunächſt kein Bett, wohin er ſeine Strömung hätte neh⸗
men können, und man mußte daher, ſo lange man nicht durch
das Privatſtudium an tiefere Quellen geführt wurde, ſein In⸗
terefſe an andere Dinge heften, um dem jugendlichen Geiſte Luft
zu machen. In der Philoſophie waren Schott, Eſchenmayer und
92
und wir marfen und begierig in das raufchende Studentenleben
mit feinen enthuflaftifhen und felbftgefälligen Illuſionen. Strauß.
nahm auch jet an dieſer Richtung durchaus Teinen Antheil, ja
er verfolgte unfere Täufchungen mit einer beißenben Ironie. Die
qharakteriſtiſchen Illuſionen dieſes Alters, die Friegerifehen möchte
ich ſie nennen, hat er nie gehabt, er war in dieſer Beziehung
niemals jung und ſtets eine kritiſche Natur. Wenn wir von Duel⸗
len ſprachen, von Burſchenſchaft, von Fechten und Reiten, ſo
lachte er und aus, wenn wir und freuten, in der erſehnten
. VBasanz den verbotenen Schnurrbart ftehen zu Yaflen und mit
. : Sporen zu gehen, fo begriff er e8 nicht. Die Jugendtäuſchungen,
. an denen es auch ihm natürlich nicht fehlen konnte, waren theo⸗
retiſcher Art und zunächſt durch den gefelligen Kreis vermittelt,
dem er fih anſchloß. EI war dies ein geiftreicher Klubb von
eifrigen Berehrern der romantifchen Schule, deſſen genialftes Mit-
glied Ed. Mörife war. Auch Waiblinger zählte fih dazu, hatte
aber im Grund eine andere, oder vielmehr Feine Richtung, er
war damals ſchon verfommen. Tieck wurde vergöttert, dad Schöne
im Moftifchen und Wunderbaren, in dem muſikaliſchen Verklin⸗
gen unfagbarer, unendlicher Gefühle und der Auflöfung der feften
Geftalten der fichtbaren Welt in einem phantaftijchen Taumel ges
fucht, das Volksthümliche, die Volksſage, das Volksbuch unbe-
dingt über alles Neflectirte erhoben. Wer erkennt nicht das Wahre
in diefer Anſchauungsweiſe, wie e8 gerade durch feine Vermi⸗
fhung mit dem Falſchen für einen jugendlichen Geift zum won⸗
neberauſchenden Tranke wird? Nun hatte der Geift einen Anhalt⸗
punft gefunden, eine Weltanflcht, man mar entſchieden. Es war
ein erquicklicher Anblick, Strauß in dieſem enthuflaftifchen Zu⸗
93
flande, in biefer unbebingten Meberzeugung vor ber alleinfellg«
machenden Kraft feines Glaubens zu fehen. Die Knodpe war
aufgebrochen, dad eigene Talent äußerte ſich unter andern poeti⸗
ſchen Producten namentlih in einer Komödie, worein ein ſpru⸗
delnder phantaftifher Humor alle heiteren Reminiſcenzen aus den
ſchönen Iahren unferes Aufenthalts im niedern Klofter verwoben
batte. Mit diejer Kriſis war nun auch der Charakter zun Durch»
bruch gefommen; an dem jugendlihen Grimme der Verachtung,
womit von dem neuen Standpunkte der Contemplation auf Alles,
was als Nachwuchs Nicolai's erfheinen Eonnte, herabgeſehen
wurde, ſchliff ſich auch die Schärfe des Willens. Wo war nım
der wehrlofe,, ſcheue Knabe? in zweiſchneidiger, überlegener,
energifeh durchgreifender, jühzornig aufbraufender und im Jäh⸗
zorne oft harter und ungerechter Charakter ftand in unferer Mitte
und verbreitete von nun an in feinen Umgebungen jene eigenthüm»
lihe Scheu zugleih und Hingebung an ihn, jenen bannenden
Zauber, welcher Naturen zu umgeben pflegt, die man im antiken.
Sinne dämoniſch nennen Fann.
Inzwiſchen waren wir in die Philofophie tiefer eingedrungen;
die Aufſätze, die wir ausarbeiten mußten, führten und zu ſelbſt⸗
ftändigen Studien; und bier war ed denn Schelling, der daß
von den Engen des Reflexionsdualismus abgeftoßene Gemüth
in eine neue Lebensluft verfeßte und der Romantik unferes Freun-
des die philofophifche Baſis lich. Nun wurde Jakob Böhme
ergriffen, daneben ließ Franz v. Baader die myſtiſchen Lichter
feiner aphoriftifchen Confuflon brennen, merkwürdige Erſcheinun⸗
gen des Magnetismus fehlenen einen unmittelbaren Blid durch
den gelüfteten Vorhang hinunter in den Dunkeln Urgrund, in
94
unendliche Geljterwelten zu eröffnen; man glaubte dad alte Raͤth⸗
jel, von den die Blumen träumen, die Wellen plaudern, bie
Bäume fäujeln, am Tageölichte gelöft, man wandelte wach im
hellen Traume. Ih traf Strauß, wie er vom erflen Befuche
Bei Kerner fo eben zurüd war, in feinem elterlichen Haufe; er
war wie eleftrifirt, eine tiefe Sehnſucht nach dem Mohne ber
Geiſterdämmerung durchdrang ihn; wo er in der Debatte nur die
Teifefte Spur von Nationalismus, der von der platten Aufklärung
nicht unterfchieden wurde, zu bemerfen glaubte, war er heftig
abfprechend, und Alles hieß Heide und Türfe, was ihm nicht
in feine mondbeglänzten Zaubergärten folgte. Wir näher befreun-
beten Studiengenofien, von Schelling jugendlich begeiftert, ließen
und von biefer Nichtung gern mit hinreißen, ohne und fpeciell
für die Seherin von Prevorft ebenſo fehr zu intereffiren. Die
verflärte Schönheit dieſer Frau, mit dem feinen Lächeln der Ironie
über das Alltagsleben und die Verſtandeswelt um die zartge-
ſchnittenen Lippen, machte auch auf mich einen Eindruck, den
ich nicht vergefle, ich hatte aber nie Gelegenheit, ſie im magne⸗
tiihen Schlafe zu ſehen.
Wir tratn 1827 in bie Theologie ein und trugen den ge⸗
wonnenen poetiflvend fpeculativen Standpunkt um fo begeifterter
auf dieſes Feld über, als derſelbe ſchon an fih mehr Theoſophie
als Speculation, mehr Theologie ald Philofophie war. In dieſer
Richtung wurden wir natürlich durch den öffentlichen Unterricht,
den wir genofjen, nichts weniger als gefördert. Die Theologie
Rand damals bei den älteren Lehrern noch auf dem Standpunkte
des alten Storrifhen, mit rationaliftifchen Elementen verjeßten,
aber den Erbfeind, den er doch jelbft im Bufen trug, heftig
95
bekampfenden Supranaturalismus. Noch vor Kurzem hatte man
auf dem Katheder fi vornehmlich mit Eckermann und Wegichel-
der herumgeftritten, Bretſchneider's dünne Brühe galt ven Stu⸗
birenden als die vortrefflichſte Grundſuppe für's Privatftubium.
Erſt allmälig erhob fich das Gefpenft Schleiermacher's Graufen
verbreitend, und wie eine dunkle Sage ſchwoll es auf, daß von
einem gewiſſen Marheineke eine ganz fonderbar excentriihe Dogs
matif, in Hegelſcher Philofophie geſchrieben, eriftire. Es war
bis dahin eine jo gute Zeit geweien; man hatte fo bequem unter«
ſchieden zwiſchen Philoſophie als dem Producte der natürlichen
Vernunft und Theologie ald der Wiſſenſchaft des Geoffenbarten,
und nun drängte fih auf einmal die Philoſophie mit diefen neuen,
unbefcheidenen Anfprüchen auf das theologifche Feld ein.
Zuerft galt es nun, fi in Schleiermacdher zu orientiren und
ihn zu befümpfen — bei den Lehrern nänılich , denn wir ſteckten
noch in unferem Schelling. Noch erinnere ih mid aus Steudels
Borlejung Über Dogmatif, mie er eined Tages gegen Schleier
macher, ven Preiheitöläugner, in folchen Eifer gerieth, daß es
ftarf im Katheder rumpelte; der eifrige Mann hatte irgend eine
Leiſte oder ein Bretchen in Stüde getreten. Wie hätte man erft
geeifert,, wäre man den liftigen, hinter dem Berge haltenden
Manne auf feine wahren Schliche gekommen! Aber dazu fehlten
noch die Bedingungen und Mittel; der Gedanke, daß man bei
Schleiermacher auf Spinoziihem Grund und Boden jei, lag jener
Zeit, wo der Theologe die Philoſophie längft hinter fih zu haben
meinte und von Spinoza nur noch die Neminifcenz hatte, daß
er ein abjecter Ketzer geweſen, wo man daher für die heimliche
Philofophie in der Theologie dieſes Mannes das Witterungdor-
96
nt
gan gar nicht ausgebildet hatte, viel zu fern; haben wir doch
jegt noch das komiſche Schaufpiel vor und, daß mander recht⸗
gläubige, biblifche, pectorale Theolog, Xüde 3. B., von ber
Gefühlsbaſis, die Schleiermacher als bie alleinige feiner Theologie
vorgiebt, getäuſcht, fich ernftlih für einen Anhänger diefed dia⸗
Ieftifchen, das Poſitive bis auf die Inconfequenz eines hiſtoriſchen
Chriſtus auflöfenden Geiftes Halten kann! *) Bei Steubel hörten
wir Einleitung in das A. Teft. und Dogmatif. Es war aber
wirklich in dieſen Vorleſungen nicht auszuhalten. Steudel's ſchlep⸗
pender, marternder und gemarterter Styl iſt bekannt, und wir
übten uns oft, ihm den Satz nachzuſprechen: „o du, der du den
die das Menſchengeſchlecht beglückende Religion verkündigenden
Jeſum in die Welt geſandt haſt!“; nun denke man ſich dazu eine
geiſterhohle, mit der Intention des innerſten Gemüthes jede gleich⸗
gültigſte Notiz, als hinge an ihr die Ewigkeit, herausquetſchende
Stimme, das immerwährende angſtvoll fanatiſche Polemiſiren,
ein Haͤngen und Kleben bei jedem Schritte, ſo daß die Vorleſung
gar nicht von der Stelle rückte: es war peinlich bis zum phyſi⸗
ſchen Schmerze, ich hatte ein Gefühl, als heule ein Unglücklicher
geknebelt mir in die Ohren und ich könne nicht helfen; ich hielt
es über einen Monat aus, packte aber dann mein Manuſcript
zuſammen und blieb weg. Steudel war auf rein menſchlichen
Gebieten ein vortrefflicher Charakter, aufrichtig, feſt, zuverläſſig,
ſogar in manchen Beziehungen liberal, geſellig und heiter. Jede
Woche war eine Anzahl Studirender zu einem theologiſchen Kränz⸗
Den Teufel ſpuͤrt dad Voͤltchen nie,
Und wenn er fie beim Kragen bätte.
Mephiſtopheles.
97
den in fein Haus geladen, wo mir zwar durch unfere theologi⸗
ſchen Geſpräche zu nichts Erklecklichem kamen, da der in einem
beſtimmten, gegenſätzlichen Standpunkte feſtgerannte Lehrer bie
Freiheit des Geiſtes nicht haben konnte, die Debatte von überle⸗
gener Höhe zu leiten, und ſich vergebens zerarbeitete, wir aber
dem gaſtfreundlichen Manne um ſo mehr Thee wegtranken und
Cigarren verrauchten. In dieſen Kränzchen trug Strauß mit
großer Parrheſie, mit lauter, herriſcher Beredtſamkeit ſeine da⸗
maligen Ueberzeugungen vor, mit welchen Steudel, obwohl ſie
das Pofitive keineswegs umſtoßen, ſondern vielmehr neu begrün⸗
den und vertiefen ſollten, als verſtändiger Supranaturaliſt natür⸗
lich nicht zufrieden ſeyn konnte. Es iſt mir eine recht kluge Be⸗
merkung von ihm im Gedächtniſſe; als Strauß bei dem Capitel
der Wunder mit rhetoriſchem Feuer entwickelte, wie die Natur,
da ſie ſelbſt nur ſtarrer Geiſt ſei, durch den Geiſt mehr und
mehr erlöſt werden müſſe und dieſe Erlöſung eben durch das
chriſtliche Princip und ſeine wunderthätige Kraft bewerkſtelligt
werde, ſo warf er ihm ganz trocken hin: da müßte ja aber, da
das Chriſtenthum ſchon ſo lange beſtehe, die Natur ſchon ganz
erſtaunlich erlöſt ſein, wovon er nichts bemerke.
Strauß hat in der Charakteriſtik Juſt. Kerner's, die dieſe
Jahrbb. enthielten, über die hier beſprochene Phaſe ſeiner Geiſtes⸗
Entwickelung ſelbſt näheren Aufſchluß gegeben, ſo daß wir die⸗
ſelbe hier nicht ſowohl ausführlicher zu ſchildern, als vielmehr
nur den Baden nachzuweiſen haben, wodurch fie mit dem fpäter
gewonnenen reiferen Standpunkte zufammenhängt.
Schon an fih, ohne näheren Hinblick auf den Inhalt wird
ieder Kenner des menfchlichen Geiftes dieſe Entſchiedenheit einer
Kritiſche Gänge. 7
98
jugendlich fjeurigen Natur im Irrthum als einen Beweis von
Kraft und Gefundheit erfennen. „Wer feinen Irrthum nur Eoftet,
hält lange damit Haus, und freut ſich deſſen als eines feltenen
Glücks, aber wer ihn ganz erfchöpft, ver muß ihn Eennen lernen,
wenn er nicht wahnftnnig iſt“, fagt Goethe, ver Mann, der
immer den Muth hatte, dad, was er eben war, ganz zu fein,
dadurch feine Irrthümer volftändig durchkoſtete, durchprüfte,
auslebte, und verfüngt daſtand, wenn er die Schlangenhaut ab-
geworfen. ‚Eine Fatholifche Preidaufgabe, ſchreibt mir Strauß,
die ich im I. 1828 ausarbeitete, war vielleicht der erfte Wende»
punft (zur Eritifchen Richtung). Ich bewies eregetifch und natur=
philofophifch mit voller Ueberzeugung die Auferftehung der Todten,
und als ich das lebte Punctum machte, war mir's Far, daß an
ber ganzen Sache nichts ſei.“ Hieraus flieht man ganz die Heil»
methode einer gefunden Natur, jle leert den Kelch des Irrthums und
ift mit dem legten Tropfen geheilt. Um aber auf den Inhalt zu
fommen , fo wird indbefondere in dem Entwidelungsgange eined
für ideale Gebiete, namentlih für die PHilofophie beflimmten
Geiſtes die Phafe des poetiftrenden Myſticismus nicht leicht fehlen,
ſelbſt Goethe Hatte einmal dieſe Weltanfiht, und fie ergiebt fich
von felbft, wenn ein jugendlicher Geift ven Banden der Refle⸗
rions⸗Kategorieen ſich entreißt und eine Einheit fucht, in der er
Alles begreifen Fann. Im euer der Empfindung und Phantafle
wird er über der Einheit die feften Grenzen, Gegenſätze und Ge-
feße des Mannigfaltigen aus den Augen verlieren und geneigt
fein, dieſe Einheit, flatt daß er fie in der Totalität des geordne⸗
ten Weltzufammenhanges findet, ſich fo vorzuftellen,, als könne
fie beliebig an einzelnen Stellen diefen Zufammenhang durchs
99
brechen und feine Gefeße aufheben. Dies führt uns unmittelbar
zur näheren Löfung unferer oben geftellten Aufgabe.
Wie verhält fich denn jener Myſticismus zu der ſpeculativen
Weltanficht, welche der Straußifchen Kritif zu Grunde Legt?
Gemeinſam ift beiden das Princiy der Immanenz im Verhältniſſe
Gottes zur Welt. Die Welt ſoll nicht neben Gott eine eigene in ihrem
Kern ſelbſtändige Subſtanz und von Gott nur äußerlich geleitet (eine
ganz unfinnige Vorſtellung), ſondern in allen ihren Adern vom
göttlichen Geiſte durchdrungen ſein. So wollen beide dem Gehalte
nach daſſelbe, aber verſchieden ift ihre Form. Der Myſtiker gelangt
zu feinem Princip nicht auf dem Wege des vermittelnden Denkens,
fondern aus der Verzüdung ded Gefühle entwickeln fih in ihm
Phantafiebilder, in denen er fich jenes Principd gewaltfum zu
bemãchtigen und es bis zur geheimnißvollen Bermählung in fi
herüberzuzichen glaubt. Auch der Philoſoph iſt überzeugt, daß,
wenn er die Idee denkt, fie fich felbft in ihm denkt, aber bei
dem Myſtiker nimmt die Meberzeugung , daß das Abſolute im
fubjectiven Geifte dadurch eben, daß er es zu faflen fähig ift,
gegenwärtig fei, fogleich eine finnlihe Färbung, weil er von
vornherein feinen Gegenftand mit dem ſchwelgeriſchen Gefühle
und der traumartigen Phantafle anfaßt. Hieraus fließt nun ſo⸗
gleich eine falfhe Weife, fich jene Immanenz Gottes in der Welt
vorzuſtellen. Sinnlich, wie er ift, ſtellt er ſich die höchfte Idee
jelbft und ihre Momente in anthropomorphifchen Formen vor;
fo aufgefaßt wird aber ihr Verhältniß zur Welt im Widerſpruch
mit der Vorausfegung wieder ein Aeußerliches, die Scheidewand
der Materie ift, da Gott felbft mit Materie behaftet ift, zwi⸗
ſchen beiden, und wo fie zufammengehen follen, braucht es daher
7 *
100
eine ausdrückliche Durchbrechung dieſer Scheidewand. Statt daß
die Welt ganz und immer in Gott aufgehoben wäre, wird nun
pie Einheit derſelben mit Gott nieder zu vereinzelten Thatfachen:
auf einzelnen Punkten, in einzelnen Zeiten bricht die ganze Idee
auf einmal in den Weltzufammenhang herein, fo daß befien feite
Geſetze aufgelöft werben, deſſen alljeitig bedingter Nexus zerreift.
Es fol Stellen geben, wo ſich Gott fpecififh anders, als auf
allen andern und fo, daß eine einzelne begrenzte Erſcheinung
zugleich ganz das Abfolute ift, in der Welt offenbart. Ein folder
Punkt war der Eintritt des Chriftenthums in die Welt. Der
Supranaturalismus, eine feltfame Verſetzung myſtiſcher Ueber⸗
bleibfel mit dem platten Verſtande der Aufklärung, befhränft
die außerordentliche Offenbarung Gottes faft allein auf vielen
Punkt. Der confequente Myſtiker aber Fann nie wiffen, ob nicht
im nächften Augenblicke etwas Aehnliches geſchieht, und fo giebt
e3 für diefe Weltbetrachtung in der natürlichen Ordnung der Dinge
eigentlich nichts Feſtes; der Weltzufammenhang ift nur eine durch—
ſichtige Hülle, die jeden Augenblick einfinfen kann, ein Dinner
Vorhang, durch deſſen blöde Stellen man geifterhafte Lichter
wandeln flieht, eine Verlarvung, die jeden Moment ihre Puppe
fprengen kann, Alles taumelt, Alles geht in einander über. Der
Myſtiker würde fich nicht wundern, wenn heute Tannzapfen an
einer Rebe, Trauben auf einer Tanne wüchſen, Alles ift möglich,
die Natur ift ein verwünfchter Prinz, der jede Secunde fein Zau⸗
bergewand abzuwerfen im Begriffe fteht: kurz die ganze Welt-
anſicht ift phantaftifh. Nun ift leicht einzufehen: Strauß durfte
dieſe myſtiſche und ebendaher phantaftifche Form, die jpeculative
Wahrheit aufzufafien, nur fallen laſſen, und den reinen Kern
101
der Wahrheit, der in ber grotesken Schale liegt, mit klarem
Denken auffafien, fo war ee — zunächft fpeculativer Philofoph.
Hat man denn vergefien, daß die neue Philofophie bei alten
Myſtikern, bei Jak. Böhme namentlih, in die Schule gegangen
ift? Aber nicht nur dies; Strauß hatte dann für feinen fpäteren
kritiſchen Standpunkt. das Feld bereits getvonnen? Denn wenn
bie fpeculative Philofophie den Begriff der Inmanenz auf den
Weltzufammenhang offenbar nur fo anwenden darf, daß das
Ganze befielben in Gott ruht, fo ift ja eben hiemit gegeben,
daß Fein einzelner Punkt in dieſem Ganzen fich bis zu einer ſol⸗
hen unmittelbaren Identität mit dem Abſoluten von allen
übrigen Punkten ifoliren darf, durch welche die allfeitige Bedingt⸗
heit und Bermittelung des Weltzufammenhanged abgeriffen wird.
Nur was niemals war, Tann immer fein. Died ift nun
freilih Die Streitfrage zwifden Strauß und ben norbdeutichen
Schülern Hegels, denen eben hiemit vorgeworfen wird, daß in
ihre Speculation ein Stück Supranaturalismus fi verirrt habe.
Das mag denn Strauß durchkämpfen, dieſe Charakteriftif fol
feine Abhandlung fen. Ih kann e8 bier nur ald Behauptung
Hinftelen bie Straußiſche Kritik ift fo wenig nur negativ, daß
fie vielmehr nichts als eine confequente Durchführung des Acht
yofitiven Princips der Innmanenz Gottes in der Welt iſt. Strauß
jagt: Je fefter behauptet wird, daß Gott an einzelnen Punkten
auf abjonberlihe Weife in ver Welt fich gegenwärtig zeigt, deſto
äußerlicher ift dad Verhältniß der ganzen Wert zu ihm aufgefaßt,
deſto mehr entzieht er fich ihr auf allen andern Punkten. Gerade
ein innigered DVerhältuig zwifchen Gott und Welt mil feine
Kritik beweiſen, ald welches feine Gegner behaupten. Der An-
102
fiht, daß Gott in dem Grabe vollfommener fih offenbare, in
welchem er den Weltzufammenhang durchlöchert (und eine Durch⸗
löcherung ift und bleibt e8, wenn ein Individuum zugleich un-
mittelbar das Abfolute fein, wenn Waſſer in Wein verwandelt
werben, der Todte nicht tobt, der Körper ohne die Geſetze der
Dichtigkeit und Schwere fein fol, mag man von befchleunigten
Naturprocefien , von Durchbruch des abfoluten Naturgefebes
durch das beftimmte Naturgefeß, d. h. von der Möglichkeit, daß
Gott außer Birnen, Aepfeln und allem andern Obfte auch ein-
mal den reinen Gattungsbegriff Obft Eönnte wachſen laſſen, u. dgl.
reden fo viel man will), — dieſer Anſicht Tiegt die file Vor⸗
ausfegung zu Grunde, daß die göttliche Einwirkung und der
gewöhnliche Lauf der Dinge nicht zufammen befteben könne. Die
Melt wird alfo für gottverlaffen in allen den Zeiten erklärt, wo
feine ſolche Durchlöcherung zu bemerken ift, und es wäre Leicht,
ben Vorwurf der Irreligiofltät auf die Gegner der Kritik zu⸗
rückzuſchleudern, wenn man fo unebel fein wollte, den Kampf
in da8 Gebiet der Gewiflensfragen binüberzufpielen, wie fie es
thbun. Strauß kämpft nicht gegen, fondern für die
wohlverftandenen Intereffen ber Religion; Strauß
will nicht weniger, fondbern mehr Gott, ald dad
fupranaturaliftifche (nebſt dem fupranaturaliftifc-
Hegelfchen) und dad rationaliftifhe Chriſtenthum
bat; er will Bott im Geiſte und der Wahrheit
verehrt wiffen, nit im Buchſtaben, nit im ein-
zelnen Factum und Individuum.
Inzwifchen fo gewiß nach meiner leberzeugung die fpeculative
Philoſophie dieſe kritiſche Conſequenz in ſich ſchließt, jo wenig
103
hatte damals noch irgend jemand biefelbe gezogen. Wirklich frheint
die Erfahrung zu beweifen, daß, um fie zu ziehen, außer dem
philoſophiſchen Höheſinn noch ein weiteres Organ erforderlich fei,
ein Talent des Zweifeld, eine Stimmung, die Dinge gefund
realiſtiſch anzuſehen und mit hellem Auge ihren einfach geſetzmaͤ⸗
. Bigen Bebingungen zu folgen und ſich keinen Hokuspokus vor«
machen zu laſſen oder felbft vorzumachen. Diefed Talent, biefe
Stimmung liegt, wie ich oben bargethan zu Haben glaube, im
ſchwäbiſchen Naturel mehr als in dem zur abftracten Formel
hinneigenden nordiſchen, und fo bin ich denn der Meinung , baß
die fpeculative Philofophie in ihrer Wanderung von Süden (wo
ihre Schöpfer geboren find) nach Norden und von da zurüd nad
Süden einen glücklichen Entwickelungsgang zeige. Ohne die Pflege
der norbifhen DVielfeitigkeit und Beweglichkeit hätte fie ihr Princip
auszufprechen gar nicht den gehörigen Raum gefunden, ihre Rück⸗
wanderung nad Süben aber ift ein weſentliches Moment für bie
freie, unbefangene Anmendung ihres Princip8 und Hineinführung
in pofitive Gebiete, wie fie denn biefe durch Strauß zunächſt in
der Theologie gefunden hat. Ich kann von ihm gerade aus der⸗
jenigen Zeit, wo er noch bis über die Ohren in Schelling, Böhme,
dem Somnambulismud ftad, einen Zug anführen, worin jenes
Talent ſich ausſprach. Wir hörten Synopſe bei-D. Kern, der
von Blaubeuren, wo er früher unfer Lehrer war, zugleich mit
feinem Collegen Baur inzwijchen nach Tübingen berufen worden
war. Er hatte feinen früheren Kantiſchen Standpunkt verlaffen
und aud der neueren Speculation fich Vieles zu eigen gemacht,
doch ohne ſich für die Principien und eine Fühnere Anwendung
berjelben zu entfcheiden.- Al3 wir eines Abends von feinen Be—
4
104
mühungen ſprachen, in eine neuteſtamentliche Erzählung, bie
offenbar einer kritiſchen Sichtung bedurfte, exegetiih einen Sinn
zu bringen, fügte Strauß, er habe nicht begriffen, wie er ſich fo
viele Mühe habe geben können, die Sache fei offenbar falſch er⸗
zählt. Mich frappirte diefe Bemerkung , ich ſchlug mid) in Ge-
danfen vor die Stirn und fagte mir: das ift doch fo einfach und
du bift nicht darauf gefonımen. Ich war eben kein Anhänger bed
firengen Inſpirationsbegriffes, aber jo zwingend und betäubend
ift der Bann verbreiteter Borurtheile, daß ich eben auch meinte,
in jedem andern Coder fei eine offenbar ſinnwidrige Stelle aus
menfhlichen Verſehen abzuleiten, bier aber fei der Buchftabe feft,
ed ftehe einmal da und man müfje anders helfen. Aber Strauß,
der Enthuflaft, der Myſtiker, mar nun doch auf den Sprung
gefonmen.
Um jedoch dieſes kritiſche Talent ſich ſelbſt zum Bewußtſein
und zur conſequenten Ausbildung zu bringen, bedurfte es freilich
ganz neuer Fermente, die feine bisherige Weltanficht erſt an der
Wurzel auflodern follten. Segel konnte nicht das nächſte fein,
auf ihn aufmerkfam zu werben, fehlten noch die Bedingungen ;
wir mußten von Marheinede, aber der fland noch fo hierogly⸗
phiich vor und, daß ihm Feine Handhabe abzugemwinnen war,
und hätten wir ihn gelefen, fo war von ihm, ber bie Eritifchen
Gonfequenzen der Speculation nur auf wenigen Nebenpunften
geltend gemacht hat, nicht zu erwarten, daß er den ffeptiichen
Funken in die jugendlichen IUuflonen werfe. Aber ver Rationa⸗
lismus? Röhr? Wegfcheider? Paulus? Diefe Richtung ver-
achteten wir ganz unendlich, fie war und der Inbegriff aller
abgetretenen Plattheit, etwas Geiſt⸗ und Gottverlaffened. Wie
103
fonnte es auch anders fein? Wir hatten volles Recht, die Me⸗
taphyſik des Nationalismus, der das Verhältniß Gottes zur
Welt zu dem hohlen Begriffe einer Lenkung und Leitung verdünnt
und biemit Feine beſſere Gottesichre, als Epikur, aufzumelfen
bat, total zu verwerfen. Daß er aber auf dem Felde der Empirie
und überall, wo ed fih darum handelt, den Cauſalitätszuſam⸗
menhang innerhalb feiner felbft, nicht die Beziehung feiner Tota⸗
lität auf das Abfolute zu betrachten, fein gutes Recht habe, dies
einzufehen lag und erfahrungstofen Menſchen, die Feine Einficht
von dem Werthe des Verſtandes hatten, fondern ihn neben feiner
höheren Schweſter, der Vernunft, gar nicht zu Worte Eommen
liegen, allzu fern.
Wir hörten num auch bei unferem früheren Lehrer Baur
theologifhe Vorlefungen, zunächſt Dogmengefhichte, Kirchen-
geſchichte, Symbolik. In diefen Gebieten mar es jeboch nicht
jowohl Aufgabe, über das erfte Glied, als vielmehr über ben
Zufammenhang der weiteren Glieder in der Kette der Geſchichts⸗
entwickelung des Dogma und der Kirche und aufzuflären; wir
erhielten den wohlgeorhneten Stoff in geiftvollen philofophifchen
Perfpectiven, ohne über den Anfangspunkt geſchichtlich Elar zu
werden: auch wüßte ich nicht zu fagen, ob unjer Lehrer fi
damals felbft ſchon den unbefangenen kritiſchen Standpunkt zu
voller Klarheit gebracht hatte, durch den er jetzt ald ein Kleinod
geiftiger Freiheit an unferer Univerfität glänzt. Erſt jpäter, als
wir Apoftelgefchichte und Korintherbriefe bei ihm hörten, erbiel-
ten wir die erften Proben Eritifcher Schärfe von einem Katheber.
Den erften Anftoß, aus jener enthuflaftifch unkritiſchen Stim-
mung den Schritt zur Vermittelung der Vernunftideen durch ver⸗
106
ftändige Dialektik zu thun, gab vielmehr Schleiermanher. Ihm
fonnte man ſich mit Vertrauen nähern, denn man Fannte feine
metaphyſiſchen Principien, man wußte, daß man bier Feinem
Reflerionspualismus begegne; man hatte diefenigen Schriften,
in denen Schleiermacher 8 Weltanficht fich rhetorifch ausfpricht, die
Reden und die Monologen, noch bona fide mit Schelling’fchem
Enthufiosmus gelefen; aber nun ging ed an die Dogmatik, und
Strauß widmete zugleich der Kritif der Sittenlehre ein fleißiges
Stubium. In beiden Werken tritt das dialektiſch⸗kritiſche Element,
obwohl dort mit bedeutenden: Hange zu lftiger Berheimlichung,
bier offenbarer und wilfenfchaftlicher, fcharf genug hervor, um
einem hellen Kopfe auch in die feftefte Verſchanzung feiner Illu⸗
fionen Ein für alle Mal die Brefche des Zweifel zu fehießen.
Mag Schleiermacher dad Refultat aus feinen dialektiſchen Schluß-
fetten ziehen ober nicht, mag ber Leſer fogleich merken, wo hin⸗
aus ed bei ihm mit dem Pofitiven in der Neligion will, oder
nit: der Keil der Kritif, der Pfeil des Zweifels ftedt einmal
mit doppeltem Widerhafen im Herzen. Nun ift es aber höchſt in⸗
terefiant, Schleiermacher's Dialektif mit der Hegel'ſchen zu ver⸗
gleichen; das dialektiſche Moment verhält ſich bei beiden zu den
Vrincipien fowohl, ald zu den Mefultaten auf eine total verſchie⸗
bene Weiſe, ein Unterſchied, der am Elarfien vorliegt, wenn
man Schleiermacher 8 Dogmatif mit Hegel vergleicht.
Während bei Hegel bie Dialektik ein weſentlich eingreifenbes
Moment it, ohne melches die philoſophiſchen Reſultate gar nicht
gefunden werben, verhält fie fi bei Schleiermacher fo, baß bie
philoſophiſchen Grunbanflchten, von bem Berfafier jelbft offenbar
107
auf einem andern Wege gefunden, durch eine Art Sofratifcher
Katerhifation, die er mit dem Lefer vornimmt, dieſem beigebracht
und auf das Poſitive der chriſtlichen Lehre bis zur theilweiſen,
jedoch immer wieder Eoboldartig verheimlichten, Auflöfung def»
jelben in allgemeine Wahrheiten angewandt werben ; dort ift Die
Dialektik die Seele des ganzen Proceſſes, hier der Proceß, dur
den die Grundanſicht gefunden wurde, verfehwiegen, und bie
Dialektik kommt dann ald Lehrmittel hinzu, um dem Lernenden,
dem man eigentlich gar nicht gefteht, daß hier Philofophie ge»
“trieben werde, dem vielmehr das bloße Gefühl ald der einzige
Ueberzeugungsgrund genannt wird, bie dem Ganzen zu Grunde
liegende philoſophiſche Weltanfhauung zuzuführen. Darum if
auch die Art diefer Dialektik eine ganz andere, ald Die der Hegel⸗
fhen. Die Hegel'ſche Dialektik iſt die Negation des verftänbigen
Momentd, da8 die Begriffe entzweit, firirt und iſolirt; fie be=
weift, daß die Entgegengefebten identiſch feien und fich in eine
höhere Einheit auflöfen. Schleiermacher verfährt auf “ähnliche
Meife; er febt ein Dilemma, ein Entweder Ober, und beweift,
daß weder die Thefe, noch die Antithefe ohne Widerfpruch denk⸗
bar fei, wodurch er zur Annahme eines Dritten zu nöthigen
ſucht. Nun ift aber jened Dilemma feldft ein ganz anderes, ale
ein auf denn Wege Togifcher Entwickelung gefundener Gegenfak
verftänbig abftracter Momente, wie 3. B. Kraft und Aeußerung,
Urſache und Wirkung bei Hegel ; es werben wielmehr ohne eigent«
liche innere Nothwenbigkeit zmei Falle angenommen und dann
nachgewiefen, daß beide nicht denkbar feien , fondern nur ein
britter. Der Lefer wird dadurch nicht überzeugt, weil er fich auch
noch andere Bälle denken Tann, er fchlüpft aus dem Dilemma
108
hinaus und läßt den Lehrer flehen; er hat das Gefühl, daß er
wie ein Schüler behandelt fei, den der Meifter, der dad Lebte
feiner Vleberzeugung ımd das Erfte — den Weg nämlich, worauf
er fie gewonnen — in petto behält, feine irrigen Vorftellungen
auszufprechen veranlaßt, dann an den gefeßten Irrthum anknü⸗
pfend ihn dahin führt, wo er ſchon vorher auf Fürzerer Linie an⸗
gekommen war. Dies reizt den Leſer, der ſchon philojophifche
Bildung und offenen Kopf genug hat, um zu merken, wo Alles
hinaus will, er will nicht in der Kinderlehre ſtehen; den Eigen-
finn des harten Kopfes vermag es aber auch nicht zu brechen,
diefer fagt ebenfalls: da ich jene dilemmatiſch geſetzten Fälle doch
nicht jelbft ausgefprochen habe, ſondern du mir fie präjentirft,
jo brauche ich deiner Beweisführung auch nicht zu folgen. Man
lefe 3. B. die Lehre von den Eigenfchaften Gottes; es ift nichts
Anderes, al ein Sokratiſcher Verſuch, ven Leſer auf den Stand-
punft Spinoza’8 zu führen, der aber ohne alle überzeugende Kraft
für denjenigen ift, dem diefer Standpunkt vorher ganz fremd
war. Ift num dieſer Weg der Lift offenbar da nicht ber rechte,
wo es fih um philoſophiſche Begriffe handelt, fo ift er dagegen
ganz am rechten Plage, wo ed darauf ankommt, eine poſitive
religiöfe Vorſtellung, die fich vor der Vernunft nicht halten läßt,
fei ihr Inhalt nun eine Perſon, oder ein Ding, oder ein Factum,
ad absurdum zu führen. 3. B. der 2efer glaubt an einen Teufel;
jegt ift nicht die Zeit, aus den Tiefen der Metaphyſik zu dedu⸗
eisen, wie dieſe Vorftellung mit dem richtigen Begriffe Gottes
und feiner Wel’regierung, fo wie der menſchlichen Subjectivität
unvereinbar jei; denn der Leſer tft Fein Philojoph, er ift ein Kind.
Wan knüpft aljo unmittelbar an die einmal gegebene Vorſtellung
7%
109 .
an, nöthigt ihn zu dem Verſuche, fle zu vollziehen, und beweift
ihm, daß diefer mißlingen muß, weil er auf Widerſprüche führt.
Wer freilich gar kein Talent zum Zweifel hat, wer einmal ent»
ſchloſſen ift, zu glauben, daß Gott ein filbernes Eisen machen
Eönne, ber wird fih auch auf ſolchen Punkten nicht durch jene
Methode belehren lafien, wer aber jenes Talent Hat, auf ven
wird fie ficher wirken, wenn au nur fo, daß er benft: wenn
ih Vorftellungen, die mir bier al3 fo fehr fich felbft widerſpre⸗
hend nachgewiefen werben, überhaupt hegen konnte, fo muß das
Uebel tiefer Tiegen, und ich muß meine ganze Metaphyſik umbilden.
Diefe Dialektik war es denn, welche Strauß, noch ehe er
die Hegel'ſche kannte, auf ven Weg der Kritik, der Skepfis führte
und eine große Revolution in ihm hervorbrachte. Man wird fin«
den, daß fie die Methode ift, im welcher fein Leben Jeſu zu Werke
geht. Wie Schleiermacher verſchweigt er (bis zur Schlußabhand⸗
Jung) jeine metaphyſiſchen Principien, wie aus denfelben die
Verwerfung ded Wunders folgt und wie fle die treibende Seele
feiner ganzen Kritik find. Er feßt je zwei File, er fagt zu dem
Leſer: denfe dir die Sache fupranaturafiftiih — es geht nicht,
rationaliſtiſch — es geht nicht, alſo mird Feine Begebenheit,
jondern ein Mythus erzählt. Nur vorübergehend berührt er,
wenn er die fupranaturaliftiiche Erklärung in ihren Widerſprüchen
nachgewiejen hat, den lebten Grund, er fagt: dies oder dad
wird aber Jeder, der ſich gegen die philojophiichen Fortſchritte
feiner Zeit nicht verfchloffen hat, undenkbar finden, u. dgl. Eben
darum überzeugt er diejenigen nicht, die im Supranaturalismus
oder Nationalismus feftgerannt find, am wenigften die Erfteren,
denen bad Talent des Zweifeld am meilten abgeht; ſie venfen
110
eben: wo fteht denn gefchrieben, daß jene Zeitphilofophie Die
wahre tft? Um die ihrer Anſicht nachgewiefenen Widerſprüche
fünımern fie fich nicht, fie Hören den Gegner gar nicht an, denn
ihnen fehlt das logiſche Trommelfell, fie find dickhörig, taub,
taubftumm oder ſtaubdumm; Haft du ihnen beiwiefen, daß dieſes
ober jened ſich nicht denken laſſe, daß es alfo auch nicht fein
fönne, fo fagen fle: ja wie es ift, weiß ich nicht, ich kann e8
nicht deutlich denfen, darum kann e8 aber hoch fein; Alles, weil
fie kein Zutrauen zur Logik, zum Denken haben. Das ift nun
einmal ihr Geſchmack, man kann ihnen denfelben nicht nehmen,
nur follten fie dann überhaupt auch alles Reden aufgeben, denn
fie haben noch Feine Sylbe geſprochen, fo haben ſie ſchon factifch
anerkannt, daß fle zum Denken ein Zutrauen haben. Iſt dem⸗
nach mit diefem Publifum ſchlechterdings nichts anzufangen , fo
ft darum | jene Methode feineöwegs zu verwerfen , ſondern viel⸗
mehr die einzig mögliche auf dem Felde religiöfer Geſchichte.
Meberzeugt fie den Tauben nicht, fo iſt damit nichts gegen ſte
bewieſen, denn dieſer hat ihre Gründe nicht angehört; aber fie
überzeugt denjenigen, der philofophifchen Kopf hat und nur noch
nicht Bar, noch in der Form des Vorftellend befangen if. Er
darf nicht zurückgeſchreckt werden, denn er hängt noch an Autoris
täten, an Borausfeßungen, die ihm heilig find. Hätte Schleier-
macher vorneherein geſtanden: hier wird philofophirt, hier geht
es dem Pofitiven an's Leben, fo hätten die Theologen geſagt:
gut, wir laſſen dich ftehen, dann philoſophire immerhin zu.
Er mußte die Lift gebrauchen, feine Principien zu verhüllen, er
mußte fhmuggeln und wahrlich, er hat brav gefehmuggelt: Wie
mancher theologifche Zollbeamte ver Orthodoxie macht nun, ohne
111
daß er's weiß und merkt, ben eigenen Salat mit geſchmuggeltem
Schleiermacher'ſchen Eſſig an und heilt fi feine Warzen mit
feinem SHöllenfteine weg! Ebenſo hätte man Strauß geradezu
ftehen lafien, hätte er mit dem offenen Bekenntniſſe angefangen,
dag es ein Mißtrauen der Vernunft gegen das Wunderbare jet,
was feine Kritik als bewegende Seele leite *). Ich glaube jedoch
nicht, daß dies Verfahren aus einer vollkommen deutlichen Ab⸗
ficht Tiftigen Verbergens hervorging, eben fo wenig als bei
Schleiermacher. Es ift, was Goethe feinen realiſtiſchen Tick
nannte, als Schiller meinte, er ſollte am Schluſſe feiner Lehr
jahre Meiſters die Grundidee des Ganzen andeuten, und er fi
hierzu ganz ungeſchickt zu fühlen gefland. Strauß tritt freilich
ganz anderd und weit freier ald Schleiermacher auf, das Ganze
it kühn genug, aber in der Ausführung leitet ihn doch auch
biefer Inftinet der Lift, die ihre Abſichten nicht ganz gefteht.
Auch in den Kritiken, welche Strauß in die berliner Jahrbb.
gegeben Hat, wo fie zum Gegenftande hatten, außerordentliche
Erſcheinungen von dem Phantaftifhen, womit fie dad Vorurtheil
umgeben hat, zu reinigen, wie namentlich Thatſachen des Som⸗
nambulismus und Befeflenfeind, wird man die Schleiermacdher'fche
Dialektik wiedererfennen. Die erfte Arbeit aber, in melcher fich
der Wendepunft in feiner Weltanficht zu erfennen gab, und welche
*) Die Wipigen, welche Etrauß dur „Beweiſe, daß D. Luther nie
exiftirt Habe’ u. dergl. zu parodiren glauben, vergeflen, Daß von D. Luther
nirgends erzähle wird, er habe Wein aud Waller, d. 5. er habe ein
hölzerned Elfen gemacht, und daB Strauß nicht die Eriftenz Jeſu,
fondern nur dad hoͤlzerne Eiſen bezweifelt,
Aelt. Anm
112
ebenfalls bereits jene dilemmatifhe Taktik ganz am rechten Orte
anwandte, war eine Kritik ver Seherin von Prevorft im Heſpe⸗
rus, worin die wichtigften pſychiſchen Facta des Somnambulis⸗
mus keineswegs geläugnet, aber die Geiſtererſcheinungen als ob⸗
jective dialektiſch aufgelöſt und auf traumartig dramatiſirende Viſion
reducirt wurden (vergi. ſ. eig. Aeuß. in dieſen Jahrbb. Nr. 4,
S. 26).
So vorbereitet trat Strauß an die Hegel'ſche Philoſophie.
Hier mußte das Privatſtudium Alles thun, denn vom öffent⸗
lichen Unterrichte hatte man Feine Anleitung und Hilfe zu erwar⸗
ten. Ein entfchiedener Anhänger des Syſtems war Mepetent
Schneckenburger, jebt. Profefjor in Bern, damals vor Kurzem
von Berlin zurüdgefehrt. Allein der haftig vorgetragene Auszug
aus Hegel, den er in feiner Vorleſung über die Gefchichte des
Verhältniſſes zwifchen ver neueren Philofophie und der Theologie
gab, Half uns eben wenig vom Orte. Hegel's Formeln waren
und nicht neu mehr, wir wollten fie aber im Zujammenhange
begreifen lernen. Strauß war, kann man fagen, diejer Philo⸗
ſophie entgegengereift, und es erging und Uebrigen, die wir
mehr oder minder denfelben Bildungsgang gemacht hatten, ebenio.
Ich erinnere mich noch genau jener Zeit, und wie mir zu Muthe
war; id) hatte Durch das, was ich vereinzelt von Hegel's Syfteme
gehört und gelefen, eine Ahnung feines Inhalte und dabei das
Gefühl, diefe Philofophie müffe meinen geiftigen Bebürfniffen.
entſprechen; fie verfprach mir Alles, was Schelling hatte, in
tiefer begründeter Form zu geben, wodurch der abfolute Zmeifel,
der, nicht fo widerſprechend als es vielleicht fcheint, neben ber
DBegeifterung für Schelling fortbauerte, in fein Recht eingeſetzt
113
und eben dadurch über ſich jelbft erhoben werben folfte. Strauß
begann die Phänomenologie gemeinfhaftlih mit einigen Freunden
zu leſen und feßte dieſe Lectüre bis zum Abgange von ber Univer«
fitat im Herbſt 1830 fort. Im Sommer 1830 ward Mar
heineke's Dogmatik vorgenommen ; aber hier zeigte fich bereits,
daß man den Meifter mit ganz andern Augen leſe, als dieſer
und andere norddeutſche Schüler. Diejenigen Stellen in der Phä-
nomenologie ,. welche die Perſon Jeſu betreffen, hatte Strauß
— fo jehr war ihm dur) die Schleiermacher'ſche Dialektik, ob»
wohl fle gerade in diefem Punkte den eigenen Principien ungetreu
ift, das Auge gejhärft worden — im liberalen Sinne verftan-
den. Strauß hat nach den Aeußerungen feiner dritten Streitſchrift
hierüber. feine Anficht geändert; ich glaube abte noch jegt, daß
Mehreres namentlich in dem Abſchnitte vom unglücklichen Bewußt⸗
fein deutlich. genug für die mythiſche Auffaffung ſpricht, während
allerdings in der Religionsphilofophie ein ſichtbares, bis zur
Confuſion gehendes Schwanken, das vieleicht zum Theil auf
Rechnung der Compofition des Buches aus nachgefchriebenen.
Heften kommt, zu bemerken iſt. — Uebrigens hat fich Strauß
an derſelben Stelle (dritte Streitſchr. ©. 57 ff.) ſelbſt darüber
ausgeſprochen, wie ihm von Anfang an der von Hegel feſtge⸗
ſetzte Unterſchied zwiſchen Vorſtellung und Begriff eine ganz an-
dere Behandlung der Lebenägefchichte Jeſu, des Poflttiven über-
haupt zu bedingen fhien, als welche Marheinefe, Göſchel und
Andere für nothwendig halten. Mit Marbeinefe, fo hoch wir
die großen DBerdienfte dieſes achtungswerthen Theologen fehäten,
fonnten wir in biefen Punkten gar nicht übereinftimmen. Ein
Verfahren, mie das feinige, war ganz gegen unfere ſchwäbiſche
Kritiſche Gaͤnge. 8
114
Natur. Statt dafs in vie überlieferten ſchweren Maffen ber Dog⸗
matif der Begriff als ein flüfflger Geift ſchonend eingeführt wird, ..
rückt er in geſchloſſenen Keilen ſchwerer Kavallerie an und haut
geradezu ein; Alles oben herunter aus metaphyſiſcher Höhe,
nirgends der Stoff durchdrungen, ein Folbiger , geftiefelter For⸗
malismus, eine Flappernde Begriffsmähte, bei der Einem Sören
und Sehen vergeht.
Es handelt fih Hier überhaupt um einen wichtigen Punkt,
nämlich um die Art, auf die ſich der Philoſoph in Gebieten, wo
gewiſſe Vorurtheile durch die Autorität: der Zeiten fich befeſtigt
baben, verhalten. fol. Der philofophifche Begriff ift, als „die un⸗
geheuere Abbreviatur der Dinge‘, von einer folchen Weite und
Allgemeinheit, dag man mit feiner Anwendung auf ein beftimm⸗
te8 Gegebene jehr behutfam fein muß, wenn man nicht Gefahr
laufen will, fich die Blöße zu geben, daß man etwas ald wahr
und vernünftig deducire, was fich nachher auf empirifhem Wege
als unmwahr.ergeben kann. Ich münfchte Solchen, wie H. Lic. Baur;
dag einmal die. Kunde von einen wunderbaren Borgange ſich ver-
breitete, der in ihre Wundertheorie vortrefflih zu paſſen fehiene,
dag fle dann mit ihrer ganzen formaliftifchen Fertigkeit denſelben
als abfolut vernünftig und nothwendig deducirten, nachher aber
erführen, ed fei nichts an der Sache. Doc eine ſolche Beſchä⸗
mung haben fie nicht zu befürchten, fie verhalten fi zur Gegen⸗
wart Eritifch wie andere Kinder des Jahrhunderts , fie reden nur
von Wundern, die vor Olims Zeiten gefchehen fein follen ; da
lebt freilich Keiner, ver zugefehen hätte und ihnen beweiſen könnte,
daß fie in den Wind fprechen. Um ſich aber ven Rücken befjer zu
decken, wird der Behutfame in folchen Gebieten einen andern
115
Weg gehen. Der Speculation muß bier offenbar ein gefimber
Realismus, eine unbefangene Anſchauungsgabe zur Seite gehen,
die ſich zunaͤchſt von dem behaupteten finnlichen Vorgange ein
deutliche! Bild zu machen fucht, das ſich ohne Widerſprüche volle
ziehen läßt. Es mag ſich z. B. mit der philoſophiſchen Deducir⸗
barkeit der wunderbaren Speifung verhalten wie eö will, es wird
doch behauptet, die Sache ſei geſchehen. Ift fie geſchehen, fo
muß man fi von dem Vorgange eine detaillirte Vorſtellung ma=
hen können, und läßt fich diefe nicht ohne Widerfpruch gegen
alle Geſetze des Geſchehens vollziehen, fo hebt fie fih auf. Hebt
fih Die Borftelung auf, jo hebt fih auch Die Sache auf (ld
Geſchichte nämlich ; die darin nievergelegte Idee ift auf anderem
Wege zu retten). Diejer Realismus fegt freilich, wenn Einer ben
Muth haben fol, ihn auf verjährte religiöfe Vorftelungen anzu⸗
wenden, eine tiefere Skepſis voraus, den Muth der Wahrheit,
ber ſich vorneherein nicht durch Autoritäten und althergebrachte
Kategorien imponiven läßt; biefer tiefere Skepticismus und jene
finnlich frifche Realismus müffen zuſammenwirken, und fle wirken
in Strauß zufammen. |
Im. Herbft 1830 verließen mir bie Univerfität ; ; Strauß
wurde Vicar und ſetzte die Hegel ſchen Studien eifrig fort. Wie
feft bereitö damals feine Ueberzeugung im Hauptpunkte war, bes
weift eine höchſt interefjante Correfpondenz zwiſchen ihm und
einem Freunde, die durch feine Güte mir mitgetheilt eben vor
mir liegt. Rührend ift es, zu lefen, mit welchem heiteren Ver⸗
trauen in die alleinjeligmachende Kraft der Wahrheit hier Strauß
die Beforgniffe und Scrupel des Freundes befäwichtigt , der ſich
durch Die Kluft, die feing wiſſenſchaftliche Ueberzeugung zwiſchen
8 *
116
ihm und dem Glauben ver Gemeinde zieht, bekümmert fühlt,
wie Far er ihm barthut, daß es Feine Unredlichkeit ſei, wenn
der Geiflliche in der Sprache der Vorftellung rede und unvermerkt
in die Bilder, die dem bloß Glaubenden vorſchweben, ‚die tie⸗
feren Ideen des Wiffenden hineinleite. Wie bitter ift dieſes Ver⸗
trauen auf: eine allmälige Verfühnung beider Standpunkte ge-
täufcht worden !
Im Sommer 1831 wurde Strauß als Verweſer eines Pro⸗
fefforat3 am Seminar zu Maulbronn angeftelt, und die Behörde
bewies durch die Berufung eined fo jungen Mannes auf dieſen
Poſten, wie viel ſie auf ihn baute. Inzwiſchen vermochte er dem
Verlangen, Hegel ſelbſt zu hören und feine wiſſenſchaftliche Bil⸗
dung überhaupt von Amtsgeſchäften frei an einem großen Sam⸗
melplage der Wiſſenſchaft zu vollenden, nicht länger zu wider
ſtehen, und reifte im November deſſelben Jahres trog der Cholera
nach Berlin. Sein innigfter Wunſch follte ihm nicht erfüllt wer-
den; er Hatte eben die erften Vorlefungen von ihm gehört und
bie perfünliche Bekanntſchaft des großen Mannes gemacht, als
er aus Schleiermacher's Munde die ſchmerzliche Nachricht erhielt,
daß der verehrte Meiſter ein Opfer der Cholera geworden. Sprach⸗
los entfernte er ſich: „der große Schleiermacher, ſchreibt er
einem Freunde, war mir in dieſem Augenblicke unbedeutend, wenn
ich ihn an dieſem Verluſte maß“, und bald ſtand er im Innerſten
erſchüttert, unſchlüſſig, ob er nun Fänger in Berlin weilen ſolle, an
feinem Grabe. Doch überwand die Erwägung, daß Hegel in Ber-
. Ün zwar geſtorben, aber nicht auögeftorben fei, feine Unfhlüffig-e
keit, und nun fammelte er mit brennendem Wiſſensdurſte die Schäße
ber Intelligenz ein, bie biefe blühende Univerfität, damals noch
117
der wiſſenſchaftliche Stolz Deutſchlands, in näherem ober entfern-
terem Zufammenhange mit feiner Richtung ihm darbot. Welchen
Einbruck Schleiermacher auf ihn machte, wie der fchon früher.
gefaßte Gedanke, das Leben Jeſu tm Geifte der Stellung, bie
er ſich zur Hegel'ſchen Philoſophie gegeben, zunächſt für eine -
Borlefung zu bearbeiten, zum beftiinmten Plane wurde, und
worin dieſer Plan von der fpäteren Ausführung abwich, hat
Strauß ſelbſt (Ite Streitfhrift S. 59 u. 60) erzählt, Das Be⸗
denkliche der Iinternehmung verhehlte er ſich fi pr damals nicht, -
‚Aber, fagft du,’ fchreibt er aus Berlin an feinen Grein nad-
bem er ihm feinen Plan auseinander gefebt hat: „dieß willft vu .
in Tübingen. lefen? Und du glaubft nicht, daß bir der Hörſal
geſchloſſen wird? Ja es ift wohl fo etwas möglich, und ich bin
oft recht traurig, daß Alles, was ich in der Theologie thun
möchte, folche halsbrechende Arbeit if. Aber ih kann es
niht Ändern; auf irgend eine Weiſe muß biefer Stoff aus
mir herausgeftaltet werden. Wir wollen es einftmweilen Gott be⸗
fehlen, der und doch irgendwie eine Thüre für fo etwas öffnen
wird”, Ich führe dieſe Stelle wörtlich an, weil ed fo viele giebt,
welche der Meinung find, man bürfe Strauß zwar wegen feiner
ſubjectiven Anflcht nicht verdammen, aber er hätte fe nicht öffent«
lich ausſprechen, oder etwa lateiniſch fchreiben follen. Ach ja
wohl! Warum nicht Lieber malayifch, chineſiſch? Diefe Haben
entweder feinen Begriff vom Geifte, fle wifien nur von Sub⸗
jecten und nicht von einem Entwidelungsgange der Idee, dem
das einzelne Subject ald Organ dient, und begreifen baher nicht,
daß es von Strauß vielmehr fchlecht und nieberträchtig geweſen
wäre, wenn er dem inneren Rufe ſich entzogen hätte; oder aber
118
— und Dies iſt wohl bei der Mehrzahl ver Fall — fie find im
Grunde doch Feinde der Straußiſchen Sache und geben ihren
Liberalismus nur wor, fle haben wenigftens keine fefte Anficht,
und wollen fh ein Schwanken, einen Inbifferentiomud refer-
viren, worin fle ver Entſchiedene flört, den fie eben darum nicht
leiden können.
Nach feiner Ruͤckkehr wurde Strauß im Mai 1832 als Res
petent zu Tübingen angeftellt, und las In demſelben Sommer
Logik und Metaphyſik mit großem Beifall im überfüllten Hörſaale.
Zum erften Male wurde die Hegel ſche Philofophie weder mit pole⸗
mifcher Entftellung, noch mit blinder Anerkennung vorgetragen und
von einem philoſophiſchen Katheder aus der Same der Speculation
unter bie Studtrenden gefreut. Auf diefe Vorleſung ließ Strauß bie
Geſchichte der neueren Philoſophie von Kant an und Platon
Sympofion, dann Gefhichte der Moral folgen. Im Sommer
1833 kam ih, ebenfalld als Nepetent nach Tübingen berufen,
“wieder mit ihm und mehreren Compromotionalen zufanmen. Es
war eine ſchöne Zeitz wiſſenſchaftlich fühlte man fich durch die
gleiche Meberzeugung und das gleihe Streben, in den Zöglingen,
| ‘ „die man zu leiten berufen war, den Geift ächter Philofophie zu
näheren, vereinigt, und die Gefelligfeit der Amtsgenoſſen wurde
befonderd durch den Straufifchen Humor und Geift verfehönert.
Diefer Humor zeigte fich beſonders in einer heiteren Fertig⸗
keit, die unſchuldigen Schwächen der Eollegen zu entdecken und
durch Teife Wendungen des Gefpräches unvermerft fie zu ver-
anlafien, daß fle fich in naiver Welfe ausfprachen. Darin zeigte
fi denn freilich eine Meberlegenheit, ein in der Vogelperſpective
genommeer Standpunkt, wogegen man fib bin und wieder
119
beſchwerte, wie denn ein Freund einft zu Strauß fagte: du Haft
gut Fuftig fein, wir follen die nur immer aufipielen! Iene Autos
vität, die fh ein feharfer und überlegener Geift unwillfürlich in
feinen Umgebungen verfhafft, machte fich auch jetzt ſchon durch
fein practifches Gefchi und feine Entſchiedenheit in Auferlichen
- Sphären geltend. Niemand wußte jo determinixt die Aufficht über
Untergebene zu führen, die Seminarordnung zu handhaben, Nies
mand officiele Berichte und Eingaben über Hit Punkte mit
ſolcher Gewandtheit zu fertigen.
Inzwiſchen hatte er aufgehört, Vorleſungen zu halten und
in verhältnißmaßig erſtaunlich kurzer Zeit fein Werk über das
Leben Jefu vollendet, deſſen erfter Band tm Juli 1835 erfchien.
So hatte er denn die Summe feiner biäherigen Entwidelung in
dieſem Denkmale feines Geiftes niedergelegt. Was ich biäher über
das ſchwäbiſche Naturell und die Straußiſchs Individualität gefagt
babe, Tann ih nur dahin zufammenfaffen? der Tieffinn des ſchwä⸗
bifchen Geijtes war in der Metaphyſik enthalten, die diefem Werke
zu Grunde liegt; die Kraft des Zweifels und der Kritif, verbuns
den mit jenem undbefangenen Nealismus, der erft die Ammendung
jened Zweifels auf gegebene pofitive Gebiete möglich macht, ent⸗
wickelte ihre ganze Fülle in der Auflöfung des bloß Poſitiven, J
was bie inconſequente Speculation vieler andern Schüler Hegel's
mit jener Metaphyſik vereinigen zu können glaubt, ohne zu be⸗
merken, daß ſie vielmehr dadurch im Principe aufgehoben wird
— : fo ſteht dieſes Werk als die reichſte Probe des ſchwäbiſchen
Tiefſinnes zugleich und Scharfſinnes vor den Augen der Welt.
Fragt man ſich nun, warum denn im Publikum die Meiſten nur
den Scharffinn, die Wenigſten den Tiefſinn bemerkten, fo iſt
120
allerdings zugugeben, daß die Abweichung von dem urfpünglichen
Plane. den Iegteren in den Hintergrund drückte. Nach diefem Plane
ſollte der letzte Theil der trichotomiſch angelegten Arbeit eine
Neconftruction des von der Kritik Aufgelöften burd die philoſo⸗
phifche Idee ‚enthalten. In der Ausführung ſchwoll, was den
zweiten Theil bilden follte, zum Ganzen an; ber erfte, der be»
ſtimmt war , die bibliſche und Kirchliche Lehre zu referiren, konnte
immerhin wegfallen, da bie kritiſche Entwickelung, indem fie das
Pofitive ftet3 bekämpft, es mittelbar auch barftellt und ald Be⸗
kanntes überhaupt vorausſetzen darf. Daß aber der dritte Theil
zum bloßen Anhange, daß eben daher die fpeculative Rettung
des kritiſch Zerftörten etwas zu flüchtig und nur mit hafber Liebe
vorgenommen wurde, ift zwar im Namen derjenigen zu beklagen,
benen die Vorfenntnifje fehlen, um die bejahende Seele der ver⸗
neinenden Kritik zu erkennen, und für welche aus manchen Stel»
Yen der dritten Streitſchrift, welche fich über das Herrliche ber
Erjheinung Chrifti mit Feuer ausfpredhen, der Schein einer
Zurücknahme des Früheren entfteht, — erklärt fi aber leicht
aus der Stimmung des Kritiferd, dem es wiberlich fein mußte,
auch nur von Weitem fih den Schein zuzuziehen, als bitte er
zum Schluffe für feine Kühnheit un Berzeihung. Auch fo Tonnte
man jedoch allerdings erwarten, daß der Verf. an mehreren we⸗
fentlihen Punkten die Idee, welche einen Mythus aus fich her⸗
vortrieb, vollftändiger auszuführen ſich Zeit genommen hätte.
Sp entſtand z. B., indem gewiffen Erfindungen ver Technik ein
größerer Werth beigelegt wird, als Wundern, der Schein, ale
behaupte der Verf., daß die religiöſe Phantafie, indem fie bie
Wundermythen bildete, den practifhen Werth der Wunder pres
121
mirt habe, während fie doch nur die Macht des ſittlich rellgiö⸗
fen Geiftes fih in poetifcher. Form zur Anfhauung zu bringen
ſuchte. Strauß war mübe, als er diefen Anhang ausarbeitete ;
aber in der That, die Geduld ift auch zu bewundern, womit
er den Augiasftall der. fublimften exegetiſchen Abfurditäten gemi⸗
ftet, womit er fich auf die Widerlegung der aberwißigften Bemü⸗
‚ Hungen, offenbare Mythe als Gefchichte zu retten, eingelafien
hatte. Dieſe faft mehr als menfchliche Geduld, wer hat fie ans
erkannt? Mit. fehendem Auge ift man abfichtlih blind geweſen
und hat diefen unendlichen. Ametfenfleiß , dieſen Schweiß durch⸗
wachter Nächte, dieſes reblich getreue Ausharren für Träghelt,
Obenhinfahren, für ven Muthwillen eines frivofen jungen Men⸗
ſchen erklärt. Doch behält auch die Schlußabhandlung den u.
großer Präcifion bei gedrungener Kürze. |
Bald darauf folgte die Eutlaffung; Strauß, um nicht uns
thätig zu ſein, entfchloß ſich, das ihm wenigftend indirect aufges
drungene Amt eines Rectoratsverweſers am Lyceum zu Ludwigs⸗
burg zu übernehmen, verließ das Seminar und brachte bis zum
Antritte der neuen Stelle noch ein paar Monate als Privatmann
in Tübingen zu. Der Schlag hatte ihn ſchwer getroffen, er wird
ihn nie verfchmerzen. Wenn irgend Jemand, fo hat er vermöge
feiner altbürgerlih foliden Erziehung und Denkart das Bedürfniß
einer feften Unterlage feiner Thätigkeit, eines öffentlihen Wir-
fungsfreifes, Zurz eined Amtes; das aufgebrungene aber war
feinen Neigungen, der Richtung feiner Studien, der Beſtimmung
feiner Kräfte zuwider. Er fühlte ſich entwurzelt, jened Keber-
gefühl kam über ihn, das Gefühl, ausgeſtoßen, excommunicirt,
mit dem Geruche ver Pet umgeben zu fein; es ift daher fehr
122
unrihtig, wenn man feine Entlaffung nur als eine Privation
varſtellt, fie Hatte auf ihn die volle Wirfung einer graufamen
pofitiven Strafe.
Strauß trat fein Amt an und verwaltete e8 zur ausgezeich⸗
neten Zufriedenheit der höheren Behörde. Aber in die Länge
ertrug er ed nicht. Der Wiverfpruch zwifchen der Art feiner Ge-
ſchaͤfte und den Stubien, zu denen ihn Neigung und innerer
Beruf zog, die Entfernung von literarifhen Hilfsmitteln, der
Mangel an Erholung und Zerftreuung in der menfch nleeren,
melancholiihen Stadt, dies Alles und dazu noch jenes Gefühl
des verſtoßenen, verabfeheuten Steßerd einem Gemüthe eingebohrt,
den Humanität, Gemeinfanfeit des Bewußtfeind mit Andern,
‚Breundfchaft und Mittheilung das höchſte Bedürfniß war, übte
allmälig einen ſolchen Drud auf feinen Geift aus, daß er fi
entſchließen mußte, feine Lage zu verändern; er verließ im Herbfte
1836 Ludwigsburg und z0g nad Stuttgart. Nun ging er an
die Ausarbeitung der ſchon länger beſchloſſenen Streitſchriften.
Daß dieſe offenſive Defenſive vielen Tadel erfahren werde, wuß⸗
ten er und ſeine Freunde wohl; von verſchiedenen Seiten hörte
man zum Voraus, da die Kunde von dem Unternehmien feiner
Ausführung voranging , verdammende Stimmen, auch aus dem
Munde Solcher, die fich übrigens den Schein der Liberalität gaben.
Nun werde, hieß es, die bisher von Strauß rein wiflenfehaftlich
gehaltene Sache in Perfönlichkeiten ausarten. Hiegegen aber
mußte jeder aufrichtige Freund des Rechts und der Wiffenfchaft
fogleih mit allem Ernfte fich erklären. Des Rechts: denn warum
ſoll doch das alte Schaufpiel, daß der wilde Fanatismus mit
giftigen oder polternden Perjönlichkeiten ungeftraft die Vorkäm⸗
123.
pfer der geiftigen Freiheit verfolgt, ſich ewig mieberhofen? Bon
Strauß verlangen, daß er ſchweige, hieß nichts Anderes, als
verlangen, er folle nur auf ſich herumtreten laffen, wie es den
Gegnern beliche. Der Wiffenfchaft: denn Strauß hatte feinen
Standpunkt thetifeh ausgeführt, berfelbe follte nun durch Polemik
‘gegen die abweichenden Anfichten an Begründung und Licht ges
winnen. Als num die erfle Streitfehrift den Dr. Steubel eben nicht
ſchonend angriff, hieß es, nun fei ein Serunterfinfen vom wiſ⸗
fenfchaftlichen Standpunkte auf den der Werfönlichkeiten, wie man '
ſolches vorausgefehen , wirklich eingetreten, und man wollte von
dieſem Vorwurfe um fo weniger abſtehen, als hier ein allgemein
geachteter Charakter mit allen Waffen eines Träftigen,, offenen
Haſſes angegriffen war. Hier Eommt e8, mil man richtig urthei⸗
Yen, barauf an, zwiſchen erlaubten und unerlaubten Perfönlich-
feiten fo zu unterfeheiden, wie e8 Strauß ſelbſt in der Vorrede
zur erften unb in der zweiten Streitſchrift (S. 95 ff.) gethan hat.
Die unerlaubte, niedertrüchtige Perfönlichkeit befteht in Seitenhie⸗
ben auf das Privatleben des Gegnerd, auf fein Herz , auf fein
fittliche8 Verhalten überhaupt: ſolche Perſönlichkeiten Hat ſich
gegen Strauß die Mehrzahl feiner Gegner erlaubt. Wenn nun
der fo Angegriffene dem Gegner nicht nur bie Schwãͤche ſeiner
wiſſenſchaftlichen Gründe, ſondern eben dieſe Perſoönlichkeiten, vie
et einmengte, im Tone gerechter Entrüftung vorwirft, jo kann
man dies um fo mehr, ald auch bie wiſſenſchaftlichen Gründe, die
der Gegner braucht, deſſen Perſönlichkeit charakteriſiren, eine
perſönliche Kritik nennen, aber Feine im unedlen und unerlaub-
ten Sinne. Einen Ton hat jede Schrift; in jeber- ſpielt neben
dem Wiffenjchaftlichen etwas Subjectives her; eine ganz unpers
124
ſoͤnliche Gegenfchrift ft daher etwas, was weder eriftiren kann
noch fol. Ober war denn Leffing gegen den Herrn Paſtor Göge
nicht perſönlich? Und wer freut ſich nicht über dieſe Perſonlichkeit?
Es ift wahr, Steudel war ein höchſt achtungswerther Mann, aber
in Religionsſachen verdunkelte der Fanatismus der Zionswächterei
vorübergehend ſeinen Charakter, ſo daß jeder Freund des rechtſchaffe⸗
nen Mannes wünſchen mußte, daß Fremde nicht aus dieſen Zügen
ſein Charakterbild ſich zuſammenſetzen. Seinem Einfluſſe ſchrieb
Strauß die tieffte Wunde zu, die ihm geſchlagen worden, ſeine
Entlaſſung, und haßte ihn mit jener ganzen Entſchiedenheit, die
ſtarke Naturen im Haſſe, wie in der Liebe zeigen, und mit welcher
einſt Luther gegen den König von England in einer ganz ähnli⸗
hen Streitfache jo göttlich grob geweſen iſt. Dennoch iſt in dieſer
trefflichen Streitfährift, worin Strauß ein neues Talent entwicelte,
das der geflügelten Polemik, die Hände und Füße hat, nicht ein
Jota von Perfünlichkeiten im unerlaubten Sinne zu leſen; nicht
die rein moralifche, fondern die wiſſenſchaftliche Perſönlichkeit Steu-
der 8, fofern in ihr allerdings auch moralifche Mängel fich zeigen,
ward zermalmt.
Auch an Ejchenmayer, meinte man, habe fih Strauß ver-
fündigt, als er in der zweiten Streitfehrift fein Altweibergeträtſche
und den boöhaften Galimathias feiner Ignoranz in ihrer Blöße
an den Pranger ftelle. Der ehrwürdige Eſchenmayer! Er war
fo lange ehrmürdig gemefen! Im Ernſte: nur dies könnte man
fih einen Augenblick fragen, ob e8 ſich denn auch der Mühe ge⸗
lohnt Habe, über einen ſolchen Gegner den leichten Sieg zu feiern.
Allein fo wenig Wirkung ein ſolches Gefchrei haben mag, fo tft
es doch von Polizei wegen nöthig, daß man bisweilen abftrafe;
125
ber Unfug, werm auch ungefährlich, fol nicht geduldet werben.
Ungleich wichtiger war die Kritik Menzel's. Gier galt ed, einen
Standpunkt in feiner Nichtigkeit aufzumelfen, der dad Schöne ger
radezu im Principe zerftöven würde, wenn er Geltung gewönne,
und der Durch einen Schein von Wahrheit, durch den er Unmün⸗
dige beſtach, wirklich gefährlich war; es galt, das wahre Ver⸗
hältniß zwiſchen dem Guten und Schönen feſtzuſtellen, deſſen
Auffaſſung dieſer Kritiker dadurch ganz verrückt hatte, daß er mo«
raliſche Maßſtäbe directe auf Producte der Kunſt und Poefie
anwandte, und indem er verkannte, daß das Gute im Schönen als
ein aufgehobenes Moment vornherein enthalten ift, die Selbft«
ſtändigkeit des Schönen geradezu aufhob, eben damit aber auch
ded Guten; denn wenn dieſes fih nur dadurch foll erhalten
‚ Tönnen, daß e8 als ſolches ausbrüdtih und unmittelbar, d. h. na⸗
mentlich als Gegenfag und Kampf gegen die Entfaltung des Sinn-
lichen, fich geltend macht, fo find wir in eine formaliftiihe Moral
zurüdgeworfen, auf die moraliſche Weltanſchauung, deren Wider-
fprüde und Heuchelei Hegel Ein für alle Mal aufgedeckt hat.
Hiemit hing unmittelbar ein weiteres zeitgefhichtliches Interefie
zufammen. Menzel haufte mit feinem Ipeenkreife in dem Prin-
cipe der naiven Sittlihfeit des Mittelalterd, in welcher die Sub⸗
jeftivität, einfach und inftinetmäßig mit dem Glauben und der
Sitte der Väter verwachen, nicht zu ihrem vollen Rechte kam.
Freilich derſelbe Menzel hatte früher gegen moralifche Pedanterie,
Prüderie u. f. w. gepredigt, ja er hatte Wieland, den wirklich
frivolen Wieland, defien Gelüfte e8 war, die Beflrebungen der
Tugend im Kampfe mit der Sinnlichkeit graziös unterliegen zu
lafien, und dem daher das Ideal (des Schönen und eben daher
126
des Guten) geradezu abzufprechen ift, in Vordergrund geftellt,
während er Göthe, der ftetd von einen affirmativen Verhältniſſe
des Geiftigen und Sinnlichen, aljo auch vom Principe wahrer
Sittlichfeit ausgeht, verläfterte. Schon dies war ein Beweis,
daß hier nicht einfacher Irrthum, nicht die ehrliche Zeitenver⸗
wechſelung eines ſubſtantiellen Charakters zu bekämpfen war;
Nahm man aber vollends die Brutalität der Ignoranz hinzu, mit
welcher Menzel auf den verſchiedenften Gebieten, namentlich dem
philoſophiſchen, das Pathos ſeiner abgeriſſenen fixen Ideen her⸗
ausſtieß und, was ihm in den Weg kam, nach ſeinen fertig
liegenden, unflüſſigen, allem Begriffe einer Entwickelung total frem⸗
den Maximen übers Knie abbrach, erwog man, daß Menzel ſeine
eigene, aller Welt offenbare Ignoranz in dieſen Gebieten noth⸗
wendig wiſſen mußte, daß er es z. B. wiſſen mußte, ob er dad
Leben Jeſu, ehe er darüber aburtheilte, gelefen habe oder nicht,
daß hiemit aljo, indem er ein Urtheil, wie es nur der aufftellen
kann, der ed nicht gelefen hat, mit der Miene ausſprach, als hätte,
er es gelejen, fein Verfahren das eines frechen Lügner zu nen⸗
nen war: fo lag hier offenbar ein Unfug vor, der nicht länger.
geduldet werben Eonnte. Menzel bat Wis und Talent, dem er⸗
mübend Tangweiligen Cinerlei feiner monoton wieberholten ftarren,
Grundjäge. hatte er durch migige Wendungen int Einzelnen eine
gewiſſe Abwechſelung gegeben und dadurch die Schwachen um ſo
mehr beſtochen, als fein neuefter Kampf gegen gewifje Tendenzen .
in der Literatur ven vollen Schein des Rechts hatte; denn es galt
allerdings, die unmwürdigen Propheten einer in fih und ihrem
wohlverftandenen Principe ganz wahren und guten Sache in ih⸗
rer Blöße hinzuſtellen. Aber Menzel ſchüttete natürlich Das Kind,
127
mit dem Babe aus und verlor ſich in einen Schmuk von Perfön«
lichkeiten, der, von den Gegnern ebenfo heimgegeben, eine Schands
feene in. unferer Literatur berbeiführte, die ihres Gleichen fucht.
Jene gute Sache iſt das tiefere Bemußtjein feiner Freiheit, das
ber moderne Geift fih zu geben ringt, dad Princip des Fortſchrit⸗
tes. Für dieſes auch auf anderem, als dem theologijchen Gebiete
gegen ben yerfioskteften Stgbilismus zu kämpfen, war eine ber
Stellung, welche Strauß einnimmt, vollkommen entfprechende Auf-
gabe. Es war Zeit, dad Schwerdt des Geiſtes gegen den frechſten
Gegner zu ziehen, Strauß zog ed, that einen guten Schwa⸗
benftreich und hieb Durch bis auf den Sattelfnopf. Seine Streit
föhrift gegen Menzel ift durch die gewiſſenhafte Gründlichkeit im
Bunde mit der geflügelten Gedanfen- und Spracäbewegung Leſ⸗
ſings ein Meiſterwerk neuerer Polemik. Der Gegner wird Schritt
für Schritt durch alle Kanäle, die er ſich gegraben, unerbittlich
weiter getrieben, bis er endlich in den Abgrund feiner Nichtigkeit
verfinkt. Wir verwunderten und über die Lauheit, mit der dieſe
treffliche Streitfchrift aufgenommen wurde. Namentlich aus Nord⸗
deutichland hatte man ſich von allen den Geiflern, die dem Prin=
cipe der Freiheit und Bewegung zugethan find, freudigen und
baldigen Gruß verfprochen, aber nad) langem Schweigen ließen fi
wenige, vereinzelte Stimmen hören. Die Schrift wird auch, ab⸗
geſehen von ihrem Zeitintereffe,. für die Aefthetif als Wiffenichaft
eine Fundgrube vortrefflicher Bemerkungen bleiben. Das poetiſche
Talent, mit welchem Strauß ausgeftattet ift, mußte, da feine Na⸗
tur ſich für die Speculation entfchied, naturgemäß aus der Friſche
der Production auf das philofophifche Intereffe für die Erfchei-
nungen auf diefem Gebiete fich zurüdziehen, wie e8 denn im Cha⸗
128
zafter unferer Zeit Liegt, daß, mwährend in einen vorzugsweiſe
künſtleriſch und poetifch geftimmten Zeitalter nicht nur die Genies,
fondern auch die bloßen Talente es zu sinem Reichthum von Pros
duetion bringen, ein reflectivenbes, wie das unfrige, die biofen
Afthetifchen Talente mehr und mehr der Production entzieht und
auf die Seite der Neflerion über dad Produciren herübernöthigt.
Wie umfaflend und gründlich jenes Interefje bei Strauß: iſt, be⸗
weiſt jene Streitichrift. Die ächte Humanität, welche Die Freunde
in feiner Perfönlichkeit Tieben, und welche auch einzelne Härten
und Schroffheiten in feinem Charakter mit fehnell wirkenden Heil-
Eraft zur Harmonie und Verſöhnung zurücklenkt, hat ihre ſqhönfte
Nahrung aus jenem Intereſſe gezogen.
Rur ein paar Worte noch über die Art, wie Menzel: ven An⸗
griff aufnahm. Auf den eigentlichen Streitpunft ging er gar nicht
ein, bie theologijche Angelegenheit feines Gegners nannte er mit
erfünftelter Verachtung einen Handel, feine groben Irrtümer über
die eigentliche Stellung und Abfiht des Straußifchen Werkes, das
er mit völliger Unfenntniß ſowohl der zu Grund liegenden Meta⸗
phyſik, als auch der ganzen Ausführung zum platten Rationa⸗
‚Usmus rechnet, wiederholte er in noch roberer Sprache, und
endlich brauchte er den unreinen Kunſtgriff, die Tendenzen des Fein⸗
des mit den frivolen des jungen Deutſchlands zuſammenzuwerfen.
Schon bei dem erſten Ausfalle gegen Strauß hatte er ſich dieſe
Wendung erlaubt, er hatte gefagt, man ziehe jezt nicht mehr bloß
„gegen bad Wunderbare in den Erzählungen der h. Schrift zu
Felde, fondern fuche fogar bie rein fittliche Grundlage des Chri⸗
ſtenthums zu bemoliren, und in biefem Zufammenbange war er
unmittelbar auf das Leben Jefu von Strauß übergegangen. Ei⸗
129
nen triftigeren Beleg für den Abſcheu, ven Ich gegen biefen Dann
auszuſprechen für meine Pflicht hielt, wird Niemand erwarten.
Nachdem nun Strauß in feiner Streitſchrift felbft beſtimmt Hatte,
imvieweit er den Tendenzen moderner Schriftfteller beipflichte,
nachdem aus den trefflichen Stellen über diefen Punkt (nament»
lich S. 185) leichtlich zu erfehen war, in welchem Sinne Strauß
eine Sufammenftellung mit der neuen Bewegung Teineswegs, im
welchen aber allerdings ablehne, — was that Menzel? Er fagte,
Strauß habe ſich immer noch nicht erklärt, ob er nicht mit dem
jungen Deutſchland confyirire, er müfle fih aljo gefallen laſſen,
fo lange dies nicht geſchehen fei, zu jenen Unreinen gezählt zu wer⸗
den. Eine Menzel’d ganz mürbige Taktik, die dur die Bemer⸗
fung über einige von Strauß gebrauchte Ausdrücke (die Dienzel
nad) Tholud, der fie bereitö entftelt und verkehrt gedeutet hatte,
citirt), daß diefelben auf eine Gemeinheit der Geflnnung ſchließen
laffen, der man wahrſcheinlich noch mehr zu verzeihen habe, —
weg von diefem Bilde der Schmach!
Die beveytendfte ver bisher erfchienenen Streitfchriften ifl je⸗
doch unläugbar die dritte, namentlich in demjenigen Theile, worin
ſich Strauß über ſeine Stellung zur Hegel'ſchen Schule ausſpricht;
denn hier wird auf dad Princip, auf den Sitz der ganzen Frage,
auf den Begriff des Verhältniffes zwifchen ver Idee und der Wir:
Vichfeit eingegangen und hierdurch dad Mangelhafte der Schluß«
abhandlung im Leben Iefu ergänzt. Nachdem ich in biefer
Charakteriftit unumwunden ausgefprochen habe, wie ich dieſer Auf-
faffung oder Weiterbildung bed Hegel'ſchen Princips mit der in⸗
nigften Ueberzeugung beipflichte, habe ich hierüber nichts Weiteres
zu jagen, denn es ift nicht dieſes Orts, die Sache wiſſenſchaftlich
Kririſche Gänge. 9
at
130
zu unterfuchen. Der Controverspunft iſt num durch dieſe Streit⸗
ſchrift in ſeiner Schärfe hingeſtellt, und die ſpeculative Theologie
mag die Controverſe fortführen und beendigen. Ich ziehe den Ge-
fammtinhalt dieſer Charakteriftif in die Bemerkung zufammen,
daß hier das Naturell der ſchwaͤbiſchen Intelligenz, durch die Per⸗
fönlichkeit, die ich zu eharakterifiren verfuchte, repräfentirt in feiner
Differenz vom Norddeutſchen, das nad) meiner Meinung bei ſei⸗
nen übrigen großen Vorzügen in biefen Dingen zum Formalis-!
mus binneigt, fih auf eine Weile ausgeſprochen hat, welche \
ſowohl für die Wiſſenſchaft, als für ven geiftigen Austaufch zwiſchen
Süden und Norden von den fruchtbarften Folgen ſein kann.“
Ich wünſche zum Schluſſe, den Verf. des Lebens Jeſu beſſer
getroffen zu haben, als das Portrait, das in der Europa erſchien.)
Die unteren Partien des Kopfes find zu breit und fleiſchig gera⸗
then, woburd die oberen, namentlich dad große dunkle Auge, das
den ganzen Kopf beherrfcht und eine entſchiedene Präponderanz
des Geiftigen ausſpricht, viel zu jehr zurüdtreten. Der ganze
Kopf Hat dadurch ein ältliches und philifterhaftes Ausfehen be-
fommen, der Kopf eined Mannes, der wahrlidy nicht zu den Phi-
liſtern zu zahlen ift.
2 — ’
131
Ueber
allerhand Verlegenheiten bei Beſetzung einer dogmatifchen
Schrfielle in der gegenwärtigen ‚Beit.
"+ (Saltifche Jahrbuͤcher für deutſche Wiſſenſchaft u. Kunſt, Jahrg. 1841, Nr. 65 ff.)
— ——
v
—
I. Lage der Sache. |
Unfere Zeit rüdt einer Kriſis des Firchlichen Lebens durch Die
ſteigende Spannung zwiſchen der modernen Wiſſenſchaft und der
Volksreligion ‘oder richtiger den Anſtrengungen der Gelehrten, ſo
wie der Staats- und Kirchendiener, die leztere auch im Bewußt⸗
ſein der Gebildeten zu retten, mit ſtarken Schritten näher. Die
züricher Auftritte waren der erſte Vorbote und ſeitdem bricht da
und dort der Zündſtoff in kleinen, doch bedenklichen Flammen aus.
Auf unſerer Univerſität rief die Erledigung eines Lehrſtuhls der
Dogmatik durch Abgang des Prof. Dorner ſchon bei der erſten
Beſetzung lebhafte Discuſſionen im Senate hervor. Diaconus
Märklin, dem gegenwärtigen Standpunkte der Wiſſenſchaft zuge⸗
than, bekannt durch feine Darſtellung und Kritik des modernen
Pietismus, war im Vorſchlag, hatte aber nicht nur.die Anhänger
des Kirchenglaubeng, fondern auch mehrere über Religionserkennt⸗
niß ganz liberal denkende Männer gegen fich, welche den eroteris
fhen Grund geltend machten, daß durch die Wahl eines Mannes,
der fo eben in feiner Schrift über den Pietismus mit dieſem zu⸗
9 %*
132
gleich den Kirchenglauben als eine unreine und widerſprechende
Miſchung von Ideen und mythiſchen Zuthaten hingeſtellt Hatte,
das Volk beunruhigt, und dadurch dad Mißfallen der Regierung
erregt werben würde. Dan Eannte ven freifinnigen Geift unferer
Regierung, aber man befürchtete züricher Scenen, und fie ſelbſt
ſchien ſolche Beſorgniſſe zu hegen. Die leztere ergriff den Aus⸗
weg, dem Prof. Dr. Elwert, der wegen angegriffener Geſundheit
von Zürich ſeine Entlaſſung genommen und eine Pfarrei in Wür⸗
temberg bezogen hatte, einem Manne von der gemäßigten mittle⸗
ren Partei, die Stelle anzutragen. Er mollte, da feine Gefundheit
noch nicht hergeftellt war, nicht eingehen, auf wiederholtes Zures
den jedoch gab er nach und bezog die Univerfität. Bald zeigte fich,
daß feine phyſiſchen Kräfte der neuen Auftrengung nicht gewach⸗
fen waren, und die Borlefung über Dogmatif wurde für dad ge⸗
genwärtige Semefter dem Pridatpocenten Dr. Zeller, einem unſe⸗
rer talentvollften jungen Männer, rühmlich befannt durch feine
Schrift: „Platoniſche Studien,” übertragen.
Aber nun hebt die Noth von vorn wieder an. Zeller lieſt
im Sinne der modernen Theologie, und fo gehalten und würdig er
feine Ueberzeugung vorträgt, fo friedliebend er jeden Anknüpfungs⸗
punft zur Verſöhnung des Glaubens und Wiſſens ergreift, es
fonnte nicht fehlen, daß die unzufanmenhängende Kunde von dies
fen Vorträgen, die in’8 Publicum drang, alle diefenigen, welche
nur die beftructive Seite der modernen Religionsphilofophie erken⸗
nen, in nicht geringe Verftimmung ſetzte. Aber nicht nur Diele;
viele Männer, welche Freiheit des Gedankens achten, und fogar
nicht abgeneigt find, dem Inhalte der jegigen Theologie felbft, fo
weit er Laien bekannt ift, Wahrheit zuzugeftehen, find durch ver=
133 _
worrene Berichte über diefe Vorlefung beunruhigt. So lange e8
ein freied, mifienfchaftliches Denfen gab, fagen fie, fand eine Dif-
ferenz zwifchen der Dogmutif der Theologen und dem Volksglau⸗
ben ftatt, aber niemals hat man darum die Indiäcretion begangen,
biefe efoterifchen Abweichungen von dem öffentlich Geltenden ohne
Hehl ſyſtematiſch auf ganze Generationen von künftigen Geiftlichen
überzutragen. Der Lehrfluhl ift von Kirche und Staat für bie
kirchliche Dogmatik gegründet; man befteige ihn, wie man auch
für feine Berfon denken mag, nicht, um fie zu deftruiren. Wer
von den jungen Theologen ein Bedürfniß hat, ſich vom Kirchen»
glauben zu emancipiven, dem überlaffe man, ſich innerlich ſelbſt⸗
flänbig die abmeichende Anficht zu bilden und eine Vermittlung
berfelben mit dem Glauben ver Gemeinde auf die ſchonendſte Weiſe
zu verfuchen, nicht aber fehütte mian unmittelbar das Ganze einer
unkirchlichen Theologie vor einer Schaar von Fünglingen aus, bie
bald ald eben fo viele Apoftel der neuen LXehre zu den Gemeinden
audgehen werden, um von der Kanzel herab fo unvorfichtig, wie
ihr afademifcher Meifter von Lehrftuhl, zu predigen, was die Ge-
müther beunruhigt, die nun einmal ohne den biftorifchen Glauben
nicht beftehen Eönnen. So war e8 nicht in der guten alten Zeitz
es gab Rationaliften, es gab Kantianer, Reinholdianer u. f. w.,
aber man predigte den Widerſpruch gegen die ſymboliſche Lehre
nicht von den Dächern.
Dr. El vert wurde veranlaßt, in Bälde zu erklären, ob er fich
der Beibehalting feines Amtes gewachſen fühle; er hat bereits
verneinend geantwortet. Dem Privatdocenten Zeller ift die Dogmas'
tif durch Conſens des Minifteriums zu dem Vorſchlage des Se-
nats einmal übertragen; die Frage, ob er für bie Lehrſtelle in Vor⸗
134
flag zu bringen fet, tft dadurch von felbft gegeben, und es läßt
fich eine ſehr fehmwierige Verhandlung im Senate leicht vorherſehen.
Fällt, wie ſich erwarten läßt, die Mehrzahl der Stimmen gegen
ihn aus, fo ift dadurch der Verlegenheit noch lange nicht abgehol⸗
fen. Ein Anderer ift vorzuſchlagen. Thatſache ift e8, daß die ta⸗
Ientoollften Köpfe unferer theologiſchen Jugend dem modernen
Standpunkte des Gedankens zugethan find. Diefem Kerne ſteht
eine nicht bünne Partei won pietiftifch oder wenigftend zelotifch Ge⸗
finnten gegenüber, in welcher ſich ebenfalls junge Leute von nicht
geringen Kenntniſſen und Gaben befinden, bingerifien von dem
halben Tieffinn, der Entfchloffenheit, der Compactheit, der Phan⸗
tafte, die in dieſer Geſtalt des Bewußtſeins Liegen. Die zahme
Mitte aber zwifchen dem freien Denken und dem gebundenen, bie
den Pelz wäſcht und nicht naß macht, hat ſich die Maſſe der ge⸗
wöhnlichen Intelligenzen vorbehalten, die wegen unzureichender
Begabung nicht zu akademiſchen Lehrern berufen werben können.
Es ift vielfach bemerkt und begreift fich leicht, daß neuerdings eine
ſcharfe chemiſche Scheidung In die theologifche Welt eingetreten fl.
Einft gab es Rattonaliften, Supranaturaliften, rationale Supra=
naturaliften, ftreng Orthodoxe, biblifche Theologen, Pietiften, My⸗
ſtiker, und zwiſchen Allen, fo entbrannt fie ſich auch zu Zeiten bes
fehden mochten, friedliche Verträge. Denn feine diejer Parteien
hatte die Gonfequenz des eigenen Princips mit Schärfe durchſchaut.
Set ift der ganze Gedanke gefommen, und hat nicht Frieden
gebracht, fondern dad Schwert, zu feheiden. Es giebt nur. noch My⸗
thifer (man erlaube das Wort, da noch kein anderes für den mo⸗
dernen Standpunkt eingeführt ift) und Pietiften (gleichviel, ob fie
Stunden befuchen oder nicht). Mittelmefen exiftiren, aber le⸗
135
ben nicht. Chrenwerthe gemäßigte Männer aus älteren Genera-
tionen will ich mit diefem Worte nicht beleidigen; weſſen Jugend
unter großen Kämpfen aufwächſt, an den macht man andere For⸗
derungen, al3 an den, der den Geift einer vergangenen Zeit mit
der Muttermilch eingefogen hat, und den der Frühling des Ge»
dankens fchon als fertigen Dann fand; ein Anderer ift, wer mit
jungen Kräften am Tage der Hauptſchlacht unentfchlofien zurüd-
bleibt, al3 wer nach ehrenvollen Vortreffen müde ift am Tage der
Entfheidung. Man hat Märklin vorgeworfen, daß er Pietismus
und Kirchenglauben zufammenfchütte. Aber man muß die Reli»
gion der unbefangenen Volksmaſſe von der Religion der Seten
und von der Theologie unterſcheiden. Der harmlofe gemeine Dann
Tann heute wie immer Firchengläubig fein, ohne in Pietismus zu
verfallen. Das läugnet au Märklin nicht, denn er weift den Fa⸗
natismus ald weſentliches Unterſcheidungsmerkmal nad. Aber
wer nicht harmlos glaubt, ſondern piquirt glaubt, wie die Secti⸗
ver, oder dogmatiſch, wie die Theologen, der kann jeßt nicht mehr
ftehen ohne das Interefle des Fanatismus. Sonft war ed anders;
man hielt ein Stüc oder einige von der ſymboliſchen Lehre feft
und wickelte fie vergnüglich in einen oder einige Bogen Philofophie
oder Vernunft u. dgl., denn dag zerfloß in's Unflare, ob vernünfs
tiges Denken gerade Philofophie fein und auf ein Ganzes dringen
müſſe. Seht hat der Gedanke feine Confequenzen eingefeben und
fühn geftanden, er hat gerufen: wer nicht mit mir ift, der ift wi—
der mih! Dadurch iſt die Scheidung gefommen und find Alle, die
in einem Stüd oder im Ganzen das Stoffartige der Vorftelung
in ihrem Geifte zu ertragen fähig find, in’3 Lager des Glaubens
gegangen, und der gemeinſame Feind Hat die Zerftreuten durch das
136
Intereſſe der Oppofltion, durch den Zorn der Negation, mag er
im Cinen milder, im Andern wilder brennen, zu einem effrigen
Heere verbunden, deſſen Eifer eben hiedurch ein fanatiſcher iſt. So
fhlummerte einft der Proteſtantismus in den Lenden des Katholis
cismus, er begann herworzutreten, brach flellenweife durch, und
nıan hielt Verträge für möglich, aber der neue Glaube murbe
eonfequent, die Scheidung kam, und die alte Mutter haßte fana⸗
tiſch den Sohn.
Was alſo thun? Aus der vaterländiſchen Jugend einen Leh⸗
rer wählen, der dem einen oder bem andern Lager angehört ?
Man will aber ‚‚Eeine Extreme.’ So drückt man ed aus. ber
die wahre DVermittlumg ift eben dad, was man ald eines ber
Erireme anfieht. Die Extreme find fubjectiver Idealismus der
fogerannten reinen DBernunftlehre und objectiver Realismus des
Eirchlichen Glaubens. Die Vermüttlung , d. 6. die wahre, welche
die Extreme vertilgt und, was beide Wahres haben, in ſich zu
höherer Einheit verbindet, ift die fpeeulative Theologie. Aber
darüber werden eben die Extreme bitter böſe, wenn man fo,
fprihmwörtlich zu reden, den Einen nimmt und den Andern mit
berumfchlägt ; fie machen gemeinfhaftliche Sache, und der wahre
Vermittler ericheint ald da3 andere Extrem. Was man dagegen
jest Vermittlung nennt, tft entweber vielmehr gar Feine irgend
einer Art, fondern eben ſelbſt nur miffenfchaftlich vermummter
Fanatismus, oder wenn eine Mitte, fo ift ed die der Schwäche,
nämlich des Eklekticismus, der die Kunft verfteht und die benei=
denswerthe Geduld hat, Kate und Maus in Einem Käfig auf-
zuziehen. Doch das giebt die Welt nicht zu, alfo zur Sache zu=
ruf. Gut; aljo im Auslande einen Lehrer fuhen? — Wen?
137
O0 ft es ja nicht anderd. Aber es giebt ja bech noch Männer
‚ber. guten gemäßigten Schule. Geſetzt, es findet ſich ein Solcher,
über defien Wahl man ſich vereinigen Eönnte, was wird feine
Stellung zur afabemifchen Jugend fein? Es wird zwiſchen dem
Lehrer und dem Kerne der Zuhörer ein Jahrhundert legen. Die
den feurigen Wein der jungen Zeit gefoftet haben, fie werten
daB zufammengefhüttete und in füuerliche Gährung übergegangene
Getränk früherer Fehljahre nicht ertragen können. Mancher mag
zu ſchnell getrunken haben; wenn ver junge Wein brauſet, giebt
es Trunkene; joll man darum die Gottedgabe verbannen? Nein,
man fol lehren, fie mit Verſtand trinken. Kann daß ein Lehrer, '
ber fie ganz vorenthält? Da tft ber üble Punkt. Don keinem
weifen Manne geleitet wird bie Jugend den verpönten Trank
heimlich hinuntergießen und betrunken auf den Markt ſtürzen, um >»
dem Volke von diefer Nahrung auf eine Weife vorzulallen,, die
für die Unmündigen Gift if. Der reife Geift des Lehrers Hätte ſie
unterwieſen, dies gefährliche neue Werkzeug handzuhaben, und
fhonend jeden Neft ver Vermittlung mit dem Volksbewußtſein
feftzuhalten. Aber, höre ich einmenden, nicht verpönt, nicht durch
Machtſpruch verboten fol diefe jetzige Phrloforhie fein; der neue
Lehrer wird auf fle eingehen, ſie wiberlegen. Wenn man aber
das kann, warum hat e8 denn noch Niemand gethan? Wenn
irgendwo Jemand lebt, der das in petto hat, wie man die neue
Irrlehre fo geſchwind widerlegt, warum hat er es nicht verlauten
laſſen? Oper fol für Widerlegung gelten, mas bi8 jeßt erſchie⸗
nen ift? Ich meine, die Jugend habe ein Recht, zu erwarten,
dag fie in ihren Lehrer den Standpunkt vertreten fehe, melchen
nach zwei Iahrtaufenden, als den für unfere Zeit erfennbar voll-
Lg
138
fommenften , bie Religionserkenntniß erftiegen hat. „Das bat.
man zu Kant's, Fichte's, Schelling's Zeit auch gemeint; es iſt
eine neue Mode, fe wird verfehwinden, wie jene.’ Aber was
ihr für euch anführt, das ftimmt ja eben für mid. Der ſoge⸗
nannte Wechfel der Syfteme ift jedesmal nur ein Beweis, daß
thr das vorhergehende nicht zu tödten gewußt habt. Weil ihr
Spinoza, weil ihr Kant nicht todt zu machen mwußtet, fo ftehen
fie immer auf's Neue auf, und die Geifter wachfen am Ende jo
an, daß fle euch erdrücken. Und meint nur nicht, daß ein frifcher
und entfchiedener Menſch ſich im Geringften bange machen lafſſe
durch die unfehlbare Gewißheit, daß auch die jetzige Geifteägeftalt
eine vorübergehende fein, daß die Zukunft neue, vollfonmenere
Berwandlungen bringen müfle. Der Lebende hat Recht; Pie Zu=
kunft fennen wir nicht; wir find an das gewieſen, was bis jet
erreicht ift, mas bis heute als die höchfte Leiftung, die ihr mög⸗
lich war, auf den Schultern ver Vorzeit die Zeit zu erringen vers
mochte. Sp lange es offene Köpfe gab und ſtarke Dienfchen,
haben ſie ohne Scheu das Jetzt ergriffen, haben ſie in der Wiſ⸗
fenfhaft dein neueften Syfteme gehulbigt. Und die Anderen , bie
das nicht wagten, was haben fie erzielt? Sich außer der Modes
Philoſophie erhalten! Machen Sie mir, Schneider, einen Rod,
aber nicht nad) der jehigen Mode; ich will die Mode nicht mit»
machen. So bringt er mir einen Nor, ver ift aber nicht über
und außer der Mode (giebt ed denn einen Rock an fih?), ſon⸗
dern er iſt auch nach einer, nur nach einer alten, und ich habe ge-
wonnen, daß ich die Mode des vermichenen Jahrzehnds an mei⸗
nem Leibe al3 meine Diode aufftelle, was ja lächerlich ift und in
fih widerſprechend, denn ich trage einen neuen alten Rod. Das
139
Beiſpiel iſt höchſt unwürdig, ich rede die Sprache und in dem
Bilderfreife der Gegner. ° E
Aber die Gefahr! die Gefahr! Diefe Jünglinge follen auf
die Kanzel! Wohin fol es mit der Kirche fonımen? Hier find
wir denn am Sitze der Frage.
I, Hefleriom -
Was ift denn überhaupt die Stellung ver Wiffenfchaft zum
Leben? WIN ſie unmittelbar aus ihrer Begriffswelt in dieſes ein-
greifen, um e3 zu reformiren? Diejenigen Zweige der Wiffen-
[haft haben allerdings dieſe Abſicht, die ih unmittelbar mit
- einem beftimmten empirifchen Stoffe befchäftigen,, wie Medicin,
Rechts⸗ und Stantöwiffenfhaft. Zwar auch fie haben einen eſo⸗
terifchen Theil, die erfte den Begriff des Organismus als höch⸗
fie8 Product der Natur, die beiden andern die Idee des Staats.
Dies tft die leitende Seele, die der verworrenen oder formaliſtiſch
redigirten Maſſe der hiſtoriſchen Stenntniffe, der unmittelbar em⸗
piriſch anwendbaren Sätze und Erfahrungen eine legte innere
Einheit giebt. In der Anwendung felbft aber wird dieſe höchſte
Idee nur in feltenen Fällen direct herwortreten Eünnen. Denn ab»
gefehen davon, daß der Handelnde felbft, bei einem gemöhn-
lichen Maße von Intelligenz, es fehwerlich immer vermag, den
vorliegenden Stoff mit feinem Ballaſt biftoriicher umd anderer
ſcheinbar zufälliger Bedingungen unter den Begriff zu fubfinniren,
wird fich in den meiften Fällen ſchon die Natur des Stoff gegen
ein Geltendmachen der legten und tiefiten Gründe fträuben. 3.9.
ed handelt ſich um ein Strafgeſetzbuch; welch’ ſchlechten Beifall
pflegen bei der Debatte über die oberften Grundfäge, nah denen
140
‘
die einzelnen Geſetze beftimmt werben follen, Redner zu finden,
bie nicht allerhand eroterifche Standpunkte, fondern den wahren
Begriff des Verbrechens umd der Strafe geltend zu machen fuchen!
Wie wenige Kranke Fönnten e8 ertragen, wenn ihnen der Arzt
Rechenſchaft geben wollte über die Natur des Organismus, ben
Zuftand der ihrigen, fein Heilverfahren! Vielmehr täufchen muß
er fie oft genug, nicht nur im Dunkel laſſen, um ihnen nit
Grauen zu erregen und dadurch feine Eur zu flören. Unter den
Wiſſenſchaften, die fich geradezu mit dem Höchſten befchäftigen,
fcheint die Theologie die Stellung der eben genannten Disciplinen
zum Leben, die unmittelbar praktiſche Beftimmung nämlich, zu
theilen, da ihre Schüler beftimmt find, in der geiftlichen Erziehung:
bed Volks fofort in Anwendung zu bringen, was fle erlernt ha⸗
ben. Worin befteht nun aber diefe Anwendung? Soll der Stoff
des Glaubens im Bernußtfein des Geiftlichen und der Gemeinde
ganz derfelbe fein und die Tätigkeit des erfteren etwa nur darin
beftehen, daß er ihn ſtets new beleuchtet und an's Herz legt?
Man giebt etwa zu, er müffe eine vollftUndigere Kenntniß ſeines
Umfangs, Elarere Einficht in feine Grunde , feinen Zuſammen⸗
bang, feine Gonfequenzen haben, und mie fonft dieſe unklaren
Gomparative lauten mögen. Uber ſchon damit ift eingeräumt,
daß der Stoff in feinem Bewußtſein nicht ganz derfelbe ift; Hat
er eine „klarere“ Einfiht in feine Gründe u. f. w., fo hat fi
ihn bereitö auch der Inhalt in einen andern verwandelt. Nur
wer Die wunderbare Gabe hat, ſich einzubilven, daß in geiftigen
Dingen eine Thätigfeit in Beziehung auf einen beftinnmten Inhalt
denkbar fei, die um ihn herumgehe, feine Außenwerke verändere
u. ſ. w., ohne daß dadurch das Innere der Sache irgendmie bes
141
rährt werbe, wie man ein Buch neu einbinbet, wird das glau⸗
ben können. Ein rationell geftügter und entwickelter Glaube iſt
on Fein reiner Glaube mehr. Damit iſt zwiſchen Volk und
Volkslehrer ſchon ein ſpecifiſcher Unterſchied des Bewußtſeins ein⸗
getreten, mag dieſer ſich deſſen bewußt ſein oder nicht. Nun
haben wir aber noch gar nicht in Berechnung genommen, daß
das theologiſche Studium in die Länge unmöglich ven Einflüfſen
nicht bloß des begründenden Verftandes überhaupt, fondern auch
der eigentlichen Philofophie ſich entziehen Eonnte, wie fa dies
gemäß ihrem Verhaͤltniß zu einer Wiffenfchaft, mit ber fie dem
wichtigften Theil ihres Inhalts gemein hat, gar nicht anders
fein Eonnte. |
Die Philofophie, dies Gehirn und Rückenmark aller akade⸗
mifhen Studien, ift es nun, deren Stellung zum Leben über«
haupt zu betrachten ift, um in unferer Sache Licht zu befommen.
Sie will das Sein, was vor ihr und ohne fie da iſt, in ein
Wiſſen verwandeln. Die Vernunft, diefelbe, die in der Natur
bemußtlos , in der Menfchenwelt mit einem Bewußtſein, aber
einem unvollfommenen , dunkel fuchenden und über Princip und
Ziel unklaren, baut und wirft, will in ihr mit vollem Bewußt⸗
ſein ſich die Anſchauung ihrer ſelbſt geben. Die Welt kann am
Ende ohne Philoſophen beſtehen, und hat ſie nie leiden können.
Sie friftet ihr Leben hinreichend in dem Dänmerfcheine zwifchen
dem dunfeln Wahrheitätriebe mit feinem gefälligeren Bruder, dem
Irrthum, und den vereinzelten, gebrochenen Strahlen wirklichen
Wiſſens, die man Marimen, Grundfüze, Blicke in u. f. m.
nennt, und braucht fie je zuweilen eine hellere Leuchte, fo trägt
fle ver Genius, der Held oder Dichter, dem auch ein Inſtinct,
142
obwohl ein höherer und vom Gotte gegebener, den Weg weit.
Iſt aber dem Philofophen wirklich ein Raum gegönnt, zu bauen,
zu wirken, zu erziehen: darf er denn jemald mit der Thür in's
Haus fallen? Muß er mit feinem Beften und Klarften nicht hin⸗
ter den Berge halten und ironijch verfahren, wie Sofrates?
Darf er denn auf dem Markt ftehen und fehreien: eure Welt
fteht auf dem Koyfe, der gemeine Verftand fieht die Dinge ver⸗
fehrt? Muß er fich nicht vielmehr den Schein geben, als fei er
Eined Glaubens mit der Welt, und langfam, unvermerft aus
dem Irrthum die Wahrheit entbinden? Ich rede nicht von dem
Gebiete der Wiffenfchaft, da muß Freiheit fein und unummwundene
Aufrichtigfeit ; fondern von irgend einem praktiſchen Eingreifen.
Wer ein Kind erzieht, muß ihm doch gewiß viel verſchweigen,
ja er muß ed in manchen Dingen wirklich täuſchen; der Philo⸗
ſoph kann aber der Menſchheit alle Ehre geben, ganz demüthig
feine Schranfen anerkennen, dabei bleibt gegenüber feinen Den
fen über die lebten Gründe, dieſem höchſten Thun des Geiftes,
der Nichtphilofoph immer ein Kind, ein Unmündiger, man fage,
was man will. Dean fpreche mir nur nicht? von Mebermuth, ich
könnte fonft von der Frechheit etwas ſagen, über vie Philoſophie
reden zu wollen, ohne fie ſyſtematiſch in ihrer ganzen Entwids
lung ftudirt zu haben. Es kann fi ogar treffen, daß ein Phi⸗
Iofoph im Praftifhen wie ein Kind ift, und jenes Verhältniß
bleibt doch daffelbe. Die Gabe ver Application, der Vermittlung
ziwifchen dem reinen Denken und den Leben ift eine perfünliche,
und darf dem Theologen allerdings fo wenig, als jeben zu einer
beftinnten Lebensthätigkeit Berufenen fehlen.
143
Um num auf bie Theologie zurückzukommen, fo muß ich als
anerfannt vorausſetzen, daß die Zeit gefommen ft, wo dieſe
fich einer bis in's Mark eindringenden Sättigung mit der Philo⸗
ſophie nicht länger erwehren kann, wo man endlich einſehen
muß, daß es nicht zwei Wahrheiten giebt, eine-natürliche und
eine genffenbarte. Ich bin es ja nicht, der es behauptet, ſondern
bie Geſchichte. Wer mit ihr ftreiten mag, den beneide ich nicht
um feine Siege. Der Theolog num ala Philoſoph will zumächft
offenbar nicht Anderes, als was die Philofophie an fih will:
in’8 Licht des Gedankens erheben, was ohne ihn da iſt. Sein
Gegenftand ift der religiöfe Volksglaube, er wandelt ihn in ein
Willen, das ift fein geiftiges Bedürfniß. Wen der Glaube als
Glaube genügt, mer dad Wiffen nicht will, nicht ertragen Tann,
dem will er es nicht aufprängen, dem läßt er den Glauben. Aber
wie? Gr hat fa eine ganz andere Aufgabe, als der Philofoph ;
er fol ja nicht in diefer abftracten Einſamkeit fich abfchliegen, er
fol lehren, erbauen, er fteht mit feinem Wiffen zu dem Glau—
ben der Maffe in einem gegebenen praftifchen Verhältniſſe. Jetzt
fönnten wir einfach jagen, er läßt der Maſſe ven Glauben, für
ſich behält er das Wiſſen, und fucht, daß fo viele Strahlen des
letzteren in den erfteren eindringen, ald möglich ift, ohne feine
Natur aufzuheben. Er fucht den todten Glauben zum inneren
2eben in den Gemüthern zu geftalten, das ift auch Philofophie,
das ift die Form, in welcher er ihm das Gtoffartige nehmen
fann, ohne ihn zu dem Mebergang in eigentliche Philofophie, wo
- folcher einmal nicht möglich ift, zu nöthigen; nur fagt er ed nicht
heraus , daß die Wahrheit gar nicht im Stoffe liegt, ſondern er
läßt dem vorftellenden Bewußtſein vie Meinung, daß ihm Beides
144
Bleibe, ber Stoff als Wahrheit und die Umwandlung beffelben
in inneres Leben. Nur damit es in feiner Verwechslung der Idee
mit Stoffen nicht zu craß werde, hält er c8 an einem gelinden
Zügel und führt es leiſe, unvermerft, wo und fo weit e8 angeht,
in dad Wiſſen, wenigſtens in eine Ahnung des Wiſſens hinüber.
Er predigt nicht: es giebt Feinen Teufel, denn dad Volk hat fich
einmal in diefer Figur die Idee des Böſen hypoſtaſirt; er legt
ihm nur an’8 Herz, daß der wahre Sitz dieſes Teufeld im In⸗
nern eined Jeden iſt. Da mag denn außerdem ſich nod extra
einen Teufel an die Wand malen, wer dad Bedürfniß bat. Er
predigt nit: es gab Feine Wunder, er leitet nur barauf bin,
daß die wahren Wunder die geiftigen find. Da mag denn außer»
dem noch extra glauben, daß Trauben auf Tannen wachſen kön»
nen, wer dad Bedürfniß hat. Er predigt nicht: es lebte Fein
bifterifches Individuum, das von den weſentlichen Schranken ber
Individualität frei geweſen wäre, fondern er fagt nur:
cr CHrifiud taufendmal in Bethlehem geboren,
Und nicht in dir, du bleibſt doch ewiglich verloren.
Man erklärt diefes Fürfichbehalten der Idee für Heuchelet, man
behauptet, das Verhaͤltniß zur Gemeinde fei dadurch aufgehoben.
Vielmehr wahrhaft begründet tft e8 erft dadurch. Der Päpagog
fteht zu feinem Zögling im Verhältniß einer fittlichen Lift; wie
kann er ihn erziehen, wenn er feine Kindervorftelungen theilt ?
Er widelt ihm die Wahrheit darein. Iſt denn aber dad Vo
mündig in der Anfiht von metaphäfifchen Dingen? Wen kann
es im Ernfte einfallen, das zu behaupten? So geftellt ift der
Geiftliche erſt wahrer Prediger und Volkserzieher, da er nicht
mehr im Stoffe verſtrickt iſt mit denen, die er erziehen ſoll, ſon⸗
145
dern frei darüber ſteht. Wie kann z. B. der Geiſtliche, ber einen
Teufel glaubt und Wunder für möglich hält, mit irgend einigem
Erfolg gegen den Aberglauben an Zauberei previgen? Gr mag
hundert Mal fagen, Gotte8 Weisheit und Güte könne fo etwas
nicht zulafien: er gibt zu, daß die Naturgeſetze nicht feft find,
bag es eine böfe Macht gibt, die fie zu verderblichen Zwecken
durchbrechen kann, da ift das Princip und die Möglichkeit ein⸗
geräumt, und die guten Gründchen, die er gegen bie Wirklichkeit
vorbringt, wiegen keinen Strohhalm. Mindeſtens ſeit Kant auf⸗
getreten iſt, wird man nicht leicht einen Theologen finden, der
fi nicht in irgend einer Differenz mit den kirchlichen Volksglau⸗
ben befände, und Eine fchließt alle in fih. Ausgefprochene Ra⸗
tionaliften aller Syrien, . landkundige Kantianer find von allen
deutſchen Regierungen ohne Bedenken auf Ranzeln, in Confiſto⸗
rien, in jedes geiftliche Amt zugelaffen worden. Es ift aber be⸗
fannt, daß der Kantianismus, der Nationalismus überbaupt
ganz anders, als die fpeculative Theologie mit dem religiöfen-
Bolföglauben unfprang, daß er ihm ganz unfanft weientliche.
Dogmen geradezu wegnahm, die übrigen ebenfalls ohne Compli⸗
mente für bloße Vehikel einiger moralifchen Lehren erflärte. Man,
hat darüber geſchrieen, ich weiß es, aber nur eine Partei, nicht
freifinnige Laien, nicht erleuchtete Staatsmänner. Verlegenheit
freifich, Noth gab ed immer, daß ed mit der Wiſſenſchaft nie
recht ind Geleife Eommen wolle in ihrem Berhältniffe zum Kir⸗
chenglauben. Nun Tommt endlich eine Philofophie, hie findet:
das edelſte und zugleich gelinbefte Mittel, der Noth abzubelfen,
die erfennt ven ganzen ſchoͤnen Gehalt des Glaubens an und weiß
Aushilfe, nicht heuchleriſche, nein wahre, aufrichtige, liebevolle
Aruiſche Gänge. 10
146
Aushilfe für die Differenz de6 Bewußtſeins, das fich zu dieſem
Gehalte eine andere Stellung gibt, und nun — fteht die halbe
Welt in Flammen und fehreit Die Kirche um Hilfe, als läge ſie
in den Testen Zügen! Wie ift das zu erflären? Man muß den
Beunrubigten ven eigentlihen Grund ihrer Aufregung , den fie
nicht zu fagen gewußt haben, — denn waß fie bis jegt vorge⸗
bracht haben, fol doch nicht von Gewicht fein — erft leihen.
Der Rauonalismus ſchien weit unfchuldiger , denn die Dogmen,
d. h. die durch eine Miſchung mit Hiftoriihem Stoffe zu Glau⸗
bensfägen gewordenen Ideen, galten ihm noch immer für fefte
Dinge und Sachen, die allerdings hiftorijch gewiß bleiben, nur
neu zu erklären foien. Dieſes Stoffartige hatte er mit dem Volks⸗
glauben gemein. Iebt aber hat das durchgedrungene Princip des
freien Denkens alle diefe feften Pflöcke flüffig gemacht und heraus
geſchwemmt, nnd das fo befreite Bewußtſein, das den ganzen
Stoff vor ſich nimmt und als ſolchen, als bloßen Stoff nirgends
mehr gelten läßt, fondern auf reinen Gedankengehalt reducirt,
gilt Jedem, der nicht auf dem Wege zufammenhängenber ftrenger
philoſophiſcher und Hiftorifcher Studien dieſes Nefultat felbft hat
entftehen ſehen und ſelbſt für fie erzeugt, für ein frevelhaftes,
som Volke, vom Hauben abgefallenes. Es war ja vor Allem
mit dem Begriffe Gottes fo; diefer auf Lenken und Leiten bes
ſchraͤnkte Gott war fo gut als Feiner, wohl aber gerabe durch dieſe
Berfegung in ein Jenſeits ein fefter, hanpgreiflicher Stoff. Die
Eiſſenſchaft fordert einen Gott, der wirklich unſichtbar, allge
genwartig ift, und man fehreit, fie habe keinen mehr, denn das
gemeine Bewußtſein will etwas Feſtes und Solides, eine rechte
Sand voll, wie die Bauern im Schwarzwald das Kupfergelb dem
147 =
S
Eilbergeld vorziehen, weil fie jenes in ihren ſchweren Händen
nicht fühlen. Mit dem Supranaturalismus war ed um fein Haar
anders, er forderte einen miraculös hereinbrechenden Gott, weil
er Teine andere Gegenwart Eannte, und ihn für den ganzen übri⸗
gen Weltverlauf ebenjo in ein Jenſeits verwiefen Hatte, mie einen
Stoff, ein Stud Materie, das mit einem andern Stud Materie
nicht zugleih in demjelben Raum fein kann, fondern dieſem erft
einen derben Puff geben muß, wenn es fih Platz machen will.
Kurz ed war der grobe Materialismus, die Sinnlichkeit in beiden
Standpunkten, was der geiftigen Anſicht einen Krieg auf Tod
und Leben erflärte, vor der Welt aber, wie fie einmal ift, als
Slaubendtreue und ächter Gehalt erſchien.
Da nun aber gerade das phllofophifche Denken, das mit dies
fem Stoffe nicht mehr verwidelt tft, fondern ihn frei vor ſich hat,
erft feinen wahren Werth und feine Nothmwendigfeit für das ſinn⸗
ich beflimmte Bewußtfein unbefangen erfennt, fo war pielmehr
wirklih alle Aussicht auf ein ganz friedliches Verhältniß dieſer
neuen Theologie zur Kirche vorhanden. Daß junge Leute vorlaut
und taktlos da und dort den Unmündigen den flarfen Geift des
Denkens einzufchütten verfuchen, ift doch gewiß nicht Schuld der
Philofophie, auf Feinen Fall diefer Philofophie, denn fie gerade
will dad Gegentheil. Allein aus andern Gründen ift es ganz rich⸗
tig, daß jened Verhältniß bereit ein ganz geſtörtes und getrüb⸗
tes iſt.
Strauß wollte Fein Volksbuch ſchreiben, man weiß ed, und er
bat auch Feines gefchrieben. Dem Volke find feine Unterſuchungen
böhmifche Dörfer, kein Menfch dachte daran, dieſem feinen harm⸗
Iofen Glauben zu nehmen. Uber der Pietismus hat dad Volt
ur 10 *
148
aufgeftört, die Brage vor das incompetente Publicum gezerit, bie
Gewiffen beunruhigt und Mißtrauen gefät. Bei einem Geiſtlichen
in Stuttgart fol eine Wafchfrau fih zum Nachtmahl angemeldet
haben, er fragt nach ihren Namen, ed ift eine Frau Strauß. „Doch
nicht verwandt init dem berüchtigten Irrlehrer?“ Die gute Bram
hatte von dem fatalen Namensvetter Fein Wort gewußt und mußte
jebi hören, welch fchlimme Makel an ihrem ehrlichen Namen hänge.
Sp verbreitet der Pietismus das Reich des Herrn. Bekannt iſt
und vielfach mit gerechtem Abfcheu gezeichnet, welchen defatorifchen
Charakter derfelbe neuerdings wieder (denn es ift eine alte Liebe
von ihm) angenommen bat. So und nicht anders iſt dad Ver
fihleppen unzuſammenhängender Stunde über geiftige Tendenzen
aus den Kreije wiſſenſchaftlicher Bildung vor einen Nichter, der
über ihren mahren Inhalt durchaus Fein competentes Urtheil ha⸗
ben und nur Böfes, zur Verfolgung Reizendes in ihnen ſehen
kann, zu nennen. Dieſer Richter iſt das Volk, Tractätchen und
eine Art von Journalen find feine Organe, die mit großer Popu⸗
Yarität namentlich in den untern Kreifen circuliren, und Verwir⸗
rung und Verhetzung in die frievlichen Hütten tragen. Cine foldhe
Kreuzfpinne weht bei uns unter dem Namen Chriftenbote. Se
bat ſich, fo wie file ſchon Märklin’g Werk über ven Pietismus mit
der gewohnten Taktik anzufündigen wußte, auch beeilt, die Dogma»
tie von Strauß ihren Leinemebern, Weingärtnern, Bauern anzuges
ben. In kurzen, nadt abgeriſſenen Sätzchen iſt das Buch hier
excerpirt, wie folgende: ,„$$. 7 — 19. Eine Offenbarung im ei»
gentlihen Sinne gibt e8 nicht, fondern der menſchliche Geift Hat
jeine religiöfen Erzeugniffe früher irrthümlicher Weife einer höhes
ten Einwirkung zugefchrieben, jet aber erfannt, daß dieß feine eis
149
genen Erzeugnifie find. — $. 14. Die göttliche Eingebimg ver
beifigen Schrift ift ein purer Irrthum, die heilige Schrift ift viel»
mehr um nichts beſſer, al8 andere menſchliche Schriften. — $. 15.
Ein Gotteswort gibt es nicht, fondern der Menſch ift auf feine
Bernunft angewieſen. — 65. 34 — 41, Es laſſen fi Gott
überall Feine Eigenſchaften beilegen u, ſ. w.“ Daß biefe Säge jo
hingeſchleudert, Berausgezerrt aus der Weltanfchauung, ber fle an«
gehören, und worin ihr negativer Charakter feine pofltive Ergän⸗
zung bat, in ein fremdes Bewußtſein Hineingerworfen, dem jede
Handhabe fehlt, fie in dem Sinne zu begreifen, den fie in einer
auf der Arbeit von Jahrtaufenden wurzelnden Gedanfenwelt ha⸗
ben, Entſetzen, VBerftörung, Grimm erregen müfien, iſt von dem
Verf. ſehr wohl erwogen und berechnet. Märklin, ber in feiner
Diöcefe zu Calw durch Humanität, unermüdlichen Eifer für bie
Pflege des allſeitigen geiftigen Wohls der Gemeinde, durch Her⸗
vorrufung und aufopfernde Unterſtützung verſchiedener wohlthaͤti⸗
ger Anſtalten, durch wahre Vaterſorge für die ihm anvertrauten
Gemuͤther ſich das Vertraucn und den Dank aller Unbefangenen
erworben hatte, wurde durch die unabläffigen Operationen ber
Bietiften gegen ihn in eine folche Kette von Berftimmungen hinein»
gezogen, daß er feine Yusfaat verlaffen mußte, da fie eben Früchte
verfprad. Was anders? Es mag ja Einer den lebten Bluts⸗
tropfen hinzugeben bereit ſein für das Gute und Rechte, aber er
glaubt nicht, daß Wein aus Wafler geworden, fo ift er eben des
Teufeld. Demſelben Schickſale ſieht jet Jeder entgegen, den ernfte
Studien auf den gegenwärtigen Standpunkt der Wiſſenſchaft ge⸗
führt haben. Er kommt als Geiftlicher zu einer Gemeinde, er=
wirbt ſich Liebe und Vertrauen der Gemüther und führt fie fachte
150
zur Wahrheit, wie fle dieſelbe bebürfen und ertragen Fönnen. Nun
will er aber nicht verbauern, er feßt feine Studien fort, fehreibt
vieleicht etwas, feien es nur Auffäge in Zeitichriften: fo ſchleichen
die Pietiften und ihre Organe herbei und rufen: traut eurem Pfar⸗
rer nicht, er glaubt einen Gott, Feinen Chriſtus u. 1. f. Der gif-
tige Same geht auf, und der Pfarrer Fann abgehen oder, wenn
er bleiben muß, bet einer Gemeinde bleiben, bie ihm ihr Vertrauen
entzogen bat. — Dies find die Früchte des Pietismus.
Die Regierungen fehen in dem Kirchenglauben bie feftefte
Stüße der öffentlichen Ordnung. Wie freifinnig fein Standpunft
fein mag, der Staatsmann hat die nöthigen Studien nicht ge=
macht, den wahren Beftand ver Sache, der aus der Vogelper-
fpertive gar nicht entdeckt werden Tann, einzufeben, und leiht leicht
den Beſorgniſſen derjenigen fein Ohr, welche, wenn nicht gefähr-
liche Aufregung des Volks, doch Scandal als die unwermeidliche
Folge der Anftellung von Theologen der modernen Denkart dar⸗
ſtellen. Sein nächfter Anftoß jedoch ift der Widerſpruch, der für
ben verfländigen Stanppunft darin liegt, daß Jemand Diener ei-
ner Kirche bleiben folle, deren Fundamentalfäge er nicht anzuer-
fennen Öffentlich befannt hat. Daß er fle nicht anerkennt, würde
an fich nicht binreichen, ihn zu entfernen, denn jede billige Regie⸗
rung wird fi erinnern, wie viele Hundert notorifhe Rationali-
ften fie angeftellt hat und noch heute anftelt. Daß er viele
Abweichung öffentlich ausgefprochen hat, Died würde ihn auch noch
nicht flürzen, denn Hunderte der notorifhen Rationaliften haben
in hundert Journalen, Archiven, Magazinen u. f. w. noch viel
unfirchlichere Dinge gefagt. Was flürzt ihn denn? Das Gefchrei,
dad von der Sache gemacht wurde und dad dem Staatömann
151
Rädfihten aufnoͤthigt. Alſo wer hat ihn geftärzt? Die Schreier.
Und wer find die Schreier? Nun, wir wiflen ed fa, es find die
Kinder Gottes, es find die Jünger der Liebe und des Friedens.
In Preußen hat der Pietismus fich directer an bie politifche
Seite gehalten, und iſt mit Waffen hervorgetreten, benen gegen⸗
über es nur erlaubte Nothwehr ift, wenn man einmal hervorhebt,
Daß vielmehr der Pietismus in feinem innerften Weſen revolus
tionär if. Wie ihm die ganze weltliche Ausbreitung menſchlicher
Kräfte nur fo viel Geltung und Erlaubniß der Eriftenz hat, als
fie direct und buchſtäblich fih auf das jenſeits vorgeftellte Gött-
liche bezieht, fo ift ihm auch der Staat, wie er nach ſchweren
Kämpfen mit der Hierarchie als rein menſchliche Anftalt aus ber
Vernunft fich gegliebert hat, confequenter Weile eine ungoͤttliche
und unheilige, ſubſtanzloſe Exiftenz, Man laͤßt ihn ſich gefallen,
da man zufällig in ihm geboren tft, ungefähr wie die Kunft, bie
einmal da iſt und fich die Kreiheit genommen hat, aud) die Schön
heit diefer fündigen Welt zu ihrem Stoffe zu erheben, ohne die
Bietiften lange zu fragen. Breilich kann man fich gegen die leztere
leichter auflehnen, da fle über Feine Bajonettezublöponiren hat. Wahr⸗
haft aber berechtigt zum Herrſchen kann confequent nur diejenige
weltliche Exiſtenz fein, die in der ausdrücklichen Weiſe, welche
der Pietismus fordert, Gott allein die Ehre giebt. Was aus der
Welt und Sünde ift, wie fol dem der Scepter gebühren, das
weitgreifende Inftrument, das troß aller Verſchanzung durch Ver⸗
träge auch über die Kirche fo große Macht bat? Ich verwahre -
mich dagegen, daß ich behaupte, der Pietismus Habe diefe Con⸗
fequenzen bereitö gezogen; aber man beweiſe, daß fie nicht im
Prinzip liegen. Der Staat ift aus dem freien Gedanken, cine
132
Gliederung ber durch den Verftanb vermittelten Vernunft, derſel⸗
ben, aus welcher bie Wiſſenſchaft mächft. Ihm fcheint die Wiſſen⸗
ſchaft gefährlich, weil fle an Allem zweifelt; aber fie zweifelt, um
defto feiter zu begründen. Man Tann etwa fagen, zwar nicht der
Pietismud, wohl aber der unbefangene Bolföglaube fei eine
Stüße ber Throne. Allein es it bekannt, wie Weniges und Un⸗
genügendes die heilige Schrift über- den bürgerlichen Gehorſam
fügt, wie fle ihre abrupten Säge hierüber ohne alle Begründung
und Entwicklung hinſtellt. Der wahre Gehorfam aber beruht
auf der Einfiht in die Nothwendigkeit des Staatdorganismuß,
welche allerdings in ihren wefentlichen Argumenten auch bein ge⸗
meinen Manne beigebracht werden kann. Wo flcht denn aber
geſchrieben, daß ein der modernen Wilfenfchaft zugethaner Gelft-
licher dies nicht eben fo gut, ja beſſer als ein Autoritätsgläubiger
zu thun vermöge? Ganz anders freilich ſteht es mit dem Kunſt⸗
glauben (man erlaube das Wort, mie man eine Kunft» und
Bolföpvefle unterfheivet). Hat diefer etwa den franzöflichen
Thron geftügt? Nein; zugleich mit den politiſchen Greueln waren
es bie unerträglichen Anmaßungen ver Kirche, welche als noth-
wendige Reaction des unbefriedigten Geiftes die-fchlechte Philoſo⸗
phie, wie der abftracten Freiheit und Gleichheit, fo des Atheismus
hervorriefen. Vor dem Sclaven (dem Autoritätögläubigen), wenn
ex die Kette bricht, vor dem freien Menfchen erzittre nicht. Auch
erinnere ich mich nicht, je gehoört zu haben ‚ daß Cromwell ein
Hegelianer war.
Iſt nun durch das ewige Geſchrei, die ewigen Delationen das
Bertrauen des Volks zu Geiſtlichen, deren eſoteriſche Bildung
bie philoſophiſche iſt, geſtört, ſo muß freilich auch der Wiſſenſchaft
159
die Luft und Liebe zu jenem Kreife von Vorſtellungen vergehen,
die ihr fonft die vertraute Unterlage ihrer Ioeen darbot. Wir
wollten Friede, wir haben nicht herausgeforbert, die Gegner
durften. nur die Verſchiedenheit der Bedürfniſſe anerkennen, mie
wir; aber fie ruhten nicht, bis die Sache verberbt und verhebt
war, denn ohne Negation hat der Zelot Feine Lebensluft. Der
Philoſoph kann nicht mehr die harmlos fehöne Bilderwelt des
Glaubens, den Traum feiner eigenen Kinvheit Tieben; er muß
diefen Boden haſſen, denn er ift der Schooß des Fanatismus, er
iſt die Höhle, worin die MWölfin der Unduldſamkeit mit bem
feheußlichen Geifer der Verfolgung vor dem gefletfehten Gebiß auf
Beute für fih und die gefräßigen Jungen lauert. Das Gefühl
ber Gemeinſchaft mit der giftig aufgeftörten Maſſe tft ihn aus der
Seele gerifien,. er kann nur münfchen, daß eine Scheidung je
bäfber; je lieber erfolge, und muß ſich glücklich fühlen, wenn ihm
feine. Lage geftattet, aus dem Dienfte der Gemeinfchaft zu treten,
bie feine edelſten Bemühungen mit Undanf und Mißtrauen bes
lohnt. 0 Ä Ä
Schluß.
Man fieht, es find nicht nur bie Keime einer Krifls da, fon»
dern fie iſt fhon im vollen Werben begriffen. Kann man denn
aber unthätig zufehen? Was fol denn nmım gefchehen? Wie
rathen und helfen? Die Pietiften heben? Keine erleudhtete Re⸗
gierung wird das wollen. Jene gemäßigte Mitte zwifchen Glauben
und Willen zur halten fuchen? Aber fie tft ein Unding und Im
Ausfterben begriffen. Die Mythiker zu keinem Kirchenbienft zu-
laſſen? Ich will nicht von der’ Unbarmherzigkeit veben, welche
154
dadurch dem Jüngling jede Ausſicht abſchneidet, ber ſich zum
Studium der Theologie entſchloſſen hat, ehe er dieſe Kämpfe der
Zeit kannte, dem die Mittel fehlen, eine neue Laufbahn zu betre⸗
ten, nicht von der Verſuchung zur wirklichen Heuchelei, welche
dadurch dem Schwachen bereitet wird, ſondern vom Bedürfniß der
Gemeinde ſelbſt.
Iſt es denn wirklich das ganze Volk, das noch feſt im alten
Kirchenglauben wurzelt? Unbedingt wird man es nur vom Bauern⸗
fand behaupten können. Der Stand der Handwerker, deſſen
Arbeit jchon an ſich mehr Vermittlungen ded Verkehrs voraus⸗—
jeßt, mehr Bewußtſein der Selbfithätigkeit mit ſich bringt und
mehr Umgang mit den gebifveten Ständen, hat längſt begonnen,
fih vom heteronomifchen Glauben zu emancipiren. Er ift recht⸗
lich nicht aus Furcht vor Höllenflrafen oder meil es geihrieben
ſteht, daß Unrecht Sünde ift, fondern fihlechtweg, weil es mora⸗
liſche Marime ift, von der er fich gelegentlich ſelbſt die inneren
Gründe anzugeben ſucht. Allgemeine Grundſätze, ſprichwoͤrtlich
zufammengefaßt, find fein fittliher Compaß; meil e8 an ſich ver-
werflich ift, verwirft er das Böfe; meil ed an ſich gut, billigt er
dad Gute. Damit vereinigt er beiläufig, ohne die Inconfequenz
einzufehen, Reminifcenzen aus dem Autoritätäglauben. Der Kauf
niann iſt längſt darüber weg, nur zu fehr, indem er im Allge⸗
meinen die abgetretenen Grundfäge der feichten Aufklärung unb
des franzöflichen gefunden Menſchenverſtandes in der Meinung,
daß dies das Neueſte fei, noch vorzubringen liebt. Uber der
Beamtenſtand, der Stand aller derjenigen, bie ftubirt haben, mo
ift denn fein Kirchenglaube? Ich weiß nicht, wie es anderswo
it. In Preußen z. B. ſoll man noch ſehr Eirchlich fein. Im
155
Samburg und Bremen intereffirt fih dad ganze Publicum für
den tragifchen Kampf eines Supranaturaliften und Rationaliften.
In Deftreih und Baiern habe ich biefen Stand im Durchſchnitt
ber Aufklärung zugethan geichen, die Längft mit der Kirche ge=
brochen bat. Für Württemberg aber wette ich mit Beſtimmtheit,
baß es fehr ſchwer fein wird, unter Hundert Einen au zählen, ber
bie. Kicche befucht, der zum Abendmahl geht, der zum Tiſche
betet. Ich frage z. B. meine verehrungswürdigen Herren Gollegen |
in Tübingen, Hand auf die Bruft, wie weit fich bei ver Mehrzahl
von ihnen die Localfenntnig von den Bänken erſtreckt, welche in
ber hieſigen Kirche den Profefforen zugewieſen find. „Verderbniß
der Beit.u Iſt leicht geſagt. Kann man denn wirklich glauben,
daß dieſe Taufende, da fie dieſen Troſt der Seele und biefe
Quelle der Sittlihfeit nicht mehr haben, darım von Gott und
allem Guten und Seiljumen verlaffen fein? Hat man denn gar
nicht auch nur eine Ahnung, daß, da fie ed ohne Halt und
Stab ihrer Seele nicht aushalten Fünnten, da doch anerkannt fo
viele treffliche und verdiente Männer unter ihnen find, fie offenba:
etwas Anderes haben müſſen, was ihnen für jene aufgegebene
Stüge Erſatz giebt? Wird man denn auch nie einfehen, daß eben
das Abweichen des größten, des. gebilbetften Theils der Völker
von dem Tirchliden Glauben ſchon an ſich ein Beweis feiner Un»
zulänglichkeit für den Geift der Menſchheit ift? Und nun fol viele
große Anzahl achtungswerther Menfchen erleben, daß bie Kirche
diejenigen ihrer Diener ausftößt, welche, wie fie, rationell venfen
und Kinder des Jahrhunderts find. Gewiß find nicht Wenige
unter ihnen, die ihre Zweifel am Kirchenglauben nech nicht Har
in ſich verarbeitet haben, und denen ed zur Beruhigung dient, in
156
der Kirche Männer angeftellt zu ſehen, die das Clement ihrer
Bildung Innerhalb dieſer veligiöfen Gemeinfchaft ſelbſt vertreten,
und bei denen Math zu holen iſt über bie ſchwere Frage, wie man
im Grunde bed Gemuͤths das wahre Weſen des Chriſtenthums
treu. hegen könne, ohne feinen Formen zugethan zu fein, Run
wird ihnen diefe Beruhigung entzogen, und fie fühlen ſich der»
jenigen Gemeinſchaft vollends entfrembet, weiche die Geftalt einer
Bildung nicht in ihrem Schooße ertragen will, die mehr ober
minder entwicelt auch die ihrige tft; und fo hat die Kirche mit
biefen ihren Dienern zugleich einen großen und achtungswerthen
Theil ihrer Gemeinde vollends von ſich geftoßen. Es wird Ihr
geben, wie der katholiſchen Kirche, welche die Neformation, die
ja anfangs nur eine Verbeſſerung innerhalb derſelben bezweckte,
nicht zu ertragen vermochte und ſich dadurch um nichts weniger.
als die ſinnreichſten Völker ärmer machte.
Was aber denn? Man wäre denn doch darauf reducirt, ut
Anftellung von afabemijchen Lehrern, welche die gerühmte Mitte
halten (nicht von Pietiften, wiederhole ich, denn ich rede ja immer
von einer billigen und liberalen Regierung), der ſchlimmen Rich»
tung in der Jugend zu fteuern? Aber da müfjen wir eben wieder
fagen und noch einmal fagen, daß bei aller Ueberzeugung von der
anberweitigen Tüchtigkeit, Gelehrſamkeit u. f. w. des Lehrers ſei⸗
nem Verbältniffe zur Jugend der wahre Nerv der inneren Ein⸗
fimmung fehlen wird, das Gefühl, in Einem geiftigen Boden zu
wurzeln, daß der Kern berfelben den nun ohne Führer erft ge⸗
fägrlihen Weg allein gehen wirb. '
Und was folgt denn aus dem Allem? Das folgt, daß es
gegen die große Strömung ber Zeit fein Mittel giebt. Damın
157
und Wehr nimmt ſie mit fih, und es ift feine Hilfe gegen fie,
als mit ihr zu ſchwimmen. Die Lage ift für bie leitenden Kirchen⸗
behörden jchwierig genug, das ifl außer Zweifel. Die Kirche iſt
ein hiſtoriſches Inftitut, als ſolches auf pofltive Lehrſätze gegrün«
bet, und nun wird ber größere, wenigſtens ber talentvollere
Theil der Jugend diefen Lehrſätzen untren. Wie diefen Wider⸗
ſpruch nieten und zufammenfchmeißen? Die württembergifche
Synode Hat neuerlich ein Mittel verſucht. Sie hat an die evan⸗
geliſche Geiſtlichkeit Wirtembergd eine vertrauensvolle Anſprache
erlaffen, welche durch ihren würdigen und humanen Xon alle
Adtung verdient. Daß auf geiftigem Gebiete nicht durch Gewalt,
fondern nur durch geiftige Mittel zu kämpfen fei, wird ald Grund⸗
ſatz vorangeftellt und in der Form freundlicher Ermahnung aufs
gefordert, an dem Gefchichtlichen und Poſitiven des Chriftenthums,
der Berfon und Geſchichte Chrifti, als der Summe bed Glaubend
feflzubalten. Allein, wenn dies nicht der Predigtweije, fondern
der Ueberzeugung ſelbſt gelten foll, wie Fann derjenige, der ſolche
durch Gründe, durch ernftlihe Studien ſich gebildet hat, einer
auch noch jo achtungsmürdigen Ermahnung fie opfern? Er kann
ja nichts dafür, es ift eben fo. Es gäbe ein Mittel, ja. Dan
widerlege jeine Ueberzeugung, man widerlege Hegel, Schleier
macher, Strauß. Aber da fit eben mieder der üble Knoten.
Das ift der ſchlimme Eafus, daß man Keinen findet, der
grundli und unbefangen die Entwicklungsgeſchichte
ver neueren Philoſophie in ihrem Eindringen in die
Theologie fiudirt hätte, ohne für fie gewonnen zu
fein! Wogegen die Widerfacher dieſe Dinge gar nicht oder halb
ſiudirt haben und vom Hörenſagen urtheilen. Es iſt dies hundert⸗
158
mal gejagt, aber mie ſich verfteht, immer in den Wind gefprochen ;
denn das Publicum läßt fih nicht nehmen, über Dinge zu reden,
die es nicht Fennt. Der Troſt aber bleibt uns immer, daß wir
nicht in Rußland, nicht in Deftreich find. Da wäre fihnell gehol⸗
fen: laßt keines diefer Bücher in's Land, verbietet in Vorlefungen
und in den Auffägen ber Stubirenden jede Erwähnung biefer
Ideen, leget Lehrern, die ſchon vom Nebel angeſteckt find, die
ihnen anvertrauten Vorlefungen nieder, Punctum. Aber wir find
nicht in Rußland, nicht in Deftreich.
Wohin arbeitet denn aber die bevorftehende Krife? Zu einer
Trennung in eine fihtbare Kirche von Glaubenven und eine un«
fihtbare von Wiffenden? Allein wirbt die letztere nicht beftändig
aus der erfteren, fo daß alfo dies noch gar fein Refultat, ſondern
erft der Angang der Krije wäre? Stehen nicht die mittleren
Stände ermweislich bereit8 mit dem einen Buße in jener, mit dem
andern in diefer? Noch bleibt der Bauernfland, überhaupt dad
Volk im engeren Sinne. Bier concentriven fih am Ende alle
Bragen: kann und wird eine Zeit kommen, wo auch diefer Stand
der Naivetät des Glaubens entwächft over nicht? Das liegt im
dunkeln Schooße der Zukunft. Und dieſe Inffe man werben und
wachſen in organiſcher Entmwidlung, und hoffe nicht, mit retar⸗
birenden Mitteln in die Räder ihres gewaltigen Schwunges greifen
zu können. Gewiß aber bleibt nur Eines: den gerechten Un⸗
willen aller guten Menfchen verdienen diejenigen, welche gewaltſam
und frevelhaft die file Säftegährung diefer Pflanze, deren Krone
wir noch nicht Eennen, ſei es durch übereilte Befchleunigung , ſei
ed durch bösartige Zerftörungsverfuche , zu verwirren und zu
vernichten gehen. Es ift aber ein Unterſchied zwifchen Beiden.
159
Die Erfteren, ich meine diejenigen, welche den Unmündigen vor⸗
laut dad Willen flatt des Glaubens aufprängen wollen, verdienen
Unmillen und Zurechtweiſung wegen jugendlicher Raſchheit und
Muthwillens (von eigentlicher Brivolität iſt weder bier, noch
überall in dieſer Darſtellung die Rede; ſie iſt gar keine Geſtalt
des Geiſtes, welche ein Glied in den großen Gegenſaätzen des Bewußt⸗
feins bifdet); aber den tiefften fittlichen Unwillen verdienen dies
imigen, welche böswillig durch gehäffige und fehiefe Berichte von
der jebigen Geftalt des theologifchen Wiſſens unter den Unbe⸗
fangenen Mißtrauen, Zwietracht, Unruhe der Gewiffen und den
Geiſt ber Verfolgung ſäen; fie verdienen die eigenthümliche Art
von Abſcheu, die auf dem Baumverderber laſtet.
Ob wohl eine Zeit denkbar ift, mo es eine Kirche im jetzigen
Sinne nicht mehr giebt, fondern der Staat diejen Beſtandtheil,
den er bis jet nur äußerlich in fi aufgenommen hat, ganz zur
Identität mit ſich auflöft? Die Gefahr, daß der Staat die Ge-
wiffensfreiheit beeinträchtigen möchte, würde megfallen, denn es iſt
vorauögefeßt, daß bis dahin der ſymboliſche Stoff in rein geiftige
Gedanken, in Marimen aufgelöft wäre, deren beliebige Faffung
in dieſe ober jene Definition feinen Streit mehr erregen könnte.
Bereinigungspunft könnte nur der Sag fein, daß der Geift und
nicht die Materie das Wahre, nur in ihm das fittliche Leben fel. -
Dover Tann man denn nur über einen biblijchen Text und pofitive
Dogmen predigen? Sol es gar Fein Inftitut der Erziehung ded
Volks zum Ewigen mehr geben Eönnen, wenn Feine Kirche im
jetigen Sinne?
160
Zwifchenbemerkung.
(GE
Nach diefen zur Theologie gehörigen Auffügen laſſe ich drei
Anzeigen aus dem Gebiete der bildenden Kunft folgen. Sie ſchlie⸗
gen ſich ganz von felbft an die erfteren an; denn wie Religion
und Kunft immer Sand in Hand gegangen find, fo fließt aus der
modernen Umbildung defien, was fonft in der Religion materiell
verfeftet war, in freies, weltlich ſittliches Bewußtſein, für die
moderne Kunft unmittelbar bie Forderung der freien Weltlichkeit
und concreten Immanenz. Es äft der Grund⸗Gedanke .diefer drei
Anzeigen, daß wahre Ipealität in der Kunft das Dieffeits ver |
Härt, nicht den Geift als ein Jenſeits materialifirt, fowie eben
dieß der Grundgedanke in den thenlogifchen Aufjäten iſt.
II.
zur bildenden Kunf.
Kritifche Gänge. | 11
163
Pa Triumph der Religion in den Künften,
son Friedrich Overbeck.
(Deutfche Saprbücher für Wiffenfchaft u. Kunft, Jahrg. 1841. Nr. 28. ©. 109 ff.)
—— —
Ich ſtand vor dem vielbeſprochenen Gemälde im Städelſchen
Inſtitute zu Frankfurt. Das Auge muß ſich auf der von Grup⸗
pen und Farben blühenden, oben durch einen Halbkreisbogen ge⸗
ſchloſſenen Tafel erſt zurechtfinden. Beginnen wir nur ſogleich die
Sonderung. Das Bild zerfällt in zwei große Hälften, ſtreng ver⸗
bunden im Geiſte des Malers und des Mittelalters, in dem er
lebt; für das Auge iſt keine Einheit da, keine Mitte, keine Wechſel⸗
beziehung, welche die getrennten Glieder zur Geſammtheit Einer
Handlung verbände. Doch urtheilen wir noch nicht; der Meiſter
hat ja kein geringeres Vorbild, als Rafael's Theologie in der
Stanza della segnatura für ſich. Nehmen wir ſogleich feine ei⸗
| gene gedruckte Erklärung zur Hand. Ohne dieſe werden mir nicht
wohl in's Klare kommen. Es fol dies noch Fein Vorwurf fein,
Denn ein Kunftwerk fol fih zwar immer ſelbſt erklären, fein
Sinn nämlich; dad Bedürfniß biftorifcher Notizen ift aber Hier
durch nicht ausgeſchloſſen. Freilich Hier reichen ſolche nicht aus,
doch davon nachher.
Es fol die Entwicklung der bifpenben Kunft im Dienfte der
chriſtlichen Kirche dargeftellt werden. Nicht ald ob fie außerhalb
dieſes Bundes auch andere Blüthen getrieben hätte, welche Werth
11*
164
und Wirflichkeit hätten ; denn zwar heißt e8, die Künſte werden
„hier“ nur infofern gefeiert, als fie zur Verherrlichung Gottes
beitragen, aber nicht nur zeigen weitere Neußerungen deutlich ge=
nug, daß der Künftler nicht der Meinung fei, anderömo wären -
mit Fug und Net auch andere Richtungen der Kunft zu feiern,
fondern dies liegt ſchon in dem fonderbaren Ausdrucke „zur Vers
herrlichung Gottes.“ Denn man follte meinen, die Kunſt könne
Gott verherrlichen, auch wenn fie nicht einen kirchlich gegebenen
Stoff, fondern die Schöpfung ſchlechtweg in ihrer göttlichen Herr⸗
lichkeit darſtellt; und Doch ift in dieſem Bilde und feiner Erklä⸗
rung nur von Einer Art der Verherrlihung Gottes, der Firchlichen
nämlich, die Rede. Doch mir gerathen immer ſchon in die Kritif
hinein und wollten doch erft jehen und genießen. Wie verkehrt!
Aber liegt die Schuld an ung?
| Den oberen Theil unter dem Rundbogen ninmt eine Ver
fammlung überirbifcher Perfonen aus dene chriftlichen Simmel ein;
fie fiten und ftehen auf Wolfen, wie in ver Malerei des Mittel-
alter3 und ihrer matteren Nachblüthe in den nächften Jahrhunder⸗
ten nach Abſchluß deſſelben. Maria mit dem Kinde in der Mitte;
fie hat eine Schreibfeder in der Hand und finnt auf den Lobge-
fang, deſſen erſtes Wort „Magnificat“ fie fhon auf den Papiers
ftreifen in ihrer Linken nievdergefchrieben, „um gleichjam als
Chorführerin Ale aufzufordern, Gott dem Herrn die Ehre zu
geben.“ Heilige des Alten und Neuen Bundes umgeben fie, zu⸗
nächft ſolche, die ald Vertreter der religiöfen Kunſt gelten können,
wie Lucas ald Maler, David mit dem Saitenfyiel u. f f., wäh
rend bie heilige Jungfrau felbft die Kunft der Künfte, die Poeſie
169
vertritt. Von den übrigen Geftalten dieſes Olymps nachher ein
paar Worte.
Im unteren Theile des Bildes breitet fich in heiteren Flächen
und Bergen die Erde aus, und im Vordergrunde ift eine große
Berfammlung von Künftlern zu ſehen. Der ganze obere Theil ift
wie eine Viſion zu betrachten, die ihnen vorſchwebt; doc Feiner
von ihnen blickt hinauf, Eeinem, oder nur zweien, dreien fehen wir
an, daß, was oben fich enthüllt, in ihrem Innern fidh fpiegelt.
Doc ja, es ift eine Art Verbindungsglied da, die Sontaine. In
der Mitte des Plans tritt namlich ein Brunnen dem Blicke ent»
gegen, der „durch feinen auffteigenden Waſſerſtrahl, anfpielend
auf dad Bild, deſſen fih der Herr im Evangelium bedient, von
dem Springquell, der in’8 ewige Leben emporfprubelt, als Sym⸗
bol der Himmelanftrebenden Nichtung der hriftlichen Kunft er=
ſcheint, im Gegenfag zu der Vorftellung der Alten, die ſich auf
dem PBarnaß eine abwärts firömende Duelle dachten. So ift
demnach jede Kunftrichtung ,. die ſich im Bilde angedeutet findet,
nur infofern bier gemeint, al3 fie nicht in Widerſpruch tritt mit
der himmelwärts gerichteten Intention des Ganzen. Denn die
hriftliche Kunft fohließt zwar Feine Seite der Kunft, Feine Ent=
wicklung derfelben aus, fie mag ſie vielmehr alle in fich begreifen,
aber um alle zu adeln und zu heiligen und Dem zum Opfer dar-
zubringen, der zu allen die Fähigkeiten ‘in den Menſchen gelegt.
Darum erfiheint Hier auch der Brunnen mit einem zwiefachen
MWaflerfviegel, inden fih in dem obern Becken der Himmel, im
untern aber die irdiichen Gegenftände abfpiegeln, wopurd das dop⸗
pelte Element der Kunft angedeutet wird, die einerfeitö ihrer
geiftigen Wefenheit nach, fo wie jeder gute Gedanke, vom Himmel
166
ſtammt, anderfeits aber zur Verſinnlichung ihrer Ideen des äußern
Gewandes fihtbarer Formen bedarf, die fie der und umgebenden
Natur entnimmt.’ Ih weiß nicht, welche Logik Hr. Overbed
ſtudirt hat; Krug, Kiefemetter, mer ed fein möge: alle und ber
gefunde Menfchenverftand zuerft Iehren unterfcheiden zmifchen zwei
Seiten eined Ganzen und zwijchen einem anderen Ganzen, das
diefe beiden Seiten in völlig verſchiedener Mifchung enthält. Sinn
liche Mittel mußten freilich auch der ftrengehriftlichen Kunft als
nothmwendig zugeftanden werden; die Richtung der Malerei aber,
welche, in Firchlichen Darftelungen anerkannt ohne religiöfe Würde,
ihre ganze Kraft im Profanen entfaltete, war von diefem Bilde
offenbar auögefchlofien. Und dennoch haben die Benetianer hier
ihre Stelle gefunden. In den Spiegel des unteren Beckens näm⸗
lich ſehen Giovanni Bellini und Tizian, im Gefpräd mit Carpaccio
und Pordenone erſcheint fogar Correggio, er ift aber freilich mit
einem verwünſcht frivofen Kopfe davongekommen. ber in diefer
Degrabation durch ihre Stelung am untern Becken waren bie
Denetianer doch aufzunehmen? Gut, aber dann machten auch
noch andere Meifter in Menge Anſpruch auf den Eintritt in dieſen
Kreis. Wo iſt van Dyk, Rubens, wo find die Spanier? M.
Angelo ſchließt. Er Hat „von der Bewunderung der Antike fich
hinreißen laſſen, dieſe als neuen Oößen in feiner Schule aufzu-
richten, und Rafael fühlte fih nicht fobald in ber Kraft feiner
auffafienden Gaben, als auch ihn gelüftete, die Sand nach dem
Verbotenen auszuſtrecken, und die Schranken der Gottesfurcht
ihm läſtig wurden. Und fo ward denn die Sünde der Apoftafle
in der Kunft um eben dieſe Zeit an vielen Orten zugleich voll⸗
bracht, indem man nicht mehr Gott dem Herren mit der Kunft
167
dienen, fondern fie felber auf den Altar ftellen mollte. Und billig
traf ſolche Sünde der Gottvergeffenheit auch alsbald die Strafe
der Gottverlaffenheit, fo daß wir mit Staunen die Künfte ploͤtz⸗
lich in einen Verfall gerathen fehen, und einer ganz ſchrankenloſen
Ausartung preidgegeben, die und mit größerem Widerwillen er-
füllt, als die Erzeugniffe irgend einer no) fo rohen Zeit. Wohl
bat man dann in ber Bolge fich mehrfach bemüht, die Künfte
wieder zu höherer Würbe zu heben; allein da man bad Uebel
nicht in der Wurzel zu heilen bedacht war, fo Tonnte auch der
Erfolg durchaus nicht den Anftrengungen entſprechen. Darin
magft Du denn auch den Grund fuchen, warum Du feinen ber
gefeierten fpäteren Meifter bier findeft, denen keineswegs ihr Fünft«
ieriſches Verbienft fol abgeſprochen werben, bie aber unter ven
Muftern riftlicher Kunft feinen Platz finden konnten, weil fie
ihr, dem Wefen nad, nicht angehören.“ Freilich ift ihnen ihr
Verdienſt abgeſprochen, denn Firchlich religiöfer Geift iſt ja als der
einzige wahre Inhalt der Kunft behauptet, ald die einzige Weife,
worin fie iveell zu fein vermag, es fehlt aljo dieſen Künftlern bie
Spealität, mithin die Kunft — nach Overbeck.
Die Allegorie mit dem Brunnen ift jedoch weiterhin nicht feſt⸗
gehalten; wie follten auch fo viele Köpfe in Ein Beden fehen?
In das obere Becken, das den Himmel, die obere Hälfte des Bil-
des fpiegeln foll, ſieht eigentlich gar Niemand. Ein neuer Uebel⸗
fand, denn was foll die Allegorie, wenn fie nicht einmal benugt wird?
Die Maler, welche noch im Mittelpunfte des religiöfen Ideals
verweilten, bilden zwei Gruppen zur Linken und Rechten der Fon⸗
taine. Links horchen die älteren Toscaner und Andere dem begei⸗
fiernden Gefange des Dante; hier fteht Rafael in der Mitte aller
168
derer, bie beſonderen Einfluß auf ihn geübt, des Pietro Perugino,
Ghirlandajo und Mafaccio, Bra Bartolomeo, Francesco Francia;
bie Arme übereinander blickt er voll Selbftgefühl nach dem Waf-
ferfteahle herüber. Zur Seite auf einem antiken Bragmente figt
tteffinnend M. Angelo, 8. Signorelli neben ihm, der ihn mit ern⸗
ſtem Geficht ermahnt, auf Dante's Gefang zu horchen. |
Zur rechten Seite, nahe ven Benetianern, begrüßen fid) freund=
lich verfchienene Mleifter des Südens und Nordens; zunächſt bieten,
durch gleiche Mebung der Kupferftecherfunft verwandt, Lucas von
Leyden, Mantegna fich die Hand, zwiſchen beiden ragt Albrecht
Dürer hervor, dem Lucas hat fih Martin Schön, den Mantegna
Mare Anton gefelt. Neben ihnen bilden eine zweite Gruppe
Fieſole, Benozzo Gozzoli, die Brüder van Eyck, Hemlink, der
anonyme Meiſter des kölner Dombildes. Schoreel in Pilgertracht,
weil er eine Wallfahrt in's gelobte Land gemacht haben ſoll, tritt
hinzu; zwei weibliche Geſtalten in der Ferne deuten die Uebung
der religiöſen Kunſt in Nonnenklöſtern und ſonſt unter Frauen
an; zwei Mönche, auf den Stufen der Terraſſe ſitzend, in Mi-
niaturen vertieft, erinnern an die Anfänge der Malerei, „woraus
ber junge Künftler die Lehre nehmen möge, daß er vor Allem das
Geraͤuſch der Welt fliehen und Abgejchievenheit und Sammlung
bed Geiſtes lieben müfle“ u. f. mw.
Im Vorgrunde find links die Bildhauer, rechts die Architekten
verſammelt, jene um Nicola Piſano, ein Kaiſer in ihrer Mitte,
ſo wie unter den Baumeiſtern ein Papſt und Biſchof, da es ge—
eignet ſchien, jene Kunſt dem weltlichen, dieſe dem geiſtlichen
Schutze unterzuordnen. Nicola lehnt an einem Sarkophage, ne=
ben ihm ein Enieenver Knabe, der „gleichſam⸗ das Wohlgefallen
169
diefer Kunft an Anmuth der Form und Bewegung verfinnlicht,
um ihn ber Schüler, Hinter ihm Luca della Robbin, Lorenzo
Ghiberti, Peter Viſcher, die fromme Sinnigfeit, die plaftifche
Form, die treue Naturauffaffung vertretend. Auf der andern
Seite hat über Trümmerftücken antiker Baukunſt Meifter Pilgram
einen Kreis von Schülern, Sünglinge franzöſiſcher, englifcher,
fpanijcher, arabifher Nation um fich verfanmelt, Erwin von
Steinbach weift dem Papfte den Aufriß eines Münfters, Bru⸗
nellefhi, Bramante, der Erbauer des Ulmer Miünfters, ein Unbe⸗
Fannter treten herzu. Muflfnoten in der Hand des Parftes
erinnern an ben mächtigen Eindrud des Kirchengefanges. Gegen
den Mittelgrund des Bildes ragt ein unvollendeter gothiſcher Bau,
die Unterbrechung hriftlicher Kunftblüthe anzuzeigen und den Jün⸗
ger zur Vollendung derſelben aufzufordern.
Alſo eine Recapitulation der Kunftgeihichte, ein Curſus über
ihre Vergangenheit, ver zugleich eine Moral für ihre Zukunft
enthält. Die Kunft biegt ſich auf fich zurück und macht fich ſelbſt
fih zum Gegenftande. Das ift ein Act der Neflerion, aus diejer
das ganze Bild hervorgegangen, und jehon hiedurd) ein ganz mo—
derned, in tadelnden Sinne modernes Product. Wie? Ein Werk,
das fo ganz in den Glauben der guten alten Zeit getaucht, fo aus
ber Quelle der reinften Frömmigkeit gefloffen ift, bei deſſen Aus⸗
führung Perugino und Rafael den Griffel geführt hat? Wir
reden von der Ausführung nachher und von der Stimmung, wie
fie fih in den äſthetiſchen Formen ausſpricht. Hier iſt nur erſt
ganz allgemein die Aufgabe, der Gedanke feitzuhalten. Nie tft es
den alten Meiftern eingefallen, die Malerei, die bildende Kunft zu
malen. Sie haben einzelne Künftler portraitirt; das iſt etwas
170
Anderes. Sie haben gelegentlich die verſchiedenen Künfte in alles
gorijcher Andeutung angebracht; das ift. auch etwas Anderes.
Aber nie haben fie mit dem Pinfel einen Vortrag über Geſchichte
der Kunft gehalten, um eine fabula docet daraus zu ziehen, um
eine gewiſſe Anficht über dieſe Geſchichte als die einzig richtige auf⸗
zuſtellen. Und es iſt nicht zufällig, daß ſie dieß unterlaſſen haben,
ſondern es iſt, weil fie mit allen Kräften im Boden ver Kunft
wurzelten, nicht außer ihr flanden, um Betrachtungen über fie zu
nalen. Rafael hat die Theologie, dad Recht, die Philoſophie, Die
Poefie gemalt. Die Aufgaben waren unfruchtbar genug, und nur
Rafael vermochte folche Abftractionen in Fleiſch und Blut zu ver«
wandeln. In der Poeſie ift allerdings ein Zweig der Kunft von _
ter Kunft ſelbſt behandelt, aber ein der Art nach von der ihn be⸗
handelnden Kunſt fehr verſchiedener, nicht bie bildende von der
bildenden und keineswegs mit der didaktiſchen Abficht, über bie
Tendenz derfelben eine Lehre aufzuftellen. Dieß feßt den Rückblick
auf eine abgelaufene Entwicklung voraus und einen reflectirenven,
raijonnirenden Geiſt. Uebrigens ift der Künftler dem großen
Schöpfer ber Stangen darin gefolgt, daß er den abftracten Begriff
als die lebendige Seele feiner geſchichtlichen Verkörperung in Ins
dividuen faßte und fo in der Hauptſache der in der Allgemeinheit
der Aufgabe liegenden Verführung zur Allegorie entging. Allein
im Einzelnen hat fich dieſe todte Geburt des Verſtandes, die Ra⸗
fael in der Segnatur aus gutem Grunde als rein decorative Nach⸗
hilfe an die Decke verwies, dieſes Afterbild des Schönen, dieſe
Conſervatorinn eines äſthetiſchen Naturaliencabinets, welche einem
beſtimmten ſinnlichen Gebilde die ihm lebendig zugehörende warme
Seele ausweidet und dafür einen ihm fremden, der Vielſeitigkeit
171
individueller Beſeelung durch feine Abftractheit widerſprechenden
Begriff hineinſtopft: dieſes Geſpenſt der Kunſt, die Allegorie hat
ſich dennoch auf allen Seiten eingeſchlichen; ein neuer Beleg, daß
wir ein Werk mehr der Reflexion, als der Begeiſterung (Fanatis⸗
mus iſt nicht Begeiſterung) vor uns haben. Im oberen Theile
find Vorſtellungen des chriſtlichen Glaubens, für welche dieſer
ſeine beſtimmten, der frommen Phantaſie geläufigen mythiſchen
Formen hat, ganz unnöthiger Weiſe allegoriſch angedeutet.
Joſua, der Iſrael in's gelobte Land eingeführt hat, weiſt hin auf
den Erlöſer, der die Seinigen in's Reich des Vaters einführt,
Melchiſedek ſtellt das ewige Hohenprieſterthum Chriſti vor, hinter
dieſem ſteht Joſeph mit der Garbe, ber auf die Speiſung der Gläu⸗
bigen durch das lebendige Brod vom Himmel deutet, Abraham
mit dem Opfermeſſer, als Bild des ewigen Vaters, der ſeinen
„Erſtgebornen“ opfert, neben ihm Sarah mit Iſaak als Bild ter
Kirche. So noch mehrere Figuren auf der anderen Seite der Ma⸗
bonna. Die Märtyrer Sebaftianus und Fabianus verfinnliden
das Keinen Chrifti, die Sungfrauen Cäcilia und Agnes feine flecken⸗
Iofe Reinheit, „und zuletzt befhließt die Gruppe die Kaiferin Helena
mit dem Kreuz Chrifti, durch welches auf ven himmlifchen Adam
hingewieſen wird, wie der irbifche die jenfeitige Gruppe beichließt.
Es find zum Theil typiſche, durch Convenienz dem Theologen ge⸗
läufige, Mllegorien, aber doch ohne Kopfzerbrechen nicht zu ent⸗
zifferen, ja ohne Commentar gar nicht zu entdecken. Im untern
Th.eile der Springbrunnen , alio der Mittelpunkt ded Ganzen,
allegoriſch. Rafael trägt einen weißen Mantel, „ber bie Univer⸗
ſalität feines Geiſtes ſymbolifirt, im welchem ſich ebenſo Alles,
was man an Anderen vereinzelt bewundert, vereinigt findet, wie
172
der Lichtſtrahl alle Farben in ſich befaßt.” Die drei Knaben kann
man gelten laſſen, deren zwei ven Benetinnern, eim anderer dem
Nicola Piſano beigefellt, dad Wohlgefallen an Fleiſch, Leben und
Form verfinnlichen; denn e3 ift etwa denkbar, daß wirflidhe Kna⸗
ben ald Modelle fich bei ven Künftlern eingefunden haben. Aber
ftarf, jehr ſtark iſt wieder das Nelief am Sarkophage, mit deffen
Studium Nicola beihäftigt ift: „es ftellt die beiden Marien dar,
die zum Grabe Chrifti gehen, anjpielend auf die Auferftehung der
Kunft zu einem neuen geiftigen Leben, nachdem die alte in Chren
zu Grabe getragen erſcheint.“
Man muß allerhand hören. In München ließ ich mich gegen
einen Künftler und Kunfthiftorifer über die Allegorie heraus. Ich
war damald noch fo unfchuldig, zu meinen, es verftche ich von
jelöft, daß ich in meinem Unwillen gegen diefe Perüde der Kunft
Niemand gewiffer als die Künftler auf meiner Seite haben müſſe;
ich erftaunte daher nicht wenig, die fehr ernfte Antwort zu er-
halten: „ſehen Sie, wohin Sie gerathen, wenn Sie bie Idee
aus der Kunft wegnehmen.” Ich machte, freilich nach ˖ ſolchem
Vorgang hoffnungslos, einen Verſuch, ihm darzuthun, daß
gerade das Intereffe, die Idee recht in die Kunſt hineinzubringen,
zur Berwerfung der Allegorie führen müffe. Der Mann hatte
namentlih Mythus und Allegorie verwechſelt und befchloffen, ſich
bierüber nicht in's Klare bringen zu laſſen. Dieje Verwechslung
liegt allerdings der jegigen Zeit nahe, da Vieles, mad alte
fromme Zeiten als Mythus erzeugten, für und, weil ed nicht
mehr im Glauben lebt, Allegorie geworden it, und derjenige,
ber dem Mythus als Höchfter Aufgabe der Kunft dad Wort ſpre⸗
chen zu müſſen glaubt, daher Leicht auch den urfprünglichen Uns
173
terſchied deſſelben von der eigentlichen Allegorie verfennt und dieſe
in jeine Protection mit einjchließt. Zwar ift diefer Unterſchied bei
einigem Nachvenfen leicht erfennbar. Wenn Cornelius in dem
herrlichen Bilde in der Glyptothek, Paris die Helena entführend,
das luſtige Schiff von reizenden Amorinen geleiten läßt, während
hinten mit gejchwungener Fackel die Erinnyen ſich anflanımern,
jo iſt dies mythiſch; denn dieſe Figuren find nicht Erzeugniffe ſei⸗
ner ſubjectiven Reflexion oder einer herkömmlichen Convenienz
des Verſtandes, ausgeklügelt, um einen Begriff nachträglich und
oberflächlich zu verſinnlichen, ſondern es ſind Weſen, die in einem
alten Glauben lebten, entſtanden durch abſichtloſe Volksdichtung,
und ſie leben, wenn anders der Künſtler nur Kraft hat, uns
mit friſcher Reproduction in das Element, in die Stimmung jenes
Glaubens zurückzuführen, noch einmal auf. Es kann keine Frage
ſein, daß die Kunſt das Recht haben muß, in der entſchwunde—⸗
nen Götterwelt noch einmal Fuß zu faſſen; denn fie war ein or=
ganifches Erzeugnig des menfhlichen Bewußtſeins, das auch in
bie abgebleichten Geſtalten feiner früheren Anſchauung ſich muß
zurücfverjegen Eönnen. Die Plaftif lebt faft allein noch von dieſer
Kraft der Erinnerung; die Malerei hat ſchon durch Rafael's wun«
verbare Erfindungen in der Farneſina fich diejen Kreis mieder
vindieirt. Aber ein Anderes ift es, wenn ein ganzes Kunſtwerk
oder ein Cyclus von Kunftwerfen fich in diefem Elemente heimiſch
anbaut, als wenn ein vereinzeltes Werk, das in der Hauptſache
einen rein menſchlichen Gegenſtand darſtellt, daneben dieſelbe
Macht, die in der Thaͤtigkeit der betheiligten Perſonen ſich ſchon
genugſam verkörpert, zugleich noch mythiſch perfunifieirt. Wenn
z. B. Eberhard Wächter den Abſchied des Odyſſeus von ber Ka⸗
174
lypſo malt und neben beide einen trauernden Amor in's Gras
legt, fo ift died zwar ein Weſen aus der alten Mythe und die
ganze Scene gehört der Heroenfage an, wie jene Compoſition des
Cornelius ; doch knüpfen fi Feine großen Völkergeſchicke daran,
wie an die Entführung der Selena, fondern es ift eine Situation
reinmenjchlicher Empfindung , ein Privaterlebniß, Schluß eines
Romans, dad Motiv, die trauernde Liebe, ift in den Haupt⸗
figuren vollfonımen dargeftellt, der trauernde Amor fagt dafjelbe,
was fie Schon fagen, noch einmal und jo wird und diefe, ohnedies
fhon fo abgedroſchene, Figur hier zur überflüffigen und ſtören⸗
den Allegorie. |
Pouffin und Andere haben befanntlih mythiſche Staffage in
Landſchaften geliebt, Polyphem fit auf hohem Felſen, Diana
und Nymphen jagen und baden. Die Landſchaft ift danach com⸗
ponirt, in diefen Wefen ift nur die Stimmung, die in derſelben
liegt, verdichtet und verkörpert, aber die Landſchaft drückt eben
biefe Stimmung ſchon ald Landſchaft aus, es heißt doppelt ſchrei⸗
ben, und in diefem Zufammenhang müffen und daher die mythi⸗
ſchen Wefen zu Tangweilig allegoriichen werden. Hier kommt noch
indbejondere die Trage über Bedeutung und Grenzen der Staffage
zur Sprache, worüber ich ein andermal einige Bemerkungen, bie
fich mir bei neueren Landſchaftbildern aufgedrungen, vorzubringen
habe. — Anders verhält es fi) mit den chriſtlichen Mythen; es
iſt noch zu kurz ber, daß fle und Glaubendartifel waren, ein
großer Theil der proteftantifchen Welt glaubt fie theilweife, ganze
Fatholifche Völker glauben fie in ganzer Ausdehnung mit allen
Zufügen des Mittelalterd noch. Daher trifft die Aufnahme folder
Stoffe in der neueren Kunft nicht ſowohl der Vorwurf der Alles
175
gorie (Einiged ausgenommen, wie z. B. Engel, melde do
mehr als andere Figuren zu Allegorieen ausgedroſchen find), ſon⸗
dern ein anderer, wovon nachher. Aber auf diefe Mythen noch
eigentliche Allegorieen hinaufkleben, wie Overbeck gethan bat,
das heißt freilich einem gefunden Magen zu viel zumuthen. „Aber
welche. Confuſion, Overbeck glaubt ja das, was Sie Diythen
nennen, es find ihm aljo feine!” Daß er cd zu glauben glaubt,
bezweifle ich gar nicht; nur noch eine Eleine Geduld, wir kommen
darauf zu fprechen.
Die eigentlihe Allegorie nun, eine beiläufige Verfnüpfung
einer gewiſſen finnlichen Erſcheinung mit einem abftracten Begriffe
durch irgend ein tertium comparationis, gemacht von der fub-
jectiven Reflerion, — ſoll ich den Begriff weiter auseinanderjeßen ?
Es ift ſchon fo vielfach gefchehen, in fo vielen Aeſthetiken und
Mythologieen zu Tefen! Ich felbft Habe ſchon einmal in dieſen
Blättern den Begriff der Allegorie erörtert. Eberhard Wächter,
der große edle Künſtler, aber in dieſem Stücke noch einem frühe⸗
ren Jahrhundert verſchrieben, malt eine Frau, die einen Neger⸗
knaben und einen weißen auf dem Schooße hält, beide mit glei⸗
her Liebe umfaſſend, und verſichert und, dies ſei Die humanitas.
Hätte er die Wegnahme eines Sklavenſchiffs dargeſtellt, oder ir⸗
gend einen andern Act der Humanität, jo wäre es Feine Allego-
vie geweſen. Die eigentliche Allegorie, fage ih, Tann von der
Kunft nicht ganz ausgefchlofien werden. Es kann bei Monumen-
ten, bei ver Verzierung der Architektur an Portalen u. ſ. f., oder
cycliſcher Ausſchmückung großer Raͤume, öfterd die Aufgabe ent-
ſtehen, einen abftracten Begriff durch ein Bild, welches nicht die
Phantafle des Volks, nicht alter Glaube ald deſſen wirklichen
176
lebendigen Leib anſchaut, fondern nur die Neflerion eines Ein-
zelnen mit ihm verfnüupft und etwa die Convenienz in diefer Ver⸗
knüpfung firirt hat, anzubeuten. Die bildende Kunft als eine
ſtumme wird diefen Nothbehelf nie ganz entbehren können. Tre⸗
ten wir von unferen Gemälde in den anftoßenden Saal und ver-
weilen vor Veit's ſchönem Bilde: der Einfluß der chriftlichen
Religion auf die Künfte, und betrachten und nur die Qauptgeftalt:
bie Religion. Nie hat die Phantafle ver Völker die Religion felbft
fih al3 Perſon vorgeftelt, dieſes Weib ift alſo eine AUllegorie.
Aber fie war hier nicht wohl zu vermeiden, und die Geftalt ift fo
ſchön, hehr und lieblich zugleich, daß wir und gern mit ihr ver-
fühnen. Gin Nothbehelf aber bleibt ed, und man muß vor dieſer
hohen Frau auörufen: ſchade, daß fie nicht mehr als eine Alle⸗
gorie iſt! Dagegen hat man namentlich neuerdingd von gewiſſen
Seiten die Allegorie geradezu ald das Höhere gegen die eigentliche
Darftelung behauptet, und ſowohl die münchner als die düſſel⸗
dorfer Schule liebt vielfach ſich ın Derjelben zu bemegen. Das
vornehme Wort Idee hat gar viel Spuf angerichtet. „Die Kunft
muß Ideen darſtellen.“ Ganz falſch! Denn das heißt ſchon: ber
Künftler muß eine Idee, will fagen: abftracten Gebanfen aus-
hecken, und ihm nachträglich ein Kleid umhängen. Idee und
Bild ift in jenem Sage ſchon fo auseinandergehalten, daß bie
allegoriſche Darftellung von ſelbſt folgt. Die Kunft fol ivenle
Anſchauungen der Phantafie, in denen die Idee jchon von felbft
und untrennbar mit dem finnlichen Körper vermählt iſt, zur
Außeren Erſcheinung bringen. Das etwas berüchtigte Wort Alles
gorie vermeidet man freilich gern und feßt dafür Symbol. Allein
es ift in Symbol und Allegorie daſſelbe äußerliche und dem wahr-
177
haft Schönen fremde Verhäaltniß zwiſchen Bild und Idee. Der
Unterſchied ift nur der, daß das Symbol ein inftinetmäßiges Pro⸗
duct der im Dunkel fuchenden Phantafle der Naturreligionen, Als
legorie das Machwerk eines Einzelnen ift, der fich mit nüchterner
Wahl des Verftanded einen Begriff erfinnt umd thn dann in ein
beliebiges Bild verbirgt. Die ſymboliſche Einbildungskraft con⸗
fundirt , fich ſelbſt dunkel, Bild und Idee; die Allegorie, deren
Perfertiger für feine Perſon über den Unterfchied und das tertium
Beider völlig im Klaren ift, ſpielt Verſteckens mit den Zufchauer.
Zwiſchen dem Weliftier Apis und dem Abftractum der urfprüngs
lihen Zeugungskraft ift an fich daſſelbe Verhältniß, wie zwiſchen
den zwei Beftandtheilen irgend einer modernen Allegorie, aber
dem Aegyptier fielen Apis und Urfraft dunkel zufammen; was
dagegen unter dem Homunculus zu verftehen ſei, mußte
Goethe recht wohl, nur der Leſer fol fi müde rathen. Die
häufige Ausführlichfeit der Allegorie, die aus ihrer rveflectirten
Natur fließt, bildet keinen wejentlichen Unterſchied. Don beiden
ift ver Mythus verſchieden. Er feßt die religiöfen Wahrbeiten in
Handlungen um; Kandlung feßt Willen, Wille eine Perſon vor=
aus; feine Berfonen aber verhalten ſich zu dem beſtimmten Ideen⸗
gehalte, den fie vertreten, fo, daß dieſer ihre eigene Seele, ihre
Leidenſchaft if. Der Mythus konnte fich daher noch nicht in ver
Naturreligion, fonbern erft in der aus ihr herausſtrebenden Mes
ligion der fhönen Menfchlichkeit in feinem wahren Wefen ausbil⸗
ben. Er läßt dad Symbol Hinter fih, und geht der Allegorte,
die von ihm das Succeffive der Handlung aufnehmen kann, aber
feine eigentliche Handlung fennt, weil fie Eeine Berfonen , fon»
dern nur Devifen hat, voran. Die Mllegorie hat fich immer ein⸗
Srisifche Gänge. 12
178
geftellt, wo das Leben einer Religion im Abfterben und mit ihm
die poetifche Potenz int Verwelken war. Die fpäteren Griechen,
die Römer der Kaiferzeit liebten fie, bie saeva necessitas bed
Horaz mit Balken, Nägeln, Kellen, Klammern und Blei das
herkeuchend, iſt die rechte Neigenführerin diefer Zunft; bie Jahre
hunderte des Zopfs Eultivirten fie ganz leidenſchaftlich, und indem
jegt die Kunft Eräftig die Flügel regt, iſt fie und als Muttermal
ber Proſa, als Haarbeutel des ancien rögime noch hängen ge=
blieben. Ob wir berufen find, und aud dem Zopfe (ih muß das
Wort, mie die Künftler., als Terminus brauchen, es giebt Tein
anbered) ganz herauszuarbeiten, dies fallt fo ziemlih auch mit
der Frage zufanımen, ob wir fühig fein werden, die Allegorie
vollends abzufchütteln. Ich möchte die Künftler nur das Eine
fragen: ob ihnen die Wirkung ihrer Bilder gleichgiltig iſt? Ob
fie lieber Elar oder dunkel bilden? Ob fie lieber erfreuen oder
langweilen? Ob fie lieber rühren oder Ealt laſſen? Schadow Kat
bie Parabel von den Flugen und den thörichten Jungfrauen in
einem großen Staffeleigeniälde mit vielem Aufwand von Kunft
ausgeführt. Der himmlifche Bräutigam öffnet eintretend die Pforte,
zu beiden Seiten jehen wir in reicher Abftufung des Affects dort
bie erſchrockenen unklugen, bier bie freudigen Elugen Sungfrauen
mit ihren Lampen. Können wir mit dem Schmerz jener, mit
der Sreude biejer irgendwie fompathiftren, mit ihnen fürchten,
hoffen, erſchrecken, entzüdt fein? Gewiß nicht, es ift ihnen
ſelbſt ja nicht ernft, nicht einmal mit ihrer Griftenz , fie haben
ja fein Blut, Feine Lebenswärme, bedeuten nicht fich felbft, ed
find Schatten, Schemen‘, ein paar Lappen um einen Begriff ges
lagen ; ein ganz tüchtige8 Bild für die Rede, für den Lehrvor⸗
——
179
trag, Hohl und matt für bie bildende Kunſt. Ganz anders ver-
hält es ſich, wenn wir dieſelben Figuren am Portal der Sebal-
duskirche zu Nürnberg einzeln in Stein gebildet auf Confolen flehen
jehen. Hier find fie architektonische Verzierung , und diefe unter-
liegt ganz anderen Bedingungen, als die Malerei. Im Mufeum
von Neapel ift auch zu fehen, von Salvator Roſa gemalt, die
Parabel vom Balken und Splitter, ein hinreißendes Kunftwerf.
„Freilich jo etwas, dad muß ja häßlich und abgeſchmackt ausſehen.“
Das ſchadet aber der Allegorie als folder nichts, das Princip
der Allegorie iſt gar nicht dad Schöne, fondern das Wahre; fie
iſt nur zufällig und gelegentlich ſchön, Wahrheit und Schönheit
innen in ihr fogar im umgekehrten Verhältniſſe fleigen und fal«
Im. Da übrigens auch das dünnſte bilvliche Gewand den Lehr⸗
gehalt immer noch mehr verſteckt als offenbart, fo würde ih
unferen Ideenmalern jehr rathen, Tünftig leere Flächen in einem
Rahmen aufzuftelen: darauf wäre dann zu fehen das Abfolute
— Zero, die Idee der Ideen, der Urgrund, worin alle Kühe
gran find. Ohne alle Hyperbel, es müßte nach dieſer Anficht als
die höchſte Aufgabe des Malers conſequent dieſe aufgeſtellt wer⸗
den, nichts zu malen.
Aber faſt hätten wir unſer Bild vergeſſen. Die Allegorie
kommt hier doch nur unter Anderem vor, die Seele des Ganzen
iſt nicht in allegoriſchen, ſondern in mythiſchen Geſtalten verkör⸗
pert. Man wird ſich nicht einbilden, daß ich nicht wiſſe, wie
etwas Angefochtenes durch den Namen mythiſch ausgeſprochen
wird; noch viel weniger, daß ich behaupte, es liege jenen über-
irdiſchen Figuren gar nichts Hiftorifhes zu Grunde. Unſer Mei⸗
12 *
180
fter freilich ift am weiteften entfernt, ſolchen Stoff ald mythijchen
gelten zu laſſen, vielmehr er ftellt ihn als die allein wahre Reali⸗
tät und als die einzige würdige Aufgabe der Kunft hin. Alle
weltliche Darftellung ift ihm ja das Ende der Kunft, Sünde der
Apoſtaſie (f. S. 14 u. 15). Man wird aber nicht erwarten,
daß ich meinen Terminus mythiſch, den ich alled Ernſtes zur
Unterſcheidung der religiöfen und der hiftorifchen Malerei in Vor⸗
fehlag bringe , hier durch eine theologifche Vorlefung begrüne.
Ich ſpreche deßwegen gerade von dieſem Bilde fo weitläuftig,
meil nirgendd mit jolcher Beftimmtheit die weit verbreitete, in der
wiffenfchaftlichen Aeſthetik noch herkömmilich wiederholte Anficht
von der Einheit der Kunft und Religion aufgeftellt if. Natürlich
ift bei unferem Meiſter nur von chriftlicher Religion und Kunft
die Rede. „Das Heidenthum als ſolches foll ver Künftler mit
entſchiedener Verachtung liegen laſſen; aber er mag fich gleich«
wohl die Kunft der Alten, fo wie ihre Litteratur, zu Nutzen
fommen laſſen, gleichwie die Kinder Iſrael die goldenen und fils
bernen Gefäße aus Aegypten mitgenommen, wofern er fie nur,
gleich diefen,, zum Dienfte des wahren Gottes in feinem Tempel
umzuſchmelzen und zu heiligen weiß.’ Da ftecft wieder ein hüb-
ſches Neft Confuflon. Das Heidenthum als ſolches. Sol das
heißen: Stoffe aus der heidnifchen Religion? Diefe werden aber
doch im Grunde von der neueren Kunſt nur felten aufgenommen.
Die griechifche Weltanfhauung überhaupt ift vielmehr gemeint,
wie fie dem Sinnenleben und der naturgemäßen Wirklichkeit pofi⸗
tive Geltung gönnt. Die griecdhifche Stimmung und die aus ihr
fließenden Kunftformen aufgenommen zu haben, ift fein Vorwurf
gegen Mich. Angelo und Rafael. Aus dieſem Grunde ift bie
181
moderne Kunft ſeit dem Schluſſe des Mittelalters für ihm nicht
vorhanden; denn ihre weltliche Tendenz hat neben dem kritiſchen
Geiſte des Proteftantismus , der den hriftlichen Olymp entvöl-
kerte, weſentlich die Ruckkehr zum gefunden Realismus der Alten
zum Nudgangspunfte , Reformation und humaniſtiſche Studien
wirkten auf dafjelbe Ziel. Etwas fol nun aber der Künftler von
den Heiden doch lernen dürfen. Die fhöne Form ohne Zweifel,
und in biefe ſoll er den chriftlichsfirchlichen Inhalt nieverlegen ?
As ob er die Schönheit der Antike bewundern und reprobuciren
koͤnnte, wenn er ihre Grundlage, die plaftifche Weltanfchauung,
verachtet! Und ald ob dad gar nie wäre bezweifelt worden, daß
bie antife Form und der hriftliche, d. h. der mittelalterlich=Firch-
liche Gehalt fo widerſpruchlos fich verfehmelzen laſſen! Als ob.
noch Niemand gemerkt hätte, wie Nafael, indem er fie verfehmilzt,
eben dadurch auch die Auflöfung des religiöfen Ideals der Noman-
tik beginnt! Wie der Fanatismus auch die gemeine Logik vertoirrt,
davon giebt beſonders folgender Unftand mit dem Sarfophage
bed Nicola Bifano ein fehlagendes BVeifpiel. Dieſem merkwürdigen
Manne ging der Geift der antiken Plaſtik bekanntlich durch das
Studium eines antiken Sarkophags zuerft wieder auf. Overbeck
benüßt diefe Thatſache, fo aber, daß er einen Sarfophag mit
einem Relief aus der älteften chriftlichen Zeit an die Stelle des
antiken feßt. Die Nefte antiker Form in den älteften chriftlichen
Kunſtdenkmälern waren aber befanntlih fehr dürftig, und, fo
weit fle noch vorhanden waren, doch nichts anderes, ald chen
eine Erbſchaft aus dem Heidenthume alſo erreicht Overbeck durch
biefe Lügenhafte Entftelung der Gefchichte nicht einmal feinen
Zweck, die Verdrehung der Thatſache beftraft ſich durch Unſinn.
-
182
Mir müflen bier nothwendig an die Wurzel gehen und den
Sat von der Einheit der Kunft und Neligion überhaupt prüfen.
Die Seite ihrer Einheit braucht wirklich nach Allem, was Schel-
ling, Solger, Segel hierüber gefagt haben, keinen philoſophi⸗
fhen Beweis mehr. Sie haben einen und venfelben Boden, bie
Einheit des Begriffs und ber Wirklichkeit, die verfühnte Welt,
die Idee, und die Religion, indem fie diefe in einem Kreife von
Mythen niederlegt, arbeitet der Kunft von felbft in bie Hände.
Der geſchichtliche Beweis Tiegt für Jedermann da, denn bis zum
Ende der großen mittelalterlichen Kunftblüthe gingen in allen Welt
altern Kunft und Religion Hand in Sand. Allein ſchon an fid
ift in der Einheit zugleich der Unterſchied und die Lösbarkeit beider
Sphären nicht zu verfennen. Die Religion bewegt fi zmar Im
Elemente der Vorſtellung. Allein für's Erfte tft e8 nicht bie reine
Vorſtellung, in der ſie fich bewegt, fondern fle reicht theilweiſe
fehon in das Gebiet des abftracten Denkens hinüber, indem fie
die Vorftellungen in Lehrjäge faßt, mit Beweiſen ftüßt, mit Un⸗
terfgeidungen und Nutzanwendungen proſaiſch durchflicht und zwar
nicht nur in der Dogmatik, fondern in gemeinen Bewußtſein ſelbſt.
Für's Andere ift ihr in dem Grabe, in welchem fie über die Na-
turreligion ſich zur Religion des Geiftes erhebt, die äußerliche
Anfehauung des innerlich Vorgeftellten im Kunftwerfe entbehrlich,
ja fie feßt fi in Oppoſition dagegen, weil fie Gößenbienft bes
fürchtet. Der Katholicismus war der Kunft in dem Grade günflig,
als er noch mit polytheiftifcher Stimmung und polytheiftifchen
Stoffen behaftet war. Der proteftantijche Cultus verlegt ben Dienft
ded Herrn rein ind Innere und befürchtet von den bunten Um⸗
gebungen der Kunft mehr Zerfiveuung ald Sammlung; er hat
183
zwiſchen der äfthetifchen und ber religlöfen Stimmung unterſchei⸗
ben gelernt. - Wirklich, man trete in die Allerheiligenkirche zu
München und überzeuge fich mit eigenen Augen, daß das Volt
zwifchen dieſen reichgeſchmückten Wänden gedankenlos gafft, ftatt
zu beten. Das hat im Katholicismus allerdingd wenig zu fagen,
denn aus demfelben Grimde, warum er der Kunft fo fehr gün-
flig war, firirte er auch den Begriff ded opus operatum. Spar⸗
fanıe, würdige Mitwirkung der Kunft zum Gottesdienfte fol natür-
lich darum nicht abgewiefen und bie Geſchmacklofigkeit, ja die Häß-
lichkeit des proteftantifhen Cultus nicht gutgeheißen werben. Nur
Hegt in der Religion für fich nicht nothwendig der Trieb der Ver⸗
edlung der aſthetiſchen Formen ihres Eultus. Ihr Interefie iſt Fein
eontemplatives, fondern ein praftifches, Erbauung. Es fol in dem _
andächtigen Subjecte Etwas anders werden, e8 foll nicht bleiben,
wie ed war, und bei diefer Veränderung ift ed mit feinen höch⸗
jten Wünſchen und Hoffnungen abfolut betheiligt. Die Religion
bat Intereffe (allerdings Fein endliches), die Kunft Feines.
Kant’3 Kritik der Afthetifchen Urtheilskraft Hat dies hinlänglich
dargethban. Jene Veränderung im Subfecte zu bewirken genügt
aber auch der vürftige, der rohe Kunftverfuch, ja diefer jagt dem
religiöfen Intereffe in feiner fpecififchen Neinheit mehr zu, als
das fchöne Kunftwerf. Die Aeußerungen des Aeſchylos, des Pau⸗
fanias, daß die alten ftrengen und düfteren Cultusbilder göttlicher
ſeien, al3 die neuen ſchönen, find ja befannt. Das ſchöne Bild
befreit, Angſt und gittern um unfer Seelenheil hat in feiner
Gegenwart ein Ende und wir erinnern und, wie ſchön die Welt
da draußen fei, der wir entfagen follen. Die Abfichten beider
Sphären können fi (und es ift dabei gar nicht. an eine gefunfene
184
und frivole Kunft zu denken) geradezu feindlich begegiten. Die
gräßlichen Darftellungen ver Qualen Jefu und der Märtyrer pre=
digen dem finnlichen Menſchen einfchneidend, wie er ed bedarf,
was der Gottesfohn und die Seiligen um feine Seligfeit litten, ber
äfthetifch Gebildete aber wendet mit Schauder fein Auge von jenem
heiligen Bartholomäus im Dome zu Mailand ab, der feine abge-
zogene Haut auf der Schulter trägt, von Pouſſin's heiligem
Erasmus im Batican, dem die Gebärme aus dem Leibe gehafpelt
werben, von der heiligen Agata in den Uffizien zu Florenz, der
die Brüfte mit Zangen zerriffen werden. Umgekehrt iſt es nicht
die Sprache religiöjer Erbauung, wenn ein italienifches Mädchen
vor einer Mutter Gotted mit dem Kinde von Rafael ausruft:
che bello bambino, quanto & grazioso, quanto è carino! Ends
lich verfolgt der Gotteshienft feine Zwecke ſchonungslos gegen die
edelſten Werfe der Kunft. Man weiß, wie der Lichterqualm, der
Weihrauch das jüngfte Gericht des M. Angelo ſchwärzt, wie un⸗
günftig und dunkel gewöhnlich die fehönften Bilder in Kirchen
hängen, und was wäre wohl aus der Sirtinifhen Madonna
geworden, wenn fie noch als Umgangsfahne zu Piacenza diente!
Es ift befannt, daß bedeutende Meifter in Italien und Deutfch-
land, nicht etwa nur in der Zeit des Verfalls, wie Pouffin,
fondern in ber beiten Zeit, ſich nicht enthielten, jene ſchauder⸗
haften Martern darzuftellen. Freilich auf Beftelung, aber bie
Aufgabe ließ fi immer mildern. Allein ſie fanden felbft nicht
auf rein äſthetiſchem, fondern auf religiöfen Boden, fie waren
nicht frei; und dies führt ung auf die Hauptſache, ins Schwarze
unſerer Scheibe.
Es liegt in der gemeinſamen geſchichtlichen Entwicklung der
185
Kunft und Neligion eine ſchwierige Antinomie. Indem fie fi
immer mehr zufammenbewegen, gehen fie jeven Moment eben
fo jeher immer weiter auseinander, fie bilden fich einander zu und
zugleich von einander meg, fie ſuchen fih, und dies Suchen ift
ein lichen; fie finden fih und fie find meiter getrennt als je.
Die Religion ftelt das innerfte Selbft des Menfchen ihm äußerlich
profieirt gegenüber. Nicht fein empiriſches Selbft ift es, was er
bier anfchaut, fondern fein ideales. Er ſoll es mwieber erfennen
in: diefer Bewegung, es fol das gegenüberftehende Bild feinen
reinen Geift vertraut begrüßen, feinen Eigenwillen aber und fein
finnliches Leben tief erſchüttern und abweifen. Die Religion auf
ihrem Standpunfte Fennt eine. Verfühnung des empirifchen mit
dem idealen Ich nur unter der Beringung, daß jenes im Inner-
fien zerknirſcht und gebrochen werde, daß es in feinen Tiefen
zufammenfhaure, die heidnifche wie die hriftliche. Dies negative
Moment hält fie feft, um von feinem Eintritt unmittelbar zum
Momente der höchften Verſöhnung überzugehen. Iene Brechung
bed natürliden Willens als ein ftetiges Werk der Erziehung anzu⸗
fehen, den gebildeten Willen ald eine affirmative Einheit des
geiftigen und des Sinnenlebend anzuerkennen, iſt der Standpunft
der Ethik, der nur implicite in dem der Religion liegt. Zurück⸗
weifung alſo des natürlihen Willens und freundliches Entgegen
fommen gegen das reine Selbft im Zufchauer bleibt Hauptaufgabe
reigiöfer Kunſtwerke. Dies Teiften fie um fo mehr, je mehr
finnlihe Darftelungsmittel ihnen zu Gebot ftehen, je mehr fie
fih zur reinen Form erheben, und mit der Vollendung der Form
erreicht das religiöfe Ideal feinen Giyfel. Aber wo helt der
Künftler diefe Born? In der Natur, in der Welt; und gerade
x
186
dieſe fol fein Ideal als nichtig barftellen. Alſo mas er als ver⸗
werflih, als fündhaft, als ausgefchlofien aus dem Heiligthum
aufzeigen foll, eben das ift es, mas er zu demſelben Zwecke aufs
nehmen und einlaffen fol, das iſt der Widerſpruch. Woraus
fein Werk verbannen foll, das ift feine Heimath, feine Lebens⸗
luft. Der Widerſpruch wird lange nicht gefühlt, bis an bie
Schwelle der höchſten Entfaltung bleibt der Flügel der Kunft ges
bunden, ein Reſt alter Herbe und typiſcher Haͤrte rettet bie gefor⸗
berte abweiiende Strenge. Das ift es, was in den Werfen eines
Fieſole, eines Pietro Perugino, Franc. Francia fo fromm er⸗
greift, fo tief rührt, die Schüchternheit in der Anmuth, die naive
Dürre und Magerkeit bei Formen, die doch ſchon der höchften
Schönheit entgegenfchwellen. Endlich bricht die Knospe, die Jungs
frau fft reif und mannbar, das Ideal erreicht; und jetzt, in ben
Werken eines Phidias und Polyklet, eines Rafael feiern Kunſt
und Religion den Moment ihrer höchſten Einheit. Aber es iſt
zugleich der Montent ihrer Entzweiung für immer; die erblühte
Jungfrau hat Fein Bleiben mehr in den Kloftermauern; die Geburt
bed religiöfen Ideals iſt die Stunde feines Todes, dieſe Aloe
welft, wenn der fchlanfe Vlüthenftengel emporgeſchoſſen ift. Es
war zu viel Natur, zu viel Form in dies Heiligthum eingelaflen,
e3 bat mit ihr feinen Feind in fi aufgenommen; einen Bafilisken,
der fein Blut ausfaugt, hat die Firchlihe Kunft an ihrem Buſen
aufgefäugt, bie Schönheit mird ihre Verrätherin. Das gebundene
Bewußtfein bed Künftlers bat fih vom lebten Nefte des Typus
befreit, und nit biefer Freiheit ift es ein weltliched geworben,
ohne e8 zu merken. Die Bundesfeier ſelbſt ift die Sünde ber
Apoftafle. Lange noch Hält die Kunft die kirchlichen Stoffe fell,
187
aber ver Geift ift heraus. Zugleich arbeitete Längft ber denkende
Geift im Stillen, bis er gerüftet Hervorfpringt und jener Einheit
auch von feiner Seite ein Ende macht. Die Vereinigung ter
höchſten Leiftungen in der heiligen Malerei mit den fichtbaren
Anfängen einer Entfremdung von dem Firchlichen Ideale in Ra⸗
fael, der jähe Sprung des M. Angelo über alle fromme Keuſch⸗
beit der Form hinweg, die Entfchiebenheit der DVenetianer für
Bildniß, Gefchichte, glühendes Sinnenleben,, alte Mythologie
bei ganz genreartiger Behandlung religiöfer Gegenftände, Cor⸗
reggio's üppige Sentimentalität: alles dies fällt in biefelbe Zeit,
ba in Deutfchland die Reformation mit ſcharfem Befen die ganze
bunte Phantasnıenwelt des Mittelalterd hinmegftreifte. Es ift
leicht, in Griechenland venfelben Gang nachzumeilen. Die floren-
tinifege und umbriſche Schule des 15. Jahrhunderts entſprechen
ber Periode des Phidias; die des Rafael, Correggio, der Vene⸗
tianer der Richtung des Prariteles und Skopas, wo mit der
vollen Ausbildung der reizenden Form auch das Profane eintritt,
und wie mit jenen die Reformation, fo tft mit dieſen bie ſophiſiſche
und ſokratiſche Philoſophie gleichzeitig.
In Deutſchland giebt man die kirchlichen Stoffe auf, in Italien
behält man ſie bei und verkehrt ſie. Der Katholicismus ſelbſt, von der
Aufklärung angeſteckt und feinen Zerfall fühlend, verfucht eine
große Neftauration , bei der ihm die Kunft weſentliche Dienfte
leiften fol. Das religiöfe Ideal fol durch Mittel fehr moderner
Art, durch stimulantia gerettet werden. Jene eigene feine Sinn⸗
lichkeit, welche mit der Trunkenheit fentimentaler Verzückung zufanı=
menfät, jene Vermiſchung von Magdalene und Pontpabvur, jene
ſchuldige Unſchuld, jene Eofette Naivetät, all jener Theatereffekt,
190
N
in Peter Bijcher. Aber welcher Unterſchied auch zwiſchen dieſem
und dem beinahe um hundert Jahre älteren Ghibeti! Dann folgt
Deutſchlands tiefe Zerrüttung, indeß das Leben der Nation in
die innerften Theile zurüdgetreten nur für rein geiflige Thaten
aufgefpart ſchien, bis enblish neue Keine die Eisdecke durchbrechen
und Deutichland, ſpät, aber defto nachhaltiger und inniger, fein
tiefe3 Gemüth mit der claſſiſchen Korn vermählt. Es war in der
Poeſie ebenfo; die romanifchen Völker, dem Naturell und der
Stimmung, woraud bie Antike hervorgegangen ift, nie ganz ent⸗
fremdet, feiern bie claſſiſche Periode ihrer Dichtung ſchon im 16.
und 17. Jahrhundert, während ſie bei und nad) dem Verfall
der, vom antiken Formgefühl fo weit entfernten, Poeſie des
Mittelalters in tiefer Rohheit liegt. Wir follten erft andere ges
fehichtliche Aufgaben vollbringen; wir follten, wie fein anderes
Volk, entſchloſſen mit dem Mittelalter, dem Geifte phaͤntaſtiſcher
Trandcendenz, brechen, die eigentlichen romantiſchen Stoffe, die
auf dieſem ©eifte beruhen, lieber aufgeben als zur eleganten Form
erheben, und erft jpät die Frucht der humaniftifchen Studien ern⸗
ten, ben gebildeten, mit der Wirklichkeit verſöhnten freien Geift
ber modernen Zeit in die filbernen Schalen antiken plaſtiſchen
Sinnes gießen. Erſt im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts
verſchmilzt Goethe claſſiſche Form und germaniſches, romantiſch
vertieftes Seelenleben zur Einheit des modernen Ideals. Ebenſo
die bildende Kunſt. Aber wer zuletzt lacht, lacht am beſten. Die
italieniſche Kunſt liegt noch tief im Argen; nur die Franzoſen
und Belgier find und gefolgt.
Inzwifchen e8 fehlte noch ein Schritt. Der Standpunkt der
Antife iſt nicht das Element, worin das Gemüth ſich ganz gefät«
191
tigt fühlen kann, dem feit tem Chriftenthum und feiner Durchs
dringung mit der innigen Natur deuticher Völker eine neue Welt
unendlicher Gefühle aufgegangen if. Ganz Hatten ohnedies bie
großen Dichter von dem Mipverftändniß und von ber falfchen
dogmatifchen Anwendung der Antike ſich nicht befreit. Ein kleines
Endchen Zopfband war noch hängen geblieben. Man kennt das
Kunfturtheil der „KRunftfreunde« in Weimar, ihre Mibachtung
der Romantik, ihre Forderung ylaftiiher Stoffe für die Dialerei.
Auch die Porfle war von der faljchen Claſſicität noch nicht ganz
frei; Goethe meinte eine Achilleis dichten zu Eönnen. Etwas Ca⸗
nova, etwas Hofgeſchmack des 18. Jahrhunderts, etwas Puder
ift Doch no in manchen feiner Dichtungen. Eine Neaction mußte
erfolgen. Die romantifhe Schule trat auf, ein fpütgeborned Kind
der eigentlichen Romantik, welche nicht vergeflen konnte, daß fie
in Deutichland, am Schluffe des Mittelalterd unterbrochen, ihren
völligen Abſchluß nicht hatte vollbiingen können; ein neues Mit-
telalter trat auf, aber Eein wirkliches, ein in einem fremdartigen
©eifte, dem modernen, reflectirtes Eünftliches Meittelalter: und
darin lag das Kranke, daß man dies überfah, daß man ganz in's
Mittelalter zurück wollte und Eoyfüber ſich ſelbſt in feine Kirche
ftürzte. Dan begriff nicht, daß es ebenfo einfeitig iſt, das Mittelal-
ter wie ed geht und fteht, als das clafjiiche Altertbum mit Stumpf
und Stiel erneuern zu wollen, daß unjere Aufgabe immer nur
fein kann, von jenem den Gemüthöfern, die geiftige Unendlichfeit
ohne die Phantadmen, in denen fie ſich verworren barftellte, von
diefem die Elare Form aufzunehmen und beide Elemente zur inni⸗
gen Durchdringung zu führen. Wie die Poefle, fo reclamirte
nun auch die Malerei die Momantif: ein höchſt nothwendiger
192
Schritt von unendlichen Folgen. Denn daß bie alten Götter nicht
wieder in’& Leben zu rufen find, daß eine ganze Welt, vie neue
Welt mit ihren Charafterfiguren, ihren ſchwärmeriſchen blauen
Augen, die Geſchichte mit aM’ den Trachten und Formen, in denen
fie ſich darftellte, die veutiche Sage, der ganze Schauplaß der ro⸗
mantiſchen Poeſieen — fofern nur nicht die romantiſche Wunber-
welt felbft mit ihrer Durchbrechung aller feften Formen, fondern
der Glaube an jene Wundermelt und der von ihm fehnfüchtig ges
leitele Mienfch die Aufgabe war —, die deutſche Landſchaft, Furz,
daß ein unendliches Feld erft noch zu erobern war, wer fieht dies
nicht ein? Uber auch hier diefelbe Verirrung. Das Mittelalter
mit Haut und Haaren, feine Kirchen, feine Legenden, fein Mythus
follte erneut und dogmatifch ala höchfte Aufgabe anerfannt wer»
den, blondlodige vergipmeinnichtaugige Sternbalvde wanderten nad
Nom und Hr. Overbeck wurde katholiſch.
Faſſen wir nach diefem Syaziergange wieder vor umferem
Gemälde Poſten. Hier haben wir eine Frucht diefer Tendenzen,
eine Beichte, ein Generalbekenntniß von Overbeck's Künftlerleben.
Ich fafle die Sache jeht an der Wurzel und fage: dad Prin⸗
cip der Reformation, in der Kirche felbft nur unvolljtändig aufs
geftellt, von der Wiſſenſchaft, von der Weltbildung durchgeführt,
hat den Olymp des Mittelalter8 ein für allemal rein auögeleert.
Unfer Gott ift ein immanenter Gott; feine Wohnung ift überall
und nirgends; fein Leib ift nur die ganze Welt, feine wahre Ge⸗
genwart der Menſchengeiſt. Diefen Gott zu verherrlichen ift bie
höchfte Aufgabe der neuen Kunft. Die Gejchichte, die Welt ald
Schauplatz des Herrn, die naturgemäße Wirklichkeit in feharfen, nicht
romantisch ſchwankenden, feften Umriſſen als eine Bewegung, worin
193
ſittliche Mächte Gottes Gegenwart verfündigen, wo Simmelsfräfte
auf» und niederfteigen und fich die golonen Eimer reihen, das iſt
bad Feld des modernen Künftlerd. Wir Eennen Feine Wunder
mehr, als die Wunder des Geifted, dieſe innere Romantik bringe
ber Künftler in gebiegenen, plaftifch geläuterten Bormen zur Er⸗
fheinung. Hiedurch ift die Eirchlich - religiüfe Malerei, die man
ſonſt als den höchften Zweig der hiftorifhen Malerei anfah, of-
fenbar von diefer Stelle vertrieben, ja fie ift aufgehoben. Sind
ed ja doch ſchon dreihundert Jahre her, daß fie Todes verblichen
ift, und nur mit galvanifhen Reizen hat man ihr ein neue
Scheinleben einzutreiben gejucht. Unter Anderem mögen Madon⸗
nen und Seilige u. f. f. immer noch vorkommen; man fann dem
Künftler nicht vorfehreiben, die Stimmung des Fatholifchen Mit-
telalterd mag ihn gelegentlich ergreifen, daß er einmal ein Heili⸗
genbilochen malt, fo wie er unter Anderem auch einmal die alten
Götter wieder auf einige Stunden bei und einführen mag. Uber
er ftelle diefe Aufgaben nicht als Princip auf. Er mag ed, wenn
er eine lebendige Leiche fein will. Unſere Kunft bat Alles verlo-
ren und dadurch Alles gewonnen; verloren die ganze Fata Mor⸗
gana einer trandcendenten Welt, gewonnen die ganze wirkliche
Welt. Die Malerei des Mittelalters, wie fein Glaube, legte die
ganze Erde in den Simmel hinüber, die unfrige zeige den Himmel
auf Erden. Die Atmofphäre unferes Planeten ift für uns feine
Geifterwohnung mehr, der Horizont ift gereinigt; Feine een und
Gnomen fchimmern mehr durch den Nebel, Feine Götter und Ma⸗
rien thronen auf abenorothen Wolken: es iſt Nebel, es find Wol«
fen, aber die Welt ſelbſt rüdt nun in's wolle Licht, da vorher
zwifchen ihr und der Sonne eine zweite Körperwelt ihre dad Licht
Aritiſche Gänge. 13
194
entzogen, fie liegt aufgefehlagen vor uns, die Strahlen ber Kunſt
fönnen ihr bei, es ift Luft, Licht, offen. Daß, mer diefe Helle,
Hare Welt im Segen ihrer Götterfräfte darftellt, indem er das
Gemeine, was bloß endlich an ihr ift, im Läuterungsfeuer ber
Phantafle ausſcheidet, Gott nicht verherrliche, daß man nur ent-
weder Gott, oder die Welt, entweder die Idee oder die Wirklich»
feit, entweder die Natur in ber heiteren Regung großer Kräfte
oder die Uebernatur barftellen, entweder nur artiftifcher Naturalift
oder Supranaturalift fein könne: wer dies behauptet, iſt ein Ma-
nichäer, ein Künftlerpietift, ein Menſch, ver nicht weiß, daß nicht
bloß unfere Theologie, fondern unfere ganze Bildung längft über
das Dilemma ded Nationalismus und Supranaturalismus hinaus
iſt, ja er ift ein Menſch, ber Feine wahre Religion hat. Denn
wahre Frömmigkeit vertraut auf Gott, daß er bei und und mit
und, daß er ein Geift fei, der nicht in fich bleibt und fich nicht
verliert, wenn er feinem Andern ſich ganz mittheilt. Meint ihr
denn, das ſei zufällig, daß wir einen Luther, einen Kant, Fichte,
Schelling, Hegel, Strauß haben? Das könne in der Wiflenfchaft
eingeichlofien bleiben, fjei nit Symptom und Sprache unferer
Gefammtbildung, fließe nicht in fie zurüd und müſſe au in der
Runft durchbrechen? in großes Stück Gefchichte verläugnen, iſt
immer Wahnfinn. Verkenne nur dein Volk und was e8 gethan,
den Bliß des freien Gedankens auf feiner tiefgefurchten Stirne;
geh nad) Rom, um die ewig junge Antife zu verachten und das
verwelkte Mittelalter zu verfüngen, laß di von Notbftrumpf und
Blauftrumpf mit abgeſtandenem Weihmwafler ſprengen: wir laſſen
die Todten ihre Todten begraben.
195
Unfere hoͤchſte Aufgabe iſt jetzt das fogenannte profan = hiſto⸗
ride Gemälde nebft feiner Vorausſetzung, Vorſtudie oder wie
man es nennen mag, bem ebleren Genrebild. Robert war Epoche
machend. Menſchen in gewöhnlichen, Harmlofen Situationen,
aber Menjchen nut der Anlage ver Größe: biefer Bauernburfche
an's Joch Hingelehnt zwifchen den gewaltigen Büffeln, es ift ein
Eincinnatud in ihm verloren gegangen; dieſe hohe rau mit dem
Kinde auf dem Erntewagen, fie könnte Rafael zu einer Mabonna
fiten. Es find Genregemälve im biftorifhen, Hohen Style ge⸗
fühlt und componirt, ſchwanger mit biftorifchem Geiſte. Man
bringe ſolche Naturen in Handlung und wir haben das Hiftorifche
Gemälde. Anfänge find da, aber vereinzelt, noch feine Blüthe,
noch Fein Schwung. Auf den Hiftorifchen Bildern der Düſſeldor⸗
fer Schule Liegt noch bleierner Todesſchlummer; die Münchner
find rüftiger, wiewohl fie mitunter etwas ſchwer an ber gelehrten
Garderobe des Mittelalterd tragen ; am meiften dramatiſche Spige,
aber theatralifch wie immer, haben die Franzoſen. Doch es ift
gut, daß wir nur erft den Wed gefunden haben. Das höhere
Genre und das profanhiftorifche Bild warteten eigentlich bis jetzt
auf ihre Geburt, fie find von geftern. Anfänge fleht man im
Mittelalter bei den DVenetianern, bei Rafael, früher ſchon bei den
Florentinern ald Epifode, da einer heiligen Handlung eine Gruppe
von Zuſchauern, Bildnißfiguren aus der Gefchichte, aͤußerlich zu⸗
gegeben wurde, wie bei Mafaccio, Ghirlandafo, Cofimo Roſelli
und Anderen. Uber die Zeit war noch nicht gefommen. Der
geſchichtliche Geift konnte dem Mittelalter nicht aufgehen, bie ob»
jective Betrachtung, bie er verlangt, febt alle Vermittlungen der
Kritik und der freien Univerfalität voraus, die erft der moderne
13*
194
entzogen, ſie liegt aufgefehlagen vor uns, die Strahlen ber Kunſt
können ihr bei, es tft Luft, Licht, offen. Daß, mer biefe Helle,
Hare Welt im Segen ihrer Götterfräfte darftellt, indem er das
Gemeine, was bloß endlih an ihr ift, im Läuterungsfeuer ber
Phantafle ausfcheidet, Gott nicht verherrlihe, daß man nur ent»
weber Gott, oder die Welt, entweder die Idee oder die Wirflich-
feit, entweder die Natur in der heiteren Regung großer Kräfte
oder die Uebernatur barftellen, entmeber nur artiftifcher Naturalift
oder Supranaturalift fein könne: mer dies behauptet, ift ein Ma-
nichäer, ein Künftlerpietift, ein Menſch, der nicht weiß, daß nicht
Bloß unfere Theologie, fondern unfere ganze Bildung längft über
das Dilemma ded Rationalismus und Supranaturalismus hinaus
ift, ja er ift ein Menſch, der Feine wahre Religion bat. Denn
wahre Frömmigkeit vertraut auf Gott, daß er bei und und mit
uns, daß er ein Geift fei, der nicht in fich bleibt und fich nicht
verliert, wenn er feinem Andern ſich ganz mittheilt. Meint ihr
denn, das fei zufällig, daß wir einen Luther, einen Kant, Fichte,
Schelling, Hegel, Strauß haben? Das könne in der Wiſſenſchaft
eingefchlofien bleiben, ſei nicht Symptom und Sprache unferer
Gefammtbildung, fliege nicht in fle zurüd und müſſe auch in der
Kunſt durchbrechen? Ein großes Stück Gefchichte verläugnen, tft
immer Wahnflnn. Verkenne nur dein Volk und was es geihan,
den Blib des freien Gedankens auf feiner tiefgefurchten Stirne;
geh nad Nom, um die ewig junge Antife zu verachten und das
verwelkte Mittelalter zu verjüngen, laß dich von Rothftrumpf und
Blauftrumpf mit abgeflandenem Weihwaſſer ſprengen: wir laffen
die Todten ihre Todten begraben.
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Unfere höchſte Aufgabe tft jetzt das fogenannte profan » hiſto⸗
riſche Gemälde nebft feiner Vorausſetzung, Vorſtudie oder wie
man ed nennen mag, bem ebleren Genrebild. Mobert war Epoche
machend. Menſchen in gewöhnlichen, Harmlofen Situationen,
aber Menſchen niit der Anlage der Größe: diefer Bauernburfche
an's Joch Hingelehnt zwifchen den gewaltigen Büffeln, es ift ein
Cincinnatus in ihm verloren gegangen; diefe hohe Frau mit dem
Kinde auf dem Erntewagen, fie könnte Rafael zu einer Madonna
fiten. Es find Genregemälde im hiſtoriſchen, Hohen Style ges
fühlt und componirt, ſchwanger mit Hiftorifhem Geiſte. Dan
bringe ſolche Naturen in Handlung und wir haben das hiftorifche
Gemälde. Anfänge find da, aber vereinzelt, noch, eine Blüthe,
noch Fein Schwung. Auf den hiftorifchen Bildern der Düſſeldor⸗
fer Schule liegt noch bleierner Todesfchlummer; die Münchner
find rüftiger, wiewohl fie mitunter etwas ſchwer an der gelehrten
Garderobe des Mittelalters tragen; am meiften dramatiſche Spige,
aber theatralifh wie immer, haben die Franzoſen. Doch es tft
gut, daß wir nur erft den Wei gefunden haben. Das höhere
Genre und das profanhiftorifhe Bild warteten eigentlich bis jeßt
auf ihre Geburt, fie find von geftern. Anfänge fieht man im
Mittelalter bei den DBenetianern, bei Rafael, früher ſchon bei den
Slorentinern als Epifode, da einer heiligen Handlung eine Gruppe
von Zufchauern, Bilonipfiguren aus der Gefchichte, dußerlich zu⸗
gegeben wurde, wie bei Mafaccio, Ghirlandajo, Cofimo Roſelli
und Anderen. Uber die Zeit war noch nicht gefommen. Der
geichtähtliche Geift Eonnte dem Mittelalter nicht aufgehen, bie ob»
jective Betrachtung, die er verlangt, ſetzt alle Vermittlungen ber
Kritik und ber freien Univerfalität voraus, die erft der moderne
13 *
196
Geift auf fih zu nehmen vermochte. Aber melche Welt, welche
ungehobenen Schäge liegen noch vor und! Nur Ein Gebiet von
hunderten: die deutfche Gefchichte, die Hohenftaufen, die deutſche
Heldenfage! Wem müſſen ſolche Stoffe nicht das Herz ſchwellen?
Und da follte feine Verherrlichung Gottes fein? Es handelt fid
bier im Grunde ganz einfach um eine logiſche Kategorie. Wer
behauptet, Gott werde von der Kunft nur gefeiert, wenn er und
fein überſinntiches Reich in greifbaren Geftalten über ver Erbe
und miraculös in fie einbrechend dargeftellt werde, der behauptet,
per Geift müffe neben dem Körper felbft wieder als Körper bes
ftehen, das Ganze müſſe ſelbſt wieder ein Theil fein. „Pantheid-
mus! ft der Menſch Gott?“ Nein! Gin Maler führe eine
große geihichtliche Scene aus, worin eine allwaltende fittliche
Macht fiegend oder zum Heldentode ſtärkend ihren Triumph feiert:
fo ift feine der einzelnen Geftalten, welche die ganze Compofition
eonftituiren, gleich Gott, aber das Gefammtprodurt der Handlung,
zu dem fie zufammenmwirfen, und das unendlich größer ift, als
jedes der mitwirfenden Subjecte ‚das ift — nicht Gott, aber ein
Blatt aud dem Buche der Gottheit, ein Act aus der Gefchichte
der Selbſtbawegung Gotted. Es giebt feinen Sprung zu Gott.
Das Abfolute if nur Anfang, Mitte und Ende aller der Vers
mittlungen, durch die es ſich offenbart; Gott wirft nur durch
Organe. In Rafael's Schule von Athen ift Fein einzelner Philos
joph die ganze Philofophie, fie geht als Geift durch das Ganze,
iſt Princip und Facit aller Glieder dieſes hohen organiſchen Ge⸗
bildes. Aber in den Fresken Hermann's in dem Univerfltäts-
bauje zu Bonn ift die Philoſophie und die Theologie neben bie
197
großen Männer, in denen fte fich wirklich verkörpert, als bie hohle
und ſchattenhafte Figur einer Allegorie grobmaterialiftiich hingeſetzt.
Doch endlich genug der allgemeinen Reſlexionen. Bei einem
Kunftwerfe kommt e8 auf die Form an, e3 ift nicht philoſophiſch,
fondern äſthetiſch zu richten, und mas philoſophiſch unwahr, muß
in ihm al8 unſchön zur Erfcheinung Tommen. Overbeck trägt
ſelbſt die Schuld, wenn wir mehr philoſophiſch, als äfthetifch zu
Werke gingen, er hat einen Katechismus gemalt, er hat mit dem
Pinfel eine Abhandlung gefchrieben, er visputirt mit der Palette,
wir antworten mit der Feder. Uber nehmen wir's einmal äſthetiſch.
Daß die zwei Theile des Bildes keine Einheit haben, mußten
wir oben ausſprechen und Eönnen jebt hinzufeßen, daß fich der
Meifter hiefür nicht auf die Werke der alten Schulen berufen
darf. Sie entſchuldigt der Dualismus des Himmels und ber
Erde, in welchem eine verflungene Weltanfhauung fich bemegte.
Und doch wiſſen fle eine Einheit herzuftellen, die wir auf dieſem
Bilde vergebens ſuchen. Durch wehmüthigen Aufblict glühenber
Andacht find gewöhnlich die irdiſchen Perſonen auf die überirdi⸗
ſchen, durch freundliches Neigen nad) unten diefe auf jene bezogen,
und in Rafael's disputa bildet der Nachtmalskelch, die himmli⸗
{hen Strahlen fammelnd, ein myftifches Verbindungsglied beider
Welten. Nehmen wir nun beide Theile für fih und fehen zuerft
nach dem oberen. Madonna thront, ein Feufches, reines, bezau-
berndes Mädchen; das Kind, diefed mwenigftend nach unten geneigt,
fieb, rührend, zum Küffen. Hier zeigt fich Overbeck's milder weib⸗
liher Genius in feinem Elemente. Overbeck's Styl ſucht befannt-
lich die Mitte zwifchen Fieſole und Rafael; von diefem den Fluß
und die Rundung, Breiheit der Geftalt, von jenem die keuſche
j 4
198
Schuchternheit, bie felige Innigkeit, die Sabbathftille, den Meft
typiſcher Gebundenheit und Herbe. Man möchte jagen, er fuche
ben Rafael da zu ergreifen und feftzuhalten, wo gr in feiner flo⸗
rentinifchen, noch etwas firengen Periode ftand; aber Rafael hatte
doch ſchon damals und von Anfang an mehr Männlichkeit und
Sättigung, als Overbeck jemals erreichen kann und will. Sein
Genius tft eine aufblühende Jungfrau, deren Knospe noch nicht
ganz gebrochen tft, deren Formen verſchämt vor der Schwelle zur
Mannbarkeit innehalten. Welch fchönen Anfang heiterer Entfal-
tung nahm biefer Geift in den Fresken der Billa Mafftimi! Wie
mild und Elar liegt der idylliſche Duft auf jenem lieblichen Bilde:
bie Ankunft der. Erminia bei ven Hirten! Und welche Welt, wel-
her Reichthum von edlen Stoffen lag diefem reinen Streben auf⸗
gethan! Aber ex befchlieht, dieſer ſchönen Welt Lebewohl zu fagen
und fih in dumpfen Kapellen zu verriegeln. Es fel denn; wer
durchaus Mönch oder Pfaffe werden will — mir können's ihm
nicht vermehren. Daß nun in diefem eng beſchloſſenen Kreife das
Ideal der Madonna es fei, wozu dieſe Hand am meiften Beruf
bat, begreift fi; zwar nicht die ſtolze Königin der Himmel, wohl
aber vie keuſche Magd des Herrn, die ſchamhaft über dem Ge⸗
beimniß ihrer Berufung finnende Braut, ift ganz eine Aufgabe
für feine findliche Grazie. Ja, fle ift ſchön, diefe Madonna, biefe
reine Taube fonder Galle. Und doch — es ift etwa darin, ich
weiß nicht was, etwas Almanach, etwas Vielliebchen und Ver-
gißmeinnicht. Es tft ein Zug, der in allen neueren Madonnen
unverkennbar fit; man flieht ihnen eben eine Zeit an, mo es
Stammbüder, viele Spiegel, Modejournale und Titelfupfer von
Taſchenbüchern giebt. Wie fol es auch anders möglich fein! Wie
199
kann ein Menſch feine Zeit werliugnen! Die betende Mabonna
von Heinrich Heß in der Allerheiligenkirche zu Muͤnchen ift ein
wunderliebliches, frommes Bild, und boch aud fie hat denſelben
Zug. Wir wiflen einmal, es giebt Feine menfchliche Jungfrau,
die zugleich eine göttliche, keine Empfängniß, die zugleich außer
dem Naturgefeb wäre. Mag der Einzelne es glauben, oder nicht:
dies iſt gang gleichgiltig; es Hi in der Atmoſphäre, er ſchlürft
dieſe Bildung in jedem Athemzuge mit ein. Nun ſoll aber den⸗
noch eine jungfräuliche Mutter dargeſtellt werden; wohlgemerkt
nicht in dem rein ſittlichen Sinne, wonach die wahre Liebe das
Sinnliche adelt, die wahre Frau ſtets keuſche Braut bleibt, ſondern
im kirchlichen Sinne eines Mirakels, einer unbegreiflichen Exiſtenz.
Dieſen Zwang gegen das Zeitbewußtſein, dieſe Abfichtlichkeit ſollte
man dem Bilde nicht anfühlen? Nein, eure Madonnen find nicht
Mabonnen der alten Kirche; fle haben in den Stunden ver An-
dacht geleien, fle find in einer Penſion, in einer Töchterſchule
aufgewachlen, ein Sährchen menigftens, ja fie trinken Thee, wenig,
aber etwas. Dieſe hier hält ja gar eine Schreibfener in der Hand;
gebt Acht, fie nimmt ein Blatt aus einem Album mit Rococo⸗
arabeöfen am Rande und fchreibt etwas aus Jean Paul darauf
— nein, ſchönes Mädchen, ich glaube es nicht, Daß dies Kind Ihr
Kind ift, Sie find zu ſittlich, auch hat der heilige Geiſt einen an⸗
dern Geſchmack, etwas derber*); einen Zimmeruann hätten Sie
*) Die Bosheit hat unter Anderem diefe Etelle heraußgegriffen, um mir
ſchaͤdlich zu ſeyn. Ich werde mich aber durch nichtd abfchreden laſſen,
nach wie vor die Innere Frivolttät unmwärdiger Vorfiellungen von dem
Soͤttlichen fchonungdlod an den Tag zu legen,
200
ſchwerlich geheirathet; vielmehr ein Seal son ‚einem fittlichen,
höchſt mufterhaften jungen Mann, angeftellt etwa beim Kirchen-
und Schulmeien, irgend einen Oberbofprediger, der Glockentöne
gejchrieben hat — den würd’ ich Ihnen empfehlen. Aber wie
frevle ih! Das Bild ift doch fo ſchön! Und ich habe doch Recht;
eine Madonna ift für und eine Unmöglichkeit. Die alten Maler,
ja bie Eonnten ed. Wie innig der Einzelne an ſie und den danzen
Mythenumfang der Kirche glaubte, war dabei nicht wichtig; bie
Borberung einer befondern Frömmigkeit an den Künftler ift in
allen Zeiten lächerlich, und was Fiefole malen Eonnte, dankte er
gewiß nicht den Gebeten und Thränen, mit denen er an die Staffes
lei trat. Daß die Weihe der Stimmung nicht fehlen darf, verfteht
fih, aber wie der praktiſch⸗menſchliche Charakter und die Innig⸗
keit dogmatiſcher Ueberzeugung damit zufammenhängen, inwieweit
das Ideal feiner äfthetiihen Contemplation auch die Berfönlichkeit
des Künftlers durchdrungen haben müffe, darüber muß man in
feinen Behauptungen fehr vorfiditig zu Werke gehen, dent bie
Frage ift gar nicht einfach. Von dem alten, firengen, kirchlichen
Giotto hat man mandherlei Anekdoten, worin er eben nicht fehr
lammfromm erfcheint; der andadhiglühende Perugino war, wenn
man auch von Vaſari's Schilderung Manched abzieht, ein Mann,
der die Güter des Lebens wohl zu ſchätzen wußte, und die Maler
der reifen Periode ohnebied waren ſammt und ſonders Weltkin⸗
ber. Allein wie locker fte leben und denken mochten: die Princis
pien, die Grundſtimmung des Katholicismus hatten fie mit ber
Muttermilch eingefogen, wir Neueren aber, Katholif wie Pro-
teftant, wir Kinder einer Zeit, mo es Bräde und Cravatten giebt,
baben die entgegengefegte Stimmung in allen Nerven und bern,
201:
und jede Muͤhe iſt vergeblich, md auf dem Wege ber Ueberzeu⸗
gung, ber Dogmatif in jene zurüdzuverfeßen. Dahin kommt
man sticht mit Dampffraft, es iſt aus und vorbel.
Aber gejegt, man könnte; gefeßt, der reife, verftänbige Mayı
fönnte noch einmal in alle naiven Illuſionen feiner Jugenb zurüd:
ſollte er denn ſo unflug fein, daſſelbe in der Kunft zu verfuchen,
wo er mit Meiftern rivalifiren muß, die all' den künſtlichen Um
weg nicht nöthig, die Alles von felbft beifammen hatten, was eine
höchſte Blüthe Eirchlicher Kunft bedingt? Können wir denn im
beiten Salle mehr erreichen, als einen flüchtigen. Nachglanz, eine
löbliche Reproduction deſſen, was fehöner und urfprünglicher ſchon
bageweien? Wer ift denn fo thöriht und ſtellt fih ohne Noth
in eine Kategorie, in welcher er unerreichbare Nebenbubler findet?
Die religiöfe Kunft fei in ihrer Entwicklung unterbrochen worden
und unvollendet geblieben, wir follen fle zur Reife bringen, meint
Dverbeit (S. 14). Daß ich nicht wüßte. Das fünfzehnte und
bef Anfang des fechzehnten Jahrhunderts, die florentiniſche, um⸗
briſche, mailändiſche Schule, Rafael als Gipfel von Allen, haben,
was die Malerei irgend aus ber katholiſchen Welt ziehen Eonnte,
bis auf den Grund heraudgezogen. Diefer Brunnen iſt auöge-
ſchöpft. Julian's erneuerter Polytheismus Eonnte feinen Phidias
und Polyklet mehr zeugen. Cornelius hatte leicht, die offenbaren
Berftöße des M. Angelo gegen das Tirchliche Ideal in feinem
füngften Gerichte zu verbeflern und zugleich alle8 Große dieſes
gewaltigen Werks zu entlehnen. Es iſt eine ganz tüchtige Nach⸗
ahmung, aber verlorene Mühe, denn die Sache ift größer und
ürfprünglicher ſchon dageweſen, und mas für jene Zeit recht und
202
gut war, biefe Lehre von ver Verdammniß, tft für und craß und
zurüdftoßend.
Die Heiligen, welche Maria umgeben, find in deniſelben ſchüch⸗
ternen, frommen Tone gehalten. Viel Schönes; wie trunfen an⸗
dahlig ber malende Lucas! Uber nichts, was trifft und packt,
nichts Mächtiges. Die Männerköpfe David's und Salomo's er-
innern an die herrlichen Geftalten auf Rafael's Theologie In dem
oberen Halbkreiſe, aber die Schneide fehlt, fle find matt und zahm.
Es {ft caftrirter Rafael: eine Manier, vie fich überhaupt jetzt bei
unferen talentoolleren Vertretern ver veligiöfen Malerei zur kano⸗
niſchen auögebilvet zu haben fcheint. Es Liegt auch fo nahe. Ra⸗
fael hat das religiöfe Ideal zur vollen Schönhelt entfaltet, aber
iſt auch ſchon in das Unheilige hinausgefhritten; fo entlehnen
wir den Fluß und Schwung feiner Formen, beſchneiden ihn aber
etwas, nehmen etwas Trockenheit und Timivität der älteren Schus
Ien dazu, und wir befommen das Rechte. So hat man ever
Rafael's hohe, männliche Zreiheit, noch die Eräftige typiſche
Strenge ber Aelteren, ſondern jene eigene Neinlichkeit, Sauberfeit,
Koftbarkeit, Gewiegtheit, der die Ecken der Männlichkeit. fehlen.
Wie lieblich ſchoͤn find die Eompofitionen Heinle's (für Fresken
in einer Kapelle, fie waren in der Frankfurter Kunftausftelling im
April zu fehen), die fieben Seligfeiten der Bergpredigt darſtellend!
Wie tief der Geift diefes Mannes ift, bewies auch eine Zeichnung,
das Leben der heiligen Euphrofyne nad) der Art der alten Meifter
- in fortlaufenden Scenen auf Einem Felde entfaltend, vol epifchen
Gefühls, vol gemüthlicher Heimlichkeit im tiefen Ernſte. Aber
wir können und in diefe fo iveellen Kormen, aus denen das Grobe
ber Wirklichkeit hinweggetilgt, das fchroffe, volle Muskelleben,
203
das Feuer ber Maͤnnlichkeit in Schmiegfamfelt und Zaubenmilve
aufgelöft it, nur Fünftlich Hineinfühlen. Es tft eine Stimmung,
wie fie ein Mäpchen am Morgen ver Eonfirmation empfinden
mag. Aber man wird Älter, e8 Eommen andere Tage, die Leiden⸗
haft, der Drang des Lebens, die Erfahrung, und jener erfte Thau
der Sabbathgefühle kann fo nicht bleiben, nicht wiederkehren.
Veberfehen wir nun den unteren Kreis, bie bunte Künftlebs
gemeinde. Gegen die Anordnung der Gruppen haben wir ſchon
Einige8 einwenden müflen, da von der Eunftgefchichtlichen Bedeu⸗
tung einzelner Meifter die Rede war. Es war eine höchſt ſchwie⸗
rige Aufgabe, Richtung und Geift der Einzelnen anfchaulich zu
machen. Dennoch wären dem Maler ganz andere Mittel zu Ges
Bote geftanden, hätte er nicht das Heilige, auf welches die Künftler
in verfchiedenen Graben der Annäherung und Entfernung bezogen
werben follten, in einen Raum über ihnen geftellt. Die flreng
firchlichen Deeifter 3. B. wären durch Berfammlung bei einer Ka⸗
pelle, ein Madonnenbild, um das fie beichäftigt, durch Gruppirung
um einen Altar gewiß in ihrem Streben deutlicher zu bezeichnen
geweſen, als e8 bier der Fall iſt, obwohl ihre Vereinigung um
Dante zu den glücklichen Gedanken des Werkes gehört. Doc
find Fiefole, van End, Hemmlink von diefer Gruppe getrennt
und ihr entſprechendes Beftreben ift durch gegenfeitige Begrüßung
fehr mangelhaft angezeigt. Albrecht Dürer, deſſen größte Leiftungen
doch auch in dem religiöfen Felde liegen, ift durch feine ungefähre
Stellung in der Nähe der obern Schale der Fontaine gewiß
fehr oberflächlich Harakterifirt und feine Gruppirung zu foldhen,
die ihm durch gleiche Uebung der Kupferftecherei vermanbt find,
ein ſehr äußerliches Motiv. Am beflimmteften ift das Beftreben
204
ber Bildhauer und ber Baumelfter zu erkennen, denn fie zeigen
fi mit Gegenftänben ihrer Kunft befchäftigt, an denen zugleich
der Geift ihrer Erfindung dur den Grundriß einer Bafilika
u. ſ. m. ſich einfach hervorheben ließ. Die zwei Gruppen biefer Ich
teren Künftler gehören au dem Rhythmus der Compoſition, der
Kraft der Barbe nach zu den fchönften des Bildes. Wie ſchön iſt
aamentlich die Gruppe um Pilgram, wie zierlich fitzt der junge
Franzoſe, wie ernſt vertieft Eniet der junge Engländer! Das Co⸗
lorit übrigens feheint mir fehr ungleich, von den Fräftig brennen
den venetianifchen Farben des Vorbergrundes Fein Uebergang zu
DEF ploͤtzlich ſchon im Mittelgrunde eintretenden Abdämpfung ver
Farbe durch die Luftperfpective, einem Freivigen und erbigen Tone,
die Fleiſchfarbe in's Dlivenfarbe und Bleigraue fpielend. Do
darüber wird fich erft entſchieden urtheilen lafien, wenn das Bild
gefirnißt fein wird, die Farben haben eingefchlagen. Un Farbe
wie Compoſition ift die landſchaftliche Ferne der Theil des Bil«
des, woran man die ungeftörtefte Freude haben kann. Italiens
Berge, Linien, Luft, himmliſche Bläue — wie hat der Künſtler
den Geift diefer Landſchaft gefühlt! Und er kann ein folder Ze⸗
lot fein!
Wir haben aber von einer Sauptfache noch nicht gefprochen, von
den Charakteren im unteren Plane. Sie find, wie fich erwarten
laͤßt, abgebämpft, abgeſchwächt. Es find keine Männer, fie find nicht
jo keck, es zu fein, der dicke Himmel über ihnen drückt und laſtet
auf fie herab, Anders blickt ein Mann, anders ftrogt ihm Mus«-
Tel und Sehne von Krafigefühl, anders tritt or den Boden,
anders beiwegt und wenbet er fich im Bewußtſein feines Herrſcher⸗
geiftes, ber Gottheit vol. Iſt dies Dante, der hier fpricht? Bes
209
geiftert,, eifrig erſcheint er, feine Gefldhtszäge find zu erkennen,
aber er muß Frank geweſen fein, ſeit ich ihn das letzte Mat fah,
er tft der zornige, grobe Dann nicht mehr, der die ſchreckliche
Hölle gebichtet hat und einen Schmied in Florenz herumprügelte,
weil .er feine Verſe fchlecht fang. Da fitt Mich. Angelo , tief
finnend, wie er war, aber zahm, zahm ift er geworben, vom
Fleiſch gefallen , fein Feuerauge eingefchlunmert, er nacht wohl
fein Teftanıent? Albrecht Dürer, mer den hier anfleht, der ver«
gefle nur vorher dad Bild des deutſchen Kernmannes in München,
den ernften, reblichen, feft auf fich ruhenven, tief In fich weben⸗
den und doch Flar und beftimmt aus dem Bilde herausblickenden
wunderfchönen Männerkopf im Walde der nußbraunen Locken.
Auch dieſe erfenne ich nicht wieder , fie haben fo ſtark in’8 Rothe
gefärbt — und wie? Bemerfen Sie denn au? Der Mann
ſchielt ja, recht eigentlich fehielen thut er, was man fo ſchielen
nennt. Wie iſt es aber möglih? Iſt der Pinfel ausgeruticht ?
Oder — doch halt, ich hab's, es füllt mir mie Schuppen vom
Auge, dahinter ift etwas, ein Sinn, ein Gedanke, eine Idee
— es tft eine Allegorie. Albrecht Dürer hat Weltliches und
Geiſtliches gemalt, war ein ernfter Mann zugleich und ein heiterer
Batron: das eine Auge fleht nach der Kirche zu feiner Linken,
dad andere vor fich in die Welt. So wird es fich verhalten, man
muß nur nicht oberflächlich betrachten, die Kunft hat tiefere Ab⸗
fihten, Ideen. Da flieht Peter Viſcher's Kopf heraus neben
Nicola Pifano, recht finnig, andächtig, der breite knochige Kopf
recht ſauber beſchnitten und rebucirt, der volle Bart geftußt, ber
Herkulesnacken gefehmälert — nein, ehrlicher Rothgießermeiſter,
fo Haft du felbft dich nicht abgebildet in deinem Sebaldusgrab!
206
Das iſt nicht der flänmige beutfhe Mann, wie er, Sammer und
Meißel in ver Kauft, das Schurzfell umgethan, breitſchultrig,
ehrenfeſt unter dem zierlichen ehernen Bogen fteht!
Aber was fol dad Alles! Wir vergeffen ja, daß wir ein
religiöſes, ein chriſtliches Gemälde vor uns haben; im Kaufe
des Herrn muß man leife und demüthig auftreten, und du, lieber
Kunftjünger, „magſt zum Schluß als Hauptfumme feflhalten,
daß die Künfte nur dann der Menſchheit Heil bringen, wenn fie,
den Eugen Iungfrauen gleich, mit brennenden Lampen des Glau⸗
bend und der Gottesfurht, in holder Demuth und Keufchheit
dem himmliſchen Bräutigam entgegengehen, daß file nur als folche
wahre Simmelstöchter find, nur als folche deiner Liebe wahr⸗
haft würdig. Auch dürfen fie nur als folche den Segen von oben,
ohne den Fein Gedeihen denkbar tft, fich verfprechen; denn un
snöglih kann Gott ein Bemühen fegnen, das nicht in Seiner
Furcht gegründet iſt. Ihm fei denn Ehre, und Preis dargebracht
durch unfrer Hände Werk, in jeinem Tempel, das ift in feiner
Kirche hier auf Erden, damit wir einft in Ewigkeit ihn Toben
mögen mit feinen Engeln und ausermählten Heiligen im Simmel.
Amen!’
Amen. Ih gehe hinein zu den Gypsabgüſſen, zum Torſo
des Ilyſſus, ich will mir feine gewaltigen beibnifchen Arme und
Schenkel anjehen und mir wird befier werben.
207
Die Agquarell-Copien von Hambour in der Gallerie
zu Düſſeldorf.
(Deutfche Jahrb. für Wiſſenſchaft u. Kunſt, Jahrg. 184°. Mr. 138 ff.)
1. Einleitende Betradhtungen über den Zuftand
der jegigen Malerei.
Daß in Deutfhland (und in Frankreich, feit e8 von ber deut⸗
ſchen Romantik ergriffen worden ift) die Malerei neuerdings einen
Aufſchwung genommen habe, ver und beredtigt, von einer
modernen Epoche diefer Kunft zu reden, ift eine anerfannte Sache.
Aber es ift ſchwer zu beftimmen, in welchem Stadium fie fi jegt
befinde, ob noch in dem der Lehrjahre oder fchon im Mebergang
zu den Meifterjahren. Baft könnte man geneigt fein, zu fagen,
fie jet vor der Zeit aus der Schule gelaufen, habe fich die Mei-
ſterſchaft angemaßt, unglüclicherweife haben die erften Proben
Glück gemacht, und nachher Habe fich doch gezeigt, daß der Meifter
noch nicht genug gelernt gehabt habe; fie gleiche frühreifen, alt=
klugen Kindern und greifenhaften Jünglingen, wie fie unfre Zeit
bervorbringt, und fie folle nur erft zufehen, daß fie wieder von
vorne jung werde, um dann erft mit Ehren zu altern. Zugeben
muß man gewiß, daß der Schwung, das Leben, das man hoffen
durfte, als Karſtens, Wächter, Schill, als fpäter die Roman
208
tiker Overbeck, Schnorr, Veit, Cornelius, Schadow wit ihren
eriten Werken bervortraten,, fich immer noch nicht einftellen will
und bereitö fo Yang auf fih hat warten laſſen, daß ein Klein
müthiger alle Hoffnungen aufgeben könnte. Zerſtreutes Talent
zwifchen aufgefpreizter Unfähigkeit, zerfplitterte Bortrefflichkeit
ziwifchen unendlich vielem Halben, Schiefen, Armfeligen ; unend⸗
liche Vielheit, deren Vereinzelung kein innres Band zuſammen⸗
halt, Feine Einheit in der Mannigfaltigkeit, kurz nichts Gemein⸗
fames, Fein großer Zug, der bei, aller Selbftändigfeit der Einzelnen
alle durch Nationalität und Geift der Zeit verbundnen Kräfte nad
Einem Geſetze gleichmäßig mit fich fortriffe, und ebendaher Feine
Gemeinſamkeit zwiſchen den Sünftlern und dem Wolfe, oder ums
"gekehrt, wie man will. Der Urjachen dieſer Stockung giebt e8
eben fo viele, als unfre Zeit Eigenfchaften Hat; wo man fie irgend
anfafjen mag, fo ftößt man auf ein Hinderniß der Kunft, und
gerade da am melften, wo der Unkundige nach dem Nugenjcheine
die meifte Pflege finden wird. Wer fte alle aufzählen wollte, der
müßte ein großes Gemälde der Zeitgebrechen entwerfen, und ber
Genfor würde mit den Schwamm zur Seite ftehen und dafür
forgen, daß der Pinfel nicht allzu kühn merde.
Faſſen wir, flatt und auf dieſes bedenkliche Unternehmen ein»
zulaffen, nur den reinen Tihatbeftand ind Auge und nennen die
offenbaren Hauptübel, an welchen eine in ihren erften Auftreten
fo friſche Jugend krankt. Wir fehen zuerft nad) ven Stoffen der
Kunft und decken die Wurzel des Siechthums auf, die allges
meine unendliche Unſicherheit in der Wahlder 6
genſtände. Wo irgend in der Vergangenheit ein großes Kunſt⸗
leben blůhte, da ſchöpften alle höhern Zweige der einzelnen Künfte
209
aus Einer, ein- für allemal gegebnen, gemeinfamen Duelle von
Stoffen, und diefe Quelle war nichts Andres, als die Subſtanz
des Bolfögeifted. Die Kunft ftelte dar, was in Aller Herzen
gegenwärtig Iebte, worin jedes DBemußtfein den Kern alles Da-
ſeins fand. Die Kunft traf im Volfögeifte und dieſer traf In ber
Kunft fich felbft wiener an. Der Grieche bildete Götter und Heroen,
und was waren biefe Andres, als die verflärte Phantaftegeftalt
der fittlichen und finnlichen Kräfte feines Volkes? Der Italiener,
der Deutfche im Mittelalter bildete und malte die Geftalten bes
chriſtlichen Mythus, und mas war diefer Andres, old das ma⸗
gijche Spiegelbild des Gemüths, dem feine innre, noch verfchloßne
und weltlich nicht durchgebildete Unendlichkeit aufgegangen war?
Die Zeit der Rückkehr zu antifen Gegenftänden und Tormen fuchte
in der .heitern Sinnlichkeit der alten Babelwelt ein entſprechendes
Gegenbild für den frifhen Weltfinn, das Behagen im Dafein,
das bie Völker fühlten, als fie fo eben dem Geift einer finftern
Asceſe entwachſen waren, und fo fubjectiv und unhiftorifch au
im 16. und 17. Jahrhundert das Alterthum zubereitet und zus
geichnitten wurde, e8 war doch ungleich mehr innres Verſtändniß,
Wärme ded Gemeingefühls mit diefer verſchwundnen Tachenden
Melt vorhanden, als in unferem gelehrten und freudlofen Jahre
hundert, fo wie die Schaufpieler auf Shafefpeare'd Bühne bie
alten Helden in Federhut und Pumphoſen gewiß viel antifer Spiels
ten, als die unfern in ihrer archäologifchen Garderobe. Wo aber
diefe Zeit den bereits ausgelebten hriftlichen Mythus noch aus⸗
zubeuten fortfuhr, beftrafte fich dieſer Widerſpruch mit der Ge⸗
genwart und dem Bewußtſein des Jahrhunderts alsbald durch
eine entftellende Cinmifchung der weltlichen Stimmung in ben
ritiſche Gänge. 14
2.10
geiſtlichen Stoff, durch den Ausdruck ber Ueppigkeit und Empfinb-
ſamkeit. Aber auch der antike Stoff biieb freilich Immer ein ge⸗
bötgter, da doch ein⸗ für allemal Zeit und Volk in der Kunft mit
vollem Recht ſich ſelbſt ausgeprägt fehen will. Die Kunft verließ
ihre Stelle, rückte nach dem Norden, und zum erften Mal trat
die nächfte, unmittelbare Wirklichkeit mit der Behauptung bes
vollen Anſpruchs auf eine Stelle unter den Kunftfloffen auf. Der
Niederlaͤnder malte derbe Volksluſt und behagliches Bürgerleben,
und was war das Andres, als das Ebenbild des tüchtigen, wohl⸗
beſtellten und bequemen Daſeins ſeiner Nation? Der Franzoſe
der Revolutionszeit ging ins claſſiſche Alterthum zurück und malte
römiſche Helden; theatraliſch gnug, aber der revolutionäre Wille
traf ſich und ſeinen ſtraffen Entſchluß in dieſer Kunſt wieder an.
Alſo immer und überall, wo Kunſtleben war, hatte es ſeine
Wurzel im Bewußtſein der Nation, und nahm daraus ſeine Stoffe.
Nun, und was malen denn wir? Wir malen Alles und
noch einiges Andre. Wir malen Götter und Mabonnen, Heroen
und Bauern, fo wie wir griechiſch, byzantiniſch, mauriſch, go⸗
thiſch, florentiniſch, & la renaissance, Rococo bauen und nur
in keinem Styl, der unfer wäre. Wir malen, was der Welt
Brief ausweift; wir find der Herr Meberall und Nirgends. Da
it feine Mitte, Teine Hauptgattung, fein Hauptgericht zwiſchen
al ven Zuſpeiſen, Süßigkeiten, Zuckerbäckereien, ımter denen
die Tafel ſeufzt. Reflectirend und wählen fteht jet der Künſtler
über allen Stoffen, bie jemals vorhanden waren, und flieht den
Wald vor Biumen nicht. Dies iſt das bedenkliche Prognoſtikon
mnirer modernen Kunſt. Niemals fragte man in einer ſchwung⸗
vollen Periode der Kunft, was dena barzuftellen fi? Das war
211
ein» für allemal ausgemacht, man wußte es nicht anders, es
war durch das gemeinfame Bewußtſein bed Volles und der Künft-
ler gegeben, und dieſer durfte nur in den gegebnen Reichthum
bineingreifen. Unfre Kunft ift entwurzelt, fie flattert bodenlos
in den Lüften, weil fie nicht eine abfolut gegebne Welt von Stofs
fen mit der Subflanz des Volksbewußtſeins gemein bat; fie if
heimathlos, ein Bagabund , ver Alles kennt und koſtet und dem
es mit Nichts Ernft iſt, unſre Kunſt iſt der Verſtorbene, ver
Semilaſſo, der Vergnügling, kurz der Fürſt Pückler⸗Muskau.
Huͤten wir und wohl, ihr allein die Schuld davon beizumeſ⸗
fen ; böte nur die Zeit ein fruchtbares Erdreich, fle könnte und
müßte Wurzel ſchlagen. In ber Zeit felbft liegt das Liebel. Ich
fafle es in der Mitte und ſage: unfre Zeit hat feine Gegenwart,
ſondern nur eine Vergangenheit und eine Zukunft. Wir ringen
nah neuen Lebensformen; find fie erfi da, fo wird bie
Kunft ihren Stoff haben. Denn, fo Gott will, fo werben es
Sormen fein, worin bie abfoluten Bedingungen aller Kunſtdar⸗
ftellung, Charakter, Individualität, Natur ſich wieder regen dürfen.
Es wird wieder Helden geben, und fie werben hoffentlich Keinen
Frack, Feine Eravatte tragen; es wird Gelehrte und Beamte
geben , die zugleih Männer fein und nicht auf zehn Schritte nach
Acten» und Schulftaub riechen werben; ed wird Menſchen geben,
die lachen und fingen und tanzen und denen man nicht in jedem
Zug anfieht, daß Hinter der nächften Ecke ein Polizeiviener ſteht.
Aber gut Ding will gut Weil. Da nun bie alten Stoffe audge-
lebt, neue aber noch nicht gegeben find, die Kunſt jedoch inzwi⸗
fen die Hände verlangend ſchon ausſtreckt, was ſoll fie denn
in biefer kritiſchen Zwiſchenzeit thun ? Die Hände in ben Schooß
14 *
212
legen Fann fie und foll fie nicht. Alſo herumtüpfeln an 2.9. 3.,
herumnaſchen an allen dagemefenen Stoffen und in Teinem zu
Haufe fein? Das fcheint die traurige Confequenz. Uber laßt
uns ſehen, ob denn wirflich nichts Anderes bleibt. -
‚ Sat denn wirflih unfre Zeit feine Subftang, unfer Bewußt⸗
fein keine Heimath, unfer Wille fein Pathos? Wohl, er bat es;
aber es iſt ein Pathos der Zukunft. Wir find nicht tobt, aber
wir find eingepuppt, did eingefponnen, und wir fangen an, und
zu regen, um audzufchlüpfen. Died ift nun freilih für den
Künftler ein fehlechter Troſt; Fünftige Thaten kann er nicht malen
und gegenwärtige giebt es nicht. Indeſſen halten ſich diefenigen,
die noch fo viel gefunden Tact haben, abgelebte Stoffe von der
Hand zu weiſen, in dem ehrenwerthen aber untergeorbneten
Zweige der Genre⸗Malerei an die Nechte alter volksthümlicher
Zuftände, deren fehöne, aber den Untergang geweihte Unmittel⸗
barkeit der Kunſt noch einige Waſſertropfen auf die zur Scherbe
verlechzte Zunge gießt; ſie ſuchen die Völker auf, deren naive
Sitte und Tracht noch nicht von der alle Welt beleckenden Cultur
ereilt iſt. Allein es wird nicht lange dauern, ſo wird das Alles
weggemalt ſein; ich ſage: weggemalt, denn dieſe naiven Zuſtände
ſind, ſo hörte ich es von einem Düſſeldorfer Freunde treffend aus⸗
drücken, wie die Unſchuld: der Moment ihrer Entdeckung iſt ihr
Ende. Wird ſich erſt das ſittliche Leben der Menſchheit eine neue
Geſtalt gegeben haben, ſo wird mit dieſer auch eine würdigere,
dem Maler willkommne äußere Erfcheinung gegeben fein, und
biefe wird dauern, wird Stand halten. Wir können 3. B. in
der Tracht, die ja hier.ein fo weſentliches Moment ift, drei For-
men ober Stadien unterfcheiden. Die erſte Form iſt die Volfö-
213
trat. Sie tft, wie das Volkslied, inftinftmäßig entftanden und
wird inftinftmäßig feftgehalten. Das Anftinftleben des Geiſtes
Hält aber gegen bie eindringende Bildung und bie koketten Reize
ihrer würbelojen Tracht niemal8 Stand, fo wenig ald die Jugendr
träume gegen die Erfahrung; und wenn man Blut weinen möchte
beim Anblick des Palikaren, der zum Fehs, zur goldgeſtickten
Jade, zum Gürtel vol Foftbarer Waffen, zur Zuftanella einen
Regenſchirm, Halsbinde und Glacéhandſchuhe trägt: es Hilft
Alles nichts. Das geht Alles weg, wie die Frühlingsblüthe. Die
zweite Sauptform ift die Mode; fie entfpricht dem Standpunkte
ber Reflexion, des verfländigen Denkens, und iſt daraus hervor»
gegangen; fie ift phantaſielos, eitel, vor dem Spiegel erfunden,
durchaus bewußt und berechnet, nivellivend gegen alle Völker⸗
Indivinualitäten gemäß der abftracten Verftandeöfategorie der Als
gemeinheit, und endlich abfolut veränderlich, denn die Neflerion
ift wefentlih unruhig, zupft und nörfelt immer und will ſtets
auf Neue zeigen, daß fie die bewußte und abſichtsvoll mählende
Schöpferin ihrer Formen ift. Aber der dritte Standpunkt, der
nicht ausbleiben kann, iſt der der Idee oder des vernünftigen
Denkens, d. 5. der Haren Einficht in die der organiſchen Form
und ihrem hoben Adel, zugleich aber ven Elinatifchen und natio=
nalen Bedingungen wahrhaft entfprechende Form, in welcher bie
Natürlichkeit der Volkstracht fich durch die Vermittlung der Kunſt
in höherer Weife wiederherftellt. Die Natur wird aus dem Bes
wußtfein, in daß fle eingefunfen ift, wieder hervorgehen und mit
Bemußtfein feftgehalten werben; der Gang tft, wie in aller Bil«
dung, der Vortfchritt von der Funftlofen Natur zu der naturlofen
Kunft und dann bie Rückkehr zu einer Natur, welche zugleich
214
Kunſt iſt. Shen fo wirb es fih im Staate, in ber Sitte ver⸗
‚halten. — Da num jene Stoffe in die Länge nicht vorhalten, fo
bleibt als weiterer Boden, auf dem der Künftler in Erwartung
beßrer Zeiten fich einſtweilen anftebelt, die Landſchaft, die Thier⸗
welt. Wie meit die Cultur auch) gegen biefe Gebiete ihre Marken
vorfhieben mag, ganz find fie nicht zu zerſtören. Die ewige
Sonne wenigſtens kann man und nicht nehmen, die Luft nicht
cenfiren, den Bäumen und Wellen ihre polizehviprigen geheimen
Geſpräche nicht unterfagen, die Vögel des Himmels nicht nume⸗
riren und nad Sibirien ſchicken. Allein auch dies iſt zwar ein
. fehr ehrenwerther, aber doch immer ein untergeordnneter Zweig
der Kunſt; fie will einen ſchlechtweg bedeutenden Stoff, eine Haupt⸗
. gattung ald Mitte und Halt für ihre Seitenrichtungen, einen
Stamm für ihre Hefte.
Was bleibt denn aber, wenn das Alles noch. Feinen hin⸗
reichenden Inhalt giebt? Das bleibt, woraus bie Zeit felbft ihre
großen Lehren für die Zukunft nimmt; der unendliche Stoff bleibt,
aus dem bie werbeluftige Zeit die Kraft zu neuem Leben fchöpft:
die Vergangenheit, die Gefhichte. Wir wollen wieder Gefchichte
haben, und darum ift die Gefchichte, die da war, unfere Nahrung.
Für Niemand mehr ald für die Deutfchen gilt e8, daß ihr Grund⸗
mangel und Erbfehler ihr ungeſchichtlicher Charakter iſt. Wir
innerliche3 und tranfcendentes Volk haben es bisher noch nicht
verftanden, Erfahrungen zu machen; wir maren überall und
nirgends zu Kaufe, wir fahen nad den Vögeln, indem man
und den Stuhl unter dem Leibe megzog. Endlich fangen ung bie
Augen an aufzugehen, mir fludieren Gefchichte. Das heißt nicht:
wir ſtudieren, wann man in England die Wölfe auärottete, ober
215
wie viele Seelen das Hausruckviertel zählt; nein, es Heißt: wir
leben und in bie großen kritiſchen Momente ver Geſchichte ein, in
die Slanzblide, wo bie bewegende Seele des Voͤlkerlebens auf die
Dberfläe hervortauchte; es heißt: wir faſſen jede Wiſſenſchaft,
und bie abftraftefte, vie Pbilofophie, zuerft, im weltgeſchichtlichen
Sinne und holen ihre verfäunte Anſchließung and Leben nad.
Dies iſt unfer Pathos, dies die Stelle, wo und die Gottheit
erſcheint. So thue denn die Kunft deßgleichen; fie male immer⸗
bin Sötter, aber unfere Bötter, die Geifter der Geſchichte, und
fie wird nicht Talte Bewunderung weniger gelehiten Kenner, nicht
den unreinen Beifall weniger Zeloten des Mittelalters zum Danfe
haben, jonbern fie wird die Herzen ihres Volks erjchüttern, fie
wird fein Fremdling mehr jein, fonbern ihre Heimath haben, wo
das gegenwärtige Bewußtſein ver Menfchheit fie hat, |
Ih Habe in diefen Blättern ſchon mehr als einmal, jedoch In
anderm Zufammenhange, auf dieſe höchſte Aufgabe der jetzigen
Kunft Hingewiefen. Deine frühere Entwiclung ging vom meta
phyſiſchen Standpunkte aus; fie unterfuchte, ob der Moler, wie
unfre neu⸗katholiſchen Nomantifer wollen, auf dem Stanppunfte
ber Trandcendenz ftehen folle, und behauptete mit Nachdruck den
der Immanenz; d. b. fie verlangte, daß und der Maler den Bott, -
ber wahrhaft gegenwärtig in der Geſchichte und ihrem unzerreiß⸗
baren Zufammenhang ſich ofienbart, nit den Gott, der in Mi⸗
rafeln von außen hereingreift, zur Erſcheinung bringen ſolle.
Darum handelt es fih, wenn man bie Propheten, die Engel,
den ewigen Juden in Kaulbach's Zerftörung Jeruſalems tabelt,
nicht um den Gegenfaß zwiſchen hiſtoriſcher Richtigkeit und zwiſchen
Poeſie, wis ein Berishterftatter über dieſes Gemälde in ber Beil.
216
3. Allg. Zeitung (März 1842, Nr. 64.) meint. Ich ergänze aber
jest meine frühern Bemerkungen durch die Berufung auf das
Berhältnig der Kunſt zum Leben, zum nationalen Bemußtfein.
Weil der Standpunkt der Tranſcendenz, wie ich früher nachwies,
an fich ein falfcher tft, fo haben wir ihn verlafien, und weil wir
ihn verlaften haben, fo rührt und der Künftler nicht, der ten
göttlichen Geift der Gefchichte nicht in der Gefchichte felbft darſtellt,
fondern herauszieht und neben fie hinklext. In der That kann
dieſes Werk Kaulbach's den beften Bemeis davon abgeben, wie
unfere Künftler noch Keinen feften Boden haben. Kaulbach wählt
mit dem Tacte des Genies dieſen erhabenen Stoff, als fühlte er
bie Beftimmung in fi, der Malerei ihren neuen, allein wahren
Meg zu weifen, und in der Ausführung verbirbt er ihn, indem
er den ungeheuren gefchichtlichen Geift, der fo mit Flammenſchrift
in ihm leuchtet, daß es wahrlich Feiner mythiichen Nachhilfe zu
feiner höhern Deutung braucht, in viflonärer und legenbenhafter
Weiſe auffaßt. Ueberhaupt wie wenig haben unfere Künftler
noch die Aufgabe der neuen Kunft begriffen! Welche ungehobenen
Schätze liegen in der Zeit der Völkerwanderung, im Mittelalter,
in jenem Kampfe feiner mit fid) entzweiten Seele, des Kaifer-
thums und Papftthums, in der Neformationdzeit und noch im
breißigjährigen Kriege! Es tft in der Poeſie, wie in der Malerei;
uns fehlt noch das hiſtoriſche Drama. Goethe betrat im Götz die
Bahn, aber fein weicher und meiblicher Geift nöthigte ihn auf
andere Wege; Schiller bemädhtigte fich der großen Aufgabe, keine
Poeſte hat noch die Nation fo ergriffen, wie fein Meiſterſtück, ver
Wallenftein, fein Schmanengefang, der Tell; aber der Tod rief
ihn ab. Auf diefem Wege und keinem andern blühen neue Rote
217
beeren, wir warten noch auf unfern Shakeſpeare. So fieht man
auch in der Malerei Anfänge und dann verſchwindet der Baden
wieder. Cornelius tft nicht auf der Bahn fortgegangen, die er
in feinen herrlichen Zeichnungen zum Nibelungenliede betreten
hatte: Die deutfche Heldenfage nimmt unter den Acht gefchichtlichen
Aufgaben, die unferer jegigen Malerei geſetzt find, einen der erften
PBläge ein. Ich werde Gelegenheit finden, ein andermal dieſe Behaups
tung zu begründen, und e8 wird mir leicht fein, den Einwurf zu
beantworten, wie ich gegen mythiſche Stoffe mich fo eifrig erflären
und doch diefen jo nachprüdlih empfehlen könne. Wer bie
Nibelungen und Gudrun Fennt, wird mich zum Voraus verftehen.
Nachher ift Cornelius Mythenmaler geworben und je mehr er
ſelbſt innerhalb diefer Sphäre, in ber Zerflörung Troja's beſon⸗
ders (die freilich ald ein Moment der griechifchen Heldenfage,
werin er die außerweltlichen Perfonen aus dem Spiele laſſen
fonnte, unter die glücklicher gewählten Stoffe gehört) fein mäch⸗
tiges und gefundes Talent bewiefen hat, defto mehr tft zu bedauern,
daß er feinen wahren Beruf nicht zu erfafien wußte. Welche
Kräfte find an fein füngftes Gericht verſchwendet! Ja verſchwen⸗
bet, denn welchen Genuß kann mir ein Kunftiwerk gewähren, das
mir bie crafie Dogmatik verſchwundener dunkler Jahrhunderte
auforingt, und mir erft, nachdem ich mit allen Kräften über die
Empörung gegen den rohen Stoff Deeifter geworden bin, eine ab⸗
firact formelle Bewunderung des Geleifteten erlaubt? Lind dagegen
beruft fich der Dialer doch nicht gar auf Mich. Angelo? Wie ſon⸗
verbar! Mich. Angelo malte den Etoff, den damals alle Welt
glaubte, bei deſſen Vorſtellung jedem Zeitgenoſſen dad Blut in
den Adern gerann, und Cornelius malt benfelden Stoff dem
218
kritiſchen neunzehnten Jahrhundert. Da ſtht es ja eben, unb bier
muß deutlicher als irgendwo Sinn und Wahrheit meiner Behaup⸗
tung in bie Augen fpringen. Sehr muß ich bedauern, daß ich bie
Fresken des wadern Schnorr In ber Mefldenz zu Münden nicht
anders, als flüchtig geiehen Gabe, da ich mit dem Volksſchwarm
durchgejagt wurde, wie es in biefer höflichen Stabt zu geichehen
pflegt. Schnorr bat fih ganz in dem Felde niedergelafien, das
der neuen Kunſt eins für allemal angemiefen ift, in der Helden⸗
fage und Gefchichte des Vaterlandes Peter Heß bewegt ſich in
ber neuern Kriegsgeſchichte; ein Stoff, der jedoch mit richtigen .
Tacte, wie gefchichtlich bedeutend auch der einzelne Gegenſtand fein
mag, zum Genre gerechnet wird, well es der mobernen Form
ber Kriegsführung an aller Eimftlerifchen Idealität mangelt; man
betrachte 3. B. das Meiftermerf der Schlachtmalerei, die Meran
derfchlacht in Pompeſi; man fehe, wie hier die Spige ber Ent⸗
ſcheidung im unmittelbaren Zufammenftoß der beiden königlichen
Führer ſich zufammenbrängt; man ermäge dann, wie durch bie
jegige Mechaniſirung des Kriegs dem Feldherrn nur die Intelligenz,
nicht die finnlihe Mitthätigkeit, died in aller Kunft wefentliche
Moment, zufält: jo wird man ſich einleuchtend überzeugen, wis
Bieled dem modernen Schlahtbild zum hiſtoriſchen Gemälde fehlt,
Im Allgemeinen erfcheint die Münchner Schule gegenüber der
Düffelvorfer gemäß dem ſüdlichen Charakter unbefangner, derber,
faftiger, energifher. Die Düffeldorfer zeigten von Anfang an
feine geringe Gabe von Sentimentalität und die entſprechende
Neigung, ihre Stoffe beim lyriſchen Dichter zu holen, einem
muſikaliſchen Rlang bes Gefühle zur breiten braftiichen Ausführung
bed hiſtoriſchen Gemälbes auszupreffen: eine ächt moberne Er⸗
219
fdeinung und nur in einer fo aller feften Baſis beraubten Kunft⸗
yeriode möglich. Die Sentimentalität laͤßt fi nicht gern mit dem
Leben ein, das Getünmel der Welt dunkt ihr unebel, bie Flucht
aus derſelben, die Zuflände des in fich brütenden Gefühls, bie
Stille der Ginfamkelt, der Ton handlungsloſer Ruhe erſcheinen
"in ihr idealer. Diefe abftracte Itealität bedarf zu ihrer Ergänzung
ber einfeitigen Realität; Naturalismus und Komik find durch bie
fentimentale Stimmung als ihr Gegenſatz ſchon an ſich geforbert,
wie in ber Poeſie Bei I. Paul. Daher ſteht Schröder biefer
Schule fo wohl an; wenn man nur nit — ohne feine Schuld
— auch ihm anfühlen würbe, daß wir in einer Seit leben, wel⸗
der Spaß und Lachen nicht recht von ber Leber geht. Bender
mann ſcheint geneigt zu fein, in jenem binfterbenden Schlummer-
leben ber Wehmuth zu beharren Auf eine höchft erfreuliche Weiſe
bat Zeffing angefangen, aus der thatenlofen, trauernten Innere
lichkeit fich herauszuarbeiten, dad Epos der Geſchichte aufzufchlagen
und Thaten der Männer darzuftellen. Zwar in feinen Ezzelino
kann ich mich nicht ganz finden; der Stoff tft am Ente doch zu
obfeur, um mit folhem Aufmande behandelt zu werben, aud
. will mir der Tyrann mehr foldatenmäßig als heroifch vorkommen,
was ihm bei aller Wildheit doch nicht fehlen follte. Bine ganz
glückliche und zeitgemäße Wahl aber ift fein Huß vor ber konſtan⸗
zer Derfammlung. Ih wünſche ihm Glück zu neuem Bahnen,
und wenn erft feine volle Kraft in diefer Richtung ſich ergießt, fo
wird fich auch feine übrigens fo meifterhafte Landſchaft von einem
höchſt flörenden Zufage reinigen, ber gerabezu als Verirrung
eines noch unreifen Triebs in ein fremdartiges Gebiet, eine Ab⸗
lagerung am falfchen Orte, als eine hiſtoriſche Gicht bes Lands
220
ſchafimalers anzufehen iſt. Ich meine ſeine novellenartigen Staf⸗
fagen. Als ſchlagendſtes Beiſpiel Hievon kann uns fein treifliches
Waldſtück mit der uralten Eiche dienen, unter dem Namen „bie
taufendfährige Eiche“ bekannt, in Frankfurt in Privathänden ber
findlich. Eine tiefe Waldſchlucht im Gebirge, an jähem Abſturz
zwifchen zerflüftetem, von wuchernden Waldkräutern bedecktem,
von einer Duelle burchriefeltem Geſtein ſteht eine uralte Eiche
zwiſchen ſtämmigen hohen Buchen und veriehlingt Die weit aus⸗
greifenden Enorrigen Hefte mit diefen zu einem dichten Laubdach,
durch das kaum ein Blick des Himmels dringt. Durd) die Stänme
verliert fich der Blick in ver tiefen Bläue des fernen walbigen
Grundes. Kine unendlihe Wald- Einfamkfeit; man meint den
feuchten Geruch der Moofe zu riechen, hallende Töne, Saufen und
Weben, den Hammerſchlag der Berggeiſter in ber Tiefe zu ver-
nehmen, und es iſt, al8 müßte dad Herz an biefem König ber
Bäume, dem ehrwürdigen Zeugen eined gewaltigen elementarifchen
Lebens, dieſem uralten Waldgreis, an deſſen unbemegtem Schei-
tel Jahrhunderte vorübergingen, den Antheil nehmen, ben ed an
einem ehrmärbigen, dad gemöhnliche Maß unſers Gefchlecht3 weit
überdauernden Dienfchenleben nimmt; ja wir find jebt geneigt,
das dumpfe Gebränge der hinfälligen Eleinen Menſchen dieſem ges
biegenen, um bie zerrüttenden Leidenfchaften des heißen Menſchen⸗
berzen® unbefümmerten, Fühlen und ftillen Walten bauender
Naturfräfte gegenüber gering zu fehägen, dem mir doch zugleich
etwas von einer menfchlichen Seele leihen. Aber was ſchleicht
ſich zwifchen unfere Betrachtuug? Welches fruftige und unzeitige
Grübeln ftört unfere Empfindung? An der Eiche ift ein Mutter⸗
gottesbild, vor ihm knieen betend eine Dame und ein Nitter in
221
wohlgewählter romantiſcher Garberobe; fle ſcheinen auf ver Reiſe
zu fein, denn zwei Pferde, . ebenfalls forgfältig umhängt mit
ritterlichem Neit« und Neifezeug, trinken am Bach. Was wol⸗
fen diefe Leutchen? Sind fie mur jo unterwegs, oder hat ber.
Mitter die Dame entführt und beten fle nun für das Glück ihrer;
Liebe, Liegt vielleicht eine beftimmte Novelle zu Grunde, oder if
e8 freie Phantafie, oder — oder? Kurz, wir-grübeln, ftatt zu
genießen; ber äfthetifhe Eindruck der Landſchaft als Landfchaft.
it aufgehoben, die Staffage zieht anſpruchsvoll das Intereffe auf.
ih, das ungetheilt jener gehören ſollte, und der Künftler hat
fein eigenes Werk entzweigefchnitten. Ich weiß wohl, was man
mir einwenden wird, und erörtere baber bier einen Punkt, ben.
ich in einer frühern Anzeige zu unterfuchen verfprad. Man wird
mir die Kleine Abfchweifung verzeihen. .,
Die elementarifche Natur mit dem Pflanzenreiche erfiheint dem
menfhlichen Bewußtfein durch eine Dunkle Symbolik des Gefühls:
als ein objectiver Wieberfchein feiner eignen Stinnmungen. Der-
Aether ſcheint die Erde mit Liebe zu umarmen, ftolz fteigen die
Berge, in Sturm und Wafferfall grollt etwas wie menfchlicher
Zorn, dur die Bäume gebt ein halbverftändliches Flüſtern, im
Morgen haucht frifches Kraftgefühl, im Abend Ruhe und Sanft⸗
muth. Es liegt im Weſen des Geiftes, fich ſelbſt in der Natur,
feiner Mutter, mieder zu fuchen und fo die zerfallnen Pole des
Univerſums wieder zu einigen, bie Urperfon berzuftellen. Der
Zauber des Landſchaftgemäldes Hat in dieſer Mebertragung feinen
Grund; die Natur fpricht, fie tönt und als verhallendes Echo.
unfrer Seele. Es beruht aber dieſes Geheimniß der landſchaftlichen
Stimmung auf einem Arte, der ald eine Einheit zweier Momente’
222
zu fafien fi. Das erfle iſt ein Leihen; denn ba wir und wohl
bewußt find, daß die Natur, dag flumme Reich der Nothwen⸗
digfeit, nichts von den Gefühlsbewegungen des jubjectiven Lebens
weiß, fo müflen wir ihr eine Theilnahme am dieſen erft unter«
legen. Nicht, als ob wir dies mit Neflerion wie ein Geſchäft
vornähmen; mit dem Augenblide, wo wir die Natur vom äſthe⸗
tifhen Stanbpunet anſchauen, tft fogleich auch jene Unterſchiebung
da, denn wir fehen in Allen ven Menſchen. Doch fühlen wir,
obzwar dunkel, recht wohl, daß dies ein bloßes Leihen fei, und
Died ift das andre Moment. Wir geben aber darum dieſes Leihen
nicht auf, ſondern wir vollziehen nun die Vorſtellung, melde
logiſch ein Widerſpruch, äfthetifh aber vom größten Reize iſt,
als ob die Natur zu gleicher Zeit eine die Stimmungen des menſch⸗
lichen Gemüths vorbildende oder wieberholende Seele in fich bärge,
und dennoch in ungetrübter Objectivität und Geſetzmäßigkeit nicht
um bie Schmerzen des jubjectiven Lebens wüßte. Dies ift die
Einheit, worin jene beiden Momente wieder ineinander aufgehen.
Die ſchöne Natur gemahnt und daher wie ſolche menſchliche Zu⸗
ſtaͤnde, in welchen die Kämpfe der Freiheit, des Selbſtbewußt⸗
feins noch ſchlummern oder zur Ruhe zurüdgefehrt find. Daher
liebt die Landſchaftnalerei mehr ruhige und große, als fürmtfche
Naturſcenen; doch auch die lehtern bringen auf uns einen Ein-
druck hervor, als ſähen wir die Kämpfe der moraliihen Welt
ohne die Schmerzen des Selbftbewußtjeind darin abgebildet.
Daher die Rührung und Wehmuth, dad Sentimentale, was in
aller landſchaftlichen Stimmung liegt, daher umgefehrt der Hang
der fentimentalen Poefle zur Landſchaftmalerei; daher Hatten die
Alten keine Landſchaft, weil fie, felbft noch feft im ruhigen Gleich⸗
m.
223
gewicht des Geiſtes⸗ ımb des Sinnenlebens, fi nicht nad dem
Frieden der Natur als nach einen verlornen Gute fehnten.
Der eigentlige Inhalt des Landſchaftgemaͤldes iſt demnach ein
Wiederſchein des ſubjectiven Lebens im Reiche des objectiven Na«
turlebens. Jetzt wird ein Landſchaftmaler von Leſſing's Denkart
ſagen: gut, und eben weil ein Anklang menſchlicher Stimmung
in der Landſchaft liegt, ſo hebe ich nur die durch jene dunkle Un⸗
terſchiebung in fie gelegte Seele noch ausdrücklich hervor, indem
ich eine Staffage hinzugebe, welche ganz im Sinne der in der
Landſchaft herrſchenden Stimmung componirt iſt; ich ſage nur
daſſelbe, was ich in der ganzen Landſchaft in objectiver Natur⸗
ſprache ſage, deutlicher auch in ſubjectiver menſchlicher Sprache;
iſt es der Menſch, der eigentlich der Landſchaft ihre Stimmung
erſt leiht, ſo iſt es ja ganz in der Ordnung, die Landſchaft mit
Renſchen zu beleben, welche, in irgend einer bedeutenderen Situa⸗
tion begriffen, den Zufchauer erinnern, daß die Natur ihre tiefere
Bedeutung für den Geift eben nur dem Geifte dankt. Diefer
Schluß aber ift genau dad Gegentheil des Richtigen. Denn gerade
das Imeinanderfein der oben genannten zwei Momente ift das
Specifiſche der landſchaftlichen Stimmung: ein Gefühl, daß ich
der Landſchaft ihre menfchliche Secle bloß leihe und ein troß die⸗
fem Gefühl fortgefegtes Leihen. Giebt nun der Künftler zur Land⸗
haft eine Staffage, welche durch eine bedeutendere Situation bie
Aufmerkſamkeit auf die Vorgänge des menſchlichen Lebens hin⸗
übertenkt, fo erinnern wir und plößlih, daß Gemüth und Geift
ner im Menſchen zu fuchen find, und jenes Leihen hört auf, unfer
Intereffe iſt mit einem zuckenden Stoße auf eine andre Seite
Sinüher verfeßt, wir befümmern und um die Schickjale des Men
224
fehen und nicht mehr um feine beivußtlofe Naturumgebung. Aus
dem Reich der Nothwendigkeit find wir in das, der Freiheit ges
worfen, und indem dennoch jened den urfprünglich beabfichtigten
Anſpruch auf unfre vorzüglihe Theilnahme fortbehauptet, fo
gehen mir zwifchen zwei miderfprechenden Stimmungen hinüber
und herüber und werben dadurch verbrießlih. Es find zwei Spra⸗
en, zwei Mittelpuncte in Einer Darſtellung, bie einander aufs
heben. Im Landfchaftgemälde ift das eigentliche Subject Die Natur,
nicht der Menſch; tritt biefer mit dem Anfpruch darin auf, daß
wir und für ihn intereffiren, fo hat das Gemälde zwei Subjecte,
und die Einheit, d. h. das Kunſtwerk ift aufgehoben. Mag dieſe
Staffage noch fo ſehr im Sinne der Landfhaft componirt fein,
bied macht Feinen Unterſchied; denn wo einmal das-menfchliche
Thun und Treiben in den Vorbergrund tritt, kann die Landſchaft
zwar immer noch dad untergeordnete Interefje eines verhallenden
Nachklangs der menfchlichen Handlungen in der Natur, aber
ninmermehr dad Sauptintereffe für fich in Anfpruch nehmen, und
indem dad Kunftwerf doch Landſchaftgemälde zu fein ſich die
Miene giebt, hat es fich felbft das Spiel verborben. Die Staffage
muß daher durchaus anſpruch los fein, fie darf den Menfchen
nur in Zuftänden Darftellen, in welchen er, fern von moralifchen
Zweden und Kämpfen, harmlos das efementarifhe Leben gleich-
ſam dur ſich Hinburchzichen läßt und in ihm aufgeht: ruhig
Selagerte, Wandernde, Hirten und Jäger, die im fteten Um⸗
gang mit der Natur felbft etwas von ihrer Unmittelbarkeit an=
nehmen. Namentlich fei die Kleidung nicht pretiös und erinnere
nicht zu augenfcheinlich an die Fünftlichen Bedürfniſſe der menſch⸗
lichen Geſellſchaft. Daß Leffing auf dieſe ein Gewicht legt und bie
Mine... .
225
Kleiverküften des Mittelalters forgfältig ausbeutet, liegt theils
in der Vorliebe der neuern Schulen für mittelalterliches Beiwerk
überhaupt, theils aber in den novellenartigen Motiven ſeiner
Staffage. In Städelſchen Inſtitut befand ſich an Oſtern 1841
noch ein Waldſtück, wo ein Ritter in voller Ruͤſtung an einem
Brunnen ſitzt und fein Pferd faufen läßt; eine ganz ſtörende
Beigabe. In der Kunftausftellung ein weitres Waldſtück von
ebendemjelben, bunfel und büfter, von ergreifender Wirkung :
im tiefen Waldesdunkel ein Köhler an einem Kohlenhaufen, ber
Wind brauft hinein und meht den qualmenden Hauch nad) den:
Walde; fomweit war bie Staffage höchft lobenswerth. Nun hält
aber ein Nitter (oder Bandit?) zu Pferde vor dem Kohlenhügel,
er fheint den Köhler etwas zu fragen; was will er? Iſt e8 der
Ritter, dem diefer Köhler dient, ift e8 ein Näuber, ver nad
Beute fragt, oder mas? Wir befinnen und auf ein genreartiges
oder balladenartiges Motiv, und das Landfchaftgefühl als folches
ift aufgehoben. Ein zerftörted Raubſchloß in wilder Landichaft,
noch rauchend, im Vordergrund ein getöbteter Räuber, ſchwankte
ebenfalls zwiſchen Novelle und Landſchaftbild.
Man Hört für eine ſolche Erhöhung der Landſchaft in dag
Genre oder die Siftorie Häufig noch ein andre Moment geltend
machen. Die getrennten Zweige der Malerei in einer höhern Gat»
tung zu vereinigen, Hiſtorie oder Genre und Landſchaft zu ver⸗
ſchmelzen ‚ erklärt man für ebenſo lobenswerth, als überhaupt
jedes Streben, getrennte Glieder eines Ganzen organiſch zu ver⸗
binden. Als ob nicht jedes Menſchliche, und ſo auch jeder Zweig
der Kunſt gerade in ſeiner Trennung und Selbſtändigkeit groß
würde! Je ſelbſtändiger jeder Zweig, je individueller, deſto
Kritiſche Gänge. 15
226
vollkommner ftellt er in feiner befondern Art das allgemeine We⸗
‚fen. ver ganzen Gattung dar. Dadurch iſt keineswegs ausgeſchloſ⸗
fen, daß der einzelne Zweig die andern m untergeorbdneter
Weiſe wirklich in fi aufnehmen könne. So mie eine anſpruch⸗
Iofe Zugabe aus der Menfchenwelt der Landſchaft wohl anfteht,
fo dem geſchichtlichen Bilde eine landſchaftliche (wenn nicht archi⸗
‚ teftonifehe) Umgebung. Allein wo dad Eine Zwed und Haupt»
fache tft, muß nothwendig das Andre zurüdtreten, fonft ift alle
Einheit zerrifien. Am eheften Fünnte man von einem Gleichge⸗
wichte beider Seiten im Genre» Gemälde reden , weil dieſes zwar
menfchliche Zuftände,, aber am Tiebften foldde, worin ver Menſch
mehr ald Naturwelen, denn als moralifches Weſen erſcheint, zu
feinem Gegenftande wählt und daher billig der landſchaftlichen
Untgebung eine bedeutende Stelle einräumt. Allein die Situation
aus der Menfchenwelt ift doch hier der eigentliche Zweck, und die
Landſchaft, obwohl fie fich bedeutender ausdehnen darf, ala bloßer
Mohnort der menſchlichen Weſen Nebenfache. Jene Bermifchung
verſchiedner Zweige tft ein Fehlgriff unreifer Kunftperioden. Go
wurde in der Zeit, da die Landſchaft als felbftändiger Zweig ſich
- eben erft ausgebildet hatte, von Caracci, Domenichino, Pouffin,
Claude Lorrain eine Staffage aus der Hervenfage, dem Götter: -
‚mythud, dem N. Teftamente für ganz wefentlich angefehen: bie
Aabelſchnur des Hifkorifhen Gemäldes, welche die Landfchafts
malerei, fo Bedeutendes fle auch bereits leiſtete, als Erinnrung
an ihren Urſprung noch mit fich ſchleppte. Koch und Reinhard
in Rom find Ableger biefer alten Schule; Beide Haben die @in-
heit ihrer fchönften Compofitionen durch eine zu bebeutende Staf-
fage zerflört. Koch liebte mythifche Scenen. Ich kenne unter
227 .
Anderem eine zwar nicht ganz vollendete treffliche Landſchaft von
ihm, im beften Geifte des Theokrit componirt, im Mittelgrunde
‚Hirten, aus deren Mitte foeben Ganymed entführt wurbe, der
nun auch mit dem Adler mitten im Himmel baumelt. Hier und
in all den Landfchaften mit Nymphen, Faunen u. f. w. dringt
ſich außer dem bisher ausgeführten Einwurf noch ein neuer weite»
rer auf: der Standpunct des Mythus und der der Landfchaft find
an fi unvereinbar. Der Kern jeder Naturmacht war in ber
Anſchauungsweiſe ver Alten eine Perfon, der Himmel Zeus, das
Meer Neptun u. f. f., und jede Begebenheit in der Natur war
Handlung einer folden Perfon. Diefe Vergöttrung der Natur
war aber keineswegs aus demjelben Bedürfniß fentimentaler Sym⸗
pathie entftanden, aus welchen wir Neuern der Natur eine füh⸗
lende Seele unterlegen. Jene göttlichen Naturweſen hatten immer
zugleich politiſch-ſittliche Bedeutung, die Begebenheiten der Natur
wurden als ihre Handlungen ſtets auf Schickſale der Staaten oder
Familien oder heroiſchen Individuen bezogen, und gerade weil
der Grieche, ſelbſt Natur, ſich nach der Natur gar nicht ſehnte,
lebte ſie für ihn nur in dem Sinne, daß er hinter ihr ſeine Götter
ſuchte. Nun blieb natürlich keine Landſchaft mehr übrig, nachdem
man alle ihre Beftandtheile vergöttert hatte. Warum follen nun
yeir, die wir gerade durch die Entgöttrung ber Natur eine Land⸗
ſchaft Haben, und gewaltfam in jene Vergöttrung zurückverſetzen
und fo eine Anſchauungsweiſe in dad Landſchaftgemälde einmifchen,
die es aufhebt? —
In einer andern, durch eine Radirung bekannten Landſchaft
hat fih Koch ungewohnter Weile ganz in die romantiſche Stim-
mung verfegt: wilde norbijche Seefüfte, aufgeregtes Meer, Wet-
15 *
228.
terhimmel, eine gothiſche Burg. im Sintergrunde auf zackigem Fel⸗
fen phantaſtiſch ragend, vom Blitze ſeltſam beleuchtet. Man mag
ſich gern denken, ſo unheimlich wildes Land wäre ganz eine Hei⸗
math für dunkle altergraue nordiſche Sagen, für tolle Hexen⸗
ſchwärme; fo möge des blutigen Macbeth Burg an der ſchottiſchen
Küfte geftanden haben. Und wirklich, es fehlt ſich nicht, am Ufer
ftebt Macbeth mit den drei Seren, und fern um vie Burg ſchwebt
ein Hexenſchwarm wie ein flatternded Band dur die Luft. - Die
dunfeln Gefühle, melde die Landſchaft als jolche anregen wollte,
find aljo recht handgreiflich herausgezogen und und vor die Nafe
hingeſetzt; glüdflichermeife ift zwar hier die Landſchaft fo ſtark, daß
die Perfonen faft verfehwinden, und doch muß fie Jeder, der etwas
Ganzes ſchauen will, über Berg und Thal fortwünſchen. — Nein
hard gefällt fich in derfelben Lieberladung ; Thaten des Hercules,
bibliſche Scenen und dergleichen ftören und in feinen ächt antif
gefühlten Landſchaften. Einmal ging er fo weit, daß er in cine
Landihaft von ruhiger Stimmung geradezu eine Staffage von
unrubig dramatiſcher, ja peinlicher Wirkung hineinzwängte: ein
Mann fchlafend in einem Nahen, der gerade im Begriff ift, von
ben Wirbeln eines jähen Waflerfturzes ergriffen zu werben, ein
Jäger am Ufer hat einen erlegten Rehbock zu Boden geivorfen und
ruft ihm in Verzweiflung zu; ein andermal: ein Wald, worin
Wölfe einen Mann zerreißen und vergl. Hier hebt die quälende
Theülnahme am menfchlichen Looſe alle landſchaftliche Stimmung
geradezu auf. Sonft mag man immerhin auf einem Landſchaft⸗
gemälde Menſchen darftellen, die von furchtbaren Naturerjcheinuns
gen Noth leiden, wie vom Sturme u. f. f., doch ſparſam und
nicht mit ſtarker Hervorhebung ihrer Kämpfe, jenft entſteht cin
229
Genrebild, und, da das Ganze doch noch Landſchaft fein foll, eine
Aufhebung der Einheit: Wenn nun aber gerade in ber neueften
Zeit; da doch die Landſchaft ſich Längft In ihrer ganzen Selbftftin-
bigfeit ausgebildet Hat, dieſe Vermiſchung wieder einzurälßen droht,
ſo liegt der Grund davon in nichts Anderm, als in jenem Wurme,
woran unſer ganzes Leben und fo auch unſre Kunſt krank liegt,
in der Reflexion. Der ſuchende, abwägende Verſtand iſt mit einer
einfachen Wirkung nicht zufrieden, es ſoll noch etwas Apartes,
etwas Bedeutungsvolles, etwas recht Tiefes hinzugegeben werden;
ſo ſagt man denn, was ſchon in der Landſchaft geſagt iſt, noch
einmal durch eine prätentiöſe Staffage, klebt auf das Erſte ein
Zweites hinauf und ruht nicht, bis das Werk verbeftelt if. Wo—
möglich muß dann noch die beliebte Allegorie mithelfen, wie 3. 2.
in Leſſing's berühmter Abendlandfchaft der Priefter, der dad Sa⸗
erament für einen Sterbenden trägt, uns höchſt abſichtsvoll und
philoſophiſch zu fagen feheint: feht, dieſer Abend ift eine Allegorie
som Lebensabend des Menſchen, das hat der Künftler mohl ge-
‚mußt, er tft nicht verfteckt, er ift ein Schalf, er weiß, was er will,
er hat Ideen. Zum Schluffe Habe ich nur noch geltend zu machen,
daß ſelbſt eine anfpruchlofe Staffage nicht jeder Landſchaft anfteht,
daß völlige Abweſenheit des befeelten Lebens, höchſtens etwa eine
Ericheinung aus dem Thierleben, in vielen Landſchaftbildern durch
bie Stimmung des Ganzen gefordert ift, und unter biefe gehört
keines mehr, als Leffings tauſendjährige Eiche. Hier iſt gerade
Einfamfeit, ganz unbelauſchtes, d. h. nur vom Zuſchauer außer
dem Bilde belaufchtes Weben mächtiger Naturkräfte das Grund»
gefühl.
230
Was hier über die Staffage geſagt ift, gilt ebenfo von der
Architektur. Diefe darf und fol allerdings eine Rolle in der Land⸗
ſchaft fpielen; bie mathematifch geordneten Tinten des Gebäudes
treten mit der unbewußt fehmeifenden Architektur der Erdbildungen
in einen für das Auge höchſt wohlthätigen Gegenſatz, und da der
Menſch in der anſpruchloſen Bedeutung eines an die Natur hin⸗
gegebenen und gebundenen Weſens allerdings in der Landſchaft
aufzutreten hat, ſo ſehen wir auch gerne ſein an die gegebnen tel⸗
luriſchen und klimatiſchen Bedingungen ſich anſchmiegendes Obdach.
Die Bauſtyle gingen ja aus einer Phantaſie hervor, die unver⸗
kennbar ihre Formen aus der umgebenden Natur nahm. Die
griechiſche Architektur mit der vorherrſchenden horizontalen Linie
erinnert ſogleich an die breit und bequem hingelagerten Gebirgs⸗
maſſen des Südens, der ſpitzig aufftrebende gothiſche Styl an die
zackigen und phantaſtiſch gethürmten Bergformen des Nordens,
feine Ornamente an eine dornichte und ſtachlichte Vegetation;' an
Tannenzweige u. |. f.; er hat durchaus einen winterlichen, die
ſüdliche Bauart dagegen einen fommerlichen Charakter. Auch liegt
es ganz nahe, die Kuppel des Pantheond mit der Krone der Pi⸗
nie, gothiſche Thürme mit Fichten zu vergleichen. Aber der Land⸗
ſchaftmaler hüte fih wohl, feine Gebäude in reinlicher Neuheit
Darzuftellen, wie dies die fogenannte hiftorifche Landſchaft lichte,
es wird dadurch das Landſchaftgemälde alsbald zum Architektur⸗
gemaͤlde. Das Landſchaftgemälde, das ein⸗ für allemal die Natur
zum Subjecte hat, fordert Gebäude, welche die Natur bereits in
- ihren Bereich hereingezogen hat, indem fie ihnen Die Spuren ihrer
Zufälligkeit, ihres elementarifchen Charakters aufdrückte, vom Als
ter gebräunt, Halb zerfallen, von Vögeln umkreiſt, die in dem
0.
231
Werke der Menfchenhand wie in ihrem Eigenthum niſten u. ſ. f.
Dan wird leicht finden, wie weit ich in biefen Bemerkungen mit
den zufanımentreffe, was der einfichtsvolle Schnanfe in feinen nie⸗
berländifchen Briefen über dad Wefen der Landfchaft fagt. Sein
Ausdruck, das Landſchaftgemälde ftelle die Erde als Wohnftg des
Menſchen dar, jol ungefähr dafielbe fagen, was ih oben aus»
führte, ift aber der Mißdeutung zu ſehr ausgeſeßt, um glücklich
heißen zu können.
Dieſe Abſchweifung über die Landſchaft hat uns wirklich von
unſerm Wege nur ſcheinbar entfernt, ſie hat uns zuletzt auf den
kranken Fleck unſrer heutigen Kunſt zurückgeführt, auf die Reflexion,
welche, ſtatt cin bloßes Moment in der Schöpfung ver Phantafie
zu fein, fich als Princip hervordrängt. Wir leiden Alle an ihr
und mangeln des Ruhms, den wir haben follen vor der Sinnlich-
feit, der Phantafle, der Idee, der That. In ihr und in nichts
Andrem liegt der Grund jener Zerfahrenheit und Tauſendfäliig⸗
feit von Stoffen, in denen unfre Kunft ſich zerftreut. Ja, fo weit
ift e8 gefommen, daß man froh daran fein muß, wenn in diefer
unendlichen Linficherheit nicht geradezu Stoffe gewählt werben,
welche Eünftlerifch fehlechtweg nicht darftelbar find. Wie Häufig
werden Erzählungen, deren ganze Spige in einem beſtimmten, nur
durch die Sprache varftellbaren Gedanken liegt, ald Stoffe male-
riſcher Darftelung behandelt! Ich ſah z. B. gemalt, wie Sokra⸗
ted in hohem Alter noch das Saitenfpiek lernt und dem Alkibias
bed, der ſich darüber verwundert, zur Antwort giebt, man dürfe
ſich nie ſchämen, zu lernen. Retzſch, der von Grund aus affectirte
Manierift, zeichnet Hamlet's Monolog: Sein oder Nichtfein, und
ver fonft erfreuliche Zeichner Sonderland nimmt ımter feine Bil
232
der und Randzeichnungen zu deutſchen Dichtern Uhland's Hans
und Grete auf, wo doch der ganze Accent auf einem epigramma⸗
tiſchen Witzworte ruht, was nie ber Maler, nur der Dichter fagen
tann. Lind wie leicht ift es doch einzujchen, daß dad Kunſtwerk,
das immer fich felbft erklären foll, nur Scenen darſtellen kann,
deren äfthetifche Bedeutung in einer auf die Oberfläche ver menſch⸗
lichen Erſcheinung ganz heraustretenden Leidenſchaft Liegt, nie aber
folhe, wo es ſich um. beftinmte Begriffe in beftimmten Worten
handelt! Es fehlt nur no, daß man malt, wie Newton das
Geſetz ded Falles berechnet, was auch ſchon vorgekommen ift. Bon
all' diefer Tactlofigkeit, dieſer Bodenlofigfeit kann nun aber ben
Künftler nicht beſſer heilen, als wenn er ſich endlich überzeugt,
daß alle Kunft nur da groß wurde, wo fle ohne Zweifel und Scru⸗
pel fi in den vollen Strom derjenigen Stoffe warf, welche ihr
sder Geift des Volks und Zeitalters zuführte, wo fie ihre befte
Kraft auf diejenigen Gegenflände verwandte, in welchen ber Na=
tion das Abfolute erfehlen. Die Bildung der Völker, des proteftan-
tiſchen deutſchen Volks wenigftens, ift aber jebt dahin gelangt, daß
ihr das Abfolute nicht über den Wolken, fondern ald bewegende
Seele der Weltgefchichte erſcheint, und fomit find wir wieder da
angekommen, wovon wir audgingen.
Wo nun aber die Kunft nicht feft und faftig in einem frucht-
baren und objectiven Boden wurzelt, da kann fie es auch zu Feinen
bedeutenden Formen bringen, und dies ift das andre Hauptübel,
an dem fie in unfern Tagen darniederliegt. Wir haben es zu ei-
ner großen formellen Leichtigkeit gebracht, die aber, getrennt vom
bedeutenden Gehalte, in Leichtfertigkeit und fogar in Dürftigkeit
umfchlägt. Naturbeobachtung, Nebung, Stubium der Antike, das
233
Alles macht noch nicht den Meifter großartiger Kormen. Wo⸗
durch find denn die alten Dialer fo grandios in Geftalt, Bewe⸗
gung, Genandung, Compoſition? Woher nahm ſchon Giotto
bei aller Härte die eindringende, ſchlagende Wahrheit in ven Grund⸗
zügen menſchlicher Affecte? Woher Mafaccio jene Würde im run-
deren Fluſſe der Geftalt, in der Entfaltung und bebeutungsvollen
Zufammenordnung der Gruppen jenen Ernft, jenen ehrfurchtge⸗
bietenden Adel? Was beſchleunigte von da an den beflügelten
Schritt der italienifchen Malerei zu ver Höhe ber idealen Formen,
wo ein Raphael, ein Mich. Angelo ſteht? Waren es die einzel-
nen Mittel der technifchen Bildung, ſubjective Virtuoſität, Belau-
[hung der Wirklichkeit, erneuerte Kenntniß der alten Plaſtik und
wie dieſe formellen Momente alle heißen mögen, welche fo wichtig
und doch für fich allein fo unwichtig find, fondern Kraft und Wir⸗
| tung mur aus dem, im Mittelpuncte lebenden, geftaltenden Geifte
nehmen? Und was war diefer Geift anders, als die firenge Ver⸗
tiefung in die Sache, Erfüllung der Bruft mit dem großen Ges
genftande, der in Aller Herzen lebte? Diefer Gegenftand war ber
Kreis göttliher und verklärter irdifher Geftalten, in deren Thun
und Leiden jenes Zeitalter den abfoluten Inhalt der Weltgejchichte
anjchaute. Das Mittelalter kannte keine andre Form, das Drama
der Geſchichte zu deuten; es war das allgemeine Pathos der Zeit,
bie immanenten Mächte des fittlihen Lebens in einen idealen
Raum binauszuverlegen, von wo fie als goldne Geftalten, als
durchſichtige Leiber auf das Dieſſeits herüberwirken, während bie
ſes, das nun jeinen Schwerpunet außer ſich bat, hingeſchmolzen
in Wehmuth ſich zu ihnen hinüberſehnt; der Künftler war davon
erfüllt, wie fein Volk, und dieſes, wie er. Jeder verfland, Jeder
234
fühlte jeine Bilder, und es kann von wahrem Kunftleben. gar
nicht Die Rede fein, wo nicht das ungelehrte Volk nie. Werke der
Kunft genießt als fein Eigentbum, als eine Welt, die fein in⸗
wohnender Geift durch den Künftler geſchaffen. So von ſubſtan⸗
tiellem Gehalte erfüllt, fo im Einverftänbniffe mit dem Volke, das
nur ſtarke, einfach große und wahre Formen verfteht, vermochte
der Künftler au, feinen Stoff abſolut darzuftellen, d. h.
an der ſinnlichen Erfeheinung, bie er als Gefäß für ihn zunaͤchſt
aus der unmittelbaren Wirklichkeit aufnahm, alles Kleine, Zufäl-
lige, Unklare zu tilgen, und fo jene unfterblichen. bangen zu
ſchaffen, die wir den hohen Styl nennen.
Dies iſt die fruchtbringende Wahrheit, welche und bie Ge⸗
fhichte der Malerei bei dem Volke, das im Mittelalter einen dem
Weſen biefer Kunft wahrhaft normativ entfprechenden Entwid-
lungsgang durchlief, dem ttalienifehen, mit hundert Stimmen
zuruft. Ich weiß wohl, daß eine nicht Fleine Partei gerabe bie
entgegengefeßte Folgerung aus dieſem Schaufriele zu ziehen gewohnt.
ift, daß fie behauptet, wir follen, weil die Italiener gerade in die⸗
fen Stoffen groß waren, mit Verläugnung unfer8 ganzen Zeitbe⸗
mußtjeind, eben diefelben wählen, während ich vielmehr folgere,
wir fen fie darin nahahmen, daß wir unfre Stoffe aus derſel⸗
ben Duelle fhöpfen, aus dem lebendigen und gegenwärtigen Geifte
der Zeit und Nation. Nur zu viele Worte habe ich wohl zur
Wiverlegung diefed Wahns verloren; ich laſſe einen Größern für
nich Sprechen, ven Geift der unmiberlegbaren Thatſache.
235
2. Die Eopien.
5 Ich habe ver Anzeige biefer trefflichen Nachbildungen eine Bes
trachtung des Zuftanded der gegenwärtigen Kunft vorangeſchickt,
ih habe auf die Geſchichte der Malerei, insbeſondre der italieni«
fhen als auf eine Quelle der wichtigften und fruchtbarften Kehren
über die einzig richtige Wahl der Stoffe und die aus ihr fließende
Behandlung der Form hingewieſen. — Wir kennen aber die alte
Malerei zu menig; es fehlt an der unentbehrlichen Anfchauung.
Kupferftiche reichen nicht bin, find theuer zu kaufen, in Bibliothes
ten mühſam durchzuſehen und von den herrlichen Werfen der
Meifter vor Raphael ift fo wenig geftochen, daß fie ung faft nur
dem Namen nad bekannt find. Wer Eennt denn bei uns einen
Biefole, einen Perugino, den Himmel von Unendlichkeit, der aus
dem Tieblichen Schleier ihrer Halbreifen Formen hervorbämmert ?
Bon den großen Meiſtern der reifften Periode geben bie in Deutſch⸗
land da und dort zerftreuten Originale nur einen mangelhaften
Begriff. Dan kennt Raphael noch nicht, wenn man einige 6.
Bamilien, einige Madonnen von ihm, wenn man felbft die Sir-
tinifche Madonna geſehen hat; die Stangen, die Tapeten, bie
Loggien, wo er fi zu dramatifcher Handlung entfaltet, muß man
ſehen. Von Mich. Angelo hat außer einem paar zweifelhaften
Staffeleibildern, die eine ganz falfche Vorftellung von ihm geben,
feine deutiche Gallerie ein Werk; feine Fresken in der Sirtin.
Kapelle find in Italien zwar mehrfach geftochen, aber in un⸗
ferm Kunfthandel gar nicht in Umlauf. Derjenigen, die an Ort
und Stelle die Originalwerfe anfchauen können, find verhältniß⸗
mäßig wenige; Künftler reifen erſt nach der Vollendung der Lehr⸗
236
jahre, und gerabe diefen ſollte das wunderbare Licht jener einzigen
Mufter erhebend vorleuchten. Das Publicum aber, oder befier
das Volk, ſollte endlich einmal Iernen, was ibealer Styl ift, ven
durch Modebilder, durch theatraliſche Effectmalerei, durch Illuſtra⸗
tionengekritzel abgeftumpften Sinn follte es an jenen unfterblichen
Werfen fehärfen und. verfüngen, die durch die blafje Aufklärung
abgebleichte Phantafle erwärmen, und fih fo ein Urtheil bilden,
das rückwirkend dem Künftler eine biäher unbekannte höhere Nicht-
jhnur darböte. Unfere im Sanımeln, Aneignen, Ausbeuten, Ver⸗
vielfältigen fonft fo emfige Zeit bat hierin noch eine große Lücke
auszufüllen: jede Hauptſtadt, morin eine Kunftfehule und Kunft-
fammlung befteht, follte in guten Copien die wichtigſten Schulen
und Meifter aus der Gefchichte der ältern Malerei vereinigen, wo⸗
bei aus Gründen, welche auszuführen nicht weiter nöthig iſt, bie
italienifche Schule inımer das Haupt» Augenmerk bleiben müßte.
Mag die Eopie immerhin nur ein ſchwacher Widerſchein des Origi⸗
nals fein, fie giebt doch eine Jpee von der Compofition, vom Style,
ja mehr als dies, denn die Eopie kann wahrlich Bebeutenderes
feiften, als Derjenige glaubt, der nur an Handirerf3> Arbeiten
dent. Man bat angefangen, tiefe Schuld anzuerkennen; Frank⸗
reih, Rußland, Preußen, Defterreich laſſen die Fresken der Siſtina,
bie Stanzen, Tareten, Loggien copiren. Einen höchft bedeutenden
Schatz hat nun aber neuerdings die Gallerie zu Düffelborf erwor⸗
ben, die Aquarelleoyien von Rambour.
Diefer Künftler, aus Trier gebürtig, in Nom wohnhaft, Hat
einen wunderbaren und höchſt achtungswerthen Act der Neflgna-
tion geübt. Sein Talent gab ihm vollftändige Berechtigung, fich
auf dem Felde der freien Schöpfung zu bewegen; wer feine genia=
237.
Ien Sarbenfkizzen. zu Dante im Stäbelichen Inftitute betrachtet,
kann daran einen Augenblic zweifeln, und einen nicht minder
ſprechenden Beweis feines Berufs follen idylliſche Darftellungen
von feiner Hand in einer Gartenwohnung zu Trier liefern. Er
genoß feine künſtleriſche Bildung in Sranfreih und fam als ein
geſchworner Claſſiker im Sinne David's nach Deutſchland, dann
nach Italien, wo er im Umgang mit den deutſchen Romantikern
feine Künſtler⸗Laufbahn wieder von vornen zu beginnen beſchloß,
Während nun aber Andre aus. diefer Schule ihrer Begeifterung
eine dogmatiſche Wendung gaben, wenn fie das Mittelalter un⸗
natürlich zu erneuern fuchten, fein Princip, feine Stoffe, feine
Formen, ja gerade feine frühern unreifen Formen als Gefeb für
die moderne. Kunft aufftelten, fo fshlug dagegen dieſe gefuntere
und objectivere Natur den geihichtlihen Weg ein. Was au
werden, was bie Beflimmung der neuen Kunft fein möge: aus
einer innigen Bertiefung in den großen Entwicdlungsgang, den
wir hinter und haben, muß Gutes und Deilfames hervorgehen,
jo dachte er, und beftimmte nun die Kraft feiner beften Lebensjahre
dazu, in einer umfaflenden Folge von Abbildungen in Wafferfarbe
die Enttwicklungögefchichte der italienifchen Malerei vom vierten
bis ind fjechzehnte Jahrhundert varzuftellen. Die gefchichtlihe Be⸗
deutung eined Werkes bedingte feine Wahl, doch durfte Neigung
und Gelegenheit bier, wie innmer beim Künftler, eine Stimme has
ben. und zugleich leitete ihn die Abſicht, Unbefanntes oder zu we⸗
nig Bekanntes den Dunkel zu entziehen. Keine Zeit dauerte ihn,
feine Pladerei verdroß ihn, Eein Aufwand war ihm zu groß, nicht
Müdigkeit, Staub, Froſt und Hige in Kirchen und Baläften, Klö-
ftern und Gerichtsſtuben, in. ftaubigen Winkeln und modrigen
238
Kammern hielten ihn zurüd, und eine von den grünblichften
Kunftrichtern bewunderte Technif wußte mit den einfachen Mittel
der Waflerfarbe fo überrafchend zu fchalten, daß mit den Grund⸗
zügen bed Styls und Colorits zugleich der eigenthümliche Ton
ber Mofaif, des Tempera⸗ und Delgemäldes, ber Freske, der
Zeppichweberei, ja ſelbſt des Halb Verwifchten, DBerwitterten je
nach ber Gattung und dem Zuftande des Originals wie durch
Zauber wiedergegeben tft und man bald in den uralten Räumen
ernfter Bafiliken, bald in den mächtigen, bämmernden Hallen
gothifcher Kathebralen, bald in heitern Palaften zu wandeln, bie
fpeeififche Atmofphire diefer Locale in der Erinnerung wieder zu
fpüren glaubt. Hier ift eine Technik, die ihren Si& im tiefiten
geiftigen Verſtändniſſe hat und von da bis in bie Fingerfpiken
dringt. Ä
Es find 305 Blätter; leider verhinderte mich bei meinem
Aufenthalte im Winter 1839 — 40 zu Rom der Zufall, bie
damald noch in den Händen des Künftlers befindliche Samm⸗
lung zu ſehen, an den mich Herr Director von Schadow freund-
lich empfohlen hatte. In Düffeldorf find bis jegt 130 Stüde in
Glas und Rahmen aufgehängt, und die Anſchauung dieſer gab
mir einen volftändigen Begriff von dem Werthe bes Ganzen,
von dem ich nun an der Sand des Katalogs, der mir durch bie
Güte eined Freundes zugefommen ift, einen Lieberblid gebe.
Eine Reihe von Gebäude =» Anfichten eröffnet das Ganze und
” verfeßt und in die architektonische Stimmung, welche den Cha⸗
after der Malerei entfpricht,, die wir nun. Fennen lernen follen.
Die Dome von Siena, von Orvieto erheben ihre prachtvollen
Bagaden, wir treten in die ehrwürdige Dämmerung der Kirche
239
des h. Franziscus zu Aſfif, die Lateran⸗Kirche in ihrer urſprüng⸗
lichen Form, die alte Peterb⸗Kirche zeigt ſich uns neben verſchie⸗
denen ältern und gleichzeitigen Gebäuden. Aus dieſer Vorhalle
treten wir nun ins Innere.
Große Kunſtperioden haben immer ein abgelaufenes früheres
Kunftleben zu ihrer Vorausfegung und ihren Ausgangspunct.
Was früher als die höchfte Form erſchien, wird jebt wieder zum
bloßen Stoffe, an melchem ein neuer Geift bildend und umge⸗
ſtaltend feine Kräfte übt. Die chriftliche Kunft befand ſich jedoch
in einem ganz befondern Falle. Wenn der Grieche die Aufgabe
hatte, eine unreife und in Unreifheit durch Priefterfaßung ver-
fteinerte Kunftform, die ihm aus Aegypten überliefert war, be⸗
ſeelend fortzubilden, fo traten dagegen die erſten chriſtlichen Jahr⸗
hunderte in die Erbſchaft einer Kunſt, welche nicht als eine nur
relative Reife betrachtet werden kann, ſondern, — freilich inner⸗
halb einer beſtimmten Weltanſchauung —, ein ſchlechtweg Höch⸗
ſtes und Reifſtes war; hier blieb nichts mehr zu thun übrig, die
alte Kunſt hatte alle ihre Stadien organiſch durchlaufen und ſich
von innen heraus ſamt der ganzen geiſtigen Welt, aus der ſie
gefloſſen, ausgelebt. Nur ein ſchwacher Schimmer antiken Form⸗
gefühls hatte ſich noch erhalten, wir erkennen ihn in den Moſaiken
vom vierten bis ſiebenten Jahrhundert, wie ſie ſich in jenen fremd⸗
artig ehrwürdigen Räumen der Baptiſterien, Begräbniß⸗-Kirchen,
Baſiliken Noms und des einſt fo blühenden Ravenna befinden,
wohin und zunächſt eine Neihe von Rambouxs Copien führt,
insbeſondre in jenen merfmürbigen altteftamentlichen Durftellun-
gen, welche über den Säulenreihen des Hauptſchiffs von S. Maria
maggiore hinlaufen, und welche d'Agincourt mit den Reliefs der
230
Was hier über die Staffage gefagt ift, gilt ebenfo von der
Architektur. Diefe darf und ſoll allerbings eine Rolle in der Land»
ſchaft ſpiglen; wie mathematifch geordneten Linien des Gebäudes
treten IK unbewußt fhmeifenden Architektur der Erdbildungen
in einen für dad Auge höchſt wohlthätigen Gegenſatz, und da der |
Menſch in der anfpruchlofen Bedeutung eines an bie Natur bins
gegebenen und gebundenen Wefend allerdings in der Landſchaft
aufzutreten hat, fo fehen wir auch gerne fein an die gegebnen tel=
luriſchen und Elimatifchen Bedingungen fich anſchmiegendes Obdach.
Die Bauftyle gingen ja aus einer Phantafle hervor, die unver-
fennbar ihre Formen aus ber umgebenden Natur nahm. Die
griechiſche Architektur mit der vorherrſchenden horizontalen Linie
erinnert ſogleich an die breit und bequem hingelagerten Gebirgs⸗
maſſen des Südens, der ſpitzig aufftrebende gothiſche Styl an die
zackigen und phantaſtiſch gethürmten Bergformen des Nordens,
feine Ornamente an eine dornichte und ſtachlichte Vegetation; an
Tannenzweige u. |. f.; er hat durchaus einen winterlichen, bie
füpliche Bauart dagegen einen fommerlichen Charakter. Auch Tiegt
es ganz nahe, die Kuppel des Pantheons mit der Krone der Pi⸗
nie, gothifche Thürme mit Fichten zu vergleichen. Aber der Land⸗
ſchaftmaler hüte fih wohl, feine Gebäude in reinlicher Neuheit
darzuftellen, wie dies die fogenannte hiſtoriſche Landſchaft liebte,
es wird dadurch das Landſchaftgemälde alsbald zum Architektur⸗
gemälde. Das Landſchaftgemälde, das ein- für allemal die Natur
zum Subjecte hat, fordert Gebäude, welche die Natur bereit in
ihren Bereich hereingezogen bat, indem fie ihnen die Spuren ihrer
Zufalligkeit, ihres elementarifchen Charakters aufbrüdte, vom Als
ter gebräunt, halb zerfallen, von Vögeln umfreift, die in dem
231
Werke der Menfchenhand wie in ihrem Eigenthum niften u. f. f.
Dan wird leicht finden, wie meit ich in dieſen Bemerkungen mit
den zufanımentreffe, was der einfichtSvolle Schnanje in feinen nie⸗
derländiſchen Briefen über das Wefen der Landichaft fagt. Sein
Ausdruck, das Landſchaftgemälde flelle die Erde als Wohnſttz des
Menſchen dar, jol ungefähr vafielbe fagen, was ich oben aus»
führte, ift aber der Mißdeutung zu ſehr ausgeſeßt, um glücklich
heißen zu können.
Dieſe Abſchweifung über die Landſchaft hat uns wirllich von
unſerm Wege nur ſcheinbar entfernt, ſie hat uns zuletzt auf den
kranken Fleck unſrer heutigen Kunſt zurückgeführt, auf die Reflexion,
welche, ſtatt ein bloßes Moment in der Schöpfung der Phantaſie
zu ſein, ſich als Princip hervordrängt. Wir leiden Alle an ihr
und mangeln des Ruhms, ven wir haben ſollen vor der Sinnlich⸗
keit, der Phantafle, der Idee, der That. In ihr und in nichts
Andrem liegt der Grund jener Zerfahrenheit und Tauſendfällig⸗
feit von Stoffen, in denen unfre Kunft ſich zerftreut. Ja, fo weit
ift ed gefommen, daß man froh daran fein muß, wenn in diejer
unendlichen Tinficherheit nicht geradezu Stoffe gewählt werben,
welche Künftlerifch fehlechtweg nicht darſtellbar find. Wie Häufig
werden Erzählungen, deren ganze Spiße in einem beſtimmten, nur
durch Die Sprache varftellbaren Gedanken liegt, ald Stoffe male⸗
zifcher Darftelung behandelt! Ich fah 3. B. gemalt, wie Sokra⸗
tes in hohem Alter noch das Saitenfpiel lernt und dem Allibia⸗
des, der fich darüber verwundert, zur Antwort giebt, man dürfe
ſich nie ſchämen, zu lernen. Retzſch der von Grund aus affectirte
Manieriſt, zeichnet Hamlet's Monolog: Sein oder Nichtſein, und
der fonft erfreuliche Zeichner Sonderland nimmt unter feine Vils
242
Princip audging, in ſolchen Formen barzuftellen, worin die finn-
liche Wohlgeftalt durch die überwiegende Unendlichkeit des Aus⸗
drucks verkümmert erfcheint, fo darf man doch in ber byzantinischen
Kunſt⸗Periode auch dieſe Kunftgeftalt noch nicht im eigentlichen
Sinne juchen und erwarten. Diefe Belebung der verarmten Koran
durch Herz und Gemüth If bereitd ein zweiter Schritt und feßt
im reltgiöfen Leben jelbft, wie die Lyrifer in der Poeſie, eine
ſubjective Durchbildimg und Durdarbeitung voraus, welcher,
wie der lyriſchen Dichtung die epifche, eine Periode vorherrichend
epiicher Auffaffung vorausgeht. Ienem älteften chriftlihen Bes
wußtfein iſt es mefentlich um die großen Thatfachen der göttlichen
Offenbarung , die gewaltigen perfünlichen Werkzeuge zu thun,
durch welche der, neue Geiſt in die Welt eintrat: Chriſtus, fein
Lehramt, feine Leiden, feine Auferftehung, und bie Apoftel in
ftrenger und trockner Mafeftät feierlich Hinzuftellen tft die einfache
Aufgabe der altchriftlichen Kunft. Diefen objectiven, aus einer
fernen Vergangenheit wunderbar herüberragenden Geftalten dem
gegenwärtigen wirklichen Menſchen gegenüberzuſtellen, wie er,
das Herz voll unendlicher Sehnſucht, nach ihnen hinüberſchmachtet,
dieſe Spiegelung im Innern, dieſen ſubjectiven Reſlex auszubilden
war einer ſchon vorgeſchrittenen Zeit aufgeſpart. Kaum dämmert
in den anfangs noch ſehr ſeltnen Darſtellungen der Maria mit
dem Kinde dieſe Welt des Gemüths und der Liebe, und auch der
Geiſt, der in jenen männlichen Werkzeugen der neuen Weltord⸗
nung lebte, wird, wie in den erſten Jahrhunderten der chriſtlichen
Malerei in Italien, ſo auch in der ganzen byzantiniſchen Periode
noch mehr durch äußerlich hinzugeſtellte apokalyptiſche Symbole,
als durch einen, den Geſtalten ſelbſt inwohnenden Ausdruck ver⸗
243
gegenwärtigt. Um dieſes Leuchten eines innern Lebens barzuftellen,
fehlen noch die techniſchen wie die tiefern künſtleriſchen Bedingun⸗
gen. Erhöhung ver äußern Maße ins Niefenhafte muß den Aus⸗
druck innrer Größe erfegen; firenger Ernft fpricht aus den großen
Augen, der todten Ruhe der Situation, an deren Stelle nur
felten das andre Extrem, eine gewaltfame, heftige Bewegung
tritt, die Sagerfeit der Körperformen weiſt alles weltliche Beha⸗
gen im Zuſchauer ab und wirft ihn in fein Innres zurüd, doch
nit, um bier die Seligfeit der Liebe, fondern bie Schmerzen der
Entfagung zu enipfinden und im Bemußtiein feiner Sündhaftigfeit
fih von jener aus goldner Verne ernſt hereinblickenden jenfeitigen
Welt göttlicher Geftalten ausgeſchloſſen zu fühlen. Die Italiener
nahmen. diefe Kunftform von ben Griechen auf, da ihre eigne
Kunitthätigfeit noch ungleich tiefer gefunfen war. Mehrere Co⸗
yien nad) Mofaifen aus dem achten, neunten und zehnten Jahr⸗
hundert, namentlich drei Blätter nach den Mofaifen in ©. Praf-
jede zu Nom vom Jahr 818 geben in unfrer Sammlung von
diefem tiefen Derfalle der italienischen Malerei eine Anſchauung.
Eine meitre Folge trefflicher Blätter führt und dann in den byzan⸗
tinifchen Styl ein, wo mir und fogleich überzeugen, daß ein fo
tiefes Sinken, ein ſolches Ausfüllen vieler Umriſſe mit. Farben⸗
flecken, ein ſolches Aufgeben aller Mitteltöne und Schatten-Meber-
gänge, wie in Italien, in Byzanz nicht flattfand, und daß bie
Zeichnung bier einen ſchwachen Nachſchein antiken Formgefühls
immer noch durchſchimmern laßt. Die Italiener blieben aber nicht
lange bei dem äußerlihen Aufnehmen viefer byzantinifchen Weile .
fiehen ; gegen das Ende des dreizehnten Jahrhunderts bemerkt
man bereit3 ein fühlbares Anſteigen, wie z. B. in dem merfwürs
16 *
244
digen Mofaif der Tribune in ©. Maria maggiore zu Ron, das
Jacopo da Torrito gegen 1290 ausführte. Hier ift ſchon Weich-
heit der Behandlung, Ausdrud innren Xebens fihhtbar, Maria
ſcheint mit einer Bittenden Bewegung ihrer Hände der hohen, gött-
lihen Ehre, die ihr Chriſtus erweiſt, indem er ihr die Krone
auffegt, in holder Beſcheidenheit ſich zugleich ermehren zu wollen,
indem fie diefelbe demüthig hinnimmt, die Gewänder find ſchon
fließender behandelt, durchgängig zeigt ſich eine freiere Regung.
Noch mehr würde biefer Fortſchritt einleuchten, menn Rambour
bie Moſaiken in der Vorhalle ver Marcus-Kirche zu Venedig auf-
genommen hätte, deren fichtbar reinere und naturgemäßere Zeich-
nung Rumohr veranlaßt hat, fie ins fechfte oder flebente Jahr⸗
hundert zu ſetzen, wo ſich ihr Kunſtwerth aus den damals noch
dauernden Reminifcenzen antiker Motive erklären würde, die jedoch
nad) neueren Korfchungen offenbar ind dreizehnte Jahrhundert
fallen. Außer dieſen Moſaiken giebt unſer Künſtler eine Auswahl
von Wandgemälden im byzantiniſchen Style, die uns bereits in
jenes herrliche Local führt, wo die ganze myſtiſche Gluth mittel⸗
alterlicher Andacht fich zuſammendrängte, nad ©. Francesco in
Aſſifi. In der Ajcefe, ven Geſichten und Verzückungen des h.
Franciscus, in der ſchwärmeriſchen Verehrung fe.ned Andenkens,
feines Leichnams haben wir, wie Rumohr dies zuerft in Erinne-
rung gebracht bat, den Brennpunet zu fuchen, in welchem jene
Entzündung des fubjectiven Lebens eintrat, das wir oben als
Bedingung einer neuen, den Geift der hriftlichen Zeit eingenthüm-
ih ausſprechenden Kunftftufe forderten. Wirklich iſt e8 jene
prachtvolle, über dem Grabe des Heiligen fi} erhebende Doppel-
firche, in welcher, wie der jo eben aus Deutſchland übergeflebelte
245
Bauſtyl des Mittelalters, fo auch die Regungen eined neuen Les
bend in der Malerei ihre Stätte finden. Außer jenem Aufglühen
eined neuen innren Lebens wirkte allerdings zugleich ein Äußeres,
formelles Moment mit; denn obwohl im Allgemeinen der Drang
ded Mittelalters zunachft dahin ging, eine Kunft zu ſchaffen,
deren Charakter eine, ſelbſt auf Koſten der Form einſeitig herr⸗
ſchende Innerlichkeit ſein ſollte, ſo mußten doch eben, um für
dieſe die rechte Geſtalt zu finden, die erſten Schwierigkeiten der
Darſtellung überwunden ſein. Es war in Piſa, wo dem Bild⸗
hauer Nicolaus durch das Studium der Bildwerke eines antiken
Sarkophags zuerſt wieder ein Gefühl reinerer Form aufging, und
ſein Vorgang ſcheint in derſelben Stadt entſprechende Regungen
in der Malerei hervorgerufen zu haben; denn der erſte Maler,
in deſſen Werken wir ein kräftiger durchdringendes Streben nach
freierer Bewegung erkennen, iſt der Piſaner Giunta da Piſa,
deſſen ſehr beſchädigte Fresken Nanıbour in vier Blättern darſtellt.
Der höhere Beruf aber war der blühenden Toscana und
ihren ſinnigen Bewohnern vorbehalten; zwei Städte, kräftig durch
Bürgerfinn, gedeihend in Wohlhabenheit, wetteifernd in der Pflege
alles Schönen, treten ſchon in der zweiten Hälfte des dreizehnten
Jahrhunderts mit den berühmten Namen hervor, welche an der
Spitze einer ſo langen und glänzenden Kette ſtehen: Duccio von
Siena und Cimabue von Florenz. Ramboux behandelt die zu
wenig gefannte ſieneſiſche Schule, deren eigentliche Bedeutung im
Gegenfage gegen die floventinijhe und in ihrer ganzen Wichtigfeit
für die Entwicklung jenes fubjectiven Moments im vierzehnten
Jahrhundert erft ftärker hervortritt, mit fihtbarer Liebe. So hat
es mehrere Werke der Vorgänger des Duccio, worunter dag Ma⸗
246
bonnenbild von Guido da Siena in S. Domenico nicht fehlt, zu
bellerer Beleuchtung des wunderbaren Fortſchritts zufammengeftellt,
den jener Duccio um das Ende des dreizehnten und den Anfang
des vierzehnten Jahrhunderts machte. Bon feinem berühnten
Bilde im Dome zu Siena tft nur die eine Seite: Madonna niit
dem Kinde, von Heiligen umgeben, copirt; Schade, daß Ram⸗
bour nicht auch die Scenen aus der Leidensgeſchichte auf der an⸗
deren Seite aufgenommen hat, denn der Fortſchritt zu pramatifchem
Leben in figurenreicher Handlung, zur Darftellung der Leidenſchaft
mit ihren Gontraften und Abftufungen, wie er vereinigt mit über⸗
rafhenden Zügen wahren Schönheitögefühls auf dieſem Theile
des Gemäldes hervortritt, ift noch wunderbarer, als die tiefe und
warme Seele, welche in jenen Madonnenbilde noch mitten zwi⸗
fhen den Härten byzantinifcher Formen fo einzig überrafcht.
Duccio wurde nicht fo berühmt, und fteht doc mindeſtens ebenfo
bo, als Cimabue der Florentiner, movon der Grund theils in
dem größeren Ruhme liegt, den fpäter Florenz erwarb, theils
in der Gelegenheit, die dem Cimabue ſich eröffnete, in einem fo
weitberühnten und von Andächtigen aller Gegenden Italiens be=
ſuchten Locale, wie die Kirche in Aſſiſi, fih auszubreiten. Ram⸗
bour hat von Cimabue Feine der beiden Madonnen zu Ylorenz
aufgenommen, die einft alle Volk ald ein Wunderwerk entzücdten,
und in denen wir jebt kaum den erften Anbruch weicherer Formen,
erwärntten Ausdrucks finden; dagegen führt er und in bie obere
Kirche zu Aſſiſt und zeigt und, wie der wackre Altvater ver
Malerei in größeren Gompofitionen fih allmälig aus der byzan-
tinifhen Härte herausringt und in jenen Darftellungen großer
Kirchenlehrer und biblifcher Scenen nach ernfter Größe charakter⸗
o ⸗
247
voller Geftalten, nach bewegter Handlung und Gruppirung müh⸗
ſam hinſtrebt.
Inzwiſchen find wir ſchon ind 14. Jahrhundert hinübergeſchritten.
Die ſtreitenden Kräfte nehmen jetzt eine andere Stellung gegen einan⸗
ber ein. Bis dahin wandelten wir in der Gruft der byzantinijchen
Mumien, einzelne Lichtftrahlen ftreiften herein und zitterten ſchüch⸗
tern durch das Dunkel. Jetzt ift das Licht erftarft und ringt wie
bie aufgehende Sonne mit großen Nebelmafien: es ift die Periode
bed Kampfes mit unentſchiedenem Siege, mit gleichen Kräften,
deren vorherrfchender Ion daher firenge Schärfe und Gewaltſam⸗
keit iſt. Die Knechtichaft der byzantiniſchen Veberlieferung ift ge⸗
brochen; keine ftabile Autorität bindet mehr den feiner Kräfte ſich
bewußten Geift; er wagt e8, die Augen aufzuthun, frei herum⸗
zugehen, die Dinge anzufehen, mie fie find, er merkt fich bie
flarfen Grundzüge aller Erſcheinungen, Stimmungen ; Leiden⸗
ſchaften; aber er flieht noch nicht die feineren Mebergänge, melde
ihre Harte Beftimmtheit vermitteln, nicht die unendlichen Brechun⸗
gen jener allgemeinen Züge im Individuum: daher hat er nur
Eine ftehende Phyfiognomie, nur Ein Exemplar. Wer kennt nicht
die Geftalten des Giotto fogleich an ihren ſchmalgeſchlitzten Augen,
an den langgezogenen, doch an Nafe und Kinn abgeftumpften
Profilen, der unterfeßten Figur u. f. w.? Die feltfame Behand⸗
lung des Auges 3. B. mag er theild aus Oppofition gegen bie
flarre Größe ber griechifhen Augen angenommen ‚haben, theils
aber und gewiß noch mehr leitete ihn die Beobachtung, daß An⸗
dacht, Fromme Scheu und ähnliche Stimmungen die Augenlieber
zufammenziehen, um durch dieſe Bedeckung anzuzeigen, daß ber
BULL jet nicht mit freier Ueberlegenheit die Objecte als dem Geiſte
248
untergeorbnete erfaflen fol; und allmälig wurde ihm biefer Zug ‘
ſtehend. Diefe noch abftracte Beobachtung des Lebens trifft
mit der firengen Obfectivität deö inneren Sinnes, welcher mit den
großen Vorftelungen der Kirche noch einfach verwachſen ift, in
Einem Refultate zufammen: der Charakter der Schule Giotto’s,
von welcher wir reden, iſt firenge Sächlichkeit, einfaches Los⸗
gehen auf ven Gegenftand, es ift mehr um Wahrheit, ald um
Schönheit, ja um bie erftere felbft auf Koften der letztern zu thum,
und eine Hinneigung zu allegorifchen Darftellungen im Geifte und
ſelbſt in unmittelbarer Benutzung des Zeitgenoffen Dante ift hie⸗
mit von felbft gegeben. Died Alles ſpricht fich noch durch unvoll⸗
fommene Mittel im Charakter einer unendlichen Naivetät aud; die
Kunft iſt nicht mehr durch ein fremdes Gefeß, wohl aber noch
durch ihre eigene beſchränkte Gefchicklichkeit gebunden; die Hand
kann der inneren Anſchauung noch nicht folgen, die Compoſition
ift Häufig noch architektoniſch, ſtatt maleriich, und wo die Geftal-
ten in wirklicher Wechfelbeziehung ſich gegeneinander hinwenden,
da fehlt noch die Leichtigkeit, es ift, als zwänge fie Jemand, ver
ihnen die Fauſt in ven Nacken febte und fe gemaltfam vordrückte.
Und ſamt allen diefen Härten, dieſen infältigfeiten , dieſer
ſchonungsloſen Strenge — ich behaupte keck: unfere moderne
Kunft mit al ihrer Fertigkeit dürfte ſich Glück wünſchen, wenn
fie nur ſchon wieder da flünde, wo der ehrliche alte Giotto ftand.
Er war in der Sache, er war Eind mit der Welt, in der er ala
Künftler wie als Menſch ſich bewegte, daher ift er zwar hart,
aber auch groß und ehrfurdtgebietenn. Es giebt ein anderes
höheres Verhältniß des Künftlerd zu jeinem Stoffe: von ihm
erfüllt fein und doch frei darüber ſchweben, Einheit ver Be⸗
249
geifterung und ber Ironie; wir Neueren aber bewegen und, fo
ernſt es und zu fein feheint, nur in dem einen diefer Momente,
dem ironijchen, d.h. wir find mit unferm Bemußtiein und unferer
Innigfeit aus den Stoffen heraus und treiben und nad) der Will«
für ſubjectiver Sreiheit vom Hundertften zum Taufendften. — Die
Schule des Giotto iſt von Romboux reihlih bedacht worden;
auch Hier befolgt er feinen Grundfaß, vieles biäher wenig ober
nicht Bekannte aus dem Dunkel überfehener Lokale hervorzuziehen.
Der Meifter ſelbſt ift unter Anderem ganz würdig vertreten durch
feine Danteöfen Allegorieen zu Aſſiſi, die drei Gelübde des Heil.
Branziscus, und durch den berühmten Schmuck der Kirche S. Marla
del? Incoronata zu Neapel, die Darftelung der ſieben Safras
mente. Unter manden, theild bekannten, theils namenlofen
Werfen aus der Schule Giotto’8 hat auch der, ſeit Rumohr viel
leicht mit Unrecht unter die Mythen verfebte Buffalmaeo eine
Stelle erhalten, nicht mit feinen Werfen im Campo fanto zu
Piſa, fondern mit drei neuteftamentlihen Scenen in der Kirche
zu Aſſiſi. Zu bedauern ift, daß unfer Künftler, der freilich die
Beſtimmung unmittelbarer Belehrung, die jet feine Arbeiten ges
funden haben, nicht urfprünglich im Auge haben Eonnte, zweierlei
Erſcheinungen überging, die für die Schule des. Giotto befonders
merkwürdig find. Auf der einen Seite nämlich weiß ich nicht
Veit ein Werk, worin die naturmahre, aber harte und ſchonungs⸗
Iofe Sächlichkeit dieſer Schule fchärfer hervortritt, als den Triumph
des Todes und das Weltgericht ded Orcagna im Campo fanto
zu Piſa; ein Lokal, das Rambour wohl deßwegen mıt feinem
audgezeichneten Pinfel nicht befucht hat, weil er es durch das
bekannte Werk des Lafinio für hinlänglih befannt hielt; aber
4
230
welcher Genuß müßte es fein, den Schmud jener merkwürbigen
Hallen in der Kraft der Barbe erneut zu fehen! Auf der andern
Seite fehlt der florentinifägen Schule des vierzehnten Jahrhunderts,
die wir nad) ihrem Streben, bie heiligen Geſchichten in den ſchar⸗
fen Orundzügen der in ihr thätigen Affecte varzuftellen, als eine
vorzüglich pathetifhe und dramatifche bezeichnen und mit ber
frühften kitchlichen Schaubuͤhne des Mittelalters vergleichen kön⸗
nen, doch das entgegengeſetzte Moment der weicheren Anmuth,
des idylliſchen Gefühles mit den entſprechenden idealeren Formen
nicht völlig; Taddeo Gaddi war es beſonders, der dieſen Weg
einſchlug, Nambour hat jedoch nichts von ihm, ſondern nur ein
Gemälde ſeines Sohnes Giovanni Gaddi -aufgenommen. Der
trefflihe Nicola di Pietro, der in biefem Geiſte ſich noch höher
bob und dem Adel der Seele den Meiz der Schönheit in einem
für diefe frühe Epoche überrafchenden Grade zu vermählen wußte,
fand feine Stelle.
Wir fcheinen von demjenigen Punkte, den wir von Anfang
an juchten, durch die Betrachtung der Schule des Giotto abge⸗
fehweift zu fein. Die hriftlihe Kunft, fagte ich, ftrebte danach,
ben Ausdruck für die Unendlichkeit eines vertieften Seelenlebens zu
finden, und bier trat vielmehr eine jehr bedeutende Schule vor
und, die einen vorherrſchend objectiven Charakter trägt, indem
nicht der muſikaliſche Wiederhall der göttlichen Offenbarung in
ben erzitternden Tiefen de8 Gemüths, fondern die großen That⸗
ſachen dieſer Offenbarung felbft ihre vorherrichende Aufgabe
waren. Es ift aber nicht zu überfehen, daß der Geift der chrift-
lichen Kunſt, ven wir allerdings durch die Präpicate der Innerlich-
feit und Subjectivität bezeichnen mußten, felbft wieder den Gegen-
u‘
251
ſatz einer objectiven und ſubjectiven Richtung aus fich hervortrieb, von
welchem das erftere Moment auszubilden im vierzgehnten and noch
mehr im fünfzehnten Jahrhundert die Beftimmung ber florentini«
hen Schule war: Verglichen mit der byzantinifchen Lebloſigkeit
erſcheinen auch die Teivenjchaftlich bewegten Darftellungen der flo⸗
rentinifchen Schule als fubjective Beſeelung eines vorher töbten
Stoffes; vergleichen wir diefen Schritt mit vemielben Schritte,
den die antike Kunft durch Belebung der vorher flarren Götter-
bilder vollzog: fo ift der Einn, in welchem dies in beiden Welt:
altern gefhah, Boch immer noch fo verſchieden, als das chriſt⸗
liche Gefühl von dem griechiſchen, die Suhjectivität von ber -
Objectivitaͤt. Allerdings blieb es num aber Aufgabe der chriftlichen
Malerei, nicht nur die großen Thatfachen der Offenbarung jelbft,
fondern aud) ihr Echo in den Tiefen der Seele, biefe fubjective
Einwohnung ausdrücklich zu ihrem Gegenftande zu machen; und
dies war nicht der florentinifchen Schule vorbehalten, welche mit
dem ihr ſtets eigenen Wirklichkeitägeifte die gefchichtlichen Stoffe
fefthielt, fondern ver weichere Sienefe war e8, der zuerft in dieſes
innere Heiligthum hinabftieg.
Die überrafhenden Anfünge ded Duccio in der Beherrichung
ber Form, in der Darftellung bewegter Handlung fanden in ſei⸗
ner DVaterftadt keineswegs unmittelbare Nachfolge; die Sienefen
befreien fich fchwerer und langſamer, al3 die Florentiner, von der
byzantiniſchen Härte, die alterthüimlichen Motive dieſes Typus ſa⸗
gen ihnen ſogar aus innern Gründen zu; biefe flillen Gruppen
der Mutter mit dem Kinde von Heiligen und Engeln angebetet,
dieſe feinen langen Hände, diefe hagern Figuren, biefe ſchmächti⸗
gen Köpfe bieten ſich dem ftillen und fchüchternen Liebeslchen ver
252
Seele, dem diefe Schule ihre Kräfte weiht, als willkommne For⸗
men dat. Wir lernen in unfrer Sammlung die wichtigften Mei-
ſter diefer Schule kennen; zuerft Simone di Marino (fonft Simon
Memmi) und Lippo Menmi, vom Lebtern insbeſondre fein be—
deutendſtes, fonft faft unbekanntes Werk im Rathhaufe zu ©.
Simignano, vom Erftein die berahınte Madonna im Gerichtsſaal
bes öffenilichen Palaſtes zu Siena, die Uebermalung und Um⸗
ſchaffung eines Altern Werkes, nebſt zwei Heiligenbildern in Aſſiſi.
Von beiden zuſammen hätte auch jene rührende Annunziata im
Corridor der uffizien zu Florenz, worin die Jungfrau mit einem
zwar mühſam, aber doch glücklich dargeſtellten Ausdruck von
Schrecken wie vor einen Gefrenfte nach der überirdiſchen Erſchei—
nung fi} herumwendet, eine jhöne Vorftellung gegeben. Damit
wir nun nicht vergeffen, daß Gegenſätze nicht abſolut auftreten,
fondern wie in Florenz der weiche und feelenvolle Styl, fo in
Siena die Ausbreitung nach der Seite der Wirklichkeit und Hand⸗
Jung nicht fehlt, treten bie naiven Lebensbilder und entgegen, wo⸗
durch Ambrogio di Lorenzo (oder Lorenzetti) in der Sala delle
baleftre deſſelben Hauſes die gute und fchlechte Negierung ver-
finnlichte. Bon feinem Bruder, dem anmuthigen Pietro, erhalten
wir eine Geburt Mariä im Dome zu Orvieto. Zwei Bilder füh-
ren in die Befanntichaft mit Berna ein, und der liebliche Taddeo
di Bartolo, doppelt merkwürdig, weil durch jeine Thätigkeit in
Umbrien der fehlummernde Künftlergeift in diefer Landſchaft ent»
bunden wurbe, ber bald in derfelben Richtung das Höchfte erftei=
gen ſollte, erfcheint in dem Begräbniß und der Himmelfahrt Maria
in der Gapelle deſſelben Stadthaufes zu Siena in feiner ganzen
Sreundlichfeit und ftillen Treue. Auf dieſem Puncte blieben aber
253
bie Sieneſen auch fiehen, und wir Eönnen bier, ohne die innere
Ordnung zu flören, ein Baar Schritte vorwärts ins funfzehnte
Sahrhamdert thun, die Madonna von Matteo di Siena, die Krö-
nung der Jungfrau von Sano oder Anſano di Pietro betrachten,
wo wir noch biefelbe unentfaltete, aber. füßen Hauch duftende
Knofpe finden.
Aber jebt fiehen wir vor den großen Entwicklungen des funf-
zehnten Jahrhunderts, diefer Schwelle der höchften Reife. Halb
ft die Roſe aufgebrochen, Halb fheint fie noch Befch’mf zu zau⸗
dern, ihr glühendes Geheimniß zu entfalten. Das Licht und die
Freiheit Hat geflegt, dad Dunkel und bie Unfreiheit iſt an den
Rand des Horlzonted gedrängt und legt fi nur noch als ein
fhmaler Saum an den Grenzen hin. 8 ift, als fühen wir die
reizende Erfcheinung fungfräulicher Schönheit, die eben zur Mann⸗
barkeit übergeht: die Formen füllen und runden ſich, die Gliede⸗
rung wird freier und beftimmter, aber ein Reſt mädchenhafter
Herbe und Schüchternheit ſcheint die reisende Bildung von dem
Schritte zur höchſten Reife zurüczuhelten, eine rührende Unge⸗
ſchicklichkeit miſcht fih noch zmifchen die beginnende freiere Herr⸗
haft über vie Bemegungen, das Auge blickt träumend über bie
unendliche Bebeutung neuer Ahnungen in bie noch unverftantne
Welt hinaus. Diefe Erfheinung war e8, von deren Schönheit
tie deutſche Malerei beraufcht wurde, als fe fi, müde ver über-
reifen Geftalten ded achtzehnten Jahrhunderts, unbefriedigt «uch
durch die kalte Volllommenheit der erneuerten claſſiſchen Formen,
in das Mittelalter zurückwandte. Man Eonnte ihr dieſe Entzüdung,
wenn fie nur einem freiern Urtheil wich, gerne verzeihen. Denn
wenn es wahr it, daß die höchfte Neife nur einen Augenklid
254
dauert, daß mir der jatten Fülle auch die erften Spuren der Ueber⸗
jättigung, mit der Freiheit auch die erften Auswüchſe der Willfür
alsbald ſich anfegen, wenn felbft ein Naphael auf der höchften
Stufe feiner Entwicklung bereitö die erften Spuren effectſuchender
Birtuofität zeigt, jo mag man gern bei der holden Unbemußtheit
verweilen und felbft in ihre Härten und Naivetäten ſich verlieben.
Wer erholt fich nicht jest noch von ber unruhigen DVielthätigfeit
unfrer heutigen Kunft, ihrer anfpruchvollen Weflectirtheit, ihrer
innerlichen Greifenhaftigfeit in der Anſchauung jened erften ſchö⸗
nen Jugendtages? Vreilih aus denfelben Gründen, aus denen
man jene erfte Begeiftrung für diefe Epoche rechtfertigen muß, er=
fheint es aber auch, ald die äußerfte Verfehrtheit, einen folchen
Zuftand künſtlich wieder zum Geſetze der Gegemvart. erheben zu
wollen, aus ber Bewußtheit und der Abjicht Heraus die Maängel
der Unbewußtbeit, die unbefangne Härte der Abfichtälofigkeit zum .
Looſungswort zu wählen; ed ift, als ob ein gemachter Dann,
um jugendlich, Eindlich zu erfcheinen, ſich ftellen wollte, als Eünne
er noch nicht recht gehen.
Diefe letzte Stufe vor dem Ideal zu erreichen, fehlägt ſich der
Weg in zwei Aeſte außeinander, oder richtiger, ein ſchon vorher
fihtbarer Gegenſatz bildet fich jebt noch beftimmter aus: der
Gegenfag der florentinifhen und ſieneſiſchen Schule, nur daß
jest an die Stelle der letztern die umbriſche tritt. Nicht bälver
follte, wie wir dies im Anfang dieſes Ueberblicks ald inneres
Geſetz aufftellen mußten, die hriftlihe Kunft den unendlichen
Gehalt wieder der harmoniſchen Form vermählen, als bis für
jenen berjenige Ausdruck gefunden war, ber feiner afcetifch-
myſtiſchen mittelalterlihen Auffaffung entſprach. Aber nicht un⸗
255
vorbereitet konnte dann die jchöne Form eintreten, lange umb
ſchwierige Vorftubien jegte ihre Erreihung voraus. Zu der glei⸗
Gen Zeit aljo, da man die innigfte Tiefe des Ausdrucks fuchte,
mußte man auch bereitö die ſchöne Form fuchen. Dies ift aber
auf dem Stanppunfte des Mittelalters ein Widerſpruch; nur eine
gewiſſe befondere Art von Schönheit der Form mar mit dem
ächten Ausdruck feines religiöfen Bewußtſeins verträglich: unent=
wickelte jugendlich zarte, ſchmächtige, oder alters⸗ und lebens⸗
mübe Züge und Formen, wenig Handlung, ſtille andächtige
Gruppen. Das Reich Chriſti ift: nicht von dieſer Welt, aljo durfte
fo wenig Welt ald möglich in feine Darftelung aufgenommen
werden. Da man nun dennoch zu gleicher Zeit, von der Grund⸗
bedingung alles Eünftlerifhen Thuns getrieben, die Form, bie
Sandlung, die Welt mit vollen Kräften fuchte, fo war die noths
wendige Folge, daß. zwei Schulen hervortraten, deren eine an
Innigfeit und ächter religiöfer Begeifterung verlor, was fle an
fhöner Form gewann, die andere an Form einbüßte, mas fie
an Tiefe der Seelendarftellung erreichte. Wir willen fehon, melde
Säule die Entwidlung des Formlebens übernahm, fie hatte dieſe
Aufgabe eigentlich bereitd ergriffen: das heitere Florenz, mo
zuerft die freie Wiſſenſchaft, die Kenntniß der Alten wieder auf-
blühte, wo die Mediceer eine Platoniſche Akademie gründeten,
Brunneleschi die Formen der clafftichen Architektur wieder auf⸗
nahm, Paolo Uccello die Perfpective, Andere das anatomifche
Praͤparat, ven Gyps⸗Abguß ſtudirten, wo die Bildhauerei noch
vor der Malerei durch einen Ghiberti, Donatelo, Luca della
Robbia fo überraſchende Fortfchritte machte, von mo die luſtige
Geſellſchaft des Bocaccio nach ihrer Billa zieht, um fich jene
256
neckiſchen Gejchichten zu erzählen, woraus zu erlernen, daß jeder
Menſch ein Menſch ift, Abt und Nonne, Biſchof und Mönch,
Abbate und Einfiedler: dieſe wohnlihe, freundliche Stadt, nah
welcher Ghiberti dad Heimweh Hatte, wenn er Taum erft ihre
Mauern verlafien, iſt der Sit des mächtigen Formſinnes, der
aus der Mönchskutte unaufhaltfan heraudringt, die große Zeichen⸗
ſchule, die Univerfität ver Maler ſchon im fünfzehnten Jahrhun⸗
dert. Man verftche aber unter Form nicht bloß Zeichnung und
Farbe; der wichtigere Theil derſelben ift die Gompofition, und
dieſe nicht ein Außerliches, für fich beftehendes Moment, fondern
wo Compofttion fein fol, wird Handlung, Bewegung, natur=
gemäße, nicht miraculd8 durchbrochene Werhfelbeziehung thätiger
und leidvender Menſchen, und um dazu den Weg und die Mittel
zu finden, wird Weltfinn, ſchöne Menſchlichkeit worausgefegt.
Niemand Eonnte hiezu mehr berufen fein, als die feinen, heiteren
Blorentiner, die früher al irgend Jemand im Mittelalter gebil-
det waren und fich auf dieier ſchönen Welt, in ihren anflin-
digen, wohnlichen Haufern, unter ihren fchönen Frauen, flarfen
Kriegern, ſchlauen Staatsmännern, geiftreichen Gelehrten hei⸗
miſch, wohl und behaglich fühlten. Frühe brach daher bier ver
Drang hervor, Diefe vertraute, freundliche Gegenwart in der
Kunft wiederzugeben und wir müffen in jener den florentinifchen
Malern des fünfzehnten Jahrhunderts gemeinfamen Sitte, um
die heilige Scene, welche zunachft dargeſtellt werden follte, einen
Kreis von Porträtfiguren, von fihönen Florentinerinnen, Ge-
Ichrten, StaatSmännern zu verfammeln,, das erfte dunkle Stre-
ben nach dem profanhiftoriihen Gemälde erkennen; denn biefe
Zuſchauer find häufig wo nicht überflüfflg, doch mit folder Vor⸗
y 237
Tiebe behandelt, daß die eigentliche religiöſe Aufgabe darüber zu
£urz fommt; eine Geburt Mariä ober des Johannes wirb nur
benüßt, um eine Kindbettftube in damaligem Style recht behag⸗
li wiederzugeben, ber Bau des babyloniſchen Thurms, um
Nimrod und andere altteftamentlihe Zuſchauer durch Mebiceifche
Fürſten und Prinzen verireten zu laſſen. Es iſt ein Suchen nad
dem eigentlich hiſtoriſchen (nicht mythiſchen) Kunftwerf, das nicht
zu fih, zur Ginficht feines Zieles kommen kann, weil Grund»
anfhauung und Aufgabe noch tranfeenvent if. Es Eönnte jchei-
nen, man müſſe dieje Darſtellungsweiſe vielmehr porträt» und
genresartig nennen; allein die ftäbtifchen Zuſtände und Geftalten,
die Hier auftreten, find mit einem Auge für das Stattlihe, Mar-
fige, Bedeutende auögemählt, welches den Geift des Siftorifers,
nicht des Porträteurd oder Genre⸗Malers verräth. Auch in ein=
zelnen Leiftungen des Leonardo da Vinci, des Michael Angelo,
des Raphael wollte das Hiftorifche Gemälde auftauchen; aber e8 find
nur vereinzelte Bewegungen, die auf halbem Wege ftehen blieben;
immer bricht wieder die Tranſcendenz herein, welche den geſchicht⸗
lichen Zufammenhang aufhebt. Man wird ganz verftehen, was
ich hiemit meine, wenn ich 3. B. das Gemälde Rafael's als Bei-
fpiel anführe, welches darſtellt, wie Leo den Attila bewegt, vor
den Dlauern Roms umzufehren. Statt daß bier die beiden Haupt-
figuren durch die einfach natürliche Wechfelbeziehung der religiöfen
Beredtſamkeit und ihrer Wirfung auf ein barbarifches Gemüth
gegenfeltig aufeinander bezogen wären, erjcheinen über Leo die
GSeftalten des Petrus und Paulus in den Lüften, Attila blickt
nad ihnen ftatt nad) Leo, und der innere Zufammenhang , bie
Einheit, ja die Compoſition ift aufgehoben, indem der Papft,
Kritiſche Gänge. 17
258
wenn Apoftel für ihn handeln, ganz überflüjftg wird. Die Aus-
bildung des reinen, durch Feine mythiſche Tranſcendenz durch⸗
brochenen hiſtoriſchen Gemäldes war — nach langer Unter⸗
brechung, langen Vorarbeiten, einer andern, der modernen Zeit
aufgeſpart. | |
Im gegenwärtigen Zuſammenhang Fam eö aber zunächft nur
darauf an, zu zeigen, wie bei den Slorentinern bie religiöfe Auf-
gabe durch ihren Sinn für dad Menſchliche, Wirflihe, vertrau-
ih Nahe, Bürgerliche nothwendig verfürzt werden mußte. Da-
gegen übernahm nun die umbriſche Schule die Ausbildung des
“ andern Moments, die Darftellung des innern Lebens der Andacht
und Frömmigkeit. Sie, die Meifterin des Ausdrucks, hütet fich
vor jener Ausbreitung und Cinwohnung in der Welt und flellt
- dem aus goloner Deffnung der. Wolfen von jenſeits herüber-
leuchtenden himmlifhen Wunder nur wenige, handlungslos
gruppirte Geftalten aus der Wirklichfeit zus Seite, Die nun nad)
dem nahen und doch fernen, geoffenbarten und doch verhüllten
Geheimniß der Erlöfung mit trunfener Andacht, mit unfagbarer
Wehmuth, mit einem Himmel von Schmerz und Entzüdung
hinaufblicken. Diefe brautlihe Sehnfucht der ahnenden und träu-
menden Seele erfcheint allerdings im Schmude ver Tieblichften
Schönheit, aber jener zarten, weiblichen, fehüchternen Schönheit,
nicht der weltlich freien und flarfen; nur die Glut der Farbe be-
hält ſich Pietro Perugino, der Meifter dieſer Schule, nachdem er
auf die Ausbeute feiner technifchen Studien in Florenz den. tiefern
Ausdrud zu Liebe halb zu verzichten anfing, als ſymboliſchen
Wiederſchein der Innern Magie feines Traumlebens vor.
259
Nicht ſogleich mit ihrem erften Auffhwung im fünfzehnten
Jahrhundert ſpricht die florentinifche Schule ven bezeichneten Cha⸗
after volftändig aus. Die umbrifche Schule hat fich noch nicht
entwickelt, jene beiden Aufgaben find noch nicht an zwei Organe
vertheilt, jondern noch unentzweit fallen hoher Ernft, tiefe Innig⸗
keit und freied Streben nah Form zufammen. Bon den Bes
gründer dieſer Epoche der florentiniſchen Schule, dem ehrwürdigen,
feterlihen Majaccio zeigt und Ramboux nur eine Madonna mit
dem Kinde, getreu feinem Zwede, vorzüglich das noch Unbe⸗
Fannte aus feinem Dunkel zu ziehen. Wie erwünſcht wäre es
aber, von feinem geſchickten Pinfel ein würdiges Abbild der Kapelle
Brancacci in ©. Maria del Carmine zu Blorenz zu erhalten,
diefes Stubirzimmerd der größten Künftler, eines Leonardo da
Binei, eines Rafael, eines Michael Angelo! Hier würden wir
begreifen, wie es mit Mafaccio auf einmal Luft und Licht wird,
wie eine große männlich ernfle Seele in die fatte Rundung, hie
gehaltene Würde frei entwickelter Körperformen, bis heraus in
die großartigen und doch unbefangenen Falten de8 Gewands, zu⸗
gleich aber mit dramatiſcher Entfaltung in die Wechfelverfhlingung
harmoniſch componirter Gruppen ſich ergießt, wie mit der Durch⸗
führung der perſpectiven Gefege Die Malerei num erft ihrer Bes
ftimmung entfpricht, ihrem Werke den vollen Schein der eignen
Räumlichkeit zu geben. Wenn nun Maſaccio dur den hohen
Ernft feiner Geftalten den profaneren Tendenzen ber fpäteren
florentinifchen Schule zwar noch ferner fteht, jedoch den freiern
Welt- und Natur-Sinn des Florentiners bereits durch bie freie
Ausbildung der Form, durch Berfammlung porträtartiger Figuren
um neuteftamentliche Scenen, durch fo manche genresartige Mo⸗
17 *
260
tive, wie 3. B. ben zitternden Nackten bei der Taufe, unverfenn-
bar anfünbigt, fo iſt dagegen der fromme Fielole ein voller Be⸗
weis, daß anfänglich auch der florentinifche Geift noch an ber‘
alterthůmlichen Innigkeit kirchlichen Sinnes haftete. Ein Sommer-
morgen der Andacht, eine Sabbathſtille liegt auf den Werfen
dieſes Malerd, der noch ganz Mönch im firengen alten Sinne
des Wortes, deſſen Eindliche Seele von jenem Verderben unbe-
rührt iſt, das zu feiner Zeit bereits unaufhaltfam, als noth-
wendige Folge ihrer Principien die Kirche des Mittelalters ergriffen
hatte, und von welchem dad Leben eines Fra Filippo Lippi ſammt
_ feinen unruhigen, wenig eblen, zadig gezeichneten Gemälden ein
treues Abbild liefert. Es wird uns vor jenen frommen, ftillen -
Bildern zu Muthe, als müßten wir mit dem tragifchen Helden
der modernen Geiſtesſchmerzen ausrufen:
Sonft ftärzte fich der Himmelsliebe Kuß
Auf mich herab in ernfier Sabbathſtille,
Da Hang fo ahnungsvoll ded Gloͤckentones Fülle,
Und ein Gebet war brünftiger Genuß.
Freilich folgte auch bier Ramboux der fihon erwähnten Methode
feiner Auswahl, daher giebt er und Feine der jo harakteriftifchen
Darftelungen himmliſcher Seligfeit, wie fle in den Uffizien, im
Balaft Corfini zu Nom auf Fleinen Tafeln ſich finden, nicht Die
Kreuzabnahme in der Akademie zu Florenz, an der wir fehen,
wie die frommen Maler allerdings auch Scenen der Handlung
nicht verſchmähten, doch nur folche wählten, wo flile Andacht
oder tiefer Tautlojer Schmerz waltet; Feines feiner Wandgemälde
aus der Kapelle des 5. Laurentius im Vatican, wo vielleicht
mehr als anderswo die rührende Anmuth, der erfte leiſe Anklang
261
plaſtiſcher Formen fihtbar ift, die diefem zurückgezogenen Mönd)
doch im Einzelnen erreichbar waren, auch Feine ver Treöfen im
Klofter S. Marco, zu Florenz, wohl aber zwei Gruppen aus
feinen, über dem beiwunderten Werke des Luca Signorelli gewöhn⸗
lich überfehenen Wandgemälden im Dome zu Orvieto, Ebenbaher
erhalten wir von feinem Schüler Benozzo Gozzoli Feine feiner
Fresken im Campo Santo zu Pifa, fondern nur zwei feiner uns
befanntern Werke, das eine in Montefalco, dad andere in S. Gi»
mignano. Jene Fresken find befanntlih von Laſinio geftochen,
aber wie erfreulich wäre es, fle hier in ver warmen Wirkung der
Barbe wieverholt zu fehen! Wir würden erfennen, wie dieſes hei⸗
tere Gemüth fich nicht mit der weltlofen Sonntagsftille des Mei-
ſters begnügt, jondern herausgeht in heitere Villen, lachende Thäler
und Vignen, unter die Loggien edler Gebäude, wo Pfauen ſtolziren,
Kaninchen hüpfen, Tauben flattern und an dem Faden der alttefta=
mentlichen Sage alle Zuftände patriarchalifcher Menfchheit, Geburt,
Knabenipiele, Jünglingsfchieffale, Liebe und Krieg, Segen unb
Fluch des Vaters, Hochzeitfefte, Ehe und Mutterliebe, Landbau
und Weinlefe, aber auch Verwüſtung, Feuersbrunſt, Untergang
im hellen Sonnenlichte einer milden und doch Fräftigen Objectivi-
tät wie ein Epos vor und außbreitet. Liebenswürdiger Gozzoli!
Nur einmal in jedem Jahre möchte ich an jener Wand des herr⸗
lichen Campo Santo auf= und niedergehen und alle Spannung
und Unfprecherei der neueren Kunft im Anblick deiner gefunden
und naiven Lebensbilder vergehen Eönnen!
Unfere Sammlung eilt überhaupt über die weitere Entwicklung
der florentinifhen Schule nunmehr etwas flüchtig hinweg, um
bei der umbrijchen mit defto mehr Vorliebe zu verweilen. Nam⸗
262
⸗
bour ſcheint und zeigen zu wollen, welche noch ungehobenen
Schäge von wunderbarer Seelmfchönheit die ächtreligiöfe Malerei
bed Mittelalter durch dieſe Säule zu Tage gefördert hat, und
führt und daher an den erfien Regungen eined weltliheren
Sinne, der biefe ganze Leben- Periode der Malerei von innen
heraus aufzulöfen beftimmt war, ſchnell vorüber. Hierin feheint
der treu befliine Dann doch nicht von aller dogmatiſchen Bes
fangenheit frei zu fein; fonft würbe er einen Bra Filippo Lippi,
Filippino Lippi, einen Cofimo Nofelli, ver in der Capelle von
©. Ambrogio zu Florenz jo herrlich begann, um freilich, wie
manche feiner Zeitgenofien, in verhärteter Handwerksmanier zu
enbigen, nicht übergehen, um nur von Botticelli eine feiner Fres⸗
Een in ber Sirtin. Kapelle zu geben; er würde vor Allem Ghir⸗
landajo reichlicher bedacht haben, als bloß mit feinem, obzwar
bereitö fehr tüchtigen Bilde, der Berufung des Petrus und An⸗
dreas zu Apofteln, in ber Sirtinifchen Kapelle und einem fonft
unbekannten Werke zu ©. Gimignano, er würde durch Nachbil⸗
dung ſeiner ſchönen Fresken in der Kapelle Saffetti i in ©. Trinitä
und der noch fehöneren im Chore von S. Maria Novella zu Flo⸗
renz zeigen, welche freundliche, bürgerlich menfchliche Gegenwart,
welch Hieblicher und edler Anklang antiker Motive in den Werken
dieſes ſchlichten, naiven, in der Technik ausgezeichneten, die flo=
rentinifche Schule befonderd treu vertretenden Meifterd ſich aus⸗
breitet, Dagegen hat Nanıbour nicht verfüumt, den merkwür⸗
digen Vorläufer des Michael Angelo, Luca Signorelli, ung
vorzuführen, in deſſen Werken ver affektreiche Geift diefer Schule
mit ihrem hohen Formfinn, ihrem gründlichen Studium des or-
ganifchen Körperd in eine bereitö fo gezeitigte Einheit zufammen-
263
fällt, daß wir ihn als bie reiffte Srucht der florentiniichen Schule
des fünfzehnten Iahrhundert3 anfehen müffen. Im diefer Aufer-
ftehung der Tobten, gemalt im Dome zu Orvieto, dieſen lob⸗
fingenden, biumenftreuenden Engeln, dem Sturz der Verdammten
entfalten fich. ein Adel und eine Vollendung, eine Kühnheit in
der Darftellung nadter und würdevoll befleibeter, in feliger Ruhe
fich neigender, beugender, in wilder Verwirrung, Wuth, Vers
zweiflung flürzender, ſchwebender, verfehlungener Körper, wo⸗
von zu Michael Angelo nur noch ein Schritt ift.
Uber jetzt thut fich eine andere Welt auf: der ausgedehnte
Kreis verengert fich wieder, wir treten ind innere Heiligtum der
Seele, die hinweg aus diefer freundlichen Gegenmart.in unend⸗
. chen und namenlofen Gefühlen fi nach der ewigen Heimath,
nach den verflärten Geftalten fehnt, die von da einft gekommen,
um und zu fagen, wie ſchön und herrlich es dort ift: es öffnet
Äh die umbriſche Schule und mit ihr das unendliche Liebesleben
im Wechfelverfehr zwifchen der andachttrunfenen Seele und den
himmlischen Kinde, das aus dem Schooße einer Jungfrau einft
geboren ift. Noch erfcheint Buonfiglio, von welchem Rambour
den Tod eines Heiligen im öffentlichen PBalafte zu Perugia copirt
bat, ald ein mittelmäßiger Maler, in welchem kaum eine Spur
von der tiefen Seele der umbrifchen Schule zu finden iſt. Nicolo
Alunno und Matteo di Gualdo treten als die eigentlichen Bes
gründer dieſes Styles auf, durch zwei Copien vergegenwärtigt.
Ihr Höchftes aber erreicht die Schule durch Rafael's Meifter, den
herrlichen Pietro Peruginv. In mehrere Städte-werden wir ver«
feßt, die diejer Meifter mit feinen wehmüthig frommen Bilvern
ihmückte, nad feiner Vaterſtadt Città della Pieve, nah Drvieto,
264
nah Montefalco, nah Pannicale, nach Perugia. Auf feinem
der gegebenen Bilder wird man ihn beſſer Fennen lernen, als auf
feinem herrlichen Prefepio (Anbetung der Hirten) auf ©. Fran⸗
cedco al Monte bei Perugia; doch hätte ich gewünfcht, daß von
Diefem Maler der Seelenfchönheit im Acht Fatholifch mittelafterlichen
Sinne des Worts niehrere der befonderd bezeichnenden Bilder ge= _
geben wären. Seiner tiefen und ſtillen Natur entfprechen vielleicht
am melften jene einfachen Bilder, mo in bloßer Situation ohne
Handlung Madonna mit dem Kinde in den Wolfen oder auf
‚ einem Throne erfheint und ſehnſuchtsvolle, durch Leiden und
Glauben geheiligte Menſchen zu ihr hinauf» ober in tiefem Träu⸗
men vor ſich Hinfehen. Solche Bilder fcheinen mir eigentlich ſym⸗
boliſch für dieſe Form des Ideals: jenes tiefe Infichfein der von
dem Geheimniß der Menfchmerbung verzücten Seele, und dafür
bat dieſer Meifter die abfolut entfprechenden Formen gefunden,
jene himmliſch ſchönen und zarten, träumeriichen Jüngling3= und
Jungfrauen= Köpfe, jened leidensmüde und doch felige Greiſen⸗
Angeficht, fened unfagbar Tiebliche, huldvolle Neigen der gött⸗
lihen Jungfrau, des Kindes, der Engel; das Dürftige und
Unfreie der körperlichen Formen trifft mit der Schüchternheit ſol⸗
ches verfchloßnen Gefühlslebens ganz Yaflend zuſammen, und die
einfache Situation der Anbetung muß ihm mehr zufagen, als
bewegtere Handlung. Nicht Leicht erfcheint dies Alles ergreifender
und hinreißender, als auf jener herrlichen Tafel in der Pinakothek
zu Bologna, wo Marla dem Evangeliften Johannes, der h. Katha⸗
rina, der 5. Apollonia und dem Erzengel Michael erfcheint. Aller⸗
dings geht nun Peruging auch zu Compoſitionen wirklicher Hand⸗
fung fort, doch wählt er, wie Biefole, nur ſolche, wo aller Lärm
269
der Leidenſchaft entfernt ift, und nur Stille der Andacht und un«
endlicher, aber ergebungsvoller Schmerz waltet.
Das Leben der Maria ift das Gebiet, worin diefe Gefühls-
weiſe eigentlich heimiſch fich bewegt, und das genannte Prefepio,
fo wie dad andre Bild deſſelben Inhalts nach einem Gemälde in
S. Maria delle Lacrime bei Trevi, ferner die ebenfalld coyirte
Kreuzabnahme in Eittä della Pieve, worauf die ohnmächtige Ma⸗
bonna vorzüglich hervortritt, mögen bemeifen, daß hierin bie
ganze Stärke des Perugino fich soncentrirt. Da aber Rambour die
letztere Stadt nicht überging, fo hätte er uns ein ſchönes Geſchenk
gemacht, wenn er auch die Anbetung der Könige in der jogenann»
ten Chieferella ebendafelbft gegeben hätte. Mit welcher himmli⸗
hen Güte, mit welcher Ergebung in ihre hohe Würde, welcher
füßen Schaam und welchen folgen Mutterglüd, mit welchem
holden Nichtwiſſen und tiefen Träumen über das Geheimniß, das
fie auf ihrem Schooße hält, blickt die Mutter über dad Kind hin-
aus zur Erde, mit welcher irunfnen Andacht fehen die ernften
Männerköpfe zu dem göttlichen Knaben hinauf! Die Welt des
Schmerzes eröffnet ſich im Leiden Jeſu, aber Perugino ſtellt nicht
es ſelbſt in feinen herben Kämpfen dar, fondern fein Ende, den
Todten, der fo viel gelitten und in deſſen Antlig die Furchen des
Leidens mit dem Ausdruck unendliher Güte fih durchdringen,
und um ihn herum die Mutter, die Breunde, denen ein preifaches
Schwert dur die Bruft führt, und an denen wir doch Feine
heftige Geberde, Feinen lauten Schrei des Jammers, fondern nur
ein ftille8, aber tiefes innered Weinen beinerten. Rambour gicht
und eine foldhe Scene (eine Pieta, mie eö die Italiener nennen)
aus der fyüteften Zeit des Malers, aber er hat in feiner beften
—
266
Kraft biefen Gegenftand fo oft dargeſtellt, fo herrlich beſonders
in dem berühmten, von einem Frankfurter fehr mangelhaft litho⸗
graphirten Gemälde in den Uffizien zu Florenz!
Mit Liebe find auch mehrere talentvolle Schüler Perugino's
bedacht: Pinturicchio (doch wäre es willkommen geweſen, auch eines
der trefflichen Werke in der Kirche Ara Celi und in der Kapelle des
Palaſtes der Conſervatoren auf dem Capitol, in S. Pietro in
Montorio zu Rom hier mitgetheilt zu ſehen), Andrea di Luigi,
genannt l' Ingegno, Tiberio d' Aſſifi, Girolamo Genga, Giovanni
di Spagna ‚ Branc, Melangi von Montefalco, mehrere Unbe⸗
kannte, endlich Raphael's liebenswürdiger Vater mit ſeinen ſanf⸗
ten, rührenden Engelkindern. Und damit wir nicht vergeſſen,
in welcher Zeit, an welcher Schwelle zum Höchſten wir uns be=
finden, iſt jene Freske in S. Severo zu Perugia nicht vergeſſen,
welche Raphael unvollendet hinterließ, als er zum zweitenmal
nach Florenz wanderte, und Perugino ausführte: ein Werk,
worin die Kräfte des Schülers ſchon ſo vielverſprechend über dem
Meiſter ſtehen.
Dieſe zwei Schulen, die ſlorentiniſche und umbriſche, in ihrem
ausgeſprochenen Gegenſatze ſtellen die Bewegung der Malerei im
fünfzehnten Jahrhundert bis in den Anfang des ſechzehnten ſo
tactgebend dar, daß wir in ihnen den eigentlichen Geſammtbegriff
derſelben erkennen. Doch hat Rambour nicht verſäumt, auch ver⸗
wandte Bewegungen zweiter Ordnung darzuſtellen, die und zu⸗
nächft noch auf einigen Puncten der Romagna fefthalten, In
Bologna fland ein Meifter auf, ber dem Perugino jo innig ver⸗
wandt ift, daß man nothiwendig annehmen muß, er fei von deſ⸗
fen Geifte auch wirffih berührt worden: Francesco Francia.
267
M. giebt und von ihm drei Bilder aus Kirchen in Bologna, eine
Gruppe von Apofteln, eine Madonna mit Heiligen, eine Ber
fündigung Mariä. Könnten wir freilich auch die wunderbare An⸗
nunziata in Mailand, die Pieta zu Parma abgebilvet fehen, fo
würden wir biefen Meifter in feinem ganzen Werthe erkennen,
deſſen Madonnen zwar nicht den träumeriſchen Schleier Perugino's
haben, ſondern aus den großen, dunkelbraunen, im blaͤulichen
Weiß ruhenden Augen heller blicken, aber uns in dieſelben wun⸗
derbaren Tiefen geheimnißvoll andächtiger Gefühle einweihen. In
Oberitalien legte fich die paduaniſche Schule, verwandt mit einer
Gruppe der florentiniſchen (Caſtagno, Pollajuolo, Verocchio),
insbeſondre auf anatomiſche Richtigkeit der Zeichnung nach plaſti⸗
ſchen Vorlagen und hob das Einzelne des Organismus mit jener
harten Grüundlichkeit hervor, wie dies zu geſchehen pflegt, mo
eine unreife Zeit dieſes Moment in feiner Abftraction ſich zu feiner
Aufgabe macht. R. hat Feinen Maler dieſer Schule aufgenommen;
fie ift auch, den trefflichen Andrea Mantegna audgenommen, nicht
eben wichtig, da ihre herbe Zeichnung beftimmt war, in Venedig,
wohin fie ſich verbreitete, in dem Schmelz der Farbe zu erlöſchen.
Nur den Ferrareſen Lorenzo Eofta finden wir in unferer Sanım
lung, in welchem bie Einflüffe diefer Schule auf Ferrara fich
darftellen. Bon dem ſcharfen, charaktervollen Melozzo da Forli
erhalten wir die zwei merkwürdigen Stücke, die der Vatican und
der Quirinal aufbewahrt; in dem letztern, der Himmelfahrt des
von Engeln umgebnen Erlöfers, erhebt er ſich über. die hartkan⸗
tige Strenge der Pabuaner bis in die Nähe des Luca Signorelli.
x Aus Urbino ſtammt der liebliche Timoteo della Vite, fpäter Ra⸗
phael's Schüler, deſſen rührendes Magdalenenbild in der Pina⸗
268
kothek von Bologna wir hier antreffen. Endlich führt uns R.
aus der Reihe diefer einzelnen, meift kaum gefannten und doch
merkwürdigen Meifter ven Lorenzo von Viterbo vor mit feinen
Fresken in ber Kirche S. Marta della Veritä in feiner Baterftabt,
Arbeiten, worin die Einwirkung der florentinifchen Schule auf
ein Talent fihtbar tft, dad an Kormfinn und feinen Gefühl ihren
beften Meiftern wenig nachgiebt. Wie ein verlorner Poſten fteht
Neapel in der Gefchichte der italienifhen Malerei; Einflüffe der
umbriihen Schule find zu erfennen, zugleich aber- auch der deut⸗
fehen, und die letztern äußern ſich beſonders in einer liebevollen
Ausführung behaglicher, einladender Umgebungen, feien e8 wohn⸗
liche architektonische Räume oder landfchaftliche Hintergründe. Von
den Fresken des Antonio Solario, genannt der Zigeuner, im
Kreusgange von S. Severino , die Wunber des h. Benedict dar⸗
ftellend, giebt und R. drei jehr intereffante Stücke.
Doc jetzt genug von diefer Zeit der letzten Vorbereitungen zum
höchſten Auffhwung. Die Sonne des jechzehnten Jahrhunderts
ift aufgegangen, alle bisherigen Nefultate werben zu bloßen Vor⸗
ftudien, die Rofe öffnet ihren vollen Kelch, der Zauber deö Ge-
nius vereinigt, was bisher in Gegenſätze auseinanderfiel und an
verſchiedne Schulen fich vertheilte; Ausdruck und Form, die gel-
ftigfte Tiefe und die freifte Entfaltung derſelben zur körperlichen
Erſcheinung gehen in die reine Harmonie des Ideals, des abſolu⸗
ten Styl3 zufammen. Das Mittelalter ſchüttelt eben, da es zu
Ende geht, feine vollen Samenfapfeln aus und erzeugt eine Frucht,
die feinen beften Kern enthält und zugleich unendlich über e8 hin⸗
aus iſt. Wir ſtehen jebt an jenem merkwürdigen Puncte, wo in
Eind zufammenfließt, was bisher fich zu fliehen jchien. Wir
269
fahen , wie ber chriftliche Geiſt, nachdem vie Mefte ber antiken
Kunſt, in deren Erbfhaft er zunächſt getreten, frühe erlofchen
waren, fi eine eigne Kunftform fuchte, die feinem weltverach⸗
tend afcetifhen, muftijch glühenden Sinne entſprach, eine Form,
worin die Unendlichkeit des Ausdrucks auf Koften der finnlichen
Hülle und Entfaltung ihr Recht behauptete; wir ſahen aber auch,
wie gleichzeitig der ununterdrückbare Trieb aller Kunſtbewegung
nicht ruhte, die ſchöne Form aufzufuchen, die beitere vertraute
Mirklichkeit, das offene Weltleben herbeizuzichen, wie aber eben»
dimit auch jenes erfte Geſetz beeinträchtigt wurde. Denn der Geift
des Mittelalterd Eonnte es nicht hulden, daß es dem Gemüthe
mit feinem Himmel von Ahnung, Liebe, Sehnfucht au wohl
fei-in dieſer Schönen Welt; nach einem fernen Jenſeits phantaflifch
gerichtet follten die beften Kräfte auf ihre meltlichen Zwecke ver
zichten ; wer fich dem Himmel weihte, follte der Erde nicht mehr |
gehören, follte ehelos, willenlos, beſitzlos in Gebet, Gefängniß,
Baften und Kafteien ven Leib abtödten. Indeſſen hatte fich aller
dings diefe düſtre Abftraction thatfüchlich Lingft überlebt, freillch
ohne ihr Prineip aufzugeben. Je firenger man Kirche und Welt
fontern wollte, defto unaufhaltſamer war der meltliche Geift im
die Kirche ſelbſt eingebrochen, denn, wie es in biefen Blättern
ſchon fo treffend gejagt worden ift: das Gelübde ver Keufchheit,
des Gehorfams, der Befiglofigfeit ſchwören, beißt das Gelübde
der Wolluſt, ver Herrſchſucht und Habfucht ſchwören. Wie konnte
ed überhaupt mit dem Princip der Aſceſe, der Verflüchtigung aller
finnlich = fittlichen Kräfte ins blaue Jenſeits einem Bolfe in bie
Länge Ernit fein in Leben und Kunft, das auf ver Stätte wan⸗
delt, wo taufend kunſtvolle Zeugen des verblichnen Lebens einer
270
noch ungebrochnen, ungetheilten Menſchheit täglich aus Schutt
und Trümmern auferſtanden, wo die erneute Wiſſenſchaft jenes
Leben objectiver Sittlichkeit, in welchem die Religion ſelbſt poli⸗
tiſcher Natur war, dem ſtaunenden Geiſte erſchloſſen hatte? In
Deutſchland erfolgte die Kriſis des Geiſtes auf dem geiſtigen Bo⸗
den ſelbſt, die Reformation brach durch, auch hier nicht ohne
ben mächtigen Einfluß der neuerweckten claſſiſchen Bildung; aber
in der ernften Sorge um das innere Heil der Seele hatte hier der
Menfch Feine Zeit mehr, um das heitere Spiel ver Kunſt fi zu.
kümmern. In Italien dagegen fehen wir nun die wunderbare Gr-
ſcheinung, daß auf einen Moment jene wiberfprechenven Extreme
in der Kunſt ſich verfühnen: Kirche und Welt, afcetifch tranfcen=
denter katholiſcher Glaube und antifer Zorn = und Lebensfinn.
Ein Inhalt, der mefentlih als überſinnlich gefaßt ift, ſchlägt den
lachenden Körper der Sinnlichkeit um und verflärt ihn zum Ideal.
Das Bewußtfein des Künftlers ift frei, ift emancipirt, bindet ſich
an feinen ängſtlichen Typus, Fein Pfaffengefeß mehr, erfreut
fich unbefangen ver heitren Fabelwelt der Alten, und bleibt doch
an-bie Kirche, ihre Glaubenswelt, ihre Stoffe gebunden. Nur
einen Monient konnte dieſe höchſte Einheit von Widerſprüchen
dauern, fie hatte, wie ich e8 früher in dieſen Blättern nachgewie—
fen, ihren Feind in ſich felbft, und zwar auf doppelte Weife:
die Schönheit hatte ihren Feind an den Gehalte, den fie um⸗
kleidete, denn dieſer war als ſchlechtweg überſchwenglich beſtimmt,
und dieſer Gehalt hatte feinen Verräther an ver Schönheit, in
die er ſich gehüllt. Der Sieg mußte nothwendig der freien, der
formellen Seite zufallen, und da man doch die widerſprechenden
Stoffe nicht aufgab, fo entſtand eine unmwürbige, ſubjective, ma⸗
271
nierirte Behandlung Firchlicher Stoffe. Daher fehen wir mitten
in der Zeit des religlöfen Kunft Ideals auch ſchon die Andeutun⸗
gen ber Leichtfertigkeit, daher ſchwankt Raphael felbft zwiſchen
wahrhaft heiligen und zwifchen nur meltlih fchönen Madonnen⸗
Geſtalten, daher erfcheint in der Freiheit auch ſchon der erſte Keim
der Willkür, und beginnen Mich. Angelo und Correggio, forte
fie nad einer Seite die Kumftvollendung abſchließen, nach der
andern die Ausartung, jener ind uberfpannt Gewaltſame, biefer
ind abgefyannt Empfindſame und Lüſterne; jener in die falſche
Kraft, dieſer in die falſche Grazie.
Manmmbours eigentliche Aufgabe war, den Entwicklungsgang
bis an biefen Punct zu verfolgen; diefen felbft, das Ziel, be-
zeichnet er mit wenigen, aber meifterhaft geführten Strien. Zu⸗
nächft ericheint Leonardo da Vinci, der große Lehrmeifter dieſer
Zeit der Vollendung, ich möchte ihn die über ſich und ihre Geſetze
zum Bewußtſein gefonmene Malerei nennen. Er bewährt fich,
um von feiner übrigen Vielfeitigfeit hier nicht zu reden, fogleich
dadurch ald ein Genius, daß er auf beiſpielloſe Weiſe diefe Re—
flexion der Kunft über ſich und die Kunft felbft, die ungeſchwächte
Production vereinigt, Innerhalb der letzteren aber die Extreme der
tiefen Innigfeit, der frommen, ftilen Seelen-Anmuth und der
männlichen, im Handlung ſich ausbreitenden Energie, und diefe
beiden Momente des Ideals in der Fülle der vollendeten Form.
Schon in ihm fehen wir alfo eine Verſchmelzung des umbriſchen
und florentinifchen Geiftes , die fir) in einer doppelten Neihe von
Merken fo äußert, daß Ausdruck und Form in allen fich zur reifen
Schönheit vereinigen, die eine Reihe aber in dramatifchen Com⸗
pofttionen das männliche in. reicher Handlung entfaltet, die andre
272
das fanfte weibliche Ideal in ſtiller Situation barftelt. In der
erftern Richtung ſchuf er zwei weltberühmte Werke, die Kampf:
ſcene in der Schlacht bei Anghiari, einen Garton, der nicht zur
Ausführung Fam und bi8 auf einen in Kupferftich erhaltenen Reſt
zerfiört ift, und das h. Abendmahl. Vom letzteren Werke kann
man fogar fügen, daß es eine Durchdringung beider Formen ent⸗
halte; Chriftus und Johannes find Geftalten vol himmliſcher,
ſtiller Sanftmuth, während rings um fle, durdzudt von dem
Worte ChHrifti wie von einem eleftrifhen Schlage, die ernften,
mächtigen Männergeftalten in der reichten Entfaltung marfiger
Charaktere fich bewegen. In der andern Rriihe ſteht gewiß bie
Vierge aux rochers an der Spize, dieſes wunderbar romantiſche
Gebilde, wo im Dunkel der phantaſtiſch zerklüfteten, kaum dem
Himmel einen Durchblick gewährenden Grotte an klarer Quelle
die himmliſche Erſcheinung der h. Jungfrau mit jenem unſagbaren
Lächeln und den reich umiſchattenden Locken über den kleinen Jo⸗
Hannes, der das Chriftusfind anbetet, fich herunterbeugt, wäh-
rend ein freundlicher Engel ihr Kind halt. Alle diefe Werke Eonnte
R. als befannt voraußfeßen, er erwirbt aber unfern aufrichtigften
Dank durch die Nachbildung jener lieblichen, von einem Donator
angebeteten Mutter mit dem Kinde, welche fich im Corridor von
©. Onofrio befindet. Diefe Seite von Leonardo's Geift wirkte
befonders auf die mailändiſche Schule; vielleicht Daß in Leonardo
felbft diefe Romantik des Gemüths fich erft durch die Einflüffe
erſchloß, die frühere Meifter dieſer Schule, wie der Tiebliche Bor⸗
gognone, bei feinem Aufenthalt in Mailand auf ihn ausübten,
und daß er nun erft rückwirkend feine Schüler lehrte, den Edel⸗
ftein dieſes Holden Seelen-Ausprud in das reine Gold der durch⸗
273
gebildeten Form zu faſſen. Keiner verherrlichte feinen Metfter fo
fehr, wie der bewundernöwerthe Bernardino Luint. Wer die Ma⸗
bonnen, die von Engeln aus dem Grab emporgetragne h. Katha⸗
rina im Eingange der Brera, dad Chriftuskind mit dem Lamm in
der ambroflanijchen Bibliothek, die Fresken in Monaftero Mag-
giore in Mailand , die in Lugano und Sarono, die Madonna im
Zavatortum der Certofa bei Pavia gefehen hat, wird mich nicht
tadeln , wenn ich fage, daß dieſe Holdſeligkeit in der tiefen Weh⸗
muth, diefe Grazie der unendlichen Liebe jedes Gemüth zum Ent-
züden hinreißen muß. Bon Borgognone und Luini möchte th
biefer Sammlung befonderd dringend einige Eopien münfchen.
Um aber feine legte Höhe zu erreichen, ſchlägt nun das Ideal
noch einmal die in ihm enthaltenen Momente auseinander, um
fle dann zum leßtenmal und abfolut zu vereinigen. Wie Aefchylos
dem Sophofles, fo geht dem Raphael der titaniſche Mich. Angelo
voraus, der nicht die milde Grazie, nur die furchtbare Erhaben-
beit Eennt, nicht die Liebe, fondern nur die Allmacht, die er m
kraftſchwellenden, wie einer Urwelt angehörigen Rieſenkörpern,
aber auch in dem fürchterlichen Ernſte des Gerichted verherrlicht,
das die Frevler unter den Tönen ber legten Pofaune zur Hölle
ſchleudert. Man weiß, welche Keime der Audartung fi an bie-
ſes Ideal des Mich. Angelo Enüpfen. Die höchſte und reichfte
Frucht der florentinifehen Zeichner= und Compoſitionskunſt, geht
er im Gefühl feiner Virtuofltät bereits in Willkür über, bringt
fühne Stellungen und Berfürzungen an, wo es nicht die Sache
fordert, fondern nur fein Wunſch, fich zu zeigen, legt überhaupt
als Maler, während er als Bildhauer einen maleriſchen genialen
Wurf fucht, zu viel Gewicht auf das plaftifche Moment, verachtet
Kritiſche Gänge. 18
274
die ſtehenden Eirchlichen Bezeichnungen und tritt fo bereitö merf-
lich aus der Subſtanz heraus, von welcher doch die Malerei des
ſechzehnten Jahrhunderts noch nicht, oder nur vereinzelt ſich be⸗
freien konnte, und ruft im Anblicke feines jüngften Gerichts ſelbſt
aus: O, wie Viele mird dies mein Werk verbienden und auf
Abmwege führen! Es ift daher wohl zu bevormworten, wenn man
ihn zu Raphael in das Verhältniß des Aeſchylos zu Sophokles
ſtellt, oder mie Schelling den Geift feiner Werke mit dem Kampfe
der Titanen vergleiht, nach welchem fih der Simmel aufflärt
und die heitere Herrfchaft des Jupiter beginnt! Es ift zunächft rich⸗
tig, aber dann wendet e8 ſich anderd: Raphael folgt dem Mich.
Angelo und bifvet fein harmonijches Ideal der reinen Schönheit
aus; aber Mich. Angelo lebt fort, treibt fein Ideal der Erha⸗
benheit bis an die Schwelle des Gewaltfamen und Veberreifen,
Raphael ſelbſt ift in großer Gefahr, von diefer überzeitigen Vir⸗
tuofität angeftectt zu werden, und flirbt im rechten Moment,
Mich. Angelo überlebt ihn Yang und vererbt dem Ende des Iahr-
hunderts ſeine Fehler, die er ſelbſt mit gigantiſcher Kraft am
Bande ſeiner Genialität behalten. Um ſo wünſchenswerther muß
es nun aber fein, diefen wunderbaren Menjchen auf der Höhe
zu fehen, da die überſprudelnde Kraft fich no vor Schmwulft be⸗
wahrt und in der Majeſtät ächter Erhabenheit einherſchreitet. Dies
iſt in den Deckengemälden der Sixtiniſchen Kapelle, von denen
und R. fünf Abtheilungen copirt hat. Zwei davon, Gruppen
ber Propheten und Sibylien darſtellend, zeigen, wie dieſer ſonſt
fo ungeflüme Geift auch eine hohe und großartige Ruhe Eennt,
von des Ausdrucks tief brütender Contemplation, ernfter Ahnung,
der aus den gewaltigen clafflichen Geftalten ſpricht. Dagegen
275
entwidelt er in ber Belebung des Adam und in dem Sünbenfall
nebſt der Vertreibung aus dem Parabiefe, die bier ebenfalls copirt
find, feine flürmifche Kraft, doch auch dieſe noch in gehaltner
Mafeftät. Dort ſauſt Gott, unter dem ausgebreitet ſchwebenden
Mantel von ECherubim getragen, durch die Luft, vermeilt einen
Augenblick und hält feinen Zeigefinger an den des Adam, um
den eleftrifhen Funken des Lebens in ihn überfirömen zu laſſen
— ganz ein Mich. Angelesfer Gedanke; hier erfcheint die Schlange
‚ mit dem menſchlichen Leibe, die fonft immer ruhig einſchmeichelnd
dargeftellt wird, ebenfalls ftürmifch bewegt, mit fliegendem Saare,
wie im Zorn der Zerſtörungsluſt. Im dieſen beiden fehen wir
aber au, wie unfer Meifter in ver Darftelung des Wunder»
gewächſes des menſchlichen Gliederbaus in urfprünglich geſunder
Fülle und elaſtiſchem Schwunge der noch nicht übermäßig ſtarken
Bormen einer gewiſſen coloffalen Anmuth fähig ift, die wir auch
in feinem Barton der Venus zu Neapel erfennen, die man aber
im jüngften Gerichte nicht wieverfindet ; ein herrlicher männlicher
Körper voll reinen Ebenmaßes ift jener Adam, ber auf der Erbe
liegend fich eben erhebt und feinen Arm gegen den Binger Gottes
binftredft, und eine gewaltige hohe Schönheit ergießt fich durch
die mächtigen weiblichen Formen der am Baume hingelagerten
Eva im leßteren Bilde. Ebenſo gefund und harmoniſch erfcheint
der in tiefem Schlaf Hingefunfene Adam auf einem weitern Blatte,
die Erſchaffung ver Eva darftellend: jo ganz hingegofien in ftil-
lem Weben ver Gefundheit, man meint, die herrliche Geftalt leiſe
athmen zu hören. Nur Ein Blatt ift dem jüngften Gerichte ge
widmet und giebt eine Ahnung von der furchtbaren Meiſterſchaft
dieſes Künftlerd im Gräßlichen ; es ift eine Gruppe auferftchenber
18 *
276
Todter mit jenem. verfteinernden Ausdrucke des gähnenden, bleier-
‚nen Schlummers, der noch auf den todesbangen Geftalten liegt,
die eben die zuckende Erde aus ihren Gräbern herausdrückt.
- Bon Leonardo da Vinci und Mi. Angelo ging in Florenz
eine weitere Schule von Künftlern aus, die man nicht ohne den
tadelnden Sinn, welche die Romantif dem Worte beilegt, Claſ⸗
filter nennen möchte: vollendete Zeichner und Eoloriften, Mufter
der Gorrectheit, aber von wenig Gemüth, mehr der Bewunde-
. rung des fogenannten Kennerd, ald ber Liebe und Begeifterung
Aller würdig: Fra Bartolomeo, Andrea del Särto, Albertinelli
und Andre, in einzeimen Werfen wohl edel und bedeutend, felbft
nicht ohne tiefere Wärme, doch darin nicht ſich felber treu, ſon⸗
dern durch Kälte oder gemöhnliche bürgerliche Stimmung fih un-
ferer Theilnahme wieder entziehend. R. läßt fich nicht meiter auf
dieſen Zweig ein, als daß er drei Bilder nad) Fra Bartolomeo
giebt, deſſen großartiger Zeichnung und Compofition ein gewiſſer
höherer Nusdru inneren Lebens zwar nicht abgeht, aber es ift
ein Ausdruck ekſtatiſcher Entrückung, die keinen liebevollen und
wehmüthigen Blick mehr dieſer ſchönen Erde gönnt, und welcher
daher das Gefühl des Zuſchauers nicht zu folgen weiß. (Eine
Ausnahme bildet das gemüthliche Familienbild, die Darfellung
Chriſti im Tempel im Belvedere zu Wien.)
Endlich tritt nun aber Raphael vor uns, d. h. die reine und
ganze Schönheit, die vollendete und durchgedrungene Einheit deſſen,
was die umbriſche und die florentiniſche Schule erſtrebte, und da⸗
mit iſt Alles geſagt. Dem Mich. Angelo war ein Mouient des
Schönen zugefallen, das Erhabne; Raphael vereinigt alle Mo⸗
mente deſſelben in der höchſten Potenz. Es wäre ganz ſchief,
277
biefe Beiden fo zufanimenzuftellen, daß man jenem das Erhabne,
biefem die einfache Grazie zuerfennte, welche das Erhabne aus⸗
ſchließt, und das Ideal als ein Drittes anfühe, welches Beide
gemeinfam conftituiren. Nein, was Mich. Angelo hat, hat Ra⸗
phael auch und noch unendlih mehr dazu; Rayhael Eennt nicht
nur die meiche Grazie der Sanftmuth und Seelenftille, er Tennt
auch die Größe und Erhabenheit der Handlung, die männliche
Energie, die ewige Macht, aber freilich aud fie gebänbigt und
verflärt durch Grazie. Nur wenn man meint, das Erhabne Fönne
da, wo es ald ein Moment im ganzen Schönen auftritt, im eben
der Geftalt wahrgenommen werden, wie da, mo es ſich in feiner
Befonderheit ausbildet, nur dann kann man zweifeln, welchem
von beiden Meiftern der höhere Rang einzuräumen fei.
In Deutſchland nun ift Raphael faft nur als Künftler des
weiblichen Ideals bekannt, als Dealer jener milden Grazie, welche
zwar nicht die Erhabenheit der geiftigen Läuterung und Verklä⸗
rung, wohl aber die Erhabenheit. der kaͤmpfenden Energie, der
männlichen That anschließt. Um fo mehr verdient es unfern
Danf, bier von Meifterhand eine Reihe von Werken wiebergeges
ben zu fehen, worin fich nicht bloß der fanfte, fonbern der flarfe
Raphael ausfpriht, und welche durch Kupferftih zwar laängſt,
aber doch nur verhältnigmäßig Wenigen befannt find. Drei
Blätter geben die fog. disputa, richtiger die Darftellung der Theo⸗
logie, und hiemit dasjenige Gemälde in den Stangen, das zwi⸗
ſchen der florentinifchen Strenge und der fpäteren über alle Mittel
der Darftellung vollftändig herrſchenden Freiheit in der Mitte ftebt.
Ih finde in meinem Katalog den Belfah von R.: Raphael's
beſtes Werk. So lange man die Weiſe der Compoſition nicht in
278
Anfchlag nimmt, welche bier durch ben Stoff geboten war, kann
man dies etwa einräumen ; denn wir bewundern bier jenen keuſchen
und edeln Styl, der noch nirgends einen. Anflug von Birtuofen-
Eitelkeit zeigt, wir bemundern bie Einheit hoher religiöfer Würde,
feierlicher Majeftät, Tieblicher zarter Schönheit und höchſt mar-
figer Charakteriſtik. Allein wir wiſſen nicht, ob Raphael in dem⸗
felben Zeitpuncte ſchon fählg geweſen wäre, viefelben Mittel voll-
kommen zu beberrichen, wenn der Gegenftand eine freie, natur=
gemäße, d. h. nicht eine architektoniſch fommetrifche Compofition
gefordert hätte. Die letztere Weife der Anordnung war bier durch
‚bie kirchlichmyſtiſche Aufgabe — Verherrlichung der Transfub-
ſtantiation — geboten; gewiß fteht aber doch der Kuünſtler ba
höher, wo er eine Vielheit von Charakteren auf Einen Boden
zu einer gemeinfamen mächtig bewegten Handlung vereinigt, als
wo er fie in Halbkreiſen theils in den Himmel, theild auf bie
Erde ſtellt, wie viel er übrigens in Belebung ber einzelnen Grup⸗
pen nebenher geleiftet haben mag. Freilich, wo jene volle Sreiheit
eintritt, da verſchwindet auch der letzte Reſt alterthümlicher Ge⸗
bundenheit und finden ſich einzelne, erſt ganz leiſe Spuren von
Willkür: daher gefällt unſrem Künſtler jenes Werk Raphael's
beſſer als alle ſpäteren. Auch in den weiteren Wandgemälden der
päbſtlichen Zimmer war jedoch die freie Ergießung der vollkommen
gereiften Meiſterſchaft, die fich ſchon in der Schule von Athen
offenbart, durch mancherlei Anftände gehemmt. Theils verlangten
bie vorgefchriebenen Gegenftände wieder mehr repräfentative ald
bandelnde Maffen, wie die Poefle, die Philoſophie u. f. f., wo⸗
bei wir freilich die Belebung und Gliederung ber an fich wenig
dankbaren Stoffe durch den Genius der Kunft um fo mehr bee
279
. wandern müfien, theils war eine Verherrlichung bes Pabftthums
und ber Kirche vorgejchrieben, welche bei dankbareren Stoffen der
Einheit hindernd entgegentrat, wie z. B. in der Vertreibung He⸗
liodor's aus dem Tempel, wo auf Einem Bilde mit diejer jüdi⸗
ſchen Begebenheit ver Pabſt Julius, von theilnahmfofen Porträts
figuren getragen, erfcheint; theils ftörte hier die Einmifchung des
Wunderbaren, weil fie bei Begebenheiten der beglaubigten Ge⸗
ſchichte flatifindet, wie ich Died won der Ueberredung des Attila
durch Leo I. bereits oben nachgewieſen habe. Dagegen band Fein
Widerſtreben des Stoffs, keine hemmende Ruückſicht die ſchaffende
Phantaſie, als ihm der Auftrag ward, große Scenen aus der
Apoſtelgeſchichte für die Teppiche zu entwerfen, welche die Sir-
tiniſche Kapelle ſchmücken ſollten. Das Wunderbare ift hier an
feinem Orte, denn bie munderwirfende Kraft, welche in bie
Geſchichte Hineingedichtet iſt, ergießt fich hier in die Handlung
felbft , drängt ſich nicht zwifchen fie, wie in der Ueberredung
des Attila durch Leo. Diele herrlichen Entwürfe, welche leider
beftimmt waren, durch eine fo mangelhafte Technif, wie ed aud)
die feinfte Teppichiweberei bleibt, eine ihrer nicht würbige Aus⸗
führung zu finden, find nun für die Gefchishte der Kunft dadurch
zunächft boöchft merkwürdig , daß fle, was Leonardo begonnen,
aufs Kerrlichfte vollenden: Fortſchritt von der einfach handlungs⸗
Iofen Situation zur großartig bewegten Handling, von der Lyrik
zun Drama innerhalb des religiösmpthifchen Bodens felbft, und
dies mit allen Mitteln der reifen Kunft; Fortſchritt vom engen
Kreife der b. Bamilie zur Ausgießung des Geiftes in die Gemeinde.
Hier bat Raphael feinen höchſten Styl erreicht, ja man Tann
jagen, den idealen Styl ſchlechtweg; hier it dem Wirklichen,
280
ohne ihm weder bie Schärfe ver Charafteriftil noch bie freie Be⸗
wegung zu entziehen, jeved Gemeine und Kleinliche abgeftreift,
bier drückt die Geftalt nichts aus, als was mächtig ihr Inneres
erfüllt, Hier tft die Handlung in dem Momente ergriffen, wo fie
auf der Spitze der Entſcheidung ſchwebt, und dieſen Schlag der
Entſcheidung beberrfcht, fich felbft verklaͤrend, völlig durchſichtig
die verſchlungne und doch Elar geglienerie, jebed Einzelne frei ent⸗
lafiende Compofition. Neun diefer Tapeten find und hier geſchenkt,
von denen eine — ber Fiſchzug Petri — den lieblichften idylliſchen
Charakter trägt, vie übrigen aber alle, bald furdtbarer, bald lei⸗
fer bewegt jenen firengen und großen Geift der Handlung athmen.
Wenige Schritte über dieſes Ziel hinaus begleitet und noch
unfre Sammlung ; zunächft treten einige vereinzelte von ben Auf⸗
ſchwunge diefer großen Zeit gehobene Künftler auf. Zwei derſelben
find Sienefen. Die ſieneſiſche Schule blieb, wie wir fahen, Im
fünfzehnten Jahrhundert zurüd, die umbrijche übernahın die Forte
bildung deflen, mas fie glüdlich begonnen. Einzelne Sienejen
lernten jeboch wieder von den Umbriern, jo Pacchiarotto, von
dem wir ein Bild erhalten. in ungleich bebeutendered Talent
war Antonio Razzi, genannt Sodoma, den dad Genie eines
Leonardo und Raphael in einzelnen Lichtblicken feiner unfteten
Laufbahn nahe an die Höhe der Koryphäen feiner Zeit erhob ;
dies beweift die herrliche, tief gefühlte Darftellung in ©. Dome-
nico zu Siena: die Entzüdung und die Stigmatifirung der heili-
gen Katharina, die bier in zwei Blättern gegeben find. Ihm
eifert Beccafumi nad, von dem das fchöne Heiligenbild in ber
Akademie copirt iſt. Endlich lehrt und eine Copie nach Francucci
von Imola einen ber würbigften Schüler Raphael's kennen.
281
Die Entwidlung ber ttaltenifchen Malerel folgte mit berfelben
Beftimmtheit, mie die griechiſche Plaſtik, dem organifchen innern
Gejete, dad aus dem Begriffe der Kunft ſelbſt fließt. Man ftrebte
zuerft nach) dem firengen Ausdrucke des unendlichen Gehalts, man
wandte fi zur Form, und beides durchdrang fich in dieſer reif-
ften Periode, die aber zugleich auf vielen Puncten vom Kirchlicden
nach dem Weltlichen herausſtrebt. Es folgt nun noch eine Schule,
welche, was zunächft die Form betrifft, das letzte abfchließende
Moment derſelben, worin alle Wirkungen ber Malerei als in
ihrer Spitze zufammenlaufen, zur höchſten Vollkommenheit erhebt:
die Farbe. Daß dies nicht heißen fol, man habe früher biefes
Moment vernachläffigt,, verfteht ſich; welche Licht » Ejfecte ſchon
Ghirlandajo, welche tiefe Wärme der Farbe Perugino, Fran⸗
ceöco Francia haben, iſt befannt; auch erreichte bie wenetianifche
Schule, von welcher hier die Rede ift, immer noch frühe genug
die Meifterfehaft in ver Farbengebung, daß diefer Zortfchritt einem
Naphael noch zu gut kommen konnte. Es handelte fih aber dar«
um, daß diejed Moment dad Augenmerk einer befonderen Schule
werde, denn durch foldhe Theilung der Gefchäfte wird das Höchſte
erreiht. Daß nun aber eine Schule, melche fich in vielen Ele»
mente bed heiteren Scheines vorzüglich bewegte, eben Eeinen be⸗
fonderen Beruf hatte, in dem fich hervorzuthun, was bie eigent-
liche Subftanz aller bisherigen Malerei des Mittelalterd geweſen
war, in den religiojen Stoffen, dies begreift ſich ſchon durch fich
jelbft. Dean nehme dazu eine Stadt vol politifhen Selbſtgefühls
und Lebens, den Juriſtengeiſt, der bier fo ſchlau und fcharfiinnig
waltete, den Welthandel, der bier die Genüffe aller Zonen ver⸗
einigte, den rührigen Lebensfinn des Venetianers überhaupt: fo
_ 282
wird man ſich nicht munbern, wenn man. bemerkt, daß religiäfe
Würde und Innigkeit diefer Schule nicht nachgerühmt werben
Tann. Bielmehr drängt hier von allen Seiten Alles nach dem
Profanen hin; die. alte Mythologie und ihre heitere Sinnlichkeit,
bie Herrlichkeit des weiblichen Körpers im Schwung feiner For-
men und in ber Farbenmagie feiner Lebenswärme, das Porträt,
wozu bie firengen, drohenden Nepublicaner - Geftalten und die
üppigen, glühenden Weiber unendlichen Stoff lieferten, ſtädtiſche
Broreffionen und Profperte, Seeſchlachten und Verhandlungen :
bier war das Feld des venetianifchen Pinfelt. Wohin nun mit
biefem offenen, politiſchen, weltlichen &eifte? Das eigentliche
biftorifche Gemälde war hier durch alle gegebenen Beringungen
gefordert, und doch Fonnte es fich nicht ausbilden, denn auch diefe
Seifter waren und blieben im Glauben der Tranſcendenz gefan-
gen, ber die Gefchichte in ihrem Kerne aufbebt. Daher behielt
man neben den vereinzelten weltlichen Darftelungen die religtöfen
als die vermeintlich höchften bei, faßte fie aber mit weltlichen
Geiſte auf, und fo wurden e8 Genre = Gemälde, denen freilich
die Gediegenheit der aufgenommenen Lebensbilder immer noch
einen höchſt tüchtigen Charakter gab. Paolo Veronefe benugt ben
Beſuch Jeſu bei dem Gaftmahle im Haufe des Levi zur heiteren
Darftellung eines venetianifhen Pracht: und Schau-Efjend, wo⸗
bei felbft der Mohr und der: Zwerg nicht fehlt; die Hochzeit zu
Kana wird zu einem venetianifchen Hochzeitſchmaus, wobei bie
gleichzeitigen Künftler als Muſikanten functioniren; Chriftus, das
under wird völlig zur Nebenſache. Ganz ähnlih Titian im
erften Tempelgang ver Maria ; fonft zeigt fi auf feinen berühm⸗
teften Werfen religiöfen Inhalts nicht dieſelbe Verbrängung des
283
Hauptgegenftandes durch Beimifchung von genre⸗ artigen Stoff,
aber was man auch von der Grablegung, vom Zinsgroſchen ſa⸗
gen mag, menſchlich ſchön und würdig find fie, aber den Cha⸗
rafter der Heiligkeit, die kirchliche Stimmung tragen fie nicht.
Titian ift ungleich größer im Porträt und in jenen herrlichen
Darftelungen weibliher Schönheit nad) mythologifchen Motiven ;
volles Weltbehagen, die vollkommenſte Abweiſung aller Jenſei⸗
tigkeit athmet aus feinen Werfen; aber wohin dies Alles ftrebt,
die bewußte Ausbildung des rein gefchichtlihen Gemäldes, das
kann auch bei ihm nicht zu Stande Eommen. Wohl aber fiellt
diefe Schule den auslaufenden Poften der italienijhen Malerei
bar, der fih mit dem deutſchen, zunädft dem nieberlänbifchen
Geifte berührt. Dem deutſchen Volke aber war es vorbehalten,
erft auf dent Wege. des Denkens von dem Standpuncte ber Ien«
feitigfeit fich zu befreien, auf den Boden ber weltgefchichtlichen
Anſchauung zu ſtellen und in der modernen Zeit den Beruf ver
reinen Geſchichtsmalerei zu übernehmen. Die niederländiſche Genres
Malerei habe ich bereit in einer frühen Abhandlung ald bie
Vorſtudie zu dieſer, noch ungelöften, ja nur von Wenigen od
gefaßten Aufgabe vargeftellt, und da dieſe es iſt, zu welcher uns
die venetianifche Schule hinüberweiſt, fo kehrt hier der Schluß
unfrer an dieſe Gopieenfammlung gefnüpften Betrachtungen von
felöft in den Anfang zurüd. R. Hat von der venetianifchen Schule
nur noch zwei Bilder gegeben, bie aber trefflih gewählt find.
Es find zwei Wandgemälde in der jog. scuola di S. Antonio zu
Padua, in welchen man fo glaͤnzend, Traftvol und lieblich als
irgendivo bie Mittel ſieht, welche in der venetianiichen Schule fi
vereinigten, um nach dem hiſtoriſchen Gemälde hinzuſtreben, nur
284
freilich auch Hier amı Zuſammenwirken nach einer seinen Mitte
- durch den Legenden-Stoff gehindert. Das eine ftellt dar, wie ©.
Antonio dur ein unmündiges Kind die Unſchuld feiner Mutter
. bezeugen läßt, M. fehreibt es Giorgione zu, jonft hält man es
für ein Werk Titian's ; das andre, wie S. Antonio ein in einen
Keſſel gefallened Kind belebt, von Titian, Der firenge Firchliche
Charakter, die eonsentrirte Innigkeit des religiöfen Ausdrucks,
. welche in den Werken ber reiferen venetianiſchen Schule dem welt⸗
lichen Geifte wiech, findet fi allerdings noch in den herrlichen
b. Familien des Gtovanni Bellini, von denen wir. gerne einige
wohlgemählte Copieen in unferer Sammlung getroffen hätten.
Den Beſchluß machen einige Künftler-Biloniffe, von ihnen
ſelbſt audgeführt, 3.3. Pinturichto und Raphael nach der Freske
in der Libreria des Doms zu Siena, Perugino und Andere.
Und nun fei e8 mir erlaubt, noch zwei Wünfche auözufpre«
hen. Der eine betrifft eine Fortſetzung dieſer treffliden Samm-
lung. Wenn ih an mehrern Puncten Lücken in derfelben bervor-
. bob, fo meine man nicht, dies folle R. zum Vorwurf gefagt fein.
Er Hatte urfprünglich nicht ven Zweck einer zuſammenhängenden
Belehrung über die Gefchichte der italieniichen Malerei im Auge ;
Neigung , Gelegenheit durften eine Stimme bei feiner Auswahl
führen. Jetzt aber hat die Sammlung durch den Anfauf von
Düffeldorf eine Bedeutung erhalten, die fih nicht von Anfang
vorausſehen ließ: der Deutjche kann fie als einen nahen, beque⸗
men Leitfaden zum Studium der Gefchichte ver italienifhen Ma-
lerei betrachten, und es entfteht billig der Wunſch größerer Voll⸗
ſtändigkeit. R. malt, mie ih vernehme, in der frühern Weife
unverbroflen fort; er wird nicht abgeneigt fein, Aufträge zu über>
285
, nehmen, bie auf Vervollſtaͤndigung des Fruͤhern zum Zwecke
methodiſcher Belehrung zielen, und bie edlen Pfleger der Kunft,
: ‚bie ſchon ſo Bedeutendes geopfert haben, dieſe Sammlung zu
erwerben, werben auch weitere Opfer nicht fiheuen.
Der andre Wunſch gilt der Vervielfältigung dieſer Arbeiten.
Wir haben nun dieſes herrliche Anſchauungsmittel in Deutſchland,
einen Troft für Ale, denen die Reife nach Italien verſagt iſt,
einen Sporn für diejenigen, welche von den Schüßen dieſes Lan⸗
des Feine Vorſtellung hatten, einen Anhalt der Erinnerung für
diefenigen, welche die Originale gefeben haben. Aber diefes Kleinod
befindet fih wieder nur an Einem Orte und die verdienſtvollen
Käufer-mürden ihr Verdienſt erft vollenden, wenn fie für Ver⸗
breitung deſſelben durch die großen technijchen Mittel, die unirer
Zeit zu Gebote ftehen, bejorgt wären, fo daß jede größere Bis
bliothek, insbeſondre jede Univerſitätsbibliothek ſich dieſe Copieen
erwerben könnte, wobei freilich eine Erleichterung durch allmäli⸗
ges Erjcheinen wünſchenswerth ware. Wer in einer Stadt, an
einer Univerfität, wo alle Anfchauungsmittel fehlen, Geſchichte
der Malerei vorzutragen verfucht hat, wird wiſſen, mit welchem
Eifer man einen ſolchen Wunſch begen und auöfprechen muß;
aber auch wer mit Hilfe einer Gemälde = Gallerie, einer Kupfer⸗
ſtichſammlung denfelben Stoff behandelt hat, weiß, wie unvoll⸗
ftändig folche Mittel find, wie wenig insbeſondre noch der Kupfer:
ftih zur Darftelung der herrlichen Meifter vor dem fechzehnten
Jahrhundert gethan hat; und endlich muß jeder Freund der Kunft
die Unwiffenheit des großen Publicums bitter beflagen,, welches
unbekannt mit fo viel Großem, mit einer fo organifchen Ent-
wicklungsgeſchichte, mit hergebrachter und blinder Bewunderung
286
ber berühmteften Namen ſich abſpeiſend, von ber Tofetten und
unwürbigen Subelei des Heinen Kunſtmarktes verführt und ver-
borben wird. Vollends wo Kunftfchulen befteben, zeige nıan dem
Schüler an viefer köſtlichen Reihe, was bie Kunft vermag, wenn
fie treu dem führenden Geiſte und den Geſetzen des Zeitbewußt-
ſeins, ſtreng in die Sache vertieft, ihren feften Gang vorwärts
geht, und enthülle ihm die Scala, auf welcher bie Meifter des
hoͤchſten, claffiihen Styles ftehen. Gewiß ich ‚bitte im Namen
von ganz Deutſchland, daß diefer werthvolle Befitz nicht auf
Einen Ort beſchränkt bleibe, der Dank eines jeden wahren Kunſt⸗
freundeö wird unendlich fein. Dan Iernt jegt überhaupt den Werth
von wohlgewählten Gopieen ſchätzen; Preußen, Defterreih, Branf-
rei, Rußland laſſen, wie oben erwähnt, die Meifterwerke eines
Raphael, eines Mich. Angelo in Nom durch tüchtige Talente co⸗
piren. In meiner Vaterſtadt Stuttgart ift ein Kunftgebäude
errichtet, das eine erweiterte, felbfländige Kunftjchule und eine,
von ſparſamen Anfängen aus erft zu begründende Gemälde-Gal-
lerie in fich aufnehmen jo. Ich habe mit großer Wärme in einem
Öffentl. Blatte empfohlen, man folle dem Beifpiele jener Länder
folgen und jene höchften Mufter in guten Copieen dem Volke und
den Jüngern der Kunft, jenem zur Schärfung des flumpfen Sin-
ned, dieſen al8 beichleunigendes Mittel der Ausbildung, als wür⸗
digfte Vorlage binftellen ; dies fei der würbigfte Mittelpunct und
Kern einer Gemälvefammlung, an welchen fih dann Originale
andrer Meiſter und Schulen, wo der dürftige Kunftmarkt unfrer
Beit noch eine Gelegenheit zum Ankauf darbietet, weiterhin an=
ſchließen Finnen. Aber man will lieber Summen hinauöwerfen,
um objeure Originale großer Meifter oder Werke von Schu⸗
- 287
Ien, benen nur ein beichränktes Verdienſt zukommt, anzufaufen ;
man will den Fremden mit der Lorgnette herumführen, von Zins
ten, Incarnat, Impaftirung , Laſuren reden und fagen: ba has
ben wir einen ächten Breughel, einen Achten Potter, Huyſum,
Denner u. f. f.; daher verzweifelt man an der Äußeren Möglich-
feit, jene Gopieen ausführen zu laflen, da doch das Erfte wäre,
einzufeben, daß, die Werke ver abfoluten Meifter der Anfhauung
darzubieten, ein abfoluter Zweck iſt, wo aber ein folcher ſtati⸗
findet, auch die Mittel fih finden müffen.
Kritifce Gänge
Sriederich Theod. Viſcher,
Doctor der Philoſophie, Profeſſor der Aeſthetik und deutſchen Literatur
an der Univerfität Tübingen.
Zweiter Band.
— —
Tübingen,
bei Ludwig Friedrich Fues.
184.4.
Anhalt des zweiten Bandes.
' Seite.
II. Bur bildenden Kunſt. (Kortfegung) |
Kunftbeftrebungen der Gegenwart. Bon Anton Hallmann 3
III. Bur Poeſte.
I. Zur Kritik früherer Poeſie.
Die LKitteratur über Goethes Fu. -. - 2 2 2.99
II. Zwei Erfheinungen neuerer Poefie.
Eduard Mörike. Maler Nolten. Rovelle in zwei Thellen 216
Gedichte von Eduard Mörle . . 2 2 2 22.2945
Herwegh. Gedichte eines Lebendign . . . -» . . 282
Gedichte eines Lebendigen, zweiter Band. . . . . 316
IV. Bur wiſſenſchaftlichen Aefthetik.
Plan zu einer neuen Gliederung der Acftpetit . . . 345
V. Vorſchlag zu einer &pr. . oo 2 22002. 399
Ich Tann diefe Gelegenpett nicht unbenüßt Yaflen, einige ganz
finnentftellende Drudfehler, welche fih in meinen Aufſatz über
„Shakſpeare im Litterar » Hiftorifchen Tafchenbuh von Prub 1844
eingeſchlichen haben , hier anzuzeigen.
aaa a
77. & 4 v. u. nad: Wille, dad Komma zu fireldhen.
83. 2. 10. v. u. verbößnt, lied: verſoͤhnt.
115. 8, 8, v. o. niemald, lied: einmal.
121. 2. 11. v. u. Erinnerung, Med: Erinnye.
ı32. 2. 6. © 0. geäffte, lied: größte.
. 137.’2. 11.0. 0. Detgtitaͤt, Lied: Idedlitaͤt.
. 138. 8, 7. v. u. flieht, lles: fließt.
II.
Zur bildenden Kunſt.
(Bortfegung-)
Aritiſche Gänge IL
Kunſtbeſtrebungen der Gegenwart.
Von
Anton Hallmann, vormals Königl. Preuß. HofbausInfpector.
Berlin, Buchhandlung des Berliner Eefecabinets. 1842.
(Saprbücher ver Gegenwart. Jahrg. 18435. Nr. 25. ff.)
Miemanv fehlen bisher weniger geneigt, die Anflchten über
die neuere Kunft und ihre Aufgabe, welche aus der Betrachtung
ber vergangenen Perioden und ihrer Vergleichung mit der Gegen-
wart unwiderlegbar hervorgehen, mit dem philoſophiſchen Kunft=
biftorifer zu theilen, als die Künftler ſelbſt; um jo freudiger
begrüßen wir die erfte befreundete Stimme, die hier aus dem Ges
biete der probuctiven Kunft uns entgegenfommt. Die Kleine Schrift
bat befanntlich gleich nach ihrem Erſcheinen vieles Aufſehen ge⸗
macht und denjenigen Widerſpruch erfahren, welchen jede Wahr-
heit zu gewarten bat, die Eräftig in das Dunfel verjährter Vor⸗
urtheile und bequemer Denf-Trägheit bligt. So fehrieb man von
Mom in der Allg. Zeitung, man bedaure, daß der Verf. den
büfteren Religionsſtreit in die heitere Welt der Kunft Hineingetra-
gen habe; als ob er nicht umgekehrt vielmehr den finfteren Fana⸗
tismus aus ihr verbannen, bie verbleichten Gebilde einer ausge⸗
lebten Phantafle, um welche fih die Theologen noch flreiten, aus
ihr ausfcheiden wollte. In das Kunftblatt Hat ver fonft billige
1 ”
4
und befonnene Kugler *) zu meinem Befremden eine fehr boshafte
Kritif aufgenommen, deren Verfaffer ohne auch nur eine Ahnung
von einer Bewegung der Kunft im Geijte der Zeit und im Unter⸗
fehiede vom Geifte früherer Zeiten zu haben, die mancherlei Con⸗
fufionen,, die in diefem Schrifthen mitunterlaufen, fich auf eine
feine und biffige Weife zu nutze macht. Hallmann bedarf freilich
in vielen Punkten, daß man feine Gedanfen erft orbne und zu⸗
rechtbringe, aber dem Strauchelnden hat nicht der Blinde den
Weg zu zeigen. Uns iſt das Büchlein um ſo willkommener, da
es durchaus den Stempel jener Naivität trägt, welche ſammt aller
ihrer Unklarheit und logiſchen Verwirrung an ächten Künftlern jo
liebenswürdig läßt. Wir werden allerdings dem Verf. oft mider-
ſprechen müffen; er iſt nicht durchaus mit fich und der Zeit im
Heinen, der Grundgedanke zieht fih nur wie der rothe Baden
durch fein Gewebe, verliert fich oft zwiſchen Widerſprüchen, Vo⸗
ruſſianismen, Berlinismen, tritt aber dann auch wieder hell und
glänzend hervor: Die Nachſicht, die fih der Verf. für feine fty-
liſtiſche Unvollkommenheit erbittet, hat er in ver That fehr in
Anſpruch zu nehmen, er fteht nicht nur mit dem Ausdruck, ſon⸗
dern auch mit der Satzbildung, der Conftructiön, mit allen Thei⸗
len der Grammatif, ſelbſt niit Rechtichreibung und Interpunction
u) Nach dem neuerdings im Siunfiblatt erſchienenen Eendichreiben von
Kugler an feinen Mit-Redaeteur Foͤrſter uͤber die Bilder von Gallait
und de Blefve zweifle Ich nicht mehr, daß der Letztere dieſe Kritik
aufgenommen bat; denn Kugler fpricht bier ein zu gefunded Nerfiänds
niß. der Aufgabe der modernen Kunſt aud, er begreift zu gut, wie
fie ih aud dem ariftotratiihen Bann unpopulärer Ideale zum Ges
fhichtlichen und Demotratifchen zu bewegen hat, ald daß er jene Bes
urtheilung Ballmann's in gut Overbeckiſchem Geiſte Hätte hilligen können.
5 |
auf einen ziemlich gefpannten Fuße; wo er aber warm wird,
ſcheint ihm auch die Sprache Feichter zu merden und er bewegt ſich
in einer Fülle von originellen Vergleichungen luſtig vorwärts.
Es find einzelne, ungleichzeitig entftandene Auffäge, der erfte
in Berlin, der zweite in Nom, der dritte wieder in Berlin, der
vierte in Dresden gefchrieben; fle verbinden ſich aber durch bie
Einheit der Grund-⸗Idee, wie fie nah Anlaß, Ort und Zeit ver⸗
fchieden fein mögen, ganz von felbft zu einem Ganzen.
Der erfte diefer Aufſäze, „Kunftzuftände“ überfehrieben, be⸗
ginnt mit einer Anklage gegen die Unfelbftftändigkeit, den Nach⸗
ahmungögeift ter gegenwärtigen Kunft, dad Urtheilen nach ver⸗
gleichenden, aud der Vergangenheit genommenen Maßftäben. Da
nun ©. 3 ausdrücklich von dem. foftematifhen Abrichten zur Nach⸗
äffung in den Kunſtſchulen die Rede ift, fo erwartet man, biefe
Anklage, welche zunächft gegen. die formelle Bildung - unferer-
Künftler. geht, weiter ausgeführt zu fehen. Allein man fieht
bald, daß dem Verf. eigentlich eine andere Anklage vorſchwebt,
der Vorwurf gegen unfere Seit nämlich, daß fie immer noch nicht
begreifen will, wie der Inhalt ihrer Kunft, das äfthetifche Ideal
überhaupt für fie ein anderes fein müfje, als das ‚Ideal vergan-
gener Kunftperioden. Hier tft alfo zwifchen Inhalt und Form
(ihre höhere Einheit könnte dabei immer feft gehalten werben)
nicht gehörig unterfchieden,, and dieß rührt wohl daher, daß der
Berf., obwohl er alle Künfte, inöbejondere auch die Malerei im
Auge bat, doch vorzüglich ala Baufünftler fpridt. In der Baus
funft nämlich kann nicht gefragt werden, was gebaut werden foll,
die Aufgaben find durch Kirche, Staat, Privatzwede vorgefchrie-
ben; darin find ſich alle Epochen der Kunſtgeſchichte gleih. Wohl
6
aber kann zwiſchen dem Gehalte, d. h. der Beſtimmung eines
Gebäudes und ver Form oder ben Style ein ungeheurer Wider⸗
ſpruch entftehen, wenn Formen, welche die geiftig anders beftimm⸗
ten Zwecke eines Zeitalterd mit fich brachten, auf ein modernes
Gebäude angewendet werben, mie wenn z.B. eine hriftliche Kirche
nad dem „Schena eines griechiſchen Tempels⸗ gebaut wird, und
ber Verf. thut daher fehr wohl, gegen das Dreffiren der Schüler
auf topte Bormen verflungener Weltalter zu eifern. Allein ganz
anders wenbet ſich bie Sache bei der Sculptur und noch mehr bei
ber zeitgemäßeften der bildenden Künfte, der Malerei. Hier ift
nicht bie Frage: dürfen wir Aufgaben, bie wir mit früheren Jahr⸗
hunderten gemein haben, in dieſem oder jenem ſchon dageweſenen
Style behandeln? Hier iſt die Frage: können die Aufgaben,
die Gegenſtände früherer Kunſtepochen noch die unſeren ſein?
Auf dieſe Frage, wobei es ſich um etwas ganz Anderes handelt,
als um freie oder unfreie Nachbildung vorhanden geweſener Style,
lenkt der Verf. unverſehens durch die Zwiſchenbemerkung ein:
„wenn dann überhaupt Madonnen gemalt werden müſſen“ und
ſtellt ſich darauf mit folgendem Satze mitten in die Erörterung der
Natur des modernen Ideals: „ja, ich glaube, die Zeit bricht an,
wo die Gegenwart ſich fühlt und in ihre Rechte tritt, wo wir
anfangen uns zu begnügen mit dem, was wir haben können,
ohne uns das Leben mit dem Gewimmer nach verlorenen Para⸗
dieſen zu vergällen.“ Dann, ſtatt dieſen Punkt zu verfolgen, kehrt
er aber wieder zur anderen Frage zurück, wie viel wir in der
Form von dem Style früherer Künſtler zu lernen haben, verlangt
eine freie Bildung des Schönheitsgefühls durch Betrachtung ihrer
Werke, nicht ein unfreies Nachahmen, und ſpricht begeiſtert, ſelbſt
7 -
in gebundene Rede übergebend ‚ bie Ueberzeugung aus, daß un«
ferer Zeit der Geift der Schönheit nicht verloren fei. Man könnte
unbeſchadet der Selbſtaͤndigkeit unferer äſthetiſchen Schöpfungen
noch weit mehr einräumen, ja fordern; man Eönnte verlangen,
daß unfere Maler mit ungleich mehr Entfagumg und Unterwerfung
und ungleich längere Zeit ſich in die Zucht der großen Meifter des
Styls, eines Raphael, eines Mich. Angelo begeben; aber man
will die Maler des Mittelalters nicht zunaͤchſt in ihrem Style,
fondern in ihren Stoffen nahahmen, und daher fucht man nicht
bie Meifter auf, welche die Stoffe dieſes Zeitalters bereits mit
freiem weltlichem Schönbeitsfinn und entbundener Energie dar⸗
ſtellten, fondern diejenigen , die das Kirchliche in ächt Firchliche,
d. 5. in unfreie und blöde Formen gefaßt haben. Es handelt fi
bier um eine Weltanficht, nicht um einen formellen Bildungs⸗
gang. Wer für die höchſte Aufgabe der Kunft noch jetzt Madon⸗
nen und Beilige hält, der thut ganz reiht, den Fieſole nachzu⸗
Affen. Daß aber diefe größere: Zeitfrage nad der Natur bed
modernen Ideals es ift, was den Berf. unvermerkt beichäftigt,
fehen wir dann hauptſächlich aus feinen Aeußerungen über Over⸗
beck und einer Bemerkung über den verſchiedenen Eindruck, ben
die in Einem Saale des Städel'ſchen Inftituts zu Frankfurt ein-
ander gegenübergeftellten Bilder Overbecks und De Kayſers her⸗
vorbrachten: man erfreute fich an dem lebensvollen Schlachtbilde
und ließ die pfäffifche Vorleſung über Kunſtgeſchichte hängen, Es
baben fich manche Stimmen vernehmen laffen, welche die Schuld
davon bloß auf den feichten Sinn der Menge ſchoben, die unter
allen Umftänden durch ein Abbild der unmittefbaren, Jedem ge⸗
laͤufigen Wirflichfeit von der ernflen Sammlung, vie ein ideales
8
Werk in Anspruch nimmt, fich werbe abloden offen. Man muß
wirklich zugeben, daß der Fall Feine ganz reine Probe Tieferte.
De Kayſers Schlachtbild war bei allen feinen Borzügen Fein hiſto⸗
riſches Bild im hohen Style, wie es z. B. die Alexandersſchlacht
in Pompeſi tft; das Publikum, wie es tft, hätte aber verausſicht⸗
lich nicht nur einem aſcetiſch trübfinnigen,, fondern auch einem
weltlich freien, aber im Gelfte ernfter Größe und Idealität com»
ponirten Bilde feine Aufmerkſamkeit entzogen, un fie einem genre=
artigen zuzuwenden. Dan fee Wächterd Hiob neben ein moder⸗
ned Bataillen« oder Geſellſchafts⸗Stück, und ſicherlich wird jener
verlaffen, biefed von Neugierigen umringt fein. Trotzdem hat
Hallmann volllommen Net; denn nicht nur die Menge, bie
oberflächlichen Genuß fucht, fondern auch der wahre Kenner, ber
tief und gefund fühlende Menfch wird dem aus dem Grabe be»
ſchworenen Gefpenfte ven Rücken kehren und das volle Leben auf⸗
ſuchen; das gemöhnlichfte Genre - Bild (und ein folches war De
Kayſers Bild doch nicht) iſt immer noch wahrer, ald das Schatten-
bild eines entſchwundenen und daher unwahren Ideals. Es iſt dies
ein Punkt, über ven ich bei werfchiedenen Anläffen mit Hervorhe⸗
bung reichlicher Gründe, welche noch Niemand widerlegt bat,
mich audgeſprochen habe. Wer nicht hören will, mit dem ift freie
lich nicht zu ſtreiten; wer nicht einjehen will, daß verſchiedene
Weltulter verfchietene Weltanſchauungen haben, daß und nicht
taugen Fann, mas bem Mittelalter taugte, daß tie höchſten Stoffe
ber Kunft für eine Zeit, welche Luther, Kant. Fichte, Schleier:
macher, Schelling, Hegel geichen bat, nicht dieſelben ſein kön⸗
nen, wie für das Zeitalter der Päbſte: wer aus Scheu vor Ideen
Mt begreifen will, daß tie Kunſt einen Entwicklunsgang hat,
\ 9
‚ auf welchem fie die Phantaflegeftalt verflungener Zeiten mie Schlan«
genhäute abwirft; wer zwifchen Eifenbahnen und Dampfſchiffen
noch der Madonna räuchern will; dem wollen wir feinen Frieden
nicht ftören.
Der Verf. gibt hierauf einen kurzen Ueberblick über die Zu⸗
ftände der neueren Kunft in Deutfchland. und fpricht zuerft von
München. Indem er hauptjächlich die Architektur im Auge bat,
bringt fi ihm bei aller Anerkennung des Geleifteten doch tie
Thatfache auf, daß man bier im. Laufe von ein paar Jahrzehen⸗
dew den ganzen Cyklus der Style durchlief, den Jahrhunderte,
Jahrtauſende durchwanderten, aber nichts. Neues, nichts Eigenes
zu ſchaffen vermochte. Wir merden auf die Frage, warum unfere
Beit feinen Architektur » Styl zu erzeugen vermag und mie Vieles
aus dieſer Thatſache folgt, woran Niemand denkt, nachher zu
ſprechen kommen. Dagegen gibt 9. zu, daß inmitten diefer ges
fhäftigen Reproduction immer noch des Selbftindigen genug her⸗
vortrete, und führt als Beweis hievon Cornelius mit dem jüng-
ften Gerichte an, muß aber freilich fein Lob durch die Bemerfung
einſchränken: „ob aber, allgemein genommen, jene Darſtellungs⸗
art mit der ganzen Denkweiſe der Zeit ſich verträgt, ob überhaupt
ſymboliſche Darſtellungen, ob ein gemalter Himmel, ob die ge⸗
malten Schrecken der-Hölle noch ſubtil genug find ‚ bie Bilder
unferer Gedanken zu bereichern und zu ergänzen? Das ift eine
andere Frage.“ Vermöchte er feine Intentionen klarer audeinans
derzufeßen , jo hätte unjer Verf. ausfprechen müſſen, wie ſich die
Malerſchule in München in ber Anfchauung ver großen italieni⸗
ſchen Meiſter und gefördert' durch umfaſſende Aufgaben al fresco
ſchnell zu der Ausbildung eines Styles im intenfiven Sinne des
10
Wortes entwickelte, und hierin, in feinem charaktervollen, bem
Mich. Angelo wahrhaft verwandten Style wäre Cornelius Ver⸗
dienft zu fuchen gewefen. Dann aber war zu erörtern, daß und
warum troß dem Fein wahrhaft organifches Kunftleben bier ent⸗
fteben konnte. Man hatte jetzt wieder Styl, aber man wußte
nicht, was damit anfangen, und der erfte Meifter dieſes Styls
verſchwendete feine Kraft an Dinge, welche für Kinder⸗Holgen und
bie Wände katholiſcher Wirthshäuſer, aber nicht für das helle
Auge des neunzehnten Iahrhunderts gehören, fatt daß er auf
bem edlen Pfade ber Heldenfage, den er eingeſchlagen, fortichritt.
Ungleich mehr Keime einer neuen Kunft Viegen in Schnorr's Dar⸗
ſtellungen einheimifcher Sage und Geſchichte, im manchen tüch⸗
tigen Leiftungen der GenrerMalerei und Landfehaftmalerei ; Rott⸗
‘mann mußte auch bei einer noch fo flüchtigen Veberficht genannt
werden, der mit aller Großartigfeit der fogenannten hiftorifchen
andſchaft die individuelle Wahrheit und Phyfiognomie vereinigt,
wie unſere Zeit fie fordert, und daher in feinem obwohl beſchränk⸗
ten Gebiete das erfreulichfte Bild eined Acht modernen Malers
barbietet.
Jetzt wirft H. einen Seitenblick auf Frankreich, fein Zurüde
bleiben in der Architektur, die Schuld Enechtiicher Verehrung der
antiken Form, fein Boranftreben in der Malerei, wobei num bie
ben Franzofen eigne Kraft pramatifcher Spannung und Hervor-
bebung ‚des ſchlagenden Moments neben den vom Berf. genannten
Vorzügen und Mängeln beflimmter hätte hervorgehoben merben
ſollen. Dann fest er nach England über, erfreut fich der neuen,
aus nie ganz umterbrochener Feſthaltung dieſer nationalen Form
erklärbaren, Leiftungen im mittelalterlichen Bauftyle und räumt
—
11
dem geringen malerifchen Talente des englifchen Volks wenigftend
das Verdienſt glücklicher Nachbildung des wirklichen Lebens und
eines frifchen Colorits ein. Nach dem rufflihen Eife wollen wir
ihm nicht folgen, ſondern mit ihm zu der Erwägung zurüdfehren,
daß im Allgemeinen unfere neuere Kunft bi jetzt ein Abfyiegeln
ber vergangenen Runft geblieben ift und daß es fich jeht endlich
fragt „ob wir al8 vernünftige Wefen des neunzehnten Jahrhun⸗
derts mieber von Neuem anzufangen haben, ober ob wir ed vor»
zichen, und vielleicht von Manchem nüchtern nennen zu laflen,
aber demungeachtet einen Weg einzufchlagen, der für den Augen⸗
blick undankbar und hart feheinen mag, aber auf dem und das
Bewußtſein unſeres Strebens nach Klarheit und Wahrheit auf⸗
recht erhalten wird.“ Der Verf. hat fich hier offenbar verſchrieben,
bei wober« follte ein Gegenſatz folgen, etwa „oder ob wir Copis
fien der Bergangenheit bleiben wollen“; e8 lag Ihm aber ſchon
Preußen im Sinne, von dem er nun fprehen will, und ba er
von der „kalt zu nennenden Berftandesrichtung“ in diejem Theile
von Deutfchland etivad zu fagen vorhatte, fo gerteth ihm dieß
ſchon bier in die Feder, er nimmt das „oder“ im erflärenten
Sinne, bevorwortet, daß hie moderne Kunſt eine nüchterne,
fheinbar proſaiſche Grundlage haben müffe und bahnt fi fo den
Weg, einem deutichen Stanıme, dem er doch das Präbifat Falter
Berftändigkeit geben muß, dennoch befonderen Beruf für die Schh-
pfung eined neuen Kunftlebens zu vindiciren. Es märe nur zu
wünſchen, daß er biefen Punkt gründlicher erörtert hätte. Wir
haben die Aufklärung und die „lange dürre Zopfzeit# hinter und,
wie das Alterthum und dad Mittelalter dieſelbe vor fich Hatte, und
ebendarum können wir nicht bauen, Hilden, malen, als wäre
12
alle dieje Aufflärung‘, fo phantaftelos fie war, nicht dageweſen.
Die Aufklärung hat jede Art von Olymp geftürzt ; feit fie ſich
geltend machte, kann der göttliche Geift nimmermehr in übermelt-
lichen Typen gefaßt und bargeftellt werben ; feit fie gewirkt hat,
gibt es Feine Götter mehr. Wie unendlich dadurch die Kunft ein⸗
gebüßt hat, liegt amı Tage; denn das Kunftiveal ſcheint eben zu
fordern, daß, mas von göttlichen Kräften im menfchlichen Leben
zerſtückelt fichtbar wird, vereinigt in befonderen, von allen Män«
geln gereinigten Geftalten außer und über der Welt glünze. Alle
Diejenigen, welche diefen Verluft nicht verſchmerzen können, wollen
noch Mythologie, heidniſche oder chriſtliche, als höchften Zweig
ber Kunft. Allein ver unendliche Verluſt war ein unendlicher Ge⸗
winn. Jetzt erft iſt und die Welt aufgethan, da die in Götter
verbichteten Nebel nicht mehr zwifchen ihr und unferem Auge hin
ziehen; jebt erft meiß die Welt fich ſelbſt göttlicher Kräfte vol,
ba bie jenfeitigen Geftalten, die das ihr ausgeſogene Mark in ſich
zujammenbrängten,, ſich in mejentliche innere Bewegungen und
Mächte des Lebens ſelbſt aufgelöst haben. Die Aufflirung war
die negative Vorausſetzung diejed modernen, götterlofen aber
weltlich heiteren, mythenleeren aber geſchichtvollen Ideals; fie
konnte keine Schönheit ſchaffen, aber ſie fegte das Afterbild einer
ausgelebten Art der Schönheit hinweg und ebnete den Boden
für eine neue. Ebendeßwegen aber, weil die abſtracte Verſtändig⸗
keit der Aufklärung nicht ſchöpferiſche, ſondern nur negativ vor⸗
bereitende Bedeutung für das moderne Ideal haben kann, liegt
ſogleich der Zweifel nahe, ob das Land, das vorzugsweiſe Sitz
derſelben war und noch heute Sitz der verſtändigen oder richtiger
der reflectirten Bildung iſt, ob Preußen beſonderen Beruf zu der
in.
43
Schöpfung einer neuen Kunft haben Eünne. Hören mir unfern
Berfafler. Er fagt, Preußen ftehe unbedingt für Deutichland an
der Spitze des Fortfehrittö, und jo ftelle filh denn auch der Kampf
der Gegenwart mit der Bergangenheit nirgends deutlicher heraus,
als in der Düffelvorfer Schule... Freilich überjegt er den Ichteren
Ausdruck fonderbarer Weije gleich darauf durch: ein ſtetes Ringen
des Wollens mit dem Nihtfönnen. Bel dem Ausdruck:
Kampf der Gegenwart mit der Vergangenheit, denkt man an
einen rüfligen Streit zwiſchen einer doppelten Richtung der Schule,
einer fatholifirenden und einer andern, melde die Aufgaben der
wodernen Kunft begreift. Sollte dafür irgend ein Beleg gegeben
werben, fo hätte der Verf. dem einzigen Maler der ganzen Schule,
den er nennt, Schadow, etwa Leſſing und den gefchichtlichen Geift
feiner neueren Werke entgegenftelen müfjen; .er fpricht. aber nur
von der welegifhen Stimmung“ Schadow's, wie er den Fatholis
chen Dogmatismus der neueren Kunft, der doch fehr beſtimmte
Behauptungen ſehr hartnäckig verficht, unzulänglich ſubjectiv be-
zeichnet, und ſetzt übrigens nur ſeine eigene Ueberzeugung hinzu,
daß die Zeit dieſer Romantik entwachſen ſei. Bei dem anderen
Ausdruck „Ringen des Wollens mit dem Nichtkönnen“ aber denkt
man an das Gemachte, unproductiv Reflectirte, was die Bilder
dieſer Schule (mit ehrenwerthen Ausnahmen) charakteriſiri, und
davon wäre allerdings eben im Zuſammenhang mit den voraus⸗
geſchickten Prädicaten des preußiſchen Stammcharakters zu reden;
es wäre zu bemerken geweſen, wie dieſelbe Reflexionsmanier,
welche einſt in der Form ber Berliner Aufklärung ſich ausſprach,
ſich jetzt nur auf andere Stoffe geworfen bat, und wie man al
diefen Mabonnen, Eugen und thörichten Jungfrauen u. ſ. w.
14
immer noch den ganzen Nicolai anfühlt. Der Verf. bricht aber
bier mit ber Eurzen Bemerkung ab: „es bleiben und von biefer
Schule noch einige bedeutende Talente und ein in techniſcher Hin⸗
ſicht ſehr großer Fortſchritt in der Malerei, worin fie faſt in dem⸗
felben Maaße der Münchner Schule voran, al8 fie noch gegen
die befieren Franzoſen zurück ift.u Ich überlaffe es dem Verf.,
biefe Behauptung zu vertheidigen. Er wird fih, wenn er in ben
Fall kommt, wohl genöthigt ſehen, zwiſchen Technik und Technif
zu unterſcheiden; bedeutet dad Wort eine ärünbliche und täufchende
Ausführung des Einzelnen, fo mag er Recht haben, bedeutet e8
aber Styl, fo hat er großes Unrecht. Uebrigens ift Diefer ganze
Abſchnitt viel zu dürftig ; durch den Titel feines Schriftchens hatte
ſich der Verf. zu einer viel grünblicheren Darftelung der neueren
Schulen verpflichtet.
Run geht H. auf die preußiſche Hauptftabt über und erklärt
nicht unfein aus der „charf prononcirten Verftandesrichtung und
fpefulativen Philoſophie“, deren Sig dieſe Stadt ift, daß bie
Künfte ver Meſſung und der feharf beflimmten Form, Architectur
und Bildhauerei, hier bis jeßt glücklicher gebiehen, als Malerei.
Er fegt Hinzu, daß eine Vergleichung mit München leicht unge
recht audfalle, wenn man nicht erwäge, daß in Bayern ein vor⸗
berrichender Bang des Negenten, in Berlin nur anerkanntes Bes
dürfniß das Motiv architectoniſcher Werke ſei. Diefer Punkt wäre
werth geweſen, weiter verfolgt zu werben. An der fogenannten
Kunftblüthe in Bayern Tann Fein Dann, der es nıit einem Volke
reblih meint, eine Freude haben. Leberall ift dad Nothmenbige,
Haushalt, Recht, Volkserziehung dad Erfte und wenn erft dafür
geforgt it, mag bie Kunſt von felbft aus dem Wohlftande des
— 3
4
gefättigten Lebens hervorſproſſen; mo aber die Kunft eine Ver⸗
ſchwendung auf Koften des Gemeinweſens ift, wo nicht zuerft die
geiflige Bildung des Volks bis dahin geführt iſt, die Schönheit
and fi beroorzubringen umb zu fühlen, fonbern biefe eine exoti⸗
ſche Pflanze für einige lorgnettirende Kenner bleibt: da hat fie
feine Wurzeln, da kann man ihre Scheinblüthe im Namen des
Nothwendigen, von den fie zehrt, nur beklagen, Wenn dagegen
in Berlin eine verftändige, lobenswerthe Sparfamfelt hierin waltet,
fo brängt ſich doch auch hier die allgemeine Unfähigkeit des Zeit-
alters, einen eigenen Bauſtyl zu ſchaffen, felbft in Schinkels
Werfen auf, wie fi der Verf., der übrigens die hohe Bedeu⸗
tung dieſes Mannes gebührend anerkennt, fich nicht verbergen
kann. Iſt in einer Kunft, die ihrem ganzen Weſen nach von
antitem Leben und Geift fo unzertrennlich ift, wie bie Plaſtik,
irgend eine Annäherung an nordifche Form, Tracht, Phyſiogno⸗
mie möglich, fo ift ed Rauch, der vor Schwanthalers ähnlichen
Beftrebungen die glückliche Aufgabe ver Darftellung großer Zeit
genofien voraus hatte, gelungen, fie ind Werk zu feßen; fein
Name findet hier den verbienten Preis. Weiter wird von Berlin
bie Durchbildung des Details gerühmt, die ſich in auffallend
glücklicher Weife auch auf die mannigfadhe Formenwelt der In»
duſtrie⸗ und Fabrik» Artikel erftrede. Mit gutem Rechte tft auch
biefe Sphäre berührt. Wo immer Die Kunſt blühte, rubte fie
auf dem fruchtbaren Boden des Handwerks. Freilich drängen fi
aber bei unferer gegenwärtigen Geſchicklichkeit in den Artikeln der
Induſtrie mancherlei Zweifel gegen einen folhen im Handwerke
liegenden Keim der höheren Kunft auf. Hätte nicht, wenn dieſe
Sandfertigfeit bei und, wie bei den Griechen und im Mittelalter,
. 16
serufen wäre, die Mutter künſtleriſcher Form zu werben, das
Ergebniß längſt fichtbar werden müſſen? Und wenn dieß nicht
ver Fall ift, find wir nicht aufgefordert, wohl zu unterjcheiden
zwifchen ber rafjinirten Vervielfältigung und Verwicklung der Be⸗
dinfniffe, denen das moderne Handwerk dient, und dem edlen,
immer noch naturtreuen Luxus der guten griechifchen und mittel-
alterlihen Zeit? Iſt in jener zwar untergeorbneten, aber darum
nicht verächtlichen Sphäre das mefentlichfte Merkmal einer wer⸗
denden Kunftblüthe, ein ſich bildender durchgängiger Styl, in _
gegenmärtiger Zeit bemerkbar? Sehen wir nicht vielmehr eine "
zerſtreute Unendlichkeit willfürlicher, meift nachgeahmter Formen?
Als weitere Stüße feiner Hoffnungen nennt der Verf. die
Perfönlichfeit des Königs von Preußen. Aber welche Art von
Kunft muß das fein, deren Aufſchwung von dem zufäligen Um⸗
ftande abhängt, ob ein einzelner Menſch fe befördert oder nicht?
„Fin Baum, der nicht im groben Volksboden ſich genährt, nein
einer, der nach oben fogar die Wurzeln kehrt/“. Oder kann Jemand
im Ernſte glauben, daß die Mebiceer, daß Päpfte, wie Julius IL,
die hohe Kunftblüthe ihrer Zeit gefhaffen und nicht vielmehr zum
Entwiclung reif nur vorgefunden und unterftüßt haben? Haben
nicht felbft die neueren Kortfchritte ver Kunft, fo wenig fie, ver⸗
glichen mit jenen großen Perioden , befagen wollen, ihren Grund
in etwas ganz Anderen, als in der Kunftliebe des Königs von
Bayern ? Waren Karſtens, Wächter, Shi, ihre Begründer,
von.Königen unterftügt * Der Verf. fpricht einen „befeligenden«“
Glauben an die hohen Gaben und das „edele“ Wollen des regie-
renden Hauptes aus, doc) es entgeht ihm nicht, daß er beflerer,
in der Macht ver Zeit überhaupt liegender Gründe für feine Hoff-
\
17
nungen bedarf. Da nun Berlin im Borbergrunde ber modernen
Bildung fteht, fo fcheint er darin den Beweis für die oben aus⸗
gefprochene Beftinnmung diefer Hauptſtadt gefunden zu haben. Es
ift wahr, daß Berlin ein Hauptfig moderner proteftantifcher Bil
dung iſt, allein ein bedeutender Beruf zur Kunft feßt Bewegungen .
voraus, welche bis jegt daſelbſt eben Keinen glücklichen Boben
gefunden haben. Wie wenig der Verf. ſich der Erforderniſſe er⸗
innert, welche zwifchen dem ganz allgemeinen Prädikate moberner
, Bildung und einem künſtleriſchen Geifte noch in der Mitte Liegen,
beweist die Stelle ©. 17, wo er ſich der Ruhe Preußens unter
einer väterlichen Regierung erfreut und ihm die Frage gar nicht
in. den Sinn zu kommen ſcheint, wie entfernt ein abfolut monars
chiſches Land demjenigen Zuftande des Volkslebens fteht, aus deſ⸗
jen lebendiger Negung die Kunft, die Blume freier Nationen,
erft hervorgehen Eann. a
Neben diefer Stimmung „ruhigen Vertrauens“, neben bie
fem „glücklichen Zuftande, von welchem der Nachwelt ein Denk»
mal zu binterlaffen Preußen fih fehnt“, hebt nun der Verf.,
in feiner Weife ohne Zufammenhang, andere Beitmomente her»
vor; zuerſt die durch vereinte Korfchungen erzielte Aufhellung der
Vergangenheit. Daß dieß ein höchſt wichtiger Punkt ift, bedarf
feines Beweiſes. Wir kennen die Gefchichte, Lebensformen, Phys
flognomie vergangener Zeiten, fremder Völker; eine wahrhaft
geichichtliche, durch taufend Anachronismen und Verftöße gegen
das Koſtüm nicht mehr gehemmte Malerei und Poefie ift dadurch
erft möglich geworben. Allein dieß ift wieder nur ein negatived _
Moment, aus welchem unnittelbar für die Hiftortfche Kunſt Feines» |
wegs ein Gebeihen hervorgeht. Die Aufgellung ver Ferne, bie
Kritische Gänge II. 2
18
Herbeiführung ber Möglichkeit Hiftorifcher Treue tft ein Act der
Kritit und Gelehrfamfeit ; viele ift von der fehaffenden Kraft nicht
nur bimmelweit entfernt, jondern ſteht fogar in einem folchen
Gegeniag zu ihr, daß nicht wohl diefelbe Zeit in beiden Richtun-
gen groß fein kann. Dieß hätte der Verf. fich felbft jagen können,
wenn er mit jenem Gedanken den andern, den er ©. 20 aus»
führt, zufammengehalten hätte. Hier nimmt er die Verftöße der
Florentiner, Venetianer, Holländer gegen die Hiftorifhe Treue
in Schuß, bebt mit gutem Grunde hervor, daß ein Volk nicht
hiſtoriſche Thatſachen, die e8 nichts angehen, fondern fich felbft,
die gegenwärtige Fülle feines Lebens in ven Werfen ver Kunft
gefpiegelt fehen will, und fügt treffend: „die Menge, die vor
dem Altar auf den Knieen lag, ſah fi in den Altarbildern fort-
geſetzt.“ Dieß ift der wahre Grund jener Naivität, womit alle
blühenden Kunftperioden die Tracht, vie Rare, die Sitte des
eigenen Volks in ihre Kunft hineingetragen daben. Weil es den
Menſchen wohl war, meinten fie, es fei nie und nirgends anders
gewefen, und weil fie Menſchen waren, fo trafen fie in dem
verfehlten äußeren Koſtüm um fo befler dad allgemeine Men>
ſchenkoſtüm. Man muß überhaupt nicht meinen, daß es fih in
der Kunft einfach darum handle, einen gewiffen Gegenftand zu
geben. Das Subject, für das der Gegenftand fein fol, das Be⸗
wußtfein, dem er vorgehaften wird, muß in ihn zum-Voraus
aufgenommien fein, damit es fi in ihm wiederfinde. Allerdings
folgt hieraus nicht nothwendig Verletzung der hiſtoriſchen Treue;
es Lißt fich ein Drittes denken: eine reine Vereinigung der Treue
des Koſtüms, der Objectivität mit dieſem ſubjectiven Momente.
Allein bis dahin haben wir weit, unendlich weit. Wären wir
19
nur erft ſchon da wieder angefommen, wo bie alte Kunft fichen
blieb, bei der inneren Sreudigfeit, die ein Spiegelbild ihres Wohls
feind, ihres politifchen Kraftgefühls im ungelehrten Koftüm nie
verlegt! Dazu fehlt und aber nichtö weniger, als daß wir erft
aufgehört haben müſſen, Menfchen zu fein, denen man in jedem
Zuge anfteht, daß fie entweder jelbft Polizeidiener find, oder
fürchten, es möchte ein PBolizeiviener fie arretiren; Menfchen,
die von dem Gefeße einer falſchen Schaam beherriht, jede
Leidenſchaft verbergen, jeden Ausdruck der Individualität verläugs
nen; regiftrirte, rebucirte, geleckte, beſchnipfelte, bis oben zu⸗
gefnöpfte, mit dent Lineal gemachte, mit ver Beißzange abge-
zwidte Menfchen. Wird der Künftler wieder ganze Menfchen
um fich fehen, dann mag er keck die beften herausleſen, fie und
als Helden ver Vergangenheit in jeinem Bilde vorführen und ihnen
übrigend ein treued oder untreued Koflüm geben. Gegenwärtig
aber ftellt fih das Verhältniß fo: die alten Künftler griffen Fed
in das volle Leben hinein, das fie umgab, und ftellten die maderen
Geftalten, bie e8 ihnen barbot, fammt dem Koftüm der Zeit
friſchweg als Apoftel, Helden u. f. w. hin; mir Dagegen ſtudiren
das Koftüm treuer als ein Theaterfchneider und fterfen die hyſteri⸗
fhen, ballgefichtigen und bleichfüchtigen Weiber, die ftußigen,
geckenhaften Männer unferer Gegenwart hinein. Wer ift denn
alfo in Wahrbeit hiftorifch untren ? Wir oder jene? Welches iſt
denn bie wahrere Madonna, jene edle altveutfche Frau im genähten
Rocke unter dem Apfelbaume, oder diefe Gouvernante im Burnus
unter ber Palme? Dieß freilich kann der Kunſt unjerer Zeit Fein
Pernünftiger zum Vorwurfe machen, daß ihr der Ausdrud der
Heiligen nicht mehr gelingen will; mir haßen billig an die Stelle
2 *
20
des Heiligen das Gute gefeßt; e8 kommt aber „nicht fomohl auf
die Art der Darftelung,, ald hauptſächlich auch auf die Wahl
des Gegenftandes an“ , fo fagt unfer Berf. weiter, aber ohne
ed genauer zu beftinnmen, ald durch den zu allgemeinen Ausdruck,
das Kunſtwerk ſolle rein menſchliche, große und edle Empfindun⸗
gen zu ſeinem Inhalt nehmen. Daher rühmt er Cornelius und
Kaulbach in dieſem Zuſammanhang, die er doch gerade nach der
Conſequenz ſeiner eigenen Anſichten hier hätte tadeln müſſen,
jenen in Beziehung auf die Wahl ſeiner Gegenſtände überhaupt,
dieſen wegen der Vermiſchung eines großen, wohlgewählten Ge—
genſtandes mit abſurden mythiſchen Beſtandtheilen. Daß Beide
auf das Volk nicht wirken, erklärt er dann ungeſchickter Weiſe
bloß aus dem mangelnden Schmelz der Farbe. Hierauf wehrt er
von einer wahrhaft zeitgemäßen Wahl der Stoffe den Vorwurf
der Materialität ab; „eine Kunſt, die ihre Motive aus der Ge⸗
genwart nimmt, dürfe“, ſagt er ganz wahr, „den Geiſt nicht
weniger entbehren, als jeder menſchliche Körper die Seelen; eine
Kunft dagegen, hätte er hinzufeßen können, welche die -auögelebte
Seele einer entfhwundenen Korn des Bewußtſeins in den Körper
ihred Werkes zwängt, dieſe erft iſt wahrhaft materialiftifch. Ih
behaupte geradezu: wahrhaft materialijtijch ift der Künftler, der
in der Meinung, wahrhaft fpirituell zu verfahren, die grobfinn-
liche Borftelung zu feinem Princip macht, daß der göttliche Geift
nit ald innerer Beweger der wirklihen Welt, fondern als greif-
barer Körper über- und neben ihr zu faffen ſei. Man wirft der
jetzigen Religionsphiloſophie vor, ſie glaube nichts, was ſich nicht
mit Haͤnden greifen laſſe; umgekehrt, die Mythen - Gläubigen
. glauben nichts, was fie nicht mit Händen greifen Eönnen ; haben
21
fie keinen heidniſchen Gott, Göttermutter, Untergötter u. f. iv.
mehr, fo ift ihrem flumpfen Auge, ihrem öden Herzen die Welt
Yeer und Gottverlaſſen.
Der Verfaſſer hätte, wenn er diefen Punkt genauer in's
Auge gefaßt und umfaffender entwickelt, wenn er inäbefondere die
politiihen Fragen der Zeit nicht fo quietiftifch umgangen Hätte,
noch nad) manchen: Seiten bin die Keime eined neuen Kunſt⸗
Ideals in unferer Zeit nachweiſen Eönnen. Aber eine ganz an«
dere Frage, auf die wir bei Beurtheilung der ſchönen Hoffnungen,
bie er auf einzelne Nichtungen und Kräfte der Gegenwart feßt,
zum Theil bereit eingeben mußten, ift die, ob die nächſte Zu-
funft unmittelbar einer glücklichen Entwicklung der Kunft Boden
und Stoff darbiete. Hier Tiegt noch eine Reihe. non Schwierig⸗
keiten, welche unfer Berfaffer ganz überfeben zu haben fcheint. .
Es ift wahr, die bildende Kunft hat ſich bereits zu reineren For⸗
men durchgearbeitet, Streben und guter Wille ift ba, aus ber
tranfcendenten Weltanfhauung des Mittelalter ringt fih ein
Glaube an die reale Gegenwart des Unendlichen hervor, welcher
einft, wenn er erft die Maſſe durchdrungen haben wird, neue
und große Werfe ver Kunft au3 feinem Schuoße erzeugen kann,
der praftifche Geift arbeitet gemaltig, ſich der Nealität zu bemäch⸗
tigen und die Völker fehnen fich nach neuem Leben; aber unmittel⸗
bar führt dieß Alles noch fo menig zu begründeten Hoffnungen
für die nächſte Zufunft der Kunft, daß neben diefe günftigen Be-
dingungen fich vielmehr ein ganzes Gebirge von Hinderniffen ftellt,
bei deren Anbli man ausfprehen muß: entweder es werben
ſich mit der geiftigen Umgejtaltung des Lebens, der wir entgegen-
ſehen, auch alle Lebensformen verändern, ihre profaifche Geftalt
22
mit einer voetiſch Lebenbigen vertaufhen, ober bie Kunft wirbd
für immer verdammt fein, an den Außerften Rand des Lebens
bingedrängt ein wurzellofes Scheinleben zu führen. Ich Habe
dieß nad verſchiedenen Seiten hin in meiner Anzeige der Ram⸗
boux ſchen Aquarellcopien in Düſſeldorf beleuchtet, höchſt lehr⸗
reiche Abſchnitte über denſelben Punkt ertheilt der erfte Band von
Hotho's Geſchichte der deutſchen und niederländiſchen Malerei;
hier will ich nur auf einige Punkte noch eingehen, welche der
Verfaſſer ſelbſt berührt. Zuerſt, ſagt er, muß die Architektur
mit der Zeit in Einklang gebracht werden; denn ſie iſt die Kunſt,
die zunächſt in das Leben eingreift. Wir ſetzen hinzu: wo irgend
ein neuer Kunſtſtyl ſich organiſch bildete, da ging die Baukunſt,
bie Baſis und die Verſammlungsſtätte aller andern Künſte, vor⸗
aus. Warum wir aber feine eigene Baukunft haben können, ift
leicht zu begreifen. ‘Der enge Zufammenhang, worin die Kunft
mit der Religion fteht, ift nirgends inniger, ald in dei Baufunft;
ein neuer Bauſtyl ging durch die Vermittlung des gotteöbienftli=
hen Bedürfniſſes ftetd aus einer neuen religiöfen Weltanſchauung
hervor. Unſere Zeit aber bat nicht die Aufgabe, eine neue Re—
ligion zu ſchaffen, fondern eine alte in ihre vein geiftigen und
fittlichen Elemente mit Ausſcheidung der durch die Phantaſie hin=
zugegebenen Beftanptheile zu zerjegen. Dieß Streben nah Auf-
löſung aller Illuſion wird fein Bernünftiger beflagen, es ift, mit
dem Gedanken betrachtet, ein erhabenes Streben, aber für bie
finnliche Anſchauung ein bildloſes und daher der Kunſt nicht
günſtig. Eine Zeit, welche das Leben Jeſu kritiſch bearbeitet,
wo von einem einſtimmigen, allen Ständen gemeinſamen Volks⸗
glauben Feine Syur mehr ift, Hat keinen Beruf, einen neuen
23
Kirchenſtyl zu erfinden. Es iſt möglich, daß eine Zeit kommt,
wo der moderne Geift, nachdem er den negativen Theil feiner
Aufgabe vollendet und ſich die pofltive Gewalt unmittelbarer
Veberzeugung gegeben hat, auch einen neuen , berielben ent»
fprechenden Eultus fich bilden und für diefen einen neuen Bauſtyl
erfinden, wird. Uebrigens ift an diefer Stelle eine oben vorge»
tragene Bemerkung zu ergänzen. Ich fagte, die Stellung ber
Architektur in umferer Zeit unterfcheide ſich dadurch von der Stel-
lung der andern Künfte, daß bei jener nur die Frage aufzumerfen
fei, in welchem Style die Aufgaben behandelt werden follen, die
fie mit allen anderen Zeiten gemein habe, während bei dieſen
zuerſt fich frage, was fle überhaupt, welche Stoffe fle im gegen-
wärtigen Zeitalter als ihre Aufgaben zu betrachten haben. Ges
nauer betrachtet iſt aber jetzt auch für die Architektur eine ähnliche
Frage gegeben; denn ſo viel iſt gewiß, daß fie im Kirchenbau
jetzt nichts Neues zu leiſten vermag: der Punkt, auf den fie ge⸗
wieſen iſt, iſt die politiſche Baukunſt, und darf ſie hoffen, in
unbekannter Zukunft neue Formen für religiöſe Zwecke zu erfinden,
ſo werden eben dieſe mit dem politiſchen Leben in einem ganz an⸗
deren Zuſammenhange ſtehen, als bisher. Wir werden ſehen,
wie den Verfaſſer ſein richtig ahnender Geiſt an einer andern
Stelle ebenfalls auf dieſen Punkt führt.
Iſt unſere Zeit von der einen Seite zu abſtract und philoſo⸗
phiſch, um ſich eines Berufs zur Kunſt rühmen zu können, ſo
wird ihr von der andern Seite der entgegengeſetzte Vorwurf der
Materialität gemacht. An ſich tft es nicht ſchwer, den ſcheinbaren
Widerſpruch zu löſen. Unſere Wiſſenſchaft und in Uebereinſtim⸗
mung mit ihr die populäre Reflexion iſt abſtract nur in dem
”
24
Sinne, daß fle die jenfeitigen Ideale aufzuldfen, die Phantafle-
bilder, die ſich zwiſchen bie reinen Gedankenbeſtimmungen und
zwifchen die Wirklichkeit, worin diefe al3 Geſetze herrichen, bis⸗
ber geichoben haben, aufzulöfen gebt. In Wahrheit aber will
fie dadurch den wahren Begriff ver Mealität der Idee herftellen,
den Geift in die Wirklichkeit einführen. Mit dieſem theoretifchen
Streben der modernen Bildung fällt das Bemühen des praftifchen
Verſtandes, die Materie Schritt für Schritt immer vollfommener
in den Dienft der menſchlichen Zwecke zu ziehen, vollfommen
zufammen und ift in biefem Sinne betrachtet jo wenig als ein
materielled zu bezeichnen, daß es vielmehr nur die andere Seite
deſſelben realiftifchen Idealismus iſt, der unfere Zeit bemegt.
Allein wir ftehen bier auf äfthetiihem Boden und mas, ben
Fortſchritt des Geiftes im Ganzen genommen, ein großes Schau⸗
ſpiel iſt, kann auf dieſem Standpunkte ein höchft niederdrückendes
ſein. Die Menge derer, welche unmittelbar in den Maſchinengeiſt
unſerer Zeit verſtrickt ſind, darf ſich des Bewußtſeins jenes hohen
Sinnes, der ihrem Treiben zu Grunde liegt, keineswegs rühmen,
ihr Geiſt iſt zwiſchen Walzen und Rädern fo vproſaiſch geworden,
wie das ewig eintönige Saufen ihrer Mafchinen, und fle fragen
nichts danach, ob ber todte Mechanismus vollends jede lebendige
Teilnahme der Individualität von der Hervorbringung der Pro⸗
dukte ausfcheivet, ob das Fabrikweſen die gute alte Sitte ganzer
Bevölkerungen, den ehrenfeften alten Handwerksgeiſt, das ge=
müthliche Einleben der Seele in den Charakter ver Arbeit vollends
aufreibt, die Findliche Blüthe phyſiſch und geiftig mordet, Schaaren
liederlicher, vechtlofer Arbeiter und Arbeiterinnen in die Straßen
ber Städte ergießt, Viele in Armuth ftürzt, um Wenige zu
25
bereihern, und fo den Wohlftand, die Gefundheit, die Indivi⸗
bualität, die Sitte, welche die Bebingung aller Kunftblüthe ift;
vernichtet. Wo der Sinn für Kunft Wurzel fchlagen fol, wenn
fein uralter Boden, das Handwerk, auf dieſe Weife vor unjern
Augen entjeelt wird, mag ein Anderer einiehen. Aber der Fabrik⸗
geift zehrt auch alle Formen auf, welche das Auge bed Künftlers
von Jugend auf. bildend umgeben und für fein Werk ihm den un⸗
entbehrlichen Körper liefern follen. Es ift bier nicht bloß von
Dampfihiffen und Eiſenbahnen die Rede, weldhe neben dem
windbeſeelten Segelfchiff, vem von fehnaubenden Hengſten gezogenen
Wagen Fünftlerifh ganz wegfallen, nicht von den Verwüſtungen,
welche vie wohlfeilen Lappen der Zizze und Kattune in den Volks⸗
trachten angeftellt haben, nicht von dem tauſendfachen und überall
umgebenden Geräthe, das auf den erften Anblick dem Auge fagt, .
daß es nicht aus der lebendigen Hand, fondern aus der todten
Maſchine fommt, fondern e3 iſt von dem mechanifchen Charakter
die Rede, der ſich in meiteften Sinne allen Formen aufgevrüdt
hat, von dem Mafchinenlaufe des ganzen Staatsweſens, der dem
Individuum den ledernen Charakter des Philifterd aufzwängt,
von den falichen Anftandöfefjeln der Geſellſchaft, des Geſpräches,
der Dreffur ver Erziehungsanftalten, dem Zopf= und Kamaſchen⸗
dienſt des Militärs, der farblod dürftigen, Hungrigen Kleider⸗
trat, welche nicht erlaubt, auch nur eine volle Farbe, ein
bischen Phantafle anzubringen, wenn man nicht für einen Nar⸗
ren oder Kunftreiter gelten will, von ber öden Kahlheit unſerer
Häufer und Straßen, der kläglichen Anftrengung, und auf un=
fern gemachten Schulmeifter = Feften vergnügt zu ftellen, dem
ſchlaffen, affectirt nachläffigen Rutſchen, das wir Tanz nennen:
26
kurz, es iſt die Mebe von einem Zuftande, fiber den ſich jeder,
der einen: Begriff davon Hat, was leben heißt, mie anders bie
Völker einft athmeten, geradezu erhängen müßte, wenn nicht
unfere Zeit tiefere geiflige Nahrungsauellen hätte, die dem ernften
Menfchen für die verlorene Jugend und Frifche des Lebens Erſatz
geben. Selbſt auf die Thierwelt eſtreckt ſich dieſe Ertöbtung.
Die fortſchreitende Cultur vertilgt alles Wild, und damit man
auch die Hausthiere nicht mehr in ihrer Freiheit ſehe, hat die
Landwirthſchaft die Stallfütterung eingeführt. Wer die lebens⸗
vollen Vergleichungen Homers aus der Thierwelt, wer die herr⸗
lichen Stellen im Hiob über den wilden Eſel, den Stier u. ſ. w.
mit Sinn geleſen hat, wer da weiß, was eine thieriſche Staffage
in der Landſchaft zu bedeuten hat, wird mich verſtehen. In wel⸗
chem ungeheuren Widerſpruche demnach alle berechtigten und un⸗
berechtigten Intereſſen der Bildung mit den Intereſſen der Kunſt
fiehen, wie genau allemal da, wo etwas modernes auftaucht,
ein Stück poetifcher Kebendigkeit weiter verloren geht und allemal
nur da etwas Fünftleriih Brauchbared zum Vorſchein Fommt,
wo im Sinne der Bildung vielmehr ein Uebel Legt, in Berlegun-
gen der Polizeigefeße, in Nevolutionen, bei Lumpen, Zigeu«
nern, Seiltänzern, diebiſchen Mausfallenhändlern: darein fcheint
unjer Verfaſſer die nothwendige Einficht keineswegs gewonnen zu
haben. Er nennt als ein Beiſpiel materieller (d. h. mechanifcher,
auf die Beherrfchung der Materie gerichteter) Erfcheinungen, die
doch die größten geiftigen Früchte getragen haben, die Buchdruder-
kunſt. Genau ein richtiges Grempel für jenen Widerſpruch.
Diefer Mechanismus der Mittheilung, für den geiftigen Fort⸗
jhritt ein unendlicher Hebel, Hat in der Welt der äfthetifchen
—
27°
Formen unendliche Zerſtoͤrungen angerichtet. Man ftelle fi
das griechiſche, das mittelalterliche Volksleben in allen denjenigen _
feiner Erſcheinungen vor, wodurch es der eigenen und ber fpäteren
Kunft fo reichen Stoff und Nahrung bot, und denke ſich dann
die Buchdruckerkunſt in jene Zuftände hinein, fo fällt das ganze
Bild zufammen. Iſt es nicht ſchöner, wenn ber Lebendige Menſch
dad Bu ift, in dad ein beſtimmter Umkreis von Kenntniffen
gebunden ift, ald die todte Sammlung ſchwarzer Lettern? Hätten
die Griechen die Tragödien und die Komödien ihrer großen Dich⸗
ter auömwendig gewußt, wenn fle gebrucdt geweſen wären? IM
lebendige Rede, Vorlefen von Handfehriften, Abfingen von Volks⸗
liedern im Freien nicht poetifcher, ala Druckenlaffen und Leſen?
Hat irgend etwas mehr bie Beredſamkeit erſtickt, als die Buch⸗
druckerkunſt? Können ſich noch Sagenkreiſe wie im Alterthum
und Mittelalter bilden, wo Zeitungen gedruckt werden? Gegen
alle dieſe Formen unmittelbarer Lebendigkeit der Mittheilung haben
wir das unſchätzbare Gut einer blitzſchnellen Circulation aller
Kenntniſſe und Ideen, einer geflügelten Verbreitung des elektriſchen
Gedankenſtoffes durch alle Stände eingetauſcht: wir haben rein
geiſtig, auch praktiſch, politiſch, demokratiſch unendlich gewonnen,
ader äſthetiſch unendlich verloren.
Sp nennt der Verf. die Reliefcopirmaſchinen, Diagraphen,
das Daguerrotyp,, den Del- und Farbendruck: lauter Erfindun⸗
gen, welche keineswegs als Beförderungsmittel der productiven
Kunſt anzuſehen ſind, ſo mannigfach ihr übriger Nutzen ſein mag.
Das Daquerrotyp z. B. kann dem Künſtler kaum auch nur den
Vortheil einer erften, durch freiere Compofition und Stylifirung
nachher umzugeſtaltenden Skizze geben; denn Auge und Hand
28 \
bes wahren KRünftlerd idealiſirt ſchon im Aufnehmen ver erften
Skizze. Ganz übergangen aber bat der Berf. alle jene Sphären
des wirklichen Lebens, worin der fortichreitende Mechanismus
im engern und weitern Sinne eine poetifche Form um die andere
aufhebt. Ich mil aus taufend Dingen nur noch Eines nennen:
find Kutihen, Kunftftraßen, Poften nicht eine trefflihe Einrich-
tung? Aber find Fußgänger, Weiter auf wilden Wege, Boten
nicht poetifcher? Und fo in allen Sphären ; dad Bequeniere , bie
größere Förderung des Verkehrs ift allemal - das äfthetiich Une
günftigere. Ja ich muß befennen: wenn th dich Alles überblicke,
menn ich erwäge, daß dieſes Auflecken aller unmittelbaren Leben⸗
digkeit nur immer mehr zunehmen muß, weil es im Interefje der
Bildung ift, wenn ich mich dann erinnere, wie die Kunft, wenn
fle irgend fröhlich blühen foll, überall gerade dad entgegengefebte
Intereffe hat und lauter Formen bedarf, die einem Zuftande ans
gehören, wo Behagen und Luxus zwar eine gewiſſe Stufe erreicht
haben, aber noch nicht diejenige, auf welcher dad Mafchinenhafte
die unmittelbare finnliche Bethätigung der Individualität erfpart:
dann verzweifle ich völlig an aller Zufunft der Kunft.
Der Derf. wird darum nicht gegen mich geltend machen, was er
©. J1 fagt: „abfurd finde ich das Gerede, daß die Aufklärung
die Kunft erftidle.u Es iſt etwas Anderes, die Aufklärung be-
Hagen, weil fie die Kunft erſtickt, etwas Anderes, die Kunſt
beklagen, weil fle von der Aufklärung erftickt wird, und ich thue
nur das Letztere. Kann er mich widerlegen, um fo befler; es
ift Niemand lieber, als mir.
Hallmann ift, wie wir fahen, friſch und jugendlih genug,
einzuſehen, daß bie Kunft ihre Motive nur aus der Gegenwart
29
nehmen Fann.- Es verfteht ſich, daß hieß nicht rein buchſtäblich
zu nehmen iſt; das Dargeftellte Fann und muß vergangen fein,
aber e8 fol in lebendiger Erinnerung ftehen und als eine fubftan-
tiele Macht im Bewußtſein der Zeit leben. Darin läge nun etwa
eine Auskunft, der eben audgefprochenen Verzweiflung zu ent«
gehen; der Künftler mürbe eine Scene aus der Vergangenheit
wählen, melde ein weſentliches Intereffe für die Bewegungen der
Gegenwart hätte, und genöfle fo den doppelten Vortheil, den
inneren Schalt aus der geiftigen Welt derjenigen, für die er
darftelt, die Formen aber aus der Vergangenheit zu nehmen.
‘. Allein e8 ift auch dieß Feine wahre Ausfunft. Die malerischen.
Formen muß der Künſtler au aus der Gegenwart nehnen
fünnen; fo lange er jedes erträgliche Stüd Kleid aus alten Rüft⸗
fammern, Trödelbuden, bei entlegenen Völkern zuſammenſuchen
muß , befindet fich ver Maler (und im Grunde auch der Dichter):
in demfelben alle wie der Bildhauer, deſſen Kunft nie wieder
eine andere Stelle einnehmen Tann, als die einer mäßigen Re⸗ wu
produktion der griechifchen Plaſtik, weil er nicht bloß das Nackte. LER
nur an bezahlten Modellen und fteifen akademiſchen Akten flieht,
fondern die Art der Verhüllung, Haltung, Geberbe, Bewegung,
wie fle ihn überall umgibt, durchaus unplaſtiſch if. Die Kunft
bat Feine Lebensſäfte mehr, wenn fie ihre Studien nicht mehr in
der Wirklichkeit machen kann.
Nachdem nun H. von feinem Standpunkte aus die Verkehrt⸗
heit gewiſſer neuerer Unternehmungen, wie des Gebanfens, einen
Kaiſerſtuhl bei Renſe zu erbauen, dem Arminius auf dem Teuto⸗
burger Walde ein Standbild zu errichten — die laͤcherliche Thor⸗
heit einer abſtracten Begeifterung — gebührend aufgewieſen hat,
30
führt er einige Beiſpiele von zeitgemäßen Aufgaben an, und bier
iſt e8, wo wir am weiteften von ihm abweichen müflen, die wir
ihm die Forderung eined gefchichtlichen, dem Interefie der Zeit
entgegenfommenden Stoffed zwar einräumen, aber die Formen
der Gegenwart für völlig unbrauchbar erklären müflen. Scenen
aus dem flebenjährigen Kriege, die er empflehlt, kann man fich
noch gefallen laſſen, da die Zopfzeit immer noch ungleich maleri»
fher ift, als die neuefte; freilich können moderne Schlachtbilver,
fo bedeutend fie geihichtlih auch fein mögen, megen der allem
im engeren Sinne Heroiſchen entfrembeten Formen der modernen
Kriegführung nur auf den Rang von Genre = Bildern Anſpruch
machen. Aber meinen Augen traute ich kaum, als ih lad, daß
Die Huldigungsſcene in Berlin als ein würdiger , wahrhaft zeit>
- gemäßer Gegenftand für den Maler anzufeben fei. Sp mag fi
denn, wenn man biefe Mafje erhabener Fräcde und preußiicher
Hüte auf der Leinwand vereinigt fehen wird, der „beſeligende“
Glaube an den König von Preußen an der Erinnerung jener
A * großen Stunde entzüden, ber „Stunde, wo Begeifterung die
Herzen erfüllte, ald der König unter der wogenden Maffe feines
treuen und liebenden Volkes aufftand und herrliche Worte ſprach,
Worte, die Bürge waren einer ſtrahlenden Zukunft, als der König
die Hand erhob zum Schwur und von allen Lippen unter dem
Donner des Geſchützes „Nun danket alle Gott«“ ertönte.“
Der zweite dieſer Aufſätze handelt „Ueber Kunſtſtudium als
die Quelle der Kunſtleiſtungen, vornehmlich über das Studium
der Architektur von künſtleriſchem Standpunkte.“ Die trefflichen
Bemerkungen, welche der Verf. hier über die jetzige Erziehung
des Künſtlers, insbeſondere des Baukünſtlers, vorbringt, ſind
31
mit allgemeinen Gedanken burchflochten, welche theilweiſe das
Wahre in der Mitte treffen, theilweiſe aber an der Unklarheit
und Confuſion leiden, mit welcher unſer Verf. kämpft. So ſpricht
er gleich zum Eingang den ſeltſamen Satz aus, die Preſſe in
Kunſtſachen müſſe künftig in die Hände der Künſtler kommen,
denn die Kunſt habe deßwegen hauptſãchlich durch die Preſſe ge⸗
litten, weil die Kunſtkritik bis jetzt hauptſächlich in den Händen
wiſſenſchaftlicher Männer geweſen ſei. „Schreibt ein Gelehrter
über Kunft, fo fehreien over Inchen die Künſtler, fihreibt ein
Künftler über Kunſtſachen, fo ſchreien die Gelehrten und wenn
fie auch nicht gerade über die Anſichten der Künftler, fo lachen
fie doch Häufig über ſtyliſtiſche Unvollkommenheiten.“ Dann fucht
er dieß ewige Mißverftehen der Gelehrten und Künftler unterein»
ander daraus zu erflären, mbaß eine wiſſenſchaftliche Auffaſſung
Fünftlerifcher Gegenftinde dem eigentlich ſchaffenden Principe ver
Kunft zumider iſt, weil fie, wie unzählige Beifpiele der neueren
Kunft beweiſen, dadurch durchaus collectiv ſtatt productiv
wird und geworden iſt.“ Collectiv ſoll wohl abftract heißen; ber
Ausdruck ſcheint aber nicht umſonſt gewählt, denn ©. 39 heißt
das Wiſſen etwas Zuſammengeleſenes, in ſich Uneiniges, im
Gegenſatz gegen das Gefühl als etwas Urſprüngliches und Ein⸗
faches. Es fehlt nur noch, daß dem Gefühle geradezu das Prä⸗
dikat der Allgemeinheit, dem Wiſſen das der Einzelheit zuerfannt
und fo das Verhältniß dieſer beiden geiftigen Formen gerabezu
umgefehrt wäre. Was aber der Verf. eigentlich jagen mollte und
ſollte, iſt dieß. Es ift freilich ein Mipftand, daß zwei Kräfte,
welche ein Schriftfteler über Kunft in ſich vereinigen ſollte, der
Natur der Sache yach nicht vereinigt fein können: die Cinſicht
-
32
in den inneren Entwickelungsgang der Kunftgefchtchte im Großen
und in die Aufgabe ver Gegenwart, ber philofophifche Begriff
des Weſens der einzelnen Künfte, die Fähigfelt , die Idee eines
gegebenen Kunftwerfs in klare Worte zu fafien, und der Takt
des Blickes, das volle Verſtändniß aller Fünftleriichen Formen,
aller Feinheiten der Ausführung, mie e8 die Erfahrung ded aus⸗
übenden Künftlers mit fi führt. Weil aber biefe Gaben, ver
Beſchränktheit menfhlicher Dinge gemäß, an verfchiedene Perfo-
nen vertheilt bleiben *), jo ift darum keineswegs zu wünfchen,
daß die Kımflfritif in die Hände der Künftler übergehe. Die Ge>
lehrten Tachen nicht etwa nur über ſtyliſtiſche Unvollkommenheiten
ſchriftſtellernder Künftler,, wie dieß unferem Verf. das böſe Ge-
J
wiſſen eingist, fondern fle durchfchauen die völlige Unficherheit
des Urtheils, in welche der Künftler verfällt, ver fih aus der
Sphäre der frifhen Unmittelbarfeit in das Feld der Theorie, wo
nur ein philoſophiſch gebildetes Denfen den Weg findet, hinüber⸗
begibt. Niemald war biefe Unficherheit größer, als in jeßiger
Zeit, wo dem Künftler nicht mehr eine traditionell ausgebildete
Typenwelt feine Stoffe ein für allemal an die Hand gibt und er
in dem Chaos von wählbaren Stoffen und verworrenen Urtheilen
den Wald vor Bäumen nicht fleht; eben darum ift bie Erfcheinung
eines Künftlers von fo gefunden allgemeinen Anfichten über das,
was unferer Kunft im Großen Noth thut, wie Hallınann , eine
Perle. Die wahre Beitimmung des Künftlers ift aber, getragen
von einem großen Inftinkte der Zeit und des Volkes, ohne Bes
*) Es gibt übrigend Ausnahmen, ich erinnere nur an Gotho, der dad
feifchefte Auge mit dem tiefen Denten des Kunſtphiloſophen verbindet.
33
-
wußtſein über die letzten Gründe und den reinen Ideengehalt feines
Werkes hervorzubringen,, was ihm die fchaffende Phantafle ein⸗
gibt. Das Uebel unferer Zeit ift eben, daß ein folder Inftinet
nieht waltet. Unſere Künftler haben das ſchöne Dunkel ver Unbe⸗
fangenheit geopfert, aber dafür nicht das reine Kicht des Denkens
erobert, fondern firaucheln in der Mitte zwifchen Tag und Nat. .
Was fie von Neflerion aufgenommen haben, reicht gerade bin,
ihre Naivität zu zerftören, und die Reſte von biefer, die fie in.
jene Hinübertragen, reihen gerade hin, ihnen, die Gonfequenz
des. Denkens unmöglich zu machen. Daher müffen fie es fich
gefallen laſſen, daß ihnen ver Philofoph fagt, was bie Zeit von.
ihnen fordert, der Philofoph, dem fie doch an Einflcht in das
Praftifhe der Kunft, an Gefühl einzelner Schönheiten unendlich
überlegen find. Diefer Mebelftand könnte fich aber nur noch in's
Unermeßlihe verfchlimmern, wenn die Kritik vollends in die Hände
der Künftler übergehen follte; dann würde ihnen die Gewohnheit
der Reflexion vollends jede Friſche der Conception verzehren und
„Unternehmungen vol Mark und Nachdruck/ — wenn anders
foche zu hoffen find — „die Bläffe des Gedankens anfränfeln.«
Der Künftler fol als Werkzeug der gefchichtlichen Entwicklung
inmitten derfelben ftehen, der Philofoph fie überblicken ; beides
ift nicht für beide. Warum num aber unfer Verf. auf dad Wiflen
fo gar ſchlecht zu fprechen ift, dieß Eommt von dem großen Mißver⸗
ftänpniffe her, daß er meint, der Philofoph wolle dem einzelnen
Künftler im einzelnen Kalle vorfehreiben, was er zu machen habe,
und jih anmaßen, was nur Sache der fehaffenden Phantafle iſt.
Defwegen fagt er, die Wiffenfchaft fei collectiv flatt probuctiv. Das
Wahre davon iſt dieß: die Kunft ift unmittelbar productiv, bie
Kritische Gänge NL. 3
34
Wiſſenſchaft fleigt vurch die Momente ber verfiändigen Dermitt-
Img, beren eines das collective, d. 5. die Juſammenfaſſung bes
Befonderen unter das Allgemeine if, zur Idee auf, welche aber.
das Productivfte von Allem ift, was es geben kann, indem fie
die Production der Künftlers felbft, die ihm ein Geheimnig if,
durchſchaut und ihm in die Werkftätte feines Schaffens flieht. Dieß
” tif freilich eine andere Art von Productivität, als Die unmittelbare,
ı ber Natur verwandte des Künftlers; wenn daher in jetziger Zeil
die Wiſſenſchaft fo frei iſt, den Künftlern zu fagen: das ift euer
Weg, da müßt ihr hinaus! fo maßt fie ſich keineswegs an, ihnen
im Einzelnen zu fügen, was und wie fle fehaffen ſollen, ſondern
u dem einzelnen Schaffen verhält fie fich allerdings fo, daß ſie
das Vorhandene vergleicht, unter gemeinfchaftliche Merkmale ſub⸗
fumirt und daraus die Richtung der Zeit, der Provinz u. f. w.
abftrahirt. Abftrahirt fle aber daraus eben dieß, daß dieſe Rich⸗
tung feine zeitgemäße ift, fo ruft fie billig ven Künftlern zu: ihr
follt feine Wolfengebäude mehr, fontern Geſchichte malen!
u. ſ. w. Die Künftler vürfen fich darüber um fo weniger beſchwe⸗
ren, weil fie fi jelbft auf das Feld begeben, worauf ihnen bie
Kritik überlegen ift, weil fie felbft Dogmen aufftellen über dag,
was darzuftellen ſei, thörichte Commentare zu ihren Triumphen
ver Religion in den Künften fehreiben u. dergl. Hallmann fagt
jelbft im grellen Widerſpruche mit der behaupteten Untrüglichkeit
des Gefühle, daſſelbe müſſe durch das Wiſſen berichtigt und gelenkt
werben. Wer ift denn der Blinde, der Führer oder ber, ber ihn
braucht? Das Gefühl ift gut und hat fein volles Recht in der
Kunft, aber es Fann irren und hat in ſich nicht ven Maaßſtab,
feinen Irrthum zu entdecken.
35
Was nun den Verf. in dieſe Mißverftändniffe verwickelt, find
bie Anfichten über Erziehung des Künftlerd, die er auszufprechen
im Sinne hat und die ihm in den vorangeſchickten allgemeinen
Bemerkungen verwirrend vorſchweben. Er will naͤmlich zeigen,
daß die Erziehung des Künſtlers eine lebendig praktiſche, nicht
eine ſchulmäßig wiſſenſchaftliche ſein ſoll, daher meint er, er
müſſe zum Voraus die Wiſſenſchaft überhaupt gegen as Gefühl
berunterfegen, und vergißt fomohl, daß er die höhere Wiſſen⸗
ſchaft, von welcher die Kunftphllofophie ein Zweig iſt, mit den
Schulwiſſenſchaften, welche in Kunſt⸗Akademien getrieben werden,
nicht verwechſeln follte, ald auch, daß Niemand befler ald ver
Kunftphilofoph einfieht, wie durch Schulzwang Feine Künftler
gebildet werben können. on
Andere Bemerkungen allgemeiner Art, die er vorbringt, find
dagegen um fo treffender. . So berichtigt er die verkehrte Vorſtel⸗
lung von dem fogenannten Fünftlerifchen Ideale, als ob der Künft-
ler einen Gedanken fpinnen und dann die Form dafür fuchen folle,
und fagt ganz mufterhaft: „was bei dem Gelehrten das Denken,
ift bei dem Künftler dad Phantaflren im befjeren Sinne; denn
der. eigentlihe Künftler denkt, in fofern es die Kunft
betrifft, ftet3 in Formen, weil eben die Formen feine
Ausdrudsmeife find.“ Was nun den Gegenftand ſelbſt an⸗
belangt, dem diefe Abhandlung gilt, fo führt er aus, wie der.
Schulzwang der Afademieen, wo Alle über Einen Kamm geſcho⸗
ren werben, im ewigen Copiren, in der Hebe der Eramina die
künſtleriſche Individualität erbrüden muß und nur phantaflelofe
Beamtenfünftler ziehen kann. Insbeſondere ſpricht er von ber
Bildung der Architekten, tabelt die Einrichtungen der Berliner
3 *
9— | 36
Bau⸗Akademie und verlangt ſtatt des Mechanismus folder An-
flalten, daß der Künftler unter der unmittelbaren Aufficht eines
erfahrenen Meiſters heranwachſe, wo der Lehre ſtets die An⸗
fhauung zu Hülfe fomme, mit der Theorie die Praxis zufammen-
falle und insbeſondere das ungleiche, getrennte Fortſchreiten in
den einzelnen Zweigen, wie dieß ein Hauptübel in der Eintheilung
des akademiſchen Curſes ſei, nicht ſtattfinden könne. Ich kann
dieß hier nicht im Einzelnen verfolgen, ſondern nur ausſprechen,
daß hier ein Punkt erörtert wird, der für die Erkenntniß ber
Gebrechen der modernen Kunft von der größten Wichtigfeit und
gewiß werth Hit, gründlich in’8 Auge gefaßt zu werden, wo denn
die Aufgabe wäre, die Schule, mie fte in allen Beitaltern hoher
Kunftblüthe befchaffen war, mit der modernen afabemifchen Er»
ziehung zu vergleichen und fich zu überzeugen, wie auch hier ber
Geift des Mechanismus an die Stelle der individuellen Thätigkeit
und Einwirkung getreten iſt.
Insbeſondere dürfte fich jede Regierung empfohlen fein laſſen,
was Hallmann über die Zweckmäßigkeit einer Trennung des
Stadt⸗ und Prachtbaues von dem obligaten Staatsbaudienſte und
der Eröffnung von Concurfen bei architektoniſchen Kunftwerfen
fügt; würden die bebeutenderen Bauten nicht mehr verrofteten, in
der Beſchneidung der Pläne durch die Minifterien verfauerten
Bau=Beamten, fondern durch Concurs dem Talente überlaffen,
fo hätten wir nicht überall den Anblick der meskinen Käften und
Schadteln, melde öffentliche Gebäude vorftellen follen.
Zwiſchen diefe Ausführung fehteben fi wieder einzelne Ge⸗
danken ein, worin die das ganze Schriftchen belebende Idee einer
Kunſt, welche das Mark der Wirklichkeit in ſich aufnimmt, auf's
37
Erfreulichfte hervortritt, wiewohl fie mit manchem Unrichtigen
verwoben find. So faßt der Verfafler S. 40 den religiöſen
- Glauben in dem veralteten Sinne ber fubjectiven Aufflärung als
ein bloß individuelles Gefühl, jet aber dann fehr ſchön hinzu:
„Die Welt, die immer fo ungläubig verſchrieene, tft jo gläubig,
ja vielleicht gläubiger, als je, fie ift göttlider geworden,
indem fie menſchlicher gemorden tft,“ Berner deckt er einen
Punkt auf, an welchem vie Unlebendigkeit der jetzigen Kunſt auf's
Neue einleuchtet und welcher doch in unſerer Zeit von den Meiſten
überſeben wird. Er ſichert der Baukunſt ihre wahre Beſtimmung,
die Mutter der anderen Künfte zu fein, er beklagt ihre jetzige
Iſolirung und Zufammenbangslofigkeit, eine Folge der einfeitigen
Ausbildung unjerer Künftler. Wenn fonft zum lebendigen Dienfte
ber Gegenwart, zum Genuß und zur Erhebung des Volks die
Architektur mit dem Schmude der anderen Künfte ſich verband,
fo ift jeßt die höchfte Verbindung, die wir Eennen, bie Her⸗
ftelung eines Gebäudes, worin Gemälde und Statuen, heraus⸗
genommen aus der gefchichtlichen Umgebung, der ſie angehörten,
wie in der Kapfel des Botanikers die abgerupfte Blume, gefam-
melt werden. Die Galerien, die Mufeen find ebenfo nothwen⸗
dige, verbienjtliche, als entmuthigende Erſcheinungen unferer
Zeit, ein vollſtändiger Beweis, daß wir nicht Schöpfer, ſondern
Sammiler find, „geiſtige Kirchhöfe, Mumienkäſten, deren Prieſter
Todtengräber ſind.“ „Der einzige Tempel der Kunſt iſt das
Leben und ſeine Prieſter ſind Künſtler! Darum laßt uns unſern
edlen Beruf nicht verkennen, arbeiten wir nicht für unſeren Mus
mienkaſten, arbeiten wir zur Verſchönerung unſeres Heiligthums,
zur Verherrlichung des Lebens!“ |
38
In aller Kürze übergehe ich die britte Abhandlung: „Leber
den Bau proteftanttfcher Kirchen, insbeſondere über den Bau
eined Domes für Berlin.“ Ih muß nämlich vor Allem geftehen,
"dag ih in dem Bau eined Domes zu Berlin keineswegs das
welthiftorifche Ereigniß, die Ausficht auf ein großes proteſtan⸗
tifches Gegenftü zur Peterslirche finden kann, wie der Verfafler;
ja, als einen folchen Ketzer muß ich mich bekennen, daß ich dieſes
Ereigniß für ſehr gleichgültig halte und für eben fo gleichgültig,
ob der Plan, ven H. vorlegt, als gelungen anzujehen ift ober
nicht. Unſere Kirche hat eingeſehen, daß fle in den Sinne, wie
bie Tatholifche, nimmermehr Kirche fein kann, und es tft im
Geringften von feiner Wichtigkeit, ob für einen Cultus, deſſen
dogmatiſchen Grundlagen die Mehrzahl ver Gebildeten ſich ebenfo
entfremdet bat, wie einft die Reformation der Fatholifchen Kirche,
etwas mehr ober minder Gelungenes gebaut wird. Iſt etwas an
bem vom Verfaſſer mitgetheilten Entwurfe, worin ein Keim der
Bufunft liegt, fo tft e8 der Gedanke, einen Raum der Kirche
den Monumenten großer vaterländiicher Männer zu beftinmen,
wie die MWeitmünfter- Abtei. Uebrigens wendet H. den Rund⸗
bogenftyl an, den er organiſch fortzubilden fucht, und follen wir
einmal unfelbftftändig unter den dageweſenen Stylen wählen, fo
mag dieſer vielleicht der empfehlenswertheſte fein. Allein dieß find
Bragen der unfruchtbarften Art: ein Styl bildet ſich nicht durch
Abſicht und Reflexion Einzener, fontern durch einen leitenden
Inftinft der Zeit; dieß weiß Niemand beffer, als gerade unſer
Verfaſſer, mie er es S. 50 in ber trefflichen Bemerkung zeigt:
„Styl im weiteren Sinne ift nichts Anderes, ald das in Formen
verkörperte Eimyfindungsvermögen einer beftinmten Zeit; e8 Tann
89
daher auch nur periodenmeile von einem Style die Rede fein,
d. 5. ſobald man im Stande Ift, eine Vergangenheit als ſolche
zu überfeben, fo ftellt fih eine gewifie, durch ven Geift ber Zeit
berbeigeführte, Aehnlichkeit in den individuellen Ausdrucksweiſen
ber Künftler heraus und unfere Anſchauung von einem beftinnmten
Standpunkte macht uns dieß im Einzelnen eigenthümlich Hervor⸗
gebildete als ein im Ganzen Zufammenhängendes erkennen. Aus
biefer Erklärung, melde nur allein bie richtige fein kann, meil
fie auf die Entſtehung der Formenwelt überhaupt baſtrt tft, gebt
hervor, daß ed eben fo thöricht ſei, in einem Style, der vielleicht
Sahrtaufende vor (fol heißen:. hinter) uns liegt, als in. einem
Style zu bauen, den wir ald einen neuen erfunden haben wollen;
denn fo wenig ed dem Menfchen möglich ift, mit feinen Augen
fih auf den Hinterkopf zu fehen, fo wenig er in einem Blicke
fein ganzes Ich zufammenfaffen kann, fo abfurb iſt das Gerede
von der plötzlichen Erfindung eines Styles.“
In ungleich erſprießlichere und energiſchere Erwägungen, als
die über neue Kirchen, hat den Verfaſſer der Entwurf zu einem
weltlichen, einem Staatsverwaltungs⸗Gebäude für Berlin hin⸗
eingezogen, womit er ſich in der vierten Abhandlung beichäftigt.
‚Hier ift er im rechten Zuge, bier weiß er, was bie Zeit braucht,
und zum erftenmale dringt aud dem lauten Jubel der Selbft-
täuſchung und der Affectation eine wahre deutfche Stimme der
Verwerfung gegen zwei fo verzwidte Unternehmungen, wie bie
Walhalla und der Ausbau des Kölner Doms, hervor. Die erftere
ift jest fertig, laffen wir ſie janft ruhen in dem Tode, zu dem fie
geboren ift, mag in dem griechiihen Tempel an der Donau bie
‚Heilige X. D. 3. neben Diebitſch Sabalfansfy ruhig den Traum
40
-
ber Unfterblichkeit träumen! Der Dombau aber tft eben tm Werke,
‚und da tft es noch der Mühe werth, zu reden, damit die Nach⸗
kommen menigftens fehen, daß unter taufend Nüchternen, welche
fih in die Begeiflerung für dad Abgeſtorbene hineinarbeiten,
wenigſtens einige DBegeifterte waren, die das Werbende, das
Jugendliche wollten. Der Hauptgrund des Fräftigen Abſcheu's,
ben unfer Verfaſſer gegen dieß Unternehmen ausfpricht, ift der
gerechte Schmerz des Künftlerd, der unendliche Kräfte für ein
Werk verſchwenden fieht, wo nichts zu fehaffen, fondern nur ein
600 Jahre alter Plan auszuführen if. Ich kann nicht umhin,
eine Probe der naiven Kraft zu geben, zu welcher, aus der vielen
ſtyliſtiſchen Noth, in der fie fih abquält, ‚hier die Sprache des
Verfaſſers fich erhebt. „Nun denn, ihr deutfche Künftlerjugend,
köſtliche Pfänder der Liebe und Weisheit eurer Lehrer und Er⸗
zieher, bie ihr wohl erereirt fein, nicht nur in der Kunft, fon»
dern auch vor Allem in der Kunft, auf-allerhöchites Verlangen
nit patentirten Zündhölzchen Begeifterung für beliebige Kunft«
epochen in euch anzufachen und nach Gutbünfen zu vertufchen,
wohlan denn! heraus mit der Begeifterung für das Werk, mas
dad einige Deutfchland ald Symbol feines geiftigen Zuftandes
ſchaffen will! Gehet hin und werdet zu Steinträgern am Kölner
Dombau, ed braucht nur Hände, nur menſchlichen Mechanismus, _
die Idee iſt ja ſchon feit 600 Jahren fertig, überdem ift das
Steintragen ein herrliches Mittel zur criftlichen Demuth! — —
Ihr Architekten, werdet Steinflopfer, und wenn euch die Rich—
tung der Zeit noch etwas Saft gelaflen, fo lapt eud) zu Mörtel
zerftanıpfen, oder meifelt und Elopft fo lange fort für die erhabene
Idee, bis euer bischen eignes Leben erloſchen ift und ihr eiftarrt
4
und verfteinert, gleich fo mancher verzerrten Brake des Mittel:
alterdö, ald Verzierung in die Mauer des Doms eingelafien wer-
ven Eönnt! ....... Ihr größten Hebel des Fortſchritts,
Alterthumsforſcher und Necenfenten, wenn ihr den Niefenbau
durch unaufhörlihes journaliftifches Spektakeln *) und Schreien
endlich bis zum Dache gebracht, fo laßt euch als Dachtraufen
einmauern, ihr werbet darin zur Ehre ber großen Idee euren
eigentlichen angeborenen Beruf erkennen! Euer ftet3 offener Mund,
euer oft fo hohles Innere und leerer Bauch wird euch vortrefflich
als Ninnfteine qualificiren! Es gilt ja gleih, ob das Waſſer
dieſes oder jenes Jahrhunderts durch euch hindurchläuft, ihr
fpuft e8 hinunter auf die dumme Welt und beruft euch auf den
Einfluß vom Simmel und daß ein Naturgefeß euch dazu zwingt!“
n. f. w. | |
Wenn H. als Künftler billig vor Allem vie künſtleriſchen |
Kräfte beflagt, welche Hier zu unfreiem Handlangerwerke ver«
ſchwendet merben, fo müflen wir ebenfpfehr auch die ungeheuern
materiellen Kräfte bebauern, welche darauf gehen, un etwaß .
Abgeſtorbenes zu vollenden. Wo aus der Fülle des Wohlſeins
in einem Volke von felbft die Blume der Kunft hervorfpringt, da
ift kein Aufwand zu groß, um fi in glänzenden Werfen das
Bild der eigenen Herrlichkeit gegenüberzuftellen ; die Summen,
welche die Athener nach den Berferkriegen für ihre hohen Tempel
und majeftätiihen Götterbilder zur Feier der eigenen Größe: be=
fimmten, waren ungeheuer; aber jever Kreuzer, den wir für
galvanifche Belebung eined Kunſtleichnams auögeben, märe befler
zu Suppen für die Armen verwendet. Gin Leichnam aber ift es,
*) Der Verfaffer fchreibt: Specktakeln.
42
wovon wir reden. Hätte der gothiſche Styl noch Lebenskraft ges
habt, fo wäre der Dom, ver jeht als fprechender Zeuge eines
während ſeines Baues erloſchenen Geiftes vafteht, nicht unvollen»
‚bet geblieben. Der Geift, aus dem diefer Styl und dieſes Mufter-
werk dieſes Styls Tam, war erlofchen, und wir wollen ohne ben
Geiſt, ja aus einem andern Geifte fortfegen, was nur als Frucht
jenes Geiftes einen Sinn hat? Wir gießen mit unermeßlichen
Opfern die wurzellofe Pflanze? „Menſchen, die ſolchen Richtungen
folgen, fterben ihr ganzes Leben, während die, fo ber Gegenwart
amd der Zukunft zugewandt find, es doch mwenigftend leben.“ ©. 86.
Dieß hat noch eine weitere, ſehr ernſte Seite. Man hat fich
für den Kölner Dombau zunächſt aus äſthetiſchen Gründen be⸗
geiſtert; man beklagt, daß der Prachtbau, der das vollkommenſte
Muſter eines herrlichen Styls zu werden beſtimmt war, unter⸗
brochen worden iſt, und ſchwärmt für die Herſtellung eines voll⸗
kommenen Mopelis der gothiſchen Architektur. Mit dem Zweite
eined bloßen Modells ftehen aber die unüberfehlichen Koften eines
folhen Unternehmens in einem boppelten Mißverhäftnifie und
man Tann diefen abftract Afthetifhen Standpunkt höchſtens dem
Künftler vom Fach, und auch diefem nur, fofern er den weſent⸗
lichen Zufammenhang der Kunft mit dem Leben vergißt, nach⸗
ſehen. Die Hauptſache jedoch iſt dieſe: der Kölner Dom iſt
kein bloßes Modell, er iſt ein Gebäude, das für einen ſehr be⸗
ſtinumten Gebrauch beſtimmt iſt und beſtimmt bleibt: für den
katholiſchen Cultus. Die Weltanſchauung, aus welcher dieſer
Cultus und ſein Bauſtyl hervorging, iſt allerdings factiſch nicht
untergegangen, aber ber Saft iſt ihr verdorrt, den fie bedurfte,
um einen ſo herrlichen Baum höher zu treiben; ausgeſchieden
43
find ihre Säfte und haben längſt andere, geiftigere Blumen als
‚biefe fleinernen, getrieben. Mit der Spannung der Polemik ge-
gen dieſe Früchte eines neuen Geiſtes friftet fie ſelbſt ein marflofes,
feit Jahrhunderten überflügeltes Leben. Deutſchland fol alſo mit
"ungeheuern Opfern ein Haus des Cultus bauen für bie Kirche,
aus deren geiftzwingenben Banden es fi mit Gut und Blut,
mit dein Opfer feines Wohlftands in einer preißigjährigen Mare
terzeit befreit bat, fol es für eine Bevölkerung bauen, wo ber
Fanatismus der Priefter entbrannter ald irgendivo noch heute den
heiligen Pfeiler des Völkerlebens, die Ehe, dur Verftörung
der Gewiſſen erfchüttert und ſo in den Eingeweiden des eigenen
Volkes wühlt.
Dieß führt und auf einen andern Geſichtspunkt, unter. wel⸗
hen man dieß Unternehmen zu ftellen gefucht hat. Der Kölner
Dom fol ein Symbol der deutfchen Einheit fein. Hören wir
hierüber unjern Berf.: „Wohl und, wenn Deutfchland das
Bedürfniß fühlt, einig zu fein, aber laßt, wenn wir Bedürfniß
zu gemeinfamen Schöpfungen fühlen, auch dieſe dem Gefühle
analog und es verfürpernd fein. Warum denn mit jolh’ edlem
Triebe Masferade frielen? Was fol überhaupt der Symbolbienft
bei einem Volke, welches Gottlob fo weit mündig, daß ed bie
Idee felbft zu begreifen im Stande ift! Das Synibol fol nur zur,
Erkenntniß der Idee führen, ift fie aber als folche erkannt, fo
it dad Symbol an fih gar nichts. mehr nütze, und will man
eine Idee durch Thaten verwirklichen oder in’8 Leben treten Taflen,
fo follen es bei Gott feine fombolifchen Thaten und Werke fein, .
iondern ſolche, tie dad wahre Leben des Menfchen bereichern und
ihm nüglich find.“ „Wenn man eine Kirche, die zur Ehre Gottes
44
erbaut wurde, jebt zum Seumagazin benügt, jo ift ed im Grunde
nicht fhlimmer, ald wenn man den Kölner Dom ald Symbol
deuticher Einheit erbaut, da man fi) überzeugt hat, daB man
ed aus Liebe zu Gott nicht mehr im Stande ifl. Der ganze
Unterſchied befteht darin, daß die Kirche mit materiellen, der
Dom aber mit geifligen Stoffen vollgeftopft tft, bie beide nicht
hineingehören.« &8 ift aber nicht nur eine verfünftelte Neflerion,
eine katholiſche Kirche unter ven Geflchtöpunft eines Nationalfym-
bols bringen zu wollen, fondern es ift auch eine verfehrte. Die
Bekenner der Confeffion, für welche dieje Kirche vollendet werben
fol, find, wenn man der Sache auf den Grund geht und bie
längft bedeutungslos gewordene fcholajtiihe Unterſcheidung zwi⸗
ſchen Geiſtlichem und Weltlichem fallen läßt, eigentlich Untertha-
nen eines freinden und zwar des römiſchen Staatd. Wer über
meine Seele gebietet, der gebietet auch über meinen Leib. Der
moderne Staat aber, der ſich mefentlich auf Grundlagen gebaut
bat, melche im weiteren Sinne ächt proteftantifch find, fordert,
daß feine Bürger ungetheilt, mit Leib und Seele, feinem ver⸗
nünftigen Organismus angehören. Daß zwijchen der römifchen
Kiche und einem ſolchen Staate, weil jene diefen als ein Rechts⸗
fubjeft im Grunde gar nicht anerkennt, eigentlich auch Feine Ver⸗
träge geichloffen werden können, hat in neuerer Zeit mehr ald
Ein Fall deutlich genug gezeigt. Man kann diefen Niß durch
palliative Nachgiebigkeit für einige Friſt wieder zubeilen, aber.
bälder kann von einer Einheit Deutjchlands und auch nur Eines
deutſchen Stanted gar nicht die Rede ſein, ald bis — nebſt eini⸗
gem Anderen — der Gegenjag der Confeſſionen verſchwunden
fein wird. Dieß jept freilich auch weſentliche Veränderungen ber
45
proteftantiichen Kirche voraus , weswegen ich auch ausgeſprochen
babe, daß die kirchliche proteftantifhe Architektur unmoöglich eine
künſtleriſche Frucht entfalten könne.
Hier kehren wir noch einmal zu unſerem Verf. zurück und
ſinden ihn auf einem Wege, der ungleich richtiger und conſequenter
iſt, als der Berlinertraum von einem welthiſtoriſchen Berliner
Dom. „Es geht aus den Ereigniſſen und Thaten ver letzten drei
Jahrhunderte nach der Reformation deutlich genug das Streben
hervor, ſich, ſelbſt. in religiöſer Hinſicht, mit der Erde und
unſerem irdiſchen Daſein wieder auszuſöhnen und auf einem Bo⸗
ben wieder heimiſch zu werben, den Aberglaube, Schwärmerei
und Mißverſtehen des Chriſtenthums ung als eine Wüſte erſchei⸗
nen machen wollte. Die ganzen Beitrebungen des Mittelalters
galten dem Himmel, dem bimmlifchen Reiche wurbe das Irdiſche
geopfert, bis das nackt hervortretende Streben der Kirche felbft
nach irdiſchem Beſitz und Macht ven Völkern über den Werth
deſſelben die Augen öffnete. Seit der Reformation erſcheint daher
das fonft in Religion und Kunft für profan Gehaltene fortwäh⸗
rend mit dem Heiligen burcheinandergemifcht, das Neligiöfe fängt
. an in das Profane überzugehen und die humane Bildung unferer
Zeit ift im höheren Sinne am Ende nichts Anderes, als ein prak⸗
tifch gemordened oder werdendes Chriftenthbum. „ „Wir wollen
Bürger werben auf dem Boden, den unfere Väter fallend fi
erobert.“ “a Die Anficht, daß wir beftinmt feien, uns bier auf
Erden für den Himmel zu opfern, ging allınälig in den Glauben
über, daß ein gottiwohlgefälliger Wandel hier auf Erden darin
beſtehe und beftehen müfle, uns für das Geſammtwohl unferer
Mitmenſchen thätig und hilfreich zu ermeifen und has, was wir
46
und an gelftigen unb materiellen Gütern erwerben, nicht gleich»
fam in die Schakfammer des Himmels zu tragen , ſondern es
vor Allen hier auf Erden auszugeben und zwar nach den Geſetzen
und Sitten, wie fie die menſchliche Weisheit zu bilden im Stande
war. ...... Wenn alſo die Beſtrebungen der meiſten Völker
ſich dem Staate immer mehr zuwenden und man glaubt, daß die
Kirche oder der religiöfe Sinn dadurch einbüße, jo ſcheint es mir
im Gegentheil ein Gewinn zu fein, wenn man den Staat als
die höchft mögliche irdiſche Form religiöfer Ideen auszubilden ſich
beftrebt, ihn alfo als eine praftifch gewordene Religion betrachtet,
und dann möchte es allerdings eine Zeit geben Eünnen, wo Staat
und Kirche ganz und gar Eins würden. ...... Wenn wir nun
betrachten, inmieferne die Kunft von jeher bemüht gemweien, daß,
was dem Menfchen das Höchſte war , feine Religion und feinen
Glauben zu verherrlihen, wenn wir durch die Richtung der Zeit
bemerkt haben, daß die Kunft ſich mehr und mehr mit Gegenftän«
den des praftifchen Lebens befaßte, weil nach unferer Anficht über-
haupt die Religion ſelbſt mehr praftii wurde, jo merden mir.
wenigſtens zugeben müffen, daß, wenn die Kunft möglich bleiben
fol, d. 5. wenn die Kunft ihre Wirkung und ihren Zweck nicht
aus den Augen verlieren fol, fie auch dabei wieder bedeutend
auftreten muß, was felbft in der Zeit ald dad Bedeutendſte her⸗
vertritt, und dieſes ift ver Staat und feine Verwaltung.“
Hier find wir mit unferem Verf. auf dem Punkte angekom⸗
men, wo alle Abweichung zwifchen und verſchwunden ift und
brüden ihm als einem geiftig Befreumdeten die Hand, indem wir
die nähere Prüfung des von ihm nitgetheilten Plans für ein
Staatöverwaltungsgebäude den Sachverftändigen überlafien.
IM.
Zur DPoefie
49
1. Zur Kritik früherer Poeſie.
Die Fitteratur über Goethes Faufl.
(Hall iſche Jahrb. für deurfche Wiffenfchaft u. Kunſt, Yahrg. 1859. Mr. 9 f-
Goethes Zauft ift dunkel. Ein Beweis davon find die vielen
über ihn erfhienenen Schriften , die faft alle den Charakter. von .
Commentaren tragen. Darf ein Gedicht dunkel fein? Es fommt
auf die Bedeutung des Worted an; wir müflen verfchlebene Gründe
des Dunkels unterſcheiden.
Das Dunkel, welches Fremdheit der Sprache, Entfernung der
Zeit und des Orts für Ausländer und ſpäte Nachwelt mit fi
führen, fällt bier natürlich weg, und hiemit der ganze philolo⸗
gifche und antiquarifche Apparat, den ſolches Dunkel zu feiner
Lichtung erfordert. Do kann ein Gedicht auch für die eigene
Nation und Mitwelt einzelne Dunkelheiten enthalten, wenn die
Scene in einer entfernten Zeit, an einem entlegenen Orte fpielt,
und ber Dichter um ber nöthigen biftorifchen Treue willen Dans
ches beibrachte, was gelehrte Notizen erfordert. Dahin rechne
ich nicht ſowohl das Bild der Zeit, des Landes überhaupt, deren
Geſittung, politiſche und andere Zuſtände. Der Dichter ſetzt in
unſerem Zeitalter, deſſen Poeſie weſentlich Kunſtpoeſie iſt, ge⸗
bildete Leſer voraus und Kenntniſſe in der Geſchichte; ſollte das
Bild der Zeit, in welcher dad Gedicht ſpielt, in ihrem Gedächt⸗
Kritiſche Gänge 11. 4
\
50
niß mehr oder minder erloſchen ſein, ſo wird er es eben durch die
Lebendigkeit ſeiner Poeſie wieder auffriſchen, die Sitte und Natur⸗
beſtimmtheit eines fremden Volks wird ebenfalls das Gedicht ſelbſt
fo vergegenwärtigen, daß nicht eben eine gründliche Kenntniß beim
Leſer oder Zuſchauer vorausgefeßt wird. Manches Aeußerliche
wird er immerhin aufzunehmen veranlaßt fein, was einigen ge=
Iehrten Apparat zur Verſtändigung wünſchenswerth macht. Nies
mand wird es Goethe verargen, wenn er uns die Mühe auflegt,
und zu erfundigen, was ein Incubus, ein Pentagramm u. dergl.
fe. Der Zauberglaube jener Zeit ift einmal die äußerliche Atmo⸗
fphäre, worin die Tragödie fpielt, und dieſe muß durch folche ein⸗
zelne Züge zu einem concreten Bilde condenfirt werben.
Etwas Anderes iſt es ſchon, wenn daſſelbe Gedicht aus der
Vergangenheit, in der es ſpielt, in die nächſte Gegenwart her⸗
übergreifend, allerhand Anſpielungen auf moderne Litteratur,
Sittengeſchichte u. ſ. w. in ſich aufnimmt, welche auch für den
wahrhaft Gebildeten einer erklärenden Notiz bedürfen, ſofern ihr
Gegenſtand nicht von allgemeiner und bleibender, ſondern von
voruͤbergehender und zufälliger Bedeutung iſt. In dem Grade,
in welchem ein Gedicht unſterblichen Gehalt hat und weſentliche,
für alle Zukunft bedeutende Erſcheinungen des Geiſtes in ihm
niedergelegt find, wird es läſtig fein, Partieen in ihm anzutreffen,
de, ohne Zufammenhang mit dem Ganzen eptjobijch eingefügt,
auf ephemere Zeiterfeheinungen ſatyriſche Lichter werfen, welche
kurz nach der Abfafjung dem Publikum bereits unverftändlich mer»
"ben müſſen, ja fchon bei den erften Leſern gewiſſe Lokalkenntniſſe
von Goethes nüherer Umgebung u. dergl., mad man fih nur
zufällig verſchafft, vorausfegen. In ver That, es ift fehr zu miß⸗
31
billigen, es tft ein Leichtfinn und Uebermuth, daß Goethe eine
Schnur von Zenten von meift enbemerer Bedeutung, da er eben
nicht mußte, wohin damit, in ein ewiges Gedicht, wie den Fauſt,
aufnahm. Wen ift zuzumutben, daß er von Miebing, bem
T heater - Mafchiniften zu Weimar, wiſſe, daß er errathe, was
der Servibilis bedeutet, daß unter den Kranich Lavater verſtan⸗
den iſt u. ſ. w.? Dieſe Tages⸗ und Ortsbeziehungen gehören nicht
in ein weltumfaſſendes Gedicht, mit ſolcher Garderobe der Litte⸗
ratur und Tagesgefhichte will man nicht geplackt fein, wo es ſich
um ewige Empfindungen handelt. Nicht nur in der Walpurgis-
naht und dem flörenden Intermezzo, ſchon in ber Hexenküche
kommen zu viele Nüffe der Art zu Enaden, die mit einen Scheine
tiefer Bedeutung täufhen und nur für den, der den Kleinen
Krieg der damaligen Litteratur erlebte, in Weimar war, Per⸗
fonen aus Goethes Umgebung kannte, verftändlich find. Jugend⸗
liche Geifter namentlih, ohne Erfahrung, Weltfenntniß , bie
mit frifher Erwartung lauter großer und würdiger Ideen an bie
Tragödie treten, fuchen in diefen Kleinen Stichen allerhand My⸗—
fterien ; ein Gedicht, wie Goethes Fauſt, follte aber nicht my»
ftificiren. |
Neben wir aber von dem geiftigen Gehalte und der inneren
Form eined Gedicht, fo muß fogleih unbedingt der Sag aufs
geftelt werben: ein Gedicht fol fich ſelbſt erflären, fol durch fi
felöft unmittelbar deutlich fein. Freilich — für wen? Es kann ein
Gedicht geiftige Erfcheinungen zum Inhalte haben, die nur der ver»
fteht, der fie in irgend einer Weife ſelbſt durchlebt hat, und nur der=
jenige durchlebt Hat, der auf einer gemiffen Höhe der Bildung fteht.
So nird Goethes Kauft Niemand verfländlich fein, der niemals
4%
52
philoſophiſche Zweifel gehegt, niemals über die höchften Probleme
des Denkens wiſſenſchaftlich nachgedacht hat. Wer Eeine Idee vom
Verhältniß des Böſen zur Weltorbnung hat (und der gefunde
Menfchenverftand , der populäre Neligionsunterricht geben noch
feine), der wird nimmer den Prolog im Himmel, mer fih nicht
mit der tiefften Skepfis getragen bat, nimmer die erſten Scenen
verfiehen. Auch die Gefchichte Gretchens, obwohl fle unmittelbar
jedes Herz rührt, erhält doch ihre tieffte Wirkung erſt durch ihre
Beziehung auf die unendlichen Seelenkämpfe Fauſts. Goethes
Fauſt ift ein philo ſophiſches Gedicht. Dies ift zunächft ein
hoͤchſt zweideutiges Lob; denn daß ein Genicht keineswegs meta⸗
phyſiſche Fragen ausdrücklich und ausgeſprochener Maßen an der
Stirne tragen, daß vielmehr der metaphyſiſche Gehalt ganz in
Fleiſch und Blut verwandelt, ganz in die Form unmittelbarer
Erſcheinung aufgegangen fein fol, dies feße ich ald meltbefannte
Binfen- Wahrheit voraus. Wenn nun Goethes Fauft unverhüll-
ter al3 irgend ein andered bedeutended Drama um letzte meta⸗
phyſiſche Fragen ſich dreht, zugleich aber von anerkannt unge⸗
heurer poetiſcher Wirkung iſt, ſo werden wir ſagen müſſen: darin
zeige ſich hier der Genius, daß er dieſen Inhalt trotz ſeiner me⸗
tapbuflichen Weite und Tiefe in den feſten äſthetiſchen Körper zu
bannen verftand. Iſt ihm dies ‚gelungen, fo muͤſſen wir die oben
aufgeſtellte Behauptung, daß nur der philoſophiſch Gebilvete dies
Gedicht verftehe, dahin beſchränken, daß allerdings nur diefer,
aber dieſer, ohne ſich während des Leſens begriffsmäßig philo-
ſophiſche Rechenſchaft zu geben, das Gedicht vollſtändig genieße.
Der Prolog im Himmel ſpricht Die Idee der relativen Nothwen⸗
digkeit und beftändigen Ohnmacht zugleich des Böen fo plaftiih
.
33
and, daß fie wirklich vergegenwärtigt iſt; man braucht ihn nicht
mit dem Kopfe, man kann ihn ganz mit der Phantaſie leſen,
und, was er befagen will, dennoch ganz in fich aufnehmen. So
und nicht anders foll ein Gedicht gelefen werden. Die Poeſie ift
nit da, daß fich der Lefer den Kopf zerbreche, fle giebt ihre
Ideen unvermerft ein, weil fie ganz in. Bild und Form gewan⸗
beit find. So wie wir und über ein Gedicht befinnen müflen, wie
über NRäthfel, fo ift dies ein Beweis, daß diefe Wandlung nicht .
gelungen ift, ſondern Idee und Bild außereinander liegen geblie⸗
ben find. Dies ift dann ein Dunkel, das unter allen Umſtänden
verwerflich ift. Ein bedeutendes Gedicht philofophiich zu erörtern
ift ein ſehr lobenswerthes Unternehmen. Aber was ift bie Auf-
gabe? Nicht, einen philofophifchen Commentar zu liefen, —
verſtändlich fol das Gedicht für fi fein. ohne alle Beihülfe dieſet
Art —, fondern den erften Eindruck, den äſthetiſchen, der ala
folcher ſchon ein vollſtändig klarer fein muß, nachträglich in.das
philoſophiſche Bewußtſein zu erheben, und ſich von feinen Grim- _
den Rechenſchaft zu geben. Dies Geſchäft bat nun zwei Selten.
Der reine Ideengehalt wird abgelöft von der. Form. worein ber
Dichter ihn gegoſſen; dies ift bie eine Hälfte des Geſchäfts; bie
andere ift, daß man nachweift, wie und warum bie Idee gerabe
in dieſe Form niedergelegt wurde, daß man ben, Proceß, wodurch
der Dichter Idee und Bild in Eined wandelte, ihm nachdenkt.
Wie die Momente der Idee und der Organismus der äfthetifchen
Form einander entjprechen, over, wenn dies nicht der Fall ift,
wo der Fehler liege, dies darzuthun iſt die Aufgabe der philo⸗
ſophiſchen Betrachtung eines poetifchen Kunſtwerks. Eine Abhand⸗
lung über eine Tragödie ſoll nicht eine philoſophiſche überhaupt,
\
⸗
54
ſondern eine philoſophiſch⸗aͤſthetiſche fein; unter den philoſophi⸗
ſchen Wiffenfchaften ift e8 nicht die Metaphyſik, nicht die Piycho-
logie, Ethik, Neligionsphilojophie , fondern die Aeſthetik, die
bier betheiligt if. Ein Gedicht ift nicht zu behanteln, wie ein
Faden, an welchem binlaufend man Gelegenheit nimmt, über
Dies und Das zu philofophiren, nicht wie ein Kleiderrechen ‚an
den jeder feine philofophifchen Stöde, Schirm, Kappe, Hut hin=
hängt. Iſt der erfte Theil ver Tragödie poetifch, fo ift er unſchul⸗
dig daran, wenn er meiften® auf diefe Weile behandelt worden tft.
Aber fogleih hier můſſen wir fcharf unterfcheiden zwiſchen
dem erften und zweiten Theile. Der leßtere nämlich ift in einem
‚ganz anderen Sinne dunkel, als jener. Im erften jehen wir das
Schwierigfte, was ein Dichter leiſten kann, die Wandlung ber
tiefften und univerſellſten Ideen in poetifches Fleiſch und Blut,
durch das Geheimniß der Phantafte gelöft. Die Unendlichkeit des
ideellen Gehalts forderte allerdings ſchon hier die Einführung-
außermenfchlicher Figuren. Das abjolut Vollkommene kann in
feinem wirklichen Individuum exiftiren, eben fo wenig das abjolut
Böſe, und doc handelte ed fich geradezu darum, dieſe beiden
abftraet allgemeinen Begriffe zu perfonificirem. Doch dies ift
bereitö chief ausgedrückt. Goethe ging als ächter Dichter nicht
vom allgemeinen Begriffe aus, um durch Mägde- Arbeit der Phan⸗
tafte erft ein concretes Bild für ihn zu fuchen; die Ideen, die fein
Fauft in fich aufnehmen follte, waren vorneherein nicht auf dem
MWege der Abftraction gefunden, fondern ein Empfundenes und
Erlebtes, fie verkörperten fih ihm zu fefter Geftalt an ver Volks⸗
fage vom Dr. Fauſt, an dem alten Pupyenfpiele, das „vieltönig
In ihm ſummte und mieberflang.“ So hatte er ſogleich für die
55
Idee des Böen eine Figur, die nicht, wie dazu die Darſtellung
abftract allgemeiner Begriffe leicht verführt, allegoriſch, ſondern
mythiſch ift, d. 5. nicht von einem Einzelnen auf dem Wege
der Abficht und Neflerion ausgeheckt, jondern unbewußt erfunden
und geglaubt von der religtöfen Volks⸗Phantaſte, und auch dem⸗
jenigen, ber biefen Glauben nicht mehr theilt, -noch vertraut und
geläufig genug, um ihn ſchnell in die Illuſion hineinzuziehen.
Gerade in der Haltung diefer Figur müſſen wir ben Dichter ſo
unendlich bewundern. Goethe hütete fich gar nicht davor, durch⸗
feinen zu laſſen, daß es zur Erflärung des Böfen gar feines '
Teufeld braucht, daß diefer Mephiftopheles alfo nur ein mythi-⸗
ſches Wefen ift, er legt ihm ſelbſt ſolche Aeußerungen in ben
Mund, die eigentlich feine Eriftenz negiren, 3. B.:
„Und haͤtt' er fich auch nicht dem Teufel uͤbergeben,
Er müßte doch zu Grunde gehn.”
Unb dennoch wird ſelbſt durch ſolche Stellen die Muflon, ala
hatten wir ein lebendiges, compactes Individuum vor und, nie=
mals geftört, jondern eben, wenn folche Eritiiche Gedanken in
uns anfegen wollen, auf's Heiterfte wiederhergeſtellt, fo treffende
Züge ded Lebens find den Schalke geliehen. Nur einmal philo⸗
ſophirt er zu viel, will fich ſelbſt definiren und ſpricht ehwas eon⸗
fus, fo daß wir nicht mehr ihn, fondern den zum Philofophiren
ungeſchickten Dichter hören. Die andern übermenfchlichen Figuren,
ber Herr, die Erzengel, find ebenfalls nicht Allegorieen, fondern
mothifche Gebilde der religiöfen Phantafle und dem Lefer geläufig.
|
Der Erdgeift kommt auch in der Aftrofogie und Magie vor al8 -
ein geglaubtes Werfen, und ift zudem fo febendig und klar gehalten, '
daß man fich Hillig wundern muß, wie mandhe Ausleger in der
— —
56
Grelärung biefer Figur irren konnten. Alle diefe Figuren nun,
obwohl fie als befondere Hypoſtaſen außer den Helden hinaus-
geftellt find, heben doch den Charakter ver tiefften Innerlichkeit,
wodurch unfere Tragödie fo national deutſch ift, nicht auf. Fauſt's
Iuneres ift der Boden, worauf die allgemeinen Mächte fich be-
kämpfen, ber wahre Schauplatz der tragifchen Gewalten. Fauſt
iſt mit Mephiſtopheles Ein Menſch und mit dem Herrn auch: der
Menſch. Sein Inneres ſehen wir zunächſt im Zuſtande des Zwei—
fels. Dieſer iſt an ſich eine wiſſenſchaftliche, keine poetiſche Er⸗
ſcheinung. Alles bloß Gedankenmäßige, womit ein Individuum
beſchäfrigt erſcheinen fol, kann poetiſch werden nur dadurch, daß
wir dieſen Gedankengehalt niemals nackt für ſich, ſondern immer
zuſammen mit ſeiner Wirkung auf die Stimmung des mit ihm
beſchäftigten Subjects ſehen. Gedanken, an ſich proſaiſch, werden
poetiſch als Ausfluß und Quelle von Gefühlen, als Nachklang
und Hebel von Handlungen. So grübelt Hamlet über das Jen⸗
ſeits, aber dies Grübeln geht aus einer Stimmung hervor und
bewirkt eine Stimmung. So tritt Fauſt nirgends bloß als Denker
vor und, feine Gedanken erſcheinen im Elemente leidenſchaftlicher
Stimmung empfangen, gehegt, erwärmt, bewirken Leidenſchaft,
Ungeduld, Wehmuth, Zorn, Verzweiflung, Emporung. Fauſt's
Zweifel iſt kein conſequenter Skepticismus; er verzweifelt am
Wiſſen der Wahrheit, und will ſie doch durch die Gewalt unmit⸗
telbarer Anſchauung erſtürmen. Eben dieſe Inconſequenz iſt poe⸗
tiſch; das eiferartige, heiße, inbrünſtige Weſen gieot erſt das
Feuer, bie Fluth. So zu einem athmenden Individuum gebildet
verfünbigt dieſer Fauſt zwar, was im geheinmiſten Inneren des
Menichengeiftes ſich vegt und flüftert, und in jedem Worte erwei⸗
57
tert ſich ſeine Perſon zur Menjchheit, aber. dennoch Bleibt er
immer diefer beftimmte Menſch und. die Grenzen feiner Perſön⸗
lichkeit zerfließen uns nie in eine abftracte Leere. Ohnedies ift er
durch die Anlehnung an die Sage in eine beftimmtte Zeit, in be⸗
flimmte Verhältniſſe geftellt; es bat Alles die Färbung einer’
hiſtoriſchen Situation, und der Xefer bleibt feft. in dem Glauben,
dag ein wahrer, ein wirklicher Menfch fo ſprechen, fo leben, fo:
leiden koͤnne. Bon den anderen Perfonen, von Wagner, Martbe, -
Grethen, Balentin, den Trinfern in Auerbach's Keller füge ich
nichts; dieſe find ohnedies ganz aus den Kerne ver Poefle ge» -
ſchnitten, fie leben und athmen jo vollkommen, daß ihnen vor=
züglih das Gedicht die allgemeine Bewunderung auch derjenigen
verdankt, die feinen ..tieferen Gehalt nicht verftehen.. Lieber die
Macht, den Wohlklang, den braufenden Donner und bie bezau⸗
bernde Süßigkeit der Sprache in. diefem erften Theile will ich
mich nicht in Lobpreiſungen ergehen. Goethe hat nirgends dieſe
Energie des Worte und Klanges neben der größten Weichheit
und Zartheit entwickelt, ift nirgends der ungeheuren Spraßgewalt
Luthers fo nahe gefonmen.
Zugleich find jedoch die äfthetifchen Mängel, weld⸗ ſchon in
dieſem erſten Theile die Tiefe und Univerſalität der Bedeutung mit
ſich brachte, nicht zu verbergen. Zu einer vollſtändigen und or⸗
ganiſch ſich entwickelnden Handlung konnte ſich ein ſo weiter Stoff
unmöglich abgrenzen laſſen. Ein Held, der in ſeinem Streben
unverkennbar die Menſchheit und in feinem Schickſale ihre Ber
flimmung repräfentirt, müßte eigentlich alle Hauptſphären menſch⸗
licher Thätigkeit durchwandern, und ein Schluß ift nicht zu finden,
denn e3 Kann nie ein Moment in der Zeit eintreten, wo bad Cude⸗
38
ſchickſal des menfchlichen Geiſtes, fo klar es in der Idee ent«
ſchieden iſt, in einem beſonderen Acte ſix und fertig erſchiene.
Doch dieß führt zu ſchnell zum zweiten Theile hinüber; der erfte
konnte fich dramatijch gefchloffener halten, va der Held, nachdem
er fih ind Leben geftürzt, hier nur durch Gin Lebensverhättniß
Kindurchgeführt wird. Aber fchon hier forderte die Unendlichkeit
der Bedeutung das Einweben phantaftifch wunderbarer Figuren
biefe wandeln mit Perfonen von Fleiſch und Bein, ganz als ver
ſtünde e3 fih von jelbft, auf Einem Boden! Scenen, die auf
dem Schauplage naturgemäßer Wirklichkeit vor ſich gehen Eönnen,
wechſeln mit folchen, wo alle Naturgefege aufgehoben erſcheinen,
und dieſe verhalten ſich in ihrer Behandlung zu der Einführung
des Wunderbaren in anderen bramatijchen Gedichten wie eine
genial ffizzirte Federzeichnung zu einem ausgeführten Kupferftiche.
Ein andermal führt die Aufgabe, das Leben und Treiben der
Maſſe mit den tiefen Kämpfen de3 zum vollen Berrußtfein er⸗
wachten Geiftes zu vergleichen, ein Bild von epifcher Breite her⸗
bei, das theatraliih auch nicht darftelbar ift; das ſtreng Dras
matijche ift aber immer auch thentralifh, wenn man nur von
biefem Ausdruck die tadelnden Nebenbegriffe entfernt hält. Zwi⸗
hen jenen rein menjchlichen und den geifterhaften Mefen kann es
ferner zu dem eigentlich nicht Eonımen, was wir Hamdlung nennen.
In einer Handlung muB Menſch gegen Menſch mit gleichen Gren⸗
zen der Kraft ftehen, und jeder derſelben muß fein beftimmtes
menfchliches Pathos haben. Der Abfall von Gott, der Bund mit
ver Hölle mag immerhin als eine That von großer negativer Er⸗
habenheit erſcheinen; doch Goethe hat dieſes Motiv nicht im
Sinne der Sage aufgenommen, wo Fauſt's Verbrechen eben
39
diefer Part mit dem Teufel it, fondern aus tieferen Abſichten
markirt er dieſen Llebergang zur fürmlichen Abſchließung des
Bundes mit Mephiftopheles fo wenig, daß er ihn vielmehr ganz
cavalierement in nobler Nachläjfigfeit geſchehen läßt. In der
Liebesgeſchichte mit Gretchen erjcheint Fauſt ebenfalls nicht im
fireng bramatifchen Sinne ald handelnd, weder in feiner Treue
noch in feiner Untreue. Die erfte Untreue, ein Verbrechen gegen
Gretchen, aber eine Handlung der fittlichen Kraft gegen Mephiſto⸗
pheled, nimmt, gemäß dem Charakter Fauſt's, fogleih eir en
theoretifchen Charakter an: Fauſt fammelt fih aus feinem Ge⸗
nußleben in Wald und Höhle zu ideeller Contemplation, vie ſich
zwar fehr poetifch, aber nicht dramatiſch, fondern lyriſch ausſpricht.
Uebrigens tft er in dieſem Verhältniſſe, fo mie überhaupt, mehr ein
Spielball wechſelnder unendlicher Gefühle, als ein handelnder Hes
r08: ganz ber poetijchen Aufgabe gemäß, da bie eigentlichen Prin⸗
cipien des Handelns, obmohl in Fauſt's Inneren ſich zum Kampfe Y
begegnend, doch aus ihm hinausgeſtellt find in mythiſche Figuren. \
Was endlich die Folge der Scenen betrifft, fo Fann bier von
firenger Oekonomie, wo ein Glied fharf ind andere ‚greift, keines
zu wenig, Feines zu viel ift, nicht die Rede fein. Die Univer-
falität der Bedeutung hat die compacte Form durchbrochen. Ich
möchte die eigenthümliche geiftige Atmoſphäre, die, wie jedes
Gericht, fo auch dieſe Tragödie hat, ald eine Unendlichkeit
ber Perfpective bezeichnen. Jedes Kunſtwerk foll in ber
enblichen Form die unendliche Bedeutung tragen, Feinen fol viefe
Berfpective fehlen; bei Goethe's Fauſt aber fpringt das ‚Auge
über Vordergrund und Mittelgrund jeden Augenblick weg, um
in dieſer unendlichen Ausficht des Hintergrunds ſich zu verlieren;
60
die Figuren, die über die Scene gehen, weiien fogleich dort hin⸗
über, man ficht durch Riſſe auf allen Punkten in dieſe Berne
hinaus. Ein ſolches Gedicht Tonnte unmöglich der Zeit nach in
Einem Guſſe entſtehen. Den univerſellſten metaphyfiſchen Gehalt
in ächt poetiſche Form zu faſſen, iſt die Sache einzelner Geiſtes⸗
blitze, die jenen flüchtigen Moment, der die disparateſten Gegen⸗
ſätze, die abſolute Idee und die finnlich begrenzte Form, auf
einen Augenblick vermählt, eben da er im Entſtehen ſchon wieder
entfliehen will, feſthalten. Goethe legte mit dem letzten Geheim⸗
niß ſeines eigenen Lebensgehalts das Bewußtſein der Menſchheit
in dieſer Tragödie nieder; ſie begleitete ihn von den jugendlichen
Jahren ins Greiſenalter; der unendlich unerſchörfliche Gehalt
gährte und gährte in der Bruſt des Dichters und ſchleuderte von
Zeit zu Zeit nach langen Zwiſchenräumen wie in vulkaniſcher
Eruption eine glühende Maſſe aus dem Krater tiefbrütender Phan⸗
taſie hervor. Kurz, der Fauſt bleibt fragmentariſch, er bleibt
ein großartiger Torſo, auch wenn der äußerliche Abſchluß der
Tragödie, den endlich der Greis verſuchte, zehnmal beſſer ge⸗
lungen wäre, als er gelungen iſt. |
Diele Mängel nun find im zmeiten Theile, während fie im
erften mit den Schönheiten des Gedichtd unmittelbar zuſammen⸗
bangen, zu fchreienden Fehlern angefhiwollen und haben das
Schöne geradezu aufgehoben, oder vielmehr, fie fchmollen fo
hoch an, weil feine Kraft mehr da war, Schönes zu produciren.
Diefer ganze zweite Theil ift ein mechaniſches Product, nicht ges
worden, fondern gemacht, fabrichrt, geſchuſtert.
Ich befinde mich, indem ich hier meinen Widerwillen gegen
dieſes Product ausſpreche, in. einer beſondern Berlegenheit. Dies
61
‚ fer zweite Theil iſt faſt aus Lauter Allegorieen zufammengefegt.
Daß die Allegorie nit ein Product dichteriſcher Schöpferkraft,
fondern proſaiſchen Verſtandes ift, der zur Einkleidung eined-
allgemeinen Begriffes nachträglich die Einbildungskraft aufbietet,
ift etwas jo Weltbefannted und Triviales, die Kinder auf der
Straße wiſſen es, daß es eigentlich eine Beleidigung des Publi⸗
kums iſt, wenn man es darüber erſt zu belehren unternimmt.
Und doch haben die meiften Schriftſteller über Goethe's Fauſt
dieſen zweiten Theil an poetiſchem Werthe geradezu, als exiſtirte
in der Philoſophie des Schönen dieſer Begriff der Allegorie gar
nicht, dem erſten an die Seite geſetzt. per wenn fie auch zu⸗
gaben, daß die Allegorie nicht rein poetiſch ſei, wenn fie zugaben,
daß die Neflerion ungleich mehr Theil hat an dieſem Fabrikat, als
die Phantafie, fo hatte es doch für ihr Gefühl gar nichts Wider»
‚firebenves, daß ein allegoriſches Machwerk fih bier als Fort⸗
ſetzung und abjchließender Theil an die Seite eined herrlichen
poetifhen Productes drängt. Goethe hat befanntlich mit edler
Befcheidenheit felbft geiußert, daß das hohe Alter auf eigentliches
Produciren ganz verzichten müfle. Hr. Weber (Goethe's Fauſt)
meint, man könne doch zum Dichten nicht zu alt werden, wie
zum Heirathen. Ich will nicht unterſuchen, wie weit, was man
zum Heirathen braucht, mit dem verwandt iſt, was man zum
Dichten braucht (wiewohl Beides näher zufammenhängen dürfte,
als es ſcheint); aber in einer Zeit, wie die moderne, wo Reflek⸗
tiren und Denfen fo weit über die finnlichen Geiftesthätigkeiten
vorherricht, wird ſich dad Alter, wo ohnedies bie Phantafle all»
mälig verdampft, ſchwerer als irgend in einer andern, gegen bie
eindringende Kühle profaiicher Bejonnenheit Halten. Schon im
|
62
Briefwechſel mit Schiller gefteht Goethe, Daß er, ganz in feinen
wiffenfchaftlichen Studien lebend, faft aufgehört habe, ein Dichter
zu fein. Es mar bei den Alten anders, da war bie ganze Zeit
jung, und ebenbaher die Kunft nicht bloß ein Moment, fondern
der höchfte Ausdruck ihrer Bildung. Iebt ift die Kunft an bie
Seite hingedrängt als eine Thätigfeit, die wir noch mitnehmen,
in der wir aber nie mit unferem ganzen Geifte find; und wie der
Einzelne in unferem Zeitalter viel fürzere Zeit jung ift, als in jedem
früheren, jo begleitet ihn aud) die Kunft eine Fürzere Strecke durchs
Leben, und die Boefle eine fürzere, als die andern Künfte. Durch jene
Seftindnig Goethe's würde nun allerdings jeder Vorwurf ent»
waffnet, wenn bier ein für fi ftehendes allegorifch didaktiſches
Product vorläge; man könnte jagen: nun ja, es ift zwar fein
Gedicht, aber doch etwas. Nun aber behauptet fich dieſes Fabri⸗
fat als Fortfegung eined wundervollen Products, es fordert ſelbſt
und durch dieſe Nachbarſchaft, in die es fich drängt, auf, den
Mapftab ächter Dichtung an ed zu legen, es nöthigt und, zu
vergleichen, es richtet ſich felbft.
Es find nicht nur eine Maſſe Allegorieen in biefem zweiten
Theile. neu eingejhoben, fondern jelbft die lebendig concreten
Perſonen des erften Theils, Fauſt, Mephiftopheles, in Allego⸗
rieen verflüchtigt. Fauſt ift nicht mehr diefes Individuum aus
biefer Zeit, das als ſolches gerade durch feine Individualität
Nepräfentant des Menfchengeiftes war, fondern er ift ein Begriff,
3.8, der Begriff der Nomantif, und durch eine völlige Zerreißung
der Zeit kommt er mit Selena auf der einen, Byron (Euphorion)
anf der andern Seite, die aber freilich jelbft auch nur Begriffe
ſind, auf Einen Boden zu ſtehen. Meyhiſtopheles ift (als Phor⸗
kyas) das negative Moment in der Auflöfung antiker Kunft und
63
Schönheit u. |. w. Wer kann an biejen Gliebermännern eine
Freude haben? Wen geht das Herz auf, wenn er diefen zweiten
Theil lieft, wer wird gerührt, begeiftert, wer empfindet Furcht
und Mitleidven? Freilich e8 giebt Leute, die einen flarfen Magen
haben. Ein von der Hagen, ein Mone höhlt ſich die Helden der
altdeutſchen Sage zu allegorifhen Puppen aus, und meint, mım
erft die poetifhe Schönheit diefer ausgebälgten Häute bewuns
dern zu können. Die Allegorie bat einen Begriff fertig; nun
nimmt fie eine Erſcheinung aus der Wirklichkeit, ſchneidet ihr
Eingeweide und Seele heraus, und legt jenen Begriff dafür
hinein: der Zuſammenhang des Begriffd mit diefem feinem Balge
ift fein anderer, alö ein tertium comparationis;' da aber jedes
Ding der Vergleihung eben fo viele Seiten darbietet, als es
Eigenſchaften Hat, fo iſt es nicht Elar, was in dem beftimmten.
Falle dad tertium fein ſolle. Statt aljo die Idee durch das Bild
deutlich zu machen, was ihre Abficht war, Hat fie jene vielmehr
verbunfelt und muß erft unter ihr Bild hinfchreiben, was e8 will,
oder es durch den Zufammenhang deutlih machen. Hätte und
Niemand gefagt, was eine Figur mit einem Anfer oder mit
verbundenen Augen und einer Wage bedeuten folle, nimmermebr
würden wir darauf kommen; fteht aber die leßtere Figur an einem
Rathhaufe, und wiffen wir anderswoher die Beſtimmung des
Gebäudes, fo könnten wir etwa auch ohne weitere Notiz die Bes
deutung der Figur errathen. Verbundene Augen Eönnen eben fo
gut Hundert andere Dinge bedeuten, ald Unpartheilichkeit. So
mag denn die Allegorie unter Anderem vorkommen, fie mag
al3 Ornament an Gebäuden, Triumpbbögen, Sarfophagen, wo
dad Bauwerk felbft das Sinnbild erflärt, in einem Cyklus rell⸗
— — — —
64
giöſer Gemälde, deren Aufgabe die Ausfüllung gegebener kirch⸗
licher Räume iſt und wo die einzelne Allegorie durch die Nach⸗
barſchaft der anderen Bilder leicht gedeutet wird, ihre Stelle
finden. Die ſtummen bildenden Künſte werden dieſen Nothbehelf
nicht ganz abweiſen können; ſtrenger iſt es der Poeſie zu unter⸗
ſagen, ſie kann ja reden, für was hat fie ihren Mund? Giebt
fie aber doch Allegorieen, fo fol fie wenigftend der Deutung
nachhelfen, damit fich ver Lefer nicht abquälen müſſe. Diele Nach⸗
hilfe hat Goethe im zweiten Theile des Kauft nicht gegeben, daher
trifft jeine Allegorieen noch ein weiterer Tadel, der andere Allego⸗
rieen nicht trifft, ver nämlich, daß, men man eine Deutung derfelben
gefunden zu haben meint, man nie wiſſen kann, ob es die rechte
ſei. Gin Näthfel erräth man, und weiß dann, daß man es
errathen bat, da genießt der Verſtand eine anmuthige Befriedigung.
Aber an diefen Näthfeln Tann man eine Eiwigfeit herumrathen
und nie gewiß willen, ob man die Löfung gefunden. Solche
Räthſel machen ift Feine Kunft; ich darf nur zu einem Begriffe
ein fehr Entlegened, durch eine feiner taufend Cigenfhaften ihm
von Weiten ähnliches Bild fuchen, die Bedeutung wohl ver-
ſtecken, und ich Kann bie ganze Welt am Narrenfeile fortziehen
.. — oder richtiger Ieden, der den Geſchmack hat, fih an das
Rarrenfeil zu hängen. Gebt dem mittelmäßigften Kopfe den Ideen⸗
ſtoff dieſes zweiten Theils (dieſer allein bedingt ja nie den Werth
.. eines Gerichts), dazu Goethe's techniſche Fertigkeit (dieſe auch
nicht), laßt ihn nur recht figen, ſchwitzen, die Feder zernagen:
- gebt Acht, er bringt euch ein Ding heraus, das wenigftend eben
fo gut it, wie dad vorliegende. Wer nun Luft bat, zu rathen
und zu. rathen, ohne jemald die Gewißheit richtiger Deutung
65
boffen zu können, dem kann ich feinen Geſchmack nicht beftreiten;
ih für meinen Theil halte jede mittelmäßigfte Unterhaltung für
beffer und belehrender als eine folche Befchäftigung. Doc) Goethe
Fannte fein Publikum; er Hätte, was er in beißender Ironie ſei⸗
nem Merhiftopheled in den Mund legt, als Motto über das
Ganze ſetzen können:
Und allegoriſch, wie die Lumpen find,
Sie werden nur um deſto mehr behagen.
Aber auch dasjenige, was in dieſem allegoriſchen Elemente immer⸗
hin zu erreichen war, iſt nicht erreicht. Eine Moſaik von unzu⸗
ſammenhängenden Scenen und Acten, bedeutende Motive gar
nicht benützt, ſchiefe, verkehrte Gedanken, wie z. B. (was Weiße
richtig bemerkt hat), daß in der Geſtalt des Euphorion Byron als
Kind der Vermählung des claſſiſchen und romantiſchen Princips
auftritt; der Schluß des Ganzen in der Grund⸗Idee richtig, aber
in der Ausführung verkehrt. Denn freilich mußte Fauſt gerettet
werden. Dieſe Nettung konnte vernünftiger Weiſe nur dadurch
geſchehen, daß die ſtreitenden Gegenſätze feiner und. der menſch⸗
lichen Natur überhaupt ſich verfühnen. Diefe Verſöhnung mochte
immerhin durch geordnete praftifche Ihätigfeit herbeigeführt wer⸗
den, aber nur nicht durch eine profaifch induftrielle. Statt daß
nun aber mit diefer Thätigkeit und der Ausfiht auf eine no
höhere und umfafjendere die Verſöhnung eintritt, verfällt Fauft
eben in diefem Moment dem Böfen, und kommt die Nettung
äußerlich nad, in Form eines Gefchehend, die dem mittelalterlichen
Dlymp entlehnt ift, und der fo ganz, fo tief proteftantiihe |
Fauſt fehliegt katholiſch. Ich werde auf biefen Punct zurüde |
fonmen. |
Kritifche Gänge. 11. 5
66
Menige Silberblicke erinnern an die alte Kraft, aber auch
bier ſtört die hoͤchſt manirirte ſprachliche Darftellung, die ſich der
alte Herr Geheimerath angewöhnt. Wenn im erften Theil die
Sprache mie ein Strom daherrauſcht, wie Frühlingswind fächelt,
immer fehlicht und Immer groß in dieſer Schlichtheit, fo hören wir
bier jene Biſam⸗ und Moſchus-⸗Sprache, die mit Manſchetten und
| Glacéhandſchuhen felbft ind Brautbett fteigt, jened behäbige, be—
bagliche, felbftgefüllig ordentliche, nette, glatte, limitirende Neben,
das der Menfihheit Schnißel Eräufelt, und niemals pretiöfer und
affectirter erfcheint, al3 wenn es die gefunde Grobheit der Natur
nachahmt. Wie geckenhaft ift der Zufat, da im Mummenſchanz
die Pulcinelle auftreten: taäppiſch, faſt läppriſch. Unnatürliche
Wortbildung, wie: zweighaft, wurzelauf u. dgl. drängt ſich als
Afterbild ver wahren dichteriſchen Sprachgewalt hervor. Unerlaubte
Conſtructionen, wie: „Ach, zum Erdenglück geboren, hoher
Ahnen, großer Kraft“ treten mit der Miene poetiſcher Kühnheit
auf, und undeutſch angebrachte Superlative follen die mangelnde
Kraft des einfachen Worts erfeßen, mie: durchgrüble nicht das
einzigfte Geſchikk — einzigfte Bewunderung, eigenfter Ge—
fang — und follt ih nicht fehnfüchtigfter Gewalt ins Leben
ziehn Die einzigfte Geftalt? — verbräunt Geſtein, bemodert,
widrig, ſpizbögig, ſchnörkelhafteſt, niedrig u. dgl. Waiblinger
hat dieſe Sprache nicht übel parodirt in ſeinen drei Tagen in der
Unterwelt, wo Goethe ſeine baldige Ankunft im Hauſe der Todten
fo Herkühbigt:
Und fo kaͤm' ich denn behaͤglich,
Wunderlichſt in diefem Falle,
Nimmer fuͤrchtend, nimmer täglich,
Baldigſt in die Todtenhalle
|
:67
Und dieſen Styl haben’ nicht wenige, ſelbſt junge Schrift⸗
fteller nachgeahmt! Wahrlich, fie thun dem großen Manne damit
eine ſchlechte Ehre an! Ber ihm ift das fo allmälich gefommen
und gemorden, und in der Ausartung tft immer noch der Zu⸗
ſammenhang mit den Vorzügen bed unnachahmlichen Styls feiner
fräftigen Mannesjahre zu bemerken. Diefe Affen aber machen
nit das Urfprüngliche, fondern die Farifirte Ausartung nad,
und was man den: alten Goethe um feiner jugendlichen VBerbienfte
willen verzeihen Tann, ift bier unverzeihliche, vettelbafte Ver⸗
zerrung. — |
Mir wird e8, wenn ich dieſen zweiten Theil leſe, ſo herbft-
lich grau, fo regnerifh trübe zu Muthe, meine ganze "Seele
trauert und meint, wenn ich den Genius fo dem Geſetze der Sterb⸗
lichkeit unterliegen ſehe; und nur die Rückkehr zu den Werken ſei⸗
ner Jugend und Manneskraft richtet mich wieder auf, deren
hohes Bild keine Zeit und keine Verwitterung des Alters zerſtören
kann..
Dieſe einleitenden Bemerkungen werden mir das Geſchäft
einer kritiſchen Muſterung der vorliegenden Schriften weſentlich
erleichtern und abkürzen. Wenn ich zum Voraus ſogleich ſage,
daß dieß eben Fein angenehmes Geſchaͤft je, fo faſſe ih, um dieſe
Behauptung zu rechtfertigen, das Refultat, das fich auß einer
Vergleichung der einzelnen Schriften mit den bisher aufgeftellten
Standpunkten ergeben wird, vorläufig fo zufammen:
1) Mit geringen Ausnahmen haben ſämmtliche Schriftfteller,
— ſtatt eine äfthetifch -phiofophtiche Betrachtung anzuftellen,
eine philofophifche angeftellt und an unferer Tragödie Me—
taphyſik, Ethik, Religionsphilofophie u. f. f. docirt.
5 *
68
2) Sie haben mit wenigen, faft nur mit Einer Ausnahme,
unfritifch die Mängel des erſten und zweiten Theild über-
fehen und die Dichtung als ein untadelhaftes organifches
Ganze mit blinder Pietät Hingenommen. Was eben die
l Folge davon war, daß fle mır ven philofophiichen Gehalt,
nicht den Grad, in welchem es gelungen tft, ihn in einen
I äfthetifchen Körper zu fafien, im Auge hatten.
3) Sie haben fon im erften Theile Vieled allegoriſch gedeu⸗
tet, was poetifch iſt. Meichliche Belege werden zur Genüge
deutlich machen, was ich hiermit meine, wenn es nicht
ſchon aus obiger Einleitung deutlich fein follte.
Eine ganz andere Frage ift die nach ver Richtigkeit der
philoſophiſchen Deutung und dem wiſſenſchaftlichen Werthe der
einzelnen Schriften überhaupt, welche nun die Muſterung pafftren
follen. Im Allgemeinen läßt fih Hierin fo viel beftinnmen: die
meiften Fehler in der Erflärung wefentlicher Punkte finden fich
in denjenigen Schriften, deren Verfaſſer Feine philoſophiſche Bil-
dung haben, und danad) theile ich auch diefe Schriften ein. Im |
erften Flügel follen die Nationalgarden des gefunden Menjchen-
verftanded defiliren, Die ohne ven Schlüffel der Philoſophie dieſes
tieffinnige Gedicht aufzufchließen unternehmen; im zweiten das
Linien⸗ Militär der Philofophen. Jene werden, wie ſich erwar= “
ten läßt, etwas falop, fhlotterich und ſchwankend marſchiren;
biefe etwas fteif, im Paradeſchritt, knappen Hoſen und Eras
vatten. Uebrigens will ich nicht gefagt haben, daß in der Er⸗
Färung des Gedichts jene ganz oder viel, diefe gar nicht ober
menig irren, wohl aber, daß jene, wo fie Recht haben, nur zu=
fällig nicht irren, da ihnen das wahre Mittel ver Erfenntniß abgeht,
69 | ‘
biefe aber in Folge einer faljchen Anwendung dieſes Mittels. Die
Philoſophen aber find am Häufigften in die allegoriſche Deutungs⸗
wuth fchon In erften Theile verfallen. —
Nleber Goethes Fauft,
Berlin 1850.
Borlefungen von Dr. K. ©. Schubarth.
Ih kann diefe Schrift nicht beſſer bezeichnen, als fo: bem
Berfaffer ift ein philofopbifcher Gedanke in die Hände geratben,
er geht damit um, wie die Affen in ver Hexenküche mit der glä-
fernen Kugel, und weiß nichtd Beffereö zu thun, als denjenigen,
denen er für diefe Idee dankbar fein follte, die Scherben an ven
Kopf zu werfen. |
Diefe Idee iſt: das Böfe ft als mefentlicher Gegenfab und
Hebel des Guten nothwendig, ein heilſames Mittel in der Welt
gefhichte. Diefe, befonderd durch die neuere Philofophie neu ber
gründete, Wahrheit — eine Quelle, die der Verf. verleugnet —
wird nun aber auf eine fo verworrene Art auf das Gedicht an«
gewendet, daß unfer logiſches Gefühl wahrhaft auf die Folter
geſpannt, ja auch das fittliche confus wird.
Die Eonfufion befteht namentlich darin, daß Mephiftopheles
dem Fauſt gegenübergeftellt wird als derjenige, welcher das heilſam
und gejegmäßig wirkende Böſe darftelle im Gegenſatze gegen
Fauſt's Willfür und die fehranfenlofe Ungeduld feiner Forderun⸗
gen. Allein dieſe Willkür und Ungeduld iſt ja eben ſelbſt auch
böſe, und wenn Mephiſtopheles das Böſe repräſentirt, ſo muß
er auch die ſes Böſe repräſentiren, und kann ihm nicht als Re⸗
70
präfentant einer anderen Art von Böſem — und giebt ed denn
ein harmonifches und vernünftiged Böſe? — gegemübertreten.
So meint ver’ Verf. auch, es ſei dem Schalke ſchlechthin Ernft,
wenn er von Gretchen fagt: über die hab’ ich Feine Gewalt. Er
wolle ihr nichts zu leide thun, fo Lange fie unfchuldig bleibe!
Alfo wenn fie ſchuldig geworben ift, kommt er nach und thut ihr
etwas zu Leide: da doch das Schuldigmerden eben dieſes Leide⸗
thun dur) Mephiftopheles if. Wenn Miephiftopheles das Böſe
bebeutet, bedeutet er denn nicht auch Gretchen's Verführung? Cs
heißt fo eigentlich: ich will fie zwar wo möglich moraliſch ver
berben, aber erft wenn fie felbft (das ift ja aber eben Mephi⸗
ftopheles in ihr) fih moralifh verberbt hat. Dean leſe folgenden
finmlofen Satz: das Böſe tritt Leibhaftig vor Fauft , ift aber nur
eine ſchwache Nachhilfe feiner eigenen Verworrenheit und Willkür,
in die feine Freiheit ausgeartet iſt. Nachhilfe? Das ift fo tiefſin⸗
nig, als der Begriff einer bloß von außen leitenden Vorfehung
und einer gratia cooperans. Endlich kommt freilich der Si des
Unfinns zu Tage. Der Herr Verf., dieſer höchft gebildete, par=
fümirte, aufgeklärte Mann, glauben einfältiglic) an einen Teufel
(gewiß doch auch an feine Großmutter ?). „Es ift allerdings eine
dämoniſche Macht auh außer uns wirklich ; fie zeigt fich in
allen verberblichen und häßlichen Erfcheinungen der Natur. O
Sie edler Perfer! „In der moraliſchen Welt rührt von ihr alles
Böſe und Unheilbringende her.“ Da rührte ja alſo doch auch
Fauſt's fehranfenlofe Willkür davon her? Gin andermal aber
fpricht der Verf. wieder, als erfenne er in Mephiſtopheles bloß
eine poetijche Perfonification ded „in ber Natur und“ der mora=
lifchen Welt vorhandenen Böſen. So jegt er aljo das Böſe das
71
Einemal doppelt‘, in ber Welt und daneben noch in einer befon«
deren Hypoſtaſe, dann wieder einfach ohne dieſe Hypoſtaſe, dann
wieder doppelt: das geht in ſolchem fappelichen,, duſelichen Be«
mwußtjein hin und ber, hiſt und Hott, hinterſich, fürfich, durch⸗
einander wie Kraut und Rüben. |
Soll nun Mephiftopheles ein anderes Böfe zepräfentiren, alg
das böſe Böfe in Bauft, fo kann died nur ein guted Böſe fein.
Mephiftopheles erſcheint als zu gut. Es ift zwar fehr richtig,
daß der Dichter diefe Figur mit. einer gewiſſen Behaglichkeit, ja
Heiterkeit behandelt hat, indem er fle mit einem Leifen Bemwußtz
fein der Ohnmacht des Böfen, das ald Humor zum Vorſchein
fommt, außftattete; allein man darf daraus nicht folgern, ‚daß
Mephiftopheled im Grunde fo böfe eben nicht ſei. Es giebt einen
Standpunft univerfeler Weltanfhauung, dem das Böſe mit Recht
ald unentbehrliches negative Moment in der Dialektif der Welt⸗
geihichte erſcheint, aber man barf darüber nicht vergeffen, daß
das Böſe 668 ift, wie dies Hr. Schubarth gethan hat, der nichts
Nothwendigeres zu thun weiß, ald dem Teufel fein Horn abzu-
fhlägen und ihn zu einem ordnungsliebenden, in feinem Gott
vergnügten Polizeiviener zu machen. Hr. Schubarth fpricht im-
mer, als ftünde Mephiftopheles über dem Böfen: ganz falſch,
darüber ftebt nur Gott. Dem Böfen fommen die guten Fruͤchte,
die es trägt, nicht ſelbſt zu Gute, denn es hat nicht dieſe, ſon⸗
dern das Böſe gewollt. Sein Innerſtes iſt daher doch ein verbiſ⸗
ſener Grimm, der auch bei Mephiſtopheles zum Ausdruck und
Ausbruch kommt.
Hieraus fließt eine ganz falſche Anſicht von dem Plane, den
Mephiſtopheles mit Kauft vorhat. Mephiſtopheles hat, meint ber
m
72
Berf., dem Fauſt eine heilfame Demüthigung zugedacht. Was
wohl Mephiſtopheles dazu fagen würbe, wenn er hörte, daß er
ein Pädagog geworben ift und es vielleicht noch zum Knaben⸗
und Mäpchenfehullehrer bringen Fönnte? Der Päragog ift Gott,
Mepbiftopheles das blinde und verworfene Werkzeug. Man muß
zugeben, daß Hr. Schubarth in feiner Auffafiung des Pactes
zwiſchen Mephiſtopheles und Fauſt an das Richtige ftreift. Fauſt,
ber dad ganze Uiniverfum für ungenügend erflärt, fein unendliches
Bedürfniß auszufüllen, während doch vernünftige Beſchränkung,
verebelter Genuß und befonnene Thätigkeit ihn den Werth deſſel⸗
ben müßten fühlen laſſen, ſoll am Ende eingeftehen, daß die von
ihm gefcholtene Welt doch fo übel nicht ſei, aber zu feiner Be⸗
ſchaͤmung, denn das Behagen in ver Welt, zu welchen Mephi-
ftopheles ihn verführen mil, fol ein träges und finnliches fein,
er fol den höheren Intereſſen abfterben und im Gefühle verwirk⸗
ter Ehre untergehen. Der Calul gelingt aber nicht, denn es iſt
die Abficht des zweiten Theiles der Tragödie, deren Inhalt der
Verf., als erft einige Scenen davon vorlagen, richtig ahnte, daß
Fauſt mitten im Genußleben zu einer idealen Befriedigung ſich
erbebe, und fo werden Gott und Teufel in gewiffen Sinne beide
die im Prolog eingegangene Wette gewinnen. Hier Fam dem
Verf. feine Einficht zu flatten, daß Mephiftopheles nicht bloß
ſchlechtweg das Böſe, fondern eben fo fehr das die Willfür und
den einfeitigen Idealismus heilfam begrenzende Moment der Bes
ſchränkung überhaupt in ſich darftelt; aber man kann an dieſer
Entdeckung keine Freude haben, weil er vergißt, daß Mephiſto⸗
pheles nur zuſammengenommen mit Fauſt (ſeinem idealen Selbſt
nach) und Gott eine gute und heilſame Macht darſtellt, für ſich
73
aber und getrennt von feiner Ergänzung durch den göttlichen Geiſt
eben fo ſchlecht ift, als die Sinnlichkeit ohne den Willen, ‚ber
Berftand ohne die Vernunft und der Egoismus ohne Wohlmollen.
Aus der gefchilverten finnberaubenden, herzbetbörenden Con⸗
fuflon diefer Schrift geht nothwendig ein Refultat hervor, das
nicht bloß unlogifh, fondern unfittlih if. Der Verf. meint,
Fauſt folle auf feine Verirrungen und Verbrechen nur fo zurück⸗
fehen, wie man auf etwad Mißlungenes zurüdblict, woran
man fi außer Schuld weiß, er dürfe ſich alſo „auch nicht dar⸗
über abhärmen und ben Kopf zerbrechen, da das Univerfum, der
Herr, ja überreih tft, um die Lücken eines ganzen Erdendaſeins
fofort zu fuppliren.” Sofort erlaube ich mir zu fuppliren, daß
man Ew. Wohlgeboren folche Befhönigung bes Böfen nur darum
verzeihen kann, weil ſchon die ungeheure Abgeſchmacktheit, mit
der Sie Sich ausdrücken, Sie aller Imputation enthebt. Fauſt
ſoll freilich nicht im Schulobemußtfein flagniren und auch aus
feinen Verbrechen gute Lehre ziehen, aber die Neue ift ihn darum
nicht erlafien, er darf die Verſöhnung, die nach der Neue folgt,
nicht anticipiren, als ob ihm dieſe darum gefchenft wäre. Nach
der Anficht des Herrn Verf. dürfte auch Judas Ifcharioth in der
Veberzeugung, daß fein Verbrechen heilſame Folgen haben werde,
ftatt daß er ſich erhenkt, mit einem halben Bedauern und füßen
Lächeln auf feine That zurückſehen.
Sp geht ed, wenn man läuten hört, und weiß nicht, in
welchem Dorfe, wenn man mit einer philofophifchen Idee um⸗
geht, der man nicht gewachſen ift und bie man in flrengem Den⸗
fen zu begreifen verachtet; es ift eben, wie wenn Kinder mit einem
geladenen Gewehre fpielen. |
74
Von andern Irrthümern, die Einzelnes betreffen, will ich
nigt ausführlih reden, doch einen wefentlichen Punkt etwas ge=
nauer ind Auge faſſen, worin faft ſämmtliche Erflärer, die ohne
Philoſophie an ihr Werk gingen, geirrt haben. Herr Schubarth
meint, Bauft hätte ſich nicht einfallen Yaffen follen, den Schleier
des religiöfen Myſteriums zu lüften, fondern gläubig vor dem⸗
felben ftehen bleiben ; er zählt daher Fauſt's ungläubige Aeußerun⸗
gen über die im Chorgeſang ausgeſprochene religiöſe Vorſtellung
ſchlechtweg zu den Ausbrüchen überſpringender Willkür und Un⸗
geduld, und macht gelegentlich, wie auch an andern Stellen,
Ausfälle auf die neuefte Philoſophie, die ihm bekanntlich fpäter
übel befommen find. Das heißt nun aber die Tragödie in ihreng
Herzen angreifen. Fauſt's ungläubiges Verhalten zur religiöfen
Borftelung {ft ein weientlicher Theil feined Zweifels und biejer
ift fein eigentliches Pathos. Jede tragiihe Perfon muß für ihr
Pathos ein Necht haben, ein einfeitiges, aber ein Necht. So hat
auch Fauſt's Unglaube fein Recht, das Unrecht liegt bloß darin,
daß er, die Vermittelung des Denfens eben fo wie die Vorftel-
lungen kindlicher religiöfer Phantafle verachtenn, den im Zweifel
zerftörten Inhalt des Glaubens nicht im Flaren Gedanken fi
herſtellt. Kauft hat geglaubt, als Kind. Der Zmeifel hat ihm
den Glauben zerftört, und er glaubt nicht mehr. Das Mittel
“gegen den Unglauben fol nun fein — der Glaube! Hat das Ver⸗
fland? Ein Menfch, dem der unbefangene Glaube durch Die
Zweifel ver Reflexion verloren gegangen ift, kann offenbar nur
dadurch geheilt werden, daß er nicht auf halbem Wege des Den
tens ftehen bleibt, ſondern vom ſkeptiſchen Denfen zum fpecula=
tiven fortjehreitet, nur hHomdopathiih. Das, was durd den
75
Zweifel zerftört worden iſt, kann offenbar nicht wieder den Zwei⸗
fel zerſtören. Hätte der Glaube die Kraft, dem Zweifel zu wider⸗
ſtehen, ſo wäre er vorneherein nicht durch ihn zerſtört worden.
Daß aber Fauſt vom Glauben zum Zweifel, nicht aber vom
Zweifel auch zum Wiſſen fortſchreitet, verlangte der Plan der
Tragödie und das Intereſſe der Voeſie.
Nur noch ein Pröbchen von Herrn Schubarth's philoſophi⸗
ſchem Tiefſtnn. Fauſt's Ueberſetzung der Anfangsworte des
Johanneiſchen Evangeliums durch: im Anfang war die That,
erklaͤrt er deswegen für unrichtig, weil „im Anfang nicht die That
war, jondern dad Wort, die Meldung, der Anlaß, die Botſchaft,
die Aufforderung. Sie follen wir ergreifen und zur That herrlich
geftalten!« Brav declamirt! Sie beziehen alfo die Johanneiſche
Stelle, die vom Anfang aller Dinge redet, auf die Zeitlegeben-
heit der erſten Verkündigung des Chriſtenthums, und dieſes faſſen
Sie als eine moraliſche Lehre, der mir durch unſer Handeln
nachkommen ſollen. Und dieſer abgetretene platte Philiſter⸗Ver⸗
ſtand wagt ſich an die Erklärung des tiefſten deutſchen Gedichtes!
Manche gute Bemerkungen, die das Buch im Einzelnen ent⸗
hält, will ich nicht verkennen. Da jedoch der Verf. ſonſt eher zu
wenig, als zu viel Ernſt in der Tragödie findet, ſo iſt mir auf⸗
gefallen, wie er die Trinker in Auerbach's Keller ſo pedantiſch
ernft nimmt, daß er fie als „Freche, Rückſichtsloſe“ bezeichnet,
die „jedes böchfte Anfehen, Kanzler, Kaijer, Pabſt (ſchrecklich!)
verhöhnen.“ Das allegorifirende Deuteln hat er auch nicht immer
laſſen können, 3. B. wenn er den Ausruf der Meerkagen: „nun
ift es gefcheh'n, wir reden und feh'n, wir hören und reimen!«
auf die Preßfreiheit deutet.
ir
76
Die Meerkatzen erinnern mich noch einmal an meine obige
Vergleichung, bei welcher mir namentlich auch der Styl des Verf.
vorſchwebte, welchen ich in feiner füßen Wohlweisheit, altgoethiſch
felöftgefälligen Behäbigfeit gar nicht anders als affenhaft nennen
fann. Nicht Leicht hat Einer fo fehr Goethes Linke Achfel ange»
nommen, und ericheint fie bei Einem fo widerlich, wie bier, mo
ganz bie gefunbe rechte fehlt. „Das böſe Princiy ift für den gött-
lichen Zweck förderſamſt dienſtbar.“ — „Wir werben in einen
weit ausſichtsvollen landſchaftlichen Zuftand enilafien.« Gott ift
gegenüber der negativen Natur des Böfen ein „urſprünglichſt
Bejahendes.« Das Univerſum tft „überreich, die Rüden eines
ganzen Dafeins fofort zu ſuppliren.“ — Iſt der Menfch nicht
unerträglich ?
Noch ein Wörtchen Herr Doctor! Der alte Goethe, verfelbe,
ber ben zweiten Theil des Fauſt geichrieben, hat Ihnen ein Bes
lobungsſchreiben über Ihr Buch geſchickt und zu Eckermann gefagt,
es ſei doch Alles prägnant, was Sie fagen. Den Brief ziehen
Ste doch ja auf Pappendeckel und Iaffen ihn unter Glas und
Nahmen fafien, oder bewahren Cie ihn im Spiritud auf. So
Yang Sie ihn beſitzen, iſt Ihr Buch gut. Und die Neußerung
gegen Edermann ift ja gedruckt, da ſteht es ja gedruckt, wie treff-
lich Sie gefchrieben haben. Sie find hieb⸗ und ſtichfeſt, Feine
Kritik kann Sie beleidigen. Mögen wir Frechen fagen, was wir
wollen, Sie ftehen bin, zupfen die Manſchetten und Chemifette
zurecht, führen bie Hand zur Taſche und fagen: „Habe ih doch
meinen Brief. #
77
Das nachgelaffene Werk von Johannes Kalk: Goethe
aus näherem perfönlichen Umgange dargeftellt. Ent⸗
häft einen Anhang über Goethes Fauſt. Leipzig,
. 4832.
Einem fo würdigen Manne, wie Falk, kann man um bei -
vielen Dankenswerthen willen, was das Büchlein fonft enthäft,
die Schwaͤche dieſes Anhanges wohl zu gute halten; aber die
Kritik muß doch immer darauf arbeiten, daß ſo wenig Schlechtes
als möglich gedruckt werde.
Der Verf. will keine erſchöpfende Abhandlung ſchreiben, ſon⸗
dern nur diejenigen Stellen des Gedichts näher bezeichnen, in
denen „die Hauptmaxime von Goethes eigenem gefanımtem Thun
und Wirfen“ niedergelegt iſt, und „fonft gelegentliche Erörterun⸗
gen über Eind und das Andere beibringen.“ Jene fucht er in
Goethes Anfiht von der Natur und ihrem Verhältniß zu Gott,
welche er ald wahre Myſtik im Gegenfage gegen die Myſtik des
Aberglaubens bezeichnet. Jene Myſtik fol darin beftehen, daß
Goethe die Natur und ihren Lirheber nicht nebeneinanderftellt,
fondern in feliger Durchdringung als Eins im Weſen anfchaut,
woraus unmittelbar die Betrachtung der Natur ald eined Orga⸗
nismus, als einer großen Metamorphofe hervorgeht, worin der
Geift von Stufe zu Stufe fih adäquatere Geftalt giebt, fo daß
die einzelnen Gattungen ver Naturfvfteme nur ald Verlarvungen
dieſes Naturgeiftes erfcheinen. So meit fünnen wir mit dem Verf.
einverftanden fein; wenn er aber als mefentliches weitere! Merk
mal biefer Myſtik herbeibringt, daß Goethe ein Letztes, Uner-
Flärliches in allen Dingen angenommen babe, und diefe „Demuth.
78
einer „hochmuͤthigen Forſchung“ entgegenfegt, bie fich zulekt fo
weit verirre, daß fie nur zwifchen einem naturlofen Gott und einer
gottlofen Natur die Wahl habe, fo müfjen wir ihm ernftlich ent=
gegentreten. Die üchte Myſtik (wir Eönnen die fpeculative Welt-
‚ anficht immerhin fo nennen, wenn man das Wort nicht genau
nimmt; eigentlich aber hat es den Nebenhegriff eines Verſuchs,
anf dem Wege traumartig dunkler Gefühle und Viſionen in jene
hoͤchſte Einheit einzubringen) — die ächte Myſtik geht von dem
Princip der Cinheit des göttlichen Geiſtes und des in der Natur
und im Menſchen wirklichen Geiftes aus, die der Verftand for:
maliftifh trennt. Daraus fließt aber fogleih eine vollkommene
Erfennbarkeit der Natur und aller Dinge, denn Gleiched wird
von Gleichem erfannt. Auch mwiffen wir ja von Goethe, daß er
die falihe Entgegenjeßung des Innern und Aeußern, die des
Verf. Meinung zu Grunde liegt, heftig vermünfchte, und aus»
ſprach, man -folle nur nichts hinter ven Phänomenen fuchen, fie
felöft feien die Lehre. Die wahre Forſchung, die ſich von diefer
Kategorie nicht täufchen läßt, ift es vielmehr, die keinen natur-
Iojen Gott und Feine gottlofe Natur duldet; und die falihe De-
muth, die vor einem unerfennbaren Letzten ftehen bleibt, ift es,
welche in der von dem Verf. fo eifrig angeklagten Trennung zwi⸗
ſchen Gott und Welt feſthängt.
In Goethes Poeſie nun leuchtet allerdings überall der Geiſt
ſeiner Naturforſchung durch, aber darum iſt Goethe als Dichter,
wenn man dieſe kennt, noch keineswegs verſtanden, und der Verf.
ſelbſt bringt, da er endlich jene doch auch in ihrem eigenen Weſen
bezeichnen will, neue, anderweitige Begriffe herbei, doch nicht
mit fonderlidem Glück. „Eine brennende Sinnlichfeit und eine
79
tiefe, bier und ba | fogar an Trockenheit grenzende Metaphyſik,
die größte Ruhe einer wiſſenſchaftlich philoſophiſchen Betrachtung,
verbunden mit dem lebhaften Ungeſtüm eines jugendlichen Dichter⸗
feuers, ſo völlig unvereinbare und hier dennoch glücklich in einem
und demſelben Individuum zur Anſchauung gebrachte Vorzüge,
ſind eins von den Pfunden, die dem Genius, der ſie beſaß, einen
der erſten Plätze u. ſ. w.“ So iſt es überhaupt kein glücklicher
Gevanke, die Tragödie Fauſt gerade aus dem Standpunkte
Goethe'ſcher Naturphiloſophie zu betrachten, und wir werden
ſehen, daß der Verfaſſer, um ihn durchzuführen, manches ſehr
Unabfichtliche und nicht hieher Gehörige in der Tragödie dahin
deutet. Schelling faßte den Fauſt von dieſer Seite in der bekann⸗
ten Stelle der Vorleſungen über Meth. der akadem. Studien, er
behauptete aber nicht, hiermit das Drama als Ganzes charak⸗
teriſirt zu haben. Fauſt's Drange nach unmittelbarer Anſchauung
des Innerften der Natur, nach geiſtiger Vermählung mit demſel⸗
ben, liegt allerdings die Myſtik zu Grunde, von welcher der
Verf. oben ſpricht; aber dadurch fogleich widerfpricht ſich Fauft
und fällt in die unächte Myftif, daß er meint, das Experi⸗
ment, die Vermittlung der Wiffenfchaft überhaupt könne nicht
zum Innern der Natur führen und mit den unwahren Mitteln des
ODoͤgmatismus und Formalismus alle Mittel verwirft. Denn da
liegt ja eben die falfche Entgegenfegung des Innern und Yeußern
zu Grunde, die die wahre Myſtik nicht Fennt, und ganz falſch
citirt der Verf. (S. 217) die Worte: Natur läßt felbft bei lich⸗
tem Tag ſich ihres Schleierd nicht berauben u. |. w. für feine
Anficht, da vielmehr der ungedulbige Fauſt, wenn er nur Hebel,
Schrauben, Glaͤſer u. vergl. mit denkendem Geifte recht anwenden
80
würbe, ben Schleier der Natur allerdings Lüften könnte, ber ſich
freifich nicht zerreißen läßt. Wenn er aber troß biefem Hängen in
falfehen Kategorien fich nicht demüthig mit dem Glauben begnügt,
fo ift e8 darum, weil er, ohne es zu wiflen, doch über dieſelben
hinaus ift, und der Dichter will diefe Ungenügſamkeit, die nicht
im Kinderglauben ſich zufriedenftelt, fo wenig als Schuld dar⸗
ſtellen, als er ſich felbft darüber tabelte.
Gilt es eine Würdigung des Gehaltd der Tragödie überhaupt,
fo ift nicht von diefem Punkte auszugehen, fondern von der Frage
nach dem DVerhältniffe des Böfen zu Gott, womit die andere zu⸗
ſammenfällt, ob der Menſchengeiſt, verſtrickt wie er iſt mit dem
Böſen, lettlih ihm unterliege, oder vielmehr durch dafielbe als
ein heiljumes negatived Erziehungsmittel ſich zur Freiheit hin⸗
durchringe. Hierauf war zunächft bei der Erklärung des Prologs
einzugeben, der Verfaſſer eilt aber mit der flüchtigen, populären
Bemerkung über das ſchwierige Thema weg, daß „in Gott die
Macht ſei, felbft das, was Böſes im Weltall wirft, feinen höheren
Zwecken unterzuordnen und jo Böſes, was Befchränfung verübt, in
Herrliche, Großes und Gutes zu verwandeln.” Mepbiftopheles ift
ebenfall3 nicht in feiner Tiefe erfaßt; einmal wird ganz ungenau
von ihm ein Streben nad finnlihem Genuffe ausgefagt (S. 231),
und wenn der Verf. erklären will, in melden Sinne er ein ver⸗
neinender Geift fei, fo nimmt er den Ausbrud, ftatt metaphyfiſch,
nur piochologif fo: Mephiftopheles könne felbft nichts Göttliches
bervorbringen, fondern nur an dem bereits DVorhandenen eine
unvollfommene Seite ausſpähen. Unrichtig premirt er die Worte
des Herren: So lang er auf der Erde lebt u. f. w.; „ienfeitsw,
fagt er, „waltet eine andere Orbnung der Dinge.“ Diefe neue
81
Ordnung kann ja nicht darin beftehen, daß der Menſch jenſeits
nicht mehr ftrebt, denn dad Gute kann niemals etwas Nuhendes,
ein Ding, fein. Ich werde bei anderer Gelegenheit auf biefe
Stelle weirläufiger zu fprechen kommen. g
Fauft nun bietet dem Böfen durch die Ungeduld, womit er
die Mittel des Erkennens überfpringend die Pforte der Wahrheit
aufreigen will, einen Angriffspunkt: dieſe, aber nicht die Unend⸗
lichkeit feined Wiſſensdranges, wie der Verf. gemäß feinen fchon
angeführten Benterfungen meint, ift feine Schuld. Noch verfehlter
und felbjt der eigenen Anfichten des Verf. unwürdig ift e8, wenn
Fauſt S. 252 die Weifung erhält, er folle, ftatt in die Außere,
in feine eigene fittlihe Natur einfehren, vie rechte Magie beftehe
darin, daß der Menfch reines Herzens ſei. Bon da war nur nod)
ein Fleiner Schritt zu der Eleinmeifterifhen Bemerkung ©. 262,
wo der Schufter und Schneider in feiner glücklich beichränften
Ehrlichkeit über Sauft gejegt wird. Nach diefem Grundfage müßte
Nlerander der Große fein Heer entlaffen und in einer fleinen
Stadt fih ehrlich nahren, Napoleon als folider Lieutenant feine
Pflicht thun. Edel handeln ift göttlich, aber die Wahrheit erfor=
fen auch, und noch mehr. Da heißt es denn wieder, Fauſt
follte über die letzten Endurſachen der Dinge, die der Verf. mit
einem von Goethe aufgenommenen Ausdruck Urphänomene zu
nennen liebt, nicht weiter zu forfchen fich erdreiften, aber das
legte, nicht weiter greifbare Innere der Natur ift doch als folches
Noumen , alfo geiftig, und warum follen wir, auch Geift, es
nicht zu erkennen vermögen? WIN denn Fauſt die Wahrheit mit
Händen greifen, und kann man denn gegen ihn, wie Kalk thut,
die Worte citiren: Wer will was Lebendigs erfennen und be=
Kritifche Gänge II. 6
82
ſchreiben, fuchterft den Geift herauszutreiben, dann hat er hie
Theile in feiner Sand u. f. w.? Weiterhin ift Fauſt's Wiffens-
trieb als ein Schöpfungätrieb bezeichnet, und fofern damit gemeint
wäre, daß Fauft der Natur das ganze Gcheimniß ihres Procefles
ablaufchen will, ift dies richtig, aber es fleht aus, ald wäre Kauft
ein Mann, der Gold, Trauben, Rofen u. f. w. maden will,
während Doch weder er, noch fonft ein vernünftiger Mann die
denkende Erfenntniß darım fchilt, weil fle den Proceß der Natur
nicht fchöpferifeh nachmachen kann. . Die Naturbinge find ja ſchon
gemacht, ift der Naturgeift damit fertig und fuht im Menfchen
fein unbewußtes Schaffen zu erfennen, fo braucht er fie nicht noch
einmal zu machen. Die Stelle (S. 254 ff.) mürde etwa auf
Fauſt's Zaubertreiben im Volksbuche paſſen, aber es ift hier
nicht davon, fondern von Fauſt's Wiffenstriebe die Rede.
Den Contract mit Mephiſtopheles nimmt der Verf. viel zu
grob, da er Fauſt ald einen rou& betrachtet, der nur genießen
will und die Verachtung des Genuffes, die Kauft mit feinem Vor—
ſatze des Genuffes zugleich äußert, als den Ausdruck vollftindiger
innerer Dede darftellt. In Fauſt's Worten: Entbehren ſollſt du
u. f. w. flieht er ganz faljch eine Unzufriedenheit mit feinem Ge—
willen, das ihm im Genuffe Schranfen auferlege ‚ md von dem
Hauptpunkte: Werd’ ich beruhigt je u. f. w. fagt er gar nichts.
Doch der Aufſatz ift ein Fragment und verfolgt die Tragödie nur
bis zum Anfang der Liebesgefchichte mit Gretchen.
Wir müfjen und‘ erft nach weiteren Punkten umfehen, wo
der Verfaffer Goethe's Naturanficht niedergelegt findet. Die Erz—
engel, die er für Teibhaftige Wejen zu Halten feheint, iventificirt
er doch zugleich mit dem Makrokosmus, fie feien es, meint er,
83
mit welchen Fauſt eine Verbindung ſuche, aber zu finden ver
zweifle, weil aus biefem Nebelland Fein Uebergang zu den feligen
Lichtſphären jener reinen Engelönaturen zu finden fei. Daher
wird der Makrokosmus weiterhin als der Sonnengeift bezeichnet,
weil die Engel durd die ftillen Einwirkungen des Lichts jchaffen.
Da Bauft fich ihm nicht gewachien fühle, wolle er fich wenigftens
aus „der Thierwelt“ heraus eine Brücke zum Simmel fchlagen, _
daher banne er den Erdgeift „oder den Mikrokosmus.« So ſcheint
der Verfaſſer den Erdgeift zu nennen, weil er in ihm mit dem
Naturleben unfered Planeten zugleich auch die geiftige Welt, bie
ſich auf demſelben bewegt, repräfentirt findet. „Das gewaltige
und vielgeftaltete Erduniverſum felbft; jener Brennpunkt aller
Erſcheinungen, ver zugleih Meer, Berg, Sturmwind, Erd⸗
‚beben, iger, Löwe, Lamm, Homer, Phidias, Raphael,
Newton, Mozart und Apelles, mit einem Worte, die größte
thierifhe Beſchränkung und doch zugleih, wo nicht das Licht
jelbft, doch die höchfte Annäherung zum Lichte in ſich enthält;«
der Erdgeift hezeichnet fih aber unverkennbar felbft nur als Re⸗
präjentanten des Naturlebens unfered Weltkörpers. Uebrigens
zählt ihn der Verfaſſer unter die Engel, weil die Achſenumdrehung
der Erde auch im Gefang der Erzengel im Prolog genannt ift.
Doch nicht ſowohl hier ift e8, wo der Verfaffer ung die Goethe’fche
Naturanſicht vorzutragen Veranlaffung nimmt, fondern naments
lich die Pudelſcene Hat er ſich hiezu auserfehen. „Goethe fängt, «
fagt er zur Erſcheinung des Pudels, „bier an, eine magiſche,
große Naturanficht, die alle Pflanzen, alle Thiere in Gott flieht,
aufzuftellen.“ Fauſt's Schauer nämlich vor dem Thiere foll daher
rühren, daß Fauſt (oder Goethe) in dem Pudel nicht bloß den
6*
84
Pudel, fondern den Naturgeift überhaupt erblickt, ber alle Natur-
weſen aus fich hervorbringt, alſo in jede einzelne Gattung der⸗
felben implicite auch alle anderen legt. „Fauſt vernichtet in feis
ner Anficht die äußern Umriſſe jener Pudelmonade (den Ausdruck
Monade nimmt er aus einem früher erzählten Geſpräche mit
Goethe) und erblict ſodann in ihm nur den allgemeinen Feuer⸗
geift, der ihm ſchon einmal erſchreckte u. |. m.“ Ebenſo, wenn
Mepbiftopheles aus dem Tiſche Wein fließen läßt, denkt Hr. Falf
ernftlih an jene allgemeine Metamorphoje der Natur, die das
Holz des Tiſches ſowohl als der Rebe bildet; wenn die Seren
auf Befenftielen zum Blocksberg reiten, fo „läßt dieß feine an-
dere Deutung zu, ald die urkundliche, daß dem allgemein erwachen⸗
den Reben der Natur, beſonders dem Alles verjüngenden Früh⸗
linge, es eigen ift, daß jeder Stock und jedes vertrodnete Reifig,
zauberifch von ihm angerührt, in Berbindung mit Morgen- und
Abendroth, feine groben Hüllen ſchmelzen und ein Pfirfich, eine
Roſe oder eine Traube werden kann.“ Ich meines Theils, für
ſolchen Tieffinn nicht gemacht, Habe bisher in dieſen Stellen
nichts als eine Anlehnung an die Abjurditäten des Zauberglaus
bens finden fünnen.
No einige Bemerkungen über Einzelned. Zu der Iohan=
neiſchen Stelle ift die Idee der ewigen Weltſchöpfung durch den
Aoyos richtig beigebracht, nur durch grobfinnliche Austrüde ent-
ftelt, wie: „Gott kann jeine Borftelungen zwingen, daß fie
Dinge werden; ter belebende Hauch, wodurd der ewige Geift
Bögel, Blumen, Thiere, Menſchen, die er zuvor gedadt, nun
- als Erjheinungen ausathmet u. ſ. w.“ — Die Aeuperungen des
Mepbiftopheles über die Logik gegen den Schüler deutet der Ver⸗
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faffer auf bie Theorie überhaupt, nennt biefe die Beichäftigung
mit dem Getrennten, und fagt, das lebensvolle Genie wifle, daß
alles Theoretiſche fein Ziel nothwendig verfehlt, und eben weil e&
trenne, auch nicht im Stande fel, daß geringfte Ganze; fei es
ein Pfirfichkern, eine Exbbeere ober ein Mückenfuß, auf feinem
abgezogenen Wege bervorzubringen. Kann denn das die Praris?
Denkt ver Verfaſſer Hier zugleich an hie Worte: Grau, theurer
Breund, iſt alle Theorie u. ſ. w., die fo, viel mißbraucht werben,
fo hat er vergefien, daß Mephiftopheles Hier ganz als Teufel
ſpricht, und den Schüler von etwes Gutem, ber Theorie abzus
Inden fucht. Mephiftopheles hat zwar immer halb Net und fo
au bier, aber auch um Fein Saar weiter. — Ganz falſch wird
Fauſt's Ausruf in Gretchen's Zimmer: Armſel'ger Fauſt, ih
fenne dich nicht mehr u. f. w., al8 Ausbrug der Scham unb
Meue über feine Verſunkenheit ind Sinnliche gefaßt, ba es ja
vielmehr ein Ausruf der Vermunderung über die leidenſchaftlich
ernfte Theilnahme feines Gemüths an einem Abentheuer ift, wo
er vorher nur geradezu genießen wollte. — Noch ein gut Stüd-
hen allegorifhen Deutelnd. Die Entzauberung der „ Handwerks»
burſche/ (welcher Tuſch! Es find ja Studenten) in Auerbach's
Keller wird al3 feenhafte Darftellung des Kagenjanmierd ausge⸗
legt (©. 304, 305). |
Der Ion des Ganzen fft die behagliche Redſeligkeit eines
Manned von reicher gefelliger Bildung und wohlmeinender Ges
finnung, doch ohne freculativen Beruf; am liebften hört man
den Verfaſſer über Lebensbilder, wie die Spaziergängerfcene vor
dem Thore, ſprechen. Geine Ungewohntheit wiſſenſchaftlicher
Darſtellung kommt öfters naiv zum Vorſchein, wie z. B. wenn
86
er zu ber Stelle: Wer läßt den Sturm „ber“ (muß ja’ heißen:
zu) Leidenſchaften wüthen, das Abendroth im ernten Sinne
glüh’n? bemerft:. „der Dichter vergleicht in diefer Stelle das
Moraliſche mit dem Phyfiſchen, den Sturm, wie er die Blätter
ber Weltgefhichte in Bewegung fegt, mit dem Sturme, welder
die Blätter des Waldes durchrauſcht u. |. w.“ Der Dichter jagt
bier von dem Dichter nicht, Daß er dad Moralifche mit dem
Phyſiſchen nur vergleiche, fondern daß er das Phnfiiche als die,
ihm ähnliche, geiftige Erſcheinung begleitend einführe, fo daß der
Lefer oder Hörer unwillfürlih dad Naturphänomen ald Symbol
des geiftigen oder ald Sympathie der Natur mit dem Menfchen
anſchaut, wie z. B. der Sturm im König Rear. Nachdem er die
nicht allzufchwer verftändlichen Gefänge der Erzengel gar zu jublim
gedeutet hat, bricht er naiv ab: „Diefe Betrachtungen find aller=
dings ſehr hoch und überfteigen faft alle menjchliche Faſſungs⸗
Eraft. « |
Briefe über Goethe's Fauſt. Bon M. Enf.
Wien, 1834.
„Sie erinnern fich wohl noch des Jünglingd, der, als Sie
mich das letzte Mal befuchten, zu mir ind Zimmer trat, um einen
Eleinen Auftrag auszurichten, und bald darauf fich wieder ent=
fernte. Sein intereffantes Geſicht fiel Ihnen auf durch einen
fprechenden Zug von Melancholie, der fi darauf ausdrückte
u. ſ. w.“ — Nun der intereffante Jüngling laborivt an dem
Gefühle des Widerſpruchs zwiſchen Ideal und Wirklichkeit, er hat
87
„die warmen und lebensfriſchen Tinten erfalten ſehen“ u. f. w.
Es giebt aber außer dem Schmerze über diejen Widerſpruch noch
einen andern, den über die Zerftörung des fittlihen Ideals durch
die graujame Welt. Das fittliche Ideal iſt das Ideal des Guten
und Schönen; aber die Wirklichkeit, die Erfahrung zerftört den
Traum der Liebe, der Freundſchaft, des hingebenden Vertrauens.
Wodurch unterjcheidet ſich aber dieſes zweite Ideal von dem erften?
das fittliche Ideal von dem Ideal? Gleich ein Stückchen von der
Logik des Hrn. Berfaflerd. S. 3 ſcheint er-unter dem orſten Ideal
das der Glückſeligkeit verftehen zu wollen. Dann fällt e8 entiweber
mit dem folgenden zuſammen, oder die Glückſeligkeit fließt aus
der Sittlichfeit, dann fällt e8 mit dem zweiten zufammen. Er führt
nämlich nun einen dritten Grund interefianter Melancholie auf,
den Schmerz über die Unzulänglichkeit unferer Intelligenz, das Uns.
endliche zu erfennen. Bon einem ſcharfen Begriffe ift auch hier
wieder nicht die Rede, denn der Verfaſſer confundirt mit diefem
Schmerze den unbeftimmten über die Grenzen unferer Kraft über»
haupt und geht ohne Zuſammenhang auf die Unvolllommenhelt
unfered Strebend nach materiellen Zwecken über, auf die Hinder-
niffe, die dem Bemühen um Macht, Beſitz u. f. w. durch bie
Wechſelfälle des Glückes entgegengeftellt werden.
Alle dieſe verſchiedenen Sorten von Schmerz concentriren fich
in dem über die Unlösbarkeit der Frage nach den letzten Räthſeln
des Lebens. Wo finden wir nun in dieſem Generalſchmerze Troſt?
Im Glauben. Da haben wir's; der erſchütterte Glaube ſoll ſich
durch den Glauben curiren.
Nun — Fauſt leidet am höchſten Grade jenes Zerfallenſeins,
namentlich an den drei legten Sorten von Schmerz. Die Rich⸗
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tung auf Erkenntniß, auf materielle und auf ſittliche Lebenszwecke
vereinigt er in ſich. Das fittliche Streben tritt bei ihm freilich
fehr in den Hintergrund. Defto entſchiedener ift fein Streben nad
Erfenniniß; aber es tft ein reines, fonft wäre e8 undramatijch.
(Undramatiſch wäre ed allerdings als ein bloß philoſophiſches,
aber die poetifhe Belebung, das Pathos muß darum nicht durch
Unterfhiebung heterogener und unmürdiger Triebfedern, wie mir
dieſe bei dem Verfaffer unten finden werben, erft Hinzutreten,
fondern liegt in ber Ungeduld und Leidenſchaft dieſes Strebend
an ji.)
Jet folgt ein Neft von Confufion und Unfinn, das ſchwer
wiederzugeben iſt. Das rein Unfinnige kann man nicht darftellen.
Do muß ich es verfuchen, und Eann dem Leſer dieſe Geduld⸗
probe nicht erlaffen. Diefe Kritiken wollen feinen Spetjezettel
allgemeiner Prädikate — oberflächlich — ſcharfſinnig — tief-
finnig — richtig — falſch u: ſ. w. geben, fondern ihr Urtheil
aus einen Eintreten in den Inhalt ver Werfe, feier auch noch
fo ſchlecht, entftehen laſſen. Es ift eine Art Höllenfahrt des Ver-
ſtandes, um zu predigen den Geiftern im Gefüngniß (1. Petr.
3, 19).
Der Grundgedanke ift: ein wahres und reined Streben nad
abjoluter Erfenntniß kann e8 gar nicht geben; einem DVerfuche,
die Schranken unferer Erkenntniß zu überfiiegen, mangelt alled
Bofitive, er ift bloß verneinender Natur, d. h. e3 kann damit
gar nicht ernftlich gemeint jein, fondern er ruht auf bloß egoiſtiſchen
und finnlihen Triebfedern. Dies erhabene Rejultat findet der
Verfaſſer, indem er zuerft den Umfang der verfhiedenen Rich-
tungen des Erkenntnißtriebes fcharffinnig jo zeichnet: „derſelbe
89
hat drei Richtungen: die Richtung auf das feientiflfche Wiſſen,
inſofern dieſes das Nothmwendige und Nüsliche, wie dad Ange»
nehme im Leben zum Gegenflande hat; auf die Kenntniß der
Natur als Inbegriff aller äußern Erfcheinungen und ihres noth⸗
wenbigen Zufammenhanges, und auf die Erfenntniß der ſittlichen
Natur des Menſchen und den Zufammenhang feines gegenwär-
tigen Dajeind mit einem zufünftigen. Jede diefer drei Nichtungen .
nun kann, wenn fie fi in den gehörigen Schranken hält, gar
wohl zur Befriedigung gelangen. Die Berfühnung mit den unferer
Erfenntniß geſetzten Schranken liegt nämlich bei dem frientififchen
Wiſſen darin, daß dieſes für unfere äußeren Lebenszwecke, für
diejenigen fowohl, welche dad Nothwendige und Nübliche, als
für jene, welche das Angenehme zum Gegenftande haben, und
ebenfo unfere Erfenntniß von der materiellen Natur, wie von
der fittlichen des Menfchen für unfer Bedürfniß in unferem gegen
wärtigen Zuftande fih als genügend ausweift, um und, aud
innerhalb der unferm Geifte gefeßten Marken, eine hinreichende
Befriedigung finden zu laſſen/ (der Sag fteht wörtlich fo da,
man follte den Verfaſſer erft in die Kinderſchule ſchicken, um con⸗
ftruiren zu lernen). „Vermittelt aber wird dieſe Befriedigung
nach jeder der angegebenen Beziehungen im Allgemeinen durch Das
in unferer Natur liegende Wohlgefallen an dem Erreichten als
errungenem, und an dem Erreihbaren als zu hoffendem Bells;
bei unbefangener Erforſchung der materiellen, fo wie der ſittlichen
Natur des Menſchen aber auch noch dadurch, daß dieſe, wie un⸗
vollkommen unſere Einſicht auch bleibe, uns jederzeit dem Glau⸗
ben an eine ſittliche Weltregierung zulenkt, und fo nicht nur dent
Schmerz über unfere Beſchränkung feine Stachel nimmt, fondern
90
und auch mit der erhebenden Hoffnung erfüllt, daß unjere intellee-
tuellen wie unfere fittlihen Kräfte im beftändigen Fortſchritt einer
vollkommneren Entwicfelung entgegenreifen. «
Wo ſoll man anfangen, diefen Knäuel zu entwirren? Davon
will ich gar nichts jagen, -daß die erjte der drei angegebenen Rich⸗
tungen gar nicht in das Gebiet ber reinen Erkenniniß gehört, der
Verfaſſer müßte denn unter dem Angenehmen das Schöne ver⸗
ſtehen; laſſen wir ihm das Vergnügen, bockene Händl, Kolbs⸗
ſchnitzl, Vögerl als einen der Gegenſtände des Erkenntnißtriebes
anzuſehen. Die andern Gebiete nun, das Reich der Natur und
des Geiſtes laſſen ſich, ſo meinen wir andern dummen Leute,
erkennend nur durchdringen, wenn ſie als Offenbarung des Ab⸗
ſoluten begriffen werden, was freilich vorausſetzt, daß beide
Sphären der Wirklichkeit als verſchiedene Stufen dieſer Offen⸗
barung in Einer Idee befaßt werden, deren Darſtellung in der
Form des reinen Gedankens eine dritte oder vielmehr erſte Wiſſen⸗
ſchaft, die Metaphyſik, fordert. Der Verfaſſer aber hält nicht nur
mit jenem platten, formaliſtiſchen Verſtande, der a. b. c. a. P.y.
Ne ne 3 u. ſ. w. zählt, jene beiden Gebiete auseinander, fon-
dern vollends von dieſem reinen Denfen des Abjoluten weiß er
gar nichts. O ja doch, er weiß auch etiwad von der abfoluten
Idee, denn die ethiſche Erkenntniß wird nach ihm „auch noch“
dadurch befriedigt, daß fie ung dem Glauben an eine füttliche
Weltregierung „zulenkt/ und und mit der Hoffnung auf Unfterb>
lichkeit erfüllt. Dies ſoll aber Feine Erfenntnig fein, jondern ein
Glauben, eine Hoffnung bleiben, gehört alio gar nicht in das
Gebiet der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß. Dies ſoll ſich der Ver—
faſſer nur ja nicht nehmen laſſen, denn wollten wir Ernſt daraus
91
machen,’ daß dieſe Beziehung auf ein Unendliches weſentlich zur
wahren fittlichen Erkenntniß gehöre, fo wären wir fo frei, es
mit dem unbeftinnmien Begriffe einer fittlichen Weltregierung
u. |. w. genauer zu nehmen und zu fordern, daß bie. Erfenntniß,
wenn fie eine wahre fein mil, im Neiche ver fittlichen Wirklichkeit
das Abfolute als wirklich gegenwärtig begreife, und das würde
fih der Hr. BVerfaffer verbitten, ‚denn nur als ein Jenfeits für
die Vorftelung Eennt er den abjoluten Inhalt der Idee, und er.
würde fich, gäbe er mehr zu, wiberjprechen, denn fügleich ſtellt
er nun die, durch das Bisherige fo tief begründete, Behauptung
auf, daß jedes Streben der Erfenntnig, das die unendliche Idee
zu begreifen fich erfühne, mvernichtenn der Vernichtung zuftrebe, *
d. h. daß jedes ächt philofophiiche Streben ein Tügnerijches, ſchlechtes
und verwerflihes fei. .
Wer jene elende, Gpikuräifche und unphiloſophiſche Befries
digung verachtet, wer die Welt in ihrer Einheit mit der abfoluten
Idee erkennen will, der fieht nach dem Verfaſſer in der Natur
bloß eine verworrene Mafje, denn er kann „weder die Natur
nach ihrem innern Zujammenhang als ein felbftftändiges Ganze
erfaffen, noch den Bruchftücen feiner Einficht in diefem Zuſam⸗
hang durch die Beziehung auf die Idee einer Gottheit eine fichere
Bedeutung abgewinnen,“ ihn „mangelt eine Alles zur Einheit
verfnüpfende und durch fich felbft abſchließende Idee,“ vie Dagegen
unfer befcheidener Philofoyh vom Wurftiproter in feiner Kinder⸗
vorftelung befitzt. Ebenſo fol dem, der die ſittliche Natur zu
erkennen ftrebt und dabei die oben von Verfaffer geſteckten Gren-
zen überfliegt, die ausgleichende Idee einer fittlichen Weltregierung -
und ebendamit aller Ernft und Gehalt des Strebens abgehen,
92
Ich Binder meinte, eben gerade der, ber auf bie unendliche Er⸗
kenntniß verzichtet, habe dieſe Idee nicht, und der Philoſoph,
ber das Abfolute zu begreifen firebt, habe fie. Aber was willen
wir dummen Leute! Der Verfaſſer ficht tiefer, denn er bat,
indem er voraußjegt, was zu beweiſen war, vornherein (mim
Vorbinein« mit dem Hrn. Berfafler zu ſprechen) unter dem , der
nad abjoluter Erkenntniß ftrebt, bereits einen Irreligiöfen verſtan⸗
ben, dem ed gar nicht Ernft ift, den niedrige Triebfebern treiben,
denn „wie kann das Unerreichbare# (quod erat demonstrandum).
„für den Erfenntnißtrieb Ziel eines pofitiven Strebens fein, wenn -
es fich diefem als ein Linerreichbares mit ſolcher Entſchiedenheit
barftelt, wie das überall bei den außer dem Bereich unferes Er⸗
kennens Tiegenden Objecten der Fall ift?«
Es giebt aljo zwei Welten, eine Welt, tie man mit Händen
greifen kann, und eine Welt, die außerhalb unſeres Bereiches
legt. Zwiſchen Beiden iſt ein Bretterverfchlag, Mauer, Riegel
wand ober fo etwas; mer durch die Mauer will, der hat feinen
wahren Erfenntnißtrieb, es ift nur „ein leidenſchaftliches Unge⸗
ſtümm, fein pofitives Hinausſtreben/ über die Riegehvand. Wer
bier mit dem Kopfe durch will, der ftrebt nicht nach Erfenntnip
„un ihrer jelbft milfen.“ Ich Hatte wieder gemeint, gerade der
firebe nach dieſer, und der Andere, der auf reines Erfennen ver-
zichtet, firche nach Erfenntniß nur um in Ruhe feine Carbonaden
zu verzehren. Nicht jo der Hr. Verfafler: Fauſt, weil er nad
ſchrankenloſer Erfenntnig ftrebt, ift vom puren Egoismus getrie=
ben. In Fauſt's Magie, in der herrlichen Scene mit dem Erd⸗
geifte, in jenen Monologen vol beiligen Schmerzes, im Selbſt⸗
morbverjuche ficht er nur mtitaniichen Hochmuth, unerſättliche
93
Genußgier / und zieht Durch eine unverzeihliche Anticipatton Fauſt's
Aeußoerung bei dem Abſchluß des Contractd mit Mephiftopheles
„Laſſ' in den Tiefen der Sinnlichfeit uns glühende Leidenſchaften
ftillen u. |. w.“ ſchon bier herauf, wobei er freilich nicht merken
will oder nicht merkt, daß gerade In demjelben Zufammenhang
Bauft zugleich jeine Verachtung des Sinnengenufjes ausſpricht.
Fauſt ift nicht ohne Schuld, das liegt freilich Flar am Zuge; er
überfpringt die Mittel des Erkennens und mil fchauen, ohne zu
denken, zu erperimentiren. Dies ift die Ungeduld eines feurigen
Temperaments, das ebendaher allerdings nach Lebensgenuß dür⸗
ſtet, und daran packt ihn nachher Mephiftopheles, aber darum ift
fein Streben nach höchſter Erfenntniß nicht minder rein, heilig
und göttlih. Hat denn diefe Seele Feine Ahnung davon, daß
man entweder nichts oder Alles erfennen fann? |
Kein Gefühl für jene ſchmerzlich tiefe Sehnſucht, die urſprüng⸗
liche Einheit des Ich mit dem AN der Gegenftände in Liebesinbrunft
reiner Betrachtung wiederherzuftellen? Der Denker, der in tiefem
Sinnen Mitternächte bei der einſamen Lampe heranwacht, der ift
feine erhabene Erjcheinung, der thut nur fo, der denkt: Hätt’
ich auf Morgen ein Seidel Tofayer zum Frühſtück, eine hübſche
Dirne bei mir, und einen Orden am Rod?
Auch die ethiihen Tragen nah der fittlihen Beftimmung
des Menſchen, dem Zufammenhang ded gegenwärtigen Lebens
nit dem Fünftigen und dem Daſein einer moralifchen Weltordnung,
haben Fauſt niemals ernftlich beſchäftigt. Ja wohl nicht! weil
er nicht der ſeichte Kopf ift, der von den höchften Problemen fi
durch folche moralifche Gemeinpläge loskauft.
94
Endlich ift Kauft über die Beſchränkung feiner finnlihen
Natur mit ich zerfallen. Hier, wo ed gilt, den Don Juan in
Fauft, der ein AU der Genüffe zu durchwühlen dürſtet, und der
allerdings eine Seite von Fauſt ift, aber nicht, wie der Verfafler
meint, der ganze Kauft, wird e8 Hrn. Enf erft recht heimathlich
zu Muthe, und feine Schilderung eines Genußhelden ift wohl
Immerhin die gelungenfte Parthie in diefem Wiſch. Bauft erfeheint
nun als ein geiftreicher rou6, der eine Linendlichkeit ber Genüſſe
anftrebt, aber „nur noch“ den Drang einer immerwährenden
Aufregung übrig bat. So tief konnte der Berfaffer diefen Charak⸗
ter, ſo tief bie Bedeutung der Worte verkennen: Du hörſt es
ja, von Freud' iſt nicht die Rede .... zerſcheitern. Wenn
Fauſt's Sinnlichkeit durch den Hexentrank verjüngt und aufgereizt
wird, fo meint er, ſie bedürfe ein ſolches Stimulans, weit fie
durch Genüſſe abgeftumpft fei, da doch der Flar und baar vor⸗
liegende Sinn der Tragödie ift, daß fie im Stubirjeffel verſchüch⸗
tert war. Wo fteht denn ein Wort davon, dag Fauſt ſchon vor⸗
ber ein Genußmenjch war?
Sp bat aljo der Verfafler herausgebracht, daß in Fauſt,
deilen Wejen nichts als Hochmuth und Genupgier ift, durchaus
fein poſitives, jondern nur die Nernichtung jedes pofitiven Stres
bens durgeftellt, daß „die Tragödie nur wegen des Umfangs und
der Tiefe ver Darftellung des Zerſtörens und Vernichtens von
allem innerhalb der Grenzen ver Menjchbeit Liegenden ein Riefen-
werk zu nennen if.“
Die reine Verneinung if aber als bloße Abipannung unpoe⸗
riſch. Der Dichter wußte ibr jelbſt wieder einen Schein der Be-
95
jahung zu leihen, Indem er fie als ſelbſtbewußtes Streben, zu
vernichten und zu zerftören, barftellt: jo conſtruirt unfer Philo-
foph den Mephiftopheles. Derſelbe repräjentirt Fauſt's Gemüths⸗
Lage, fo jedoch, daß er, was Kauft ald Menſch nicht kann, das
Bernichten und Verneinen als ſolches, will. Seine Abficht it,
in Bauft jeden lebten Eräftigen Aufſchwung zu erſticken und ihn
ganz and Gemeine zu feileln. Schon gut; mas aber bei dem
Pertrage mit Mephiftopheles Fauſt will, davon hat natürlich der
Verfaſſer Feine Ahnung, keinen Begriff davon, daß Fauſt feine
Freiheit im Schiffbruch erproben und retten will, daß bier der
Geiſt im Bewußtſein feiner Unendlichkeit mitten durch fein Ent»
gegengeſetztes frei hindurchzuſteuern ſich erkühnt. Die Liebe zu
Gretchen iſt mein fruchtloſes Auflodern“ feiner ſchon vorher ganz
verjunfenen Natur. Fauſt faßt diefe Liebe tiefer und reiner, als
Meyhiſtopheles wünſchte, aber die Rückkehr zur Contemplation
in Wald und Höhle ift ein Verſuch, von diefer Leidenfchaft, die
ihn jedenfalld in eine eines fo ftrebenden Geiſtes unwürdige Bes
ſchränkung zu bannen droht, fich zu befreien; Hr. Enk aber rech⸗
net dieſe Scene mit feinem uns ſchon bekannten Scharfſinn zu den
Paroxysmen dieſer Leidenſchaft jelbft (S. 40). |
Daß Fauft dennoch am Schluffe gerettet erfcheinen müſſe,
konnte fih der Verf. ſchon gemäß dem Prolog im Simmel nicht
verbergen, der zu dem Grhaben„dften gehört, was die deutſche
Poeſie beſitzt. Blieb das Gedicht Fragment, fo Eonnte es, giebt -
er zu, bet einer Andeutung dieſer Rettung ſein Bewenden haben;
ward es ausgeführt, ſo war das Wie derſelben darzuſtellen. Frei⸗
lich iſt er nun aber in beiden Fällen in großer Verlegenheit um
den Dichter; denn da er (Hr. M. Enk nämlich) aus Fauſt einen
96
volftändigen Lumpen gemacht hat, fo flieht man nit, was denn
da zu retten ſei und wie; das Reſtchen guten Willens, das biefer
Fauft wie jeder Tropf noch aufzuweiſen hat, reicht natürlich nicht
“aus, an ihm gerade ein jo bejonberes Exempel der Großmuth
zu flatuiren. So weit geht num unfer heiterer Kopf in feiner hor⸗
renden Naivität, daß er den Widerſpruch, in melchen er felbft
durch feine werfehrte Deutung mit der fonnenklaren Intention des
Gedichts gerathen ift, flatt ihn nun einzufehen und fi) auf die
Rechnung zu fchreiben, dem Dichter auflädt. Zu den Worten:
Ein guter Menſch in feinen dunkeln Drange ift ſich des rechten
Weges wohl bewußt, jagt er: „Das ift nicht der Kauft des Dich»
terö! Geftehen Sie” (er eorrefpondirt mit einem Freunde, gegen
den er, wenn er ihın nicht Alles zugiebt, gelegentlich jehr grob
ft, wie S. 45), „bier ift ein Widerſpruch, der fich nicht wohl
löſen läßt.“ Ja wohl ift einer da!
In diefer Verlegenheit läßt nun der Schelm und Unglüdliche
fteben umd gebt nun fo mir nichts bir nicht3 zum zweiten Theil
- über. Doch nein, er fpricht jogleich von dem fünften Acte deſſel⸗
ben, weift die Anknüpfung an den Prolog im Himmel nach, wirft
abet Goethe vor, daß bis zu dieſem die Darftellung von Fauſt's
Gemüthölage gar nicht fortfchreite, — was wir zugeben, — und
daß Fauſt nach allen Vorhergehenden nicht gerettet werden Eünne,
vielmehr Mephiftopheles feine Aufgabe volftändig gelöft habe, —
„was Niemand, der bei Sinnen ift, zugeben wird. Fauſt erjcheint
ja zulegt bemüht um die Grreihung edler praftifcher Zwecke, er
zeigt fich alfo ald ein Strebender (der Verf. überfieht ganz die
wejentlihen Worte: Wer immer ftrebend ſich bemüht, den können
wir erlöfen),, und kann gerettet werben. Daß Fauſt bis dahin
97
gar nicht Handelt und weder gut noch böfe, fondern eine Allegorie
iſt, das ift wieder ein anderer Punkt, und wir geben dem Verf.
jeden Vorwurf herzlich gern zu, den er fonft gegen biefen zweiten
Theil erheben mag, ja wir loben ihn aufrichtig, daß er unter
den Wenigen ift, die hier ein tadelndes Urtheil wagen. Hier hat
ihm fein Sinn für dad Feſte und Greifbare weſentlichen Vorſchub
geleiftet, er bringt ©. 67 bis 69 ganz brave Eritifche Bemerkun⸗
gen vor. |
„Ob ich diefe Briefe veröffentlichen werde? Vielleicht. Ich
geftehe Ihnen, daß ich mich ſtark verfucht fühle“, jo beginnt der
legte Brief, worin der Verf., da er ja Über die Tragödie fo er-
ſchöpfend gefprochen hat, fih noch zu allerhand gebiegenen Bes
merkungen über die neuere Litteratur Zeit nimmt.
Goethes Fauft, Andeutungen über Sinn und Zuſam⸗
menhang des erften und zweiten Theils ber Tragödie,
von Dr. 5. Deycks. Koblenz, 1834.
Des Verf. Hauptabficht iſt, den poetifhen Werth des zweiten _
Theils und feinen innern Zuſammenhang mit dem erften gegen
feine Tadler, namentlich Enk, zu behaupten, zu beweiſen, daß
„beide Theile der Tragödie ald wahres Kunftwerf fih abrun=
den.“ Manches Einzelne freilich nicht nur im zweiten, ſondern
auch im erſten Theile, meint er, fei fo väthielhaft, daß man
ein Debipus fein müßte, um darüber gang in’8 Klare zu fommen.
Das ftört ihn aber nicht im Geringſten in feinem ägyptifchen
Götzendienſt. ©. 27 fagt er: „daß Goethe den Gedanken nicht
Kritiſche Gänge 11. 7.
98
ausgeführt, in einem Gommentar bie Bedeutung biefer Anfpie-
Jungen (in Oberon's und Xitania’8 goloner Hochzeit u. f. w.) zu
enträthfein , tft in nem Grabe täglich mehr zu beflagen,, als wir
und von jenen Seiten und deren Getriebe mehr entfernen. Wer
verſtünde ohne den Scholiaften nur Eine Scene im Ariftophanes?«
Daher macht er auch dem Gedichte einen Vorwurf, wenn er ſich
oft unfählg befennen muß, feine Räthſel zu deuten (z. B. S. 34).
Ih habe hierüber nach den Bemerkungen meiner Einleitung nichts
zu jagen. Goethe darf ſich freilich felbft über die Zumuthung nicht
beklagen, daß er wie der ehrliche Melchior Pfinzing feinen allego-
riſchen Hauptleuten Fürwittig, Unfalo, Neivelhardt, die Erklärung
hätte anhängen follen: „iſt ein Poeterey und bedeut't u. f. mw.“
Der Verf. giebt zuerft eine flüchtige Skizze vom Inhalte des
erften Theild und hebt in feinen Bemerkungen zum Contracte den
Punft richtig hervor, worin allerding3 die innere Einheit des
erften und zweiten Theils zu fuchen ift: Fauſt kann nicht unter»
geben, weil auch im Taumel der Sinnlichkeit fein hohes Streben
nicht erſtirbt. Dann follte er aber auch den Ausdruck vermeiden,
dag ver Bund mit Mephiftopheles ein feierliher Abfall von
Gott fei; dies ift er nach der Sage, nicht nach der Tragödie.
Einzelnes faßt er unrichtig ; fo glaubt er in Fauſt namentlich eine
dichteriſche Natur zu erfennen, wovon doch Fein Wort im Ge-
dichte fteht, man nehme denn den Ausdruck fo weit, daß er über-
haupt das Poetiſche in jeder Art von Oenialität bezeichnen fol.
Nachher ſcheint es, dieje Bemerkung beziehe fich auf die Vermäh⸗
lung Fauſt's mit Helena. Fauſt bedeutet aber in dieſer nicht bie
romantiſche Poefle, fondern das romantijche Princip überhaupt.
Gar nicht verftanden habe ich, wenn es Seite 22 von Fauft heißt,
99
in feinem Streben nach fortgefeter, Alles umfaſſender Thaͤtigken
bemerfe derſelbe weniger die furchtbare Großartigfeit ver Natur-
fräfte, der Drang nah Wahrheit mildere fich durch bie Luft am
Truge. Irriger Weije meint ver Verf., Fauſt's Untreue gegen
Gretchen jei ein Werf des Mephiftopheles ; Mephiſtopheles lockt
ihn ja von feinen Gontemplationen in Wald und Höhle zu Gret-
chen zurüd, weil dieſe Liebe, obwohl nicht blos finnlich, als eine
Beſchränkung in ein eng befrievigted Leben ganz in feinem In⸗
tereſſe tft. Allerdings wünſcht er, dadurch, daß er Kauft noch länger
an Grethen feſſelt, die Schmerzen ber fpäter doch nothwendigen
Trennung, dad Elend Gretchen's und Fauſt's Schul um fo
mehr zu fteigern. Iene Scene in Wald und Höhle mußte freilich
dem DBerf. unverftanden bleiben, da er den Ausruf: Erhabner
Geift, du gabft mir, gabft mir Alles u. f. w. als ven Ausdruck
glücklicher Liebe anfteht.
Im zweiten Theile fol nun Bauft durch größere und beveu-
tendere Verhältniſſe fich durcharbeiten. Cine Reihe großer Welt-
erfcheinungen, Hof und Staat, Krieg und Schlacht u. f. w.
gehen an unjerem Blicke vorüber. Noch ehe der Verf. unterfucht
hat, ob ed dem Dichter geglückt ift, diefe Intention durchzuführen,
bricht er in ein Lob diefes zweiten Theild aus: „Nicht nur glei
fteht der zweite Theil dem erften an Geift und Gehalt, er über-
trifft ihn fogar an Ideenfülle/ u. |. w. Ich mag diefe Apoftro-
phe nicht meiter abfchreiben. Ideenfülle? Ja, der zweite Theil
hat mehr Ideen, aber es kommt darauf an, ob ed Ideen find,
die, in fich ſchon beftimmt und concret, unmittelbar die äfthetifche
Darftellbarkeit mit fi$ führen, oder Ideen, tie, in abjtracter
Allgemeinheit belafen, nur ven fabenfcheinigen Rock der Allegorie
7 »
100,
vertragen. Wie klar aber der Verf. über diefe und ihren Unter-
fchied von der wahrhaft poetifchen Geftalt denft, beweift er ©. 65,
wo er: zugtebt, daß die Gebilde der claſſiſchen Walpurgisnacht
Allegorieen feien, und dieſe befinirt als „Begriffe in finnlicher
Form.“ Die Kleinigkeit, welches DVerhältniß zwijchen Begriff
und finnliher Form in der Allegorie ftattfinde, welches in ber
Achten Poefte, befümmert ihn nicht. Er unterläßt aber nicht, und
eine weitere Probe feiner äfthetifchen und logiſchen Bildung zu
geben. Alle Poeſie, führt er fort, ift auf ihrem Gipfel Sinnbild
der Natur. Sinnbild — was heißt das? Iſt der Sinn mit den
Bilde nur durch ein tertium comparationis verbunden, oder ihm
einverleibt und iventifh mit Ihn? Darauf kommt es ja erft an.
Was der Verf. fo eben Begriff genannt hatte, nennt er jegt
Natur. Was fol das heißen? Die Natur (die finnliche Form)
ift ja vielmehr in der Poeſie Bild des geiftigen Inhalt? (mag
derſelbe meinetwegen Begriff genannt werden). So naiv ift der
Berf., daß er Solger’3 Definition für ſich anführt: vie poeti=
ſche Darftellung fei die Ironie der Natur. Dieſe befagt ja eben
das Umgekehrte, nämlich: in der poetifchen Darftellung fei ein
Natürliches geſetzt, aber ironiſch gemeint, d. h. nicht als Solches,
ſondern es bedeute etwas Anderes, als Natur, nämlich etwas
Geiſtiges. Allegorieen, fährt er fort, entdecken wir beſonders
in Goethes ſpätern Werken, während die früheren faſt alle durch
ein ungelöſtes Räthſel reizen. Da wären ja bie früheren allego⸗
riſch, denn die Allegorie ift es, die ungelöfte Räthſel zurückläßt.
Menn er übrigens weiter von der Allegorie überhaupt die wirf-
liche Allegorie fo unterfcheivet, daß er unter diefer die Verbin-
dung mehrerer bedeutender Geftalten zu einer Handlung verftan-
101
ten wijjen will, bie jelbit wieder einen tieferen Inhalt ſpiegle,
fo ift etwas Wahres daran. Ich kann zwar mit der auch fonft
aufgenommenen Unterfcheldung zwifchen Symbol und Allegorie,
daß die leßtere mehrere Symbole zu dem Succeifiven einer Hand
lung vereinige, nicht fchlechtiveg übereinftimmen. Allgemein pflegt
man auch ein ruhendes einzelnes finnlihes Ding, das nicht fich
felbft, fondern durch ein mwillfürliches tertium einen anderweitigen
Begriff bedeutet, Allegorie zu nennen. Im Symbole findet dafs
felbe Außerliche und bloß vergleichende Verhältniß zwiſchen Idee
und Bild ftatt, wie in der AUllegorie, und man kann deöwegen
fireng genommen bie achte Poefle, welche Bild und Idee zur
reinen Identität verſchmelzt, weber ſymboliſch, noch allegorifch
nennen. Der Unterfchied zwifchen beiden ift nur der, daß das
Symbol, ein gemeinfames Erzeugniß der religiöfen Phantafte
einer Maſſe, die Idee mit dem Bilde in bemußtlofem Glauben
zu ibentificiren gewohnt ift (obwohl dieſes jene bloß anbeutet),
die Allegorie aber die Erfindung der fünftlichen und ſich vollfom-
men bewußten Neflerion eines Einzelnen ift. Daher, obwohl
weder das Symbol noch die Alfegorie wahrhaft poetifch ift, kann
doch das erftere durch feine Entftehung im Elemente der Naivität
weit eher einen poetifchen Eindruck hervorbringen. Der Einzelne
nun, der eine Allegorie erfindet, wird im Gefühle, daß ein
Begriff durch ein todtes Ding nur unvollftändig angedeutet wird,
gern eine Reihe von einzelnen Allegorieen zur Succeffion einer
Handlung verbinden, um den’ Begriff erfchöpfender zu verfinn-
bildlichen, inden je der folgende Zug den vorhergehenden und fo
alle einander ergänzen und erklären. |
Uebrigens muß ich bier zu den Vorwürfen gegen ben zweiten
102
Theil, die ih in der Einleitung ausſprach, noch den weiteren:
fügen, daß Goethe, nicht zufrieden, Allegorie auf Allegorie ge⸗
häuft zu haben, die immerhin noch eine Idee von allgemein menſch⸗
lichem Intereffe in fich verbergen mögen, Gegenftände nackter
Gelehrſamkeit, wie die Frage über die ſamothrakiſchen Götter und
ben Streit des Neptunismus und Bulcanismus, in fein Gedicht
hereingezogen und unter einem Krame antiquariihen Apparats
verftect hat. Der Gelehrſamkeit, die der Verf. zur Erklärung
ber claſſiſchen Walpurgisnacht aufbietet, mag ihre Ehre bleiben,
aber daß er Fein Gefühl dafür hat, wie troftlos ed mit einem
Gedichte auöfteht, das für die Mitwelt oder nächfle Nachwelt der
eigenen Nation und für die Maſſe nicht bloß, fondern auch für bie
Gebildetſten einen ſolchen Kram erfordert: dadurch legt er einen
vollen Beweis ab, daß er gar nicht weiß, was Poeſie ift.
In der That, wenn es fo fortgeht, wie es bei folchen Aufyt-
cien das Anfehen hat, wird fie bald wieder in der alten Pracht
auffteigen, die Zeit Bernint’3 , die Zeit Le Notred, die Zeit ber
Zöpfe, die Zeit gepuderter Berrücden, drauf Pfalzgrafen Lorbeern
drücken!
Wie die andern Erklärer, ſo lobt auch Deycks die Schönheit
des dritten Acts, der antiken Verſe namentlich, die mir jedoch
ſo verkünſtelt und undeutſch erſcheinen, als Solger's holperichte
Ueberſetzungen, und in den Sprachformen ganz demſelben ver⸗
wünſchten Style huldigen, den ich in der Einleitung ſchilderte.
Goethe that ſich auf die Allegorie des dritten Actes etwas Beſon⸗
deres zu gute und hatte dieſe Conception allerdings noch in kräf⸗
tigeren Jahren gefaßt: allein es iſt und bleibt ein Mißgriff, und
wir haben ja mehr Beijpiele, daß große Naturen ihr Beſtes ſorg⸗
103
108 und anſpruchlos auöftreuen und auf ihr Verfehltes eitel find.
Die Helena der Volksſage vom Zauberer Fauſt zu einer Alle
gorie der Verbindung des romantiſchen und claſſiſchen Princips
zu benußen, Jag fehr nahe, auf für einen ganz gewöhnlichen
Koyf. Was aber die Helena in der Volköfage will, hat Goethe
ſchon in Gretchen gegeben. Man fage nun immerhin, Selena
trete bier Eeineswegs als bloße Allegorie auf, fie erſcheine wirk⸗
ih und lebendig aus dem Hades wieder. Das ginge noch ; aber
nachher bedeutet fie in Allem, was mit ihr gefchieht, bie claſſiſche
Bildung überhaupt, es gehen Dinge mit ihr vor, denen man
es alsbald an der Stim anſieht, daß es fich bier nicht um diefe
Perſon, fondern um einen Begriff handle, und fie wird alfo zur.
reinen Allegorie verflüchtigt. \
Ob der Verf. in der Deutung einzelner Stellen dieſes zweiten
Theils glücklich oder unglüdlich geweien, geht und nichts an.
Zum fünften Acte weift er richtig nach, wie Fauſt durch groß-
artige Thätigkeit ſich der Erlöfung würdig macht und fo ber
Schluß zum Prolog und zur Contract⸗Abſchließung zurückkehrt.
Zwar legt er zu viel Werth darauf, daß Kauft am Ende feiner
Tage den Zauber verwünfeht, inden er glaubt, ſchon durch dieſe
Aeußerung des Fauſt habe Mephiſtopheles die Wette verloren,
aber deſto gewiſſer hat er Recht, wenn er die edle Thätigkeit
Fauſt's und ſeinen Willen, daß das Gute und Rechte beſtehe und
daure, als hinlänglichen Grund ſeiner Rettung bezeichnet. Daß
dieſer rationellen Löſung der Aufgabe der chriftlich = Fatholifche
Schluß widerfpricht, bemerft er nicht. Ganz richtig fühlt er zwar,
daß ein Schluß im Firchlichen Sinne bei Fauft auch Neue und
Buße voraußfegt, er fügt hinzu, daß nad dem wahren Ehriften-
104
thum der Äußerliche Act ver Fürbitte Kauft nicht vetten Eönne,
allein er zieht den Schluß nicht, daß Goethe, da er das wahre
Chriſtenthum durch die Tendenz des ganzen Gedichts und befon-
ders den letzten Auftritt in eine vernünftige Thätigfeit ſetzt, über⸗
haupt die theologifch pofitive Schlußwendung, deren Confequenzen
einmal mit diefem rationellen Chriftenthum fich nicht vertragen,
hätte vermeiden und eben bereitö in Fauſt's redliches Kämpfen die
Befeligung fegen müflen. Geht's ihm drüben gut, ſo muß er ja
auch dort kämpfen, denn wo tft Gutes ohne Kanıyf? Ganz
glücklich führt der Verf. für diefe Idee den Vers aus dem weft-
öftlihen Divan an:
Nicht fo vieled Federlefen !
Laßt mid Immer nur herein!
Denn ich bin ein Menfch gewelen,
Und dad Heißt ein Kämpfer fein!
Der Prolog im Himmel eröffnet allerdings fogleich dad Ges
dicht in der Weiſe der religiöfen Vorflellung, in welcher auch ber
ganze Mephiſtopheles wurzelt, allein jener Prolog ift fo geiftig
und frei von allem pofitiven Schnörkelwerke, Mephiftopheles
ebenfall3 in feiner Art jo ideell, daß man am Schluffe nichts
weniger ald in eine gothijche Capelle einzutreten und Weihrauch
zu riechen gejtimmt ift. Das poſitiv kirchliche Chriſtenthum wirft
als ein Jenjeitiged und Künftiged in Raum und Zeit hinaus,
was nach dem rationellen mit dem Dieſſeits zufammenfällt ; ein
Gedicht, das ſchon durch die herrliche Stelle des Contractd: Das
Drüben kann mid wenig kümmern u. f. mw. ſich ganz auf ven
Standpunkt der Dieffeitigkeit erhoben bat, darf am Schluffe nicht
auf den ber Senfeifigkeit zurückſinken. Hat übrigens der Berf. doch
—
40%
die Einheit der Grundidee des erften und zweiten Theils richtig
nachgewieſen, fo ift ihm dagegen die fihlechte Fortführung , bie
zwifchen dem Ende des erfien und zweiten Theils Liegt, wie wir
ſahen, völlig entgangen.
Briefe über Goethes Fauſt. Erftes Heft. . Von
C. G. Carus, Reipzig, 1835.
Die Grundidee der Tragödie wird richtig gefaßt, Indem als
Inhalt derſelben hervorgehoben wird: die Menichenfeele in ihrer
innern Göttlicfeit, wie ſie durch taufend Irrfale hindurch ihrer
göttlichen Befriedigung mit bewußtloſem Zuge entgegenftrebt, was
der Verf. glüdlich auch „das genetifche Princip alles ächten See⸗
Ienlebend«, das „Frühlingsmäßige im Kauft, die „ Elafticität«
der menfchlichen Seele nennt. Mit gefunder äfthetifcher Einficht
räumt er ein, daß dieſe Ivee in Kauft trefflich, aber nicht voll-
kommen dargeftelt, daß die Tragödie mehr beendet ald vollendet
fei. Schöne Bemerkungen über den Werth und die verfühnenden
Wirkungen edler Weiblichkeit Enüpft er an Gretchens Charafter.
Hätte er nur feine Sauptidee tiefer nachgewieſen, gründlicher durch—
geführt, fo würde man ihm dafür feine fentimentalen Einleitungen
zu jedem Briefe und den ganzen pretiöfen Ion, in welchem er
fehreibt,, gern erlaffen. Ob der eine diefer Briefe am zweiten
: Weihnachtöfelertage 1834 Abends, oder am Bimbimberlestag
Morgend, der andere am 4. Febr. Abends in einer mohnlichen
und eleganten Stube, oder am Pfeffertag im Holzſtalle geichrieben
ift, kann uns fehr gleichgiltig fein. Aber ſolche Sächelchen erläßt
und der füße Dann nicht, der ganz wie Schubarth in den Styl
106
des Soethifchen Altweiberſommers fich hineinfriſirt hat, Er fpricht
von treulichftem Anſchließen, führt uns Gedankenzüge heran,
fpricht von ſich darlebenden Ideen (dad ſich Darlehen ift überhaupt
das andere Wort), von einer Einwirkung höchſten weiblichen Prin-
cips, von einzelnen lichvollſten menſchlichen Naturen und unters
ſchreibt: treulichft Carus,
Goethes Fauft. Meberfichtliche Beleuchtung beider Theile
zur Erleichterung des Berflänbniffes, von W. E. Wer
ber, Profeffor, Director der Gelehrtenfchule zu Bre⸗
men. Halle, 1856. |
Das Büchlein Hat manches Brauchbare und bringt Died in
bequemer, anfpruchlofer Weife vor. Hätte der Verf. gefagt: auf
die Deutung des tieferen Gehalts der Tragödie will ich verzichten,
mein Zweck ift, euch brauchbare Notizen zu geben, um euch im
Heußerlihen, was zur Scenerie u. |. w. gehört, zu orientiren,
fo würden wir den Manne Dank wiffen. Aber er geht auf die
Idee ein und, wiewohl er fie nicht ganz verfehlt, verbünnt er
fie Doch durch die Vermäfferung , die jede Idee unter den Händen
bed gemeinen Menfchenverftandes zu erdulden hat, daß man fie
kaum erfennt. Gehen wir, diefen Vorwurf zu begründen, fo»
gleich auf den Mittelpunkt zu.
Dan Tann Goethes Fauſt immerhin eine Theodicee nennen,
wenn man nur nicht vergißt, eined Theils, daß Dies keineswegs
fo genommen werden darf, als wollte Goethe in der Weiſe des
Lehrgevichtd die Frage der Theodicee, dürftig eingekleidet, abs
107
handeln ,. andern Theils, daß die Brage nach dem Verhältniſſe
des Böfen zur göttlichen Weltregierung, wie der Prolog im Him⸗
mel fie ftelt und beantwortet, nur den allgemeinen Hintergrund
bildet, und erft der beſondere Angriffäpunft, ten Fauſt dur
feinen individuellen Charakter dem Böfen barbietet, jener ab⸗
ftracten Idee die Concretion giebt, wodurch fle äflhetifch darſtellbar
mird. Sehr fhüchtern geht nun der Verf. an jene Brage. „Dan
kann behaupten, fagt er, daß es Feine größere Gottesläſterung
giebt, als den Verſuch einer fogenannten Theodicee, d. h. eines.
Beweiſes, daß Gott Alles wohlgemacht habe: das kann Gott
wohl und verfidhern, aber es tft nicht an und, es ihn zu ver⸗
fichern.“ Doch macht er fih, als hätte er dies nicht geſagt,
fogleih an das Thema, und ift jetzt nicht deswegen, weil bie
Unterſuchung unbefcheiden, fondern weil fie ſchwer ift, in feiner
geringen Berlegenheit. Seine erfte Verlegenheit ift, dab ihn gar
nicht. recht Elar ift, wo denn das Böfe eigentlich ſitzt, in ver
Welt des Geiſtes, oder auch in der Natur? „Sobald wir aus
dem Felde der praftifchen Pflicht mit unfern Begriffen herausgehen,
werben wir an der Defonomie der kosmiſchen Kräfte fofort irre.“
Daß diefed Irrewerden von der eben genannten Schwierigkeit her⸗
rührt, erfahren wir weiter unten; zunächft beruhigt ſich der Verf.
bei einem Satze, der freilich jedenfall3 gewiß Außerft Flar ift:
„in unferer Moral giebt es ein Böſes; unterlaffen wir zu thun,
was und obliegt, fo taugen wir nichts.“ Wreilich entfteht aber
au bier fogleih eine große Verlegenheit, wenn es fich fragt,
„wo der Liebergang aus dem negativen Böfen, der Unterlaflung
der Pflicht, in das pofttive Böfe, den abſichtlichen Willen, zu
Schaden, aufzufinden fe? Dies bleibt immer problematifh. Denn
108
felöft der größte Verbrecher wird felten einräumen, daß er eigent⸗
lich Habe ſchaden wollen, er wird ftet8 auf den Vorwand einer
Nothmehr repliiren gegen die Anmuthung, feine Pflicht zu thun
ba, wo ihm, dieſe Pflicht zu thun, unbequem war.“ Ich meinte,
bei einem Verbrecher handle es fich nie bloß um Unterlaſſung der
Pfliht, und die angeführte Entſchuldigung deſſelben könne den
Bhilofophen über die wahre Natur der böjen That nicht zweifel-
baft machen. ber ber Verf. hat wohl tiefere Schwierigkeiten
im Sinne, die Frage mwahrfcheinlih, ob das Böſe nur negativ
(privativ) oder pofitiv fei, und ob es ein Böfes um des Böfen
willen gebe; er tappt aber in einer Unſicherheit, die einen un=
gewöhnlichen Mangel an Denfübung verräth, fehon in ber Auf⸗
ſtellung der Schwierigkeit fehl, indem er, flatt zwifchen Böſem
aus egoiftiih finnlichen Triebfedern und Böſem um des Böfen
willen, unterfcheidet zwiſchen Unterlaſſung der Pflicht und böſer
Handlung; dabei Elingt ihm von Weiten die juriftijche Unterſchei⸗
dung zwifchen culpa und dolus oder die Brage über Zurechnungs⸗
fühigfeit überhgupt im Ohre, und fo hilft er fih denn nun.
bewundernswürdig leicht auß feiner Klemme, indem er fortführt:
„bier helfen wir und denn kurz und gut mit Qualificirung ber
Thatſache, und ſehen, in Betreff der Motive, nicht auf den
böſen, ſondern auf den freien Willen. Ein Trunkener, ein
Wahnſinniger ſteckt uns das Haus über dem Kopfe an; wir laſſen
ihn ungekränkt, oder verwahren ihn höchſtens, damit er es künf⸗
tig nicht wieder thue; denn er war ſeiner nicht mächtig, die Kraft,
die in jenem Augenblicke in ihm über Gut und Böſe hätte ent⸗
ſcheiden können, war gebunden. Wir ſchlagen einen Knecht: er,
über die Mißhandlung empört, ſucht Gelegenheit, ſich zu rächen,
109
er ſteckt und ebenfall8 das Haus über'm Koyfe an. Diefer wird
als Mordbrenner verurtheilt: mag er immerhin von Rachſucht
geftadhelt worden fein; fein freier und vernünftiger Wille konnte
ihm fügen, daß Rachſucht unmoralifh ſei.“ O, meld’ eine
Tiefe des Reichthums, beide der Weisheit und Erfenntniß des
Verfaſſers! Wie gar unbegreiflih find feine Ideen und unerforfch-
lich feine Wege! Andere befchränkte Leute meinen, wenn es ſich
um die fiitliche Beurtheilung einer That handle, fo reihe es nicht
bin, zu wiſſen, daß fie mit freiem Willen geſchah, fondern es
handle fi darum, ob diefer Wille ein böfer war ober nicht, und
die gar nicht zurechnungsfähigen Handlungen gehören gar nicht
in ven Zufammenhang gegenwärtiger Unterfuhung. Allein dem
Hrn. Verf. ſteckt feine obige Sauptverlegenheit noch im Kopfe,
darum hat er dad rein ethiſche Thema ſogleich auf die juriſtiſche
Frage nach der Imputabilität hingedreht, die Verlegenheit dar⸗
über, ob das Böſe nur im Menſchen oder auch in der äußeren
Natur ſitze. „Kommen wir nun aber ſchon in dem beſchränkten
Kreiſe des ſocialen Vortheils (7) mit der Beziehung zwiſchen Gut
und Bös in's Gedränge, wie viel mehr, wo die urſprünglichen
Kräfte der Natur die ihnen einwohnende Gewalt üben, und ein
für allemal thun, was ſie nicht laſſen können? Auch der Blitz
zündet uns das Obdach über unſerm Haupte an, der überwogende
Strom verſchwemmt uns die Wieſen, der Hagel verheert unſere
Saaten: wer will fie vor Gericht laden, wer wagt es, dieſe
zerftörenden Kräfte böfe zu nennen?“ Nun ja ums Himmels
willen, wenn fle Niemand magt böfe zu nennen, wenn fie nur
thun, was fie nicht laſſen können, was brauchen wir und denn
hier, wo es ſich vom Böfen handelt, um fie zu ſcheeren? Sie
110
find Uebel, und die Frage nach der Zweckmaͤßigkeit des Uebels
ift ja ein ganz anderes Capitel der Theodicee, als bie nach ber
Stellung des Böfen zur Welteinrichtung. Doch beunruhlgen wir
uns nicht! Der Hr. Verf. thut es auch nicht, er ſtolpert in ber
heiteren Dufelei eines von philoſophiſchen Serupeln wenig an⸗
gefochtenen Kopfes gleich wieder über die, freilich ohne Noth
berbeigezogene, Schwierigkeit hinweg, kommt wieder auf bas
-Böfe im moralifgen Sinne, und begeht das Verbrechen (f. feinen
eigenen oben angeführten Ausſpruch), dennoch eine Theodictee
Preis zu geben. Sie tft Eurz bei einander: „ber Befonnene zieht
zulegt das weltgefchichtliche Facit fo, daß er jelbft in dem Böfen,
was geichieht, immer wieder Keime des Heilfamen entdeckt und
es nicht irreligiös findet, zu fagen, daß Gott in der Weltregie-
sung dad Böfe zuläßt (wohl zu merken, zuläßt, nicht thut),
damit ed dem Guten diene.“ Der Schall! Wie er uns da nur
geſchwind jo in einer Parentheſe bie tieffte, originellſte Idee, von
der biäher die menfchlicde Vernunft ſich nichts träumen ließ, in
die Taſche ſchmuggelt! Wie wird es da fo plößlich Helle! Die
ſchwierige Frage, mit ber fich bie tiefften Denker, fo lange ſie
bie unerhoͤrt tieffinnige Diftinction zwifchen Zulafien und Thun
nicht kannten, abgequält haben, fie ift gelöft! Sie Lojer! Und
dann geben Sie ald Zuſpeiſe noch einen jublim gelehrten Auszug
aus der perflihen Mythologie drein!
Spaß bei Seite! Muthen wir dem Verf. nicht mehr zu, als
er vermag, und geben wir und zufrieden, daß er bie Grund» per,
ſo leicht ex ſich mit biefer begrüfflojen Kategorie über ihre Schwie⸗
rigkeiten hinweghilft, wenigſtens nicht ſchlechibin verfehlt Kat.
Die Liberalität, mit ber er fi) des Prologs im Hinmel gegen
111
Zeloten annimmt, der gefunde Sinn, mit dem er das haudväter-
lich Gütige und Leutfelige in der Figur des Herrn, den leichten
Anflug von Ironie gemüthlich herausfühlt, verdient aufrichtiges
Lob. Richtig folgert er, daß ſchon aus jenem Begriffe von der
Stellung des Böſen zu Gott die Rettung Fauſt's von felbft her⸗
vorgehe,, und flieht ein, daß der Goethiſche Fauſt nicht wie der
Fauſt der Sage ſchon durch den Bund mit Meyphiftopheles ein
Verbrechen begehe, wie fich dies fchon in der nobeln, geiftreich
.chevaleresfen Nachläfftgkeit, mit welcher Fauſt ven Teufel em⸗
pfängt, und welche der Verf. ebenfalls richtig bemerkt, auf edle
Weife Fund thut. Meberhaupt hat er die Vergeiftigung , welche
der Sagenftoff durch Goethe erfahren hat und wodurch der Brenn-
‚punft ein ganz- anderer wurde, mit freiem Auge erfannt, und
fteht dadurch rühmlich über Leuten, wie Franz von Baader,
de Wette, Weflenberg, Menzel, welche meinen, der Teufel follte
nur immer die Zähne fletfehen, den Kauft endlich unter Schwefel-
danıpf holen und an den Wänden zerfhlagen, daß fein Gehirn
herumfprigt, oder wo nicht, fo müßte Fauſt fich hinftellen und
als Tugendheld rhetorifch auffpreizgen, da doch dad Gute, ber
Kampf gegen Mephiftopheles, in ihm die Geftalt feiner Indivi⸗
dualität annehmen muß und fich daher natürlich als Rückkehr zur
‚idealen Contemplation äußert. Daß im zweiten Theile bis zum
Vegten Acte Fauſt zu wenig thut, um gegen dad Böſe zu kämpfen,
ſoll damit nicht geläugnet werben, liegt aber in der Afthetifchen
Schwäche dieſes Alterö- Products überhaupt. Doch hätte H. Weber
nicht nöthig gehabt, den göttlichen Plan in Beziehung. auf Fauſt
barein zur jeßen, daß Fauſt den Gipfel der Bosheit erfteigen folle,
um durch defto tiefere Neue auf den guten Pfad zurückgeführt zu
— ꝰ*
—
112
werben. „Die Gottheit kann es, um ein an ſich fel6ft irre gewor⸗
dened Individuum von Grund aus zu heilen, unter Umſtänden
zuläfftg finden, daß dafjelbe für eine Zeit dem Böſen ganz an⸗
beimfalle, damit es in der Empfindung deſſen tiefen Unſegens«
(ein ſauberes Deutſch!) „ſich aufraffe und mit deſto feurigerem
Verlangen auf ven Pfad des Guten zurückkehre.“ Sp acut erfcheint
Krankheit und Kriſis bei Kauft nicht; zwiſchen die einzelnen Ver⸗
irrungen fehieben fich fogleich einzelne Heilungsverſuche, er if im
Böfen rhapſodiſch und daher Fehrt er nicht durch eine plötzlich mar⸗
firte Nevolution feiner Natur zum Guten zurüd. Diefe zu ges
fhärfte Auffaffung floß wohl aus der nicht ganz richtigen Deu⸗
tung, die der Verf. dem Vertrage mit Mephiſtopheles giebt.
Dies führt und auf den beftimmteren Inhalt ver Tragödie, zu⸗
nächſt auf des Verf. Anficht von Fauſt's Perſönlichkeit und an⸗
fänglichen Beftrebungen. |
Hier ftoßen wir fogleih auf einen groben Irrthum. Der
Berf. meint, wie feine Commilitonen auf diefem Flügel, Fauſt,
dem der Glaube im Wifjen verloren gegangen ift, ſollte auf das
Erkennen des Abjoluten ganz reflgniren. „Jede Philofophie muß
ein Letztes, Linbegreifliches ftehen laſſen, das ift der Proceß, wie
der Geiſt fi in das Kleiih verwandelt, und die Materie, ohne
Gott zu fein, doch aus göttlicher Hand hat hervorgehen können.“
Faßt man dieſes Hervorgehen im Präteritum als einen zeitlichen
Act, fo ift freilich dad Begreifen deffelben bereitd abgefchnitten.
Der Verf. giebt nun dem Manne im Gegenjag gegen dad Weib
zu, daß er beftimmt fei, den blinden Autoritätäglauben zu vers
laſſen und ſich durch ein Labyrinth der Widerfprüche zur Selbft-
fländigfeit der Anftchten und Veberzeugungen hindurchzuringen;
113
dann aber meint er, das Nefultat diefer Zweifelskämpfe folle fein
— ber Glaube. Wie gar feine Ahnung er von der hoben Bebeu-
tung des Strebend nach reiner Erfenntniß bat, zeigt er auch durch
die Bemerkung, die ihm S. 83 entſchlüpft, mo er von Fauſt
fügt, er Habe „ftatt der Willendfraft“ den Wiſſensdrang vorzugd«
weije in fich genährt. Unter ſolchen Umftänden darf man natürlich
fein Verſtändniß von Fauſt's Durft nad Anfchauung ded Inner
ften der Dinge von dem Verf. erwarten. „Bauft ift Vielmifler
aus edlen Durfte nad) Wahrheit; die Gelehrſamkeit ift ihm nicht
Zweck, fondern Mittel, und Mittel zu dem Höchften und Größ-
ten, zum unmittelbaren Aufichluffe des Verhältniſſes zwiſchen
Gott und Weltall. Aber daß er dies Verhältniß wie irgend ein
anderes in der Erfahrung gegebened, mit der Kaltblütigfeit und
Ruhe eines Forſchers ergründen, daß er es zerlegen will, wie
ver Pflanzenkundige eine Blume zerlegt, daß eben ift das urſprüng⸗
lihe Mißverſtändniß in feinem Streben, und liefert ihn dem Teu⸗
fel in bie Hände. Fauſt ift nicht Vielwiſſer, und wollte er bie
Gelehrſamkeit ald Mittel anwenden, um das Verhältniß zwi⸗
ſchen Gott und Weltall zu ergründen, fo wäre es ja eben fein
unmittelbarer, fondern ein vermittelter Aufichluß. _ Kauft
verwirft aber die Gelehrſamkeit nicht bloß als Zweck, fondern
auch als Mittel, denn er will rein intuitiv fich der Wahrheit
bemüchtigen. Zerlegen will er gerade nicht, fondern er will
- Schauen, ohne zu zerlegen, und das ift, mie feine Größe in
Vergleihung mit dem todten Formalismus und Dogmatismus,
fo in Vergleihung mit dem wahren Denken feine Schuld. Er
zerlegt nicht zu viel, fondern zu menig, er iſt vernünftig ohne
Derftand; hätte er die Geduld, die Vermittelung des Begriffs
Kririfche Gänge I. 8
114
zu durchwandern, fo würde er zur concreten Idee gelangen, aber
er will eine intellectuelle Anfchauung, mie die Schellingifche Phi-
Yofophie, er verwirft über dem Eignen und Urfprünglichen alles
Angeeignete und Künftliche, wie die Periode des Genieweſens in
unferer Poeſie. In diefer Periode find ja auch wirklich die älteflen
Grundlagen ver Tragödie entftanden. Als Goethe in dieſer Ju⸗
gend⸗Epoche einen Helden zeichnete, in welchem ber ganze Kampf
des Urſprünglichen mit einer verwelften Cultur, welcher jene
Zeit des Sturmd und Drangd charakterifirt, den tiefften und
geiftigften Ausdruck fand, fo konnte er allerdings noch nicht mit
ber vollfonnmenen Klarheit über feinem Helden ftehen, um in
dem Rechte diefes Drangs nach Unendlichkeit zugleich das Unrecht
der Verachtung aller Grenze und verftändigen Vermittlung eins
zufehen und zur Darftellung zu bringen. Er mußte offenbar ſelbſt
noch nicht, mo es hinaus folte Wohl aber war das Gefühl
dieſes Unrechts als ein dunkler Inftinet allerdings im Dichter
offenbar vorhanden; denn dad lag gewiß jchon in feinem urfprüng«
lichen Plane, daß es Fauſt's Ueberſchwenglichkeit und Verachtung
aller Schranke und Vermittlung ift, woran der Teufel ihn packt.
Gerade dadurch aber, daß der Dichter jelbft jene Haft, jenen
Durft noch theilte, gewann die poetijche Kraft der Darftellung.
Wie konnte doch dem Verf. jenes Feuer, jene ungeduldige Gluth
durch die Adern der Natur zu fließen, mit Geiftern im Dämmer
fein des Mondes zu weben, die irtiihe Brut im Morgenrot
zu baden, fo ganz entgeben, daß er an ein zerlegended Grüb
denft! Ein andermal (S. 60) ftreift er jogar an Enk's Meinu
"wenn er glaubt, Bauft'3 fpäterer Sprung in den Strudel
Genäffe Hänge mit jeinem früheren Wiſſensdrang dadurch zu
115
men, daß er ſchon in diefem nur den Genuß gefncht, fich fagen
zu können: du weißt nun Alles. Doch dies ift blos eine Spie-
lerei mit Worten des Zufammenhanged wegen, venn ©. 30 iſt
ein edler Durſt nah Wahrheit zugegeben. Der Erdgeift („fo
wie fonftige kosmiſch ontologifche Gewalten“ heißt es ©. 36)
ſtößt Fauſt nicht deöwegen, wie H. Weber meint, zurüd, weil
„dieſe geheimen Urgeiſter ver Dinge nur nad) einem Gefeße wir⸗
fen können, dad dad Geſchöpf vom Schöpfer durch eine uner-
meßliche Kluft abtrennt“, fondern weil bie im Rauſch der Viſion
heraufbeſchworene Anfchauung ihrer Natur nah nur momentan
iſt und, nicht durch die Vermittelung des Denkens gewonnen,
den Geift nach augenblicklich blendender Erſcheinung in deſto tiefe-
rer Nacht zurückläßt. |
Den Contract nun mit Mepbiftopheles nimmt der Verf., wie
fhon aus der angeführten Bemerkung zum Prolog hervorgeht,
zu craß „Fauſt will fi) betäuben, die Bedürfniſſe feiner höheren
Natur im Sinnenrauſche auslöſchen, er will fi ſelbſt, als hö⸗
heres Wefen vernichten.“ Fauſt will fih betäuben, aber nicht die
Breiheit des ſtrebenden Geiſtes opfern ; die wichtigen Worte:
Werd' ich beruhigt je u. f. w. find ©. 61, wo der Verf. auf diefe
Stelle zurüdfommt, angeführt, aber nicht auögeführt ; übrigens
obmohl er dies unbenußt liegen läßt, weiß er doch bie legte Ten⸗
denz der Tragödie, wie wir fahen, feftzuhalten, und thut dar,
wie Kauft dent Mephiftopheled keineswegs verfällt, fondern der
Rettung würdig bleibt.
Hat der Verf. offenbar Teinen Beruf, vie tieferen Ideen ber
Tragödie zu ergründen, fo ift dagegen feine Bemühung, das
Zauberweſen, das die Scenerie berfelben bildet, durch geichicht-
8 *
4116
liche Notizen, foweit dad Verftänpniß ſolche erfordert, aufzuklären,
dunfle Anfpielungen, Namen, u. vergl. zu deuten, dankbarer
Anerkennung werth. Defterd geht feine Sorgfalt für den Leſer
bis ind Zärtlihe, wenn er z. B. zu: Georgius Sabellicus hin»
zufeßt:: vorleßte Sylbe kurz! Auch manche brave äfthetifche Ber
‚ merfung bringt er im Ginzelnen vor; de Wette, der in feinem
Aufſatze: Gedanken eines Theologen über Goethes Fauft (f. d.
Zeitfhr.: „Der Proteftant“, v. Benzelfternau, 1829, März)
einem unwiderftehlichen Drange Luft machte, an unferer Tragödie
den Famulus Wagner zu machen, ſchickt er, wie e8 ſich gehört,
nach Haufe. Er verfucht auch eine Eintheilung des erften Theile
in Acte, woburd er doch wenigſtens zeigt, daß er nicht, wie
bie meiften Erflärer, alle Anforderungen an dramatiſche Oekono⸗
mie vergeſſen bat; freilich ift die Folge nur, daß man erft recht
deutlich einſieht, wie ſich die Tragödie, fo theatralifch einzelne
Scenen find, doch der feenifchen Darftellung ganz entzieht. Aber
nicht nur den erften Theil hält er für ganz im Sinne der Bühne
gedichtet, ſondern — erftaune, o Leſer, erbebt in des Herzens
Tiefen, fänmtliche Theater Mafchiniften , fange euer, männ⸗
liche Gelaſſenheit der Schaufpieler, und werde zum Baſilisken,
Geduld der Zufchauer! — au den zweiten Theil. Sei au
die dramatiſche Durchführung von minderer Evidenz, meint er
&.135, fo bleibe doch die theatraliſche Wirkung „defto weniger“
zu bezweifeln, ja eine vollkommene Aufführung des zweiten Theils
müßte fih als die colofjalfte und gewaltigfte Darftellung denfen
laſſen, die feit den Zeiten des Aeſchylus irgend eine nationale
Bühne in dad Werk geſetzt. Ueberhaupt verändert der fonft ver⸗
ſtändig und natürlich erfcheinende Mann, da er an die Betrach⸗
117
tung des zweiten Theils kommt, ganz feine Natur und ſpendet
ihn ein fo verſchwenderiſches Lob, mie nur irgend ein verzwickter
Philoſoph. Wäre e8 dem Verf. mit diefem Lobe nicht fo fichtbar
Ernft, fo wäre man geneigt, folgende höchſt ergötzliche Stelle
geradezu ald Parodie zu nehmen. Nachdem er zum 4. Act bemerft
hat, wie Mephiſtopheles in der erften Scene Veranlaſſung neh⸗
nıe ſeinerſeits über die Entftehung des Gebirgslandes zu philo⸗
fophiren und den Patron der Erhebungstheorie made, fährt er
fort — (es tft gar zu erhaben, ih muß es groß druden laſſen):
. „Bauft fpriht dagegen mit Würde und Gränd-
lichfeit die Neptuntftifhen Anſichten aus.“
Nur die legte Scene des zweiten Theild wagt er zu tabeln, und
wünſcht ftatt des katholiſchen Himmels eine proteftanttfch rationel⸗
lere Scene, wie den Prolog im Himmel, gewiß mit richtigem
Tacte.
Der Styl, im Allgemeinen einfach und ohne Prätention,
iſt doch hie und da holperig und undeutſch, wie: „ſolch ein Kampf
u. ſ. w. kann nicht umhin ein aufregendes Schauſpiel zu fein“,
und Aehnliches. Ich rede davon, weil es mir überhaupt gegen⸗
wärtig an der Zeit zu fein ſcheint, unſere deutſchen Schriftfteller
daran zu erinnern, daß fle die Rudimente nicht verachten dürfen,
und daß, wer ein Buch fehreibt, auch ein gutes Deutſch fchreiben
fol. Mitunter geräth unfer Freund doch auch in Bombaſt und
Phrafen, 3.8. ©. 29: „gegen Serzendfroft und Gefühlsenge
ift Genialität ein abmwehrender Diamantſchild« u. U.
118
Goethes Fauft in feiner Einheit und Banzheit
wider feine Gegner dargeftellt. Nebft Andens
tungen über dee und Man des Wild. Meifter und
zwei Anhängen: über Byron's Manfred und Leffing’s
Doctor Fauft. Bon H. Dünger, Dr. der Philoſophie.
Köln, 1836.
Die Einheit hat der Verf. allerdings nachgewieſen, indem
er die Bedeutung des Contracts mit Mephiftopheles richtig aufs
faßt und in der Schluß-Scene des zweiten Theils ihre Erfüllung
nachweift, aber mo iſt der Beweis der Ganzheit geblieben? Was
fol der magere Auszug des zweiten Theils, wo hie und ba ein
flüchtiger Verſuch gemacht wird, die kahlen Allegorieen vieler
Gansheid zu deuten, für die Behauptung bemeifen, daß die Idee
erihöpft fel?
Im Einzelnen finden fi, obwohl der Grundgedanke richtig
herausgehoben ift, oberflichliche und falfche Deutungen. Den
Mephiftopheles faßt der Verf. zu niedrig, wenn er von ihm fagt:
„Wie Gott und die Seligen nur unter den Eingebungen“ des Lichtes
bandeln, fo er „in Folge“ des finnlichen Triebd. Dad Zujanı=
menſinken Fauſt's vor dem Erdgeift deutet er wie Talk und Wes
ber: „Dem Menfchen ift Feine Verbindungslinie mit den fehaf-
fenden „Monaden“ verliehen“ u. |. w. 8 ift frerlich Fein Seil,
Bindfaden, Riemen u. vergl. zu fehen, mas und mit jenen
„Monaden “ verbindet. Der fchiefe Falkiſche Ausdruck verfinftert
bie Sache bereits, denn es giebt nur Eine Monade, den Geift,
ber in Allem ift; Monade Hat feinen Pluralid. Freilich Leibnig
ſchnitt die herrlichen Conſequenzen jeiner Ideen dadurch ab, daß er
öM
119
in eraffen Widerſpruch mit dem Begriff der Monade als einer vor«
ſtellenden (geiftigen) Einheit eine Vielheit von Monaden mie tobte
Dinge, zwiſchen venen Fein Verkehr ift, nebeneinander ftellte — aber
was geht und dad an? Den Ausdruck des Mephiftopheles von
Bauft, daß er der Erde Freuden überfpringe, deutet er gerabe
verkehrt: „Fauſt hat nur einmal fich verfehlt, und zwar darin,
daß er flatt einem geregelten Leben, wie es dem Menfchen beftimmt
it, ſich hinzugeben, in die Sinnlichkeit übertrat und alſo ber
Erde Freuden überfprang.u Der Exde Freuden überfpringen, heißt
benn das, in die Sinnlichfeit übertreten? Uebrigens citirte ich
auch bier die Worte, um bemerflich zu machen, wie diefe Bro-
ſchüre ſchon im Ausdruc etwas Tertianermäßiges hat, und Eönnte
noch eine Maſſe ähnlicher Wendungen geben, wie 3. B. „Hier
müffen wir die Beinerfung machen, daß Mephiftopheles, obgleich
in einen niebern Kreis gebannt, fi doch von einer einfeltigen
Weltanſicht fernhält.“ Daß aber nicht nur die Darftellung, fon-
dern auch der Gedankengehalt einen ſchülerhaften Charakter trägt,
mag binlänglich beweiſen, wenn ich erwähne, daß der Verf.
und alles Ernfted verfichert, Mephiftoyheles diene nur zur poe⸗
tifhen Darftelung, auch der Pact mit dem Teufel fei bloß poeti⸗
ſche Fiction. Ungeheure Enideckung! Und wie glüdlich wird der
Verf. erft fein, wenn wir ihm zu ber weiteren verhelfen, daß
alle Perſonen nicht nur dieſes, fonvern jedes Gedichts, mögen
fie num gefchichtlich, oder gefchichtlich mythiſch, oder rein mythiſch
fein, nur der poetiſchen Darftelung dienen, nur Fictionen find ?
Do nein, denn da flünde es nach H. Düntzer übel um die Poefte,
denn er fegt zu den Worten: „ſelbſt der Pact mit dem Teufel
ift bloße poetijche Fiction“, fogleich Hinzu: „zur Darftellung einer
120
Idee gehört er nicht.“ Der Taujend! Da wäre ja aljo auch Me»
phiftopheles, wiewohl er „dad Gefäß ift, deſſen ver Dichter fi
am Anfang bedient“, nicht die poetifhe Darftellung einer Idee,
da könnte man den Pact beliebig auch meglafien, fo gut ald man
allerdings die Hexenküche und die Blocöberg - Scene weglaffen
Eönnte! Da Eönnte man ja am Ende die ganze Tragödie weg⸗
laſſen! Do man merkt aus dem Weiteren, was ber Verf. fagen
wi. Er will fagen, Fauſt's Pact fei in der Tragödie nicht, wis
im Volksbuche, ſchon ein Verbrechen; dies drückt er mit der ihn
befonderd charakteriſtrenden Helle des Bewußtſeins fo aus: er
gehöre nicht zur Darftelung der Idee.
Zur Berfländigung über Goethe's Faufl. Bon
Dr. & Schönborn, Director und Profefior des
Magdalenen» Gymnafiums zu Breslau, Breslau 1838.
Der Grundgedanke, der Anfang und Ende zufanımenbindet,
ift aus Goethe's Weltanfiht und den betreffenden Hauptitellen der
Tragödie richtig abgeleitet, Doch ohne einen Wink über ben Wider:
ſpruch zwiſchen dem rationell= hriftlichen Gedanken, Fauſt dur
vernünftige Thätigfeit der Nettung würdig erfcheinen zu laffen,
und der pofitiven Schluß= Scene. Ich hebe diefen Mipftand gerade
bier noch einmal hervor, weil der Verfaſſer auf diefen Punft
ausdrůcklich zu ſprechen kommt, und doch nicht auf die rechte
Fährte geräth. Fauſt müffe nah Hriftlichen Begriffen felig
gemacht werben, er müſſe daher wenigftend von den Bewußtſein
der Erlöfungsbedürftigkeit durchdrungen werden; zu diejer Erkennt⸗
niß habe er auf Erden nicht gelangen können, „denn dann hätte
der Vertrag mit dem Teufel ein ganz anderes Ende genommen,
121
als die Sage und bie Anlage des Drama verftatteten; auch Tann,
wer fo weit von Gott abgefallen ift, daß er mit dem Boͤſen einen
Bund eingeht, nach der Anficht des Mittelalters nicht leicht auf
ber Erde, wenn überhaupt gerettet werben. So blieb alſo nichts
übrig, als mit Fauft nad feinem Tode eine folche Umwandlung
vorgehen zu laflen, daß es dem Leſer nicht zweifelhaft bleiben
konnte, er werde, wenn auch erft fpäter, gewiß zur Seligfeit
gelangen.” Ganz blind ift hier der Standpunkt der Sage mit
dem Goethe'ſchen vermiſcht; jenen hat ja der Dichter- im
Weſentlichen ganz verlaffen, und fo gut er die Vorftellung von
ben abjoluten Verbrechen eines Bundes mit dem Teufel und das
Dogma von den ewigen Höllenftrafen fallen läßt, läßt er auch
dad Dogma von Buße, Wiedergeburt, Gnade fallen. Freilich
er nimmt das kirchliche Dogma in der Schluß- Scene wieder auf,
aber eben dadurch geräth er in einen Widerſpruch, denn giebt er
einntal die religiöfe Cinfleivung geiftiger Wahrheiten, wie dies
am Schluffe geſchieht, zu, und nimmt er ſie auf, ſo giebt er auch
zu, daß Fauſt erſt bereuen und glauben mußte, ehe er erlöſt
wird. Der Verfaſſer meint, die Buße werde bei Fauſt jenſeits
eintreten, allein dies genügte nach der kirchlichen Vorſtellung nicht,
ſondern wer unbekehrt ſtirbt, wird nach ihr verdammt. Nicht nur
die kirchliche Vorſtellung aber iſt von Goethe verletzt, ſondern,
mag man nun die Schluß- Scene im Simmel berückſichtigen ober
nit, auch die rationelle Neligion ift ed, denn Bauft hat auf
feinem Pfade doch Verbrechen begangen, bie er bereuen muß,
wiewohl allerdings nicht die Reue allein an fl, ſondern der
Uebergang zu neuer ebler Thätigkeit ihn erlöfl. Welche Scene
Fönnte den zweiten heil eröffnen, wenn Fauſt aufträte, hie
122
Bruft von unendlicher Reue durchwühlt, dann alle jeine Kraft
zu neuem Leben aufraffte! Allein ftatt eines inneren Proceffed
laßt der Dichter die Heilung ganz Außerlih durch Elfen vor
fich geben; die paar Worte, mit denen Fauſt am Ende bie
Zauberei verwünſcht, find noch Feine Neue; — freiih, was fol
er bereuen, da er ja bloß allegoriih figurirt hat und eigentlich
gar nicht als warmblütiges Wefen, bei dem von Gut oder Bös
die Rede fein kann, aufgetreten ift? Aber auch in der Schluß»
Scene im Himmel ift nicht von einem inneren Geſchehen im Ber
youßtfein Fauſt's die Rede, fondern die Sache geht durch Fürs
bitte u. |. w. vor fih. Bei diefer Kälte und Herzloſigkeit, die
‚der Dichter hier gezeigt hat, muß ſich fein Freund daran halten,
daß er wenigftend in der Hauptſache nicht gefehlt, und eine Fräfr
tige, der Menſchheit förberliche Thätigkeit, als lebte Bedingung
von Fauſt's Erlöjung hingeſtellt hat. Allein der Verfaſſer über-
fieht auch dies und it — doch mit Fauſt's Erlöfung ganz ein»
verftanden. Das heiß’ ich einen guten Magen! Da nämlich Fauſt
im Vorgefühle ver Zukunft, wo er mit freiem Volke auf freiem
Grunde ftehen wird, fich für befriedigt erflärt, fo meint Herr
Schönborn, er gebe ebendaburd den Beweis, daß er nicht nur
körperlich, fondern geiftig blind geworden fei, denn zum erften
Male ſchätze er jet wirbiiche Güter“ mie andere Dienfchen, und
finfe daher dem mit Mepbiftopheles gefchloffenen Vertrage gemäß
todt in die Arme der Lemuren. ine edle Thätigkeit ift Fein irdis
ſches Gut, und wir Eönnen und auch die Aufgabe eines künftigen
und höheren Zuftandes nicht ſchöner und reiner vorftellen.
Die nähere Geftaltung der Grundidee, Fauſt's Berfönlichkeit
und Streben ift vom Verfaſſer ganz verfehlt. Denn auch Kerr
123
Schönborn verfangt von Kauft Nefignation auf das höchſte
Wiſſen und Anfchliegung im Glauben an Chriſtum, Ver⸗
trauen auf die göttliche Gnade. Mit diefem theologifchen Stand-
punkt und foldhen erbaulihen Redensarten darf man überhaupt
nicht an ein Gedicht treten, das ein für alle Mal um einen rein
rationellen Mittelpunkt fi bewegt, und auch da, wo es bie
Sprache der religiöfen Vorftelung aufnimmt, den reinen Gehalt
aus ihr zieht und ſie zur hellſten Durchfichtigkeit vergeiftigt.
Unter dem Erdgeiſt verftcht der Verfaſſer ven Geift der Ges
ſchichte, da er doch offenbar das Nuturleben des Planeten bedeu⸗
tet. Mit geſuchtem Deuteln meint er daher, Kauft könne denſelben
deswegen nicht fafien, weil er ihn nur als bie weite Welt um⸗
ſchweifend, nicht in dem Menfchen wirkend erkenne. Willen
Sie, Herr Director, wie man fo etwas bei und nennt? —
Aberwig. |
Wie der zweite Theil den ethiſch dramatiſchen Boden ganz
verläßt, fühlt der Verfafler nicht; merkt er einmal dad Zuſam⸗
menhangslofe und Unorganiſche dieſes trübfeligen Machwerks, fo
hilft er dem Dichter leicht genug über jeden Vorwurf weg, fo
©. 74, wo er über die Einfchiebung Byron's im dritten Acte
fagt: „Daß diefer Theil der Helena Feine weitere Beziehung auf
den Hauptinhalt des Drama habe, jo wenig als fo Vieles in den
MWalpurgis- Nächten, ift nach den mitgetheilten Worten des Dichs
ter8 nicht zu bezweifeln, kann aber auch bei Einfichtigen Feinen
Tadel finden. «
124
Ueber den Fauſt von Goethe. Eine Schrift zum
Berftändniß diefer Dichtung nach ihren beiden Theilen
für alle Freunde und Verehrer des großen Dichters,
Bon Dr. J. Leutbecher, Privatdocent der Philo⸗
fophie zu Erlangen, Nürnberg, 1838.
Iſt nicht weniger ald neun Perlonen bebieirt, unter denen.
auch der Herr. Beitelmeyer in Nürnberg, der biejed Buch mit
Vergnügen unter feine Kinderſpielwaaren aufgenommen haben
wird.
IH hoffte, als ich dieſes Buch (ed tft das letzt erfchlenene)
zur Sand nahm, der Berfafler werde den glücklichen Gedanken
gehabt Haben, durch ein erfchöpfennes Werk die Kauft - Titteratur
endlich abzufchließen, indem ich ſah, daß er in den zmei erfien
Büchern beftrebt iſt, durch eine vollitändige Sammlung deſſen,
was zur Kenntniß und zum Verſtändniß der Fauſtſage noth⸗
wendig ift, und durch eine Revue der meiften dramatifchen Bear»
beitungen dieſer Sage vor und außer dem Goethe’jchen Fauſt alle
weiteren Hilfsmittel zumächſt nach diefer Seite hin überflüffig zu
machen. Fällt dann, dachte ih, nur die philoſophiſche Erörterung
des Goethe'jhen Fauſt gut aus, verarbeitet fie tüchtig das bisher
Geſagte, jv hätten wir ja wohl endlich Ruhe und Stille zu
hoffen!
Der Hr. Verfaſſer find ein Philofoph, ich jollte Ihn daher
auf den zweiten Flügel ftellen; aber er würde unter dem Linien
militär disciplinirten Denkens doch) eine zu Eomifche Role. fpielen,
da alles an ihm lottert und jchlottert, er mag daher als Nach⸗
zügler der Truppen des gemeinen Verſtandes figuriven.
125
Mäher iſt es die Krauſiſche Philofophie, zu weicher der Hert
Dr. Leutbecher geſchworen bat. Diefe genauer zu Fennen, hatte
ich vorher noch nicht die Ehre, es fummten mir aus bumpfer
Reminiſcenz einige Schnörfel aus ihrer Eraufen Terminologie in
den Obren (3. B. gebraucht Krauſe den Terminus: Weſens Or⸗
OmsBollfonmenheit, verftehft du das, Lieber Leier?); ich mußte
aber nicht, daß fle unter dieſen abſonderlichen und curlöfen Wörs .
terfabrifaten die trivialften Platitüden landläufiger Kategorieen,
überzogen mit der taufendfach verbünnten Brühe eines felchten
Pantheismus, verdecke und mit hohlen Phrafen der Menſchheit
Schnitzel kräusle. Doch der Meifter iſt wohl mehr und anders,
als der Schüler, ich will „dem größten Philoſophen unferer
Zeit, dem lange verfannten und num feligen Kraufe, dem Schöpfer
des tiefften und wahrften Syitemd« nichts zu leide thun; Gott
hab’ ihn felig! gebe feinem Keibwefen eine fröhliche Auferftehung,
nehme ihn auf in die Wohlordnung des Wejengemäßen, erhebe
ihn zu der geläuterteften Anſchauung der Harmonie und befeligen«
den Liebemilde des emigen Wahren, Guten und Schönen, laſſe
ihn erbliclen das Ideale oder Geift- Schöne und des Weſenalls
barmonifchen Wefenglienbau in feinem wefenlichen Gliedbauleben '
Mißtrauifch wurde ich gegen jene meine Hoffnung freilich
fhon, als ih im erften Abfchnitte ven kurzen Abriß des Mittels
alterd und feiner Ritteratur las, als ich belehrt wurde, daß bie
Weltgefchichte ein Drama fei, mein harmoniſches Lebenfpiel, pas
fih entwidelt in einem Dramıenfreife, welcher den SHiftorifern
als Epochenreihe dient, für den Aeſthetiker aber alle ſechs und
dreißig Hauptgattungen der dramatifchen Poeſie in ihrer höchften
Vollendung enthält.“ Alſo gerade ſechs und dreißig Hauptgattungen
126
bed Dramatifchen! Nicht mehr und nicht weniger! Erſtaunlich! Die
Welt meinte bis dahin, es gebe deren gerade 35/2, wogegen jedoch
Andere auftraten, die behaupteten, es ſeien vielmehr gerade 361/a,
aber Hr. Dr. Leutbecher enticheinet kühn: es find gerade 36.
Weiter Ternte ih, daß die Schladen der Litteratur des Mittel
alterd von dem niedrigen bierarchifchen Streben jener Zeit her«
. rühren, das „neben Großartigem mitſpielte.“ Ich hatte in meiner
Einfalt bisher geglaubt, der Gegenſatz des Weltlichen und firch«
lich Hierarchiſchen ſei gerade die Seele des Mittelalters. Freilich
ſuchte ih, nachdem ein weientliches Glied des Mittelalterd nur ald
beiherfpielended genannt war, in der maleriſchen Beſchreibung
feiner Litteratur vergeblich ein Princip, woraus ihre fänmtlichen
Gigenfchaften ſich ableiten ließen, und den darauf folgenden Ab⸗
riß der Hauptproducte derfelben hätte ich dem Verfaſſer gern
geſchenkt, da man in folder Kürze nichts Befferes, wohl aber
Schlimmeres als Nichts geben Tann. Bon der gründlichen Kennt:
niß diefer Litteratur, die der Verfaſſer entwidelt, mögen Züge,
wie der, ein Zeugniß ablegen, daß er jagt: „Neben ven Minnes
fängern ergößen die Raienbrüder und die Geißeler das Volk
mit Liedern niederer Art“ (S. 13).
Was er nun weiterhin über die Geſchichte ver Fauſtſage bei-
bringt, dafür wollen wir ihm immerhin dankbar fein; ift e8 auch
bloß ſtoffartig geſammelt und compilirt, fehreibt er auch S. 26
unten eine Bemerkung wörtlih aus Roſenkranz (Zur Geſchichte
ber deutſchen Litteratur ©. 136, 139) ab, fo mollen wir ihn
darüber nicht zur Nechenfchaft ziehen, wohl aber uns verwahren,
wenn er im erften Abfihnitt des zweiten Buches, wie jeine meiften
Coſlegen in Fauſt, ſchon in die Volksſage eine Tiefe und Weite
der Bedeuntung legt, ‘die fie erft durch Gvethe erhalten hat. Dem
127
Fauſt der Sage tft es mit feinem Wiſſensdurſt und feinen Zwei⸗
fein nicht fo Ernft, mie S. 91 behauptet iſt; in feinem Abfall
von Gott und feinem Zauber liegt freilich eine titanenmäßige Em⸗
pörung und das höchſte Wagnig der Subjectivität gegen ben
objectiven und allgemeinen Willen, aber die Zwecke, die Kauft
bei feinem Abfall im Auge Hat, find zu beſchränkt und Elein, um
ihn zum „Nepräjentanten ber ringenden Menfchheit überhaupt«
und feine Gefchichte zu einem „Ur- Evangelium ver Menfchheit ⸗
zu ftemyeln. Auch die Mufterung der dramatifchen Bearbeitungen
der Sage von Marlow bis Grabbe, die hierauf folgt, ift dankens⸗
werth, wiewohl ich gemünfcht hätte, daß der unglückliche Einfall
Leſſing's, Bauft dadurch zu retten, daß ber Teufel nur mit
einem an Fauſt's Stelle von einem Engel untergefchobenen Phan-
tom fein Spiel treibt, nicht ungetabelt geblieben und bie hohle
Renommage, vie gemeine Plumpheit und Nohheit von Grabbe's
Don Juan und Fauſt noch ftrenger beurtheilt wäre, als der Ver-
fafler es thut.
Im dritten Buche geht num aber erft der philofophifche Tanz
an mit den Bemerkungen zum erften Theile von Goethe's Fauſt.
Den Grund zu allem folgenden Tieffinn legt der Verfafler durch
eine nochmalige Betrachtung der Yauftfage als einer „Sage der
Menſchheit.“ Der Verfaſſer Holt aus — Achtung!
„Vergleichen wir das Leben und Handeln der Menſchen mit
ihrer Beſtimmung, ſo finden wir, daß dies entweder derſelben
gar nicht, oder nur zum Theil, oder ganz entſprechend iſt. Woher
das? Ein Theil der Menſchen erkennt, was der Menſch als
ſolcher in allen Lebensbeziehungen, als Einzelweſen, als Glied
der Familie, des Volks, der Menſchheit, der Natur, des Geiſter⸗
128
reichs und als ein Theilweſen in Gott ober in dem Weſen fein
fol; ein anderer Theil aber erfennt dad nur zum Theil; und ein
. dritter Theil weiß von feiner Beftinnmung endlich gar nichts. Wie
aber ver Menfch erkennt, fo will und handelt er, wofern ihm
die Kraft, feinen Willen‘ zu verwirklichen, nicht mangelt oder in
der Weltbefhränfung gelähmt ifl. Nachdem nun die Erfenntniß
des Menfchen, vefien Wollen, Thun und Leiden der Beftimmung
beffelben gemäß tft oder ungemäß ober nur zum Theil gemäß, je
nachdem iſt der Menſch auch entweder glücklich und zufrieden, ober
unglüclich und unzufrieden, oder zum Theil glücklich und zum Theil
unglücklich.“ Die Lebteren lebten, heißt eö nachher, „meiftend«
in Tantaliſcher Dual.
Man follte meinen, das Glück der Menfchen hänge eben
nicht von der Vollſtändigkeit der Erkenntniß ihrer Beftimmung ab,
der. größere Theil reiche mit einem gejunden geiftigen Inſtincte
aus, und mit ven drei Claſſen, die der Verfaſſer macht, fei ed
auch nicht jo ganz in der Ordnung, da am Ende alle Menfchen-
kinder in bie zweite gehören. Doch reiten wir nicht fogleich über
ben erften Sab, es iſt ja erft auögeholt. Wir müflen nun tiefer
in die Urſache dieſer Erjcheinung eindringen, daß das Leben eint-
ger Menſchen ihrer Beſtimmung gar nicht, anderer nur zum
Theil, anderer ganz entſprechend ift. Es jchien bis jet, der Un⸗
terichieb im Grade der Erfenntniß dieſer Beſtimmung folle als
legter Grund des menjchlihen Wohl- oder Uebelbefindens ange⸗
geben werden. Allein wir erfahren nun, daß gerade aus der
o zweiten Claſſe die Weilen, die Dichter und Propheten bervors
‚gingen, weiljenes Schmanfen zwijchen Glück und Unglück nöthigte,
über die höhere Lebensaufgabe nachzudenken; jo macht alſo der
129
Berfafler aus zwei Sorten feined dreifachen Teigs num eine Mes -
lange. „Ie nachdem in den Einzelnen dieſer Elaffe die Kraft des
Geiſtes die Sinnlichkeit der Natur übermwältigte, je nachdem ſpra⸗
hen fie über den Streit zmifchen dem Geſetze des @:iftes und dem
des Fleiſches ſich aus, und je nachdem bildeten fie ſich ihre An⸗
fiht von der Beſtimmung des Menfchen und der Art und Weiſe,
fie zu erreichen. War ihr Geift flärfer, als die finnliche Macht
ber Natur, jo erhoben fie ſich allmälig im Kampfe mit fich ſelbſt,
erfannten ben Grund biejed in ver Geſchichte der gefammten
Menſchheit nachweisbaren und durchklingenden Zwieſpaltes im
menſchlichen Weſen und frebten dann Fühnen Fluges zur Einheit
mit fich und dem göttlichen Weſen empor, und wurden bie wahren
Propheten.“ Da haben wir aljo den lebten Grund der Verſchie⸗
denheit der menſchlichen Zuſtände — das Vorwiegen von Geiſt oder
Sinnlichkeit. O Tiefe über Tiefe! Dieſe platteſte aller Diſtinctionen,
dieſe Kategorie, die fo unwahr iſt, weil fie fo wahr iſt, daß ſie überall
binpaßt, dieſer bis zur Beleidigung Elare, breit getretene Gegen«
faß, den jeder Ladendiener an den Schuhen abgerifien Hat, fol:
das Räthſel der Dienfchheit löſen! Aus ihm bebucirt nun ber
Verfaſſer die Gefchichte des Geiftes: diejenigen, bei denen bie
Sinnlichkeit ftärker ift, geben die Heiden ab, die andern, in denen
der Geijt mächtiger ift, die „fogar“ fanden, daß fie .mit der Natur
dann nur in Uebereinftimmung leben könnten, wenn fie fih
„weniger“ felbftfüchtig derfelben gegenüberftellten, geben bie
Chriften ab. Diefe nun fehwingen fich zur dritten Sorte Menſchen
empor (ed fehien vorher, fie feien fie ſchon, fle ſei wenigſftens,
ehe fich dieſe fo emporgefehmungen haben, gar niit vorhanden,
oder wie ift das, Herr Gonfuflonsrath?), doch nicht ohne viele
Kritiſche Gänge. 1. 9
130
fache Kämpfe. Ihnen gelingt dann die Einigung mit allem Wah⸗
ven und Schönen, fie fehen „das ganze Wefenall für Einen Or⸗
ganismus in Weſen an, oder doch wenigftend für Einen Orga-
nismus aus Weſen oder Gott, erfaßten ihr Verhältnig zum
Ganzen, fie fahen ein, daß all ihr Denken, Fühlen und Wollen
nicht bloß in ihnen felbft jei und fich auch nicht bloß auf fie be⸗
ziehen könne. Solche Gemeinpläge, wie Guted, Wahres, Schd-
ned, Denken, Fühlen, Wollen, darüber her die laue, abgefottene
Brühe des flachften Pantheismus, das iſt die Philofophie dieſes
guten Mannes. Wir ftehen in der wengften Beziehung“ zu Gott
u. vergl.
Auf diefem Wege findet er denn die tiefe Bedeutung der Fauft-
fage. Sie lehrt „in ihrer Tiefe ergriffen,“ daß „dem Menjchen in
dem Gebiete der Sinnlichkeit weder das wahrhaft Schöne, noch
pas Höchft Befeligende gewährt wird, daß er dieſes einzig und
allein findet, wenn er dieſe nievere Sphäre des Seins mit der
höhern vertaufcht und in das Weſen hinüberftrebt, aus dem er
hervorgegangen ift und in welches er heimgehen muß, mofern er
wahrhaft fein und genießen will, was unendlich ſchön und wahr
und bejeligend iſt.“ Da könnte man ja über diefer Fauſtſage das
ganze Evangelium, das ja doch nach dem Verfaſſer mehr nicht
als ſolche flache Allgemeinheit enthält, entbehren. Nicht nur bie
Sage aber, fondern auch Goethe's Fauft, deſſen Inhalt ver
Berfafler mit dem der Sage ganz iventificitt, wird auf dieſe platte
Allgemeinheit rebuchrt. „Und welches ift denn nun dieſe Wahr⸗
heit, die der Dichter in feinem Bauftne“ aus feinem innerften
Geiſte „gewiſſermaßen“ in das Gebiet objectiver Wirklichkeit her⸗
ausſtellt? Ich will fle mit wenigen Worten andeuten.« Nun hebt
131
ber Berfafier zunächft wieder das Moment hervor, daß Alles in
Sort ift, und daher auch dem Menfchen ber Drang imwohnf,
welcher fortwährend, allem Irrthum und allen Störungen zum
Troz nbintreibt zu dem Gebiete ver unendlichen Freiheit, Wahr⸗
heit und Schönheit.“ Siegt diefer Drang, fo tft der Menſch
felig (ohne Kanonifation und andern kirchlichen Apparat, ſetzt ber
Berfafler hinzu, der in Beziehung auf das freie Berhättniß, daß
fih Goethe zur kirchlichen Anſicht giebt, recht gefund und unbe
fangen denft — faſt da8 Einzige, was ih an ihm loben Tann).
Diefe Wahrheit, fügt er bei, ift diefelbe, die im Fetiſchismus
der Aegypter (2) 3. B. gar nicht möglih war, weil da Alles
„mehr“ als geiftlofe Natur hervortritt, die in der Phantaſie⸗
Meligion der Inder dämmert, von den Juden und Hellenen ges
ahnt wurde, aber erft im reinen Chriftenthum wahrhaft erfaßt
ift, und innerhalb deſſelben durch den größten Philofophen, den
-Tange verfannten und nun feligen Kraufe mit überzeugenden Wors
ten ausgefprodhen wurde (S. 220).
Jene Idee nun, über deren zweckmäßigſten Ausdruck wir
jetzt nicht weiter rechten wollen, darf allerdings als die allgemeine
Grundlage der Tragödie betrachtet werden. Allein wie begreift
der Verfaſſer nun ihren concreten Inhalt? Die allgemeine Idee
von dem Aufgehobenſein der Welt in Gott ſpricht am Ende alle
Poeſie aus. Es kommt nun darauf an, daß wir Fauſt und
Mephiſtopheles näher kennen lernen und die individuelle Geſtalt,
die hier der Kampf des Guten und Böſen annimmt. Man ſpringt
doch nicht fo mit gleichen Füßen ind Weſenall hinein, es giebt
Doch unterwegs noch Manches zu thun. Sehen wir hierüber den
Abſchnitt nah: „Das Drama Fauſt als die finnliche Darftellung
| 9 *
132
der in ihm ausgefprochenen Grundwahrheit “ (dies ift, wie wenn
man fagte: Der Menſch als der Körper feiner Seele, — doch
es geht zur Noth, ja es kann tief Elingen, Hegel Eönnte fo fagen,
aber Sr. Reutbecher iſt nah der gemeinen Logik, die fein Geſetz
ft, zu beurtheilen. Vergebens aber erwartet man, wozu dieſe
Aufſchrift Hoffnung machen könnte, eine Afthetifche Kritik).
Dazu vergleiche den fünften Abfchnitt: Das Einzelne, zunächft
bie Zuelgnung.
Fauſt's urfprüngliches und mwefentliches Pathos, der Wiſſens⸗
drang und Zweifel, iſt fo gut als gar nicht hervorgehoben, zwei⸗
mal, wo der Verf. an dieſen Hauptpunft fommt, überjpringt
ex ihn mit ein paar vagen Worten, ©. 224 u. 262. Und do
war bier noch jo Manche zu fagen, mad die Vorgänger nicht
gehörig aufgehellt Hatten! Es war zu unterfuchen, wie weit Kauft
Sfeptifer ift, wie weit nicht, wie er fich vom confequenten alten
Skepticismus dadurch mwefentlich unterfcheidet, daß er alle vorlies
genden Verſuche des Geiſtes, ſich die Erfenntniß der Wahrheit
zu vermitteln, zwar verwirft, aber dabei die Wahrbeit doch vor:
ausfegt und ihre Erfenntniß durch einen Sprung erobern will;
e8 war 3. B. nachzuweiſen, warum Fauſt (was u. U. Rouſſeau
in feiner Schrift: Ehrentempel Goethes, irre gemacht hat), aller
dings fagen kann: mich plagen weder Scrupel noch Zweifel, indem
er darunter die vereinzelten Zweifel de8 Dogmatismus meint, ber
ſich über den oder jenen Sag Serupel macht und übrigens doch
vor dem ganzen Kram herfümmlicher Kategorien, Argumente
u. f. w. unbedingten Refpect bat. Fauſt's religiöfen Unglauben,
ber fich bei den Tönen des Dftergejanges ausſpricht, bebt er gar
nicht hervor. In Bolge diefer Unterlaffung muß nothiwendig nach⸗
133
ber das ganze Verhältniß zwiichen Kauft und Mephiſtopheles und
die nähere Geftalt des Planes der Tragödie ganz ind Unbeſtimmte
zerfließen.. Derfelbe Durft nach dem Lirfprünglichen, nach eſſentiell
myſtiſcher Vermählung des Subject mit dem Objecte der Er⸗
fenntniß , der in Fauſt ald Denker brennt, flürzt ihn ja ins
Meer ver Benüffe, drängt ihn, fein Selbft zum Selbft der Menſch⸗
heit zu erweitern, indem er, vorher theoretiſch, eine praftifche
Geftalt annimmt Den berrlihen Gontraft des Wagner gegen
Fauſt, der Pedanterei gegen die Genialität, des Dogmatismus
und Formalismus gegen den Skepticismus und Myſticismus, der
Kenntniffe gegen die Erfenntniß , des geiftlofen pofltiven Krams
mit feinen Eleinen atomiftifchen Zweifeln und feiner großen Ach⸗
tung vor dem Buchftaben gegen den Schöpfungäbrang ber Spon-
taneität, dieſen unfterblichen Gontraft, wodurch diefe zwei Biguren
fo ewig wie Don Quirote und Sancho Panfa für alle Zeit plaſtiſch
in der Poeſie vaftehen, zieht der Verf. in feiner breiigen Unbeftimmt-
heit auch nicht mit der rechten Schärfe, da er Wagner das eine Mal
viel zu mild „die Schritt um Schritt vorwärts ftrebende Gelehr⸗
famfeit“, auch „die bejonnene Gelehrfamfeit“, dad andere Mal wies
der zu ſpeciell tadelnd „die perfonificirte Schulfuchſerei⸗ nennt,
„die nur Ruhm als das Höchfte begehrende Gelehrſamkeit.“ Jene
Inbrunſt nad) intuitiver Erfenntniß ift aber zugleich Fauſt's Schwä⸗
che, denn ungebuldig verachtet fie mit den ſchlechten auch bie rechten
Mittel des Erkennens und fehlittet das Kind mit dem Bade and, es
ſpricht ſich daher ſchon in ihr die Sinnlichkeit eines heftigen Tem⸗
peraments aus: die Blöße, tie Fauſt dem Meyhiſtopheles bietet,
and die diefer benußt, da Fauſt, mie Juſt. Kerner’ geiſtreicher
Todtengräber (f. deſſen Icaxus) fliegen zu Eönnen wuͤnſcht.
134
Dieſem Manne gegenüber , der immer oben hinaus will,
kann nım Mephiftopheles nicht, wie der Verf. immer meint, nur
beftimmt fein, die Sinnlichkeit zu repräfentiren. Erift nach ihm
mber finnliche Geiſt, das finnliche Weſen, Berfonification des finn-
Üchen Triebs, der Eolofiale Nepräfentant des ſinnlichen Triebe.»
©. 257 ff. firengt er ſich ſogar an, das Böfe überhaupt zu de⸗
finiren. Nachdem er Mephiftopheles als den Repräfentanten ber
Sinnlichkeit und Wandelbarkeit bezeichnet bat, fährt er fort:
„Ohne dieſes Princip wäre das Leben der abſolute Tod felbft
und ohne es würde aus dem Tode nicht Leben.“ Mit richtigem
Blicke feht er Hinzu, Gott ſei nicht bloß Geiſt, er ſei auch das
bewegende Weſen, das Antreibenve zum Werben, ohne welches
das Unendliche nicht ind Endliche überginge, und nennt Meyhi⸗
ſtopheles S. 260 ven Geiſt des Veränderns, dad zum Anders⸗
werben reizende Wefen. Gr hat alfo wohl eingefehen, daß ber
legte allgemeine Grund des Böfen die Schranke oder Negation
tft (determinatio est negatio), und ed wäre zunächft nur zu
mwünfchen, daß er vengemäß auch hervorgehoben hätte, mie viel
richtiger fih Mephiftopheles bezeichnet, wenn er fagt: ich liebe
mir die vollen, friſchen Wangen, für einen Leichnam bin ich nicht
zu Haus, ald wenn er in jenem verunglücten Verſuche, im
Geſpräche mit Fauſt fich zu definiren, jagt, biefe plumpe Welt
zu zerſtören fei feine Leidenſchaft. Nun war ed aber die meitere
Aufgabe, die vermittelnden Begriffe zu entwickeln, wodurch dieſes
metaphyfiſche Princip zum Böfen im eigentlichen, ethiichen Sinne
wird, zu zeigen, wie das _Princip der Scheidung, Individualifi-
rung, wodurd das Eine Unendliche in die Vielheit der Einzel-
weien fi fpaltet, jedes Individuum treibt, ſich gegen das andere
139
und gegen dad Ganze zu erhalten, wie viefer egoiſtiſche Selbſt⸗
erhaltungstrieb im Menſchen, weil dieſer als geifliges Wefen feine
Sinzelheit zum Princip erheben fann, zum Böfen wird. So
mag man bann Immerhin in einem gewifien Sinne das Boͤſe aus
der Sinnlichkeit ableiten, denn der Menſch ift Einzelmefen durch
bie finnlihe Bafls feines Geiſtes, wiewohl allerdings erft bie
zum Grundfag erhobene Sinnlichfeit, bie in dieſer Sublimirung
fogar einzelne ihrer Zwede aufopfern kann, böfe iſt. Aber dieſe
vermittelnden Begriffe überfpringt der Verf. mit einer Phrafe,
worin man nur mit Mühe eine Andeutung derſelben finden kann.
Sei jenes bewegende Princip, fagt er, mit Gott in voller Har-
monie, jo fei ed der heilige Geift, fei es „gleichſam⸗ mit ihm
im Kampfe begriffen, fo werde e8 der Böfe genannt. „Als hei⸗
liger Geift, führt er fort, ftrönt ed das Unmwandelbare in has
Gebiet des Veränderlihen und Endlichen, und als der böfe Geiſt
treibt es das Unwandelbare aus dem Gebiete des Endlichen wieder
in Gott zurück, daher es als folches auch zuletzt immer nur das
Gute ſchafft.“ Mag man die VBerfühnung Gottes und der Welt,
der Schranke und des Unbeſchränkten immerhin den heil. Geift
nennen, wiewohl es nicht paflend ift, aus dieſer metaphuflichen
Weite fogleih in diefe concrete Beftimmung überzufpringen,, am
wenigften, wenn man den Begriff der Sünde oder des Böſen
vorher gar nicht entwickelt hat: fo iſt doch für's Erfte hier gar
nicht motivirt, wie das feheidende Princip ſich zum Böfen fteigert,
für's Andere ift es begrifflos und wiberfpricht der obigen richtige-
ten Beftimmung des Verf., vom böfen Geifte zu fagen, er treibe
Das Unwandelbare aus dem Gebiete des Endlichen wieber in Gott
zurück, ba er vielmehr beſtrebt ift, dad Endliche für fich zu fi
136
sen, fo daß es in der Iſolirung feines Eigenwillens felbft das
Unwanbelbare barzuftellen behauptet. Die Verſöhnung bieler
Feindſchaft aber realifirt fich dadurch, daß das Gute, auch diefem
feinen Zerrbilde noch innwohnend, demfelben feinen inneren Wis
derſpruch zu fühlen giebt und es fo von innen heraus deftruirt
und in feine Einheit mit Gott zurücknöthigt. Hierin liegt au) dad
Moment, aus welchem ber wahre Begriff der Stellung des Bö⸗
fen zur Weltordnung zu entwickeln iſt: das Böſe hat Feine ande⸗
ren Mittel als das Gute, es vereinigt diefelben Kräfte, bie das
Gute hat, um ein falfches Centrum, ift aber ebendaher unorga⸗
niſch, nichtig und unmächtig. Es iſt aber von Gott (freilich nicht
für fih, es ift ja auch gar nichts für fich) georbnet, damit dad
Gute an biefer feiner Afterbilvung fich felbft erfenne und aus dem
Schlummer gereizt werde. Hieraus wäre erft abzuleiten, warum
Mephiſtopheles nothwendig verlieren muß, und an die Stelle der
vagen Ausdrüde, daß Kauft trog jeinen Verirrungen feinem
Urquell zuftrebe u. ſ. w., beflimmtere zu fegen, ja zu beieelfen,
wie er nicht nur trotz, fondern vermittelft diejer Verirrungen
zu einem vernünftigen und feligen Menſchen heranreift. Dies
führt und auf den Punkt, von dem wir auögingen, zurüd.
Hat namlich der Verf. fhon bier ganz außer Acht gelaften,
bie vermittelnden Begriffe, wodurch das Princip des Endlichen
und Sinnlihen in der Welt des Geifted zum Böſen culminirt, zu
entwideln, fo folgt von ſelbſt, daß er auch in der meiteren Er⸗
Härung des Drama Mephiftopheles , flatt ald den Böſen, nur
als den Sinnlichen auffaßt. Nimmt er ihn fo zu leicht, iv überſieht
er doch auf ber andern Seite das Heiliame und mitelbar Gute.
was Mephiſtopheles wirkt. Meyhiſtopheles für ſich iii böſe, wie
137
die Sinnlichkeit und ber realiſtiſche Verftand, mo fle fich zum
Vrincip machen und für Gelft und Vernunft audgeben, ind Boͤſe
umſchlagen. Zufammengenommen mit Fauft aber, alfo abgefehen
von biefer feiner Iſolirung, hat er auch fein mohlbegrünbetes
Recht, daſſelbe, das ein gefunder Realismus gegen einen einſeiti⸗
gen Idealismus, ein derber Cynismus und grober Verftand gegen
eine überfpringende Vernunft, die Ironle gegen den Enthufiasmus
bat. Beide zufammen, Fauſt und Mephiftopheles , find erft ein
Menſch, der Menſch. Kauft lernt von Mephiſtopheles, wie
Don Quirote von dem, freilich unſchuldigeren, Panfa, vefien
Beifpiel wir auch bier, wie oben zu Wagner , anführen Fünnen,
recht viel Gutes und Wahres fih fagen laſſen muß, es kommt
nur darauf an, daß er dad Gute von ihm annehme, das Schlechte
weglaſſe, was freilich fo ſchwer iſt, daß es nicht immer gelingt.
Merbiftopheles Hat mit feinen realiftifch groben Aeußerungen
immer halb Net, wie 3. B. Kant und Leſſing Halb Recht ha⸗
ben, wenn fie dad Moment der Sinnlichkeit in der Liebe und Che
(freilich einfeitig, daher ebenfo verwerflich) premiren. Die Wahr-
beit nun, daß das Böſe eine pädagogiſche Bedeutung hat als
heiljame Mahnung an die Schranke überhaupt, als Reiz ber
Verſuchung, der die faule Tugend aus ihrem Schlummer weckt,
als Verſtand, welcher ver Vernunft die Grenzen der Dinge zeigt,
als Wehre, morüber der Strom des Lebend rauſcht, zu entwi⸗
dein, war der Drt in der Erklärung des Pacts zwiſchen Fauſt
und Mepbiftopheles ; aber bier weiß der Verfafler nur ganz un
beftimmt und allgemein hervorzuheben , daß Fauſt nicht verloren
fein Eönne, fagt davon nichts, daß dieſer Bund nicht nur nicht
verberblih , fondern, wenn Fauſt jeine Freiheit fich vorbehält,
138
fogar lehrreich und fördernd für fene Erziehung zu vernünftig
beſchränkter Thatigkeit ausfallen muß. Daher fagt er auch über
bie bedeutende Schluß - Scene bed erften Theil nicht? als, man
bürfe an Feine Höllenfahrt denken, Fauſt fei eben „unbefriebigt.«
Er iſt nicht nur unbefriedigt, fondern zerriffen von ber tiefſten
Meue, und es kommt nun barauf an, daß er ſich aus dieſer eine
beiljame Lehre ziehe, was freilich in der erſten Scene des zweiten
Theils ganz Äußerfich und hürftig dargeftellt wird. Dagegen be
merkt der Verf. zur Schluß-Scene tes zweiten Theils richtig, daß
Fauſt erlöft werden muß, weil er zu vernünftiger, reeller Thätig⸗
Teit übergeht, aber dieſe Einftcht fteht ganz unvermittelt da, well
Im Vorhergehenden nicht nachgetwiefen tft, wie died das Reſultat
fel der Erziehung, die Kauft im Bunde mit Mepbiftopheles, wel⸗
er freilich ald Perſon für ſich diefe gute Folge nicht gewollt Hat
und fich nicht zufchreiben darf, erhält. .
So viel Über des Verfaſſers Behandlung der durchgreifenden
SHauptmomente bed Drama. Alle Unrichtigfeiten, Schiefheiten,
Berwäflerungen, Abfurbitäten, die fich in feiner Erklärung des
Einzelnen finden, aufzuzählen wäre eine Hercufeö- Arbeit. Ich
führe nur Einzelned an.
Wie abjurb ift ed geiagt, wenn ed von dem Director im Vor⸗
friele heißt: „ber Director ift die Berfonification der gewinnſüch⸗
tigen Selbftfucht, des engherzigften Intereſſes, — damit erbärm-
lich.“ Gegen eine ganz heiter und behaglic behandelte Figur fo
enthuftaftifch ausbrechen, ift Fnabenhaft. Ueberhaupt verratben
die. meiften Schriften in biefer Litteratur einen gewiſſen Mangel
an Gefühl für die humoriſtiſche Leichtigkeit und Behaglichkeit,
womit ber Dichter auch die gemeineren Charaktere, Wagner, bie
Trinkerin Auerbach's Keller u. ſ. w., in ihrer Art idealiſirt hat.
Da tft gleich von Rohheit, Erbärmlichkelt u. |. f. Die Rebe, da
it fein Sinn dafür, wie auch dad Gemeine dadurch, daß e8 ko»
miſch gehalten iſt, ſich Abfolution verfchafft. — Mit einer ganz
Allgemeinen, flüchtigen Bemerkung geht ber Verf. S. 227 über
die treffliche Scene zwiſchen Mephiftopheled und dem Schüler bin,
©. 272 kommt er darauf zurüd, tft geneigt, die Ausfälle des
Mephiftopbeles gegen die Metaphyſik auf Haller und Kant zu
beziehen (morüber ich nachher zu Weißes Säit Einiges bemere
fen will), und jagt ganz verfehrt: Mephiftorheles ſpreche hier
überall ganz als Fauſt. Mephiſtopheles will dem Schüler vie
Wiſſenſchaft, indem er fle ihm anräth, verleiden, weiß aber recht
wohl an fih ihren Werth zu erkennen, fonft hätte er nicht über
Kauft gejagt: Verachte nur Vernunft und Wiſſenſchaft, des Men⸗
ſchen allerhöchfte Kraft! -— Die Sonne heißt Hr. Leutbecher den
ineorporirten Geift S. 256, Geiſt und Licht identificirt er ganz:
„Geiſtweſen over Licht.» — Die Magie Fauſt's wird definirt
durch: mdie von dem fchaffenden Geifte der Poeſie und Kunft
durch und durch befeelte Welt- und Natur⸗Durchforſchung.“ Da
fönnten wir ihm ja zu feiner Magie nur gratuliren, und unbe»
greiflich wäre es, warum er denn mit diejer trefflichen Kunft boch
gar nit vom Fleck kommt. Fauſt's Magie bedeutet — Fauſt's
Magie, und wie in der Magie überhaupi die Ungeduld des eigen-
finnigen Willens fich Fund thut, ber mit Berwerfung der Mittel
unmittelbar über die Natur disponiren will, fo will Kauft dur
dieſelbe Ungeduld die Natur zwingen, feinem Wiſſensdurſt ihr
Räthſel zu offenbaren. — Warum Fauſt trog dem Entzüden,
dad aus der Anfchauung des Makrokosmus in ihn überfließt,
140
fortbärftet, iſt ebenfalld nicht gejagt. Wir bemerften ſchon an«
derswo, daß die forcirte Intuition ihrer Natur nach etwas Mo⸗
mentanes ift. — Der herrliche Contraft zwiſchen Fauſt's Seelen
zuftand und der Leichtigkeit, womit die glüdlih blinde Menge
fich über die Tiefen des Lebens weghilft, den der Dichter durch
den Spagiergang vor dem Thore gewinnt, ift nicht hervorgehos
ben. — Der Geiſterchor, der Fauſt's Fluch auf alle Genüffe des
Lebens beklagt, wird gedeutet auf „bie reinen, die Weſenharmo⸗
nie beförbernden Geifter, hier die Mepräjentanten feines befieren
Bemwußtfeins« ; es find ja aber Geifter des Mephiſtopheles, er
nennt fie „die Kleinen von den Meinen“, fie laden Fauſt zu
neuem, d. 5. vollfommen im Sinnlichen befrienigten Genußleben
ein, wie es im Intereſſe des Mephiftopheles ift, ta dieſer und
feine Geifter Feine Freude an der von Fauſt ausgefprochenen Ber:
achtung des Genuſſes haben Fönnen. Pſychologiſch gedeutet ift es
das nachdröhnende Gefühl des Fluchs in Fauſt, ein leiſes Bes
mitleiden feiner felbft, nachdem er die ſchöne Sinnenwelt ver:
mwünfcht hat. — Bon Gretchen, da fie zuerft auftritt, heißt es:
„bisher hat das arme Kind in einem dunflen Dörfchen gelebt
u. |. w. Sie ift dabei die reinfte Jungfräulichkeit und Unſchuld
felbft geblieben. Iegt iſt dies holdſelige Kind in der Stabt.«
Wahrſcheinlich lernt fle Kochen und Franzöſiſch? — Unter ber
feyliftiich eremplarifchen Aufſchrift: „Die Handlung des Bekannt⸗
werdens mit Gretchen“ heißt ed unter Anderm: med ift ſelbſt
dadurch, daß die Nacht des eigentlichen Genuffes am Ende dieſes
Actes fehlt, Feine Lücke entftanvden, denn es bleibt gleichwohl
Alles bier in voller Einheit.“ Aber, aber! Bortreiflichiter Freund!
Sie find doch im ganzen Buche jo tugenphaft! Wo denfen Sie
141
bin? Sollte denn bieje Nacht wirklich und orbentlich dargeſtellt
fein? Im jeßigen Theatergeſchmack wäre es allerdings. — Die
Trödelhere auf dem Blocksberg, bie lauter Werkzeuge ber ver-
ruchteſten Verbrechen feil beut, fol — ganz Leutbecheriſch — nur
ein Bild „nievrigfters Sinnlichkeit fein.
Doch genug und ſchon zu viel; wir Haben den Verfaffer als
Metaphyfiker und Commintator bereitd binlänglich kennen gelernt.
Als Aefthetifer müfjen wir ihn erft noch kennen lernen. Es ver-
fieht ih, daß bei einem folchen Manne von Kritik nicht die Rede
iſt. In Goethes Fauſt iſt Alles vollkommen, unübertrefflich. Nichts
im Simmel und auf Erden iſt, was nicht in dieſer Tragödie fteht.
„Died Drama ift der geiftreichfte Organisnıus einer Himmel und
Welt, Geift und Natur innigft umfaffenden und vereinenden Idee,
der Idee nämlich, welche ſowohl durch die Geſchichte des Einzel-
menſchen, als auch durch die dei gefammten Menichheit in ihrem
Verhältniß zu dem Wefen felbft, in melchem Alles ift und Alles
felig ift, theils ſchon verwirklicht worden ift, theils noch verwirk⸗
licht und dargelebt« (dad unfinnige, affeetirte Wort bat er von
Carus) „werden wird.“ „Hier ift die Philofophie des gefammten
Menjchenlebens in der reichften Poefle aufgegangen.“ „Died
Merk, deſſen hier mitgetheilte Werthſchätzung von Vielen vielleicht
eine übermäßige bezeichnet werben wird, aber darum Feine über-
mäßige ift, war au u. |. w.“ Hier iſt Tauter Plan, Zuſammen⸗
hang, Einheit, nicht nur im erften, fondern auch im zweiten
Theil, der letztere „erweitert durch Folgerichtigfeit ter Scenen
ſowohl, ala durch Neichhaltigfeit an Schönheiten und Gebanfen-
fülle die einfache Allegorie des erften Theiles in daß Großar⸗
tigfte.“ Hier find wir an dem Punkte, wo der vollſtändige
-
142
Mangel an allem poettihen Gefühle, ja die craffe äſthetiſche
Ignoranz des Verfaſſers auf ihrem Gipfel erfcheint. So wenig,
fo gar nicht8 weiß er von den Unterfuchungen ver Aeſthetik über
bie verfchiedenen Verhältnijje, in melde Bild und Idee in ber
Kunft treten Eönnen, über ven Unterſchied ver Acht poetifchen Ges
ftalt von der Allegorie, daß er ganz harmlos, als hätte Niemand
etwad dagegen einzumenden, ald hätte Niemand Br. Schlegel
und Solger widerlegt, wenn jener das Schöne überhaupt, biefer
das romantiſch Schöne allegorifeh nannte, ſchon den erften Theil
eine Allegorie nennt! „Öroßartige Allegorie/ &. 253, „plaftifche
Allegorie« 222 u. ſ. f. Unter folden Umftänden iſt e8 denn
nicht zu verwundern, wenn er ſchon bie concreten Geftalten bes
erſten Theils in dickhäutig ſtupider Wehlweisheit zu Allegorieen
verflüchtigt. Armes Gretchen! Auch du mußt nun eine Allegorie
fein! Nachdem du fehon unter dem Henkerbeile geblutet, richtet
dich Die Kritik noch einmal hin! „Es fcheint zwar, daß die Ges
ſchichte mit Gretchen Feine Allegorie fei, allein es fcheint auch nur
fo; die Kunft des Dichters bat hier faft fich felbft übertroffen,
indem fie und eine Allegorie fo Hinftellt, daß wir fie kaum für
eine ſolche, weit eher für eine wirkliche Gefchichte halten möchten“
&. 278. Die Deutung folgt 282: „Gretchen ift nichts Anderes
als das Einfachſchöne, dad Einfachwahre und Gute in dem Weſen
feine8 (des Dichter) eigenen Genius, welches er ſich durch Ab»
ftraftion objectivirte u. ſ. w. in andermal iſt Gretchen das
Naturjchöne, Helena das claſſiſche Schöne (S. 309). Valentin,
du derbe, markige Geftalt aus dem Volke, du bift nun mein
fittlider Soldat,“ „ber Repräfentant der fittlihen Kraft und
Würde.“ Man meine nicht, der DVerfafler nehme den Begriff
143
ber Allegorie fo unbeflimmt, vaß wir folche Bezeichnungen und
gefallen laſſen könnten; Balentin repräfentirt allerdings bie ehr⸗
bare ftrenge Sitte, aber e3 erhellt ſchon aus. dem abftracten
Ausdrude Sittlihfeit, daß der Verfaſſer dieſe Geftalt im
feinem anderen Sinne für eine Allegorie hält, als in welchem fie
es nimmermehr ift. Ebenjo repräjentirt Gretchen allerdings, was
das weibliche Ideal überhaupt gegenüber dem männlichen, Seelen-
veinheit, Harmonie, Anmuth: aber fo repräfentirt fie dies, daß
ed ihre wirklihe Seele ift, und nicht diefe abftracten Begriffe
überhaupt, fondern bieielben eben nur in diejer Boncretion,
welche Gretchen ift, in diefem Drama wirken und auftreten. Wie
ganz äußerlich und zufällig aber dem Verfaſſer die Verbindung
dieſer Ideen mit der concreten lebendigen Geftalt im Gebichte ifl,
bemeift feine Manie, ven geiftigen Inhalt des Gevichts aus dieſem
Zuſammenhange beraudzureißen und unmittelbar auf die Lebens⸗
geſchichte des Dichter zu beziehen; denn er hat gehört, daß ber
Dichter in feinem Gedichte das eigene Innere niederlege, und wie
der platte Verſtand fogleih alle Begriffe vergröbert, jo confun«
Dirt er nun das Gedicht ganz mit dem Dichter. „Die Gefchichte
mit Gretchen, mit ihren Vorbereitungen und ihren Folgen, ent⸗
hält zugleich die Gefchichte der Beftrebungen Goethe's ald Dichter
in feiner erften Periode.» Das Gefchmeivefäfthen, das Fauft ber
Geliebten ſchenkt, mbezeichnet ſymboliſch des Dichters erfte
Reiftungen (etwa Werther's Leiden).« Das Herumwerfen
Fauſt's im Seffel gleich anfangs in der erften Scene wird alles
gorifch fo gebeutet: „Er oscillirt wie die ihren Pol fuchende
Nadel“ sc. zwifchen den geiftigen Mächten, bie ihn von verſchie⸗
denen Seiten anziehen. Das Pentagramma bedeutet „Die irdiſche
n
144
Hülle des Menſchen,“ und das Mephiſtopheliſche Weſen kann
nur dann erft von ihm weg, wenn „die Hatte, das ven leib⸗
lichen Menfchen zerftörende Princip,“ viefelbe zernagt Hat. Die
wilden Trinker in Auerbach's Keller find, fo wagt der ſchüchterne
Verfaſſer wenigftend zu vermuthen, eine Hindeutung auf bie
zweite Schlefifhe Schule. Die Here in ihrer Küche iſt die
Muſe des Unfinns in der deutfchen Litteratur zu Goethe's Zeit
u. f. fe — Da werden der Hr. Beftelmeyer in Nürnberg eine
Freude gehabt Haben! Das find nette Stückchen in feinen Laden!
Macht fich ver Verfafler Allegorieen, wo eine find, fo find
ihm die wirklichen Allegorieen des zweiten Theild noch nicht alles
gorifch genug, und er macht Allegorieen der Allegorieen. Der
Kaiſer ift der europäiſche Menfchheitgeift. Die Schlacht zwifchen
den Kaiſer und Gegenkaifer ift wahrfeheinlich ein Symbol ver
Fehde zwiſchen den Geognoften, doch zieht der Verfaſſer dieſer
Deutung noch die andere tiefere vor, wonach der Gegenfaijer ven
ber Herrichbegier der Kirche bequemeren Geift der Zeit bedeutet,
welcher nah den Befreiungöfriegen gegen Napoleon eintrat
(S. 336 ff.), die faljchen religiöß=politiichen Tendenzen diefer
Periode. Don diefen zweierlei Auslegungen zieht der Verfaſſer
beidenmüthi, die zweite vor, „jelbit wenn fie falich fein follte«
(S. 339). — Wenn Fauft dad Hüttchen der alten Leute Phile⸗
mon und Baucid weghaben will, un feine Anfiedlung auszu⸗
behnen, fo fagt hiezu der Verfaſſer: „das Gebiet der Poefie,
Aunſt und Wiſſenſchaft hat Fauſt durchwandert, aber das Gebiet
ber von allem äußerlichen, ungeeigneten Anklebſel reinen Neligion,
das alle Thätigkeit in der höchſten Stufe Veredelnde und eben die
freieſte Ausſicht Gewährende iſt noch nicht dad Seinige.“
145
Nehmen wir zu all diejem Wahnwitz noch die läppiſche After-
weisheit der Kraufiſchen Terminologie, den ſchulgehilfenartigen
Purismus, „mwejenlih“ „bedungreich“ und dergl., jo fehlt nichts,
als einige Proben der unnatürlichen Sapbildung , des zahm limi⸗
tirenden, abgeichwächten Redens, um ein vollfonmenes Bild des
ihönen Ganzen zu befigen. „Der nur etwas Geift Habende“ 204.
Das Kleeblatt Fauſt, Mephiſtopheles und Homunculus zieht
jeder feiner Straße, „beſondere Zwede habend“ 315. Dann die
abichwächenden Partikeln, Gomparative u. f. w., Die einen
bloßen Grab oder eine bloße Aehnlichkeit ausdrücken, wo abfolut
zu ſprechen und die Sache telbjt zu bezeichnen war, mie: bie
Leidenſchaftlichkeit iſt „mehr“ beherrfcht, dem verirrten Geift der
Zeit gefällt „eigentlich nur mehr“ das Verzerrte; daß der Menſch
fih durch einen Bund mit dem Böſen aus der Sphäre des Wefens
oder Gottes verbannen könne, iſt dem Bauft „nicht fehr wahr-
ſcheinlich;/ Goethe war dem Neptunismus „ſehr“ zugethan (er
war ihm zugethan); Gebet und Buße find bei ſchweren Vers
ſuchungen „minder wichtige Dinge.“ So geht ed mit gleichfam,
fogar, Häufig, meiftens, mehr, nur mehr, minder und dergl.
fort. Defterd führt der Schalf einen wißigen Seitenhieb mit ſei⸗
ner jcharfen Klinge, 3. B. zu der Erzählung nad dem Puppen⸗
ſpiel, wie Bauft nach längerer Abwefenheit jeine DBaterftadt
Wittenberg von Weitem an den Ihürmen erfennt, fügt er bei:
„das Einzige, was oft die Menſchen von ihrer Stadt fennen und
im Gedächtniß behalten!“
Sp hätten wir nun biejen Leidbecher bis auf die Hefen aus⸗
getrunken! Es war fein kleiner Schluck! „Warum aber auch fo
gründlich bis auf den Bodenſatz?“ Du Fieber Himmel, ich will und
Kritiſche Gänge ll. 10
146
darf ja Niemand Unrecht thun! Ich muß beweiſen, und laſſe ich mich
einmal auf’8 Beweifen ein, fo giebt ein Wort das andere und ich kann
dem Lefer nicht helfen, er muß mit mir durch Did und Dünn, ex
muß den ganzen Trunf fhlürfen. Au wolle man gefälligft nicht
überfeben, daß Hr. Leutbecher, nicht mit einer beicheidenen Bro⸗
fhüre, wie feine Bordermänner , fondern mit der bidleibigen
Miene auftritt, das Gedicht erfchöpfend zu durchwandern.
So wie mit unferer Geduld find wir nun aber auch mit dies
fer Reihe von Commentaren zu Ende. Das Gröbfte liegt, Gott
fey gedanft, hinter und.
Machen wir hier zu unferer Erholung eine Fleine Paufe. Ich
hole nur na, daß ich den Kommentar zum zweiten Theile von
Dr. @. Löwe, Berlin 1834, abfichtlich nicht aufgenommen habe,
weil ein folder Commentar wie fein Gegenftand gar nicht in's
Geld der Afthetifchen und philofophifchen Kritik gehört, und ung,
ob die Interpretation gelungen. ift oder nicht, höchſt gleichgültig
fein kann.
eng en
Zweite Meihe.
Fünf Hegelianer. Mit Freuden begrüßt man bier fogleich
das, dieſen philofophifchen Interpreten gemeinfame, Zutrauen zu
ber Gompetenz der Vernunft, woraus unmittelbar hervorgeht,
daß das urfprünglide Pathos Fauſt's, fein Wiſſensdrang, von
147
dieſer Neihe richtig gewürbigt und nicht an der Schwelle ſchon das
Hauptniotiv verfannt wird. Dieje Schriftfteller willen, was fie
wollen, und taumeln nicht in haltungsloſer Confuflon. Dagegen
fieht man fi in einer anderen Hoffnung getäufht, in der näm⸗
ih, daß Männer, die auf der Höhe des freien Denkens zu
fteben behaupten , auch dad Gedicht ſich objectiv Halten, d. h. daß
fie nicht hineinlegen werben, was nicht darin liegt, und daß fie
mit unbefangen kritiſchem Auge ſeine Mängel wie feine Vorzüge
erforfchen werden. Die Hegel'ſche Schule hat in ber erften Be⸗
geifterung ihrer großen Entdeckungen fih nicht ganz von dem
Schwindel frei erhalten, den man und den fie jelbft der Schel-
ling’fchen vorwarf, von jener Manie, jedes nächſte Ding, ehe es
nur ordentlich empiriſch beobachtet und zergliedert ift, fogleich unter
den Standpunkt der Idee zu bringen und es als einen Compler
alles höchſten und univerfalften Inhalts darzuftellen; fie hat
überhaupt das Moment der Kritif vernachläßigt, fofern diefe ihrer
höheren Thätigfeit eine ſchlichtverſtändige und vorausſetzungsloſe
Zerlegung voranzufhiden hat. Allzu unterwürfig hat fie auf des
Meijtere Worte geſchworen, und die vorliegenden Schriften, mie
fie zum Theil von fortlaufenden Citaten aus Hegel, ald wäre’
diefer Goethe's Scholiaft, wimmeln, find fhon Beweis genug.
Nach des Meifters Vorgang fand man das reinfte Mufterbild der
Poeſie in Goethe; gewiß eine gerechte Bewunderung, die aber
mitunter in blinden Gögendienft audartete. Es wird und daher
nicht wundern, wenn wir auf dieſer Seite das unfritifche Abſo⸗
lutnehmen des Gegenftandes und die fyeculative Deutungswuth
mit wenigen Ausnahmen, faft nur mit Einer, fogar noch höher
gefteigert finden, als auf dem erften Flügel. Schon bie erfle
10*
148
Schrift, die über den Fauſt erſchien, und alfo, wie die Schu:
barth’jche, verfaßt ft, ehe man von einem zweiten ‘Theil ber
Tragödie wußte, bewegt fih in dieſem Zopf- und Kamafchen-
Dienft. .
Ueber Goethe's Fauft und deffen Fortfegung.
Nebft einem Anhange von dem ewigen Juden. Yeip-
zig, 1824.
Mottos Im Auslegen feid munter,
Legt ihr's nicht aud, fo legs wad unser.
Herr Göſchel beginnt mit einer Einleitung über die Sage
von Bauft im Allgemeinen, fpricht gegen die falfche Beſcheidenheit
der Vernunft, die ſich nur Anfichten und Feine Einfichten zutraut,
den kräftigen Muth des begreifenden Denkens aus, macht aber
jogleich eine falfche Anwendung auf die Volfsjage vom Dr. Fauft.
‚Er meint, es ſei eben in ihr jener Mangel an Zutrauen zur
Vernunft niedergelegt, der den Verſuch, das Höchſte zu begrei=
fen, als Vermeſſenheit verdammt. Ganz wohl kann man es ſich
gefallen laſſen, wenn er jagt, die Sage wurzle auf jenem din
fein Abhängigfeitögefühle, wovon fich der Menſch nicht zu bes
freien vermöge, auf jenem vernehmlichen Gefühle, daß ber
Menfch nie die Bedingung feiner jelbft in feine Gewalt befommt;
es iſt allerdings die Abficht ver Zauberei, über den Naturgrund,
in welchem wir felbft wurzeln, durch das bloße Ausfprechen des
Willens ohne Mittel (denn die jcheinbaren Mittel der Zauberei,
Formeln und dergl. find Feine) zu herrichen. Aber Göſchel ſpricht
Hier nicht vom Zauber, jondern von Fauſt's Wiſſensdurſt, denn
149
er feßt Hinzu, die Sage wurzle auf jener alten begrifflojen Ueber⸗
zeugung von der Linbegreiflichkeit aller Dinge, axaraAnwla, und
von der Schwäche der menjchlichen Vernunft. Dies tft bereits
eine Verwechslung ded Inhalts der Sage mit der vergeiftigten
Geſtalt, die er durch Goethe erhalten hat. In der Pfizer'ſchen
Darſtellung der Sage (Nürnberg, zuerft 1674) und in dem fürs
zeren Volksbuche ıft von großem Wiſſensdrange ald Motiv von
Fauſt's Abfall gar nicht die Rede; zmar erfcheint Kauft ald ein
begabter offener Kopf, der in feinen Studiis folchergeftalt zu⸗
ninmt, daß er tüchtig erfunden wird, den Titel eined Magiftri
zu erlangen; das ift aber doch noch lange nicht der Kauft, ber
nach ſchrankenlos unendlicher Erfenntniß der Wahrheit ſchmachtet.
Was dann feinen Vlebergang zur Zauberei vermittelt, ift keines⸗
weqs die Ungeduld über unzulängliches Wiflen ſchlechte Gejell-
ſchaft, zerrüttetes Vermögen u. |. w. find die Urſachen. Mit dem
Teufel disputirt er zwar viel, und läßt fih von Simmel und
Hölle erzählen, doch mehr aus Neugierde, als aus Wiſſenstrieb,
nachher aus Gewiffensangft. Diefe Geſpräche find offenbar ſpä⸗
tere Einfchiebjel eines Theologen, fle find ganz im Geſchmacke
des 17. Jahrhunderts und gewiß der urſprünglichen Sage fremd.
Im Puppenpiele fehlt dagegen jenes Motiv nicht. Wir fehen
Fauſt, wie bei Ovethe, ungeduldig über feinen Büchern, er ber
Elagt, zu keinem Ziele kommen zu Eönnen, und ergiebt fi darum
der Magie; darin liegt ein Anflug von dem, was Goethe aus
Fauft gemacht hat, aber auch nichts weiter, denn tief geht es
bier gar nicht, ſonſt hätte das Motiv in den Hauptquellen, ben
weit verbreiteten, beliebten Volksbüchern, nicht ganz wegäelaffen
werden können, und fonft müßten wir in dem Bauft, wie er
150
nachher als Zauberer auftritt, doch noch eine Reminiſcenz an
biefen Wiſſensdurſt finden, movon aber feine Spur zu fehen ift.
Doch nicht nur den theoretiihen Zwieſpalt des Geifted mit fich
fol die Sage enthalten, fondern „te umfaßt die Verzweiflung
in allen Richtungen und den Weg zum Teufel in allen feinen
Krümmungen, fie ift das Sinnbild alles menfchlichen Berverbens,
infofern folhes aus der Verzweiflung, und biefe aud dem Miß⸗
verhältnifie zwiſchen Können und Wollen, Müflen und Dürfen,
- zwifchen Freiheit und Nothwendigkeit, zwiſchen Subjeet und
Dbject hervorgeht“ u. |. w. „Bauft iſt das allgemeine Indivi⸗
duum ber geſammten Menſchheit in ihrer äußern Vergänglichkeit.“
Wie Herr Leutbecher, nicht anders. Geſchichtlich ſoll die Sage
mit allen zur Zeit des erlöſchenden Mittelalters fich durchkreuzen⸗
den Beſtrebungen im Zuſammenhang ſtehen, mit der Erfindung
der Buchdruckerei, mit der Reformation in Sachen des Wiſſens
ſowohl als des Glaubens, mit Carteſius, mit Spinoza, Fauſt's
Name ſoll an den Buchdrucker Fauſt und den Freidenker Fauſtus
Socinus erinnern. Es iſt aber erwieſen, daß Fauſt der Zauberer
nichts mit dem Buchdrucker Fauſt zu ſchaffen hat; die Sage iſt
überhaupt nichts als ein Zauber-Roman, der eine Menge von
Zauberftüdchen, vie alle ſchon früher, zum Theil ſchon feit meh⸗
reren Jahrhunderten im Munde ded Volkes waren, um ben
mythiſchen Namen Fauft verfanmelte und fo diejen Zweig der
Romantik zu der Zeit, da diefe überhaupt verflang, im fechzehn- |
ten Jahrhundert, abſchloß. Ebenſo ballten fich eine Menge gleich“
artiger Schwänfe, die man ſich vorher vereinzelt erzählt hatte,
im Tyll Eulenfpiegel und in den Schilobürgern zufammen. Daß
durch jenen Abſchluß das Weſen der Borftellungen vom Zauber
151
fich deutlicher hervorſtellen und zu einer beſonders marfirten Schil⸗
derung bes Fühnen Frevels fowohl, der es wagt, ausdrücklich
mit dem abfoluten Gegenftande der Pietät zu brechen, als auch
ber Schauer des Fluches, ven er auf ſich lädt, ſich fleigern mußte,
iſt natürlich; doch ift daſſelbe Gefühl ſchon in der Sage von Teo⸗
philus und Mifitaris niedergelegt. Wir erhalten hier auch bereits
-eine Probe von der Spielerei, bie des Verf. Stedenpferd iſt:
„Fauſt's Lebensende im vierzigften Jahre erinnert nicht bloß an.
ben alten derbdeutſchen Scherz , den das Sprichwort mit feinen
Landsleuten ger foll in Knittlingen geboren fein) treibt, fondern
zugleich an die allgemeine Schwabennatur des mit Blindheit ge»
ſchlagenen Menſchengeſchlechts.« Wie viel war Über die limgeftal-
tung der Sage durch Goethe. zu fagen! Der Verf. kommt auf
dieſen Punkt am Schluſſe zurück (S. 146 ff.), beläßt ed aber bei
ben ganz allgemeinen Ausdrücken, die Sage habe ſich verklärt und
verftändigt, von Neuem geboren u. f. w.
Sol ich nun den weiteren Inhalt diefer Schrift vorläufig im
Allgemeinen charakterifiren,, fo kann ich dieß nicht paſſender, als
durch den Ausdruck, daß der Verf. an einer Franken Ideen⸗Aſſo⸗
eiation leidet, oder richtiger an einer Franken Präponderanz biefer
fpielenden Thätigkeit über die Vernunft. Ihm fällt bei Allem
Alles ein; eine entfernte Aehnlichkeit Elingt ihm im Ohre, und
er verbindet die entlegenften Dinge zu dem Scheine einer Einheit.
Dieß thut au der Wiß, aber dieſer will feine wirkliche Täu⸗
fehung bervorbringen, es ift ihm nicht Ernſt. Denjenigen Seelen
zuftand dagegen, wo die Vorftellungen aus ihren Zufanmeit«
hange herausgeriſſen nach dem wirren Spiele der jogenannten
Ideen⸗Aſſociation einander umtanzen, und wo foldhe Verbindun⸗
152
gen doch mit der Behauptung des Ernſtes und der Wirklichkeit
aufgeftellt werden, nennt man Wahnmwig. Eigentlich wahnwitzig
nun fünnen wir Herrn Göfchel nicht nennen, denn er hat aller
dinge ein Bewußtiein von der Tollheit feiner Ideen-Verbindung
und ſcheint mit einem feinen ironiſchen Lächeln zu fagen: fehr gut,
o ihr Vortrefflihen, weiß ih, daß euch diefe Dinge ſeltſam Elin«
gen, daß euch bei meinem dialektiſchen Hocuscopus, meinen
quaternionibus terminorum der Kopf dreht, daß es euch melt-
lich heiteren Menſchen ſchwer binuntergeht, bei dem Triller Or⸗
gelum Orgelei an Welt-Ideen, an tiefften Tiefſinn zu denken ;
lacht immerhin, ich lache gemifjermaßen mit! Allein fehr ernft
fegt er dann hinzu: gebt Achtung , hinter dem, mas ihr zunächft
als bloßen Witz anfahet, und was zunächft allerdings bloß Mit
iſt, ſteckt Doch der mahre Begriff, deflen Aufgabe es ja ohnedieß
tft, den gemeinen Verftand auf den Kopf zu ftellen, und ber
daher ſchon an ſich wißig und ein Witz ift u. few. Daß Entle⸗
gene nun, was ibm bei jedem Tintenfaß, Mücdenflügel einfällt,
find zunachft beſtimmte philoſophiſche Ideen. Es darf nur eine
Beranlafjung da fein, daß das Wort: Inneres oder Aeußeres
in höchſt gleichgiltiger Bedeutung vorfomme, fo müffen wir par
force in den Abichnitt der Logik ber Inneres und Aeußeres hin-
ein, der Name Fauſt erinnert ihn nicht bloß an Fauſtus Socinus,
jondern auch an die Manichaer Fauſtus und Fortunatus, und
biefer Bund macht ihn darum ganz bejonderd glücklich , weil die
Manichier Dualiften waren, und Pauft ebenfalls durch einen
innern Dualismus zerriffen ift, auch verſäumt er nicht, in Er—
innerung zu bringen, daß Fauſt ein Teufelögenoffe war, und vie
Lehre der Manichäer den Beinamen einer Teufelslehre erhielt.
153
Schnupfen Sie? „Nein.“ Sie fügen: Nein, dieß ift Negation;
es jei mir aljo erlaubt, den Begriff der Negation überhaupt zu
entwickeln u. ſ. w.
Diefe Bermengungs- Manier kommt nun befonderd dem theo⸗
Iogiichen Geſchmäckchen, das den Verf. anhängt, trefflich zu
Statten. Kein denkender Menſch läugnet, daß die Philoſophie
die wefentlihen Wahrheiten der Neligion ihrem reinen Gehalte
nach beftätige, Fein Denkender behauptet aber darum, daß fie
auch die Form, morin die Religion viefelben hat und giebt, ob⸗
wohl fie auch dieſe phängmenologifh in ihrer Nothmendigfeit
anerkennt, als die richtigfte auch für ihre Sprache acceptiren Fönne.
Der Philoſoph wird es aus guten Gründen vermeiden, von Erb⸗
fünde, wirklicher Sünde, Gnade, Dreteinigkeit u. f. f. zu reden,
wo es nicht gilt, theologifche Begriffe auf ihrem eigenen Boden
zu unterfuchen. Die find Ausdrücke einer Wiſſenſchaft, worin
Miuthiiches und reiner Gedankengehalt noch ungefondert nebenein=
ander liegen, wie dieß in der Dogmatik fo lange der Fall fein
wird, als fie ſich nicht in Dogmengeſchichte mit rein
religionsphilofophifhem Reſultate aufgelöft hat.
Der Philofoph wird aufrichtig genug fein, auch den Schein zu
vermeiden, als ſei er gefommen, den Inhalt der religiöfen Ueber⸗
zeugung auch in der Form und Hülle, in welcher das unfritifhe
religiöje Bewußtſein ihn fefthält, zu approbiren, er wird es
wagen, zu geftehen, daß er vielmehr dad Schwert bringt, zu
ſcheiden. Hr. Göſchel dagegen fpricht von nichts Lieber, als von
Glaube, Sünde, Gnade, Höfe, Himmel, Teufel auch da, wo
es gilt, den reinen Gedanken-Inhalt dieſer Vorftelungen auszu⸗
fcheiden , wirft dieſe Ausdrücke aus der Sprache des Vorftellend
*
153
mit jolchen des reinen Denkens kraus durcheinander und ſtellt ung
Hegel mit Priefterbüffchen angethan vor. Das läßt fih noch er⸗
tragen, aber au Goethe wirft er ben Kirchenrod über, und
den, das muntere Weltkind, Fleivet er Doch verwünfcht übel. Was
ift e8 denn im Grunde? Heuchelei? Gewiß nicht. Offenbar hat
der Verf. darüber gar fein Elared Bewußtſein, wie viel, wie jehr
viel die Philofophie von der Religion erft megäzt, ehe fie fich mit
ihr conform bekennt, offenbar fland er, ehe er an's Philoſophi⸗
ren ging, blieb mährend des Philoforhirend und ſteht nach dem-
felben auf dem Standpunkte des frommen Bedürfniſſes, das feine
BVorftelung von der Philvfophie beftätigt fehen will, ohne etwas
davon aufzugeben , das ſpricht: waſch mir den Pelz und mad
ihm nicht naß! Er verhält ſich wie die Scholaftif,, welche ben
feſtſtehenden Pfeiler der Kirchenlehre nur acciventiel und unfre
mit ihren gothiihen Arabesken umfchlingt.
Doch dies Alles ericheint in der vorliegenden Schrift no
nicht in dem Grave Eranfhafter Ausbildung, wie es in den fpä-
teren Werfen des Verf. auftritt. Die Schrift hat recht viel Gutes,
und gewiß verbanft ihr Mancher die erjte Einführung in das Vers
ftänonig der Tragödie. Wenn nur dad Gute, was fie enthalt,
nicht fo dejultoriich zerftreut herumläge, daß man es aus allen
Eden und Enden zujammenfuchen muß!
In den „voreiligen“ (er nennt fie felbft jo) Bemerkungen,
die der Verf. dem Eintritt in den beftimmten Gehalt der Tragoͤ⸗
die voranfchickt, begegnet man freilich fogleich feiner theologifiren«
den Manier, da er fpricht, al3 ob dad Verhältniß zwiſchen Glau⸗
ben und Willen dad Hauptthema der Tragödie wäre. „Bauft
fennt Glauben und Wiſſen nur in ihrer Trennung, und in diefer
155
Trennung vermag er fle nicht als die Wejenheit ſelbſt zu erfennen. «
„Fauſt fieht Glauben und Wiſſen als abfolut gefchieven an, da⸗
ber Beides in diefer Scheidung nothwendig als felbftloß und eitel
fih erweifet. Und wie kann auch diefe Unterſchiedsloſigkeit des
Unterſchiedenen, biefe Unzertrennlichkeit des Getrennten, welche
Sauft verfennt, je zur Einſicht kommen, wenn nicht vorerft der
Unterfchied zwifchen Glauben und Wiffen, Gewißhelt und Wahr«
beit, Wiſſen und Gewiſſen fein tiefſtes Verſtändniß, und, bis
zum Grtrem gefteigert, darin ſelbſt feine Auflöfung findet ?« Die
Trage über das Verhältnig zwiſchen Glauben und Wiſſen beichäfs
tigte die Zeit, in welcher der erfte Theil der Tragödie gedichtet
wurde, gar nicht in dem Sinn, daß beide in ihrem Mechte aner⸗
kannt einer VBerfühnung zugeführt werben follten ; die aufgeweck⸗
ten Köpfe nahınen den Glauben In feinen Aeußerungen als eine
ſchöne und rührende Erſcheinung, zu feinem Inhalt verhielten fie
fih auf Weife der Sreigeifter. Fauſt macht fih mit feinem Ver⸗
hältniffe zum Glauben der Gemeinde wenig zu ſchaffen, daſſelbe
kommt in einer wichtigen Scene zwar zum Vorſchein, aber nicht
fo , wie Herr Göfchel meint. (Darüber nachher.) Goethe nimmt
diefen Faden dann gar nicht weiter auf; Fauſt's Unſeligkeit if
feine Skepſis in der Wiſſenſchaft; Eönnte er nur erft die Natur
im Innerften erkennen, fo würde er fih über den Werth ver
Sprache, in welche ver Glaube die Wahrheit überfeßt, den Kopf
eben nicht zerbrechen. Die Ahnung, daß den mythiſchen Formen
der Vorſtellung ein unendliher Gehalt bejeligender Wahrheit zu
Grunde liege, ſpricht der Dichter deutlich genug in der ‚eben er⸗
wähnten Scene aus, doc) zeigt er weiterhin Fein Intereſſe, bie
Bedeutung zu entwideln, die jene Formen, abgefehen von ihrem
196
Werthe für Phantafle und Gefühl, haben mögen. Der Verf.
meint, Kauft müßte, wenn er zur Verſöhnung gelangen wollte,
nicht nur ein Wiſſender, ſondern zugleich ein Glaubender werden,
d. h. Einer, der nicht bloß den wahren Gehalt des Glaubens
feftbält, fondern auch die Formen der Vorftellung;
einen Solchen giebt es aber Überhaupt nicht, fondern entweder
weiß Einer und glaubt nicht, oder er glaubt und meiß nicht *).
Veberhaupt ergehen fich viele voreiligen Bemerkungen in einer
viel zu großen Weite und erregen und feine geringere Erwartung,
als die, daß alle möglichen Gegenjüge, in die der menfchliche Geiſt
gerathen kann, in diejem Gedichte dargeftellt und implicite gelöft
werben. Hier „kommt der Unterſchied zwiſchen Religion und Wiſ⸗
ſenſchaft, in der Wiſſenſchaft zwiſchen theoretiſcher und praktiſcher,
in der Theorie zwiſchen analytiſcher und ſynthetiſcher Erkenntniß
zur Sprache, bis mit dem letzten Verſtändniſſe dieſer Unterſchiede
deren Tilgung eintritt, wenn unmittelbares und mittelbares Er⸗
fennen,, oder Glauben und Wiffen, Nicht - Ich und Ich, oder
Nothwendigkeit und Freiheit, Allgemeines und Beſonderes, ein?
in dem andern als identijch ſich erkennt.“ Die Tragödie Kauft
erfagt allerdings den Zwieſpalt des Geiftes mit fih in feinem
Innerſten, der fich theoretiſch als Schmerz des zweifelnden Wif-
*) Ich überlaffe den Gegnern ded freien Gedanken? , diefe und andere
@ ige aud dem Zuſammenhange beraudzureißen und ihren entitellten
Inhalt ald Zeugniß wider mid) aufzuführen. Einen früheren Auffag,
ten id) in Diele Jahrb. gab, haben fie bereitd fo behandelt, ja fie
baten Ausdrüde, die ich gar nicht gebraucht, mit Alligationdzeichen
angeführt, Nur dieß zur Notiz; ich werde auf ihre Beſchuldigungen
niemald antworten, denn ich laife mich in feinen Kampf ein, we
der Gegner nicht mit Grͤnden ſtreitet.
157
fendranges , praktiſch als Schmerz über die Gebundenheit des
Willens durch äußere Sinderniffe und die Vereitlung des Wun⸗
ſches, als Neue, die der allzurafch befriedigte Wunfch Hinterläßt,
fund giebt; allein deswegen, weil der Dichter allen Zwieſpalt des
Geiſtes im Centrum erfaßt, verfolgt er ihn nicht auch in die
ſpeciellen Peripherien ſeiner einzelnen Geſtalten. Hört man Herrn
Göſchel, ſo meint man, Goethe werde die Hegel'ſche Logik nebſt
der Phänomenologie, dem ethiſchen Theile der Rechtsphiloſophie
und der Religionsphiloſophie Schritt für Schritt durchwandern,
alle Kategorieen entwickeln und ineinander auflöſen, alle falſchen
Disjunctionen überwinden. Sagt man, davon müßte doch auch
etwas im Buche zu leſen ſtehen, ſo hat er ſogleich die Antwort
in Bereitſchaft, der Dichter habe es unbewußt darin niedergelegt,
und vergißt, daß wer zu viel beweiſt (denn nach dieſem Grund⸗
ſatze ſtünde in jedem Gedicht Ailes), nichts beweiſt. Beſonders
beſchäftigt ihn die Kategorie des Innern und Aeußern, die man
allerdings auf Fauſt's Skepſis, doch nur behutſam, anwenden
kann. (Vergl. die obigen Bemerkungen zu Falk.) Was enthält
nad) Hrn. Göſchel die Tragödie nicht Alles! „Den Gedanken in
feiner erften, unmittelbaren, bis zu feiner legten, vermittelten
Bewegung, das lebte Ergebniß des fich in der Zeit entwickelnden
Weltgeiſtes, das Nejultat der Wiſſenſchaft überhaupt auf ihrem
gegenwärtigen Standpunkte.” „Es treten alle Seiten ded Lebens,
alle Perioden des Geiſtes, in welchen er fich felbft erjcheint aber.
nicht erfennt, nach und nad darin hervor.“ Wollte man das
Verhältniß der Tragödie zur Sage zugleich mit dem Inhalt und
der Geſchichte der Iehteren vollfommen entwickeln, fo würde biefe
Dichtung wald das lebte Nejultat der ungeheuren Arbeit ber
158
Weltgefchichte erfannt werben.u Welches ſcheußliche Monftrum,
welche unerträgliche Zwittergeburt von Philoſophie und Poefie
müßte dad Gedicht fein, wenn ed, was — Dank fei ed dem
Genius der Poefle — nit der Fall ift, dieſen unverbaulichen
Stoff fih vorgefegt hätte! Ä
Was nun der Verf. näher über den beftlimmten Inhalt des
Gedichtes fagt, wollen wir auch bier nach den Sauptmomenten
orbnen. Daß die Grundfrage über die Bedeutung des Böſen ver
. fehlt oder oberflächlich gefaßt fer, bürfen wir bei ven Schriftftels
lern biefer Reihe, da fie den Gegenftand denkend begreifen, nicht
befürchten. Göfchel fpricht zmar in den Bemerkungen zum Brolog
auch nur von einer göttlihen Zulaffung des Böfen, weiterhin
aber begreift er die Nothmendigkeit ded verneinenden Moments,
der Grenze, im Univerfum überhaupt und inäbefondere in ber
Erziehung des menſchlichen Geiſtes. Er fleht ein, daß, wie bad
Wahre nicht ohne dad Falſche, fondern ein widerlegtes Falſches,
wie überhaupt das Sein nicht ohne dad Werden, fo das Gute
nicht ohne den Reiz des Böſen und feine Ueberwindung if; er
fagt von Mephiftopheles, überall bezeichne er die Grenze, und
fo ſei er auch in der Entwicklung des menfchlichen Geiftes das
Beichrinfende und eben durch das Gefühl der Schranfe, melde
den Drang fie zu überwinden mit ſich führt, heilſam Fortbewe⸗
gende, das Niht=-Ich, ohne welches dad Ich nicht ift und nicht
thätig tft. Insbeſondere ift die richtige Anficht in folgender treffe
lichen Stelle niedergelegt, wo Mephiftopheled als die heilfame
. Ironie gegen Fauſt's überfliegenden Enthuſiasmus gefaßt und
ſehr paflend an I. Paul erinnert wird: die Sophifterei bes
Mephiſtopheles beruht auf der Verwechslung der Negative im
159
Allgemeinen mit derjenigen, die fi vom Allgemeinen losreißt.
Indeffen geſchieht ihm allerdings zuweilen Unreht, und Kauft
waͤlzt namentlich mande Schuld auf jeinen Verführer, die ihm
ſelbſt mit zur Laſt fällt. Denn wenn der Schelm den überfchwäng«
lichen Beftrebungen des hochfahrenden Menſchenſinns Ziel und
Maß ſetzt und die Grenze fühlbar macht, die der Menſch nicht
überſchreiten kann, wenn er für jolche treue Mentordienfte von
dem Gejellen unhold, barſch und toll die härteften Schimyfworte
einerntet, fo Fönnte fih am Ende wohl gar unfere Theilnahme
von dem Herrn auf den Knecht wenden, wenn biefer nur nicht
ſelbſt alle Teilnahme vernichtete, indem er dem glühenden Feuer⸗
eifer «töfalten Spott und dem ernſttragiſchen Schickſale das Hohn-
gelächter der Hölle entgegenfett. Aber feine böfe Natur liegt auch
nicht in dieſer nothwendigen Grenzbeflimmung, — was wäre
auch ohne dieſe Eigenfchaft des Mephiſtopheles diefe ganze Tra⸗
gödie und dad Leben ſelbſt? Was wäre ver Menfch ohne Bes
ſchraͤnkung und Selbftüberwindung? und würde nicht unfer guter
3. Paul in lauter Gefühlen und Rührungen auseinander gefahren’
fein, wenn er nicht zumeilen von irgend einem Mepbiftopheles
erinnert, und in Folge folcher Erinnerungen fih zu erfrifchen,
zu befchränfen und zu verjüngen getrieben würde? Nicht in
diefer Grenzbeſtimmung liegt daher die böfe Natur des Teufels,
fondern vielmehr darin, daß der Teufel durch dieje an fich noth⸗
wendige und wohlthätige Grenzfcheidung den Verband ded Bes
fondern und Allgemeinen felbft aufhebt, und dieſes gegen jenes
in feindliche Stellung bringt, woraus alle Uinjeligfeit entfpringt. «
Wenn jedoch der Verf. hier richtig einfleht, daß Merhiftopheles
zwar in feinen Verhältniß zu Fauſt heilfam wirft, für fich ges
160
. ! nommen aber, dba er als Hypoſtaſirung des Böſen dieſes abftract,
d. 5. ohne jeine guten Folgen, will, abjolut 608 ift, fo hätte
er auch S. 110 nicht jagen sollen, Mephiftopheles ſtehe dem
Guten wie dem Böfen gegenüber, da er überall die Grenze
bezeichne. Dies ftreift an Schubarth an.
Fauſt's theoretijches Streben und daraus hervorgehender Ges
müthszuſtand iſt ganz richtig bezeichnet. „Wenn Fauſt nicht zu
willen vermag, und darüber dem Nichtwiffen, den Zweifel ſich
ergiebt, jo Liegt der Grund davon nicht im Wiffen felbft, fondern
in dem Vorurtheile, daß diejes ein ummittelbares fei, da es doch
feiner Natur nach vermittelt if. Der Gedanke kann nur von
Stufe zu Stufe vorwärts gehen, außerdem zerreißt des Willens
Faden. Das Wiſſen läßt ſich nicht erzwingen und nicht beſchwö⸗
ren, denn es giebt Fein unmittelbares Wiſſen.“ Auch in ben
nachträglichen Bemerkungen drückt er ed richtig fo aus: auf die
Beantwottung der Frage, was it Wahrheit? verzichtet Pilatus,
weil er voraußfeßt, daß es Feine giebt, Fauſt hingegen, unbändig
und überfräftig, kann die Antwort nicht erwarten. Sonft aber
trifft vollkommen zu, was wir oben bemerkten, daß Göſchel zu
fehr den Dualismus trennender Kategorien ftatt den brennenden
Durft der Intuition in Fauſt premirt. So deutet er Fauſt's
Zurüdjinken vor dem Erdgeift unrichtig, weil er auch hier die
Kategorie ded Innern und Aeußern herbeizieht: Fauſt befinde ſich
auf einmal an der Spike des Widerſpruchs, indem er das Un⸗
begreifliche, Geiſtigſte, Innerfte juche und gleihwohl dieſes wie
das Aeußere, das er verachtet, zu greifen, mit den Händen
feitzuhalten und zu bannen begehre. Fauſt erblickt im Erdgeiſt
offenbar das Totalleben der Natur unſeres Weltkörpers, diesmal,
161
ohne an den Gegenſatz des Innern und Aeußern zu denken. Daß
- er jenes finnlidh in der Form einer Perfon anzufchauen begehrt,
rührt nicht von einer Abficht ber, das Allgemeine, das Geiftige
greifen zu wollen, fondern legt einfach im Wefen der Magie,
welche der Dichter als möglich vorauszuſetzen das poetifche Recht
bat. Sollte bier der Irrthum dargeftellt werden, der das Geiflige
mit Händen greifen will, fo würde ber Dichter doch offenbar ven
Erdgeift gar nicht erſcheinen laſſen dürfen, fondern Kauft würde
vergeblich beſchworen. Der @eift erfcheint nun in finnlicher Geſtalt,
ift aber für Kauft darum nicht ein empirifched Ding, er haut
in ihm den Geift und wirb nur deswegen von ihm zurückgewor⸗
fen, weil, wie wir ſchon mehrmals bemerkten, die heraufbeſchwo⸗
rene Anſchauung, wo es auf verftändig vernünftiges Denken an⸗
kommt, nicht nachhaltig if. In den Bemerkungen nun über
Fauſt's unglaubiges Verhalten bei den frommen Tönen des Ofter-
gefanges kommt der oben gerügte theologifirende Standpunkt zum
Vorſchein; Fauſt wird als ein Verſtockter, Bethörter dargeſtellt,
„er gleicht Jenen, deren Herzen fo erſtarrt find, daß ihnen ſelbſt
die Offenbarung unglaublid) geworben.“ Hierdurch finkt der Verf.
eigentlich auf den Standpunkt der Unphiloſophiſchen zurück, bie
von Fauſt die Rückkehr zum ſchönen Kinderglauben verlangen.
Würde Fauft, flatt ungeduldig fich zu überwerfen, ruhig im
Denken. fortfchreiten, jo würde er wohl auch mit der Kirche ſich
verföhnen,, aber doch nur fo, daß er ſich ihre Vorſtellungen in
die Sprache des Gedankens überfeßte. Wenn Goethe den Fauſt
jagen läßt: die Botſchaft Hör ich wohl, allein mir fehlt der
Glaube, — das Wunder ift des Glaubens Tiebftes Kind —,
fo will er damit keineswegs einen verwerflichen Unglauben bezeich⸗
Kritiſche Gänge IL 11
162 .
nen, fondern äußert ganz einfach feine eigene Ueberzeugung. Aller
dings wird Kauft von der Idee der Verfühnung, wie fle hier in den -
Gefängen der Andacht an fein Ohr dringt, tief ergriffen, und fle
fönnte diefe Wirkung nicht haben, wenn fie nicht wahr wäre, darum
wirb aber Fauſt keineswegs zugemuthet, er jolle mit der gläubigen
Gemeinde auch die Erzählungen, die diefe Ideen verhüllt in fich tra-
gen, als Thatſachen glauben. Auch im Neligiond-Gefpräche zwi⸗
fchen Fauſt und Gretchen legt der Verf. auf den indifferentiftifchen
Gefühld-Pantheisnus Fauft’3, obwohl er dad Wahre darin nicht
verfennen will, einen zu tadelnden Nachdruck, ald ob Goethe
dem pofitiven Glauben ihn gegenüber unbedingt dad Vorrecht
einräumen wollte Ganz faljh und graß erinnert er bei Fauſt's
Ausruf: ich habe keinen Namen dafür! Gefühl ift Alles! an bie
Sage, daß, die fi) dem Teufel verfchworen, Gott nicht nennen
dürfen und bei dem Namen des menfhgewordenen Gottes
erzittern. So fagt er nachher: in Yauft komme der Unglaube zu
Tal. Falſch; in Fauſt kommt der ale Schranfen überfpringende
Geift zu Sal, der, wie vorher in der Theorie die Methode, jo
jegt im Praktiſchen die Sitte überfliegt. Hätte er die Kraft, ſich
unbefchränft zu erhalten und doch zugleich ſich verftändig und,
ſittlich zu beſchränken, fo Fünnten wir ihm fein £ritifched Verhalten .
zu dem mythiſchen Stoffe der Dogmatif ganz wohl verzeihen.
Ebenſo theologifirend, auch bereits an's allegoriſche Deuteln ſtrei⸗
fend ſetzt der Verf. dann hinzu, in Gretchen komme der unmittel⸗
bare Glaube zu Fall. Gretchen wäre vorſichtiger, wenn ſie weniger
naiv wäre, und weil fie überhaupt naiv iſt, iſt ihr Geiſt auch in
religiöfen Dingen im Zuftande der Gebumdenheit; deswegen barf
man aber den Glauben nicht ald Subject ihres Falls bezeichnen.
163
Die Scne, wo Fauſt den Anfang ded Johann. Evang. zu
erklären bemüht ift, giebt dem Verf. wieber willfommenen An⸗
laß, einen Dualismus, eine falſche Disfunction aufzufpüren.
„Weil ihm die Offenbarung in der Natur nicht genügt, jo fucht
er übernatürlihe Offenbarung. Hier fcheidet ich abermals Natür⸗
liches und Uebernatürliches als ein Unterfchied ohne Zujanımen-
bang. Wenn Fauft das eine Mal die Natur, das andere Mal
⸗
das neue Teſtament ſtudirt, ſo will der Dichter darum, weil
dieſe Studien in verſchiedene Beiten fallen, nicht an jene Kategorie
erinnern; ebenfowenig, wenn er den Yauft bei der Ueberſetzung
des Aoyos durch „That“ ſich beruhigen läßt, wollte er tadelnd
an die falfche Disjunction zwijchen Aoyog Evdsaderog und n90-
gYogıxog erinnern, fondern offenbar meint Goethe, der eben Fein
Ereget und fein, Metaphyfifer war, das Hichtige getroffen zu
haben.
Hätte der Verf. nicht fo viel Raum mit diefer müßigen Logif
ausgefüllt, jo hätte er Zeit übrig gehabt, die verſchiedenen Sei⸗
ten von Fauſt's Zeriffenheit außer der theoretifchen, wie fle ſchon
in den erften Monologen erponirt werden, Fauſt's Unzufriedenheit
über fein genußlos einfames Leben, feinen Idealismus, der die
Sorgen ded Lebend, Haus, Hof, Weib und Kind ald Hemmniſſe
ftatt als Erfüllung der Freiheit anfleht, volftänbiger zu ſchildern
und dadurch den Uebergang vom unbefriebigten Denken in's uns
gezähmte Thun und Genießen ald wohlbegründet nachzuweifen.
Dies lag um fo mehr im eigenen Interefle des Verf., da er ja
nicht weniger als alle Arten geiftigen Zwiefpalts in Fauſt entdeckt
haben will. Statt deſſen verrüdt er vielmehr den wahren Stand-
punkt, wenn er Fauſt's unzufriedene Aeußerungen über die Schran⸗
11*
4164
fen des Ervenlebend, im zmeiten Geſpräche mit Mephiftopheles,
für den Ausdruck der Unzufriedenheit über dad Mißverhältniß
| zwiſchen den Forderungen des Gewifjens und dem Wollen und
Können erklärt. Mit ven Morten: In jedem Kleide werd' ich
wohl die Bein ...... Leben mir verhaßt, fpricht Fauſt nur von
dem Mißverhältnige zwifchen Wünfchen und Erreichen.
In der Erklärung des Vertrags durchkreuzt ſich eigenthümlich
Nichtiged und Unrichtiged. Das Thema der Wette und Fauſt's
Abficht dabei giebt der Verf. ganz richtig an. Fauſt ſchließt den
Bund nicht un des Genuſſes willen, fondern um fich zu ver-
gefien; er ift verloren, wenn er ſich in geiftlofem Genuſſe zufrie
den und bebaglich fühlt; Mephiftopheled gemwinnt, wenn er ihn
ganz zerftreuen und von fih abmendig machen kann. Wer wir
verlieren? Wer gewinnen? Die Antwort darauf erfehwert ſich
der Verf. durch einen bialektifchen Knäuel, ven er fi) ohne Noth
zurichtet. Er fagt, die Wette trage zunächſt eine Verkehrtheit in
ſich, und ed fei für feine von beiden Seiten weder Gewinn no
Berluft vorauszuiehen. Lim dies zu beweifen, nimmt er in Bes
ziehung auf Fauſt zwei Kalle an. „Wenn Zauft die Ruhe und
Zufriedenheit erlangen follte, deren Mangel ihn fo grenzenlos
unglücklich macht, fo ift er vermöge des Vertrags durch den Ver⸗
Luft der Wette der Hölle verfallen: im umgekehrten Falle ift er
ohne Wette und durch den Gewinn der Wette der Hölle verfallen,
indem er ruhelos von Betäubung zu Betäubung, von Taumel
zu Taumel getrieben wird, um am Ende gleich allen (?) Menfchen
zu zerſcheitern.“ Der Verf. vergißt aber einen dritten Sal, ven
nämlich, daß Bauft das Leben genießt, und tabei doch nicht
in dem Sinne, in welden Mephiftopheles es wünſcht, zufrieden
165
und beruhigt iſt, ſondern das beftändige Weiterſtreben und die
unendliche Freiheit mitten im Genuffe und dem ſcheinbaren Bes
hagen fich vorbehält. Hierauf ſoll von Merhiftopheles nachgewie⸗
fen werben, daß er fi} verrechnet habe: „fein Reich ſoll erſt mit
Fauſt's letztem Tage angehen, dieſer felbft aber nicht eher eintre-
ten, als bis fich Kauft beruhigt und felig fühlt, womit die Macht
des Mephiftopheles von felbft aufhören würde.“ Hier find die
Worte „beruhigt und befeligt+ mißverftanden; Göfchel nimmt fie
im edlen Sinne, fie find aber im unedlen eines geiſtlos finnlichen
Behagens gemeint, und wenn dieſes bei Fauſt eintritt ,‚ wirb
fih Mephiftopheled keineswegs verrechnet haben. Es wird aber
nicht eintreten, denn Fauſt ift nicht Diefer oder Jener, fondern in
aller feiner Individualität repräfentirt er den ſtrebenden, tapfern
Menſchengeiſt, der nie flagniren Fann, und nur deswegen hat
fi Mephiſtopheles verrechnet. Weiter hebt nun der Verf. einen
Widerſpruch hervor, der nach feiner Meinung vom ‚Dichter ab⸗
fichtlich in die Wette gelegt fein foll, aber vielmehr ein unabſicht⸗
licher Wiverfpruch des Dichters mit ſich ſelbſt if. Im Prolog
hatte Mepbiftopheled gefagt: er fei für einen Todten nicht zu
Haufe, er wolle nur den lebenden Fauſt zu feinen Operationen
fi ausbedungen haben ; jet vertagt er feinen Lohn auf jenfeits.
Dies ift ein Fehler im Gedichte. Kann Mephiftopheles den Fauſt
von feinem Urquell ablocen , fo tft diefer ſchon in dieſem Leben
unfelig, und ed braucht nichts weiter; im Vertrags = Abfchluffe
aber iſt an die Stelle diefer tieferen Anficht und im Widerſpruche
mit derfelben wieder der rohe Glaube an Höllenftrafen nach der
Volksſage jupponirt. Fauſt weiß es auch recht wohl, daß es
feine Höle und keinen Himmel braucht, um felig oder unfelig
166
zu jein, daß beide nur in ber Gegenwart ded Selbſtbewußtſeins
ihren Ort haben; gerade die Stelle aber, wo er dies geiſtreich
auöfpricht, — „das Drüben kann mid wenig kümmern« u. f. f.
— „wie ich beharre, bin ich Knecht, ob dein, was frag’ ih, ober
weten“ — gerabe dieſe verderbt fich der Berf., indem er ©. 94
dieſe Reden als die eines Bethörten bezeichnet, da fle vielmehr:
acht religiös find. Sagt doch unjere Religiond - Urkunde ſelbſt
wer nicht glaubt, iſt ſchon gerichtet.
Dennoch löſt ſich der Verf. zuletzt ſeinen Knäuel durch die
einfache Reflexion, daß Mephiſtopheles ſchon im Dieffeits, w äh:
‚rend er Knecht fei, zu herrſchen gebenfe. Dazu hätte er mur
noch fügen follen: es frage fih num, ob ein folder Moment ein-
treten werde, wo Kauft als Beherrfchter die Wette offenbar werde
verloren haben. Die Antwort darauf hätte fein müſſen: ein fol-
her Moment wird nicht eintreten, dafür bürgt bie Unverwũſtlich⸗
keit des Geiſtes; aber allerdings wird auch kein ſolcher Moment
eintreten, wo Fauſt handgreiflich gewonnen haben wird, weil es
in der Geſchichte der Menſchheit nie einen einzelnen Punkt geben
kann, wo ihr Sieg über das Böſe vollendet erſcheint, ſondern
in continuirlichem Fluſſe jeder neue Sieg einen Verluſt voraus⸗
ſetzt und nad) ſich zieht. Nur für die zeit los geiftige Betrachtung
der Welt, die Betrachtung sub specie aeterni ift die Menfchheit
mit fi, mit Gott verföhnt. Am Schluffe des erften Theils
fommt der Verf. auf dieſen Punkt zurüd und fagt, Mephiſto⸗
pheles habe offenbar nicht gewonnen, denn er habe Kauft nicht
von feinem Urquell abzuziehen vermocht. „Vielmehr ift Kauft,
das allgemeine Individuum der Menfchheit, zwifchen den himm⸗
liſchen Gewalten und den unterirdiihen Mächten fo getheilt, daß
167
er weber von diefen, noch von jenen Iosfommen kann.“ Dem
nach hätte auch Kauft nicht gemonnen, weil er doch den Geſellen
nicht entbehren Tann. Ganz richtig ; aber darin allein, daß der
unbefchränfte Geift beftimmt ift, ewig mit der Schranke zu käm⸗
yfen, kann doch die Verſöhnung nicht liegen; es muß doch vom
Dichter angedeutet fein, daß, obwohl der Kampf nie aufhört,
doch das eine Glied veflelben, dad Nicht⸗Ich, in der Idee ſtets
überwunden iſt. Diefe Idee tft aber offenbar durch Fauſt's um-
mächtige Neue am Ende des erften Theild noch nicht genügend
auögeiprochen: Nun mußte das Gebicht, fo weit es auch fort-
geführt werben und feinen Helden durch alle möglichen Lebens⸗
verhältniffe geleiten mochte, in dem Sinne doch immer ein Frag⸗
ment bleiben, als dieſer Sieg des Geiſtes niemald als abgefchlofien
empirifch erfcheinen kann; aber fortgeführt mußte es doch werben,
um dieſen Sieg als unzweifelhaft menigftend durch einzelne
Siege Fauſt's poetifch darzuftellen. Wie fonderbar täufcht fi
aber unfer Verf. über diefen Bunkt! „Auf den Prolog im Him-
mel folgt die Tragödie auf der Erde, und zwar der Tragödie
erfter — und legter Theil. Die Tragödie heißt der erfte Theil,
weil etwad zu fehlen und einem zweiten Theile vorbehalten zu
fein fcheint, indem fte, gleich allen Natur= und Runft-Erzeugnifien,
der Idee, die ihr zu Grunde liegt, nicht gleihfommt, und biefe
mit Händen nicht zu greifen ift. Sie tft aber auch ihr letzter Theil,
weil fie das Jenſeits, auf das fie ald erfter Theil verweifet, und
das Ende, das wir von jeder Handlung erwarten, fchon in ſich
trägt. Sie ift in vemfelben Sinne ein Fragment, in welchem
das Leben ein Fragment ift, weil ed ein neues Leben erwartet.“
Ebenfo ©. 157: „Die Menfchen find geneigt, das Ende eines
168
jeden Dinges mit Händen greifen zu wollen. Im Schaufpiele find
fie gewohnt, den Ausgang der Darftelung als baare Münze in
der Taſche mit nah Haufe zu nehmen, denn dafür haben fie
banre Münze eingefeßt. — Hat doch Goethe ſelbſt, der Ironie
ſeines Mephiftopheles gemäß, feinen Fauſt mit der Auffchrift:
der Tragödie erfter Theil, in die Welt gehen laflen; und es if
daher in der That nicht zu verwundern, wenn Goethes Zauft für
unbeendigt angefehen und lange Zeit die Fortſetzung neugierig
erwartet, oder wenn darüber geftritten worden ıft, ob und wie
diefer Fauſt werde errettet werben, ob.er mit ver Höllen⸗ oder
Himmelfahrt enden werde.“ Es fieht Herrn Göfchel ganz gleich,
den nüchtern büchfläblich gemeinten Titel: erfter Theil, jo my⸗
fteriöß zu nehmen; aber den groben Iogifchen Fehler hätte er fi
nicht beigehen laſſen follen, daß er meint, deswegen, weil bie
Grundidee eined Gedichts nicht mit baaren Worten auögefprochen
werden, fondern fi unfichtbar durch feinen Körper hindurch⸗
ziehen fol, dürfe auch biefer Körper ein Rumpf bleiben. Die
Idee fol nicht mit baren Worten herausgefagt, aber ſie fol volls
fommen Dargeftellt werben, und eine vollfommenere Darftellung
war allerdings nad der Erſcheinung des erften Theils noch zu
erwarten, obwohl der fürmliche Abſchluß in dieſem befonderen
Valle durch die Univerfalität der Idee faft unüberfteiglicde Hinder⸗
niffe fand. Auch laßt und der Verf. darüber ganz im Unklaren,
ob er den Aufihluß ın ein zweites, jenjeitiges Leben oder in
bie Idee verlegt. Im feiner myfteriöfen Zweideutigkeit ift er ſich
hierüber offenbar felbft nicht klar, fonvern denkt an Beides zu⸗
gleich, da ed Doch ſehr zweierlei ift, und nur dad Zweite dad Rich⸗
tige fein kann. In einem jenfeitigen Leben müßte Kauft auf's Neue
169
fireben, Streben fchließt Unvollkommenheit in fi, alfo iſt Mephi⸗
ſtopheles wieder da, und bie Frage wieber nicht gelöft.
Das Charakterbild der vorliegenden Schrift wird vollends
far heraustreten, wenn wir nun noch etwas in's Einzelne gehen
und bie oben gezeichneten Züge verfolgen.
Iſt von dem Unternehmen die Rede, dad Gedicht zu erklären,
jo bat der Verf. fehon wieder feine Geliebte, die Kategorie des
Innern und Aeußern, beim Schopf, und ftellt fih, als halte
er das Unternehmen für zu kühn, da ja der Held ver Tragöbie
das Streben ded Menſchen, dad Innerfte ergründen zu wollen,
in aller feiner Nichtigkeit darſtelle. Es ift aber bloß ironifch ge⸗
meint, denn wie Kauft eben durch jenes Streben fchon eine falſche
Kategorie anmendet, ebenjo geht allerdings derjenige Erklärer
fehl, der nach verfelben Kategorie verfährt, aber auch nur dieſer.
Wie fan! Wie gar nicht an der Stelle! Ganz erzmungen und
wahrlid ohne Sinn bringt er diefelbe Kategorie herbei zum Ab⸗
ihluffe des Bündniſſes. „Fauſt beharrt auf dem Bünpniffe, indem
er fich in vie Aeußerlichkeit der Erſcheinung, welcher das Innere
fehlt, in die DVielheit der Dinge, welcher die Einheit mangelt,
zu flürzen und darin unterzugehen wünſcht.« Died bieße einen
ganz gefftlofen,, grobfinnlichen Genuß ſuchen, ſich in Vergnü-
gungen wälzen, bei denen man nichts denken kann. Dies tft aber .
doch offenbar nicht Fauſt's Abſicht. — Indem der Verf. zu den
ſchönen Stanzen der Zueignung die Stimmung des Dichters bei
der Wiederaufnahme des wunderbaren Stoffes ſchildert, fallt ihm
ein, daß die Geburtswehen poetifcher Production der Weltſchö⸗
pfung gleichen, und da ja in Goethes Kauft ohnedies nichtd weni⸗
ger als die ganze Welt, ja noch mehr enthalten iſt, fo veriäumt
170 —
er nicht, gewichtig auszuſprechen: ... „und hienach iſt der An⸗
fang des Gedichts der Anfang der Welt oder der Act der Schö⸗
pfung aus dem unendlichen Nichts, und der Anfang des Geiftes«
u. f. f. Gelegentlich ‚erfahren wir hier, daß der Verf. hübſch
ordentlih glaubig eine Weltfhöpfung in der Zeit annimmt. —
Sagt der Director im Vorſpiel vom gewöhnlichen Xheaterpubli-
kum, daß ed nicht fähig fei, ein Gedicht ald Ganzes in fi aufe
zunehmen, fo denkt Kerr Göfchel fogleich an die Tendenzen ber
wiffenfhaftliden Kritik: „hier wird uns das Zeitalter leib⸗
haftig vor Augen geftellt, das fih nur noch in analytifcher Kritik
gefällt, welches ſelbſt Homer's Gedichte nicht mehr in ihrer Ein-
heit zu begreifen fähig ift« u. f. m. Ad, fo weit hat der prak⸗
tifhe Dann, der Director, wahrlich nicht gedacht! — Heißt es
von den Spabiergängern vor dem Thore, fie ſeien aud der Nacht
der Kirchen, der Enge der Straßen auferftanden,, fo drudt Sr.
- Göfhel das Wort „auferftanden“ groß, als ob dahinter ein
- geheimer theologifcher Sinn ftäde. Ift e8 in der Nähe des Früh—
lings, wo Fauſt auf diefem Spabiergang den Schmerz feiner
Zerriſſenheit ausfpricht, fo nimmt ver Verf. einen mühjamen
Umweg, um die Stelle aud Rameau's Neffen zu citiren, Dis
Hegel in der Phänomenologie anführt — warum? weil darin
auch etwas von einem Frühlingsmorgen ſteht, denn fie iſt
wahrlich ganz bei Haaren herbeigezogen. Was hat Fauft in feiner
gegenwärtigen Stimmung mit jener Aufflärung zu ſchaffen, von
weldher e8 in Rameau's Neffen beißt : an einem ihönen Früh⸗
lingsmorgen giebt fie mit dem Ellbogen dem Cameraden einen
Schub u. |. w.?
Oberon’d und Titania's goldne Hochzeit, wo freilich disparate
\ 171
Richtungen des Zeitgeifted auftreten, nimmt er in feiner Weife
ebenfalls fo, als fei es bier ganz ausdrücklich um Aufftellung und
Loͤfung aller möglichen Hauptgegenfige — Vernunft und Ver⸗
ſtand, Idealität und Realität u. f. w. zu thun.
Ich werde noch einige auffallende Proben davon, wie fich der
Berf. von feiner munderlichen Ideen⸗Aſſociation herumziehen läßt,
beibringen, zuvor will ich auf einige unrichtige Auslegungen auf«
merkfam machen. — Die Definition, die der Verf. von der Ma⸗
gie giebt, ift, wenn ich feine hyperphiloſophiſche Diction verftehe,
falſch. „Das Dunkle ift die Materie, das legte Erperiment der
Hylologie ift die Magie; es ſcheint praftifch, ift aber theoretifch. “
„Die Magie kann als das Extrem der Theorie, die den Uebergang
in das praftifche Gebiet nicht finden kann, dasjenige, was ideelle
Realität hat, auch Förperlich und handgreiflich erlangen.“, Die
Magie überhurpt, fo auch in der Sage von Fauſt, iſt zunächſt
rein praktiſcher Art, denn fie fucht die Verbindung mit dem Gel«
fterreihe nur um reellen Genuſſes willen. Goethe hat ihr aller-
dings eine andere Wendung gegeben, indem Fauſt durch feine
Wißbegierde getrieben wird, ſich mit den Geiftern m Rapport zu
ſetzen; eben darum ift aber auch die Magie bei ihm ein rein theo⸗
retiſches Verhalten, und bat der Zufaß „bie den Viebergang«
u. f. w. durchaus feinen Sinn. Praktiſch find daran nur etwa
die Mittel, durch die er die Geiſter zwingt, aber dieſe meint wohl
bier der Verf. nicht. — Den Erdgeiſt hält der Verf. für identiſch
mit Mephiftopheled und, mie e8 überhaupt unter dem Texte von
Eitaten namentlich aus Hegel wimmelt, fo hat er natürlich hier
die Stelle aus der Phänomenologie (ſ. d. Abſchn.: "Die Luft und
die Nothwendigkeit), wo Hegel ausdrücklich auf Kauft Hindeutet.
172
zu cittren nicht unterlafen. Der Kern des Pudels ift der Erdgeiſt,
„ben das Sein nur, welches die Wirkfantkeit des einzelnen Bes
wußtſeins ift, ald die wahre Wirklichkeit gilt. Für diefe Aufs
faffung, wornach der Erdgeiſt der Geift der im Genuß ihrer Ein-
zelheit nichts Feſtes achtenden Individualität ift, Tann man bie
Scene in Wald und Höhle anführen, wo Kauft den erhabenen
Geift (offenbar ven Exrdgeift) ald denjenigen nennt, der ihm ben
©efellen beigab u. f. w., ferner die Scene nad) der Walp.⸗Nacht,
wo Fauft mit den Worten: wandle ihn, du unenblicher Geiſt
u. f. w. den Mephiftopheles in enge Beziehung zum Erdgeiſt febt.
Demnach hat Hr. Weiße wohl Recht, wenn er bier noch bie
:Fäben eines urfprünglich anderen Plans bemerkt, wonach ber
: Dichter dem Erdgeiſt überhaupt eine größere Nolle einräumen
:unb durch ihn Die Verbindung Fauſt's mit dem daͤmoniſchen Bes
gleiter vermitteln wollte. Diejen Plan aber hat Goethe, wie mir
fcheint, aus dem richtigen Gefühle wieder fallen laſſen, daß er
dad anfängli ganz reine theoretifche Streben Fauſt's nicht mit
dem fpäteren Genufleben confundiren dürfe, deswegen ſetzt er den
Erdgeiſt als Repräſentanten des Naturlebend nur in theoretifche
Beziehung zu Fauſt, und obwohl bei dem Begriff des Naturle-
bens der der Sinnlichkeit nicht fern Liegt, jo ſonderte er doch den
Geift der Sinnlichkeit und Bosheit in Mepbiftopheles ganz von
biefer reinen Erfcheinung ab, verfäumte aber, die Spuren der
früheren Abficht zu tilgen. Uber auch nach dieſer follte der Erd⸗
geift und der Geift der Begierde keineswegs fo geradezu identiſicirt
werben, wie Kegel und Göſchel thun. — Folgende Bemerkung
über den Schluß ded erfien Geſprächs zwifchen Fauſt und Mephi⸗
ſtopheles mag ein Anderer al8 ich verfiehen: „Mit einem kurzen
173
Gefpräde, in welchem ſich an ber gefühlten Unangemeſſenheit
bes Einzelnen zum Ganzen, ver Natur zur Idee, und des Seien-
den zum Seinfollenden jene Abftractionen entwickeln, welchen
alles Entftehen und Vergehen in der Form der auseinandergeriſ⸗
fenen Zeit auf nichts hinaus zu kommen ſcheint, entfernt fich Me⸗
phiſtopheles.« Zu dem zweiten Geſpräche, wo fo viel Dunkles
und Schwieriges tft, erhalten wir nur flüchtige Bemerkungen,
wie denn überhaupt alle dieje Schriften, auf beiden Neihen , vie
Zeit großentheild zubringen, zu erklären, was feiner Erklärung
bedarf, und was ihrer am meiften bedarf, unerflärt liegen laſſen.
Die trefflihe, aber etwas dunkle Stelle, wo Mephiftopheles dem
Fauſt, der geniegend fein Selbft um Selbſt der Menfchhett er
weitern will, antwortet: Aſſocürt euch mit einem Poeten u. f. w.,
iſt flüchtig übergangen oder vielmehr falſch erklärt: „ber Teufel
verweiſet ihn auf die luftige Imagination und auf die grenzenlofen
Gedanken zerfahrner Poefie, in welcher die Zerftreuung und die
Vergeſſenheit feiner ſelbſt zugleich mit felbftgenügfamer Behaglich-
feit an ſich ſelbſt vollauf zu finden ſei.“ Der Sinn iſt ja vielmehr,
dag Mephiitopheles den Fauſt, der ein Abſolutes und Höchſtes
der Genüffe verlangt, in feinen Wünjchen , die für das Intereffe
des Mephiftopheles viel zu hoch und geiftreich find, herabzuſtim⸗
men fucht und daher ironiſch fagt , nur die Phantafle eined Poe-
ten könne das Abfolute, dad er verlange, träumen, worin bad
Unvereinbare verbunden fei. Den fhönen Monolog in Wald und
Höhle findet man doch endlich einmal richtig erflärt, und gerade
an diefer Stelle einen tiefen Blick in die wahre Bedeutung bed
Mephiftopheles und feine Ungzertrennlichkeit von Fauſt eröffnet;
aber jener curiofe Wit, der um der entfernteften Aehnlichkeit
174
willen das Heterogenſte confundirt , verberbt Einem auch ſogleich
die Freude. Wenn Fauft fagt, der Geift habe ihm fein Angeficht
im Feuer zugewendet, fo fällt dem Derf. fogleih ein, daß
Paraceljus ſich philosophum per ignem nannte, und nun
erklärt er jogleich Kauft für einen Paracelfifien. So nannte ſich
Paracelfus als Alchemiſt; Fauſt hat ich zwar auch mit Alchemie
abgegeben, aber die Flamme, in welcher der Erdgeift erjcheint, hat
hiemit nicht8 zu thun, da fie nur durch ihre flacfernde Bewegung,
ihre verzehrende und durch Verzehren Neues ſchaffende Kraft ſymbo⸗
liſch das Wehen des Naturgeiftes bezeichnet. Noch mehr: weil Para⸗
celfus, wenn er in feiner alchemifchen Küche proßelte, wahrſcheinlich
großen Rauch machte (einen andern Grund finde ich nicht), fo füllt
ihm bei Fauſt's Worten: Natur it Schal und Rauch, ummebelnd
Himmelsgluth (jo heißt es in der früheren Ausgabe, in der fpätern:
Name ift) jogleih Paraceljus ein, und er fagt, die Natur werde
auf gut Paracelſiſche Weiſe zu Shall und Rauch u. ſ. w.
Gretchen's Mutter, nimmt Hr. Göſchel an, ſei am Schlaf—⸗
trunke geſtorben. Dies wäre ſehr undramatiſch, denn vergiften
wollte ſie Fauſt nicht, ſondern nur in feſten Schlaf verſenken;
es wäre etwa zu viel von dem Tranke genommen worden, oder
derſelbe hätte überhaupt ſtärker als vorauszuſehen gewirkt: ein
Zufall, der in einem ſo wichtigen Punkte durchaus nicht zu
ſtatuiren iſt; und doch ſcheint es allerdings vie Intention des
Dichters zu ſein, dies deuten die Worte Gretchens an: da ſitzt
meine Mutter auf einem Stein u. ſ. w. Hier iſt dem Dichter
jedenfalls eine Mafche gefallen. Ueber die Walpurgis-Nacht haͤtte
der Verf. mehr ſagen dürfen, da er ja ſonſt fo munter im Aus:
legen ijt, al3 die paar Worte ©. 125.
175
Ein folder Mann, dies läßt fih vorausjeßen, wird feine
geringe Stärke haben im Deuten, mo nicht8 zu deuten ift, und
im Allegorifiren. Zur Beluftigung eines verehrlichen Publifums
einige Beifpiele. Zu der Stelle, wo Mephiſtopheles den Kauft
einſchläfert, ihm durch feine Geifter fehöne Träume ſchickt und
entflieht: „der Traum ift ed, der dad Schwinden aller Grenzen
und Wölbungen, dad Verfchwimmen aller Verhältniſſe vollbringt;
und der Schlaf ift dad Mittel, in welchen und das verneinenbe
Princip entfchlüpft, der Pudel mit den Scholafticus entipringt,
ja aller Unterſchied, und fomit das Erfennen verfehwindet und
die pure Unterſchiedsloſigkeit und Unendlichkeit Pla ergreift.“
Zu dem Rathe des Meyhiſtopheles, ver Schüler folle in der °
Theologie auf eined Meifters Worte ſchwören, zieht der Verf.
aus der Walpurgis- Nacht herauf: Du mußt des Felſens alte
Rippen paden, jonft ftürzt fie dich hinab in diefer Schlünde Gruft
— und verfteht unter des Felſens alten Rippen „den dogmatiſch
derben und ficheren Wortverftand.“ Der Hocuspocus ded Mephi-
ſtopheles und die Verzauberung der Trinfer in Auerbach's Keller
verfinnlicht Fauft’3 eigenen Gemüthözuftand , „der bie ganze ob-
iective äußere Welt bald in jelbfteigner Perfon wie feine Gedanken
zu bewegen und zu regieren verlangt, bald als ein Trugſpiel der
Sinne betrachtet.“ Hiezu citirt er dann das berühmte Geſpräch
zwilchen Leſſing und Jacobi über Spinoza aus feinem anderen
Grunde, ald weil, wie Mephiſtopheles aus dem Tijche Wein
fließen läßt, ebenfo Leſſing dafelbft jagt, er mache vielleicht eben
jeßt als abjolute Subftanz ein Donnerwetter. Die Hexenküche
mit ihren Dieerfagen ſoll zeigen, daß es fich im creatürlichen Le⸗
ben, bis der Verluft der Einheit mit Gott erkannt ift, behaglid
176
Leben laſſe. Weil dad Intermeszo in der Walpurgis⸗Nacht über:
ſchrieben iſt: Oberon's und Titania’8 goldne H och zeit, ſo iſt
hiemit offenbar angedeutet, wie aus den höchſten und letzten Ge⸗
genfägen und Scheidungen die endliche höchſte Einigung entfpringt.
Es iſt Naht, dad Feld offen, als Kauft und Mephiftopheled
auf ſchwarzen Pferden: am Nabenfteine vorüberbraufen —: „Im
offenen Felde, dad keine Grenzen hat, zerftrenen ſich Die Gedan⸗
fen; in Wald und Höhle ſammeln fie fich wieder.“ In des
wahnfinnigen Gretchens Gefange — meine Mutter, die Hur
u. ſ. w. — da werd’ ich ein ſchönes Waldvögelein, fliege fort!
— es find Worte ded ermordeten Bruberd in dem Märchen vom
Machandelboom, der ſich ald Vogel zur Rache aufſchwingt —,
findet der Verfaſſer vollkommen beflimmt ven chriftlichen Bes
griff der Erbfünde und der Erlöfung ausgeſprochen. Das ganze
Mährchen, aus welchen Gretchen diefe Strophen fingt, deutet
Hr. Göſchel dahin. Daffelbe hat aber Feinen andern Zweck, ale
darzuthun, wie das Verbrechen fih rächt, müßte auch die ganze
Natur in ihren Angeln krachen. Der ermordete Bruder wird neu
belebt, den Mord zu beftrafen, es ift hier von feiner Auferfte-
bung im geiftlihen Sinne die Rede, er lebt nachher auf diefer
Erde fort. Aber fo eine wirre Einbildungsfraft rührt Alles in
Einen Brei zufamınen.
Zwei Anhänge der Schrift befchäftigen fih, der eine mit
Schöne's Fortſetzung des Fauſt, die ed wahrlich nicht werth ift,
der andere mit der Sage vom ewigen Juden.
Beobachtet nun die vorliegende Schrift im Ausframen aller
im Obigen gefchilderten Grillen und Abfonderlichkeiten noch ein
gerwiffed Maß, fo erfcheinen dieſe dagegen bid zum Gipfel ver
177
Tollheit und des Wahnfinns gefteigert in folgendem Schrifthen,
das der Verf. mit der Beſtimmung, die Abhandlung zu ergänzen,
jpäter erfcheinen ließ:
Herold's Stimme zu Goethes Fauft erften und
zweiten Theil, mit befonderer Beziehung auf bie
Schluß-Scene bes erften Theil von C. 5. G.....l.
Leipzig 1831.
Die Einleitung bildet eine Erörterung über dad Weſen ber
Kunft, welche neben vielem Wahren und tief Gebachten den ſchie⸗
fen Sag aufflelt, daß die ſchöne Form den geiftigen Inhalt auf
doppelte Weije enthalte, auf fombolifche, fofern derfelbe mit ihr
ganz identiſch und fie von ihm gefättigt jei, und auf allegorifche,
fofern fie denfelben auch als außerhalb ihrer, als ein Anderes
ihrer enthalte. Dies ift wie die allegorifche Interpretation des
Drigined, die neben dem Wortfinn und dem nächften geiftigen
Sinn noch einen dritten allegorifch myſtiſchen zwifchen den Linien
ſucht, und widerlegt fi) durch das, was wir ſchon früher über
Allegorie fagten und durh dad ABC jeder gefunden Nefthetif.
Mit Hiefem Sabe glaubt denn der Verf. al den Wahnmig zu
fhüßen, ben er nun befonderd über die Schluß- Scene des erften
Theils vorbringt, und der fi darin zufammenfaßt, daß erftend
Zug um Zug bid auf die unbedeutendſten Nebendinge herunter
allegorifch gedeutet, zweitens biefe Bedeutung nicht in philofophi-
ſcher, fondern in der erbaulich theologiſchen Form des Dogma
gefaßt wird und wir ſtatt einer wiſſenſchaftlichen Abhandlung eine
Predigt erhalien.
KRritiſche Gänge II. 12
178
Der Schlüffelbund, womit Fauſt Gretchens Kerker öffnet;
bezeichnet die falſche Selbfthilfe moraliſcher und intellectueller
Kraft; das Nachtlämpchen, das er mitbringt, if das Nacht⸗
lämpchen feichter Verftandes - Aufklärung, der matte, düſtere
Schein vereinzelter Vernunft, womit fle im Lichte zu manbeln
meint. Wenn Fauft dad wahnfinnige Gretchen zuerft außerhalb
des Kerkers fingen hört, und im Buche fteht: es fingt inwendig,
fo heißt dies, daß eigentlich nicht Gretchen, fondern in ihr ihr
Kind finge; das Kind fingt in ihr über der Mutter und des
Vaters Schuld, über die Erbfünde. Die Worte aus dem Mähr-
hen vom Machandelboom finden nun erft vollends ihre ganze,
tieffinnige Deutung : mein Schweiterlein Elein Hub auf die Bein
an einem Fühlen Ort. Der fühle Ort ift das Grab, und aus den
gefammelten und aufgehobenen Gebeinen „ipringt auf einmal dad
Dogma hervor, welches zwijchen dem Jammer biefed Sünden:
lebens und der vollendeten Preiheit der Kinder Gottes die Mitte
oder Vermittlung macht, nämlich der Tod und die Auferftehung. «
Daß es nicht bloß Gretchen, fondern auch ver Dichter fo gemeint
bat, beweift die Erzählung von Sperata, Mignond Mutter, in
Wilh. Meifterd Lehrjahren,, die am Ufer ihres Kindes Gebeine
fucht, die gefammelten Beinen zufammenfügt und ihre Belebung
erwartet. Wie kann man da noch zweifeln, daß den Dichter bie
Lehre von der Auferftehung vielfach befhäftigt haben muß!
(S. 89). Warum beruft fi) doch Herr Göſchel nicht auch auf
Goethes ofteologiihe Studien? Wenn Fauft Gretchen zuruft:
die Thüre fteht offen! fo fagt unfer Interpret, wenn Gretchen
noch eine Tihüre offen ftehe, fo fei e8 nicht diefe. Wenn Gretchen
in gräßlicdem Geſichte den letzten Tag, ven Tag ihrer Hinrichtung -
179
ſchon grauen fieht, fo meint fie zunächft zwar dieſen, eigentlich
aber den jüngften Tag, und die Worte: es ift eben geſchehen,
gehen nicht nur auf den zerftörten Kranz, fondern auf ven Iekten
Henkerſtreich. Ruft Kauft aus: o wär’ ich nie geboren! fo ift
bamit auögebrüdt, daß die Geburt ohne die Wiedergeburt zum
Elend führt.
Doch genug der Beiträge zur Gefchichte des menichlichen
Wahnfinne.
Aefthetifhe Borlefungen über Goethes Fauft,
als Beitrag zur Anerkennung wiffenfchaftliher Kunfts
beurtbeilung, herausgegeben von Dr. H. F. W. Hin
richs, ordentl. Prof. der Philof. an d. Univerfirät
zu Halle. Halle 1825.
Ich will mic) über diefed Buch kurz faſſen. Wenn ich in der
gegenwärtigen Mufterung die Schriften Anderer, von denen ich
überzeugt bin, daß fie gerade fo find, wie eine Schrift über ein
Kunftwerk nicht fein fol, Schritt für Schritt durchwanderte, ihre
Verkehrtheit aufzumeifen , jo that ich died, weil ich nicht voraus⸗
jegen durfte, daß die Verf. und ihre Leſer von diefer Verkehrt⸗
beit, jene ein Bemwußtjein, dieſe hinlängliche Kenntnig haben. Von
Hrn. Hinrichs aber habe ich die Ueberzeugung, daß er dad Ver⸗
fahren der vorliegenden Schrift jetzt ſelbſt nicht mehr billigt, und
will daher dem achtungswerthen Philoſophen nicht den unwill⸗
kommenen Dienſt erweiſen, daß ich eine Geſtalt ſeiner Vergan⸗
genheit, über welche längſt Gras gewachſen iſt, in ihrer Schwäche
12 *
180
aufdecke. Ebenſowenig braucht e8 einer Belehrung für das Publi⸗
fum, denn außer der Schule kann diefed Bud) Niemand leſen, und
die Schule felbft ift doch wohl von der Manier deſſelben bereits
zurücgefommen. Dürfte ich Beides nicht vorausfegen, fo müßte
ih darthun, daß man mit aller Mühe Feine vollkommnere Kari-
fatur der „abfoluten“ Philofophie, Feine höhere Steigerung und
Bereinigung der Verkehrtheiten, in welchen diefe Litteratur fich
bewegt ‚ feine befjere Parodie derfelben hervorbringen Eönnte.
Ih müßte darthun, daß die Philojophie ſich nicht fehlechter em⸗
pfehlen kann, ald wenn fie auch außerhalb der ftreng geſchloſſe⸗
nen Wiſſenſchaft, wenn es darauf ankommt, ihren Inhalt in
Fluß zu bringen und in ein gegebened Gebiet, das bis jetzt von
ihr nicht durchdrungen war, bineinzuleiten, das Geraffel und
Getrampel ihrer Terininologie (deren Nothwendigkeit und Werth
ich am rechten Orte vollfommen anerfenne und gegen das Ge-
ſchrei feichter Köpfe über Mangel an Popularität eifrig in Schuß _
nehme) vernehmen läßt, daß dem Hörer die Ohren faufen, und
auf Stellen wie folgende mich berufen: „Als Weſen überhaupt
kann Diargarete deswegen die Religion nur wiffen und an daſſelbe
glauben, infofern fie fich felbft und Alles, was nicht dad Weſen
felber ift, ald ein Nichtiges und Unwahres weiß, jo daß eben
diefes ihr Wıffen von dem Wefen mit dem Wiffen ihrer felbft ald
eined Nichtigen im Gegenfaß des Weſens felber verbunden iſt.
Alſo ihr Wiſſen des Weſens ald des Wahren und das Wiflen
ihrer ſelbſt als des Unwahren vermittelft ihrer Beziehung auf das
Meier, welche Beziehung der Gegenfaß ihrer gegen dafjelbe ift,
ift Ein Wiffen und deshalb nicht ein verfchiedened Wiſſen, ald
ob das eine Wiffen ohne das andere fein könnte. Diefed Wiſſen
181
befteht einzig und allein in dem Bewußtſein Margaretens, welches
Bewußtſein als das Willen ihres von dem Weſen getrennten und
nur in diefer Trennung von dem Weſen wifjenden Gemüths«
u. ſ. w. Ich müßte dann den Lefer fragen, ob ihm von biefer
Stelle unmittelbar nad ihrer Lefung etwas Anderes im Stopfe
ziſche und fumfe, als lauter W, I, E, S? Ich müßte zugleich
auf die ungemeinen Härten der Sprache und Conftruction , wo⸗
durch der Schüler feinen Lehrer noch weit überbietet, aufmerkſam
machen, und mie er die Fleinen Eigenheiten deſſelben nachahmt,
3. B. dad lächerliche „Nähere —: „den luſtigen Gefellen in
Auerbachs Keller ift näher jeder Tag ein Bet“ — „ſie fuchen vie
Langeweile durch irgend eine Dummheit und was dergl. mehr zu
entfernen und näher dadurch zu Befeitigen, daß fie ihr Thun und
Treiben im Gegenfaße des allgemein Bernünftigen geltend machen. «
Ih müßte ferner nachweifen, wie Goethes Kauft eigentlich
gar nicht das Object diefer Schrift iſt, fondern vielmehr nur die
Unterlage, auf welcher Hegel'ſche Philojophie docirt wird; mie
hier die halbe Phänomenologie, Encyclopädie, Nechtöphilofophie,
Meligionsphilofophie auszubeuten die einzelnen Stelleit des Ge⸗
dichts Gelegenheit machen müſſen. Gretchen geht in die Kirche,
und wir befommen eine halbe Religionsphilofophie, u. f. f. Die
natürliche Folge davon, daß der Verf. immer Hegel ſtatt Goethes
Fauſt im Auge hat, tft, daß er Manches, um Hegel’iche Phi-
loſophie dabei anzubringen, geradezu falfch deutet; fo nimmt er,
von der ſchon angeführten Stelle ver Phänomenologie verführt;
den Erdgeift geradezu für den Geift der Begierde; fo fagt er;
weil in der Rechtsphiloſophie der Selbſtmord von dieſer Seite
gefaßt wird, Fauſt wolle durch den Selbſtmordverſuch feine ab-
—
182
ſtracte, leere Freiheit bewähren, da doch bei Fauſt noch ganz
andere pofitive Triebfedern hiezu wirken; darüber werben denn
weſentliche Punkte, wie die Erklärung Fauſt's in der Wette, daß
er verloren ſein wolle, ſo wie er ſich auf ein Faulbett lege, über⸗
ſehen. Iſt denn Goethes Fauſt dazu da, um Hegel ſche Philo⸗
ſophie vorzutragen? Steht denn nicht dieſe bereits an ihrem Orte,
in Hegel's Schriften, gedruckt?
Ich müßte ferner hervorheben, wie der Genf ohne alle Kritik
das Gedicht, als Hätte es der heilige Geift in Perfon gemacht,
als ſchlechtweg vollfommen nimmt, ja gleich in der erften Vor⸗
lefung erklärt, e8 folle alles Einzelne darin ald nothwendig und
vernünftig erfannt werden. Ich müßte Beifpiele anführen, wie
ihn diefer Grundfaß verleitet hat, Nebendinge, die fo Elar find,
daß fie Feiner Deutung bedürfen, mit feterlicher Gründlichkeit zu
deduciren, 3. B. die Erſcheinung des Mephiftopheles ald Bubel:
„das Thier allein vermag außer dem Menfchen wegen feiner freien
Selbftbemegung den Ort zu ändern, und iſt deshalb nicht, wie
jedes andere Leblofe und Lebende, 3. B. die Pflanze, an dem⸗
jelben (f. denfelben) gebunden. Es tft darum auch nur (daB
„nur« falſch geftellt) im Stande, ſich unfern Spaßiergängern
zugefellen und fi) den Menſchen überhaupt anſchmiegen zu koön⸗
nen („zu können “ tft pleonaftifh) ; jedoch ift es nicht gleichgiltig,
welches Thier jener Vorftelung entſpreche, indem der Inflinet
deſſelben fich auf die Vorftellung beziehen muß. Ein Vogel, Fiſch
u. f. f. kann es nicht fein, weil folche Thiere von der Natur in
die Luft, dad Waſſer geworfen aus Inftinet den Menſchen fliehen,
auch nicht die Schlange, die doch von jeher ald Symbol der Vers
führung zum Böſen vorgeftellt worden, weil biefelbe nur im
183
Parabiefe verführen kann. Alfo dasjenige Thier, deſſen Inftinct
vor allen andern ausschließlich auf die Individualität des Menfchen
gerichtet ift, würde der Borberung ber Vorſtellung nur (dad „nur“
wieder falfch geftellt) genügen können, indem es ald hier über-
haupt der Form bed Bewußtſeins wegen ald Anderes angefchaut
wird, ald auch (mo iſt denn das „ſowohl“ ?) vermittelft feines
Inftineted die etwaige Fremdheit entfernt und tilgt. Wenn der
Hund überhaupt ein ſolches Thier tft, jo ift doch näher der Pudel⸗
hund derjenige Hund, deſſen Inftinet ausschließlich am meiften auf
die Individualität des Menfchen geht, flatt daß der Inſtinet an⸗
brer Hunde ſich mehr oder weniger mit auf Andres bezieht.“ Ich
würde anführen, wie der Hr. Verf. darthut, daß Fauſt, da er
bie ganze Welt und damit dad Allgemeine felber nicht in Bauſch
und Bogen aufſchnabuliren kann, mit einem einzelnen Gegenftande
den Anfang machen, und daß diefer Gegenftand nicht z. B. ein
Leblofed Ding, das darum wohl verzehrt wird, ſondern ein wirf-
liches Mädchen fein mußte. Ich würde nachweiſen, mie biefe
Manier ihn nothwendig auch zum allegorifchen Deuteln verleiten
mußte, und ald Belege veflelben anführen, wie er über das Auf-
fehmellen des Pudels fagt, es fei die fi frei geftaltende Vor⸗
ftellung des Böfen und damit die ſich verwirflichende freie Geſtal⸗
tung des freien Wiffens felber; wie er jagt, Bauft fliege deswegen
mit Mephiftopheles auf dem Mantel fort, weil der Beginn feines
neuen Lebenslaufes felbft ein ihm Aeußerliches fein müffe ; wie
das Verſchwinden Fauſt's mit Mephiftopheles am Schluffe erklärt
wird für die Vorftelung des Schickſals als ſolchen, infofern daf-
ſelbe als der Inhalt feiner Gewißheit fein unverfühntes Bemußtjein
ausdrückt und von demſelben als feine Macht anerfannt wird u. f. w.
184
Ich wünfche eifrig, daß der ernfte Denker , deſſen unbebing-
tes Zutrauen zu der Kraft des Begriffs und reine Begeifterung für
bie Wiſſenſchaft und Freiheit im Geifte ich aufrichtig verehre, im
dieſem Urtheile nur feine eigene durch die Zeit aufgehellte Einficht
erfennen, daß ich aus ihm ſelbſt Heraus gefprochen haben möge,
und wo er hierüber mit feinem Bewußtſein noch nicht ganz im
Klaren ift, diefe freundlich gemeinten Bemerkungen, bie ihm
vielleicht hiezu behilflich fein können, von ihm nicht verfannt wer:
den möchten.
Borlefungen über Goethes Fauf. Bon F. 4,
Raud, Dr. phil. u. Privat-Docenten an der Univ.
zu Gießen. Büdingen, 1830.
In der Vorrede fagt der Berf.: „Dem Grundſatze gemäß,
daß das zu DBeurtheilende von einem höheren Standpunkte bes
trachtet werden müffe, als der fei, auf welchem es felbft ſich
darftelle, wurden den einzelnen Abtheilungen allgemeine Betrach⸗
tungen vorangeſchickt, auf welche dann der weitere Inhalt ver
Tragödie Beifpielöweife zum leichteren Verſtändniſſe bezogen
wurde.“ Nun, der Dann ift doch ehrlich; wenn Andere fich noch
ven Schein geben, als reden fie von Goethes Fauft, während
fie nur ihre Philoſophie vorzutragen beabfichtigen, fo bekennt ex
offen, daß er Philoſophie dociren, und das Gedicht nur Bei⸗
ſpielsweiſe anführen wolle. Er Hält auch tüchtig Wort, denn
er beginnt mit nichtd Geringerem, ald einem Auszug aus dem
ganzen Hegel'ſchen Syſtem auf 20 Seiten. So wird er mir denn
185
auch erlauben, daß ich ihm unter die Schriftfteller über Goethes
Fauſt gar nicht zähle; denn wenn ich hier alle Schriften durch⸗
geben müßte, wo Goethes Fauft beifpielömeife angeführt wird,
jo hätte ich Leine Fleine Arbeit. Ich bin ohnedies mühe, ſehr mühe.
Karl Rofenfranz
hat an mehreren Stellen feiner Schriften der Sage vom Dr. Fauft
und der Goethiſchen Tragödie eine lebhafte Aufmerkſamkeit ge-
ſchenkt. Was er in feiner Gefchichte der deutſchen Poeſie im Mit⸗
telalter über die Sage bemerkt, iſt um fo treffender, ald man
fonft ganz verſäumt hat, ven heiteren Humor, der ein weient-
liches Element diefer Zauberſtückchen ift, zu fehen und zu genie-
Ben. In feiner Schrift: „Ueber Calderon's Tragödie vom,
wunderthätigen Magud. Gin Beitrag zum Verſtändniß der
Bauftifchen Kabel.“ (1829) ftelt ex eine geiftreihe Vergleichung
zwifchen Calderon's und Goethed Drama an, die Volksſage aber
nimmt er zu hoch und findet wie Göfchel zu viel in ihr, wenn
er jagt: der Erfinder, wie der Mainzer Fauſt, der, wie dieier,
durch Äußere Noth auf fich felbft Zurückgewiefene; der wie Para⸗
celſus die Natur mit eigenen Augen durchſpähende und den Zu-
ſammenhang des mikrokosmiſchen und makrokosmiſchen Lebens in
ſeiner magiſchen Einheit Herausforſchende; der wie Carteſius an
der Wahrheit des gemeinen Wiſſens Verzweifelnde — und noch
andere Geſtalten des Bewußtſeins (wie viele denn am Ende?)
ſeien in dieſer Einen zuſammengeſchmolzen. Des Verf. Schrift:
186
„Ueber Erklärung und Fortfegung des Kauft im All⸗
gemeinen und insbeſondere über chriſtliches Nachſpiel
zur Tragödie Kauft.“ (Leipzig, 1831) kann ich nicht zur
Sand bekommen. In feinem Schrifthen: „Zur Geſchichte ber
deutſchen Litteratur.“ (1836) giebt er nebft einigen Beitraͤ⸗
gen zur Gefchichte ver Sage und Bemerkungen über andere poetis
ſche Bearbeitungen derſelben aus neuerer Zeit feine Ideen über
den zweiten Theil der Goethifchen Tragödie nebft einem Interpre-
tationd = Verfuch ihres Hauptinhalts, mie foldhe zum Theil ſchon
früher in ven Berliner Iahrb. flanden. Hr. Roſenkranz flieht ein,
daß diefer zmeite Theil vollkommen allegorifch ift, daß es an einer
Geſchichte, an einer fih abrumdenden Handlung, an der dra⸗
matijhen Wärme fehlt, er giebt zu, daß, dramatiſch genommen,
die vier erften Acte ganz wegfallen Eonnten , wie bied auch von
einem fo rührigen und lebhaften Geifte, der fein Urtheil durch ein
zimnfaffendes Studium der Poeſie ausgebildet hat, nicht anders
zu erwarten war. Wenn er e3 aber einfleht und zugiebt, warm
hat er denn vor diefem Ding einen fo ungeheuren Reſpect, daß
er „mit flaunendem Blick, mit Elopfenden Herzen, mit ſchüch⸗
ternfter (auch einer ver fatalen altgoethifhen Superlative) Bangig-
keit, von taufend Gefühlen und Ahnungen erregt, vor dem Gedichte
fteht, um die Abficht des Meiſters vorläufig zu deuten?“ Und wenn
er ſelbſt fagt: die Haupttendenz eines Gedichts müſſe fich fogleich auf⸗
dringen, und e& würde ein ſchlechtes Machwerk fein, wenn es nicht
dad erſte Mal, wo es einem Volke zum Genuffe geboten werd,
deſſen lebendiges Intereffe erregte , wenn dies erft aus mikrologi⸗
hen Entdedungen, aus feiner Enträthfelung verſteckter Anſpie⸗
lungen bervorgehe, wenn die Begeifterung aus der Gelehrſamkeit
187
und Scharffinnigfeit des Dichters entfpringen follte u. f. w., —
wie kann er überfehen, daß dies nichts als ein Urtheilsſpruch der
Berwerfung über das ganze Product ift * Denn nicht bloß gleich»
giftige Einzelheiten, fondern ganze auftretende Figuren, die eine
große Rolle fpielen, wie ber Homunculus, ganze Acte find un-
verftändlih und nur durch Gelehrſamkeit und grübelnden Scharfe
finn zu deuten; die Haupttendenz erhellt zwar aus dem legten Acte,
aber eine Beziehung deſſelben auf die vier andern findet gar nicht
ſtatt. Uebrigens hat dad Volt das Urtheil bereits ausgeſprochen,
das Hr. Roſenkranz ſelbſt für competent erklärt: es hat dieſes Mach⸗
werk auf die Seite gelegt. Ich laſſe es auf eine Probe ankommen,
ob unter tauſend Beſitzern der Goethiſchen Werke je mehr als
Einer zu finden iſt, in deſſen Bibliothek auf dieſem Bande nicht
der Staub fingersdick liegt. Hr. Roſenkranz hat auch durch fein:
„Beiftlih Nachſpiel zur Tragödie Fauſt.“ (1831) eine
Zärtlichkeit gegen die Allegorie zu erfennen gegeben, die offenbar
über die Grenze des Crlaubten geht. Fauſt findet vollfommene
Berfühnung feiner theoretifchen Zerrifienheit in der Hegel'ſchen
Philofophie, und in ihr erſcheinen nun die verſchiedenen Zeit-
gegenfäge in der Theologie auögeglihen. Ich weiß wohl, daß
Hr. Nofenkranz dieſe verfifieirte Proſa nicht für wahre Poefle
ausgeben will; allein ich muß eben doch fragen: warum macht
er dann ſolche Sachen? Poeſie ift es nicht, das weiß er; es ift
aber auch nicht Proja, weil die poetifhe Form verhindert, Das
profaifche Thema in der Deutlichkeit, die feine höchſt nüchterne
Natur verlangt, zu entwideln; es ift Fein Fuchs und fein Haas,
nicht warm und nicht Ealt, die verfchledenen Elemente, die es
zufammenbinden will, abjolute Profa und Poefle, heben ein=
188
ander auf jedem Schritte auf. Oder nicht? Ich führe nur bie
letzten Worte Fauſt's an, und ed frage fi dann Jeder, mas
daß fei:
| Vielleicht ift nicht mehr fern die Zeit,
Wo ganz erlifcht der alte Streit
Brennt nur ded wahren Wiſſens Licht,
Dann auch am Glauben ed nicht gebricht,
Und fehlt’3 am rechten Glauben nicht,
So mangelt aud) dad Wiſſen nicht.
Es giebt nur Ein Mittel, ſolche Gegenflände in die sBocfie
hereinzuziehen , die phantaftifhe Komik, wie fie Tied in ſei⸗
ner Gewalt bat, wie fie im Zerbino, im geftiefelten Kater ſpru⸗
beit. Man könnte mit diefem Mittel ausgerüftet alle möglichen
antithetifchen Tendenzen der Wiſſenſchaft aufführen, nur immer
fo närrifh als möglih; man dürfte dann die Allegorie in vollem
Maße anwenden, denn, und durch diefe Schlußbemerfung er-
gänze ich alle biöherigen Bemerkungen über Allegorie, die komi⸗
ſche Allegorie wird mieder poetiſch, indem gerade durch den Wi⸗
derfpruch der Einfiht, dag das Bild nur Zeichen eines Begriffs
jei, mit der Nöthigung, dieſes Bild doch als etmas Wirkliches
und Lebendiges zu betrachten (mie im Fortunat, wenn der Zufall
auf der Treppe Räder fchlägt u. f. w.) der heiterfte Humoriftifche
Effect erreicht wird, ähnlich der Parabafe.. Dann müßte aber
freiih auch die fatyrifche Lauge weit fehärfer fein, als in biefem
Nachſpiele; welch' ganz anderes Bitterfalz könnte man noch den
Rationaliſten, Supranaturaliften, Gefühlötheologen eingeben, als
hier geſchehen ift!
189
Kritif und Erläuterung bes Goethe'ſchen Fauſt.
Nebſt einem Anhange zur ſittlichen Beurtheilung Goe⸗
thes. Von Ch. H. Weiße. Leipzig, 4837.
Der Verf. unternimmt es, „jetzt zum erſten Male das zu
geben, was als Ziel einer jeden auf wiſſenſchaftlichen Werth
Anſpruch machenden Beſprechung eines Kunſtwerks vorſchweben
muß, was aber gegeben zu haben ſeines Wiſſens noch keiner
derer, die bisher über das Gedicht dad Wort genommen, be>
bauptet hat: eine Kritik des Werks, eine Kritik in dem höhe⸗
ren umfaffenderen Wortfinne , zu welchen in der deutfchen Litte⸗
ratur dieſes Wort feit Leffing und Winkelmann ausgeprägt iſt.“
— Wie mohlthuend ift die Erfeheinung eines ſolchen Werks in ber
Fauft-Litteratur nicht bloß, fondern in der Kitteratur über Goethe
‚überhaupt! Goethe hat bis jetzt noch Feinen Kritiker gefunden,
er hat nur enthuflaftifche Freunde, die ihn für etwas Abfolutes
nehmen, und uneble Feinde *). Den erften Anfang zu einer
Eritiihen Betrachtung diefer großen Perfünlichkeit hat Gervinus
in feinem Schriftchen über den Goethiſchen Briefwechſel gemadit, |
den erften Eritiichen Verſuch an Fauſt macht gegenwärtige Schrift, :;
die erfte, die es wagt, mit Freiheit des Geifted das Gedicht fih
gegenftändlich zu halten, und feine afthetifchen Mängel zwijchen
feinen unübertrefflihen Vorzügen aufzufuchen. Ich glaube, daß
dieſer DVerfuch in wefentlihen Punkten nicht gelungen ift, aber
das fol mir die Freude und Achtung nicht fehmälern, mit der
ich ein Unternehmen begrüße, das um fo fehwieriger war, als
+) Gervinusd hatte damals fein größered Werk noch nicht gefchrieben.
t
190
die herrfchende umkritiiche Bewunderung diefer Tragödie unwill⸗
kürlich den Ginzelnen mit fortreißt und verführte Gewohnheit ihm
die Emancipation aus biefer blinden Pietät erſchwert. Auch Hat
fih Hr. Weiße diesmal einer gelenfigen Darftellung befliffen, nur
bie und da verfällt er in die Fiefelfteinige Sprache, bie feine. ande»
ren Werke unverdaulich macht, und Ref. wünſcht von Herzen,
daß diefer Fortſchritt auch feiner weiteren wiſſenſchaftlichen Thä⸗
tigkeit zu Gute kommen möge.
Der Berf. hat eingefehen,, daß der Tragödie die eigentliche
bramatifche Einheit und Abgefchlofienheit abgeht, daß Alles, mas
der Dichter dem zuerft erjchienenen Fragmente ſpäter hinzugab,
trog al feiner Kunft und allem Scharffinn ver Ausleger nicht
den Erfolg hatte, die Dichtung zu einem organifch vollendeten -
Kunftwerk zu erheben, daß nicht nur der erfte Theil eben fo un»
gleichartige als ungleichzeitige Beitandtheile in fich vereinigt, ſon⸗
‚bern daß auch nach der Erfcheinung des zweiten Theils das Ganze
‚ein Bragnıent blieb. Kräaftig erklärt er ſich gegen die fpeculative
| Deutungswuth,, welche in dem Gedichte einen Inbegriff aller
| Bhitofophie finden will, ftatt den ſchaffenden Dichtergeift anſchau⸗
‚end zu genießen, nach metaphufifchen und theologiichen Syſtemen
gräbt, während doch jede philoſophiſche Deutung „jo lang im
Unficheren und Bodenloſen ſich bewegt, als nicht eine Kritik des
Werks über die Entftehung und die Zufammenjegung bed Werks
im Ganzen, über den dichterifchen Werth und Charakter der ein-
zelnen Scenen das richtige Bemußtfein eröffnet hat.“
Der Mittelpunft nun, aus welchem die Kritif des Verf.
operirt, ift die Behauptung, daß das erfte Fragment des erften
THeild der Tragödie, das 1790 erjhien, wit dem zweiten Ge⸗
191
fpräche zwiſchen Fauſt und Mephiftopheles pei ven Worten: „Unb
was der ganzen Menſchheit zugetheilt ift« u. |. w., begann und
mit mancherlei Abweichungen von der fpäteren Ausgabe das Ges
dicht bis zu der Scene in ber Kirche fortführte, auf derjenigen
Weltbetrachtung ruht, welche dem Dichter anfing aufzugehen,
als er im Begriffe ftand, von der Sturm» und Drangperiobe zu
ber Periode der Klarheit und Beionnenheit überzugehen. Es war
die Libertinage der Genialität, welche in jener Periode chaotiſch
aufbraufenden Gefühls der Schöpferkraft mit den falfchen Geſetzen
flacher Verſtandespoeſie und fpießbürgerlicher Moral zugleich die
ewig gültigen der Sittlichkeit umd der Fünftlerifchen Beſonnenheit
über den Haufen zu werfen Luſt bezeugte, die rohe Naturfraft
des Genius als Höchftes in der Poeſie und im Leben aufftellte,
and was ein Genie that, für gut erklärte, weil ein Genie es
gethan. Dieferiebermuth mußte ſich rächen durch augenfcheinliche
Gefahr der Verwilderung und Entfittlihung, und es kam nun
darauf an, ob das geniale Individuum die fittlihe Kraft bejaß,
aus dieſem Chaos ſich zu fammeln, die rohe Naturkraft zu bäns
digen und fich durch den Ernft angeftrengter Selbftbildung zum
Ideale emporzuarbeiten. Lenz ging zu Grunde, Goethe genas;
er fand, genährt am Geiſte des claſſiſchen Alterthumo, dem
Uebergang von der Naturpoefle zur Kunftpoefle und von der Leis
denſchaft zur Selbftbeherrichung. Noch che aber viefe Wiederge⸗
burt vollendet war, mußte in einem fo gefunden @eifte die fünf»
tige Klarheit im Keime vorgebildet liegen und dem Bewußtſein
fi ankündigen. Er begann einzufehen,, daß bie ſich ſelbft über⸗
laſſene Naturkraft in's Böſe umſchlägt, und in dieſe Verkehrung
zwar auch ihre guten Kräfte mit hinüberträgt, aber, indem ſie
192
biefelben um einen falſchen Mittelpunkt verfammelt, zur böfen
Genialität wird: einelimfehrung, worin das Böfe nicht als bloßer
Mangel und äußerer Anflug auf die leichte Schulter genommen
werben barf, fondern aud) das urfprünglich Gute in feine Dienfte
nimmt und fo ein verfehrted Gegenbild der Schönheit erzeugt,
das durch feine Infernale Natur trog all feinem Blanze dem Ge⸗
richte verfallen if. Hätte er diefen Standpunkt ganz erreicht
gehabt, fo hätte jein Fauſt, wie der Fauft der Sage, in ewiger
Verdammniß untergehen müffen. Allein dieſes Bemußtfein von
der finfteren Seite des genialen Treibens dämmerte ihm erft von
ferne auf. Er wollte im Fauft eine Selbftanklage, ein Gericht
über fich nieverlegen ; er ftand aber mit Einem Fuße noch inner-
halb des Standpunftes der Sturm⸗ und Drang Periode, welche
diefen fittlichen Ernft nicht kannte, das Böſe, auch wo der geniak
Breigeift von dem Bewußtſein deſſelben überrafcht wurde, als
Vorübergehendes und bloß Verfehltes in den Wind ſchlug. Wäre
diefe Weltanfiht noch ganz die feinige gewefen, fo hätte Fauſt
trotz dem Verbrechen, das er auf fich ladet, gerettet merben
müffen. So aber, da Goethe erft an ber Schwelle deö Ueber⸗
gang von der einen zur andern diefer Weltanfichten ftand , flellte
er in feinem Helden einen Charakter dar, um den dad Gute und
dad Böſe fich ftreitet, ohme daß er weder dem einen, noch dem
andern zufällt, ver daher weder gerettet werben, noch auch in
erviger Verdammniß untergehen kann, deſſen letztes Schickſal
vielmehr problematiſch bleibt. Das erſte Fragment iſt alſo „das
Product einer ſkeptiſchen Gemüthslage, einer dichteriſchen
Weltanſicht, für welche es weder eine Seligkeit, noch eine Ver⸗
dammniß giebt, die nur ein Naturleben des Geiſtes kennt, und
198
ber das Reich der göttlichen Gnade ebenfo wie das Reich der
firafenden Gerechtigkeit in eine nebelumhüllte Kerne gerückt if.“
In einem andern Sinne aber wurde fpäter, ald ber Gelft des
Dichters zu höherer Kunftform ſich erhob, zunächft der erfte Theil
überarbeitet und vermehrt, wobei freilich auch ältere Materialien
mit aufgenommen wurden, und nachmals ber zweite hinzuge-
dichtet.
Nach des Vetf. Anſicht hätte nun die Vollendung des Ge⸗
dichts dem wahren Geiſte nicht nur der Volksſage, ſondern au
der reinen Idee des fittlichen Lebens nur dann entſprechen können,
wenn die Tragödie zu einer vollkommenen und entſchiedenen Dar⸗
ſtellung des „böſen Genius“ abgeſchlofſen worden wäre. Um
jedoch eine ſolche geben zu können, blieb Goethe dem tieferen
Einblick in dad Element des Gegenſatzes, in die Natur des Böfen,
Häßlichen und Dämoniſchen „Im Ganzen“ zu fremb. „Ja er ent⸗
fernte fih von dem Bewußtſein dieſes Elements, von ber objecti-
ven philofophifchen und dichteriſchen Beichäftigung mit ihm in
demfelben Verhältniffe, in welchem er mehr und mehr in der
claffifhen Idealwelt heimifh ward. Der eigentlide Sinn ber
Sage von Fauſt Ing deshalb diefer Periode ebenfo fern, als jener
früheren. So oft der Dichter, durch einen geheimnißvollen Zug
feine Genius dahin geführt, zu dem Werke zurüdfehrte, fo
Eonnte er daſſelbe nie in der Weife umgeftalten, wie e8 hätte von
Grund aus umgeftaltet merden müſſen, um in entfprecdend voll-
fländigem Sinne die Darftellung des böfen Genius zu enthalten
fo, wie einige der edelſten Werte feiner reiferen Periode das
Ideal und den Genius des Guten und Schönen verwirklichen. «
Diefer Anfiht muß ich entſchieden entgegentreten. Es wirb
Kritiſche Gänge I. 13
=
194
hiedurch 1) der Volköfage ein Sinn untergefhoben , den fie nicht
bat und nicht Haben kann, und von Goethe die Darftellung einer
Idee erwartet, die auch feiner Zeit noch ganz ferne lag; 2) eine
Idee des Böfen aufgeftellt,, welche ebenfo unrichtig als unpoetiſch
ift; 3) ein Widerſpruch zwiſchen der urfprünglihen Abficht des
Gedichts und dem Sinne feines Abfchluffes behauptet, der weder
den jugendlichen noch dem gereiften Dichter zur Ehre gereicht und
die Anerkennung des großen Fortſchritts, den Goethes Genius
von unflarem Naturwirken zur hellen Befonnenheit machte, durch
die Behauptung wieder aufhebt, daß er auch in der Periode der
Befonnenheit dad wahre Wefen des Böfen nicht verſtanden habe.
Zum Erften. Das, was Hr. Weiße den böfen Genius nennt,
ift eine ganz moderne Geftalt des Geiftes, ein Begriff, den der
Perf. aus Heine u. U. abftrahirt hat. Es gab zur Zeit, da bie
Volksſage von Fauſt fi) bildete und abſchloß, noch Feinen Heine.
Auch die Berwirrungen der Sturm= und Drang= Periode waren
ganz etwas Anderes, als diefe neuefle Verſetzung romantifcher
Elemente mit der perfiden Ironie eined Geifted, der die Himmels⸗
unfehuld des Engels ebenjo bezaubernd ald den Abſud der Cor:
ruption darzuftellen vermag , ohne daß ihm jene heilig und biefer
verwerflich erfcheint. Auch dad Mittelalter kannte die verlodende
After» Schönheit des Böfen, aber gewiß nicht dad, was wir jept
böje Genialität nennen. Der Bauft der Volksſage ift ein Breigeift
ganz gewöhnlicher Art und auch in feinem frevelhaften Abfalle
von Gott immer noch meit naiver und unſchuldiger, ald der böfe
Genius, wie ihn der Verf. namentlih ©. 20 und 21 ſchildert,
und er verſchwendet nicht eine Summe edler Geifteöfräfte für dad
Bofe. Er verübt mit derbem Humor allerhand Iuftige Zauber:
195
voſſen und fucht dabei Spaß, Genuß und Ruhm. CEbenſo wenig
gab e8 zur Zeit der Sturm- und Drang Periode ſchon einen
Heine, und der Verf. jehildert ihre DVerirrungen doch etwaß zu
grel. Es maren wilde Burfche, aber ganz ehrliche Häute, die
von dem, maß bier der böſe Genius heißt, benſoweniz etwas
in ſich trugen, als etwas wußten.
Aber wäre Fauſt auch noch zehnmal böſer, als er iſt, ſo
muß es vor unſeren reineren Begriffen immer craß erſcheinen, daß
er den ewigen Höllenſtrafen verfallen ſoll, weil dieſe Vorſtellung
überhaupt ein für allemal als irreligiös und unvernünftig erkannt
iſt. Daher —
Zum Zweiten. Den Fall auch geſetzt, die Sage enthielte
jene geiſtigere Verkehrtheit einer genialen Natur, und Goethe hätte
nach ihrem Vorgang dieſe darſtellen wollen, fo hätte Fauſt den⸗
noch als rettbar und gerettet auch nach dem tiefſten Verderben
erſcheinen müſſen. Zunächſt hat der Verf. ganz Recht, wenn er
der Anficht der Aufklärung, als fei das Böſe bloß eine Privation,
bloß ein durch die Sinnlichkeit entftandener, anhängender Man⸗
gel, den pofitiven Begriff des Böſen entgegenhält, wonach es die
Natur des Geiftes verdreht und aud) die edeln Kräfte in den Dienft
der Hölle zieht. Doch bleibt die Frage, ob dad Böſe poſitiv oder
negativ fer, eine Verirfrage ; denn auch poſitiv im ebengenannten
Sinne verftanden bleibt das Böſe negativ, ein un öv, es ift ein
Widerſpruch, der als folder ftet3 mitten im Entftehen fo eben
feiner Auflöfung entgegeneilt ; bringen wir die guten Kräfte unfe-
res Weſens auch zum Böfen mit, fo bat ja das Böfe von felbft
feinen Feind in fh aufgenommen, der e8 fprengt. Daß einzelne
Individuen in ihrer Verkehrtheit verknöchern, verändert nichte,
13 *
/
u! „2 5
194
hiedurch 1) der Volksſage ein Sinn unter nichtige Natur deſſen
hat und nicht haben Tann, und von Gauſt aber repräfentirt die
Idee erwartet, bie auch feiner Se barf das Böſe nie anders/
Idee des Voͤſen aufgeftellt, “un oder Energie ſtets im Wa⸗
it; 3) ein Wiberſpruch gt , ſtets Heilbares erſcheinen. Mas
Gedichts und dem Suu ⸗ Fin⸗ der Schluß der Tragödie lauten
DE — Genius vom Teufel geholt werden? Das
*5 nimmt ſchon die Sage ſo aufgeklärt, daß
von ur *
sie fie ihren Fauſt verſtößt, nicht als einen
bi — lah finnlicher Martern vorgeſtellt wiſſen will;
— — * hren Sitz im Innern des Geiſtes und ihre Qualen
A —— ſondern geiſtiger Urt. Bei einer fo aufge⸗
7 ee Lio hätte die Sage ihrem Helden jedenfalls den fo
we Auftritt erfparen können, wo ihn der Teufel an Tifchen
— * — zerſchlägt, daß das Hirn herumſpritzt und da ein
vom Kiefer, dort vom Schädel hingen bleibt. Aber dieſe
Qualen follen doch ewig fein! Geftehen wir, auch das
p eine Anficht, die wir dem finfteren Mittelalter nicht beneiden
wollen ; der Geift kann feinem Weſen nach nie ftille ſtehen; zu
fliegen, fich zu bewegen ift feine Natur, — und er joll fi in
ewige Unfeligfeit verbeißen? Oder thue ich dem Verf. Unrecht?
Es finden fih aber doch auch fonft Stellen, wo es fheint, ale
folle dem. Dichter fein bekanntes freied Verhalten zum Dogma
überhaupt, dad er auch auf feinen Fauſt überträgt, zum Vorwurf
gemacht werben. Bauft follte 3. B., meint der Verf. ziemlich iu
Göſchels Geift, da er die Giftſchaale angefegt hat, nicht bloß durch
eine unbeftimmte Rührung, fondern durch wirfliden Glauben
vom Selbſtmord afgehalten und der Kirche, dem Meich der
Im
ade, wiedergegeben werben. Auch am Schluffe liefl man pas
ſogiſche Bedenken: „Bon ven einzelnen hellen, auß der flit-
Erfahrung des Dichters oder aus feiner poetiſchen Geniali-
menden Blicken in die Natur des Guten und des Böjen
‚igentlihen Chriften- Glauben an das Paradied und das
umelreich, zu dem Beſitze derjenigen Glaubens - Anficht, die
zu einer künſtleriſchen Darftelung vom Standpunkte Diefes
Glaubens aus erforderlih wäre, tft noch ein weiter Schritt. «
Goethe wußte aber wahrlich gewiß fo gut als Herr Weiße ven
wahren Gehalt und die fehöne Form der rührenden Kinder⸗Vor⸗
ftellungen von Paradied und Himmelreich zu ſchäzen; das beweift
er eben dadurch, daß er den Menſchen auch nah dem tiefften
alle als rettbar darftelt. Darum mußte er aber an die Form,
in welche diefe Rettung von der frommen Phantaſie eingefleivet
wird, keineswegs dogmatifch glauben; wer dies verlangt, der
verlangt, er follte die ganze hohe Geifteöfreiheit, durch bie feine
Dichtungen den Charakter der edelſten Geiftigfeit tragen , gegen
die naive Finſterniß mittelalterliher Gebundenheit vertaufhen.
Am Ende iſt es doch bei Hrn. Weiße nichts Anderes, als der⸗
jelbe theologiftrende Standpunkt, den wir bereits abweifen muß-
ten, woraus biefe Neflerionen hervorgehen.
Zum Dritten. Hatte alfo der Dichter je eine richtige Einficht
in die Natur ded Böſen, fo mußte von Anfang an in feinem
Plane liegen, Fauft zu retten. mar allerdings bis zur völligen
Klarheit fcheint er darüber erft ſpät mit fidh einig geworben zu
fein ; erft in der zweiten Ausgabe des Fragments 1807 Tam ber
Prolog im Himmel hinzu, worin die Nothwendigkeit, daß der
Held gerettet werde, deutlich ausgeſprochen if, und zu gleicher
196
fie fühlen in ihrer Unſeligkeit hinreichend die nichtige Natur deffen,
was fe als Weſen fefthalten wollen; Fauſt aber repräfentirt bie
Gattung, und in diefer kann und darf das Böfe nie anders,
denn als ein bei all feiner Poſitivität oder Energie ſtets im Wer⸗
den fo eben Verſchwindendes, ſtets Heilbares erſcheinen. Was
meint denn der Verf.? Wie hätte der Schluß der Tragödie lauten
ſollen? Sollte der böſe Genius vom Teufel geholt werden? Das
gerade nicht; der Verf. nimmt ſchon die Sage ſo aufgeklärt, daß
er die Hölle, in die ſie ihren Fauſt verſtößt, nicht als einen
räumlichen Schauplatz finnlicher Martern vorgeſtellt wiſſen will;
auch ſie habe ihren Sitz im Innern des Geiſtes und ihre Qualen
ſeien nicht leiblicher, ſondern geiſtiger Urt. Bei einer fo aufge⸗
klaͤrten Anſicht hätte die Sage ihrem Helden jedenfalls den ſo
geiſtigen Auftritt erſparen können, wo ihn der Teufel an Tiſchen
und Wänden zerſchlägt, daß das Hirn herumſpritzt und da ein
Stück vom Kiefer, dort vom Schädel hängen bleibt. Aber viefe
geiftigen Qualen follen doch ewig fein! Geftehen wir, auch das
tft eine Anficht, die wir dem finfteren Mittelalter nicht beneiden
wollen ; der Geift kann feinem Wefen nach nie ftille ftehen ; zu
fließen, ich zu bewegen ift feine Natur, — und er fol fi in
ewige Unfeligkeit verbeißen? Oder thue ich dem Verf. Unrecht?
Es finden ſich aber doch au fonft Stellen, wo es fiheint, als
ſolle dem. Dichter fein befanntes freied Verhalten zum Dogma
Überhaupt, das er auch auf feinen Fauſt überträgt, zum Vorwurf
gemacht werden. Bauft follte z. B., meint der Verf. ziemlich in
Göſchels Geiſt, da er die Giftſchaale angefegt hat, nicht bloß durch
eine unbeflimmte Rührung, fondern durch wirflihen Glauben
vom Selbſtmord abgehalten und der Kirche, dem Neich ber
197
Gnade, wiebergegeben werden. Auch am Schluſſe lieft man das
theologijche Bedenken: „Von den einzelnen hellen, aus ver ftt-
lihen Crfahrung des Dichters oder aus feiner poetiichen Geniali⸗
tät ſtammenden Blicken in die Natur des Guten und des Böſen
zu dem eigentlichen Ehriften=- Glauben an das Parabied und das
Himmelreich, zu dem Beflte derjenigen Glaubens = Anflcht, die
zu einer künſtleriſchen Darftelung vom Standpunkte diefes
Glaubens aus erforderlich wäre, ift noch ein weiter Schritt. +
Goethe wußte aber wahrlich gewiß fo gut als Kerr Weiße den
wahren Gehalt und die fhöne Form der rührenden Kinder- Bor
ftellungen von Paradied und Himmelreich zu ſchäzen; das beweift
er eben dadurch, daß er den Menfchen auch nad dem tiefften
Valle ald rettbar varftellt. Darum mußte er aber an bie Form,
in welche biefe Rettung von der frommen Phantafle eingefleivet
wird, Eeinedwegs dogmatiſch glauben; wer dies verlangt, ber
verlangt, er jollte die ganze hohe Geiftesfreiheit, durch die feine
Dichtungen den Charakter der ebelften Geiftigfeit tragen, gegen
die naive Binfternig mittelalterliher Gebundenheit vertaufchen.
Am Ende ift es doch bei Hrn. Weiße nichts Anderes, ald der⸗
jelbe theologiſfirende Standpunkt, den wir bereitö abweiſen muß⸗
ten, woraus diefe Reflerionen hervorgehen.
Zum Dritten. Hatte alſo der Dichter je eine richtige Einficht
in die Natur ded Böen, fo mußte von Anfang an in feinem
Plane liegen, Fauſt zu retten. Zwar allerdings bis zur völligen
Klarheit ſcheint er darüber erft fpät mit fich einig geworben zu
fein ; erft in der zweiten Ausgabe des Fragments 1807 kam ber
Prolog im Himmel hinzu, worin die Nothwendigkeit, daß ber
Held gerettet werde, deutlich ausgeſprochen if, und zu gleicher
198
Zeit wurde die Scene des eigentlichen Contracts⸗-Abſchluſſes zwi⸗
ichen Kauft und Mephiftopheles eingefügt, worin die unverwüſtlich
fortfirebende Natur des Geifted «13 der innere Grund der Gewißheit
eines ſolchen Endes hervorgeftellt iſt. Die frühere Unklarheit Eonnte
aber darin niemals ihren Grund haben, daß Goethe auch nur ent-
fernt an eine wirkliche Verdammung feines Helden dachte; nur pro⸗
blematiſch Eonnte ihm Fauſt's Ende erſcheinen ebenfo wie e8 dem,
ver noch nicht zum philoſophiſchen Begriffe durchgedrungen ift,
problematiſch feheinen kann, ob das Menfchenleben ein ſeliges ober
unfeliges fei. Offenbar jedoch fich felbft widerfpricht der Verf.,
wenn er durch eine wirklich treffliche Entwicklung den Fortſchritt
Goethes von der unklaren Naturpoefte zum Kunftideal darftellt und
doch die zweite Bearbeitung der Tragödie in der Ausgabe 1807
für eine noch größere Abweichung vom wahren Sinne der Sage,
als den erften Theil, außgiebt. Wenn Fauft verloren fein muß, fo
verräth der Dichter, der dies problematifh läßt, immer noch ein
richtigeres Bewußtſein, ald der ihn gerettet erfcheinen läßt. Der
zweite Theil freilich fticht gegen den erften poetiſch fo fehr ab, ale
nur irgend ein Werk eines anderen, fchmächeren Dichters, maß
der Verfaffer richtig hervorhebt; allein er meint, der ganze
Standpunkt fei verändert, und das beftreite ih; Goethe hat viel-
mehr der Idee nach ganz die urfprüngliche Intention feftge-
halten, aber die dichteriſche Kraft reichte zur Durchführung nicht
mehr aus. Diefen poetijhen Mangel überficht ver Verfaſſer
nicht, er hätte ihn immerhin firenger beurteilen dürfen, als
er thut. Er erklärt die Allegorie, wie fe hier vorherrfcht, für
ein Product nicht des Verſtandes, fondern der Phantafie. Ich
kenne eine Allegorie ſolcher Art nicht, ausgenommen etwa die
199 .
fomifche, wovon ih bei Roſenkranz ſprach; wodurch fol fi
die Allegorie vom Achten Phantafiebilde unterſcheiden, wenn nicht
dadurch, daß bei ihr der Impuls zum Suchen des Bildes vom
Verſtande ausgeht *) ?
Sp viel über ven erften Abfchnitt: Von der Dichtung über-
haupt, von dem Verhältniſſe beider Theile zu einander und zur
Sage. Der zweite handelt von der Compoſition und Scenenfolge
des erften Theils und ſucht von den Anlagerungen fpäterer Kunft-
poefte den urfprünglichen Kern von Naturpoefie zu unterfcheiden ;
wo mir und freilich nicht tief in's Einzelne einlafien, fondern den
Verf. nur mit wenigen Bemerkungen begleiten Eönnen.
Unbeftritten laffen mir ihm feine Reflerionen über die Zueig-
nung und dad Vorſpiel im Theater, die fogleich für feine un⸗
befangene, £lare Betrachtung das befte Borurtheil erwecken. Den
Prolog im Himmel nun erklärt der Verf. deswegen für fpäter
und nicht im Geiſte des erften Fragments gedichtet, weil er ein
* metaphufliches Problem unverhüllt an der Stirne trage, und feine
Perfonen nicht wirklich poetifhe Charaktere, jondern „Masken“
ſeien, die ihre abftracte, allegorifche Natur nicht verläugnen, weil
er offenbar aus einer Stimmung hervorgegangen jei, mo dem
Dichter fein eigenes Werk bereitö zum Objecte geworben, über
“) ende mir Niemand Dante ein! Der größte Theil feiner Bilder tft
nicht allegorifch, fondern mythiſch. Aber auch wo er allegorifch iſt,
verbeffert er im Fortgang den allegorifchen Anfang dadurch, daß er
das Bild anſchaulicher macht, ald ed der allegoriichen Bedeutung wegen
ndıhig wäre, fo daß diefe Geſtalten, die nicht find, fondern nur bes
deuten, den Schein der Lebendigtelt erhalten, der aber ebendarum ein
wunderbar geheimnißvoller if. Died iſt nur möglich bei einem Manne
Ted Mittelatterd, der am Ende auch an die allegorifchen Erdichtungen
der eigenen Reflexion glaubt, fo daß fie ungewiß zwifchen dem Mythi⸗
fhen und Allegoriichen fchwanten.
200
bad er, wie über ein Naturprobuet, nachſann, für das er, wie
für eine Sage alter Zeit, eine Deutung fuchte. Es iſt auch wirk-
lich ein fpäterer Zuſatz, aber betrachtet man die poetifche Friſche,
wodurch die, nicht allegorifchen ‚ fondern mythiſchen Perfonen
dieſes Prologs wahrhaft in Fleiſch und Blut gewandelt find, die
jugendlih körnige Sprache, fo überzeugt man fih, daß biefer
Prolog, wenn auch erft fpäter gedichtet, doch nicht einer ſchon
ganz veränderten Anfchauung und Stimmung angehörte. Zugleich
muß ih aber hier auf einen ſchon mehrfach berührten Punkt
zurückkommen, und benfelben ald Beweis aufführen, daß biefer
Prolog, wenn auch fpäter gebichtet,, einen Punkt enthält, wel⸗
‘her Unklarheit in das Ganze bringt. Es find die Worte bed
Herrn: fo lang er auf der Erde lebt, fo lange fei dir's nicht
. verboten, es irrt der Menſch, fo lang er firebt. Dies iſt
eine ſchiefe, in der Grundidee verfehlte Stelle. Sol die Wette
| zwifchen den Herrn und Mephiftopheles eine reine fein, fo -
müffen ihre beiberfeitigen Einwirkungen auf Kauft gleichzeitig
jein und dürfen nicht in die gefchievenen Zeiten und Räume ded
Dieffeitö und Jenſeits auseinanderfallen. Sol Fauft jenfeits in
die Klarheit geführt werden, fo muß er doch, was ich fon
öfters hervorhob, auch dort noch ſtreben; Streben fegt Schranfe
voraus, Schranke ift Irrthum und Sünde, und dieſe find Wir-
fungen des Mephiftopheles ; der Kampf wäre: alfo mit vem Er⸗
benleben nicht aus, und wer gewinnt, der gewinnt entiweber in.
ber Gegenwart fichtbarer Wirklichkeit oder niemals. Diefe fchiefe
Stelle corrigirt ſich aber im Verlaufe der Dichtung durch die Worte
Fauſt's: das Drüben kann mid) wenig kümmern u. f. w., welche
ber Derf., wie Göſchel, fälſchlich als den Ausdruck einer tadelns⸗
201
werth ffeptiihen Weltanficht betrachtet, da fie vielmehr der Aus⸗
druck einer fehr Klaren und vernünftigen find; ebenſo durch bie
Worte: mie ih beharre, bin ih Knecht, ob Dein, was frag’
ih, ober weſſen, — bie weit rationeller find, als bie Vorſtel⸗
lungsform im Prolog. Freilich folgt aus dieſen letzteren Stellen
ſogleich, was wir ſchon öfters geltend machten, daß die Tragödie,
ſie mochte fortgeführt werden, ſo weit ſie wollte, immer Frag⸗
ment bleiben mußte; denn in dem continuirlichen Fluſſe der Ge⸗
ſchichte beweiſen zwar ſtets wiederholte Lichtblicke die himmliſche
Natur des Geiſtes, aber niemals ſo, daß ſeine irdiſche ganz
und abſolut verſchlungen wird. Nachdem das Gedicht ſein gothi⸗
ſches Fundament durch ſolche rationelle Gedanken in ganz mo⸗
dernem Style überbaut hat, kann es nicht mehr in eine gothiſche
Spitze endigen, und Goethe wußte das recht wohl, als er an
Schiller ſchrieb, das Gedicht werde immer ein Fragment bleiben.
Dies vergaß aber das geſchwätzige Alter des Dichters, und er
gab dem unter der Hand ganz modern gewordenen Gebäude einen
Schluß in der Bauart des Spitzbogens, der an jene ſchiefe und
hinkende Stelle des Prologs fich wieder anſchließt. Dies könnte
freilich Herr Weiße für fi benügen, da der Prolog und bie
Schlußſcene des zweiten Theild auf diefe Weife Einer Conception
anheimzufallen feinen; allein dagegen fpricht wieder der totale
Gegenfaß der poetifchen Kraft im Prolog und der Altersſchwäche
im Schluffe. Vielmehr offenbar: der Prolog iſt zwar fpäter, als
bie älteften Scenen, enthält aber troßdem eine Stelle, welche noch
von jugendlih unflarer und grobfinnlicher Auffaffung zeugt; bie
Hauptſcenen des Gedichts flehen troß ihrem größtentheild früheren
Urfprung über diefer Unklarheit, der Greis ſinkt in dieſelbe zurüd.
202.
Unmöglih Eönnen wir nun unferem Kritiker in feinen Ver⸗
fuchen, die einzelnen Scenen ber dramatifchen Sanblung nad)
der verſchiedenen Zeit ihrer Entſtehung, der Verſchiedenheit ihres
dichteriſchen Charakters zu zerlegen, Lüden und Verzahnungen
nachzumeifen, Schritt für Schritt folgen. Wir berühren. nur bie
” Sauptpunfte.
Wenn der Verf. zunächft von den Exrpofitiond = Scenen be-
hauptet, daß Fauſt's erfter Monolog, feine Unterredung mit dem
Erdgeift und mit Wagner zum urfprünglichen Kerne gehören,
obwohl fie im erften Fragmente noch nicht gedrudt wurd n, ber
weitere Monolog Fauſt's aber, der Selbftmorbverfuch u. f. w.
eine fpäter angelagerte Schichte darſtellen, die einer veränderten
Stimmung und Dichtungsfphäre angehöre,, fo laſſe ich die Nici»
tigfeit des angegebenen Grundes, daß Fauft hier ald Mann, dort
als Jüngling ſpreche, dahingeftellt, bemerke fein Verbienft, zuerft
deutlich darauf aufmerkſam gemacht zu haben, daß nach mehreren
halbverwifchten Spuren den Mephiftopheled vom Erdgeiſt aus⸗
gehen zu laſſen die urfprüngliche Abficht des Dichterd war, er⸗
Fläre mich aber entfchieden gegen feine Behauptung, daß ber
Selbſtmordverſuch nicht gehörig motivirt, die ſchwungvolle Rede,
bie ihn begleitet, unnatürlih und daher dieſe ganze Partie nur
fombolifh (allegorifh) zu deuten fei. Es ift nicht wahr, daß
„Eeinem Sterblichen ein ſolches Vorhaben ferner liegt, als eınem
jo in rüftigften geiſtigen Streben, im feurigften Drange nad
Lebensgenuß Begriffenen.« Im Gegentheil,, Niemand liegt ein
folder Entſchluß näher, als dem Jünglinge, der an ſolchen meta»
phyſiſchen Leiden Werther's krankt und in deſſen Adern das Feuer
ungebuldiger Jugend rollt, und ich Eönnte den Verf. an dad
203
Grab mehr ald Eines Jünglings führen, ven dieſer Zuftand,
ohne alle äußere Triebfeder, gegen fein eigenes Leben bewaffnete.
Fauſt will aber nicht bloß fterben, er will auf neuer Bahn ben
Aether durchdringen, er will die Wahrheit durch einen salto mor-
tale erſtürmen, der Selbſtmordverſuch Hat ganz biefelbe Abficht,
wie die Magie, die Spannung der Subfectivität gegen das Ob»
ject "aufzuheben, nur mit dem Unterfchiebe, daß bie Magie das
Object nöthigen will, aus feiner Fremdheit heraudzutreten, der
Selbſtmord dad andere Glied, das fubjertive, in fein Gegenglieb
aufzulöfen eilt. Mag nun immerhin in der Wirklichkeit bei einem
folden Schritte die Todesangft zu ſtark fein, als daß, wenn fie
auch vom Willen übermunden wird, eine fo efftatifehe Stimmung,
wie bei Fauft, im Momente der That möglih wäre: dem Dichter
ift e8 erlaubt, das Erhabene in derfelben hervorzufehren und jebe
Art von Ausdruck der Depreifion zu tilgen; kann der Selbſt⸗
mörber troß biefer feine That vollenden , fo kann der Dichter um
jo gewiffer fie ihm erſparen. Mochte aber Hr. Weiße die Stelle
auch mit triftigerem Grunde für unnatürlih erklären und dem
Dichter wirfli einen Fehler aufweiſen, wie Eonnte er, der fih
ſo entſchieden gegen ſpeculative Deutungdwuth erklärt, auf den
ganz fatalen Ausweg gerathen, diefen Selbſtmordverſuch allego-
riſch zu deuten? Der Abfall zum Böfen, die Empörung gegen
Gott, fagt er, iſt ein fittlicher Selbſtmord, eine geiftige Selbſt⸗
zerſtörung, die leibliche Selbftvernichtung bot ſich faft ungefucht
für die geiftige dar. In dem Gifte, heißt e8 weiter, dem Auszug
aller tödtlich feinen Kräfte, fet die geiftig fublimirte Natur des.
Böſen verfinnbilplicht; der geiftige Tod, nicht der irdiſche, ſei
jene dunkle Höhle, in der ſich Phantaſie zu einer Dual verdammt,
204
jener Durchgang, um deſſen engen Mund die Hölle flammt. Das
it um fein Saar befler, als wenn Leutbecher dad Gefchmeide-
£äftchen auf die erften jugendlihen Dichtungen Goethes deutet,
um fein Haar befier, als die barodfte Interpretation des ver-
zwicteften Talmubiften. Wie Göſchel, fo wagt es auch der Berf.,
fi darauf zu berufen, daß der Dichter, vom genialen Inftincte
getrieben, mehr fage, ald er felbft wiſſe. Died bezweifelt Nie
mand, aber dad dem Dichter unbewußte Mehr kann niemals eine
Idee fein, die zu dem wirklich Dargeftellten nur im Verhältniß
einer Aehnlichkeit, einer Vergleichbarkeit ſteht; vielmehr, wo ber
Dichter Ideen auf die leßtere Weife einfleivet, da weiß er eben
ganz Ear und nüchtern die Idee, Elarer, als ber Leſer und
Interpret. Der Fauſt, der lebendig vor und ſteht, kann nichts
vornehmen, was er nicht ald wirkliche Perſon ebenfo, wie es
dem Auge fich darbeut, felbft will, fondern wo ber Leſer ober
Zufchauer fogleih weiß: er thut nur fo, es ift nicht fo ernſtlich
gemeint, es ift bloß ein Sinnbild. Der Verf. giebt S. 92 felbft
zu, daß nach des Dichters Intention Yauft den wirklichen Ent-
ſchluß des Selbſtmords gefaßt habe; nun ja, fo darf er ihm
auch keinen Sinn unterlegen, der die ganze Scene aus dem Zu⸗
jammenhang poetiſch wirkliher Sandlungen in vie luftige Höhe
ber Allegorie hinaufzauſt. Wenn ich fage: ber und der ließ fid
einen Dfen feßen, fo darf der Interpret nicht berfommen und
ſagen: es iſt hier nicht von einem eigentlichen, ordentlichen Ofen
die Rede, e8 ift nur eine feine Anfpielung, welche befagen will,
jene Perſon Habe gefühlt, daß es ihr an wahrer Wärme bes
Gemüthes fehle. Fühlte denn der Verf. die ganze ungeheure
Abgeſchmacktheit eines ſolchen Verfahrens nicht! Er iſt auch ſonſt
205
in’8 allegorifche Interpretiren hineingeratben. Fauſt's Magie erflärt
er für die mbegeifterte, vom ſchoͤpferiſchen Gentus der Kunft, der
Schönhelt hefeelte Welt- und Natur⸗Anſchauung.“ S. dagegen
meine Bemerkung zu Falk und Leutbecher. Der verfüngende Trank
der Here, der Spiegel, worin Fauſt Helena fleht, find ihm eine
alegorifche Wiederholung der zur Begierde aufreigenden Tüfternen
Reden in Auerbach's Keller, ein Sinnbild „der leidenſchaftlichen
Stimmung, zu der den Dichter der Wuſt der Leerheit und Ab⸗
geſchmacktheit der außern Umgebung und des Lebens und Treibens,
namentlich auch unter den Poeten und äſthetiſchen Theoretikern
jener Zeit im Gefühle feiner Kraft aufreizte.“ Vergl. Leutbecher
oben, dazu Goethe bei Falk: „Dreißig Jahre haben fie ſich nun
faft mit den Befenftielen des Blocksbergs und den Rapengefprächen
in der Serenfüche herumgeplagt und es hat mit dem Allegori-
firen und Interpretiren dieſes dramatiſch humoriſtiſchen Unfinns
nie fo recht fortgemollt. Wahrlich man follte fich in feiner Jugend
öfterd den Spaß machen und ihnen foldhe Broden wie den Bro⸗
cken hinwerfen.“
Zu dem Weiteren bemerke ih, daß ich die erfle Hälfte der
Scene des Spabiergangd vor dem Thore nicht für eine an ſich
zwar fehöne, aber mit der ganzen Handlung durch keinen tiefer-
liegenden Bezug verbundene Scene halten kann, wie der Verf.
Ganz richtig fagt Tal, der Dichter zeige und bier dad Geheimniß
wie die Maffe es eigentlich anfange, um die höheren Forderungen,
mit denen Fauft fich herumquält, los zu werben. Welchen großen
Gontraft gewinnt bier Goethe durch die Gegenüberftellung des
Fauft und des Volkes! Mitten unter den glücklich Blinden wan⸗
delt der Unfelige, dem ein Gott die Binde vom Auge genommen
206
bat, daß er hinter den bunten Vorhang fehaut, mitten unter den
Sröhlihen der Prometheus, dem ein Geyer am Herzen nagt,
und defien Ausruf: hier bin ih Menſch, bier darf ich's fein,
ben ſchmerzvollſten Blick in die ganze Tiefe feiner geiftigen Ein-
famfeit eröffnet. Auch begreife ich nicht, wie der Verf. die herr⸗
liche Schilderung von Fauſt's Seelenzuftand nach der Scene beim
Geſang unter der Linde für vag und matt erflären kann, und dad
Erſcheinen des Pudels feheint mir doch etwas beffer motivirt, ala
ihm, da Fauſt's heftiger Wunſch, fliegen zu Eönnen, dem Ber-
führer einen Anknüpfungspunft darbietet.
Dagegen ftimme ich vollfommen überein, wenn er das erfte
Geſpräch Fauſt's mit Mephiftopheles als einen fpäteren, mehr
vom Standpunkte der Reflexion als in poetiſcher Stimmung
gedichteten Beftandtheil, wenn er namentlih Die Rede, morin
Mephiftopheles fich felbft zu definiven bemüht ift, für eine ſpätere
philofophiiche Ausbeutung der fehon früher erfundenen Geftalt
erflärt und dem Dichter vorwirft, daß die ethiiche Natur des Bö-
fen, wie fie in Mephiftopheles verkörpert ift, hier unpoetifch in
phyſiſche und metaphyſiſche Weite verflüchtigt werde. Ich fehe
hinzu, daß an Goethe, der doch fonft jo gut wußte, daß ihm
das Theoretiftren übel anftehe, dieſer metaphyſiſche Verſuch durch
mehrere Schiefheiten ſich gerächt hat, wie die, daß Mephiſtopheles
jein negatives Wefen als einen Wunfch ausdrückt, daß Alles zu
Grunde gehe; er muß vielmehr wünfchen, daß die Körper blühen
und gedeihen ; ferner die, daß Mephiſtopheles mit einer Emphaſe,
die offenbar ohne Sinn iſt, ſich als Theil des Theils definirt,
da, wenn dad Böfe einmal in ihm perfoniftcirt wurde, er aud
das ganze Böſe ift. Im diefer ganzen Scene hat dad Geſpräch
207 .
auch Eeinen Fortgang und ift das Spätere mit dem Aelteren nicht
in rechten Fluß gekommen.
Am weiteften aber fehe ich mich vom Verf. entfernt, wenn
er die Scene des Vertrags⸗Abſchluſſes zwifchen Kauft und Mephi⸗
ftopheles für Fein organiſches Motiv der ganzen Handlung erklärt.
Wo find denn die Gründe? Ich habe fie nirgends finden Finnen.
Im erften Fragment fam die Scene des Abſchluſſes ſelbſt noch
nicht, war aber im ganzen weiteren Gefpräche als vorhergegangen
vorausgefeßt, und wenn noch nicht ausgearbeitet, gewiß angelegt.
Herr Weiße fagt, Fauſt's Fluch auf die Freuden der Erde unt
Vertrag nit Mephiftopheles fet nur ein halb unwillfürlidher Er-
guß feiner Stimmung , eine im der Leidenſchaft auögeftoßene
Betheuerung. Immerhin leivenfchaftlih, aber darum nicht unklar.
Bauft weiß, mad er will, er weiß, was er gewinnt und nicht
geminnt, und dieſes Wagniß des Selbftbemußtfeind ohne alle
pofitiven Zwecke ift gerade das Grhabene, biefer Mannestrotz der
auf ſich ftehenden abftracten Freiheit. Warum fol ed denn mit
den Bunde nicht Ernft fein? Weil nachher der Vertrag gar nicht
als juriftiich bindend behandelt wird, ſondern Mepbiftopheles den
Fauſt fortwährend erft für fich zu gewinnen ſucht? Dies tft auch
in der Volksſage fo und ganz natürlich: der Buchftabe des Ver⸗
tragd corrigirt fih im Verlaufe, die mythiſche Natur beffelben
kommt zum Vorſchein und Kauft bleibt vettbar bis zu feinem legten
Augenblicke, weil der Geift nicht zu binden ift, und man ihm noch
weniger, als dem Behemoth, einen Ning durch die Nafe ziehen
kann. Es handelt ſich hier um nicht3 Oeringeres, ald um den Lebens-
punkt der Tragödie, und es fei mir erlaubt, bier am Schluſſe ge-
genwärtiger Mufterung das Wefentliche noch einmal hervorzubeben.
208
Fauſt mit Mephiftopheles zufammengenommen iſt ver Menſch.
Sein ideelles Selbft will über alle Schranken hinaus, fein reelles-
(Sinnlichkeit und Verftand, in Mephiftopheles culminirend zum
abfoluten Egoismus) mahnt ihn an die Schranke. Der Kampf
biefer beiden Glemente ftellt ſich fchon in feinem Streben nad
Erfenntniß der Wahrheit fo dar, daß der ideale Trieb ohne Vers
mittlung des verftändigen Elements das Abfolute erfennen will.
Fauſt tft aber auch der praktiſche, der genießende und handelnde
Menſch, er wirft ih in's Leben, er will an Allem, was bie
Menfchheit peinigt und befeligt, Theil nehmen, nie aber fi auf
ein Baulbett legen und im Genuffe ftagniren: das ift wieder das
iveale Streben, die Freih eit; Stilleftehen in Sinnengenuß unb
bloß verftändiger Weltanficht wäre Verluſt diefer Freiheit unter
die Schranke. Soweit wäre die Schranke das Vermerfliche. Aber
jo wie in Fauſt's theoretifhem Streben die Verachtung ver Schrante
(der Methode und des verftännigen Moments überhaupt) bereitö
da3 Unrechte war, ebenfowenig ift die Freiheit eine wahre und
pofitive ohne die Schranke. Dad Streben, fih zur Menfchhelt
zu erweitern ohne Stillſtand, durch's Leben zu raſen ohne Auf⸗
enthalt ftürzt den Fauſt in Verbrechen, und dagegen erfcheint
jet die befcheidene Beſchränkung als das Gute: der Menſch fol
allerdings ſich einlaffen, fol fich eine Hütte bauen und die Sorge
für Haus, Hof, Kind auf fih nehmen, aber jo, daß er jeben
Augenblick auch ohne fie auszuhalten die Kraft behält. Dies ift
ein Hauptpunft in unferer Tragödie, (ohne den namentlich der
zweite Theil gar nicht verftanden werden kann): Laß die Glie-
der des in Kauft fih befämpfenden Gegenfages ihre
Stelle wechſeln. Das Einemal erſcheint Fauſt's Ueberſchweng⸗
209
lichfeit ald das Gute und die Beſchränkung ald das Geiftlofe und
Unrechte, dann umgekehrt die Beichränkung (der realiftifhe Vers
fand, die Kräfte der Sinnlichkeit) ald dad Heilſame. Was folgt
aus biefer Umkehrung, worin bald Fauft gegen Mephiftopheles
Recht Hat, bald dieſer jenem die Wahrheit fagt? daß das Wahre
nur ift ein Drittes: Streben in's Unendliche und zugleich Bes
ſchränkung; Eingehen in die Vermittlung und die Wirklichkeit,
denfend, genießend, leidend, handelnd, aber dabei in jenem Mo⸗
mente die unendliche Breiheit fich vorbehalten: Einheit de 8 Idea⸗
lismus (Fauſt) und Realismus (Mephiftopheles).
Dieſe Idee nun, daß im Menſchen die abſolute Freiheit und
die Schranke ſich bekämpfen, mit ungewiſſem Ausgange zunächſt,
aber, weil die Freiheit unverwüſtlich iſt, mit ber Ausſicht auf
endliche VBerfühnung ; mit Einem Worte: die Idee der Nega⸗
tivität des Geiftes, der fih der Beſchränkung durch
fein Anderes, durch das Einzelne, Sinnliche, der erften
Negation (Mephiftopheles) nicht entziehen fann und darf,
aber diefe Beſchränkung durch feine unendliche Natur
wieder aufhebt, und fo die erſte Negation durd bie
zweite zur Bejahung zurüdführt (Kauft und auf feiner
Seite der Herr) : diefe Idee iſt Im Vertrage mit Mephiſtopheles
und was aus demfelben folgt, ausgeſprochen. Die Eopula jener
zwei Geifter, die der Menſch iſt, heißt in der mythiſchen Sprache
des Dichterd : Vertrag des Fauſt mit Mephiftopheles. Fällt
viefer Hauptbeſtandtheil als unorganiſch aus dem Drama heraus,
fo ift diefem die Seele herausgefchnitten, und unbegreiflid iſt mir,
wie der Verf. die fo ſchlagenden Stellen, wie: werb’ ich beruhigt
je mich auf ein Faulbett legen, und andere in biefem Geſpräche
Kritiſche Gänge. 1. 14
210
fo ganz überfehen, unbegreiflich, wie er bie fletige Mickbeziehung
des Folgenden auf biefen Mittelpunkt jo außer Augen laſſen Eonnte,
daß er geradezu fagt, es finde ſich in allen übrigen Scenen des
erften Fragments Feine Rüdfihtnahme weder auf die Worte, noch
auf den Sinn biefer Bundes» DVerfehreibung , da doch ſchon in
biefem die gemüthlihe Wendung, die Fauſt's Liebe zu Gretchen
gegen das Interefie des Mephiftopheled nimmt, feine Sammlung
zu tbeeller Betrachtung in Wald und Höhle unverkennbar ſolche
Momente find, wo Fauft hält, was er bei jener Bundes - Ver-
ſchreibung erklärt hat, daß er nämlich feine geiftige Sreiheit fich
ftet3 vorbehalten wolle. Diefe Punkte fließen mit ftrenger Con⸗
fequenz aus dem Sinne des Vertrags, und — gerade dieſe halt
der Verf. (S. 116, 117) für einen Widerfpruch mit dem
Bertrage. Fauſt's Zurücziehung zu höherer Contemplation, dann
jeine Nüdfehr zu Gretchen follen es fein, die ihn „früher, als
es in der Dichtung wirklich geſchieht, den Worten ded Vertrages
gemäß, der Macht des Mephiftopheles überliefern“, da doc
umgekehrt gerade den Worten des Vertragd gemäß er dadurch
bewährt, Daß die Iage, wo wir was Gut's in Ruhe ſchmaußen
mögen, nicht gefommen find. Die Treue gegen Gretchen ifl
allerdingd doppelveutig ; fofern fie Kauft an engbürgerlihe Ver⸗
hältniſſe knüpfen und dadurch feinen Geift von feinen höheren
Aufgaben abziehen müßte, ift vielmehr die Untreue ein Act der
Gmancipation von Mephiftopheles ; fofern fie aber ein aus tie
ferer Anſchließung des Gemüths entftandenes längeres Verweilen
in dieſem Verhältniſſe iſt, dient ſie zum Beweiſe, daß Fauſt, der
Geiſt überhaupt, gar kein Verhältniß, ſelbſt wenn er will, bloß
ſinnlich nehmen kann, ſondern als geborner Idealiſt es unwill⸗
211
kürlich vergeiftigt. Der Auftritt in Wald und Höhle aber ift ein-
fach und unzweideutig ein Befreiungd= Art von Mephiftopheles.
Im zweiten Theile nun bat allerdings der Dichter in der Vers
legenheit um einen Schluß fich ſelbſt falfh commentirt, wenn
Fauſt in dem Momente todt niederfinkt, wo er einen edlen
fittlihen Zuftand für immer feftzuhalten wünfht. Nur wenn er
einen beſchränkt geiftlofen Zuftand, einen Sinnengenuß bleiben
zu machen wünfcht, Fann er nach dem Sinne des Vertrags dem
Mepbiitopheles verfallen. Ih komme auf diefen mehrfach berühr-
ten Punkt bier zurück, um noch folgende Bemerkung anzufnüpfen.
Es liege ſich allerdings ein Standpunkt finden, jene Wendung,
wonach Fauſt im Momente der Befriedigung durch eine edle
Thätigfeit dem Mephiſtopheles verfällt, zu rechtfertigen. In einem
gewiffen Sinne namlih, Eönnte man fagen, muß ja Mephifto-
pheles ſowohl als der Herr die Wette gewinnen. Auch die ebelfte
Beſchränkung ift eine Beſchränkung; Mephiftopheles repräfentirt
die Schranke überhaupt , alfo verfällt ihm Fauſt, wenn er fi
beſchränkt. Aber diefe Beichränfung iſt eine freie, worin daß
höhere Selbft nicht untergeht, fondern ſich erhält; der Geift greift,
indem er fich felbft dieſe Beſchränkung giebt, zugleich über fie
hinüber: daher gewinnt der Herr die Wette. In der Sprache des
Begriffs drücken wir dieß fo aus: feheinbar gewinnt Mephiftophe-
#8, wahrhaft der Herr; die finnlide Sprache der Poeſie über-
fet dieß in zwei Acte, bie in der Zeit auf einander folgen, und
ftellt das dem Werthe nach untergeordnete Recht des Mephifto-
pheles ala ein der Zeit nach erfted Gewinnen, und das den
Werthe nad volle und ganze Recht auf ber göttlichen Seite
als einen ebenfall3 in der Zeit nachfolgenden zmeiten Art dar,
14 *
212
wodurch das einfeitig Halbe Recht des Mepbiftopheles aufgehv⸗
ben wird (im Sinne von tollere, den tieferen Begriffe nach auch
in dem von conservare). Wenn nur diefer zweite Act nicht in
ein myſtiſches Senfeit3 hinausgerückt wäre! Wenn nur die geret-
tete Freiheit ſich rein menfchlich zugleich und eben dadurch göttlich
darftelte! Dann würde einleuchten, daß dieſes Nacheinander
eigentlich ein Zugleih, daß dad Gewinnen bed Mephiftopheles
nicht ein der Zeit nach früheres, fondern dem Begriffe nach unter-
georbneted iſt. Hier kommen mir aber wieder auf den Punkt zu⸗
rück, wo es einleuchtet, daß dieſe Idee fich eigentlich der poeti⸗
ſchen Darſtellung entzieht, denn fie kann nicht als ein Act in der
Zeit erſcheinen, ohne zu fehr vergrößert zu werben, daß alfo bie
Tragödie immer Zragment bleiben mußte. Kant würde fagen:
Fauſt flegt als Noumen, verliert ald Phänomen; dieſe zwei Sei⸗
ten dürfen aber nicht als ein Nacheinander in der Zeit audein-
andergezogen werden *).
Fauſt's Iehte Stufe iſt: die zu Verſtand gefommene
Bernunft, der zu Vernunft gefonmene Verftand, be-
*) Fortfegen mag man den Fauft, fo welt man will; man kann Ihn
durch jeded bedeutende menſchliche Verhaͤltniß fih, wie Goethe fagt,
bindurchwürgen laffen. Doc hat auch dieß feine eigenen Echwierigtels
ten. Fauſt repräfensirt die kaͤmpfende Menfchheit nicht ſowohl in Ihrem
Handeln nach außen, ald vielmehr in ihrem inneren Zerwürfniffe;
unter den verfchiedenen Situationen, durd) die es noch geführt werden
könnte, fallen alfo rein praftifche, wie die ded Feldherrn und Herricherd,
ſchon weg — für diefe giebt ed andere Helden genug ohne den Fauſt;
die ideelleren aber find Kein an der Zahl. ©. Pfiper bat die geiftreichfie
Fortfegung geliefert, da er Fauſt ald Künftler in neue Verſuchungen
gerathen laͤßt. Frühere Bemerk. Vergi. dad Vorwort.
213
Ihränfte Freiheit und freie Beſchränkung, verfinnlid-
ter Geift und vergeiftigte Sinnlichkeit: ſteht Kauft auf
diefer Stufe, fo tt er felig, er braudt Feine Marla, keinen
Pater Seraphicus und andere Geheimehofräthe vom himmliſchen
Hofſtaat.
Der Raum verbietet mir, die einzelnen trefflichen Bemer⸗
kungen des Verf. über bie weitere Scenenreihe auszuheben; bes
ſonders leſenswerth iſt, was er über Gretchens Charakter, über
pie Bedeutung des weiblichen Ideals in der Poeſie überhaupt und
beſonders der Goethiſchen und den Kortfchritt, den die letztere
auch in diefer Beziehung vom Naiven zum Kunftiveal machte,
vorbringt. Mit Recht bezeichnet er jene edlen weiblichen Geftalten
in Goethes Poeſie als die Probe, worin ver Dichter den höchften
fittlichen Adel bewährt. An diefen himmliſchen Geſtalten, einem
Gretchen, einer Iphigenie, Leonore von Eſte muß alles Schmä-
hen auf Goethes fittlihen Charakter als Verworfenheit nieder»
finken. Dagegen weiß ich nicht, was den Verf. veranlaßte, bie
Heußerungen des Mephiftopheles über Metaphyſik gegen ben
Schüler mit chronologiſchem Zwang auf Kant zu deuten. Wenn
Mephiſtopheles fagt:
Da feht, daß Ihr tiefiinnig faßt,
Was in ded Menſchen Hirn nicht paßt:
Für was drein geht und nicht drein geht,
Ein praͤcht ig Wort zu Dienften ſteht —
fo ſcheint dieß Hr. Weiße auf die Kantiſche Unterſcheidung des
unerfennbaren Dingd an fi und feiner erkennbaren Erfcheinung
zu beziehen. Mepbiftopheles will aber vielmehr fagen: für Alles,
was ihr verfteht oder nicht, wird euch die Metaphyſik ein praͤch⸗
4
214
tiges Wort zu Dienſten ſtellen, und. er meint demnach offenbar
eine Metaphyſik, die ſich dad Erkennen nicht zu fehwer, fonbern
zu leicht machte, er meint den Formalismus und Dogmatismus
ver MWolfifchen Philoſophie, und dieß iſt auch chronologiſch gunz
paſſend, da Goethes Jugend noch in die Zeiten des Wolftanis-
mus ftel. — Ich würde ſolche Stleinigkeiten nicht berühren, aber
fie find mir in diefem Buche, dad mich anfangs zur Ermartung
eined ganz unbefangenen Verfahrens flimmte, beſonders ver⸗
drießlich. — Das Epifonifche der Walpurgisnacht rechtfertigt ver
Berf. fo gut es gehen will; was die letzten Scenen des erften
Theils betrifft, fo findet er die Spuren einer fpäteren Entſtehung
möbefondere in dem profaifhen Style der zwei erflen und dem
metrifehen der Kerkerfcene; er ſieht hier den Ton jener Periode,
welche Egmont, Iphigenien, Taſſo ihre gegenwärtige Geftalt gab.
Was nun den zweiten Theil betrifft, fo Fann man mit dem
Verf. vollſtändig darin übereinftimmen, daß man denjelben lieber
als ein Gedicht für ſich, denn als eine Kortfeßung des erften
betrachten fol. Nur möchte ich diefe Anficht anders begründen,
als der Berf., da er das Schlußrefultat nicht für die Löſung des
im erften Theile urfprünglich geftellten Problems, jondern für
die Antwort auf eine ganz neue Stellung bed Problems gehalten
wiffen will. Die Grund⸗Idee ift offenbar im zweiten Theile gang
diefelbe geblieben, wie im erſten. Bauft hält fein Wort, daß fen
Geiſt fih niemals auf’3 Faulbett Tegen werde, und ift gerettet.
Aber alle poetifche Fleiſch fehlt.
Im dritten Abfchnitt verfucht der Verf. eine Deutung der
Allegorieen dieſes zweiten Theils, und hier nehmen mir Abſchied
von ihm. Nur um die obige Bemerkung weiter zu fügen, daß
215 -
er .öfterd in die allegorifirende Interpretation geräth, führe ich
Fälle an, wo er auch Hier ohne Noth in diefer Manier zu Werke
gebt. 3. B. deutet er den Umſtand, daß Fauſt's Rückkehr vom
£atferlichen Hofe in fein Haus und Stubirzimmer durch nichts
motivirt ift, fo: „dieſe Unterlaffung weift und darauf Hin, daß
wir den Grund diefer Rückkehr überhaupt nicht in dem äußeren,
jondern in dem inneren Zufammenhange der Handlung zu fuchen
haben.“ In der Verſäumniß des Lynceus, der, vom Glanze
Helena's geblendet, ſie zu melden unterläßt, in dem Geſtändniſſe
Fauſt's, fie nicht würdig bewillkommnet zu haben, fol das Be⸗
wußtfein der finfenden poetifhen Kraft des Dichterd, ver fich der
Aufgabe nicht gewachſen fühlte, enthalten fein. Dann (S. 201):
„Den Schuldigen ſollte der Richterfpruch des Todes treffen; —
d. h. e8 hätte der Schwäche diefer vom Strahl der antiken Schön
heit übermwältigten Romantik gebührt, jener gegenüber gänzlich
unterbrückt zu werben.“ Ih will zum Andenken dem Hrn. Verf.
ein Pröbchen Deutung nad) derfelben Logik zum Beten geben.
Man hat fih nun ſchon lange verfreuzigt, zu erratben, wer
denn der Homunculus fei. Wer der ift? Das mehanifh ohne
Potenz gemachte Menſchlein? Das ift der zweite Theil Fauſt
von Goethe.
216
IT. Zwei Erſcheinungen neuerer Poeſie.
Maler Bolten
Novelle in zwei Theilen von Eduard Mörike.
Stuttgart in Schweizerbarts Verlagshandlung 1832.
(Balliſche Jahrb. für deutfche Wiffenfchaft u. Kunſt, Jahrg. 1859. Nr. 144 ff.)
Sp wenig ih die Mängel dieſer Leiftung überſehen will, jo
finde ich doch in ihr einen fo reichen Schatz von Poefle, daß ih
ed für Pflicht Halte, fie durch eine genauere Betrachtung dem
Publifum ganz nahe vor das Auge zu legen. Das Werk felbft
trägt gewiß nicht die Schuld davon, daß es ſieben Jahre feit ſei⸗
ner Erfcheinung im Dunkel geblieben ift, und es ift gewiß nicht
zu fpät, es aus demfelben jet hervorzuziehen, denn es enthält
genug des Bleibenden und Dauernden in fi.
Es ift nicht zufällig, daß aus der ſchwäbiſchen Gruppe in ber
romantifhen Schule fein Dichter in die objectiveren Gattungen
der Poeſie fih erhoben Hat. Uhland und Schwab, welche fi
aus dem Umfange der Nomantif die gediegene Einfachheit der
Empfindung, der Sitte und des Charakters, mie ſolche das
Mittelalter mit feiner ehrenfeften Gefittung darbietet, zum Gegen-
ftande gewählt haben, Tonnten zum Roman und zur Novelle fi
217
nicht berufen fühlen, welche als wefentlih moderne Gattungen
der Poefie nothwendig auch das Vielverſchlungene, Getheilte,
Complicirte moderner Zuſtände, die Dialektik eines reicheren,
vielſeitigeren Pathos, eines mannigfaltig gebrochenen geiſtigen
Lichtes in fich aufzunehmen haben. Uhland verſuchte ſich im
Drama, aber, ſo würdig und edel er ſeine Charaktere hinſtellt,
ſo vermißt man doch in dieſen körnigen Holzſchnitten diejenige dra⸗
matiſche Beredtſamkeit, welche nur da gedeihen kann, wo die
Skepſis und Sophiſtik der Leidenſchaft dem einfachen Weiß bes
Lichtftrahles fein prismatifches Farbenſpiel giebt und die einfachen
Gegenfäe von Schwarz und Weiß durch Uebergänge und gegen«
jeitige Bewegung vermittelt. Kerner hat ſich in feinen Neifefchatten
in da8 epifche Gebiet begeben, aber dieſer Dichter, der auf ſchwä⸗
bifcher Seite die phantaftifche Myſtik der norddeutſchen Meifter
und Jünger der Schule repräfentirt, konnte es eben fo wenig als
biefe zu einem umfafjenden Kunftwerf bringen, ja noch weniger,
da er unaudgefeht den Bid von der Wirklichkeit weg auf das
Jenſeits gerichtet halt, wohin es wie Töne des Alphorns den
müden Wanderer lockt.
Die Romantik konnte fich aus ihrer myftiihen Innerlichfeit
nicht entichließen. Sie hatte kaum eine Geftalt gefchaffen, fo
ſchlang fie dieſelbe verflüchtigt in die Muſik unendliher Empfin-
bungen zurück. Tieck's fpätere Novellenpoefte ift fihon ein Fort»
jhritt aus der Romantik, während freilich die Productivität nicht
mehr in der Friſche der romantifchen Jugendproducte erfcheint.
Eben denfelben Bortfepritt nun bemerken wir bei Mörike; ſchon
in den Inrifchen Producten liegt er zu Tage, in höherem und
umfaſſenderem Grabe aber tritt derfelbe im Maler Nolten hervor:
218
feine Poeſie erfhließt fi zu einem objectiven Weltbilde. Man
darf nur eine Strede weit in biefen Roman bineinlefen, um fi
zu überzeugen, wie vollfommen Mörike dasjenige beſitzt, mas
von Nöthen iſt, um ein objectives und umfaſſendes poetiſches
Lebensbild aufzuftellen. Mörike ift, man ficht e8 deutlich, finn⸗
voller Kenner des Plaftiihen, Zeichner, Muſiker, Mimiker; er
vereinigt die Künfte fo in ſich, wie e8 die Poeſie überhaupt fol,
welche, wie die Phantafie alle Sinne unflinnlih, ebenfo alle
Küinfte idealiter, d. 5. für das innere Auge und Ohr allein, in
fich vereinigt. Ohne diefe finnliche Begabung ift, man kann e8
nicht oft genug wiederholen, Fein Dichter denkbar; es ift nicht
nothwendig, daß er die andern Künfte, ober auch nur Eine der⸗
felben mit Fertigkeit ausübe ober gründlich Eenne, aber er fol für
biefelben foweit organifirt fein, daß ihm wenigſtens öfters die,
Trage muß aufgeftiegen fein: bin ich nicht zum Maler, Bildhauer,
Schauſpieler, Mufiker befiimmt? Darf für Eine der übrigen
Künfte der Sinn unentwidelt bleiben, fo ift dieß am eheften die
Muſik, am wenigften die Malerei, denn das Dichten ift mefent-
lich innere Sehen und Uebertragung defielben in den Leſer. Die
Muſik Eorrefpondirt der Empfindung, welche dem Dichten voran-
geht, was Goethe und Schiller fehlechtweg die Stimmung nennen;
von der Stimmung zum wirklichen Dichten ift aber noch ein großer
Schritt und diefer wird eben nur durch denfelben Sinn vollzogen,
der in den bildenden Künften ein feftes und bleibendes Bild in die
Außenwelt hinftelt. Daß die Muſik troß ihrer relativen Armuth,
ja durch dieſelbe auf der andern Seite gerade reicher ift, als bie
bildenden Künfte, und daß der, wenn auch unausgebildete, Sinn
für fie Teinem bebeutenden Dichter noch_gefehlt hat, fol darum
219
nicht verfannt werden. Wie reich aber Mörife mit diefer geiftigen
Sinnlichkeit ausgeftattet ift, mag fogleich ſtatt unzählicher anderer
Stellen, ja ſtatt des ganzen Buches nur 1, 105— 107 beweifen.
Ob die hier dargeftellte Vereinigung von Muſik, Tanz und Zeich-
nung möglich fei, iſt hier nicht die Frage, oder richtiger, fie iſt
gewiß nicht möglich, aber ein Kunfttalent ſpricht unverkennbar
daraus. Es Eommt aber hier freilich nicht bloß eine oder die
andere Scene in Betracht, es fragt fih vielmehr, ob ſämmtliche
Individuen, die der Dichter einführt, von dem Springpunft ihrer
Individualität bis hinaus in die peripherifchen Einzelheiten ihrer
außern Erfeheinung zufammen mit ber umgebenden bemußtlofen
Natur und eined mit den andern in ganzen Situationen verbun«
den, von dem Dichter innerlich geſehen find, und Fein unpar-
teiifcher Lejer wird dies in Abrede ftellen. Grade mögen ftatt«
finden, wie in jedem Kunftwerf die Figuren, die des Dichters
Lieblinge find, von denen, die ihm ferner fliehen, und an deren
Erzeugung dad Nachdenken mehr Theil hat als die Intuition, fi
durch größere Wärme und anfchaulichere Lebendigkeit unterfcheiden ;
aber wenigftend alle beveutenderen Figuren und Scenen find ſicht⸗
bar im Schooße diefed inneren Schauens entftanden, fie haben
den Dichter auf feinem Zimmer befucht, er bat ihnen ind Auge \
geblickt, vieleicht umbelaufeht auf mandem einfamen Spazier- | 7 °
gange laut mit ihnen geredet. So fteht unter den komiſchen Fi⸗
guren namentlich Wifpel jeden Augenblick deutlich vor dem Leſer;
wer ihn nicht fieht, wird das unendlich Komifche diefer Figur gar
nicht herausmerken und genießen, wie denn überhaupt bei Mörike
— eine ſichere Probe des Dichters — der phantaflelofe Leſer faft
ganz leer audgeht. Niemald aber beichreibt er, ein: ficherer
Keangd
220
poetifcher Inftinet verlegt niemald die große Lehre von Leffing's
Laofoon, er nimmt die äußere Geftalt nur im Vorübergehen auf
als das Uccompagnement der Affecte und Sandlungen, nur in
ber Bewegung zeigt er fie, nur ein fehneller Lichtſtrahl erleuchtet
je am rechten Orte plößlich das Sinnliche. Das Aeußere fol fa
in der Poeſie noch vollfommener ald in feder andern Kunft nur
> Aeußere des Innern fein, und bier erft, wo wir fehen, welche
Stellung unfer Dichter demfelben anweiſt, und mie ed ihm nur
der durchfichtige Körper des Geiftes ift, fehen wir ihn vollftändig
als Dichter fich bewähren. Durchweg giebt fi der Genius zu
erkennen, der fi mit freier Entäußerung in fremde Seelenzu-
fände verfeßt, den verfehlungenen Irrwegen ber jchwiertgfien
geiftigen Stimmungen unermüdlich nachgeht, bis er fle ganz klar
gemacht hat, ihre Dialektik mit großer Feinheit, oft nur zu fein
ausfpinnend und zerglienernd, entwidelt. Diefes Sichhinüberver-
feßen in. das Innere der Perfonen, der Gefchlechter, Stände und
überhaupt jeder Lebenderfcheinung zeugt um fo mehr von ber
Gabe der Intuition, da der Verfaſſer leider niemals Gelegenheit
hatte, die große Welt zu fehen. Nicht ohne Rührung flieht man,
wie er im Gefühle dieſes Mangeld in Außendingen oft bei den
beſchränkteren Formen vaterländifher Sitte ſich Raths erholt, umd
namentlich feinen Frauen, felbft den höher geftellten, mande
unmittelbare Sorge für die Haushaltung aufbürdet, wofür fie
fih in der Wirklichkeit vielleicht Hübfch bedanken werden. (Richt
hieher gehört jedoch, mas ber Rec. in den Blät. für litt. Unterh.,
San. 1833, Nr. 20, tadelnd heraushob, daß die Gräfin Con-
ftanze-einmal die Meubles mit dem Staubtuche abreibt, denn dies
ift als ein Ungewöhnliches pſychologiſch motivirt 1, 225). Aber
221
nur auf das ganz Aeußerliche geht dies; wo geiftiger Boden tft,
da weiß er in feiner poetifchen Divination ſelbſt die feinften Blu
men gefelligen Tafts, zugefpister Wendungen, feiner Andeutungen
u. f. w. in einen zierlichen Strauß zu binden, ald bewegte er ſich
mit gewohntem Bürgerrechte in dem Kreiſe höherer Gefelifhaft.
Insbefondere bemährt fih aber, wo er ven Geburts⸗Adel vereinigt
mit dem innern darftellen darf, bei fo geringer Erfahrung aus
dem wirklichen Leben, der Achte Dichter.
Mörike's Liebe zur Malerei beſtimmte ihn, feinen Helden zu
einem Maler zu machen und dem Roman (oder Novelle, wir
wollen hier nicht über diefe Benennung rechten, ich nenne das
Buch lieber Roman) den fehr unglüdlichen, pretiöfen Titel: Ma-
ler Nolten zu geben, der gewiß nicht geeignet war, dem Buche
ein günftiged Vorurtheil zu erweden, ſchon wegen des Klanges,
und dann weil ein Künſtler-Roman dahinter zu ſtecken fchien,
eine Gattung, die ganz abgelebt ift. Mörike läßt jenoch ven Faden .
der fünftlerifchen Entwicklung feined Helden bald fallen, um bei
der Gefchichte feiner Liebe zu verweilen, denn ed war nicht feine
Abſicht, einen Kunftroman zu fehreiben. Freilich da fein Held
auch als Menſch die Eigenthümlichkeiten, welche die Beſchäftigung
mit der Kunft dem Charakter und ganzen Welen eines Indivi⸗
duums aufzuprägen pflegt, keineswegs ‚hervorftechend zu bemerken
giebt, fo hat ed überhaupt zu wenig innere Nothwendigkeit, daß
er gerade ein Maler und nichts Anderes ift. Doch rechnen wir “
dies dem Verfaſſer nicht zu hoch auf. Nolten mußte doch etwas
ſein und man konnte doch keinen Referendarius aus ihm machen.
Ohnedies hängen mehrere für die Fabel bedeutende Begebenheiten
mit feiner künſtleriſchen Thätigkeit zuſammen. Ueber feinen Ent-
222
wicklungsgang als Künftler erfahren wir nur fo viel, daß er aui
ber romantifchen Tendenz in das Gebiet clafflfch gereinigter natur:
gemäßer Schönheit aufzufteigen bedeutende Schritte gethan hat
nicht um die phantaftifch=romantifhen Stoffe ganz aufzugeben
wohl aber, um auch fle im Sinne veredelter, reiner Kunſtforn
zu behandeln. Ein Gemälde folcher Urt, ganz traumartig unt
in feiner Nebelhaftigfeit ein Beweis, daß unfer Dichter freilich zu
tief jelbft in der Romantik ſteckt, ift e8, das in der Entwicklung der
Kataftrophe einer Hauptperfon des Romans eine wichtige Rolle fpielt.
_—— Bir ſehen wirklich unfern Dichter mit einem Buße noch in der
\
%
N
EN
a
Romantif, den andern auf die Stufe des claffifch = modernen
Ideals emporgehoben. Diefer Punkt ift es eben, den wir feft-
halten müffen, wenn wir nun auf den Gehalt diefer Dichtung
eingehen. Die romantiſche Myſtik bildet den Hintergrund, bie
naturgemüße. Elare Wirklichkeit de den Bordergrund: was wir nach
Hegel's Sprache in der Phänomenologie ald ein unterirdifches
oder güttliches und als ein menfchliches oder ein Gefeß der Ober:
welt unterfcheiden können. Beide Geſetze Freuzen fich in ungleichem
Kampfe; das erftere behält, nachdem dad Gejeß der Obermelt
ſich frei für ſich entwideln wollte, aber der dämoniſchen Grund—
lage, auf der es fich bewegt, fich nicht zu entreißen vermochte,
ben Sieg, Der Maler Theobald Nolten nämlich fteht in dem
Jataliftiſchen Verhältniſſe räthſelhafter Wahlverwandtſchaft zu einem
ſeltſamen dämoniſchen Weſen, einer wunderſchönen Zigeunerin,
von der wir am Ende erfahren, daß ſie wirklich ſeine Verwandte,
das Kind einer abentheuerlichen Liebe ſeines Oheims iſt. Dieſe
Perſon, höchſt geiſtvoll und tiefſinnig, himmelweit über der ab-
gedroſchenen Nachkommenſchaft Walter Scottiſcher Zigeunerinnen
223
und wirflih im hoben Style der Kunft gehalten, taucht, nachdem
Nolten fie im erften Jünglingsalter mit den Gefühle wunderbarer
magnetifcher Anziehung zum erftenmale erblickt hat, unvermuthet
da und dort wieder auf, durchbricht und zerftört in der Lieber-
zeugung, aus dem Rechte einer ihm von Ewigkeit Angelobten zu
handeln, mit einer Mifhung von Liſt und naiver Gutmüthigkeit
alle fpäteren Verſuche Nolten’s, fih dur rein menfchlich begrün«
dete Neigung in der gefunden, vernünftigen Wirklichkeit anzu
fiedeln, und am Schluffe fehen wir, nachdem der Schmerz fein
Reben verzehrt hat, durch die Viſion des blinden Gärtnerfuaben
Henni jeine ideale Geftalt mit der feiner Wahlvermandten in wider⸗
ftrebender Verfehlingung entſchweben. Obwohl nun dies Verhält
niß weit entfernt von grobem Fatalismus, mit wiederholter Hin⸗
deutung auf einen vielleicht bloß illuſoriſchen Grund fo gehalten
ift, daß namentlich in dem verborgenen Wahnfinn, der die Zigeu-
nerin treibt, an Nolten das Fatum zu fpielen, und feinem ver-
mirrenden Einfluß auf die anfünglich gefunden Gemüther inımer
ein Schein von Möglichfeit pſychologiſcher Auslegung zurückbleibt, |
jo hat doch jener dunkle Grund, das dämonijche Element, dieſe
Nachtſeite der Menjchheit durch die entſetzlich fortfchreitende Macht, |
die fie ausübt, die größere Realität, und es entfteht durch jene |
aufflärenden Winfe nur ein Zmwielicht, von dem man zu der An⸗
nahme einer irrationalen Nothwendigfeit immer zurücdgetrieben |
wird, die letzte Folge aber ift ein unbefrienigender Schluß und ein [; * Bu
Mangel an Einheit in der Grundidee. Ba
Zunächſt ift zu erörtern, ob jene dämoniſche Grundlage i über⸗
au poetifeh und wahr fei. Daß es ſolche magnetifche Attrac-
tionen gebe, wird man eben nicht läugnen wollen und es liegt
\
224
auch Goethe's Wahlverwandtſchaften die Annahme derſelben zu
Grunde. Aber für's Erſte gewinnt hier die Wahlverwandtſchaft
zwiſchen Eduard und Ottilie ihre Gewalt erſt durch laͤngeres Zu⸗
ſammenleben, die Neigung hat Zeit und Handhabe, ſich mit
natürlichem Wachsthum im Lichte des Tages zu entwickeln, nur
die Wurzel behält fie im nächtlichen Grunde. Hier aber wirkt aus
dem Verborgenen, ohne oder mit ganz geringer Nahrung durch
wirkliche Annäherung der wahlverwandten Perſonen, verfolgend
und zerſtörend die prädeſtinirte Nothwendigkeit, daher bleibt am
Schluſſe ein dumpfer, unaufgelöſter Schmerz zurück. Für's An⸗
dere kann das Naturgeſetz in Goethe's Wahlverwandtſchaft nur
dadurch bis zu ſolcher Gewalt anwachſen, daß Eduard ihm nicht
bie gehörige Willenskraft entgegenſetzt; bei Nolten aber ſtellt fi
das Verhältniß ganz anders. Er widerſtrebt aus innerer Abnei⸗
gung dem Rapport, der in ſeine geſund menſchlichen Lebensver⸗
hältniſſe als ein Geſpenſt aus feiner Jugend hereinragt, und wird
widerſtrebend von demſelben endlich zerſtört. Für's Dritte —
und dies iſt die Hauptſache: — im Maler Nolten kommt, indem
man Strecken weit jenen nächtlichen Hintergrund vergißt und auf
dem Proſcenium zwei andere Liebesgeſchichten am Lichte der hellen
Wirklichkeit ſich abſpinnen ſieht, eine ganz andere, rein menſch⸗
liche und ſehr moderne Frage zur Sprache, die Frage nach
der Pflicht der Treue in dem Falle, wenn eine Verbindung
einer ganz veränderten Lage des Gemüths nicht mehr adäquat
iſt. Dieſe Frage ſollte ſich rein für ſich in dem Gebiete,
| dem fie angehört, dem Gebiete der Vernunft und Freiheit,
- beantworten, nun aber wird dieſer reine Verlauf durch das
gleichzeitige Fortbeſtehen und Fortwirken jener irrationalen Boten;
225
geſtört, unterbrochen, aufgehoben. Wir befommen dafür, daß
Nolten die liebenswürdige ländliche Agnes verläßt, um fpäter gar
nicht zum Seile für fie und ihn felbft zu ihr zurüdzufehren, zwei
Gründe ftatt Eined. Der eine ift, daß die hochgebilvete und an⸗
mutbige Gräfin Conftanze feine Neigung zu Agnes verbrängt (Daß
Nolten Agnes zunächſt deswegen verläßt, meil er fle für treulos
hält, Fomut bier nicht in Betracht, denn er muß fich felbft ge⸗
ftehen, daß dies feinem Gewiſſen eine willfommene Ausflucht ift).
Hier faß die Sauptfrage über Recht und Unrecht. Die andere,
\ftörend dazwifchen tretende, ift die Frage nach dem Verhältniß
unferer Freiheit zu jener Nachtfeite des menfchlichen Wefens. Wir
haben aljo einen Roman, der zur Hälfte ein Bildungd- Roman,
die Gefchichte der Erziehung eines Menfchen durch das Leben, die
Liebe namentlich, ein pfychologijcher Noman, zur Hälfte ein
Schickſals-Roman, ein moftifcher Roman ift, und' beide Hälften
gehen nicht in einander auf, fo bewundernswürdig ded Dichters
fünjtliche Bemühungen find, fle in einander zu verſchmelzen, zu-
gleich die verftindige Wirklichkeit und zugleih dad Wunder zu
retten. Wir werden finden, daß auf der einen dieſer beiden Sei⸗
ten noch eine weitere Theilung des Interefjes eintritt, die fich jegt
noch nicht auseinander fegen läßt.
Sobald man ung diefen ſchadhaften Fleck zugegeben hat, Eönnen
wir im Uebrigen auch die Kunft der Compoſition unbefangen und
eifrig loben. Mörike iſt auch, wo er auf verfehlter Richtung ge-
funden wird, immer geiſtreich und klar. Es mag nach ſtrenger
Rechnung vieleicht auch ſonſt die eine oder die andere Figur oder
Scene überflüffig fein; aber e8 ift der Ueberfluß des Neichthums,
und Mörike Eönnte nit dem, was dieſer Roman zu viel hat, ja
Arisifcye Gänge ll. 15
|
226
noch nit den Abfall dieſes Abfalls der Armuth nicht meniger
feiner poetifchen Eollegen auf die Beine Helfen. Er hat in dieſes
Buch feine ganze reiche poetifche Jugend hineingeſchüttet; dieſes
Zuviel werben wir dem jugendlichen Dichter gewiß gerner verzei-
ben, als ein Zumenig.
Mir Eönnen unfere weiteren Bemerkungen nad) den zmei Hälf-:
ten anordnen, in melche nach obiger Entwicklung der Noman zer-
fält, und zuerft von den Partieen ſprechen, welche indgefammt
rim Geiſte der Romantik empfangen find. Der Grundzug der
; Romantik, das Myſtiſche, macht fih alfo vorzüglih in Eliſa—
beth (fo beißt die Zigeunerin) und ihrer Wahlverwandtſchaft zu
Theobald (Nolten)) geltend, und man muß gefteben, daß der
Dichter alle Schönheit, welche der Romantik zu Gebot fteht,
alle unheimlichen Reize, alle füße Wolluft unendlicher Gefühle
mit concentrirter Innigfeit in diefen Punkt verfammelt. Die erfte
Erfheinung der fremdartigen Jungfrau in dem Gemäuer einer
Burgruine, der wunderſame Gefang der halb Wahnfinnigen,
der „wild wie ein flatterndes Tuch fih in die Lüfte fehmingt«,
dann Theobald's Gefühl beim Zufammentreffen mit ihr, deren
hohe und edle Geftalt eine Miſchung von Ehrfurcht und unheim-
licher Anziehung ausübt, — dies ift mit Meifterhand entworfen.
„Seht nur“, fagt Theobald zu ihr, „als ic Euch anſah, da
war es, als verſänk ich tief in mich ſelbſt, als ſchwindelte ich,
von Tiefe zu Tiefe ſtürzend, durch alle die Nächte hindurch, wo
ich Euch in hundert Träumen geſehen habe, ſo, wie Ihr da vor
mir ſtehet; ich flog im Wirbel herunter durch alle die Zeiträume
meines Lebens und ſah mich als Knaben und ſah mich als Kind
227 "
neben Eurer Geftalt, fo wie fle jet wieber vor mir aufgerichtet
iſt; ja ich kam bis an die Dunkelheit, wo meine Wiege fand,
und ſah Euch den Schleier halten, welcher mich bedeckte: da ver⸗
ging dad Bewußtſein mir, ich habe vielleicht Tange geichlafen,
aber wie fi meine Augen aufgehoben von felber, ſchaut' ich in
die Eurigen, als in einen unendlichen Brunnen, darin das Räthſel
meines Lebens lag.“ Auch weiterhin ift durch die Reinheit künſt⸗
leriiher Phantafie alles Eraffe und Plumpe von dieſem Verhält-
niß abgewiefen, und der Unmille gegen die Zerftörung alles Lebens⸗
glücks durch jene räthfelhafte Perfon milvert fi fehr durch das
Mitleid, das ihre abergläubige Liebe zu Theobald durch bie einfache /
Teftigkeit der Ueberzeugung von ihrem Nechte und die Schmerzen,
die ihr aus feinen fpäteren Neigungen fließen, in Anfprud nimmt.
Ein zweites weſentliches Moment der Romantif ift, ald Folge _
Der Anmendung der Myſtik auf den Naturverlauf, das Wunder
!bare. Diefer Lieblingsrichtung feiner Phantafle hat der Dichter
mit Gejchieklichkeit ein Bett anzumeifen gewußt, wo fle ſich ergie-
Ben kann, ohne die feften Gefeße der Wirklichkeit, in denen ber
Roman troß jener myſtiſchen Grundlage fich bewegt, zu beein-
trächtigen. Theobald, unterflüßt von anberen Künftlern, giebt
ein Schattenfpiel zum Velten; während die Bilder erfcheinen,
wird ein erflärender poetifcher Text in dramatiſcher Form verlefen.
Hier find wir denn ganz im Lande der Wunder, auf einer Infel,
deren urfprüngliche Bewohner längſt durch ein plögliches Gericht,
der Götter dahingerafft find ; nur der legte König der Infel wird
durch den Zauber einer Zee, bie ihn liebt, -feit mehr als taufend
Jahren in diefer Sterblichkeit zurückgehalten, vergebens ſich ſeh⸗
nend, „den Tod, das faule Scheufal, dad-die Zeit verfchräft,
- 15 *
⸗
An
J
228
herauf zur Erbe an's Gefchäft zu zerren“, bis endlich der Zauber
gelöft und er in den Kreis ver Götter aufgenommen wird. Die
Situation ift mit höchſter Originalität ausgeführt, einige Mono-
loge des unglüdlichen Zurüdgebliebenen dürfen dem Zarteften und
Gewaltigſten, was je in der Poefle vorkam, an die Seite geftellt
werben. Namentlih 1, 164., wo einzelne Lichtblige dem ermat-
teten Genächtniffe des Königs, der in nächtlicher Einſamkeit um⸗
wandelt, feine Vergangenheit erhellen, wird man den Dichter in
leuchtenden Zügen erfennen. Nur wenige Berfe fei und vergönnt
anzuführen:
Bor! auf ber Erde feuchten Bauch gelegen
Arbeiter fchwer die Nacht der Dimmerung entgegen,
Sindeffen dort , in blauer Luft gezogen,
Die Fäden leicht, kaum börbar fließen,
Und bin und wieder mit geftähltem Bogen
Die luſt'gen Sterne goltne Pfeile ſchießen ....
Er erinnert fich des Namens feiner Gemahlin — :
Almiſſa! — — Wie? Wer flüert mir den Namen,
Den lang vergeſſnnen, zu? Hieß nicht mein Weid
Almiſſa? Warum kommt mir's jetzt in Sinn?
Die veil'ge Nacht gebückt auf ibre Harfe
Stieß traͤumend mit dem Finger an die Eaiten,
Du gab ed tieien Ion.
Es ift die Zeit nicht mehr, wo man ten Dichter in einzelnen
Bildern juchte, aber ein mubrer Tichter wire jih au in ſolchen
offenbaren, unt ich fann mich nicht entbalten, zu ten angefübrten
Blicken ter ereliten Pbuntufie noch io anmuibige Gleichniñe an-
zuführen, wie:
Las und im fanfter Wechietrede rub'n
Zwei Alban aleich, Die aneinanter zleieen.
229
oder mie der fihöne Ausdruck in einem Landſchaftsgemälde: mes
ſchienen Nebelgeifter in jenen feuchtwarmen Gründen irgend ein
goldnes Geheimniß zu hüten.“ Solche einzelne Diamanten hat
‚ Mörife wie ein reiher Mann ungezählt unterwegs audgefchüttelt.
! — Neben dem König ift die dämoniſche Kofette, die ihn durch
ihren Zauber auf die Erde bannt, ein trefflich gehaltener Cha-
: rafter. Ueberhaupt feine Intuition des weiblichen Weſens, bie er
: auch weiterhin an ben Tag legt, und die um fo mehr eine folche
une
zu nennen iſt, da ihr ganz wenig Erfahrung zu Hilfe kam, feheint
Mörike vorzüglih zu einem Dichter des weiblichen Ipealä zu be⸗
ſtimmen; die Energie großer politiſcher Leidenſchaften, das männ⸗
liche Pathos, dürfte weniger in dem ſeiner Natur vorgezeichneten
Kreiſe liegen, und es zeigt ſich hierin eine Verwandtſchaft mit
dem Gpethifchen Genius, für die wir in anderem Zuſammenhange
noch weitere Belege anzuführen haben.
Ein drittes Moment der Romantik ift ihre Vorliebe, den
Schauplag der Poeſie in das Element naivvolfäthümlichen Be-
wuußtſeins zu verlegen. Unſer Roman enthält eine treffliche, im
Geifte der Volksſage erfundene, zuleßt in die Legende übergehende
Partie, die Erzählung von dem Iuftigen Räuber Jung Volker.
Wir fragen jeden unbefangenen Xefer, ob ein Anderer als ein
geborner Dichter fo voll und rein in dieſes Clement eingehen und
es doch unbefchabet feiner Natur in die künſtleriſch veredelte Dar-
ftellung zu erheben vermochte. Jung Volker wird dur ein wun-
derbares Zeichen befehrt und meiht der heil. Jungfrau eine Tafel,
deren Infehrift aljo beginnt „... und mer da folches Tiejet mög
nur erfahren und inne werden was wunderbaren maßen Gott der
Herr ein menſchlich gemüete mit gar geringem dinge rühren mag.
230
Denn als ich Hier ohne allen fug und recht im wald bie weiße
hirſchkuh gejaget auch felbige fehr wohl troffen mit meiner
gueten Büchs da hat der Herr es alſo gefüget daß mir ein fon-
berfich verbarmen kam mit fo fein fanften thierlin, ein rechte
angft für einer großen fünden. da dacht ih: itzund trauret rings«
umbher der ganz wald mich an und ift ald wie ein ring daraus
ein dieb die perl hat brochen ein feinen bette fo noch warm vom
ſuͤeßen leib der erft geftolenen braut. verhauchend ſank es ein als
wie ein floden ſchnee am boden hinſchmilzt und lag ald wie ein
mägblin fo vom liechten mond gefallen. ..... nunmehr mein
herze je ertweichet geweſen nahm Gott der ftunden wahr und dacht
wohl er muß das Eiſen ſchmieden meil es glühend und zeigete
mir im geift all mein frech undhriftlich treiben und Iofe hantirung
biefer ganzen ſechs Jahr und redete zu mir die muetter Jeſu in
gar holdſeliger meiß und das ich nit nachſagen kann no mil.
verftänbige bitten al8 wie ein muetterlin in ſchmerzen mahnet ihr
verloren find... « Iſt Mörike ein Dichter oder nit? — linter
den männlichen Perjonen , welche im Roman ſelbſt auftreten, iſt
nur noch ter blinde Gürtnerfuabe Henni al3 eine naive Geſtalt
zu ermäßnen , denn ber Förſter, der im Allgemeinen aud naiv
zu nennen iſt, iſt zu untergeorbnet und Navmund s, dieies treff-
lich gezeichneten Brauſekopfs Naivetät rubt nur auf ieinem Tem⸗
perament und jeinem Kunſt⸗Naturalismus, müßrent er übrigen®
ganz ter gebilteten Sphäre angehört. Henni, ver Rille, fromme
Ninte Jüngling , if eine höchſt beruhigende Ericheinung in ter
Roth und Angſt ter legten Kataürerbe , und eine Sreuntichet
wit ter wahnfinnigen Agnes, tie Neigung tieier zu ikm mirk
Nemand ungerũhrt lanſen
>
Ä fr „yvy rt — PLAN" m u (x. U \
231
Den Mebergang nun aus dieſer Sphäre der Nainetät in die
des gebildeten Bewußtſeins und jo aus der Romantik überhaupt
in bie Poeſie des Naturgemäpen bildet der trefflih gehaltene
Charafter Agneſens ‚ ber Braut des Malers, die durch dad
unfelige Dazmwifchentreten jener Zigeunerin aus dem Frieden der
reinften Einfalt und holden Selbftgenugfamfeit herauögeriffen, in
den peinlichen Zweifel, ob fie, das einfache Landmädchen, dem
Derlobten genüge , bineingeftoßen, auf einige Zeit das Gleich⸗
gewicht des Verſtandes verliert, in dieſem Zuftande ohne ihre
Schuld dem Bräutigam Anlaß zu Mißtrauen und vworübergehen-
der Auflöfung des Verhältniſſes giebt, dann geheilt in die Arme
des Verſöhnten zurüdfehrt, endlich aber durch unzeitige Eröffe "
‚nung eined Geheimnifjes und nochmaliged Zufammentreffen mit
der geheimnißvollen Fremden ganz in Wahnſinn geftürzt wird
und tragiſch zu Grunde geht. Wie Tieblih hat der Dichter dad
heimliche Behagen, die trauliche Beichränkung , bie dieſes Wefen
umgiebt, fon 1, ©. 49 und 50 vergegenwärtigt, mo wir
durchs Fenſter in das mondbeglänzte Gemach der fehlafenden Un⸗
ſchuld einen Blick werfen dürfen! Man denkt an Gretchens Stüb⸗
chen im Fauſt. Welcher Frieden, welche idylliſche Anmuth liegt
wie ein klarer Sommertag über dem Bilde des Wiederſehens, wo
ber ausgeſöhnte Maler zu feiner Braut zurückkehrt und fie erſt
figend auf ver Kirchhofmauer und einen Kranz bindend belaufcht, _
indem ein Schmetterling neben ihr auf einer Staube die glänzen⸗
den Flügel wählig auf- und zuzieht und der Storch zutraulich an
ihr vorüberfehreitet! (2,- 398 ff.). Später, da dad unfelige
Gefpenft jener früheren Eranfhaften Krifis aus der Tiefe ihres
Innern wieder hervorbricht und bie ſchöne Seele dem Wahnftnn
232
überliefert, hat fich der Dichter, fo fehauberhaft der Gegenftand
ft, doch im fehönften Geleife poetifchen Ebenmaßes gehalten,
nirgends gegen die Feufche Geftalt der iveellen Schönheit gefündigt,
und mie Ophelia, fo macht Agnes „Schwermuth und Trauer,
Leid, die Hölle felbft zur Anmuth und zur Süßigkeit“. Wie ſchmerz⸗
lich füß iſt das Bild, das und der Verfaffer mit folgenden Wor⸗
ten giebt: „Sie verfiel einige Secunden in Nachdenken und
Matfchte dann fröhlich in die Hände: O Henni! füßer Junge!
in ſechs Wochen kommt mein Bräutigam und nimmt mich mit
und wir haben gleich Hochzeit! Sie fland auf und fing an auf
dem freien Platz vor Henni auf's Nieplichfte zu tanzen, indem fie
ihr Kleid hüben und drüben mit friken Fingern faßte und fi
mit Geſang begleitete. Könnteft du nur ſehen, rief fie ihm zu,
wie hübſch ichſs mache! Fürwahr ſolche Füßchen fieht man nicht
leicht. Bügel von allen Arten und Barben fomnten.in die äußer⸗
ften Baumzweige vor und ſchau'n mir gar naſeweiß zu“ (2, 594).
Zugleib muß man in vieler Entwicklung die Wahrbeit bewundern,
womit die Nerrüdung des Bewußtſeins targertellt iſt, tem bie
Perſonen, mit denen ed im Wahnfinne fib beſchäftigt, unflar
ineinander zerfließen, der Unfinn im Sinn, ter Sinn im Unñnn.
Ein Dichter bar mehr zu tbun, ald ten MWabnfinn tarzuftellen :
ed iſt aber feine ter Fleiniten Proben für teine Kunit. ven gefun-«
ven Sat zu entbüllen, wenn er e& vermag. den Eranfen te ıu
malen. daß man durch seine erregten unt aufgemüblter Wellen
Immer neh auf ten geiunten Grund binunterñebt. Didter ven
Talent. vie ih aber nicht zur reinen Schönbeit erbdeberr. Ueden
ee. einen Schein von Kraft tur unmorivirtes Gmbraden des
Wanna zu eritleiten: Bier aber it michts linmerime.
233
man fteht von Anfang an: es muß mil den unglüdlichen Mäd⸗
hen died Ende nehmen, ja fie erhebt ſich, wo fich die tragifchen
Fäden fammeln, um dad Neb des Unheils über fle zu merfen,
zur Hauptperſon des Romans und rettet hiedurch, fo weit es
nach dent ſchon aufgebedten eranfen Fleck möglich tft, die Einheit
ded Ganzen. Wir werden in Kurzem darauf zurücfommen.
Ganz in der Sphäre der Bildung ſteht die Gräfin Conſtanze.
Den Maler ergreift in der Periode, wo er fein Verhältniß mit
Agnes abgebrochen hat, eine tiefe Leidenſchaft zu diefer ſchönen
jungen Wittwe, in welcher der feinfte Duft der Weltbildung und
höheren Sitte mit jener Anmuth, welche feine Kunft zu geben,
aber wahre Kunft mohl zu erhöhen vermag, ſich auf's Reizendſte
vereinigt, und deren reine Nähe jedes Rohe und Gemeine aus
ihrem Kreife verbannt; fle erwiedert diefe Leidenſchaft, und der
Monıent des ftummen Geftändnifjes, diefe fo millionenmal da=
gemwefene Situation, ift mit überrafchender Tiefe und Neuheit
gedichtet. Durch eine furchtbare Täuſchung jedoch verkehrt ſich
ihre Liebe plötzlich in Haß, in Rache, und dieſe bereuend kauft
ſie den Geliebten, den ihre Rache in's Gefängniß geliefert hat,
mit dem Opfer ihrer Tugend los. Auch ihr begegnet die daͤmoni⸗
ſche Zigeunerin, ſie erkennt in dieſer den Vorboten des Todes,
erhält endlich Licht über den Irrthum, der ihre Liebe in Haß
verkehrt hatte, und verzehrt fih nun in qualvoller Selbſtverach⸗
tung; doch auch fie bleibt felbft im tiefen Falle eine poetiihe Er⸗
ſcheinung; diefer Fall ift vollkommen motivirt, nichts Gemeines,
nicht Unnatürliches drängt fi auf. — Unter den andern meib-
fichen Perfonen machen wir nur auf Margot noch insbefondere
aufmerkjam, deren klar verftändiges und doch gemüthreiches
284
Weſen am Schluffe, unmittelbar ehe und während bad tragifche
Schickſal hereinbriht, fo wie die Gegenwart ihres Vaters, des
Praͤſidenten, die mildernde Wirkung der Perfon ded Blinden
von dieſer Seite wohlthätig verflärkt. Das Beruhigende ber Ge-
genwart eines überlegenen, mwelterfahrenen, charakterfeſten, wohl⸗
wollenden Vornehmen inmitten einer peinlichen Verſtörung, das
Gefühl der Sicherheit, das ſchon beim Eintritt in den Kreis
dieſer feinen, beſchwichtigenden Formen, wo ſie nicht bloße
Formen find, in den Geängſtigten überfließt, iſt mit überzeugen⸗
der Anſchaulichkeit vergegenwaͤrtigt. /
"inter den männlichen Individuen des gebildeten Kreiſes zeigt,
wie billig, Theobald am wenigſten prägnante Individualität. Der
| Romanheld ift als folcher mehr der paffive Mittelpunkt, in mel
chem bie allgemeinen Lebensmächte, die der epiiche Dichter im
ihrem breiten Nerus entfaltet, ihre Wirkungen fammeln, als
dag er durch Beftimmtheit des Charakters einer oder der andern
diefer Mächte als ihr Nepräfentant zufiele. Sein Leben ift ein
Entwicklungsweg; wer ſich erft entwidelt, ift ebendarum noch
nicht feſt. Er gleicht hierin dem Wild. Meifter, dem man ohne
Einfiht in die poetifhe Gattung feine wechfelnden IUufionen und
feine Linfelbftändigfeit zum Vorwurf gemacht hat. Aber weit
ärmer find Theobald's Bildungswege und — momit wir benn
auf den Hauptpunkt zurückkommen — fein Bildungdgang wird
in der Mitte geftört, unterbrochen. Das fataliftiihe Element als
legte Urſache diefer Störung und ald nothwendig einen tragijchen
Ausgang bedingend haben wir ſchon hervorgehoben. Sehen wir
nun von dieſem dämoniſch unterhöhlten Boden, auf dem bie Per⸗
fonen wandeln, einen Augenblid ab, fo ſcheint die Erzählung
235
mehr und mehr auf die Löfung ber intereffanten Frage hinzu⸗
arbeiten: Eonnte eine zwar tiefe, aber nicht nach außen entfaltete
Natur, wie die einfache Agnes, dem Maler wirklich gemügen ?
War es daher nicht ein Fortſchritt, wenn er, durch einen fchein«
bar vollkommen begründeten Irrthum gegen ven Vorwurf ber
Untreue zunächft geſchützt, in die Höheren Kreife Conſtanzens über-
trat, da ſich ihm durch dieſe Situation eine Fülle neuer Bildungs-
quellen öffnete? Und wenn ihm der Schmerz ver plößlichen Tren⸗
nung von biefer neuen Lebensquelle, von Conftanzen felbft wieber
heilfam werden und ihn zu jener im ebleren Sinne interefjelofen
Stimmung erheben Eonnte, die dem Künftler Noth thut, war
es dann gut, hierauf zu Agnes zurückzukehren? War dies ein
Glück für ihn, für Agnes ſelbſt? Lauter Fragen, die ſich vor
Allem deswegen nicht rein beantworten, weil jene fataliſtiſche
dazwiſchentritt. Aber nicht von dieſer wollen wir jetzt reden, ſon⸗
dern auch innerhalb der Grenzen geſunden und naturgemäßen
Verlaufs der Dinge mird unſere Aufmerkſamkeit auf einen andern
an ſich freilich Höchft intereflanten Punkt abgelenft. Der Schau
jpieler Larkens, die bedeutendſte männliche Figur bed Romans,
Noltens Bertrauter, erlaubt fih nämlich eine wohlgemeinte, aber
Höchft gewagte Täuſchung, um das abgebrocdhene Verhältniß zwi⸗
ſchen Agnes und Theobald im Beſtand zu erhalten und biefen
feiner Braut zurüdzugeben. Agnes hat in der Zeit der erften
Verftörung ihres Gemüths durch einzelne Aeußerungen leiden⸗
Thaftlicher Neigung gegen einen unbeveutenden Better ihrem Ver⸗
lobten allen Grund gegeben, feine Verbindung als aufgehoben
zu betrachten, fo lange nämlich derfelbe die Duelle und Natur -
biefer Verſtörung nicht kannte. Larkens, hierüber zur völligen
236
NRechtfertigung Agnefens belehrt, aber ohne Hoffnung, Theobalt
ſelbſt, ven er in einer neuen Leidenſchaft befangen flieht, hievon
zu überzeugen, weiß es einzurichten, daß Agneſens Briefe an
ihn gelangen und beantwortet fie mit Nachahmung der Handſchrift
und innigem Eingehen in die ganze Gefühld- und Ausdrucksweiſe
Theobald's ‚ fo daß das Mädchen von Theobald's Bruch mit ihr
nicht die mindeſte Kunde erhält. Hierauf weiß er Theobald von
Conſtanzen zu trennen dutch ein Mittel, deſſen ganze Grauſamkeit
er nicht berechnen kann, weil ihm der Maler nicht geſtanden hat,
daß ihm Conſtanze bereits unzweifelhafte Beweiſe ihrer Liebe
gegeben hat. Er ſpielt Conſtanzen die jüngſten Briefe Agneſens
an Theobald, welche ganz in dieſelbe Zeit mit Theobald's feurigen
Bewerbungen um Conſtanzens Liebe fallen, in die Hände, die
weibliche Neugierde kann nicht widerſtehen, ſie lieſt, glaubt ſich
ſchändlich betrogen, und in einer Anwandlung von Rachſucht führt
ſie herbei, was wir ſchon angaben, daß Theobald und Larkens
in's Gefängniß geführt werden. Dann ihre Reue, das Opfer
ihrer Tugend, Theobald's und ſeines Freundes Befreiung. Nach⸗
dem nun Theobald bereits der ſcheinbar glücklichſten Wiederver⸗
einigung mit Agnes zugeeilt iſt, entdeckt er ihr in einem unglück⸗
lichen Momente alles Geſchehene, die Täuſchung durch Larkens,
ſeine Liebe zu Conſtanzen. In dem Gemüthe des abnungsvollen
Mädchens batte inzwiſchen die einmal bineingeworfene Beſorgniß,
dem Geliebten nicht zu genügen, im Stillen fortgewühlt; ihr
Aberglaube an tie Worte jener Zigeunerin, welche in ibrer Räth—
ſelſprache angebeutet, daß Theobald vom Schickſal zu einem andern
“ Bunte aufgeipart jei, bat fie mit einer dunkeln Angit erfüllt, das
unakweidbare Vorgefühl eines ſchrecklichen Unglücks lag ſchwũl
237
auf ihr: jest plötzlich glaubt fie alle ihre Ahnungen, ihre Bes
forgnifje fehauderhaft beftätigt, bricht in Verzweiflung aus, und
ed braucht nur eine nochmalige nächtliche Ueberraſchung durch
Glifabeth , um diefe zum Wahnflnn zu fteigern. Indem es dem- -
nach nicht der Gang der Sadje, jondern Cinmifchung und Kill
eined Dritten tft, was Iheobald und Agnes wieder zufanımen-
führt und zulegt fo unglüdlih macht, fo beantwortet fih auch
die Frage, ob eine ſolche Wieververeinigung an fich heilfam ——
oder nicht, ob daher ein völliges Abbrechen der Verbindung mit
Agnes unſittlich oder nicht geweſen wäre, — auch dieſe Frage
beantwortet ſich nicht rein, ſondern es ſchiebt ſich eine neue, ganz
heterogene herein, die nämlich, ob ein ſolches heimliches Leiten
und Bevormunden, wie Larkens es wagte, nicht auch bei den
beſten Abſichten verwerflich ſei und zum Unheil ausſchlagen müffe?
So irrt das Intereſſe unſtet zwiſchen drei Fragen hinüber und her⸗
über. Nur inſofern wird die Einheit gerettet, als alle dieſe verſchie⸗
denen Werkzeuge des Unheil auf Agnes Iosarbeiten, dieſe aber,
indem fte von fo vielen Meffern zerichnitten wird, doch den Abel der
Anmuth und Weiblichkeit bewahrt und durch diefen edeln Inſtinct der
Seele, .ein unendlich rührendes Bild, dem Leſer den Frieden giebt.
Dagegen gewinnen wir nun durch jene Wendung ein treff⸗
‚lies Charafterbild weiter in dem Schaufyieler Larkens, einem
Geift, in welchen Zerriffenheit, Selbſthaß in Folge einer Periode
wilder Ausſchweifungen, Hypochondrie, Bizarrerie im Wiber-
fpruche mit gefundem Herzen, Elarer Einſicht, Innigfeit des Ge-
müths ſich zu der Eomijchen Harmonie genialen Humors befreien,
einen Dann, „deſſen heitere Geifteöflanıme fi vom beften Def
des innerlihen Menfchen ſchmerzlich nährt.“ Hier tritt Mörike
238
würdig an I. Pauls Seite, und wenn er bie Tiefe Horion's,
Schoppe = Leibgeber’3 nicht erreicht, jo vermeidet er Dafür auch bie
zu ſichtbar eingemifchte Philofophie und bleibt auch bier ſtets
objectiv, plaftifh. Die Kataftrophe, wo vieler edle Geiſt aus
dem Kreife der Freunde feheidet, um in der Ferne in unbefanntem
Dunkel lebend fih von feiner Vergangenheit zu trennen, der
Adel, ben er in gemeinen Umgebungen bewahrt, biefer Diamant-
ſchein in der Finfternig, endlich fein Selbftmord find Meiſterſtücke
der Poefte, und auch bier ift nirgends das Maß des Würdigen
und Schönen vergeffen. Ihm verwandt ift der wunderliche Hof⸗
rath, aus welchem erft am Schluffe der todtgeglaubte Oheim
Nolten's, der Vater Eliſabeth's, hervorfpringt.
Diefen Geftalten, die das Komifche mit dem Bewußtſein eines
gebildeten Geiftes mehr oder minder activ ausüben, ftellt fid- als
objectiv £omifche, außer dem nur kurz ffiszirten Vater Nolten’s,
der feine Familie mit einen Bogelrohre beherrſcht, namentlich
der ſchon erwähnte Barbier Wilpel zur Seite. Diefer Menſch mit
jeinen unerträglihen Manieren, den unendlichen Geſichtsſchnör⸗
fein, den beftändigen Blinzen (weil er, wie er zu fagen pflegt,
an ber Wimper kränkelt), den ſtets geſpitzten Lippen, ärmlid
aufgepüßelt, höchſt unreinlih und edelhaft, die Saare mit ges
- meinen Bett frifirt, mit dem ewigen Hüpfen, Kichern, Tänzeln,
durchaus affectirt, eitel, lügneriſch, betrügeriſch, doch bei feinen
Schelmenftreihen am Ende mehr auf die Satiöfaction, die für
feine Eitelfeit abfallt, als auf bloßen Gewinn bedacht, biejer
Menſch, mit dem man nicht reden kann, weil er nur fi ſelbſt
reben hört, und der nur durch fo ganz draftifche Mittel, mie bie
reichlichen Ohrfeigen, bie er auf feinem Schickſalslaufe durch
239
biefen Roman ärndtet, vorübergehend zur Vernunft zu bringen
ift: dieſes Subject iſt aus dem Kerne der Komik gefchnitten.
Namentlich iſt die Scene, wo er in der Maske ſeines dermaligen
Herrn, eines italieniſchen Künſtlers, ſich im Garten und in der
Geſellſchaft des Grafen Zarlin einfindet und, von Nolten ent⸗
larvt, mitten in aller Noth ſich doch ſeiner vortrefflichen Mimik
rühmt, ganz gelungen. „Es war vielleicht“, geſteht er, mein
Kitzel, das heiße Blut des Südens an mir felöft zu bewundern,
und fo — und dann — aber gewiß merden Sie mir zugeben,
Meonfteur, ich habe ven höhern Ton der Chicane und den eigent-
lichen vornehmen Takt, womit dad point d’honneur behandelt
werden muß, mir fo ziemlich angeeignet. Wie? ich bitte, fagen
Sie, mas denken Sie?u — Weniger Urfahe, daß Andere
wigig werden, als felbft wißig, ift der Büchſenmeiſter Lörmer
mit dem Stehfuße, der zuleßt in der Umgebung von Larfens
auftritt. Diefe Figur rechne ich ebenfall8 unter die vollwichtigen
Beweiſe von Mörike's Dichterberuf ; die Miſchung des Komifchen,
was aud der wißigen Laune dieſes heruntergefommenen Hand⸗
werferd entfteht, und des Wohlthuenden, was in einen Reſte
von Gemüth und Liebe liegt, mit dem unheimlihen Einprud
feiner Rohheit und Liederlichkeit, erzeugt einen höchſt individuellen
und eigenthümlichen Eindrud. Namentlich ift die rohe Aeußerung
feiner Liebe zu Larfens, inden er betrunfen die Thür durchbrechen
und zu feinem Leichnam eindringen will, enblich aber mit Ge-
räuſch zu Boden ftürzt, durch ihren Contraft mit der Gtille det
edlen Todten ganz etwas Meifterhaftes.
Weiter wollen wir den Kreid der Figuren nicht verfolgen.
Für den Plan der Begebenheit find namentlich die komiſchen
240
Figuren mit großer Kunft verwendet. Mußten wir nun im An⸗
fang zugeben, daß Plan und Dekonomie des Ganzen nicht bie
firenge innere Einheit und Sparfamfeit des wahren Kunſtwerks
aufmeifen, fo bewährt ſich doch der Dichter darin, daß jedes Der
zu vollkommener Harmonie bier nicht vereinbarten Momente für
ſich den ſchönſten Stoff zu einem Fleineren poetijchen Ganzen dar⸗
bietet, und wir ehren fhließlih zu dem ſchon ausgejprocdenen
Lobe der großen Kraft der Anſchauung und Individualiſirung
zurüd, welche fich auf allen Punkten fund giebt- Der wahre
Dichter weiß inımer einzelne, an fi) unbebeutende Züge, die ihm
in ber Wirklichkeit zerftreut aufftoßen,, durch die Attraction fei-
ned eigenthümlich organifirten Gedächtnifjes in fein poetifches Bild
bereinzuziehen. Gin folcher trefflih benußter Kleiner Zug ift es
3. B., menn Goethe von Dttilien erzählt, daß fie die Gewohnheit
gehabt, felbft Männeın, denen ein Gegenftand zu Boden fiel,
ſolchen aufzuheben, und in Folge von Charlottend Hinweifung
auf dad Ungehörige der Angewöhnung eine neue Xichtjeite
ihres ſchönen Gemüths fi) dem Leſer eröffnet. Don Mörike
führe ich ftatt Hundert anderer nur Ein Beifpiel an. Mancher
erinnert fih wohl des frappanten Eindrucks, wenn man je zu=
weilen bed Morgens den Docht in einer Straßenlaterne von der
legten Nacht her noch bremen fieht. Wie paffend weiß Mörike
bieje Kleinigkeit zu benugen, um Nolten’d Stimmung am Mor⸗
gen nad) dem Abend, wo er feinen Freund Larfend in feiner
elenden Umgebung unvernuthet aufgefunden, höchft anjchaulich
zu machen! (2,500). Dies bleiben jedoch nur Eleinere Einzel-
heiten, ungleich mehr giebt fich der Dichter, wenn vom Einzelnen
die Rede fein fol, durch Hinftellung größerer Bilder von ideeller
241
Schönheit vor die Phantaſie zu erfennen, wo plöglich ein Ge-
mälde vor und ſteht, von dem wir nichts fagen können, als:
fo fehaut nur ein reiner und hoher Genius. Ich made in diefer
Rückſicht namentlih auf zwei Scenen aufmerffam. Die eine,
wo Agnes, bereits wahnfinnig, barfuß herbeigefchlichen kommt,
fich dem verzweifelnden Maler gegenüber an einen Thürpfeiler
lehnt, eine Flechte ihres Haars hängt vorn herab, davon fie das
äußerfte Ende gedanfenvoll laufchend an's Kinn hält. „Ein ganzer
Simmel von Erbarmung fcheint mit ſtummer Klaggeberde ihren
ichleichenden Gang zu begleiten, die Falten felber ihres Kleides
mitleidend die liebe Geftalt zu unfließen“ u. |. w. (2, 990).
Die andere Scene fehildert und Agnes, neben Henni an der
Orgel, worauf fie diefer bei ihrem Gefange accompagnirt hatte,
eingefchlafen. „Nun aber hatte man ein wahres Friedensbild vor
Augen. Der blinde Knabe nämlich ſaß, gebanfenvol in fich ge-
bückt, vor der offenen Taftatur, Agnes, Leicht eingefchlafen, auf
dem Boden neben ihm, den Kopf an fein Knie gelehnt, ein
Notenblatt auf ihrem Schooße. Die AUbendfonne brach durch die
beftäaubten Zenfterfcheiben und übergoß die ruhende Gruppe mit
goldenem Licht. Das große Erucifir an der Wand fah mitleids⸗
vol auf fie herab. Nachdem die Freunde eine Zeitlang in ftiller
Betrachtung geſtanden, traten fie ſchweigend zurüd und lehnten
die Thür ſacht' an“ (2, 620).
Ein Dichter mit folcher Gabe ver Anſchauung wird wohl au
die poetifchen Rechte des finnlihen Moments im Verhältniß der
Sejchlechter nicht verfennen? Bon Prüberie und Rigorismus
fein Zug, aber auch) Fein Zug jener unangenehmen Abfichtlichfeit,
womit man neuerdings aus der Theorle heraus der Poeſie in
Srisifche Gänge Il. | 16
242
biefem Punkte aufhelfen zu müſſen glaubte und woburd man bad
an fich Reine erft verunreinigte. Es ift intereffant, unſern Dichter
lange, ehe man von einem jungen Deutfchland wußte, ein ganz
ühnliches Thema, wie Gutzkow in einer verfchrieenen Scene feiner
Wally, aufnehmen zu fehen, und nun beide zu vergleichen. Bier
wird man fehen, daß nicht der Stoff einer foldhen Situation,
fondern der Geiſt der Behandlung den Charakter ded Sittlichen
oder Unfittlichen entſcheidet. ©. 2, 369 ff.
Wenn dad ganze Bud) eine feltfame Vereinigung. phantaſtiſch⸗
— — — — — — ⸗2
romantiſcher Stoffe mit plaſtiſcher Klarheit und Goethiſcher Idea⸗
|:
— — — — ⸗*
Aität darſtellt, fo verdient endlich der Styl wegen feiner Claſſicität
eine ungetheilte Bewunderung. Ein Jugendproduct, hervorgeſpru⸗
delt aus einem Reichthum, deſſen gewaltiger Drang noch kein
feſtes Bett und keine Ufer kennt, — und dieſes Product in der
Sprache rein von allem Rohen und Wilden, mas ſonſt die Na-
turpoefie immer mit ſich zu führen pflegt, durchaus objectiv,
niemals pathetifh, außer wo die in der Erzählung betheiligten
PBerfonen ihr Pathos auszufprechen haben, aber dann auch boch-
hin in der Beredtfamfeit gewaltiger Leidenfchaft braufend (z3. B.
2, 576), durch Wohlklang, Reinheit, Milde, vie Durchſich⸗
tigkeit, worin alles Stoffartige getilgt iſt, nur der Goethiſchen
vergleichbar! Es ift zwar nicht biefelbe Intenfität in der höchſten
Einfachheit, nicht derfelbe Grad von Plaſtik, die durch die ge-
ringften Sprachmittel ein Unendliches in den Reif weniger an-
ſpruchsloſen Worte faßt, Mörike braucht mehr Worte, hält mit
. Bildern weniger Haus, vergißt aber wie Goethe niemals , daß
<_ der Dichter nicht foffartig ſelbſt in Leidenfchaft ſprechen, ſondern
ganz die Sache fprechen laſſen foll.
243
Gedichte von Eduard Mörike.
Stuttgart und Tübingen 1838. Verlag der Cotta'ſchen Yud-
handlung.
(Jahrbuͤcher für wiſſenſchaftliche Kritik. Jahrg. 1839. Nr. 14 f.)
Es fei und erlaubt,- unferen Standpunkt in der ſubjektiven
Werkſtätte der Poeſie, dem dichteriſchen Bewüßtſein, zu nehmen,
natürlich in dem umfaſſenderen Sinne, wonach das ſubjektive Be⸗
wußtſein des Einzelnen durch ſein Zeitalter und ſeine Nationalität
bedingt iſt.
Daß die dichteriſche Produktion, im Gegenſatze gegen jede
andere, ihrer Natur nach unmittelbar auf Entdeckung des Wahren,
Förderung des Guten und Zweckmäßigen gehende, Thätigkeit des
Geiſtes, immer im Elemente der Naivetät wurzeln müſſe, iſt
eine anerkannte Wahrheit; daß die Naivetät im Allgemeinen ein
Zuſtand relativer Bewußtloſigkeit ſei, worein das zarte Seelchen
Phantaſie vor der alten Schwiegermutter Weisheit ſich einhüllt,
weiß man ebenfalls. Schwierig wird die Unterſuchung erſt, wenn
die Grenze beſtimmt werden ſoll, innerhalb welcher das Bewußt⸗
ſein von ſich, ſeinem Gegenſtand und feiner Thätigkeit, das na«
türlich, wo überhaupt Geiſt iſt, niemals fehlt, alſo auch dem
Dichter nicht abgehen kann, auch bei ihm in verſchiedenen Graden
auf» und niederſteigen könne, ohne in diejenige Bewußtheit über»
16 *
244
zugehen, welche die Naivetät zerftört und die Poefle in Profa
auflöfl. Die Dichter des Mittelalters find im Gegenfaß gegen
die modernen als naiv zu bezeichnen, aber auch ihre Poeſie ſchei⸗
det fih in eine bewußte und unbewußte, eine Naturpvefte und
eine Kunftpoefle, eine volksthümliche und eine höfiſchritterliche.
Umgefehrt innerhalb der modernen Poefle, die im Gegenſatz
gegen die mittelalterliche als eine bemußte zu bezeichnen Ift, kehrt
der Gegenfaß des Naiven und Bewußten wieder nicht bloß zwifchen
verfchiedenen Ständen (dad Volkslied und die Naturpoefle einzel-
ner Autodidaften kann ald Nachklang des Mittelalterd angefchen
werden), zwiſchen verfchiedenen Individuen innerhalb der gebil«
beten Stände, fondern auch zwifchen den verfchiedenen Entwicklungs⸗
Epochen einzelner Individuen. Goethe Jugendpoeſie war ein
Naturquell, der gewaltfam mit urkräftiger Friſche hervorſprudelte,
dagegen die Producte feines reifen Mannedalterd: mit wie viel
Bewußtfein über das eigene Thun, mit welcher Helle der Beſon⸗
nenheit find fie Zünftlerifh gebildet, und melde Eryftallifche
Durchfichtigfeit haben fie daburch gewonnen! E38 füllt mit dieſem
Unterfchiede der Lebensalter ein Unterjhied der Gattung häufig
zujammen: die naiv jugendliche Periode ift eine Iyrifche, der be⸗
fonnene Mann erhebt fih in die objektiven Gebiete der epifchen
und dramatiichen Poeſie, hört aber darum nicht auf, Lyriker zu
fein, und indem die Inrifchen Gebilde der reiferen Mannes⸗Periode
an biefem Lichte geläuterten Selbftbewußtfeind, vielleitiger Re⸗
flerion und mannigfach verfchlungenen Bildungs - Momente Theil
nehmen, jo Eehrt aufs Neue auch innerhalb der Lyrik des einzel-
nen Dichters jener Gegenfag zurüd. An unferen großen Dichtern,
Goethe und Schiller, ift das Größte Died, daß fie haarſcharf auf
245
ber Linie, welche die innerhalb der Poeſie mögliche und die
profaifhe Bewußtheit ſcheidet, mit ficherem Schritte hinwandeln.
Aber nur in der Fülle der Mannskraft; wie die Locken ergrauen,
geht auch Goethes Poeſie unaufhaltfam in die Proſa, bie didak⸗
tifche Breite, bie behagliche Eontemplation über, während bei
"Schiller freilich auch auf der Sonnenhöhe feiner Poeſte Nebel
flecken der proſaiſchen Neflerion ſich zeigen, und mitten im fleg«
reichen Kampfe gegen biefe ihm wohl bekannten Mängel der Tod
ihn abrief.
Die romantiſche Schule war ein neuer Verſuch, den Boden
der Poeſie dem Elemente der Naivetät zurüdzugeben. Da das
Studium der Alten und der Eritifche Geift des Proteſtantismus
vorzüglich es waren, welche die neue Poeſie in jene Klarheit des,
Bewußtſeins, aber auch nahe an die Schwelle der profalfchen
Bejonnenheit geführt hatten, fo wurde nun das Mittelalter heraufs
beſchworen, das Volkslied, das Volksbuch zum Looſungswort
gemacht. Wenn fo das ſubjektive Verhalten des Dichters zu ſei⸗
nem Stoffe ganz zur Naivetät jener alten guten Zeit zurückkehren
ſollte, ſo wurde an bie objektiven Gebilde der Phantafie eine ent⸗
ſprechende Forderung geſtellt: die Welt, welche der Dichter darſtellt,
ſollte, wie die Anſchauungsweiſe des Mittelalters es meinte, nicht die
Wirklichkeit mit ihrem verſtändigen Nexus darſtellen, die Charaktere
ſollten nicht von einfach menſchlichen Motiven zu einem klaren und
konſequenten Handeln beſtimmt erſcheinen; die Natur ſollte als Schau⸗
platz von Wundern kaleidoskopiſch ihre Geſtalten wechſeln, die Cha⸗
raftere in geheimnißvollem Helldunkel zwiſchen unendlichen, unfag-
baren Gefühlen und illuſoriſchen Willenserregungen ſchwanken: kurz
die Welt ſollte eine phantaſtiſche, abentheuerliche und mährchenhafte
246
fein, die Phantaſie follte im Mondlichte mit een ſpielen, mit
Niren in Wellen plätfchern, mit Salamandern in zadigen Zlam-
men fladern, fle follte traumartig wirken, man nahm ed mit
dem Ausdrucke, daß der Dichter in einer Art von Wahnflnn
ſchaffe, fehr ernſtlich. Es war aber nicht ein natürliched, fondern
ein-gemachtes, ein Fünftliches wiederbelebtes Mittelalter, es war
Theorie und Grundfaß, jo zu dichten, von der Philofophie der
Zeit vielfach beftimmt, es war eine Spiegelung einer längft ver⸗
ſchwundenen Zeit in einem ihr entwachſenen Bewußtſein, es war
Manier; daher es nur ſcheinbar ein Widerſpruch iſt, wenn gerade
die Romantiker das berüchtigte, zu viel verſchrieene Prinzip der
Ironie auffſtellten. Indeſſen konnte es nicht fehlen, daß ächt
poetiſche Naturen, im Zorne über die Proſa, die ſelbſt während
der Glanzperiode neuer Poeſie fortfuhr, breite Bettelſuppen zu
kochen, und fortfahren wird, ſo lange die Welt ſteht, im Zorne
darüber und im Gefühle des ewigen Rechtes, das ſich die Naive⸗
tät im Gebiete der Poefie vorbehält, dieſer Schule ſich anſchloſſen,
die ja ohnedieß in der jugendlichen Lyrik Goethes, in mancher
ſeiner ſchönſten Romanzen und Balladen einen großen Vorfech⸗
ter hatte. Je geſunder freilich dieſe Naturen, deſto weniger konnten
ſie ſich in der Einſeitigkeit der Schule abſchließen, deſto gewifſſer
nahm ihre Phantaſie im Fortgange ihrer Läuterung auch das
Element höherer Beſonnenheit, plaſtiſcher Klarheit in ſich auf.
Tieck ſelbſt fand, freilich nicht ohne viele und ſchwere Rückfälle,
den Uebergang in die Poeſie geſunder, naturgemäßer, darum
aber nicht gemeiner Wirklichkeit in ſeinen Novellen, Uhlands
Muſe beſchränkte ſich nicht auf die nordiſche Nebelwelt, ſondern
ſchwang ſich, wenn ſie auch ihre Gegenſtände aus dem Mittelalter
247
zu nehmen immer liebte, doch durch den Geift ihrer Auffafjung
und Darftellung in hellere Zonen, wo vom Elaren Simmel edle
rein menſchliche Geftalten in gediegener Rundung und fcharfen
Umriſſen fich abheben.
MWührend nun diefe Schule ihrem Ableben ſich näherte, ver-
änderte fih mehr und mehr die Phyſiognomie ver Zeit. Die Re⸗
volution, der Liberalismus, die Technik, die materiellen Tenden⸗
zen, bie @ultur, die alles beledt, die Philofophie, die den lebten
Reſt des Iinmittelbaren in die Vermittlung des Denkens herein-
zuziehen ſyſtematiſch fortfuhr, der Geſchäftsdrang, der und von
Morgen bis Abend an den Arbeitsſtuhl fefelt und ver zehnten
Mufe, der Muße, ihr bischen Lebensluft vollends zu erdrücken
droht: Alles dies verſchwor fich gegen die poetifhe Stimmung
und ftellte vor die legte Wiefe, auf der ein Dichter fchlendern
mochte, den Schlagbaum der Sorge. Die Dialektik ergriff nun
auch das ſittlich ſociale Leben und rüttelte mit Fritifchen Zweifeln
an feinen bemooften, uralten Grunppfeilern. Die Menfchheit ift
unverwüſtlich gefund, fle wird auch aus dieſen Wirren verfüngt
aufftehben; aber der Poeſie Eonnte man unter diefen Umſtänden
wenigſtens für die nächſte Solgezeit Feine heitere Zukunft pro=
phezeihen. Andere Tihätigkeiten des Geiſtes, die Meberliftung der
Materie im Gebiete des Zweckmäßigen, die Wiſſenſchaft werben
bie erſten Heilfräfte aus diefem Babe ziehen; bie üblen Folgen
für die Poefle zeigten ſich bald. Man verlor den Standpunft,
aus welchem allein ein Dichter zu beurtheilen ift, man rief ihn
an: halt! nicht fo ſchnell! du mußt dich erft ausweiſen, ob du
auch die Fragen der Gegenwart, bie großen fpeziellen Probleme
in bein Gedicht aufgenommen haft! Nun ſoll ſich freilich die Bruſt
248
des Dichterd niemals der Gegenwart und ihrer beivegenben Ideen
verſchließen, aber es fragt ſich, ob dieſe Ideen reif find zur poe⸗
tiſchen Geftaltung, und darum kümmerte man fi nicht, man
überfah, daß es fich nicht nur darum handelt, ob der Dichter pie
Zeitfragen, fondern noch vielmehr wie, ob er fie auf poetifche
Weiſe in fein Werk aufgenommen, ob er fte in Äfthetifchen Kör⸗
rer gewandelt hat. Produkte, denen nıan die didaktiſche Tendenz,
die Abfiht, modern zu fein, an der Stirne anfah, murden um
des bloßen Stoffed willen als Gedichte gerühmt. Ein Lyriker,
deſſen produktive Jugend noch in die lebten Tage der Romantik
fiel, verjeßte diejed Clement mit den giftigen Stoffen einer Ironie,
welche Son der modernen Stimmung die negative Seite ohne das
Gegengift in fih aufgenonmen hatte, trat als leßter Ausläufer,
als irrendes Streiflicht diefer poetiihen Abenpröthe hervor: Heine.
Er ift die giftig gewordene Romantik, der faulige Gährungspro—
zeß, der ihre Auflöfung in ein Afterbild der modernen Freiheit
des Selbſtbewußtſeins darftellt, aber indem er auch in dieſem
Thun genial blieb, in glänzenden, bunten Farben fhillert und
noch auf einen Augenblick ven Gegenfag der Naivetät und einer
fich ſelbſt überfpringenden, verfiden Bewußtheit zu einer im Ent-
fteben verfchwindenden Einheit zufanımenbindet. In Beine ftellt
ſich eigentlich erft basfenige dar, was Hegel unter Ironie verfteht
und fo eifrig bei jeder Gelegenheit verfolgt.
Seither fuchen wir eine neue Poefle und haben fie noch nicht
gefunden, werden fie vielleicht erft in jpäter Zukunft finden. In
der Haft, Verwirrung und Unmuße dieſes Suchens muß ſich der
Breund der Poefle nad) einer Labung jehnen. Wo ſprudelt fie
denn noch, die klare Waldquelle mit ihren friihen Waflern? Wo
249
buftet die reine Erdbeere in kühlen, unbetretenen Gründen, auf
der noch der Duft der Naivetät liegt? Gewiß, bier, in dieſen
Gedichten ſprudelt der frifhe Quell, duftet die kühle Frucht! Un⸗
befannt der Welt, in laͤndlicher Stille ven Pfaden ver Phantafle
nachgehend, ſchüttet uns bier ein reicher Genius den vollen
Segen aus.
Wenn ich hier nun vor Allem fage, daß es ein naiver Dichter
ift, welchen einzuführen ich unternehme, fo habe ich nicht ver-
geffen, daß in dem Sinne, wie der Dichter des Mittelalters, Fein
moderner naiv fein kann und fol. Auch ift gar nicht die Rede von
einem jogenannten Naturdihter, fondern von einem Manne, der
auf reichen Bildungswegen die Schäbe des Alterthums, die
Kämpfe ‚des ringenden Bewußtſeins in Leben und Wiſſenſchaft
nicht von ſich abgewieſen, aber auch nur ſo daran Theil genommen
bat, wie die Biene, die über Blumen und Diſteln hinfliegt, ben
Honig daraus zu faugen. Er tritt hier ald Lyrifer vor und, aber
es tft, wie ſchon oben bemerkt, nicht fein erfter Beſuch, er gab
der Litteratur vor ſechs Jahren ſchon einen Roman, der in uns
verdienten Dunkel blieb. Doch find es die Erftlinge feiner Mufe,
zum Theil ſchon in jenes epiſche Werk eingeflochten, die er mit
wenigen fpäteren Gefchenfen des Genius in einen Strauß gebun⸗
den und bier reicht. Die Mehrzahl diefer Lieder nun iſt als naiv
in dem Sinne zu bezeichnen, daß fie in der Stimmung des Volfs-
lied8 empfangen find; man fieht ihnen an, daß fie gefungen find,
wie der Vogel fingt, der auf den Zweige fißet, durchaus gewor⸗
ben, nicht gemacht, im Ausdruck ſchlicht; wie dad Volkslied
laſſen ſie ſich nicht leſen, ohne fle innerlich oder laut in die Lüfte
zu fingen; die Empfindung ift ganz in der Geftalt ausgefprochen,
250
wie fie in dem einfältigen Gemüthe des Volkes unvermifcht und
unrefleftirt waltet. Haben wir — ba bie mittelalterlid naive Ge⸗
ftalt des Bemußtfeind ein integrirendes Moment des Nomantifchen
iſt — dieſe Naivetät ald somantifch zu bezeichnen, fo ift in dieſem
Zufanmenhange fogleih ein mejentlicher weiterer Charafterzug
biefer Gedichte hervorzuheben: Mörike liebt dad Wunderbare, das
Geiſter⸗ und Mährchenhafte, Eurz das Phantaftifhe in einem
Grade, in welchem nur die norbdeutfchen Nomantifer, aus
der ſchwäbiſchen Gruppe blos Juſt. Kerner es zum berrfchenden
Geifte ihrer Poefle erheben, während Uhland und Schwab lieber
mit den marfigen Geftalten und. Handlungen gediegener Charak⸗
tere verkehren, und dad Wunder, wo fie es aufnehmen, Häufig
aus der Objektivität heraus als bloß inneres Phänomen ind Bes
wußtfein hineinrüden, wie 3. B. Uhland in feinem trefflichen
„Der Waller.x Eine ftrenge äfthetifche Gefeßgebung wird nun
allerdings behaupten, daß dad moderne Ideal, wie es durch Vers
Ihmelzung des romantischen Gehalts mit der Schärfe der klaſſiſchen
Form unfere großen Dichter Goethe und Schiller hingeftellt Haben,
Ein für allemal nicht eine phantaftijh = taumelnde, fondern eine
Melt naturgemäßer und innerhalb der Bedingungen des Natur«
gemäßen zum Ideale gereinigter Wirklichkeit in Anfpruch nehme,
daß ebendaher die Romantik, fofern fie Poeſie des Phantaftifchen
ft, zu den audgelebten Geftalten des Bewußtſeins zurüdzulegen
ſei. Was ferner die Gefittung und das geiftige Verhalten über-
-haupt betrifft, worin die Poefle ald dem Schauplage ihrer Dar-
ftellung fich bewegt, jo wird verlangt werben, daß fle die Kämpfe
des modernen Bewußtjeind, die Wirren des taufendfach gebroche⸗
nen und veflektirten geiftigen Lichteö, das Skeptiſche und Ironifche
251
in unfern Zuftänden keineswegs abweiſen und dagegen die ver«
ſchwundene altveutfche Einfalt als das Höchfte fegen dürfe. Ich
antworte: ber wahre Dichter unferer neueften Zeit wird in jenen
Gebieten des Unbeſtimmten, Traumartigen und der glücklichen
Blindheit eines unfritifhen Bewußtſeins freilich nicht feine blei«
bende und einzige Wohnftätte auffchlagen; dieſe Klänge werben, .
nur unter anderen, aud bei ihm vorkommen; aber fie mer«
den es auch gewiß, menn wir ihm das fpecififch Poetifche in un«
gemifchter Aechtheit ſollen zuerkennen dürfen. Es ift nicht bie
Höchfte und reinfte Geftalt der Phantafle, wo fie traumartig phan⸗
taftifh wirft, aber wer eine reihe Phantafle hat, der wird ihr
neben ber höheren und rein ibealen Thatigkeit gerne auch dieſe
Spiele gönnen, wie Raphael, derſelbe, der die Sixtiniſche Ma⸗
donna malte, mit großer Vorliebe die Arabesken im Vatikan
entwarf. Er wird dazu um fo mehr berechtigt fein, weil bie
Poeſie dem platten Verftande, der von ihr nur eine Copie ber
Dinge in ihrer gemeinen Deutlichfeit erwartet, von Zeit zu Zeit
in phantaftifcher Geftalt entgegentreten und ihm ihr zauberiſches
Traumgeſicht zeigen muß, auf daß fein Herz erſchrecke und er fehe,
daß er ſich getäufcht Habe, wenn er in ver Einfachheit und Klare
heit des poetiſchen Ideals Zugeftändniffe für feine profaifche Welt⸗
anficht zu finden glaubte, daß der poetifche Genius die Dinge nicht
läßt, wie fle find, fondern auf einen neuen, geifligen Boden
verfegt und umgeftaltet. Ebenfo, was die Geftalt des vom Dichter
ausgefprochenen Bewußtſeins betrifft, ift die ſchlichte Unbewußtheit
des Volkslieds, feine wortarme Innigfeit allerdings night die Ge⸗
fittung und Stimmung, auf welche ein moderner Dichter die
Poeſie kann befchränten wollen; aber wenn er fich diefenige Nai⸗
252
vetät, welche, bei allem übrigen Unterſchiede in den Graben der
Reflexion des Bewußtſein auf fich jelbft, ein ſpeciſiſches Merkmal
der Poeſie aller Zeiten bleiben muß, rein bewahrt bat, fo wirb
er dies unter Anderem immer auch dadurch beweiſen, baß er
naive Lieder im engeren Sinne der volksthümlichen Naivetät
dichtet. Es iſt nicht Die einzige, aber es ifl eine Probe des Dich⸗
ters, daß er auch in biefer Region fich unbefangen bewege, und
ich geftehe: wenn man mich fragt, ob derjenige Grad von Mes
flerion und Bemußtheit, den die Gedichte Rückerts an der Stim
tragen, nicht über die Grenze der ächten Poefle hinausgehe, fo
ſuche ich Hei ihm ein Lied, ein reines Lied im Tone der Naivetät,
der volfäthümlichen Stimmung; ich fuche und finde, daß er, wo
ee naiv fein will, ſich immer nicht enthalten kann, witzig zu fein,
und nun zweifle ich, bei aller übrigen gerechten Bewunderung
feiner Kunft, ob wir ihn unter die Dichter zählen dürfen, bei denen
das fpecififh- Poetifche rein und unvermifcht wirkt. Gehe ich aber
an Uhlands Haus vorüber, fehe ich eine Truppe von Handwerks
burſchen Arm in Arm vorüberzieben, und höre fie mit dem Aus»
druck der innigften Empfindung fingen: „Ich hatt’ einen Kamera
den “ u. f. w., unbewußt, wer der Berfaffer fei, nicht ahnen,
daß er ihnen aus dem Yenfter zuhört, dann weiß ich gewiß, Daß
Uhland ein Achter Dichter ift.
Wir haben aber erft die eine Seite unferes Dichterd ind Auge
gefaßt, die naive. Der Bruch mit der Naivetät hat feinen Urfprung
in einem Bruche des Geiſtes mit der Natur und Unmittelbarfeit
überhaupt. Die zwei Flüſſe, Natur und Geift, gingen im Alter»
thum vereinigt in Einer Strömung, dad Chriſtenthum riß fie
auseinander, um fie höher zu verfühnen. Wir fhlffen auf dem
253
einen und bliden fehnjüchtig nad den Ufern des andern hinüber
— mad Schiller fentimental nennt. Ruht der naive Volksdichter
noch halb unbewußt in der Subftanz, fo blickt der fentimentale
mit wehmüthigem Auge nad) ihr, von der er fih getrennt weiß,
hinüber, wie nach dem verlorenen Glücke der Kindheit. Bei die
ſem Gefühle des Gegenfabes darf es nicht bleiben, dieß wäre bie
falſche, die [hmwächlihe Sentimentalität. Er wird die Natur wies
der zu fich herüberziehen, an feiner Bruft erwärmen, und ſie wird
wie Pygmalions Statue vom Marmor-Geftelle fleigen. Iſt e8
überhaupt Aufgabe des üfthetiichen Ideals, daß es Perfonbil«
dend fei (man geftatte mir Schleiermadherd geiftvollen Ausdruck),
fo wird und der Dichter ftet3 die vor dem Verftande und jeder
profaiihen Betrachtung getrennten Hälften ver Welt, Subjekt und
Objekt, Natur und Geift zu Einem Ganzen vermählen, jo daß
der Eine Menſch wieder dafteht, der in der Urzeit in bewußtlofer
Unſchuld fih als Einheit von Seele und Leib genoß, dann dur
Schuld und Zerriffenheit feine Einheit einbüßte, um fie verboppelt
wieberzugewinnen. Der Dichter wird der Natur ein Auge geben,
daß fie geiftig blide, und einen Mund, daß fie rede; er wird
den Menfchen mit Sonne und Erde, Fluß und Wald wieder in
den urſprünglichen Rapport feßen und an die Bruft der Mutter
zurüdführen, er wird dadurch die ganze gewaltige Erſchütterung
hervorbringen, wie nah Plato der Weife ſtaunend erſchrickt, von
der avaurnoıs der ewigen Idee der Schönheit überrafcht, wenn
er eine ſchöne Geftalt erblickt. Ich Hoffe, durch wenige Proben
darzuthun, daß unfer Dichter den Zauberftab führt, biefe Be—
feelung der Natur und diefe Naturwerdung des Geiſtes, wodurch
die Perfönlichkeit des Weltalls hergeftellt wird, zu bewirfen..
254
Aber nicht nur bie Außere Natur tft durch jenen Bruch des
Bewußtſeins und zu einem gegenüberftehenden Objekte geworben,
das wir aufs Neue erft wieder herüberzubringen fireben, auch dad
Bemußtfein des Subjeftö Hat fich in fi verdoppelt, das Ich ift
fih felbft in einer Schärfe der Trennung, vie feinem früheren
Bildungszuftande möglih war, Objekt geworden, und in ber
modernen Poeſie wird daher auch der Menſch als ein fich ſelbſt
gegenüberftehendes und ſich fuchendes Weſen erjcheinen, er wird
ſich als fein Dopyelgänger ind Auge fehen und fih als feinen
alten Bekannten wiederfinden, er wird ſich feiner erinnern. Dem
Manne wird. an der Stätte, wo er feine Jugendjahre durchlebt,
der Knabe begegnen, der er war; die Öeftalten feined Bewußtſeins,
durchlebt oder noch gegenwärtig, werden ihm im Spiegel erfchel-
nen, dad Gefühl wird ſich jelbft befehauen, ohne darum feine
Wahrheit zu verlieren, felöft der Wiß wird in den Wogen ber
eigenen Gemüthöwelt feine Delphine ſcherzen laſſen, ohne fie
darunı zu trüben; ja die Mängel der eigenen Individualität und
jeder andern wird. ber Geift im Bewußtſein der Nothwendigkeit
diefes Widerſpruchs humoriſtiſch belächeln. Doch daß wir nicht
fogleih von tieferer Komik bier reden; Mörikes Laune Elingt in
biefer Sammlung nur als epigrammatijcher Wit und hier und da
in Balladen als phantaftiiche Komik, ven eigentlichen Humor, der
nicht ein einzelnes Bild oder ein Witz, fondern eine Weltanfchauung
und eine Berfönlichkekt ift, Hat er fich für das epiſche Feld vorbehalten,
wie denn der Roman Maler Nolten in Larkens und in dem Barbier
Wiſpel zwei treffliche humoriſtiſche Figuren, jene im hoben, diefe im
niedrigeren Style, aufzuweiſen hat, deren Einführung zwifchen
bie ernften Figuren dem ganzen eine Begleitung ber tiefiten Ironie
255
giebt, um io mehr, da die humoriſtiſche Laune des Schaufpielers
Larkens auf Melancholie ruht. Hier ift von dem Uebergange im
Allgemeinen zu reden, den Mörike's Muje aus der Dämmerung
volksthümlicher Naivetät in das bisher bezeichnete Neich des bes
mußten Geiftes, in das helle Licht der Befonnenheit und Fünfte
Verifchen Weisheit genommen hat.
Offenbar nun ift es, bie Yiniverfalität und ſchöne Humanität
des Gemüths als erfte Bedingung natürlich vorausgefeßt, ber
Geift der Griechen und Römer, der in ihm die Vereinigung der
germantfchen Innigkeit und der nordifchen Phantafle mit der hellen
und heiteren Form der höheren künſtleriſchen Bewußtheit ver-
mittelt hat. Die griechifhen und römiſchen Elegifer vorzüglich
und dad alte Epigramm feheinen von großem Einfluß auf ihn ge⸗
weſen zu fein. Der heitere, barmonifche Geift der alten Lyrik,
wo auf mäßig erregten Wellen des Gefühls oder Affects ver Geift
fih im Kahne der Betrachtung fchaufelt und bald frohlih, bald
wehmüthig, das Maaß des Schönen niemals überfpringend, in
das Spiel hinunterficht, dieſe Grazie, dieſes Ebenmaaß, wie es
ihm freilich in noch höherer Bebeutung aus den Epos und ber
Tragödie der Griechen und aus Goethe, dem modernen Homer,
entgegentrat, um ihn zu größeren und objectiveren Dichtwerfen
zu begeiftern: dies war e8, was unfern Dichter aus dem Schatten-
reich der Träume in den hellen Aether, aus dem gothiſchen Dun-
fel in die lichten Säufengänge der Weisheit heraufführte. Ich rede
Hier nicht nur von denjenigen feiner Gevichte, welche nah Inhalt
und Form antik find, fondern auch von foldhen, die ganz dat i
romantifche Gemüth athmen mit feinem Myſticismus und ber
Unendlichkeit des Innern Nachhalls, ven jede angefehlagene Saite
256
in Ihm weckt: auch dieſe erfcheinen durch diefe Klärung und Lich⸗
tung des Formfinns in einer fo edlen und iveellen Form, wie
Goethe, Schiller, Hölderlin, genährt von Genius der Alten, fie
in ihre Gewalt befamen. Wo aber der Dichter wirklich ins alte
Hellas wandert und in feinen Tempeln die alten Götter auffucht,
da am beftimmteften ift er mit Hölderlin zu vergleichen. Die alte
Mythologie ift für und eine Sammlung abgebleihter Geftalten,
wir wiffen, es find allgemeine Potenzen, Krieg, Recht, Liebe,
Wein u. f. w., die hier verfinnbiloficht find, und fie erfcheinen
uns daher, in der feßigen Kunft und Poeſte nachgeahmt, ala
kalte Allegorieen, fo lange der Dichter nicht die Schöpferfraft hat,
biefe Schatten neu zu beleben. Dies fann ihm nur gelingen, wenn
er (freilich Elarer und mit bloß poetiſcher Illuſion) den Prozeß in
fih wiederholt, woburd die Götter entftanden. Es hat wohl
noch jetzt Jeder ſolche Momente, wo e8 ihn plößlich ganz begreff-
Uch wird, wie die Alten auf die Dichtung der Götter famen; «8
find Momente, wo wir auf eflatante Weife eine natürliche oder
fittlihe Macht in ihrer ganzen Beftimmtheit und Nothwendigkeit
jedes Einzelne, das fie umfaßt, überwinden und widerftandslos
fih ausbreiten fehen. Ein plößlicher Schreden ergreift eine Maſſe,
oder ein plößliher Muth; eine gewaltige Bewegung der Phan⸗
taſie verfcehlingt in einem Subjekte die nüchterne Befonnenheit des
Verſtandes und redet aus ihm in der Sprache dunkler Bilder; die
Leidenſchaft der Liebe reißt jeden Vorſatz, den ihr der Wille ent
gegenzuftemmen fucht, mit fort; der Wein benebelt Sinn umb
Berftand: hier fcheint eine Nothwendigkeit gegeben, deren Zu-
ſammenhang fi durch Fein vermittelnded Denken erpliciren Laffe,
die Alten ſtanden ohnedies nicht auf dem Standpunfte des Prag:
257
x
matismus, der aus Gründen erklärt, und die Grenze der Beobach⸗
tung überhaupt oder ber Selbſtbeobachtung ward (mie Schleier»
macher es fcharffinnig von dem chriftlichen Glauben an den Satan
nachweiſt), dadurch mit bunter Hülle verdeckt, daß man ben
Grund der Erfeheinung aus dem Innern des Subjefts oder aus
dem Naturzufammenhang hinauswarf in eine außerweltliche Per⸗
ſon und ſagte: das hat ein Gott gethan. Ebenſo, auch ohne
Beziehung auf das ſubjektive Leben, wenn wir das Wirken einer
Naturpotenz in ſeiner Prägnanz, wie es Alles, was in ihre
Sphäre füllt, mit ſiegreicher Sicherheit trägt, nährt oder zerſtört,
in äſthetiſcher Stimmung betrachten, ſo werden wir uns leicht in
die Anſchauung hineinfühlen, daß hier ein Gott walte. Das Licht:
wie nahe liegt es, dieſes alle Räume durchfliegende ſiegreiche,
manifeſtirende Weſen zu vergöttern! In dieſem Geiſte hat Höl⸗
berlin in ſeinem Gedicht „an den Aether“ den Drang aller Weſen
nach freier Luft, an fich eine ganz einfach phyſiſche Erſcheinung,
die dem Naturforfcher nichts als ein Bedürfniß von Sauerftoff
u. ſ. w. ift, fo edel dargeftelt, daß und der Luftraum ganz von
felbft zu einem Subjekt, zu einem Gott wird. Wir werden Aehn-
Tiched bei Mörike finden. Natürlich wird der germanijche Dichter
diefen Göttern einen Zug von Geiftigkeit und Verklärung leihen,
den fie in ihrer alten Heimath nicht hatten, wie Goethe auch
der Iphigenie fein deutfches Herz einhauchte, wie Uhland im Ver
sacrum einer düfteren Borftelung einen wohlthuend edlen Ton
in Geifte der Humanität hellerer Zeiten lieh. Uhland hat ebenfalls
aus dem gothifchen Dänmerfcheine zu einer ivealen Claſſicität den
Vebergang gefunden; auch innerhalb der volfsthümlichen und
mittelalterlichen Sphäre liebt er das Klare und Gediegene, ſcharf
Kritische Gänge Il. Ä 17
258
umriffene Charaktere, während Mörike, wo er in dieſer Sphäre
verweilt, im Geiſte eines Arnim und Brentano die Phantafle
durch Nebelheiden fchmweifen, auf fehnaubendem Rappen an Eifen
und Feen vorüberjagen läßt. Seine Phantaſie ift in diefem Ge
biete träumerifcher, fehwelgerifcher, vermeichlichter und verzogener,
als die Uhland'ſche, ber gerade diejenige Trockenheit im rechten
Maaße beſitzt, die der Poeſie als fichere und feſte Baſis fo noth⸗
wendig ift, wie dem Körper die Ferſe und der Ballen, um ſich
feft an den Boden zu ſtemmen. inigen Liedern fehlt aber auf
Uhlands und Schwabs Eörnige Beftimmtheit nicht, und in wei-
teren Sphären erhebt er ſich entfchieden zu Fünftlerifcher Klarheit.
Hat fich dieſes offene Gemüth auch den Schmerzen und Leis
den des modernen geifligen Lebens erſchloſſen? Daß die Geftalt
der zerrifienen Subjektivität ihm nicht fremd ift, beweift eine der
ſchönſten Parthien im Maler Nolten, melche fi doch von jeber
häßlichen Disharmonie und negativen Ironie ganz ferne halt. Als
Lyriker aber bleibt er ganz im Geleije einer harmoniſchen Stim-
mung; die Töne des Schmerzed werden nie zum wilden Schrei,
die Wunden heilen leicht, es ift Hier nichts Titaniſches, nichts
Byron’fches zu fehen. Sein Genius erfcheint in diefer Milde mehr
als ein weiblicher, denn als ein männlicher, man fühlt _jenen
Geift der Sänftigung alles Wilden, der Ebnung alle Unebenen und
Heilung alles Berftörten, den eine edle Weiblichkeit um fich verbreitet.
Am wenigften wird der Wohlſchmecker, der dad Wildpret
nur im Uebergange zur Fäulniß liebt, in dieſem Büchlein feine
Rechnung finden, er wird nichtö von dem haut godt der Blaſirt⸗
heit und Abgeſchlagenheit entdecken. Unſer Dichter ift, wie billig,
in natürlihen Dingen unverblümt , die Sinnlichkeit pulfirt in
-
259
voller Kraft, aber es ift die Kraft der Jugend, nicht der künſt⸗
liche Reiz abgefhwächter Natur. Man halte und nicht für pedan⸗
tiſch; es ſollen der Dichtkunft objectio Feine Grenzen geſteckt wer-
den, fie beleuchte immer mit ihrer Fackel die dunkelſten Kalten
des Seelenlebens, fie lafje und den ganzen Trog prometheifcher
Empörung ſehen, fle durchwandre die Höhlen der tiefften Ver⸗
wirrung und Verirrung; fie fahre Eühnlich in die Hölle, wie die
Legende von Chriſtus erzählt. Nur ihr Engel verlafie fie nicht.
Und fo fange fein Dichter da iſt, der die Wehen des jüngften
Zeitgeiftes treu an der Hand diefed Begleiterd durchwandert hat,
fein wir zufrieden, eine edle Mufe mit rein harmonifchen Ges
ftalten verkehren zu fehen.
Mir mollen jeßt unfern Dichter durch die in unbeftunmten
Umriffe bezeichneten Sphären begleiten und und dadurch das Bild
feiner Perfönlichkeit zu individueller Beftimmthelt erheben.
Nicht wenige diefer Lieder bewegen fi jo natürlih und fo
ganz von felbft im Elemente der Naivetät, daß man fehlechtmeg
fagen muß : dieß find Lieder, ächte Lieder, daß man bei ven
eriten Zeilen ſchon von Weitem jene Melodien hört, nach welchen
junge Burfche und Dirnen des Sonntags unter der Linde des
Dorfes ihre alten Lieder fingen. Man leſe folgenden einfachen
Klang ‚aus dem Herzen treulos verlaffener Liebe:
Agnes (S. 76).
Roſenzeit! Wie fchnell vorbei,
Schnell vorbei
Bit du doch gegangen!
Wär mein Lieb nur bfleben treu,
Blieben treu,
Sollte mir nicht bangen
17*
Gämitteriunen fingen.
Aber ach! mir franten Blut,
Mir kranken Blut
BIU nichtd mehr gelingen.
Schleiche fo durch's Wieſenthal,
So durch's Thal,
Ald im Traum verloren,
Nah dem Berg, da taufend Mal
Taufend Mal
Er mir Treu geſchworen.
Dben auf ded Hügeld Rand,
Abgewandt,
Mein’ ich bei der Linde,
Un dem Hut mein Rofenbant,
Von feiner Hand,
Spieler in dem Winde.
Hier ift nichts zu declamiren, feine Rhetorif, man muf
fingen , fogleih fingen, man Hört ſchon innerlich Die Töne ie
wehmuthsvollen Refrains im Echo der Thüler verflingen, iv
hinſchwindend, fo vergebend, wie tie Geflalt, die wir nor mi
jeben und die nichte iſt ald eine tottfranfe Grinnerung an em
entſchwundenes Glüd: fie jagt ed nicht, nur in abgebrochen
Auen entbindet fl der Schmerz, aber fie if ed. Dadurch Hi
Ddr und Auge Ver Pbantaſie geraie io, wie ed durch die ächn
Lorik fol. angeirroden. wir ichen ser un? und bören hiek
tönende Geitalt ter Unglücküden. Sinn nt Mutf fallen in
Sind, unt unter Janzes Herz kungt un? tent temraeiie mit
Dir SAlufleñglen fernet if ganz im GDerckter des reinen As:
dad Arteraiv Band idnie nod cine Bär ver mer Bu:
261
tafie, ein Bild der Untreue, und unfer Gefühl zittert wie in
unbeftimmt verfämebenden Tönen der Windharfe fort.
Milder, doch ebenfo tief aus dem Herzen, Elagt das ver⸗
lafiene Mägdlein (S. 23).
Fruͤh, wann die Hähne kraͤhen,
Eh die Sternlein verfchwinden,
Rus ich am Herde fiehn,
Mus Feuer zünden.
Schoͤn iſt der Flammen Schein,
Es fpringen die Funten,
Sch ſchaue fo drein,
In Reid verfunten.
Ploͤtzlich, da kommt es mir,
Treulofer Anabe,
Daß Ich die Nacht von dir
Getraͤumet babe.
Träne auf Thräne dann
Stuͤrzet hernieder,
So fommt der Tag heran, —
O gieng er wieder!
Nicht jo hinreißend muſtkaliſch ift dieſes Lied, mehr betrach⸗
tend, wie dad Mädchen felbft äußerlich ruhig vor dem knitternden
Feuer fteht, aber ganz ebenfo wie das erfte nicht nur auf bie
Empfindung, fondern durch ein beftimmtes klares Phantafiebild
erft auf diefe wirkend. Ueberhaupt, wenn alle Poefle der Phan⸗
taſie, welche weientlih ein inneres Sehen tft, ein beflimmtes
Bild vorüberführen muß, wie Tann die Lyrik, welche allerdings
mehr als die andern Gattungen der Poefle noch unmittelbar mit
der Muſik verwachſen im Elemente fubjectiver Empfindung ver-
262
weilt, in ihrer Art dennoch dieſer Pflicht genügen? Ein beftimm-
tes Bild muß auch fie geben, und zwar noch außer dem ryth-
miſch⸗ muſikaliſchen Sprachförper. Sprit nun der Dichter rein
fubjectto feine eigene Empfindung aus, fo iſt der Körper, den
diefe dennoch au fo annehmen muß, feine eigene Perfon, ganz
erfüllt von der dargeftellten Gemüthöbewegung. Darum find jene
Gedichte „An die” u. f. w. die jetzt immer feltener vorfommen,
fo proſaiſch. „An die Freundſchaft, die Freude, die Unſterblich⸗
keit u. dergl.“. Da ftellt der Dichter den Gegenftand als ein Ab⸗
firactum aus ſich hinaus ſich gegenüber und fingt an ihn hin, er
bleibt Außerlih. Der Dichter fol vielmehr fich ſelbſt als durch⸗
drungen von der darzuftellenden Empfindung einführen , fie foll
Eins mit ihm fein, nicht er fol än fie hin, fondern fie ſoll aus
ihm fingen, dadurch iſt fie individualiſirt, verkörpert; der Dichter
felöft ift die tönende Geftalt. Ein beftimmterer Schritt zur Ob:
jectivität und ber Keim des Epiſchen und Dramatiſchen innerhalb
der Lyrik, der ſodann in der Ballade und Romanze ſchon deut⸗
lich Hervortritt, ift e8, wenn der Dichter fein Gefühl im eine
fremde Geſtalt, die er vor uns hinführt, ſo hineinlegt, daß dieſe
durchaus das Organ wird, durch welches hindurchklingend jene
Empfindung zu uns herübertönt. Mit der objectiveren Form muß
hier auch der Gehalt objectiver, er kann nicht ein unbeſtimmtes
Privatgefühl ſein, und der Dichter hat zu bewähren, daß er
fich in jede menſchliche Lage hineinzuempfinden vermag. So ſteht
bier dad arme verlaſſene Kind finnend am Feuer, fie hat bei dem
gewöhnlichen Gefchäfte des Haushalts ihr Unglück vergeffen, ba
plöglich kommt die Erinnerung deffelben über fie: bier Haben wir
ein ganz klares Eleined Gemälde, wer es nicht innerlich deutlich
263
ſieht, muß fein geiftiges Auge haben ; dieſes Gemälde ift aber
ganz Iyriihe Empfindung.
Einen andern Charakter nimmt der Schmerz über die Untreue
des Geliebten in dem fchönen Liede S. 74 an; eine beftimmte
Natur » Erfheinung fingt dem liebenden Mädchen das Lied von
ber Untreue, fie hält den Wind an: „Saufewind! Braufewind!
Dort und bier, Deine Heimath fage mir! Der Wind will nicht
Rede ftehen: „Kindlein, wir fahren Seit vielen Jahren Durch die
weit weite Welt, Und möchten's erfragen, Die Antwort erjagen .
Bei den Bergen, den Meeren, Bei des Himmels Elingenden
Heeren, Die wiffen ed nie u. ſ. w.“ Da fragt fe die Winde:
„Halt an, Gemach, Eine Eleine Friſt! Sagt, wo der Liebe
Heimath ift, Ihr Anfang, ihr Ende?“ und erhält die Antwort:
Wer's nennen Eönnte! Schelmifhes Kind! Lieb ift wie Wind,
Raſch und Iebendig, Ruhet nie, Ewig ift fle, aber dein Schatz
nicht beftändig“ u. f. w. Dieſes fchöne Lied ſtellt jene organifche
Einheit, in welche Gehalt und innere fowohl als äußere Form
miteinander treten follen, beſonders mufterhaft dar ; jene inftinct=
mäßige Symbolif hat es gebichtet, die in Wort und Rhythmus
die Natur» Erfeheinung und eingehüllt in ihre Anſchauung die
geiftige Bewegung an Ohr und Sinn bringt. Weil wir eben von
ven Thema der unglücklichen Liebe reden, weije ich bier noch
auf das Acht im Volkstone gehaltene Lied „Die Schweflern«
(S. 79) hin. Zwei Schweftern gleichen einander wie ein Ei dem
andern, man wird ihre lichtbraunen Haare nicht unterſcheiden,
wenn du fie in Einen Zopf flichtſt, fie figen an Einer Kunkel,
ſchlafen in Einem Bett, aber:
-
264
„D Schweitern zwei, ihr fhönen,
Wie har fi) dad Bidtchen gewendt!
Ihr lieber einerlei Liebchen —
Jetzt hat dad Liedel ein Env’.”
Doch einmal wird die Liebe auch glücklich, es gilt nur noch
zu warten und man hat indeſſen Zeit zu einem Scherze (Die
Eoldatenbraut 192). Den verliebten Jägersmann erinnert bed
Vogels Tritt im Schnee an die zierlichen Züge, die ihm bie
Hand des Liebchens aus der Ferne fhreibt: „Zierlich tft des
Vogels Tritt im Schnee u. ſ. w.“ (Sägerlied ©. 19). Wie nieb-
lich, wie lieblich ift viefer Gedanke, bei ven zierlichen Bußftäpfchen
der Wachtel, des Rebhuhns im Schnee der Federzüge des Lieb⸗
chens träumerifch zu gedenken! Wie einfach groß dann der zweite
Vers, wo der fehlichte Jaͤgersmann den Reiher in die Lüfte Hoch
fteigen fieht, dahin weder Pfeil noch Kugel fleugt: Tauſendmal
fo Hoch und jo geſchwind Die Gedanken treuer Liebe find. Endlich
vereinigt wohl auch eine glüdliche Stunde die Getrennten zu un⸗
getheilter Gegenwart und in unſchuldigem Muthwillen läßt uns
der Dichter ihr Glück errathen, da wir am Morgen nach einer
ftürmifchen Nacht einen fhönen Burfchen einem ſchüchternen Mäd⸗
chen auf der Straße begegnen ſehen: Wie ſehn ſich freudig und
verlegen Die ungewohnten Schelme an! Das Mädchen geht vor⸗
über, — der Burſche träumt noch von den Küſſen, Die ihm das
ſüße Kind getauſcht, Er ſteht, von Anmuth hingeriſſen, Derweil
fie um die Ecke rauſcht.
Das letztere Lied gehört nicht mehr ganz unter die volksthüm⸗
lichen: die Sprache iſt die der Gebildeten, anmuthige Betrachtung,
der Stoff aber in feiner Einfachheit und unſchuldigen Sinnlichkeit
269
naiv. Nach Sprache und Ton ganz im Volks⸗Elemente hält fidh
das hübſche, fehalkhafte Lien: Storchenbotſchaft S. 24. Der
Schäfer ruht in feinem Wagen, da Enopert und Flopft es, bi8
er öffnet, da flehen zwei Störche aus der Heimath am Mhein
und geftehen ihm Elappernd, daß fie fein Mädel in's Bein gebifien
haben; da fle zu zweien find, fo fragt ver Schäfer: es werben
doch Hoff ich, nicht Zwillinge fein? Da Elappern die Störche im
Iuftigften Ton, Sie niden und knixen und fliegen davon. Mit
glücklichem Takte benugt der Dichter bei ſolchen Stoffen alter-
thümliche oder provinzielle Formen, wie im Anfang ächt volks⸗
mäßig: „Des Schäfer fein Haus und das fteht auf zmei Rab,
Steht Hoch auf der Heiden fo frühe wie ſpat.“ Biefer für Ges
ziefer u. dergl.
Die Phantafle, in der Dämmerung volksthümlichen Bewußt⸗
ſeins ſchweifend, tert gerne In dad Reich der Wunder, der Phan⸗
tasmagorie hinüber, und in diefer Art ift denn Alles, was und
der Dichter von Balladen und Romanzen giebt. Kein hiſto⸗
rifcher Stoff im engeren oder weiteren Sinne, lauter mythifche,
mährchenhafte. Wir haben hierüber bereit3 oben geſprochen. Es
ſoll dieſe Region dem Dichter keineswegs verfhloffen oder vers
kümmert werben; e8 ift aber zu münfchen, daß er feine Phan⸗
tafle an den marfigen Geftalten der Gefchichte zur Begrenzung
und Beitimmtheit zufammennehme. Dann wird es ihm gelingen,
große Leidenfchaften, welthiftorifchen Gehalt in rein menfchlichen
Sphären wirkend, darzuftellen. Der unftete Fackelſchein ift ſchön,
aber wir fehnen und doch aud) nach der reinen Flamme der Weis⸗
heit; Mondſchein ift ſchön, aber nach feinem ungewiſſen Lichte
möchten wir auch die Sonne, nach der Nacht den Tag. Es er»
266
ſcheint hart umd parabor, aber ed Tann nicht verfehwiegen werben:
dad Premiren ded Wunderbaren in der Poefle ruht ebenfo auf
dem abftracten Verftande, wie der Feind, gegen den eben das
Wunderbare opponirend auftritt, die profatfche Weltanſicht. Die
profaifche Weltanficht Hält die naturgemäße Wirklichkeit für Gott-
und Geiftsverlaffen; die Phantaftif läßt Gott und Geift in biefelbe
einbrechen, aber indem dieß auf wunderbare Weife geſchieht, alfo
die Naturgefeße erft weichen müfjen , damit die Idee Platz habe,
ift zugeftanden, daß der gefunde Verlauf an ſich die Idee aus⸗
ſchließe: was eben das Princip der Proja iſt. Es ift wie der
Supranaturalismud in der Theologie. Mörike ſchwebt, ex hat
bie Füße nicht am Boden, er hat Schritte getban , ihn zu ges
winnen, den größten in feinem Roman, allein er thue noch ent»
ſchiednere und reinige ſich vollends von allem Trüben und Boden⸗
Iofen. Heimiſch ift es unferem Dichter bei ven Niren in ihrer
Ernftallenen Grotte, in Zauber - Leuchtthurm (169), mo des
Zaubererd Tochter die Schiffer hinlockt, daß Schiff und Mann
zu Grunde finft, einen Geifterzug fieht er nächtlih zum Mum⸗
melfee ſchweben, er hört leiſe die Gebete ver Geifter ſchwirren,
ſie tragen ihre Königin zu Grabe, verſenken ihren Sarg in bie
Wogen, die in grünlichem Beuer über ihm zufammenfchlagen
und tief unten hört man nun ihre Lieder ſummen. Es ift nicht
bie breitgetretene und taufendmal dageweſene Balladen - Manier,
Mörike ift gang Dichter und zieht und, ald hätten wir viefen
Eindruck zum erftenmale, ganz in viefe myſtiſchen, bangen Ges
fühle und Anſchauungen hinein. Befonderd mit dem unfteten
Geifte des Windes Hat er gerne zu thun. Jung Volker, ver
Luftige Räuber (eine herrliche Figur aus dem Maler Nolten) if
267
vom Winde empfangen, feine Mutter, ein ſchön frech *) braunes
Weib, wollte nichts vom Mannsvolk willen, fie rief lachend:
möcht Tieber fein des Windes Braut, denn in die Ehe gehen!
Da kam der Wind, da nahm der Wind Als Buhle fie gefangen:
Bon dem hat fie ein Iuftig Kind In ihren Schooß empfangen
(S. 60). Die ſchöne Müllerdtochter lockt den Nitterfohn in ihre
Mühle, er will fie umarmen, ba faufen und fingen ihre Zöpfe
im Winde, da befhwört fie die Windgeifter und fährt mit ihm
durch's Fenſter hinaus auf die Heide und erdrückt den Liebkofenden
an ihrer Bruft (S. 26). Diefe Ballade ift wirklich gar zu unklar
und unbefimmt, ein Extrem nebelhafter Romantik. Ungleich con⸗
creter durch die Beftimmtheit des Gegenftands und gewiß etwas
Bortreffliches ift dad Gedicht ©. 85, mo der angftvoll wilde
Geift der Feuersbrunft in einem wahnſinnigen Feuerreiter perſo⸗
nificiet ift, den man in einer alten Stadt regelmäßig vor Anfang
einer Feuersbrunſt mit fharlachrother Müge am Fenſter auf und
nieder bufchen, dann auf Elapperbürrer Mähre nad) der Brand»
ftätte jagen Sieht. |
Gehaltvoller jedoch wird dieſe Poefle des Wunderbaren, wo
dad Wunder im Dienfte einer concreten fittlihen Idee auftritt.
Die Ballade „Die traurige Krönung“ ift vol Gewitterſchwüle
und tragifher Angſt, ganz im Geiſte des Macbeth (©. 70).
König Milefint von Irland. hat fein Bruderskind ermordet, um
fich auf den Thron zu ſchwingen, die Krönung warb mit Prans
*) Ich weiß nicht, ob dad Wort „frech“ aucd außerhalb Schwaben vom
Volke noch in feiner urfpränglichen Bedeutung (frei) für einen Ausdruck
von Kuͤhnheit und Seibſigefühl gebraucht wird. Es gehört unter bie erft
fpäter unebel gewordenen Woͤrter.
gen auf Liffeyſchloß begangen. O Irland! Irland! wareft bu
fo bllubde Der König figt einfam um Mitternacht beim Pokale,
ſich feiner neuen Pracht zu freuen, er will fi am Anblick ber
Krone weiden, fein Sohn fol fie ihm Bringen ; doch ſchau, mer
hat die Pforten aufgemadt? Gin Geiſterzug ſchwebt herein mit
Fuſtern ohne Worte, eine Krone ſchwankt Inmitten. Dem R-
nige,, dem wirb fo geiſterſchwuͤl:
Und aud der ſchwarzen Menge blickt
Ein Kind mit friſcher Wunde,
Es lacheit fexbendweh und nict,
E macht Im Saal die Runde,
Es trippelt gu dem Throne,
Ed reicher eine Krone
Dem Könige, deß Oerze tief erfchridt.
Darauf der Aug von bannen Arich
Von Morzenluſt beraufchet ;
Die Kerzen Kackern wunderlich,
Der Mund am TFenſter laufcher;
Der Sobn mit Ange and Schweigen
Zum Barer thir Ach meigen, -
Er weiger Aber eine Leiche Ach-
er and Ne komiſche Stimmung weiß ter Dichter in's
Wantatiiihe Siement einzuführen, wenn er uns (S. 80) im ben
Garen des „ Schleflürerte zu Tülingen geleitet unt ade Regel
aut um Tetetikiummer erweckt. welche eiyenılich verzaukerte
Stahieien ſind aus ter Zorẽ⸗ un Ruterzeit, reche Rädieen,
et. man ter alıfrkuftiäken Gräber den Ricer in ver kefamm-
un Artuatın Rermel des Meilen! aurıten: af. Süger.
Kelur Koer maria! wat ımahlen, ühr ehemaliger Scharven⸗
269
könig, ein gefchworener Weintrinfer — Fam Tags auf fliehen
Maß — Habe fie in Kegel verzaubert, weil er fle mit ein
paar laufigen Dichtern beim fauren Bier, zwar ſämmtlich nudel⸗
nüchtern, auf der Kegelbahn traf, er babe hierauf, da das Bier⸗
trinken ganz in Schwang kam, feine Krone weggelegt — man
mir ift Hopfen und Malz verlorn“ und fei in edlem Zorn vom
Throne geftiegen, für Kummer und für Grämen zerfallen wie
ein Schemen, geftorben und in das tiefe Gewölbe des Schlofies
beftattet worden u. f. wm. Ob Mörife gut getban, eine phan-
taftifch ſcherzhafte Lieblingsfiction aus feinen Iugendjahren, das
Mährchen vom fiheren Mann, einem täppiſchen gutmüthigen
Rieſen, in welchem die Elemente kaum erft zu den gröbften Um⸗
riffen menſchlicher Geftalt fih formirt, im Versmaaß des Hera-
meter8 bier aufzunehmen, muß ich bezweifeln. Es ift zmar an
fih ganz interefjant, wie dieſe uralte Lieblings = Vorftellüng der
Deutfchen, die Vorftelung von linkiſchen Niefen , in denen dad
Volk feine naive, ungehobelte Kraft ih zum eigenen Scherze im
Spiegel zeigte, nachdem fle in der Poeſie des Mittelalter ein
ftehende8 Thema geweien war, in ber fpäteren verfeinert als
Simpliciſſimus u. f. w. zum Vorſchein Fam, hier bei einem ganz
modernen Dichter ohne Zufammenhang, vielleicht ohne Bekannt⸗
jhaft mit diefer altveutfchen Figur wieder hervortritt. Allein der
Gegenftand liegt dem Publiftum zu ferne, es läßt fich Feine Ver⸗
trautheit mehr mit einem folchen Bilde bewirken. Die Freunde
des Dichterd, die ſich erinnern, wie er mit feinem trefflicden mi⸗
mifchen Talente diefe Figur dargeftellt, wie er beim Weinglafe
mit geifteöverwanbdten Freunden biefe luftigen, tollen Träume aus-
geheckt, erzeugen ſich aus biefer fpeziellen Erinnerung leicht wieder
270
das Bild, Fremde aber finden ſich, weil ihnen dieſe Supple⸗
mente fehlen, nicht zurechte, ja fle denken vielleicht gar an ver-
ſteckte Räthſel.
Endlich erhebt ſich dieſe Poefle des naiven ſubſtantiellen Be⸗
wußtſeins in das Gebiet der Religion. Vollkommen trifft der
Verf. den ſchlichten Ton der Legende (Erzengel Michaels Feder
87). S. 144 verſucht er einen jener herrlichen lateiniſchen alt⸗
katholiſchen Kirchengeſänge, wovon er zugleich meines Wiſſens
zuerſt den Text mittheilt, zu überſetzen, es will uns aber die
Zeile „mar Eis in Herzen“ als Ueberſetzung von: O frigus
triste etwas pretiõs vorkommen. Herrlich iſt dad Lied: Wo find’
ich Troſt? (S. 146).
„Eine Liebe kenn' ich, die iſt treu,
War getreu, fo lang ich fie gefunden” u. ſ. w.
Hier feufzt das Herz aus feinen innerften Tiefen zu Gott und
fragt in feiner Noth: Hüter, Hüter, ift die Nacht bald Hin,
Und was rettet mid) von Tod und Sünde?
Doc es ift Zeit, daß wir dieſen Geniud auch in das Gebiet
der Kunftyoefie, der Elaffifch veredelten Form, der reinen Idealität
begleiten. Hier dürfen wir fogleich die tiefe Wärnıe bewundern,
mit der er das bewußtloſe Naturleben befeelt. Aus diefer Sphäre
bebe ich vor Allem das Gericht: Mein Fluß (S. 62) bervor.
Ih feße nur den Anfang ber, um jeden Leſer, ter die Poeſie
des Badens in einem Fluſſe Eennt und fühle, nad tem ſchönen
Ganzen lüftern zu machen.
D Fluß, mein Fluß im Morgenitrabl!
Empfange nun, empfange
Den febnfuchtövollen Leid einmal
Und küffe Bruft und Wange!
261
tafie, ein Bild der Untreue, und unfer Gefühl zittert wie in
unbeftimmt verſchwebenden Tönen der Winbharfe fort.
Milder, doch ebenfo tief aus dem Herzen, Elagt das ver-
laffene Mägblein (S. 23).
Fruͤh, wann die Hähne Iräp'n,
Eh die Sternlein verfchwinden,
Muß ich am Herde fiehn,
Muß Feuer zünden.
Schoͤn If der Flammen Echein,
Es fpringen die Funken,
Ich ſchaue fo drein,
In Reid verfunten.
Ploͤtzlich, da kommt ed mir,
Treulofer Anabe,
Das Ich die Nacht von dir
Geträumet habe.
Thraͤne auf Thräne dann
Stuͤrzet Hernieder,
So fommt der Tag heran, —
O gieng ex wieder!
Nicht jo hinreißend muflfalifch ift dieſes Lied, mehr betrach⸗
tend, wie das Mädchen felbft äußerlich ruhig vor dem Enitternden
Feuer fteht, aber ganz ebenfo wie das erfte nicht nur auf vie
Empfindung, fondern durch ein beftimmtes klares Phantafiebild
erft auf diefe wirkend. Ueberhaupt, wenn alle Poeſie der Phan⸗
tafie, welche weſentlich ein inneres Sehen iſt, ein beftimmtes
Bild vorüberführen muß, wie kann bie Lyrik, welche allerdings
mehr als die andern Gattungen ber Poefle noch unmittelbar mit
der Muſik verwachfen im Elemente fubjectiver Empfindung ver-
262
weilt, in ihrer Art dennoch dieſer Pflicht genügen? Ein beftimm-
tes Bild muß auch fie geben, und zwar noch außer dem ryth—
miſch⸗ muflfalifchen Sprachkörper. Spricht nun der Dichter rein
fubjectiv feine eigene Empfindung aus, fo ift der Körper, den
dieſe dennoch auch fo annehmen muß, feine eigene Perfon, ganz
erfüllt von der dargeftellten Gemüthsbewegung. Darum find jene
Gedichte „An die” u. f. w. die jetzt immer feltener vorkommen,
fo proſaiſch. „An die Sreundfchaft, die Freude, die Unſterblich⸗
feit u. dergl.“. Da ftellt der Dichter den Gegenftand als ein Ab⸗
ſtractum aus ſich hinaus ſich gegenüber und ſingt an ihn hin, er
bleibt äußerlich. Der Dichter fol vielmehr fich felbft als durch⸗
drungen von der darzuftellenden Empfindung einführen , fie fol
Eins mit ihm fein, nicht er fol an fie bin, fondern fie ſoll aus
ihm fingen, dadurch ift fie individualiſirt, verkörpert; der Dichter
ſelbſt ift die tönende Geftalt. Ein beftimmterer Schritt zur Ob⸗
jectivität und der Keim des Epifihen und Dramatifchen innerhalb
der Lyrik, der fodann in der Ballade und Romanze ſchon deut⸗
lich hervortritt, iſt es, wenn der Dichter fein Gefühl in eine
fremde Geftalt, die er vor und hinführt, fo hineinlegt, daß dieſe
durchaus das Organ wird, durch welches hindurchklingend jene
Empfindung zu und herübertönt. Mit der objectiveren Form muß
hier auch der Gehalt objectiver, er kann nicht ein unbeftinmtes
Privatgefühl fein, und der Dichter hat zu bewähren, daß er
fich in jede menſchliche Lage Hineinzuempfinden vermag. So ſteht
hier dad arme verlaffene Kind finnend am Feuer, fie hat bei dem
gewöhnlichen Gefchäfte des Haushalts ihr Unglück vergeffen, da
plötzlich kommt die Erinnerung deffelben über fie: hier haben wir
ein ganz Elares Eleines Gemälde, wer ed nicht innerlich Deutlich
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fieht, muß kein geiftiges Auge haben; dieſes Gemälde ift aber
ganz lyriſche Empfindung.
Einen andern Charakter nimmt der Schmerz über die Untreue
des Geliebten in dem ſchönen Liede ©. 74 an; eine beftimmte
Natur = Erfeinung fingt dem liebenden Mädchen das Lied von
der Untreue, fie Hält ven Wind an: „Saufewind! Braufewind!
Dort und bier, Deine Heimath füge mir!« Der Wind will nicht
Rede ftehen: „Kindlein, wir fahren Seit vielen Jahren Durch bie
weit weite Welt, Und möchten's erfragen, Die Antwort erjagen
Bei den Bergen, den Meeren, Bei des Himmels Elingenden
Heeren, Die wiffen e8 nie u. f. w.“ Da fragt fie die Winde:
„Salt an, Gemach, ine Eleine Friſt! Sagt, wo der Kiebe
Heimath ift, Ihr Anfang, ihr Ende?“ und erhält die Antwort:
Wer's nennen Eönnte! Schelmifches Kind! Lieb ift mie Wind,
Raſch und lebendig, Ruhet nie, Ewig ift fie, aber dein Schatz
nicht beftänbig“ u. |. w. Dieſes ſchöne Lied ſtellt jene organifche
Einheit, in welche Gehalt und innere ſowohl als äußere Form
miteinander treten follen, beſonders mufterhaft dar; jene inftinct-
mäßige Symbolik hat es gebichtet, die in Wort und Rhythmus
die Natur» Erfheinung und eingehüllt in ihre Anſchauung die
geiitige Bewegung an Ohr und Sinn bringt. Weil wir eben von
dem Thema der unglücklichen Liebe reden, weile ich bier noch
auf das ächt im Volkstone gehaltene Lied „Die Schweflern«
(S. 79) hin. Zwei Schweftern gleichen einander wie ein Ei dem
andern, man wird ihre lichtbraunen Haare nicht unterfcheiden,
wenn du fie in Einen Zopf flichtſt, fie figen an Einer Kunfel,
ihlafen in Einem Bett, aber:
274
Erſcheint mir denn auf feinem von euch allen Mein Ebenbild, in
jugendlicher Friſche Hervorgefprungen aus dem Waldgebüfche ?
O komm, enthülle did, Dann folft du mir mit Freundlichkeit
in’8 dunkle Auge ſchauen! Noch immer, guter Knabe, glei’
ich dir, Uns beiden wird nicht voreinander grauen!“ Bol MRüh-
rung fagt er endlich der theuren Stätte Lebemohl: „O Thal! Du
meines Lebens andre Schwelle! Du meiner tiefften Kräfte fliller
Herb! Du meiner Liebe Wunderneft! ich fcheide, Leb wohl!
und ſei dein Engel mein Geleite!«
Wir haben gefehen, mie innig und wahr der Dichter die Liebe
in ihrer naiv volksthümlichen Geftalt ſich ausfprechen lüßt. Ideen⸗
volfer, geiftiger blickend wird fle in der Geftalt der Kunſt⸗Poefie
vor und treten. Dem einfachen Volksliede noch näher fteht das
ganz im Geiſte Goethifcher Anmuth empfangene Erfte Liebeslied
eines Mädchens ©. 38. Das Mädchen glaubt einen Aal im Netze
zu ergreifen, aber er ſchnellt und ſchnellt ihr in Händen, fehlüpft
an die Bruft, „Er beißt fih, o Wunder! Mir Ted durch bie
Haut, Schießt's Herze hinunter, Schnalzet da drinnen, legt fi
im Ring — Gift muß ih Haben! Hier fehleicht ed herum, Thut
wonnigfich graben Und bringt mid noch um!“ Wie kindlich trau⸗
lich iſt die Erinnerung des Dichterd an eine Jugendliebe, die mit
den Worten beginnt und jchließt: „Jenes war zum legtenmal, Daß
ich mit Dir ging, o Klärchen!“ ©. 3. Die fräftige Gluth edler
und reiner Sinnlichkeit brennt wie bie Flammenkrone der Granat-
blume in dem Gedichte: Liebesvorzeichen S. 40. Aber in höherer
Bedeutung geht Schönheit und Liebe auf, da fie auf ven Schwin= _
gen erhabener Muſik dem Dichter zuſchwebt: Iofephine S. 64.
Die Liebe erfcheint ihm aber auch als die anmuthvolle Mufe feiner
275
Poefle; wenn ed im Innern gährt und vingt, wenn bem un⸗
ruhigen Geifte das tief Empfundene in de8 Dichters zweite Seele,
den Gefang, zu ergießen nicht gelingen will, da beſchwichtigt die
einfach milde Erfcheinung der Geliebten den inneren Kampf —
„Wie du dann geruhig deine braunen Lockenhaare ſchlichteſt, Alſo
legt fich ſchön geglättet AN dies wirre Bilderweſen, AU des Her⸗
zens eitle Sorge, Vielzertheiltes Thun und Denfen“ .... (Der
junge Dichter ©. 9). Die heilige Bedeutung der Ehe, das rüh⸗
rende Bild des ſchönſten menſchlichen Feſtes hat uns der Dichter
mit jener edlen, beruhigten Sittlihfeit, mit jener tiefen ſtillen
Wärme des Goethifchen Genius an's Herz gelegt in dem Hoch⸗
zeitliede ©. 5A. Ein räthfelhaft geheimmißvolles weibliches Bild,
wie aus feltfamen Träumen gemebt, führt der Dichter am Schlufle
in einer Reihe von Gedichten „Peregrina« &. 231 vor uns.
Hätten wir nur irgend einen Anfnüpfungspunft, um und biefe
Phantadmagorieen zu deuten, fo müßten und biefe herrlichen
Bilder, diefer Zauberhauch, diefe myſtiſche Gluth mit ungetheilter
Bemunberung erfüllen. Wie ſchön if} die Stanze im Eingang:
Der Epiegel diefer treuen, braunen Augen
Iſt wie von innrem Gold ein Wiederfchein ;
Tief aus dem Bufen fcheint er’d anzufaugen,
Dort mag folch Gold in heil'gem Bram gedeih’n:
In diefe Nacht ded Blickes mich zu tauchen,
Unwiffend Sind, du felber laͤdſt mid) ein,
Willſt, ich fol kecklich mich und dich entgünten,
Reichſt Lächelnd mir den Tod im Kelch der Sünden !
Aber das Bild bat feinen Boden, es fehlt eine Notiz, ein trode-
ner Anhaltspunkt des Verftänpniffes, und wir müffen hier wie⸗
derholen, was wir über phantaftifhe Poeſie bereitö gefagt haben.
18*
d
276
Zwar erhalten diefe Gedichte im Maler Nolten, in den fie auf-
genommen find, eine Unterlage in der Kabel diefed Aomans, aber
wenn man auch dieſe zu Hilfe nimmt, fo bleibt Doch zu viel
Dunkel zurüd.
Wir treten aus diefen deweihien Räumen edler Empfindung
hinaus in das rauhe Leben und ſehen den Dichter von bitteren
Erfahrungen erſchüttert; doch der harmoniſche Geiſt dämpft die
Seufzer des Schmerzens, wenn der Dichter aufs Krankenlager
hingeſtreckt die Muſe nicht um Gaben der Dichtkunſt, nur um
Geſundheit, um Leben fleht — Muſe und Dichter S. 119.
Geneſen ſchließt er wie ein frohes Kind die Hoffnung wieder in
ſeine Arme und begrüßt heiter den hilfekundigen Retter — An
meinen Arzt 121. Er glaubt ſich von den Freunden verkannt,
fein Glück, das langgewohnte, endlich hat es ihn verlaflen, doch —
Id) ſprach zu meinem Segen:
Laß und feft zufammenhalten !
Denn wir fennen und einander,
Wie ihr Neft die Schwalbe kennt,
Wie die Cither kennt den Sänger,
Wie ih Schwert und Schild erkennen,
Echild und Schwert einander Iteben.
Solch ein Paar, wer mag ed fcheiden?
Als id) dieſes Wort gefprochen,
Hüpfte mir dad Herz im Buſen,
Dad noch erfi geweinet hatte.
Im Gefühle der Freiheit des Geiftes nedt er luſtig bie läftigen
Philifter — Die Viſite S. 198. Im Bewußtſein, daß üchte
Poeſie einen Scherz verfteht, parobirt er höchſt ergöglih Goes
thes Schäferlied auf einen verlumpten Lammwirth und läßt ihn
fliegen :
277
Da kommen die Ehaiſen gefahren!
Der Hausknecht fpringt in die Höp'.
Norüber, ihr Rößlein, vorüber,
Dem Lammwirth iſt gar fo weh!
Ich wünfchte, daß die Lefer durch nähere Bekanntſchaft mit dem
Eöftlichen Humor, womit der Dichter in fehläfrige, etwas fimpel-
hafte Zuftände einzugehen weiß, in bie treffliche Darftelung des
Katzenjammers fih ganz hineinfühlen könnten, der ihn über
einem fehlechten Gedichte befüllt, und woraus ihn endlich ein
herzhafter Nettig rettet, den er auffrißt bi8 auf den Schwanz —
Reftauration 212. Achnlih ©. 213: Zur Warnung.
Befreit ihn aus dem Druck diefer Eleineren Uebel fein Humor,
jo erhebt fich degegen im Schmunge der Religion die Seele über
den großen und allgemeinen Schmerz der Endlichfeit. Ganz das
morgentliche Sabbathögefühl des neuen Jahrs hauchen die ſchönen
Strophen ©. 138, ganz die heilige Trauer der Charwoche das
ſchöne Gedicht S. 155.
Als ein weſentliches Moment in der Durchbildung des Dich⸗
ters zu dieſen durchſichtig edlen Formen der Kunſtpoeſie erkannten
wir die Einflüſſe des plaſtiſchen Geiſts der Alten. Von den vers
trauten Umgange mit dieſen zeugt die größere Zahl derjenigen
Gedichte, die in den letzteren Theil dieſes Büchleins aufgenommen
ſind. Als den poetiſchen Genius, dem wie keinem Andern, die
Höhen des Pelikon noch einmal ſonnenwarm erglänzten, begrüßt
er Goethe S. 134, unſern trefflichen Maler Eberhard Wächter
läßt er uns in dem ſchönen Sonnette S. 135 ſehen zurückgezogen
in ſeine ſtillen Wände, Mit traurig ſchönen Geiſtern im Verkehr,
Geſtärkt am reinen Athem des Homer, Bon Goldgewölken At⸗
278
tika's umfloſſen. Aber er darf ſich ſelbſt dieſen edlen Geiſtern
geſellen, denn Wenigen iſt es gelungen, die alten Götter noch
einmal in's Leben heraufzuführen, wie er von dem Jubel einer
ſchwäbiſchen Weinleſe begeiſtert in dem Gedichte: Herbſtfeier
S. 104 den Gott des Weins und ſeinen bacchantiſchen Dienſt zu
einem neuen, aber im Geiſte der Innigkeit und modernen Huma⸗
nität verklärten Leben aus dem Todesſchlummer erweckt. Seine
Beier naht, braune Männer, ſchöne Frauen find verſammelt,
ihn zu ehren, Noch ift vor der nahen Beier Süß beflommen
manche Bruft, Aber weiter bald und freier Mebergibt fie fich der
Luft, — der Jubel beginnt, ſchon iſt der Dienft des Gottes in
vollem Lauf, Amor auch hat nicht? dawider, Wenn fich Wang’
an Wange neigt, Und der Mund, in Takt der Lieder, Sich
dem Mund entgegenbeugt, — dort drüdt ein betrunfener Alter
kindiſch den Krug an die Wange, indeß ein Junge ihm mit der
Badel Fräftig den gefrummten Rüden fchlägt. Aber ernft ſchaut
aus dem Gebilfhe, von Epheu umrankt, das träumerifhe Mar:
morbild des Gottes —
Wie er laͤchelnd abwaͤrts blicket!
Er beſinnet ſich nur kaum.
Serrlicher! Dein Auge nicket,
Doc) dieß Alles if ein Traum;
Zuna ſucht mit frommer Leuchte
Dich, o fchöner Juͤngling, bier,
Schöpfer zärtlich ihre feuchte
Klarheit auf die Stime dir.
Er ift der Liebling der Götter und Menſchen, der Retter des Zeus,
Mars fließt erft ihn in feine Arıne, Fühlet nun am Göttermarfe
Sich gedoppelt einen Gott, Dann erft brüllt ver Simmlifch = Arge
279
Todesluſt und Siegerfpott. Die Feiernden treten vor ihn, flehen
ihn um ein Zeichen, daß ihm ihr Dienft willlommen ſei —
Tritt in unfre bunte Mitte,
Der winke mit der Band,
Wandte drei gemeßne Schritte
Längd der hohen Rebenwand!
— Ad, er laͤßt ſich nicht bewegen —
Aber, horcht, ed bebt dad Thal!
Ga, dad tft von Donnerichlägen !
Horch, und ſchon zum dritten Mat!
Selber Zeud Hat num geſchworen,
Das fein Sohn und günftig ſei.
So iſt kein Gebet verloren,
So iſt der Olymp getreu. —
Doc; nadı ſolcher Götterfülle
Ungeſtuͤmmem Ueberfchwang
Merden alle Herzen ftille,
Alte Gaͤſte zauberbang.
Stimmet an die legten Lieder!
Und fo, Paar an Paar gereiht,
Steiger nun zum Fluß bernieder,
Wo ein fenlih Schiff Bereit.
Auf dem vordern Nand erbebe
Sich der Gott und führ und an, .
Und der Kiel, mit Fluͤſtern, ſchwebe
Durch die mondbeglängte Bahn!
Wie vergeiftigt erfeheint Hier der alte wilde Naturbienft im roman
tiſchen Echo diefer herrlichen Heime! Doc Mörike Hat auch antife
Formen nachgebildet und gar manches Anmuthige im Sinne ber
elegifchen und epigrammatifchen Lyrik der Alten gegeben. Wie
lieblich ft ©. 103. Die loſe Waare! Amor ald Savoyarde tritt
zu dem Dichter aufs Zimmer, pas Jäckchen verſchiebt ſich, ber
280
Dipter ruft: Ei, laß fehen, mein Sohn! Du führft aud) Fe⸗
dern im Handel? Amor legt lächelnd den Finger auf bie Lippen
und flüftert: Stille! fie find nicht verzollt, er füllt umfonft dem
Dieter das Tintenfaß,, und entihlüpft. Bon dem Moment an,
will er was Nügliches fchreiben, glei wird ein Liebeöbrief, wird
ein Erotifon draus. Unter den lieblichften Epigrammen erotiicher
Gattung zeichne ich befonders noch aus: Maſchinka S. 123.
Das edelſte Eindliche Gefühl ſpricht aus den Diſtichen „An meine
Mutter" ©. 126. Wie finnig ift die wilde Roſe an dem unbes
sühmten Grabe von Schillers Mutter gedeutet! ©. 113. So
vieles Liebliche und Edle aber ver Dichter in dieſen älteren For⸗
men reicht, fo wenig fcheint er für das moderne Epigramm und
beffen wigige Spige beftimmt zu fein. Einiges zwar ift ihm ges
lungen, namentlich Seite 202. Der Liebhaber an die heiße
Duelle in B.
Du Heilen Den und tröften Jenen,
D Quell, fo hör auch meinen Schmerz!
Ich Plage dir mit bittern Thraͤnen
Ein darted, kalted Maͤdchenherz.
Es zu eiweichen, zu durchgluͤhen,
Dir iſt 06 eine leichte Pflicht;
WMan kann ja Hübner in dir drüben,
Warım ein iunged Gänächen nicht?
Andere aber ift matt und ohne Salz: ver Dichter ſelbſt in jeiner
Pdantaſiefülle. weldde mehr ala Wis it, verbarg fi tiefen
Mangel gewiß durch das Cbharalteriſtiſche des Bildes, das ihm
dabei vorſcowebte. vergaß aber. daß das Poetiſche, obne ſolches
Ruckwartoichließen auf etwaige Supplemente im Subjecte dei
Teguert . dezaubern je. Dier beginnt wirklich der anfingiup je
281
volle Strom diefer Lyrik im Sande zu verlaufen; flatt der prafs
jelnden Flamme reibt der Dichter Zündhölzchen, die öfters nicht
brennen wollen. Schmieden wir aber dem Geifte, der bis dahin
gewiß in unferer Liebe fich feftgefeßt, daraus keinen Vorwurf.
Mörike fteht an poetifchen Gaben zu hoch, um im Witze zu glän-
gen. Lefling war ein feiner Epigrammatiſt, aber Tein Dichter,
fondern ein Kritifer. Unter den Zenien find befanntlich die pifan-
teften nicht von Goethe, fondern von Schiller. Mörike hat mehr
komiſche Ader als diefe beiden: dieß tft aber die komiſche An⸗
fhauung, die himmelweit über dem Witze fteht, und die fich erft
im Epiſchen, wozu fich diefer Genius erhob, zeigen Tonnte.
Indem wir bier von ihm als Lyriker AUbfchien nehmen, mache
ich noch befonderd darauf aufmerkſam, wie reicher Stoff für
Componiften in diefen Liedern ift, und kehre eben hiedurch zum
herzlichſten Lobe dieſer Acht poetiſchen Produkte zurüd.
282
Gedichte eines Sebendigen.
Dis einer Dedication an den Verſtorbenen. Sechste Auflage, 1843.
Zürich, Lterarifches Comptoir.
(Jahrbücher der Gegenwart. Jabrg. 1843. Nr. ı ff.)
Berriffenheit und Politik find felt geraumer Zeit die Stoffe, -
worin die Poefie allein noch einiges hervorgebracht hat, was Aufs
fehen machte. Wirklich muß man geftehen, da für die Dichtkunſt
jegt die Zufriedenheit nicht an der Zeit ift; Lenz, Lerchen, Liebe
und Wein find matt geworden; das Gemüth, das fich den großen
Intereffen des öffentlichen Lebens verichloß und in den Genuß
feiner Subjektivität einſpann, hat dieſe unſchuldigen Gegenſtände
todtgebent und iſt endlich gerade in ſeiner Naturſchwelgerei, in
ſeiner Untbätigkeit und Intereſſeloſigkeit vergeilt, an ſeiner thaten⸗
loſen Ueberfruchtung erkrankt und in Zerriſſenbeit untergegangen
Dieſe iſt Entartung. aber doch cine böbere Form des geiſtigen
vedens. worin dad Gemütb zu füblen bekommt, wohin dieie
Poeſie des deimlichen Glücks. aus welcher alle großen Men—⸗
gen und Thaten verſchwunden iind, endlich ſübre: zu ibren
Gegentdeil. zur Opochondrie. melde die norbwendige Folge bei
Verſideneè tl. Sun wir er wieder Größe. ic werden wir um
au KIT uniduldigen Dinge wieder port crime Fiemen,
er matt ERT entü krauk zu werden „Tier Serie mer rl
trat Sen dam Ni er Iromhatenr.“ Ta: mo Mir mE
283
Dichter vorläufig gerne glauben. "Die Zerriffenheit taugt nichts,
fie fol nicht beftehen, aber fie iſt doch das Einzige, was die neuere
Poeſie nach dem Ableben der romantiſchen Schule hatte und haben
konnte. Gieb dem Menſchen zu thun, gieb ihm große Gegenſtände,
und er wird keine Zeit mehr haben, immer und ewig von dem
großen Riſſe, der mitten durch das Weltall und bei dieſer Ge⸗
legenheit auch durch ſein Herz ging, zu leiern. Man hat dies
eingeſehen und nun die Politik ergriffen: ein guter Fortſchritt und
wirklich zeitgemäßer Stoff. „Poeſie iſt im Halme, in der Palme,
Poeſie die Mück' im Sonnenſchein und Poeſie vor Allem auch im
Wein; wie Gott iſt ſie zuletzt in allen Dingen, doch wenn einmal
ein Löwe vor euch ſteht, ſollt ihr nicht das Inſekt auf ihm be⸗
ſingen,“ ſagt Herwegh in feinen Sonett an bie Naturdichter.
Und doch taugt auch die Politik nichts in der Poeſie, wenn man
nämlich unter der Politik verſteht die Unzufriedenheit mit der
Gegenwart des Staats, den Wunſch, daß er anders werde, die
Aufforderung an das Volk, daß es die Formen ſeines Staats⸗
lebens ändere: d. h. alſo paränetiſch⸗ politifche Dichtung. Sie
taugt nichts, weil fie eine Idee ausſpricht, welche noch keinen
Körper hat, ſondern ihn erſt bekommen ſoll, welche alſo noch
abſtract iſt. Nennt man politiſche Poeſie diejenige, welche ver⸗
gangene große Thaten und Schickſale der Völker befingt, wo die
Idee, ſchon zur Wirklichkeit geworden, ihren Körper dem Dichter
fertig mitbringt und nur die künſtleriſche Umgeſtaltung deſſelben
von ihm erwartet, dann kann es Feine größere Poeſie geben, ala
politiihe, dann iſt Homer, dann ift Shakfpeare ein politifcher
Dichter. Ich Habe diefen wichtigen Unterſchied in einem Auffage
über Shafjpeare erörtert, welcher in dem litterar⸗ hiftorifchen
284
Taſchenbuch von Prutz demnächſt erfcheinen ſoll, und fo die An⸗
tinomie zu löfen gefucht, welche zwiſchen den beiden gleich wahren
Sätzen, daß, wie alle Tendenz, fo insbeſondere die politiſche
Tendenz in der Poefle verwerflih ift, und daß es doch keinen
würdigeren Stoff für den Dichter giebt, ald das Staatöleben, zu
beftehen fcheint. Ich kann mich bier auf diefe Unterfuchung, welche
gründliche Crörterungen verlangt, nicht einlaffen und muß daher
bie Leſer erfuchen, jenen Aufjab zur Hand zu nehmen, wenn fie
fih überzeugen mögen, daß mein obige Wort über Poeſie fo
abfprechend nicht fei, als es vielleicht jcheint.
Inzwiſchen tft allerdings zwiſchen den Gattungen der Poeſie
zu unterfheiden. Das Epos und Drama bedarf zu feinem In-
halte allerdings Ideen, welche ichon in Handlung und Gefchichte
übergegangen find, denn diefe Formen der Poeſie Eönnen eine ge-
gebene objective Welt gar nicht entbehren. Dagegen die Igrifche
Poefte ift ihrem Welen nad fubjectiv; der Dichter fpricht fein
eigenes fühlenbes Herz aus, gleichviel, ob die wirkliche Welt ſei⸗
ner inneren Welt entſpreche ober nicht; ja daß dieſe jener nicht
entfpricht, die kann gerabe ver Hebel feiner feurigften Empfin⸗
dungen jein. Der Körper zu dem geiftigen Gehalte, den er feiner
Poeſie einhaucht, ift im Grunde feine eigene Perfünlichkeit, er
ſelbſt ift die Erſcheinung der Idee, die in der Welt noch nicht
Raum gemonnen bat, fein Gedanke ift noch Subjert. Wenn dies
im Allgemeinen wahr ift und dem Inrifchen Dichter die Befugniß
fihert, mancherlei Inhalt aufzunehmen, der für dad Epos und
Drama noch zu unwirklich wäre, fo bebarf es doch wefentlicher
näherer Beftimmungen. Sp viel vor Allem verfteht ſich von ſelbſt,
daß man dem Dichter in jeber Zeile anfühlen muß, daß es ihm
285
mit feiner Begeifterung ein wahrer Ernft fer, daß nicht Eitelkeit,
nichts Windiges mitunterjpiele, daß er Gut und Blut für die
Verwirklichung feiner Idee zu opfern bereit wäre, ſonſt fehlt ihr
bie einzige Objectivität, die fle haben kann, die Perfünlichkeit.
Beſonders übel wird es daher dem politiichen Dichter anftehen,
wenn er die Zerriffenheit in die Politik aufnimmt, wenn er neben
feiner großen Sache ein in eitlen Schmerzen. fich befpiegelndes Ich
in den Vordergrund zu drängen fucht, Furz wenn er SHeinifttt.
Einen Charakter wollen wir fehen, einen Felſenmann; er braucht
darum fein Turner, Fein hriftfich deutſcher Burſchenſchäftler zu
fein, unfere Zeit begründet billig ihre Iveen von Staat und Preis
heit auf eine andere, weitere, weltgebilvetere Anſchauung. Daß
die Grundidee, welche eine folche Lyrik durchdringt, wiewohl noch
unwirklich, doch nicht aus dent Blauen aufgefangen, fondern in
ſich fubftantiell und eine gegenwärtige Macht in den Geiftern und
Herzen Vieler fei, daß er ausfprehe, was feine Zeit innerlich
bewegt, das ift e8, was wir cbenfall3 an ihn zu fordern haben.
Freilich kommt ed dann immer noch darauf an, mie er eine ſolche
Idee gefaßt Hat und außlegt, ob er fie in leerer Allgemeinheit
oder in concreter Fülle befigt und darzuftellen weiß, ob fie ihm
aus der Betrachtung ded Einzelnen in der Wirklichkeit fließt, ober
ob er vom Abftracten zum Concreten erft den Uebergang fucht.
Er muß die einzelnen Gebiete des öffentlichen Lebens, wo die
Unfreiheit oder umgekehrt der Keim eines neuen Lebens fich fühl-
bar macht, in's Auge gefaßt haben, das Leben, die Welt muß
er fennen, dem Pulsfchlag des Geiſtes In den einzelnen Gliedern
nachfpüren, die Wege muß ex aufſuchen, welche die innere Macht
der Zeit wandelt, um ben Boden für große Zwecke der Zukunft
286
aufzulockern. Dies tft das Eoncrete, was feiner Idee nicht fehlen
darf, wie wenig fle übrigens concret in dem Sinne einer That⸗
ſache ift.
Genügt nun ein Dichter allen diefen Forberungen, iſt er ein
wahrhafter Charakter, ſpricht er aus, mas die Beſten feiner Zeit
bewegt, ſpricht er es nicht abftract, fonbern concret aus, fo if
er — doch immer noch Fein Dichter. Die Politif, das Heißt alfo
für unfern Zufammenhang: die Unzufriedenheit mit der Gegen-
wart des Staatslebens und der heftige Wunfch einer befiern Zu-
kunft deſſelben, Begeifterung für große Handlungen, die fie her⸗
beiführen follen u. f. f., bleibt doch immer auch für die Igrifche
Gattung ein gegen Acht poetifche Behandlung völlig widerfpenftiger
Stoff. Wir fanden den Grund hievon zuerft ganz allgemein darin,
daß ſolche Ideen, weil fie erft wirklich werden follen, dem Dich⸗
ter gar Feine Erfcheinung, Geftalt, Fein poetifches Fleiſch entgegen»
bringen. Nun mußten wir zwar einräumen, daß die Iyrifche
Poeſie andere Bedingungen ald Epos und Dranıa hat, daß
Stoffe, welche für diefe objectiven Gattungen zu Förperlos find,
für das fubjective Wefen der Lyrik immer noch geeignet feien.
Aber wir müſſen die Trage jet noch von einer andern Seite neh:
men und von der Stimmung reden, in welcher die wahren Kinder
der Mufe empfangen fein wollen, ob fie nämlich mit folchem
politiihem Gifer beftehen könne. Nein, fe kann es nicht; die
Unrube des Intereffes, die Haft, die Sorge, die Ungeduld ver-
zehrt ſchlechtweg jene ſchöne Einheit aller geiftigen und ſinnlichen
Kräfte, welche fih in dem ftilen Wehen, Träumen, Schaffen
ber Phantafie darftelt. Wahre Dichtung iſt nur, wo Befig iſt,
Beſitz, der zwar, wie alles Menfchlicde, der Sehnſucht nod
287
unendlichen Raum läßt, aber doch Befitz und Genüge der Seele.
Die Völker müffen glüdlich fein, wo Poefle blühen fol; wo fie
mit ihrer Vergangenheit gebrochen haben und forgenvoll, ob ihre
tiefften Wünfche fich verwirklichen lafien, in die Zukunft blicken,
da fann feine Dichtung gedeihen, und biefenige Dichtung , welche
eben biefen politifchen Bruch zu ihrem Gegenftande macht, Tann
feine wahre Dichtung fein. Shaffpeare fühlte fih mit feinem
Volke höchſt glücklich unter ver Regierung der Elifabeth, von dies
fer glüdlihen Gegenwart ſchaute er auf die blutigen Bürgerfriege
zurüd, die ihr vorangegangen, und fiellte num diefe ungeheuren
Stürme mit dem fteten Hinblick auf, das geficherte fefte Land dar,
auf welchem er fland: dies ift wahre politifche Poefle. Ober, um
von einem Lyriker zu reden, Pindar preidt den olynıpifchen Sieger,
die Stadt, deren Bürger er ift und erfreut fih nun an der Herr⸗
lichkeit feines Vaterlandes. Wo nun aber alle Gedanken und
Gefühle fi auf einen Zweck fpannen, der erft erreicht werben.
fol, da wird aus der Poefle bloße Rhetorik. Der Nebner hat
einen Zweck im Auge, für den er, wie er felbft für ihn begeiftert
ift, feine Zuhörer zu flimmen, in euer zu ſetzen ſtrebt; biefer
Zweck wird unverhüllt ald ein Gedanke, welcher That werden
fol, aufgeftelt, der Nebner geht won ihm aus, kommt auf im
zurüd und feßt übrigens alle Mittel der Empfindung und Phan-
tafle für ihn in Bewegung, aber auch nur ald Mittel. In der
ichten Poeſie dagegen iſt die Phantafle nicht das Mittel des Ge-
dankens, fondern der Gedanke äußert fi gar nicht anders, als
nur verhüllt in ihr und burch fie, und fommt getrennt von ihr
weder dem Dichter felbft, noch dem Zuhörer (es tft Hier nicht
vom Kritiker die Rede, fordern von dem äſthetiſch genießenden
288
Zuhörer) zum Bewußtfein. Die Elemente der Darftellung und
Mittheilung find aljo in der Mhetorif ganz andere, als in ber
Poefle. Dem politifhen Dichter, wie ihn unfere Zeit hervorbringt,
wird aber eben dadurch, daß er einen noch unverwirklichten Zweck
als Gedanken und in der Form des Gedankens fi und dem Lefer
vorhält, alle poetifhe Stimmung, alle Naivetät, jenes unbe
wußte innere Singen und Klingen audeinandergezogen und ver⸗
zehrt: er wird zum Rhetoriker. Ich table nicht fein Intereſſe,
feine Ungeduld, Unruhe, ich fage nicht, unfere Zeit Eönne anders
fein; ich fage nur, poetiſch kann ſie, fo wie fie einmal ift, nit
fein. Und wie der Dichter foffartig verfährt, ebenfo das Publi-
fum: es verwechſelt das rhetorifche Pathos um der gleichen Be
geifterung für die Sache willen mit ver Poeſie. Es kann nit
lauter ächte Poeſte geben, jede Kunft hat gewiffe angrenzende
Gebiete, worin fih Zwitter- Gattungen aufhalten, welche bad
firenge Forum ber Uefthetif zwar von der Kunft ausweist, welde
aber doch auch ihr gutes Recht der Eriftenz haben. Es wird fich
dann nur fragen, ob der Rhetoriker mwenigftend ein guter Rheto⸗
rifer ift und ob ihm eine wefentliche Korm wirkſamer Beredtſam⸗
feit, die Ironie, die Satyre, die insbefondere bei politifchen
Stoffen fo fehr am Orte ift, zu Gebote ſteht. Iſt fein Geiſt in-
halts⸗ und erfahrungdreih, feine Betrachtung coneret, nicht
abſtract (— abftract ift fie immer, wenn von Poefte die Rede
ift, aber für ſich betrachtet Eann. fle in anderem Sinne entwere
abftract oder eoneret fein —), wie wir dies oben forderten, je
wird die Ader der Satyre von felber fließen.
Da aber der Kern einer folhen Dichtungsart an ben äſthe⸗
tiſchen Manfftab gehalten immer abftract bleibt, fo wird ver Por,
289
um und für die Einförmigkeit feines überall in den Vordergrund
geftellten Intereſſes Erfag zu geben, ſich als eine Berfönlichkett
darftellen müffen, weldhe, obwohl fie auf die politifche Sehnſucht
Alles und Jedes zurückbezicht, doch noch fo viel Unbefangenheit,
Vielſeitigkeit und reine Menſchlichkeit übrig behält, daß der Grund-
Accord in reichen Variationen wiederflingt, die Bruft jedem ſchö⸗
nen Gefühle offen bleibt und der oberfte Gedanke nicht mit dem
Fanatismus der firen Idee alles Andere aufzehrt. Der Dichter
fol ein gefunder, ein ganzer Menſch geblieben fein.
Endlich bedarf eine folche Poefle, welcher ed an innerer Form,
d. h. an einem Stoffe, der für das innere Auge ein objertived
Bild mit fich führte, gebriht, des Schmudes der äußeren tech»
nifhen Form in verboppeltem Maaße. Das naive Lied, dad Kind
der Ächten poetifchen Stimmung, die objectiveren Gattungen der
Ballade und Romanze, die ſchon eine epifche Anſchauung ent⸗
halten, fünnen ein paar Härten, ein paar Lückenbüßer, einen
unreinen Reim ſchon ertragen. Der Dichter aber, ber und für
einen Eörperlofen Gedankengehalt bloß rhetoriſch zu intereffiren
ftrebt, muß und durch Neinheit der Form diefen Innern Mangel
fo viel möglich zu verbergen fuchen. Auch ift folche rhetoriſche
Poefte wefentlih Poefle der Bildung, denn naive Zeiten wiffen
von abſtracten politifchen Gedanken nichts; Daher verlangen wir
mit um fo mehr Necht eine gebildete Form, und diefe wird dem
Dichter in dem Grade leicht, in welchem die Bildung eine große
Geläufigfeit geglätteter Verſekunſt ſchon mit fich bringt. Freilich
entfteht aber in Zeiten reifer Bildung, da faft alle Formen, Bil-
der, Neime abgenutzt find, auch ein Reiz der Berkünftelung, eine
Neigung zu Seltfamfeiten und Kunſtſtückchen, welche noch übler
Aritiſche Gänge ll. 19
290
find, als Rohheiten, und doppelt übel, wo die Begeifterung für
bie reinften und einfachften Güter der Menfchhelt dad Wort führt.
Halten wir nun die Gedichte eines Lebendigen an dieſen Maaß⸗
ftab, fo läßt fi vor Allem nicht läugnen, daß ein für die Idee
der Sreiheit und des Vaterlandes mächtig bewegtes jugenbliches
Gemüth daraus athmet. Mit Grund hat gerade das Gedicht an
den DBerftorbenen, dad der Verf. wie fein Lofungdwort vorane
ſtellt, großes Glück gemacht. Es ift zwar eigentlich ungerecht,
da Herwegh ganz vergeffen zu haben fcheint, daß der Verftorbene
in den Reihen des preußifchen Heeres rühmlich gegen die Franzoſen
gefochten hat. Inzwiſchen Hat ſich diefer Kürft allerdings in ber
blafirten Geftalt eines „Vergnüglings,“ eines durch Genüffe er-
mübeten, auf weiten Reifen eine lebte Zerftreuung fuchenden
Vornehmen dem Publikum vorgeftelt und Eonnte fo immerhin
als ein Repräfentant nachläſſig anſpruchsvoller Abgelebtheit, welt⸗
müder moderner Wanderſucht das Ziel abgeben, woran die patrio⸗
tiſche Wärme und Treue ſich Ritterſporen verdienen ging. Cinige
Wendungen dieſes Gedichts, vor Allem die Anrede des Fürſten
von Ithaka, der nicht in Saus und Braus die Zeit verdehnt,
ſondern ſtets nad Haufe zu Weib und Volk ſich geſehnt hat, find
vortrefflich und tief fittlich gefühlt. Auch dem poetifchen Wanders⸗
mann und Bebuinen=Öenremaler Zreiligrath fagt Herwegh in
bem Sonett XXX. gut und einfach, wie fein Herz gern im Lande
bleibt und fich reblich nährt. Es ift wirklich ganz ein Zeichen ver
Zeit, daß die Kunft, weil in der Heimath alle poetiſchen Formen
verſchwunden find, genöthigt ift, auszuwandern und bie leßten
Reſte von Naturzuftänden in der Fremde zu fuchen. Die bildende
Kunft hat wirklich Feine andere Wahl, menn fle nicht Stoffe aus
291
der Vergangenheit behandelt, und da fie objectiver Art ift, fo
liegt ihr die Verfuchung nicht eben nahe, in die dargeftellten Bor»
men den Reflex unferer modernen kranken Subfectivität zu legen;
man weiß, wie viel Bedeutendes unter dem DBorgange eines
Horace Bernet und Robert die Genre» Malerei in diefer Richtung
geleiftet hat. Die Lyrif aber Iegt ihrer Natur nach in das Ge⸗
mälde poetifcher Zuftände fremder Völker zugleich das Ich des
Dichters hinein, feine Sehnſucht nah friſchem Naturleben, fei-
nen Ueberdruß an der phantaflelofen Eultur; mit dieſer Sehn⸗
jucht, welche an fich fehr natürlich ift, will nun dad Subject,
dem e3 um den Gegenftand nicht mehr zu thun iſt, ſich intereffant
machen, und Freiligrath, durch und durch reflectirt und declama⸗
torifh, Sreiligrath, bei deſſen Gedichten ich immer das Bild habe,
wie der Dichter vom Schreibtifh aufiteht, fich den Schnurrbart
ftreicht und ſpricht: das Hab’ ich einmal wieder kräftig gefagt, —
diefer fieht am Ende gar in den zufälligen Umriffen einer Wetter-
wolke auf einem Landſchaftsgemälde fein eigenes michtiges Geſicht
und fagt und nun, er fei der ſchreckliche Wettermacher. Dagegen
ift ed nun offenbar ein Zeichen von Gefundheit, wenn der Dichter
fih entſchließt, hübſch ordentlich zu Haufe zu bleiben und feine
Bruft mit den gegenwärtigen, wahren und objectiven Intereſſen
feines Vaterlandes erfüllt. Herwegh ift mit Sreiligrath über ber
Frage, ob der Dichter eine politiihe Tendenz haben ſolle, zuſam⸗
nıengeftoßen. Beſingt der Dichter — und ber Streit ging von
einem folhen Kalle aus — einen Stoff, in welchem feiner Natur
nach politiſche Bragen zu Sprache fommen, fo kann und darf er
fich diefer Betrachtung nicht entziehen. Er fteht freilich „auf einer
höberen Warte, als auf der Zinne der Partei,u allein die Sache
19 *
292
der Freiheit ift nicht Parteiſache, fondern abjolute Sache. Politik
iſt nicht poetifch; geräth man aber einmal an einen politiſchen
Gegenftand, fo ſoll man nicht indolent gegen feine innere Bedeu⸗
tung fein, noch weniger für dad Verkehrte begeiftert, wie Freilig⸗
rath für den Kölner Dombau und was daran hängt. Herwegh
bat Unrecht, wenn er abfichiliche politiiche Tendenz vom Dichter
fordert, Freiligrath hat Unrecht, wenn er meint, daß darum
bie Bruft des Dichter nicht fletig und unabſichtlich von großen
und freien politifhen Gefühlen erfüllt fein müſſe. Uebrigend
vergleiche ich beide fo: Freiligrath Hat — nur Franfhaft gemift
und ohne einen wahren fubftantiellen Mittelpunkt — mehr pe
ſiſches, poetifched Talent, als Herwegh. Herwegh Dagegen bat
ben tieferen, befieren Gehalt, aber dieſer Gehalt tft proſaiſch
Proſaiſch ift hier, ich wieberhole es, an ſich Fein Tadel; Begei⸗
fterung für große politifhe Ideen tft im weiteren Sinne auch poe⸗
tijh, aber wenn man vom fpecififch Poetiſchen redet, fo if ſie
proſaiſch, weil alle Darftellung, die ein bloßes Sollen ausfpridt,
profaifh if. Wir fommen immer wieder an unferem erften Sake
an: wir haben in der Poefte jet nichts ald Politik oder Zer⸗
rijfenheit, ſpreche fle nun philoſophiſch oder mie bei Kreifigratb
maleriſch, und beide taugen nichts.
Wir müflen aber nachfehen, ob unferem Dichter nicht det
au etwas Zerrifjenheit in die Politif eingeflofien if. Seine Be
geifterung trägt einen Charafter der Wahrheit und Energie, jeden
falls weiß er von der weinerlichen Zerriffenheit nichts, doch Taufın
einige Züge von einer, zwar mehr ſtheniſchen, Selbjtbefpiegelun
des Schmerzed und Grimmes mitunter, die ihm nicht bejonven
gut anftehen; denn fo etwas wert gleih Mißtrauen, ob Mm
293
politiiche Dichter auch ein fubflantieller Charakter ſei. Sp ver⸗
fihert und Herwegh, er fei die ſchwarze, ſchwere Wolke, ber
Gott den Donner nur beſchied (An Frau Karoline ©. in Züri);
ihn ſchaudert vor feinen eignen wilden Mufen, abfcheulichen, ver⸗
fteinenden Meduſen (Sonett L); — fo foll er fie entweder ent⸗
laſſen oder nicht mit ihnen vor den Spiegel treten. Uebrigens kann
ich ihm zur Beruhigung jagen, daß mich vor dieſen Mufen im
geringften nicht ſchaudert; — er „wird nun einmal wilder mit den
Sahren, die Leidenfchaft ift fein Eliaswagen« (Sonett XIII.), und
dad Gedicht an den König von Preußen fehließt er mit den bes
fannten Worten: „Und mer, wie ih, mit Gott gegrollt, darf
auch mit einem König grollen. + Dieß Kebtere ift Fein Antiklimar,
wie er meint. Es ift viel leichter, mit Bott, als mit einem König
grollen. Gott ift ein langmüthiger Mann und der einzige Mo⸗
narch, der republikaniſch ift; die Könige laſſen nicht mit ſich
ſpaſſen. Es kann einem ehrlichen Kerl ſchon einmal paffiren, daß
er feinen Groll auf den Weltlauf widerſprechender Weiſe einen
anthropomorphlfch vorgeftellten Bott ald Gegenftand unterichiebt,
aber wenn man Königen grollt, fo ift e8 nicht am Orte, jest
von diefen Weltſchmerzen zu erzählen, da giebt es mit jo beſtimm⸗
ten und reellen Hinderniſſen zu kämpfen, daß man jet Feine Zeit
hat, an ſolche metaphyſiſche Leiden zu denfen, und bie Gegner
nehmen auch Feine Rückſicht darauf, ob ihr Feind Durch einen ſolchen
philoſophiſchen Groß intereffant fei oder nicht. Inzwiſchen wollen
wir ſolche Eitelfeiten, da fie nicht zu Häufig unterlaufen, unferem
Dichter gerne nachſehen und nicht nur einräumen, daß es ihm
mit feiner Begeiſterung Ernft fei, fondern uns deſſen herzlich er-
freuen, daß e8 eine Macht der Zeit und große öffentliche Bewe⸗
294
gung der Gemüther ift, die in ihm ihre Stimme gefunden bat.
Wenige werben feinen Enthufiasmus in der Korn eines abftracten
Idealismus theilen; aber feine Gedichte hätten, fo ſchwach dad
äſthetiſche Urtheil eines großen Theils des Publiftums fein mag,
Doch den Anklang nicht finden Fönnen, ben fie gefunden haben,
wenn nicht ihr Inhalt in den Gemüthern fo ſtark angeklungen
hätte, daß man darüber die Schwächen der Form vergaß.
Wenn es aber an ſich ausgemacht ft, daß die politifche Ve⸗
geifterung als eine Begeifterung für ein Sollen proſaiſch tft, io
Fann fie fih einer conereten poetifchen Darftelungsfähigkeit dennoch
dadurch nähern, daß ein durch Beobachtung reicher, durch Er:
fahrung erfülter Geift die Erſcheinungen einer der Umgeftaltung
bedürftigen Wirklichkeit im Einzelnen ergreift, immer eine be
ftinnmte Geftalt, ein gegebenes ind Auge faßt und fo fein abftrac-
tes Ideal nicht unmittelbar fehen läßt, fondern auf dem imdirecten
Wege der Ironie fatyriih zur Anſchauung bringt. Satyre fl
auch nicht achte Poefle, aber doch poetiſcher ald rhetorifches Pa-
thos, weil fie concreter ift und immer beſtimmte Gegenftände hat.
An Ariftophanes will id) bier gar nicht erinnern, der ein Satv⸗
rifer im Großen ift und doch ganz Dichter bleibt; fein Stoff, ver
erfranfte athenienfifche Staat, war auch im Untergange nod
poetifch genug, um einen großen Genius Stoff zu Satyren zu
geben, welche zugleich über den Boden der Satyre zu einen groß
artigen, wahrhaft tragifchen Sumor fi erheben. Es kann hier
nur von neueren Dichtern die Rede fein und, da die politijce
Satyre im Drama bei und yolizeilich verboten und dem Luſtſpiel
aller höhere Lebenskeim dadurch abgejchnitten ift, nur von Lyri⸗
fern. Hoffmann's von Fallersleben unpolitiihe Gedichte Haben
295
die Kraft der Satyre; ex geht immer von einzelnen beftimmten
Gegenftänden und Fällen aus und erreicht, indem er fie ironiſch
in ihrer DVerkehrtheit aufweist, alle Vortheile einer beißenven
Komik. Herwegh dagegen erfcheint durchaus als ein erfahrungs-
108 enthuflaftifher Jüngling, der nicht Elar weiß, was er will,
in überftürzendem Zorne über alles Beftimmte hinausfährt und
fein Ideal weder pofltiv aufbauen, noch negativ durch Auflöfung
der faulen Flecken in der Wirklichkeit entfalten fann. Er wird
und darum, weil wir ihm hier den abftracten Idealismus ber
Jugend zum Vorwurf machen, nicht unter die Hüter des Ver⸗
gangenen zählen, denen er in dem Gedicht: „die Jungen und bie
Alten“ das Recht der Jugend entgegenhält; e8 giebt doch wohl
au einen männlichen Geift, der jugendlich bleibt. Dieſer jugend⸗
liche Enthuſiasmus Hat auch fein Schönes, nur muß man ihn
nicht, wie geſchehen ift, ald Wahrheit und als achte Poeſie aus⸗
rufen. Herwegh thut kaum ein Baar Schritte, feine Grundidee
in ihre beftimmteren Momente auseinanderzulegen ; er will
Deutichlands Einheit und Würde wienerhergeftellt, die Preſſe ber
freit fehen u. f. w., aber auch dies find noch lauter unbeftimmte
Allgemeinheiten, wo von Poeſie die Rede iſt. E38 finden fich fo
viele ſehr beftimmte und greifliche Uebel im jetzigen Staate, welche
ihm den reichſten Stoff für die Satyre oder meinetwegen auch für
dad Pathos dargeboten hätten, 3. B. die ungeheuren Summen,
welche die ſtehenden Heere verfchlingen, die Neactionen des Adels
u. ſ. w.; da gab es lauter conerete, anfchauliche Figuren aufzu⸗
ftellen, aber Herwegh fliegt immer bodenlos über die Wirklichkeit
weg. Man denke fi ihn nur einen Moment lang in dem Ver⸗
fuche begriffen, eine politiſche Komoͤdie zu dichten, und man wir
296
fogleich einjehen, wie ihm alle Objectivität und Plaftif dazu fehlt:
Kräfte, die zwar die Lyrik nicht in dem Maaße wie das Drama,
aber angebeutet ald Keime dennoch vorausfeßt.
Bleiben wir aber bei dem allgemeinen Ideal ftehen, über
welches Herwegh nicht hinauskommt, fo käme in die unbeflinrmte
Borftellung defielben dadurch menigftens mehr Beitimmtheit, daß
er, fo weit ſolche in rhetoriſch⸗poetiſche Form gefaßt werben kön⸗
nen, die Bedingungen ausſpräche, durch welche er glaubt, daß
es verwirklicht werden könnte. Herwegh's Gebichte find voll von
der Einen Bedingung , die er aufftelt, von den Bildern eines
blutigen Kampfed. Nun weiß man aber noch nicht einmal, was
eigentlich durch einen ſolchen Kampf erreicht werben fol. Zwar
er preißt an mehreren Orten die Republik und demnach follte man
meinen, biefer Kanıpf werde vorzüglich den Herrſchern gelten müſ⸗
fen; allein ein andermal fett er wieder feine Hoffnung auf dieſe
felbft und hieher gehört nun vorzüglid) das Gedicht an den König
von Preußen. Er nennt ihn freilich den legten Yürften, auf den
man baut, allein es ift doch gar zu fanguinifh, die Erfüllung
defien, wonach Deutſchland ſchmachtet, von einem Zürften zu
erwarten, ber bei der Ihronbefteigung feinem Volke zugeſchworen
- bat, daß ihm das fubjective Dafürhalten eined Einzelnen, ber
immer irren kann und deflen unſicheres Urtheil daher das Bolt
durch das collective Urtheil feiner Vertreter berichtigt jehen will,
Garantie fein und die Stelle einer Verfaſſung vertreten jolle.
Warum lobt er, wenn er Fürften Toben will, nicht foldhe, welche
treu ben Verfaſſungsrechten regieren? Wer übrigens ein Repu⸗
blifaner fein will, — und nicht wenige Zeitgenofjen werben gerne
einräumen , daß die MNepubli (wenn ſich nämlich eine zuverläſſi⸗
297
gere und verfläntiger durchgeführte Form berfelben denken läßt,
als die vergängliden, an Siiteneinfalt wmefentlih gebundenen
Natur-Mepublifen des Alterthums und des Mittelalters, zugleich
aber doch eine volksmäßigere, ald die des amerifanifchen Krämer-
vol) die vollfommenfte Staatsform fe — wer ein Republikaner
fein will, muß nicht mit Monarchen Tiebäugeln, nicht genial mit
ihnen thun. Es führt mich dieß auf die befannten Auftritte in
Berlin. Ich wünſche fehr, nicht unter diejenigen gezählt zu wer⸗
den, welche Herwegh vor diefer Gefchichte als Dichter überfchäg-
ten und hätſchelten, um, nachbem er in die königliche Ungnade
gefallen, die Achſel über ihn zu zuden. Ich habe vorher nicht
für ihn gefhwärmt, um ihn nachher im Stich zu laſſen. Es war
eine ſehr verzeihlicde und nach dem Vorgange des genannten Ge-
dichts ſehr begreifliche Eitelkeit, zu meinen, ed warte eine geift-
reihe Scene auf ihn, als ihn der Monarch zu fich befchied. Der
unerfahrene junge Mann ermog nicht, daß er bloß antworten
dürfe, wenn er gefragt werde, daß der andere Theil ſich mit
Bequemlichkeit vorbereiten und eine Scene durchführen könne, bie,
nachher in den Zeitungen verfündigt, ganz zu feinem DBortheil
ausfallen mußte. Verwöhnt und überreizt war er ohnedieß durch
die Schmeicheleien, mit denen man ibm auf feiner Reiſe durch
dad nördliche Deutſchland entgegengefommen war, burch dieſes
Hervorziehen, Beſchmauſen und Betoaftiren in Berlin, — in
Berlin, wo man bald dem Kinde im Mutterleibe einen Spiegel
zuſtecken wird, damit es ja nichts Naives, Feine unbewußte Kraft
mehr gebe und wo es mir immer war, als fei felbft die Schwalbe
in der Luft eigentlih ein Kunftproduct und von Pappendeckel.
Gleich darauf mußte nun Herwegh erfahren, daß die wirklichen
— ——
298
Handlungen des Negenten mit jenem geiftreichen Auftritt in feinem
abfonderlichen Verhältniffe fanden; noch wollte er fich nicht zu⸗
geftehen, daß er enttäufcht fei, er verfuchte noch eine Geiftreichigfeit
in dem bekannten Briefe und mußte nun — was ihm nur heil
fam fein konnte — erfahren, daß es mit großen Herren nit
gut ift Kirſchen eflen. j
Wovon nun alfo Hermegh Tag und Nacht träumt, ift ein
Freiheitöfrieg; er ſieht nur wilde Roſſe ſich bäumen (ſolche vers
langen einen guten Reiter), wiegt fich in eined Streithengſts
Bügeln zur Schlacht, ruft aus, daß von nun an ber Haß heili-
ger fei als vie Liebe, betet zu Gott um ein Trauerfpiel der Freiheit,
möchte ſich eine Ader Öffnen für die Freiheit und verfpricht und,
daß unfere Ketten „im letzten heiligen Kriege“ brechen werden.
Gegen wen fol! num biefer blutige Kampf geführt werden? Das
eine Mal, fcheint ed, gegen äußere Feinde, Franken und Ruſſen;
der König von Preußen ſoll die Deutfchen gegen fle führen.
Führ’ aud den Städten und in's Lager!
Und frage nidıt, wo Feinde find;
Die Teinte kommen mit dem Wind:
Behuͤt' und vor dem Frantenfind
Und vor tem Cjaaren, deinem Schwager!
Man fann aber doch Feinen Krieg vom Zaune reißen; es muß
bo ein Anlaß da fein. Ein andermal geht der Krieg gegen
Tyrannen und Philifter, wie z.B. in dem Gedichte: Aufruf.
Wie fol nun das zufammengehen? Sollen die Deutfchen etwa
gegen den äußeren Beind ziehen und wenn fie ihn beflegt Haben,
die Waffen in der Hand behalten und die innere Freiheit von ihren
Begenten fordern? Nehmen wir, wie e8 auch eigentlich gemeint
fein mag — Herwegh weiß ed ohne Zweifel ſelbſt nicht recht —
. 299
immerhin an, er ſpreche von einer Revolution. Da figt nun
eben der Grundirrtfum eines abftracten Enthufiasmus. Es iſt
der Unſinn aller Demagogie, daß fie handelt, ehe fie fich gefragt
hat, ob der Volkswille für ihre Zwecke reif if. So lange bie
Deutfchen, wie Börne fie definirt, Menſchen bleiben, welche
Hofräthe entweder ſchon find oder werben wollen, fo wird e8,
gefeßt den Fall, daß eine Revolution gelinge, den Tag nachher
fein, wie ven Xag vorher. Die Völker werden regiert, wie
fie es verbienen; erziehe man file von unten herauf zu Men⸗
ſchen, fo werben fie endlich perfünlich werden. Volksbildung
thut und noth; ein guter Schulmeifter wirft mehr für bie
Freiheit, ald Bände Herwegh'ſcher Gedichte. Man muß nicht
chirurgiſch helfen wollen, ehe mediciniſch geholfen iſt. Iſt erft
mediciniſch geholfen und kommt der Tag der Chirurgie, fo tft
Herwegh's Schlachtenmuth am Plage. Die Vergleihung hinkt,
denn bei Gefhwüren und Wunden müſſen beide Zweige der Hell«
kunſt zufammenmirfen, aber im Staatöleben iſt e8 anderd. Völ⸗
fer, die innerlich nicht rein find, befommen nach allen Amputa⸗
tionen nur Rückfälle. Diefer Thatendrang , diefe Luft, drein zu
ſchlagen, diefer Saus und Braus ift nichts, als ftofflofe Jugend»
begeifterung, ein vom Leben noch nicht gebildetes Kraftgefüht.
Herwegh fcheint der Anſicht zu fein, daß die Durchbildung
eined wahrhaft organifchen Staatslebens, worin es nicht zwei,
fondern nur Einen Willen und Eine Vernunft geben Tann, mit
einer Auflöfung der Kirche in den Staat, daß erhöhte politifche
Gefinnungen mit der Befreiung von dem Principe der heterono⸗
mifchen Autorität des Glaubens in engem Zufammenhange flehen;
er erklärt ſich ſtark gegen Pietiften, pietiſche Künftler und Pfaffen,
300
er fordert jogar, daß man die Kreuze aus ber Erde reißen und
Schwerter daraus wachen folle. Das Leptere ift fo gefährlich wohl
nicht gemeint, als es ausſieht; denn Herwegh beſchränkt fich auf
folche haſtige Ausbrüche und äußert fonft feine Empfindungen gern
in der Form des Gebets, ja er zeigt einige Vorliebe für den zor-
nigen altteftamentlichen Gott und verfteht unter den unausſtehlich
piiffigen Sophiften, welche das Gemüth abdanken wollen (Sonett
VI.), ohne Zweifel die Philofophen. Nur gegen die Hierarchiichen
Anmaßungen der aus dem Mittelalter noch fortbeftehenden Form
der chriftlichen Kirche tritt er mit großer Heftigfeit auf in dem
Gerichte „Gegen Rom“. Hier war nun eine Welt von Stoffen
für die Satyre aufgeſchloſſen, hier boten ſich bie beftimmteften
Geftalten und anſchaulichſten Verhältnifie dem beißenden Witze
dar, aber rhetorifch wie immer fhleppt er emen Fluch herbei und
flucht fo in's Unbeflimmte hinein, ſtets bafjelbe wiederholenn,
durch das ganze Gedicht; es gehört unter die ſchlechteſten der
Sammlung. Hutten ift fein Geld (f. das Gedicht: Ufnau und
S. Helena und die Nachahmung von Huttens Lofungdwort: Jacta
alca est), aber Hutten war ein ganz anderer Mann, er mußte
nichts von einer allgemeinen abftracten Begeifterung, fondern er
kampfte in ſehr beſtimnmten Verhältniſſen mit jehr beftimmten
Waffen und vor Allen mit dem jcharfen, ftetd ein beſtimmtes
Dject treffenden Schwerte ber Satyre.
Der Leſer fragt ſich vieleicht jchon lange mit Verwunderung,
ob denn das Kritik fein ſoll, wo immer Flop vom Stoffe unt
gar nit von ber poetischen Form die Rede if. Allein dieß ift
eben die Art dieſer Poeſie, daß fle ganz fteifartig ift und nur
nah dem Stoffe beurtbeilt werden Fann : darin ift aber freilik
301
das äfthetifche Urtheil von felbft miteingefchloffen und ausgeſpro⸗
hen. Diefer abſtracte Gehalt trägt in fich ſelbſt keinen Anfag zum
Uebergang in die Mannigfaltigkeit der Form, man dreht fich ſtets
im SKreife. Herwegh's Gedichte find durchaus tautologiih und
daher nicht wenig ermüdend. Wären fie beffer, fo wären fle
verboten.
Zur Satyre, welche, wie dieß wiederholt gefagt werben
mußte, die einzige Form ift, durch die mehr Anfchein wahrer
Poeſie in diefe tautologifche Rhetorik eintreten könnte, zeigen fich
nur wenige und dürftige Anfprünge; Herwegh hat Feinen Humor
und kann ihn als Pathetifer nicht haben. Der Abfall des Ana⸗
ſtaſius Grün 3. B. mußte nothwendig die Komik herausfordern ;
Herwegh perorirt aber in bitterem Ernſte (Anaſt. Grün ©. 70)
und nur am Schlufle folgt eine, in diefem Zufammenhange dann
höchſt ftörende Eomifhe Wendung. Umgekehrt ift das Gedicht
„Schlechter Troft“ ironifh, hebt ‚aber im lebten Verſe durch
directe Rede die Ironie völlig auf, und es ift unbegreiflih, daß
der Dichter nicht fühlen follte, wie mit feinem uneindlegten Verſe
dad Gedicht fchließen mußte. Der. Gefang der Jungen bei ver
Amneſtirung der Alten hat ebenfalls ironifche Stellen, die zu dem
übrigen Ernfte des Gedicht nicht recht Elingen oder umgefehrt.
Die einzige gute Satyre ift Sonett XXXIV. „Pferbeausfuhr-
verbot#.
Der wahre Lyriker muß ſich als Dichter immer dadurch be»
währen, daß er neben ven ibealeren Formen der Kunftpoefle auch
ächte, volksmäßig empfundene, naive, ſchlechtweg fingbare Lieber
hervorbringt ; fie find nicht fein Höchſtes, aber gewiß nicht vie
legte Probe feines Dichterberufd. Schiller hat kein einziges Lieb
302
gebichtet,, fein Reiterlied, das am meiften lieberartig und gewiß
fein beſtes Iyrifches Product ift, bleibt immer noch zu pathetiſch,
rhetoriſch; Schiller war aber zur Lyrik auch nicht berufen , ſon⸗
dern zun Drama; Goethe bewährte feinen lyriſchen Beruf gleich
vom Anfang an durd) die herrlichften Lieder; Rückert kann gar
fein Lied machen, weil er ganz Reflexionsdichter ift; Breiligrath
keines, weil er als Declamateur mit der Stange neben dem Aus⸗
hängebild feiner Menagerie fteht; Mörike hat die lieblichften Lie⸗
ber und eben deßwegen liest man ihn nicht, denn in jeßiger Zeit
gilt einmal Pathos für Poefle. Herwegh nimmt einige wenige
Anfäge zur Stimmung ded Lieds, und da fühlt man fi aus
feiner fonftigen Weife fogleih ganz wohlthätig herausverſetzt. Ic
rede hier zuerft noch von den Gedichten rein politifhen Inhalts,
die freilich den wahren unbefangenen Liederton nicht zulaſſen; den⸗
noch gehört das Gedicht „Proteſt“ unftreitig darum unter das
Befte der Sammlung, weil es liederartig ift, weil bier die innere
Erhebung wirklich zur muftfalifhen Stimmung, zum Singen
wird, und man fich gern einen munteren Burfchen denkt , ver
dad beim Weinglafe fingt und dabei tüchtig mit der Kauft auf
den Tiſch ſchlägt; kurz es hat Sinnlichkeit und übertrifft daher
das meifte Andere. Eben darum ift auch Herwegh's Rheinwein⸗
lied beſſer als jenes Nheinlied, von deſſen Triumphen man, ohne
für Die Deutfchen zu erröthen, nicht fprechen kann; beſſer, nicht
nur weil es ſich nicht mit Der arnıfeligen Begeifterung einer noth-
fülligen Vertheidigung begnügt, fondern weil e3 als Weinlied
eoncreten Anhalt und Stimmung hat.
Noch näher tritt das eigentlich Poetifche, wenn dieſe Stim-
mung zum Liede fich nicht unmittelbar al3 Stimmung des Dich⸗
303
terd ausfpricht, fondern einer beftimmten Geftalt, einer zweiten
Perfon in den Mund gelegt ift; denn bier beginnt Objectivität.
In ein ſolches Element begibt fich Herwegh mit ein paar Schritten
hinein, fo die Gedichte: Der fterbende Trompeter, Neiterlied.
&3 Tag hier zugleich der Volkston ganz nahe, das zweite hat
wirklich einen Refrain in der Weife des Volkslieds, doch ift hier
viel zu wenig Cigenthümliches und Bedeutendes, auch wirklich
zu Weniges, um dabei zu verweilen. Die objectivften Gattungen
der Lyrik, Ballade und Momanze, darf man bei Herwegh, wie
jih von ſelbſt verfteht, nicht fuchen; aus fi herauszugehen,
eine poetiſche zweite Perfon, eine große Begebenheit felbft ſprechen
zu laffen, liegt diefer ganzen Art von Poeſie ferne, fie ift völlig
direct, gebt immer abfichtlih zu Werke, fällt immer mit ver
Thür in’8 Haus und weiß davon gar nicht, daß der Dichter fich
eigentlich Hinter feine Masken ſteckt. Mehr Verkehr bat fie mit
ver Natur, ald mit einer menſchlichen Geftaltenwelt, vie fi
ſelbſt poetifch erft zu fchaffen Hätte; denn die Natur Yiegt für den
Sentimentalen (Pathos und Sentimentalität gehören zufammen)
fertig da; doch auch die Natur hat für eine Poefle, die in ber
rhetorifchen Gattung noch rhetorifher als rhetoriſch ift, nur ſoviel
Bedeutung, ald fie Symbolik für die ſtets wienerfehrenden Ideen
des Dichterd darbietet. Herwegh gefteht daher (Strophen aus der
Fremde) offen, daß die Naturftimmung, bie er in den Alpen
erwartete, auögeblieben ift, daß er fich in diefer einfanen Welt
nach dem Staub der Straßen und ver tiefften Qual der Menfch-
heit zurüdjehnt, und gerade dieß ift liebenswürdiger und poeti=
jeher, ala wenn ihm die Natur bloß Anlaß geben muß, um feinen
poetifhen Zorn auszulaffen, wie in dem Frühlingslied, das
804
nichts als ein Fluchlied auf Iyrannen iſt, ober in dem Gedichte
Vive la Röpublique,, wo ihm bie glühenden Alpen zuerft ein in
Flammen verfinfended Königshaud vorftellen, dann aber umges
kehrt ald Symbole der politiihen Reinheit, Freiheit, Selbft-
ftändigfelt dienen: zugleich eine vorläufige Aufforderung, zu fras
gen, ob Herwegh in feinen Vergleichungen immer glücklich fei.
Diefe ſymboliſche Art, Gedanke und Bild zu verknüpfen, ift aber
eben fo wenig poetiſch, als alle bloße Symbolik.
Ich fagte oben, daß ein pathetifcher Dichter, da feine eigene
Perſoͤnlichkeit die einzige Objectivität ift, welche für feinen ab»
ftracten Ideengehalt ven Körper abgibt, für dieſe Cintönigfelt
und mwenigftend dadurch entjchädigen müſſe, daß dieſe Perfönlich-
keit doch nicht ganz in dem Einen Pathos aufgehe, ſondern als
menſchlich offen und empfünglich für jedes ihöne Gefühl fich er-
weiſe. Schillers erſte und letzte Reitenichaft war tie Freiheit, in
feinen Tramen wird fie zu Handlung und Schidial, in feinen
Inriichen Gerichten bleibt er allerdings parbetiiher Dichter , aber
wie reich, wie offen für jedes Zarte und Schöne in ber Menſch⸗
beit. wie vielſeitig und menichlich liebenäwürtig it dieſes Gemüth!
In dieſer Aeinen Sammlung jugentlider Nudrufungen , mit ver
wir und bier deſchängen, finten nd nun allerdings einige we
nige Gedichte. worin der Didter einmal fra aufarbmet unb uns
fangen menſlid fühle: fe geberen nertüh sc$ sum Beten
m Verein: Man wertiede mich ndt ſo als mane uh. ve
EStorder lange een nur mon mean area Juemeie an den
Sspfrae ws Sad rider. 2 N a sieben chem.
SMILE ONE NIIT TUN ON orig
zer mern NT NZ N NENNEN ũe dt Im 123 Ser
305
unvermifehter äſthetiſcher Hervorbringung gehöre. Man iſt num
wirklich angenehm überrafeht, wenn man Herwegh einmal ven
liebenswürdigen Leichtfinn eines Beranger (dieſer ift neben Hutten
fein Dann, f. das Gedicht Beranger) nahahmen und in dem
Liebe „Leicht Gepäck“/, in dem Sonett „Die Gefchäftigen“ XXII.
den Ton einer luſtigen Haut anflimmen hört, deren einziges Gold
die Morgenfonne und Silber al’ der Mondſchein if. Ganz ges
müthlich iſt das Sonett XXXVII. „Deutſche und franzöftfche
Dichter“, wo neben dem franzöſiſchen Poeten auf koſtbarem Di⸗
van, in prachtvollem Kaftan u. ſ. f. der deutſche in ſeiinem Man-
ſardenſtübchen erſcheint, umduftet von des Gartens blühendem
Flieder und, indeß die jungen Spatzen vor'm Fenſter als Ehren⸗
garde ſchildern, an ſein deutſches Mädchen Lieder ſchreibt. Auch
die Frauen ſind ihm in ſeinem Pathos nicht ganz gleichgültig ge⸗
worden; nur wenn er die Freiheit darum verkaufen müßte, läßt
er die Liebe laufen (p. 15), ſein Mädchen muß ihn mit der Frei⸗
heit theilen (p. 77). Gelegentlich erſcheint er ſogar als ein arger
Ketzer und Sultan Scheriar in der Liebe (Sonett XLI.), doch
fanmelt er fich ebenfo auch zu ſchöner und tiefer Innigkeit (Sonett.
XL.) und edler Srauenverehrung („An Brau Karoline ©. in
Zürihe). Mit ebenfo ernſtem Sinne beklagt er das Verſchwinden
der Freundfchaft in unfern Tagen (Sonett XXVIL). Unter ven
Sonetten befonders find einige, wo fi unbefangen und nicht
verbrannt von dem Einen politiſchen Pathos eine edle, rein menſch⸗
liche Gefühlöwelt auffchließt und, wo wir den Dichter fo weich,
fo im befferen Sinne fentimental finden, daß wir den Dann des
Grimmes und Fluches kaum wieber in ihm erfennen. Die Sen-
timentalität hat auch ihre Zeit und ift ſchön, wo fie nicht die
Kritiſche Gänge IL 20
306
ganze Poefie fein will; daher liest man Sonette wie XVIII., mo
der Tod als ein Freund gepriefen wird, der bie Menfchen wie
Kinder liebend an dad AN zurüdgibt, wie XIX., wo der fromme
file Friedhof den hoben Alpen vorgezogen wird, nicht ungern,
und Sonett XV. gibt und einen erhabenen Bi in den unbeweg⸗
ten, hinter allen einzelnen Wellenfchlägen verborgenen , heiligen
Srund der Dichterfeele.. Auch Sonett XVI. ift ſchoͤn und tief
empfunden : der Strom, der, fo weit er ſchweift, nie vergißt:
nich muß zum Oceane“, fol der Meenfchenfeele eine hohe Lehre
geben. Hier muß ich noch das ſchöne Gedicht „Strophen aus ber
Fremde“ IL hervorheben, worin der Dichter fi fehnt, hinzu⸗
gehen wie dad Abendroth und wie der Tag in feinen legten Glu⸗
then ſich janft in den Schooß des Ewigen zu verbluten, binzu=
gehen wie der heitre Stern, fo ftille und fo fehmerzlos in bes
Himmels blaue Tiefen zu finken, hinzugeben wie der Blume Duft,
der freudig fih dem fchönen Kelch entringt und ald Weihrauch
auf des Herren Altar fehwingt, binzugehen wie der Thau im
Thal — „o wollte Gott, wie ihn der Sonnenftrahl, auch meine
Iebensmübe Seele trinfen“ — hinzugeben, wie der bange Ton
aus den Saiten einer Harfe, der, kaum dem irdifchen Metall
entfloh'n, ein Wohllaut in des Schöpferd Bruft erflinget ; dann
folgt der Schluß :
Du wirft nicht hingehn wie dad Abendroth, >
Du wirft nicht flille wie der Stern verfinten,
Du ſtirbſt nicht einer Blume leichten Tod,
Kein Morgenftran! wird deine Seele trinten.
Wohl wirft du Hingehn, hingehn ohne pur,
Doch wird dad Elend deine Siraft erft ſchwaͤchen,
Sanft ſtirbt ed einzig fih in der Natur,
Dad arme Menichenherz nıuß ſtuͤckweis brechen.
307
Ich ſchließe gerne die materielle Betrachtung diefer Gedichte
mit dem Lobe eines fo reinen, zarten Klanges. Hier iſt nicht
gemachte Empfindſamkeit, nicht eitle Selbftbefhiegelung in fünfts
lihen Schmerzen, bier tft wahres Menfchengefühl, Gefühl des
Schickſals.
Leider iſt aus dem ewigen Ringe, worin das Pathos Her⸗
wegh's ſich dreht, nur ſelten ein Seitenſchritt auf eine ſolche grüne
Stelle vergönnt. Iſt nun dieſe politiſche Leidenſchaft aus Grün⸗
den, die ich mehr als einmal hervorgehoben und gegen Mißver⸗
ftändnig geſchützt habe, an ſich unpoetiſch und läßt fie dasjenige
gar nicht zu, was im tieferen Sinne Form heißt, objective Ver⸗
föryerung nämlich, mannigfaltige Geftaltenmwelt und Naivetät ver
Grunditimmung, jened ahnende Helldunkel, worin alle Poefie
geboren wird, fo muß dieſer Mangel durch um fo größeren Glanz
des äußerlich beigegebenen Schmucks verdeckt werben. ine Poeſie
wie biefe bewegt fich eigentlich nur in den beiden Äußerfien Enden
der dichteriſchen Darftelung: floffartiger Gehalt und Außere Form.
Die eigentliche Mitte, dad poetifhe Fleiſch, fehlt; fo muß bie
Haut um fo fhöner fein. Solche Außerlihe Mittel, ven abftrac=
ten Stoff zu fihmüden, find, um das zuerft zu neımen, was
noch mehr zum Inhalte gehört, treffenve epigrammatiiche Wen⸗
dungen und fogenannte ſchöne Gedanken, fodann, fon mehr
gegen das bloß Formelle Hin, Reichthum an Vergleichungen,
und endlich flüffige, correcte, Eunftreihe Technik.
Auf den Effect einzelner guter Gedanken, epigranmatifcher
Schlußwendungen, pifanter Nefraind arbeitet Herwegh überall
mit großer Vorliebe hin und drudt fie gerne groß, wie z. 2.
„Priejter nur wird's fürder geben und Fein Late mehr auf Erden
20 *
308
fein“ (in dem Gedichte Zuruf) oder — wheiliger wird unfer Haß
als unfre Liebe werden“ u. vergl. Herwegh iſt glücklich in folchen
Wendungen und hat damit bei der großen Zahl derjenigen, welche
nicht zu wiſſen feinen, daß die Zeit vorbei ift, wo man um ein=
zeiner Stellen und gut gefagter Säße willen jemand für einen
Dichter hielt, großes Geräuſch erregt. Das Sinftreben nad
ſolchen Einzelwirfungen ift aber gerade dad Geſtändniß, daß der
Kern einer folchen Poefte nicht poetifch if. Es find Acte der Me-
flexion, nicht der Phantafle. Soll aber einmal der Ideen-Vor⸗
rath und die Summe glänzender Gedanfen den Werth eines Dich⸗
ters beftimmen, fo dürfte man billig fordern, daß Herwegh
reicher daran ſei und halt man ihn neben die Gedankenfülle Schil-
lers, fo verſchwindet er in nichts.
Aeußerſt freigebig ift Hermegh mit Bildern und Vergleihungen;
er häuft fie wie der Orientale, der im Gefühle, daß feiner Poefle
bie innere Plaftik fehlt, fie un fo glänzender mit folchen einzelnen
Edelſteinen umhängt. Herwegh fagt immer dafjelbe, nur mit
andern Wendungen, neuen Bildern, man rüdt nicht vom Flecke,
es dreht fih nur eine Scheibe von DVergleihungen um den auf
einen Punkt gebannten Zufchauer. Manche Gedichte find wirklich
nichts als Bilderreihen ohne allen Fortgang des Gedanfend. So
das „Frühlingslied,“ wo an allen Erſcheinungen des Frühlings
herumgegangen wird, um ſie dem Tyrannen zum Fluch zu deu⸗
ten. Als näheres Beiſpiel will ich nur zwei Verſe aus dem Ge⸗
dichte an Frau Karoline S. in Zürich herſetzen.
Gleichwie am ſtillen Abend ſchmettert
Durch heitre Luft Trompetenklang,
Gleichwie's um Roſenbuͤſche wetrert
Ein bluͤhendes Geſtad entlang,
309
Gleichwie zum Sturme ruft die Gloͤke,
Indeß noch Beter am Altar,
Wie neben eined Kindes Lode
Ein graued, ernfied Greiſenhaar, — —
So tönt zu meinem ftlllen Volke
Mein zürnend, freiheitheifchend Lied;
Ich bin die ſchwere, ſchwarze Wolke,
Der Gott den Donner nur beſchied;
Sc bin kein froher, freud’ger Buhle,
Deß Wappen Roſe und Pokal,
Ich fin’ ald Geiſt auf Banto’s Stuhle
. Bei jedem frechen Koͤnigsmahl.
Das letzte Bild ift glücklich, wie die Mehrzahl von Herwegh's
Bildern, aber hat man bei diefer lang aufgefaßten Schnur von
Bergleihungen nit den Eindruck, daß der Dichter die Perlen
erſt zuſammenſuchen, daß er fih befinnen mußte: was kann ich
da noch fagen, welches Bild noch aufbieten? Sehr flörend wird
dieß Haſchen nach Vergleihungen, wenn geradezu mitten im Pa⸗
thos ein Bild eintritt, das, offenbar fünftlich aufgefunden, allen
Eindruck unmittelbaren Erguſſes aufhebt.
So lautet der Anfang des Gedichte „Gebet:«
Braufe Gott mit Sturmedodem
Durd) die fürdhterliche Stille,
Gieb ein Trauerfpiel der Freiheit
—Eür ter Stlaverei Idylle u. f w. |
Mitten in diefem Aufihwung find die Bilder: Trauerfpiel,
Idylle viel zu gelehrt. Manchmal find diefe Vergleichungen höchſt
geiucht, bis zum Unverſtändlichen. So wird 3.8. Jeder Folgen-
des ein paar mal leſen mäflen, bis er es faßt (An die deutſchen
Dichter):
310
Es bat tem Vogel in dem Ref
Der Himmel nie gewantt,
Er duͤnkt den Mächtigen nur feſt,
Se lang der Thron nicht ſchwankt.
Geſucht und doch matt find die bildlichen Gegenjäge (in vem
Gedichte, Gebet):
Nur vernichten kann der Krieg und,
Solch ein Frieden wird und würgen!
In dem wilden Kampfgewühle
Mag ed wohl ihr werden heiß,
Aber iraudhein muß die Freiheit
Auf des Rufen flarrem E12.
Gezwungen offenbar ift auch dad Bild am Schluffe von
„Schlechter Troft:«
Was Hilft dem Vogel die Sonnennähe,
Den todt ein Adler träge hinan ?
Abgefhmadt mird die Vergleihung in folgender Stelle wei
Gedichts an Beranger:
Es wurde zur erfchütternten Lawine
Des Holden Hauptes leichter Flockenſchnee.
Oft jcheint der Zwang des Verſes unpaflende Vergleichungen
mit fich geführt zu haben, wie in dem Gedichte: Aufruf.
Eure Tannen, eure Eichen —
£abt die grünen Fragezeichen
Deutfcher Freiheit ihr gewahrt?
Uri von Hutten würbe wohl ſchwerlich Deutſchlands Hei:
land beißen, denn das ift doch offenbar den Mund zu voll genom-
men, wenn nicht ein Reim auf Ciland vonnöthen geweſen wär
(Ufnau unt St. Helena II). An andern Orten greift Serwest
ein binkendes Bild auf und hetzt es zu Tote. So erinnert if
R 311
in dent Gedichte „Neujahr“ der gleichgültige Ausdruck: Kette der
Emigfeit an die Ketten der Tyranney, er betet, daß, wie am
Neujahr immer ein Ring zur Kette der Ewigkeit hinzufomme, fo
der Herr von diefer Kette jedes Jahr einen Ning nehmen und den
legten zum Brautring der Freiheit erben laffen möge. So fpielt
die wahre Begeifterung nicht mit Bildern. Auch dahin verläuft
fih Herwegh auf feiner Bilderjagd, daß ihm dafjelbe Ding zu
Vergleihungen im entgegengefegten Sinne dienen muß; ein Bei⸗
jpiel davon ift: Vive la Republique, wo, wie ich ſchon oben
hervorhob, die glühenden Alpen jeßt ein rauchendes Königshaus,
jet ein goldened Freiheitäfiffen u. f. w. find. Nicht immer am
paſſenden Orte refrutirt ſich Herwegh aus der alten Mythologie,
fo 3.8. gerade in dem ebengenannten Gedichte, wo zu dem Volks⸗
liederton: „Daß aus deinem Jungfernfranz man fein Röschen
knicke, Schweizerin hüt' ihn wohl beim Tanz“ das unmittelbar
daneben ftehende „frifh wie Venus aus dem Meer“ durchaus
nicht flimmt. Auch wohl bloß des Reims wegen verzehrt fich in
dem Gedicht an den König von Preußen die deutſche Jugend in
Gluthen eined Meleager, was fih auf Lager und Schwager
reimt. Das Bild paßt auch gar nicht; denn Meleager litt weiter
nicht durch Gluthen, als daß fein Leben erlofh, da das Holz⸗
jheit, an das es gebannt war, verbrannt murbe.
Auch das Wortfpiel liebt Herwegh, ohne eben beſonderes
Glück darin zu haben. Er braucht Witz für feine Gedanken⸗Ar⸗
muth, aber der Wig ift nur ſchön, wo er zwifchen tieferen und
volleren Quellen des Humors reichlich fließt. So will ed nicht
klappen, wenn er über A. Gründ Abfall fagt:
Kein Stern fo ſchoͤn, daß er nicht bald zeritiebe,
Wenn er am Drdendfternenhimmel geht!
312
Befter in dem Gedichte an den Berflorbenen:
.... Und ned vor Sorte: Sternen
Yuf feine Sternchen weist.
Hinkend ift das Wortfriel auf Gutenberg — guter Beig;
man fann eine Statue nicht wohl mit einem Berge vergleichen,
auch die Kunft, die Gutenberg erfunden, läßt durch ihre volubile
Natur dieje Vergleihung nicht wohl zu. Gar zu nahe an den for
genannten ſchlechten Wit flreift dad Wortfpiel (Gegen Nom):
Und feit loyal dort nur Loyola.
Mir fommen allmälig zur äußerften Schaale heraus und wer-
fen jeßt einen Blick auf die techniiche Form dieſer Gerichte. Her⸗
wegh liebt künſtliche Versmaaße; einfache Furzzeilige fagen der
nalven Liederpoefle zu und gelingen ihm felten fo gut, wie in
dem Gedichte an den Verftorbenen; er bedarf ded Schmucks ver:
ſchlungener Formen zu ſehr, um ihn nicht aufzufuchen. Er ent:
widelt auch nicht wenig Kunft darin und fheut nicht, in einer
Strophe dreimal drei Reime miteinander zu kreuzen, wie in vem
Gedicht an den König von Preußen, er liebt die fünftliche Form
bed Sonettö, — das Fleine Bändchen enthält deren 52 — er greift
öfters in die Ghafelen - Form über, indem er die Affonanz = Reime
derfelben ziwifchen andere .aufninnmt. Aber bie Kunft geht in
Künftelet über und Herwegh zahlt dem modernen Rococo dur
gelehrten Reimſchnörkel einen Tribut, der dem Manne fehledt
anfteht, welcher eine allem Naffinement, aller Ueberwürzung
feindlihe Sache verfiht und daher ſolche Freiligrazien und Frei⸗
ligrazereien verachten follte. Man kann dieſe gerollten Papier
jehnigel eiwa gelten laſſen, wo fie ald Parodie des Gegenſtandes
angejehen werben können. Mandſchuh und Handſchuh, Carrara
313
und Niagara mögen ald eine Parodie auf die. Bildungsformen
der in dem Gedichte an ven Verftorbenen angegriffenen Menfchen-
klaſſe noch hingehen, ebenſo Baffo, Taſſo, Semilaffo in Sonett
XIV. Für die Neimbefteleien in dem Gedichte gegen Nom: Tropen
— DMiopen, Cola — Loyola, Sahara — Tara, Zeter —
Peter (dad Letztere kann übrigens ſchlechterdings nicht gereimt wer⸗
den), läßt ſich ebenfalls entſchuldigend fagen, daß in diefen Kröpfen
ber Berninifche Gefhmad und Zopfftnl des reftaurirten Katholis
cismus fich abfpiegeln folle. Aber Herwegh fällt in diefe Manier
auch wo er ernjt und ganz im eigenen Namen fpricht, und dies
fann nicht genug getabelt werben. Beiſpiele: Erkür' ih — Züri.
Hieroglife — Thräne — Wundertiefe — Hippokrene. Stand»
arte — Bonaparte. Kora — Medufen — mora — Bufen —
Pandora. Man möchte ihm in feiner Manier zurufen:
D Tyrannen-Erſchütterer Herweg,
Deine Reime vom Zaune nicht zerr weg!
Herwegh's Reime ſind keineswegs von durchgängiger Rein⸗
heit. Zeter und Peter habe ich eben angeführt; Philiſter und
Prieſter darf nicht gereimt werden, auch fändet und geſchändet
nicht; denn eher dürfen bloß verwandte Vokale mit verwandten,
als entſchiedene Längen mit entſchiedenen Kürzen einen Reim bil⸗
den. Dunkelheiten des Ausdrucks, der Satzverbindung, Härten,
grammatiſche Incorrectheiten haben ſich unter dem Zwang der
künſtlichen Maaße und Reime häufig eingeſchlichen. Von letzteren
"nenne ih:
Dep Lied man fih erfreut (p. 18).
Den Deipot (p. S1).
Den Tyrann (p. 92).
314
Die theilweiſe altdeutſche Orthographie in biefen Gedichten
foll und nicht verführen, und hier in den Streit einzulaflen, ob
es möglich ober räthlich fe, die ganz fehlerhafte neuhochbeutfche
Schreibart auf die alten Gefeße zu reduciren. Fängt man ed aber
an, fo muß man auch Eonfequent fein, was Herwegh keines⸗
wegs if. | |
Spmit meine ih, Herwegh an feinen Plab geftellt zu haben.
Einigen mag es zu ſtrenge pünfen, wenn ich an diefen jugendlichen
Enthuftagmus den Manfftab der Kritif gelegt habe, da es doch
neben der eigentlichen PBoefle, welche vor dem Forum ber reinen
Aeſthetik befteht, folche verwandte untergeordnete Gattungen,
welche durch zeitgemäßes Interefle gefhügt find, auch muß geben
bürfen. Andere dagegen, welche zwifchen Poefie und rhetorifcher
Darftelung ſcharf unterfcheiden und zudem erwägen , daß e8 auch
in der letzteren ungleich höhere und reichere Erſcheinungen giebt,
als die vorliegende, mögen mir vorwerfen, daß ich viel zu weit⸗
läufig geweſen ſei, den Gegenſtand viel zu wichtig genommen
habe. Ich muß den Erſteren ihren Satz zugeben und noch Her⸗
wegh's eigenes wiederholtes Geſtändniß bekräftigend beifügen, daß
er jeden Augenblick bereit wäre, die Leyer mit dem Schwert zu
vertauſchen, daß er ſeine Poeſie im Grunde nur als ein politiſches
Mittel betrachtet wiſſen will; den Anderen räume ich ein, daß er
poetiſch genommen im Grunde unbedeutend iſt. Allein der Gegen⸗
ſtand dieſer Kritik war eigentlich nicht ſowohl Herwegh, als viel⸗
mehr das Beiſallsgeſchrei, womit man ihn aufgenommen bat,
und bie harin zu Tag gefommene Verwerhöfung des ftoffartigen
und äfthetifehen Intereſſes, die Unkenntniß oder Vergeſſenheit
befien, was Achte Poeſie iſt und was nicht, Wohin ift das poetiſche
315
Gefühl gekommen? Nach Eduard Mörike, deſſen poetiſche Kraft
zwar unter den Hemmungen der Zeit ſich nicht glücklich bis zu
ihrem Gipfel entwickelt und kein großes zuſammenhängendes Ganze
hervorgebracht hat, der aber in ſo vielen herrlichen Liedern ganz
und durchaus Dichter iſt, hat Fein Hahn gekraͤht; ſchicken mir
aber einmal einen Pathetiker in die Welt, ſo poſaunt es an allen
Ecken und Enden.
Geſtehen wir aber überhaupt: mit unſerem Dichten iſt es
nichts, es iſt jetzt die Zeit zum Trachten.
316
*
Gedichte eines Febendigen.
Amwelter Band.
Zuͤrich und Winterthur, Verlag bes litterarifhen Comptoirs 1844
Habe ich nicht Recht gehabt? Diefe floffartige Poefie bleikt
abftract rhetoriſch, tautologifeh, Nefrain- und Gedankenſpitzen⸗
jägeriich, bildlos ſubjectiv, in Formen gefünftelt, bis fie faty
rich wird: da iſt auf einmal fefter Boden, Innhalt, Körper,
Körper zwar, der nur eingeführt wird, um vernichtet zu werben,
aber mit den feharfen Mefier der Negation , defien Schneide ben
bellen Metallglanz des Zornes und der Verachtung hat. Herwegh
bat jet dem erften Bande jeiner Gedichte Erfahrungen gemadtt,
der Stachel ift ibm tief in die Bruſt gebrüdt worden; das war
ibm recht geſund. Es wäre igm nur zu wünſchen, daß das Leben
ihn noch ganz zum Manne ſchmiedete und alle Rhetorik, Decke:
mation und übrige Gitelkeit durch viele derbe Mühle vollends aus
ibm berausgebeutelt würde. Denn los iſt er fie noch nicht; er
dat ung ſeine ſcharfen Epigramme in eine wabrbaft geduldermü⸗
dende Zugabe dieſes alten Sauerteigd eingewickelt. Damit man
nun nicht meint. ich wolle mit einen ſelcbhen Urtbeile durchffabren.
obne Gegenreden anzubören. ſo ſei ed mir erlaubt, bier die Ein⸗
wendungen.. Die mir von einem talentvellen Philologen in einem
Briefe aeftele worden ſind. anzufübren unt zu beantwerten. 3
317
nenne feinen Namen nicht, weil Feine Zeit mehr ift, die Erlaub⸗
niß dazu einzuholen. Er fagt: „Sie wollen diefen Gedichten nur
eine rhetoriſche Kraft beimeſſen; aber ich muß dagegen bemerklich
maden, daß, wenn bie wirkliche Rhetorik — ich meine, wie
fie fich in einer begeifternden Nebe Fund gibt — den Zuhörer dad
Blut in die Wangen treibt, die Seele durch die Rückenwirbel
riefeln,, die Fauft fich ballen und nach dem Schwerte faflen läßt,
daß alddann eben Die Nhetorif diefe Erfolge nur dem in diefem
Augenblide herausgefehrten Elemente der Poefle, die in der Rhe⸗
torif Tiegt, verdankt. Denn es ift feine Frage, daß diefe Halb-
funft aus den beiden heterogenen Mitteln der Dialeftif und der
Poeſie in ähnlicher Weife für außerhalb der Kunft liegende Ten-
denzen zufammengefchweißt ift, wie die Baufunft aus ver fidh ſelbſt
genügenden Plaftif einerfeitö und dem Zimmermanns- und Mau⸗
rer- Handwerk andrerfeitd. Aber noch mehr: niemals hat in alten
Tagen ein Dichter geläugnet, belehren zu wollen. Die Dichter
aller Gattungen, mit Ausnahme des einzigen bomerifchen Epos,
fprechen dieß vielmehr felbft als ihr größtes Verdienft an und aus.
Nun bin ic) zwar allerdings der Lieberzeugung , daß fie fi in
biefer Beziehung über ſich ſelbſt getäufcht haben und nie das ge⸗
worden wären, was fte find: Mufter für die Ewigkeit, wenn
fie nicht im Laufe ihrer Poeſteen über der Luft des Schaffens den
auögefprochenen Zweck, ihre Tendenz ſelbſt vergefien Hätten, fo
wie denn bie Liebenswürdigkeit der äſopiſchen Thierfabel entſchie⸗
den aus dem Vergefien der Schlußparänefe und dem naiven Liebes
vollen Verſenken in die ivealifirte Thiermelt, den epiſchen behag-
lichen Ausbau diefer wirflih und in natura rerum vorhandenen
Garicatur der Menfchenwelt zu erklären iſt. Aber dennoch hat auch
318
Di non Snen verworfene palueiſche Sy thee Belle. Dean
nicht das Wollen und das Ueberreden If Ihe Weſen und Iumbalt,
fonbern die Darfkellung der ſchönen Berfänligteit, der
dichtenden Subjects, das fi in feinem Wellen und Wünſchen
in der Breube ber Hoffnung wie in dem Sammer gereihter Wer
zweillung in dem Gedichte explichrt. Indem alſo bie Darftellung
bieſet Wollens und Strebens zur Eharafteriflit einer wirklich vor
Haxbenen, hier natürlich zum Soeal gefäuterten Perſon wind, iu
das blos Gewollte ebenſoſehr ein Eriſtitendes, Fertiges, wie bie
von ben einzelnen Perſonen im Drama ausgeſprochenen Willenß⸗
meinungen, welche oft ihrem naͤchſten und handgreiflichften Iun⸗
Halt nad) ganz und gar lehrhaft erſcheinen. So ſtellt fich bemn
ſelbſt wie polliſche Eyrik Herwegh's, ob fie fih andy ſcheinber
auf die Zukunft richtet, doch als eine Art Epos dar, das von
den Kämpfen zwar feines Achilleus und Hektor fingt, aber von
ber Gimſon⸗ Herakles⸗Arbeit des Dichters, der bald mit Hydern,
bafb mit Löowen, bald mit Philiftern und Füchfen kämpft, unb
der flegen ober flerben wird. Denn dieſe Zukunft iſt ihm eine
Gewißheit, iſt ein in ber Seele des Dichters mit aller Zuverſicht
und Wahrheit zwar anticipirteß, aber, im Gedichte audgefiprochen,
ſchon vollendete® Factum, das mit Würde und Ruhe abſchlie⸗
ßend die mit Recht poftulitte Einheit der Wirklichkeit und der Idee
im Ideal zu Wege bringt. Diefe Zuverfiht iſt num aber ihrer⸗
ſeits eben das Hinreißende und Berauſchende der wahren Lyrik.
Sie überredet nicht, geſchweige denn daß fie überreden wollte;
denn ber Redner, welcher die Tribüne befteigt, hat zur Vorand
ſetung bereits das Dilemma, ben Zweifel feiner Zuhörer:
er widerlegt, er bemonftrirt, er will (icheinbar wenigſtens) wer
|
319
durch Erplication feiner Momente zum Verfland reden und darum
tritt er felbft beſcheiden zweifelhaft auf, höchſtens zum Schluß
reißt auch er Bin, b. h. eben, er fällt aus ber Rhetorik in bie
Poefle. Doch, um Feine petitio principü zu begehen : ich wollte
fagen: wenn der Dichter die Meinungen, bie Herzen ber Zus
börer gewinnt, fo wirkt er nicht überredend, fonbern wie über-
haupt die in die Praris und Wirklichkeit eingenrungene Poeſie (ic
meine den Enthuflasnus) anſteckend; er begeiftert durch feine
Zuverfiht, d. h. durch die plaftifche Unticipation feiner Sieged-
oder Todes-Freude, kaum in anderer Weife, als die Sieben vor
Theben ober die Perfer des Aeſchylos die Athener begeifterten,
von denen er felbft, der greife Marathonichläger, rühmt, daß,
wer fie höre, fih mie das Schlachtroß beim Trompetenfchall
ſtrecke, unb: örs mag rg dvno 6 Beavanevog Ergo ar
darog elvar. Und fo find des Tyrtäos Paränefen (deſſen Sie
nicht erwähnten); und wenn Tyrtäos, er allein ein ganzes Heer,
ein Dichter war, jo ift e8 Herwegh auf. Er hat's gewagt, er
bat der Freiheit eine Gaſſe gebahnt, er hat das Alles als Elares
gerundeted Yactum vor ſich, was er prophezeit und was er —
träumt. 3 fällt ihm gar nicht ein, dieſen ſichern Befitz erft von
feinen Zuhörern erbetteln, fie perfuadiren zu wollen, fonbern er
fingt, wie wir e8 vom Dichter verlangen, heraus, was ihn auf.
dem Herzen liegt, er gebiert, weil die Frucht der Seele reif iſt.
Daß jedermann fi in fein Kindlein verlieben wird, das weiß
er zwar allerdings vorher, aber er gebiert e8 nicht darum, daß
man fi) in es verliebe. Seine Boefte iſt aljo Feine Tendenzpoeſie,
denn eine folche gibt es allerdings gar nicht. Dieb tft das Wich⸗
tigfte, mad mein achtbarer Gegner wider mich anführt; weiterhin
320
beftreitet er die Anmenbbarfeit vefien, was ich über ben Mangel
der nöthigen Ruhe und Unbefangenheit mitten im Drange einer
unzufrienenen Gegenwart gefagt habe, auf einen politifchen Lyri-
fer wie Herwegh. Er gibt zu, daß die vom Fieber der Leidenfchaft
zitternde Hand nicht dichten könne, fondern der Dichtergeift erft
abwarten müfje, bis der erfte Sturm der Empfindung fich gelegt
babe; er macht aber geltend, daß ber begabte Dichter zmifchen
der fortbauernden Flamme der Erregung Momente der Ruhe finde,
wo er fich den Gegenftand feined Verlangens in ver nothmendigen
Veberlegenheit der Objectivität gegenüberzuftellen vermöge. Uebri⸗
gend, fährt er fort, fei es Fein Vorwurf für den begeifterten Ly⸗
rifer, daß feine Empfindung ber Zukunft gelte und fein Lied ein
Lied der Sehnſucht fei; fei ja felbft das Liebeslied nichts Anderes,
al8 ein Lied der Zukunft. Nur müffe der Dichter der Zukunft den
Moment finden; wenn jein Lieb nicht günde, wenn es nicht zum
Schlachtlied werde, fo fei ed um feinen Ruhm gethan. Herwegh
babe fich in feinen Volke getäufcht und feine wahre Aufgabe fei
nun, daß er dieſe Täufchung feines erften poetifhen Frühlings
feloft troniftre, mit der Fackel des Humors beleuchte und fo ein
Subftrat für eine neue männlichere Periopde gewinne. Als einen
wirklichen Ball des Dichters fieht mein Gegner die Berliner Auf
tritte an und fordert, daß er diefen Flecken durd) einen Net ver
Buße auslöfche, feine Verführung durch den Ruhm feiner eigenen
bittern Satyre untermwerfe und fo gereinigt und verfühnt aus bie
jer „Eklipſe ſeines Sonnenglanzes“ hervortrete.
Ich kann die Richtigkeit dieſer Bemerkungen im Allgemeinen
völlig einräumen; es handelt ſich aber um die Anwendung. Was
nun zuerſt den Hauptgedanken dieſer Entgegnungen betrifft, daß
321
nämlich der Dichter darum, weil er in ber Fämpfenden Gegenwart
bie Zufunft anticipire, keineswegs blos rhetoriſch, daß vielmehr
bie poetifche Obfectivität hier in der Darftellung der ſchönen Per
ſönlichkeit zu fuchen fei, welche ohne alle Proſa der Abfichtlichkeit
von felbft, in freiem Drange ihr inneres Bild entfalte, fo habe
ich diefen Begriff bereit3 felbft in meiner Kritik aufgeſtellt, indem
ich ſagte, der Körper zu dem geiſtigen Gehalte, den der Lyriker
feiner Poefte einhauche, ſei im Grunde feine eigene Perſönlichkeit,
er ſelbſt fei die Erſcheinung ber Idee, die in der Welt noch nicht
Daum gewonnen habe, fein Gedanke fei noch Subject. Sol nun
einem beftimmten Lyriker diefer für feine Gattung geltende und
ihn von der entfalteteren Objectivität des Epos und Drama ent»
bindende Grundfaß zu gute kommen, fo verlangen wir billig, daß
die erft gewünſchte Zukunft in feinem Geifte, wenn nicht als voll⸗
endetes Bild daftehe, doch in einzelnen hellen Bildern an ihm
vorüberziehe, welche wenigftens den Keim und Anjab zur plaſti⸗
ſchen Objectivität, wie wir einen folchen auch bei dem Lyriker
allerdings fordern, in ſich enthalten. Diefe „plaftiihe Anticipa⸗
tions nun rühmt mein Gegner von Herwegh, und ich läugne fie
ihm ab. Herwegh bat Feine geftaltende Kraft, er ift bildlos;
reich an einzelnen Bildern ald Mitteln, d. h. an Vergleichungen,
und ganz arm an totaler organifch bildender Kraft. Als Beweis
will ich aus der vorliegenden Sammlung ein Gedicht anführen,
das dem Dichter den günftigften Stoff darbot, die Kraft de
Schauens zu entfalten: bie deutſche Flotte. Ich fihlug es In ber
Hoffnung auf, ein ftattliches Bild einer Fünftigen deutſchen Flotte,
wie fie mit den farbigen Wimpeln der verfchtebenen Staaten ma⸗
jeſtätiſch das Meer durchfurcht, in feiner Pracht: aufgerollt zu ſehen.
Kritifche Gänge Il. 21
322
Meine Hoffnung tauſchte mich; einzelne ſchoͤne Vergleichungen,
groß gedruckte Pointen, Fein Zortrüden, eine bloße Anreihung
von Gedanken, endlich im letzten Verſe heißt ed: ſchon ſchaut
mein Geift das nie Geſchaute — jet kommt es, dachte ich, aber
nein: das Bil, Dad man erwartete, wirb mit den paar Worten
abgethan: ſchon ift die Flotte aufgeſtelit, die unſer Volk erbaute;
dann ſieht der Dichter, er ficht — ſich ſelbſt:
Schon lehn' ich ſelbſt, ein deutfcher Argenaute,
An einem Maft, und kaͤmpfe mit der Laute
on Um's goldne Bließ der Welt.
Nehmen wir die Künftlichkeit der Form hinzu, diefe Garden —
Kokarden — Leoparden, fo haben wir den ganzen Herwegh bei⸗
fammen: ein von ber Idee einer politifchen Zukunft leidenſchaftlich
erregter, aber in feiner Darftellung bildloſer, in feiner Begeiſte⸗
rung burch einen fehr fühlbaren Anflug von Selbfigefälligkeit und
Künftlichkeit getrübter Dichtercharakter. Mein Gegner Hat den
Tyrtäus angeführt; es ift mir lieb, daß er mich an ihn erinnert,
ich hatte ihn in meiner Kritif des erſten Bandes vergeſſen. Zuerſt
muß ich vollkommen einräumen, daß die Poeſie der Alten über⸗
haupt auf eine ungleich lebendigere Weiſe mit dem Leben ver⸗
ſchlungen war, als die moderne, daß es daher keinem Griechen
einfiel, das Schöne von dem Guten zu trennen, und daß die
Dichter, der hohen Zwecklofigkeit ihres eigenen Werkes unbewußt,
eine fittliche Tendenz von demſelben unverholen ausſagen. Der
erſte Theil dieſer Cinräumung muß ſogar geradezu zur Forderung
an alle Poeſie werden. Kein neuerer Dichter iſt groß geworden,
der nicht von dem Pathos ſeiner Zeit ergriffen den Grundgehalt
ſeines Werkes mitten aus der Gegenwart nahm. Goethe zeigt
323
feiner Zeit Dad Spiegelbild ihrer Empfindungsfämpfe , ihrer ſub⸗
jectiven Bildungsmühen, ihres tiefen Kampfes zwiſchen einer
neuen unendlichen Gefühlswelt und der Pfliht. Schiller entfaltet
ber Zeit, melcher die Revolution bevorftand und welche fie er⸗
lebte, eine neue politiihe Zukunft, den Augen, welche Na-
poleon gefeben, führt er Wallenſteins verwandtes Geftirn vor
und fein Tel ift eine große Anticipation der Begeifterung der Be⸗
freiungsfriege. Dieß Alles bleibt aber immer noch unbefangene
objective PBoefte, melche Teine unmittelbare Abfiht hatte , die
Gegenwart zu verändern, objectiv, wie die epijche und drama⸗
tiiche Gattung es fordert und wie es auch bie griechifchen Eifer
und Tragiker troß ihrer didaktiſchen Meinung von ſich waren.
Dagegen greift nun der Lyriker Tyrtäos allerdings unmittelbar
abfichtlich in das bewegte Leben ein und wird dennoch unfterblich.
Dabei ift nur zweierlei nicht zu vergefien: erſtens, daß die Ber
wegung, in bie er eingreift, fehon da ift — ein Krieg, alſo
eine Wirklichkeit, eine Anſchauung, ein Bild; zweitens, daß er
dieß mit plaftifhem Geifte erfaßt und und eine herrlihe An⸗
ſchauung des begeiſterten Kriegers vor Augen ſtellt. „Man ſieht
bei Tyrtäos, ſagt Wilh. Müller, wie mit Augen, den entfchloffenen
SHopliten, wie er, mit weit außdfshreitenden Füßen feſt an die
Erde geftemmt, die Lippe mit den Zähnen preiiend, den großen
Schild den Gefchoffen der Feinde entgegenhält und bie lange Lanze
mit fefter Hand gegen ven nahen Gegner führt.“ Ein folches Les
bensbild des jedem Auge bekannten vaterlänbifchen Kriegers iſt
doch etwas Anderes, als z. B. das Huſarenlied Herwegh's, das
zwar ſehr munter die luſtige behende Art dieſer Waffengattung
an uns vorüberſauſen läßt und mit poetiſcher Keckheit ſchließt:
21*
316
Serihte eines Schembigen 8:
Sgueiter Band.
Bei und Winterthur, Verlag des litterarifchen —2 a
Habe ih nicht Recht gehabt? Diefe ftoffartige woen⸗ dus
abftract rhetoriſch, tautologifh, Refrain und Gedankenſpiten⸗
jaͤgeriſch, bildlos ſubjectiv, in Formen gefünftelt, bis fie feiy
riſch wird: da iſt auf einmal feftler Boden, Innhalt, Körper,
Körper zwar, der nur eingeführt wird, um vernichtet zu werben,
aber mit dem fcharfen Meſſer ver Negation , deſſen Schneide ber
hellen Metallglanz des Zornes und der Beratung hat. Sermegh
bat feit dem erften Bande feiner Gedichte Erfahrungen gemadit,
der Stachel ift ihm tief in die Bruft gebrüdt worden; das wer
ihm recht gefund. Es wäre igm nur zu wünſchen, daß das Lehen
ihn noch ganz zum Manne fehniedete und alle Rhetorik, Deco
mation und übrige Eitelkeit durch dieſe derbe Mühle vollends aus
ihm herausgebeutelt würde. Denn 108 ift er fle noch nicht; er
hat und feine ſcharfen Epigramme in eine wahrhaft gepufdermi
dende Zugabe diefes alten Sauerteigd eingewidelt. Damit mu
nun nicht meint, ih wolle mit einem ſolchen Urtheile vuurchfahren,
ohne Gegenreven anzuhören, fo fei e8 mir erlaubt, hier die Cie
wendungen, bie mir von einem talentvollen Philologen in einen
Briefe geftellt worden find, anzuführen und zu beantworten. 3
317
nenne feinen Namen nicht, weil Eeine Zeit mehr ift, die Erlaub⸗
niß dazu einzuholen. Er jagt: „Sie wollen diefen Gedichten nur
eine vhetorijche Kraft beimeſſen; aber ih muß dagegen bemerflich
machen, daß, wenn bie wirkliche Rhetorik — ich meine, wie
fie fich in einer begeifternden Nede Eund gibt — dem Zuhörer dad
Blut in die Wangen treibt, die Seele durch die Rückenwirbel
riefeln,, die Fauſt fi ballen und nad dem Schwerte fallen Laßt,
daß alddann eben die Nhetorif diefe Erfolge nur dem in diefem
Augenblicke herausgekehrten Elemente der Poefie, vie in der Rhe⸗
torik liegt, verdankt. Denn es ift feine Frage, daß biefe Halb⸗
funft aus den beiden heterogenen Mitteln der Dialektik und der
Poefte in ähnlicher Weife für außerhalb der Kunft liegende Ten⸗
denzen zuſammengeſchweißt ift, wie die Baufunft aus der fich ſelbſt
genügenden Plaſtik einerfeitd und dem Zimmermanns- und Mau-
rer⸗Handwerk andrerfeitd. Uber noch mehr: niemals hat in alten
Tagen ein Dichter geläugnet, belehren zu wollen. Die Dichter
aller Gattungen, mit Ausnahme des einzigen homerifchen Epos,
Sprechen dieß vielmehr felbft als ihr größtes Verdienſt an und aus.
Nun bin id) zwar allerdings der Ueberzeugung, daß fie fich in
biefer Beziehung über fich felbit getäufcht haben und nie das ge⸗
worden wären, was fie find: Muſter für die Ewigfeit, wenn
fie nicht im Laufe ihrer Poefleen über der Luft des Schaffens den
ausgeſprochenen Zweck, ihre Tendenz felbft vergeffen hätten, fo
wie denn bie Liebendwürbigfeit der äſopiſchen Thierfabel entſchie⸗
den aus dem Vergeſſen der Schlußparänefe und dem naiven Tiebe-
vollen Verſenken in die idealiſtrte Thierwelt, den epifchen behag-
lichen Ausbau diefer wirflih und in natura rerum vorhandenen
Garicatur der Menſchenwelt zu erklären tft. Aber dennoch) hat auch
326
Dann u. A. das Gedicht auf Hamburgs Brand. Da gab es
Fener, da läßt fih alfo das Sprüchlein anbringen: bewahrt das
Feuer und das Licht. Herwegh meint es natürlidy fo, daß man
das Feuer und Licht forgfältig yflegen folle, weil e8 bier eine
fo edle Wirkung hatte, daß es durch feine Berheerungen bie
Sympathie des Vaterlandes hervorrief; der Nachtwächter meint
aber, man folle ed wohl hüten, daß e8 Fein Unglück anrichte,
und ich meine, der ſchlichte Nachtwächter fet klüger und poetifcher,
als diefe hinkende und verzwickte negative Behandlung einer ſehr
ernften, wirklichen Begebenheit. Herwegh bezieht fi) auf alles
Reale rein negativ; in der fentimentalen Stimmung wird biefe
Beziehung oft zum Ausdrude eined ſchönen Schmerzed. Sp ges
hört unter die reinen und fehönen Klänge feiner Sammlung das
Lied: „Im Frühjahr.“ Mit einigen wahrhaft edlen Bildern giebt
der Dichter ein Gemälde des Frühlings und ſchließt dann:
Duft und Klang und Mogelflug ,
Balſam, 100 die Blicke weiten,
Und doch Alles nicht genug,
Um ein Eranfed Volk zu heilen.
Liebenswürbig erfeheint ferner Herwegh's Begeifterung auf
in dieſer zweiten Sammlung am meiften da, wo er fein gemüth-
volles deutſches Volk dem franzöftfchen Treiben entgegenfeßt. Zwar
billig zürnt er feinem Volke, einen Roffe, das einfhläft, menn
nicht der Fremdling ihm die Sporen bald wieder in die Flanken -
fegt (Pour le mérite. p. 74); er erzählt feinen Deutfchen eine
nur allzuwahre BVifion, wie fle das jüngfte Gericht ſelbſt ver-
ſchlafen (90); minder glücklich ift die Barabel (80) von dem ge
morbeten Hahn: ber Vergleihungspunft trifft nicht ganz, denn
2
327
wenn bie Folge der Schlachtung des Hahns die wäre, daß uns
dann die Breiheit noch früher weckte, fo wäre Dies ja fo übel gar
nit; ein grimmiges Wiegenlied ferner fingt er feinem Volke,
worin die zwei meflerfharfen Verſe:
Und ob man dir Alled verböte,
Doc) gräme dich nicht zu fehr,
Du Haft ja Schiller (- kein fo unfchädlicher Beſitz! —) und Goͤthe:
Schlafe, wad willſt du mehr?
Dein König befchügt die Kameele,
Und macht fie penfionär,
Dreihundert Thaler die Seele.
Schlafe, was willſt du mehr?
So bitter er aber in feinen Zorne höhnt, er gehört nicht zu
ben Meberläufern, welche im Lärm von Paris fih gefallen, ihr
Vaterland zu verrathen, er ift bitter enttäufcht, er Fam durflig
ber und kehrt ohne Trunk zurüd (15), er möchte in dieſer Stadt
nicht fterben, die auf den Gräbern Hochzeit macht, und rührend
ruft er aus (17):
Welch Gluͤck, daß ine In dem Gettie °
Mein deutfched Spinnrab nicht vermißt,
Das ihr nicht ahnt, was deutſche Liebe,
Nicht ahnt, was beutfche Freiheit If.
Er hat in der Weite feines Weltfinnes glücklich den ſchönen
Sinn der warmbefchloffenen Enge bewahrt; auch aus dem Ge⸗
dichte: Heimweh (40) fpricht, in bereiitigter Sentimentalität,
biefer herzliche Zug. In ſolchen Tönen vergift man das Eitie
und Selbftgefällige, wovon man Herwegh nicht freifprecden Tann,
und was z. B. auch in dem Liede: Aus den Bergen (47) nad
-
328.
meinem Gefühle ſehr merkbar if. Gier hat z. B. ber Vers bes
fangen: J
o mit unbezaͤtzuter Ruf
2 Ob dem letzten Hätten
Duͤrre Felſen aud der Bruſft
Ewige Stroͤme ſchuͤtten;
Wo In ungezuͤgeltem Lauf
Noch die Waſſer toſen,
Lad ih meine Waaren auf:
Wilde, wilde Roſen!
Der Vers hat pathetiſche Kraft, aber biefes Selbſtbeſchauen,
biefes fich Intereſſantſein macht mich immer mißtraniſch; ich denke
immer, wer in einer fo ernflen Sache noch viel Zeit übrig Hat,
in ben Spiegel zu fehen, ift nicht gefährlih. Es giebt ein erlaub⸗
tes, ſchoͤnes Selbſtgefühl auch in der uneigennüpigften Leiden»
ſchaft, es fol und muß eines geben, aber biefe Neigung zu Mo⸗
nologen und biefes fich Zufehen in ben Monologen iſt etwas
Anderes. Es hängt dies freilich mit der Innern Abſtractheit Diefer
Art von Poeſie nothwendig zufammen. Herwegh nimmt in biefer
Sammlung (won dem fatyrifhen Theile reden wir noch nicht)
zwar einige Anſäatze zu einem fächlichen Eingehen; aber er bringt
es zu feiner Beſtimmtheit, Feiner Wirklichkeit. So iſt das Ges
bit! Jordan (21) fließend, aber trivlal. Won der beſtimmteren
Urt iſt auch das Heibenlied (68). Es war wohl der Mühe werth,
zu zeigen „ wie bie griechiſche Neligion und darin noch viel zu
lernen giebt, daß in ihr Feine falſche Tranfcendenz war, daß ber
fittliche und politifche Menſch bei feinen Göttern fich wieder ans
traf. Das Chriftenthum iſt weit mehr eine Religion des Todes
als des Lebens, des Leidens als des Handelns; gegründet in
N
329
einer fehmerzreihen unb brangfalvollen Zeit in einem gebrüdten
Volke enthält es für den Menſchen als Bürger und Öffentliche
Perfon überhaupt nur negative Gedanken; es ift von der Andacht.
zu den hriftlichen Gott nur ein indirecter Uebergang zum Leben.
Es giebt für einen Dichter mandherlei Schönes hierüber zu fügen...
Herwegh hat diefen Punkt des Zufammenhangs zwifchen Religion
und Leben menig berührt. Wie intereffant ift es z. B. zu unterfuchen,
wie genau auf derfelben Logik der Theiſmus und die abſolute
Monarchie beruhen, wie viel Witziges und Pathetifches läßt ſich
hierüber fagen! Herwegh hat in bem genannten Liebe fein Thema,
etwas luftig genommen, frivol gewiß für bie Gefühlsweiſe der
Meiften, doch find wir nicht gemeint, Teinen Spaß daran zu haben,
wenn eine fonft zwar unreife, aber ehrenwerthe Begeifterung
einmal die Unbuldfamen durch die Maske der Frivolität Ärgert.
Was aber unferem Dichter einfiel, als er im Aufbau des Doms.
von Köln ein Sinnbild der deutſchen Einheit und Größe erblidte
(die drei Zeichen 18), wie er verfennen konnte, daß das nichts, :
als eine der Allerhöchften Orts approbirten Phrafen tft, wodurch
bie jeige Bewegung der Geifter in Deutſchland klüglich acceptirt
und über fich ſelbſt hinausgefchmeichelt wird, — das begreift man
nur, wenn man fich überhaupt überzeugt bat, wie wenig ruhige:
Einfiht und Befonnenbeit in diefem Enthuflasmus if. Ih muß
ed, fo auffallend es fheinen mag, auch bier wieberhofen, daß
eine ſolche Subjfectivität, welche bei aller leidenſchaftlichen Bes,
ziehung auf's Leben und die Wirktichkeit doch eigentlich noch im
Leeren und Unbeſtimmten vermeilt, gerade da am meiften ber
ächten Poeſie ſich nähert, mo fle ihre praftifchen Ideen einmal,
ganz in bie Schanze ſchlägt unb ſich in rein menſchlicher Em⸗
-
z
330
ler gwecke tm freien Jugendgenuß hingiebt, wie in dem luſtigen,
gang ſingbaren Chanwagnerlied (11).
- Rum habe ich aber von dem bedeutendſten Theile dieſer Samum⸗
Img abſichtlich noch gar nicht geſprochen. Ich meine den ſaty⸗
riſchen und komme hiemit auf den Anfang dieſer Bemerkungen
zurũck Serwegh hat eine Erfahrung ſehr bitterer Art gemadit;
nicht ohne Schuld, und gerade deßwegen um fo bitterer. Die
Biiterkelt hat ihm bie kurze fcharfe Klinge der Satyre in bie Sand
gegeben, und wie er num unter bie Naturen gehört, welche im
Zorn poetiſch werben, tim Zorn gegen beftimmie Perfonen, Ber
bäknifie, fo Hat er fich eberi in vas Gebiet geworfen, welches ich
ſchon in der Kritik der erſten Sanimlung als basienige angeb,
worin biefe pathetifhe volltiſche Dichtung allein: dem concreten
Charakter wahrer Woefte fi nähern kann; nähern, — dem
Achte, freie Voeſie :ift auch dies noch nicht, aber es iſt Koörper,
obwohl negativ behandelter Körper, es iſt Beſtimmtheit und In⸗
halt da. Nicht directes, negatives Pathos iſt Satyre; die ächte
Satyre iſt Ironie, fie läßt ihren Gegenſtand ſcheinbar gelten und
vernichtet ihn, indem fle ihm werben läßt. Das Gedicht am
Schluſſe: „Auch dies gehört dem König,“ hat außer der wigigen
Bitterfeit der Ueberſchrift gar Feinen poetifchen Werth. Herwegh
ſucht im Eingange bie Blindheit, womit er fih fangen ließ, durch
eine verzeihlihe Täuſchung zu entichuldigen. Allein wer, ber
wahre, männliche politiſche Geftnnung hat, Tonnte ſich dieſer
Taͤuſchung Hingeben! Konnte von dieſer Perfönlichkeit das Heil
erwarten! Wer auch nur einen Augenblick! Um fo voller nimmt
er nun den Mund im Zorue; er mag es machen, fo arg er will,
——
331
mir thuts nicht leid für den Gegenſtand, ober ja, es thut mir
leid, aber in einem andern Sinne, ald Gegner meinen werden;
diefe Art von Zorn, von Declamation in Tergimen wirft nicht,
beißt nicht, fudkt nicht, Hier will es die unendliche, die vernich⸗
tende Kraft der Lächerlichkeit. An einzelnen, guten Wendungen,
ſchönen Stellen fehlt es nicht, wie:
Kommen muß er jetzt, der Tag, auf Erden,
Der freie Männer fcheidet von Koſaken.
ober die finnvolle Schlußterzine; aber biefes directe Pathos iſt
und bleibt bei einem folchen Gegenftande ohne wahre Kraft. Zwei
Gedichte von einer grimmigen Obfectivität gehen biefem Schluß⸗
gedichte der Sammlung voraus: Vom armen Jakob und von der
Franken Life. Ich nenne fie gerade in diefem Zuſammenhang um
bes Ießteren willen. Es dreht dem Lefer das Herz im Leibe herum;
aber e8 ift einmal nicht Sache der Poeſie, fo unverjühnt gräß⸗
liche Wirkungen eines peinlichen Sarkasmus hervorzubringen. Es
ift ganz gut, ganz recht, die furchtbaren Uebel der Gefellfchaft,
die Jammerfcenen des Pauperismus fo ſchonungslos ald nur
immer möglich aufzudecken und mit allen Meſſern, welche der
Gewalt der Nede zu Gebote ftehen, in den Gemüthern zu wühlen;
aber nicht das Geſchäft der Poefle iſt dies, ſondern der Beredt⸗
famfeit auf dem befannten Grenzgebiete zwifchen Poefte und Profa.
Sol die Poeſie diefen Stoff je übernehmen, fo kann dies nur
Sache der objectiveren Gattungen fein, welche durch Ihre um⸗
faffendere Natur einen herben pathologifchen Eindrud im Verlaufe
fortgehender Handlung in einen reineren und verfühnteren aufzu«
löſen vermögen. Eugen Sue bat fi in feinen vielbeſprochenen
Mysteres de Paris bie Aufgabe gefegt, die Uebel unferer mober«
332
nen Sefellfchaft in ihren Höhen und Ziefen fo graufam wie immer-
möglich aufzudecken. Nicht dies ift die poetifhe Schwäche feines
Romans; im Gegentheil wohlthuend, ſtark, wahr und groß iſt
dieſes intereſſante Werk gerade durch dieſe haarſcharfe Schneide
der Wirklichkeit; nur geſund kann dieſe bittere Lebenskoſt unſeren
durch Romantik verweichlichten Gemüthern ſein. Belgier und Fran⸗
zoſen find und wie in der Malerei, fo in ber Poeſie hierin voraus⸗
geeilt, daß fie dieſen packenden, fehüttelnden Geiſt der Realität in ihre
Kunſt aufzunehmen verftanden; und haben fie den unfruchtbaren
Idealismus gelaffen. Aber das ift der große Fehler des Eugen
Sue, daß er, indem er doch die Anſprüche des Dichters macht,
babei ein rein pädagogiſches, paränetifches Bewußtſein Hat, von
feinem yathologifhen Stoffe, ftatt ihn in rein poetifhe Form zu
verarbeiten, zu direeten Ermahnungen, Vorfchlägen u. f. f. über:
geht und fo aus der Poefle ganz herausfültt. Es verfteht fich,
bap nicht bloß dieſe Parabafen dad Profaifche an feinen Werke
find, fondern daß, abgefehen von diefen Beftandtheilen, vie Bes
handlung zu ſchwer, materiell und abftract bleibt, weil er feine
Aufgabe, die Aufgabe der poetifchen Verklärung dieſes erden⸗
ſchweren Stoffes nicht kennt, fondern nur inftinftmäßig in vers
eingelten, wirklich hochſchönen Stellen erfüllt. Ganz ohne innere
Einheit läuft neben dieſer profaifhen Zweckmäßigkeit dann bie
Eitelfeit des Dichterd her, der fo Teidenfchaftlih mie inner ein
Franzoſe nach poetiihen Effecten, Rührungen, pikanten Con»
traften haſcht. Man verzeiht ihm aber diefe und hundert andere
Enden gegen bie Grundgefege der Kunſt, jelbft den groben Miß⸗
griff, in Walter Scott? Art beichreibend zu malen, ſelbſt bie
Abſtractheit feiner Charactere gerne. Freilich leidet dieſes Werk,
333
auch abgefehen von allen Afthetifchen Forberungen, noch an einem
Grundmangel des Inhalts; in dieſem Roman, deſſen innerſter
Geiſt kommuniſtiſch iſt, waltet die gleich austheilende Gerechtigkeit
in der zufälligen Form eines Monarchen, der das Elend in ſeinen
Höhlen aufſucht, die Armen beglückt, die Verbrecher beſtraft.
Sue will andere, gerechtere Geſetze, und In feinem ganzen Ro⸗
man dreht fich alles um eine Gerechtigkeit aus gefeglofer,, ſubjec⸗
tiver Willkühr! Welche Verbindung republifanifcher und legiti⸗
miftifcher Geſinnungen! Doch auch durch diefen Widerſpruch wird
die erſchütternde, zeitgemäß brennend wirkende Kraft des Werkes
nicht aufgehoben. Wir können jet Feine ganze Poefle haben, fo
wünſchen wir ung Glück, ſolche tief in's Fleiſch gehende Schnitte
auf einem zwiſchen Profa und Poefle ſchwankenden Gebiete zu
erleben.
Anders ift e8 aber in der lyriſchen Gattung; fällt ein Inrifches
Gedicht durch einen nicht aufgelöften peinlihen Effect aus der
Poefte heraus, fo findet ed dafür Fein Unterfommen in jener
Mittelgattung, welche dem Roman, der ohnebies profaifche Bes
ftandtheile in fich aufzunehmen geneigt iſt, eine noch immer ehren⸗
werthe Stelle verbürgt. Es fol ein kleines, aber doch ein poe=
tifches Ganzes für fih fein; unter vielen anderh, bie in ihren
Gefammtheit wieder ein größered Ganzes, eine verfühnte dich⸗
terifche Perfönlichkeit, varftellen, mag es jeine Stelle finden;
aber eine ſolche Perfünlichkeit, eine runde, ganze, fielen Her⸗
wegh's Gedichte in ihrer Monotonie nicht dar. Ungleich fehöner iſt
daß erfte der genannten zwei Gebidhte: der arme Jakob (173),
- und zwar gerade dadurch, daß ed, obgleih auch im bitteren
Gefühle über die ungleiche Austheilung bed Beflged in unſerer
334
Geſellſchaft gedichtet, doch milder, wehmüthiger in. Man tel
dem vergeſſenen Armen, ber im dürftigen Sarge hinausgefũhrt
wird, den Bettelſtab als Ehrendegen auf bie Bahre legen.
Die Heller, die man in den Sand
Zum warf aud ſchimmernden Karoſſen,
Eind Alled, wad von Baterland
Der arme Mann genoſſen.
Inſt die von Himmel ihm geprahlt,
Sah'n diefe Erde zwiefach germe.
' So wird die Schuld an’d Volk bezahlt
Mit Wecfeln auf die Sterne,
Und der Schluß:
Schlaf wohl in deinem Sarkophag,
Drin fie dich ohne Hemd begraben:
Es wird kein Für am jüngften Tag
Moch reine Wäfche haben.
Wo es Einem nun aber wirklich wohl und luſtig um die Seele
wird, das find die rein fatyrijchen Gedichte dieſer Sammlung, d. h.
biefenigen, worin eine ihrem Begriff wiverfprechende Wirklichkeit
durch fich ſelbſt in ihrem Widerſpruch aufgezeigt und in das Licht
ber Lächerlichkeit gerüdt wirb: einer beißenden zwar, nicht jener
freien, welche felbft den Unwillen über die Unangemeſſenheit des
Gegenftandes und feiner Idee vergipt und in dem Gefühle ver
nothwendigen Vermiſchung ded Vollkommenen mit dem Unvollkom⸗
menen behaglich ſich ergeht; aber auch die Lächerlichkeit, die einen
ſcharfen Stachel des Unwillens in ſich trägt, iſt verglichen mit
dem Pathos, das ſeinem Gegenſtande abſtract gegenüber ſteht und
gegen ibn eifert, ohne ihn verändern zu können, eine poetiſche Bes
N weil ſie objectiver it, indem fie ben Gegenſtand in jeiner
339,
Beftimmtheit ſelbſt auftreten und durch bie Offenbarung feines
innern Widerſpruchs ſich vernichten läßt. Veſonders glücklich kam
bier dem Dichter einmal eine Reminiſcenz zu Statten. Der Ab⸗
fall des Franz Dingelftebt mußte billig feinen ſatyriſchen Stachel
herausfordern. Hier aber brauchte er gar nichts zu thun, in feis
nem eigenen Namen nichts zu fagen, er durfte nur zwei Gebichte
abdrucken, welche in heiterem Wechfelgefang einft er und Dingelfteht
in Paris verfaßt hatten (Wohlgeboren und Hochwohlgeboren. Bon
zwei beutfchen Dichtern in Paris. 54) und die eigenthünliche
Accommodationsfähigkeit Dingelftebtö hatte fich jelbft beſſer perfi⸗
fürt, ald Hermwegh, wenn er über und gegen fie etwas fagte, e8
‚je vermocht hätte. Nicht ebenjo ohne fubjertive Zuthat, aber doch
mit einer höchſt glüdlich produzirten Objectivität läßt er zwei an⸗
dere Dichter, die ſich königlichen Solds erfreuen, ſich ſelbſt dar⸗
ſtellen. Herwegh beweist auch hier, daß er nie ſo ſehr Dichter iſt,
als in der Satyre. Geibel und Freiligrath treten auf und be⸗
Iuftigen uns durch ein Höchft ergößliches, auch in der Form, in
dem rafchen, bequemen Eingreifen der Hede und Gegenrede, und dem -
Fluſſe der Verſe höchſt gelungenes Duett. (Duett der Benflonir-
ten 65.) Ind Große, ind Erhabene ſchwingt fih der Geſang
Freiligrath8 mit den Worten:
— Sa, volift dus mich kennen?
3a, ich Hin ed in der That,
- Den Bediente Bruder nennen,
Bin der Eänger Freiligrath.
In der Antwort Geibels auf diefe großen Worte find die wun⸗
derbaren Reime: Narden — Ambra — Barden — Alhambra —
Diego — Riego — Nero — Eſpartero — jo ſchön an ihrem
336
Plage, daß Herwegh fich Billig an biefer Stelle Hätte fragen bür-
fen, ob folche Arabesfen, wenn fie Eomifchen Zwecken fo angemefs
fen dienen, irgend einen Platz in feinen ernften Gedichten finden
durften. Rührend und ſchön fingt dann Geibel u. A.
Dhne dich, den einzig Edeln,
Lernt? ich nie fo trefflich wedeln
und beide fchließen in hohem Einklang:
.... Und verzehren dann in Frieden
Die Penfion der Invaliden. -
Diefe Form ber Satyre ift befonderd glücklich, weil fle drama⸗
tiſch iſt und der Dichter aus dem Eigenen gar nichts Hinzugethan
zu haben ſich die Miene gibt. Anders verhält es fie mit dem
fatyrifchen Epigramme. Der Dichter ergreift eine beftimmte Er⸗
ſcheinung und fihlebt fie mit einem ſchnellen Ruck in ein komiſches
Licht. Dieß bewerkftelligt er Durch die fubjertive Kraft des Wipes,
welche fih zunächſt wilführlich an eine zufällige Beftimmtheit des
Gegenftanded Klang eined Wort u. f. w. halten kann und fih
fogleih als eine aus dem Dichter kommende Zuthat zu erkennen
gibt. Aber der Achte Witz benützt dieſes äußerlih anknüpfende
Spiel nur als Mittel, um bie Sache aus ſich heraus und durch
Aufdeckung ihres wahren Charafterd lächerlih zu machen. %
ſchärfer der Wiß, defto objectiver ift er gerabe durch die Kraft und
Schneide feiner Subjectivität. Herwegh bat dieſen Witz; er hat
diejer Sanımlung eine reihe Zugabe von Xenien beigegeben, worin
er jeinen Beruf zu dieſer Gattung vollkommen bewährt. Hier if
ed nun vorzüglich, wo es ſich beftätigt, daß dieſe Poefte fid in
das Feld der beflimmten, ſtets einen Gegenſtand aus der nächften
Wirklichkeit padenden Satyre begeben mußte, wenn fie nicht endlich
N
337
durch ihr tautologifches ſubjectives Pathos ermatten follte, und ich
will ed nur fogleih fagen, daß ein Blatt, worin dieß mit folcher
Beftinnmtheit vorausgefagt wurde, eines befieren Witzes werth ge«
wefen wäre, als der fehlechte und hinkende auf bie Jahrbücher ver
Gegenwart (121). Es find auch fonft einige ſtumpfe, unklare,
fihiefe Epigramme da, wie 3. B. dad auf Lenau (126), wo das
MWortfpiel mit: „ſchlagen“ gefucht und verzwickt ift und der Gegen»
ftand überhaupt zu hoch geftellt wird; ebenjo wenig glücklich ift
das MWortfpiel mit dem Drachen (133), unklar ſchwebt zwifchen
einer doppelten Deutung bie XZenie auf Uhland (125). Sonft
aber bewegt ſich der Dichter, links und rechts reichlihe Salz» und
Pfeifer Körner ausfehüttend, behend und ſchwungkraͤftig zwifchen
den Reihen moderner Erſcheinungen hindurch; Zeitfehriften, Dich»
ter, Regenten, Minifter, Cenſur, Strafgefegbüdher, Dombau,
Decorationen, Kirche und Dogma, neuchriftliche Kunft und Auf⸗
wärmung altheidnifcder, Adel und Pfaffen: bunt durch einander
kommt Alles an die Neihe und die Oertenfchläge pfeifen mit fiches
rem Siebe rechts und links. Die Gefinnung erfcheint ftraffer und
beſtimmter, als in den pathetifchen Gedichten. Dom Kölner Don»
bau ſpricht der Dichter jebt ganz anderd ald oben: das Leben
begehrt jegt nicht Dome oder Pyramiden, fondern lebendig Brod;-
ein winziger Knirps ftopft dem deutſchen Niefen dad Maul mit
Steinen (106. 105). Wie die Wilfenfchaft in ihrem Kampfe
gegen den kirchlichen Glauben mit der politifchen Bewegung zu⸗
fummenhängt, erfennt der Satyrifer viel richtiger ald der Enthu⸗
fiaft (Zwei Fliegen mit einer Klapye 109); er ſtimmt mit dem
Philoſophen 2. Feuerbach, daß nicht jeder Wurm meinen müfle,
es zum Schmetterling zu bringen (128). Auf die Pfaffen zwar
Aritiſche Gänge 1. 22
338
war er auch als Pathetiker nicht gut zu ſprechen, jet fagt er ſehr
gut: ob fie katholiſch geſchoren, ob proteftantifch gefcheitelt, gleich⸗
viel, immer geräth man ven Gefellen ins Saar (135); Krum⸗
macher find und bleiben fle alle (134). Durch die ganze Ausſant
von Epigrammen geht Ein Ton kräftigen, vernichtend ſchneiben⸗
ben Zornes; Bald überrafeht mehr der Wi, bald treibt bie Bi
terfett ſympathetiſch das Blut zum Herzen, bald erhebt der Hinter
ber Beratung ruhende Adel und Stolz, wie in dem Eipigramme
Entpuppung (98), worin der Dichter fo fihöne Worte auf die
bedenkliche Anrede: „Deſerteur⸗ erwiedert. Wir begeben ms
des mäßigen Geſchaͤfts, die fhärfften dieſer Xenien, vie überall
ſchnell gewirkt und gezündet haben, Bier abzuſchreiben; nur mit
einem Worte braucht gefagt zu werden, daß wer Spigramm
ſchreibt, wie „Metternich (— e8 wäre übrigens wirkſamer, wenn
ber Name nicht auf der Ueberſchrift flände, denn der Big iſt fo
wahr und treffend, daß nur ein Blinder nicht errathen Fönnte,
wer gemeint ift —) „Der Genfor« (99), „Andere Zeiten, andre
Eitten« (108), „Antigone in Spree-Athen“ (149), „der Kunft-
protector« (145), feinen Beruf, in die träge Maffe der Zeit ein
Präftige Hefe zu werfen, glänzend beurfunbet hat. Sinzufegen aber
müffen wir noch, daß Herwegh auch einzelne Proben des Gyi-
gramm in antifem Sinne gegeben hat, das nicht eine migige,
fatgrifche Spige nothwendig fucht, fondern auf einen ſchönen ober
großen Gegenſtand einen edlen, ſchoͤn gefagten Gedanken wie eine
einfache Ueberfehrift ſetzt. So das Epigramm auf Platen (127),
das Beſte, was vielleicht je über biefen Dichter gefagt worben HR.
Mag es dem Dichter gelingen, fein Geſchoß recht bald und
1" folgen Kartätſchen zu laden. Ich möchte aber zum Schluß
339
no einen frommen Wunſch ausſprechen. Beſitzt unfere Zeit ein
großes komiſches Genie — ich weiß es nicht, Herwegh ift feines —
fo möchte ich einige tüchtige ariftophanifche Komödien auf die in
der Berwefung begriffenen Theile unferer jebigen Öffentlichen Zus
fände erleben. Es ift freilich ein fronmer Wunſch; unfere Tihenter
find Hoftheater, unfere ganze Gefeßgebung iſt gegen jede Möglich⸗
feit eines Ariftophanes verſchworen; ein Ariftophanes feht Vor⸗
gänger, ein ſchon vorhandenes Leben politifcher Komödie voraus,
davon kann aber jegt Feine Rede feyn. Kommt Zeit, kommt Rath;
aber jhön wäre e8. Welche Narrenwelt hätte ein folcher Dich⸗
ter mit feinem Zauberflab zu commanbiren! Nicht mehr jene
zufälligen Narren, melde in den Engen des Privatlebens ausge⸗
brütet werben; große Narren, gefehichtlihe Narren, Staatönarren,
biftorifhe Masten. Welche Komik wäre in ihrem Schickſal zu
entfalten! eine große Komik mit einem tragifchen Zuge, denn nicht
als Eleinlih und gering dürften die Gefchlechter bargeftellt werben,
welche die Träger einer ausfterbenden Orbnung der Dinge find,
fondern einft Hatten fie Nothwendigkeit und fie werben, bis ber
Tag kommt, wo fie ald Narren über die Bretter gehen, nicht
ohne Größe um ihre Eriftenz gekämpft haben. Wir haben in der
geſammiten modernen Poefle die wahre Komödie nicht gehabt; feit
die fogenannte alte Komödie der Griechen in die neuere überging,
ift fie nicht wieder dagemwefen. Shakſpeare, der Vater des neuen
Drama, warf fih in der Komödie fogleih in das Privatleben.
Sie ift feither aus dieſem engen Kreife nicht herausgefommen,
ebenfo wie fi die Malerei aus dem Genre und der Landfihaft
noch nicht oder num vereinzelt zum großen Geſchichtsbilde erhoben
hat. Die Sranzofen haben Luſtſpiele politifchen Stoffs, aber bier
22°
340
fer wird Hier fo behandelt, daß vielmehr das Polktifche in das
Prioatgebiet hinübergefpielt und große Staatäbegebenheiten aus
. Beinen Intriguen erklärt werben, wie im verre d’oau. Es ver-
fteht fi, daß dieß nicht große politiſche Komik ift: Hier müſſen
bie Vorurteile und Sünden auf dem politifhen Boden ſelbſt er⸗
griffen, feftgehalten, als ein eoloffaler Wahnfinn hingeftellt und
aus fi heraus vernichtet, im ihr komiſches Schickſal Hineingeftürzt
werben. Shakſpeares Shylock iſt eine Geftalt, bie ih anführen
Tann, um zu fagen, was ih Hier meine: ein ganzes Volk in ſei⸗
nem Gharakter, Schickſal wirb hier einer großartigen, graufamen
Komik mit mächtigen Pinfelftrichen im großen Styl unterworfen.
Shakſpeare Hätte die Gewalt wohl gehabt, eine große politifche
Komödie zu ſchreiben. Allein die Zeit war nicht reif. Es gehört
Dazu, daß bie politifhe Idee in ber öffentlichen Bildung erwacht
fei, hervorgegangen aus der Auflöfung bed zufälligen Staates,
welches der feubale war, ber dem jegigen zwar verſtändig res
giftrirten immer noch zu Grunde liegt.
IV.
Zur wiffenfchaftlichen Aeſthetik.
343
Plan zu einer nenen ‚Gliederung der Aeſthetik.
(Jahrbuͤcher der Gegenwart. December 1845.)
Es ift unter den Gebieten ber geiftigen Wirklichkeit wohl
keines, in welches Hegel feine Philoſophie mit folcher Flüſſigkeit
hineingeführt hat, als die Welt des Schönen; feine Vorlefungen
über Aefthetik find gleich vortrefflich in Vollſtändigkeit des Dates
rials, wie in inniger Durchdringung beffelben; bie Idee bed
Schönen breitet fih Hier in organifchem Wuchfe zu dem reichen
Baume der wirklihen Kunftwelt aus, der felbft in feine einzelnen
Aefte mit jener Liebe verfolgt wird, mit welcher große Philoſo⸗
phen das Schöne, dieſe unmittelbare Wirklichkeit der fpeculativen
Idee für die Anſchauuug, immer zu .einem Lieblingägegenftanbe
ihrer Forſchungen gemacht haben. Dennoch glaube ich mehrere
Punkte gefunden zu haben, auf welchen dieſe Wiffenfchaft über
bie große Leiftung des Meifters bereitö hinausgehen kann. Ich
beabfichtige eine Herausgabe meiner Vorträge über Aeſthetik ın
ber Form eines Handbuchs für Vorlefungen, morin ich mein
Syſtem ausführen werde; da jedoch meine Berufägefchäfte diefe
Arbeit aufzufhieben nöthigen, fo theile ich inzwifchen ben Plan
befielben auf diefem Wege mit. Indem ih nun die genannten
Punkte, deren abweichende Behandlung eine wefentlich verſchie⸗
bene Gliederung bed Ganzen mit ſich bringt, hier aufzeige, wird
344
man finden, wie vollfommen das Syſtem nad meinem Plane
ſich abrundet, wie reinlich der Kreis in ſich ſelbſt zurückkehrt.
Daß das Gefeg der Dreigliedrigkeit gleihförmig dad Ganze
wie die Theile meiner Anordnung beherrſcht, wird bei denen,
welche mit dem Prozeſſe des Beiftes vertraut find, Teiner Nedit-
fertigung bebürfen. Solchen, welche außer der Philofophie flehen,
wird es vielleicht als ein Anhaltspunkt für den Vorwurf abflracter
Kategorieenfucht erſcheinen, daß biefed Gele unter dem von Theil
zu Theil fi erneuernden Namen des Objectiven, Subjectiven
und bes Objectiv⸗ Subjectiven wiederkehrt. Wirklih, wenn man
mir ‚beweifen koͤnnte, daß ich von der metaphyſiſchen Kategorie
ausging und ven Stoff in fie hineinzwängte, wäre der Bormurf
fo gerecht, wie überall, wo eine falfche Abftraction einen realen
Gegenftand in ein fertiges Fachwerk preßt. Ich habe aber dieſe
Eintheilung nirgends gefucht und Bin nach vielen verfehiebenen
"Bemühungen, meinen Stoff zu glievern, immer von dieſem felbft
und dem ihm inwohnenden Gefege auf fie geführt worden. Die
Sache Hat fih von jelbft fo gemacht, ich bin unfhuldig daran.
Dieß iſt für jeht eine bloße Verſicherung, den Beweis muß die
Ausführung liefern. Eigentlih müßte jener Terminus noch viel
öfter auftreten, als ich ihn gebraucht habe, ich verbarg ihn an
mehreren Orten unter herkoͤmmlichen äfthetifhen Benennungen,
vieleicht aus einer gewiſſen Schwäche, welche denen, die eine
Sache nicht verftehen und aus Mangel an Gründen gerne Lachen,
nicht allzuviel Stoff geben wollte.
Zuerft nun kann ich mich mit dem Inhalte, welchen Hegel
dem erften Theile feines Syſtems gegeben hat, nicht einver-
ſtanden befennen. Derſelbe handelt von der Idee ded Kunftfchönen
N
345
ober dem Ideal im Allgemeinen, und zwar im erften Kapitel von
dem Begriffe des Schönen überhaupt, im zweiten von dem Nas
turfehönen, im britten von dem Kunftichönen oder dem Ideale
ſelbſt. So enthält diefer Theil nach meiner Anficht ſowohl zu
wenig ald zu viel. Zu wenig, weil der allgemeine Begriff bes
Schönen eine Reihe von Momenten in ſich ſchließt, welche Hegel
an biefem ihrem Orte gar nicht aufführt , fondern in die weiteren
concreten Theile verweist, wovon nachher. Zu viel, weil bereits
bier das Naturfehöne und das Ideal abgehandelt wird, und dar⸗
aus erfolgt zunächſt ein weiteres Zumenig. Sol namlich ſchon
in dieſem erften Theile die erfte reale Eriftenz bed Schönen, das
Naturſchöne, feine Stelle finden, fo gefhieht es, um fo fehnell
ald möglich zu der höheren Form, morin die Naturfchönhelt ihre
geiftige Umgeftaltung fordert, zum Kunſtideal, fortzueilen; dar⸗
über kommt diefed Kapitel viel zu Eurz weg und es find weſent⸗
liche Sphären des Naturfchönen übergangen, wie ich beweiſen
werde. Das Ideal nun, wovon das dritte Kapitel handelt, ift,
zugegeben auch, daß es fehon in diefen Theil gehöre, für dieſes
fein anfüngliches Auftreten viel zu objectiv gefaßt, und hier ift
alfo wieder der Fehler des Zuviel. Hegel zieht fehon Hier die Göt⸗
termelt, er zieht das Ideal in ber Bewegung ber Menſchenwelt,
nämlich den Weltzuſtand, den die ideale Anſchauung fordert, ‚die
ideale Situation, die ideale Handlung, er zieht fogar bie äußer⸗
liche Beſtimmtheit des Ideals hier fehon herbei, und erft nachher
Handelt er vom Künftler und feinen ſubjectiven Kräften, Phan⸗
taffe, Genie u. f. w.
Der Grund diefed Verfahrens Tiegt darin, daß Hegel, was
evft bewiefen werden fol, als bewiefen aus tem Syſteme ber
346 .
Philojophie vorausfegt, daß nänlich die wahre Wirklichkeit des
Schönen nur die Kunft jei; Daher fpringt er über Alles, was
dem Begriffe des Kunftihönen eigentlich vorangeht und ihm ba=
ber Hinvdernd im Wege liegt, mit zu großer Kürze weg. Die
Aeſthetik muß alerbingd mit einem Lehnſatze beginnen; es iſt
vie Idee, die abfolute Einheit des Denkens und Seins, beren
Begriff fie aus der Metaphyſik entlehnt. Von hier aus hat fie
ben abftracten Begriff des Schönen durch einen weiteren Lehnſatz
zu finden, nämlich folgendermaßen. Die abjolute Einheit des
Denkens und Seins iſt nicht ein bloß fuhjectiver Begriff, fie Tann
aber auf Eeinem einzelnen Punkte des Raums und der Zeit als.
ſolche zur Erfcheinung kommen, fondern fle verwirklicht fich nur
in allen Räumen und im endlofen Verlaufe der Zeit durch einen.
beftändig fich erneuernden Prozeß der Bewegung. Diefe Realität
ber Idee, melche, obwohl wahrhaft wirklich, doch niemals der
Anfhauung gegeben ift, genügt jedoch dem Geifte nicht, er fol
vielmehr gemäß dem alle Sphüren feiner Thätigkeit beherrfchenden
Geſetze, wonach jede Wahrheit zuerft in unmittelbarer Form ob-
jectiv vor ihm auftritt, diefelbe auch ald eine unmittelbar wirkliche
anjchauen. Dieſem Gefege entjprechend erzeugt fich der Schein,
daß ein einzelnes finnlid) Dafeiendes feinen Begriffe abfolut ent⸗
fpreche, daß aljo in ihm zunächſt eine beftinmte Idee und da-
durch mittelbar die abfolute Idee vollfommen verwirklicht fei.
Dieß ift zwar infofern bloßer Schein, als in feinem einzelnen
Weſen fein Begriff vollkommen realiftrt fein fann, da aber die
abfolute Idee nicht ein leerer Gedanke, fondern allerdings im
finnlihen Dafein, nur nicht im Einzelnen, wahrhaft wirklich
ift, fo iſt es nicht leerer Schein, fondern Erſcheinung. Dieſe
347
Erſcheinung nun ift dad Schöne. Das Schöne ift alfo die Idee
in der Form begrenzter Erſcheinung. Es ift eine einzelne Erſchei⸗
nung, und biefe Erfeheinung drückt durch ihre Form nichts aus,
als ihren Begriff, fo daß im diefem nichts iſt, was nicht ſinnlich
erſchiene, und nichts finnlich erfcheint, was nicht reiner Ausdruck
bed Begriffs wäre, wodurch eben die Ginheit des Begriffes und
des Seins, alfo die Idee, zur Erfcheinung kommt. Wo und wie.
nun biefe Erſcheinung oder das Schöne ba ſei und zu Stande
fomme, ob in der Natur ober in ber Kunft ober wo fonft, dieß
wiſſen wir an diefer Stelle nach nicht; es tft nur gefordert, daß
fie da fei, und dieſe Forderung ftügt fih auf dad Geſetz, worauf
dieſe Deduction beruht, daß nämlich jede Wahrheit ben Geiſte
zuerft in der Form ber Unmittelbarkeit objectiv gegenübertrete ;.-
dieſes Geſetz ift alfo bie zweite Vorausfegung , welche bie Aeſthe⸗
tif aus dem abftracten Theile der Philofophle herübernehmen muß..
Hiemit ift aber auch der Begriff des Schönen an fi) gefunden,
und er iſt nun, ehe man einen Schritt in der Unterfuchung, wa
und wie denn diefer Begriff nun feine Eriftenz habe, weiter gebt,
in feinen Momenten zu entwideln. Dieb ift eine fo umfafjende
Aufgabe, daß fon darum von den weiteren Aufgaben ber Aeſthe⸗
tif feine in dieſem Theile ſchon zur Erledigung kommen Tann; ber
tiefere Grund aber, warum nur ber abftracte Begriff des Schö⸗
nen, abgefehen von aller Verwirklichung, hier zur Sprache Toms.
men darf, Liegt in dem logiſchen Prozeſſe des Begriffes überhaupt,
den ich hier als befannt voraudfehe. Die Momente nun, vom,
denen es ſich handelt, find die des einfach Schönen, be Erhabenen
und des Komiſchen, wie ih ſolche in meiner Eleinen Schrift:
„Ueber das Erhabene und Komifche, ein Beitrag zu der Philofor
315
vhie des Schönen» als die Beilaltungen einer organiſchen inneren
Bewegung im Begriffe bed Schönen aufgewieſen habe. Ich habe
in dieſer Schrift die Gründe audgeführt, warum jene Begriffe
nothiwendig im erften allgemeinen Xheile abgehandelt werben
müflen. Wo immer Schönes zur Eriftenz fommt, da treten neben
der kampfloſen Grazie des einfad Schönen auch die Begenfäke
des Erhabenen und Komiſchen hervor, im Raturfhönen, wie in
jeder biftoriihen Form des Ideals und in jeder befonderen Gat-
tung der Kunft; es find alfo Unterſchiede, die im Weſen des
Schönen an fi liegen und da entwidelt werben müſſen, ‘wo
dieſes dargeftellt wird, nicht aber in das weitere Syſtem unter bie
Lehre von einzelnen beftimmten Eriftenzformen des Schönen wer
gettelt werden dürfen. Hegel führt z. B. dad Erhabene im zwei⸗
tem Theil als ein Merkmal ber ſymboliſchen Kunftform, insbeſon⸗
dere als Princip der orientaliiden Myſtik und der mofaijchen
Meligion auf. Allein dieß iſt fchon eine eigenthümlich beſtimmte
Born ded Erhabenen ; erhaben ift auch Jupiter, erhaben der
tragifehe Conflict, der bei Hegel in der Lehre vom Ideale vor:
fommt , erhaben erfcheinen gemiffe Formen ded Naturfchönen im
Unterfchiebe von anderen, erhaben der doriſche Bauftyl im Ge
genfage gegen den fonifchen u. f. w.; das Erhabene der orientali«
fhen Kunftform iſt theild ein formlofes, theild ein abftractes
Erhabene, was alfo durch befondere concrete Merkmale vom Er⸗
habenen überhaupt und ebenfo von andern realen Formen bed
Erhabenen fich unterfeheivet, den allgemeinen Begriff des Erha⸗
benen fomit bereit3 vorausfegt. Ebenſo verhält es ſich mit dem
Komifchen. Hegel führt es theils unter der Xehre von ver Auf:
löfung der klaſſiſchen Kunftform in der Geftalt der Satyre, theils
349
im Abfchnitt von ber Auflöfung der romantifchen Kunftform ki
ber Geftalt des Humors, endlih im dritten Theile als Princip
ber Komöbie auf. Allein das Komifche ift ebenfa8 eine Macht,
bie überall hervortritt, wo überhaupt dad Schöne exiſtirt. Ein⸗
zelne Geftalten des Naturfehönen fallen unter den komiſchen Ges
fichtöpunft, wie andere unter den erhabenen; bie Orientalen
hatten ſchon ihre Komik und Eonnten die Griechen ihre berühmte
Komödie fchaffen, fo muß dad Moment ver Komik ſchon in ihrem
afthetifchen Ideal überhaupt enthalten gewefen fein; unter ven
Künften ferner ift es keineswegs nur die Poefle, welche das Prin⸗
eiv des Komifchen zu Tage fördert, fondern ſchon die Malerei
bildet e8 aus im Genre, ja felbft die Plaſtik Hat im Bacchifchen
Kreife ihre eigene ‚ wiewohl mäßige Komik. Das Komifche muß
alſo ebenfalls ſchon im Weſen des Schönen an fich Liegen und in
der Lehre von bemielben entwidelt werben.
Was nun die Durchführung diefer Momente im erften allge:
meinen Theile betrifft, fo habe ich feit der Erſcheinung meiner
genannten Schrift mehrere mangelhafte Stellen derſelben in meinen
Vorleſungen über Aeſthetik zu verbeffern gefucht, insbeſondere
den Begriff des Komifchen gründlicher entwidelt, und zwar fo.
Daß alle beveutenberen Definitionen deſſelben, welche bis jebt in
der Philofophie des Schönen heruorgetreten find, als Momente
in meiner Entwiclung auftreten. So fand denn auch die Defini⸗
tion Ruge's ihre Stelle, welche dad Komiſche ald Selbitbefin-
nung des Geiſtes in feiner Trübung, ald Wiedergewinn der Per-
fönlichkeit aus der Verſtrickung in’d Endliche durch Befinnung des
Geiftes in feiner unwahren Geftalt auf feine wahre beftimmt.
Nur hat Ruge die verſchiedenen Formen der Verſtrickung oder
350
Träbung nicht georbnet, fonbern bloß beiſplelsweiſe aufgegriffen,
inbem er bald Verirrungen aus Zerſtreutheit, bald Trübungen
durch Unſttilichkeit anführt,, während ich meine Darftellung be-
durch weſentlich ergänzt Habe, daß ich bie Stufenleiter ber ver⸗
ſchiedenen Geftalten des Erhabenen, das durch Störung kowiſch
wird, ober nad Rug e's Ausprud der Verſtrickung des Belle
in's Endliche, verfolge. Dieß tft übrigens Feine bloſe Wieberhe⸗
lung ber in der Lehre vom Erhabenen ſelbſt aufgeführten Formen.
Es kehrt hier zwar allerdings im Allgemeinen dieſelbe Linie wie⸗
der, wie dort, aber der Gefichtspunkt iſt ein anderer, denn jeht
fragt es fich, welche dieſer Bormen dem Tomifchen Prozeſſe ver
fallen koͤnnen, welche nit. Daher fält z. B. foglei das Gr»
habene der unorganifchen Natur weg, weil e8 niemals Begenflant
der Komif fein kann. Die Neihe beginnt mit den Entſtellungen
ber organifhen Geftalt, wodurch fie im Widerſpruch mit Ihrem
Begriff in's Mechantiche, oder, bei dem Menſchen, in's Thieri⸗
ſche herabfinkt, und fle fehließt mit den höchſten Thätigfeiten bes
Geiſtes, wo zu unterfuchen ft, ob auch das abjolute Verhalten
des Geiftes in der Form der Religion dem Komiſchen verfallen
und unter welchen Bedingungen eine ſolche Komik dem Borwurf
der Frivolitãt ſich entziehen Eünne. Das reichfte Gebiet der Komil
bilden natürlich die Berirrungen des praftifchen, insbeſondere bei
ſtttlichen Geiſtes, wie dieß au Auge (S. 111 |. Schill:
Neue Vorſchule der Aeſthetik) erklärt. Aus der Darftellung biefer
Stufenleiter geht jedoch noch nicht bie Eintheilung des Komiſche⸗
hervor, denn nicht ber Stoff, welcher ber Komif unterwer
fen , fondern bie Borm, in welcher er dem Laden yreisgegeben
wird, bildet ven Grund berielben. Meine frühere Gintheilung
351
in Burleske, Wis und Sumor, melde ben drei Formen des
Erhabenen : Erhabenheit der Natur, des Subjects, des abfoluten
Geiſtes fo angemeflen entfpricht, Habe ich beibehalten. Sch meinte
früher durch die Aufführung diefer Formen eine Anticiyation aus
der Lehre von der Phantafle zu machen , weil der fuhjective An⸗
theil, ver bei der Entftehung des Komifchen unmittelbarer ein-
leuchtet, als bei der Entftehung des Grhabenen, bier in den
pſychologiſchen Benennungen fogleich zu Tage liegt. Der Einthet-
lungsgrund ift aber nicht8 deſto weniger ein ganz objectiver, denn
e3 ift allerdings die objective Geftalt des Erhabenen, melche jedes⸗
mal wechfelt und mit fächliher Nothmendigfeit ein anderes fub-
jectives Verfahren in der Auflöfung des erhabenen Scheines for-
dert. In der Burleske wird ein Erhabenes, das fih, wiewohl
e8 übrigens jeder Stufe der Erhabenheit angehören kann, in
finntich Handgreifticher Form aufdrängt, ebenfo handgrei lich vers
nichtet,, im Wie der verftändige Zufammenhang der Gedanken
durch einen Unfinn, der den Schein eined neuen Sinn.d annimmt,
durcheinander geworfen, im Humor verwickelt ſich das abfolut Er»
habene, das in die geiftigen Tiefen der Perſönlichkeit niedergefties
gen ift, mit dem unendlich Kleinen, womit es behaftet bleibt,
zum komiſchen Widerſpruch in einem und temfelben Bemußtfein.
Es find alfo allerdings verſchiedene Geftaltungen des ber Komit
verfallenden Erhabenen ſelbſt, wodurch dieſe Eintheilung begrün⸗
det wird; es koͤnnte daher hier von Neuem der Vorwurf einer
Wiederholung entſtehen, da ſchon in der allgemeinen Lehre vom
Komiſchen die verſchiedenen Formen des Erhabenen, wiewohl
unter einem neuen Geſichtspunkte, durchgangen werden mußten.
Allein dann würde man überſehen, daß die Auffaffung jetzt aber-
352
mals eine andere fl. Es Eönnen nänlich in jeder ber brei Stufen
des Komifchen alle Formen des Erhabenen Gegenftand des Lachens
werben , wie denn 3.8. in der Burleske ſchon dad unendlich Er»
babene in den bekannten Narren= und Eſels⸗Feſten an die Reihe
Fam, aber freilich) das unendlih Erhabene in der vergrößerten
Form, die e8 in der Kirche des Mittelalters angenommen hatte.
Der Unterſchied diefer Stufenfolge des Erbabenen, welche mei»
“ner Gintheilung des Komifchen zu Grunde liegt, von der Stufen-
folge in der Lehre vom Erhabenen felbft und von der analogen
Aufzählung in der allgemeinen Lehre vom Komifchen ift in den
verſchiedenen Graben der ſubjectiven Vertiefung ded Erhabenen
begründet. Wird aljo 3. B. die Religion als fihtbare Kirche in
bandgreiflichen Poſſen der Satyre unterworfen, fo ift dieß Bur⸗
leske, wird der Verſtandes⸗Widerſpruch ihrer Lehren komiſch
aufgewieſen, fo iſt dieß Witz, wird dagegen dad Leben ver Ne
ligion im innerften Bewußtjein ald behaftet mit kleinlichen Eigen⸗
haften der Perfünlichkeit aufgewieſen, fo ift dieg Humor. Wem
ih oben jagte, der Eintheilungsgrund des Komiſchen fei und bleibe
ein objectiver, jo gerathe ich mit biejer Behauptung Dadurch keines⸗
wegs in Widerſpruch, daß ich jetzt bie verſchiedenen Grabe ſub⸗
jectiver Bertiefung des Erhabenen ald Eintheilungsgrund nenne.
Obiectiv bleiben bieje Unterſchiede noch immer, wenn man unfere
Grörterung mit einer blos pfvchelogiſchen vergleicht, welche bie
komiſchen Kräfte abgejeben von ver Brage, was durch fie komiſch
bargeftellt werde, als rein ſubjective Grideinungen unterjudt.
Die Parallele zwiſchen ver Stufenfelge in ter Lehre vom Ko
milden und im Erbabenen bleibt übrigens ſteben, tenn das
finnlider aufgefapte unt eben darum handgreiflicher elupirte Gr⸗
353
babene entſpricht auch fo dem Erhabenen ber Natur dur bie,
beiden gemeinjame, Kategorie der Iinmittelbarfeit, der Wit durch
den fußjectiven Charakter der in ihm waltenden Berftändigfeit ent⸗
ſpricht dem Erhabenen des Subjects u. |. m.
In dieſem Abſchnitt vom Komiſchen glaube ich ferner einige
weſentliche Verbeſſerungen in der Unterabtheilung der einzelnen
Formen gefunden zu haben, insbeſondere in der Lehre vom Witze
und vom Humor. Den Witz theile ich in einen unmittelbaren
oder (nach Jean Pauls Benennung) akuſtiſchen, einen abſtracten
und einen anſchaulichen ein. Jene erſte Form beſteht in der Art
des Wortſpiels, die ſich an die bloße Aehnlichkeit des Klanges
hält und die z. B. bei Fiſchart und Abraham a S. Clara eine fo
große Rolle ſpielt; fie iſt die unmittelbarſte, finnlichfte Form des
Witzes. Dasjenige Wortſpiel, das ſich nicht an den Klang, ſondern
an die Vieldeutigkeit der Wörter hält, um den Schein eines Sinnes
im Unſinn hervorzubringen, fällt auf den Uebergang zur zweiten
Form des Witzes, der aöſtract verfländigen, deren Gebiet das
ganze weite Reich des logiſchen Zufammenhangs und der unend⸗
lichen Möglichkeiten feiner Zerftörung bei fortbehnupteter Erhal⸗
tung bildet. Diefe Gattung ift deßwegen nicht weiter einzutheilen,
weil geradezu alle Kategorieen der Logik aufgezählt werben müß⸗
ten, denn alle können dem abſtracten Wite zum Gegenftande
dienen. Ih nahm in nieiner Schrift Jean Pauls Eintheilung im
antithetifchen und fonthetifchen Wig auf, allein fie läßt fi nicht
halten, denn jeder Witz ift antithetifch und fonthetifch zugleich,
inden er eine logiſche Kategorie als Verbindung von Begriffen
zugleich geltend macht und durch plögliche Cinführung eines
wiberftrebenden Begriffes zugleich aufhebt. Die dritte und höchfte
Kritiſche Gänge N. 23
: 354 -
Form des Witzes iſt der anfchauliche, d. h. der vergleichende, denn
hier tritt an die Stelle des abſtract verſtändigen Spieles ſchon eine
plaſtiſche Kraft der Phantaſie. Den Eintheilungsgrund der Gat⸗
tungen des Witzes bildet nämlich überhaupt der verſchiedene An⸗
theil des in allem Aeſthetiſchen weſentlichen ſinnlichen Moments.
Das akuftiihe Wortſpiel iſt ſinnlicher Art, aber dad Sinnliche
tritt in der Armuth der erſten Unmittelbarkeit auf, der abſtracte
Witz iſt unſinnlich, der vergleichende aber fordert eine Sinnlich⸗
keit höherer Art, nämlich Kraft der Anſchauung, wiewohl die⸗
ſelbe nicht organiſch bedingend wirkt, indem Gedanke und Bild
nur durch das äußerliche Band des tertium comparationis auf
einander bezogen werden. Uebrigens ſieht man, wie ich durch
dieſe zwangloſe Eintheilung wiederum eine Parallele mit der Ein⸗
theilung des Erhabenen und des Komifchen überhaupt geminne.
Denfelben Vortheil gewährt mir folgende Unterſcheidung verfchie-
dener Formen des Humors. In meiner Schrift über das Erba-
babene und Komifche wußte ich nur zmei Formen des Humors
aufzuführen, einen unverfühnten und einen verfühnten. Ich jeke
aber num ald erfte Form einen naiven Qumor, dem ein Bewußt⸗
fein ded unendlichen Weltwiderfpruchs zwar ſchon zu Grunde liegt,
aber nur erft auf dunkle Weife. Es ift der Humor der derbge-
funden, ungebrochenen Perſönlichkeit, welche Die Liebel der Melt
und die Schwächen des Menfchengefchlechts allerdings kennt, aber
nicht die unendliche Vertiefung des Geiftes bedarf, um fich über
diefen Schmerz zu erheben, fondern nur die unüberiwindliche Na⸗
turfraft angeborner Fröhlichfelt, worin die Gemißheit, daß ber
Geiſt der Welt alle feine Behaftimg mit dem unendlich Kleinen -
und Niebrigen zu ertragen und zu überwinden fähig fei, noch als
355
Inſtinkt auftritt. Eine ſolche Natur ift z. DB. der Baſtard Faul⸗
conbridge im König Johann, der Frafiftrogende Percy im Hein-
rich IV., der von Lebensübermuth ſprudelnde Diercutio in Romeo
und Julie. Un der Grenze fliehen theils folche Berfünlickeiten,
welche ſchon einer bemußteren Anftrengung des Geiftes bedürfen,
um über einen Schmerz, ber ihre Natur zu brechen droht, durch
Selbftironifirung Herr zu werben und fo die angebome SHeiterfeit
zu bewahren, vote Rofalinde in: „Wie e3 euch gefällt;“ theils
ſolche, welche tief in die Verborbenheit der Welt verftrict, dem
Bemußtfein ihrer Schlechtigkeit verfallen find, aber in jedem Mo⸗
ment durch ein Bewußtſein dieſes Bewußtſeins fich ſpielend felbft
abjolviren, mie der unfterbliche Fallſtaff. Als zweite Form folgt
dann der unverfühnte Humor eined Hamlet, in der modernen
Melt eines Byron, Theodor Hofmann, Heine; als dritte der
verfühnte, mwohlmollende eines Goldſmith, Jean Paul.
So viel über meine Gliederung des erften Theils der Aeſthe⸗
tif. Man wird bemerken, daß der eigentliche Eintheilungsgrund,
der bier durchgeführt ift, bereits der des Objectiven, Subjertiven
und Objectiv⸗Subjectiven iſt. So zunächſt in ver Einthellung des
Ganzen. Das Erhabene ift die obfective Form des Schönen,
denn dad ideale Moment tritt hier überwachſend als überwälti-
gende Macht vor dad Subjert; das Komifche dagegen beruht auf
der umendlichen Freiheit des Subjectd, das im Bewußtſein, bie
wahre Gegenwart der Idee im fi) ſelbſt zu tragen, jede Erfchei-
nung derfelben, welche Die Miene einer objectiven Macht annimmt,
in ihre Widerſprüche auflöst, die Einheit des Obfectiven und
Subjectiven endlich iſt bad ganze, durch den Gegenſatz dieſer bei⸗
den in ihm nereinigten Formen in fich zurückkehrende, pas erfüllte
23 *
356
Schöne. In den Unterabtheilungen kehrt daffelbe Princip ber
Unterſcheidung durchgängig wieder, dad Erhabene der Natur if
objectiv, das Erhabene des Subjectd bezeichnet feine Kategorie
fhon durch feinen Namen, das Erhabene des abjoluten Geifted
ift obfectiv = fuhjectin, denn es iſt die Manifeftation der Weltorb«
nung, welche fih zmar der Subjerte ald ihrer Organe bebient,
aber höher ift, als jedes einzelne Subject, und daher an dieſes
als objective Macht berantritt. Ebenjo im Komiſchen; das Bur⸗
leöfe oder naiv Komiſche iſt objectiver, handgreiflicher Art, der
Witz fubjertiv, der Humor vereinigt beide Momente, zumädft
weil er weſentlich eine ganze Verfünlichkeit ift, welche ſubjectiven
Geiſtesadel und unangemeffene Form der objectiven Erſcheinung
| zu einem lebendigen Widerſpruch in fich verbindet, fofort aber in
einem höheren Sinne, weil der Humorift den Wiverfpruch, ven
er zunächft in feinem Subjecte findet, als einen Weltwiderſpruch
weiß und audfpriht. Wie dann derfelbe Eintheilungsgrund in
ben Unterabtheilungen diefer Formen abermald wieberfehrt,
brauche ich nicht auf's Neue nachzumeifen, nachdem ich den Pa-
rallelismus der Tegieren mit den größeren Abtheilungen aufge
zeigt habe. "
Den Inhalt des zweiten Theils der Aeſthetik kann nun offenbar
nichts Anderes bilden, als die zwei erften, noch einfeitigen Exiſtenz⸗
formen des Schönen: Das Naturfchöne und feine, nur erft inner»
liche, ideale Umbildung durch Die Phantaſie. Der abftracte Bes
griff des Schönen theilt ſich, indem er fih verwirklicht, in biefe
zmei Aeſte, die aber erft wieder zufammengehen follen, damit
die abfolute Form der Verwirklichung des Schönen entftche. So»
bald man die Sache näher anfleht, dringt ſich dieſe Ordnung von
397
felöft auf. Der Begriff des Schönen, wenn er in allen jeinen
Momenten entwickelt ift, fteht auf dem Punkte des Uebergangs
zur realen Exiſtenz. Der ganz erfüllte Begriff kann und muß
eriftiren, dieß wird allerding3 als in der Logik bewieſen voraus⸗
geſetzt. Die erfte Form dieſer Eriftenz ift aus deinfelben Grunde
die Form der Unmittelbarfeit, aus welchem die Idee überhaupt
zuerſt ſich als Natur frei aus fich entläßt, und es iſt auch biefer
Uebergang auf die vorausgeſetzte Kenntniß der Logik zu begrünr
ben, doch giebt hierauf der Fortgang den augenſcheinlichen Ber
weis, daß die Lehre won der Naturſchönheit Feine andere Stelle
einnehmen kann und daß nichts verfehrter ift, als wern Weiffe
fie an dad Ende des Syſtems feßt. Diele erfte Form der Eriftenz
ded Schönen num iſt eine einfeitig objective; die Schönheit iſt hier
ein vorgefundener Gegenftand, das Werk bemußtlos fchaffender
Kräfte, welche nicht mit dem gedachten Zwecke arbeiten, das
Schöne als Schönes hervorzubringen, fie ift eben daher beftimmt,
Objert, Stoff, Material für eine höhere Form der Verwirklichung
des Schönen zu werben, |
Was nun die innere Gintheilung dieſes erften Abſchnitts
im zweiten Theile betrifft, fo muß ich vor Allen ausfpredhen,
daß Hegel hier einen wirklichen Fehler gemacht hat. Hegel be⸗
ſchränkt nämlich die Lehre von der Naturfchönheit auf die Reiche
der bemußtlofen Natur und fehließt die begeiftete Natur, bie
menfchlich fittliche Welt, davon aus, indem er meint, es liege
hier der Gegenfaß der natürlichen und der geiftigen Welt überhaupt
vor, da doch vielmehr der Gegenfaß von Natur und Kunft vor«
liegt. Was namlih an ſich weit über die Natur hinausliegt, ift
im Zufammenbange der Uefthetif noch bloße Natur, fofern es ber
358
von der Kunſt noch nicht verflärten Wirklichkeit angehört; bloße
Naturſchoͤnheit ift jede Erſcheinung, welche von Kräften hervor⸗
gebracht wird, bie in dieſem Hervorbringen nicht die Schönheit,
fondern einen andern Zweck wollen, fo daß die Schönheit, melde
dabei zu Tage Eommt, mit den Mängeln ver Zufälligkeit behaftet
tt. Ob diefe Kräfte natürliche oder fittliche find, iſt für den all»
gemeinen Gegenfab, um ben es fi zumächft handelt, gleichgül⸗
tig. Wenn z. B. ein Volt für feine Freiheit in der Schladt
fümpft, fo iſt dies nichts meniger als eine Naturesfeheinung;
allein den Kriegern ift ed im Kampfe im Seringften nicht darum
zu thun, wie fie auöfehen, was für ein Bild fie einem Maler
barbieten, daher kommen in diefer Schlacht neben foldden Grup⸗
pen und Situationen, melche ein Fünftlerifch ſchönes Schauſpiel
barbieten, andere vor, melde für den Künftler ganz unbrauchbar
find, daher tft die Schönheit, welche hier zu finden ift, eine bes
wußtlofe, zufällige, d. h. eine bloße Naturfchönheit im Gegen⸗
fage gegen Kunftichönheit. Weil nun Hegel diefen Gegenfa mit
dem Gegenfabe von Natur und Geift überhaupt verwechſelt, fo iſt
diefer ganze Abfchnitt viel zu kurz audgefallen; er umfaßt in feiner
richtigen Auspehnung nichtd weniger, als die ganze Welt, fo viel
fie rohen, der Bearbeitung erft bedürftigen Stoff für die Phan-
taſie und die Kunft enthält. Natürlich muß man hier weite Schritte
nehmen, und nur dad Wejentliche heraudgreifen. Zuerft ift bie
unorganiſche Natur zu überbliden, Erdbildungen, Luft, Waſſer,
Licht, Farbe, Schall: vie Reihe beginnt wieder mit dem objer-
tiven Im engern Sinne. Das zweite Gebiet umfaßt bie organic
Natur, Hier follte die Aeſthetik, wenn fie von der vegetabilijchen
Schönheit zur thierifchen- übergegangen ift, Hand in Hand mit
399
der Zoologie geben, freilich einer fperulativeren, als die bisherige
ift, und das Stufenfyftem der thieriſchen Organiſation aud dem
Geſichtspunkte durchwandern, daß je die befeeltere Form auch) die
ſchönere ift, wobel die nahe liegenden Einwendungen ſich nament-
lich durch das widerlegen, mas ich in meiner Schrift über das
Erhabene und Komifhe, ©. 30, 31 gefagt habe. Ift man nun
bis zur menſchlichen Geftalt aufgeftiegen, fo beginnt ein neued
Gebiet, denn indem der Ausdruck derfelben der einer vollfom>
menen Befeelung ift, fo ift ihre Schönheit nicht mehr bloß eine
natürliche, fondern eine geiftige oder geiftig natürliche. Die menſch⸗
liche Schönheit bildet die dritte Sphäre, und hier beginnt bie
Betrachtung wieder von unten, d. h. der Menfch wird zuerft in
feiner unmittelbaren Erſcheinung oder ald einfache Ipentität ber
Seele und des Leibs in’s Auge gefaßt und die ſpecifiſchen Schön-
heiten feiner ganzen Geftalt aufgemiefen. Cine zweite höhere Ab-
teilung in diefer Sphäre bilden die natürlichen Unterſchiede des
menschlichen Geſchlechts, die aber zugleich bereits geiſtig ſittliche
ſind, oder das anthropologiſche Gebiet. Die Altersſtufen, der
Unterſchied der Geſchlechter, ſeine Aufhebung in der Liebe, die
Ehe, die Familie find hier vom äſthetiſchen Standpunkte zu bes
trachten; die Yamilie führt zur Verzweigung der Gefchlechter,
wie ſie fich als Volk ausbreitet, die Völkerracen find nad Tem⸗
yerament, Geftalt, Tracht Eurz zu überbliden, und der Begriff
des Volkes leitet nun zur dritten Stufe hinauf, zum Staate oder
zum fittlichen Geifte in feiner durch ihn frei geformten Erſcheinung.
Hier find nun die gefehichtlihen Hauptformen des Staatslebens
aufzuführen und nachzuweiſen, welche die Afthetifch wortheilhaftere
jei: der antife Staat, zuerft der patriarchafifche und deſpotiſche
360
des Orients, dann der heroiſche, republifanifche, kaiſerliche des
klaſſiſchen Alterthums, Hierauf der mittelalterliche Feudalſtaat,
endlich der verftändig monarchifche der modernen Zeit, durch feine
mechaniſchen Formen der ungünftigfte für Afthetifde Behandlung.
In diefen Abſchnitt, nicht in die Lehre vom Ideale, gehört, maß
Hegel im dritten Kapitel des erften Iheild vom allgemeinen Welt-
zuftande fagt. Wir haben hier die große Welt vor ums, aus
welcher die beveutendften Zweige der Kunſt, namentlich die dra-
matifhe Poefle, ihre Stoffe nehmen; der Aefthetifer muß bie
wirkliche Kunft immer bereit3 im Auge haben und kann es, ohne
zu anticipiren; es bebarf bei jedem Punkte nur eines Winfes, um
dem Schüler klar zu machen, warum bie vorliegende Sphäre
wichtig ift, fo z.B. im vorhergehennen Abfchnitte, menn von ber
Familie die Rede tft, genügt es, an den Rear zu erinnern, um
auf die Bedeutung diefes äſthetiſchen Stoffs aufmerkfjam zu machen.
Daß auch in dieſem Gebiete eine Furze, überfichtliche Zeichnung
mit breiten Strichen nothwendig iſt, verfteht fih. Uebrigens darf
auch die Frage nach dem veränderten Charakter, den in den ver-
ſchiedenen Culturſtufen des Staatslebens die Indivibualität an«
nimmt, nicht umgangen werden. Im modernen Staate z. B.
wird in dem Grade, in welchem die Lebendigkeit aus den mecha⸗
niſirten Formen des Öffentlichen Lebens ſich in's Innere zurück⸗
zieht, das Privatleben, die perſönliche Bildung wichtig, und hier
iſt der Punkt, an welchen ſpäter die Lehre vom Roman und der
Novelle anzuknüpfen hat, während dagegen dad antike Staats⸗
leben jene objectiven, ungetheilten Charaktere hervorbrachte, welche
man kennen muß, um die Plaftit, um die antife Tragödie zu
verfteben.
361
Das aljo wäre der Inhalt des erften Abſchnitts im zweiten
Theile, oder der Lehre von der bloß obfectiven Eriftenz des Schö⸗
nen, d. h. der Naturſchönheit. Der Uebergang zum zweiten Ab⸗
ſchnitte vermittelt fich von ſelbſt, indem am Schluffe alle Mängel
aufzuzählen find, "mit denen die Naturſchönheit behaftet ift, ihre
Seltenheit, Zufälligfeit, Untermiſchung mit Unſchönem, . ihre
Flüchtigkeit. Daß man dieſe Mängel findet und bemerkt, dies
feßt bereit3 ein Princip voraus, das Über der Naturfchönheit ſteht
und mit den Maafftabe einer geiftigen Idee des Schönen zu ihr
tritt. Alle Mängel des Naturfhönen haben ihren Grund in ſei⸗
ner Bemwußtlofigkeit, jenes Princip ift alfo in einem Selbſtbe⸗
mußten zu fuchen, es muß ein fubjectiveö fein. Hier iſt denn ber
vielbeſprochene halbwahre Sat von der Naturnachahmung zu
würdigen und findet aus dem, was ſich bereitö ergeben hat, feine
einfache Erledigung.
Der zweite Abſchnitt nun hat zum Juhalte bie andere
noch einſeitige Form der Exiſtenz des Schönen, nämlich die bloß
ſubjective oder innerliche, die Phantaſie. Die Naturſchön⸗
heit iſt jetzt wirklich objectiv, bloßes Object für die Phantaſie ge⸗
worden, wie die Natur überhaupt die Beſtimmung hat, Object
für den Geift zu fein. Die Kehre won der Phantafle ald dem Or⸗
gane des fubjectiv Schönen theile ih nun in zwei Linterabfchnitte;
der erfte handelt von ber Phantafle überhaupt und dann von dem
Graben der Ausftattung des Subjects mit Derfelben, ber zweite
von der Phantafle der Völker, von den großen Hauptperioden
des Äfthetifhen Ideals, Elaffifch, romantifh, modern. Im erften
Unterabfehnitte beginnt die Lehre von der Phantafle überhaurt
wieder objectiv mit der Aufnahme ber Naturfchönheit durch bie
362
finnliche Anſchauung, unb laͤßt mit der Innerlichfehung berfelden
durch die Einbildungskraft. und ber geifligen Umgeftaltung ihrer
Bilder durch bie Idee die Phantaſie, bie organifche Einheit von
ee und Bild, das Ideal — zunächft das bloß innerlich vorge:
bildete — entftehen. Man ift bier ganz auf pſychologiſchem Ge⸗
biete. Auf die Lehre von der Phantaſie folgt bie Darſtellung ter
verſchiedenen Stufen ber Begabung des Subjects mit derſelben,
Talent und Genie; vielleicht ließe fich von beiden ein fragmen⸗
tartjche8 Genie, mie denn Beiſpiele eines folchen leicht aufzuweiſen
fein werben, als mittlere Form unterjcheiben.
Den zweiten Unterabfchnitt des zweiten Theils nun bildet
nach meiner Anoronung ber Gegenftand, welchen Hegel unter
dem Namen der befonderen Kunftformen ben ganzen zweiten Haupt⸗
theil de3 Syſtemes gewidmet Hat; eine Ausdehnung, welche offenbar
nicht möglich gewefen wäre, wenn nicht Segel aus dem äfthetifchen
Gebiete hier mehr, als recht ift, in das der Religionsphiloſophie
hinüberſchweifte. Daß die Lehre von den biftorifchen Sauptformen
bes äſthetiſchen Ideals in den Abſchnitt von der fubjectiven Exiſtenz
des Schönen als Phantafle gehört, wird wohl nicht beftritten
werden; denn es ift hier noch nicht die Nede von den Vormen ber
wirklichen Kunft, in welchen die Phantafle der Völker und Zeit
alter fich Außerte, fondern von dem inneren Grunde ihrer Vers
fihtedenheit. Der Uebergang bildet ſich ganz von felbft, inven
man am Schluffe der Darftellung des Genie dad weientliche Mo⸗
ment bervorhebt, daß daffelbe nichts Iſolirtes ift, ſondern in fei-
nem Volke wurzelt und den Menfchengeijt durch dad Mebium
feines Volksgeiſtes ſpiegelt. Gewonnen wird aber Durch dieſe meine
Anordnung insbeſondere eine höchft einleuchtende Parallele mit
, sAAm — u, —— nn. — — ..
363
dem erſten Abfchnitte dieſes Theils. Die Lehre von ber Nature
ſchönheit naͤmlich erhob fich von ber Betrachtung ber unorganiſchen,
organifchen, menſchlichen Natur zu dem höheren Schaufpiele, wel⸗
ches das Völferleben in feiner gefchichtlichen Erſcheinung darbietet.
Die verfehtebenen Staatöformen bed Orients, des Hafftfchen Alters
thums, der mittelalterlihen Völker, ber mobernen Zeit müflen
bort, mie ich behauptete, mit kurzen Neberblicken nach ihrem äfthe⸗
tiſchen Werthe beurtheilt werden. Diefer Abtheilung nun entfpricht
die gegenwärtige, welcht von ben gefchichtlichen Epochen des äfthes
tiſchen Ideals handelt, auf eine höchſt zweckmäßige Weile. Iene
Betrachtung war obfectiv, es war die Rebe von den Zuftänben
biejer Völker, fofern fie der äſthetiſchen Behandlung mehr ober
weniger Stoff abwerfen; biefe ift ſubjectiv, es wird unterfucht, wie
ſich in jenen Zuftänden die eigene Phantaſie der Völker ausbildete,
welches Ideal des Schönen fie fi ſchuf. Ih Hole hier zugleich
die Bemerkung nach, daß ſich auf die vorangehenden Stufen beider
Abſchnitte dieſelbe Kategorie des Objectiven und Subjectiven mit
Leichtigkeit anwenden ließe. Die unorganiſche Naturſchönheit iſt
obiectiv, ebenſo die erfte Art, welche der Thätigkeit der Phantafie
vorausgeht, nämlich die ſinnliche Anſchauung. In der organiſchen
Schönheit beginnt die ſubjective Beſeelung und vollendet fich in
ber menſchlichen; ebenfo beginnt die freie, ſubjective Durchdringung
der durch die finnlihe Unfchauung aufgenommenen Welt in der
Einbildungsfraft und vollendet fih in der Phantafle; das Leben
der Völker aber ift objectiv=fubjectio, denn ber Staat iſt dad Ges
bäude einer zweiten Natur, das der Wille in die Wirklichkeit hinein⸗
ſtellt; ebenſo ift die Phantafte der Völker objectiv » fubjectiv, bein
das Bild der Schönheit, das fie fi ſchafft, lebt im Geifte der
Sn
364
Subjecte, ber aber ein Gemeingeiſt ift und Bolt und Welt in biefem
Bilde nieberlegt; faßt man aber jedesmal den ganzen Abfchnitt in's
Auge, fo bleibt jene ganze erfte Reihe objectiv, dieſe zweite ſubjectiv.
In der Eintheilung dieſer Hauptepochen des Ideals nun babe
ih nach langer Erwägung eine von Hegel abweichende Anorbnung
vorgenommen. Diefe Erwägung ’betraf bie Trage, ob das mo-
derne Ideal als eine beiondere Form aufzuzählen ober unter das
romantiſche zu fubfumiren fet, fo etwa, daß es, wie Segel thut,
als Auflöſung deſſelben an ven Schluß geſetzt würde. Für bie
Subfumtion fprechen die mejentlihen Merkmale, welche das mo«
berne Ideal mit dem mittelalterlichen im gemeinſamen Unterfchiebe
von dem klaſſiſchen theilt; ja das Princip felbit, wenn man will,
haben beide mit einander gemein, bie Religion des Gelftes näm-
lich, vertieft von dem germanifchen Gemüthe, die Innerlichkeit, vie
maleriſche, muſikaliſche Stimmung im Gegenſatze gegen die plaſtiſche.
Allein zwifchen beiden fteht doch die ungeheure Kluft der Aufflä-
rung, welche die moderne Kunft als ihre negative Voraudfegung
niemal3 verläugnen darf noch kann, die der Autorität entwachſene
freie Subjectivität, die fi in einer verfländig zufammenhängenden
Weltordnung umfchaut, die Trennung der Kunft von der Reli
ion, die Verweltlichung der Kunft. Es ift diefelbe Frage, wie
bie, ob die Reformation, diefer Incivenzpunft des Modernen in
ber Gefhichte, eine Bewegung innerhalb der riftlichen Kirche,
ober über biefelbe hinaus fei, wo fi) auf beides mit Ja antiworten
läßt. Gegen die Auffaffung des modernen Ideals ald einer eigenen
Form ift noch vorzubringen, daß die moderne Phantaſie noch Feine
sufammenhängende, ſchwungvoll blühende Kunft aus fich hervor:
gebracht hat. Die niederländiſche Malerei im 17ten Jahrhundert,
[2 | Om [2 | [_
369
die deutſche Muſik und Poeſie in der zeiten Hälfte bes 18ten, die
jeßigen vielverfprechenden Anfänge neuer Malerfgulen in Deutſch⸗
land, Frankreich, Belgien find Früchte einer von der Anſchauungs⸗
weiſe des Mittelalters wefentlich verſchiedenen Bildung der Phan⸗
tafle, allein es find vereinzelte Neuerungen, bie noch Fein großes
Ganzes, Feine zufammenhängende Hauptepoche, Fein geichloffenes
MWeltalter ver Kunft zu ſchaffen vermodhten. Man Fönnte fi auf
Shakſpeare berufen und fagen, mit ihm fet bereitö unmittelbar
nach dem Ablaufe des Mittelalter das Moderne ein» für allemal
Epoche⸗bildend durchgebrochen, ſchon fofern er ein dramatiſches
Genie war, das Dramatiſche aber eine in ihrem Princip moderne
Kunſtform iſt. Allein in Shakſpeare vereinigt ſich das Mittel⸗
alter und die neue Zeit, der Geiſt des ſelbſtbewußten Willens und
der ahnungsvollen Nacht, ſo wunderbar, daß dadurch von Neuem
ein Zweifel entſtehen muß. Hier iſt keine andere Löſung, als
hoffnungsvoll in die Zukunft ſchauen und größere, zufanmenhän«
gende Früchte der modernen Kımfl von ihr erwarten, übrigens
mit Berufung auf die große Krifiß, welche die moderne Zeit vom
Mittelalter trennt, einen ſcharfen Strich zwifchen dem Ideale bei
der Zeiträume ziehen. Am fhlimmften freilich wäre e8, mern man
und diefe Hoffnung felbft nähme, wenn Jemand der Beweis ges
Lingen follte, daß eben das, was die moderne Zeit von jedem frühes
ren Weltalter unterfcheidet, zwar etwas Erhabenes ſei, fo lang
man diefen Ausdruck nicht auf die Erſcheinung beziehe, aber auch
ein ätzender Geift, der alle Naivität und Kunft zerfreffe. Ich für
meinen Theil befenne, baß mein Zutrauen zu der Zukunft der
Kunft gewiſſe Schwankungen bat; man wird fie bemerken, wenn
man meine Anzeigen von Overbecks Bild, von ben Rambourfchen
366
Aquarellfopleen und dann von Hallmann's „Kunſtbeſtrebungen
der Gegenmwartu liest. Wahr bleibt immer, daß und die moderne
Weltanſchauung eine Welt von Kunftftoffen, ja daß fle und die
Welt erft geſchenkt hat, indem fie die tranftendente Afterwelt zer⸗
ftörte; allein die Frage ift, ob die Eritifche Kraft, welche zu dieſem
Bau einer neuen geiftigen Welt nöthig ift, nicht, indem fle einen
neuen Boden für die Kunft gewinnt, zugleich die Stimmung aus⸗
ſchließt und zerftört, welche Dazu gehört, ihn freudig und rüſtig zu
erobern. Stier figt aljo ein Neft von Zweifeln, aus dem man mit
den gleihen Füßen des Glaubens herausfpringen muß, und fo
wollen wir ed denn anıh halten.
Inden ig num das Moderne als eine felbftftändige Haupt⸗
form des Afthetifchen Ideals aufftelle, halte ich dennoch) die dreis
gliedrige Eintheilung dadurch feſt, daß ich die orientalifche Phantaſie
nicht als eine eigene Form aufftelle, fondern als eine mur vorbe⸗
Teitende unter das antike Ideal ſubſumire. So reih und groß
nänli die orientaliſche Kunft ift, fo erfcheint fie doch durchaus
unreif und weist über fih hinaus auf ihre Vollendung in ber
griechiſchen. Ste ift ſymboliſch, d. h. fie Hat die innere Einheit
von Idee und Bild, welche allem Schönen weſentlich ift, noch
nicht gefunden, fie geht noch nicht auf die Schönheit als folche,
fondern auf die Wahrheit, der fie die Schönheit opfert. Ein Göt⸗
terbifd mit drei Köpfen, mit vier Armen, einer Menge von Brüs
ften u. f. w. ift unfchön, aber eben darum flieht man ſogleich, daß
es nicht um Die Form, fondern um den Sinn zu thun ifl. Die
orientalifche Phantafte ift Schwelle, Vorhalle, Spannung auf die
griechijche, wie der ägyptifche Tempel die Propyläen zum griedhie
ſchen darſtellt, indem er faft nichts als Vorbereitung, Cingang,
367
Schale ohne letzten Kern iſt. Ich laſſe nun die Kategorie des Ob⸗
jectiven und Subfectiven wieder als audgefprochenen Eintheilungs⸗
grund hervortreten, und feße als erfte Sauptform pas objective
Ideal der antiken Phantafle, als Vorſtufe verfelben die vorbe⸗
reitende orientalifche, als Mittelpunkt Die griechiiche, als Ende bie
römifhe. Das Merkmal der Objectivität, unter welches ich dieſe
geſammte Form ſtelle, brauche ich Hier nicht zu erflären und zu
rechtfertigen; jeder verfteht e8 und gibt es zu, der die antike Kunft
kennt. Durch dieſes Prädikat fteht Die vorliegende Unterabtheilung
wieder dem Abfchnitt von der Naturfchönheit parallel, mie ja die
Religion, welcher die fo beftimmte Phantaſie angehört, Natur⸗
‚religion war (auch die griechiiche, wiewoht fle als Vollendung der
Naturreligion zugleich über fie hinausgeht und zur Neligion ver
fchönen Menſchlichkeit fich erhebt). Der Abſchnitt von der orientali⸗
ſchen oder ſymboliſchen Kunftform ift ed num inäbefondere, welchen
Hegel viel zu weitläufig behandelt hat; e8 genügt, die indifche, die
agyptifche und die moſaiſche Kunftanfchauung aufzuführen. Ebenſo
bat er ven „Geſtaltungsproceß der Haffifchen Kunftform“ zu aus»
führlich dargeftellt, denn alles bloß Symboliſche gehört eben, meil e8
erft ſymboliſch ift, mehr der Religionsphilofophie, als der Uefthetifan.
Den Uebergang zur Lehre von der romantijchen Phantaflie
vermittelt in meiner Behandlung der Begriff des Schickſals. Lieber
den Göttern ſchwebt das Schieffal, und dieß ift zugleich ihr Schick⸗
ſal. Denn das Schickſal tft die ans dem Selbft Hinausgemorfene,
in einem Jenſeits firirte innerfte Freiheit des Menfchen. Wie die
Götter eigentlich die menfchlihen Kräfte find, fo iſt das Schickſal
die Einheit dieſer Kräfte, das reine Ich, die Freiheit; aber diefe
Sreiheit muß, da die concreten menfchlichen Kräfte, deren Einheit
368
fie ift, in den Göttern obfectivirt unb auseinander gezogen find,
zur fürdterlihen grundlofen Naht werben, von welcher nichts
mehr auszufagen ift, als das Präbifat der unendlichen Macht.
Gemeint ift mit diejer Macht die Macht ver Freiheit; aber hinaus⸗
verlegt aus dem Inneren, wo fie im Mittelpuntte der von ihr bee
herrſchten Kräfte heiter und ſelbſtbewußt thront, und getrennt von
dieſen, melche ald Götter neben ihr beftehen, wird fie zur graufen
Nothwendigkeit, der Menſch erkennt fich nicht mehr in ihr, feine
Entſchlüſſe kommen ihm nicht mehr von innen, jondern fie find
ihm von diefer fremden Nothwendigkeit gegeben. Nur eine Ab-
nung bleibt, daß das Schickſal eigentlich der eigene Wille ift, daher
jene Antinomie der Schuld und Unfhuld in der griehifchen Tra⸗
göbie, bie ich in meiner Schrift über das Erhabene und Komiſche
noch nicht zu erflären mußte. Dieſes Schickſal nun fehmebt über
den Göttern; aber die Zeit wird fommen, da das Schickſal dahin
einfehrt, woher es eigentlich kommt, d. h. in's Innere, und bieß
geihieht, ſobald der Menſch fich feiner inneren Unendlichkeit und
Breibeit bemußt wird und dadurch mieder in fich hereinnimmt, mad
er aus fih Hinausverlegt hatte. Dann find die Götter verloren,
denn dann weiß der Menſch auch, daß fle nichts anderes find, als
feine eigenen Kräfte, die Organe cben der Freiheit. Zunächſt find
bie Götter dad Hinderniß, daß das Schiefal, d. h. das reine Ich,
und der Menſch nicht zuſammenkommen können, fie ftehen dazwi⸗
ſchen als trennende und ausſchließende Materie und werfen Schat-
ten, fo daß der Menſch Hinter ihnen, im Schickſal nicht fich ſelbſt
erkennen kann. Uber er kommt dahinter, und fie find geftürzt.
Das Ideal des Mittelalter8 nun, was fonft romantiſch
heißt, führe ich auf als das Ideal der phantaftifhen Sub-
369
jeetivität und halte fo ohne Zwang meine Kategorie feſt. Sub⸗
jectivität: denn dem Geifte ift feine innere Unendlichkeit aufgegangen,
wogegen jedes finnliche Ding zum durchſichtigen Schleier dieſer See»
lentiefe herabgeſetzt ift. Phantaſtiſche Subjectivität: denn durch den
Reſt von Moſaismus und Polytheismus, von welchem fich bie
Völker des Mittelalterd, vie romanifchen insbeſondere, nicht bes
freit hatten, ift im Widerſpruch mit dem Princip der Innerlichkeit
Gott in einem Jenſeits firirt und dort in einen Olymp von über-
weltlichen Geftalten audeinander gezogen, und Daraus folgt das
phantaftifche Bewußtſein des Mittelalters. Die antife Weltan-
ſchauung war einfach in fih, der Menſch ſuchte und fand ſich in
feinen Göttern; der Menſch des Mittelalters Hat fich in fich und
ſucht fich doch außer fi, naher fieht er Alles in gebrochenen Lich⸗
tern: ein allgemeined Doppeltfehen,, nichts ficht der Menſch, wie
es ift, zwiſchen fi und jedes Ding ſchiebt er die geifterhafte Ge⸗
ftalt, in welcher er fich ſelbſt ahnt und doch nicht erfennt. Hätte
dad Subject wahrhaft und ganz fich felbft, fo würde ihm auch das
Object Elar gegenübertreten, dann würde es eine helle und unbe⸗
fangene Betrachtung der Natur, der Geſchichte, einen geordneten
Staat geben. Allein das Subject hat ſich erfaßt und zugleich wie⸗
der verloren, ſeine auf's Neue in ein Jenſeits hinausgeſtellte Maske
lauſcht daher hinter jedem Ding, die Natur iſt voll von Geiſtern,
die Geſchichte voll von Wundern, und der Staat, weil ein ſolches
Subfert. nicht Zeit hat, ſich zu bilden, fonbern, indem e8 feinen
Himmel jenfeits fucht, inzwiſchen die Sinnlichkeit frei gehen Täßt,
eine Atomiftif roher, ſelbſtändiger Kräfte, welche nod) Fein Geſetz
anerfennen.. Das Weltmefen, dem fein Innered auögefogen iſt,
Aritiſche Gänge II. RA.
370
um es als jenfeitige Geftaltenwelt zu fixiren, kann fich zu Teinem
vernünftigen Organismus entwideln.
Inden nun dieß die letzte Form desjenigen aſthetiſchen Ideals
iſt, das die innere Welt in Mythen obiectivirt, ſetze ich an den
Schluß dieſes Abſchnitts die Beſtimmung des Begriffs der Alle⸗
gorie. Die Allegorie iſt nichts Anderes, als (das Symbol und)
der Mythus, die nicht mehr geglaubt werden. Die gläubige Phan⸗
taſie der Völker wirft theils im Symbol, in welchem zwar für
und Idee und Bild bloß durch das Außerliche Band eines tertium
comparationis verbunden find, theils im Mythus, in welchem bie
ee ihr Bild'zwar als innere Seele durchdringt, welcher aber
für und nur äfthetifche, nicht dogmatiſche Wahrheit Hat, Gedanke
und Bild fo zufammen, daß fle ihr Gebilde für ein wirkliches, le
bendes Wefen hält. Sobald der Geift Fritifch wird, hebt er Dicke
Einheit auf und was fonft Symbol oder Mythus war, wird nun
Allegorie, d. h. ein Bild, an das wir nicht glauben, fondern dad
wir im Betrachten auflöfen, um abftract feine Bedeutung zu finden.
Bötter, Maria, Heilige, jüngfte Gerichte find jeßt todte Allegorieen.
Zugleich werden durch einen willfürlichen Akt des Verſtandes deut:
lich gedachte Ideen in neue Bilder geſteckt und fo neue Allegorieen
geſchaffen. Die Allegorie ift das Merkmal einer zerfallenen Kunft,
dad Ende des Mythen bildenden Ideals, in der neuen Kunft als
Verirrung zu verfolgen ober nur ald vereinzelte Nothhülfe zu dulden.
Als dritte Sauptforn nun fee ich alfo Dad moderne Ideal
unb nenne es dad Ideal der gebildeten,.d. h. der wahrhaft
befreiten und zugleich mit der Objectivität verfühnten
Subjectivität, woburd ausgeſprochen ift, daß bier das Ob⸗
jestive und Subjective wieder in Eins zufammengehen. Wenn nun
971
das antife Ideal durch feine Objectivität der Naturſchönheit analog
entipricht, dad romantifche ber fubfectiven Schönheit oder der Phan-
tafte, fo findet allerdings diefe dritte Form im bisherigen Syſteme
ihren parallelen Theil nicht, aber eben deßwegen nicht, weil wir
biemit auf dem Punkte ftehen, in den dritten Haupttheil überzu-
gehen, worin die biäher im Großen getrennten Gegenfäge des Ob-
fectiven und Subjectiven fich aufheben werden. Die Auflöfung der
biöherigen Gegenfüge in Diefer legten Form des Ideals zeigt an,
bag der Begriff der Schönheit num reif ift, in die wahrhafte und
höchſte Form jeiner Verwirklichung überzugehen. Ich muß jedoch
mein der modernen Phantaſie zugetheiltes Prädikat erſt rechtferti=
gen. Die gebildete Subjertivität ift Diejenige, welche der Fixirung
ihred eigenen Innern in einem Jenſeits, von dem fie nun unfrei
beberricht wurde, entwachfen ift und fich felber in ihrer Freiheit
bat und weiß. Der Eritijche Geift, der mit der Reformation durd)-
bricht, hat dieſes Werk vollbracht, die Subjectivität fich ſelbſt zurüd-
gegeben. Die Phantasmen, die Mythen find nun zu Ende. Das
Subject, indem es fich felber. gemonnen hat, ftellt fich eben Hiemit
auch das Object Elar gegenüber und fieht die Welt, mie fie ift.
Nun erft kann e3 zugleich an ſich felbft arbeiten, feine Sinnlichkeit
mit feiner Bernunft durchdringen, d. h. fich bilden, und zugleih
fich in die Objectivität hineinbilden und fie zu einem Spiegel und
Wohnort der disciplinirten Perfönlichkeit umgeftalten. Es findet
fih in fi und eben daher in ber Welt wieder, ift in biefer zu
Haufe. Die Welt ift entgöttert, die Natur entgeiftert, die Gefchichte
von Wundern entleert; wir haben, ich wiederhole es, bie Auf⸗
Härung hinter und und fünnen nimmermehr thun, als hätten
wir fle noch vor und. Iſt aber die Welt entgeiftert, fo ift fie erft
241 *
372
wahrhaft begeiftet, die falfhen Wunder find verſchwunden und
bie wahren erſchienen, die Götter geftürzt, aber der wahre Gott
geht durch die ganze Welt und fpricht als immanenter Geift aus
der verflandenen Orbnung und Geſetzmäßigkeit der Natur und al-
les Lebens. Es geht Alles mit natürlichen Dingen zu und doch
„webt in ewigem Geheimniß Alles unſichtbar fihtbar neben dir.“
Man weiß, wie mit der Reformation die humaniſtiſchen Stu-
dien zufammentrafen und beide in dem gleichen Sinne wirkten, bie
gleichen Feinde Hatten. Es war die Objectivität der antiken Welt,
melde dad vorher yhantaftifche Subjeet nun kennen Iernte, mit
freudiger Verwunderung begrüßte und ſich anzueignen begann;
dad zu Haufe fein in der Welt, die gediegene menſchliche Sitte,
bie unendliche Entfernung von jeder Verflüchtigung der Kräfte in
Tranfeendenzen, diefe ganze helle Gegmmärtigfeit, das mar e8,
was dem düfteren, winterlichen Geifte der nordifchen Völker nun
zum erftenmal aufging. Es iſt alfo diefe Verfühnung ber, phan⸗
taftiichen Subjectivität mit der Objectivität wirklich auch hiſtoriſch
tine Vereinigung des Romantifchen und Klaffifken, fo daß nicht
etwa nur überhaupt die Bildung den neueren Völfern jene Ver:
ſöhnung mit der Wirklichkeit brachte, fondern fie fehöpften dieſe zu
einem guten Theile eigentlih und wirklich aus den Alten. Diep
war nun zugleih eine neue formelle Kunftbildung; die unver:
miſchte Romantik war bei aller Unendlichkeit des Gehalts nie von
Sormlofigkeit frei, das Formgefühl ald ſolches mar noch nidt
ausgebildet, das Bewußtſein der ſchöpferiſchen Freiheit und ihrer
Gejegmäßigkeit. Die Grazie der Alten ging nun der Phantafie
auf, die Durchfichtigkeit der Form, die reine Harınonie der Form
mit dem Gehalte. Nirgends ift dieſe Vereinigung ſchöner vollzo-
373
gen, alö in unferem Goethe und Schiller. Daß auch fie als eine
Verſöhnung der Subfectivität mit der Objectivität zu bezeichnen
ift, bebarf Feiner Ausführung.
Inden nun Feine Form des Ideals mehr zurüd ift, fondern
die Gegenjäte, die in ihm gegeben fein können, (dem Umkreis un⸗
ferer Begriffe nad) erfhöpft find, fo ift dieſer Begriff der fub-
jectiven Exiftenz des Schönen als Phantafle erfüllt und fertig, in
einen anderen höheren überzugehen und biefer bildet den britten
Theil. Die zwei Uefte, die zwei einfeitigen Formen der Eriftenz,
in welche ver allgemeine Begriff des Schönen im zweiten Theile
fih ausıinandergelegt, gehen wieder zujummen und wir erhalten
die fubjectiv=objective Eriftenz des Schönen in der
Kunft. Wie der Begriff der Kunſt gefunden wird, brauche ich
bier, mo ich die Ausführung nicht ſchuldig bin, nur anzubeuten.
Am Schluffe des Abfchnittd von ber Naturſchönheit wurden die
Mängel derfelben aufgezeigt, welche insgeſammt in ihrer Objectivi-
tät begründet find; am Schluffe des Abfchnitts von der Phantafte
find ebenfo die Mängel diefer bloß innerlichen Exiſtenz des Schönen
in der ſubjectiven Vorftellung aufzuzeigen. Nun erhellt, daß die Na⸗
turfehönheit duch ihre Objectivität eben fo fehr einen Vorzug vor
der Phantaſie hat, als diefe durch ihre Geiftigkeit einen Vorzug vor
der Bewußtloſigkeit des Naturfhönen. Die Phantafle muß alfo
objectiv wirken, wenn fie diefen Mangel decken will, dieß forbert
ein-Herauögeben aus fi, eine Mittheilung dur das Mediun
eines finnlihen Stoffs, der fo bearbeitet wird, daß er das innere
Phantaflegebilde wiebergibt, eine Thätigkeit aljo, und dieſe Thä-
tigkeit iſt die Kunſt. Das Produkt der Kunft nun muß die Mo-
mente der Obfestivität und Subjectivität fo vereinigen, Daß in dem
374
Ideale, wie ed namlich erft im Innern des Künftlerd gegenwärtig
war, nichts zurückbleibt, was nicht durch die Bearbeitung des
finnlihen Materials volftändig zur Darftelung käme, und daß
im Stoffe nichts zurückbleibt, was nicht das Ideal wiedergäke.
Zur Objeetivität wird erfordert, daß Das Kunſtwerk ſich ſelbſt aus⸗
ſpreche, abgelöst von feinem Urheber, unbefangen und abfichts«
198, wie ein Werk der Natur; ‚aber eben fo ſehr jol das Kımfl-
werf feine Subfeftivität zu erfennen geben, man fol ihm anfehen,
daß ed ganz aus dem Geifte ſtammt, und jeder Heft bloßer un-
verarbeiteter Natur fol in ihm getilgt fein. Kant fagt: „An einem
Producte der fehönen Kunft muß man fi bewußt werben, daß
ed Kunſt ſei und nicht Natur; aber doch muß bie Zweckmäßigkeit
in der Form deſſelben von allem Zwange willfürliher Regeln fo
frei jheinen, als ob es ein Product der bloßen Natur fei. Die
Natur war ſchön, wenn fie zugleich als Kunft ausfah, umd die
Kunft kann nur fon genannt werden, wenn wir und bemuft
find, fie ſei Kunft und fie und doch als Natur audfleht.« Nun
erinnere man fi an die oben zum Anfang gegebene Definition
bed Schönen, und man erkennt, daß jebt, aber auch jet erſt
gefunden ift, wo denn dad Schöne eigentlich wirklich fei; nur
die Kunft leiftet, was jene Definition fordert.
Aus dem Geſetze vollftindiger Durchdringung der Subjectivi-
tät und Objectivität find in der Aufftellung der allgemeinen Merk-
male des Kunftwerfs, womit fi} dieſer dritte Theil zumächft zu
beichaftigen hat, alle befonderen Beftimmungen mit Leichtigkeit
abzuleiten. Die befte Anordnung dieſes Abſchnitts wird fein,
wenn man zuerft von den Forderungen der Obfectivität in Bezie⸗
hung auf hiftorifche Treue u. f. w. handelt, welche an ein Kunft-
375
werk gemacht werben, hierauf das Recht der Subjectivität, ber
Perfönlichkeit des Künftlerd in Betracht zieht, bie er allervings
in feinen Werken niederlegen fol, die ſich aber zunächft als bloß
individuelle Gewöhnung nicht felten auf Koften ver Sache geltend
macht: die Manier. Die höhere Einheit diefer Momente endlich
tritt im Style auf, d. h. der zur technifhen Gewöhnung gewor⸗
denen oenlität der Behandlung, worin eine vom Gewichte des.
Gegenſtandes durchdrungene, mächtige Subjectivität zugleich fich
felbft und die großen Hauptzüge des bargeftellten Objectes gibt.
Hier treten dann die befannten hiftoriihen Phaſen des ftrengen,
des hohen, des gefälligen und rührenden Styls hervor, die fi
am deutlichſten in der Gefchichte der griechtfchen Plaſtik ausſprechen.
Durch die Aufitelung jener beiden Momente ift nun aber auch
das glüdlichfte Princip für eine Eintheilung ver einzelnen Künfte
gegeben. Ueber die Unzulänglichfeit der früheren, von ber Art
des Materiald oder ver Kategorie, unter melde daſſelbe fällt,
Hergenommenen Eintheilung in plaftifche und tonifche Künfte, oder
Künfte des Raums und der Zeit fage ich hier nichts. Auch zu
Hegeld Eintheilung kann ich mich nicht verftehen; er legt das
Hiftorifhe Moment zu Grunde und orbnet die Künfte nad den
geſchichtlichen Hauptformen des Ideals, wonach die Arcitectur
unter den Standpunkt der ſymboliſchen, die Sculptur der klaſſi⸗
ſchen, Malerei, Muſik, Poeſie der romantiſchen Kunſtform fallen,
wobei von der letzteren allerdings ausdrücklich anerkannt wird,
daß fie als die Kunſt, deren flüſſige Geiſtigkeit am wenigſten
Kampf mit dem Materiale fordert, in allen geſchichtlichen Formen
des Ideals gleich lebendig hervorgetreten iſt. In den Ueberſchriften
hat zwar Hegel dieſen Eintheilungsgrund nur für die romantiſchen
376
Künfte ausdrücklich hervorgehoben, er hätte es aber der Gleich⸗
mäßigfeit wegen beſſer auch bei den andern gethan. Allein ih
glaube, daß in der ſyſtematiſchen Cintheilung der Künfte nicht
ein geſchichtliches, fondern ein rein logiſches Princip geltend zu
machen ift; Hier iſt nicht die Rede davon, welche Künfte welchem
Zeitalter befonderd entfprechen , fondern welchen Unterſchied von
Künften der Begriff des Schönen mit innerer Notbiwendigkeit
fordert, und es muß zunächſt feftgehalten werben, daß jede Epoche
des Ideals alle Künfte angebaut hat. Allerdings trifft der logiſche
Unterſchied mit dem hiftorifhen im Allgemeinen zufammen , io
daß die Künfte, welche nach jenem die erfte, unmittelbarfte Stelle
einnehmen, auch biftorifch in den früheren Formen bes Ideals
aud inneren Gründen vorzüglich gepflegt wurden, allein e8 genügt,
diejed Zufammentreffen in der kurzen Geſchichte oder richtiger Phi⸗
Iofophie der Gefhichte einer jenen einzelnen Kunft, zu welcher bie
Lehre von dem allgemeinen Begriff verfelben fich zu erweitern hat,
hervorzuheben. Cine jede einzelne Kunft wird nämlich) , nachdem
ihr allgemeines Weſen dargeftelt ift, unter den Standpunft ber
in zweiten Theile aufgeführten drei Sauptformen des afthetifchen
Ideals gebracht und fo ihre Geſchichte in ihren Hauptzügen ent-
wickelt. Bei den meiften Künften fällt die Aufzählung ihrer Gat⸗
tungen mit diefer Ihrer Gefchichte zufammen und man vermeidet
dadurch die todte formelle Coorbination derſelben. So if z. B.
die religiöfe Malerei weſentlich vie des Mittelalters, Landfchaft,
Porträt und Genre eröffnen die moderne Malerei, das höhere
geichichtlihe Gemälde bleibt noch Aufgabe. Der richtige Einthei⸗
lungsgrund kann nun offenbar Fein anderer fein, als berfelbe,
welcher im ganzen Syſteme durdgängtg herrſcht. Die Kunft fi
377
die Wirklichkeit des Schönen, die Geſetze des Schönen find daher
ihre Gejeße und. ihre Gliederung kann Feine andere fein, als die
Gliederung des Schönen im ganzen Syfteme ; fie ift ein flufen-
fürmig ſich entfaltended Ganze, welches innerhalb feiner Sphäre
dieſelben Formen feiner Verwirklichung und aus derſelben inneren
Nothwendigfeit wieverholt, durch die wir dad Schöne überhaupt
zu feiner adäquaten Eriftenz auffteigen jahen. Dieß Geſetz iſt das
ber Bewegung aus ber abftracten Allgemeinheit durch bie Unmit⸗
telbarfeit oder Obfectivität zur Subjectivität, und dann zur höhe⸗
ren Bereinigung biefer Gegenſätze; es ift aber auch das Geſetz
der Verwirklichung einer jeden Idee, ja der Idee und hat hierin
feine letzte und abfolute Nechtfertigung. Es wird fich zeigen, welche
durchgängige Harmonie bed ganzen Syſtems wir durqh Einfüh⸗
rung dieſes Eintheilungsgrundes gewinnen.
So tritt denn zuerſt eine Gruppe von Künſten auf, deren
Werk mit der Naturſchönheit den Charakter vollfommener O b⸗
jectivität theilt, indem e8 als ſchwere Mafle in den Raum bins
austritt. Dieſes in räumlicher Form eriftirende Gebilde trägt
zwar, verglichen mit dem Naturſchönen, daſſelbe Gepräge der
Idealitaͤt, wie alle Kunft, jedoch unter den eigenthümlichen Be-
ſchränkungen, welche die ungeiftige, gegen ihre Bearbeitung gleich-
gültige Materie mit ſich bringt. Es fehlt die wirkliche Bewegung
und das geiftigfte Ausprudömittel, der Ton. Es find flumme,
maſſenhafte Künfte: die Baufunft, die Plaſtik, die Malerei,
fonft auch die bildenden Künfte genannt. Unter diefen trägt
am meiften den Charakter der Objectivität die Baukunſt; dem
ſchweren Stoffe, in welchem fie darftellt, nimmt fie umter allen
Künften am wenigften dad Stoffartige, Mafienhafte, indem. fle
378
denſelben nicht zu einer organiſchen Form umbildet, ſondern nur
nach abſtracten, geometriſchen Geſetzen anordnet. Daher gleicht
ſie, wie die bildenden Künſte durch ihre Objectivität überhaupt
der Naturfchönheit, fo innerhalb derſelben der unorganifchen,
fle erfcheint als eine potenzirte unorganifche Natur. Sp wie num
die unorganifche Natur eine organifdhe fordert, welcher fie zum
Stoff und Boden dient, ebenfo muß die Kunft, nachdem fie als
Architectur den unorganifchen Stoff zu einen ivealen Naume um«
gebilvet hat, auch das Lebendige aufftellen, für das diefer Raum
iſt; fie muß das Reich der abſtracten Linien verlaſſen und bie
bejeelte organiſche Geftalt zu ihrer Aufgabe machen, und bieß
it die Plaftil. Diefer Fortſchritt bleibt jedoch bei einer Grenze
ſtehen, in welcher fich die unmittelbare Herkunft aus der Archi⸗
tectur noch verräth. Sie ſtellt nämlich die organiſche Geftalt in
fhwerem, den Raum nah allen Dimenfionen erfüllendem Stoffe
dar und gibt ihr dadurch den Charakter des Dauernden, einfach
Seienden. Was fie gibt, iſt die reine Form, der Körper als ein
Bau der Seele, ald ein „ſchönes Gewächſe«“, und fo entfpricht
fie, wie die Baufunft der unorganiſchen Naturfhönhelt, dem
Meiche der organifchen, dad menschliche Weſen mitbegriffen, fofern
es noch als unmittelbare Einheit des Geiftigen und Leiblichen ge⸗
faßt wird. Die Malerei fteht, wie dieß von Hegel fo erſchoͤpfend
nachgewieſen if, an der Grenze der bildenden Künfte. Gerade
dadurch, daß fie nur einen Schein der räumlichen Dimenflonen
gibt, hebt fie ih aus der Materialität heraus und nähert fi
ten Künften, deren Darftelungsmittel nicht ein materiell ruhen⸗
bes, fondern ein geiftig bemwegtes if. Durch die Aufnahme ber
Barbe in ihren unendlichen Berhältnifien zum Lichte wirb ber ganze
379
Geiſt der Auffaffung ein anderer. Wie nämlich die Natur über-
haupt aus einem anderen Standpunkte angeſchaut wirb, wenn
nicht mehr die compacte Beitimmthett der Geftalt das eigentliche
Augenmerk ift, fondern die Magie des Lichts und Schattens und
der Barbe über alle Gegenftände eine gewiſſe geiftige Stimmung
verbreitet, ebenjo kommt e8 in der Darftellung der Perfönlichkelt
aus demfelben Grunde jeßt nicht mehr auf die reinen Formen bes
Gliederbaues, ar welche fich die Plaſtik hält, allein an, ſondern
auf den geifligen Ton ‚ ber fich über dad Ganze deſſelben ergießt
und ſich im Angeſichte, im Auge vor Allem concentrirt. Hiemit
tft die Darftelung einer unmittelbaren Einheit von Geift und Sin⸗
nenleben, in welcher die Plaftik ſich bewegt, aufgehoben und bie leib⸗
liche Geftalt zur bloßen, für fich unfelbftändigen Hülle des Geiftes
berabgefeßt, der, in feine Unendlichkeit zurückgegangen, nunmehr aus
jener wie ein Licht aus einem gebrochenen Dunkel hervorfcheint.
In der Togtichen Folge dieſer drei objectiven Künfte wiederholt
fich zugleich die Hiftorifche der Hauptformen des äfthetiichen Ideals
und bieß ift, wie oben bemerkt, in der Ausführung felbft, mo
von den Hauptmomenten der Gefchichte jeder dieſer Künfte die
Rede fein muß, nachzuweiſen. Nur darin tft die Analogie eine
volftändige, bag man bier die ſymboliſche oder orientaliſche Phan⸗
taſte von der klaſſiſchen trennen, dagegen die romantiſche und
moderne zuſammennehmen muß. Die Baukunſt nämlich ſagte
vorzüglich der dunkeln Erhabenheit der Orientalen zu, bie Plaſtik
war fo fehr der Ausdruck des griechifchen Geiſtes, daß auch alle
andern Kuͤnſte in ihrem Sinne behandelt wurden, die Malerei
gehört wefentlich den germantfchen und germanifch - romanifhen
Völkern, welche, vom Chriſtenthum durchdrungen, den Ausdruck
380
ber Innigkeit und Innerlichkeit in aller Kunft fuchten und zuerft
das romantifche, dann auf einer fpäteren Entwicklungsſtufe pas
moberne Ideal fhufen. Es verfteht fich übrigens, daß diefe auf
einem untergeorbneten Punkte fich ergebende DVeranlafjung , bie
Ideale anders einzutheilen , Feine Aufforderung enthalten Tann,
von der erften Eintheilung abzugeben. Im vorliegenden Falle tritt
ber Unterſchied der orientalifhen Kunft von der klaſſiſchen und
das Gemeinfame des romantiſchen und moberngs Ideals ſtaͤrker
hervor, zwei Punkte, die wir in der Lehre von Ben Hauptformen _
des Ideals nihtӟberfahen, aber gegen das Gemeinfame dort
und dad Tinterfcheidende Hier aus guten Gründen zurüdtellten.
Zwiſchen diefe Gruppe von objectiven Künften num und zwi⸗
ſchen die höchfte und erfülltefte Korn der Kunſt in die Mitte iſt
bie fpeeififch fubjective Kunſt, die Muſik, zu feßen. Sie ſteht
im ganzen Syſtem ber Künfte fo eigenthümlich da, daß fle mit
feiner andern in Eine Kategorie zufammengenommen werben darf.
Zunähft Hefteht ihre Eigenthümlichkeit darin, daß fie auf alle
säumlihe Darftelung für das Geſicht verzichtet; das Object
ſowohl, welches, als das Subject, für melches fie darſtellt, iſt
der Geift in feinem rein innerlichen Beitleben; die ganze Koͤrper⸗
welt ift in diefe Tiefe zurückgeſchlungen. Hierauf beruht der Bor-
zug ber Muſik vor den bildenden Künften. Das Material nämlich,
worin fie darftellt, ift der Ton. Zur Hervorbringung beffelben
braucht e3 zwar ein Näumliches, einen Körper; aber gerabe im
Tönen hebt diefer, momentan wenigftens, fein Fürfichbeftehen im
NRaume auf, er wirb für Anderes und theilt fih mit. Diefe Mit-
theilung gelangt an den Nero des Subject? und burch benfelben
zu deſſen innerer Empfindung. &o ehrt durch ben Klang bie
381
ganze räumliche Welt in den einfachen negativen Punkt der Sub-
jectioität ein. Diefe Bewegung iſt nun eben die Aufhebung des
Raums in die Zeit, die Zeit aber ift die Form des ſubjectiven
Lebens, oder richtiger das Subfect die lebendige, ſich empfindende
Zeit. In diefer Verflüchtigung des Raums in die Zeit, worauf
eben die Geiſtigkeit der Muſik beruht, Tiegt aber auch die eigen-
thümliche Befchränfung und Mangelhaftigkeit diefer Kunfl. Es
ift nämlich das äfthetifche Grundgefeß, daß das geiftig Innerliche
auch erfcheine. Die eigentliche Hauptform aller Erſcheinung iſt die
des Sichtbaren , die Verwirklichung der Ideenwelt ift Verkörpe-
rung. Diefe Form, welche mit dem abäquateren Ausdrud des
rein geiftigen Lebens, ven die Kunft allerdings fuchen muß, fo
gewiß vereinbar ift, alö der Geift mefentlich in feinem Leibe fich
realifirt, hat die Muſik hinter fich gelaffen und die Wiederher⸗
ftellung derfelben in einer höheren Weife noch nicht gefunden.
Die Muſik Tann und fol nicht malen. Ihr Charakter ift Gegen⸗
ſtandsloſigkeit. Die ganze Welt der Körper Fann fie nur mittel=
bar darſtellen, nämlich in ihrer fubjeetiven Wirkung. Von dem
Leben des fubjertiven Geiftes fallen aber alle Formen, worin bie
Entgegenfeßung zmifchen Subject und Object wirklich vollzogen
ift, aus demfelben Grunde — weil fie nämlich Feine Objecte geben
fann — für die Muſik weg und es bleibt ihr nur die ungeſchie⸗
dene Einheit der verfchievenen pſychiſchen Functionen, das reine
Innewerden feiner felöft, die Empfindung, der dunkle Schoos,
aus welchen alle beftimmten Seelenthätigfeiten auftauchen, deſſen
Erinnerung fie in ihrem Verlaufe begleitet, und in welchen fle
erlöſchend zurückſinken. Somit ift die Muſik eine rein fubjective
Kunſt; die ganze fichtbare Geftaltenwelt und die ganze Welt gei⸗
382
fliger Thatigkeiten, die ein Object voraudfegen, Tann fie nur
durch das Medium ihrer Nefonanz in der Empfindung ausfpreden.
In fi zwar hat die Empfindung ein unendliches Leben beftinmter
Unterſchiede; aber verglichen mit den andern Sphären des Geiftes
ift fle doch nur ein unbeftimmtes Weben in fich.
Die Muſik Hai Alles und hat Nichts; dieß ift ihre eigen-
thümliche Antinomie und der Grund, warum über Feine Kunſt
jo großer Widerftreit der Urtheile herrſcht. Wer implicirte Unend⸗
lichkeit fucht, den entzüdt fie, wer objective Beftimmtheit fucht,
den täujcht fie. Sie beglüdt das Weib und den weichen, innigen
Mann, fte genügt dem ſcharfen, denkenden Geifte nicht. Sie ift
für den, der auf dad Sehen organifirt ift, zu abftract geiflig;
für den, der die höchſte Form der Kunft, die Poefie im Auge
bat, zu finnlih. Sie Eonnte bei den Alten fi nicht in ihrem
eigenthümlichen Wejen ausbilden, fie waren zu plaſtiſch, zu finn-
lich; fie gehört dem romantifchen und modernen Ideale an, alio
dem geiftigeren, dem Ideale der Imnerlichkeit; aber bier blüht
fie am meiften bei den finnlicheren Völfern und das Theater be:
herricht fie, wo das geiftigere Drama in Verfall gekommen if.
Ih füge bier nur einen Winf über einen Punkt bei, worin und
Hegel ganz im Stiche läßt, nämlich die gefchichtlihen Hauptmo⸗
mente der Muſik, deren Darlegung zugleich die Aufzählung ihrer
wichtigjten Gattungen iſt. Es läßt fi aud hier ganz ungejudt
unfere durchgängig angewandte Kategorie geltend machen. Die
Muſik beginnt objectiv mit dem ftrengen Kirchenſtyle, fie nimmt
dad Subjective aud dem Volkslied auf, führt ed als ermärmentes
Element in ihre firenge Cinfachheit ein, bildet fo das auf dem
Vebergang flehende Oratorium, und vereinigt endlich beide Ge⸗
383
genfäße in der wahrhaft modernen Form, ber weltlih freien
Muſik, ver Oper. Es liegt Hier ſchon ganz nahe, flatt der Ber
nennung obfectiv u. f. w. die Terminologie der Dichtkunft epifch,
lyriſch, dramatiſch anzuwenden, ja die Oper muß ſchon drama⸗
tiſch genannt werden; wir ſtehen dicht an der Grenze der Poefle.
Wir müſſen nämlich die Muſik nicht nur nach rückwärts betrach⸗
ten als diefenige Kunflform, worin die Körpermwelt, dad Element
der bildenven Künfte, in das rein innerlihe Weben der Subjer-
tivität zerfchmilgt. Sie hat eine andere Kunft vor fi, in welcher
die Einfeitigkeit ihrer bildloſen Subjectivität durch Erneuerung ber
objeetiven Anſchauung in höherer Form fich herſtellt; eine Kunſt,
welche mit dem Vorzuge der Muſik die Vorzüge der bildenden
Künfte vereinigt und daher zu den übrigen Künften ſich ebenſo
verhält, wie die Kunft überhaupt zu der bloß objectiven Eriftenz
des Schönen in der Natur und der bloß ſubjectiven in der Phan⸗
taſie, nämlich als die höhere Einheit, worin diefe Gegenſätze
erlöfhen. So ericheint denn die Muflf als die Mitte zwiſchen
den bildenden Künften und der abfoluten Kunft, fie tft das Ende
jener und die Borhalle dieſer, fie ift die Kunft, worin der Afthe-
tifche Geift von der Zerftreuung des Objectiven fich fammelt und
zugleich zu einer vergeiftigten Wiederherſtellung deſſelben ſich vor⸗
bereitet. Nicht umſonſt hat man die Muſik fo häufig mit der
Architectur verglichen, die Verwaudtſchaft beiteht aber, um von
den vielen andern gemeinfamen Merkmalen bier nicht zu reben,
. auch darin, daß die Mufik zur Poefie ſich ebenfo verhält, wie bie
Baukunſt zunächft zur Plaftif und fofort zu den anderen Künften.
Das unorganifche,, dunkel andeutende Gebilde der Architectur
flinnmt, es ſtimmt zur Erwartung der befeelten Geftalt, die und
384
fagt, was das Gebäude wollte; aus der dämmernden Nacht. der
Empfindung, in welche diefe Räume, dieſe fließenden, fteigenben
Mafien uns führten, blitzt dad Ich hervor , die Perſönlichkeit,
das Götterbilo. Ebenſo löst Die vorbereitenden , ſpannenden Ge-
fühlsräthfel der Muſik das Wort: die Poeſie.
Ih Habe es nun zu rechtfertigen, warum ich die Poeſie als
die fubjeftiv = objektive, ober die abfolute Kunft an bie
Spike der Künfte und fomit des ganzen Syſtems ſtelle. Wir
fnüpfen an die Muſik an. Die Poeſie bedient ſich wie diefe des
Tons und ift gegen deſſen rhythmiſche Bildung nicht gleichgültig;
ein Beweis, daß fie aus der Muſik herkommt. Allein fie nimmt
nicht den Ton überhaupt in feiner Unbeftimmtheit ‚ fondern ben
artikulirten Ton, dad Wort, die Sprache zu ihrem Ausdrucks⸗
mittel. Diefe ift aber nicht dad Material für die Poefle, wie
der fihtbare Körper für die bildenden Künfte, der Ton für bie
Mufit. Sie hat vielmehr gar Fein finnliches Material mehr und
die Syrache ift ihr ein für ſich bedeutungsloſes Zeichen, wodurch
ihre Einwirkung auf das rein geiftige Material, in welchem fie
darftellt, vermittelt wird. Das Wefen der Sprache beftebt darin,
daß durch einen geiftigen Mechanismus der Gewohnheit mit dem
Dernehmen eines Wortes unmittelbar der durch dafjelbe bezeich-
nete Gegenftand dem Geiſte gegenwärtig wird. Nur biefer if
daher das Element over Material der Poefie; fe ift Geift für
den Geift ohne ein anderes Medium, ald ein Zeichen, das für
fih gar Feine Selbftändigkeit hat; ſie ift die geiftigfte unter allen
Künften. Die Muſik ift ebenfalls Geift für den Geift, aber nur
empfindender Geift, der im Tone und unmittelbar verfchmolzen
mit diefem dem empfindenden Geifte ſich mittheilt; die Poeſie aber,
385
indem fie den Ton zum Worte erhebt, Hält nicht nur feit, was
. bie Muſik erobert bat, das Zeitleben des Geiſtes in der unbeſtimm⸗
ten Form der Empfindung , fondern mit dem beflimmten Worte
wendet ſie fih an den beftimmten Geiſt, der aus der Dämmerung
des Gefühld Heraus iſt. Zreilih aber nicht an ben denkenden
Geiſt, denn wir bleiben im äſthetiſchen Gebiete, fondern an ven
Geiſt als Phantaſie. Hier liegt nun der Punkt, wo e8 ein-
leuchtet, wie und warum die Poefle mit ter ſubjektiven Innerlich»
feit der Mufif zugleich mieber Die ganze obfeftive Welt der Gegen⸗
flände , der Sichtbarkeit in ihr Bereich zieht. Die Phantafle
nämlich ift die zu idealer Form erhobene Einbildungskraft, dieſe
aber nichts anderes, als die innerlich gefehte Sinnlichkeit. Indem
daher die Dichtfunft im Elemente der Phantaſie darftelt, indem
fie mit Phantaſie für Phantafle arbeitet, fo gewinnt fie ohne
ein ſinnliches Material die ganze Macht und ven ganzen Umfang
der Sinnlichkeit wieder, es ftehen ihr in geiftiger Form alle Wir⸗
kungen zu Gebote, welche den anderen Künften eigen find: fle
fann der inneren Borftellung Gebäude, Bübwerke, Gemälde, dem
inneren Gehör Melodieen vorführen und iſt alfo eine geiftige
Totafität aller Kuͤnſte. Nicht als fänfe fie darum auf hie Stufe
der Phantafie zurück, wie wir fie im zweiten Theile als eine noch
unerſchloſſene, ein bloß inneres Ideal kennen lernten ; es ift nicht
mehr die Phantafle vor der Kunſt, fondern die Phantafle, wie
fie die Geftaltenwelt aller vorangehenden Künfte in fih auf-
genommen hat und bereichert mit biefer in ſich zurüdgegangen
iſt, aber nicht um in fich verſchloſſen zu bleiben, ſondern ſich
mitzutheilen und Phantafle an Phantafle zu entzünden. Die
Poefte Hat alfo, was alle anderen Küänfte haben, auch, uber
Kritiſche Gänge Il. 25 i
386
zugleich unendlich viel mehr. Sie kann nicht bloß, wie die Muflf,
ben Wiederhall aller geifligen Einbrüde in der Empfindung geben,
fondern jede beftimnitefte geiftige Thätigkeit auöfprechen,, fie kann
fagen, was fie will, die Zunge iſt der Kunft erſt jeßt wahrhaft
gelöst. Ja fle kann, was wir vorhin im Allgemeinen abweijen
mußten, im Einzelnen allerdings auch in fih aufnehmen, nämlid
reine Gedanken, fofern fie nur aus Leidenfchaft fließen und Leiden⸗
ſchaft werten. Sie ruft aber nicht nur die ganze Bildermelt der ob-
jectiven Künfte vor die Phantafie, fondern fie belebt fie, fie nimmt
fle in geiſtigem Fluſſe mit fi fort und führt fie am Bande ber
zufammenhaltenden geiftigeren Bebeutfamfeit ſchwebend vorüber.
Der erfte Abfchnitt umfaßte unter der Kategorie der Objec-
tivität drei Künfte, ber zweite ftellte unter der Kategorie der Sub-
jectinität nur Cine Kunft auf, was feinen Grund in der ganz
befonderen Cigenthümlichkeit hatte, womit die Muſik allein und
ohne ihres Gleichen fteht. Diefer dritte Abſchnitt befaßt nun zwar
unter ber Kategorie des Subjectiv » Objectiven wieder nur Cine
Kunft, aber dieſe Kunft theilt fih, da file die Totalität aller
Künfte ift, beftimmter als jede andere, in gewiffe felbftänbige
Gattungen, in welchen das ganze Syſtem der Künfte wiederkehrt.
Dieß ift nun derjenige Punkt, wo meine Gliederung der Aeftberif
fih am vollftändigften bemährt, indem dad Syſtem auf feiner
höchſten Stufe ſich ideal wiederholt und fo völlig in ſich ſelbſt
zurüdgebt: das ganze Syftem, nicht nur das Syſtem der ein-
zelnen Künſte, wie wir fie fogleich fehen werben.
Es tritt nämlich noch einmal hier das Theilungsgefeß auf,
dad durch unfer Ganzes geht,, und fcheidet die Poefle in drei
Sattungen, die objective ober bad Epos, die jubjertine oder bie
Lyrik, die fubjeetiv = objestive oder dad Drama.
387
Die objeetive Gattung oder dad Cpos entjpricht im zweiten
Theile der Naturfehönheit, im dritten den bildenden Künften.
Die fubjertive Gattung oder die Lyrik entfpricht: im zweiten
Theile der (bloß fubjectiven) Phantafte, im britten der Muſik.
Die ſubjectiv⸗ objective Gattung oder dad Drama entſpricht:
dem dritten Theile, oder der Kunft; im dritten Theile der ſubiec⸗
tiv⸗ objectiven Kunft, oder der Poeſie, fie ift die Poeſie in der
Poeſie, das Schöne im Schönen.
Es könnte nun nöthig fheinen, die Anwendung meiner überall
durchgeführten Kategorie des Objectiven u. f. f. auf diefe Gat⸗
tungen zu rechtfertigen. Allein nicht nur muB Jedem, der die von
der biöherigen Kunftphilofophie über dieſe Gattungen der Poeſie
vielfach geführten Unterſuchungen Eennt, fogleich einleuchten, daß
und warum jede unter bie ihr zugetheilte Kategorie fällt, fondern
auch wer nur einen ungefähren Erfahrungsbegriff von dieſen Gat-
tungen bat, muß fi im Momente deutlich machen Eönnen, was
gemeint if. Nur auf zwei Orte möchte ich einiges Licht werfen.
Der eine ift die Eintheilung der Lyrik, womit ed bekanntlich fo
große Noth Hatz aber auch bier fchafft mein allgemeined Eintheis
lungsprincip Licht. In der unendlichen Inſectenwelt der lyriſchen
Poeſie laſſen ſich nur dadurch Kinien einer allgemeinften Einthei⸗
lung ziehen, daß man von dem DVerhältnifle des Subject zu fei-
nem Gegenftande ausgeht. Die Lyrik überhaupt ift ſubjectiv, das
Subject fpricht fein eigenes Innere aus, wie e8 vom Gegenftande
durchdrungen ift. Allein diefe Durchdringung ift Feine fire und
fertige, fonbern ein Prozeß. Die erfte Form dieſes Prozeſſes ift
bie des Erhabenen, wo der Gegenſtand zu groß tft, un dem
Subjecte zu geftatten, daß es ihn vertraulich in ſich hereinziche
25 *
388
und ganz zu dem feinigen mache, wo es fich vielmehr durch bie
Größe deſſelben aus feinem eigenen Centrum gehoben fühlt und
ihn nun im Aufihwunge der höchften Begeifterung zu erreichen
ftrebt; fo die Hymne, der Ditbyranıbe, die Ode, In der Hymne
läßt das Subject in gemeſſener Ruhe feinen Gegenfland noch über
fih ftehen, in dem Dithyramben beraufht es fih von ihm, indem
es ihn in ſich hereinzuziehen ringt, in ver Ode ift es bereit wie
der zu fich gekommen, Reflexion, Abſicht, Künftlichkeit kann fi
geltend machen. Diefe Formen wurden vorzüglich von der Flafli-
ihen Poeſie, als einer überhaupt wejentlich objectiven, gepflegt.
Dagegen fällt im eigentlichen Liede der Gehalt mit dem Subjecte
einfach in Eins zufammen, fie gehen unmittelbar in einander auf,
jo daß das Subject fich ſelbſt frei gehen läßt, indem es den ganz
in e8 übergegangenen Gehalt in ungeziwungener Natürlichkeit aus⸗
fpricht, melcher hier allerdings auch ein menfchlich näher liegender
und vertrauterer ifl. Doch hat es felbft wieder eine Gejchichte,
die mit einer epifchen Form, dem Heldenliede, der Ballade, Ro⸗
manze beginnt. Es hat feiner Innigfeit wegen int romantijchen
und modernen Ideale, vorzüglich in jenem, reicher geblüht, als
im klaſſiſchen. Diefe Blüthe war namentlih eine Blüthe des
Volkslieds, deſſen Begriff hier zu beftimmen ifl. Eine dritte
Form der Lyrik endlich umfaßt alle diejenigen Gattungen, worin
die beginnende Ablöfung des Gehaltö von dem Subjecte, das er
durchdrungen hatte, durch einen Ton der mit Wehmuth oder mit
heiterem Spiele fich ſelbſt betrachtenden Empfindung ſich ausſpricht:
die Elegie, dad Sonett mit den verwandten romanifchen Formen,
die vielen contemplativen Gedichte der neueren Zeit und endlich an
der Grenze der Proſa das Epigramm.
389
Die dramatiſche Poeſie ift in jeder Beziehung bie vollfon-
menſte Form der Dichtkunft und der Kunft überhaupt, weil fie
dad Grundgeſetz aller Kunft: Einheit der Subfeetivität und Ob⸗
jectioität am vollfommenften erfüllt. Das Drama zeigt und ein
Geſchehen, dies ift objectiv, epiſch. Aber dies Gefchehen ift Fein
DVergangened, dad wir durch einen Dritten hören, ſondern bie
dabei betheiligten Perfonen treten gegenwärtig vor und, fprechen
in der Form des Monologs und Dialogs ihr bemegtes Inneres
aus, gerathen dadurch in Collifion und fo entfteht vor unſeren
Augen diefe Gefchichte, melche aber eben darum vielmehr Hand⸗
fung ift. Dies ift fubjectiv ober lyriſch, nicht bloß fofern eben
dieje poetifchen Perfonen ihr Inneres ausfprechen, fondern aus
dem tieferen Grunde, weil der Dichter in ihnen fein zur Menſch⸗
heit erweiterte Inneres ausſpricht. Dadurch find jene Gegen-
ſätze in letzter Inftanz vereinigt. Der Dichter ift ganz abweiend
und eben daher ganz gegenwärtig. Er ift ganz in feinem Werke
aufgegangen, dieſes ift ganz fefoftftändig, lo8gelöst vom Dichter,
und er iſt ganz darin.
Mir fehen alfo die Handlung aus dem bewegten Inneren ber
auftretenden Perſonen werben. Dieſes, das geiftig innerliche
Leben des Subjects, ift ihr Quellpunkt. Das Innere wirft
Handlungen, nur fofern es aud der bloßen Innerlichfeit in bie
Form des Zwecks und jeiner Volführung übergeht, d. 5. als
Wille. Der legte Grund alles Geſchehens ift alfo hier der Wille
ober bie freie Selbftbeftimmung, daher gehört das Drama auf
wefentlih dem freien Geifte bed modernen Ideals an. Diefer
Wille darf aber nicht ber abftracte, bloß formale fein, ſondern
der von weſentlichen, flttlihen, allgemein menfchlichen Motiven
390
erfüllte, der Charakter. Indem er gemäß feinem Motive handelt,
ruft er die Gegenwirfung ded von dem entgegengefeßten Zweit
erfüllten Willens hervor, denn die harmoniſche Totalität der fitt-
lichen Zwecke tritt in der Wirklichkeit durch Spaltung ihrer Mo-
mente in disharmoniſche Einfeitigfeit auseinander. Diefe Colliſion
erzeugt Kampf, Kampf erzeugt Leiden, Untergang, und ed
kommt an den Tag, daß die Leidenden felbft nur die Vollſtrecker
des abfoluten Willens waren, der die Einfeitigfeit und Verkehrt⸗
heit diefer Vollſtreckung an ihnen richtet; und hiemit ftehen weir
wieder im Tragifchen. Der Wille, fein Kampf und feine Nieders
Inge Eönnen aber auch, indem die Subjectivität im DBemußtfein
ihrer Unentlichfeit alle mejentlichen Zwecke in Widerſpruch auf-
öst, komiſch fein. Das Tragifche und Komifche find die reifften
Formen des Schönen; es erfcheint in ihnen der innerfte Gehalt der
Gefchichte, des Menſchenlebens. Nun zichen fich zwar dieſe bei-
den Momente des Schöneh dur das ganze Neich der Künſte,
bald verborgener, bald ausgefprochener hervortretend, hindurch,
in feiner Gattung aber werben fie fo tief und umfaſſend auäge-
bildet, wie im Drama, wo ihr innerftes Weſen fo an den Tag
tritt, daß ſich zwei bejondere Formen bilden, Tragödie und Ko-
mödie, welche ald ihre eigentlihe Verwirklichung jenen ihren
Namen gaben. Das Tragifche und Komifche find aber nur Mo-
mente im Schönen; dad Schöne felbft ift ihre Einheit. Die
moderne Poeſie hat es gewagt, den Humor felbft in die Tragödie
einzuführen, mit der höchſten tragifhen Stimmung den freien
Blick in die Widerſprüche des Lebens zu verbinden: in dieſer ges
jättigtften Form hat das Schöne feine völlige Wirflichfeit und dad
Syſtem ift geſchloſſen.
391
Ich Eonnte in diefer Skizze mich nicht auf die bloß anhängenden
Künfte einlaffen, d. h. auf diejenigen, welche theild dem Nutzen
dienen und nur beiläufig mit dem Nüslichen dad Schöne verbin-
den, theild zwar dad Schöne direkt bezwecken, aber feine Dar-
ftelung in einem Materiale vornehmen, das, an fich für anbere
Zwecke gebildet, feine eigenen dem jet vorliegenden Kunſtzwecke
fremden Charafterzüge in unmittelbarer, der Eünftlerifchen Umge-
ftaltung bis zu einem gemiflen Grad widerftrebender Lebendigkeit
beibehält. Zu den Ieteren gehört die Schaufpielfunft,, denn der
Schaufpieler giebt feine eigene Perfönlichkeit als Material her, um
eine fremde ypoetifche darzuftellen. Ganz und ohne Reft Kann
diejed, von der jeweiligen Aufgabe ganz unabhängig ausgebilbete,
Material niemals in der gegebenen poetiſchen Perfünlichkeit auf-
gehen. Dennoch ift die Schaufpielfunft die höchfte unter den un⸗
felbftändigen Künften, denn der Schaufpieler muß mit allen
Mitieln der Phantafte die Abfichten des Dichter8 reprodueiren und
das wiberftrebende Material feiner Perfünlichkeit durch vollkom⸗
mene Verſetzung feines Geiſtes in die erbichtete wahrhaft Fünft-
leriſch beherrichen und umbilden. Keine unter den ſelbſtändigen
Künften ſteht aber auch mit der zu ihr gehörigen unfelbftänbigen
in einem fo wefentlich geforderten Zufammenhang; dad Drama
fol theatraliſch fein, fol feine volle Wirkung auf die Gemüther
durch die Aufführung erreichen. Dies iſt num der für unjern Zu«
fammenhang wichtige Punkt. Indem nämlich die höchfte Gattung
der Kunft zur inneren Vorſtellung, auf welche fih die andern
Zweige der Poeſie beſchränken, auch die äußere Anfchauung und
ihre ganze rapide Wirkung hinzunimmt, fo Eehrt fie auf dieſem
392
Gipfel der höchſten Geiftigfeit zur Unmittelbarkeit zurück und jo
erft hat ihr Begriff feinen ganzen logiſchen Prozeß durchlaufen.
Ich gebe nun zur befieren Ueberficht meine Eintheilung bed
ganzen Syſtems in der beiliegenden Tabelle. Hiezu habe ich zu⸗
nächft zu bemerken, daß dad Gefeh der dreigliedrigen Einthei⸗
Jung zwar drei Haupttheile fordert, nicht aber je drei Abſchnitte
für die einzelnen Theile. Denn der Begriff, der jedem Haupt-
theile zu Grunde liegt, zerlegt fich gerade gemäß jenem Geſetze
immer in zwei Momente, welche fi erft in den Unterabt hei⸗
lungen der einzelnen Abfchnitte wieder vereinigen und jo ver
einigt jogleich zu einem weiteren, höheren Begriffe führen. So
bildet alfo z. B. im zweiten Abſchnitte des erften Theil (I, B,c)
die Herftelung ded Schönen aus dem Gegenfage des Erhabenen
und Komiſchen zu feiner erfühten Einheit nicht einen dritten Ab-
fhnitt C., denn wir haben bier Feine befondere Geftalt des Schoͤ⸗
nen, jondern eben das Schöne, das nun, fo mit feinen Momen⸗
ten erfüllt, unmittelbar in eine neue Form, in feine erfte objec⸗
tive Eriftenz II, A. übergeht. Ebenfo bedingt die legte Form ber
Phantafte, die des modernen Ideals im zweiten Abſchnitte des
zweiten Theils (II, B, c, y), nicht einen dritten Abſchnitt C.,
fondern nun ift eben der Begriff der Phantafle reif, um zu feiner
Berwirklihung III, A. hinübergeführt zu merben. Ferner ift noch
zu bemerfen, daß ich, um diefe Tabelle nicht zu weitläuftig zu
machen, nicht von jedem Begriff feine Unterabtheilungen aufge
führt habe, wie denn z. B. die in obiger Darfiellung unter-
ſchiedenen Formen des Witzes und Humors, die verfchiedenen
Reiche der organiſchen Schönheit, die unter das antike Ideal
ſubſumirten Formen der orientaliſchen, griechiſchen, römiſchen
393
Phantafie Hier nicht herausgehoben werden. Nur da, wo es
mir für die Analogie mit anderen Abtheilungen wichtig zu fein
ſchien, ging ich in die fperielleren Unterabtheilungen ein; fo hob
ich 3. B. die Hauptzweige der Muflf hervor, um darauf hinzu-
weiſen, daß hier fchon die Gattungen hervortreten, welche beftimm=
ter in ber Poeſie fich fcheiden; bei den anderen Künften lieh ich
mid) der Kürze wegen barauf nicht ein.
2. Das Schöne an ſich, fein allgemeiner
Begriff, Metaphyſik des Schönen.
A. Das einfadh Schöne.
a) Die Idee.
b) Das Bild.
c) Die abfolute Einheit der Idee und des
Bildes.
B. Der Widerſpruch im Schauen oder der afthe-
tiſche Contraſt.
a) Das Erhabene (objectiv).
eo) Das Erhabene der Natur (objectiv).
EP) Das Erhabene des fubieetiven Geiftes.
Y) Das Erhabene des abfoluten Geiſtes oder das Tra-
giſche (ſubjectiv⸗objectiv).
b) Das Komiſche (ſubjectiv).
«) Das naiv Komiſche (obfectiv).
£) Der Witz (reflectirt, fubjectto).
y) Der Humor (ſubjectiv⸗ objectiv, abſolute Komik).
394
c) Herftellung des Schönen aus dieſem Mider-
fprude, Rückkehr deſſelben in ſich als ver-
mittelte Einheit diefer Gegenſätze (fubjectiv-
objectiv).
Das Schöne in einfeitiger Exiſtenz.
A. Die objectise Eriſtenz des Schönen oder die
Waturfhönpheit.
a) Die unorganifche Naturſchönheit (objectiv).
b) Die organische bis zum Menſchen, der aber zugleich
eine neue Reihe eröffnet (ſubjectiv).
c) Das menſchliche Wefen, am vollfommenften aus-
geprägt im Staate (fubjectiv » objectiv).
a) Der antite Staat (objectiv).
4) Der Feudalftaat (fubfectiv).
y) Der moderne Staat (fubiectiv=objectiv).
Die (ubjective Eriflen; des Schönen oder dic
Phantafıe.
a) Die Phantafie überhaupt.
a) Die finnlihe Anſchauung (obiectiv).
4) Die Einbildungstraft (fubjectiv).
Y) Die eigentlihe Phantafie oder das Ideal (fubier-
tiv = objectiv).
b) Die Grade der Ausftattung des Subjecte
mit der Phantafie.
a) Talent.
P) Fragmentarifches Genie.
y) Genie.
395
c) Die Phantaſie der Völker oder die gefhidt-
lihen Hauptformen des Ideals.
a) Das antile oder obfective Ideal.
3) Das Ideal der phantaflifchen Subiectivität, oder
das romantifche.
y) Das moderne Ideal oder das Ideal der gebildeten,
d.h. der wahrhaft freien und zugleich mit der Ob⸗
jectioität verſöhnten Subfecttvität.
HEN. Die fubjectio : objective Eriftenz Des
Schönen oder die Kunſt.
A. Das Aunftwerk überhaupt.
a) Die Objectivität der Darftellung in Rückficht
auf biftorifche Treue u. f. w.
b) Die Manier (fublectiv).
c) Der Styl (ubjectiv- objectiv).
a) Strenger Styl.
8) Hoher Styl.
y) Gefälliger, rührender Styl.
B. Die Künfte.
a) Die objectiven oder bildenden Künfte.
ae) Die Baukunſt (obiectiv).
3) Die Plaſtik (Eindringen des Subiectiven noch als
unmittelbare Einheit des Geiftes mit feinem Leibe.)
+) Die Malerei (Durcdringen des Subjectiven).
b) Die ſubjective Kunft oder die Muſik.
a) Die kirchliche Muſik Cobiectiv).
8) Die Liedermufit (ſubjectiv).
;) Die Oper (fubiectiv » obfectiv).
a IT UEUHYYLEE
3) Die Komödie.
3) Höhere Einheit des Tragiſchen und &
V.
Vorſchlag zu einer Oper.
399
Vorſchlag Zu einer per.
Ih möchte die Nibelungenfage als Tert zu einer großen
eroifchen Oper empfehlen. Stier gibt es freilich mancherlei zu
evorworten.
Ausgehen muß ich von dem Gedanken, welcher die in dieſer
Sammlung enthaltenen Kunſt⸗Kritiken überall durchdringt: es
t Refultat der ganzen Kunſtgeſchichte, daß die Kunſt jetzt auf den
eſchichtlichen Boden als den realen Schauplat des Ideals hinge-
»ieſen ift. Die Malerei hat die tranfcendente Mythenwelt ver-
iffen, die naturwahre Wirklichkeit in Landfchaft und Genre - Bild
griffen und fol von da zu ben großen Aufgaben ver Gefchichte
uffleigen. Die Poeſie fol dad politiſche Drama, das Schiller er⸗
finet hat, im Geifte Shaffpeare’8 zur Höhe ausbilden. Schiller
dritt, wie er ihn an rein ‚poetifcher Begabung auch nachftehen
iochte, dadurch entſchieden über Goethe hinaus, daß er den engen
zoden der fubjectiven Bildungsfämpfe in einer Welt, die von kei⸗
er politifhen Bemegung weiß, hinter fich Tieß. Hier tft eben ber
Junft, wo wir die Parallele mit der dramatifchen Muſik auffafe .
n müffen. Unſere Oper hat das Leben der ſubjectiven Empfin=
ungswelt zur Genüge außgebeutet; fie fol an die großen obfectiven
Impfindungen gehen. Alle Muſik ift ſubjectiv, allein es ift ein
interfchieb zwiſchen der ſubjectiven Welt einer frommen Seele oder
ned glänzenden Verführers und cined Helden, es ift ein Unter⸗
bied, ob indianiſche Wilde, erzürnte Bauern, luſtige Jäger, ober ob
401
dungstömen mit ſich als ein griechiicher, felbft wenn ein Goethe
ihn neu bejeelt, und die gemeflene deflamatorifche Strenge eines
Gluck, in Anſchließung an die Franzoſen ausgebilvet ,- ließ eine
ganze muſikaliſche Welt dem deutſchen Gemüthe noch übrig. Mo⸗
zartd Stärfe ruht in der feurigen Welt der ſüdlichen Leivenfchaft;
alles Weiche, alles Süße, alles Schmeichelnde und Verführeri⸗
ſche, aber auch alles Finftere diefes heißen Lebens = Elements er⸗
ſchöpft er in einer Unenblichfeit von Tönen; bie rührende Stimme
bed Herzens, die Pofaunentöne der ewigen Gerechtigkeit flöten
und donnern dazwiſchen, auch die tiefften Stimmen der morali⸗
fen Befinnung weiß er anzufchlagen, aber diefer italienifch füh⸗
bende Deftreicher Aberſchreitet Doch die Kreife nicht, in welchen ſich
die Kämpfe der fubjeetiven SPrivatleidenfchaft bewegen ; große
Handlungen der Helden und die mächtigen Geifter des öffentlichen
Lebens bleiben ihm ferne liegen und mie viel deutſches Herz aus
feinen Werfen fpricht, die jüblihe Stimmung, die Reize feurigen
poetifchen Genußlebens im heiteren Italien, im glühenden Spa⸗
nien, — da ift und bleibt feine Heimath. Spontini ift heroiſch
und bearbeitet heroiſche Stoffe, ja er wählt einen deutfchen in
feiner Agnes won Hohenftaufen, aber er arbeitet auch ſchon auf
Effect, verfeichtet das Heroiſche in das Militärische und Pomphafte
und irrt Dadurch weit von der gediegenen, körnigen Granbiofität
ab, die wir für den von und in Vorſchlag gebraten Stoff for⸗
dern. Ein folder Stoff verlangte ohnedieß, Hätte auch Spontini
ſchon auf ihn fallen können, für feine grunddeutſche Natur einen
deutſchen Componiften. Beethoven war ein großer, ein gigan-
tifcher Geift, aber er war berufen, die inneren Wunder der Ge⸗
" müthawelt in phantaftifcher Genialität durch den braufenden Kampf
Kritiſche Gänge II. ‚ 26
400
edle Völkerchöre Luft und Schmerz in Tönen befreien. Es kann freis
lich nicht bei Zoll und Linie angegeben werden, wie eine wahrhaft bes
roiſche Muſik von dem muſikaliſchen Ausdruck anderer ſtarker Leis
denſchaften verſchieden ſei; der Text, die Fabel, die Charaktere und
die Muſik heben und tragen ſich gegenſeitig. Es muß mich Alles
trügen, ober es iſt noch eine andere, eine neue Tonwelt zurüd,
welche fih erft öffnen fol; die Muſik Hatte in Mozart ihren
Goethe, in Haydn ihren Klopftod, in Beethoven ihren Sean Paul,
in Weber ihren Tieck: fie fol noch ihren Schiller und Shakfpeare
befommen, und der Deutſche foll noch feine eigene große Geſchichte
in mächtigen Tönen fich entgegenwogen hören. Die Nibelungen
fage enthält nicht eigentlich Gefchichte, davon wird nachher vie
Rede fein; wir halten zuerft dad Moment des Heroifchen in ber
befonderen Beftimmung des Vaterländifchen feft.
Die Oper behandelte wie dad ältefte Schaufpiel. (nicht das
volfsthüimliche, fondern das der Kunftpoefle, der Opizifchen und
Gottſchediſchen Schule nämlich) zuerft Stoffe aus der antiken Welt,
paftorale und heroifche. Es fehlt in den heroifchen Opern Glucks,
in feiner Alceſte, Iphigenie nicht an wahrhaft großen heroifchen
Stellen. Allein dieſe Empfindungstöne waren in eine fremde Welt
hineingelegt, wir wollen eine heimifche, eine eigene, eine nationale
in der Muſik fo gut ald in der Poeſie. Goethes Iphigenie ift ein
Meiſterwerk, allein die fremde Fabel, die fremde Form des Bes
wußtjeins, fo viel beutfched Herz und moderne Humanität auch
hineingetragen fein mag, trennt dieſes Drama doch vom vater
ländifchen Boden, von der Sympathie des Volkes, und fichert
ihm nur auf entfernten Höhen die Bewunderung weniger Kemer.
Ein deutſcher Stoff führt aber noch eine andere Welt von Empfin⸗
403
Weber Iegt viel Nachdruck auf die Charakteriftik, aber die Recken
der alten Heldenfage und ihr gigantifhes Schickſal mollen eine
andere Zeichnung, als Jägefburfehe. Unter den lebenden Ton⸗
künſtlern hätte Meyerbeer die meifte Kraft zu einem ſolchen Stoffe;
aber dieſe Kraft ift nicht rein, fie erſchreckt flatt zu erfchüttern, fie
betrüßt flatt zu erheben, fie überlädt flatt zu füllen, fit iſt von
per franzoͤfiſchen Effectſucht beſtochen.
Mit Einem Worte: wir haben die Muſik noch nicht gehabt,
welche ein ſolcher Stoff fordert, und mir haben einen folchen
Stoff in unferer Mufik noch nicht gehabt, fo wie wir in ımferer
Poefte noch einen Shakſpeare, fo mie mir noch feinen großen,
nationalen, vein geichichtlichen Maler gehabt haben.
Ich muß nun von meinem Stoffe reven, zunädft von,
feinem Charakter überhaupt, noch abgefehen von feiner muflfalte
Then Behandlung. Diefer Stoff ift national, das ift das Erſte,
was von ihm zu rühmen if. Ich meine nit, man könne und
ſolle unſerer Kunft vie Flügel befchneiden,, daß fle nicht, mie es
jeßt ihr offenbarer Drang iſt, in entfernte Zonen und Sitten hin«
ausſchwebe, um ſich dort den Schauplag ihrer Handlung zu fuchen.
Es kann auf) in den fremden Nahmen ver heimifche Geift ſich
ergieben und Goethe Hat dieß in feiner Iphigenie gezeigt. Aber
neben ſolchen Stoffen, die jegt aus allen Zonen herbeigetragen
werben, fol jedes Volk auch einige nationale Hauptſtücke beftgen,
worin der heimifche Charakter aus dem heimiſchen Stoffe zu ihm
ſpricht. Die Nibelungen Helden find acht deutſche Charaktertypen,
wie fich ſolche ein Volk in der vorgefchichtlichen Zeit auf der Grund⸗
Tage nicht weiter erfennbarer hiſtoriſcher Züge als Spiegelbild ſei⸗
ner beften fittlihen Kräfte dichte. Die deutfche Milde und Der
26 *
402
ihrer wunderbaren Kräfte zu verfolgen und in der tauſendſtimmi⸗
gen Symphonie ihre zarteften Geheimniffe, ihre tiefſten Erſchüt⸗
terungen,, ihre räthfelhafteften Ahnungen, ihren fipringenben
Scherz und ihr erhabenftes Grollen zu ergießen, nicht aber in
dem firengen Maaß des Drama die deutlichen Motive einer eben-
mäßigen Handlung, die firenge Gemeſſenheit des Charakters zu
entfalten. Im Einzelnen ift ihm wohl auch das heroiſch Große
gelungen, Heldengröße und Heldentod triumphirt in feiner Muſik
zu Goethes Egmont, in feiner einzigen Oper Fidelio hat er, wie
dieß ein gediegener Kenner, Am. Wendt, zugibt, den bürger-
lichen Stoff bis zu heroifcher Kraft der Empfindung gefteigert.
Es find wirkliche Anfäge in ihm zu dem Conponiften,, der für
unferen Stoff und vorſchwebt, aber doch iſt er zu ſehr Roman⸗
tiker, zu ſehr geht er den wunderbaren Sprüngen und Ueber⸗
gängen der launiſchen, obzwar tiefen Subjectivität nach, als daß
wir glauben könnten, er wäre zu einem ſo gehaltenen Stoff be⸗
rufen geweſen. Dem ſchmeichelnden Roſſini fehlt Würde, Styl
und Charakter zur wahrhaft großen dramatiſchen Muſik. Weber
rettet die Ehre der von den Italienern verführten deutſchen Muſik,
er ift tief herzlich und was ber Componift eines Stoffes aus un-
ferer Helvenfage vor Allem bevürfte, volksthümlich, aber er ift
ſchon ganz Romantiker, die finftere, diaboliſche und vie heitere
elfenhafte Wunderwelt ift fein Gebiet. Im Nibelungentieve hat
dad Wunderbare, dad in dem älteren Sagenbilde eine noch un
gleich größere Role fpielt, feine Kraft faft ganz verloren, «8
zieht ih nur wie ein leichter Nebel am Saume hin, Alles ent-
wickelt ih, ſchon im Epos faft dramatifh, aus den Charaf-
teren; bieß ware feine Aufgabe für einen Romantiker geweſen.
403
Weber Iegt viel Nachdruck auf die Charakteriftik, aber die Reden
der alten Heldenſage und ihr gigantifches Schickſal wollen eine
andere Zeichnung, als Sägefburfche. Unter ven lebenden Ton«
Tünftlern hätte Meyerbeer vie meifte Kraft zu einem ſolchen Stoffes
aber dieſe Kraft ift nicht rein, fle erſchreckt flatt zu erfchüttern, fie
betrüßt ſtatt zu erheben, fie überlädt ſtatt zu füllen, fit ift von
der framgöftfchen Effectſucht Beflodhen.
Mit Einem Worte: wir haben die Muſik noch nicht gehabt,
melche ein folder Stoff fordert, und wir haben einen foldhen
Stoff in unferer Muftf noch nicht gehabt, fo wie wir in unferer
Poefie noch keinen Shaffyeare, fo mie wir noch feinen großen,
nationalen, rein geſchichtlichen Mater gehabt haben.
Ich muß nun von meinem Stoffe reden, zunächſt von.
feinem Charakter überhaupt, noch abgefehen von feiner muſikali⸗
fhen Behandlung. Diefer Stoff ift national, das ift das Erfte,
was von ihm zu rühmen if. Ich meine nit, man könne und
folle unferer Kumft die Flügel beſchneiden, daß fle nicht, mie es
jest ihr offenbarer Drang Ift, in entfernte Zonen und Sitten hin«
ausſchwebe, um fich dort den Schauplak ihrer Handlung zu fuchen.
Es kann auch in ben fremden Rahmen der heimifche Geift fi
ergießen und Goethe Hat dieß in feiner Iphigenie gezeigt. Aber
neben ſolchen Stoffen, die jegt auß allen Zonen herbeigetragen
werben, fol jedes Volk auch einige nationale Hauptſtücke befigen,
morin ber heimifche Charakter aus dem heimifchen Stoffe zu ihm
fpricht. Die Nibelungen - Helden find Acht deutſche Charaktertgpen,
mie fich ſolche ein Volk in der vorgefchichtlichen Zeit auf der Grund⸗
Lage nicht weiter erfennbarer biftorifcher Züge als Spiegelbild ſei⸗
ner beiten fittlichen Kräfte dichte. Die deutiche Milde und der
26 % .
404
gefürchtete, anhaltende deutſche Zorn, die deutfhe Gutmüthigkeit
und Treue, die fih am flärkften in der eifernen Folge der tragi=
fhen Beftrafung einer Untreue ausfpricht, der Frühlingsduft ber
Minne und der Schwertflang beutfher Tapferkeit, die zarte
Schüchternheit und der zähe Eigenfinn, der finftere Trog, endlich
das tiefe Menſchheits⸗ und Schidfald - Gefühl, worin alle dieſe
beftimmten Töne ſich wie in ihrem Elemente bewegen: bieß iſt
die weite und volle Bruft unferer eigenften Volksnatur, bie in
biefem ewigen Gedichte vol und gefund atmet. Diefe Grundzüge
unferer fittlichen Volkswelt treten aber hier in den einfachften Ver⸗
hältniffen,, unter den unverborbenften fittlichen Begriffen in jener
ungebrocdhenen, unvermifchten Urfprünglichkeit auf, wodurch dieſe
-Seftalten dem Auge der modernen Bildung wie roh gehauene
Rieſenbilder erfcheinen. Hier drängt fi fogleich die Frage auf,
ob ſolche Gebilde fähig und würdig feien, das dramatifche In-
terefie eines Zeitalter in Anſpruch zu nehmen, das einmal eine
tiefere, verfehlungnere Welt des Bewußtſeins In ſich durchzuarbei⸗
ten Hat, und dem daher mit folcher Einfalt nicht mehr gedient
it. Dan kann und leicht jene gezwungenen Beftrebungen ber
Deutſchthümelei zur Laft legen, welche und das Nibelungenlied
und die altveutfche Poefle mie eine Volksbibel, wie eine Dichtung
aufdrängen wollte, welche in unferer Zeit ebenfo noch lebendig
fein könne, wie in derjenigen, wo fie entftanden. Den Griechen
allerdings blieb der Homer das abfolute Buch, Die Hervenfage
der abfolute Stoff der Tragödie, nachdem ihre Bildung ſchon
reif, ja überreif war. Allein das Verhältniß war doch ein ganz
andered. Einmal war der Stoff an ſich ſchon ungleich gebilveter.
Die homeriſchen Helden können ſprechen, fie find nicht von jener
405
wortarmen, gebrungenen Härte, mie bie altdeutſchen. Leicht und
fließend entlaſtet ſich ihr Inneres von Schmerz und Freude. Der
Dichter beleuchtet wie mit einer freundlichen Sonne Land und
Meer, Erde und Himmel, Natur und Kunſt, Haus und Hof.
Es liegt nicht der nordiſche Nebel über der ganzen Umgebung wie
in der dunkel ahnungsvollen Vorzeit bes deutſchen Volkes. Der
gebildetere Stoff Eonnte daher dem Volke auch in den Beiten,
da es ſelbſt ſchon fo gebildet war, daß es über die Naivität feines
alten Heldenliedes Lächeln mußte, noch Immer an’d Herz gewach⸗
fen fein; der. raffinirtefte Grieche erkannte ſich in dieſer poetiſchen
Welt immer noch ganz anders wieder, als der jeige Deutfihe In
dem Bilde feiner Heldenſage. Auf der andern Seite hatte bie
Bildung ber fpäteren Griechen mit dem vorgefchichtlichen Natur⸗
zuftande doch keineswegs in dem Grade gebrochen, wie das mo⸗
derne Deutihland mit den Helden der altveutihen Wälder und
Burgen. Wie viel fremde Clemente mußten wir erft in und auf⸗
nehmen und in unfre Nationalität verarbeiten, wie mußte unfer
Vaterland ftch zerfplitteen, durch welche ſchneidende Krifis mußten
Wrden Zuftänden der Natvität Lebewohl fagen, bis wir da ange»
fommen find, wo wir find! Wie ift unfere ganze Bildung eine errun⸗
gene, norbifcher Nohheit abgezwungene, während bie griechtiche wie
von felbft aus der Natur des Volkes hervorwuchs! So viel tft
gewiß, daß durch dieſe große Entfremdung der Stoff der Nibelun-
genfage ganz untauglich geworden ift zum reinen, nicht muflfall-
fchen Drama. Bas Nibelungenlied nimmt zwar in eigenthümlichem
Unterſchiede von dem Epos der Griechen eigen fireng dramatiſchen
Bang, bier wirken keine Götter ein, hier find die Epiſoden ſpar⸗
fam, bier flürzt Die Rache wie ein grollender Strom unaufhaltſam
406
über Fels und Wehr und ruht nicht, bis fie in allgemeinen
Blutbad Freund und Beind vernichtet hat, bier fommt alled aus
den Willen und ift jeder der Schmied feines Glücks, hier erfcheint
das Schickſal als ein rein fittliches Geſez. Aber ed handelt ſich
jetzt nicht von dem mehr oder minder dramatiſchen Gange der
Fabel, es handelt ſich von dem Grade der Subjectivität in den
Charakteren. Man gebe dieſen Eiſen⸗ Männern , dieſen Rieſen⸗
Weibern die Beredtſamkeit, welche das Drama fordert, die So⸗
phiſtik der Leidenſchaft, die Reflexion, die Fähigkeit, ihr Wollen
auseinanderzuſetzen, zu rechtfertigen, zu bezweifeln, welche dem
dramatiſchen Charakter durchaus nothwendig iſt: und fie find
aufgehoben; ihre Größe iſt von ihrer Wortkargheit, ihrer wort⸗
los in ſich gedrängten Tiefe, ihrer Schroffheit ſo unzertrennlich,
daß fie aufhören , zu fein, was fie find, und doch nicht Ttwad
Anderes werden, was und gefallen und erfchüttern Eönnte.
So wahr dieß ift, fo ift aber doch fehr zu wünfchen, daß
es eine Form gebe, in welcher diefer Stoff dem modernen Gefühle
genießbar würde, ohne feinen Charakter zu opfern. Denn recht
gefund muß ja doch dieſe flarfe Koft dem verwöhnten Gau
und den verborbenen Säften unſeres verzogenen Publikums fein.
Bon Vaudevilles, von Scribes Luftfpielen, von Balletten ge=
deiht man nicht, „Habermark macht Buben ftarf«. Wir follen
und nur fhämen, und fo Elein zu ſehen, wenn biefe Urgeftalten
wieder über unfere Bühne frhreiten. Sie find nicht zeitgemäß und
ebendeßwegen am allerzeitgemäßeften. Ich meine nicht, alles daß,
wodurch dieſe Gejtalten uns anfremden, fei ihr Recht und unfer
Unrecht; nein, ich bin Fein umgekehrter Prophet; unfere Zeit
ift mit aller ihrer Zerrijfenheit, mit aller Auffaugung der unmits
407
telbaren Lebendigkeit und heroiſchen Einfachheit unendlich viel grö⸗
fer als jene. Was fle auch Alles verzehren mag, die Bildung
hat abfoluten Werth. Die Bildung aber will gebildete Geftalten
au in ihrer Kunftwelt, dazu hat fle ihr gutes Recht. Allein
feine Bildung ift fertig, und zu ihrer Vollendung gehört gerade,
daß fie, in erhöhter Weife freilich, die Natur wiederherftelle. An
der Natur verjüngt ſich die Bildung, welche an dem Punkte ftand,
ganz naturwidrig zu werben; an der Volkspoefie verfüngte ſich
bie Kunſtpoeſie, die feinfte Erziehung kehrt zur Abhärtung, bie
edelſte Sitte zur Ungezwungenheit, die höchfte Sittlichkeit zur
Einfalt zurüd. Daher fol man unfer Theater = Publitum nur
immer in dieſes Stahlbad ſchicken. Wir brauchen mehr, als bie
Nibelungen, wir Eönnen für unfere Zeit = Aufgaben unmittelbar
eben nichts von ihnen lernen, politifch find fie gar nicht, eine
Bamilien» und Bafallen » Gefchihte auf großem Boden, das iſt
Alles; allein in diefer einfachen Gefchichte fprechen die ewigen
Grundgefühle des Herzens fo ſtark, daß uns diefer Tranf Quell»
waſſer nur äußerſt heilfam fein kann. Die Kräfte der Menfchhelt
find in unferer Bildung audeinandergezogen, wir Eönnen nicht dahin
zurüd, wo fie noch im Keime gebrängt zufammenliegen, aber
danıit wir in der Theilung den Urquell nicht verlieren, thut e8
und Noth, diefe urfprüngliche Einheit und auf's Neue vord Auge
zu rüden. Ganz anbere, tiefer vermidelte Kämpfe müßte eine
Kunft zur Erfcheinung bringen, welche die eigene Seele unferer
Zeit ihr im Bilde zeigen wollte, aber zu der tieferen und meiteren
Geiftigkeit, zu dem gedachteren Zwecke gebe ſie ihren Charakteren
Helden⸗-Mark, und was Helden» Mark iſt, kann man wahrlich
an den Heroen dieſer unſerer Volksſage ſehen. Die Selbſtbeſpieg⸗
408
ung iſt der unvermeiblie Ausſatz einer Zeit ausgebildeter Sub-
jectioität; es Tann uns nur gut thun, einmal wieder Menſchen
obne alle Selbſtbeſpieglung zu ſehen. Sie können, ich wieder⸗
hole e3, unmittelbar nicht unjere Lchrmeifter fein und fie ſind nicht
der Abdruck unſeres Lebens, denn de3 erhöhten Bewußtſeins kön⸗
nen wir und nicht entidhlagen: aber dem Auswuchs deſſelben ai
man billig die rohe, aber wahre Kraft entgegen.
Man könnte als Beringung wahrer Helvengröße und größere
Anſprũche auf die Sympathie der Gegenwart politifche Bedeutung
verlangen, und ich habe ſchon eingeräumt, daß dieſe den Nibe-
lungen fehlt. Unſer heimiſches Gelbenlied, dem griechifchen fo
verwandt wie die Porfle keines anderen Volks, fteht darin im
höchſten Nachtheil gegen die griechiſche Sage, daß dieſe eine ges
ſchichtlich nachweisbare Volks - internehmung zum Innhalt hat,
ine Unternehmung, welche ſchon ald Borfyiel der Perjer- Kriege,
diejer Siege Europa's, ded Fortſchritts, der Freiheit über den
Drient, den Stabilismus, die Gebuntenheit gelten kann. Unſere
Heldenjage hat nicht die Stürme ver Völkerwanderung, nicht ven
großen Sieg über die Römer zum Stoffe genommen; mit deut«
fhem Eigenfinne hat fie fih im eine Bamiliengefchichte eingehaust
und fucht vergebend durh Mafien, Pracht, Herbeiziehung ge⸗
ſchichtlicher Namen, wie ded Attila und Theodorich, denen fie
doch felbft ihre eigentlich gejchichtliche Bedeutung genommen hat,
das enge Intereffe zu einem welthiftoriichen zu erweitern und dieſe
Babel zur „grögeften Gejchicht“ zu erheben, „bie zer werlven ie
geſchach“. Ein wahrhaft deutſcher Geift der Vereinzelung , eine
Vorliebe, fih in das Befondere und Getrennte einzufpinnen, fpricht
ſich in Diefer Wahl des poetifchen Volks-Inſtinctes jedenfalls aus,
409
wenn man auch nicht überficht, daß die Deutlichkelt der größeren.na-
tionalen Erinnerung in den unglelchzeitigen Zügen und jener Ueber⸗
ſchauung unzugänglichen, wechſelnden Schickſalen der Völkerwan⸗
derung ſich verwirren und truͤben mußte. Aber in dieſer Familien⸗
Geſchichte ſind doch, obwohl noch eingehuͤllt, alle die Kraͤfte thätig,
welche und als Volk durch unſere Geſchichte begleitet haben, und
welche, in ihre wahre Bebeutung erhoben, und, fo der Simmel will,
in eine beffere Zukunft begleiten werben. Nehmt zu der Vaſallen⸗
treue Hagens, welche freitich finfter und neidiſch bis zum Mordo
ausartet, Rüdigers, die fo herrlich im ſchrecklichften Zwieſpalte ihre
Probe befteht, zu dem ehrlichen Kampfgeſellen⸗Geiſte Volkers, zu
allem dieſem reblihen Zufammenhalten,, biefem guten Kamera
ben-Wefen, — nehmt dazu das tiefe Rechtsgefühl Chriemhilbens,
das unendlich beleidigt unendliche Rache Ubt, Liutert dieſe Eimpfin-
bung durch den männlich edeln, befonnenen Geiſt Dieterichs, ber
die Verwilderung der blutigen Rächerinn beftraft, und tretet mit
dieſen flttlihen Mächten auf den Kampfplatz der Geſchichte, fo
werdet Ihr nicht fagen können, es fei für und aus unferer Helben-
fage keine Lebens - Subftanz mehr zu ſchöpfen. 4
Wenn ed nun aber nicht zu laͤugnen iſt, daß wir bie Nibe-
lungen weder mit Haut und Haaren unferem Publikum vorführen,
noch diejenige Umbildung auf dieſen Stoff anwenden fünnen, welche
das Drama fordert, jo bietet fich dagegen das muflfalifche Drama,
bie Oper, als eine Form dar, worin das Rohe und allzu Schroffe
fi mildert, die einfache Gefühlämelt diefer wortlo8 rauhen Hel⸗
den und Seldinnen fich bereichern und erweitern laͤßt, ohne Doch in
jene Sphäre heller Bewußtheit hinübergezogen zu werben, worin
das eigenthümlich großartige Dunkel diefer Naturen zerflört mürbe.
410
Die Deufit fordert einfache Motive, einfache Handlung, die Mufll
feflelt die Empfindung, ſpricht fle nach allen Seiten aus, und
geftattet ihr doch nicht, ven Punkt zu überfchreiten, wo dad Goms
plizirte und Meflectirte beginnt, welches nur durch dad nicht mufi⸗
kaliſche Wort ſich ausfprechen kann. Allein ed wäre mit meinem
Borfchlage übel beftellt, wenn ich nichts für ihn in Fünftlerifcher
Beziehung vorzubringen hätte, ald daß der Stoff diefe Art ver
Umbildung nur zulafle. Nein, das Nibelungenlied tft für die Oper
wie gemacht, quillt und fprubelt von herrlichen muſikaliſchen Mo»
tiven, wartet ſchon lange auf feinen Componiſten, fordert ihn
gebieterifch : dieß tft meine Behauptung, und biefe Behauptung
ift bewieſen, wenn ich nur den Innhalt des Liebes in einer un»
gefähren feentihen Ordnung aufführe. Ich habe nur vorher noch
ein paar vorläufige Punkte zu erledigen.
Zweierlei große Bortheile bietet dieſer Stoff noch abgejehen
von feinem rein mufifaltihen Werthe der Umarbeitung zur Oper
dar. Die Dyer darf und foll glangvoller fein, ald dad Drama ;
zu feſtlichen Aufzügen, ver Ausbreitung imponirender Maſſen
iſt bier durch die ritterliche Pracht, womit die Zeit der Turniere
und Minnefinger den büfteren alten Sagen = Kern umgeben bat,
reichlihe Gelegenheit, ja nur zu viele, fo daß bie Verſuchung
nahe liegt, in jenen erbrücdenden Pomp zu gerathen, womit bie
neuere Oper dad Auge ebenfo beläftigt, wie fie dad Ohr mit Ges
räuſch b.täubt. Ehrfurdt vor dem Ernſte des Gehalts muß hier
zur Sparfamfeit führen. Mäßige Cinmifhung des Wunderbaren
ift der andere Vortheil. Mein Borfchlag beſchränkt dieſen Bes
ftandtheil auf die Verkündigung des Untergangs aller Nibelungen
aus dem Munde der Meermweiber, die Hagen im Babe findet.
Nach der Darftellung ber Ebba iſt in dem ganzen tragiſchen Bange
der Begebenheit ein alter Fluch wirkſam, ben ber Zwerg And⸗
vari auf den Nibelungenhort legte, im Nibelungenlieb iſt dieſer
Zug verwiſcht, in der Klage tritt er ſchwach angedeutet wieber
hervor. Man kann aber dieſe Beziehung in ber Oper nicht
brauchen; denn bis auf jenen mythiſchen Anfang. mit der Edda
zurüdzugehen iſt ſchon wegen der nothwendigen Oekonomie nicht
zuläffig, fällt aber die Scene weg, wodurch der Fluch auf den
Schatz gelegt wird, fo wird der ganze Umftand, da er bloß in
ber Form der Rede nachgeholt werden kann, aus Mangel an
Anſchaulichkeit abftrus und unbrauchbar. Nur als Motiv erneuter
Verlegung des Nechtögefühls darf der Schatz vorkommen , wie
ihn Sagen in den Rhein verfenkt. Die Zwerge und Rieſen, von
benen dad Nibelungenlied als Wächtern des Schatzes dunkel be⸗
richtet, fallen natürlidh auch weg. Brunhilde war nad der Edda
eine Walfyre, in der Oper muß fie, wie im deutſchen Epos,
zur menfhlihen Frau werben, doch darf der fagenhafte Zug
ihres Weibertroges , der gefährlichen Kampf» Spiele mit ihren
Freiern, als Erinnerung an diefe ältere Geftalt der Sage ſtehen
bleiben. Sigfried mag im Beſitz feiner Tarnkappe bleiben; warum,
wird fi finden. Durch diefe mäßige Einführung des Wunder«
baren gewinnt die Oper an reiner Menſchlichkeit der Motive und
bewahrt doch das Ahnungsvolle und die Atmofphäre altveutfchen
Heidenthumod, welche aus der dunklen alten Sage und entgegenhaudht.
Nun drängen fi aber auch zwei Schwierigkeiten auf: Die
eine ift Unklarheit der Motive, die andere bie epifhe Maſſenhaf⸗
tigkeit des Stoffed. Yingleich bedeutender tft die erſtere. Zunächft
iſt das Lied in feinem michtigften Erpofitions- Motive dunkel.
442
Der tiefe Haß Brunhildens gegen Sigfried naͤmlich iſt in ſeiner
Duelle unklar. Als Grund deſſelben giebt das Lieb an, daß man
den Sigfried, ba er den Gunther nah Island begleitet, um die
Aufmerkfamkeit von ihm abzulenken, für ‚einen bloßen Dienf-
mann Munthers erklärt; nachher empört fle fich über ben Chren⸗
plag, den der bloße Dienftimann mit feiner Braut bei dem Ber:
lobungsfeſte zu Worms einnimmt; mit einigen fehr feinen Zügen
läßt und aber das Lieb auf eine verborgene tiefe Eiferfucht gegen
Chriemhilde, alfo eine ebenfo flarke Liebe zu Sigfried fehließen.
Diefe Liebe felbft feheint ihren Grund in einer bunfeln Ahmmg
ber Hilfe zu haben, welche Sigfrieb vermittelft feiner Tarnkappe
dem Gunther ſowohl bei jenen Spielen, als in der Brautnadt
gegen die troßige Jungfrau leiftete. Sie ahnt, daß der bebeuten-
bere, flrahlende Sigfrieb es ‚eigentlich iſt, ber ihren Trotz ber
zwungen hat, dem fie daher angehört. Diefe dunkel angebeuteten
Motive werben alsbald Elar, wenn man bad Ältere Sagenbilb aus
ben Liedern der Edda kennt. Nach diefen war Sigfried der Ver⸗
lobte Brunhildens; Die Mutter Chriemhildend giebt ihm einen
Liebeötranf, daß er fle vergißt und in Liebe zu ihrer Tochter ent»
brennt, und Brunhilde, fpäter Gunther Gemahlin, ftiftet aus
beleidigter Liebe feinen Mord an. Davon bewahrt das Nibelungen»
Lied noch eine ſchwache, halbvermwifchte Reminifcenz. In ber Oper
aber kann man weder der Darftellung ver Edda, noch auch völlig
ber bes deutſchen Liebes folgen. Jenes nicht, weil die Verblendung
durch den Zaubertranf weder dargeftellt werben Fann, — ben
ba müßte man zu weit ausholen, — noch bloß erzählt, denn
dies wäre zu undeutlich. Diefes, wenigſtens nach allen Theilen,
auch nicht, weil man offenbar ben wichtigften Umftand, den nächt⸗
413
lichen Ringkampf, nicht aufnehmen kann. Auf bie Scene bringen
gewiß nicht, denn obwohl die Erzählung des Gedichts ein Krafte
ftüd it, das keinen wahrhaft unſchuldigen Sinn verlegt, fo ift
die Darftelung für's Auge auf unferem Theater, in unferer Zeit
doch offenbar ganz unthunlich. Aber auch bloß berichten Laßt fich
dieſer Auftritt nicht; die zwar mäßige Erhöhung aller Verhält⸗
niffe und Formen über den Boden einer Naivetät, welche in man«
hen Zügen, wie 3. B. auch in den Schlägen, welche Sigfrieb
feiner Frau für ihre „üppiglichen Sprüchen giebt, doch für unfern
Geſchmack gar zu wildfremb wäre, verlangt diefe Ausfcheidung.
Dagegen ließe fi wohl in einem lebendigen Nezitativ berichten,
wie Sigfrieb, durch feine Tarnkappe unfichtbar gemacht, bei jenen
Spielen die Brunhilde gewinnen half; im Uebrigen würde man
dem Liede darin folgen, daß Brunhilde davon eine dunkle Ahnung
hat und eine tiefe, verborgene Liebe zu dem Manne nährt, der fie
bo, wenn ihre Ahnung wahr ift, grenzenlos betrogen und ben
unbebeutendern Mann ihr durch jene Siege aufgebrungen hat.
Ihr Unwille wird von Hagen genährt, der den glänzenden Schwager
ſeines Seren haft, weil er ihm zumächtig, zugroß iftund feinen Herrn
verbimfelt. Es folgt der Zank der Königinnen. Da der nächte
liche Ringkampf wegfält, fo Tann Chriemhilde ihr nicht mehr den
Ming und Gürtel als Beweiſe ihrer Uebermannung durch Sigfrieb
zeigen -und fie ein Keböweib nennen. Man Tann aber dafür bie
Sache fo darftellen, daß Sigfried Brunhilden im Eriegerifchen
Kampfe zu Island den Ring abgeftreift, Chriemhilden gegeben
bat, und daß diefe num im Zorn, wiewohl gegen befferes Willen
und Gewiſſen, mit dem Vorweiſen des Ninges die Aeußerung
des Verdachts verbindet, Brunhilde habe Sigfried den Ring
414
heimlich felhft gegeben und ſei Gunthern als Weib gefolgt, um
ben edleren Siegfried zur Xiebe zu verloden; jedenfalls erfährt
nun Brunhilde, baß Sigfried es tft, der fie in den Spielen beflegt hat,
Hagen ſchürt an ihrem aus Liebe gegorenen Haſſe, fie beſchließt mit
ihm Sigfrieds Mord. Sigfried iſt nach der Erzählung des Liebes
nicht ganz unſchuldig, er hat feiner Gattin dad Geheimniß jener
Nacht verrathen, worüber er dem Gunther zum tiefften Still⸗
ſchweigen verpflichtet iſt; dieſe verzeihliche Menfchlichkeit Eoftet ihn
das Leben. Dies tragifche Motiv geht wenigftens nicht ganz ver⸗
loren, wenn man ed ebenfalld als Verlegung ſchuldiger Ber
ſchwiegenheit Hinftellt, daß Sigfried feinem Weihe die Gefchichte
der Gewinnung Brunhildens in den Kampf- Spielen anvertraut
und ihr den Ring geſchenkt Hat.
Eine andere Schwierigkeit Tiegt In der Maffenhaftigfeit bes
Stoffes. Freunde, denen ich meinen Gedanken mittheilte, er⸗
ſchracken davor am meiſten. Ich weiß aber nicht, warum man
daran verzweifeln ſoll, einen breiten epiſchen Stoff auf drama⸗
fifche Kürze zurückzuführen, wenn ſchon die Griechen ihr Epos
In die dramatifhe Abbreviatur umzuarbeiten verftanden, wenn
Shaffpenre die wilden Maffen eines verworrenen Bürgerfrieges,
wenn Schiller die Fluthen des dreißigjährigen Kriegs in ben dra⸗
matifchen Rahmen zufanımenzubrängen vermochte. Die meifle
Schwierigkeit begegnet in dem letzten blutigen Kamyfe, worin
nad) dem Liede fo ungeheure Zahlen auftreten. Die Aufgabe if,
biefen Kampf in wenige Sauptmomente zufammenzuziehen und
den materiellen Lärm de3 Kampfes felbft in den Hintergrund zu
brängen. Um hierüber nicht in diefen Vorbemerkungen mweitläuftig
zu werben, gebe ich num eine Sfisge, worin ich die Hauptmo⸗
415
mente. der Oper dramatiſch zu ordnen ſuche. Ich Laffe mich in
diefem Verſuche, worin es mir freilich noch nicht gelungen fein mag,
die Breite des Stoffs gehörig zu bemeiftern, gerne belehren und ver⸗
beſſern, daß aber eine Fülle der herrlichten muſikaliſchen Motive
aus diefer bloßen Nennung der Hauptmonente bem Inneren Ge:
höre entgegenwogt, wird mir Niemand abftreiten.
Ich theile den Stoff in fünf Acte; die zwei erften enthalten
Sigfrieds Schickſal, welches mit feiner Kataſtrophe, der Ermor⸗
bung dieſes argloſen Jugendbildes, ſich zu dem Ganzen fo verhält,
daß es ſelbſt nur die Erpofition zu der blutigen Schlußkataſtrophe
bildet. Der erfte Act enthält die Expoſition im engern Sinne;
d. h. zunächft die Erpofition zum zweiten, zu Sigfrieds Ermor«
dung, ebendamit aber die Lage der Dinge überhaupt, woraus der
ganze Verlauf der Tragödie fich entwickelt. .
Erfter Art. Erfte Scene. Gunther tft mit feiner Braut
Brunhilde aus Island angekommen und führt fle in prathtvollem
Aufzuge, wobei die glänzenden Waffen der Eriegerifchen Jungfrau
nicht fehlen bürfen, vor den verfammelten Hofe, d. h. der Mutter
Ute, Gernot, Gifelher, Chriemhilde und den Bafallen auf.
Die Scene iſt in einer reihen Dale; vor ber Ankunft des Braut⸗
paares fprechen bie Berfammelten ihre Erwartung, Chriemhilde
ihre Tang gehegte ftille Liebe zu Sigfried aus. Jetzt tritt Gunther
mit Brunhilden und feinen Begleitern auf der gefahrvollen Wer⸗
bung, Sigfried, Hagen, Dankwart ein. Nachdem die Braut
Gruß empfangen und erwiebert hat, findet fie den Moment, eine
püftere ahnungsvolle Stimmung in Tönen auszufprechen. Ge⸗
zwungene Braut Gunthers fühlt fie eine tiefe Liebe zu dem ebleren
Begleiter Sigfried, fie ift aber auch von einer dunklen Ahnung
416
erfüllt, daß Sigfried, von dem die Sage geht, daß ihm wunder⸗
bare Kräfte zu Gebote ftehen, bei jenen Eriegeriichen Wettkämpfen,
durch welche fie Gunthers Braut murbe, die Hand mit im Spiele
Hatte; fie ahnt, daß er es eigentlich ift, der fie überwunden hat,
fie fühlt, daß fle ihm gehören follte, fie muß ihn haffen, weil
fie ihn Tiebt, und weil er fie betrogen Hat, ftatt fie für fich zu
erfämpfen; fie kann nur den Dann lieben, ver fühig war, ihren
Trotz und Waffenftolz zu brechen. Hagen ift ihr näher getreten
and hat ihre Klagen vernommen, feiner engherzigen Vaſallen⸗
Treue iſt längft der feinen Herrn überftrahlende Sigfrieb ein Dorn
im Auge gewefen, er gefteht ihr feinen Haß und fie vereinigen
im Duett den Ausdruck ihrer drohenden Gefinnimgen. Hierauf,
während ſich die Uebrigen entfernen, um die Vermaͤhlung bed
Föniglihen Brautpaars einzwleiten, finden fih Chriembilde und
Sigfried allein auf der Scene zufammen.
Zweite Scene. Geftinbniß einer tiefen, Lange verborgen
genährten Liebe, wobei die herrlichen, aus der fehönften Blüthe
ber Minnepoeſie gefchöpften Züge, womit das Gebicht diefe tiefe,
ſtille Liebe malt, aus der Stimmung des Componiften wieder⸗
Elingen müſſen. Sigfried erzählt nun den Hergang der Kämyfe
und theilt Chriembilden das Geheimniß feiner Beihilfe mit, wobei
er ihr den Ring giebt, den er im Kampfe Brunhilden vom Finger
geftreift. Chriemhilde, vol Triumphes und Bemunderung, ers
innert ſich jegt auch des fühnen Heerzuges gegen die Sachfen, ben
Sigfried angeführt, und fehildert Die bangen Bejorgniffe, die fie
damals um ihn genährt, gefteht Sigfried, wie fle den Knappen
heimlich ausgeforſcht, der bie erfte Nachricht vom damaligen Siege
brachte und es kommt fo der herrliche Inhatt der vierten Av.
417
zum muflfalifchen Ausdruck, Sigfried erklärt ihr nun, daß er
fih von Gunther ald Preis feiner Hilfe bei der gefahrvollen Wer⸗
bung die Sand feiner Schwefter erbeten und deſſen Zufage erhal«
ten babe.
Dritte Scene. Zum Trauungszuge geſchmückt, tritt das
Brautpaar und der ganze Hof wieder ein, Sigfried mahnt vor
dem verfammelten Kreife ven Gunther an fein Verſprechen und
e3 folgt die Verlobung der Liebenden nach der fo lieblichen Schil«
derung In der 5. u. 10. Aventüre. Während die Verlobten ihr Glück
auf den Wellen des Wohllauts ausfprechen, mährend Ute, Gernot
und Gtjelher freudig ven Sigfried als Glied ihres Hauſes begrüßen,
fteht finfter und drohenn Brunhilde zur Seite, Hagen vereinigt
wieder den Ausdruck feiner gefährlichen Stimmung mit dem ihrigen,
und Gunther, tief in fich brütend, giebt dem Gefühle eines dumpfen
Drudes, der auf ihm laftet, Worte; er muß fich befennen, daß
fein Weib nicht wahrhaft fein ift, weil er fie nicht felbft errungen
hat, weil er durch Sigfrieds große Erſcheinung verdunfelt wird,
weil er fühlt, daß eine geheime Ahnung fein Weib in Haß und
Liebe nach Sigfried hinziehen muß.
Vierte Scene. Man ordnet ſich zum Kirchgange, um nun
beide hohen Paare zugleich zu vermählen. Die Seene braucht
nicht zu wechſeln; das Portal der Kirche ſtößt an die offene Halle,
in welcher alles Bisherige vor fich gegangen iſt. Während dies
gefchieht, tritt Brunbilde zu Chriemhilden und bricht in höhni⸗
fhen Neben gegen fie aus, in melchen fie bodhaft, ihrem eigenen
Gefühle zuwider, Sigfried tief unter Gunther fielt. (Daß man
ihr den Wahn beigebracht hat, Sigfried fei bloßer Dienfimann,
darin kann, wie ſchon gefagt, Die Oper dem Liebe nicht folgen. Es wäre
Kritiſche Ränge I. 27
418
dies für die muſikaliſche Sprache zu undeutlih und die Unwahr⸗
f&heinlichkeit, daß Brunhilde die Unwahrheit dieſes Vorgebens am
Hofe zu Worms nicht fogleich merken fol, würbe bei der theatra⸗
lichen Darftellung fi verdoppeln. Brunhilde darf daher nur
im Allgemeinen ihren Dann, auch als mächtigeren König, rüh⸗
men, Sigfriev höhnen). Chriemhilde empört ftellt ihren Verlob-
ten hoch über Gunther, macht ihr den Vortritt beim Cingang in
die Kirche ftreitig und nachdem ſich beide Weiber zum Aeußerften
gereizt, bringt fle den ſchmähenden Vorwurf vor, ber oben an⸗
gegeben wurde, und zeigt ald Beweis den Ning. Brunhilde fteht
vernichtet, ſprachlos. Man legt momentan die Exbitterung bei,
Alles tritt in die Kirche, nur Sagen bleibt haußen, fein finfterer
Sinn erhebt fich zu Teidenfchaftlicheren Ausdruck in der
| Fünften Scene. Zwiſchen die Paufen feines Vortrags,
worin er bereit3 den Gedanken des Mordes ausfpricht, hört man
Gefang und Orgel in der nahen Kirche. Der Gottesdienſt endigt,
der Zug tritt wieder aus der Kirche; die Scene, worin Eigfried
die Verläumdung abſchwört, muß wegbleiben, fie ift für den
rafchen dramatiſchen Gang müßig. Hagen fleht den Zug an ſich
vorübergehen; Faum ift diefer über die Bühne, fo kehrt Brunhilde
in ber höchften Bewegung zurüd, Gunther folgt ihr, nachdem
fie mit Hagen ſchon den reifen Mordgedanken ausgetauſcht, er
vereinigt fih mit ihnen aus dem ſchon hervorgehobenen, nun noch
ſtärker auszufprechenden Bemweggrunde, und der Mord wird auf
die Weiſe, wie im Liede befchloffen. Der ſchwankende Gernot
bleibt in diefer Scene weg, er wäre bier überflüffig. Daß man
eine neue Kriegäbotfchaft won den Sachfen vorgeben will, dies
wäre für die Oper ebenfalls zu weitläuftig, nur die Jagd, der
419
Wettlauf u. ſ. f. wird in Diefe Verabredung aufgenommen.
Das Annähen eined Kreuzed auf Sigfrieds Gewand, wozu
Hagen die Chriemhilde unter trügerifhem Vorwande beredet, muß
ebenfalls megbleiben, weil der mythiſche Zug von Sigfrieds
Hornhaut, die fi bloß auf eine verwundbare Stelle des Rückens
nicht erftreett, in ber Oper offenbar feine Stelle finden Tann.
Die Muſik muß mit allen ihren Mitteln den büfteren, dumpf⸗
drohenden, unheimlich flüfternden Geift eines ſolchen Mordraths
aushauchen.
Buweiter Act. Erſte Scene. Zimmer im Pallaſte.
Sigfried, in herrlicher Jagdkleidung, verabfihiebet fich von Chriem⸗
bilde. Diefe fucht ihn vergebens zu halten, indem fle ihm bie
dunfeln, bangen Träume ber Naht erzählt, wie zmei Berge ob
ihm zu Thal fielen und fie ihn nimmermehr fah, wie ihn zwei
wilde Schweine über die Helde jagten — „da wurden Blugmen
roth.« Wer diefe herrliche Scene in Av. 16 nur einmal gelefen
bat, muß fühlen, baß fle lauter Muflt if.
Zweite Scene. Die Dekoration mwechfelt, ein Wald mit
einer Quelle erfiheint. Won verfihievenen Seiten des Walbes
fommen Sigfried, Gunther, Sagen und einige Jäger zufammten.
Sigfried wird ald der Mhnfte und glücklichſte Jäger von Allen
begrüßt: Nun Kann natürlich der Umftand nicht aus dem Liebe
aufgenommen werben, daß man fih erft zum Schmaufe feßt,
feinen Wein reicht, Daher beſchließt, den Durſt an der Quelle zu
löſchen, und nun erft einen Wettlauf nach biefer vorſchlägi. Das
für nimmt man die einfache Wendung, daß Hagen den Sigfrieb
durch die Behauptung reizt, er fei als Jäger zu Pferbe ſchnell
gewefen, er folle fich erft im Laufe zeigen, und fo beſchließt 7
27*
420
einen Wettlauf nah der Duelle. Sigfried will in voller Jagd⸗
kleidung, die beiden andern dürfen im leichten Unterfleid Kaufen.
Die drei Wettläufer entfernen ſich, die übrigen Jäger, von denen
angenommen wird, fie feien in das Geheimmiß gezogen, ſtellen
ſich an der Quelle auf. Pauſe voll düſterer Spannung. Die
Jäger ſehen und ſchildern die Zurüſtungen, den Anfang des
Wettlaufs, indem fie gefpannt alle nach dem außerhalb der Scene
angenommenen Punkte hinbliden; vol finfterer Erwartung fehen
fie den Sigfrieb feinem Schidfal entgeg nrennen und müffen bie
Schönheit und Behendigfeit des herrlihen Schlachtopfers noch im
legten Momente bewundern.
Dritte Scene. Sigfried kommt ſiegreich zuerft an, Iegt
alle feine Waffen ab und wartet befcheiden auf den König; nach—
dem dieſer getrunfen, bückt fich Sigfried zur Duelle, trinft,
Hagen, der jebt auch am Ziele angefommen, durchſtößt ihn mit
dent Speere. Sigfried greift, wie im Liede, nah dem nahe
liegenden Schild, ſchlägt Hagen zu Boden, finft aber dann zwi—
ſchen Blumen zufammen. Die unendlich rührenden Verſe in Av. 16,
Strophe 929 ff., geben den Eöftlichen Text zu feinem Schwanen-
gejang, während die Mörder mit Graufen, mit ſchwacher Reue
(Gunther), mit feftem Troge (Hagen) ihn unftehen. Man legt ven
Leichnam auf eine Tragbahre; e8 ift Nacht geworben; unter vüfterem
Geſange wird er fortgetragen.
| Vierte Scene. Thüre vor Chriemhildend Schlafzimmer.
Die Scenerie muß fo befchaffen fein, daß die Schwelle breit ift,
d. h. daß zwiſchen einigen Staffeln, die zur Thüre führen, und
biefer felbft ein gehörig ausgedehnter Raum if. Chriemhilde
muß nämlich im Heraustreten, noch ehe fie den Leichnam fehen
421
kann, Einiges vortragen, was im Liede im Schlafzimmer ges
ſprochen wird. Zunächft iſt die Thüre gefchloffen. Es ift Nacht.
Hagen erfeheint mit den Trägern des Leichnams und in entfeplicher
Graufamfeit gebietet er ihnen, den Leichnam vor den Staffeln
niederzulegen. Nachdem diefe abgegangen, erfcheint ein Kämmerer
mit einer Fackel, beauftragt, Chriemhilden zur Frühmeſſe zu ge-
leiten. Er erblickt vol Schreien den Leihnan, ohne ihm zu ers
fennen, und pocht an die Tihüre.
Bünfte Scene. Chriemhilde tritt heraus, ihre Gefelfchafts-
Brauen inter ihr. Iebt benachrichtigt fie der Känımerer, daß
am Fuße der Staffeln ein Leichnam liege, ſie ruft fogleich aus:
ed ift Sigfried, Hagen ift der Mörder! und finkt in Ohnmacht.
Langſam erholt fie fih, Laßt fih zum Leichnam führen, und nun
die herrliche Klage Scene (|. Av. 17). Hier ift eine Schöpf-
quelle der gewaltigften muflfalifhen Wirkung, wobei auch das
Auge eine Anfhauung von der höchſten malerifhen Schön-
beit hat.
Die folgenden Acte nun haben den Aufgang diefer Blutſaat,
das Werk ver Rache zu entfalten. Um aber die Verwilderung
Chriemhildens, die wir im legten Acte fehen follen, zu motivi⸗
ren, muß erft an der Hand des Liedes gezeigt werben, wie fie
keine vechtmäßige Strafe des Mörders erwirken kann, ja viefer
auf's Neue, und zwar auf dem empfindlichen Punkte des Rechts⸗
gefühls, ſie unendlich verletzt. Dieß und die Werbung Ezels bil⸗
det den dritten Act.
Dritter Act. Erſte Scene. Das Bahrrecht (Av. 17).
Das Innere einer Kirche oder Kapelle. Sigfrieds Leiche wird im
offenen Sarge bereingetragen. Hinter ihm bie ſchmerzvolle Wittwe,
422
der König, feine Brüder, Sagen und die andern Bafallen (Ger:
not, Gunthers Bruder, tft im Liebe faft müßig: ich habe ihn
früher aufgeführt, der Componiſt kann fi dort und bier danach
halten, ob ihm in einigen muſikaliſchen Partien dieſe weitere
Stimme brauchbar iſt oder nicht. Weber Giſelher f. nachher).
She die Ceremonie vor ſich geht, fuchen Gunther und feine Brü-
der die Wittwe zu tröften. Gunther gefteht mit halben Worten
feine Theilnahme am Mord, deutet unvermeiblihe Motive an,
flieht um Verzeihung und Chriembilde erklärt, ihm verzeihen zu
Eönnen, wenn der Mörber ſelbſt beftraft werde. Dieſe vorberei⸗
tende Scene tft hier nothwendig, denn um fpäterer Vorgänge
willen muß Chriemhilde dem Gunther verziehen haben; das Lieb
bat hiefür nachher eine befondere Scene, die Oper muß um der
Kürze willen biefen Moment hier einfügen. Im Liede gefteht
Gunther nicht, fondern giebt vor, Räuber haben den Sigfried ermor⸗
det. Aber inbiefer Unklarheit kann Die Oper die Sache nicht belaſſen.
Zweite Scene. Jetzt tritt Sagen vor die Leiche. Die Wun⸗
den bluten. Chriemhildens Klage und Zorn bricht in der höchſten
heroifchen Form aus. Hagen in ftolger Haltung erwiebert ihr
Worte des tiefften Trotzes, Chriemhilde geht in Verzweiflung
und in der Dual des ungefättigten Rachegefühls Hinter dem Sarge,
den man fortträgt, ab, nachdem fie noch einmal den Bruber be⸗
ſchworen hat, fie an Sagen zu rächen, Gunther aber dem Ver⸗
Langen durch die Erklärung ausgewichen ift, er könne feinen be=
deutendften Vaſallen nicht entbehren.
Dritte Scene. Gunther und Hagen bleiben, während der
Tranerzug abgeht. Hagen erklärt fich entfchloffen zu einer neuen
argen That. Den reihen Schag, melden Sigfried ber Wittwe
423
nachgelaflen, den Nibelungenhort, will er rauben und in ben
Rhein verfenfen, denn Chriemhilde Hat zuleßt noch ihre einzige
Hoffnung darauf gefeßt, durch große Breigebigkeit Freunde an
dem Hofe zu gewinnen, bie fie an dem Mörder rächen follen.
Der ſchwache Gunther, zuerſt noch von Mitleid bewegt, läßt ſich
zu diefer neuen Unthat beftimmen und beide gehen mit dem gegen-
feitigen Verſprechen, bis in ben Tod zu verſchweigen, wo ber
Schatz Hege, hinweg, um ihren Entſchluß fogleich auszuführen.
Vierte Scene Ein Zimmer im Pallafte. Chriemhilde in
tiefer Trauer; ein Knappe Fündigt ihr den Raub an; fie verän-
dert ihre Züge, bleibt aber ſtumm und fleinern. Schmerz und
Wuth arbeiten innerlich und finden Feine Worte mehr. Jetzt er⸗
feheinen ihre Brüder; Giſelher fucht fie von Herzen, Gunther in
feiner gewohnten halb reblichen, Halb treulofen Art zu tröften;
da wird eine Botfchaft angenielvet, bie von dem großen Hunnen⸗
könig Ezel kommt. Man befiehlt, die Boten einzulaffen.
Fünfte Scene. Der edle Nübiger erfcheint mit glänzendem
Gefolge und trägt die Werbung Gzel8 vor. Chriembilde, ſtumm
vor Bewegung, bedeutet nur mit der Hand, daß ihr jeber Ge⸗
danke näher liegt, als ber einer zweiten Bermählung. Vergebens
dringt Gunther in fie. Jetzt tritt ihr Müdiger näher und flüftert
ihr zu, ob fie wohl geheimes Weh habe? Cr gelobe ihr Hilfe
und Rache. Bei diefen Worten bligt ein Gedanke in ihr auf:
bie arme Wittwe am Hofe zu Worms tft wehrloß, aber Ezels
Gemahlin, die über Unzähliche und über bed eveln Nübigerd noch
befonders zugeſicherte Hilfe verfügt, nicht. Sie tritt wieder zu
den Uebrigen und giebt ihr Iawort. Die Boten treten ab, und
Chriemhilde auch. Auch in dieſer Scene darf fie faft nichts
rm j
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ſprechen, ſingen gar nichts; das Drohende und Gefährliche ihrer
innern Gedankenwelt ſoll durch Winke doppelt furchtbar wirken.
Während ſich Alles entfernt, bleibt Hagen noch einen Moment
zurück und blickt ſtumm den Abgehenden nach; Miene und Ge⸗
bärde zeigen an, daß er die Gründe von Chriemhildens Einwil⸗
ligung verfteht, aber auf jede Zukunft gefaßt ift.
Der vierte Act umfaßt das letzte Stadium, das zur
Schluß - Kataftrophe führt. Erfte Scene Die Nibelungen
(diefer Name, im Nibelungenliede vergefien und erft gegen Ende
wieder bervortretend, ift in der Oper von Anfang an als der
Name des Burgundifhen Königshaufes zu Wormd und ihrer
Bafalen angenommen) empfangen verfammelt die Boten von
Ezel, die Spielleute Werbel und Swemmel, welche die Einladung
nach Kunnenland in fröhlichen Tönen ausrichten. Ezels Sehn-
fucht, feine Schwäger zu fehen, Chriemhildend Sehnfucht, die
Brüder wieder zufumarımen, wird ald Motiv auögefprochen. Gunther
ift unentſchloſſen. Sagen räth nach allen Kräften ab und fpricht
aus, daß fle ale in den Tod reiten würden. Ihm ſtimmt Rumold
‚ der Küchenmeifter bei; es ift von Intereffe, diefe Figur, die in
andern Denkmalen unferer Heldenſage derb Humoriftifch erfcheint,
nicht auszulaſſen; er rath munter, lieber bei Schüfleln und
Töpfen im Frieden zu Haufe zu bleiben. Gifelher aber, der Lieb⸗
ling feiner Schwefter, räth eifrig zu der Fahrt und wirft Hagen
‚vor, er rathe aus Schuldbewußtſein ab. Seht erfcheint diefer in
feiner Größe, indem er erklärt, wenn man nicht abftehe, fo fei
er der Erfte, der feit und gefaßt dem Schickſal entgegengehe. Ja
jeßt dringe er auf die Fahrt. Jener hohe antife Sinn, der das
Schickſal in feiner finfteren Größe Fennt, aber ohne Zittern und
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ohne Verdruß in feinen Abgrund fchreitet, muß hier feinen Aus⸗
prud finden. Die Fahrt wird befchloffen.
Zweite Scene. DasUfer der Donau, deren angeſchwollene
Wogen man braufen hört. Hagen in voller Rüſtung tritt hervor,
in der Berne zeigen ſich an höheren Uferftellen Theile des Nibes
lungenheeres, man fieht fie rathlo8 auf den Strom bliden. Hagen
fhildert die Noth um eine Meberfahrt und ſucht eine Furth am
Ufer. Da hört er plätfchern, die Stimmen der Meerweiber lafſen
fih hören, er raubt ihnen die Gemwänder und verlangt ald Bes
dingung der Nüdgabe Prophezeiung ded Ausgangs dieſes Zugs.
Sie vertünden ihm den gewiſſen Tod fämmtlicher Nibelungen.
Feſt und männlich, wiewohl tief bewegt, nimmt er die Kunde auf.
Sie geben ihn noch an, wie er dem Fährmann rufen müffe. Der
raube Ferge kommt, nachdem Hagen die gewaltige Stimme nach ihm
geſchickt hat, der Streit mit ihn entfpinnt fh (Av. 25), Hagen
ſchlägt ihm das Haupt ab, iſt num im Beflte der Fähre, ruft die
Seinigen herbei und verfündigt ihnen, was die Meerweiber ges
wahrfagt. Zuerft tiefe Schweigen, dann entfchloffener Zuruf, doch
nicht von der Fahrt abftehen zu wollen. Man ſieht noch, wie er
die erfte Schaar über den Strom rudert. Es bedarf feines Wortes
über bie ungeheure muſikaliſche Gewalt diefer gangen Scene, wozu
das finftere Bild des wilden Stromes, ber trübe, graue Tag ftimmt.
Dritte Scene. Die Burg zu Bechlaren. Rüpdiger bewirthet
die Reiſenden, verlobt feine Tochter dem Gtfelher, ſchließt Waffen-
brüderſchaft mit den Nibelungen, welche beim Abſchied mit Ge-
ſchenken beflegelt wird, einem Waffenkleid für Gunther, einem
Schwert für Gernot, einem Schild für Hagen u. f. w. (ſ. Av. 27).
Dieſe Zwiſchenhandlung darf inder Oper nicht fehlen, fonft gienge
426
die ſchwere Eollifion verloren, in welche Rüdiger fpüter geräth,
da Verſprechen und Lehnstreue ihn für Chriemhilde Fämpfen,
Schwur der Freundfchaft und Verſchwägerung ſich wenigftend
neutral halten heißen. Ebendaher darf Gifelher in der Oper
keinesfalls mwegbleiben; er jpielt ohnedies eine wichtige Rolle bei
der Annahme der Einladung nad) Humnenland.
Vierte Scene. Empfang der Nibelungen buch Chriem-
bilden in Hunnenland, vereinigt mit dem herrlichen Auftritt
„Wie fie der Schildwacht pflagen“ (Av. 30). Lokal: Links, vom
Profil gefehen, dad Portal von Ezels Burg. Ueber diefem eine
Zinne. Im Angefiht des Zuſchauers, in der Front ein Neben=
pallaft, beftimmt, die Nibelungengäfte aufzunehmen. Im Anfang
der Scene erfcheinen auf der Zinne Ezel und Chriembilbe, in bie
Berne blickend nach den heranziehenden, aber noch nicht ſicht⸗
baren Nibelungen. Chriembilde, da fie alle in voller Rüſtung
fieht, drückt in wenigen Lauten die Gefühle aus, welche die legte
Strophe von Av. 27 enthält, während ber arglofe Ezel nur
herzliche Freude zu erkennen giebt. Inzwiſchen fteht Dieterich von
Berne mit feinem greifen Waffenmeifter Hildebrand unter dem
Portale, beauftragt, die Gäfte zu empfangen. Im Momente,
wo fie auf der andern Seite der Bühne mit Rüdiger, ber fie von
Bechlaren an begleitet hat, erfcheinen, tritt er ihnen entgegen,
begrüßt fie und antwortet ihnen auf ihre flüfternde Srage, ob
Chriemhilde noch immer den Sigfried beweine, mit einem bes
denklichen, warnenden Winfe. Inzwifchen ift Chriembilde mit
Ezel herabgeftiegen und fieht unter dem Portale. Nun der, in
Av. 28. fo bedeutungsvoll gezeichnete Empfang. Schweigend
weist fie die dargebotene Hand Guntherd (und Gernots) ab, nur
427
Giſelher begrüßt fie mit Sandfehlag und Kuß. - Hagen bemerkt
dieß, tritt auf das Profcenium und fohnallt ſchweigend feinen
Heln fefter. (Av. 28, Str. 1675). Hierauf herzlichere Be⸗
grüßung Ezeld. Die drohenden Neben, die im Liede nun fogleich
zwiſchen Chriemhilde und Hagen gewechfelt werben, fallen weg,
um bie Kraft auf einen fpäteren Auftritt zwiſchen beiden zu fparen.
Es ift ſpät Abends, die Gäfte wünfchen fogleih ihre Wohnung
zu beziehen und werben nach dem anliegenden, oben genannten,
Gebäude gewiefen. Knappen, durch einen Wink Chriembildend
biezu angewiefen, wollen ihnen die Waffen abnehmen, fie dulden
ed aber nicht. Ezel, Chriemhilde, Dieterih u. f. w. ziehen fi
in den Pallaft zurüd, die Hauptſchaar der Nibelungen ift in das
Gebäude getreten, Gunther, (Gernot), Gifelher, Hagen, Volker
ftehen noch haußen und drücken, Giſelher befonderd, bange Bes
ſorgniß eines nächtlichen Ueberfalls aus. Da vereinigen fih Hagen
und Volker im Schwure ewiger Waffenbrüderfhaft, und beſchlie⸗
Ben, bie Schlafenden zu bewachen. Alle Andern ziehen ſich zu⸗
rück. Es iſt tiefe Nacht geworden und nun folgt die herrliche,
für die Oper ganz geſchaffene Scene der Schildwacht (Av. 30).
Volker lehnt den Schild an die Wand und: „ſuozer unde ſenfter
gigen er began, do entſwebete er an den Betten vil manegen
ſorgenden Mana. Dann tritt er in dad Haus, verſichert ſich,
daß Alle ſchlafen, umd waffnet ſich wieder völlig; mit drohendem,
anfchmwellendem Gemurmel ſchleicht eine Qunnen= Schaar heran
und wird von den getreuen Wächtern zurüdgefchlagen.
Fünfte Scene. Der wahrhaft erhabene Auftritt der
Av. 29. („Wie er niht gen ir ufſtuont /) geht im Liebe der nächte
Then Schildwacht voraus. Hier laſſe ih ihn nachfolgen, theils
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um die theatraliſche Anordnung zu erleichtern, theils weil er be⸗
ſonders bedeutungsvoll die letzte Station vor dem völligen Aus-
bruch der blutigen Kataſtrophe bezeichnet. Ich bitte jeden muflfa-
fh Begabten, nur die Av. 29. zu leſen und dann: fih zu
fragen, ob ihm nicht Alles von felbft zu einer Tonwelt ſich ge
ftaltet. Zur Anordnung der Schaubühne ift jo viel zu bemerken.
Es ift allmählich Tag geworden. Hagen und Volker ſetzen ſich
auf eine Bank vor dem Saale, um zu ruhen. Da hört man von
ferne dumpf anfehwellende, murrende, drohende Töne einer gros
Ben Menſchen⸗Maſſe. Hagen und Volker erneuern ihren Schwur,
ſich nicht zu verlaſſen. Volker will die Freunde wecken, aber
Hagen in ſeinem Heldengefühle duldet es nicht. Jetzt erſcheint von
der Seite Chriemhilde an der Spitze einer großen gewaffneten
Hunnen⸗Schaar, und zeigt, zu ihnen gewandt, mit drohendem
Finger auf Sagen.“ Sie gebietet hierauf den Kriegern, flille zu
ftehben und das Bekenntniß feiner Schuld aus Hagens eigenem
Munde zu vernehmen ; fie kenne feinen Trog genug, um zu wiſ⸗
fen, daß er nicht Kiugnen werde (Str. 1709). Inzwiſchen faßen
Hagen und Volker ſchweigend, bewegungslos, zwei ernſte, ſtille,
große Heldengeſtalten, wie in Erz gegoſſen. Hagen hat das große
Schwert, das er Sigfried genommen, ruhig über ſeine Schenkel
gelegt, Volker hat ebenfalls ſein Schwert von der Bank, wo es
lag, an ſich gezogen und ſtützt ruhig die Sand auf den Knopf
des Griffed. Da Chriembilde auf fie zugeht, fordert Volker ven
Hagen auf, vor der Königinn ſich zu erheben, diefer weist es
trogig ab. Chriemhilde tritt ihm vor die Füße, wirft ihm feine
Verbrechen vor, er gefteht fie mit erhabener Feſtigkeit unerfchüt-
terlicher Ueberzeugung (die großen Worte: ich bin's et aber Has
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gne m. f. w. Av. 29, Str. 1728). Jetzt tritt ſie wieder zu ihren
Hunnen, die Schuld iſt geftanden, Sagen fol jetzt die Strafe
finden , fie hebt die Schaar gegen ihn, aber unſchlüſſig umſum⸗
men die Sunnen die beiden immer gleich unbewegten Männer und
verlieren fich endlich. Jetzt treten dieſe in’8 Haus zurüd, um nach
folchen offenen Beweiſen feindlichen Sinnes die Ihrigen aufs Neue
zur DVorficht zu ermahnen. Während Chriemhilde zitternd vor
MWuth allein fteht, tritt ihres Gemahls Bruder Blöbelin zu ihr
und fragt fie nach) dem Grund ihrer Keidenfchaft. Jetzt ift fie ent⸗
ſchloſſen, Freund und Feind zu opfern, auf ihre Verfühnung mit
Gunther, ihre Liebe zu Gifelher Feine Rüdficht zu nehmen, einen
Sturm zu beſchwören, wo feine Unterfeheidung mehr ift, und
Die Nibelungen follen noch dieſen Tag, wenn fie alle im Pallafte
fyeifen,, von einem überlegenen Sunnen= Heer überfallen, aber
damit ihre Kriegsknechte fie nicht unterftügen, diefe fimmtlich in
ben befonberen, abgelegenen Gebäude, wo fie wohnen, über dem
Effen niedergemacht werden. Dazu läßt ſich Blödelin bereit fin=
den, da ihm Chriemhilde ald Lohn die ſchöne Wittwe Nudungs
zur Gemahlinn verſpricht (Av. 31).
Fünfter Act. Schluß - Kataftrophe, ungeheurer blutiger
Durchbruch des Schickſals im entfeflelten Sturme aller muſikali⸗
ſchen Kräfte. Erfte Scene. Großer Saal in Ezels Pallaft. Die
Nibelungen mit möglihft großen ritterlichen Gefolge fiten zu
Tiſch mit Ezel, Chriemhilde, Dieterich, Nüdiger und einer reichen
Umgebung Hunnifcher Großen. Man führt Chriemhilvdens Kind
Ortlieb *) herein und eben ift Chriembilde und Ezel, Gunther,
*) Nor der Einheit der Zeit bedarf ed teined fo großen Mefpectd, um fich
daran zu finden, daß feit dem dritten Acte Ehriemhilde dem Ejel einen
430
(Gernot), Gifelher zärtlich liebkoſend mit ihm befchäftigt, da er⸗
feheint unter der Thür im Hintergrund eine ſchreckliche Geſtalt:
es ift Dankwart, unter deſſen Aufficht die Knechte aßen; alle
find erſchlagen, er allein hat fi durchgehauen und tritt nun mit
blanfem, blutigem Schwerte, die ganze Rüſtung von Blut bes
ronnen, unter bie Thür; furchtbar erfchallt feine Stimme, indem
er den Nibelungen das Ereigniß verkündet und fie aufruft, ſchnell
fih zur Rache und Nothwehr zu erheben. Sogleich führt Hagen
auf, haut Chriemhildens Kind, feinen Hofmeifter, Werbel und
Swemmel nieder; ein Moment, und Alles ift im wilden Hand⸗
gemenge. Ezel und Chriemhilde flehen Dieterih um Schuß, dieſer,
für feine Perſon entſchloſſen, neutral zu bleiben, fpringt auf einen
Tiſch, feine Stimme fhallt „alfam ein Wifanded-Horn“, er be
gehrt einen kurzen Waffenftilftand, um Ezel und Chriemhilden
aus dem Saale zu führen, Gunther gewährt es ihm, er führt
die Zitternden hinaus. Ihm fhließt fih Rüdiger mit Gefolge an,
ber weder für noch gegen die Nibelungen fechten kann, ohne fein
Gewiffen zu verlegen. Kaum haben diefe den Saal verlaffen, jo
beginnt das Kampfgewühl von Neuem und ruht nicht, bis alle
im Saale anmwefenden Hunnen gefallen find. Es wird ftille, bie
Nibelungen ruben müde auf ihren Schilven. Diefe I höne Grupre
der ruhenden, neuer Kämpfe. gewärtigen Streiter muß fich tiefer
im Grunde des Saaled fammeln, wohin zulegt der Kampf fich
um ſo mehr gedrängt hat, weil es zugleich galt, neue, herein⸗
Knaben geboren haben foll. Uebrigens kann die Oper von der boshaften
Abſicht, womit Chriemhilde dad Kind zur Tafel kommen laͤßt (Av. 33
v. 30.) abfehen. Dad Kind wird eingeführt, um die Paufe vor Dant:
wartd Eintritt zu füllen, und ald erſtes Opfer von bagens Kampfwurh.
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dringende Schaaren abzumehren und die Hunnen, die im Saale
befindlich find und hinausdrängen, zurüdzuhalten ; ih mache aber
darauf aufmerkfam, weil jeßt für einen Wechfel der Decoration
der Vordergrund gemonnen werben muß.
Zweite Scene. Rüdigers rührender Kampf mit fi, fein
Eintritt in den Streit, fein Tod. Zunächſt einige Vorbemerkungen:
Es verfteht fh, daß das lang gedehnte, immer neu beginnende
Getümmel phyſiſchen Kampfes nicht auf die Bühne gehört, und
daß es auf wenige Haupt » Momente zu beſchränken iſt. Daher
gibt die Oper nur Eine Scene des Kanıpfes in unmittelbarer An⸗
ſchauung, im vorhergehenden Auftritt; das Uebrige fordert eine
andere Anorbnung, welde fo befchaffen ift, daß man nur von
ferne den Lärm des Streited Hört. Daher fällt Iringe Kampf
(Av. 36.) weg, und werben nur die weſentlichſten Auftritte her⸗
vorgehoben,, Rüdigers Kampf, der Kampf von Dieterih8 Mans
nen, Dieterih8 Sieg Über Sagen und Gunther. In der vorlie⸗
genden zweiten Scene nun hat bie Decoration gewechfelt, und
ſtellt wieder das Local von Act IV, Se. A u. ff. dar. Das Ge
bäude, worin die Nibelungen wohnen und kämpfen, fteht alfo
im Hintergrund ; eine Treppe führt in zwei Armen zu feinem
Eingang , in diefen dringen diejenigen ein, welche mit den Nibes
Lungen ftreiten wollen, und man hört dad Klirren und Tofen des
Streites wie aus einer Borhalle, welche hinter dieſem Cingange
angenommen wird. Die Nibelungen Eönnen fich nicht in's Offene
berausmwagen , weit fle fonft umzingelt und von ber’ Uebermacht
erbrückt würden.
Jetzt ſtehen fie Höhnend und herausfordernd auf der Treppe
und unter den Fenſtern. - Rüdiger erfheint, Ezel und Chriems
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hilde beſtürmen ibn, zu fechten; jener mahnt an die Vafallen-
pflicht, dieſe an das Act III, Sc. 5 gegebene Verfprechen, er
dagegen beruft ſich auf feine Waffenbrüderfchaft, feine Verſchwaͤ⸗
gerung , feine Pilichten als Geleitömann ber Nibelungen von
Bechlaren bis Hunnenland. Schredlliher innerer Kampf des
edlen Mannes, der im Liede Vater aller Tugende heißt, deſſen
Herz „Tugende biert wie der junge Maie Bluomen“. Endlich
ſiegt die Ältere Pflicht, er iſt zum Streit entſchloſſen, ruft feine
Mannen berkei, und die Arme auf den Schild geſtützt eröffnet
er jenes amenklich rührende Geſpräch mit den Nibelungen, deren
Zon aus drohenden Trotze plötzlich in Weichheit übergeht,
da fie jeben, daß fie mit dem liebften Freunde ftreiten ſollen.
Hier ſoll der tieffte Ton beutjcher Innigfeit vernommen werden.
Rüdiger wünſchte lieber todt zu fein; fie zeigen ihm die Gefchenfe
ber, die er ihnen in Berhlaren gegeben, das Schwert, mit dem
ſie nun ihn felber töbten follen u. ſ. w. Sagen zeigt den ge-
ſchenkten Schild, er it zerhauen, Rüdiger ſchenkt ihm jeßt feinen
eigenen. Die rauben Helden ſchämen fich der Thränen nicht. Gi-
jelber,, der Verlobte feiner Tochter, mahnt ihn an dieß ſchöne
Band, Rüdiger flebt ihn, nach feinem Tode nicht die Tochter
die traurige Pflicht des Vaters entgelten zu laffen. Sagen und
Volker verfprechen noch, den Kampf mit ihn felbft zu vermeiden.
Jetzt ſtürzt ſich Rüdiger mit feinen Dannen in den Eingang des
Hauſes. Man hört das Tofen des Kampfes. Dumpfes Still:
ſchweigen der Erwartung unter den Perfonen auf der Bühne.
Nah einiger Zeit wird es ſtill. Rüdigers Leichnam wird aus dem
Haufe getragen, doch nicht ganz auf die Vorberbühne ; denn die
Hibelungen behalten ihn zurück. Unendlicher Klagegefang ertönt.
Auch feine Mannen find ſämmtlich erfehlagen.
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Dritte Scene. Es ift hier eine Veranlaffung , die Deco⸗
ration wieber zu wechfeln, welche zu benügen um ſo zweckmaͤßi⸗
ger ift, damit das Gemüth und die Sinne von bem Getöfe und
den Schauerfcenen des wilderen Ausbruchs der Wuth fich erholen
und auf die legten ſchrecklichſten Auftritte Kraft und Friſche fam-
meln. Ein Burgzimmer; Dieterih, der Held der Beſonnenheit,
berufen zum Werkzeug der letzten vollſtreckenden Gerechtigkeit, tritt
auf. Man Hört durch die offenen Fenſter die durchdringenden
Laute der Klage um Rüdiger. Helferich tritt ein und meldet ihm
die Urfache, Rüdigers Tod. Dieterich begreift ihn nicht, da
Ruͤdiger neutral bleiben wollte, wie er ſelbſt. Er beftellt feine
Mannen, d. h. die außerlefenften,, Hildebrand und den wilden
Wolfhart an ihrer Spige, und trägt ihnen auf, zu fragen und
Ruͤdigers Leichnam zu verlangen. Er verbeut ihnen aufs Strengſte
den Streit, aber aus der aufgeregten Haltung Wolfharts erräth
man leicht, daß die Kampfluft fich nicht bezwingen laſſen wird.
Sie treten ab. ‚ Dieterich bleibt allein, gibt feinem Schmerz über
dieſe ganze tragifche Entwicklung, aber auch feinem Abſcheu über
Chriemhildens wachſende Verwilderung Worte, und febt fi
dann wartend an ein Fenſter. Man hört zuerft erneuten Klages
laut von ferne, dann erneutes dumpfes Kampfgetöfe; Dieterich
erkennt in jenem die Klage feiner Mannen um Rüdiger, aus dies
fem fchließt er nur, e8 müfjen neue Sunnenfchaaren in den Kampf
geichickt fein. Nach einiger Zeit wird es ftille. Durch das Fenſter
ſieht man den Wicberfchein einer Feuersbrunft am Horizont.
Jet erſcheint wankend, ſich kaum aufrecht erhaltend, ber greife,
ſchwer verwundete Hildebrand , ftellt ſich ſchweigend vor Die-
terih, und dieſer fragt tropfenmeife die Schreckensnachricht aus
Kritiſche Fänge ll. 28
434
ihm heraus, wie feine Mannen ſich reizen ließen zum Kampfe
unb außer Hildebrand alle gefallen find. („Was ihr Habt ber
Lebenden, bie feht ihr bei euch ſtahn, das bin ich Seelen-alleine,
die andern, bie find tobt). Zugleich erzählt aber auch Hilde⸗
brand, daß, während noch der Streit dauerte und die Amelungen
beinahe alle fon gefallen waren, bie wilde Chriembilde Feuer
in das Haus werfen ließ, daß außer Gunther und Sagen alle
Nibelungen theils erfchlagen, theils verbrannt find und biefe
beiden tobesmüb vor dem Kaufe fliehen. — So glaube ich bie
zur Schilderung von Chriemhildens wachſender Wuth unentbehr-
liche That, daß fie das Haus in Brand ſtecken läßt, aufnehmen
zu können, ohne die ohnebieß überfchwellende Maſſe der Scenen
noch mehr zu häufen. — Dieterich beklagt in jener epifchen Weife
(Av. 38.) den Tod feiner Mannen. Die Muſik muß den alter»
thümlichen,, vollömäßigen Toon bier und überhaupt mit vollem
Gefühl für diefe uralt einfache Welt wiedergeben. Jet Tann aber
Dieterich nicht länger neutral bleiben, er läßt fh waffnen und
geht ruhig entſchloſſen ab, die Strafe zu vollziehen.
Bierte Scene. Die alte Decoration. Vor dem innen aus⸗
gebrannten, noch gloftenden Hauſe ftehen , auf ihre Schilde ge⸗
ſtützt, zwiſchen Leichnamen, ftil und finfter Gunther und Hagen.
Dieterich in feiner ruhigen Größe tritt vor fie, fordert Rechen⸗
ſchaft, verfpricht ihnen ſicheres Geleite nach Haufe, wenn fie ſich
ergeben , fie antworten groß und ftolz, wie follten fich zmei fo
fühne Männer ergeben, die noch fo wehrlich gemaffnet vor dir
ſtehen? (Av. 39, Str. 2275). Jetzt beginnt er den Kampf,
der aber un fo weniger zur Darftellung gebracht werben Fann,
435
da ee vom Schwert in einen Ringkampf übergeht. Im Augen⸗
blicke/ wo biefer Streit anfängt, wachſelt bie Scene. |
Yünfte Scene. Ein Kerker. AR ein. Hinter
ihr Dieterich und Hildebrand, welche Hagen und Gunther ge
feſſelt bringen. Dieterich hat es für Pflicht gehalten, ihr beide
als die Mörder ihres Gemahls zu übergeben, aber ex ermahnt
fie jetzt, bie Gefangenen nicht unebel zu behandeln. Chriemhilbe
antwortet nicht. Zuerft läßt fie Gunther durch den Gefängniß⸗
wörter, der geöffnet bat, in einen andern Sender abführen.
Jetzt tritt fle vor Sagen. Ste verlangt von ihm die Zurückgabe
des Nibelungenhorts. Cr erklärt feſt, er habe geſchworen, fo
lange einer feiner Seren lebe, zu verſchweigen, wo er ihn vers
borgen. Sie geht fehweigend ab, und ehrt nad kurzer Zeit
zurüd. Sie trägt das blutende Haupt ded Bruders an den Haa⸗
ren, fie erjheint Eraß verftört,, zur Medufe umgewandelt. Gie
hält das Haupt dem Hagen unter bie Augen. Cr antwortet vie
großen Worte voll Gefühl des Schteffals: „du haft es nach deinem
Willen viel gar zu Ende bracht, und ift au Alles ergan-
gen, als ich mir hatte gedacht; nun iſt von Burgonten der
edele König tobt, Gifelher der junge und auch Herr Gernot;
den Scha den weiß nun Niemand, als Gott und ich, ver fol
bie, Teufelinn, immer wohl verholfen fein«. Während Dieterich
und Hildebrand vor Entfegen noch ſtarr zurückſtehen, reißt fie
in einem Nu Sigfrieds Schwert dem Gefefielten, Wehrlofen
von der Seite, und mit dem Ausruf, „fo will ich doch behalten
Sigfrieds Schwert“ u. ſ. m. (Av. 39, Str. 2309) ftößt fie ihn
nieder. Jetzt bricht Dieterich8 empörtes Gefühl des fittlichen Maa⸗
Bes in mächtigen Worten und Tönen aus und auf einen Wink
436
son feiner Hand haut Hildebrand bie Chriemhilde nieder. Schluß:
Ezel ſtürzt herbei, wirft fic klagend auf Chriemhilde; Dieterich
beklagt die Helden und ſpricht in wenigen groſſen Worten den
blutigen Gang des Schickſals aus, das durch das Ganze gieng.
Dieß wäre denn ein ſchwacher Verſuch von ganz ungeübter
- Sand, einen ungeheuren Stoff zu bewältigen. inter allen Män-
geln, die ih an biefem Verſuche bemerfe, ohne eine Abhilfe zu
wiſſen, tft dieß der größte, daß Chriemhildens Rolle die Kraft
nieht von Einer, fondern von zehn SKtehlen fordert. Ich wollte
nur feinen Moment auslaſſen, ‚worin fie bedeutend iſt. Freilich
kommt mir jede Scene, worin fie nach dieſem Schema auftritt,
nicht nur bedeutend, ſondern weſentlich und unentbehrlich vor.
Doch nicht nur Chriemhildens Rolle, fondern Die ganze Oper,
dieß Fällt fogleih in Die Augen, würde nah dieſem Plane übers
mäßig groß, und doch müßte ich nichts mwegzulaflen, ohne eine
° Schönheit, ohne ein erflärended Motiv zu opfern. Ein Geübterer
als ich würde vielleicht dennoch Rath wiſſen. Sollte aber nicht
zu helfen fein — und ich zmeifle jelbft daran —, jo wäre e8 gar
nicht unthunlih, die Oper in zwei Theile zu trennen und dieſe
an zwei aufeinanberfolgenden Abenden aufzuführen. Der erfte
Theil würde die zmei erften Acte umfaffen und mit Sigfrieds Tod
ichließen,, der die erfte, zum Folgenden wieder ald Erpofition
fich verhaltende, Kataftrophe bildet. Math würbe gewiß auf bie-
jem oder einem andern Wege werben; hätten wir nur erft bie
Hauptſache, den Componiften
A
—
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