Skip to main content

Full text of "Kritische Gänge"

See other formats




Google 


This ıs a digital copy of a book that was preserved for generations on library shelves before ıt was carefully scanned by Google as part of a project 
to make the world’s books discoverable online. 


It has survived long enough for the copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject 
to copyright or whose legal copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books 
are our gateways to the past, representing a wealth of history, culture and knowledge that’s often difficult to discover. 


Marks, notations and other marginalia present in the original volume will appear in this file - a reminder of this book’s long journey from the 
publisher to a library and finally to you. 


Usage guidelines 


Google ıs proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the 
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken steps to 
prevent abuse by commercial parties, including placing technical restrictions on automated querying. 


We also ask that you: 


+ Make non-commercial use of the files We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for 
personal, non-commercial purposes. 


+ Refrain from automated querying Do not send automated queries of any sort to Google’s system: If you are conducting research on machine 
translation, optical character recognition or other areas where access to a large amount of text ıs helpful, please contact us. We encourage the 
use of public domain materials for these purposes and may be able to help. 


+ Maintain attribution The Google “watermark” you see on each file is essential for informing people about this project and helping them find 
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it. 


+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are responsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just 
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users ın other 
countries. Whether a book is still in copyright varies from country to country, and we can’t offer guidance on whether any specific use of 
any specific book is allowed. Please do not assume that a book’s appearance in Google Book Search means it can be used in any manner 
anywhere in the world. Copyright infringement liability can be quite severe. 


About Google Book Search 


Google’s mission is to organıze the world’s information and to make it universally accessible and useful. Google Book Search helps readers 
discover the world’s books while helping authors and publishers reach new audiences. You can search through the full text of this book on the web 


auhttp://b060kSs, 00088le Son 





Google 


Über dieses Buch 


Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Regalen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google ım 
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfügbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde. 


Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun Öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch, 
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann 
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles 
und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist. 


Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch ın dieser Datei - eine Erin- 
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat. 


Nutzungsrichtlinien 


Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse 
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nichtsdestotrotz ist diese 
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch 
kommerzielle Parteien zu verhindern. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen. 


Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien: 


+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese 
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden. 


+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen 
über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen 
nützlich ıst, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen 
unter Umständen helfen. 


+ Beibehaltung von Google-Markenelementen Das "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über 
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sıe das Wasserzeichen nicht. 


+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein, 
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA 
öffentlich zugänglich ist, auch für Nutzer ın anderen Ländern Öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist 
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig 
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es ın jeder Form und überall auf der 
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben. 


Über Google Buchsuche 


Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google 
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser Welt zu entdecken, und unterstützt Autoren und Verleger dabei, neue Zielgruppen zu erreichen. 


Den gesamten Buchtext können Sie ım Internet unter|lhttp: //books.google.comldurchsuchen. 





JO575.,25 


HARVARD COLLEGE 
LIBRARY 


FROM THE BEQUEST OF 
JAMES WALKER 


(Class of 1814) 
President of Harvard College 


“Preference being given to works in the Intellectual 
and Moral Sciences” 








\ 


. „ , 
m — 
“TER 


Kritifde Gänge. 


O 


Von 


Friederich Theod. Viſcher , 


Doctor der Philoſophie, Profeſſor der Aeſthetik und deutſchen Literauut 
an der Univerſitaͤt Tuͤbingen. 


Erſter Band. 


—— — 6ö— 
A 
Tübingen, 
bei Ludwig Friedrich Fues. 
184.4. 


"NE. 





uoJ2° > 


f Zn EN 
\ JUL 16 1888 \ 


7 7 x 


* 
* 


— 


Inhalt des erften Bandes. 


Seite. 

Borredbe. 2 2 2 re 2 2 2 20... MI 
I. Bur Sheologie. 

Dr. Strauß und die Wirtemberger. . . . 3 


Ueber allerhand Berlegenheiten bei Beſetzung einer vog 
matiſchen Lehrſtelle in der gegenwärtigen Zeit . . 134 
HI. Dur bildenden Kunfl. 
Der Triumph der Religion in ven Künften, von Fr. 
Doabed 2... 165 
Die Aquarellfopieen von Rambour in der Gallerie u 
Diflbof 22 nen. 207 


Vorwort. 


—— — 


Es könnte eitel ſcheinen, ſeine Arbeiten ſammeln, ehe 
man am Abend des Lebens ſteht, auf eine reiche Aerndte 
zurückſieht und abzuſchließen gedenkt; doppelt eitel, weil die 
Mängel, welche man an zurückgelegten Arbeiten leicht ſelbſt 
erkennt, ſich nur durch die Stelle entſchuldigen, welche die 
legteren in dem Zufammenhang eines bedeutenden Ent⸗ 
wicklungsganges einnehmen. Es Teuchtet aber ein, daß 
meine Feine Sammlung unter einen Gefichtspunft fallt, 
welcher diefen Vorwurf von ihr abhalten wird. Es hans 
delt fi) bier gar nicht um mich und um eine abgefchlofiene 
oder nicht abgejchloffene Laufbahn, nit um einen Rüde 
bli® auf meinen Bildungsgang, fondern um einen Kampf, 
in deſſen Mitte ich mit befreundeten Geiftern fiehe, und 
we folcher ernftlich ift, daß man nicht gern einen Schuß 
umfonft thut, fondern felbft die abgefchoffenen Kugeln ſam⸗ 
melt, um fie noch einmal zu laden; es handelt ſich nicht 
um eine Perfon und ihre Vergangenheit, fondern um bie 
Sache und die Gegenwart. Dieſe Arbeiten find in vers 
Ihiedenen Zeitfchriften einzeln erfchienen, es war und ift 
noch jest nad) einigen derſelben vielerley Nachfrage, man 

Kritiſche Gänge, ( ) 


iv 


or 


bat mich oft aufgefordert, fie aus ber journaliftifchen Fluth, 
wo jede Welle fchnell verfchwindet, herauszuziehen und 
feftzubalten, und ich felbft achte fie deffen für werth, weil 
fie nicht dem Tages-Intereſſe gefchrieben find, fondern, 
wiewohl nicht alle durch bleibende Erfcheinungen veran- 
laßt, doch bleibende Wahrheiten ausfprechen, Wahrheiten, 
die auch dem Tage gelten, aber dem immer neuen Tage. 
Um was es mir aber hauptfächlich zu thun war, dieß ifl 
Bereinigung bes Einzelnen zu einer Gefammtwirfung. Auf 
„wen das Einzelne nicht wirft, der wird vielleicht erwärmt 
werben, wenn er fiebt, daß ich mir treu bin, daß ich nur 
Eines will, daß der Gedanke der Freiheit und der Imma⸗ 
nenz unbeſtechlich ſich ſelber gleich durch alle dieſe Aufſätze 
wiederkehrt; die Feinde ſollen ſehen, daß es noch Män⸗ 
ner und eine Geſinnung gibt, die Freunde erkennen, daß 
ich ihnen gehöre mit jedem Athemzug und Wort: alle ſol⸗ 
Ien fich überzeugen, daß ich Iebe, was ich ſchreibe. Nicht 
als fuchte ih Ruhm für mich, aber der große Zwed muß 
gewinnen, wenn auch nur Ein Mann mehr mit jedem 
Sclage auf denfelben Punkt fehlägt. Unfere Sache wird 
beſtehen, wenn wir längſt verſchwunden ſind; darf ich hof⸗ 
fen, daß dann noch einige Blicke auf dieſe flüchtigen For⸗ 
men zurückfallen, mein redliches Streben anerkennen und 
geſtehen, daß es nicht wirkungslos war, ſo fühle ich mich 
hinreichend belohnt. Ich habe für mein Wollen gelitten, 
werde leiden und leide gerne; andere haben mehr gelit⸗ 
ten, aber es ift mein Stolz, den edlen Geiſtern mich zus 


4 


zuzählen, welche für das Werk der Freiheit Gift, Schwert 
und Flammen erduldet haben; neben ihr ruhmvoll tragis 
fches Leiden darf ich das moralifche Gift, den Dolch der 
Berläumbdung, die Flammen bes perfönlichen Hafles immer 
fegen, womit man mich und ung verfolgt. 

Ich ſuchte einen Titel für diefe Sammlung und er» 
fuhr die befannte Schwierigkeit, zwiſchen trodener Kanze 
ley= Angabe und Eindifher Emphaſe eine Mitte zu finden. 
„Sharafteriftifen und Kritifen” iſt ſchon dDagewefen, einen - 
Namen von einiger Wirfung mwünfchte mein Verleger, Als 
leg, was mir einftel, Hang mir zu pathetifch, bis mir ein 
wohlgefinnter Freund, dem die Terminologie afademifcher 
Sträuße noch in näherem Andenken liegt, zu. bem Titel: 
„Kritifhe Gänge” rieth, welchen ich denn dankbar für 
den Rath alsbald aufnahm, weil er einen mäßigen frieges 
rifhen Klang hat und friedfertigen Gemüthern es frei 
läßt, an unfchuldigere Gänge, als die eines Zweikampfs, 
zu denen. 

Die Anordnung durfte ich bei diefen Arbeiten, welche 
nicht im Zuſammenhang eniftanden find, ziemlich zwang⸗ 
los halten, Doch wird man dag zufammenbhaltende Band 
wohl erfennen. Sch febte voran, was zur Theologie ger 
hört, denn bier fommen die metaphyſiſchen Grundfragen 
unferes Kampfes am offenften zur Sprache. Dann lieg 
ih drei Anzeigen aus dem Gebiete der bildenden Kunſt 
folgen, deren Einreihung an dieſem Orte durch eine Zwi⸗ 
ſchenbemerkung im Texte gerechtfertigt werden ſoll. Der 

(1)* 


VI 


enge Zuſammenhang zwiſchen den Bewegungen auf dem 
Gebiete der Religion und zwifchen der bildenden Kunft 
leuchtet übrigens im erften Momente ein. Unſere bildende 
Kunft kann nicht Handeln, ale lebten wir in einer andern 
Zeit, als in der, worin Leffing fortwirft, Hegel gebaut, 
Strauß geforfcht bat. Bon der bildenden Kunft führte 
mich im zweiten Bande die natürliche Ordnung der Künfte 
zur Poeſie; denn einen Borfchlag zu einer neuen Oper, 
den ich auf diefem Wege mittheilen möchte, wollte ich nicht 
an diefer Stelle, wo im Syſtem der Künfte allerdings die 
Mufif auftritt, einreihben, fondern an den Schluß fegen, 
wo fich das Ganze diefer Sammlung ſchon durch die Vor⸗ 
legung eines Plans zu einer neuen Gliederung der Acfihes 
tif mit beftimmteren Gedanfen gegen die Zufunft öffnet. 
Es folgt zuerft eine Kritif, welche ſich nicht unmittelbar 
mit Poefte felbft, fondern der Literatur über Poefie, und 
zwar. der über Göthe's Fauft beichäftigt. Der rothe Fa— 
den, der diefe Beurtheilung mit dem inneren Geiſte der 
ganzen Sammlung zufammenhält, wird Teicht zu finden 
feyn; ed ift der Unwille über das ewige Wiederfäuen 
“des Vorhandenen, über die Deutungswuth, über bie faljche 
Pietät,. welche in unferer deutfchen Welt herrfcht und haust, 
und fo lange diefe Schwindelgeifter walten, werden wir 
weder praftifch werden, noch eine Kunſt der Wirklichfeit 
und Fähigkeit des Genuffes einer ſolchen Kunft erlangen. 
- Diefer Faden wäre noch deutlicher hervorgetreten, wenn 
ih einen der wefentlihen Mängel des Gedichte felber, 


v2 


bes zweiten Theils nämlich, ftärfer, wie es fich eigentlich 
gebührt, hervorgehoben hätte: den quietiftifchen Geil, dem 
an der Stelle alle Schwingen finfen, wo der Held der Tras 
gödie in eine große männliche Thätigfeit eingeführt wers 
ben follte, und wenn ich demgemäß ben Schriftfiellern Ich» 
hafter vorgerägtt hätte, daß fie diefen Mangel nicht bemerkt 
haben. Gervinus legt auf diefen Punft namentlich Nach⸗ 
druck und zeigt auf, wie das Gedicht fammt der ganzen 
deutſchen Bildung an diefem Punkt fih ſtemmte und ftodte, 
Fauft if der Nevolutionär des Wiffens, er follte in's Les 
ben übergehen und Revolutionär der Gefellfchaft werden; 
ftatt deſſen verliebt er fich in die Helena, flubirt Neptus 
nismus und Vulcanismus und wird endlih Holländer, 
Den Schluß bildet die Beurtheilung zweier neueren 
Dichter, welche fich in vollem Gegenfage gegenüberftehen. 
Der eine, Ed. Mörife, ift Romantiker, mit der Cenſur im 
Berhältniffe tiefen Friedens, ein großer Freund des Spas 
zierengebeng, ein größerer der Elfen und een, Doch, auch 
den tiefen Kämpfen der Bildung nicht fremd, fo weit fie 
nur nicht öffentlicher ‚ fondern fubfectiver Art find. Der 
andere ift durchaus modern, ganz politiicher Dichter, es 
it Herwegh. Jener ift in ruhmlofem Dunfel geblieben, 
diefer bat die ganze deutfche Welt mit feinem Namen ers 
füllt; im Talente verhalten fie fi fo, daß diefer jenem 
nicht die Schuhriemen löſen, nicht auf hundert Schritte 
fih nur irgend in feine Nähe ftellen fann. Die Zufam- 
menftellung beider Erfcheinungen wird einiges neue Licht auf 


vim 


die Säge werfen, bie ich über Politif als einen der Poefle 
ſehr wideripenftigen Stoff ausgefprochen habe; fie wird 
aber auch im Kleinen ein Bild von dem jegigen Zuftande 
der deutſchen Dichtung geben: das Abenbroth der großen 
claffifchen Periode, die Romantik, im Berglimmen, noch 
einmal ſchön und edel aufftrahlend in biefegg Moͤrike ‚ der 
famt allen feinen großen Fehlern doc, ſchlechtweg unter 
allen Dichtern der neueften Zeit am meiften von dem 
Spezifiſchen der Poefie hat; dagegen die einzelnen Signale 
einer vieleicht zu hoffenden neuen Poeſie, welche aber noch 
lange feine Mufit und durch gellende Mißtöne ſelbſt un« 
muſikaliſch find; zwei Dichter, von denen ber entfchieden 
Begabtere nicht mehr in der Zeit wurzelt, ber andere, ber 
Liebling der Zeit, der ungleich talentlofer ift: eine interefe 
fante Beobachtung, welche ich aber gar nicht unmittelbar 
als Vorwurf gegen das Urtheil des Publifums ausgeſpro⸗ 
chen haben will, fondern welche zunächſt nur befagt, daß 
die zeitgemäßen Stoffe noch nicht reif für die Poefie find 
und daher auch feinen wahren Dichter finden. Sch hätte jehr 
gerne meinen Auffag: Shafspeare und die politifche 
Poeſie, welchen ich in das literar.=hiftor. Taſchenbuch von 
Pruß 1844 gab, an diefer Stelle aufgenommen, wenn ihn 
- mir der Berleger zum Wiederabdrud überlaffen hätte. Ich 
hatte hier den rechten Mann, an dem ich zeigen Fonnte, 
was Poefie ift und warum es unferer Zeit an den Be⸗ 
dingungen ächter Poefie gebricht, zugleich entwidelte ich 
bier den Unterſchied objectiv oder gefchichtlich politifcyer 


\ * 


IX 


und fubfertivo oder paränetifeh politischer Poefte, und bes 
rief mich in ber Kritif der Herwegh'ſchen Gedichte auf 
biefe Begründung Ich muß diefe Berufung bier wies 
derholen. 

Zum Schluffe theile ich die oben genannten zwei Ars 
beiten mit, welche beftimmte Vorſchläge enthalten. Die 
eine ift der Plan einer neuen Gliederung ber Aeſthetik; 
es bilden diefe Ideen über den Aufbau eines fireng wife 
fenfchaftlihen Syſtems des Schönen den natürlihen Ab⸗ 
fhluß der vorangegangenen Rritifen einzelner Erfcheinungen 
im Gebiete der fchönen Kunft und Literatur. Vielleicht 
nicht ganz unerfreulich it e8 dem Lefer, wenn wir mit 
Muſik von einander Abfchied nehmen. Die Verlagshand⸗ 
fung wünſchte, daß ich meiner Sammlung auch Neues beis 
füge; ich gab Daher die Beurtheilung des zweiten Bändchens 
der Gedichte eines Verftorbenen hinzu und entfchloß mich, 
einen Einfall über den Stoff einer neuen Oper, mit bem 
ic) mid) feit einiger Zeit trage, auf Gnade ober Ungnade 
bier zu veröffentlihen. Sp mag denn nad) der Anftren» 
gung, welche er unter den Ingifchen Unterfuchungen bes 
vorhergehenden Planes ertragen hat, der Leſer bei der 
Unmaßgeblichkeit dieſes Vorſchlags fi) erholen oder durch 
ein Lachen über die Mißgriffe eines mufifalifchen Laien 
ſich ſchadlos halten. 

Sch babe jetzt noch über die einzelnen Aufſätze dieſer 
Sammlung zu fprechen. Die meiften derfelben liegen der 
Zeit nach weit genug hinter mir, um fie einer unbefange- 


X 


nen Serbfibeurtheilung zu unterwerfen, und wenn ich zu 
Anfang dieſes Vorworts mich frei von ber Eitelkeit er» 
flärte, ihre Mängel durch ihre Stelle in dem Zuſammen⸗ 
hang meines Bildungsganges entfchuldigen zu wollen, fo 
darf ih nun, nachdem ic ihren Werth nur in ihre Ge⸗ 
finnung gelegt habe, wenigſtens auf die allgemeine Nach⸗ 
ſicht Anfpruch machen, welche den Fortgang vom Unreiferen 
zum Reiferen in Erwägung zieht. Umarbeiten wollte ich 
feineswegs, ich hielt mich dazu gar nicht für berechtigt; 
denn hätte ich damit einmal angefangen, fo wäre deſſen 
‚Sein Ende gewefen und ich hätte flatt der verfprochenen 
Sammlung alter eine Sammlung neuer Auffäbe geliefert. 
Ich meine Alfo nicht, jene Mängel follen um meiner Pers 
fon willen intereffant fein, aber mitnehmen mug man fie, 
- wenn man -biefe Arbeiten haben will, wie fie zur Stunde 
ihrer Entftehung warm aus dem Dfen famen, und an 
den Werth des Moments zu appellicen habe ich wohl 
bewegen ein Recht, weil der Kampf, worin der Moment 
vorfam und wieberfehrt, Dauert. Gemäßigt habe ich eis 
nige Stellen, wo mir das Unreife zu fehr in die Geſtalt 
des Rohen zu verfinfen fchien und welche fo wieder ge⸗ 
brudt zu ſehen mein Gefühl fich firäubte, übrigens aber 
bie rauhen Eden Teineswegs abgeftumpft. Man muß nicht 
meinen, ich Fönne ſchreiben wie ich fchreibe oder fprechen 
wie ich ſpreche, und zugleich alles Schneidende- unters 
brüden; im Kampfe wirkt Niemand, der nur immer or: 
bentlih und billig iſtz ein Schwert ift Fein Schwert ohne 


x1 


die Schärfe und man kann nicht bei Zoll und Linie bes 
meffen, wie tief ed geht, wenn man einhaut. Ihr müßt 
nicht meinen, ihr Eönnt und unfern Zorn und unfere Leis 
denfchaft nehmen und dann etiwa eine mäßig wadere Ges 
finnung zurüdbehalten; wir haben auch eine Begeifterung, 
wir haben auch einen Haß und bie fogenannten Gemäßig« 
ten ftehen nicht in der Mitte, fondern fie ſtehen bei den 
Seinden, ihre Meinung ift nicht mäßiger Fortfchritt, ſon⸗ 
dern herzliches Stehenbleiben und Rückſchritt. Eine Ges 
finnung ift nicht fo zahm, wie man fie freilich gern ha⸗ 
ben möchte. Es gibt zwar allerdings auch eine Mäßi- 
gung bei der Entfchiedenheit, eine Vermittlung zwifchen 
der Idee und der Wirklichfeit; man muß nicht meinen, 
fie fehle ung, weil wir bie mühelofe Mäßigung der Ges 
finnungstofigfeit verachten. 

Hie und da habe ich mir ferner unbedeutende Ergän- 
zungen und Berichtigungen erlaubt, ohne der erften und 
urfprünglichen Geftalt des Zufammenhangs irgend zu nahe 
zu treten. An andern Stellen Eonnte ich eine Randbemer⸗ 
fung nicht unterdrüden, fo 3. B. wo ich in dem Auffage 
über Strauß und die Würtemberger das treuherzige Ges 
ſtaͤndniß fand, daß ich über Staatsverfaffung Feine fefte 
Anficht Habe. Ich war wirklich felbft überrafcht, als ich 
eö wieder fand und mußte auflachen. Es war aber aud 
wirklich eine Schwäche der Zeit. Der fogenannte Liberas 
lismus hatte fich als feicht erwiefen, Hegel’s fatale Schat⸗ 
tenfeite verfinfterte noch unfere Erkenntniß, die Halliſchen 


x 


Jahrbücher waren in den böchften Punkten noch fehr flau 
und es Fonnte einem ehrlichen Burſchen fchon zuftoßen, 
ſich ffeptifch zu verhalten. Was id) aber fonft ald mans 
gelhaft erkannt habe, darüber behielt ich mir Bemerkungen 
für diefes Vorwort zurüd. 
als ich den Aufſatz: Dr. Strauß und die Würs 
temberger, das Erfte, was ich für ein Journal ver⸗ 
faßte, im Jahr 1838 in die Halliſchen Jahrbücher gab, 
wie fehr anderd war damals noch die Stellung biefer 
Zeitfchrift und unfere zu ihr! Wie fehr anders ftand eg 
noch mit dem öffentlichen Urtheile überhaupt! Die Re— 
daction der Jahrbücher meinte in der Lehre von der Pers 
fon Chrifti noch ihre Rechtgläubigfeit dur eine falſch 
angewandte Kategorie retten zu fönnen, Bruno Bauer bewies 
noh Wunder und was er wollte durch fperulativen Ho» 
cuspocus, Strauß war noch neu und bie fohmwäbifchen 
Mitarbeiter an Fritifcher Freiheit dem Blatte voraus, Die 
Zeitſchrift trug aber ein Iebendiged Bewegungs - Princip, 
freilich auch ein Uebereilungs-Princip in fich, in welchem 
fie fich zulegt fo überflürzte, daß fie untergegangen wäre, 
wenn fie auch nicht ein Gewaltſtreich gemordet hätte. 
Bruno Bauer wollte ohne Schöpfungsfraft in aufgeblafe- 
ner Eitelfeit Strauß überbieten, die Jahrbücher riefen ihn 


als den neuen Weltheiland aus und mißhandelten Strauß, 


dem fie fo viel verdanften; Die Verbindung mit den ſchwäbi⸗ 
ſchen Mitarbeitern löste fich, der abitracte Geift, der nun 
| in diefen Blättern herrſchte, Fonnte mit dem fchwäbifchen . 


+‘. 


xılI 


Provinzialcharakter nicht länger Freundſchaft halten. Auch 
das Publikum iſt anders geworden; man lebt in jetziger 
Zeit entſetzlich ſchnell; Strauß gilt ſchon für ſo gut wie 
antiquirt, den Einen, weil ſie glauben, er ſei widerlegt, da 
er doch nur mißhandelt und verläumdet iſt, den Andern, 
weil ſie glauben, er ſei überſchritten, weil man ſein gro⸗ 
ßes, organiſch vereinigtes Material benutzt und Spiritus, 
auch manchen betäubenden, daraus gemacht hat. Damals 
war die ganze Erſcheinung noch friſch, und friſch wie ſie 
ſelbſt war, ſchrieb ich von ihr. Ich denke, meine Charaf⸗ 
teriſtik dürfe am Leben bleiben, wie der Mann, dem ſie 
galt, lebt und leben wird mit allen jugendlichen Geiſtern, 
den Befreiern der Menſchheit. Ich ging auf den Stam⸗ 
mescharakter zurück und verſuchte eine Vergleichung der 
ſüddeutſchen Art, wie ſie ſich am gedrängteſten im ſchwä⸗ 
biſchen Volke ausſpricht, mit der norddeutſchen. Ich ges 
ſtehe, daß ich an dieſem Verſuche keinen ſonderlichen Ge⸗ 
ſchmack mehr habe. Es iſt immerhin gut, wenn ein Volk 
ſich Rechenſchaft über die Vertheilung ſeiner Kräfte an 
feine verſchiedenen Stämme gibt, aber ich daͤchte, wir ha⸗ 
ben dazu noch lange Zeit, wenn wir nur erft ein Bolf 
ſeyn werden. Den Gegenfag ber Stämme im Großen 
babe ich nicht mit gehöriger Schärfe zufammenzufaflen ges 
wußt. Statt: Berfland, wo ich diefen ald das Element 
bezeichne, in welchem der norddeutſche Stammesgeift ſich 
bewegt, hätte ich jedenfalls: Reflectirtheit fegen follen ; 
von dem Borwiegen der einen oder andern Kraft zu re⸗ 


xiv 


den, iſt flach, es handelt ſich um eine Form, worein alle 
Kräfte gefaßt find. Dieſe Form iſt im Süden Naivität, 
im Norden Reflectirtheit. Die Verftändigleit büßt im füds 
lihen Charakter durch die Gemuͤthlichkeit fo wenig ein, 
dag vielmeht von der fein ausgebildeten Lift und Pftffig- 
feit, welhe der Schwabe mit dem Schweizer gemein bat 
und welche befonders feiner großen Erwerbluft dient, aus⸗ 
drücklich hätte die Nede ſeyn müffen, was nicht gefchehen 
it. Mit dem Vorwurf eines unpraftifchen Sinnes in 
manchen Sphären der Zwedmäßigfeit wäre die Hervor⸗ 
bebung dieſes Zugs leicht vereinbar gewefen. Die Schils 
derung des norbdeutfchen Weſens ift deßwegen namentlich, 
zwar nicht falfch, aber Doch gewiß fehr mangelhaft ausge, 
fallen, weil ich theils zu einfeitig blos Die großen Städte, 
und von dieſen eigentlich nur Berlin im Auge hatte, theils 
das Kamilienleben und die engere Gefellihaft im Norden 
zu wenig fannte. Bon dem trodenen, aber firengen, kör⸗ 
nigen, männlichen Charakter, dem gediegenen Gemeinflun, 
den der Acht altdeutfche Schlag von Bewohnern der nörds 
lichſten Süftenfireden unferes Vaterlands bewahrt, von 
den Bauern in Hadeln, von den Dithmarfen habe ich nichte 
geſagt; dag das Familienleben fich enger und wärmer zus 
fammenziehen, die mittlere Sphäre ber Geſellſchaft ſich ge⸗ 
fchloffener zufamınenhalten muß, wo eine ungünftige Natur 
den Menfchen nach innen und in’s Zimmer weist, babe 
ich überfeben, an bie Voſſiſchen Pfarrhäufer und Kartofs 
felfeſte mich nicht erinnert, der norddeuiſchen Hausfrau zu 


xv 


wenig Fleiß zuerfannt und überhaupt diefe Tugenden der 
flillen Sitte zu einfeitig meinen Landsleuten vindicirt, weil 
mich die naivere Form, die fie hier tragen, gegen das 
Fremde verblendete. Ebendaher habe ich eine ſchlimme 
Seite des ſchwaͤbiſchen Wefens überfehen: die rohe Wild⸗ 
heit, welche periodif da hervorbricht, wo die innere Les 
bendigfeit durch Schwerfälligfeit und Hang zum Tieffinn 
gehemmt nicht flüffig mit der Objectivirät fi vermitteln, 
wicht unbefangen heraustreten und genießen fann. Es ifl 
leider wahr, daß die Würtembergifchen Truppen durch 
ihre Rohheit und Graufamfeit überall berüchtigt und der 
Schreden von Freund und Feind waren. Die Schwaben 
find auch hierin die potenzirten Deutfchen, wie man fie 
fhon genannt bat, fie gleichen beim alten Dieterich von 
Berne, den man mit Stößen und Echlägen aufreizen muß, 
dem aber dann vor Wuth Feuerflammen aus dem Munde 
fahren; den altdeutfchen Riefen, welche gut und bloͤd find, 
id die Furie der Kampfwuth über fie fommt, aber dann 
auch einem Iosgelaffenen Bären gleichen. In der Sphäre 
des öffentlichen Lebens ift das Wenige, was ich über 
Staatöverfaflung fagte, fo dürftig, als meine ganze da⸗ 
malige Kenntniß der Sache. Ich gebe diefe ſchwache 
dartie willig Preis und bitte nur, mir zu glauben, daß 
ih über ben Zuftaud und die Entwidlung des politifchen 


! 


kbens in den bdeutfchen Staaten jebt anders ſchreiben 


vide, als damald. Biel zu wenig babe ich aber auch 
er Berwaltung, Rechtspflege, den Beamtenftand, den 


XVI 
Geiſt der Behörden im Kleinen und Großen geſagt. Es 
hätte nicht unterlaſſen werben ſollen, die Gewiſſenhaftigkeit, 
bie Unbeſtechlichkeit, die ängftliche Pünktlichfeit im Gange 
der Gefchäfte zu fchildern, welche trotz der Fahrläſſigkeit 
in mandjen Zweigen, bie fi) mit dem Bequemen und 
Reinlichen befaffen, den Schwaben nachzurühmen if, aber 
freilich auch den Charakter des Philifterhaften und Schrei- 
bermäßigen begründet, der mit den jugendlichen und poe= 
tifchen Kräften deſſelben Landes ſich fo widerfprechend 
zufammenpaart. Die Schwaben treten auch Dadurch aus 
der Mitte der umgebenden ſüddeutſchen Stämme heraus 
und vereinigen die Tugend der Präcifion und. Straffheit, 
die den Norbdeutfchen eigen ift, mit der ſüdlichen Behag⸗ 
lichkeit. Wer 3. B. die ſchreckliche Beſtechlichkeit, Die ges 
wifjenlofe Zögerung, die Unterfcjlagungen, die völlige 
Unficherbeit des Briefgeheimniffes in dem glänzenden Oeſt⸗ 
veich fennt, wird mit Freuden das befcheidene Schwaben- 
Yand in diefer Beziehung preifen. Freilich wenn man die 
Berdorbenheit der romanifchen Länder und Rußlands in's 
Auge faßt, fo muß Dagegen jedes deutfche Land himmliſch 
erfcheinen. Als Beweis der Moralität unferer Regierung 
muß ich noch anführen, daß fie die entſittlichenden Mittel 
der Staatelotterie, wo eine Regierung nicht erröthet, die 
Armen und Reihen zu einem Gewinn ohne Arbeit zu 
Joden und die Grofchen einzuftreichen, an denen der Bluts 
Ihweiß und die Thräne der Berzweiflung hängt, bes 
Zabafsmonopolsd, diefes unwürdigen Wuchers, die Dul- 


xvi 


dung von Spielbänfen, biefer Hauptquelle der Eorruption, 
verfhmäht. Nur Eines der in dieſe Claſſe gehörigen 
perfiden Mittel, das Octroi, hängt gegenwärtig brobend 
über unferer Hauptftabt, Ä 

Auch die Bemerkungen über das Verhältniß des 
ihwäbifchen Charakters zum Bormtalente dürften vollkom⸗ 
mener feyn. Schon was ber Die Äußere Erſcheinung 
geſagt wird, iſt unzureichend, ja falſch. Man iſt in Stutt⸗ 
gart, ſo groß die Noth mit den Schneidern iſt, moderner 
als in den norddeutſchen Städten, und gute Kleiderfünftier 
bringt in ganz Deutfchland nur Wien hervor. Der Man: 
gel an Beredtſamkeit dürfte ſtärker Dargeftellt ſeyn; er hat 
feinen negativen Grund in dem Mangel eines großen öfs 
fentlichen Lebens, feinen pofitiven in dem falſchen Schaam⸗ 
gefühle der Schwaben, welches jede erhöhte Form, die 
ſich an der eigenen Perfoͤnlichkeit darſtellen ſoll, für Affecta⸗ 
tion hält und eine Scheu davor hat, wie vor einem un⸗ 
heiligen Enthüllen höherer Stimmung. Es iſt kaum zu 
ſagen, wie weit dieß geht und kann nicht ſtark genug her⸗ 
vorgehoben werden, daß dieſe falſche Schaam zum Ges 
gentheile ihrer Abſicht führt, denn ein beſtändiges Sehen- 
laſſen der lieben Natur iſt doch gewiß nicht ſchaamhaft. 
Dagegen hat dieſe Schaamhafiigkeit ihr tiefes Recht, wo 
ſie ſich vor dem Eingehen in ein unwahres öffentliches 
Pathos ſcheut. Ueber den Enthuſiasmus, den man mit 
dem Becker'ſchen Rheinlied trieb, iſt bei uns nur gelacht 
worden. Das Orcheſter des Theaters in Stuttgaxk Ar 


xVvill 


dirte eine Melodie ein und erwartete an mehreren Aben- 
ben, daß das Lied fürmifch gefordert werde. Endlich 
wollte man nicht Tänger warten und legte die Melodie in 
eine Oper ein: ein allgemeines Gelächter erfolgte. Her⸗ 
wegh hat bei ung fehr wenig Anklang gefunden, nicht aus 
Mangel an politifchem Sinn, auch nicht, weil wir fein 
Pathos für unwahr hielten, wohl aber, weil er nur pathes 
tiich if. Hier war auch über din Dialekt mehr zu fagen, 
als die im Auffage vorgebrachte allgemeine Bemerkung, 
daß der ſchwäbiſche Dialeft zwifchen den nördlichen und 
dem fränfifchen die Mitte halte, Sein Charakter if im 
Unterfchied von den andern fübbeutfchen Dialeften ein 
Sichgehenlaffen und eine Neigung zu Nafentönen, welche 
befonderd vor m und n die Vocale trübt, Was nun aber - 
das Gebiet der eigentlich fchönen Form, die Kunft, be= 
trifft, fo habe ich den Schwaben Unrecht geihan, wenn ich 
ihnen nur ein geringes Talent für bildende Kunft zuerfannte. 
Ich widerfpreche mir felbft, wenn ich glei darauf Schick 
und Wächter erwähne, weldhe neben Karfteng als die VBä- 
ter der modernen Malerei daſtehen; Danneder nimmt 
feinen Plag immerhin würdig zwifchen Canova und Thor= 
waldfen, neuere wadere Talente, einen Rift, Neher, Ges 
genbauer und Andere babe ih gar nicht gezählt. Das 
"Richtige ift, daß hier daſſelbe Mißverhältniß, derſelbe Wi⸗ 
derfpruch unferer Provinz mit fich felbft zu beobachten ift, 
wie in andern Gebieten. Ebenfo wie wir große Philos 
fophen, Kritiker, Dichter erzeugen, um fie zu mißhandeln 


XIX 


und fortzuſchicken, iſt bisher dem Kunſttalente von oben 
gar keine Pflege geworden und darüber iſt es verkümmert, 
verborgen geblieben oder ausgewandert. Am ſchlechteſten 
ſteht es mit der Baukunſt; auch hier fehlt aber wohl we⸗ 
niger das Talent, als Glanz, große Verhältniſſe, großer 
Sum und Liberalität, um es auszubilden. An unfern 
Dichtern hätte ich als gemeinfchaftlichen Grundzug die 
Sentimentalität aus Mangel an Weltfinn hervorheben fols 
len. Schiller it zwar ein ganz kosmopolitiſcher Geift, 
aber von der Welt, deren Durchdrigung durch den Athem 
der Freiheit fein höchſtes Intereſſe ift, hat er Fein reales 
Bild. Herwegh — si parva licet componere magnis — 
iR in feinem politischen Pathos ganz abſtract. Bei une 
. fern romantifchen Lyrikern äußert fi) diefelbe Weltlofigfeit 
in der Beſchränkung des Ideals auf alterthümlich einfache 
Zuflände, ſtilles Gemüthsleben, Eingrenzung der ganzen 
Scala von Empfindungen auf wenige Haupttöne. Es ver- 
ſteht fih, dag ihnen dieß wieder zu gut fommt, fofern es 
fie abhielt, die Jronie aufzunehmen, welche die nörblichen 
Meiſter und Jünger der Schule ausbildeten, und daß es 
auch in eng geftedten Grenzen eine Größe, eine Erweite⸗ 
rung zum Welt⸗ und Menfchheits-Gefühle gibt, wie denn 
diefe dem Meifter Uhland nicht beftritten werben kann 
und darf. Die Angriffe, welde von Seiten des jungen 
Deutfchlands zur Zeit der Abfaffung dieſer Charakteriſtik 
auf die ſchwäbiſchen Dichter gemacht wurden, führten mich 
Kritiſche Saͤnge. (2) 


XXx 


auf die Poeſie der modernen Jerriſſenheit und der ſocialen 
Emanzipation. Sch hielt Damals die Stimmungen des mo» 
bernen unzufriedenen Subjects für poetiſch tractabler, ale 
jet, wo ich mich überzeugt habe, Daß unfere wirkliche 
Welt erfi eine andere geworben feyn muß, ehe wir wies 
der eine große Porfie haben können. Einiges in diefem 
Zufammenhang ©efagte hat allerdings bloßes Zeit- In- 
tereffe. Bon Menzeld Polemif wird jest Niemand mehr 
fprechen, Guzkow babe ich zu hart beurtheilt, er hat fich 
als eine lebendige, fortfchreitende Natur erwieſen. 

Ich ftieg zu den höchften Sphären auf, zur Religion 
und Wiffenfchaft, ſprach zuerft von jener und beflagte die 
Verbreitung des Pietismus in Schwaben. Der Pietismus 
im eigentlichen gewöhnlichen Sinne wuchs jedoch nicht in 
dem Grade fort, ald es damals zu befürchten war, und 
hat fid) namentlich unter den Studirenden vermindertz er 
bat aber um fo ftärfer in der Form einer Acceptation feis 
ner Grundfäge bei übrigens völliger Gefinnungslofigfeit 
oder völliger Schlechtigfeit der Gefinnung in der ganzen 
Partei der Reaction um fich gegriffen. 

Ich habe den Pietismus eine Krätze, eine Eiterung 
der beften Säfte des Geiſtes genannt, und bin darüber 
mit jener Wuth verfolgt worden, welche ich Fenne, aber 
nicht fürchte. Sch bedaure, auch jetzt mit feinem befferen 
Namen dienen zu Fönnen. Der jebige Pietismus unters 
ſcheidet ſich zwar bekanntlich von dem urfprünglihen Spes 
nerihen durch fein ganz verändertes Verhältniß zur 


XXI 


Zeitbildung, insbeſondere zur Wiſſenſchaf.. Dieſer ſtand 
in Oppoſition gegen eine völlig verknöcherte Wiſſenſchaft, 
gegen den Buchſtabendienſt der damaligen Theologie, und 
wollte die Religion zu neuem innerem Leben erheben, er 
war jugendlih und ſtemmte ſich gegen das Greifenhafte 
der Zeitz der jegige ſträubt fi) gegen eine jugendliche 
Wiſſenſchaft, welche dem Buchftabendienfte ernfllih ein 
Ende macht, gegen die ganze Zeitbildung, welche ben innes 
ren Kern der. Religion aus feiner Fixirung zu befreien, 
als fittlihen Geift in die Wirklichkeit einzuführen frebt, 
und wüthet für das Greifenhafte gegen die Jugend bes 
Jahrhunderts. Darum find ihm alle diejenigen, melde 
die wefentlihen Bewegungen ber ‘Zeit nicht begreifen föns 
nen, zugefallen, fie find Spießgefellen des Pietismus ge⸗ 
worden, die Gedanfenträgheit, der Verſtandesfanatismus, 
der Haß gegen den Genius hat fie ald vollfommene Bun⸗ 
beögenoffen feines ſchwuͤlen Grimmes ihm in fein Lager 
geführt. Der unfhädlichen alten Pietiften, der Stillen im 
Lande, die ic von den giftigen fehr wohl zu unterfcheiden 
weiß, find wenige mehr, fie find verhetzt von den gelehr⸗ 
en Pietiſten und theilen ihren durchaus negativen Geift. 
So unterfchieden übrigend dieſe zwei gefchichtlichen For 
men des Pietismus find, fie find doch in Einer Wiege 
gelegen. Die ältere Art des Pietismug konnte nur die 
Dppofition gegen die Bildung, welche diefer Form des 
Bewußtſeins wefentlich innwohnt, noch nicht heroorfehren. 
Ihre Bedeutung lag in dem Gegenfate gegen bie Theo⸗ 
(2) * 


xıXll 


logie und Kirche, welche in rohe Geiftlofigfeit verfunfen 
waren, und in foldhen Zeiten muß ſich die geiftige Leben⸗ 
digkeit in bie verfchloffene Innigkeit der Religion zurück⸗ 
ziehen. Es liegt aber auch in diefer Form der Religiofität 
fhon der Keim der Negation. Sie ift nicht unbefangene, 
nicht Volksreligion, fie ift durch Oppofition und Spannung 
entftanden: die Bildung tritt ein und es fommt an Tag, 
was fie eigentlich iſt. Aller Pretismus ift, wie dieß Märftin 
v in feiner Schrift über den modernen Pietismus gründlich 
nachgewiefen bat, die unnatürlihe Abftraction, den Geiſt, 
ber das ganze Leben flüffig ale Iebendige Continuität durch⸗ 
dringen foll, zu einem befonderen machen zu wollen. Er 
fordert, daß das Dogma inneres Leben werde, aber hier 
bleibt er fteben; im inneren Bewußtfein foll es mın aufg 
Neue firirt ftoden und gegen jede Aufweichung zu einem 
unbefangenen praftifchen Geifte ſich firäuben. Daber if 
biefer, in feinen Anfängen ſchöne, Verſuch einer Belebung 
ber Religion viel fchlimmer als gar Feiner, die Fatholifche 
Kirche in ihrer feſten Objectivität und Fryftalliichen Ver⸗ 
fleinerung etwas ungleich Unfchuldigeres, als diefe pifirte 
Halbbelebung des Berfteinerten, diefer zurüdgetvetene 
Fanatismus. Der Pietismug ift daher der geborene und 
gefchworene Feind der wahren Wiflenfhaft, welche bie 
Allgemeinheit und continuirliche Rebendigfeit zu ihrem Prins 
zip hat und der Bildung, welche diefes Prinzip durchführt. 
Das Wahnfinnige im Vietismus ift die Befonderbeit feis 
nes Intereſſes für die Religion und die Ausdrücklichkeit 


XXIII 


der Beziehung, die er zur Bedingung der Religioſität 
macht. Der Pietiſt iſt Religiöſer von metier, der Pietiſt 
iſt der Profeſſioniſt der Religion, Pietiſt iſt, wer nach Re⸗ 
ligion riecht. Der Pietiſt behauptet, wie der wahrhaft 
Religiöſe oder richtiger wie der wahrhaft Gute, daß alle 
weltlichen Kräfte verklärt werben ſollen, indem fie ſich mit 
dem Geiſte ber Unendlichkeit durchdringen; aber er hebt 
in demfelben Athemzuge die Durchdringung und alle Mög 
lichkeit derfelben vielmehr auf, Indem er jene als undurch⸗ 
bringlich fest. Denn fein Gott ift fo materiell vorgeſtellt, 
baß er fich mit den weltlichen Eriftenzen im Raume ftößt 
und nicht beide, Welt und Gott, mit- und ineinander bes 
fiehen können. Daher Eennt er an der Stelle der wahren 
Durhdringung nur ein Nebeneinander der ausdrüdlichen 
Beziehung einer weltlichen Thätigfeit und einer Zurüds 
führung berfelben auf Gott, und hiedurch entfteht der 
Aberwis eines völligen Widerfpruchs, welcher einerfeite 
fordert, daß das Weltliche nicht fowohl in das Göttliche 
aufgenommen, als vielmehr von bemjelben ganz verzehrt 
werden müffe, andererfeits aber trog diefer Meinung das 
Weltliche noch feftbält und den heimlichen Stachel der 
Begierde danach bewahrt. Du fagft zu einem Vietiften: 
es regnet, ih will einen Schivm nehmen, und er antwor- 
tet: gut, aber der wahre Schirm iſt Gott. Du fagft: ich 
trage gern einen Stock, und er verfeßt: gut, aber ber 
Herr allein iſt der wahre Stecken und Stab, Du fagft: 
dieß Licht brennt hell ober bunfel, und er bemerktz am, 


XXIV 


aber die Religion iſt das wahre Licht u. ſ. w. Goit, Chri⸗ 
ſtus, der heil. Geiſt u. ſ. w. muß immer genannt wers 
den, wenn etwas im Geiſte der Religion geſchehen ſoll; die 
geiſtige Weihe febes Thuns muß ſich ale Gebet neben das⸗ 
felbe fielen. Dit einem Pietiften ift daher fchlechterbinge 
nicht fortzufommen, zu ſprechen, zu leben, er nimmt nichts, 
wie es ift, er fieht Alles gebrochen wie im Wafler, er iſt 
abfofut geſchmacklos, aberwigig, pervers, er ift wahnfinnig.: 
Eine Durchdringung der weltlichen Kräfte durch den 
ewigen Geiſt fordert alſo der Pietiſt und meint vielmehr 
eine Aufhebung, daher ſeine Verdammung der ſinnlichen 
Kräfte, in welchen er das Material der ſittlichen erkennen 
follte, aber nicht erfennt. Die Veredlung der finnlichen 
Kräfte zu fittlichen wird in verfchiedenen Formen vollzo— 
gen. Noch ehe die eigentlich fittlihe Bildung beginnt, 
ergreiit die ſchöne Kunft und das Gefühl der Schönheit 
überhaupt den finnlihen Menſchen auf feinem eigenen 
Boden, befreit die Sinnlichfeit im Elemente der Sinnliche 
feit durch) den Abel der Form von ihrer Naturrohheit, 
das Gute naht, ſich dem Menfchen in der heiteren Form 
des Schönen. Auch wo die fittliche Bildung Tängft ing 
Werk geſetzt ift, bleibt die Grazie ihre anmuthige Begleite⸗ 
rin. Es ift befanntlich der edle Schiller, der biefe Wahr 
heit mit hundert beredten Wendungen, am erfchöpfendften 
in feinem Auffag über Die äfthetiiche Erziehung des Dien- . 
fhen ausgefprodyen bat. Diefe ganze Melt, die Welt der 
Schönheit, der Humanität verfchließt ſich der Pietiſt, in⸗ 


XXV 


dem er eine Moͤglichkeit künſtleriſcher Veredlung der Sinn⸗ 
lichkeit, nachdem er fie in ihrer Wurzel für bös erklärt 
bat, natürlich läugnen muß. Aber Dies if nicht richtig 
gefagt, er verfchließt fich ihr nicht, er ſchielt auf fie hin⸗ 
über und wirft das Bild feiner eigenen, durch Entgegen- 
fegung gereizten, verborbenen Phantafie hinter jeden uns 
fihuldigen Genuß, Tanz, weltliche Mufif, Schaufpiel uf. f. 
Denn verborben ift und muß feyn feine Phantafle. Die 
Sinnlichkeit' hat ihr Nechtz wird es ihr weggeftritten, fo 
tritt fie wie eine Kranfheit auf bie edleren Theile zurüͤck 
und ed entftcht bie Phantafie- Sinnlichfeit, die heimliche 
Sinnlichfeit, die Sinnlichkeit mit böfem Gewifien, die uns 
ſchöne, die verfefene, zurückgeſchluckte Sinnlichfeit. Die 
Sünden der verheimlichten inneren Sinnlichkeit find über, 
haupt eines der größten Uebel, welche die hriftliche Bil⸗ 
dung ale Kehrfeite ihrer tieferen Geiftigfeit mit fich brachte; 
im Pietismus muß natürlid) dies Alles verftärft zum Auge 
bruch fommen, Die Muderei und was ihr verwandt, ifl 
feine zufällige, fordern eine wefentliche Geburt des Pietis⸗ 
mus. Wenn die unfchöne, heimlich durch den Reiz einer 
beftändigen Polemik entzündete Sinnlichkeit des Pietiften 
zum Ausbruch) fommt, fo iſt dieß ein bezeichnender Zug, 
der zu feinem Eharafter als Pietift gehört. Weberhaupt 
hat ein Pietift als Pietift feine der Entfehuldigungen für 
fi, auf welche die gewöhnliche menfchlihe Schwachheit 
Anfpruch machen darf; denn er felbft verzeibt Feinen Feh⸗ 
ter, fucht fie auf, erfindet und lügt, wo er feine erlauen 


XXVI 


kann, iſt fiher im Hochmuthe feines Monopols; und wo er 
fündigt, raͤcht fih an ihm die verläumbdete, verfolgte, ver⸗ 
fluchte, mißhandelte Natur, und die begangene Sünde be» 
fhönigt er mit feiner Heuchelei. Kin Pietift muß ein 
Heuchler feyn, denn die beftändige ausprüdliche Beziehung 
jeder Stimmung und Thätigfeit auf das getrennt vorge» 
ftellte Göttlihe, ber beftlänbige heilige Zorn gegen bie 
Natur im Menfchen kann der Seele nicht ernft feynz fie 
fft zu gefund, fie arbeitet, in der Erfranfung noch ſtark, 
unter der Dede des heiligen Mantels fort, und das Um⸗ 
Schlagen dieſes Mantels wird zum Mechanismus, zur Ges | 
wohnbeit des Scheind, zur Heuchelei. Mer Alles und ' 
‘jedes mit Salbung thun zu müſſen meint, ber muß ja 
ein Heuchler werden, 

Das eigentlich fittliche Gebiet nun entfaltet die geiflig 
umgebildeten Kräfte zu dem Organismus der weltlichen 
Thätigfeiten. Alle diefe Thätigfeiten läpt der Pietift nur 
gelten, wenn und foweit fie in dem Sinne- feiner flets 
geforderten ausdrüdlichen Beziehung gebeiligt find. Wo 
daher diefe Ausdrücktichfeit nicht ift, da hat er Feine Ach 
tung und fein Intereſſe. Wer fleißig iſt, iſt noch Fein 
vechter Pietifl. Der rechte Pietift thut nichts, wo es nichts 
zu falben, zu befehren, zu verdammen gibt. Was er aber 
tyut, dem nimmt er jede Schönheit durch Die Art, wie er 
es thut. Er ift z. B. wohlthätig, er fchenkt, aber dabei 
müffen ihm die Beſchenkten fo viel beten, Daß ihnen bie 
Freude vergeht; er betreibt die Miffion, aber es ift dabei 


XXVII 


nicht ſowohl auf Bekehrung der Heiden, als vielmehr auf 
eine Demonſtration gegen die Ketzer im Chriſtenlande, auf 
fanatiſche, hochmüthig beſcheidene Miſſionspredigten abge⸗ 
ſehen. Der Pietiſt achtet aber auch an Andern keine ſitt⸗ 
liche Thätigkeit, nicht deine Amtstreue, nicht deinen Fleiß, 
nicht dein männliches Wirken; er findet überall nur fo viel 
Werth, als er Heuchelei findet; wenn bu nicht heuchelſt, 
fo thue Gutes, was du immer kannſt, er wird es ver 
drehen, weglügen, mit feinem giftigen Schaum befprigen. 
Dem Pietiften ift nichts heilig. Er hat beſchloſſen, dag 
Heilige anderswo zu fuchen, als im Guten, daher kann 
ihm nichts heilig ſeyn. Es gibt aud) nichts Unglaubigeres, 
als einen Pietiften. Wo er Feine Heuchelei fieht, und bes 
fonders wo er ſelbſt nicht feine Salbung dazu gibt, meint 
er, die Welt krache in ihren Axen. 

Wodurch dieſes unheimliche Bild ſich erweitert, Dieß - 
ift der tiefe Haß und Grimm, Die Lebensluft des Pietifien. 
Das Streben des Pietiften nach Seligfeit ift innere Hölle, 
Gegen den Unbezwinglichen, gegen den Siegreichen, gegen 
ben wolkenlos Heitern, gegen den fortfchreitenden Lichtgeift 
unmächtig verzweifelnd zu Fämpfen tft fein Pathos; dag 
Gefühl der Unmöglichkeit, ihn zu bezwingen, und die Wuth, 
mit ihm dennoch zu ringen, dieſes Wollen und Nichtkön⸗ 
nen, biefer Wahnfinn, die Gefchichte zu negiren, bieß iſt 
Das verbifiene Zähnefletfchen des Pietismus. Die Welt 
ſoll nicht tanzen, nicht fingen, nidyt ins Theater geben, 
nicht denfen, nicht ohne Gebet arbeitens fie ſoll es wit, 


XXVIII 


und ſoll es nicht und ſoll es wieder nicht; aber die Welt 
tanzt, ſingt, geht ins Theater, denkt, arbeitet — und wenn 
du berſteſt, ſie thut es. Wer ſich ein rechtes Bild von 
den verdammten boͤſen Geiſtern machen will nach der 
kirchlichen Vorſtellung, von ihrem Grimm, ihrer Wuth im 
Gefühle ihrer Unmacht und Verdammniß, der muß einen 
Pietiſten anſehen. Wir kaͤmpfen auch, wir ringen auch, 
wir leiden, wir leiden Verläumdung, Verrath, Verfolgung, 
Zurückſetzung, Bosheit aller Art, aber wir ſind hell und 
heiter und ziehen nach jedem Kampfe weiter und pfeifen 
unfer Lieb fo unbekümmert, wie Einer, der ſich des ewigen 
Sieges feiner guten Sache bewußt if. Doch die Pietiften 
find. auch glücklich; wenn Andere von Licht und Liebe le⸗ 
ben, fo ift Haß, Grimm, Schadenfreude, Vernichtungswuth 
ihre Element, worin fie mit Zufriedenheit wühlen. Jeder 
-fucht Speife nach feiner Weiſe. Als Meittel für feine 
Wuth ift dem Pietiften Alles erlaubt, denn ber Zweck 
heiligt die Mittel *). Das einzige offene Mittel des Pietis« 
mus ift Schimpfen, Fluchen, er bat aber um fo mehr 
*) Kranid. 

Sn dem Stlaren mag ich gern 

Und aud im Zrüben fiſchen; 

Darum febt ihr den frommen Deren 

Sich aud mit Zeufeln mifchen. 

Weltkind. 
Ja fuͤr die Frommen, glaubet mir, 
Iſt Alles ein Vehikel; 


Sie bilden auf dem Blocksberg hier 
Gar manches Conventikel. 


XIX 


heimliche. Der Pietismus iſt fehr liſtig; während Die Thäs 
tigfeit der Vernunft in ihm erkrankt ift, bilden fich die 
unteren Kräfte des Gciftes, die Berftändigkeit insbefondere 
im Dienfte des böfen Willens, zu unverhältnigmäßiger 
Fertigkeit aus. Wir haben die Prinzipien des Pietismus 
offen und ehrlich vor aller Welt angegriffen. Wir haben 
ihn bitter gereizt, es ift ihm nicht übel zu nehmen, wenn 
er ſich wehrt. Er wehre fih offen, wie wir; gegen Gründe 
Kimpfe er mit Gründen. Aber der Pietismus hat uns 
nicht widerlegt, nicht einmal zu widerlegen verfuchtz wir 
haben ihn von vom mit dem Schwerte angegriffen, er 
fällt ung von hinten mit dem Stilet an; wir haben ung 
an die Sache gehalten, er hält fi) an die Perfon, er bes 
lauert, umfchleicht, er Tegt Sammlungen von Stellen aus 
unferen Schriften an, um fie, aus ihrem Zufammenhang 
geriffen, gegen und zu benügen, er verläumdet ung bei 
den höchften Behörden, er operivt gegen unfere Laufbahn, 
er vergiftet und durch moraliſche Verbächtigung, und am 
liebften möchte er ung, ganz und eigentlich vergiften. Es 
it durchaus etwas Mörderiſches im Charakter des Pietismus. 

Diefes Gemälde vollendet fih durch den geiftlichen 
Hochmuth des Pietiften. Er verdammt das erlaubte Selbſt⸗ 
gefühl jeder gefunden Natur und rühmt fich in häßlichſtolzer 
Demuth als das auserlefene Rüftzeug der göttlichen Gnade, 
ehne deffen Eifer Gott felbft fterben müßte, Es arbeiten 
alle edlen Kräfte der menfchlichen Natur im Pietismus, 
aber auf einen falfchen Mittelpunkt bezogen, daher Ente 


3ı£ 


ſtellt, gegen ihren Zwed verdreht, daher im Zuftanbe 
giftiger Eiterung. Die fchönften und höchften Gefühle des 
Gemüths Tiegen ihm zum Grunde und ſchlagen in ihr 
Gegenthell um, Religion wird Gottlofigfeit, Glaube Un- 
glaube, Wahrheit wird Rüge, Eifer wird moraliſche Mord⸗ 
ſucht. Diefer Eiter iſt anſteckend, der Pietismus ift durch 
die fchillernden Farben, die feinen gährenden Sumpf be= 
decken, für Menfchen von mehr Einbildungsfraft als Denfs 
fähigfeit, mehr gutem Willen als Berftand, am meiften 
aber für Menſchen, welche fich Durch: Ausfchweifungen ge= 
ſchwächt haben und da fie an ihrem Willen verzweifeln, 
fih den Willen als Gnade, die von außen kommt, vorzu⸗ 
ftellen ein Bedürfniß fühlen, durchaus contagiös. Darum 
babe ih den Pietismus eine Eiterung, eine 
Krätze genannt, | 

Ueber den Neft Diefes Aufſatzes habe ich wenig Be⸗ 
merfungen nachzutragen. Wo von dem Zurücwandern 
Der modernen Philoſophie nach Schwaben die Rede ift, 
ſage ic), fie habe bei den Univerfitätsiehrern, Einen fräfs 
tig freien Geift ausgenommen, feinen Eingang gefunden. 
Dieß hat ſich feither verändert, In der theologifhen Tas 
eultät fteht neben Dem würdigen, verehrten Baur der 
ſcharfſinnige, flare, gelehrte Zeller; in der philofophifchen 
zeichnet ſich durch ebenfo große Beftimmtheit ald Gründs 
lichfet Schwegler aus, au Zeller liest philofophifche 
Collegien und verſammelt eine große Anzahl von Zuhörern 
um ſich; Durch Reif's Anfiellung bat die Lehrfreibeit einen 


3ıX1 


Sieg errungen; in der philologiſchen Facultät iſt es der 
Drientalift Meyer, der die philofophifche Idee in dieſes 
Material einführt; in der juridifchen find Bruns und 
Köftlin als talentvolle Repräfentanten der phildfophifcyen 
Richtung aufgetreten; in der flaatswirtbfchafttichen hat 
fih Fallati die Gedanfen der Speculation auf klare ges 
ſchmackvolle Weife angeeignet. 

Da ich den Bildungsgang des Dr. Strauß zu ver- 
folgen hatte, fo wurde von unfern Seminarien bie Redr. 
Es kann jegt Niemand mehr in Zweifel ſeyn, wie ich es 
damals noch war, daß dieſe Anftalten vor dem jekigen 
Begriffe von Bildung und Erziehung eines Jünglings fal« 
len müflen und werben; denn fie ruhen auf der mönchi⸗ 
ihen Borftellung, daß der Geiftlihe nicht Menſch fev. 
Was an ihnen unläugbar Gutes ift, ließe ſich unter zweck— 
mäßigerer Form beibehalten, wenn die Stiftungen, auf 
welche fie gegründet find, in Etipendien für Studirende 
alfer Facultäten verwandelt würden, melde als Bedingung 
der Theilnahme eine firenge Concursprüfung zu befteben 
bitten, nicht zufammenwohnten, Feiner befondern Pegal- 
Aufficht unterworfen wären, wohl aber eine fpeziellere 
Leitung ihrer Privatftudien, Die wohlthätige Verpflichtung 
der wöchentlichen fog. Loci, der Ausarbeitung von Auf- 
fäßen, der halbjährigen Prüfungen genöffen. Das Inftitut 
der Repetenten könnte dabei in der Weife wohl beibehalten 
werben, daß für die Studirenden der verfchiedenen Facul⸗ 
täten je einer oder nad) Maaßgabe der Anzahl mebrere 


xııll 


Repetenten aufgeftellt wären, welchen alle Pflichten ber bis⸗ 
berigen, außer der Dischplinar- Aufficht, welche mit dem 
Zufammenwohnen fleht und fällt, oblägen. Wenn man 
sur das Eine erwägt, wie viele Eltern, durch die großen 
Erleichterungen verführt, welche bier ausſchließlich Die Theo⸗ 
logen genießen, ihre Söhne ohne alle Prüfung ihrer per⸗ 
fönlichen Neigung und Talente dem geiftlihen Stande 
widmen, fo müßte man fi) von der Nothwendigkeit einer 
folhen Veränderung überzeugen. 

Zu leicht habe ich es mit der Hintanfegung der philo⸗ 
logiſchen und andern pofitiven Studien gegen die philoſophi⸗ 
fhen genommen, welche zur Zeit der Berfaffung dieſes 
Auffages im hiefigen Seminar herrſchte. Dieß hut fi 
inzwifchen angefangen zu verändern, Die Philofophie ſelbſt 
wird jest in mehr hiſtoriſchem Geifte ftudirt, die Theolo- 
gie ebenfalls, 

Die wahre Stellung der Straußifchen Anficht zur 
Religion babe ich milder angegeben, als ich es jegt thun 
würde. Man dachte damals über Vereinbarfeit der Bor: 
ftellung und des Begriffs auf philofophifcher Seite anders 
als jetzt; theils weil die Speculation felbft in Diefem Punete 
ungründlich war, theild weil man noch wenig Erfahrungen 
gemacht hatte. ch Fönnte zwar in einem gewifjen Sinne 
noch heute ſagen: Strauß fämpft nicht gegen, fondern für 
die wohlverftandenen Intereſſen der Religion u. f. w.; es 
liegt mir aber nichts daran, wenn mir jemand ftreitig 
macht, dag, was nach der Kritif der Mythen zurücbleibt, 


XXLIII 


noch Religion zu nennen ſey. Es gehoͤrt zwar auch zum 
Guten ein Glaube, und zwar ein viel höherer und ſtaͤrke⸗ 
rer, ald zu ber eigentlich fogenannten Religion; mir iſt es 
aber hoͤchſt gleichgiltig, ob man mich, wenn ich Das Gute 
will und thue, darum glaubig und religiös nennt oder 
nicht; oder richtiger, es ift mit dieſem Xitel, wie ſich jegt 
die Sachen geftaltet haben, eben nicht viel Ehre abzheus 
ben und man fann leicht darauf verzichten. ine Ehre 
ift es jebt, wenn man von Jemand fagen fanns er wird 
verdächtigt, verläumdet, feine Treue mit Undank belohnt, 
er wird verfolgt, zurüdigefegt, entlafien; und biefe Ehre 
bat Strauß genofien. 

Diefem Aufſatze folgt ein Sendſchreiben für die Halli⸗ 
hen Sahrbücher mit dem Titel: Ueber allerhand 
Berlegenheiten bei Befegung einer dogmatis 
hen Lehrftelle in der jegigen Zeit, Dieſe Heine 
Erpertoration macht auf neue Gedanken und tiefere Bes 
gründung vorhandener feinen Anſpruch. Ich hoffte damals, 
fie könnte vielleicht für ein freifinniges Urtheil, das nur 
durch den Nebel, welchen die Leidenſchaft und die fchiefe 
Reflexion auf ſolche praktiſche Fragen werfen, hindurchzu⸗ 
dringen nicht genugſam orientirt ſey, einiges Moment ha⸗ 
ben und ſo nicht ohne alle Wirkung bleiben. Sie erſchien 
zu ſpät und auch ohnedieß hätte ich wohl zu erfahren be⸗ 
fommen, was ich in dem Auffate felbft einräume: daß bie 
Philofophie unmittelbar praftiich nicht zu wirfen berufen 
fey. Nur iſt dazu fogleich hinzuzuſetzen und es tft ein 


LIXXIV 


Mangel der Darſtellung, daß es nicht geſchehen iſt: die 
Philoſophie hat unmittelbar allerdings keinen praktiſchen 
Beruf, wohl aber wird ſie, wenn ſie als allgemeine Bil⸗ 
dung in die Maſſe zurückgeſtrömt iſt, eine ungeheure Macht, 
von welcher man gar nicht mehr fragen kann, ob ſie auch 
praktiſch wirken könne und dürfe, weil fie die Praxis ſelbſt 
if. Eine folhe Macht wurde 3. B. die Kantifche Anficht 
ber Dinge, fie befegte beinahe ein halbes Jahrhundert 
lang die meiſten Staatsdienerftellen, und liegt noch dem 
Denfen der Mafie der Gebildeten zu Grunde. Die Zeit, 
wo bie HegePfche Philoſophie, d. h. nicht ihr Buchftabe, 
fondern ihr Geift in feiner unendlichen Entwidlungsfähig«- 
feit, eine ſolche Macht werden wird, wirb fo ficher kom⸗ 
men, al® der Fünftige Tag. Die Stärfe ber Reaction 
verfündigt ihren Sieg, denn wenn eine Lampe verlöfchen 
will, flinft fie, Uebrigens war mir auch bei diefer Arbeit 
die Frage über Vereinbarkeit oder Unvereinbarfeit dee 
Begriffs und der Vorſtellung noch nicht fo Ear, wie jebt. 
Durchfchneiden läßt fi zwar, wie ehrlich man bierüber 
denfen mag, nit. Möoͤgen die philofophiich Gebildeten 
über ihren Widerfpruch mit der Kirche fo aufrichtig feyn, 
als fie wollen, ein Austritt aus ihr wäre nichts als ein 
kindiſcher Scandal; und Theologen, welche in diefen Wis 
berfpruch gerathen, wird nad) wie vor die Nothwendigkeit 
treiben, geiftliche Aemter zu befleiden. Hier ift durchaus 
feine Hilfe, ald daß man vor der Hand begreift, wie der 
Proteftantismus felbft der Lebendige Widerſpruch ift, eine 


zZIXV 


Kiche zu feyn und doch die Bedingungen einer über alle 
kirchliche Begrenzung hinausgehenden Bildung in ſich zu 
- age. Wer aber dieß begreift — und es ift nicht ſchwer 
zu begreifen, denn es liegt auf flacher Hand, — der wird 
fh auch überzeugen, daß es die Plattheit aller Platiheis 
ten ift, wenn man fo biftinguirt: freie Anfichten find zu 
dulden, aber wer als Kicchenlehrer angeftellt werben fol, 
darf ſich nicht von ber kirchlichen Lehre entfernt haben. 
Unfere Abweichungen von ber Kirchenlehre haben fich nicht 
neben und außer dem Proteftantismug, fondern in feinem 
Schooße gebildet, der proteftantifche Geiſt ift Fein flarrer 
Stein, fondern eine lebendige Kraft, welche fortwächſt und 
fiher noch mit ihren Wurzeln den Stein, an ben fie freis 
lich noch gebunden ift, Kirche und Autorität nämlich, in 
Stüde fprengen wird. 

Hierauf Taffe ich alfo die Fritifchen Arbeiten aus dem 
Gebiete der bildenden Kunſt folgen. Sie fohlagen 
alle mit wiederholten Schlägen auf Einen Punkt: Feine 
Transcendenz, feine Mythen, Feine Allegorie, fondern Geift 
der Wirklichkeit! Man wird nachſichtig feyn, wenn bafs 
felbe Pathos in immer neuen Wendungen fich ausfpricht, 
wenn 3. B. dreimal Cin der Kritif der Fauſt⸗Literatur 
fomme ich abermald darauf zurüd) von dem Unterſchied 
ziwifchen der Allegorie und ber wahren Geflalt bes Schö⸗ 
nen die Rebe ift, wenn ich mehr als Einmal meine Ueber⸗ 
zengung von der Zeitwibrigfeit der Mythenmalerei an 
dem jlingften Gericht von Cornelius auseinanderſetze — ꝛc. 

(3) 


xxxvi 


Ich war ja und bin noch mit dieſen Ueberzeugungen, de⸗ 
ven Wahrheit ein Kind einſieht, bei den Künftlern ein Pro⸗ 
phet in der Wüſte. So drang 3. B. von allem bem, was 
ich hierüber feit Jahren wiederholt babe, zum erftenmal, 
da bei Gelegenheit ber belgifchen Bilder einer der wenigen 
benfenden Künſtler in den Jahrbüchern der Gegenwart An⸗ 
ſichten ausſprach, die mit den meinigen zuſammentreffen, 
etwas nach München und erregte eine ſolche Ueberraſchung, 
daß die confuſe dortige Kunſtkritik nichts zu thun wußte, 
als in der allgemeinen Zeitung ſo ungebildet, als man es 
nur erwarten konnte, zu ſchimpfen. 
| Was ich in der Anzeige der Rambourfhen Aquas 
rell-&opieen und der Hallmannifhen Schrift über 
die Münchener und Düffeldorfer Schule gefagt habe, macht 
feinen Anſpruch auf Vollftändigfeit; einiges in der letzteren 
Anzeige dient zur Ergänzung von Mängeln der erfteren, 
wie namentlich die Bemerkung, daß die Münchener Scdyule 
mehr das hat, was man Styl nennt, Schnorr wußte ich 
nicht recht zu charakteriſiren; irre ich nicht, fo Fann man 
von ibm fagen, daß er bei vielem ZTrefflichen in Cha- 
safteriftif, Compofition, Zeichnung von einer gewiflen oblie 
gaten und fentimentalen Behandlung nicht frei if. ‚Zu 
dem Charakter der Düffeldorfer Schule gehört wefentlich 
das große Gewicht, das fie auf die äußere Ausftattung, 
befonders auf mittelalterliche Garderobe legt, wodurd dag 
Innere, das fie abſtract und fentimental zu behandeln ges 
neigt if, und das Aeußere, das fie mit concreter Gelehr⸗ 


XXxXvii 


Tamfeit ausarbeitet, unorganiſch audeinanderfält. Einen 
großen Fortſchritt über die luftigen und lyriſch abſtracten 
Anfänge der Schule hinaus hat Leſſing gemacht, der den 
Kamen eines großen Malers wollfommen verdient. Ich 
hätte mehr über feinen Huß fagen ſollen; freilich hatte 
äh ihn damals noch nicht gefehen. Er bleibt in dieſem 
Werfe allerdings der eigenthümlichen Beſchränkung der 
Schule auf das Innerliche, die handlungslofen Zuftände, 
das Piychologifche treu und gibt und nicht die ftürmifche 
Bewegung des Concils, fondern eine Situation vor dem⸗ 
felben, worin er fih als Meifter in Charafterfüpfen zeigen 
Tann, denen die zu erwartende Handlung erfi als verhal⸗ 
iener Zuftand vor dem Ausbruch aus den Augen fieht. 
Es ift aber, innerhalb diefer Schranfen genommen, eine 
wahrhaft großartige Gruppe, ein Werf der tiefften Seer 
Ienmalerei, 

Sch bebaure, daß der lebte zu der Abtheilung über 
Kunft gehörige Auffag in den zweiten Theil verlegt, und 
fo getrennt werben mußte, was in diefe Rubrik zufammen- 
gehört. Ein Veberfehen während des Drudes iſt Daran 
ſchuldig, und es thut mir doppelt leid, Daß die Sache nicht 
mehr zu Ändern war, da biedurch ber zweite Theil an 
Bogenzahl größer geworben iſt. 

Die Kritik ver Literatur über Goethes Fauft 
ift fehr wenig höflich ausgefallen, Dan wird bilkig einem 
Manne, der biefen Augiasftall zu miften unternahm, einige 
Ungebuld nachſehen; auf einen groben Klotz achört cin 

G)* 


XXXVIII 


grober Keil. Wie entrüſtet ich aber hier gegen die rein 
ſpeeulative Behandlung eines Kunſtwerks, gegen das ſtoff⸗ 
artige Aufſuchen philoſophiſchen Inhalts ſtatt äfthetifcher 
Kritif auftrat, ich war felbft dennoch nicht ganz frei von 
biefer Auffaſſungsweiſe. Es ift in diefer langen Reihe von 
Beurtheilungen viel zu wenig Kritif des Gedichts als eines 
gewordenen, wie es in feinen ungleichzeitigen, fragmenta⸗ 
rifch verbundenen Schichten aus dem Dichter, dem Unter- 
fchiede feiner Entwidlungsftufen und der Gunft oder Ungunft 
bes ihm eingebenden Genius zu erklären if. Es war in 
mir felbft noch weit zu viel unächte Pietät. Daher habe 
ih Weiße's Werk, die einzige äſthetiſche Kritif, in den⸗ 
jenigen Partbieen, wo er von den Fugen und Nähten ber 
ungleichzeitigen, mehr oder minder gelungenen Stüde fpricht, 
viel zu flüchtig beurtheilt. Freilich hatte er mir die Freude 
an feinem Werfe Durch die fchiefe Auffaffung des Grund⸗ 
gehalts verborben. 

Auch, den Mangel hat meine Kritif, daß ich das Ges 
Dicht viel zu wenig als Ausdrud feiner Zeit in’d Auge ge⸗ 
faßt habe, wie es den innerftien Nerv jener merkwürdigen 
Revolution des europäifchen, zunächft Des beusfchen Gei⸗ 
ſtes gegen Ende des 48ten Jahrhunderts fo durchfichtig zu 
Tag legt. Nur berührt ift diefer Punkt in der Kritif yon 
Meber’s Schrift, Band II, S. 114. Die Wiffenfchaft 
war verfnöchert in Dogmatismus und Formalismus; bie 
jugendlichen Geifter fühlten dieß und fchmachteten nach ben 
„Brüften, den Quellen alles Lebens, an denen Himmel 


XXXIX 


und Erbe hängt, dahin die welke Bruſt ſich drängt”; aber 
fein Laut Fam ihnen im weiten Reiche der damaligen Schuls 
wiflenfchaft entgegen, biefe hatte noch Feine Ahnung von 
einer Erkenntniß, welche effentiel, welche im Bewußtfein 
der Einheit des Denfenden und Gebachten begründet zus 
gleich das dialektiſche Moment der verftändigen Trennung 
und ihrer Auflöfung ale Methode in fi) aufnehmen könnte. 
Daber mußte der Drang nach Wahrheit ſich überflürzen, 
baher wurde alle Methode, wurben alle Mittel des Er⸗ 
kennens verachtet und ein ungebuldiger Myſticismus fuchte 
die Wahrheit mit Gewalt zu erobern. Man wollte, da 
man jede Vermittlung verachtete, unmittelbar erfennen, 
Auf diefem Punfte ſteht Fauft, dies iſt der Grund feiner 
Zauberei, die ihm „durch Geiftes Kraft und Mund mand 
Geheimniß fund thun“ fol, Dean nehme dazu den Famu⸗ 
Ius Wagner und des Mephiftopheles Gefpräch mit dem 
Schüler, fo hat man den ganzen Zuftand der damaligen 
obligaten, d. h. insbefondere afademifchen Wiffenfchaft, ehe 
bie neue Philofophie feit Kant mit jugendlichen Athem ihn 
erneuert hat. Nehmen wir nur ein Beifpiel aus der Na- 
turwiſſenſchaft. Man hatte eine nach Äußeren Kennzeichen 
rubricivende, elaffifieivende Botanif und Zoologie; ber dür⸗ 
ende Geift tieferer Talente forderte aber ein innereg 
Band, Wir haben jegt eine organiſch phyſiologiſche Er⸗ 
fenniniß ber Pflanze und der Thiergeftalt in ihrem Bau 
und der Stufenleiter ihrer wechfelnden Formen: eine folche 
Erlenntniß fucht Fauſt, die Wiſſenſchaft reicht fie ihm nickt, 


XL 

fo verachtet er dieſe und will durch einen Gewaltfireid, 
durch Zauber unmittelbar in's Innere der Natur eindrin« 
gen. Hier begreift man, warum Schelling in |. Meth. 
d. aladem, Stud. unfer Fragment ald „das eigenthüimliche 
Gedicht der Deutfhen begrüßte, das einen ewig frifchen 
Duell der Begeifterung eröffne, welcher allein zureichend 
war, den Hauch eines neuen Lebens über bie Wiffenfchaft 
zu verbreiten.” Schelling durfte aber den Fauſt nicht nur 
als den Propheten des großen Prinzips ber Identitäts⸗ 
philofophie begrüßen, ſondern es ift ebenfo natärlih, daß 
er ihn auch als Schubpatron der Mängel biefer Philofophie 
willfommen hieß. Schelling verachtete, wie Fauſt, die vers 
ſtaͤndige Vermittlung in der Wiffenfchaft, weil die bisherige 
nur zu Verftandes- Relationen geführt hatte; Fauſt citirt 
ben Erdgeift und finft vor der riefengroßen Erfcheinung 
nieder: Schelling’8 Identitäts-Prinzip ift „wie aus ber 
Piftole geichoflen” durch die intellectuale Anfchauung da, 
und der Gedanke finft von dem vorgeblihen Berfuche, in 
diefen dunkeln Grund feine Linien zu ziehen, ermattet nies 
der; Fauſt wirft ſich überdrüßig in's Leben und meint mit 
genialem Uebermuth feinen Schaum abſchöpfen zu können, 
ohne von den Rädern feines fittlichen Complexes gepackt 
zu werben: die Schelling’ihe Philofophie diente den Ro⸗ 
mantifern zum Schilde, denen Sittliches und Unfittliches nur 
als ſchönes Schattenfpiel des Selbfigenuffes dienen follte, 

Wie nun die Wiffenfchaft, fo fehnte ſich auch das Les 
ben nad) einer Umgeburt. Diefe Sehnfucht theitte ſich in 


xLi 


zwei Formen. Der fubjective Deutfche fuchte Freiheit von 
ben Banden einer veralteten Eonvenienz und einer Moral, 
welche die Rechte der Perfönlichfeit nicht in Rechnung nahm, 
freie Bildung durch freien Genuß und freie Thaͤtigkeit; 
aber er ſtürzte mit den veralteten Gefegen auch die ewig 


wahren um und wußte die abftracte Freiheit der Perföne 


lichkeit nicht mit dem vernünftigen und befonnenen Eingehen 
in bie Bedingungen des Lebens, dem Gefege der Noth⸗ 
wendigfeit, mit Zucht und Gehorfam zu vereinigen; bie’ 
überfprudelnden Sünglinge der Sturm: und Drang- Periode 
ftanden daher an einem Abgrund, in welchem mehr als 
Einer von ihnen verloren ging. Es war fein Epicureismug, 
man fuchte unbegrenzte Thätigfeit fo gut wie unbegrenzten 
Genuß. Goethe meinte Kunft, Poefie, Naturforihung und 
die Verdienſte des Staatsmanns in fich vereinigen, Taſſo 
und Antonio zugleich ſeyn zu können, nannte ſich eine Le⸗ 
gion, von hundert Welten trächtig, er wollte wie Fauſt 
der Menſchheit Krone erringen. Auch dieß war ein Ab⸗ 
grund. An dieſen Abgrund führt Mephiſtopheles den Fauſt; 
aus Reminiſcenzen der Jugendſünden jener Brauſezeit iſt 
die vermeſſene Weite mit Mephiſtopheles, die Liebesgeſchichte 
mit Greichen, ift zum Theile die Figur des Mephiſtopheles, 
ift die Walpurgisnacht, in welcher ber concentrirte haut- 
goüt ber Liederlichkeit qualmt, mit hellem und fittlich übers 
blickendem Geifte zuſammengeſetzt. Die Abfiht if, Fauſt 
durh Schuld und Reue zur Befinnung, zur männlichen 
Berföhnung mit dem Leben, zu jener Durchbildung der 


XLII 


Perſoͤnlichkeit zu führen, welche ſich befchränft und doch frei 
bleibt, welche nicht fürchtet, die innere Poefie, die edle Uns 
aufriedenheit im Philifterium einzubüßen. 

Die andere Form jenes Drangs nad) neuem Leben fiel 
dem franzöfifchen Volke zu, die Umfchaffung bes objeckiven 
Lebens, des Staats. Derfelbe Jugendrauſch wie bort in 
engerer Sphäre wußte bier wohl zu zerftören, aber nicht 
zu bauen. Diefe Geftalt der Revolution nahm Goethe 
gar nicht auf, gegen dieſe Welt war er verfeinert; und 
doch ift ed Kauft und niemand anders als Fauft, ber feit 
Rouſſeau bis auf George Sand im franzöfifchen Geifte 
fpuft. Freilich Tann man auch fagen, Fauft fei einmal 
ein Deutfcher und jener franzöſiſche Störenfried müfle ein 
Milchbruder von ihm fein, den er vergeflen habe. Goethe 
gedachte im zweiten Theil feinen Helden in höhere, bedeu⸗ 
tendere Sphären zu führen, aber er bat es fchlecht genug 
angegriffen. 

Wollte man Fauft in die geforderte politifche Lage brin« 
gen, ohne die Einheit ber Zeit zu fehr zu verlegen, fo 
ließe fich biezu der Banernfrieg benügen, dieſe einzige 
Erſcheinung in der Geſchichte des beutfchen Volkes, welche, 
getragen von ben reinften und ebelften Ideen über Frei- 
beit und Menfchenrecht, an der Unreifheit der Zeit, an ber 
inneren Unfreiheit ber kirchlichen Reformatoren, welde hier 
geradezu in Schlechtigfeit überging, aber auch an der Wild» 
beit ſchrankenloſer Rachfucht und an der Uneinigkeit, wos 
durch die Unternehmung fich felbft trübte, tragifch gejcheitert 


XxLIII 


iſt. Der Bauernkrieg wäre eine Situalton, welche alle 
Ideen ber fpäteren politifchen Revolution, felbft bie neues 
fien des Communismus nicht ausgefchloffen, im Keime ents 
hält; fie wäre fymbolifch in dem erlaubten Sinne, burd 
welchen die Wahrheit, die individuelle Haltung und ber 
biftoriiche Charakter der wahren Poefie nicht aufgehoben 
wird. Der Bauernkrieg wäre nur beßwegen ein Symbol 
der modernen Revolution, weil er wirklich der Anfang ders 
ſelben iſt. Fauſt nun müßte vorher von der Reformation 
ergriffen und begeiftert fein und würde mit Jubel biefe 
Frucht derfelben, bag Erwachen der politifchen Perſoͤnlich⸗ 
keit im Bolfe begrüßen, er würde als Anführer an bie 
Spige einer Bauernfhaar treten. Seinem Enthufiasmus 
müßte der Dichter die Züge des Feuergeiſts jener Zeit, 
defien Schwert die Nede und deſſen Rebe ein Schwert 
war, bes Ulrich von Hutten, leihen. Jetzt würde Mephi⸗ 
ſtopheles feine alte Rolle fortfegen. Die Situation wäre 
wie gemacht dazu, Er würde bald an Fauſt's Hibe noch 
fhüren und ihn dadurch zu wirklichen Ungerecdhtigfeiten, zu 
Handlungen der Graufamfeit hinreißen, wozu ihm feine 
Stellung alle Gelegenheit böte; bald würde er feinen En⸗ 
thufiasmus verhöhnen und verlachen und ihm bie ganze 
Unternehmung als einen Ausbruch) thierifcher Degierben in 
den Staub berunterziehen. Er würde zugleich Die Bauern 
zu Greuelthaten hetzen, fein Werk wäre es, wenn fie zus 
erft auf reiche Klöfter Iosftürzen, die Keller ausfaufen, bie 
Pfaffen raftriren u. |. w. Würde nun Fauft, durch dieſe 


XLIV 


Verunreinigung des Werkes zurüdgefchredt, ſich in die Ein⸗ 
famfeit zurüdzieben, und, wie früher ſchon in Wald und 
Höhle, wieder der reinen Betrachtung fich weihen, fo flellte 
Mephiftopheles fich wieder ein und ruhte nicht, bis er ihn 
zurüdgelodt hätte. Endlich aber, nach neuen Verirrungen 
der Unbefonnenheit, der abſtracten Begeifterung, welche 
rückſichtslos die Wirklichkeit verlegt, müßte Fauſt erleben, 
daß die Unternehmung .fcheitert, und daß er felbft mit 
abermals getrübten Gewiffen dafteht. Jetzt würde er fich 
fagen, daß Das ganze Werf ein unreifes war und den Bors 
ſatz faffen, ehe er wieder mit folder Haft in die Wirklich» 
Feit übergreife, fein Inneres durch neue, anhaltende Bes 
ſchäftigung mit ſich felbft erſt noch tiefer zu bilden und zu 
reinigen, Dieß wäre dann der Schluß des Gedichts, nach 
meiner Anficht der einzig mögliche und richtige, Eigent⸗ 
lich abgeichlofien Tann das Drama nicht werben, das habe 
ich in meiner Kritif diefer Literatur binlänglich bewiefen. 

ie Berföhnung des Idegalismus und Realismus in Den 
fen und Handeln, wohin das Ganze ftrebt, kann nur ale 
Merfpeetive in Ausficht geftellt werben, theils weil Fauft 
überhaupt nicht. ber Held der Verſöhnung, fondern ber 
Entzweiung ift, theild weil bie Darftellung der Berföhnung 
als eines ruhenden, fertigen Zuftandes ebenſo philofophiich 
unwahr als poetifch matt wire Pen Schluß nun würbe 
dieſe Perfpectine gewiß in bet richtigen Weife eröffnen. 
Was Kauft als einzelne Perfon betrifft, fo würde er ein 
Dandeln mit männlicher Befonnenheit, mit Anerkennung 


XLV 


ber Grenze und bed Maaßes als künftige Aufgabe anſe⸗ 
ben. Zugleid würde das Gedicht ben Haupts Faden nicht 
ganz fallen laſſen, ber fi) ja wefentlich dur Pas Ganze 
hindurchziehen fol, nämlich Fauſt's Wiffenstrieb und den⸗ 
kende Natur, wodurch er ſich von jedem andern dramati⸗ 
fhen Helden unterſcheidet und jedes gegebene Verhaͤltniß 
in das Demwußtfein und den Gedanken zu erheben fucht, 
Durch reineres Denken Fünftig fein Handeln zu veinigen 
wäre fein wohlbegründeter Vorfag, Man würde nun mit 
Leichtigkeit einfehen, daß Mephiſtopheles und der Her, 
Fauft und Mephiftopheles in ihren Wetten je beide ſowohl 
gewonnen als verloren haben, 

Allein Fauſt ift nicht bios dieſer Einzelne, er iſt der 
Arebende Menſchengeiſt, er ift beſtimmter ber firebende Geift 
in der großen Krife des A8ten Jahrhunderts, ba dem Des 
wußtſein zuerſt feine fubjertive Unendlichkeit aufging, er iſt 
noch näher gefaßt diefer Geift in der beſonderen Beftims 
mung des beutfchen Naturelld, Nun würbe er aber durch 
die letzte politifche Situation, obwohl fie der deutſchen Ges 
fchichte angehört, vermöge ihrer vorbildenden Beziehung 
auf die franzöfifche Revolution ftarf in den franzöſiſchen 
Charakter übergeben. Der Schluß jedoch wäre, daß der 
franzöfifche Charakter zwar raſch und entichloffen banbelt, - 
aber fich überſtürzt und die Früchte nicht ärndtet, weil die 
innere Bildung, aus welcher die That fließt, nicht rein 
und veif if. Es würde in Ausficht geftelt, daß vielleicht 
Das deutſche Bolt, das fo lange in politiichem Schlummer 


XLViI 


begraben nur in den Bergwerfen ber inneren Bildung 
‚arbeitete, eimft noch beweifen werde, daß es auch handeln 
/ am ‚ dag aber feine Handlung reiner und fruchtbarer fein 
I wird, weil eine lange, gruͤndliche, tiefe Bildung des Den- 
i4 fen diefer Handlung voranging. So wäre biefer Fauſt 
. und biefer Schluß ein Vorbild und Zeichen unferer Sof 
nungen und Zufunft. 

Wie wenig mir folhe, in der Idee dieſer Tragddie 
ganz nothwendig begründete Conſequenzen bei der Abfaſ⸗ 
fung diefer Kritifens Reihe ſchon klar waren, beweist nas 
mentlih die Bemerkung Th. II, ©. 212, wo behauptet 
wird, rein praftifche Situationen, wie die eines Feldherrn 
oder Herrſchers taugen für den Helden nicht, weil innere 
Zerwürfniffe fein eigentliche Pathos ſeien. Fauft muß 
freilich Alles, was er angreift, hoch und geiftig faſſen, fa 
in's Excentriſche treiben und eben dadurch fih in Schule 
verfiriden, allein ber Uebergang in dag Leben und Die 
Handlung ift ja gerade feine Beftimmung und fein Ziel. 
Monarch freilich durfte er nicht werden, aber aus andern 
Gründen; follte er übrigens je einen Thron befleigen, fo 
müßte er aus allzugroßem Liberalismus, wo er auf ber 
einen Seite Gutes ftiftet, auf der andern Seite das Recht 
verlegen. Goethe hat etwas ber Art in den fünften Act 

. aufgenommen, bie Zerfiörung der Hütte von Philemon und 
Baucis, aber dieß iſt fo trüb allegorifch, wie nur etwas 
in biefem zweiten Theile; aud) benügt Mephiſtopheles die 
Schuld, welche Fauft Durch dieſe That der Ungebuld auf ſich 


XLVII 


laͤdt, gar nicht für ſich als Hauptgrund feines vermeintlichen 
Gewinns der Wette. Ferner babe ich in derfelben Bemer⸗ 
fung ©. 242 gar nicht hervorgehoben, daß Faufll, wenn 
er etwa in bie Situation des Künftlers gebracht werden 
ſollte, nothwendig in die Zeit einer Kriſe ftreitender Kunſt⸗ 
prinzipe verfegt werden muß, denn er ift einmal ber Held 
bes revolutionirenden Geiftes, Goethe felbft hat dieß wohl 
gefühlt, da er ihn allegorifch benügt, den Gegenfag und 
die Berföhnung des Glaffifchen und Romantifchen in felte 
famen Bildern darzuftellen, freilich in derfelben troftlofen 
Art, worin biefer ganze zweite Theil, der in allen Zügen 
ähnliche Bruder der Wanderjahre Wilh, Meifters, verfers 
tigt iſt. Die ganze Sache ift allerdings deßwegen ſchwie⸗ 
rig und faft unausführbar, weil eine folche Kriſe in der 
Zeit, in welcher Fauft fpielt, noch gar nicht vorhanden 
war, alfo die Zeit= Einheit zu gewaltfam zerriffen werden 
muß. Doch im Keime bereitete fi) diefe Krife damals al⸗ 
lerdings vor; die humaniftifchen Studien, die Kenntniß der 
Alten drangen ein, wirkten mit ber Reformation gemein« 
fam, bie aſcetiſche Bildungsform des Mittelalters zu zer⸗ 
fören, unterbrachen aber auch auf lange Zeit die Fortbildung 
der einheimifchen Poeſie. Man müßte Kauft mit Diefen Be⸗ 
firebungen, mit Melanchthon, Reuchlin, Eraſmus in Zufam= 
menhang bringen, wenn man einen Anfnüpfungspunft finden 
wollte, um jene Fünftlerifche Krifis vorbildlich in ihm darzu⸗ 
ftellen, ohne den gefchichtlichen Boden zu verlaffen und da⸗ 
durch den Helden in eine Allegorie zu verflüchtigen. — 


XLVil 


Ueberficht man ben zweiten Theil von Goethes Kauft, fo 
bat man fo ziemlich Alles beifammen, was in dem Bil⸗ 
dungsgange des Dichters ein weſentliches Moment bildete, 
einem Bilbungsgange, der allerdings fo bedeutend war, 
daß ihn Goethe als Symbol allgemeiner Bildungswege 
binftellen durfte, Der erſte Act ſcheint unter feinen ab» 
ſtruſen Allegorieen die lebten jugendlichen Braufe- Jahre 
au verfinnbilblichen, welche der Dichter mit dem Herzoge 
von Weimar verlebte, jene Zeit, wo ee fo manche eble 
Stunde im Dienfte von Wiebhabertheatern, Maskeraden 
w dergl. vergeudete, während fein Inneres in dunkler 
Gaͤhrung die fugendliche Wildheit der Sitten abzulegen, 
die naturaliſtiſche Jugendpoeſie auezufcheiden und die ge⸗ 
Yäuterte Kunſtform durch das Studium der antifen Dice 
tung aufzunehmen ſtrebte; ein Verſuch, ber noch nicht ges 
lingen Tonnte, weil das Verhalten bes Dichters noch zu 
pathologifch war CHeraufbefchtwörang der Helena, Faufl’s 
flürmifcher Verſuch, fie gewaltfam an ſich gu reißen; bie 
Erſtarrung Faufl’s am Ende diefes Acts iſt wohl auf die 
trübe Verfiimmung des Dichters gu deuten, ehe er nad 
Italien reiste). Diefe ganze Situation it aber fo gut ats 
gar nicht benützt. Die Reinigung der Perſoͤnlichkeit durch 
das Leben in den hoͤchſten gefelligen Kreifen, wie es auch 
innerlich gaͤhren und flürmen mag, ift im Taſſo gang ans 
ders und wahrhaft poetiſch dargeſtellt. Der zweite Act 
ſcheint den wirklichen Uebergang zur Läuterung der Phan- 
tafie und ganzen Subjectivität durch Aneignung des anii- 


XLIX 


ken Geiſtes und Kunſtgefühls zu bezeichnen, im Dichter 
durch die Reiſe nach Italien vermittelt. Naturphiloſo⸗ 
phiſche Studien ziehen ſich dazwiſchen, wie ſie den Dichter 
in Italien neben feinen Kunſtſtudien befchäftigten. Der 
Homunculus ift wohl die geiftlofe Philologie im Gegenfag 
gegen die wahre Verjüngung des Alterthums. Der dritte 
Act umfaßt dann die wirfliche Verföhnung des roimanti= 
fihen Gemüths mit der plaftifchen Form, der vierte und 
fünfte erhebt fich in die politiiche Sphäre, wobei dem Dich» 
ter feine minifterielle Thätigkeit für Bergbau, Induſtrie 
u. fe w. vorfchweben mochte. Es find hiermit allerdings 
alle wichtigeren Situationen gegeben, in welde der Held 
noch. zu führen war, aber wie? . 

Sehr derb bin ich mit Enf umgegangen; feine Briefe 
waren aber auch gemacht, eine eiferne Geduld Zu brechen 
Ich ſpreche eine gewilfe Empfindung, hart gehandelt zu 
baben, nur bier aus, — dem H. Leutbecher babe ich es 
nicht beſſer gemacht —, weil der tragifche Tod des Uns 
glüdlichen jest Mitleid erregen muß. Allein das Wort: 
de mortuis non nisi bene gilt in der Literatur nicht. Die 
byperphilofophifche Schrift von Hinrichs habe ich aus Ach⸗ 
tung ‚vor den befannten Gefinnungen biefed Mannes wie 
eine eingefehene und bereute Jugendſünde behandelt. Sch 
fuchte eine glimpfliche Form und dieſe bot ſich als die ges 
fälligfte dar. Freilich hat Hinrichs in feiner Schrift über 
Schiffer fie nicht gerechtfertigt, denn dieſe hält ſich noch in 
derſelben falſchen Manier des Conſtruirens. Was Einzeln 


L 


beiten betrifft, fo wäre wohl Einiges zu berichtigen. So 
babe ich 3. B. in der Kritif vom Falfs Schrift gegen ben 
vielen Mißbrauch, der mit den Worten des Mephiſtophe⸗ 
les: Grau, theurer Freund, iſt alle Theorie u. ſ. w. ge⸗ 
trieben wird, geltend gemacht, bag dieß Worte des Teufels 
feien, der den Schüler verderben will, Allein der Dichter 
macht bier offenbar felbft den Schalf und hat feine Freude 
an feinem Mephiſtopheles; es liegt über ber ganzen Stelle 
ein Zwielicht; Goethe fpricht unverkennbar in diefen Wor⸗ 
ten feine eigene Ueberzeugung aus, doch fo, daß ihn un⸗ 
beftimmt vorfchwebt, etwas Gefährliche und Unwahres 
. müffe neben dem Wahren darin liegen. Daher babe ich 
in der jegigen Redartion die Worte beigefeät: Mephiſto⸗ 
pheles hat zwar immer halb Recht und fo auch hier, aber 
auch um fein Haar weiter. Ich habe mir, wie ich oben 
ſchon gefagt, überhaupt erlaubt, an einigen Stellen, da ich 
mich boch zu einer eigentlichen Umarbeitung nicht berech⸗ 
tigt glaubte, durch ſolche Einfchiebfel zu berichtigen und zu 
ergänzen. Ueber den zweiten Theil hat feither auch ber 
gediegene Rötſcher gefchrieben, Allein ich geftehe, bag mir 
nicht weiter möglich ift, mich mit foldher unfruchtbarer 
Deutung unfruchtbarer Räthſel zu befchäftigen und die mür 
den Lefer mit einer vefultstlofen Prüfung derfelben zu bes 
helligen. Ich achte Rötfcher hoch, aber hier gehen unfere 
Wege ganz auseinander, Sch leſe nichts mehr über die⸗ 
fen zweiten Theil: des Faufl. 

Weun irgendwo bie Berfrhiedenheit ber Empfindungs⸗ 


LI 


weife im ſüdlichen und nördlichen Theile Deutfchlands in 
die Augen fpringt, fo ift es darin, daß aud nicht eine 
einzige Stimme aus dem Norden Fam, welche Zeugniß 
gegeben hätte, daß man bort von Ed. Mörike auch nur 
Rotiz genommen hätte. Die Berliner Jahrbücher fchlugen 
mir fogar die Kritik feines Romans zurück; ich brachte fie 
glucklich noch in den Halliichen unter. Die Anzeige dieſes 
Romans und der Gedichte mag den Beweis felbft führen, 
daß ich diefes ftehengebliebene, obwohl große Talent nicht . 
überfchäge. Allerdings wird man bemerfen, daß mein Urs 
theil über die Romantik zur Zeit der Abfaffung diefer Kri- 
tif noch nicht gehörig reif war. Das feltfame Schattenfpiel, 
das; Theobald und Larfens aufführen, har fehr fchöne Bil 
der, aber die wunderliche, auf Traumwolken fchwebende 
Erfindung der ganzen Situation dieſes kleinen phantaftis 
fchen Drama’ hätte fchärfer beurtheilt werden follen. Die 
fomifhe Figur Wilpels ift ebenfalls zu ungetheilt gelobt, 
er ift doch ziemlich nebels und ffiszenhaft und bedarf der 
ergänzenden perfönlichen Anfchauung der mimifchen Schnurs 
ven, mit denen Mörife diefe Figur in vertrauten afademi- 
fhen Kreifen heimiſch gemacht hatte. Aber Einzelnes, und 
nicht wenig Einzelnes von Mörife iſt vollendet poetiſch 
und wiegt Bände der anderen neueren Dichter auf; dag 
Beſte gehört der naiven Poeſie an, und bier ift eben die 
Grenze zwifchen dem füddeutfchen und norddeutfchen Ur— 
theil; das legtere liebt Pathos und rhetoriſche Wirfung 
Artrifhe Ringe (4) 


Li 


und fucht das Native zwar ebenfo auf, wie Der Sentimen- 
tale immer das Raive fucht, aber auch mur, um ed da zu 
finden, wo nicht ſowohl Naivitaͤt als vielmehr Tünftliche 
Reproduction des naiven Scheines iſt. So hält man z. B. 
im Norden gewöhnlich Hebel’d allemannifche Bebichte für 
naiv und ächt volksthümlich, wo doch jede Spur der Härte 
“und gefunden lieblichen Rohheit des im engſten Sinne natven 
Liedes, des Volksliedes, fehlt. 

Mörifes Bruch und Stoden ift auf dem Punkte zu 
fuchen, wo er aus ber Romantif fi in die gefunde 
Kunftform des immanenten Ideals zu erheben fucht und 
doch mit dem einen Fuße im Traume, im Mährchen 
und in der Schrulle ftehen bleibt. Allerdings iſt auch 
bie Sphäre der vernünftigen Wirklichkeit, in welche fich 
fein Roman unvolllommen erhebt, eine ſolche, welche, 
bereits von früheren Dichtern, am meiften Goethe, durch⸗ 
gearbeitet, offenbar in der Kunft der neueren. Zeit bedeu⸗ 
tenderen, obfectiveren Sphären weichen foll; die Bildungs⸗ 
fämpfe des Subjects in feinen Privatzuftänden find jett 
genug dagewefen, wir wollen Bölferfämpfe fehen. Aber 
wir haben eben die neue Poeſie noch nicht, koͤnnen fie noch 
nicht haben; fo dürfen wir und ja wohl an ber ftellens 
weifen Herrlichkeit diefes Abendhimmels erfreuen. Als Ly⸗ 
rifer aber ift Mörife in einzelnen Liedern abfoluter Dichter. 
Bon der ſchwäbiſchen Gruppe der romantifhen Schule hat 
er das Naive, von der norddeutſchen das traumhaft Phan⸗ 


LII 


taſtiſche, von der claffiſchen Verzweigung unſerer letzten 
poetiſchen Bläthe das rein menſchliche, griechiſch ſchöne Ge⸗ 
fühl Hoͤlderlins, von Goethe die plaſtiſch edle Seelenma⸗ 
lerei in der Schilderung tiefer Empfindungskäͤmpfe, aber 
bier verſagt ihm bie Kraft der Vollendung und des Korte 
ſchritts. a 

Herwegh hat den groͤßeren, zeitgemaͤßeren Gehalt, iſt 
aber fo bildlos und der Unmittelbarkeit, der Objechvität 
baar, welche auch von dem Lyriker zu fordern if, daß er 
als Dichter neben Mörike ganz hinunterfält. Im Vater⸗ 
lande hat er fehr wenig Anklang gefunden, auswärts hat 
man meine Beurtheilung mancher Orten als hart und un⸗ 
gerecht aufgenommen. Eine Reihe von Einwendungen, 
welche jede Berüdfichtigung verdienen, habe ich in die Be⸗ 
urtheilung bes zweiten Theild der Gedichte aufgeführt und 
zu beantworten gejucht. 

Mein Plan zu einer neuen Gliederung Der 
Aeſthetik mag fo lange ſich felbft vertheidigen, bis ich Muße 
gewinne, ihn in einem Handbuche zur Ausführung zu bringen. 
Ich mochte mir nicht verfagen, diefe vorläufige Ankündigung 
bier aufzunehmen, um das Intereſſe auf die Fünftige 
Ausarbeitung hinzulenfen. Zugleich hoffe ich durch die Aufs 
nahme berfelben einigen Beweis zu geben, daß mir bie 
dialeftifhe und arditeftonifche Kraft nicht ganz abgeht, 
welche in den übrigen Arbeiten diefer Sammlung, bie eine 
durch die Leidenfchaft der Ueberzeugung, die andere durch 

.(4)* 


LIV 


die auflöfende Natur der Kritif häufig überfluthet fein mag. 
Auch über den zum Schluffe beigefügten Vorſchlag zu ei⸗ 
ner neuen Oper habe ich bier nichts mehr zu fagen, als 
daß man es dem in das Technifche der Mufif nicht eingeweih⸗ 
ten Berfaffer verzeifien möge, wenn er ſich zu wenig auf 
die fpezielle muſikaliſche Durchführbarfeit einläßt. Er glaubt 
aber fo viel Sinn und Verſtaͤndniß der Muſik zu haben, 
um behaupten zu dürfen, daß der bier empfohlene Stoff 
von muſikaliſchen Motiven fprubelt. Ob unfere Zeit einen 
Componiſten für einen ſolchen Stoff hat, ift eine andere 
Trage, und der ganze Gebanfe wird wohl ebenfo wie bie 
Idee eines politifchen Luftfpiels ein frommer Wunſch blei- 
ben. Aber ein frommer Wunfch if noch fein dummer 
Wunſch; Wünfche find auch Thatfachen, bie. Wanſche einer 
Zeit ſind die Seele einer Zeit. 


Tübingen, den 30. Juli 1844. 


Dr. Wilder. 


L. 


zur Theologie. 


Kritifche Gänge. 1 


Dr. Strauß und die Wirtemberger. 


(Balliſche Jahrbücher für deutſche Wiffenfchaft und Kunſt. Jahrg. 1858. Nr. 57 ff.) 





Strauß bat fich durch feine Schrift über das Leben Jeſu den 
Befreiern des Geiftes vom Buchftabendienfte auf eine der Aufgabe 
des Iahrhunderts würdige Weiſe angereibt. Er gehört der Zahl 
jener repräjentativen Menſchen an, welche die verſchiedenen Radien 
eined langen Culturprozeſſes zu einem Brennpunkte vereinigen 
und, indem fie dad Gegebene und Vorbereitende zu einem bes 
ftimmten Refultate abſchließen, eben dadurch eine Reihe neuer 
Wirkungen eröffnen und ſchöpferiſch auftreten. Zugleich theilt ex 
mit allen ihm verwandten Borkämpfern in der Gefchichte des Geiftes 
dus 2008, daß diejenigen mitlebenden Generationen, bie in einer 
dem Principe nach zurückgelegten und veralteten Geftalt des Geiftes 
wurzeln, nur die negative Seite feiner Erſcheinung aufzufaſſen 
vermögen, und, indem fle die pofitive Baſis überfehen, in ihm 
nur einen zerftörenden Geift erbliden. Die Charakteriftif, die Ich 
bier verſuchen will, ift nicht für dieſe Greiſe des Jahrhunderts, 
fondern für diejenigen, welche, ſelbſt fugendlich, das Jugendliche 
und Breiheitöfräftige in biefer Erſcheinung anzuerkennen und 
Öffentlidy zu begrüßen wagen. Indem fle aus dem Privatleben 
dieſes Mannes, das ich von Kindheit an faft durch alle feine 
Stationen aus der unmittelbarften Nähe zu beobachten Gelegenheit 
hatte, jo viele aufnehmen wird, als für die Entwicklungsgeſchichte 

1» 


4 


feines Geiſtes ein Moment bildet, hat fle am allerwenigften bie 
Abficht, diejenigen feiner Gegner zu widerlegen, welche in ihren 
Invectiven das wiffenfchaftlihe Gebiet verlaffen, ihren Beind vor 
das Forum des Gewiſſens gezogen und durch eingeſtreute Winke 
feinen Privatcharakter verdächtigt haben: die wohlbekannte, alther⸗ 
gebrachte Taktik des Fanatismus. Menzel hat in dieſer Richtung 
das Aeußerſte getban, und dietolle Wuth der evangeliſchen Kirchen⸗ 
zeitung iſt gegen bie Perfibie feiner verdächtigenden Seitenhiebe ehrlich 
zu nennen. Wer bie tiefe Verworfenheit eines ſolchen Verfahrens 
nicht von felber fühlt, wer im Angeſichte der Deffentlichkeit folche 
gehrandtmarfte Waffen zu führen die Schamlofigfeit hat, mit dem 
bat weder bie Literatur, noch bie Gefelichaft irgend ein weiteres 
Wort zu reden. 

Der ſtrengen Wiſſenſchaft überlaſſe ich das Gefchäft, die 
Straußiſche Leiftung aus der Gefchichte der Theologie und Phi- 
loſophie als nothwendiges Mefultat bisheriger Entwicklung zu 
begreifen: eine jchöne Aufgabe für einen unbefangenen, über 
dem Einzelkampfe befangener Kritik ſtehenden Dogmenhiftori- 
ter. Ich abfirahire von diefer rein ſcientiviſchen Geite und 
frage: wie kam es, daß gerabe diefe Perfönlichkeit von bem 
Geiſte ver menfchlihen Bildungsgefchichte zu dem Organe berufen 
wurde, das jenes Nefultat ziehen ſollte? Welche Erziehung genoß, 
wie reifte diefelbe zur Erfüllung ihrer Aufgabe heran? Es erhellt 
Wer ſogleich, daß wir bei dem Individuum nicht flehen bleiben 

Muͤrfen, daß wir vielmehr auf den Boden ver näheren und weiteren 
Vmgebungen hinausblicken müflen, in welchem biefes Individuum 
wurzelt um heranwuchs. Unſere Frage beſtimmt fich alſo ſogleich 
welter zu ber andern: wie kommt «3, daß gerabe dieſer Theil von 


35 


Deutſchland und näher dieſe Provinz dem Vaterlande und der 
Menſchheit ein ſolches Individuum ſchenkte? Strauß iſt von feinen 
Landsleuten zuerſt und am zahlreichſten bekämpft worden; dies 
konnte man mir ſogleich als Beweis entgegenhalten, daß dieſe 
Frage gar nicht aufzuwerfen ſei. Strauß mag feine Anfichten 
geholt haben, wo er will, wird man mir einmwenben, in Schwaben 
bat er fie nicht geholt. Schwaben hat e8 freilich von jeher gelicht, 
feine edelſten Kinder zu verläugnen. Es hat Schiller erzeugt und 
fortgeſchickt, es hat, Schelling und Hegel erzeugt und fortgeſchickt, 
es hat Strauß erzeugt und graufam aus feiner Laufbahn geworfen. 
Es iſt nicht die erfte Mutter, die ihr eigen Kind verftößt. Daß 
eine geiftige Gemeinſchaft eine Erſcheinung, bie aus ihrer eigenen 
Mitte hervorgegangen Ift, nicht anerkennt, daß fie in dem reifen 
Propufte der in ihr ſelbſt gährenden Elemente dieſe nicht wieder⸗ 
findet, daß fle ihre eigenen Züge In ihrem Sohne nicht wieberer- 
fennt, kann nur denjenigen befremden, ber. nicht begreift, wie bas 
Gemwordene zugleich etwas ſpecifiſch Neues fein kann, das über bie 
Subſtanz, aus der e8 hervorgegangen, hinausgeht und-eben darum 
in einen Gegenſatz gegen biefelbe tritt, weil dieſe felbft bloß der 
Factor, nicht das Facit if. Kant erkannte in Fichte, Fichte in 
Schelling, Schelling in Hegel nicht den Vollender feines Princips. 
Statt uns durch die Befehdung, die Strauß gerade von feinen’ 
Landöleuten erführt, in der Meberzeugung, daß fein Unternehmen 
nicht zufällig von Schwaben ausging, irre machen zu lafien, wer⸗ 
den wir vielmehr eben dieſen Widerſpruch in einem weiteren und 
allgemeineren begründet fehen, in welchem bie ſchwaͤbiſchen Zuſtände 
mit fich ſelbſt fichen, einem Wiberfpruche zwifchen ber Freiheit und 
Ziefe Des Naturells, die im Einzelnen häufig zur erfreulichiten 


6 


Heife gedeiht, und einer Verknöcherung und Verfaurung, welche 
vielfach mit Recht getabelt wird, aber felbft wieder nur die Kehr⸗ 
feite beſſerer Eigenſchaften iſt. Jede wahre Charafteriftif wird die 
Mängel ihres Gegenftandes nur als die andere Seite feiner Vor⸗ 
züge und umgekehrt ſchildern. Dies wird auch meine Aufgabe fein, 
und ich Hoffe daher nicht als befangen und parteiiſch zu er» 
feheinen, weder gegen meine Landsleute, noch gegen die Norb- 
beutihen. Den Gegenfag der norddeutſchen und ſüddeutſchen 
Natur und Bildung zu grünblicherer Debatte zu bringen, halte ich 
für zeitgemäß ; die Sache tft, namentlich durch die Ausfälle einiger 
hungen Schriftfteller auf vie ſchwäbiſchen Dichter, ohnedies anges 
regt, es tft manches Wahre neben vielem Unwahren ausgefprochen 
worden und bereitö böſes Blut vorhanden. Hat man und dies 
und das mit Hecht zum Vorwurfe gemacht, fo haben auch mir 
bied und das gegen die norddeutſche Art zu ſagen; fo kann denn 
ein Verſuch, die Sache einmal in der Wurzel zu faffen und den 
Kampf der Oereizten mit Befonnenheit zu einer Nationalfrage zu 
erheben, nicht am unrechten Orte fein. Wie die wahre Betrachtung 
von Differenzen zwifchen ganzen Völkern nur die fein Tann, wenn 
man nachweiſt, wie die Mängel und Vorzüge auf beiden Seiten 
fih durch gegenfeitigen Austaufch ergänzen würben, fo wirb ein 
Selativer Gegenfab größerer Stämme innerhalb eined Volkes, in 
dieſem Sinne zur Sprache gebracht, aus den Reibungen ber Pri⸗ 
vatleidenſchaft zu einem heilſamen Austauſche gegenfeitiger Zuges 
Kändniffe und einer vernünftigen Bemühung führen, fich gegen» 
feitig zu ergänzen. Kann ich mich nicht zur Höhe des ganz 
Unparteilfchen erheben, jo mag die Ienfeitigen das Geflänbniß 
verjühnen, daß ich 68 mir nicht zur Ehre fhägen würde, aus ber 


& 


7 


Subflanz meines Stammes ganz heraus zu fein, wäre dies auch 
möglich; hebe ich das Enge, Trifte in unferen provinziellen Zu⸗ 
ſtaͤnden wielleicht nicht ohne Bitterkeit hervor, jo bürfen die Dies⸗ 
feitigen glauben, daß ich dennoch heute, wenn ich vom Vaterlande 
ſcheiden müßte, nah den Rebenhügeln des Nedars, nad ben 
weichen und zutraulichen Klängen ber heimifchen Sprache, nad 
all der behaglichen Vetterlichkeit und Bäslichkeit mic) mit ganzem ' 
Herzen zurüdjehnen würde. Darum aber muß ich inftändig bitten, 
daß Niemand, was ich von relativen Gegenfügen des norbbeutfchen 
und ſüddeutſchen Nature fage, abfolut nehme, oder deſſen Rich⸗ 
tigfeit an Individuen meſſe, in denen das Daterländifche bis zu 
einem Minimum verwifcht ift. 

Ich werde bei diefer allgemeinen Seite Länger verweilen, als 
nothwendig wäre, um den Verf. des Lebens Jeſu, wie feine Natur 
und Bildungsgefhichte prowinziell bebingt ift, zu charakterifiren. 
Die Eharakteriftifen, welche dieſe Zeitfhrift zu Tiefern ſich vorge⸗ 
nommen hat, dürfen wohl etwas von der Natur des Epos an- _ 
nehmen, file dürfen in das Privatleben, das Subjective, die Breite - 
gegebener Zuftände eingehen, allerlei Nebenwege und Fußpfade 
einſchlagen, mitunter wohl auch an einer grünen, fehattigen Stelle 
ſich etwas niederlaſſen und dem Gefange ver Vögel horchen, wenn 
fie nur nicht allzuſpät wieder in den vorgefeßten Weg einlenfen ; 
ber ftrenge dramatiſche Gang und die gemefiene Eile nach dem 
mörberijchen fünften Acte mag den Kritiken überlaſſen bleiben. 

Das ſüddeutſche Naturel im Allgemeinen repräfentirt gegen- 
über dem norbbeutfchen Die Kräfte ver Sinnlichkeit im niedern wie 
im höhern Sinne, frifche Genußfähigkeit, fo wie Friſche in denje⸗ 
nigen Thätigfeiten des Geiftes, welche den Gedanken involvirt in 


8 


finnliche Form, in der Geftalt des Unmittelbaren zu Tage bringen: 
im Elemente ethifcher Empfindung das Gemüth, im Elemente der 
Kunft die Phantafle. Wir Einnen alles in den Begriff der Naivie 
tät zuſammenfaſſen, wenn nur nicht überfehen wird, daß diefer 
Begriff auf bie verfchlenenften Stationen geiftiger Bildung An⸗ 
wendung finden kann, daß er Feineömegd bloß den Zuftand der 
Kinder bezeichnet, fondern eine Tinctur, eine allgemeine Atmo⸗ 
fphäre, welche auch über eine reich entwickelte und vielfach reflectirte 
Bildung ausgebreitet fein Tann. In diefen Elemente wird nicht 
nur der zerfeßende Berftand weniger hervortreten, fondern auch der 
bandelnde Wille nicht fo flraff angezogen und decidirt fein, als 
wo die ganze Bildung aus der Sphäre der Naivität heraus ift. 
Der Dichter fchlendert, geht ſpazieren, fteckt die Hände in die Tafche 
und gafft nach den Vögeln, darüber ftößt er leicht die Naſe an 
und wird ausgelacht. Nicht ald ob er im Blauen nach leeren 
Idealen tagte, er ſucht das Große auch in der Gegenwart und 
will, daß es geichehe. Laßt die Idee auch in der Politik einen neuen 
Aufſchwung nehmen, und fein offenes Gemüth wird fich ihr freu⸗ 
dig aufthun. Süddeutſchland war im Mittelalter nicht nur in rein 
geiftigen Dingen, fondern auch im politifcden Leben der claſſiſche 
Boden Deutſchlands; der Mangel an Raſchheit des Willens und 
Entſchluſſes, welchen die ſüddeutſche Naivität mit fich führt, kommt 
in ganz anderen Gebieten, ald denjenigen zum Borfchein, wo das 
Leben in's Große geht und Ideen berrichen. Darauf werben wir 
wieder zu fprechen fonımen. Man kann auch in der Politik ein verſtän⸗ 
diges und ein poetifhes Princip unterfheiden: jenes tft das Princip 
des über bie Individuen übergreifenden abftract Allgemeinen, dieſes 
bad Princip der Individualität, wenn man will, das bemofratifche. 


9 


Beide Principien zu vereinigen, tft die Aufgabe des Staates. Im 
Mittelalter berrichte das zmeite fo tiber das erfte vor, daß von 
Staaten: hier kaum geſprochen werben kann: atomiflifcher Eigen- 
wille der Einzelnen, die einander nicht entbehren konnten und doch 
durch Fein zwingendes Band der Allgemeinheit zufanmengebalten 
waren. Die moberne:Zeit fehuf eigentlich erft viefes Band, neben 
welchem aber in den conftitutionellen Staaten des füdlichen Deutſch⸗ 
lands jenes Moment der Individualität als Liberalismus kämpfend 
fortdauert, in Norddeutſchland dagegen, wo die gefchichtlichen Be⸗ 
dingungen ganz andere find, entſchieden zurücktritt. Wenn ich hier« 
mit dem ſüddeutſchen Naturel auch im Politifchen das poetifche 
Moment vindicire, fo will ich damit Feinedwegs fagen, daß Süb- 
deutfchland die Poefle gepachtet habe, aber daß es der claſſiſche 
Boden der Poefle im eigentlichen Sinne war während des Mittels 
alters, weiß die Geſchichte. Von der Reformation an wurde ed 
anders. Mit ihr trat das Princip der Neflerion, Kritik, ded Ver⸗ 
flandes, der Subfectivität, die ihre naiven Zuftände audgetreten 
hat und das Allgemeine in Form des. Gedankens ſucht, in bie 
deutſche Geifteöwelt ein, und mit ihr rückte der Heerd der deutſchen 
Bildung immer mehr nah Norden. Preußen, der Staat bed 
Proteftantismus ‚. durch die Gewalt des Verftandes auf unbedeu⸗ 
tenbe Bergangenbeit und mageren phyſiſchen Boden gebaut, erhob 
ſich als Centrum der norddeutſchen Bildung, und es entwickelte 
ſich der große Gegenſatz des norddeutſchen und ſüddeutſchen Geiſtes. 
Derjenige Theil von Süddeutſchland, wo die Reformation nicht 
durchdringen konnte, iſt von nun an nicht mehr der Heerd ter 
deutſchen Intelligenz; mag das Gebiet der Empirie mit großer 
Grünblichkeit und großem Erfolge angebaut werden, mag bie 


* 


10 


Kunft mit veicheren Kräften der Sinnlichkeit fortblühen, mag ein 
frifcherer Lebensgenuß dem norbbeutichen Gaſte ein Capua bereiten, 
mag alles Liebenswürdige der naturfrifchen Kraft, der Natvität, 
ber ſchlichten Gediegenheit feinen Reiz über diefe Gegenden aus⸗ 
breiten: die Geſchichte des deutſchen Geiftes bat hier nicht mehr 
ihre Seimath, und der proteflantifhe Gaſt muß in dieſem Epiku⸗ 
reiſchen Elemente dennoch von Heimweh ergriffen werben. 

Bon diefen Tatholifch gebliebenen Theilen fondert fih nun vor 
allem Wirtemberg, das alte Wirtemberg mit Ausnahme feiner 
oberſchwäbiſchen Erwerbungen, wo noch ein heiterer Katholicismus 
lebt (von den fränfifchen wird nachher die Rede fein), auf eine 
eigenthümliche Weife ab, oder vielmehr es bilvet ein intereflantes 
Bermittlungsglied zwifchen dem Norden und Süden. Der Eigen- 
thümlichkeit des Südens, der Sphäre der Naivität gehört es noch 
jet unzweifelhaft an; noch wird jeder Norddeutſche hier das füh- 
deutſche Behagen, das gefunde Phlegma, die frifche Genupfähigkeit, 
das Gonerete und Compreſſe einer feft in fich zufamengehaltenen 
Gemüthöwelt, ex wird vie wefentlichften Elemente des Mittelalters 
bier finden; wie wirb er fich aber täufchen, wenn er darum meint, 
ein Naturvolk vol heiterer IUufionen über die wichtigften Angeles 
genheiten des menfchlichen Geiftes zu treffen! In dieſem weichen, 
fheinbar durchaus behaglichen Elemente wird er auf die ſerupu⸗ 
Köfefte Dialektik, auf die tiefften Zweifel, auf das weiteſte Interefie 
an ben fpibigften Fragen moderner Bildung, auf eine melando- 
liche Entjagung, er wird auf fo viel Hamlet und Fauſt floßen, 
daß feine etwaige Luft, fich zu der erwarteten Raivität ironiſch zu 
verhalten, leicht ſelbſt als Natvität Eönnte zu flehen Eommen. Die 
Sache ift einfach: Wirtemberg nahm bie Reformation mit einem 


11 
Eifer, einer Entſchiedenheit auf, wie Fein anderer fübbeutfcher 
Staat. Die Religion, die Confeſſion ift eine Probe des Menfchen, 
fie ift fein äußerlich umhängender Mantel, fie geht bis in bie 
Fußfpite. Das Princip der Subjectivität, der Breihelt, der Re⸗ 
flerion in fich, der Losfagung vom Gegebenen und bloß Pofitiven, 
ift identiſch mit dem bed Proteftantismus, fo Inconfequent diefer, 
wie er gefchihtlich auftrat, in der Durchführung dieſes Principe 
verfahren mochte. Der Proteftant ift ein für allemal entjchlofien, 
aus der finnlihen Anſchauung, aus der Meinung, daß geiftige 
Wahrheiten ein äußerlich Gegebenes, ein Stoff, ein Ding feien, ſich 
in fich ſelbſt zurückzunehmen und nichts als wahr anzuerkennen, 
was nicht ein Proceß des eigenen Bewußtſeins, eigenes Thun, 
felöfterlebt und ſelbſtbegründet iſt. Er ift aus der Strömung der 
Subftanz heraus und auf die eigenen Füße getreten, hat die Autos 
rität abgeworfen und den Weg des Zweifeld betreten, der zwar 
burh Dornen, aber doch allein zur Freiheit des Geiftes führt. 
Man kann nun jagen: dad Nuturell ded in unfern Gegenden 
angefledelten Volksſtammes hat eine befondere Empfänglichfeit 
für dieſes weltgefchichtlihe Princip in ſich getragen, oder: bie 
Aufnahme dieſes Princips bat unjer Naturell aufgeweckt und 
und die Augen aufgethan; ohne Zweifel ift beides richtig. Die 
Auswanderungs⸗ und Reiſeluſt der Schwaben beurkundet einen 
angebornen Sinn in die Weite, einen Trieb, zu erfahren, was 
b’nter ven blauen Bergen ſei, und hängt gewiß mit dieſem gei⸗ 
fligen Freifinne zufammen. Das Eigenthümliche aber ift, daß 
hier ſcheinbar widerſprechende Kräfte ineinander verwachſen find: 
das Moment der tieferen Meflerion, ver Freiheit von Autoritäten, 
der Kritik, der Innerlichkeit, und zugleich vie Kräfte des Mittel- 


12 


alters, die Naivität, die Naturfrifche, die Naturbehnglichkeit, das 
einfachtreue, fchlichte, alte, körnig fubftantielle, gebrungene Wefen. 
Will man den Sinn des Wirtembergerd in ein kurzes Wort zu- 
fammenfaffen: e8 iſt, was ber unlösbarfte Widerſpruch fcheint, 
das Moment der Reflexion in fi, des freien und Eritifchen Gelbfi- 

beiwußtfeind | ; in ber Born ver Naivität..-E8 ift hier nicht der Ort, 

bie die Frage zu löſen, wie ſcheinbar fo disparate Elemente ineinander 
implicirt fein önnen; wer aber überhaupt erwägt, wie bei allem 
raffinirten Nivellement der modernen Zeit, wodurch alle Naivität 
und nafionelle Beſonderheit aufgehoben zu werden fcheint, dennoch 
ber Engländer Engländer, der Sranzofe Franzoſe, der Italiener 
Italiener in al feinen Thun und Wefen bleibt, der wird auch 
dieſe Erfcheinung nicht unerflärbar finden. 

In dem Kleinen Gemälde der ſchwäbiſchen Art und Bildung, 
bag ich hier entwerfen will, werben wir auf eine Dienge von 
Widerſprüchen ftoßen, ohne und, nachdem wir biefen höchften 
nicht befrembend gefunden haben, dadurch irren zu laflen; -viel- 
mehr werben wir entgegengefegte Eigenfchaften, wo fie und be- 
gegnen, Teicht außeinander ableiten und als die Kebrfeiten einer 
und derjelben Grunbeigenfchaft einfehen. Das Individuum, defien 
bebeutende Leiftung uns zu biefer Schilderung die Veranlaffung 
gab,. werben wir Dadurch nicht zu weit aus den Augen verlieren, 
fondern die Summe der gefammelten Bemerkungen wird und zur 
Beleuchtung dieſes Charakters weſentliche Dienfte. leiſten, wir 
werden eben jene Doppelnatur des ſchwäbiſchen Weſens in ihr 
aufs reinfte repräfentirt finden: auf der einen Seite ben poeti⸗ 
ſchen Tieffinn, auf der andern bie Kraft und Kühnheit des Zwei⸗ 
| feld, ver Kritil. Ich weiß wohl, daß man Stranf vie erftere Seite, 


13 


ben Poetiſchen Tieffinn, ganz abgeſprochen und ben bloßen Scharf« 
finn vindicirt hat, aber ich Hoffe, wir werben dies anders finden. 
Greifen wir indeſſen nicht voraus. 

Das tm allgemeinen Umriſſe oben geſchilderte ſchwaͤbiſche Na⸗ 
turell aus den Charakter der Race, der umgebenden Natur, der 
Lebensart u. f. w. gefchichtlih zu erklären, überlaffen wir dem 
Siftoriker, und deuten nur voübergehend auf die geographifche 
Beitimmtheit des Landes hin. Wir haben Berge. Dieß ift wich« 
tiger, ald man glaubt, auch für die geiftige Entwidelung. Berge 
wirken mächtig auf die Phantafle, die duftigen Conturen anı Saunite 
des Horizonte führen die Seele ind Unendliche hinaus und ſtimmen 
poetifh. Wir find aber Fein Gebirgsvolk, d. 5. Fein durch großes 
und zufammenhängendes Gebirge von ber Eultur abgefhlofienes 
und in kindlicher Naivität zurückgehaltenes Boll. Die deutſchen 
Stänme, welche fo wohnen, hat ein unglückſeliges 8008 getroffen. 
Die Naivität kann ihrer höchſt verführbaren und widerſtandsloſen 
Natur nach dem modernen Elemente in die Länge nicht verfchlofien 
bleiben. Da nım diefe Stämme bafjelbe nicht von innen heraus 
entwickelt, fich nicht aus fich felbft gebildet haben, fo kommt 
ihnen die Gultur als ein verderblicher Giftftoff von außen; fie 
nehmen ihre fehlimme Seite, dad Naffinement, die Corruption, 
wie Wilde den Branntwein, zuerft auf, ehe die gute einzubringen 
vermag. Eine Sündfluth von Reifenden trägt den Schlamm ber 
Bildung in die Schweiz, und wir fehen bie Rohheit der Natur mit 
den Laftern der Cultur im häplichften Bunde. Seit einiger Zeit 
wird Tirol immer mehr zu Reiſen empfohlen; wie lange wird es 
dauern, fo wird man flatt der alten Tiroler Menfchen finden, die mit 
ihrer ehemaligen Naivität coquettiren, mit Ihrer Nationalität, ihren 


44 


Toͤchtern Handel treiben, an jebe ihrer Naturfchönheiten eine Bube 
ſetzen, um fich den Anblick bezahlen zu laſſen, und meber Natur- 
menschen mehr noch gebildete Mienfchen find. Es muß ja jo fommen, 
die liebe Natur muß der Bildung weichen, aber herzzerreißend ift 
diefer Anblick eines verfpäteten Uebergangs der Natur in eine über- 
reife Eultur. Bald werden alle romantifche Trachten in Europa 
verſchwunden fein; es fei denn, aber ven Türken, ber noch ben 
Turban, dazu aber einen Brad trägt, willich nicht fehen. Wirtem- 
berg liegt vom großen Verkehre allerdings zu fehr ab, um bie 
nivellirende und raflrende moderne Bildung in dem Grade, wie 
3.2. Baden, aufgenommen zu haben; aber e8 nahm von jeher 
an allen geiftigen Fortſchritten Deutſchlands fo pofitiven Antheil, 
daß es das Glück genießt, feine naive Eigenthümlichkeit bewahrt, 
und doch, indem es ſich von innen heraus felbft bilvete, frühzeitig 
genug vom Baume der Erfenntniß des Guten und Böſen gegeflen 
zu haben, um in den Steigerungen moberner Cultur beides unter- 
ſcheiden zu können. 

Unſer Klima iſt günſtig, unſer Boden fruchtbar; wir erzeu⸗ 
gen Wein und trinken Wein. Der Schwabe iſt lebhaft und 
flink wie alle Weintrinker; nur durch die blöde Oberfläche, die Ab⸗ 
neigung gegen alle Affectation, die er irrig auf jene gewandte Form 
überträgt, die Schamhaftigfeit gegen jede allzu haftige Beweglich⸗ 
feit des geiftigen Intereſſes fcheint er phlegmatifch. Doch bietet unfer 
Boden Leinen Teicht zu eriwerbenden Genuß, die Uebervölkerung 
fordert mühfamen Fleiß. Der wirtembergifehe Bauer und Wein- 
gärtner ift durch feinen Fleiß berühmt, aber auch ben andern Stän⸗ 
den darf man Liebe zu angeftrengter Thätigkeit nachrühmen. So 
arbeitet die Natur im harten Kampfe fih ab, der. Wille fühlt ſich 


19 


und das gluͤckliche, aber unfrele Behagen eines Naturvolks Legt 
weit hinter ung, Wir haben feinen Ueberfluß, um Epikureiſch 
geſtimmt zu werben, und doch reichlich genug, um, wie alle Suͤd⸗ 
beutfehen, in der Kargheit des norddeutichen Flachlandes uns un⸗ 
heimlich zu fühlen. Man darf dem Oberdeutſchen nicht fo übel 
nehmen, daß er mit einem Fleinen Schauder an die ſchmalen Biſſen 
im Norden denkt; er fühlt, daß ed nicht das Schlimmfte in feinem 
Nature ift, was mit der reicheren Fülle feiner Genüffe zufammen« 
bängt. Ich erinnere nich, wie mich im Theater zu Berlin bei der 
Aufführung eines glänzenden Ballets plößlich der Gedanke überfiel: 
jo viel Pracht, und doch haben fle feinen Wein! Die Nebenhügel 
des milden Schwabens thaten fi vor mir auf, ich hörte das 
Jauchzen der Winzer, ein fehmerzliches Mitleid mit den Bewoh⸗ 
nern dieſes Fargen Bodens, ein großes Heimmeh kam über mid. 

Der ſchwäbiſche Dialekt fpricht treu wie jeder Dialekt den 
Volksgeiſt aus. Ich fpreche von dem Dialekte in Alt= Wirtemberg, 
der zwiſchen dem des oberen und unteren Neu⸗Wirtemberg in der 
Mitte fteht. Die rauhen und harten Töne, das Unfrete und Schwere 
des oberſchwäbiſchen hat er ausgeſtoßen und neigt fich zu den wei⸗ 
cheren Formen des fränkiſchen. Die Nähe Sranfens, deffen beweg⸗ 
lichere und zugefpigtere Sprache, deſſen freiere Form und Sitte den 
Uebergang zur norbbeutfchen Art bildet, jo wie bie frühen Ein⸗ 
flüffe ver Reformation als der Mutter des neuhochdeutſchen Sprach“ 
niederſchlags haben hier den alemanniſchen Dialekt aufgeweicht 
und anfgeflärt, ohne ihm das Zutrauliche, Heimliche, Offenherzige, 
Liebkofende, Naive zu nehmen. So durchdringt ſich auch bier 
das Freie, Selbſtbewußte, Meflectirte mit dem finnlih Behag⸗ 
lichen, das Straffere mit dem behäbigen Schlendern. Die Nord⸗ 


16 


deitihen ſind in der Nachahmung unfered Dialekts beſonders 
ungtüdtih; Altbairiſch, Deſtreichiſch, Schweizeriſch, weiß der 
Simmel wad noch, wird für Schwäbiſch ausgegeben, und die 
Schwaben ärgern fih darüber, weil der Dialekt zu der inner- 
fen Individualität gehört, und man ja Niemand zwingt, unfern 
Dialekt nachzuahmen, ber es nicht verfieht. Zu den bezeih- 
nenden Erſcheinungen gehört auch dies, daß vielleicht mehr als 
irgendwo in Deutſchland (die Schweiz und Oeſtreich ausgenom⸗ 
men) auch die gebildeten Stände den provinziellen Dialekt reden, 
jo daß auch nach diefer Seite das Neflectirte und durch Bildung 
DBermittelte im Elemente ber Unmittelbarkeit verblieben iſt. Der 
Norddeutſche befindet fih in Beziehung auf die Sprache in einer 
ganz andern Situation. Da der ober- und fühbeutfche Dialekt es 
war, aus dem das jeßige Hochdeutſch mit ungleich geringerem Ein- 
ſchlage des Plattveutfchen fih gebildet bat, fo Liegt für den Norb- 
beutfchen eine trennende luft zwiſchen feinem Dialekte und ber 
gebildeten Sprache. Er Hat von feinem Dialekte aud viel weiter 
zu biefer, als der Süddeutſche, ebenvaher Tpricht er fie befler, 
denn er verzichtet vorneherein auf die Rechte feined Dialekts und 
rebet fie von KRindesbeinen an als Kunftfprache, wodurch eine 
ſolche Sertigfeit entfteht, daß fie ihm zum Dialekte, zur Natur« 
ſprache wird, und derjenige, ber: die Gefchichte der deutfchen 
Sprache nicht kennt und nicht weiß, daß Hochdeutſch eigentlich 
Süddeutſch bedeutet, in den Irrthum geräth, das Hochdeutſche 
fei in Norddeutſchland zu Haufe. Weil num der Norbdeutiche 
feinen urfprünglichen Dialekt vorneherein auf die Seite legt und 
nur im engſten Kreife anwendet, fo ift, indem bie Kunſtſprache 
ſeine gewöhnliche iſt, ſein ganzes Bewußtſein vorneherein anders 


17 


- beflimmt: durch den Klang und Charakter feiner Rebe füßtt.er 
fih von Haufe aus in das Clement der mobernen Reflerions- 
bildung geftellt, in dad Clement der Allgemeinheit, worin von 
dem Individuellen und Unmittelbaren provinzieller Naivität ab» 
firahirt iſt. Ebendaher fühlt er ſich mehr als Deutſchen über⸗ 
haupt, während derjenige, der im Dialekte redet, ſich mehr als 
Kind ſeiner Provinz fühlt. | 

Das fprachliche Clement, in welchem der ſchwabiſche Ver⸗ 
kehr fh bewegt, führt uns von feldft zunächft auf die gefelli- 
gen Bormen und Zuftände meined Vaterlandes. Es iſt nicht 
zu läugnen, daß bei aller Wärme und Zutraulichkeit des geſelli⸗ 
gen Lebens in Schwaben weit weniger Heiterkeit, Sorglofligfeit, 
unbefangene Singebung an Genuß und Zerfireuung fich finbet, 
ala in den Fatholifhen Ländern Süddeutſchlands und auch in 
den proteftantifehen Diftricten am Nheine und in Franken. Es 
iſt etwas Nachdenkliches, Scrupulöſes, Sorgenvolles, ja Triſtes, 
was den Schwaben auch in ſeinen Zerſtreuungen verfolgt. Der 
Bauer, der Weingärtner, der Handwerker trinkt ſich wohl auch, 
wenn die Börſe reicht, ſeinen tüchtigen Rauſch, jauchzt und tanzt, 
aber wer einem fränkiſchen, bairiſchen, öſtreichiſchen, badiſchen 
Volksfeſte beiwohnt, findet ein weit farbenhelleres Bild, volleres 
Behagen, unbedingtere Luſtigkeit. Abgearbeitete, ſorgenvolle, ge⸗ 
drückte, ſubmiſſe Phyſiognomieen, die urſprüngliche Kraft und 
Schönheit der Race degenerirt, verkrüppelt durch harte Arbeit; 
nur der Schwarzwälder, die derbe Steinlacherin, der Aelbler 
und der wohlhabende Städter erinnern dich, wie ſaftig und roth⸗ 
badig, großglieverig und ſtämmig urfprünglich dieſe Bevölkerung 
if. Wo ſchon das Kind ſchwere Laften von Holz aus bem 

Kritiſche Gänge. 2 


18 


Walde, ſchwere Bütten Erbe die Weinberge hinauf fchlepyen, 
baden, frieren, hungern muß, da kann Fein fchöned Fleiſch 
gebeihen; unfer Milttär iſt das Eleinfte und leibarmfte in ganz 
Deutſchland, aber flinf,. tapfer, die Sehnen zu großer Ausdauer 
gehärtet. Außer diefen äußeren Momenten haben auch ‚innere 
eingewirkt, vor allem ber büflere Nigorismus, der unverfenn- 
bar mit der Einführung der Reformation in unferm Lande fih 
verband, — ein Moment, auf das wir wiederholt werden zurüd 
kommen müffen — ein melancholifcher Lebensernft, der ſich über 
bie Schmerzen und die Schuld der Enblichfeit nicht leicht hin⸗ 
wegtäufcht, wie eine Tatholifche Bevölkerung, welche den Kampf 
ber Reue und Entfagung aus dem Innern herauswirft, auf den 
Priefter abladet, durch Bußwerke und die magiſche Kraft ber 
Abſolution ſich erfpart. Die Volkstracht tft eben nicht geeignet, 
einen heiteren Eindruck zu machen; nur in ganz Eleinen Diftric- 
ten bat fich beim weiblichen Gefchlechte romantiſcher Schnitt und 
bunte Farbe erhalten, fonft herrſcht überall dad melancholiſche 
Schwarz und Grau, bei den Männern hat fi gar ein halb⸗ 
moderner Schnitt, natürlich zur Caricatur entftellt, eingedrängt. 
Sp auffallend iſt hierin der Abftich zwifchen der Fatholifchen und 
proteftantifchen Bevölkerung, daß unmittelbar angrenzende Ort⸗ 
ſchaften nach der Eonfeffion vollftändig verſchiedene Tracht haben, 
bie Fatholifchen Weiber hohe, goldgeftickte Hauben, rothe Mieder, 
lange Schnürleiber, blaue und rothe Röcke, Turz alles wohl- 
gefälliger, bunter, die proteſtantiſchen unfürmlid und fchwarz. 
Dies beweift, daß bier ebenfalls der Rigorismus proteftantifcher 
Geiftlichen im Anfange der Reformation eingegriffen haben muß. 
Sole ſcheinbare Aeußerlichkeiten find wejentlicher, als man 


19 


glaubt: die Verbannung bed Romantiſchen aus der unmittel- 
Baren Wirklichkeit verändert die ganze Geflalt des Bewußtfeins, 
ober Hi ein Beweis ihrer Veränderung, am richtigften beides. 

Der gefellige Ton unferer gebildeten Stände wird dem Nord⸗ 
beutjchen das Bild einer naiven Behaglichkeit geben. Der Schwabe 
verhält fih in Rede, Geberde, Ion offen und zutraulich, er geht 
fo zu jagen mit feiner ganzen Seele im Gefpräcde auf, e8 werben 
ihm immer zehn Naivitäten entichlüpfen, bis einem andern 
Deutſchen eine. Es ift aber um biefe Naivttät nicht etwas fo 
Einfaches, als es fcheinen möchte. Zunächſt mag man es immer⸗ 
bin ald einen Mangel an Selbſtbewachung und Reflexion be⸗ 
zeichnen; ein Dingegebenjein an ven Gegenftand, ein fih Gehen⸗ 
laſſen und nicht auf die Hinterbeine flehen, dad ben Norddeut⸗ 
ſchen ‚leicht einladet, über die feheinbar kindiſche Natürlichkeit und 
Ehrlichkeit mit dem Abenden Stoffe der Meflerion und Ironie 
herzufahren, und, beiläufig gefagt, hierin befteht die eigenthünt« 
lich norddeutſche Grobheit. Der Schwabe, der Süddeutſche über _ 
haupt, ift grob genug, aber feine lümmelhafte und breitſchultrige 
iſt immerhin humaner, als jene ſcharfe, zweiſchneidige Grobheit, 
welche aus dem Verſtande kommt. Es läßt fich einer gehen, 
ſchwatzt einmal in der tollen Laune reinen Unfinn, giebt fi 
aus Humor felbit in die Rolle eines Simpelhaften, fpricht in 
phantaftifchen Bildern: da kommt nun ein Kluger ber, mißt 
den Holden Wahnfinn nad) Geſetzen bed correcten DBerftandeg, 
giebt unverſehens ein Katzenpfötchen hervor und haut dem guten 
Narren eins herüber; dieſer, ber eben aufgeblüht, rückhaltslos 
in dem friedlichen, warmen, behaglichen Elemente der Geſellig⸗ 
keit ſchwamm, erſchrickt, findet, durch den plötzlichen Friedensbruch 

| 2% 


20 


alterirt, daS rechte Wort ber Entgegnung nicht, und muß ‚ben 
Hieb auf fih figen laſſen. Died tft wohl mehr ald einem 
Schwaben mehr als einmal in norbbeutfcher Geſellſchaft ger 
fhehen. Der Schwabe hat wenig Saar auf der Zunge, er 
kann nicht „hinausgeben“, er ift gegen ſchnelle Angriffe dieſer 
Art wehrlos, er läßt zahlloſe Sottifen ungerächt auf fi 
figen: Sottifen, gegen die er wohl, aber erft wenn ber Be⸗ 
Jeibiger weg war, im Stillen ſehr kunſtvolle, wohlgeſetzte, 
ja zermalmende Neben Hält. Wenn aber bie Naivität im 
Allgemeinen als eine Natürlichkeit zu betrachten if, die in 
einem Zufammenhange, in welchem Fünftliche und reflectirte 
Formen herrſchen, überraſchend Hervorfpringt und durch den 
Contraſt mit dieſen ein Lachen erzeugt, ſo iſt die ſchwäbiſche 
hierdurch keineswegs genügend erklärt. Es kommt darauf 
an, welches die Urſache des Mangels an Selbſtbeobachtung und 
Selbſtbewachung iſt, die jenes unvermuthete Hervortreten der 
Natur veranlaßt. Bei dem Schwaben iſt dieſe Urſache Feines- 
wegs geradezu in einer naturfriſchen, kindlich bewußtloſen Un⸗ 
mittelbarkeit zu ſuchen, vielmehr in einer Neigung zur Inner⸗ 
lichkeit und Contemplation, welche das Thema des Geſprächs 
tief in fich hereinnimmt und, während die Unterhaltung beweg⸗ 
lich den Faden fallen läßt und an andern Gegenfländen Hin» 
Kauft, noch innerlich damit befchäftigt ift: nun plaßt er auf ein⸗ 
mal mit dem Reſultate feiner Gontemplation hervor umb giebt 
ein Pathos, eine Innigkeit des Interefied preis, welche die auf 
ber Oberfläche fpielenden Andern lächeln macht und allerbings 
nicht gerabehin zu billigen iſt. 


21 


Was iſt dumm? Es giebt darauf ſo viele Antworten, ala 
en ea Bälter, Lebensanfichten und geiftige Kräfte giebt. Der Schwabe 
erſcheint Teicht dumm, und er tft e8, wenn man darunter Dian« 
gel an beftändiger Aufmerkſamkeit auf die Gegenflände und an 
practiſcher Reſolutheit verſteht. Diefe Mängel können ihren 
Grund in fehr pofltiven Kräften der Intelligenz haben, und fie 
haben ihn in. der contemplativen Natur des Schwaben. Er ver- 
tieft ſich, flatt die Dinge friſchweg zu ergreifen und zu verwen« 
den, ihren formellen Zufammenhang eilig aufzufafien; dies giebt 
einen Anftrih, von Blindheit, von — ich Tann e3 nicht anders 
als vernagelt nennen. Da fteht er in einem Innern Summen 
und Muflciren unbeflimmier Gedanken und Bilverzüge, fperrt 
ben Mund auf, gafft fo. vor ich hin, und wenn es etwas zu 
Holen giebt, kommt er zu fpät. Myſtificiren, übertölpeln, über 
vortheilen kann man ihn Teichter als Andere. Es ift in Schwa⸗ 
ben bei Männern von großer Gelehrfamkeit nicht nur, fondern 
auch allgemein menſchlicher Cinfiht und Bildung ein Grad von 
Erfahrungslofigkeit und Mangel an Welttenntniß zu finden, 
der unglaublich fcheint. Es ift etwas Simpliciſſtmusartiges in; 
und; aber in biefem Schlendern, in biefem Verdummt⸗ und. 
Bernageltfein: da wachen bie füßen Lieder unferer Dichter und Ä 
die ewigen Gedanken unferer Philofophen. Dem Norbbeutfchen / 
mit feinem weltſcharfen Verſtande geſchieht es leicht, Producte 
der Phantafſie und Vernunft nach Kategorien des Verſtandes 
zu meſſen; nennt er uns dumm, weil wir oft aus der Phan⸗ 
taſie reden, wo er nur Verſtand erwartete, weil wir vernagelt 
ſtehen, nach innen wach, nach Außen ſchlaäͤfrig, während ihm 
immer der Kopf am rechten Flecke ſitzt, ſo nennen wir ihn 


= 


22 


dumm, wenn in Rede und Schrift dfters ſein relativer Mangel 
an Kräften der Anfchauung, der gefunden Bildlichkeit, ver Phan⸗ 
tafte zum Vorſchein kommt und menn er fih in höheren prak⸗ 
tiſchen Sphären durch feine große Neigung zu abftractem En⸗ 
thuflasmus büptren Täßt. — Da ſedoch dad Wort dumm 
gewöhnlich als Gegenfak von geſcheut gebraucht wird, dieſes 
aber die Wachſamkeit des Verſtandes und die reſolute practiſche 
Klugheit, nicht die Kräfte der Phantafie und Contemplation 
bezeichnet, fo hat der Norddeutſche größ red Recht, wenn er und 
dumm nennt. Die Schwahbenftreiche Taufen alle auf Dummheit 
in biefem Sinne hinaus, auf Thorbeiten im Gebiete des Zweck⸗ 
mäßigen, und ich glaube felbft, daß man ſolche auch bei Öffent- 
lichen Unternehmungen in Schwaben häufiger als anderswo findet. 
Wentgftend wird man nicht Teicht irgendwo die Landſtraßen mit 
folder Conſequenz über die fteilften Bergrüden geführt finden, 
wo juft Daneben ein günftiges Terrain bie leichtefte Steigung 
darbot; nicht leicht wird man in Dffentlichen Bauten fo verkehrte 
Streiche erleben, wie in Stuttgart, wo man noch neueftens ein 
Kunfigebäube an den Staub der frequenteften Chauſſee ſetzte. 

Der Schwabe hat fehr wenig Beredtſamkeit; feine Rede ift 
kurz, arm an Wendungen und Phrafen, aber concret, anfchau« 
fh, und trifft mit einen faftigen Bilde den Nagel auf den 
Kopf; darin liegt freilich das Talent zur höheren Beredtſam⸗ 
keit, dies ift aber keineswegs ausgebildet, der Schwabe muß ſchon 
warm und poetiſch geftimmt fein, wenn es ihm fließen fol. Der 
Norddeutſche Hat eine ungleich größere, ſtets zur Hand liegende 
Summe von fihon geprägter Wortmünze, namentlich von abſtrac⸗ 
im allgemeinen Ausdrücken, bie überall bin paflen; er fagt gern 


23 


mehr als er weiß, und ber Schwabe weiß oft mehr als er ſagt. 
Dagegen ift er weitläufig, wo er kurz fein follte, er iſt cere- 
moniöd. Der Norbdeutihe fagt: guten Morgen, guten Abend, 
macht eine Eurze Verbeugung, und tft aus dem Zimmer, ber 
Schwabe jagt: fühl mich ehne Eorfam, macht fech8 tiefe Ver⸗ 
beugungen und ftolpert auf der Schwelle. Geberbe, Bewegung 
ungelenf, umftändlih, breit, bequem, im Norben decidirt und 
friſchweg. Wie geht ein Schwabe fo ganz anders! Wo find 
in ben norddeutſchen Städten die weingrümen, arronbirten guten 
alten Herren, die behaglich durch die Straße fehlenden, benen 
man anfleht, daß fle mebitiren: wo trink ich einen guten? Alles 
Läuft, alles eilt, als preffirte ed beftändig. 

Schwaben ift immer im Nachtrabe ber Mode; als im Jahre 
1832 zuerft ein ganz langer Winterüberrod, wie man fie im 
übrigen Deutfhland ſchon wenigftens zehn Jahre lang trug, nad 
Tübingen Fam, entbrannte ein allgemeiner, kaum zu beſchwich⸗ 
tigenber Aufruhr der Gemüther, und ed wurben wirklich ver» 
fhiedene gute Wibe über dad Meerwunder zu Tage gefördert. 
Sp induſtriös das Land tft, an Kunftfertigfeit in Artikeln der 
Eleganz, namentlich was Kleidung ‚betrifft, fehlt ed ganz. Der 
Stuttgarter Schneider läßt fich zahlen, wie ber Londoner, und 
dafür befommft du unfehlbar verhungte Kleider. Dean kann in 
Schwaben fein Kleid machen; das ift wieder ein wichtigerer Um⸗ 
ftand, als man glaubt. Wer verzwickte Kleider anhat, dem muß 
es auch in feinen ganzen Benehmen an Sicherheit, Breiheit und 
Deciflon der Formen fehlen, und dieſes wieder nach innen eine 
Verſchüchterung bed ganzen Bewußtſeins bewirken. Die Chemifette 
bauſcht fi auf, am Halstuche will der Knoten nicht glüdten, Mod 


24 


und Beinkleid ſchlottern oder preſſen, der Stiefel drückt ober lum⸗ 
melt, wer kann da hinſtehen und auftreten, wer kann repraͤſentiren? 

In den geſelligen Genuͤſſen unſerer gebildeten Stände findet 
fh noch viel altſchwaͤbiſche Zutraulichkeit, Ungenirtheit und 
natve Munterkeit, in ber Weinlefe namentlich geht noch immer 
Manches ‚in Herbft. Doch dürfte fi, wer bei den Schmwä- 
‚binnen bie Natvität und zutrauliche Munterfeit unvermifcht zu 
finden meint, die man ihnen von Alters her nachrühmt, bitter 
getäuſcht finden. Unſere Frauen find nicht großftähtiih und frei 
genug gebildet, um über jene idylliſche Naivität hinaus zu der⸗ 
jenigen Sicherheit gelangt zu ſein, in welcher die Kunſt wieder 
zur Einfachheit und Unbefangenheit wird, und doch nicht naiv 
genug, um unbefangen zu ſein. Eine höchſt verdrießliche Miſchung. 
Das ganze Benehmen, das Zuthuliche, der Dialekt ſcheint dich 
aufzufordern, du ſollſt nicht ceremoniös, nicht ſteif, nicht hoͤlzern 
und prüde ſein: und ploͤtzlich ſtößt du auf eine Ceremonioſität, 
auf eine Steifheit der Decenzbegriffe, auf eine abweiſende aͤngſt⸗ 
liche Kälte, welche auch dad Allererlaubteſte, ja das,, was Sitte 
und Höflichkeit fordert, als Zubringlichfeit anſieht, jo daß du 
gar nicht weißt, welchen Ton du denn nun anzufchlagen haft. 
Es tft ein Schwanfen, eine Unficherheit und Linfreiheit, melche, 
je liebenswürbiger das urfprünglihe Weſen der Schwäbinnen 
ift, deſto mehr Ärgern und verfimmen muß. Es hängt freilich 
mit der moralifchen Pedanterie zuſammen, von der wir nachher 
ein Wort zu reben haben. 

Es wäre dies anders, wenn unfere Frauen mehr in männ- 
licher Geſellſchaft wären, und dann würden auch unfere Männer 
an formeller Weltbildung, an Gumanität gewinnen. Allein 


25 


Schwaben ift, wie benn hierin ganz Süddeutſchland ſich von Rorb- 
beutfehland charakteriſtiſch unterfcheidet, mit großer Entſchiedenheit 
dem fogenannten Kneipfyfteme zugethban, d.h. der Mann, näm⸗ 
lich der Junggeſelle jenes Alters und großentheils auch der Fa⸗ 
milienvater geht Abends nach überſtandener Laſt des Tages ins 
Wirthshaus, trinkt, raucht, plaudert. Die Frauen und Töchter 
bleiben zu Saufe oder vereinigen ſich in Damengefellichaften, wo 
wohl auch über Titerarifches gefprochen, ſogar gelefen wird, aber 
ohne dad männliche Ferment nichts Kluges herauskommen kann. 
Norbdeutichland beſitzt in der ausgebildeten Gejelligfeit, melche 
beide Gejchlechter vereinigt, den wichtigften Hebel feiner geiftigen 
Negfamkeit, Volubilität, Univerfalität. Inzwiſchen wie jegliches 
Ding feine zwei Seiten hat, jo kann man auch vor der Hand 
bie ſchwaͤbiſche Sitte nicht geradezu verwerfen. ragen, bie im 
eine bedeutendere philoſophiſche Tiefe dringen, können in ber 
Unterhaltung eines aus beiden Geſchlechtern gemifchten Theecirkels 
nicht wohl erledigt werden, auf folche führen aber am Ende alle 
wichtigern, "namentlich Viterarifchen Gegenftände, und es entfteht, 
wenn fie dennoch in folder Unterhaltung berathen werben, leicht 
eine gewiſſe Oberflächlichfeit des Räſonnements und Urtheils, 
woburd die Frau fich über ihren Horizont hinausgerückt dünkt, 
während fie vielleicht im Nächften und Einfachften zurückbleibt, 
und jener gejunde Hausverftand, der aus dem ſchönen Elemente 
geiftreihen Empfindens wohl auch in ben tiefften Dingen un« 
erwartet das Richtige trifft, in einem reflectirenden Hin⸗ und 
Herreden über Alle und noch einiges Andere feinen Halt ver- 


- 


liert. Inbeffen immerhin zugegeben, daß unfere Frauen durch 


biefe Abfonderung auch an wahrer und Achter Bildung verkürzt 


26 


merben, fo bleiben ſie jedenfalls häuslicher. Sie nehmen weit 

‚ mehr unmittelbaren Antheil an der Führung des Hausweſens, 
als die Norddeutſchen; fle figen nicht im Zimmer beflänbig bei 
feiner Arbeit und Hingeln, wenn es in ber Küche etwas an« 
zuordnen giebt, fie gehen hübſch felbft hinaus, ſpicken den Ha⸗ 
fen, rücken den Braten and Feuer, und ich Habe eine fehr ges 
bildete Frau aus höherem Stande angetroffen, wie fle einen 
Häring pugte, und die Töchter, wie fie dad Treppengeländer 
bohnten. Wir Schwaben find der Meinung, weit entfernt, daß 
dadurch die Frauen fh heruntergeben, werben vielmehr Die Dinge 
durch ihre Berührung geabelt und über die Sphäre ded gemeinen 
Bedürfniſſes hinaus in einen gemüthlichen, freundlichen Schim⸗ 
mer gerüdt. Ober ſchmeckt die Suppe nicht ganz anderd, wenn 
ein Tiebliches Weib fie wohl mit eigner Hand einmal auf ben 
Tiſch ſetzt? Iſt es nicht ein freundlicher Anbli, wenn bir im 
Vorübergehen aus der Küche ein ſchönes Paar Wangen und 
Lippen und Augen, von der fuftigen Flamme des. Heerdes ge⸗ 
röthet, entgegenglänzt? 


Und wird von ſchoͤnen Haͤnden dann 

Dad fchöne Fleiſch zerleget, 

Das iſt, wad einem deutfhen Mann 

Gar füß dad Herz beweget. . 

, Sort Amor naht und Tächelt ſtill, 

Und denkt: nur taß, wer Füllen will, 

Zuvor den Mund fih wife! 
Auf der andern Seite darf man nicht meinen unfere Knei⸗ 
pen, fo abſchreckend einem Gafte ver erſte Schritt in bie rau- 
chigen Spelunfen vorkommen mag, wo man bie reinften Weine 
fuchen muß, fein ein DVerwilderungsort für unfere Männer. 


Gier wird nicht bloß über Hunde und Pferde geſprochen, hier 


27 


erzeugt ſich im behaglichen Freiheitögefühle ver Wirthshauslaune 
jener faftfprigende Wig, jener phantaftiihe Humor, jene Poli⸗ 
hinel-Naivität, Eurz jener Geift Fiſcharts, jener affenteurlich 
naupengeheurliche Gapitalfpaß, der nur in ber wirthshäuslichen 
Ungebundenbeit und Kameradenzutraulichkeit gedeihen Tann. Man 
weiß, daß Theod. Hofmann, Devrient und And. Hinter der Wein⸗ 
flaſche bei Luther und Wegnern nicht ihre fehlechteften Einfälle 
gehabt haben; unfere beften Talente Haben großentheild nicht 
hinter dem Pulte, nicht bei der Theekanne, fondern an jenen 
Orten, wo Gott feinen Arm fichtbarlich hervorſtreckt, zuerft 


Wis, Phantafle, Kraft und Saft des Gedankens entwickelt, find 


fih Hier in ber braufenden Jugendluſt ihrer zuerft bewußt ges 
worben, um bann ihre Gaben in den Himmel der Kunft hin⸗ 
über zu retten, wiewohl auch nicht zu läugnen ift, daß manches 
Talent fein Pfund- hinter dem MWeinglafe vergeubet und im Local⸗ 
witz verpufft. Mebrigens feid mir Zeugen, ihr Conti, welche fih in 
* Stuttgart vorfanden, worin ein alter Stuttgarter Wirth dem Hrn. 
Dr. Schiller und Peterfen zahllofe Portionen „Schonken“ und 
zahlloſe Flaſchen Wein aufrechnet, und welche Heute noch nicht 
bezahlt find! Uhland, Kerner, Schwab, Mörike, Strauß, möchtet 
ihr die Wirthshausabende in Jugendübermuth durchſchwärmt, 
die Nächte, wo ihr bei Geſang und Glaſe Wein auf den Tiſch 
geſchlagen, könntet ihr ſie hergeben, ohne ein großes Stück Leben 
zu vermiſſen? Und ſollten Jemand dieſe Namen nicht von hin⸗ 
reichendem Gewichte dünken: nun da ſteht Göthe, den vollen 
Römer in der Hand, in der Mitte der Jugendgenoſſen auf der 
Plateform des Straßburger Münſters und ſchaut ahnungsvoll 
ins ſchöne Land hinaus. Wie viel Wahres und Köſtliches darf 


4 


28 


vor weiblichen Ohren gar nicht gefagt werben! Nur eine. in 
Theecirkeln vermeichlichte" Seele Eonnte ben trefflichen. Sim- 
plieiffimus fo unverantwortlich caftrirt, ja in Ton und Wort 
durch und durch entftellt herausgeben, wie von Bülow es ge⸗ 
than hat. Er fagt in der Vorrede, er habe alles geftrichen, 
was ein zartered Gemüth verlegen könne. Was zartered Ge⸗ 
müth! Krankes Gemüth! Der Simpliciffinus in aber ni 
für Kranke, fondern für Gefunde. 

Da in Folge der gefchilderten ſchwäbiſchen Sitte dad Wohn- 
haus nicht der Mittelpunkt des größeren geſelligen Verkehrs iſt, 
bleibt die Familie weit enger in ſich zuſammengeſchloſſen, ats 
anderswo. Sparfamfeit, Solibität, Behaglichkeit und Neinlichkeit 
ohne Uebermaß find die Tugenden, wodurch das ſchwaͤbiſche Haus 
fih vortheilhaft von dem öſtreichiſchen Phäakenleben, ber Ber- 
ſchwendung, Putz⸗ und Genußſucht mancher badiſchen Städte, 
der häufigen häuslichen Zerrüttung des Baiern unterſcheidet. 
Zugleich iſt aber eine gewiſſe Enge des Horizonts, eine große 
Dofis provinciell philiſterhafter Beſchränkung die Folge dieſes 
enggeſchloſſenen Familienweſens; die Kleinheit des Landes und 
ſeine Abgelegenheit vom größeren Verkehre kommt hinzu und 
erzeugt jenes neugierige Aufgucken und Gaffen, wenn ein Frem⸗ 
der mit fremden Fornen und Sitten ſich ſehen läßt, was von 
biefem leicht als Lingaftlichkeit angefehen wird. Wir find aber 
nicht ungaftfreundlih, namentlich im Neellen nicht. Der Gaſt 
wird reichlich bewirthet, behaglich logirt, und, läßt er nur un« 
ferer Sitte, mie denn der Einzelne einem größeren Ganzen ge⸗ 
genüber ſoll, ihr Recht widerfahren, freundlich in den Kreis 
der Familie gezogen. Was er aber von Anſichten, Gewohnheiten, 


29 


Formen Fremdes in ſich trägt, wird im Allgemeinen allerbings 
mürriſch, engherzig, kleinſtädtiſch abgeurtheikt, was nur dann zu 
entſchuldigen iſt, wenn er, was Manche thun, ſich in eine ge⸗ 
wiffe vornehme Ironie gegen und hineinwirft. Der ſchwäbiſche 
Magifter, wenn er die große theologifche Route durch Nord⸗ 
deutfchland macht, um einige Paftoren perfünlich kennen zu ler» 
nen und zu erfahren, wie-fieRöm. 5, 12. audlegen, geht in 
Berlin den Vormittag über in Collegien, des Nachmittags flubirt 
ei für fich, was er in Stuttgart, Ludwigsburg, Heilbronn, Tü⸗ 
bingen, Ulm, Beutelsbach eben fo gut hätte fludiren können; 
Abends ſucht er einige Landöleute auf, um mit ihnen, wo mög- 
ich bei bairiſchem Biere, Über das liebe Vaterland, und wie 
bodh:da alles befier fei, zu plaudern. Emfiger! Vielgetreuer ! 
Barum bift du nicht zu Haufe geblieben? Die Schwaben find 
ſo gut eigenliebig, als die Norddeutſchen, und werben bitterböfe, 
wenn man ihre Sitten nicht vollfonımen findet. Könnte man 
je ‚gegen die ſchwäbiſche Genrüthlichfeit Zweifel hegen, jo wäre 
ed, weil die Schwaben felbft fo viel von Gemütlichkeit reden 
und in der abgedrofchenen Entgegenfeßung von Gemüth und Ver⸗ 
ftand den Norddeutſchen gegenüber fich gefallen. Es entftehtaus 
diefem fich Beſpiegeln in dem Auhme der Gemüthlichfeit leicht 
ein Hatſcheln, ein fentimentales Freundſchaftmachen, ein Hände» 
drücken, „o du Lieber, wie find wir doch fo recht di! miteinander, 
fo ordentlich fett”. Trau aber dem nicht, der viel von Derzlichkeit, 
Pietät, Gemüth, Kinderfinn redet: der plumpfte Egoismus tappt 
unvermuthet aus dem trefflihen Gemüthe hervor, ober der ſchlei⸗ 
chende und raffinirte lauert hinter bem Biedermannstone. Doc 
das find Auswüchſe. Es ift doch ver Mühe werth, zu unterfuchen; 


30 


was hinter jenem geläufigen Gegenſatze ſei. Man verſteht wohl 
unter Gemüth im Gegenſatze gegen ben Verſtand, der die Dinge 
äußerlich bezieht, orbnet, benußt, ein finniges Eingehen in das 
Innere, dad Wefen. Der Verſtändige claſſificirt eine Pflanze und 
unterfucht ihre Nußbarfeit, der Gemüthliche traut ihr eine Seele 
zu und lebt fi in fie hinein. Der Verſtändige ſchlägt feinen 
Hund, wenn er unartig tt, ber Gemüthliche, wenn nur die Uns 
art naiv ausfteht, giebt ſich den komiſchen Genuß, ſich in bie 
Hundsſeele hineinzudenfen, den menfchenähnlichen Borgang in der 
träumenden Monabe nachzufühlen, und der Hund bleibt ungeprit- 
gelt. Der VBerftändige beurtheilt die Menfchen nach ihrer Bildung, 
nad) ihrer Brauchbarfeit, und ift mehr beſchäftigt, fle zu unter« 
fheiden, als in jedem, was und wie er jein mag, ben Menfchen 
zu empfinden, der Gemüthliche fucht fogleich eine innere und rein 
menſchliche Beziehung theils zwiſchen fih und Andern anzu« 
fnüpfen, theils zwiſchen den Andern aufzufinden, darüber ver« 
gibt er zu fehr die Schranken der Eonvenienz, Stände, Bildung, 
und wird leicht betrogen. 

Nun wäre nichts thörichter, als zu jagen, der Norddeutſche 
babe Fein Gemüth. Man kann die Sache etwa fo wenden: bei 
dem Schwaben bewegen fich alle übrigen Formen geiftiger Thä⸗ 
tigkeit mehr im Elemente des Gemüthes, bei dem Norddeutſchen 
in dem des Verſtandes. Begegnen ſie fich, fo fühlt fi) der Schwabe 
zuerft durch bie Verftandesfchroffheit des Norddeutſchen (bei aller 
Feinheit und Freundlichkeit deſſelben) abgeftoßen, der Norbdeutiche 
durch das fubftantielle Weſen des Schwaben ironiſch geftimmt. 
Lernen .fie aber einander näher kennen und graben tiefer, fo 
findet jener dad Gemüth unter der Eisdecke der Verſtandes⸗ 


31 


fchärfe, diefer den Verſtand in bem meiden Stoffe bed Gemü- 
thes vor, und fie fühnen fih aus, fie lernen von einander. 

Der eng geſchloſſene Bamiliengeift bringt es natürlich mit 
fih, daß die Glieder der Familie fehr ſpät, in gewiſſem Sinne 
gar nie der Familie entwachſen. Ein ſchöner Zug kindlicher Zus 
traulichfeit bildet fich dadurch in dem Individuum und es fühkt 
fi$ fo zu fagen immer in feinem Taufnanıen. Was unſern 
Schiller jo ungemein beliebt gemacht hat, ift gar nicht bloß bie 
Höhe feiner Ideale, fondern der eigenthümlihe Zug von Zue 
traulichkeit, Treuberzigkeit, der ſpecifiſch deutſch und näher ſchwä⸗ 
biſch iſt. Nicht nur die Liebe, wie namentlich zwiſchen Thekla 
und Mar, fpricht bieje jüße, herzensgute Sprache, fondern felbft 
ber Held: „Mar! Bleibe bei mir. — Geh nicht von mir, Mar! 
— Mar! Du. kannft mich nicht verlaffen! Es Tann nicht fein, 
ih mag's und will's nicht glauben, daß mich der Dar ver« 
laſſen kann!“ Ein Schwabe ift ein Gemüth, das heute von 
einer hohen Frau einen freundlichen Blick befommt und morgen 
fhon Hofft, fie werde ihn in ſchweſterlicher Zutraulichkeit einen 
abgerifienen Knopf an den Rock annähen. 

Nehmen mir zu diefer engen Einfriedigung der Familie die 
Strenge der Erziehung, den graufam geiftlofen Terrorismus 
binzu, der noch die Kindheit unferer Väter und Mütter in den 
Schnürleib der angftvollftien Schüchternheit und Schweigſamkeit 
bannte, der dem Kinde vermehrte, auf der Straße zu lärmen 
und zu jodeln, und die Sittſamkeit und Gefegtheit Erwachſener 
von ihm verlangte, eine Tyrannei, bie erft jeit einigen Decennien 
nachgelafien hat, fd haben wir den Erklärungsgrund für bie 
fpäte Selbftftändigkeit unferer Männer: „Ein Schwabe wird 


32 


vor dem bierzigften Jahre nicht gefeheut”. Ganz richtig, nämlich 
nicht felbftftändig. Es ift nicht gut, wenn Kinder najeweis find 
und überall mitplapperh, wenn der Süngling die gefunde Milch der 
Befcheidenheit verachtet, und in Norddeutſchland mag wohl mit- 
unter dem Unreifen zu frühe Selbftftändigfeit eingeräumt werben, 
aber bei uns herrſcht das andere Extrem. Behandle den Men- 
fhen als frei und felbftftändig, fo wird er es, achte feine Men- 
fhenrechte, fo lernt er fie ſelbſt achten. Bei und follen die Kinder, 
wenn Fremde da find, nur hübſch ftille fein, da ſtehen fie im 
Winkel, nagen am Finger, reiben fih am Simfen ab und blei⸗ 
ben blöde; der Iürgling wird viel zu lange als Knabe behan- 
beit, beauflichtigt und bewacht, da kommt die Subjectivität nicht 
zu ihren echte, da bildet fich Fein heiteres Freiheitögefühl, da 
entfteht jenes unrefolute, brütende, ſerupulöſe, unſichere Wefen 
der Schwaben. Ein Recenfent hat ©. Schlefter vorgeworfen, es fei 
verkehrt, wenn er den Schwaben mehr Individualität und Cha- 
raftertroß vindicire, als den Norbbeutfchen, man folle nord⸗ 
deutſche Jünglinge betrachten, ob ſie nicht ſelbſtſtändiger und 
energiſcher ſeien. Es kommt hier nur darauf an, was man 
Individualität heißt. Im Großen, in der Idee, im Politiſchen 
iſt der Schwabe ungleich mehr von ven Rechten der Indivi⸗ 
dualität durchdrungen, aber in der unmittelbaren Wirklichkeit, 
im Privatleben, in der Sphäre zweckmäßigen Anordnens, ſchnellen 
Handelns, Antwortens und Abweiſens iſt er weit ſelbſtloſer 
und blöder. Ein Schwabe lernt ſchwer befehlen. Seid mir 
Zeuge, ihr gelehrten ſchwäbiſchen Jünglinge auf Reiſen, die ihr 
in Gaſthöfen vernachläßigt, von groben Kellnern verhöhnt und 
geneckt werdet, und ſie ſchier um Verzeihung bittet, wenn ihr 


33 


etwad von ihnen begehrt! Bis der Schwabe ferien Bebienten 
hart anläßt, ihm einen flraffen und gemeffenen Befehl ertheilt, 
muß er ſchon böfe und zornig fein, er alterirt ſich erft, aber 
dann bricht er auch zu berb hervor. 

Die Treue, Biederkeit, Keufchheit, Sittenreinheit, die man den 
Schwaben mit Recht nachrühmt, ift bie beſſere Seite der Folgen 
jened engen und firengen Bamiliengeifted. Jenes gediegene Schrot 
und Korn langſam reifender fubftantieller Charaktere hat hierin 
feinen Urſprung. Aber bier tft auch einer fehr üblen Seite zu 
gedenken, die man und neuerdingd von Immer mehreren Seiten 
vorwirft. Es ift die gegenfeitige moralifhe Beauffihtigung, ber 
Tugend-Zelotismus, das jchielende, hämiſche Sichbekümmern um 
das Privatleben des Nebenmenſchen, das Köpfezufammenftoßen, 
Einanderzupfen und Zufammenflüften: „So recht! O Jee! 
Guck au! Der do!” Ob du ein träger, gewiſſenloſer Beamter, 
ein Betrüger, ein Dieb, ein Lügner, ein Barbar, ein Säufer, 
ein Freſſer biſt, wird weit nicht mit der Wichtigkeit unterſucht, als 
ob du nicht in einem Puncte menſchlich geweſen ſeieſt, in welchem 
die Lüſternheit ſich gerne durch Erforſchung fremder Sünden für 
eigene Entbehrungen entſchädigt und ſo eine viel ſchlimmere Sinn⸗ 
lichkeit an den Tag legt, als diejenige iſt, welcher fie nachforſcht. 
Phariſãismus iſt die Springfeder und verſtärkte Wirkung dieſes Hin⸗ 
ſchielens nach dem Nachbar. Die Kleinheit des Landes wirkt mit, 
alles iſt Vetter und Baſe, alles kennt ſich und fragt nach einander. 
Glücklicher Weiſe ift jedoch derjenige, der neuerdings als Kritiker 
dieſen Pharifätsmus durch ein heuchleriſches Tugendgeſchrei auf die 
Spitze ſeiner Schmach getrieben hat, nicht unſer Landsmann, 

Aritiſche Gaͤnge. 3 


31 


Wir verbitter uns, mit ihm confunbirt zu werben, wir haben 
nichts mit ihm zu thun. 

IH follte nun vom Staatsleben, von unſerer Berfaffung, 
unſerem Liberalismus reden. Aber, ich befenne 68, von folchen 
Dingen zu reden, bin ich befonders ungeſchickt; ich habe (man 
mag biefed Geſtändniß als Beiſpiel ſchwäbiſcher Natvität anfehen) 
über bie befte Staatsverfaſſung Feine fefte Heberzeugung, von den 
Organismus eine Staates Feine Elare Anſchauung, kurz ich ver- 
ftehe die Sache nicht und ſchweige *). Nur foviel-glaube ich fagen 
zu Fönnen, daß dem Tadel, den unfere Liberalen von Norbbeutfch- 
land aus häufig erfahren, meift ein Mangel an zureichender Kennt» 
niß unferer Geſchichte und Gonflitution, an conftitutioneller Erfah⸗ 
rung zu Grunde: liegt, daß die achtungswerthen Charaktere, melche 
die Vertheidigung des guten alten Rechtes zur Subftanz ihres 
Lebens gemacht haben, keineswegs mit den von hohlen und ato- 
miftifchen Staatötheorien ausgehenden modernen Liberalen zu ver⸗ 
wechſeln find. Uebrigens Tiegt e8, wie ſchon oben bemerkt, ganz in 
der Verſchiedenheit des Naturells, daß der Schwabe das Moment 
ber berechtigten Subjectivitit, der Norbbeutfche das der abftracten 
Allgemeinheit im Staate in den Vordergrund ftellt. Unmittelbar 
neben die ſchwäbiſche Rührigkeit, wenn e8 die Idee im Großen gilt, 
drängt fi) aber in einzelnen Gebieten des Offentlichen und Offiziel- 
Ien ein beifpiellofer Schlendrian, eine unverzeihliche Schlaffheit und 
Trägheit, welche mit der großen Gewiſſenhaftigkeit und Pünctlich⸗ 
keit in ven meiften Zweigen der Verwaltung und des Rechts im 


*) Sancta simplicitas! 


35 


größten Widerſpruch fteht. In Öffentliche Aufzüge ift Feine Orbe 
nung zu bringen, da will jeder ſchlendern, mie e8 ihm beliebt; es 
gibt Städte, wo die Unreinlichkeit in den Gaſſen, die nächtliche 
Unficherheit durch DVerfperrung der Wege, ſcheuslichen Zuftand 
des Pflafters u. f. w. in's Fabelhafte geht und fein Menſch denkt 
daran, gegen eine ſtädtiſche Verwaltung, die ſolches duldet, zu Elagen. 
Wie jehnt man fich bei dieſer Schlaffheit, bei diefem Mangel an 
Sinn für das Gemeinfame und officieller Schärfe nach dem ſtraf⸗ 
fen, decidirten, durchſchneidenden nordiſchen Weſen, nach der Pünct⸗ 
lichkeit und Genauigkeit, die der Preuße im Dienſte zeigt! 
Ich verlaſſe dieſe äußeren Gebiete und ſteige zu den geiſt i⸗ 
gen auf, um zuerſt über den Zuſtand der Kunſt bei uns 
Giniges zu reden. | J 
Daß ſich in Schwaben der plaſtiſche Genius, der Geiſt der 
Anſchauung und des Bildes, wie er der ſüddeutſchen Natur be⸗ 
ſonders eigen iſt, nicht verläugnet, zeigt ſchon Rede und Schrift 
auch außerhalb des Feldes der eigentlichen Poeſie. Der norddeutſche | 
Witz bewegt ſich mit beſonderer Vorliebe in der Sphäre des ſatyriſchen . 
Wortſpieles; es fehlt und an diefer Gattung auch nit, und wir 
“ können manchem politiichen Wortwige der Berliner 3.B. ven hüb⸗ 
ſchen entgegenhalten: Männdle, zahl bald! f. Mendizabal. Aber 
es ift dies nicht der Boden, worauf unjer Wig heimiſch ift, ſon⸗ 
dern unſer Liebling iſt der Witz, der den gegebenen Gegenſtand 
durch ein wunderliches, aus der entlegenſten Sphäre aufgerafftes 
Phantaſiebild beleuchtet, wobei es rein um den Muthwillen dieſes 
Vergleiches, nicht um eine ſatyriſche Nebenbeziehung zu thun iſt. 
„Nur einen Schoppen Wein? Das iſt, wie wenn man einen 
3 * 


34 


Wir verbitter uns, mit ihm confunbirt zu werben, wir haben 
nichts mit ihm zu thun. 

Ich follte nun vom Staatsleben, von unſerer Berfaffung, 
unferem Liberalismus reden. Aber, ich befenne 68, von folchen 
Dingen zu reden, bin ih beſonders ungeſchickt; ih habe (man 
mag dieſes Geftändnig als Beiſpiel ſchwäbiſcher Naivität anjehen) 
über bie befte Stäatöverfaffung Feine fefte -Heberzeugung, von dem 
Organismus eines Staated Feine Hare Anfhauung, Furz ich ver» 
ftehe die Sache nicht und fehweige *). Nur foviel-glaube ich fagen 
zu können, daß dem Tadel, ven unfere Liberalen von Norddeutſch⸗ 
land aus häuftg erfahren, meift ein Mangel an zureichender Kennt- 
niß unſerer Gefhichte und Conftitution, an conftitutioneller Erfah⸗ 
rung zu Grunde: liegt, daß die achtungswerthen Charaktere, welche 
die DVertheivigung des guten alten Rechtes zur Subftanz ihres 
Lebens gemacht haben, keineswegs mit den von hohlen und ato- 
miftifchen Staatötheorien auögehenden modernen Liberalen zu ver⸗ 
mechfeln find. Uebrigens liegt ed, wie ſchon oben bemerkt, ganz in 
der Verſchiedenheit des Naturells, daß der Schwabe dad Moment 
ber berechtigten Subjectivität, der Norddeutſche dad der abftracten 
Allgemeinheit im Staate in den Vordergrund ſtellt. Unmittelbar 
neben die ſchwäbiſche Rührigkeit, wenn es die Idee im Großen gilt, 
drängt fich aber in einzelnen Gebieten des Dffentlichen und Offiziel= 
Ien ein-beifpiellofer Schlendrian, eine unverzeiblicde Schlaffheit und 
Tragheit, welche mit der großen Gewiffenhaftigkeit und Pünctlich⸗ 
feit in den meiften Zweigen der Bermaltung und des Rechts im 


*) Sancta simplicitas! 


35 


größten Widerſpruch ſteht. Im öffentliche Aufzüge iſt keine Orbr 
nung zu bringen, ba will jeder ſchlendern, wie es ihm beliebt; es 
gibt Städte, wo die Unreinlichkeit in den Gaffen, die nächtliche. 
Unficherheit dur DBerfperrung der Wege, ſcheuslichen Zuftand 
des Pflafterd u. f. w. in's Babelhafte geht und Fein Menſch denkt 
daran, gegen eine ſtädtiſche Verwaltung, die folches duldet, zu Elagen. 
Wie fehnt man ſich bei dieſer Schlaffheit, bei diefem Mangel an 
Sinn für dad Gemeinfame und officieler Schärfe nach dem ftraf- 
fen, decibirten, durchſchneidenden nordiſchen Wefen, nach der Punct⸗ 
lichkeit und Genauigkeit, die der Preuße im Dienſte zeigt! . 
Ich verlaffe dieſe Äußeren Gebiete und fleige zu den geifti- 
gen auf, um zuerft über den Zuftand ver Kunſt bei und 
Einige zu reden. | . 
Daß fih in Schwaben ber plaftifche Genius, der Geift der 
Anſchauung und des Bildes, wie er der fübdeutfchen Natur bes 
jonderd eigen ift, nicht verläugnet, zeigt ſchon Rede und Schrift 
auch außerhalb des Feldes der eigentlichen Poeſie. Der norddeutſche | 
Witz bemegt fich mit befonderer Vorliebe in der Sphäre des ſi atyriſchen 
Wortſpieles ; es fehlt uns an dieſer Gattung auch nicht, und wir | 
können mandjent politiſchen Wortwitze der Berliner z. B. den hüb- 
ſchen entgegenhalten: Männdle, zahl bald! f. Mendizabal. Aber 
es iſt Die nicht der Boden, worauf unjer Wig heimiſch ift, ſon⸗ 
bern unfer Kiebling ift der Wit, der den gegebenen Gegenftand 
durch ein wunderliched, aus der entlegenjten Sphäre aufgerafftes 
Phantafiebild beleuchtet, wobei e8 rein um den Muthmillen dieſes 
Vergleiches, nicht um eine ſatyriſche Nebenbeziehung zu thun iſt. 
„Nur einen Schoppen Wein? Das iſt, wie wenn man einen 
3 * 


36 


Ochſen in's Horn klemmt!“ Wie anfehaulich, wie überzeugend! 
und wie ganz verkehrt wäre ed, den Erfinder des Witzes, meil 
ein Ochſe darin vorkommt, entweder durch die Bemerkung zu är- 
gern, er habe ſich ſelbſt mit einem Ochſen verglichen, oder gar 
für einen Satyrifus zu erklären, der einen Trinker mit einem 
Ochſen vergleichen wollte! Frauen und Norbbeutfche fuchen hinter 
ben reinen Wipe gerne fatyrifchen. Der Humorift macht ein Hans⸗ 
wurſftgeſicht und fagt etwas Thörichtes, einen ſchlechten Wit; da 
fommt einer und ſucht verfteckte Beziehungen dahinter, verfpottet 
ihn, wenn er feine findet, oder beleidigt ihn, wenn er fie gefun- 
ben zu. haben glaubt. Der Schwabe liebt als Humoriſt die Selbft- 
perfiflage, er fiebt es, die Gutmüthigfeit feines Spaßes dadurch zu 
bemweifen, daß er fich ſelbſt nicht fhont, und feßt fein eigenes Ich 
als thoͤricht: indem er dies thut, iſt er es allerdings eben nicht, und 
indem er feine Naivität in's Wiſſen um dieſelbe erhebt, fteht-er 
ebenfo über, als in diefer. Wie häufig aber war ich in Norddeutſch⸗ 
land Zeuge davon, daß ınan ihm diefe Parodie ber eigenen Naivi⸗ 
tät als einfache Naivität aufrechnete, oder überhaupt ein Geficht 
machte, das fagte: „Was will denn der Menſch? Sonderbar!” 
— Üinige jüngere norddeutſche Schriftfteller bemühen fich ficht- 
bar um eine bilbfiche, concrete Darftelung, Mundt, Laube, Guz- 

, Tom u. And. Das Streben in allen Ehren: aber wir haben bei 
dieſen gehäuften Bildern das Gefühl des Geſuchten, Abfichtlichen, 
der Treibhauspflanze. Das Bildliche eines wahrhaft und gefund 
ſinnlichen Styles beſteht gar nicht bloß in den ausbrüdlichen 
Metaphern, noch weniger in ihrer Häufung. Von Hegel nahmen 
feine Anhänger manche jener fleiſchigen, Törnigen ſchwäbiſchen 
» Bedensarten auf, beweiſen aber durch häufige unzeitige Anwen⸗ 


37 


dung 3. B. des „von Kaufe aus”, daß bie Pflanze nicht auf 
ihrem Boden gewachſen tft. 

Der Norddeutſche redet einmal in vorherrſchend abftraften 
Ausdrücken, daher namentlich viel in Subflantiven; was Hilft e@ 
nun, wenn er den abftracten Mittelpunct an allen Enden mit Blu⸗ 
men umftedt? Man fühlt ihn nur um fo mehr. Zur Erläuterung 
nur Einen Sag von Th. Mundt aus: Kunſt der deutfchen Profa: 
„Der deutiche Gedanke wird mit dem Heimweh nach dem deut⸗ 
fhen Worte geboren und durch alle von den Umftänben irgenb« 
wie gegebenen Nöthigungen in ein fremdes Kleid bricht, mis 
Schmeizerthrinen beim Alphornruf, die Sehnſucht danach aus 
ihm hervor.“ Ich will hier nichts von Schweizerthränen fagen, 
in welcher Wortbildung die Thräne bebandelt wird, wie ein na« 
tonales Fabricat, etwa Schweizerkäfe, fondern nur auf den wider⸗ 
wärtigen Abftand zwifchen der Bildlichkeit im Anfange und Ende 
des Satzes und zwiſchen ber ftrohdürren Abftraction der mittleren 
Wendung: „von den Umftänden irgendiwte gegebenen Nöthigun« 
gen in ein“ aufmerkian machen. Warum elfern die Norddeutſchen 
nicht vielmehr ihrem größten Nepräfentanten, dem Manne nad), in 
welchen der reine Verftand dutch vie Entſchiedenheit und Durch⸗ 
fichtigfeit feiner Ausbildung faft die Wirkung der Poefle erreichte? 
Leſſing ſucht Teine Bilder, er redet einfach, ganz wie ein Menſch ohne 
beſonderen Anfpruch auf blühende Sprache zu reben pflegt: aber 
feine Rede ift dramatiſch bewegter Dialog, Frage, Antwort, Ein- 
wendung, Schlag auf Schlag, Jauter Oefticufation, man fieht im⸗ 
mer bie Diöputirenden perfönfich vor ſich, fie ftchen auf, fie fegen fich, 
ipringen wieder auf, geben fich zufrieden — lauter Queckſilber. Mein 
ungrträglich aber Il und ein Styl wie Guzkow's, der Alles poin⸗ 


40 


genug und durch Öffentliche Erklärung zu unterfcheiden wiſſen, fo 
beſchuldige man fie der Unflarheit oder Saumfeligfeit, aber con« 
fundire das gediegene Gemüth, das von der Poeſie eine ernfte 
fittliche Grundlage mit Recht fordert, übrigens aber allerdings das 
Sittliche zu einfeitig auf gewiſſe einfach naive Zuftände beichränkt, 
nicht mit dem Tugendgejchrei, das, mo die Gründe ausgehen, auf 
das Privatleben des Beurtheilten Halb verfteckte, giftige Anſpie⸗ 
Yungen mat. Wer Uhland für eine moralifirende Natur halten 
fann, hat ihn nicht gelefen; er ift eine jener fubftantiellen, objec⸗ 
tiven, in der guten Sitte der Väter feit und ohne Wanfen verhar- 
renden Naturen, er ift ein Charakter. Daß die Tendenzen des 
jungen Deutſchlands, und was dahin einfchlägt, einer foldden In⸗ 
dividualität nicht zufagen können, daß fie das Nichtige in jenen 
Anfihten fammt ber großen Summe des damit verfnüpften Fal⸗ 
ſchen ganz abweifen wird, leuchtet ein, aber daraus folgt noch Fein 
Puritaner, noch Fein Tugendrafonneur. Kann denn ein unfreies 
Genüth ſolche Balladen, foldhe ewigjunge Lieder, fo gefund und 
vol vom Achten Volkstone bilden? Uhland, Schwab, Kerner find 
in der Verehrung Göthe's aufgewachſen und haben Menzel's 
Polemik gegen dieſen nie gebilligt ; Bemeis genug, daß ihre Denk⸗ 
art himmelweit von der Menzeljchen verſchieden iſt. 
Sehen wir aber doch einmal an, mas das junge Deutſchland 
wollte. Man muß e3 erft errathen, denn bie jungen Deutjchen 
| ſelbſt Haben e8 in der großen Gonfuflon, der fie jedenfalls zu be⸗ 
ſchuldigen find, nirgends deutlich gefagt. Das Princip, das allen 
Bewegungen des Geiftes zu Grunde liegt, ift das der Freiheit, 
die nach immer vollerer und breiterer Entfaltung ringt. Die Na» 
sur iſt, der Geiſt weiß ſich. Im jener gegebenen Geſchichtsepoche 


41 


ift aber der Geift noch mit einer Maſſe folder Zuftände behaftet, 
worin er bloß ift und fich nicht frei weiß, und die Aufgabe jever 
Generation ift, diefen Neft bloßer Natur im Geifte immer mehr 
in Geift umzuwandeln. Sp war der Geift in der Religion unfrei, 
indem er, ohne ſich Rechenſchaft zu geben, dem Poſitiven fi 
unterwarf, bis die Neformation eintrat, und mit ihr — da die 
Religion der Nilmeffer des ganzen Geiſtes ift — war der Bruß. 
des Geiftes mit feinem bloßen Naturfein ein- für allemal gegeben, 
aber erft implicite. Das proteftantifhe Princip immer weiter, 
nah allen Seiten hin, auszubilden, war die Aufgabe der Folgen 
zeit, und gewiß haben und die früheren Gen.rationen hierin noch 
unendlich Vieles zu thun Hinterlafien. Weiße fagte in einer Kritik 
Guzkow's, es ſei genug negirt, man müfle zum Affirmativen zu⸗ 
rückkehren. Ich glaube ſchwerlich; es gibt noch gar Manches zu 
negiren. Gier ift nun für unfere gegenwärtige Frage vor Allem 
bad Verhalten des Subjectd zu den fittlichen Lebensmächten zu 
betrachten. Es ift ein fehöner, poetifcher Anblid, wo dad 
noch ohne zu grübeln mit der beftehenden guten Sitte verwachſc 
ift und durch Feine Lostrennung des Selbftbewußtfeind feine fitt4 
then Zuftände fchon aus der Wogelperfpective betrachtet, w 
Freundſchaft, Treue, Ehe als unantaftbare heifige Mächte geach 
werben, ohne daß man fragt warum. Wenn ed aber denno 
wahr ift, daß der Geift nur in dem Grade Geift ift, in welchen 
. er weiß, was er thut, jo muß auch dieſe Geftalt des Bewußtſeins 
fich nothwendig verändern, alle Blindheit auch in biefen Dingen‘ 
muß fih zum Schen erheben. Diefes Schen beginnt mit dem 
Zweifel. Fängt man an, das, was man früher heilig hielt, nur 
weil es die Väter dafür hielten, zu prüfen, od e8 wohl auch an 








— 


42 


fi wirklich heilig ſei, fo nimmt dies natürlich für demjenigen 
den Schein der Frivolität an, ber überſteht, daß der Zweifel 
nur ein Durchgangspunkt, daß der Endzweck dieſes zerjehen- 
ben dialektiſchen Vorganges nicht Serftörung ‚ jondern nur 
fefteres Aufbauen fein Fan. Der ganze Schritt ift auch wirk⸗ 
lich gefährli , ebenjo gefährlich als der uralte Sag des Paulus, 
daß der Chriſt frei fei vom Gejege, welchen, mürde er jebt 
leben und feinen Satz erft aufitellen, W. Menzel ficherlih in 
den Verdacht einer geheimen Krankheit würde zu bringen fuchen. 
Macht fih an jenes Gefchäft der fortſchreitenden Preiheit ein 
unreiner Geift, dieſer bleibt freilich bei der zerftörenden Hälfte 
ftehen und reißt die Grundſäulen der Sittlichkeit, flatt fie fefter 
und bauernder zu gründen , nieder, oder richtiger, er läßt 
fie liegen, während der Gefunde fie nur herausninımt, um 
das Fundanient zu unterfuchen, und fie dann tiefer einzufenfen, 
als vorber. Bei jenen zerftörenden Thun fliehen zu bleiben, 
mar nun offenbar keineswegs die Abficht der Mehrheit jener 
neuerungsluſtigen Schriftſteller. Die Meinung war gut, aber ſie 
waren in ihrem Denken viel zu unreif, um ſich die Aufgabe 
klar machen zu können, und mußten daher nicht durch eine 
falſche, ſondern durch eine verkehrt ‚begonnene gute Sache 
ſcheitern. Luther meinte au einmal, wo innige Liebe zwei 
Gemüther verbunden babe, bedürfe es Feiner kirchlichen Ein⸗ 
weihung; es war wohl ein Jugendirrthum, aber wir ſehen doch, 


daß auch gute Menſchen in aller Redlichkeit auf ſolche Ideen 


kommen können, und es iſt gut, wenn man darauf kommt, 
denn indem man ſie widerlegt oder, richtiger zu reden, ergänzt, 
lernt man erſt mit klarem Bewußtſein achten, was man ſonſt 


43 


blind achtete. ‚Heine nehme ich von den redlich Strebenben aus, 
denn er. hat feine innere Verweſung zu offenkundig un den Tag 
gelegt. Auch Guzkow fehlt es fichtbar an Harmonie des Ge⸗ 
můths und innerer Geſundheit, was ich keineswegs aus dem 
Stoffe, wohl aber aus der Behandlung in feiner Wally be» 
weifen möchte, Darzuftellen, wie der Geift des Zweifels in einer 
Zeit wie die unfrige felbft die weibliche. Seele ergreift und fle 
aus dem Geleife der Naivität und ſchönen Nothwendigkeit her⸗ 
ausreißt, ift eine der Poefle ganz würdige Aufgabe, und- daß 
ber Menſch in feiner Breiheit ſich den unverhüllten Anblick der 
Schönheit gönnen: dürfe... kann nur bie Srivolität und Unfltt- 
lichkeit Sen Ai aber ift die Vorliebe für das Pein⸗ 
liche, Gräßliche, für einen Schluß in ſchrillendem mitlangeboſe⸗ 
wie ſie Guzkow in der Wally und in der Seraphine an den 
Tag legt, und worin er ganz der neueren. franzöflichen Romantik 
mit ihrer Schinderphantafte folgt, der frivole Ton, ‚in welchem 
bie Religionszweifel in der Wally vorgetragen: ſind, ferner das 
Zerfahrene, Saltungs- und Cinheitölofe, Zerhadte, was in 
feinen Productionen durchaus ſich findet, -ein ‚Beweis, daß biefe 
Perfönlichkeit Teinen: Beruf hät, etwas in der: Zitteratur umgue 
geftalten. - — “ 
Daß aber ‚diefe ganze moherne Tendenz an ſich, weit ent« 
fernt, das Unfittliche zu wollen, vielmehr, wenn fle nur fi 
recht klar iſt, eine haltbarere Geftalt des Sittlichen an bie 
Stelle einer wanfenden zu ſetzen die Abficht Hat, laͤßt fih z. 2. 
an ber Frage nachweiſen, ob Treue gegen das der Geliebten 
gegebene Wort unbeningt Pflicht fei. Iſt ed Frivolität, dies in 
Zweifel zu ziehen, wenn man ſich auf den taufendfach möglichen 


44 


Conflict dieſer Pflicht mit anderen höheren beruft? Wenn man 
fagt, e8 gebe Fälle, und zmar mehr, als es ſcheint, wo in dieſem 
Berhältnifje, was fonft fttlih wäre, unfittlich wird, weil andere 
Forderungen der Sittlichfeit verlegt werden, Fälle, wo die Treue 
vielmehr Untreue wäre? Hätte nämlich die Treue zur Folge, 
daß ein Geift in feiner Entwickelung unterbrochen, feine Thätig- 
keit auf ein Gebiet hingenöthigt würde, wohin fein Talent nicht 
geht, fo wäre dies Untreue dieſes Geiftes nicht nur gegen ſich, 
fondern gegen ein größeres Ganze, den Staat, die Welt, welche 
fordern und erwarten fünnen, daß jeber dad Vollkommenſte 
möglicher Ausbildung der ihm eigenthümlichen Kräfte erftrebe und 
dem Ganzen auf dem Punkte diene, wo er ihm am beften bient. 
Eine ſolche Unterordnung der genannten Pflicht werben aber 
Charaktere, die einfach und unkritiſch mit der alten Sitte ver- 
wachjen find, nicht zugeben, außer in ertremen Källen, wie Krieg 
fürd Vaterland u. dergl., wobei aber die Inconjequenz ſogleich 
bervortritt, denn dann iſt zugegeben, bie in Frage ftehende Pflicht ſei 
collifionsfähig, und Doch wird fie zugleich als abjolut behauptet. 
Daß jede beflimmte fittlihe Macht, inden fie auf Einem Boden 
nit allen anderen fittliden Mächten zujammen ift, einer Dialektif 
unterliegt, die ihr nur eine bedingte Geltung übrig läßt, biefe 
Dehauptung wird einem altbeutichen Charakter immer als ein 
Ausflug von Frivolität und Perfidie erjheinen. Und doch, um bei 
unferem Beifpiele zu bleiben, wie viele elende und wahrhaft un« 
fittliche Ehen find aus jener mißverftandenen Treue hervorgegangen! 
Wie überzeugend ließe fich nachweijen, daß gerade das abrupte 
Denten, das bie beflimmten und durch ihre Beſtimmtheit einer 
Dialektik unterliegenben fittlichen Potenzen, heute Die eine, morgen 


45 


Me andere — benn in einem Athemzuge kann man fle doch nicht 
alle — abjolut nimmt, menn die Welt fi nad ihm richten würde, 
unendliche Verftellung und Zerrüttung jeder Art in das Reich der 
Sittlichkeit einführen würde — gewiß ohne böſe Abſficht: aber 
e3 könnte an diefer Folge fehen, daß nıan dem Gegner wenigſtens 
auch feine böſe Abficht vorwerfen darf, wie denn überhaupt An⸗ 
fihten als ſolche zu beurtheilen und nicht unmittelbar auf Abſichten 
zu reduciren ſind. 

Es wurde von jenen feuerreitenden jungen Deutſchen mit gro⸗ 
ßem Gehetze und Halloh zugleich eine größere Befreiung der Sinn⸗ 
lichkeit verlangt im Leben wie in der Poefſie, ohne daß ihre 
Confuflon zu fagen mußte, ob die Emancipation in beiden Ge» 
bieten gleichweit gehen folle, oder wie denn dad Ding überhaupt 
zu nehmen jei/Die negative Moral ift allerdings im Leben eben 
ich, ald in der Poeſie profaifch, und der fittliche Stand» 
punft fol in beiden Spharen ein Verhältniß zwilchen Geift und 
Sinnlichkeit vorausfegen, dad, an ſich affirmativ, fih zur Ne⸗ 
gation, zu einem Kampfe beider Principien fortfegt, der zum 






Tragifchen und Komifchen führt, aus welchem aber endlich die : 


Verföhnung beider als fittlihed Kunſtwerk eines harmoniſchen 
Lebens ſich berpett Pi Poefte, die Kunft überhaupt, wird ſich 
nun immer mit Vorliebe auf der erften biejer drei Stationen 
aufhalten und die Sinnlichkeit als unſchuldige Schweſter des 
Geifted gewähren laſſen, indem fie aus ihrem Umfreije alle Ver⸗ 
bältniffe entfernt, wodurch der finnlihe Genuß zu einer Ver⸗ 
letzung weſentlicher fittlicher Beziehungen führen würde — 
„Unſre Zufriedenheit bringt keine Gefährde der Welt‘. 


46 


Das Leben, weil ein ſolcher colliſionsloſer Raum in feinem 
Complex faft nirgends und nur vorübergehend gegeben ift, wird, 
firenger und mißtrauffcher, Immer nach der zweiten jener Statio- 
‚nen bindrängen, welche eine Ueberwindung ber Sinnlichkeit for 
dert, um dann erſt, wenn fie im Kampfe gebrochen ift, ihr wieder 
eine Stimme einzuräumen, wiewohl auch hier ſtets ein urfprüng- 
lich affirmatives Verhaltniß vorauszufegen ift, wenn man nicht 
3. B. in Beziehung auf die Liebe bie blasphemiſche Mei⸗ 
nung begen will, Gott habe fie, da fie an ſich einmal unbedingt 
verwerflidh ſei, alſo im Grunde auch durch Feine Cinfeßung und 
Weihe geheiligt werden könne, nur in einer ſchwachen Stunde den 
ehelih Berbundenen zugeftanden und wir können nun ind Fäuſt⸗ 
then lachen, daß er dieſe ſchwache Stunde gehabt: dann find wir 
auf dem beiten Wege, den Cölibat zu billigen, die befannte Hand⸗ 
Jung des Drigined zu bewundern u. ſ. w. u. f. w. Es ift nun, 
um und auf die Poeſie zur befchränfen, nicht zu läugnen, daß, 
fo viel Göthe gethan hat, jenen affirmativen Standpunkt gel- 
tend zu machen, dennoch die Schillerfche Poeſie, auf der nega⸗ 
tiven Kantifhen Moral ruhen, auf den Geihmad der Maſſe 
beftimmender eingewirkt hat, als die Goethiſche, daß es daher 
recht gut ift, wenn von Zeit zu Zeit, wie dies in der Sturm⸗ 
und Drangperiobe geſchah, ein neuer Ausfall gegen biejen 
Standpunkt gewagt und das Recht der Sinnlichkeit nachdrück⸗ 
lich reclamirt wird. Unter unfern Dichtern nun bürfte man einen 
unüberwundenen Neft negativer Moral -wielleicht mit Dem meiften 
Rechte an G. Pfizer tadeln; ich möchte es wenigſtens nicht auf 
mich nehmen, ihn zu rechtfertigen, wenn er bie verwegenfchöne 
Kunft des Akrobaten befingt und fih am Schluſſe entſchuldigt, daß 


47 


er einen fo niebrigen Gegenftand gewählt habe, wenn er in ſei⸗ 
nem Dolce far niente die Poeſie des Müfflgganges mit ge 
wohnter herrlicher Barbenpracht ver Bilder entfaltet und zuletzt 
meint, moralifchen Einwendungen Rebe ſtehen zu müffen. Bel 
Uhland wüßte ich von dieſer moralifhen Befangenheit nichts 
zu finden; fein Gemüth erſcheint, nachdem man bie ſentimen⸗ 
tal elegiichen Gedichte des Anfangs Hinter fih bat, harmlos 
heiter und einem weltlichen Behagen, freilich mit Befchränfung 
auf alterthümlich einfache Verhältniſſe, keineswegs verfchlofien ; 
wer ed von Kerner nicht gelten läßt, hat die Reiſeſchatten nicht 
gelefen, und bei E. Mörike fprubelt und ſprüht auf tragiſchem 
Hintergrunde ein ebenfo heiterer al3 tiefer Humor. 

Dies aber ift richtig, daß jene Kämpfe der nach höchſter 
Freiheit des Selbftbemußtfeind ringenven, durch Zweifel geſpal⸗ 
tenen Subjectivität auf der Seite unferer naiven Dichter nicht 
zu treffen find, am eheften bei Mörike (Maler Nolten). Pfizer 
aber hat entfchieden etwas von Byron's Geiſte und iſt von 
diefer Seite eine gang moderne Erſcheinung. Hier entfteht nun 
freilich vorerſt die Trage, ob dieſe Zuftände,_biefe Kämpfe des 
durch die Qualen. der Zerriſſenheit zu höherer Harmonie auf⸗ 
ſtrebenden Geiſtes überhaupt ein poetiſcher Stoff, oder nicht 
beffer allein der philoſophiſchen Debatte zu überlafien feien. Ges 
wiß das Erftere; ober ift es nicht ein’ erhabened Schaufpiel, 
- ben Selbftbewußtfein zuzufehen , wie e8 beginnt, ſich ald den 
Angel der Welt zu fühlen, dem nichts Fremdes von außen 
aufgedrungen werben kann, mie es alles fcheinbar Feſte und 
Dinglicde flüffig macht und in das Ich reforbirt, und in biefer 
innerften Mevolution bald ben feften Grund verliert, ber Ver⸗ 


48 


zweiflung in die Arme ftürzt, bald im Gefühle feiner ‚Kraft 
muthig den Kampf fortfegt und auf die ferne Friedensinſel hin- 
blickt? Iſt Goethe's Fauſt nicht erhaben? Eröffnet fih nicht 
der Bruft des Inrifchen Dichter eine neue Welt unendlicher 
Gefühle, wenn diefer Kampf taufendjaitig in ihr anklingt, flieht 
der erzählende nicht neue reiche Bahnen vor fih, auf denen 
er feinen Helden dieſen Bildungskampf im modernen Sinne 
kann Tämpfen laſſen, und gewinnt nicht der dramatifche - einen 
neuen Boden der bedeutendſten Entwidelungen, fei es, daß er 
dieſen Kampf unmittelbar zu ſeinem Stoffe wählt und Hamlet 
in neuen Geſtalten vorführt, ſei es, daß er ein Thema aus 


einfacher alter Zeit mit der Haren Einſicht des modernen Gei⸗ 


ſtes in die dialektiſche Colliſionsfähigkeit alled Sittlihen behan⸗ 
beit? So gewiß nun diefe Kragen zu bejahen find, fo ift doch 
bis jetzt die Aſſimilation dieſer modernen Ideen in die Poeſie 
noch nicht vor ſich gegangen, und wir beſitzen außer dem — 
nach anderer Seite doch ſelbſt auch poetifh mangelhaften — 
Fauſt und Clavigo von Goethe noch nichts Acht Poetiſches in 
biefer Richtung. Unter Heine's Liedern find bie ſchönen eben 


diejenigen, wo feine Ironie und Zerriffenheit nicht zum Vor⸗ 
ſchein kommt. Ironie und Zerriffenheit koͤnnen ganz wohl einen 


poetifchen Anblick gewähren, aber die feinige nicht, weil es eine 


toquette und bübifche ift. Mundt's Madonna, Laube's junges Eu- 


ropa, Kühne's Guarantaine, Guzkow's Wallg: man mag an die 
fen Producten dies und jenes loben, aber poetifch find fie wahrlich 
nicht; es find geiftreiche Meflerionen, es find Debatten mit Lofe 
angebängtem poetiſchem Kleide, oberflächlich perfontficirte Begriffe, 
ed find didaktiſche Poeſieen. Es iſt auch gar nicht zu verwundern: 


49 


jebe neue Idee, wie. fie zunächft als Gedanke aufgefunden und auf⸗ 
geftellt wird, tft eben infofern proſaiſch. Sol ſie poetifch werben, 
fo muß fie erft in die Gemüther übergegangen, in succum et 
sanguinem vertirt fein, fie muß gezündet, Leidenfchaften erregt 
haben, dann erft wird fie poetifher Stoff. Dazu muß fie ſich aber 
Zeit nehmen. Haben wir nun in. diefer Richtung noch Feine Poeſie, 
fo folten wir vor der Sand froh fein, wenn wir in Tieck no 
einen ſchönen Nachklang der Romantik, In unfern ſchwäbiſchen 
Lyrikern noch naive Lieverbichter haben, und es ift eines der Merk⸗ 
zeichen der verkehrten Art, womit jene Propheten ihre Sade 
begonnen haben, daß fie mit einem Bilderfturme diefer in unfere 
Zeit bereindauernden guten alten Klänge begannen. „Feuerjo! 
Es giebt etwas Neues, Alles, Alles wird anders““! Nun was 
denn? Wo denn? Mach erft etwas Neues, fo giebt e8 etwas 
Neues: wenn du nur immer fehreift, es fei etwas Neues da, 
fol denn dies Geſchrei eben es fein, worin Died Neue da iſt? 
Dad ift ein Laufen, ein Heben, ein unmüßiged Wefen, wo⸗ 
von man dad Gefühl hat, daß einem zwanzig Stimmen, jede 
etwad Anderes, beftändig ind Ohr fehreien; ginge e8 nad) den 
vielen Artikeln, die in norddeutſchen Unterhaltungäblättern alle 
Augenblicke irgend einen Kaufmannddiener oder Studenten, ber 
von Börne und Judenemancipation, von dem großen Welt 
fihmerze, der auch ihm mitten durchs Herz gegangen fei u. dgl., 
ein aufgedunſenes Kraft⸗ und Saftgevicht probucirt, für einen 
Meſſias der modernen Poeſie ausſchreien, fo Tönnten Homer; 

Shafefpeare, Goethe, Schiller nur hübſch ordentlich abziehen, 
| thr Stündchen wäre gefommen. Du fehimpfft auf Uhland; mad 
einmal ein 'ächtes Volkslied, wie fein unvergleichlihes: Ich 

Kritiſche Gänge. ‘ 4 


50 


hatt’ einen Kameraden ie., mach einmal en patriotiſches, wie 
fein: Wenn heut ein Geift ꝛc., mach eine Ballade, wie ber 
Waller! Du fagft, er fet eintönig, in einem armen Ideen⸗ 
£reife drehe er fi herum; es ift wahr, Uhland ift nicht fo 
beweglich, vielfeitig,, taufendfältig, wie Rückert, feine Leier 
bat weniger Saiten, aber biefe geben einen vollen, runden, 
urfräftigen Metallklang, oder ich möchte feine Poefle dem Glo⸗ 
efentone vergleichen, und Rückert's dem vieltaftigen lavier. 
Ich begreife nicht, wie ©. Pfizer in feiner Schrift über Uhland 
und Rückert unentfchieven laſſen konnte, welcher von beiden ber 
größere Dichter fei. Entweder man giebt zu, daß das Speci⸗ 
fifche der Poeſie in einer durch die Phantafle erzeugten un- 
mittelbaren Einheit von Bild und. Gedanken liegt, und dann 
iſt Uhland's Poeſie intenftv Die ächtere, unvermifchtere, obwohl 
im Umfange die ärmere, wozu man Nüdert noch hundert wei⸗ 
tere Vorzüge zugeftehen kann; oder man giebt es nicht zu, 
und ftellt Rückert, deſſen Dichten nachweisbar vom Gedanken 
ausgeht, um dieſem erft nachträglich durch die Phantafle als 
Dienerin Töftliche orientaliſche Gewänder überzuwerfen, neben 
oder über Uhland, aber dann iſt au ber fpecififche Linter- 
fehied der Poefle und Profa verwilht. Uhland's Mufe lebt im 
Mittelalter, er iſt Romantiker; aber intereffant ift es, wie er 
und Schwab von der romantifhen Schule fich wieder weſent⸗ 
ich unterfcheiden. Sie nahmen dad phantaftifch Myſtiſche, die 
brennende Farbengluth der Sinnlichkeit und die Ironie nicht auf, 
welche fonft die romantifche Schule bezeichnen, ſondern holten 
fih nur dad markig Feſte, menfhlih Wahre umd Biedere aus 
ben Mittelalter heraus. Dies charakterifirt fie als Schwabe, 


91 


wiewohl ih das Glänzende und Berauſchende jener andere 
Ingredienzien der Romantik auch nicht hergeben möchte. Nun 
— wir find freilich der Madonnen, Nıtter, CEdelfräulein, Bur⸗ 
‚ gen etwas müde; andere Zeiten, andere Weiſen, bie Poefle 
muß wie Alles ihre Phaſen ändern, aber_bie neue 
noch nicht. de, und. die Jugend ſoll nicht die Bietät gegen eble - 
Vertreter eines Älteren. Princips abwerfen. | 
Wenn ih nun zu den höchſten Sphären, Religion und 
Wiſſenſchaft, übergehe, und zuerft von jener rebe, fa 
muß ich fogleich einer höchſt betrübenden Erfcheinung gedenken. 
Der Pietismus, dieſe Krätze, weldhe die edelften Säfte des 
Geiftes in Eiterung ſetzt, ift von Alters her bei und einhei⸗ 
mid, und verbreitet fi in immer weiteren Kreifen. Hier iſt 
jogleih ein Unterſchied zu ziehen zwiſchen ven niederen unb 
höheren Ständen, da die Urfachen der Verbreitung der Endes 
mie in beiden verſchieden find. In den unteren Ständen mögen 
zwei auf den erften Anblick fehr heterogene Urfachen diefe Krank⸗ 
heit erzeugen. Einerſeits mag daſſelbe Freiheitsſtreben, das 
in der Politik unter ver edleren Geſtalt des Liberalismus aufe 
tritt, im gemeinen Manne die Luft erzeugen, fih außer dem 
öffentlichen Gottesdienſte und dem gewöhnlichen häuslichen noch 
feine aparte Religion zu halten. Zugleich mit der Reformation 
nahm das Sektenweſen in Wirtemmberg fehr flark überhand; 
der Separatismus, der vor einiger Zeit fanatifche Anhänger 
bei und hatte, ift infofern mit dem Pietismus verwandt, als 
auch dieſem die Tirchlichen Formen nicht genügen und er fi 
feine befondere religidfe Suppe Eochen will. Andererſeits aber 
ift e8 der Hang zur Innerlichkeit, zum fepmermüthigen Tiefe 
A * 


32 


nn, der, ben Schwaben überhaupt eigenthümlich, hier wieber 
zum. Borfchein kommt. Der Pietismus iſt gerade dadurch eine 
fo tief Eranfhafte Erfcheinung, daß er nicht eine einfache Une 
wahrheit, fondern eine verbrehte Wahrheit zur Grundlage hat. 
Er geht von dem’ Principe aus, das Außerlich gegebene Dogma 
den Inneren tiefer zu affimiliren, als die öffentliche Religion 
died zu beivirfen fcheint; infofern ift er mit ben Myſticismus, 
ber ben Inhalt des Dogma zur Intuition und reellen Ver⸗ 
mählung mit feinem Innern zu erheben fucht, verwandt. 
Aber unendlich geiftlofer als dieſer bleibt er auf halben 
Wege ftehen und Elebt flarrer als der verhärtetfte Buchflaben- 
dienſt an der bloß äußerlichen, grobfinnlicden Auffafjuhg ver 
religiöfen ‚Wahrheiten, um jeden, der nicht eben fo thut, mit 
dem triefenden Geifer feiner Verdammungswuth zu befprigen. 
Blasphemiſch vindicirt er die Wirklichkeit dem Teufel, flatt 
Gott, und indem er die Sinnlichfeit, dieſes edle Werkzeug, 
diefen geflügelten Boten des Geiſtes, verdammt, flatt fie im 
yernünftigen Genufje der Weltfreuden zu bilden, ftößt er fie 
in einen Winkel zurück, von wo fie, verläugnet, unbewacht, 
nur un fo beftialiicher als Hochmuth, Nachfucht, wilde Wolluſt 
ausbricht. Gewiſſenloſe Geiftliche, uneingedenk, daß zu erbauen, 
nicht durch Xergerniß zu verwirren ihre beſchworene Pflicht iſt, 
zerren Fragen wie die Straußifche vor ein Publikum, vor dad 
fie nicht gehören und ſchüren durch ihr Gefchret den Fanatismus 
bis zur Hundswuth an. Das Widrigſte aber am Pietismus ift 
die Schamtlofigfeit der Enthüllung bes geheimften Innern, das 
Reden von den zarteften inneren Erfahrungen in Geſellſchaft, das 
Ginmifchen heiliger Namen in jedes Bagatell, dad gemeinſchaft⸗ 


53 


liche Beten mit Geberden ber Zerknirſchung, wobei von bem ſchö⸗ 
nen Spruche: wenn du beten willſt u. |. w. feine Ahnung mehr 
zurüd tft; von dieſer Geite äußert er eine ebenfo große. Ab⸗ 
ftumpfung des Schamgefühls, als jede unzartefte Bloslegung ber 
beiligften Gefühle. 

Eine. tröftlihe Ausficht eröffnet ſich Hier nur durch b den P 
eben berührten Umftand , daß gegenwärtig die Notiznahme von 
wiſſenſchaftlichen Erſcheinungen durch die Bermittelung von Geiſt⸗ 
lichen auch bei den niederen Ständen den Pietismus anſchürt: 
Denn fo iſt die wachſende Wuth des Pietismus zugleich die 
Probe der wachſenden Freiheit des Geiſtes auf der andern 
Seite. Hierin iſt nun die Haupturſache zu ſuchen, warum der 
Pietismus auch am Heerde der Intelligenz, auf unſerer Uni⸗ 
verſität, wo er früher nur ſporadiſch vorkam, in geſchloſſenen 
Maſſen bei den Studirenden der Theologie ſich immer mehr 
ausbreitet. Zwar iſt die Erſcheinung der Krankheit auf dieſer 
Stelle nicht unabhängig von ihrer Herrſchaft in den niederen 
Ständen und hiernach die obige Diftinction nicht abjolut: zu neh⸗ 
men. Sünglinge aus gebilveten Ständen, wo Doch gewöhnlich 
dad Kind zur vernünftigen Freiheit und zum Menfchlichen er⸗ 
zogen wird, geben nicht Teicht zu diefer Heerde über, bie mei⸗ 
fien bringen den Stoff von Baufe aus eingeengten, unfreien 
Verhältniſſen mit. Daß er aber gerade gegenwärtig fo ficht- 
bar um fich greift, iſt doch mefentlih aus der Dppofition zu 
erklären, Die fich theils gegen die Fortſchritte der Wiſſenſchaft 
theil8 gegen die veligiöfe Indifferenz ber Sonoratiorenftände 
mit befonderer Schärfe da erzeugen muß, wo Theologie ſtu⸗ 
dirt wird. Was den Iehteren Punkt betrifft, fo ift Die Klage 


4 


über Mangel an Eirchlihem Sinne bei umferen gebildeten Stän- 
den im Allgemeinen nicht ungegründet. : Stuttgart mat noch 
am eheften eine Ausnahme; hier hat ein - gewifier Ticchlicher 
Sinn ſich mehr erhalten, al3 anderswo; fonft aber frägt der 
wirtembergifhe Beamte nicht viel nach Dogma und Gotteöbienft, 
nur am Geburtötage feined Königs zieht er die Uniform aus 
dem Schranke, fit pflichtmäßig in feinem Kirchenftuhle und 
macht ein Geſicht, als wollte er. mit Falſtaff fagen: ‚wenn 
ich nicht vergeffen habe, wie das Inwendige einer Kirche aus⸗ 
fteht, fo bin ih ein Brauerpferb”. Die ift eine Nachwirkung 
bed in diefen Sphären noch nicht überwundenen Princip8 ber 
Aufklärung, wie ed in Frankreich als Revolution und Atheis⸗ 
mus, bei und ald platter Nationalismus und als Auflöſung 
der Religion in Kantifche Moral zum Vorſchein kam. Man 
weiß, daß der Kantifche Subjectivismus überhaupt im Allges 
meinen noch die Weltanficht der Juriften und Negiminaliften 
it, während bie der Naturforfcher ſtark zum Materialismus 
hinneigt; mit diefen Anſichten werben fortdauernd bie Studi⸗ 
renden biefer Facultäten auf der Yiniverfität influirt, und fo 
Kann fich natürlich in dieſen Ständen Fein kirchlicher Sin er- 
zeugen. Das Nebel ift im Grunde fo groß nit; man muß 
‚zugeben, daß die Wahrheit auf verfhiedenen Wegen gefucht 
werden kann, der Materialismus des Mediciners ift glücklicher 
Weife gewöhnlich inconfequent, und berjenige, der dad Reli⸗ 
giöfe in der freilich unyolllommenen Form bed Moraliſchen 
aufgefaßt bat, darf doch wohl auch getroft vor feinen Gott 
treten. Unſere Prebiger find über dieſen Zuftand fehr böſe und 
theilen hei Gelegenheit einen tüchtigen Treff aus; predigen fie 


5 


erſt befier, fo wird es ſchon anberd werben. Die Kanzelberedt⸗ 
famfeit if} bei und, wie die Beredtſamkeit überhaupt, wirklich 
in kläglichem Zuſtande. Die ſchwäbiſche Schüchternheit verkicht 
dem Canditaten ſchon bein erften Auftreten ven Mund und 
nagelt ihm die Arme an die Hüfte oder an's Kanzelbret, nach⸗ 
ber Eommt der ſchwäbiſche Eigenfinn dazu und macht ihm weiß, 
der Prediger dürfte nur fo reden, wie ihm der Schnabel ge⸗ 
wachſen ift, und fo bie und da mit ber Hand hervorwiſchen, 
fo fei Vortrag und Action in ber beften. Ordnung: er will 
nicht begreifen, daß das Predigen eine Kunft iſt. Dann die Form 
der Darftelung: was kann ein Prediger wirfen! Wie unge 
heuer ift die Macht der Rede! Wie kann fie die Gemüther bis 
auf den unterften Grund aufwühlen und Im Sturme mit fi 
fortreißen! Aber hier Hört man unter zehn Predigten gewiß immer 
neun, welche ganz bemonftrativ, als follte ein bogmatifcher 
Locus auögeführt werden, ihren Stoff abhafpeln. Endlich das 
Berhalten zu den verſchiedenen Bildungsftufen ver. Zuhörer : bier 
eröffnet fich freilich die größte Schwierigkeit für den Prediger. 
Er fol und muß am Dogma feſthalten, der größere Theil feiner 
Zuhörer, dem fehlichten Volfe angehörig, erwartet e8 mit Net. 
Nun befteht aber der andere Theil meift aus aufgeflärten, Kan⸗ 
tifeh redigirten Köpfen, die für die pofttiven Lehren des Chriften- 
thums allen Diagen verloren haben. Ignoriren darf er, will er 
gewiſſenhaft fein, den Standpunkt der Letzteren auch nit, fon» 
bern die Aufgabe ift offenbar, an ihn anzufnlipfen und ihn un« 
vermerkt in bie höhere Betrachtung der Dinge hinüberzuleiten, 
welche im kirchlichen Dogma bildlich enthalten ift. Sol ihm dies 
gelingen, fo muß er ven Buchflaben und Körper ded Dogma fo 


96 


viel möglich verſtecken und befto mehr feinen flüfflg gemächten 
Geiſt in die Tiefe des Bewußtſeins hineinleiten. Er fol beſtimmte 
Sphären der Wirklichkeit, fittliche Lebensverhältnifſe, concrete Fra⸗ 
gen, wie Erziehung, Bamilienleben u. |. w. zu feinem Thema wäh⸗ 
len und ven Zuhörer fo flimmen, daß er Luft und Liebe befommt, 
diefe Verhältniſſe im Geifte des Evangeliums zu behandeln. 
Dies ift offenbar die höchſte und ſchönſte Aufgabe des Kanzel- 
redners. Er braucht nicht viel heilige Namen zu nennen, hei⸗ 
lige Geſchichten zu erzählen, er fol wirken, daß der Sohn 
Gottes’ in Jedem neu geboren werde, in Jedem neu fein Er⸗ 
löſungswerk beginne, dann braucht er von ihm als biefer be= 
flimmten einzelnen Perfon, an welche unfere Honoratioren ein⸗ 
mal im kirchlichen Sinne nicht mehr glauben, eben nicht immer 
zu reben. Der gemeine Mann freilich möchte nur Immer mit 
recht dickem dogmatifhen Stoffe die Taſchen voll befommen, 
aber dieſem Gelüfte ift. nicht nachzugeben, und er wird ed end⸗ 
lich auch zufrieden fein, wenn einmal flatt biefer floffartigen 
Maffe der aus dem Körper des Dogma befreite, flüſſig ge= 
machte, ind Bewußtſein hineingeleitete Geift des Chriſtenthums 
fein Herz erquidt; nur in diefem Sinne war ed gemeint, wenn 
ich oben fagte, die Predigt müſſe für ihn am Dogma fefthal« 
ten. Statt deſſen premirt num aber die Mehrzahl unferer Pre⸗ 
biger im Sinne ded Supranaturalismus den Köper ded Dogma 
und macht dem recht tüchtig die Hölle Heiß, der an biefen nicht 
glaubt: was Wunder, wenn unfer Kantianer zu Haufe bleibt 
und feine Pfeife raucht? Der Supranaturalismus, wie er dem 
Rationalismus gegenüber fi) gebildet bat, ift bekanntlich etwas 
ganz Anderes, ala die altkirchliche Orthodoxie. Er vereinigt 


97 


bas Schlimme ſowohl von dieſer, als von ſeinem Gegner, dem 
Rationalismus, in ſich und dad Gute von beiden fehlt ihm. 
Bon jener hat er dad alte Dogma, von diefem die Fable Ver⸗ 
ſtandesmetaphyſik und den verftocten Pelagianismus aufgenom« 
men, bie ihn den tieferen Sinn jened Dogma verhüllen und 
nun dazu dienen müſſen, den dennoch geglaubten Buchſtaben 
befjelben mit DVerftandesgründen zu flüben, d.h. mit Mitteln, 
welche vielmehr gegen den Zweck find. Diefes Stützen und 
Begründen hat feinen Urfprung in dem Bebürfniffe des mo⸗ 
bernen Bewußtſeins, nicht ald wahr anzunehmen, was fid 
nicht ausweiſen kann als ein folched, worin daſſelbe bei ſich 
ft: das große Recht ded Nationalismus. Don dieſer Seite 
iſt der Supranaturalismus fo rationaliſtiſch, als ber dürrſte 
Rationalismus, er iſt von dem Princip der Aufklärung ganz in⸗ 
ficirt, genießt aber ſeine Früchte nicht, ſondern da er nun dennoch 
an der ausgeweideten Haut des alten Dogma hält, ſo iſt er eine 
in dunkler Bewußtloſigkeit ſich ſelbſt durch und durch widerſpre⸗ 
chende Erſcheinung wie die Lutheriſche Abendmahlslehre, welche 
die katholiſche und die Zwingliſche zu einem Neſt von Wider⸗ 
ſprüchen vereinigt. Dieſer Verſtandesſupranaturalismus hat unſer 
wirtembergiſches Geſangbuch in den neunziger Jahren „dem heu⸗ 
tigen verfeinerten Geſchmacke näher gebracht“ und unſere Liturgie 
geſchrieben: dort die edelſten alten Lieder unverantwortlich utelt 
und neue aufgenommen, wie das: 

Sch ſterb' im Tode nicht! 

Mich Überzeugen Gründe, 


Die ih, je mebr ich forſch', 
In meinem Wefen finde u.f.w, 


38 


hier hat ex. Gebete und Formulare :eingefeßt, bei beren Mattigkeit 
und troftlofer Irreligiofltät man fich ernſtlich nach der ſcharlach⸗ 
rothen Sprache bed Fanatismus fehnen Fönnte. Den ganzen 
Inhalt diefer Liturgie kann man auf die Worte reduciren: Lieber 
Gott, du haft und durch außerordentliche Veranftaltungen,, wor« 
unter fogar Wunder vorfamen, belehrt, daß und jenfeits, wenn 
wir nur recht moralifch find, die gebratenen Tauben bei übrigens 
wachiender Vervollkommung in den Mund fliegen werben: zu bir, 
zu dir ſchwingt unfer Geift ſich empor! 

Dieſem religiöfen Zuftande gegenüber iſt e8 Fein Wunder, 
wenn das tiefere religiöfe Beduͤrfniß, das in der Innerlichkeit des 
ſchwäbiſchen Naturells begründet ift und" im öffentlichen Gottes⸗ 
dienfte zu wenig Nahrung findet, in der kranken Form des Pietid- 
mus zum Vorſchein kommt, ber übrigens feiner gefährlichften 
Feindin, der Speculation, gegenüber freilich ben gefchilderten 


. . Gupranaturalismus auch wieder dankbar als Streitgenoffen auf 


nimmt. Wo ein irreligtöfer Verſtand fi in der Religion breit 
macht, muß es nothwendig auch eine unverftändige Religioſität 
geben. Könnte man aber von biefem Standpunkte aus geneigt 
fein, den Pietismus zu entſchuldigen, fo muß er um fo verwerf- 
licher erſcheinen, wenn man erwägt, daß die fyerulative Theo⸗ 
Iogie, welche fih bei unferer Jugend Immer mehr Freunde 
erwirbt und dem Bedürfniß einer vertieften Auffaffung der reli⸗ 
giöſen Wahrheiten die vollfte Befriedigung verfpricht, Daß gerabe 
biefe der Gegenftand des wildeſten Haſſes der Parteien ift und feine 
Lager mit immer neuen Nekruten füllt. Ihr ſteigendes Wachsthun 
ift e8, woraus allein hinlaͤnglich zu erflären tft, warum gerade 
jet und gerade unter unferer ſtudirenden Jugend ber Pietismus fo 


99 


ſehr um ſich greift. Denn gerade bei und Hat fle einen entichelben- 
ben neuen Schritt zur tieferen und freieren Entfaltung ihres Prin⸗ 
cips geihan, welcher allen denjenigen, die unfähig ober zu träg 
find, im Zufammenhange zu denken — und nur ein foldher Tann 
Pietift werden —, die Religion vielmehr zu zerflören, als zu ver» 
tiefen ſcheint. | 

Ein eigenthümliches Gewand hat unfer Pietismus dnd 
A. Knapp angethan; er wurde modern, fentimental, ex bequeinte 
fich ſo weit den Kindern der Welt, daß er Almanachsform ummahm 
und feinen Chriftus im Frad einführte. A. Knapp hat ein anſehn⸗ 
liches Talent zur Poefle durch feine pietiſtiſche Umwendung ſchimm⸗ 
licht gemacht. Er läßt Leonidas mit feinen gefallenen Zapfern, ba 
Schwert noch krampfhaft in die Kauft gepreßt, in herrlichem Zuge 
zur Unterwelt wallen, dann ftoßen fie aber auf Abraham und Sara 
und müffen fle küſſen. Seine poetifche Theorie ift: alled. Große 
und Schöne auch aus der profanen Welt fol Stoff der Poeſie fein, 
aber nur, fofern es durch eine aus drücklich e Beziehung auf 
bad Chriftliche geheiligt ift, er fagt zu dem Dichter: preiſe im⸗ 
merbin Griechenland in feiner Herrlichkeit, aber bedaure am 
Schluſſe des Gedichtes lebhaft, daß Athen Feinen Stabtpfar« 
rer hatte, daß Homer Fein Gefangbuh fehrieb und Achilles 
feinen Confirmationsunterriht genoß! Nichts fol in fih, im 
der Grenze und Beflimmtheit feined Weſens Theil haben an 
Gott, es fol erft diefer Thran priefterliher Salbung , dieſes 
ChHriftoterpentinöl darüber gegoffen werben. Doch verlafen wir 
biefe feuchten, dumpfen Höhlen und. fleigen in das Licht ber 

Wiffenfhaft auf. Lim: die eigenthümliche Weiſe, tm 
welcher die neueften Fragen ber Speculation von Strauß bes 


- 


60 
Handelt worden find, aus dem ſchwäbiſchen Nature! begreiflich 
zu machen, werfe ich zuerft einen Blick auf das Gebiet der 
nicht fireng wiſſenſchaftlichen Debatte, auf die Art, mie fid 
ber Schwabe im gewöhnlichen Leben zu gewiffen literariſchen 
Zeitfragen von allgemeinem Intereſſe zu verhalten pflegt. 

„Wer da? Raheliſt oder Bettiniſt? Göoͤſchel oder Richter? 
Dieſterweg ober Leo’? Erlauben Sie gütigſt, daß ich erſt dieſes 
Schöppchen Wein in Ruhe austrinke, dann will ich mich ent⸗ 
fheiden, vielleicht aber auch nicht. Spaß bei Seite! Der Schwabe 
verhält fich, mit dem Norddeutſchen verglichen, fehr indolent zu 
folchen Modefragen, mögen fie auch von mirflichem Intereffe fein 
und e8 ihm an einem ſolchen im Sintergrunde gar nicht fehlen. 
Wie eifrig ventilirt man foldhe Dinge in norddeutſchen Eirkeln ! 
Wie ſchnell machen entgegengefehte Meinungen Bartei! Der nord⸗ 
deutſche Geift Hat eine große Neigung zur Disjunction, zu einem 
Entweder Oder, zu eifrigenm Erfaffen des einen von ‚zwei ent- 
gegengefeßten PBrinciplen, und hängt dann mit einer — dies 
Refultat haben mir wenigftens meine Beobachtungen gegeben, — 
häufig etwas unfreien und unkritifhen Begeifterung an der Aus 
torität, für die er ſich entfchieden hat, wiewohl gerade durch 
bie Friction der hieraus entftehenden Polemik fein Intereffe im⸗ 
mer friſch, beweglich und. univerjel erhalten wird. Unter ben 
Studirenden in Berlin bemerkte ich eine Seftirerei, die in Tü- 
Bingen unmöglih wäre Der Schleiermacherianer hielt ed für 
Srevel, bei einem Anhänger Hegel's eine theologifche Vorlefung 
zu hören, dem Jünger Neander's durfte man feinen Neanber, 
bem Schüler Marheineke's feinen Marheineke nicht antaften. Ich 
hörte einmal. Schleiermacher mit eigenen Ohren. in ber Aeſthetik 


61 


bie aberwigige Benieskung vortragen: daB Rellef bilde von ber 
Malerei den Mebergang zur Plaſtik fhon deswegen, weil auch bei 
einem Gemälde, wenn man über deſſen Fläche binfehe, an Stel 
len, wo die Barbe dicker aufgetragen fei, Fleine Erhabenheiten bes 
merkt werben. Dies erzählte ich nachher zwei Anbetern Schleier- 
macher's, Männern von gefeßtem Alter, um ihnen einen Spaß | 
zu bereiten. Wie fhlecht Fam ih an! Man begriff gar nicht, wie 
ih an Schleiermacher etwas lächerlich finden Eönne! Auch im 
Hörſale Hatte ich niemand lachen fehen; in Tübingen hätte 
Schleiermacher auch unter einer Schar der glühenditen Anbeter 
fo etwas nicht fagen können, ohne eine große Heiterkeit zu erre⸗ 
gen. Wäre in Norbdeutfchland nicht wirklich eine ſolche Neigung 
zu unfritifcher Entjchiedenheit für Principien, Autoritäten, wis 
wäre es möglich, daß unter fo vielen Andern felbft der bewe⸗ 
gungsreiche, finnige Roſenkranz dem zweiten Theile von Goethe's | 
Fauſt, diefem froftigen, allegorifhen, didaktiſchen, todtgebore⸗ 
nen Kinde einer welfen Phantafie, dieſem Probucte, das Goe⸗ 
the der Jüngling und Mann, Hätte man ed ihn vormeifen und 
fagen können: dieſes wirft du einft in deinem Alter machen, in 
unglaubigem Zorne an die Wand gefchleudert hätte, folche Wich- 
tigkeit beilegte und mit einem Ernſte zu entziffern fuchte, als 
fönnten wir und nicht ruhig in's Grab legen, ehe wir wiſſen, 
was die Mütter und der Homunculus find? Iſt denn die Poefle _ 
dazu da, daß ſie und. harte Nüffe zu knacken giebt? Ich fage: 


Wer 
u —— 


Stiefelwichfe , denke mir dabei die Flüſſigkeit der dialektiſchen 
Methode, und fhreibe dann meinem Freunde: „Ich habe cin 
Tüchtiges hineingeheimniffet ; fie werden etwas aufzurathen bes 
kommen“. 


62 


In folhen Dingen verhält ſich das ſchwaͤbiſche Urtheil total 
verſchieden. Der Schwabe nimmt wohl Notiz, aber er ſuspen⸗ 
dirt fein Urtheil und eilt nicht, fich in's Feuer der Debatte zu 
begeben. Ich will ihm dies gar nicht unmittelbar als Verdienſt 
anrechnen, ed ift zunächft die ſüddeutſche Bequemlichkeit, melche 
fi nicht beeilen will, aus dem Behagen der Unentſchiedenheit 
herauszutreten. Doch ift dieſes behagliche Element der ſüddeut⸗ 
ſchen Natur, zwar nicht die Wirklichkeit, wohl aber die Mög- 
lichkeit der höheren, ſpeculativen Kritif: es fehlummert darin 
der noch ftille und unbemußte Gedanke, daß jebe bedeutendſte gei⸗ 
flige Erſcheinung auch ihre Mängel hat und daß entgegengefehte 
Principien erſt in einer höheren Einheit ihre Löſung finden. Die 
Schwaben haben einen guten Schat von Humor ; einer Erſchei⸗ 
nung, die ſich als unbedingt erhaben anfündigt, ihre Grenze 
aufzumweifen ift ihr Witz jederzeit aufgelegt. Geſuchte Sprache, 
Bombaſt, foreirte Kraft, jede Renommage wird ſehr ſchnell ge» 
fühlt und in das edle Naß des Humors untergetaucht. Einen 
Dichter wie Grabbe können wir nicht als eine ſchauderhaft er⸗ 
habene Erſcheinung anſehen und wegen ſeiner bekannten uorali⸗ 
ſchen Verſunkenheit, als Hätte er den fürchterlichen Riß feiner 
Seele nothwendig mit Crambambuli ausfüllen müſſen, gar noch 
bedauern; er iſt und einfacher Schrayslump , der einiges Dich⸗ 
tertalent dadurch verderbte, daß er ſich durchaus zu einem Kraft- 
und Saftgenie aufblähen wollte. Was iſt doch z. B. fein Don 
Juan und Fauft für ein rohes Product! In ber bekannten Scene, 
wo Don Iuan die Polizei in der Oper fo zierlichwigig neckt, 
giebt er bei Grabbe dem Polizeibeamten einen Fauſtſchlag und 
prügelt ihn dann zur Thür hinaus: Tann ein Menſch, der dieſes 


63 


Einfalls fählg ft, eine Ader reinen poetiſchen Gefuͤhls Haben ? 
Die perfive Ironie eines Heine iſt ung zwar eine-eitgefglättid 
merkwürdige, aber nicht die unheimlich große Erſſcheinung eines 
energifehen Abfalls, fondern die leere Auffpreizung eines ungen 
zogenen Subjects. (Unter perfider Ironie verftche ich nicht, was 
Heine 3. B. im zweiten Theile feines Salon über die Tendenz der 
modernen Geiſtes, insbeſondere der deutſchen Philofophie, Tiefe _ 
blickendes gejagt hat, fondern feinen häßlichen Selbftgenuß im 
den häßlichen Mißklängen feiner Lieder, dad charakterlos bößwil⸗ 
lige Ineinanderſchillern halben Lobes und halben Tadel in feiner 
Darftellung der deutfchen Romantik, überhaupt jenes Ich, dem 
ed mit nichts Ernft ift, als mit fih). Sp fehr Heine's Manier 
durch dad große Talent, das fi von der andern Seite in ihr ofa 
- fenbart, zur Nachahmung reizt, jo Hat er doch in Schwaben 
meines Wiſſens Feinen Nachahmer gefunden, während fie an 
andern Orten wie die Pilze auffchoffen. Auch Freiligrath — fe 
wenig er übrigens in dieſe Gefellichaft gehört — ſtößt durch ein 
überall fichtbared Haſchen nach Kraft und geprängter Erhabenheit 
in hohem Grade ab. Wenn jened Gedicht, worin er den tragi⸗ 
chen Vorgang zu Ratheormac in Irland erzählt *), in feierlicher 
Grandezza beginnt: „Ich Tefe jetzo wenig Zeitungsblätter“, jo 
ift es ihm bereitd gelungen, und in’ vollfommene Seiterfeit zu 
verſetzen, wenn er dann feine Erzählung mit den Worten fließt: 
„Ich bog mich fehmeigend vor in das Kanıin, und eine Thräne 
sifchte in die Kohlen‘, fo wird ed und noch vergnüglicher zu 


*, Dad Gedicht fand im Morgenblatte, Ih citire aus dem Sedãchtnim 
einzelne Worte vielleicht ungenau, ich ſtehe aber für dad Weſentliche 


64 


Muthe, da ja einer Wendung, melde bie Thräne darſtellt wie 
gemeined Waſſer, nämlich mit einer akuftiihen Wirkung deſſel⸗ 
ben, nichts fehlt, um das ganze Wefen des Komifchen daran 
zu beduciren. 

Man Eannı die Achte philofophifche Methode humoriſtiſch nen⸗ 
nen, da fie von Feiner Wahrheit duldet, daß fie fi inſolire und 
der Ergänzung durch alle andern entziehe; der Humor ift dialek⸗ 
tifcher Natur. Ich glaube daher behaupten zu dürfen, daß der 
fehmäbifche Humor bereitd die fpeculative Anlage verräth. Der 
ſchwäbiſche Genius hat e8 aber an Ort und Stelle beiwiefen, daß 
er fperulativ ift. Wer es zufällig nennen will, daß der Reflexions⸗ 
dualismus Kant's und Fichte's von Norddeutſchen, bie poetifl- 
rende Ipentitätsphilofophie Schellingd und die durch das ffepti- 
{he Moment, das fie in ihre Methode aufnahm, um e8 zu über» 
winden,, auch gegen ven Verftand gewaffnete dialektiſche Philo⸗ 
ſophie Hegels von Schwaben ausging, der mag ed; er fehe aber 
zu, daß ihm dann nicht die Geſchichte überhaupt, wie fie die 
Völker und Stänme zu Werkzeugen ihrer Fortſchritte gebraucht, 
zu einer loſen Schnur von Zufällen werde. 

Hier wird man mich ſogleich fragen: wie kommt es denn, 
daß um die Philoſophie fo hochverdiente Geiſter ihr Syſtem nicht 
in der Heimath ausbildeten und in dieſer die gefuchte Stätte — 
Schelling und Hegel bewarben ſich um eine Lehrftele in Tübingen 
und wurden um ihrer Anſichten willen abgewiefen — nicht fan⸗ 
den? Wenn die Schwaben ſpeculativ find, warum haben fie 
denn ihre fpeculativen Köpfe ausgeftoßen? Diefer Widerſpruch 
wurde ſchon oben zugegeben. Der fpeculative Geift Schwabens 
wanderte in das Ausland; ob er Schwaben urfprünglich ange⸗ 


65 


hörte, muß ſich dadurch bewähren, daß er zurückwandernd wie⸗ 
per daſelbſt ein Obdach fand. Wo fand er e8 aber? Bet unfern 
Staatödienern nit; bei unfern Gelehrten nicht; bei unfern 
Univerfitätslehrern — Einen Eräftig freien Geift ausgenommen *) 
— nit; er fand ed bei einem Fleinen Häuflein Studirender, 
das ſich allınalig mehr und mehr ausbreitete, von älteren zu 
jüngeren Promotionen fortfegte, aber noch immer tfolirt und mit 
der herrſchenden Denkweiſe des WBaterlandes im Widerfpruche 
ftebt. Hier kommt es darauf an, wo man bie Intelligenz eines 
Landes repräfentirt, feine geiflige Quinteſſenz findet. Deutſch⸗ 
land darf auf feine Univerfltäten hinweiſen und fagen: bier tft 
mein Mark und mein Stolz. Die Deutfchen find das denkende 
Volk durch ihre Univerfitäten, ihnen bat die Weltgefchichte bie 
Neformation zu danken und der Geift jeden bedeutendften feiner 
Fortſchritte. Das deutſche Philifterium übertrifft in ihnen ſich ſelbſt 
und erkennt ſich in dieſem beften Auszuge feiner Kräfte ftaunend 
felbft nicht wieder. Wenn in einem beutfchen Lande das edelſte 
Product der heimijchen Intelligenz zuerft ausgeftoßen, und nad» 
bem es zurücffehrend bei jüngeren Generationen Anerkennung ges 
funden bat, auch dann noch von der Mehrzahl perborrefeirt 
wird, fo ift dies derſelbe Fall, wie wenn der Fuß oder Bau 
nad dent Kopfe binaufjähen und fragten: der Taufend! was 
figt denn da oben für ein Ding? 

Es ift bekannt, daß dad Mittel, wodurch Schwaben von 
Alters her fich auf der Höhe deutſcher Geiftesbildung gehalten 
bat, namentlih in feinen Schulen zu ſuchen ift und in deren 
Mittelpunkte, den Elöfterlichen Erziehungs und Unterrichtsan⸗ 


*) ©. hierüber, fo wie Über Manches, was ſich feither verändert Bat, 
dad berichtigende Vorwort, 


Kritiſche Gänge. 5 


66 


ftalten,, welche wieber ruckwaͤrts auf bie unteren Gymnaſten wir- 
fen, namentlich indem fie die 2ehrer an denſelben anfpornen, ihre 
Schüler dahin zu bringen, daß fle die Prüfungen zur Aufnahme 
in die Seminarien beftehen, was dann auch den übrigen Schüs 
Yern zu gute kömmt, die nicht Theologen find, und auf die höhe— 
ren Anftalten, indem ſie ihnen ihre beiten Lehrer zu liefern pflegen. 
Diefe Seminarien find — ein nener Beweis, daß in dieſer bie 
Springfeder unferer Bildung zu fuchen ift — mit der Reformation 
gegründet und feit einiger Zeit auch won der Fatholifchen Kirche 
nachgeahmt worden. Ihre Einrichtung feße ich hier als befannt 
voraus. Die niederen Seminarien, worin die Zöglinge vier Jahre 
zubringen, um für die Hochſchule herangebilvet zu werden, haben 
ehren vorzüglichften Werth in ven gründlichen Elaffifchen Kennt⸗ 
niffen, melche bier der Zögling als einen Schatz der Humanität 
für fein ganzes Leben erwirbt, und wozu ſchon vorher durch den 
guten Schulſack, der feit alter Zeit ein Ruhm der Wirtemberger 
tft, ein tüchtiger Boden gelegt ift. Es ging ein Sprichwort: aus 
einem wirtenibergifchen Magiſter kann alles werben, das in 
Graf Reinhard, Pair von Frankrelch, eine glänzende Beftäti- 
gung fand, und ſich namentlich auf diefe Sumanitätsftudien be 
rief, welche den Geift zu einem allfeitig menjchlichen Intereffe 
für jede Geftalt des Willens und Wirkend auöweiten. Uebrigens 
ift der Wirtemberger als eigentlicher Philologe nicht mehr fo ge- 
ſucht und berühmt wie früher; ſolche Erzlateiner und Griechen 
wie fonft, Tiefern unfere Seminarien nicht mehr. Freilich haben 
fi in neuer Zeit im übrigen Deutſchland die Schulen außeror- 
dentlih gehoben und die Einzigkeit Wirtembergs in dieſer Bezie- 
bung kann ſchon deßwegen nicht mehr behauptet werben ; eö kommt 
aber noch ein wichtiger Grund Hinzu. Die Philologie wurde frü- 


67 


ber zwar jehr gründlich, aber auch großentheils geiſtlos mecha⸗ 
niſch und ſehr auf Koften anderer, namentlih philoſophiſcher, 
Studien getrieben. Nur daraus, daß der gründlich eingeprägte 
Stoff vielfach auf vortreffliches Land fließ, find bie edlen Früchte 
zu erklären, welche oben als Erzeugniß jener claſſiſchen Studien 
gerühmt wurden: died kommt aber jelbft wieder auf Rechnung 
unferer Anftalten, indem dieſen durch die Concuräprüfungen 
ftet3 eine Auswahl beſſerer Köyfe zugeführt wird. Der wiſſen⸗ 
ſchaftliche Geift Hat ſich nun aber feit mehreren Decennien hierin 
weientlich verändert; er dringt nicht mehr auf bloße Kenntniſſe, | 
jondern auf Erkenntniß, und jo bat auch Wirtemberg, feit e8 
der Welt einen großen Dichter und zwei große Philofophen geges 
ben, feinen alten philologifchen Ruhm diefem höheren geopfert. 
Ein Schulmann von alten Schlage fagte, er begreife nicht, wie 
diefer Schelling fo berühmt geworden, er habe doch immer ein 
beſſeres „Argumentle⸗ gemacht, als dieſer: noch gibt es — es 
iſt unglaublich, aber ich garantire — bei und Philologen, wel⸗ 
che meinen, die neue Philoſophie könne ſchon darum nichts tau⸗ 
gen, weil man ſie nicht in's Lateiniſche überſetzen könne. Daran 
läßt ſich recht erkennen, welch' ein zweideutiges Ding die frühere 
Höhe unſerer philologiſchen Bildung war. Die Zöglinge unſerer 
Seminarien, wenn ſie von ben niederen in dad höhere zu Tür 
Bingen übertreten, werfen fih gewöhnlich mit Beijeitfegung der 
Philologie auf Philojophie und Theologie, und dies ift wenig⸗ 
ſtens gewiß befier, ald wenn fie die Philologie in der alten Ma⸗ 
nier forttreiben würden. 

Die großen Mängel unferer Seminar-Erziehung überhaupt aber, 
um dieſe der Betrachtung ihrer höheren Vorzüge voranzuſchicken, 

5 * 


68 


haben ihre Duelle darin, Haß dieſe Anftalten zu einer Bett ge- 
gründet wurden, als man fih vom Katholicismus zwar im 
Principe losgeſagt hatte, aber der weſentliche Unterſchied zwifchen 
ben proteftantifhen und katholiſchen Geiftlihen noch nicht Klar 
war. Der Geiftlihe ſollte ein Menfch fein, wie andere, dies hatte 
man eingefehen und. ven Eölibat aufgehoben, aber bis er zu öf- 
/ fentlicher Wirkſamkeit hervortrete, müffe er, meinte man dennoch, 
> ein Mönch bleiben. Man fpra dies, obwohl äußere Gründe 
zur Wahl dieſes Locals die nächften waren, ſchon dadurch aus, 
daß man die Seminarien in eben audgeleerte Klöfter verlegte und 
die Clauſur, ja die Kutte einführte. Noch unfere Väter gingen 
als vierzehnjährige Knaben in Tangen rauhhärigen Kutten, in 
Tübingen faßen noch vor etwa fünfzehn Jahren die Seminariften 
mit Ueberſchlägchen, welche jederzeit fcharfe Orbonnang waren, 
hinter dem Bierfpiele und Befeuchteten die heiligen Läppchen 
mit profanem Naß. — Sp war denn der vierzehnjährige Knabe 
der Familie entriffen, hinter Schloß und Riegel mit zwei bis 
drei Dubend Kameraden eingepferht und von der argen Welt 
mit ihrer Luft abgefchloffen. Eben in diefem Alter ſoll in dem 
bilofamen Gemüthe der erfte Grund nicht nur zur höheren geifti= 
gen, fondern auch zur Weltbildung gelegt, namentlich der Kör- 
per zu einem beweglichen, formgewandten Werkzeuge der Seele 
herangezogen werden, biefe fol fih in den Befſitz ihres Leibes 
fegen, damit derſelbe nicht ſtörriſch fich weigere, ihr ald Aus⸗ 
druck ihrer Empfindungen, ala Sand ihrer Entfchlüffe zu dienen. 
Die Mutter namentlich ift gerade jegt unentbehrih, fle ſoll dem 
Knaben jagen: das und jenes ift ſchicklich oder unſchicklich, to 
und fo verbeugt man fich, damit man Feine Lächerliche, holperichte 


69 


Figur macht; der werdende Jüngling fol in Geſellſchaften ges 
bracht werden, fol die Bildungsfehule im Umgange mit dem ane 
beren Gefchlechte beginnen; fol lernen die Berfireuungen und 
Bergnügungen der Welt mit vernünftiger Freiheit genießen, fol 
durch eigene Erfahrung frühe einfehen, daß in dieſen Genüſſen der 
unendliche Reiz nicht zu finden fe, den die unerfahrene Phan⸗ 
tafte hinter ihnen fucht, damit nicht ſpät der reife Mann dieſe 
Erfahrung unendlich mühfamer nachzuholen habe. Dabei bedarf 
er Aufficht und Anleitung, diefe wird ihm eben im Schoofe bet 
Familie. Was thut nicht allein der Umgang mit einer Schwefter, 
um einen Menfchen zu bilden! Wird er aber auch ber eigene. 
Familie oder fle ihm entriffen, die Korm der Erziehung, bie 
er auswärts findet, muß nothwendig derjenigen jo nahe als mög« 
lich kommen, die in der Famile Statt findet, er muß wo moͤglich 
wieder einer Familie libergeben werden. Die Aufficht im Seminar 
kann den Verluſt diefer Form der Erziehung keineswegs erſetzen. 
Mögen die Vorſteher ihre Zöglinge ſo ſcharf als möglich 
bewachen, ſo oft als möglich ermahnen, hier und da in thre 
Familie ziehen, wie wenig iſt damit gethan, da den größeren 
Theil der Zeit über der Rohere mit dem Beſſeren, derjenige, 
der edlere und feinere Sitten hat, mit dem Unbeholfenen und 
Rüpelhaften zuſammengeſperrt iſt und fo dieſe unreifen Mens 
ſchen ihrer gegenſeitigen Erziehung überlaſſen ſind. Wenn fie 
hier und da in's Städtchen zu einer Familie kommen, wenn 
ſie in den Ferien alle Halbjahre die Ihrigen wiederſehen, wie 
unzureichende Mittel gegen die aus dieſer Zuſammenſperrung 
entſpringende Verwilderung wenigſtens im Formellen, Bere 
ſchüchterung und Verdumpfung! D. Steudel ſagte zur Verthei⸗ 


70 


bigung unferer Seminarten in biefer Beziehung: Haben mir erft 
einen Coelftein, zum Schleifen ift immer noch Zeit! Hier liegt 
eine falfche Trennung des Inneren und ded Aeußeren zu Grunde. 
Zu einem Edelſteine gehört vorneherein Menfchenfenntnig, Welt 
Bildung, Sicherheit in der Form, Ablegung Inabenhafter Schüch⸗ 
ternheit, Sumanität. Diefes feheinbar bloß Aeußere ift gar nichts 
Unwefentliches, das fo nachträglich auch noch könnte mitge⸗ 
nommen werben. Ober, wenn man will: weil ed unweſent⸗ 
lich ift, iſt es wefentlih, das Heißt: meil e8 nicht der 
Mühe werth iſt, Lange Zeit auf die Form zu verwenden, fol 
man bie Sache frühe abmaden, um nicht ald alter Mann 
nit Derlegenheiten und Aengſten fih berumzuquälen, worüber 
der ſechzehnjährige junge Menſch hinaus fein follte. Weil der 
Körper bloßer Körper ift, weil er zum Mittel des Geiftes 
berabgefegt werben fol, muß man ihm feinen Eigenfinn fobald 
als möglich nehmen, damit es nicht zu ſpät werde und er fo 
verfuöchere und verfnorre, Daß nichts mehr mit dem fleifen 
alten Knechte anzufangen iſt. Iſt die rechte Beit, wo das Wachs 
noch weich iſt, verſäumt, fo nützen nachher Reifen, Umgang 
mit der Welt nicht3 mehr, man bleibt Zeitlebend ein halber, 
ungelenker, blöder, unfreier, gebannter Menſch. Ich habe hier 
nur vom Körper gefprocdhen, aber man vergeffe nicht, daß 
unvollendete Bildung dieſes Organs, wie fie im Innern ihren 
Sit hat, von außen wieder nad) innen fchleicht, um ein Ge⸗ 
fühl der Unſicherheit und Zweckwidrigkeit in der Seele felbft 
zu erzeugen. Einer, der ba figt und nicht meiß, wohin mit 
den Händen, ift nicht bloß mit den Händen, fondern mit der 
ganzen Seele in Verlegenheit, und dieſe Verlegenheit hindert 
ihn vieleicht, feine beften Gedanken herauszufagen, er hat alio, 


71 


indem er das Aeußere verſäumte, auch das Innore verſaumt —: 
kurz die Verſäumniß formeller Bildung iſt ein ſittlichos Uebel, 
und 68 gehoͤrt dieſer Punkt, wie die Pflicht der Reinlichke 
und manche von manchem Tugendhelden oder Gottesmanne v 
achtete Ähnliche Pflicht In das Syſtem der Moral. 

Im Seminar zu Tübingen haben die Zöglinge etwas mehr 
Luft, aber das Uebel ift Doch nicht gehoben, und man Tennt 
den Seminariften leicht an einem blöden und unfrelen Zuge, 
der ihm bleibt. Seine innere Bildung fteht in einem großen . 
Mifverhäktniffe zu feiner äußeren; im Gefühle dieſes Mangels 
zieht er ſich auf den Werth feiner geiftigen Bildung zuräd, 
und hieraus entfteht nun ein ganz eigened Geſchmackchen ‚ger 
genüber dem Stubirenden in der Stadt. Er ift fih bewußt, 
daß diefer den abgefperrten, firenge bewachten, immer noch in 
mehreren Beziehungen mönchifch gehaltenen Commilitonen etwas 
über die Achfel anfieht, er fucht dafür eine Satisfaction darin, 
daß er ihn feine, durch Die viele wiffenfchaftliche Anleitung, die 
er genießt, meift gediegenere und umfaſſendere geiftige Bildung 
fühlen läßt, und fo entfteht eine eigene Miſchung von Barbarek, 
von einem Gefühle des Gedrücktſeins und von Bildungsſtolz, 
wohlweiſem Weſen, welche den Seminariften feinen Kamme⸗ 
raden außer dem Seminar fehwer umgänglich macht. Zu Allem 
kommt noch die angeborne Schwerfälligkeit ſchwäbiſcher Natur, 
und fo bleibt von biefer Erziehung lebenslang ein Reſt von 
Verſchüchterung, der Geift iſt bei allem Reichthume wie mit 
eifernen Meifen gebunden, er kann, wo es ſich nicht um wif« 
fenfehaftliche Mittheilung handelt, nicht heraus, nicht über bie 
Schwelle, er flottert und flolpert. Ich weiß dies Alles aus 


72 


eigener Erfahrung, denn ich Bin ſelbſt durch dieſe Anſtalten 
gegangen, und man mag aus dieſem Geſtändniſſe ſehen, daß 
ich auch hier Niemand verletzen will. 

Inzwiſchen es iſt freilich leicht, dieſe Mängel unſerer An⸗ 
ſtalten zu bemerken, aber ſchwer zu ſagen, wie die unverkenn⸗ 
baren Vorzüge derſelben ohne dieſe Mängel beſtehen könnten. 
Die Einrichtung derſelben, nachdem ſie Vieles von ihrer frü« 
beren Härte nachgelafien, nachdem fie fogar bunte Kleider 
geftattet Hat, verharrt im Uebrigen bei ihrer Strenge aus dem 
Grundſatze, daß ber Jüngling auch in den Jahren, die er auf 
ber Univerfität zubringt, noch keineswegs felbfiftändig genug 
it, um fich ganz überlaffen zu fein, fondern einer Leitung und 
Aufficht bedarf. Wie dieſes ohne einige Elaufur und andere 
Legalitätögefege durchzuführen wäre, ift fehwer zu beftimmen, 
aber es wäre fehr der Mühe werth, daß unfere Univerfitäten 
fih mit einer gründlichen Erörterung der Frage beichäftigten: 
wie können wir die Stubirenden einer näheren Aufſicht und 
Anleitung unterwerfen, ohne doch ihre Freiheit zu ſehr einzue 
engen? Die Seminareinrichtungen haben Manchen vor Trägheit 
und Leichtfinn bewahrt, aber auch manchen aufgewedten Kopf 
zu Grunde gerichtet, deſſen Freiheitögefühl den Käfig nicht er⸗ 
tragen Tonnte, der aus Trotz die Geſetze zu Boden trat und 
in wilden Uebermaße die lange vworenthaltenen Genüffe des 

"Lebens nachholte. Breilih hängt die ganze Einrichtung mit den 
urſprünglichen Stiftungen zufammen, melde ein Zufammen« 
eben ber Zöglinge fordern und nur unter biefer Bedingung 
ihre Wohlthaten reichen können, übrigend burch die reelle Uns 


73 


terſtützung, die bier fo mancher Vinbemitteltere genteßt, zu bem 
ſchönſten und ruhmvollſten Erſcheinungen in Schwaben gehören. 

Es war bisher von den mangelhaften Seiten dieſer An⸗ 
ftalten die Rede; Ihre großen Vorzüge und Wirkungen follen 
nicht verfannt werben. Noch abgefehen von den ſchönen Früch⸗ 
ten der wiſſenſchaftlichen Anleitung, welche bier der Stubirende 
genießt, müffen wir auch das Schöne anerkennen, was bie 
Strenge der Aufftcht, die Enge des Zufammenlebend in dem 
geiftigen Leben der Zöglinge, freilih ohne das Verdienſt ihrer 
Abſicht zufchreiben zu dürfen, bewirkt. Das enggemeinfchaft« 
liche Heranwachſen jugendliher Naturen bildet Freundſchaften 
für das Leben , geftüst auf den feflen Grund gemeinfam 
durchwanderter Bildungswege des Geiſtes; man flieht ſich ge⸗ 
. genfeitig werden, man theilt fich die Anſichten friſch, wie fie 
gewonnen find, mit, bekämpft fi, ſpornt ſich an, taufcht ſich 
aus, und alles dies fo innig, wie es nur zwifchen Zimmer⸗, 
Schlaf und Tiſchgenoſſen möglich if. Ich möchte die Erin« 
nerung an dies Zufammenleben,, ich möchte die geiflige Ver⸗ 
bindung mit einer enggefchloffenen Zahl von Freunden, bie eine 
gemeinfchaftliche Veberzeugung zufammenhält, worunter id) ſo⸗ 
gleich Strauß nenne, ich möchte diefen für's Leben gemonnenen 
Schatz des Geiftes um Teinen Preis der Welt hergeben. Einer 
größeren Anzahl junger Leute, die fih In dieſen Anftalten zuſam⸗ 
menfinden, fehlt ed nie an originellen Individualitäten, bie ent« 
weber felbft witzig oder Urfache find, daß Andere wigig werden; 
ein eigenthümlicher Localhumor, ein komiſcher Sagenkreis, ein 
Lerifon von Spitznamen, eine Meibung erfinderifcher Nedereien 
bildet fich, eine Jugendluſt, die mancher hinter den grauen Klo— 


74 


ftermauern nicht geſucht Hätte. Hier wirft bie Friction mit dem 
Bitter empfundenen Zwange als mächtiger Hebel mit, die Lift 
umgeht in heiteren Maskeraden das Gefeß und parobirt den bit⸗ 
tern Ernft gränlicher Vorgeſetzter durch joviale Satyre. 

Das Wichtigfte iſt jedoch die Anleitung In den Studien, bie 
der Seminarift genießt. Die niederen Seminarien find Schulen, 
der Zögling empfängt allen Unterricht von feinen Borgefegten ; ber 
Seminarift in Tübingen hört Vorlefungen der Univerfitäts-Lehrer, 
wie die andern Stubfrenden, aber die Folge der Vorlefungen, die 
Zweige ber Wiſſenſchaft, die er fe in einem Semefter vorzunehmen 
bat, find durch einen Studienplan gefeßmäßig beftimmt und er tft 
der Frage, mie er feine Studien ſucceſſiv ordnen fol, überhoben, 
ohne daß jedoch der Einzelne, der ein Lieblingsfach hat, allzu 
fehr beſchränkt würde. Außerdem aber wird fein Studium durch 
Mepetitionen, loci, Auffäge und Examina aufd wirkjamfte geför- 
dert. Die Repetitionen und loci fiber Philofophte und Dogmatif, 
werben von ben Nepetenten in eraminatorifcher Form gehalten ; 
hier zeigt ſich, ob der Zögling feine Vorleſungen repetirt und 
durch ſelbſtſtändiges Privatftudium ergänzt, hier Iernt er fühlen, 
in welchen Punkte er noch ſchwach und unficher iſt, hier wird 
ihm im Dialog mit dem Repetenten vieles licht, was ihm unklar 
war, die Pointe in einer Sache, in einer philoſophiſchen, dog⸗ 
mengeſchichtlichen Streitigkeit u. f. w. Eommt ihm zum Bewußt⸗ 
fein. Das Wichtigfte find die Auffäge. Jeder Zögling muß halb⸗ 
gährlich einen größeren Aufſatz über eine burchgreifende Hauptfrage 
in der Wiſſenſchaft, der das jeweilige Sentefter gewidmet ift, 
abliefeen; dieſer wird som Mepetenten corrigirt, genau mit ihm 
purägefprodden und dann cin Zeugniß darüber auögeftelt; am 


73 


Ende deb Semefterd wird ein Eleinerer Aufſatz über einen Neben« 
zweig, wobei freiere Wahl ift,, eingegeben und ebenfo behandell. 
Man wende gegen dieſe Arbeiten nicht ein, daß fie gezwungen 
find. Mancher beginnt vielleicht die Arbeit nur aus Zwang, ber 
Gegenftand hat ihm noch Fein Intereffe abgewonnen, weil er ven 
Zufammenhang , das Moment in demfelben noch nicht kennt; 
aber er arbeitet fi in den Stoff hinein, es ſetzt fih ein In« 
tereffe in ihm an, es wächft, und er vollendet mit Eifer und Luft 
die ungern begonnene Arbeit. Nun hat ihm das tiefeingreifende 
Thema in die ganze Wiffenfchaft einen Blick eröffnet, er Hat für 
das Ganze ein Intereffe gewonnen und arbeitet mit frifchem Muthe 
weiter. Dan mag an den Seminarien tadeln, mad man will, 
der Werth diefer Einrichtung ift unbeftreitbar und hat Hunderte 
für die Wiſſenſchaft gemonnen. Linbegreiflicher Weiſe ift ganz 
neuerdings hierein eine Aenderung getroffen, nad welcher ftatt 
de3 nnifaffenderen Aufſatzes neben dem Fleineren drei kurze in 
jedem Semefter eingeliefert werden follen, zu deren Ausarbeitung 
nur ganz wenig Zeit gegeben ift; hoffentlich wird dieſe Maßregel, 
die das Befte an der ganzen Anftalt zerftört, nicht 
von Dauer fein. — Erwägt man nun, daß in der neueren Zeit 
in faft alle pofltiven Wiffenfchaften, in der Theologie namentlich, 
der Geift der Philofophie eingedrungen, daß dadurch jede einzelne 
in das Licht eines neuen Zufammenhanges mit allem Wiſſens⸗ 
werthen getreten ift, nimmt man dazu, wie durd) das enge Zuſam⸗ 
menleben ein beflindiger Tebendiger Ideenaustauſch zwiſchen den 
Zöglingen beiteht, bedenkt man endlich, daß diefe vorneherein eine 
durch Prüfungen gewonnene Auswahl ver fähigeren Köpfe find, 
jo wird man ſich nit wundern, wenn man unter den Seming« 


76 


riften das univerfellfte Intereffe für allgemeine Bildung, wenn 
man fle am häufigften in folhen Vorleſungen trifft, die man 
nicht gehört haben muß, um ein Bacultätderamen zu machen. 
Bei den übrigen Studirenden findet ih im Durchſchnitt mehr 
bloßes Brodftudium, Hoch kann gerade neuerlih über Mangel 
an allgemeinerem Intereffe weniger geflagt werben als je, und 
man findet in Tübingen vielleicht mehr ald auf irgend einer ans» 
bern Heineren Univerfltät Studirende aller Facultäten in Vorle- 
fungen allgemeineren Inhalte; fo daß auch von biefer Seite her 
ber Zweifel fi begründet, ob eine fo abgefchlofiene Anſtalt, 
wie dieſes Seminar, ein unentbehrliches Mittel geiftiger Erzie⸗ 
bung fet, ob nicht die fortgefhrittene - Zeit wünſchen müſſe, 
jene DVortheile, die der Semmarift in der fyftematifchen Leitung 
feiner Studien beflgt, ohne den Mechanismus ber übrigen Ein- 
richtungen realifirt zu ſehen. — Auch im Tatholifhen Seminar, 
das in feiner Einrichtung ganz das proteftantifhe zum Mufter 
genommen, nur die Strenge der Geſetze gemäß der confelflonellen 
Differenz verſtärkt hat, regt ſich auf erfreuliche Weile der Sinn 
für Philofophie und allgemeine Wifjenfchaften, der aber von den 
Oberen fu viel möglich eingegrenzt wird ,. da namentlich der Geiſt 
des Möhlerfchen Wirkens, der fehr marlirte Spuren zurüdge- 
laſſen hat, eben nicht geeignet war, hierin einen liberalen Sinn 
auflkommen zu lafjen. 

Ein weiterer Vortheil, ven der Seminarift genießt, find 
die Halbjährigen Examina, welche die Anftalt mit ihm vor« 
nimmt. Außer dem Gewinne an Stoff des Wiſſens ‚ ben biefe 
mittelbar durch die Nothwendigkeit der Vorbereitung zuführen, 
zieht er aus ihnen den weiteren, daß er eine Fertigkeit in ſchneller, 


Ran 


77 


durch eine vorgeſchriebene Belt gebrängter Darftellung feines Wiſ⸗ 
ſens befommt und die Craminandenarigft ablegt, wodurch er in 
ber Bacultätd» und Dienftprüfung einen wefentlihen Vorfprung 
gewinnt. — Ob die, auf die Nefultate der Auffüge, loci, Se⸗ 
‚meftralprüfungen gegründete Location, welche von Alters ber ein 
bedeutended Moment im wirtembergifchen Erziehungsweſen bilbet, 
mehr Guted oder mehr Uebles flifte, greift in eine Strenge 
ein, die bier nicht unterfucht werben kann. 

Ih Hätte num den Zuſtand unſerer Liniverfität im Großen 
zu ſchildern und von dem Geiſte der Studirenden auf den der 
Lehrer überzugehen. Da ich jedoch durch die Natur meines Ge⸗ 
genſtandes angewieſen bin, hier nur vom Zuſtande der höchſten 
Wiſſenſchaften, der Philoſophie und Theologie zu reden, dieſer 
aber zur Sprache kommen muß, wenn wir der geiſtigen Ent⸗ 
wickelung der Perſönlichkeit folgen, welche das letzte Augenmerk 
dieſer Charakteriſtik iſt, ſo breche ich hier ab, um Wiederholun⸗ 
gen zu vermeiden. Was wir im Gebiete der übrigen Wiſſenſchaf⸗ 
ten an vertrefflihen Lehrern befiten , müßte eine Darftellung 
unferer Univerſität, die nicht an ſich mein Zweck ift, aufzeigen. 
Meine Aufgabe ift, darzuthun, wie ſich das ſchwäbiſche Nature 
zu den wefentlichften Kortfchritten in denjenigen Gebieten ber 
Wiſſenſchaft verhielt, in welchen dad Mark aller Intelligenz zu 
Tage kommt, und welche durch die Art, wie fie behandelt wer⸗ 
den, unmittelbar einen Maßſtab für den innerften Geift des Bes 
handelnden abgeben. — Daß der Lebenögeift der neueren Phi⸗ 
loſophie auf unferer Univerfität geringen oder feinen Einfluß auf 
die Behandlung der Natur=, der Staats- und der Rechtswiſſen⸗ 
fehaft gewonnen hat, darüber mag man fid) immerhin mit Dem 


78 


Gedanken beruhigen, daß bieje vorherrſchend pofitiven Gebiete 
noch am eheſten ihren Weg für ſich fortgehen können, bis end⸗ 
lich Empirie und Philoſophie bis dahin vorgeſchritten ſein wer⸗ 
den, wo ſie ſich durchdringen müſſen. 

Gehen wir nun zu der Perſönlichkeit über, die wir mit 
beftändigem Rückblick auf dem biöher gefchilverten provinciellen 
Boden, in dem fie wurzelt, zu charakterifiren gedenken, fo ift 
freilich fogleih auszufprechen, daß diefe Charakteriftif nicht für 
Leſer ift, welche zum Voraus befchlofien haben, Zweierlei nicht 
zuzugeben und anzuerkennen. | 

Das Eine: daß der Schritt, welchen nicht nur die Theolo⸗ 
gie, fondern der Geift überhaupt durh Strauß gethan bat, 


f, von univerfell Hiftorifcher Bedeutung ſei. Ich weiß recht wohl, 


daß Strauß Fein Hegel, Fein Kant, Fein Luther, noch viel mes 
niger gar ein Ehriftus if. Das Wirken diefer fänmtlichen He⸗ 
roen des Geiſtes hatte eine doppelte Seite, eine pofltive ober 
productive, und eine negative oder zerftörende; die probuctive 
aber überwog und die negative war nur eine Kehrfeite derfelben. 
Die religiöfen Heroen, die ich bier nannte, unterfcheiden fi 
von den philofophifchen dadurch, daß jene ein zwar im Keime 
oorbereiteteß, aber eben fo ſehr dennoch ſpecifiſch neues Prin⸗ 
cip in die Welt einführten, ohne es fuftematifh zu entwideln, 
fondern jo, daß es ald unmittelbare Macht in die Gemüther 
eindrang; wobei wir zunächft davon abjehen Eönnen, daß ber 
Eine eine neue Religion, der Andere nur innerhalb dieſer 
eine ſpeciſiſch neue Bertiefung ihres Princips realiſtrte. Die 
Philoſophen dagegen fuftematifirten ein in den Geiſtern ihrer 
Zeit bereitö objectiv ausgebildetes Princip zu einem Gebäude des 


79 


bedreifenten Gedankens. Strang hat das feiner Kritik zu Grunde 
liegende MPrincip, welches allerdings ſehr poſitiver Natur iſt, 
das der Immanenz Gottes in der Welt; weder auf die erſte, 
noch auf die zweite der genannten Weiſen producirt, ſondern 
er hat es ausgebildet vorgefunden, und das Neue, was er that, 
beſtand darin, daß er es nach einer Seite hin, nach welcher 
es noch nicht ſeine ganze Entwickelung und Vertiefung erreicht 
hatte, flüſſig machte, ſo daß, was in dieſem Gebiete noch gei⸗ 
ſtig unverarbeitet, unvermittelt Tag, von dieſem flüſſigen Geifte 
abſorbirt wurde. So verhielt er ſich alſo zum Poſitiven aufneh⸗ 
mend und die negative Thätigkeit überwog. Strauß iſt kein 
ſchöpferiſcher, ſondern ein kritiſcher Geiſt. Aber darum darf man 
das Gemeinſame, was er mit jenen Heroen hat, nicht ver⸗ 
kennen, denn weder tritt bei ihm die poſitive, noch bei jenen 
bie negative Seite fo weit zurüd, ald es fcheint. Oder mas 
war denn der Stifter unferer Neligion anders, ald der erfte 
große und durchdringende NRationalift, ber erfte große, von 
Sokrates vorgebildete Ketzer, den bie Orthodoxen feiner Zeit 
and Kreuz fohlugen? Die damaligen Schriftgelehrten mein- 
ten gerade eben fo ohne das Poſitive in ihrer Religion nicht 
beftehen zu können, wie die jebigen. Die Katholiken hielten 
Luther gerade ebenfo für einen reinen Zerftörer, wie die jebigen 
Eatholifchen Proteftanten die neue Kritik für rein demolirend hal⸗ 
ten. Man fagt gegen Strauß, was Jahrhunderte und Jahr⸗ 
taufende heilig gehalten, folle nicht mit frevelhafter Sand einge» 
riffen werden; ganz ebendaffelbe wurde gegen Jeſus und Lus 
ther vorgebracht, ganz ebendafjelbe gegen jeden Fortſchritt des 
menichlichen Geiftes nicht nur in ven höheren, ſondern au in 





80 


ben niederen die Äußere Culturgeſchichte betreffenben Sphäre; 
fo Hat man die Entdeckung des Copernicus, fo die Buchdrucker⸗ 
Tunft als etwas Teufliſches bekämpft, und der Bauer urtheilt 
fiber einen neuen einfacheren Pflug ganz ebenfo, wie der Supra= 
naturalift über dad Leben Jeſu von Strauß. Don jeher Hat 
fih die Menfchheit gegen ihre Wohlthäter, am meiften gegen 
die Befreier des Geiſtes, mit Händen und Füßen gefträubt und 
iſt mit Spießen und Stangen auf den Geift loßgegangen; denn 
„aus Gemeinem iſt der Menſch gemacht und die Gewohnheit 
nennt er feine Amme“. | 

Umgekehrt ift in einem Unternehmen, wie das Straußifche, 
weit mehr Poſitives, ald es fiheint. Die zu Grunde liegende 
Metaphyſik iſt zwar nicht von Strauß aufgebaut, aber mehr 
als in irgend einer Sphäre iſt in der Philofophie die Aneignung 
des Fremden ein eigened Produciren, und wenn ic) das Befte, 
was deutſche Philofophie erzeugt bat, frei in mich aufnehme, 
fo darf ih fagen, ich habe es miterzeugt. Strauß bat ven 
Stoff feiner neuteftamentlichen Kritik zum Theile aus den frü- 
heren Leiſtungen diefer Wiſſenſchaft aufgenommen; aber die 
Eoncentrirung des vereinzelten Stoffe in den Brennpunft einer 
durshgreifenden Einheit ift wahrlih Fein bloß formelled Ver⸗ 
dienft, fondern war nur durch einen fehr pofitiven Act der In⸗ 
telligeng möglich. Dies beftätigt ſich ſchon dadurch, daß man 
es mit den Einwürfen der Kritik, fo lange fie vereinzelt waren, 
leicht nahm, als fie aber in dieſer gefchlofienen Phalanx vors 
brangen, ihr Gewicht einen fo erfihütternden Eindruck machte. 
Diefer Eindruck iſt eine Thatſache, an melcher gemeſſen die er⸗ 
fünftelt vornehme Geringſchätzung einiger Eleinen Geiſter, welche 


81 


in bettelhafter Armuth an beſſeren Mitteln die ganze Erſcheinung 
für unbedeutend erklären, eine mehr als Lächerlihe Holle ſpielt. 
Die Hauptſache aber ift, daß jenes erfte und dieſes zweite Mo⸗ 
ment in Strauß ihre Wirfung vereinigen. Die Macht feiner ne» 
gativen Kritik xuht. auf der Mast ſeiner pofitiven Metaphyſik. 
Mit der Kritik eines platten Rationaliſten oder eines Frivolen 
kann man leicht fertig werden, weil ſie keine Baſis hat, aber 
wenn eine Kritik anrückt, die auf dem feſten Boden einer ächt 
religiöſen Weltanſchauung ruht, dann wird es Ernſt. 

Ich möchte Strauß mit einem ſcharfen Winde vergleichen; 
die dicken Dünſte, die dieſer zerſtreut, erſcheinen dem äußerlichen 
Anblicke freilich concreter und reeller, als ſeine reinigende Kraft, 
aber in den Wirkungen fühlt man, daß die neue geſunde Luft 
das Reellere iſt gegen den Qualm der Atmofphäre und die glän⸗ 
zenden Wolkengeſtalten. 

Das Andere, was ich als anerkannt vorausſetze, iſt der 
richtige Begriff der Entwickelung. Wer dieſen nicht kennt, wird 
große Augen machen, wenn es zunächſt den Anſchein haben 
wird, als erzähle ich die geiſtige Geſchichte nicht eines Kritikers, 
ſondern eines Dichters, eines Myſtikers. Wenn er lieſt, daß 
Strauß einft ein enthuſiaſtiſcher Freund der Romantik, Schel- 
ling's und 3. Böhme's war, daß er für die Erſcheinungen bes 
Sonnambulismus ſchwärmte, jo wird er jagen: nun, ba haben 
wir's: ein haltungslofes Subject, das unflät von einem Stand» 
punkte auf den andern überjpringt und wohl aud feinen jegigen 
bälder oder fpäter mit dem andern Ertreme vertaufchen wird! 
Einen foldden zu belehren, wie gerabe der flarfe und gefunde 
Geiſt durch eine Stufenfolge einfeitiger Richtungen fich fo ent⸗ 

Kritiſche Gänge. 6 


? 


82 


wickelt, daß je In ber folgenden reiferen dad Wahre aus ber vor⸗ 
hergehenden unreiferen als verarbeiteter Nahrungsftoff enthalten 
bleibt, dazu iſt Hier nicht der Ort. Wenn ich ihn an Goethes 
Biographie verweife, wird er mir ben Nüden kehren, und 
wenn ich fage, eben jener frühere Myſticismus unfered Freun⸗ 
bes, deſſen gefunder Kern in feinem jebigen Flareren Stand⸗ 
punkte fortlebt, mache ſchon zum Voraus wahrſcheinlich, daß 
auch feiner Kritik Keine zerftörende Metaphyſik zu Grunde liege, 
fo wird er fih wieder umdrehen und mir ind Geſicht Tachen. 
Laſſen wir ihn fliehen und wandern nach der Stadt Ludwigs⸗ 
burg mit ihren breiten menfchenleeren trafen, ihrem verfal- 
Ienden großartigen Parfe, auf deren melancholiſchen Bläßen bie 
Kinderwelt weiten Raum für ihre Spiele und für ihre Phan- 
tafle hat, um manche unheimliche Sage, die fich befonderd an 
die Hallen des öden Schlofjes knüpft, mit romantiſchem Schau⸗ 
der zu hegen. Hier wurde Strauß 1808 geboren, das Kind 
eines wohlhabenden Kaufmanns, in deſſen Hauſe ſchlichte bür⸗ 
gerliche Sitte und altproteſtantiſch religiöſer Sinn, doch ohne 
düftere Strenge, herrſchte. Ob in einer Familie ein guter Geiſt, 
ber Geiſt der Humanität lebt, mil ich daran erkennen, wenn 
in ihr dasjenige Raum hat, mas ih Familienhumor nennen 
möchte: ein Verhältnig, worin die Samilienglieder, der gegen- 
feltigen Achtung und Liebe ficher , fich nichts zu vergeben fürd- 
ten, wenn eins ben andern geftattet, feine unſchädlichen Schwä⸗ 
en mit gutmüthiger Neckerei aufzuziehen. Diefer freundliche 
Seiſt ging hier beſonders von der Mutter aus, einer einfachen, 
zseoen Beau von kerngeſundem Gemüthe und vielem Talente 
AI BilveS und der Anſchauung, fireng zur rechten Zeit, aber 


— u 


83 


fletö bereit, daB Originelle an den Ihrigen, wo es ſich komiſch 
darbot, mit Heiterkeit zu dulden und umgekehrt felbft den Kin⸗ 
bern den Scherz zu gönnen, ben ihnen biefe oder jene ihr ſelbſt 
entſchlüpfte Naivität bereitete, ohne bie halbgelehrte Bildung, 
bie jegt Sonoratiorentöchtern gegeben wird, mit ihrer ganzen 
Denkweiſe im volksthümlichen Clemente wurzelnd, vol Sim 
für Naturfchönhelt, eine Freundin von Volksſagen, Volkswitz, 
Mähren, aber mwohlbegabt, um auch ſolche Erſcheinungen, 
bie aus dem Kreife einer veflectirteren Bildung hervorgehen, zu 
verſtehen und zurecht zu legen, daher keineswegs ohne Ironie 
und ohne mandherlei ſkeptiſche Anfichten über orthodoxe Begriffe. 
Strauß hat von ihr fein Talent, wie denn gewöhnlich bedeutende 
Naturen diefed von der Mutter erben; fein Talent, d. h. zu⸗ 
nächſt namentlich die Gabe der Haren Anſchauung, woraus 
ſowohl die poetifche Kraft, ald auch nad Einer Seite hin, ſo⸗ 
fern ſie nämlich durch den Verfuh, eine Sache in ihrem Detail 
fich anfhaulih zu machen, auf ihre Zweifel geführt wird, bie 
Spürfraft ver Kritik fließt. 

Dom Vaͤter, einem etwas herb auftretenden, zum Jähzorn 
geneigten, übrigens dem Zarten und Lieblihen, wu es fih in 
ber Natur und Poeſie darbeut, keineswegs verfchloffenen Wanne, 
hat er feine Schärfe, das muthige Eingreifen, das Giferartige, 
was fich beſonders in den Streitichriften hervorgethan hat, zu⸗ 
gleich Beſtimmtheit und practifchen Sinn im Gebiete ded Zweck⸗ 
mäßigen, welcher den Kaufmannsſohn verräth und wodurch 
Strauß eine ſeinen Cameraden überlegene Sicherheit auch in äu⸗ 
ßerlichen Verhältniſſen früh entwickelte. Doch auch unter ſeinen 
theoretiſchen Gaben verdankt er ihm eine gewiſſe Liebe für Bilder 

6 * 


82 
wickelt, daß je In ber folgenden zeiferen bad Wahre aus ber vor⸗ 
hergehenden unreiferen als verarbeiteter Nahrungsſtoff enthalten 
bleibt, dazu iſt Hier nicht der Ort. Wenn ich ihn an Goethe's 
Biographie vermweife, wird er mir ben Nüden ehren, und 
wenn ih fage, eben jener frühere Myſticismus unfered Freun⸗ 
des, deſſen gefunder Kern in feinem jeßigen klareren Stand⸗ 
punfte fortfebt, mache ſchon zum Voraus wahrfcheinlih,, daß 
auch feiner Kritik Keine zerſtörende Metaphyſik zu Grunde liege, 
jo wird er fich wieder umdrehen und mir ind Geſicht lachen. 

Laſſen wir ihn flehen und wandern nad) der Stadt Ludwigs⸗ 
burg mit ihren breiten menjchenfeeren Straßen, ihrem verfal- 
enden großartigen Parke, auf deren melancholifchen Platzen die 
Kinderwelt weiten Raum für ihre Spiele und für ihre Phan⸗ 
tafle hat, um manche unheimliche Sage, die ſich beſonders an 
die Hallen des öden Schlofied knüpft, mit romantiſchem Schau⸗ 
ber zu hegen. Gier wurde Strauß 1808 geboren, dad Kind 
eines wohlhabenden Kaufmanns, in deſſen Haufe [lite bür- 
gerliche Sitte und altproteftantifch veligiöfer Sinn, doch ohne 
düſtere Strenge, herrſchte. Ob in einer Familie ein guter Geift, 
der Geift der Humanität Tebt, mil ich daran erkennen, wenn 
in ihr dasjenige Raum bat, was ih Familienhumor nennen 
möchte: ein Verhältnig, worin die Yamilienglieber, der gegen= 
feitigen Achtung und Liebe ficher , fich nichts zu vergeben fürch⸗ 
ten, wenn eind dem andern geftattet, feine unſchädlichen Schmwi- 
hen mit gutmüthiger Nederei aufzuzichen. Diefer freundliche 
Geift ging hier befonders von der Mutter aus, einer einfachen, 
naiven Frau von Ferngefundem Gemüthe und vielem Talente 
des Bildes und der Anfhauung, ſtteng zur rechten Zeit, aber 


83 


fletö bereit, daB Driginelle an den Ihrigen, wo es ſich komiſch 
darbot, mit Heiterkeit zu dulden und umgekehrt felbft den Kin⸗ 
bern den Scherz zu gönnen, ben ihnen biefe oder jene ihr ſelbſt 
entihlüpfte Naivität bereitete, ohne die halbgelehrte Bildung, 
bie jegt Sonoratiorentöchtern gegeben wird, mit ihrer ganzen 
Denkweiſe im volksthümlichen Clemente wurzelnd, voll Siem 
für Naturfhönheit, eine Freundin von Volksſagen, Volkswitz, 
Mähren, aber wohlbegabt, um auch folche Erſcheinungen, 
bie aus dem Kreife einer veflectirteren Bildung hervorgehen, zu 
verftehen und zurecht zu legen, daher keineswegs ohne Ironie 
und ohne mancherlei jfeptifche Anfichten über orthodoxe Begriffe. 
Strauß hat von ihr fein Talent, wie denn gewöhnlich bedeutende 
Naturen diefed von der Mutter erben; fein Talent, d. h. zu⸗ 
nächſt namentlih die Gabe der Haren Anfchauung , woraus 
ſowohl die poetiihe Kraft, als auch nad) Einer Seite hin, ſo⸗ 
fern ſie nämli durch den Verfuh, eine Sache in ihrem Detail 
fich anfchaulih zu machen, auf ihre Zweifel geführt wird, bie 
Spürfraft der Kritik fließt. 

Vom Vaͤter, einem etwas herb auftretenden, zum Jähzorn 
geneigten, übrigens dem Zarten und Lieblihen, wo es fih in 
ber Natur und Poefle darbeut, keineswegs verfchlofienen Manne, 
hat er feine Schärfe, das muthige Eingreifen, das Giferartige, 
was ſich befonderd in den Streitfchriften hervorgethan hat, zu⸗ 
gleich Beftinnmtheit und practifchen Sinn im Gebiete ded Zweck⸗ 
mäßigen, welcher den Kaufmanndfohn verrith und woburd) 
Strauß eine feinen Sameraden überlegene Sicherheit auch in äu⸗ 
Berlichen Berhältniffen früh entwickelte. Doch auch unter feinen 
theoretifchen Gaben verdankt er ihm eine gewiſſe Liebe für Bilder 

6 * 


54 


des Stifffebend , mie denn der Vater, ein großer Bienenfreund, 
das Leben dieſer Thiere mit wirklich poetiſchem Sinne belaufchte, 
und Leichtigkeit in fiyliftifcher Darftelung. In den zartgebauten 
Kinde, deflen Schmächlichkeit Urfache einiger Verzärtelung war, 
ließ fich freilich die Fünftige Charakterſchärfe noch nicht erfennen. 
In der Schule verrieth fih früh am der Teichten Faſſungskraft, 
. dem foliden Gebächtniffe, dem gewiſſenhaften Fleiße die, Beftim- 
mung zum Gelehrten, im Spiele die Originalität. Bon den 
gerröhnlichen „Rnabenfpielen , worin ſich ein Fräftiger Muthwille 
friegerifch austobt, war das Kind durch feinen ſchwächlichen 
Körperbau, deſſen enge Bruft und hinaufgezogene Schultern eine 
hektiſche Anlage befürchten ließen, ausgeſchloſſen; es bildete fich 
durch das Gefühl phyſiſcher Schwäche, durch diefe Abfonderung 
‚in dem zart organifirten Geifte jene Schüchternheit, Verſchämt⸗ 
beit, Iungfräulichfeit, die wir haufig in der Kindheit folcher 
Naturen bemerken, melche mehr für bie Geiſter⸗ als für die 
Körperwelt beftimmt find. Deſto munterer übte ſich der {unge 
Geift im vertraulihen Scherze mit Eltern und Bruder, im fin- 
nigen Spiele mit näher befreundeten Cameraden. Hier that fich 
früh ein poetifches Talent in bunter Erfindung, in Anordnung 
dramatiſcher Scenen, in komödiſchem Improviſiren Eund , und 
ich weiß nicht leicht einen Knaben , der lieber und beſſer fyielte. 
Wir jagten und oft im Mondſcheine auf der breiten Staffel 
bor dem Haufe und fpielten ven geizigen Dann, ben geprügel- 
ten Juben, um bann mit der Mutter oder Tante auf der Sitz⸗ 
bank auszuruhen und unter dem Säufeln, dad von den nahen 
Linden heimlich herüberwehte, manche drollige Anekdote, mun- 
ches Mährchen zu erzählen oder anzuhören. 


—X 


85 


Der Knabe Hatte mit entſchiedener Neigung den geiftlichen 
Stand erwählt, die Prüfung zur Aufnahme ins niedere Klofter 
glänzend beftanden, und im Herbſte 1821 reiften wir, er von 
feinem Vater, ich von meiner Mutter begleitet, nach Blaubeuren 
in der Nähe von Ulm, einem Städtchen, deſſen eigenthümliche. 
Landſchaft mit ihren groteöfen Felſen, Burgruinen, ihrem Flüß⸗ 
hen und feiner berühmten himmelblauen Quelle fhon bei dem 
erſten Cintritt poetifh auf und, einer folchen wildfchönen Natur 
ungewohnte, Knaben wirkte. Ein eigenthümlicher Zufall hatte 
Diesmal unter der Zahl der aufgenommenen Zöglinge eine Menge 
begabter, aufgeweckter , ſubjectiv und objectiv origineller Naturen 
in die grauen Mauern des ehemaligen Auguftinerklofters zuſam⸗ 
mengeweht, und ſchon in den erſten Wochen zeigten fi bie 
Wirkungen der bunten Mifhung im muthiwilligen Knabenſcherze 
und unendlicher Ausgelaffenheit Eindifchen Wiged. Hier war nun 
Strauß Anfangs in einer beffemmten Situation ;, bas Toben, 
der Lärm, die Balgereien machten die ohnedies ſchüchterne Natur 
noch ſcheuer und ein heftiges Heimweh befiel ihn, wiewohl er 
an ftilleren Scherzen und Witzſpielen von Anfang an einen mun⸗ 
teren und fehr probuctiven Antheil nahın.: Der oberfte Borges 
feßte,, bei nicht unliberalen Anfichten über Jugenderziehung ein 
höchſt wunderlicher Dann, gab der Lachluft und Parodie immer 
neuen Stoff, und fo fehlte nichts, um jene heiteren Zuftände, 
die ich oben als eine Volge ded Zufammenlebend im Seminar 
ſchilderte, bier in der vollften Xebenbigfeit hervorzurufen. Bon 
der andern Seite genoffen wir im Unterrichte einen großen Vor⸗ 
tbeil vor andern Seminarien. Während an diefen großentheils 
noch Männer von altem Style, Freunde alter mönchiſcher Strenge 


3 


86 


und philologiſchen Buchſtabendienſtes als Lehrer angeftellt waren, 
wurden mir von zwei jugendlichen Profefforen, Kern und Baur 
— beide jeßt Doctoren der Theologie zu Tübingen — früh zu 
höheren Anfchauungen, zu tvealer Auffaffung der alten Geſchichts⸗ 
und Dichtwerke geführt und ein Schwung der Betrachtung in 
die jugendlichen Gemüther gepflanzt, der diefer Promotion, fo 
Lange fie zufammen war, einen prägnanten Charakter lieh. In 
ben fpäteren Jahren, als Profefior Kern den Sophofles, Baur 
ben Thucydides und Plato mit uns las, reifte diefe Richtung 
zu einer entichlebenen Idealität des Standpunktes, und ed ließ 
fih vorausfehen, daß die begabteren Zöglinge fpeculative und 
poetifche Tendenzen zu ihrem Lebenszwecke erwählen würden. 
Strauß verband mit dem reichen Geifte, der fich frühzeitig durch 
tiefes Eindringen in die alten Spraden und Geifteswerfe kund 
that, den firengften Fleiß und überflügelte die meiften feiner 
Gameraben. Zugleich regte fih ein Talent zur Poeſie in ihm, 
das namentlich durch eine eigenthümliche Erſcheinung in Thätigkeit 
gefeßt wurde, der ich hier gebenfen muß. Es wird in unfern 
niederen Seminarien häufig bemerkt, daß unter ben Böglingen 
mit dem Gintritt in die Sünglingsjahre ein fentimentaler Freund⸗ 
ſchaftscultus mit entſchieden verliehter Färbung, übrigens höchſt 
unſchuldiger Art, ſich ausbildet. Es iſt wohl das erſte Keimen 
der Liebe, die ihren Gegenſtand bei noch unreifem Schönheits⸗ 
ſinne in dem Bilde der unentwickelten männlichen Geſtalt ſucht. 
Der Körper bed werdenden Sünglingd bat in den weichen For» 
men, ber elaftifhen Bewegung , dem zarten Teint, dem dufti⸗ 
gen Roth ter Wangen und Lippen, bem hoben Klange ber 
Stimme etwas Weibliches ; da nun hier bad Weihlihe am Männ- 


2 @ 


87 


lichen ift, fo iſt fein Reiz flärker, als wenn 08 da begegnet, 
wo man es ohnedies erwartet, und erregt bei dem unreifen 
Yunglinge ein un fo ſtärkeres Wohlgefallen, als er in feiner 
Unſchuld das Geſchlechtliche am Weibe als folches nicht bemerkt 
und nicht fucht. /Hhugleich quillt eben jetzt die erſte Fülle höherer 
geiſtiger Gefühle und wirft ſich nun in dieſe Strömung; ſo ent⸗ 
ſteht jene ſchwärmeriſche Knabenliebe, deren Erinnerung mir 
jetzt noch unendlich rührend iſt. Es wurden völlige Romane ab⸗ 
geſpielt, man herzte, küßte ſich, ſchrieb ſich Billets, trennte und 
verſöhnte ſich, und ich erinnere mich, wie ich zur Zeit, da ich mit 
meinen Auserwählten fhmollte, in der Abenddämmerung einen 
Baumfnorren an der Duelle der Blau von Welten für deſſen 
Geſtalt Hielt und nicht3 Geringeres befürdhtete, als der trauernde 
Jüngling fet eben im Begriffe, in ber Verzweiflung über unjere 
Trennung fi in die himmelblaue Welle zu ftürzen. Bon einer an⸗ 
deren Promotion weiß ich, daß diefe Knabenliebe vollfommen zu ei⸗ 
nem Syfteme ausgebildet war, fo da in dem Kreife von Verehrern, 
der ſich um die Schönhelten ded Seminars gefammelt, Obers 
und Unterfreunde mit fireng logifher Diſtinction unterfhleden 
wurden. ine eiferfüchtige Leidenfchaft diefer Art war meines . 
Wiſſens die Springwurzel, welche dem poetifchen Talente unferes | 
Freundes zuerſt die Niegel Löfte, das ſich nun aber nach ver« 
ſchiedenen Seiten bin, namentlih auch in Humoriftiicher Rich⸗ 
tung vielfach Eund that. Mit befonderem Vergnügen erinnere 
ich mich einer Reichenrede von Strauß auf den Tod eined jungen 
Hundes, ven unfer Eyhorus zufällig niedergeritten, mit dem Motto: 


„Und wirft ihn unter den Huffchlag feiner Pferde — 
Dad iſt dad Loos ded Schönen auf der Erde!" 


88 


Der Beflger des Hundes fpielte bei der Abhaltung biefer Mebe 
eine vortrefflihe Rolle, ein Zögling, der das Talent der Mimi 
mit folcher Leidenſchaft ausbildete, daß fein Bettnachbar des Nachts, 
wenn das Licht gelöfcht war, ihm mit der Sand über das Geficht 
gleiten und auf dem Wege plaftifcher Prüfung errathen mußte, 


wæen er eben nachahme. Eine ganz heitere Welt geſtaltete ſich 


innerhalb unſerer Kloſtermauern, wir ſpielten Theater, hielten 
Maskeraden, mit glänzender Ausſtattung, komiſche Umzüge 
u. dgl. Bei den Familien im Städtchen waren wir aufs Beſte 
aufgenommen, man war allmälig älter geworden und lernte 
weibliche Schönheit ſchätzen, an hübſchen Mädchen fehlte es nicht, 
die Sentimentalität erſter Jugendliebe fand ein unendliches Feld, 
man ſpielte, tanzte, die Schreiber des Städtchens wurden mit 
übermüthiger Siegerkraft auf die Seite gedrängt, und die Abende, 
die ich mit Strauß in einem vertraulichen Familienzirkel zubrachte, 
find mir durch die ſchäumende Fülle von Humor und Gemüth, 
die er hier entwickelte, unvergeßlich. Man hätte in der zwar 
bageren, aber ſtolz aufgefchoffenen Jünglingögeftalt mit dem 
dunfeln großen Auge und den fhönen altveutfchen Haaren den 
ſchüchternen, blöden Knaben faum mehr erkannt, aber eben fo 
wenig in biefem Iohannesfopfe den Eünftigen Kritiker vermuthet. 
Inzwifchen Hatten fich ig der Promotion andere Richtungen ent⸗ 
wickelt, die er nicht theilte. Das Deutſchthum feierte damals 
feine legten Bacchanalien, man turnte eifrig und wir fühlten 
uns als Fünftige Vaterlandsbefreier. Ich correfpondirte damals 
mit einem Gymnafiaſten in Stuttgart, der fich nicht anders, als 
„Tyrannenmolch“ unterfchrieb, und lebhaft ift mir im Gedächt⸗ 


89 


nifje, wie ich in meinen Briefen über die Zerfprengung Deutſch⸗ 
lands in viele Territorien Iamentirte, ohne von dem politiichen 
Zuftande des Vaterlanded, oder au nur vom Geographiſchen 
— denn bierin waren wir im Gymnaflum zu Stuttgart gren« 
zenlos vernachläßigt worden — ben geringf:en Begriff zu haben 
Strauß nahm von dieſer Erſcheinung nichts an, als den alt⸗ 
deutſchen Rock und das altdeutſche Haar, er verhielt ſich im/ 
Uebrigen zu dieſer Richtung, ſo wie zu unſerer kindiſchen Nat 
ahmung burfchicofer Sitte ganz tronifh. Während wir Anderen 
uns unendlich groß fühlten, wenn wir mit der coloffalen Tabaks⸗ 
pfeife in der Hand nah den verbotenen Wirthöhäufern flürzten 
und commercirten, fo lachte er und aus und zog einen einfamen 
Spatziergang vor. 
Unfere vier Jahre waren um, wir zogen, von den Mäbe 
hen des Städchens mit Sträußchen bunt gefhmüdt, ab; man 
ches Schnupftuh winfte aus den Fenſtern, die gedrängt voll 
von Zufhauern flanden, und an reichlihen Thränen von beiden 
Seiten fehlte es nit. Wir traten 1825 in dad Seminar zu. 
Tübingen ein; unfer Curſus war auf fünf Jahre feftgefebt, veren 
die zwei erften für Philologie, Philofophie und was dazu ge⸗ 
rechnet wird, beftimmt waren. Bier fand ſich nun für die Bes 
bürfniffe des jugendlichen Geiſtes auf eigentlich wiſſenſchaftlichem 
Boden zunächft fein Bett, wohin er feine Strömung hätte neh⸗ 
men können, und man mußte daher, fo lange man nicht Durch 
das Privatftudium an tiefere Quellen geführt wurde, fein In= 
terefie an andere Dinge heften, un dem jugendlichen Geifte Luft 
zu machen. In der Philofophie waren Schott, Eſchenmayer und 


88 


Der Beflger des Hundes fpielte bei der Abhaltung biefer Rede 
eine vortreffliche Rolle, ein Zögling,, der das Talent ber Mimik 
mit folcher Leidenſchaft ausbildete, daß fein Bettnachbar des Nachts, 
wenn das Licht gelöfcht war, ihm mit der Hand über das Geſicht 
gleiten und auf dem Wege yplaftifcher Prüfung errathen mußte, 
wen er eben nachahme. ine ganz heitere Welt geftaltete ſich 
innerhalb unferer Kloſtermauern, wir fpielten Theater, hielten | 
Masferaden , mit glänzender Ausſtattung, Tomifche Umzüge 

u. dgl. Bei den Familien im Städtchen waren wir aufs Beſte 
aufgenommen, man war allmälig älter geworben umd lernte , 
weibliche Schönheit fchägen, an hübſchen Mäpchen fehlte ed nicht, .. 
bie Sentimentalität erfter Jugendliebe fand ein unendliches Felb, 
man fpielte, tanzte, bie Schreiber des Stäbtchend wurden mit e 
übermüthiger Siegerkraft auf die Seite gedrängt, und die Abende, r 
bie ich mit Strauß in einem vertraulichen Bamilienzirkel zubrachte, = 
find mir durch die fhäumende Fülle von Sumor und Gemüth, F 
die er hier entwickelte, unvergeßlich. Man hätte in der zwar 

hageren, aber ſtolz aufgeſchoſſenen Jünglingsgeſtalt mit dem 

dunkeln großen Auge und ben ſchönen altdeutſchen Haaren den — 
ſchüchternen, blöden Knaben kaum mehr erkannt, aber eben fo, 
wenig in diefem Johanneöfopfe den Fünftigen Kritifer vermuthet. 
Inzwiſchen hatten fich ig der Promotion andere Nichtungen ent⸗ H 
wickelt, die er nicht theilte. Das Deutſchthum feierte damals -, 
feine legten Backhanalien, man turnte eifrig und mir fühlten 1 
und als Fünftige DVaterlandöbefreier. Ich correfpondirte damals = 
mit einem Gymnaflaften in Stuttgart, der ſich nicht anders, als e 
„Tyrannenmolch“ unterfchrieb, und lebhaft ift mir im Gedächt⸗ 


ä 


89 


niffe, wie ich in meinen Briefen über-die Zerfprengung Deutſch⸗ 
lands in viele Territorien lamentirte, ohne von dem politifchen 
Zuftande des DVaterlanded, oder auch nur vom Geographiſchen 
— denn hierin waren wir im Gymnaſium zu Stuttgart gren⸗ 
zenlos vernachläßigt worden — ben geringfien Begriff zu haben, 
Strauß nahm von biefer Erſcheinung nicht? an, als ven alt \ 
beutichen Rock und dad altdeutſche Haar, er verhielt fih im ; 
Uebrigen zu diefer Richtung, . fo wie zu unferer Eindifhen Nach 
ahmung burſchicoſer Sitte ganz ironifh. Während wir Anderen 
und unendlich groß fühlten, wenn wir mit der colofjalen Tabaks⸗ 
pfeife in der Hand nach den verbotenen Wirthähäufern flürzten 
und ceommercirten, fo lachte er und aus und zog einen einfamen 
Spaßiergang vor. | 
Unfere vier Jahre waren um, wir zogen, von den Mäd⸗ 
hen des Städchens mit Strüußchen bunt geſchmückt, ab; man» 
ches Schnupftuh winkte aus den Fenſtern, die gedrängt voll 
von Zufhauern flanden, und an reichliden Thränen von beiden 
©eiten fehlte e3 nicht. Wir traten 1825 in das Seminar zu 
Tübingen ein; unfer Curfus war auf fünf Jahre feftgefeßt, deren 
die zwei erften für Philologie, Philofophie und was dazu ges 
rechnet wird, beftimmt waren. Hier fand fih nun für die Des 
dürfniffe des jugendlichen Geiſtes auf eigentlich wiſſenſchaftlichem 
Boden zunächft Fein Bett, wohin er feine Strömung hätte neh⸗ 
men fönnen, und man mußte daher, fo lange man nicht durch 
das Privatftudium an tiefere Quellen geführt wurde, fein Ins 
tereffe an andere Dinge heften, um dem jugendlichen Geifte Luft 
zu machen. In ver Philojophie waren Schott, Eſchenmayer und 


88 


Der Beſitzer des Hundes fpielte bei der Abhaltung biefer Rede 
eine vortreffliche Rolle, ein Zögling, der dad Talent der Mimik 
mit folcher Leidenſchaft ausbildete, daß fein Bettnachbar des Nachts, 
wenn das Licht gelöfcht war, ihm mit der Hand über das Geſicht 
gleiten und auf dem Wege plaftifher Prüfung errathen mußte, 


- wen er eben nachahme. Eine ganz heitere Welt geftaltete fi 


innerhalb unferer Kloftermauern , wir fpielten Theater, bielten 
Maskeraden , mit glänzender Ausftattung,, komiſche Umzüge 
u. dgl. Bei den Familien im Stäbtchen waren wir aufs Befte 
aufgenommen, man war allmälig älter geworben und lernte 
weibliche Schönhelt ſchätzen, an hübſchen Mädchen fehlte es nicht, 
die Sentimentalität erfter Jugendliebe fand ein unendliches Feld, 
man fpielte, tanzte, bie Schreiber des Städtchens wurben mit 
übermüthiger Siegerkraft auf die Seite gedrängt, und die Abende, 
die ich mit Strauß in einem vertraulichen Familienzirkel zubrachte, 
find mir durch die ſchäumende Fülle von Humor und Gemüth, 
bie er bier entwickelte, unvergeplih. Dan hätte in der zwar 
bageren, aber ſtolz aufgefchofienen Jünglingögeftalt mit dem 
bunfeln großen Auge und den ſchönen altdeutfchen Haaren den 
ſchüchternen, blöden Knaben kaum nıehr erkannt, aber eben fo 
wenig in biefem Sohannesfopfe den Eünftigen Kritifer vermuthet. 
Inzwiſchen Hatten fih ig der Promotion andere Nichtungen ent⸗ 
wickelt, die er nicht theilte. Das Deutjchthum feierte damals 
feine legten Bachanalien, man turnte eifrig und wir fühlten 
und als Fünftige Vaterlandsbefreier. Ich correfpondirte damals 
nit einem Gymnaſiaſten in Stuttgart, der ſich nicht anders, ale 
„Tyrannenmolch“ unterfehrieb, und lebhaft ift mir im Gedächt⸗ 


89 


niffe, wie ich in meinen Briefen über-die Zerfprengung Deutſch⸗ 
lands in viele Territorien lamentirte, ohne von dem politiichen 
Zuftande des DVaterlanded, oder auch nur vom Geographiſchen 
— denn bierin waren wir im Gymnaſium zu Stuttgart gren⸗ 


zenlo8 vernachläßigt worden — ben geringfien Begriff zu habens, 


Strauß nahm von biefer Erſcheinung nichts an, als ven alt= 
deutſchen Rock und das altveutihe Haar, er verhielt fih im 
Uebrigen zu diefer Richtung, ſo wie zu unferer kindiſchen Nach⸗ 
ahmung burfchicofer Sitte ganz ironifh. Während wir Anderen 
und unendlih groß fühlten, wenn wir mit der colofjalen Tabaks⸗ 
pfeife in der Hand nah den verbotenen Wirthähäufern flürzten 
und commercirten, fo lachte er und aus und zog einen einfamen 
Spaßiergang vor. 

Unfere vier Jahre waren um, wir zogen, von den Mäd⸗ 
chen des Städchens mit Sträußchen bunt geſchmückt, ab; man» 
bed Schnupftuh winfte aus den Fenſtern, die gedrängt voll 
von Zufchauern fanden, und an reichlichen Thränen von beiben 


©eiten fehlte es nicht. Wir traten 1825 in dad Seminar zu 


Tübingen ein; unfer Curſus war auf fünf Jahre feftgefeht, deren 
die zwei erften für Philologie, Philofophie und was dazu ges 
rechnet wird, beftimmt waren. Hier fand fih nun für die Bes 


[Pu 
* 


——— 


dürfniſſe des jugendlichen Geiſtes auf eigentlich wiſſenſchaftlichem 


Boden zunächſt kein Bett, wohin er ſeine Strömung hätte neh⸗ 
men können, und man mußte daher, ſo lange man nicht durch 
das Privatſtudium an tiefere Quellen geführt wurde, ſein In⸗ 
terefſe an andere Dinge heften, um dem jugendlichen Geiſte Luft 
zu machen. In der Philoſophie waren Schott, Eſchenmayer und 


92 


und wir marfen und begierig in das raufchende Studentenleben 
mit feinen enthuflaftifhen und felbftgefälligen Illuſionen. Strauß. 
nahm auch jet an dieſer Richtung durchaus Teinen Antheil, ja 
er verfolgte unfere Täufchungen mit einer beißenben Ironie. Die 
qharakteriſtiſchen Illuſionen dieſes Alters, die Friegerifehen möchte 
ich ſie nennen, hat er nie gehabt, er war in dieſer Beziehung 
niemals jung und ſtets eine kritiſche Natur. Wenn wir von Duel⸗ 
len ſprachen, von Burſchenſchaft, von Fechten und Reiten, ſo 
lachte er und aus, wenn wir und freuten, in der erſehnten 
.  VBasanz den verbotenen Schnurrbart ftehen zu Yaflen und mit 

. : Sporen zu gehen, fo begriff er e8 nicht. Die Jugendtäuſchungen, 
. an denen es auch ihm natürlich nicht fehlen konnte, waren theo⸗ 
retiſcher Art und zunächſt durch den gefelligen Kreis vermittelt, 
dem er fih anſchloß. EI war dies ein geiftreicher Klubb von 
eifrigen Berehrern der romantifchen Schule, deſſen genialftes Mit- 
glied Ed. Mörife war. Auch Waiblinger zählte fih dazu, hatte 
aber im Grund eine andere, oder vielmehr Feine Richtung, er 
war damals ſchon verfommen. Tieck wurde vergöttert, dad Schöne 
im Moftifchen und Wunderbaren, in dem muſikaliſchen Verklin⸗ 
gen unfagbarer, unendlicher Gefühle und der Auflöfung der feften 
Geftalten der fichtbaren Welt in einem phantaftijchen Taumel ges 
fucht, das Volksthümliche, die Volksſage, das Volksbuch unbe- 
dingt über alles Neflectirte erhoben. Wer erkennt nicht das Wahre 
in diefer Anſchauungsweiſe, wie e8 gerade durch feine Vermi⸗ 
fhung mit dem Falſchen für einen jugendlichen Geift zum won⸗ 
neberauſchenden Tranke wird? Nun hatte der Geift einen Anhalt⸗ 
punft gefunden, eine Weltanflcht, man mar entſchieden. Es war 
ein erquicklicher Anblick, Strauß in dieſem enthuflaftifchen Zu⸗ 


93 


flande, in biefer unbebingten Meberzeugung vor ber alleinfellg« 
machenden Kraft feines Glaubens zu fehen. Die Knodpe war 
aufgebrochen, dad eigene Talent äußerte ſich unter andern poeti⸗ 
ſchen Producten namentlih in einer Komödie, worein ein ſpru⸗ 
delnder phantaftifher Humor alle heiteren Reminiſcenzen aus den 
ſchönen Iahren unferes Aufenthalts im niedern Klofter verwoben 
batte. Mit diejer Kriſis war nun auch der Charakter zun Durch» 
bruch gefommen; an dem jugendlihen Grimme der Verachtung, 
womit von dem neuen Standpunkte der Contemplation auf Alles, 
was als Nachwuchs Nicolai's erfheinen Eonnte, herabgeſehen 
wurde, ſchliff ſich auch die Schärfe des Willens. Wo war nım 
der wehrlofe,, ſcheue Knabe? in zweiſchneidiger, überlegener, 
energifeh durchgreifender, jühzornig aufbraufender und im Jäh⸗ 
zorne oft harter und ungerechter Charakter ftand in unferer Mitte 
und verbreitete von nun an in feinen Umgebungen jene eigenthüm» 
lihe Scheu zugleih und Hingebung an ihn, jenen bannenden 
Zauber, welcher Naturen zu umgeben pflegt, die man im antiken. 
Sinne dämoniſch nennen Fann. 

Inzwiſchen waren wir in die Philofophie tiefer eingedrungen; 
die Aufſätze, die wir ausarbeiten mußten, führten und zu ſelbſt⸗ 
ftändigen Studien; und bier war ed denn Schelling, der daß 
von den Engen des Reflexionsdualismus abgeftoßene Gemüth 
in eine neue Lebensluft verfeßte und der Romantik unferes Freun- 
des die philofophifche Baſis lich. Nun wurde Jakob Böhme 
ergriffen, daneben ließ Franz v. Baader die myſtiſchen Lichter 
feiner aphoriftifchen Confuflon brennen, merkwürdige Erſcheinun⸗ 
gen des Magnetismus fehlenen einen unmittelbaren Blid durch 
den gelüfteten Vorhang hinunter in den Dunkeln Urgrund, in 


94 


unendliche Geljterwelten zu eröffnen; man glaubte dad alte Raͤth⸗ 
jel, von den die Blumen träumen, die Wellen plaudern, bie 
Bäume fäujeln, am Tageölichte gelöft, man wandelte wach im 
hellen Traume. Ih traf Strauß, wie er vom erflen Befuche 
Bei Kerner fo eben zurüd war, in feinem elterlichen Haufe; er 
war wie eleftrifirt, eine tiefe Sehnſucht nach dem Mohne ber 
Geiſterdämmerung durchdrang ihn; wo er in der Debatte nur die 
Teifefte Spur von Nationalismus, der von der platten Aufklärung 
nicht unterfchieden wurde, zu bemerfen glaubte, war er heftig 
abfprechend, und Alles hieß Heide und Türfe, was ihm nicht 
in feine mondbeglänzten Zaubergärten folgte. Wir näher befreun- 
beten Studiengenofien, von Schelling jugendlich begeiftert, ließen 
und von biefer Nichtung gern mit hinreißen, ohne und fpeciell 
für die Seherin von Prevorft ebenſo fehr zu intereffiren. Die 
verflärte Schönheit dieſer Frau, mit dem feinen Lächeln der Ironie 
über das Alltagsleben und die Verſtandeswelt um die zartge- 
ſchnittenen Lippen, machte auch auf mich einen Eindruck, den 
ich nicht vergefle, ich hatte aber nie Gelegenheit, ſie im magne⸗ 
tiihen Schlafe zu ſehen. 

Wir tratn 1827 in bie Theologie ein und trugen den ge⸗ 
wonnenen poetiflvend fpeculativen Standpunkt um fo begeifterter 
auf dieſes Feld über, als derſelbe ſchon an fih mehr Theoſophie 
als Speculation, mehr Theologie ald Philofophie war. In dieſer 
Richtung wurden wir natürlich durch den öffentlichen Unterricht, 
den wir genofjen, nichts weniger als gefördert. Die Theologie 
Rand damals bei den älteren Lehrern noch auf dem Standpunkte 
des alten Storrifhen, mit rationaliftifchen Elementen verjeßten, 
aber den Erbfeind, den er doch jelbft im Bufen trug, heftig 


95 

bekampfenden Supranaturalismus. Noch vor Kurzem hatte man 
auf dem Katheder fi vornehmlich mit Eckermann und Wegichel- 
der herumgeftritten, Bretſchneider's dünne Brühe galt ven Stu⸗ 
birenden als die vortrefflichſte Grundſuppe für's Privatftubium. 
Erſt allmälig erhob fich das Gefpenft Schleiermacher's Graufen 
verbreitend, und wie eine dunkle Sage ſchwoll es auf, daß von 
einem gewiſſen Marheineke eine ganz fonderbar excentriihe Dogs 
matif, in Hegelſcher Philofophie geſchrieben, eriftire. Es war 
bis dahin eine jo gute Zeit geweien; man hatte fo bequem unter« 
ſchieden zwiſchen Philoſophie als dem Producte der natürlichen 
Vernunft und Theologie ald der Wiſſenſchaft des Geoffenbarten, 
und nun drängte fih auf einmal die Philoſophie mit diefen neuen, 
unbefcheidenen Anfprüchen auf das theologifche Feld ein. 

Zuerft galt es nun, fi in Schleiermacdher zu orientiren und 
ihn zu befümpfen — bei den Lehrern nänılich , denn wir ſteckten 
noch in unferem Schelling. Noch erinnere ih mid aus Steudels 
Borlejung Über Dogmatif, mie er eined Tages gegen Schleier 
macher, ven Preiheitöläugner, in folchen Eifer gerieth, daß es 
ftarf im Katheder rumpelte; der eifrige Mann hatte irgend eine 
Leiſte oder ein Bretchen in Stüde getreten. Wie hätte man erft 
geeifert,, wäre man den liftigen, hinter dem Berge haltenden 
Manne auf feine wahren Schliche gekommen! Aber dazu fehlten 
noch die Bedingungen und Mittel; der Gedanke, daß man bei 
Schleiermacher auf Spinoziihem Grund und Boden jei, lag jener 
Zeit, wo der Theologe die Philoſophie längft hinter fih zu haben 
meinte und von Spinoza nur noch die Neminifcenz hatte, daß 
er ein abjecter Ketzer geweſen, wo man daher für die heimliche 
Philofophie in der Theologie dieſes Mannes das Witterungdor- 


96 


nt 


gan gar nicht ausgebildet hatte, viel zu fern; haben wir doch 
jegt noch das komiſche Schaufpiel vor und, daß mander recht⸗ 
gläubige, biblifche, pectorale Theolog, Xüde 3. B., von ber 
Gefühlsbaſis, die Schleiermacher als bie alleinige feiner Theologie 
vorgiebt, getäuſcht, fich ernftlih für einen Anhänger diefed dia⸗ 
Ieftifchen, das Poſitive bis auf die Inconfequenz eines hiſtoriſchen 
Chriſtus auflöfenden Geiftes Halten kann! *) Bei Steubel hörten 
wir Einleitung in das A. Teft. und Dogmatif. Es war aber 
wirklich in dieſen Vorleſungen nicht auszuhalten. Steudel's ſchlep⸗ 
pender, marternder und gemarterter Styl iſt bekannt, und wir 
übten uns oft, ihm den Satz nachzuſprechen: „o du, der du den 
die das Menſchengeſchlecht beglückende Religion verkündigenden 
Jeſum in die Welt geſandt haſt!“; nun denke man ſich dazu eine 
geiſterhohle, mit der Intention des innerſten Gemüthes jede gleich⸗ 
gültigſte Notiz, als hinge an ihr die Ewigkeit, herausquetſchende 
Stimme, das immerwährende angſtvoll fanatiſche Polemiſiren, 
ein Haͤngen und Kleben bei jedem Schritte, ſo daß die Vorleſung 
gar nicht von der Stelle rückte: es war peinlich bis zum phyſi⸗ 
ſchen Schmerze, ich hatte ein Gefühl, als heule ein Unglücklicher 
geknebelt mir in die Ohren und ich könne nicht helfen; ich hielt 
es über einen Monat aus, packte aber dann mein Manuſcript 
zuſammen und blieb weg. Steudel war auf rein menſchlichen 
Gebieten ein vortrefflicher Charakter, aufrichtig, feſt, zuverläſſig, 
ſogar in manchen Beziehungen liberal, geſellig und heiter. Jede 
Woche war eine Anzahl Studirender zu einem theologiſchen Kränz⸗ 


Den Teufel ſpuͤrt dad Voͤltchen nie, 
Und wenn er fie beim Kragen bätte. 


Mephiſtopheles. 


97 


den in fein Haus geladen, wo mir zwar durch unfere theologi⸗ 
ſchen Geſpräche zu nichts Erklecklichem kamen, da der in einem 
beſtimmten, gegenſätzlichen Standpunkte feſtgerannte Lehrer bie 
Freiheit des Geiſtes nicht haben konnte, die Debatte von überle⸗ 
gener Höhe zu leiten, und ſich vergebens zerarbeitete, wir aber 
dem gaſtfreundlichen Manne um ſo mehr Thee wegtranken und 
Cigarren verrauchten. In dieſen Kränzchen trug Strauß mit 


großer Parrheſie, mit lauter, herriſcher Beredtſamkeit ſeine da⸗ 


maligen Ueberzeugungen vor, mit welchen Steudel, obwohl ſie 
das Pofitive keineswegs umſtoßen, ſondern vielmehr neu begrün⸗ 
den und vertiefen ſollten, als verſtändiger Supranaturaliſt natür⸗ 
lich nicht zufrieden ſeyn konnte. Es iſt mir eine recht kluge Be⸗ 
merkung von ihm im Gedächtniſſe; als Strauß bei dem Capitel 
der Wunder mit rhetoriſchem Feuer entwickelte, wie die Natur, 
da ſie ſelbſt nur ſtarrer Geiſt ſei, durch den Geiſt mehr und 
mehr erlöſt werden müſſe und dieſe Erlöſung eben durch das 
chriſtliche Princip und ſeine wunderthätige Kraft bewerkſtelligt 
werde, ſo warf er ihm ganz trocken hin: da müßte ja aber, da 
das Chriſtenthum ſchon ſo lange beſtehe, die Natur ſchon ganz 
erſtaunlich erlöſt ſein, wovon er nichts bemerke. 

Strauß hat in der Charakteriſtik Juſt. Kerner's, die dieſe 
Jahrbb. enthielten, über die hier beſprochene Phaſe ſeiner Geiſtes⸗ 
Entwickelung ſelbſt näheren Aufſchluß gegeben, ſo daß wir die⸗ 
ſelbe hier nicht ſowohl ausführlicher zu ſchildern, als vielmehr 
nur den Baden nachzuweiſen haben, wodurch fie mit dem fpäter 
gewonnenen reiferen Standpunkte zufammenhängt. 


Schon an fih, ohne näheren Hinblick auf den Inhalt wird 


ieder Kenner des menfchlichen Geiftes dieſe Entſchiedenheit einer 
Kritiſche Gänge. 7 


98 


jugendlich fjeurigen Natur im Irrthum als einen Beweis von 
Kraft und Gefundheit erfennen. „Wer feinen Irrthum nur Eoftet, 
hält lange damit Haus, und freut ſich deſſen als eines feltenen 
Glücks, aber wer ihn ganz erfchöpft, ver muß ihn Eennen lernen, 
wenn er nicht wahnftnnig iſt“, fagt Goethe, ver Mann, der 
immer den Muth hatte, dad, was er eben war, ganz zu fein, 
dadurch feine Irrthümer volftändig durchkoſtete, durchprüfte, 
auslebte, und verfüngt daſtand, wenn er die Schlangenhaut ab- 
geworfen. ‚Eine Fatholifche Preidaufgabe, ſchreibt mir Strauß, 
die ich im I. 1828 ausarbeitete, war vielleicht der erfte Wende» 
punft (zur Eritifchen Richtung). Ich bewies eregetifch und natur= 
philofophifch mit voller Ueberzeugung die Auferftehung der Todten, 
und als ich das lebte Punctum machte, war mir's Far, daß an 
ber ganzen Sache nichts ſei.“ Hieraus flieht man ganz die Heil» 
methode einer gefunden Natur, jle leert den Kelch des Irrthums und 
ift mit dem legten Tropfen geheilt. Um aber auf den Inhalt zu 
fommen , fo wird indbefondere in dem Entwidelungsgange eined 
für ideale Gebiete, namentlih für die PHilofophie beflimmten 
Geiſtes die Phafe des poetiftrenden Myſticismus nicht leicht fehlen, 
ſelbſt Goethe Hatte einmal dieſe Weltanfiht, und fie ergiebt fich 
von felbft, wenn ein jugendlicher Geift ven Banden der Refle⸗ 
rions⸗Kategorieen ſich entreißt und eine Einheit fucht, in der er 
Alles begreifen Fann. Im euer der Empfindung und Phantafle 
wird er über der Einheit die feften Grenzen, Gegenſätze und Ge- 
feße des Mannigfaltigen aus den Augen verlieren und geneigt 
fein, dieſe Einheit, flatt daß er fie in der Totalität des geordne⸗ 
ten Weltzufammenhanges findet, ſich fo vorzuftellen,, als könne 
fie beliebig an einzelnen Stellen diefen Zufammenhang durchs 


99 


brechen und feine Gefeße aufheben. Dies führt uns unmittelbar 
zur näheren Löfung unferer oben geftellten Aufgabe. 


Wie verhält fich denn jener Myſticismus zu der ſpeculativen 


Weltanficht, welche der Straußifchen Kritif zu Grunde Legt? 
Gemeinſam ift beiden das Princiy der Immanenz im Verhältniſſe 


Gottes zur Welt. Die Welt ſoll nicht neben Gott eine eigene in ihrem 


Kern ſelbſtändige Subſtanz und von Gott nur äußerlich geleitet (eine 
ganz unfinnige Vorſtellung), ſondern in allen ihren Adern vom 
göttlichen Geiſte durchdrungen ſein. So wollen beide dem Gehalte 
nach daſſelbe, aber verſchieden ift ihre Form. Der Myſtiker gelangt 
zu feinem Princip nicht auf dem Wege des vermittelnden Denkens, 
fondern aus der Verzüdung ded Gefühle entwickeln fih in ihm 
Phantafiebilder, in denen er fich jenes Principd gewaltfum zu 
bemãchtigen und es bis zur geheimnißvollen Bermählung in fi 
herüberzuzichen glaubt. Auch der Philoſoph iſt überzeugt, daß, 
wenn er die Idee denkt, fie fich felbft in ihm denkt, aber bei 
dem Myſtiker nimmt die Meberzeugung , daß das Abſolute im 
fubjectiven Geifte dadurch eben, daß er es zu faflen fähig ift, 
gegenwärtig fei, fogleich eine finnlihe Färbung, weil er von 
vornherein feinen Gegenftand mit dem ſchwelgeriſchen Gefühle 
und der traumartigen Phantafle anfaßt. Hieraus fließt nun ſo⸗ 
gleich eine falfhe Weife, fich jene Immanenz Gottes in der Welt 
vorzuſtellen. Sinnlich, wie er ift, ſtellt er ſich die höchfte Idee 
jelbft und ihre Momente in anthropomorphifchen Formen vor; 
fo aufgefaßt wird aber ihr Verhältniß zur Welt im Widerſpruch 
mit der Vorausfegung wieder ein Aeußerliches, die Scheidewand 
der Materie ift, da Gott felbft mit Materie behaftet ift, zwi⸗ 
ſchen beiden, und wo fie zufammengehen follen, braucht es daher 
7 * 


100 


eine ausdrückliche Durchbrechung dieſer Scheidewand. Statt daß 
die Welt ganz und immer in Gott aufgehoben wäre, wird nun 
pie Einheit derſelben mit Gott nieder zu vereinzelten Thatfachen: 
auf einzelnen Punkten, in einzelnen Zeiten bricht die ganze Idee 
auf einmal in den Weltzufammenhang herein, fo daß befien feite 
Geſetze aufgelöft werben, deſſen alljeitig bedingter Nexus zerreift. 
Es fol Stellen geben, wo ſich Gott fpecififh anders, als auf 
allen andern und fo, daß eine einzelne begrenzte Erſcheinung 
zugleich ganz das Abfolute ift, in der Welt offenbart. Ein folder 
Punkt war der Eintritt des Chriftenthums in die Welt. Der 
Supranaturalismus, eine feltfame Verſetzung myſtiſcher Ueber⸗ 
bleibfel mit dem platten Verſtande der Aufklärung, befhränft 
die außerordentliche Offenbarung Gottes faft allein auf vielen 
Punkt. Der confequente Myſtiker aber Fann nie wiffen, ob nicht 
im nächften Augenblicke etwas Aehnliches geſchieht, und fo giebt 
e3 für diefe Weltbetrachtung in der natürlichen Ordnung der Dinge 
eigentlich nichts Feſtes; der Weltzufammenhang ift nur eine durch— 
ſichtige Hülle, die jeden Augenblick einfinfen kann, ein Dinner 
Vorhang, durch deſſen blöde Stellen man geifterhafte Lichter 
wandeln flieht, eine Verlarvung, die jeden Moment ihre Puppe 
fprengen kann, Alles taumelt, Alles geht in einander über. Der 
Myſtiker würde fich nicht wundern, wenn heute Tannzapfen an 
einer Rebe, Trauben auf einer Tanne wüchſen, Alles ift möglich, 
die Natur ift ein verwünfchter Prinz, der jede Secunde fein Zau⸗ 
bergewand abzuwerfen im Begriffe fteht: kurz die ganze Welt- 
anſicht ift phantaftifh. Nun ift leicht einzufehen: Strauß durfte 
dieſe myſtiſche und ebendaher phantaftifche Form, die jpeculative 
Wahrheit aufzufafien, nur fallen laſſen, und den reinen Kern 


101 


der Wahrheit, der in ber grotesken Schale liegt, mit klarem 
Denken auffafien, fo war ee — zunächft fpeculativer Philofoph. 
Hat man denn vergefien, daß die neue Philofophie bei alten 
Myſtikern, bei Jak. Böhme namentlih, in die Schule gegangen 
ift? Aber nicht nur dies; Strauß hatte dann für feinen fpäteren 
kritiſchen Standpunkt. das Feld bereits getvonnen? Denn wenn 
bie fpeculative Philofophie den Begriff der Inmanenz auf den 
Weltzufammenhang offenbar nur fo anwenden darf, daß das 
Ganze befielben in Gott ruht, fo ift ja eben hiemit gegeben, 
daß Fein einzelner Punkt in dieſem Ganzen fich bis zu einer ſol⸗ 
hen unmittelbaren Identität mit dem Abſoluten von allen 
übrigen Punkten ifoliren darf, durch welche die allfeitige Bedingt⸗ 
heit und Bermittelung des Weltzufammenhanged abgeriffen wird. 
Nur was niemals war, Tann immer fein. Died ift nun 
freilih Die Streitfrage zwifden Strauß und ben norbdeutichen 
Schülern Hegels, denen eben hiemit vorgeworfen wird, daß in 
ihre Speculation ein Stück Supranaturalismus fi verirrt habe. 
Das mag denn Strauß durchkämpfen, dieſe Charakteriftif fol 
feine Abhandlung fen. Ih kann e8 bier nur ald Behauptung 
Hinftelen bie Straußiſche Kritik ift fo wenig nur negativ, daß 
fie vielmehr nichts als eine confequente Durchführung des Acht 
yofitiven Princips der Innmanenz Gottes in der Welt iſt. Strauß 
jagt: Je fefter behauptet wird, daß Gott an einzelnen Punkten 
auf abjonberlihe Weife in ver Welt fich gegenwärtig zeigt, deſto 
äußerlicher ift dad Verhältniß der ganzen Wert zu ihm aufgefaßt, 
deſto mehr entzieht er fich ihr auf allen andern Punkten. Gerade 
ein innigered DVerhältuig zwifchen Gott und Welt mil feine 
Kritik beweiſen, ald welches feine Gegner behaupten. Der An- 


102 


fiht, daß Gott in dem Grabe vollfommener fih offenbare, in 
welchem er den Weltzufammenhang durchlöchert (und eine Durch⸗ 
löcherung ift und bleibt e8, wenn ein Individuum zugleich un- 
mittelbar das Abfolute fein, wenn Waſſer in Wein verwandelt 
werben, der Todte nicht tobt, der Körper ohne die Geſetze der 
Dichtigkeit und Schwere fein fol, mag man von befchleunigten 
Naturprocefien , von Durchbruch des abfoluten Naturgefebes 
durch das beftimmte Naturgefeß, d. h. von der Möglichkeit, daß 
Gott außer Birnen, Aepfeln und allem andern Obfte auch ein- 
mal den reinen Gattungsbegriff Obft Eönnte wachſen laſſen, u. dgl. 
reden fo viel man will), — dieſer Anſicht Tiegt die file Vor⸗ 
ausfegung zu Grunde, daß die göttliche Einwirkung und der 
gewöhnliche Lauf der Dinge nicht zufammen befteben könne. Die 
Melt wird alfo für gottverlaffen in allen den Zeiten erklärt, wo 
feine ſolche Durchlöcherung zu bemerken ift, und es wäre Leicht, 
ben Vorwurf der Irreligiofltät auf die Gegner der Kritik zu⸗ 
rückzuſchleudern, wenn man fo unebel fein wollte, den Kampf 
in da8 Gebiet der Gewiflensfragen binüberzufpielen, wie fie es 
thbun. Strauß kämpft nicht gegen, fondern für die 
wohlverftandenen Intereffen ber Religion; Strauß 
will nicht weniger, fondbern mehr Gott, ald dad 
fupranaturaliftifche (nebſt dem fupranaturaliftifc- 
Hegelfchen) und dad rationaliftifhe Chriſtenthum 
bat; er will Bott im Geiſte und der Wahrheit 
verehrt wiffen, nit im Buchſtaben, nit im ein- 
zelnen Factum und Individuum. 

Inzwifchen fo gewiß nach meiner leberzeugung die fpeculative 
Philoſophie dieſe kritiſche Conſequenz in ſich ſchließt, jo wenig 


103 


hatte damals noch irgend jemand biefelbe gezogen. Wirklich frheint 
die Erfahrung zu beweifen, daß, um fie zu ziehen, außer dem 
philoſophiſchen Höheſinn noch ein weiteres Organ erforderlich fei, 
ein Talent des Zweifeld, eine Stimmung, die Dinge gefund 
realiſtiſch anzuſehen und mit hellem Auge ihren einfach geſetzmaͤ⸗ 
. Bigen Bebingungen zu folgen und ſich keinen Hokuspokus vor« 
machen zu laſſen oder felbft vorzumachen. Diefed Talent, biefe 
Stimmung liegt, wie ich oben bargethan zu Haben glaube, im 
ſchwäbiſchen Naturel mehr als in dem zur abftracten Formel 
hinneigenden nordiſchen, und fo bin ich denn der Meinung , baß 
die fpeculative Philofophie in ihrer Wanderung von Süden (wo 
ihre Schöpfer geboren find) nach Norden und von da zurüd nad 
Süden einen glücklichen Entwickelungsgang zeige. Ohne die Pflege 
der norbifhen DVielfeitigkeit und Beweglichkeit hätte fie ihr Princip 
auszufprechen gar nicht den gehörigen Raum gefunden, ihre Rück⸗ 
wanderung nad Süben aber ift ein weſentliches Moment für bie 
freie, unbefangene Anmendung ihres Princip8 und Hineinführung 
in pofitive Gebiete, wie fie denn biefe durch Strauß zunächſt in 
der Theologie gefunden hat. Ich kann von ihm gerade aus der⸗ 
jenigen Zeit, wo er noch bis über die Ohren in Schelling, Böhme, 
dem Somnambulismud ftad, einen Zug anführen, worin jenes 
Talent ſich ausſprach. Wir hörten Synopſe bei-D. Kern, der 
von Blaubeuren, wo er früher unfer Lehrer war, zugleich mit 
feinem Collegen Baur inzwijchen nach Tübingen berufen worden 
war. Er hatte feinen früheren Kantiſchen Standpunkt verlaffen 
und aud der neueren Speculation fich Vieles zu eigen gemacht, 
doch ohne ſich für die Principien und eine Fühnere Anwendung 
berjelben zu entfcheiden.- Al3 wir eines Abends von feinen Be— 


4 


104 


mühungen ſprachen, in eine neuteſtamentliche Erzählung, bie 
offenbar einer kritiſchen Sichtung bedurfte, exegetiih einen Sinn 
zu bringen, fügte Strauß, er habe nicht begriffen, wie er ſich fo 
viele Mühe habe geben können, die Sache fei offenbar falſch er⸗ 
zählt. Mich frappirte diefe Bemerkung , ich ſchlug mid) in Ge- 
danfen vor die Stirn und fagte mir: das ift doch fo einfach und 
du bift nicht darauf gefonımen. Ich war eben kein Anhänger bed 
firengen Inſpirationsbegriffes, aber jo zwingend und betäubend 
ift der Bann verbreiteter Borurtheile, daß ich eben auch meinte, 
in jedem andern Coder fei eine offenbar ſinnwidrige Stelle aus 
menfhlichen Verſehen abzuleiten, bier aber fei der Buchftabe feft, 
ed ftehe einmal da und man müfje anders helfen. Aber Strauß, 
der Enthuflaft, der Myſtiker, mar nun doch auf den Sprung 
gefonmen. 

Um jedoch dieſes kritiſche Talent ſich ſelbſt zum Bewußtſein 
und zur conſequenten Ausbildung zu bringen, bedurfte es freilich 
ganz neuer Fermente, die feine bisherige Weltanficht erſt an der 
Wurzel auflodern follten. Segel konnte nicht das nächſte fein, 
auf ihn aufmerkfam zu werben, fehlten noch die Bedingungen ; 
wir mußten von Marheinede, aber der fland noch fo hierogly⸗ 
phiich vor und, daß ihm Feine Handhabe abzugemwinnen war, 
und hätten wir ihn gelefen, fo war von ihm, ber bie Eritifchen 
Gonfequenzen der Speculation nur auf wenigen Nebenpunften 
geltend gemacht hat, nicht zu erwarten, daß er den ffeptiichen 
Funken in die jugendlichen IUuflonen werfe. Aber ver Rationa⸗ 
lismus? Röhr? Wegfcheider? Paulus? Diefe Richtung ver- 
achteten wir ganz unendlich, fie war und der Inbegriff aller 
abgetretenen Plattheit, etwas Geiſt⸗ und Gottverlaffened. Wie 


103 


fonnte es auch anders fein? Wir hatten volles Recht, die Me⸗ 
taphyſik des Nationalismus, der das Verhältniß Gottes zur 
Welt zu dem hohlen Begriffe einer Lenkung und Leitung verdünnt 
und biemit Feine beſſere Gottesichre, als Epikur, aufzumelfen 
bat, total zu verwerfen. Daß er aber auf dem Felde der Empirie 
und überall, wo ed fih darum handelt, den Cauſalitätszuſam⸗ 
menhang innerhalb feiner felbft, nicht die Beziehung feiner Tota⸗ 
lität auf das Abfolute zu betrachten, fein gutes Recht habe, dies 
einzufehen lag und erfahrungstofen Menſchen, die Feine Einficht 
von dem Werthe des Verſtandes hatten, fondern ihn neben feiner 
höheren Schweſter, der Vernunft, gar nicht zu Worte Eommen 
liegen, allzu fern. 

Wir hörten num auch bei unferem früheren Lehrer Baur 
theologifhe Vorlefungen, zunächſt Dogmengefhichte, Kirchen- 
geſchichte, Symbolik. In diefen Gebieten mar es jeboch nicht 
jowohl Aufgabe, über das erfte Glied, als vielmehr über ben 
Zufammenhang der weiteren Glieder in der Kette der Geſchichts⸗ 
entwickelung des Dogma und der Kirche und aufzuflären; wir 
erhielten den wohlgeorhneten Stoff in geiftvollen philofophifchen 
Perfpectiven, ohne über den Anfangspunkt geſchichtlich Elar zu 
werden: auch wüßte ich nicht zu fagen, ob unjer Lehrer fi 
damals felbft ſchon den unbefangenen kritiſchen Standpunkt zu 
voller Klarheit gebracht hatte, durch den er jetzt ald ein Kleinod 
geiftiger Freiheit an unferer Univerfität glänzt. Erſt jpäter, als 
wir Apoftelgefchichte und Korintherbriefe bei ihm hörten, erbiel- 
ten wir die erften Proben Eritifcher Schärfe von einem Katheber. 

Den erften Anftoß, aus jener enthuflaftifch unkritiſchen Stim- 
mung den Schritt zur Vermittelung der Vernunftideen durch ver⸗ 


106 


ftändige Dialektik zu thun, gab vielmehr Schleiermanher. Ihm 
fonnte man ſich mit Vertrauen nähern, denn man Fannte feine 
metaphyſiſchen Principien, man wußte, daß man bier Feinem 
Reflerionspualismus begegne; man hatte diefenigen Schriften, 
in denen Schleiermacher 8 Weltanficht fich rhetorifch ausfpricht, die 
Reden und die Monologen, noch bona fide mit Schelling’fchem 
Enthufiosmus gelefen; aber nun ging ed an die Dogmatik, und 
Strauß widmete zugleich der Kritif der Sittenlehre ein fleißiges 
Stubium. In beiden Werken tritt das dialektiſch⸗kritiſche Element, 
obwohl dort mit bedeutenden: Hange zu lftiger Berheimlichung, 
bier offenbarer und wilfenfchaftlicher, fcharf genug hervor, um 
einem hellen Kopfe auch in die feftefte Verſchanzung feiner Illu⸗ 
fionen Ein für alle Mal die Brefche des Zweifel zu fehießen. 
Mag Schleiermacher dad Refultat aus feinen dialektiſchen Schluß- 
fetten ziehen ober nicht, mag ber Leſer fogleich merken, wo hin⸗ 
aus ed bei ihm mit dem Pofitiven in der Neligion will, oder 
nit: der Keil der Kritif, der Pfeil des Zweifels ftedt einmal 
mit doppeltem Widerhafen im Herzen. Nun ift es aber höchſt in⸗ 
terefiant, Schleiermacher's Dialektif mit der Hegel'ſchen zu ver⸗ 
gleichen; das dialektiſche Moment verhält ſich bei beiden zu den 
Vrincipien fowohl, ald zu den Mefultaten auf eine total verſchie⸗ 
bene Weiſe, ein Unterſchied, der am Elarfien vorliegt, wenn 
man Schleiermacher 8 Dogmatif mit Hegel vergleicht. 

Während bei Hegel bie Dialektik ein weſentlich eingreifenbes 
Moment it, ohne melches die philoſophiſchen Reſultate gar nicht 
gefunden werben, verhält fie fi bei Schleiermacher fo, baß bie 
philoſophiſchen Grunbanflchten, von bem Berfafier jelbft offenbar 


107 


auf einem andern Wege gefunden, durch eine Art Sofratifcher 
Katerhifation, die er mit dem Lefer vornimmt, dieſem beigebracht 
und auf das Poſitive der chriſtlichen Lehre bis zur theilweiſen, 
jedoch immer wieder Eoboldartig verheimlichten, Auflöfung def» 
jelben in allgemeine Wahrheiten angewandt werben ; dort ift Die 
Dialektik die Seele des ganzen Proceſſes, hier der Proceß, dur 
den die Grundanſicht gefunden wurde, verfehwiegen, und bie 
Dialektik kommt dann ald Lehrmittel hinzu, um dem Lernenden, 
dem man eigentlich gar nicht gefteht, daß hier Philofophie ge» 
“trieben werde, dem vielmehr das bloße Gefühl ald der einzige 
Ueberzeugungsgrund genannt wird, bie dem Ganzen zu Grunde 
liegende philoſophiſche Weltanfhauung zuzuführen. Darum if 
auch die Art diefer Dialektik eine ganz andere, ald Die der Hegel⸗ 
fhen. Die Hegel'ſche Dialektik iſt die Negation des verftänbigen 
Momentd, da8 die Begriffe entzweit, firirt und iſolirt; fie be= 
weift, daß die Entgegengefebten identiſch feien und fich in eine 
höhere Einheit auflöfen. Schleiermacher verfährt auf “ähnliche 
Meife; er febt ein Dilemma, ein Entweder Ober, und beweift, 
daß weder die Thefe, noch die Antithefe ohne Widerfpruch denk⸗ 
bar fei, wodurch er zur Annahme eines Dritten zu nöthigen 
ſucht. Nun ift aber jened Dilemma feldft ein ganz anderes, ale 
ein auf denn Wege Togifcher Entwickelung gefundener Gegenfak 
verftänbig abftracter Momente, wie 3. B. Kraft und Aeußerung, 
Urſache und Wirkung bei Hegel ; es werben wielmehr ohne eigent« 
liche innere Nothwenbigkeit zmei Falle angenommen und dann 
nachgewiefen, daß beide nicht denkbar feien , fondern nur ein 
britter. Der Lefer wird dadurch nicht überzeugt, weil er fich auch 
noch andere Bälle denken Tann, er fchlüpft aus dem Dilemma 


108 


hinaus und läßt den Lehrer flehen; er hat das Gefühl, daß er 
wie ein Schüler behandelt fei, den der Meifter, der dad Lebte 
feiner Vleberzeugung ımd das Erfte — den Weg nämlich, worauf 
er fie gewonnen — in petto behält, feine irrigen Vorftellungen 
auszufprechen veranlaßt, dann an den gefeßten Irrthum anknü⸗ 
pfend ihn dahin führt, wo er ſchon vorher auf Fürzerer Linie an⸗ 
gekommen war. Dies reizt den Leſer, der ſchon philojophifche 
Bildung und offenen Kopf genug hat, um zu merken, wo Alles 
hinaus will, er will nicht in der Kinderlehre ſtehen; den Eigen- 
finn des harten Kopfes vermag es aber auch nicht zu brechen, 
diefer fagt ebenfalls: da ich jene dilemmatiſch geſetzten Fälle doch 
nicht jelbft ausgefprochen habe, ſondern du mir fie präjentirft, 
jo brauche ich deiner Beweisführung auch nicht zu folgen. Man 
lefe 3. B. die Lehre von den Eigenfchaften Gottes; es ift nichts 
Anderes, al ein Sokratiſcher Verſuch, ven Leſer auf den Stand- 
punft Spinoza’8 zu führen, der aber ohne alle überzeugende Kraft 
für denjenigen ift, dem diefer Standpunkt vorher ganz fremd 
war. Ift num dieſer Weg der Lift offenbar da nicht ber rechte, 
wo es fih um philoſophiſche Begriffe handelt, fo ift er dagegen 
ganz am rechten Plage, wo ed darauf ankommt, eine poſitive 
religiöfe Vorſtellung, die fich vor der Vernunft nicht halten läßt, 
fei ihr Inhalt nun eine Perſon, oder ein Ding, oder ein Factum, 
ad absurdum zu führen. 3. B. der 2efer glaubt an einen Teufel; 
jegt ift nicht die Zeit, aus den Tiefen der Metaphyſik zu dedu⸗ 
eisen, wie dieſe Vorftellung mit dem richtigen Begriffe Gottes 
und feiner Wel’regierung, fo wie der menſchlichen Subjectivität 
unvereinbar jei; denn der Leſer tft Fein Philojoph, er ift ein Kind. 
Wan knüpft aljo unmittelbar an die einmal gegebene Vorſtellung 


7% 


109 . 


an, nöthigt ihn zu dem Verſuche, fle zu vollziehen, und beweift 
ihm, daß diefer mißlingen muß, weil er auf Widerſprüche führt. 
Wer freilich gar kein Talent zum Zweifel hat, wer einmal ent» 
ſchloſſen ift, zu glauben, daß Gott ein filbernes Eisen machen 
Eönne, ber wird fih auch auf ſolchen Punkten nicht durch jene 
Methode belehren lafien, wer aber jenes Talent Hat, auf ven 
wird fie ficher wirken, wenn au nur fo, daß er benft: wenn 
ih Vorftellungen, die mir bier al3 fo fehr fich felbft widerſpre⸗ 
hend nachgewiefen werben, überhaupt hegen konnte, fo muß das 
Uebel tiefer Tiegen, und ich muß meine ganze Metaphyſik umbilden. 

Diefe Dialektik war es denn, welche Strauß, noch ehe er 
die Hegel'ſche kannte, auf ven Weg der Kritik, der Skepfis führte 
und eine große Revolution in ihm hervorbrachte. Man wird fin« 
den, daß fie die Methode ift, im welcher fein Leben Jeſu zu Werke 
geht. Wie Schleiermacher verſchweigt er (bis zur Schlußabhand⸗ 
Jung) jeine metaphyſiſchen Principien, wie aus denfelben die 
Verwerfung ded Wunders folgt und wie fle die treibende Seele 
feiner ganzen Kritik find. Er feßt je zwei File, er fagt zu dem 
Leſer: denfe dir die Sache fupranaturafiftiih — es geht nicht, 
rationaliſtiſch — es geht nicht, alſo mird Feine Begebenheit, 
jondern ein Mythus erzählt. Nur vorübergehend berührt er, 
wenn er die fupranaturaliftiiche Erklärung in ihren Widerſprüchen 
nachgewiejen hat, den lebten Grund, er fagt: dies oder dad 
wird aber Jeder, der ſich gegen die philojophiichen Fortſchritte 
feiner Zeit nicht verfchloffen hat, undenkbar finden, u. dgl. Eben 
darum überzeugt er diejenigen nicht, die im Supranaturalismus 
oder Nationalismus feftgerannt find, am wenigften die Erfteren, 
denen bad Talent des Zweifeld am meilten abgeht; ſie venfen 


110 


eben: wo fteht denn gefchrieben, daß jene Zeitphilofophie Die 
wahre tft? Um die ihrer Anſicht nachgewiefenen Widerſprüche 
fünımern fie fich nicht, fie Hören den Gegner gar nicht an, denn 
ihnen fehlt das logiſche Trommelfell, fie find dickhörig, taub, 
taubftumm oder ſtaubdumm; Haft du ihnen beiwiefen, daß dieſes 
ober jened ſich nicht denken laſſe, daß es alfo auch nicht fein 
fönne, fo fagen fle: ja wie es ift, weiß ich nicht, ich kann e8 
nicht deutlich denfen, darum kann e8 aber hoch fein; Alles, weil 
fie kein Zutrauen zur Logik, zum Denken haben. Das ift nun 
einmal ihr Geſchmack, man kann ihnen denfelben nicht nehmen, 
nur follten fie dann überhaupt auch alles Reden aufgeben, denn 
fie haben noch Feine Sylbe geſprochen, fo haben ſie ſchon factifch 
anerkannt, daß fle zum Denken ein Zutrauen haben. Iſt dem⸗ 
nach mit diefem Publifum ſchlechterdings nichts anzufangen , fo 
ft darum | jene Methode feineöwegs zu verwerfen , ſondern viel⸗ 
mehr die einzig mögliche auf dem Felde religiöfer Geſchichte. 
Meberzeugt fie den Tauben nicht, fo iſt damit nichts gegen ſte 
bewieſen, denn dieſer hat ihre Gründe nicht angehört; aber fie 
überzeugt denjenigen, der philofophifchen Kopf hat und nur noch 
nicht Bar, noch in der Form des Vorftellend befangen if. Er 
darf nicht zurückgeſchreckt werden, denn er hängt noch an Autoris 
täten, an Borausfeßungen, die ihm heilig find. Hätte Schleier- 
macher vorneherein geſtanden: hier wird philofophirt, hier geht 
es dem Pofitiven an's Leben, fo hätten die Theologen geſagt: 
gut, wir laſſen dich ftehen, dann philoſophire immerhin zu. 
Er mußte die Lift gebrauchen, feine Principien zu verhüllen, er 
mußte fhmuggeln und wahrlich, er hat brav gefehmuggelt: Wie 
mancher theologifche Zollbeamte ver Orthodoxie macht nun, ohne 


111 


daß er's weiß und merkt, ben eigenen Salat mit geſchmuggeltem 
Schleiermacher'ſchen Eſſig an und heilt fi feine Warzen mit 
feinem SHöllenfteine weg! Ebenſo hätte man Strauß geradezu 
ftehen lafien, hätte er mit dem offenen Bekenntniſſe angefangen, 
dag es ein Mißtrauen der Vernunft gegen das Wunderbare jet, 
was feine Kritik als bewegende Seele leite *). Ich glaube jedoch 
nicht, daß dies Verfahren aus einer vollkommen deutlichen Ab⸗ 
ficht Tiftigen Verbergens hervorging, eben fo wenig als bei 
Schleiermacher. Es ift, was Goethe feinen realiſtiſchen Tick 
nannte, als Schiller meinte, er ſollte am Schluſſe feiner Lehr 
jahre Meiſters die Grundidee des Ganzen andeuten, und er fi 
hierzu ganz ungeſchickt zu fühlen gefland. Strauß tritt freilich 
ganz anderd und weit freier ald Schleiermacher auf, das Ganze 
it kühn genug, aber in der Ausführung leitet ihn doch auch 
biefer Inftinet der Lift, die ihre Abſichten nicht ganz gefteht. 
Auch in den Kritiken, welche Strauß in die berliner Jahrbb. 
gegeben Hat, wo fie zum Gegenftande hatten, außerordentliche 
Erſcheinungen von dem Phantaftifhen, womit fie dad Vorurtheil 
umgeben hat, zu reinigen, wie namentlich Thatſachen des Som⸗ 
nambulismus und Befeflenfeind, wird man die Schleiermacdher'fche 
Dialektik wiedererfennen. Die erfte Arbeit aber, in melcher fich 
der Wendepunft in feiner Weltanficht zu erfennen gab, und welche 


*) Die Wipigen, welche Etrauß dur „Beweiſe, daß D. Luther nie 
exiftirt Habe’ u. dergl. zu parodiren glauben, vergeflen, Daß von D. Luther 
nirgends erzähle wird, er habe Wein aud Waller, d. 5. er habe ein 
hölzerned Elfen gemacht, und daB Strauß nicht die Eriftenz Jeſu, 
fondern nur dad hoͤlzerne Eiſen bezweifelt, 

Aelt. Anm 


112 


ebenfalls bereits jene dilemmatifhe Taktik ganz am rechten Orte 
anwandte, war eine Kritik ver Seherin von Prevorft im Heſpe⸗ 
rus, worin die wichtigften pſychiſchen Facta des Somnambulis⸗ 
mus keineswegs geläugnet, aber die Geiſtererſcheinungen als ob⸗ 
jective dialektiſch aufgelöſt und auf traumartig dramatiſirende Viſion 
reducirt wurden (vergi. ſ. eig. Aeuß. in dieſen Jahrbb. Nr. 4, 
S. 26). 

So vorbereitet trat Strauß an die Hegel'ſche Philoſophie. 
Hier mußte das Privatſtudium Alles thun, denn vom öffent⸗ 
lichen Unterrichte hatte man Feine Anleitung und Hilfe zu erwar⸗ 
ten. Ein entfchiedener Anhänger des Syſtems war Mepetent 
Schneckenburger, jebt. Profefjor in Bern, damals vor Kurzem 
von Berlin zurüdgefehrt. Allein der haftig vorgetragene Auszug 
aus Hegel, den er in feiner Vorleſung über die Gefchichte des 
Verhältniſſes zwifchen ver neueren Philofophie und der Theologie 
gab, Half uns eben wenig vom Orte. Hegel's Formeln waren 
und nicht neu mehr, wir wollten fie aber im Zujammenhange 
begreifen lernen. Strauß war, kann man fagen, diejer Philo⸗ 
ſophie entgegengereift, und es erging und Uebrigen, die wir 
mehr oder minder denfelben Bildungsgang gemacht hatten, ebenio. 
Ich erinnere mich noch genau jener Zeit, und wie mir zu Muthe 
war; id) hatte Durch das, was ich vereinzelt von Hegel's Syfteme 
gehört und gelefen, eine Ahnung feines Inhalte und dabei das 
Gefühl, diefe Philofophie müffe meinen geiftigen Bebürfniffen. 
entſprechen; fie verfprach mir Alles, was Schelling hatte, in 
tiefer begründeter Form zu geben, wodurch der abfolute Zmeifel, 
der, nicht fo widerſprechend als es vielleicht fcheint, neben ber 
DBegeifterung für Schelling fortbauerte, in fein Recht eingeſetzt 


113 


und eben dadurch über ſich jelbft erhoben werben folfte. Strauß 
begann die Phänomenologie gemeinfhaftlih mit einigen Freunden 
zu leſen und feßte dieſe Lectüre bis zum Abgange von ber Univer« 
fitat im Herbſt 1830 fort. Im Sommer 1830 ward Mar 
heineke's Dogmatik vorgenommen ; aber hier zeigte fich bereits, 
daß man den Meifter mit ganz andern Augen leſe, als dieſer 
und andere norddeutſche Schüler. Diejenigen Stellen in der Phä- 
nomenologie ,. welche die Perſon Jeſu betreffen, hatte Strauß 
— fo jehr war ihm dur) die Schleiermacher'ſche Dialektik, ob» 
wohl fle gerade in diefem Punkte den eigenen Principien ungetreu 
ift, das Auge gejhärft worden — im liberalen Sinne verftan- 
den. Strauß hat nach den Aeußerungen feiner dritten Streitſchrift 
hierüber. feine Anficht geändert; ich glaube abte noch jegt, daß 
Mehreres namentlich in dem Abſchnitte vom unglücklichen Bewußt⸗ 
fein deutlich. genug für die mythiſche Auffaffung ſpricht, während 
allerdings in der Religionsphilofophie ein ſichtbares, bis zur 
Confuſion gehendes Schwanken, das vieleicht zum Theil auf 
Rechnung der Compofition des Buches aus nachgefchriebenen. 
Heften kommt, zu bemerken iſt. — Uebrigens hat fich Strauß 
an derſelben Stelle (dritte Streitſchr. ©. 57 ff.) ſelbſt darüber 
ausgeſprochen, wie ihm von Anfang an der von Hegel feſtge⸗ 
ſetzte Unterſchied zwiſchen Vorſtellung und Begriff eine ganz an- 
dere Behandlung der Lebenägefchichte Jeſu, des Poflttiven über- 
haupt zu bedingen fhien, als welche Marheinefe, Göſchel und 
Andere für nothwendig halten. Mit Marbeinefe, fo hoch wir 
die großen DBerdienfte dieſes achtungswerthen Theologen fehäten, 
fonnten wir in biefen Punkten gar nicht übereinftimmen. Ein 
Verfahren, mie das feinige, war ganz gegen unfere ſchwäbiſche 
Kritiſche Gaͤnge. 8 


114 
Natur. Statt dafs in vie überlieferten ſchweren Maffen ber Dog⸗ 


matif der Begriff als ein flüfflger Geift ſchonend eingeführt wird, .. 


rückt er in geſchloſſenen Keilen ſchwerer Kavallerie an und haut 
geradezu ein; Alles oben herunter aus metaphyſiſcher Höhe, 
nirgends der Stoff durchdrungen, ein Folbiger , geftiefelter For⸗ 
malismus, eine Flappernde Begriffsmähte, bei der Einem Sören 
und Sehen vergeht. 

Es handelt fih Hier überhaupt um einen wichtigen Punkt, 
nämlich um die Art, auf die ſich der Philoſoph in Gebieten, wo 
gewiſſe Vorurtheile durch die Autorität: der Zeiten fich befeſtigt 
baben, verhalten. fol. Der philofophifche Begriff ift, als „die un⸗ 
geheuere Abbreviatur der Dinge‘, von einer folchen Weite und 
Allgemeinheit, dag man mit feiner Anwendung auf ein beftimm⸗ 
te8 Gegebene jehr behutfam fein muß, wenn man nicht Gefahr 
laufen will, fich die Blöße zu geben, daß man etwas ald wahr 
und vernünftig deducire, was fich nachher auf empirifhem Wege 
als unmwahr.ergeben kann. Ich münfchte Solchen, wie H. Lic. Baur; 
dag einmal die. Kunde von einen wunderbaren Borgange ſich ver- 
breitete, der in ihre Wundertheorie vortrefflih zu paſſen fehiene, 
dag fle dann mit ihrer ganzen formaliftifchen Fertigkeit denſelben 
als abfolut vernünftig und nothwendig deducirten, nachher aber 
erführen, ed fei nichts an der Sache. Doc eine ſolche Beſchä⸗ 
mung haben fie nicht zu befürchten, fie verhalten fi zur Gegen⸗ 
wart Eritifch wie andere Kinder des Jahrhunderts , fie reden nur 
von Wundern, die vor Olims Zeiten gefchehen fein follen ; da 
lebt freilich Keiner, ver zugefehen hätte und ihnen beweiſen könnte, 
daß fie in den Wind fprechen. Um ſich aber ven Rücken befjer zu 
decken, wird der Behutfame in folchen Gebieten einen andern 


115 


Weg gehen. Der Speculation muß bier offenbar ein gefimber 
Realismus, eine unbefangene Anſchauungsgabe zur Seite gehen, 
die ſich zunaͤchſt von dem behaupteten finnlichen Vorgange ein 
deutliche! Bild zu machen fucht, das ſich ohne Widerſprüche volle 
ziehen läßt. Es mag ſich z. B. mit der philoſophiſchen Deducir⸗ 
barkeit der wunderbaren Speifung verhalten wie eö will, es wird 
doch behauptet, die Sache ſei geſchehen. Ift fie geſchehen, fo 
muß man fi von dem Vorgange eine detaillirte Vorſtellung ma= 
hen können, und läßt fich diefe nicht ohne Widerfpruch gegen 
alle Geſetze des Geſchehens vollziehen, fo hebt fie fih auf. Hebt 
fih Die Borftelung auf, jo hebt fih auch Die Sache auf (ld 
Geſchichte nämlich ; die darin nievergelegte Idee ift auf anderem 
Wege zu retten). Diejer Realismus fegt freilich, wenn Einer ben 
Muth haben fol, ihn auf verjährte religiöfe Vorftelungen anzu⸗ 
wenden, eine tiefere Skepſis voraus, den Muth der Wahrheit, 
ber ſich vorneherein nicht durch Autoritäten und althergebrachte 
Kategorien imponiven läßt; biefer tiefere Skepticismus und jene 
finnlich frifche Realismus müffen zuſammenwirken, und fle wirken 
in Strauß zufammen. | 
Im. Herbft 1830 verließen mir bie Univerfität ; ; Strauß 
wurde Vicar und ſetzte die Hegel ſchen Studien eifrig fort. Wie 
feft bereitö damals feine Ueberzeugung im Hauptpunkte war, bes 
weift eine höchſt interefjante Correfpondenz zwiſchen ihm und 
einem Freunde, die durch feine Güte mir mitgetheilt eben vor 
mir liegt. Rührend ift es, zu lefen, mit welchem heiteren Ver⸗ 
trauen in die alleinjeligmachende Kraft der Wahrheit hier Strauß 
die Beforgniffe und Scrupel des Freundes befäwichtigt , der ſich 
durch Die Kluft, die feing wiſſenſchaftliche Ueberzeugung zwiſchen 
8 * 


116 

ihm und dem Glauben ver Gemeinde zieht, bekümmert fühlt, 
wie Far er ihm barthut, daß es Feine Unredlichkeit ſei, wenn 
der Geiflliche in der Sprache der Vorftellung rede und unvermerkt 
in die Bilder, die dem bloß Glaubenden vorſchweben, ‚die tie⸗ 
feren Ideen des Wiffenden hineinleite. Wie bitter ift dieſes Ver⸗ 
trauen auf: eine allmälige Verfühnung beider Standpunkte ge- 
täufcht worden ! 

Im Sommer 1831 wurde Strauß als Verweſer eines Pro⸗ 
fefforat3 am Seminar zu Maulbronn angeftelt, und die Behörde 
bewies durch die Berufung eined fo jungen Mannes auf dieſen 
Poſten, wie viel ſie auf ihn baute. Inzwiſchen vermochte er dem 
Verlangen, Hegel ſelbſt zu hören und feine wiſſenſchaftliche Bil⸗ 
dung überhaupt von Amtsgeſchäften frei an einem großen Sam⸗ 
melplage der Wiſſenſchaft zu vollenden, nicht länger zu wider 
ſtehen, und reifte im November deſſelben Jahres trog der Cholera 
nach Berlin. Sein innigfter Wunſch follte ihm nicht erfüllt wer- 
den; er Hatte eben die erften Vorlefungen von ihm gehört und 
bie perfünliche Bekanntſchaft des großen Mannes gemacht, als 
er aus Schleiermacher's Munde die ſchmerzliche Nachricht erhielt, 
daß der verehrte Meiſter ein Opfer der Cholera geworden. Sprach⸗ 
los entfernte er ſich: „der große Schleiermacher, ſchreibt er 
einem Freunde, war mir in dieſem Augenblicke unbedeutend, wenn 
ich ihn an dieſem Verluſte maß“, und bald ſtand er im Innerſten 
erſchüttert, unſchlüſſig, ob er nun Fänger in Berlin weilen ſolle, an 
feinem Grabe. Doch überwand die Erwägung, daß Hegel in Ber- 
. Ün zwar geſtorben, aber nicht auögeftorben fei, feine Unfhlüffig-e 
keit, und nun fammelte er mit brennendem Wiſſensdurſte die Schäße 
ber Intelligenz ein, bie biefe blühende Univerfität, damals noch 


117 


der wiſſenſchaftliche Stolz Deutſchlands, in näherem ober entfern- 
terem Zufammenhange mit feiner Richtung ihm darbot. Welchen 
Einbruck Schleiermacher auf ihn machte, wie der fchon früher. 
gefaßte Gedanke, das Leben Jeſu tm Geifte der Stellung, bie 
er ſich zur Hegel'ſchen Philoſophie gegeben, zunächſt für eine - 
Borlefung zu bearbeiten, zum beftiinmten Plane wurde, und 
worin dieſer Plan von der fpäteren Ausführung abwich, hat 
Strauß ſelbſt (Ite Streitfhrift S. 59 u. 60) erzählt, Das Be⸗ 

denkliche der Iinternehmung verhehlte er ſich fi pr damals nicht, - 
‚Aber, fagft du,’ fchreibt er aus Berlin an feinen Grein nad- 
bem er ihm feinen Plan auseinander gefebt hat: „dieß willft vu . 
in Tübingen. lefen? Und du glaubft nicht, daß bir der Hörſal 
geſchloſſen wird? Ja es ift wohl fo etwas möglich, und ich bin 
oft recht traurig, daß Alles, was ich in der Theologie thun 
möchte, folche halsbrechende Arbeit if. Aber ih kann es 
niht Ändern; auf irgend eine Weiſe muß biefer Stoff aus 
mir herausgeftaltet werden. Wir wollen es einftmweilen Gott be⸗ 
fehlen, der und doch irgendwie eine Thüre für fo etwas öffnen 
wird”, Ich führe dieſe Stelle wörtlich an, weil ed fo viele giebt, 
welche der Meinung find, man bürfe Strauß zwar wegen feiner 
ſubjectiven Anflcht nicht verdammen, aber er hätte fe nicht öffent« 
lich ausſprechen, oder etwa lateiniſch fchreiben follen. Ach ja 
wohl! Warum nicht Lieber malayifch, chineſiſch? Diefe Haben 
entweder feinen Begriff vom Geifte, fle wifien nur von Sub⸗ 
jecten und nicht von einem Entwidelungsgange der Idee, dem 
das einzelne Subject ald Organ dient, und begreifen baher nicht, 
daß es von Strauß vielmehr fchlecht und nieberträchtig geweſen 
wäre, wenn er dem inneren Rufe ſich entzogen hätte; oder aber 


118 


— und Dies iſt wohl bei der Mehrzahl ver Fall — fie find im 
Grunde doch Feinde der Straußiſchen Sache und geben ihren 
Liberalismus nur wor, fle haben wenigftens keine fefte Anficht, 
und wollen fh ein Schwanken, einen Inbifferentiomud refer- 
viren, worin fle ver Entſchiedene flört, den fie eben darum nicht 
leiden können. 

Nach feiner Ruͤckkehr wurde Strauß im Mai 1832 als Res 
petent zu Tübingen angeftellt, und las In demſelben Sommer 
Logik und Metaphyſik mit großem Beifall im überfüllten Hörſaale. 
Zum erften Male wurde die Hegel ſche Philofophie weder mit pole⸗ 
mifcher Entftellung, noch mit blinder Anerkennung vorgetragen und 
von einem philoſophiſchen Katheder aus der Same der Speculation 
unter bie Studtrenden gefreut. Auf diefe Vorleſung ließ Strauß bie 
Geſchichte der neueren Philoſophie von Kant an und Platon 
Sympofion, dann Gefhichte der Moral folgen. Im Sommer 
1833 kam ih, ebenfalld als Nepetent nach Tübingen berufen, 
“wieder mit ihm und mehreren Compromotionalen zufanmen. Es 
war eine ſchöne Zeitz wiſſenſchaftlich fühlte man fich durch die 
gleiche Meberzeugung und das gleihe Streben, in den Zöglingen, 


| ‘ „die man zu leiten berufen war, den Geift ächter Philofophie zu 
näheren, vereinigt, und die Gefelligfeit der Amtsgenoſſen wurde 


befonderd durch den Straufifchen Humor und Geift verfehönert. 

Diefer Humor zeigte fich beſonders in einer heiteren Fertig⸗ 
keit, die unſchuldigen Schwächen der Eollegen zu entdecken und 
durch Teife Wendungen des Gefpräches unvermerft fie zu ver- 
anlafien, daß fle fich in naiver Welfe ausfprachen. Darin zeigte 
fi denn freilich eine Meberlegenheit, ein in der Vogelperſpective 
genommeer Standpunkt, wogegen man fib bin und wieder 


119 


beſchwerte, wie denn ein Freund einft zu Strauß fagte: du Haft 
gut Fuftig fein, wir follen die nur immer aufipielen! Iene Autos 
vität, die fh ein feharfer und überlegener Geift unwillfürlich in 
feinen Umgebungen verfhafft, machte fich auch jetzt ſchon durch 
fein practifches Gefchi und feine Entſchiedenheit in Auferlichen 
- Sphären geltend. Niemand wußte jo determinixt die Aufficht über 
Untergebene zu führen, die Seminarordnung zu handhaben, Nies 
mand officiele Berichte und Eingaben über Hit Punkte mit 
ſolcher Gewandtheit zu fertigen. 

Inzwiſchen hatte er aufgehört, Vorleſungen zu halten und 
in verhältnißmaßig erſtaunlich kurzer Zeit fein Werk über das 
Leben Jefu vollendet, deſſen erfter Band tm Juli 1835 erfchien. 
So hatte er denn die Summe feiner biäherigen Entwidelung in 
dieſem Denkmale feines Geiftes niedergelegt. Was ich biäher über 
das ſchwäbiſche Naturell und die Straußiſchs Individualität gefagt 
babe, Tann ih nur dahin zufammenfaffen? der Tieffinn des ſchwä⸗ 
bifchen Geijtes war in der Metaphyſik enthalten, die diefem Werke 
zu Grunde liegt; die Kraft des Zweifels und der Kritif, verbuns 
den mit jenem undbefangenen Nealismus, der erft die Ammendung 
jened Zweifels auf gegebene pofitive Gebiete möglich macht, ent⸗ 
wickelte ihre ganze Fülle in der Auflöfung des bloß Poſitiven, J 
was bie inconſequente Speculation vieler andern Schüler Hegel's 
mit jener Metaphyſik vereinigen zu können glaubt, ohne zu be⸗ 
merken, daß ſie vielmehr dadurch im Principe aufgehoben wird 
— : fo ſteht dieſes Werk als die reichſte Probe des ſchwäbiſchen 
Tiefſinnes zugleich und Scharfſinnes vor den Augen der Welt. 
Fragt man ſich nun, warum denn im Publikum die Meiſten nur 
den Scharffinn, die Wenigſten den Tiefſinn bemerkten, fo iſt 


120 


allerdings zugugeben, daß die Abweichung von dem urfpünglichen 
Plane. den Iegteren in den Hintergrund drückte. Nach diefem Plane 
ſollte der letzte Theil der trichotomiſch angelegten Arbeit eine 
Neconftruction des von der Kritik Aufgelöften burd die philoſo⸗ 

phifche Idee ‚enthalten. In der Ausführung ſchwoll, was den 
zweiten Theil bilden follte, zum Ganzen an; ber erfte, der be» 
ſtimmt war , die bibliſche und Kirchliche Lehre zu referiren, konnte 
immerhin wegfallen, da bie kritiſche Entwickelung, indem fie das 
Pofitive ftet3 bekämpft, es mittelbar auch barftellt und ald Be⸗ 
kanntes überhaupt vorausſetzen darf. Daß aber der dritte Theil 
zum bloßen Anhange, daß eben daher die fpeculative Rettung 
des kritiſch Zerftörten etwas zu flüchtig und nur mit hafber Liebe 
vorgenommen wurde, ift zwar im Namen derjenigen zu beklagen, 
benen die Vorfenntnifje fehlen, um die bejahende Seele der ver⸗ 
neinenden Kritik zu erkennen, und für welche aus manchen Stel» 
Yen der dritten Streitſchrift, welche fich über das Herrliche ber 
Erjheinung Chrifti mit Feuer ausfpredhen, der Schein einer 
Zurücknahme des Früheren entfteht, — erklärt fi aber leicht 
aus der Stimmung des Kritiferd, dem es wiberlich fein mußte, 
auch nur von Weitem fih den Schein zuzuziehen, als bitte er 
zum Schluffe für feine Kühnheit un Berzeihung. Auch fo Tonnte 
man jedoch allerdings erwarten, daß der Verf. an mehreren we⸗ 
fentlihen Punkten die Idee, welche einen Mythus aus fich her⸗ 
vortrieb, vollftändiger auszuführen ſich Zeit genommen hätte. 
Sp entſtand z. B., indem gewiffen Erfindungen ver Technik ein 
größerer Werth beigelegt wird, als Wundern, der Schein, ale 
behaupte der Verf., daß die religiöſe Phantafie, indem fie bie 
Wundermythen bildete, den practifhen Werth der Wunder pres 


121 


mirt habe, während fie doch nur die Macht des ſittlich rellgiö⸗ 
fen Geiftes fih in poetifcher. Form zur Anfhauung zu bringen 
ſuchte. Strauß war mübe, als er diefen Anhang ausarbeitete ; 
aber in der That, die Geduld ift auch zu bewundern, womit 
er den Augiasftall der. fublimften exegetiſchen Abfurditäten gemi⸗ 
ftet, womit er fich auf die Widerlegung der aberwißigften Bemü⸗ 
‚ Hungen, offenbare Mythe als Gefchichte zu retten, eingelafien 
hatte. Dieſe faft mehr als menfchliche Geduld, wer hat fie ans 
erkannt? Mit. fehendem Auge ift man abfichtlih blind geweſen 
und hat diefen unendlichen. Ametfenfleiß , dieſen Schweiß durch⸗ 
wachter Nächte, dieſes reblich getreue Ausharren für Träghelt, 
Obenhinfahren, für ven Muthwillen eines frivofen jungen Men⸗ 
ſchen erklärt. Doch behält auch die Schlußabhandlung den u. 
großer Präcifion bei gedrungener Kürze. | 

Bald darauf folgte die Eutlaffung; Strauß, um nicht uns 
thätig zu ſein, entfchloß ſich, das ihm wenigftend indirect aufges 
drungene Amt eines Rectoratsverweſers am Lyceum zu Ludwigs⸗ 
burg zu übernehmen, verließ das Seminar und brachte bis zum 
Antritte der neuen Stelle noch ein paar Monate als Privatmann 
in Tübingen zu. Der Schlag hatte ihn ſchwer getroffen, er wird 
ihn nie verfchmerzen. Wenn irgend Jemand, fo hat er vermöge 
feiner altbürgerlih foliden Erziehung und Denkart das Bedürfniß 
einer feften Unterlage feiner Thätigkeit, eines öffentlihen Wir- 
fungsfreifes, Zurz eined Amtes; das aufgebrungene aber war 
feinen Neigungen, der Richtung feiner Studien, der Beſtimmung 
feiner Kräfte zuwider. Er fühlte ſich entwurzelt, jened Keber- 
gefühl kam über ihn, das Gefühl, ausgeſtoßen, excommunicirt, 
mit dem Geruche ver Pet umgeben zu fein; es ift daher fehr 


122 


unrihtig, wenn man feine Entlaffung nur als eine Privation 
varſtellt, fie Hatte auf ihn die volle Wirfung einer graufamen 
pofitiven Strafe. 
Strauß trat fein Amt an und verwaltete e8 zur ausgezeich⸗ 
neten Zufriedenheit der höheren Behörde. Aber in die Länge 
ertrug er ed nicht. Der Wiverfpruch zwifchen der Art feiner Ge- 
ſchaͤfte und den Stubien, zu denen ihn Neigung und innerer 
Beruf zog, die Entfernung von literarifhen Hilfsmitteln, der 
Mangel an Erholung und Zerftreuung in der menfch nleeren, 
melancholiihen Stadt, dies Alles und dazu noch jenes Gefühl 
des verſtoßenen, verabfeheuten Steßerd einem Gemüthe eingebohrt, 
den Humanität, Gemeinfanfeit des Bewußtfeind mit Andern, 
‚Breundfchaft und Mittheilung das höchſte Bedürfniß war, übte 
allmälig einen ſolchen Drud auf feinen Geift aus, daß er fi 
entſchließen mußte, feine Lage zu verändern; er verließ im Herbfte 
1836 Ludwigsburg und z0g nad Stuttgart. Nun ging er an 
die Ausarbeitung der ſchon länger beſchloſſenen Streitſchriften. 
Daß dieſe offenſive Defenſive vielen Tadel erfahren werde, wuß⸗ 
ten er und ſeine Freunde wohl; von verſchiedenen Seiten hörte 
man zum Voraus, da die Kunde von dem Unternehmien feiner 
Ausführung voranging , verdammende Stimmen, auch aus dem 
Munde Solcher, die fich übrigens den Schein der Liberalität gaben. 
Nun werde, hieß es, die bisher von Strauß rein wiflenfehaftlich 
gehaltene Sache in Perfönlichkeiten ausarten. Hiegegen aber 
mußte jeder aufrichtige Freund des Rechts und der Wiffenfchaft 
fogleih mit allem Ernfte fich erklären. Des Rechts: denn warum 
ſoll doch das alte Schaufpiel, daß der wilde Fanatismus mit 
giftigen oder polternden Perjönlichkeiten ungeftraft die Vorkäm⸗ 


123. 


pfer der geiftigen Freiheit verfolgt, ſich ewig mieberhofen? Bon 
Strauß verlangen, daß er ſchweige, hieß nichts Anderes, als 
verlangen, er folle nur auf ſich herumtreten laffen, wie es den 
Gegnern beliche. Der Wiffenfchaft: denn Strauß hatte feinen 
Standpunkt thetifeh ausgeführt, berfelbe follte nun durch Polemik 
‘gegen die abweichenden Anfichten an Begründung und Licht ges 
winnen. Als num die erfle Streitfehrift den Dr. Steubel eben nicht 
ſchonend angriff, hieß es, nun fei ein Serunterfinfen vom wiſ⸗ 
fenfchaftlichen Standpunkte auf den der Werfönlichkeiten, wie man ' 
ſolches vorausgefehen , wirklich eingetreten, und man wollte von 
dieſem Vorwurfe um fo weniger abſtehen, als hier ein allgemein 
geachteter Charakter mit allen Waffen eines Träftigen,, offenen 
Haſſes angegriffen war. Hier Eommt e8, mil man richtig urthei⸗ 
Yen, barauf an, zwiſchen erlaubten und unerlaubten Perfönlich- 
feiten fo zu unterfeheiden, wie e8 Strauß ſelbſt in der Vorrede 
zur erften unb in der zweiten Streitſchrift (S. 95 ff.) gethan hat. 
Die unerlaubte, niedertrüchtige Perfönlichkeit befteht in Seitenhie⸗ 
ben auf das Privatleben des Gegnerd, auf fein Herz , auf fein 
fittliche8 Verhalten überhaupt: ſolche Perſönlichkeiten Hat ſich 
gegen Strauß die Mehrzahl feiner Gegner erlaubt. Wenn nun 
der fo Angegriffene dem Gegner nicht nur bie Schwãͤche ſeiner 
wiſſenſchaftlichen Gründe, ſondern eben dieſe Perſoönlichkeiten, vie 
et einmengte, im Tone gerechter Entrüftung vorwirft, jo kann 
man dies um fo mehr, ald auch bie wiſſenſchaftlichen Gründe, die 
der Gegner braucht, deſſen Perſönlichkeit charakteriſiren, eine 
perſönliche Kritik nennen, aber Feine im unedlen und unerlaub- 
ten Sinne. Einen Ton hat jede Schrift; in jeber- ſpielt neben 
dem Wiffenjchaftlichen etwas Subjectives her; eine ganz unpers 


124 


ſoͤnliche Gegenfchrift ft daher etwas, was weder eriftiren kann 
noch fol. Ober war denn Leffing gegen den Herrn Paſtor Göge 
nicht perſönlich? Und wer freut ſich nicht über dieſe Perſonlichkeit? 
Es ift wahr, Steudel war ein höchſt achtungswerther Mann, aber 
in Religionsſachen verdunkelte der Fanatismus der Zionswächterei 
vorübergehend ſeinen Charakter, ſo daß jeder Freund des rechtſchaffe⸗ 
nen Mannes wünſchen mußte, daß Fremde nicht aus dieſen Zügen 
ſein Charakterbild ſich zuſammenſetzen. Seinem Einfluſſe ſchrieb 
Strauß die tieffte Wunde zu, die ihm geſchlagen worden, ſeine 
Entlaſſung, und haßte ihn mit jener ganzen Entſchiedenheit, die 
ſtarke Naturen im Haſſe, wie in der Liebe zeigen, und mit welcher 
einſt Luther gegen den König von England in einer ganz ähnli⸗ 
hen Streitfache jo göttlich grob geweſen iſt. Dennoch iſt in dieſer 
trefflichen Streitfährift, worin Strauß ein neues Talent entwicelte, 
das der geflügelten Polemik, die Hände und Füße hat, nicht ein 
Jota von Perfünlichkeiten im unerlaubten Sinne zu leſen; nicht 
die rein moralifche, fondern die wiſſenſchaftliche Perſönlichkeit Steu- 
der 8, fofern in ihr allerdings auch moralifche Mängel fich zeigen, 
ward zermalmt. 

Auch an Ejchenmayer, meinte man, habe fih Strauß ver- 
fündigt, als er in der zweiten Streitfehrift fein Altweibergeträtſche 
und den boöhaften Galimathias feiner Ignoranz in ihrer Blöße 
an den Pranger ftelle. Der ehrwürdige Eſchenmayer! Er war 
fo lange ehrmürdig gemefen! Im Ernſte: nur dies könnte man 
fih einen Augenblick fragen, ob e8 ſich denn auch der Mühe ge⸗ 
lohnt Habe, über einen ſolchen Gegner den leichten Sieg zu feiern. 
Allein fo wenig Wirkung ein ſolches Gefchrei haben mag, fo tft 
es doch von Polizei wegen nöthig, daß man bisweilen abftrafe; 


125 


ber Unfug, werm auch ungefährlich, fol nicht geduldet werben. 
Ungleich wichtiger war die Kritik Menzel's. Gier galt ed, einen 
Standpunkt in feiner Nichtigkeit aufzumelfen, der dad Schöne ger 
radezu im Principe zerftöven würde, wenn er Geltung gewönne, 
und der Durch einen Schein von Wahrheit, durch den er Unmün⸗ 
dige beſtach, wirklich gefährlich war; es galt, das wahre Ver⸗ 
hältniß zwiſchen dem Guten und Schönen feſtzuſtellen, deſſen 
Auffaſſung dieſer Kritiker dadurch ganz verrückt hatte, daß er mo« 
raliſche Maßſtäbe directe auf Producte der Kunſt und Poefie 
anwandte, und indem er verkannte, daß das Gute im Schönen als 
ein aufgehobenes Moment vornherein enthalten ift, die Selbft« 
ſtändigkeit des Schönen geradezu aufhob, eben damit aber auch 
ded Guten; denn wenn dieſes fih nur dadurch foll erhalten 
‚ Tönnen, daß e8 als ſolches ausbrüdtih und unmittelbar, d. h. na⸗ 
mentlich als Gegenfag und Kampf gegen die Entfaltung des Sinn- 
lichen, fich geltend macht, fo find wir in eine formaliftiihe Moral 
zurüdgeworfen, auf die moraliſche Weltanſchauung, deren Wider- 
fprüde und Heuchelei Hegel Ein für alle Mal aufgedeckt hat. 
Hiemit hing unmittelbar ein weiteres zeitgefhichtliches Interefie 
zufammen. Menzel haufte mit feinem Ipeenkreife in dem Prin- 
cipe der naiven Sittlihfeit des Mittelalterd, in welcher die Sub⸗ 
jeftivität, einfach und inftinetmäßig mit dem Glauben und der 
Sitte der Väter verwachen, nicht zu ihrem vollen Rechte kam. 
Freilich derſelbe Menzel hatte früher gegen moralifche Pedanterie, 
Prüderie u. f. w. gepredigt, ja er hatte Wieland, den wirklich 
frivolen Wieland, defien Gelüfte e8 war, die Beflrebungen der 
Tugend im Kampfe mit der Sinnlichkeit graziös unterliegen zu 
lafien, und dem daher das Ideal (des Schönen und eben daher 


126 


des Guten) geradezu abzufprechen ift, in Vordergrund geftellt, 

während er Göthe, der ftetd von einen affirmativen Verhältniſſe 
des Geiftigen und Sinnlichen, aljo auch vom Principe wahrer 
Sittlichfeit ausgeht, verläfterte. Schon dies war ein Beweis, 
daß hier nicht einfacher Irrthum, nicht die ehrliche Zeitenver⸗ 
wechſelung eines ſubſtantiellen Charakters zu bekämpfen war; 
Nahm man aber vollends die Brutalität der Ignoranz hinzu, mit 
welcher Menzel auf den verſchiedenften Gebieten, namentlich dem 
philoſophiſchen, das Pathos ſeiner abgeriſſenen fixen Ideen her⸗ 
ausſtieß und, was ihm in den Weg kam, nach ſeinen fertig 
liegenden, unflüſſigen, allem Begriffe einer Entwickelung total frem⸗ 
den Maximen übers Knie abbrach, erwog man, daß Menzel ſeine 
eigene, aller Welt offenbare Ignoranz in dieſen Gebieten noth⸗ 
wendig wiſſen mußte, daß er es z. B. wiſſen mußte, ob er dad 
Leben Jeſu, ehe er darüber aburtheilte, gelefen habe oder nicht, 
daß hiemit aljo, indem er ein Urtheil, wie es nur der aufftellen 
kann, der ed nicht gelefen hat, mit der Miene ausſprach, als hätte, 
er es gelejen, fein Verfahren das eines frechen Lügner zu nen⸗ 
nen war: fo lag hier offenbar ein Unfug vor, der nicht länger. 
geduldet werben Eonnte. Menzel bat Wis und Talent, dem er⸗ 
mübend Tangweiligen Cinerlei feiner monoton wieberholten ftarren, 
Grundjäge. hatte er durch migige Wendungen int Einzelnen eine 
gewiſſe Abwechſelung gegeben und dadurch die Schwachen um ſo 
mehr beſtochen, als fein neuefter Kampf gegen gewifje Tendenzen . 
in der Literatur ven vollen Schein des Rechts hatte; denn es galt 
allerdings, die unmwürdigen Propheten einer in fih und ihrem 
wohlverftandenen Principe ganz wahren und guten Sache in ih⸗ 
rer Blöße hinzuſtellen. Aber Menzel ſchüttete natürlich Das Kind, 


127 


mit dem Babe aus und verlor ſich in einen Schmuk von Perfön« 
lichkeiten, der, von den Gegnern ebenfo heimgegeben, eine Schands 
feene in. unferer Literatur berbeiführte, die ihres Gleichen fucht. 
Jene gute Sache iſt das tiefere Bemußtjein feiner Freiheit, das 
ber moderne Geift fih zu geben ringt, dad Princip des Fortſchrit⸗ 
tes. Für dieſes auch auf anderem, als dem theologijchen Gebiete 
gegen ben yerfioskteften Stgbilismus zu kämpfen, war eine ber 
Stellung, welche Strauß einnimmt, vollkommen entfprechende Auf- 
gabe. Es war Zeit, dad Schwerdt des Geiſtes gegen den frechſten 
Gegner zu ziehen, Strauß zog ed, that einen guten Schwa⸗ 
benftreich und hieb Durch bis auf den Sattelfnopf. Seine Streit 
föhrift gegen Menzel ift durch die gewiſſenhafte Gründlichkeit im 
Bunde mit der geflügelten Gedanfen- und Spracäbewegung Leſ⸗ 
ſings ein Meiſterwerk neuerer Polemik. Der Gegner wird Schritt 
für Schritt durch alle Kanäle, die er ſich gegraben, unerbittlich 
weiter getrieben, bis er endlich in den Abgrund feiner Nichtigkeit 
verfinkt. Wir verwunderten und über die Lauheit, mit der dieſe 
treffliche Streitfchrift aufgenommen wurde. Namentlich aus Nord⸗ 
deutichland hatte man ſich von allen den Geiflern, die dem Prin= 
cipe der Freiheit und Bewegung zugethan find, freudigen und 
baldigen Gruß verfprochen, aber nad) langem Schweigen ließen fi 
wenige, vereinzelte Stimmen hören. Die Schrift wird auch, ab⸗ 
geſehen von ihrem Zeitintereffe,. für die Aefthetif als Wiffenichaft 
eine Fundgrube vortrefflicher Bemerkungen bleiben. Das poetiſche 
Talent, mit welchem Strauß ausgeftattet ift, mußte, da feine Na⸗ 
tur ſich für die Speculation entfchied, naturgemäß aus der Friſche 
der Production auf das philofophifche Intereffe für die Erfchei- 
nungen auf diefem Gebiete fich zurüdziehen, wie e8 denn im Cha⸗ 


128 


zafter unferer Zeit Liegt, daß, mwährend in einen vorzugsweiſe 
künſtleriſch und poetifch geftimmten Zeitalter nicht nur die Genies, 
fondern auch die bloßen Talente es zu sinem Reichthum von Pros 
duetion bringen, ein reflectivenbes, wie das unfrige, die biofen 
Afthetifchen Talente mehr und mehr der Production entzieht und 
auf die Seite der Neflerion über dad Produciren herübernöthigt. 
Wie umfaflend und gründlich jenes Interefje bei Strauß: iſt, be⸗ 
weiſt jene Streitichrift. Die ächte Humanität, welche Die Freunde 
in feiner Perfönlichkeit Tieben, und welche auch einzelne Härten 
und Schroffheiten in feinem Charakter mit fehnell wirkenden Heil- 
Eraft zur Harmonie und Verſöhnung zurücklenkt, hat ihre ſqhönfte 
Nahrung aus jenem Intereſſe gezogen. 

Rur ein paar Worte noch über die Art, wie Menzel: ven An⸗ 
griff aufnahm. Auf den eigentlichen Streitpunft ging er gar nicht 
ein, bie theologijche Angelegenheit feines Gegners nannte er mit 
erfünftelter Verachtung einen Handel, feine groben Irrtümer über 
die eigentliche Stellung und Abfiht des Straußifchen Werkes, das 
er mit völliger Unfenntniß ſowohl der zu Grund liegenden Meta⸗ 
phyſik, als auch der ganzen Ausführung zum platten Rationa⸗ 

‚Usmus rechnet, wiederholte er in noch roberer Sprache, und 
endlich brauchte er den unreinen Kunſtgriff, die Tendenzen des Fein⸗ 
des mit den frivolen des jungen Deutſchlands zuſammenzuwerfen. 
Schon bei dem erſten Ausfalle gegen Strauß hatte er ſich dieſe 
Wendung erlaubt, er hatte gefagt, man ziehe jezt nicht mehr bloß 

„gegen bad Wunderbare in den Erzählungen der h. Schrift zu 
Felde, fondern fuche fogar bie rein fittliche Grundlage des Chri⸗ 
ſtenthums zu bemoliren, und in biefem Zufammenbange war er 

unmittelbar auf das Leben Jefu von Strauß übergegangen. Ei⸗ 


129 


nen triftigeren Beleg für den Abſcheu, ven Ich gegen biefen Dann 
auszuſprechen für meine Pflicht hielt, wird Niemand erwarten. 
Nachdem nun Strauß in feiner Streitſchrift felbft beſtimmt Hatte, 
imvieweit er den Tendenzen moderner Schriftfteller beipflichte, 
nachdem aus den trefflichen Stellen über diefen Punkt (nament» 
lich S. 185) leichtlich zu erfehen war, in welchem Sinne Strauß 
eine Sufammenftellung mit der neuen Bewegung Teineswegs, im 
welchen aber allerdings ablehne, — was that Menzel? Er fagte, 
Strauß habe ſich immer noch nicht erklärt, ob er nicht mit dem 


jungen Deutſchland confyirire, er müfle fih aljo gefallen laſſen, 


fo lange dies nicht geſchehen fei, zu jenen Unreinen gezählt zu wer⸗ 
den. Eine Menzel’d ganz mürbige Taktik, die dur die Bemer⸗ 
fung über einige von Strauß gebrauchte Ausdrücke (die Dienzel 
nad) Tholud, der fie bereitö entftelt und verkehrt gedeutet hatte, 
citirt), daß diefelben auf eine Gemeinheit der Geflnnung ſchließen 


laffen, der man wahrſcheinlich noch mehr zu verzeihen habe, — 


weg von diefem Bilde der Schmach! 


Die beveytendfte ver bisher erfchienenen Streitfchriften ifl je⸗ 


doch unläugbar die dritte, namentlich in demjenigen Theile, worin 
ſich Strauß über ſeine Stellung zur Hegel'ſchen Schule ausſpricht; 
denn hier wird auf dad Princip, auf den Sitz der ganzen Frage, 
auf den Begriff des Verhältniffes zwifchen ver Idee und der Wir: 
Vichfeit eingegangen und hierdurch dad Mangelhafte der Schluß« 
abhandlung im Leben Iefu ergänzt. Nachdem ich in biefer 
Charakteriftit unumwunden ausgefprochen habe, wie ich dieſer Auf- 
faffung oder Weiterbildung bed Hegel'ſchen Princips mit der in⸗ 
nigften Ueberzeugung beipflichte, habe ich hierüber nichts Weiteres 
zu jagen, denn es ift nicht dieſes Orts, die Sache wiſſenſchaftlich 
Kririſche Gänge. 9 


at 


130 


zu unterfuchen. Der Controverspunft iſt num durch dieſe Streit⸗ 
ſchrift in ſeiner Schärfe hingeſtellt, und die ſpeculative Theologie 
mag die Controverſe fortführen und beendigen. Ich ziehe den Ge- 
fammtinhalt dieſer Charakteriftif in die Bemerkung zufammen, 
daß hier das Naturell der ſchwaͤbiſchen Intelligenz, durch die Per⸗ 
fönlichkeit, die ich zu eharakterifiren verfuchte, repräfentirt in feiner 
Differenz vom Norddeutſchen, das nad) meiner Meinung bei ſei⸗ 
nen übrigen großen Vorzügen in biefen Dingen zum Formalis-! 
mus binneigt, fih auf eine Weile ausgeſprochen hat, welche \ 
ſowohl für die Wiſſenſchaft, als für ven geiftigen Austaufch zwiſchen 
Süden und Norden von den fruchtbarften Folgen ſein kann.“ 

Ich wünſche zum Schluſſe, den Verf. des Lebens Jeſu beſſer 
getroffen zu haben, als das Portrait, das in der Europa erſchien.) 
Die unteren Partien des Kopfes find zu breit und fleiſchig gera⸗ 
then, woburd die oberen, namentlich dad große dunkle Auge, das 
den ganzen Kopf beherrfcht und eine entſchiedene Präponderanz 
des Geiftigen ausſpricht, viel zu jehr zurüdtreten. Der ganze 
Kopf Hat dadurch ein ältliches und philifterhaftes Ausfehen be- 
fommen, der Kopf eined Mannes, der wahrlidy nicht zu den Phi- 
liſtern zu zahlen ift. 


2 — ’ 


131 


Ueber 
allerhand Verlegenheiten bei Beſetzung einer dogmatifchen 
Schrfielle in der gegenwärtigen ‚Beit. 


"+ (Saltifche Jahrbuͤcher für deutſche Wiſſenſchaft u. Kunſt, Jahrg. 1841, Nr. 65 ff.) 


— —— 
v 
— 


I. Lage der Sache. | 

Unfere Zeit rüdt einer Kriſis des Firchlichen Lebens durch Die 
ſteigende Spannung zwiſchen der modernen Wiſſenſchaft und der 
Volksreligion ‘oder richtiger den Anſtrengungen der Gelehrten, ſo 
wie der Staats- und Kirchendiener, die leztere auch im Bewußt⸗ 
ſein der Gebildeten zu retten, mit ſtarken Schritten näher. Die 
züricher Auftritte waren der erſte Vorbote und ſeitdem bricht da 
und dort der Zündſtoff in kleinen, doch bedenklichen Flammen aus. 
Auf unſerer Univerſität rief die Erledigung eines Lehrſtuhls der 
Dogmatik durch Abgang des Prof. Dorner ſchon bei der erſten 
Beſetzung lebhafte Discuſſionen im Senate hervor. Diaconus 
Märklin, dem gegenwärtigen Standpunkte der Wiſſenſchaft zuge⸗ 
than, bekannt durch feine Darſtellung und Kritik des modernen 
Pietismus, war im Vorſchlag, hatte aber nicht nur.die Anhänger 
des Kirchenglaubeng, fondern auch mehrere über Religionserkennt⸗ 
niß ganz liberal denkende Männer gegen fich, welche den eroteris 
fhen Grund geltend machten, daß durch die Wahl eines Mannes, 
der fo eben in feiner Schrift über den Pietismus mit dieſem zu⸗ 

9 %* 


132 


gleich den Kirchenglauben als eine unreine und widerſprechende 
Miſchung von Ideen und mythiſchen Zuthaten hingeſtellt Hatte, 
das Volk beunruhigt, und dadurch dad Mißfallen der Regierung 
erregt werben würde. Dan Eannte ven freifinnigen Geift unferer 
Regierung, aber man befürchtete züricher Scenen, und fie ſelbſt 
ſchien ſolche Beſorgniſſe zu hegen. Die leztere ergriff den Aus⸗ 
weg, dem Prof. Dr. Elwert, der wegen angegriffener Geſundheit 
von Zürich ſeine Entlaſſung genommen und eine Pfarrei in Wür⸗ 
temberg bezogen hatte, einem Manne von der gemäßigten mittle⸗ 
ren Partei, die Stelle anzutragen. Er mollte, da feine Gefundheit 
noch nicht hergeftellt war, nicht eingehen, auf wiederholtes Zures 
den jedoch gab er nach und bezog die Univerfität. Bald zeigte fich, 
daß feine phyſiſchen Kräfte der neuen Auftrengung nicht gewach⸗ 
fen waren, und die Borlefung über Dogmatif wurde für dad ge⸗ 
genwärtige Semefter dem Pridatpocenten Dr. Zeller, einem unſe⸗ 
rer talentvollften jungen Männer, rühmlich befannt durch feine 
Schrift: „Platoniſche Studien,” übertragen. 

Aber nun hebt die Noth von vorn wieder an. Zeller lieſt 
im Sinne der modernen Theologie, und fo gehalten und würdig er 
feine Ueberzeugung vorträgt, fo friedliebend er jeden Anknüpfungs⸗ 
punft zur Verſöhnung des Glaubens und Wiſſens ergreift, es 
fonnte nicht fehlen, daß die unzufanmenhängende Kunde von dies 
fen Vorträgen, die in’8 Publicum drang, alle diefenigen, welche 
nur die beftructive Seite der modernen Religionsphilofophie erken⸗ 
nen, in nicht geringe Verftimmung ſetzte. Aber nicht nur Diele; 
viele Männer, welche Freiheit des Gedankens achten, und fogar 
nicht abgeneigt find, dem Inhalte der jegigen Theologie felbft, fo 
weit er Laien bekannt ift, Wahrheit zuzugeftehen, find durch ver= 


133 _ 


worrene Berichte über diefe Vorlefung beunruhigt. So lange e8 
ein freied, mifienfchaftliches Denfen gab, fagen fie, fand eine Dif- 
ferenz zwifchen der Dogmutif der Theologen und dem Volksglau⸗ 
ben ftatt, aber niemals hat man darum die Indiäcretion begangen, 
biefe efoterifchen Abweichungen von dem öffentlich Geltenden ohne 
Hehl ſyſtematiſch auf ganze Generationen von künftigen Geiftlichen 
überzutragen. Der Lehrfluhl ift von Kirche und Staat für bie 
kirchliche Dogmatik gegründet; man befteige ihn, wie man auch 
für feine Berfon denken mag, nicht, um fie zu deftruiren. Wer 
von den jungen Theologen ein Bedürfniß hat, ſich vom Kirchen» 
glauben zu emancipiven, dem überlaffe man, ſich innerlich ſelbſt⸗ 
flänbig die abmeichende Anficht zu bilden und eine Vermittlung 
berfelben mit dem Glauben ver Gemeinde auf die ſchonendſte Weiſe 
zu verfuchen, nicht aber fehütte mian unmittelbar das Ganze einer 
unkirchlichen Theologie vor einer Schaar von Fünglingen aus, bie 
bald ald eben fo viele Apoftel der neuen LXehre zu den Gemeinden 
audgehen werden, um von der Kanzel herab fo unvorfichtig, wie 
ihr afademifcher Meifter von Lehrftuhl, zu predigen, was die Ge- 
müther beunruhigt, die nun einmal ohne den biftorifchen Glauben 
nicht beftehen Eönnen. So war e8 nicht in der guten alten Zeitz 
es gab Rationaliften, es gab Kantianer, Reinholdianer u. f. w., 
aber man predigte den Widerſpruch gegen die ſymboliſche Lehre 
nicht von den Dächern. 

Dr. El vert wurde veranlaßt, in Bälde zu erklären, ob er fich 
der Beibehalting feines Amtes gewachſen fühle; er hat bereits 
verneinend geantwortet. Dem Privatdocenten Zeller ift die Dogmas' 
tif durch Conſens des Minifteriums zu dem Vorſchlage des Se- 
nats einmal übertragen; die Frage, ob er für bie Lehrſtelle in Vor⸗ 


134 


flag zu bringen fet, tft dadurch von felbft gegeben, und es läßt 
fich eine ſehr fehmwierige Verhandlung im Senate leicht vorherſehen. 
Fällt, wie ſich erwarten läßt, die Mehrzahl der Stimmen gegen 
ihn aus, fo ift dadurch der Verlegenheit noch lange nicht abgehol⸗ 
fen. Ein Anderer ift vorzuſchlagen. Thatſache ift e8, daß die ta⸗ 
Ientoollften Köpfe unferer theologiſchen Jugend dem modernen 
Standpunkte des Gedankens zugethan find. Diefem Kerne ſteht 
eine nicht bünne Partei won pietiftifch oder wenigftend zelotifch Ge⸗ 
finnten gegenüber, in welcher ſich ebenfalls junge Leute von nicht 
geringen Kenntniſſen und Gaben befinden, bingerifien von dem 
halben Tieffinn, der Entfchloffenheit, der Compactheit, der Phan⸗ 
tafte, die in dieſer Geſtalt des Bewußtſeins Liegen. Die zahme 
Mitte aber zwifchen dem freien Denken und dem gebundenen, bie 
den Pelz wäſcht und nicht naß macht, hat ſich die Maſſe der ge⸗ 
wöhnlichen Intelligenzen vorbehalten, die wegen unzureichender 
Begabung nicht zu akademiſchen Lehrern berufen werben können. 
Es ift vielfach bemerkt und begreift fich leicht, daß neuerdings eine 
ſcharfe chemiſche Scheidung In die theologifche Welt eingetreten fl. 
Einft gab es Rattonaliften, Supranaturaliften, rationale Supra= 
naturaliften, ftreng Orthodoxe, biblifche Theologen, Pietiften, My⸗ 
ſtiker, und zwiſchen Allen, fo entbrannt fie ſich auch zu Zeiten bes 
fehden mochten, friedliche Verträge. Denn feine diejer Parteien 
hatte die Gonfequenz des eigenen Princips mit Schärfe durchſchaut. 
Set ift der ganze Gedanke gefommen, und hat nicht Frieden 
gebracht, fondern dad Schwert, zu feheiden. Es giebt nur. noch My⸗ 
thifer (man erlaube das Wort, da noch kein anderes für den mo⸗ 
dernen Standpunkt eingeführt ift) und Pietiften (gleichviel, ob fie 
Stunden befuchen oder nicht). Mittelmefen exiftiren, aber le⸗ 


135 


ben nicht. Chrenwerthe gemäßigte Männer aus älteren Genera- 
tionen will ich mit diefem Worte nicht beleidigen; weſſen Jugend 
unter großen Kämpfen aufwächſt, an den macht man andere For⸗ 
derungen, al3 an den, der den Geift einer vergangenen Zeit mit 
der Muttermilch eingefogen hat, und den der Frühling des Ge» 
dankens fchon als fertigen Dann fand; ein Anderer ift, wer mit 
jungen Kräften am Tage der Hauptſchlacht unentfchlofien zurüd- 
bleibt, al3 wer nach ehrenvollen Vortreffen müde ift am Tage der 
Entfheidung. Man hat Märklin vorgeworfen, daß er Pietismus 
und Kirchenglauben zufammenfchütte. Aber man muß die Reli» 
gion der unbefangenen Volksmaſſe von der Religion der Seten 
und von der Theologie unterſcheiden. Der harmlofe gemeine Dann 
Tann heute wie immer Firchengläubig fein, ohne in Pietismus zu 
verfallen. Das läugnet au Märklin nicht, denn er weift den Fa⸗ 
natismus ald weſentliches Unterſcheidungsmerkmal nad. Aber 
wer nicht harmlos glaubt, ſondern piquirt glaubt, wie die Secti⸗ 
ver, oder dogmatiſch, wie die Theologen, der kann jeßt nicht mehr 
ftehen ohne das Interefle des Fanatismus. Sonft war ed anders; 
man hielt ein Stüc oder einige von der ſymboliſchen Lehre feft 
und wickelte fie vergnüglich in einen oder einige Bogen Philofophie 
oder Vernunft u. dgl., denn dag zerfloß in's Unflare, ob vernünfs 
tiges Denken gerade Philofophie fein und auf ein Ganzes dringen 
müſſe. Seht hat der Gedanke feine Confequenzen eingefeben und 
fühn geftanden, er hat gerufen: wer nicht mit mir ift, der ift wi— 
der mih! Dadurch iſt die Scheidung gefommen und find Alle, die 
in einem Stüd oder im Ganzen das Stoffartige der Vorftelung 
in ihrem Geifte zu ertragen fähig find, in’3 Lager des Glaubens 
gegangen, und der gemeinſame Feind Hat die Zerftreuten durch das 


136 


Intereſſe der Oppofltion, durch den Zorn der Negation, mag er 
im Cinen milder, im Andern wilder brennen, zu einem effrigen 
Heere verbunden, deſſen Eifer eben hiedurch ein fanatiſcher iſt. So 
fhlummerte einft der Proteſtantismus in den Lenden des Katholis 
cismus, er begann herworzutreten, brach flellenweife durch, und 
nıan hielt Verträge für möglich, aber der neue Glaube murbe 
eonfequent, die Scheidung kam, und die alte Mutter haßte fana⸗ 
tiſch den Sohn. 

Was alſo thun? Aus der vaterländiſchen Jugend einen Leh⸗ 
rer wählen, der dem einen oder bem andern Lager angehört ? 
Man will aber ‚‚Eeine Extreme.’ So drückt man ed aus. ber 
die wahre DVermittlumg ift eben dad, was man ald eines ber 
Erireme anfieht. Die Extreme find fubjectiver Idealismus der 
fogerannten reinen DBernunftlehre und objectiver Realismus des 
Eirchlichen Glaubens. Die Vermüttlung , d. 6. die wahre, welche 
die Extreme vertilgt und, was beide Wahres haben, in ſich zu 
höherer Einheit verbindet, ift die fpeeulative Theologie. Aber 
darüber werden eben die Extreme bitter böſe, wenn man fo, 
fprihmwörtlich zu reden, den Einen nimmt und den Andern mit 
berumfchlägt ; fie machen gemeinfhaftliche Sache, und der wahre 
Vermittler ericheint ald da3 andere Extrem. Was man dagegen 
jest Vermittlung nennt, tft entweber vielmehr gar Feine irgend 
einer Art, fondern eben ſelbſt nur miffenfchaftlich vermummter 
Fanatismus, oder wenn eine Mitte, fo ift ed die der Schwäche, 
nämlich des Eklekticismus, der die Kunft verfteht und die benei= 
denswerthe Geduld hat, Kate und Maus in Einem Käfig auf- 
zuziehen. Doch das giebt die Welt nicht zu, alfo zur Sache zu= 
ruf. Gut; aljo im Auslande einen Lehrer fuhen? — Wen? 


137 

O0 ft es ja nicht anderd. Aber es giebt ja bech noch Männer 

‚ber. guten gemäßigten Schule. Geſetzt, es findet ſich ein Solcher, 
über defien Wahl man ſich vereinigen Eönnte, was wird feine 
Stellung zur afabemifchen Jugend fein? Es wird zwiſchen dem 
Lehrer und dem Kerne der Zuhörer ein Jahrhundert legen. Die 
den feurigen Wein der jungen Zeit gefoftet haben, fie werten 
daB zufammengefhüttete und in füuerliche Gährung übergegangene 
Getränk früherer Fehljahre nicht ertragen können. Mancher mag 
zu ſchnell getrunken haben; wenn ver junge Wein brauſet, giebt 
es Trunkene; joll man darum die Gottedgabe verbannen? Nein, 
man fol lehren, fie mit Verſtand trinken. Kann daß ein Lehrer, ' 
ber fie ganz vorenthält? Da tft ber üble Punkt. Don keinem 
weifen Manne geleitet wird bie Jugend den verpönten Trank 
heimlich hinuntergießen und betrunken auf den Markt ſtürzen, um >» 
dem Volke von diefer Nahrung auf eine Weife vorzulallen,, die 
für die Unmündigen Gift if. Der reife Geift des Lehrers Hätte ſie 
unterwieſen, dies gefährliche neue Werkzeug handzuhaben, und 
fhonend jeden Neft ver Vermittlung mit dem Volksbewußtſein 
feftzuhalten. Aber, höre ich einmenden, nicht verpönt, nicht durch 
Machtſpruch verboten fol diefe jetzige Phrloforhie fein; der neue 

Lehrer wird auf fle eingehen, ſie wiberlegen. Wenn man aber 
das kann, warum hat e8 denn noch Niemand gethan? Wenn 
irgendwo Jemand lebt, der das in petto hat, wie man die neue 
Irrlehre fo geſchwind widerlegt, warum hat er es nicht verlauten 
laſſen? Oper fol für Widerlegung gelten, mas bi8 jeßt erſchie⸗ 
nen ift? Ich meine, die Jugend habe ein Recht, zu erwarten, 
dag fie in ihren Lehrer den Standpunkt vertreten fehe, melchen 
nach zwei Iahrtaufenden, als den für unfere Zeit erfennbar voll- 


Lg 


138 


fommenften , bie Religionserkenntniß erftiegen hat. „Das bat. 
man zu Kant's, Fichte's, Schelling's Zeit auch gemeint; es iſt 
eine neue Mode, fe wird verfehwinden, wie jene.’ Aber was 
ihr für euch anführt, das ftimmt ja eben für mid. Der ſoge⸗ 
nannte Wechfel der Syfteme ift jedesmal nur ein Beweis, daß 
thr das vorhergehende nicht zu tödten gewußt habt. Weil ihr 
Spinoza, weil ihr Kant nicht todt zu machen mwußtet, fo ftehen 
fie immer auf's Neue auf, und die Geifter wachfen am Ende jo 
an, daß fle euch erdrücken. Und meint nur nicht, daß ein frifcher 
und entfchiedener Menſch ſich im Geringften bange machen lafſſe 
durch die unfehlbare Gewißheit, daß auch die jetzige Geifteägeftalt 
eine vorübergehende fein, daß die Zukunft neue, vollfonmenere 
Berwandlungen bringen müfle. Der Lebende hat Recht; Pie Zu= 
kunft fennen wir nicht; wir find an das gewieſen, was bis jet 
erreicht ift, mas bis heute als die höchfte Leiftung, die ihr mög⸗ 
lich war, auf den Schultern ver Vorzeit die Zeit zu erringen vers 
mochte. Sp lange es offene Köpfe gab und ſtarke Dienfchen, 
haben ſie ohne Scheu das Jetzt ergriffen, haben ſie in der Wiſ⸗ 
fenfhaft dein neueften Syfteme gehulbigt. Und die Anderen , bie 
das nicht wagten, was haben fie erzielt? Sich außer der Modes 
Philoſophie erhalten! Machen Sie mir, Schneider, einen Rod, 
aber nicht nad) der jehigen Mode; ich will die Mode nicht mit» 
machen. So bringt er mir einen Nor, ver ift aber nicht über 
und außer der Mode (giebt ed denn einen Rock an fih?), ſon⸗ 
dern er iſt auch nach einer, nur nach einer alten, und ich habe ge- 
wonnen, daß ich die Mode des vermichenen Jahrzehnds an mei⸗ 
nem Leibe al3 meine Diode aufftelle, was ja lächerlich ift und in 
fih widerſprechend, denn ich trage einen neuen alten Rod. Das 


139 


Beiſpiel iſt höchſt unwürdig, ich rede die Sprache und in dem 
Bilderfreife der Gegner. ° E 

Aber die Gefahr! die Gefahr! Diefe Jünglinge follen auf 
die Kanzel! Wohin fol es mit der Kirche fonımen? Hier find 
wir denn am Sitze der Frage. 


I, Hefleriom - 


Was ift denn überhaupt die Stellung ver Wiffenfchaft zum 
Leben? WIN ſie unmittelbar aus ihrer Begriffswelt in dieſes ein- 
greifen, um e3 zu reformiren? Diejenigen Zweige der Wiffen- 
[haft haben allerdings dieſe Abſicht, die ih unmittelbar mit 
- einem beftimmten empirifchen Stoffe befchäftigen,, wie Medicin, 
Rechts⸗ und Stantöwiffenfhaft. Zwar auch fie haben einen eſo⸗ 
terifchen Theil, die erfte den Begriff des Organismus als höch⸗ 
fie8 Product der Natur, die beiden andern die Idee des Staats. 
Dies tft die leitende Seele, die der verworrenen oder formaliſtiſch 
redigirten Maſſe der hiſtoriſchen Stenntniffe, der unmittelbar em⸗ 
piriſch anwendbaren Sätze und Erfahrungen eine legte innere 
Einheit giebt. In der Anwendung felbft aber wird dieſe höchſte 
Idee nur in feltenen Fällen direct herwortreten Eünnen. Denn ab» 
gefehen davon, daß der Handelnde felbft, bei einem gemöhn- 
lichen Maße von Intelligenz, es fehwerlich immer vermag, den 
vorliegenden Stoff mit feinem Ballaſt biftoriicher umd anderer 
ſcheinbar zufälliger Bedingungen unter den Begriff zu fubfinniren, 
wird fich in den meiften Fällen ſchon die Natur des Stoff gegen 
ein Geltendmachen der legten und tiefiten Gründe fträuben. 3.9. 
ed handelt ſich um ein Strafgeſetzbuch; welch’ ſchlechten Beifall 
pflegen bei der Debatte über die oberften Grundfäge, nah denen 


140 


‘ 


die einzelnen Geſetze beftimmt werben follen, Redner zu finden, 
bie nicht allerhand eroterifche Standpunkte, fondern den wahren 
Begriff des Verbrechens umd der Strafe geltend zu machen fuchen! 
Wie wenige Kranke Fönnten e8 ertragen, wenn ihnen der Arzt 
Rechenſchaft geben wollte über die Natur des Organismus, ben 
Zuftand der ihrigen, fein Heilverfahren! Vielmehr täufchen muß 
er fie oft genug, nicht nur im Dunkel laſſen, um ihnen nit 
Grauen zu erregen und dadurch feine Eur zu flören. Unter den 
Wiſſenſchaften, die fich geradezu mit dem Höchſten befchäftigen, 
fcheint die Theologie die Stellung der eben genannten Disciplinen 
zum Leben, die unmittelbar praktiſche Beftimmung nämlich, zu 
theilen, da ihre Schüler beftimmt find, in der geiftlichen Erziehung: 
bed Volks fofort in Anwendung zu bringen, was fle erlernt ha⸗ 
ben. Worin befteht nun aber diefe Anwendung? Soll der Stoff 
des Glaubens im Bernußtfein des Geiftlichen und der Gemeinde 
ganz derfelbe fein und die Tätigkeit des erfteren etwa nur darin 
beftehen, daß er ihn ſtets new beleuchtet und an's Herz legt? 
Man giebt etwa zu, er müffe eine vollftUndigere Kenntniß ſeines 
Umfangs, Elarere Einficht in feine Grunde , feinen Zuſammen⸗ 
bang, feine Gonfequenzen haben, und mie fonft dieſe unklaren 
Gomparative lauten mögen. Uber ſchon damit ift eingeräumt, 
daß der Stoff in feinem Bewußtſein nicht ganz derfelbe ift; Hat 
er eine „klarere“ Einfiht in feine Gründe u. f. w., fo hat fi 
ihn bereitö auch der Inhalt in einen andern verwandelt. Nur 
wer Die wunderbare Gabe hat, ſich einzubilven, daß in geiftigen 
Dingen eine Thätigfeit in Beziehung auf einen beftinnmten Inhalt 
denkbar fei, die um ihn herumgehe, feine Außenwerke verändere 
u. ſ. w., ohne daß dadurch das Innere der Sache irgendmie bes 


141 


rährt werbe, wie man ein Buch neu einbinbet, wird das glau⸗ 
ben können. Ein rationell geftügter und entwickelter Glaube iſt 
on Fein reiner Glaube mehr. Damit iſt zwiſchen Volk und 
Volkslehrer ſchon ein ſpecifiſcher Unterſchied des Bewußtſeins ein⸗ 
getreten, mag dieſer ſich deſſen bewußt ſein oder nicht. Nun 
haben wir aber noch gar nicht in Berechnung genommen, daß 
das theologiſche Studium in die Länge unmöglich ven Einflüfſen 
nicht bloß des begründenden Verftandes überhaupt, fondern auch 
der eigentlichen Philofophie ſich entziehen Eonnte, wie fa dies 
gemäß ihrem Verhaͤltniß zu einer Wiffenfchaft, mit ber fie dem 
wichtigften Theil ihres Inhalts gemein hat, gar nicht anders 
fein Eonnte. | 

Die Philofophie, dies Gehirn und Rückenmark aller akade⸗ 
mifhen Studien, ift es nun, deren Stellung zum Leben über« 
haupt zu betrachten ift, um in unferer Sache Licht zu befommen. 
Sie will das Sein, was vor ihr und ohne fie da iſt, in ein 
Wiſſen verwandeln. Die Vernunft, diefelbe, die in der Natur 
bemußtlos , in der Menfchenwelt mit einem Bewußtſein, aber 
einem unvollfommenen , dunkel fuchenden und über Princip und 
Ziel unklaren, baut und wirft, will in ihr mit vollem Bewußt⸗ 
ſein ſich die Anſchauung ihrer ſelbſt geben. Die Welt kann am 
Ende ohne Philoſophen beſtehen, und hat ſie nie leiden können. 
Sie friftet ihr Leben hinreichend in dem Dänmerfcheine zwifchen 
dem dunfeln Wahrheitätriebe mit feinem gefälligeren Bruder, dem 
Irrthum, und den vereinzelten, gebrochenen Strahlen wirklichen 
Wiſſens, die man Marimen, Grundfüze, Blicke in u. f. m. 
nennt, und braucht fie je zuweilen eine hellere Leuchte, fo trägt 
fle ver Genius, der Held oder Dichter, dem auch ein Inſtinct, 


142 


obwohl ein höherer und vom Gotte gegebener, den Weg weit. 
Iſt aber dem Philofophen wirklich ein Raum gegönnt, zu bauen, 
zu wirken, zu erziehen: darf er denn jemald mit der Thür in's 
Haus fallen? Muß er mit feinem Beften und Klarften nicht hin⸗ 
ter den Berge halten und ironijch verfahren, wie Sofrates? 
Darf er denn auf dem Markt ftehen und fehreien: eure Welt 
fteht auf dem Koyfe, der gemeine Verftand fieht die Dinge ver⸗ 
fehrt? Muß er fich nicht vielmehr den Schein geben, als fei er 
Eined Glaubens mit der Welt, und langfam, unvermerft aus 
dem Irrthum die Wahrheit entbinden? Ich rede nicht von dem 
Gebiete der Wiffenfchaft, da muß Freiheit fein und unummwundene 
Aufrichtigfeit ; fondern von irgend einem praktiſchen Eingreifen. 
Wer ein Kind erzieht, muß ihm doch gewiß viel verſchweigen, 
ja er muß ed in manchen Dingen wirklich täuſchen; der Philo⸗ 
ſoph kann aber der Menſchheit alle Ehre geben, ganz demüthig 
feine Schranfen anerkennen, dabei bleibt gegenüber feinen Den 
fen über die lebten Gründe, dieſem höchſten Thun des Geiftes, 
der Nichtphilofoph immer ein Kind, ein Unmündiger, man fage, 
was man will. Dean fpreche mir nur nicht? von Mebermuth, ich 
könnte fonft von der Frechheit etwas ſagen, über vie Philoſophie 
reden zu wollen, ohne fie ſyſtematiſch in ihrer ganzen Entwids 
lung ftudirt zu haben. Es kann fi ogar treffen, daß ein Phi⸗ 
Iofoph im Praftifhen wie ein Kind ift, und jenes Verhältniß 
bleibt doch daffelbe. Die Gabe ver Application, der Vermittlung 
ziwifchen dem reinen Denken und den Leben ift eine perfünliche, 
und darf dem Theologen allerdings fo wenig, als jeben zu einer 
beftinnten Lebensthätigkeit Berufenen fehlen. 


143 


Um num auf bie Theologie zurückzukommen, fo muß ich als 
anerfannt vorausſetzen, daß die Zeit gefommen ft, wo dieſe 
fich einer bis in's Mark eindringenden Sättigung mit der Philo⸗ 
ſophie nicht länger erwehren kann, wo man endlich einſehen 
muß, daß es nicht zwei Wahrheiten giebt, eine-natürliche und 
eine genffenbarte. Ich bin es ja nicht, der es behauptet, ſondern 
bie Geſchichte. Wer mit ihr ftreiten mag, den beneide ich nicht 
um feine Siege. Der Theolog num ala Philoſoph will zumächft 
offenbar nicht Anderes, als was die Philofophie an fih will: 
in’8 Licht des Gedankens erheben, was ohne ihn da iſt. Sein 
Gegenftand ift der religiöfe Volksglaube, er wandelt ihn in ein 
Willen, das ift fein geiftiges Bedürfniß. Wen der Glaube als 
Glaube genügt, mer dad Wiffen nicht will, nicht ertragen Tann, 
dem will er es nicht aufprängen, dem läßt er den Glauben. Aber 
wie? Gr hat fa eine ganz andere Aufgabe, als der Philofoph ; 
er fol ja nicht in diefer abftracten Einſamkeit fich abfchliegen, er 
fol lehren, erbauen, er fteht mit feinem Wiffen zu dem Glau— 
ben der Maffe in einem gegebenen praftifchen Verhältniſſe. Jetzt 
fönnten wir einfach jagen, er läßt der Maſſe ven Glauben, für 
ſich behält er das Wiſſen, und fucht, daß fo viele Strahlen des 
letzteren in den erfteren eindringen, ald möglich ift, ohne feine 
Natur aufzuheben. Er fucht den todten Glauben zum inneren 
2eben in den Gemüthern zu geftalten, das ift auch Philofophie, 
das ift die Form, in welcher er ihm das Gtoffartige nehmen 
fann, ohne ihn zu dem Mebergang in eigentliche Philofophie, wo 
- folcher einmal nicht möglich ift, zu nöthigen; nur fagt er ed nicht 
heraus , daß die Wahrheit gar nicht im Stoffe liegt, ſondern er 
läßt dem vorftellenden Bewußtſein vie Meinung, daß ihm Beides 


144 


Bleibe, ber Stoff als Wahrheit und die Umwandlung beffelben 
in inneres Leben. Nur damit es in feiner Verwechslung der Idee 
mit Stoffen nicht zu craß werde, hält er c8 an einem gelinden 
Zügel und führt es leiſe, unvermerft, wo und fo weit e8 angeht, 
in dad Wiſſen, wenigſtens in eine Ahnung des Wiſſens hinüber. 
Er predigt nicht: es giebt Feinen Teufel, denn dad Volk hat fich 
einmal in diefer Figur die Idee des Böſen hypoſtaſirt; er legt 
ihm nur an’8 Herz, daß der wahre Sitz dieſes Teufeld im In⸗ 
nern eined Jeden iſt. Da mag denn außerdem ſich nod extra 
einen Teufel an die Wand malen, wer dad Bedürfniß bat. Er 
predigt nit: es gab Feine Wunder, er leitet nur barauf bin, 
daß die wahren Wunder die geiftigen find. Da mag denn außer» 
dem noch extra glauben, daß Trauben auf Tannen wachſen kön» 
nen, wer dad Bedürfniß hat. Er predigt nicht: es lebte Fein 
bifterifches Individuum, das von den weſentlichen Schranken ber 
Individualität frei geweſen wäre, fondern er fagt nur: 
cr CHrifiud taufendmal in Bethlehem geboren, 
Und nicht in dir, du bleibſt doch ewiglich verloren. 

Man erklärt diefes Fürfichbehalten der Idee für Heuchelet, man 
behauptet, das Verhaͤltniß zur Gemeinde fei dadurch aufgehoben. 
Vielmehr wahrhaft begründet tft e8 erft dadurch. Der Päpagog 
fteht zu feinem Zögling im Verhältniß einer fittlichen Lift; wie 
kann er ihn erziehen, wenn er feine Kindervorftelungen theilt ? 
Er widelt ihm die Wahrheit darein. Iſt denn aber dad Vo 
mündig in der Anfiht von metaphäfifchen Dingen? Wen kann 
es im Ernfte einfallen, das zu behaupten? So geftellt ift der 
Geiftliche erſt wahrer Prediger und Volkserzieher, da er nicht 
mehr im Stoffe verſtrickt iſt mit denen, die er erziehen ſoll, ſon⸗ 


145 


dern frei darüber ſteht. Wie kann z. B. der Geiſtliche, ber einen 
Teufel glaubt und Wunder für möglich hält, mit irgend einigem 
Erfolg gegen den Aberglauben an Zauberei previgen? Gr mag 
hundert Mal fagen, Gotte8 Weisheit und Güte könne fo etwas 
nicht zulafien: er gibt zu, daß die Naturgeſetze nicht feft find, 
bag es eine böfe Macht gibt, die fie zu verderblichen Zwecken 
durchbrechen kann, da ift das Princip und die Möglichkeit ein⸗ 
geräumt, und die guten Gründchen, die er gegen bie Wirklichkeit 
vorbringt, wiegen keinen Strohhalm. Mindeſtens ſeit Kant auf⸗ 
getreten iſt, wird man nicht leicht einen Theologen finden, der 
fi nicht in irgend einer Differenz mit den kirchlichen Volksglau⸗ 
ben befände, und Eine fchließt alle in fih. Ausgefprochene Ra⸗ 
tionaliften aller Syrien, . landkundige Kantianer find von allen 
deutſchen Regierungen ohne Bedenken auf Ranzeln, in Confiſto⸗ 
rien, in jedes geiftliche Amt zugelaffen worden. Es ift aber be⸗ 
fannt, daß der Kantianismus, der Nationalismus überbaupt 
ganz anders, als die fpeculative Theologie mit dem religiöfen- 
Bolföglauben unfprang, daß er ihm ganz unfanft weientliche. 
Dogmen geradezu wegnahm, die übrigen ebenfalls ohne Compli⸗ 
mente für bloße Vehikel einiger moralifchen Lehren erflärte. Man, 
hat darüber geſchrieen, ich weiß es, aber nur eine Partei, nicht 
freifinnige Laien, nicht erleuchtete Staatsmänner. Verlegenheit 
freifich, Noth gab ed immer, daß ed mit der Wiſſenſchaft nie 
recht ind Geleife Eommen wolle in ihrem Berhältniffe zum Kir⸗ 
chenglauben. Nun Tommt endlich eine Philofophie, hie findet: 
das edelſte und zugleich gelinbefte Mittel, der Noth abzubelfen, 
die erfennt ven ganzen ſchoͤnen Gehalt des Glaubens an und weiß 
Aushilfe, nicht heuchleriſche, nein wahre, aufrichtige, liebevolle 
Aruiſche Gänge. 10 


146 


Aushilfe für die Differenz de6 Bewußtſeins, das fich zu dieſem 
Gehalte eine andere Stellung gibt, und nun — fteht die halbe 
Welt in Flammen und fehreit Die Kirche um Hilfe, als läge ſie 
in den Testen Zügen! Wie ift das zu erflären? Man muß den 
Beunrubigten ven eigentlihen Grund ihrer Aufregung , den fie 
nicht zu fagen gewußt haben, — denn waß fie bis jegt vorge⸗ 
bracht haben, fol doch nicht von Gewicht fein — erft leihen. 
Der Rauonalismus ſchien weit unfchuldiger , denn die Dogmen, 
d. h. die durch eine Miſchung mit Hiftoriihem Stoffe zu Glau⸗ 
bensfägen gewordenen Ideen, galten ihm noch immer für fefte 
Dinge und Sachen, die allerdings hiftorijch gewiß bleiben, nur 
neu zu erklären foien. Dieſes Stoffartige hatte er mit dem Volks⸗ 
glauben gemein. Iebt aber hat das durchgedrungene Princip des 
freien Denkens alle diefe feften Pflöcke flüffig gemacht und heraus 
geſchwemmt, nnd das fo befreite Bewußtſein, das den ganzen 
Stoff vor ſich nimmt und als ſolchen, als bloßen Stoff nirgends 
mehr gelten läßt, fondern auf reinen Gedankengehalt reducirt, 
gilt Jedem, der nicht auf dem Wege zufammenhängenber ftrenger 
philoſophiſcher und Hiftorifcher Studien dieſes Nefultat felbft hat 
entftehen ſehen und ſelbſt für fie erzeugt, für ein frevelhaftes, 
som Volke, vom Hauben abgefallenes. Es war ja vor Allem 
mit dem Begriffe Gottes fo; diefer auf Lenken und Leiten bes 
ſchraͤnkte Gott war fo gut als Feiner, wohl aber gerabe durch dieſe 
Berfegung in ein Jenſeits ein fefter, hanpgreiflicher Stoff. Die 
Eiſſenſchaft fordert einen Gott, der wirklich unſichtbar, allge 
genwartig ift, und man fehreit, fie habe keinen mehr, denn das 
gemeine Bewußtſein will etwas Feſtes und Solides, eine rechte 
Sand voll, wie die Bauern im Schwarzwald das Kupfergelb dem 


147 = 


S 


Eilbergeld vorziehen, weil fie jenes in ihren ſchweren Händen 
nicht fühlen. Mit dem Supranaturalismus war ed um fein Haar 
anders, er forderte einen miraculös hereinbrechenden Gott, weil 
er Teine andere Gegenwart Eannte, und ihn für den ganzen übri⸗ 
gen Weltverlauf ebenjo in ein Jenſeits verwiefen Hatte, mie einen 
Stoff, ein Stud Materie, das mit einem andern Stud Materie 
nicht zugleih in demjelben Raum fein kann, fondern dieſem erft 
einen derben Puff geben muß, wenn es fih Platz machen will. 
Kurz ed war der grobe Materialismus, die Sinnlichkeit in beiden 
Standpunkten, was der geiftigen Anſicht einen Krieg auf Tod 
und Leben erflärte, vor der Welt aber, wie fie einmal ift, als 
Slaubendtreue und ächter Gehalt erſchien. 

Da nun aber gerade das phllofophifche Denken, das mit dies 
fem Stoffe nicht mehr verwidelt tft, fondern ihn frei vor ſich hat, 
erft feinen wahren Werth und feine Nothmwendigfeit für das ſinn⸗ 
ich beflimmte Bewußtfein unbefangen erfennt, fo war pielmehr 
wirklih alle Aussicht auf ein ganz friedliches Verhältniß dieſer 
neuen Theologie zur Kirche vorhanden. Daß junge Leute vorlaut 
und taktlos da und dort den Unmündigen den flarfen Geift des 
Denkens einzufchütten verfuchen, ift doch gewiß nicht Schuld der 
Philofophie, auf Feinen Fall diefer Philofophie, denn fie gerade 
will dad Gegentheil. Allein aus andern Gründen ift es ganz rich⸗ 
tig, daß jened Verhältniß bereit ein ganz geſtörtes und getrüb⸗ 
tes iſt. 

Strauß wollte Fein Volksbuch ſchreiben, man weiß ed, und er 
bat auch Feines gefchrieben. Dem Volke find feine Unterſuchungen 
böhmifche Dörfer, kein Menfch dachte daran, dieſem feinen harm⸗ 
Iofen Glauben zu nehmen. Uber der Pietismus hat dad Volt 

ur 10 * 


148 


aufgeftört, die Brage vor das incompetente Publicum gezerit, bie 
Gewiffen beunruhigt und Mißtrauen gefät. Bei einem Geiſtlichen 
in Stuttgart fol eine Wafchfrau fih zum Nachtmahl angemeldet 
haben, er fragt nach ihren Namen, ed ift eine Frau Strauß. „Doch 
nicht verwandt init dem berüchtigten Irrlehrer?“ Die gute Bram 
hatte von dem fatalen Namensvetter Fein Wort gewußt und mußte 
jebi hören, welch fchlimme Makel an ihrem ehrlichen Namen hänge. 
Sp verbreitet der Pietismus das Reich des Herrn. Bekannt iſt 
und vielfach mit gerechtem Abfcheu gezeichnet, welchen defatorifchen 
Charakter derfelbe neuerdings wieder (denn es ift eine alte Liebe 
von ihm) angenommen bat. So und nicht anders iſt dad Ver 
fihleppen unzuſammenhängender Stunde über geiftige Tendenzen 
aus den Kreije wiſſenſchaftlicher Bildung vor einen Nichter, der 
über ihren mahren Inhalt durchaus Fein competentes Urtheil ha⸗ 
ben und nur Böfes, zur Verfolgung Reizendes in ihnen ſehen 
kann, zu nennen. Dieſer Richter iſt das Volk, Tractätchen und 
eine Art von Journalen find feine Organe, die mit großer Popu⸗ 
Yarität namentlich in den untern Kreifen circuliren, und Verwir⸗ 
rung und Verhetzung in die frievlichen Hütten tragen. Cine foldhe 
Kreuzfpinne weht bei uns unter dem Namen Chriftenbote. Se 
bat ſich, fo wie file ſchon Märklin’g Werk über ven Pietismus mit 
der gewohnten Taktik anzufündigen wußte, auch beeilt, die Dogma» 
tie von Strauß ihren Leinemebern, Weingärtnern, Bauern anzuges 
ben. In kurzen, nadt abgeriſſenen Sätzchen iſt das Buch hier 
excerpirt, wie folgende: ,„$$. 7 — 19. Eine Offenbarung im ei» 
gentlihen Sinne gibt e8 nicht, fondern der menſchliche Geift Hat 
jeine religiöfen Erzeugniffe früher irrthümlicher Weife einer höhes 
ten Einwirkung zugefchrieben, jet aber erfannt, daß dieß feine eis 


149 


genen Erzeugnifie find. — $. 14. Die göttliche Eingebimg ver 
beifigen Schrift ift ein purer Irrthum, die heilige Schrift ift viel» 
mehr um nichts beſſer, al8 andere menſchliche Schriften. — $. 15. 
Ein Gotteswort gibt es nicht, fondern der Menſch ift auf feine 
Bernunft angewieſen. — 65. 34 — 41, Es laſſen fi Gott 
überall Feine Eigenſchaften beilegen u, ſ. w.“ Daß biefe Säge jo 
hingeſchleudert, Berausgezerrt aus der Weltanfchauung, ber fle an« 
gehören, und worin ihr negativer Charakter feine pofltive Ergän⸗ 
zung bat, in ein fremdes Bewußtſein Hineingerworfen, dem jede 
Handhabe fehlt, fie in dem Sinne zu begreifen, den fie in einer 
auf der Arbeit von Jahrtaufenden wurzelnden Gedanfenwelt ha⸗ 
ben, Entſetzen, VBerftörung, Grimm erregen müfien, iſt von dem 
Verf. ſehr wohl erwogen und berechnet. Märklin, ber in feiner 
Diöcefe zu Calw durch Humanität, unermüdlichen Eifer für bie 
Pflege des allſeitigen geiftigen Wohls der Gemeinde, durch Her⸗ 
vorrufung und aufopfernde Unterſtützung verſchiedener wohlthaͤti⸗ 
ger Anſtalten, durch wahre Vaterſorge für die ihm anvertrauten 
Gemuͤther ſich das Vertraucn und den Dank aller Unbefangenen 
erworben hatte, wurde durch die unabläffigen Operationen ber 
Bietiften gegen ihn in eine folche Kette von Berftimmungen hinein» 
gezogen, daß er feine Yusfaat verlaffen mußte, da fie eben Früchte 
verfprad. Was anders? Es mag ja Einer den lebten Bluts⸗ 
tropfen hinzugeben bereit ſein für das Gute und Rechte, aber er 
glaubt nicht, daß Wein aus Wafler geworden, fo ift er eben des 
Teufeld. Demſelben Schickſale ſieht jet Jeder entgegen, den ernfte 
Studien auf den gegenwärtigen Standpunkt der Wiſſenſchaft ge⸗ 
führt haben. Er kommt als Geiftlicher zu einer Gemeinde, er= 
wirbt ſich Liebe und Vertrauen der Gemüther und führt fie fachte 


150 


zur Wahrheit, wie fle dieſelbe bebürfen und ertragen Fönnen. Nun 
will er aber nicht verbauern, er feßt feine Studien fort, fehreibt 
vieleicht etwas, feien es nur Auffäge in Zeitichriften: fo ſchleichen 
die Pietiften und ihre Organe herbei und rufen: traut eurem Pfar⸗ 
rer nicht, er glaubt einen Gott, Feinen Chriſtus u. 1. f. Der gif- 
tige Same geht auf, und der Pfarrer Fann abgehen oder, wenn 
er bleiben muß, bet einer Gemeinde bleiben, bie ihm ihr Vertrauen 
entzogen bat. — Dies find die Früchte des Pietismus. 

Die Regierungen fehen in dem Kirchenglauben bie feftefte 
Stüße der öffentlichen Ordnung. Wie freifinnig fein Standpunft 
fein mag, der Staatsmann hat die nöthigen Studien nicht ge= 
macht, den wahren Beftand ver Sache, der aus der Vogelper- 
fpertive gar nicht entdeckt werden Tann, einzufeben, und leiht leicht 
den Beſorgniſſen derjenigen fein Ohr, welche, wenn nicht gefähr- 
liche Aufregung des Volks, doch Scandal als die unwermeidliche 
Folge der Anftellung von Theologen der modernen Denkart dar⸗ 
ſtellen. Sein nächfter Anftoß jedoch ift der Widerſpruch, der für 
ben verfländigen Stanppunft darin liegt, daß Jemand Diener ei- 
ner Kirche bleiben folle, deren Fundamentalfäge er nicht anzuer- 
fennen Öffentlich befannt hat. Daß er fle nicht anerkennt, würde 
an fich nicht binreichen, ihn zu entfernen, denn jede billige Regie⸗ 
rung wird fi erinnern, wie viele Hundert notorifhe Rationali- 
ften fie angeftellt hat und noch heute anftelt. Daß er viele 
Abweichung öffentlich ausgefprochen hat, Died würde ihn auch noch 
nicht flürzen, denn Hunderte der notorifhen Rationaliften haben 
in hundert Journalen, Archiven, Magazinen u. f. w. noch viel 
unfirchlichere Dinge gefagt. Was flürzt ihn denn? Das Gefchrei, 
dad von der Sache gemacht wurde und dad dem Staatömann 


151 


Rädfihten aufnoͤthigt. Alſo wer hat ihn geftärzt? Die Schreier. 
Und wer find die Schreier? Nun, wir wiflen ed fa, es find die 
Kinder Gottes, es find die Jünger der Liebe und des Friedens. 
In Preußen hat der Pietismus fich directer an bie politifche 
Seite gehalten, und iſt mit Waffen hervorgetreten, benen gegen⸗ 
über es nur erlaubte Nothwehr ift, wenn man einmal hervorhebt, 
Daß vielmehr der Pietismus in feinem innerften Weſen revolus 
tionär if. Wie ihm die ganze weltliche Ausbreitung menſchlicher 
Kräfte nur fo viel Geltung und Erlaubniß der Eriftenz hat, als 
fie direct und buchſtäblich fih auf das jenſeits vorgeftellte Gött- 
liche bezieht, fo ift ihm auch der Staat, wie er nach ſchweren 
Kämpfen mit der Hierarchie als rein menſchliche Anftalt aus ber 
Vernunft fich gegliebert hat, confequenter Weile eine ungoͤttliche 
und unheilige, ſubſtanzloſe Exiftenz, Man laͤßt ihn ſich gefallen, 
da man zufällig in ihm geboren tft, ungefähr wie die Kunft, bie 
einmal da iſt und fich die Kreiheit genommen hat, aud) die Schön 
heit diefer fündigen Welt zu ihrem Stoffe zu erheben, ohne die 
Bietiften lange zu fragen. Breilich kann man fich gegen die leztere 
leichter auflehnen, da fle über Feine Bajonettezublöponiren hat. Wahr⸗ 
haft aber berechtigt zum Herrſchen kann confequent nur diejenige 
weltliche Exiſtenz fein, die in der ausdrücklichen Weiſe, welche 
der Pietismus fordert, Gott allein die Ehre giebt. Was aus der 
Welt und Sünde ift, wie fol dem der Scepter gebühren, das 
weitgreifende Inftrument, das troß aller Verſchanzung durch Ver⸗ 
träge auch über die Kirche fo große Macht bat? Ich verwahre - 
mich dagegen, daß ich behaupte, der Pietismus Habe diefe Con⸗ 
fequenzen bereitö gezogen; aber man beweiſe, daß fie nicht im 
Prinzip liegen. Der Staat ift aus dem freien Gedanken, cine 


132 


Gliederung ber durch den Verftanb vermittelten Vernunft, derſel⸗ 
ben, aus welcher bie Wiſſenſchaft mächft. Ihm fcheint die Wiſſen⸗ 
ſchaft gefährlich, weil fle an Allem zweifelt; aber fie zweifelt, um 
defto feiter zu begründen. Man Tann etwa fagen, zwar nicht der 
Pietismud, wohl aber der unbefangene Bolföglaube fei eine 
Stüße ber Throne. Allein es it bekannt, wie Weniges und Un⸗ 
genügendes die heilige Schrift über- den bürgerlichen Gehorſam 
fügt, wie fle ihre abrupten Säge hierüber ohne alle Begründung 
und Entwicklung hinſtellt. Der wahre Gehorfam aber beruht 
auf der Einfiht in die Nothwendigkeit des Staatdorganismuß, 
welche allerdings in ihren wefentlichen Argumenten auch bein ge⸗ 
meinen Manne beigebracht werden kann. Wo flcht denn aber 
geſchrieben, daß ein der modernen Wilfenfchaft zugethaner Gelft- 
licher dies nicht eben fo gut, ja beſſer als ein Autoritätsgläubiger 
zu thun vermöge? Ganz anders freilich ſteht es mit dem Kunſt⸗ 
glauben (man erlaube das Wort, mie man eine Kunft» und 
Bolföpvefle unterfheivet). Hat diefer etwa den franzöflichen 
Thron geftügt? Nein; zugleich mit den politiſchen Greueln waren 
es bie unerträglichen Anmaßungen ver Kirche, welche als noth- 
wendige Reaction des unbefriedigten Geiftes die-fchlechte Philoſo⸗ 
phie, wie der abftracten Freiheit und Gleichheit, fo des Atheismus 
hervorriefen. Vor dem Sclaven (dem Autoritätögläubigen), wenn 
ex die Kette bricht, vor dem freien Menfchen erzittre nicht. Auch 
erinnere ich mich nicht, je gehoört zu haben ‚ daß Cromwell ein 
Hegelianer war. 

Iſt nun durch das ewige Geſchrei, die ewigen Delationen das 
Bertrauen des Volks zu Geiſtlichen, deren eſoteriſche Bildung 


bie philoſophiſche iſt, geſtört, ſo muß freilich auch der Wiſſenſchaft 


159 


die Luft und Liebe zu jenem Kreife von Vorſtellungen vergehen, 
die ihr fonft die vertraute Unterlage ihrer Ioeen darbot. Wir 
wollten Friede, wir haben nicht herausgeforbert, die Gegner 
durften. nur die Verſchiedenheit der Bedürfniſſe anerkennen, mie 
wir; aber fie ruhten nicht, bis die Sache verberbt und verhebt 
war, denn ohne Negation hat der Zelot Feine Lebensluft. Der 
Philoſoph kann nicht mehr die harmlos fehöne Bilderwelt des 
Glaubens, den Traum feiner eigenen Kinvheit Tieben; er muß 
diefen Boden haſſen, denn er ift der Schooß des Fanatismus, er 
iſt die Höhle, worin die MWölfin der Unduldſamkeit mit bem 
feheußlichen Geifer der Verfolgung vor dem gefletfehten Gebiß auf 
Beute für fih und die gefräßigen Jungen lauert. Das Gefühl 
ber Gemeinſchaft mit der giftig aufgeftörten Maſſe tft ihn aus der 
Seele gerifien,. er kann nur münfchen, daß eine Scheidung je 
bäfber; je lieber erfolge, und muß ſich glücklich fühlen, wenn ihm 
feine. Lage geftattet, aus dem Dienfte der Gemeinfchaft zu treten, 
bie feine edelſten Bemühungen mit Undanf und Mißtrauen bes 
lohnt. 0 Ä Ä 


Schluß. 


Man fieht, es find nicht nur bie Keime einer Krifls da, fon» 
dern fie iſt fhon im vollen Werben begriffen. Kann man denn 
aber unthätig zufehen? Was fol denn nmım gefchehen? Wie 
rathen und helfen? Die Pietiften heben? Keine erleudhtete Re⸗ 
gierung wird das wollen. Jene gemäßigte Mitte zwifchen Glauben 
und Willen zur halten fuchen? Aber fie tft ein Unding und Im 
Ausfterben begriffen. Die Mythiker zu keinem Kirchenbienft zu- 
laſſen? Ich will nicht von der’ Unbarmherzigkeit veben, welche 


154 


dadurch dem Jüngling jede Ausſicht abſchneidet, ber ſich zum 
Studium der Theologie entſchloſſen hat, ehe er dieſe Kämpfe der 
Zeit kannte, dem die Mittel fehlen, eine neue Laufbahn zu betre⸗ 
ten, nicht von der Verſuchung zur wirklichen Heuchelei, welche 
dadurch dem Schwachen bereitet wird, ſondern vom Bedürfniß der 
Gemeinde ſelbſt. 

Iſt es denn wirklich das ganze Volk, das noch feſt im alten 
Kirchenglauben wurzelt? Unbedingt wird man es nur vom Bauern⸗ 
fand behaupten können. Der Stand der Handwerker, deſſen 
Arbeit jchon an ſich mehr Vermittlungen ded Verkehrs voraus⸗— 
jeßt, mehr Bewußtſein der Selbfithätigkeit mit ſich bringt und 
mehr Umgang mit den gebifveten Ständen, hat längſt begonnen, 
fih vom heteronomifchen Glauben zu emancipiren. Er ift recht⸗ 
lich nicht aus Furcht vor Höllenflrafen oder meil es geihrieben 
ſteht, daß Unrecht Sünde ift, fondern fihlechtweg, weil es mora⸗ 
liſche Marime ift, von der er fich gelegentlich ſelbſt die inneren 
Gründe anzugeben ſucht. Allgemeine Grundſätze, ſprichwoͤrtlich 
zufammengefaßt, find fein fittliher Compaß; meil e8 an ſich ver- 
werflich ift, verwirft er das Böfe; meil ed an ſich gut, billigt er 
dad Gute. Damit vereinigt er beiläufig, ohne die Inconfequenz 
einzufehen, Reminifcenzen aus dem Autoritätäglauben. Der Kauf 
niann iſt längſt darüber weg, nur zu fehr, indem er im Allge⸗ 
meinen die abgetretenen Grundfäge der feichten Aufklärung unb 
des franzöflichen gefunden Menſchenverſtandes in der Meinung, 
daß dies das Neueſte fei, noch vorzubringen liebt. Uber der 
Beamtenſtand, der Stand aller derjenigen, bie ftubirt haben, mo 
ift denn fein Kirchenglaube? Ich weiß nicht, wie es anderswo 
it. In Preußen z. B. ſoll man noch ſehr Eirchlich fein. Im 


155 


Samburg und Bremen intereffirt fih dad ganze Publicum für 
den tragifchen Kampf eines Supranaturaliften und Rationaliften. 
In Deftreih und Baiern habe ich biefen Stand im Durchſchnitt 
ber Aufklärung zugethan geichen, die Längft mit der Kirche ge= 
brochen bat. Für Württemberg aber wette ich mit Beſtimmtheit, 
baß es fehr ſchwer fein wird, unter Hundert Einen au zählen, ber 
bie. Kicche befucht, der zum Abendmahl geht, der zum Tiſche 
betet. Ich frage z. B. meine verehrungswürdigen Herren Gollegen | 
in Tübingen, Hand auf die Bruft, wie weit fich bei ver Mehrzahl 
von ihnen die Localfenntnig von den Bänken erſtreckt, welche in 

ber hieſigen Kirche den Profefforen zugewieſen find. „Verderbniß 
der Beit.u Iſt leicht geſagt. Kann man denn wirklich glauben, 
daß dieſe Taufende, da fie dieſen Troſt der Seele und biefe 
Quelle der Sittlihfeit nicht mehr haben, darım von Gott und 
allem Guten und Seiljumen verlaffen fein? Hat man denn gar 
nicht auch nur eine Ahnung, daß, da fie ed ohne Halt und 
Stab ihrer Seele nicht aushalten Fünnten, da doch anerkannt fo 
viele treffliche und verdiente Männer unter ihnen find, fie offenba: 
etwas Anderes haben müſſen, was ihnen für jene aufgegebene 
Stüge Erſatz giebt? Wird man denn auch nie einfehen, daß eben 
das Abweichen des größten, des. gebilbetften Theils der Völker 
von dem Tirchliden Glauben ſchon an ſich ein Beweis feiner Un» 
zulänglichkeit für den Geift der Menſchheit ift? Und nun fol viele 
große Anzahl achtungswerther Menfchen erleben, daß bie Kirche 
diejenigen ihrer Diener ausftößt, welche, wie fie, rationell venfen 
und Kinder des Jahrhunderts find. Gewiß find nicht Wenige 
unter ihnen, die ihre Zweifel am Kirchenglauben nech nicht Har 
in ſich verarbeitet haben, und denen ed zur Beruhigung dient, in 


156 


der Kirche Männer angeftellt zu ſehen, die das Clement ihrer 
Bildung Innerhalb dieſer veligiöfen Gemeinfchaft ſelbſt vertreten, 
und bei denen Math zu holen iſt über bie ſchwere Frage, wie man 
im Grunde bed Gemuͤths das wahre Weſen des Chriſtenthums 
treu. hegen könne, ohne feinen Formen zugethan zu fein, Run 
wird ihnen diefe Beruhigung entzogen, und fie fühlen ſich der» 
jenigen Gemeinſchaft vollends entfrembet, weiche die Geftalt einer 
Bildung nicht in ihrem Schooße ertragen will, die mehr ober 
minder entwicelt auch die ihrige tft; und fo hat die Kirche mit 
biefen ihren Dienern zugleich einen großen und achtungswerthen 
Theil ihrer Gemeinde vollends von ſich geftoßen. Es wird Ihr 
geben, wie der katholiſchen Kirche, welche die Neformation, die 
ja anfangs nur eine Verbeſſerung innerhalb derſelben bezweckte, 
nicht zu ertragen vermochte und ſich dadurch um nichts weniger. 
als die ſinnreichſten Völker ärmer machte. 
Was aber denn? Man wäre denn doch darauf reducirt, ut 
Anftellung von afabemijchen Lehrern, welche die gerühmte Mitte 
halten (nicht von Pietiften, wiederhole ich, denn ich rede ja immer 
von einer billigen und liberalen Regierung), der ſchlimmen Rich» 
tung in der Jugend zu fteuern? Aber da müfjen wir eben wieder 
fagen und noch einmal fagen, daß bei aller Ueberzeugung von der 
anberweitigen Tüchtigkeit, Gelehrſamkeit u. f. w. des Lehrers ſei⸗ 
nem Verbältniffe zur Jugend der wahre Nerv der inneren Ein⸗ 
fimmung fehlen wird, das Gefühl, in Einem geiftigen Boden zu 
wurzeln, daß der Kern berfelben den nun ohne Führer erft ge⸗ 
fägrlihen Weg allein gehen wirb. ' 
Und was folgt denn aus dem Allem? Das folgt, daß es 
gegen die große Strömung ber Zeit fein Mittel giebt. Damın 


157 


und Wehr nimmt ſie mit fih, und es ift feine Hilfe gegen fie, 
als mit ihr zu ſchwimmen. Die Lage ift für bie leitenden Kirchen⸗ 
behörden jchwierig genug, das ifl außer Zweifel. Die Kirche iſt 
ein hiſtoriſches Inftitut, als ſolches auf pofltive Lehrſätze gegrün« 
bet, und nun wird ber größere, wenigſtens ber talentvollere 
Theil der Jugend diefen Lehrſätzen untren. Wie diefen Wider⸗ 
ſpruch nieten und zufammenfchmeißen? Die württembergifche 
Synode Hat neuerlich ein Mittel verſucht. Sie hat an die evan⸗ 
geliſche Geiſtlichkeit Wirtembergd eine vertrauensvolle Anſprache 
erlaffen, welche durch ihren würdigen und humanen Xon alle 
Adtung verdient. Daß auf geiftigem Gebiete nicht durch Gewalt, 
fondern nur durch geiftige Mittel zu kämpfen fei, wird ald Grund⸗ 
ſatz vorangeftellt und in der Form freundlicher Ermahnung aufs 
gefordert, an dem Gefchichtlichen und Poſitiven des Chriftenthums, 
der Berfon und Geſchichte Chrifti, als der Summe bed Glaubend 
feflzubalten. Allein, wenn dies nicht der Predigtweije, fondern 
der Ueberzeugung ſelbſt gelten foll, wie Fann derjenige, der ſolche 
durch Gründe, durch ernftlihe Studien ſich gebildet hat, einer 
auch noch jo achtungsmürdigen Ermahnung fie opfern? Er kann 
ja nichts dafür, es ift eben fo. Es gäbe ein Mittel, ja. Dan 
widerlege jeine Ueberzeugung, man widerlege Hegel, Schleier 
macher, Strauß. Aber da fit eben mieder der üble Knoten. 
Das ift der ſchlimme Eafus, daß man Keinen findet, der 
grundli und unbefangen die Entwicklungsgeſchichte 
ver neueren Philoſophie in ihrem Eindringen in die 
Theologie fiudirt hätte, ohne für fie gewonnen zu 
fein! Wogegen die Widerfacher dieſe Dinge gar nicht oder halb 
ſiudirt haben und vom Hörenſagen urtheilen. Es iſt dies hundert⸗ 


158 


mal gejagt, aber mie ſich verfteht, immer in den Wind gefprochen ; 
denn das Publicum läßt fih nicht nehmen, über Dinge zu reden, 
die es nicht Fennt. Der Troſt aber bleibt uns immer, daß wir 
nicht in Rußland, nicht in Deftreich find. Da wäre fihnell gehol⸗ 
fen: laßt keines diefer Bücher in's Land, verbietet in Vorlefungen 
und in den Auffägen ber Stubirenden jede Erwähnung biefer 
Ideen, leget Lehrern, die ſchon vom Nebel angeſteckt find, die 
ihnen anvertrauten Vorlefungen nieder, Punctum. Aber wir find 
nicht in Rußland, nicht in Deftreich. 

Wohin arbeitet denn aber die bevorftehende Krife? Zu einer 
Trennung in eine fihtbare Kirche von Glaubenven und eine un« 
fihtbare von Wiffenden? Allein wirbt die letztere nicht beftändig 
aus der erfteren, fo daß alfo dies noch gar fein Refultat, ſondern 
erft der Angang der Krije wäre? Stehen nicht die mittleren 
Stände ermweislich bereit8 mit dem einen Buße in jener, mit dem 
andern in diefer? Noch bleibt der Bauernfland, überhaupt dad 
Volk im engeren Sinne. Bier concentriven fih am Ende alle 
Bragen: kann und wird eine Zeit kommen, wo auch diefer Stand 
der Naivetät des Glaubens entwächft over nicht? Das liegt im 
dunkeln Schooße der Zukunft. Und dieſe Inffe man werben und 
wachſen in organiſcher Entmwidlung, und hoffe nicht, mit retar⸗ 
birenden Mitteln in die Räder ihres gewaltigen Schwunges greifen 
zu können. Gewiß aber bleibt nur Eines: den gerechten Un⸗ 
willen aller guten Menfchen verdienen diejenigen, welche gewaltſam 
und frevelhaft die file Säftegährung diefer Pflanze, deren Krone 
wir noch nicht Eennen, ſei es durch übereilte Befchleunigung , ſei 
ed durch bösartige Zerftörungsverfuche , zu verwirren und zu 
vernichten gehen. Es ift aber ein Unterſchied zwifchen Beiden. 


159 


Die Erfteren, ich meine diejenigen, welche den Unmündigen vor⸗ 
laut dad Willen flatt des Glaubens aufprängen wollen, verdienen 
Unmillen und Zurechtweiſung wegen jugendlicher Raſchheit und 
Muthwillens (von eigentlicher Brivolität iſt weder bier, noch 
überall in dieſer Darſtellung die Rede; ſie iſt gar keine Geſtalt 
des Geiſtes, welche ein Glied in den großen Gegenſaätzen des Bewußt⸗ 
feins bifdet); aber den tiefften fittlichen Unwillen verdienen dies 
imigen, welche böswillig durch gehäffige und fehiefe Berichte von 
der jebigen Geftalt des theologifchen Wiſſens unter den Unbe⸗ 
fangenen Mißtrauen, Zwietracht, Unruhe der Gewiffen und den 
Geiſt ber Verfolgung ſäen; fie verdienen die eigenthümliche Art 
von Abſcheu, die auf dem Baumverderber laſtet. 
Ob wohl eine Zeit denkbar ift, mo es eine Kirche im jetzigen 
Sinne nicht mehr giebt, fondern der Staat diejen Beſtandtheil, 
den er bis jet nur äußerlich in fi aufgenommen hat, ganz zur 
Identität mit ſich auflöft? Die Gefahr, daß der Staat die Ge- 
wiffensfreiheit beeinträchtigen möchte, würde megfallen, denn es iſt 
vorauögefeßt, daß bis dahin der ſymboliſche Stoff in rein geiftige 
Gedanken, in Marimen aufgelöft wäre, deren beliebige Faffung 
in dieſe ober jene Definition feinen Streit mehr erregen könnte. 
Bereinigungspunft könnte nur der Sag fein, daß der Geift und 
nicht die Materie das Wahre, nur in ihm das fittliche Leben fel. - 
Dover Tann man denn nur über einen biblijchen Text und pofitive 
Dogmen predigen? Sol es gar Fein Inftitut der Erziehung ded 
Volks zum Ewigen mehr geben Eönnen, wenn Feine Kirche im 
jetigen Sinne? 


160 


Zwifchenbemerkung. 


(GE 


Nach diefen zur Theologie gehörigen Auffügen laſſe ich drei 
Anzeigen aus dem Gebiete der bildenden Kunft folgen. Sie ſchlie⸗ 
gen ſich ganz von felbft an die erfteren an; denn wie Religion 
und Kunft immer Sand in Hand gegangen find, fo fließt aus der 
modernen Umbildung defien, was fonft in der Religion materiell 
verfeftet war, in freies, weltlich ſittliches Bewußtſein, für die 
moderne Kunft unmittelbar bie Forderung der freien Weltlichkeit 
und concreten Immanenz. Es äft der Grund⸗Gedanke .diefer drei 
Anzeigen, daß wahre Ipealität in der Kunft das Dieffeits ver | 
Härt, nicht den Geift als ein Jenſeits materialifirt, fowie eben 
dieß der Grundgedanke in den thenlogifchen Aufjäten iſt. 


II. 


zur bildenden Kunf. 


Kritifche Gänge. | 11 


163 


Pa Triumph der Religion in den Künften, 
son Friedrich Overbeck. 


(Deutfche Saprbücher für Wiffenfchaft u. Kunft, Jahrg. 1841. Nr. 28. ©. 109 ff.) 


—— — 


Ich ſtand vor dem vielbeſprochenen Gemälde im Städelſchen 
Inſtitute zu Frankfurt. Das Auge muß ſich auf der von Grup⸗ 
pen und Farben blühenden, oben durch einen Halbkreisbogen ge⸗ 
ſchloſſenen Tafel erſt zurechtfinden. Beginnen wir nur ſogleich die 
Sonderung. Das Bild zerfällt in zwei große Hälften, ſtreng ver⸗ 
bunden im Geiſte des Malers und des Mittelalters, in dem er 
lebt; für das Auge iſt keine Einheit da, keine Mitte, keine Wechſel⸗ 
beziehung, welche die getrennten Glieder zur Geſammtheit Einer 
Handlung verbände. Doch urtheilen wir noch nicht; der Meiſter 
hat ja kein geringeres Vorbild, als Rafael's Theologie in der 
Stanza della segnatura für ſich. Nehmen wir ſogleich feine ei⸗ 
| gene gedruckte Erklärung zur Hand. Ohne dieſe werden mir nicht 
wohl in's Klare kommen. Es fol dies noch Fein Vorwurf fein, 
Denn ein Kunftwerk fol fih zwar immer ſelbſt erklären, fein 
Sinn nämlich; dad Bedürfniß biftorifcher Notizen ift aber Hier 
durch nicht ausgeſchloſſen. Freilich Hier reichen ſolche nicht aus, 
doch davon nachher. 

Es fol die Entwicklung der bifpenben Kunft im Dienfte der 
chriſtlichen Kirche dargeftellt werden. Nicht ald ob fie außerhalb 
dieſes Bundes auch andere Blüthen getrieben hätte, welche Werth 

11* 


164 


und Wirflichkeit hätten ; denn zwar heißt e8, die Künſte werden 
„hier“ nur infofern gefeiert, als fie zur Verherrlichung Gottes 
beitragen, aber nicht nur zeigen weitere Neußerungen deutlich ge= 
nug, daß der Künftler nicht der Meinung fei, anderömo wären - 
mit Fug und Net auch andere Richtungen der Kunft zu feiern, 
fondern dies liegt ſchon in dem fonderbaren Ausdrucke „zur Vers 
herrlichung Gottes.“ Denn man follte meinen, die Kunſt könne 
Gott verherrlichen, auch wenn fie nicht einen kirchlich gegebenen 
Stoff, fondern die Schöpfung ſchlechtweg in ihrer göttlichen Herr⸗ 
lichkeit darſtellt; und Doch ift in dieſem Bilde und feiner Erklä⸗ 
rung nur von Einer Art der Verherrlihung Gottes, der Firchlichen 
nämlich, die Rede. Doch mir gerathen immer ſchon in die Kritif 

hinein und wollten doch erft jehen und genießen. Wie verkehrt! 

Aber liegt die Schuld an ung? 
| Den oberen Theil unter dem Rundbogen ninmt eine Ver 
fammlung überirbifcher Perfonen aus dene chriftlichen Simmel ein; 
fie fiten und ftehen auf Wolfen, wie in ver Malerei des Mittel- 
alter3 und ihrer matteren Nachblüthe in den nächften Jahrhunder⸗ 
ten nach Abſchluß deſſelben. Maria mit dem Kinde in der Mitte; 
fie hat eine Schreibfeder in der Hand und finnt auf den Lobge- 
fang, deſſen erſtes Wort „Magnificat“ fie fhon auf den Papiers 
ftreifen in ihrer Linken nievdergefchrieben, „um gleichjam als 
Chorführerin Ale aufzufordern, Gott dem Herrn die Ehre zu 
geben.“ Heilige des Alten und Neuen Bundes umgeben fie, zu⸗ 
nächft ſolche, die ald Vertreter der religiöfen Kunſt gelten können, 
wie Lucas ald Maler, David mit dem Saitenfyiel u. f f., wäh 
rend bie heilige Jungfrau felbft die Kunft der Künfte, die Poeſie 


169 


vertritt. Von den übrigen Geftalten dieſes Olymps nachher ein 
paar Worte. 

Im unteren Theile des Bildes breitet fich in heiteren Flächen 
und Bergen die Erde aus, und im Vordergrunde ift eine große 
Berfammlung von Künftlern zu ſehen. Der ganze obere Theil ift 
wie eine Viſion zu betrachten, die ihnen vorſchwebt; doc Feiner 
von ihnen blickt hinauf, Eeinem, oder nur zweien, dreien fehen wir 
an, daß, was oben fich enthüllt, in ihrem Innern fidh fpiegelt. 
Doc ja, es ift eine Art Verbindungsglied da, die Sontaine. In 
der Mitte des Plans tritt namlich ein Brunnen dem Blicke ent» 
gegen, der „durch feinen auffteigenden Waſſerſtrahl, anfpielend 
auf dad Bild, deſſen fih der Herr im Evangelium bedient, von 
dem Springquell, der in’8 ewige Leben emporfprubelt, als Sym⸗ 
bol der Himmelanftrebenden Nichtung der hriftlichen Kunft er= 
ſcheint, im Gegenfag zu der Vorftellung der Alten, die ſich auf 
dem PBarnaß eine abwärts firömende Duelle dachten. So ift 
demnach jede Kunftrichtung ,. die ſich im Bilde angedeutet findet, 
nur infofern bier gemeint, al3 fie nicht in Widerſpruch tritt mit 
der himmelwärts gerichteten Intention des Ganzen. Denn die 
hriftliche Kunft fohließt zwar Feine Seite der Kunft, Feine Ent= 
wicklung derfelben aus, fie mag ſie vielmehr alle in fich begreifen, 
aber um alle zu adeln und zu heiligen und Dem zum Opfer dar- 
zubringen, der zu allen die Fähigkeiten ‘in den Menſchen gelegt. 
Darum erfiheint Hier auch der Brunnen mit einem zwiefachen 
MWaflerfviegel, inden fih in dem obern Becken der Himmel, im 
untern aber die irdiichen Gegenftände abfpiegeln, wopurd das dop⸗ 
pelte Element der Kunft angedeutet wird, die einerfeitö ihrer 
geiftigen Wefenheit nach, fo wie jeder gute Gedanke, vom Himmel 


166 


ſtammt, anderfeits aber zur Verſinnlichung ihrer Ideen des äußern 
Gewandes fihtbarer Formen bedarf, die fie der und umgebenden 
Natur entnimmt.’ Ih weiß nicht, welche Logik Hr. Overbed 
ſtudirt hat; Krug, Kiefemetter, mer ed fein möge: alle und ber 
gefunde Menfchenverftand zuerft Iehren unterfcheiden zmifchen zwei 
Seiten eined Ganzen und zwijchen einem anderen Ganzen, das 
diefe beiden Seiten in völlig verſchiedener Mifchung enthält. Sinn 
liche Mittel mußten freilich auch der ftrengehriftlichen Kunft als 
nothmwendig zugeftanden werden; die Richtung der Malerei aber, 
welche, in Firchlichen Darftelungen anerkannt ohne religiöfe Würde, 
ihre ganze Kraft im Profanen entfaltete, war von diefem Bilde 
offenbar auögefchlofien. Und dennoch haben die Benetianer hier 
ihre Stelle gefunden. In den Spiegel des unteren Beckens näm⸗ 
lich ſehen Giovanni Bellini und Tizian, im Gefpräd mit Carpaccio 
und Pordenone erſcheint fogar Correggio, er ift aber freilich mit 
einem verwünſcht frivofen Kopfe davongekommen. ber in diefer 
Degrabation durch ihre Stelung am untern Becken waren bie 
Denetianer doch aufzunehmen? Gut, aber dann machten auch 
noch andere Meifter in Menge Anſpruch auf den Eintritt in dieſen 
Kreis. Wo iſt van Dyk, Rubens, wo find die Spanier? M. 
Angelo ſchließt. Er Hat „von der Bewunderung der Antike fich 
hinreißen laſſen, dieſe als neuen Oößen in feiner Schule aufzu- 
richten, und Rafael fühlte fih nicht fobald in ber Kraft feiner 
auffafienden Gaben, als auch ihn gelüftete, die Sand nach dem 
Verbotenen auszuſtrecken, und die Schranken der Gottesfurcht 

ihm läſtig wurden. Und fo ward denn die Sünde der Apoftafle 
in der Kunft um eben dieſe Zeit an vielen Orten zugleich voll⸗ 
bracht, indem man nicht mehr Gott dem Herren mit der Kunft 


167 


dienen, fondern fie felber auf den Altar ftellen mollte. Und billig 
traf ſolche Sünde der Gottvergeffenheit auch alsbald die Strafe 
der Gottverlaffenheit, fo daß wir mit Staunen die Künfte ploͤtz⸗ 
lich in einen Verfall gerathen fehen, und einer ganz ſchrankenloſen 
Ausartung preidgegeben, die und mit größerem Widerwillen er- 
füllt, als die Erzeugniffe irgend einer no) fo rohen Zeit. Wohl 
bat man dann in ber Bolge fich mehrfach bemüht, die Künfte 
wieder zu höherer Würbe zu heben; allein da man bad Uebel 
nicht in der Wurzel zu heilen bedacht war, fo Tonnte auch der 
Erfolg durchaus nicht den Anftrengungen entſprechen. Darin 
magft Du denn auch den Grund fuchen, warum Du feinen ber 
gefeierten fpäteren Meifter bier findeft, denen keineswegs ihr Fünft« 
ieriſches Verbienft fol abgeſprochen werben, bie aber unter ven 
Muftern riftlicher Kunft feinen Platz finden konnten, weil fie 
ihr, dem Wefen nad, nicht angehören.“ Freilich ift ihnen ihr 
Verdienſt abgeſprochen, denn Firchlich religiöfer Geift iſt ja als der 
einzige wahre Inhalt der Kunft behauptet, ald die einzige Weife, 
worin fie iveell zu fein vermag, es fehlt aljo dieſen Künftlern bie 
Spealität, mithin die Kunft — nach Overbeck. 

Die Allegorie mit dem Brunnen ift jedoch weiterhin nicht feſt⸗ 
gehalten; wie follten auch fo viele Köpfe in Ein Beden fehen? 
In das obere Becken, das den Himmel, die obere Hälfte des Bil- 
des fpiegeln foll, ſieht eigentlich gar Niemand. Ein neuer Uebel⸗ 
fand, denn was foll die Allegorie, wenn fie nicht einmal benugt wird? 

Die Maler, welche noch im Mittelpunfte des religiöfen Ideals 
verweilten, bilden zwei Gruppen zur Linken und Rechten der Fon⸗ 
taine. Links horchen die älteren Toscaner und Andere dem begei⸗ 
fiernden Gefange des Dante; hier fteht Rafael in der Mitte aller 


168 


derer, bie beſonderen Einfluß auf ihn geübt, des Pietro Perugino, 
Ghirlandajo und Mafaccio, Bra Bartolomeo, Francesco Francia; 
bie Arme übereinander blickt er voll Selbftgefühl nach dem Waf- 
ferfteahle herüber. Zur Seite auf einem antiken Bragmente figt 
tteffinnend M. Angelo, 8. Signorelli neben ihm, der ihn mit ern⸗ 
ſtem Geficht ermahnt, auf Dante's Gefang zu horchen. | 
Zur rechten Seite, nahe ven Benetianern, begrüßen fid) freund= 
lich verfchienene Mleifter des Südens und Nordens; zunächſt bieten, 
durch gleiche Mebung der Kupferftecherfunft verwandt, Lucas von 
Leyden, Mantegna fich die Hand, zwiſchen beiden ragt Albrecht 
Dürer hervor, dem Lucas hat fih Martin Schön, den Mantegna 
Mare Anton gefelt. Neben ihnen bilden eine zweite Gruppe 
Fieſole, Benozzo Gozzoli, die Brüder van Eyck, Hemlink, der 
anonyme Meiſter des kölner Dombildes. Schoreel in Pilgertracht, 
weil er eine Wallfahrt in's gelobte Land gemacht haben ſoll, tritt 
hinzu; zwei weibliche Geſtalten in der Ferne deuten die Uebung 
der religiöſen Kunſt in Nonnenklöſtern und ſonſt unter Frauen 
an; zwei Mönche, auf den Stufen der Terraſſe ſitzend, in Mi- 
niaturen vertieft, erinnern an die Anfänge der Malerei, „woraus 
ber junge Künftler die Lehre nehmen möge, daß er vor Allem das 
Geraͤuſch der Welt fliehen und Abgejchievenheit und Sammlung 
bed Geiſtes lieben müfle“ u. f. mw. 
Im Vorgrunde find links die Bildhauer, rechts die Architekten 
verſammelt, jene um Nicola Piſano, ein Kaiſer in ihrer Mitte, 
ſo wie unter den Baumeiſtern ein Papſt und Biſchof, da es ge— 
eignet ſchien, jene Kunſt dem weltlichen, dieſe dem geiſtlichen 
Schutze unterzuordnen. Nicola lehnt an einem Sarkophage, ne= 
ben ihm ein Enieenver Knabe, der „gleichſam⸗ das Wohlgefallen 


169 


diefer Kunft an Anmuth der Form und Bewegung verfinnlicht, 
um ihn ber Schüler, Hinter ihm Luca della Robbin, Lorenzo 
Ghiberti, Peter Viſcher, die fromme Sinnigfeit, die plaftifche 
Form, die treue Naturauffaffung vertretend. Auf der andern 
Seite hat über Trümmerftücken antiker Baukunſt Meifter Pilgram 
einen Kreis von Schülern, Sünglinge franzöſiſcher, englifcher, 
fpanijcher, arabifher Nation um fich verfanmelt, Erwin von 
Steinbach weift dem Papfte den Aufriß eines Münfters, Bru⸗ 
nellefhi, Bramante, der Erbauer des Ulmer Miünfters, ein Unbe⸗ 
Fannter treten herzu. Muflfnoten in der Hand des Parftes 
erinnern an ben mächtigen Eindrud des Kirchengefanges. Gegen 
den Mittelgrund des Bildes ragt ein unvollendeter gothiſcher Bau, 
die Unterbrechung hriftlicher Kunftblüthe anzuzeigen und den Jün⸗ 
ger zur Vollendung derſelben aufzufordern. 

Alſo eine Recapitulation der Kunftgeihichte, ein Curſus über 
ihre Vergangenheit, ver zugleich eine Moral für ihre Zukunft 
enthält. Die Kunft biegt ſich auf fich zurück und macht fich ſelbſt 
fih zum Gegenftande. Das ift ein Act der Neflerion, aus diejer 
das ganze Bild hervorgegangen, und jehon hiedurd) ein ganz mo— 
derned, in tadelnden Sinne modernes Product. Wie? Ein Werk, 
das fo ganz in den Glauben der guten alten Zeit getaucht, fo aus 
ber Quelle der reinften Frömmigkeit gefloffen ift, bei deſſen Aus⸗ 
führung Perugino und Rafael den Griffel geführt hat? Wir 
reden von der Ausführung nachher und von der Stimmung, wie 
fie fih in den äſthetiſchen Formen ausſpricht. Hier iſt nur erſt 
ganz allgemein die Aufgabe, der Gedanke feitzuhalten. Nie tft es 
den alten Meiftern eingefallen, die Malerei, die bildende Kunft zu 
malen. Sie haben einzelne Künftler portraitirt; das iſt etwas 


170 


Anderes. Sie haben gelegentlich die verſchiedenen Künfte in alles 
gorijcher Andeutung angebracht; das ift. auch etwas Anderes. 
Aber nie haben fie mit dem Pinfel einen Vortrag über Geſchichte 
der Kunft gehalten, um eine fabula docet daraus zu ziehen, um 
eine gewiſſe Anficht über dieſe Geſchichte als die einzig richtige auf⸗ 
zuſtellen. Und es iſt nicht zufällig, daß ſie dieß unterlaſſen haben, 
ſondern es iſt, weil fie mit allen Kräften im Boden ver Kunft 
wurzelten, nicht außer ihr flanden, um Betrachtungen über fie zu 
nalen. Rafael hat die Theologie, dad Recht, die Philoſophie, Die 
Poefie gemalt. Die Aufgaben waren unfruchtbar genug, und nur 
Rafael vermochte folche Abftractionen in Fleiſch und Blut zu ver« 
wandeln. In der Poeſie ift allerdings ein Zweig der Kunft von _ 
ter Kunft ſelbſt behandelt, aber ein der Art nach von der ihn be⸗ 
handelnden Kunſt fehr verſchiedener, nicht bie bildende von der 
bildenden und keineswegs mit der didaktiſchen Abficht, über bie 
Tendenz derfelben eine Lehre aufzuftellen. Dieß feßt den Rückblick 
auf eine abgelaufene Entwicklung voraus und einen reflectirenven, 
raijonnirenden Geiſt. Uebrigens ift der Künftler dem großen 
Schöpfer ber Stangen darin gefolgt, daß er den abftracten Begriff 
als die lebendige Seele feiner geſchichtlichen Verkörperung in Ins 
dividuen faßte und fo in der Hauptſache der in der Allgemeinheit 
der Aufgabe liegenden Verführung zur Allegorie entging. Allein 
im Einzelnen hat fich dieſe todte Geburt des Verſtandes, die Ra⸗ 
fael in der Segnatur aus gutem Grunde als rein decorative Nach⸗ 
hilfe an die Decke verwies, dieſes Afterbild des Schönen, dieſe 
Conſervatorinn eines äſthetiſchen Naturaliencabinets, welche einem 
beſtimmten ſinnlichen Gebilde die ihm lebendig zugehörende warme 
Seele ausweidet und dafür einen ihm fremden, der Vielſeitigkeit 


171 


individueller Beſeelung durch feine Abftractheit widerſprechenden 
Begriff hineinſtopft: dieſes Geſpenſt der Kunſt, die Allegorie hat 
ſich dennoch auf allen Seiten eingeſchlichen; ein neuer Beleg, daß 
wir ein Werk mehr der Reflexion, als der Begeiſterung (Fanatis⸗ 
mus iſt nicht Begeiſterung) vor uns haben. Im oberen Theile 
find Vorſtellungen des chriſtlichen Glaubens, für welche dieſer 
ſeine beſtimmten, der frommen Phantaſie geläufigen mythiſchen 
Formen hat, ganz unnöthiger Weiſe allegoriſch angedeutet. 
Joſua, der Iſrael in's gelobte Land eingeführt hat, weiſt hin auf 
den Erlöſer, der die Seinigen in's Reich des Vaters einführt, 
Melchiſedek ſtellt das ewige Hohenprieſterthum Chriſti vor, hinter 
dieſem ſteht Joſeph mit der Garbe, ber auf die Speiſung der Gläu⸗ 
bigen durch das lebendige Brod vom Himmel deutet, Abraham 
mit dem Opfermeſſer, als Bild des ewigen Vaters, der ſeinen 
„Erſtgebornen“ opfert, neben ihm Sarah mit Iſaak als Bild ter 
Kirche. So noch mehrere Figuren auf der anderen Seite der Ma⸗ 
bonna. Die Märtyrer Sebaftianus und Fabianus verfinnliden 
das Keinen Chrifti, die Sungfrauen Cäcilia und Agnes feine flecken⸗ 
Iofe Reinheit, „und zuletzt befhließt die Gruppe die Kaiferin Helena 
mit dem Kreuz Chrifti, durch welches auf ven himmlifchen Adam 
hingewieſen wird, wie der irbifche die jenfeitige Gruppe beichließt. 
Es find zum Theil typiſche, durch Convenienz dem Theologen ge⸗ 
läufige, Mllegorien, aber doch ohne Kopfzerbrechen nicht zu ent⸗ 
zifferen, ja ohne Commentar gar nicht zu entdecken. Im untern 
Th.eile der Springbrunnen , alio der Mittelpunkt ded Ganzen, 
allegoriſch. Rafael trägt einen weißen Mantel, „ber bie Univer⸗ 
ſalität feines Geiſtes ſymbolifirt, im welchem ſich ebenſo Alles, 
was man an Anderen vereinzelt bewundert, vereinigt findet, wie 


172 


der Lichtſtrahl alle Farben in ſich befaßt.” Die drei Knaben kann 
man gelten laſſen, deren zwei ven Benetinnern, eim anderer dem 
Nicola Piſano beigefellt, dad Wohlgefallen an Fleiſch, Leben und 
Form verfinnlichen; denn e3 ift etwa denkbar, daß wirflidhe Kna⸗ 
ben ald Modelle fich bei ven Künftlern eingefunden haben. Aber 
ftarf, jehr ſtark iſt wieder das Nelief am Sarkophage, mit deffen 
Studium Nicola beihäftigt ift: „es ftellt die beiden Marien dar, 
die zum Grabe Chrifti gehen, anjpielend auf die Auferftehung der 
Kunft zu einem neuen geiftigen Leben, nachdem die alte in Chren 
zu Grabe getragen erſcheint.“ 

Man muß allerhand hören. In München ließ ich mich gegen 
einen Künftler und Kunfthiftorifer über die Allegorie heraus. Ich 
war damald noch fo unfchuldig, zu meinen, es verftche ich von 
jelöft, daß ich in meinem Unwillen gegen diefe Perüde der Kunft 
Niemand gewiffer als die Künftler auf meiner Seite haben müſſe; 
ich erftaunte daher nicht wenig, die fehr ernfte Antwort zu er- 
halten: „ſehen Sie, wohin Sie gerathen, wenn Sie bie Idee 
aus der Kunft wegnehmen.” Ich machte, freilich nach ˖ ſolchem 
Vorgang hoffnungslos, einen Verſuch, ihm darzuthun, daß 
gerade das Intereffe, die Idee recht in die Kunſt hineinzubringen, 
zur Berwerfung der Allegorie führen müffe. Der Mann hatte 
namentlih Mythus und Allegorie verwechſelt und befchloffen, ſich 
bierüber nicht in's Klare bringen zu laſſen. Dieje Verwechslung 
liegt allerdings der jegigen Zeit nahe, da Vieles, mad alte 
fromme Zeiten als Mythus erzeugten, für und, weil ed nicht 
mehr im Glauben lebt, Allegorie geworden it, und derjenige, 
ber dem Mythus als Höchfter Aufgabe der Kunft dad Wort ſpre⸗ 
chen zu müſſen glaubt, daher Leicht auch den urfprünglichen Uns 


173 


terſchied deſſelben von der eigentlichen Allegorie verfennt und dieſe 
in jeine Protection mit einjchließt. Zwar ift diefer Unterſchied bei 
einigem Nachvenfen leicht erfennbar. Wenn Cornelius in dem 
herrlichen Bilde in der Glyptothek, Paris die Helena entführend, 
das luſtige Schiff von reizenden Amorinen geleiten läßt, während 
hinten mit gejchwungener Fackel die Erinnyen ſich anflanımern, 
jo iſt dies mythiſch; denn dieſe Figuren find nicht Erzeugniffe ſei⸗ 
ner ſubjectiven Reflexion oder einer herkömmlichen Convenienz 
des Verſtandes, ausgeklügelt, um einen Begriff nachträglich und 
oberflächlich zu verſinnlichen, ſondern es ſind Weſen, die in einem 
alten Glauben lebten, entſtanden durch abſichtloſe Volksdichtung, 
und ſie leben, wenn anders der Künſtler nur Kraft hat, uns 
mit friſcher Reproduction in das Element, in die Stimmung jenes 
Glaubens zurückzuführen, noch einmal auf. Es kann keine Frage 
ſein, daß die Kunſt das Recht haben muß, in der entſchwunde—⸗ 
nen Götterwelt noch einmal Fuß zu faſſen; denn fie war ein or= 
ganifches Erzeugnig des menfhlichen Bewußtſeins, das auch in 
bie abgebleichten Geſtalten feiner früheren Anſchauung ſich muß 
zurücfverjegen Eönnen. Die Plaftif lebt faft allein noch von dieſer 
Kraft der Erinnerung; die Malerei hat ſchon durch Rafael's wun« 
verbare Erfindungen in der Farneſina fich diejen Kreis mieder 
vindieirt. Aber ein Anderes ift es, wenn ein ganzes Kunſtwerk 
oder ein Cyclus von Kunftwerfen fich in diefem Elemente heimiſch 
anbaut, als wenn ein vereinzeltes Werk, das in der Hauptſache 
einen rein menſchlichen Gegenſtand darſtellt, daneben dieſelbe 
Macht, die in der Thaͤtigkeit der betheiligten Perſonen ſich ſchon 
genugſam verkörpert, zugleich noch mythiſch perfunifieirt. Wenn 
z. B. Eberhard Wächter den Abſchied des Odyſſeus von ber Ka⸗ 


174 


lypſo malt und neben beide einen trauernden Amor in's Gras 
legt, fo ift died zwar ein Weſen aus der alten Mythe und die 
ganze Scene gehört der Heroenfage an, wie jene Compoſition des 
Cornelius ; doch knüpfen fi Feine großen Völkergeſchicke daran, 
wie an die Entführung der Selena, fondern es ift eine Situation 
reinmenjchlicher Empfindung , ein Privaterlebniß, Schluß eines 
Romans, dad Motiv, die trauernde Liebe, ift in den Haupt⸗ 
figuren vollfonımen dargeftellt, der trauernde Amor fagt dafjelbe, 
was fie Schon fagen, noch einmal und jo wird und diefe, ohnedies 
fhon fo abgedroſchene, Figur hier zur überflüffigen und ſtören⸗ 
den Allegorie. | 

Pouffin und Andere haben befanntlih mythiſche Staffage in 
Landſchaften geliebt, Polyphem fit auf hohem Felſen, Diana 
und Nymphen jagen und baden. Die Landſchaft ift danach com⸗ 
ponirt, in diefen Wefen ift nur die Stimmung, die in derſelben 
liegt, verdichtet und verkörpert, aber die Landſchaft drückt eben 
biefe Stimmung ſchon ald Landſchaft aus, es heißt doppelt ſchrei⸗ 
ben, und in diefem Zufammenhang müffen und daher die mythi⸗ 
ſchen Wefen zu Tangweilig allegoriichen werden. Hier kommt noch 
indbejondere die Trage über Bedeutung und Grenzen der Staffage 
zur Sprache, worüber ich ein andermal einige Bemerkungen, bie 
fich mir bei neueren Landſchaftbildern aufgedrungen, vorzubringen 
habe. — Anders verhält es fi) mit den chriſtlichen Mythen; es 
iſt noch zu kurz ber, daß fle und Glaubendartifel waren, ein 
großer Theil der proteftantifchen Welt glaubt fie theilweife, ganze 
Fatholifche Völker glauben fie in ganzer Ausdehnung mit allen 
Zufügen des Mittelalterd noch. Daher trifft die Aufnahme folder 
Stoffe in der neueren Kunft nicht ſowohl der Vorwurf der Alles 


175 


gorie (Einiged ausgenommen, wie z. B. Engel, melde do 
mehr als andere Figuren zu Allegorieen ausgedroſchen find), ſon⸗ 
dern ein anderer, wovon nachher. Aber auf diefe Mythen noch 
eigentliche Allegorieen hinaufkleben, wie Overbeck gethan bat, 
das heißt freilich einem gefunden Magen zu viel zumuthen. „Aber 
welche. Confuſion, Overbeck glaubt ja das, was Sie Diythen 
nennen, es find ihm aljo feine!” Daß er cd zu glauben glaubt, 
bezweifle ich gar nicht; nur noch eine Eleine Geduld, wir kommen 
darauf zu fprechen. 

Die eigentlihe Allegorie nun, eine beiläufige Verfnüpfung 
einer gewiſſen finnlichen Erſcheinung mit einem abftracten Begriffe 
durch irgend ein tertium comparationis, gemacht von der fub- 
jectiven Reflerion, — ſoll ich den Begriff weiter auseinanderjeßen ? 
Es ift ſchon fo vielfach gefchehen, in fo vielen Aeſthetiken und 
Mythologieen zu Tefen! Ich felbft Habe ſchon einmal in dieſen 
Blättern den Begriff der Allegorie erörtert. Eberhard Wächter, 
der große edle Künſtler, aber in dieſem Stücke noch einem frühe⸗ 
ren Jahrhundert verſchrieben, malt eine Frau, die einen Neger⸗ 
knaben und einen weißen auf dem Schooße hält, beide mit glei⸗ 
her Liebe umfaſſend, und verſichert und, dies ſei Die humanitas. 
Hätte er die Wegnahme eines Sklavenſchiffs dargeſtellt, oder ir⸗ 
gend einen andern Act der Humanität, jo wäre es Feine Allego- 
vie geweſen. Die eigentliche Allegorie, fage ih, Tann von der 
Kunft nicht ganz ausgefchlofien werden. Es kann bei Monumen- 
ten, bei ver Verzierung der Architektur an Portalen u. ſ. f., oder 
cycliſcher Ausſchmückung großer Raͤume, öfterd die Aufgabe ent- 
ſtehen, einen abftracten Begriff durch ein Bild, welches nicht die 
Phantafle des Volks, nicht alter Glaube ald deſſen wirklichen 


176 


lebendigen Leib anſchaut, fondern nur die Neflerion eines Ein- 
zelnen mit ihm verfnüupft und etwa die Convenienz in diefer Ver⸗ 
knüpfung firirt hat, anzubeuten. Die bildende Kunft als eine 
ſtumme wird diefen Nothbehelf nie ganz entbehren können. Tre⸗ 
ten wir von unferen Gemälde in den anftoßenden Saal und ver- 
weilen vor Veit's ſchönem Bilde: der Einfluß der chriftlichen 
Religion auf die Künfte, und betrachten und nur die Qauptgeftalt: 
bie Religion. Nie hat die Phantafle ver Völker die Religion felbft 
fih al3 Perſon vorgeftelt, dieſes Weib ift alſo eine AUllegorie. 
Aber fie war hier nicht wohl zu vermeiden, und die Geftalt ift fo 
ſchön, hehr und lieblich zugleich, daß wir und gern mit ihr ver- 
fühnen. Gin Nothbehelf aber bleibt ed, und man muß vor dieſer 
hohen Frau auörufen: ſchade, daß fie nicht mehr als eine Alle⸗ 
gorie iſt! Dagegen hat man namentlich neuerdingd von gewiſſen 
Seiten die Allegorie geradezu ald das Höhere gegen die eigentliche 
Darftelung behauptet, und ſowohl die münchner als die düſſel⸗ 
dorfer Schule liebt vielfach ſich ın Derjelben zu bemegen. Das 
vornehme Wort Idee hat gar viel Spuf angerichtet. „Die Kunft 
muß Ideen darſtellen.“ Ganz falſch! Denn das heißt ſchon: ber 
Künftler muß eine Idee, will fagen: abftracten Gebanfen aus- 
hecken, und ihm nachträglich ein Kleid umhängen. Idee und 
Bild ift in jenem Sage ſchon fo auseinandergehalten, daß bie 
allegoriſche Darftellung von ſelbſt folgt. Die Kunft fol ivenle 
Anſchauungen der Phantafie, in denen die Idee jchon von felbft 
und untrennbar mit dem finnlichen Körper vermählt iſt, zur 
Außeren Erſcheinung bringen. Das etwas berüchtigte Wort Alles 
gorie vermeidet man freilich gern und feßt dafür Symbol. Allein 
es ift in Symbol und Allegorie daſſelbe äußerliche und dem wahr- 


177 


haft Schönen fremde Verhäaltniß zwiſchen Bild und Idee. Der 
Unterſchied ift nur der, daß das Symbol ein inftinetmäßiges Pro⸗ 
duct der im Dunkel fuchenden Phantafle der Naturreligionen, Als 
legorie das Machwerk eines Einzelnen ift, der fich mit nüchterner 
Wahl des Verftanded einen Begriff erfinnt umd thn dann in ein 
beliebiges Bild verbirgt. Die ſymboliſche Einbildungskraft con⸗ 
fundirt , fich ſelbſt dunkel, Bild und Idee; die Allegorie, deren 
Perfertiger für feine Perſon über den Unterfchied und das tertium 
Beider völlig im Klaren ift, ſpielt Verſteckens mit den Zufchauer. 
Zwiſchen dem Weliftier Apis und dem Abftractum der urfprüngs 
lihen Zeugungskraft ift an fich daſſelbe Verhältniß, wie zwiſchen 
den zwei Beftandtheilen irgend einer modernen Allegorie, aber 
dem Aegyptier fielen Apis und Urfraft dunkel zufammen; was 
dagegen unter dem Homunculus zu verftehen ſei, mußte 
Goethe recht wohl, nur der Leſer fol fi müde rathen. Die 
häufige Ausführlichfeit der Allegorie, die aus ihrer rveflectirten 
Natur fließt, bildet keinen wejentlichen Unterſchied. Don beiden 
ift ver Mythus verſchieden. Er feßt die religiöfen Wahrbeiten in 
Handlungen um; Kandlung feßt Willen, Wille eine Perſon vor= 
aus; feine Berfonen aber verhalten ſich zu dem beſtimmten Ideen⸗ 
gehalte, den fie vertreten, fo, daß dieſer ihre eigene Seele, ihre 
Leidenſchaft if. Der Mythus konnte fich daher noch nicht in ver 
Naturreligion, fonbern erft in der aus ihr herausſtrebenden Mes 
ligion der fhönen Menfchlichkeit in feinem wahren Wefen ausbil⸗ 
ben. Er läßt dad Symbol Hinter fih, und geht der Allegorte, 
die von ihm das Succeffive der Handlung aufnehmen kann, aber 
feine eigentliche Handlung fennt, weil fie Eeine Berfonen , fon» 
dern nur Devifen hat, voran. Die Mllegorie hat fich immer ein⸗ 
Srisifche Gänge. 12 


178 


geftellt, wo das Leben einer Religion im Abfterben und mit ihm 
die poetifche Potenz int Verwelken war. Die fpäteren Griechen, 
die Römer der Kaiferzeit liebten fie, bie saeva necessitas bed 
Horaz mit Balken, Nägeln, Kellen, Klammern und Blei das 
herkeuchend, iſt die rechte Neigenführerin diefer Zunft; bie Jahre 
hunderte des Zopfs Eultivirten fie ganz leidenſchaftlich, und indem 
jegt die Kunft Eräftig die Flügel regt, iſt fie und als Muttermal 
ber Proſa, als Haarbeutel des ancien rögime noch hängen ge= 
blieben. Ob wir berufen find, und aud dem Zopfe (ih muß das 
Wort, mie die Künftler., als Terminus brauchen, es giebt Tein 
anbered) ganz herauszuarbeiten, dies fallt fo ziemlih auch mit 
der Frage zufanımen, ob wir fühig fein werden, die Allegorie 
vollends abzufchütteln. Ich möchte die Künftler nur das Eine 
fragen: ob ihnen die Wirkung ihrer Bilder gleichgiltig iſt? Ob 
fie lieber Elar oder dunkel bilden? Ob fie lieber erfreuen oder 
langweilen? Ob fie lieber rühren oder Ealt laſſen? Schadow Kat 
bie Parabel von den Flugen und den thörichten Jungfrauen in 
einem großen Staffeleigeniälde mit vielem Aufwand von Kunft 
ausgeführt. Der himmlifche Bräutigam öffnet eintretend die Pforte, 
zu beiden Seiten jehen wir in reicher Abftufung des Affects dort 
bie erſchrockenen unklugen, bier bie freudigen Elugen Sungfrauen 
mit ihren Lampen. Können wir mit dem Schmerz jener, mit 
der Sreude biejer irgendwie fompathiftren, mit ihnen fürchten, 
hoffen, erſchrecken, entzüdt fein? Gewiß nicht, es ift ihnen 
ſelbſt ja nicht ernft, nicht einmal mit ihrer Griftenz , fie haben 
ja fein Blut, Feine Lebenswärme, bedeuten nicht fich felbft, ed 
find Schatten, Schemen‘, ein paar Lappen um einen Begriff ges 
lagen ; ein ganz tüchtige8 Bild für die Rede, für den Lehrvor⸗ 


—— 


179 


trag, Hohl und matt für bie bildende Kunſt. Ganz anders ver- 
hält es ſich, wenn wir dieſelben Figuren am Portal der Sebal- 
duskirche zu Nürnberg einzeln in Stein gebildet auf Confolen flehen 
jehen. Hier find fie architektonische Verzierung , und diefe unter- 
liegt ganz anderen Bedingungen, als die Malerei. Im Mufeum 
von Neapel ift auch zu fehen, von Salvator Roſa gemalt, die 
Parabel vom Balken und Splitter, ein hinreißendes Kunftwerf. 
„Freilich jo etwas, dad muß ja häßlich und abgeſchmackt ausſehen.“ 
Das ſchadet aber der Allegorie als folder nichts, das Princip 
der Allegorie iſt gar nicht dad Schöne, fondern das Wahre; fie 
iſt nur zufällig und gelegentlich ſchön, Wahrheit und Schönheit 
innen in ihr fogar im umgekehrten Verhältniſſe fleigen und fal« 
Im. Da übrigens auch das dünnſte bilvliche Gewand den Lehr⸗ 
gehalt immer noch mehr verſteckt als offenbart, fo würde ih 
unferen Ideenmalern jehr rathen, Tünftig leere Flächen in einem 
Rahmen aufzuftelen: darauf wäre dann zu fehen das Abfolute 
— Zero, die Idee der Ideen, der Urgrund, worin alle Kühe 
gran find. Ohne alle Hyperbel, es müßte nach dieſer Anficht als 
die höchſte Aufgabe des Malers conſequent dieſe aufgeſtellt wer⸗ 
den, nichts zu malen. 

Aber faſt hätten wir unſer Bild vergeſſen. Die Allegorie 
kommt hier doch nur unter Anderem vor, die Seele des Ganzen 
iſt nicht in allegoriſchen, ſondern in mythiſchen Geſtalten verkör⸗ 
pert. Man wird ſich nicht einbilden, daß ich nicht wiſſe, wie 
etwas Angefochtenes durch den Namen mythiſch ausgeſprochen 
wird; noch viel weniger, daß ich behaupte, es liege jenen über- 
irdiſchen Figuren gar nichts Hiftorifhes zu Grunde. Unſer Mei⸗ 

12 * 


180 


fter freilich ift am weiteften entfernt, ſolchen Stoff ald mythijchen 
gelten zu laſſen, vielmehr er ftellt ihn als die allein wahre Reali⸗ 
tät und als die einzige würdige Aufgabe der Kunft hin. Alle 
weltliche Darftellung ift ihm ja das Ende der Kunft, Sünde der 
Apoſtaſie (f. S. 14 u. 15). Man wird aber nicht erwarten, 
daß ich meinen Terminus mythiſch, den ich alled Ernſtes zur 
Unterſcheidung der religiöfen und der hiftorifchen Malerei in Vor⸗ 
fehlag bringe , hier durch eine theologifche Vorlefung begrüne. 
Ich ſpreche deßwegen gerade von dieſem Bilde fo weitläuftig, 
meil nirgendd mit jolcher Beftimmtheit die weit verbreitete, in der 
wiffenfchaftlichen Aeſthetik noch herkömmilich wiederholte Anficht 
von der Einheit der Kunft und Religion aufgeftellt if. Natürlich 
ift bei unferem Meiſter nur von chriftlicher Religion und Kunft 
die Rede. „Das Heidenthum als ſolches foll ver Künftler mit 
entſchiedener Verachtung liegen laſſen; aber er mag fich gleich« 
wohl die Kunft der Alten, fo wie ihre Litteratur, zu Nutzen 
fommen laſſen, gleichwie die Kinder Iſrael die goldenen und fils 
bernen Gefäße aus Aegypten mitgenommen, wofern er fie nur, 
gleich diefen,, zum Dienfte des wahren Gottes in feinem Tempel 
umzuſchmelzen und zu heiligen weiß.’ Da ftecft wieder ein hüb- 
ſches Neft Confuflon. Das Heidenthum als ſolches. Sol das 
heißen: Stoffe aus der heidnifchen Religion? Diefe werden aber 
doch im Grunde von der neueren Kunſt nur felten aufgenommen. 
Die griechifche Weltanfhauung überhaupt ift vielmehr gemeint, 
wie fie dem Sinnenleben und der naturgemäßen Wirklichkeit pofi⸗ 
tive Geltung gönnt. Die griecdhifche Stimmung und die aus ihr 
fließenden Kunftformen aufgenommen zu haben, ift fein Vorwurf 
gegen Mich. Angelo und Rafael. Aus dieſem Grunde ift bie 





181 


moderne Kunft ſeit dem Schluſſe des Mittelalters für ihm nicht 
vorhanden; denn ihre weltliche Tendenz hat neben dem kritiſchen 
Geiſte des Proteftantismus , der den hriftlichen Olymp entvöl- 
kerte, weſentlich die Ruckkehr zum gefunden Realismus der Alten 
zum Nudgangspunfte , Reformation und humaniſtiſche Studien 
wirkten auf dafjelbe Ziel. Etwas fol nun aber der Künftler von 
den Heiden doch lernen dürfen. Die fhöne Form ohne Zweifel, 
und in biefe ſoll er den chriftlichsfirchlichen Inhalt nieverlegen ? 
As ob er die Schönheit der Antike bewundern und reprobuciren 
koͤnnte, wenn er ihre Grundlage, die plaftifche Weltanfchauung, 
verachtet! Und ald ob dad gar nie wäre bezweifelt worden, daß 
bie antife Form und der hriftliche, d. h. der mittelalterlich=Firch- 
liche Gehalt fo widerſpruchlos fich verfehmelzen laſſen! Als ob. 
noch Niemand gemerkt hätte, wie Nafael, indem er fie verfehmilzt, 
eben dadurch auch die Auflöfung des religiöfen Ideals der Noman- 
tik beginnt! Wie der Fanatismus auch die gemeine Logik vertoirrt, 
davon giebt beſonders folgender Unftand mit dem Sarfophage 
bed Nicola Bifano ein fehlagendes BVeifpiel. Dieſem merkwürdigen 
Manne ging der Geift der antiken Plaſtik bekanntlich durch das 
Studium eines antiken Sarkophags zuerft wieder auf. Overbeck 
benüßt diefe Thatſache, fo aber, daß er einen Sarfophag mit 
einem Relief aus der älteften chriftlichen Zeit an die Stelle des 
antiken feßt. Die Nefte antiker Form in den älteften chriftlichen 
Kunſtdenkmälern waren aber befanntlih fehr dürftig, und, fo 
weit fle noch vorhanden waren, doch nichts anderes, ald chen 
eine Erbſchaft aus dem Heidenthume alſo erreicht Overbeck durch 
biefe Lügenhafte Entftelung der Gefchichte nicht einmal feinen 
Zweck, die Verdrehung der Thatſache beftraft ſich durch Unſinn. 


- 


182 


Mir müflen bier nothwendig an die Wurzel gehen und den 
Sat von der Einheit der Kunft und Neligion überhaupt prüfen. 
Die Seite ihrer Einheit braucht wirklich nach Allem, was Schel- 
ling, Solger, Segel hierüber gefagt haben, keinen philoſophi⸗ 
fhen Beweis mehr. Sie haben einen und venfelben Boden, bie 
Einheit des Begriffs und ber Wirklichkeit, die verfühnte Welt, 
die Idee, und die Religion, indem fie diefe in einem Kreife von 
Mythen niederlegt, arbeitet der Kunft von felbft in bie Hände. 
Der geſchichtliche Beweis Tiegt für Jedermann da, denn bis zum 
Ende der großen mittelalterlichen Kunftblüthe gingen in allen Welt 
altern Kunft und Religion Hand in Sand. Allein ſchon an fid 
ift in der Einheit zugleich der Unterſchied und die Lösbarkeit beider 
Sphären nicht zu verfennen. Die Religion bewegt fi zmar Im 
Elemente der Vorſtellung. Allein für's Erfte tft e8 nicht bie reine 
Vorſtellung, in der ſie fich bewegt, fondern fle reicht theilweiſe 
fehon in das Gebiet des abftracten Denkens hinüber, indem fie 
die Vorftellungen in Lehrjäge faßt, mit Beweiſen ftüßt, mit Un⸗ 
terfgeidungen und Nutzanwendungen proſaiſch durchflicht und zwar 
nicht nur in der Dogmatik, fondern in gemeinen Bewußtſein ſelbſt. 
Für's Andere ift ihr in dem Grabe, in welchem fie über die Na- 
turreligion ſich zur Religion des Geiftes erhebt, die äußerliche 
Anfehauung des innerlich Vorgeftellten im Kunftwerfe entbehrlich, 
ja fie feßt fi in Oppoſition dagegen, weil fie Gößenbienft bes 
fürchtet. Der Katholicismus war der Kunft in dem Grade günflig, 
als er noch mit polytheiftifcher Stimmung und polytheiftifchen 
Stoffen behaftet war. Der proteftantijche Cultus verlegt ben Dienft 
ded Herrn rein ind Innere und befürchtet von den bunten Um⸗ 
gebungen der Kunft mehr Zerfiveuung ald Sammlung; er hat 


183 


zwiſchen der äfthetifchen und ber religlöfen Stimmung unterſchei⸗ 
ben gelernt. - Wirklich, man trete in die Allerheiligenkirche zu 
München und überzeuge fich mit eigenen Augen, daß das Volt 
zwifchen dieſen reichgeſchmückten Wänden gedankenlos gafft, ftatt 
zu beten. Das hat im Katholicismus allerdingd wenig zu fagen, 
denn aus demfelben Grimde, warum er der Kunft fo fehr gün- 
flig war, firirte er auch den Begriff ded opus operatum. Spar⸗ 
fanıe, würdige Mitwirkung der Kunft zum Gottesdienfte fol natür- 
lich darum nicht abgewiefen und bie Geſchmacklofigkeit, ja die Häß- 
lichkeit des proteftantifhen Cultus nicht gutgeheißen werben. Nur 
Hegt in der Religion für fich nicht nothwendig der Trieb der Ver⸗ 
edlung der aſthetiſchen Formen ihres Eultus. Ihr Interefie iſt Fein 
eontemplatives, fondern ein praftifches, Erbauung. Es fol in dem _ 
andächtigen Subjecte Etwas anders werden, e8 foll nicht bleiben, 
wie ed war, und bei diefer Veränderung ift ed mit feinen höch⸗ 
jten Wünſchen und Hoffnungen abfolut betheiligt. Die Religion 
bat Intereffe (allerdings Fein endliches), die Kunft Feines. 
Kant’3 Kritik der Afthetifchen Urtheilskraft Hat dies hinlänglich 
dargethban. Jene Veränderung im Subfecte zu bewirken genügt 
aber auch der vürftige, der rohe Kunftverfuch, ja diefer jagt dem 
religiöfen Intereffe in feiner fpecififchen Neinheit mehr zu, als 
das fchöne Kunftwerf. Die Aeußerungen des Aeſchylos, des Pau⸗ 
fanias, daß die alten ftrengen und düfteren Cultusbilder göttlicher 
ſeien, al3 die neuen ſchönen, find ja befannt. Das ſchöne Bild 
befreit, Angſt und gittern um unfer Seelenheil hat in feiner 
Gegenwart ein Ende und wir erinnern und, wie ſchön die Welt 
da draußen fei, der wir entfagen follen. Die Abfichten beider 
Sphären können fi (und es ift dabei gar nicht. an eine gefunfene 


184 


und frivole Kunft zu denken) geradezu feindlich begegiten. Die 
gräßlichen Darftellungen ver Qualen Jefu und der Märtyrer pre= 
digen dem finnlichen Menſchen einfchneidend, wie er ed bedarf, 
was der Gottesfohn und die Seiligen um feine Seligfeit litten, ber 
äfthetifch Gebildete aber wendet mit Schauder fein Auge von jenem 
heiligen Bartholomäus im Dome zu Mailand ab, der feine abge- 
zogene Haut auf der Schulter trägt, von Pouſſin's heiligem 
Erasmus im Batican, dem die Gebärme aus dem Leibe gehafpelt 
werben, von der heiligen Agata in den Uffizien zu Florenz, der 
die Brüfte mit Zangen zerriffen werden. Umgekehrt iſt es nicht 
die Sprache religiöjer Erbauung, wenn ein italienifches Mädchen 
vor einer Mutter Gotted mit dem Kinde von Rafael ausruft: 
che bello bambino, quanto & grazioso, quanto è carino! Ends 
lich verfolgt der Gotteshienft feine Zwecke ſchonungslos gegen die 
edelſten Werfe der Kunft. Man weiß, wie der Lichterqualm, der 
Weihrauch das jüngfte Gericht des M. Angelo ſchwärzt, wie un⸗ 
günftig und dunkel gewöhnlich die fehönften Bilder in Kirchen 
hängen, und was wäre wohl aus der Sirtinifhen Madonna 
geworden, wenn fie noch als Umgangsfahne zu Piacenza diente! 

Es ift befannt, daß bedeutende Meifter in Italien und Deutfch- 
land, nicht etwa nur in der Zeit des Verfalls, wie Pouffin, 
fondern in ber beiten Zeit, ſich nicht enthielten, jene ſchauder⸗ 
haften Martern darzuftellen. Freilich auf Beftelung, aber bie 
Aufgabe ließ fi immer mildern. Allein ſie fanden felbft nicht 
auf rein äſthetiſchem, fondern auf religiöfen Boden, fie waren 
nicht frei; und dies führt ung auf die Hauptſache, ins Schwarze 
unſerer Scheibe. 

Es liegt in der gemeinſamen geſchichtlichen Entwicklung der 


185 


Kunft und Neligion eine ſchwierige Antinomie. Indem fie fi 
immer mehr zufammenbewegen, gehen fie jeven Moment eben 
fo jeher immer weiter auseinander, fie bilden fich einander zu und 
zugleich von einander meg, fie ſuchen fih, und dies Suchen ift 
ein lichen; fie finden fih und fie find meiter getrennt als je. 
Die Religion ftelt das innerfte Selbft des Menfchen ihm äußerlich 
profieirt gegenüber. Nicht fein empiriſches Selbft ift es, was er 
bier anfchaut, fondern fein ideales. Er ſoll es mwieber erfennen 
in: diefer Bewegung, es fol das gegenüberftehende Bild feinen 
reinen Geift vertraut begrüßen, feinen Eigenwillen aber und fein 
finnliches Leben tief erſchüttern und abweifen. Die Religion auf 
ihrem Standpunfte Fennt eine. Verfühnung des empirifchen mit 
dem idealen Ich nur unter der Beringung, daß jenes im Inner- 
fien zerknirſcht und gebrochen werde, daß es in feinen Tiefen 
zufammenfhaure, die heidnifche wie die hriftliche. Dies negative 
Moment hält fie feft, um von feinem Eintritt unmittelbar zum 
Momente der höchften Verſöhnung überzugehen. Iene Brechung 
bed natürliden Willens als ein ftetiges Werk der Erziehung anzu⸗ 
fehen, den gebildeten Willen ald eine affirmative Einheit des 
geiftigen und des Sinnenlebend anzuerkennen, iſt der Standpunft 
der Ethik, der nur implicite in dem der Religion liegt. Zurück⸗ 
weifung alſo des natürlihen Willens und freundliches Entgegen 
fommen gegen das reine Selbft im Zufchauer bleibt Hauptaufgabe 
reigiöfer Kunſtwerke. Dies Teiften fie um fo mehr, je mehr 
finnlihe Darftelungsmittel ihnen zu Gebot ftehen, je mehr fie 
fih zur reinen Form erheben, und mit der Vollendung der Form 
erreicht das religiöfe Ideal feinen Giyfel. Aber wo helt der 
Künftler diefe Born? In der Natur, in der Welt; und gerade 


x 


186 


dieſe fol fein Ideal als nichtig barftellen. Alſo mas er als ver⸗ 
werflih, als fündhaft, als ausgefchlofien aus dem Heiligthum 
aufzeigen foll, eben das ift es, mas er zu demſelben Zwecke aufs 
nehmen und einlaffen fol, das iſt der Widerſpruch. Woraus 
fein Werk verbannen foll, das ift feine Heimath, feine Lebens⸗ 
luft. Der Widerſpruch wird lange nicht gefühlt, bis an bie 
Schwelle der höchſten Entfaltung bleibt der Flügel der Kunft ges 
bunden, ein Reſt alter Herbe und typiſcher Haͤrte rettet bie gefor⸗ 
berte abweiiende Strenge. Das ift es, was in den Werfen eines 
Fieſole, eines Pietro Perugino, Franc. Francia fo fromm er⸗ 
greift, fo tief rührt, die Schüchternheit in der Anmuth, die naive 
Dürre und Magerkeit bei Formen, die doch ſchon der höchften 
Schönheit entgegenfchwellen. Endlich bricht die Knospe, die Jungs 
frau fft reif und mannbar, das Ideal erreicht; und jetzt, in ben 
Werken eines Phidias und Polyklet, eines Rafael feiern Kunſt 
und Religion den Moment ihrer höchſten Einheit. Aber es iſt 
zugleich der Montent ihrer Entzweiung für immer; die erblühte 
Jungfrau hat Fein Bleiben mehr in den Kloftermauern; die Geburt 
bed religiöfen Ideals iſt die Stunde feines Todes, dieſe Aloe 
welft, wenn der fchlanfe Vlüthenftengel emporgeſchoſſen ift. Es 
war zu viel Natur, zu viel Form in dies Heiligthum eingelaflen, 
e3 bat mit ihr feinen Feind in fi aufgenommen; einen Bafilisken, 
der fein Blut ausfaugt, hat die Firchlihe Kunft an ihrem Buſen 
aufgefäugt, bie Schönheit mird ihre Verrätherin. Das gebundene 
Bewußtfein bed Künftlers bat fih vom lebten Nefte des Typus 
befreit, und nit biefer Freiheit ift es ein weltliched geworben, 
ohne e8 zu merken. Die Bundesfeier ſelbſt ift die Sünde ber 
Apoftafle. Lange noch Hält die Kunft die kirchlichen Stoffe fell, 


187 


aber ver Geift ift heraus. Zugleich arbeitete Längft ber denkende 
Geift im Stillen, bis er gerüftet Hervorfpringt und jener Einheit 
auch von feiner Seite ein Ende macht. Die Vereinigung ter 
höchſten Leiftungen in der heiligen Malerei mit den fichtbaren 
Anfängen einer Entfremdung von dem Firchlichen Ideale in Ra⸗ 
fael, der jähe Sprung des M. Angelo über alle fromme Keuſch⸗ 
beit der Form hinweg, die Entfchiebenheit der DVenetianer für 
Bildniß, Gefchichte, glühendes Sinnenleben,, alte Mythologie 
bei ganz genreartiger Behandlung religiöfer Gegenftände, Cor⸗ 
reggio's üppige Sentimentalität: alles dies fällt in biefelbe Zeit, 
ba in Deutfchland die Reformation mit ſcharfem Befen die ganze 
bunte Phantasnıenwelt des Mittelalterd hinmegftreifte. Es ift 
leicht, in Griechenland venfelben Gang nachzumeilen. Die floren- 
tinifege und umbriſche Schule des 15. Jahrhunderts entſprechen 
ber Periode des Phidias; die des Rafael, Correggio, der Vene⸗ 
tianer der Richtung des Prariteles und Skopas, wo mit der 
vollen Ausbildung der reizenden Form auch das Profane eintritt, 
und wie mit jenen die Reformation, fo tft mit dieſen bie ſophiſiſche 
und ſokratiſche Philoſophie gleichzeitig. 

In Deutſchland giebt man die kirchlichen Stoffe auf, in Italien 
behält man ſie bei und verkehrt ſie. Der Katholicismus ſelbſt, von der 
Aufklärung angeſteckt und feinen Zerfall fühlend, verfucht eine 
große Neftauration , bei der ihm die Kunft weſentliche Dienfte 
leiften fol. Das religiöfe Ideal fol durch Mittel fehr moderner 
Art, durch stimulantia gerettet werden. Jene eigene feine Sinn⸗ 
lichkeit, welche mit der Trunkenheit fentimentaler Verzückung zufanı= 
menfät, jene Vermiſchung von Magdalene und Pontpabvur, jene 
ſchuldige Unſchuld, jene Eofette Naivetät, all jener Theatereffekt, 


190 


N 


in Peter Bijcher. Aber welcher Unterſchied auch zwiſchen dieſem 
und dem beinahe um hundert Jahre älteren Ghibeti! Dann folgt 
Deutſchlands tiefe Zerrüttung, indeß das Leben der Nation in 
die innerften Theile zurüdgetreten nur für rein geiflige Thaten 
aufgefpart ſchien, bis enblish neue Keine die Eisdecke durchbrechen 
und Deutichland, ſpät, aber defto nachhaltiger und inniger, fein 
tiefe3 Gemüth mit der claſſiſchen Korn vermählt. Es war in der 
Poeſie ebenfo; die romanifchen Völker, dem Naturell und der 
Stimmung, woraud bie Antike hervorgegangen ift, nie ganz ent⸗ 
fremdet, feiern bie claſſiſche Periode ihrer Dichtung ſchon im 16. 
und 17. Jahrhundert, während ſie bei und nad) dem Verfall 
der, vom antiken Formgefühl fo weit entfernten, Poeſie des 
Mittelalters in tiefer Rohheit liegt. Wir follten erft andere ges 
fehichtliche Aufgaben vollbringen; wir follten, wie fein anderes 
Volk, entſchloſſen mit dem Mittelalter, dem Geifte phaͤntaſtiſcher 
Trandcendenz, brechen, die eigentlichen romantiſchen Stoffe, die 
auf dieſem ©eifte beruhen, lieber aufgeben als zur eleganten Form 
erheben, und erft jpät die Frucht der humaniftifchen Studien ern⸗ 
ten, ben gebildeten, mit der Wirklichkeit verſöhnten freien Geift 
ber modernen Zeit in die filbernen Schalen antiken plaſtiſchen 
Sinnes gießen. Erſt im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts 
verſchmilzt Goethe claſſiſche Form und germaniſches, romantiſch 
vertieftes Seelenleben zur Einheit des modernen Ideals. Ebenſo 
die bildende Kunſt. Aber wer zuletzt lacht, lacht am beſten. Die 
italieniſche Kunſt liegt noch tief im Argen; nur die Franzoſen 
und Belgier find und gefolgt. 

Inzwifchen e8 fehlte noch ein Schritt. Der Standpunkt der 
Antife iſt nicht das Element, worin das Gemüth ſich ganz gefät« 


191 


tigt fühlen kann, dem feit tem Chriftenthum und feiner Durchs 
dringung mit der innigen Natur deuticher Völker eine neue Welt 
unendlicher Gefühle aufgegangen if. Ganz Hatten ohnedies bie 
großen Dichter von dem Mipverftändniß und von ber falfchen 
dogmatifchen Anwendung der Antike ſich nicht befreit. Ein kleines 
Endchen Zopfband war noch hängen geblieben. Man kennt das 
Kunfturtheil der „KRunftfreunde« in Weimar, ihre Mibachtung 
der Romantik, ihre Forderung ylaftiiher Stoffe für die Dialerei. 
Auch die Porfle war von der faljchen Claſſicität noch nicht ganz 
frei; Goethe meinte eine Achilleis dichten zu Eönnen. Etwas Ca⸗ 
nova, etwas Hofgeſchmack des 18. Jahrhunderts, etwas Puder 
ift Doch no in manchen feiner Dichtungen. Eine Neaction mußte 
erfolgen. Die romantifhe Schule trat auf, ein fpütgeborned Kind 
der eigentlichen Romantik, welche nicht vergeflen konnte, daß fie 
in Deutichland, am Schluffe des Mittelalterd unterbrochen, ihren 
völligen Abſchluß nicht hatte vollbiingen können; ein neues Mit- 
telalter trat auf, aber Eein wirkliches, ein in einem fremdartigen 
©eifte, dem modernen, reflectirtes Eünftliches Meittelalter: und 
darin lag das Kranke, daß man dies überfah, daß man ganz in's 
Mittelalter zurück wollte und Eoyfüber ſich ſelbſt in feine Kirche 
ftürzte. Dan begriff nicht, daß es ebenfo einfeitig iſt, das Mittelal- 
ter wie ed geht und fteht, als das clafjiiche Altertbum mit Stumpf 
und Stiel erneuern zu wollen, daß unjere Aufgabe immer nur 
fein kann, von jenem den Gemüthöfern, die geiftige Unendlichfeit 
ohne die Phantadmen, in denen fie ſich verworren barftellte, von 
diefem die Elare Form aufzunehmen und beide Elemente zur inni⸗ 
gen Durchdringung zu führen. Wie die Poefle, fo reclamirte 
nun auch die Malerei die Momantif: ein höchſt nothwendiger 


192 


Schritt von unendlichen Folgen. Denn daß bie alten Götter nicht 
wieder in’& Leben zu rufen find, daß eine ganze Welt, vie neue 
Welt mit ihren Charafterfiguren, ihren ſchwärmeriſchen blauen 
Augen, die Geſchichte mit aM’ den Trachten und Formen, in denen 
fie ſich darftellte, die veutiche Sage, der ganze Schauplaß der ro⸗ 
mantiſchen Poeſieen — fofern nur nicht die romantiſche Wunber- 
welt felbft mit ihrer Durchbrechung aller feften Formen, fondern 
der Glaube an jene Wundermelt und der von ihm fehnfüchtig ges 
leitele Mienfch die Aufgabe war —, die deutſche Landſchaft, Furz, 
daß ein unendliches Feld erft noch zu erobern war, wer fieht dies 
nicht ein? Uber auch hier diefelbe Verirrung. Das Mittelalter 
mit Haut und Haaren, feine Kirchen, feine Legenden, fein Mythus 
follte erneut und dogmatifch ala höchfte Aufgabe anerfannt wer» 
den, blondlodige vergipmeinnichtaugige Sternbalvde wanderten nad 
Nom und Hr. Overbeck wurde katholiſch. 

Faſſen wir nach diefem Syaziergange wieder vor umferem 
Gemälde Poſten. Hier haben wir eine Frucht diefer Tendenzen, 
eine Beichte, ein Generalbekenntniß von Overbeck's Künftlerleben. 

Ich fafle die Sache jeht an der Wurzel und fage: dad Prin⸗ 
cip der Reformation, in der Kirche felbft nur unvolljtändig aufs 
geftellt, von der Wiſſenſchaft, von der Weltbildung durchgeführt, 
hat den Olymp des Mittelalter8 ein für allemal rein auögeleert. 
Unfer Gott ift ein immanenter Gott; feine Wohnung ift überall 
und nirgends; fein Leib ift nur die ganze Welt, feine wahre Ge⸗ 
genwart der Menſchengeiſt. Diefen Gott zu verherrlichen ift bie 
höchfte Aufgabe der neuen Kunft. Die Gejchichte, die Welt ald 
Schauplatz des Herrn, die naturgemäße Wirklichkeit in feharfen, nicht 
romantisch ſchwankenden, feften Umriſſen als eine Bewegung, worin 


193 


ſittliche Mächte Gottes Gegenwart verfündigen, wo Simmelsfräfte 
auf» und niederfteigen und fich die golonen Eimer reihen, das iſt 
bad Feld des modernen Künftlerd. Wir Eennen Feine Wunder 
mehr, als die Wunder des Geifted, dieſe innere Romantik bringe 
ber Künftler in gebiegenen, plaftifch geläuterten Bormen zur Er⸗ 
fheinung. Hiedurch ift die Eirchlich - religiüfe Malerei, die man 
ſonſt als den höchften Zweig der hiftorifhen Malerei anfah, of- 
fenbar von diefer Stelle vertrieben, ja fie ift aufgehoben. Sind 
ed ja doch ſchon dreihundert Jahre her, daß fie Todes verblichen 
ift, und nur mit galvanifhen Reizen hat man ihr ein neue 
Scheinleben einzutreiben gejucht. Unter Anderem mögen Madon⸗ 
nen und Seilige u. f. f. immer noch vorkommen; man fann dem 
Künftler nicht vorfehreiben, die Stimmung des Fatholifchen Mit- 
telalterd mag ihn gelegentlich ergreifen, daß er einmal ein Heili⸗ 
genbilochen malt, fo wie er unter Anderem auch einmal die alten 
Götter wieder auf einige Stunden bei und einführen mag. Uber 
er ftelle diefe Aufgaben nicht als Princip auf. Er mag ed, wenn 
er eine lebendige Leiche fein will. Unſere Kunft bat Alles verlo- 
ren und dadurch Alles gewonnen; verloren die ganze Fata Mor⸗ 
gana einer trandcendenten Welt, gewonnen die ganze wirkliche 
Welt. Die Malerei des Mittelalters, wie fein Glaube, legte die 
ganze Erde in den Simmel hinüber, die unfrige zeige den Himmel 
auf Erden. Die Atmofphäre unferes Planeten ift für uns feine 
Geifterwohnung mehr, der Horizont ift gereinigt; Feine een und 
Gnomen fchimmern mehr durch den Nebel, Feine Götter und Ma⸗ 
rien thronen auf abenorothen Wolken: es iſt Nebel, es find Wol« 
fen, aber die Welt ſelbſt rüdt nun in's wolle Licht, da vorher 
zwifchen ihr und der Sonne eine zweite Körperwelt ihre dad Licht 
Aritiſche Gänge. 13 


194 


entzogen, fie liegt aufgefehlagen vor uns, die Strahlen ber Kunſt 
fönnen ihr bei, es ift Luft, Licht, offen. Daß, mer diefe Helle, 
Hare Welt im Segen ihrer Götterfräfte darftellt, indem er das 
Gemeine, was bloß endlich an ihr ift, im Läuterungsfeuer ber 
Phantafle ausſcheidet, Gott nicht verherrliche, daß man nur ent- 
weder Gott, oder die Welt, entweder die Idee oder die Wirklich» 
feit, entweder die Natur in ber heiteren Regung großer Kräfte 
oder die Uebernatur barftellen, entweder nur artiftifcher Naturalift 
oder Supranaturalift fein könne: wer dies behauptet, iſt ein Ma- 
nichäer, ein Künftlerpietift, ein Menſch, ver nicht weiß, daß nicht 
bloß unfere Theologie, fondern unfere ganze Bildung längft über 
das Dilemma ded Nationalismus und Supranaturalismus hinaus 
iſt, ja er ift ein Menſch, ber Feine wahre Religion hat. Denn 
wahre Frömmigkeit vertraut auf Gott, daß er bei und und mit 
und, daß er ein Geift fei, der nicht in fich bleibt und fich nicht 
verliert, wenn er feinem Andern ſich ganz mittheilt. Meint ihr 
denn, das ſei zufällig, daß wir einen Luther, einen Kant, Fichte, 
Schelling, Hegel, Strauß haben? Das könne in der Wiflenfchaft 
eingeichlofien bleiben, fjei nit Symptom und Sprache unferer 
Gefammtbildung, fließe nicht in fie zurüd und müſſe au in der 
Runft durchbrechen? in großes Stück Gefchichte verläugnen, iſt 
immer Wahnfinn. Verkenne nur dein Volk und was e8 gethan, 
den Bliß des freien Gedankens auf feiner tiefgefurchten Stirne; 
geh nad) Rom, um die ewig junge Antife zu verachten und das 
verwelkte Mittelalter zu verfüngen, laß di von Notbftrumpf und 
Blauftrumpf mit abgeſtandenem Weihmwafler ſprengen: wir laſſen 
die Todten ihre Todten begraben. 


195 


Unfere hoͤchſte Aufgabe iſt jetzt das fogenannte profan = hiſto⸗ 
ride Gemälde nebft feiner Vorausſetzung, Vorſtudie oder wie 
man es nennen mag, bem ebleren Genrebild. Robert war Epoche 
machend. Menſchen in gewöhnlichen, Harmlofen Situationen, 
aber Menjchen nut der Anlage ver Größe: biefer Bauernburfche 
an's Joch Hingelehnt zwifchen den gewaltigen Büffeln, es ift ein 
Eincinnatud in ihm verloren gegangen; dieſe hohe rau mit dem 
Kinde auf dem Erntewagen, fie könnte Rafael zu einer Mabonna 
fiten. Es find Genregemälve im biftorifhen, Hohen Style ge⸗ 
fühlt und componirt, ſchwanger mit biftorifchem Geiſte. Man 
bringe ſolche Naturen in Handlung und wir haben das Hiftorifche 
Gemälde. Anfänge find da, aber vereinzelt, noch feine Blüthe, 
noch Fein Schwung. Auf den Hiftorifchen Bildern der Düſſeldor⸗ 
fer Schule Liegt noch bleierner Todesſchlummer; die Münchner 
find rüftiger, wiewohl fie mitunter etwas ſchwer an ber gelehrten 
Garderobe des Mittelalterd tragen ; am meiften dramatiſche Spige, 
aber theatralifch wie immer, haben die Franzoſen. Doch es ift 
gut, daß wir nur erft den Wed gefunden haben. Das höhere 
Genre und das profanhiftorifche Bild warteten eigentlich bis jetzt 
auf ihre Geburt, fie find von geftern. Anfänge fleht man im 
Mittelalter bei den DVenetianern, bei Rafael, früher ſchon bei den 
Florentinern ald Epifode, da einer heiligen Handlung eine Gruppe 
von Zuſchauern, Bildnißfiguren aus der Gefchichte, aͤußerlich zu⸗ 
gegeben wurde, wie bei Mafaccio, Ghirlandafo, Cofimo Roſelli 
und Anderen. Uber die Zeit war noch nicht gefommen. Der 
geſchichtliche Geift konnte dem Mittelalter nicht aufgehen, bie ob» 
jective Betrachtung, bie er verlangt, febt alle Vermittlungen der 
Kritik und der freien Univerfalität voraus, die erft der moderne 

13* 


194 


entzogen, ſie liegt aufgefehlagen vor uns, die Strahlen ber Kunſt 
können ihr bei, es tft Luft, Licht, offen. Daß, mer biefe Helle, 
Hare Welt im Segen ihrer Götterfräfte darftellt, indem er das 
Gemeine, was bloß endlih an ihr ift, im Läuterungsfeuer ber 
Phantafle ausfcheidet, Gott nicht verherrlihe, daß man nur ent» 
weber Gott, oder die Welt, entweder die Idee oder die Wirflich- 
feit, entweder die Natur in der heiteren Regung großer Kräfte 
oder die Uebernatur barftellen, entmeber nur artiftifcher Naturalift 
oder Supranaturalift fein könne: mer dies behauptet, ift ein Ma- 
nichäer, ein Künftlerpietift, ein Menſch, der nicht weiß, daß nicht 
Bloß unfere Theologie, fondern unfere ganze Bildung längft über 
das Dilemma ded Rationalismus und Supranaturalismus hinaus 
ift, ja er ift ein Menſch, der Feine wahre Religion bat. Denn 
wahre Frömmigkeit vertraut auf Gott, daß er bei und und mit 
uns, daß er ein Geift fei, der nicht in fich bleibt und fich nicht 
verliert, wenn er feinem Andern ſich ganz mittheilt. Meint ihr 
denn, das fei zufällig, daß wir einen Luther, einen Kant, Fichte, 
Schelling, Hegel, Strauß haben? Das könne in der Wiſſenſchaft 
eingefchlofien bleiben, ſei nicht Symptom und Sprache unferer 
Gefammtbildung, fliege nicht in fle zurüd und müſſe auch in der 
Kunſt durchbrechen? Ein großes Stück Gefchichte verläugnen, tft 
immer Wahnflnn. Verkenne nur dein Volk und was es geihan, 
den Blib des freien Gedankens auf feiner tiefgefurchten Stirne; 
geh nad Nom, um die ewig junge Antife zu verachten und das 
verwelkte Mittelalter zu verjüngen, laß dich von Rothftrumpf und 
Blauftrumpf mit abgeflandenem Weihwaſſer ſprengen: wir laffen 
die Todten ihre Todten begraben. 


195 


Unfere höchſte Aufgabe tft jetzt das fogenannte profan » hiſto⸗ 
riſche Gemälde nebft feiner Vorausſetzung, Vorſtudie oder wie 
man ed nennen mag, bem ebleren Genrebild. Mobert war Epoche 
machend. Menſchen in gewöhnlichen, Harmlofen Situationen, 
aber Menſchen niit der Anlage der Größe: diefer Bauernburfche 
an's Joch Hingelehnt zwifchen den gewaltigen Büffeln, es ift ein 
Cincinnatus in ihm verloren gegangen; diefe hohe Frau mit dem 
Kinde auf dem Erntewagen, fie könnte Rafael zu einer Madonna 
fiten. Es find Genregemälde im hiſtoriſchen, Hohen Style ges 
fühlt und componirt, ſchwanger mit Hiftorifhem Geiſte. Dan 
bringe ſolche Naturen in Handlung und wir haben das hiftorifche 
Gemälde. Anfänge find da, aber vereinzelt, noch, eine Blüthe, 
noch Fein Schwung. Auf den hiftorifchen Bildern der Düſſeldor⸗ 
fer Schule liegt noch bleierner Todesfchlummer; die Münchner 
find rüftiger, wiewohl fie mitunter etwas ſchwer an der gelehrten 
Garderobe des Mittelalters tragen; am meiften dramatiſche Spige, 
aber theatralifh wie immer, haben die Franzoſen. Doch es tft 
gut, daß wir nur erft den Wei gefunden haben. Das höhere 
Genre und das profanhiftorifhe Bild warteten eigentlich bis jeßt 
auf ihre Geburt, fie find von geftern. Anfänge fieht man im 
Mittelalter bei den DBenetianern, bei Rafael, früher ſchon bei den 
Slorentinern als Epifode, da einer heiligen Handlung eine Gruppe 
von Zufchauern, Bilonipfiguren aus der Gefchichte, dußerlich zu⸗ 
gegeben wurde, wie bei Mafaccio, Ghirlandajo, Cofimo Roſelli 
und Anderen. Uber die Zeit war noch nicht gefommen. Der 
geichtähtliche Geift Eonnte dem Mittelalter nicht aufgehen, bie ob» 
jective Betrachtung, die er verlangt, ſetzt alle Vermittlungen ber 
Kritik und ber freien Univerfalität voraus, die erft der moderne 

13 * 


196 


Geift auf fih zu nehmen vermochte. Aber melche Welt, welche 
ungehobenen Schäge liegen noch vor und! Nur Ein Gebiet von 
hunderten: die deutfche Gefchichte, die Hohenftaufen, die deutſche 
Heldenfage! Wem müſſen ſolche Stoffe nicht das Herz ſchwellen? 
Und da follte feine Verherrlichung Gottes fein? Es handelt fid 
bier im Grunde ganz einfach um eine logiſche Kategorie. Wer 
behauptet, Gott werde von der Kunft nur gefeiert, wenn er und 
fein überſinntiches Reich in greifbaren Geftalten über ver Erbe 
und miraculös in fie einbrechend dargeftellt werde, der behauptet, 
per Geift müffe neben dem Körper felbft wieder als Körper bes 
ftehen, das Ganze müſſe ſelbſt wieder ein Theil fein. „Pantheid- 
mus! ft der Menſch Gott?“ Nein! Gin Maler führe eine 
große geihichtliche Scene aus, worin eine allwaltende fittliche 
Macht fiegend oder zum Heldentode ſtärkend ihren Triumph feiert: 
fo ift feine der einzelnen Geftalten, welche die ganze Compofition 
eonftituiren, gleich Gott, aber das Gefammtprodurt der Handlung, 
zu dem fie zufammenmwirfen, und das unendlich größer ift, als 
jedes der mitwirfenden Subjecte ‚das ift — nicht Gott, aber ein 
Blatt aud dem Buche der Gottheit, ein Act aus der Gefchichte 
der Selbſtbawegung Gotted. Es giebt feinen Sprung zu Gott. 
Das Abfolute if nur Anfang, Mitte und Ende aller der Vers 
mittlungen, durch die es ſich offenbart; Gott wirft nur durch 
Organe. In Rafael's Schule von Athen ift Fein einzelner Philos 
joph die ganze Philofophie, fie geht als Geift durch das Ganze, 
iſt Princip und Facit aller Glieder dieſes hohen organiſchen Ge⸗ 
bildes. Aber in den Fresken Hermann's in dem Univerfltäts- 
bauje zu Bonn ift die Philoſophie und die Theologie neben bie 


197 


großen Männer, in denen fte fich wirklich verkörpert, als bie hohle 
und ſchattenhafte Figur einer Allegorie grobmaterialiftiich hingeſetzt. 
Doch endlich genug der allgemeinen Reſlexionen. Bei einem 
Kunftwerfe kommt e8 auf die Form an, e3 ift nicht philoſophiſch, 
fondern äſthetiſch zu richten, und mas philoſophiſch unwahr, muß 
in ihm al8 unſchön zur Erfcheinung Tommen. Overbeck trägt 
ſelbſt die Schuld, wenn wir mehr philoſophiſch, als äfthetifch zu 
Werke gingen, er hat einen Katechismus gemalt, er hat mit dem 
Pinfel eine Abhandlung gefchrieben, er visputirt mit der Palette, 
wir antworten mit der Feder. Uber nehmen wir's einmal äſthetiſch. 
Daß die zwei Theile des Bildes keine Einheit haben, mußten 
wir oben ausſprechen und Eönnen jebt hinzufeßen, daß fich der 
Meifter hiefür nicht auf die Werke der alten Schulen berufen 
darf. Sie entſchuldigt der Dualismus des Himmels und ber 
Erde, in welchem eine verflungene Weltanfhauung fich bemegte. 
Und doch wiſſen fle eine Einheit herzuftellen, die wir auf dieſem 
Bilde vergebens ſuchen. Durch wehmüthigen Aufblict glühenber 
Andacht find gewöhnlich die irdiſchen Perſonen auf die überirdi⸗ 
ſchen, durch freundliches Neigen nad) unten diefe auf jene bezogen, 
und in Rafael's disputa bildet der Nachtmalskelch, die himmli⸗ 
{hen Strahlen fammelnd, ein myftifches Verbindungsglied beider 
Welten. Nehmen wir nun beide Theile für fih und fehen zuerft 
nach dem oberen. Madonna thront, ein Feufches, reines, bezau- 
berndes Mädchen; das Kind, diefed mwenigftend nach unten geneigt, 
fieb, rührend, zum Küffen. Hier zeigt fich Overbeck's milder weib⸗ 
liher Genius in feinem Elemente. Overbeck's Styl ſucht befannt- 
lich die Mitte zwifchen Fieſole und Rafael; von diefem den Fluß 
und die Rundung, Breiheit der Geftalt, von jenem die keuſche 
j 4 


198 


Schuchternheit, bie felige Innigkeit, die Sabbathftille, den Meft 
typiſcher Gebundenheit und Herbe. Man möchte jagen, er fuche 
ben Rafael da zu ergreifen und feftzuhalten, wo gr in feiner flo⸗ 
rentinifchen, noch etwas firengen Periode ftand; aber Rafael hatte 
doch ſchon damals und von Anfang an mehr Männlichkeit und 
Sättigung, als Overbeck jemals erreichen kann und will. Sein 
Genius tft eine aufblühende Jungfrau, deren Knospe noch nicht 
ganz gebrochen tft, deren Formen verſchämt vor der Schwelle zur 
Mannbarkeit innehalten. Welch fchönen Anfang heiterer Entfal- 
tung nahm biefer Geift in den Fresken der Billa Mafftimi! Wie 
mild und Elar liegt der idylliſche Duft auf jenem lieblichen Bilde: 
bie Ankunft der. Erminia bei ven Hirten! Und welche Welt, wel- 
her Reichthum von edlen Stoffen lag diefem reinen Streben auf⸗ 
gethan! Aber ex befchlieht, dieſer ſchönen Welt Lebewohl zu fagen 
und fih in dumpfen Kapellen zu verriegeln. Es fel denn; wer 
durchaus Mönch oder Pfaffe werden will — mir können's ihm 
nicht vermehren. Daß nun in diefem eng beſchloſſenen Kreife das 
Ideal der Madonna es fei, wozu dieſe Hand am meiften Beruf 
bat, begreift fi; zwar nicht die ſtolze Königin der Himmel, wohl 
aber vie keuſche Magd des Herrn, die ſchamhaft über dem Ge⸗ 
beimniß ihrer Berufung finnende Braut, ift ganz eine Aufgabe 
für feine findliche Grazie. Ja, fle ift ſchön, diefe Madonna, biefe 
reine Taube fonder Galle. Und doch — es ift etwa darin, ich 
weiß nicht was, etwas Almanach, etwas Vielliebchen und Ver- 
gißmeinnicht. Es tft ein Zug, der in allen neueren Madonnen 
unverkennbar fit; man flieht ihnen eben eine Zeit an, mo es 
Stammbüder, viele Spiegel, Modejournale und Titelfupfer von 
Taſchenbüchern giebt. Wie fol es auch anders möglich fein! Wie 


199 
kann ein Menſch feine Zeit werliugnen! Die betende Mabonna 
von Heinrich Heß in der Allerheiligenkirche zu Muͤnchen ift ein 
wunderliebliches, frommes Bild, und boch aud fie hat denſelben 
Zug. Wir wiflen einmal, es giebt Feine menfchliche Jungfrau, 
die zugleich eine göttliche, keine Empfängniß, die zugleich außer 
dem Naturgefeb wäre. Mag der Einzelne es glauben, oder nicht: 
dies iſt gang gleichgiltig; es Hi in der Atmoſphäre, er ſchlürft 
dieſe Bildung in jedem Athemzuge mit ein. Nun ſoll aber den⸗ 
noch eine jungfräuliche Mutter dargeſtellt werden; wohlgemerkt 
nicht in dem rein ſittlichen Sinne, wonach die wahre Liebe das 
Sinnliche adelt, die wahre Frau ſtets keuſche Braut bleibt, ſondern 
im kirchlichen Sinne eines Mirakels, einer unbegreiflichen Exiſtenz. 
Dieſen Zwang gegen das Zeitbewußtſein, dieſe Abfichtlichkeit ſollte 
man dem Bilde nicht anfühlen? Nein, eure Madonnen find nicht 
Mabonnen der alten Kirche; fle haben in den Stunden ver An- 
dacht geleien, fle find in einer Penſion, in einer Töchterſchule 
aufgewachlen, ein Sährchen menigftens, ja fie trinken Thee, wenig, 
aber etwas. Dieſe hier hält ja gar eine Schreibfener in der Hand; 
gebt Acht, fie nimmt ein Blatt aus einem Album mit Rococo⸗ 
arabeöfen am Rande und fchreibt etwas aus Jean Paul darauf 
— nein, ſchönes Mädchen, ich glaube es nicht, Daß dies Kind Ihr 
Kind ift, Sie find zu ſittlich, auch hat der heilige Geiſt einen an⸗ 
dern Geſchmack, etwas derber*); einen Zimmeruann hätten Sie 


*) Die Bosheit hat unter Anderem diefe Etelle heraußgegriffen, um mir 
ſchaͤdlich zu ſeyn. Ich werde mich aber durch nichtd abfchreden laſſen, 
nach wie vor die Innere Frivolttät unmwärdiger Vorfiellungen von dem 
Soͤttlichen fchonungdlod an den Tag zu legen, 


200 


ſchwerlich geheirathet; vielmehr ein Seal son ‚einem fittlichen, 
höchſt mufterhaften jungen Mann, angeftellt etwa beim Kirchen- 
und Schulmeien, irgend einen Oberbofprediger, der Glockentöne 
gejchrieben hat — den würd’ ich Ihnen empfehlen. Aber wie 
frevle ih! Das Bild ift doch fo ſchön! Und ich habe doch Recht; 
eine Madonna ift für und eine Unmöglichkeit. Die alten Maler, 
ja bie Eonnten ed. Wie innig der Einzelne an ſie und den danzen 
Mythenumfang der Kirche glaubte, war dabei nicht wichtig; bie 
Borberung einer befondern Frömmigkeit an den Künftler ift in 
allen Zeiten lächerlich, und was Fiefole malen Eonnte, dankte er 
gewiß nicht den Gebeten und Thränen, mit denen er an die Staffes 
lei trat. Daß die Weihe der Stimmung nicht fehlen darf, verfteht 
fih, aber wie der praktiſch⸗menſchliche Charakter und die Innig⸗ 
keit dogmatiſcher Ueberzeugung damit zufammenhängen, inwieweit 
das Ideal feiner äfthetiihen Contemplation auch die Berfönlichkeit 
des Künftlers durchdrungen haben müffe, darüber muß man in 
feinen Behauptungen fehr vorfiditig zu Werke gehen, dent bie 
Frage ift gar nicht einfach. Von dem alten, firengen, kirchlichen 
Giotto hat man mandherlei Anekdoten, worin er eben nicht fehr 
lammfromm erfcheint; der andadhiglühende Perugino war, wenn 
man auch von Vaſari's Schilderung Manched abzieht, ein Mann, 
der die Güter des Lebens wohl zu ſchätzen wußte, und die Maler 
der reifen Periode ohnebied waren ſammt und ſonders Weltkin⸗ 
ber. Allein wie locker fte leben und denken mochten: die Princis 
pien, die Grundſtimmung des Katholicismus hatten fie mit ber 
Muttermilch eingefogen, wir Neueren aber, Katholif wie Pro- 
teftant, wir Kinder einer Zeit, mo es Bräde und Cravatten giebt, 
baben die entgegengefegte Stimmung in allen Nerven und bern, 


201: 


und jede Muͤhe iſt vergeblich, md auf dem Wege ber Ueberzeu⸗ 
gung, ber Dogmatif in jene zurüdzuverfeßen. Dahin kommt 
man sticht mit Dampffraft, es iſt aus und vorbel. 

Aber gejegt, man könnte; gefeßt, der reife, verftänbige Mayı 
fönnte noch einmal in alle naiven Illuſionen feiner Jugenb zurüd: 
ſollte er denn ſo unflug fein, daſſelbe in der Kunft zu verfuchen, 
wo er mit Meiftern rivalifiren muß, die all' den künſtlichen Um 
weg nicht nöthig, die Alles von felbft beifammen hatten, was eine 
höchſte Blüthe Eirchlicher Kunft bedingt? Können wir denn im 
beiten Salle mehr erreichen, als einen flüchtigen. Nachglanz, eine 
löbliche Reproduction deſſen, was fehöner und urfprünglicher ſchon 
bageweien? Wer ift denn fo thöriht und ſtellt fih ohne Noth 
in eine Kategorie, in welcher er unerreichbare Nebenbubler findet? 
Die religiöfe Kunft fei in ihrer Entwicklung unterbrochen worden 
und unvollendet geblieben, wir follen fle zur Reife bringen, meint 
Dverbeit (S. 14). Daß ich nicht wüßte. Das fünfzehnte und 
bef Anfang des fechzehnten Jahrhunderts, die florentiniſche, um⸗ 
briſche, mailändiſche Schule, Rafael als Gipfel von Allen, haben, 
was die Malerei irgend aus ber katholiſchen Welt ziehen Eonnte, 
bis auf den Grund heraudgezogen. Diefer Brunnen iſt auöge- 
ſchöpft. Julian's erneuerter Polytheismus Eonnte feinen Phidias 
und Polyklet mehr zeugen. Cornelius hatte leicht, die offenbaren 
Berftöße des M. Angelo gegen das Tirchliche Ideal in feinem 
füngften Gerichte zu verbeflern und zugleich alle8 Große dieſes 
gewaltigen Werks zu entlehnen. Es iſt eine ganz tüchtige Nach⸗ 
ahmung, aber verlorene Mühe, denn die Sache ift größer und 
ürfprünglicher ſchon dageweſen, und mas für jene Zeit recht und 


202 


gut war, biefe Lehre von ver Verdammniß, tft für und craß und 
zurüdftoßend. 

Die Heiligen, welche Maria umgeben, find in deniſelben ſchüch⸗ 
ternen, frommen Tone gehalten. Viel Schönes; wie trunfen an⸗ 
dahlig ber malende Lucas! Uber nichts, was trifft und packt, 
nichts Mächtiges. Die Männerköpfe David's und Salomo's er- 
innern an die herrlichen Geftalten auf Rafael's Theologie In dem 
oberen Halbkreiſe, aber die Schneide fehlt, fle find matt und zahm. 
Es {ft caftrirter Rafael: eine Manier, vie fich überhaupt jetzt bei 
unferen talentoolleren Vertretern ver veligiöfen Malerei zur kano⸗ 
niſchen auögebilvet zu haben fcheint. Es Liegt auch fo nahe. Ra⸗ 
fael hat das religiöfe Ideal zur vollen Schönhelt entfaltet, aber 
iſt auch ſchon in das Unheilige hinausgefhritten; fo entlehnen 
wir den Fluß und Schwung feiner Formen, beſchneiden ihn aber 
etwas, nehmen etwas Trockenheit und Timivität der älteren Schus 
Ien dazu, und wir befommen das Rechte. So hat man ever 
Rafael's hohe, männliche Zreiheit, noch die Eräftige typiſche 
Strenge ber Aelteren, ſondern jene eigene Neinlichkeit, Sauberfeit, 
Koftbarkeit, Gewiegtheit, der die Ecken der Männlichkeit. fehlen. 
Wie lieblich ſchoͤn find die Eompofitionen Heinle's (für Fresken 
in einer Kapelle, fie waren in der Frankfurter Kunftausftelling im 
April zu fehen), die fieben Seligfeiten der Bergpredigt darſtellend! 
Wie tief der Geift diefes Mannes ift, bewies auch eine Zeichnung, 
das Leben der heiligen Euphrofyne nad) der Art der alten Meifter 
- in fortlaufenden Scenen auf Einem Felde entfaltend, vol epifchen 
Gefühls, vol gemüthlicher Heimlichkeit im tiefen Ernſte. Aber 
wir können und in diefe fo iveellen Kormen, aus denen das Grobe 
ber Wirklichkeit hinweggetilgt, das fchroffe, volle Muskelleben, 


203 


das Feuer ber Maͤnnlichkeit in Schmiegfamfelt und Zaubenmilve 
aufgelöft it, nur Fünftlich Hineinfühlen. Es tft eine Stimmung, 
wie fie ein Mäpchen am Morgen ver Eonfirmation empfinden 
mag. Aber man wird Älter, e8 Eommen andere Tage, die Leiden⸗ 
haft, der Drang des Lebens, die Erfahrung, und jener erfte Thau 
der Sabbathgefühle kann fo nicht bleiben, nicht wiederkehren. 
Veberfehen wir nun den unteren Kreis, bie bunte Künftlebs 
gemeinde. Gegen die Anordnung der Gruppen haben wir ſchon 
Einige8 einwenden müflen, da von der Eunftgefchichtlichen Bedeu⸗ 
tung einzelner Meifter die Rede war. Es war eine höchſt ſchwie⸗ 
rige Aufgabe, Richtung und Geift der Einzelnen anfchaulich zu 
machen. Dennoch wären dem Maler ganz andere Mittel zu Ges 
Bote geftanden, hätte er nicht das Heilige, auf welches die Künftler 
in verfchiedenen Graben der Annäherung und Entfernung bezogen 
werben follten, in einen Raum über ihnen geftellt. Die flreng 
firchlichen Deeifter 3. B. wären durch Berfammlung bei einer Ka⸗ 
pelle, ein Madonnenbild, um das fie beichäftigt, durch Gruppirung 
um einen Altar gewiß in ihrem Streben deutlicher zu bezeichnen 
geweſen, als e8 bier der Fall iſt, obwohl ihre Vereinigung um 
Dante zu den glücklichen Gedanken des Werkes gehört. Doc 
find Fiefole, van End, Hemmlink von diefer Gruppe getrennt 
und ihr entſprechendes Beftreben ift durch gegenfeitige Begrüßung 
fehr mangelhaft angezeigt. Albrecht Dürer, deſſen größte Leiftungen 
doch auch in dem religiöfen Felde liegen, ift durch feine ungefähre 
Stellung in der Nähe der obern Schale der Fontaine gewiß 
fehr oberflächlich Harakterifirt und feine Gruppirung zu foldhen, 
die ihm durch gleiche Uebung der Kupferftecherei vermanbt find, 
ein ſehr äußerliches Motiv. Am beflimmteften ift das Beftreben 


204 


ber Bildhauer und ber Baumelfter zu erkennen, denn fie zeigen 
fi mit Gegenftänben ihrer Kunft befchäftigt, an denen zugleich 
der Geift ihrer Erfindung dur den Grundriß einer Bafilika 
u. ſ. m. ſich einfach hervorheben ließ. Die zwei Gruppen biefer Ich 
teren Künftler gehören au dem Rhythmus der Compoſition, der 
Kraft der Barbe nach zu den fchönften des Bildes. Wie ſchön iſt 
aamentlich die Gruppe um Pilgram, wie zierlich fitzt der junge 
Franzoſe, wie ernſt vertieft Eniet der junge Engländer! Das Co⸗ 
lorit übrigens feheint mir fehr ungleich, von den Fräftig brennen 
den venetianifchen Farben des Vorbergrundes Fein Uebergang zu 
DEF ploͤtzlich ſchon im Mittelgrunde eintretenden Abdämpfung ver 
Farbe durch die Luftperfpective, einem Freivigen und erbigen Tone, 
die Fleiſchfarbe in's Dlivenfarbe und Bleigraue fpielend. Do 
darüber wird fich erft entſchieden urtheilen lafien, wenn das Bild 
gefirnißt fein wird, die Farben haben eingefchlagen. Un Farbe 
wie Compoſition ift die landſchaftliche Ferne der Theil des Bil« 
des, woran man die ungeftörtefte Freude haben kann. Italiens 
Berge, Linien, Luft, himmliſche Bläue — wie hat der Künſtler 
den Geift diefer Landſchaft gefühlt! Und er kann ein folder Ze⸗ 
lot fein! 

Wir haben aber von einer Sauptfache noch nicht gefprochen, von 
den Charakteren im unteren Plane. Sie find, wie fich erwarten 
laͤßt, abgebämpft, abgeſchwächt. Es find keine Männer, fie find nicht 
jo keck, es zu fein, der dicke Himmel über ihnen drückt und laſtet 
auf fie herab, Anders blickt ein Mann, anders ftrogt ihm Mus«- 
Tel und Sehne von Krafigefühl, anders tritt or den Boden, 
anders beiwegt und wenbet er fich im Bewußtſein feines Herrſcher⸗ 
geiftes, ber Gottheit vol. Iſt dies Dante, der hier fpricht? Bes 


209 


geiftert,, eifrig erſcheint er, feine Gefldhtszäge find zu erkennen, 
aber er muß Frank geweſen fein, ſeit ich ihn das letzte Mat fah, 
er tft der zornige, grobe Dann nicht mehr, der die ſchreckliche 
Hölle gebichtet hat und einen Schmied in Florenz herumprügelte, 
weil .er feine Verſe fchlecht fang. Da fitt Mich. Angelo , tief 
finnend, wie er war, aber zahm, zahm ift er geworben, vom 
Fleiſch gefallen , fein Feuerauge eingefchlunmert, er nacht wohl 
fein Teftanıent? Albrecht Dürer, mer den hier anfleht, der ver« 
gefle nur vorher dad Bild des deutſchen Kernmannes in München, 
den ernften, reblichen, feft auf fich ruhenven, tief In fich weben⸗ 
den und doch Flar und beftimmt aus dem Bilde herausblickenden 
wunderfchönen Männerkopf im Walde der nußbraunen Locken. 
Auch dieſe erfenne ich nicht wieder , fie haben fo ſtark in’8 Rothe 
gefärbt — und wie? Bemerfen Sie denn au? Der Mann 
ſchielt ja, recht eigentlich fehielen thut er, was man fo ſchielen 
nennt. Wie iſt es aber möglih? Iſt der Pinfel ausgeruticht ? 
Oder — doch halt, ich hab's, es füllt mir mie Schuppen vom 
Auge, dahinter ift etwas, ein Sinn, ein Gedanke, eine Idee 
— es tft eine Allegorie. Albrecht Dürer hat Weltliches und 
Geiſtliches gemalt, war ein ernfter Mann zugleich und ein heiterer 
Batron: das eine Auge fleht nach der Kirche zu feiner Linken, 
dad andere vor fich in die Welt. So wird es fich verhalten, man 
muß nur nicht oberflächlich betrachten, die Kunft hat tiefere Ab⸗ 
fihten, Ideen. Da flieht Peter Viſcher's Kopf heraus neben 
Nicola Pifano, recht finnig, andächtig, der breite knochige Kopf 
recht ſauber beſchnitten und rebucirt, der volle Bart geftußt, ber 
Herkulesnacken gefehmälert — nein, ehrlicher Rothgießermeiſter, 
fo Haft du felbft dich nicht abgebildet in deinem Sebaldusgrab! 


206 


Das iſt nicht der flänmige beutfhe Mann, wie er, Sammer und 
Meißel in ver Kauft, das Schurzfell umgethan, breitſchultrig, 
ehrenfeſt unter dem zierlichen ehernen Bogen fteht! 

Aber was fol dad Alles! Wir vergeffen ja, daß wir ein 
religiöſes, ein chriſtliches Gemälde vor uns haben; im Kaufe 
des Herrn muß man leife und demüthig auftreten, und du, lieber 
Kunftjünger, „magſt zum Schluß als Hauptfumme feflhalten, 
daß die Künfte nur dann der Menſchheit Heil bringen, wenn fie, 
den Eugen Iungfrauen gleich, mit brennenden Lampen des Glau⸗ 
bend und der Gottesfurht, in holder Demuth und Keufchheit 
dem himmliſchen Bräutigam entgegengehen, daß file nur als folche 
wahre Simmelstöchter find, nur als folche deiner Liebe wahr⸗ 
haft würdig. Auch dürfen fie nur als folche den Segen von oben, 
ohne den Fein Gedeihen denkbar tft, fich verfprechen; denn un 
snöglih kann Gott ein Bemühen fegnen, das nicht in Seiner 
Furcht gegründet iſt. Ihm fei denn Ehre, und Preis dargebracht 
durch unfrer Hände Werk, in jeinem Tempel, das ift in feiner 
Kirche hier auf Erden, damit wir einft in Ewigkeit ihn Toben 
mögen mit feinen Engeln und ausermählten Heiligen im Simmel. 
Amen!’ 

Amen. Ih gehe hinein zu den Gypsabgüſſen, zum Torſo 
des Ilyſſus, ich will mir feine gewaltigen beibnifchen Arme und 
Schenkel anjehen und mir wird befier werben. 


207 


Die Agquarell-Copien von Hambour in der Gallerie 
zu Düſſeldorf. 


(Deutfche Jahrb. für Wiſſenſchaft u. Kunſt, Jahrg. 184°. Mr. 138 ff.) 





1. Einleitende Betradhtungen über den Zuftand 
der jegigen Malerei. 


Daß in Deutfhland (und in Frankreich, feit e8 von ber deut⸗ 
ſchen Romantik ergriffen worden ift) die Malerei neuerdings einen 
Aufſchwung genommen habe, ver und beredtigt, von einer 
modernen Epoche diefer Kunft zu reden, ift eine anerfannte Sache. 
Aber es ift ſchwer zu beftimmen, in welchem Stadium fie fi jegt 
befinde, ob noch in dem der Lehrjahre oder fchon im Mebergang 
zu den Meifterjahren. Baft könnte man geneigt fein, zu fagen, 
fie jet vor der Zeit aus der Schule gelaufen, habe fich die Mei- 
ſterſchaft angemaßt, unglüclicherweife haben die erften Proben 
Glück gemacht, und nachher Habe fich doch gezeigt, daß der Meifter 
noch nicht genug gelernt gehabt habe; fie gleiche frühreifen, alt= 
klugen Kindern und greifenhaften Jünglingen, wie fie unfre Zeit 
bervorbringt, und fie folle nur erft zufehen, daß fie wieder von 
vorne jung werde, um dann erft mit Ehren zu altern. Zugeben 
muß man gewiß, daß der Schwung, das Leben, das man hoffen 
durfte, als Karſtens, Wächter, Schill, als fpäter die Roman 


208 


tiker Overbeck, Schnorr, Veit, Cornelius, Schadow wit ihren 
eriten Werken bervortraten,, fich immer noch nicht einftellen will 
und bereitö fo Yang auf fih hat warten laſſen, daß ein Klein 
müthiger alle Hoffnungen aufgeben könnte. Zerſtreutes Talent 
zwifchen aufgefpreizter Unfähigkeit, zerfplitterte Bortrefflichkeit 
ziwifchen unendlich vielem Halben, Schiefen, Armfeligen ; unend⸗ 
liche Vielheit, deren Vereinzelung kein innres Band zuſammen⸗ 
halt, Feine Einheit in der Mannigfaltigkeit, kurz nichts Gemein⸗ 
fames, Fein großer Zug, der bei, aller Selbftändigfeit der Einzelnen 
alle durch Nationalität und Geift der Zeit verbundnen Kräfte nad 
Einem Geſetze gleichmäßig mit fich fortriffe, und ebendaher Feine 
Gemeinſamkeit zwiſchen den Sünftlern und dem Wolfe, oder ums 
"gekehrt, wie man will. Der Urjachen dieſer Stockung giebt e8 
eben fo viele, als unfre Zeit Eigenfchaften Hat; wo man fie irgend 
anfafjen mag, fo ftößt man auf ein Hinderniß der Kunft, und 
gerade da am melften, wo der Unkundige nach dem Nugenjcheine 
die meifte Pflege finden wird. Wer fte alle aufzählen wollte, der 
müßte ein großes Gemälde der Zeitgebrechen entwerfen, und ber 
Genfor würde mit den Schwamm zur Seite ftehen und dafür 
forgen, daß der Pinfel nicht allzu kühn merde. 

Faſſen wir, flatt und auf dieſes bedenkliche Unternehmen ein» 
zulaffen, nur den reinen Tihatbeftand ind Auge und nennen die 
offenbaren Hauptübel, an welchen eine in ihren erften Auftreten 
fo friſche Jugend krankt. Wir fehen zuerft nad) ven Stoffen der 
Kunft und decken die Wurzel des Siechthums auf, die allges 
meine unendliche Unſicherheit in der Wahlder 6 
genſtände. Wo irgend in der Vergangenheit ein großes Kunſt⸗ 
leben blůhte, da ſchöpften alle höhern Zweige der einzelnen Künfte 


209 


aus Einer, ein- für allemal gegebnen, gemeinfamen Duelle von 
Stoffen, und diefe Quelle war nichts Andres, als die Subſtanz 
des Bolfögeifted. Die Kunft ftelte dar, was in Aller Herzen 
gegenwärtig Iebte, worin jedes DBemußtfein den Kern alles Da- 
ſeins fand. Die Kunft traf im Volfögeifte und dieſer traf In ber 
Kunft fich felbft wiener an. Der Grieche bildete Götter und Heroen, 
und was waren biefe Andres, als die verflärte Phantaftegeftalt 
der fittlichen und finnlichen Kräfte feines Volkes? Der Italiener, 
der Deutfche im Mittelalter bildete und malte die Geftalten bes 
chriſtlichen Mythus, und mas war diefer Andres, old das ma⸗ 
gijche Spiegelbild des Gemüths, dem feine innre, noch verfchloßne 
und weltlich nicht durchgebildete Unendlichkeit aufgegangen war? 
Die Zeit der Rückkehr zu antifen Gegenftänden und Tormen fuchte 
in der .heitern Sinnlichkeit der alten Babelwelt ein entſprechendes 
Gegenbild für den frifhen Weltfinn, das Behagen im Dafein, 
das bie Völker fühlten, als fie fo eben dem Geift einer finftern 
Asceſe entwachſen waren, und fo fubjectiv und unhiftorifch au 
im 16. und 17. Jahrhundert das Alterthum zubereitet und zus 
geichnitten wurde, e8 war doch ungleich mehr innres Verſtändniß, 
Wärme ded Gemeingefühls mit diefer verſchwundnen Tachenden 
Melt vorhanden, als in unferem gelehrten und freudlofen Jahre 
hundert, fo wie die Schaufpieler auf Shafefpeare'd Bühne bie 
alten Helden in Federhut und Pumphoſen gewiß viel antifer Spiels 
ten, als die unfern in ihrer archäologifchen Garderobe. Wo aber 
diefe Zeit den bereits ausgelebten hriftlichen Mythus noch aus⸗ 
zubeuten fortfuhr, beftrafte fich dieſer Widerſpruch mit der Ge⸗ 
genwart und dem Bewußtſein des Jahrhunderts alsbald durch 
eine entftellende Cinmifchung der weltlichen Stimmung in ben 

ritiſche Gänge. 14 


2.10 


geiſtlichen Stoff, durch den Ausdruck ber Ueppigkeit und Empfinb- 
ſamkeit. Aber auch der antike Stoff biieb freilich Immer ein ge⸗ 
bötgter, da doch ein⸗ für allemal Zeit und Volk in der Kunft mit 
vollem Recht ſich ſelbſt ausgeprägt fehen will. Die Kunft verließ 
ihre Stelle, rückte nach dem Norden, und zum erften Mal trat 
die nächfte, unmittelbare Wirklichkeit mit der Behauptung bes 
vollen Anſpruchs auf eine Stelle unter den Kunftfloffen auf. Der 
Niederlaͤnder malte derbe Volksluſt und behagliches Bürgerleben, 
und was war das Andres, als das Ebenbild des tüchtigen, wohl⸗ 
beſtellten und bequemen Daſeins ſeiner Nation? Der Franzoſe 
der Revolutionszeit ging ins claſſiſche Alterthum zurück und malte 
römiſche Helden; theatraliſch gnug, aber der revolutionäre Wille 
traf ſich und ſeinen ſtraffen Entſchluß in dieſer Kunſt wieder an. 
Alſo immer und überall, wo Kunſtleben war, hatte es ſeine 
Wurzel im Bewußtſein der Nation, und nahm daraus ſeine Stoffe. 

Nun, und was malen denn wir? Wir malen Alles und 
noch einiges Andre. Wir malen Götter und Mabonnen, Heroen 
und Bauern, fo wie wir griechiſch, byzantiniſch, mauriſch, go⸗ 
thiſch, florentiniſch, & la renaissance, Rococo bauen und nur 
in keinem Styl, der unfer wäre. Wir malen, was der Welt 
Brief ausweift; wir find der Herr Meberall und Nirgends. Da 
it feine Mitte, Teine Hauptgattung, fein Hauptgericht zwiſchen 
al ven Zuſpeiſen, Süßigkeiten, Zuckerbäckereien, ımter denen 
die Tafel ſeufzt. Reflectirend und wählen fteht jet der Künſtler 
über allen Stoffen, bie jemals vorhanden waren, und flieht den 
Wald vor Biumen nicht. Dies iſt das bedenkliche Prognoſtikon 
mnirer modernen Kunſt. Niemals fragte man in einer ſchwung⸗ 
vollen Periode der Kunft, was dena barzuftellen fi? Das war 


211 


ein» für allemal ausgemacht, man wußte es nicht anders, es 
war durch das gemeinfame Bewußtſein bed Volles und der Künft- 
ler gegeben, und dieſer durfte nur in den gegebnen Reichthum 
bineingreifen. Unfre Kunft ift entwurzelt, fie flattert bodenlos 
in den Lüften, weil fie nicht eine abfolut gegebne Welt von Stofs 
fen mit der Subflanz des Volksbewußtſeins gemein bat; fie if 
heimathlos, ein Bagabund , ver Alles kennt und koſtet und dem 
es mit Nichts Ernft iſt, unſre Kunſt iſt der Verſtorbene, ver 
Semilaſſo, der Vergnügling, kurz der Fürſt Pückler⸗Muskau. 
Huͤten wir und wohl, ihr allein die Schuld davon beizumeſ⸗ 
fen ; böte nur die Zeit ein fruchtbares Erdreich, fle könnte und 
müßte Wurzel ſchlagen. In ber Zeit felbft liegt das Liebel. Ich 
fafle es in der Mitte und ſage: unfre Zeit hat feine Gegenwart, 
ſondern nur eine Vergangenheit und eine Zukunft. Wir ringen 
nah neuen Lebensformen; find fie erfi da, fo wird bie 
Kunft ihren Stoff haben. Denn, fo Gott will, fo werben es 
Sormen fein, worin bie abfoluten Bedingungen aller Kunſtdar⸗ 
ftellung, Charakter, Individualität, Natur ſich wieder regen dürfen. 
Es wird wieder Helden geben, und fie werben hoffentlich Keinen 
Frack, Feine Eravatte tragen; es wird Gelehrte und Beamte 
geben , die zugleih Männer fein und nicht auf zehn Schritte nach 
Acten» und Schulftaub riechen werben; ed wird Menſchen geben, 
die lachen und fingen und tanzen und denen man nicht in jedem 
Zug anfieht, daß Hinter der nächften Ecke ein Polizeiviener ſteht. 
Aber gut Ding will gut Weil. Da nun bie alten Stoffe audge- 
lebt, neue aber noch nicht gegeben find, die Kunſt jedoch inzwi⸗ 
fen die Hände verlangend ſchon ausſtreckt, was ſoll fie denn 
in biefer kritiſchen Zwiſchenzeit thun ? Die Hände in ben Schooß 
14 * 


212 


legen Fann fie und foll fie nicht. Alſo herumtüpfeln an 2.9. 3., 
herumnaſchen an allen dagemefenen Stoffen und in Teinem zu 
Haufe fein? Das fcheint die traurige Confequenz. Uber laßt 
uns ſehen, ob denn wirflich nichts Anderes bleibt. - 

‚ Sat denn wirflih unfre Zeit feine Subftang, unfer Bewußt⸗ 
fein keine Heimath, unfer Wille fein Pathos? Wohl, er bat es; 
aber es iſt ein Pathos der Zukunft. Wir find nicht tobt, aber 
wir find eingepuppt, did eingefponnen, und wir fangen an, und 
zu regen, um audzufchlüpfen. Died ift nun freilih für den 
Künftler ein fehlechter Troſt; Fünftige Thaten kann er nicht malen 
und gegenwärtige giebt es nicht. Indeſſen halten ſich diefenigen, 
die noch fo viel gefunden Tact haben, abgelebte Stoffe von der 
Hand zu weiſen, in dem ehrenwerthen aber untergeorbneten 
Zweige der Genre⸗Malerei an die Nechte alter volksthümlicher 
Zuftände, deren fehöne, aber den Untergang geweihte Unmittel⸗ 
barkeit der Kunſt noch einige Waſſertropfen auf die zur Scherbe 
verlechzte Zunge gießt; ſie ſuchen die Völker auf, deren naive 
Sitte und Tracht noch nicht von der alle Welt beleckenden Cultur 
ereilt iſt. Allein es wird nicht lange dauern, ſo wird das Alles 
weggemalt ſein; ich ſage: weggemalt, denn dieſe naiven Zuſtände 
ſind, ſo hörte ich es von einem Düſſeldorfer Freunde treffend aus⸗ 
drücken, wie die Unſchuld: der Moment ihrer Entdeckung iſt ihr 
Ende. Wird ſich erſt das ſittliche Leben der Menſchheit eine neue 
Geſtalt gegeben haben, ſo wird mit dieſer auch eine würdigere, 
dem Maler willkommne äußere Erfcheinung gegeben fein, und 
biefe wird dauern, wird Stand halten. Wir können 3. B. in 
der Tracht, die ja hier.ein fo weſentliches Moment ift, drei For- 
men ober Stadien unterfcheiden. Die erſte Form iſt die Volfö- 


213 


trat. Sie tft, wie das Volkslied, inftinftmäßig entftanden und 
wird inftinftmäßig feftgehalten. Das Anftinftleben des Geiſtes 
Hält aber gegen bie eindringende Bildung und bie koketten Reize 
ihrer würbelojen Tracht niemal8 Stand, fo wenig ald die Jugendr 
träume gegen die Erfahrung; und wenn man Blut weinen möchte 
beim Anblick des Palikaren, der zum Fehs, zur goldgeſtickten 
Jade, zum Gürtel vol Foftbarer Waffen, zur Zuftanella einen 
Regenſchirm, Halsbinde und Glacéhandſchuhe trägt: es Hilft 
Alles nichts. Das geht Alles weg, wie die Frühlingsblüthe. Die 
zweite Sauptform ift die Mode; fie entfpricht dem Standpunkte 
ber Reflexion, des verfländigen Denkens, und iſt daraus hervor» 
gegangen; fie ift phantaſielos, eitel, vor dem Spiegel erfunden, 
durchaus bewußt und berechnet, nivellivend gegen alle Völker⸗ 
Indivinualitäten gemäß der abftracten Verftandeöfategorie der Als 
gemeinheit, und endlich abfolut veränderlich, denn die Neflerion 
ift wefentlih unruhig, zupft und nörfelt immer und will ſtets 
auf Neue zeigen, daß fie die bewußte und abſichtsvoll mählende 
Schöpferin ihrer Formen ift. Aber der dritte Standpunkt, der 
nicht ausbleiben kann, iſt der der Idee oder des vernünftigen 
Denkens, d. 5. der Haren Einficht in die der organiſchen Form 
und ihrem hoben Adel, zugleich aber ven Elinatifchen und natio= 
nalen Bedingungen wahrhaft entfprechende Form, in welcher bie 
Natürlichkeit der Volkstracht fich durch die Vermittlung der Kunſt 
in höherer Weife wiederherftellt. Die Natur wird aus dem Bes 
wußtfein, in daß fle eingefunfen ift, wieder hervorgehen und mit 
Bemußtfein feftgehalten werben; der Gang tft, wie in aller Bil« 
dung, der Vortfchritt von der Funftlofen Natur zu der naturlofen 
Kunft und dann bie Rückkehr zu einer Natur, welche zugleich 


214 

Kunſt iſt. Shen fo wirb es fih im Staate, in ber Sitte ver⸗ 
‚halten. — Da num jene Stoffe in die Länge nicht vorhalten, fo 
bleibt als weiterer Boden, auf dem der Künftler in Erwartung 
beßrer Zeiten fich einſtweilen anftebelt, die Landſchaft, die Thier⸗ 
welt. Wie meit die Cultur auch) gegen biefe Gebiete ihre Marken 
vorfhieben mag, ganz find fie nicht zu zerſtören. Die ewige 
Sonne wenigſtens kann man und nicht nehmen, die Luft nicht 
cenfiren, den Bäumen und Wellen ihre polizehviprigen geheimen 
Geſpräche nicht unterfagen, die Vögel des Himmels nicht nume⸗ 
riren und nad Sibirien ſchicken. Allein auch dies iſt zwar ein 
. fehr ehrenwerther, aber doch immer ein untergeordnneter Zweig 
der Kunſt; fie will einen ſchlechtweg bedeutenden Stoff, eine Haupt⸗ 
. gattung ald Mitte und Halt für ihre Seitenrichtungen, einen 
Stamm für ihre Hefte. 

Was bleibt denn aber, wenn das Alles noch. Feinen hin⸗ 
reichenden Inhalt giebt? Das bleibt, woraus bie Zeit felbft ihre 
großen Lehren für die Zukunft nimmt; der unendliche Stoff bleibt, 
aus dem bie werbeluftige Zeit die Kraft zu neuem Leben fchöpft: 
die Vergangenheit, die Gefhichte. Wir wollen wieder Gefchichte 
haben, und darum ift die Gefchichte, die da war, unfere Nahrung. 
Für Niemand mehr ald für die Deutfchen gilt e8, daß ihr Grund⸗ 
mangel und Erbfehler ihr ungeſchichtlicher Charakter iſt. Wir 
innerliche3 und tranfcendentes Volk haben es bisher noch nicht 
verftanden, Erfahrungen zu machen; wir maren überall und 
nirgends zu Kaufe, wir fahen nad den Vögeln, indem man 
und den Stuhl unter dem Leibe megzog. Endlich fangen ung bie 
Augen an aufzugehen, mir fludieren Gefchichte. Das heißt nicht: 
wir ſtudieren, wann man in England die Wölfe auärottete, ober 


215 

wie viele Seelen das Hausruckviertel zählt; nein, es Heißt: wir 
leben und in bie großen kritiſchen Momente ver Geſchichte ein, in 
die Slanzblide, wo bie bewegende Seele des Voͤlkerlebens auf die 
Dberfläe hervortauchte; es heißt: wir faſſen jede Wiſſenſchaft, 
und bie abftraftefte, vie Pbilofophie, zuerft, im weltgeſchichtlichen 
Sinne und holen ihre verfäunte Anſchließung and Leben nad. 
Dies iſt unfer Pathos, dies die Stelle, wo und die Gottheit 
erſcheint. So thue denn die Kunft deßgleichen; fie male immer⸗ 
bin Sötter, aber unfere Bötter, die Geifter der Geſchichte, und 
fie wird nicht Talte Bewunderung weniger gelehiten Kenner, nicht 
den unreinen Beifall weniger Zeloten des Mittelalters zum Danfe 
haben, jonbern fie wird die Herzen ihres Volks erjchüttern, fie 
wird fein Fremdling mehr jein, fonbern ihre Heimath haben, wo 
das gegenwärtige Bewußtſein ver Menfchheit fie hat, | 

Ih Habe in diefen Blättern ſchon mehr als einmal, jedoch In 
anderm Zufammenhange, auf dieſe höchſte Aufgabe der jetzigen 
Kunft Hingewiefen. Deine frühere Entwiclung ging vom meta 
phyſiſchen Standpunkte aus; fie unterfuchte, ob der Moler, wie 
unfre neu⸗katholiſchen Nomantifer wollen, auf dem Stanppunfte 
ber Trandcendenz ftehen folle, und behauptete mit Nachdruck den 
der Immanenz; d. b. fie verlangte, daß und der Maler den Bott, - 
ber wahrhaft gegenwärtig in der Geſchichte und ihrem unzerreiß⸗ 
baren Zufammenhang ſich ofienbart, nit den Gott, der in Mi⸗ 
rafeln von außen hereingreift, zur Erſcheinung bringen ſolle. 
Darum handelt es fih, wenn man bie Propheten, die Engel, 
den ewigen Juden in Kaulbach's Zerftörung Jeruſalems tabelt, 
nicht um den Gegenfaß zwiſchen hiſtoriſcher Richtigkeit und zwiſchen 
Poeſie, wis ein Berishterftatter über dieſes Gemälde in ber Beil. 


216 


3. Allg. Zeitung (März 1842, Nr. 64.) meint. Ich ergänze aber 
jest meine frühern Bemerkungen durch die Berufung auf das 
Berhältnig der Kunſt zum Leben, zum nationalen Bemußtfein. 
Weil der Standpunkt der Tranſcendenz, wie ich früher nachwies, 
an fich ein falfcher tft, fo haben wir ihn verlafien, und weil wir 
ihn verlaften haben, fo rührt und der Künftler nicht, der ten 
göttlichen Geift der Gefchichte nicht in der Gefchichte felbft darſtellt, 
fondern herauszieht und neben fie hinklext. In der That kann 
dieſes Werk Kaulbach's den beften Bemeis davon abgeben, wie 
unfere Künftler noch Keinen feften Boden haben. Kaulbach wählt 
mit dem Tacte des Genies dieſen erhabenen Stoff, als fühlte er 
bie Beftimmung in fi, der Malerei ihren neuen, allein wahren 
Meg zu weifen, und in der Ausführung verbirbt er ihn, indem 
er den ungeheuren gefchichtlichen Geift, der fo mit Flammenſchrift 
in ihm leuchtet, daß es wahrlich Feiner mythiichen Nachhilfe zu 
feiner höhern Deutung braucht, in viflonärer und legenbenhafter 
Weiſe auffaßt. Ueberhaupt wie wenig haben unfere Künftler 
noch die Aufgabe der neuen Kunft begriffen! Welche ungehobenen 
Schätze liegen in der Zeit der Völkerwanderung, im Mittelalter, 
in jenem Kampfe feiner mit fid) entzweiten Seele, des Kaifer- 
thums und Papftthums, in der Neformationdzeit und noch im 
breißigjährigen Kriege! Es tft in der Poeſie, wie in der Malerei; 
uns fehlt noch das hiſtoriſche Drama. Goethe betrat im Götz die 
Bahn, aber fein weicher und meiblicher Geift nöthigte ihn auf 
andere Wege; Schiller bemädhtigte fich der großen Aufgabe, keine 
Poeſte hat noch die Nation fo ergriffen, wie fein Meiſterſtück, ver 
Wallenftein, fein Schmanengefang, der Tell; aber der Tod rief 
ihn ab. Auf diefem Wege und keinem andern blühen neue Rote 


217 


beeren, wir warten noch auf unfern Shakeſpeare. So fieht man 
auch in der Malerei Anfänge und dann verſchwindet der Baden 
wieder. Cornelius tft nicht auf der Bahn fortgegangen, die er 
in feinen herrlichen Zeichnungen zum Nibelungenliede betreten 
hatte: Die deutfche Heldenfage nimmt unter den Acht gefchichtlichen 
Aufgaben, die unferer jegigen Malerei geſetzt find, einen der erften 
PBläge ein. Ich werde Gelegenheit finden, ein andermal dieſe Behaups 
tung zu begründen, und e8 wird mir leicht fein, den Einwurf zu 
beantworten, wie ich gegen mythiſche Stoffe mich fo eifrig erflären 
und doch diefen jo nachprüdlih empfehlen könne. Wer bie 
Nibelungen und Gudrun Fennt, wird mich zum Voraus verftehen. 
Nachher ift Cornelius Mythenmaler geworben und je mehr er 
ſelbſt innerhalb diefer Sphäre, in ber Zerflörung Troja's beſon⸗ 
ders (die freilich ald ein Moment der griechifchen Heldenfage, 
werin er die außerweltlichen Perfonen aus dem Spiele laſſen 
fonnte, unter die glücklicher gewählten Stoffe gehört) fein mäch⸗ 
tiges und gefundes Talent bewiefen hat, defto mehr tft zu bedauern, 
daß er feinen wahren Beruf nicht zu erfafien wußte. Welche 
Kräfte find an fein füngftes Gericht verſchwendet! Ja verſchwen⸗ 
bet, denn welchen Genuß kann mir ein Kunftiwerk gewähren, das 
mir bie crafie Dogmatik verſchwundener dunkler Jahrhunderte 
auforingt, und mir erft, nachdem ich mit allen Kräften über die 
Empörung gegen den rohen Stoff Deeifter geworden bin, eine ab⸗ 
firact formelle Bewunderung des Geleifteten erlaubt? Lind dagegen 
beruft fich der Dialer doch nicht gar auf Mich. Angelo? Wie ſon⸗ 
verbar! Mich. Angelo malte den Etoff, den damals alle Welt 
glaubte, bei deſſen Vorſtellung jedem Zeitgenoſſen dad Blut in 
den Adern gerann, und Cornelius malt benfelden Stoff dem 


218 


kritiſchen neunzehnten Jahrhundert. Da ſtht es ja eben, unb bier 
muß deutlicher als irgendwo Sinn und Wahrheit meiner Behaup⸗ 
tung in bie Augen fpringen. Sehr muß ich bedauern, daß ich bie 
Fresken des wadern Schnorr In ber Mefldenz zu Münden nicht 
anders, als flüchtig geiehen Gabe, da ich mit dem Volksſchwarm 
durchgejagt wurde, wie es in biefer höflichen Stabt zu geichehen 
pflegt. Schnorr bat fih ganz in dem Felde niedergelafien, das 
der neuen Kunſt eins für allemal angemiefen ift, in der Helden⸗ 
fage und Gefchichte des Vaterlandes Peter Heß bewegt ſich in 
ber neuern Kriegsgeſchichte; ein Stoff, der jedoch mit richtigen . 
Tacte, wie gefchichtlich bedeutend auch der einzelne Gegenſtand fein 
mag, zum Genre gerechnet wird, well es der mobernen Form 
ber Kriegsführung an aller Eimftlerifchen Idealität mangelt; man 
betrachte 3. B. das Meiftermerf der Schlachtmalerei, die Meran 
derfchlacht in Pompeſi; man fehe, wie hier die Spige ber Ent⸗ 
ſcheidung im unmittelbaren Zufammenftoß der beiden königlichen 
Führer ſich zufammenbrängt; man ermäge dann, wie durch bie 
jegige Mechaniſirung des Kriegs dem Feldherrn nur die Intelligenz, 
nicht die finnlihe Mitthätigkeit, died in aller Kunft wefentliche 
Moment, zufält: jo wird man ſich einleuchtend überzeugen, wis 
Bieled dem modernen Schlahtbild zum hiſtoriſchen Gemälde fehlt, 
Im Allgemeinen erfcheint die Münchner Schule gegenüber der 
Düffelvorfer gemäß dem ſüdlichen Charakter unbefangner, derber, 
faftiger, energifher. Die Düffeldorfer zeigten von Anfang an 
feine geringe Gabe von Sentimentalität und die entſprechende 
Neigung, ihre Stoffe beim lyriſchen Dichter zu holen, einem 
muſikaliſchen Rlang bes Gefühle zur breiten braftiichen Ausführung 
bed hiſtoriſchen Gemälbes auszupreffen: eine ächt moberne Er⸗ 


219 


fdeinung und nur in einer fo aller feften Baſis beraubten Kunft⸗ 
yeriode möglich. Die Sentimentalität laͤßt fi nicht gern mit dem 
Leben ein, das Getünmel der Welt dunkt ihr unebel, bie Flucht 
aus derſelben, die Zuflände des in fich brütenden Gefühls, bie 
Stille der Ginfamkelt, der Ton handlungsloſer Ruhe erſcheinen 
"in ihr idealer. Diefe abftracte Itealität bedarf zu ihrer Ergänzung 
ber einfeitigen Realität; Naturalismus und Komik find durch bie 
fentimentale Stimmung als ihr Gegenſatz ſchon an ſich geforbert, 
wie in ber Poeſie Bei I. Paul. Daher ſteht Schröder biefer 
Schule fo wohl an; wenn man nur nit — ohne feine Schuld 
— auch ihm anfühlen würbe, daß wir in einer Seit leben, wel⸗ 
der Spaß und Lachen nicht recht von ber Leber geht. Bender 
mann ſcheint geneigt zu fein, in jenem binfterbenden Schlummer- 
leben ber Wehmuth zu beharren Auf eine höchft erfreuliche Weiſe 
bat Zeffing angefangen, aus der thatenlofen, trauernten Innere 
lichkeit fich herauszuarbeiten, dad Epos der Geſchichte aufzufchlagen 
und Thaten der Männer darzuftellen. Zwar in feinen Ezzelino 
kann ich mich nicht ganz finden; der Stoff tft am Ente doch zu 
obfeur, um mit folhem Aufmande behandelt zu werben, aud 
. will mir der Tyrann mehr foldatenmäßig als heroifch vorkommen, 
was ihm bei aller Wildheit doch nicht fehlen follte. Bine ganz 
glückliche und zeitgemäße Wahl aber ift fein Huß vor ber konſtan⸗ 
zer Derfammlung. Ih wünſche ihm Glück zu neuem Bahnen, 
und wenn erft feine volle Kraft in diefer Richtung ſich ergießt, fo 
wird fich auch feine übrigens fo meifterhafte Landſchaft von einem 
höchſt flörenden Zufage reinigen, ber gerabezu als Verirrung 
eines noch unreifen Triebs in ein fremdartiges Gebiet, eine Ab⸗ 
lagerung am falfchen Orte, als eine hiſtoriſche Gicht bes Lands 


220 


ſchafimalers anzufehen iſt. Ich meine ſeine novellenartigen Staf⸗ 
fagen. Als ſchlagendſtes Beiſpiel Hievon kann uns fein treifliches 
Waldſtück mit der uralten Eiche dienen, unter dem Namen „bie 
taufendfährige Eiche“ bekannt, in Frankfurt in Privathänden ber 
findlich. Eine tiefe Waldſchlucht im Gebirge, an jähem Abſturz 
zwifchen zerflüftetem, von wuchernden Waldkräutern bedecktem, 
von einer Duelle burchriefeltem Geſtein ſteht eine uralte Eiche 
zwiſchen ſtämmigen hohen Buchen und veriehlingt Die weit aus⸗ 
greifenden Enorrigen Hefte mit diefen zu einem dichten Laubdach, 
durch das kaum ein Blick des Himmels dringt. Durd) die Stänme 
verliert fich der Blick in ver tiefen Bläue des fernen walbigen 
Grundes. Kine unendlihe Wald- Einfamkfeit; man meint den 
feuchten Geruch der Moofe zu riechen, hallende Töne, Saufen und 
Weben, den Hammerſchlag der Berggeiſter in ber Tiefe zu ver- 
nehmen, und es iſt, al8 müßte dad Herz an biefem König ber 
Bäume, dem ehrwürdigen Zeugen eined gewaltigen elementarifchen 
Lebens, dieſem uralten Waldgreis, an deſſen unbemegtem Schei- 
tel Jahrhunderte vorübergingen, den Antheil nehmen, ben ed an 
einem ehrmärbigen, dad gemöhnliche Maß unſers Gefchlecht3 weit 
überdauernden Dienfchenleben nimmt; ja wir find jebt geneigt, 
das dumpfe Gebränge der hinfälligen Eleinen Menſchen dieſem ges 
biegenen, um bie zerrüttenden Leidenfchaften des heißen Menſchen⸗ 
berzen® unbefümmerten, Fühlen und ftillen Walten bauender 
Naturfräfte gegenüber gering zu fehägen, dem mir doch zugleich 
etwas von einer menfchlichen Seele leihen. Aber was ſchleicht 
ſich zwifchen unfere Betrachtuug? Welches fruftige und unzeitige 
Grübeln ftört unfere Empfindung? An der Eiche ift ein Mutter⸗ 
gottesbild, vor ihm knieen betend eine Dame und ein Nitter in 


221 


wohlgewählter romantiſcher Garberobe; fle ſcheinen auf ver Reiſe 
zu fein, denn zwei Pferde, . ebenfalls forgfältig umhängt mit 
ritterlichem Neit« und Neifezeug, trinken am Bach. Was wol⸗ 
fen diefe Leutchen? Sind fie mur jo unterwegs, oder hat ber. 
Mitter die Dame entführt und beten fle nun für das Glück ihrer; 
Liebe, Liegt vielleicht eine beftimmte Novelle zu Grunde, oder if 
e8 freie Phantafie, oder — oder? Kurz, wir-grübeln, ftatt zu 
genießen; ber äfthetifhe Eindruck der Landſchaft als Landfchaft. 
it aufgehoben, die Staffage zieht anſpruchsvoll das Intereffe auf. 
ih, das ungetheilt jener gehören ſollte, und der Künftler hat 
fein eigenes Werk entzweigefchnitten. Ich weiß wohl, was man 
mir einwenden wird, und erörtere baber bier einen Punkt, ben. 
ich in einer frühern Anzeige zu unterfuchen verfprad. Man wird 
mir die Kleine Abfchweifung verzeihen. ., 

Die elementarifche Natur mit dem Pflanzenreiche erfiheint dem 
menfhlichen Bewußtfein durch eine Dunkle Symbolik des Gefühls: 
als ein objectiver Wieberfchein feiner eignen Stinnmungen. Der- 
Aether ſcheint die Erde mit Liebe zu umarmen, ftolz fteigen die 
Berge, in Sturm und Wafferfall grollt etwas wie menfchlicher 
Zorn, dur die Bäume gebt ein halbverftändliches Flüſtern, im 
Morgen haucht frifches Kraftgefühl, im Abend Ruhe und Sanft⸗ 
muth. Es liegt im Weſen des Geiftes, fich ſelbſt in der Natur, 
feiner Mutter, mieder zu fuchen und fo die zerfallnen Pole des 
Univerſums wieder zu einigen, bie Urperfon berzuftellen. Der 
Zauber des Landſchaftgemäldes Hat in dieſer Mebertragung feinen 
Grund; die Natur fpricht, fie tönt und als verhallendes Echo. 
unfrer Seele. Es beruht aber dieſes Geheimniß der landſchaftlichen 
Stimmung auf einem Arte, der ald eine Einheit zweier Momente’ 


222 


zu fafien fi. Das erfle iſt ein Leihen; denn ba wir und wohl 
bewußt find, daß die Natur, dag flumme Reich der Nothwen⸗ 
digfeit, nichts von den Gefühlsbewegungen des jubjectiven Lebens 
weiß, fo müflen wir ihr eine Theilnahme am dieſen erft unter« 
legen. Nicht, als ob wir dies mit Neflerion wie ein Geſchäft 
vornähmen; mit dem Augenblide, wo wir die Natur vom äſthe⸗ 
tifhen Stanbpunet anſchauen, tft fogleich auch jene Unterſchiebung 
da, denn wir fehen in Allen ven Menſchen. Doch fühlen wir, 
obzwar dunkel, recht wohl, daß dies ein bloßes Leihen fei, und 
Died ift das andre Moment. Wir geben aber darum dieſes Leihen 
nicht auf, ſondern wir vollziehen nun die Vorſtellung, melde 
logiſch ein Widerſpruch, äfthetifh aber vom größten Reize iſt, 
als ob die Natur zu gleicher Zeit eine die Stimmungen des menſch⸗ 
lichen Gemüths vorbildende oder wieberholende Seele in fich bärge, 
und dennoch in ungetrübter Objectivität und Geſetzmäßigkeit nicht 
um bie Schmerzen des jubjectiven Lebens wüßte. Dies ift die 
Einheit, worin jene beiden Momente wieder ineinander aufgehen. 
Die ſchöne Natur gemahnt und daher wie ſolche menſchliche Zu⸗ 
ſtaͤnde, in welchen die Kämpfe der Freiheit, des Selbſtbewußt⸗ 
feins noch ſchlummern oder zur Ruhe zurüdgefehrt find. Daher 
liebt die Landſchaftnalerei mehr ruhige und große, als fürmtfche 
Naturſcenen; doch auch die lehtern bringen auf uns einen Ein- 
druck hervor, als ſähen wir die Kämpfe der moraliihen Welt 
ohne die Schmerzen des Selbftbewußtjeind darin abgebildet. 
Daher die Rührung und Wehmuth, dad Sentimentale, was in 
aller landſchaftlichen Stimmung liegt, daher umgefehrt der Hang 
der fentimentalen Poefle zur Landſchaftmalerei; daher Hatten die 
Alten keine Landſchaft, weil fie, felbft noch feft im ruhigen Gleich⸗ 


m. 


223 


gewicht des Geiſtes⸗ ımb des Sinnenlebens, fi nicht nad dem 
Frieden der Natur als nach einen verlornen Gute fehnten. 

Der eigentlige Inhalt des Landſchaftgemaͤldes iſt demnach ein 
Wiederſchein des ſubjectiven Lebens im Reiche des objectiven Na« 
turlebens. Jetzt wird ein Landſchaftmaler von Leſſing's Denkart 
ſagen: gut, und eben weil ein Anklang menſchlicher Stimmung 
in der Landſchaft liegt, ſo hebe ich nur die durch jene dunkle Un⸗ 
terſchiebung in fie gelegte Seele noch ausdrücklich hervor, indem 
ich eine Staffage hinzugebe, welche ganz im Sinne der in der 
Landſchaft herrſchenden Stimmung componirt iſt; ich ſage nur 
daſſelbe, was ich in der ganzen Landſchaft in objectiver Natur⸗ 
ſprache ſage, deutlicher auch in ſubjectiver menſchlicher Sprache; 
iſt es der Menſch, der eigentlich der Landſchaft ihre Stimmung 
erſt leiht, ſo iſt es ja ganz in der Ordnung, die Landſchaft mit 
Renſchen zu beleben, welche, in irgend einer bedeutenderen Situa⸗ 
tion begriffen, den Zufchauer erinnern, daß die Natur ihre tiefere 
Bedeutung für den Geift eben nur dem Geifte dankt. Diefer 
Schluß aber ift genau dad Gegentheil des Richtigen. Denn gerade 
das Imeinanderfein der oben genannten zwei Momente ift das 
Specifiſche der landſchaftlichen Stimmung: ein Gefühl, daß ich 
der Landſchaft ihre menfchliche Secle bloß leihe und ein troß die⸗ 
fem Gefühl fortgefegtes Leihen. Giebt nun der Künftler zur Land⸗ 
haft eine Staffage, welche durch eine bedeutendere Situation bie 
Aufmerkſamkeit auf die Vorgänge des menſchlichen Lebens hin⸗ 
übertenkt, fo erinnern wir und plößlih, daß Gemüth und Geift 
ner im Menſchen zu fuchen find, und jenes Leihen hört auf, unfer 
Intereffe iſt mit einem zuckenden Stoße auf eine andre Seite 
Sinüher verfeßt, wir befümmern und um die Schickjale des Men 


224 


fehen und nicht mehr um feine beivußtlofe Naturumgebung. Aus 
dem Reich der Nothwendigkeit find wir in das, der Freiheit ges 
worfen, und indem dennoch jened den urfprünglich beabfichtigten 
Anſpruch auf unfre vorzüglihe Theilnahme fortbehauptet, fo 
gehen mir zwifchen zwei miderfprechenden Stimmungen hinüber 
und herüber und werben dadurch verbrießlih. Es find zwei Spra⸗ 
en, zwei Mittelpuncte in Einer Darſtellung, bie einander aufs 
heben. Im Landfchaftgemälde ift das eigentliche Subject Die Natur, 
nicht der Menſch; tritt biefer mit dem Anfpruch darin auf, daß 
wir und für ihn intereffiren, fo hat das Gemälde zwei Subjecte, 
und die Einheit, d. h. das Kunſtwerk ift aufgehoben. Mag dieſe 
Staffage noch fo ſehr im Sinne der Landfhaft componirt fein, 
bied macht Feinen Unterſchied; denn wo einmal das-menfchliche 
Thun und Treiben in den Vorbergrund tritt, kann die Landſchaft 
zwar immer noch dad untergeordnete Interefje eines verhallenden 
Nachklangs der menfchlichen Handlungen in der Natur, aber 
ninmermehr dad Sauptintereffe für fich in Anfpruch nehmen, und 
indem dad Kunftwerf doch Landſchaftgemälde zu fein ſich die 
Miene giebt, hat es fich felbft das Spiel verborben. Die Staffage 
muß daher durchaus anſpruch los fein, fie darf den Menfchen 
nur in Zuftänden Darftellen, in welchen er, fern von moralifchen 
Zweden und Kämpfen, harmlos das efementarifhe Leben gleich- 
ſam dur ſich Hinburchzichen läßt und in ihm aufgeht: ruhig 
Selagerte, Wandernde, Hirten und Jäger, die im fteten Um⸗ 
gang mit der Natur felbft etwas von ihrer Unmittelbarkeit an= 
nehmen. Namentlich fei die Kleidung nicht pretiös und erinnere 
nicht zu augenfcheinlich an die Fünftlichen Bedürfniſſe der menſch⸗ 
lichen Geſellſchaft. Daß Leffing auf dieſe ein Gewicht legt und bie 


Mine... . 


225 


Kleiverküften des Mittelalters forgfältig ausbeutet, liegt theils 
in der Vorliebe der neuern Schulen für mittelalterliches Beiwerk 
überhaupt, theils aber in den novellenartigen Motiven ſeiner 
Staffage. In Städelſchen Inſtitut befand ſich an Oſtern 1841 
noch ein Waldſtück, wo ein Ritter in voller Ruͤſtung an einem 
Brunnen ſitzt und fein Pferd faufen läßt; eine ganz ſtörende 
Beigabe. In der Kunftausftellung ein weitres Waldſtück von 
ebendemjelben, bunfel und büfter, von ergreifender Wirkung : 
im tiefen Waldesdunkel ein Köhler an einem Kohlenhaufen, ber 
Wind brauft hinein und meht den qualmenden Hauch nad) den: 
Walde; fomweit war bie Staffage höchft lobenswerth. Nun hält 
aber ein Nitter (oder Bandit?) zu Pferde vor dem Kohlenhügel, 
er fheint den Köhler etwas zu fragen; was will er? Iſt e8 der 
Ritter, dem diefer Köhler dient, ift e8 ein Näuber, ver nad 
Beute fragt, oder mas? Wir befinnen und auf ein genreartiges 
oder balladenartiges Motiv, und das Landfchaftgefühl als folches 
ift aufgehoben. Ein zerftörted Raubſchloß in wilder Landichaft, 
noch rauchend, im Vordergrund ein getöbteter Räuber, ſchwankte 
ebenfalls zwiſchen Novelle und Landſchaftbild. 

Man Hört für eine ſolche Erhöhung der Landſchaft in dag 
Genre oder die Siftorie Häufig noch ein andre Moment geltend 
machen. Die getrennten Zweige der Malerei in einer höhern Gat» 
tung zu vereinigen, Hiſtorie oder Genre und Landſchaft zu ver⸗ 
ſchmelzen ‚ erklärt man für ebenſo lobenswerth, als überhaupt 
jedes Streben, getrennte Glieder eines Ganzen organiſch zu ver⸗ 
binden. Als ob nicht jedes Menſchliche, und ſo auch jeder Zweig 
der Kunſt gerade in ſeiner Trennung und Selbſtändigkeit groß 
würde! Je ſelbſtändiger jeder Zweig, je individueller, deſto 


Kritiſche Gänge. 15 


226 


vollkommner ftellt er in feiner befondern Art das allgemeine We⸗ 
‚fen. ver ganzen Gattung dar. Dadurch iſt keineswegs ausgeſchloſ⸗ 
fen, daß der einzelne Zweig die andern m untergeorbdneter 
Weiſe wirklich in fi aufnehmen könne. So mie eine anſpruch⸗ 
Iofe Zugabe aus der Menfchenwelt der Landſchaft wohl anfteht, 
fo dem geſchichtlichen Bilde eine landſchaftliche (wenn nicht archi⸗ 
‚ teftonifehe) Umgebung. Allein wo dad Eine Zwed und Haupt» 
fache tft, muß nothwendig das Andre zurüdtreten, fonft ift alle 
Einheit zerrifien. Am eheften Fünnte man von einem Gleichge⸗ 
wichte beider Seiten im Genre» Gemälde reden , weil dieſes zwar 
menfchliche Zuftände,, aber am Tiebften foldde, worin ver Menſch 
mehr ald Naturwelen, denn als moralifches Weſen erſcheint, zu 
feinem Gegenftande wählt und daher billig der landſchaftlichen 
Untgebung eine bedeutende Stelle einräumt. Allein die Situation 
aus der Menfchenwelt ift doch hier der eigentliche Zweck, und die 
Landſchaft, obwohl fie fich bedeutender ausdehnen darf, ala bloßer 
Mohnort der menſchlichen Weſen Nebenfache. Jene Bermifchung 
verſchiedner Zweige tft ein Fehlgriff unreifer Kunftperioden. Go 
wurde in der Zeit, da die Landſchaft als felbftändiger Zweig ſich 
- eben erft ausgebildet hatte, von Caracci, Domenichino, Pouffin, 
Claude Lorrain eine Staffage aus der Hervenfage, dem Götter: - 
‚mythud, dem N. Teftamente für ganz wefentlich angefehen: bie 
Aabelſchnur des Hifkorifhen Gemäldes, welche die Landfchafts 
malerei, fo Bedeutendes fle auch bereits leiſtete, als Erinnrung 
an ihren Urſprung noch mit fich ſchleppte. Koch und Reinhard 
in Rom find Ableger biefer alten Schule; Beide Haben die @in- 
heit ihrer fchönften Compofitionen durch eine zu bebeutende Staf- 
fage zerflört. Koch liebte mythifche Scenen. Ich kenne unter 


227 . 


Anderem eine zwar nicht ganz vollendete treffliche Landſchaft von 
ihm, im beften Geifte des Theokrit componirt, im Mittelgrunde 
‚Hirten, aus deren Mitte foeben Ganymed entführt wurbe, der 
nun auch mit dem Adler mitten im Himmel baumelt. Hier und 
in all den Landfchaften mit Nymphen, Faunen u. f. w. dringt 
ſich außer dem bisher ausgeführten Einwurf noch ein neuer weite» 
rer auf: der Standpunct des Mythus und der der Landfchaft find 
an fi unvereinbar. Der Kern jeder Naturmacht war in ber 
Anſchauungsweiſe ver Alten eine Perfon, der Himmel Zeus, das 
Meer Neptun u. f. f., und jede Begebenheit in der Natur war 
Handlung einer folden Perfon. Diefe Vergöttrung der Natur 
war aber keineswegs aus demjelben Bedürfniß fentimentaler Sym⸗ 
pathie entftanden, aus welchen wir Neuern der Natur eine füh⸗ 
lende Seele unterlegen. Jene göttlichen Naturweſen hatten immer 
zugleich politiſch-ſittliche Bedeutung, die Begebenheiten der Natur 
wurden als ihre Handlungen ſtets auf Schickſale der Staaten oder 
Familien oder heroiſchen Individuen bezogen, und gerade weil 
der Grieche, ſelbſt Natur, ſich nach der Natur gar nicht ſehnte, 
lebte ſie für ihn nur in dem Sinne, daß er hinter ihr ſeine Götter 
ſuchte. Nun blieb natürlich keine Landſchaft mehr übrig, nachdem 
man alle ihre Beftandtheile vergöttert hatte. Warum follen nun 
yeir, die wir gerade durch die Entgöttrung ber Natur eine Land⸗ 
ſchaft Haben, und gewaltfam in jene Vergöttrung zurückverſetzen 
und fo eine Anſchauungsweiſe in dad Landſchaftgemälde einmifchen, 
die es aufhebt? — 

In einer andern, durch eine Radirung bekannten Landſchaft 
hat fih Koch ungewohnter Weile ganz in die romantiſche Stim- 
mung verfegt: wilde norbijche Seefüfte, aufgeregtes Meer, Wet- 

15 * 


228. 


terhimmel, eine gothiſche Burg. im Sintergrunde auf zackigem Fel⸗ 
fen phantaſtiſch ragend, vom Blitze ſeltſam beleuchtet. Man mag 
ſich gern denken, ſo unheimlich wildes Land wäre ganz eine Hei⸗ 
math für dunkle altergraue nordiſche Sagen, für tolle Hexen⸗ 
ſchwärme; fo möge des blutigen Macbeth Burg an der ſchottiſchen 
Küfte geftanden haben. Und wirklich, es fehlt ſich nicht, am Ufer 
ftebt Macbeth mit den drei Seren, und fern um vie Burg ſchwebt 
ein Hexenſchwarm wie ein flatternded Band dur die Luft. - Die 
dunfeln Gefühle, melde die Landſchaft als jolche anregen wollte, 
find aljo recht handgreiflich herausgezogen und und vor die Nafe 
hingeſetzt; glüdflichermeife ift zwar hier die Landſchaft fo ſtark, daß 
die Perfonen faft verfehwinden, und doch muß fie Jeder, der etwas 
Ganzes ſchauen will, über Berg und Thal fortwünſchen. — Nein 
hard gefällt fich in derfelben Lieberladung ; Thaten des Hercules, 
bibliſche Scenen und dergleichen ftören und in feinen ächt antif 
gefühlten Landſchaften. Einmal ging er fo weit, daß er in cine 
Landihaft von ruhiger Stimmung geradezu eine Staffage von 
unrubig dramatiſcher, ja peinlicher Wirkung hineinzwängte: ein 
Mann fchlafend in einem Nahen, der gerade im Begriff ift, von 
ben Wirbeln eines jähen Waflerfturzes ergriffen zu werben, ein 
Jäger am Ufer hat einen erlegten Rehbock zu Boden geivorfen und 
ruft ihm in Verzweiflung zu; ein andermal: ein Wald, worin 
Wölfe einen Mann zerreißen und vergl. Hier hebt die quälende 
Theülnahme am menfchlichen Looſe alle landſchaftliche Stimmung 
geradezu auf. Sonft mag man immerhin auf einem Landſchaft⸗ 
gemälde Menſchen darftellen, die von furchtbaren Naturerjcheinuns 
gen Noth leiden, wie vom Sturme u. f. f., doch ſparſam und 
nicht mit ſtarker Hervorhebung ihrer Kämpfe, jenft entſteht cin 


229 


Genrebild, und, da das Ganze doch noch Landſchaft fein foll, eine 
Aufhebung der Einheit: Wenn nun aber gerade in ber neueften 
Zeit; da doch die Landſchaft ſich Längft In ihrer ganzen Selbftftin- 
bigfeit ausgebildet Hat, dieſe Vermiſchung wieder einzurälßen droht, 
ſo liegt der Grund davon in nichts Anderm, als in jenem Wurme, 
woran unſer ganzes Leben und fo auch unſre Kunſt krank liegt, 
in der Reflexion. Der ſuchende, abwägende Verſtand iſt mit einer 
einfachen Wirkung nicht zufrieden, es ſoll noch etwas Apartes, 
etwas Bedeutungsvolles, etwas recht Tiefes hinzugegeben werden; 
ſo ſagt man denn, was ſchon in der Landſchaft geſagt iſt, noch 
einmal durch eine prätentiöſe Staffage, klebt auf das Erſte ein 
Zweites hinauf und ruht nicht, bis das Werk verbeftelt if. Wo— 
möglich muß dann noch die beliebte Allegorie mithelfen, wie 3. 2. 
in Leſſing's berühmter Abendlandfchaft der Priefter, der dad Sa⸗ 
erament für einen Sterbenden trägt, uns höchſt abſichtsvoll und 
philoſophiſch zu fagen feheint: feht, dieſer Abend ift eine Allegorie 
som Lebensabend des Menſchen, das hat der Künftler mohl ge- 
‚mußt, er tft nicht verfteckt, er ift ein Schalf, er weiß, was er will, 
er hat Ideen. Zum Schluffe Habe ich nur noch geltend zu machen, 
daß ſelbſt eine anfpruchlofe Staffage nicht jeder Landſchaft anfteht, 
daß völlige Abweſenheit des befeelten Lebens, höchſtens etwa eine 
Ericheinung aus dem Thierleben, in vielen Landſchaftbildern durch 
bie Stimmung des Ganzen gefordert ift, und unter biefe gehört 
keines mehr, als Leffings tauſendjährige Eiche. Hier iſt gerade 
Einfamfeit, ganz unbelauſchtes, d. h. nur vom Zuſchauer außer 
dem Bilde belaufchtes Weben mächtiger Naturkräfte das Grund» 


gefühl. 


230 


Was hier über die Staffage geſagt ift, gilt ebenfo von der 
Architektur. Diefe darf und fol allerdings eine Rolle in der Land⸗ 
ſchaft fpielen; bie mathematifch geordneten Tinten des Gebäudes 
treten mit der unbewußt fehmeifenden Architektur der Erdbildungen 
in einen für das Auge höchſt wohlthätigen Gegenſatz, und da der 
Menſch in der anſpruchloſen Bedeutung eines an die Natur hin⸗ 
gegebenen und gebundenen Weſens allerdings in der Landſchaft 
aufzutreten hat, ſo ſehen wir auch gerne ſein an die gegebnen tel⸗ 
luriſchen und klimatiſchen Bedingungen ſich anſchmiegendes Obdach. 
Die Bauſtyle gingen ja aus einer Phantaſie hervor, die unver⸗ 
kennbar ihre Formen aus der umgebenden Natur nahm. Die 
griechiſche Architektur mit der vorherrſchenden horizontalen Linie 
erinnert ſogleich an die breit und bequem hingelagerten Gebirgs⸗ 
maſſen des Südens, der ſpitzig aufftrebende gothiſche Styl an die 
zackigen und phantaſtiſch gethürmten Bergformen des Nordens, 
feine Ornamente an eine dornichte und ſtachlichte Vegetation;' an 
Tannenzweige u. |. f.; er hat durchaus einen winterlichen, die 
ſüdliche Bauart dagegen einen fommerlichen Charakter. Auch liegt 
es ganz nahe, die Kuppel des Pantheond mit der Krone der Pi⸗ 
nie, gothiſche Thürme mit Fichten zu vergleichen. Aber der Land⸗ 
ſchaftmaler hüte fih wohl, feine Gebäude in reinlicher Neuheit 
Darzuftellen, wie dies die fogenannte hiftorifche Landſchaft lichte, 
es wird dadurch das Landſchaftgemälde alsbald zum Architektur⸗ 
gemaͤlde. Das Landſchaftgemälde, das ein⸗ für allemal die Natur 
zum Subjecte hat, fordert Gebäude, welche die Natur bereits in 

- ihren Bereich hereingezogen hat, indem fie ihnen Die Spuren ihrer 
Zufälligkeit, ihres elementarifchen Charakters aufdrückte, vom Als 
ter gebräunt, Halb zerfallen, von Vögeln umkreiſt, die in dem 


0. 


231 


Werke der Menfchenhand wie in ihrem Eigenthum niſten u. ſ. f. 
Dan wird leicht finden, wie weit ich in biefen Bemerkungen mit 
den zufanımentreffe, was der einfichtsvolle Schnanfe in feinen nie⸗ 
berländifchen Briefen über dad Wefen der Landfchaft fagt. Sein 
Ausdruck, das Landſchaftgemälde ftelle die Erde als Wohnftg des 
Menſchen dar, jol ungefähr dafielbe fagen, was ih oben aus» 
führte, ift aber der Mißdeutung zu ſehr ausgeſeßt, um glücklich 
heißen zu können. 

Dieſe Abſchweifung über die Landſchaft hat uns wirklich von 
unſerm Wege nur ſcheinbar entfernt, ſie hat uns zuletzt auf den 
kranken Fleck unſrer heutigen Kunſt zurückgeführt, auf die Reflexion, 
welche, ſtatt cin bloßes Moment in der Schöpfung ver Phantafie 
zu fein, fich als Princip hervordrängt. Wir leiden Alle an ihr 
und mangeln des Ruhms, den wir haben follen vor der Sinnlich- 
feit, der Phantafle, der Idee, der That. In ihr und in nichts 
Andrem liegt der Grund jener Zerfahrenheit und Tauſendfäliig⸗ 
feit von Stoffen, in denen unfre Kunft ſich zerftreut. Ja, fo weit 
ift e8 gefommen, daß man froh daran fein muß, wenn in diefer 
unendlichen Linficherheit nicht geradezu Stoffe gewählt werben, 
welche Eünftlerifch fehlechtweg nicht darftelbar find. Wie Häufig 
werden Erzählungen, deren ganze Spige in einem beſtimmten, nur 
durch die Sprache varftellbaren Gedanken liegt, ald Stoffe male- 
riſcher Darftelung behandelt! Ich ſah z. B. gemalt, wie Sokra⸗ 
ted in hohem Alter noch das Saitenfpiek lernt und dem Alkibias 
bed, der ſich darüber verwundert, zur Antwort giebt, man dürfe 
ſich nie ſchämen, zu lernen. Retzſch, der von Grund aus affectirte 
Manierift, zeichnet Hamlet's Monolog: Sein oder Nichtfein, und 
ver fonft erfreuliche Zeichner Sonderland nimmt ımter feine Bil 


232 


der und Randzeichnungen zu deutſchen Dichtern Uhland's Hans 
und Grete auf, wo doch der ganze Accent auf einem epigramma⸗ 
tiſchen Witzworte ruht, was nie ber Maler, nur der Dichter fagen 
tann. Lind wie leicht ift es doch einzujchen, daß dad Kunſtwerk, 
das immer fich felbft erklären foll, nur Scenen darſtellen kann, 
deren äfthetifche Bedeutung in einer auf die Oberfläche ver menſch⸗ 
lichen Erſcheinung ganz heraustretenden Leidenſchaft Liegt, nie aber 
folhe, wo es ſich um. beftinmte Begriffe in beftimmten Worten 

handelt! Es fehlt nur no, daß man malt, wie Newton das 
Geſetz ded Falles berechnet, was auch ſchon vorgekommen ift. Bon 
all' diefer Tactlofigkeit, dieſer Bodenlofigfeit kann nun aber ben 
Künftler nicht beſſer heilen, als wenn er ſich endlich überzeugt, 
daß alle Kunft nur da groß wurde, wo fle ohne Zweifel und Scru⸗ 
pel fi in den vollen Strom derjenigen Stoffe warf, welche ihr 
sder Geift des Volks und Zeitalters zuführte, wo fie ihre befte 
Kraft auf diejenigen Gegenflände verwandte, in welchen ber Na= 
tion das Abfolute erfehlen. Die Bildung der Völker, des proteftan- 
tiſchen deutſchen Volks wenigftens, ift aber jebt dahin gelangt, daß 
ihr das Abfolute nicht über den Wolken, fondern ald bewegende 
Seele der Weltgefchichte erſcheint, und fomit find wir wieder da 
angekommen, wovon wir audgingen. 

Wo nun aber die Kunft nicht feft und faftig in einem frucht- 
baren und objectiven Boden wurzelt, da kann fie es auch zu Feinen 
bedeutenden Formen bringen, und dies ift das andre Hauptübel, 
an dem fie in unfern Tagen darniederliegt. Wir haben es zu ei- 
ner großen formellen Leichtigkeit gebracht, die aber, getrennt vom 
bedeutenden Gehalte, in Leichtfertigkeit und fogar in Dürftigkeit 
umfchlägt. Naturbeobachtung, Nebung, Stubium der Antike, das 


233 


Alles macht noch nicht den Meifter großartiger Kormen. Wo⸗ 
durch find denn die alten Dialer fo grandios in Geftalt, Bewe⸗ 
gung, Genandung, Compoſition? Woher nahm ſchon Giotto 
bei aller Härte die eindringende, ſchlagende Wahrheit in ven Grund⸗ 
zügen menſchlicher Affecte? Woher Mafaccio jene Würde im run- 
deren Fluſſe der Geftalt, in der Entfaltung und bebeutungsvollen 
Zufammenordnung der Gruppen jenen Ernft, jenen ehrfurchtge⸗ 
bietenden Adel? Was beſchleunigte von da an den beflügelten 
Schritt der italienifchen Malerei zu ver Höhe ber idealen Formen, 
wo ein Raphael, ein Mich. Angelo ſteht? Waren es die einzel- 
nen Mittel der technifchen Bildung, ſubjective Virtuoſität, Belau- 
[hung der Wirklichkeit, erneuerte Kenntniß der alten Plaſtik und 
wie dieſe formellen Momente alle heißen mögen, welche fo wichtig 

und doch für fich allein fo unwichtig find, fondern Kraft und Wir⸗ 
| tung mur aus dem, im Mittelpuncte lebenden, geftaltenden Geifte 
nehmen? Und was war diefer Geift anders, als die firenge Ver⸗ 
tiefung in die Sache, Erfüllung der Bruft mit dem großen Ges 
genftande, der in Aller Herzen lebte? Diefer Gegenftand war ber 
Kreis göttliher und verklärter irdifher Geftalten, in deren Thun 
und Leiden jenes Zeitalter den abfoluten Inhalt der Weltgejchichte 
anjchaute. Das Mittelalter kannte keine andre Form, das Drama 
der Geſchichte zu deuten; es war das allgemeine Pathos der Zeit, 
bie immanenten Mächte des fittlihen Lebens in einen idealen 
Raum binauszuverlegen, von wo fie als goldne Geftalten, als 
durchſichtige Leiber auf das Dieſſeits herüberwirken, während bie 
ſes, das nun jeinen Schwerpunet außer ſich bat, hingeſchmolzen 
in Wehmuth ſich zu ihnen hinüberſehnt; der Künftler war davon 
erfüllt, wie fein Volk, und dieſes, wie er. Jeder verfland, Jeder 


234 


fühlte jeine Bilder, und es kann von wahrem Kunftleben. gar 
nicht Die Rede fein, wo nicht das ungelehrte Volk nie. Werke der 
Kunft genießt als fein Eigentbum, als eine Welt, die fein in⸗ 
wohnender Geift durch den Künftler geſchaffen. So von ſubſtan⸗ 
tiellem Gehalte erfüllt, fo im Einverftänbniffe mit dem Volke, das 
nur ſtarke, einfach große und wahre Formen verfteht, vermochte 
der Künftler au, feinen Stoff abſolut darzuftellen, d. h. 
an der ſinnlichen Erfeheinung, bie er als Gefäß für ihn zunaͤchſt 
aus der unmittelbaren Wirklichkeit aufnahm, alles Kleine, Zufäl- 
lige, Unklare zu tilgen, und fo jene unfterblichen. bangen zu 
ſchaffen, die wir den hohen Styl nennen. 

Dies iſt die fruchtbringende Wahrheit, welche und bie Ge⸗ 
fhichte der Malerei bei dem Volke, das im Mittelalter einen dem 
Weſen biefer Kunft wahrhaft normativ entfprechenden Entwid- 
lungsgang durchlief, dem ttalienifehen, mit hundert Stimmen 
zuruft. Ich weiß wohl, daß eine nicht Fleine Partei gerabe bie 
entgegengefeßte Folgerung aus dieſem Schaufriele zu ziehen gewohnt. 
ift, daß fie behauptet, wir follen, weil die Italiener gerade in die⸗ 
fen Stoffen groß waren, mit Verläugnung unfer8 ganzen Zeitbe⸗ 
mußtjeind, eben diefelben wählen, während ich vielmehr folgere, 
wir fen fie darin nahahmen, daß wir unfre Stoffe aus derſel⸗ 
ben Duelle fhöpfen, aus dem lebendigen und gegenwärtigen Geifte 
der Zeit und Nation. Nur zu viele Worte habe ich wohl zur 
Wiverlegung diefed Wahns verloren; ich laſſe einen Größern für 
nich Sprechen, ven Geift der unmiberlegbaren Thatſache. 


235 


2. Die Eopien. 


5 Ich habe ver Anzeige biefer trefflichen Nachbildungen eine Bes 
trachtung des Zuftanded der gegenwärtigen Kunft vorangeſchickt, 
ih habe auf die Geſchichte der Malerei, insbeſondre der italieni« 
fhen als auf eine Quelle der wichtigften und fruchtbarften Kehren 
über die einzig richtige Wahl der Stoffe und die aus ihr fließende 
Behandlung der Form hingewieſen. — Wir kennen aber die alte 
Malerei zu menig; es fehlt an der unentbehrlichen Anfchauung. 
Kupferftiche reichen nicht bin, find theuer zu kaufen, in Bibliothes 
ten mühſam durchzuſehen und von den herrlichen Werfen der 
Meifter vor Raphael ift fo wenig geftochen, daß fie ung faft nur 
dem Namen nad bekannt find. Wer Eennt denn bei uns einen 
Biefole, einen Perugino, den Himmel von Unendlichkeit, der aus 
dem Tieblichen Schleier ihrer Halbreifen Formen hervorbämmert ? 
Bon den großen Meiſtern der reifften Periode geben bie in Deutſch⸗ 
land da und dort zerftreuten Originale nur einen mangelhaften 
Begriff. Dan kennt Raphael noch nicht, wenn man einige 6. 
Bamilien, einige Madonnen von ihm, wenn man felbft die Sir- 
tinifche Madonna geſehen hat; die Stangen, die Tapeten, bie 
Loggien, wo er fi zu dramatifcher Handlung entfaltet, muß man 
ſehen. Von Mich. Angelo hat außer einem paar zweifelhaften 
Staffeleibildern, die eine ganz falfche Vorftellung von ihm geben, 
feine deutiche Gallerie ein Werk; feine Fresken in der Sirtin. 
Kapelle find in Italien zwar mehrfach geftochen, aber in un⸗ 
ferm Kunfthandel gar nicht in Umlauf. Derjenigen, die an Ort 
und Stelle die Originalwerfe anfchauen können, find verhältniß⸗ 
mäßig wenige; Künftler reifen erſt nach der Vollendung der Lehr⸗ 


236 


jahre, und gerabe diefen ſollte das wunderbare Licht jener einzigen 
Mufter erhebend vorleuchten. Das Publicum aber, oder befier 
das Volk, ſollte endlich einmal Iernen, was ibealer Styl ift, ven 
durch Modebilder, durch theatraliſche Effectmalerei, durch Illuſtra⸗ 
tionengekritzel abgeftumpften Sinn follte es an jenen unfterblichen 
Werfen fehärfen und. verfüngen, die durch die blafje Aufklärung 
abgebleichte Phantafle erwärmen, und fih fo ein Urtheil bilden, 
das rückwirkend dem Künftler eine biäher unbekannte höhere Nicht- 
jhnur darböte. Unfere im Sanımeln, Aneignen, Ausbeuten, Ver⸗ 
vielfältigen fonft fo emfige Zeit bat hierin noch eine große Lücke 
auszufüllen: jede Hauptſtadt, morin eine Kunftfehule und Kunft- 
fammlung befteht, follte in guten Copien die wichtigſten Schulen 
und Meifter aus der Gefchichte der ältern Malerei vereinigen, wo⸗ 
bei aus Gründen, welche auszuführen nicht weiter nöthig iſt, bie 
italienifche Schule inımer das Haupt» Augenmerk bleiben müßte. 
Mag die Eopie immerhin nur ein ſchwacher Widerſchein des Origi⸗ 
nals fein, fie giebt doch eine Jpee von der Compofition, vom Style, 
ja mehr als dies, denn die Eopie kann wahrlich Bebeutenderes 
feiften, als Derjenige glaubt, der nur an Handirerf3> Arbeiten 
dent. Man bat angefangen, tiefe Schuld anzuerkennen; Frank⸗ 
reih, Rußland, Preußen, Defterreich laſſen die Fresken der Siſtina, 
bie Stanzen, Tareten, Loggien copiren. Einen höchft bedeutenden 
Schatz hat nun aber neuerdings die Gallerie zu Düffelborf erwor⸗ 
ben, die Aquarelleoyien von Rambour. 

Diefer Künftler, aus Trier gebürtig, in Nom wohnhaft, Hat 
einen wunderbaren und höchſt achtungswerthen Act der Neflgna- 
tion geübt. Sein Talent gab ihm vollftändige Berechtigung, fich 
auf dem Felde der freien Schöpfung zu bewegen; wer feine genia= 


237. 


Ien Sarbenfkizzen. zu Dante im Stäbelichen Inftitute betrachtet, 
kann daran einen Augenblic zweifeln, und einen nicht minder 
ſprechenden Beweis feines Berufs follen idylliſche Darftellungen 
von feiner Hand in einer Gartenwohnung zu Trier liefern. Er 
genoß feine künſtleriſche Bildung in Sranfreih und fam als ein 
geſchworner Claſſiker im Sinne David's nach Deutſchland, dann 
nach Italien, wo er im Umgang mit den deutſchen Romantikern 
feine Künſtler⸗Laufbahn wieder von vornen zu beginnen beſchloß, 
Während nun aber Andre aus. diefer Schule ihrer Begeifterung 
eine dogmatiſche Wendung gaben, wenn fie das Mittelalter un⸗ 
natürlich zu erneuern fuchten, fein Princip, feine Stoffe, feine 
Formen, ja gerade feine frühern unreifen Formen als Gefeb für 
die moderne. Kunft aufftelten, fo fshlug dagegen dieſe gefuntere 
und objectivere Natur den geihichtlihen Weg ein. Was au 
werden, was bie Beflimmung der neuen Kunft fein möge: aus 
einer innigen Bertiefung in den großen Entwicdlungsgang, den 
wir hinter und haben, muß Gutes und Deilfames hervorgehen, 
jo dachte er, und beftimmte nun die Kraft feiner beften Lebensjahre 
dazu, in einer umfaflenden Folge von Abbildungen in Wafferfarbe 
die Enttwicklungögefchichte der italienifchen Malerei vom vierten 
bis ind fjechzehnte Jahrhundert varzuftellen. Die gefchichtlihe Be⸗ 
deutung eined Werkes bedingte feine Wahl, doch durfte Neigung 
und Gelegenheit bier, wie innmer beim Künftler, eine Stimme has 
ben. und zugleich leitete ihn die Abſicht, Unbefanntes oder zu we⸗ 
nig Bekanntes den Dunkel zu entziehen. Keine Zeit dauerte ihn, 
feine Pladerei verdroß ihn, Eein Aufwand war ihm zu groß, nicht 
Müdigkeit, Staub, Froſt und Hige in Kirchen und Baläften, Klö- 
ftern und Gerichtsſtuben, in. ftaubigen Winkeln und modrigen 


238 


Kammern hielten ihn zurüd, und eine von den grünblichften 
Kunftrichtern bewunderte Technif wußte mit den einfachen Mittel 
der Waflerfarbe fo überrafchend zu fchalten, daß mit den Grund⸗ 
zügen bed Styls und Colorits zugleich der eigenthümliche Ton 
ber Mofaif, des Tempera⸗ und Delgemäldes, ber Freske, der 
Zeppichweberei, ja ſelbſt des Halb Verwifchten, DBerwitterten je 
nach ber Gattung und dem Zuftande des Originals wie durch 
Zauber wiedergegeben tft und man bald in den uralten Räumen 
ernfter Bafiliken, bald in den mächtigen, bämmernden Hallen 
gothifcher Kathebralen, bald in heitern Palaften zu wandeln, bie 
fpeeififche Atmofphire diefer Locale in der Erinnerung wieder zu 
fpüren glaubt. Hier ift eine Technik, die ihren Si& im tiefiten 
geiftigen Verſtändniſſe hat und von da bis in bie Fingerfpiken 
dringt. Ä 
Es find 305 Blätter; leider verhinderte mich bei meinem 
Aufenthalte im Winter 1839 — 40 zu Rom der Zufall, bie 
damald noch in den Händen des Künftlers befindliche Samm⸗ 
lung zu ſehen, an den mich Herr Director von Schadow freund- 
lich empfohlen hatte. In Düffeldorf find bis jegt 130 Stüde in 
Glas und Rahmen aufgehängt, und die Anſchauung dieſer gab 
mir einen volftändigen Begriff von dem Werthe bes Ganzen, 
von dem ich nun an der Sand des Katalogs, der mir durch bie 
Güte eined Freundes zugefommen ift, einen Lieberblid gebe. 
Eine Reihe von Gebäude =» Anfichten eröffnet das Ganze und 
” verfeßt und in die architektonische Stimmung, welche den Cha⸗ 
after der Malerei entfpricht,, die wir nun. Fennen lernen follen. 
Die Dome von Siena, von Orvieto erheben ihre prachtvollen 
Bagaden, wir treten in die ehrwürdige Dämmerung der Kirche 


239 


des h. Franziscus zu Aſfif, die Lateran⸗Kirche in ihrer urſprüng⸗ 
lichen Form, die alte Peterb⸗Kirche zeigt ſich uns neben verſchie⸗ 
denen ältern und gleichzeitigen Gebäuden. Aus dieſer Vorhalle 
treten wir nun ins Innere. 

Große Kunſtperioden haben immer ein abgelaufenes früheres 
Kunftleben zu ihrer Vorausfegung und ihren Ausgangspunct. 
Was früher als die höchfte Form erſchien, wird jebt wieder zum 
bloßen Stoffe, an melchem ein neuer Geift bildend und umge⸗ 
ſtaltend feine Kräfte übt. Die chriftliche Kunft befand ſich jedoch 
in einem ganz befondern Falle. Wenn der Grieche die Aufgabe 
hatte, eine unreife und in Unreifheit durch Priefterfaßung ver- 
fteinerte Kunftform, die ihm aus Aegypten überliefert war, be⸗ 
ſeelend fortzubilden, fo traten dagegen die erſten chriſtlichen Jahr⸗ 
hunderte in die Erbſchaft einer Kunſt, welche nicht als eine nur 
relative Reife betrachtet werden kann, ſondern, — freilich inner⸗ 
halb einer beſtimmten Weltanſchauung —, ein ſchlechtweg Höch⸗ 
ſtes und Reifſtes war; hier blieb nichts mehr zu thun übrig, die 
alte Kunſt hatte alle ihre Stadien organiſch durchlaufen und ſich 
von innen heraus ſamt der ganzen geiſtigen Welt, aus der ſie 
gefloſſen, ausgelebt. Nur ein ſchwacher Schimmer antiken Form⸗ 
gefühls hatte ſich noch erhalten, wir erkennen ihn in den Moſaiken 
vom vierten bis ſiebenten Jahrhundert, wie ſie ſich in jenen fremd⸗ 
artig ehrwürdigen Räumen der Baptiſterien, Begräbniß⸗-Kirchen, 
Baſiliken Noms und des einſt fo blühenden Ravenna befinden, 
wohin und zunächſt eine Neihe von Rambouxs Copien führt, 
insbeſondre in jenen merfmürbigen altteftamentlichen Durftellun- 
gen, welche über den Säulenreihen des Hauptſchiffs von S. Maria 
maggiore hinlaufen, und welche d'Agincourt mit den Reliefs der 


230 


Was hier über die Staffage gefagt ift, gilt ebenfo von der 
Architektur. Diefe darf und ſoll allerbings eine Rolle in der Land» 
ſchaft ſpiglen; wie mathematifch geordneten Linien des Gebäudes 
treten IK unbewußt fhmeifenden Architektur der Erdbildungen 
in einen für dad Auge höchſt wohlthätigen Gegenſatz, und da der | 
Menſch in der anfpruchlofen Bedeutung eines an bie Natur bins 
gegebenen und gebundenen Wefend allerdings in der Landſchaft 
aufzutreten hat, fo fehen wir auch gerne fein an die gegebnen tel= 
luriſchen und Elimatifchen Bedingungen fich anſchmiegendes Obdach. 
Die Bauftyle gingen ja aus einer Phantafle hervor, die unver- 
fennbar ihre Formen aus ber umgebenden Natur nahm. Die 
griechiſche Architektur mit der vorherrſchenden horizontalen Linie 
erinnert ſogleich an die breit und bequem hingelagerten Gebirgs⸗ 
maſſen des Südens, der ſpitzig aufftrebende gothiſche Styl an die 
zackigen und phantaſtiſch gethürmten Bergformen des Nordens, 
feine Ornamente an eine dornichte und ſtachlichte Vegetation; an 
Tannenzweige u. |. f.; er hat durchaus einen winterlichen, bie 
füpliche Bauart dagegen einen fommerlichen Charakter. Auch Tiegt 
es ganz nahe, die Kuppel des Pantheons mit der Krone der Pi⸗ 
nie, gothifche Thürme mit Fichten zu vergleichen. Aber der Land⸗ 
ſchaftmaler hüte fih wohl, feine Gebäude in reinlicher Neuheit 
darzuftellen, wie dies die fogenannte hiſtoriſche Landſchaft liebte, 
es wird dadurch das Landſchaftgemälde alsbald zum Architektur⸗ 
gemälde. Das Landſchaftgemälde, das ein- für allemal die Natur 
zum Subjecte hat, fordert Gebäude, welche die Natur bereit in 
ihren Bereich hereingezogen bat, indem fie ihnen die Spuren ihrer 
Zufalligkeit, ihres elementarifchen Charakters aufbrüdte, vom Als 
ter gebräunt, halb zerfallen, von Vögeln umfreift, die in dem 





231 


Werke der Menfchenhand wie in ihrem Eigenthum niften u. f. f. 
Dan wird leicht finden, wie meit ich in dieſen Bemerkungen mit 
den zufanımentreffe, was der einfichtSvolle Schnanje in feinen nie⸗ 
derländiſchen Briefen über das Wefen der Landichaft fagt. Sein 
Ausdruck, das Landſchaftgemälde flelle die Erde als Wohnſttz des 
Menſchen dar, jol ungefähr vafielbe fagen, was ich oben aus» 
führte, ift aber der Mißdeutung zu ſehr ausgeſeßt, um glücklich 
heißen zu können. 

Dieſe Abſchweifung über die Landſchaft hat uns wirllich von 
unſerm Wege nur ſcheinbar entfernt, ſie hat uns zuletzt auf den 
kranken Fleck unſrer heutigen Kunſt zurückgeführt, auf die Reflexion, 
welche, ſtatt ein bloßes Moment in der Schöpfung der Phantaſie 
zu ſein, ſich als Princip hervordrängt. Wir leiden Alle an ihr 
und mangeln des Ruhms, ven wir haben ſollen vor der Sinnlich⸗ 
keit, der Phantafle, der Idee, der That. In ihr und in nichts 
Andrem liegt der Grund jener Zerfahrenheit und Tauſendfällig⸗ 
feit von Stoffen, in denen unfre Kunft ſich zerftreut. Ja, fo weit 
ift ed gefommen, daß man froh daran fein muß, wenn in diejer 
unendlichen Tinficherheit nicht geradezu Stoffe gewählt werben, 
welche Künftlerifch fehlechtweg nicht darſtellbar find. Wie Häufig 
werden Erzählungen, deren ganze Spiße in einem beſtimmten, nur 
durch Die Sprache varftellbaren Gedanken liegt, ald Stoffe male⸗ 
zifcher Darftelung behandelt! Ich fah 3. B. gemalt, wie Sokra⸗ 
tes in hohem Alter noch das Saitenfpiel lernt und dem Allibia⸗ 
des, der fich darüber verwundert, zur Antwort giebt, man dürfe 
ſich nie ſchämen, zu lernen. Retzſch der von Grund aus affectirte 
Manieriſt, zeichnet Hamlet's Monolog: Sein oder Nichtſein, und 
der fonft erfreuliche Zeichner Sonderland nimmt unter feine Vils 


242 


Princip audging, in ſolchen Formen barzuftellen, worin die finn- 
liche Wohlgeftalt durch die überwiegende Unendlichkeit des Aus⸗ 
drucks verkümmert erfcheint, fo darf man doch in ber byzantinischen 
Kunſt⸗Periode auch dieſe Kunftgeftalt noch nicht im eigentlichen 
Sinne juchen und erwarten. Diefe Belebung der verarmten Koran 
durch Herz und Gemüth If bereitd ein zweiter Schritt und feßt 
im reltgiöfen Leben jelbft, wie die Lyrifer in der Poeſie, eine 
ſubjective Durchbildimg und Durdarbeitung voraus, welcher, 
wie der lyriſchen Dichtung die epifche, eine Periode vorherrichend 
epiicher Auffaffung vorausgeht. Ienem älteften chriftlihen Bes 
wußtfein iſt es mefentlich um die großen Thatfachen der göttlichen 
Offenbarung , die gewaltigen perfünlichen Werkzeuge zu thun, 
durch welche der, neue Geiſt in die Welt eintrat: Chriſtus, fein 
Lehramt, feine Leiden, feine Auferftehung, und bie Apoftel in 
ftrenger und trockner Mafeftät feierlich Hinzuftellen tft die einfache 
Aufgabe der altchriftlichen Kunft. Diefen objectiven, aus einer 
fernen Vergangenheit wunderbar herüberragenden Geftalten dem 
gegenwärtigen wirklichen Menſchen gegenüberzuſtellen, wie er, 
das Herz voll unendlicher Sehnſucht, nach ihnen hinüberſchmachtet, 
dieſe Spiegelung im Innern, dieſen ſubjectiven Reſlex auszubilden 
war einer ſchon vorgeſchrittenen Zeit aufgeſpart. Kaum dämmert 
in den anfangs noch ſehr ſeltnen Darſtellungen der Maria mit 
dem Kinde dieſe Welt des Gemüths und der Liebe, und auch der 
Geiſt, der in jenen männlichen Werkzeugen der neuen Weltord⸗ 
nung lebte, wird, wie in den erſten Jahrhunderten der chriſtlichen 
Malerei in Italien, ſo auch in der ganzen byzantiniſchen Periode 
noch mehr durch äußerlich hinzugeſtellte apokalyptiſche Symbole, 
als durch einen, den Geſtalten ſelbſt inwohnenden Ausdruck ver⸗ 


243 


gegenwärtigt. Um dieſes Leuchten eines innern Lebens barzuftellen, 
fehlen noch die techniſchen wie die tiefern künſtleriſchen Bedingun⸗ 
gen. Erhöhung ver äußern Maße ins Niefenhafte muß den Aus⸗ 
druck innrer Größe erfegen; firenger Ernft fpricht aus den großen 
Augen, der todten Ruhe der Situation, an deren Stelle nur 
felten das andre Extrem, eine gewaltfame, heftige Bewegung 
tritt, die Sagerfeit der Körperformen weiſt alles weltliche Beha⸗ 
gen im Zuſchauer ab und wirft ihn in fein Innres zurüd, doch 
nit, um bier die Seligfeit der Liebe, fondern bie Schmerzen der 
Entfagung zu enipfinden und im Bemußtiein feiner Sündhaftigfeit 
fih von jener aus goldner Verne ernſt hereinblickenden jenfeitigen 
Welt göttlicher Geftalten ausgeſchloſſen zu fühlen. Die Italiener 
nahmen. diefe Kunftform von ben Griechen auf, da ihre eigne 
Kunitthätigfeit noch ungleich tiefer gefunfen war. Mehrere Co⸗ 
yien nad) Mofaifen aus dem achten, neunten und zehnten Jahr⸗ 
hundert, namentlich drei Blätter nach den Mofaifen in ©. Praf- 
jede zu Nom vom Jahr 818 geben in unfrer Sammlung von 
diefem tiefen Derfalle der italienischen Malerei eine Anſchauung. 
Eine meitre Folge trefflicher Blätter führt und dann in den byzan⸗ 
tinifchen Styl ein, wo mir und fogleich überzeugen, daß ein fo 
tiefes Sinken, ein ſolches Ausfüllen vieler Umriſſe mit. Farben⸗ 
flecken, ein ſolches Aufgeben aller Mitteltöne und Schatten-Meber- 
gänge, wie in Italien, in Byzanz nicht flattfand, und daß bie 
Zeichnung bier einen ſchwachen Nachſchein antiken Formgefühls 
immer noch durchſchimmern laßt. Die Italiener blieben aber nicht 
lange bei dem äußerlihen Aufnehmen viefer byzantinifchen Weile . 
fiehen ; gegen das Ende des dreizehnten Jahrhunderts bemerkt 
man bereit3 ein fühlbares Anſteigen, wie z. B. in dem merfwürs 
16 * 


244 


digen Mofaif der Tribune in ©. Maria maggiore zu Ron, das 
Jacopo da Torrito gegen 1290 ausführte. Hier ift ſchon Weich- 
heit der Behandlung, Ausdrud innren Xebens fihhtbar, Maria 
ſcheint mit einer Bittenden Bewegung ihrer Hände der hohen, gött- 
lihen Ehre, die ihr Chriſtus erweiſt, indem er ihr die Krone 
auffegt, in holder Beſcheidenheit ſich zugleich ermehren zu wollen, 
indem fie diefelbe demüthig hinnimmt, die Gewänder find ſchon 
fließender behandelt, durchgängig zeigt ſich eine freiere Regung. 
Noch mehr würde biefer Fortſchritt einleuchten, menn Rambour 
bie Moſaiken in der Vorhalle ver Marcus-Kirche zu Venedig auf- 
genommen hätte, deren fichtbar reinere und naturgemäßere Zeich- 
nung Rumohr veranlaßt hat, fie ins fechfte oder flebente Jahr⸗ 
hundert zu ſetzen, wo ſich ihr Kunſtwerth aus den damals noch 
dauernden Reminifcenzen antiker Motive erklären würde, die jedoch 
nad) neueren Korfchungen offenbar ind dreizehnte Jahrhundert 
fallen. Außer dieſen Moſaiken giebt unſer Künſtler eine Auswahl 
von Wandgemälden im byzantiniſchen Style, die uns bereits in 
jenes herrliche Local führt, wo die ganze myſtiſche Gluth mittel⸗ 
alterlicher Andacht fich zuſammendrängte, nad ©. Francesco in 
Aſſifi. In der Ajcefe, ven Geſichten und Verzückungen des h. 
Franciscus, in der ſchwärmeriſchen Verehrung fe.ned Andenkens, 
feines Leichnams haben wir, wie Rumohr dies zuerft in Erinne- 
rung gebracht bat, den Brennpunet zu fuchen, in welchem jene 
Entzündung des fubjectiven Lebens eintrat, das wir oben als 
Bedingung einer neuen, den Geift der hriftlichen Zeit eingenthüm- 
ih ausſprechenden Kunftftufe forderten. Wirklich iſt e8 jene 
prachtvolle, über dem Grabe des Heiligen fi} erhebende Doppel- 
firche, in welcher, wie der jo eben aus Deutſchland übergeflebelte 


245 


Bauſtyl des Mittelalters, fo auch die Regungen eined neuen Les 
bend in der Malerei ihre Stätte finden. Außer jenem Aufglühen 
eined neuen innren Lebens wirkte allerdings zugleich ein Äußeres, 
formelles Moment mit; denn obwohl im Allgemeinen der Drang 
ded Mittelalters zunachft dahin ging, eine Kunft zu ſchaffen, 
deren Charakter eine, ſelbſt auf Koſten der Form einſeitig herr⸗ 
ſchende Innerlichkeit ſein ſollte, ſo mußten doch eben, um für 
dieſe die rechte Geſtalt zu finden, die erſten Schwierigkeiten der 
Darſtellung überwunden ſein. Es war in Piſa, wo dem Bild⸗ 
hauer Nicolaus durch das Studium der Bildwerke eines antiken 
Sarkophags zuerſt wieder ein Gefühl reinerer Form aufging, und 
ſein Vorgang ſcheint in derſelben Stadt entſprechende Regungen 
in der Malerei hervorgerufen zu haben; denn der erſte Maler, 
in deſſen Werken wir ein kräftiger durchdringendes Streben nach 
freierer Bewegung erkennen, iſt der Piſaner Giunta da Piſa, 
deſſen ſehr beſchädigte Fresken Nanıbour in vier Blättern darſtellt. 

Der höhere Beruf aber war der blühenden Toscana und 
ihren ſinnigen Bewohnern vorbehalten; zwei Städte, kräftig durch 
Bürgerfinn, gedeihend in Wohlhabenheit, wetteifernd in der Pflege 
alles Schönen, treten ſchon in der zweiten Hälfte des dreizehnten 
Jahrhunderts mit den berühmten Namen hervor, welche an der 
Spitze einer ſo langen und glänzenden Kette ſtehen: Duccio von 
Siena und Cimabue von Florenz. Ramboux behandelt die zu 
wenig gefannte ſieneſiſche Schule, deren eigentliche Bedeutung im 
Gegenfage gegen die floventinijhe und in ihrer ganzen Wichtigfeit 
für die Entwicklung jenes fubjectiven Moments im vierzehnten 
Jahrhundert erft ftärker hervortritt, mit fihtbarer Liebe. So hat 
es mehrere Werke der Vorgänger des Duccio, worunter dag Ma⸗ 


246 


bonnenbild von Guido da Siena in S. Domenico nicht fehlt, zu 
bellerer Beleuchtung des wunderbaren Fortſchritts zufammengeftellt, 
den jener Duccio um das Ende des dreizehnten und den Anfang 
des vierzehnten Jahrhunderts machte. Bon feinem berühnten 
Bilde im Dome zu Siena tft nur die eine Seite: Madonna niit 
dem Kinde, von Heiligen umgeben, copirt; Schade, daß Ram⸗ 
bour nicht auch die Scenen aus der Leidensgeſchichte auf der an⸗ 
deren Seite aufgenommen hat, denn der Fortſchritt zu pramatifchem 
Leben in figurenreicher Handlung, zur Darftellung der Leidenſchaft 
mit ihren Gontraften und Abftufungen, wie er vereinigt mit über⸗ 
rafhenden Zügen wahren Schönheitögefühls auf dieſem Theile 
des Gemäldes hervortritt, ift noch wunderbarer, als die tiefe und 
warme Seele, welche in jenen Madonnenbilde noch mitten zwi⸗ 
fhen den Härten byzantinifcher Formen fo einzig überrafcht. 
Duccio wurde nicht fo berühmt, und fteht doc mindeſtens ebenfo 
bo, als Cimabue der Florentiner, movon der Grund theils in 
dem größeren Ruhme liegt, den fpäter Florenz erwarb, theils 
in der Gelegenheit, die dem Cimabue ſich eröffnete, in einem fo 
weitberühnten und von Andächtigen aller Gegenden Italiens be= 
ſuchten Locale, wie die Kirche in Aſſiſi, fih auszubreiten. Ram⸗ 
bour hat von Cimabue Feine der beiden Madonnen zu Ylorenz 
aufgenommen, die einft alle Volk ald ein Wunderwerk entzücdten, 
und in denen wir jebt kaum den erften Anbruch weicherer Formen, 
erwärntten Ausdrucks finden; dagegen führt er und in bie obere 
Kirche zu Aſſiſt und zeigt und, wie der wackre Altvater ver 
Malerei in größeren Gompofitionen fih allmälig aus der byzan- 
tinifhen Härte herausringt und in jenen Darftellungen großer 
Kirchenlehrer und biblifcher Scenen nach ernfter Größe charakter⸗ 


o ⸗ 


247 


voller Geftalten, nach bewegter Handlung und Gruppirung müh⸗ 
ſam hinſtrebt. 

Inzwiſchen find wir ſchon ind 14. Jahrhundert hinübergeſchritten. 
Die ſtreitenden Kräfte nehmen jetzt eine andere Stellung gegen einan⸗ 
ber ein. Bis dahin wandelten wir in der Gruft der byzantinijchen 
Mumien, einzelne Lichtftrahlen ftreiften herein und zitterten ſchüch⸗ 
tern durch das Dunkel. Jetzt ift das Licht erftarft und ringt wie 
bie aufgehende Sonne mit großen Nebelmafien: es ift die Periode 
bed Kampfes mit unentſchiedenem Siege, mit gleichen Kräften, 
deren vorherrfchender Ion daher firenge Schärfe und Gewaltſam⸗ 
keit iſt. Die Knechtichaft der byzantiniſchen Veberlieferung ift ge⸗ 
brochen; keine ftabile Autorität bindet mehr den feiner Kräfte ſich 
bewußten Geift; er wagt e8, die Augen aufzuthun, frei herum⸗ 
zugehen, die Dinge anzufehen, mie fie find, er merkt fich bie 
flarfen Grundzüge aller Erſcheinungen, Stimmungen ; Leiden⸗ 
ſchaften; aber er flieht noch nicht die feineren Mebergänge, melde 
ihre Harte Beftimmtheit vermitteln, nicht die unendlichen Brechun⸗ 
gen jener allgemeinen Züge im Individuum: daher hat er nur 
Eine ftehende Phyfiognomie, nur Ein Exemplar. Wer kennt nicht 
die Geftalten des Giotto fogleich an ihren ſchmalgeſchlitzten Augen, 
an den langgezogenen, doch an Nafe und Kinn abgeftumpften 
Profilen, der unterfeßten Figur u. f. w.? Die feltfame Behand⸗ 
lung des Auges 3. B. mag er theild aus Oppofition gegen bie 
flarre Größe ber griechifhen Augen angenommen ‚haben, theils 
aber und gewiß noch mehr leitete ihn die Beobachtung, daß An⸗ 
dacht, Fromme Scheu und ähnliche Stimmungen die Augenlieber 
zufammenziehen, um durch dieſe Bedeckung anzuzeigen, daß ber 
BULL jet nicht mit freier Ueberlegenheit die Objecte als dem Geiſte 


248 


untergeorbnete erfaflen fol; und allmälig wurde ihm biefer Zug ‘ 
ſtehend. Diefe noch abftracte Beobachtung des Lebens trifft 
mit der firengen Obfectivität deö inneren Sinnes, welcher mit den 
großen Vorftelungen der Kirche noch einfach verwachſen ift, in 
Einem Refultate zufammen: der Charakter der Schule Giotto’s, 
von welcher wir reden, iſt firenge Sächlichkeit, einfaches Los⸗ 
gehen auf ven Gegenftand, es ift mehr um Wahrheit, ald um 
Schönheit, ja um bie erftere felbft auf Koften der letztern zu thum, 
und eine Hinneigung zu allegorifchen Darftellungen im Geifte und 
ſelbſt in unmittelbarer Benutzung des Zeitgenoffen Dante ift hie⸗ 
mit von felbft gegeben. Died Alles ſpricht fich noch durch unvoll⸗ 
fommene Mittel im Charakter einer unendlichen Naivetät aud; die 
Kunft iſt nicht mehr durch ein fremdes Gefeß, wohl aber noch 
durch ihre eigene beſchränkte Gefchicklichkeit gebunden; die Hand 
kann der inneren Anſchauung noch nicht folgen, die Compoſition 
ift Häufig noch architektoniſch, ſtatt maleriich, und wo die Geftal- 
ten in wirklicher Wechfelbeziehung ſich gegeneinander hinwenden, 
da fehlt noch die Leichtigkeit, es ift, als zwänge fie Jemand, ver 
ihnen die Fauſt in ven Nacken febte und fe gemaltfam vordrückte. 
Und ſamt allen diefen Härten, dieſen infältigfeiten , dieſer 
ſchonungsloſen Strenge — ich behaupte keck: unfere moderne 
Kunft mit al ihrer Fertigkeit dürfte ſich Glück wünſchen, wenn 
fie nur ſchon wieder da flünde, wo der ehrliche alte Giotto ftand. 
Er war in der Sache, er war Eind mit der Welt, in der er ala 
Künftler wie als Menſch ſich bewegte, daher ift er zwar hart, 
aber auch groß und ehrfurdtgebietenn. Es giebt ein anderes 
höheres Verhältniß des Künftlerd zu jeinem Stoffe: von ihm 
erfüllt fein und doch frei darüber ſchweben, Einheit ver Be⸗ 


249 


geifterung und ber Ironie; wir Neueren aber bewegen und, fo 
ernſt es und zu fein feheint, nur in dem einen diefer Momente, 
dem ironijchen, d.h. wir find mit unferm Bemußtiein und unferer 
Innigfeit aus den Stoffen heraus und treiben und nad) der Will« 
für ſubjectiver Sreiheit vom Hundertften zum Taufendften. — Die 
Schule des Giotto iſt von Romboux reihlih bedacht worden; 
auch Hier befolgt er feinen Grundfaß, vieles biäher wenig ober 
nicht Bekannte aus dem Dunkel überfehener Lokale hervorzuziehen. 
Der Meifter ſelbſt ift unter Anderem ganz würdig vertreten durch 
feine Danteöfen Allegorieen zu Aſſiſi, die drei Gelübde des Heil. 
Branziscus, und durch den berühmten Schmuck der Kirche S. Marla 
del? Incoronata zu Neapel, die Darftelung der ſieben Safras 
mente. Unter manden, theild bekannten, theils namenlofen 
Werfen aus der Schule Giotto’8 hat auch der, ſeit Rumohr viel 
leicht mit Unrecht unter die Mythen verfebte Buffalmaeo eine 
Stelle erhalten, nicht mit feinen Werfen im Campo fanto zu 
Piſa, fondern mit drei neuteftamentlihen Scenen in der Kirche 
zu Aſſiſi. Zu bedauern ift, daß unfer Künftler, der freilich die 
Beſtimmung unmittelbarer Belehrung, die jet feine Arbeiten ges 
funden haben, nicht urfprünglich im Auge haben Eonnte, zweierlei 
Erſcheinungen überging, die für die Schule des. Giotto befonders 
merkwürdig find. Auf der einen Seite nämlich weiß ich nicht 
Veit ein Werk, worin die naturmahre, aber harte und ſchonungs⸗ 
Iofe Sächlichkeit dieſer Schule fchärfer hervortritt, als den Triumph 
des Todes und das Weltgericht ded Orcagna im Campo fanto 
zu Piſa; ein Lokal, das Rambour wohl deßwegen mıt feinem 
audgezeichneten Pinfel nicht befucht hat, weil er es durch das 
bekannte Werk des Lafinio für hinlänglih befannt hielt; aber 


4 


230 


welcher Genuß müßte es fein, den Schmud jener merkwürbigen 
Hallen in der Kraft der Barbe erneut zu fehen! Auf der andern 
Seite fehlt der florentinifägen Schule des vierzehnten Jahrhunderts, 
die wir nad) ihrem Streben, bie heiligen Geſchichten in den ſchar⸗ 
fen Orundzügen der in ihr thätigen Affecte varzuftellen, als eine 
vorzüglich pathetifhe und dramatifche bezeichnen und mit ber 
frühften kitchlichen Schaubuͤhne des Mittelalters vergleichen kön⸗ 
nen, doch das entgegengeſetzte Moment der weicheren Anmuth, 
des idylliſchen Gefühles mit den entſprechenden idealeren Formen 
nicht völlig; Taddeo Gaddi war es beſonders, der dieſen Weg 
einſchlug, Nambour hat jedoch nichts von ihm, ſondern nur ein 
Gemälde ſeines Sohnes Giovanni Gaddi -aufgenommen. Der 
trefflihe Nicola di Pietro, der in biefem Geiſte ſich noch höher 
bob und dem Adel der Seele den Meiz der Schönheit in einem 
für diefe frühe Epoche überrafchenden Grade zu vermählen wußte, 
fand feine Stelle. 

Wir fcheinen von demjenigen Punkte, den wir von Anfang 
an juchten, durch die Betrachtung der Schule des Giotto abge⸗ 
fehweift zu fein. Die hriftlihe Kunft, fagte ich, ftrebte danach, 
ben Ausdruck für die Unendlichkeit eines vertieften Seelenlebens zu 
finden, und bier trat vielmehr eine jehr bedeutende Schule vor 
und, die einen vorherrſchend objectiven Charakter trägt, indem 
nicht der muſikaliſche Wiederhall der göttlichen Offenbarung in 
ben erzitternden Tiefen de8 Gemüths, fondern die großen That⸗ 
ſachen dieſer Offenbarung felbft ihre vorherrichende Aufgabe 
waren. Es ift aber nicht zu überfehen, daß der Geift der chrift- 
lichen Kunſt, ven wir allerdings durch die Präpicate der Innerlich- 
feit und Subjectivität bezeichnen mußten, felbft wieder den Gegen- 


u‘ 


251 


ſatz einer objectiven und ſubjectiven Richtung aus fich hervortrieb, von 
welchem das erftere Moment auszubilden im vierzgehnten and noch 
mehr im fünfzehnten Jahrhundert die Beftimmung ber florentini« 
hen Schule war: Verglichen mit der byzantinifchen Lebloſigkeit 
erſcheinen auch die Teivenjchaftlich bewegten Darftellungen der flo⸗ 
rentinifchen Schule als fubjective Beſeelung eines vorher töbten 
Stoffes; vergleichen wir diefen Schritt mit vemielben Schritte, 
den die antike Kunft durch Belebung der vorher flarren Götter- 
bilder vollzog: fo ift der Einn, in welchem dies in beiden Welt: 
altern gefhah, Boch immer noch fo verſchieden, als das chriſt⸗ 
liche Gefühl von dem griechiſchen, die Suhjectivität von ber - 
Objectivitaͤt. Allerdings blieb es num aber Aufgabe der chriftlichen 
Malerei, nicht nur die großen Thatfachen der Offenbarung jelbft, 
fondern aud) ihr Echo in den Tiefen der Seele, biefe fubjective 
Einwohnung ausdrücklich zu ihrem Gegenftande zu machen; und 
dies war nicht der florentinifchen Schule vorbehalten, welche mit 
dem ihr ſtets eigenen Wirklichkeitägeifte die gefchichtlichen Stoffe 
fefthielt, fondern ver weichere Sienefe war e8, der zuerft in dieſes 
innere Heiligthum hinabftieg. 

Die überrafhenden Anfünge ded Duccio in der Beherrichung 
ber Form, in der Darftellung bewegter Handlung fanden in ſei⸗ 
ner DVaterftadt keineswegs unmittelbare Nachfolge; die Sienefen 
befreien fich fchwerer und langſamer, al3 die Florentiner, von der 
byzantiniſchen Härte, die alterthüimlichen Motive dieſes Typus ſa⸗ 
gen ihnen ſogar aus innern Gründen zu; biefe flillen Gruppen 
der Mutter mit dem Kinde von Heiligen und Engeln angebetet, 
dieſe feinen langen Hände, diefe hagern Figuren, biefe ſchmächti⸗ 
gen Köpfe bieten ſich dem ftillen und fchüchternen Liebeslchen ver 


252 


Seele, dem diefe Schule ihre Kräfte weiht, als willkommne For⸗ 
men dat. Wir lernen in unfrer Sammlung die wichtigften Mei- 
ſter diefer Schule kennen; zuerft Simone di Marino (fonft Simon 
Memmi) und Lippo Menmi, vom Lebtern insbeſondre fein be— 
deutendſtes, fonft faft unbekanntes Werk im Rathhaufe zu ©. 
Simignano, vom Erftein die berahınte Madonna im Gerichtsſaal 
bes öffenilichen Palaſtes zu Siena, die Uebermalung und Um⸗ 
ſchaffung eines Altern Werkes, nebſt zwei Heiligenbildern in Aſſiſi. 
Von beiden zuſammen hätte auch jene rührende Annunziata im 
Corridor der uffizien zu Florenz, worin die Jungfrau mit einem 
zwar mühſam, aber doch glücklich dargeſtellten Ausdruck von 
Schrecken wie vor einen Gefrenfte nach der überirdiſchen Erſchei— 
nung fi} herumwendet, eine jhöne Vorftellung gegeben. Damit 
wir nun nicht vergeffen, daß Gegenſätze nicht abſolut auftreten, 
fondern wie in Florenz der weiche und feelenvolle Styl, fo in 
Siena die Ausbreitung nach der Seite der Wirklichkeit und Hand⸗ 
Jung nicht fehlt, treten bie naiven Lebensbilder und entgegen, wo⸗ 
durch Ambrogio di Lorenzo (oder Lorenzetti) in der Sala delle 
baleftre deſſelben Hauſes die gute und fchlechte Negierung ver- 
finnlichte. Bon feinem Bruder, dem anmuthigen Pietro, erhalten 
wir eine Geburt Mariä im Dome zu Orvieto. Zwei Bilder füh- 
ren in die Befanntichaft mit Berna ein, und der liebliche Taddeo 
di Bartolo, doppelt merkwürdig, weil durch jeine Thätigkeit in 
Umbrien der fehlummernde Künftlergeift in diefer Landſchaft ent» 
bunden wurbe, ber bald in derfelben Richtung das Höchfte erftei= 
gen ſollte, erfcheint in dem Begräbniß und der Himmelfahrt Maria 
in der Gapelle deſſelben Stadthaufes zu Siena in feiner ganzen 
Sreundlichfeit und ftillen Treue. Auf dieſem Puncte blieben aber 


253 


bie Sieneſen auch fiehen, und wir Eönnen bier, ohne die innere 
Ordnung zu flören, ein Baar Schritte vorwärts ins funfzehnte 
Sahrhamdert thun, die Madonna von Matteo di Siena, die Krö- 
nung der Jungfrau von Sano oder Anſano di Pietro betrachten, 
wo wir noch biefelbe unentfaltete, aber. füßen Hauch duftende 
Knofpe finden. 

Aber jebt fiehen wir vor den großen Entwicklungen des funf- 
zehnten Jahrhunderts, diefer Schwelle der höchften Reife. Halb 
ft die Roſe aufgebrochen, Halb fheint fie noch Befch’mf zu zau⸗ 
dern, ihr glühendes Geheimniß zu entfalten. Das Licht und die 
Freiheit Hat geflegt, dad Dunkel und bie Unfreiheit iſt an den 
Rand des Horlzonted gedrängt und legt fi nur noch als ein 
fhmaler Saum an den Grenzen hin. 8 ift, als fühen wir die 
reizende Erfcheinung fungfräulicher Schönheit, die eben zur Mann⸗ 
barkeit übergeht: die Formen füllen und runden ſich, die Gliede⸗ 
rung wird freier und beftimmter, aber ein Reſt mädchenhafter 
Herbe und Schüchternheit ſcheint die reisende Bildung von dem 
Schritte zur höchſten Reife zurüczuhelten, eine rührende Unge⸗ 
ſchicklichkeit miſcht fih noch zmifchen die beginnende freiere Herr⸗ 
haft über vie Bemegungen, das Auge blickt träumend über bie 
unendliche Bebeutung neuer Ahnungen in bie noch unverftantne 
Welt hinaus. Diefe Erfheinung war e8, von deren Schönheit 
tie deutſche Malerei beraufcht wurde, als fe fi, müde ver über- 
reifen Geftalten ded achtzehnten Jahrhunderts, unbefriedigt «uch 
durch die kalte Volllommenheit der erneuerten claſſiſchen Formen, 
in das Mittelalter zurückwandte. Man Eonnte ihr dieſe Entzüdung, 
wenn fie nur einem freiern Urtheil wich, gerne verzeihen. Denn 
wenn es wahr it, daß die höchfte Neife nur einen Augenklid 


254 


dauert, daß mir der jatten Fülle auch die erften Spuren der Ueber⸗ 
jättigung, mit der Freiheit auch die erften Auswüchſe der Willfür 
alsbald ſich anfegen, wenn felbft ein Naphael auf der höchften 
Stufe feiner Entwicklung bereitö die erften Spuren effectſuchender 
Birtuofität zeigt, jo mag man gern bei der holden Unbemußtheit 
verweilen und felbft in ihre Härten und Naivetäten ſich verlieben. 
Wer erholt fich nicht jest noch von ber unruhigen DVielthätigfeit 
unfrer heutigen Kunft, ihrer anfpruchvollen Weflectirtheit, ihrer 
innerlichen Greifenhaftigfeit in der Anſchauung jened erften ſchö⸗ 
nen Jugendtages? Vreilih aus denfelben Gründen, aus denen 
man jene erfte Begeiftrung für diefe Epoche rechtfertigen muß, er= 
fheint es aber auch, ald die äußerfte Verfehrtheit, einen folchen 
Zuftand künſtlich wieder zum Geſetze der Gegemvart. erheben zu 
wollen, aus ber Bewußtheit und der Abjicht Heraus die Maängel 
der Unbewußtbeit, die unbefangne Härte der Abfichtälofigkeit zum . 
Looſungswort zu wählen; ed ift, als ob ein gemachter Dann, 
um jugendlich, Eindlich zu erfcheinen, ſich ftellen wollte, als Eünne 
er noch nicht recht gehen. 

Diefe letzte Stufe vor dem Ideal zu erreichen, fehlägt ſich der 
Weg in zwei Aeſte außeinander, oder richtiger, ein ſchon vorher 
fihtbarer Gegenſatz bildet fich jebt noch beftimmter aus: der 
Gegenfag der florentinifhen und ſieneſiſchen Schule, nur daß 
jest an die Stelle der letztern die umbriſche tritt. Nicht bälver 
follte, wie wir dies im Anfang dieſes Ueberblicks ald inneres 
Geſetz aufftellen mußten, die hriftlihe Kunft den unendlichen 
Gehalt wieder der harmoniſchen Form vermählen, als bis für 
jenen berjenige Ausdruck gefunden war, ber feiner afcetifch- 
myſtiſchen mittelalterlihen Auffaffung entſprach. Aber nicht un⸗ 


255 


vorbereitet konnte dann die jchöne Form eintreten, lange umb 
ſchwierige Vorftubien jegte ihre Erreihung voraus. Zu der glei⸗ 
Gen Zeit aljo, da man die innigfte Tiefe des Ausdrucks fuchte, 
mußte man auch bereitö die ſchöne Form fuchen. Dies ift aber 
auf dem Stanppunfte des Mittelalters ein Widerſpruch; nur eine 
gewiſſe befondere Art von Schönheit der Form mar mit dem 
ächten Ausdruck feines religiöfen Bewußtſeins verträglich: unent= 
wickelte jugendlich zarte, ſchmächtige, oder alters⸗ und lebens⸗ 
mübe Züge und Formen, wenig Handlung, ſtille andächtige 
Gruppen. Das Reich Chriſti ift: nicht von dieſer Welt, aljo durfte 
fo wenig Welt ald möglich in feine Darftelung aufgenommen 
werden. Da man nun dennoch zu gleicher Zeit, von der Grund⸗ 
bedingung alles Eünftlerifhen Thuns getrieben, die Form, bie 
Sandlung, die Welt mit vollen Kräften fuchte, fo war die noths 
wendige Folge, daß. zwei Schulen hervortraten, deren eine an 
Innigfeit und ächter religiöfer Begeifterung verlor, was fle an 
fhöner Form gewann, die andere an Form einbüßte, mas fie 
an Tiefe der Seelendarftellung erreichte. Wir willen fehon, melde 
Säule die Entwidlung des Formlebens übernahm, fie hatte dieſe 
Aufgabe eigentlich bereitd ergriffen: das heitere Florenz, mo 
zuerft die freie Wiſſenſchaft, die Kenntniß der Alten wieder auf- 
blühte, wo die Mediceer eine Platoniſche Akademie gründeten, 
Brunneleschi die Formen der clafftichen Architektur wieder auf⸗ 
nahm, Paolo Uccello die Perfpective, Andere das anatomifche 
Praͤparat, ven Gyps⸗Abguß ſtudirten, wo die Bildhauerei noch 
vor der Malerei durch einen Ghiberti, Donatelo, Luca della 

Robbia fo überraſchende Fortfchritte machte, von mo die luſtige 
Geſellſchaft des Bocaccio nach ihrer Billa zieht, um fich jene 


256 


neckiſchen Gejchichten zu erzählen, woraus zu erlernen, daß jeder 
Menſch ein Menſch ift, Abt und Nonne, Biſchof und Mönch, 
Abbate und Einfiedler: dieſe wohnlihe, freundliche Stadt, nah 
welcher Ghiberti dad Heimweh Hatte, wenn er Taum erft ihre 
Mauern verlafien, iſt der Sit des mächtigen Formſinnes, der 
aus der Mönchskutte unaufhaltfan heraudringt, die große Zeichen⸗ 
ſchule, die Univerfität ver Maler ſchon im fünfzehnten Jahrhun⸗ 
dert. Man verftche aber unter Form nicht bloß Zeichnung und 
Farbe; der wichtigere Theil derſelben ift die Gompofition, und 

dieſe nicht ein Außerliches, für fich beftehendes Moment, fondern 
wo Compofttion fein fol, wird Handlung, Bewegung, natur= 
gemäße, nicht miraculd8 durchbrochene Werhfelbeziehung thätiger 
und leidvender Menſchen, und um dazu den Weg und die Mittel 
zu finden, wird Weltfinn, ſchöne Menſchlichkeit worausgefegt. 
Niemand Eonnte hiezu mehr berufen fein, als die feinen, heiteren 
Blorentiner, die früher al irgend Jemand im Mittelalter gebil- 
det waren und fich auf dieier ſchönen Welt, in ihren anflin- 
digen, wohnlichen Haufern, unter ihren fchönen Frauen, flarfen 
Kriegern, ſchlauen Staatsmännern, geiftreichen Gelehrten hei⸗ 
miſch, wohl und behaglich fühlten. Frühe brach daher bier ver 
Drang hervor, Diefe vertraute, freundliche Gegenwart in der 
Kunft wiederzugeben und wir müffen in jener den florentinifchen 
Malern des fünfzehnten Jahrhunderts gemeinfamen Sitte, um 
die heilige Scene, welche zunachft dargeſtellt werden follte, einen 
Kreis von Porträtfiguren, von fihönen Florentinerinnen, Ge- 
Ichrten, StaatSmännern zu verfammeln,, das erfte dunkle Stre- 
ben nach dem profanhiftoriihen Gemälde erkennen; denn biefe 
Zuſchauer find häufig wo nicht überflüfflg, doch mit folder Vor⸗ 


y 237 


Tiebe behandelt, daß die eigentliche religiöſe Aufgabe darüber zu 
£urz fommt; eine Geburt Mariä ober des Johannes wirb nur 
benüßt, um eine Kindbettftube in damaligem Style recht behag⸗ 
li wiederzugeben, ber Bau des babyloniſchen Thurms, um 
Nimrod und andere altteftamentlihe Zuſchauer durch Mebiceifche 
Fürſten und Prinzen verireten zu laſſen. Es iſt ein Suchen nad 
dem eigentlich hiſtoriſchen (nicht mythiſchen) Kunftwerf, das nicht 
zu fih, zur Ginficht feines Zieles kommen kann, weil Grund» 
anfhauung und Aufgabe noch tranfeenvent if. Es Eönnte jchei- 
nen, man müſſe dieje Darſtellungsweiſe vielmehr porträt» und 
genresartig nennen; allein die ftäbtifchen Zuſtände und Geftalten, 
die Hier auftreten, find mit einem Auge für das Stattlihe, Mar- 
fige, Bedeutende auögemählt, welches den Geift des Siftorifers, 
nicht des Porträteurd oder Genre⸗Malers verräth. Auch in ein= 
zelnen Leiftungen des Leonardo da Vinci, des Michael Angelo, 
des Raphael wollte das Hiftorifche Gemälde auftauchen; aber e8 find 
nur vereinzelte Bewegungen, die auf halbem Wege ftehen blieben; 
immer bricht wieder die Tranſcendenz herein, welche den geſchicht⸗ 
lichen Zufammenhang aufhebt. Man wird ganz verftehen, was 
ich hiemit meine, wenn ich 3. B. das Gemälde Rafael's als Bei- 
fpiel anführe, welches darſtellt, wie Leo den Attila bewegt, vor 
den Dlauern Roms umzufehren. Statt daß bier die beiden Haupt- 
figuren durch die einfach natürliche Wechfelbeziehung der religiöfen 
Beredtſamkeit und ihrer Wirfung auf ein barbarifches Gemüth 
gegenfeltig aufeinander bezogen wären, erjcheinen über Leo die 
GSeftalten des Petrus und Paulus in den Lüften, Attila blickt 
nad ihnen ftatt nad) Leo, und der innere Zufammenhang , bie 
Einheit, ja die Compoſition ift aufgehoben, indem der Papft, 
Kritiſche Gänge. 17 


258 


wenn Apoftel für ihn handeln, ganz überflüjftg wird. Die Aus- 
bildung des reinen, durch Feine mythiſche Tranſcendenz durch⸗ 
brochenen hiſtoriſchen Gemäldes war — nach langer Unter⸗ 
brechung, langen Vorarbeiten, einer andern, der modernen Zeit 
aufgeſpart. | | 

Im gegenwärtigen Zuſammenhang Fam eö aber zunächft nur 
darauf an, zu zeigen, wie bei den Slorentinern bie religiöfe Auf- 
gabe durch ihren Sinn für dad Menſchliche, Wirflihe, vertrau- 
ih Nahe, Bürgerliche nothwendig verfürzt werden mußte. Da- 
gegen übernahm nun die umbriſche Schule die Ausbildung des 
“ andern Moments, die Darftellung des innern Lebens der Andacht 
und Frömmigkeit. Sie, die Meifterin des Ausdrucks, hütet fich 
vor jener Ausbreitung und Cinwohnung in der Welt und flellt 
- dem aus goloner Deffnung der. Wolfen von jenſeits herüber- 
leuchtenden himmlifhen Wunder nur wenige, handlungslos 
gruppirte Geftalten aus der Wirklichfeit zus Seite, Die nun nad) 
dem nahen und doch fernen, geoffenbarten und doch verhüllten 
Geheimniß der Erlöfung mit trunfener Andacht, mit unfagbarer 
Wehmuth, mit einem Himmel von Schmerz und Entzüdung 
hinaufblicken. Diefe brautlihe Sehnfucht der ahnenden und träu- 
menden Seele erfcheint allerdings im Schmude ver Tieblichften 
Schönheit, aber jener zarten, weiblichen, fehüchternen Schönheit, 
nicht der weltlich freien und flarfen; nur die Glut der Farbe be- 
hält ſich Pietro Perugino, der Meifter dieſer Schule, nachdem er 
auf die Ausbeute feiner technifchen Studien in Florenz den. tiefern 
Ausdrud zu Liebe halb zu verzichten anfing, als ſymboliſchen 
Wiederſchein der Innern Magie feines Traumlebens vor. 


259 


Nicht ſogleich mit ihrem erften Auffhwung im fünfzehnten 
Jahrhundert ſpricht die florentinifche Schule ven bezeichneten Cha⸗ 
after volftändig aus. Die umbrifche Schule hat fich noch nicht 
entwickelt, jene beiden Aufgaben find noch nicht an zwei Organe 
vertheilt, jondern noch unentzweit fallen hoher Ernft, tiefe Innig⸗ 
keit und freied Streben nah Form zufammen. Bon den Bes 
gründer dieſer Epoche der florentiniſchen Schule, dem ehrwürdigen, 
feterlihen Majaccio zeigt und Ramboux nur eine Madonna mit 
dem Kinde, getreu feinem Zwede, vorzüglich das noch Unbe⸗ 
Fannte aus feinem Dunkel zu ziehen. Wie erwünſcht wäre es 
aber, von feinem geſchickten Pinfel ein würdiges Abbild der Kapelle 
Brancacci in ©. Maria del Carmine zu Blorenz zu erhalten, 
diefes Stubirzimmerd der größten Künftler, eines Leonardo da 
Binei, eines Rafael, eines Michael Angelo! Hier würden wir 
begreifen, wie es mit Mafaccio auf einmal Luft und Licht wird, 
wie eine große männlich ernfle Seele in die fatte Rundung, hie 
gehaltene Würde frei entwickelter Körperformen, bis heraus in 
die großartigen und doch unbefangenen Falten de8 Gewands, zu⸗ 
gleich aber mit dramatiſcher Entfaltung in die Wechfelverfhlingung 
harmoniſch componirter Gruppen ſich ergießt, wie mit der Durch⸗ 
führung der perſpectiven Gefege Die Malerei num erft ihrer Bes 
ftimmung entfpricht, ihrem Werke den vollen Schein der eignen 
Räumlichkeit zu geben. Wenn nun Maſaccio dur den hohen 
Ernft feiner Geftalten den profaneren Tendenzen ber fpäteren 
florentinifchen Schule zwar noch ferner fteht, jedoch den freiern 
Welt- und Natur-Sinn des Florentiners bereits durch bie freie 
Ausbildung der Form, durch Berfammlung porträtartiger Figuren 
um neuteftamentliche Scenen, durch fo manche genresartige Mo⸗ 

17 * 


260 


tive, wie 3. B. ben zitternden Nackten bei der Taufe, unverfenn- 
bar anfünbigt, fo iſt dagegen der fromme Fielole ein voller Be⸗ 
weis, daß anfänglich auch der florentinifche Geift noch an ber‘ 
alterthůmlichen Innigkeit kirchlichen Sinnes haftete. Ein Sommer- 
morgen der Andacht, eine Sabbathſtille liegt auf den Werfen 
dieſes Malerd, der noch ganz Mönch im firengen alten Sinne 
des Wortes, deſſen Eindliche Seele von jenem Verderben unbe- 
rührt iſt, das zu feiner Zeit bereits unaufhaltfam, als noth- 
wendige Folge ihrer Principien die Kirche des Mittelalters ergriffen 
hatte, und von welchem dad Leben eines Fra Filippo Lippi ſammt 
_ feinen unruhigen, wenig eblen, zadig gezeichneten Gemälden ein 
treues Abbild liefert. Es wird uns vor jenen frommen, ftillen - 
Bildern zu Muthe, als müßten wir mit dem tragifchen Helden 
der modernen Geiſtesſchmerzen ausrufen: 

Sonft ftärzte fich der Himmelsliebe Kuß 

Auf mich herab in ernfier Sabbathſtille, 


Da Hang fo ahnungsvoll ded Gloͤckentones Fülle, 
Und ein Gebet war brünftiger Genuß. 


Freilich folgte auch bier Ramboux der fihon erwähnten Methode 
feiner Auswahl, daher giebt er und Feine der jo harakteriftifchen 
Darftelungen himmliſcher Seligfeit, wie fle in den Uffizien, im 
Balaft Corfini zu Nom auf Fleinen Tafeln ſich finden, nicht Die 
Kreuzabnahme in der Akademie zu Florenz, an der wir fehen, 
wie die frommen Maler allerdings auch Scenen der Handlung 
nicht verſchmähten, doch nur folche wählten, wo flile Andacht 
oder tiefer Tautlojer Schmerz waltet; Feines feiner Wandgemälde 
aus der Kapelle des 5. Laurentius im Vatican, wo vielleicht 
mehr als anderswo die rührende Anmuth, der erfte leiſe Anklang 


261 


plaſtiſcher Formen fihtbar ift, die diefem zurückgezogenen Mönd) 
doch im Einzelnen erreichbar waren, auch Feine ver Treöfen im 
Klofter S. Marco, zu Florenz, wohl aber zwei Gruppen aus 
feinen, über dem beiwunderten Werke des Luca Signorelli gewöhn⸗ 
lich überfehenen Wandgemälden im Dome zu Orvieto, Ebenbaher 
erhalten wir von feinem Schüler Benozzo Gozzoli Feine feiner 
Fresken im Campo Santo zu Pifa, fondern nur zwei feiner uns 
befanntern Werke, das eine in Montefalco, dad andere in S. Gi» 
mignano. Jene Fresken find befanntlih von Laſinio geftochen, 
aber wie erfreulich wäre es, fle hier in ver warmen Wirkung der 
Barbe wieverholt zu fehen! Wir würden erfennen, wie dieſes hei⸗ 
tere Gemüth fich nicht mit der weltlofen Sonntagsftille des Mei- 
ſters begnügt, jondern herausgeht in heitere Villen, lachende Thäler 
und Vignen, unter die Loggien edler Gebäude, wo Pfauen ſtolziren, 
Kaninchen hüpfen, Tauben flattern und an dem Faden der alttefta= 
mentlichen Sage alle Zuftände patriarchalifcher Menfchheit, Geburt, 
Knabenipiele, Jünglingsfchieffale, Liebe und Krieg, Segen unb 
Fluch des Vaters, Hochzeitfefte, Ehe und Mutterliebe, Landbau 
und Weinlefe, aber auch Verwüſtung, Feuersbrunſt, Untergang 
im hellen Sonnenlichte einer milden und doch Fräftigen Objectivi- 
tät wie ein Epos vor und außbreitet. Liebenswürdiger Gozzoli! 
Nur einmal in jedem Jahre möchte ich an jener Wand des herr⸗ 
lichen Campo Santo auf= und niedergehen und alle Spannung 
und Unfprecherei der neueren Kunft im Anblick deiner gefunden 
und naiven Lebensbilder vergehen Eönnen! 

Unfere Sammlung eilt überhaupt über die weitere Entwicklung 
der florentinifhen Schule nunmehr etwas flüchtig hinweg, um 
bei der umbrijchen mit defto mehr Vorliebe zu verweilen. Nam⸗ 


262 


⸗ 


bour ſcheint und zeigen zu wollen, welche noch ungehobenen 
Schäge von wunderbarer Seelmfchönheit die ächtreligiöfe Malerei 
bed Mittelalter durch dieſe Säule zu Tage gefördert hat, und 
führt und daher an den erfien Regungen eined weltliheren 
Sinne, der biefe ganze Leben- Periode der Malerei von innen 
heraus aufzulöfen beftimmt war, ſchnell vorüber. Hierin feheint 
der treu befliine Dann doch nicht von aller dogmatiſchen Bes 
fangenheit frei zu fein; fonft würbe er einen Bra Filippo Lippi, 
Filippino Lippi, einen Cofimo Nofelli, ver in der Capelle von 
©. Ambrogio zu Florenz jo herrlich begann, um freilich, wie 
manche feiner Zeitgenofien, in verhärteter Handwerksmanier zu 
enbigen, nicht übergehen, um nur von Botticelli eine feiner Fres⸗ 
Een in ber Sirtin. Kapelle zu geben; er würde vor Allem Ghir⸗ 
landajo reichlicher bedacht haben, als bloß mit feinem, obzwar 
bereitö fehr tüchtigen Bilde, der Berufung des Petrus und An⸗ 
dreas zu Apofteln, in ber Sirtinifchen Kapelle und einem fonft 
unbekannten Werke zu ©. Gimignano, er würde durch Nachbil⸗ 
dung ſeiner ſchönen Fresken in der Kapelle Saffetti i in ©. Trinitä 
und der noch fehöneren im Chore von S. Maria Novella zu Flo⸗ 
renz zeigen, welche freundliche, bürgerlich menfchliche Gegenwart, 
welch Hieblicher und edler Anklang antiker Motive in den Werken 
dieſes ſchlichten, naiven, in der Technik ausgezeichneten, die flo= 
rentinifche Schule befonderd treu vertretenden Meifterd ſich aus⸗ 
breitet, Dagegen hat Nanıbour nicht verfüumt, den merkwür⸗ 
digen Vorläufer des Michael Angelo, Luca Signorelli, ung 
vorzuführen, in deſſen Werken ver affektreiche Geift diefer Schule 
mit ihrem hohen Formfinn, ihrem gründlichen Studium des or- 
ganifchen Körperd in eine bereitö fo gezeitigte Einheit zufammen- 


263 


fällt, daß wir ihn als bie reiffte Srucht der florentiniichen Schule 
des fünfzehnten Iahrhundert3 anfehen müffen. Im diefer Aufer- 
ftehung der Tobten, gemalt im Dome zu Orvieto, dieſen lob⸗ 
fingenden, biumenftreuenden Engeln, dem Sturz der Verdammten 
entfalten fich. ein Adel und eine Vollendung, eine Kühnheit in 
der Darftellung nadter und würdevoll befleibeter, in feliger Ruhe 
fich neigender, beugender, in wilder Verwirrung, Wuth, Vers 
zweiflung flürzender, ſchwebender, verfehlungener Körper, wo⸗ 
von zu Michael Angelo nur noch ein Schritt ift. 

Uber jetzt thut fich eine andere Welt auf: der ausgedehnte 
Kreis verengert fich wieder, wir treten ind innere Heiligtum der 
Seele, die hinweg aus diefer freundlichen Gegenmart.in unend⸗ 
. chen und namenlofen Gefühlen fi nach der ewigen Heimath, 
nach den verflärten Geftalten fehnt, die von da einft gekommen, 
um und zu fagen, wie ſchön und herrlich es dort ift: es öffnet 
Äh die umbriſche Schule und mit ihr das unendliche Liebesleben 
im Wechfelverfehr zwifchen der andachttrunfenen Seele und den 
himmlischen Kinde, das aus dem Schooße einer Jungfrau einft 
geboren ift. Noch erfcheint Buonfiglio, von welchem Rambour 
den Tod eines Heiligen im öffentlichen PBalafte zu Perugia copirt 
bat, ald ein mittelmäßiger Maler, in welchem kaum eine Spur 
von der tiefen Seele der umbrifchen Schule zu finden iſt. Nicolo 
Alunno und Matteo di Gualdo treten als die eigentlichen Bes 
gründer dieſes Styles auf, durch zwei Copien vergegenwärtigt. 
Ihr Höchftes aber erreicht die Schule durch Rafael's Meifter, den 
herrlichen Pietro Peruginv. In mehrere Städte-werden wir ver« 
feßt, die diejer Meifter mit feinen wehmüthig frommen Bilvern 
ihmückte, nad feiner Vaterſtadt Città della Pieve, nah Drvieto, 


264 


nah Montefalco, nah Pannicale, nach Perugia. Auf feinem 
der gegebenen Bilder wird man ihn beſſer Fennen lernen, als auf 
feinem herrlichen Prefepio (Anbetung der Hirten) auf ©. Fran⸗ 
cedco al Monte bei Perugia; doch hätte ich gewünfcht, daß von 
Diefem Maler der Seelenfchönheit im Acht Fatholifch mittelafterlichen 
Sinne des Worts niehrere der befonderd bezeichnenden Bilder ge= _ 
geben wären. Seiner tiefen und ſtillen Natur entfprechen vielleicht 
am melften jene einfachen Bilder, mo in bloßer Situation ohne 
Handlung Madonna mit dem Kinde in den Wolfen oder auf 
‚ einem Throne erfheint und ſehnſuchtsvolle, durch Leiden und 
Glauben geheiligte Menſchen zu ihr hinauf» ober in tiefem Träu⸗ 
men vor ſich Hinfehen. Solche Bilder fcheinen mir eigentlich ſym⸗ 
boliſch für dieſe Form des Ideals: jenes tiefe Infichfein der von 
dem Geheimniß der Menfchmerbung verzücten Seele, und dafür 
bat dieſer Meifter die abfolut entfprechenden Formen gefunden, 
jene himmliſch ſchönen und zarten, träumeriichen Jüngling3= und 
Jungfrauen= Köpfe, jened leidensmüde und doch felige Greiſen⸗ 
Angeficht, fened unfagbar Tiebliche, huldvolle Neigen der gött⸗ 
lihen Jungfrau, des Kindes, der Engel; das Dürftige und 
Unfreie der körperlichen Formen trifft mit der Schüchternheit ſol⸗ 
ches verfchloßnen Gefühlslebens ganz Yaflend zuſammen, und die 
einfache Situation der Anbetung muß ihm mehr zufagen, als 
bewegtere Handlung. Nicht Leicht erfcheint dies Alles ergreifender 
und hinreißender, als auf jener herrlichen Tafel in der Pinakothek 
zu Bologna, wo Marla dem Evangeliften Johannes, der h. Katha⸗ 
rina, der 5. Apollonia und dem Erzengel Michael erfcheint. Aller⸗ 
dings geht nun Peruging auch zu Compoſitionen wirklicher Hand⸗ 
fung fort, doch wählt er, wie Biefole, nur ſolche, wo aller Lärm 


269 


der Leidenſchaft entfernt ift, und nur Stille der Andacht und un« 
endlicher, aber ergebungsvoller Schmerz waltet. 

Das Leben der Maria ift das Gebiet, worin diefe Gefühls- 
weiſe eigentlich heimiſch fich bewegt, und das genannte Prefepio, 
fo wie dad andre Bild deſſelben Inhalts nach einem Gemälde in 
S. Maria delle Lacrime bei Trevi, ferner die ebenfalld coyirte 
Kreuzabnahme in Eittä della Pieve, worauf die ohnmächtige Ma⸗ 
bonna vorzüglich hervortritt, mögen bemeifen, daß hierin bie 
ganze Stärke des Perugino fich soncentrirt. Da aber Rambour die 
letztere Stadt nicht überging, fo hätte er uns ein ſchönes Geſchenk 
gemacht, wenn er auch die Anbetung der Könige in der jogenann» 
ten Chieferella ebendafelbft gegeben hätte. Mit welcher himmli⸗ 
hen Güte, mit welcher Ergebung in ihre hohe Würde, welcher 
füßen Schaam und welchen folgen Mutterglüd, mit welchem 
holden Nichtwiſſen und tiefen Träumen über das Geheimniß, das 
fie auf ihrem Schooße hält, blickt die Mutter über dad Kind hin- 
aus zur Erde, mit welcher irunfnen Andacht fehen die ernften 
Männerköpfe zu dem göttlichen Knaben hinauf! Die Welt des 
Schmerzes eröffnet ſich im Leiden Jeſu, aber Perugino ſtellt nicht 
es ſelbſt in feinen herben Kämpfen dar, fondern fein Ende, den 
Todten, der fo viel gelitten und in deſſen Antlig die Furchen des 
Leidens mit dem Ausdruck unendliher Güte fih durchdringen, 
und um ihn herum die Mutter, die Breunde, denen ein preifaches 
Schwert dur die Bruft führt, und an denen wir doch Feine 
heftige Geberde, Feinen lauten Schrei des Jammers, fondern nur 
ein ftille8, aber tiefes innered Weinen beinerten. Rambour gicht 
und eine foldhe Scene (eine Pieta, mie eö die Italiener nennen) 
aus der fyüteften Zeit des Malers, aber er hat in feiner beften 


— 


266 


Kraft biefen Gegenftand fo oft dargeſtellt, fo herrlich beſonders 
in dem berühmten, von einem Frankfurter fehr mangelhaft litho⸗ 
graphirten Gemälde in den Uffizien zu Florenz! 

Mit Liebe find auch mehrere talentvolle Schüler Perugino's 
bedacht: Pinturicchio (doch wäre es willkommen geweſen, auch eines 
der trefflichen Werke in der Kirche Ara Celi und in der Kapelle des 
Palaſtes der Conſervatoren auf dem Capitol, in S. Pietro in 
Montorio zu Rom hier mitgetheilt zu ſehen), Andrea di Luigi, 
genannt l' Ingegno, Tiberio d' Aſſifi, Girolamo Genga, Giovanni 
di Spagna ‚ Branc, Melangi von Montefalco, mehrere Unbe⸗ 
kannte, endlich Raphael's liebenswürdiger Vater mit ſeinen ſanf⸗ 
ten, rührenden Engelkindern. Und damit wir nicht vergeſſen, 
in welcher Zeit, an welcher Schwelle zum Höchſten wir uns be= 
finden, iſt jene Freske in S. Severo zu Perugia nicht vergeſſen, 
welche Raphael unvollendet hinterließ, als er zum zweitenmal 
nach Florenz wanderte, und Perugino ausführte: ein Werk, 
worin die Kräfte des Schülers ſchon ſo vielverſprechend über dem 
Meiſter ſtehen. 

Dieſe zwei Schulen, die ſlorentiniſche und umbriſche, in ihrem 
ausgeſprochenen Gegenſatze ſtellen die Bewegung der Malerei im 
fünfzehnten Jahrhundert bis in den Anfang des ſechzehnten ſo 
tactgebend dar, daß wir in ihnen den eigentlichen Geſammtbegriff 
derſelben erkennen. Doch hat Rambour nicht verſäumt, auch ver⸗ 
wandte Bewegungen zweiter Ordnung darzuſtellen, die und zu⸗ 
nächft noch auf einigen Puncten der Romagna fefthalten, In 
Bologna fland ein Meifter auf, ber dem Perugino jo innig ver⸗ 
wandt ift, daß man nothiwendig annehmen muß, er fei von deſ⸗ 
fen Geifte auch wirffih berührt worden: Francesco Francia. 


267 


M. giebt und von ihm drei Bilder aus Kirchen in Bologna, eine 
Gruppe von Apofteln, eine Madonna mit Heiligen, eine Ber 
fündigung Mariä. Könnten wir freilich auch die wunderbare An⸗ 
nunziata in Mailand, die Pieta zu Parma abgebilvet fehen, fo 
würden wir biefen Meifter in feinem ganzen Werthe erkennen, 
deſſen Madonnen zwar nicht den träumeriſchen Schleier Perugino's 
haben, ſondern aus den großen, dunkelbraunen, im blaͤulichen 
Weiß ruhenden Augen heller blicken, aber uns in dieſelben wun⸗ 
derbaren Tiefen geheimnißvoll andächtiger Gefühle einweihen. In 
Oberitalien legte fich die paduaniſche Schule, verwandt mit einer 
Gruppe der florentiniſchen (Caſtagno, Pollajuolo, Verocchio), 
insbeſondre auf anatomiſche Richtigkeit der Zeichnung nach plaſti⸗ 
ſchen Vorlagen und hob das Einzelne des Organismus mit jener 
harten Grüundlichkeit hervor, wie dies zu geſchehen pflegt, mo 
eine unreife Zeit dieſes Moment in feiner Abftraction ſich zu feiner 
Aufgabe macht. R. hat Feinen Maler dieſer Schule aufgenommen; 
fie ift auch, den trefflichen Andrea Mantegna audgenommen, nicht 
eben wichtig, da ihre herbe Zeichnung beftimmt war, in Venedig, 
wohin fie ſich verbreitete, in dem Schmelz der Farbe zu erlöſchen. 
Nur den Ferrareſen Lorenzo Eofta finden wir in unferer Sanım 
lung, in welchem bie Einflüffe diefer Schule auf Ferrara fich 
darftellen. Bon dem ſcharfen, charaktervollen Melozzo da Forli 
erhalten wir die zwei merkwürdigen Stücke, die der Vatican und 
der Quirinal aufbewahrt; in dem letztern, der Himmelfahrt des 
von Engeln umgebnen Erlöfers, erhebt er ſich über. die hartkan⸗ 
tige Strenge der Pabuaner bis in die Nähe des Luca Signorelli. 
x Aus Urbino ſtammt der liebliche Timoteo della Vite, fpäter Ra⸗ 
phael's Schüler, deſſen rührendes Magdalenenbild in der Pina⸗ 


268 


kothek von Bologna wir hier antreffen. Endlich führt uns R. 
aus der Reihe diefer einzelnen, meift kaum gefannten und doch 
merkwürdigen Meifter ven Lorenzo von Viterbo vor mit feinen 
Fresken in ber Kirche S. Marta della Veritä in feiner Baterftabt, 
Arbeiten, worin die Einwirkung der florentinifchen Schule auf 
ein Talent fihtbar tft, dad an Kormfinn und feinen Gefühl ihren 
beften Meiftern wenig nachgiebt. Wie ein verlorner Poſten fteht 
Neapel in der Gefchichte der italienifhen Malerei; Einflüffe der 
umbriihen Schule find zu erfennen, zugleich aber- auch der deut⸗ 
fehen, und die letztern äußern ſich beſonders in einer liebevollen 
Ausführung behaglicher, einladender Umgebungen, feien e8 wohn⸗ 
liche architektonische Räume oder landfchaftliche Hintergründe. Von 
den Fresken des Antonio Solario, genannt der Zigeuner, im 
Kreusgange von S. Severino , die Wunber des h. Benedict dar⸗ 
ftellend, giebt und R. drei jehr intereffante Stücke. 

Doc jetzt genug von diefer Zeit der letzten Vorbereitungen zum 
höchſten Auffhwung. Die Sonne des jechzehnten Jahrhunderts 
ift aufgegangen, alle bisherigen Nefultate werben zu bloßen Vor⸗ 
ftudien, die Rofe öffnet ihren vollen Kelch, der Zauber deö Ge- 
nius vereinigt, was bisher in Gegenſätze auseinanderfiel und an 
verſchiedne Schulen fich vertheilte; Ausdruck und Form, die gel- 
ftigfte Tiefe und die freifte Entfaltung derſelben zur körperlichen 
Erſcheinung gehen in die reine Harmonie des Ideals, des abſolu⸗ 
ten Styl3 zufammen. Das Mittelalter ſchüttelt eben, da es zu 
Ende geht, feine vollen Samenfapfeln aus und erzeugt eine Frucht, 
die feinen beften Kern enthält und zugleich unendlich über e8 hin⸗ 
aus iſt. Wir ſtehen jebt an jenem merkwürdigen Puncte, wo in 
Eind zufammenfließt, was bisher fich zu fliehen jchien. Wir 


269 


fahen , wie ber chriftliche Geiſt, nachdem vie Mefte ber antiken 
Kunſt, in deren Erbfhaft er zunächſt getreten, frühe erlofchen 
waren, fi eine eigne Kunftform fuchte, die feinem weltverach⸗ 
tend afcetifhen, muftijch glühenden Sinne entſprach, eine Form, 
worin die Unendlichkeit des Ausdrucks auf Koften der finnlichen 
Hülle und Entfaltung ihr Recht behauptete; wir ſahen aber auch, 
wie gleichzeitig der ununterdrückbare Trieb aller Kunſtbewegung 
nicht ruhte, die ſchöne Form aufzufuchen, die beitere vertraute 
Mirklichkeit, das offene Weltleben herbeizuzichen, wie aber eben» 
dimit auch jenes erfte Geſetz beeinträchtigt wurde. Denn der Geift 
des Mittelalterd Eonnte es nicht hulden, daß es dem Gemüthe 
mit feinem Himmel von Ahnung, Liebe, Sehnfucht au wohl 
fei-in dieſer Schönen Welt; nach einem fernen Jenſeits phantaflifch 
gerichtet follten die beften Kräfte auf ihre meltlichen Zwecke ver 
zichten ; wer fich dem Himmel weihte, follte der Erde nicht mehr | 
gehören, follte ehelos, willenlos, beſitzlos in Gebet, Gefängniß, 
Baften und Kafteien ven Leib abtödten. Indeſſen hatte fich aller 
dings diefe düſtre Abftraction thatfüchlich Lingft überlebt, freillch 
ohne ihr Prineip aufzugeben. Je firenger man Kirche und Welt 
fontern wollte, defto unaufhaltſamer war der meltliche Geift im 
die Kirche ſelbſt eingebrochen, denn, wie es in biefen Blättern 
ſchon fo treffend gejagt worden ift: das Gelübde ver Keufchheit, 
des Gehorfams, der Befiglofigfeit ſchwören, beißt das Gelübde 
der Wolluſt, ver Herrſchſucht und Habfucht ſchwören. Wie konnte 
ed überhaupt mit dem Princip der Aſceſe, der Verflüchtigung aller 
finnlich = fittlichen Kräfte ins blaue Jenſeits einem Bolfe in bie 
Länge Ernit fein in Leben und Kunft, das auf ver Stätte wan⸗ 
delt, wo taufend kunſtvolle Zeugen des verblichnen Lebens einer 


270 


noch ungebrochnen, ungetheilten Menſchheit täglich aus Schutt 
und Trümmern auferſtanden, wo die erneute Wiſſenſchaft jenes 
Leben objectiver Sittlichkeit, in welchem die Religion ſelbſt poli⸗ 
tiſcher Natur war, dem ſtaunenden Geiſte erſchloſſen hatte? In 
Deutſchland erfolgte die Kriſis des Geiſtes auf dem geiſtigen Bo⸗ 
den ſelbſt, die Reformation brach durch, auch hier nicht ohne 
ben mächtigen Einfluß der neuerweckten claſſiſchen Bildung; aber 
in der ernften Sorge um das innere Heil der Seele hatte hier der 
Menfch Feine Zeit mehr, um das heitere Spiel ver Kunſt fi zu. 
kümmern. In Italien dagegen fehen wir nun die wunderbare Gr- 
ſcheinung, daß auf einen Moment jene wiberfprechenven Extreme 
in der Kunſt ſich verfühnen: Kirche und Welt, afcetifch tranfcen= 
denter katholiſcher Glaube und antifer Zorn = und Lebensfinn. 
Ein Inhalt, der mefentlih als überſinnlich gefaßt ift, ſchlägt den 
lachenden Körper der Sinnlichkeit um und verflärt ihn zum Ideal. 
Das Bewußtfein des Künftlers ift frei, ift emancipirt, bindet ſich 
an feinen ängſtlichen Typus, Fein Pfaffengefeß mehr, erfreut 
fich unbefangen ver heitren Fabelwelt der Alten, und bleibt doch 
an-bie Kirche, ihre Glaubenswelt, ihre Stoffe gebunden. Nur 
einen Monient konnte dieſe höchſte Einheit von Widerſprüchen 
dauern, fie hatte, wie ich e8 früher in dieſen Blättern nachgewie— 
fen, ihren Feind in ſich felbft, und zwar auf doppelte Weife: 
die Schönheit hatte ihren Feind an den Gehalte, den fie um⸗ 
kleidete, denn dieſer war als ſchlechtweg überſchwenglich beſtimmt, 
und dieſer Gehalt hatte feinen Verräther an ver Schönheit, in 
die er ſich gehüllt. Der Sieg mußte nothwendig der freien, der 
formellen Seite zufallen, und da man doch die widerſprechenden 
Stoffe nicht aufgab, fo entſtand eine unmwürbige, ſubjective, ma⸗ 


271 

nierirte Behandlung Firchlicher Stoffe. Daher fehen wir mitten 
in der Zeit des religlöfen Kunft Ideals auch ſchon die Andeutun⸗ 
gen ber Leichtfertigkeit, daher ſchwankt Raphael felbft zwiſchen 
wahrhaft heiligen und zwifchen nur meltlih fchönen Madonnen⸗ 
Geſtalten, daher erfcheint in der Freiheit auch ſchon der erſte Keim 
der Willkür, und beginnen Mich. Angelo und Correggio, forte 
fie nad einer Seite die Kumftvollendung abſchließen, nach der 
andern die Ausartung, jener ind uberfpannt Gewaltſame, biefer 
ind abgefyannt Empfindſame und Lüſterne; jener in die falſche 
Kraft, dieſer in die falſche Grazie. 

Manmmbours eigentliche Aufgabe war, den Entwicklungsgang 
bis an biefen Punct zu verfolgen; diefen felbft, das Ziel, be- 
zeichnet er mit wenigen, aber meifterhaft geführten Strien. Zu⸗ 
nächft ericheint Leonardo da Vinci, der große Lehrmeifter dieſer 
Zeit der Vollendung, ich möchte ihn die über ſich und ihre Geſetze 
zum Bewußtſein gefonmene Malerei nennen. Er bewährt fich, 
um von feiner übrigen Vielfeitigfeit hier nicht zu reden, fogleich 
dadurch ald ein Genius, daß er auf beiſpielloſe Weiſe diefe Re— 
flexion der Kunft über ſich und die Kunft felbft, die ungeſchwächte 
Production vereinigt, Innerhalb der letzteren aber die Extreme der 
tiefen Innigfeit, der frommen, ftilen Seelen-Anmuth und der 
männlichen, im Handlung ſich ausbreitenden Energie, und diefe 
beiden Momente des Ideals in der Fülle der vollendeten Form. 
Schon in ihm fehen wir alfo eine Verſchmelzung des umbriſchen 
und florentinifchen Geiftes , die fir) in einer doppelten Neihe von 
Merken fo äußert, daß Ausdruck und Form in allen fich zur reifen 
Schönheit vereinigen, die eine Reihe aber in dramatifchen Com⸗ 
pofttionen das männliche in. reicher Handlung entfaltet, die andre 


272 


das fanfte weibliche Ideal in ſtiller Situation barftelt. In der 
erftern Richtung ſchuf er zwei weltberühmte Werke, die Kampf: 
ſcene in der Schlacht bei Anghiari, einen Garton, der nicht zur 
Ausführung Fam und bi8 auf einen in Kupferftich erhaltenen Reſt 
zerfiört ift, und das h. Abendmahl. Vom letzteren Werke kann 
man fogar fügen, daß es eine Durchdringung beider Formen ent⸗ 
halte; Chriftus und Johannes find Geftalten vol himmliſcher, 
ſtiller Sanftmuth, während rings um fle, durdzudt von dem 
Worte ChHrifti wie von einem eleftrifhen Schlage, die ernften, 
mächtigen Männergeftalten in der reichten Entfaltung marfiger 
Charaktere fich bewegen. In der andern Rriihe ſteht gewiß bie 
Vierge aux rochers an der Spize, dieſes wunderbar romantiſche 
Gebilde, wo im Dunkel der phantaſtiſch zerklüfteten, kaum dem 
Himmel einen Durchblick gewährenden Grotte an klarer Quelle 
die himmliſche Erſcheinung der h. Jungfrau mit jenem unſagbaren 
Lächeln und den reich umiſchattenden Locken über den kleinen Jo⸗ 
Hannes, der das Chriftusfind anbetet, fich herunterbeugt, wäh- 
rend ein freundlicher Engel ihr Kind halt. Alle diefe Werke Eonnte 
R. als befannt voraußfeßen, er erwirbt aber unfern aufrichtigften 
Dank durch die Nachbildung jener lieblichen, von einem Donator 
angebeteten Mutter mit dem Kinde, welche fich im Corridor von 
©. Onofrio befindet. Diefe Seite von Leonardo's Geift wirkte 
befonders auf die mailändiſche Schule; vielleicht Daß in Leonardo 
felbft diefe Romantik des Gemüths fich erft durch die Einflüffe 
erſchloß, die frühere Meifter dieſer Schule, wie der Tiebliche Bor⸗ 
gognone, bei feinem Aufenthalt in Mailand auf ihn ausübten, 
und daß er nun erft rückwirkend feine Schüler lehrte, den Edel⸗ 
ftein dieſes Holden Seelen-Ausprud in das reine Gold der durch⸗ 


273 


gebildeten Form zu faſſen. Keiner verherrlichte feinen Metfter fo 
fehr, wie der bewundernöwerthe Bernardino Luint. Wer die Ma⸗ 
bonnen, die von Engeln aus dem Grab emporgetragne h. Katha⸗ 
rina im Eingange der Brera, dad Chriftuskind mit dem Lamm in 
der ambroflanijchen Bibliothek, die Fresken in Monaftero Mag- 
giore in Mailand , die in Lugano und Sarono, die Madonna im 
Zavatortum der Certofa bei Pavia gefehen hat, wird mich nicht 
tadeln , wenn ich fage, daß dieſe Holdſeligkeit in der tiefen Weh⸗ 
muth, diefe Grazie der unendlichen Liebe jedes Gemüth zum Ent- 
züden hinreißen muß. Bon Borgognone und Luini möchte th 
biefer Sammlung befonderd dringend einige Eopien münfchen. 
Um aber feine legte Höhe zu erreichen, ſchlägt nun das Ideal 
noch einmal die in ihm enthaltenen Momente auseinander, um 
fle dann zum leßtenmal und abfolut zu vereinigen. Wie Aefchylos 
dem Sophofles, fo geht dem Raphael der titaniſche Mich. Angelo 
voraus, der nicht die milde Grazie, nur die furchtbare Erhaben- 
beit Eennt, nicht die Liebe, fondern nur die Allmacht, die er m 
kraftſchwellenden, wie einer Urwelt angehörigen Rieſenkörpern, 
aber auch in dem fürchterlichen Ernſte des Gerichted verherrlicht, 
das die Frevler unter den Tönen ber legten Pofaune zur Hölle 
ſchleudert. Man weiß, welche Keime der Audartung fi an bie- 
ſes Ideal des Mich. Angelo Enüpfen. Die höchſte und reichfte 
Frucht der florentinifehen Zeichner= und Compoſitionskunſt, geht 
er im Gefühl feiner Virtuofltät bereits in Willkür über, bringt 
fühne Stellungen und Berfürzungen an, wo es nicht die Sache 
fordert, fondern nur fein Wunſch, fich zu zeigen, legt überhaupt 
als Maler, während er als Bildhauer einen maleriſchen genialen 
Wurf fucht, zu viel Gewicht auf das plaftifche Moment, verachtet 
Kritiſche Gänge. 18 


274 


die ſtehenden Eirchlichen Bezeichnungen und tritt fo bereitö merf- 
lich aus der Subſtanz heraus, von welcher doch die Malerei des 
ſechzehnten Jahrhunderts noch nicht, oder nur vereinzelt ſich be⸗ 
freien konnte, und ruft im Anblicke feines jüngften Gerichts ſelbſt 
aus: O, wie Viele mird dies mein Werk verbienden und auf 
Abmwege führen! Es ift daher wohl zu bevormworten, wenn man 
ihn zu Raphael in das Verhältniß des Aeſchylos zu Sophokles 
ſtellt, oder mie Schelling den Geift feiner Werke mit dem Kampfe 
der Titanen vergleiht, nach welchem fih der Simmel aufflärt 
und die heitere Herrfchaft des Jupiter beginnt! Es ift zunächft rich⸗ 
tig, aber dann wendet e8 ſich anderd: Raphael folgt dem Mich. 
Angelo und bifvet fein harmonijches Ideal der reinen Schönheit 
aus; aber Mich. Angelo lebt fort, treibt fein Ideal der Erha⸗ 
benheit bis an die Schwelle des Gewaltfamen und Veberreifen, 
Raphael ſelbſt ift in großer Gefahr, von diefer überzeitigen Vir⸗ 
tuofität angeftectt zu werden, und flirbt im rechten Moment, 
Mich. Angelo überlebt ihn Yang und vererbt dem Ende des Iahr- 
hunderts ſeine Fehler, die er ſelbſt mit gigantiſcher Kraft am 
Bande ſeiner Genialität behalten. Um ſo wünſchenswerther muß 
es nun aber fein, diefen wunderbaren Menjchen auf der Höhe 
zu fehen, da die überſprudelnde Kraft fich no vor Schmwulft be⸗ 
wahrt und in der Majeſtät ächter Erhabenheit einherſchreitet. Dies 
iſt in den Deckengemälden der Sixtiniſchen Kapelle, von denen 
und R. fünf Abtheilungen copirt hat. Zwei davon, Gruppen 
ber Propheten und Sibylien darſtellend, zeigen, wie dieſer ſonſt 
fo ungeflüme Geift auch eine hohe und großartige Ruhe Eennt, 
von des Ausdrucks tief brütender Contemplation, ernfter Ahnung, 
der aus den gewaltigen clafflichen Geftalten ſpricht. Dagegen 


275 


entwidelt er in ber Belebung des Adam und in dem Sünbenfall 
nebſt der Vertreibung aus dem Parabiefe, die bier ebenfalls copirt 
find, feine flürmifche Kraft, doch auch dieſe noch in gehaltner 
Mafeftät. Dort ſauſt Gott, unter dem ausgebreitet ſchwebenden 
Mantel von ECherubim getragen, durch die Luft, vermeilt einen 
Augenblick und hält feinen Zeigefinger an den des Adam, um 
den eleftrifhen Funken des Lebens in ihn überfirömen zu laſſen 
— ganz ein Mich. Angelesfer Gedanke; hier erfcheint die Schlange 
‚ mit dem menſchlichen Leibe, die fonft immer ruhig einſchmeichelnd 
dargeftellt wird, ebenfalls ftürmifch bewegt, mit fliegendem Saare, 
wie im Zorn der Zerſtörungsluſt. Im dieſen beiden fehen wir 
aber au, wie unfer Meifter in ver Darftelung des Wunder» 
gewächſes des menſchlichen Gliederbaus in urfprünglich geſunder 
Fülle und elaſtiſchem Schwunge der noch nicht übermäßig ſtarken 
Bormen einer gewiſſen coloffalen Anmuth fähig ift, die wir auch 
in feinem Barton der Venus zu Neapel erfennen, die man aber 
im jüngften Gerichte nicht wieverfindet ; ein herrlicher männlicher 
Körper voll reinen Ebenmaßes ift jener Adam, ber auf der Erbe 
liegend fich eben erhebt und feinen Arm gegen den Binger Gottes 
binftredft, und eine gewaltige hohe Schönheit ergießt fich durch 
die mächtigen weiblichen Formen der am Baume hingelagerten 
Eva im leßteren Bilde. Ebenſo gefund und harmoniſch erfcheint 
der in tiefem Schlaf Hingefunfene Adam auf einem weitern Blatte, 
die Erſchaffung ver Eva darftellend: jo ganz hingegofien in ftil- 
lem Weben ver Gefundheit, man meint, die herrliche Geftalt leiſe 
athmen zu hören. Nur Ein Blatt ift dem jüngften Gerichte ge 
widmet und giebt eine Ahnung von der furchtbaren Meiſterſchaft 
dieſes Künftlerd im Gräßlichen ; es ift eine Gruppe auferftchenber 
18 * 


276 


Todter mit jenem. verfteinernden Ausdrucke des gähnenden, bleier- 
‚nen Schlummers, der noch auf den todesbangen Geftalten liegt, 
die eben die zuckende Erde aus ihren Gräbern herausdrückt. 

- Bon Leonardo da Vinci und Mi. Angelo ging in Florenz 
eine weitere Schule von Künftlern aus, die man nicht ohne den 
tadelnden Sinn, welche die Romantif dem Worte beilegt, Claſ⸗ 
filter nennen möchte: vollendete Zeichner und Eoloriften, Mufter 
der Gorrectheit, aber von wenig Gemüth, mehr der Bewunde- 
. rung des fogenannten Kennerd, ald ber Liebe und Begeifterung 
Aller würdig: Fra Bartolomeo, Andrea del Särto, Albertinelli 
und Andre, in einzeimen Werfen wohl edel und bedeutend, felbft 
nicht ohne tiefere Wärme, doch darin nicht ſich felber treu, ſon⸗ 
dern durch Kälte oder gemöhnliche bürgerliche Stimmung fih un- 
ferer Theilnahme wieder entziehend. R. läßt fich nicht meiter auf 
dieſen Zweig ein, als daß er drei Bilder nad) Fra Bartolomeo 
giebt, deſſen großartiger Zeichnung und Compofition ein gewiſſer 
höherer Nusdru inneren Lebens zwar nicht abgeht, aber es ift 
ein Ausdruck ekſtatiſcher Entrückung, die keinen liebevollen und 
wehmüthigen Blick mehr dieſer ſchönen Erde gönnt, und welcher 
daher das Gefühl des Zuſchauers nicht zu folgen weiß. (Eine 
Ausnahme bildet das gemüthliche Familienbild, die Darfellung 

Chriſti im Tempel im Belvedere zu Wien.) 

Endlich tritt nun aber Raphael vor uns, d. h. die reine und 
ganze Schönheit, die vollendete und durchgedrungene Einheit deſſen, 
was die umbriſche und die florentiniſche Schule erſtrebte, und da⸗ 
mit iſt Alles geſagt. Dem Mich. Angelo war ein Mouient des 
Schönen zugefallen, das Erhabne; Raphael vereinigt alle Mo⸗ 
mente deſſelben in der höchſten Potenz. Es wäre ganz ſchief, 


277 


biefe Beiden fo zufanimenzuftellen, daß man jenem das Erhabne, 
biefem die einfache Grazie zuerfennte, welche das Erhabne aus⸗ 
ſchließt, und das Ideal als ein Drittes anfühe, welches Beide 
gemeinfam conftituiren. Nein, was Mich. Angelo hat, hat Ra⸗ 
phael auch und noch unendlih mehr dazu; Rayhael Eennt nicht 
nur die meiche Grazie der Sanftmuth und Seelenftille, er Tennt 
auch die Größe und Erhabenheit der Handlung, die männliche 
Energie, die ewige Macht, aber freilich aud fie gebänbigt und 
verflärt durch Grazie. Nur wenn man meint, das Erhabne Fönne 
da, wo es ald ein Moment im ganzen Schönen auftritt, im eben 
der Geftalt wahrgenommen werden, wie da, mo es ſich in feiner 
Befonderheit ausbildet, nur dann kann man zweifeln, welchem 
von beiden Meiftern der höhere Rang einzuräumen fei. 

In Deutſchland nun ift Raphael faft nur als Künftler des 
weiblichen Ideals bekannt, als Dealer jener milden Grazie, welche 
zwar nicht die Erhabenheit der geiftigen Läuterung und Verklä⸗ 
rung, wohl aber die Erhabenheit. der kaͤmpfenden Energie, der 
männlichen That anschließt. Um fo mehr verdient es unfern 
Danf, bier von Meifterhand eine Reihe von Werken wiebergeges 
ben zu fehen, worin fich nicht bloß der fanfte, fonbern der flarfe 
Raphael ausfpriht, und welche durch Kupferftih zwar laängſt, 
aber doch nur verhältnigmäßig Wenigen befannt find. Drei 
Blätter geben die fog. disputa, richtiger die Darftellung der Theo⸗ 
logie, und hiemit dasjenige Gemälde in den Stangen, das zwi⸗ 
ſchen der florentinifchen Strenge und der fpäteren über alle Mittel 
der Darftellung vollftändig herrſchenden Freiheit in der Mitte ftebt. 
Ih finde in meinem Katalog den Belfah von R.: Raphael's 
beſtes Werk. So lange man die Weiſe der Compoſition nicht in 


278 


Anfchlag nimmt, welche bier durch ben Stoff geboten war, kann 
man dies etwa einräumen ; denn wir bewundern bier jenen keuſchen 
und edeln Styl, der noch nirgends einen. Anflug von Birtuofen- 
Eitelkeit zeigt, wir bemundern bie Einheit hoher religiöfer Würde, 
feierlicher Majeftät, Tieblicher zarter Schönheit und höchſt mar- 
figer Charakteriſtik. Allein wir wiſſen nicht, ob Raphael in dem⸗ 
felben Zeitpuncte ſchon fählg geweſen wäre, viefelben Mittel voll- 
kommen zu beberrichen, wenn der Gegenftand eine freie, natur= 
gemäße, d. h. nicht eine architektoniſch fommetrifche Compofition 
gefordert hätte. Die letztere Weife der Anordnung war bier durch 
‚bie kirchlichmyſtiſche Aufgabe — Verherrlichung der Transfub- 
ſtantiation — geboten; gewiß fteht aber doch der Kuünſtler ba 
höher, wo er eine Vielheit von Charakteren auf Einen Boden 
zu einer gemeinfamen mächtig bewegten Handlung vereinigt, als 
wo er fie in Halbkreiſen theils in den Himmel, theild auf bie 
Erde ſtellt, wie viel er übrigens in Belebung ber einzelnen Grup⸗ 
pen nebenher geleiftet haben mag. Freilich, wo jene volle Sreiheit 
eintritt, da verſchwindet auch der letzte Reſt alterthümlicher Ge⸗ 
bundenheit und finden ſich einzelne, erſt ganz leiſe Spuren von 
Willkür: daher gefällt unſrem Künſtler jenes Werk Raphael's 
beſſer als alle ſpäteren. Auch in den weiteren Wandgemälden der 
päbſtlichen Zimmer war jedoch die freie Ergießung der vollkommen 
gereiften Meiſterſchaft, die fich ſchon in der Schule von Athen 
offenbart, durch mancherlei Anftände gehemmt. Theils verlangten 
bie vorgefchriebenen Gegenftände wieder mehr repräfentative ald 
bandelnde Maffen, wie die Poefle, die Philoſophie u. f. f., wo⸗ 
bei wir freilich die Belebung und Gliederung ber an fich wenig 
dankbaren Stoffe durch den Genius der Kunft um fo mehr bee 


279 


. wandern müfien, theils war eine Verherrlichung bes Pabftthums 
und ber Kirche vorgejchrieben, welche bei dankbareren Stoffen der 
Einheit hindernd entgegentrat, wie z. B. in der Vertreibung He⸗ 
liodor's aus dem Tempel, wo auf Einem Bilde mit diejer jüdi⸗ 
ſchen Begebenheit ver Pabſt Julius, von theilnahmfofen Porträts 
figuren getragen, erfcheint; theils ftörte hier die Einmifchung des 
Wunderbaren, weil fie bei Begebenheiten der beglaubigten Ge⸗ 
ſchichte flatifindet, wie ich Died won der Ueberredung des Attila 
durch Leo I. bereits oben nachgewieſen habe. Dagegen band Fein 
Widerſtreben des Stoffs, keine hemmende Ruückſicht die ſchaffende 
Phantaſie, als ihm der Auftrag ward, große Scenen aus der 
Apoſtelgeſchichte für die Teppiche zu entwerfen, welche die Sir- 
tiniſche Kapelle ſchmücken ſollten. Das Wunderbare ift hier an 
feinem Orte, denn bie munderwirfende Kraft, welche in bie 
Geſchichte Hineingedichtet iſt, ergießt fich hier in die Handlung 
felbft , drängt ſich nicht zwifchen fie, wie in der Ueberredung 
des Attila durch Leo. Diele herrlichen Entwürfe, welche leider 
beftimmt waren, durch eine fo mangelhafte Technif, wie ed aud) 
die feinfte Teppichiweberei bleibt, eine ihrer nicht würbige Aus⸗ 
führung zu finden, find nun für die Gefchishte der Kunft dadurch 
zunächft boöchft merkwürdig , daß fle, was Leonardo begonnen, 
aufs Kerrlichfte vollenden: Fortſchritt von der einfach handlungs⸗ 
Iofen Situation zur großartig bewegten Handling, von der Lyrik 
zun Drama innerhalb des religiösmpthifchen Bodens felbft, und 
dies mit allen Mitteln der reifen Kunft; Fortſchritt vom engen 
Kreife der b. Bamilie zur Ausgießung des Geiftes in die Gemeinde. 
Hier bat Raphael feinen höchſten Styl erreicht, ja man Tann 
jagen, den idealen Styl ſchlechtweg; hier it dem Wirklichen, 


280 


ohne ihm weder bie Schärfe ver Charafteriftil noch bie freie Be⸗ 
wegung zu entziehen, jeved Gemeine und Kleinliche abgeftreift, 
bier drückt die Geftalt nichts aus, als was mächtig ihr Inneres 
erfüllt, Hier tft die Handlung in dem Momente ergriffen, wo fie 
auf der Spitze der Entſcheidung ſchwebt, und dieſen Schlag der 
Entſcheidung beberrfcht, fich felbft verklaͤrend, völlig durchſichtig 
die verſchlungne und doch Elar geglienerie, jebed Einzelne frei ent⸗ 
lafiende Compofition. Neun diefer Tapeten find und hier geſchenkt, 
von denen eine — ber Fiſchzug Petri — den lieblichften idylliſchen 
Charakter trägt, vie übrigen aber alle, bald furdtbarer, bald lei⸗ 
fer bewegt jenen firengen und großen Geift der Handlung athmen. 

Wenige Schritte über dieſes Ziel hinaus begleitet und noch 
unfre Sammlung ; zunächft treten einige vereinzelte von ben Auf⸗ 
ſchwunge diefer großen Zeit gehobene Künftler auf. Zwei derſelben 
find Sienefen. Die ſieneſiſche Schule blieb, wie wir fahen, Im 
fünfzehnten Jahrhundert zurüd, die umbrijche übernahın die Forte 
bildung deflen, mas fie glüdlich begonnen. Einzelne Sienejen 
lernten jeboch wieder von den Umbriern, jo Pacchiarotto, von 
dem wir ein Bild erhalten. in ungleich bebeutendered Talent 
war Antonio Razzi, genannt Sodoma, den dad Genie eines 
Leonardo und Raphael in einzelnen Lichtblicken feiner unfteten 
Laufbahn nahe an die Höhe der Koryphäen feiner Zeit erhob ; 
dies beweift die herrliche, tief gefühlte Darftellung in ©. Dome- 
nico zu Siena: die Entzüdung und die Stigmatifirung der heili- 
gen Katharina, die bier in zwei Blättern gegeben find. Ihm 
eifert Beccafumi nad, von dem das fchöne Heiligenbild in ber 
Akademie copirt iſt. Endlich lehrt und eine Copie nach Francucci 
von Imola einen ber würbigften Schüler Raphael's kennen. 


281 


Die Entwidlung ber ttaltenifchen Malerel folgte mit berfelben 
Beftimmtheit, mie die griechiſche Plaſtik, dem organifchen innern 
Gejete, dad aus dem Begriffe der Kunft ſelbſt fließt. Man ftrebte 
zuerft nach) dem firengen Ausdrucke des unendlichen Gehalts, man 
wandte fi zur Form, und beides durchdrang fich in dieſer reif- 
ften Periode, die aber zugleich auf vielen Puncten vom Kirchlicden 
nach dem Weltlichen herausſtrebt. Es folgt nun noch eine Schule, 
welche, was zunächft die Form betrifft, das letzte abfchließende 
Moment derſelben, worin alle Wirkungen ber Malerei als in 
ihrer Spitze zufammenlaufen, zur höchſten Vollkommenheit erhebt: 
die Farbe. Daß dies nicht heißen fol, man habe früher biefes 
Moment vernachläffigt,, verfteht ſich; welche Licht » Ejfecte ſchon 
Ghirlandajo, welche tiefe Wärme der Farbe Perugino, Fran⸗ 
ceöco Francia haben, iſt befannt; auch erreichte bie wenetianifche 
Schule, von welcher hier die Rede ift, immer noch frühe genug 
die Meifterfehaft in ver Farbengebung, daß diefer Zortfchritt einem 
Naphael noch zu gut kommen konnte. Es handelte fih aber dar« 
um, daß diejed Moment dad Augenmerk einer befonderen Schule 
werde, denn durch foldhe Theilung der Gefchäfte wird das Höchſte 
erreiht. Daß nun aber eine Schule, melche fich in vielen Ele» 
mente bed heiteren Scheines vorzüglich bewegte, eben Eeinen be⸗ 
fonderen Beruf hatte, in dem fich hervorzuthun, was bie eigent- 
liche Subftanz aller bisherigen Malerei des Mittelalterd geweſen 
war, in den religiojen Stoffen, dies begreift ſich ſchon durch fich 
jelbft. Dean nehme dazu eine Stadt vol politifhen Selbſtgefühls 
und Lebens, den Juriſtengeiſt, der bier fo ſchlau und fcharfiinnig 
waltete, den Welthandel, der bier die Genüffe aller Zonen ver⸗ 
einigte, den rührigen Lebensfinn des Venetianers überhaupt: fo 


_ 282 
wird man ſich nicht munbern, wenn man. bemerkt, daß religiäfe 
Würde und Innigkeit diefer Schule nicht nachgerühmt werben 
Tann. Bielmehr drängt hier von allen Seiten Alles nach dem 
Profanen hin; die. alte Mythologie und ihre heitere Sinnlichkeit, 
bie Herrlichkeit des weiblichen Körpers im Schwung feiner For- 
men und in ber Farbenmagie feiner Lebenswärme, das Porträt, 
wozu bie firengen, drohenden Nepublicaner - Geftalten und die 
üppigen, glühenden Weiber unendlichen Stoff lieferten, ſtädtiſche 
Broreffionen und Profperte, Seeſchlachten und Verhandlungen : 
bier war das Feld des venetianifchen Pinfelt. Wohin nun mit 
biefem offenen, politiſchen, weltlichen &eifte? Das eigentliche 
biftorifche Gemälde war hier durch alle gegebenen Beringungen 
gefordert, und doch Fonnte es fich nicht ausbilden, denn auch diefe 
Seifter waren und blieben im Glauben der Tranſcendenz gefan- 
gen, ber die Gefchichte in ihrem Kerne aufbebt. Daher behielt 
man neben den vereinzelten weltlichen Darftelungen die religtöfen 
als die vermeintlich höchften bei, faßte fie aber mit weltlichen 
Geiſte auf, und fo wurden e8 Genre = Gemälde, denen freilich 
die Gediegenheit der aufgenommenen Lebensbilder immer noch 
einen höchſt tüchtigen Charakter gab. Paolo Veronefe benugt ben 
Beſuch Jeſu bei dem Gaftmahle im Haufe des Levi zur heiteren 
Darftellung eines venetianifhen Pracht: und Schau-Efjend, wo⸗ 
bei felbft der Mohr und der: Zwerg nicht fehlt; die Hochzeit zu 
Kana wird zu einem venetianifchen Hochzeitſchmaus, wobei bie 
gleichzeitigen Künftler als Muſikanten functioniren; Chriftus, das 
under wird völlig zur Nebenſache. Ganz ähnlih Titian im 
erften Tempelgang ver Maria ; fonft zeigt fi auf feinen berühm⸗ 
teften Werfen religiöfen Inhalts nicht dieſelbe Verbrängung des 


283 
Hauptgegenftandes durch Beimifchung von genre⸗ artigen Stoff, 
aber was man auch von der Grablegung, vom Zinsgroſchen ſa⸗ 
gen mag, menſchlich ſchön und würdig find fie, aber den Cha⸗ 
rafter der Heiligkeit, die kirchliche Stimmung tragen fie nicht. 
Titian ift ungleich größer im Porträt und in jenen herrlichen 
Darftelungen weibliher Schönheit nad) mythologifchen Motiven ; 
volles Weltbehagen, die vollkommenſte Abweiſung aller Jenſei⸗ 
tigkeit athmet aus feinen Werfen; aber wohin dies Alles ftrebt, 
die bewußte Ausbildung des rein gefchichtlihen Gemäldes, das 
kann auch bei ihm nicht zu Stande Eommen. Wohl aber fiellt 
diefe Schule den auslaufenden Poften der italienijhen Malerei 
bar, der fih mit dem deutſchen, zunädft dem nieberlänbifchen 
Geifte berührt. Dem deutſchen Volke aber war es vorbehalten, 
erft auf dent Wege. des Denkens von dem Standpuncte ber Ien« 
feitigfeit fich zu befreien, auf den Boden ber weltgefchichtlichen 
Anſchauung zu ſtellen und in der modernen Zeit den Beruf ver 
reinen Geſchichtsmalerei zu übernehmen. Die niederländiſche Genres 
Malerei habe ich bereit in einer frühen Abhandlung ald bie 
Vorſtudie zu dieſer, noch ungelöften, ja nur von Wenigen od 
gefaßten Aufgabe vargeftellt, und da dieſe es iſt, zu welcher uns 
die venetianifche Schule hinüberweiſt, fo kehrt hier der Schluß 
unfrer an dieſe Gopieenfammlung gefnüpften Betrachtungen von 
felöft in den Anfang zurüd. R. Hat von der venetianifchen Schule 
nur noch zwei Bilder gegeben, bie aber trefflih gewählt find. 
Es find zwei Wandgemälde in der jog. scuola di S. Antonio zu 
Padua, in welchen man fo glaͤnzend, Traftvol und lieblich als 
irgendivo bie Mittel ſieht, welche in der venetianiichen Schule fi 
vereinigten, um nach dem hiſtoriſchen Gemälde hinzuſtreben, nur 


284 


freilich auch Hier amı Zuſammenwirken nach einer seinen Mitte 
- durch den Legenden-Stoff gehindert. Das eine ftellt dar, wie ©. 
Antonio dur ein unmündiges Kind die Unſchuld feiner Mutter 
. bezeugen läßt, M. fehreibt es Giorgione zu, jonft hält man es 
für ein Werk Titian's ; das andre, wie S. Antonio ein in einen 
Keſſel gefallened Kind belebt, von Titian, Der firenge Firchliche 
Charakter, die eonsentrirte Innigkeit des religiöfen Ausdrucks, 
. welche in den Werken ber reiferen venetianiſchen Schule dem welt⸗ 
lichen Geifte wiech, findet fi allerdings noch in den herrlichen 
b. Familien des Gtovanni Bellini, von denen wir. gerne einige 
wohlgemählte Copieen in unferer Sammlung getroffen hätten. 
Den Beſchluß machen einige Künftler-Biloniffe, von ihnen 
ſelbſt audgeführt, 3.3. Pinturichto und Raphael nach der Freske 
in der Libreria des Doms zu Siena, Perugino und Andere. 
Und nun fei e8 mir erlaubt, noch zwei Wünfche auözufpre« 
hen. Der eine betrifft eine Fortſetzung dieſer treffliden Samm- 
lung. Wenn ih an mehrern Puncten Lücken in derfelben bervor- 
. bob, fo meine man nicht, dies folle R. zum Vorwurf gefagt fein. 
Er Hatte urfprünglich nicht ven Zweck einer zuſammenhängenden 
Belehrung über die Gefchichte der italieniichen Malerei im Auge ; 
Neigung , Gelegenheit durften eine Stimme bei feiner Auswahl 
führen. Jetzt aber hat die Sammlung durch den Anfauf von 
Düffeldorf eine Bedeutung erhalten, die fih nicht von Anfang 
vorausſehen ließ: der Deutjche kann fie als einen nahen, beque⸗ 
men Leitfaden zum Studium der Gefchichte ver italienifhen Ma- 
lerei betrachten, und es entfteht billig der Wunſch größerer Voll⸗ 
ſtändigkeit. R. malt, mie ih vernehme, in der frühern Weife 
unverbroflen fort; er wird nicht abgeneigt fein, Aufträge zu über> 


285 


, nehmen, bie auf Vervollſtaͤndigung des Fruͤhern zum Zwecke 
methodiſcher Belehrung zielen, und bie edlen Pfleger der Kunft, 
: ‚bie ſchon ſo Bedeutendes geopfert haben, dieſe Sammlung zu 
erwerben, werben auch weitere Opfer nicht fiheuen. 

Der andre Wunſch gilt der Vervielfältigung dieſer Arbeiten. 
Wir haben nun dieſes herrliche Anſchauungsmittel in Deutſchland, 
einen Troft für Ale, denen die Reife nach Italien verſagt iſt, 
einen Sporn für diejenigen, welche von den Schüßen dieſes Lan⸗ 
des Feine Vorſtellung hatten, einen Anhalt der Erinnerung für 
diefenigen, welche die Originale gefeben haben. Aber diefes Kleinod 
befindet fih wieder nur an Einem Orte und die verdienſtvollen 
Käufer-mürden ihr Verdienſt erft vollenden, wenn fie für Ver⸗ 
breitung deſſelben durch die großen technijchen Mittel, die unirer 
Zeit zu Gebote ftehen, bejorgt wären, fo daß jede größere Bis 
bliothek, insbeſondre jede Univerſitätsbibliothek ſich dieſe Copieen 
erwerben könnte, wobei freilich eine Erleichterung durch allmäli⸗ 
ges Erjcheinen wünſchenswerth ware. Wer in einer Stadt, an 
einer Univerfität, wo alle Anfchauungsmittel fehlen, Geſchichte 
der Malerei vorzutragen verfucht hat, wird wiſſen, mit welchem 
Eifer man einen ſolchen Wunſch begen und auöfprechen muß; 
aber auch wer mit Hilfe einer Gemälde = Gallerie, einer Kupfer⸗ 
ſtichſammlung denfelben Stoff behandelt hat, weiß, wie unvoll⸗ 
ftändig folche Mittel find, wie wenig insbeſondre noch der Kupfer: 
ftih zur Darftelung der herrlichen Meifter vor dem fechzehnten 
Jahrhundert gethan hat; und endlich muß jeder Freund der Kunft 
die Unwiffenheit des großen Publicums bitter beflagen,, welches 
unbekannt mit fo viel Großem, mit einer fo organifchen Ent- 
wicklungsgeſchichte, mit hergebrachter und blinder Bewunderung 


286 


ber berühmteften Namen ſich abſpeiſend, von ber Tofetten und 
unwürbigen Subelei des Heinen Kunſtmarktes verführt und ver- 
borben wird. Vollends wo Kunftfchulen befteben, zeige nıan dem 
Schüler an viefer köſtlichen Reihe, was bie Kunft vermag, wenn 
fie treu dem führenden Geiſte und den Geſetzen des Zeitbewußt- 
ſeins, ſtreng in die Sache vertieft, ihren feften Gang vorwärts 
geht, und enthülle ihm die Scala, auf welcher bie Meifter des 
hoͤchſten, claffiihen Styles ftehen. Gewiß ich ‚bitte im Namen 
von ganz Deutſchland, daß diefer werthvolle Befitz nicht auf 
Einen Ort beſchränkt bleibe, der Dank eines jeden wahren Kunſt⸗ 
freundeö wird unendlich fein. Dan Iernt jegt überhaupt den Werth 
von wohlgewählten Gopieen ſchätzen; Preußen, Defterreih, Branf- 
rei, Rußland laſſen, wie oben erwähnt, die Meifterwerke eines 
Raphael, eines Mich. Angelo in Nom durch tüchtige Talente co⸗ 
piren. In meiner Vaterſtadt Stuttgart ift ein Kunftgebäude 
errichtet, das eine erweiterte, felbfländige Kunftjchule und eine, 
von ſparſamen Anfängen aus erft zu begründende Gemälde-Gal- 
lerie in fich aufnehmen jo. Ich habe mit großer Wärme in einem 
Öffentl. Blatte empfohlen, man folle dem Beifpiele jener Länder 
folgen und jene höchften Mufter in guten Copieen dem Volke und 
den Jüngern der Kunft, jenem zur Schärfung des flumpfen Sin- 
ned, dieſen al8 beichleunigendes Mittel der Ausbildung, als wür⸗ 
digfte Vorlage binftellen ; dies fei der würbigfte Mittelpunct und 
Kern einer Gemälvefammlung, an welchen fih dann Originale 
andrer Meiſter und Schulen, wo der dürftige Kunftmarkt unfrer 
Beit noch eine Gelegenheit zum Ankauf darbietet, weiterhin an= 
ſchließen Finnen. Aber man will lieber Summen hinauöwerfen, 
um objeure Originale großer Meifter oder Werke von Schu⸗ 


- 287 


Ien, benen nur ein beichränktes Verdienſt zukommt, anzufaufen ; 
man will den Fremden mit der Lorgnette herumführen, von Zins 
ten, Incarnat, Impaftirung , Laſuren reden und fagen: ba has 
ben wir einen ächten Breughel, einen Achten Potter, Huyſum, 
Denner u. f. f.; daher verzweifelt man an der Äußeren Möglich- 
feit, jene Gopieen ausführen zu laflen, da doch das Erfte wäre, 
einzufeben, daß, die Werke ver abfoluten Meifter der Anfhauung 
darzubieten, ein abfoluter Zweck iſt, wo aber ein folcher ſtati⸗ 
findet, auch die Mittel fih finden müffen. 


Kritifce Gänge 


Sriederich Theod. Viſcher, 


Doctor der Philoſophie, Profeſſor der Aeſthetik und deutſchen Literatur 
an der Univerfität Tübingen. 


Zweiter Band. 


— — 


Tübingen, 
bei Ludwig Friedrich Fues. 
184.4. 


Anhalt des zweiten Bandes. 


' Seite. 
II. Bur bildenden Kunſt. (Kortfegung) | 
Kunftbeftrebungen der Gegenwart. Bon Anton Hallmann 3 
III. Bur Poeſte. 
I. Zur Kritik früherer Poeſie. 
Die LKitteratur über Goethes Fu. -. - 2 2 2.99 
II. Zwei Erfheinungen neuerer Poefie. 
Eduard Mörike. Maler Nolten. Rovelle in zwei Thellen 216 
Gedichte von Eduard Mörle . . 2 2 2 22.2945 
Herwegh. Gedichte eines Lebendign . . . -» . . 282 
Gedichte eines Lebendigen, zweiter Band. . . . . 316 
IV. Bur wiſſenſchaftlichen Aefthetik. 
Plan zu einer neuen Gliederung der Acftpetit . . . 345 
V. Vorſchlag zu einer &pr. . oo 2 22002. 399 


Ich Tann diefe Gelegenpett nicht unbenüßt Yaflen, einige ganz 

finnentftellende Drudfehler, welche fih in meinen Aufſatz über 

„Shakſpeare im Litterar » Hiftorifchen Tafchenbuh von Prub 1844 
eingeſchlichen haben , hier anzuzeigen. 


aaa a 


77. & 4 v. u. nad: Wille, dad Komma zu fireldhen. 
83. 2. 10. v. u. verbößnt, lied: verſoͤhnt. 

115. 8, 8, v. o. niemald, lied: einmal. 

121. 2. 11. v. u. Erinnerung, Med: Erinnye. 
ı32. 2. 6. © 0. geäffte, lied: größte. 


. 137.’2. 11.0. 0. Detgtitaͤt, Lied: Idedlitaͤt. 
. 138. 8, 7. v. u. flieht, lles: fließt. 


II. 
Zur bildenden Kunſt. 


(Bortfegung-) 


Aritiſche Gänge IL 


Kunſtbeſtrebungen der Gegenwart. 
Von 
Anton Hallmann, vormals Königl. Preuß. HofbausInfpector. 


Berlin, Buchhandlung des Berliner Eefecabinets. 1842. 
(Saprbücher ver Gegenwart. Jahrg. 18435. Nr. 25. ff.) 





Miemanv fehlen bisher weniger geneigt, die Anflchten über 
die neuere Kunft und ihre Aufgabe, welche aus der Betrachtung 
ber vergangenen Perioden und ihrer Vergleichung mit der Gegen- 
wart unwiderlegbar hervorgehen, mit dem philoſophiſchen Kunft= 
biftorifer zu theilen, als die Künftler ſelbſt; um jo freudiger 
begrüßen wir die erfte befreundete Stimme, die hier aus dem Ges 
biete der probuctiven Kunft uns entgegenfommt. Die Kleine Schrift 
bat befanntlich gleich nach ihrem Erſcheinen vieles Aufſehen ge⸗ 
macht und denjenigen Widerſpruch erfahren, welchen jede Wahr- 
heit zu gewarten bat, die Eräftig in das Dunfel verjährter Vor⸗ 
urtheile und bequemer Denf-Trägheit bligt. So fehrieb man von 
Mom in der Allg. Zeitung, man bedaure, daß der Verf. den 
büfteren Religionsſtreit in die heitere Welt der Kunft Hineingetra- 
gen habe; als ob er nicht umgekehrt vielmehr den finfteren Fana⸗ 
tismus aus ihr verbannen, bie verbleichten Gebilde einer ausge⸗ 
lebten Phantafle, um welche fih die Theologen noch flreiten, aus 
ihr ausfcheiden wollte. In das Kunftblatt Hat ver fonft billige 

1 ” 





4 


und befonnene Kugler *) zu meinem Befremden eine fehr boshafte 
Kritif aufgenommen, deren Verfaffer ohne auch nur eine Ahnung 
von einer Bewegung der Kunft im Geijte der Zeit und im Unter⸗ 
fehiede vom Geifte früherer Zeiten zu haben, die mancherlei Con⸗ 
fufionen,, die in diefem Schrifthen mitunterlaufen, fich auf eine 
feine und biffige Weife zu nutze macht. Hallmann bedarf freilich 
in vielen Punkten, daß man feine Gedanfen erft orbne und zu⸗ 
rechtbringe, aber dem Strauchelnden hat nicht der Blinde den 
Weg zu zeigen. Uns iſt das Büchlein um ſo willkommener, da 
es durchaus den Stempel jener Naivität trägt, welche ſammt aller 
ihrer Unklarheit und logiſchen Verwirrung an ächten Künftlern jo 
liebenswürdig läßt. Wir werden allerdings dem Verf. oft mider- 
ſprechen müffen; er iſt nicht durchaus mit fich und der Zeit im 
Heinen, der Grundgedanke zieht fih nur wie der rothe Baden 
durch fein Gewebe, verliert fich oft zwiſchen Widerſprüchen, Vo⸗ 
ruſſianismen, Berlinismen, tritt aber dann auch wieder hell und 
glänzend hervor: Die Nachſicht, die fih der Verf. für feine fty- 
liſtiſche Unvollkommenheit erbittet, hat er in ver That fehr in 
Anſpruch zu nehmen, er fteht nicht nur mit dem Ausdruck, ſon⸗ 
dern auch mit der Satzbildung, der Conftructiön, mit allen Thei⸗ 
len der Grammatif, ſelbſt niit Rechtichreibung und Interpunction 


u) Nach dem neuerdings im Siunfiblatt erſchienenen Eendichreiben von 
Kugler an feinen Mit-Redaeteur Foͤrſter uͤber die Bilder von Gallait 
und de Blefve zweifle Ich nicht mehr, daß der Letztere dieſe Kritik 
aufgenommen bat; denn Kugler fpricht bier ein zu gefunded Nerfiänds 
niß. der Aufgabe der modernen Kunſt aud, er begreift zu gut, wie 
fie ih aud dem ariftotratiihen Bann unpopulärer Ideale zum Ges 
fhichtlichen und Demotratifchen zu bewegen hat, ald daß er jene Bes 
urtheilung Ballmann's in gut Overbeckiſchem Geiſte Hätte hilligen können. 


5 | 
auf einen ziemlich gefpannten Fuße; wo er aber warm wird, 
ſcheint ihm auch die Sprache Feichter zu merden und er bewegt ſich 
in einer Fülle von originellen Vergleichungen luſtig vorwärts. 

Es find einzelne, ungleichzeitig entftandene Auffäge, der erfte 
in Berlin, der zweite in Nom, der dritte wieder in Berlin, der 
vierte in Dresden gefchrieben; fle verbinden ſich aber durch bie 
Einheit der Grund-⸗Idee, wie fie nah Anlaß, Ort und Zeit ver⸗ 
fchieden fein mögen, ganz von felbft zu einem Ganzen. 

Der erfte diefer Aufſäze, „Kunftzuftände“ überfehrieben, be⸗ 
ginnt mit einer Anklage gegen die Unfelbftftändigkeit, den Nach⸗ 
ahmungögeift ter gegenwärtigen Kunft, dad Urtheilen nach ver⸗ 
gleichenden, aud der Vergangenheit genommenen Maßftäben. Da 
nun ©. 3 ausdrücklich von dem. foftematifhen Abrichten zur Nach⸗ 
äffung in den Kunſtſchulen die Rede ift, fo erwartet man, biefe 
Anklage, welche zunächft gegen. die formelle Bildung - unferer- 
Künftler. geht, weiter ausgeführt zu fehen. Allein man fieht 
bald, daß dem Verf. eigentlich eine andere Anklage vorſchwebt, 
der Vorwurf gegen unfere Seit nämlich, daß fie immer noch nicht 
begreifen will, wie der Inhalt ihrer Kunft, das äfthetifche Ideal 
überhaupt für fie ein anderes fein müfje, als das ‚Ideal vergan- 
gener Kunftperioden. Hier tft alfo zwifchen Inhalt und Form 
(ihre höhere Einheit könnte dabei immer feft gehalten werben) 
nicht gehörig unterfchieden,, and dieß rührt wohl daher, daß der 
Berf., obwohl er alle Künfte, inöbejondere auch die Malerei im 
Auge bat, doch vorzüglich ala Baufünftler fpridt. In der Baus 
funft nämlich kann nicht gefragt werden, was gebaut werden foll, 
die Aufgaben find durch Kirche, Staat, Privatzwede vorgefchrie- 
ben; darin find ſich alle Epochen der Kunſtgeſchichte gleih. Wohl 





6 


aber kann zwiſchen dem Gehalte, d. h. der Beſtimmung eines 
Gebäudes und ver Form oder ben Style ein ungeheurer Wider⸗ 
ſpruch entftehen, wenn Formen, welche die geiftig anders beftimm⸗ 
ten Zwecke eines Zeitalterd mit fich brachten, auf ein modernes 
Gebäude angewendet werben, mie wenn z.B. eine hriftliche Kirche 
nad dem „Schena eines griechiſchen Tempels⸗ gebaut wird, und 
ber Verf. thut daher fehr wohl, gegen das Dreffiren der Schüler 
auf topte Bormen verflungener Weltalter zu eifern. Allein ganz 
anders wenbet ſich bie Sache bei der Sculptur und noch mehr bei 
ber zeitgemäßeften der bildenden Künfte, der Malerei. Hier ift 
nicht bie Frage: dürfen wir Aufgaben, bie wir mit früheren Jahr⸗ 
hunderten gemein haben, in dieſem oder jenem ſchon dageweſenen 
Style behandeln? Hier iſt die Frage: können die Aufgaben, 
die Gegenſtände früherer Kunſtepochen noch die unſeren ſein? 
Auf dieſe Frage, wobei es ſich um etwas ganz Anderes handelt, 
als um freie oder unfreie Nachbildung vorhanden geweſener Style, 
lenkt der Verf. unverſehens durch die Zwiſchenbemerkung ein: 
„wenn dann überhaupt Madonnen gemalt werden müſſen“ und 
ſtellt ſich darauf mit folgendem Satze mitten in die Erörterung der 
Natur des modernen Ideals: „ja, ich glaube, die Zeit bricht an, 
wo die Gegenwart ſich fühlt und in ihre Rechte tritt, wo wir 
anfangen uns zu begnügen mit dem, was wir haben können, 
ohne uns das Leben mit dem Gewimmer nach verlorenen Para⸗ 
dieſen zu vergällen.“ Dann, ſtatt dieſen Punkt zu verfolgen, kehrt 
er aber wieder zur anderen Frage zurück, wie viel wir in der 
Form von dem Style früherer Künſtler zu lernen haben, verlangt 
eine freie Bildung des Schönheitsgefühls durch Betrachtung ihrer 
Werke, nicht ein unfreies Nachahmen, und ſpricht begeiſtert, ſelbſt 


7 - 


in gebundene Rede übergebend ‚ bie Ueberzeugung aus, daß un« 
ferer Zeit der Geift der Schönheit nicht verloren fei. Man könnte 
unbeſchadet der Selbſtaͤndigkeit unferer äſthetiſchen Schöpfungen 
noch weit mehr einräumen, ja fordern; man Eönnte verlangen, 
daß unfere Maler mit ungleich mehr Entfagumg und Unterwerfung 
und ungleich längere Zeit ſich in die Zucht der großen Meifter des 
Styls, eines Raphael, eines Mich. Angelo begeben; aber man 
will die Maler des Mittelalters nicht zunaͤchſt in ihrem Style, 
fondern in ihren Stoffen nahahmen, und daher fucht man nicht 
bie Meifter auf, welche die Stoffe dieſes Zeitalters bereits mit 
freiem weltlichem Schönbeitsfinn und entbundener Energie dar⸗ 
ſtellten, fondern diejenigen , die das Kirchliche in ächt Firchliche, 
d. 5. in unfreie und blöde Formen gefaßt haben. Es handelt fi 
bier um eine Weltanficht, nicht um einen formellen Bildungs⸗ 
gang. Wer für die höchſte Aufgabe der Kunft noch jetzt Madon⸗ 
nen und Beilige hält, der thut ganz reiht, den Fieſole nachzu⸗ 
Affen. Daß aber diefe größere: Zeitfrage nad der Natur bed 
modernen Ideals es ift, was den Berf. unvermerkt beichäftigt, 
fehen wir dann hauptſächlich aus feinen Aeußerungen über Over⸗ 
beck und einer Bemerkung über den verſchiedenen Eindruck, ben 
die in Einem Saale des Städel'ſchen Inftituts zu Frankfurt ein- 
ander gegenübergeftellten Bilder Overbecks und De Kayſers her⸗ 
vorbrachten: man erfreute fich an dem lebensvollen Schlachtbilde 
und ließ die pfäffifche Vorleſung über Kunſtgeſchichte hängen, Es 
baben fich manche Stimmen vernehmen laffen, welche die Schuld 
davon bloß auf den feichten Sinn der Menge ſchoben, die unter 
allen Umftänden durch ein Abbild der unmittefbaren, Jedem ge⸗ 
laͤufigen Wirflichfeit von der ernflen Sammlung, vie ein ideales 





8 


Werk in Anspruch nimmt, fich werbe abloden offen. Man muß 
wirklich zugeben, daß der Fall Feine ganz reine Probe Tieferte. 
De Kayſers Schlachtbild war bei allen feinen Borzügen Fein hiſto⸗ 
riſches Bild im hohen Style, wie es z. B. die Alexandersſchlacht 
in Pompeſi tft; das Publikum, wie es tft, hätte aber verausſicht⸗ 
lich nicht nur einem aſcetiſch trübfinnigen,, fondern auch einem 
weltlich freien, aber im Gelfte ernfter Größe und Idealität com» 
ponirten Bilde feine Aufmerkſamkeit entzogen, un fie einem genre= 
artigen zuzuwenden. Dan fee Wächterd Hiob neben ein moder⸗ 
ned Bataillen« oder Geſellſchafts⸗Stück, und ſicherlich wird jener 
verlaffen, biefed von Neugierigen umringt fein. Trotzdem hat 
Hallmann volllommen Net; denn nicht nur die Menge, bie 
oberflächlichen Genuß fucht, fondern auch der wahre Kenner, ber 
tief und gefund fühlende Menfch wird dem aus dem Grabe be» 
ſchworenen Gefpenfte ven Rücken kehren und das volle Leben auf⸗ 
ſuchen; das gemöhnlichfte Genre - Bild (und ein folches war De 
Kayſers Bild doch nicht) iſt immer noch wahrer, ald das Schatten- 
bild eines entſchwundenen und daher unwahren Ideals. Es iſt dies 
ein Punkt, über ven ich bei werfchiedenen Anläffen mit Hervorhe⸗ 
bung reichlicher Gründe, welche noch Niemand widerlegt bat, 
mich audgeſprochen habe. Wer nicht hören will, mit dem ift freie 
lich nicht zu ſtreiten; wer nicht einjehen will, daß verſchiedene 
Weltulter verfchietene Weltanſchauungen haben, daß und nicht 
taugen Fann, mas bem Mittelalter taugte, daß tie höchſten Stoffe 
ber Kunft für eine Zeit, welche Luther, Kant. Fichte, Schleier: 
macher, Schelling, Hegel geichen bat, nicht dieſelben ſein kön⸗ 
nen, wie für das Zeitalter der Päbſte: wer aus Scheu vor Ideen 
Mt begreifen will, daß tie Kunſt einen Entwicklunsgang hat, 


\ 9 


‚ auf welchem fie die Phantaflegeftalt verflungener Zeiten mie Schlan« 
genhäute abwirft; wer zwifchen Eifenbahnen und Dampfſchiffen 
noch der Madonna räuchern will; dem wollen wir feinen Frieden 
nicht ftören. 

Der Verf. gibt hierauf einen kurzen Ueberblick über die Zu⸗ 
ftände der neueren Kunft in Deutfchland. und fpricht zuerft von 
München. Indem er hauptjächlich die Architektur im Auge bat, 
bringt fi ihm bei aller Anerkennung des Geleifteten doch tie 
Thatfache auf, daß man bier im. Laufe von ein paar Jahrzehen⸗ 
dew den ganzen Cyklus der Style durchlief, den Jahrhunderte, 
Jahrtauſende durchwanderten, aber nichts. Neues, nichts Eigenes 
zu ſchaffen vermochte. Wir merden auf die Frage, warum unfere 
Beit feinen Architektur » Styl zu erzeugen vermag und mie Vieles 
aus dieſer Thatſache folgt, woran Niemand denkt, nachher zu 
ſprechen kommen. Dagegen gibt 9. zu, daß inmitten diefer ges 
fhäftigen Reproduction immer noch des Selbftindigen genug her⸗ 
vortrete, und führt als Beweis hievon Cornelius mit dem jüng- 
ften Gerichte an, muß aber freilich fein Lob durch die Bemerfung 
einſchränken: „ob aber, allgemein genommen, jene Darſtellungs⸗ 
art mit der ganzen Denkweiſe der Zeit ſich verträgt, ob überhaupt 
ſymboliſche Darſtellungen, ob ein gemalter Himmel, ob die ge⸗ 
malten Schrecken der-Hölle noch ſubtil genug find ‚ bie Bilder 
unferer Gedanken zu bereichern und zu ergänzen? Das ift eine 
andere Frage.“ Vermöchte er feine Intentionen klarer audeinans 
derzufeßen , jo hätte unjer Verf. ausfprechen müſſen, wie ſich die 
Malerſchule in München in ber Anfchauung ver großen italieni⸗ 
ſchen Meiſter und gefördert' durch umfaſſende Aufgaben al fresco 
ſchnell zu der Ausbildung eines Styles im intenfiven Sinne des 


10 


Wortes entwickelte, und hierin, in feinem charaktervollen, bem 
Mich. Angelo wahrhaft verwandten Style wäre Cornelius Ver⸗ 
dienft zu fuchen gewefen. Dann aber war zu erörtern, daß und 
warum troß dem Fein wahrhaft organifches Kunftleben bier ent⸗ 
fteben konnte. Man hatte jetzt wieder Styl, aber man wußte 
nicht, was damit anfangen, und der erfte Meifter dieſes Styls 
verſchwendete feine Kraft an Dinge, welche für Kinder⸗Holgen und 
bie Wände katholiſcher Wirthshäuſer, aber nicht für das helle 
Auge des neunzehnten Iahrhunderts gehören, fatt daß er auf 
bem edlen Pfade ber Heldenfage, den er eingeſchlagen, fortichritt. 
Ungleich mehr Keime einer neuen Kunft Viegen in Schnorr's Dar⸗ 
ſtellungen einheimifcher Sage und Geſchichte, im manchen tüch⸗ 
tigen Leiftungen der GenrerMalerei und Landfehaftmalerei ; Rott⸗ 
‘mann mußte auch bei einer noch fo flüchtigen Veberficht genannt 
werden, der mit aller Großartigfeit der fogenannten hiftorifchen 
andſchaft die individuelle Wahrheit und Phyfiognomie vereinigt, 
wie unſere Zeit fie fordert, und daher in feinem obwohl beſchränk⸗ 
ten Gebiete das erfreulichfte Bild eined Acht modernen Malers 
barbietet. 

Jetzt wirft H. einen Seitenblick auf Frankreich, fein Zurüde 
bleiben in der Architektur, die Schuld Enechtiicher Verehrung der 
antiken Form, fein Boranftreben in der Malerei, wobei num bie 
ben Franzofen eigne Kraft pramatifcher Spannung und Hervor- 
bebung ‚des ſchlagenden Moments neben den vom Berf. genannten 
Vorzügen und Mängeln beflimmter hätte hervorgehoben merben 
ſollen. Dann fest er nach England über, erfreut fich der neuen, 
aus nie ganz umterbrochener Feſthaltung dieſer nationalen Form 
erklärbaren, Leiftungen im mittelalterlichen Bauftyle und räumt 


— 


11 


dem geringen malerifchen Talente des englifchen Volks wenigftend 
das Verdienſt glücklicher Nachbildung des wirklichen Lebens und 
eines frifchen Colorits ein. Nach dem rufflihen Eife wollen wir 
ihm nicht folgen, ſondern mit ihm zu der Erwägung zurüdfehren, 
daß im Allgemeinen unfere neuere Kunft bi jetzt ein Abfyiegeln 
ber vergangenen Runft geblieben ift und daß es fich jeht endlich 
fragt „ob wir al8 vernünftige Wefen des neunzehnten Jahrhun⸗ 
derts mieber von Neuem anzufangen haben, ober ob wir ed vor» 
zichen, und vielleicht von Manchem nüchtern nennen zu laflen, 
aber demungeachtet einen Weg einzufchlagen, der für den Augen⸗ 
blick undankbar und hart feheinen mag, aber auf dem und das 
Bewußtſein unſeres Strebens nach Klarheit und Wahrheit auf⸗ 
recht erhalten wird.“ Der Verf. hat fich hier offenbar verſchrieben, 
bei wober« follte ein Gegenſatz folgen, etwa „oder ob wir Copis 
fien der Bergangenheit bleiben wollen“; e8 lag Ihm aber ſchon 
Preußen im Sinne, von dem er nun fprehen will, und ba er 
von der „kalt zu nennenden Berftandesrichtung“ in diejem Theile 
von Deutfchland etivad zu fagen vorhatte, fo gerteth ihm dieß 
ſchon bier in die Feder, er nimmt das „oder“ im erflärenten 
Sinne, bevorwortet, daß hie moderne Kunſt eine nüchterne, 
fheinbar proſaiſche Grundlage haben müffe und bahnt fi fo den 
Weg, einem deutichen Stanıme, dem er doch das Präbifat Falter 
Berftändigkeit geben muß, dennoch befonderen Beruf für die Schh- 
pfung eined neuen Kunftlebens zu vindiciren. Es märe nur zu 
wünſchen, daß er biefen Punkt gründlicher erörtert hätte. Wir 
haben die Aufklärung und die „lange dürre Zopfzeit# hinter und, 
wie das Alterthum und dad Mittelalter dieſelbe vor fich Hatte, und 
ebendarum können wir nicht bauen, Hilden, malen, als wäre 


12 


alle dieje Aufflärung‘, fo phantaftelos fie war, nicht dageweſen. 
Die Aufklärung hat jede Art von Olymp geftürzt ; feit fie ſich 
geltend machte, kann der göttliche Geift nimmermehr in übermelt- 
lichen Typen gefaßt und bargeftellt werben ; feit fie gewirkt hat, 
gibt es Feine Götter mehr. Wie unendlich dadurch die Kunft ein⸗ 
gebüßt hat, liegt amı Tage; denn das Kunftiveal ſcheint eben zu 
fordern, daß, mas von göttlichen Kräften im menfchlichen Leben 
zerſtückelt fichtbar wird, vereinigt in befonderen, von allen Män« 
geln gereinigten Geftalten außer und über der Welt glünze. Alle 
Diejenigen, welche diefen Verluft nicht verſchmerzen können, wollen 
noch Mythologie, heidniſche oder chriſtliche, als höchften Zweig 
ber Kunft. Allein ver unendliche Verluſt war ein unendlicher Ge⸗ 
winn. Jetzt erft iſt und die Welt aufgethan, da die in Götter 
verbichteten Nebel nicht mehr zwifchen ihr und unferem Auge hin 
ziehen; jebt erft meiß die Welt fich ſelbſt göttlicher Kräfte vol, 
ba bie jenfeitigen Geftalten, die das ihr ausgeſogene Mark in ſich 
zujammenbrängten,, ſich in mejentliche innere Bewegungen und 
Mächte des Lebens ſelbſt aufgelöst haben. Die Aufflirung war 
die negative Vorausſetzung diejed modernen, götterlofen aber 
weltlich heiteren, mythenleeren aber geſchichtvollen Ideals; fie 
konnte keine Schönheit ſchaffen, aber ſie fegte das Afterbild einer 
ausgelebten Art der Schönheit hinweg und ebnete den Boden 
für eine neue. Ebendeßwegen aber, weil die abſtracte Verſtändig⸗ 
keit der Aufklärung nicht ſchöpferiſche, ſondern nur negativ vor⸗ 
bereitende Bedeutung für das moderne Ideal haben kann, liegt 
ſogleich der Zweifel nahe, ob das Land, das vorzugsweiſe Sitz 
derſelben war und noch heute Sitz der verſtändigen oder richtiger 
der reflectirten Bildung iſt, ob Preußen beſonderen Beruf zu der 


in. 


43 


Schöpfung einer neuen Kunft haben Eünne. Hören mir unfern 
Berfafler. Er fagt, Preußen ftehe unbedingt für Deutichland an 
der Spitze des Fortfehrittö, und jo ftelle filh denn auch der Kampf 
der Gegenwart mit der Bergangenheit nirgends deutlicher heraus, 
als in der Düffelvorfer Schule... Freilich überjegt er den Ichteren 
Ausdruck fonderbarer Weije gleich darauf durch: ein ſtetes Ringen 
des Wollens mit dem Nihtfönnen. Bel dem Ausdruck: 
Kampf der Gegenwart mit der Vergangenheit, denkt man an 
einen rüfligen Streit zwiſchen einer doppelten Richtung der Schule, 
einer fatholifirenden und einer andern, melde die Aufgaben der 
wodernen Kunft begreift. Sollte dafür irgend ein Beleg gegeben 
werben, fo hätte der Verf. dem einzigen Maler der ganzen Schule, 
den er nennt, Schadow, etwa Leſſing und den gefchichtlichen Geift 
feiner neueren Werke entgegenftelen müfjen; .er fpricht. aber nur 
von der welegifhen Stimmung“ Schadow's, wie er den Fatholis 
chen Dogmatismus der neueren Kunft, der doch fehr beſtimmte 
Behauptungen ſehr hartnäckig verficht, unzulänglich ſubjectiv be- 
zeichnet, und ſetzt übrigens nur ſeine eigene Ueberzeugung hinzu, 
daß die Zeit dieſer Romantik entwachſen ſei. Bei dem anderen 
Ausdruck „Ringen des Wollens mit dem Nichtkönnen“ aber denkt 
man an das Gemachte, unproductiv Reflectirte, was die Bilder 
dieſer Schule (mit ehrenwerthen Ausnahmen) charakteriſiri, und 
davon wäre allerdings eben im Zuſammenhang mit den voraus⸗ 
geſchickten Prädicaten des preußiſchen Stammcharakters zu reden; 
es wäre zu bemerken geweſen, wie dieſelbe Reflexionsmanier, 
welche einſt in der Form ber Berliner Aufklärung ſich ausſprach, 
ſich jetzt nur auf andere Stoffe geworfen bat, und wie man al 
diefen Mabonnen, Eugen und thörichten Jungfrauen u. ſ. w. 


14 


immer noch den ganzen Nicolai anfühlt. Der Verf. bricht aber 
bier mit ber Eurzen Bemerkung ab: „es bleiben und von biefer 
Schule noch einige bedeutende Talente und ein in techniſcher Hin⸗ 
ſicht ſehr großer Fortſchritt in der Malerei, worin fie faſt in dem⸗ 
felben Maaße der Münchner Schule voran, al8 fie noch gegen 
die befieren Franzoſen zurück ift.u Ich überlaffe es dem Verf., 
biefe Behauptung zu vertheidigen. Er wird fih, wenn er in ben 
Fall kommt, wohl genöthigt ſehen, zwiſchen Technik und Technif 
zu unterſcheiden; bedeutet dad Wort eine ärünbliche und täufchende 
Ausführung des Einzelnen, fo mag er Recht haben, bedeutet e8 
aber Styl, fo hat er großes Unrecht. Uebrigens ift Diefer ganze 
Abſchnitt viel zu dürftig ; durch den Titel feines Schriftchens hatte 
ſich der Verf. zu einer viel grünblicheren Darftelung der neueren 
Schulen verpflichtet. 

Run geht H. auf die preußiſche Hauptftabt über und erklärt 
nicht unfein aus der „charf prononcirten Verftandesrichtung und 
fpefulativen Philoſophie“, deren Sig dieſe Stadt ift, daß bie 
Künfte ver Meſſung und der feharf beflimmten Form, Architectur 
und Bildhauerei, hier bis jeßt glücklicher gebiehen, als Malerei. 
Er fegt Hinzu, daß eine Vergleichung mit München leicht unge 
recht audfalle, wenn man nicht erwäge, daß in Bayern ein vor⸗ 
berrichender Bang des Negenten, in Berlin nur anerkanntes Bes 
dürfniß das Motiv architectoniſcher Werke ſei. Diefer Punkt wäre 
werth geweſen, weiter verfolgt zu werben. An der fogenannten 
Kunftblüthe in Bayern Tann Fein Dann, der es nıit einem Volke 
reblih meint, eine Freude haben. Leberall ift dad Nothmenbige, 
Haushalt, Recht, Volkserziehung dad Erfte und wenn erft dafür 
geforgt it, mag bie Kunſt von felbft aus dem Wohlftande des 


— 3 


4 


gefättigten Lebens hervorſproſſen; mo aber die Kunft eine Ver⸗ 
ſchwendung auf Koften des Gemeinweſens ift, wo nicht zuerft die 
geiflige Bildung des Volks bis dahin geführt iſt, die Schönheit 
and fi beroorzubringen umb zu fühlen, fonbern biefe eine exoti⸗ 
ſche Pflanze für einige lorgnettirende Kenner bleibt: da hat fie 
feine Wurzeln, da kann man ihre Scheinblüthe im Namen des 
Nothwendigen, von den fie zehrt, nur beklagen, Wenn dagegen 
in Berlin eine verftändige, lobenswerthe Sparfamfelt hierin waltet, 
fo brängt ſich doch auch hier die allgemeine Unfähigkeit des Zeit- 
alters, einen eigenen Bauſtyl zu ſchaffen, felbft in Schinkels 
Werfen auf, wie fi der Verf., der übrigens die hohe Bedeu⸗ 
tung dieſes Mannes gebührend anerkennt, fich nicht verbergen 
kann. Iſt in einer Kunft, die ihrem ganzen Weſen nach von 
antitem Leben und Geift fo unzertrennlich ift, wie bie Plaſtik, 
irgend eine Annäherung an nordifche Form, Tracht, Phyſiogno⸗ 
mie möglich, fo ift ed Rauch, der vor Schwanthalers ähnlichen 
Beftrebungen die glückliche Aufgabe ver Darftellung großer Zeit 
genofien voraus hatte, gelungen, fie ind Werk zu feßen; fein 
Name findet hier den verbienten Preis. Weiter wird von Berlin 
bie Durchbildung des Details gerühmt, die ſich in auffallend 
glücklicher Weife auch auf die mannigfadhe Formenwelt der In» 
duſtrie⸗ und Fabrik» Artikel erftrede. Mit gutem Rechte tft auch 
biefe Sphäre berührt. Wo immer Die Kunſt blühte, rubte fie 
auf dem fruchtbaren Boden des Handwerks. Freilich drängen fi 
aber bei unferer gegenwärtigen Geſchicklichkeit in den Artikeln der 
Induſtrie mancherlei Zweifel gegen einen folhen im Handwerke 
liegenden Keim der höheren Kunft auf. Hätte nicht, wenn dieſe 
Sandfertigfeit bei und, wie bei den Griechen und im Mittelalter, 


. 16 

serufen wäre, die Mutter künſtleriſcher Form zu werben, das 
Ergebniß längſt fichtbar werden müſſen? Und wenn dieß nicht 
ver Fall ift, find wir nicht aufgefordert, wohl zu unterjcheiden 
zwifchen ber rafjinirten Vervielfältigung und Verwicklung der Be⸗ 
dinfniffe, denen das moderne Handwerk dient, und dem edlen, 
immer noch naturtreuen Luxus der guten griechifchen und mittel- 
alterlihen Zeit? Iſt in jener zwar untergeorbneten, aber darum 
nicht verächtlichen Sphäre das mefentlichfte Merkmal einer wer⸗ 
denden Kunftblüthe, ein ſich bildender durchgängiger Styl, in _ 
gegenmärtiger Zeit bemerkbar? Sehen wir nicht vielmehr eine " 
zerſtreute Unendlichkeit willfürlicher, meift nachgeahmter Formen? 

Als weitere Stüße feiner Hoffnungen nennt der Verf. die 
Perfönlichfeit des Königs von Preußen. Aber welche Art von 
Kunft muß das fein, deren Aufſchwung von dem zufäligen Um⸗ 
ftande abhängt, ob ein einzelner Menſch fe befördert oder nicht? 
„Fin Baum, der nicht im groben Volksboden ſich genährt, nein 
einer, der nach oben fogar die Wurzeln kehrt/“. Oder kann Jemand 
im Ernſte glauben, daß die Mebiceer, daß Päpfte, wie Julius IL, 
die hohe Kunftblüthe ihrer Zeit gefhaffen und nicht vielmehr zum 
Entwiclung reif nur vorgefunden und unterftüßt haben? Haben 
nicht felbft die neueren Kortfchritte ver Kunft, fo wenig fie, ver⸗ 
glichen mit jenen großen Perioden , befagen wollen, ihren Grund 
in etwas ganz Anderen, als in der Kunftliebe des Königs von 
Bayern ? Waren Karſtens, Wächter, Shi, ihre Begründer, 
von.Königen unterftügt * Der Verf. fpricht einen „befeligenden«“ 
Glauben an die hohen Gaben und das „edele“ Wollen des regie- 
renden Hauptes aus, doc) es entgeht ihm nicht, daß er beflerer, 
in der Macht ver Zeit überhaupt liegender Gründe für feine Hoff- 


\ 


17 
nungen bedarf. Da nun Berlin im Borbergrunde ber modernen 
Bildung fteht, fo fcheint er darin den Beweis für die oben aus⸗ 
gefprochene Beftinnmung diefer Hauptſtadt gefunden zu haben. Es 
ift wahr, daß Berlin ein Hauptfig moderner proteftantifcher Bil 
dung iſt, allein ein bedeutender Beruf zur Kunft feßt Bewegungen . 
voraus, welche bis jegt daſelbſt eben Keinen glücklichen Boben 
gefunden haben. Wie wenig der Verf. ſich der Erforderniſſe er⸗ 
innert, welche zwifchen dem ganz allgemeinen Prädikate moberner 
, Bildung und einem künſtleriſchen Geifte noch in der Mitte Liegen, 
beweist die Stelle ©. 17, wo er ſich der Ruhe Preußens unter 
einer väterlichen Regierung erfreut und ihm die Frage gar nicht 
in. den Sinn zu kommen ſcheint, wie entfernt ein abfolut monars 
chiſches Land demjenigen Zuftande des Volkslebens fteht, aus deſ⸗ 
jen lebendiger Negung die Kunft, die Blume freier Nationen, 
erft hervorgehen Eann. a 
Neben diefer Stimmung „ruhigen Vertrauens“, neben bie 
fem „glücklichen Zuftande, von welchem der Nachwelt ein Denk» 
mal zu binterlaffen Preußen fih fehnt“, hebt nun der Verf., 
in feiner Weife ohne Zufammenhang, andere Beitmomente her» 
vor; zuerſt die durch vereinte Korfchungen erzielte Aufhellung der 
Vergangenheit. Daß dieß ein höchſt wichtiger Punkt ift, bedarf 
feines Beweiſes. Wir kennen die Gefchichte, Lebensformen, Phys 
flognomie vergangener Zeiten, fremder Völker; eine wahrhaft 
geichichtliche, durch taufend Anachronismen und Verftöße gegen 
das Koſtüm nicht mehr gehemmte Malerei und Poefie ift dadurch 
erft möglich geworben. Allein dieß ift wieder nur ein negatived _ 
Moment, aus welchem unnittelbar für die Hiftortfche Kunſt Feines» | 
wegs ein Gebeihen hervorgeht. Die Aufgellung ver Ferne, bie 
Kritische Gänge II. 2 


18 


Herbeiführung ber Möglichkeit Hiftorifcher Treue tft ein Act der 
Kritit und Gelehrfamfeit ; viele ift von der fehaffenden Kraft nicht 
nur bimmelweit entfernt, jondern ſteht fogar in einem folchen 
Gegeniag zu ihr, daß nicht wohl diefelbe Zeit in beiden Richtun- 
gen groß fein kann. Dieß hätte der Verf. fich felbft jagen können, 
wenn er mit jenem Gedanken den andern, den er ©. 20 aus» 
führt, zufammengehalten hätte. Hier nimmt er die Verftöße der 
Florentiner, Venetianer, Holländer gegen die Hiftorifhe Treue 
in Schuß, bebt mit gutem Grunde hervor, daß ein Volk nicht 
hiſtoriſche Thatſachen, die e8 nichts angehen, fondern fich felbft, 
die gegenwärtige Fülle feines Lebens in ven Werfen ver Kunft 
gefpiegelt fehen will, und fügt treffend: „die Menge, die vor 
dem Altar auf den Knieen lag, ſah fi in den Altarbildern fort- 
geſetzt.“ Dieß ift der wahre Grund jener Naivität, womit alle 
blühenden Kunftperioden die Tracht, vie Rare, die Sitte des 
eigenen Volks in ihre Kunft hineingetragen daben. Weil es den 
Menſchen wohl war, meinten fie, es fei nie und nirgends anders 
gewefen, und weil fie Menſchen waren, fo trafen fie in dem 
verfehlten äußeren Koſtüm um fo befler dad allgemeine Men> 
ſchenkoſtüm. Man muß überhaupt nicht meinen, daß es fih in 
der Kunft einfach darum handle, einen gewiffen Gegenftand zu 
geben. Das Subject, für das der Gegenftand fein fol, das Be⸗ 
wußtfein, dem er vorgehaften wird, muß in ihn zum-Voraus 
aufgenommien fein, damit es fi in ihm wiederfinde. Allerdings 
folgt hieraus nicht nothwendig Verletzung der hiſtoriſchen Treue; 
es Lißt fich ein Drittes denken: eine reine Vereinigung der Treue 
des Koſtüms, der Objectivität mit dieſem ſubjectiven Momente. 
Allein bis dahin haben wir weit, unendlich weit. Wären wir 


19 


nur erft ſchon da wieder angefommen, wo bie alte Kunft fichen 
blieb, bei der inneren Sreudigfeit, die ein Spiegelbild ihres Wohls 
feind, ihres politifchen Kraftgefühls im ungelehrten Koftüm nie 
verlegt! Dazu fehlt und aber nichtö weniger, als daß wir erft 
aufgehört haben müſſen, Menfchen zu fein, denen man in jedem 
Zuge anfteht, daß fie entweder jelbft Polizeidiener find, oder 
fürchten, es möchte ein PBolizeiviener fie arretiren; Menfchen, 
die von dem Gefeße einer falſchen Schaam beherriht, jede 
Leidenſchaft verbergen, jeden Ausdruck der Individualität verläugs 
nen; regiftrirte, rebucirte, geleckte, beſchnipfelte, bis oben zu⸗ 
gefnöpfte, mit dent Lineal gemachte, mit ver Beißzange abge- 
zwidte Menfchen. Wird der Künftler wieder ganze Menfchen 
um fich fehen, dann mag er keck die beften herausleſen, fie und 
als Helden ver Vergangenheit in jeinem Bilde vorführen und ihnen 
übrigend ein treued oder untreued Koflüm geben. Gegenwärtig 
aber ftellt fih das Verhältniß fo: die alten Künftler griffen Fed 
in das volle Leben hinein, das fie umgab, und ftellten die maderen 
Geftalten, bie e8 ihnen barbot, fammt dem Koftüm der Zeit 
friſchweg als Apoftel, Helden u. f. w. hin; mir Dagegen ſtudiren 
das Koftüm treuer als ein Theaterfchneider und fterfen die hyſteri⸗ 
fhen, ballgefichtigen und bleichfüchtigen Weiber, die ftußigen, 
geckenhaften Männer unferer Gegenwart hinein. Wer ift denn 
alfo in Wahrbeit hiftorifch untren ? Wir oder jene? Welches iſt 
denn bie wahrere Madonna, jene edle altveutfche Frau im genähten 
Rocke unter dem Apfelbaume, oder diefe Gouvernante im Burnus 
unter ber Palme? Dieß freilich kann der Kunſt unjerer Zeit Fein 
Pernünftiger zum Vorwurfe machen, daß ihr der Ausdrud der 
Heiligen nicht mehr gelingen will; mir haßen billig an die Stelle 
2 * 


20 


des Heiligen das Gute gefeßt; e8 kommt aber „nicht fomohl auf 
die Art der Darftelung,, ald hauptſächlich auch auf die Wahl 
des Gegenftandes an“ , fo fagt unfer Berf. weiter, aber ohne 
ed genauer zu beftinnmen, ald durch den zu allgemeinen Ausdruck, 
das Kunſtwerk ſolle rein menſchliche, große und edle Empfindun⸗ 
gen zu ſeinem Inhalt nehmen. Daher rühmt er Cornelius und 
Kaulbach in dieſem Zuſammanhang, die er doch gerade nach der 
Conſequenz ſeiner eigenen Anſichten hier hätte tadeln müſſen, 
jenen in Beziehung auf die Wahl ſeiner Gegenſtände überhaupt, 
dieſen wegen der Vermiſchung eines großen, wohlgewählten Ge— 

genſtandes mit abſurden mythiſchen Beſtandtheilen. Daß Beide 
auf das Volk nicht wirken, erklärt er dann ungeſchickter Weiſe 
bloß aus dem mangelnden Schmelz der Farbe. Hierauf wehrt er 
von einer wahrhaft zeitgemäßen Wahl der Stoffe den Vorwurf 
der Materialität ab; „eine Kunſt, die ihre Motive aus der Ge⸗ 
genwart nimmt, dürfe“, ſagt er ganz wahr, „den Geiſt nicht 
weniger entbehren, als jeder menſchliche Körper die Seelen; eine 
Kunft dagegen, hätte er hinzufeßen können, welche die -auögelebte 
Seele einer entfhwundenen Korn des Bewußtſeins in den Körper 
ihred Werkes zwängt, dieſe erft iſt wahrhaft materialiftifch. Ih 
behaupte geradezu: wahrhaft materialijtijch ift der Künftler, der 
in der Meinung, wahrhaft fpirituell zu verfahren, die grobfinn- 
liche Borftelung zu feinem Princip macht, daß der göttliche Geift 
nit ald innerer Beweger der wirklihen Welt, fondern als greif- 
barer Körper über- und neben ihr zu faffen ſei. Man wirft der 
jetzigen Religionsphiloſophie vor, ſie glaube nichts, was ſich nicht 
mit Haͤnden greifen laſſe; umgekehrt, die Mythen - Gläubigen 
. glauben nichts, was fie nicht mit Händen greifen Eönnen ; haben 


21 


fie keinen heidniſchen Gott, Göttermutter, Untergötter u. f. iv. 
mehr, fo ift ihrem flumpfen Auge, ihrem öden Herzen die Welt 
Yeer und Gottverlaſſen. 

Der Verfaſſer hätte, wenn er diefen Punkt genauer in's 
Auge gefaßt und umfaffender entwickelt, wenn er inäbefondere die 
politiihen Fragen der Zeit nicht fo quietiftifch umgangen Hätte, 
noch nad) manchen: Seiten bin die Keime eined neuen Kunſt⸗ 
Ideals in unferer Zeit nachweiſen Eönnen. Aber eine ganz an« 
dere Frage, auf die wir bei Beurtheilung der ſchönen Hoffnungen, 
bie er auf einzelne Nichtungen und Kräfte der Gegenwart feßt, 
zum Theil bereit eingeben mußten, ift die, ob die nächſte Zu- 
funft unmittelbar einer glücklichen Entwicklung der Kunft Boden 
und Stoff darbiete. Hier Tiegt noch eine Reihe. non Schwierig⸗ 
keiten, welche unfer Berfaffer ganz überfeben zu haben fcheint. . 
Es ift wahr, die bildende Kunft hat ſich bereits zu reineren For⸗ 
men durchgearbeitet, Streben und guter Wille ift ba, aus ber 
tranfcendenten Weltanfhauung des Mittelalter ringt fih ein 
Glaube an die reale Gegenwart des Unendlichen hervor, welcher 
einft, wenn er erft die Maſſe durchdrungen haben wird, neue 
und große Werfe ver Kunft au3 feinem Schuoße erzeugen kann, 
der praftifche Geift arbeitet gemaltig, ſich der Nealität zu bemäch⸗ 
tigen und die Völker fehnen fich nach neuem Leben; aber unmittel⸗ 
bar führt dieß Alles noch fo menig zu begründeten Hoffnungen 
für die nächſte Zufunft der Kunft, daß neben diefe günftigen Be- 
dingungen fich vielmehr ein ganzes Gebirge von Hinderniffen ftellt, 
bei deren Anbli man ausfprehen muß: entweder es werben 
ſich mit der geiftigen Umgejtaltung des Lebens, der wir entgegen- 
ſehen, auch alle Lebensformen verändern, ihre profaifche Geftalt 


22 


mit einer voetiſch Lebenbigen vertaufhen, ober bie Kunft wirbd 
für immer verdammt fein, an den Außerften Rand des Lebens 
bingedrängt ein wurzellofes Scheinleben zu führen. Ich Habe 
dieß nad verſchiedenen Seiten hin in meiner Anzeige der Ram⸗ 
boux ſchen Aquarellcopien in Düſſeldorf beleuchtet, höchſt lehr⸗ 
reiche Abſchnitte über denſelben Punkt ertheilt der erfte Band von 
Hotho's Geſchichte der deutſchen und niederländiſchen Malerei; 
hier will ich nur auf einige Punkte noch eingehen, welche der 
Verfaſſer ſelbſt berührt. Zuerſt, ſagt er, muß die Architektur 
mit der Zeit in Einklang gebracht werden; denn ſie iſt die Kunſt, 
die zunächſt in das Leben eingreift. Wir ſetzen hinzu: wo irgend 
ein neuer Kunſtſtyl ſich organiſch bildete, da ging die Baukunſt, 
bie Baſis und die Verſammlungsſtätte aller andern Künſte, vor⸗ 
aus. Warum wir aber feine eigene Baukunft haben können, ift 
leicht zu begreifen. ‘Der enge Zufammenhang, worin die Kunft 
mit der Religion fteht, ift nirgends inniger, ald in dei Baufunft; 
ein neuer Bauſtyl ging durch die Vermittlung des gotteöbienftli= 
hen Bedürfniſſes ftetd aus einer neuen religiöfen Weltanſchauung 
hervor. Unſere Zeit aber bat nicht die Aufgabe, eine neue Re— 
ligion zu ſchaffen, fondern eine alte in ihre vein geiftigen und 
fittlichen Elemente mit Ausſcheidung der durch die Phantaſie hin= 
zugegebenen Beftanptheile zu zerjegen. Dieß Streben nah Auf- 
löſung aller Illuſion wird fein Bernünftiger beflagen, es ift, mit 
dem Gedanken betrachtet, ein erhabenes Streben, aber für bie 
finnliche Anſchauung ein bildloſes und daher der Kunſt nicht 
günſtig. Eine Zeit, welche das Leben Jeſu kritiſch bearbeitet, 
wo von einem einſtimmigen, allen Ständen gemeinſamen Volks⸗ 
glauben Feine Syur mehr ift, Hat keinen Beruf, einen neuen 


23 


Kirchenſtyl zu erfinden. Es iſt möglich, daß eine Zeit kommt, 
wo der moderne Geift, nachdem er den negativen Theil feiner 
Aufgabe vollendet und ſich die pofltive Gewalt unmittelbarer 
Veberzeugung gegeben hat, auch einen neuen , berielben ent» 
fprechenden Eultus fich bilden und für diefen einen neuen Bauſtyl 
erfinden, wird. Uebrigens ift an diefer Stelle eine oben vorge» 
tragene Bemerkung zu ergänzen. Ich fagte, die Stellung ber 
Architektur in umferer Zeit unterfcheide ſich dadurch von der Stel- 
lung der andern Künfte, daß bei jener nur die Frage aufzumerfen 
fei, in welchem Style die Aufgaben behandelt werden follen, die 
fie mit allen anderen Zeiten gemein habe, während bei dieſen 
zuerſt fich frage, was fle überhaupt, welche Stoffe fle im gegen- 
wärtigen Zeitalter als ihre Aufgaben zu betrachten haben. Ges 
nauer betrachtet iſt aber jetzt auch für die Architektur eine ähnliche 
Frage gegeben; denn ſo viel iſt gewiß, daß fie im Kirchenbau 
jetzt nichts Neues zu leiſten vermag: der Punkt, auf den fie ge⸗ 
wieſen iſt, iſt die politiſche Baukunſt, und darf ſie hoffen, in 
unbekannter Zukunft neue Formen für religiöſe Zwecke zu erfinden, 
ſo werden eben dieſe mit dem politiſchen Leben in einem ganz an⸗ 
deren Zuſammenhange ſtehen, als bisher. Wir werden ſehen, 
wie den Verfaſſer ſein richtig ahnender Geiſt an einer andern 
Stelle ebenfalls auf dieſen Punkt führt. 

Iſt unſere Zeit von der einen Seite zu abſtract und philoſo⸗ 
phiſch, um ſich eines Berufs zur Kunſt rühmen zu können, ſo 
wird ihr von der andern Seite der entgegengeſetzte Vorwurf der 
Materialität gemacht. An ſich tft es nicht ſchwer, den ſcheinbaren 
Widerſpruch zu löſen. Unſere Wiſſenſchaft und in Uebereinſtim⸗ 
mung mit ihr die populäre Reflexion iſt abſtract nur in dem 


” 


24 


Sinne, daß fle die jenfeitigen Ideale aufzuldfen, die Phantafle- 
bilder, die ſich zwiſchen bie reinen Gedankenbeſtimmungen und 
zwifchen die Wirklichkeit, worin diefe al3 Geſetze herrichen, bis⸗ 
ber geichoben haben, aufzulöfen gebt. In Wahrheit aber will 
fie dadurch den wahren Begriff ver Mealität der Idee herftellen, 
den Geift in die Wirklichkeit einführen. Mit dieſem theoretifchen 
Streben der modernen Bildung fällt das Bemühen des praftifchen 
Verſtandes, die Materie Schritt für Schritt immer vollfommener 
in den Dienft der menſchlichen Zwecke zu ziehen, vollfommen 
zufammen und ift in biefem Sinne betrachtet jo wenig als ein 
materielled zu bezeichnen, daß es vielmehr nur die andere Seite 
deſſelben realiftifchen Idealismus iſt, der unfere Zeit bemegt. 
Allein wir ftehen bier auf äfthetiihem Boden und mas, ben 
Fortſchritt des Geiftes im Ganzen genommen, ein großes Schau⸗ 
ſpiel iſt, kann auf dieſem Standpunkte ein höchft niederdrückendes 
ſein. Die Menge derer, welche unmittelbar in den Maſchinengeiſt 
unſerer Zeit verſtrickt ſind, darf ſich des Bewußtſeins jenes hohen 
Sinnes, der ihrem Treiben zu Grunde liegt, keineswegs rühmen, 
ihr Geiſt iſt zwiſchen Walzen und Rädern fo vproſaiſch geworden, 
wie das ewig eintönige Saufen ihrer Mafchinen, und fle fragen 
nichts danach, ob ber todte Mechanismus vollends jede lebendige 
Teilnahme der Individualität von der Hervorbringung der Pro⸗ 
dukte ausfcheivet, ob das Fabrikweſen die gute alte Sitte ganzer 
Bevölkerungen, den ehrenfeften alten Handwerksgeiſt, das ge= 
müthliche Einleben der Seele in den Charakter ver Arbeit vollends 
aufreibt, die Findliche Blüthe phyſiſch und geiftig mordet, Schaaren 
liederlicher, vechtlofer Arbeiter und Arbeiterinnen in die Straßen 
ber Städte ergießt, Viele in Armuth ftürzt, um Wenige zu 


25 


bereihern, und fo den Wohlftand, die Gefundheit, die Indivi⸗ 

bualität, die Sitte, welche die Bebingung aller Kunftblüthe ift; 
vernichtet. Wo der Sinn für Kunft Wurzel fchlagen fol, wenn 
fein uralter Boden, das Handwerk, auf dieſe Weife vor unjern 
Augen entjeelt wird, mag ein Anderer einiehen. Aber der Fabrik⸗ 
geift zehrt auch alle Formen auf, welche das Auge bed Künftlers 
von Jugend auf. bildend umgeben und für fein Werk ihm den un⸗ 
entbehrlichen Körper liefern follen. Es ift bier nicht bloß von 
Dampfihiffen und Eiſenbahnen die Rede, weldhe neben dem 
windbeſeelten Segelfchiff, vem von fehnaubenden Hengſten gezogenen 
Wagen Fünftlerifh ganz wegfallen, nicht von den Verwüſtungen, 
welche vie wohlfeilen Lappen der Zizze und Kattune in den Volks⸗ 
trachten angeftellt haben, nicht von dem tauſendfachen und überall 
umgebenden Geräthe, das auf den erften Anblick dem Auge fagt, . 
daß es nicht aus der lebendigen Hand, fondern aus der todten 
Maſchine fommt, fondern e3 iſt von dem mechanifchen Charakter 
die Rede, der ſich in meiteften Sinne allen Formen aufgevrüdt 
hat, von dem Mafchinenlaufe des ganzen Staatsweſens, der dem 
Individuum den ledernen Charakter des Philifterd aufzwängt, 
von den falichen Anftandöfefjeln der Geſellſchaft, des Geſpräches, 
der Dreffur ver Erziehungsanftalten, dem Zopf= und Kamaſchen⸗ 
dienſt des Militärs, der farblod dürftigen, Hungrigen Kleider⸗ 
trat, welche nicht erlaubt, auch nur eine volle Farbe, ein 
bischen Phantafle anzubringen, wenn man nicht für einen Nar⸗ 
ren oder Kunftreiter gelten will, von ber öden Kahlheit unſerer 
Häufer und Straßen, der kläglichen Anftrengung, und auf un= 
fern gemachten Schulmeifter = Feften vergnügt zu ftellen, dem 
ſchlaffen, affectirt nachläffigen Rutſchen, das wir Tanz nennen: 


26 


kurz, es iſt die Mebe von einem Zuftande, fiber den ſich jeder, 
der einen: Begriff davon Hat, was leben heißt, mie anders bie 
Völker einft athmeten, geradezu erhängen müßte, wenn nicht 
unfere Zeit tiefere geiflige Nahrungsauellen hätte, die dem ernften 
Menfchen für die verlorene Jugend und Frifche des Lebens Erſatz 
geben. Selbſt auf die Thierwelt eſtreckt ſich dieſe Ertöbtung. 
Die fortſchreitende Cultur vertilgt alles Wild, und damit man 
auch die Hausthiere nicht mehr in ihrer Freiheit ſehe, hat die 
Landwirthſchaft die Stallfütterung eingeführt. Wer die lebens⸗ 
vollen Vergleichungen Homers aus der Thierwelt, wer die herr⸗ 
lichen Stellen im Hiob über den wilden Eſel, den Stier u. ſ. w. 
mit Sinn geleſen hat, wer da weiß, was eine thieriſche Staffage 
in der Landſchaft zu bedeuten hat, wird mich verſtehen. In wel⸗ 
chem ungeheuren Widerſpruche demnach alle berechtigten und un⸗ 
berechtigten Intereſſen der Bildung mit den Intereſſen der Kunſt 
fiehen, wie genau allemal da, wo etwas modernes auftaucht, 
ein Stück poetifcher Kebendigkeit weiter verloren geht und allemal 
nur da etwas Fünftleriih Brauchbared zum Vorſchein Fommt, 
wo im Sinne der Bildung vielmehr ein Uebel Legt, in Berlegun- 
gen der Polizeigefeße, in Nevolutionen, bei Lumpen, Zigeu« 
nern, Seiltänzern, diebiſchen Mausfallenhändlern: darein fcheint 
unjer Verfaſſer die nothwendige Einficht keineswegs gewonnen zu 
haben. Er nennt als ein Beiſpiel materieller (d. h. mechanifcher, 
auf die Beherrfchung der Materie gerichteter) Erfcheinungen, die 
doch die größten geiftigen Früchte getragen haben, die Buchdruder- 
kunſt. Genau ein richtiges Grempel für jenen Widerſpruch. 
Diefer Mechanismus der Mittheilung, für den geiftigen Fort⸗ 
jhritt ein unendlicher Hebel, Hat in der Welt der äfthetifchen 


— 


27° 


Formen unendliche Zerſtoͤrungen angerichtet. Man ftelle fi 
das griechiſche, das mittelalterliche Volksleben in allen denjenigen _ 
feiner Erſcheinungen vor, wodurch es der eigenen und ber fpäteren 
Kunft fo reichen Stoff und Nahrung bot, und denke ſich dann 
die Buchdruckerkunſt in jene Zuftände hinein, fo fällt das ganze 
Bild zufammen. Iſt es nicht ſchöner, wenn ber Lebendige Menſch 
dad Bu ift, in dad ein beſtimmter Umkreis von Kenntniffen 
gebunden ift, ald die todte Sammlung ſchwarzer Lettern? Hätten 
die Griechen die Tragödien und die Komödien ihrer großen Dich⸗ 
ter auömwendig gewußt, wenn fle gebrucdt geweſen wären? IM 
lebendige Rede, Vorlefen von Handfehriften, Abfingen von Volks⸗ 
liedern im Freien nicht poetifcher, ala Druckenlaffen und Leſen? 
Hat irgend etwas mehr bie Beredſamkeit erſtickt, als die Buch⸗ 
druckerkunſt? Können ſich noch Sagenkreiſe wie im Alterthum 
und Mittelalter bilden, wo Zeitungen gedruckt werden? Gegen 
alle dieſe Formen unmittelbarer Lebendigkeit der Mittheilung haben 
wir das unſchätzbare Gut einer blitzſchnellen Circulation aller 
Kenntniſſe und Ideen, einer geflügelten Verbreitung des elektriſchen 
Gedankenſtoffes durch alle Stände eingetauſcht: wir haben rein 
geiſtig, auch praktiſch, politiſch, demokratiſch unendlich gewonnen, 
ader äſthetiſch unendlich verloren. 

Sp nennt der Verf. die Reliefcopirmaſchinen, Diagraphen, 
das Daguerrotyp,, den Del- und Farbendruck: lauter Erfindun⸗ 
gen, welche keineswegs als Beförderungsmittel der productiven 
Kunſt anzuſehen ſind, ſo mannigfach ihr übriger Nutzen ſein mag. 
Das Daquerrotyp z. B. kann dem Künſtler kaum auch nur den 
Vortheil einer erften, durch freiere Compofition und Stylifirung 
nachher umzugeſtaltenden Skizze geben; denn Auge und Hand 


28 \ 


bes wahren KRünftlerd idealiſirt ſchon im Aufnehmen ver erften 
Skizze. Ganz übergangen aber bat der Berf. alle jene Sphären 
des wirklichen Lebens, worin der fortichreitende Mechanismus 
im engern und weitern Sinne eine poetifche Form um die andere 
aufhebt. Ich mil aus taufend Dingen nur noch Eines nennen: 
find Kutihen, Kunftftraßen, Poften nicht eine trefflihe Einrich- 
tung? Aber find Fußgänger, Weiter auf wilden Wege, Boten 
nicht poetifcher? Und fo in allen Sphären ; dad Bequeniere , bie 
größere Förderung des Verkehrs ift allemal - das äfthetiich Une 
günftigere. Ja ich muß befennen: wenn th dich Alles überblicke, 
menn ich erwäge, daß dieſes Auflecken aller unmittelbaren Leben⸗ 
digkeit nur immer mehr zunehmen muß, weil es im Interefje der 
Bildung ift, wenn ich mich dann erinnere, wie die Kunft, wenn 
fle irgend fröhlich blühen foll, überall gerade dad entgegengefebte 
Intereffe hat und lauter Formen bedarf, die einem Zuftande ans 
gehören, wo Behagen und Luxus zwar eine gewiſſe Stufe erreicht 
haben, aber noch nicht diejenige, auf welcher dad Mafchinenhafte 
die unmittelbare finnliche Bethätigung der Individualität erfpart: 
dann verzweifle ich völlig an aller Zufunft der Kunft. 
Der Derf. wird darum nicht gegen mich geltend machen, was er 
©. J1 fagt: „abfurd finde ich das Gerede, daß die Aufklärung 
die Kunft erftidle.u Es iſt etwas Anderes, die Aufklärung be- 
Hagen, weil fie die Kunft erſtickt, etwas Anderes, die Kunſt 
beklagen, weil fle von der Aufklärung erftickt wird, und ich thue 
nur das Letztere. Kann er mich widerlegen, um fo befler; es 
ift Niemand lieber, als mir. 
Hallmann ift, wie wir fahen, friſch und jugendlih genug, 
einzuſehen, daß bie Kunft ihre Motive nur aus der Gegenwart 


29 


nehmen Fann.- Es verfteht ſich, daß hieß nicht rein buchſtäblich 
zu nehmen iſt; das Dargeftellte Fann und muß vergangen fein, 
aber e8 fol in lebendiger Erinnerung ftehen und als eine fubftan- 
tiele Macht im Bewußtſein der Zeit leben. Darin läge nun etwa 
eine Auskunft, der eben audgefprochenen Verzweiflung zu ent« 
gehen; der Künftler mürbe eine Scene aus der Vergangenheit 
wählen, melde ein weſentliches Intereffe für die Bewegungen der 
Gegenwart hätte, und genöfle fo den doppelten Vortheil, den 
inneren Schalt aus der geiftigen Welt derjenigen, für die er 
darftelt, die Formen aber aus der Vergangenheit zu nehmen. 


‘. Allein e8 ift auch dieß Feine wahre Ausfunft. Die malerischen. 


Formen muß der Künſtler au aus der Gegenwart nehnen 
fünnen; fo lange er jedes erträgliche Stüd Kleid aus alten Rüft⸗ 
fammern, Trödelbuden, bei entlegenen Völkern zuſammenſuchen 
muß , befindet fich ver Maler (und im Grunde auch der Dichter): 
in demfelben alle wie der Bildhauer, deſſen Kunft nie wieder 
eine andere Stelle einnehmen Tann, als die einer mäßigen Re⸗ wu 
produktion der griechifchen Plaſtik, weil er nicht bloß das Nackte. LER 
nur an bezahlten Modellen und fteifen akademiſchen Akten flieht, 
fondern die Art der Verhüllung, Haltung, Geberbe, Bewegung, 
wie fle ihn überall umgibt, durchaus unplaſtiſch if. Die Kunft 
bat Feine Lebensſäfte mehr, wenn fie ihre Studien nicht mehr in 
der Wirklichkeit machen kann. 

Nachdem nun H. von feinem Standpunkte aus die Verkehrt⸗ 
heit gewiſſer neuerer Unternehmungen, wie des Gebanfens, einen 
Kaiſerſtuhl bei Renſe zu erbauen, dem Arminius auf dem Teuto⸗ 
burger Walde ein Standbild zu errichten — die laͤcherliche Thor⸗ 
heit einer abſtracten Begeifterung — gebührend aufgewieſen hat, 


30 


führt er einige Beiſpiele von zeitgemäßen Aufgaben an, und bier 
iſt e8, wo wir am weiteften von ihm abweichen müflen, die wir 
ihm die Forderung eined gefchichtlichen, dem Interefie der Zeit 
entgegenfommenden Stoffed zwar einräumen, aber die Formen 
der Gegenwart für völlig unbrauchbar erklären müflen. Scenen 
aus dem flebenjährigen Kriege, die er empflehlt, kann man fich 
noch gefallen laſſen, da die Zopfzeit immer noch ungleich maleri» 
fher ift, als die neuefte; freilich können moderne Schlachtbilver, 
fo bedeutend fie geihichtlih auch fein mögen, megen der allem 
im engeren Sinne Heroiſchen entfrembeten Formen der modernen 
Kriegführung nur auf den Rang von Genre = Bildern Anſpruch 
machen. Aber meinen Augen traute ich kaum, als ih lad, daß 
Die Huldigungsſcene in Berlin als ein würdiger , wahrhaft zeit> 
- gemäßer Gegenftand für den Maler anzufeben fei. Sp mag fi 
denn, wenn man biefe Mafje erhabener Fräcde und preußiicher 
Hüte auf der Leinwand vereinigt fehen wird, der „beſeligende“ 
Glaube an den König von Preußen an der Erinnerung jener 


A * großen Stunde entzüden, ber „Stunde, wo Begeifterung die 


Herzen erfüllte, ald der König unter der wogenden Maffe feines 
treuen und liebenden Volkes aufftand und herrliche Worte ſprach, 
Worte, die Bürge waren einer ſtrahlenden Zukunft, als der König 
die Hand erhob zum Schwur und von allen Lippen unter dem 
Donner des Geſchützes „Nun danket alle Gott«“ ertönte.“ 

Der zweite dieſer Aufſätze handelt „Ueber Kunſtſtudium als 
die Quelle der Kunſtleiſtungen, vornehmlich über das Studium 
der Architektur von künſtleriſchem Standpunkte.“ Die trefflichen 
Bemerkungen, welche der Verf. hier über die jetzige Erziehung 
des Künſtlers, insbeſondere des Baukünſtlers, vorbringt, ſind 


31 


mit allgemeinen Gedanken burchflochten, welche theilweiſe das 
Wahre in der Mitte treffen, theilweiſe aber an der Unklarheit 
und Confuſion leiden, mit welcher unſer Verf. kämpft. So ſpricht 
er gleich zum Eingang den ſeltſamen Satz aus, die Preſſe in 
Kunſtſachen müſſe künftig in die Hände der Künſtler kommen, 
denn die Kunſt habe deßwegen hauptſãchlich durch die Preſſe ge⸗ 
litten, weil die Kunſtkritik bis jetzt hauptſächlich in den Händen 
wiſſenſchaftlicher Männer geweſen ſei. „Schreibt ein Gelehrter 
über Kunft, fo fehreien over Inchen die Künſtler, fihreibt ein 
Künftler über Kunſtſachen, fo ſchreien die Gelehrten und wenn 
fie auch nicht gerade über die Anſichten der Künftler, fo lachen 
fie doch Häufig über ſtyliſtiſche Unvollkommenheiten.“ Dann fucht 
er dieß ewige Mißverftehen der Gelehrten und Künftler unterein» 
ander daraus zu erflären, mbaß eine wiſſenſchaftliche Auffaſſung 
Fünftlerifcher Gegenftinde dem eigentlich ſchaffenden Principe ver 
Kunft zumider iſt, weil fie, wie unzählige Beifpiele der neueren 
Kunft beweiſen, dadurch durchaus collectiv ſtatt productiv 
wird und geworden iſt.“ Collectiv ſoll wohl abftract heißen; ber 
Ausdruck ſcheint aber nicht umſonſt gewählt, denn ©. 39 heißt 
das Wiſſen etwas Zuſammengeleſenes, in ſich Uneiniges, im 
Gegenſatz gegen das Gefühl als etwas Urſprüngliches und Ein⸗ 
faches. Es fehlt nur noch, daß dem Gefühle geradezu das Prä⸗ 
dikat der Allgemeinheit, dem Wiſſen das der Einzelheit zuerfannt 
und fo das Verhältniß dieſer beiden geiftigen Formen gerabezu 
umgefehrt wäre. Was aber der Verf. eigentlich jagen mollte und 
ſollte, iſt dieß. Es ift freilich ein Mipftand, daß zwei Kräfte, 
welche ein Schriftfteler über Kunft in ſich vereinigen ſollte, der 
Natur der Sache yach nicht vereinigt fein können: die Cinſicht 


- 


32 


in den inneren Entwickelungsgang der Kunftgefchtchte im Großen 
und in die Aufgabe ver Gegenwart, ber philofophifche Begriff 
des Weſens der einzelnen Künfte, die Fähigfelt , die Idee eines 
gegebenen Kunftwerfs in klare Worte zu fafien, und der Takt 
des Blickes, das volle Verſtändniß aller Fünftleriichen Formen, 
aller Feinheiten der Ausführung, mie e8 die Erfahrung ded aus⸗ 
übenden Künftlers mit fi führt. Weil aber biefe Gaben, ver 
Beſchränktheit menfhlicher Dinge gemäß, an verfchiedene Perfo- 
nen vertheilt bleiben *), jo ift darum keineswegs zu wünfchen, 
daß die Kımflfritif in die Hände der Künftler übergehe. Die Ge> 
lehrten Tachen nicht etwa nur über ſtyliſtiſche Unvollkommenheiten 
ſchriftſtellernder Künftler,, wie dieß unferem Verf. das böſe Ge- 


J 


wiſſen eingist, fondern fle durchfchauen die völlige Unficherheit 


des Urtheils, in welche der Künftler verfällt, ver fih aus der 
Sphäre der frifhen Unmittelbarfeit in das Feld der Theorie, wo 
nur ein philoſophiſch gebildetes Denfen den Weg findet, hinüber⸗ 
begibt. Niemald war biefe Unficherheit größer, als in jeßiger 
Zeit, wo dem Künftler nicht mehr eine traditionell ausgebildete 


Typenwelt feine Stoffe ein für allemal an die Hand gibt und er 


in dem Chaos von wählbaren Stoffen und verworrenen Urtheilen 
den Wald vor Bäumen nicht fleht; eben darum ift bie Erfcheinung 
eines Künftlers von fo gefunden allgemeinen Anfichten über das, 
was unferer Kunft im Großen Noth thut, wie Hallınann , eine 
Perle. Die wahre Beitimmung des Künftlers ift aber, getragen 
von einem großen Inftinkte der Zeit und des Volkes, ohne Bes 


*) Es gibt übrigend Ausnahmen, ich erinnere nur an Gotho, der dad 
feifchefte Auge mit dem tiefen Denten des Kunſtphiloſophen verbindet. 


33 


- 


wußtſein über die letzten Gründe und den reinen Ideengehalt feines 
Werkes hervorzubringen,, was ihm die fchaffende Phantafle ein⸗ 
gibt. Das Uebel unferer Zeit ift eben, daß ein folder Inftinet 
nieht waltet. Unſere Künftler haben das ſchöne Dunkel ver Unbe⸗ 
fangenheit geopfert, aber dafür nicht das reine Kicht des Denkens 
erobert, fondern firaucheln in der Mitte zwifchen Tag und Nat. . 
Was fie von Neflerion aufgenommen haben, reicht gerade bin, 
ihre Naivität zu zerftören, und die Reſte von biefer, die fie in. 
jene Hinübertragen, reihen gerade hin, ihnen, die Gonfequenz 
des. Denkens unmöglich zu machen. Daher müffen fie es fich 
gefallen laſſen, daß ihnen ver Philofoph fagt, was bie Zeit von. 
ihnen fordert, der Philofoph, dem fie doch an Einflcht in das 
Praftifhe der Kunft, an Gefühl einzelner Schönheiten unendlich 
überlegen find. Diefer Mebelftand könnte fich aber nur noch in's 
Unermeßlihe verfchlimmern, wenn die Kritik vollends in die Hände 
der Künftler übergehen follte; dann würde ihnen die Gewohnheit 
der Reflexion vollends jede Friſche der Conception verzehren und 
„Unternehmungen vol Mark und Nachdruck/ — wenn anders 
foche zu hoffen find — „die Bläffe des Gedankens anfränfeln.« 
Der Künftler fol als Werkzeug der gefchichtlichen Entwicklung 
inmitten derfelben ftehen, der Philofoph fie überblicken ; beides 
ift nicht für beide. Warum num aber unfer Verf. auf dad Wiflen 
fo gar ſchlecht zu fprechen ift, dieß Eommt von dem großen Mißver⸗ 
ftänpniffe her, daß er meint, der Philofoph wolle dem einzelnen 
Künftler im einzelnen Kalle vorfehreiben, was er zu machen habe, 
und jih anmaßen, was nur Sache der fehaffenden Phantafle iſt. 
Defwegen fagt er, die Wiffenfchaft fei collectiv flatt probuctiv. Das 
Wahre davon iſt dieß: die Kunft ift unmittelbar productiv, bie 
Kritische Gänge NL. 3 


34 
Wiſſenſchaft fleigt vurch die Momente ber verfiändigen Dermitt- 
Img, beren eines das collective, d. 5. die Juſammenfaſſung bes 
Befonderen unter das Allgemeine if, zur Idee auf, welche aber. 
das Productivfte von Allem ift, was es geben kann, indem fie 
die Production der Künftlers felbft, die ihm ein Geheimnig if, 
durchſchaut und ihm in die Werkftätte feines Schaffens flieht. Dieß 
” tif freilich eine andere Art von Productivität, als Die unmittelbare, 
ı ber Natur verwandte des Künftlers; wenn daher in jetziger Zeil 
die Wiſſenſchaft fo frei iſt, den Künftlern zu fagen: das ift euer 
Weg, da müßt ihr hinaus! fo maßt fie ſich keineswegs an, ihnen 
im Einzelnen zu fügen, was und wie fle fehaffen ſollen, ſondern 
u dem einzelnen Schaffen verhält fie fich allerdings fo, daß ſie 
das Vorhandene vergleicht, unter gemeinfchaftliche Merkmale ſub⸗ 
fumirt und daraus die Richtung der Zeit, der Provinz u. f. w. 
abftrahirt. Abftrahirt fle aber daraus eben dieß, daß dieſe Rich⸗ 
tung feine zeitgemäße ift, fo ruft fie billig ven Künftlern zu: ihr 
follt feine Wolfengebäude mehr, fontern Geſchichte malen! 
u. ſ. w. Die Künftler vürfen fich darüber um fo weniger beſchwe⸗ 
ren, weil fie fi jelbft auf das Feld begeben, worauf ihnen bie 
Kritik überlegen ift, weil fie felbft Dogmen aufftellen über dag, 
was darzuftellen ſei, thörichte Commentare zu ihren Triumphen 
ver Religion in den Künften fehreiben u. dergl. Hallmann fagt 
jelbft im grellen Widerſpruche mit der behaupteten Untrüglichkeit 
des Gefühle, daſſelbe müſſe durch das Wiſſen berichtigt und gelenkt 
werben. Wer ift denn der Blinde, der Führer oder ber, ber ihn 
braucht? Das Gefühl ift gut und hat fein volles Recht in der 
Kunft, aber es Fann irren und hat in ſich nicht ven Maaßſtab, 
feinen Irrthum zu entdecken. 


35 


Was nun den Verf. in dieſe Mißverftändniffe verwickelt, find 
bie Anfichten über Erziehung des Künftlerd, die er auszufprechen 
im Sinne hat und die ihm in den vorangeſchickten allgemeinen 
Bemerkungen verwirrend vorſchweben. Er will naͤmlich zeigen, 
daß die Erziehung des Künſtlers eine lebendig praktiſche, nicht 
eine ſchulmäßig wiſſenſchaftliche ſein ſoll, daher meint er, er 
müſſe zum Voraus die Wiſſenſchaft überhaupt gegen as Gefühl 
berunterfegen, und vergißt fomohl, daß er die höhere Wiſſen⸗ 
ſchaft, von welcher die Kunftphllofophie ein Zweig iſt, mit den 
Schulwiſſenſchaften, welche in Kunſt⸗Akademien getrieben werden, 
nicht verwechſeln follte, ald auch, daß Niemand befler ald ver 
Kunftphilofoph einfieht, wie durch Schulzwang Feine Künftler 
gebildet werben können. on 

Andere Bemerkungen allgemeiner Art, die er vorbringt, find 
dagegen um fo treffender. . So berichtigt er die verkehrte Vorſtel⸗ 
lung von dem fogenannten Fünftlerifchen Ideale, als ob der Künft- 
ler einen Gedanken fpinnen und dann die Form dafür fuchen folle, 
und fagt ganz mufterhaft: „was bei dem Gelehrten das Denken, 
ift bei dem Künftler dad Phantaflren im befjeren Sinne; denn 
der. eigentlihe Künftler denkt, in fofern es die Kunft 
betrifft, ftet3 in Formen, weil eben die Formen feine 
Ausdrudsmeife find.“ Was nun den Gegenftand ſelbſt an⸗ 
belangt, dem diefe Abhandlung gilt, fo führt er aus, wie der. 
Schulzwang der Afademieen, wo Alle über Einen Kamm geſcho⸗ 
ren werben, im ewigen Copiren, in der Hebe der Eramina die 
künſtleriſche Individualität erbrüden muß und nur phantaflelofe 
Beamtenfünftler ziehen kann. Insbeſondere ſpricht er von ber 
Bildung der Architekten, tabelt die Einrichtungen der Berliner 

3 * 


9— | 36 
Bau⸗Akademie und verlangt ſtatt des Mechanismus folder An- 
flalten, daß der Künftler unter der unmittelbaren Aufficht eines 
erfahrenen Meiſters heranwachſe, wo der Lehre ſtets die An⸗ 
fhauung zu Hülfe fomme, mit der Theorie die Praxis zufammen- 
falle und insbeſondere das ungleiche, getrennte Fortſchreiten in 
den einzelnen Zweigen, wie dieß ein Hauptübel in der Eintheilung 
des akademiſchen Curſes ſei, nicht ſtattfinden könne. Ich kann 
dieß hier nicht im Einzelnen verfolgen, ſondern nur ausſprechen, 
daß hier ein Punkt erörtert wird, der für die Erkenntniß ber 
Gebrechen der modernen Kunft von der größten Wichtigfeit und 
gewiß werth Hit, gründlich in’8 Auge gefaßt zu werden, wo denn 
die Aufgabe wäre, die Schule, mie fte in allen Beitaltern hoher 
Kunftblüthe befchaffen war, mit der modernen afabemifchen Er» 
ziehung zu vergleichen und fich zu überzeugen, wie auch hier ber 
Geift des Mechanismus an die Stelle der individuellen Thätigkeit 
und Einwirkung getreten iſt. 

Insbeſondere dürfte fich jede Regierung empfohlen fein laſſen, 
was Hallmann über die Zweckmäßigkeit einer Trennung des 
Stadt⸗ und Prachtbaues von dem obligaten Staatsbaudienſte und 
der Eröffnung von Concurfen bei architektoniſchen Kunftwerfen 
fügt; würden die bebeutenderen Bauten nicht mehr verrofteten, in 
der Beſchneidung der Pläne durch die Minifterien verfauerten 
Bau=Beamten, fondern durch Concurs dem Talente überlaffen, 
fo hätten wir nicht überall den Anblick der meskinen Käften und 
Schadteln, melde öffentliche Gebäude vorftellen follen. 

Zwiſchen diefe Ausführung fehteben fi wieder einzelne Ge⸗ 
danken ein, worin die das ganze Schriftchen belebende Idee einer 
Kunſt, welche das Mark der Wirklichkeit in ſich aufnimmt, auf's 


37 


Erfreulichfte hervortritt, wiewohl fie mit manchem Unrichtigen 
verwoben find. So faßt der Verfafler S. 40 den religiöſen 
- Glauben in dem veralteten Sinne ber fubjectiven Aufflärung als 
ein bloß individuelles Gefühl, jet aber dann fehr ſchön hinzu: 
„Die Welt, die immer fo ungläubig verſchrieene, tft jo gläubig, 
ja vielleicht gläubiger, als je, fie ift göttlider geworden, 
indem fie menſchlicher gemorden tft,“ Berner deckt er einen 
Punkt auf, an welchem vie Unlebendigkeit der jetzigen Kunſt auf's 
Neue einleuchtet und welcher doch in unſerer Zeit von den Meiſten 
überſeben wird. Er ſichert der Baukunſt ihre wahre Beſtimmung, 
die Mutter der anderen Künfte zu fein, er beklagt ihre jetzige 
Iſolirung und Zufammenbangslofigkeit, eine Folge der einfeitigen 
Ausbildung unjerer Künftler. Wenn fonft zum lebendigen Dienfte 
ber Gegenwart, zum Genuß und zur Erhebung des Volks die 
Architektur mit dem Schmude der anderen Künfte ſich verband, 
fo ift jeßt die höchfte Verbindung, die wir Eennen, bie Her⸗ 
ftelung eines Gebäudes, worin Gemälde und Statuen, heraus⸗ 
genommen aus der gefchichtlichen Umgebung, der ſie angehörten, 
wie in der Kapfel des Botanikers die abgerupfte Blume, gefam- 
melt werden. Die Galerien, die Mufeen find ebenfo nothwen⸗ 
dige, verbienjtliche, als entmuthigende Erſcheinungen unferer 
Zeit, ein vollſtändiger Beweis, daß wir nicht Schöpfer, ſondern 
Sammiler find, „geiſtige Kirchhöfe, Mumienkäſten, deren Prieſter 
Todtengräber ſind.“ „Der einzige Tempel der Kunſt iſt das 
Leben und ſeine Prieſter ſind Künſtler! Darum laßt uns unſern 
edlen Beruf nicht verkennen, arbeiten wir nicht für unſeren Mus 
mienkaſten, arbeiten wir zur Verſchönerung unſeres Heiligthums, 
zur Verherrlichung des Lebens!“ | 


38 


In aller Kürze übergehe ich die britte Abhandlung: „Leber 
den Bau proteftanttfcher Kirchen, insbeſondere über den Bau 
eined Domes für Berlin.“ Ih muß nämlich vor Allem geftehen, 
"dag ih in dem Bau eined Domes zu Berlin keineswegs das 
welthiftorifche Ereigniß, die Ausficht auf ein großes proteſtan⸗ 
tifches Gegenftü zur Peterslirche finden kann, wie der Verfafler; 
ja, als einen folchen Ketzer muß ich mich bekennen, daß ich dieſes 
Ereigniß für ſehr gleichgültig halte und für eben fo gleichgültig, 
ob der Plan, ven H. vorlegt, als gelungen anzujehen ift ober 
nicht. Unſere Kirche hat eingeſehen, daß fle in den Sinne, wie 
bie Tatholifche, nimmermehr Kirche fein kann, und es tft im 
Geringften von feiner Wichtigkeit, ob für einen Cultus, deſſen 
dogmatiſchen Grundlagen die Mehrzahl ver Gebildeten ſich ebenfo 
entfremdet bat, wie einft die Reformation der Fatholifchen Kirche, 
etwas mehr ober minder Gelungenes gebaut wird. Iſt etwas an 
bem vom Verfaſſer mitgetheilten Entwurfe, worin ein Keim der 
Bufunft liegt, fo tft e8 der Gedanke, einen Raum der Kirche 
den Monumenten großer vaterländiicher Männer zu beftinmen, 
wie die MWeitmünfter- Abtei. Uebrigens wendet H. den Rund⸗ 
bogenftyl an, den er organiſch fortzubilden fucht, und follen wir 
einmal unfelbftftändig unter den dageweſenen Stylen wählen, fo 
mag dieſer vielleicht der empfehlenswertheſte fein. Allein dieß find 
Bragen der unfruchtbarften Art: ein Styl bildet ſich nicht durch 
Abſicht und Reflexion Einzener, fontern durch einen leitenden 
Inftinft der Zeit; dieß weiß Niemand beffer, als gerade unſer 
Verfaſſer, mie er es S. 50 in ber trefflichen Bemerkung zeigt: 
„Styl im weiteren Sinne ift nichts Anderes, ald das in Formen 
verkörperte Eimyfindungsvermögen einer beftinmten Zeit; e8 Tann 


89 


daher auch nur periodenmeile von einem Style die Rede fein, 
d. 5. ſobald man im Stande Ift, eine Vergangenheit als ſolche 
zu überfeben, fo ftellt fih eine gewifie, durch ven Geift ber Zeit 
berbeigeführte, Aehnlichkeit in den individuellen Ausdrucksweiſen 
ber Künftler heraus und unfere Anſchauung von einem beftinnmten 
Standpunkte macht uns dieß im Einzelnen eigenthümlich Hervor⸗ 
gebildete als ein im Ganzen Zufammenhängendes erkennen. Aus 
biefer Erklärung, melde nur allein bie richtige fein kann, meil 
fie auf die Entſtehung der Formenwelt überhaupt baſtrt tft, gebt 
hervor, daß ed eben fo thöricht ſei, in einem Style, der vielleicht 
Sahrtaufende vor (fol heißen:. hinter) uns liegt, als in. einem 
Style zu bauen, den wir ald einen neuen erfunden haben wollen; 
denn fo wenig ed dem Menfchen möglich ift, mit feinen Augen 
fih auf den Hinterkopf zu fehen, fo wenig er in einem Blicke 
fein ganzes Ich zufammenfaffen kann, fo abfurb iſt das Gerede 
von der plötzlichen Erfindung eines Styles.“ 

In ungleich erſprießlichere und energiſchere Erwägungen, als 
die über neue Kirchen, hat den Verfaſſer der Entwurf zu einem 
weltlichen, einem Staatsverwaltungs⸗Gebäude für Berlin hin⸗ 
eingezogen, womit er ſich in der vierten Abhandlung beichäftigt. 
‚Hier ift er im rechten Zuge, bier weiß er, was bie Zeit braucht, 
und zum erftenmale dringt aud dem lauten Jubel der Selbft- 
täuſchung und der Affectation eine wahre deutfche Stimme der 
Verwerfung gegen zwei fo verzwidte Unternehmungen, wie bie 
Walhalla und der Ausbau des Kölner Doms, hervor. Die erftere 
ift jest fertig, laffen wir ſie janft ruhen in dem Tode, zu dem fie 
geboren ift, mag in dem griechiihen Tempel an der Donau bie 
‚Heilige X. D. 3. neben Diebitſch Sabalfansfy ruhig den Traum 


40 


- 


ber Unfterblichkeit träumen! Der Dombau aber tft eben tm Werke, 
‚und da tft es noch der Mühe werth, zu reden, damit die Nach⸗ 
kommen menigftens fehen, daß unter taufend Nüchternen, welche 
fih in die Begeiflerung für dad Abgeſtorbene hineinarbeiten, 
wenigſtens einige DBegeifterte waren, die das Werbende, das 
Jugendliche wollten. Der Hauptgrund des Fräftigen Abſcheu's, 
ben unfer Verfaſſer gegen dieß Unternehmen ausfpricht, ift der 
gerechte Schmerz des Künftlerd, der unendliche Kräfte für ein 
Werk verſchwenden fieht, wo nichts zu fehaffen, fondern nur ein 
600 Jahre alter Plan auszuführen if. Ich kann nicht umhin, 
eine Probe der naiven Kraft zu geben, zu welcher, aus der vielen 
ſtyliſtiſchen Noth, in der fie fih abquält, ‚hier die Sprache des 
Verfaſſers fich erhebt. „Nun denn, ihr deutfche Künftlerjugend, 
köſtliche Pfänder der Liebe und Weisheit eurer Lehrer und Er⸗ 
zieher, bie ihr wohl erereirt fein, nicht nur in der Kunft, fon» 
dern auch vor Allem in der Kunft, auf-allerhöchites Verlangen 
nit patentirten Zündhölzchen Begeifterung für beliebige Kunft« 
epochen in euch anzufachen und nach Gutbünfen zu vertufchen, 
wohlan denn! heraus mit der Begeifterung für das Werk, mas 
dad einige Deutfchland ald Symbol feines geiftigen Zuftandes 
ſchaffen will! Gehet hin und werdet zu Steinträgern am Kölner 
Dombau, ed braucht nur Hände, nur menſchlichen Mechanismus, _ 
die Idee iſt ja ſchon feit 600 Jahren fertig, überdem ift das 
Steintragen ein herrliches Mittel zur criftlichen Demuth! — — 
Ihr Architekten, werdet Steinflopfer, und wenn euch die Rich— 
tung der Zeit noch etwas Saft gelaflen, fo lapt eud) zu Mörtel 
zerftanıpfen, oder meifelt und Elopft fo lange fort für die erhabene 
Idee, bis euer bischen eignes Leben erloſchen ift und ihr eiftarrt 


4 


und verfteinert, gleich fo mancher verzerrten Brake des Mittel: 
alterdö, ald Verzierung in die Mauer des Doms eingelafien wer- 
ven Eönnt! ....... Ihr größten Hebel des Fortſchritts, 
Alterthumsforſcher und Necenfenten, wenn ihr den Niefenbau 
durch unaufhörlihes journaliftifches Spektakeln *) und Schreien 
endlich bis zum Dache gebracht, fo laßt euch als Dachtraufen 
einmauern, ihr werbet darin zur Ehre ber großen Idee euren 
eigentlichen angeborenen Beruf erkennen! Euer ftet3 offener Mund, 
euer oft fo hohles Innere und leerer Bauch wird euch vortrefflich 
als Ninnfteine qualificiren! Es gilt ja gleih, ob das Waſſer 
dieſes oder jenes Jahrhunderts durch euch hindurchläuft, ihr 
fpuft e8 hinunter auf die dumme Welt und beruft euch auf den 
Einfluß vom Simmel und daß ein Naturgefeß euch dazu zwingt!“ 
n. f. w. | | 

Wenn H. als Künftler billig vor Allem vie künſtleriſchen | 
Kräfte beflagt, welche Hier zu unfreiem Handlangerwerke ver« 
ſchwendet merben, fo müflen wir ebenfpfehr auch die ungeheuern 
materiellen Kräfte bebauern, welche darauf gehen, un etwaß . 
Abgeſtorbenes zu vollenden. Wo aus der Fülle des Wohlſeins 
in einem Volke von felbft die Blume der Kunft hervorfpringt, da 
ift kein Aufwand zu groß, um fi in glänzenden Werfen das 
Bild der eigenen Herrlichkeit gegenüberzuftellen ; die Summen, 
welche die Athener nach den Berferkriegen für ihre hohen Tempel 
und majeftätiihen Götterbilder zur Feier der eigenen Größe: be= 
fimmten, waren ungeheuer; aber jever Kreuzer, den wir für 
galvanifche Belebung eined Kunſtleichnams auögeben, märe befler 
zu Suppen für die Armen verwendet. Gin Leichnam aber ift es, 


*) Der Verfaffer fchreibt: Specktakeln. 








42 


wovon wir reden. Hätte der gothiſche Styl noch Lebenskraft ges 
habt, fo wäre der Dom, ver jeht als fprechender Zeuge eines 
während ſeines Baues erloſchenen Geiftes vafteht, nicht unvollen» 
‚bet geblieben. Der Geift, aus dem diefer Styl und dieſes Mufter- 
werk dieſes Styls Tam, war erlofchen, und wir wollen ohne ben 
Geiſt, ja aus einem andern Geifte fortfegen, was nur als Frucht 
jenes Geiftes einen Sinn hat? Wir gießen mit unermeßlichen 
Opfern die wurzellofe Pflanze? „Menſchen, die ſolchen Richtungen 
folgen, fterben ihr ganzes Leben, während die, fo ber Gegenwart 
amd der Zukunft zugewandt find, es doch mwenigftend leben.“ ©. 86. 
Dieß hat noch eine weitere, ſehr ernſte Seite. Man hat fich 
für den Kölner Dombau zunächſt aus äſthetiſchen Gründen be⸗ 
geiſtert; man beklagt, daß der Prachtbau, der das vollkommenſte 
Muſter eines herrlichen Styls zu werden beſtimmt war, unter⸗ 
brochen worden iſt, und ſchwärmt für die Herſtellung eines voll⸗ 
kommenen Mopelis der gothiſchen Architektur. Mit dem Zweite 
eined bloßen Modells ftehen aber die unüberfehlichen Koften eines 
folhen Unternehmens in einem boppelten Mißverhäftnifie und 
man Tann diefen abftract Afthetifhen Standpunkt höchſtens dem 
Künftler vom Fach, und auch diefem nur, fofern er den weſent⸗ 
lichen Zufammenhang der Kunft mit dem Leben vergißt, nach⸗ 
ſehen. Die Hauptſache jedoch iſt dieſe: der Kölner Dom iſt 
kein bloßes Modell, er iſt ein Gebäude, das für einen ſehr be⸗ 
ſtinumten Gebrauch beſtimmt iſt und beſtimmt bleibt: für den 
katholiſchen Cultus. Die Weltanſchauung, aus welcher dieſer 
Cultus und ſein Bauſtyl hervorging, iſt allerdings factiſch nicht 
untergegangen, aber ber Saft iſt ihr verdorrt, den fie bedurfte, 
um einen ſo herrlichen Baum höher zu treiben; ausgeſchieden 


43 


find ihre Säfte und haben längſt andere, geiftigere Blumen als 
‚biefe fleinernen, getrieben. Mit der Spannung der Polemik ge- 
gen dieſe Früchte eines neuen Geiſtes friftet fie ſelbſt ein marflofes, 
feit Jahrhunderten überflügeltes Leben. Deutſchland fol alſo mit 
"ungeheuern Opfern ein Haus des Cultus bauen für bie Kirche, 
aus deren geiftzwingenben Banden es fi mit Gut und Blut, 
mit dein Opfer feines Wohlftands in einer preißigjährigen Mare 
terzeit befreit bat, fol es für eine Bevölkerung bauen, wo ber 
Fanatismus der Priefter entbrannter ald irgendivo noch heute den 
heiligen Pfeiler des Völkerlebens, die Ehe, dur Verftörung 

der Gewiſſen erfchüttert und ſo in den Eingeweiden des eigenen 
Volkes wühlt. 

Dieß führt und auf einen andern Geſichtspunkt, unter. wel⸗ 
hen man dieß Unternehmen zu ftellen gefucht hat. Der Kölner 
Dom fol ein Symbol der deutfchen Einheit fein. Hören wir 
hierüber unjern Berf.: „Wohl und, wenn Deutfchland das 
Bedürfniß fühlt, einig zu fein, aber laßt, wenn wir Bedürfniß 
zu gemeinfamen Schöpfungen fühlen, auch dieſe dem Gefühle 
analog und es verfürpernd fein. Warum denn mit jolh’ edlem 
Triebe Masferade frielen? Was fol überhaupt der Symbolbienft 
bei einem Volke, welches Gottlob fo weit mündig, daß ed bie 
Idee felbft zu begreifen im Stande ift! Das Synibol fol nur zur, 
Erkenntniß der Idee führen, ift fie aber als folche erkannt, fo 
it dad Symbol an fih gar nichts. mehr nütze, und will man 
eine Idee durch Thaten verwirklichen oder in’8 Leben treten Taflen, 
fo follen es bei Gott feine fombolifchen Thaten und Werke fein, . 
iondern ſolche, tie dad wahre Leben des Menfchen bereichern und 
ihm nüglich find.“ „Wenn man eine Kirche, die zur Ehre Gottes 


44 


erbaut wurde, jebt zum Seumagazin benügt, jo ift ed im Grunde 
nicht fhlimmer, ald wenn man den Kölner Dom ald Symbol 
deuticher Einheit erbaut, da man fi) überzeugt hat, daB man 
ed aus Liebe zu Gott nicht mehr im Stande ifl. Der ganze 
Unterſchied befteht darin, daß die Kirche mit materiellen, der 
Dom aber mit geifligen Stoffen vollgeftopft tft, bie beide nicht 
hineingehören.« &8 ift aber nicht nur eine verfünftelte Neflerion, 
eine katholiſche Kirche unter ven Geflchtöpunft eines Nationalfym- 
bols bringen zu wollen, fondern es ift auch eine verfehrte. Die 
Bekenner der Confeffion, für welche dieje Kirche vollendet werben 
fol, find, wenn man der Sache auf den Grund geht und bie 
längft bedeutungslos gewordene fcholajtiihe Unterſcheidung zwi⸗ 
ſchen Geiſtlichem und Weltlichem fallen läßt, eigentlich Untertha- 
nen eines freinden und zwar des römiſchen Staatd. Wer über 
meine Seele gebietet, der gebietet auch über meinen Leib. Der 
moderne Staat aber, der ſich mefentlich auf Grundlagen gebaut 
bat, melche im weiteren Sinne ächt proteftantifch find, fordert, 
daß feine Bürger ungetheilt, mit Leib und Seele, feinem ver⸗ 
nünftigen Organismus angehören. Daß zwijchen der römifchen 
Kiche und einem ſolchen Staate, weil jene diefen als ein Rechts⸗ 
fubjeft im Grunde gar nicht anerkennt, eigentlich auch Feine Ver⸗ 
träge geichloffen werden können, hat in neuerer Zeit mehr ald 
Ein Fall deutlich genug gezeigt. Man kann diefen Niß durch 
palliative Nachgiebigkeit für einige Friſt wieder zubeilen, aber. 
bälder kann von einer Einheit Deutjchlands und auch nur Eines 
deutſchen Stanted gar nicht die Rede ſein, ald bis — nebſt eini⸗ 
gem Anderen — der Gegenjag der Confeſſionen verſchwunden 
fein wird. Dieß jept freilich auch weſentliche Veränderungen ber 


45 


proteftantiichen Kirche voraus , weswegen ich auch ausgeſprochen 
babe, daß die kirchliche proteftantifhe Architektur unmoöglich eine 
künſtleriſche Frucht entfalten könne. 

Hier kehren wir noch einmal zu unſerem Verf. zurück und 
ſinden ihn auf einem Wege, der ungleich richtiger und conſequenter 
iſt, als der Berlinertraum von einem welthiſtoriſchen Berliner 
Dom. „Es geht aus den Ereigniſſen und Thaten ver letzten drei 
Jahrhunderte nach der Reformation deutlich genug das Streben 
hervor, ſich, ſelbſt. in religiöſer Hinſicht, mit der Erde und 
unſerem irdiſchen Daſein wieder auszuſöhnen und auf einem Bo⸗ 
ben wieder heimiſch zu werben, den Aberglaube, Schwärmerei 
und Mißverſtehen des Chriſtenthums ung als eine Wüſte erſchei⸗ 
nen machen wollte. Die ganzen Beitrebungen des Mittelalters 
galten dem Himmel, dem bimmlifchen Reiche wurbe das Irdiſche 
geopfert, bis das nackt hervortretende Streben der Kirche felbft 
nach irdiſchem Beſitz und Macht ven Völkern über den Werth 
deſſelben die Augen öffnete. Seit der Reformation erſcheint daher 
das fonft in Religion und Kunft für profan Gehaltene fortwäh⸗ 
rend mit dem Heiligen burcheinandergemifcht, das Neligiöfe fängt 
. an in das Profane überzugehen und die humane Bildung unferer 
Zeit ift im höheren Sinne am Ende nichts Anderes, als ein prak⸗ 
tifch gemordened oder werdendes Chriftenthbum. „ „Wir wollen 
Bürger werben auf dem Boden, den unfere Väter fallend fi 
erobert.“ “a Die Anficht, daß wir beftinmt feien, uns bier auf 
Erden für den Himmel zu opfern, ging allınälig in den Glauben 
über, daß ein gottiwohlgefälliger Wandel hier auf Erden darin 
beſtehe und beftehen müfle, uns für das Geſammtwohl unferer 
Mitmenſchen thätig und hilfreich zu ermeifen und has, was wir 


46 


und an gelftigen unb materiellen Gütern erwerben, nicht gleich» 
fam in die Schakfammer des Himmels zu tragen , ſondern es 
vor Allen hier auf Erden auszugeben und zwar nach den Geſetzen 
und Sitten, wie fie die menſchliche Weisheit zu bilden im Stande 
war. ...... Wenn alſo die Beſtrebungen der meiſten Völker 
ſich dem Staate immer mehr zuwenden und man glaubt, daß die 
Kirche oder der religiöfe Sinn dadurch einbüße, jo ſcheint es mir 
im Gegentheil ein Gewinn zu fein, wenn man den Staat als 
die höchft mögliche irdiſche Form religiöfer Ideen auszubilden ſich 
beftrebt, ihn alfo als eine praftifch gewordene Religion betrachtet, 
und dann möchte es allerdings eine Zeit geben Eünnen, wo Staat 
und Kirche ganz und gar Eins würden. ...... Wenn wir nun 
betrachten, inmieferne die Kunft von jeher bemüht gemweien, daß, 
was dem Menfchen das Höchſte war , feine Religion und feinen 
Glauben zu verherrlihen, wenn wir durch die Richtung der Zeit 
bemerkt haben, daß die Kunft ſich mehr und mehr mit Gegenftän« 
den des praftifchen Lebens befaßte, weil nach unferer Anficht über- 
haupt die Religion ſelbſt mehr praftii wurde, jo merden mir. 
wenigſtens zugeben müffen, daß, wenn die Kunft möglich bleiben 
fol, d. 5. wenn die Kunft ihre Wirkung und ihren Zweck nicht 
aus den Augen verlieren fol, fie auch dabei wieder bedeutend 
auftreten muß, was felbft in der Zeit ald dad Bedeutendſte her⸗ 
vertritt, und dieſes ift ver Staat und feine Verwaltung.“ 
Hier find wir mit unferem Verf. auf dem Punkte angekom⸗ 
men, wo alle Abweichung zwifchen und verſchwunden ift und 
brüden ihm als einem geiftig Befreumdeten die Hand, indem wir 
die nähere Prüfung des von ihm nitgetheilten Plans für ein 
Staatöverwaltungsgebäude den Sachverftändigen überlafien. 


IM. 


Zur DPoefie 


49 


1. Zur Kritik früherer Poeſie. 


Die Fitteratur über Goethes Faufl. 
(Hall iſche Jahrb. für deurfche Wiffenfchaft u. Kunſt, Yahrg. 1859. Mr. 9 f- 





Goethes Zauft ift dunkel. Ein Beweis davon find die vielen 
über ihn erfhienenen Schriften , die faft alle den Charakter. von . 
Commentaren tragen. Darf ein Gedicht dunkel fein? Es fommt 
auf die Bedeutung des Worted an; wir müflen verfchlebene Gründe 
des Dunkels unterſcheiden. 

Das Dunkel, welches Fremdheit der Sprache, Entfernung der 
Zeit und des Orts für Ausländer und ſpäte Nachwelt mit fi 
führen, fällt bier natürlich weg, und hiemit der ganze philolo⸗ 
gifche und antiquarifche Apparat, den ſolches Dunkel zu feiner 
Lichtung erfordert. Do kann ein Gedicht auch für die eigene 
Nation und Mitwelt einzelne Dunkelheiten enthalten, wenn die 
Scene in einer entfernten Zeit, an einem entlegenen Orte fpielt, 
und ber Dichter um ber nöthigen biftorifchen Treue willen Dans 
ches beibrachte, was gelehrte Notizen erfordert. Dahin rechne 
ich nicht ſowohl das Bild der Zeit, des Landes überhaupt, deren 
Geſittung, politiſche und andere Zuſtände. Der Dichter ſetzt in 
unſerem Zeitalter, deſſen Poeſie weſentlich Kunſtpoeſie iſt, ge⸗ 
bildete Leſer voraus und Kenntniſſe in der Geſchichte; ſollte das 
Bild der Zeit, in welcher dad Gedicht ſpielt, in ihrem Gedächt⸗ 

Kritiſche Gänge 11. 4 


\ 


50 


niß mehr oder minder erloſchen ſein, ſo wird er es eben durch die 
Lebendigkeit ſeiner Poeſie wieder auffriſchen, die Sitte und Natur⸗ 
beſtimmtheit eines fremden Volks wird ebenfalls das Gedicht ſelbſt 
fo vergegenwärtigen, daß nicht eben eine gründliche Kenntniß beim 
Leſer oder Zuſchauer vorausgefeßt wird. Manches Aeußerliche 
wird er immerhin aufzunehmen veranlaßt fein, was einigen ge= 
Iehrten Apparat zur Verſtändigung wünſchenswerth macht. Nies 
mand wird es Goethe verargen, wenn er uns die Mühe auflegt, 
und zu erfundigen, was ein Incubus, ein Pentagramm u. dergl. 
fe. Der Zauberglaube jener Zeit ift einmal die äußerliche Atmo⸗ 
fphäre, worin die Tragödie fpielt, und dieſe muß durch folche ein⸗ 
zelne Züge zu einem concreten Bilde condenfirt werben. 

Etwas Anderes iſt es ſchon, wenn daſſelbe Gedicht aus der 
Vergangenheit, in der es ſpielt, in die nächſte Gegenwart her⸗ 
übergreifend, allerhand Anſpielungen auf moderne Litteratur, 
Sittengeſchichte u. ſ. w. in ſich aufnimmt, welche auch für den 
wahrhaft Gebildeten einer erklärenden Notiz bedürfen, ſofern ihr 
Gegenſtand nicht von allgemeiner und bleibender, ſondern von 
voruͤbergehender und zufälliger Bedeutung iſt. In dem Grade, 
in welchem ein Gedicht unſterblichen Gehalt hat und weſentliche, 
für alle Zukunft bedeutende Erſcheinungen des Geiſtes in ihm 
niedergelegt find, wird es läſtig fein, Partieen in ihm anzutreffen, 
de, ohne Zufammenhang mit dem Ganzen eptjobijch eingefügt, 
auf ephemere Zeiterfeheinungen ſatyriſche Lichter werfen, welche 
kurz nach der Abfafjung dem Publikum bereits unverftändlich mer» 


"ben müſſen, ja fchon bei den erften Leſern gewiſſe Lokalkenntniſſe 


von Goethes nüherer Umgebung u. dergl., mad man fih nur 
zufällig verſchafft, vorausfegen. In ver That, es ift fehr zu miß⸗ 


31 


billigen, es tft ein Leichtfinn und Uebermuth, daß Goethe eine 
Schnur von Zenten von meift enbemerer Bedeutung, da er eben 
nicht mußte, wohin damit, in ein ewiges Gedicht, wie den Fauſt, 
aufnahm. Wen ift zuzumutben, daß er von Miebing, bem 
T heater - Mafchiniften zu Weimar, wiſſe, daß er errathe, was 
der Servibilis bedeutet, daß unter den Kranich Lavater verſtan⸗ 
den iſt u. ſ. w.? Dieſe Tages⸗ und Ortsbeziehungen gehören nicht 
in ein weltumfaſſendes Gedicht, mit ſolcher Garderobe der Litte⸗ 
ratur und Tagesgefhichte will man nicht geplackt fein, wo es ſich 
um ewige Empfindungen handelt. Nicht nur in der Walpurgis- 
naht und dem flörenden Intermezzo, ſchon in ber Hexenküche 
kommen zu viele Nüffe der Art zu Enaden, die mit einen Scheine 
tiefer Bedeutung täufhen und nur für den, der den Kleinen 
Krieg der damaligen Litteratur erlebte, in Weimar war, Per⸗ 
fonen aus Goethes Umgebung kannte, verftändlich find. Jugend⸗ 
liche Geifter namentlih, ohne Erfahrung, Weltfenntniß , bie 
mit frifher Erwartung lauter großer und würdiger Ideen an bie 
Tragödie treten, fuchen in diefen Kleinen Stichen allerhand My⸗— 
fterien ; ein Gedicht, wie Goethes Fauſt, follte aber nicht my» 
ftificiren. | 

Neben wir aber von dem geiftigen Gehalte und der inneren 
Form eined Gedicht, fo muß fogleih unbedingt der Sag aufs 
geftelt werben: ein Gedicht fol fich ſelbſt erflären, fol durch fi 
felöft unmittelbar deutlich fein. Freilich — für wen? Es kann ein 
Gedicht geiftige Erfcheinungen zum Inhalte haben, die nur der ver» 
fteht, der fie in irgend einer Weife ſelbſt durchlebt hat, und nur der= 
jenige durchlebt Hat, der auf einer gemiffen Höhe der Bildung fteht. 
So nird Goethes Kauft Niemand verfländlich fein, der niemals 

4% 


52 


philoſophiſche Zweifel gehegt, niemals über die höchften Probleme 
des Denkens wiſſenſchaftlich nachgedacht hat. Wer Eeine Idee vom 
Verhältniß des Böſen zur Weltorbnung hat (und der gefunde 
Menfchenverftand , der populäre Neligionsunterricht geben noch 
feine), der wird nimmer den Prolog im Himmel, mer fih nicht 
mit der tiefften Skepfis getragen bat, nimmer die erſten Scenen 
verfiehen. Auch die Gefchichte Gretchens, obwohl fle unmittelbar 
jedes Herz rührt, erhält doch ihre tieffte Wirkung erſt durch ihre 
Beziehung auf die unendlichen Seelenkämpfe Fauſts. Goethes 
Fauſt ift ein philo ſophiſches Gedicht. Dies ift zunächft ein 
hoͤchſt zweideutiges Lob; denn daß ein Genicht keineswegs meta⸗ 
phyſiſche Fragen ausdrücklich und ausgeſprochener Maßen an der 
Stirne tragen, daß vielmehr der metaphyſiſche Gehalt ganz in 
Fleiſch und Blut verwandelt, ganz in die Form unmittelbarer 
Erſcheinung aufgegangen fein fol, dies feße ich ald meltbefannte 
Binfen- Wahrheit voraus. Wenn nun Goethes Fauft unverhüll- 
ter al3 irgend ein andered bedeutended Drama um letzte meta⸗ 
phyſiſche Fragen ſich dreht, zugleich aber von anerkannt unge⸗ 
heurer poetiſcher Wirkung iſt, ſo werden wir ſagen müſſen: darin 
zeige ſich hier der Genius, daß er dieſen Inhalt trotz ſeiner me⸗ 
tapbuflichen Weite und Tiefe in den feſten äſthetiſchen Körper zu 
bannen verftand. Iſt ihm dies ‚gelungen, fo muͤſſen wir die oben 
aufgeſtellte Behauptung, daß nur der philoſophiſch Gebilvete dies 
Gedicht verftehe, dahin beſchränken, daß allerdings nur diefer, 
aber dieſer, ohne ſich während des Leſens begriffsmäßig philo- 
ſophiſche Rechenſchaft zu geben, das Gedicht vollſtändig genieße. 
Der Prolog im Himmel ſpricht Die Idee der relativen Nothwen⸗ 
digkeit und beftändigen Ohnmacht zugleich des Böen fo plaftiih 


. 


33 


and, daß fie wirklich vergegenwärtigt iſt; man braucht ihn nicht 
mit dem Kopfe, man kann ihn ganz mit der Phantaſie leſen, 
und, was er befagen will, dennoch ganz in fich aufnehmen. So 
und nicht anders foll ein Gedicht gelefen werden. Die Poeſie ift 
nit da, daß fich der Lefer den Kopf zerbreche, fle giebt ihre 
Ideen unvermerft ein, weil fie ganz in. Bild und Form gewan⸗ 
beit find. So wie wir und über ein Gedicht befinnen müflen, wie 
über NRäthfel, fo ift dies ein Beweis, daß diefe Wandlung nicht . 
gelungen ift, ſondern Idee und Bild außereinander liegen geblie⸗ 
ben find. Dies ift dann ein Dunkel, das unter allen Umſtänden 
verwerflich ift. Ein bedeutendes Gedicht philofophiich zu erörtern 
ift ein ſehr lobenswerthes Unternehmen. Aber was ift bie Auf- 
gabe? Nicht, einen philofophifchen Commentar zu liefen, — 
verſtändlich fol das Gedicht für fi fein. ohne alle Beihülfe dieſet 
Art —, fondern den erften Eindruck, den äſthetiſchen, der ala 
folcher ſchon ein vollſtändig klarer fein muß, nachträglich in.das 
philoſophiſche Bewußtſein zu erheben, und ſich von feinen Grim- _ 
den Rechenſchaft zu geben. Dies Geſchäft bat nun zwei Selten. 
Der reine Ideengehalt wird abgelöft von der. Form. worein ber 
Dichter ihn gegoſſen; dies ift bie eine Hälfte des Geſchäfts; bie 
andere ift, daß man nachweift, wie und warum bie Idee gerabe 
in dieſe Form niedergelegt wurde, daß man ben, Proceß, wodurch 
der Dichter Idee und Bild in Eined wandelte, ihm nachdenkt. 
Wie die Momente der Idee und der Organismus der äfthetifchen 
Form einander entjprechen, over, wenn dies nicht der Fall ift, 
wo der Fehler liege, dies darzuthun iſt die Aufgabe der philo⸗ 
ſophiſchen Betrachtung eines poetifchen Kunſtwerks. Eine Abhand⸗ 
lung über eine Tragödie ſoll nicht eine philoſophiſche überhaupt, 


\ 


⸗ 


54 


ſondern eine philoſophiſch⸗aͤſthetiſche fein; unter den philoſophi⸗ 
ſchen Wiffenfchaften ift e8 nicht die Metaphyſik, nicht die Piycho- 
logie, Ethik, Neligionsphilojophie , fondern die Aeſthetik, die 
bier betheiligt if. Ein Gedicht ift nicht zu behanteln, wie ein 
Faden, an welchem binlaufend man Gelegenheit nimmt, über 
Dies und Das zu philofophiren, nicht wie ein Kleiderrechen ‚an 
den jeder feine philofophifchen Stöde, Schirm, Kappe, Hut hin= 
hängt. Iſt der erfte Theil ver Tragödie poetifch, fo ift er unſchul⸗ 
dig daran, wenn er meiften® auf diefe Weile behandelt worden tft. 

Aber fogleih hier můſſen wir fcharf unterfcheiden zwiſchen 
dem erften und zweiten Theile. Der leßtere nämlich ift in einem 


‚ganz anderen Sinne dunkel, als jener. Im erften jehen wir das 


Schwierigfte, was ein Dichter leiſten kann, die Wandlung ber 
tiefften und univerſellſten Ideen in poetifches Fleiſch und Blut, 
durch das Geheimniß der Phantafte gelöft. Die Unendlichkeit des 
ideellen Gehalts forderte allerdings ſchon hier die Einführung- 
außermenfchlicher Figuren. Das abjolut Vollkommene kann in 
feinem wirklichen Individuum exiftiren, eben fo wenig das abjolut 
Böſe, und doc handelte ed fich geradezu darum, dieſe beiden 
abftraet allgemeinen Begriffe zu perfonificirem. Doch dies ift 
bereitö chief ausgedrückt. Goethe ging als ächter Dichter nicht 
vom allgemeinen Begriffe aus, um durch Mägde- Arbeit der Phan⸗ 
tafte erft ein concretes Bild für ihn zu fuchen; die Ideen, die fein 
Fauft in fich aufnehmen follte, waren vorneherein nicht auf dem 
MWege der Abftraction gefunden, fondern ein Empfundenes und 
Erlebtes, fie verkörperten fih ihm zu fefter Geftalt an ver Volks⸗ 
fage vom Dr. Fauſt, an dem alten Pupyenfpiele, das „vieltönig 
In ihm ſummte und mieberflang.“ So hatte er ſogleich für die 


55 


Idee des Böen eine Figur, die nicht, wie dazu die Darſtellung 
abftract allgemeiner Begriffe leicht verführt, allegoriſch, ſondern 
mythiſch ift, d. 5. nicht von einem Einzelnen auf dem Wege 
der Abficht und Neflerion ausgeheckt, jondern unbewußt erfunden 
und geglaubt von der religtöfen Volks⸗Phantaſte, und auch dem⸗ 
jenigen, ber biefen Glauben nicht mehr theilt, -noch vertraut und 
geläufig genug, um ihn ſchnell in die Illuſion hineinzuziehen. 
Gerade in der Haltung diefer Figur müſſen wir ben Dichter ſo 
unendlich bewundern. Goethe hütete fich gar nicht davor, durch⸗ 


feinen zu laſſen, daß es zur Erflärung des Böfen gar feines ' 
Teufeld braucht, daß diefer Mephiftopheles alfo nur ein mythi-⸗ 


ſches Wefen ift, er legt ihm ſelbſt ſolche Aeußerungen in ben 
Mund, die eigentlich feine Eriftenz negiren, 3. B.: 

„Und haͤtt' er fich auch nicht dem Teufel uͤbergeben, 

Er müßte doch zu Grunde gehn.” 
Unb dennoch wird ſelbſt durch ſolche Stellen die Muflon, ala 
hatten wir ein lebendiges, compactes Individuum vor und, nie= 
mals geftört, jondern eben, wenn folche Eritiiche Gedanken in 
uns anfegen wollen, auf's Heiterfte wiederhergeſtellt, fo treffende 
Züge ded Lebens find den Schalke geliehen. Nur einmal philo⸗ 
ſophirt er zu viel, will fich ſelbſt definiren und ſpricht ehwas eon⸗ 
fus, fo daß wir nicht mehr ihn, fondern den zum Philofophiren 
ungeſchickten Dichter hören. Die andern übermenfchlichen Figuren, 
ber Herr, die Erzengel, find ebenfalls nicht Allegorieen, fondern 
mothifche Gebilde der religiöfen Phantafle und dem Lefer geläufig. 


| 


Der Erdgeift kommt auch in der Aftrofogie und Magie vor al8 - 
ein geglaubtes Werfen, und ift zudem fo febendig und klar gehalten, ' 


daß man fich Hillig wundern muß, wie mandhe Ausleger in der 


— — 


56 


Grelärung biefer Figur irren konnten. Alle diefe Figuren nun, 
obwohl fie als befondere Hypoſtaſen außer den Helden hinaus- 
geftellt find, heben doch den Charakter ver tiefften Innerlichkeit, 
wodurch unfere Tragödie fo national deutſch ift, nicht auf. Fauſt's 
Iuneres ift der Boden, worauf die allgemeinen Mächte fich be- 
kämpfen, ber wahre Schauplatz der tragifchen Gewalten. Fauſt 
iſt mit Mephiſtopheles Ein Menſch und mit dem Herrn auch: der 
Menſch. Sein Inneres ſehen wir zunächſt im Zuſtande des Zwei— 
fels. Dieſer iſt an ſich eine wiſſenſchaftliche, keine poetiſche Er⸗ 
ſcheinung. Alles bloß Gedankenmäßige, womit ein Individuum 
beſchäfrigt erſcheinen fol, kann poetiſch werden nur dadurch, daß 
wir dieſen Gedankengehalt niemals nackt für ſich, ſondern immer 
zuſammen mit ſeiner Wirkung auf die Stimmung des mit ihm 
beſchäftigten Subjects ſehen. Gedanken, an ſich proſaiſch, werden 
poetiſch als Ausfluß und Quelle von Gefühlen, als Nachklang 
und Hebel von Handlungen. So grübelt Hamlet über das Jen⸗ 
ſeits, aber dies Grübeln geht aus einer Stimmung hervor und 
bewirkt eine Stimmung. So tritt Fauſt nirgends bloß als Denker 
vor und, feine Gedanken erſcheinen im Elemente leidenſchaftlicher 
Stimmung empfangen, gehegt, erwärmt, bewirken Leidenſchaft, 
Ungeduld, Wehmuth, Zorn, Verzweiflung, Emporung. Fauſt's 
Zweifel iſt kein conſequenter Skepticismus; er verzweifelt am 
Wiſſen der Wahrheit, und will ſie doch durch die Gewalt unmit⸗ 
telbarer Anſchauung erſtürmen. Eben dieſe Inconſequenz iſt poe⸗ 
tiſch; das eiferartige, heiße, inbrünſtige Weſen gieot erſt das 
Feuer, bie Fluth. So zu einem athmenden Individuum gebildet 
verfünbigt dieſer Fauſt zwar, was im geheinmiſten Inneren des 
Menichengeiftes ſich vegt und flüftert, und in jedem Worte erwei⸗ 


57 


tert ſich ſeine Perſon zur Menjchheit, aber. dennoch Bleibt er 
immer diefer beftimmte Menſch und. die Grenzen feiner Perſön⸗ 
lichkeit zerfließen uns nie in eine abftracte Leere. Ohnedies ift er 
durch die Anlehnung an die Sage in eine beftimmtte Zeit, in be⸗ 
flimmte Verhältniſſe geftellt; es bat Alles die Färbung einer’ 
hiſtoriſchen Situation, und der Xefer bleibt feft. in dem Glauben, 
dag ein wahrer, ein wirklicher Menfch fo ſprechen, fo leben, fo: 
leiden koͤnne. Bon den anderen Perfonen, von Wagner, Martbe, - 
Grethen, Balentin, den Trinfern in Auerbach's Keller füge ich 
nichts; dieſe find ohnedies ganz aus den Kerne ver Poefle ge» - 
ſchnitten, fie leben und athmen jo vollkommen, daß ihnen vor= 
züglih das Gedicht die allgemeine Bewunderung auch derjenigen 
verdankt, die feinen ..tieferen Gehalt nicht verftehen.. Lieber die 
Macht, den Wohlklang, den braufenden Donner und bie bezau⸗ 
bernde Süßigkeit der Sprache in. diefem erften Theile will ich 
mich nicht in Lobpreiſungen ergehen. Goethe hat nirgends dieſe 
Energie des Worte und Klanges neben der größten Weichheit 
und Zartheit entwickelt, ift nirgends der ungeheuren Spraßgewalt 
Luthers fo nahe gefonmen. 

Zugleich find jedoch die äfthetifchen Mängel, weld⸗ ſchon in 
dieſem erſten Theile die Tiefe und Univerſalität der Bedeutung mit 
ſich brachte, nicht zu verbergen. Zu einer vollſtändigen und or⸗ 
ganiſch ſich entwickelnden Handlung konnte ſich ein ſo weiter Stoff 
unmöglich abgrenzen laſſen. Ein Held, der in ſeinem Streben 
unverkennbar die Menſchheit und in feinem Schickſale ihre Ber 
flimmung repräfentirt, müßte eigentlich alle Hauptſphären menſch⸗ 
licher Thätigkeit durchwandern, und ein Schluß ift nicht zu finden, 
denn e3 Kann nie ein Moment in der Zeit eintreten, wo bad Cude⸗ 


38 


ſchickſal des menfchlichen Geiſtes, fo klar es in der Idee ent« 
ſchieden iſt, in einem beſonderen Acte ſix und fertig erſchiene. 
Doch dieß führt zu ſchnell zum zweiten Theile hinüber; der erfte 
konnte fich dramatijch gefchloffener halten, va der Held, nachdem 
er fih ind Leben geftürzt, hier nur durch Gin Lebensverhättniß 
Kindurchgeführt wird. Aber fchon hier forderte die Unendlichkeit 
der Bedeutung das Einweben phantaftifch wunderbarer Figuren 
biefe wandeln mit Perfonen von Fleiſch und Bein, ganz als ver 
ſtünde e3 fih von jelbft, auf Einem Boden! Scenen, die auf 
dem Schauplage naturgemäßer Wirklichkeit vor ſich gehen Eönnen, 
wechſeln mit folchen, wo alle Naturgefege aufgehoben erſcheinen, 
und dieſe verhalten ſich in ihrer Behandlung zu der Einführung 
des Wunderbaren in anderen bramatijchen Gedichten wie eine 
genial ffizzirte Federzeichnung zu einem ausgeführten Kupferftiche. 
Ein andermal führt die Aufgabe, das Leben und Treiben der 
Maſſe mit den tiefen Kämpfen de3 zum vollen Berrußtfein er⸗ 
wachten Geiftes zu vergleichen, ein Bild von epifcher Breite her⸗ 
bei, das theatraliih auch nicht darftelbar ift; das ſtreng Dras 
matijche ift aber immer auch thentralifh, wenn man nur von 
biefem Ausdruck die tadelnden Nebenbegriffe entfernt hält. Zwi⸗ 
hen jenen rein menjchlichen und den geifterhaften Mefen kann es 
ferner zu dem eigentlich nicht Eonımen, was wir Hamdlung nennen. 
In einer Handlung muB Menſch gegen Menſch mit gleichen Gren⸗ 
zen der Kraft ftehen, und jeder derſelben muß fein beftimmtes 
menfchliches Pathos haben. Der Abfall von Gott, der Bund mit 
ver Hölle mag immerhin als eine That von großer negativer Er⸗ 
habenheit erſcheinen; doch Goethe hat dieſes Motiv nicht im 
Sinne der Sage aufgenommen, wo Fauſt's Verbrechen eben 


39 


diefer Part mit dem Teufel it, fondern aus tieferen Abſichten 
markirt er dieſen Llebergang zur fürmlichen Abſchließung des 
Bundes mit Mephiftopheles fo wenig, daß er ihn vielmehr ganz 
cavalierement in nobler Nachläjfigfeit geſchehen läßt. In der 
Liebesgeſchichte mit Gretchen erjcheint Fauſt ebenfalls nicht im 
fireng bramatifchen Sinne ald handelnd, weder in feiner Treue 
noch in feiner Untreue. Die erfte Untreue, ein Verbrechen gegen 
Gretchen, aber eine Handlung der fittlichen Kraft gegen Mephiſto⸗ 
pheled, nimmt, gemäß dem Charakter Fauſt's, fogleih eir en 
theoretifchen Charakter an: Fauſt fammelt fih aus feinem Ge⸗ 
nußleben in Wald und Höhle zu ideeller Contemplation, vie ſich 
zwar fehr poetifch, aber nicht dramatiſch, fondern lyriſch ausſpricht. 
Uebrigens tft er in dieſem Verhältniſſe, fo mie überhaupt, mehr ein 
Spielball wechſelnder unendlicher Gefühle, als ein handelnder Hes 
r08: ganz ber poetijchen Aufgabe gemäß, da bie eigentlichen Prin⸗ 
cipien des Handelns, obmohl in Fauſt's Inneren ſich zum Kampfe Y 
begegnend, doch aus ihm hinausgeſtellt find in mythiſche Figuren. \ 
Was endlich die Folge der Scenen betrifft, fo Fann bier von 
firenger Oekonomie, wo ein Glied fharf ind andere ‚greift, keines 
zu wenig, Feines zu viel ift, nicht die Rede fein. Die Univer- 
falität der Bedeutung hat die compacte Form durchbrochen. Ich 
möchte die eigenthümliche geiftige Atmoſphäre, die, wie jedes 
Gericht, fo auch dieſe Tragödie hat, ald eine Unendlichkeit 
ber Perfpective bezeichnen. Jedes Kunſtwerk foll in ber 
enblichen Form die unendliche Bedeutung tragen, Feinen fol viefe 
Berfpective fehlen; bei Goethe's Fauſt aber fpringt das ‚Auge 
über Vordergrund und Mittelgrund jeden Augenblick weg, um 
in dieſer unendlichen Ausficht des Hintergrunds ſich zu verlieren; 


60 


die Figuren, die über die Scene gehen, weiien fogleich dort hin⸗ 
über, man ficht durch Riſſe auf allen Punkten in dieſe Berne 
hinaus. Ein ſolches Gedicht Tonnte unmöglich der Zeit nach in 
Einem Guſſe entſtehen. Den univerſellſten metaphyfiſchen Gehalt 
in ächt poetiſche Form zu faſſen, iſt die Sache einzelner Geiſtes⸗ 
blitze, die jenen flüchtigen Moment, der die disparateſten Gegen⸗ 
ſätze, die abſolute Idee und die finnlich begrenzte Form, auf 
einen Augenblick vermählt, eben da er im Entſtehen ſchon wieder 
entfliehen will, feſthalten. Goethe legte mit dem letzten Geheim⸗ 
niß ſeines eigenen Lebensgehalts das Bewußtſein der Menſchheit 
in dieſer Tragödie nieder; ſie begleitete ihn von den jugendlichen 
Jahren ins Greiſenalter; der unendlich unerſchörfliche Gehalt 
gährte und gährte in der Bruſt des Dichters und ſchleuderte von 
Zeit zu Zeit nach langen Zwiſchenräumen wie in vulkaniſcher 
Eruption eine glühende Maſſe aus dem Krater tiefbrütender Phan⸗ 
taſie hervor. Kurz, der Fauſt bleibt fragmentariſch, er bleibt 
ein großartiger Torſo, auch wenn der äußerliche Abſchluß der 
Tragödie, den endlich der Greis verſuchte, zehnmal beſſer ge⸗ 
lungen wäre, als er gelungen iſt. | 

Diele Mängel nun find im zmeiten Theile, während fie im 
erften mit den Schönheiten des Gedichtd unmittelbar zuſammen⸗ 
bangen, zu fchreienden Fehlern angefhiwollen und haben das 
Schöne geradezu aufgehoben, oder vielmehr, fie fchmollen fo 
hoch an, weil feine Kraft mehr da war, Schönes zu produciren. 
Diefer ganze zweite Theil ift ein mechaniſches Product, nicht ges 
worden, fondern gemacht, fabrichrt, geſchuſtert. 

Ich befinde mich, indem ich hier meinen Widerwillen gegen 
dieſes Product ausſpreche, in. einer beſondern Berlegenheit. Dies 


61 


‚ fer zweite Theil iſt faſt aus Lauter Allegorieen zufammengefegt. 
Daß die Allegorie nit ein Product dichteriſcher Schöpferkraft, 


fondern proſaiſchen Verſtandes ift, der zur Einkleidung eined- 


allgemeinen Begriffes nachträglich die Einbildungskraft aufbietet, 

ift etwas jo Weltbefannted und Triviales, die Kinder auf der 
Straße wiſſen es, daß es eigentlich eine Beleidigung des Publi⸗ 
kums iſt, wenn man es darüber erſt zu belehren unternimmt. 
Und doch haben die meiften Schriftſteller über Goethe's Fauſt 
dieſen zweiten Theil an poetiſchem Werthe geradezu, als exiſtirte 
in der Philoſophie des Schönen dieſer Begriff der Allegorie gar 
nicht, dem erſten an die Seite geſetzt. per wenn fie auch zu⸗ 
gaben, daß die Allegorie nicht rein poetiſch ſei, wenn fie zugaben, 
daß die Neflerion ungleich mehr Theil hat an dieſem Fabrikat, als 
die Phantafie, fo hatte es doch für ihr Gefühl gar nichts Wider» 
‚firebenves, daß ein allegoriſches Machwerk fih bier als Fort⸗ 
ſetzung und abjchließender Theil an die Seite eined herrlichen 
poetifhen Productes drängt. Goethe hat befanntlich mit edler 
Befcheidenheit felbft geiußert, daß das hohe Alter auf eigentliches 
Produciren ganz verzichten müfle. Hr. Weber (Goethe's Fauſt) 


meint, man könne doch zum Dichten nicht zu alt werden, wie 


zum Heirathen. Ich will nicht unterſuchen, wie weit, was man 
zum Heirathen braucht, mit dem verwandt iſt, was man zum 
Dichten braucht (wiewohl Beides näher zufammenhängen dürfte, 
als es ſcheint); aber in einer Zeit, wie die moderne, wo Reflek⸗ 
tiren und Denfen fo weit über die finnlichen Geiftesthätigkeiten 
vorherricht, wird ſich dad Alter, wo ohnedies bie Phantafle all» 
mälig verdampft, ſchwerer als irgend in einer andern, gegen bie 
eindringende Kühle profaiicher Bejonnenheit Halten. Schon im 


| 


62 


Briefwechſel mit Schiller gefteht Goethe, Daß er, ganz in feinen 
wiffenfchaftlichen Studien lebend, faft aufgehört habe, ein Dichter 
zu fein. Es mar bei den Alten anders, da war bie ganze Zeit 
jung, und ebenbaher die Kunft nicht bloß ein Moment, fondern 
der höchfte Ausdruck ihrer Bildung. Iebt ift die Kunft an bie 
Seite hingedrängt als eine Thätigfeit, die wir noch mitnehmen, 
in der wir aber nie mit unferem ganzen Geifte find; und wie der 
Einzelne in unferem Zeitalter viel fürzere Zeit jung ift, als in jedem 
früheren, jo begleitet ihn aud) die Kunft eine Fürzere Strecke durchs 
Leben, und die Boefle eine fürzere, als die andern Künfte. Durch jene 
Seftindnig Goethe's würde nun allerdings jeder Vorwurf ent» 
waffnet, wenn bier ein für fi ftehendes allegorifch didaktiſches 
Product vorläge; man könnte jagen: nun ja, es ift zwar fein 
Gedicht, aber doch etwas. Nun aber behauptet fich dieſes Fabri⸗ 
fat als Fortfegung eined wundervollen Products, es fordert ſelbſt 
und durch dieſe Nachbarſchaft, in die es fich drängt, auf, den 
Mapftab ächter Dichtung an ed zu legen, es nöthigt und, zu 
vergleichen, es richtet ſich felbft. 

Es find nicht nur eine Maſſe Allegorieen in biefem zweiten 
Theile. neu eingejhoben, fondern jelbft die lebendig concreten 
Perſonen des erften Theils, Fauſt, Mephiftopheles, in Allego⸗ 
rieen verflüchtigt. Fauſt ift nicht mehr diefes Individuum aus 
biefer Zeit, das als ſolches gerade durch feine Individualität 
Nepräfentant des Menfchengeiftes war, fondern er ift ein Begriff, 
3.8, der Begriff der Nomantif, und durch eine völlige Zerreißung 
der Zeit kommt er mit Selena auf der einen, Byron (Euphorion) 
anf der andern Seite, die aber freilich jelbft auch nur Begriffe 
ſind, auf Einen Boden zu ſtehen. Meyhiſtopheles ift (als Phor⸗ 
kyas) das negative Moment in der Auflöfung antiker Kunft und 


63 


Schönheit u. |. w. Wer kann an biejen Gliebermännern eine 
Freude haben? Wen geht das Herz auf, wenn er diefen zweiten 
Theil lieft, wer wird gerührt, begeiftert, wer empfindet Furcht 
und Mitleidven? Freilich e8 giebt Leute, die einen flarfen Magen 
haben. Ein von der Hagen, ein Mone höhlt ſich die Helden der 
altdeutſchen Sage zu allegorifhen Puppen aus, und meint, mım 
erft die poetifhe Schönheit diefer ausgebälgten Häute bewuns 
dern zu können. Die Allegorie bat einen Begriff fertig; nun 
nimmt fie eine Erſcheinung aus der Wirklichkeit, ſchneidet ihr 
Eingeweide und Seele heraus, und legt jenen Begriff dafür 
hinein: der Zuſammenhang des Begriffd mit diefem feinem Balge 
ift fein anderer, alö ein tertium comparationis;' da aber jedes 
Ding der Vergleihung eben fo viele Seiten darbietet, als es 
Eigenſchaften Hat, fo iſt es nicht Elar, was in dem beftimmten. 
Falle dad tertium fein ſolle. Statt aljo die Idee durch das Bild 
deutlich zu machen, was ihre Abficht war, Hat fie jene vielmehr 
verbunfelt und muß erft unter ihr Bild hinfchreiben, was e8 will, 
oder es durch den Zufammenhang deutlih machen. Hätte und 
Niemand gefagt, was eine Figur mit einem Anfer oder mit 
verbundenen Augen und einer Wage bedeuten folle, nimmermebr 
würden wir darauf kommen; fteht aber die leßtere Figur an einem 
Rathhaufe, und wiffen wir anderswoher die Beſtimmung des 
Gebäudes, fo könnten wir etwa auch ohne weitere Notiz die Bes 
deutung der Figur errathen. Verbundene Augen Eönnen eben fo 
gut Hundert andere Dinge bedeuten, ald Unpartheilichkeit. So 
mag denn die Allegorie unter Anderem vorkommen, fie mag 
al3 Ornament an Gebäuden, Triumpbbögen, Sarfophagen, wo 
dad Bauwerk felbft das Sinnbild erflärt, in einem Cyklus rell⸗ 


— — — — 


64 


giöſer Gemälde, deren Aufgabe die Ausfüllung gegebener kirch⸗ 
licher Räume iſt und wo die einzelne Allegorie durch die Nach⸗ 
barſchaft der anderen Bilder leicht gedeutet wird, ihre Stelle 
finden. Die ſtummen bildenden Künſte werden dieſen Nothbehelf 
nicht ganz abweiſen können; ſtrenger iſt es der Poeſie zu unter⸗ 
ſagen, ſie kann ja reden, für was hat fie ihren Mund? Giebt 
fie aber doch Allegorieen, fo fol fie wenigftend der Deutung 
nachhelfen, damit fich ver Lefer nicht abquälen müſſe. Diele Nach⸗ 
hilfe hat Goethe im zweiten Theile des Kauft nicht gegeben, daher 
trifft jeine Allegorieen noch ein weiterer Tadel, der andere Allego⸗ 
rieen nicht trifft, ver nämlich, daß, men man eine Deutung derfelben 
gefunden zu haben meint, man nie wiſſen kann, ob es die rechte 
ſei. Gin Näthfel erräth man, und weiß dann, daß man es 
errathen bat, da genießt der Verſtand eine anmuthige Befriedigung. 
Aber an diefen Näthfeln Tann man eine Eiwigfeit herumrathen 
und nie gewiß willen, ob man die Löfung gefunden. Solche 
Räthſel machen ift Feine Kunft; ich darf nur zu einem Begriffe 
ein fehr Entlegened, durch eine feiner taufend Cigenfhaften ihm 
von Weiten ähnliches Bild fuchen, die Bedeutung wohl ver- 
ſtecken, und ich Kann bie ganze Welt am Narrenfeile fortziehen 


.. — oder richtiger Ieden, der den Geſchmack hat, fih an das 


Rarrenfeil zu hängen. Gebt dem mittelmäßigften Kopfe den Ideen⸗ 
ſtoff dieſes zweiten Theils (dieſer allein bedingt ja nie den Werth 


.. eines Gerichts), dazu Goethe's techniſche Fertigkeit (dieſe auch 


nicht), laßt ihn nur recht figen, ſchwitzen, die Feder zernagen: 


- gebt Acht, er bringt euch ein Ding heraus, das wenigftend eben 


fo gut it, wie dad vorliegende. Wer nun Luft bat, zu rathen 


und zu. rathen, ohne jemald die Gewißheit richtiger Deutung 


65 


boffen zu können, dem kann ich feinen Geſchmack nicht beftreiten; 
ih für meinen Theil halte jede mittelmäßigfte Unterhaltung für 
beffer und belehrender als eine folche Befchäftigung. Doc) Goethe 
Fannte fein Publikum; er Hätte, was er in beißender Ironie ſei⸗ 
nem Merhiftopheled in den Mund legt, als Motto über das 
Ganze ſetzen können: 

Und allegoriſch, wie die Lumpen find, 

Sie werden nur um deſto mehr behagen. 

Aber auch dasjenige, was in dieſem allegoriſchen Elemente immer⸗ 
hin zu erreichen war, iſt nicht erreicht. Eine Moſaik von unzu⸗ 
ſammenhängenden Scenen und Acten, bedeutende Motive gar 
nicht benützt, ſchiefe, verkehrte Gedanken, wie z. B. (was Weiße 
richtig bemerkt hat), daß in der Geſtalt des Euphorion Byron als 
Kind der Vermählung des claſſiſchen und romantiſchen Princips 
auftritt; der Schluß des Ganzen in der Grund⸗Idee richtig, aber 
in der Ausführung verkehrt. Denn freilich mußte Fauſt gerettet 
werden. Dieſe Nettung konnte vernünftiger Weiſe nur dadurch 
geſchehen, daß die ſtreitenden Gegenſätze feiner und. der menſch⸗ 
lichen Natur überhaupt ſich verfühnen. Diefe Verſöhnung mochte 
immerhin durch geordnete praftifche Ihätigfeit herbeigeführt wer⸗ 
den, aber nur nicht durch eine profaifch induftrielle. Statt daß 
nun aber mit diefer Thätigkeit und der Ausfiht auf eine no 
höhere und umfafjendere die Verſöhnung eintritt, verfällt Fauft 
eben in diefem Moment dem Böfen, und kommt die Nettung 
äußerlich nad, in Form eines Gefchehend, die dem mittelalterlichen 
Dlymp entlehnt ift, und der fo ganz, fo tief proteftantiihe | 
Fauſt fehliegt katholiſch. Ich werde auf biefen Punct zurüde | 
fonmen. | 

Kritifche Gänge. 11. 5 


66 


Menige Silberblicke erinnern an die alte Kraft, aber auch 
bier ſtört die hoͤchſt manirirte ſprachliche Darftellung, die ſich der 
alte Herr Geheimerath angewöhnt. Wenn im erften Theil die 
Sprache mie ein Strom daherrauſcht, wie Frühlingswind fächelt, 
immer fehlicht und Immer groß in dieſer Schlichtheit, fo hören wir 
bier jene Biſam⸗ und Moſchus-⸗Sprache, die mit Manſchetten und 
| Glacéhandſchuhen felbft ind Brautbett fteigt, jened behäbige, be— 
bagliche, felbftgefüllig ordentliche, nette, glatte, limitirende Neben, 
das der Menfihheit Schnißel Eräufelt, und niemals pretiöfer und 
affectirter erfcheint, al3 wenn es die gefunde Grobheit der Natur 
nachahmt. Wie geckenhaft ift der Zufat, da im Mummenſchanz 
die Pulcinelle auftreten: taäppiſch, faſt läppriſch. Unnatürliche 
Wortbildung, wie: zweighaft, wurzelauf u. dgl. drängt ſich als 
Afterbild ver wahren dichteriſchen Sprachgewalt hervor. Unerlaubte 
Conſtructionen, wie: „Ach, zum Erdenglück geboren, hoher 
Ahnen, großer Kraft“ treten mit der Miene poetiſcher Kühnheit 
auf, und undeutſch angebrachte Superlative follen die mangelnde 
Kraft des einfachen Worts erfeßen, mie: durchgrüble nicht das 
einzigfte Geſchikk — einzigfte Bewunderung, eigenfter Ge— 
fang — und follt ih nicht fehnfüchtigfter Gewalt ins Leben 
ziehn Die einzigfte Geftalt? — verbräunt Geſtein, bemodert, 
widrig, ſpizbögig, ſchnörkelhafteſt, niedrig u. dgl. Waiblinger 
hat dieſe Sprache nicht übel parodirt in ſeinen drei Tagen in der 
Unterwelt, wo Goethe ſeine baldige Ankunft im Hauſe der Todten 
fo Herkühbigt: 

Und fo kaͤm' ich denn behaͤglich, 
Wunderlichſt in diefem Falle, 


Nimmer fuͤrchtend, nimmer täglich, 
Baldigſt in die Todtenhalle 


| 


:67 


Und dieſen Styl haben’ nicht wenige, ſelbſt junge Schrift⸗ 
fteller nachgeahmt! Wahrlich, fie thun dem großen Manne damit 
eine ſchlechte Ehre an! Ber ihm ift das fo allmälich gefommen 
und gemorden, und in der Ausartung tft immer noch der Zu⸗ 
ſammenhang mit den Vorzügen bed unnachahmlichen Styls feiner 
fräftigen Mannesjahre zu bemerken. Diefe Affen aber machen 
nit das Urfprüngliche, fondern die Farifirte Ausartung nad, 
und was man den: alten Goethe um feiner jugendlichen VBerbienfte 
willen verzeihen Tann, ift bier unverzeihliche, vettelbafte Ver⸗ 
zerrung. — | 

Mir wird e8, wenn ich dieſen zweiten Theil leſe, ſo herbft- 
lich grau, fo regnerifh trübe zu Muthe, meine ganze "Seele 
trauert und meint, wenn ich den Genius fo dem Geſetze der Sterb⸗ 
lichkeit unterliegen ſehe; und nur die Rückkehr zu den Werken ſei⸗ 
ner Jugend und Manneskraft richtet mich wieder auf, deren 
hohes Bild keine Zeit und keine Verwitterung des Alters zerſtören 
kann.. 

Dieſe einleitenden Bemerkungen werden mir das Geſchäft 
einer kritiſchen Muſterung der vorliegenden Schriften weſentlich 
erleichtern und abkürzen. Wenn ich zum Voraus ſogleich ſage, 
daß dieß eben Fein angenehmes Geſchaͤft je, fo faſſe ih, um dieſe 
Behauptung zu rechtfertigen, das Refultat, das fich auß einer 
Vergleichung der einzelnen Schriften mit den bisher aufgeftellten 
Standpunkten ergeben wird, vorläufig fo zufammen: 

1) Mit geringen Ausnahmen haben ſämmtliche Schriftfteller, 
— ſtatt eine äfthetifch -phiofophtiche Betrachtung anzuftellen, 

eine philofophifche angeftellt und an unferer Tragödie Me— 
taphyſik, Ethik, Religionsphilofophie u. f. f. docirt. 
5 * 


68 


2) Sie haben mit wenigen, faft nur mit Einer Ausnahme, 
unfritifch die Mängel des erſten und zweiten Theild über- 
fehen und die Dichtung als ein untadelhaftes organifches 
Ganze mit blinder Pietät Hingenommen. Was eben die 

l Folge davon war, daß fle mır ven philofophiichen Gehalt, 
nicht den Grad, in welchem es gelungen tft, ihn in einen 
I äfthetifchen Körper zu fafien, im Auge hatten. 

3) Sie haben fon im erften Theile Vieled allegoriſch gedeu⸗ 
tet, was poetifch iſt. Meichliche Belege werden zur Genüge 
deutlich machen, was ich hiermit meine, wenn es nicht 
ſchon aus obiger Einleitung deutlich fein follte. 

Eine ganz andere Frage ift die nach ver Richtigkeit der 
philoſophiſchen Deutung und dem wiſſenſchaftlichen Werthe der 
einzelnen Schriften überhaupt, welche nun die Muſterung pafftren 
follen. Im Allgemeinen läßt fih Hierin fo viel beftinnmen: die 
meiften Fehler in der Erflärung wefentlicher Punkte finden fich 
in denjenigen Schriften, deren Verfaſſer Feine philoſophiſche Bil- 
dung haben, und danad) theile ich auch diefe Schriften ein. Im | 
erften Flügel follen die Nationalgarden des gefunden Menjchen- 
verftanded defiliren, Die ohne ven Schlüffel der Philoſophie dieſes 
tieffinnige Gedicht aufzufchließen unternehmen; im zweiten das 
Linien⸗ Militär der Philofophen. Jene werden, wie ſich erwar= “ 
ten läßt, etwas falop, fhlotterich und ſchwankend marſchiren; 
biefe etwas fteif, im Paradeſchritt, knappen Hoſen und Eras 
vatten. Uebrigens will ich nicht gefagt haben, daß in der Er⸗ 
Färung des Gedichts jene ganz oder viel, diefe gar nicht ober 
menig irren, wohl aber, daß jene, wo fie Recht haben, nur zu= 
fällig nicht irren, da ihnen das wahre Mittel ver Erfenntniß abgeht, 


69 | ‘ 
biefe aber in Folge einer faljchen Anwendung dieſes Mittels. Die 


Philoſophen aber find am Häufigften in die allegoriſche Deutungs⸗ 
wuth fchon In erften Theile verfallen. — 


Nleber Goethes Fauft, 
Berlin 1850. 
Borlefungen von Dr. K. ©. Schubarth. 

Ih kann diefe Schrift nicht beſſer bezeichnen, als fo: bem 
Berfaffer ift ein philofopbifcher Gedanke in die Hände geratben, 
er geht damit um, wie die Affen in ver Hexenküche mit der glä- 
fernen Kugel, und weiß nichtd Beffereö zu thun, als denjenigen, 
denen er für diefe Idee dankbar fein follte, die Scherben an ven 
Kopf zu werfen. | 

Diefe Idee iſt: das Böfe ft als mefentlicher Gegenfab und 
Hebel des Guten nothwendig, ein heilſames Mittel in der Welt 
gefhichte. Diefe, befonderd durch die neuere Philofophie neu ber 
gründete, Wahrheit — eine Quelle, die der Verf. verleugnet — 
wird nun aber auf eine fo verworrene Art auf das Gedicht an« 
gewendet, daß unfer logiſches Gefühl wahrhaft auf die Folter 
geſpannt, ja auch das fittliche confus wird. 

Die Eonfufion befteht namentlich darin, daß Mephiftopheles 
dem Fauſt gegenübergeftellt wird als derjenige, welcher das heilſam 
und gejegmäßig wirkende Böſe darftelle im Gegenſatze gegen 
Fauſt's Willfür und die fehranfenlofe Ungeduld feiner Forderun⸗ 
gen. Allein dieſe Willkür und Ungeduld iſt ja eben ſelbſt auch 
böſe, und wenn Mephiſtopheles das Böſe repräſentirt, ſo muß 
er auch die ſes Böſe repräſentiren, und kann ihm nicht als Re⸗ 


70 


präfentant einer anderen Art von Böſem — und giebt ed denn 
ein harmonifches und vernünftiged Böſe? — gegemübertreten. 
So meint ver’ Verf. auch, es ſei dem Schalke ſchlechthin Ernft, 
wenn er von Gretchen fagt: über die hab’ ich Feine Gewalt. Er 
wolle ihr nichts zu leide thun, fo Lange fie unfchuldig bleibe! 
Alfo wenn fie ſchuldig geworben ift, kommt er nach und thut ihr 
etwas zu Leide: da doch das Schuldigmerden eben dieſes Leide⸗ 
thun dur) Mephiftopheles if. Wenn Miephiftopheles das Böſe 
bebeutet, bedeutet er denn nicht auch Gretchen's Verführung? Cs 
heißt fo eigentlich: ich will fie zwar wo möglich moraliſch ver 
berben, aber erft wenn fie felbft (das ift ja aber eben Mephi⸗ 
ftopheles in ihr) fih moralifh verberbt hat. Dean leſe folgenden 
finmlofen Satz: das Böſe tritt Leibhaftig vor Fauft , ift aber nur 
eine ſchwache Nachhilfe feiner eigenen Verworrenheit und Willkür, 
in die feine Freiheit ausgeartet iſt. Nachhilfe? Das ift fo tiefſin⸗ 
nig, als der Begriff einer bloß von außen leitenden Vorfehung 
und einer gratia cooperans. Endlich kommt freilich der Si des 
Unfinns zu Tage. Der Herr Verf., dieſer höchft gebildete, par= 
fümirte, aufgeklärte Mann, glauben einfältiglic) an einen Teufel 
(gewiß doch auch an feine Großmutter ?). „Es ift allerdings eine 
dämoniſche Macht auh außer uns wirklich ; fie zeigt fich in 
allen verberblichen und häßlichen Erfcheinungen der Natur. O 
Sie edler Perfer! „In der moraliſchen Welt rührt von ihr alles 
Böſe und Unheilbringende her.“ Da rührte ja alſo doch auch 
Fauſt's fehranfenlofe Willkür davon her? Gin andermal aber 
fpricht der Verf. wieder, als erfenne er in Mephiſtopheles bloß 
eine poetijche Perfonification ded „in ber Natur und“ der mora= 
lifchen Welt vorhandenen Böſen. So jegt er aljo das Böſe das 


71 


Einemal doppelt‘, in ber Welt und daneben noch in einer befon« 
deren Hypoſtaſe, dann wieder einfach ohne dieſe Hypoſtaſe, dann 
wieder doppelt: das geht in ſolchem fappelichen,, duſelichen Be« 
mwußtjein hin und ber, hiſt und Hott, hinterſich, fürfich, durch⸗ 
einander wie Kraut und Rüben. | 

Soll nun Mephiftopheles ein anderes Böfe zepräfentiren, alg 
das böſe Böfe in Bauft, fo kann died nur ein guted Böſe fein. 
Mephiftopheles erſcheint als zu gut. Es ift zwar fehr richtig, 
daß der Dichter diefe Figur mit. einer gewiſſen Behaglichkeit, ja 
Heiterkeit behandelt hat, indem er fle mit einem Leifen Bemwußtz 
fein der Ohnmacht des Böfen, das ald Humor zum Vorſchein 
fommt, außftattete; allein man darf daraus nicht folgern, ‚daß 
Mephiftopheled im Grunde fo böfe eben nicht ſei. Es giebt einen 
Standpunft univerfeler Weltanfhauung, dem das Böſe mit Recht 
ald unentbehrliches negative Moment in der Dialektif der Welt⸗ 
geihichte erſcheint, aber man barf darüber nicht vergeffen, daß 
das Böſe 668 ift, wie dies Hr. Schubarth gethan hat, der nichts 
Nothwendigeres zu thun weiß, ald dem Teufel fein Horn abzu- 
fhlägen und ihn zu einem ordnungsliebenden, in feinem Gott 
vergnügten Polizeiviener zu machen. Hr. Schubarth fpricht im- 
mer, als ftünde Mephiftopheles über dem Böfen: ganz falſch, 
darüber ftebt nur Gott. Dem Böfen fommen die guten Fruͤchte, 
die es trägt, nicht ſelbſt zu Gute, denn es hat nicht dieſe, ſon⸗ 
dern das Böſe gewollt. Sein Innerſtes iſt daher doch ein verbiſ⸗ 
ſener Grimm, der auch bei Mephiſtopheles zum Ausdruck und 
Ausbruch kommt. 

Hieraus fließt eine ganz falſche Anſicht von dem Plane, den 
Mephiſtopheles mit Kauft vorhat. Mephiſtopheles hat, meint ber 


m 


72 


Berf., dem Fauſt eine heilfame Demüthigung zugedacht. Was 
wohl Mephiſtopheles dazu fagen würbe, wenn er hörte, daß er 
ein Pädagog geworben ift und es vielleicht noch zum Knaben⸗ 
und Mäpchenfehullehrer bringen Fönnte? Der Päragog ift Gott, 
Mepbiftopheles das blinde und verworfene Werkzeug. Man muß 
zugeben, daß Hr. Schubarth in feiner Auffafiung des Pactes 
zwiſchen Mephiſtopheles und Fauſt an das Richtige ftreift. Fauſt, 
ber dad ganze Uiniverfum für ungenügend erflärt, fein unendliches 
Bedürfniß auszufüllen, während doch vernünftige Beſchränkung, 
verebelter Genuß und befonnene Thätigkeit ihn den Werth deſſel⸗ 
ben müßten fühlen laſſen, ſoll am Ende eingeftehen, daß die von 
ihm gefcholtene Welt doch fo übel nicht ſei, aber zu feiner Be⸗ 
ſchaͤmung, denn das Behagen in ver Welt, zu welchen Mephi- 
ftopheles ihn verführen mil, fol ein träges und finnliches fein, 
er fol den höheren Intereſſen abfterben und im Gefühle verwirk⸗ 
ter Ehre untergehen. Der Calul gelingt aber nicht, denn es iſt 
die Abficht des zweiten Theiles der Tragödie, deren Inhalt der 
Verf., als erft einige Scenen davon vorlagen, richtig ahnte, daß 
Fauſt mitten im Genußleben zu einer idealen Befriedigung ſich 
erbebe, und fo werden Gott und Teufel in gewiffen Sinne beide 
die im Prolog eingegangene Wette gewinnen. Hier Fam dem 
Verf. feine Einficht zu flatten, daß Mephiftopheles nicht bloß 
ſchlechtweg das Böſe, fondern eben fo fehr das die Willfür und 
den einfeitigen Idealismus heilfam begrenzende Moment der Bes 
ſchränkung überhaupt in ſich darftelt; aber man kann an dieſer 
Entdeckung keine Freude haben, weil er vergißt, daß Mephiſto⸗ 
pheles nur zuſammengenommen mit Fauſt (ſeinem idealen Selbſt 
nach) und Gott eine gute und heilſame Macht darſtellt, für ſich 


73 


aber und getrennt von feiner Ergänzung durch den göttlichen Geiſt 
eben fo ſchlecht ift, als die Sinnlichkeit ohne den Willen, ‚ber 
Berftand ohne die Vernunft und der Egoismus ohne Wohlmollen. 

Aus der gefchilverten finnberaubenden, herzbetbörenden Con⸗ 
fuflon diefer Schrift geht nothwendig ein Refultat hervor, das 
nicht bloß unlogifh, fondern unfittlih if. Der Verf. meint, 
Fauſt folle auf feine Verirrungen und Verbrechen nur fo zurück⸗ 
fehen, wie man auf etwad Mißlungenes zurüdblict, woran 
man fi außer Schuld weiß, er dürfe ſich alſo „auch nicht dar⸗ 
über abhärmen und ben Kopf zerbrechen, da das Univerfum, der 
Herr, ja überreih tft, um die Lücken eines ganzen Erdendaſeins 
fofort zu fuppliren.” Sofort erlaube ich mir zu fuppliren, daß 
man Ew. Wohlgeboren folche Befhönigung bes Böfen nur darum 
verzeihen kann, weil ſchon die ungeheure Abgeſchmacktheit, mit 
der Sie Sich ausdrücken, Sie aller Imputation enthebt. Fauſt 
ſoll freilich nicht im Schulobemußtfein flagniren und auch aus 
feinen Verbrechen gute Lehre ziehen, aber die Neue ift ihn darum 
nicht erlafien, er darf die Verſöhnung, die nach der Neue folgt, 
nicht anticipiren, als ob ihm dieſe darum gefchenft wäre. Nach 
der Anficht des Herrn Verf. dürfte auch Judas Ifcharioth in der 
Veberzeugung, daß fein Verbrechen heilſame Folgen haben werde, 
ftatt daß er ſich erhenkt, mit einem halben Bedauern und füßen 
Lächeln auf feine That zurückſehen. 

Sp geht ed, wenn man läuten hört, und weiß nicht, in 
welchem Dorfe, wenn man mit einer philofophifchen Idee um⸗ 
geht, der man nicht gewachſen ift und bie man in flrengem Den⸗ 
fen zu begreifen verachtet; es ift eben, wie wenn Kinder mit einem 
geladenen Gewehre fpielen. | 


74 


Von andern Irrthümern, die Einzelnes betreffen, will ich 
nigt ausführlih reden, doch einen wefentlichen Punkt etwas ge= 
nauer ind Auge faſſen, worin faft ſämmtliche Erflärer, die ohne 
Philoſophie an ihr Werk gingen, geirrt haben. Herr Schubarth 
meint, Bauft hätte ſich nicht einfallen Yaffen follen, den Schleier 
des religiöfen Myſteriums zu lüften, fondern gläubig vor dem⸗ 
felben ftehen bleiben ; er zählt daher Fauſt's ungläubige Aeußerun⸗ 
gen über die im Chorgeſang ausgeſprochene religiöſe Vorſtellung 
ſchlechtweg zu den Ausbrüchen überſpringender Willkür und Un⸗ 
geduld, und macht gelegentlich, wie auch an andern Stellen, 
Ausfälle auf die neuefte Philoſophie, die ihm bekanntlich fpäter 
übel befommen find. Das heißt nun aber die Tragödie in ihreng 
Herzen angreifen. Fauſt's ungläubiges Verhalten zur religiöfen 
Borftelung {ft ein weientlicher Theil feined Zweifels und biejer 
ift fein eigentliches Pathos. Jede tragiihe Perfon muß für ihr 
Pathos ein Necht haben, ein einfeitiges, aber ein Necht. So hat 
auch Fauſt's Unglaube fein Recht, das Unrecht liegt bloß darin, 
daß er, die Vermittelung des Denfens eben fo wie die Vorftel- 
lungen kindlicher religiöfer Phantafle verachtenn, den im Zweifel 
zerftörten Inhalt des Glaubens nicht im Flaren Gedanken fi 
herſtellt. Kauft hat geglaubt, als Kind. Der Zmeifel hat ihm 
den Glauben zerftört, und er glaubt nicht mehr. Das Mittel 


“gegen den Unglauben fol nun fein — der Glaube! Hat das Ver⸗ 


fland? Ein Menfch, dem der unbefangene Glaube durch Die 
Zweifel ver Reflexion verloren gegangen ift, kann offenbar nur 
dadurch geheilt werden, daß er nicht auf halbem Wege des Den 
tens ftehen bleibt, ſondern vom ſkeptiſchen Denfen zum fpecula= 
tiven fortjehreitet, nur hHomdopathiih. Das, was durd den 


75 


Zweifel zerftört worden iſt, kann offenbar nicht wieder den Zwei⸗ 
fel zerſtören. Hätte der Glaube die Kraft, dem Zweifel zu wider⸗ 
ſtehen, ſo wäre er vorneherein nicht durch ihn zerſtört worden. 
Daß aber Fauſt vom Glauben zum Zweifel, nicht aber vom 
Zweifel auch zum Wiſſen fortſchreitet, verlangte der Plan der 
Tragödie und das Intereſſe der Voeſie. 

Nur noch ein Pröbchen von Herrn Schubarth's philoſophi⸗ 
ſchem Tiefſtnn. Fauſt's Ueberſetzung der Anfangsworte des 
Johanneiſchen Evangeliums durch: im Anfang war die That, 
erklaͤrt er deswegen für unrichtig, weil „im Anfang nicht die That 
war, jondern dad Wort, die Meldung, der Anlaß, die Botſchaft, 
die Aufforderung. Sie follen wir ergreifen und zur That herrlich 
geftalten!« Brav declamirt! Sie beziehen alfo die Johanneiſche 
Stelle, die vom Anfang aller Dinge redet, auf die Zeitlegeben- 
heit der erſten Verkündigung des Chriſtenthums, und dieſes faſſen 
Sie als eine moraliſche Lehre, der mir durch unſer Handeln 
nachkommen ſollen. Und dieſer abgetretene platte Philiſter⸗Ver⸗ 
ſtand wagt ſich an die Erklärung des tiefſten deutſchen Gedichtes! 

Manche gute Bemerkungen, die das Buch im Einzelnen ent⸗ 
hält, will ich nicht verkennen. Da jedoch der Verf. ſonſt eher zu 
wenig, als zu viel Ernſt in der Tragödie findet, ſo iſt mir auf⸗ 
gefallen, wie er die Trinker in Auerbach's Keller ſo pedantiſch 
ernft nimmt, daß er fie als „Freche, Rückſichtsloſe“ bezeichnet, 
die „jedes böchfte Anfehen, Kanzler, Kaijer, Pabſt (ſchrecklich!) 
verhöhnen.“ Das allegorifirende Deuteln hat er auch nicht immer 
laſſen können, 3. B. wenn er den Ausruf der Meerkagen: „nun 
ift es gefcheh'n, wir reden und feh'n, wir hören und reimen!« 
auf die Preßfreiheit deutet. 


ir 


76 


Die Meerkatzen erinnern mich noch einmal an meine obige 
Vergleichung, bei welcher mir namentlich auch der Styl des Verf. 
vorſchwebte, welchen ich in feiner füßen Wohlweisheit, altgoethiſch 
felöftgefälligen Behäbigfeit gar nicht anders als affenhaft nennen 
fann. Nicht Leicht hat Einer fo fehr Goethes Linke Achfel ange» 
nommen, und ericheint fie bei Einem fo widerlich, wie bier, mo 
ganz bie gefunbe rechte fehlt. „Das böſe Princiy ift für den gött- 
lichen Zweck förderſamſt dienſtbar.“ — „Wir werben in einen 
weit ausſichtsvollen landſchaftlichen Zuftand enilafien.« Gott ift 
gegenüber der negativen Natur des Böfen ein „urſprünglichſt 
Bejahendes.« Das Univerſum tft „überreich, die Rüden eines 
ganzen Dafeins fofort zu ſuppliren.“ — Iſt der Menfch nicht 
unerträglich ? 

Noch ein Wörtchen Herr Doctor! Der alte Goethe, verfelbe, 
ber ben zweiten Theil des Fauſt geichrieben, hat Ihnen ein Bes 
lobungsſchreiben über Ihr Buch geſchickt und zu Eckermann gefagt, 
es ſei doch Alles prägnant, was Sie fagen. Den Brief ziehen 
Ste doch ja auf Pappendeckel und Iaffen ihn unter Glas und 
Nahmen fafien, oder bewahren Cie ihn im Spiritud auf. So 
Yang Sie ihn beſitzen, iſt Ihr Buch gut. Und die Neußerung 
gegen Edermann ift ja gedruckt, da ſteht es ja gedruckt, wie treff- 
lich Sie gefchrieben haben. Sie find hieb⸗ und ſtichfeſt, Feine 
Kritik kann Sie beleidigen. Mögen wir Frechen fagen, was wir 
wollen, Sie ftehen bin, zupfen die Manſchetten und Chemifette 
zurecht, führen bie Hand zur Taſche und fagen: „Habe ih doch 
meinen Brief. # 





77 


Das nachgelaffene Werk von Johannes Kalk: Goethe 
aus näherem perfönlichen Umgange dargeftellt. Ent⸗ 
häft einen Anhang über Goethes Fauſt. Leipzig, 

. 4832. 

Einem fo würdigen Manne, wie Falk, kann man um bei - 
vielen Dankenswerthen willen, was das Büchlein fonft enthäft, 
die Schwaͤche dieſes Anhanges wohl zu gute halten; aber die 
Kritik muß doch immer darauf arbeiten, daß ſo wenig Schlechtes 
als möglich gedruckt werde. 

Der Verf. will keine erſchöpfende Abhandlung ſchreiben, ſon⸗ 
dern nur diejenigen Stellen des Gedichts näher bezeichnen, in 
denen „die Hauptmaxime von Goethes eigenem gefanımtem Thun 
und Wirfen“ niedergelegt iſt, und „fonft gelegentliche Erörterun⸗ 
gen über Eind und das Andere beibringen.“ Jene fucht er in 
Goethes Anfiht von der Natur und ihrem Verhältniß zu Gott, 
welche er ald wahre Myſtik im Gegenfage gegen die Myſtik des 
Aberglaubens bezeichnet. Jene Myſtik fol darin beftehen, daß 
Goethe die Natur und ihren Lirheber nicht nebeneinanderftellt, 
fondern in feliger Durchdringung als Eins im Weſen anfchaut, 
woraus unmittelbar die Betrachtung der Natur ald eined Orga⸗ 
nismus, als einer großen Metamorphofe hervorgeht, worin der 
Geift von Stufe zu Stufe fih adäquatere Geftalt giebt, fo daß 
die einzelnen Gattungen ver Naturfvfteme nur ald Verlarvungen 
dieſes Naturgeiftes erfcheinen. So meit fünnen wir mit dem Verf. 
einverftanden fein; wenn er aber als mefentliches weitere! Merk 
mal biefer Myſtik herbeibringt, daß Goethe ein Letztes, Uner- 
Flärliches in allen Dingen angenommen babe, und diefe „Demuth. 


78 


einer „hochmuͤthigen Forſchung“ entgegenfegt, bie fich zulekt fo 
weit verirre, daß fie nur zwifchen einem naturlofen Gott und einer 
gottlofen Natur die Wahl habe, fo müfjen wir ihm ernftlich ent= 
gegentreten. Die üchte Myſtik (wir Eönnen die fpeculative Welt- 
‚ anficht immerhin fo nennen, wenn man das Wort nicht genau 
nimmt; eigentlich aber hat es den Nebenhegriff eines Verſuchs, 
anf dem Wege traumartig dunkler Gefühle und Viſionen in jene 
hoͤchſte Einheit einzubringen) — die ächte Myſtik geht von dem 
Princip der Cinheit des göttlichen Geiſtes und des in der Natur 
und im Menſchen wirklichen Geiftes aus, die der Verftand for: 
maliftifh trennt. Daraus fließt aber fogleih eine vollkommene 
Erfennbarkeit der Natur und aller Dinge, denn Gleiched wird 
von Gleichem erfannt. Auch mwiffen wir ja von Goethe, daß er 
die falihe Entgegenjeßung des Innern und Aeußern, die des 
Verf. Meinung zu Grunde liegt, heftig vermünfchte, und aus» 
ſprach, man -folle nur nichts hinter ven Phänomenen fuchen, fie 
felöft feien die Lehre. Die wahre Forſchung, die ſich von diefer 
Kategorie nicht täufchen läßt, ift es vielmehr, die keinen natur- 
Iojen Gott und Feine gottlofe Natur duldet; und die falihe De- 
muth, die vor einem unerfennbaren Letzten ftehen bleibt, ift es, 
welche in der von dem Verf. fo eifrig angeklagten Trennung zwi⸗ 
ſchen Gott und Welt feſthängt. 

In Goethes Poeſie nun leuchtet allerdings überall der Geiſt 
ſeiner Naturforſchung durch, aber darum iſt Goethe als Dichter, 
wenn man dieſe kennt, noch keineswegs verſtanden, und der Verf. 
ſelbſt bringt, da er endlich jene doch auch in ihrem eigenen Weſen 
bezeichnen will, neue, anderweitige Begriffe herbei, doch nicht 
mit fonderlidem Glück. „Eine brennende Sinnlichfeit und eine 


79 


tiefe, bier und ba | fogar an Trockenheit grenzende Metaphyſik, 
die größte Ruhe einer wiſſenſchaftlich philoſophiſchen Betrachtung, 
verbunden mit dem lebhaften Ungeſtüm eines jugendlichen Dichter⸗ 
feuers, ſo völlig unvereinbare und hier dennoch glücklich in einem 
und demſelben Individuum zur Anſchauung gebrachte Vorzüge, 
ſind eins von den Pfunden, die dem Genius, der ſie beſaß, einen 
der erſten Plätze u. ſ. w.“ So iſt es überhaupt kein glücklicher 
Gevanke, die Tragödie Fauſt gerade aus dem Standpunkte 
Goethe'ſcher Naturphiloſophie zu betrachten, und wir werden 
ſehen, daß der Verfaſſer, um ihn durchzuführen, manches ſehr 
Unabfichtliche und nicht hieher Gehörige in der Tragödie dahin 
deutet. Schelling faßte den Fauſt von dieſer Seite in der bekann⸗ 
ten Stelle der Vorleſungen über Meth. der akadem. Studien, er 
behauptete aber nicht, hiermit das Drama als Ganzes charak⸗ 
teriſirt zu haben. Fauſt's Drange nach unmittelbarer Anſchauung 
des Innerften der Natur, nach geiſtiger Vermählung mit demſel⸗ 
ben, liegt allerdings die Myſtik zu Grunde, von welcher der 
Verf. oben ſpricht; aber dadurch fogleich widerfpricht ſich Fauft 
und fällt in die unächte Myftif, daß er meint, das Experi⸗ 
ment, die Vermittlung der Wiffenfchaft überhaupt könne nicht 
zum Innern der Natur führen und mit den unwahren Mitteln des 
ODoͤgmatismus und Formalismus alle Mittel verwirft. Denn da 
liegt ja eben die falfche Entgegenfegung des Innern und Yeußern 
zu Grunde, die die wahre Myſtik nicht Fennt, und ganz falſch 
citirt der Verf. (S. 217) die Worte: Natur läßt felbft bei lich⸗ 
tem Tag ſich ihres Schleierd nicht berauben u. |. w. für feine 
Anficht, da vielmehr der ungedulbige Fauſt, wenn er nur Hebel, 
Schrauben, Glaͤſer u. vergl. mit denkendem Geifte recht anwenden 


80 

würbe, ben Schleier der Natur allerdings Lüften könnte, ber ſich 
freifich nicht zerreißen läßt. Wenn er aber troß biefem Hängen in 
falfehen Kategorien fich nicht demüthig mit dem Glauben begnügt, 
fo ift e8 darum, weil er, ohne es zu wiflen, doch über dieſelben 
hinaus ift, und der Dichter will diefe Ungenügſamkeit, die nicht 
im Kinderglauben ſich zufriedenftelt, fo wenig als Schuld dar⸗ 
ſtellen, als er ſich felbft darüber tabelte. 

Gilt es eine Würdigung des Gehaltd der Tragödie überhaupt, 
fo ift nicht von diefem Punkte auszugehen, fondern von der Frage 
nach dem DVerhältniffe des Böfen zu Gott, womit die andere zu⸗ 
ſammenfällt, ob der Menſchengeiſt, verſtrickt wie er iſt mit dem 
Böſen, lettlih ihm unterliege, oder vielmehr durch dafielbe als 
ein heiljumes negatived Erziehungsmittel ſich zur Freiheit hin⸗ 
durchringe. Hierauf war zunächft bei der Erklärung des Prologs 
einzugeben, der Verfaſſer eilt aber mit der flüchtigen, populären 
Bemerkung über das ſchwierige Thema weg, daß „in Gott die 
Macht ſei, felbft das, was Böſes im Weltall wirft, feinen höheren 
Zwecken unterzuordnen und jo Böſes, was Befchränfung verübt, in 
Herrliche, Großes und Gutes zu verwandeln.” Mepbiftopheles ift 
ebenfall3 nicht in feiner Tiefe erfaßt; einmal wird ganz ungenau 
von ihm ein Streben nad finnlihem Genuffe ausgefagt (S. 231), 
und wenn der Verf. erklären will, in melden Sinne er ein ver⸗ 
neinender Geift fei, fo nimmt er den Ausbrud, ftatt metaphyfiſch, 
nur piochologif fo: Mephiftopheles könne felbft nichts Göttliches 
bervorbringen, fondern nur an dem bereits DVorhandenen eine 
unvollfommene Seite ausſpähen. Unrichtig premirt er die Worte 
des Herren: So lang er auf der Erde lebt u. f. w.; „ienfeitsw, 
fagt er, „waltet eine andere Orbnung der Dinge.“ Diefe neue 


81 


Ordnung kann ja nicht darin beftehen, daß der Menſch jenſeits 
nicht mehr ftrebt, denn dad Gute kann niemals etwas Nuhendes, 
ein Ding, fein. Ich werde bei anderer Gelegenheit auf biefe 
Stelle weirläufiger zu fprechen kommen. g 
Fauft nun bietet dem Böfen durch die Ungeduld, womit er 
die Mittel des Erkennens überfpringend die Pforte der Wahrheit 
aufreigen will, einen Angriffspunkt: dieſe, aber nicht die Unend⸗ 
lichkeit feined Wiſſensdranges, wie der Verf. gemäß feinen fchon 
angeführten Benterfungen meint, ift feine Schuld. Noch verfehlter 
und felbjt der eigenen Anfichten des Verf. unwürdig ift e8, wenn 
Fauſt S. 252 die Weifung erhält, er folle, ftatt in die Außere, 
in feine eigene fittlihe Natur einfehren, vie rechte Magie beftehe 
darin, daß der Menfch reines Herzens ſei. Bon da war nur nod) 
ein Fleiner Schritt zu der Eleinmeifterifhen Bemerkung ©. 262, 
wo der Schufter und Schneider in feiner glücklich beichränften 
Ehrlichkeit über Sauft gejegt wird. Nach diefem Grundfage müßte 
Nlerander der Große fein Heer entlaffen und in einer fleinen 
Stadt fih ehrlich nahren, Napoleon als folider Lieutenant feine 
Pflicht thun. Edel handeln ift göttlich, aber die Wahrheit erfor= 
fen auch, und noch mehr. Da heißt es denn wieder, Fauſt 
follte über die letzten Endurſachen der Dinge, die der Verf. mit 
einem von Goethe aufgenommenen Ausdruck Urphänomene zu 
nennen liebt, nicht weiter zu forfchen fich erdreiften, aber das 
legte, nicht weiter greifbare Innere der Natur ift doch als folches 
Noumen , alfo geiftig, und warum follen wir, auch Geift, es 
nicht zu erkennen vermögen? WIN denn Fauſt die Wahrheit mit 
Händen greifen, und kann man denn gegen ihn, wie Kalk thut, 
die Worte citiren: Wer will was Lebendigs erfennen und be= 
Kritifche Gänge II. 6 


82 


ſchreiben, fuchterft den Geift herauszutreiben, dann hat er hie 
Theile in feiner Sand u. f. w.? Weiterhin ift Fauſt's Wiffens- 
trieb als ein Schöpfungätrieb bezeichnet, und fofern damit gemeint 
wäre, daß Fauft der Natur das ganze Gcheimniß ihres Procefles 
ablaufchen will, ift dies richtig, aber es fleht aus, ald wäre Kauft 
ein Mann, der Gold, Trauben, Rofen u. f. w. maden will, 
während Doch weder er, noch fonft ein vernünftiger Mann die 
denkende Erfenntniß darım fchilt, weil fle den Proceß der Natur 
nicht fchöpferifeh nachmachen kann. . Die Naturbinge find ja ſchon 
gemacht, ift der Naturgeift damit fertig und fuht im Menfchen 
fein unbewußtes Schaffen zu erfennen, fo braucht er fie nicht noch 
einmal zu machen. Die Stelle (S. 254 ff.) mürde etwa auf 
Fauſt's Zaubertreiben im Volksbuche paſſen, aber es ift hier 
nicht davon, fondern von Fauſt's Wiffenstriebe die Rede. 

Den Contract mit Mephiſtopheles nimmt der Verf. viel zu 
grob, da er Fauſt ald einen rou& betrachtet, der nur genießen 
will und die Verachtung des Genuffes, die Kauft mit feinem Vor— 
ſatze des Genuffes zugleich äußert, als den Ausdruck vollftindiger 
innerer Dede darftellt. In Fauſt's Worten: Entbehren ſollſt du 
u. f. w. flieht er ganz faljch eine Unzufriedenheit mit feinem Ge— 
willen, das ihm im Genuffe Schranfen auferlege ‚ md von dem 
Hauptpunkte: Werd’ ich beruhigt je u. f. w. fagt er gar nichts. 
Doch der Aufſatz ift ein Fragment und verfolgt die Tragödie nur 
bis zum Anfang der Liebesgefchichte mit Gretchen. 

Wir müfjen und‘ erft nach weiteren Punkten umfehen, wo 
der Verfaffer Goethe's Naturanficht niedergelegt findet. Die Erz— 
engel, die er für Teibhaftige Wejen zu Halten feheint, iventificirt 
er doch zugleich mit dem Makrokosmus, fie feien es, meint er, 


83 


mit welchen Fauſt eine Verbindung ſuche, aber zu finden ver 
zweifle, weil aus biefem Nebelland Fein Uebergang zu den feligen 
Lichtſphären jener reinen Engelönaturen zu finden fei. Daher 
wird der Makrokosmus weiterhin als der Sonnengeift bezeichnet, 
weil die Engel durd die ftillen Einwirkungen des Lichts jchaffen. 
Da Bauft fich ihm nicht gewachien fühle, wolle er fich wenigftens 
aus „der Thierwelt“ heraus eine Brücke zum Simmel fchlagen, _ 
daher banne er den Erdgeift „oder den Mikrokosmus.« So ſcheint 

der Verfaſſer den Erdgeift zu nennen, weil er in ihm mit dem 
Naturleben unfered Planeten zugleich auch die geiftige Welt, bie 
ſich auf demſelben bewegt, repräfentirt findet. „Das gewaltige 
und vielgeftaltete Erduniverſum felbft; jener Brennpunkt aller 
Erſcheinungen, ver zugleih Meer, Berg, Sturmwind, Erd⸗ 
‚beben, iger, Löwe, Lamm, Homer, Phidias, Raphael, 
Newton, Mozart und Apelles, mit einem Worte, die größte 
thierifhe Beſchränkung und doch zugleih, wo nicht das Licht 
jelbft, doch die höchfte Annäherung zum Lichte in ſich enthält;« 
der Erdgeift hezeichnet fih aber unverkennbar felbft nur als Re⸗ 
präjentanten des Naturlebens unfered Weltkörpers. Uebrigens 
zählt ihn der Verfaſſer unter die Engel, weil die Achſenumdrehung 
der Erde auch im Gefang der Erzengel im Prolog genannt ift. 
Doch nicht ſowohl hier ift e8, wo der Verfaffer ung die Goethe’fche 
Naturanſicht vorzutragen Veranlaffung nimmt, fondern naments 
lich die Pudelſcene Hat er ſich hiezu auserfehen. „Goethe fängt, « 
fagt er zur Erſcheinung des Pudels, „bier an, eine magiſche, 
große Naturanficht, die alle Pflanzen, alle Thiere in Gott flieht, 
aufzuftellen.“ Fauſt's Schauer nämlich vor dem Thiere foll daher 
rühren, daß Fauſt (oder Goethe) in dem Pudel nicht bloß den 

6* 


84 


Pudel, fondern den Naturgeift überhaupt erblickt, ber alle Natur- 
weſen aus fich hervorbringt, alſo in jede einzelne Gattung der⸗ 
felben implicite auch alle anderen legt. „Fauſt vernichtet in feis 
ner Anficht die äußern Umriſſe jener Pudelmonade (den Ausdruck 
Monade nimmt er aus einem früher erzählten Geſpräche mit 
Goethe) und erblict ſodann in ihm nur den allgemeinen Feuer⸗ 
geift, der ihm ſchon einmal erſchreckte u. |. m.“ Ebenſo, wenn 
Mepbiftopheles aus dem Tiſche Wein fließen läßt, denkt Hr. Falf 
ernftlih an jene allgemeine Metamorphoje der Natur, die das 
Holz des Tiſches ſowohl als der Rebe bildet; wenn die Seren 
auf Befenftielen zum Blocksberg reiten, fo „läßt dieß feine an- 
dere Deutung zu, ald die urkundliche, daß dem allgemein erwachen⸗ 
den Reben der Natur, beſonders dem Alles verjüngenden Früh⸗ 
linge, es eigen ift, daß jeder Stock und jedes vertrodnete Reifig, 
zauberifch von ihm angerührt, in Berbindung mit Morgen- und 
Abendroth, feine groben Hüllen ſchmelzen und ein Pfirfich, eine 
Roſe oder eine Traube werden kann.“ Ich meines Theils, für 
ſolchen Tieffinn nicht gemacht, Habe bisher in dieſen Stellen 
nichts als eine Anlehnung an die Abjurditäten des Zauberglaus 
bens finden fünnen. 

No einige Bemerkungen über Einzelned. Zu der Iohan= 
neiſchen Stelle ift die Idee der ewigen Weltſchöpfung durch den 
Aoyos richtig beigebracht, nur durch grobfinnliche Austrüde ent- 
ftelt, wie: „Gott kann jeine Borftelungen zwingen, daß fie 
Dinge werden; ter belebende Hauch, wodurd der ewige Geift 
Bögel, Blumen, Thiere, Menſchen, die er zuvor gedadt, nun 
- als Erjheinungen ausathmet u. ſ. w.“ — Die Aeuperungen des 
Mepbiftopheles über die Logik gegen den Schüler deutet der Ver⸗ 


85 


faffer auf bie Theorie überhaupt, nennt biefe die Beichäftigung 
mit dem Getrennten, und fagt, das lebensvolle Genie wifle, daß 
alles Theoretiſche fein Ziel nothwendig verfehlt, und eben weil e& 
trenne, auch nicht im Stande fel, daß geringfte Ganze; fei es 
ein Pfirfichkern, eine Exbbeere ober ein Mückenfuß, auf feinem 
abgezogenen Wege bervorzubringen. Kann denn das die Praris? 
Denkt ver Verfaſſer Hier zugleich an hie Worte: Grau, theurer 
Breund, iſt alle Theorie u. ſ. w., die fo, viel mißbraucht werben, 
fo hat er vergefien, daß Mephiftopheles Hier ganz als Teufel 
ſpricht, und den Schüler von etwes Gutem, ber Theorie abzus 
Inden fucht. Mephiftopheles hat zwar immer halb Net und fo 
au bier, aber auch um Fein Saar weiter. — Ganz falſch wird 
Fauſt's Ausruf in Gretchen's Zimmer: Armſel'ger Fauſt, ih 
fenne dich nicht mehr u. f. w., al8 Ausbrug der Scham unb 
Meue über feine Verſunkenheit ind Sinnliche gefaßt, ba es ja 
vielmehr ein Ausruf der Vermunderung über die leidenſchaftlich 
ernfte Theilnahme feines Gemüths an einem Abentheuer ift, wo 
er vorher nur geradezu genießen wollte. — Noch ein gut Stüd- 
hen allegorifhen Deutelnd. Die Entzauberung der „ Handwerks» 
burſche/ (welcher Tuſch! Es find ja Studenten) in Auerbach's 
Keller wird al3 feenhafte Darftellung des Kagenjanmierd ausge⸗ 
legt (©. 304, 305). | 

Der Ion des Ganzen fft die behagliche Redſeligkeit eines 
Manned von reicher gefelliger Bildung und wohlmeinender Ges 
finnung, doch ohne freculativen Beruf; am liebften hört man 
den Verfaſſer über Lebensbilder, wie die Spaziergängerfcene vor 
dem Thore, ſprechen. Geine Ungewohntheit wiſſenſchaftlicher 
Darſtellung kommt öfters naiv zum Vorſchein, wie z. B. wenn 


86 


er zu ber Stelle: Wer läßt den Sturm „ber“ (muß ja’ heißen: 
zu) Leidenſchaften wüthen, das Abendroth im ernten Sinne 
glüh’n? bemerft:. „der Dichter vergleicht in diefer Stelle das 
Moraliſche mit dem Phyfiſchen, den Sturm, wie er die Blätter 
ber Weltgefhichte in Bewegung fegt, mit dem Sturme, welder 
die Blätter des Waldes durchrauſcht u. |. w.“ Der Dichter jagt 
bier von dem Dichter nicht, Daß er dad Moralifche mit dem 
Phyſiſchen nur vergleiche, fondern daß er das Phnfiiche als die, 
ihm ähnliche, geiftige Erſcheinung begleitend einführe, fo daß der 
Lefer oder Hörer unwillfürlih dad Naturphänomen ald Symbol 
des geiftigen oder ald Sympathie der Natur mit dem Menfchen 
anſchaut, wie z. B. der Sturm im König Rear. Nachdem er die 
nicht allzufchwer verftändlichen Gefänge der Erzengel gar zu jublim 
gedeutet hat, bricht er naiv ab: „Diefe Betrachtungen find aller= 
dings ſehr hoch und überfteigen faft alle menjchliche Faſſungs⸗ 
Eraft. « | 


Briefe über Goethe's Fauſt. Bon M. Enf. 
Wien, 1834. 


„Sie erinnern fich wohl noch des Jünglingd, der, als Sie 
mich das letzte Mal befuchten, zu mir ind Zimmer trat, um einen 
Eleinen Auftrag auszurichten, und bald darauf fich wieder ent= 
fernte. Sein intereffantes Geſicht fiel Ihnen auf durch einen 
fprechenden Zug von Melancholie, der fi darauf ausdrückte 
u. ſ. w.“ — Nun der intereffante Jüngling laborivt an dem 
Gefühle des Widerſpruchs zwiſchen Ideal und Wirklichkeit, er hat 


87 


„die warmen und lebensfriſchen Tinten erfalten ſehen“ u. f. w. 
Es giebt aber außer dem Schmerze über diejen Widerſpruch noch 
einen andern, den über die Zerftörung des fittlihen Ideals durch 
die graujame Welt. Das fittliche Ideal iſt das Ideal des Guten 
und Schönen; aber die Wirklichkeit, die Erfahrung zerftört den 
Traum der Liebe, der Freundſchaft, des hingebenden Vertrauens. 
Wodurch unterjcheidet ſich aber dieſes zweite Ideal von dem erften? 
das fittliche Ideal von dem Ideal? Gleich ein Stückchen von der 
Logik des Hrn. Berfaflerd. S. 3 ſcheint er-unter dem orſten Ideal 
das der Glückſeligkeit verftehen zu wollen. Dann fällt e8 entiweber 
mit dem folgenden zuſammen, oder die Glückſeligkeit fließt aus 
der Sittlichfeit, dann fällt e8 mit dem zweiten zufammen. Er führt 
nämlich nun einen dritten Grund interefianter Melancholie auf, 
den Schmerz über die Unzulänglichkeit unferer Intelligenz, das Uns. 
endliche zu erfennen. Bon einem ſcharfen Begriffe ift auch hier 
wieder nicht die Rede, denn der Verfaſſer confundirt mit diefem 
Schmerze den unbeftimmten über die Grenzen unferer Kraft über» 
haupt und geht ohne Zuſammenhang auf die Unvolllommenhelt 
unfered Strebend nach materiellen Zwecken über, auf die Hinder- 
niffe, die dem Bemühen um Macht, Beſitz u. f. w. durch bie 
Wechſelfälle des Glückes entgegengeftellt werden. 

Alle dieſe verſchiedenen Sorten von Schmerz concentriren fich 
in dem über die Unlösbarkeit der Frage nach den letzten Räthſeln 
des Lebens. Wo finden wir nun in dieſem Generalſchmerze Troſt? 
Im Glauben. Da haben wir's; der erſchütterte Glaube ſoll ſich 
durch den Glauben curiren. 

Nun — Fauſt leidet am höchſten Grade jenes Zerfallenſeins, 
namentlich an den drei legten Sorten von Schmerz. Die Rich⸗ 


88 


tung auf Erkenntniß, auf materielle und auf ſittliche Lebenszwecke 
vereinigt er in ſich. Das fittliche Streben tritt bei ihm freilich 
fehr in den Hintergrund. Defto entſchiedener ift fein Streben nad 
Erfenniniß; aber es tft ein reines, fonft wäre e8 undramatijch. 
(Undramatiſch wäre ed allerdings als ein bloß philoſophiſches, 
aber die poetifhe Belebung, das Pathos muß darum nicht durch 
Unterfhiebung heterogener und unmürdiger Triebfedern, wie mir 
dieſe bei dem Verfaffer unten finden werben, erft Hinzutreten, 
fondern liegt in ber Ungeduld und Leidenſchaft dieſes Strebend 
an ji.) 

Jet folgt ein Neft von Confufion und Unfinn, das ſchwer 
wiederzugeben iſt. Das rein Unfinnige kann man nicht darftellen. 
Do muß ich es verfuchen, und Eann dem Leſer dieſe Geduld⸗ 
probe nicht erlaffen. Diefe Kritiken wollen feinen Spetjezettel 
allgemeiner Prädikate — oberflächlich — ſcharfſinnig — tief- 
finnig — richtig — falſch u: ſ. w. geben, fondern ihr Urtheil 
aus einen Eintreten in den Inhalt ver Werfe, feier auch noch 
fo ſchlecht, entftehen laſſen. Es ift eine Art Höllenfahrt des Ver- 
ſtandes, um zu predigen den Geiftern im Gefüngniß (1. Petr. 
3, 19). 

Der Grundgedanke ift: ein wahres und reined Streben nad 
abjoluter Erfenntniß kann e8 gar nicht geben; einem DVerfuche, 
die Schranken unferer Erkenntniß zu überfiiegen, mangelt alled 
Bofitive, er ift bloß verneinender Natur, d. h. e3 kann damit 
gar nicht ernftlich gemeint jein, fondern er ruht auf bloß egoiſtiſchen 
und finnlihen Triebfedern. Dies erhabene Rejultat findet der 
Verfaſſer, indem er zuerft den Umfang der verfhiedenen Rich- 
tungen des Erkenntnißtriebes fcharffinnig jo zeichnet: „derſelbe 


89 


hat drei Richtungen: die Richtung auf das feientiflfche Wiſſen, 
inſofern dieſes das Nothmwendige und Nüsliche, wie dad Ange» 
nehme im Leben zum Gegenflande hat; auf die Kenntniß der 
Natur als Inbegriff aller äußern Erfcheinungen und ihres noth⸗ 
wenbigen Zufammenhanges, und auf die Erfenntniß der ſittlichen 
Natur des Menſchen und den Zufammenhang feines gegenwär- 
tigen Dajeind mit einem zufünftigen. Jede diefer drei Nichtungen . 
nun kann, wenn fie fi in den gehörigen Schranken hält, gar 
wohl zur Befriedigung gelangen. Die Berfühnung mit den unferer 
Erfenntniß geſetzten Schranken liegt nämlich bei dem frientififchen 
Wiſſen darin, daß dieſes für unfere äußeren Lebenszwecke, für 
diejenigen fowohl, welche dad Nothwendige und Nübliche, als 
für jene, welche das Angenehme zum Gegenftande haben, und 
ebenfo unfere Erfenntniß von der materiellen Natur, wie von 
der fittlichen des Menfchen für unfer Bedürfniß in unferem gegen 
wärtigen Zuftande fih als genügend ausweift, um und, aud 
innerhalb der unferm Geifte gefeßten Marken, eine hinreichende 
Befriedigung finden zu laſſen/ (der Sag fteht wörtlich fo da, 
man follte den Verfaſſer erft in die Kinderſchule ſchicken, um con⸗ 
ftruiren zu lernen). „Vermittelt aber wird dieſe Befriedigung 
nach jeder der angegebenen Beziehungen im Allgemeinen durch Das 
in unferer Natur liegende Wohlgefallen an dem Erreichten als 
errungenem, und an dem Erreihbaren als zu hoffendem Bells; 
bei unbefangener Erforſchung der materiellen, fo wie der ſittlichen 
Natur des Menſchen aber auch noch dadurch, daß dieſe, wie un⸗ 
vollkommen unſere Einſicht auch bleibe, uns jederzeit dem Glau⸗ 
ben an eine ſittliche Weltregierung zulenkt, und fo nicht nur dent 
Schmerz über unfere Beſchränkung feine Stachel nimmt, fondern 


90 


und auch mit der erhebenden Hoffnung erfüllt, daß unjere intellee- 
tuellen wie unfere fittlihen Kräfte im beftändigen Fortſchritt einer 
vollkommneren Entwicfelung entgegenreifen. « 

Wo ſoll man anfangen, diefen Knäuel zu entwirren? Davon 
will ich gar nichts jagen, -daß die erjte der drei angegebenen Rich⸗ 
tungen gar nicht in das Gebiet ber reinen Erkenniniß gehört, der 
Verfaſſer müßte denn unter dem Angenehmen das Schöne ver⸗ 
ſtehen; laſſen wir ihm das Vergnügen, bockene Händl, Kolbs⸗ 
ſchnitzl, Vögerl als einen der Gegenſtände des Erkenntnißtriebes 
anzuſehen. Die andern Gebiete nun, das Reich der Natur und 
des Geiſtes laſſen ſich, ſo meinen wir andern dummen Leute, 
erkennend nur durchdringen, wenn ſie als Offenbarung des Ab⸗ 
ſoluten begriffen werden, was freilich vorausſetzt, daß beide 
Sphären der Wirklichkeit als verſchiedene Stufen dieſer Offen⸗ 
barung in Einer Idee befaßt werden, deren Darſtellung in der 
Form des reinen Gedankens eine dritte oder vielmehr erſte Wiſſen⸗ 
ſchaft, die Metaphyſik, fordert. Der Verfaſſer aber hält nicht nur 
mit jenem platten, formaliſtiſchen Verſtande, der a. b. c. a. P.y. 
Ne ne 3 u. ſ. w. zählt, jene beiden Gebiete auseinander, fon- 
dern vollends von dieſem reinen Denfen des Abjoluten weiß er 
gar nichts. O ja doch, er weiß auch etiwad von der abfoluten 
Idee, denn die ethiſche Erkenntniß wird nach ihm „auch noch“ 
dadurch befriedigt, daß fie ung dem Glauben an eine füttliche 
Weltregierung „zulenkt/ und und mit der Hoffnung auf Unfterb> 
lichkeit erfüllt. Dies ſoll aber Feine Erfenntnig fein, jondern ein 
Glauben, eine Hoffnung bleiben, gehört alio gar nicht in das 
Gebiet der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß. Dies ſoll ſich der Ver— 
faſſer nur ja nicht nehmen laſſen, denn wollten wir Ernſt daraus 


91 


machen,’ daß dieſe Beziehung auf ein Unendliches weſentlich zur 
wahren fittlichen Erkenntniß gehöre, fo wären wir fo frei, es 
mit dem unbeftinnmien Begriffe einer fittlichen Weltregierung 
u. |. w. genauer zu nehmen und zu fordern, daß bie. Erfenntniß, 
wenn fie eine wahre fein mil, im Neiche ver fittlichen Wirklichkeit 
das Abfolute als wirklich gegenwärtig begreife, und das würde 
fih der Hr. BVerfaffer verbitten, ‚denn nur als ein Jenfeits für 
die Vorftelung Eennt er den abjoluten Inhalt der Idee, und er. 
würde fich, gäbe er mehr zu, wiberjprechen, denn fügleich ſtellt 
er nun die, durch das Bisherige fo tief begründete, Behauptung 
auf, daß jedes Streben der Erfenntnig, das die unendliche Idee 
zu begreifen fich erfühne, mvernichtenn der Vernichtung zuftrebe, * 
d. h. daß jedes ächt philofophiiche Streben ein Tügnerijches, ſchlechtes 
und verwerflihes fei. . 
Wer jene elende, Gpikuräifche und unphiloſophiſche Befries 
digung verachtet, wer die Welt in ihrer Einheit mit der abfoluten 
Idee erkennen will, der fieht nach dem Verfaſſer in der Natur 
bloß eine verworrene Mafje, denn er kann „weder die Natur 
nach ihrem innern Zujammenhang als ein felbftftändiges Ganze 
erfaffen, noch den Bruchftücen feiner Einficht in diefem Zuſam⸗ 
hang durch die Beziehung auf die Idee einer Gottheit eine fichere 
Bedeutung abgewinnen,“ ihn „mangelt eine Alles zur Einheit 


verfnüpfende und durch fich felbft abſchließende Idee,“ vie Dagegen 


unfer befcheidener Philofoyh vom Wurftiproter in feiner Kinder⸗ 
vorftelung befitzt. Ebenſo fol dem, der die ſittliche Natur zu 
erkennen ftrebt und dabei die oben von Verfaffer geſteckten Gren- 
zen überfliegt, die ausgleichende Idee einer fittlichen Weltregierung - 
und ebendamit aller Ernft und Gehalt des Strebens abgehen, 


92 


Ich Binder meinte, eben gerade der, ber auf bie unendliche Er⸗ 
kenntniß verzichtet, habe dieſe Idee nicht, und der Philoſoph, 
ber das Abfolute zu begreifen firebt, habe fie. Aber was willen 
wir dummen Leute! Der Verfaſſer ficht tiefer, denn er bat, 
indem er voraußjegt, was zu beweiſen war, vornherein (mim 
Vorbinein« mit dem Hrn. Berfafler zu ſprechen) unter dem , der 
nad abjoluter Erkenntniß ftrebt, bereits einen Irreligiöfen verſtan⸗ 
ben, dem ed gar nicht Ernft ift, den niedrige Triebfebern treiben, 
denn „wie kann das Unerreichbare# (quod erat demonstrandum). 
„für den Erfenntnißtrieb Ziel eines pofitiven Strebens fein, wenn - 
es fich diefem als ein Linerreichbares mit ſolcher Entſchiedenheit 
barftelt, wie das überall bei den außer dem Bereich unferes Er⸗ 
kennens Tiegenden Objecten der Fall ift?« 
Es giebt aljo zwei Welten, eine Welt, tie man mit Händen 
greifen kann, und eine Welt, die außerhalb unſeres Bereiches 
legt. Zwiſchen Beiden iſt ein Bretterverfchlag, Mauer, Riegel 
wand ober fo etwas; mer durch die Mauer will, der hat feinen 
wahren Erfenntnißtrieb, es ift nur „ein leidenſchaftliches Unge⸗ 
ſtümm, fein pofitives Hinausſtreben/ über die Riegehvand. Wer 
bier mit dem Kopfe durch will, der ftrebt nicht nach Erfenntnip 
„un ihrer jelbft milfen.“ Ich Hatte wieder gemeint, gerade der 
firebe nach dieſer, und der Andere, der auf reines Erfennen ver- 
zichtet, firche nach Erfenntniß nur um in Ruhe feine Carbonaden 
zu verzehren. Nicht jo der Hr. Verfafler: Fauſt, weil er nad 
ſchrankenloſer Erfenntnig ftrebt, ift vom puren Egoismus getrie= 
ben. In Fauſt's Magie, in der herrlichen Scene mit dem Erd⸗ 
geifte, in jenen Monologen vol beiligen Schmerzes, im Selbſt⸗ 
morbverjuche ficht er nur mtitaniichen Hochmuth, unerſättliche 


93 

Genußgier / und zieht Durch eine unverzeihliche Anticipatton Fauſt's 
Aeußoerung bei dem Abſchluß des Contractd mit Mephiftopheles 
„Laſſ' in den Tiefen der Sinnlichfeit uns glühende Leidenſchaften 
ftillen u. |. w.“ ſchon bier herauf, wobei er freilich nicht merken 
will oder nicht merkt, daß gerade In demjelben Zufammenhang 
Bauft zugleich jeine Verachtung des Sinnengenufjes ausſpricht. 
Fauſt ift nicht ohne Schuld, das liegt freilich Flar am Zuge; er 
überfpringt die Mittel des Erkennens und mil fchauen, ohne zu 
denken, zu erperimentiren. Dies ift die Ungeduld eines feurigen 
Temperaments, das ebendaher allerdings nach Lebensgenuß dür⸗ 
ſtet, und daran packt ihn nachher Mephiftopheles, aber darum ift 
fein Streben nach höchſter Erfenntniß nicht minder rein, heilig 
und göttlih. Hat denn diefe Seele Feine Ahnung davon, daß 
man entweder nichts oder Alles erfennen fann? | 
Kein Gefühl für jene ſchmerzlich tiefe Sehnſucht, die urſprüng⸗ 
liche Einheit des Ich mit dem AN der Gegenftände in Liebesinbrunft 
reiner Betrachtung wiederherzuftellen? Der Denker, der in tiefem 
Sinnen Mitternächte bei der einſamen Lampe heranwacht, der ift 
feine erhabene Erjcheinung, der thut nur fo, der denkt: Hätt’ 
ich auf Morgen ein Seidel Tofayer zum Frühſtück, eine hübſche 
Dirne bei mir, und einen Orden am Rod? 

Auch die ethiihen Tragen nah der fittlihen Beftimmung 
des Menſchen, dem Zufammenhang ded gegenwärtigen Lebens 
nit dem Fünftigen und dem Daſein einer moralifchen Weltordnung, 
haben Fauſt niemals ernftlich beſchäftigt. Ja wohl nicht! weil 
er nicht der ſeichte Kopf ift, der von den höchften Problemen fi 
durch folche moralifche Gemeinpläge loskauft. 


94 

Endlich ift Kauft über die Beſchränkung feiner finnlihen 
Natur mit ich zerfallen. Hier, wo ed gilt, den Don Juan in 
Fauft, der ein AU der Genüffe zu durchwühlen dürſtet, und der 
allerdings eine Seite von Fauſt ift, aber nicht, wie der Verfafler 
meint, der ganze Kauft, wird e8 Hrn. Enf erft recht heimathlich 
zu Muthe, und feine Schilderung eines Genußhelden ift wohl 
Immerhin die gelungenfte Parthie in diefem Wiſch. Bauft erfeheint 
nun als ein geiftreicher rou6, der eine Linendlichkeit ber Genüſſe 
anftrebt, aber „nur noch“ den Drang einer immerwährenden 
Aufregung übrig bat. So tief konnte der Berfaffer diefen Charak⸗ 
ter, ſo tief bie Bedeutung der Worte verkennen: Du hörſt es 
ja, von Freud' iſt nicht die Rede .... zerſcheitern. Wenn 
Fauſt's Sinnlichkeit durch den Hexentrank verjüngt und aufgereizt 
wird, fo meint er, ſie bedürfe ein ſolches Stimulans, weit fie 
durch Genüſſe abgeftumpft fei, da doch der Flar und baar vor⸗ 
liegende Sinn der Tragödie ift, daß fie im Stubirjeffel verſchüch⸗ 
tert war. Wo fteht denn ein Wort davon, dag Fauſt ſchon vor⸗ 
ber ein Genußmenjch war? 

Sp bat aljo der Verfafler herausgebracht, daß in Fauſt, 
deilen Wejen nichts als Hochmuth und Genupgier ift, durchaus 
fein poſitives, jondern nur die Nernichtung jedes pofitiven Stres 
bens durgeftellt, daß „die Tragödie nur wegen des Umfangs und 
der Tiefe ver Darftellung des Zerſtörens und Vernichtens von 
allem innerhalb der Grenzen ver Menjchbeit Liegenden ein Riefen- 
werk zu nennen if.“ 

Die reine Verneinung if aber als bloße Abipannung unpoe⸗ 
riſch. Der Dichter wußte ibr jelbſt wieder einen Schein der Be- 


95 


jahung zu leihen, Indem er fie als ſelbſtbewußtes Streben, zu 
vernichten und zu zerftören, barftellt: jo conſtruirt unfer Philo- 
foph den Mephiftopheles. Derſelbe repräjentirt Fauſt's Gemüths⸗ 
Lage, fo jedoch, daß er, was Kauft ald Menſch nicht kann, das 
Bernichten und Verneinen als ſolches, will. Seine Abficht it, 
in Bauft jeden lebten Eräftigen Aufſchwung zu erſticken und ihn 
ganz and Gemeine zu feileln. Schon gut; mas aber bei dem 
Pertrage mit Mephiftopheles Fauſt will, davon hat natürlich der 
Verfaſſer Feine Ahnung, keinen Begriff davon, daß Fauſt feine 
Freiheit im Schiffbruch erproben und retten will, daß bier der 
Geiſt im Bewußtſein feiner Unendlichkeit mitten durch fein Ent» 
gegengeſetztes frei hindurchzuſteuern ſich erkühnt. Die Liebe zu 
Gretchen iſt mein fruchtloſes Auflodern“ feiner ſchon vorher ganz 
verjunfenen Natur. Fauſt faßt diefe Liebe tiefer und reiner, als 
Meyhiſtopheles wünſchte, aber die Rückkehr zur Contemplation 
in Wald und Höhle ift ein Verſuch, von diefer Leidenfchaft, die 
ihn jedenfalld in eine eines fo ftrebenden Geiſtes unwürdige Bes 
ſchränkung zu bannen droht, fich zu befreien; Hr. Enk aber rech⸗ 
net dieſe Scene mit feinem uns ſchon bekannten Scharfſinn zu den 
Paroxysmen dieſer Leidenſchaft jelbft (S. 40). | 

Daß Fauft dennoch am Schluffe gerettet erfcheinen müſſe, 
konnte fih der Verf. ſchon gemäß dem Prolog im Simmel nicht 
verbergen, der zu dem Grhaben„dften gehört, was die deutſche 
Poeſie beſitzt. Blieb das Gedicht Fragment, fo Eonnte es, giebt - 
er zu, bet einer Andeutung dieſer Rettung ſein Bewenden haben; 
ward es ausgeführt, ſo war das Wie derſelben darzuſtellen. Frei⸗ 
lich iſt er nun aber in beiden Fällen in großer Verlegenheit um 
den Dichter; denn da er (Hr. M. Enk nämlich) aus Fauſt einen 


96 


volftändigen Lumpen gemacht hat, fo flieht man nit, was denn 
da zu retten ſei und wie; das Reſtchen guten Willens, das biefer 
Fauft wie jeder Tropf noch aufzuweiſen hat, reicht natürlich nicht 
“aus, an ihm gerade ein jo bejonberes Exempel der Großmuth 
zu flatuiren. So weit geht num unfer heiterer Kopf in feiner hor⸗ 
renden Naivität, daß er den Widerſpruch, in melchen er felbft 
durch feine werfehrte Deutung mit der fonnenklaren Intention des 
Gedichts gerathen ift, flatt ihn nun einzufehen und fi) auf die 
Rechnung zu fchreiben, dem Dichter auflädt. Zu den Worten: 
Ein guter Menſch in feinen dunkeln Drange ift ſich des rechten 
Weges wohl bewußt, jagt er: „Das ift nicht der Kauft des Dich» 
terö! Geftehen Sie” (er eorrefpondirt mit einem Freunde, gegen 
den er, wenn er ihın nicht Alles zugiebt, gelegentlich jehr grob 
ft, wie S. 45), „bier ift ein Widerſpruch, der fich nicht wohl 
löſen läßt.“ Ja wohl ift einer da! 
In diefer Verlegenheit läßt nun der Schelm und Unglüdliche 
fteben umd gebt nun fo mir nichts bir nicht3 zum zweiten Theil 
- über. Doch nein, er fpricht jogleich von dem fünften Acte deſſel⸗ 
ben, weift die Anknüpfung an den Prolog im Himmel nach, wirft 
abet Goethe vor, daß bis zu dieſem die Darftellung von Fauſt's 
Gemüthölage gar nicht fortfchreite, — was wir zugeben, — und 
daß Fauſt nach allen Vorhergehenden nicht gerettet werden Eünne, 
vielmehr Mephiftopheles feine Aufgabe volftändig gelöft habe, — 
„was Niemand, der bei Sinnen ift, zugeben wird. Fauſt erjcheint 
ja zulegt bemüht um die Grreihung edler praftifcher Zwecke, er 
zeigt fich alfo ald ein Strebender (der Verf. überfieht ganz die 
wejentlihen Worte: Wer immer ftrebend ſich bemüht, den können 
wir erlöfen),, und kann gerettet werben. Daß Fauſt bis dahin 


97 


gar nicht Handelt und weder gut noch böfe, fondern eine Allegorie 
iſt, das ift wieder ein anderer Punkt, und wir geben dem Verf. 
jeden Vorwurf herzlich gern zu, den er fonft gegen biefen zweiten 
Theil erheben mag, ja wir loben ihn aufrichtig, daß er unter 
den Wenigen ift, die hier ein tadelndes Urtheil wagen. Hier hat 
ihm fein Sinn für dad Feſte und Greifbare weſentlichen Vorſchub 
geleiftet, er bringt ©. 67 bis 69 ganz brave Eritifche Bemerkun⸗ 
gen vor. | 


„Ob ich diefe Briefe veröffentlichen werde? Vielleicht. Ich 
geftehe Ihnen, daß ich mich ſtark verfucht fühle“, jo beginnt der 
legte Brief, worin der Verf., da er ja Über die Tragödie fo er- 
ſchöpfend gefprochen hat, fih noch zu allerhand gebiegenen Bes 
merkungen über die neuere Litteratur Zeit nimmt. 


Goethes Fauft, Andeutungen über Sinn und Zuſam⸗ 
menhang des erften und zweiten Theils ber Tragödie, 
von Dr. 5. Deycks. Koblenz, 1834. 


Des Verf. Hauptabficht iſt, den poetifhen Werth des zweiten _ 
Theils und feinen innern Zuſammenhang mit dem erften gegen 
feine Tadler, namentlich Enk, zu behaupten, zu beweiſen, daß 
„beide Theile der Tragödie ald wahres Kunftwerf fih abrun= 
den.“ Manches Einzelne freilich nicht nur im zweiten, ſondern 
auch im erſten Theile, meint er, fei fo väthielhaft, daß man 
ein Debipus fein müßte, um darüber gang in’8 Klare zu fommen. 
Das ftört ihn aber nicht im Geringſten in feinem ägyptifchen 
Götzendienſt. ©. 27 fagt er: „daß Goethe den Gedanken nicht 

Kritiſche Gänge 11. 7. 


98 


ausgeführt, in einem Gommentar bie Bedeutung biefer Anfpie- 
Jungen (in Oberon's und Xitania’8 goloner Hochzeit u. f. w.) zu 
enträthfein , tft in nem Grabe täglich mehr zu beflagen,, als wir 
und von jenen Seiten und deren Getriebe mehr entfernen. Wer 
verſtünde ohne den Scholiaften nur Eine Scene im Ariftophanes?« 
Daher macht er auch dem Gedichte einen Vorwurf, wenn er ſich 
oft unfählg befennen muß, feine Räthſel zu deuten (z. B. S. 34). 
Ih habe hierüber nach den Bemerkungen meiner Einleitung nichts 
zu jagen. Goethe darf ſich freilich felbft über die Zumuthung nicht 
beklagen, daß er wie der ehrliche Melchior Pfinzing feinen allego- 
riſchen Hauptleuten Fürwittig, Unfalo, Neivelhardt, die Erklärung 
hätte anhängen follen: „iſt ein Poeterey und bedeut't u. f. mw.“ 
Der Verf. giebt zuerft eine flüchtige Skizze vom Inhalte des 
erften Theild und hebt in feinen Bemerkungen zum Contracte den 
Punft richtig hervor, worin allerding3 die innere Einheit des 
erften und zweiten Theils zu fuchen ift: Fauſt kann nicht unter» 
geben, weil auch im Taumel der Sinnlichkeit fein hohes Streben 
nicht erſtirbt. Dann follte er aber auch den Ausdruck vermeiden, 
dag ver Bund mit Mephiftopheles ein feierliher Abfall von 
Gott fei; dies ift er nach der Sage, nicht nach der Tragödie. 
Einzelnes faßt er unrichtig ; fo glaubt er in Fauſt namentlich eine 
dichteriſche Natur zu erfennen, wovon doch Fein Wort im Ge- 
dichte fteht, man nehme denn den Ausdruck fo weit, daß er über- 
haupt das Poetiſche in jeder Art von Oenialität bezeichnen fol. 
Nachher ſcheint es, dieje Bemerkung beziehe fich auf die Vermäh⸗ 
lung Fauſt's mit Helena. Fauſt bedeutet aber in dieſer nicht bie 
romantiſche Poefle, fondern das romantijche Princip überhaupt. 
Gar nicht verftanden habe ich, wenn es Seite 22 von Fauft heißt, 


99 


in feinem Streben nach fortgefeter, Alles umfaſſender Thaͤtigken 
bemerfe derſelbe weniger die furchtbare Großartigfeit ver Natur- 
fräfte, der Drang nah Wahrheit mildere fich durch bie Luft am 
Truge. Irriger Weije meint ver Verf., Fauſt's Untreue gegen 
Gretchen jei ein Werf des Mephiftopheles ; Mephiſtopheles lockt 
ihn ja von feinen Gontemplationen in Wald und Höhle zu Gret- 
chen zurüd, weil dieſe Liebe, obwohl nicht blos finnlich, als eine 
Beſchränkung in ein eng befrievigted Leben ganz in feinem In⸗ 
tereſſe tft. Allerdings wünſcht er, dadurch, daß er Kauft noch länger 
an Grethen feſſelt, die Schmerzen ber fpäter doch nothwendigen 
Trennung, dad Elend Gretchen's und Fauſt's Schul um fo 
mehr zu fteigern. Iene Scene in Wald und Höhle mußte freilich 
dem DBerf. unverftanden bleiben, da er den Ausruf: Erhabner 
Geift, du gabft mir, gabft mir Alles u. f. w. als ven Ausdruck 
glücklicher Liebe anfteht. 

Im zweiten Theile fol nun Bauft durch größere und beveu- 
tendere Verhältniſſe fich durcharbeiten. Cine Reihe großer Welt- 
erfcheinungen, Hof und Staat, Krieg und Schlacht u. f. w. 
gehen an unjerem Blicke vorüber. Noch ehe der Verf. unterfucht 
hat, ob ed dem Dichter geglückt ift, diefe Intention durchzuführen, 
bricht er in ein Lob diefes zweiten Theild aus: „Nicht nur glei 
fteht der zweite Theil dem erften an Geift und Gehalt, er über- 
trifft ihn fogar an Ideenfülle/ u. |. w. Ich mag diefe Apoftro- 
phe nicht meiter abfchreiben. Ideenfülle? Ja, der zweite Theil 
hat mehr Ideen, aber es kommt darauf an, ob ed Ideen find, 
die, in fich ſchon beftimmt und concret, unmittelbar die äfthetifche 
Darftellbarkeit mit fi$ führen, oder Ideen, tie, in abjtracter 
Allgemeinheit belafen, nur ven fabenfcheinigen Rock der Allegorie 

7 » 


100, 


vertragen. Wie klar aber der Verf. über diefe und ihren Unter- 
fchied von der wahrhaft poetifchen Geftalt denft, beweift er ©. 65, 
wo er: zugtebt, daß die Gebilde der claſſiſchen Walpurgisnacht 
Allegorieen feien, und dieſe befinirt als „Begriffe in finnlicher 
Form.“ Die Kleinigkeit, welches DVerhältniß zwijchen Begriff 
und finnliher Form in der Allegorie ftattfinde, welches in ber 
Achten Poefte, befümmert ihn nicht. Er unterläßt aber nicht, und 
eine weitere Probe feiner äfthetifchen und logiſchen Bildung zu 
geben. Alle Poeſie, führt er fort, ift auf ihrem Gipfel Sinnbild 
der Natur. Sinnbild — was heißt das? Iſt der Sinn mit den 
Bilde nur durch ein tertium comparationis verbunden, oder ihm 
einverleibt und iventifh mit Ihn? Darauf kommt es ja erft an. 
Was der Verf. fo eben Begriff genannt hatte, nennt er jegt 
Natur. Was fol das heißen? Die Natur (die finnliche Form) 
ift ja vielmehr in der Poeſie Bild des geiftigen Inhalt? (mag 
derſelbe meinetwegen Begriff genannt werden). So naiv ift der 
Berf., daß er Solger’3 Definition für ſich anführt: vie poeti= 
ſche Darftellung fei die Ironie der Natur. Dieſe befagt ja eben 
das Umgekehrte, nämlich: in der poetifchen Darftellung fei ein 
Natürliches geſetzt, aber ironiſch gemeint, d. h. nicht als Solches, 
ſondern es bedeute etwas Anderes, als Natur, nämlich etwas 
Geiſtiges. Allegorieen, fährt er fort, entdecken wir beſonders 
in Goethes ſpätern Werken, während die früheren faſt alle durch 
ein ungelöſtes Räthſel reizen. Da wären ja bie früheren allego⸗ 
riſch, denn die Allegorie ift es, die ungelöfte Räthſel zurückläßt. 
Menn er übrigens weiter von der Allegorie überhaupt die wirf- 
liche Allegorie fo unterfcheivet, daß er unter diefer die Verbin- 
dung mehrerer bedeutender Geftalten zu einer Handlung verftan- 


101 


ten wijjen will, bie jelbit wieder einen tieferen Inhalt ſpiegle, 
fo ift etwas Wahres daran. Ich kann zwar mit der auch fonft 
aufgenommenen Unterfcheldung zwifchen Symbol und Allegorie, 
daß die leßtere mehrere Symbole zu dem Succeifiven einer Hand 
lung vereinige, nicht fchlechtiveg übereinftimmen. Allgemein pflegt 
man auch ein ruhendes einzelnes finnlihes Ding, das nicht fich 
felbft, fondern durch ein mwillfürliches tertium einen anderweitigen 
Begriff bedeutet, Allegorie zu nennen. Im Symbole findet dafs 
felbe Außerliche und bloß vergleichende Verhältniß zwiſchen Idee 
und Bild ftatt, wie in der AUllegorie, und man kann deöwegen 
fireng genommen bie achte Poefle, welche Bild und Idee zur 
reinen Identität verſchmelzt, weber ſymboliſch, noch allegorifch 
nennen. Der Unterfchied zwifchen beiden ift nur der, daß das 
Symbol, ein gemeinfames Erzeugniß der religiöfen Phantafte 
einer Maſſe, die Idee mit dem Bilde in bemußtlofem Glauben 
zu ibentificiren gewohnt ift (obwohl dieſes jene bloß anbeutet), 
die Allegorie aber die Erfindung der fünftlichen und ſich vollfom- 
men bewußten Neflerion eines Einzelnen ift. Daher, obwohl 
weder das Symbol noch die Alfegorie wahrhaft poetifch ift, kann 
doch das erftere durch feine Entftehung im Elemente der Naivität 
weit eher einen poetifchen Eindruck hervorbringen. Der Einzelne 
nun, der eine Allegorie erfindet, wird im Gefühle, daß ein 
Begriff durch ein todtes Ding nur unvollftändig angedeutet wird, 
gern eine Reihe von einzelnen Allegorieen zur Succeffion einer 
Handlung verbinden, um den’ Begriff erfchöpfender zu verfinn- 
bildlichen, inden je der folgende Zug den vorhergehenden und fo 
alle einander ergänzen und erklären. | 

Uebrigens muß ich bier zu den Vorwürfen gegen ben zweiten 


102 


Theil, die ih in der Einleitung ausſprach, noch den weiteren: 
fügen, daß Goethe, nicht zufrieden, Allegorie auf Allegorie ge⸗ 
häuft zu haben, die immerhin noch eine Idee von allgemein menſch⸗ 
lichem Intereffe in fich verbergen mögen, Gegenftände nackter 
Gelehrſamkeit, wie die Frage über die ſamothrakiſchen Götter und 
ben Streit des Neptunismus und Bulcanismus, in fein Gedicht 
hereingezogen und unter einem Krame antiquariihen Apparats 
verftect hat. Der Gelehrſamkeit, die der Verf. zur Erklärung 
ber claſſiſchen Walpurgisnacht aufbietet, mag ihre Ehre bleiben, 
aber daß er Fein Gefühl dafür hat, wie troftlos ed mit einem 
Gedichte auöfteht, das für die Mitwelt oder nächfle Nachwelt der 
eigenen Nation und für die Maſſe nicht bloß, fondern auch für bie 
Gebildetſten einen ſolchen Kram erfordert: dadurch legt er einen 
vollen Beweis ab, daß er gar nicht weiß, was Poeſie ift. 

In der That, wenn es fo fortgeht, wie es bei folchen Aufyt- 
cien das Anfehen hat, wird fie bald wieder in der alten Pracht 
auffteigen, die Zeit Bernint’3 , die Zeit Le Notred, die Zeit ber 
Zöpfe, die Zeit gepuderter Berrücden, drauf Pfalzgrafen Lorbeern 
drücken! 

Wie die andern Erklärer, ſo lobt auch Deycks die Schönheit 
des dritten Acts, der antiken Verſe namentlich, die mir jedoch 
ſo verkünſtelt und undeutſch erſcheinen, als Solger's holperichte 
Ueberſetzungen, und in den Sprachformen ganz demſelben ver⸗ 
wünſchten Style huldigen, den ich in der Einleitung ſchilderte. 
Goethe that ſich auf die Allegorie des dritten Actes etwas Beſon⸗ 
deres zu gute und hatte dieſe Conception allerdings noch in kräf⸗ 
tigeren Jahren gefaßt: allein es iſt und bleibt ein Mißgriff, und 
wir haben ja mehr Beijpiele, daß große Naturen ihr Beſtes ſorg⸗ 


103 


108 und anſpruchlos auöftreuen und auf ihr Verfehltes eitel find. 
Die Helena der Volksſage vom Zauberer Fauſt zu einer Alle 
gorie der Verbindung des romantiſchen und claſſiſchen Princips 
zu benußen, Jag fehr nahe, auf für einen ganz gewöhnlichen 
Koyf. Was aber die Helena in der Volköfage will, hat Goethe 
ſchon in Gretchen gegeben. Man fage nun immerhin, Selena 
trete bier Eeineswegs als bloße Allegorie auf, fie erſcheine wirk⸗ 
ih und lebendig aus dem Hades wieder. Das ginge noch ; aber 
nachher bedeutet fie in Allem, was mit ihr gefchieht, bie claſſiſche 
Bildung überhaupt, es gehen Dinge mit ihr vor, denen man 
es alsbald an der Stim anſieht, daß es fich bier nicht um diefe 
Perſon, fondern um einen Begriff handle, und fie wird alfo zur. 
reinen Allegorie verflüchtigt. \ 

Ob der Verf. in der Deutung einzelner Stellen dieſes zweiten 
Theils glücklich oder unglüdlich geweien, geht und nichts an. 
Zum fünften Acte weift er richtig nach, wie Fauſt durch groß- 
artige Thätigkeit ſich der Erlöfung würdig macht und fo ber 
Schluß zum Prolog und zur Contract⸗Abſchließung zurückkehrt. 
Zwar legt er zu viel Werth darauf, daß Kauft am Ende feiner 
Tage den Zauber verwünfeht, inden er glaubt, ſchon durch dieſe 
Aeußerung des Fauſt habe Mephiſtopheles die Wette verloren, 
aber deſto gewiſſer hat er Recht, wenn er die edle Thätigkeit 
Fauſt's und ſeinen Willen, daß das Gute und Rechte beſtehe und 
daure, als hinlänglichen Grund ſeiner Rettung bezeichnet. Daß 
dieſer rationellen Löſung der Aufgabe der chriftlich = Fatholifche 
Schluß widerfpricht, bemerft er nicht. Ganz richtig fühlt er zwar, 
daß ein Schluß im Firchlichen Sinne bei Fauft auch Neue und 
Buße voraußfegt, er fügt hinzu, daß nad dem wahren Ehriften- 


104 


thum der Äußerliche Act ver Fürbitte Kauft nicht vetten Eönne, 
allein er zieht den Schluß nicht, daß Goethe, da er das wahre 
Chriſtenthum durch die Tendenz des ganzen Gedichts und befon- 
ders den letzten Auftritt in eine vernünftige Thätigfeit ſetzt, über⸗ 
haupt die theologifch pofitive Schlußwendung, deren Confequenzen 
einmal mit diefem rationellen Chriftenthum fich nicht vertragen, 
hätte vermeiden und eben bereitö in Fauſt's redliches Kämpfen die 
Befeligung fegen müflen. Geht's ihm drüben gut, ſo muß er ja 
auch dort kämpfen, denn wo tft Gutes ohne Kanıyf? Ganz 
glücklich führt der Verf. für diefe Idee den Vers aus dem weft- 
öftlihen Divan an: 

Nicht fo vieled Federlefen ! 

Laßt mid Immer nur herein! 


Denn ich bin ein Menfch gewelen, 
Und dad Heißt ein Kämpfer fein! 


Der Prolog im Himmel eröffnet allerdings fogleich dad Ges 
dicht in der Weiſe der religiöfen Vorflellung, in welcher auch ber 
ganze Mephiſtopheles wurzelt, allein jener Prolog ift fo geiftig 
und frei von allem pofitiven Schnörkelwerke, Mephiftopheles 
ebenfall3 in feiner Art jo ideell, daß man am Schluffe nichts 
weniger ald in eine gothijche Capelle einzutreten und Weihrauch 
zu riechen gejtimmt ift. Das poſitiv kirchliche Chriſtenthum wirft 
als ein Jenjeitiged und Künftiged in Raum und Zeit hinaus, 
was nach dem rationellen mit dem Dieſſeits zufammenfällt ; ein 
Gedicht, das ſchon durch die herrliche Stelle des Contractd: Das 
Drüben kann mid wenig kümmern u. f. mw. ſich ganz auf ven 
Standpunkt der Dieffeitigkeit erhoben bat, darf am Schluffe nicht 
auf den ber Senfeifigkeit zurückſinken. Hat übrigens der Berf. doch 


— 


40% 


die Einheit der Grundidee des erften und zweiten Theils richtig 
nachgewieſen, fo ift ihm dagegen die fihlechte Fortführung , bie 
zwifchen dem Ende des erfien und zweiten Theils Liegt, wie wir 
ſahen, völlig entgangen. 


Briefe über Goethes Fauſt. Erftes Heft. . Von 
C. G. Carus, Reipzig, 1835. 


Die Grundidee der Tragödie wird richtig gefaßt, Indem als 
Inhalt derſelben hervorgehoben wird: die Menichenfeele in ihrer 
innern Göttlicfeit, wie ſie durch taufend Irrfale hindurch ihrer 
göttlichen Befriedigung mit bewußtloſem Zuge entgegenftrebt, was 
der Verf. glüdlich auch „das genetifche Princip alles ächten See⸗ 
Ienlebend«, das „Frühlingsmäßige im Kauft, die „ Elafticität« 
der menfchlichen Seele nennt. Mit gefunder äfthetifcher Einficht 
räumt er ein, daß dieſe Ivee in Kauft trefflich, aber nicht voll- 
kommen dargeftelt, daß die Tragödie mehr beendet ald vollendet 
fei. Schöne Bemerkungen über den Werth und die verfühnenden 
Wirkungen edler Weiblichkeit Enüpft er an Gretchens Charafter. 
Hätte er nur feine Sauptidee tiefer nachgewieſen, gründlicher durch— 
geführt, fo würde man ihm dafür feine fentimentalen Einleitungen 
zu jedem Briefe und den ganzen pretiöfen Ion, in welchem er 
fehreibt,, gern erlaffen. Ob der eine diefer Briefe am zweiten 
: Weihnachtöfelertage 1834 Abends, oder am Bimbimberlestag 
Morgend, der andere am 4. Febr. Abends in einer mohnlichen 
und eleganten Stube, oder am Pfeffertag im Holzſtalle geichrieben 
ift, kann uns fehr gleichgiltig fein. Aber ſolche Sächelchen erläßt 
und der füße Dann nicht, der ganz wie Schubarth in den Styl 


106 


des Soethifchen Altweiberſommers fich hineinfriſirt hat, Er fpricht 
von treulichftem Anſchließen, führt uns Gedankenzüge heran, 
fpricht von ſich darlebenden Ideen (dad ſich Darlehen ift überhaupt 
das andere Wort), von einer Einwirkung höchſten weiblichen Prin- 
cips, von einzelnen lichvollſten menſchlichen Naturen und unters 
ſchreibt: treulichft Carus, 





Goethes Fauft. Meberfichtliche Beleuchtung beider Theile 
zur Erleichterung des Berflänbniffes, von W. E. Wer 
ber, Profeffor, Director der Gelehrtenfchule zu Bre⸗ 
men. Halle, 1856. | 


Das Büchlein Hat manches Brauchbare und bringt Died in 
bequemer, anfpruchlofer Weife vor. Hätte der Verf. gefagt: auf 
die Deutung des tieferen Gehalts der Tragödie will ich verzichten, 
mein Zweck ift, euch brauchbare Notizen zu geben, um euch im 
Heußerlihen, was zur Scenerie u. |. w. gehört, zu orientiren, 
fo würden wir den Manne Dank wiffen. Aber er geht auf die 
Idee ein und, wiewohl er fie nicht ganz verfehlt, verbünnt er 
fie Doch durch die Vermäfferung , die jede Idee unter den Händen 
bed gemeinen Menfchenverftandes zu erdulden hat, daß man fie 
kaum erfennt. Gehen wir, diefen Vorwurf zu begründen, fo» 
gleich auf den Mittelpunkt zu. 

Dan Tann Goethes Fauſt immerhin eine Theodicee nennen, 
wenn man nur nicht vergißt, eined Theils, daß Dies keineswegs 
fo genommen werden darf, als wollte Goethe in der Weiſe des 
Lehrgevichtd die Frage der Theodicee, dürftig eingekleidet, abs 


107 


handeln ,. andern Theils, daß die Brage nach dem Verhältniſſe 
des Böfen zur göttlichen Weltregierung, wie der Prolog im Him⸗ 
mel fie ftelt und beantwortet, nur den allgemeinen Hintergrund 
bildet, und erft der beſondere Angriffäpunft, ten Fauſt dur 
feinen individuellen Charakter dem Böfen barbietet, jener ab⸗ 
ftracten Idee die Concretion giebt, wodurch fle äflhetifch darſtellbar 
mird. Sehr fhüchtern geht nun der Verf. an jene Brage. „Dan 
kann behaupten, fagt er, daß es Feine größere Gottesläſterung 
giebt, als den Verſuch einer fogenannten Theodicee, d. h. eines. 
Beweiſes, daß Gott Alles wohlgemacht habe: das kann Gott 
wohl und verfidhern, aber es tft nicht an und, es ihn zu ver⸗ 
fichern.“ Doch macht er fih, als hätte er dies nicht geſagt, 
fogleih an das Thema, und ift jetzt nicht deswegen, weil bie 
Unterſuchung unbefcheiden, fondern weil fie ſchwer ift, in feiner 
geringen Berlegenheit. Seine erfte Verlegenheit ift, dab ihn gar 
nicht. recht Elar ift, wo denn das Böfe eigentlich ſitzt, in ver 
Welt des Geiſtes, oder auch in der Natur? „Sobald wir aus 
dem Felde der praftifchen Pflicht mit unfern Begriffen herausgehen, 
werben wir an der Defonomie der kosmiſchen Kräfte fofort irre.“ 
Daß diefed Irrewerden von der eben genannten Schwierigkeit her⸗ 
rührt, erfahren wir weiter unten; zunächft beruhigt ſich der Verf. 
bei einem Satze, der freilich jedenfall3 gewiß Außerft Flar ift: 
„in unferer Moral giebt es ein Böſes; unterlaffen wir zu thun, 
was und obliegt, fo taugen wir nichts.“ Wreilich entfteht aber 
au bier fogleih eine große Verlegenheit, wenn es fich fragt, 
„wo der Liebergang aus dem negativen Böfen, der Unterlaflung 
der Pflicht, in das pofttive Böfe, den abſichtlichen Willen, zu 
Schaden, aufzufinden fe? Dies bleibt immer problematifh. Denn 


108 


felöft der größte Verbrecher wird felten einräumen, daß er eigent⸗ 
lich Habe ſchaden wollen, er wird ftet8 auf den Vorwand einer 
Nothmehr repliiren gegen die Anmuthung, feine Pflicht zu thun 
ba, wo ihm, dieſe Pflicht zu thun, unbequem war.“ Ich meinte, 
bei einem Verbrecher handle es fich nie bloß um Unterlaſſung der 
Pfliht, und die angeführte Entſchuldigung deſſelben könne den 
Bhilofophen über die wahre Natur der böjen That nicht zweifel- 
baft machen. ber ber Verf. hat wohl tiefere Schwierigkeiten 
im Sinne, die Frage mwahrfcheinlih, ob das Böſe nur negativ 
(privativ) oder pofitiv fei, und ob es ein Böfes um des Böfen 
willen gebe; er tappt aber in einer Unſicherheit, die einen un= 
gewöhnlichen Mangel an Denfübung verräth, fehon in ber Auf⸗ 
ſtellung der Schwierigkeit fehl, indem er, flatt zwifchen Böſem 
aus egoiftiih finnlichen Triebfedern und Böſem um des Böfen 
willen, unterfcheidet zwiſchen Unterlaſſung der Pflicht und böſer 
Handlung; dabei Elingt ihm von Weiten die juriftijche Unterſchei⸗ 
dung zwifchen culpa und dolus oder die Brage über Zurechnungs⸗ 
fühigfeit überhgupt im Ohre, und fo hilft er fih denn nun. 
bewundernswürdig leicht auß feiner Klemme, indem er fortführt: 
„bier helfen wir und denn kurz und gut mit Qualificirung ber 
Thatſache, und ſehen, in Betreff der Motive, nicht auf den 
böſen, ſondern auf den freien Willen. Ein Trunkener, ein 
Wahnſinniger ſteckt uns das Haus über dem Kopfe an; wir laſſen 
ihn ungekränkt, oder verwahren ihn höchſtens, damit er es künf⸗ 
tig nicht wieder thue; denn er war ſeiner nicht mächtig, die Kraft, 
die in jenem Augenblicke in ihm über Gut und Böſe hätte ent⸗ 
ſcheiden können, war gebunden. Wir ſchlagen einen Knecht: er, 
über die Mißhandlung empört, ſucht Gelegenheit, ſich zu rächen, 


109 


er ſteckt und ebenfall8 das Haus über'm Koyfe an. Diefer wird 
als Mordbrenner verurtheilt: mag er immerhin von Rachſucht 
geftadhelt worden fein; fein freier und vernünftiger Wille konnte 
ihm fügen, daß Rachſucht unmoralifh ſei.“ O, meld’ eine 
Tiefe des Reichthums, beide der Weisheit und Erfenntniß des 
Verfaſſers! Wie gar unbegreiflih find feine Ideen und unerforfch- 
lich feine Wege! Andere befchränkte Leute meinen, wenn es ſich 
um die fiitliche Beurtheilung einer That handle, fo reihe es nicht 
bin, zu wiſſen, daß fie mit freiem Willen geſchah, fondern es 
handle fi darum, ob diefer Wille ein böfer war ober nicht, und 
die gar nicht zurechnungsfähigen Handlungen gehören gar nicht 
in ven Zufammenhang gegenwärtiger Unterfuhung. Allein dem 
Hrn. Verf. ſteckt feine obige Sauptverlegenheit noch im Kopfe, 
darum hat er dad rein ethiſche Thema ſogleich auf die juriſtiſche 
Frage nach der Imputabilität hingedreht, die Verlegenheit dar⸗ 
über, ob das Böſe nur im Menſchen oder auch in der äußeren 
Natur ſitze. „Kommen wir nun aber ſchon in dem beſchränkten 
Kreiſe des ſocialen Vortheils (7) mit der Beziehung zwiſchen Gut 
und Bös in's Gedränge, wie viel mehr, wo die urſprünglichen 
Kräfte der Natur die ihnen einwohnende Gewalt üben, und ein 
für allemal thun, was ſie nicht laſſen können? Auch der Blitz 
zündet uns das Obdach über unſerm Haupte an, der überwogende 
Strom verſchwemmt uns die Wieſen, der Hagel verheert unſere 
Saaten: wer will fie vor Gericht laden, wer wagt es, dieſe 
zerftörenden Kräfte böfe zu nennen?“ Nun ja ums Himmels 
willen, wenn fle Niemand magt böfe zu nennen, wenn fie nur 
thun, was fie nicht laſſen können, was brauchen wir und denn 
hier, wo es ſich vom Böfen handelt, um fie zu ſcheeren? Sie 


110 


find Uebel, und die Frage nach der Zweckmaͤßigkeit des Uebels 
ift ja ein ganz anderes Capitel der Theodicee, als bie nach ber 
Stellung des Böfen zur Welteinrichtung. Doch beunruhlgen wir 
uns nicht! Der Hr. Verf. thut es auch nicht, er ſtolpert in ber 
heiteren Dufelei eines von philoſophiſchen Serupeln wenig an⸗ 
gefochtenen Kopfes gleich wieder über die, freilich ohne Noth 
berbeigezogene, Schwierigkeit hinweg, kommt wieder auf bas 
-Böfe im moralifgen Sinne, und begeht das Verbrechen (f. feinen 
eigenen oben angeführten Ausſpruch), dennoch eine Theodictee 
Preis zu geben. Sie tft Eurz bei einander: „ber Befonnene zieht 
zulegt das weltgefchichtliche Facit fo, daß er jelbft in dem Böfen, 
was geichieht, immer wieder Keime des Heilfamen entdeckt und 
es nicht irreligiös findet, zu fagen, daß Gott in der Weltregie- 
sung dad Böfe zuläßt (wohl zu merken, zuläßt, nicht thut), 
damit ed dem Guten diene.“ Der Schall! Wie er uns da nur 
geſchwind jo in einer Parentheſe bie tieffte, originellſte Idee, von 
der biäher die menfchlicde Vernunft ſich nichts träumen ließ, in 
die Taſche ſchmuggelt! Wie wird es da fo plößlich Helle! Die 
ſchwierige Frage, mit ber fich bie tiefften Denker, fo lange ſie 
bie unerhoͤrt tieffinnige Diftinction zwifchen Zulafien und Thun 
nicht kannten, abgequält haben, fie ift gelöft! Sie Lojer! Und 
dann geben Sie ald Zuſpeiſe noch einen jublim gelehrten Auszug 
aus der perflihen Mythologie drein! 

Spaß bei Seite! Muthen wir dem Verf. nicht mehr zu, als 
er vermag, und geben wir und zufrieden, daß er bie Grund» per, 
ſo leicht ex ſich mit biefer begrüfflojen Kategorie über ihre Schwie⸗ 
rigkeiten hinweghilft, wenigſtens nicht ſchlechibin verfehlt Kat. 
Die Liberalität, mit ber er fi) des Prologs im Hinmel gegen 


111 


Zeloten annimmt, der gefunde Sinn, mit dem er das haudväter- 
lich Gütige und Leutfelige in der Figur des Herrn, den leichten 
Anflug von Ironie gemüthlich herausfühlt, verdient aufrichtiges 
Lob. Richtig folgert er, daß ſchon aus jenem Begriffe von der 
Stellung des Böſen zu Gott die Rettung Fauſt's von felbft her⸗ 
vorgehe,, und flieht ein, daß der Goethiſche Fauſt nicht wie der 
Fauſt der Sage ſchon durch den Bund mit Meyphiftopheles ein 
Verbrechen begehe, wie fich dies fchon in der nobeln, geiftreich 
.chevaleresfen Nachläfftgkeit, mit welcher Fauſt ven Teufel em⸗ 
pfängt, und welche der Verf. ebenfalls richtig bemerkt, auf edle 
Weife Fund thut. Meberhaupt hat er die Vergeiftigung , welche 
der Sagenftoff durch Goethe erfahren hat und wodurch der Brenn- 
‚punft ein ganz- anderer wurde, mit freiem Auge erfannt, und 
fteht dadurch rühmlich über Leuten, wie Franz von Baader, 
de Wette, Weflenberg, Menzel, welche meinen, der Teufel follte 
nur immer die Zähne fletfehen, den Kauft endlich unter Schwefel- 
danıpf holen und an den Wänden zerfhlagen, daß fein Gehirn 
herumfprigt, oder wo nicht, fo müßte Fauſt fich hinftellen und 
als Tugendheld rhetorifch auffpreizgen, da doch dad Gute, ber 
Kampf gegen Mephiftopheles, in ihm die Geftalt feiner Indivi⸗ 
dualität annehmen muß und fich daher natürlich als Rückkehr zur 
‚idealen Contemplation äußert. Daß im zweiten Theile bis zum 
Vegten Acte Fauſt zu wenig thut, um gegen dad Böſe zu kämpfen, 
ſoll damit nicht geläugnet werben, liegt aber in der Afthetifchen 
Schwäche dieſes Alterö- Products überhaupt. Doch hätte H. Weber 
nicht nöthig gehabt, den göttlichen Plan in Beziehung. auf Fauſt 
barein zur jeßen, daß Fauſt den Gipfel der Bosheit erfteigen folle, 
um durch defto tiefere Neue auf den guten Pfad zurückgeführt zu 


— ꝰ* 


— 


112 


werben. „Die Gottheit kann es, um ein an ſich fel6ft irre gewor⸗ 
dened Individuum von Grund aus zu heilen, unter Umſtänden 
zuläfftg finden, daß dafjelbe für eine Zeit dem Böſen ganz an⸗ 
beimfalle, damit es in der Empfindung deſſen tiefen Unſegens« 
(ein ſauberes Deutſch!) „ſich aufraffe und mit deſto feurigerem 
Verlangen auf ven Pfad des Guten zurückkehre.“ Sp acut erfcheint 
Krankheit und Kriſis bei Kauft nicht; zwiſchen die einzelnen Ver⸗ 
irrungen fehieben fich fogleich einzelne Heilungsverſuche, er if im 
Böfen rhapſodiſch und daher Fehrt er nicht durch eine plötzlich mar⸗ 
firte Nevolution feiner Natur zum Guten zurüd. Diefe zu ges 
fhärfte Auffaffung floß wohl aus der nicht ganz richtigen Deu⸗ 
tung, die der Verf. dem Vertrage mit Mephiſtopheles giebt. 
Dies führt und auf den beftimmteren Inhalt ver Tragödie, zu⸗ 
nächſt auf des Verf. Anficht von Fauſt's Perſönlichkeit und an⸗ 
fänglichen Beftrebungen. | 

Hier ftoßen wir fogleih auf einen groben Irrthum. Der 
Berf. meint, wie feine Commilitonen auf diefem Flügel, Fauſt, 
dem der Glaube im Wifjen verloren gegangen ift, ſollte auf das 
Erkennen des Abjoluten ganz reflgniren. „Jede Philofophie muß 
ein Letztes, Linbegreifliches ftehen laſſen, das ift der Proceß, wie 
der Geiſt fi in das Kleiih verwandelt, und die Materie, ohne 
Gott zu fein, doch aus göttlicher Hand hat hervorgehen können.“ 
Faßt man dieſes Hervorgehen im Präteritum als einen zeitlichen 
Act, fo ift freilich dad Begreifen deffelben bereitd abgefchnitten. 
Der Verf. giebt nun dem Manne im Gegenjag gegen dad Weib 
zu, daß er beftimmt fei, den blinden Autoritätäglauben zu vers 
laſſen und ſich durch ein Labyrinth der Widerfprüche zur Selbft- 
fländigfeit der Anftchten und Veberzeugungen hindurchzuringen; 


113 


dann aber meint er, das Nefultat diefer Zweifelskämpfe folle fein 
— ber Glaube. Wie gar feine Ahnung er von der hoben Bebeu- 
tung des Strebend nach reiner Erfenntniß bat, zeigt er auch durch 
die Bemerkung, die ihm S. 83 entſchlüpft, mo er von Fauſt 
fügt, er Habe „ftatt der Willendfraft“ den Wiſſensdrang vorzugd« 
weije in fich genährt. Unter ſolchen Umftänden darf man natürlich 
fein Verſtändniß von Fauſt's Durft nad Anfchauung ded Inner 
ften der Dinge von dem Verf. erwarten. „Bauft ift Vielmifler 
aus edlen Durfte nad) Wahrheit; die Gelehrſamkeit ift ihm nicht 
Zweck, fondern Mittel, und Mittel zu dem Höchften und Größ- 
ten, zum unmittelbaren Aufichluffe des Verhältniſſes zwiſchen 
Gott und Weltall. Aber daß er dies Verhältniß wie irgend ein 
anderes in der Erfahrung gegebened, mit der Kaltblütigfeit und 
Ruhe eines Forſchers ergründen, daß er es zerlegen will, wie 
ver Pflanzenkundige eine Blume zerlegt, daß eben ift das urſprüng⸗ 
lihe Mißverſtändniß in feinem Streben, und liefert ihn dem Teu⸗ 
fel in bie Hände. Fauſt ift nicht Vielwiſſer, und wollte er bie 
Gelehrſamkeit ald Mittel anwenden, um das Verhältniß zwi⸗ 
ſchen Gott und Weltall zu ergründen, fo wäre es ja eben fein 
unmittelbarer, fondern ein vermittelter Aufichluß. _ Kauft 
verwirft aber die Gelehrſamkeit nicht bloß als Zweck, fondern 
auch als Mittel, denn er will rein intuitiv fich der Wahrheit 
bemüchtigen. Zerlegen will er gerade nicht, fondern er will 
- Schauen, ohne zu zerlegen, und das ift, mie feine Größe in 
Vergleihung mit dem todten Formalismus und Dogmatismus, 
fo in Vergleihung mit dem wahren Denken feine Schuld. Er 
zerlegt nicht zu viel, fondern zu menig, er iſt vernünftig ohne 
Derftand; hätte er die Geduld, die Vermittelung des Begriffs 
Kririfche Gänge I. 8 


114 


zu durchwandern, fo würde er zur concreten Idee gelangen, aber 
er will eine intellectuelle Anfchauung, mie die Schellingifche Phi- 
Yofophie, er verwirft über dem Eignen und Urfprünglichen alles 
Angeeignete und Künftliche, wie die Periode des Genieweſens in 
unferer Poeſie. In diefer Periode find ja auch wirklich die älteflen 
Grundlagen ver Tragödie entftanden. Als Goethe in dieſer Ju⸗ 
gend⸗Epoche einen Helden zeichnete, in welchem ber ganze Kampf 
des Urſprünglichen mit einer verwelften Cultur, welcher jene 
Zeit des Sturmd und Drangd charakterifirt, den tiefften und 
geiftigften Ausdruck fand, fo konnte er allerdings noch nicht mit 
ber vollfonnmenen Klarheit über feinem Helden ftehen, um in 
dem Rechte diefes Drangs nach Unendlichkeit zugleich das Unrecht 
der Verachtung aller Grenze und verftändigen Vermittlung eins 
zufehen und zur Darftellung zu bringen. Er mußte offenbar ſelbſt 
noch nicht, mo es hinaus folte Wohl aber war das Gefühl 
dieſes Unrechts als ein dunkler Inftinet allerdings im Dichter 
offenbar vorhanden; denn dad lag gewiß jchon in feinem urfprüng« 
lichen Plane, daß es Fauſt's Ueberſchwenglichkeit und Verachtung 
aller Schranke und Vermittlung ift, woran der Teufel ihn packt. 
Gerade dadurch aber, daß der Dichter jelbft jene Haft, jenen 
Durft noch theilte, gewann die poetijche Kraft der Darftellung. 
Wie konnte doch dem Verf. jenes Feuer, jene ungeduldige Gluth 
durch die Adern der Natur zu fließen, mit Geiftern im Dämmer 
fein des Mondes zu weben, die irtiihe Brut im Morgenrot 
zu baden, fo ganz entgeben, daß er an ein zerlegended Grüb 
denft! Ein andermal (S. 60) ftreift er jogar an Enk's Meinu 
"wenn er glaubt, Bauft'3 fpäterer Sprung in den Strudel 
Genäffe Hänge mit jeinem früheren Wiſſensdrang dadurch zu 


115 


men, daß er ſchon in diefem nur den Genuß gefncht, fich fagen 
zu können: du weißt nun Alles. Doch dies ift blos eine Spie- 
lerei mit Worten des Zufammenhanged wegen, venn ©. 30 iſt 
ein edler Durſt nah Wahrheit zugegeben. Der Erdgeift („fo 
wie fonftige kosmiſch ontologifche Gewalten“ heißt es ©. 36) 
ſtößt Fauſt nicht deöwegen, wie H. Weber meint, zurüd, weil 
„dieſe geheimen Urgeiſter ver Dinge nur nad) einem Gefeße wir⸗ 
fen können, dad dad Geſchöpf vom Schöpfer durch eine uner- 
meßliche Kluft abtrennt“, fondern weil bie im Rauſch der Viſion 
heraufbeſchworene Anfchauung ihrer Natur nah nur momentan 
iſt und, nicht durch die Vermittelung des Denkens gewonnen, 
den Geift nach augenblicklich blendender Erſcheinung in deſto tiefe- 
rer Nacht zurückläßt. | 

Den Contract nun mit Mepbiftopheles nimmt der Verf., wie 
fhon aus der angeführten Bemerkung zum Prolog hervorgeht, 
zu craß „Fauſt will fi) betäuben, die Bedürfniſſe feiner höheren 
Natur im Sinnenrauſche auslöſchen, er will fi ſelbſt, als hö⸗ 
heres Wefen vernichten.“ Fauſt will fih betäuben, aber nicht die 
Breiheit des ſtrebenden Geiſtes opfern ; die wichtigen Worte: 
Werd' ich beruhigt je u. f. w. find ©. 61, wo der Verf. auf diefe 
Stelle zurüdfommt, angeführt, aber nicht auögeführt ; übrigens 
obmohl er dies unbenußt liegen läßt, weiß er doch bie legte Ten⸗ 
denz der Tragödie, wie wir fahen, feftzuhalten, und thut dar, 
wie Kauft dent Mephiftopheled keineswegs verfällt, fondern der 
Rettung würdig bleibt. 

Hat der Verf. offenbar Teinen Beruf, vie tieferen Ideen ber 
Tragödie zu ergründen, fo ift dagegen feine Bemühung, das 
Zauberweſen, das die Scenerie berfelben bildet, durch geichicht- 

8 * 


4116 


liche Notizen, foweit dad Verftänpniß ſolche erfordert, aufzuklären, 
dunfle Anfpielungen, Namen, u. vergl. zu deuten, dankbarer 
Anerkennung werth. Defterd geht feine Sorgfalt für den Leſer 
bis ind Zärtlihe, wenn er z. B. zu: Georgius Sabellicus hin» 
zufeßt:: vorleßte Sylbe kurz! Auch manche brave äfthetifche Ber 
‚ merfung bringt er im Ginzelnen vor; de Wette, der in feinem 
Aufſatze: Gedanken eines Theologen über Goethes Fauft (f. d. 
Zeitfhr.: „Der Proteftant“, v. Benzelfternau, 1829, März) 
einem unwiderftehlichen Drange Luft machte, an unferer Tragödie 
den Famulus Wagner zu machen, ſchickt er, wie e8 ſich gehört, 
nach Haufe. Er verfucht auch eine Eintheilung des erften Theile 
in Acte, woburd er doch wenigſtens zeigt, daß er nicht, wie 
bie meiften Erflärer, alle Anforderungen an dramatiſche Oekono⸗ 
mie vergeſſen bat; freilich ift die Folge nur, daß man erft recht 
deutlich einſieht, wie ſich die Tragödie, fo theatralifch einzelne 
Scenen find, doch der feenifchen Darftellung ganz entzieht. Aber 
nicht nur den erften Theil hält er für ganz im Sinne der Bühne 
gedichtet, ſondern — erftaune, o Leſer, erbebt in des Herzens 
Tiefen, fänmtliche Theater Mafchiniften , fange euer, männ⸗ 
liche Gelaſſenheit der Schaufpieler, und werde zum Baſilisken, 
Geduld der Zufchauer! — au den zweiten Theil. Sei au 
die dramatiſche Durchführung von minderer Evidenz, meint er 
&.135, fo bleibe doch die theatraliſche Wirkung „defto weniger“ 
zu bezweifeln, ja eine vollkommene Aufführung des zweiten Theils 
müßte fih als die colofjalfte und gewaltigfte Darftellung denfen 
laſſen, die feit den Zeiten des Aeſchylus irgend eine nationale 
Bühne in dad Werk geſetzt. Ueberhaupt verändert der fonft ver⸗ 
ſtändig und natürlich erfcheinende Mann, da er an die Betrach⸗ 





117 


tung des zweiten Theils kommt, ganz feine Natur und ſpendet 
ihn ein fo verſchwenderiſches Lob, mie nur irgend ein verzwickter 
Philoſoph. Wäre e8 dem Verf. mit diefem Lobe nicht fo fichtbar 
Ernft, fo wäre man geneigt, folgende höchſt ergötzliche Stelle 
geradezu ald Parodie zu nehmen. Nachdem er zum 4. Act bemerft 
hat, wie Mephiſtopheles in der erften Scene Veranlaſſung neh⸗ 
nıe ſeinerſeits über die Entftehung des Gebirgslandes zu philo⸗ 
fophiren und den Patron der Erhebungstheorie made, fährt er 
fort — (es tft gar zu erhaben, ih muß es groß druden laſſen): 

. „Bauft fpriht dagegen mit Würde und Gränd- 

lichfeit die Neptuntftifhen Anſichten aus.“ 
Nur die legte Scene des zweiten Theild wagt er zu tabeln, und 
wünſcht ftatt des katholiſchen Himmels eine proteftanttfch rationel⸗ 
lere Scene, wie den Prolog im Himmel, gewiß mit richtigem 
Tacte. 

Der Styl, im Allgemeinen einfach und ohne Prätention, 
iſt doch hie und da holperig und undeutſch, wie: „ſolch ein Kampf 
u. ſ. w. kann nicht umhin ein aufregendes Schauſpiel zu fein“, 
und Aehnliches. Ich rede davon, weil es mir überhaupt gegen⸗ 
wärtig an der Zeit zu fein ſcheint, unſere deutſchen Schriftfteller 
daran zu erinnern, daß fle die Rudimente nicht verachten dürfen, 
und daß, wer ein Buch fehreibt, auch ein gutes Deutſch fchreiben 
fol. Mitunter geräth unfer Freund doch auch in Bombaſt und 
Phrafen, 3.8. ©. 29: „gegen Serzendfroft und Gefühlsenge 
ift Genialität ein abmwehrender Diamantſchild« u. U. 





118 


Goethes Fauft in feiner Einheit und Banzheit 
wider feine Gegner dargeftellt. Nebft Andens 
tungen über dee und Man des Wild. Meifter und 
zwei Anhängen: über Byron's Manfred und Leffing’s 
Doctor Fauft. Bon H. Dünger, Dr. der Philoſophie. 
Köln, 1836. 

Die Einheit hat der Verf. allerdings nachgewieſen, indem 
er die Bedeutung des Contracts mit Mephiftopheles richtig aufs 
faßt und in der Schluß-Scene des zweiten Theils ihre Erfüllung 
nachweift, aber mo iſt der Beweis der Ganzheit geblieben? Was 
fol der magere Auszug des zweiten Theils, wo hie und ba ein 
flüchtiger Verſuch gemacht wird, die kahlen Allegorieen vieler 
Gansheid zu deuten, für die Behauptung bemeifen, daß die Idee 
erihöpft fel? 

Im Einzelnen finden fi, obwohl der Grundgedanke richtig 
herausgehoben ift, oberflichliche und falfche Deutungen. Den 
Mephiftopheles faßt der Verf. zu niedrig, wenn er von ihm fagt: 
„Wie Gott und die Seligen nur unter den Eingebungen“ des Lichtes 
bandeln, fo er „in Folge“ des finnlichen Triebd. Dad Zujanı= 
menſinken Fauſt's vor dem Erdgeift deutet er wie Talk und Wes 
ber: „Dem Menfchen ift Feine Verbindungslinie mit den fehaf- 
fenden „Monaden“ verliehen“ u. |. w. 8 ift frerlich Fein Seil, 
Bindfaden, Riemen u. vergl. zu fehen, mas und mit jenen 
„Monaden “ verbindet. Der fchiefe Falkiſche Ausdruck verfinftert 
bie Sache bereits, denn es giebt nur Eine Monade, den Geift, 
ber in Allem ift; Monade Hat feinen Pluralid. Freilich Leibnig 
ſchnitt die herrlichen Conſequenzen jeiner Ideen dadurch ab, daß er 


öM 


119 


in eraffen Widerſpruch mit dem Begriff der Monade als einer vor« 
ſtellenden (geiftigen) Einheit eine Vielheit von Monaden mie tobte 
Dinge, zwiſchen venen Fein Verkehr ift, nebeneinander ftellte — aber 
was geht und dad an? Den Ausdruck des Mephiftopheles von 
Bauft, daß er der Erde Freuden überfpringe, deutet er gerabe 
verkehrt: „Fauſt hat nur einmal fich verfehlt, und zwar darin, 
daß er flatt einem geregelten Leben, wie es dem Menfchen beftimmt 
it, ſich hinzugeben, in die Sinnlichkeit übertrat und alſo ber 
Erde Freuden überfprang.u Der Exde Freuden überfpringen, heißt 
benn das, in die Sinnlichfeit übertreten? Uebrigens citirte ich 
auch bier die Worte, um bemerflich zu machen, wie diefe Bro- 
ſchüre ſchon im Ausdruc etwas Tertianermäßiges hat, und Eönnte 
noch eine Maſſe ähnlicher Wendungen geben, wie 3. B. „Hier 
müffen wir die Beinerfung machen, daß Mephiftopheles, obgleich 
in einen niebern Kreis gebannt, fi doch von einer einfeltigen 
Weltanſicht fernhält.“ Daß aber nicht nur die Darftellung, fon- 
dern auch der Gedankengehalt einen ſchülerhaften Charakter trägt, 
mag binlänglich beweiſen, wenn ich erwähne, daß der Verf. 
und alles Ernfted verfichert, Mephiftoyheles diene nur zur poe⸗ 
tifhen Darftelung, auch der Pact mit dem Teufel fei bloß poeti⸗ 
ſche Fiction. Ungeheure Enideckung! Und wie glüdlich wird der 
Verf. erft fein, wenn wir ihm zu ber weiteren verhelfen, daß 
alle Perſonen nicht nur dieſes, fonvern jedes Gedichts, mögen 
fie num gefchichtlich, oder gefchichtlich mythiſch, oder rein mythiſch 
fein, nur der poetiſchen Darftelung dienen, nur Fictionen find ? 
Do nein, denn da flünde es nach H. Düntzer übel um die Poefte, 
denn er fegt zu den Worten: „ſelbſt der Pact mit dem Teufel 
ift bloße poetijche Fiction“, fogleich Hinzu: „zur Darftellung einer 


120 


Idee gehört er nicht.“ Der Taujend! Da wäre ja aljo auch Me» 
phiftopheles, wiewohl er „dad Gefäß ift, deſſen ver Dichter fi 
am Anfang bedient“, nicht die poetifhe Darftellung einer Idee, 
da könnte man den Pact beliebig auch meglafien, fo gut ald man 
allerdings die Hexenküche und die Blocöberg - Scene weglaffen 
Eönnte! Da Eönnte man ja am Ende die ganze Tragödie weg⸗ 
laſſen! Do man merkt aus dem Weiteren, was ber Verf. fagen 
wi. Er will fagen, Fauſt's Pact fei in der Tragödie nicht, wis 
im Volksbuche, ſchon ein Verbrechen; dies drückt er mit der ihn 
befonderd charakteriſtrenden Helle des Bewußtſeins fo aus: er 
gehöre nicht zur Darftelung der Idee. 


Zur Berfländigung über Goethe's Faufl. Bon 
Dr. & Schönborn, Director und Profefior des 
Magdalenen» Gymnafiums zu Breslau, Breslau 1838. 

Der Grundgedanke, der Anfang und Ende zufanımenbindet, 
ift aus Goethe's Weltanfiht und den betreffenden Hauptitellen der 

Tragödie richtig abgeleitet, Doch ohne einen Wink über ben Wider: 

ſpruch zwiſchen dem rationell= hriftlichen Gedanken, Fauſt dur 

vernünftige Thätigfeit der Nettung würdig erfcheinen zu laffen, 
und der pofitiven Schluß= Scene. Ich hebe diefen Mipftand gerade 
bier noch einmal hervor, weil der Verfaſſer auf diefen Punft 
ausdrůcklich zu ſprechen kommt, und doch nicht auf die rechte 

Fährte geräth. Fauſt müffe nah Hriftlichen Begriffen felig 

gemacht werben, er müſſe daher wenigftend von den Bewußtſein 

der Erlöfungsbedürftigkeit durchdrungen werden; zu diejer Erkennt⸗ 
niß habe er auf Erden nicht gelangen können, „denn dann hätte 
der Vertrag mit dem Teufel ein ganz anderes Ende genommen, 


121 


als die Sage und bie Anlage des Drama verftatteten; auch Tann, 
wer fo weit von Gott abgefallen ift, daß er mit dem Boͤſen einen 
Bund eingeht, nach der Anficht des Mittelalters nicht leicht auf 
ber Erde, wenn überhaupt gerettet werben. So blieb alſo nichts 
übrig, als mit Fauft nad feinem Tode eine folche Umwandlung 
vorgehen zu laflen, daß es dem Leſer nicht zweifelhaft bleiben 
konnte, er werde, wenn auch erft fpäter, gewiß zur Seligfeit 
gelangen.” Ganz blind ift hier der Standpunkt der Sage mit 
dem Goethe'ſchen vermiſcht; jenen hat ja der Dichter- im 
Weſentlichen ganz verlaffen, und fo gut er die Vorftellung von 
ben abjoluten Verbrechen eines Bundes mit dem Teufel und das 
Dogma von den ewigen Höllenftrafen fallen läßt, läßt er auch 
dad Dogma von Buße, Wiedergeburt, Gnade fallen. Freilich 
er nimmt das kirchliche Dogma in der Schluß- Scene wieder auf, 
aber eben dadurch geräth er in einen Widerſpruch, denn giebt er 
einntal die religiöfe Cinfleivung geiftiger Wahrheiten, wie dies 
am Schluffe geſchieht, zu, und nimmt er ſie auf, ſo giebt er auch 
zu, daß Fauſt erſt bereuen und glauben mußte, ehe er erlöſt 
wird. Der Verfaſſer meint, die Buße werde bei Fauſt jenſeits 
eintreten, allein dies genügte nach der kirchlichen Vorſtellung nicht, 
ſondern wer unbekehrt ſtirbt, wird nach ihr verdammt. Nicht nur 
die kirchliche Vorſtellung aber iſt von Goethe verletzt, ſondern, 
mag man nun die Schluß- Scene im Simmel berückſichtigen ober 
nit, auch die rationelle Neligion ift ed, denn Bauft hat auf 
feinem Pfade doch Verbrechen begangen, bie er bereuen muß, 
wiewohl allerdings nicht die Reue allein an fl, ſondern der 
Uebergang zu neuer ebler Thätigkeit ihn erlöfl. Welche Scene 
Fönnte den zweiten heil eröffnen, wenn Fauſt aufträte, hie 


122 


Bruft von unendlicher Reue durchwühlt, dann alle jeine Kraft 
zu neuem Leben aufraffte! Allein ftatt eines inneren Proceffed 
laßt der Dichter die Heilung ganz Außerlih durch Elfen vor 
fich geben; die paar Worte, mit denen Fauſt am Ende bie 
Zauberei verwünſcht, find noch Feine Neue; — freiih, was fol 
er bereuen, da er ja bloß allegoriih figurirt hat und eigentlich 
gar nicht als warmblütiges Wefen, bei dem von Gut oder Bös 
die Rede fein kann, aufgetreten ift? Aber auch in der Schluß» 
Scene im Himmel ift nicht von einem inneren Geſchehen im Ber 
youßtfein Fauſt's die Rede, fondern die Sache geht durch Fürs 
bitte u. |. w. vor fih. Bei diefer Kälte und Herzloſigkeit, die 
‚der Dichter hier gezeigt hat, muß ſich fein Freund daran halten, 
daß er wenigftend in der Hauptſache nicht gefehlt, und eine Fräfr 
tige, der Menſchheit förberliche Thätigkeit, als lebte Bedingung 
von Fauſt's Erlöjung hingeſtellt hat. Allein der Verfaſſer über- 
fieht auch dies und it — doch mit Fauſt's Erlöfung ganz ein» 
verftanden. Das heiß’ ich einen guten Magen! Da nämlich Fauſt 
im Vorgefühle ver Zukunft, wo er mit freiem Volke auf freiem 
Grunde ftehen wird, fich für befriedigt erflärt, fo meint Herr 
Schönborn, er gebe ebendaburd den Beweis, daß er nicht nur 
körperlich, fondern geiftig blind geworden fei, denn zum erften 
Male ſchätze er jet wirbiiche Güter“ mie andere Dienfchen, und 
finfe daher dem mit Mepbiftopheles gefchloffenen Vertrage gemäß 
todt in die Arme der Lemuren. ine edle Thätigkeit ift Fein irdis 
ſches Gut, und wir Eönnen und auch die Aufgabe eines künftigen 
und höheren Zuftandes nicht ſchöner und reiner vorftellen. 

Die nähere Geftaltung der Grundidee, Fauſt's Berfönlichkeit 
und Streben ift vom Verfaſſer ganz verfehlt. Denn auch Kerr 


123 


Schönborn verfangt von Kauft Nefignation auf das höchſte 
Wiſſen und Anfchliegung im Glauben an Chriſtum, Ver⸗ 
trauen auf die göttliche Gnade. Mit diefem theologifchen Stand- 
punkt und foldhen erbaulihen Redensarten darf man überhaupt 
nicht an ein Gedicht treten, das ein für alle Mal um einen rein 
rationellen Mittelpunkt fi bewegt, und auch da, wo es bie 
Sprache der religiöfen Vorftelung aufnimmt, den reinen Gehalt 
aus ihr zieht und ſie zur hellſten Durchfichtigkeit vergeiftigt. 

Unter dem Erdgeiſt verftcht der Verfaſſer ven Geift der Ges 
ſchichte, da er doch offenbar das Nuturleben des Planeten bedeu⸗ 
tet. Mit geſuchtem Deuteln meint er daher, Kauft könne denſelben 
deswegen nicht fafien, weil er ihn nur als bie weite Welt um⸗ 
ſchweifend, nicht in dem Menfchen wirkend erkenne. Willen 
Sie, Herr Director, wie man fo etwas bei und nennt? — 
Aberwig. | 

Wie der zweite Theil den ethiſch dramatiſchen Boden ganz 
verläßt, fühlt der Verfafler nicht; merkt er einmal dad Zuſam⸗ 
menhangslofe und Unorganiſche dieſes trübfeligen Machwerks, fo 
hilft er dem Dichter leicht genug über jeden Vorwurf weg, fo 
©. 74, wo er über die Einfchiebung Byron's im dritten Acte 
fagt: „Daß diefer Theil der Helena Feine weitere Beziehung auf 
den Hauptinhalt des Drama habe, jo wenig als fo Vieles in den 
MWalpurgis- Nächten, ift nach den mitgetheilten Worten des Dichs 
ter8 nicht zu bezweifeln, kann aber auch bei Einfichtigen Feinen 
Tadel finden. « 


124 


Ueber den Fauſt von Goethe. Eine Schrift zum 
Berftändniß diefer Dichtung nach ihren beiden Theilen 
für alle Freunde und Verehrer des großen Dichters, 
Bon Dr. J. Leutbecher, Privatdocent der Philo⸗ 
fophie zu Erlangen, Nürnberg, 1838. 


Iſt nicht weniger ald neun Perlonen bebieirt, unter denen. 
auch der Herr. Beitelmeyer in Nürnberg, der biejed Buch mit 
Vergnügen unter feine Kinderſpielwaaren aufgenommen haben 
wird. 

IH hoffte, als ich dieſes Buch (ed tft das letzt erfchlenene) 
zur Sand nahm, der Berfafler werde den glücklichen Gedanken 
gehabt Haben, durch ein erfchöpfennes Werk die Kauft - Titteratur 
endlich abzufchließen, indem ich ſah, daß er in den zmei erfien 
Büchern beftrebt iſt, durch eine vollitändige Sammlung deſſen, 
was zur Kenntniß und zum Verſtändniß der Fauſtſage noth⸗ 
wendig ift, und durch eine Revue der meiften dramatifchen Bear» 
beitungen dieſer Sage vor und außer dem Goethe’jchen Fauſt alle 
weiteren Hilfsmittel zumächſt nach diefer Seite hin überflüffig zu 
machen. Fällt dann, dachte ih, nur die philoſophiſche Erörterung 
des Goethe'jhen Fauſt gut aus, verarbeitet fie tüchtig das bisher 
Geſagte, jv hätten wir ja wohl endlich Ruhe und Stille zu 
hoffen! 

Der Hr. Verfaſſer find ein Philofoph, ich jollte Ihn daher 
auf den zweiten Flügel ftellen; aber er würde unter dem Linien 
militär disciplinirten Denkens doch) eine zu Eomifche Role. fpielen, 
da alles an ihm lottert und jchlottert, er mag daher als Nach⸗ 
zügler der Truppen des gemeinen Verſtandes figuriven. 


125 


Mäher iſt es die Krauſiſche Philofophie, zu weicher der Hert 
Dr. Leutbecher geſchworen bat. Diefe genauer zu Fennen, hatte 
ich vorher noch nicht die Ehre, es fummten mir aus bumpfer 
Reminiſcenz einige Schnörfel aus ihrer Eraufen Terminologie in 
den Obren (3. B. gebraucht Krauſe den Terminus: Weſens Or⸗ 
OmsBollfonmenheit, verftehft du das, Lieber Leier?); ich mußte 
aber nicht, daß fle unter dieſen abſonderlichen und curlöfen Wörs . 
terfabrifaten die trivialften Platitüden landläufiger Kategorieen, 
überzogen mit der taufendfach verbünnten Brühe eines felchten 
Pantheismus, verdecke und mit hohlen Phrafen der Menſchheit 
Schnitzel kräusle. Doch der Meifter iſt wohl mehr und anders, 
als der Schüler, ich will „dem größten Philoſophen unferer 
Zeit, dem lange verfannten und num feligen Kraufe, dem Schöpfer 
des tiefften und wahrften Syitemd« nichts zu leide thun; Gott 
hab’ ihn felig! gebe feinem Keibwefen eine fröhliche Auferftehung, 
nehme ihn auf in die Wohlordnung des Wejengemäßen, erhebe 
ihn zu der geläuterteften Anſchauung der Harmonie und befeligen« 
den Liebemilde des emigen Wahren, Guten und Schönen, laſſe 
ihn erbliclen das Ideale oder Geift- Schöne und des Weſenalls 
barmonifchen Wefenglienbau in feinem wefenlichen Gliedbauleben ' 

Mißtrauifch wurde ich gegen jene meine Hoffnung freilich 
fhon, als ih im erften Abfchnitte ven kurzen Abriß des Mittels 
alterd und feiner Ritteratur las, als ich belehrt wurde, daß bie 
Weltgefchichte ein Drama fei, mein harmoniſches Lebenfpiel, pas 
fih entwidelt in einem Dramıenfreife, welcher den SHiftorifern 
als Epochenreihe dient, für den Aeſthetiker aber alle ſechs und 
dreißig Hauptgattungen der dramatifchen Poeſie in ihrer höchften 
Vollendung enthält.“ Alſo gerade ſechs und dreißig Hauptgattungen 


126 


bed Dramatifchen! Nicht mehr und nicht weniger! Erſtaunlich! Die 
Welt meinte bis dahin, es gebe deren gerade 35/2, wogegen jedoch 
Andere auftraten, die behaupteten, es ſeien vielmehr gerade 361/a, 
aber Hr. Dr. Leutbecher enticheinet kühn: es find gerade 36. 
Weiter Ternte ih, daß die Schladen der Litteratur des Mittel 
alterd von dem niedrigen bierarchifchen Streben jener Zeit her« 
. rühren, das „neben Großartigem mitſpielte.“ Ich hatte in meiner 
Einfalt bisher geglaubt, der Gegenſatz des Weltlichen und firch« 
lich Hierarchiſchen ſei gerade die Seele des Mittelalters. Freilich 
ſuchte ih, nachdem ein weientliches Glied des Mittelalterd nur ald 
beiherfpielended genannt war, in der maleriſchen Beſchreibung 
feiner Litteratur vergeblich ein Princip, woraus ihre fänmtlichen 
Gigenfchaften ſich ableiten ließen, und den darauf folgenden Ab⸗ 
riß der Hauptproducte derfelben hätte ich dem Verfaſſer gern 
geſchenkt, da man in folder Kürze nichts Befferes, wohl aber 
Schlimmeres als Nichts geben Tann. Bon der gründlichen Kennt: 
niß diefer Litteratur, die der Verfaſſer entwidelt, mögen Züge, 
wie der, ein Zeugniß ablegen, daß er jagt: „Neben ven Minnes 
fängern ergößen die Raienbrüder und die Geißeler das Volk 
mit Liedern niederer Art“ (S. 13). 

Was er nun weiterhin über die Geſchichte ver Fauſtſage bei- 
bringt, dafür wollen wir ihm immerhin dankbar fein; ift e8 auch 
bloß ſtoffartig geſammelt und compilirt, fehreibt er auch S. 26 
unten eine Bemerkung wörtlih aus Roſenkranz (Zur Geſchichte 
ber deutſchen Litteratur ©. 136, 139) ab, fo mollen wir ihn 
darüber nicht zur Nechenfchaft ziehen, wohl aber uns verwahren, 
wenn er im erften Abfihnitt des zweiten Buches, wie jeine meiften 
Coſlegen in Fauſt, ſchon in die Volksſage eine Tiefe und Weite 
der Bedeuntung legt, ‘die fie erft durch Gvethe erhalten hat. Dem 


127 


Fauſt der Sage tft es mit feinem Wiſſensdurſt und feinen Zwei⸗ 
fein nicht fo Ernft, mie S. 91 behauptet iſt; in feinem Abfall 
von Gott und feinem Zauber liegt freilich eine titanenmäßige Em⸗ 
pörung und das höchſte Wagnig der Subjectivität gegen ben 
objectiven und allgemeinen Willen, aber die Zwecke, die Kauft 
bei feinem Abfall im Auge Hat, find zu beſchränkt und Elein, um 
ihn zum „Nepräjentanten ber ringenden Menfchheit überhaupt« 
und feine Gefchichte zu einem „Ur- Evangelium ver Menfchheit ⸗ 
zu ftemyeln. Auch die Mufterung der dramatifchen Bearbeitungen 
der Sage von Marlow bis Grabbe, die hierauf folgt, ift dankens⸗ 
werth, wiewohl ich gemünfcht hätte, daß der unglückliche Einfall 
Leſſing's, Bauft dadurch zu retten, daß ber Teufel nur mit 
einem an Fauſt's Stelle von einem Engel untergefchobenen Phan- 
tom fein Spiel treibt, nicht ungetabelt geblieben und bie hohle 
Renommage, vie gemeine Plumpheit und Nohheit von Grabbe's 
Don Juan und Fauſt noch ftrenger beurtheilt wäre, als der Ver- 
fafler es thut. 

Im dritten Buche geht num aber erft der philofophifche Tanz 
an mit den Bemerkungen zum erften Theile von Goethe's Fauſt. 
Den Grund zu allem folgenden Tieffinn legt der Verfafler durch 
eine nochmalige Betrachtung der Yauftfage als einer „Sage der 
Menſchheit.“ Der Verfaſſer Holt aus — Achtung! 

„Vergleichen wir das Leben und Handeln der Menſchen mit 
ihrer Beſtimmung, ſo finden wir, daß dies entweder derſelben 
gar nicht, oder nur zum Theil, oder ganz entſprechend iſt. Woher 
das? Ein Theil der Menſchen erkennt, was der Menſch als 
ſolcher in allen Lebensbeziehungen, als Einzelweſen, als Glied 
der Familie, des Volks, der Menſchheit, der Natur, des Geiſter⸗ 


128 
reichs und als ein Theilweſen in Gott ober in dem Weſen fein 
fol; ein anderer Theil aber erfennt dad nur zum Theil; und ein 
. dritter Theil weiß von feiner Beftinnmung endlich gar nichts. Wie 
aber ver Menfch erkennt, fo will und handelt er, wofern ihm 
die Kraft, feinen Willen‘ zu verwirklichen, nicht mangelt oder in 
der Weltbefhränfung gelähmt ifl. Nachdem nun die Erfenntniß 
des Menfchen, vefien Wollen, Thun und Leiden der Beftimmung 
beffelben gemäß tft oder ungemäß ober nur zum Theil gemäß, je 
nachdem iſt der Menſch auch entweder glücklich und zufrieden, ober 
unglüclich und unzufrieden, oder zum Theil glücklich und zum Theil 
unglücklich.“ Die Lebteren lebten, heißt eö nachher, „meiftend« 
in Tantaliſcher Dual. 

Man follte meinen, das Glück der Menfchen hänge eben 
nicht von der Vollſtändigkeit der Erkenntniß ihrer Beftimmung ab, 
der. größere Theil reiche mit einem gejunden geiftigen Inſtincte 
aus, und mit ven drei Claſſen, die der Verfaſſer macht, fei ed 
auch nicht jo ganz in der Ordnung, da am Ende alle Menfchen- 

kinder in bie zweite gehören. Doch reiten wir nicht fogleich über 
ben erften Sab, es iſt ja erft auögeholt. Wir müflen nun tiefer 
in die Urſache dieſer Erjcheinung eindringen, daß das Leben eint- 
ger Menſchen ihrer Beſtimmung gar nicht, anderer nur zum 
Theil, anderer ganz entſprechend ift. Es jchien bis jet, der Un⸗ 
terichieb im Grade der Erfenntniß dieſer Beſtimmung folle als 
legter Grund des menjchlihen Wohl- oder Uebelbefindens ange⸗ 
geben werden. Allein wir erfahren nun, daß gerade aus der 
o zweiten Claſſe die Weilen, die Dichter und Propheten bervors 
‚gingen, weiljenes Schmanfen zwijchen Glück und Unglück nöthigte, 
über die höhere Lebensaufgabe nachzudenken; jo macht alſo der 


129 


Berfafler aus zwei Sorten feined dreifachen Teigs num eine Mes - 
lange. „Ie nachdem in den Einzelnen dieſer Elaffe die Kraft des 
Geiſtes die Sinnlichkeit der Natur übermwältigte, je nachdem ſpra⸗ 
hen fie über den Streit zmifchen dem Geſetze des @:iftes und dem 
des Fleiſches ſich aus, und je nachdem bildeten fie ſich ihre An⸗ 
fiht von der Beſtimmung des Menfchen und der Art und Weiſe, 
fie zu erreichen. War ihr Geift flärfer, als die finnliche Macht 
ber Natur, jo erhoben fie ſich allmälig im Kampfe mit fich ſelbſt, 
erfannten ben Grund biejed in ver Geſchichte der gefammten 
Menſchheit nachweisbaren und durchklingenden Zwieſpaltes im 
menſchlichen Weſen und frebten dann Fühnen Fluges zur Einheit 
mit fich und dem göttlichen Weſen empor, und wurden bie wahren 
Propheten.“ Da haben wir aljo den lebten Grund der Verſchie⸗ 
denheit der menſchlichen Zuſtände — das Vorwiegen von Geiſt oder 
Sinnlichkeit. O Tiefe über Tiefe! Dieſe platteſte aller Diſtinctionen, 
dieſe Kategorie, die fo unwahr iſt, weil fie fo wahr iſt, daß ſie überall 
binpaßt, dieſer bis zur Beleidigung Elare, breit getretene Gegen« 
faß, den jeder Ladendiener an den Schuhen abgerifien Hat, fol: 
das Räthſel der Dienfchheit löſen! Aus ihm bebucirt nun ber 
Verfaſſer die Gefchichte des Geiftes: diejenigen, bei denen bie 
Sinnlichkeit ftärker ift, geben die Heiden ab, die andern, in denen 
der Geijt mächtiger ift, die „fogar“ fanden, daß fie .mit der Natur 
dann nur in Uebereinftimmung leben könnten, wenn fie fih 
„weniger“ felbftfüchtig derfelben gegenüberftellten, geben bie 
Chriften ab. Diefe nun fehwingen fich zur dritten Sorte Menſchen 
empor (ed fehien vorher, fie feien fie ſchon, fle ſei wenigſftens, 
ehe fich dieſe fo emporgefehmungen haben, gar niit vorhanden, 
oder wie ift das, Herr Gonfuflonsrath?), doch nicht ohne viele 
Kritiſche Gänge. 1. 9 


130 


fache Kämpfe. Ihnen gelingt dann die Einigung mit allem Wah⸗ 
ven und Schönen, fie fehen „das ganze Wefenall für Einen Or⸗ 
ganismus in Weſen an, oder doch wenigftend für Einen Orga- 
nismus aus Weſen oder Gott, erfaßten ihr Verhältnig zum 
Ganzen, fie fahen ein, daß all ihr Denken, Fühlen und Wollen 
nicht bloß in ihnen felbft jei und fich auch nicht bloß auf fie be⸗ 
ziehen könne. Solche Gemeinpläge, wie Guted, Wahres, Schd- 
ned, Denken, Fühlen, Wollen, darüber her die laue, abgefottene 
Brühe des flachften Pantheismus, das iſt die Philofophie dieſes 
guten Mannes. Wir ftehen in der wengften Beziehung“ zu Gott 
u. vergl. 

Auf diefem Wege findet er denn die tiefe Bedeutung der Fauft- 
fage. Sie lehrt „in ihrer Tiefe ergriffen,“ daß „dem Menjchen in 
dem Gebiete der Sinnlichkeit weder das wahrhaft Schöne, noch 
pas Höchft Befeligende gewährt wird, daß er dieſes einzig und 
allein findet, wenn er dieſe nievere Sphäre des Seins mit der 
höhern vertaufcht und in das Weſen hinüberftrebt, aus dem er 
hervorgegangen ift und in welches er heimgehen muß, mofern er 
wahrhaft fein und genießen will, was unendlich ſchön und wahr 
und bejeligend iſt.“ Da könnte man ja über diefer Fauſtſage das 
ganze Evangelium, das ja doch nach dem Verfaſſer mehr nicht 
als ſolche flache Allgemeinheit enthält, entbehren. Nicht nur bie 
Sage aber, fondern auch Goethe's Fauft, deſſen Inhalt ver 
Berfafler mit dem der Sage ganz iventificitt, wird auf dieſe platte 
Allgemeinheit rebuchrt. „Und welches ift denn nun dieſe Wahr⸗ 
heit, die der Dichter in feinem Bauftne“ aus feinem innerften 
Geiſte „gewiſſermaßen“ in das Gebiet objectiver Wirklichkeit her⸗ 
ausſtellt? Ich will fle mit wenigen Worten andeuten.« Nun hebt 


131 


ber Berfafier zunächft wieder das Moment hervor, daß Alles in 
Sort ift, und daher auch dem Menfchen ber Drang imwohnf, 
welcher fortwährend, allem Irrthum und allen Störungen zum 
Troz nbintreibt zu dem Gebiete ver unendlichen Freiheit, Wahr⸗ 
heit und Schönheit.“ Siegt diefer Drang, fo tft der Menſch 
felig (ohne Kanonifation und andern kirchlichen Apparat, ſetzt ber 
Berfafler hinzu, der in Beziehung auf das freie Berhättniß, daß 
fih Goethe zur kirchlichen Anſicht giebt, recht gefund und unbe 
fangen denft — faſt da8 Einzige, was ih an ihm loben Tann). 
Diefe Wahrheit, fügt er bei, ift diefelbe, die im Fetiſchismus 
der Aegypter (2) 3. B. gar nicht möglih war, weil da Alles 
„mehr“ als geiftlofe Natur hervortritt, die in der Phantaſie⸗ 
Meligion der Inder dämmert, von den Juden und Hellenen ges 
ahnt wurde, aber erft im reinen Chriftenthum wahrhaft erfaßt 
ift, und innerhalb deſſelben durch den größten Philofophen, den 
-Tange verfannten und nun feligen Kraufe mit überzeugenden Wors 
ten ausgefprodhen wurde (S. 220). 

Jene Idee nun, über deren zweckmäßigſten Ausdruck wir 
jetzt nicht weiter rechten wollen, darf allerdings als die allgemeine 
Grundlage der Tragödie betrachtet werden. Allein wie begreift 
der Verfaſſer nun ihren concreten Inhalt? Die allgemeine Idee 
von dem Aufgehobenſein der Welt in Gott ſpricht am Ende alle 
Poeſie aus. Es kommt nun darauf an, daß wir Fauſt und 
Mephiſtopheles näher kennen lernen und die individuelle Geſtalt, 
die hier der Kampf des Guten und Böſen annimmt. Man ſpringt 
doch nicht fo mit gleichen Füßen ind Weſenall hinein, es giebt 
Doch unterwegs noch Manches zu thun. Sehen wir hierüber den 
Abſchnitt nah: „Das Drama Fauſt als die finnliche Darftellung 

| 9 * 


132 


der in ihm ausgefprochenen Grundwahrheit “ (dies ift, wie wenn 
man fagte: Der Menſch als der Körper feiner Seele, — doch 
es geht zur Noth, ja es kann tief Elingen, Hegel Eönnte fo fagen, 
aber Sr. Reutbecher iſt nah der gemeinen Logik, die fein Geſetz 
ft, zu beurtheilen. Vergebens aber erwartet man, wozu dieſe 
Aufſchrift Hoffnung machen könnte, eine Afthetifche Kritik). 
Dazu vergleiche den fünften Abfchnitt: Das Einzelne, zunächft 
bie Zuelgnung. 

Fauſt's urfprüngliches und mwefentliches Pathos, der Wiſſens⸗ 
drang und Zweifel, iſt fo gut als gar nicht hervorgehoben, zwei⸗ 
mal, wo der Verf. an dieſen Hauptpunft fommt, überjpringt 
ex ihn mit ein paar vagen Worten, ©. 224 u. 262. Und do 
war bier noch jo Manche zu fagen, mad die Vorgänger nicht 
gehörig aufgehellt Hatten! Es war zu unterfuchen, wie weit Kauft 
Sfeptifer ift, wie weit nicht, wie er fich vom confequenten alten 
Skepticismus dadurch mwefentlich unterfcheidet, daß er alle vorlies 
genden Verſuche des Geiſtes, ſich die Erfenntniß der Wahrheit 
zu vermitteln, zwar verwirft, aber dabei die Wahrbeit doch vor: 
ausfegt und ihre Erfenntniß durch einen Sprung erobern will; 
e8 war 3. B. nachzuweiſen, warum Fauſt (was u. U. Rouſſeau 
in feiner Schrift: Ehrentempel Goethes, irre gemacht hat), aller 
dings fagen kann: mich plagen weder Scrupel noch Zweifel, indem 
er darunter die vereinzelten Zweifel de8 Dogmatismus meint, ber 
ſich über den oder jenen Sag Serupel macht und übrigens doch 
vor dem ganzen Kram herfümmlicher Kategorien, Argumente 
u. f. w. unbedingten Refpect bat. Fauſt's religiöfen Unglauben, 
ber fich bei den Tönen des Dftergejanges ausſpricht, bebt er gar 
nicht hervor. In Bolge diefer Unterlaffung muß nothiwendig nach⸗ 


133 


ber das ganze Verhältniß zwiichen Kauft und Mephiſtopheles und 
die nähere Geftalt des Planes der Tragödie ganz ind Unbeſtimmte 
zerfließen.. Derfelbe Durft nach dem Lirfprünglichen, nach eſſentiell 
myſtiſcher Vermählung des Subject mit dem Objecte der Er⸗ 
fenntniß , der in Fauſt ald Denker brennt, flürzt ihn ja ins 
Meer ver Benüffe, drängt ihn, fein Selbft zum Selbft der Menſch⸗ 
heit zu erweitern, indem er, vorher theoretiſch, eine praftifche 
Geftalt annimmt Den berrlihen Gontraft des Wagner gegen 
Fauſt, der Pedanterei gegen die Genialität, des Dogmatismus 
und Formalismus gegen den Skepticismus und Myſticismus, der 
Kenntniffe gegen die Erfenntniß , des geiftlofen pofltiven Krams 
mit feinen Eleinen atomiftifchen Zweifeln und feiner großen Ach⸗ 
tung vor dem Buchftaben gegen den Schöpfungäbrang ber Spon- 
taneität, dieſen unfterblichen Gontraft, wodurch diefe zwei Biguren 
fo ewig wie Don Quirote und Sancho Panfa für alle Zeit plaſtiſch 
in der Poeſie vaftehen, zieht der Verf. in feiner breiigen Unbeftimmt- 
heit auch nicht mit der rechten Schärfe, da er Wagner das eine Mal 
viel zu mild „die Schritt um Schritt vorwärts ftrebende Gelehr⸗ 
famfeit“, auch „die bejonnene Gelehrfamfeit“, dad andere Mal wies 
der zu ſpeciell tadelnd „die perfonificirte Schulfuchſerei⸗ nennt, 
„die nur Ruhm als das Höchfte begehrende Gelehrſamkeit.“ Jene 
Inbrunſt nad) intuitiver Erfenntniß ift aber zugleich Fauſt's Schwä⸗ 
che, denn ungebuldig verachtet fie mit den ſchlechten auch bie rechten 
Mittel des Erkennens und fehlittet das Kind mit dem Bade and, es 
ſpricht ſich daher ſchon in ihr die Sinnlichkeit eines heftigen Tem⸗ 
peraments aus: die Blöße, tie Fauſt dem Meyhiſtopheles bietet, 
and die diefer benußt, da Fauſt, mie Juſt. Kerner’ geiſtreicher 
Todtengräber (f. deſſen Icaxus) fliegen zu Eönnen wuͤnſcht. 


134 


Dieſem Manne gegenüber , der immer oben hinaus will, 
kann nım Mephiftopheles nicht, wie der Verf. immer meint, nur 
beftimmt fein, die Sinnlichkeit zu repräfentiren. Erift nach ihm 
mber finnliche Geiſt, das finnliche Weſen, Berfonification des finn- 
Üchen Triebs, der Eolofiale Nepräfentant des ſinnlichen Triebe.» 
©. 257 ff. firengt er ſich ſogar an, das Böfe überhaupt zu de⸗ 
finiren. Nachdem er Mephiftopheles als den Repräfentanten ber 
Sinnlichkeit und Wandelbarkeit bezeichnet bat, fährt er fort: 
„Ohne dieſes Princip wäre das Leben der abſolute Tod felbft 
und ohne es würde aus dem Tode nicht Leben.“ Mit richtigem 
Blicke feht er Hinzu, Gott ſei nicht bloß Geiſt, er ſei auch das 
bewegende Weſen, das Antreibenve zum Werben, ohne welches 
das Unendliche nicht ind Endliche überginge, und nennt Meyhi⸗ 
ſtopheles S. 260 ven Geiſt des Veränderns, dad zum Anders⸗ 
werben reizende Wefen. Gr hat alfo wohl eingefehen, daß ber 
legte allgemeine Grund des Böfen die Schranke oder Negation 
tft (determinatio est negatio), und ed wäre zunächft nur zu 
mwünfchen, daß er vengemäß auch hervorgehoben hätte, mie viel 
richtiger fih Mephiftopheles bezeichnet, wenn er fagt: ich liebe 
mir die vollen, friſchen Wangen, für einen Leichnam bin ich nicht 
zu Haus, ald wenn er in jenem verunglücten Verſuche, im 
Geſpräche mit Fauſt fich zu definiren, jagt, biefe plumpe Welt 
zu zerſtören fei feine Leidenſchaft. Nun war ed aber die meitere 
Aufgabe, die vermittelnden Begriffe zu entwickeln, wodurch dieſes 
metaphyfiſche Princip zum Böfen im eigentlichen, ethiichen Sinne 
wird, zu zeigen, wie das _Princip der Scheidung, Individualifi- 
rung, wodurd das Eine Unendliche in die Vielheit der Einzel- 
weien fi fpaltet, jedes Individuum treibt, ſich gegen das andere 


139 


und gegen dad Ganze zu erhalten, wie viefer egoiſtiſche Selbſt⸗ 
erhaltungstrieb im Menſchen, weil dieſer als geifliges Wefen feine 
Sinzelheit zum Princip erheben fann, zum Böfen wird. So 
mag man bann Immerhin in einem gewifien Sinne das Boͤſe aus 
der Sinnlichkeit ableiten, denn der Menſch ift Einzelmefen durch 
bie finnlihe Bafls feines Geiſtes, wiewohl allerdings erft bie 
zum Grundfag erhobene Sinnlichfeit, bie in dieſer Sublimirung 
fogar einzelne ihrer Zwede aufopfern kann, böfe iſt. Aber dieſe 
vermittelnden Begriffe überfpringt der Verf. mit einer Phrafe, 
worin man nur mit Mühe eine Andeutung derſelben finden kann. 
Sei jenes bewegende Princip, fagt er, mit Gott in voller Har- 
monie, jo fei ed der heilige Geift, fei es „gleichſam⸗ mit ihm 
im Kampfe begriffen, fo werde e8 der Böfe genannt. „Als hei⸗ 
liger Geift, führt er fort, ftrönt ed das Unmwandelbare in has 
Gebiet des Veränderlihen und Endlichen, und als der böfe Geiſt 
treibt es das Unwandelbare aus dem Gebiete des Endlichen wieder 
in Gott zurück, daher es als folches auch zuletzt immer nur das 
Gute ſchafft.“ Mag man die VBerfühnung Gottes und der Welt, 
der Schranke und des Unbeſchränkten immerhin den heil. Geift 
nennen, wiewohl es nicht paflend ift, aus dieſer metaphuflichen 
Weite fogleih in diefe concrete Beftimmung überzufpringen,, am 
wenigften, wenn man den Begriff der Sünde oder des Böſen 
vorher gar nicht entwickelt hat: fo iſt doch für's Erfte hier gar 
nicht motivirt, wie das feheidende Princip ſich zum Böfen fteigert, 
für's Andere ift es begrifflos und wiberfpricht der obigen richtige- 
ten Beftimmung des Verf., vom böfen Geifte zu fagen, er treibe 
Das Unwandelbare aus dem Gebiete des Endlichen wieber in Gott 
zurück, ba er vielmehr beſtrebt ift, dad Endliche für fich zu fi 


136 


sen, fo daß es in der Iſolirung feines Eigenwillens felbft das 
Unwanbelbare barzuftellen behauptet. Die Verſöhnung bieler 
Feindſchaft aber realifirt fich dadurch, daß das Gute, auch diefem 
feinen Zerrbilde noch innwohnend, demfelben feinen inneren Wis 
derſpruch zu fühlen giebt und es fo von innen heraus deftruirt 
und in feine Einheit mit Gott zurücknöthigt. Hierin liegt au) dad 
Moment, aus welchem ber wahre Begriff der Stellung des Bö⸗ 
fen zur Weltordnung zu entwickeln iſt: das Böſe hat Feine ande⸗ 
ren Mittel als das Gute, es vereinigt diefelben Kräfte, bie das 
Gute hat, um ein falfches Centrum, ift aber ebendaher unorga⸗ 
niſch, nichtig und unmächtig. Es iſt aber von Gott (freilich nicht 
für fih, es ift ja auch gar nichts für fich) georbnet, damit dad 
Gute an biefer feiner Afterbilvung fich felbft erfenne und aus dem 
Schlummer gereizt werde. Hieraus wäre erft abzuleiten, warum 
Mephiſtopheles nothwendig verlieren muß, und an die Stelle der 
vagen Ausdrüde, daß Kauft trog jeinen Verirrungen feinem 
Urquell zuftrebe u. ſ. w., beflimmtere zu fegen, ja zu beieelfen, 
wie er nicht nur trotz, fondern vermittelft diejer Verirrungen 
zu einem vernünftigen und feligen Menſchen heranreift. Dies 
führt und auf den Punkt, von dem wir auögingen, zurüd. 

Hat namlich der Verf. fhon bier ganz außer Acht gelaften, 
bie vermittelnden Begriffe, wodurch das Princip des Endlichen 
und Sinnlihen in der Welt des Geifted zum Böſen culminirt, zu 
entwideln, fo folgt von ſelbſt, daß er auch in der meiteren Er⸗ 
Härung des Drama Mephiftopheles , flatt ald den Böſen, nur 
als den Sinnlichen auffaßt. Nimmt er ihn fo zu leicht, iv überſieht 
er doch auf ber andern Seite das Heiliame und mitelbar Gute. 
was Mephiſtopheles wirkt. Meyhiſtopheles für ſich iii böſe, wie 


137 


die Sinnlichkeit und ber realiſtiſche Verftand, mo fle fich zum 
Vrincip machen und für Gelft und Vernunft audgeben, ind Boͤſe 
umſchlagen. Zufammengenommen mit Fauft aber, alfo abgefehen 
von biefer feiner Iſolirung, hat er auch fein mohlbegrünbetes 
Recht, daſſelbe, das ein gefunder Realismus gegen einen einſeiti⸗ 
gen Idealismus, ein derber Cynismus und grober Verftand gegen 
eine überfpringende Vernunft, die Ironle gegen den Enthufiasmus 
bat. Beide zufammen, Fauſt und Mephiftopheles , find erft ein 
Menſch, der Menſch. Kauft lernt von Mephiſtopheles, wie 
Don Quirote von dem, freilich unſchuldigeren, Panfa, vefien 
Beifpiel wir auch bier, wie oben zu Wagner , anführen Fünnen, 
recht viel Gutes und Wahres fih fagen laſſen muß, es kommt 
nur darauf an, daß er dad Gute von ihm annehme, das Schlechte 
weglaſſe, was freilich fo ſchwer iſt, daß es nicht immer gelingt. 
Merbiftopheles Hat mit feinen realiftifch groben Aeußerungen 
immer halb Net, wie 3. B. Kant und Leſſing Halb Recht ha⸗ 
ben, wenn fie dad Moment der Sinnlichkeit in der Liebe und Che 
(freilich einfeitig, daher ebenfo verwerflich) premiren. Die Wahr- 
beit nun, daß das Böſe eine pädagogiſche Bedeutung hat als 
heiljame Mahnung an die Schranke überhaupt, als Reiz ber 
Verſuchung, der die faule Tugend aus ihrem Schlummer weckt, 
als Verſtand, welcher ver Vernunft die Grenzen der Dinge zeigt, 
als Wehre, morüber der Strom des Lebend rauſcht, zu entwi⸗ 
dein, war der Drt in der Erklärung des Pacts zwiſchen Fauſt 
und Mepbiftopheles ; aber bier weiß der Verfafler nur ganz un 
beftimmt und allgemein hervorzuheben , daß Fauſt nicht verloren 
fein Eönne, fagt davon nichts, daß dieſer Bund nicht nur nicht 
verberblih , fondern, wenn Fauſt jeine Freiheit fich vorbehält, 


138 


fogar lehrreich und fördernd für fene Erziehung zu vernünftig 
beſchränkter Thatigkeit ausfallen muß. Daher fagt er auch über 
bie bedeutende Schluß - Scene bed erften Theil nicht? als, man 
bürfe an Feine Höllenfahrt denken, Fauſt fei eben „unbefriebigt.« 
Er iſt nicht nur unbefriedigt, fondern zerriffen von ber tiefſten 
Meue, und es kommt nun barauf an, daß er ſich aus dieſer eine 
beiljame Lehre ziehe, was freilich in der erſten Scene des zweiten 
Theils ganz Äußerfich und hürftig dargeftellt wird. Dagegen be 
merkt der Verf. zur Schluß-Scene tes zweiten Theils richtig, daß 
Fauſt erlöft werden muß, weil er zu vernünftiger, reeller Thätig⸗ 
Teit übergeht, aber dieſe Einftcht fteht ganz unvermittelt da, well 
Im Vorhergehenden nicht nachgetwiefen tft, wie died das Reſultat 
fel der Erziehung, die Kauft im Bunde mit Mepbiftopheles, wel⸗ 
er freilich ald Perſon für ſich diefe gute Folge nicht gewollt Hat 
und fich nicht zufchreiben darf, erhält. . 

So viel Über des Verfaſſers Behandlung der durchgreifenden 
SHauptmomente bed Drama. Alle Unrichtigfeiten, Schiefheiten, 
Berwäflerungen, Abfurbitäten, die fich in feiner Erklärung des 
Einzelnen finden, aufzuzählen wäre eine Hercufeö- Arbeit. Ich 
führe nur Einzelned an. 

Wie abjurb ift ed geiagt, wenn ed von dem Director im Vor⸗ 
friele heißt: „ber Director ift die Berfonification der gewinnſüch⸗ 
tigen Selbftfucht, des engherzigften Intereſſes, — damit erbärm- 
lich.“ Gegen eine ganz heiter und behaglic behandelte Figur fo 
enthuftaftifch ausbrechen, ift Fnabenhaft. Ueberhaupt verratben 
die. meiften Schriften in biefer Litteratur einen gewiſſen Mangel 
an Gefühl für die humoriſtiſche Leichtigkeit und Behaglichkeit, 
womit ber Dichter auch die gemeineren Charaktere, Wagner, bie 


Trinkerin Auerbach's Keller u. ſ. w., in ihrer Art idealiſirt hat. 
Da tft gleich von Rohheit, Erbärmlichkelt u. |. f. Die Rebe, da 
it fein Sinn dafür, wie auch dad Gemeine dadurch, daß e8 ko» 
miſch gehalten iſt, ſich Abfolution verfchafft. — Mit einer ganz 
Allgemeinen, flüchtigen Bemerkung geht ber Verf. S. 227 über 
die treffliche Scene zwiſchen Mephiftopheled und dem Schüler bin, 
©. 272 kommt er darauf zurüd, tft geneigt, die Ausfälle des 
Mephiftopbeles gegen die Metaphyſik auf Haller und Kant zu 
beziehen (morüber ich nachher zu Weißes Säit Einiges bemere 
fen will), und jagt ganz verfehrt: Mephiftorheles ſpreche hier 
überall ganz als Fauſt. Mephiſtopheles will dem Schüler vie 
Wiſſenſchaft, indem er fle ihm anräth, verleiden, weiß aber recht 
wohl an fih ihren Werth zu erkennen, fonft hätte er nicht über 
Kauft gejagt: Verachte nur Vernunft und Wiſſenſchaft, des Men⸗ 
ſchen allerhöchfte Kraft! -— Die Sonne heißt Hr. Leutbecher den 
ineorporirten Geift S. 256, Geiſt und Licht identificirt er ganz: 
„Geiſtweſen over Licht.» — Die Magie Fauſt's wird definirt 
durch: mdie von dem fchaffenden Geifte der Poeſie und Kunft 
durch und durch befeelte Welt- und Natur⸗Durchforſchung.“ Da 
fönnten wir ihm ja zu feiner Magie nur gratuliren, und unbe» 
greiflich wäre es, warum er denn mit diejer trefflichen Kunft boch 
gar nit vom Fleck kommt. Fauſt's Magie bedeutet — Fauſt's 
Magie, und wie in der Magie überhaupi die Ungeduld des eigen- 
finnigen Willens fich Fund thut, ber mit Berwerfung der Mittel 
unmittelbar über die Natur disponiren will, fo will Kauft dur 
dieſelbe Ungeduld die Natur zwingen, feinem Wiſſensdurſt ihr 
Räthſel zu offenbaren. — Warum Fauſt trog dem Entzüden, 
dad aus der Anfchauung des Makrokosmus in ihn überfließt, 


140 


fortbärftet, iſt ebenfalld nicht gejagt. Wir bemerften ſchon an« 
derswo, daß die forcirte Intuition ihrer Natur nach etwas Mo⸗ 
mentanes ift. — Der herrliche Contraft zwiſchen Fauſt's Seelen 
zuftand und der Leichtigkeit, womit die glüdlih blinde Menge 
fich über die Tiefen des Lebens weghilft, den der Dichter durch 
den Spagiergang vor dem Thore gewinnt, ift nicht hervorgehos 
ben. — Der Geiſterchor, der Fauſt's Fluch auf alle Genüffe des 
Lebens beklagt, wird gedeutet auf „bie reinen, die Weſenharmo⸗ 
nie beförbernden Geifter, hier die Mepräjentanten feines befieren 
Bemwußtfeins« ; es find ja aber Geifter des Mephiſtopheles, er 
nennt fie „die Kleinen von den Meinen“, fie laden Fauſt zu 
neuem, d. 5. vollfommen im Sinnlichen befrienigten Genußleben 
ein, wie es im Intereſſe des Mephiftopheles ift, ta dieſer und 
feine Geifter Feine Freude an der von Fauſt ausgefprochenen Ber: 
achtung des Genuſſes haben Fönnen. Pſychologiſch gedeutet ift es 
das nachdröhnende Gefühl des Fluchs in Fauſt, ein leiſes Bes 
mitleiden feiner felbft, nachdem er die ſchöne Sinnenwelt ver: 
mwünfcht hat. — Bon Gretchen, da fie zuerft auftritt, heißt es: 
„bisher hat das arme Kind in einem dunflen Dörfchen gelebt 
u. |. w. Sie ift dabei die reinfte Jungfräulichkeit und Unſchuld 
felbft geblieben. Iegt iſt dies holdſelige Kind in der Stabt.« 
Wahrſcheinlich lernt fle Kochen und Franzöſiſch? — Unter ber 
feyliftiich eremplarifchen Aufſchrift: „Die Handlung des Bekannt⸗ 
werdens mit Gretchen“ heißt ed unter Anderm: med ift ſelbſt 
dadurch, daß die Nacht des eigentlichen Genuffes am Ende dieſes 
Actes fehlt, Feine Lücke entftanvden, denn es bleibt gleichwohl 
Alles bier in voller Einheit.“ Aber, aber! Bortreiflichiter Freund! 
Sie find doch im ganzen Buche jo tugenphaft! Wo denfen Sie 


141 


bin? Sollte denn bieje Nacht wirklich und orbentlich dargeſtellt 
fein? Im jeßigen Theatergeſchmack wäre es allerdings. — Die 
Trödelhere auf dem Blocksberg, bie lauter Werkzeuge ber ver- 
ruchteſten Verbrechen feil beut, fol — ganz Leutbecheriſch — nur 
ein Bild „nievrigfters Sinnlichkeit fein. 

Doch genug und ſchon zu viel; wir Haben den Verfaffer als 
Metaphyfiker und Commintator bereitd binlänglich kennen gelernt. 
Als Aefthetifer müfjen wir ihn erft noch kennen lernen. Es ver- 
fieht ih, daß bei einem folchen Manne von Kritik nicht die Rede 
iſt. In Goethes Fauſt iſt Alles vollkommen, unübertrefflich. Nichts 
im Simmel und auf Erden iſt, was nicht in dieſer Tragödie fteht. 
„Died Drama ift der geiftreichfte Organisnıus einer Himmel und 
Welt, Geift und Natur innigft umfaffenden und vereinenden Idee, 
der Idee nämlich, welche ſowohl durch die Geſchichte des Einzel- 
menſchen, als auch durch die dei gefammten Menichheit in ihrem 
Verhältniß zu dem Wefen felbft, in melchem Alles ift und Alles 
felig ift, theils ſchon verwirklicht worden ift, theils noch verwirk⸗ 
licht und dargelebt« (dad unfinnige, affeetirte Wort bat er von 
Carus) „werden wird.“ „Hier ift die Philofophie des gefammten 
Menjchenlebens in der reichften Poefle aufgegangen.“ „Died 
Merk, deſſen hier mitgetheilte Werthſchätzung von Vielen vielleicht 
eine übermäßige bezeichnet werben wird, aber darum Feine über- 
mäßige ift, war au u. |. w.“ Hier iſt Tauter Plan, Zuſammen⸗ 
hang, Einheit, nicht nur im erften, fondern auch im zweiten 
Theil, der letztere „erweitert durch Folgerichtigfeit ter Scenen 
ſowohl, ala durch Neichhaltigfeit an Schönheiten und Gebanfen- 
fülle die einfache Allegorie des erften Theiles in daß Großar⸗ 
tigfte.“ Hier find wir an dem Punkte, wo der vollſtändige 


- 


142 


Mangel an allem poettihen Gefühle, ja die craffe äſthetiſche 
Ignoranz des Verfaſſers auf ihrem Gipfel erfcheint. So wenig, 
fo gar nicht8 weiß er von den Unterfuchungen ver Aeſthetik über 
bie verfchiedenen Verhältnijje, in melde Bild und Idee in ber 
Kunft treten Eönnen, über ven Unterſchied ver Acht poetifchen Ges 
ftalt von der Allegorie, daß er ganz harmlos, als hätte Niemand 
etwad dagegen einzumenden, ald hätte Niemand Br. Schlegel 
und Solger widerlegt, wenn jener das Schöne überhaupt, biefer 
das romantiſch Schöne allegorifeh nannte, ſchon den erften Theil 
eine Allegorie nennt! „Öroßartige Allegorie/ &. 253, „plaftifche 
Allegorie« 222 u. ſ. f. Unter folden Umftänden iſt e8 denn 
nicht zu verwundern, wenn er ſchon bie concreten Geftalten bes 


erſten Theils in dickhäutig ſtupider Wehlweisheit zu Allegorieen 


verflüchtigt. Armes Gretchen! Auch du mußt nun eine Allegorie 
fein! Nachdem du fehon unter dem Henkerbeile geblutet, richtet 
dich Die Kritik noch einmal hin! „Es fcheint zwar, daß die Ges 
ſchichte mit Gretchen Feine Allegorie fei, allein es fcheint auch nur 
fo; die Kunft des Dichters bat hier faft fich felbft übertroffen, 
indem fie und eine Allegorie fo Hinftellt, daß wir fie kaum für 
eine ſolche, weit eher für eine wirkliche Gefchichte halten möchten“ 
&. 278. Die Deutung folgt 282: „Gretchen ift nichts Anderes 
als das Einfachſchöne, dad Einfachwahre und Gute in dem Weſen 
feine8 (des Dichter) eigenen Genius, welches er ſich durch Ab» 
ftraftion objectivirte u. ſ. w. in andermal iſt Gretchen das 
Naturjchöne, Helena das claſſiſche Schöne (S. 309). Valentin, 
du derbe, markige Geftalt aus dem Volke, du bift nun mein 
fittlider Soldat,“ „ber Repräfentant der fittlihen Kraft und 
Würde.“ Man meine nicht, der DVerfafler nehme den Begriff 


143 


ber Allegorie fo unbeflimmt, vaß wir folche Bezeichnungen und 
gefallen laſſen könnten; Balentin repräfentirt allerdings bie ehr⸗ 
bare ftrenge Sitte, aber e3 erhellt ſchon aus. dem abftracten 
Ausdrude Sittlihfeit, daß der Verfaſſer dieſe Geftalt im 
feinem anderen Sinne für eine Allegorie hält, als in welchem fie 
es nimmermehr ift. Ebenjo repräjentirt Gretchen allerdings, was 
das weibliche Ideal überhaupt gegenüber dem männlichen, Seelen- 
veinheit, Harmonie, Anmuth: aber fo repräfentirt fie dies, daß 
ed ihre wirklihe Seele ift, und nicht diefe abftracten Begriffe 
überhaupt, fondern bieielben eben nur in diejer Boncretion, 
welche Gretchen ift, in diefem Drama wirken und auftreten. Wie 
ganz äußerlich und zufällig aber dem Verfaſſer die Verbindung 
dieſer Ideen mit der concreten lebendigen Geftalt im Gebichte ifl, 
bemeift feine Manie, ven geiftigen Inhalt des Gevichts aus dieſem 
Zuſammenhange beraudzureißen und unmittelbar auf die Lebens⸗ 
geſchichte des Dichter zu beziehen; denn er hat gehört, daß ber 
Dichter in feinem Gedichte das eigene Innere niederlege, und wie 
der platte Verſtand fogleih alle Begriffe vergröbert, jo confun« 
Dirt er nun das Gedicht ganz mit dem Dichter. „Die Gefchichte 
mit Gretchen, mit ihren Vorbereitungen und ihren Folgen, ent⸗ 
hält zugleich die Gefchichte der Beftrebungen Goethe's ald Dichter 
in feiner erften Periode.» Das Gefchmeivefäfthen, das Fauft ber 
Geliebten ſchenkt, mbezeichnet ſymboliſch des Dichters erfte 
Reiftungen (etwa Werther's Leiden).« Das Herumwerfen 
Fauſt's im Seffel gleich anfangs in der erften Scene wird alles 
gorifch fo gebeutet: „Er oscillirt wie die ihren Pol fuchende 
Nadel“ sc. zwifchen den geiftigen Mächten, bie ihn von verſchie⸗ 
denen Seiten anziehen. Das Pentagramma bedeutet „Die irdiſche 


n 


144 


Hülle des Menſchen,“ und das Mephiſtopheliſche Weſen kann 
nur dann erft von ihm weg, wenn „die Hatte, das ven leib⸗ 
lichen Menfchen zerftörende Princip,“ viefelbe zernagt Hat. Die 
wilden Trinker in Auerbach's Keller find, fo wagt der ſchüchterne 
Verfaſſer wenigftend zu vermuthen, eine Hindeutung auf bie 
zweite Schlefifhe Schule. Die Here in ihrer Küche iſt die 
Muſe des Unfinns in der deutfchen Litteratur zu Goethe's Zeit 
u. f. fe — Da werden der Hr. Beftelmeyer in Nürnberg eine 
Freude gehabt Haben! Das find nette Stückchen in feinen Laden! 

Macht fich ver Verfafler Allegorieen, wo eine find, fo find 
ihm die wirklichen Allegorieen des zweiten Theild noch nicht alles 
gorifch genug, und er macht Allegorieen der Allegorieen. Der 
Kaiſer ift der europäiſche Menfchheitgeift. Die Schlacht zwifchen 
den Kaiſer und Gegenkaifer ift wahrfeheinlich ein Symbol ver 
Fehde zwiſchen den Geognoften, doch zieht der Verfaſſer dieſer 
Deutung noch die andere tiefere vor, wonach der Gegenfaijer ven 
ber Herrichbegier der Kirche bequemeren Geift der Zeit bedeutet, 
welcher nah den Befreiungöfriegen gegen Napoleon eintrat 
(S. 336 ff.), die faljchen religiöß=politiichen Tendenzen diefer 
Periode. Don diefen zweierlei Auslegungen zieht der Verfaſſer 
beidenmüthi, die zweite vor, „jelbit wenn fie falich fein follte« 
(S. 339). — Wenn Fauft dad Hüttchen der alten Leute Phile⸗ 
mon und Baucid weghaben will, un feine Anfiedlung auszu⸗ 
behnen, fo fagt hiezu der Verfaſſer: „das Gebiet der Poefie, 
Aunſt und Wiſſenſchaft hat Fauſt durchwandert, aber das Gebiet 
ber von allem äußerlichen, ungeeigneten Anklebſel reinen Neligion, 
das alle Thätigkeit in der höchſten Stufe Veredelnde und eben die 
freieſte Ausſicht Gewährende iſt noch nicht dad Seinige.“ 


145 


Nehmen wir zu all diejem Wahnwitz noch die läppiſche After- 
weisheit der Kraufiſchen Terminologie, den ſchulgehilfenartigen 
Purismus, „mwejenlih“ „bedungreich“ und dergl., jo fehlt nichts, 
als einige Proben der unnatürlichen Sapbildung , des zahm limi⸗ 
tirenden, abgeichwächten Redens, um ein vollfonmenes Bild des 
ihönen Ganzen zu befigen. „Der nur etwas Geift Habende“ 204. 
Das Kleeblatt Fauſt, Mephiſtopheles und Homunculus zieht 
jeder feiner Straße, „beſondere Zwede habend“ 315. Dann die 
abichwächenden Partikeln, Gomparative u. f. w., Die einen 
bloßen Grab oder eine bloße Aehnlichkeit ausdrücken, wo abfolut 
zu ſprechen und die Sache telbjt zu bezeichnen war, mie: bie 
Leidenſchaftlichkeit iſt „mehr“ beherrfcht, dem verirrten Geift der 
Zeit gefällt „eigentlich nur mehr“ das Verzerrte; daß der Menſch 
fih durch einen Bund mit dem Böſen aus der Sphäre des Wefens 
oder Gottes verbannen könne, iſt dem Bauft „nicht fehr wahr- 
ſcheinlich;/ Goethe war dem Neptunismus „ſehr“ zugethan (er 
war ihm zugethan); Gebet und Buße find bei ſchweren Vers 
ſuchungen „minder wichtige Dinge.“ So geht ed mit gleichfam, 
fogar, Häufig, meiftens, mehr, nur mehr, minder und dergl. 
fort. Defterd führt der Schalf einen wißigen Seitenhieb mit ſei⸗ 
ner jcharfen Klinge, 3. B. zu der Erzählung nad dem Puppen⸗ 
ſpiel, wie Bauft nach längerer Abwefenheit jeine DBaterftadt 
Wittenberg von Weitem an den Ihürmen erfennt, fügt er bei: 
„das Einzige, was oft die Menſchen von ihrer Stadt fennen und 
im Gedächtniß behalten!“ 

Sp hätten wir nun biejen Leidbecher bis auf die Hefen aus⸗ 
getrunken! Es war fein kleiner Schluck! „Warum aber auch fo 
gründlich bis auf den Bodenſatz?“ Du Fieber Himmel, ich will und 

Kritiſche Gänge ll. 10 


146 


darf ja Niemand Unrecht thun! Ich muß beweiſen, und laſſe ich mich 
einmal auf’8 Beweifen ein, fo giebt ein Wort das andere und ich kann 
dem Lefer nicht helfen, er muß mit mir durch Did und Dünn, ex 
muß den ganzen Trunf fhlürfen. Au wolle man gefälligft nicht 
überfeben, daß Hr. Leutbecher, nicht mit einer beicheidenen Bro⸗ 
fhüre, wie feine Bordermänner , fondern mit der bidleibigen 
Miene auftritt, das Gedicht erfchöpfend zu durchwandern. 

So wie mit unferer Geduld find wir nun aber auch mit dies 
fer Reihe von Commentaren zu Ende. Das Gröbfte liegt, Gott 
fey gedanft, hinter und. 


Machen wir hier zu unferer Erholung eine Fleine Paufe. Ich 
hole nur na, daß ich den Kommentar zum zweiten Theile von 
Dr. @. Löwe, Berlin 1834, abfichtlich nicht aufgenommen habe, 
weil ein folder Commentar wie fein Gegenftand gar nicht in's 
Geld der Afthetifchen und philofophifchen Kritik gehört, und ung, 
ob die Interpretation gelungen. ift oder nicht, höchſt gleichgültig 
fein kann. 


eng en 


Zweite Meihe. 


Fünf Hegelianer. Mit Freuden begrüßt man bier fogleich 
das, dieſen philofophifchen Interpreten gemeinfame, Zutrauen zu 
ber Gompetenz der Vernunft, woraus unmittelbar hervorgeht, 
daß das urfprünglide Pathos Fauſt's, fein Wiſſensdrang, von 


147 


dieſer Neihe richtig gewürbigt und nicht an der Schwelle ſchon das 
Hauptniotiv verfannt wird. Dieje Schriftfteller willen, was fie 
wollen, und taumeln nicht in haltungsloſer Confuflon. Dagegen 
fieht man fi in einer anderen Hoffnung getäufht, in der näm⸗ 
ih, daß Männer, die auf der Höhe des freien Denkens zu 
fteben behaupten , auch dad Gedicht ſich objectiv Halten, d. h. daß 
fie nicht hineinlegen werben, was nicht darin liegt, und daß fie 
mit unbefangen kritiſchem Auge ſeine Mängel wie feine Vorzüge 
erforfchen werden. Die Hegel'ſche Schule hat in ber erften Be⸗ 
geifterung ihrer großen Entdeckungen fih nicht ganz von dem 
Schwindel frei erhalten, den man und den fie jelbft der Schel- 
ling’fchen vorwarf, von jener Manie, jedes nächſte Ding, ehe es 
nur ordentlich empiriſch beobachtet und zergliedert ift, fogleich unter 
den Standpunkt der Idee zu bringen und es als einen Compler 
alles höchſten und univerfalften Inhalts darzuftellen; fie hat 
überhaupt das Moment der Kritif vernachläßigt, fofern diefe ihrer 
höheren Thätigfeit eine ſchlichtverſtändige und vorausſetzungsloſe 
Zerlegung voranzufhiden hat. Allzu unterwürfig hat fie auf des 
Meijtere Worte geſchworen, und die vorliegenden Schriften, mie 
fie zum Theil von fortlaufenden Citaten aus Hegel, ald wäre’ 
diefer Goethe's Scholiaft, wimmeln, find fhon Beweis genug. 
Nach des Meifters Vorgang fand man das reinfte Mufterbild der 
Poeſie in Goethe; gewiß eine gerechte Bewunderung, die aber 
mitunter in blinden Gögendienft audartete. Es wird und daher 
nicht wundern, wenn wir auf dieſer Seite das unfritifche Abſo⸗ 
lutnehmen des Gegenftandes und die fyeculative Deutungswuth 
mit wenigen Ausnahmen, faft nur mit Einer, fogar noch höher 
gefteigert finden, als auf dem erften Flügel. Schon bie erfle 
10* 


148 


Schrift, die über den Fauſt erſchien, und alfo, wie die Schu: 
barth’jche, verfaßt ft, ehe man von einem zweiten ‘Theil ber 
Tragödie wußte, bewegt fih in dieſem Zopf- und Kamafchen- 


Dienft. . 


Ueber Goethe's Fauft und deffen Fortfegung. 

Nebft einem Anhange von dem ewigen Juden. Yeip- 

zig, 1824. 
Mottos Im Auslegen feid munter, 
Legt ihr's nicht aud, fo legs wad unser. 

Herr Göſchel beginnt mit einer Einleitung über die Sage 
von Bauft im Allgemeinen, fpricht gegen die falfche Beſcheidenheit 
der Vernunft, die ſich nur Anfichten und Feine Einfichten zutraut, 
den kräftigen Muth des begreifenden Denkens aus, macht aber 
jogleich eine falfche Anwendung auf die Volfsjage vom Dr. Fauft. 
‚Er meint, es ſei eben in ihr jener Mangel an Zutrauen zur 
Vernunft niedergelegt, der den Verſuch, das Höchſte zu begrei= 
fen, als Vermeſſenheit verdammt. Ganz wohl kann man es ſich 
gefallen laſſen, wenn er jagt, die Sage wurzle auf jenem din 
fein Abhängigfeitögefühle, wovon fich der Menſch nicht zu bes 
freien vermöge, auf jenem vernehmlichen Gefühle, daß ber 
Menfch nie die Bedingung feiner jelbft in feine Gewalt befommt; 
es iſt allerdings die Abficht ver Zauberei, über den Naturgrund, 
in welchem wir felbft wurzeln, durch das bloße Ausfprechen des 
Willens ohne Mittel (denn die jcheinbaren Mittel der Zauberei, 
Formeln und dergl. find Feine) zu herrichen. Aber Göſchel ſpricht 
Hier nicht vom Zauber, jondern von Fauſt's Wiſſensdurſt, denn 


149 


er feßt Hinzu, die Sage wurzle auf jener alten begrifflojen Ueber⸗ 
zeugung von der Linbegreiflichkeit aller Dinge, axaraAnwla, und 
von der Schwäche der menjchlichen Vernunft. Dies tft bereits 
eine Verwechslung ded Inhalts der Sage mit der vergeiftigten 
Geſtalt, die er durch Goethe erhalten hat. In der Pfizer'ſchen 
Darſtellung der Sage (Nürnberg, zuerft 1674) und in dem fürs 
zeren Volksbuche ıft von großem Wiſſensdrange ald Motiv von 
Fauſt's Abfall gar nicht die Rede; zmar erfcheint Kauft ald ein 
begabter offener Kopf, der in feinen Studiis folchergeftalt zu⸗ 
ninmt, daß er tüchtig erfunden wird, den Titel eined Magiftri 
zu erlangen; das ift aber doch noch lange nicht der Kauft, ber 
nach ſchrankenlos unendlicher Erfenntniß der Wahrheit ſchmachtet. 
Was dann feinen Vlebergang zur Zauberei vermittelt, ift keines⸗ 
weqs die Ungeduld über unzulängliches Wiflen ſchlechte Gejell- 
ſchaft, zerrüttetes Vermögen u. |. w. find die Urſachen. Mit dem 
Teufel disputirt er zwar viel, und läßt fih von Simmel und 
Hölle erzählen, doch mehr aus Neugierde, als aus Wiſſenstrieb, 
nachher aus Gewiffensangft. Diefe Geſpräche find offenbar ſpä⸗ 
tere Einfchiebjel eines Theologen, fle find ganz im Geſchmacke 
des 17. Jahrhunderts und gewiß der urſprünglichen Sage fremd. 
Im Puppenpiele fehlt dagegen jenes Motiv nicht. Wir fehen 
Fauſt, wie bei Ovethe, ungeduldig über feinen Büchern, er ber 
Elagt, zu keinem Ziele kommen zu Eönnen, und ergiebt fi darum 
der Magie; darin liegt ein Anflug von dem, was Goethe aus 
Fauft gemacht hat, aber auch nichts weiter, denn tief geht es 
bier gar nicht, ſonſt hätte das Motiv in den Hauptquellen, ben 
weit verbreiteten, beliebten Volksbüchern, nicht ganz wegäelaffen 
werden können, und fonft müßten wir in dem Bauft, wie er 


150 


nachher als Zauberer auftritt, doch noch eine Reminiſcenz an 
biefen Wiſſensdurſt finden, movon aber feine Spur zu fehen ift. 
Doch nicht nur den theoretiihen Zwieſpalt des Geifted mit fich 
fol die Sage enthalten, fondern „te umfaßt die Verzweiflung 
in allen Richtungen und den Weg zum Teufel in allen feinen 
Krümmungen, fie ift das Sinnbild alles menfchlichen Berverbens, 
infofern folhes aus der Verzweiflung, und biefe aud dem Miß⸗ 
verhältnifie zwiſchen Können und Wollen, Müflen und Dürfen, 
- zwifchen Freiheit und Nothwendigkeit, zwiſchen Subjeet und 
Dbject hervorgeht“ u. |. w. „Bauft iſt das allgemeine Indivi⸗ 
duum ber geſammten Menſchheit in ihrer äußern Vergänglichkeit.“ 
Wie Herr Leutbecher, nicht anders. Geſchichtlich ſoll die Sage 
mit allen zur Zeit des erlöſchenden Mittelalters fich durchkreuzen⸗ 
den Beſtrebungen im Zuſammenhang ſtehen, mit der Erfindung 
der Buchdruckerei, mit der Reformation in Sachen des Wiſſens 
ſowohl als des Glaubens, mit Carteſius, mit Spinoza, Fauſt's 
Name ſoll an den Buchdrucker Fauſt und den Freidenker Fauſtus 
Socinus erinnern. Es iſt aber erwieſen, daß Fauſt der Zauberer 
nichts mit dem Buchdrucker Fauſt zu ſchaffen hat; die Sage iſt 
überhaupt nichts als ein Zauber-Roman, der eine Menge von 
Zauberftüdchen, vie alle ſchon früher, zum Theil ſchon feit meh⸗ 
reren Jahrhunderten im Munde ded Volkes waren, um ben 
mythiſchen Namen Fauft verfanmelte und fo diejen Zweig der 

Romantik zu der Zeit, da diefe überhaupt verflang, im fechzehn- | 
ten Jahrhundert, abſchloß. Ebenſo ballten fich eine Menge gleich“ 
artiger Schwänfe, die man ſich vorher vereinzelt erzählt hatte, 
im Tyll Eulenfpiegel und in den Schilobürgern zufammen. Daß 
durch jenen Abſchluß das Weſen der Borftellungen vom Zauber 


151 


fich deutlicher hervorſtellen und zu einer beſonders marfirten Schil⸗ 
derung bes Fühnen Frevels fowohl, der es wagt, ausdrücklich 
mit dem abfoluten Gegenftande der Pietät zu brechen, als auch 
ber Schauer des Fluches, ven er auf ſich lädt, ſich fleigern mußte, 
iſt natürlich; doch ift daſſelbe Gefühl ſchon in der Sage von Teo⸗ 
philus und Mifitaris niedergelegt. Wir erhalten hier auch bereits 
-eine Probe von der Spielerei, bie des Verf. Stedenpferd iſt: 
„Fauſt's Lebensende im vierzigften Jahre erinnert nicht bloß an. 
ben alten derbdeutſchen Scherz , den das Sprichwort mit feinen 
Landsleuten ger foll in Knittlingen geboren fein) treibt, fondern 
zugleich an die allgemeine Schwabennatur des mit Blindheit ge» 
ſchlagenen Menſchengeſchlechts.« Wie viel war Über die limgeftal- 
tung der Sage durch Goethe. zu fagen! Der Verf. kommt auf 
dieſen Punkt am Schluſſe zurück (S. 146 ff.), beläßt ed aber bei 
ben ganz allgemeinen Ausdrücken, die Sage habe ſich verklärt und 
verftändigt, von Neuem geboren u. f. w. 

Sol ich nun den weiteren Inhalt diefer Schrift vorläufig im 
Allgemeinen charakterifiren,, fo kann ich dieß nicht paſſender, als 
durch den Ausdruck, daß der Verf. an einer Franken Ideen⸗Aſſo⸗ 
eiation leidet, oder richtiger an einer Franken Präponderanz biefer 
fpielenden Thätigkeit über die Vernunft. Ihm fällt bei Allem 
Alles ein; eine entfernte Aehnlichkeit Elingt ihm im Ohre, und 
er verbindet die entlegenften Dinge zu dem Scheine einer Einheit. 
Dieß thut au der Wiß, aber dieſer will feine wirkliche Täu⸗ 
fehung bervorbringen, es ift ihm nicht Ernſt. Denjenigen Seelen 
zuftand dagegen, wo die Vorftellungen aus ihren Zufanmeit« 
hange herausgeriſſen nach dem wirren Spiele der jogenannten 
Ideen⸗Aſſociation einander umtanzen, und wo foldhe Verbindun⸗ 


152 
gen doch mit der Behauptung des Ernſtes und der Wirklichkeit 
aufgeftellt werden, nennt man Wahnmwig. Eigentlich wahnwitzig 
nun fünnen wir Herrn Göfchel nicht nennen, denn er hat aller 
dinge ein Bewußtiein von der Tollheit feiner Ideen-Verbindung 
und ſcheint mit einem feinen ironiſchen Lächeln zu fagen: fehr gut, 
o ihr Vortrefflihen, weiß ih, daß euch diefe Dinge ſeltſam Elin« 
gen, daß euch bei meinem dialektiſchen Hocuscopus, meinen 
quaternionibus terminorum der Kopf dreht, daß es euch melt- 
lich heiteren Menſchen ſchwer binuntergeht, bei dem Triller Or⸗ 
gelum Orgelei an Welt-Ideen, an tiefften Tiefſinn zu denken ; 
lacht immerhin, ich lache gemifjermaßen mit! Allein fehr ernft 
fegt er dann hinzu: gebt Achtung , hinter dem, mas ihr zunächft 
als bloßen Witz anfahet, und was zunächft allerdings bloß Mit 
iſt, ſteckt Doch der mahre Begriff, deflen Aufgabe es ja ohnedieß 
tft, den gemeinen Verftand auf den Kopf zu ftellen, und ber 
daher ſchon an ſich wißig und ein Witz ift u. few. Daß Entle⸗ 
gene nun, was ibm bei jedem Tintenfaß, Mücdenflügel einfällt, 
find zunachft beſtimmte philoſophiſche Ideen. Es darf nur eine 
Beranlafjung da fein, daß das Wort: Inneres oder Aeußeres 
in höchſt gleichgiltiger Bedeutung vorfomme, fo müffen wir par 
force in den Abichnitt der Logik ber Inneres und Aeußeres hin- 
ein, der Name Fauſt erinnert ihn nicht bloß an Fauſtus Socinus, 
jondern auch an die Manichaer Fauſtus und Fortunatus, und 
biefer Bund macht ihn darum ganz bejonderd glücklich , weil die 
Manichier Dualiften waren, und Pauft ebenfalls durch einen 
innern Dualismus zerriffen ift, auch verſäumt er nicht, in Er— 
innerung zu bringen, daß Fauſt ein Teufelögenoffe war, und vie 
Lehre der Manichäer den Beinamen einer Teufelslehre erhielt. 


153 


Schnupfen Sie? „Nein.“ Sie fügen: Nein, dieß ift Negation; 
es jei mir aljo erlaubt, den Begriff der Negation überhaupt zu 
entwickeln u. ſ. w. 

Diefe Bermengungs- Manier kommt nun befonderd dem theo⸗ 
Iogiichen Geſchmäckchen, das den Verf. anhängt, trefflich zu 
Statten. Kein denkender Menſch läugnet, daß die Philoſophie 
die wefentlihen Wahrheiten der Neligion ihrem reinen Gehalte 
nach beftätige, Fein Denkender behauptet aber darum, daß fie 
auch die Form, morin die Religion viefelben hat und giebt, ob⸗ 
wohl fie auch dieſe phängmenologifh in ihrer Nothmendigfeit 
anerkennt, als die richtigfte auch für ihre Sprache acceptiren Fönne. 
Der Philoſoph wird es aus guten Gründen vermeiden, von Erb⸗ 
fünde, wirklicher Sünde, Gnade, Dreteinigkeit u. f. f. zu reden, 
wo es nicht gilt, theologifche Begriffe auf ihrem eigenen Boden 
zu unterfuchen. Die find Ausdrücke einer Wiſſenſchaft, worin 
Miuthiiches und reiner Gedankengehalt noch ungefondert nebenein= 
ander liegen, wie dieß in der Dogmatik fo lange der Fall fein 
wird, als fie ſich nicht in Dogmengeſchichte mit rein 
religionsphilofophifhem Reſultate aufgelöft hat. 
Der Philofoph wird aufrichtig genug fein, auch den Schein zu 
vermeiden, als ſei er gefommen, den Inhalt der religiöfen Ueber⸗ 
zeugung auch in der Form und Hülle, in welcher das unfritifhe 
religiöje Bewußtſein ihn fefthält, zu approbiren, er wird es 
wagen, zu geftehen, daß er vielmehr dad Schwert bringt, zu 
ſcheiden. Hr. Göſchel dagegen fpricht von nichts Lieber, als von 
Glaube, Sünde, Gnade, Höfe, Himmel, Teufel auch da, wo 
es gilt, den reinen Gedanken-Inhalt dieſer Vorftelungen auszu⸗ 
fcheiden , wirft dieſe Ausdrücke aus der Sprache des Vorftellend 


* 


153 


mit jolchen des reinen Denkens kraus durcheinander und ſtellt ung 
Hegel mit Priefterbüffchen angethan vor. Das läßt fih noch er⸗ 
tragen, aber au Goethe wirft er ben Kirchenrod über, und 
den, das muntere Weltkind, Fleivet er Doch verwünfcht übel. Was 
ift e8 denn im Grunde? Heuchelei? Gewiß nicht. Offenbar hat 
der Verf. darüber gar fein Elared Bewußtſein, wie viel, wie jehr 
viel die Philofophie von der Religion erft megäzt, ehe fie fich mit 
ihr conform bekennt, offenbar fland er, ehe er an's Philoſophi⸗ 
ren ging, blieb mährend des Philoforhirend und ſteht nach dem- 
felben auf dem Standpunkte des frommen Bedürfniſſes, das feine 
BVorftelung von der Philvfophie beftätigt fehen will, ohne etwas 
davon aufzugeben , das ſpricht: waſch mir den Pelz und mad 
ihm nicht naß! Er verhält ſich wie die Scholaftif,, welche ben 
feſtſtehenden Pfeiler der Kirchenlehre nur acciventiel und unfre 
mit ihren gothiihen Arabesken umfchlingt. 

Doch dies Alles ericheint in der vorliegenden Schrift no 
nicht in dem Grave Eranfhafter Ausbildung, wie es in den fpä- 
teren Werfen des Verf. auftritt. Die Schrift hat recht viel Gutes, 
und gewiß verbanft ihr Mancher die erjte Einführung in das Vers 
ftänonig der Tragödie. Wenn nur dad Gute, was fie enthalt, 
nicht fo dejultoriich zerftreut herumläge, daß man es aus allen 
Eden und Enden zujammenfuchen muß! 

In den „voreiligen“ (er nennt fie felbft jo) Bemerkungen, 
die der Verf. dem Eintritt in den beftimmten Gehalt der Tragoͤ⸗ 
die voranfchickt, begegnet man freilich fogleich feiner theologifiren« 
den Manier, da er fpricht, al3 ob dad Verhältniß zwiſchen Glau⸗ 
ben und Willen dad Hauptthema der Tragödie wäre. „Bauft 
fennt Glauben und Wiſſen nur in ihrer Trennung, und in diefer 


155 


Trennung vermag er fle nicht als die Wejenheit ſelbſt zu erfennen. « 
„Fauſt fieht Glauben und Wiſſen als abfolut gefchieven an, da⸗ 
ber Beides in diefer Scheidung nothwendig als felbftloß und eitel 
fih erweifet. Und wie kann auch diefe Unterſchiedsloſigkeit des 
Unterſchiedenen, biefe Unzertrennlichkeit des Getrennten, welche 
Sauft verfennt, je zur Einſicht kommen, wenn nicht vorerft der 
Unterfchied zwifchen Glauben und Wiffen, Gewißhelt und Wahr« 
beit, Wiſſen und Gewiſſen fein tiefſtes Verſtändniß, und, bis 
zum Grtrem gefteigert, darin ſelbſt feine Auflöfung findet ?« Die 
Trage über das Verhältnig zwiſchen Glauben und Wiſſen beichäfs 
tigte die Zeit, in welcher der erfte Theil der Tragödie gedichtet 
wurde, gar nicht in dem Sinn, daß beide in ihrem Mechte aner⸗ 
kannt einer VBerfühnung zugeführt werben follten ; die aufgeweck⸗ 
ten Köpfe nahınen den Glauben In feinen Aeußerungen als eine 
ſchöne und rührende Erſcheinung, zu feinem Inhalt verhielten fie 
fih auf Weife der Sreigeifter. Fauſt macht fih mit feinem Ver⸗ 
hältniffe zum Glauben der Gemeinde wenig zu ſchaffen, daſſelbe 
kommt in einer wichtigen Scene zwar zum Vorſchein, aber nicht 
fo , wie Herr Göfchel meint. (Darüber nachher.) Goethe nimmt 
diefen Faden dann gar nicht weiter auf; Fauſt's Unſeligkeit if 
feine Skepſis in der Wiſſenſchaft; Eönnte er nur erft die Natur 
im Innerften erkennen, fo würde er fih über den Werth ver 
Sprache, in welche ver Glaube die Wahrheit überfeßt, den Kopf 
eben nicht zerbrechen. Die Ahnung, daß den mythiſchen Formen 
der Vorſtellung ein unendliher Gehalt bejeligender Wahrheit zu 
Grunde liege, ſpricht der Dichter deutlich genug in der ‚eben er⸗ 
wähnten Scene aus, doc) zeigt er weiterhin Fein Intereſſe, bie 
Bedeutung zu entwideln, die jene Formen, abgefehen von ihrem 


196 


Werthe für Phantafle und Gefühl, haben mögen. Der Verf. 
meint, Kauft müßte, wenn er zur Verſöhnung gelangen wollte, 
nicht nur ein Wiſſender, ſondern zugleich ein Glaubender werden, 
d. h. Einer, der nicht bloß den wahren Gehalt des Glaubens 
feftbält, fondern auch die Formen der Vorftellung; 
einen Solchen giebt es aber Überhaupt nicht, fondern entweder 
weiß Einer und glaubt nicht, oder er glaubt und meiß nicht *). 

Veberhaupt ergehen fich viele voreiligen Bemerkungen in einer 
viel zu großen Weite und erregen und feine geringere Erwartung, 
als die, daß alle möglichen Gegenjüge, in die der menfchliche Geiſt 
gerathen kann, in diejem Gedichte dargeftellt und implicite gelöft 
werben. Hier „kommt der Unterſchied zwiſchen Religion und Wiſ⸗ 
ſenſchaft, in der Wiſſenſchaft zwiſchen theoretiſcher und praktiſcher, 
in der Theorie zwiſchen analytiſcher und ſynthetiſcher Erkenntniß 
zur Sprache, bis mit dem letzten Verſtändniſſe dieſer Unterſchiede 
deren Tilgung eintritt, wenn unmittelbares und mittelbares Er⸗ 
fennen,, oder Glauben und Wiffen, Nicht - Ich und Ich, oder 
Nothwendigkeit und Freiheit, Allgemeines und Beſonderes, ein? 
in dem andern als identijch ſich erkennt.“ Die Tragödie Kauft 
erfagt allerdings den Zwieſpalt des Geiftes mit fih in feinem 
Innerſten, der fich theoretiſch als Schmerz des zweifelnden Wif- 





*) Ich überlaffe den Gegnern ded freien Gedanken? , diefe und andere 
@ ige aud dem Zuſammenhange beraudzureißen und ihren entitellten 
Inhalt ald Zeugniß wider mid) aufzuführen. Einen früheren Auffag, 
ten id) in Diele Jahrb. gab, haben fie bereitd fo behandelt, ja fie 
baten Ausdrüde, die ich gar nicht gebraucht, mit Alligationdzeichen 
angeführt, Nur dieß zur Notiz; ich werde auf ihre Beſchuldigungen 
niemald antworten, denn ich laife mich in feinen Kampf ein, we 
der Gegner nicht mit Grͤnden ſtreitet. 


157 


fendranges , praktiſch als Schmerz über die Gebundenheit des 
Willens durch äußere Sinderniffe und die Vereitlung des Wun⸗ 
ſches, als Neue, die der allzurafch befriedigte Wunfch Hinterläßt, 
fund giebt; allein deswegen, weil der Dichter allen Zwieſpalt des 
Geiſtes im Centrum erfaßt, verfolgt er ihn nicht auch in die 
ſpeciellen Peripherien ſeiner einzelnen Geſtalten. Hört man Herrn 
Göſchel, ſo meint man, Goethe werde die Hegel'ſche Logik nebſt 
der Phänomenologie, dem ethiſchen Theile der Rechtsphiloſophie 
und der Religionsphiloſophie Schritt für Schritt durchwandern, 
alle Kategorieen entwickeln und ineinander auflöſen, alle falſchen 
Disjunctionen überwinden. Sagt man, davon müßte doch auch 
etwas im Buche zu leſen ſtehen, ſo hat er ſogleich die Antwort 
in Bereitſchaft, der Dichter habe es unbewußt darin niedergelegt, 
und vergißt, daß wer zu viel beweiſt (denn nach dieſem Grund⸗ 
ſatze ſtünde in jedem Gedicht Ailes), nichts beweiſt. Beſonders 
beſchäftigt ihn die Kategorie des Innern und Aeußern, die man 
allerdings auf Fauſt's Skepſis, doch nur behutſam, anwenden 
kann. (Vergl. die obigen Bemerkungen zu Falk.) Was enthält 
nad) Hrn. Göſchel die Tragödie nicht Alles! „Den Gedanken in 
feiner erften, unmittelbaren, bis zu feiner legten, vermittelten 
Bewegung, das lebte Ergebniß des fich in der Zeit entwickelnden 
Weltgeiſtes, das Nejultat der Wiſſenſchaft überhaupt auf ihrem 
gegenwärtigen Standpunkte.” „Es treten alle Seiten ded Lebens, 
alle Perioden des Geiſtes, in welchen er fich felbft erjcheint aber. 
nicht erfennt, nach und nad darin hervor.“ Wollte man das 
Verhältniß der Tragödie zur Sage zugleich mit dem Inhalt und 
der Geſchichte der Iehteren vollfommen entwickeln, fo würde biefe 
Dichtung wald das lebte Nejultat der ungeheuren Arbeit ber 


158 


Weltgefchichte erfannt werben.u Welches ſcheußliche Monftrum, 
welche unerträgliche Zwittergeburt von Philoſophie und Poefie 
müßte dad Gedicht fein, wenn ed, was — Dank fei ed dem 
Genius der Poefle — nit der Fall ift, dieſen unverbaulichen 
Stoff fih vorgefegt hätte! Ä 

Was nun der Verf. näher über den beftlimmten Inhalt des 
Gedichtes fagt, wollen wir auch bier nach den Sauptmomenten 
orbnen. Daß die Grundfrage über die Bedeutung des Böſen ver 
. fehlt oder oberflächlich gefaßt fer, bürfen wir bei ven Schriftftels 
lern biefer Reihe, da fie den Gegenftand denkend begreifen, nicht 
befürchten. Göfchel fpricht zmar in den Bemerkungen zum Brolog 
auch nur von einer göttlihen Zulaffung des Böfen, weiterhin 
aber begreift er die Nothmendigkeit ded verneinenden Moments, 
der Grenze, im Univerfum überhaupt und inäbefondere in ber 
Erziehung des menſchlichen Geiſtes. Er fleht ein, daß, wie bad 
Wahre nicht ohne dad Falſche, fondern ein widerlegtes Falſches, 
wie überhaupt das Sein nicht ohne dad Werden, fo das Gute 
nicht ohne den Reiz des Böſen und feine Ueberwindung if; er 
fagt von Mephiftopheles, überall bezeichne er die Grenze, und 
fo ſei er auch in der Entwicklung des menfchlichen Geiftes das 
Beichrinfende und eben durch das Gefühl der Schranfe, melde 
den Drang fie zu überwinden mit ſich führt, heilſam Fortbewe⸗ 
gende, das Niht=-Ich, ohne welches dad Ich nicht ift und nicht 
thätig tft. Insbeſondere ift die richtige Anficht in folgender treffe 
lichen Stelle niedergelegt, wo Mephiftopheled als die heilfame 
. Ironie gegen Fauſt's überfliegenden Enthuſiasmus gefaßt und 
ſehr paflend an I. Paul erinnert wird: die Sophifterei bes 
Mephiſtopheles beruht auf der Verwechslung der Negative im 


159 


Allgemeinen mit derjenigen, die fi vom Allgemeinen losreißt. 
Indeffen geſchieht ihm allerdings zuweilen Unreht, und Kauft 
waͤlzt namentlich mande Schuld auf jeinen Verführer, die ihm 
ſelbſt mit zur Laſt fällt. Denn wenn der Schelm den überfchwäng« 
lichen Beftrebungen des hochfahrenden Menſchenſinns Ziel und 
Maß ſetzt und die Grenze fühlbar macht, die der Menſch nicht 
überſchreiten kann, wenn er für jolche treue Mentordienfte von 
dem Gejellen unhold, barſch und toll die härteften Schimyfworte 
einerntet, fo Fönnte fih am Ende wohl gar unfere Theilnahme 
von dem Herrn auf den Knecht wenden, wenn biefer nur nicht 
ſelbſt alle Teilnahme vernichtete, indem er dem glühenden Feuer⸗ 
eifer «töfalten Spott und dem ernſttragiſchen Schickſale das Hohn- 
gelächter der Hölle entgegenfett. Aber feine böfe Natur liegt auch 
nicht in dieſer nothwendigen Grenzbeflimmung, — was wäre 
auch ohne dieſe Eigenfchaft des Mephiſtopheles diefe ganze Tra⸗ 
gödie und dad Leben ſelbſt? Was wäre ver Menfch ohne Bes 
ſchraͤnkung und Selbftüberwindung? und würde nicht unfer guter 
3. Paul in lauter Gefühlen und Rührungen auseinander gefahren’ 
fein, wenn er nicht zumeilen von irgend einem Mepbiftopheles 
erinnert, und in Folge folcher Erinnerungen fih zu erfrifchen, 
zu befchränfen und zu verjüngen getrieben würde? Nicht in 
diefer Grenzbeſtimmung liegt daher die böfe Natur des Teufels, 
fondern vielmehr darin, daß der Teufel durch dieje an fich noth⸗ 
wendige und wohlthätige Grenzfcheidung den Verband ded Bes 
fondern und Allgemeinen felbft aufhebt, und dieſes gegen jenes 
in feindliche Stellung bringt, woraus alle Uinjeligfeit entfpringt. « 
Wenn jedoch der Verf. hier richtig einfleht, daß Merhiftopheles 
zwar in feinen Verhältniß zu Fauſt heilfam wirft, für fich ges 


160 


. ! nommen aber, dba er als Hypoſtaſirung des Böſen dieſes abftract, 
d. 5. ohne jeine guten Folgen, will, abjolut 608 ift, fo hätte 
er auch S. 110 nicht jagen sollen, Mephiftopheles ſtehe dem 
Guten wie dem Böfen gegenüber, da er überall die Grenze 
bezeichne. Dies ftreift an Schubarth an. 

Fauſt's theoretijches Streben und daraus hervorgehender Ges 
müthszuſtand iſt ganz richtig bezeichnet. „Wenn Fauſt nicht zu 
willen vermag, und darüber dem Nichtwiffen, den Zweifel ſich 
ergiebt, jo Liegt der Grund davon nicht im Wiffen felbft, fondern 
in dem Vorurtheile, daß diejes ein ummittelbares fei, da es doch 
feiner Natur nach vermittelt if. Der Gedanke kann nur von 
Stufe zu Stufe vorwärts gehen, außerdem zerreißt des Willens 
Faden. Das Wiſſen läßt ſich nicht erzwingen und nicht beſchwö⸗ 
ren, denn es giebt Fein unmittelbares Wiſſen.“ Auch in ben 
nachträglichen Bemerkungen drückt er ed richtig fo aus: auf die 
Beantwottung der Frage, was it Wahrheit? verzichtet Pilatus, 
weil er voraußfeßt, daß es Feine giebt, Fauſt hingegen, unbändig 
und überfräftig, kann die Antwort nicht erwarten. Sonft aber 
trifft vollkommen zu, was wir oben bemerkten, daß Göſchel zu 
fehr den Dualismus trennender Kategorien ftatt den brennenden 
Durft der Intuition in Fauſt premirt. So deutet er Fauſt's 
Zurüdjinken vor dem Erdgeift unrichtig, weil er auch hier die 
Kategorie ded Innern und Aeußern herbeizieht: Fauſt befinde ſich 
auf einmal an der Spike des Widerſpruchs, indem er das Un⸗ 
begreifliche, Geiſtigſte, Innerfte juche und gleihwohl dieſes wie 
das Aeußere, das er verachtet, zu greifen, mit den Händen 
feitzuhalten und zu bannen begehre. Fauſt erblickt im Erdgeiſt 
offenbar das Totalleben der Natur unſeres Weltkörpers, diesmal, 


161 


ohne an den Gegenſatz des Innern und Aeußern zu denken. Daß 
- er jenes finnlidh in der Form einer Perfon anzufchauen begehrt, 
rührt nicht von einer Abficht ber, das Allgemeine, das Geiftige 
greifen zu wollen, fondern legt einfach im Wefen der Magie, 
welche der Dichter als möglich vorauszuſetzen das poetifche Recht 
bat. Sollte bier der Irrthum dargeftellt werden, der das Geiflige 
mit Händen greifen will, fo würde ber Dichter doch offenbar ven 
Erdgeift gar nicht erſcheinen laſſen dürfen, fondern Kauft würde 
vergeblich beſchworen. Der @eift erfcheint nun in finnlicher Geſtalt, 
ift aber für Kauft darum nicht ein empirifched Ding, er haut 
in ihm den Geift und wirb nur deswegen von ihm zurückgewor⸗ 
fen, weil, wie wir ſchon mehrmals bemerkten, die heraufbeſchwo⸗ 
rene Anſchauung, wo es auf verftändig vernünftiges Denken an⸗ 
kommt, nicht nachhaltig if. In den Bemerkungen nun über 
Fauſt's unglaubiges Verhalten bei den frommen Tönen des Ofter- 
gefanges kommt der oben gerügte theologifirende Standpunkt zum 
Vorſchein; Fauſt wird als ein Verſtockter, Bethörter dargeſtellt, 
„er gleicht Jenen, deren Herzen fo erſtarrt find, daß ihnen ſelbſt 
die Offenbarung unglaublid) geworben.“ Hierdurch finkt der Verf. 
eigentlich auf den Standpunkt der Unphiloſophiſchen zurück, bie 
von Fauſt die Rückkehr zum ſchönen Kinderglauben verlangen. 
Würde Fauft, flatt ungeduldig fich zu überwerfen, ruhig im 
Denken. fortfchreiten, jo würde er wohl auch mit der Kirche ſich 
verföhnen,, aber doch nur fo, daß er ſich ihre Vorſtellungen in 
die Sprache des Gedankens überfeßte. Wenn Goethe den Fauſt 
jagen läßt: die Botſchaft Hör ich wohl, allein mir fehlt der 
Glaube, — das Wunder ift des Glaubens Tiebftes Kind —, 
fo will er damit keineswegs einen verwerflichen Unglauben bezeich⸗ 
Kritiſche Gänge IL 11 


162 . 


nen, fondern äußert ganz einfach feine eigene Ueberzeugung. Aller 
dings wird Kauft von der Idee der Verfühnung, wie fle hier in den - 
Gefängen der Andacht an fein Ohr dringt, tief ergriffen, und fle 
fönnte diefe Wirkung nicht haben, wenn fie nicht wahr wäre, darum 
wirb aber Fauſt keineswegs zugemuthet, er jolle mit der gläubigen 
Gemeinde auch die Erzählungen, die diefe Ideen verhüllt in fich tra- 
gen, als Thatſachen glauben. Auch im Neligiond-Gefpräche zwi⸗ 
fchen Fauſt und Gretchen legt der Verf. auf den indifferentiftifchen 
Gefühld-Pantheisnus Fauft’3, obwohl er dad Wahre darin nicht 
verfennen will, einen zu tadelnden Nachdruck, ald ob Goethe 
dem pofitiven Glauben ihn gegenüber unbedingt dad Vorrecht 
einräumen wollte Ganz faljh und graß erinnert er bei Fauſt's 
Ausruf: ich habe keinen Namen dafür! Gefühl ift Alles! an bie 
Sage, daß, die fi) dem Teufel verfchworen, Gott nicht nennen 
dürfen und bei dem Namen des menfhgewordenen Gottes 
erzittern. So fagt er nachher: in Yauft komme der Unglaube zu 
Tal. Falſch; in Fauſt kommt der ale Schranfen überfpringende 
Geift zu Sal, der, wie vorher in der Theorie die Methode, jo 
jegt im Praktiſchen die Sitte überfliegt. Hätte er die Kraft, ſich 
unbefchränft zu erhalten und doch zugleich ſich verftändig und, 
ſittlich zu beſchränken, fo Fünnten wir ihm fein £ritifched Verhalten . 
zu dem mythiſchen Stoffe der Dogmatif ganz wohl verzeihen. 
Ebenſo theologifirend, auch bereits an's allegoriſche Deuteln ſtrei⸗ 
fend ſetzt der Verf. dann hinzu, in Gretchen komme der unmittel⸗ 
bare Glaube zu Fall. Gretchen wäre vorſichtiger, wenn ſie weniger 
naiv wäre, und weil fie überhaupt naiv iſt, iſt ihr Geiſt auch in 
religiöfen Dingen im Zuftande der Gebumdenheit; deswegen barf 
man aber den Glauben nicht ald Subject ihres Falls bezeichnen. 


163 


Die Scne, wo Fauſt den Anfang ded Johann. Evang. zu 
erklären bemüht ift, giebt dem Verf. wieber willfommenen An⸗ 
laß, einen Dualismus, eine falſche Disfunction aufzufpüren. 
„Weil ihm die Offenbarung in der Natur nicht genügt, jo fucht 
er übernatürlihe Offenbarung. Hier fcheidet ich abermals Natür⸗ 
liches und Uebernatürliches als ein Unterfchied ohne Zujanımen- 
bang. Wenn Fauft das eine Mal die Natur, das andere Mal 


⸗ 


das neue Teſtament ſtudirt, ſo will der Dichter darum, weil 


dieſe Studien in verſchiedene Beiten fallen, nicht an jene Kategorie 
erinnern; ebenfowenig, wenn er den Yauft bei der Ueberſetzung 
des Aoyos durch „That“ ſich beruhigen läßt, wollte er tadelnd 
an die falfche Disjunction zwijchen Aoyog Evdsaderog und n90- 
gYogıxog erinnern, fondern offenbar meint Goethe, der eben Fein 
Ereget und fein, Metaphyfifer war, das Hichtige getroffen zu 
haben. 

Hätte der Verf. nicht fo viel Raum mit diefer müßigen Logif 
ausgefüllt, jo hätte er Zeit übrig gehabt, die verſchiedenen Sei⸗ 
ten von Fauſt's Zeriffenheit außer der theoretifchen, wie fle ſchon 
in den erften Monologen erponirt werden, Fauſt's Unzufriedenheit 
über fein genußlos einfames Leben, feinen Idealismus, der die 
Sorgen ded Lebend, Haus, Hof, Weib und Kind ald Hemmniſſe 
ftatt als Erfüllung der Freiheit anfleht, volftänbiger zu ſchildern 
und dadurch den Uebergang vom unbefriebigten Denken in's uns 
gezähmte Thun und Genießen ald wohlbegründet nachzuweifen. 
Dies lag um fo mehr im eigenen Interefle des Verf., da er ja 
nicht weniger als alle Arten geiftigen Zwiefpalts in Fauſt entdeckt 
haben will. Statt deſſen verrüdt er vielmehr den wahren Stand- 
punkt, wenn er Fauſt's unzufriedene Aeußerungen über die Schran⸗ 

11* 


4164 


fen des Ervenlebend, im zmeiten Geſpräche mit Mephiftopheles, 

für den Ausdruck der Unzufriedenheit über dad Mißverhältniß 
| zwiſchen den Forderungen des Gewifjens und dem Wollen und 
Können erklärt. Mit ven Morten: In jedem Kleide werd' ich 
wohl die Bein ...... Leben mir verhaßt, fpricht Fauſt nur von 
dem Mißverhältnige zwifchen Wünfchen und Erreichen. 

In der Erklärung des Vertrags durchkreuzt ſich eigenthümlich 
Nichtiged und Unrichtiged. Das Thema der Wette und Fauſt's 
Abficht dabei giebt der Verf. ganz richtig an. Fauſt ſchließt den 
Bund nicht un des Genuſſes willen, fondern um fich zu ver- 
gefien; er ift verloren, wenn er ſich in geiftlofem Genuſſe zufrie 
den und bebaglich fühlt; Mephiftopheled gemwinnt, wenn er ihn 
ganz zerftreuen und von fih abmendig machen kann. Wer wir 
verlieren? Wer gewinnen? Die Antwort darauf erfehwert ſich 
der Verf. durch einen bialektifchen Knäuel, ven er fi) ohne Noth 
zurichtet. Er fagt, die Wette trage zunächſt eine Verkehrtheit in 
ſich, und ed fei für feine von beiden Seiten weder Gewinn no 
Berluft vorauszuiehen. Lim dies zu beweifen, nimmt er in Bes 
ziehung auf Fauſt zwei Kalle an. „Wenn Zauft die Ruhe und 
Zufriedenheit erlangen follte, deren Mangel ihn fo grenzenlos 
unglücklich macht, fo ift er vermöge des Vertrags durch den Ver⸗ 
Luft der Wette der Hölle verfallen: im umgekehrten Falle ift er 
ohne Wette und durch den Gewinn der Wette der Hölle verfallen, 
indem er ruhelos von Betäubung zu Betäubung, von Taumel 
zu Taumel getrieben wird, um am Ende gleich allen (?) Menfchen 
zu zerſcheitern.“ Der Verf. vergißt aber einen dritten Sal, ven 
nämlich, daß Bauft das Leben genießt, und tabei doch nicht 
in dem Sinne, in welden Mephiftopheles es wünſcht, zufrieden 


165 


und beruhigt iſt, ſondern das beftändige Weiterſtreben und die 
unendliche Freiheit mitten im Genuffe und dem ſcheinbaren Bes 
hagen fich vorbehält. Hierauf ſoll von Merhiftopheles nachgewie⸗ 
fen werben, daß er fi} verrechnet habe: „fein Reich ſoll erſt mit 
Fauſt's letztem Tage angehen, dieſer felbft aber nicht eher eintre- 
ten, als bis fich Kauft beruhigt und felig fühlt, womit die Macht 
des Mephiftopheles von felbft aufhören würde.“ Hier find die 
Worte „beruhigt und befeligt+ mißverftanden; Göfchel nimmt fie 
im edlen Sinne, fie find aber im unedlen eines geiſtlos finnlichen 
Behagens gemeint, und wenn dieſes bei Fauſt eintritt ,‚ wirb 
fih Mephiftopheled keineswegs verrechnet haben. Es wird aber 
nicht eintreten, denn Fauſt ift nicht Diefer oder Jener, fondern in 
aller feiner Individualität repräfentirt er den ſtrebenden, tapfern 
Menſchengeiſt, der nie flagniren Fann, und nur deswegen hat 
fi Mephiſtopheles verrechnet. Weiter hebt nun der Verf. einen 
Widerſpruch hervor, der nach feiner Meinung vom ‚Dichter ab⸗ 
fichtlich in die Wette gelegt fein foll, aber vielmehr ein unabſicht⸗ 
licher Wiverfpruch des Dichters mit ſich ſelbſt if. Im Prolog 
hatte Mepbiftopheled gefagt: er fei für einen Todten nicht zu 
Haufe, er wolle nur den lebenden Fauſt zu feinen Operationen 
fi ausbedungen haben ; jet vertagt er feinen Lohn auf jenfeits. 
Dies ift ein Fehler im Gedichte. Kann Mephiftopheles den Fauſt 
von feinem Urquell ablocen , fo tft diefer ſchon in dieſem Leben 
unfelig, und ed braucht nichts weiter; im Vertrags = Abfchluffe 
aber iſt an die Stelle diefer tieferen Anficht und im Widerſpruche 
mit derfelben wieder der rohe Glaube an Höllenftrafen nach der 
Volksſage jupponirt. Fauſt weiß es auch recht wohl, daß es 
feine Höle und keinen Himmel braucht, um felig oder unfelig 


166 


zu jein, daß beide nur in ber Gegenwart ded Selbſtbewußtſeins 
ihren Ort haben; gerade die Stelle aber, wo er dies geiſtreich 
auöfpricht, — „das Drüben kann mid wenig kümmern« u. f. f. 
— „wie ich beharre, bin ich Knecht, ob dein, was frag’ ih, ober 
weten“ — gerabe dieſe verderbt fich der Berf., indem er ©. 94 
dieſe Reden als die eines Bethörten bezeichnet, da fle vielmehr: 
acht religiös find. Sagt doch unjere Religiond - Urkunde ſelbſt 
wer nicht glaubt, iſt ſchon gerichtet. 

Dennoch löſt ſich der Verf. zuletzt ſeinen Knäuel durch die 
einfache Reflexion, daß Mephiſtopheles ſchon im Dieffeits, w äh: 
‚rend er Knecht fei, zu herrſchen gebenfe. Dazu hätte er mur 
noch fügen follen: es frage fih num, ob ein folder Moment ein- 
treten werde, wo Kauft als Beherrfchter die Wette offenbar werde 
verloren haben. Die Antwort darauf hätte fein müſſen: ein fol- 
her Moment wird nicht eintreten, dafür bürgt bie Unverwũſtlich⸗ 
keit des Geiſtes; aber allerdings wird auch kein ſolcher Moment 
eintreten, wo Fauſt handgreiflich gewonnen haben wird, weil es 
in der Geſchichte der Menſchheit nie einen einzelnen Punkt geben 
kann, wo ihr Sieg über das Böſe vollendet erſcheint, ſondern 
in continuirlichem Fluſſe jeder neue Sieg einen Verluſt voraus⸗ 
ſetzt und nad) ſich zieht. Nur für die zeit los geiftige Betrachtung 
der Welt, die Betrachtung sub specie aeterni ift die Menfchheit 
mit fi, mit Gott verföhnt. Am Schluffe des erften Theils 
fommt der Verf. auf dieſen Punkt zurüd und fagt, Mephiſto⸗ 
pheles habe offenbar nicht gewonnen, denn er habe Kauft nicht 
von feinem Urquell abzuziehen vermocht. „Vielmehr ift Kauft, 
das allgemeine Individuum der Menfchheit, zwifchen den himm⸗ 
liſchen Gewalten und den unterirdiihen Mächten fo getheilt, daß 


167 


er weber von diefen, noch von jenen Iosfommen kann.“ Dem 
nach hätte auch Kauft nicht gemonnen, weil er doch den Geſellen 
nicht entbehren Tann. Ganz richtig ; aber darin allein, daß der 
unbefchränfte Geift beftimmt ift, ewig mit der Schranke zu käm⸗ 
yfen, kann doch die Verſöhnung nicht liegen; es muß doch vom 
Dichter angedeutet fein, daß, obwohl der Kampf nie aufhört, 
doch das eine Glied veflelben, dad Nicht⸗Ich, in der Idee ſtets 
überwunden iſt. Diefe Idee tft aber offenbar durch Fauſt's um- 
mächtige Neue am Ende des erften Theild noch nicht genügend 
auögeiprochen: Nun mußte das Gebicht, fo weit es auch fort- 
geführt werben und feinen Helden durch alle möglichen Lebens⸗ 
verhältniffe geleiten mochte, in dem Sinne doch immer ein Frag⸗ 
ment bleiben, als dieſer Sieg des Geiſtes niemald als abgefchlofien 
empirifch erfcheinen kann; aber fortgeführt mußte es doch werben, 
um dieſen Sieg als unzweifelhaft menigftend durch einzelne 
Siege Fauſt's poetifch darzuftellen. Wie fonderbar täufcht fi 
aber unfer Verf. über diefen Bunkt! „Auf den Prolog im Him- 
mel folgt die Tragödie auf der Erde, und zwar der Tragödie 
erfter — und legter Theil. Die Tragödie heißt der erfte Theil, 
weil etwad zu fehlen und einem zweiten Theile vorbehalten zu 
fein fcheint, indem fte, gleich allen Natur= und Runft-Erzeugnifien, 
der Idee, die ihr zu Grunde liegt, nicht gleihfommt, und biefe 
mit Händen nicht zu greifen ift. Sie tft aber auch ihr letzter Theil, 
weil fie das Jenſeits, auf das fie ald erfter Theil verweifet, und 
das Ende, das wir von jeder Handlung erwarten, fchon in ſich 
trägt. Sie ift in vemfelben Sinne ein Fragment, in welchem 
das Leben ein Fragment ift, weil ed ein neues Leben erwartet.“ 
Ebenfo ©. 157: „Die Menfchen find geneigt, das Ende eines 


168 


jeden Dinges mit Händen greifen zu wollen. Im Schaufpiele find 
fie gewohnt, den Ausgang der Darftelung als baare Münze in 
der Taſche mit nah Haufe zu nehmen, denn dafür haben fie 
banre Münze eingefeßt. — Hat doch Goethe ſelbſt, der Ironie 
ſeines Mephiftopheles gemäß, feinen Fauſt mit der Auffchrift: 
der Tragödie erfter Theil, in die Welt gehen laflen; und es if 
daher in der That nicht zu verwundern, wenn Goethes Zauft für 
unbeendigt angefehen und lange Zeit die Fortſetzung neugierig 
erwartet, oder wenn darüber geftritten worden ıft, ob und wie 
diefer Fauſt werde errettet werben, ob.er mit ver Höllen⸗ oder 
Himmelfahrt enden werde.“ Es fieht Herrn Göfchel ganz gleich, 
den nüchtern büchfläblich gemeinten Titel: erfter Theil, jo my⸗ 
fteriöß zu nehmen; aber den groben Iogifchen Fehler hätte er fi 
nicht beigehen laſſen follen, daß er meint, deswegen, weil bie 
Grundidee eined Gedichts nicht mit baaren Worten auögefprochen 
werden, fondern fi unfichtbar durch feinen Körper hindurch⸗ 
ziehen fol, dürfe auch biefer Körper ein Rumpf bleiben. Die 
Idee fol nicht mit baren Worten herausgefagt, aber ſie fol volls 
fommen Dargeftellt werben, und eine vollfommenere Darftellung 
war allerdings nad der Erſcheinung des erften Theils noch zu 
erwarten, obwohl der fürmliche Abſchluß in dieſem befonderen 
Valle durch die Univerfalität der Idee faft unüberfteiglicde Hinder⸗ 
niffe fand. Auch laßt und der Verf. darüber ganz im Unklaren, 
ob er den Aufihluß ın ein zweites, jenjeitiges Leben oder in 
bie Idee verlegt. Im feiner myfteriöfen Zweideutigkeit ift er ſich 
hierüber offenbar felbft nicht klar, fonvern denkt an Beides zu⸗ 
gleich, da ed Doch ſehr zweierlei ift, und nur dad Zweite dad Rich⸗ 
tige fein kann. In einem jenfeitigen Leben müßte Kauft auf's Neue 


169 


fireben, Streben fchließt Unvollkommenheit in fi, alfo iſt Mephi⸗ 
ſtopheles wieder da, und bie Frage wieber nicht gelöft. 

Das Charakterbild der vorliegenden Schrift wird vollends 
far heraustreten, wenn wir nun noch etwas in's Einzelne gehen 
und bie oben gezeichneten Züge verfolgen. 

Iſt von dem Unternehmen die Rede, dad Gedicht zu erklären, 
jo bat der Verf. fehon wieder feine Geliebte, die Kategorie des 
Innern und Aeußern, beim Schopf, und ftellt fih, als halte 
er das Unternehmen für zu kühn, da ja der Held ver Tragöbie 
das Streben ded Menſchen, dad Innerfte ergründen zu wollen, 
in aller feiner Nichtigkeit darſtelle. Es ift aber bloß ironifch ge⸗ 
meint, denn wie Kauft eben durch jenes Streben fchon eine falſche 
Kategorie anmendet, ebenjo geht allerdings derjenige Erklärer 
fehl, der nach verfelben Kategorie verfährt, aber auch nur dieſer. 
Wie fan! Wie gar nicht an der Stelle! Ganz erzmungen und 
wahrlid ohne Sinn bringt er diefelbe Kategorie herbei zum Ab⸗ 
ihluffe des Bündniſſes. „Fauſt beharrt auf dem Bünpniffe, indem 
er fich in vie Aeußerlichkeit der Erſcheinung, welcher das Innere 
fehlt, in die DVielheit der Dinge, welcher die Einheit mangelt, 
zu flürzen und darin unterzugehen wünſcht.« Died bieße einen 
ganz gefftlofen,, grobfinnlichen Genuß ſuchen, ſich in Vergnü- 
gungen wälzen, bei denen man nichts denken kann. Dies tft aber . 
doch offenbar nicht Fauſt's Abſicht. — Indem der Verf. zu den 
ſchönen Stanzen der Zueignung die Stimmung des Dichters bei 
der Wiederaufnahme des wunderbaren Stoffes ſchildert, fallt ihm 
ein, daß die Geburtswehen poetifcher Production der Weltſchö⸗ 
pfung gleichen, und da ja in Goethes Kauft ohnedies nichtd weni⸗ 
ger als die ganze Welt, ja noch mehr enthalten iſt, fo veriäumt 


170 — 


er nicht, gewichtig auszuſprechen: ... „und hienach iſt der An⸗ 
fang des Gedichts der Anfang der Welt oder der Act der Schö⸗ 
pfung aus dem unendlichen Nichts, und der Anfang des Geiftes« 
u. f. f. Gelegentlich ‚erfahren wir hier, daß der Verf. hübſch 
ordentlih glaubig eine Weltfhöpfung in der Zeit annimmt. — 
Sagt der Director im Vorſpiel vom gewöhnlichen Xheaterpubli- 
kum, daß ed nicht fähig fei, ein Gedicht ald Ganzes in fi aufe 
zunehmen, fo denkt Kerr Göfchel fogleich an die Tendenzen ber 
wiffenfhaftliden Kritik: „hier wird uns das Zeitalter leib⸗ 
haftig vor Augen geftellt, das fih nur noch in analytifcher Kritik 
gefällt, welches ſelbſt Homer's Gedichte nicht mehr in ihrer Ein- 
heit zu begreifen fähig ift« u. f. m. Ad, fo weit hat der prak⸗ 
tifhe Dann, der Director, wahrlich nicht gedacht! — Heißt es 
von den Spabiergängern vor dem Thore, fie ſeien aud der Nacht 
der Kirchen, der Enge der Straßen auferftanden,, fo drudt Sr. 
- Göfhel das Wort „auferftanden“ groß, als ob dahinter ein 
- geheimer theologifcher Sinn ftäde. Ift e8 in der Nähe des Früh— 
lings, wo Fauſt auf diefem Spabiergang den Schmerz feiner 
Zerriſſenheit ausfpricht, fo nimmt ver Verf. einen mühjamen 
Umweg, um die Stelle aud Rameau's Neffen zu citiren, Dis 
Hegel in der Phänomenologie anführt — warum? weil darin 
auch etwas von einem Frühlingsmorgen ſteht, denn fie iſt 
wahrlich ganz bei Haaren herbeigezogen. Was hat Fauft in feiner 
gegenwärtigen Stimmung mit jener Aufflärung zu ſchaffen, von 
weldher e8 in Rameau's Neffen beißt : an einem ihönen Früh⸗ 
lingsmorgen giebt fie mit dem Ellbogen dem Cameraden einen 
Schub u. |. w.? 

Oberon’d und Titania's goldne Hochzeit, wo freilich disparate 


\ 171 


Richtungen des Zeitgeifted auftreten, nimmt er in feiner Weife 
ebenfalls fo, als fei es bier ganz ausdrücklich um Aufftellung und 
Loͤfung aller möglichen Hauptgegenfige — Vernunft und Ver⸗ 
ſtand, Idealität und Realität u. f. w. zu thun. 

Ich werde noch einige auffallende Proben davon, wie fich der 
Berf. von feiner munderlichen Ideen⸗Aſſociation herumziehen läßt, 
beibringen, zuvor will ich auf einige unrichtige Auslegungen auf« 
merkfam machen. — Die Definition, die der Verf. von der Ma⸗ 
gie giebt, ift, wenn ich feine hyperphiloſophiſche Diction verftehe, 
falſch. „Das Dunkle ift die Materie, das legte Erperiment der 
Hylologie ift die Magie; es ſcheint praftifch, ift aber theoretifch. “ 
„Die Magie kann als das Extrem der Theorie, die den Uebergang 
in das praftifche Gebiet nicht finden kann, dasjenige, was ideelle 
Realität hat, auch Förperlich und handgreiflich erlangen.“, Die 
Magie überhurpt, fo auch in der Sage von Fauſt, iſt zunächſt 
rein praktiſcher Art, denn fie fucht die Verbindung mit dem Gel« 
fterreihe nur um reellen Genuſſes willen. Goethe hat ihr aller- 
dings eine andere Wendung gegeben, indem Fauſt durch feine 
Wißbegierde getrieben wird, ſich mit den Geiftern m Rapport zu 
ſetzen; eben darum ift aber auch die Magie bei ihm ein rein theo⸗ 
retiſches Verhalten, und bat der Zufaß „bie den Viebergang« 
u. f. w. durchaus feinen Sinn. Praktiſch find daran nur etwa 
die Mittel, durch die er die Geiſter zwingt, aber dieſe meint wohl 
bier der Verf. nicht. — Den Erdgeiſt hält der Verf. für identiſch 
mit Mephiftopheled und, mie e8 überhaupt unter dem Texte von 
Eitaten namentlich aus Hegel wimmelt, fo hat er natürlich hier 
die Stelle aus der Phänomenologie (ſ. d. Abſchn.: "Die Luft und 
die Nothwendigkeit), wo Hegel ausdrücklich auf Kauft Hindeutet. 


172 


zu cittren nicht unterlafen. Der Kern des Pudels ift der Erdgeiſt, 
„ben das Sein nur, welches die Wirkfantkeit des einzelnen Bes 
wußtſeins ift, ald die wahre Wirklichkeit gilt. Für diefe Aufs 
faffung, wornach der Erdgeiſt der Geift der im Genuß ihrer Ein- 
zelheit nichts Feſtes achtenden Individualität ift, Tann man bie 
Scene in Wald und Höhle anführen, wo Kauft den erhabenen 
Geift (offenbar ven Exrdgeift) ald denjenigen nennt, der ihm ben 
©efellen beigab u. f. w., ferner die Scene nad) der Walp.⸗Nacht, 
wo Fauft mit den Worten: wandle ihn, du unenblicher Geiſt 
u. f. w. den Mephiftopheles in enge Beziehung zum Erdgeiſt febt. 
Demnach hat Hr. Weiße wohl Recht, wenn er bier noch bie 
:Fäben eines urfprünglich anderen Plans bemerkt, wonach ber 
: Dichter dem Erdgeiſt überhaupt eine größere Nolle einräumen 
:unb durch ihn Die Verbindung Fauſt's mit dem daͤmoniſchen Bes 
gleiter vermitteln wollte. Diejen Plan aber hat Goethe, wie mir 
fcheint, aus dem richtigen Gefühle wieder fallen laſſen, daß er 
dad anfängli ganz reine theoretifche Streben Fauſt's nicht mit 
dem fpäteren Genufleben confundiren dürfe, deswegen ſetzt er den 
Erdgeiſt als Repräſentanten des Naturlebend nur in theoretifche 
Beziehung zu Fauſt, und obwohl bei dem Begriff des Naturle- 
bens der der Sinnlichkeit nicht fern Liegt, jo ſonderte er doch den 
Geift der Sinnlichkeit und Bosheit in Mepbiftopheles ganz von 
biefer reinen Erfcheinung ab, verfäumte aber, die Spuren der 
früheren Abficht zu tilgen. Uber auch nach dieſer follte der Erd⸗ 
geift und der Geift der Begierde keineswegs fo geradezu identiſicirt 
werben, wie Kegel und Göſchel thun. — Folgende Bemerkung 
über den Schluß ded erfien Geſprächs zwifchen Fauſt und Mephi⸗ 
ſtopheles mag ein Anderer al8 ich verfiehen: „Mit einem kurzen 


173 


 Gefpräde, in welchem ſich an ber gefühlten Unangemeſſenheit 
bes Einzelnen zum Ganzen, ver Natur zur Idee, und des Seien- 
den zum Seinfollenden jene Abftractionen entwickeln, welchen 
alles Entftehen und Vergehen in der Form der auseinandergeriſ⸗ 
fenen Zeit auf nichts hinaus zu kommen ſcheint, entfernt fich Me⸗ 
phiſtopheles.« Zu dem zweiten Geſpräche, wo fo viel Dunkles 
und Schwieriges tft, erhalten wir nur flüchtige Bemerkungen, 
wie denn überhaupt alle dieje Schriften, auf beiden Neihen , vie 
Zeit großentheild zubringen, zu erklären, was feiner Erklärung 
bedarf, und was ihrer am meiften bedarf, unerflärt liegen laſſen. 
Die trefflihe, aber etwas dunkle Stelle, wo Mephiftopheles dem 
Fauſt, der geniegend fein Selbft um Selbſt der Menfchhett er 
weitern will, antwortet: Aſſocürt euch mit einem Poeten u. f. w., 
iſt flüchtig übergangen oder vielmehr falſch erklärt: „ber Teufel 
verweiſet ihn auf die luftige Imagination und auf die grenzenlofen 
Gedanken zerfahrner Poefie, in welcher die Zerftreuung und die 
Vergeſſenheit feiner ſelbſt zugleich mit felbftgenügfamer Behaglich- 
feit an ſich ſelbſt vollauf zu finden ſei.“ Der Sinn iſt ja vielmehr, 
dag Mephiitopheles den Fauſt, der ein Abſolutes und Höchſtes 
der Genüffe verlangt, in feinen Wünjchen , die für das Intereffe 
des Mephiftopheles viel zu hoch und geiftreich find, herabzuſtim⸗ 
men fucht und daher ironiſch fagt , nur die Phantafle eined Poe- 
ten könne das Abfolute, dad er verlange, träumen, worin bad 
Unvereinbare verbunden fei. Den fhönen Monolog in Wald und 
Höhle findet man doch endlich einmal richtig erflärt, und gerade 
an diefer Stelle einen tiefen Blick in die wahre Bedeutung bed 
Mephiftopheles und feine Ungzertrennlichkeit von Fauſt eröffnet; 
aber jener curiofe Wit, der um der entfernteften Aehnlichkeit 


174 


willen das Heterogenſte confundirt , verberbt Einem auch ſogleich 
die Freude. Wenn Fauft fagt, der Geift habe ihm fein Angeficht 
im Feuer zugewendet, fo fällt dem Derf. fogleih ein, daß 
Paraceljus ſich philosophum per ignem nannte, und nun 
erklärt er jogleich Kauft für einen Paracelfifien. So nannte ſich 
Paracelfus als Alchemiſt; Fauſt hat ich zwar auch mit Alchemie 
abgegeben, aber die Flamme, in welcher der Erdgeift erjcheint, hat 
hiemit nicht8 zu thun, da fie nur durch ihre flacfernde Bewegung, 
ihre verzehrende und durch Verzehren Neues ſchaffende Kraft ſymbo⸗ 
liſch das Wehen des Naturgeiftes bezeichnet. Noch mehr: weil Para⸗ 
celfus, wenn er in feiner alchemifchen Küche proßelte, wahrſcheinlich 
großen Rauch machte (einen andern Grund finde ich nicht), fo füllt 
ihm bei Fauſt's Worten: Natur it Schal und Rauch, ummebelnd 
Himmelsgluth (jo heißt es in der früheren Ausgabe, in der fpätern: 
Name ift) jogleih Paraceljus ein, und er fagt, die Natur werde 
auf gut Paracelſiſche Weiſe zu Shall und Rauch u. ſ. w. 

Gretchen's Mutter, nimmt Hr. Göſchel an, ſei am Schlaf—⸗ 
trunke geſtorben. Dies wäre ſehr undramatiſch, denn vergiften 
wollte ſie Fauſt nicht, ſondern nur in feſten Schlaf verſenken; 
es wäre etwa zu viel von dem Tranke genommen worden, oder 
derſelbe hätte überhaupt ſtärker als vorauszuſehen gewirkt: ein 
Zufall, der in einem ſo wichtigen Punkte durchaus nicht zu 
ſtatuiren iſt; und doch ſcheint es allerdings vie Intention des 
Dichters zu ſein, dies deuten die Worte Gretchens an: da ſitzt 
meine Mutter auf einem Stein u. ſ. w. Hier iſt dem Dichter 
jedenfalls eine Mafche gefallen. Ueber die Walpurgis-Nacht haͤtte 
der Verf. mehr ſagen dürfen, da er ja ſonſt fo munter im Aus: 
legen ijt, al3 die paar Worte ©. 125. 


175 


Ein folder Mann, dies läßt fih vorausjeßen, wird feine 
geringe Stärke haben im Deuten, mo nicht8 zu deuten ift, und 
im Allegorifiren. Zur Beluftigung eines verehrlichen Publifums 
einige Beifpiele. Zu der Stelle, wo Mephiſtopheles den Kauft 
einſchläfert, ihm durch feine Geifter fehöne Träume ſchickt und 
entflieht: „der Traum ift ed, der dad Schwinden aller Grenzen 
und Wölbungen, dad Verfchwimmen aller Verhältniſſe vollbringt; 
und der Schlaf ift dad Mittel, in welchen und das verneinenbe 
Princip entfchlüpft, der Pudel mit den Scholafticus entipringt, 
ja aller Unterſchied, und fomit das Erfennen verfehwindet und 
die pure Unterſchiedsloſigkeit und Unendlichkeit Pla ergreift.“ 
Zu dem Rathe des Meyhiſtopheles, ver Schüler folle in der ° 
Theologie auf eined Meifters Worte ſchwören, zieht der Verf. 
aus der Walpurgis- Nacht herauf: Du mußt des Felſens alte 
Rippen paden, jonft ftürzt fie dich hinab in diefer Schlünde Gruft 
— und verfteht unter des Felſens alten Rippen „den dogmatiſch 
derben und ficheren Wortverftand.“ Der Hocuspocus ded Mephi- 
ſtopheles und die Verzauberung der Trinfer in Auerbach's Keller 
verfinnlicht Fauft’3 eigenen Gemüthözuftand , „der bie ganze ob- 
iective äußere Welt bald in jelbfteigner Perfon wie feine Gedanken 
zu bewegen und zu regieren verlangt, bald als ein Trugſpiel der 
Sinne betrachtet.“ Hiezu citirt er dann das berühmte Geſpräch 
zwilchen Leſſing und Jacobi über Spinoza aus feinem anderen 
Grunde, ald weil, wie Mephiſtopheles aus dem Tijche Wein 
fließen läßt, ebenfo Leſſing dafelbft jagt, er mache vielleicht eben 
jeßt als abjolute Subftanz ein Donnerwetter. Die Hexenküche 
mit ihren Dieerfagen ſoll zeigen, daß es fich im creatürlichen Le⸗ 
ben, bis der Verluft der Einheit mit Gott erkannt ift, behaglid 


176 


Leben laſſe. Weil dad Intermeszo in der Walpurgis⸗Nacht über: 
ſchrieben iſt: Oberon's und Titania’8 goldne H och zeit, ſo iſt 
hiemit offenbar angedeutet, wie aus den höchſten und letzten Ge⸗ 
genfägen und Scheidungen die endliche höchſte Einigung entfpringt. 
Es iſt Naht, dad Feld offen, als Kauft und Mephiftopheled 
auf ſchwarzen Pferden: am Nabenfteine vorüberbraufen —: „Im 
offenen Felde, dad keine Grenzen hat, zerftrenen ſich Die Gedan⸗ 
fen; in Wald und Höhle ſammeln fie fich wieder.“ In des 
wahnfinnigen Gretchens Gefange — meine Mutter, die Hur 
u. ſ. w. — da werd’ ich ein ſchönes Waldvögelein, fliege fort! 
— es find Worte ded ermordeten Bruberd in dem Märchen vom 
Machandelboom, der ſich ald Vogel zur Rache aufſchwingt —, 
findet der Verfaſſer vollkommen beflimmt ven chriftlichen Bes 
griff der Erbfünde und der Erlöfung ausgeſprochen. Das ganze 
Mährchen, aus welchen Gretchen diefe Strophen fingt, deutet 
Hr. Göſchel dahin. Daffelbe hat aber Feinen andern Zweck, ale 
darzuthun, wie das Verbrechen fih rächt, müßte auch die ganze 
Natur in ihren Angeln krachen. Der ermordete Bruder wird neu 
belebt, den Mord zu beftrafen, es ift hier von feiner Auferfte- 
bung im geiftlihen Sinne die Rede, er lebt nachher auf diefer 
Erde fort. Aber fo eine wirre Einbildungsfraft rührt Alles in 
Einen Brei zufamınen. 

Zwei Anhänge der Schrift befchäftigen fih, der eine mit 
Schöne's Fortſetzung des Fauſt, die ed wahrlich nicht werth ift, 
der andere mit der Sage vom ewigen Juden. 

Beobachtet nun die vorliegende Schrift im Ausframen aller 
im Obigen gefchilderten Grillen und Abfonderlichkeiten noch ein 
gerwiffed Maß, fo erfcheinen dieſe dagegen bid zum Gipfel ver 


177 


Tollheit und des Wahnfinns gefteigert in folgendem Schrifthen, 
das der Verf. mit der Beſtimmung, die Abhandlung zu ergänzen, 
jpäter erfcheinen ließ: 


Herold's Stimme zu Goethes Fauft erften und 
zweiten Theil, mit befonderer Beziehung auf bie 
Schluß-Scene bes erften Theil von C. 5. G.....l. 
Leipzig 1831. 


Die Einleitung bildet eine Erörterung über dad Weſen ber 
Kunft, welche neben vielem Wahren und tief Gebachten den ſchie⸗ 
fen Sag aufflelt, daß die ſchöne Form den geiftigen Inhalt auf 
doppelte Weije enthalte, auf fombolifche, fofern derfelbe mit ihr 
ganz identiſch und fie von ihm gefättigt jei, und auf allegorifche, 
fofern fie denfelben auch als außerhalb ihrer, als ein Anderes 
ihrer enthalte. Dies ift wie die allegorifche Interpretation des 
Drigined, die neben dem Wortfinn und dem nächften geiftigen 
Sinn noch einen dritten allegorifch myſtiſchen zwifchen den Linien 
ſucht, und widerlegt fi) durch das, was wir ſchon früher über 
Allegorie fagten und durh dad ABC jeder gefunden Nefthetif. 
Mit Hiefem Sabe glaubt denn der Verf. al den Wahnmig zu 
fhüßen, ben er nun befonderd über die Schluß- Scene des erften 
Theils vorbringt, und der fi darin zufammenfaßt, daß erftend 
Zug um Zug bid auf die unbedeutendſten Nebendinge herunter 
allegorifch gedeutet, zweitens biefe Bedeutung nicht in philofophi- 
ſcher, fondern in der erbaulich theologiſchen Form des Dogma 
gefaßt wird und wir ſtatt einer wiſſenſchaftlichen Abhandlung eine 

Predigt erhalien. 
KRritiſche Gänge II. 12 


178 


Der Schlüffelbund, womit Fauſt Gretchens Kerker öffnet; 
bezeichnet die falſche Selbfthilfe moraliſcher und intellectueller 
Kraft; das Nachtlämpchen, das er mitbringt, if das Nacht⸗ 
lämpchen feichter Verftandes - Aufklärung, der matte, düſtere 
Schein vereinzelter Vernunft, womit fle im Lichte zu manbeln 
meint. Wenn Fauft dad wahnfinnige Gretchen zuerft außerhalb 
des Kerkers fingen hört, und im Buche fteht: es fingt inwendig, 
fo heißt dies, daß eigentlich nicht Gretchen, fondern in ihr ihr 
Kind finge; das Kind fingt in ihr über der Mutter und des 
Vaters Schuld, über die Erbfünde. Die Worte aus dem Mähr- 
hen vom Machandelboom finden nun erft vollends ihre ganze, 
tieffinnige Deutung : mein Schweiterlein Elein Hub auf die Bein 
an einem Fühlen Ort. Der fühle Ort ift das Grab, und aus den 
gefammelten und aufgehobenen Gebeinen „ipringt auf einmal dad 
Dogma hervor, welches zwijchen dem Jammer biefed Sünden: 
lebens und der vollendeten Preiheit der Kinder Gottes die Mitte 
oder Vermittlung macht, nämlich der Tod und die Auferftehung. « 
Daß es nicht bloß Gretchen, fondern auch ver Dichter fo gemeint 
bat, beweift die Erzählung von Sperata, Mignond Mutter, in 
Wilh. Meifterd Lehrjahren,, die am Ufer ihres Kindes Gebeine 
fucht, die gefammelten Beinen zufammenfügt und ihre Belebung 
erwartet. Wie kann man da noch zweifeln, daß den Dichter bie 
Lehre von der Auferftehung vielfach befhäftigt haben muß! 
(S. 89). Warum beruft fi) doch Herr Göſchel nicht auch auf 
Goethes ofteologiihe Studien? Wenn Fauft Gretchen zuruft: 
die Thüre fteht offen! fo fagt unfer Interpret, wenn Gretchen 
noch eine Tihüre offen ftehe, fo fei e8 nicht diefe. Wenn Gretchen 
in gräßlicdem Geſichte den letzten Tag, ven Tag ihrer Hinrichtung - 


179 


ſchon grauen fieht, fo meint fie zunächft zwar dieſen, eigentlich 
aber den jüngften Tag, und die Worte: es ift eben geſchehen, 
gehen nicht nur auf den zerftörten Kranz, fondern auf ven Iekten 
Henkerſtreich. Ruft Kauft aus: o wär’ ich nie geboren! fo ift 
bamit auögebrüdt, daß die Geburt ohne die Wiedergeburt zum 
Elend führt. 

Doch genug der Beiträge zur Gefchichte des menichlichen 
Wahnfinne. 


Aefthetifhe Borlefungen über Goethes Fauft, 
als Beitrag zur Anerkennung wiffenfchaftliher Kunfts 
beurtbeilung, herausgegeben von Dr. H. F. W. Hin 
richs, ordentl. Prof. der Philof. an d. Univerfirät 
zu Halle. Halle 1825. 


Ich will mic) über diefed Buch kurz faſſen. Wenn ich in der 
gegenwärtigen Mufterung die Schriften Anderer, von denen ich 
überzeugt bin, daß fie gerade fo find, wie eine Schrift über ein 
Kunftwerk nicht fein fol, Schritt für Schritt durchwanderte, ihre 
Verkehrtheit aufzumeifen , jo that ich died, weil ich nicht voraus⸗ 
jegen durfte, daß die Verf. und ihre Leſer von diefer Verkehrt⸗ 
beit, jene ein Bemwußtjein, dieſe hinlängliche Kenntnig haben. Von 
Hrn. Hinrichs aber habe ich die Ueberzeugung, daß er dad Ver⸗ 
fahren der vorliegenden Schrift jetzt ſelbſt nicht mehr billigt, und 
will daher dem achtungswerthen Philoſophen nicht den unwill⸗ 
kommenen Dienſt erweiſen, daß ich eine Geſtalt ſeiner Vergan⸗ 
genheit, über welche längſt Gras gewachſen iſt, in ihrer Schwäche 

12 * 


180 


aufdecke. Ebenſowenig braucht e8 einer Belehrung für das Publi⸗ 
fum, denn außer der Schule kann diefed Bud) Niemand leſen, und 
die Schule felbft ift doch wohl von der Manier deſſelben bereits 
zurücgefommen. Dürfte ich Beides nicht vorausfegen, fo müßte 
ih darthun, daß man mit aller Mühe Feine vollkommnere Kari- 
fatur der „abfoluten“ Philofophie, Feine höhere Steigerung und 
Bereinigung der Verkehrtheiten, in welchen diefe Litteratur fich 
bewegt ‚ feine befjere Parodie derfelben hervorbringen Eönnte. 
Ih müßte darthun, daß die Philojophie ſich nicht fehlechter em⸗ 
pfehlen kann, ald wenn fie auch außerhalb der ftreng geſchloſſe⸗ 
nen Wiſſenſchaft, wenn es darauf ankommt, ihren Inhalt in 
Fluß zu bringen und in ein gegebened Gebiet, das bis jetzt von 
ihr nicht durchdrungen war, bineinzuleiten, das Geraffel und 
Getrampel ihrer Terininologie (deren Nothwendigkeit und Werth 
ich am rechten Orte vollfommen anerfenne und gegen das Ge- 
ſchrei feichter Köpfe über Mangel an Popularität eifrig in Schuß _ 
nehme) vernehmen läßt, daß dem Hörer die Ohren faufen, und 
auf Stellen wie folgende mich berufen: „Als Weſen überhaupt 
kann Diargarete deswegen die Religion nur wiffen und an daſſelbe 
glauben, infofern fie fich felbft und Alles, was nicht dad Weſen 
felber ift, ald ein Nichtiges und Unwahres weiß, jo daß eben 
diefes ihr Wıffen von dem Wefen mit dem Wiffen ihrer felbft ald 
eined Nichtigen im Gegenfaß des Weſens felber verbunden iſt. 
Alſo ihr Wiſſen des Weſens ald des Wahren und das Wiflen 
ihrer ſelbſt als des Unwahren vermittelft ihrer Beziehung auf das 
Meier, welche Beziehung der Gegenfaß ihrer gegen dafjelbe ift, 
ift Ein Wiffen und deshalb nicht ein verfchiedened Wiſſen, ald 
ob das eine Wiffen ohne das andere fein könnte. Diefed Wiſſen 


181 


befteht einzig und allein in dem Bewußtſein Margaretens, welches 
Bewußtſein als das Willen ihres von dem Weſen getrennten und 
nur in diefer Trennung von dem Weſen wifjenden Gemüths« 
u. ſ. w. Ich müßte dann den Lefer fragen, ob ihm von biefer 
Stelle unmittelbar nad ihrer Lefung etwas Anderes im Stopfe 
ziſche und fumfe, als lauter W, I, E, S? Ich müßte zugleich 
auf die ungemeinen Härten der Sprache und Conftruction , wo⸗ 
durch der Schüler feinen Lehrer noch weit überbietet, aufmerkſam 
machen, und mie er die Fleinen Eigenheiten deſſelben nachahmt, 
3. B. dad lächerliche „Nähere —: „den luſtigen Gefellen in 
Auerbachs Keller ift näher jeder Tag ein Bet“ — „ſie fuchen vie 
Langeweile durch irgend eine Dummheit und was dergl. mehr zu 
entfernen und näher dadurch zu Befeitigen, daß fie ihr Thun und 
Treiben im Gegenfaße des allgemein Bernünftigen geltend machen. « 

Ih müßte ferner nachweifen, wie Goethes Kauft eigentlich 
gar nicht das Object diefer Schrift iſt, fondern vielmehr nur die 
Unterlage, auf welcher Hegel'ſche Philojophie docirt wird; mie 
hier die halbe Phänomenologie, Encyclopädie, Nechtöphilofophie, 
Meligionsphilofophie auszubeuten die einzelnen Stelleit des Ge⸗ 
dichts Gelegenheit machen müſſen. Gretchen geht in die Kirche, 
und wir befommen eine halbe Religionsphilofophie, u. f. f. Die 
natürliche Folge davon, daß der Verf. immer Hegel ſtatt Goethes 
Fauſt im Auge hat, tft, daß er Manches, um Hegel’iche Phi- 
loſophie dabei anzubringen, geradezu falfch deutet; fo nimmt er, 
von der ſchon angeführten Stelle ver Phänomenologie verführt; 
den Erdgeift geradezu für den Geift der Begierde; fo fagt er; 
weil in der Rechtsphiloſophie der Selbſtmord von dieſer Seite 
gefaßt wird, Fauſt wolle durch den Selbſtmordverſuch feine ab- 


— 


182 


ſtracte, leere Freiheit bewähren, da doch bei Fauſt noch ganz 


andere pofitive Triebfedern hiezu wirken; darüber werben denn 
weſentliche Punkte, wie die Erklärung Fauſt's in der Wette, daß 
er verloren ſein wolle, ſo wie er ſich auf ein Faulbett lege, über⸗ 
ſehen. Iſt denn Goethes Fauſt dazu da, um Hegel ſche Philo⸗ 

ſophie vorzutragen? Steht denn nicht dieſe bereits an ihrem Orte, 
in Hegel's Schriften, gedruckt? 

Ich müßte ferner hervorheben, wie der Genf ohne alle Kritik 
das Gedicht, als Hätte es der heilige Geift in Perfon gemacht, 
als ſchlechtweg vollfommen nimmt, ja gleich in der erften Vor⸗ 
lefung erklärt, e8 folle alles Einzelne darin ald nothwendig und 
vernünftig erfannt werden. Ich müßte Beifpiele anführen, wie 
ihn diefer Grundfaß verleitet hat, Nebendinge, die fo Elar find, 
daß fie Feiner Deutung bedürfen, mit feterlicher Gründlichkeit zu 
deduciren, 3. B. die Erſcheinung des Mephiftopheles ald Bubel: 
„das Thier allein vermag außer dem Menfchen wegen feiner freien 
Selbftbemegung den Ort zu ändern, und iſt deshalb nicht, wie 
jedes andere Leblofe und Lebende, 3. B. die Pflanze, an dem⸗ 
jelben (f. denfelben) gebunden. Es tft darum auch nur (daB 
„nur« falſch geftellt) im Stande, ſich unfern Spaßiergängern 
zugefellen und fi) den Menſchen überhaupt anſchmiegen zu koön⸗ 
nen („zu können “ tft pleonaftifh) ; jedoch ift es nicht gleichgiltig, 
welches Thier jener Vorftelung entſpreche, indem der Inflinet 
deſſelben fich auf die Vorftellung beziehen muß. Ein Vogel, Fiſch 
u. f. f. kann es nicht fein, weil folche Thiere von der Natur in 
die Luft, dad Waſſer geworfen aus Inftinet den Menſchen fliehen, 
auch nicht die Schlange, die doch von jeher ald Symbol der Vers 
führung zum Böſen vorgeftellt worden, weil biefelbe nur im 


183 


Parabiefe verführen kann. Alfo dasjenige Thier, deſſen Inftinct 
vor allen andern ausschließlich auf die Individualität des Menfchen 
gerichtet ift, würde der Borberung ber Vorſtellung nur (dad „nur“ 
wieder falfch geftellt) genügen können, indem es ald hier über- 
haupt der Form bed Bewußtſeins wegen ald Anderes angefchaut 
wird, ald auch (mo iſt denn das „ſowohl“ ?) vermittelft feines 
Inftineted die etwaige Fremdheit entfernt und tilgt. Wenn der 
Hund überhaupt ein ſolches Thier tft, jo ift doch näher der Pudel⸗ 
hund derjenige Hund, deſſen Inftinet ausschließlich am meiften auf 
die Individualität des Menfchen geht, flatt daß der Inſtinet an⸗ 
brer Hunde ſich mehr oder weniger mit auf Andres bezieht.“ Ich 
würde anführen, wie der Hr. Verf. darthut, daß Fauſt, da er 
bie ganze Welt und damit dad Allgemeine felber nicht in Bauſch 
und Bogen aufſchnabuliren kann, mit einem einzelnen Gegenftande 
den Anfang machen, und daß diefer Gegenftand nicht z. B. ein 
Leblofed Ding, das darum wohl verzehrt wird, ſondern ein wirf- 
liches Mädchen fein mußte. Ich würde nachweiſen, mie biefe 
Manier ihn nothwendig auch zum allegorifchen Deuteln verleiten 
mußte, und ald Belege veflelben anführen, wie er über das Auf- 
fehmellen des Pudels fagt, es fei die fi frei geftaltende Vor⸗ 
ftellung des Böfen und damit die ſich verwirflichende freie Geſtal⸗ 
tung des freien Wiffens felber; wie er jagt, Bauft fliege deswegen 
mit Mephiftopheles auf dem Mantel fort, weil der Beginn feines 
neuen Lebenslaufes felbft ein ihm Aeußerliches fein müffe ; wie 
das Verſchwinden Fauſt's mit Mephiftopheles am Schluffe erklärt 
wird für die Vorftelung des Schickſals als ſolchen, infofern daf- 
ſelbe als der Inhalt feiner Gewißheit fein unverfühntes Bemußtjein 
ausdrückt und von demſelben als feine Macht anerfannt wird u. f. w. 


184 


Ich wünfche eifrig, daß der ernfte Denker , deſſen unbebing- 
tes Zutrauen zu der Kraft des Begriffs und reine Begeifterung für 
bie Wiſſenſchaft und Freiheit im Geifte ich aufrichtig verehre, im 
dieſem Urtheile nur feine eigene durch die Zeit aufgehellte Einficht 
erfennen, daß ich aus ihm ſelbſt Heraus gefprochen haben möge, 
und wo er hierüber mit feinem Bewußtſein noch nicht ganz im 
Klaren ift, diefe freundlich gemeinten Bemerkungen, bie ihm 
vielleicht hiezu behilflich fein können, von ihm nicht verfannt wer: 
den möchten. 


Borlefungen über Goethes Fauf. Bon F. 4, 
Raud, Dr. phil. u. Privat-Docenten an der Univ. 
zu Gießen. Büdingen, 1830. 


In der Vorrede fagt der Berf.: „Dem Grundſatze gemäß, 
daß das zu DBeurtheilende von einem höheren Standpunkte bes 
trachtet werden müffe, als der fei, auf welchem es felbft ſich 
darftelle, wurden den einzelnen Abtheilungen allgemeine Betrach⸗ 
tungen vorangeſchickt, auf welche dann der weitere Inhalt ver 
Tragödie Beifpielöweife zum leichteren Verſtändniſſe bezogen 
wurde.“ Nun, der Dann ift doch ehrlich; wenn Andere fich noch 
ven Schein geben, als reden fie von Goethes Fauft, während 
fie nur ihre Philoſophie vorzutragen beabfichtigen, fo bekennt ex 
offen, daß er Philoſophie dociren, und das Gedicht nur Bei⸗ 
ſpielsweiſe anführen wolle. Er Hält auch tüchtig Wort, denn 
er beginnt mit nichtd Geringerem, ald einem Auszug aus dem 
ganzen Hegel'ſchen Syſtem auf 20 Seiten. So wird er mir denn 


185 


auch erlauben, daß ich ihm unter die Schriftfteller über Goethes 
Fauſt gar nicht zähle; denn wenn ich hier alle Schriften durch⸗ 
geben müßte, wo Goethes Fauft beifpielömeife angeführt wird, 
jo hätte ich Leine Fleine Arbeit. Ich bin ohnedies mühe, ſehr mühe. 


Karl Rofenfranz 


hat an mehreren Stellen feiner Schriften der Sage vom Dr. Fauft 
und der Goethiſchen Tragödie eine lebhafte Aufmerkſamkeit ge- 
ſchenkt. Was er in feiner Gefchichte der deutſchen Poeſie im Mit⸗ 
telalter über die Sage bemerkt, iſt um fo treffender, ald man 
fonft ganz verſäumt hat, ven heiteren Humor, der ein weient- 
liches Element diefer Zauberſtückchen ift, zu fehen und zu genie- 
Ben. In feiner Schrift: „Ueber Calderon's Tragödie vom, 
wunderthätigen Magud. Gin Beitrag zum Verſtändniß der 
Bauftifchen Kabel.“ (1829) ftelt ex eine geiftreihe Vergleichung 
zwifchen Calderon's und Goethed Drama an, die Volksſage aber 
nimmt er zu hoch und findet wie Göfchel zu viel in ihr, wenn 
er jagt: der Erfinder, wie der Mainzer Fauſt, der, wie dieier, 
durch Äußere Noth auf fich felbft Zurückgewiefene; der wie Para⸗ 
celſus die Natur mit eigenen Augen durchſpähende und den Zu- 
ſammenhang des mikrokosmiſchen und makrokosmiſchen Lebens in 
ſeiner magiſchen Einheit Herausforſchende; der wie Carteſius an 
der Wahrheit des gemeinen Wiſſens Verzweifelnde — und noch 
andere Geſtalten des Bewußtſeins (wie viele denn am Ende?) 
ſeien in dieſer Einen zuſammengeſchmolzen. Des Verf. Schrift: 


186 


„Ueber Erklärung und Fortfegung des Kauft im All⸗ 
gemeinen und insbeſondere über chriſtliches Nachſpiel 
zur Tragödie Kauft.“ (Leipzig, 1831) kann ich nicht zur 
Sand bekommen. In feinem Schrifthen: „Zur Geſchichte ber 
deutſchen Litteratur.“ (1836) giebt er nebft einigen Beitraͤ⸗ 
gen zur Gefchichte ver Sage und Bemerkungen über andere poetis 
ſche Bearbeitungen derſelben aus neuerer Zeit feine Ideen über 
den zweiten Theil der Goethifchen Tragödie nebft einem Interpre- 
tationd = Verfuch ihres Hauptinhalts, mie foldhe zum Theil ſchon 
früher in ven Berliner Iahrb. flanden. Hr. Roſenkranz flieht ein, 
daß diefer zmeite Theil vollkommen allegorifch ift, daß es an einer 
Geſchichte, an einer fih abrumdenden Handlung, an der dra⸗ 
matijhen Wärme fehlt, er giebt zu, daß, dramatiſch genommen, 
die vier erften Acte ganz wegfallen Eonnten , wie bied auch von 
einem fo rührigen und lebhaften Geifte, der fein Urtheil durch ein 
zimnfaffendes Studium der Poeſie ausgebildet hat, nicht anders 
zu erwarten war. Wenn er e3 aber einfleht und zugiebt, warm 
hat er denn vor diefem Ding einen fo ungeheuren Reſpect, daß 
er „mit flaunendem Blick, mit Elopfenden Herzen, mit ſchüch⸗ 
ternfter (auch einer ver fatalen altgoethifhen Superlative) Bangig- 
keit, von taufend Gefühlen und Ahnungen erregt, vor dem Gedichte 
fteht, um die Abficht des Meiſters vorläufig zu deuten?“ Und wenn 
er ſelbſt fagt: die Haupttendenz eines Gedichts müſſe fich fogleich auf⸗ 
dringen, und e& würde ein ſchlechtes Machwerk fein, wenn es nicht 
dad erſte Mal, wo es einem Volke zum Genuffe geboten werd, 
deſſen lebendiges Intereffe erregte , wenn dies erft aus mikrologi⸗ 
hen Entdedungen, aus feiner Enträthfelung verſteckter Anſpie⸗ 
lungen bervorgehe, wenn die Begeifterung aus der Gelehrſamkeit 


187 


und Scharffinnigfeit des Dichters entfpringen follte u. f. w., — 
wie kann er überfehen, daß dies nichts als ein Urtheilsſpruch der 
Berwerfung über das ganze Product ift * Denn nicht bloß gleich» 
giftige Einzelheiten, fondern ganze auftretende Figuren, die eine 
große Rolle fpielen, wie ber Homunculus, ganze Acte find un- 
verftändlih und nur durch Gelehrſamkeit und grübelnden Scharfe 
finn zu deuten; die Haupttendenz erhellt zwar aus dem legten Acte, 
aber eine Beziehung deſſelben auf die vier andern findet gar nicht 
ſtatt. Uebrigens hat dad Volt das Urtheil bereits ausgeſprochen, 
das Hr. Roſenkranz ſelbſt für competent erklärt: es hat dieſes Mach⸗ 
werk auf die Seite gelegt. Ich laſſe es auf eine Probe ankommen, 
ob unter tauſend Beſitzern der Goethiſchen Werke je mehr als 
Einer zu finden iſt, in deſſen Bibliothek auf dieſem Bande nicht 
der Staub fingersdick liegt. Hr. Roſenkranz hat auch durch fein: 
„Beiftlih Nachſpiel zur Tragödie Fauſt.“ (1831) eine 
Zärtlichkeit gegen die Allegorie zu erfennen gegeben, die offenbar 
über die Grenze des Crlaubten geht. Fauſt findet vollfommene 
Berfühnung feiner theoretifchen Zerrifienheit in der Hegel'ſchen 
Philofophie, und in ihr erſcheinen nun die verſchiedenen Zeit- 
gegenfäge in der Theologie auögeglihen. Ich weiß wohl, daß 
Hr. Nofenkranz dieſe verfifieirte Proſa nicht für wahre Poefle 
ausgeben will; allein ich muß eben doch fragen: warum macht 
er dann ſolche Sachen? Poeſie ift es nicht, das weiß er; es ift 
aber auch nicht Proja, weil die poetifhe Form verhindert, Das 
profaifche Thema in der Deutlichkeit, die feine höchſt nüchterne 
Natur verlangt, zu entwideln; es ift Fein Fuchs und fein Haas, 
nicht warm und nicht Ealt, die verfchledenen Elemente, die es 
zufammenbinden will, abjolute Profa und Poefle, heben ein= 


188 


ander auf jedem Schritte auf. Oder nicht? Ich führe nur bie 
letzten Worte Fauſt's an, und ed frage fi dann Jeder, mas 
daß fei: 
| Vielleicht ift nicht mehr fern die Zeit, 

Wo ganz erlifcht der alte Streit 

Brennt nur ded wahren Wiſſens Licht, 

Dann auch am Glauben ed nicht gebricht, 

Und fehlt’3 am rechten Glauben nicht, 

So mangelt aud) dad Wiſſen nicht. 

Es giebt nur Ein Mittel, ſolche Gegenflände in die sBocfie 
hereinzuziehen , die phantaftifhe Komik, wie fie Tied in ſei⸗ 
ner Gewalt bat, wie fie im Zerbino, im geftiefelten Kater ſpru⸗ 
beit. Man könnte mit diefem Mittel ausgerüftet alle möglichen 
antithetifchen Tendenzen der Wiſſenſchaft aufführen, nur immer 
fo närrifh als möglih; man dürfte dann die Allegorie in vollem 
Maße anwenden, denn, und durch diefe Schlußbemerfung er- 
gänze ich alle biöherigen Bemerkungen über Allegorie, die komi⸗ 
ſche Allegorie wird mieder poetiſch, indem gerade durch den Wi⸗ 
derfpruch der Einfiht, dag das Bild nur Zeichen eines Begriffs 
jei, mit der Nöthigung, dieſes Bild doch als etmas Wirkliches 
und Lebendiges zu betrachten (mie im Fortunat, wenn der Zufall 
auf der Treppe Räder fchlägt u. f. w.) der heiterfte Humoriftifche 
Effect erreicht wird, ähnlich der Parabafe.. Dann müßte aber 
freiih auch die fatyrifche Lauge weit fehärfer fein, als in biefem 
Nachſpiele; welch' ganz anderes Bitterfalz könnte man noch den 
Rationaliſten, Supranaturaliften, Gefühlötheologen eingeben, als 
hier geſchehen ift! 


189 


Kritif und Erläuterung bes Goethe'ſchen Fauſt. 
Nebſt einem Anhange zur ſittlichen Beurtheilung Goe⸗ 
thes. Von Ch. H. Weiße. Leipzig, 4837. 


Der Verf. unternimmt es, „jetzt zum erſten Male das zu 
geben, was als Ziel einer jeden auf wiſſenſchaftlichen Werth 
Anſpruch machenden Beſprechung eines Kunſtwerks vorſchweben 
muß, was aber gegeben zu haben ſeines Wiſſens noch keiner 
derer, die bisher über das Gedicht dad Wort genommen, be> 
bauptet hat: eine Kritik des Werks, eine Kritik in dem höhe⸗ 
ren umfaffenderen Wortfinne , zu welchen in der deutfchen Litte⸗ 
ratur dieſes Wort feit Leffing und Winkelmann ausgeprägt iſt.“ 
— Wie mohlthuend ift die Erfeheinung eines ſolchen Werks in ber 
Fauft-Litteratur nicht bloß, fondern in der Kitteratur über Goethe 
‚überhaupt! Goethe hat bis jetzt noch Feinen Kritiker gefunden, 
er hat nur enthuflaftifche Freunde, die ihn für etwas Abfolutes 


nehmen, und uneble Feinde *). Den erften Anfang zu einer 


Eritiihen Betrachtung diefer großen Perfünlichkeit hat Gervinus 


in feinem Schriftchen über den Goethiſchen Briefwechſel gemadit, | 


den erften Eritiichen Verſuch an Fauſt macht gegenwärtige Schrift, :; 
die erfte, die es wagt, mit Freiheit des Geifted das Gedicht fih 


gegenftändlich zu halten, und feine afthetifchen Mängel zwijchen 
feinen unübertrefflihen Vorzügen aufzufuchen. Ich glaube, daß 
dieſer DVerfuch in wefentlihen Punkten nicht gelungen ift, aber 
das fol mir die Freude und Achtung nicht fehmälern, mit der 
ich ein Unternehmen begrüße, das um fo fehwieriger war, als 


+) Gervinusd hatte damals fein größered Werk noch nicht gefchrieben. 


t 


190 


die herrfchende umkritiiche Bewunderung diefer Tragödie unwill⸗ 
kürlich den Ginzelnen mit fortreißt und verführte Gewohnheit ihm 
die Emancipation aus biefer blinden Pietät erſchwert. Auch Hat 
fih Hr. Weiße diesmal einer gelenfigen Darftellung befliffen, nur 
bie und da verfällt er in die Fiefelfteinige Sprache, bie feine. ande» 
ren Werke unverdaulich macht, und Ref. wünſcht von Herzen, 
daß diefer Fortſchritt auch feiner weiteren wiſſenſchaftlichen Thä⸗ 
tigkeit zu Gute kommen möge. 

Der Berf. hat eingefehen,, daß der Tragödie die eigentliche 
bramatifche Einheit und Abgefchlofienheit abgeht, daß Alles, mas 
der Dichter dem zuerft erjchienenen Fragmente ſpäter hinzugab, 
trog al feiner Kunft und allem Scharffinn ver Ausleger nicht 
den Erfolg hatte, die Dichtung zu einem organifch vollendeten - 
Kunftwerk zu erheben, daß nicht nur der erfte Theil eben fo un» 
gleichartige als ungleichzeitige Beitandtheile in fich vereinigt, ſon⸗ 
‚bern daß auch nach der Erfcheinung des zweiten Theils das Ganze 
‚ein Bragnıent blieb. Kräaftig erklärt er ſich gegen die fpeculative 
| Deutungswuth,, welche in dem Gedichte einen Inbegriff aller 
| Bhitofophie finden will, ftatt den ſchaffenden Dichtergeift anſchau⸗ 
‚end zu genießen, nach metaphufifchen und theologiichen Syſtemen 
gräbt, während doch jede philoſophiſche Deutung „jo lang im 
Unficheren und Bodenloſen ſich bewegt, als nicht eine Kritik des 
Werks über die Entftehung und die Zufammenjegung bed Werks 
im Ganzen, über den dichterifchen Werth und Charakter der ein- 
zelnen Scenen das richtige Bemußtfein eröffnet hat.“ 

Der Mittelpunft nun, aus welchem die Kritif des Verf. 
operirt, ift die Behauptung, daß das erfte Fragment des erften 
THeild der Tragödie, das 1790 erjhien, wit dem zweiten Ge⸗ 


191 


fpräche zwiſchen Fauſt und Mephiftopheles pei ven Worten: „Unb 
was der ganzen Menſchheit zugetheilt ift« u. |. w., begann und 
mit mancherlei Abweichungen von der fpäteren Ausgabe das Ges 
dicht bis zu der Scene in ber Kirche fortführte, auf derjenigen 
Weltbetrachtung ruht, welche dem Dichter anfing aufzugehen, 
als er im Begriffe ftand, von der Sturm» und Drangperiobe zu 
ber Periode der Klarheit und Beionnenheit überzugehen. Es war 
die Libertinage der Genialität, welche in jener Periode chaotiſch 
aufbraufenden Gefühls der Schöpferkraft mit den falfchen Geſetzen 
flacher Verſtandespoeſie und fpießbürgerlicher Moral zugleich die 
ewig gültigen der Sittlichkeit umd der Fünftlerifchen Beſonnenheit 
über den Haufen zu werfen Luſt bezeugte, die rohe Naturfraft 
des Genius als Höchftes in der Poeſie und im Leben aufftellte, 
and was ein Genie that, für gut erklärte, weil ein Genie es 
gethan. Dieferiebermuth mußte ſich rächen durch augenfcheinliche 
Gefahr der Verwilderung und Entfittlihung, und es kam nun 
darauf an, ob das geniale Individuum die fittlihe Kraft bejaß, 
aus dieſem Chaos ſich zu fammeln, die rohe Naturkraft zu bäns 
digen und fich durch den Ernft angeftrengter Selbftbildung zum 
Ideale emporzuarbeiten. Lenz ging zu Grunde, Goethe genas; 
er fand, genährt am Geiſte des claſſiſchen Alterthumo, dem 
Uebergang von der Naturpoefle zur Kunftpoefle und von der Leis 
denſchaft zur Selbftbeherrichung. Noch che aber viefe Wiederge⸗ 
burt vollendet war, mußte in einem fo gefunden @eifte die fünf» 
tige Klarheit im Keime vorgebildet liegen und dem Bewußtſein 
fi ankündigen. Er begann einzufehen,, daß bie ſich ſelbft über⸗ 
laſſene Naturkraft in's Böſe umſchlägt, und in dieſe Verkehrung 
zwar auch ihre guten Kräfte mit hinüberträgt, aber, indem ſie 


192 


biefelben um einen falſchen Mittelpunkt verfammelt, zur böfen 
Genialität wird: einelimfehrung, worin das Böfe nicht als bloßer 
Mangel und äußerer Anflug auf die leichte Schulter genommen 
werben barf, fondern aud) das urfprünglich Gute in feine Dienfte 
nimmt und fo ein verfehrted Gegenbild der Schönheit erzeugt, 
das durch feine Infernale Natur trog all feinem Blanze dem Ge⸗ 
richte verfallen if. Hätte er diefen Standpunkt ganz erreicht 
gehabt, fo hätte jein Fauſt, wie der Fauft der Sage, in ewiger 
Verdammniß untergehen müffen. Allein dieſes Bemußtfein von 
der finfteren Seite des genialen Treibens dämmerte ihm erft von 
ferne auf. Er wollte im Fauft eine Selbftanklage, ein Gericht 
über fich nieverlegen ; er ftand aber mit Einem Fuße noch inner- 
halb des Standpunftes der Sturm⸗ und Drang Periode, welche 
diefen fittlichen Ernft nicht kannte, das Böſe, auch wo der geniak 
Breigeift von dem Bewußtſein deſſelben überrafcht wurde, als 
Vorübergehendes und bloß Verfehltes in den Wind ſchlug. Wäre 
diefe Weltanfiht noch ganz die feinige gewefen, fo hätte Fauſt 
trotz dem Verbrechen, das er auf fich ladet, gerettet merben 
müffen. So aber, da Goethe erft an ber Schwelle deö Ueber⸗ 
gang von der einen zur andern diefer Weltanfichten ftand , flellte 
er in feinem Helden einen Charakter dar, um den dad Gute und 
dad Böſe fich ftreitet, ohme daß er weder dem einen, noch dem 
andern zufällt, ver daher weder gerettet werben, noch auch in 
erviger Verdammniß untergehen kann, deſſen letztes Schickſal 
vielmehr problematiſch bleibt. Das erſte Fragment iſt alſo „das 
Product einer ſkeptiſchen Gemüthslage, einer dichteriſchen 
Weltanſicht, für welche es weder eine Seligkeit, noch eine Ver⸗ 
dammniß giebt, die nur ein Naturleben des Geiſtes kennt, und 


198 


ber das Reich der göttlichen Gnade ebenfo wie das Reich der 
firafenden Gerechtigkeit in eine nebelumhüllte Kerne gerückt if.“ 
In einem andern Sinne aber wurde fpäter, ald ber Gelft des 
Dichters zu höherer Kunftform ſich erhob, zunächft der erfte Theil 
überarbeitet und vermehrt, wobei freilich auch ältere Materialien 
mit aufgenommen wurden, und nachmals ber zweite hinzuge- 
dichtet. 

Nach des Vetf. Anſicht hätte nun die Vollendung des Ge⸗ 
dichts dem wahren Geiſte nicht nur der Volksſage, ſondern au 
der reinen Idee des fittlichen Lebens nur dann entſprechen können, 
wenn die Tragödie zu einer vollkommenen und entſchiedenen Dar⸗ 
ſtellung des „böſen Genius“ abgeſchlofſen worden wäre. Um 
jedoch eine ſolche geben zu können, blieb Goethe dem tieferen 
Einblick in dad Element des Gegenſatzes, in die Natur des Böfen, 
Häßlichen und Dämoniſchen „Im Ganzen“ zu fremb. „Ja er ent⸗ 
fernte fih von dem Bewußtſein dieſes Elements, von ber objecti- 
ven philofophifchen und dichteriſchen Beichäftigung mit ihm in 
demfelben Verhältniffe, in welchem er mehr und mehr in der 
claffifhen Idealwelt heimifh ward. Der eigentlide Sinn ber 
Sage von Fauſt Ing deshalb diefer Periode ebenfo fern, als jener 
früheren. So oft der Dichter, durch einen geheimnißvollen Zug 
feine Genius dahin geführt, zu dem Werke zurüdfehrte, fo 
Eonnte er daſſelbe nie in der Weife umgeftalten, wie e8 hätte von 
Grund aus umgeftaltet merden müſſen, um in entfprecdend voll- 
fländigem Sinne die Darftellung des böfen Genius zu enthalten 
fo, wie einige der edelſten Werte feiner reiferen Periode das 
Ideal und den Genius des Guten und Schönen verwirklichen. « 

Diefer Anfiht muß ich entſchieden entgegentreten. Es wirb 

Kritiſche Gänge I. 13 


= 


194 


hiedurch 1) der Volköfage ein Sinn untergefhoben , den fie nicht 
bat und nicht Haben kann, und von Goethe die Darftellung einer 
Idee erwartet, die auch feiner Zeit noch ganz ferne lag; 2) eine 
Idee des Böfen aufgeftellt,, welche ebenfo unrichtig als unpoetiſch 
ift; 3) ein Widerſpruch zwiſchen der urfprünglihen Abficht des 
Gedichts und dem Sinne feines Abfchluffes behauptet, der weder 
den jugendlichen noch dem gereiften Dichter zur Ehre gereicht und 
die Anerkennung des großen Fortſchritts, den Goethes Genius 
von unflarem Naturwirken zur hellen Befonnenheit machte, durch 
die Behauptung wieder aufhebt, daß er auch in der Periode der 
Befonnenheit dad wahre Wefen des Böfen nicht verſtanden habe. 
Zum Erften. Das, was Hr. Weiße den böfen Genius nennt, 
ift eine ganz moderne Geftalt des Geiftes, ein Begriff, den der 
Perf. aus Heine u. U. abftrahirt hat. Es gab zur Zeit, da bie 
Volksſage von Fauſt fi) bildete und abſchloß, noch Feinen Heine. 
Auch die Berwirrungen der Sturm= und Drang= Periode waren 
ganz etwas Anderes, als diefe neuefle Verſetzung romantifcher 
Elemente mit der perfiden Ironie eined Geifted, der die Himmels⸗ 
unfehuld des Engels ebenjo bezaubernd ald den Abſud der Cor: 
ruption darzuftellen vermag , ohne daß ihm jene heilig und biefer 
verwerflich erfcheint. Auch dad Mittelalter kannte die verlodende 
After» Schönheit des Böfen, aber gewiß nicht dad, was wir jept 
böje Genialität nennen. Der Bauft der Volksſage ift ein Breigeift 
ganz gewöhnlicher Art und auch in feinem frevelhaften Abfalle 
von Gott immer noch meit naiver und unſchuldiger, ald der böfe 
Genius, wie ihn der Verf. namentlih ©. 20 und 21 ſchildert, 
und er verſchwendet nicht eine Summe edler Geifteöfräfte für dad 
Bofe. Er verübt mit derbem Humor allerhand Iuftige Zauber: 


195 


voſſen und fucht dabei Spaß, Genuß und Ruhm. CEbenſo wenig 
gab e8 zur Zeit der Sturm- und Drang Periode ſchon einen 
Heine, und der Verf. jehildert ihre DVerirrungen doch etwaß zu 
grel. Es maren wilde Burfche, aber ganz ehrliche Häute, die 
von dem, maß bier der böſe Genius heißt, benſoweniz etwas 
in ſich trugen, als etwas wußten. 

Aber wäre Fauſt auch noch zehnmal böſer, als er iſt, ſo 
muß es vor unſeren reineren Begriffen immer craß erſcheinen, daß 
er den ewigen Höllenſtrafen verfallen ſoll, weil dieſe Vorſtellung 
überhaupt ein für allemal als irreligiös und unvernünftig erkannt 
iſt. Daher — 

Zum Zweiten. Den Fall auch geſetzt, die Sage enthielte 
jene geiſtigere Verkehrtheit einer genialen Natur, und Goethe hätte 
nach ihrem Vorgang dieſe darſtellen wollen, fo hätte Fauſt den⸗ 
noch als rettbar und gerettet auch nach dem tiefſten Verderben 
erſcheinen müſſen. Zunächſt hat der Verf. ganz Recht, wenn er 
der Anficht der Aufklärung, als fei das Böſe bloß eine Privation, 
bloß ein durch die Sinnlichkeit entftandener, anhängender Man⸗ 
gel, den pofitiven Begriff des Böſen entgegenhält, wonach es die 
Natur des Geiftes verdreht und aud) die edeln Kräfte in den Dienft 
der Hölle zieht. Doch bleibt die Frage, ob dad Böſe poſitiv oder 
negativ fer, eine Verirfrage ; denn auch poſitiv im ebengenannten 
Sinne verftanden bleibt das Böſe negativ, ein un öv, es ift ein 
Widerſpruch, der als folder ftet3 mitten im Entftehen fo eben 
feiner Auflöfung entgegeneilt ; bringen wir die guten Kräfte unfe- 
res Weſens auch zum Böfen mit, fo bat ja das Böfe von felbft 
feinen Feind in fh aufgenommen, der e8 fprengt. Daß einzelne 
Individuen in ihrer Verkehrtheit verknöchern, verändert nichte, 

13 * 


/ 


u! „2 5 


194 


hiedurch 1) der Volksſage ein Sinn unter nichtige Natur deſſen 
hat und nicht haben Tann, und von Gauſt aber repräfentirt die 
Idee erwartet, bie auch feiner Se barf das Böſe nie anders/ 
Idee des Voͤſen aufgeftellt, “un oder Energie ſtets im Wa⸗ 
it; 3) ein Wiberſpruch gt , ſtets Heilbares erſcheinen. Mas 


Gedichts und dem Suu ⸗ Fin⸗ der Schluß der Tragödie lauten 
DE — Genius vom Teufel geholt werden? Das 
*5 nimmt ſchon die Sage ſo aufgeklärt, daß 
von ur * 
sie fie ihren Fauſt verſtößt, nicht als einen 
bi — lah finnlicher Martern vorgeſtellt wiſſen will; 
— — * hren Sitz im Innern des Geiſtes und ihre Qualen 
A —— ſondern geiſtiger Urt. Bei einer fo aufge⸗ 
7 ee Lio hätte die Sage ihrem Helden jedenfalls den fo 
we Auftritt erfparen können, wo ihn der Teufel an Tifchen 
— * — zerſchlägt, daß das Hirn herumſpritzt und da ein 
vom Kiefer, dort vom Schädel hingen bleibt. Aber dieſe 
Qualen follen doch ewig fein! Geftehen wir, auch das 
p eine Anficht, die wir dem finfteren Mittelalter nicht beneiden 
wollen ; der Geift kann feinem Weſen nach nie ftille ſtehen; zu 
fliegen, fich zu bewegen ift feine Natur, — und er joll fi in 
ewige Unfeligfeit verbeißen? Oder thue ich dem Verf. Unrecht? 
Es finden fih aber doch auch fonft Stellen, wo es fheint, ale 
folle dem. Dichter fein bekanntes freied Verhalten zum Dogma 
überhaupt, dad er auch auf feinen Fauſt überträgt, zum Vorwurf 
gemacht werben. Bauft follte 3. B., meint der Verf. ziemlich iu 
Göſchels Geift, da er die Giftſchaale angefegt hat, nicht bloß durch 
eine unbeftimmte Rührung, fondern durch wirfliden Glauben 
vom Selbſtmord afgehalten und der Kirche, dem Meich der 





Im 


ade, wiedergegeben werben. Auch am Schluffe liefl man pas 
ſogiſche Bedenken: „Bon ven einzelnen hellen, auß der flit- 
Erfahrung des Dichters oder aus feiner poetiſchen Geniali- 
menden Blicken in die Natur des Guten und des Böjen 
‚igentlihen Chriften- Glauben an das Paradied und das 
umelreich, zu dem Beſitze derjenigen Glaubens - Anficht, die 
zu einer künſtleriſchen Darftelung vom Standpunkte Diefes 
Glaubens aus erforderlih wäre, tft noch ein weiter Schritt. « 
Goethe wußte aber wahrlich gewiß fo gut als Herr Weiße ven 
wahren Gehalt und die fehöne Form der rührenden Kinder⸗Vor⸗ 
ftellungen von Paradied und Himmelreich zu ſchäzen; das beweift 
er eben dadurch, daß er den Menſchen auch nah dem tiefften 
alle als rettbar darftelt. Darum mußte er aber an die Form, 
in welche diefe Rettung von der frommen Phantaſie eingefleivet 
wird, keineswegs dogmatifch glauben; wer dies verlangt, der 
verlangt, er follte die ganze hohe Geifteöfreiheit, durch bie feine 
Dichtungen den Charakter der edelſten Geiftigfeit tragen , gegen 
die naive Finſterniß mittelalterliher Gebundenheit vertaufhen. 
Am Ende iſt es doch bei Hrn. Weiße nichts Anderes, als der⸗ 
jelbe theologiftrende Standpunkt, den wir bereits abweifen muß- 
ten, woraus biefe Neflerionen hervorgehen. 

Zum Dritten. Hatte alfo der Dichter je eine richtige Einficht 
in die Natur ded Böſen, fo mußte von Anfang an in feinem 
Plane liegen, Fauft zu retten. mar allerdings bis zur völligen 
Klarheit fcheint er darüber erft ſpät mit fidh einig geworben zu 
fein ; erft in der zweiten Ausgabe des Fragments 1807 Tam ber 
Prolog im Himmel hinzu, worin die Nothwendigkeit, daß der 
Held gerettet werde, deutlich ausgeſprochen if, und zu gleicher 


196 


fie fühlen in ihrer Unſeligkeit hinreichend die nichtige Natur deffen, 
was fe als Weſen fefthalten wollen; Fauſt aber repräfentirt bie 
Gattung, und in diefer kann und darf das Böfe nie anders, 
denn als ein bei all feiner Poſitivität oder Energie ſtets im Wer⸗ 
den fo eben Verſchwindendes, ſtets Heilbares erſcheinen. Was 
meint denn der Verf.? Wie hätte der Schluß der Tragödie lauten 
ſollen? Sollte der böſe Genius vom Teufel geholt werden? Das 
gerade nicht; der Verf. nimmt ſchon die Sage ſo aufgeklärt, daß 
er die Hölle, in die ſie ihren Fauſt verſtößt, nicht als einen 
räumlichen Schauplatz finnlicher Martern vorgeſtellt wiſſen will; 
auch ſie habe ihren Sitz im Innern des Geiſtes und ihre Qualen 
ſeien nicht leiblicher, ſondern geiſtiger Urt. Bei einer fo aufge⸗ 
klaͤrten Anſicht hätte die Sage ihrem Helden jedenfalls den ſo 
geiſtigen Auftritt erſparen können, wo ihn der Teufel an Tiſchen 
und Wänden zerſchlägt, daß das Hirn herumſpritzt und da ein 
Stück vom Kiefer, dort vom Schädel hängen bleibt. Aber viefe 
geiftigen Qualen follen doch ewig fein! Geftehen wir, auch das 
tft eine Anficht, die wir dem finfteren Mittelalter nicht beneiden 
wollen ; der Geift kann feinem Wefen nach nie ftille ftehen ; zu 
fließen, ich zu bewegen ift feine Natur, — und er fol fi in 
ewige Unfeligkeit verbeißen? Oder thue ich dem Verf. Unrecht? 
Es finden ſich aber doch au fonft Stellen, wo es fiheint, als 
ſolle dem. Dichter fein befanntes freied Verhalten zum Dogma 
Überhaupt, das er auch auf feinen Fauſt überträgt, zum Vorwurf 
gemacht werden. Bauft follte z. B., meint der Verf. ziemlich in 
Göſchels Geiſt, da er die Giftſchaale angefegt hat, nicht bloß durch 
eine unbeflimmte Rührung, fondern durch wirflihen Glauben 
vom Selbſtmord abgehalten und der Kirche, dem Neich ber 


197 


Gnade, wiebergegeben werden. Auch am Schluſſe lieft man das 
theologijche Bedenken: „Von den einzelnen hellen, aus ver ftt- 
lihen Crfahrung des Dichters oder aus feiner poetiichen Geniali⸗ 
tät ſtammenden Blicken in die Natur des Guten und des Böſen 
zu dem eigentlichen Ehriften=- Glauben an das Parabied und das 
Himmelreich, zu dem Beflte derjenigen Glaubens = Anflcht, die 
zu einer künſtleriſchen Darftelung vom Standpunkte diefes 
Glaubens aus erforderlich wäre, ift noch ein weiter Schritt. + 
Goethe wußte aber wahrlich gewiß fo gut als Kerr Weiße den 
wahren Gehalt und die fhöne Form der rührenden Kinder- Bor 
ftellungen von Paradied und Himmelreich zu ſchäzen; das beweift 
er eben dadurch, daß er den Menfchen auch nad dem tiefften 
Valle ald rettbar varftellt. Darum mußte er aber an bie Form, 
in welche biefe Rettung von der frommen Phantafle eingefleivet 
wird, Eeinedwegs dogmatiſch glauben; wer dies verlangt, ber 
verlangt, er jollte die ganze hohe Geiftesfreiheit, durch die feine 
Dichtungen den Charakter der ebelften Geiftigfeit tragen, gegen 
die naive Binfternig mittelalterliher Gebundenheit vertaufchen. 
Am Ende ift es doch bei Hrn. Weiße nichts Anderes, ald der⸗ 
jelbe theologiſfirende Standpunkt, den wir bereitö abweiſen muß⸗ 
ten, woraus diefe Reflerionen hervorgehen. 

Zum Dritten. Hatte alſo der Dichter je eine richtige Einficht 
in die Natur ded Böen, fo mußte von Anfang an in feinem 
Plane liegen, Fauſt zu retten. Zwar allerdings bis zur völligen 
Klarheit ſcheint er darüber erft fpät mit fich einig geworben zu 
fein ; erft in der zweiten Ausgabe des Fragments 1807 kam ber 
Prolog im Himmel hinzu, worin die Nothwendigkeit, daß ber 
Held gerettet werde, deutlich ausgeſprochen if, und zu gleicher 


198 


Zeit wurde die Scene des eigentlichen Contracts⸗-Abſchluſſes zwi⸗ 
ichen Kauft und Mephiftopheles eingefügt, worin die unverwüſtlich 
fortfirebende Natur des Geifted «13 der innere Grund der Gewißheit 
eines ſolchen Endes hervorgeftellt iſt. Die frühere Unklarheit Eonnte 
aber darin niemals ihren Grund haben, daß Goethe auch nur ent- 
fernt an eine wirkliche Verdammung feines Helden dachte; nur pro⸗ 
blematiſch Eonnte ihm Fauſt's Ende erſcheinen ebenfo wie e8 dem, 
ver noch nicht zum philoſophiſchen Begriffe durchgedrungen ift, 
problematiſch feheinen kann, ob das Menfchenleben ein ſeliges ober 
unfeliges fei. Offenbar jedoch fich felbft widerfpricht der Verf., 
wenn er durch eine wirklich treffliche Entwicklung den Fortſchritt 
Goethes von der unklaren Naturpoefte zum Kunftideal darftellt und 
doch die zweite Bearbeitung der Tragödie in der Ausgabe 1807 
für eine noch größere Abweichung vom wahren Sinne der Sage, 
als den erften Theil, außgiebt. Wenn Fauft verloren fein muß, fo 
verräth der Dichter, der dies problematifh läßt, immer noch ein 
richtigeres Bewußtſein, ald der ihn gerettet erfcheinen läßt. Der 
zweite Theil freilich fticht gegen den erften poetiſch fo fehr ab, ale 
nur irgend ein Werk eines anderen, fchmächeren Dichters, maß 
der Verfaffer richtig hervorhebt; allein er meint, der ganze 
Standpunkt fei verändert, und das beftreite ih; Goethe hat viel- 
mehr der Idee nach ganz die urfprüngliche Intention feftge- 
halten, aber die dichteriſche Kraft reichte zur Durchführung nicht 
mehr aus. Diefen poetijhen Mangel überficht ver Verfaſſer 
nicht, er hätte ihn immerhin firenger beurteilen dürfen, als 
er thut. Er erklärt die Allegorie, wie fe hier vorherrfcht, für 
ein Product nicht des Verſtandes, fondern der Phantafie. Ich 
kenne eine Allegorie ſolcher Art nicht, ausgenommen etwa die 


199 . 


fomifche, wovon ih bei Roſenkranz ſprach; wodurch fol fi 
die Allegorie vom Achten Phantafiebilde unterſcheiden, wenn nicht 
dadurch, daß bei ihr der Impuls zum Suchen des Bildes vom 
Verſtande ausgeht *) ? 
Sp viel über ven erften Abfchnitt: Von der Dichtung über- 
haupt, von dem Verhältniſſe beider Theile zu einander und zur 
Sage. Der zweite handelt von der Compoſition und Scenenfolge 
des erften Theils und ſucht von den Anlagerungen fpäterer Kunft- 
poefte den urfprünglichen Kern von Naturpoefie zu unterfcheiden ; 
wo mir und freilich nicht tief in's Einzelne einlafien, fondern den 
Verf. nur mit wenigen Bemerkungen begleiten Eönnen. 
Unbeftritten laffen mir ihm feine Reflerionen über die Zueig- 
nung und dad Vorſpiel im Theater, die fogleich für feine un⸗ 
befangene, £lare Betrachtung das befte Borurtheil erwecken. Den 
Prolog im Himmel nun erklärt der Verf. deswegen für fpäter 
und nicht im Geiſte des erften Fragments gedichtet, weil er ein 
* metaphufliches Problem unverhüllt an der Stirne trage, und feine 
Perfonen nicht wirklich poetifhe Charaktere, jondern „Masken“ 
ſeien, die ihre abftracte, allegorifche Natur nicht verläugnen, weil 
er offenbar aus einer Stimmung hervorgegangen jei, mo dem 
Dichter fein eigenes Werk bereitö zum Objecte geworben, über 
“) ende mir Niemand Dante ein! Der größte Theil feiner Bilder tft 
nicht allegorifch, fondern mythiſch. Aber auch wo er allegorifch iſt, 
verbeffert er im Fortgang den allegorifchen Anfang dadurch, daß er 
das Bild anſchaulicher macht, ald ed der allegoriichen Bedeutung wegen 
ndıhig wäre, fo daß diefe Geſtalten, die nicht find, fondern nur bes 
deuten, den Schein der Lebendigtelt erhalten, der aber ebendarum ein 
wunderbar geheimnißvoller if. Died iſt nur möglich bei einem Manne 
Ted Mittelatterd, der am Ende auch an die allegorifchen Erdichtungen 


der eigenen Reflexion glaubt, fo daß fie ungewiß zwifchen dem Mythi⸗ 
fhen und Allegoriichen fchwanten. 


200 


bad er, wie über ein Naturprobuet, nachſann, für das er, wie 
für eine Sage alter Zeit, eine Deutung fuchte. Es iſt auch wirk- 
lich ein fpäterer Zuſatz, aber betrachtet man die poetifche Friſche, 
wodurch die, nicht allegorifchen ‚ fondern mythiſchen Perfonen 
dieſes Prologs wahrhaft in Fleiſch und Blut gewandelt find, die 
jugendlih körnige Sprache, fo überzeugt man fih, daß biefer 
Prolog, wenn auch erft fpäter gedichtet, doch nicht einer ſchon 
ganz veränderten Anfchauung und Stimmung angehörte. Zugleich 
muß ih aber hier auf einen ſchon mehrfach berührten Punkt 
zurückkommen, und benfelben ald Beweis aufführen, daß biefer 
Prolog, wenn auch fpäter gebichtet,, einen Punkt enthält, wel⸗ 
‘her Unklarheit in das Ganze bringt. Es find die Worte bed 
Herrn: fo lang er auf der Erde lebt, fo lange fei dir's nicht 
. verboten, es irrt der Menſch, fo lang er firebt. Dies iſt 
eine ſchiefe, in der Grundidee verfehlte Stelle. Sol die Wette 
| zwifchen den Herrn und Mephiftopheles eine reine fein, fo - 
müffen ihre beiberfeitigen Einwirkungen auf Kauft gleichzeitig 
jein und dürfen nicht in die gefchievenen Zeiten und Räume ded 
Dieffeitö und Jenſeits auseinanderfallen. Sol Fauft jenfeits in 
die Klarheit geführt werden, fo muß er doch, was ich fon 
öfters hervorhob, auch dort noch ſtreben; Streben fegt Schranfe 
voraus, Schranke ift Irrthum und Sünde, und dieſe find Wir- 
fungen des Mephiftopheles ; der Kampf wäre: alfo mit vem Er⸗ 
benleben nicht aus, und wer gewinnt, der gewinnt entiweber in. 
ber Gegenwart fichtbarer Wirklichkeit oder niemals. Diefe fchiefe 
Stelle corrigirt ſich aber im Verlaufe der Dichtung durch die Worte 
Fauſt's: das Drüben kann mid) wenig kümmern u. f. w., welche 
ber Derf., wie Göſchel, fälſchlich als den Ausdruck einer tadelns⸗ 


201 
werth ffeptiihen Weltanficht betrachtet, da fie vielmehr der Aus⸗ 
druck einer fehr Klaren und vernünftigen find; ebenſo durch bie 
Worte: mie ih beharre, bin ih Knecht, ob Dein, was frag’ 
ih, ober weſſen, — bie weit rationeller find, als bie Vorſtel⸗ 
lungsform im Prolog. Freilich folgt aus dieſen letzteren Stellen 
ſogleich, was wir ſchon öfters geltend machten, daß die Tragödie, 
ſie mochte fortgeführt werden, ſo weit ſie wollte, immer Frag⸗ 
ment bleiben mußte; denn in dem continuirlichen Fluſſe der Ge⸗ 
ſchichte beweiſen zwar ſtets wiederholte Lichtblicke die himmliſche 
Natur des Geiſtes, aber niemals ſo, daß ſeine irdiſche ganz 
und abſolut verſchlungen wird. Nachdem das Gedicht ſein gothi⸗ 
ſches Fundament durch ſolche rationelle Gedanken in ganz mo⸗ 
dernem Style überbaut hat, kann es nicht mehr in eine gothiſche 
Spitze endigen, und Goethe wußte das recht wohl, als er an 
Schiller ſchrieb, das Gedicht werde immer ein Fragment bleiben. 
Dies vergaß aber das geſchwätzige Alter des Dichters, und er 
gab dem unter der Hand ganz modern gewordenen Gebäude einen 
Schluß in der Bauart des Spitzbogens, der an jene ſchiefe und 
hinkende Stelle des Prologs fich wieder anſchließt. Dies könnte 
freilich Herr Weiße für fi benügen, da der Prolog und bie 
Schlußſcene des zweiten Theild auf diefe Weife Einer Conception 
anheimzufallen feinen; allein dagegen fpricht wieder der totale 
Gegenfaß der poetifchen Kraft im Prolog und der Altersſchwäche 
im Schluffe. Vielmehr offenbar: der Prolog iſt zwar fpäter, als 
bie älteften Scenen, enthält aber troßdem eine Stelle, welche noch 
von jugendlih unflarer und grobfinnlicher Auffaffung zeugt; bie 
Hauptſcenen des Gedichts flehen troß ihrem größtentheild früheren 
Urfprung über diefer Unklarheit, der Greis ſinkt in dieſelbe zurüd. 


202. 


Unmöglih Eönnen wir nun unferem Kritiker in feinen Ver⸗ 
fuchen, die einzelnen Scenen ber dramatifchen Sanblung nad) 
der verſchiedenen Zeit ihrer Entſtehung, der Verſchiedenheit ihres 
dichteriſchen Charakters zu zerlegen, Lüden und Verzahnungen 
nachzumeifen, Schritt für Schritt folgen. Wir berühren. nur bie 
” Sauptpunfte. 

Wenn der Verf. zunächft von den Exrpofitiond = Scenen be- 
hauptet, daß Fauſt's erfter Monolog, feine Unterredung mit dem 
Erdgeift und mit Wagner zum urfprünglichen Kerne gehören, 
obwohl fie im erften Fragmente noch nicht gedrudt wurd n, ber 
weitere Monolog Fauſt's aber, der Selbftmorbverfuch u. f. w. 
eine fpäter angelagerte Schichte darſtellen, die einer veränderten 
Stimmung und Dichtungsfphäre angehöre,, fo laſſe ich die Nici» 
tigfeit des angegebenen Grundes, daß Fauft hier ald Mann, dort 
als Jüngling ſpreche, dahingeftellt, bemerke fein Verbienft, zuerft 
deutlich darauf aufmerkſam gemacht zu haben, daß nach mehreren 
halbverwifchten Spuren den Mephiftopheled vom Erdgeiſt aus⸗ 
gehen zu laſſen die urfprüngliche Abficht des Dichterd war, er⸗ 
Fläre mich aber entfchieden gegen feine Behauptung, daß ber 
Selbſtmordverſuch nicht gehörig motivirt, die ſchwungvolle Rede, 
bie ihn begleitet, unnatürlih und daher dieſe ganze Partie nur 
fombolifh (allegorifh) zu deuten fei. Es ift nicht wahr, daß 
„Eeinem Sterblichen ein ſolches Vorhaben ferner liegt, als eınem 
jo in rüftigften geiſtigen Streben, im feurigften Drange nad 
Lebensgenuß Begriffenen.« Im Gegentheil,, Niemand liegt ein 
folder Entſchluß näher, als dem Jünglinge, der an ſolchen meta» 
phyſiſchen Leiden Werther's krankt und in deſſen Adern das Feuer 
ungebuldiger Jugend rollt, und ich Eönnte den Verf. an dad 


203 


Grab mehr ald Eines Jünglings führen, ven dieſer Zuftand, 
ohne alle äußere Triebfeder, gegen fein eigenes Leben bewaffnete. 
Fauſt will aber nicht bloß fterben, er will auf neuer Bahn ben 
Aether durchdringen, er will die Wahrheit durch einen salto mor- 
tale erſtürmen, der Selbſtmordverſuch Hat ganz biefelbe Abficht, 
wie die Magie, die Spannung der Subfectivität gegen das Ob» 
ject "aufzuheben, nur mit dem Unterfchiebe, daß bie Magie das 
Object nöthigen will, aus feiner Fremdheit heraudzutreten, der 
Selbſtmord dad andere Glied, das fubjertive, in fein Gegenglieb 
aufzulöfen eilt. Mag nun immerhin in der Wirklichkeit bei einem 
folden Schritte die Todesangft zu ſtark fein, als daß, wenn fie 
auch vom Willen übermunden wird, eine fo efftatifehe Stimmung, 
wie bei Fauft, im Momente der That möglih wäre: dem Dichter 
ift e8 erlaubt, das Erhabene in derfelben hervorzufehren und jebe 
Art von Ausdruck der Depreifion zu tilgen; kann der Selbſt⸗ 
mörber troß biefer feine That vollenden , fo kann der Dichter um 
jo gewiffer fie ihm erſparen. Mochte aber Hr. Weiße die Stelle 
auch mit triftigerem Grunde für unnatürlih erklären und dem 
Dichter wirfli einen Fehler aufweiſen, wie Eonnte er, der fih 
ſo entſchieden gegen ſpeculative Deutungdwuth erklärt, auf den 
ganz fatalen Ausweg gerathen, diefen Selbſtmordverſuch allego- 
riſch zu deuten? Der Abfall zum Böfen, die Empörung gegen 
Gott, fagt er, iſt ein fittlicher Selbſtmord, eine geiftige Selbſt⸗ 
zerſtörung, die leibliche Selbftvernichtung bot ſich faft ungefucht 
für die geiftige dar. In dem Gifte, heißt e8 weiter, dem Auszug 
aller tödtlich feinen Kräfte, fet die geiftig fublimirte Natur des. 
Böſen verfinnbilplicht; der geiftige Tod, nicht der irdiſche, ſei 
jene dunkle Höhle, in der ſich Phantaſie zu einer Dual verdammt, 


204 


jener Durchgang, um deſſen engen Mund die Hölle flammt. Das 
it um fein Saar befler, als wenn Leutbecher dad Gefchmeide- 
£äftchen auf die erften jugendlihen Dichtungen Goethes deutet, 
um fein Haar befier, als die barodfte Interpretation des ver- 
zwicteften Talmubiften. Wie Göſchel, fo wagt es auch der Berf., 
fi darauf zu berufen, daß der Dichter, vom genialen Inftincte 
getrieben, mehr fage, ald er felbft wiſſe. Died bezweifelt Nie 
mand, aber dad dem Dichter unbewußte Mehr kann niemals eine 
Idee fein, die zu dem wirklich Dargeftellten nur im Verhältniß 
einer Aehnlichkeit, einer Vergleichbarkeit ſteht; vielmehr, wo ber 
Dichter Ideen auf die leßtere Weife einfleivet, da weiß er eben 
ganz Ear und nüchtern die Idee, Elarer, als ber Leſer und 
Interpret. Der Fauſt, der lebendig vor und ſteht, kann nichts 
vornehmen, was er nicht ald wirkliche Perſon ebenfo, wie es 
dem Auge fich darbeut, felbft will, fondern wo ber Leſer ober 
Zufchauer fogleih weiß: er thut nur fo, es ift nicht fo ernſtlich 
gemeint, es ift bloß ein Sinnbild. Der Verf. giebt S. 92 felbft 
zu, daß nach des Dichters Intention Yauft den wirklichen Ent- 
ſchluß des Selbſtmords gefaßt habe; nun ja, fo darf er ihm 
auch keinen Sinn unterlegen, der die ganze Scene aus dem Zu⸗ 
jammenhang poetiſch wirkliher Sandlungen in vie luftige Höhe 
ber Allegorie hinaufzauſt. Wenn ich fage: ber und der ließ fid 
einen Dfen feßen, fo darf der Interpret nicht berfommen und 
ſagen: es iſt hier nicht von einem eigentlichen, ordentlichen Ofen 
die Rede, e8 ift nur eine feine Anfpielung, welche befagen will, 
jene Perſon Habe gefühlt, daß es ihr an wahrer Wärme bes 
Gemüthes fehle. Fühlte denn der Verf. die ganze ungeheure 
Abgeſchmacktheit eines ſolchen Verfahrens nicht! Er iſt auch ſonſt 


205 


in’8 allegorifche Interpretiren hineingeratben. Fauſt's Magie erflärt 
er für die mbegeifterte, vom ſchoͤpferiſchen Gentus der Kunft, der 
Schönhelt hefeelte Welt- und Natur⸗Anſchauung.“ S. dagegen 
meine Bemerkung zu Falk und Leutbecher. Der verfüngende Trank 
der Here, der Spiegel, worin Fauſt Helena fleht, find ihm eine 
alegorifche Wiederholung der zur Begierde aufreigenden Tüfternen 
Reden in Auerbach's Keller, ein Sinnbild „der leidenſchaftlichen 
Stimmung, zu der den Dichter der Wuſt der Leerheit und Ab⸗ 
geſchmacktheit der außern Umgebung und des Lebens und Treibens, 
namentlich auch unter den Poeten und äſthetiſchen Theoretikern 
jener Zeit im Gefühle feiner Kraft aufreizte.“ Vergl. Leutbecher 
oben, dazu Goethe bei Falk: „Dreißig Jahre haben fie ſich nun 
faft mit den Befenftielen des Blocksbergs und den Rapengefprächen 
in der Serenfüche herumgeplagt und es hat mit dem Allegori- 
firen und Interpretiren dieſes dramatiſch humoriſtiſchen Unfinns 
nie fo recht fortgemollt. Wahrlich man follte fich in feiner Jugend 
öfterd den Spaß machen und ihnen foldhe Broden wie den Bro⸗ 
cken hinwerfen.“ 

Zu dem Weiteren bemerke ih, daß ich die erfle Hälfte der 
Scene des Spabiergangd vor dem Thore nicht für eine an ſich 
zwar fehöne, aber mit der ganzen Handlung durch keinen tiefer- 
liegenden Bezug verbundene Scene halten kann, wie der Verf. 
Ganz richtig fagt Tal, der Dichter zeige und bier dad Geheimniß 
wie die Maffe es eigentlich anfange, um die höheren Forderungen, 
mit denen Fauft fich herumquält, los zu werben. Welchen großen 
Gontraft gewinnt bier Goethe durch die Gegenüberftellung des 
Fauft und des Volkes! Mitten unter den glücklich Blinden wan⸗ 
delt der Unfelige, dem ein Gott die Binde vom Auge genommen 


206 

bat, daß er hinter den bunten Vorhang fehaut, mitten unter den 
Sröhlihen der Prometheus, dem ein Geyer am Herzen nagt, 
und defien Ausruf: hier bin ih Menſch, bier darf ich's fein, 
ben ſchmerzvollſten Blick in die ganze Tiefe feiner geiftigen Ein- 
famfeit eröffnet. Auch begreife ich nicht, wie der Verf. die herr⸗ 
liche Schilderung von Fauſt's Seelenzuftand nach der Scene beim 
Geſang unter der Linde für vag und matt erflären kann, und dad 
Erſcheinen des Pudels feheint mir doch etwas beffer motivirt, ala 
ihm, da Fauſt's heftiger Wunſch, fliegen zu Eönnen, dem Ber- 
führer einen Anknüpfungspunft darbietet. 

Dagegen ftimme ich vollfommen überein, wenn er das erfte 
Geſpräch Fauſt's mit Mephiftopheles als einen fpäteren, mehr 
vom Standpunkte der Reflexion als in poetiſcher Stimmung 
gedichteten Beftandtheil, wenn er namentlih Die Rede, morin 
Mephiftopheles fich felbft zu definiven bemüht ift, für eine ſpätere 
philofophiiche Ausbeutung der fehon früher erfundenen Geftalt 
erflärt und dem Dichter vorwirft, daß die ethiiche Natur des Bö- 
fen, wie fie in Mephiftopheles verkörpert ift, hier unpoetifch in 
phyſiſche und metaphyſiſche Weite verflüchtigt werde. Ich fehe 
hinzu, daß an Goethe, der doch fonft jo gut wußte, daß ihm 
das Theoretiftren übel anftehe, dieſer metaphyſiſche Verſuch durch 
mehrere Schiefheiten ſich gerächt hat, wie die, daß Mephiſtopheles 
jein negatives Wefen als einen Wunfch ausdrückt, daß Alles zu 
Grunde gehe; er muß vielmehr wünfchen, daß die Körper blühen 
und gedeihen ; ferner die, daß Mephiſtopheles mit einer Emphaſe, 
die offenbar ohne Sinn iſt, ſich als Theil des Theils definirt, 
da, wenn dad Böfe einmal in ihm perfoniftcirt wurde, er aud 
das ganze Böſe ift. Im diefer ganzen Scene hat dad Geſpräch 


207 . 
auch Eeinen Fortgang und ift das Spätere mit dem Aelteren nicht 
in rechten Fluß gekommen. 

Am weiteften aber fehe ich mich vom Verf. entfernt, wenn 
er die Scene des Vertrags⸗Abſchluſſes zwifchen Kauft und Mephi⸗ 
ftopheles für Fein organiſches Motiv der ganzen Handlung erklärt. 
Wo find denn die Gründe? Ich habe fie nirgends finden Finnen. 
Im erften Fragment fam die Scene des Abſchluſſes ſelbſt noch 
nicht, war aber im ganzen weiteren Gefpräche als vorhergegangen 
vorausgefeßt, und wenn noch nicht ausgearbeitet, gewiß angelegt. 
Herr Weiße fagt, Fauſt's Fluch auf die Freuden der Erde unt 
Vertrag nit Mephiftopheles fet nur ein halb unwillfürlidher Er- 
guß feiner Stimmung , eine im der Leidenſchaft auögeftoßene 
Betheuerung. Immerhin leivenfchaftlih, aber darum nicht unklar. 
Bauft weiß, mad er will, er weiß, was er gewinnt und nicht 
geminnt, und dieſes Wagniß des Selbftbemußtfeind ohne alle 
pofitiven Zwecke ift gerade das Grhabene, biefer Mannestrotz der 
auf ſich ftehenden abftracten Freiheit. Warum fol ed denn mit 
den Bunde nicht Ernft fein? Weil nachher der Vertrag gar nicht 
als juriftiich bindend behandelt wird, ſondern Mepbiftopheles den 
Fauſt fortwährend erft für fich zu gewinnen ſucht? Dies tft auch 
in der Volksſage fo und ganz natürlich: der Buchftabe des Ver⸗ 
tragd corrigirt fih im Verlaufe, die mythiſche Natur beffelben 
kommt zum Vorſchein und Kauft bleibt vettbar bis zu feinem legten 
Augenblicke, weil der Geift nicht zu binden ift, und man ihm noch 
weniger, als dem Behemoth, einen Ning durch die Nafe ziehen 
kann. Es handelt ſich hier um nicht3 Oeringeres, ald um den Lebens- 
punkt der Tragödie, und es fei mir erlaubt, bier am Schluſſe ge- 
genwärtiger Mufterung das Wefentliche noch einmal hervorzubeben. 


208 


Fauſt mit Mephiftopheles zufammengenommen iſt ver Menſch. 
Sein ideelles Selbft will über alle Schranken hinaus, fein reelles- 
(Sinnlichkeit und Verftand, in Mephiftopheles culminirend zum 
abfoluten Egoismus) mahnt ihn an die Schranke. Der Kampf 
biefer beiden Glemente ftellt ſich fchon in feinem Streben nad 
Erfenntniß der Wahrheit fo dar, daß der ideale Trieb ohne Vers 
mittlung des verftändigen Elements das Abfolute erfennen will. 
Fauſt tft aber auch der praktiſche, der genießende und handelnde 
Menſch, er wirft ih in's Leben, er will an Allem, was bie 
Menfchheit peinigt und befeligt, Theil nehmen, nie aber fi auf 
ein Baulbett legen und im Genuffe ftagniren: das ift wieder das 
iveale Streben, die Freih eit; Stilleftehen in Sinnengenuß unb 
bloß verftändiger Weltanficht wäre Verluſt diefer Freiheit unter 
die Schranke. Soweit wäre die Schranke das Vermerfliche. Aber 
jo wie in Fauſt's theoretifhem Streben die Verachtung ver Schrante 
(der Methode und des verftännigen Moments überhaupt) bereitö 
da3 Unrechte war, ebenfowenig ift die Freiheit eine wahre und 
pofitive ohne die Schranke. Dad Streben, fih zur Menfchhelt 
zu erweitern ohne Stillſtand, durch's Leben zu raſen ohne Auf⸗ 
enthalt ftürzt den Fauſt in Verbrechen, und dagegen erfcheint 
jet die befcheidene Beſchränkung als das Gute: der Menſch fol 
allerdings ſich einlaffen, fol fich eine Hütte bauen und die Sorge 
für Haus, Hof, Kind auf fih nehmen, aber jo, daß er jeben 
Augenblick auch ohne fie auszuhalten die Kraft behält. Dies ift 
ein Hauptpunft in unferer Tragödie, (ohne den namentlich der 
zweite Theil gar nicht verftanden werden kann): Laß die Glie- 
der des in Kauft fih befämpfenden Gegenfages ihre 
Stelle wechſeln. Das Einemal erſcheint Fauſt's Ueberſchweng⸗ 


209 


lichfeit ald das Gute und die Beſchränkung ald das Geiftlofe und 
Unrechte, dann umgekehrt die Beichränkung (der realiftifhe Vers 
fand, die Kräfte der Sinnlichkeit) ald dad Heilſame. Was folgt 
aus biefer Umkehrung, worin bald Fauft gegen Mephiftopheles 
Recht Hat, bald dieſer jenem die Wahrheit fagt? daß das Wahre 
nur ift ein Drittes: Streben in's Unendliche und zugleich Bes 
ſchränkung; Eingehen in die Vermittlung und die Wirklichkeit, 
denfend, genießend, leidend, handelnd, aber dabei in jenem Mo⸗ 
mente die unendliche Breiheit fich vorbehalten: Einheit de 8 Idea⸗ 
lismus (Fauſt) und Realismus (Mephiftopheles). 

Dieſe Idee nun, daß im Menſchen die abſolute Freiheit und 
die Schranke ſich bekämpfen, mit ungewiſſem Ausgange zunächſt, 
aber, weil die Freiheit unverwüſtlich iſt, mit ber Ausſicht auf 
endliche VBerfühnung ; mit Einem Worte: die Idee der Nega⸗ 
tivität des Geiftes, der fih der Beſchränkung durch 
fein Anderes, durch das Einzelne, Sinnliche, der erften 
Negation (Mephiftopheles) nicht entziehen fann und darf, 
aber diefe Beſchränkung durch feine unendliche Natur 
wieder aufhebt, und fo die erſte Negation durd bie 
zweite zur Bejahung zurüdführt (Kauft und auf feiner 
Seite der Herr) : diefe Idee iſt Im Vertrage mit Mephiſtopheles 
und was aus demfelben folgt, ausgeſprochen. Die Eopula jener 
zwei Geifter, die der Menſch iſt, heißt in der mythiſchen Sprache 
des Dichterd : Vertrag des Fauſt mit Mephiftopheles. Fällt 
viefer Hauptbeſtandtheil als unorganiſch aus dem Drama heraus, 
fo ift diefem die Seele herausgefchnitten, und unbegreiflid iſt mir, 
wie der Verf. die fo ſchlagenden Stellen, wie: werb’ ich beruhigt 
je mich auf ein Faulbett legen, und andere in biefem Geſpräche 

Kritiſche Gänge. 1. 14 


210 


fo ganz überfehen, unbegreiflich, wie er bie fletige Mickbeziehung 
des Folgenden auf biefen Mittelpunkt jo außer Augen laſſen Eonnte, 
daß er geradezu fagt, es finde ſich in allen übrigen Scenen des 
erften Fragments Feine Rüdfihtnahme weder auf die Worte, noch 
auf den Sinn biefer Bundes» DVerfehreibung , da doch ſchon in 
biefem die gemüthlihe Wendung, die Fauſt's Liebe zu Gretchen 
gegen das Interefie des Mephiftopheled nimmt, feine Sammlung 
zu tbeeller Betrachtung in Wald und Höhle unverkennbar ſolche 
Momente find, wo Fauft hält, was er bei jener Bundes - Ver- 
ſchreibung erklärt hat, daß er nämlich feine geiftige Sreiheit fich 
ftet3 vorbehalten wolle. Diefe Punkte fließen mit ftrenger Con⸗ 
fequenz aus dem Sinne des Vertrags, und — gerade dieſe halt 
der Verf. (S. 116, 117) für einen Widerfpruch mit dem 
Bertrage. Fauſt's Zurücziehung zu höherer Contemplation, dann 
jeine Nüdfehr zu Gretchen follen es fein, die ihn „früher, als 
es in der Dichtung wirklich geſchieht, den Worten ded Vertrages 
gemäß, der Macht des Mephiftopheles überliefern“, da doc 
umgekehrt gerade den Worten des Vertragd gemäß er dadurch 
bewährt, Daß die Iage, wo wir was Gut's in Ruhe ſchmaußen 
mögen, nicht gefommen find. Die Treue gegen Gretchen ifl 
allerdingd doppelveutig ; fofern fie Kauft an engbürgerlihe Ver⸗ 
hältniſſe knüpfen und dadurch feinen Geift von feinen höheren 
Aufgaben abziehen müßte, ift vielmehr die Untreue ein Act der 
Gmancipation von Mephiftopheles ; fofern fie aber ein aus tie 
ferer Anſchließung des Gemüths entftandenes längeres Verweilen 
in dieſem Verhältniſſe iſt, dient ſie zum Beweiſe, daß Fauſt, der 
Geiſt überhaupt, gar kein Verhältniß, ſelbſt wenn er will, bloß 
ſinnlich nehmen kann, ſondern als geborner Idealiſt es unwill⸗ 


211 


kürlich vergeiftigt. Der Auftritt in Wald und Höhle aber ift ein- 
fach und unzweideutig ein Befreiungd= Art von Mephiftopheles. 
Im zweiten Theile nun bat allerdings der Dichter in der Vers 
legenheit um einen Schluß fich ſelbſt falfh commentirt, wenn 
Fauſt in dem Momente todt niederfinkt, wo er einen edlen 
fittlihen Zuftand für immer feftzuhalten wünfht. Nur wenn er 
einen beſchränkt geiftlofen Zuftand, einen Sinnengenuß bleiben 
zu machen wünfcht, Fann er nach dem Sinne des Vertrags dem 
Mepbiitopheles verfallen. Ih komme auf diefen mehrfach berühr- 
ten Punkt bier zurück, um noch folgende Bemerkung anzufnüpfen. 
Es liege ſich allerdings ein Standpunkt finden, jene Wendung, 
wonach Fauſt im Momente der Befriedigung durch eine edle 
Thätigfeit dem Mephiſtopheles verfällt, zu rechtfertigen. In einem 
gewiffen Sinne namlih, Eönnte man fagen, muß ja Mephifto- 
pheles ſowohl als der Herr die Wette gewinnen. Auch die ebelfte 
Beſchränkung ift eine Beſchränkung; Mephiftopheles repräfentirt 
die Schranke überhaupt , alfo verfällt ihm Fauſt, wenn er fi 
beſchränkt. Aber diefe Beichränfung iſt eine freie, worin daß 
höhere Selbft nicht untergeht, fondern ſich erhält; der Geift greift, 
indem er fich felbft dieſe Beſchränkung giebt, zugleich über fie 
hinüber: daher gewinnt der Herr die Wette. In der Sprache des 
Begriffs drücken wir dieß fo aus: feheinbar gewinnt Mephiftophe- 
#8, wahrhaft der Herr; die finnlide Sprache der Poeſie über- 
fet dieß in zwei Acte, bie in der Zeit auf einander folgen, und 
ftellt das dem Werthe nach untergeordnete Recht des Mephifto- 
pheles ala ein der Zeit nach erfted Gewinnen, und das den 
Werthe nad volle und ganze Recht auf ber göttlichen Seite 
als einen ebenfall3 in der Zeit nachfolgenden zmeiten Art dar, 
14 * 


212 


wodurch das einfeitig Halbe Recht des Mepbiftopheles aufgehv⸗ 
ben wird (im Sinne von tollere, den tieferen Begriffe nach auch 
in dem von conservare). Wenn nur diefer zweite Act nicht in 
ein myſtiſches Senfeit3 hinausgerückt wäre! Wenn nur die geret- 
tete Freiheit ſich rein menfchlich zugleich und eben dadurch göttlich 
darftelte! Dann würde einleuchten, daß dieſes Nacheinander 
eigentlich ein Zugleih, daß dad Gewinnen bed Mephiftopheles 
nicht ein der Zeit nach früheres, fondern dem Begriffe nach unter- 
georbneted iſt. Hier kommen mir aber wieder auf den Punkt zu⸗ 
rück, wo es einleuchtet, daß dieſe Idee fich eigentlich der poeti⸗ 
ſchen Darſtellung entzieht, denn fie kann nicht als ein Act in der 
Zeit erſcheinen, ohne zu fehr vergrößert zu werben, daß alfo bie 
Tragödie immer Zragment bleiben mußte. Kant würde fagen: 
Fauſt flegt als Noumen, verliert ald Phänomen; dieſe zwei Sei⸗ 
ten dürfen aber nicht als ein Nacheinander in der Zeit audein- 
andergezogen werden *). 
Fauſt's Iehte Stufe iſt: die zu Verſtand gefommene 
Bernunft, der zu Vernunft gefonmene Verftand, be- 


*) Fortfegen mag man den Fauft, fo welt man will; man kann Ihn 
durch jeded bedeutende menſchliche Verhaͤltniß fih, wie Goethe fagt, 
bindurchwürgen laffen. Doc hat auch dieß feine eigenen Echwierigtels 
ten. Fauſt repräfensirt die kaͤmpfende Menfchheit nicht ſowohl in Ihrem 
Handeln nach außen, ald vielmehr in ihrem inneren Zerwürfniffe; 
unter den verfchiedenen Situationen, durd) die es noch geführt werden 
könnte, fallen alfo rein praftifche, wie die ded Feldherrn und Herricherd, 
ſchon weg — für diefe giebt ed andere Helden genug ohne den Fauſt; 
die ideelleren aber find Kein an der Zahl. ©. Pfiper bat die geiftreichfie 
Fortfegung geliefert, da er Fauſt ald Künftler in neue Verſuchungen 
gerathen laͤßt. Frühere Bemerk. Vergi. dad Vorwort. 


213 
Ihränfte Freiheit und freie Beſchränkung, verfinnlid- 
ter Geift und vergeiftigte Sinnlichkeit: ſteht Kauft auf 
diefer Stufe, fo tt er felig, er braudt Feine Marla, keinen 
Pater Seraphicus und andere Geheimehofräthe vom himmliſchen 
Hofſtaat. 

Der Raum verbietet mir, die einzelnen trefflichen Bemer⸗ 
kungen des Verf. über bie weitere Scenenreihe auszuheben; bes 
ſonders leſenswerth iſt, was er über Gretchens Charakter, über 
pie Bedeutung des weiblichen Ideals in der Poeſie überhaupt und 
beſonders der Goethiſchen und den Kortfchritt, den die letztere 
auch in diefer Beziehung vom Naiven zum Kunftiveal machte, 
vorbringt. Mit Recht bezeichnet er jene edlen weiblichen Geftalten 
in Goethes Poeſie als die Probe, worin ver Dichter den höchften 
fittlichen Adel bewährt. An diefen himmliſchen Geſtalten, einem 
Gretchen, einer Iphigenie, Leonore von Eſte muß alles Schmä- 
hen auf Goethes fittlihen Charakter als Verworfenheit nieder» 
finken. Dagegen weiß ich nicht, was den Verf. veranlaßte, bie 
Heußerungen des Mephiftopheles über Metaphyſik gegen ben 
Schüler mit chronologiſchem Zwang auf Kant zu deuten. Wenn 
Mephiſtopheles fagt: 

Da feht, daß Ihr tiefiinnig faßt, 
Was in ded Menſchen Hirn nicht paßt: 


Für was drein geht und nicht drein geht, 
Ein praͤcht ig Wort zu Dienften ſteht — 


fo ſcheint dieß Hr. Weiße auf die Kantiſche Unterſcheidung des 
unerfennbaren Dingd an fi und feiner erkennbaren Erfcheinung 
zu beziehen. Mepbiftopheles will aber vielmehr fagen: für Alles, 
was ihr verfteht oder nicht, wird euch die Metaphyſik ein praͤch⸗ 


4 


214 


tiges Wort zu Dienſten ſtellen, und. er meint demnach offenbar 
eine Metaphyſik, die ſich dad Erkennen nicht zu fehwer, fonbern 
zu leicht machte, er meint den Formalismus und Dogmatismus 
ver MWolfifchen Philoſophie, und dieß iſt auch chronologiſch gunz 
paſſend, da Goethes Jugend noch in die Zeiten des Wolftanis- 
mus ftel. — Ich würde ſolche Stleinigkeiten nicht berühren, aber 
fie find mir in diefem Buche, dad mich anfangs zur Ermartung 
eined ganz unbefangenen Verfahrens flimmte, beſonders ver⸗ 
drießlich. — Das Epifonifche der Walpurgisnacht rechtfertigt ver 
Berf. fo gut es gehen will; was die letzten Scenen des erften 
Theils betrifft, fo findet er die Spuren einer fpäteren Entſtehung 
möbefondere in dem profaifhen Style der zwei erflen und dem 
metrifehen der Kerkerfcene; er ſieht hier den Ton jener Periode, 
welche Egmont, Iphigenien, Taſſo ihre gegenwärtige Geftalt gab. 

Was nun den zweiten Theil betrifft, fo Fann man mit dem 
Verf. vollſtändig darin übereinftimmen, daß man denjelben lieber 
als ein Gedicht für ſich, denn als eine Kortfeßung des erften 
betrachten fol. Nur möchte ich diefe Anficht anders begründen, 
als der Berf., da er das Schlußrefultat nicht für die Löſung des 
im erften Theile urfprünglich geftellten Problems, jondern für 
die Antwort auf eine ganz neue Stellung bed Problems gehalten 
wiffen will. Die Grund⸗Idee ift offenbar im zweiten Theile gang 
diefelbe geblieben, wie im erſten. Bauft hält fein Wort, daß fen 
Geiſt fih niemals auf’3 Faulbett Tegen werde, und ift gerettet. 
Aber alle poetifche Fleiſch fehlt. 

Im dritten Abfchnitt verfucht der Verf. eine Deutung der 
Allegorieen dieſes zweiten Theils, und hier nehmen mir Abſchied 
von ihm. Nur um die obige Bemerkung weiter zu fügen, daß 


215 - 


er .öfterd in die allegorifirende Interpretation geräth, führe ich 
Fälle an, wo er auch Hier ohne Noth in diefer Manier zu Werke 
gebt. 3. B. deutet er den Umſtand, daß Fauſt's Rückkehr vom 
£atferlichen Hofe in fein Haus und Stubirzimmer durch nichts 
motivirt ift, fo: „dieſe Unterlaffung weift und darauf Hin, daß 
wir den Grund diefer Rückkehr überhaupt nicht in dem äußeren, 
jondern in dem inneren Zufammenhange der Handlung zu fuchen 
haben.“ In der Verſäumniß des Lynceus, der, vom Glanze 
Helena's geblendet, ſie zu melden unterläßt, in dem Geſtändniſſe 
Fauſt's, fie nicht würdig bewillkommnet zu haben, fol das Be⸗ 
wußtfein der finfenden poetifhen Kraft des Dichterd, ver fich der 
Aufgabe nicht gewachſen fühlte, enthalten fein. Dann (S. 201): 
„Den Schuldigen ſollte der Richterfpruch des Todes treffen; — 
d. h. e8 hätte der Schwäche diefer vom Strahl der antiken Schön 
heit übermwältigten Romantik gebührt, jener gegenüber gänzlich 
unterbrückt zu werben.“ Ih will zum Andenken dem Hrn. Verf. 
ein Pröbchen Deutung nad) derfelben Logik zum Beten geben. 
Man hat fih nun ſchon lange verfreuzigt, zu erratben, wer 
denn der Homunculus fei. Wer der ift? Das mehanifh ohne 
Potenz gemachte Menſchlein? Das ift der zweite Theil Fauſt 
von Goethe. 


216 


IT. Zwei Erſcheinungen neuerer Poeſie. 


Maler Bolten 
Novelle in zwei Theilen von Eduard Mörike. 


Stuttgart in Schweizerbarts Verlagshandlung 1832. 
(Balliſche Jahrb. für deutfche Wiffenfchaft u. Kunſt, Jahrg. 1859. Nr. 144 ff.) 





Sp wenig ih die Mängel dieſer Leiftung überſehen will, jo 
finde ich doch in ihr einen fo reichen Schatz von Poefle, daß ih 
ed für Pflicht Halte, fie durch eine genauere Betrachtung dem 
Publifum ganz nahe vor das Auge zu legen. Das Werk felbft 
trägt gewiß nicht die Schuld davon, daß es ſieben Jahre feit ſei⸗ 
ner Erfcheinung im Dunkel geblieben ift, und es ift gewiß nicht 
zu fpät, es aus demfelben jet hervorzuziehen, denn es enthält 
genug des Bleibenden und Dauernden in fi. 

Es ift nicht zufällig, daß aus der ſchwäbiſchen Gruppe in ber 
romantifhen Schule fein Dichter in die objectiveren Gattungen 
der Poeſie fih erhoben Hat. Uhland und Schwab, welche fi 
aus dem Umfange der Nomantif die gediegene Einfachheit der 
Empfindung, der Sitte und des Charakters, mie ſolche das 
Mittelalter mit feiner ehrenfeften Gefittung darbietet, zum Gegen- 
ftande gewählt haben, Tonnten zum Roman und zur Novelle fi 


217 


nicht berufen fühlen, welche als wefentlih moderne Gattungen 
der Poefie nothwendig auch das Vielverſchlungene, Getheilte, 
Complicirte moderner Zuſtände, die Dialektik eines reicheren, 
vielſeitigeren Pathos, eines mannigfaltig gebrochenen geiſtigen 
Lichtes in fich aufzunehmen haben. Uhland verſuchte ſich im 
Drama, aber, ſo würdig und edel er ſeine Charaktere hinſtellt, 
ſo vermißt man doch in dieſen körnigen Holzſchnitten diejenige dra⸗ 
matiſche Beredtſamkeit, welche nur da gedeihen kann, wo die 
Skepſis und Sophiſtik der Leidenſchaft dem einfachen Weiß bes 
Lichtftrahles fein prismatifches Farbenſpiel giebt und die einfachen 
Gegenfäe von Schwarz und Weiß durch Uebergänge und gegen« 
jeitige Bewegung vermittelt. Kerner hat ſich in feinen Neifefchatten 
in da8 epifche Gebiet begeben, aber dieſer Dichter, der auf ſchwä⸗ 
bifcher Seite die phantaftifche Myſtik der norddeutſchen Meifter 
und Jünger der Schule repräfentirt, konnte es eben fo wenig als 
biefe zu einem umfafjenden Kunftwerf bringen, ja noch weniger, 
da er unaudgefeht den Bid von der Wirklichkeit weg auf das 
Jenſeits gerichtet halt, wohin es wie Töne des Alphorns den 
müden Wanderer lockt. 

Die Romantik konnte fich aus ihrer myftiihen Innerlichfeit 
nicht entichließen. Sie hatte kaum eine Geftalt gefchaffen, fo 
ſchlang fie dieſelbe verflüchtigt in die Muſik unendliher Empfin- 
bungen zurück. Tieck's fpätere Novellenpoefte ift fihon ein Fort» 
jhritt aus der Romantik, während freilich die Productivität nicht 
mehr in der Friſche der romantifchen Jugendproducte erfcheint. 
Eben denfelben Bortfepritt nun bemerken wir bei Mörike; ſchon 
in den Inrifchen Producten liegt er zu Tage, in höherem und 
umfaſſenderem Grabe aber tritt derfelbe im Maler Nolten hervor: 


218 


feine Poeſie erfhließt fi zu einem objectiven Weltbilde. Man 
darf nur eine Strede weit in biefen Roman bineinlefen, um fi 
zu überzeugen, wie vollfommen Mörike dasjenige beſitzt, mas 
von Nöthen iſt, um ein objectives und umfaſſendes poetiſches 
Lebensbild aufzuftellen. Mörike ift, man ficht e8 deutlich, finn⸗ 
voller Kenner des Plaftiihen, Zeichner, Muſiker, Mimiker; er 
vereinigt die Künfte fo in ſich, wie e8 die Poeſie überhaupt fol, 
welche, wie die Phantafie alle Sinne unflinnlih, ebenfo alle 
Küinfte idealiter, d. 5. für das innere Auge und Ohr allein, in 
fich vereinigt. Ohne diefe finnliche Begabung ift, man kann e8 
nicht oft genug wiederholen, Fein Dichter denkbar; es ift nicht 


nothwendig, daß er die andern Künfte, ober auch nur Eine der⸗ 


felben mit Fertigkeit ausübe ober gründlich Eenne, aber er fol für 
biefelben foweit organifirt fein, daß ihm wenigſtens öfters die, 
Trage muß aufgeftiegen fein: bin ich nicht zum Maler, Bildhauer, 
Schauſpieler, Mufiker befiimmt? Darf für Eine der übrigen 
Künfte der Sinn unentwidelt bleiben, fo ift dieß am eheften die 
Muſik, am wenigften die Malerei, denn das Dichten ift mefent- 
lich innere Sehen und Uebertragung defielben in den Leſer. Die 
Muſik Eorrefpondirt der Empfindung, welche dem Dichten voran- 
geht, was Goethe und Schiller fehlechtweg die Stimmung nennen; 
von der Stimmung zum wirklichen Dichten ift aber noch ein großer 
Schritt und diefer wird eben nur durch denfelben Sinn vollzogen, 
der in den bildenden Künften ein feftes und bleibendes Bild in die 
Außenwelt hinftelt. Daß die Muſik troß ihrer relativen Armuth, 
ja durch dieſelbe auf der andern Seite gerade reicher ift, als bie 
bildenden Künfte, und daß der, wenn auch unausgebildete, Sinn 
für fie Teinem bebeutenden Dichter noch_gefehlt hat, fol darum 


219 


nicht verfannt werden. Wie reich aber Mörife mit diefer geiftigen 
Sinnlichkeit ausgeftattet ift, mag fogleich ſtatt unzählicher anderer 
Stellen, ja ſtatt des ganzen Buches nur 1, 105— 107 beweifen. 

Ob die hier dargeftellte Vereinigung von Muſik, Tanz und Zeich- 
nung möglich fei, iſt hier nicht die Frage, oder richtiger, fie iſt 
gewiß nicht möglich, aber ein Kunfttalent ſpricht unverkennbar 
daraus. Es Eommt aber hier freilich nicht bloß eine oder die 
andere Scene in Betracht, es fragt fih vielmehr, ob ſämmtliche 
Individuen, die der Dichter einführt, von dem Springpunft ihrer 
Individualität bis hinaus in die peripherifchen Einzelheiten ihrer 
außern Erfeheinung zufammen mit ber umgebenden bemußtlofen 
Natur und eined mit den andern in ganzen Situationen verbun« 
den, von dem Dichter innerlich geſehen find, und Fein unpar- 
teiifcher Lejer wird dies in Abrede ftellen. Grade mögen ftatt« 
finden, wie in jedem Kunftwerf die Figuren, die des Dichters 
Lieblinge find, von denen, die ihm ferner fliehen, und an deren 
Erzeugung dad Nachdenken mehr Theil hat als die Intuition, fi 
durch größere Wärme und anfchaulichere Lebendigkeit unterfcheiden ; 

aber wenigftend alle beveutenderen Figuren und Scenen find ſicht⸗ 

bar im Schooße diefed inneren Schauens entftanden, fie haben 

den Dichter auf feinem Zimmer befucht, er bat ihnen ind Auge \ 
geblickt, vieleicht umbelaufeht auf mandem einfamen Spazier- | 7 ° 
gange laut mit ihnen geredet. So fteht unter den komiſchen Fi⸗ 
guren namentlich Wifpel jeden Augenblick deutlich vor dem Leſer; 
wer ihn nicht fieht, wird das unendlich Komifche diefer Figur gar 
nicht herausmerken und genießen, wie denn überhaupt bei Mörike 
— eine ſichere Probe des Dichters — der phantaflelofe Leſer faft 
ganz leer audgeht. Niemald aber beichreibt er, ein: ficherer 


Keangd 


220 


poetifcher Inftinet verlegt niemald die große Lehre von Leffing's 
Laofoon, er nimmt die äußere Geftalt nur im Vorübergehen auf 
als das Uccompagnement der Affecte und Sandlungen, nur in 
ber Bewegung zeigt er fie, nur ein fehneller Lichtſtrahl erleuchtet 
je am rechten Orte plößlich das Sinnliche. Das Aeußere fol fa 
in der Poeſie noch vollfommener ald in feder andern Kunft nur 
> Aeußere des Innern fein, und bier erft, wo wir fehen, welche 
Stellung unfer Dichter demfelben anweiſt, und mie ed ihm nur 
der durchfichtige Körper des Geiftes ift, fehen wir ihn vollftändig 
als Dichter fich bewähren. Durchweg giebt fi der Genius zu 
erkennen, der fi mit freier Entäußerung in fremde Seelenzu- 
fände verfeßt, den verfehlungenen Irrwegen ber jchwiertgfien 
geiftigen Stimmungen unermüdlich nachgeht, bis er fle ganz klar 
gemacht hat, ihre Dialektik mit großer Feinheit, oft nur zu fein 
ausfpinnend und zerglienernd, entwidelt. Diefes Sichhinüberver- 
feßen in. das Innere der Perfonen, der Gefchlechter, Stände und 
überhaupt jeder Lebenderfcheinung zeugt um fo mehr von ber 
Gabe der Intuition, da der Verfaſſer leider niemals Gelegenheit 
hatte, die große Welt zu fehen. Nicht ohne Rührung flieht man, 
wie er im Gefühle dieſes Mangeld in Außendingen oft bei den 
beſchränkteren Formen vaterländifher Sitte ſich Raths erholt, umd 
namentlich feinen Frauen, felbft den höher geftellten, mande 
unmittelbare Sorge für die Haushaltung aufbürdet, wofür fie 
fih in der Wirklichkeit vielleicht Hübfch bedanken werden. (Richt 
hieher gehört jedoch, mas ber Rec. in den Blät. für litt. Unterh., 
San. 1833, Nr. 20, tadelnd heraushob, daß die Gräfin Con- 
ftanze-einmal die Meubles mit dem Staubtuche abreibt, denn dies 
ift als ein Ungewöhnliches pſychologiſch motivirt 1, 225). Aber 


221 


nur auf das ganz Aeußerliche geht dies; wo geiftiger Boden tft, 
da weiß er in feiner poetifchen Divination ſelbſt die feinften Blu 
men gefelligen Tafts, zugefpister Wendungen, feiner Andeutungen 
u. f. w. in einen zierlichen Strauß zu binden, ald bewegte er ſich 
mit gewohntem Bürgerrechte in dem Kreiſe höherer Gefelifhaft. 
Insbefondere bemährt fih aber, wo er ven Geburts⸗Adel vereinigt 
mit dem innern darftellen darf, bei fo geringer Erfahrung aus 
dem wirklichen Leben, der Achte Dichter. 

Mörike's Liebe zur Malerei beſtimmte ihn, feinen Helden zu 
einem Maler zu machen und dem Roman (oder Novelle, wir 
wollen hier nicht über diefe Benennung rechten, ich nenne das 
Buch lieber Roman) den fehr unglüdlichen, pretiöfen Titel: Ma- 
ler Nolten zu geben, der gewiß nicht geeignet war, dem Buche 
ein günftiged Vorurtheil zu erweden, ſchon wegen des Klanges, 
und dann weil ein Künſtler-Roman dahinter zu ſtecken fchien, 
eine Gattung, die ganz abgelebt ift. Mörike läßt jenoch ven Faden . 
der fünftlerifchen Entwicklung feined Helden bald fallen, um bei 
der Gefchichte feiner Liebe zu verweilen, denn ed war nicht feine 
Abſicht, einen Kunftroman zu fehreiben. Freilich da fein Held 
auch als Menſch die Eigenthümlichkeiten, welche die Beſchäftigung 
mit der Kunft dem Charakter und ganzen Welen eines Indivi⸗ 
duums aufzuprägen pflegt, keineswegs ‚hervorftechend zu bemerken 
giebt, fo hat ed überhaupt zu wenig innere Nothwendigkeit, daß 
er gerade ein Maler und nichts Anderes ift. Doch rechnen wir “ 
dies dem Verfaſſer nicht zu hoch auf. Nolten mußte doch etwas 
ſein und man konnte doch keinen Referendarius aus ihm machen. 
Ohnedies hängen mehrere für die Fabel bedeutende Begebenheiten 
mit feiner künſtleriſchen Thätigkeit zuſammen. Ueber feinen Ent- 


222 


wicklungsgang als Künftler erfahren wir nur fo viel, daß er aui 
ber romantifchen Tendenz in das Gebiet clafflfch gereinigter natur: 
gemäßer Schönheit aufzufteigen bedeutende Schritte gethan hat 
nicht um die phantaftifch=romantifhen Stoffe ganz aufzugeben 
wohl aber, um auch fle im Sinne veredelter, reiner Kunſtforn 


zu behandeln. Ein Gemälde folcher Urt, ganz traumartig unt 


in feiner Nebelhaftigfeit ein Beweis, daß unfer Dichter freilich zu 
tief jelbft in der Romantik ſteckt, ift e8, das in der Entwicklung der 
Kataftrophe einer Hauptperfon des Romans eine wichtige Rolle fpielt. 


_—— Bir ſehen wirklich unfern Dichter mit einem Buße noch in der 


\ 
% 
N 


EN 


a 


Romantif, den andern auf die Stufe des claffifch = modernen 


Ideals emporgehoben. Diefer Punkt ift es eben, den wir feft- 


halten müffen, wenn wir nun auf den Gehalt diefer Dichtung 
eingehen. Die romantiſche Myſtik bildet den Hintergrund, bie 


naturgemüße. Elare Wirklichkeit de den Bordergrund: was wir nach 


Hegel's Sprache in der Phänomenologie ald ein unterirdifches 
oder güttliches und als ein menfchliches oder ein Gefeß der Ober: 
welt unterfcheiden können. Beide Geſetze Freuzen fich in ungleichem 
Kampfe; das erftere behält, nachdem dad Gejeß der Obermelt 


ſich frei für ſich entwideln wollte, aber der dämoniſchen Grund— 


lage, auf der es fich bewegt, fich nicht zu entreißen vermochte, 


ben Sieg, Der Maler Theobald Nolten nämlich fteht in dem 


Jataliftiſchen Verhältniſſe räthſelhafter Wahlverwandtſchaft zu einem 


ſeltſamen dämoniſchen Weſen, einer wunderſchönen Zigeunerin, 


von der wir am Ende erfahren, daß ſie wirklich ſeine Verwandte, 
das Kind einer abentheuerlichen Liebe ſeines Oheims iſt. Dieſe 
Perſon, höchſt geiſtvoll und tiefſinnig, himmelweit über der ab- 
gedroſchenen Nachkommenſchaft Walter Scottiſcher Zigeunerinnen 


223 


und wirflih im hoben Style der Kunft gehalten, taucht, nachdem 
Nolten fie im erften Jünglingsalter mit den Gefühle wunderbarer 
magnetifcher Anziehung zum erftenmale erblickt hat, unvermuthet 
da und dort wieder auf, durchbricht und zerftört in der Lieber- 
zeugung, aus dem Rechte einer ihm von Ewigkeit Angelobten zu 
handeln, mit einer Mifhung von Liſt und naiver Gutmüthigkeit 
alle fpäteren Verſuche Nolten’s, fih dur rein menfchlich begrün« 
dete Neigung in der gefunden, vernünftigen Wirklichkeit anzu 
fiedeln, und am Schluffe fehen wir, nachdem der Schmerz fein 
Reben verzehrt hat, durch die Viſion des blinden Gärtnerfuaben 
Henni jeine ideale Geftalt mit der feiner Wahlvermandten in wider⸗ 
ftrebender Verfehlingung entſchweben. Obwohl nun dies Verhält 
niß weit entfernt von grobem Fatalismus, mit wiederholter Hin⸗ 
deutung auf einen vielleicht bloß illuſoriſchen Grund fo gehalten 
ift, daß namentlich in dem verborgenen Wahnfinn, der die Zigeu- 
nerin treibt, an Nolten das Fatum zu fpielen, und feinem ver- 
mirrenden Einfluß auf die anfünglich gefunden Gemüther inımer 
ein Schein von Möglichfeit pſychologiſcher Auslegung zurückbleibt, | 
jo hat doch jener dunkle Grund, das dämonijche Element, dieſe 
Nachtſeite der Menjchheit durch die entſetzlich fortfchreitende Macht, | 
die fie ausübt, die größere Realität, und es entfteht durch jene | 
aufflärenden Winfe nur ein Zmwielicht, von dem man zu der An⸗ 
nahme einer irrationalen Nothwendigfeit immer zurücdgetrieben | 
wird, die letzte Folge aber ift ein unbefrienigender Schluß und ein [; * Bu 
Mangel an Einheit in der Grundidee. Ba 
Zunächſt ift zu erörtern, ob jene dämoniſche Grundlage i über⸗ 
au poetifeh und wahr fei. Daß es ſolche magnetifche Attrac- 
tionen gebe, wird man eben nicht läugnen wollen und es liegt 


\ 


224 


auch Goethe's Wahlverwandtſchaften die Annahme derſelben zu 
Grunde. Aber für's Erſte gewinnt hier die Wahlverwandtſchaft 
zwiſchen Eduard und Ottilie ihre Gewalt erſt durch laͤngeres Zu⸗ 
ſammenleben, die Neigung hat Zeit und Handhabe, ſich mit 
natürlichem Wachsthum im Lichte des Tages zu entwickeln, nur 
die Wurzel behält fie im nächtlichen Grunde. Hier aber wirkt aus 
dem Verborgenen, ohne oder mit ganz geringer Nahrung durch 
wirkliche Annäherung der wahlverwandten Perſonen, verfolgend 
und zerſtörend die prädeſtinirte Nothwendigkeit, daher bleibt am 
Schluſſe ein dumpfer, unaufgelöſter Schmerz zurück. Für's An⸗ 
dere kann das Naturgeſetz in Goethe's Wahlverwandtſchaft nur 
dadurch bis zu ſolcher Gewalt anwachſen, daß Eduard ihm nicht 
bie gehörige Willenskraft entgegenſetzt; bei Nolten aber ſtellt fi 
das Verhältniß ganz anders. Er widerſtrebt aus innerer Abnei⸗ 
gung dem Rapport, der in ſeine geſund menſchlichen Lebensver⸗ 
hältniſſe als ein Geſpenſt aus feiner Jugend hereinragt, und wird 
widerſtrebend von demſelben endlich zerſtört. Für's Dritte — 
und dies iſt die Hauptſache: — im Maler Nolten kommt, indem 
man Strecken weit jenen nächtlichen Hintergrund vergißt und auf 
dem Proſcenium zwei andere Liebesgeſchichten am Lichte der hellen 
Wirklichkeit ſich abſpinnen ſieht, eine ganz andere, rein menſch⸗ 
liche und ſehr moderne Frage zur Sprache, die Frage nach 
der Pflicht der Treue in dem Falle, wenn eine Verbindung 
einer ganz veränderten Lage des Gemüths nicht mehr adäquat 
iſt. Dieſe Frage ſollte ſich rein für ſich in dem Gebiete, 
| dem fie angehört, dem Gebiete der Vernunft und Freiheit, 
- beantworten, nun aber wird dieſer reine Verlauf durch das 
gleichzeitige Fortbeſtehen und Fortwirken jener irrationalen Boten; 


225 


geſtört, unterbrochen, aufgehoben. Wir befommen dafür, daß 
Nolten die liebenswürdige ländliche Agnes verläßt, um fpäter gar 
nicht zum Seile für fie und ihn felbft zu ihr zurüdzufehren, zwei 
Gründe ftatt Eined. Der eine ift, daß die hochgebilvete und an⸗ 
mutbige Gräfin Conftanze feine Neigung zu Agnes verbrängt (Daß 
Nolten Agnes zunächſt deswegen verläßt, meil er fle für treulos 
hält, Fomut bier nicht in Betracht, denn er muß fich felbft ge⸗ 
ftehen, daß dies feinem Gewiſſen eine willfommene Ausflucht ift). 
Hier faß die Sauptfrage über Recht und Unrecht. Die andere, 
\ftörend dazwifchen tretende, ift die Frage nach dem Verhältniß 
unferer Freiheit zu jener Nachtfeite des menfchlichen Wefens. Wir 
haben aljo einen Roman, der zur Hälfte ein Bildungd- Roman, 
die Gefchichte der Erziehung eines Menfchen durch das Leben, die 
Liebe namentlich, ein pfychologijcher Noman, zur Hälfte ein 
Schickſals-Roman, ein moftifcher Roman ift, und' beide Hälften 
gehen nicht in einander auf, fo bewundernswürdig ded Dichters 
fünjtliche Bemühungen find, fle in einander zu verſchmelzen, zu- 
gleich die verftindige Wirklichkeit und zugleih dad Wunder zu 
retten. Wir werden finden, daß auf der einen dieſer beiden Sei⸗ 
ten noch eine weitere Theilung des Interefjes eintritt, die fich jegt 
noch nicht auseinander fegen läßt. 

Sobald man ung diefen ſchadhaften Fleck zugegeben hat, Eönnen 
wir im Uebrigen auch die Kunft der Compoſition unbefangen und 
eifrig loben. Mörike iſt auch, wo er auf verfehlter Richtung ge- 
funden wird, immer geiſtreich und klar. Es mag nach ſtrenger 


Rechnung vieleicht auch ſonſt die eine oder die andere Figur oder 


Scene überflüffig fein; aber e8 ift der Ueberfluß des Neichthums, 
und Mörike Eönnte nit dem, was dieſer Roman zu viel hat, ja 
Arisifcye Gänge ll. 15 


| 


226 


noch nit den Abfall dieſes Abfalls der Armuth nicht meniger 
feiner poetifchen Eollegen auf die Beine Helfen. Er hat in dieſes 
Buch feine ganze reiche poetifche Jugend hineingeſchüttet; dieſes 
Zuviel werben wir dem jugendlichen Dichter gewiß gerner verzei- 
ben, als ein Zumenig. 

Mir Eönnen unfere weiteren Bemerkungen nad) den zmei Hälf-: 
ten anordnen, in melche nach obiger Entwicklung der Noman zer- 
fält, und zuerft von den Partieen ſprechen, welche indgefammt 


rim Geiſte der Romantik empfangen find. Der Grundzug der 
; Romantik, das Myſtiſche, macht fih alfo vorzüglih in Eliſa— 
beth (fo beißt die Zigeunerin) und ihrer Wahlverwandtſchaft zu 


Theobald (Nolten)) geltend, und man muß gefteben, daß der 


Dichter alle Schönheit, welche der Romantik zu Gebot fteht, 


alle unheimlichen Reize, alle füße Wolluft unendlicher Gefühle 
mit concentrirter Innigfeit in diefen Punkt verfammelt. Die erfte 
Erfheinung der fremdartigen Jungfrau in dem Gemäuer einer 
Burgruine, der wunderſame Gefang der halb Wahnfinnigen, 
der „wild wie ein flatterndes Tuch fih in die Lüfte fehmingt«, 
dann Theobald's Gefühl beim Zufammentreffen mit ihr, deren 
hohe und edle Geftalt eine Miſchung von Ehrfurcht und unheim- 
licher Anziehung ausübt, — dies ift mit Meifterhand entworfen. 
„Seht nur“, fagt Theobald zu ihr, „als ic Euch anſah, da 
war es, als verſänk ich tief in mich ſelbſt, als ſchwindelte ich, 
von Tiefe zu Tiefe ſtürzend, durch alle die Nächte hindurch, wo 
ich Euch in hundert Träumen geſehen habe, ſo, wie Ihr da vor 
mir ſtehet; ich flog im Wirbel herunter durch alle die Zeiträume 
meines Lebens und ſah mich als Knaben und ſah mich als Kind 


227 " 


neben Eurer Geftalt, fo wie fle jet wieber vor mir aufgerichtet 
iſt; ja ich kam bis an die Dunkelheit, wo meine Wiege fand, 
und ſah Euch den Schleier halten, welcher mich bedeckte: da ver⸗ 
ging dad Bewußtſein mir, ich habe vielleicht Tange geichlafen, 
aber wie fi meine Augen aufgehoben von felber, ſchaut' ich in 
die Eurigen, als in einen unendlichen Brunnen, darin das Räthſel 
meines Lebens lag.“ Auch weiterhin ift durch die Reinheit künſt⸗ 
leriiher Phantafie alles Eraffe und Plumpe von dieſem Verhält- 
niß abgewiefen, und der Unmille gegen die Zerftörung alles Lebens⸗ 
glücks durch jene räthfelhafte Perfon milvert fi fehr durch das 


Mitleid, das ihre abergläubige Liebe zu Theobald durch bie einfache / 


Teftigkeit der Ueberzeugung von ihrem Nechte und die Schmerzen, 
die ihr aus feinen fpäteren Neigungen fließen, in Anfprud nimmt. 


Ein zweites weſentliches Moment der Romantif ift, ald Folge _ 


Der Anmendung der Myſtik auf den Naturverlauf, das Wunder 
!bare. Diefer Lieblingsrichtung feiner Phantafle hat der Dichter 
mit Gejchieklichkeit ein Bett anzumeifen gewußt, wo fle ſich ergie- 
Ben kann, ohne die feften Gefeße der Wirklichkeit, in denen ber 
Roman troß jener myſtiſchen Grundlage fich bewegt, zu beein- 
trächtigen. Theobald, unterflüßt von anberen Künftlern, giebt 
ein Schattenfpiel zum Velten; während die Bilder erfcheinen, 
wird ein erflärender poetifcher Text in dramatiſcher Form verlefen. 
Hier find wir denn ganz im Lande der Wunder, auf einer Infel, 


deren urfprüngliche Bewohner längſt durch ein plögliches Gericht, 


der Götter dahingerafft find ; nur der legte König der Infel wird 

durch den Zauber einer Zee, bie ihn liebt, -feit mehr als taufend 

Jahren in diefer Sterblichkeit zurückgehalten, vergebens ſich ſeh⸗ 

nend, „den Tod, das faule Scheufal, dad-die Zeit verfchräft, 
- 15 * 


⸗ 


An 


J 


228 


herauf zur Erbe an's Gefchäft zu zerren“, bis endlich der Zauber 
gelöft und er in den Kreis ver Götter aufgenommen wird. Die 
Situation ift mit höchſter Originalität ausgeführt, einige Mono- 
loge des unglüdlichen Zurüdgebliebenen dürfen dem Zarteften und 
Gewaltigſten, was je in der Poefle vorkam, an die Seite geftellt 
werben. Namentlih 1, 164., wo einzelne Lichtblige dem ermat- 
teten Genächtniffe des Königs, der in nächtlicher Einſamkeit um⸗ 
wandelt, feine Vergangenheit erhellen, wird man den Dichter in 
leuchtenden Zügen erfennen. Nur wenige Berfe fei und vergönnt 
anzuführen: 

Bor! auf ber Erde feuchten Bauch gelegen 

Arbeiter fchwer die Nacht der Dimmerung entgegen, 

Sindeffen dort , in blauer Luft gezogen, 

Die Fäden leicht, kaum börbar fließen, 

Und bin und wieder mit geftähltem Bogen 

Die luſt'gen Sterne goltne Pfeile ſchießen .... 

Er erinnert fich des Namens feiner Gemahlin — : 


Almiſſa! — — Wie? Wer flüert mir den Namen, 
Den lang vergeſſnnen, zu? Hieß nicht mein Weid 
Almiſſa? Warum kommt mir's jetzt in Sinn? 
Die veil'ge Nacht gebückt auf ibre Harfe 

Stieß traͤumend mit dem Finger an die Eaiten, 
Du gab ed tieien Ion. 

Es ift die Zeit nicht mehr, wo man ten Dichter in einzelnen 
Bildern juchte, aber ein mubrer Tichter wire jih au in ſolchen 
offenbaren, unt ich fann mich nicht entbalten, zu ten angefübrten 
Blicken ter ereliten Pbuntufie noch io anmuibige Gleichniñe an- 
zuführen, wie: 

Las und im fanfter Wechietrede rub'n 
Zwei Alban aleich, Die aneinanter zleieen. 


229 


oder mie der fihöne Ausdruck in einem Landſchaftsgemälde: mes 
ſchienen Nebelgeifter in jenen feuchtwarmen Gründen irgend ein 
goldnes Geheimniß zu hüten.“ Solche einzelne Diamanten hat 


‚ Mörife wie ein reiher Mann ungezählt unterwegs audgefchüttelt. 
! — Neben dem König ift die dämoniſche Kofette, die ihn durch 


ihren Zauber auf die Erde bannt, ein trefflich gehaltener Cha- 
: rafter. Ueberhaupt feine Intuition des weiblichen Weſens, bie er 
: auch weiterhin an ben Tag legt, und die um fo mehr eine folche 


une 


zu nennen iſt, da ihr ganz wenig Erfahrung zu Hilfe kam, feheint 
Mörike vorzüglih zu einem Dichter des weiblichen Ipealä zu be⸗ 


ſtimmen; die Energie großer politiſcher Leidenſchaften, das männ⸗ 


liche Pathos, dürfte weniger in dem ſeiner Natur vorgezeichneten 
Kreiſe liegen, und es zeigt ſich hierin eine Verwandtſchaft mit 
dem Gpethifchen Genius, für die wir in anderem Zuſammenhange 
noch weitere Belege anzuführen haben. 

Ein drittes Moment der Romantik ift ihre Vorliebe, den 


Schauplag der Poeſie in das Element naivvolfäthümlichen Be- 


wuußtſeins zu verlegen. Unſer Roman enthält eine treffliche, im 


Geifte der Volksſage erfundene, zuleßt in die Legende übergehende 
Partie, die Erzählung von dem Iuftigen Räuber Jung Volker. 
Wir fragen jeden unbefangenen Xefer, ob ein Anderer als ein 
geborner Dichter fo voll und rein in dieſes Clement eingehen und 
es doch unbefchabet feiner Natur in die künſtleriſch veredelte Dar- 
ftellung zu erheben vermochte. Jung Volker wird dur ein wun- 
derbares Zeichen befehrt und meiht der heil. Jungfrau eine Tafel, 
deren Infehrift aljo beginnt „... und mer da folches Tiejet mög 
nur erfahren und inne werden was wunderbaren maßen Gott der 
Herr ein menſchlich gemüete mit gar geringem dinge rühren mag. 


230 


Denn als ich Hier ohne allen fug und recht im wald bie weiße 
hirſchkuh gejaget auch felbige fehr wohl troffen mit meiner 
gueten Büchs da hat der Herr es alſo gefüget daß mir ein fon- 
berfich verbarmen kam mit fo fein fanften thierlin, ein rechte 
angft für einer großen fünden. da dacht ih: itzund trauret rings« 
umbher der ganz wald mich an und ift ald wie ein ring daraus 
ein dieb die perl hat brochen ein feinen bette fo noch warm vom 
ſuͤeßen leib der erft geftolenen braut. verhauchend ſank es ein als 
wie ein floden ſchnee am boden hinſchmilzt und lag ald wie ein 
mägblin fo vom liechten mond gefallen. ..... nunmehr mein 
herze je ertweichet geweſen nahm Gott der ftunden wahr und dacht 
wohl er muß das Eiſen ſchmieden meil es glühend und zeigete 
mir im geift all mein frech undhriftlich treiben und Iofe hantirung 
biefer ganzen ſechs Jahr und redete zu mir die muetter Jeſu in 
gar holdſeliger meiß und das ich nit nachſagen kann no mil. 
verftänbige bitten al8 wie ein muetterlin in ſchmerzen mahnet ihr 
verloren find... « Iſt Mörike ein Dichter oder nit? — linter 
den männlichen Perjonen , welche im Roman ſelbſt auftreten, iſt 
nur noch ter blinde Gürtnerfuabe Henni al3 eine naive Geſtalt 
zu ermäßnen , denn ber Förſter, der im Allgemeinen aud naiv 
zu nennen iſt, iſt zu untergeorbnet und Navmund s, dieies treff- 
lich gezeichneten Brauſekopfs Naivetät rubt nur auf ieinem Tem⸗ 
perament und jeinem Kunſt⸗Naturalismus, müßrent er übrigen® 
ganz ter gebilteten Sphäre angehört. Henni, ver Rille, fromme 
Ninte Jüngling , if eine höchſt beruhigende Ericheinung in ter 
Roth und Angſt ter legten Kataürerbe , und eine Sreuntichet 
wit ter wahnfinnigen Agnes, tie Neigung tieier zu ikm mirk 
Nemand ungerũhrt lanſen 


> 


Ä fr „yvy rt — PLAN" m u (x. U \ 
231 


Den Mebergang nun aus dieſer Sphäre der Nainetät in die 
des gebildeten Bewußtſeins und jo aus der Romantik überhaupt 
in bie Poeſie des Naturgemäpen bildet der trefflih gehaltene 
Charafter Agneſens ‚ ber Braut des Malers, die durch dad 
unfelige Dazmwifchentreten jener Zigeunerin aus dem Frieden der 
reinften Einfalt und holden Selbftgenugfamfeit herauögeriffen, in 
den peinlichen Zweifel, ob fie, das einfache Landmädchen, dem 
Derlobten genüge , bineingeftoßen, auf einige Zeit das Gleich⸗ 
gewicht des Verſtandes verliert, in dieſem Zuftande ohne ihre 
Schuld dem Bräutigam Anlaß zu Mißtrauen und vworübergehen- 
der Auflöfung des Verhältniſſes giebt, dann geheilt in die Arme 
des Verſöhnten zurüdfehrt, endlich aber durch unzeitige Eröffe " 
‚nung eined Geheimnifjes und nochmaliged Zufammentreffen mit 
der geheimnißvollen Fremden ganz in Wahnſinn geftürzt wird 
und tragiſch zu Grunde geht. Wie Tieblih hat der Dichter dad 
heimliche Behagen, die trauliche Beichränkung , bie dieſes Wefen 
umgiebt, fon 1, ©. 49 und 50 vergegenwärtigt, mo wir 
durchs Fenſter in das mondbeglänzte Gemach der fehlafenden Un⸗ 
ſchuld einen Blick werfen dürfen! Man denkt an Gretchens Stüb⸗ 
chen im Fauſt. Welcher Frieden, welche idylliſche Anmuth liegt 
wie ein klarer Sommertag über dem Bilde des Wiederſehens, wo 
ber ausgeſöhnte Maler zu feiner Braut zurückkehrt und fie erſt 
figend auf ver Kirchhofmauer und einen Kranz bindend belaufcht, _ 
indem ein Schmetterling neben ihr auf einer Staube die glänzen⸗ 
den Flügel wählig auf- und zuzieht und der Storch zutraulich an 
ihr vorüberfehreitet! (2,- 398 ff.). Später, da dad unfelige 
Gefpenft jener früheren Eranfhaften Krifis aus der Tiefe ihres 
Innern wieder hervorbricht und bie ſchöne Seele dem Wahnftnn 


232 


überliefert, hat fich der Dichter, fo fehauberhaft der Gegenftand 
ft, doch im fehönften Geleife poetifchen Ebenmaßes gehalten, 
nirgends gegen die Feufche Geftalt der iveellen Schönheit gefündigt, 
und mie Ophelia, fo macht Agnes „Schwermuth und Trauer, 
Leid, die Hölle felbft zur Anmuth und zur Süßigkeit“. Wie ſchmerz⸗ 
lich füß iſt das Bild, das und der Verfaffer mit folgenden Wor⸗ 
ten giebt: „Sie verfiel einige Secunden in Nachdenken und 
Matfchte dann fröhlich in die Hände: O Henni! füßer Junge! 
in ſechs Wochen kommt mein Bräutigam und nimmt mich mit 
und wir haben gleich Hochzeit! Sie fland auf und fing an auf 
dem freien Platz vor Henni auf's Nieplichfte zu tanzen, indem fie 
ihr Kleid hüben und drüben mit friken Fingern faßte und fi 
mit Geſang begleitete. Könnteft du nur ſehen, rief fie ihm zu, 
wie hübſch ichſs mache! Fürwahr ſolche Füßchen fieht man nicht 
leicht. Bügel von allen Arten und Barben fomnten.in die äußer⸗ 
ften Baumzweige vor und ſchau'n mir gar naſeweiß zu“ (2, 594). 
Zugleib muß man in vieler Entwicklung die Wahrbeit bewundern, 
womit die Nerrüdung des Bewußtſeins targertellt iſt, tem bie 
Perſonen, mit denen ed im Wahnfinne fib beſchäftigt, unflar 
ineinander zerfließen, der Unfinn im Sinn, ter Sinn im Unñnn. 
Ein Dichter bar mehr zu tbun, ald ten MWabnfinn tarzuftellen : 
ed iſt aber feine ter Fleiniten Proben für teine Kunit. ven gefun-« 
ven Sat zu entbüllen, wenn er e& vermag. den Eranfen te ıu 
malen. daß man durch seine erregten unt aufgemüblter Wellen 
Immer neh auf ten geiunten Grund binunterñebt. Didter ven 
Talent. vie ih aber nicht zur reinen Schönbeit erbdeberr. Ueden 
ee. einen Schein von Kraft tur unmorivirtes Gmbraden des 
Wanna zu eritleiten: Bier aber it michts linmerime. 


233 


man fteht von Anfang an: es muß mil den unglüdlichen Mäd⸗ 
hen died Ende nehmen, ja fie erhebt ſich, wo fich die tragifchen 
Fäden fammeln, um dad Neb des Unheils über fle zu merfen, 
zur Hauptperſon des Romans und rettet hiedurch, fo weit es 
nach dent ſchon aufgebedten eranfen Fleck möglich tft, die Einheit 
ded Ganzen. Wir werden in Kurzem darauf zurücfommen. 
Ganz in der Sphäre der Bildung ſteht die Gräfin Conſtanze. 
Den Maler ergreift in der Periode, wo er fein Verhältniß mit 
Agnes abgebrochen hat, eine tiefe Leidenſchaft zu diefer ſchönen 
jungen Wittwe, in welcher der feinfte Duft der Weltbildung und 
höheren Sitte mit jener Anmuth, welche feine Kunft zu geben, 
aber wahre Kunft mohl zu erhöhen vermag, ſich auf's Reizendſte 
vereinigt, und deren reine Nähe jedes Rohe und Gemeine aus 
ihrem Kreife verbannt; fle erwiedert diefe Leidenſchaft, und der 
Monıent des ftummen Geftändnifjes, diefe fo millionenmal da= 
gemwefene Situation, ift mit überrafchender Tiefe und Neuheit 
gedichtet. Durch eine furchtbare Täuſchung jedoch verkehrt ſich 
ihre Liebe plötzlich in Haß, in Rache, und dieſe bereuend kauft 
ſie den Geliebten, den ihre Rache in's Gefängniß geliefert hat, 
mit dem Opfer ihrer Tugend los. Auch ihr begegnet die daͤmoni⸗ 
ſche Zigeunerin, ſie erkennt in dieſer den Vorboten des Todes, 
erhält endlich Licht über den Irrthum, der ihre Liebe in Haß 
verkehrt hatte, und verzehrt fih nun in qualvoller Selbſtverach⸗ 
tung; doch auch fie bleibt felbft im tiefen Falle eine poetiihe Er⸗ 
ſcheinung; diefer Fall ift vollkommen motivirt, nichts Gemeines, 
nicht Unnatürliches drängt fi auf. — Unter den andern meib- 
fichen Perfonen machen wir nur auf Margot noch insbefondere 
aufmerkjam, deren klar verftändiges und doch gemüthreiches 


284 


Weſen am Schluffe, unmittelbar ehe und während bad tragifche 
Schickſal hereinbriht, fo wie die Gegenwart ihres Vaters, des 
Praͤſidenten, die mildernde Wirkung der Perfon ded Blinden 
von dieſer Seite wohlthätig verflärkt. Das Beruhigende ber Ge- 
genwart eines überlegenen, mwelterfahrenen, charakterfeſten, wohl⸗ 
wollenden Vornehmen inmitten einer peinlichen Verſtörung, das 
Gefühl der Sicherheit, das ſchon beim Eintritt in den Kreis 
dieſer feinen, beſchwichtigenden Formen, wo ſie nicht bloße 
Formen find, in den Geängſtigten überfließt, iſt mit überzeugen⸗ 
der Anſchaulichkeit vergegenwaͤrtigt. / 

"inter den männlichen Individuen des gebildeten Kreiſes zeigt, 
wie billig, Theobald am wenigſten prägnante Individualität. Der 

| Romanheld ift als folcher mehr der paffive Mittelpunkt, in mel 
chem bie allgemeinen Lebensmächte, die der epiiche Dichter im 
ihrem breiten Nerus entfaltet, ihre Wirkungen fammeln, als 
dag er durch Beftimmtheit des Charakters einer oder der andern 
diefer Mächte als ihr Nepräfentant zufiele. Sein Leben ift ein 
Entwicklungsweg; wer ſich erft entwidelt, ift ebendarum noch 
nicht feſt. Er gleicht hierin dem Wild. Meifter, dem man ohne 
Einfiht in die poetifhe Gattung feine wechfelnden IUufionen und 
feine Linfelbftändigfeit zum Vorwurf gemacht hat. Aber weit 
ärmer find Theobald's Bildungswege und — momit wir benn 
auf den Hauptpunkt zurückkommen — fein Bildungdgang wird 
in der Mitte geftört, unterbrochen. Das fataliftiihe Element als 
legte Urſache diefer Störung und ald nothwendig einen tragijchen 
Ausgang bedingend haben wir ſchon hervorgehoben. Sehen wir 
nun von dieſem dämoniſch unterhöhlten Boden, auf dem bie Per⸗ 
fonen wandeln, einen Augenblid ab, fo ſcheint die Erzählung 


235 


mehr und mehr auf die Löfung ber intereffanten Frage hinzu⸗ 
arbeiten: Eonnte eine zwar tiefe, aber nicht nach außen entfaltete 
Natur, wie die einfache Agnes, dem Maler wirklich gemügen ? 
War es daher nicht ein Fortſchritt, wenn er, durch einen fchein« 
bar vollkommen begründeten Irrthum gegen ven Vorwurf ber 
Untreue zunächft geſchützt, in die Höheren Kreife Conſtanzens über- 
trat, da ſich ihm durch dieſe Situation eine Fülle neuer Bildungs- 
quellen öffnete? Und wenn ihm der Schmerz ver plößlichen Tren⸗ 
nung von biefer neuen Lebensquelle, von Conftanzen felbft wieber 
heilfam werden und ihn zu jener im ebleren Sinne interefjelofen 
Stimmung erheben Eonnte, die dem Künftler Noth thut, war 
es dann gut, hierauf zu Agnes zurückzukehren? War dies ein 
Glück für ihn, für Agnes ſelbſt? Lauter Fragen, die ſich vor 
Allem deswegen nicht rein beantworten, weil jene fataliſtiſche 
dazwiſchentritt. Aber nicht von dieſer wollen wir jetzt reden, ſon⸗ 
dern auch innerhalb der Grenzen geſunden und naturgemäßen 
Verlaufs der Dinge mird unſere Aufmerkſamkeit auf einen andern 
an ſich freilich Höchft intereflanten Punkt abgelenft. Der Schau 
jpieler Larkens, die bedeutendſte männliche Figur bed Romans, 
Noltens Bertrauter, erlaubt fih nämlich eine wohlgemeinte, aber 
Höchft gewagte Täuſchung, um das abgebrocdhene Verhältniß zwi⸗ 
ſchen Agnes und Theobald im Beſtand zu erhalten und biefen 
feiner Braut zurüdzugeben. Agnes hat in der Zeit der erften 
Verftörung ihres Gemüths durch einzelne Aeußerungen leiden⸗ 
Thaftlicher Neigung gegen einen unbeveutenden Better ihrem Ver⸗ 
lobten allen Grund gegeben, feine Verbindung als aufgehoben 
zu betrachten, fo lange nämlich derfelbe die Duelle und Natur - 
biefer Verſtörung nicht kannte. Larkens, hierüber zur völligen 


236 


NRechtfertigung Agnefens belehrt, aber ohne Hoffnung, Theobalt 
ſelbſt, ven er in einer neuen Leidenſchaft befangen flieht, hievon 
zu überzeugen, weiß es einzurichten, daß Agneſens Briefe an 
ihn gelangen und beantwortet fie mit Nachahmung der Handſchrift 
und innigem Eingehen in die ganze Gefühld- und Ausdrucksweiſe 
Theobald's ‚ fo daß das Mädchen von Theobald's Bruch mit ihr 
nicht die mindeſte Kunde erhält. Hierauf weiß er Theobald von 
Conſtanzen zu trennen dutch ein Mittel, deſſen ganze Grauſamkeit 
er nicht berechnen kann, weil ihm der Maler nicht geſtanden hat, 
daß ihm Conſtanze bereits unzweifelhafte Beweiſe ihrer Liebe 
gegeben hat. Er ſpielt Conſtanzen die jüngſten Briefe Agneſens 
an Theobald, welche ganz in dieſelbe Zeit mit Theobald's feurigen 
Bewerbungen um Conſtanzens Liebe fallen, in die Hände, die 
weibliche Neugierde kann nicht widerſtehen, ſie lieſt, glaubt ſich 
ſchändlich betrogen, und in einer Anwandlung von Rachſucht führt 
ſie herbei, was wir ſchon angaben, daß Theobald und Larkens 
in's Gefängniß geführt werden. Dann ihre Reue, das Opfer 
ihrer Tugend, Theobald's und ſeines Freundes Befreiung. Nach⸗ 
dem nun Theobald bereits der ſcheinbar glücklichſten Wiederver⸗ 
einigung mit Agnes zugeeilt iſt, entdeckt er ihr in einem unglück⸗ 
lichen Momente alles Geſchehene, die Täuſchung durch Larkens, 
ſeine Liebe zu Conſtanzen. In dem Gemüthe des abnungsvollen 
Mädchens batte inzwiſchen die einmal bineingeworfene Beſorgniß, 
dem Geliebten nicht zu genügen, im Stillen fortgewühlt; ihr 
Aberglaube an tie Worte jener Zigeunerin, welche in ibrer Räth— 
ſelſprache angebeutet, daß Theobald vom Schickſal zu einem andern 
“ Bunte aufgeipart jei, bat fie mit einer dunkeln Angit erfüllt, das 
unakweidbare Vorgefühl eines ſchrecklichen Unglücks lag ſchwũl 


237 


auf ihr: jest plötzlich glaubt fie alle ihre Ahnungen, ihre Bes 
forgnifje fehauderhaft beftätigt, bricht in Verzweiflung aus, und 
ed braucht nur eine nochmalige nächtliche Ueberraſchung durch 
Glifabeth , um diefe zum Wahnflnn zu fteigern. Indem es dem- - 
nach nicht der Gang der Sadje, jondern Cinmifchung und Kill 
eined Dritten tft, was Iheobald und Agnes wieder zufanımen- 
führt und zulegt fo unglüdlih macht, fo beantwortet fih auch 
die Frage, ob eine ſolche Wieververeinigung an fich heilfam —— 
oder nicht, ob daher ein völliges Abbrechen der Verbindung mit 
Agnes unſittlich oder nicht geweſen wäre, — auch dieſe Frage 
beantwortet ſich nicht rein, ſondern es ſchiebt ſich eine neue, ganz 
heterogene herein, die nämlich, ob ein ſolches heimliches Leiten 
und Bevormunden, wie Larkens es wagte, nicht auch bei den 
beſten Abſichten verwerflich ſei und zum Unheil ausſchlagen müffe? 
So irrt das Intereſſe unſtet zwiſchen drei Fragen hinüber und her⸗ 
über. Nur inſofern wird die Einheit gerettet, als alle dieſe verſchie⸗ 
denen Werkzeuge des Unheil auf Agnes Iosarbeiten, dieſe aber, 
indem fte von fo vielen Meffern zerichnitten wird, doch den Abel der 
Anmuth und Weiblichkeit bewahrt und durch diefen edeln Inſtinct der 
Seele, .ein unendlich rührendes Bild, dem Leſer den Frieden giebt. 
Dagegen gewinnen wir nun durch jene Wendung ein treff⸗ 
‚lies Charafterbild weiter in dem Schaufyieler Larkens, einem 
Geift, in welchen Zerriffenheit, Selbſthaß in Folge einer Periode 
wilder Ausſchweifungen, Hypochondrie, Bizarrerie im Wiber- 
fpruche mit gefundem Herzen, Elarer Einſicht, Innigfeit des Ge- 
müths ſich zu der Eomijchen Harmonie genialen Humors befreien, 
einen Dann, „deſſen heitere Geifteöflanıme fi vom beften Def 
des innerlihen Menfchen ſchmerzlich nährt.“ Hier tritt Mörike 


238 


würdig an I. Pauls Seite, und wenn er bie Tiefe Horion's, 
Schoppe = Leibgeber’3 nicht erreicht, jo vermeidet er Dafür auch bie 
zu ſichtbar eingemifchte Philofophie und bleibt auch bier ſtets 
objectiv, plaftifh. Die Kataftrophe, wo vieler edle Geiſt aus 
dem Kreife der Freunde feheidet, um in der Ferne in unbefanntem 
Dunkel lebend fih von feiner Vergangenheit zu trennen, der 
Adel, ben er in gemeinen Umgebungen bewahrt, biefer Diamant- 
ſchein in der Finfternig, endlich fein Selbftmord find Meiſterſtücke 
der Poefte, und auch bier ift nirgends das Maß des Würdigen 
und Schönen vergeffen. Ihm verwandt ift der wunderliche Hof⸗ 
rath, aus welchem erft am Schluffe der todtgeglaubte Oheim 
Nolten's, der Vater Eliſabeth's, hervorfpringt. 

Diefen Geftalten, die das Komifche mit dem Bewußtſein eines 
gebildeten Geiftes mehr oder minder activ ausüben, ftellt fid- als 
objectiv £omifche, außer dem nur kurz ffiszirten Vater Nolten’s, 
der feine Familie mit einen Bogelrohre beherrſcht, namentlich 
der ſchon erwähnte Barbier Wilpel zur Seite. Diefer Menſch mit 
jeinen unerträglihen Manieren, den unendlichen Geſichtsſchnör⸗ 
fein, den beftändigen Blinzen (weil er, wie er zu fagen pflegt, 
an ber Wimper kränkelt), den ſtets geſpitzten Lippen, ärmlid 
aufgepüßelt, höchſt unreinlih und edelhaft, die Saare mit ges 
- meinen Bett frifirt, mit dem ewigen Hüpfen, Kichern, Tänzeln, 
durchaus affectirt, eitel, lügneriſch, betrügeriſch, doch bei feinen 
Schelmenftreihen am Ende mehr auf die Satiöfaction, die für 
feine Eitelfeit abfallt, als auf bloßen Gewinn bedacht, biejer 
Menſch, mit dem man nicht reden kann, weil er nur fi ſelbſt 
reben hört, und der nur durch fo ganz draftifche Mittel, mie bie 
reichlichen Ohrfeigen, bie er auf feinem Schickſalslaufe durch 


239 


biefen Roman ärndtet, vorübergehend zur Vernunft zu bringen 
ift: dieſes Subject iſt aus dem Kerne der Komik gefchnitten. 
Namentlich iſt die Scene, wo er in der Maske ſeines dermaligen 
Herrn, eines italieniſchen Künſtlers, ſich im Garten und in der 
Geſellſchaft des Grafen Zarlin einfindet und, von Nolten ent⸗ 
larvt, mitten in aller Noth ſich doch ſeiner vortrefflichen Mimik 
rühmt, ganz gelungen. „Es war vielleicht“, geſteht er, mein 
Kitzel, das heiße Blut des Südens an mir felöft zu bewundern, 
und fo — und dann — aber gewiß merden Sie mir zugeben, 
Meonfteur, ich habe ven höhern Ton der Chicane und den eigent- 
lichen vornehmen Takt, womit dad point d’honneur behandelt 
werden muß, mir fo ziemlich angeeignet. Wie? ich bitte, fagen 
Sie, mas denken Sie?u — Weniger Urfahe, daß Andere 
wigig werden, als felbft wißig, ift der Büchſenmeiſter Lörmer 
mit dem Stehfuße, der zuleßt in der Umgebung von Larfens 
auftritt. Diefe Figur rechne ich ebenfall8 unter die vollwichtigen 
Beweiſe von Mörike's Dichterberuf ; die Miſchung des Komifchen, 
was aud der wißigen Laune dieſes heruntergefommenen Hand⸗ 
werferd entfteht, und des Wohlthuenden, was in einen Reſte 
von Gemüth und Liebe liegt, mit dem unheimlihen Einprud 
feiner Rohheit und Liederlichkeit, erzeugt einen höchſt individuellen 
und eigenthümlichen Eindrud. Namentlich ift die rohe Aeußerung 
feiner Liebe zu Larfens, inden er betrunfen die Thür durchbrechen 
und zu feinem Leichnam eindringen will, enblich aber mit Ge- 
räuſch zu Boden ftürzt, durch ihren Contraft mit der Gtille det 
edlen Todten ganz etwas Meifterhaftes. 

Weiter wollen wir den Kreid der Figuren nicht verfolgen. 
Für den Plan der Begebenheit find namentlich die komiſchen 


240 


Figuren mit großer Kunft verwendet. Mußten wir nun im An⸗ 
fang zugeben, daß Plan und Dekonomie des Ganzen nicht bie 
firenge innere Einheit und Sparfamfeit des wahren Kunſtwerks 
aufmeifen, fo bewährt ſich doch der Dichter darin, daß jedes Der 
zu vollkommener Harmonie bier nicht vereinbarten Momente für 
ſich den ſchönſten Stoff zu einem Fleineren poetijchen Ganzen dar⸗ 
bietet, und wir ehren fhließlih zu dem ſchon ausgejprocdenen 
Lobe der großen Kraft der Anſchauung und Individualiſirung 
zurüd, welche fich auf allen Punkten fund giebt- Der wahre 
Dichter weiß inımer einzelne, an fi) unbebeutende Züge, die ihm 
in ber Wirklichkeit zerftreut aufftoßen,, durch die Attraction fei- 
ned eigenthümlich organifirten Gedächtnifjes in fein poetifches Bild 
bereinzuziehen. Gin folcher trefflih benußter Kleiner Zug ift es 
3. B., menn Goethe von Dttilien erzählt, daß fie die Gewohnheit 
gehabt, felbft Männeın, denen ein Gegenftand zu Boden fiel, 
ſolchen aufzuheben, und in Folge von Charlottend Hinweifung 
auf dad Ungehörige der Angewöhnung eine neue Xichtjeite 
ihres ſchönen Gemüths fi) dem Leſer eröffnet. Don Mörike 
führe ich ftatt Hundert anderer nur Ein Beifpiel an. Mancher 
erinnert fih wohl des frappanten Eindrucks, wenn man je zu= 
weilen bed Morgens den Docht in einer Straßenlaterne von der 
legten Nacht her noch bremen fieht. Wie paffend weiß Mörike 
bieje Kleinigkeit zu benugen, um Nolten’d Stimmung am Mor⸗ 
gen nad) dem Abend, wo er feinen Freund Larfend in feiner 
elenden Umgebung unvernuthet aufgefunden, höchft anjchaulich 
zu machen! (2,500). Dies bleiben jedoch nur Eleinere Einzel- 
heiten, ungleich mehr giebt fich der Dichter, wenn vom Einzelnen 
die Rede fein fol, durch Hinftellung größerer Bilder von ideeller 





241 


Schönheit vor die Phantaſie zu erfennen, wo plöglich ein Ge- 
mälde vor und ſteht, von dem wir nichts fagen können, als: 
fo fehaut nur ein reiner und hoher Genius. Ich made in diefer 
Rückſicht namentlih auf zwei Scenen aufmerffam. Die eine, 
wo Agnes, bereits wahnfinnig, barfuß herbeigefchlichen kommt, 
fich dem verzweifelnden Maler gegenüber an einen Thürpfeiler 
lehnt, eine Flechte ihres Haars hängt vorn herab, davon fie das 
äußerfte Ende gedanfenvoll laufchend an's Kinn hält. „Ein ganzer 
Simmel von Erbarmung fcheint mit ſtummer Klaggeberde ihren 
ichleichenden Gang zu begleiten, die Falten felber ihres Kleides 
mitleidend die liebe Geftalt zu unfließen“ u. |. w. (2, 990). 

Die andere Scene fehildert und Agnes, neben Henni an der 
Orgel, worauf fie diefer bei ihrem Gefange accompagnirt hatte, 
eingefchlafen. „Nun aber hatte man ein wahres Friedensbild vor 
Augen. Der blinde Knabe nämlich ſaß, gebanfenvol in fich ge- 
bückt, vor der offenen Taftatur, Agnes, Leicht eingefchlafen, auf 
dem Boden neben ihm, den Kopf an fein Knie gelehnt, ein 
Notenblatt auf ihrem Schooße. Die AUbendfonne brach durch die 
beftäaubten Zenfterfcheiben und übergoß die ruhende Gruppe mit 
goldenem Licht. Das große Erucifir an der Wand fah mitleids⸗ 
vol auf fie herab. Nachdem die Freunde eine Zeitlang in ftiller 
Betrachtung geſtanden, traten fie ſchweigend zurüd und lehnten 
die Thür ſacht' an“ (2, 620). 

Ein Dichter mit folcher Gabe ver Anſchauung wird wohl au 
die poetifchen Rechte des finnlihen Moments im Verhältniß der 
Sejchlechter nicht verfennen? Bon Prüberie und Rigorismus 
fein Zug, aber auch) Fein Zug jener unangenehmen Abfichtlichfeit, 
womit man neuerdings aus der Theorle heraus der Poeſie in 

Srisifche Gänge Il. | 16 


242 


biefem Punkte aufhelfen zu müſſen glaubte und woburd man bad 
an fich Reine erft verunreinigte. Es ift intereffant, unſern Dichter 
lange, ehe man von einem jungen Deutfchland wußte, ein ganz 
ühnliches Thema, wie Gutzkow in einer verfchrieenen Scene feiner 
Wally, aufnehmen zu fehen, und nun beide zu vergleichen. Bier 
wird man fehen, daß nicht der Stoff einer foldhen Situation, 
fondern der Geiſt der Behandlung den Charakter ded Sittlichen 
oder Unfittlichen entſcheidet. ©. 2, 369 ff. 

Wenn dad ganze Bud) eine feltfame Vereinigung. phantaſtiſch⸗ 


— — — — — — ⸗2 


romantiſcher Stoffe mit plaſtiſcher Klarheit und Goethiſcher Idea⸗ 


|: 


— — — — ⸗* 


Aität darſtellt, fo verdient endlich der Styl wegen feiner Claſſicität 
eine ungetheilte Bewunderung. Ein Jugendproduct, hervorgeſpru⸗ 
delt aus einem Reichthum, deſſen gewaltiger Drang noch kein 
feſtes Bett und keine Ufer kennt, — und dieſes Product in der 
Sprache rein von allem Rohen und Wilden, mas ſonſt die Na- 
turpoefie immer mit ſich zu führen pflegt, durchaus objectiv, 
niemals pathetifh, außer wo die in der Erzählung betheiligten 
PBerfonen ihr Pathos auszufprechen haben, aber dann auch boch- 
hin in der Beredtfamfeit gewaltiger Leidenfchaft braufend (z3. B. 
2, 576), durch Wohlklang, Reinheit, Milde, vie Durchſich⸗ 
tigkeit, worin alles Stoffartige getilgt iſt, nur der Goethiſchen 
vergleichbar! Es ift zwar nicht biefelbe Intenfität in der höchſten 
Einfachheit, nicht derfelbe Grad von Plaſtik, die durch die ge- 
ringften Sprachmittel ein Unendliches in den Reif weniger an- 
ſpruchsloſen Worte faßt, Mörike braucht mehr Worte, hält mit 

. Bildern weniger Haus, vergißt aber wie Goethe niemals , daß 

<_ der Dichter nicht foffartig ſelbſt in Leidenfchaft ſprechen, ſondern 
ganz die Sache fprechen laſſen foll. 


243 


Gedichte von Eduard Mörike. 


Stuttgart und Tübingen 1838. Verlag der Cotta'ſchen Yud- 
handlung. 


(Jahrbuͤcher für wiſſenſchaftliche Kritik. Jahrg. 1839. Nr. 14 f.) 





Es fei und erlaubt,- unferen Standpunkt in der ſubjektiven 
Werkſtätte der Poeſie, dem dichteriſchen Bewüßtſein, zu nehmen, 
natürlich in dem umfaſſenderen Sinne, wonach das ſubjektive Be⸗ 
wußtſein des Einzelnen durch ſein Zeitalter und ſeine Nationalität 
bedingt iſt. 

Daß die dichteriſche Produktion, im Gegenſatze gegen jede 
andere, ihrer Natur nach unmittelbar auf Entdeckung des Wahren, 
Förderung des Guten und Zweckmäßigen gehende, Thätigkeit des 
Geiſtes, immer im Elemente der Naivetät wurzeln müſſe, iſt 
eine anerkannte Wahrheit; daß die Naivetät im Allgemeinen ein 
Zuſtand relativer Bewußtloſigkeit ſei, worein das zarte Seelchen 
Phantaſie vor der alten Schwiegermutter Weisheit ſich einhüllt, 
weiß man ebenfalls. Schwierig wird die Unterſuchung erſt, wenn 
die Grenze beſtimmt werden ſoll, innerhalb welcher das Bewußt⸗ 
ſein von ſich, ſeinem Gegenſtand und feiner Thätigkeit, das na« 
türlich, wo überhaupt Geiſt iſt, niemals fehlt, alſo auch dem 
Dichter nicht abgehen kann, auch bei ihm in verſchiedenen Graden 
auf» und niederſteigen könne, ohne in diejenige Bewußtheit über» 

16 * 


244 


zugehen, welche die Naivetät zerftört und die Poefle in Profa 
auflöfl. Die Dichter des Mittelalters find im Gegenfaß gegen 
die modernen als naiv zu bezeichnen, aber auch ihre Poeſie ſchei⸗ 
det fih in eine bewußte und unbewußte, eine Naturpvefte und 
eine Kunftpoefle, eine volksthümliche und eine höfiſchritterliche. 
Umgefehrt innerhalb der modernen Poefle, die im Gegenſatz 
gegen die mittelalterliche als eine bemußte zu bezeichnen Ift, kehrt 
der Gegenfaß des Naiven und Bewußten wieder nicht bloß zwifchen 
verfchiedenen Ständen (dad Volkslied und die Naturpoefle einzel- 
ner Autodidaften kann ald Nachklang des Mittelalterd angefchen 
werden), zwiſchen verfchiedenen Individuen innerhalb der gebil« 
beten Stände, fondern auch zwifchen den verfchiedenen Entwicklungs⸗ 
Epochen einzelner Individuen. Goethe Jugendpoeſie war ein 
Naturquell, der gewaltfam mit urkräftiger Friſche hervorſprudelte, 
dagegen die Producte feines reifen Mannedalterd: mit wie viel 
Bewußtfein über das eigene Thun, mit welcher Helle der Beſon⸗ 
nenheit find fie Zünftlerifh gebildet, und melde Eryftallifche 
Durchfichtigfeit haben fie daburch gewonnen! E38 füllt mit dieſem 
Unterfchiede der Lebensalter ein Unterjhied der Gattung häufig 
zujammen: die naiv jugendliche Periode ift eine Iyrifche, der be⸗ 
fonnene Mann erhebt fih in die objektiven Gebiete der epifchen 
und dramatiichen Poeſie, hört aber darum nicht auf, Lyriker zu 
fein, und indem die Inrifchen Gebilde der reiferen Mannes⸗Periode 
an biefem Lichte geläuterten Selbftbewußtfeind, vielleitiger Re⸗ 
flerion und mannigfach verfchlungenen Bildungs - Momente Theil 
nehmen, jo Eehrt aufs Neue auch innerhalb der Lyrik des einzel- 
nen Dichters jener Gegenfag zurüd. An unferen großen Dichtern, 
Goethe und Schiller, ift das Größte Died, daß fie haarſcharf auf 


245 


ber Linie, welche die innerhalb der Poeſie mögliche und die 
profaifhe Bewußtheit ſcheidet, mit ficherem Schritte hinwandeln. 
Aber nur in der Fülle der Mannskraft; wie die Locken ergrauen, 
geht auch Goethes Poeſie unaufhaltfam in die Proſa, bie didak⸗ 
tifche Breite, bie behagliche Eontemplation über, während bei 
"Schiller freilich auch auf der Sonnenhöhe feiner Poeſte Nebel 
flecken der proſaiſchen Neflerion ſich zeigen, und mitten im fleg« 
reichen Kampfe gegen biefe ihm wohl bekannten Mängel der Tod 
ihn abrief. 

Die romantiſche Schule war ein neuer Verſuch, den Boden 
der Poeſie dem Elemente der Naivetät zurüdzugeben. Da das 
Studium der Alten und der Eritifche Geift des Proteſtantismus 
vorzüglich es waren, welche die neue Poeſie in jene Klarheit des, 
Bewußtſeins, aber auch nahe an die Schwelle der profalfchen 
Bejonnenheit geführt hatten, fo wurde nun das Mittelalter heraufs 
beſchworen, das Volkslied, das Volksbuch zum Looſungswort 
gemacht. Wenn fo das ſubjektive Verhalten des Dichters zu ſei⸗ 
nem Stoffe ganz zur Naivetät jener alten guten Zeit zurückkehren 
ſollte, ſo wurde an bie objektiven Gebilde der Phantafie eine ent⸗ 
ſprechende Forderung geſtellt: die Welt, welche der Dichter darſtellt, 
ſollte, wie die Anſchauungsweiſe des Mittelalters es meinte, nicht die 
Wirklichkeit mit ihrem verſtändigen Nexus darſtellen, die Charaktere 
ſollten nicht von einfach menſchlichen Motiven zu einem klaren und 
konſequenten Handeln beſtimmt erſcheinen; die Natur ſollte als Schau⸗ 
platz von Wundern kaleidoskopiſch ihre Geſtalten wechſeln, die Cha⸗ 
raftere in geheimnißvollem Helldunkel zwiſchen unendlichen, unfag- 
baren Gefühlen und illuſoriſchen Willenserregungen ſchwanken: kurz 
die Welt ſollte eine phantaſtiſche, abentheuerliche und mährchenhafte 


246 


fein, die Phantaſie follte im Mondlichte mit een ſpielen, mit 
Niren in Wellen plätfchern, mit Salamandern in zadigen Zlam- 
men fladern, fle follte traumartig wirken, man nahm ed mit 
dem Ausdrucke, daß der Dichter in einer Art von Wahnflnn 
ſchaffe, fehr ernſtlich. Es war aber nicht ein natürliched, fondern 
ein-gemachtes, ein Fünftliches wiederbelebtes Mittelalter, es war 
Theorie und Grundfaß, jo zu dichten, von der Philofophie der 
Zeit vielfach beftimmt, es war eine Spiegelung einer längft ver⸗ 
ſchwundenen Zeit in einem ihr entwachſenen Bewußtſein, es war 
Manier; daher es nur ſcheinbar ein Widerſpruch iſt, wenn gerade 
die Romantiker das berüchtigte, zu viel verſchrieene Prinzip der 
Ironie auffſtellten. Indeſſen konnte es nicht fehlen, daß ächt 
poetiſche Naturen, im Zorne über die Proſa, die ſelbſt während 
der Glanzperiode neuer Poeſie fortfuhr, breite Bettelſuppen zu 
kochen, und fortfahren wird, ſo lange die Welt ſteht, im Zorne 
darüber und im Gefühle des ewigen Rechtes, das ſich die Naive⸗ 
tät im Gebiete der Poefie vorbehält, dieſer Schule ſich anſchloſſen, 
die ja ohnedieß in der jugendlichen Lyrik Goethes, in mancher 
ſeiner ſchönſten Romanzen und Balladen einen großen Vorfech⸗ 
ter hatte. Je geſunder freilich dieſe Naturen, deſto weniger konnten 
ſie ſich in der Einſeitigkeit der Schule abſchließen, deſto gewifſſer 
nahm ihre Phantaſie im Fortgange ihrer Läuterung auch das 
Element höherer Beſonnenheit, plaſtiſcher Klarheit in ſich auf. 
Tieck ſelbſt fand, freilich nicht ohne viele und ſchwere Rückfälle, 
den Uebergang in die Poeſie geſunder, naturgemäßer, darum 
aber nicht gemeiner Wirklichkeit in ſeinen Novellen, Uhlands 
Muſe beſchränkte ſich nicht auf die nordiſche Nebelwelt, ſondern 
ſchwang ſich, wenn ſie auch ihre Gegenſtände aus dem Mittelalter 


247 


zu nehmen immer liebte, doch durch den Geift ihrer Auffafjung 
und Darftellung in hellere Zonen, wo vom Elaren Simmel edle 
rein menſchliche Geftalten in gediegener Rundung und fcharfen 
Umriſſen fich abheben. 

MWührend nun diefe Schule ihrem Ableben ſich näherte, ver- 
änderte fih mehr und mehr die Phyſiognomie ver Zeit. Die Re⸗ 
volution, der Liberalismus, die Technik, die materiellen Tenden⸗ 
zen, bie @ultur, die alles beledt, die Philofophie, die den lebten 
Reſt des Iinmittelbaren in die Vermittlung des Denkens herein- 
zuziehen ſyſtematiſch fortfuhr, der Geſchäftsdrang, der und von 
Morgen bis Abend an den Arbeitsſtuhl fefelt und ver zehnten 
Mufe, der Muße, ihr bischen Lebensluft vollends zu erdrücken 
droht: Alles dies verſchwor fich gegen die poetifhe Stimmung 
und ftellte vor die legte Wiefe, auf der ein Dichter fchlendern 
mochte, den Schlagbaum der Sorge. Die Dialektik ergriff nun 
auch das ſittlich ſociale Leben und rüttelte mit Fritifchen Zweifeln 
an feinen bemooften, uralten Grunppfeilern. Die Menfchheit ift 
unverwüſtlich gefund, fle wird auch aus dieſen Wirren verfüngt 
aufftehben; aber der Poeſie Eonnte man unter diefen Umſtänden 
wenigſtens für die nächſte Solgezeit Feine heitere Zukunft pro= 
phezeihen. Andere Tihätigkeiten des Geiſtes, die Meberliftung der 
Materie im Gebiete des Zweckmäßigen, die Wiſſenſchaft werben 
bie erſten Heilfräfte aus diefem Babe ziehen; bie üblen Folgen 
für die Poefle zeigten ſich bald. Man verlor den Standpunft, 
aus welchem allein ein Dichter zu beurtheilen ift, man rief ihn 
an: halt! nicht fo ſchnell! du mußt dich erft ausweiſen, ob du 
auch die Fragen der Gegenwart, bie großen fpeziellen Probleme 
in bein Gedicht aufgenommen haft! Nun ſoll ſich freilich die Bruſt 


248 


des Dichterd niemals der Gegenwart und ihrer beivegenben Ideen 
verſchließen, aber es fragt ſich, ob dieſe Ideen reif find zur poe⸗ 
tiſchen Geftaltung, und darum kümmerte man fi nicht, man 
überfah, daß es fich nicht nur darum handelt, ob der Dichter pie 
Zeitfragen, fondern noch vielmehr wie, ob er fie auf poetifche 
Weiſe in fein Werk aufgenommen, ob er fte in Äfthetifchen Kör⸗ 
rer gewandelt hat. Produkte, denen nıan die didaktiſche Tendenz, 
die Abfiht, modern zu fein, an der Stirne anfah, murden um 
des bloßen Stoffed willen als Gedichte gerühmt. Ein Lyriker, 
deſſen produktive Jugend noch in die lebten Tage der Romantik 
fiel, verjeßte diejed Clement mit den giftigen Stoffen einer Ironie, 
welche Son der modernen Stimmung die negative Seite ohne das 
Gegengift in fih aufgenonmen hatte, trat als leßter Ausläufer, 
als irrendes Streiflicht diefer poetiihen Abenpröthe hervor: Heine. 
Er ift die giftig gewordene Romantik, der faulige Gährungspro— 
zeß, der ihre Auflöfung in ein Afterbild der modernen Freiheit 
des Selbſtbewußtſeins darftellt, aber indem er auch in dieſem 
Thun genial blieb, in glänzenden, bunten Farben fhillert und 
noch auf einen Augenblick ven Gegenfag der Naivetät und einer 
fich ſelbſt überfpringenden, verfiden Bewußtheit zu einer im Ent- 
fteben verfchwindenden Einheit zufanımenbindet. In Beine ftellt 
ſich eigentlich erft basfenige dar, was Hegel unter Ironie verfteht 
und fo eifrig bei jeder Gelegenheit verfolgt. 

Seither fuchen wir eine neue Poefle und haben fie noch nicht 
gefunden, werden fie vielleicht erft in jpäter Zukunft finden. In 
der Haft, Verwirrung und Unmuße dieſes Suchens muß ſich der 
Breund der Poefle nad) einer Labung jehnen. Wo ſprudelt fie 
denn noch, die klare Waldquelle mit ihren friihen Waflern? Wo 


249 


buftet die reine Erdbeere in kühlen, unbetretenen Gründen, auf 
der noch der Duft der Naivetät liegt? Gewiß, bier, in dieſen 
Gedichten ſprudelt der frifhe Quell, duftet die kühle Frucht! Un⸗ 
befannt der Welt, in laͤndlicher Stille ven Pfaden ver Phantafle 
nachgehend, ſchüttet uns bier ein reicher Genius den vollen 
Segen aus. 

Wenn ich hier nun vor Allem fage, daß es ein naiver Dichter 
ift, welchen einzuführen ich unternehme, fo habe ich nicht ver- 
geffen, daß in dem Sinne, wie der Dichter des Mittelalters, Fein 
moderner naiv fein kann und fol. Auch ift gar nicht die Rede von 
einem jogenannten Naturdihter, fondern von einem Manne, der 
auf reichen Bildungswegen die Schäbe des Alterthums, die 
Kämpfe ‚des ringenden Bewußtſeins in Leben und Wiſſenſchaft 
nicht von ſich abgewieſen, aber auch nur ſo daran Theil genommen 
bat, wie die Biene, die über Blumen und Diſteln hinfliegt, ben 
Honig daraus zu faugen. Er tritt hier ald Lyrifer vor und, aber 
es tft, wie ſchon oben bemerkt, nicht fein erfter Beſuch, er gab 
der Litteratur vor ſechs Jahren ſchon einen Roman, der in uns 
verdienten Dunkel blieb. Doch find es die Erftlinge feiner Mufe, 
zum Theil ſchon in jenes epiſche Werk eingeflochten, die er mit 
wenigen fpäteren Gefchenfen des Genius in einen Strauß gebun⸗ 
den und bier reicht. Die Mehrzahl diefer Lieder nun iſt als naiv 
in dem Sinne zu bezeichnen, daß fie in der Stimmung des Volfs- 
lied8 empfangen find; man fieht ihnen an, daß fie gefungen find, 
wie der Vogel fingt, der auf den Zweige fißet, durchaus gewor⸗ 
ben, nicht gemacht, im Ausdruck ſchlicht; wie dad Volkslied 
laſſen ſie ſich nicht leſen, ohne fle innerlich oder laut in die Lüfte 
zu fingen; die Empfindung ift ganz in der Geftalt ausgefprochen, 


250 


wie fie in dem einfältigen Gemüthe des Volkes unvermifcht und 
unrefleftirt waltet. Haben wir — ba bie mittelalterlid naive Ge⸗ 
ftalt des Bemußtfeind ein integrirendes Moment des Nomantifchen 
iſt — dieſe Naivetät ald somantifch zu bezeichnen, fo ift in dieſem 
Zufanmenhange fogleih ein mejentlicher weiterer Charafterzug 
biefer Gedichte hervorzuheben: Mörike liebt dad Wunderbare, das 
Geiſter⸗ und Mährchenhafte, Eurz das Phantaftifhe in einem 
Grade, in welchem nur die norbdeutfchen Nomantifer, aus 
der ſchwäbiſchen Gruppe blos Juſt. Kerner es zum berrfchenden 
Geifte ihrer Poefle erheben, während Uhland und Schwab lieber 
mit den marfigen Geftalten und. Handlungen gediegener Charak⸗ 
tere verkehren, und dad Wunder, wo fie es aufnehmen, Häufig 
aus der Objektivität heraus als bloß inneres Phänomen ind Bes 
wußtfein hineinrüden, wie 3. B. Uhland in feinem trefflichen 
„Der Waller.x Eine ftrenge äfthetifche Gefeßgebung wird nun 
allerdings behaupten, daß dad moderne Ideal, wie es durch Vers 
Ihmelzung des romantischen Gehalts mit der Schärfe der klaſſiſchen 
Form unfere großen Dichter Goethe und Schiller hingeftellt Haben, 
Ein für allemal nicht eine phantaftijh = taumelnde, fondern eine 
Melt naturgemäßer und innerhalb der Bedingungen des Natur« 
gemäßen zum Ideale gereinigter Wirklichkeit in Anfpruch nehme, 
daß ebendaher die Romantik, fofern fie Poeſie des Phantaftifchen 
ft, zu den audgelebten Geftalten des Bewußtſeins zurüdzulegen 
ſei. Was ferner die Gefittung und das geiftige Verhalten über- 
-haupt betrifft, worin die Poefle ald dem Schauplage ihrer Dar- 
ftellung fich bewegt, jo wird verlangt werben, daß fle die Kämpfe 
des modernen Bewußtjeind, die Wirren des taufendfach gebroche⸗ 
nen und veflektirten geiftigen Lichteö, das Skeptiſche und Ironifche 





251 


in unfern Zuftänden keineswegs abweiſen und dagegen die ver« 
ſchwundene altveutfche Einfalt als das Höchfte fegen dürfe. Ich 
antworte: ber wahre Dichter unferer neueften Zeit wird in jenen 
Gebieten des Unbeſtimmten, Traumartigen und der glücklichen 
Blindheit eines unfritifhen Bewußtſeins freilich nicht feine blei« 
bende und einzige Wohnftätte auffchlagen; dieſe Klänge werben, . 
nur unter anderen, aud bei ihm vorkommen; aber fie mer« 
den es auch gewiß, menn wir ihm das fpecififch Poetifche in un« 
gemifchter Aechtheit ſollen zuerkennen dürfen. Es ift nicht bie 
Höchfte und reinfte Geftalt der Phantafle, wo fie traumartig phan⸗ 
taftifh wirft, aber wer eine reihe Phantafle hat, der wird ihr 
neben ber höheren und rein ibealen Thatigkeit gerne auch dieſe 
Spiele gönnen, wie Raphael, derſelbe, der die Sixtiniſche Ma⸗ 
donna malte, mit großer Vorliebe die Arabesken im Vatikan 
entwarf. Er wird dazu um fo mehr berechtigt fein, weil bie 
Poeſie dem platten Verftande, der von ihr nur eine Copie ber 
Dinge in ihrer gemeinen Deutlichfeit erwartet, von Zeit zu Zeit 
in phantaftifcher Geftalt entgegentreten und ihm ihr zauberiſches 
Traumgeſicht zeigen muß, auf daß fein Herz erſchrecke und er fehe, 
daß er ſich getäufcht Habe, wenn er in ver Einfachheit und Klare 
heit des poetiſchen Ideals Zugeftändniffe für feine profaifche Welt⸗ 
anficht zu finden glaubte, daß der poetifche Genius die Dinge nicht 
läßt, wie fle find, fondern auf einen neuen, geifligen Boden 
verfegt und umgeftaltet. Ebenfo, was die Geftalt des vom Dichter 
ausgefprochenen Bewußtſeins betrifft, ift die ſchlichte Unbewußtheit 
des Volkslieds, feine wortarme Innigfeit allerdings night die Ge⸗ 
fittung und Stimmung, auf welche ein moderner Dichter die 
Poeſie kann befchränten wollen; aber wenn er fich diefenige Nai⸗ 


252 


vetät, welche, bei allem übrigen Unterſchiede in den Graben der 
Reflexion des Bewußtſein auf fich jelbft, ein ſpeciſiſches Merkmal 
der Poeſie aller Zeiten bleiben muß, rein bewahrt bat, fo wirb 
er dies unter Anderem immer auch dadurch beweiſen, baß er 
naive Lieder im engeren Sinne der volksthümlichen Naivetät 
dichtet. Es iſt nicht Die einzige, aber es ifl eine Probe des Dich⸗ 
ters, daß er auch in biefer Region fich unbefangen bewege, und 
ich geftehe: wenn man mich fragt, ob derjenige Grad von Mes 
flerion und Bemußtheit, den die Gedichte Rückerts an der Stim 
tragen, nicht über die Grenze der ächten Poefle hinausgehe, fo 
ſuche ich Hei ihm ein Lied, ein reines Lied im Tone der Naivetät, 
der volfäthümlichen Stimmung; ich fuche und finde, daß er, wo 
ee naiv fein will, ſich immer nicht enthalten kann, witzig zu fein, 
und nun zweifle ich, bei aller übrigen gerechten Bewunderung 
feiner Kunft, ob wir ihn unter die Dichter zählen dürfen, bei denen 
das fpecififh- Poetifche rein und unvermifcht wirkt. Gehe ich aber 
an Uhlands Haus vorüber, fehe ich eine Truppe von Handwerks 
burſchen Arm in Arm vorüberzieben, und höre fie mit dem Aus» 
druck der innigften Empfindung fingen: „Ich hatt’ einen Kamera 
den “ u. f. w., unbewußt, wer der Berfaffer fei, nicht ahnen, 
daß er ihnen aus dem Yenfter zuhört, dann weiß ich gewiß, Daß 
Uhland ein Achter Dichter ift. 

Wir haben aber erft die eine Seite unferes Dichterd ind Auge 
gefaßt, die naive. Der Bruch mit der Naivetät hat feinen Urfprung 
in einem Bruche des Geiſtes mit der Natur und Unmittelbarfeit 
überhaupt. Die zwei Flüſſe, Natur und Geift, gingen im Alter» 
thum vereinigt in Einer Strömung, dad Chriſtenthum riß fie 
auseinander, um fie höher zu verfühnen. Wir fhlffen auf dem 


253 


einen und bliden fehnjüchtig nad den Ufern des andern hinüber 
— mad Schiller fentimental nennt. Ruht der naive Volksdichter 
noch halb unbewußt in der Subftanz, fo blickt der fentimentale 
mit wehmüthigem Auge nad) ihr, von der er fih getrennt weiß, 

hinüber, wie nach dem verlorenen Glücke der Kindheit. Bei die 

ſem Gefühle des Gegenfabes darf es nicht bleiben, dieß wäre bie 
falſche, die [hmwächlihe Sentimentalität. Er wird die Natur wies 

der zu fich herüberziehen, an feiner Bruft erwärmen, und ſie wird 

wie Pygmalions Statue vom Marmor-Geftelle fleigen. Iſt e8 

überhaupt Aufgabe des üfthetiichen Ideals, daß es Perfonbil« 

dend fei (man geftatte mir Schleiermadherd geiftvollen Ausdruck), 

fo wird und der Dichter ftet3 die vor dem Verftande und jeder 
profaiihen Betrachtung getrennten Hälften ver Welt, Subjekt und 

Objekt, Natur und Geift zu Einem Ganzen vermählen, jo daß 

der Eine Menſch wieder dafteht, der in der Urzeit in bewußtlofer 
Unſchuld fih als Einheit von Seele und Leib genoß, dann dur 

Schuld und Zerriffenheit feine Einheit einbüßte, um fie verboppelt 
wieberzugewinnen. Der Dichter wird der Natur ein Auge geben, 
daß fie geiftig blide, und einen Mund, daß fie rede; er wird 
den Menfchen mit Sonne und Erde, Fluß und Wald wieder in 
den urſprünglichen Rapport feßen und an die Bruft der Mutter 
zurüdführen, er wird dadurch die ganze gewaltige Erſchütterung 
hervorbringen, wie nah Plato der Weife ſtaunend erſchrickt, von 
der avaurnoıs der ewigen Idee der Schönheit überrafcht, wenn 
er eine ſchöne Geftalt erblickt. Ich Hoffe, durch wenige Proben 

darzuthun, daß unfer Dichter den Zauberftab führt, biefe Be— 

feelung der Natur und diefe Naturwerdung des Geiſtes, wodurch 

die Perfönlichkeit des Weltalls hergeftellt wird, zu bewirfen.. 


254 


Aber nicht nur bie Außere Natur tft durch jenen Bruch des 
Bewußtſeins und zu einem gegenüberftehenden Objekte geworben, 
das wir aufs Neue erft wieder herüberzubringen fireben, auch dad 
Bemußtfein des Subjeftö Hat fich in fi verdoppelt, das Ich ift 
fih felbft in einer Schärfe der Trennung, vie feinem früheren 
Bildungszuftande möglih war, Objekt geworden, und in ber 
modernen Poeſie wird daher auch der Menſch als ein fich ſelbſt 
gegenüberftehendes und ſich fuchendes Weſen erjcheinen, er wird 
ſich als fein Dopyelgänger ind Auge fehen und fih als feinen 
alten Bekannten wiederfinden, er wird ſich feiner erinnern. Dem 
Manne wird. an der Stätte, wo er feine Jugendjahre durchlebt, 
der Knabe begegnen, der er war; die Öeftalten feined Bewußtſeins, 
durchlebt oder noch gegenwärtig, werden ihm im Spiegel erfchel- 
nen, dad Gefühl wird ſich jelbft befehauen, ohne darum feine 
Wahrheit zu verlieren, felöft der Wiß wird in den Wogen ber 
eigenen Gemüthöwelt feine Delphine ſcherzen laſſen, ohne fie 
darunı zu trüben; ja die Mängel der eigenen Individualität und 
jeder andern wird. ber Geift im Bewußtſein der Nothwendigkeit 
diefes Widerſpruchs humoriſtiſch belächeln. Doch daß wir nicht 
fogleih von tieferer Komik bier reden; Mörikes Laune Elingt in 
biefer Sammlung nur als epigrammatijcher Wit und hier und da 
in Balladen als phantaftiiche Komik, ven eigentlichen Humor, der 
nicht ein einzelnes Bild oder ein Witz, fondern eine Weltanfchauung 
und eine Berfönlichkekt ift, Hat er fich für das epiſche Feld vorbehalten, 
wie denn der Roman Maler Nolten in Larkens und in dem Barbier 
Wiſpel zwei treffliche humoriſtiſche Figuren, jene im hoben, diefe im 
niedrigeren Style, aufzuweiſen hat, deren Einführung zwifchen 
bie ernften Figuren dem ganzen eine Begleitung ber tiefiten Ironie 


255 


giebt, um io mehr, da die humoriſtiſche Laune des Schaufpielers 
Larkens auf Melancholie ruht. Hier ift von dem Uebergange im 
Allgemeinen zu reden, den Mörike's Muje aus der Dämmerung 
volksthümlicher Naivetät in das bisher bezeichnete Neich des bes 
mußten Geiftes, in das helle Licht der Befonnenheit und Fünfte 
Verifchen Weisheit genommen hat. 
Offenbar nun ift es, bie Yiniverfalität und ſchöne Humanität 
des Gemüths als erfte Bedingung natürlich vorausgefeßt, ber 
Geift der Griechen und Römer, der in ihm die Vereinigung der 
germantfchen Innigkeit und der nordifchen Phantafle mit der hellen 
und heiteren Form der höheren künſtleriſchen Bewußtheit ver- 
mittelt hat. Die griechifhen und römiſchen Elegifer vorzüglich 
und dad alte Epigramm feheinen von großem Einfluß auf ihn ge⸗ 
weſen zu fein. Der heitere, barmonifche Geift der alten Lyrik, 
wo auf mäßig erregten Wellen des Gefühls oder Affects ver Geift 
fih im Kahne der Betrachtung fchaufelt und bald frohlih, bald 
wehmüthig, das Maaß des Schönen niemals überfpringend, in 
das Spiel hinunterficht, dieſe Grazie, dieſes Ebenmaaß, wie es 
ihm freilich in noch höherer Bebeutung aus den Epos und ber 
Tragödie der Griechen und aus Goethe, dem modernen Homer, 
entgegentrat, um ihn zu größeren und objectiveren Dichtwerfen 
zu begeiftern: dies war e8, was unfern Dichter aus dem Schatten- 
reich der Träume in den hellen Aether, aus dem gothiſchen Dun- 
fel in die lichten Säufengänge der Weisheit heraufführte. Ich rede 
Hier nicht nur von denjenigen feiner Gevichte, welche nah Inhalt 
und Form antik find, fondern auch von foldhen, die ganz dat i 
romantifche Gemüth athmen mit feinem Myſticismus und ber 
Unendlichkeit des Innern Nachhalls, ven jede angefehlagene Saite 


256 
in Ihm weckt: auch dieſe erfcheinen durch diefe Klärung und Lich⸗ 
tung des Formfinns in einer fo edlen und iveellen Form, wie 
Goethe, Schiller, Hölderlin, genährt von Genius der Alten, fie 
in ihre Gewalt befamen. Wo aber der Dichter wirklich ins alte 
Hellas wandert und in feinen Tempeln die alten Götter auffucht, 
da am beftimmteften ift er mit Hölderlin zu vergleichen. Die alte 
Mythologie ift für und eine Sammlung abgebleihter Geftalten, 
wir wiffen, es find allgemeine Potenzen, Krieg, Recht, Liebe, 
Wein u. f. w., die hier verfinnbiloficht find, und fie erfcheinen 
uns daher, in der feßigen Kunft und Poeſte nachgeahmt, ala 
kalte Allegorieen, fo lange der Dichter nicht die Schöpferfraft hat, 
biefe Schatten neu zu beleben. Dies fann ihm nur gelingen, wenn 
er (freilich Elarer und mit bloß poetiſcher Illuſion) den Prozeß in 
fih wiederholt, woburd die Götter entftanden. Es hat wohl 
noch jetzt Jeder ſolche Momente, wo e8 ihn plößlich ganz begreff- 
Uch wird, wie die Alten auf die Dichtung der Götter famen; «8 
find Momente, wo wir auf eflatante Weife eine natürliche oder 
fittlihe Macht in ihrer ganzen Beftimmtheit und Nothwendigkeit 
jedes Einzelne, das fie umfaßt, überwinden und widerftandslos 
fih ausbreiten fehen. Ein plößlicher Schreden ergreift eine Maſſe, 
oder ein plößliher Muth; eine gewaltige Bewegung der Phan⸗ 
taſie verfcehlingt in einem Subjekte die nüchterne Befonnenheit des 
Verſtandes und redet aus ihm in der Sprache dunkler Bilder; die 
Leidenſchaft der Liebe reißt jeden Vorſatz, den ihr der Wille ent 
gegenzuftemmen fucht, mit fort; der Wein benebelt Sinn umb 
Berftand: hier fcheint eine Nothwendigkeit gegeben, deren Zu- 
ſammenhang fi durch Fein vermittelnded Denken erpliciren Laffe, 
die Alten ſtanden ohnedies nicht auf dem Standpunfte des Prag: 


257 


x 


matismus, der aus Gründen erklärt, und die Grenze der Beobach⸗ 
tung überhaupt oder ber Selbſtbeobachtung ward (mie Schleier» 
macher es fcharffinnig von dem chriftlichen Glauben an den Satan 
nachweiſt), dadurch mit bunter Hülle verdeckt, daß man ben 
Grund der Erfeheinung aus dem Innern des Subjefts oder aus 
dem Naturzufammenhang hinauswarf in eine außerweltliche Per⸗ 
ſon und ſagte: das hat ein Gott gethan. Ebenſo, auch ohne 
Beziehung auf das ſubjektive Leben, wenn wir das Wirken einer 
Naturpotenz in ſeiner Prägnanz, wie es Alles, was in ihre 
Sphäre füllt, mit ſiegreicher Sicherheit trägt, nährt oder zerſtört, 
in äſthetiſcher Stimmung betrachten, ſo werden wir uns leicht in 
die Anſchauung hineinfühlen, daß hier ein Gott walte. Das Licht: 
wie nahe liegt es, dieſes alle Räume durchfliegende ſiegreiche, 
manifeſtirende Weſen zu vergöttern! In dieſem Geiſte hat Höl⸗ 
berlin in ſeinem Gedicht „an den Aether“ den Drang aller Weſen 
nach freier Luft, an fich eine ganz einfach phyſiſche Erſcheinung, 
die dem Naturforfcher nichts als ein Bedürfniß von Sauerftoff 
u. ſ. w. ift, fo edel dargeftelt, daß und der Luftraum ganz von 
felbft zu einem Subjekt, zu einem Gott wird. Wir werden Aehn- 
Tiched bei Mörike finden. Natürlich wird der germanijche Dichter 
diefen Göttern einen Zug von Geiftigkeit und Verklärung leihen, 
den fie in ihrer alten Heimath nicht hatten, wie Goethe auch 
der Iphigenie fein deutfches Herz einhauchte, wie Uhland im Ver 
sacrum einer düfteren Borftelung einen wohlthuend edlen Ton 
in Geifte der Humanität hellerer Zeiten lieh. Uhland hat ebenfalls 
aus dem gothifchen Dänmerfcheine zu einer ivealen Claſſicität den 
Vebergang gefunden; auch innerhalb der volfsthümlichen und 
mittelalterlichen Sphäre liebt er das Klare und Gediegene, ſcharf 
Kritische Gänge Il. Ä 17 


258 


umriffene Charaktere, während Mörike, wo er in dieſer Sphäre 
verweilt, im Geiſte eines Arnim und Brentano die Phantafle 
durch Nebelheiden fchmweifen, auf fehnaubendem Rappen an Eifen 
und Feen vorüberjagen läßt. Seine Phantaſie ift in diefem Ge 
biete träumerifcher, fehwelgerifcher, vermeichlichter und verzogener, 
als die Uhland'ſche, ber gerade diejenige Trockenheit im rechten 
Maaße beſitzt, die der Poeſie als fichere und feſte Baſis fo noth⸗ 
wendig ift, wie dem Körper die Ferſe und der Ballen, um ſich 
feft an den Boden zu ſtemmen. inigen Liedern fehlt aber auf 
Uhlands und Schwabs Eörnige Beftimmtheit nicht, und in wei- 
teren Sphären erhebt er ſich entfchieden zu Fünftlerifcher Klarheit. 

Hat fich dieſes offene Gemüth auch den Schmerzen und Leis 
den des modernen geifligen Lebens erſchloſſen? Daß die Geftalt 
der zerrifienen Subjektivität ihm nicht fremd ift, beweift eine der 
ſchönſten Parthien im Maler Nolten, melche fi doch von jeber 
häßlichen Disharmonie und negativen Ironie ganz ferne halt. Als 
Lyriker aber bleibt er ganz im Geleije einer harmoniſchen Stim- 
mung; die Töne des Schmerzed werden nie zum wilden Schrei, 
die Wunden heilen leicht, es ift Hier nichts Titaniſches, nichts 
Byron’fches zu fehen. Sein Genius erfcheint in diefer Milde mehr 
als ein weiblicher, denn als ein männlicher, man fühlt _jenen 
Geift der Sänftigung alles Wilden, der Ebnung alle Unebenen und 
Heilung alles Berftörten, den eine edle Weiblichkeit um fich verbreitet. 

Am wenigften wird der Wohlſchmecker, der dad Wildpret 
nur im Uebergange zur Fäulniß liebt, in dieſem Büchlein feine 
Rechnung finden, er wird nichtö von dem haut godt der Blaſirt⸗ 
heit und Abgeſchlagenheit entdecken. Unſer Dichter ift, wie billig, 
in natürlihen Dingen unverblümt , die Sinnlichkeit pulfirt in 


- 


259 


voller Kraft, aber es ift die Kraft der Jugend, nicht der künſt⸗ 
liche Reiz abgefhwächter Natur. Man halte und nicht für pedan⸗ 
tiſch; es ſollen der Dichtkunft objectio Feine Grenzen geſteckt wer- 
den, fie beleuchte immer mit ihrer Fackel die dunkelſten Kalten 
des Seelenlebens, fie lafje und den ganzen Trog prometheifcher 
Empörung ſehen, fle durchwandre die Höhlen der tiefften Ver⸗ 
wirrung und Verirrung; fie fahre Eühnlich in die Hölle, wie die 
Legende von Chriſtus erzählt. Nur ihr Engel verlafie fie nicht. 
Und fo fange fein Dichter da iſt, der die Wehen des jüngften 
Zeitgeiftes treu an der Hand diefed Begleiterd durchwandert hat, 
fein wir zufrieden, eine edle Mufe mit rein harmonifchen Ges 
ftalten verkehren zu fehen. 

Mir mollen jeßt unfern Dichter durch die in unbeftunmten 
Umriffe bezeichneten Sphären begleiten und und dadurch das Bild 
feiner Perfönlichkeit zu individueller Beftimmthelt erheben. 

Nicht wenige diefer Lieder bewegen fi jo natürlih und fo 
ganz von felbft im Elemente der Naivetät, daß man fehlechtmeg 
fagen muß : dieß find Lieder, ächte Lieder, daß man bei ven 
eriten Zeilen ſchon von Weitem jene Melodien hört, nach welchen 
junge Burfche und Dirnen des Sonntags unter der Linde des 
Dorfes ihre alten Lieder fingen. Man leſe folgenden einfachen 
Klang ‚aus dem Herzen treulos verlaffener Liebe: 


Agnes (S. 76). 


Roſenzeit! Wie fchnell vorbei, 
Schnell vorbei 

Bit du doch gegangen! 

Wär mein Lieb nur bfleben treu, 
Blieben treu, 

Sollte mir nicht bangen 


17* 


Gämitteriunen fingen. 

Aber ach! mir franten Blut, 
Mir kranken Blut 

BIU nichtd mehr gelingen. 


Schleiche fo durch's Wieſenthal, 
So durch's Thal, 

Ald im Traum verloren, 

Nah dem Berg, da taufend Mal 
Taufend Mal 

Er mir Treu geſchworen. 


Dben auf ded Hügeld Rand, 
Abgewandt, 

Mein’ ich bei der Linde, 

Un dem Hut mein Rofenbant, 
Von feiner Hand, 

Spieler in dem Winde. 

Hier ift nichts zu declamiren, feine Rhetorif, man muf 
fingen , fogleih fingen, man Hört ſchon innerlich Die Töne ie 
wehmuthsvollen Refrains im Echo der Thüler verflingen, iv 
hinſchwindend, fo vergebend, wie tie Geflalt, die wir nor mi 
jeben und die nichte iſt ald eine tottfranfe Grinnerung an em 
entſchwundenes Glüd: fie jagt ed nicht, nur in abgebrochen 
Auen entbindet fl der Schmerz, aber fie if ed. Dadurch Hi 
Ddr und Auge Ver Pbantaſie geraie io, wie ed durch die ächn 
Lorik fol. angeirroden. wir ichen ser un? und bören hiek 
tönende Geitalt ter Unglücküden. Sinn nt Mutf fallen in 
Sind, unt unter Janzes Herz kungt un? tent temraeiie mit 
Dir SAlufleñglen fernet if ganz im GDerckter des reinen As: 
dad Arteraiv Band idnie nod cine Bär ver mer Bu: 





261 


tafie, ein Bild der Untreue, und unfer Gefühl zittert wie in 
unbeftimmt verfämebenden Tönen der Windharfe fort. 

Milder, doch ebenfo tief aus dem Herzen, Elagt das ver⸗ 
lafiene Mägdlein (S. 23). 


Fruͤh, wann die Hähne kraͤhen, 
Eh die Sternlein verfchwinden, 
Rus ich am Herde fiehn, 
Mus Feuer zünden. 


Schoͤn iſt der Flammen Schein, 
Es fpringen die Funten, 

Sch ſchaue fo drein, 

In Reid verfunten. 


Ploͤtzlich, da kommt es mir, 
Treulofer Anabe, 

Daß Ich die Nacht von dir 
Getraͤumet babe. 


Träne auf Thräne dann 
Stuͤrzet hernieder, 

So fommt der Tag heran, — 
O gieng er wieder! 


Nicht jo hinreißend muſtkaliſch ift dieſes Lied, mehr betrach⸗ 
tend, wie dad Mädchen felbft äußerlich ruhig vor dem knitternden 
Feuer fteht, aber ganz ebenfo wie das erfte nicht nur auf bie 
Empfindung, fondern durch ein beftimmtes klares Phantafiebild 
erft auf diefe wirkend. Ueberhaupt, wenn alle Poefle der Phan⸗ 
taſie, welche weientlih ein inneres Sehen tft, ein beflimmtes 
Bild vorüberführen muß, wie Tann die Lyrik, welche allerdings 
mehr als die andern Gattungen der Poefle noch unmittelbar mit 
der Muſik verwachſen im Elemente fubjectiver Empfindung ver- 


262 


weilt, in ihrer Art dennoch dieſer Pflicht genügen? Ein beftimm- 
tes Bild muß auch fie geben, und zwar noch außer dem ryth- 
miſch⸗ muſikaliſchen Sprachförper. Sprit nun der Dichter rein 
fubjectto feine eigene Empfindung aus, fo iſt der Körper, den 
diefe dennoch au fo annehmen muß, feine eigene Perfon, ganz 
erfüllt von der dargeftellten Gemüthöbewegung. Darum find jene 
Gedichte „An die” u. f. w. die jetzt immer feltener vorfommen, 
fo proſaiſch. „An die Freundſchaft, die Freude, die Unſterblich⸗ 
keit u. dergl.“. Da ftellt der Dichter den Gegenftand als ein Ab⸗ 
firactum aus ſich hinaus ſich gegenüber und fingt an ihn hin, er 
bleibt Außerlih. Der Dichter fol vielmehr fich ſelbſt als durch⸗ 
drungen von der darzuftellenden Empfindung einführen , fie foll 
Eins mit ihm fein, nicht er fol än fie hin, fondern fie ſoll aus 
ihm fingen, dadurch iſt fie individualiſirt, verkörpert; der Dichter 
felöft ift die tönende Geftalt. Ein beftimmterer Schritt zur Ob: 
jectivität und ber Keim des Epiſchen und Dramatiſchen innerhalb 
der Lyrik, der ſodann in der Ballade und Romanze ſchon deut⸗ 
lich Hervortritt, ift e8, wenn der Dichter fein Gefühl im eine 
fremde Geſtalt, die er vor uns hinführt, ſo hineinlegt, daß dieſe 
durchaus das Organ wird, durch welches hindurchklingend jene 
Empfindung zu uns herübertönt. Mit der objectiveren Form muß 
hier auch der Gehalt objectiver, er kann nicht ein unbeſtimmtes 
Privatgefühl ſein, und der Dichter hat zu bewähren, daß er 
fich in jede menſchliche Lage hineinzuempfinden vermag. So ſteht 
bier dad arme verlaſſene Kind finnend am Feuer, fie hat bei dem 
gewöhnlichen Gefchäfte des Haushalts ihr Unglück vergeffen, ba 
plöglich kommt die Erinnerung deffelben über fie: bier Haben wir 
ein ganz klares Eleined Gemälde, wer es nicht innerlich deutlich 


263 


ſieht, muß fein geiftiges Auge haben ; dieſes Gemälde ift aber 
ganz Iyriihe Empfindung. 

Einen andern Charakter nimmt der Schmerz über die Untreue 
des Geliebten in dem fchönen Liede S. 74 an; eine beftimmte 
Natur » Erfheinung fingt dem liebenden Mädchen das Lied von 
ber Untreue, fie hält den Wind an: „Saufewind! Braufewind! 
Dort und bier, Deine Heimath fage mir! Der Wind will nicht 
Rede ftehen: „Kindlein, wir fahren Seit vielen Jahren Durch die 
weit weite Welt, Und möchten's erfragen, Die Antwort erjagen . 
Bei den Bergen, den Meeren, Bei des Himmels Elingenden 
Heeren, Die wiffen ed nie u. ſ. w.“ Da fragt fe die Winde: 
„Halt an, Gemach, Eine Eleine Friſt! Sagt, wo der Liebe 
Heimath ift, Ihr Anfang, ihr Ende?“ und erhält die Antwort: 
Wer's nennen Eönnte! Schelmifhes Kind! Lieb ift wie Wind, 
Raſch und Iebendig, Ruhet nie, Ewig ift fle, aber dein Schatz 
nicht beftändig“ u. f. w. Dieſes fchöne Lied ſtellt jene organifche 
Einheit, in welche Gehalt und innere fowohl als äußere Form 
miteinander treten follen, beſonders mufterhaft dar ; jene inftinct= 
mäßige Symbolif hat es gebichtet, die in Wort und Rhythmus 
die Natur» Erfeheinung und eingehüllt in ihre Anſchauung die 
geiftige Bewegung an Ohr und Sinn bringt. Weil wir eben von 
ven Thema der unglücklichen Liebe reden, weije ich bier noch 
auf das Acht im Volkstone gehaltene Lied „Die Schweflern« 
(S. 79) hin. Zwei Schweftern gleichen einander wie ein Ei dem 
andern, man wird ihre lichtbraunen Haare nicht unterſcheiden, 
wenn du fie in Einen Zopf flichtſt, fie figen an Einer Kunkel, 
ſchlafen in Einem Bett, aber: 


- 


264 


„D Schweitern zwei, ihr fhönen, 
Wie har fi) dad Bidtchen gewendt! 
Ihr lieber einerlei Liebchen — 

Jetzt hat dad Liedel ein Env’.” 


Doch einmal wird die Liebe auch glücklich, es gilt nur noch 
zu warten und man hat indeſſen Zeit zu einem Scherze (Die 
Eoldatenbraut 192). Den verliebten Jägersmann erinnert bed 
Vogels Tritt im Schnee an die zierlichen Züge, die ihm bie 
Hand des Liebchens aus der Ferne fhreibt: „Zierlich tft des 
Vogels Tritt im Schnee u. ſ. w.“ (Sägerlied ©. 19). Wie nieb- 
lich, wie lieblich ift viefer Gedanke, bei ven zierlichen Bußftäpfchen 
der Wachtel, des Rebhuhns im Schnee der Federzüge des Lieb⸗ 
chens träumerifch zu gedenken! Wie einfach groß dann der zweite 
Vers, wo der fehlichte Jaͤgersmann den Reiher in die Lüfte Hoch 
fteigen fieht, dahin weder Pfeil noch Kugel fleugt: Tauſendmal 
fo Hoch und jo geſchwind Die Gedanken treuer Liebe find. Endlich 
vereinigt wohl auch eine glüdliche Stunde die Getrennten zu un⸗ 
getheilter Gegenwart und in unſchuldigem Muthwillen läßt uns 
der Dichter ihr Glück errathen, da wir am Morgen nach einer 
ftürmifchen Nacht einen fhönen Burfchen einem ſchüchternen Mäd⸗ 
chen auf der Straße begegnen ſehen: Wie ſehn ſich freudig und 
verlegen Die ungewohnten Schelme an! Das Mädchen geht vor⸗ 
über, — der Burſche träumt noch von den Küſſen, Die ihm das 
ſüße Kind getauſcht, Er ſteht, von Anmuth hingeriſſen, Derweil 
fie um die Ecke rauſcht. 

Das letztere Lied gehört nicht mehr ganz unter die volksthüm⸗ 
lichen: die Sprache iſt die der Gebildeten, anmuthige Betrachtung, 
der Stoff aber in feiner Einfachheit und unſchuldigen Sinnlichkeit 


269 


naiv. Nach Sprache und Ton ganz im Volks⸗Elemente hält fidh 
das hübſche, fehalkhafte Lien: Storchenbotſchaft S. 24. Der 
Schäfer ruht in feinem Wagen, da Enopert und Flopft es, bi8 
er öffnet, da flehen zwei Störche aus der Heimath am Mhein 
und geftehen ihm Elappernd, daß fie fein Mädel in's Bein gebifien 
haben; da fle zu zweien find, fo fragt ver Schäfer: es werben 
doch Hoff ich, nicht Zwillinge fein? Da Elappern die Störche im 
Iuftigften Ton, Sie niden und knixen und fliegen davon. Mit 
glücklichem Takte benugt der Dichter bei ſolchen Stoffen alter- 
thümliche oder provinzielle Formen, wie im Anfang ächt volks⸗ 
mäßig: „Des Schäfer fein Haus und das fteht auf zmei Rab, 
Steht Hoch auf der Heiden fo frühe wie ſpat.“ Biefer für Ges 
ziefer u. dergl. 

Die Phantafle, in der Dämmerung volksthümlichen Bewußt⸗ 
ſeins ſchweifend, tert gerne In dad Reich der Wunder, der Phan⸗ 
tasmagorie hinüber, und in diefer Art ift denn Alles, was und 
der Dichter von Balladen und Romanzen giebt. Kein hiſto⸗ 
rifcher Stoff im engeren oder weiteren Sinne, lauter mythifche, 
mährchenhafte. Wir haben hierüber bereit3 oben geſprochen. Es 
ſoll dieſe Region dem Dichter keineswegs verfhloffen oder vers 
kümmert werben; e8 ift aber zu münfchen, daß er feine Phan⸗ 
tafle an den marfigen Geftalten der Gefchichte zur Begrenzung 
und Beitimmtheit zufammennehme. Dann wird es ihm gelingen, 
große Leidenfchaften, welthiftorifchen Gehalt in rein menfchlichen 
Sphären wirkend, darzuftellen. Der unftete Fackelſchein ift ſchön, 
aber wir fehnen und doch aud) nach der reinen Flamme der Weis⸗ 
heit; Mondſchein ift ſchön, aber nach feinem ungewiſſen Lichte 
möchten wir auch die Sonne, nach der Nacht den Tag. Es er» 


266 


ſcheint hart umd parabor, aber ed Tann nicht verfehwiegen werben: 
dad Premiren ded Wunderbaren in der Poefle ruht ebenfo auf 
dem abftracten Verftande, wie der Feind, gegen den eben das 
Wunderbare opponirend auftritt, die profatfche Weltanſicht. Die 
profaifche Weltanficht Hält die naturgemäße Wirklichkeit für Gott- 
und Geiftsverlaffen; die Phantaftif läßt Gott und Geift in biefelbe 
einbrechen, aber indem dieß auf wunderbare Weife geſchieht, alfo 
die Naturgefeße erft weichen müfjen , damit die Idee Platz habe, 
ift zugeftanden, daß der gefunde Verlauf an ſich die Idee aus⸗ 
ſchließe: was eben das Princip der Proja iſt. Es ift wie der 
Supranaturalismud in der Theologie. Mörike ſchwebt, ex hat 
bie Füße nicht am Boden, er hat Schritte getban , ihn zu ges 
winnen, den größten in feinem Roman, allein er thue noch ent» 
ſchiednere und reinige ſich vollends von allem Trüben und Boden⸗ 
Iofen. Heimiſch ift es unferem Dichter bei ven Niren in ihrer 
Ernftallenen Grotte, in Zauber - Leuchtthurm (169), mo des 
Zaubererd Tochter die Schiffer hinlockt, daß Schiff und Mann 
zu Grunde finft, einen Geifterzug fieht er nächtlih zum Mum⸗ 
melfee ſchweben, er hört leiſe die Gebete ver Geifter ſchwirren, 


ſie tragen ihre Königin zu Grabe, verſenken ihren Sarg in bie 


Wogen, die in grünlichem Beuer über ihm zufammenfchlagen 
und tief unten hört man nun ihre Lieder ſummen. Es ift nicht 
bie breitgetretene und taufendmal dageweſene Balladen - Manier, 
Mörike ift gang Dichter und zieht und, ald hätten wir viefen 
Eindruck zum erftenmale, ganz in viefe myſtiſchen, bangen Ges 
fühle und Anſchauungen hinein. Befonderd mit dem unfteten 
Geifte des Windes Hat er gerne zu thun. Jung Volker, ver 
Luftige Räuber (eine herrliche Figur aus dem Maler Nolten) if 


267 


vom Winde empfangen, feine Mutter, ein ſchön frech *) braunes 
Weib, wollte nichts vom Mannsvolk willen, fie rief lachend: 
möcht Tieber fein des Windes Braut, denn in die Ehe gehen! 
Da kam der Wind, da nahm der Wind Als Buhle fie gefangen: 
Bon dem hat fie ein Iuftig Kind In ihren Schooß empfangen 
(S. 60). Die ſchöne Müllerdtochter lockt den Nitterfohn in ihre 
Mühle, er will fie umarmen, ba faufen und fingen ihre Zöpfe 
im Winde, da befhwört fie die Windgeifter und fährt mit ihm 
durch's Fenſter hinaus auf die Heide und erdrückt den Liebkofenden 
an ihrer Bruft (S. 26). Diefe Ballade ift wirklich gar zu unklar 
und unbefimmt, ein Extrem nebelhafter Romantik. Ungleich con⸗ 
creter durch die Beftimmtheit des Gegenftands und gewiß etwas 
Bortreffliches ift dad Gedicht ©. 85, mo der angftvoll wilde 
Geift der Feuersbrunft in einem wahnſinnigen Feuerreiter perſo⸗ 
nificiet ift, den man in einer alten Stadt regelmäßig vor Anfang 
einer Feuersbrunſt mit fharlachrother Müge am Fenſter auf und 
nieder bufchen, dann auf Elapperbürrer Mähre nad) der Brand» 
ftätte jagen Sieht. | 

Gehaltvoller jedoch wird dieſe Poefle des Wunderbaren, wo 
dad Wunder im Dienfte einer concreten fittlihen Idee auftritt. 
Die Ballade „Die traurige Krönung“ ift vol Gewitterſchwüle 
und tragifher Angſt, ganz im Geiſte des Macbeth (©. 70). 
König Milefint von Irland. hat fein Bruderskind ermordet, um 
fich auf den Thron zu ſchwingen, die Krönung warb mit Prans 


*) Ich weiß nicht, ob dad Wort „frech“ aucd außerhalb Schwaben vom 
Volke noch in feiner urfpränglichen Bedeutung (frei) für einen Ausdruck 
von Kuͤhnheit und Seibſigefühl gebraucht wird. Es gehört unter bie erft 
fpäter unebel gewordenen Woͤrter. 


gen auf Liffeyſchloß begangen. O Irland! Irland! wareft bu 
fo bllubde Der König figt einfam um Mitternacht beim Pokale, 
ſich feiner neuen Pracht zu freuen, er will fi am Anblick ber 
Krone weiden, fein Sohn fol fie ihm Bringen ; doch ſchau, mer 
hat die Pforten aufgemadt? Gin Geiſterzug ſchwebt herein mit 
Fuſtern ohne Worte, eine Krone ſchwankt Inmitten. Dem R- 
nige,, dem wirb fo geiſterſchwuͤl: 

Und aud der ſchwarzen Menge blickt 

Ein Kind mit friſcher Wunde, 

Es lacheit fexbendweh und nict, 

E macht Im Saal die Runde, 

Es trippelt gu dem Throne, 

Ed reicher eine Krone 

Dem Könige, deß Oerze tief erfchridt. 


Darauf der Aug von bannen Arich 
Von Morzenluſt beraufchet ; 

Die Kerzen Kackern wunderlich, 

Der Mund am TFenſter laufcher; 

Der Sobn mit Ange and Schweigen 
Zum Barer thir Ach meigen, - 

Er weiger Aber eine Leiche Ach- 


er and Ne komiſche Stimmung weiß ter Dichter in's 
Wantatiiihe Siement einzuführen, wenn er uns (S. 80) im ben 
Garen des „ Schleflürerte zu Tülingen geleitet unt ade Regel 
aut um Tetetikiummer erweckt. welche eiyenılich verzaukerte 
Stahieien ſind aus ter Zorẽ⸗ un Ruterzeit, reche Rädieen, 
et. man ter alıfrkuftiäken Gräber den Ricer in ver kefamm- 
un Artuatın Rermel des Meilen! aurıten: af. Süger. 
Kelur Koer maria! wat ımahlen, ühr ehemaliger Scharven⸗ 


269 


könig, ein gefchworener Weintrinfer — Fam Tags auf fliehen 
Maß — Habe fie in Kegel verzaubert, weil er fle mit ein 
paar laufigen Dichtern beim fauren Bier, zwar ſämmtlich nudel⸗ 
nüchtern, auf der Kegelbahn traf, er babe hierauf, da das Bier⸗ 
trinken ganz in Schwang kam, feine Krone weggelegt — man 
mir ift Hopfen und Malz verlorn“ und fei in edlem Zorn vom 
Throne geftiegen, für Kummer und für Grämen zerfallen wie 
ein Schemen, geftorben und in das tiefe Gewölbe des Schlofies 
beftattet worden u. f. wm. Ob Mörife gut getban, eine phan- 
taftifch ſcherzhafte Lieblingsfiction aus feinen Iugendjahren, das 
Mährchen vom fiheren Mann, einem täppiſchen gutmüthigen 
Rieſen, in welchem die Elemente kaum erft zu den gröbften Um⸗ 
riffen menſchlicher Geftalt fih formirt, im Versmaaß des Hera- 
meter8 bier aufzunehmen, muß ich bezweifeln. Es ift zmar an 
fih ganz interefjant, wie dieſe uralte Lieblings = Vorftellüng der 
Deutfchen, die Vorftelung von linkiſchen Niefen , in denen dad 
Volk feine naive, ungehobelte Kraft ih zum eigenen Scherze im 
Spiegel zeigte, nachdem fle in der Poeſie des Mittelalter ein 
ftehende8 Thema geweien war, in ber fpäteren verfeinert als 
Simpliciſſimus u. f. w. zum Vorſchein Fam, hier bei einem ganz 
modernen Dichter ohne Zufammenhang, vielleicht ohne Bekannt⸗ 
jhaft mit diefer altveutfchen Figur wieder hervortritt. Allein der 
Gegenftand liegt dem Publiftum zu ferne, es läßt fich Feine Ver⸗ 
trautheit mehr mit einem folchen Bilde bewirken. Die Freunde 
des Dichterd, die ſich erinnern, wie er mit feinem trefflicden mi⸗ 
mifchen Talente diefe Figur dargeftellt, wie er beim Weinglafe 
mit geifteöverwanbdten Freunden biefe luftigen, tollen Träume aus- 
geheckt, erzeugen ſich aus biefer fpeziellen Erinnerung leicht wieder 


270 


das Bild, Fremde aber finden ſich, weil ihnen dieſe Supple⸗ 
mente fehlen, nicht zurechte, ja fle denken vielleicht gar an ver- 
ſteckte Räthſel. 

Endlich erhebt ſich dieſe Poefle des naiven ſubſtantiellen Be⸗ 
wußtſeins in das Gebiet der Religion. Vollkommen trifft der 
Verf. den ſchlichten Ton der Legende (Erzengel Michaels Feder 
87). S. 144 verſucht er einen jener herrlichen lateiniſchen alt⸗ 
katholiſchen Kirchengeſänge, wovon er zugleich meines Wiſſens 
zuerſt den Text mittheilt, zu überſetzen, es will uns aber die 
Zeile „mar Eis in Herzen“ als Ueberſetzung von: O frigus 
triste etwas pretiõs vorkommen. Herrlich iſt dad Lied: Wo find’ 
ich Troſt? (S. 146). 

„Eine Liebe kenn' ich, die iſt treu, 
War getreu, fo lang ich fie gefunden” u. ſ. w. 
Hier feufzt das Herz aus feinen innerften Tiefen zu Gott und 
fragt in feiner Noth: Hüter, Hüter, ift die Nacht bald Hin, 
Und was rettet mid) von Tod und Sünde? 

Doc es ift Zeit, daß wir dieſen Geniud auch in das Gebiet 
der Kunftyoefie, der Elaffifch veredelten Form, der reinen Idealität 
begleiten. Hier dürfen wir fogleich die tiefe Wärnıe bewundern, 
mit der er das bewußtloſe Naturleben befeelt. Aus diefer Sphäre 
bebe ich vor Allem das Gericht: Mein Fluß (S. 62) bervor. 
Ih feße nur den Anfang ber, um jeden Leſer, ter die Poeſie 
des Badens in einem Fluſſe Eennt und fühle, nad tem ſchönen 
Ganzen lüftern zu machen. 

D Fluß, mein Fluß im Morgenitrabl! 
Empfange nun, empfange 


Den febnfuchtövollen Leid einmal 
Und küffe Bruft und Wange! 


261 


tafie, ein Bild der Untreue, und unfer Gefühl zittert wie in 
unbeftimmt verſchwebenden Tönen der Winbharfe fort. 

Milder, doch ebenfo tief aus dem Herzen, Elagt das ver- 
laffene Mägblein (S. 23). 


Fruͤh, wann die Hähne Iräp'n, 
Eh die Sternlein verfchwinden, 
Muß ich am Herde fiehn, 
Muß Feuer zünden. 


Schoͤn If der Flammen Echein, 
Es fpringen die Funken, 

Ich ſchaue fo drein, 

In Reid verfunten. 


Ploͤtzlich, da kommt ed mir, 
Treulofer Anabe, 

Das Ich die Nacht von dir 
Geträumet habe. 


Thraͤne auf Thräne dann 
Stuͤrzet Hernieder, 

So fommt der Tag heran, — 
O gieng ex wieder! 


Nicht jo hinreißend muflfalifch ift dieſes Lied, mehr betrach⸗ 
tend, wie das Mädchen felbft äußerlich ruhig vor dem Enitternden 
Feuer fteht, aber ganz ebenfo wie das erfte nicht nur auf vie 
Empfindung, fondern durch ein beftimmtes klares Phantafiebild 
erft auf diefe wirkend. Ueberhaupt, wenn alle Poeſie der Phan⸗ 
tafie, welche weſentlich ein inneres Sehen iſt, ein beftimmtes 
Bild vorüberführen muß, wie kann bie Lyrik, welche allerdings 
mehr als die andern Gattungen ber Poefle noch unmittelbar mit 
der Muſik verwachfen im Elemente fubjectiver Empfindung ver- 


262 


weilt, in ihrer Art dennoch dieſer Pflicht genügen? Ein beftimm- 
tes Bild muß auch fie geben, und zwar noch außer dem ryth— 
miſch⸗ muflfalifchen Sprachkörper. Spricht nun der Dichter rein 
fubjectiv feine eigene Empfindung aus, fo ift der Körper, den 
dieſe dennoch auch fo annehmen muß, feine eigene Perfon, ganz 
erfüllt von der dargeftellten Gemüthsbewegung. Darum find jene 
Gedichte „An die” u. f. w. die jetzt immer feltener vorkommen, 
fo proſaiſch. „An die Sreundfchaft, die Freude, die Unſterblich⸗ 
feit u. dergl.“. Da ftellt der Dichter den Gegenftand als ein Ab⸗ 
ſtractum aus ſich hinaus ſich gegenüber und ſingt an ihn hin, er 
bleibt äußerlich. Der Dichter fol vielmehr fich felbft als durch⸗ 
drungen von der darzuftellenden Empfindung einführen , fie fol 
Eins mit ihm fein, nicht er fol an fie bin, fondern fie ſoll aus 
ihm fingen, dadurch ift fie individualiſirt, verkörpert; der Dichter 
ſelbſt ift die tönende Geftalt. Ein beftimmterer Schritt zur Ob⸗ 
jectivität und der Keim des Epifihen und Dramatifchen innerhalb 
der Lyrik, der fodann in der Ballade und Romanze ſchon deut⸗ 
lich hervortritt, iſt es, wenn der Dichter fein Gefühl in eine 
fremde Geftalt, die er vor und hinführt, fo hineinlegt, daß dieſe 
durchaus das Organ wird, durch welches hindurchklingend jene 
Empfindung zu und herübertönt. Mit der objectiveren Form muß 
hier auch der Gehalt objectiver, er kann nicht ein unbeftinmtes 
Privatgefühl fein, und der Dichter hat zu bewähren, daß er 
fich in jede menſchliche Lage Hineinzuempfinden vermag. So ſteht 
hier dad arme verlaffene Kind finnend am Feuer, fie hat bei dem 
gewöhnlichen Gefchäfte des Haushalts ihr Unglück vergeffen, da 
plötzlich kommt die Erinnerung deffelben über fie: hier haben wir 
ein ganz Elares Eleines Gemälde, wer ed nicht innerlich Deutlich 


263 


fieht, muß kein geiftiges Auge haben; dieſes Gemälde ift aber 
ganz lyriſche Empfindung. 

Einen andern Charakter nimmt der Schmerz über die Untreue 
des Geliebten in dem ſchönen Liede ©. 74 an; eine beftimmte 
Natur = Erfeinung fingt dem liebenden Mädchen das Lied von 
der Untreue, fie Hält ven Wind an: „Saufewind! Braufewind! 
Dort und bier, Deine Heimath füge mir!« Der Wind will nicht 
Rede ftehen: „Kindlein, wir fahren Seit vielen Jahren Durch bie 
weit weite Welt, Und möchten's erfragen, Die Antwort erjagen 
Bei den Bergen, den Meeren, Bei des Himmels Elingenden 
Heeren, Die wiffen e8 nie u. f. w.“ Da fragt fie die Winde: 
„Salt an, Gemach, ine Eleine Friſt! Sagt, wo der Kiebe 
Heimath ift, Ihr Anfang, ihr Ende?“ und erhält die Antwort: 
Wer's nennen Eönnte! Schelmifches Kind! Lieb ift mie Wind, 
Raſch und lebendig, Ruhet nie, Ewig ift fie, aber dein Schatz 
nicht beftänbig“ u. |. w. Dieſes ſchöne Lied ſtellt jene organifche 
Einheit, in welche Gehalt und innere ſowohl als äußere Form 
miteinander treten follen, beſonders mufterhaft dar; jene inftinct- 
mäßige Symbolik hat es gebichtet, die in Wort und Rhythmus 
die Natur» Erfheinung und eingehüllt in ihre Anſchauung die 
geiitige Bewegung an Ohr und Sinn bringt. Weil wir eben von 
dem Thema der unglücklichen Liebe reden, weile ich bier noch 
auf das ächt im Volkstone gehaltene Lied „Die Schweflern« 
(S. 79) hin. Zwei Schweftern gleichen einander wie ein Ei dem 
andern, man wird ihre lichtbraunen Haare nicht unterfcheiden, 
wenn du fie in Einen Zopf flichtſt, fie figen an Einer Kunfel, 
ihlafen in Einem Bett, aber: 


274 


Erſcheint mir denn auf feinem von euch allen Mein Ebenbild, in 
jugendlicher Friſche Hervorgefprungen aus dem Waldgebüfche ? 
O komm, enthülle did, Dann folft du mir mit Freundlichkeit 
in’8 dunkle Auge ſchauen! Noch immer, guter Knabe, glei’ 
ich dir, Uns beiden wird nicht voreinander grauen!“ Bol MRüh- 
rung fagt er endlich der theuren Stätte Lebemohl: „O Thal! Du 
meines Lebens andre Schwelle! Du meiner tiefften Kräfte fliller 
Herb! Du meiner Liebe Wunderneft! ich fcheide, Leb wohl! 
und ſei dein Engel mein Geleite!« 

Wir haben gefehen, mie innig und wahr der Dichter die Liebe 
in ihrer naiv volksthümlichen Geftalt ſich ausfprechen lüßt. Ideen⸗ 
volfer, geiftiger blickend wird fle in der Geftalt der Kunſt⸗Poefie 
vor und treten. Dem einfachen Volksliede noch näher fteht das 
ganz im Geiſte Goethifcher Anmuth empfangene Erfte Liebeslied 
eines Mädchens ©. 38. Das Mädchen glaubt einen Aal im Netze 
zu ergreifen, aber er ſchnellt und ſchnellt ihr in Händen, fehlüpft 
an die Bruft, „Er beißt fih, o Wunder! Mir Ted durch bie 
Haut, Schießt's Herze hinunter, Schnalzet da drinnen, legt fi 
im Ring — Gift muß ih Haben! Hier fehleicht ed herum, Thut 
wonnigfich graben Und bringt mid noch um!“ Wie kindlich trau⸗ 
lich iſt die Erinnerung des Dichterd an eine Jugendliebe, die mit 
den Worten beginnt und jchließt: „Jenes war zum legtenmal, Daß 
ich mit Dir ging, o Klärchen!“ ©. 3. Die fräftige Gluth edler 
und reiner Sinnlichkeit brennt wie bie Flammenkrone der Granat- 
blume in dem Gedichte: Liebesvorzeichen S. 40. Aber in höherer 
Bedeutung geht Schönheit und Liebe auf, da fie auf ven Schwin= _ 
gen erhabener Muſik dem Dichter zuſchwebt: Iofephine S. 64. 
Die Liebe erfcheint ihm aber auch als die anmuthvolle Mufe feiner 


275 


Poefle; wenn ed im Innern gährt und vingt, wenn bem un⸗ 
ruhigen Geifte das tief Empfundene in de8 Dichters zweite Seele, 
den Gefang, zu ergießen nicht gelingen will, da beſchwichtigt die 
einfach milde Erfcheinung der Geliebten den inneren Kampf — 
„Wie du dann geruhig deine braunen Lockenhaare ſchlichteſt, Alſo 
legt fich ſchön geglättet AN dies wirre Bilderweſen, AU des Her⸗ 
zens eitle Sorge, Vielzertheiltes Thun und Denfen“ .... (Der 
junge Dichter ©. 9). Die heilige Bedeutung der Ehe, das rüh⸗ 
rende Bild des ſchönſten menſchlichen Feſtes hat uns der Dichter 
mit jener edlen, beruhigten Sittlihfeit, mit jener tiefen ſtillen 
Wärme des Goethifchen Genius an's Herz gelegt in dem Hoch⸗ 
zeitliede ©. 5A. Ein räthfelhaft geheimmißvolles weibliches Bild, 
wie aus feltfamen Träumen gemebt, führt der Dichter am Schlufle 
in einer Reihe von Gedichten „Peregrina« &. 231 vor uns. 
Hätten wir nur irgend einen Anfnüpfungspunft, um und biefe 
Phantadmagorieen zu deuten, fo müßten und biefe herrlichen 
Bilder, diefer Zauberhauch, diefe myſtiſche Gluth mit ungetheilter 
Bemunberung erfüllen. Wie ſchön if} die Stanze im Eingang: 

Der Epiegel diefer treuen, braunen Augen 

Iſt wie von innrem Gold ein Wiederfchein ; 

Tief aus dem Bufen fcheint er’d anzufaugen, 

Dort mag folch Gold in heil'gem Bram gedeih’n: 

In diefe Nacht ded Blickes mich zu tauchen, 

Unwiffend Sind, du felber laͤdſt mid) ein, 

Willſt, ich fol kecklich mich und dich entgünten, 

Reichſt Lächelnd mir den Tod im Kelch der Sünden ! 
Aber das Bild bat feinen Boden, es fehlt eine Notiz, ein trode- 
ner Anhaltspunkt des Verftänpniffes, und wir müffen hier wie⸗ 
derholen, was wir über phantaftifhe Poeſie bereitö gefagt haben. 

18* 


d 


276 


Zwar erhalten diefe Gedichte im Maler Nolten, in den fie auf- 
genommen find, eine Unterlage in der Kabel diefed Aomans, aber 
wenn man auch dieſe zu Hilfe nimmt, fo bleibt Doch zu viel 
Dunkel zurüd. 

Wir treten aus diefen deweihien Räumen edler Empfindung 
hinaus in das rauhe Leben und ſehen den Dichter von bitteren 
Erfahrungen erſchüttert; doch der harmoniſche Geiſt dämpft die 
Seufzer des Schmerzens, wenn der Dichter aufs Krankenlager 
hingeſtreckt die Muſe nicht um Gaben der Dichtkunſt, nur um 
Geſundheit, um Leben fleht — Muſe und Dichter S. 119. 
Geneſen ſchließt er wie ein frohes Kind die Hoffnung wieder in 
ſeine Arme und begrüßt heiter den hilfekundigen Retter — An 
meinen Arzt 121. Er glaubt ſich von den Freunden verkannt, 
fein Glück, das langgewohnte, endlich hat es ihn verlaflen, doch — 


Id) ſprach zu meinem Segen: 

Laß und feft zufammenhalten ! 

Denn wir fennen und einander, 

Wie ihr Neft die Schwalbe kennt, 

Wie die Cither kennt den Sänger, 

Wie ih Schwert und Schild erkennen, 

Echild und Schwert einander Iteben. 

Solch ein Paar, wer mag ed fcheiden? 
Als id) dieſes Wort gefprochen, 

Hüpfte mir dad Herz im Buſen, 

Dad noch erfi geweinet hatte. 


Im Gefühle der Freiheit des Geiftes nedt er luſtig bie läftigen 
Philifter — Die Viſite S. 198. Im Bewußtſein, daß üchte 
Poeſie einen Scherz verfteht, parobirt er höchſt ergöglih Goes 
thes Schäferlied auf einen verlumpten Lammwirth und läßt ihn 
fliegen : 


277 


Da kommen die Ehaiſen gefahren! 
Der Hausknecht fpringt in die Höp'. 
Norüber, ihr Rößlein, vorüber, 
Dem Lammwirth iſt gar fo weh! 


Ich wünfchte, daß die Lefer durch nähere Bekanntſchaft mit dem 
Eöftlichen Humor, womit der Dichter in fehläfrige, etwas fimpel- 
hafte Zuftände einzugehen weiß, in bie treffliche Darftelung des 
Katzenjammers fih ganz hineinfühlen könnten, der ihn über 
einem fehlechten Gedichte befüllt, und woraus ihn endlich ein 
herzhafter Nettig rettet, den er auffrißt bi8 auf den Schwanz — 
Reftauration 212. Achnlih ©. 213: Zur Warnung. 

Befreit ihn aus dem Druck diefer Eleineren Uebel fein Humor, 
jo erhebt fich degegen im Schmunge der Religion die Seele über 
den großen und allgemeinen Schmerz der Endlichfeit. Ganz das 
morgentliche Sabbathögefühl des neuen Jahrs hauchen die ſchönen 
Strophen ©. 138, ganz die heilige Trauer der Charwoche das 
ſchöne Gedicht S. 155. 

Als ein weſentliches Moment in der Durchbildung des Dich⸗ 
ters zu dieſen durchſichtig edlen Formen der Kunſtpoeſie erkannten 
wir die Einflüſſe des plaſtiſchen Geiſts der Alten. Von den vers 
trauten Umgange mit dieſen zeugt die größere Zahl derjenigen 
Gedichte, die in den letzteren Theil dieſes Büchleins aufgenommen 
ſind. Als den poetiſchen Genius, dem wie keinem Andern, die 
Höhen des Pelikon noch einmal ſonnenwarm erglänzten, begrüßt 
er Goethe S. 134, unſern trefflichen Maler Eberhard Wächter 
läßt er uns in dem ſchönen Sonnette S. 135 ſehen zurückgezogen 
in ſeine ſtillen Wände, Mit traurig ſchönen Geiſtern im Verkehr, 
Geſtärkt am reinen Athem des Homer, Bon Goldgewölken At⸗ 


278 

tika's umfloſſen. Aber er darf ſich ſelbſt dieſen edlen Geiſtern 
geſellen, denn Wenigen iſt es gelungen, die alten Götter noch 
einmal in's Leben heraufzuführen, wie er von dem Jubel einer 
ſchwäbiſchen Weinleſe begeiſtert in dem Gedichte: Herbſtfeier 
S. 104 den Gott des Weins und ſeinen bacchantiſchen Dienſt zu 
einem neuen, aber im Geiſte der Innigkeit und modernen Huma⸗ 
nität verklärten Leben aus dem Todesſchlummer erweckt. Seine 
Beier naht, braune Männer, ſchöne Frauen find verſammelt, 
ihn zu ehren, Noch ift vor der nahen Beier Süß beflommen 
manche Bruft, Aber weiter bald und freier Mebergibt fie fich der 
Luft, — der Jubel beginnt, ſchon iſt der Dienft des Gottes in 
vollem Lauf, Amor auch hat nicht? dawider, Wenn fich Wang’ 
an Wange neigt, Und der Mund, in Takt der Lieder, Sich 
dem Mund entgegenbeugt, — dort drüdt ein betrunfener Alter 
kindiſch den Krug an die Wange, indeß ein Junge ihm mit der 
Badel Fräftig den gefrummten Rüden fchlägt. Aber ernft ſchaut 
aus dem Gebilfhe, von Epheu umrankt, das träumerifhe Mar: 
morbild des Gottes — 


Wie er laͤchelnd abwaͤrts blicket! 
Er beſinnet ſich nur kaum. 
Serrlicher! Dein Auge nicket, 
Doc) dieß Alles if ein Traum; 
Zuna ſucht mit frommer Leuchte 
Dich, o fchöner Juͤngling, bier, 
Schöpfer zärtlich ihre feuchte 
Klarheit auf die Stime dir. 


Er ift der Liebling der Götter und Menſchen, der Retter des Zeus, 


Mars fließt erft ihn in feine Arıne, Fühlet nun am Göttermarfe 
Sich gedoppelt einen Gott, Dann erft brüllt ver Simmlifch = Arge 


279 


Todesluſt und Siegerfpott. Die Feiernden treten vor ihn, flehen 
ihn um ein Zeichen, daß ihm ihr Dienft willlommen ſei — 


Tritt in unfre bunte Mitte, 

Der winke mit der Band, 

Wandte drei gemeßne Schritte 
Längd der hohen Rebenwand! 

— Ad, er laͤßt ſich nicht bewegen — 
Aber, horcht, ed bebt dad Thal! 
Ga, dad tft von Donnerichlägen ! 
Horch, und ſchon zum dritten Mat! 


Selber Zeud Hat num geſchworen, 
Das fein Sohn und günftig ſei. 
So iſt kein Gebet verloren, 

So iſt der Olymp getreu. — 
Doc; nadı ſolcher Götterfülle 
Ungeſtuͤmmem Ueberfchwang 
Merden alle Herzen ftille, 

Alte Gaͤſte zauberbang. 


Stimmet an die legten Lieder! 

Und fo, Paar an Paar gereiht, 

Steiger nun zum Fluß bernieder, 

Wo ein fenlih Schiff Bereit. 

Auf dem vordern Nand erbebe 

Sich der Gott und führ und an, . 
Und der Kiel, mit Fluͤſtern, ſchwebe 

Durch die mondbeglängte Bahn! 


Wie vergeiftigt erfeheint Hier der alte wilde Naturbienft im roman 
tiſchen Echo diefer herrlichen Heime! Doc Mörike Hat auch antife 
Formen nachgebildet und gar manches Anmuthige im Sinne ber 
elegifchen und epigrammatifchen Lyrik der Alten gegeben. Wie 
lieblich ft ©. 103. Die loſe Waare! Amor ald Savoyarde tritt 
zu dem Dichter aufs Zimmer, pas Jäckchen verſchiebt ſich, ber 


280 


Dipter ruft: Ei, laß fehen, mein Sohn! Du führft aud) Fe⸗ 
dern im Handel? Amor legt lächelnd den Finger auf bie Lippen 
und flüftert: Stille! fie find nicht verzollt, er füllt umfonft dem 
Dieter das Tintenfaß,, und entihlüpft. Bon dem Moment an, 
will er was Nügliches fchreiben, glei wird ein Liebeöbrief, wird 
ein Erotifon draus. Unter den lieblichften Epigrammen erotiicher 
Gattung zeichne ich befonders noch aus: Maſchinka S. 123. 
Das edelſte Eindliche Gefühl ſpricht aus den Diſtichen „An meine 
Mutter" ©. 126. Wie finnig ift die wilde Roſe an dem unbes 
sühmten Grabe von Schillers Mutter gedeutet! ©. 113. So 
vieles Liebliche und Edle aber ver Dichter in dieſen älteren For⸗ 
men reicht, fo wenig fcheint er für das moderne Epigramm und 
beffen wigige Spige beftimmt zu fein. Einiges zwar ift ihm ges 
lungen, namentlich Seite 202. Der Liebhaber an die heiße 
Duelle in B. 


Du Heilen Den und tröften Jenen, 
D Quell, fo hör auch meinen Schmerz! 
Ich Plage dir mit bittern Thraͤnen 
Ein darted, kalted Maͤdchenherz. 
Es zu eiweichen, zu durchgluͤhen, 
Dir iſt 06 eine leichte Pflicht; 
WMan kann ja Hübner in dir drüben, 
Warım ein iunged Gänächen nicht? 


Andere aber ift matt und ohne Salz: ver Dichter ſelbſt in jeiner 
Pdantaſiefülle. weldde mehr ala Wis it, verbarg fi tiefen 
Mangel gewiß durch das Cbharalteriſtiſche des Bildes, das ihm 
dabei vorſcowebte. vergaß aber. daß das Poetiſche, obne ſolches 
Ruckwartoichließen auf etwaige Supplemente im Subjecte dei 
Teguert . dezaubern je. Dier beginnt wirklich der anfingiup je 


281 


volle Strom diefer Lyrik im Sande zu verlaufen; flatt der prafs 
jelnden Flamme reibt der Dichter Zündhölzchen, die öfters nicht 
brennen wollen. Schmieden wir aber dem Geifte, der bis dahin 
gewiß in unferer Liebe fich feftgefeßt, daraus keinen Vorwurf. 
Mörike fteht an poetifchen Gaben zu hoch, um im Witze zu glän- 
gen. Lefling war ein feiner Epigrammatiſt, aber Tein Dichter, 
fondern ein Kritifer. Unter den Zenien find befanntlich die pifan- 
teften nicht von Goethe, fondern von Schiller. Mörike hat mehr 
komiſche Ader als diefe beiden: dieß tft aber die komiſche An⸗ 
fhauung, die himmelweit über dem Witze fteht, und die fich erft 
im Epiſchen, wozu fich diefer Genius erhob, zeigen Tonnte. 
Indem wir bier von ihm als Lyriker AUbfchien nehmen, mache 
ich noch befonderd darauf aufmerkſam, wie reicher Stoff für 
Componiften in diefen Liedern ift, und kehre eben hiedurch zum 
herzlichſten Lobe dieſer Acht poetiſchen Produkte zurüd. 


282 


Gedichte eines Sebendigen. 


Dis einer Dedication an den Verſtorbenen. Sechste Auflage, 1843. 
Zürich, Lterarifches Comptoir. 


(Jahrbücher der Gegenwart. Jabrg. 1843. Nr. ı ff.) 





Berriffenheit und Politik find felt geraumer Zeit die Stoffe, - 
worin die Poefie allein noch einiges hervorgebracht hat, was Aufs 
fehen machte. Wirklich muß man geftehen, da für die Dichtkunſt 
jegt die Zufriedenheit nicht an der Zeit ift; Lenz, Lerchen, Liebe 
und Wein find matt geworden; das Gemüth, das fich den großen 
Intereffen des öffentlichen Lebens verichloß und in den Genuß 
feiner Subjektivität einſpann, hat dieſe unſchuldigen Gegenſtände 
todtgebent und iſt endlich gerade in ſeiner Naturſchwelgerei, in 
ſeiner Untbätigkeit und Intereſſeloſigkeit vergeilt, an ſeiner thaten⸗ 
loſen Ueberfruchtung erkrankt und in Zerriſſenbeit untergegangen 
Dieſe iſt Entartung. aber doch cine böbere Form des geiſtigen 
vedens. worin dad Gemütb zu füblen bekommt, wohin dieie 
Poeſie des deimlichen Glücks. aus welcher alle großen Men—⸗ 
gen und Thaten verſchwunden iind, endlich ſübre: zu ibren 
Gegentdeil. zur Opochondrie. melde die norbwendige Folge bei 
Verſideneè tl. Sun wir er wieder Größe. ic werden wir um 
au KIT uniduldigen Dinge wieder port crime Fiemen, 
er matt ERT entü krauk zu werden „Tier Serie mer rl 
trat Sen dam Ni er Iromhatenr.“ Ta: mo Mir mE 


283 


Dichter vorläufig gerne glauben. "Die Zerriffenheit taugt nichts, 
fie fol nicht beftehen, aber fie iſt doch das Einzige, was die neuere 
Poeſie nach dem Ableben der romantiſchen Schule hatte und haben 
konnte. Gieb dem Menſchen zu thun, gieb ihm große Gegenſtände, 
und er wird keine Zeit mehr haben, immer und ewig von dem 
großen Riſſe, der mitten durch das Weltall und bei dieſer Ge⸗ 
legenheit auch durch ſein Herz ging, zu leiern. Man hat dies 
eingeſehen und nun die Politik ergriffen: ein guter Fortſchritt und 
wirklich zeitgemäßer Stoff. „Poeſie iſt im Halme, in der Palme, 
Poeſie die Mück' im Sonnenſchein und Poeſie vor Allem auch im 
Wein; wie Gott iſt ſie zuletzt in allen Dingen, doch wenn einmal 
ein Löwe vor euch ſteht, ſollt ihr nicht das Inſekt auf ihm be⸗ 
ſingen,“ ſagt Herwegh in feinen Sonett an bie Naturdichter. 
Und doch taugt auch die Politik nichts in der Poeſie, wenn man 
nämlich unter der Politik verſteht die Unzufriedenheit mit der 
Gegenwart des Staats, den Wunſch, daß er anders werde, die 
Aufforderung an das Volk, daß es die Formen ſeines Staats⸗ 
lebens ändere: d. h. alſo paränetiſch⸗ politifche Dichtung. Sie 
taugt nichts, weil fie eine Idee ausſpricht, welche noch keinen 
Körper hat, ſondern ihn erſt bekommen ſoll, welche alſo noch 
abſtract iſt. Nennt man politiſche Poeſie diejenige, welche ver⸗ 
gangene große Thaten und Schickſale der Völker befingt, wo die 
Idee, ſchon zur Wirklichkeit geworden, ihren Körper dem Dichter 
fertig mitbringt und nur die künſtleriſche Umgeſtaltung deſſelben 
von ihm erwartet, dann kann es Feine größere Poeſie geben, ala 
politiihe, dann iſt Homer, dann ift Shakfpeare ein politifcher 
Dichter. Ich Habe diefen wichtigen Unterſchied in einem Auffage 
über Shafjpeare erörtert, welcher in dem litterar⸗ hiftorifchen 


284 


Taſchenbuch von Prutz demnächſt erfcheinen ſoll, und fo die An⸗ 
tinomie zu löfen gefucht, welche zwiſchen den beiden gleich wahren 
Sätzen, daß, wie alle Tendenz, fo insbeſondere die politiſche 
Tendenz in der Poefle verwerflih ift, und daß es doch keinen 
würdigeren Stoff für den Dichter giebt, ald das Staatöleben, zu 
beftehen fcheint. Ich kann mich bier auf diefe Unterfuchung, welche 
gründliche Crörterungen verlangt, nicht einlaffen und muß daher 
bie Leſer erfuchen, jenen Aufjab zur Hand zu nehmen, wenn fie 
fih überzeugen mögen, daß mein obige Wort über Poeſie fo 
abfprechend nicht fei, als es vielleicht jcheint. 

Inzwiſchen tft allerdings zwiſchen den Gattungen der Poeſie 
zu unterfheiden. Das Epos und Drama bedarf zu feinem In- 
halte allerdings Ideen, welche ichon in Handlung und Gefchichte 
übergegangen find, denn diefe Formen der Poeſie Eönnen eine ge- 
gebene objective Welt gar nicht entbehren. Dagegen die Igrifche 
Poefte ift ihrem Welen nad fubjectiv; der Dichter fpricht fein 
eigenes fühlenbes Herz aus, gleichviel, ob die wirkliche Welt ſei⸗ 
ner inneren Welt entſpreche ober nicht; ja daß dieſe jener nicht 
entfpricht, die kann gerabe ver Hebel feiner feurigften Empfin⸗ 
dungen jein. Der Körper zu dem geiftigen Gehalte, den er feiner 
Poeſie einhaucht, ift im Grunde feine eigene Perfünlichkeit, er 
ſelbſt ift die Erſcheinung der Idee, die in der Welt noch nicht 
Raum gemonnen bat, fein Gedanke ift noch Subjert. Wenn dies 
im Allgemeinen wahr ift und dem Inrifchen Dichter die Befugniß 
fihert, mancherlei Inhalt aufzunehmen, der für dad Epos und 
Drama noch zu unwirklich wäre, fo bebarf es doch wefentlicher 
näherer Beftimmungen. Sp viel vor Allem verfteht ſich von ſelbſt, 
daß man dem Dichter in jeber Zeile anfühlen muß, daß es ihm 


285 


mit feiner Begeifterung ein wahrer Ernft fer, daß nicht Eitelkeit, 
nichts Windiges mitunterjpiele, daß er Gut und Blut für die 
Verwirklichung feiner Idee zu opfern bereit wäre, ſonſt fehlt ihr 
bie einzige Objectivität, die fle haben kann, die Perfünlichkeit. 
Beſonders übel wird es daher dem politiichen Dichter anftehen, 
wenn er die Zerriffenheit in die Politik aufnimmt, wenn er neben 
feiner großen Sache ein in eitlen Schmerzen. fich befpiegelndes Ich 
in den Vordergrund zu drängen fucht, Furz wenn er SHeinifttt. 
Einen Charakter wollen wir fehen, einen Felſenmann; er braucht 
darum fein Turner, Fein hriftfich deutſcher Burſchenſchäftler zu 
fein, unfere Zeit begründet billig ihre Iveen von Staat und Preis 
heit auf eine andere, weitere, weltgebilvetere Anſchauung. Daß 
die Grundidee, welche eine folche Lyrik durchdringt, wiewohl noch 
unwirklich, doch nicht aus dent Blauen aufgefangen, fondern in 
ſich fubftantiell und eine gegenwärtige Macht in den Geiftern und 
Herzen Vieler fei, daß er ausfprehe, was feine Zeit innerlich 
bewegt, das ift e8, was wir cbenfall3 an ihn zu fordern haben. 
Freilich kommt ed dann immer noch darauf an, mie er eine ſolche 
Idee gefaßt Hat und außlegt, ob er fie in leerer Allgemeinheit 
oder in concreter Fülle befigt und darzuftellen weiß, ob fie ihm 
aus der Betrachtung ded Einzelnen in der Wirklichkeit fließt, ober 
ob er vom Abftracten zum Concreten erft den Uebergang fucht. 
Er muß die einzelnen Gebiete des öffentlichen Lebens, wo die 
Unfreiheit oder umgekehrt der Keim eines neuen Lebens fich fühl- 
bar macht, in's Auge gefaßt haben, das Leben, die Welt muß 
er fennen, dem Pulsfchlag des Geiſtes In den einzelnen Gliedern 
nachfpüren, die Wege muß ex aufſuchen, welche die innere Macht 
der Zeit wandelt, um ben Boden für große Zwecke der Zukunft 


286 


aufzulockern. Dies tft das Eoncrete, was feiner Idee nicht fehlen 
darf, wie wenig fle übrigens concret in dem Sinne einer That⸗ 
ſache ift. 

Genügt nun ein Dichter allen diefen Forberungen, iſt er ein 
wahrhafter Charakter, ſpricht er aus, mas die Beſten feiner Zeit 
bewegt, ſpricht er es nicht abftract, fonbern concret aus, fo if 
er — doch immer noch Fein Dichter. Die Politif, das Heißt alfo 
für unfern Zufammenhang: die Unzufriedenheit mit der Gegen- 
wart des Staatslebens und der heftige Wunfch einer befiern Zu- 
kunft deſſelben, Begeifterung für große Handlungen, die fie her⸗ 
beiführen follen u. f. f., bleibt doch immer auch für die Igrifche 
Gattung ein gegen Acht poetifche Behandlung völlig widerfpenftiger 
Stoff. Wir fanden den Grund hievon zuerft ganz allgemein darin, 
daß ſolche Ideen, weil fie erft wirklich werden follen, dem Dich⸗ 
ter gar Feine Erfcheinung, Geftalt, Fein poetifches Fleiſch entgegen» 
bringen. Nun mußten wir zwar einräumen, daß die Iyrifche 
Poeſie andere Bedingungen ald Epos und Dranıa hat, daß 
Stoffe, welche für diefe objectiven Gattungen zu Förperlos find, 
für das fubjective Wefen der Lyrik immer noch geeignet feien. 
Aber wir müſſen die Trage jet noch von einer andern Seite neh: 
men und von der Stimmung reden, in welcher die wahren Kinder 
der Mufe empfangen fein wollen, ob fie nämlich mit folchem 
politiihem Gifer beftehen könne. Nein, fe kann es nicht; die 
Unrube des Intereffes, die Haft, die Sorge, die Ungeduld ver- 
zehrt ſchlechtweg jene ſchöne Einheit aller geiftigen und ſinnlichen 
Kräfte, welche fih in dem ftilen Wehen, Träumen, Schaffen 
ber Phantafie darftelt. Wahre Dichtung iſt nur, wo Befig iſt, 
Beſitz, der zwar, wie alles Menfchlicde, der Sehnſucht nod 


287 


unendlichen Raum läßt, aber doch Befitz und Genüge der Seele. 
Die Völker müffen glüdlich fein, wo Poefle blühen fol; wo fie 
mit ihrer Vergangenheit gebrochen haben und forgenvoll, ob ihre 
tiefften Wünfche fich verwirklichen lafien, in die Zukunft blicken, 
da fann feine Dichtung gedeihen, und biefenige Dichtung , welche 
eben biefen politifchen Bruch zu ihrem Gegenftande macht, Tann 
feine wahre Dichtung fein. Shaffpeare fühlte fih mit feinem 
Volke höchſt glücklich unter ver Regierung der Elifabeth, von dies 
fer glüdlihen Gegenwart ſchaute er auf die blutigen Bürgerfriege 
zurüd, die ihr vorangegangen, und fiellte num diefe ungeheuren 
Stürme mit dem fteten Hinblick auf, das geficherte fefte Land dar, 
auf welchem er fland: dies ift wahre politifche Poefle. Ober, um 
von einem Lyriker zu reden, Pindar preidt den olynıpifchen Sieger, 
die Stadt, deren Bürger er ift und erfreut fih nun an der Herr⸗ 
lichkeit feines Vaterlandes. Wo nun aber alle Gedanken und 
Gefühle fi auf einen Zweck fpannen, der erft erreicht werben. 
fol, da wird aus der Poefle bloße Rhetorik. Der Nebner hat 
einen Zweck im Auge, für den er, wie er felbft für ihn begeiftert 
ift, feine Zuhörer zu flimmen, in euer zu ſetzen ſtrebt; biefer 
Zweck wird unverhüllt ald ein Gedanke, welcher That werden 
fol, aufgeftelt, der Nebner geht won ihm aus, kommt auf im 
zurüd und feßt übrigens alle Mittel der Empfindung und Phan- 
tafle für ihn in Bewegung, aber auch nur ald Mittel. In der 
ichten Poeſie dagegen iſt die Phantafle nicht das Mittel des Ge- 
dankens, fondern der Gedanke äußert fi gar nicht anders, als 
nur verhüllt in ihr und burch fie, und fommt getrennt von ihr 
weder dem Dichter felbft, noch dem Zuhörer (es tft Hier nicht 
vom Kritiker die Rede, fordern von dem äſthetiſch genießenden 


288 


Zuhörer) zum Bewußtfein. Die Elemente der Darftellung und 
Mittheilung find aljo in der Mhetorif ganz andere, als in ber 
Poefle. Dem politifhen Dichter, wie ihn unfere Zeit hervorbringt, 
wird aber eben dadurch, daß er einen noch unverwirklichten Zweck 
als Gedanken und in der Form des Gedankens fi und dem Lefer 
vorhält, alle poetifhe Stimmung, alle Naivetät, jenes unbe 
wußte innere Singen und Klingen audeinandergezogen und ver⸗ 
zehrt: er wird zum Rhetoriker. Ich table nicht fein Intereſſe, 
feine Ungeduld, Unruhe, ich fage nicht, unfere Zeit Eönne anders 
fein; ich fage nur, poetiſch kann ſie, fo wie fie einmal ift, nit 
fein. Und wie der Dichter foffartig verfährt, ebenfo das Publi- 
fum: es verwechſelt das rhetorifche Pathos um der gleichen Be 
geifterung für die Sache willen mit ver Poeſie. Es kann nit 
lauter ächte Poeſte geben, jede Kunft hat gewiffe angrenzende 
Gebiete, worin fih Zwitter- Gattungen aufhalten, welche bad 
firenge Forum ber Uefthetif zwar von der Kunft ausweist, welde 
aber doch auch ihr gutes Recht der Eriftenz haben. Es wird fich 
dann nur fragen, ob der Rhetoriker mwenigftend ein guter Rheto⸗ 
rifer ift und ob ihm eine wefentliche Korm wirkſamer Beredtſam⸗ 
feit, die Ironie, die Satyre, die insbefondere bei politifchen 
Stoffen fo fehr am Orte ift, zu Gebote ſteht. Iſt fein Geiſt in- 
halts⸗ und erfahrungdreih, feine Betrachtung coneret, nicht 
abſtract (— abftract ift fie immer, wenn von Poefte die Rede 
ift, aber für ſich betrachtet Eann. fle in anderem Sinne entwere 
abftract oder eoneret fein —), wie wir dies oben forderten, je 
wird die Ader der Satyre von felber fließen. 

Da aber der Kern einer folhen Dichtungsart an ben äſthe⸗ 
tiſchen Manfftab gehalten immer abftract bleibt, fo wird ver Por, 


289 


um und für die Einförmigkeit feines überall in den Vordergrund 
geftellten Intereſſes Erfag zu geben, ſich als eine Berfönlichkett 
darftellen müffen, weldhe, obwohl fie auf die politifche Sehnſucht 
Alles und Jedes zurückbezicht, doch noch fo viel Unbefangenheit, 
Vielſeitigkeit und reine Menſchlichkeit übrig behält, daß der Grund- 
Accord in reichen Variationen wiederflingt, die Bruft jedem ſchö⸗ 
nen Gefühle offen bleibt und der oberfte Gedanke nicht mit dem 
Fanatismus der firen Idee alles Andere aufzehrt. Der Dichter 
fol ein gefunder, ein ganzer Menſch geblieben fein. 

Endlich bedarf eine folche Poefle, welcher ed an innerer Form, 
d. h. an einem Stoffe, der für das innere Auge ein objertived 
Bild mit fich führte, gebriht, des Schmudes der äußeren tech» 
nifhen Form in verboppeltem Maaße. Das naive Lied, dad Kind 
der Ächten poetifchen Stimmung, die objectiveren Gattungen der 
Ballade und Romanze, die ſchon eine epifche Anſchauung ent⸗ 
halten, fünnen ein paar Härten, ein paar Lückenbüßer, einen 
unreinen Reim ſchon ertragen. Der Dichter aber, ber und für 
einen Eörperlofen Gedankengehalt bloß rhetoriſch zu intereffiren 
ftrebt, muß und durch Neinheit der Form diefen Innern Mangel 
fo viel möglich zu verbergen fuchen. Auch ift folche rhetoriſche 
Poefte wefentlih Poefle der Bildung, denn naive Zeiten wiffen 
von abſtracten politifchen Gedanken nichts; Daher verlangen wir 
mit um fo mehr Necht eine gebildete Form, und diefe wird dem 
Dichter in dem Grade leicht, in welchem die Bildung eine große 
Geläufigfeit geglätteter Verſekunſt ſchon mit fich bringt. Freilich 
entfteht aber in Zeiten reifer Bildung, da faft alle Formen, Bil- 
der, Neime abgenutzt find, auch ein Reiz der Berkünftelung, eine 
Neigung zu Seltfamfeiten und Kunſtſtückchen, welche noch übler 

Aritiſche Gänge ll. 19 


290 


find, als Rohheiten, und doppelt übel, wo die Begeifterung für 
bie reinften und einfachften Güter der Menfchhelt dad Wort führt. 

Halten wir nun die Gedichte eines Lebendigen an dieſen Maaß⸗ 
ftab, fo läßt fi vor Allem nicht läugnen, daß ein für die Idee 
der Sreiheit und des Vaterlandes mächtig bewegtes jugenbliches 
Gemüth daraus athmet. Mit Grund hat gerade das Gedicht an 
den DBerftorbenen, dad der Verf. wie fein Lofungdwort vorane 
ſtellt, großes Glück gemacht. Es ift zwar eigentlich ungerecht, 
da Herwegh ganz vergeffen zu haben fcheint, daß der Verftorbene 
in den Reihen des preußifchen Heeres rühmlich gegen die Franzoſen 
gefochten hat. Inzwiſchen Hat ſich diefer Kürft allerdings in ber 
blafirten Geftalt eines „Vergnüglings,“ eines durch Genüffe er- 
mübeten, auf weiten Reifen eine lebte Zerftreuung fuchenden 
Vornehmen dem Publikum vorgeftelt und Eonnte fo immerhin 
als ein Repräfentant nachläſſig anſpruchsvoller Abgelebtheit, welt⸗ 
müder moderner Wanderſucht das Ziel abgeben, woran die patrio⸗ 
tiſche Wärme und Treue ſich Ritterſporen verdienen ging. Cinige 
Wendungen dieſes Gedichts, vor Allem die Anrede des Fürſten 
von Ithaka, der nicht in Saus und Braus die Zeit verdehnt, 
ſondern ſtets nad Haufe zu Weib und Volk ſich geſehnt hat, find 
vortrefflich und tief fittlich gefühlt. Auch dem poetifchen Wanders⸗ 
mann und Bebuinen=Öenremaler Zreiligrath fagt Herwegh in 
bem Sonett XXX. gut und einfach, wie fein Herz gern im Lande 
bleibt und fich reblich nährt. Es ift wirklich ganz ein Zeichen ver 
Zeit, daß die Kunft, weil in der Heimath alle poetiſchen Formen 
verſchwunden find, genöthigt ift, auszuwandern und bie leßten 
Reſte von Naturzuftänden in der Fremde zu fuchen. Die bildende 
Kunft hat wirklich Feine andere Wahl, menn fle nicht Stoffe aus 


291 
der Vergangenheit behandelt, und da fie objectiver Art ift, fo 
liegt ihr die Verfuchung nicht eben nahe, in die dargeftellten Bor» 
men den Reflex unferer modernen kranken Subfectivität zu legen; 
man weiß, wie viel Bedeutendes unter dem DBorgange eines 
Horace Bernet und Robert die Genre» Malerei in diefer Richtung 
geleiftet hat. Die Lyrif aber Iegt ihrer Natur nach in das Ge⸗ 
mälde poetifcher Zuftände fremder Völker zugleich das Ich des 
Dichters hinein, feine Sehnſucht nah friſchem Naturleben, fei- 
nen Ueberdruß an der phantaflelofen Eultur; mit dieſer Sehn⸗ 
jucht, welche an fich fehr natürlich ift, will nun dad Subject, 
dem e3 um den Gegenftand nicht mehr zu thun iſt, ſich intereffant 
machen, und Freiligrath, durch und durch reflectirt und declama⸗ 
torifh, Sreiligrath, bei deſſen Gedichten ich immer das Bild habe, 
wie der Dichter vom Schreibtifh aufiteht, fich den Schnurrbart 
ftreicht und ſpricht: das Hab’ ich einmal wieder kräftig gefagt, — 
diefer fieht am Ende gar in den zufälligen Umriffen einer Wetter- 
wolke auf einem Landſchaftsgemälde fein eigenes michtiges Geſicht 
und fagt und nun, er fei der ſchreckliche Wettermacher. Dagegen 
ift ed nun offenbar ein Zeichen von Gefundheit, wenn der Dichter 
fih entſchließt, hübſch ordentlich zu Haufe zu bleiben und feine 
Bruft mit den gegenwärtigen, wahren und objectiven Intereſſen 
feines Vaterlandes erfüllt. Herwegh ift mit Sreiligrath über ber 
Frage, ob der Dichter eine politiihe Tendenz haben ſolle, zuſam⸗ 
nıengeftoßen. Beſingt der Dichter — und ber Streit ging von 
einem folhen Kalle aus — einen Stoff, in welchem feiner Natur 
nach politiſche Bragen zu Sprache fommen, fo kann und darf er 
fich diefer Betrachtung nicht entziehen. Er fteht freilich „auf einer 
höberen Warte, als auf der Zinne der Partei,u allein die Sache 
19 * 


292 


der Freiheit ift nicht Parteiſache, fondern abjolute Sache. Politik 
iſt nicht poetifch; geräth man aber einmal an einen politiſchen 
Gegenftand, fo ſoll man nicht indolent gegen feine innere Bedeu⸗ 
tung fein, noch weniger für dad Verkehrte begeiftert, wie Freilig⸗ 
rath für den Kölner Dombau und was daran hängt. Herwegh 
bat Unrecht, wenn er abfichiliche politiiche Tendenz vom Dichter 
fordert, Freiligrath hat Unrecht, wenn er meint, daß darum 
bie Bruft des Dichter nicht fletig und unabſichtlich von großen 
und freien politifhen Gefühlen erfüllt fein müſſe. Uebrigend 
vergleiche ich beide fo: Freiligrath Hat — nur Franfhaft gemift 
und ohne einen wahren fubftantiellen Mittelpunkt — mehr pe 
ſiſches, poetifched Talent, als Herwegh. Herwegh Dagegen bat 
ben tieferen, befieren Gehalt, aber dieſer Gehalt tft proſaiſch 
Proſaiſch ift hier, ich wieberhole es, an ſich Fein Tadel; Begei⸗ 
fterung für große politifhe Ideen tft im weiteren Sinne auch poe⸗ 
tijh, aber wenn man vom fpecififch Poetiſchen redet, fo if ſie 
proſaiſch, weil alle Darftellung, die ein bloßes Sollen ausfpridt, 
profaifh if. Wir fommen immer wieder an unferem erften Sake 
an: wir haben in der Poefte jet nichts ald Politik oder Zer⸗ 
rijfenheit, ſpreche fle nun philoſophiſch oder mie bei Kreifigratb 
maleriſch, und beide taugen nichts. 

Wir müflen aber nachfehen, ob unferem Dichter nicht det 
au etwas Zerrifjenheit in die Politif eingeflofien if. Seine Be 
geifterung trägt einen Charafter der Wahrheit und Energie, jeden 
falls weiß er von der weinerlichen Zerriffenheit nichts, doch Taufın 
einige Züge von einer, zwar mehr ſtheniſchen, Selbjtbefpiegelun 
des Schmerzed und Grimmes mitunter, die ihm nicht bejonven 
gut anftehen; denn fo etwas wert gleih Mißtrauen, ob Mm 


293 


politiiche Dichter auch ein fubflantieller Charakter ſei. Sp ver⸗ 
fihert und Herwegh, er fei die ſchwarze, ſchwere Wolke, ber 
Gott den Donner nur beſchied (An Frau Karoline ©. in Züri); 
ihn ſchaudert vor feinen eignen wilden Mufen, abfcheulichen, ver⸗ 
fteinenden Meduſen (Sonett L); — fo foll er fie entweder ent⸗ 
laſſen oder nicht mit ihnen vor den Spiegel treten. Uebrigens kann 
ich ihm zur Beruhigung jagen, daß mich vor dieſen Mufen im 
geringften nicht ſchaudert; — er „wird nun einmal wilder mit den 
Sahren, die Leidenfchaft ift fein Eliaswagen« (Sonett XIII.), und 
dad Gedicht an den König von Preußen fehließt er mit den bes 
fannten Worten: „Und mer, wie ih, mit Gott gegrollt, darf 
auch mit einem König grollen. + Dieß Kebtere ift Fein Antiklimar, 
wie er meint. Es ift viel leichter, mit Bott, als mit einem König 
grollen. Gott ift ein langmüthiger Mann und der einzige Mo⸗ 
narch, der republikaniſch ift; die Könige laſſen nicht mit ſich 
ſpaſſen. Es kann einem ehrlichen Kerl ſchon einmal paffiren, daß 
er feinen Groll auf den Weltlauf widerſprechender Weiſe einen 
anthropomorphlfch vorgeftellten Bott ald Gegenftand unterichiebt, 
aber wenn man Königen grollt, fo ift e8 nicht am Orte, jest 
von diefen Weltſchmerzen zu erzählen, da giebt es mit jo beſtimm⸗ 
ten und reellen Hinderniſſen zu kämpfen, daß man jet Feine Zeit 
hat, an ſolche metaphyſiſche Leiden zu denfen, und bie Gegner 
nehmen auch Feine Rückſicht darauf, ob ihr Feind Durch einen ſolchen 
philoſophiſchen Groß intereffant fei oder nicht. Inzwiſchen wollen 
wir ſolche Eitelfeiten, da fie nicht zu Häufig unterlaufen, unferem 
Dichter gerne nachſehen und nicht nur einräumen, daß es ihm 
mit feiner Begeiſterung Ernft fei, fondern uns deſſen herzlich er- 
freuen, daß e8 eine Macht der Zeit und große öffentliche Bewe⸗ 


294 


gung der Gemüther ift, die in ihm ihre Stimme gefunden bat. 
Wenige werben feinen Enthufiasmus in der Korn eines abftracten 
Idealismus theilen; aber feine Gedichte hätten, fo ſchwach dad 
äſthetiſche Urtheil eines großen Theils des Publiftums fein mag, 
Doch den Anklang nicht finden Fönnen, ben fie gefunden haben, 
wenn nicht ihr Inhalt in den Gemüthern fo ſtark angeklungen 
hätte, daß man darüber die Schwächen der Form vergaß. 

Wenn es aber an ſich ausgemacht ft, daß die politifche Ve⸗ 
geifterung als eine Begeifterung für ein Sollen proſaiſch tft, io 
Fann fie fih einer conereten poetifchen Darftelungsfähigkeit dennoch 
dadurch nähern, daß ein durch Beobachtung reicher, durch Er: 
fahrung erfülter Geift die Erſcheinungen einer der Umgeftaltung 
bedürftigen Wirklichkeit im Einzelnen ergreift, immer eine be 
ftinnmte Geftalt, ein gegebenes ind Auge faßt und fo fein abftrac- 
tes Ideal nicht unmittelbar fehen läßt, fondern auf dem imdirecten 
Wege der Ironie fatyriih zur Anſchauung bringt. Satyre fl 
auch nicht achte Poefle, aber doch poetiſcher ald rhetorifches Pa- 
thos, weil fie concreter ift und immer beſtimmte Gegenftände hat. 
An Ariftophanes will id) bier gar nicht erinnern, der ein Satv⸗ 
rifer im Großen ift und doch ganz Dichter bleibt; fein Stoff, ver 
erfranfte athenienfifche Staat, war auch im Untergange nod 
poetifch genug, um einen großen Genius Stoff zu Satyren zu 
geben, welche zugleich über den Boden der Satyre zu einen groß 
artigen, wahrhaft tragifchen Sumor fi erheben. Es kann hier 
nur von neueren Dichtern die Rede fein und, da die politijce 
Satyre im Drama bei und yolizeilich verboten und dem Luſtſpiel 
aller höhere Lebenskeim dadurch abgejchnitten ift, nur von Lyri⸗ 
fern. Hoffmann's von Fallersleben unpolitiihe Gedichte Haben 


295 


die Kraft der Satyre; ex geht immer von einzelnen beftimmten 
Gegenftänden und Fällen aus und erreicht, indem er fie ironiſch 
in ihrer DVerkehrtheit aufweist, alle Vortheile einer beißenven 
Komik. Herwegh dagegen erfcheint durchaus als ein erfahrungs- 
108 enthuflaftifher Jüngling, der nicht Elar weiß, was er will, 
in überftürzendem Zorne über alles Beftimmte hinausfährt und 
fein Ideal weder pofltiv aufbauen, noch negativ durch Auflöfung 
der faulen Flecken in der Wirklichkeit entfalten fann. Er wird 
und darum, weil wir ihm hier den abftracten Idealismus ber 
Jugend zum Vorwurf machen, nicht unter die Hüter des Ver⸗ 
gangenen zählen, denen er in dem Gedicht: „die Jungen und bie 
Alten“ das Recht der Jugend entgegenhält; e8 giebt doch wohl 
au einen männlichen Geift, der jugendlich bleibt. Dieſer jugend⸗ 
liche Enthuſiasmus Hat auch fein Schönes, nur muß man ihn 
nicht, wie geſchehen ift, ald Wahrheit und als achte Poeſie aus⸗ 
rufen. Herwegh thut kaum ein Baar Schritte, feine Grundidee 
in ihre beftimmteren Momente auseinanderzulegen ; er will 
Deutichlands Einheit und Würde wienerhergeftellt, die Preſſe ber 
freit fehen u. f. w., aber auch dies find noch lauter unbeftimmte 
Allgemeinheiten, wo von Poeſie die Rede iſt. E38 finden fich fo 
viele ſehr beftimmte und greifliche Uebel im jetzigen Staate, welche 
ihm den reichſten Stoff für die Satyre oder meinetwegen auch für 
dad Pathos dargeboten hätten, 3. B. die ungeheuren Summen, 
welche die ſtehenden Heere verfchlingen, die Neactionen des Adels 
u. ſ. w.; da gab es lauter conerete, anfchauliche Figuren aufzu⸗ 
ftellen, aber Herwegh fliegt immer bodenlos über die Wirklichkeit 
weg. Man denke fi ihn nur einen Moment lang in dem Ver⸗ 
fuche begriffen, eine politiſche Komoͤdie zu dichten, und man wir 


296 


fogleich einjehen, wie ihm alle Objectivität und Plaftif dazu fehlt: 
Kräfte, die zwar die Lyrik nicht in dem Maaße wie das Drama, 
aber angebeutet ald Keime dennoch vorausfeßt. 

Bleiben wir aber bei dem allgemeinen Ideal ftehen, über 
welches Herwegh nicht hinauskommt, fo käme in die unbeflinrmte 
Borftellung defielben dadurch menigftens mehr Beitimmtheit, daß 
er, fo weit ſolche in rhetoriſch⸗poetiſche Form gefaßt werben kön⸗ 
nen, die Bedingungen ausſpräche, durch welche er glaubt, daß 
es verwirklicht werden könnte. Herwegh's Gebichte find voll von 
der Einen Bedingung , die er aufftelt, von den Bildern eines 
blutigen Kampfed. Nun weiß man aber noch nicht einmal, was 
eigentlich durch einen ſolchen Kampf erreicht werben fol. Zwar 
er preißt an mehreren Orten die Republik und demnach follte man 
meinen, biefer Kanıpf werde vorzüglich den Herrſchern gelten müſ⸗ 
fen; allein ein andermal fett er wieder feine Hoffnung auf dieſe 
felbft und hieher gehört nun vorzüglid) das Gedicht an den König 
von Preußen. Er nennt ihn freilich den legten Yürften, auf den 
man baut, allein es ift doch gar zu fanguinifh, die Erfüllung 
defien, wonach Deutſchland ſchmachtet, von einem Zürften zu 
erwarten, ber bei der Ihronbefteigung feinem Volke zugeſchworen 
- bat, daß ihm das fubjective Dafürhalten eined Einzelnen, ber 
immer irren kann und deflen unſicheres Urtheil daher das Bolt 
durch das collective Urtheil feiner Vertreter berichtigt jehen will, 
Garantie fein und die Stelle einer Verfaſſung vertreten jolle. 
Warum lobt er, wenn er Fürften Toben will, nicht foldhe, welche 
treu ben Verfaſſungsrechten regieren? Wer übrigens ein Repu⸗ 
blifaner fein will, — und nicht wenige Zeitgenofjen werben gerne 
einräumen , daß die MNepubli (wenn ſich nämlich eine zuverläſſi⸗ 


297 


gere und verfläntiger durchgeführte Form berfelben denken läßt, 
als die vergängliden, an Siiteneinfalt wmefentlih gebundenen 
Natur-Mepublifen des Alterthums und des Mittelalters, zugleich 
aber doch eine volksmäßigere, ald die des amerifanifchen Krämer- 
vol) die vollfommenfte Staatsform fe — wer ein Republikaner 
fein will, muß nicht mit Monarchen Tiebäugeln, nicht genial mit 
ihnen thun. Es führt mich dieß auf die befannten Auftritte in 
Berlin. Ich wünſche fehr, nicht unter diejenigen gezählt zu wer⸗ 
den, welche Herwegh vor diefer Gefchichte als Dichter überfchäg- 
ten und hätſchelten, um, nachbem er in die königliche Ungnade 
gefallen, die Achſel über ihn zu zuden. Ich habe vorher nicht 
für ihn gefhwärmt, um ihn nachher im Stich zu laſſen. Es war 
eine ſehr verzeihlicde und nach dem Vorgange des genannten Ge- 
dichts ſehr begreifliche Eitelkeit, zu meinen, ed warte eine geift- 
reihe Scene auf ihn, als ihn der Monarch zu fich befchied. Der 
unerfahrene junge Mann ermog nicht, daß er bloß antworten 
dürfe, wenn er gefragt werde, daß der andere Theil ſich mit 
Bequemlichkeit vorbereiten und eine Scene durchführen könne, bie, 
nachher in den Zeitungen verfündigt, ganz zu feinem DBortheil 
ausfallen mußte. Verwöhnt und überreizt war er ohnedieß durch 
die Schmeicheleien, mit denen man ibm auf feiner Reiſe durch 
dad nördliche Deutſchland entgegengefommen war, burch dieſes 
Hervorziehen, Beſchmauſen und Betoaftiren in Berlin, — in 
Berlin, wo man bald dem Kinde im Mutterleibe einen Spiegel 
zuſtecken wird, damit es ja nichts Naives, Feine unbewußte Kraft 
mehr gebe und wo es mir immer war, als fei felbft die Schwalbe 
in der Luft eigentlih ein Kunftproduct und von Pappendeckel. 
Gleich darauf mußte nun Herwegh erfahren, daß die wirklichen 


— —— 


298 


Handlungen des Negenten mit jenem geiftreichen Auftritt in feinem 
abfonderlichen Verhältniffe fanden; noch wollte er fich nicht zu⸗ 
geftehen, daß er enttäufcht fei, er verfuchte noch eine Geiftreichigfeit 
in dem bekannten Briefe und mußte nun — was ihm nur heil 
fam fein konnte — erfahren, daß es mit großen Herren nit 
gut ift Kirſchen eflen. j 
Wovon nun alfo Hermegh Tag und Nacht träumt, ift ein 

Freiheitöfrieg; er ſieht nur wilde Roſſe ſich bäumen (ſolche vers 
langen einen guten Reiter), wiegt fich in eined Streithengſts 
Bügeln zur Schlacht, ruft aus, daß von nun an ber Haß heili- 
ger fei als vie Liebe, betet zu Gott um ein Trauerfpiel der Freiheit, 
möchte ſich eine Ader Öffnen für die Freiheit und verfpricht und, 
daß unfere Ketten „im letzten heiligen Kriege“ brechen werden. 
Gegen wen fol! num biefer blutige Kampf geführt werden? Das 
eine Mal, fcheint ed, gegen äußere Feinde, Franken und Ruſſen; 
der König von Preußen ſoll die Deutfchen gegen fle führen. 

Führ’ aud den Städten und in's Lager! 

Und frage nidıt, wo Feinde find; 

Die Teinte kommen mit dem Wind: 

Behuͤt' und vor dem Frantenfind 

Und vor tem Cjaaren, deinem Schwager! 
Man fann aber doch Feinen Krieg vom Zaune reißen; es muß 
bo ein Anlaß da fein. Ein andermal geht der Krieg gegen 
Tyrannen und Philifter, wie z.B. in dem Gedichte: Aufruf. 
Wie fol nun das zufammengehen? Sollen die Deutfchen etwa 
gegen den äußeren Beind ziehen und wenn fie ihn beflegt Haben, 
die Waffen in der Hand behalten und die innere Freiheit von ihren 
Begenten fordern? Nehmen wir, wie e8 auch eigentlich gemeint 


fein mag — Herwegh weiß ed ohne Zweifel ſelbſt nicht recht — 


. 299 


immerhin an, er ſpreche von einer Revolution. Da figt nun 
eben der Grundirrtfum eines abftracten Enthufiasmus. Es iſt 
der Unſinn aller Demagogie, daß fie handelt, ehe fie fich gefragt 
hat, ob der Volkswille für ihre Zwecke reif if. So lange bie 
Deutfchen, wie Börne fie definirt, Menſchen bleiben, welche 
Hofräthe entweder ſchon find oder werben wollen, fo wird e8, 
gefeßt den Fall, daß eine Revolution gelinge, den Tag nachher 
fein, wie ven Xag vorher. Die Völker werden regiert, wie 
fie es verbienen; erziehe man file von unten herauf zu Men⸗ 
ſchen, fo werben fie endlich perfünlich werden. Volksbildung 
thut und noth; ein guter Schulmeifter wirft mehr für bie 
Freiheit, ald Bände Herwegh'ſcher Gedichte. Man muß nicht 
chirurgiſch helfen wollen, ehe mediciniſch geholfen iſt. Iſt erft 
mediciniſch geholfen und kommt der Tag der Chirurgie, fo tft 
Herwegh's Schlachtenmuth am Plage. Die Vergleihung hinkt, 
denn bei Gefhwüren und Wunden müſſen beide Zweige der Hell« 
kunſt zufammenmirfen, aber im Staatöleben iſt e8 anderd. Völ⸗ 
fer, die innerlich nicht rein find, befommen nach allen Amputa⸗ 
tionen nur Rückfälle. Diefer Thatendrang , diefe Luft, drein zu 
ſchlagen, diefer Saus und Braus ift nichts, als ftofflofe Jugend» 
begeifterung, ein vom Leben noch nicht gebildetes Kraftgefüht. 
Herwegh fcheint der Anſicht zu fein, daß die Durchbildung 
eined wahrhaft organifchen Staatslebens, worin es nicht zwei, 
fondern nur Einen Willen und Eine Vernunft geben Tann, mit 
einer Auflöfung der Kirche in den Staat, daß erhöhte politifche 
Gefinnungen mit der Befreiung von dem Principe der heterono⸗ 
mifchen Autorität des Glaubens in engem Zufammenhange flehen; 
er erklärt ſich ſtark gegen Pietiften, pietiſche Künftler und Pfaffen, 


300 


er fordert jogar, daß man die Kreuze aus ber Erde reißen und 
Schwerter daraus wachen folle. Das Leptere ift fo gefährlich wohl 
nicht gemeint, als es ausſieht; denn Herwegh beſchränkt fich auf 
folche haſtige Ausbrüche und äußert fonft feine Empfindungen gern 
in der Form des Gebets, ja er zeigt einige Vorliebe für den zor- 
nigen altteftamentlichen Gott und verfteht unter den unausſtehlich 
piiffigen Sophiften, welche das Gemüth abdanken wollen (Sonett 
VI.), ohne Zweifel die Philofophen. Nur gegen die Hierarchiichen 
Anmaßungen der aus dem Mittelalter noch fortbeftehenden Form 
der chriftlichen Kirche tritt er mit großer Heftigfeit auf in dem 
Gerichte „Gegen Rom“. Hier war nun eine Welt von Stoffen 
für die Satyre aufgeſchloſſen, hier boten ſich bie beftimmteften 
Geftalten und anſchaulichſten Verhältnifie dem beißenden Witze 
dar, aber rhetorifch wie immer fhleppt er emen Fluch herbei und 
flucht fo in's Unbeflimmte hinein, ſtets bafjelbe wiederholenn, 
durch das ganze Gedicht; es gehört unter die ſchlechteſten der 
Sammlung. Hutten ift fein Geld (f. das Gedicht: Ufnau und 
S. Helena und die Nachahmung von Huttens Lofungdwort: Jacta 
alca est), aber Hutten war ein ganz anderer Mann, er mußte 
nichts von einer allgemeinen abftracten Begeifterung, fondern er 
kampfte in ſehr beſtimnmten Verhältniſſen mit jehr beftimmten 
Waffen und vor Allen mit dem jcharfen, ftetd ein beſtimmtes 
Dject treffenden Schwerte ber Satyre. 

Der Leſer fragt ſich vieleicht jchon lange mit Verwunderung, 
ob denn das Kritik fein ſoll, wo immer Flop vom Stoffe unt 
gar nit von ber poetischen Form die Rede if. Allein dieß ift 
eben die Art dieſer Poeſie, daß fle ganz fteifartig ift und nur 
nah dem Stoffe beurtbeilt werden Fann : darin ift aber freilik 


301 


das äfthetifche Urtheil von felbft miteingefchloffen und ausgeſpro⸗ 
hen. Diefer abſtracte Gehalt trägt in fich ſelbſt keinen Anfag zum 
Uebergang in die Mannigfaltigkeit der Form, man dreht fich ſtets 
im SKreife. Herwegh's Gedichte find durchaus tautologiih und 
daher nicht wenig ermüdend. Wären fie beffer, fo wären fle 
verboten. 

Zur Satyre, welche, wie dieß wiederholt gefagt werben 
mußte, die einzige Form ift, durch die mehr Anfchein wahrer 
Poeſie in diefe tautologifche Rhetorik eintreten könnte, zeigen fich 
nur wenige und dürftige Anfprünge; Herwegh hat Feinen Humor 
und kann ihn als Pathetifer nicht haben. Der Abfall des Ana⸗ 
ſtaſius Grün 3. B. mußte nothwendig die Komik herausfordern ; 
Herwegh perorirt aber in bitterem Ernſte (Anaſt. Grün ©. 70) 
und nur am Schlufle folgt eine, in diefem Zufammenhange dann 
höchſt ftörende Eomifhe Wendung. Umgekehrt ift das Gedicht 
„Schlechter Troft“ ironifh, hebt ‚aber im lebten Verſe durch 
directe Rede die Ironie völlig auf, und es ift unbegreiflih, daß 
der Dichter nicht fühlen follte, wie mit feinem uneindlegten Verſe 
dad Gedicht fchließen mußte. Der. Gefang der Jungen bei ver 
Amneſtirung der Alten hat ebenfalls ironifche Stellen, die zu dem 
übrigen Ernfte des Gedicht nicht recht Elingen oder umgefehrt. 
Die einzige gute Satyre ift Sonett XXXIV. „Pferbeausfuhr- 
verbot#. 

Der wahre Lyriker muß ſich als Dichter immer dadurch be» 
währen, daß er neben ven ibealeren Formen der Kunftpoefle auch 
ächte, volksmäßig empfundene, naive, ſchlechtweg fingbare Lieber 
hervorbringt ; fie find nicht fein Höchſtes, aber gewiß nicht vie 
legte Probe feines Dichterberufd. Schiller hat kein einziges Lieb 


302 


gebichtet,, fein Reiterlied, das am meiften lieberartig und gewiß 
fein beſtes Iyrifches Product ift, bleibt immer noch zu pathetiſch, 
rhetoriſch; Schiller war aber zur Lyrik auch nicht berufen , ſon⸗ 
dern zun Drama; Goethe bewährte feinen lyriſchen Beruf gleich 
vom Anfang an durd) die herrlichften Lieder; Rückert kann gar 
fein Lied machen, weil er ganz Reflexionsdichter ift; Breiligrath 
keines, weil er als Declamateur mit der Stange neben dem Aus⸗ 
hängebild feiner Menagerie fteht; Mörike hat die lieblichften Lie⸗ 
ber und eben deßwegen liest man ihn nicht, denn in jeßiger Zeit 
gilt einmal Pathos für Poefle. Herwegh nimmt einige wenige 
Anfäge zur Stimmung ded Lieds, und da fühlt man fi aus 
feiner fonftigen Weife fogleih ganz wohlthätig herausverſetzt. Ic 
rede hier zuerft noch von den Gedichten rein politifhen Inhalts, 
die freilich den wahren unbefangenen Liederton nicht zulaſſen; den⸗ 
noch gehört das Gedicht „Proteſt“ unftreitig darum unter das 
Befte der Sammlung, weil es liederartig ift, weil bier die innere 
Erhebung wirklich zur muftfalifhen Stimmung, zum Singen 
wird, und man fich gern einen munteren Burfchen denkt , ver 
dad beim Weinglafe fingt und dabei tüchtig mit der Kauft auf 
den Tiſch ſchlägt; kurz es hat Sinnlichkeit und übertrifft daher 
das meifte Andere. Eben darum ift auch Herwegh's Rheinwein⸗ 
lied beſſer als jenes Nheinlied, von deſſen Triumphen man, ohne 
für Die Deutfchen zu erröthen, nicht fprechen kann; beſſer, nicht 
nur weil es ſich nicht mit Der arnıfeligen Begeifterung einer noth- 
fülligen Vertheidigung begnügt, fondern weil e3 als Weinlied 
eoncreten Anhalt und Stimmung hat. 

Noch näher tritt das eigentlich Poetifche, wenn dieſe Stim- 
mung zum Liede fich nicht unmittelbar al3 Stimmung des Dich⸗ 


303 


terd ausfpricht, fondern einer beftimmten Geftalt, einer zweiten 
Perfon in den Mund gelegt ift; denn bier beginnt Objectivität. 
In ein ſolches Element begibt fich Herwegh mit ein paar Schritten 
hinein, fo die Gedichte: Der fterbende Trompeter, Neiterlied. 
&3 Tag hier zugleich der Volkston ganz nahe, das zweite hat 
wirklich einen Refrain in der Weife des Volkslieds, doch ift hier 
viel zu wenig Cigenthümliches und Bedeutendes, auch wirklich 
zu Weniges, um dabei zu verweilen. Die objectivften Gattungen 
der Lyrik, Ballade und Momanze, darf man bei Herwegh, wie 
jih von ſelbſt verfteht, nicht fuchen; aus fi herauszugehen, 
eine poetiſche zweite Perfon, eine große Begebenheit felbft ſprechen 
zu laffen, liegt diefer ganzen Art von Poeſie ferne, fie ift völlig 
direct, gebt immer abfichtlih zu Werke, fällt immer mit ver 
Thür in’8 Haus und weiß davon gar nicht, daß der Dichter fich 
eigentlich Hinter feine Masken ſteckt. Mehr Verkehr bat fie mit 
ver Natur, ald mit einer menſchlichen Geftaltenwelt, vie fi 
ſelbſt poetifch erft zu fchaffen Hätte; denn die Natur Yiegt für den 
Sentimentalen (Pathos und Sentimentalität gehören zufammen) 
fertig da; doch auch die Natur hat für eine Poefle, die in ber 
rhetorifchen Gattung noch rhetorifher als rhetoriſch ift, nur ſoviel 
Bedeutung, ald fie Symbolik für die ſtets wienerfehrenden Ideen 
des Dichterd darbietet. Herwegh gefteht daher (Strophen aus der 
Fremde) offen, daß die Naturftimmung, bie er in den Alpen 
erwartete, auögeblieben ift, daß er fich in diefer einfanen Welt 
nach dem Staub der Straßen und ver tiefften Qual der Menfch- 
heit zurüdjehnt, und gerade dieß ift liebenswürdiger und poeti= 
jeher, ala wenn ihm die Natur bloß Anlaß geben muß, um feinen 
poetifhen Zorn auszulaffen, wie in dem Frühlingslied, das 


804 


nichts als ein Fluchlied auf Iyrannen iſt, ober in dem Gedichte 
Vive la Röpublique,, wo ihm bie glühenden Alpen zuerft ein in 
Flammen verfinfended Königshaud vorftellen, dann aber umges 
kehrt ald Symbole der politiihen Reinheit, Freiheit, Selbft- 
ftändigfelt dienen: zugleich eine vorläufige Aufforderung, zu fras 
gen, ob Herwegh in feinen Vergleichungen immer glücklich fei. 
Diefe ſymboliſche Art, Gedanke und Bild zu verknüpfen, ift aber 
eben fo wenig poetiſch, als alle bloße Symbolik. 

Ich fagte oben, daß ein pathetifcher Dichter, da feine eigene 
Perſoͤnlichkeit die einzige Objectivität ift, welche für feinen ab» 
ftracten Ideengehalt ven Körper abgibt, für dieſe Cintönigfelt 
und mwenigftend dadurch entjchädigen müſſe, daß dieſe Perfönlich- 
keit doch nicht ganz in dem Einen Pathos aufgehe, ſondern als 
menſchlich offen und empfünglich für jedes ihöne Gefühl fich er- 
weiſe. Schillers erſte und letzte Reitenichaft war tie Freiheit, in 
feinen Tramen wird fie zu Handlung und Schidial, in feinen 
Inriichen Gerichten bleibt er allerdings parbetiiher Dichter , aber 
wie reich, wie offen für jedes Zarte und Schöne in ber Menſch⸗ 
beit. wie vielſeitig und menichlich liebenäwürtig it dieſes Gemüth! 
In dieſer Aeinen Sammlung jugentlider Nudrufungen , mit ver 
wir und bier deſchängen, finten nd nun allerdings einige we 
nige Gedichte. worin der Didter einmal fra aufarbmet unb uns 
fangen menſlid fühle: fe geberen nertüh sc$ sum Beten 
m Verein: Man wertiede mich ndt ſo als mane uh. ve 
EStorder lange een nur mon mean area Juemeie an den 
Sspfrae ws Sad rider. 2 N a sieben chem. 
SMILE ONE NIIT TUN ON orig 
zer mern NT NZ N NENNEN ũe dt Im 123 Ser 


305 


unvermifehter äſthetiſcher Hervorbringung gehöre. Man iſt num 
wirklich angenehm überrafeht, wenn man Herwegh einmal ven 
liebenswürdigen Leichtfinn eines Beranger (dieſer ift neben Hutten 
fein Dann, f. das Gedicht Beranger) nahahmen und in dem 
Liebe „Leicht Gepäck“/, in dem Sonett „Die Gefchäftigen“ XXII. 
den Ton einer luſtigen Haut anflimmen hört, deren einziges Gold 
die Morgenfonne und Silber al’ der Mondſchein if. Ganz ges 
müthlich iſt das Sonett XXXVII. „Deutſche und franzöftfche 
Dichter“, wo neben dem franzöſiſchen Poeten auf koſtbarem Di⸗ 
van, in prachtvollem Kaftan u. ſ. f. der deutſche in ſeiinem Man- 
ſardenſtübchen erſcheint, umduftet von des Gartens blühendem 
Flieder und, indeß die jungen Spatzen vor'm Fenſter als Ehren⸗ 
garde ſchildern, an ſein deutſches Mädchen Lieder ſchreibt. Auch 
die Frauen ſind ihm in ſeinem Pathos nicht ganz gleichgültig ge⸗ 
worden; nur wenn er die Freiheit darum verkaufen müßte, läßt 
er die Liebe laufen (p. 15), ſein Mädchen muß ihn mit der Frei⸗ 
heit theilen (p. 77). Gelegentlich erſcheint er ſogar als ein arger 
Ketzer und Sultan Scheriar in der Liebe (Sonett XLI.), doch 
fanmelt er fich ebenfo auch zu ſchöner und tiefer Innigkeit (Sonett. 
XL.) und edler Srauenverehrung („An Brau Karoline ©. in 
Zürihe). Mit ebenfo ernſtem Sinne beklagt er das Verſchwinden 
der Freundfchaft in unfern Tagen (Sonett XXVIL). Unter ven 
Sonetten befonders find einige, wo fi unbefangen und nicht 
verbrannt von dem Einen politiſchen Pathos eine edle, rein menſch⸗ 
liche Gefühlöwelt auffchließt und, wo wir den Dichter fo weich, 
fo im befferen Sinne fentimental finden, daß wir den Dann des 
Grimmes und Fluches kaum wieber in ihm erfennen. Die Sen- 
timentalität hat auch ihre Zeit und ift ſchön, wo fie nicht die 
Kritiſche Gänge IL 20 


306 


ganze Poefie fein will; daher liest man Sonette wie XVIII., mo 
der Tod als ein Freund gepriefen wird, der bie Menfchen wie 
Kinder liebend an dad AN zurüdgibt, wie XIX., wo der fromme 
file Friedhof den hoben Alpen vorgezogen wird, nicht ungern, 
und Sonett XV. gibt und einen erhabenen Bi in den unbeweg⸗ 
ten, hinter allen einzelnen Wellenfchlägen verborgenen , heiligen 
Srund der Dichterfeele.. Auch Sonett XVI. ift ſchoͤn und tief 
empfunden : der Strom, der, fo weit er ſchweift, nie vergißt: 
nich muß zum Oceane“, fol der Meenfchenfeele eine hohe Lehre 
geben. Hier muß ich noch das ſchöne Gedicht „Strophen aus ber 
Fremde“ IL hervorheben, worin der Dichter fi fehnt, hinzu⸗ 
gehen wie dad Abendroth und wie der Tag in feinen legten Glu⸗ 
then ſich janft in den Schooß des Ewigen zu verbluten, binzu= 
gehen wie der heitre Stern, fo ftille und fo fehmerzlos in bes 
Himmels blaue Tiefen zu finken, hinzugeben wie der Blume Duft, 
der freudig fih dem fchönen Kelch entringt und ald Weihrauch 
auf des Herren Altar fehwingt, binzugehen wie der Thau im 
Thal — „o wollte Gott, wie ihn der Sonnenftrahl, auch meine 
Iebensmübe Seele trinfen“ — hinzugeben, wie der bange Ton 
aus den Saiten einer Harfe, der, kaum dem irdifchen Metall 
entfloh'n, ein Wohllaut in des Schöpferd Bruft erflinget ; dann 
folgt der Schluß : 


Du wirft nicht hingehn wie dad Abendroth, > 
Du wirft nicht flille wie der Stern verfinten, 
Du ſtirbſt nicht einer Blume leichten Tod, 
Kein Morgenftran! wird deine Seele trinten. 


Wohl wirft du Hingehn, hingehn ohne pur, 
Doch wird dad Elend deine Siraft erft ſchwaͤchen, 
Sanft ſtirbt ed einzig fih in der Natur, 

Dad arme Menichenherz nıuß ſtuͤckweis brechen. 


307 


Ich ſchließe gerne die materielle Betrachtung diefer Gedichte 
mit dem Lobe eines fo reinen, zarten Klanges. Hier iſt nicht 
gemachte Empfindſamkeit, nicht eitle Selbftbefhiegelung in fünfts 
lihen Schmerzen, bier tft wahres Menfchengefühl, Gefühl des 
Schickſals. 

Leider iſt aus dem ewigen Ringe, worin das Pathos Her⸗ 
wegh's ſich dreht, nur ſelten ein Seitenſchritt auf eine ſolche grüne 
Stelle vergönnt. Iſt nun dieſe politiſche Leidenſchaft aus Grün⸗ 
den, die ich mehr als einmal hervorgehoben und gegen Mißver⸗ 
ftändnig geſchützt habe, an ſich unpoetiſch und läßt fie dasjenige 
gar nicht zu, was im tieferen Sinne Form heißt, objective Ver⸗ 
föryerung nämlich, mannigfaltige Geftaltenmwelt und Naivetät ver 
Grunditimmung, jened ahnende Helldunkel, worin alle Poefie 
geboren wird, fo muß dieſer Mangel durch um fo größeren Glanz 
des äußerlich beigegebenen Schmucks verdeckt werben. ine Poeſie 
wie biefe bewegt fich eigentlich nur in den beiden Äußerfien Enden 
der dichteriſchen Darftelung: floffartiger Gehalt und Außere Form. 
Die eigentliche Mitte, dad poetifhe Fleiſch, fehlt; fo muß bie 
Haut um fo fhöner fein. Solche Außerlihe Mittel, ven abftrac= 
ten Stoff zu fihmüden, find, um das zuerft zu neımen, was 
noch mehr zum Inhalte gehört, treffenve epigrammatiiche Wen⸗ 
dungen und fogenannte ſchöne Gedanken, fodann, fon mehr 
gegen das bloß Formelle Hin, Reichthum an Vergleichungen, 
und endlich flüffige, correcte, Eunftreihe Technik. 

Auf den Effect einzelner guter Gedanken, epigranmatifcher 
Schlußwendungen, pifanter Nefraind arbeitet Herwegh überall 
mit großer Vorliebe hin und drudt fie gerne groß, wie z. 2. 
„Priejter nur wird's fürder geben und Fein Late mehr auf Erden 

20 * 


308 

fein“ (in dem Gedichte Zuruf) oder — wheiliger wird unfer Haß 
als unfre Liebe werden“ u. vergl. Herwegh iſt glücklich in folchen 
Wendungen und hat damit bei der großen Zahl derjenigen, welche 
nicht zu wiſſen feinen, daß die Zeit vorbei ift, wo man um ein= 
zeiner Stellen und gut gefagter Säße willen jemand für einen 
Dichter hielt, großes Geräuſch erregt. Das Sinftreben nad 
ſolchen Einzelwirfungen ift aber gerade dad Geſtändniß, daß der 
Kern einer folchen Poefte nicht poetifch if. Es find Acte der Me- 
flexion, nicht der Phantafle. Soll aber einmal der Ideen-Vor⸗ 
rath und die Summe glänzender Gedanfen den Werth eines Dich⸗ 
ters beftimmen, fo dürfte man billig fordern, daß Herwegh 
reicher daran ſei und halt man ihn neben die Gedankenfülle Schil- 
lers, fo verſchwindet er in nichts. 

Aeußerſt freigebig ift Hermegh mit Bildern und Vergleihungen; 
er häuft fie wie der Orientale, der im Gefühle, daß feiner Poefle 
bie innere Plaftik fehlt, fie un fo glänzender mit folchen einzelnen 
Edelſteinen umhängt. Herwegh fagt immer dafjelbe, nur mit 
andern Wendungen, neuen Bildern, man rüdt nicht vom Flecke, 
es dreht fih nur eine Scheibe von DVergleihungen um den auf 
einen Punkt gebannten Zufchauer. Manche Gedichte find wirklich 
nichts als Bilderreihen ohne allen Fortgang des Gedanfend. So 
das „Frühlingslied,“ wo an allen Erſcheinungen des Frühlings 
herumgegangen wird, um ſie dem Tyrannen zum Fluch zu deu⸗ 
ten. Als näheres Beiſpiel will ich nur zwei Verſe aus dem Ge⸗ 
dichte an Frau Karoline S. in Zürich herſetzen. 

Gleichwie am ſtillen Abend ſchmettert 
Durch heitre Luft Trompetenklang, 


Gleichwie's um Roſenbuͤſche wetrert 
Ein bluͤhendes Geſtad entlang, 


309 


Gleichwie zum Sturme ruft die Gloͤke, 
Indeß noch Beter am Altar, 

Wie neben eined Kindes Lode 
Ein graued, ernfied Greiſenhaar, — — 


So tönt zu meinem ftlllen Volke 
Mein zürnend, freiheitheifchend Lied; 
Ich bin die ſchwere, ſchwarze Wolke, 
Der Gott den Donner nur beſchied; 
Sc bin kein froher, freud’ger Buhle, 
Deß Wappen Roſe und Pokal, 
Ich fin’ ald Geiſt auf Banto’s Stuhle 
. Bei jedem frechen Koͤnigsmahl. 


Das letzte Bild ift glücklich, wie die Mehrzahl von Herwegh's 
Bildern, aber hat man bei diefer lang aufgefaßten Schnur von 
Bergleihungen nit den Eindruck, daß der Dichter die Perlen 
erſt zuſammenſuchen, daß er fih befinnen mußte: was kann ich 
da noch fagen, welches Bild noch aufbieten? Sehr flörend wird 
dieß Haſchen nach Vergleihungen, wenn geradezu mitten im Pa⸗ 
thos ein Bild eintritt, das, offenbar fünftlich aufgefunden, allen 
Eindruck unmittelbaren Erguſſes aufhebt. 

So lautet der Anfang des Gedichte „Gebet:« 


Braufe Gott mit Sturmedodem 

Durd) die fürdhterliche Stille, 

Gieb ein Trauerfpiel der Freiheit 

—Eür ter Stlaverei Idylle u. f w. | 
Mitten in diefem Aufihwung find die Bilder: Trauerfpiel, 
Idylle viel zu gelehrt. Manchmal find diefe Vergleichungen höchſt 
geiucht, bis zum Unverſtändlichen. So wird 3.8. Jeder Folgen- 
des ein paar mal leſen mäflen, bis er es faßt (An die deutſchen 
Dichter): 


310 


Es bat tem Vogel in dem Ref 
Der Himmel nie gewantt, 
Er duͤnkt den Mächtigen nur feſt, 
Se lang der Thron nicht ſchwankt. 
Geſucht und doch matt find die bildlichen Gegenjäge (in vem 
Gedichte, Gebet): 


Nur vernichten kann der Krieg und, 
Solch ein Frieden wird und würgen! 
In dem wilden Kampfgewühle 
Mag ed wohl ihr werden heiß, 
Aber iraudhein muß die Freiheit 
Auf des Rufen flarrem E12. 
Gezwungen offenbar ift auch dad Bild am Schluffe von 
„Schlechter Troft:« 
Was Hilft dem Vogel die Sonnennähe, 
Den todt ein Adler träge hinan ? 
Abgefhmadt mird die Vergleihung in folgender Stelle wei 
Gedichts an Beranger: 
Es wurde zur erfchütternten Lawine 
Des Holden Hauptes leichter Flockenſchnee. 
Oft jcheint der Zwang des Verſes unpaflende Vergleichungen 
mit fich geführt zu haben, wie in dem Gedichte: Aufruf. 


Eure Tannen, eure Eichen — 
£abt die grünen Fragezeichen 
Deutfcher Freiheit ihr gewahrt? 


Uri von Hutten würbe wohl ſchwerlich Deutſchlands Hei: 
land beißen, denn das ift doch offenbar den Mund zu voll genom- 
men, wenn nicht ein Reim auf Ciland vonnöthen geweſen wär 
(Ufnau unt St. Helena II). An andern Orten greift Serwest 
ein binkendes Bild auf und hetzt es zu Tote. So erinnert if 


R 311 


in dent Gedichte „Neujahr“ der gleichgültige Ausdruck: Kette der 
Emigfeit an die Ketten der Tyranney, er betet, daß, wie am 
Neujahr immer ein Ring zur Kette der Ewigkeit hinzufomme, fo 
der Herr von diefer Kette jedes Jahr einen Ning nehmen und den 
legten zum Brautring der Freiheit erben laffen möge. So fpielt 
die wahre Begeifterung nicht mit Bildern. Auch dahin verläuft 
fih Herwegh auf feiner Bilderjagd, daß ihm dafjelbe Ding zu 
Vergleihungen im entgegengefegten Sinne dienen muß; ein Bei⸗ 
jpiel davon ift: Vive la Republique, wo, wie ich ſchon oben 
hervorhob, die glühenden Alpen jeßt ein rauchendes Königshaus, 
jet ein goldened Freiheitäfiffen u. f. w. find. Nicht immer am 
paſſenden Orte refrutirt ſich Herwegh aus der alten Mythologie, 
fo 3.8. gerade in dem ebengenannten Gedichte, wo zu dem Volks⸗ 
liederton: „Daß aus deinem Jungfernfranz man fein Röschen 
knicke, Schweizerin hüt' ihn wohl beim Tanz“ das unmittelbar 
daneben ftehende „frifh wie Venus aus dem Meer“ durchaus 
nicht flimmt. Auch wohl bloß des Reims wegen verzehrt fich in 
dem Gedicht an den König von Preußen die deutſche Jugend in 
Gluthen eined Meleager, was fih auf Lager und Schwager 
reimt. Das Bild paßt auch gar nicht; denn Meleager litt weiter 
nicht durch Gluthen, als daß fein Leben erlofh, da das Holz⸗ 
jheit, an das es gebannt war, verbrannt murbe. 

Auch das Wortfpiel liebt Herwegh, ohne eben beſonderes 
Glück darin zu haben. Er braucht Witz für feine Gedanken⸗Ar⸗ 
muth, aber der Wig ift nur ſchön, wo er zwifchen tieferen und 
volleren Quellen des Humors reichlich fließt. So will ed nicht 
klappen, wenn er über A. Gründ Abfall fagt: 


Kein Stern fo ſchoͤn, daß er nicht bald zeritiebe, 
Wenn er am Drdendfternenhimmel geht! 


312 


Befter in dem Gedichte an den Berflorbenen: 
.... Und ned vor Sorte: Sternen 
Yuf feine Sternchen weist. 

Hinkend ift das Wortfriel auf Gutenberg — guter Beig; 
man fann eine Statue nicht wohl mit einem Berge vergleichen, 
auch die Kunft, die Gutenberg erfunden, läßt durch ihre volubile 
Natur dieje Vergleihung nicht wohl zu. Gar zu nahe an den for 
genannten ſchlechten Wit flreift dad Wortfpiel (Gegen Nom): 
Und feit loyal dort nur Loyola. 

Mir fommen allmälig zur äußerften Schaale heraus und wer- 
fen jeßt einen Blick auf die techniiche Form dieſer Gerichte. Her⸗ 
wegh liebt künſtliche Versmaaße; einfache Furzzeilige fagen der 
nalven Liederpoefle zu und gelingen ihm felten fo gut, wie in 
dem Gedichte an den Verftorbenen; er bedarf ded Schmucks ver: 
ſchlungener Formen zu ſehr, um ihn nicht aufzufuchen. Er ent: 
widelt auch nicht wenig Kunft darin und fheut nicht, in einer 
Strophe dreimal drei Reime miteinander zu kreuzen, wie in vem 
Gedicht an den König von Preußen, er liebt die fünftliche Form 
bed Sonettö, — das Fleine Bändchen enthält deren 52 — er greift 
öfters in die Ghafelen - Form über, indem er die Affonanz = Reime 
derfelben ziwifchen andere .aufninnmt. Aber bie Kunft geht in 
Künftelet über und Herwegh zahlt dem modernen Rococo dur 
gelehrten Reimſchnörkel einen Tribut, der dem Manne fehledt 
anfteht, welcher eine allem Naffinement, aller Ueberwürzung 
feindlihe Sache verfiht und daher ſolche Freiligrazien und Frei⸗ 
ligrazereien verachten follte. Man kann dieſe gerollten Papier 
jehnigel eiwa gelten laſſen, wo fie ald Parodie des Gegenſtandes 
angejehen werben können. Mandſchuh und Handſchuh, Carrara 


313 


und Niagara mögen ald eine Parodie auf die. Bildungsformen 
der in dem Gedichte an ven Verftorbenen angegriffenen Menfchen- 
klaſſe noch hingehen, ebenſo Baffo, Taſſo, Semilaffo in Sonett 
XIV. Für die Neimbefteleien in dem Gedichte gegen Nom: Tropen 
— DMiopen, Cola — Loyola, Sahara — Tara, Zeter — 
Peter (dad Letztere kann übrigens ſchlechterdings nicht gereimt wer⸗ 
den), läßt ſich ebenfalls entſchuldigend fagen, daß in diefen Kröpfen 
ber Berninifche Gefhmad und Zopfftnl des reftaurirten Katholis 
cismus fich abfpiegeln folle. Aber Herwegh fällt in diefe Manier 
auch wo er ernjt und ganz im eigenen Namen fpricht, und dies 
fann nicht genug getabelt werben. Beiſpiele: Erkür' ih — Züri. 
Hieroglife — Thräne — Wundertiefe — Hippokrene. Stand» 
arte — Bonaparte. Kora — Medufen — mora — Bufen — 
Pandora. Man möchte ihm in feiner Manier zurufen: 

D Tyrannen-Erſchütterer Herweg, 

Deine Reime vom Zaune nicht zerr weg! 

Herwegh's Reime ſind keineswegs von durchgängiger Rein⸗ 
heit. Zeter und Peter habe ich eben angeführt; Philiſter und 
Prieſter darf nicht gereimt werden, auch fändet und geſchändet 
nicht; denn eher dürfen bloß verwandte Vokale mit verwandten, 
als entſchiedene Längen mit entſchiedenen Kürzen einen Reim bil⸗ 
den. Dunkelheiten des Ausdrucks, der Satzverbindung, Härten, 
grammatiſche Incorrectheiten haben ſich unter dem Zwang der 
künſtlichen Maaße und Reime häufig eingeſchlichen. Von letzteren 
"nenne ih: 

Dep Lied man fih erfreut (p. 18). 
Den Deipot (p. S1). 
Den Tyrann (p. 92). 


314 


Die theilweiſe altdeutſche Orthographie in biefen Gedichten 
foll und nicht verführen, und hier in den Streit einzulaflen, ob 
es möglich ober räthlich fe, die ganz fehlerhafte neuhochbeutfche 
Schreibart auf die alten Gefeße zu reduciren. Fängt man ed aber 
an, fo muß man auch Eonfequent fein, was Herwegh keines⸗ 
wegs if. | | 

Spmit meine ih, Herwegh an feinen Plab geftellt zu haben. 
Einigen mag es zu ſtrenge pünfen, wenn ich an diefen jugendlichen 
Enthuftagmus den Manfftab der Kritif gelegt habe, da es doch 
neben der eigentlichen PBoefle, welche vor dem Forum ber reinen 
Aeſthetik befteht, folche verwandte untergeordnete Gattungen, 
welche durch zeitgemäßes Interefle gefhügt find, auch muß geben 
bürfen. Andere dagegen, welche zwifchen Poefie und rhetorifcher 
Darftelung ſcharf unterfcheiden und zudem erwägen , daß e8 auch 
in der letzteren ungleich höhere und reichere Erſcheinungen giebt, 
als die vorliegende, mögen mir vorwerfen, daß ich viel zu weit⸗ 
läufig geweſen ſei, den Gegenſtand viel zu wichtig genommen 
habe. Ich muß den Erſteren ihren Satz zugeben und noch Her⸗ 
wegh's eigenes wiederholtes Geſtändniß bekräftigend beifügen, daß 
er jeden Augenblick bereit wäre, die Leyer mit dem Schwert zu 
vertauſchen, daß er ſeine Poeſie im Grunde nur als ein politiſches 
Mittel betrachtet wiſſen will; den Anderen räume ich ein, daß er 
poetiſch genommen im Grunde unbedeutend iſt. Allein der Gegen⸗ 
ſtand dieſer Kritik war eigentlich nicht ſowohl Herwegh, als viel⸗ 
mehr das Beiſallsgeſchrei, womit man ihn aufgenommen bat, 
und bie harin zu Tag gefommene Verwerhöfung des ftoffartigen 
und äfthetifehen Intereſſes, die Unkenntniß oder Vergeſſenheit 
befien, was Achte Poeſie iſt und was nicht, Wohin ift das poetiſche 


315 


Gefühl gekommen? Nach Eduard Mörike, deſſen poetiſche Kraft 
zwar unter den Hemmungen der Zeit ſich nicht glücklich bis zu 
ihrem Gipfel entwickelt und kein großes zuſammenhängendes Ganze 
hervorgebracht hat, der aber in ſo vielen herrlichen Liedern ganz 
und durchaus Dichter iſt, hat Fein Hahn gekraͤht; ſchicken mir 
aber einmal einen Pathetiker in die Welt, ſo poſaunt es an allen 
Ecken und Enden. 

Geſtehen wir aber überhaupt: mit unſerem Dichten iſt es 
nichts, es iſt jetzt die Zeit zum Trachten. 


316 


* 


Gedichte eines Febendigen. 
Amwelter Band. 


Zuͤrich und Winterthur, Verlag bes litterarifhen Comptoirs 1844 


Habe ich nicht Recht gehabt? Diefe floffartige Poefie bleikt 
abftract rhetoriſch, tautologifeh, Nefrain- und Gedankenſpitzen⸗ 
jägeriich, bildlos ſubjectiv, in Formen gefünftelt, bis fie faty 
rich wird: da iſt auf einmal fefter Boden, Innhalt, Körper, 
Körper zwar, der nur eingeführt wird, um vernichtet zu werben, 
aber mit den feharfen Mefier der Negation , defien Schneide ben 
bellen Metallglanz des Zornes und der Verachtung hat. Herwegh 
bat jet dem erften Bande jeiner Gedichte Erfahrungen gemadtt, 
der Stachel ift ibm tief in die Bruſt gebrüdt worden; das war 
ibm recht geſund. Es wäre igm nur zu wünſchen, daß das Leben 
ihn noch ganz zum Manne ſchmiedete und alle Rhetorik, Decke: 
mation und übrige Gitelkeit durch viele derbe Mühle vollends aus 
ibm berausgebeutelt würde. Denn los iſt er fie noch nicht; er 
dat ung ſeine ſcharfen Epigramme in eine wabrbaft geduldermü⸗ 
dende Zugabe dieſes alten Sauerteigd eingewickelt. Damit man 
nun nicht meint. ich wolle mit einen ſelcbhen Urtbeile durchffabren. 
obne Gegenreden anzubören. ſo ſei ed mir erlaubt, bier die Ein⸗ 
wendungen.. Die mir von einem talentvellen Philologen in einem 
Briefe aeftele worden ſind. anzufübren unt zu beantwerten. 3 


317 
nenne feinen Namen nicht, weil Feine Zeit mehr ift, die Erlaub⸗ 
niß dazu einzuholen. Er fagt: „Sie wollen diefen Gedichten nur 
eine rhetoriſche Kraft beimeſſen; aber ich muß dagegen bemerklich 
maden, daß, wenn bie wirkliche Rhetorik — ich meine, wie 
fie fich in einer begeifternden Nebe Fund gibt — den Zuhörer dad 
Blut in die Wangen treibt, die Seele durch die Rückenwirbel 
riefeln,, die Fauft fich ballen und nach dem Schwerte faflen läßt, 
daß alddann eben Die Nhetorif diefe Erfolge nur dem in diefem 
Augenblide herausgefehrten Elemente der Poefle, die in der Rhe⸗ 
torif Tiegt, verdankt. Denn es ift feine Frage, daß diefe Halb- 
funft aus den beiden heterogenen Mitteln der Dialeftif und der 
Poeſie in ähnlicher Weife für außerhalb der Kunft liegende Ten- 
denzen zufammengefchweißt ift, wie die Baufunft aus ver fidh ſelbſt 
genügenden Plaftif einerfeitö und dem Zimmermanns- und Mau⸗ 
rer- Handwerk andrerfeitd. Aber noch mehr: niemals hat in alten 
Tagen ein Dichter geläugnet, belehren zu wollen. Die Dichter 
aller Gattungen, mit Ausnahme des einzigen bomerifchen Epos, 
fprechen dieß vielmehr felbft als ihr größtes Verdienft an und aus. 
Nun bin ic) zwar allerdings der Lieberzeugung , daß fie fi in 
biefer Beziehung über ſich ſelbſt getäufcht haben und nie das ge⸗ 
worden wären, was fte find: Mufter für die Ewigkeit, wenn 
fie nicht im Laufe ihrer Poeſteen über der Luft des Schaffens den 
auögefprochenen Zweck, ihre Tendenz ſelbſt vergefien Hätten, fo 
wie denn bie Liebenswürdigkeit der äſopiſchen Thierfabel entſchie⸗ 
den aus dem Vergefien der Schlußparänefe und dem naiven Liebes 
vollen Verſenken in die ivealifirte Thiermelt, den epiſchen behag- 
lichen Ausbau diefer wirflih und in natura rerum vorhandenen 
Garicatur der Menfchenwelt zu erklären iſt. Aber dennoch hat auch 


318 


Di non Snen verworfene palueiſche Sy thee Belle. Dean 


nicht das Wollen und das Ueberreden If Ihe Weſen und Iumbalt, 
fonbern die Darfkellung der ſchönen Berfänligteit, der 


dichtenden Subjects, das fi in feinem Wellen und Wünſchen 


in der Breube ber Hoffnung wie in dem Sammer gereihter Wer 
zweillung in dem Gedichte explichrt. Indem alſo bie Darftellung 


bieſet Wollens und Strebens zur Eharafteriflit einer wirklich vor 


Haxbenen, hier natürlich zum Soeal gefäuterten Perſon wind, iu 
das blos Gewollte ebenſoſehr ein Eriſtitendes, Fertiges, wie bie 
von ben einzelnen Perſonen im Drama ausgeſprochenen Willenß⸗ 


meinungen, welche oft ihrem naͤchſten und handgreiflichften Iun⸗ 


Halt nad) ganz und gar lehrhaft erſcheinen. So ſtellt fich bemn 
ſelbſt wie polliſche Eyrik Herwegh's, ob fie fih andy ſcheinber 
auf die Zukunft richtet, doch als eine Art Epos dar, das von 


den Kämpfen zwar feines Achilleus und Hektor fingt, aber von 


ber Gimſon⸗ Herakles⸗Arbeit des Dichters, der bald mit Hydern, 
bafb mit Löowen, bald mit Philiftern und Füchfen kämpft, unb 
der flegen ober flerben wird. Denn dieſe Zukunft iſt ihm eine 
Gewißheit, iſt ein in ber Seele des Dichters mit aller Zuverſicht 
und Wahrheit zwar anticipirteß, aber, im Gedichte audgefiprochen, 
ſchon vollendete® Factum, das mit Würde und Ruhe abſchlie⸗ 
ßend die mit Recht poftulitte Einheit der Wirklichkeit und der Idee 


im Ideal zu Wege bringt. Diefe Zuverfiht iſt num aber ihrer⸗ 


ſeits eben das Hinreißende und Berauſchende der wahren Lyrik. 


Sie überredet nicht, geſchweige denn daß fie überreden wollte; 


denn ber Redner, welcher die Tribüne befteigt, hat zur Vorand 
ſetung bereits das Dilemma, ben Zweifel feiner Zuhörer: 
er widerlegt, er bemonftrirt, er will (icheinbar wenigſtens) wer 


| 


319 


durch Erplication feiner Momente zum Verfland reden und darum 
tritt er felbft beſcheiden zweifelhaft auf, höchſtens zum Schluß 
reißt auch er Bin, b. h. eben, er fällt aus ber Rhetorik in bie 
Poefle. Doch, um Feine petitio principü zu begehen : ich wollte 
fagen: wenn der Dichter die Meinungen, bie Herzen ber Zus 
börer gewinnt, fo wirkt er nicht überredend, fonbern wie über- 
haupt die in die Praris und Wirklichkeit eingenrungene Poeſie (ic 
meine den Enthuflasnus) anſteckend; er begeiftert durch feine 
Zuverfiht, d. h. durch die plaftifche Unticipation feiner Sieged- 
oder Todes-Freude, kaum in anderer Weife, als die Sieben vor 
Theben ober die Perfer des Aeſchylos die Athener begeifterten, 
von denen er felbft, der greife Marathonichläger, rühmt, daß, 
wer fie höre, fih mie das Schlachtroß beim Trompetenfchall 
ſtrecke, unb: örs mag rg dvno 6 Beavanevog Ergo ar 
darog elvar. Und fo find des Tyrtäos Paränefen (deſſen Sie 
nicht erwähnten); und wenn Tyrtäos, er allein ein ganzes Heer, 
ein Dichter war, jo ift e8 Herwegh auf. Er hat's gewagt, er 
bat der Freiheit eine Gaſſe gebahnt, er hat das Alles als Elares 
gerundeted Yactum vor ſich, was er prophezeit und was er — 
träumt. 3 fällt ihm gar nicht ein, dieſen ſichern Befitz erft von 
feinen Zuhörern erbetteln, fie perfuadiren zu wollen, fonbern er 
fingt, wie wir e8 vom Dichter verlangen, heraus, was ihn auf. 
dem Herzen liegt, er gebiert, weil die Frucht der Seele reif iſt. 
Daß jedermann fi in fein Kindlein verlieben wird, das weiß 
er zwar allerdings vorher, aber er gebiert e8 nicht darum, daß 
man fi) in es verliebe. Seine Boefte iſt aljo Feine Tendenzpoeſie, 
denn eine folche gibt es allerdings gar nicht. Dieb tft das Wich⸗ 
tigfte, mad mein achtbarer Gegner wider mich anführt; weiterhin 


320 


beftreitet er die Anmenbbarfeit vefien, was ich über ben Mangel 
der nöthigen Ruhe und Unbefangenheit mitten im Drange einer 
unzufrienenen Gegenwart gefagt habe, auf einen politifchen Lyri- 
fer wie Herwegh. Er gibt zu, daß die vom Fieber der Leidenfchaft 
zitternde Hand nicht dichten könne, fondern der Dichtergeift erft 
abwarten müfje, bis der erfte Sturm der Empfindung fich gelegt 
babe; er macht aber geltend, daß ber begabte Dichter zmifchen 
der fortbauernden Flamme der Erregung Momente der Ruhe finde, 
wo er fich den Gegenftand feined Verlangens in ver nothmendigen 
Veberlegenheit der Objectivität gegenüberzuftellen vermöge. Uebri⸗ 
gend, fährt er fort, fei es Fein Vorwurf für den begeifterten Ly⸗ 
rifer, daß feine Empfindung ber Zukunft gelte und fein Lied ein 
Lied der Sehnſucht fei; fei ja felbft das Liebeslied nichts Anderes, 
al8 ein Lied der Zukunft. Nur müffe der Dichter der Zukunft den 
Moment finden; wenn jein Lieb nicht günde, wenn es nicht zum 
Schlachtlied werde, fo fei ed um feinen Ruhm gethan. Herwegh 
babe fich in feinen Volke getäufcht und feine wahre Aufgabe fei 
nun, daß er dieſe Täufchung feines erften poetifhen Frühlings 
feloft troniftre, mit der Fackel des Humors beleuchte und fo ein 
Subftrat für eine neue männlichere Periopde gewinne. Als einen 
wirklichen Ball des Dichters fieht mein Gegner die Berliner Auf 
tritte an und fordert, daß er diefen Flecken durd) einen Net ver 
Buße auslöfche, feine Verführung durch den Ruhm feiner eigenen 
bittern Satyre untermwerfe und fo gereinigt und verfühnt aus bie 
jer „Eklipſe ſeines Sonnenglanzes“ hervortrete. 

Ich kann die Richtigkeit dieſer Bemerkungen im Allgemeinen 
völlig einräumen; es handelt ſich aber um die Anwendung. Was 
nun zuerſt den Hauptgedanken dieſer Entgegnungen betrifft, daß 


321 


nämlich der Dichter darum, weil er in ber Fämpfenden Gegenwart 
bie Zufunft anticipire, keineswegs blos rhetoriſch, daß vielmehr 
bie poetifche Obfectivität hier in der Darftellung der ſchönen Per 
ſönlichkeit zu fuchen fei, welche ohne alle Proſa der Abfichtlichkeit 
von felbft, in freiem Drange ihr inneres Bild entfalte, fo habe 
ich diefen Begriff bereit3 felbft in meiner Kritik aufgeſtellt, indem 
ich ſagte, der Körper zu dem geiſtigen Gehalte, den der Lyriker 
feiner Poefte einhauche, ſei im Grunde feine eigene Perſönlichkeit, 
er ſelbſt fei die Erſcheinung ber Idee, die in der Welt noch nicht 
Daum gewonnen habe, fein Gedanke fei noch Subject. Sol nun 
einem beftimmten Lyriker diefer für feine Gattung geltende und 
ihn von der entfalteteren Objectivität des Epos und Drama ent» 
bindende Grundfaß zu gute kommen, fo verlangen wir billig, daß 
die erft gewünſchte Zukunft in feinem Geifte, wenn nicht als voll⸗ 
endetes Bild daftehe, doch in einzelnen hellen Bildern an ihm 
vorüberziehe, welche wenigftens den Keim und Anjab zur plaſti⸗ 
ſchen Objectivität, wie wir einen folchen auch bei dem Lyriker 
allerdings fordern, in ſich enthalten. Diefe „plaftiihe Anticipa⸗ 
tions nun rühmt mein Gegner von Herwegh, und ich läugne fie 
ihm ab. Herwegh bat Feine geftaltende Kraft, er ift bildlos; 
reich an einzelnen Bildern ald Mitteln, d. h. an Vergleichungen, 
und ganz arm an totaler organifch bildender Kraft. Als Beweis 
will ich aus der vorliegenden Sammlung ein Gedicht anführen, 
das dem Dichter den günftigften Stoff darbot, die Kraft de 
Schauens zu entfalten: bie deutſche Flotte. Ich fihlug es In ber 
Hoffnung auf, ein ftattliches Bild einer Fünftigen deutſchen Flotte, 
wie fie mit den farbigen Wimpeln der verfchtebenen Staaten ma⸗ 
jeſtätiſch das Meer durchfurcht, in feiner Pracht: aufgerollt zu ſehen. 
Kritifche Gänge Il. 21 


322 


Meine Hoffnung tauſchte mich; einzelne ſchoͤne Vergleichungen, 
groß gedruckte Pointen, Fein Zortrüden, eine bloße Anreihung 
von Gedanken, endlich im letzten Verſe heißt ed: ſchon ſchaut 
mein Geift das nie Geſchaute — jet kommt es, dachte ich, aber 
nein: das Bil, Dad man erwartete, wirb mit den paar Worten 
abgethan: ſchon ift die Flotte aufgeſtelit, die unſer Volk erbaute; 
dann ſieht der Dichter, er ficht — ſich ſelbſt: 
Schon lehn' ich ſelbſt, ein deutfcher Argenaute, 
An einem Maft, und kaͤmpfe mit der Laute 

on Um's goldne Bließ der Welt. 

Nehmen wir die Künftlichkeit der Form hinzu, diefe Garden — 
Kokarden — Leoparden, fo haben wir den ganzen Herwegh bei⸗ 
fammen: ein von ber Idee einer politifchen Zukunft leidenſchaftlich 
erregter, aber in feiner Darftellung bildloſer, in feiner Begeiſte⸗ 
rung burch einen fehr fühlbaren Anflug von Selbfigefälligkeit und 
Künftlichkeit getrübter Dichtercharakter. Mein Gegner Hat den 
Tyrtäus angeführt; es ift mir lieb, daß er mich an ihn erinnert, 
ich hatte ihn in meiner Kritif des erſten Bandes vergeſſen. Zuerſt 
muß ich vollkommen einräumen, daß die Poeſie der Alten über⸗ 
haupt auf eine ungleich lebendigere Weiſe mit dem Leben ver⸗ 
ſchlungen war, als die moderne, daß es daher keinem Griechen 
einfiel, das Schöne von dem Guten zu trennen, und daß die 
Dichter, der hohen Zwecklofigkeit ihres eigenen Werkes unbewußt, 
eine fittliche Tendenz von demſelben unverholen ausſagen. Der 
erſte Theil dieſer Cinräumung muß ſogar geradezu zur Forderung 
an alle Poeſie werden. Kein neuerer Dichter iſt groß geworden, 
der nicht von dem Pathos ſeiner Zeit ergriffen den Grundgehalt 
ſeines Werkes mitten aus der Gegenwart nahm. Goethe zeigt 


323 


feiner Zeit Dad Spiegelbild ihrer Empfindungsfämpfe , ihrer ſub⸗ 
jectiven Bildungsmühen, ihres tiefen Kampfes zwiſchen einer 
neuen unendlichen Gefühlswelt und der Pfliht. Schiller entfaltet 
ber Zeit, melcher die Revolution bevorftand und welche fie er⸗ 
lebte, eine neue politiihe Zukunft, den Augen, welche Na- 
poleon gefeben, führt er Wallenſteins verwandtes Geftirn vor 
und fein Tel ift eine große Anticipation der Begeifterung der Be⸗ 
freiungsfriege. Dieß Alles bleibt aber immer noch unbefangene 
objective PBoefte, melche Teine unmittelbare Abfiht hatte , die 
Gegenwart zu verändern, objectiv, wie die epijche und drama⸗ 
tiiche Gattung es fordert und wie es auch bie griechifchen Eifer 
und Tragiker troß ihrer didaktiſchen Meinung von ſich waren. 
Dagegen greift nun der Lyriker Tyrtäos allerdings unmittelbar 
abfichtlich in das bewegte Leben ein und wird dennoch unfterblich. 
Dabei ift nur zweierlei nicht zu vergefien: erſtens, daß die Ber 
wegung, in bie er eingreift, fehon da ift — ein Krieg, alſo 
eine Wirklichkeit, eine Anſchauung, ein Bild; zweitens, daß er 
dieß mit plaftifhem Geifte erfaßt und und eine herrlihe An⸗ 
ſchauung des begeiſterten Kriegers vor Augen ſtellt. „Man ſieht 
bei Tyrtäos, ſagt Wilh. Müller, wie mit Augen, den entfchloffenen 
SHopliten, wie er, mit weit außdfshreitenden Füßen feſt an die 
Erde geftemmt, die Lippe mit den Zähnen preiiend, den großen 
Schild den Gefchoffen der Feinde entgegenhält und bie lange Lanze 
mit fefter Hand gegen ven nahen Gegner führt.“ Ein folches Les 
bensbild des jedem Auge bekannten vaterlänbifchen Kriegers iſt 
doch etwas Anderes, als z. B. das Huſarenlied Herwegh's, das 
zwar ſehr munter die luſtige behende Art dieſer Waffengattung 
an uns vorüberſauſen läßt und mit poetiſcher Keckheit ſchließt: 
21* 


316 


Serihte eines Schembigen 8: 
Sgueiter Band. 
Bei und Winterthur, Verlag des litterarifchen —2 a 


Habe ih nicht Recht gehabt? Diefe ftoffartige woen⸗ dus 
abftract rhetoriſch, tautologifh, Refrain und Gedankenſpiten⸗ 
jaͤgeriſch, bildlos ſubjectiv, in Formen gefünftelt, bis fie feiy 
riſch wird: da iſt auf einmal feftler Boden, Innhalt, Körper, 
Körper zwar, der nur eingeführt wird, um vernichtet zu werben, 
aber mit dem fcharfen Meſſer ver Negation , deſſen Schneide ber 
hellen Metallglanz des Zornes und der Beratung hat. Sermegh 
bat feit dem erften Bande feiner Gedichte Erfahrungen gemadit, 
der Stachel ift ihm tief in die Bruft gebrüdt worden; das wer 
ihm recht gefund. Es wäre igm nur zu wünſchen, daß das Lehen 
ihn noch ganz zum Manne fehniedete und alle Rhetorik, Deco 
mation und übrige Eitelkeit durch dieſe derbe Mühle vollends aus 
ihm herausgebeutelt würde. Denn 108 ift er fle noch nicht; er 
hat und feine ſcharfen Epigramme in eine wahrhaft gepufdermi 
dende Zugabe diefes alten Sauerteigd eingewidelt. Damit mu 
nun nicht meint, ih wolle mit einem ſolchen Urtheile vuurchfahren, 
ohne Gegenreven anzuhören, fo fei e8 mir erlaubt, hier die Cie 
wendungen, bie mir von einem talentvollen Philologen in einen 
Briefe geftellt worden find, anzuführen und zu beantworten. 3 





317 
nenne feinen Namen nicht, weil Eeine Zeit mehr ift, die Erlaub⸗ 
niß dazu einzuholen. Er jagt: „Sie wollen diefen Gedichten nur 
eine vhetorijche Kraft beimeſſen; aber ih muß dagegen bemerflich 
machen, daß, wenn bie wirkliche Rhetorik — ich meine, wie 
fie fich in einer begeifternden Nede Eund gibt — dem Zuhörer dad 
Blut in die Wangen treibt, die Seele durch die Rückenwirbel 
riefeln,, die Fauſt fi ballen und nad dem Schwerte fallen Laßt, 
daß alddann eben die Nhetorif diefe Erfolge nur dem in diefem 
Augenblicke herausgekehrten Elemente der Poefie, vie in der Rhe⸗ 
torik liegt, verdankt. Denn es ift feine Frage, daß biefe Halb⸗ 
funft aus den beiden heterogenen Mitteln der Dialektik und der 
Poefte in ähnlicher Weife für außerhalb der Kunft liegende Ten⸗ 
denzen zuſammengeſchweißt ift, wie die Baufunft aus der fich ſelbſt 
genügenden Plaſtik einerfeitd und dem Zimmermanns- und Mau- 
rer⸗Handwerk andrerfeitd. Uber noch mehr: niemals hat in alten 
Tagen ein Dichter geläugnet, belehren zu wollen. Die Dichter 
aller Gattungen, mit Ausnahme des einzigen homerifchen Epos, 
Sprechen dieß vielmehr felbft als ihr größtes Verdienſt an und aus. 
Nun bin id) zwar allerdings der Ueberzeugung, daß fie fich in 
biefer Beziehung über fich felbit getäufcht haben und nie das ge⸗ 
worden wären, was fie find: Muſter für die Ewigfeit, wenn 
fie nicht im Laufe ihrer Poefleen über der Luft des Schaffens den 
ausgeſprochenen Zweck, ihre Tendenz felbft vergeffen hätten, fo 
wie denn bie Liebendwürbigfeit der äſopiſchen Thierfabel entſchie⸗ 
den aus dem Vergeſſen der Schlußparänefe und dem naiven Tiebe- 
vollen Verſenken in die idealiſtrte Thierwelt, den epifchen behag- 
lichen Ausbau diefer wirflih und in natura rerum vorhandenen 
Garicatur der Menſchenwelt zu erklären tft. Aber dennoch) hat auch 


326 


Dann u. A. das Gedicht auf Hamburgs Brand. Da gab es 
Fener, da läßt fih alfo das Sprüchlein anbringen: bewahrt das 
Feuer und das Licht. Herwegh meint es natürlidy fo, daß man 
das Feuer und Licht forgfältig yflegen folle, weil e8 bier eine 
fo edle Wirkung hatte, daß es durch feine Berheerungen bie 
Sympathie des Vaterlandes hervorrief; der Nachtwächter meint 
aber, man folle ed wohl hüten, daß e8 Fein Unglück anrichte, 
und ich meine, der ſchlichte Nachtwächter fet klüger und poetifcher, 
als diefe hinkende und verzwickte negative Behandlung einer ſehr 
ernften, wirklichen Begebenheit. Herwegh bezieht fi) auf alles 
Reale rein negativ; in der fentimentalen Stimmung wird biefe 
Beziehung oft zum Ausdrude eined ſchönen Schmerzed. Sp ges 
hört unter die reinen und fehönen Klänge feiner Sammlung das 
Lied: „Im Frühjahr.“ Mit einigen wahrhaft edlen Bildern giebt 
der Dichter ein Gemälde des Frühlings und ſchließt dann: 

Duft und Klang und Mogelflug , 

Balſam, 100 die Blicke weiten, 


Und doch Alles nicht genug, 
Um ein Eranfed Volk zu heilen. 


Liebenswürbig erfeheint ferner Herwegh's Begeifterung auf 
in dieſer zweiten Sammlung am meiften da, wo er fein gemüth- 
volles deutſches Volk dem franzöftfchen Treiben entgegenfeßt. Zwar 
billig zürnt er feinem Volke, einen Roffe, das einfhläft, menn 


nicht der Fremdling ihm die Sporen bald wieder in die Flanken - 


fegt (Pour le mérite. p. 74); er erzählt feinen Deutfchen eine 
nur allzuwahre BVifion, wie fle das jüngfte Gericht ſelbſt ver- 
ſchlafen (90); minder glücklich ift die Barabel (80) von dem ge 
morbeten Hahn: ber Vergleihungspunft trifft nicht ganz, denn 


2 


327 


wenn bie Folge der Schlachtung des Hahns die wäre, daß uns 
dann die Breiheit noch früher weckte, fo wäre Dies ja fo übel gar 
nit; ein grimmiges Wiegenlied ferner fingt er feinem Volke, 
worin die zwei meflerfharfen Verſe: 

Und ob man dir Alled verböte, 

Doc) gräme dich nicht zu fehr, 


Du Haft ja Schiller (- kein fo unfchädlicher Beſitz! —) und Goͤthe: 
Schlafe, wad willſt du mehr? 


Dein König befchügt die Kameele, 
Und macht fie penfionär, 
Dreihundert Thaler die Seele. 
Schlafe, was willſt du mehr? 


So bitter er aber in feinen Zorne höhnt, er gehört nicht zu 
ben Meberläufern, welche im Lärm von Paris fih gefallen, ihr 
Vaterland zu verrathen, er ift bitter enttäufcht, er Fam durflig 
ber und kehrt ohne Trunk zurüd (15), er möchte in dieſer Stadt 
nicht fterben, die auf den Gräbern Hochzeit macht, und rührend 
ruft er aus (17): 

Welch Gluͤck, daß ine In dem Gettie ° 
Mein deutfched Spinnrab nicht vermißt, 


Das ihr nicht ahnt, was deutſche Liebe, 
Nicht ahnt, was beutfche Freiheit If. 


Er hat in der Weite feines Weltfinnes glücklich den ſchönen 
Sinn der warmbefchloffenen Enge bewahrt; auch aus dem Ge⸗ 
dichte: Heimweh (40) fpricht, in bereiitigter Sentimentalität, 
biefer herzliche Zug. In ſolchen Tönen vergift man das Eitie 
und Selbftgefällige, wovon man Herwegh nicht freifprecden Tann, 
und was z. B. auch in dem Liede: Aus den Bergen (47) nad 


- 


328. 


meinem Gefühle ſehr merkbar if. Gier hat z. B. ber Vers bes 
fangen: J 
o mit unbezaͤtzuter Ruf 
2 Ob dem letzten Hätten 
Duͤrre Felſen aud der Bruſft 
Ewige Stroͤme ſchuͤtten; 
Wo In ungezuͤgeltem Lauf 
Noch die Waſſer toſen, 
Lad ih meine Waaren auf: 
Wilde, wilde Roſen! 


Der Vers hat pathetiſche Kraft, aber biefes Selbſtbeſchauen, 
biefes fich Intereſſantſein macht mich immer mißtraniſch; ich denke 
immer, wer in einer fo ernflen Sache noch viel Zeit übrig Hat, 
in ben Spiegel zu fehen, ift nicht gefährlih. Es giebt ein erlaub⸗ 
tes, ſchoͤnes Selbſtgefühl auch in der uneigennüpigften Leiden» 
ſchaft, es fol und muß eines geben, aber biefe Neigung zu Mo⸗ 
nologen und biefes fich Zufehen in ben Monologen iſt etwas 
Anderes. Es hängt dies freilich mit der Innern Abſtractheit Diefer 
Art von Poeſie nothwendig zufammen. Herwegh nimmt in biefer 
Sammlung (won dem fatyrifhen Theile reden wir noch nicht) 
zwar einige Anſäatze zu einem fächlichen Eingehen; aber er bringt 
es zu feiner Beſtimmtheit, Feiner Wirklichkeit. So iſt das Ges 
bit! Jordan (21) fließend, aber trivlal. Won der beſtimmteren 
Urt iſt auch das Heibenlied (68). Es war wohl der Mühe werth, 
zu zeigen „ wie bie griechiſche Neligion und darin noch viel zu 
lernen giebt, daß in ihr Feine falſche Tranfcendenz war, daß ber 
fittliche und politifche Menſch bei feinen Göttern fich wieder ans 
traf. Das Chriftenthum iſt weit mehr eine Religion des Todes 
als des Lebens, des Leidens als des Handelns; gegründet in 


N 


329 
einer fehmerzreihen unb brangfalvollen Zeit in einem gebrüdten 


Volke enthält es für den Menſchen als Bürger und Öffentliche 


Perfon überhaupt nur negative Gedanken; es ift von der Andacht. 
zu den hriftlichen Gott nur ein indirecter Uebergang zum Leben. 


Es giebt für einen Dichter mandherlei Schönes hierüber zu fügen... 


Herwegh hat diefen Punkt des Zufammenhangs zwifchen Religion 
und Leben menig berührt. Wie intereffant ift es z. B. zu unterfuchen, 
wie genau auf derfelben Logik der Theiſmus und die abſolute 
Monarchie beruhen, wie viel Witziges und Pathetifches läßt ſich 
hierüber fagen! Herwegh hat in bem genannten Liebe fein Thema, 
etwas luftig genommen, frivol gewiß für bie Gefühlsweiſe der 
Meiften, doch find wir nicht gemeint, Teinen Spaß daran zu haben, 


wenn eine fonft zwar unreife, aber ehrenwerthe Begeifterung 


einmal die Unbuldfamen durch die Maske der Frivolität Ärgert. 
Was aber unferem Dichter einfiel, als er im Aufbau des Doms. 
von Köln ein Sinnbild der deutſchen Einheit und Größe erblidte 


(die drei Zeichen 18), wie er verfennen konnte, daß das nichts, : 


als eine der Allerhöchften Orts approbirten Phrafen tft, wodurch 
bie jeige Bewegung der Geifter in Deutſchland klüglich acceptirt 
und über fich ſelbſt hinausgefchmeichelt wird, — das begreift man 
nur, wenn man fich überhaupt überzeugt bat, wie wenig ruhige: 
Einfiht und Befonnenbeit in diefem Enthuflasmus if. Ih muß 
ed, fo auffallend es fheinen mag, auch bier wieberhofen, daß 
eine ſolche Subjfectivität, welche bei aller leidenſchaftlichen Bes, 
ziehung auf's Leben und die Wirktichkeit doch eigentlich noch im 
Leeren und Unbeſtimmten vermeilt, gerade da am meiften ber 
ächten Poeſie ſich nähert, mo fle ihre praftifchen Ideen einmal, 
ganz in bie Schanze ſchlägt unb ſich in rein menſchlicher Em⸗ 


- 


z 


330 

ler gwecke tm freien Jugendgenuß hingiebt, wie in dem luſtigen, 

gang ſingbaren Chanwagnerlied (11). 
- Rum habe ich aber von dem bedeutendſten Theile dieſer Samum⸗ 
Img abſichtlich noch gar nicht geſprochen. Ich meine den ſaty⸗ 
riſchen und komme hiemit auf den Anfang dieſer Bemerkungen 
zurũck Serwegh hat eine Erfahrung ſehr bitterer Art gemadit; 
nicht ohne Schuld, und gerade deßwegen um fo bitterer. Die 
Biiterkelt hat ihm bie kurze fcharfe Klinge der Satyre in bie Sand 
gegeben, und wie er num unter bie Naturen gehört, welche im 
Zorn poetiſch werben, tim Zorn gegen beftimmie Perfonen, Ber 
bäknifie, fo Hat er fich eberi in vas Gebiet geworfen, welches ich 
ſchon in der Kritik der erſten Sanimlung als basienige angeb, 
worin biefe pathetifhe volltiſche Dichtung allein: dem concreten 
Charakter wahrer Woefte fi nähern kann; nähern, — dem 
Achte, freie Voeſie :ift auch dies noch nicht, aber es iſt Koörper, 
obwohl negativ behandelter Körper, es iſt Beſtimmtheit und In⸗ 
halt da. Nicht directes, negatives Pathos iſt Satyre; die ächte 
Satyre iſt Ironie, fie läßt ihren Gegenſtand ſcheinbar gelten und 
vernichtet ihn, indem fle ihm werben läßt. Das Gedicht am 
Schluſſe: „Auch dies gehört dem König,“ hat außer der wigigen 
Bitterfeit der Ueberſchrift gar Feinen poetifchen Werth. Herwegh 
ſucht im Eingange bie Blindheit, womit er fih fangen ließ, durch 
eine verzeihlihe Täuſchung zu entichuldigen. Allein wer, ber 
wahre, männliche politiſche Geftnnung hat, Tonnte ſich dieſer 
Taͤuſchung Hingeben! Konnte von dieſer Perfönlichkeit das Heil 
erwarten! Wer auch nur einen Augenblick! Um fo voller nimmt 
er nun den Mund im Zorue; er mag es machen, fo arg er will, 


—— 


331 


mir thuts nicht leid für den Gegenſtand, ober ja, es thut mir 
leid, aber in einem andern Sinne, ald Gegner meinen werden; 
diefe Art von Zorn, von Declamation in Tergimen wirft nicht, 
beißt nicht, fudkt nicht, Hier will es die unendliche, die vernich⸗ 
tende Kraft der Lächerlichkeit. An einzelnen, guten Wendungen, 
ſchönen Stellen fehlt es nicht, wie: 


Kommen muß er jetzt, der Tag, auf Erden, 
Der freie Männer fcheidet von Koſaken. 


ober die finnvolle Schlußterzine; aber biefes directe Pathos iſt 
und bleibt bei einem folchen Gegenftande ohne wahre Kraft. Zwei 
Gedichte von einer grimmigen Obfectivität gehen biefem Schluß⸗ 
gedichte der Sammlung voraus: Vom armen Jakob und von der 
Franken Life. Ich nenne fie gerade in diefem Zuſammenhang um 
bes Ießteren willen. Es dreht dem Lefer das Herz im Leibe herum; 
aber e8 ift einmal nicht Sache der Poeſie, fo unverjühnt gräß⸗ 
liche Wirkungen eines peinlichen Sarkasmus hervorzubringen. Es 
ift ganz gut, ganz recht, die furchtbaren Uebel der Gefellfchaft, 
die Jammerfcenen des Pauperismus fo ſchonungslos ald nur 
immer möglich aufzudecken und mit allen Meſſern, welche der 
Gewalt der Nede zu Gebote ftehen, in den Gemüthern zu wühlen; 
aber nicht das Geſchäft der Poefle iſt dies, ſondern der Beredt⸗ 
famfeit auf dem befannten Grenzgebiete zwifchen Poefte und Profa. 
Sol die Poeſie diefen Stoff je übernehmen, fo kann dies nur 
Sache der objectiveren Gattungen fein, welche durch Ihre um⸗ 
faffendere Natur einen herben pathologifchen Eindrud im Verlaufe 
fortgehender Handlung in einen reineren und verfühnteren aufzu« 
löſen vermögen. Eugen Sue bat fi in feinen vielbeſprochenen 
Mysteres de Paris bie Aufgabe gefegt, die Uebel unferer mober« 


332 


nen Sefellfchaft in ihren Höhen und Ziefen fo graufam wie immer- 
möglich aufzudecken. Nicht dies ift die poetifhe Schwäche feines 
Romans; im Gegentheil wohlthuend, ſtark, wahr und groß iſt 
dieſes intereſſante Werk gerade durch dieſe haarſcharfe Schneide 
der Wirklichkeit; nur geſund kann dieſe bittere Lebenskoſt unſeren 
durch Romantik verweichlichten Gemüthern ſein. Belgier und Fran⸗ 
zoſen find und wie in der Malerei, fo in ber Poeſie hierin voraus⸗ 
geeilt, daß fie dieſen packenden, fehüttelnden Geiſt der Realität in ihre 
Kunſt aufzunehmen verftanden; und haben fie den unfruchtbaren 
Idealismus gelaffen. Aber das ift der große Fehler des Eugen 
Sue, daß er, indem er doch die Anſprüche des Dichters macht, 
babei ein rein pädagogiſches, paränetifches Bewußtſein Hat, von 
feinem yathologifhen Stoffe, ftatt ihn in rein poetifhe Form zu 
verarbeiten, zu direeten Ermahnungen, Vorfchlägen u. f. f. über: 
geht und fo aus der Poefle ganz herausfültt. Es verfteht fich, 
bap nicht bloß dieſe Parabafen dad Profaifche an feinen Werke 
find, fondern daß, abgefehen von diefen Beftandtheilen, vie Bes 
handlung zu ſchwer, materiell und abftract bleibt, weil er feine 
Aufgabe, die Aufgabe der poetifchen Verklärung dieſes erden⸗ 
ſchweren Stoffes nicht kennt, fondern nur inftinftmäßig in vers 
eingelten, wirklich hochſchönen Stellen erfüllt. Ganz ohne innere 
Einheit läuft neben dieſer profaifhen Zweckmäßigkeit dann bie 
Eitelfeit des Dichterd her, der fo Teidenfchaftlih mie inner ein 
Franzoſe nach poetiihen Effecten, Rührungen, pikanten Con» 
traften haſcht. Man verzeiht ihm aber diefe und hundert andere 
Enden gegen bie Grundgefege der Kunſt, jelbft den groben Miß⸗ 
griff, in Walter Scott? Art beichreibend zu malen, ſelbſt bie 
Abſtractheit feiner Charactere gerne. Freilich leidet dieſes Werk, 


333 


auch abgefehen von allen Afthetifchen Forberungen, noch an einem 
Grundmangel des Inhalts; in dieſem Roman, deſſen innerſter 
Geiſt kommuniſtiſch iſt, waltet die gleich austheilende Gerechtigkeit 
in der zufälligen Form eines Monarchen, der das Elend in ſeinen 
Höhlen aufſucht, die Armen beglückt, die Verbrecher beſtraft. 
Sue will andere, gerechtere Geſetze, und In feinem ganzen Ro⸗ 
man dreht fich alles um eine Gerechtigkeit aus gefeglofer,, ſubjec⸗ 
tiver Willkühr! Welche Verbindung republifanifcher und legiti⸗ 
miftifcher Geſinnungen! Doch auch durch diefen Widerſpruch wird 
die erſchütternde, zeitgemäß brennend wirkende Kraft des Werkes 
nicht aufgehoben. Wir können jet Feine ganze Poefle haben, fo 
wünſchen wir ung Glück, ſolche tief in's Fleiſch gehende Schnitte 
auf einem zwiſchen Profa und Poefle ſchwankenden Gebiete zu 
erleben. 

Anders ift e8 aber in der lyriſchen Gattung; fällt ein Inrifches 
Gedicht durch einen nicht aufgelöften peinlihen Effect aus der 
Poefte heraus, fo findet ed dafür Fein Unterfommen in jener 
Mittelgattung, welche dem Roman, der ohnebies profaifche Bes 
ftandtheile in fich aufzunehmen geneigt iſt, eine noch immer ehren⸗ 
werthe Stelle verbürgt. Es fol ein kleines, aber doch ein poe= 
tifches Ganzes für fih fein; unter vielen anderh, bie in ihren 
Gefammtheit wieder ein größered Ganzes, eine verfühnte dich⸗ 
terifche Perfönlichkeit, varftellen, mag es jeine Stelle finden; 
aber eine ſolche Perfünlichkeit, eine runde, ganze, fielen Her⸗ 
wegh's Gedichte in ihrer Monotonie nicht dar. Ungleich fehöner iſt 
daß erfte der genannten zwei Gebidhte: der arme Jakob (173), 
- und zwar gerade dadurch, daß ed, obgleih auch im bitteren 
Gefühle über die ungleiche Austheilung bed Beflged in unſerer 


334 


Geſellſchaft gedichtet, doch milder, wehmüthiger in. Man tel 
dem vergeſſenen Armen, ber im dürftigen Sarge hinausgefũhrt 
wird, den Bettelſtab als Ehrendegen auf bie Bahre legen. 

Die Heller, die man in den Sand 

Zum warf aud ſchimmernden Karoſſen, 


Eind Alled, wad von Baterland 
Der arme Mann genoſſen. 


Inſt die von Himmel ihm geprahlt, 
Sah'n diefe Erde zwiefach germe. 


' So wird die Schuld an’d Volk bezahlt 
Mit Wecfeln auf die Sterne, 
Und der Schluß: 


Schlaf wohl in deinem Sarkophag, 
Drin fie dich ohne Hemd begraben: 
Es wird kein Für am jüngften Tag 
Moch reine Wäfche haben. 


Wo es Einem nun aber wirklich wohl und luſtig um die Seele 
wird, das find die rein fatyrijchen Gedichte dieſer Sammlung, d. h. 
biefenigen, worin eine ihrem Begriff wiverfprechende Wirklichkeit 
durch fich ſelbſt in ihrem Widerſpruch aufgezeigt und in das Licht 
ber Lächerlichkeit gerüdt wirb: einer beißenden zwar, nicht jener 
freien, welche felbft den Unwillen über die Unangemeſſenheit des 
Gegenftandes und feiner Idee vergipt und in dem Gefühle ver 
nothwendigen Vermiſchung ded Vollkommenen mit dem Unvollkom⸗ 
menen behaglich ſich ergeht; aber auch die Lächerlichkeit, die einen 
ſcharfen Stachel des Unwillens in ſich trägt, iſt verglichen mit 
dem Pathos, das ſeinem Gegenſtande abſtract gegenüber ſteht und 
gegen ibn eifert, ohne ihn verändern zu können, eine poetiſche Bes 
N weil ſie objectiver it, indem fie ben Gegenſtand in jeiner 


339, 


Beftimmtheit ſelbſt auftreten und durch bie Offenbarung feines 
innern Widerſpruchs ſich vernichten läßt. Veſonders glücklich kam 
bier dem Dichter einmal eine Reminiſcenz zu Statten. Der Ab⸗ 
fall des Franz Dingelftebt mußte billig feinen ſatyriſchen Stachel 
herausfordern. Hier aber brauchte er gar nichts zu thun, in feis 
nem eigenen Namen nichts zu fagen, er durfte nur zwei Gebichte 
abdrucken, welche in heiterem Wechfelgefang einft er und Dingelfteht 
in Paris verfaßt hatten (Wohlgeboren und Hochwohlgeboren. Bon 
zwei beutfchen Dichtern in Paris. 54) und die eigenthünliche 
Accommodationsfähigkeit Dingelftebtö hatte fich jelbft beſſer perfi⸗ 
fürt, ald Hermwegh, wenn er über und gegen fie etwas fagte, e8 
‚je vermocht hätte. Nicht ebenjo ohne fubjertive Zuthat, aber doch 
mit einer höchſt glüdlich produzirten Objectivität läßt er zwei an⸗ 
dere Dichter, die ſich königlichen Solds erfreuen, ſich ſelbſt dar⸗ 
ſtellen. Herwegh beweist auch hier, daß er nie ſo ſehr Dichter iſt, 
als in der Satyre. Geibel und Freiligrath treten auf und be⸗ 
Iuftigen uns durch ein Höchft ergößliches, auch in der Form, in 
dem rafchen, bequemen Eingreifen der Hede und Gegenrede, und dem - 
Fluſſe der Verſe höchſt gelungenes Duett. (Duett der Benflonir- 
ten 65.) Ind Große, ind Erhabene ſchwingt fih der Geſang 
Freiligrath8 mit den Worten: 
— Sa, volift dus mich kennen? 
3a, ich Hin ed in der That, 


- Den Bediente Bruder nennen, 
Bin der Eänger Freiligrath. 


In der Antwort Geibels auf diefe großen Worte find die wun⸗ 
derbaren Reime: Narden — Ambra — Barden — Alhambra — 
Diego — Riego — Nero — Eſpartero — jo ſchön an ihrem 


336 
Plage, daß Herwegh fich Billig an biefer Stelle Hätte fragen bür- 
fen, ob folche Arabesfen, wenn fie Eomifchen Zwecken fo angemefs 
fen dienen, irgend einen Platz in feinen ernften Gedichten finden 
durften. Rührend und ſchön fingt dann Geibel u. A. 


Dhne dich, den einzig Edeln, 
Lernt? ich nie fo trefflich wedeln 


und beide fchließen in hohem Einklang: 
.... Und verzehren dann in Frieden 
Die Penfion der Invaliden. - 

Diefe Form ber Satyre ift befonderd glücklich, weil fle drama⸗ 
tiſch iſt und der Dichter aus dem Eigenen gar nichts Hinzugethan 
zu haben ſich die Miene gibt. Anders verhält es fie mit dem 
fatyrifchen Epigramme. Der Dichter ergreift eine beftimmte Er⸗ 
ſcheinung und fihlebt fie mit einem ſchnellen Ruck in ein komiſches 
Licht. Dieß bewerkftelligt er Durch die fubjertive Kraft des Wipes, 
welche fih zunächſt wilführlich an eine zufällige Beftimmtheit des 
Gegenftanded Klang eined Wort u. f. w. halten kann und fih 
fogleih als eine aus dem Dichter kommende Zuthat zu erkennen 
gibt. Aber der Achte Witz benützt dieſes äußerlih anknüpfende 
Spiel nur als Mittel, um bie Sache aus ſich heraus und durch 
Aufdeckung ihres wahren Charafterd lächerlih zu machen. % 
ſchärfer der Wiß, defto objectiver ift er gerabe durch die Kraft und 
Schneide feiner Subjectivität. Herwegh bat dieſen Witz; er hat 
diejer Sanımlung eine reihe Zugabe von Xenien beigegeben, worin 
er jeinen Beruf zu dieſer Gattung vollkommen bewährt. Hier if 
ed nun vorzüglich, wo es ſich beftätigt, daß dieſe Poefte fid in 
das Feld der beflimmten, ſtets einen Gegenſtand aus der nächften 
Wirklichkeit padenden Satyre begeben mußte, wenn fie nicht endlich 


N 


337 


durch ihr tautologifches ſubjectives Pathos ermatten follte, und ich 
will ed nur fogleih fagen, daß ein Blatt, worin dieß mit folcher 
Beftinnmtheit vorausgefagt wurde, eines befieren Witzes werth ge« 
wefen wäre, als der fehlechte und hinkende auf bie Jahrbücher ver 
Gegenwart (121). Es find auch fonft einige ſtumpfe, unklare, 
fihiefe Epigramme da, wie 3. B. dad auf Lenau (126), wo das 
MWortfpiel mit: „ſchlagen“ gefucht und verzwickt ift und der Gegen» 
ftand überhaupt zu hoch geftellt wird; ebenjo wenig glücklich ift 
das MWortfpiel mit dem Drachen (133), unklar ſchwebt zwifchen 
einer doppelten Deutung bie XZenie auf Uhland (125). Sonft 
aber bewegt ſich der Dichter, links und rechts reichlihe Salz» und 
Pfeifer Körner ausfehüttend, behend und ſchwungkraͤftig zwifchen 
den Reihen moderner Erſcheinungen hindurch; Zeitfehriften, Dich» 
ter, Regenten, Minifter, Cenſur, Strafgefegbüdher, Dombau, 
Decorationen, Kirche und Dogma, neuchriftliche Kunft und Auf⸗ 
wärmung altheidnifcder, Adel und Pfaffen: bunt durch einander 
kommt Alles an die Neihe und die Oertenfchläge pfeifen mit fiches 
rem Siebe rechts und links. Die Gefinnung erfcheint ftraffer und 
beſtimmter, als in den pathetifchen Gedichten. Dom Kölner Don» 
bau ſpricht der Dichter jebt ganz anderd ald oben: das Leben 
begehrt jegt nicht Dome oder Pyramiden, fondern lebendig Brod;- 
ein winziger Knirps ftopft dem deutſchen Niefen dad Maul mit 
Steinen (106. 105). Wie die Wilfenfchaft in ihrem Kampfe 
gegen den kirchlichen Glauben mit der politifchen Bewegung zu⸗ 
fummenhängt, erfennt der Satyrifer viel richtiger ald der Enthu⸗ 
fiaft (Zwei Fliegen mit einer Klapye 109); er ſtimmt mit dem 
Philoſophen 2. Feuerbach, daß nicht jeder Wurm meinen müfle, 
es zum Schmetterling zu bringen (128). Auf die Pfaffen zwar 
Aritiſche Gänge 1. 22 


338 

war er auch als Pathetiker nicht gut zu ſprechen, jet fagt er ſehr 
gut: ob fie katholiſch geſchoren, ob proteftantifch gefcheitelt, gleich⸗ 
viel, immer geräth man ven Gefellen ins Saar (135); Krum⸗ 
macher find und bleiben fle alle (134). Durch die ganze Ausſant 
von Epigrammen geht Ein Ton kräftigen, vernichtend ſchneiben⸗ 
ben Zornes; Bald überrafeht mehr der Wi, bald treibt bie Bi 
terfett ſympathetiſch das Blut zum Herzen, bald erhebt der Hinter 
ber Beratung ruhende Adel und Stolz, wie in dem Eipigramme 
Entpuppung (98), worin der Dichter fo fihöne Worte auf die 
bedenkliche Anrede: „Deſerteur⸗ erwiedert. Wir begeben ms 
des mäßigen Geſchaͤfts, die fhärfften dieſer Xenien, vie überall 
ſchnell gewirkt und gezündet haben, Bier abzuſchreiben; nur mit 
einem Worte braucht gefagt zu werden, daß wer Spigramm 
ſchreibt, wie „Metternich (— e8 wäre übrigens wirkſamer, wenn 
ber Name nicht auf der Ueberſchrift flände, denn der Big iſt fo 
wahr und treffend, daß nur ein Blinder nicht errathen Fönnte, 
wer gemeint ift —) „Der Genfor« (99), „Andere Zeiten, andre 
Eitten« (108), „Antigone in Spree-Athen“ (149), „der Kunft- 
protector« (145), feinen Beruf, in die träge Maffe der Zeit ein 
Präftige Hefe zu werfen, glänzend beurfunbet hat. Sinzufegen aber 
müffen wir noch, daß Herwegh auch einzelne Proben des Gyi- 
gramm in antifem Sinne gegeben hat, das nicht eine migige, 
fatgrifche Spige nothwendig fucht, fondern auf einen ſchönen ober 
großen Gegenſtand einen edlen, ſchoͤn gefagten Gedanken wie eine 
einfache Ueberfehrift ſetzt. So das Epigramm auf Platen (127), 
das Beſte, was vielleicht je über biefen Dichter gefagt worben HR. 

Mag es dem Dichter gelingen, fein Geſchoß recht bald und 


1" folgen Kartätſchen zu laden. Ich möchte aber zum Schluß 


339 


no einen frommen Wunſch ausſprechen. Beſitzt unfere Zeit ein 
großes komiſches Genie — ich weiß es nicht, Herwegh ift feines — 
fo möchte ich einige tüchtige ariftophanifche Komödien auf die in 
der Berwefung begriffenen Theile unferer jebigen Öffentlichen Zus 
fände erleben. Es ift freilich ein fronmer Wunſch; unfere Tihenter 
find Hoftheater, unfere ganze Gefeßgebung iſt gegen jede Möglich⸗ 
feit eines Ariftophanes verſchworen; ein Ariftophanes feht Vor⸗ 
gänger, ein ſchon vorhandenes Leben politifcher Komödie voraus, 
davon kann aber jegt Feine Rede feyn. Kommt Zeit, kommt Rath; 
aber jhön wäre e8. Welche Narrenwelt hätte ein folcher Dich⸗ 
ter mit feinem Zauberflab zu commanbiren! Nicht mehr jene 
zufälligen Narren, melde in den Engen des Privatlebens ausge⸗ 
brütet werben; große Narren, gefehichtlihe Narren, Staatönarren, 
biftorifhe Masten. Welche Komik wäre in ihrem Schickſal zu 
entfalten! eine große Komik mit einem tragifchen Zuge, denn nicht 
als Eleinlih und gering dürften die Gefchlechter bargeftellt werben, 
welche die Träger einer ausfterbenden Orbnung der Dinge find, 
fondern einft Hatten fie Nothwendigkeit und fie werben, bis ber 
Tag kommt, wo fie ald Narren über die Bretter gehen, nicht 
ohne Größe um ihre Eriftenz gekämpft haben. Wir haben in der 
geſammiten modernen Poefle die wahre Komödie nicht gehabt; feit 
die fogenannte alte Komödie der Griechen in die neuere überging, 
ift fie nicht wieder dagemwefen. Shakſpeare, der Vater des neuen 
Drama, warf fih in der Komödie fogleih in das Privatleben. 
Sie ift feither aus dieſem engen Kreife nicht herausgefommen, 
ebenfo wie fi die Malerei aus dem Genre und der Landfihaft 
noch nicht oder num vereinzelt zum großen Geſchichtsbilde erhoben 
hat. Die Sranzofen haben Luſtſpiele politifchen Stoffs, aber bier 
22° 


340 


fer wird Hier fo behandelt, daß vielmehr das Polktifche in das 
Prioatgebiet hinübergefpielt und große Staatäbegebenheiten aus 
. Beinen Intriguen erklärt werben, wie im verre d’oau. Es ver- 
fteht fi, daß dieß nicht große politiſche Komik ift: Hier müſſen 
bie Vorurteile und Sünden auf dem politifhen Boden ſelbſt er⸗ 
griffen, feftgehalten, als ein eoloffaler Wahnfinn hingeftellt und 
aus fi heraus vernichtet, im ihr komiſches Schickſal Hineingeftürzt 
werben. Shakſpeares Shylock iſt eine Geftalt, bie ih anführen 
Tann, um zu fagen, was ih Hier meine: ein ganzes Volk in ſei⸗ 
nem Gharakter, Schickſal wirb hier einer großartigen, graufamen 
Komik mit mächtigen Pinfelftrichen im großen Styl unterworfen. 
Shakſpeare Hätte die Gewalt wohl gehabt, eine große politifche 
Komödie zu ſchreiben. Allein die Zeit war nicht reif. Es gehört 
Dazu, daß bie politifhe Idee in ber öffentlichen Bildung erwacht 
fei, hervorgegangen aus der Auflöfung bed zufälligen Staates, 
welches der feubale war, ber dem jegigen zwar verſtändig res 
giftrirten immer noch zu Grunde liegt. 


IV. 


Zur wiffenfchaftlichen Aeſthetik. 


343 


Plan zu einer nenen ‚Gliederung der Aeſthetik. 


(Jahrbuͤcher der Gegenwart. December 1845.) 





Es ift unter den Gebieten ber geiftigen Wirklichkeit wohl 
keines, in welches Hegel feine Philoſophie mit folcher Flüſſigkeit 
hineingeführt hat, als die Welt des Schönen; feine Vorlefungen 
über Aefthetik find gleich vortrefflich in Vollſtändigkeit des Dates 
rials, wie in inniger Durchdringung beffelben; bie Idee bed 
Schönen breitet fih Hier in organifchem Wuchfe zu dem reichen 
Baume der wirklihen Kunftwelt aus, der felbft in feine einzelnen 
Aefte mit jener Liebe verfolgt wird, mit welcher große Philoſo⸗ 
phen das Schöne, dieſe unmittelbare Wirklichkeit der fpeculativen 
Idee für die Anſchauuug, immer zu .einem Lieblingägegenftanbe 
ihrer Forſchungen gemacht haben. Dennoch glaube ich mehrere 
Punkte gefunden zu haben, auf welchen dieſe Wiffenfchaft über 
bie große Leiftung des Meifters bereitö hinausgehen kann. Ich 
beabfichtige eine Herausgabe meiner Vorträge über Aeſthetik ın 
ber Form eines Handbuchs für Vorlefungen, morin ich mein 
Syſtem ausführen werde; da jedoch meine Berufägefchäfte diefe 
Arbeit aufzufhieben nöthigen, fo theile ich inzwifchen ben Plan 
befielben auf diefem Wege mit. Indem ih nun die genannten 
Punkte, deren abweichende Behandlung eine wefentlich verſchie⸗ 
bene Gliederung bed Ganzen mit ſich bringt, hier aufzeige, wird 


344 


man finden, wie vollfommen das Syſtem nad meinem Plane 
ſich abrundet, wie reinlich der Kreis in ſich ſelbſt zurückkehrt. 
Daß das Gefeg der Dreigliedrigkeit gleihförmig dad Ganze 
wie die Theile meiner Anordnung beherrſcht, wird bei denen, 
welche mit dem Prozeſſe des Beiftes vertraut find, Teiner Nedit- 
fertigung bebürfen. Solchen, welche außer der Philofophie flehen, 
wird es vielleicht als ein Anhaltspunkt für den Vorwurf abflracter 
Kategorieenfucht erſcheinen, daß biefed Gele unter dem von Theil 
zu Theil fi erneuernden Namen des Objectiven, Subjectiven 
und bes Objectiv⸗ Subjectiven wiederkehrt. Wirklih, wenn man 
mir ‚beweifen koͤnnte, daß ich von der metaphyſiſchen Kategorie 
ausging und ven Stoff in fie hineinzwängte, wäre der Bormurf 
fo gerecht, wie überall, wo eine falfche Abftraction einen realen 
Gegenftand in ein fertiges Fachwerk preßt. Ich habe aber dieſe 
Eintheilung nirgends gefucht und Bin nach vielen verfehiebenen 
"Bemühungen, meinen Stoff zu glievern, immer von dieſem felbft 
und dem ihm inwohnenden Gefege auf fie geführt worden. Die 
Sache Hat fih von jelbft fo gemacht, ich bin unfhuldig daran. 
Dieß iſt für jeht eine bloße Verſicherung, den Beweis muß die 
Ausführung liefern. Eigentlih müßte jener Terminus noch viel 
öfter auftreten, als ich ihn gebraucht habe, ich verbarg ihn an 
mehreren Orten unter herkoͤmmlichen äfthetifhen Benennungen, 
vieleicht aus einer gewiſſen Schwäche, welche denen, die eine 
Sache nicht verftehen und aus Mangel an Gründen gerne Lachen, 
nicht allzuviel Stoff geben wollte. 
Zuerft nun kann ich mich mit dem Inhalte, welchen Hegel 
dem erften Theile feines Syſtems gegeben hat, nicht einver- 
ſtanden befennen. Derſelbe handelt von der Idee ded Kunftfchönen 


N 





345 


ober dem Ideal im Allgemeinen, und zwar im erften Kapitel von 
dem Begriffe des Schönen überhaupt, im zweiten von dem Nas 
turfehönen, im britten von dem Kunftichönen oder dem Ideale 
ſelbſt. So enthält diefer Theil nach meiner Anficht ſowohl zu 
wenig ald zu viel. Zu wenig, weil der allgemeine Begriff bes 
Schönen eine Reihe von Momenten in ſich ſchließt, welche Hegel 
an biefem ihrem Orte gar nicht aufführt , fondern in die weiteren 
concreten Theile verweist, wovon nachher. Zu viel, weil bereits 
bier das Naturfehöne und das Ideal abgehandelt wird, und dar⸗ 
aus erfolgt zunächſt ein weiteres Zumenig. Sol namlich ſchon 
in dieſem erften Theile die erfte reale Eriftenz bed Schönen, das 
Naturſchöne, feine Stelle finden, fo gefhieht es, um fo fehnell 
ald möglich zu der höheren Form, morin die Naturfchönhelt ihre 
geiftige Umgeftaltung fordert, zum Kunſtideal, fortzueilen; dar⸗ 
über kommt diefed Kapitel viel zu Eurz weg und es find weſent⸗ 
liche Sphären des Naturfchönen übergangen, wie ich beweiſen 
werde. Das Ideal nun, wovon das dritte Kapitel handelt, ift, 
zugegeben auch, daß es fehon in diefen Theil gehöre, für dieſes 
fein anfüngliches Auftreten viel zu objectiv gefaßt, und hier ift 
alfo wieder der Fehler des Zuviel. Hegel zieht fehon Hier die Göt⸗ 
termelt, er zieht das Ideal in ber Bewegung ber Menſchenwelt, 
nämlich den Weltzuſtand, den die ideale Anſchauung fordert, ‚die 
ideale Situation, die ideale Handlung, er zieht fogar bie äußer⸗ 
liche Beſtimmtheit des Ideals hier fehon herbei, und erft nachher 
Handelt er vom Künftler und feinen ſubjectiven Kräften, Phan⸗ 
taffe, Genie u. f. w. 
Der Grund diefed Verfahrens Tiegt darin, daß Hegel, was 
evft bewiefen werden fol, als bewiefen aus tem Syſteme ber 


346 . 
Philojophie vorausfegt, daß nänlich die wahre Wirklichkeit des 
Schönen nur die Kunft jei; Daher fpringt er über Alles, was 
dem Begriffe des Kunftihönen eigentlich vorangeht und ihm ba= 
ber Hinvdernd im Wege liegt, mit zu großer Kürze weg. Die 
Aeſthetik muß alerbingd mit einem Lehnſatze beginnen; es iſt 
vie Idee, die abfolute Einheit des Denkens und Seins, beren 
Begriff fie aus der Metaphyſik entlehnt. Von hier aus hat fie 
ben abftracten Begriff des Schönen durch einen weiteren Lehnſatz 
zu finden, nämlich folgendermaßen. Die abjolute Einheit des 
Denkens und Seins iſt nicht ein bloß fuhjectiver Begriff, fie Tann 
aber auf Eeinem einzelnen Punkte des Raums und der Zeit als. 
ſolche zur Erfcheinung kommen, fondern fle verwirklicht fich nur 
in allen Räumen und im endlofen Verlaufe der Zeit durch einen. 
beftändig fich erneuernden Prozeß der Bewegung. Diefe Realität 
ber Idee, melche, obwohl wahrhaft wirklich, doch niemals der 
Anfhauung gegeben ift, genügt jedoch dem Geifte nicht, er fol 
vielmehr gemäß dem alle Sphüren feiner Thätigkeit beherrfchenden 
Geſetze, wonach jede Wahrheit zuerft in unmittelbarer Form ob- 
jectiv vor ihm auftritt, diefelbe auch ald eine unmittelbar wirkliche 
anjchauen. Dieſem Gefege entjprechend erzeugt fich der Schein, 
daß ein einzelnes finnlid) Dafeiendes feinen Begriffe abfolut ent⸗ 
fpreche, daß aljo in ihm zunächſt eine beftinmte Idee und da- 
durch mittelbar die abfolute Idee vollfommen verwirklicht fei. 
Dieß ift zwar infofern bloßer Schein, als in feinem einzelnen 
Weſen fein Begriff vollkommen realiftrt fein fann, da aber die 
abfolute Idee nicht ein leerer Gedanke, fondern allerdings im 
finnlihen Dafein, nur nicht im Einzelnen, wahrhaft wirklich 
ift, fo iſt es nicht leerer Schein, fondern Erſcheinung. Dieſe 


347 


Erſcheinung nun ift dad Schöne. Das Schöne ift alfo die Idee 
in der Form begrenzter Erſcheinung. Es ift eine einzelne Erſchei⸗ 
nung, und biefe Erfeheinung drückt durch ihre Form nichts aus, 
als ihren Begriff, fo daß im diefem nichts iſt, was nicht ſinnlich 
erſchiene, und nichts finnlich erfcheint, was nicht reiner Ausdruck 
bed Begriffs wäre, wodurch eben die Ginheit des Begriffes und 
des Seins, alfo die Idee, zur Erfcheinung kommt. Wo und wie. 
nun biefe Erſcheinung oder das Schöne ba ſei und zu Stande 
fomme, ob in der Natur ober in ber Kunft ober wo fonft, dieß 
wiſſen wir an diefer Stelle nach nicht; es tft nur gefordert, daß 
fie da fei, und dieſe Forderung ftügt fih auf dad Geſetz, worauf 
dieſe Deduction beruht, daß nämlich jede Wahrheit ben Geiſte 
zuerft in der Form ber Unmittelbarkeit objectiv gegenübertrete ;.- 
dieſes Geſetz ift alfo bie zweite Vorausfegung , welche bie Aeſthe⸗ 
tif aus dem abftracten Theile der Philofophle herübernehmen muß.. 
Hiemit ift aber auch der Begriff des Schönen an fi) gefunden, 
und er iſt nun, ehe man einen Schritt in der Unterfuchung, wa 
und wie denn diefer Begriff nun feine Eriftenz habe, weiter gebt, 
in feinen Momenten zu entwideln. Dieb ift eine fo umfafjende 
Aufgabe, daß fon darum von den weiteren Aufgaben ber Aeſthe⸗ 
tif feine in dieſem Theile ſchon zur Erledigung kommen Tann; ber 
tiefere Grund aber, warum nur ber abftracte Begriff des Schö⸗ 
nen, abgefehen von aller Verwirklichung, hier zur Sprache Toms. 
men darf, Liegt in dem logiſchen Prozeſſe des Begriffes überhaupt, 
den ich hier als befannt voraudfehe. Die Momente nun, vom, 
denen es ſich handelt, find die des einfach Schönen, be Erhabenen 
und des Komiſchen, wie ih ſolche in meiner Eleinen Schrift: 
„Ueber das Erhabene und Komifche, ein Beitrag zu der Philofor 


315 


vhie des Schönen» als die Beilaltungen einer organiſchen inneren 
Bewegung im Begriffe bed Schönen aufgewieſen habe. Ich habe 
in dieſer Schrift die Gründe audgeführt, warum jene Begriffe 
nothiwendig im erften allgemeinen Xheile abgehandelt werben 
müflen. Wo immer Schönes zur Eriftenz fommt, da treten neben 
der kampfloſen Grazie des einfad Schönen auch die Begenfäke 
des Erhabenen und Komiſchen hervor, im Raturfhönen, wie in 
jeder biftoriihen Form des Ideals und in jeder befonderen Gat- 
tung der Kunft; es find alfo Unterſchiede, die im Weſen des 
Schönen an fi liegen und da entwidelt werben müſſen, ‘wo 
dieſes dargeftellt wird, nicht aber in das weitere Syſtem unter bie 
Lehre von einzelnen beftimmten Eriftenzformen des Schönen wer 
gettelt werden dürfen. Hegel führt z. B. dad Erhabene im zwei⸗ 
tem Theil als ein Merkmal ber ſymboliſchen Kunftform, insbeſon⸗ 
dere als Princip der orientaliiden Myſtik und der mofaijchen 
Meligion auf. Allein dieß iſt fchon eine eigenthümlich beſtimmte 
Born ded Erhabenen ; erhaben ift auch Jupiter, erhaben der 
tragifehe Conflict, der bei Hegel in der Lehre vom Ideale vor: 
fommt , erhaben erfcheinen gemiffe Formen ded Naturfchönen im 
Unterfchiebe von anderen, erhaben der doriſche Bauftyl im Ge 
genfage gegen den fonifchen u. f. w.; das Erhabene der orientali« 
fhen Kunftform iſt theild ein formlofes, theild ein abftractes 
Erhabene, was alfo durch befondere concrete Merkmale vom Er⸗ 
habenen überhaupt und ebenfo von andern realen Formen bed 
Erhabenen fich unterfeheivet, den allgemeinen Begriff des Erha⸗ 


benen fomit bereit3 vorausfegt. Ebenſo verhält es ſich mit dem 


Komifchen. Hegel führt es theils unter der Xehre von ver Auf: 
löfung der klaſſiſchen Kunftform in der Geftalt der Satyre, theils 





349 


im Abfchnitt von ber Auflöfung der romantifchen Kunftform ki 
ber Geftalt des Humors, endlih im dritten Theile als Princip 
ber Komöbie auf. Allein das Komifche ift ebenfa8 eine Macht, 
bie überall hervortritt, wo überhaupt dad Schöne exiſtirt. Ein⸗ 
zelne Geftalten des Naturfehönen fallen unter den komiſchen Ges 
fichtöpunft, wie andere unter den erhabenen; bie Orientalen 
hatten ſchon ihre Komik und Eonnten die Griechen ihre berühmte 
Komödie fchaffen, fo muß dad Moment ver Komik ſchon in ihrem 
afthetifchen Ideal überhaupt enthalten gewefen fein; unter ven 
Künften ferner ift es keineswegs nur die Poefle, welche das Prin⸗ 
eiv des Komifchen zu Tage fördert, fondern ſchon die Malerei 
bildet e8 aus im Genre, ja felbft die Plaſtik Hat im Bacchifchen 
Kreife ihre eigene ‚ wiewohl mäßige Komik. Das Komifche muß 
alſo ebenfalls ſchon im Weſen des Schönen an fich Liegen und in 
der Lehre von bemielben entwidelt werben. 

Was nun die Durchführung diefer Momente im erften allge: 
meinen Theile betrifft, fo habe ich feit der Erſcheinung meiner 
genannten Schrift mehrere mangelhafte Stellen derſelben in meinen 
Vorleſungen über Aeſthetik zu verbeffern gefucht, insbeſondere 
den Begriff des Komifchen gründlicher entwidelt, und zwar fo. 
Daß alle beveutenberen Definitionen deſſelben, welche bis jebt in 
der Philofophie des Schönen heruorgetreten find, als Momente 
in meiner Entwiclung auftreten. So fand denn auch die Defini⸗ 
tion Ruge's ihre Stelle, welche dad Komiſche ald Selbitbefin- 
nung des Geiſtes in feiner Trübung, ald Wiedergewinn der Per- 
fönlichkeit aus der Verſtrickung in’d Endliche durch Befinnung des 
Geiftes in feiner unwahren Geftalt auf feine wahre beftimmt. 
Nur hat Ruge die verſchiedenen Formen der Verſtrickung oder 


350 


Träbung nicht georbnet, fonbern bloß beiſplelsweiſe aufgegriffen, 
inbem er bald Verirrungen aus Zerſtreutheit, bald Trübungen 
durch Unſttilichkeit anführt,, während ich meine Darftellung be- 
durch weſentlich ergänzt Habe, daß ich bie Stufenleiter ber ver⸗ 
ſchiedenen Geftalten des Erhabenen, das durch Störung kowiſch 
wird, ober nad Rug e's Ausprud der Verſtrickung des Belle 
in's Endliche, verfolge. Dieß tft übrigens Feine bloſe Wieberhe⸗ 
lung ber in der Lehre vom Erhabenen ſelbſt aufgeführten Formen. 
Es kehrt hier zwar allerdings im Allgemeinen dieſelbe Linie wie⸗ 
der, wie dort, aber der Gefichtspunkt iſt ein anderer, denn jeht 
fragt es fich, welche dieſer Bormen dem Tomifchen Prozeſſe ver 
fallen koͤnnen, welche nit. Daher fält z. B. foglei das Gr» 
habene der unorganifchen Natur weg, weil e8 niemals Begenflant 
der Komif fein kann. Die Neihe beginnt mit den Entſtellungen 
ber organifhen Geftalt, wodurch fie im Widerſpruch mit Ihrem 
Begriff in's Mechantiche, oder, bei dem Menſchen, in's Thieri⸗ 
ſche herabfinkt, und fle fehließt mit den höchſten Thätigfeiten bes 
Geiſtes, wo zu unterfuchen ft, ob auch das abjolute Verhalten 
des Geiftes in der Form der Religion dem Komiſchen verfallen 
und unter welchen Bedingungen eine ſolche Komik dem Borwurf 
der Frivolitãt ſich entziehen Eünne. Das reichfte Gebiet der Komil 
bilden natürlich die Berirrungen des praftifchen, insbeſondere bei 
ſtttlichen Geiſtes, wie dieß au Auge (S. 111 |. Schill: 
Neue Vorſchule der Aeſthetik) erklärt. Aus der Darftellung biefer 
Stufenleiter geht jedoch noch nicht bie Eintheilung des Komiſche⸗ 
hervor, denn nicht ber Stoff, welcher ber Komif unterwer 
fen , fondern bie Borm, in welcher er dem Laden yreisgegeben 
wird, bildet ven Grund berielben. Meine frühere Gintheilung 


351 


in Burleske, Wis und Sumor, melde ben drei Formen des 
Erhabenen : Erhabenheit der Natur, des Subjects, des abfoluten 
Geiſtes fo angemeflen entfpricht, Habe ich beibehalten. Sch meinte 
früher durch die Aufführung diefer Formen eine Anticiyation aus 
der Lehre von der Phantafle zu machen , weil der fuhjective An⸗ 
theil, ver bei der Entftehung des Komifchen unmittelbarer ein- 
leuchtet, als bei der Entftehung des Grhabenen, bier in den 
pſychologiſchen Benennungen fogleich zu Tage liegt. Der Einthet- 
lungsgrund ift aber nicht8 deſto weniger ein ganz objectiver, denn 
e3 ift allerdings die objective Geftalt des Erhabenen, melche jedes⸗ 
mal wechfelt und mit fächliher Nothmendigfeit ein anderes fub- 
jectives Verfahren in der Auflöfung des erhabenen Scheines for- 
dert. In der Burleske wird ein Erhabenes, das fih, wiewohl 
e8 übrigens jeder Stufe der Erhabenheit angehören kann, in 
finntich Handgreifticher Form aufdrängt, ebenfo handgrei lich vers 
nichtet,, im Wie der verftändige Zufammenhang der Gedanken 
durch einen Unfinn, der den Schein eined neuen Sinn.d annimmt, 
durcheinander geworfen, im Humor verwickelt ſich das abfolut Er» 
habene, das in die geiftigen Tiefen der Perſönlichkeit niedergefties 
gen ift, mit dem unendlich Kleinen, womit es behaftet bleibt, 
zum komiſchen Widerſpruch in einem und temfelben Bemußtfein. 
Es find alfo allerdings verſchiedene Geftaltungen des ber Komit 
verfallenden Erhabenen ſelbſt, wodurch dieſe Eintheilung begrün⸗ 
det wird; es koͤnnte daher hier von Neuem der Vorwurf einer 
Wiederholung entſtehen, da ſchon in der allgemeinen Lehre vom 
Komiſchen die verſchiedenen Formen des Erhabenen, wiewohl 
unter einem neuen Geſichtspunkte, durchgangen werden mußten. 
Allein dann würde man überſehen, daß die Auffaffung jetzt aber- 


352 


mals eine andere fl. Es Eönnen nänlich in jeder ber brei Stufen 
des Komifchen alle Formen des Erhabenen Gegenftand des Lachens 
werben , wie denn 3.8. in der Burleske ſchon dad unendlich Er» 
babene in den bekannten Narren= und Eſels⸗Feſten an die Reihe 
Fam, aber freilich) das unendlih Erhabene in der vergrößerten 
Form, die e8 in der Kirche des Mittelalters angenommen hatte. 
Der Unterſchied diefer Stufenfolge des Erbabenen, welche mei» 
“ner Gintheilung des Komifchen zu Grunde liegt, von der Stufen- 
folge in der Lehre vom Erhabenen felbft und von der analogen 
Aufzählung in der allgemeinen Lehre vom Komifchen ift in den 
verſchiedenen Graben der ſubjectiven Vertiefung ded Erhabenen 
begründet. Wird aljo 3. B. die Religion als fihtbare Kirche in 
bandgreiflichen Poſſen der Satyre unterworfen, fo ift dieß Bur⸗ 
leske, wird der Verſtandes⸗Widerſpruch ihrer Lehren komiſch 
aufgewieſen, fo iſt dieß Witz, wird dagegen dad Leben ver Ne 
ligion im innerften Bewußtjein ald behaftet mit kleinlichen Eigen⸗ 
haften der Perfünlichkeit aufgewieſen, fo ift dieg Humor. Wem 
ih oben jagte, der Eintheilungsgrund des Komiſchen fei und bleibe 
ein objectiver, jo gerathe ich mit biejer Behauptung Dadurch keines⸗ 
wegs in Widerſpruch, daß ich jetzt bie verſchiedenen Grabe ſub⸗ 
jectiver Bertiefung des Erhabenen ald Eintheilungsgrund nenne. 
Obiectiv bleiben bieje Unterſchiede noch immer, wenn man unfere 
Grörterung mit einer blos pfvchelogiſchen vergleicht, welche bie 
komiſchen Kräfte abgejeben von ver Brage, was durch fie komiſch 
bargeftellt werde, als rein ſubjective Grideinungen unterjudt. 
Die Parallele zwiſchen ver Stufenfelge in ter Lehre vom Ko 
milden und im Erbabenen bleibt übrigens ſteben, tenn das 
finnlider aufgefapte unt eben darum handgreiflicher elupirte Gr⸗ 





353 


babene entſpricht auch fo dem Erhabenen ber Natur dur bie, 
beiden gemeinjame, Kategorie der Iinmittelbarfeit, der Wit durch 
den fußjectiven Charakter der in ihm waltenden Berftändigfeit ent⸗ 
ſpricht dem Erhabenen des Subjects u. |. m. 

In dieſem Abſchnitt vom Komiſchen glaube ich ferner einige 
weſentliche Verbeſſerungen in der Unterabtheilung der einzelnen 
Formen gefunden zu haben, insbeſondere in der Lehre vom Witze 
und vom Humor. Den Witz theile ich in einen unmittelbaren 
oder (nach Jean Pauls Benennung) akuſtiſchen, einen abſtracten 
und einen anſchaulichen ein. Jene erſte Form beſteht in der Art 
des Wortſpiels, die ſich an die bloße Aehnlichkeit des Klanges 
hält und die z. B. bei Fiſchart und Abraham a S. Clara eine fo 
große Rolle ſpielt; fie iſt die unmittelbarſte, finnlichfte Form des 
Witzes. Dasjenige Wortſpiel, das ſich nicht an den Klang, ſondern 
an die Vieldeutigkeit der Wörter hält, um den Schein eines Sinnes 
im Unſinn hervorzubringen, fällt auf den Uebergang zur zweiten 
Form des Witzes, der aöſtract verfländigen, deren Gebiet das 
ganze weite Reich des logiſchen Zufammenhangs und der unend⸗ 
lichen Möglichkeiten feiner Zerftörung bei fortbehnupteter Erhal⸗ 
tung bildet. Diefe Gattung ift deßwegen nicht weiter einzutheilen, 
weil geradezu alle Kategorieen der Logik aufgezählt werben müß⸗ 
ten, denn alle können dem abſtracten Wite zum Gegenftande 
dienen. Ih nahm in nieiner Schrift Jean Pauls Eintheilung im 
antithetifchen und fonthetifchen Wig auf, allein fie läßt fi nicht 
halten, denn jeder Witz ift antithetifch und fonthetifch zugleich, 
inden er eine logiſche Kategorie als Verbindung von Begriffen 
zugleich geltend macht und durch plögliche Cinführung eines 
wiberftrebenden Begriffes zugleich aufhebt. Die dritte und höchfte 

Kritiſche Gänge N. 23 


: 354 - 


Form des Witzes iſt der anfchauliche, d. h. der vergleichende, denn 
hier tritt an die Stelle des abſtract verſtändigen Spieles ſchon eine 
plaſtiſche Kraft der Phantaſie. Den Eintheilungsgrund der Gat⸗ 
tungen des Witzes bildet nämlich überhaupt der verſchiedene An⸗ 
theil des in allem Aeſthetiſchen weſentlichen ſinnlichen Moments. 
Das akuftiihe Wortſpiel iſt ſinnlicher Art, aber dad Sinnliche 
tritt in der Armuth der erſten Unmittelbarkeit auf, der abſtracte 
Witz iſt unſinnlich, der vergleichende aber fordert eine Sinnlich⸗ 
keit höherer Art, nämlich Kraft der Anſchauung, wiewohl die⸗ 
ſelbe nicht organiſch bedingend wirkt, indem Gedanke und Bild 
nur durch das äußerliche Band des tertium comparationis auf 
einander bezogen werden. Uebrigens ſieht man, wie ich durch 
dieſe zwangloſe Eintheilung wiederum eine Parallele mit der Ein⸗ 
theilung des Erhabenen und des Komifchen überhaupt geminne. 
Denfelben Vortheil gewährt mir folgende Unterſcheidung verfchie- 
dener Formen des Humors. In meiner Schrift über das Erba- 
babene und Komifche wußte ich nur zmei Formen des Humors 
aufzuführen, einen unverfühnten und einen verfühnten. Ich jeke 
aber num ald erfte Form einen naiven Qumor, dem ein Bewußt⸗ 
fein ded unendlichen Weltwiderfpruchs zwar ſchon zu Grunde liegt, 
aber nur erft auf dunkle Weife. Es ift der Humor der derbge- 
funden, ungebrochenen Perſönlichkeit, welche Die Liebel der Melt 
und die Schwächen des Menfchengefchlechts allerdings kennt, aber 
nicht die unendliche Vertiefung des Geiftes bedarf, um fich über 
diefen Schmerz zu erheben, fondern nur die unüberiwindliche Na⸗ 
turfraft angeborner Fröhlichfelt, worin die Gemißheit, daß ber 
Geiſt der Welt alle feine Behaftimg mit dem unendlich Kleinen - 
und Niebrigen zu ertragen und zu überwinden fähig fei, noch als 


355 


Inſtinkt auftritt. Eine ſolche Natur ift z. DB. der Baſtard Faul⸗ 
conbridge im König Johann, der Frafiftrogende Percy im Hein- 
rich IV., der von Lebensübermuth ſprudelnde Diercutio in Romeo 
und Julie. Un der Grenze fliehen theils folche Berfünlickeiten, 
welche ſchon einer bemußteren Anftrengung des Geiftes bedürfen, 
um über einen Schmerz, ber ihre Natur zu brechen droht, durch 
Selbftironifirung Herr zu werben und fo die angebome SHeiterfeit 
zu bewahren, vote Rofalinde in: „Wie e3 euch gefällt;“ theils 
ſolche, welche tief in die Verborbenheit der Welt verftrict, dem 
Bemußtfein ihrer Schlechtigkeit verfallen find, aber in jedem Mo⸗ 
ment durch ein Bewußtſein dieſes Bewußtſeins fich ſpielend felbft 
abjolviren, mie der unfterbliche Fallſtaff. Als zweite Form folgt 
dann der unverfühnte Humor eined Hamlet, in der modernen 
Melt eines Byron, Theodor Hofmann, Heine; als dritte der 
verfühnte, mwohlmollende eines Goldſmith, Jean Paul. 

So viel über meine Gliederung des erften Theils der Aeſthe⸗ 
tif. Man wird bemerken, daß der eigentliche Eintheilungsgrund, 
der bier durchgeführt ift, bereits der des Objectiven, Subjertiven 
und Objectiv⸗Subjectiven iſt. So zunächſt in ver Einthellung des 
Ganzen. Das Erhabene ift die obfective Form des Schönen, 
denn dad ideale Moment tritt hier überwachſend als überwälti- 
gende Macht vor dad Subjert; das Komifche dagegen beruht auf 
der umendlichen Freiheit des Subjectd, das im Bewußtſein, bie 
wahre Gegenwart der Idee im fi) ſelbſt zu tragen, jede Erfchei- 
nung derfelben, welche Die Miene einer objectiven Macht annimmt, 
in ihre Widerſprüche auflöst, die Einheit des Obfectiven und 
Subjectiven endlich iſt bad ganze, durch den Gegenſatz dieſer bei⸗ 
den in ihm nereinigten Formen in fich zurückkehrende, pas erfüllte 

23 * 


356 


Schöne. In den Unterabtheilungen kehrt daffelbe Princip ber 
Unterſcheidung durchgängig wieder, dad Erhabene der Natur if 
objectiv, das Erhabene des Subjectd bezeichnet feine Kategorie 
fhon durch feinen Namen, das Erhabene des abjoluten Geifted 
ift obfectiv = fuhjectin, denn es iſt die Manifeftation der Weltorb« 
nung, welche fih zmar der Subjerte ald ihrer Organe bebient, 
aber höher ift, als jedes einzelne Subject, und daher an dieſes 
als objective Macht berantritt. Ebenjo im Komiſchen; das Bur⸗ 
leöfe oder naiv Komiſche iſt objectiver, handgreiflicher Art, der 
Witz fubjertiv, der Humor vereinigt beide Momente, zumädft 
weil er weſentlich eine ganze Verfünlichkeit ift, welche ſubjectiven 
Geiſtesadel und unangemeffene Form der objectiven Erſcheinung 
| zu einem lebendigen Widerſpruch in fich verbindet, fofort aber in 
einem höheren Sinne, weil der Humorift den Wiverfpruch, ven 
er zunächft in feinem Subjecte findet, als einen Weltwiderſpruch 
weiß und audfpriht. Wie dann derfelbe Eintheilungsgrund in 
ben Unterabtheilungen diefer Formen abermald wieberfehrt, 
brauche ich nicht auf's Neue nachzumeifen, nachdem ich den Pa- 
rallelismus der Tegieren mit den größeren Abtheilungen aufge 
zeigt habe. " 

Den Inhalt des zweiten Theils der Aeſthetik kann nun offenbar 
nichts Anderes bilden, als die zwei erften, noch einfeitigen Exiſtenz⸗ 
formen des Schönen: Das Naturfchöne und feine, nur erft inner» 
liche, ideale Umbildung durch Die Phantaſie. Der abftracte Bes 
griff des Schönen theilt ſich, indem er fih verwirklicht, in biefe 
zmei Aeſte, die aber erft wieder zufammengehen follen, damit 
die abfolute Form der Verwirklichung des Schönen entftche. So» 
bald man die Sache näher anfleht, dringt ſich dieſe Ordnung von 


397 


felöft auf. Der Begriff des Schönen, wenn er in allen jeinen 
Momenten entwickelt ift, fteht auf dem Punkte des Uebergangs 
zur realen Exiſtenz. Der ganz erfüllte Begriff kann und muß 
eriftiren, dieß wird allerding3 als in der Logik bewieſen voraus⸗ 
geſetzt. Die erfte Form dieſer Eriftenz ift aus deinfelben Grunde 
die Form der Unmittelbarfeit, aus welchem die Idee überhaupt 
zuerſt ſich als Natur frei aus fich entläßt, und es iſt auch biefer 
Uebergang auf die vorausgeſetzte Kenntniß der Logik zu begrünr 
ben, doch giebt hierauf der Fortgang den augenſcheinlichen Ber 
weis, daß die Lehre won der Naturſchönheit Feine andere Stelle 
einnehmen kann und daß nichts verfehrter ift, als wern Weiffe 
fie an dad Ende des Syſtems feßt. Diele erfte Form der Eriftenz 
ded Schönen num iſt eine einfeitig objective; die Schönheit iſt hier 
ein vorgefundener Gegenftand, das Werk bemußtlos fchaffender 
Kräfte, welche nicht mit dem gedachten Zwecke arbeiten, das 
Schöne als Schönes hervorzubringen, fie ift eben daher beftimmt, 
Objert, Stoff, Material für eine höhere Form der Verwirklichung 
des Schönen zu werben, | 

Was nun die innere Gintheilung dieſes erften Abſchnitts 
im zweiten Theile betrifft, fo muß ich vor Allen ausfpredhen, 
daß Hegel hier einen wirklichen Fehler gemacht hat. Hegel be⸗ 
ſchränkt nämlich die Lehre von der Naturfchönheit auf die Reiche 
der bemußtlofen Natur und fehließt die begeiftete Natur, bie 
menfchlich fittliche Welt, davon aus, indem er meint, es liege 
hier der Gegenfaß der natürlichen und der geiftigen Welt überhaupt 
vor, da doch vielmehr der Gegenfaß von Natur und Kunft vor« 
liegt. Was namlih an ſich weit über die Natur hinausliegt, ift 
im Zufammenbange der Uefthetif noch bloße Natur, fofern es ber 


358 


von der Kunſt noch nicht verflärten Wirklichkeit angehört; bloße 
Naturſchoͤnheit ift jede Erſcheinung, welche von Kräften hervor⸗ 
gebracht wird, bie in dieſem Hervorbringen nicht die Schönheit, 
fondern einen andern Zweck wollen, fo daß die Schönheit, melde 
dabei zu Tage Eommt, mit den Mängeln ver Zufälligkeit behaftet 
tt. Ob diefe Kräfte natürliche oder fittliche find, iſt für den all» 
gemeinen Gegenfab, um ben es fi zumächft handelt, gleichgül⸗ 
tig. Wenn z. B. ein Volt für feine Freiheit in der Schladt 
fümpft, fo iſt dies nichts meniger als eine Naturesfeheinung; 
allein den Kriegern ift ed im Kampfe im Seringften nicht darum 
zu thun, wie fie auöfehen, was für ein Bild fie einem Maler 
barbieten, daher kommen in diefer Schlacht neben foldden Grup⸗ 
pen und Situationen, melche ein Fünftlerifch ſchönes Schauſpiel 
barbieten, andere vor, melde für den Künftler ganz unbrauchbar 
find, daher tft die Schönheit, welche hier zu finden ift, eine bes 
wußtlofe, zufällige, d. h. eine bloße Naturfchönheit im Gegen⸗ 
fage gegen Kunftichönheit. Weil nun Hegel diefen Gegenfa mit 
dem Gegenfabe von Natur und Geift überhaupt verwechſelt, fo iſt 
diefer ganze Abfchnitt viel zu kurz audgefallen; er umfaßt in feiner 
richtigen Auspehnung nichtd weniger, als die ganze Welt, fo viel 
fie rohen, der Bearbeitung erft bedürftigen Stoff für die Phan- 
taſie und die Kunft enthält. Natürlich muß man hier weite Schritte 
nehmen, und nur dad Wejentliche heraudgreifen. Zuerft ift bie 
unorganiſche Natur zu überbliden, Erdbildungen, Luft, Waſſer, 
Licht, Farbe, Schall: vie Reihe beginnt wieder mit dem objer- 
tiven Im engern Sinne. Das zweite Gebiet umfaßt bie organic 
Natur, Hier follte die Aeſthetik, wenn fie von der vegetabilijchen 
Schönheit zur thierifchen- übergegangen ift, Hand in Hand mit 


399 


der Zoologie geben, freilich einer fperulativeren, als die bisherige 
ift, und das Stufenfyftem der thieriſchen Organiſation aud dem 
Geſichtspunkte durchwandern, daß je die befeeltere Form auch) die 
ſchönere ift, wobel die nahe liegenden Einwendungen ſich nament- 
lich durch das widerlegen, mas ich in meiner Schrift über das 
Erhabene und Komifhe, ©. 30, 31 gefagt habe. Ift man nun 
bis zur menſchlichen Geftalt aufgeftiegen, fo beginnt ein neued 
Gebiet, denn indem der Ausdruck derfelben der einer vollfom> 
menen Befeelung ift, fo ift ihre Schönheit nicht mehr bloß eine 
natürliche, fondern eine geiftige oder geiftig natürliche. Die menſch⸗ 
liche Schönheit bildet die dritte Sphäre, und hier beginnt bie 
Betrachtung wieder von unten, d. h. der Menfch wird zuerft in 
feiner unmittelbaren Erſcheinung oder ald einfache Ipentität ber 
Seele und des Leibs in’s Auge gefaßt und die ſpecifiſchen Schön- 
heiten feiner ganzen Geftalt aufgemiefen. Cine zweite höhere Ab- 
teilung in diefer Sphäre bilden die natürlichen Unterſchiede des 
menschlichen Geſchlechts, die aber zugleich bereits geiſtig ſittliche 
ſind, oder das anthropologiſche Gebiet. Die Altersſtufen, der 
Unterſchied der Geſchlechter, ſeine Aufhebung in der Liebe, die 
Ehe, die Familie find hier vom äſthetiſchen Standpunkte zu bes 
trachten; die Yamilie führt zur Verzweigung der Gefchlechter, 
wie ſie fich als Volk ausbreitet, die Völkerracen find nad Tem⸗ 
yerament, Geftalt, Tracht Eurz zu überbliden, und der Begriff 
des Volkes leitet nun zur dritten Stufe hinauf, zum Staate oder 
zum fittlichen Geifte in feiner durch ihn frei geformten Erſcheinung. 
Hier find nun die gefehichtlihen Hauptformen des Staatslebens 
aufzuführen und nachzuweiſen, welche die Afthetifch wortheilhaftere 
jei: der antife Staat, zuerft der patriarchafifche und deſpotiſche 


360 


des Orients, dann der heroiſche, republifanifche, kaiſerliche des 
klaſſiſchen Alterthums, Hierauf der mittelalterliche Feudalſtaat, 
endlich der verftändig monarchifche der modernen Zeit, durch feine 
mechaniſchen Formen der ungünftigfte für Afthetifde Behandlung. 
In diefen Abſchnitt, nicht in die Lehre vom Ideale, gehört, maß 
Hegel im dritten Kapitel des erften Iheild vom allgemeinen Welt- 
zuftande fagt. Wir haben hier die große Welt vor ums, aus 
welcher die beveutendften Zweige der Kunſt, namentlich die dra- 
matifhe Poefle, ihre Stoffe nehmen; der Aefthetifer muß bie 
wirkliche Kunft immer bereit3 im Auge haben und kann es, ohne 
zu anticipiren; es bebarf bei jedem Punkte nur eines Winfes, um 
dem Schüler klar zu machen, warum bie vorliegende Sphäre 
wichtig ift, fo z.B. im vorhergehennen Abfchnitte, menn von ber 
Familie die Rede tft, genügt es, an den Rear zu erinnern, um 
auf die Bedeutung diefes äſthetiſchen Stoffs aufmerkfjam zu machen. 
Daß auch in dieſem Gebiete eine Furze, überfichtliche Zeichnung 
mit breiten Strichen nothwendig iſt, verfteht fih. Uebrigens darf 
auch die Frage nach dem veränderten Charakter, den in den ver- 
ſchiedenen Culturſtufen des Staatslebens die Indivibualität an« 
nimmt, nicht umgangen werden. Im modernen Staate z. B. 
wird in dem Grade, in welchem die Lebendigkeit aus den mecha⸗ 
niſirten Formen des Öffentlichen Lebens ſich in's Innere zurück⸗ 
zieht, das Privatleben, die perſönliche Bildung wichtig, und hier 
iſt der Punkt, an welchen ſpäter die Lehre vom Roman und der 
Novelle anzuknüpfen hat, während dagegen dad antike Staats⸗ 
leben jene objectiven, ungetheilten Charaktere hervorbrachte, welche 
man kennen muß, um die Plaftit, um die antife Tragödie zu 
verfteben. 


361 


Das aljo wäre der Inhalt des erften Abſchnitts im zweiten 
Theile, oder der Lehre von der bloß obfectiven Eriftenz des Schö⸗ 
nen, d. h. der Naturſchönheit. Der Uebergang zum zweiten Ab⸗ 
ſchnitte vermittelt fich von ſelbſt, indem am Schluffe alle Mängel 
aufzuzählen find, "mit denen die Naturſchönheit behaftet ift, ihre 
Seltenheit, Zufälligfeit, Untermiſchung mit Unſchönem, . ihre 
Flüchtigkeit. Daß man dieſe Mängel findet und bemerkt, dies 
feßt bereit3 ein Princip voraus, das Über der Naturfchönheit ſteht 
und mit den Maafftabe einer geiftigen Idee des Schönen zu ihr 
tritt. Alle Mängel des Naturfhönen haben ihren Grund in ſei⸗ 
ner Bemwußtlofigkeit, jenes Princip ift alfo in einem Selbſtbe⸗ 
mußten zu fuchen, es muß ein fubjectiveö fein. Hier iſt denn ber 
vielbeſprochene halbwahre Sat von der Naturnachahmung zu 
würdigen und findet aus dem, was ſich bereitö ergeben hat, feine 
einfache Erledigung. 

Der zweite Abſchnitt nun hat zum Juhalte bie andere 
noch einſeitige Form der Exiſtenz des Schönen, nämlich die bloß 
ſubjective oder innerliche, die Phantaſie. Die Naturſchön⸗ 
heit iſt jetzt wirklich objectiv, bloßes Object für die Phantaſie ge⸗ 
worden, wie die Natur überhaupt die Beſtimmung hat, Object 
für den Geift zu fein. Die Kehre won der Phantafle ald dem Or⸗ 
gane des fubjectiv Schönen theile ih nun in zwei Linterabfchnitte; 
der erfte handelt von ber Phantafle überhaupt und dann von dem 
Graben der Ausftattung des Subjects mit Derfelben, ber zweite 
von der Phantafle der Völker, von den großen Hauptperioden 
des Äfthetifhen Ideals, Elaffifch, romantifh, modern. Im erften 
Unterabfehnitte beginnt die Lehre von der Phantafle überhaurt 
wieder objectiv mit der Aufnahme ber Naturfchönheit durch bie 


362 


finnliche Anſchauung, unb laͤßt mit der Innerlichfehung berfelden 
durch die Einbildungskraft. und ber geifligen Umgeftaltung ihrer 
Bilder durch bie Idee die Phantaſie, bie organifche Einheit von 
ee und Bild, das Ideal — zunächft das bloß innerlich vorge: 
bildete — entftehen. Man ift bier ganz auf pſychologiſchem Ge⸗ 
biete. Auf die Lehre von der Phantaſie folgt bie Darſtellung ter 
verſchiedenen Stufen ber Begabung des Subjects mit derſelben, 
Talent und Genie; vielleicht ließe fich von beiden ein fragmen⸗ 
tartjche8 Genie, mie denn Beiſpiele eines folchen leicht aufzuweiſen 
fein werben, als mittlere Form unterjcheiben. 

Den zweiten Unterabfchnitt des zweiten Theils nun bildet 
nach meiner Anoronung ber Gegenftand, welchen Hegel unter 
dem Namen der befonderen Kunftformen ben ganzen zweiten Haupt⸗ 
theil de3 Syſtemes gewidmet Hat; eine Ausdehnung, welche offenbar 
nicht möglich gewefen wäre, wenn nicht Segel aus dem äfthetifchen 
Gebiete hier mehr, als recht ift, in das der Religionsphiloſophie 
hinüberſchweifte. Daß die Lehre von den biftorifchen Sauptformen 
bes äſthetiſchen Ideals in den Abſchnitt von der fubjectiven Exiſtenz 
des Schönen als Phantafle gehört, wird wohl nicht beftritten 
werden; denn es ift hier noch nicht die Nede von den Vormen ber 
wirklichen Kunft, in welchen die Phantafle der Völker und Zeit 
alter fich Außerte, fondern von dem inneren Grunde ihrer Vers 
fihtedenheit. Der Uebergang bildet ſich ganz von felbft, inven 
man am Schluffe der Darftellung des Genie dad weientliche Mo⸗ 
ment bervorhebt, daß daffelbe nichts Iſolirtes ift, ſondern in fei- 
nem Volke wurzelt und den Menfchengeijt durch dad Mebium 
feines Volksgeiſtes ſpiegelt. Gewonnen wird aber Durch dieſe meine 
Anordnung insbeſondere eine höchft einleuchtende Parallele mit 


, sAAm — u, —— nn. — — .. 


363 


dem erſten Abfchnitte dieſes Theils. Die Lehre von ber Nature 
ſchönheit naͤmlich erhob fich von ber Betrachtung ber unorganiſchen, 
organifchen, menſchlichen Natur zu dem höheren Schaufpiele, wel⸗ 
ches das Völferleben in feiner gefchichtlichen Erſcheinung darbietet. 
Die verfehtebenen Staatöformen bed Orients, des Hafftfchen Alters 
thums, der mittelalterlihen Völker, ber mobernen Zeit müflen 
bort, mie ich behauptete, mit kurzen Neberblicken nach ihrem äfthe⸗ 
tiſchen Werthe beurtheilt werden. Diefer Abtheilung nun entfpricht 
die gegenwärtige, welcht von ben gefchichtlichen Epochen des äfthes 
tiſchen Ideals handelt, auf eine höchſt zweckmäßige Weile. Iene 
Betrachtung war obfectiv, es war die Rebe von den Zuftänben 
biejer Völker, fofern fie der äſthetiſchen Behandlung mehr ober 
weniger Stoff abwerfen; biefe ift ſubjectiv, es wird unterfucht, wie 
ſich in jenen Zuftänden die eigene Phantaſie der Völker ausbildete, 
welches Ideal des Schönen fie fi ſchuf. Ih Hole hier zugleich 
die Bemerkung nach, daß ſich auf die vorangehenden Stufen beider 
Abſchnitte dieſelbe Kategorie des Objectiven und Subjectiven mit 
Leichtigkeit anwenden ließe. Die unorganiſche Naturſchönheit iſt 
obiectiv, ebenſo die erfte Art, welche der Thätigkeit der Phantafie 
vorausgeht, nämlich die ſinnliche Anſchauung. In der organiſchen 
Schönheit beginnt die ſubjective Beſeelung und vollendet fich in 
ber menſchlichen; ebenfo beginnt die freie, ſubjective Durchdringung 
der durch die finnlihe Unfchauung aufgenommenen Welt in der 
Einbildungsfraft und vollendet fih in der Phantafle; das Leben 
der Völker aber ift objectiv=fubjectio, denn ber Staat iſt dad Ges 
bäude einer zweiten Natur, das der Wille in die Wirklichkeit hinein⸗ 
ſtellt; ebenſo ift die Phantafte der Völker objectiv » fubjectiv, bein 
das Bild der Schönheit, das fie fi ſchafft, lebt im Geifte der 


Sn 


364 


Subjecte, ber aber ein Gemeingeiſt ift und Bolt und Welt in biefem 
Bilde nieberlegt; faßt man aber jedesmal den ganzen Abfchnitt in's 
Auge, fo bleibt jene ganze erfte Reihe objectiv, dieſe zweite ſubjectiv. 

In der Eintheilung dieſer Hauptepochen des Ideals nun babe 
ih nach langer Erwägung eine von Hegel abweichende Anorbnung 
vorgenommen. Diefe Erwägung ’betraf bie Trage, ob das mo- 
derne Ideal als eine beiondere Form aufzuzählen ober unter das 
romantiſche zu fubfumiren fet, fo etwa, daß es, wie Segel thut, 
als Auflöſung deſſelben an ven Schluß geſetzt würde. Für bie 
Subfumtion fprechen die mejentlihen Merkmale, welche das mo« 
berne Ideal mit dem mittelalterlichen im gemeinſamen Unterfchiebe 
von dem klaſſiſchen theilt; ja das Princip felbit, wenn man will, 
haben beide mit einander gemein, bie Religion des Gelftes näm- 
lich, vertieft von dem germanifchen Gemüthe, die Innerlichkeit, vie 
maleriſche, muſikaliſche Stimmung im Gegenſatze gegen die plaſtiſche. 
Allein zwifchen beiden fteht doch die ungeheure Kluft der Aufflä- 
rung, welche die moderne Kunft als ihre negative Voraudfegung 
niemal3 verläugnen darf noch kann, die der Autorität entwachſene 
freie Subjectivität, die fi in einer verfländig zufammenhängenden 
Weltordnung umfchaut, die Trennung der Kunft von der Reli 
ion, die Verweltlichung der Kunft. Es ift diefelbe Frage, wie 
bie, ob die Reformation, diefer Incivenzpunft des Modernen in 
ber Gefhichte, eine Bewegung innerhalb der riftlichen Kirche, 
ober über biefelbe hinaus fei, wo fi) auf beides mit Ja antiworten 
läßt. Gegen die Auffaffung des modernen Ideals ald einer eigenen 
Form ift noch vorzubringen, daß die moderne Phantaſie noch Feine 
sufammenhängende, ſchwungvoll blühende Kunft aus fich hervor: 
gebracht hat. Die niederländiſche Malerei im 17ten Jahrhundert, 


[2 | Om [2 | [_ 


369 


die deutſche Muſik und Poeſie in der zeiten Hälfte bes 18ten, die 
jeßigen vielverfprechenden Anfänge neuer Malerfgulen in Deutſch⸗ 
land, Frankreich, Belgien find Früchte einer von der Anſchauungs⸗ 
weiſe des Mittelalters wefentlich verſchiedenen Bildung der Phan⸗ 
tafle, allein es find vereinzelte Neuerungen, bie noch Fein großes 
Ganzes, Feine zufammenhängende Hauptepoche, Fein geichloffenes 
MWeltalter ver Kunft zu ſchaffen vermodhten. Man Fönnte fi auf 
Shakſpeare berufen und fagen, mit ihm fet bereitö unmittelbar 
nach dem Ablaufe des Mittelalter das Moderne ein» für allemal 
Epoche⸗bildend durchgebrochen, ſchon fofern er ein dramatiſches 
Genie war, das Dramatiſche aber eine in ihrem Princip moderne 
Kunſtform iſt. Allein in Shakſpeare vereinigt ſich das Mittel⸗ 
alter und die neue Zeit, der Geiſt des ſelbſtbewußten Willens und 
der ahnungsvollen Nacht, ſo wunderbar, daß dadurch von Neuem 
ein Zweifel entſtehen muß. Hier iſt keine andere Löſung, als 
hoffnungsvoll in die Zukunft ſchauen und größere, zufanmenhän« 
gende Früchte der modernen Kımfl von ihr erwarten, übrigens 
mit Berufung auf die große Krifiß, welche die moderne Zeit vom 
Mittelalter trennt, einen ſcharfen Strich zwifchen dem Ideale bei 
der Zeiträume ziehen. Am fhlimmften freilich wäre e8, mern man 
und diefe Hoffnung felbft nähme, wenn Jemand der Beweis ges 
Lingen follte, daß eben das, was die moderne Zeit von jedem frühes 
ren Weltalter unterfcheidet, zwar etwas Erhabenes ſei, fo lang 
man diefen Ausdruck nicht auf die Erſcheinung beziehe, aber auch 
ein ätzender Geift, der alle Naivität und Kunft zerfreffe. Ich für 
meinen Theil befenne, baß mein Zutrauen zu der Zukunft der 
Kunft gewiſſe Schwankungen bat; man wird fie bemerken, wenn 
man meine Anzeigen von Overbecks Bild, von ben Rambourfchen 


366 


Aquarellfopleen und dann von Hallmann's „Kunſtbeſtrebungen 
der Gegenmwartu liest. Wahr bleibt immer, daß und die moderne 
Weltanſchauung eine Welt von Kunftftoffen, ja daß fle und die 
Welt erft geſchenkt hat, indem fie die tranftendente Afterwelt zer⸗ 
ftörte; allein die Frage ift, ob die Eritifche Kraft, welche zu dieſem 
Bau einer neuen geiftigen Welt nöthig ift, nicht, indem fle einen 
neuen Boden für die Kunft gewinnt, zugleich die Stimmung aus⸗ 
ſchließt und zerftört, welche Dazu gehört, ihn freudig und rüſtig zu 
erobern. Stier figt aljo ein Neft von Zweifeln, aus dem man mit 
den gleihen Füßen des Glaubens herausfpringen muß, und fo 
wollen wir ed denn anıh halten. 

Inden ig num das Moderne als eine felbftftändige Haupt⸗ 
form des Afthetifchen Ideals aufftelle, halte ich dennoch) die dreis 
gliedrige Eintheilung dadurch feſt, daß ich die orientalifche Phantaſie 
nicht als eine eigene Form aufftelle, fondern als eine mur vorbe⸗ 
Teitende unter das antike Ideal ſubſumire. So reih und groß 
nänli die orientaliſche Kunft ift, fo erfcheint fie doch durchaus 
unreif und weist über fih hinaus auf ihre Vollendung in ber 
griechiſchen. Ste ift ſymboliſch, d. h. fie Hat die innere Einheit 
von Idee und Bild, welche allem Schönen weſentlich ift, noch 
nicht gefunden, fie geht noch nicht auf die Schönheit als folche, 
fondern auf die Wahrheit, der fie die Schönheit opfert. Ein Göt⸗ 
terbifd mit drei Köpfen, mit vier Armen, einer Menge von Brüs 
ften u. f. w. ift unfchön, aber eben darum flieht man ſogleich, daß 
es nicht um Die Form, fondern um den Sinn zu thun ifl. Die 
orientalifche Phantafte ift Schwelle, Vorhalle, Spannung auf die 
griechijche, wie der ägyptifche Tempel die Propyläen zum griedhie 
ſchen darſtellt, indem er faft nichts als Vorbereitung, Cingang, 


367 


Schale ohne letzten Kern iſt. Ich laſſe nun die Kategorie des Ob⸗ 
jectiven und Subfectiven wieder als audgefprochenen Eintheilungs⸗ 
grund hervortreten, und feße als erfte Sauptform pas objective 
Ideal der antiken Phantafle, als Vorſtufe verfelben die vorbe⸗ 
reitende orientalifche, als Mittelpunkt Die griechiiche, als Ende bie 
römifhe. Das Merkmal der Objectivität, unter welches ich dieſe 
geſammte Form ſtelle, brauche ich Hier nicht zu erflären und zu 
rechtfertigen; jeder verfteht e8 und gibt es zu, der die antike Kunft 
kennt. Durch dieſes Prädikat fteht Die vorliegende Unterabtheilung 
wieder dem Abfchnitt von der Naturfchönheit parallel, mie ja die 
Religion, welcher die fo beftimmte Phantaſie angehört, Natur⸗ 
‚religion war (auch die griechiiche, wiewoht fle als Vollendung der 
Naturreligion zugleich über fie hinausgeht und zur Neligion ver 
fchönen Menſchlichkeit fich erhebt). Der Abſchnitt von der orientali⸗ 
ſchen oder ſymboliſchen Kunftform ift ed num inäbefondere, welchen 
Hegel viel zu weitläufig behandelt hat; e8 genügt, die indifche, die 
agyptifche und die moſaiſche Kunftanfchauung aufzuführen. Ebenſo 
bat er ven „Geſtaltungsproceß der Haffifchen Kunftform“ zu aus» 
führlich dargeftellt, denn alles bloß Symboliſche gehört eben, meil e8 
erft ſymboliſch ift, mehr der Religionsphilofophie, als der Uefthetifan. 

Den Uebergang zur Lehre von der romantijchen Phantaflie 
vermittelt in meiner Behandlung der Begriff des Schickſals. Lieber 
den Göttern ſchwebt das Schieffal, und dieß ift zugleich ihr Schick⸗ 
ſal. Denn das Schickſal tft die ans dem Selbft Hinausgemorfene, 
in einem Jenſeits firirte innerfte Freiheit des Menfchen. Wie die 
Götter eigentlich die menfchlihen Kräfte find, fo iſt das Schickſal 
die Einheit dieſer Kräfte, das reine Ich, die Freiheit; aber diefe 
Sreiheit muß, da die concreten menfchlichen Kräfte, deren Einheit 


368 


fie ift, in den Göttern obfectivirt unb auseinander gezogen find, 
zur fürdterlihen grundlofen Naht werben, von welcher nichts 
mehr auszufagen ift, als das Präbifat der unendlichen Macht. 
Gemeint ift mit diejer Macht die Macht ver Freiheit; aber hinaus⸗ 
verlegt aus dem Inneren, wo fie im Mittelpuntte der von ihr bee 
herrſchten Kräfte heiter und ſelbſtbewußt thront, und getrennt von 
dieſen, melche ald Götter neben ihr beftehen, wird fie zur graufen 
Nothwendigkeit, der Menſch erkennt fich nicht mehr in ihr, feine 
Entſchlüſſe kommen ihm nicht mehr von innen, jondern fie find 
ihm von diefer fremden Nothwendigkeit gegeben. Nur eine Ab- 
nung bleibt, daß das Schickſal eigentlich der eigene Wille ift, daher 
jene Antinomie der Schuld und Unfhuld in der griehifchen Tra⸗ 
göbie, bie ich in meiner Schrift über das Erhabene und Komiſche 
noch nicht zu erflären mußte. Dieſes Schickſal nun fehmebt über 
den Göttern; aber die Zeit wird fommen, da das Schickſal dahin 
einfehrt, woher es eigentlich kommt, d. h. in's Innere, und bieß 
geihieht, ſobald der Menſch fich feiner inneren Unendlichkeit und 
Breibeit bemußt wird und dadurch mieder in fich hereinnimmt, mad 
er aus fih Hinausverlegt hatte. Dann find die Götter verloren, 
denn dann weiß der Menſch auch, daß fle nichts anderes find, als 
feine eigenen Kräfte, die Organe cben der Freiheit. Zunächſt find 
bie Götter dad Hinderniß, daß das Schiefal, d. h. das reine Ich, 
und der Menſch nicht zuſammenkommen können, fie ftehen dazwi⸗ 
ſchen als trennende und ausſchließende Materie und werfen Schat- 
ten, fo daß der Menſch Hinter ihnen, im Schickſal nicht fich ſelbſt 
erkennen kann. Uber er kommt dahinter, und fie find geftürzt. 
Das Ideal des Mittelalter8 nun, was fonft romantiſch 
heißt, führe ich auf als das Ideal der phantaftifhen Sub- 


369 


jeetivität und halte fo ohne Zwang meine Kategorie feſt. Sub⸗ 
jectivität: denn dem Geifte ift feine innere Unendlichkeit aufgegangen, 
wogegen jedes finnliche Ding zum durchſichtigen Schleier dieſer See» 
lentiefe herabgeſetzt ift. Phantaſtiſche Subjectivität: denn durch den 
Reſt von Moſaismus und Polytheismus, von welchem fich bie 
Völker des Mittelalterd, vie romanifchen insbeſondere, nicht bes 
freit hatten, ift im Widerſpruch mit dem Princip der Innerlichkeit 
Gott in einem Jenſeits firirt und dort in einen Olymp von über- 
weltlichen Geftalten audeinander gezogen, und Daraus folgt das 
phantaftifche Bewußtſein des Mittelalters. Die antife Weltan- 
ſchauung war einfach in fih, der Menſch ſuchte und fand ſich in 
feinen Göttern; der Menſch des Mittelalters Hat fich in fich und 
ſucht fich doch außer fi, naher fieht er Alles in gebrochenen Lich⸗ 
tern: ein allgemeined Doppeltfehen,, nichts ficht der Menſch, wie 
es ift, zwiſchen fi und jedes Ding ſchiebt er die geifterhafte Ge⸗ 
ftalt, in welcher er fich ſelbſt ahnt und doch nicht erfennt. Hätte 
dad Subject wahrhaft und ganz fich felbft, fo würde ihm auch das 
Object Elar gegenübertreten, dann würde es eine helle und unbe⸗ 
fangene Betrachtung der Natur, der Geſchichte, einen geordneten 
Staat geben. Allein das Subject hat ſich erfaßt und zugleich wie⸗ 
der verloren, ſeine auf's Neue in ein Jenſeits hinausgeſtellte Maske 
lauſcht daher hinter jedem Ding, die Natur iſt voll von Geiſtern, 
die Geſchichte voll von Wundern, und der Staat, weil ein ſolches 
Subfert. nicht Zeit hat, ſich zu bilden, fonbern, indem e8 feinen 
Himmel jenfeits fucht, inzwiſchen die Sinnlichkeit frei gehen Täßt, 
eine Atomiftif roher, ſelbſtändiger Kräfte, welche nod) Fein Geſetz 
anerfennen.. Das Weltmefen, dem fein Innered auögefogen iſt, 
Aritiſche Gänge II. RA. 


370 


um es als jenfeitige Geftaltenwelt zu fixiren, kann fich zu Teinem 
vernünftigen Organismus entwideln. 

Inden nun dieß die letzte Form desjenigen aſthetiſchen Ideals 
iſt, das die innere Welt in Mythen obiectivirt, ſetze ich an den 
Schluß dieſes Abſchnitts die Beſtimmung des Begriffs der Alle⸗ 
gorie. Die Allegorie iſt nichts Anderes, als (das Symbol und) 
der Mythus, die nicht mehr geglaubt werden. Die gläubige Phan⸗ 
taſie der Völker wirft theils im Symbol, in welchem zwar für 
und Idee und Bild bloß durch das Außerliche Band eines tertium 
comparationis verbunden find, theils im Mythus, in welchem bie 
ee ihr Bild'zwar als innere Seele durchdringt, welcher aber 
für und nur äfthetifche, nicht dogmatiſche Wahrheit Hat, Gedanke 
und Bild fo zufammen, daß fle ihr Gebilde für ein wirkliches, le 
bendes Wefen hält. Sobald der Geift Fritifch wird, hebt er Dicke 
Einheit auf und was fonft Symbol oder Mythus war, wird nun 
Allegorie, d. h. ein Bild, an das wir nicht glauben, fondern dad 
wir im Betrachten auflöfen, um abftract feine Bedeutung zu finden. 
Bötter, Maria, Heilige, jüngfte Gerichte find jeßt todte Allegorieen. 
Zugleich werden durch einen willfürlichen Akt des Verſtandes deut: 
lich gedachte Ideen in neue Bilder geſteckt und fo neue Allegorieen 
geſchaffen. Die Allegorie ift das Merkmal einer zerfallenen Kunft, 
dad Ende des Mythen bildenden Ideals, in der neuen Kunft als 
Verirrung zu verfolgen ober nur ald vereinzelte Nothhülfe zu dulden. 

Als dritte Sauptforn nun fee ich alfo Dad moderne Ideal 
unb nenne es dad Ideal der gebildeten,.d. h. der wahrhaft 
befreiten und zugleich mit der Objectivität verfühnten 
Subjectivität, woburd ausgeſprochen ift, daß bier das Ob⸗ 
jestive und Subjective wieder in Eins zufammengehen. Wenn nun 


971 


das antife Ideal durch feine Objectivität der Naturſchönheit analog 
entipricht, dad romantifche ber fubfectiven Schönheit oder der Phan- 
tafte, fo findet allerdings diefe dritte Form im bisherigen Syſteme 
ihren parallelen Theil nicht, aber eben deßwegen nicht, weil wir 
biemit auf dem Punkte ftehen, in den dritten Haupttheil überzu- 
gehen, worin die biäher im Großen getrennten Gegenfäge des Ob- 
fectiven und Subjectiven fich aufheben werden. Die Auflöfung der 
biöherigen Gegenfüge in Diefer legten Form des Ideals zeigt an, 
bag der Begriff der Schönheit num reif ift, in die wahrhafte und 
höchſte Form jeiner Verwirklichung überzugehen. Ich muß jedoch 
mein der modernen Phantaſie zugetheiltes Prädikat erſt rechtferti= 
gen. Die gebildete Subjertivität ift Diejenige, welche der Fixirung 
ihred eigenen Innern in einem Jenſeits, von dem fie nun unfrei 
beberricht wurde, entwachfen ift und fich felber in ihrer Freiheit 
bat und weiß. Der Eritijche Geift, der mit der Reformation durd)- 
bricht, hat dieſes Werk vollbracht, die Subjectivität fich ſelbſt zurüd- 
gegeben. Die Phantasmen, die Mythen find nun zu Ende. Das 
Subject, indem es fich felber. gemonnen hat, ftellt fich eben Hiemit 
auch das Object Elar gegenüber und fieht die Welt, mie fie ift. 
Nun erft kann e3 zugleich an ſich felbft arbeiten, feine Sinnlichkeit 
mit feiner Bernunft durchdringen, d. h. fich bilden, und zugleih 
fich in die Objectivität hineinbilden und fie zu einem Spiegel und 
Wohnort der disciplinirten Perfönlichkeit umgeftalten. Es findet 
fih in fi und eben daher in ber Welt wieder, ift in biefer zu 
Haufe. Die Welt ift entgöttert, die Natur entgeiftert, die Gefchichte 
von Wundern entleert; wir haben, ich wiederhole es, bie Auf⸗ 
Härung hinter und und fünnen nimmermehr thun, als hätten 
wir fle noch vor und. Iſt aber die Welt entgeiftert, fo ift fie erft 
241 * 


372 


wahrhaft begeiftet, die falfhen Wunder find verſchwunden und 
bie wahren erſchienen, die Götter geftürzt, aber der wahre Gott 
geht durch die ganze Welt und fpricht als immanenter Geift aus 
der verflandenen Orbnung und Geſetzmäßigkeit der Natur und al- 
les Lebens. Es geht Alles mit natürlichen Dingen zu und doch 
„webt in ewigem Geheimniß Alles unſichtbar fihtbar neben dir.“ 

Man weiß, wie mit der Reformation die humaniſtiſchen Stu- 
dien zufammentrafen und beide in dem gleichen Sinne wirkten, bie 
gleichen Feinde Hatten. Es war die Objectivität der antiken Welt, 
melde dad vorher yhantaftifche Subjeet nun kennen Iernte, mit 
freudiger Verwunderung begrüßte und ſich anzueignen begann; 
dad zu Haufe fein in der Welt, die gediegene menſchliche Sitte, 
bie unendliche Entfernung von jeder Verflüchtigung der Kräfte in 
Tranfeendenzen, diefe ganze helle Gegmmärtigfeit, das mar e8, 
was dem düfteren, winterlichen Geifte der nordifchen Völker nun 
zum erftenmal aufging. Es iſt alfo diefe Verfühnung ber, phan⸗ 
taftiichen Subjectivität mit der Objectivität wirklich auch hiſtoriſch 
tine Vereinigung des Romantifchen und Klaffifken, fo daß nicht 
etwa nur überhaupt die Bildung den neueren Völfern jene Ver: 
ſöhnung mit der Wirklichkeit brachte, fondern fie fehöpften dieſe zu 
einem guten Theile eigentlih und wirklich aus den Alten. Diep 
war nun zugleih eine neue formelle Kunftbildung; die unver: 
miſchte Romantik war bei aller Unendlichkeit des Gehalts nie von 
Sormlofigkeit frei, das Formgefühl ald ſolches mar noch nidt 
ausgebildet, das Bewußtſein der ſchöpferiſchen Freiheit und ihrer 
Gejegmäßigkeit. Die Grazie der Alten ging nun der Phantafie 
auf, die Durchfichtigkeit der Form, die reine Harınonie der Form 
mit dem Gehalte. Nirgends ift dieſe Vereinigung ſchöner vollzo- 


373 


gen, alö in unferem Goethe und Schiller. Daß auch fie als eine 
Verſöhnung der Subfectivität mit der Objectivität zu bezeichnen 
ift, bebarf Feiner Ausführung. 

Inden nun Feine Form des Ideals mehr zurüd ift, fondern 
die Gegenjäte, die in ihm gegeben fein können, (dem Umkreis un⸗ 
ferer Begriffe nad) erfhöpft find, fo ift dieſer Begriff der fub- 
jectiven Exiftenz des Schönen als Phantafle erfüllt und fertig, in 
einen anderen höheren überzugehen und biefer bildet den britten 
Theil. Die zwei Uefte, die zwei einfeitigen Formen der Eriftenz, 
in welche ver allgemeine Begriff des Schönen im zweiten Theile 
fih ausıinandergelegt, gehen wieder zujummen und wir erhalten 
die fubjectiv=objective Eriftenz des Schönen in der 
Kunft. Wie der Begriff der Kunſt gefunden wird, brauche ich 
bier, mo ich die Ausführung nicht ſchuldig bin, nur anzubeuten. 
Am Schluffe des Abfchnittd von ber Naturſchönheit wurden die 
Mängel derfelben aufgezeigt, welche insgeſammt in ihrer Objectivi- 
tät begründet find; am Schluffe des Abfchnitts von der Phantafte 
find ebenfo die Mängel diefer bloß innerlichen Exiſtenz des Schönen 
in der ſubjectiven Vorftellung aufzuzeigen. Nun erhellt, daß die Na⸗ 
turfehönheit duch ihre Objectivität eben fo fehr einen Vorzug vor 
der Phantaſie hat, als diefe durch ihre Geiftigkeit einen Vorzug vor 
der Bewußtloſigkeit des Naturfhönen. Die Phantafle muß alfo 
objectiv wirken, wenn fie diefen Mangel decken will, dieß forbert 
ein-Herauögeben aus fi, eine Mittheilung dur das Mediun 
eines finnlihen Stoffs, der fo bearbeitet wird, daß er das innere 
Phantaflegebilde wiebergibt, eine Thätigkeit aljo, und dieſe Thä- 
tigkeit iſt die Kunſt. Das Produkt der Kunft nun muß die Mo- 
mente der Obfestivität und Subjectivität fo vereinigen, Daß in dem 


374 


Ideale, wie ed namlich erft im Innern des Künftlerd gegenwärtig 
war, nichts zurückbleibt, was nicht durch die Bearbeitung des 
finnlihen Materials volftändig zur Darftelung käme, und daß 
im Stoffe nichts zurückbleibt, was nicht das Ideal wiedergäke. 
Zur Objeetivität wird erfordert, daß Das Kunſtwerk ſich ſelbſt aus⸗ 
ſpreche, abgelöst von feinem Urheber, unbefangen und abfichts« 
198, wie ein Werk der Natur; ‚aber eben fo ſehr jol das Kımfl- 
werf feine Subfeftivität zu erfennen geben, man fol ihm anfehen, 
daß ed ganz aus dem Geifte ſtammt, und jeder Heft bloßer un- 
verarbeiteter Natur fol in ihm getilgt fein. Kant fagt: „An einem 
Producte der fehönen Kunft muß man fi bewußt werben, daß 
ed Kunſt ſei und nicht Natur; aber doch muß bie Zweckmäßigkeit 
in der Form deſſelben von allem Zwange willfürliher Regeln fo 
frei jheinen, als ob es ein Product der bloßen Natur fei. Die 
Natur war ſchön, wenn fie zugleich als Kunft ausfah, umd die 
Kunft kann nur fon genannt werden, wenn wir und bemuft 
find, fie ſei Kunft und fie und doch als Natur audfleht.« Nun 
erinnere man fi an die oben zum Anfang gegebene Definition 
bed Schönen, und man erkennt, daß jebt, aber auch jet erſt 
gefunden ift, wo denn dad Schöne eigentlich wirklich fei; nur 
die Kunft leiftet, was jene Definition fordert. 

Aus dem Geſetze vollftindiger Durchdringung der Subjectivi- 
tät und Objectivität find in der Aufftellung der allgemeinen Merk- 
male des Kunftwerfs, womit fi} dieſer dritte Theil zumächft zu 
beichaftigen hat, alle befonderen Beftimmungen mit Leichtigkeit 
abzuleiten. Die befte Anordnung dieſes Abſchnitts wird fein, 
wenn man zuerft von den Forderungen der Obfectivität in Bezie⸗ 
hung auf hiftorifche Treue u. f. w. handelt, welche an ein Kunft- 


375 


werk gemacht werben, hierauf das Recht der Subjectivität, ber 
Perfönlichkeit des Künftlerd in Betracht zieht, bie er allervings 
in feinen Werken niederlegen fol, die ſich aber zunächft als bloß 
individuelle Gewöhnung nicht felten auf Koften ver Sache geltend 
macht: die Manier. Die höhere Einheit diefer Momente endlich 
tritt im Style auf, d. h. der zur technifhen Gewöhnung gewor⸗ 
denen oenlität der Behandlung, worin eine vom Gewichte des. 
Gegenſtandes durchdrungene, mächtige Subjectivität zugleich fich 
felbft und die großen Hauptzüge des bargeftellten Objectes gibt. 
Hier treten dann die befannten hiftoriihen Phaſen des ftrengen, 
des hohen, des gefälligen und rührenden Styls hervor, die fi 
am deutlichſten in der Gefchichte der griechtfchen Plaſtik ausſprechen. 

Durch die Aufitelung jener beiden Momente ift nun aber auch 
das glüdlichfte Princip für eine Eintheilung ver einzelnen Künfte 
gegeben. Ueber die Unzulänglichfeit der früheren, von ber Art 
des Materiald oder ver Kategorie, unter melde daſſelbe fällt, 
Hergenommenen Eintheilung in plaftifche und tonifche Künfte, oder 
Künfte des Raums und der Zeit fage ich hier nichts. Auch zu 
Hegeld Eintheilung kann ich mich nicht verftehen; er legt das 
Hiftorifhe Moment zu Grunde und orbnet die Künfte nad den 
geſchichtlichen Hauptformen des Ideals, wonach die Arcitectur 
unter den Standpunkt der ſymboliſchen, die Sculptur der klaſſi⸗ 
ſchen, Malerei, Muſik, Poeſie der romantiſchen Kunſtform fallen, 
wobei von der letzteren allerdings ausdrücklich anerkannt wird, 
daß fie als die Kunſt, deren flüſſige Geiſtigkeit am wenigſten 
Kampf mit dem Materiale fordert, in allen geſchichtlichen Formen 
des Ideals gleich lebendig hervorgetreten iſt. In den Ueberſchriften 
hat zwar Hegel dieſen Eintheilungsgrund nur für die romantiſchen 


376 


Künfte ausdrücklich hervorgehoben, er hätte es aber der Gleich⸗ 
mäßigfeit wegen beſſer auch bei den andern gethan. Allein ih 
glaube, daß in der ſyſtematiſchen Cintheilung der Künfte nicht 
ein geſchichtliches, fondern ein rein logiſches Princip geltend zu 
machen ift; Hier iſt nicht die Rede davon, welche Künfte welchem 
Zeitalter befonderd entfprechen , fondern welchen Unterſchied von 
Künften der Begriff des Schönen mit innerer Notbiwendigkeit 
fordert, und es muß zunächſt feftgehalten werben, daß jede Epoche 
des Ideals alle Künfte angebaut hat. Allerdings trifft der logiſche 
Unterſchied mit dem hiftorifhen im Allgemeinen zufammen , io 
daß die Künfte, welche nach jenem die erfte, unmittelbarfte Stelle 
einnehmen, auch biftorifch in den früheren Formen bes Ideals 
aud inneren Gründen vorzüglich gepflegt wurden, allein e8 genügt, 
diejed Zufammentreffen in der kurzen Geſchichte oder richtiger Phi⸗ 
Iofophie der Gefhichte einer jenen einzelnen Kunft, zu welcher bie 
Lehre von dem allgemeinen Begriff verfelben fich zu erweitern hat, 
hervorzuheben. Cine jede einzelne Kunft wird nämlich) , nachdem 
ihr allgemeines Weſen dargeftelt ift, unter den Standpunft ber 
in zweiten Theile aufgeführten drei Sauptformen des afthetifchen 
Ideals gebracht und fo ihre Geſchichte in ihren Hauptzügen ent- 
wickelt. Bei den meiften Künften fällt die Aufzählung ihrer Gat⸗ 
tungen mit diefer Ihrer Gefchichte zufammen und man vermeidet 
dadurch die todte formelle Coorbination derſelben. So if z. B. 
die religiöfe Malerei weſentlich vie des Mittelalters, Landfchaft, 
Porträt und Genre eröffnen die moderne Malerei, das höhere 
geichichtlihe Gemälde bleibt noch Aufgabe. Der richtige Einthei⸗ 
lungsgrund kann nun offenbar Fein anderer fein, als berfelbe, 


welcher im ganzen Syſteme durdgängtg herrſcht. Die Kunft fi 


377 


die Wirklichkeit des Schönen, die Geſetze des Schönen find daher 
ihre Gejeße und. ihre Gliederung kann Feine andere fein, als die 
Gliederung des Schönen im ganzen Syfteme ; fie ift ein flufen- 
fürmig ſich entfaltended Ganze, welches innerhalb feiner Sphäre 
dieſelben Formen feiner Verwirklichung und aus derſelben inneren 
Nothwendigfeit wieverholt, durch die wir dad Schöne überhaupt 
zu feiner adäquaten Eriftenz auffteigen jahen. Dieß Geſetz iſt das 
ber Bewegung aus ber abftracten Allgemeinheit durch bie Unmit⸗ 
telbarfeit oder Obfectivität zur Subjectivität, und dann zur höhe⸗ 
ren Bereinigung biefer Gegenſätze; es ift aber auch das Geſetz 
der Verwirklichung einer jeden Idee, ja der Idee und hat hierin 
feine letzte und abfolute Nechtfertigung. Es wird fich zeigen, welche 
durchgängige Harmonie bed ganzen Syſtems wir durqh Einfüh⸗ 
rung dieſes Eintheilungsgrundes gewinnen. 

So tritt denn zuerſt eine Gruppe von Künſten auf, deren 
Werk mit der Naturſchönheit den Charakter vollfommener O b⸗ 
jectivität theilt, indem e8 als ſchwere Mafle in den Raum bins 
austritt. Dieſes in räumlicher Form eriftirende Gebilde trägt 
zwar, verglichen mit dem Naturſchönen, daſſelbe Gepräge der 
Idealitaͤt, wie alle Kunft, jedoch unter den eigenthümlichen Be- 
ſchränkungen, welche die ungeiftige, gegen ihre Bearbeitung gleich- 
gültige Materie mit ſich bringt. Es fehlt die wirkliche Bewegung 
und das geiftigfte Ausprudömittel, der Ton. Es find flumme, 
maſſenhafte Künfte: die Baufunft, die Plaſtik, die Malerei, 
fonft auch die bildenden Künfte genannt. Unter diefen trägt 
am meiften den Charakter der Objectivität die Baukunſt; dem 
ſchweren Stoffe, in welchem fie darftellt, nimmt fie umter allen 
Künften am wenigften dad Stoffartige, Mafienhafte, indem. fle 


378 


denſelben nicht zu einer organiſchen Form umbildet, ſondern nur 
nach abſtracten, geometriſchen Geſetzen anordnet. Daher gleicht 
ſie, wie die bildenden Künſte durch ihre Objectivität überhaupt 
der Naturfchönheit, fo innerhalb derſelben der unorganifchen, 
fle erfcheint als eine potenzirte unorganifche Natur. Sp wie num 
die unorganifche Natur eine organifdhe fordert, welcher fie zum 
Stoff und Boden dient, ebenfo muß die Kunft, nachdem fie als 
Architectur den unorganifchen Stoff zu einen ivealen Naume um« 
gebilvet hat, auch das Lebendige aufftellen, für das diefer Raum 
iſt; fie muß das Reich der abſtracten Linien verlaſſen und bie 
bejeelte organiſche Geftalt zu ihrer Aufgabe machen, und bieß 
it die Plaftil. Diefer Fortſchritt bleibt jedoch bei einer Grenze 
ſtehen, in welcher fich die unmittelbare Herkunft aus der Archi⸗ 
tectur noch verräth. Sie ſtellt nämlich die organiſche Geftalt in 
fhwerem, den Raum nah allen Dimenfionen erfüllendem Stoffe 
dar und gibt ihr dadurch den Charakter des Dauernden, einfach 
Seienden. Was fie gibt, iſt die reine Form, der Körper als ein 
Bau der Seele, ald ein „ſchönes Gewächſe«“, und fo entfpricht 
fie, wie die Baufunft der unorganiſchen Naturfhönhelt, dem 
Meiche der organifchen, dad menschliche Weſen mitbegriffen, fofern 
es noch als unmittelbare Einheit des Geiftigen und Leiblichen ge⸗ 
faßt wird. Die Malerei fteht, wie dieß von Hegel fo erſchoͤpfend 
nachgewieſen if, an der Grenze der bildenden Künfte. Gerade 
dadurch, daß fie nur einen Schein der räumlichen Dimenflonen 
gibt, hebt fie ih aus der Materialität heraus und nähert fi 
ten Künften, deren Darftelungsmittel nicht ein materiell ruhen⸗ 
bes, fondern ein geiftig bemwegtes if. Durch die Aufnahme ber 
Barbe in ihren unendlichen Berhältnifien zum Lichte wirb ber ganze 


379 


Geiſt der Auffaffung ein anderer. Wie nämlich die Natur über- 
haupt aus einem anderen Standpunkte angeſchaut wirb, wenn 
nicht mehr die compacte Beitimmthett der Geftalt das eigentliche 
Augenmerk ift, fondern die Magie des Lichts und Schattens und 
der Barbe über alle Gegenftände eine gewiſſe geiftige Stimmung 
verbreitet, ebenjo kommt e8 in der Darftellung der Perfönlichkelt 
aus demfelben Grunde jeßt nicht mehr auf die reinen Formen bes 
Gliederbaues, ar welche fich die Plaſtik hält, allein an, ſondern 
auf den geifligen Ton ‚ ber fich über dad Ganze deſſelben ergießt 
und ſich im Angeſichte, im Auge vor Allem concentrirt. Hiemit 
tft die Darftelung einer unmittelbaren Einheit von Geift und Sin⸗ 
nenleben, in welcher die Plaftik ſich bewegt, aufgehoben und bie leib⸗ 
liche Geftalt zur bloßen, für fich unfelbftändigen Hülle des Geiftes 
berabgefeßt, der, in feine Unendlichkeit zurückgegangen, nunmehr aus 
jener wie ein Licht aus einem gebrochenen Dunkel hervorfcheint. 
In der Togtichen Folge dieſer drei objectiven Künfte wiederholt 
fich zugleich die Hiftorifche der Hauptformen des äfthetiichen Ideals 
und bieß ift, wie oben bemerkt, in der Ausführung felbft, mo 
von den Hauptmomenten der Gefchichte jeder dieſer Künfte die 
Rede fein muß, nachzuweiſen. Nur darin tft die Analogie eine 
volftändige, bag man bier die ſymboliſche oder orientaliſche Phan⸗ 
taſte von der klaſſiſchen trennen, dagegen die romantiſche und 
moderne zuſammennehmen muß. Die Baukunſt nämlich ſagte 
vorzüglich der dunkeln Erhabenheit der Orientalen zu, bie Plaſtik 
war fo fehr der Ausdruck des griechifchen Geiſtes, daß auch alle 
andern Kuͤnſte in ihrem Sinne behandelt wurden, die Malerei 
gehört wefentlich den germantfchen und germanifch - romanifhen 
Völkern, welche, vom Chriſtenthum durchdrungen, den Ausdruck 


380 


ber Innigkeit und Innerlichkeit in aller Kunft fuchten und zuerft 
das romantifche, dann auf einer fpäteren Entwicklungsſtufe pas 
moberne Ideal fhufen. Es verfteht fich übrigens, daß diefe auf 
einem untergeorbneten Punkte fich ergebende DVeranlafjung , bie 
Ideale anders einzutheilen , Feine Aufforderung enthalten Tann, 
von der erften Eintheilung abzugeben. Im vorliegenden Falle tritt 
ber Unterſchied der orientalifhen Kunft von der klaſſiſchen und 
das Gemeinfame des romantiſchen und moberngs Ideals ſtaͤrker 
hervor, zwei Punkte, die wir in der Lehre von Ben Hauptformen _ 
des Ideals nihtӟberfahen, aber gegen das Gemeinfame dort 
und dad Tinterfcheidende Hier aus guten Gründen zurüdtellten. 
Zwiſchen diefe Gruppe von objectiven Künften num und zwi⸗ 
ſchen die höchfte und erfülltefte Korn der Kunſt in die Mitte iſt 
bie fpeeififch fubjective Kunſt, die Muſik, zu feßen. Sie ſteht 
im ganzen Syſtem ber Künfte fo eigenthümlich da, daß fle mit 
feiner andern in Eine Kategorie zufammengenommen werben darf. 
Zunähft Hefteht ihre Eigenthümlichkeit darin, daß fie auf alle 
säumlihe Darftelung für das Geſicht verzichtet; das Object 
ſowohl, welches, als das Subject, für melches fie darſtellt, iſt 
der Geift in feinem rein innerlichen Beitleben; die ganze Koͤrper⸗ 
welt ift in diefe Tiefe zurückgeſchlungen. Hierauf beruht der Bor- 
zug ber Muſik vor den bildenden Künften. Das Material nämlich, 
worin fie darftellt, ift der Ton. Zur Hervorbringung beffelben 
braucht e3 zwar ein Näumliches, einen Körper; aber gerabe im 
Tönen hebt diefer, momentan wenigftens, fein Fürfichbeftehen im 
NRaume auf, er wirb für Anderes und theilt fih mit. Diefe Mit- 
theilung gelangt an den Nero des Subject? und burch benfelben 
zu deſſen innerer Empfindung. &o ehrt durch ben Klang bie 


381 


ganze räumliche Welt in den einfachen negativen Punkt der Sub- 
jectioität ein. Diefe Bewegung iſt nun eben die Aufhebung des 
Raums in die Zeit, die Zeit aber ift die Form des ſubjectiven 
Lebens, oder richtiger das Subfect die lebendige, ſich empfindende 
Zeit. In diefer Verflüchtigung des Raums in die Zeit, worauf 
eben die Geiſtigkeit der Muſik beruht, Tiegt aber auch die eigen- 
thümliche Befchränfung und Mangelhaftigkeit diefer Kunfl. Es 
ift nämlich das äfthetifche Grundgefeß, daß das geiftig Innerliche 
auch erfcheine. Die eigentliche Hauptform aller Erſcheinung iſt die 
des Sichtbaren , die Verwirklichung der Ideenwelt ift Verkörpe- 
rung. Diefe Form, welche mit dem abäquateren Ausdrud des 
rein geiftigen Lebens, ven die Kunft allerdings fuchen muß, fo 
gewiß vereinbar ift, alö der Geift mefentlich in feinem Leibe fich 
realifirt, hat die Muſik hinter fich gelaffen und die Wiederher⸗ 
ftellung derfelben in einer höheren Weife noch nicht gefunden. 
Die Muſik Tann und fol nicht malen. Ihr Charakter ift Gegen⸗ 
ſtandsloſigkeit. Die ganze Welt der Körper Fann fie nur mittel= 
bar darſtellen, nämlich in ihrer fubjeetiven Wirkung. Von dem 
Leben des fubjertiven Geiftes fallen aber alle Formen, worin bie 
Entgegenfeßung zmifchen Subject und Object wirklich vollzogen 
ift, aus demfelben Grunde — weil fie nämlich Feine Objecte geben 
fann — für die Muſik weg und es bleibt ihr nur die ungeſchie⸗ 
dene Einheit der verfchievenen pſychiſchen Functionen, das reine 
Innewerden feiner felöft, die Empfindung, der dunkle Schoos, 
aus welchen alle beftimmten Seelenthätigfeiten auftauchen, deſſen 
Erinnerung fie in ihrem Verlaufe begleitet, und in welchen fle 
erlöſchend zurückſinken. Somit ift die Muſik eine rein fubjective 
Kunſt; die ganze fichtbare Geftaltenwelt und die ganze Welt gei⸗ 


382 


fliger Thatigkeiten, die ein Object voraudfegen, Tann fie nur 
durch das Medium ihrer Nefonanz in der Empfindung ausfpreden. 
In fi zwar hat die Empfindung ein unendliches Leben beftinmter 
Unterſchiede; aber verglichen mit den andern Sphären des Geiftes 
ift fle doch nur ein unbeftimmtes Weben in fich. 

Die Muſik Hai Alles und hat Nichts; dieß ift ihre eigen- 
thümliche Antinomie und der Grund, warum über Feine Kunſt 
jo großer Widerftreit der Urtheile herrſcht. Wer implicirte Unend⸗ 
lichkeit fucht, den entzüdt fie, wer objective Beftimmtheit fucht, 
den täujcht fie. Sie beglüdt das Weib und den weichen, innigen 
Mann, fte genügt dem ſcharfen, denkenden Geifte nicht. Sie ift 
für den, der auf dad Sehen organifirt ift, zu abftract geiflig; 
für den, der die höchſte Form der Kunft, die Poefie im Auge 
bat, zu finnlih. Sie Eonnte bei den Alten fi nicht in ihrem 
eigenthümlichen Wejen ausbilden, fie waren zu plaſtiſch, zu finn- 
lich; fie gehört dem romantifchen und modernen Ideale an, alio 
dem geiftigeren, dem Ideale der Imnerlichkeit; aber bier blüht 
fie am meiften bei den finnlicheren Völfern und das Theater be: 
herricht fie, wo das geiftigere Drama in Verfall gekommen if. 
Ih füge bier nur einen Winf über einen Punkt bei, worin und 
Hegel ganz im Stiche läßt, nämlich die gefchichtlihen Hauptmo⸗ 
mente der Muſik, deren Darlegung zugleich die Aufzählung ihrer 
wichtigjten Gattungen iſt. Es läßt fi aud hier ganz ungejudt 
unfere durchgängig angewandte Kategorie geltend machen. Die 
Muſik beginnt objectiv mit dem ftrengen Kirchenſtyle, fie nimmt 
dad Subjective aud dem Volkslied auf, führt ed als ermärmentes 
Element in ihre firenge Cinfachheit ein, bildet fo das auf dem 
Vebergang flehende Oratorium, und vereinigt endlich beide Ge⸗ 


383 


genfäße in der wahrhaft modernen Form, ber weltlih freien 
Muſik, ver Oper. Es liegt Hier ſchon ganz nahe, flatt der Ber 
nennung obfectiv u. f. w. die Terminologie der Dichtkunft epifch, 
lyriſch, dramatiſch anzuwenden, ja die Oper muß ſchon drama⸗ 
tiſch genannt werden; wir ſtehen dicht an der Grenze der Poefle. 
Wir müſſen nämlich die Muſik nicht nur nach rückwärts betrach⸗ 
ten als diefenige Kunflform, worin die Körpermwelt, dad Element 
der bildenven Künfte, in das rein innerlihe Weben der Subjer- 
tivität zerfchmilgt. Sie hat eine andere Kunft vor fi, in welcher 
die Einfeitigkeit ihrer bildloſen Subjectivität durch Erneuerung ber 
objeetiven Anſchauung in höherer Form fich herſtellt; eine Kunſt, 
welche mit dem Vorzuge der Muſik die Vorzüge der bildenden 
Künfte vereinigt und daher zu den übrigen Künften ſich ebenſo 
verhält, wie die Kunft überhaupt zu der bloß objectiven Eriftenz 
des Schönen in der Natur und der bloß ſubjectiven in der Phan⸗ 
taſie, nämlich als die höhere Einheit, worin diefe Gegenſätze 
erlöfhen. So ericheint denn die Muflf als die Mitte zwiſchen 
den bildenden Künften und der abfoluten Kunft, fie tft das Ende 
jener und die Borhalle dieſer, fie ift die Kunft, worin der Afthe- 
tifche Geift von der Zerftreuung des Objectiven fich fammelt und 
zugleich zu einer vergeiftigten Wiederherſtellung deſſelben ſich vor⸗ 
bereitet. Nicht umſonſt hat man die Muſik fo häufig mit der 
Architectur verglichen, die Verwaudtſchaft beiteht aber, um von 
den vielen andern gemeinfamen Merkmalen bier nicht zu reben, 
. auch darin, daß die Mufik zur Poefie ſich ebenfo verhält, wie bie 
Baukunſt zunächft zur Plaftif und fofort zu den anderen Künften. 
Das unorganifche,, dunkel andeutende Gebilde der Architectur 
flinnmt, es ſtimmt zur Erwartung der befeelten Geftalt, die und 


384 


fagt, was das Gebäude wollte; aus der dämmernden Nacht. der 
Empfindung, in welche diefe Räume, dieſe fließenden, fteigenben 
Mafien uns führten, blitzt dad Ich hervor , die Perſönlichkeit, 
das Götterbilo. Ebenſo löst Die vorbereitenden , ſpannenden Ge- 
fühlsräthfel der Muſik das Wort: die Poeſie. 

Ih Habe es nun zu rechtfertigen, warum ich die Poeſie als 
die fubjeftiv = objektive, ober die abfolute Kunft an bie 
Spike der Künfte und fomit des ganzen Syſtems ſtelle. Wir 
fnüpfen an die Muſik an. Die Poeſie bedient ſich wie diefe des 
Tons und ift gegen deſſen rhythmiſche Bildung nicht gleichgültig; 
ein Beweis, daß fie aus der Muſik herkommt. Allein fie nimmt 
nicht den Ton überhaupt in feiner Unbeftimmtheit ‚ fondern ben 
artikulirten Ton, dad Wort, die Sprache zu ihrem Ausdrucks⸗ 
mittel. Diefe ift aber nicht dad Material für die Poefle, wie 
der fihtbare Körper für die bildenden Künfte, der Ton für bie 
Mufit. Sie hat vielmehr gar Fein finnliches Material mehr und 
die Syrache ift ihr ein für ſich bedeutungsloſes Zeichen, wodurch 
ihre Einwirkung auf das rein geiftige Material, in welchem fie 
darftellt, vermittelt wird. Das Wefen der Sprache beftebt darin, 
daß durch einen geiftigen Mechanismus der Gewohnheit mit dem 
Dernehmen eines Wortes unmittelbar der durch dafjelbe bezeich- 
nete Gegenftand dem Geiſte gegenwärtig wird. Nur biefer if 
daher das Element over Material der Poefie; fe ift Geift für 
den Geift ohne ein anderes Medium, ald ein Zeichen, das für 
fih gar Feine Selbftändigkeit hat; ſie ift die geiftigfte unter allen 
Künften. Die Muſik ift ebenfalls Geift für den Geift, aber nur 
empfindender Geift, der im Tone und unmittelbar verfchmolzen 
mit diefem dem empfindenden Geifte ſich mittheilt; die Poeſie aber, 


385 


indem fie den Ton zum Worte erhebt, Hält nicht nur feit, was 
. bie Muſik erobert bat, das Zeitleben des Geiſtes in der unbeſtimm⸗ 
ten Form der Empfindung , fondern mit dem beflimmten Worte 
wendet ſie fih an den beftimmten Geiſt, der aus der Dämmerung 
des Gefühld Heraus iſt. Zreilih aber nicht an ben denkenden 
Geiſt, denn wir bleiben im äſthetiſchen Gebiete, fondern an ven 
Geiſt als Phantaſie. Hier liegt nun der Punkt, wo e8 ein- 
leuchtet, wie und warum die Poefle mit ter ſubjektiven Innerlich» 
feit der Mufif zugleich mieber Die ganze obfeftive Welt der Gegen⸗ 
flände , der Sichtbarkeit in ihr Bereich zieht. Die Phantafle 
nämlich ift die zu idealer Form erhobene Einbildungskraft, dieſe 
aber nichts anderes, als die innerlich gefehte Sinnlichkeit. Indem 
daher die Dichtfunft im Elemente der Phantaſie darftelt, indem 
fie mit Phantaſie für Phantafle arbeitet, fo gewinnt fie ohne 
ein ſinnliches Material die ganze Macht und ven ganzen Umfang 
der Sinnlichkeit wieder, es ftehen ihr in geiftiger Form alle Wir⸗ 
kungen zu Gebote, welche den anderen Künften eigen find: fle 
fann der inneren Borftellung Gebäude, Bübwerke, Gemälde, dem 
inneren Gehör Melodieen vorführen und iſt alfo eine geiftige 
Totafität aller Kuͤnſte. Nicht als fänfe fie darum auf hie Stufe 
der Phantafie zurück, wie wir fie im zweiten Theile als eine noch 
unerſchloſſene, ein bloß inneres Ideal kennen lernten ; es ift nicht 
mehr die Phantafle vor der Kunſt, fondern die Phantafle, wie 
fie die Geftaltenwelt aller vorangehenden Künfte in fih auf- 
genommen hat und bereichert mit biefer in ſich zurüdgegangen 
iſt, aber nicht um in fich verſchloſſen zu bleiben, ſondern ſich 
mitzutheilen und Phantafle an Phantafle zu entzünden. Die 
Poefte Hat alfo, was alle anderen Küänfte haben, auch, uber 
Kritiſche Gänge Il. 25 i 


386 


zugleich unendlich viel mehr. Sie kann nicht bloß, wie die Muflf, 
ben Wiederhall aller geifligen Einbrüde in der Empfindung geben, 
fondern jede beftimnitefte geiftige Thätigkeit auöfprechen,, fie kann 
fagen, was fie will, die Zunge iſt der Kunft erſt jeßt wahrhaft 
gelöst. Ja fle kann, was wir vorhin im Allgemeinen abweijen 
mußten, im Einzelnen allerdings auch in fih aufnehmen, nämlid 
reine Gedanken, fofern fie nur aus Leidenfchaft fließen und Leiden⸗ 
ſchaft werten. Sie ruft aber nicht nur die ganze Bildermelt der ob- 
jectiven Künfte vor die Phantafie, fondern fie belebt fie, fie nimmt 
fle in geiſtigem Fluſſe mit fi fort und führt fie am Bande ber 
zufammenhaltenden geiftigeren Bebeutfamfeit ſchwebend vorüber. 

Der erfte Abfchnitt umfaßte unter der Kategorie der Objec- 
tivität drei Künfte, ber zweite ftellte unter der Kategorie der Sub- 
jectinität nur Cine Kunft auf, was feinen Grund in der ganz 
befonderen Cigenthümlichkeit hatte, womit die Muſik allein und 
ohne ihres Gleichen fteht. Diefer dritte Abſchnitt befaßt nun zwar 
unter ber Kategorie des Subjectiv » Objectiven wieder nur Cine 
Kunft, aber dieſe Kunft theilt fih, da file die Totalität aller 
Künfte ift, beftimmter als jede andere, in gewiffe felbftänbige 
Gattungen, in welchen das ganze Syſtem der Künfte wiederkehrt. 
Dieß ift nun derjenige Punkt, wo meine Gliederung der Aeftberif 
fih am vollftändigften bemährt, indem dad Syſtem auf feiner 
höchſten Stufe ſich ideal wiederholt und fo völlig in ſich ſelbſt 
zurüdgebt: das ganze Syftem, nicht nur das Syſtem der ein- 
zelnen Künſte, wie wir fie fogleich fehen werben. 

Es tritt nämlich noch einmal hier das Theilungsgefeß auf, 
dad durch unfer Ganzes geht,, und fcheidet die Poefle in drei 
Sattungen, die objective ober bad Epos, die jubjertine oder bie 
Lyrik, die fubjeetiv = objestive oder dad Drama. 


387 


Die objeetive Gattung oder dad Cpos entjpricht im zweiten 
Theile der Naturfehönheit, im dritten den bildenden Künften. 

Die fubjertive Gattung oder die Lyrik entfpricht: im zweiten 
Theile der (bloß fubjectiven) Phantafte, im britten der Muſik. 

Die ſubjectiv⸗ objective Gattung oder dad Drama entſpricht: 
dem dritten Theile, oder der Kunft; im dritten Theile der ſubiec⸗ 
tiv⸗ objectiven Kunft, oder der Poeſie, fie ift die Poeſie in der 
Poeſie, das Schöne im Schönen. 

Es könnte nun nöthig fheinen, die Anwendung meiner überall 
durchgeführten Kategorie des Objectiven u. f. f. auf diefe Gat⸗ 
tungen zu rechtfertigen. Allein nicht nur muB Jedem, der die von 
der biöherigen Kunftphilofophie über dieſe Gattungen der Poeſie 
vielfach geführten Unterſuchungen Eennt, fogleich einleuchten, daß 
und warum jede unter bie ihr zugetheilte Kategorie fällt, fondern 
auch wer nur einen ungefähren Erfahrungsbegriff von dieſen Gat- 
tungen bat, muß fi im Momente deutlich machen Eönnen, was 
gemeint if. Nur auf zwei Orte möchte ich einiges Licht werfen. 
Der eine ift die Eintheilung der Lyrik, womit ed bekanntlich fo 
große Noth Hatz aber auch bier fchafft mein allgemeined Eintheis 
lungsprincip Licht. In der unendlichen Inſectenwelt der lyriſchen 
Poeſie laſſen ſich nur dadurch Kinien einer allgemeinften Einthei⸗ 
lung ziehen, daß man von dem DVerhältnifle des Subject zu fei- 
nem Gegenftande ausgeht. Die Lyrik überhaupt ift ſubjectiv, das 
Subject fpricht fein eigenes Innere aus, wie e8 vom Gegenftande 
durchdrungen ift. Allein diefe Durchdringung ift Feine fire und 
fertige, fonbern ein Prozeß. Die erfte Form dieſes Prozeſſes ift 
bie des Erhabenen, wo der Gegenſtand zu groß tft, un dem 
Subjecte zu geftatten, daß es ihn vertraulich in ſich hereinziche 

25 * 


388 


und ganz zu dem feinigen mache, wo es fich vielmehr durch bie 
Größe deſſelben aus feinem eigenen Centrum gehoben fühlt und 
ihn nun im Aufihwunge der höchften Begeifterung zu erreichen 
ftrebt; fo die Hymne, der Ditbyranıbe, die Ode, In der Hymne 
läßt das Subject in gemeſſener Ruhe feinen Gegenfland noch über 
fih ftehen, in dem Dithyramben beraufht es fih von ihm, indem 
es ihn in ſich hereinzuziehen ringt, in ver Ode ift es bereit wie 
der zu fich gekommen, Reflexion, Abſicht, Künftlichkeit kann fi 
geltend machen. Diefe Formen wurden vorzüglich von der Flafli- 
ihen Poeſie, als einer überhaupt wejentlich objectiven, gepflegt. 
Dagegen fällt im eigentlichen Liede der Gehalt mit dem Subjecte 
einfach in Eins zufammen, fie gehen unmittelbar in einander auf, 
jo daß das Subject fich ſelbſt frei gehen läßt, indem es den ganz 
in e8 übergegangenen Gehalt in ungeziwungener Natürlichkeit aus⸗ 
fpricht, melcher hier allerdings auch ein menfchlich näher liegender 
und vertrauterer ifl. Doch hat es felbft wieder eine Gejchichte, 
die mit einer epifchen Form, dem Heldenliede, der Ballade, Ro⸗ 
manze beginnt. Es hat feiner Innigfeit wegen int romantijchen 
und modernen Ideale, vorzüglich in jenem, reicher geblüht, als 
im klaſſiſchen. Diefe Blüthe war namentlih eine Blüthe des 
Volkslieds, deſſen Begriff hier zu beftimmen ifl. Eine dritte 
Form der Lyrik endlich umfaßt alle diejenigen Gattungen, worin 
die beginnende Ablöfung des Gehaltö von dem Subjecte, das er 
durchdrungen hatte, durch einen Ton der mit Wehmuth oder mit 
heiterem Spiele fich ſelbſt betrachtenden Empfindung ſich ausſpricht: 
die Elegie, dad Sonett mit den verwandten romanifchen Formen, 
die vielen contemplativen Gedichte der neueren Zeit und endlich an 
der Grenze der Proſa das Epigramm. 


389 


Die dramatiſche Poeſie ift in jeder Beziehung bie vollfon- 
menſte Form der Dichtkunft und der Kunft überhaupt, weil fie 
dad Grundgeſetz aller Kunft: Einheit der Subfeetivität und Ob⸗ 
jectioität am vollfommenften erfüllt. Das Drama zeigt und ein 
Geſchehen, dies ift objectiv, epiſch. Aber dies Gefchehen ift Fein 
DVergangened, dad wir durch einen Dritten hören, ſondern bie 
dabei betheiligten Perfonen treten gegenwärtig vor und, fprechen 
in der Form des Monologs und Dialogs ihr bemegtes Inneres 
aus, gerathen dadurch in Collifion und fo entfteht vor unſeren 
Augen diefe Gefchichte, melche aber eben darum vielmehr Hand⸗ 
fung ift. Dies ift fubjectiv ober lyriſch, nicht bloß fofern eben 
dieje poetifchen Perfonen ihr Inneres ausfprechen, fondern aus 
dem tieferen Grunde, weil der Dichter in ihnen fein zur Menſch⸗ 
heit erweiterte Inneres ausſpricht. Dadurch find jene Gegen- 
ſätze in letzter Inftanz vereinigt. Der Dichter ift ganz abweiend 
und eben daher ganz gegenwärtig. Er ift ganz in feinem Werke 
aufgegangen, dieſes ift ganz fefoftftändig, lo8gelöst vom Dichter, 
und er iſt ganz darin. 

Mir fehen alfo die Handlung aus dem bewegten Inneren ber 
auftretenden Perſonen werben. Dieſes, das geiftig innerliche 
Leben des Subjects, ift ihr Quellpunkt. Das Innere wirft 
Handlungen, nur fofern es aud der bloßen Innerlichfeit in bie 
Form des Zwecks und jeiner Volführung übergeht, d. 5. als 
Wille. Der legte Grund alles Geſchehens ift alfo hier der Wille 
ober bie freie Selbftbeftimmung, daher gehört das Drama auf 
wefentlih dem freien Geifte bed modernen Ideals an. Diefer 
Wille darf aber nicht ber abftracte, bloß formale fein, ſondern 
der von weſentlichen, flttlihen, allgemein menfchlichen Motiven 


390 


erfüllte, der Charakter. Indem er gemäß feinem Motive handelt, 
ruft er die Gegenwirfung ded von dem entgegengefeßten Zweit 
erfüllten Willens hervor, denn die harmoniſche Totalität der fitt- 
lichen Zwecke tritt in der Wirklichkeit durch Spaltung ihrer Mo- 
mente in disharmoniſche Einfeitigfeit auseinander. Diefe Colliſion 
erzeugt Kampf, Kampf erzeugt Leiden, Untergang, und ed 
kommt an den Tag, daß die Leidenden felbft nur die Vollſtrecker 
des abfoluten Willens waren, der die Einfeitigfeit und Verkehrt⸗ 
heit diefer Vollſtreckung an ihnen richtet; und hiemit ftehen weir 
wieder im Tragifchen. Der Wille, fein Kampf und feine Nieders 
Inge Eönnen aber auch, indem die Subjectivität im DBemußtfein 
ihrer Unentlichfeit alle mejentlichen Zwecke in Widerſpruch auf- 
öst, komiſch fein. Das Tragifche und Komifche find die reifften 
Formen des Schönen; es erfcheint in ihnen der innerfte Gehalt der 
Gefchichte, des Menſchenlebens. Nun zichen fich zwar dieſe bei- 
den Momente des Schöneh dur das ganze Neich der Künſte, 
bald verborgener, bald ausgefprochener hervortretend, hindurch, 
in feiner Gattung aber werben fie fo tief und umfaſſend auäge- 
bildet, wie im Drama, wo ihr innerftes Weſen fo an den Tag 
tritt, daß ſich zwei bejondere Formen bilden, Tragödie und Ko- 
mödie, welche ald ihre eigentlihe Verwirklichung jenen ihren 
Namen gaben. Das Tragifche und Komifche find aber nur Mo- 
mente im Schönen; dad Schöne felbft ift ihre Einheit. Die 
moderne Poeſie hat es gewagt, den Humor felbft in die Tragödie 
einzuführen, mit der höchſten tragifhen Stimmung den freien 
Blick in die Widerſprüche des Lebens zu verbinden: in dieſer ges 
jättigtften Form hat das Schöne feine völlige Wirflichfeit und dad 
Syſtem ift geſchloſſen. 


391 


Ich Eonnte in diefer Skizze mich nicht auf die bloß anhängenden 
Künfte einlaffen, d. h. auf diejenigen, welche theild dem Nutzen 
dienen und nur beiläufig mit dem Nüslichen dad Schöne verbin- 
den, theild zwar dad Schöne direkt bezwecken, aber feine Dar- 
ftelung in einem Materiale vornehmen, das, an fich für anbere 
Zwecke gebildet, feine eigenen dem jet vorliegenden Kunſtzwecke 
fremden Charafterzüge in unmittelbarer, der Eünftlerifchen Umge- 
ftaltung bis zu einem gemiflen Grad widerftrebender Lebendigkeit 
beibehält. Zu den Ieteren gehört die Schaufpielfunft,, denn der 
Schaufpieler giebt feine eigene Perfönlichkeit als Material her, um 
eine fremde ypoetifche darzuftellen. Ganz und ohne Reft Kann 
diejed, von der jeweiligen Aufgabe ganz unabhängig ausgebilbete, 
Material niemals in der gegebenen poetiſchen Perfünlichkeit auf- 
gehen. Dennoch ift die Schaufpielfunft die höchfte unter den un⸗ 
felbftändigen Künften, denn der Schaufpieler muß mit allen 
Mitieln der Phantafte die Abfichten des Dichter8 reprodueiren und 
das wiberftrebende Material feiner Perfünlichkeit durch vollkom⸗ 
mene Verſetzung feines Geiſtes in die erbichtete wahrhaft Fünft- 
leriſch beherrichen und umbilden. Keine unter den ſelbſtändigen 
Künften ſteht aber auch mit der zu ihr gehörigen unfelbftänbigen 
in einem fo wefentlich geforderten Zufammenhang; dad Drama 
fol theatraliſch fein, fol feine volle Wirkung auf die Gemüther 
durch die Aufführung erreichen. Dies iſt num der für unjern Zu« 
fammenhang wichtige Punkt. Indem nämlich die höchfte Gattung 
der Kunft zur inneren Vorſtellung, auf welche fih die andern 
Zweige der Poeſie beſchränken, auch die äußere Anfchauung und 
ihre ganze rapide Wirkung hinzunimmt, fo Eehrt fie auf dieſem 


392 


Gipfel der höchſten Geiftigfeit zur Unmittelbarkeit zurück und jo 
erft hat ihr Begriff feinen ganzen logiſchen Prozeß durchlaufen. 
Ich gebe nun zur befieren Ueberficht meine Eintheilung bed 
ganzen Syſtems in der beiliegenden Tabelle. Hiezu habe ich zu⸗ 
nächft zu bemerken, daß dad Gefeh der dreigliedrigen Einthei⸗ 
Jung zwar drei Haupttheile fordert, nicht aber je drei Abſchnitte 
für die einzelnen Theile. Denn der Begriff, der jedem Haupt- 
theile zu Grunde liegt, zerlegt fich gerade gemäß jenem Geſetze 
immer in zwei Momente, welche fi erft in den Unterabt hei⸗ 
lungen der einzelnen Abfchnitte wieder vereinigen und jo ver 
einigt jogleich zu einem weiteren, höheren Begriffe führen. So 
bildet alfo z. B. im zweiten Abſchnitte des erften Theil (I, B,c) 
die Herftelung ded Schönen aus dem Gegenfage des Erhabenen 
und Komiſchen zu feiner erfühten Einheit nicht einen dritten Ab- 
fhnitt C., denn wir haben bier Feine befondere Geftalt des Schoͤ⸗ 
nen, jondern eben das Schöne, das nun, fo mit feinen Momen⸗ 
ten erfüllt, unmittelbar in eine neue Form, in feine erfte objec⸗ 
tive Eriftenz II, A. übergeht. Ebenfo bedingt die legte Form ber 
Phantafte, die des modernen Ideals im zweiten Abſchnitte des 
zweiten Theils (II, B, c, y), nicht einen dritten Abſchnitt C., 
fondern nun ift eben der Begriff der Phantafle reif, um zu feiner 
Berwirklihung III, A. hinübergeführt zu merben. Ferner ift noch 
zu bemerfen, daß ich, um diefe Tabelle nicht zu weitläuftig zu 
machen, nicht von jedem Begriff feine Unterabtheilungen aufge 
führt habe, wie denn z. B. die in obiger Darfiellung unter- 
ſchiedenen Formen des Witzes und Humors, die verfchiedenen 
Reiche der organiſchen Schönheit, die unter das antike Ideal 
ſubſumirten Formen der orientaliſchen, griechiſchen, römiſchen 


393 


Phantafie Hier nicht herausgehoben werden. Nur da, wo es 
mir für die Analogie mit anderen Abtheilungen wichtig zu fein 
ſchien, ging ich in die fperielleren Unterabtheilungen ein; fo hob 
ich 3. B. die Hauptzweige der Muflf hervor, um darauf hinzu- 
weiſen, daß hier fchon die Gattungen hervortreten, welche beftimm= 
ter in ber Poeſie fich fcheiden; bei den anderen Künften lieh ich 
mid) der Kürze wegen barauf nicht ein. 


2. Das Schöne an ſich, fein allgemeiner 
Begriff, Metaphyſik des Schönen. 


A. Das einfadh Schöne. 
a) Die Idee. 
b) Das Bild. 
c) Die abfolute Einheit der Idee und des 
Bildes. 


B. Der Widerſpruch im Schauen oder der afthe- 
tiſche Contraſt. 


a) Das Erhabene (objectiv). 


eo) Das Erhabene der Natur (objectiv). 

EP) Das Erhabene des fubieetiven Geiftes. 

Y) Das Erhabene des abfoluten Geiſtes oder das Tra- 
giſche (ſubjectiv⸗objectiv). 


b) Das Komiſche (ſubjectiv). 


«) Das naiv Komiſche (obfectiv). 
£) Der Witz (reflectirt, fubjectto). 
y) Der Humor (ſubjectiv⸗ objectiv, abſolute Komik). 


394 
c) Herftellung des Schönen aus dieſem Mider- 
fprude, Rückkehr deſſelben in ſich als ver- 
mittelte Einheit diefer Gegenſätze (fubjectiv- 
objectiv). 


Das Schöne in einfeitiger Exiſtenz. 


A. Die objectise Eriſtenz des Schönen oder die 


Waturfhönpheit. 

a) Die unorganifche Naturſchönheit (objectiv). 

b) Die organische bis zum Menſchen, der aber zugleich 
eine neue Reihe eröffnet (ſubjectiv). 


c) Das menſchliche Wefen, am vollfommenften aus- 
geprägt im Staate (fubjectiv » objectiv). 
a) Der antite Staat (objectiv). 
4) Der Feudalftaat (fubfectiv). 
y) Der moderne Staat (fubiectiv=objectiv). 
Die (ubjective Eriflen; des Schönen oder dic 
Phantafıe. 
a) Die Phantafie überhaupt. 
a) Die finnlihe Anſchauung (obiectiv). 
4) Die Einbildungstraft (fubjectiv). 
Y) Die eigentlihe Phantafie oder das Ideal (fubier- 
tiv = objectiv). 
b) Die Grade der Ausftattung des Subjecte 
mit der Phantafie. 
a) Talent. 


P) Fragmentarifches Genie. 
y) Genie. 


395 


c) Die Phantaſie der Völker oder die gefhidt- 
lihen Hauptformen des Ideals. 
a) Das antile oder obfective Ideal. 
3) Das Ideal der phantaflifchen Subiectivität, oder 
das romantifche. 
y) Das moderne Ideal oder das Ideal der gebildeten, 
d.h. der wahrhaft freien und zugleich mit der Ob⸗ 
jectioität verſöhnten Subfecttvität. 
HEN. Die fubjectio : objective Eriftenz Des 
Schönen oder die Kunſt. 


A. Das Aunftwerk überhaupt. 


a) Die Objectivität der Darftellung in Rückficht 
auf biftorifche Treue u. f. w. 

b) Die Manier (fublectiv). 

c) Der Styl (ubjectiv- objectiv). 
a) Strenger Styl. 
8) Hoher Styl. 
y) Gefälliger, rührender Styl. 

B. Die Künfte. 

a) Die objectiven oder bildenden Künfte. 
ae) Die Baukunſt (obiectiv). 
3) Die Plaſtik (Eindringen des Subiectiven noch als 


unmittelbare Einheit des Geiftes mit feinem Leibe.) 
+) Die Malerei (Durcdringen des Subjectiven). 


b) Die ſubjective Kunft oder die Muſik. 


a) Die kirchliche Muſik Cobiectiv). 
8) Die Liedermufit (ſubjectiv). 
;) Die Oper (fubiectiv » obfectiv). 


a IT UEUHYYLEE 


3) Die Komödie. 
3) Höhere Einheit des Tragiſchen und & 





V. 


Vorſchlag zu einer Oper. 





399 


Vorſchlag Zu einer per. 


Ih möchte die Nibelungenfage als Tert zu einer großen 
eroifchen Oper empfehlen. Stier gibt es freilich mancherlei zu 
evorworten. 

Ausgehen muß ich von dem Gedanken, welcher die in dieſer 
Sammlung enthaltenen Kunſt⸗Kritiken überall durchdringt: es 
t Refultat der ganzen Kunſtgeſchichte, daß die Kunſt jetzt auf den 
eſchichtlichen Boden als den realen Schauplat des Ideals hinge- 
»ieſen ift. Die Malerei hat die tranfcendente Mythenwelt ver- 
iffen, die naturwahre Wirklichkeit in Landfchaft und Genre - Bild 
griffen und fol von da zu ben großen Aufgaben ver Gefchichte 
uffleigen. Die Poeſie fol dad politiſche Drama, das Schiller er⸗ 
finet hat, im Geifte Shaffpeare’8 zur Höhe ausbilden. Schiller 
dritt, wie er ihn an rein ‚poetifcher Begabung auch nachftehen 
iochte, dadurch entſchieden über Goethe hinaus, daß er den engen 
zoden der fubjectiven Bildungsfämpfe in einer Welt, die von kei⸗ 
er politifhen Bemegung weiß, hinter fich Tieß. Hier tft eben ber 
Junft, wo wir die Parallele mit der dramatifchen Muſik auffafe . 
n müffen. Unſere Oper hat das Leben der ſubjectiven Empfin= 
ungswelt zur Genüge außgebeutet; fie fol an die großen obfectiven 
Impfindungen gehen. Alle Muſik ift ſubjectiv, allein es ift ein 
interfchieb zwiſchen der ſubjectiven Welt einer frommen Seele oder 
ned glänzenden Verführers und cined Helden, es ift ein Unter⸗ 
bied, ob indianiſche Wilde, erzürnte Bauern, luſtige Jäger, ober ob 


401 


dungstömen mit ſich als ein griechiicher, felbft wenn ein Goethe 
ihn neu bejeelt, und die gemeflene deflamatorifche Strenge eines 
Gluck, in Anſchließung an die Franzoſen ausgebilvet ,- ließ eine 
ganze muſikaliſche Welt dem deutſchen Gemüthe noch übrig. Mo⸗ 
zartd Stärfe ruht in der feurigen Welt der ſüdlichen Leivenfchaft; 
alles Weiche, alles Süße, alles Schmeichelnde und Verführeri⸗ 
ſche, aber auch alles Finftere diefes heißen Lebens = Elements er⸗ 
ſchöpft er in einer Unenblichfeit von Tönen; bie rührende Stimme 
bed Herzens, die Pofaunentöne der ewigen Gerechtigkeit flöten 
und donnern dazwiſchen, auch die tiefften Stimmen der morali⸗ 
fen Befinnung weiß er anzufchlagen, aber diefer italienifch füh⸗ 
bende Deftreicher Aberſchreitet Doch die Kreife nicht, in welchen ſich 
die Kämpfe der fubjeetiven SPrivatleidenfchaft bewegen ; große 
Handlungen der Helden und die mächtigen Geifter des öffentlichen 
Lebens bleiben ihm ferne liegen und mie viel deutſches Herz aus 
feinen Werfen fpricht, die jüblihe Stimmung, die Reize feurigen 
poetifchen Genußlebens im heiteren Italien, im glühenden Spa⸗ 
nien, — da ift und bleibt feine Heimath. Spontini ift heroiſch 
und bearbeitet heroiſche Stoffe, ja er wählt einen deutfchen in 
feiner Agnes won Hohenftaufen, aber er arbeitet auch ſchon auf 
Effect, verfeichtet das Heroiſche in das Militärische und Pomphafte 
und irrt Dadurch weit von der gediegenen, körnigen Granbiofität 
ab, die wir für den von und in Vorſchlag gebraten Stoff for⸗ 
dern. Ein folder Stoff verlangte ohnedieß, Hätte auch Spontini 
ſchon auf ihn fallen können, für feine grunddeutſche Natur einen 
deutſchen Componiften. Beethoven war ein großer, ein gigan- 
tifcher Geift, aber er war berufen, die inneren Wunder der Ge⸗ 


" müthawelt in phantaftifcher Genialität durch den braufenden Kampf 


Kritiſche Gänge II. ‚ 26 


400 


edle Völkerchöre Luft und Schmerz in Tönen befreien. Es kann freis 
lich nicht bei Zoll und Linie angegeben werden, wie eine wahrhaft bes 
roiſche Muſik von dem muſikaliſchen Ausdruck anderer ſtarker Leis 
denſchaften verſchieden ſei; der Text, die Fabel, die Charaktere und 
die Muſik heben und tragen ſich gegenſeitig. Es muß mich Alles 
trügen, ober es iſt noch eine andere, eine neue Tonwelt zurüd, 
welche fih erft öffnen fol; die Muſik Hatte in Mozart ihren 
Goethe, in Haydn ihren Klopftod, in Beethoven ihren Sean Paul, 
in Weber ihren Tieck: fie fol noch ihren Schiller und Shakfpeare 
befommen, und der Deutſche foll noch feine eigene große Geſchichte 
in mächtigen Tönen fich entgegenwogen hören. Die Nibelungen 
fage enthält nicht eigentlich Gefchichte, davon wird nachher vie 
Rede fein; wir halten zuerft dad Moment des Heroifchen in ber 
befonderen Beftimmung des Vaterländifchen feft. 

Die Oper behandelte wie dad ältefte Schaufpiel. (nicht das 
volfsthüimliche, fondern das der Kunftpoefle, der Opizifchen und 
Gottſchediſchen Schule nämlich) zuerft Stoffe aus der antiken Welt, 
paftorale und heroifche. Es fehlt in den heroifchen Opern Glucks, 
in feiner Alceſte, Iphigenie nicht an wahrhaft großen heroifchen 
Stellen. Allein dieſe Empfindungstöne waren in eine fremde Welt 
hineingelegt, wir wollen eine heimifche, eine eigene, eine nationale 
in der Muſik fo gut ald in der Poeſie. Goethes Iphigenie ift ein 
Meiſterwerk, allein die fremde Fabel, die fremde Form des Bes 
wußtjeins, fo viel beutfched Herz und moderne Humanität auch 
hineingetragen fein mag, trennt dieſes Drama doch vom vater 
ländifchen Boden, von der Sympathie des Volkes, und fichert 
ihm nur auf entfernten Höhen die Bewunderung weniger Kemer. 
Ein deutſcher Stoff führt aber noch eine andere Welt von Empfin⸗ 


403 


Weber Iegt viel Nachdruck auf die Charakteriftik, aber die Recken 
der alten Heldenfage und ihr gigantifhes Schickſal mollen eine 
andere Zeichnung, als Jägefburfehe. Unter den lebenden Ton⸗ 
künſtlern hätte Meyerbeer die meifte Kraft zu einem ſolchen Stoffe; 
aber dieſe Kraft ift nicht rein, fie erſchreckt flatt zu erfchüttern, fie 
betrüßt flatt zu erheben, fie überlädt flatt zu füllen, fit iſt von 
per franzoͤfiſchen Effectſucht beſtochen. 
Mit Einem Worte: wir haben die Muſik noch nicht gehabt, 
welche ein ſolcher Stoff fordert, und mir haben einen folchen 
Stoff in unferer Mufik noch nicht gehabt, fo wie wir in ımferer 
Poefte noch einen Shakſpeare, fo mie mir noch feinen großen, 
nationalen, vein geichichtlichen Maler gehabt haben. 
Ich muß nun von meinem Stoffe reven, zunädft von, 
feinem Charakter überhaupt, noch abgefehen von feiner muflfalte 
Then Behandlung. Diefer Stoff ift national, das ift das Erſte, 
was von ihm zu rühmen if. Ich meine nit, man könne und 
ſolle unſerer Kunft vie Flügel befchneiden,, daß fle nicht, mie es 
jeßt ihr offenbarer Drang iſt, in entfernte Zonen und Sitten hin« 
ausſchwebe, um ſich dort den Schauplag ihrer Handlung zu fuchen. 
Es kann auf) in den fremden Nahmen ver heimifche Geift ſich 
ergieben und Goethe Hat dieß in feiner Iphigenie gezeigt. Aber 
neben ſolchen Stoffen, die jegt aus allen Zonen herbeigetragen 
werben, fol jedes Volk auch einige nationale Hauptſtücke beftgen, 
worin der heimifche Charakter aus dem heimiſchen Stoffe zu ihm 
ſpricht. Die Nibelungen Helden find acht deutſche Charaktertypen, 
wie fich ſolche ein Volk in der vorgefchichtlichen Zeit auf der Grund⸗ 
Tage nicht weiter erfennbarer hiſtoriſcher Züge als Spiegelbild ſei⸗ 
ner beften fittlihen Kräfte dichte. Die deutfche Milde und Der 
26 * 


402 


ihrer wunderbaren Kräfte zu verfolgen und in der tauſendſtimmi⸗ 
gen Symphonie ihre zarteften Geheimniffe, ihre tiefſten Erſchüt⸗ 
terungen,, ihre räthfelhafteften Ahnungen, ihren fipringenben 
Scherz und ihr erhabenftes Grollen zu ergießen, nicht aber in 
dem firengen Maaß des Drama die deutlichen Motive einer eben- 
mäßigen Handlung, die firenge Gemeſſenheit des Charakters zu 
entfalten. Im Einzelnen ift ihm wohl auch das heroiſch Große 
gelungen, Heldengröße und Heldentod triumphirt in feiner Muſik 
zu Goethes Egmont, in feiner einzigen Oper Fidelio hat er, wie 
dieß ein gediegener Kenner, Am. Wendt, zugibt, den bürger- 
lichen Stoff bis zu heroifcher Kraft der Empfindung gefteigert. 
Es find wirkliche Anfäge in ihm zu dem Conponiften,, der für 
unferen Stoff und vorſchwebt, aber doch iſt er zu ſehr Roman⸗ 
tiker, zu ſehr geht er den wunderbaren Sprüngen und Ueber⸗ 
gängen der launiſchen, obzwar tiefen Subjectivität nach, als daß 
wir glauben könnten, er wäre zu einem ſo gehaltenen Stoff be⸗ 
rufen geweſen. Dem ſchmeichelnden Roſſini fehlt Würde, Styl 
und Charakter zur wahrhaft großen dramatiſchen Muſik. Weber 
rettet die Ehre der von den Italienern verführten deutſchen Muſik, 
er ift tief herzlich und was ber Componift eines Stoffes aus un- 
ferer Helvenfage vor Allem bevürfte, volksthümlich, aber er ift 
ſchon ganz Romantiker, die finftere, diaboliſche und vie heitere 
elfenhafte Wunderwelt ift fein Gebiet. Im Nibelungentieve hat 
dad Wunderbare, dad in dem älteren Sagenbilde eine noch un 
gleich größere Role fpielt, feine Kraft faft ganz verloren, «8 
zieht ih nur wie ein leichter Nebel am Saume hin, Alles ent- 
wickelt ih, ſchon im Epos faft dramatifh, aus den Charaf- 
teren; bieß ware feine Aufgabe für einen Romantiker geweſen. 


403 


Weber Iegt viel Nachdruck auf die Charakteriftik, aber die Reden 
der alten Heldenſage und ihr gigantifches Schickſal wollen eine 
andere Zeichnung, als Sägefburfche. Unter ven lebenden Ton« 
Tünftlern hätte Meyerbeer vie meifte Kraft zu einem ſolchen Stoffes 
aber dieſe Kraft ift nicht rein, fle erſchreckt flatt zu erfchüttern, fie 
betrüßt ſtatt zu erheben, fie überlädt ſtatt zu füllen, fit ift von 
der framgöftfchen Effectſucht Beflodhen. 

Mit Einem Worte: wir haben die Muſik noch nicht gehabt, 
melche ein folder Stoff fordert, und wir haben einen foldhen 
Stoff in unferer Muftf noch nicht gehabt, fo wie wir in unferer 
Poefie noch keinen Shaffyeare, fo mie wir noch feinen großen, 
nationalen, rein geſchichtlichen Mater gehabt haben. 

Ich muß nun von meinem Stoffe reden, zunächſt von. 
feinem Charakter überhaupt, noch abgefehen von feiner muſikali⸗ 
fhen Behandlung. Diefer Stoff ift national, das ift das Erfte, 
was von ihm zu rühmen if. Ich meine nit, man könne und 
folle unferer Kumft die Flügel beſchneiden, daß fle nicht, mie es 
jest ihr offenbarer Drang Ift, in entfernte Zonen und Sitten hin« 
ausſchwebe, um fich dort den Schauplak ihrer Handlung zu fuchen. 
Es kann auch in ben fremden Rahmen der heimifche Geift fi 
ergießen und Goethe Hat dieß in feiner Iphigenie gezeigt. Aber 
neben ſolchen Stoffen, die jegt auß allen Zonen herbeigetragen 
werben, fol jedes Volk auch einige nationale Hauptſtücke befigen, 
morin ber heimifche Charakter aus dem heimifchen Stoffe zu ihm 
fpricht. Die Nibelungen - Helden find Acht deutſche Charaktertgpen, 
mie fich ſolche ein Volk in der vorgefchichtlichen Zeit auf der Grund⸗ 
Lage nicht weiter erfennbarer biftorifcher Züge als Spiegelbild ſei⸗ 
ner beiten fittlichen Kräfte dichte. Die deutiche Milde und der 

26 % . 


404 


gefürchtete, anhaltende deutſche Zorn, die deutfhe Gutmüthigkeit 
und Treue, die fih am flärkften in der eifernen Folge der tragi= 
fhen Beftrafung einer Untreue ausfpricht, der Frühlingsduft ber 
Minne und der Schwertflang beutfher Tapferkeit, die zarte 
Schüchternheit und der zähe Eigenfinn, der finftere Trog, endlich 
das tiefe Menſchheits⸗ und Schidfald - Gefühl, worin alle dieſe 
beftimmten Töne ſich wie in ihrem Elemente bewegen: bieß iſt 
die weite und volle Bruft unferer eigenften Volksnatur, bie in 
biefem ewigen Gedichte vol und gefund atmet. Diefe Grundzüge 
unferer fittlichen Volkswelt treten aber hier in den einfachften Ver⸗ 
hältniffen,, unter den unverborbenften fittlichen Begriffen in jener 
ungebrocdhenen, unvermifchten Urfprünglichkeit auf, wodurch dieſe 
-Seftalten dem Auge der modernen Bildung wie roh gehauene 
Rieſenbilder erfcheinen. Hier drängt fi fogleich die Frage auf, 
ob ſolche Gebilde fähig und würdig feien, das dramatifche In- 
terefie eines Zeitalter in Anſpruch zu nehmen, das einmal eine 
tiefere, verfehlungnere Welt des Bewußtſeins In ſich durchzuarbei⸗ 
ten Hat, und dem daher mit folcher Einfalt nicht mehr gedient 
it. Dan kann und leicht jene gezwungenen Beftrebungen ber 
Deutſchthümelei zur Laft legen, welche und das Nibelungenlied 
und die altveutfche Poefle mie eine Volksbibel, wie eine Dichtung 
aufdrängen wollte, welche in unferer Zeit ebenfo noch lebendig 
fein könne, wie in derjenigen, wo fie entftanden. Den Griechen 
allerdings blieb der Homer das abfolute Buch, Die Hervenfage 
der abfolute Stoff der Tragödie, nachdem ihre Bildung ſchon 
reif, ja überreif war. Allein das Verhältniß war doch ein ganz 
andered. Einmal war der Stoff an ſich ſchon ungleich gebilveter. 
Die homeriſchen Helden können ſprechen, fie find nicht von jener 


405 
wortarmen, gebrungenen Härte, mie bie altdeutſchen. Leicht und 
fließend entlaſtet ſich ihr Inneres von Schmerz und Freude. Der 
Dichter beleuchtet wie mit einer freundlichen Sonne Land und 
Meer, Erde und Himmel, Natur und Kunſt, Haus und Hof. 
Es liegt nicht der nordiſche Nebel über der ganzen Umgebung wie 
in der dunkel ahnungsvollen Vorzeit bes deutſchen Volkes. Der 
gebildetere Stoff Eonnte daher dem Volke auch in den Beiten, 
da es ſelbſt ſchon fo gebildet war, daß es über die Naivität feines 
alten Heldenliedes Lächeln mußte, noch Immer an’d Herz gewach⸗ 
fen fein; der. raffinirtefte Grieche erkannte ſich in dieſer poetiſchen 
Welt immer noch ganz anders wieder, als der jeige Deutfihe In 
dem Bilde feiner Heldenſage. Auf der andern Seite hatte bie 
Bildung ber fpäteren Griechen mit dem vorgefchichtlichen Natur⸗ 
zuftande doch keineswegs in dem Grade gebrochen, wie das mo⸗ 
derne Deutihland mit den Helden der altveutihen Wälder und 
Burgen. Wie viel fremde Clemente mußten wir erft in und auf⸗ 
nehmen und in unfre Nationalität verarbeiten, wie mußte unfer 
Vaterland ftch zerfplitteen, durch welche ſchneidende Krifis mußten 
Wrden Zuftänden der Natvität Lebewohl fagen, bis wir da ange» 
fommen find, wo wir find! Wie ift unfere ganze Bildung eine errun⸗ 
gene, norbifcher Nohheit abgezwungene, während bie griechtiche wie 
von felbft aus der Natur des Volkes hervorwuchs! So viel tft 
gewiß, daß durch dieſe große Entfremdung der Stoff der Nibelun- 
genfage ganz untauglich geworden ift zum reinen, nicht muflfall- 
fchen Drama. Bas Nibelungenlied nimmt zwar in eigenthümlichem 
Unterſchiede von dem Epos der Griechen eigen fireng dramatiſchen 
Bang, bier wirken keine Götter ein, hier find die Epiſoden ſpar⸗ 
fam, bier flürzt Die Rache wie ein grollender Strom unaufhaltſam 


406 


über Fels und Wehr und ruht nicht, bis fie in allgemeinen 
Blutbad Freund und Beind vernichtet hat, bier fommt alled aus 
den Willen und ift jeder der Schmied feines Glücks, hier erfcheint 
das Schickſal als ein rein fittliches Geſez. Aber ed handelt ſich 
jetzt nicht von dem mehr oder minder dramatiſchen Gange der 
Fabel, es handelt ſich von dem Grade der Subjectivität in den 
Charakteren. Man gebe dieſen Eiſen⸗ Männern , dieſen Rieſen⸗ 
Weibern die Beredtſamkeit, welche das Drama fordert, die So⸗ 
phiſtik der Leidenſchaft, die Reflexion, die Fähigkeit, ihr Wollen 
auseinanderzuſetzen, zu rechtfertigen, zu bezweifeln, welche dem 
dramatiſchen Charakter durchaus nothwendig iſt: und fie find 
aufgehoben; ihre Größe iſt von ihrer Wortkargheit, ihrer wort⸗ 
los in ſich gedrängten Tiefe, ihrer Schroffheit ſo unzertrennlich, 
daß fie aufhören , zu fein, was fie find, und doch nicht Ttwad 
Anderes werden, was und gefallen und erfchüttern Eönnte. 

So wahr dieß ift, fo ift aber doch fehr zu wünfchen, daß 
es eine Form gebe, in welcher diefer Stoff dem modernen Gefühle 
genießbar würde, ohne feinen Charakter zu opfern. Denn recht 
gefund muß ja doch dieſe flarfe Koft dem verwöhnten Gau 
und den verborbenen Säften unſeres verzogenen Publikums fein. 
Bon Vaudevilles, von Scribes Luftfpielen, von Balletten ge= 
deiht man nicht, „Habermark macht Buben ftarf«. Wir follen 
und nur fhämen, und fo Elein zu ſehen, wenn biefe Urgeftalten 
wieder über unfere Bühne frhreiten. Sie find nicht zeitgemäß und 
ebendeßwegen am allerzeitgemäßeften. Ich meine nicht, alles daß, 
wodurch dieſe Gejtalten uns anfremden, fei ihr Recht und unfer 
Unrecht; nein, ich bin Fein umgekehrter Prophet; unfere Zeit 
ift mit aller ihrer Zerrijfenheit, mit aller Auffaugung der unmits 


407 


telbaren Lebendigkeit und heroiſchen Einfachheit unendlich viel grö⸗ 
fer als jene. Was fle auch Alles verzehren mag, die Bildung 
hat abfoluten Werth. Die Bildung aber will gebildete Geftalten 
au in ihrer Kunftwelt, dazu hat fle ihr gutes Recht. Allein 
feine Bildung ift fertig, und zu ihrer Vollendung gehört gerade, 
daß fie, in erhöhter Weife freilich, die Natur wiederherftelle. An 
der Natur verjüngt ſich die Bildung, welche an dem Punkte ftand, 
ganz naturwidrig zu werben; an der Volkspoefie verfüngte ſich 
bie Kunſtpoeſie, die feinfte Erziehung kehrt zur Abhärtung, bie 
edelſte Sitte zur Ungezwungenheit, die höchfte Sittlichkeit zur 
Einfalt zurüd. Daher fol man unfer Theater = Publitum nur 
immer in dieſes Stahlbad ſchicken. Wir brauchen mehr, als bie 
Nibelungen, wir Eönnen für unfere Zeit = Aufgaben unmittelbar 
eben nichts von ihnen lernen, politifch find fie gar nicht, eine 
Bamilien» und Bafallen » Gefchihte auf großem Boden, das iſt 
Alles; allein in diefer einfachen Gefchichte fprechen die ewigen 
Grundgefühle des Herzens fo ſtark, daß uns diefer Tranf Quell» 
waſſer nur äußerſt heilfam fein kann. Die Kräfte der Menfchhelt 
find in unferer Bildung audeinandergezogen, wir Eönnen nicht dahin 
zurüd, wo fie noch im Keime gebrängt zufammenliegen, aber 
danıit wir in der Theilung den Urquell nicht verlieren, thut e8 
und Noth, diefe urfprüngliche Einheit und auf's Neue vord Auge 
zu rüden. Ganz anbere, tiefer vermidelte Kämpfe müßte eine 
Kunft zur Erfcheinung bringen, welche die eigene Seele unferer 
Zeit ihr im Bilde zeigen wollte, aber zu der tieferen und meiteren 
Geiftigkeit, zu dem gedachteren Zwecke gebe ſie ihren Charakteren 
Helden⸗-Mark, und was Helden» Mark iſt, kann man wahrlich 
an den Heroen dieſer unſerer Volksſage ſehen. Die Selbſtbeſpieg⸗ 


408 


ung iſt der unvermeiblie Ausſatz einer Zeit ausgebildeter Sub- 
jectioität; es Tann uns nur gut thun, einmal wieder Menſchen 
obne alle Selbſtbeſpieglung zu ſehen. Sie können, ich wieder⸗ 
hole e3, unmittelbar nicht unjere Lchrmeifter fein und fie ſind nicht 
der Abdruck unſeres Lebens, denn de3 erhöhten Bewußtſeins kön⸗ 
nen wir und nicht entidhlagen: aber dem Auswuchs deſſelben ai 
man billig die rohe, aber wahre Kraft entgegen. 

Man könnte als Beringung wahrer Helvengröße und größere 
Anſprũche auf die Sympathie der Gegenwart politifche Bedeutung 
verlangen, und ich habe ſchon eingeräumt, daß dieſe den Nibe- 
lungen fehlt. Unſer heimiſches Gelbenlied, dem griechifchen fo 
verwandt wie die Porfle keines anderen Volks, fteht darin im 
höchſten Nachtheil gegen die griechiſche Sage, daß dieſe eine ges 
ſchichtlich nachweisbare Volks - internehmung zum Innhalt hat, 
ine Unternehmung, welche ſchon ald Borfyiel der Perjer- Kriege, 
diejer Siege Europa's, ded Fortſchritts, der Freiheit über den 
Drient, den Stabilismus, die Gebuntenheit gelten kann. Unſere 
Heldenjage hat nicht die Stürme ver Völkerwanderung, nicht ven 
großen Sieg über die Römer zum Stoffe genommen; mit deut« 
fhem Eigenfinne hat fie fih im eine Bamiliengefchichte eingehaust 
und fucht vergebend durh Mafien, Pracht, Herbeiziehung ge⸗ 
ſchichtlicher Namen, wie ded Attila und Theodorich, denen fie 
doch felbft ihre eigentlich gejchichtliche Bedeutung genommen hat, 
das enge Intereffe zu einem welthiftoriichen zu erweitern und dieſe 
Babel zur „grögeften Gejchicht“ zu erheben, „bie zer werlven ie 
geſchach“. Ein wahrhaft deutſcher Geift der Vereinzelung , eine 
Vorliebe, fih in das Befondere und Getrennte einzufpinnen, fpricht 
ſich in Diefer Wahl des poetifchen Volks-Inſtinctes jedenfalls aus, 


409 


wenn man auch nicht überficht, daß die Deutlichkelt der größeren.na- 
tionalen Erinnerung in den unglelchzeitigen Zügen und jener Ueber⸗ 
ſchauung unzugänglichen, wechſelnden Schickſalen der Völkerwan⸗ 
derung ſich verwirren und truͤben mußte. Aber in dieſer Familien⸗ 
Geſchichte ſind doch, obwohl noch eingehuͤllt, alle die Kraͤfte thätig, 
welche und als Volk durch unſere Geſchichte begleitet haben, und 
welche, in ihre wahre Bebeutung erhoben, und, fo der Simmel will, 
in eine beffere Zukunft begleiten werben. Nehmt zu der Vaſallen⸗ 
treue Hagens, welche freitich finfter und neidiſch bis zum Mordo 
ausartet, Rüdigers, die fo herrlich im ſchrecklichften Zwieſpalte ihre 
Probe befteht, zu dem ehrlichen Kampfgeſellen⸗Geiſte Volkers, zu 
allem dieſem reblihen Zufammenhalten,, biefem guten Kamera 
ben-Wefen, — nehmt dazu das tiefe Rechtsgefühl Chriemhilbens, 
das unendlich beleidigt unendliche Rache Ubt, Liutert dieſe Eimpfin- 
bung durch den männlich edeln, befonnenen Geiſt Dieterichs, ber 
die Verwilderung der blutigen Rächerinn beftraft, und tretet mit 
dieſen flttlihen Mächten auf den Kampfplatz der Geſchichte, fo 
werdet Ihr nicht fagen können, es fei für und aus unferer Helben- 
fage keine Lebens - Subftanz mehr zu ſchöpfen. 4 
Wenn ed nun aber nicht zu laͤugnen iſt, daß wir bie Nibe- 
lungen weder mit Haut und Haaren unferem Publikum vorführen, 
noch diejenige Umbildung auf dieſen Stoff anwenden fünnen, welche 
das Drama fordert, jo bietet fich dagegen das muflfalifche Drama, 
bie Oper, als eine Form dar, worin das Rohe und allzu Schroffe 
fi mildert, die einfache Gefühlämelt diefer wortlo8 rauhen Hel⸗ 
den und Seldinnen fich bereichern und erweitern laͤßt, ohne Doch in 
jene Sphäre heller Bewußtheit hinübergezogen zu werben, worin 
das eigenthümlich großartige Dunkel diefer Naturen zerflört mürbe. 


410 


Die Deufit fordert einfache Motive, einfache Handlung, die Mufll 
feflelt die Empfindung, ſpricht fle nach allen Seiten aus, und 
geftattet ihr doch nicht, ven Punkt zu überfchreiten, wo dad Goms 
plizirte und Meflectirte beginnt, welches nur durch dad nicht mufi⸗ 
kaliſche Wort ſich ausfprechen kann. Allein ed wäre mit meinem 
Borfchlage übel beftellt, wenn ich nichts für ihn in Fünftlerifcher 
Beziehung vorzubringen hätte, ald daß der Stoff diefe Art ver 
Umbildung nur zulafle. Nein, das Nibelungenlied tft für die Oper 
wie gemacht, quillt und fprubelt von herrlichen muſikaliſchen Mo» 
tiven, wartet ſchon lange auf feinen Componiſten, fordert ihn 
gebieterifch : dieß tft meine Behauptung, und biefe Behauptung 
ift bewieſen, wenn ich nur den Innhalt des Liebes in einer un» 
gefähren feentihen Ordnung aufführe. Ich habe nur vorher noch 
ein paar vorläufige Punkte zu erledigen. 

Zweierlei große Bortheile bietet dieſer Stoff noch abgejehen 
von feinem rein mufifaltihen Werthe der Umarbeitung zur Oper 
dar. Die Dyer darf und foll glangvoller fein, ald dad Drama ; 
zu feſtlichen Aufzügen, ver Ausbreitung imponirender Maſſen 
iſt bier durch die ritterliche Pracht, womit die Zeit der Turniere 
und Minnefinger den büfteren alten Sagen = Kern umgeben bat, 
reichlihe Gelegenheit, ja nur zu viele, fo daß bie Verſuchung 
nahe liegt, in jenen erbrücdenden Pomp zu gerathen, womit bie 
neuere Oper dad Auge ebenfo beläftigt, wie fie dad Ohr mit Ges 
räuſch b.täubt. Ehrfurdt vor dem Ernſte des Gehalts muß hier 
zur Sparfamfeit führen. Mäßige Cinmifhung des Wunderbaren 
ift der andere Vortheil. Mein Borfchlag beſchränkt dieſen Bes 
ftandtheil auf die Verkündigung des Untergangs aller Nibelungen 
aus dem Munde der Meermweiber, die Hagen im Babe findet. 


Nach der Darftellung ber Ebba iſt in dem ganzen tragiſchen Bange 
der Begebenheit ein alter Fluch wirkſam, ben ber Zwerg And⸗ 
vari auf den Nibelungenhort legte, im Nibelungenlieb iſt dieſer 
Zug verwiſcht, in der Klage tritt er ſchwach angedeutet wieber 
hervor. Man kann aber dieſe Beziehung in ber Oper nicht 
brauchen; denn bis auf jenen mythiſchen Anfang. mit der Edda 
zurüdzugehen iſt ſchon wegen der nothwendigen Oekonomie nicht 
zuläffig, fällt aber die Scene weg, wodurch der Fluch auf den 
Schatz gelegt wird, fo wird der ganze Umftand, da er bloß in 
ber Form der Rede nachgeholt werden kann, aus Mangel an 
Anſchaulichkeit abftrus und unbrauchbar. Nur als Motiv erneuter 
Verlegung des Nechtögefühls darf der Schatz vorkommen , wie 
ihn Sagen in den Rhein verfenkt. Die Zwerge und Rieſen, von 
benen dad Nibelungenlied als Wächtern des Schatzes dunkel be⸗ 
richtet, fallen natürlidh auch weg. Brunhilde war nad der Edda 
eine Walfyre, in der Oper muß fie, wie im deutſchen Epos, 
zur menfhlihen Frau werben, doch darf der fagenhafte Zug 
ihres Weibertroges , der gefährlichen Kampf» Spiele mit ihren 
Freiern, als Erinnerung an diefe ältere Geftalt der Sage ſtehen 
bleiben. Sigfried mag im Beſitz feiner Tarnkappe bleiben; warum, 
wird fi finden. Durch diefe mäßige Einführung des Wunder« 
baren gewinnt die Oper an reiner Menſchlichkeit der Motive und 
bewahrt doch das Ahnungsvolle und die Atmofphäre altveutfchen 
Heidenthumod, welche aus der dunklen alten Sage und entgegenhaudht. 
Nun drängen fi aber auch zwei Schwierigkeiten auf: Die 
eine ift Unklarheit der Motive, die andere bie epifhe Maſſenhaf⸗ 
tigkeit des Stoffed. Yingleich bedeutender tft die erſtere. Zunächft 
iſt das Lied in feinem michtigften Erpofitions- Motive dunkel. 


442 


Der tiefe Haß Brunhildens gegen Sigfried naͤmlich iſt in ſeiner 
Duelle unklar. Als Grund deſſelben giebt das Lieb an, daß man 
den Sigfried, ba er den Gunther nah Island begleitet, um die 
Aufmerkfamkeit von ihm abzulenken, für ‚einen bloßen Dienf- 
mann Munthers erklärt; nachher empört fle fich über ben Chren⸗ 
plag, den der bloße Dienftimann mit feiner Braut bei dem Ber: 
lobungsfeſte zu Worms einnimmt; mit einigen fehr feinen Zügen 
läßt und aber das Lieb auf eine verborgene tiefe Eiferfucht gegen 
Chriemhilde, alfo eine ebenfo flarke Liebe zu Sigfried fehließen. 
Diefe Liebe felbft feheint ihren Grund in einer bunfeln Ahmmg 
ber Hilfe zu haben, welche Sigfrieb vermittelft feiner Tarnkappe 
dem Gunther ſowohl bei jenen Spielen, als in der Brautnadt 
gegen die troßige Jungfrau leiftete. Sie ahnt, daß der bebeuten- 
bere, flrahlende Sigfrieb es ‚eigentlich iſt, ber ihren Trotz ber 
zwungen hat, dem fie daher angehört. Diefe dunkel angebeuteten 
Motive werben alsbald Elar, wenn man bad Ältere Sagenbilb aus 
ben Liedern der Edda kennt. Nach diefen war Sigfried der Ver⸗ 
lobte Brunhildens; Die Mutter Chriemhildend giebt ihm einen 
Liebeötranf, daß er fle vergißt und in Liebe zu ihrer Tochter ent» 
brennt, und Brunhilde, fpäter Gunther Gemahlin, ftiftet aus 
beleidigter Liebe feinen Mord an. Davon bewahrt das Nibelungen» 
Lied noch eine ſchwache, halbvermwifchte Reminifcenz. In ber Oper 
aber kann man weder der Darftellung ver Edda, noch auch völlig 
ber bes deutſchen Liebes folgen. Jenes nicht, weil die Verblendung 
durch den Zaubertranf weder dargeftellt werben Fann, — ben 
ba müßte man zu weit ausholen, — noch bloß erzählt, denn 
dies wäre zu undeutlich. Diefes, wenigſtens nach allen Theilen, 
auch nicht, weil man offenbar ben wichtigften Umftand, den nächt⸗ 


413 


lichen Ringkampf, nicht aufnehmen kann. Auf bie Scene bringen 
gewiß nicht, denn obwohl die Erzählung des Gedichts ein Krafte 
ftüd it, das keinen wahrhaft unſchuldigen Sinn verlegt, fo ift 
die Darftelung für's Auge auf unferem Theater, in unferer Zeit 
doch offenbar ganz unthunlich. Aber auch bloß berichten Laßt fich 
dieſer Auftritt nicht; die zwar mäßige Erhöhung aller Verhält⸗ 
niffe und Formen über den Boden einer Naivetät, welche in man« 
hen Zügen, wie 3. B. auch in den Schlägen, welche Sigfrieb 
feiner Frau für ihre „üppiglichen Sprüchen giebt, doch für unfern 
Geſchmack gar zu wildfremb wäre, verlangt diefe Ausfcheidung. 
Dagegen ließe fi wohl in einem lebendigen Nezitativ berichten, 
wie Sigfrieb, durch feine Tarnkappe unfichtbar gemacht, bei jenen 
Spielen die Brunhilde gewinnen half; im Uebrigen würde man 
dem Liede darin folgen, daß Brunhilde davon eine dunkle Ahnung 
hat und eine tiefe, verborgene Liebe zu dem Manne nährt, der fie 
bo, wenn ihre Ahnung wahr ift, grenzenlos betrogen und ben 
unbebeutendern Mann ihr durch jene Siege aufgebrungen hat. 
Ihr Unwille wird von Hagen genährt, der den glänzenden Schwager 
ſeines Seren haft, weil er ihm zumächtig, zugroß iftund feinen Herrn 
verbimfelt. Es folgt der Zank der Königinnen. Da der nächte 
liche Ringkampf wegfält, fo Tann Chriemhilde ihr nicht mehr den 
Ming und Gürtel als Beweiſe ihrer Uebermannung durch Sigfrieb 
zeigen -und fie ein Keböweib nennen. Man Tann aber dafür bie 
Sache fo darftellen, daß Sigfried Brunhilden im Eriegerifchen 
Kampfe zu Island den Ring abgeftreift, Chriemhilden gegeben 
bat, und daß diefe num im Zorn, wiewohl gegen befferes Willen 
und Gewiſſen, mit dem Vorweiſen des Ninges die Aeußerung 
des Verdachts verbindet, Brunhilde habe Sigfried den Ring 


414 


heimlich felhft gegeben und ſei Gunthern als Weib gefolgt, um 
ben edleren Siegfried zur Xiebe zu verloden; jedenfalls erfährt 
nun Brunhilde, baß Sigfried es tft, der fie in den Spielen beflegt hat, 
Hagen ſchürt an ihrem aus Liebe gegorenen Haſſe, fie beſchließt mit 
ihm Sigfrieds Mord. Sigfried iſt nach der Erzählung des Liebes 
nicht ganz unſchuldig, er hat feiner Gattin dad Geheimniß jener 
Nacht verrathen, worüber er dem Gunther zum tiefften Still⸗ 
ſchweigen verpflichtet iſt; dieſe verzeihliche Menfchlichkeit Eoftet ihn 
das Leben. Dies tragifche Motiv geht wenigftens nicht ganz ver⸗ 
loren, wenn man ed ebenfalld als Verlegung ſchuldiger Ber 
ſchwiegenheit Hinftellt, daß Sigfried feinem Weihe die Gefchichte 
der Gewinnung Brunhildens in den Kampf- Spielen anvertraut 
und ihr den Ring geſchenkt Hat. 

Eine andere Schwierigkeit Tiegt In der Maffenhaftigfeit bes 
Stoffes. Freunde, denen ich meinen Gedanken mittheilte, er⸗ 
ſchracken davor am meiſten. Ich weiß aber nicht, warum man 
daran verzweifeln ſoll, einen breiten epiſchen Stoff auf drama⸗ 
fifche Kürze zurückzuführen, wenn ſchon die Griechen ihr Epos 
In die dramatifhe Abbreviatur umzuarbeiten verftanden, wenn 
Shaffpenre die wilden Maffen eines verworrenen Bürgerfrieges, 
wenn Schiller die Fluthen des dreißigjährigen Kriegs in ben dra⸗ 
matifchen Rahmen zufanımenzubrängen vermochte. Die meifle 
Schwierigkeit begegnet in dem letzten blutigen Kamyfe, worin 
nad) dem Liede fo ungeheure Zahlen auftreten. Die Aufgabe if, 
biefen Kampf in wenige Sauptmomente zufammenzuziehen und 
den materiellen Lärm de3 Kampfes felbft in den Hintergrund zu 
brängen. Um hierüber nicht in diefen Vorbemerkungen mweitläuftig 
zu werben, gebe ich num eine Sfisge, worin ich die Hauptmo⸗ 


415 


mente. der Oper dramatiſch zu ordnen ſuche. Ich Laffe mich in 
diefem Verſuche, worin es mir freilich noch nicht gelungen fein mag, 
die Breite des Stoffs gehörig zu bemeiftern, gerne belehren und ver⸗ 
beſſern, daß aber eine Fülle der herrlichten muſikaliſchen Motive 
aus diefer bloßen Nennung der Hauptmonente bem Inneren Ge: 
höre entgegenwogt, wird mir Niemand abftreiten. 

Ich theile den Stoff in fünf Acte; die zwei erften enthalten 
Sigfrieds Schickſal, welches mit feiner Kataſtrophe, der Ermor⸗ 
bung dieſes argloſen Jugendbildes, ſich zu dem Ganzen fo verhält, 
daß es ſelbſt nur die Erpofition zu der blutigen Schlußkataſtrophe 
bildet. Der erfte Act enthält die Expoſition im engern Sinne; 
d. h. zunächft die Erpofition zum zweiten, zu Sigfrieds Ermor« 
dung, ebendamit aber die Lage der Dinge überhaupt, woraus der 
ganze Verlauf der Tragödie fich entwickelt. . 

Erfter Art. Erfte Scene. Gunther tft mit feiner Braut 
Brunhilde aus Island angekommen und führt fle in prathtvollem 
Aufzuge, wobei die glänzenden Waffen der Eriegerifchen Jungfrau 
nicht fehlen bürfen, vor den verfammelten Hofe, d. h. der Mutter 
Ute, Gernot, Gifelher, Chriemhilde und den Bafallen auf. 
Die Scene iſt in einer reihen Dale; vor ber Ankunft des Braut⸗ 
paares fprechen bie Berfammelten ihre Erwartung, Chriemhilde 
ihre Tang gehegte ftille Liebe zu Sigfried aus. Jetzt tritt Gunther 
mit Brunhilden und feinen Begleitern auf der gefahrvollen Wer⸗ 
bung, Sigfried, Hagen, Dankwart ein. Nachdem die Braut 
Gruß empfangen und erwiebert hat, findet fie den Moment, eine 
püftere ahnungsvolle Stimmung in Tönen auszufprechen. Ge⸗ 
zwungene Braut Gunthers fühlt fie eine tiefe Liebe zu dem ebleren 
Begleiter Sigfried, fie ift aber auch von einer dunklen Ahnung 


416 


erfüllt, daß Sigfried, von dem die Sage geht, daß ihm wunder⸗ 
bare Kräfte zu Gebote ftehen, bei jenen Eriegeriichen Wettkämpfen, 
durch welche fie Gunthers Braut murbe, die Hand mit im Spiele 
Hatte; fie ahnt, daß er es eigentlich ift, der fie überwunden hat, 
fie fühlt, daß fle ihm gehören follte, fie muß ihn haffen, weil 
fie ihn Tiebt, und weil er fie betrogen Hat, ftatt fie für fich zu 
erfämpfen; fie kann nur den Dann lieben, ver fühig war, ihren 
Trotz und Waffenftolz zu brechen. Hagen ift ihr näher getreten 
and hat ihre Klagen vernommen, feiner engherzigen Vaſallen⸗ 
Treue iſt längft der feinen Herrn überftrahlende Sigfrieb ein Dorn 
im Auge gewefen, er gefteht ihr feinen Haß und fie vereinigen 
im Duett den Ausdruck ihrer drohenden Gefinnimgen. Hierauf, 
während ſich die Uebrigen entfernen, um die Vermaͤhlung bed 
Föniglihen Brautpaars einzwleiten, finden fih Chriembilde und 
Sigfried allein auf der Scene zufammen. 

Zweite Scene. Geftinbniß einer tiefen, Lange verborgen 
genährten Liebe, wobei die herrlichen, aus der fehönften Blüthe 
ber Minnepoeſie gefchöpften Züge, womit das Gebicht diefe tiefe, 
ſtille Liebe malt, aus der Stimmung des Componiften wieder⸗ 
Elingen müſſen. Sigfried erzählt nun den Hergang der Kämyfe 
und theilt Chriembilden das Geheimniß feiner Beihilfe mit, wobei 
er ihr den Ring giebt, den er im Kampfe Brunhilden vom Finger 
geftreift. Chriemhilde, vol Triumphes und Bemunderung, ers 
innert ſich jegt auch des fühnen Heerzuges gegen die Sachfen, ben 
Sigfried angeführt, und fehildert Die bangen Bejorgniffe, die fie 
damals um ihn genährt, gefteht Sigfried, wie fle den Knappen 
heimlich ausgeforſcht, der bie erfte Nachricht vom damaligen Siege 
brachte und es kommt fo der herrliche Inhatt der vierten Av. 


417 


zum muflfalifchen Ausdruck, Sigfried erklärt ihr nun, daß er 
fih von Gunther ald Preis feiner Hilfe bei der gefahrvollen Wer⸗ 
bung die Sand feiner Schwefter erbeten und deſſen Zufage erhal« 
ten babe. 

Dritte Scene. Zum Trauungszuge geſchmückt, tritt das 
Brautpaar und der ganze Hof wieder ein, Sigfried mahnt vor 
dem verfammelten Kreife ven Gunther an fein Verſprechen und 
e3 folgt die Verlobung der Liebenden nach der fo lieblichen Schil« 
derung In der 5. u. 10. Aventüre. Während die Verlobten ihr Glück 
auf den Wellen des Wohllauts ausfprechen, mährend Ute, Gernot 
und Gtjelher freudig ven Sigfried als Glied ihres Hauſes begrüßen, 
fteht finfter und drohenn Brunhilde zur Seite, Hagen vereinigt 
wieder den Ausdruck feiner gefährlichen Stimmung mit dem ihrigen, 
und Gunther, tief in fich brütend, giebt dem Gefühle eines dumpfen 
Drudes, der auf ihm laftet, Worte; er muß fich befennen, daß 
fein Weib nicht wahrhaft fein ift, weil er fie nicht felbft errungen 
hat, weil er durch Sigfrieds große Erſcheinung verdunfelt wird, 
weil er fühlt, daß eine geheime Ahnung fein Weib in Haß und 
Liebe nach Sigfried hinziehen muß. 

Vierte Scene. Man ordnet ſich zum Kirchgange, um nun 
beide hohen Paare zugleich zu vermählen. Die Seene braucht 
nicht zu wechſeln; das Portal der Kirche ſtößt an die offene Halle, 
in welcher alles Bisherige vor fich gegangen iſt. Während dies 
gefchieht, tritt Brunbilde zu Chriemhilden und bricht in höhni⸗ 
fhen Neben gegen fie aus, in melchen fie bodhaft, ihrem eigenen 
Gefühle zuwider, Sigfried tief unter Gunther fielt. (Daß man 
ihr den Wahn beigebracht hat, Sigfried fei bloßer Dienfimann, 
darin kann, wie ſchon gefagt, Die Oper dem Liebe nicht folgen. Es wäre 

Kritiſche Ränge I. 27 


418 


dies für die muſikaliſche Sprache zu undeutlih und die Unwahr⸗ 
f&heinlichkeit, daß Brunhilde die Unwahrheit dieſes Vorgebens am 
Hofe zu Worms nicht fogleich merken fol, würbe bei der theatra⸗ 
lichen Darftellung fi verdoppeln. Brunhilde darf daher nur 
im Allgemeinen ihren Dann, auch als mächtigeren König, rüh⸗ 
men, Sigfriev höhnen). Chriemhilde empört ftellt ihren Verlob- 
ten hoch über Gunther, macht ihr den Vortritt beim Cingang in 
die Kirche ftreitig und nachdem ſich beide Weiber zum Aeußerften 
gereizt, bringt fle den ſchmähenden Vorwurf vor, ber oben an⸗ 
gegeben wurde, und zeigt ald Beweis den Ning. Brunhilde fteht 
vernichtet, ſprachlos. Man legt momentan die Exbitterung bei, 
Alles tritt in die Kirche, nur Sagen bleibt haußen, fein finfterer 
Sinn erhebt fich zu Teidenfchaftlicheren Ausdruck in der 

| Fünften Scene. Zwiſchen die Paufen feines Vortrags, 
worin er bereit3 den Gedanken des Mordes ausfpricht, hört man 
Gefang und Orgel in der nahen Kirche. Der Gottesdienſt endigt, 
der Zug tritt wieder aus der Kirche; die Scene, worin Eigfried 
die Verläumdung abſchwört, muß wegbleiben, fie ift für den 
rafchen dramatiſchen Gang müßig. Hagen fleht den Zug an ſich 
vorübergehen; Faum ift diefer über die Bühne, fo kehrt Brunhilde 
in ber höchften Bewegung zurüd, Gunther folgt ihr, nachdem 
fie mit Hagen ſchon den reifen Mordgedanken ausgetauſcht, er 
vereinigt fih mit ihnen aus dem ſchon hervorgehobenen, nun noch 
ſtärker auszufprechenden Bemweggrunde, und der Mord wird auf 
die Weiſe, wie im Liede befchloffen. Der ſchwankende Gernot 

bleibt in diefer Scene weg, er wäre bier überflüffig. Daß man 
eine neue Kriegäbotfchaft won den Sachfen vorgeben will, dies 
wäre für die Oper ebenfalls zu weitläuftig, nur die Jagd, der 


419 


Wettlauf u. ſ. f. wird in Diefe Verabredung aufgenommen. 
Das Annähen eined Kreuzed auf Sigfrieds Gewand, wozu 
Hagen die Chriemhilde unter trügerifhem Vorwande beredet, muß 
ebenfalls megbleiben, weil der mythiſche Zug von Sigfrieds 
Hornhaut, die fi bloß auf eine verwundbare Stelle des Rückens 
nicht erftreett, in ber Oper offenbar feine Stelle finden Tann. 
Die Muſik muß mit allen ihren Mitteln den büfteren, dumpf⸗ 
drohenden, unheimlich flüfternden Geift eines ſolchen Mordraths 
aushauchen. 

Buweiter Act. Erſte Scene. Zimmer im Pallaſte. 
Sigfried, in herrlicher Jagdkleidung, verabfihiebet fich von Chriem⸗ 
bilde. Diefe fucht ihn vergebens zu halten, indem fle ihm bie 
dunfeln, bangen Träume ber Naht erzählt, wie zmei Berge ob 
ihm zu Thal fielen und fie ihn nimmermehr fah, wie ihn zwei 
wilde Schweine über die Helde jagten — „da wurden Blugmen 
roth.« Wer diefe herrliche Scene in Av. 16 nur einmal gelefen 
bat, muß fühlen, baß fle lauter Muflt if. 

Zweite Scene. Die Dekoration mwechfelt, ein Wald mit 
einer Quelle erfiheint. Won verfihievenen Seiten des Walbes 
fommen Sigfried, Gunther, Sagen und einige Jäger zufammten. 
Sigfried wird ald der Mhnfte und glücklichſte Jäger von Allen 
begrüßt: Nun Kann natürlich der Umftand nicht aus dem Liebe 
aufgenommen werben, daß man fih erft zum Schmaufe feßt, 
feinen Wein reicht, Daher beſchließt, den Durſt an der Quelle zu 
löſchen, und nun erft einen Wettlauf nach biefer vorſchlägi. Das 
für nimmt man die einfache Wendung, daß Hagen den Sigfrieb 
durch die Behauptung reizt, er fei als Jäger zu Pferbe ſchnell 
gewefen, er folle fich erft im Laufe zeigen, und fo beſchließt 7 

27* 


420 


einen Wettlauf nah der Duelle. Sigfried will in voller Jagd⸗ 
kleidung, die beiden andern dürfen im leichten Unterfleid Kaufen. 
Die drei Wettläufer entfernen ſich, die übrigen Jäger, von denen 
angenommen wird, fie feien in das Geheimmiß gezogen, ſtellen 
ſich an der Quelle auf. Pauſe voll düſterer Spannung. Die 
Jäger ſehen und ſchildern die Zurüſtungen, den Anfang des 
Wettlaufs, indem fie gefpannt alle nach dem außerhalb der Scene 
angenommenen Punkte hinbliden; vol finfterer Erwartung fehen 
fie den Sigfrieb feinem Schidfal entgeg nrennen und müffen bie 
Schönheit und Behendigfeit des herrlihen Schlachtopfers noch im 
legten Momente bewundern. 

Dritte Scene. Sigfried kommt ſiegreich zuerft an, Iegt 
alle feine Waffen ab und wartet befcheiden auf den König; nach— 
dem dieſer getrunfen, bückt fich Sigfried zur Duelle, trinft, 
Hagen, der jebt auch am Ziele angefommen, durchſtößt ihn mit 
dent Speere. Sigfried greift, wie im Liede, nah dem nahe 
liegenden Schild, ſchlägt Hagen zu Boden, finft aber dann zwi— 
ſchen Blumen zufammen. Die unendlich rührenden Verſe in Av. 16, 
Strophe 929 ff., geben den Eöftlichen Text zu feinem Schwanen- 
gejang, während die Mörder mit Graufen, mit ſchwacher Reue 
(Gunther), mit feftem Troge (Hagen) ihn unftehen. Man legt ven 
Leichnam auf eine Tragbahre; e8 ift Nacht geworben; unter vüfterem 

Geſange wird er fortgetragen. 
| Vierte Scene. Thüre vor Chriemhildend Schlafzimmer. 
Die Scenerie muß fo befchaffen fein, daß die Schwelle breit ift, 
d. h. daß zwiſchen einigen Staffeln, die zur Thüre führen, und 
biefer felbft ein gehörig ausgedehnter Raum if. Chriemhilde 
muß nämlich im Heraustreten, noch ehe fie den Leichnam fehen 


421 


kann, Einiges vortragen, was im Liede im Schlafzimmer ges 
ſprochen wird. Zunächft iſt die Thüre gefchloffen. Es ift Nacht. 
Hagen erfeheint mit den Trägern des Leichnams und in entfeplicher 
Graufamfeit gebietet er ihnen, den Leichnam vor den Staffeln 
niederzulegen. Nachdem diefe abgegangen, erfcheint ein Kämmerer 
mit einer Fackel, beauftragt, Chriemhilden zur Frühmeſſe zu ge- 
leiten. Er erblickt vol Schreien den Leihnan, ohne ihm zu ers 
fennen, und pocht an die Tihüre. 

Bünfte Scene. Chriemhilde tritt heraus, ihre Gefelfchafts- 
Brauen inter ihr. Iebt benachrichtigt fie der Känımerer, daß 
am Fuße der Staffeln ein Leichnam liege, ſie ruft fogleich aus: 
ed ift Sigfried, Hagen ift der Mörder! und finkt in Ohnmacht. 
Langſam erholt fie fih, Laßt fih zum Leichnam führen, und nun 
die herrliche Klage Scene (|. Av. 17). Hier ift eine Schöpf- 
quelle der gewaltigften muflfalifhen Wirkung, wobei auch das 
Auge eine Anfhauung von der höchſten malerifhen Schön- 
beit hat. 

Die folgenden Acte nun haben den Aufgang diefer Blutſaat, 
das Werk ver Rache zu entfalten. Um aber die Verwilderung 
Chriemhildens, die wir im legten Acte fehen follen, zu motivi⸗ 
ren, muß erft an der Hand des Liedes gezeigt werben, wie fie 
keine vechtmäßige Strafe des Mörders erwirken kann, ja viefer 
auf's Neue, und zwar auf dem empfindlichen Punkte des Rechts⸗ 
gefühls, ſie unendlich verletzt. Dieß und die Werbung Ezels bil⸗ 
det den dritten Act. 

Dritter Act. Erſte Scene. Das Bahrrecht (Av. 17). 
Das Innere einer Kirche oder Kapelle. Sigfrieds Leiche wird im 
offenen Sarge bereingetragen. Hinter ihm bie ſchmerzvolle Wittwe, 


422 


der König, feine Brüder, Sagen und die andern Bafallen (Ger: 
not, Gunthers Bruder, tft im Liebe faft müßig: ich habe ihn 
früher aufgeführt, der Componiſt kann fi dort und bier danach 
halten, ob ihm in einigen muſikaliſchen Partien dieſe weitere 
Stimme brauchbar iſt oder nicht. Weber Giſelher f. nachher). 
She die Ceremonie vor ſich geht, fuchen Gunther und feine Brü- 
der die Wittwe zu tröften. Gunther gefteht mit halben Worten 
feine Theilnahme am Mord, deutet unvermeiblihe Motive an, 
flieht um Verzeihung und Chriembilde erklärt, ihm verzeihen zu 
Eönnen, wenn der Mörber ſelbſt beftraft werde. Dieſe vorberei⸗ 
tende Scene tft hier nothwendig, denn um fpäterer Vorgänge 
willen muß Chriemhilde dem Gunther verziehen haben; das Lieb 
bat hiefür nachher eine befondere Scene, die Oper muß um der 
Kürze willen biefen Moment hier einfügen. Im Liede gefteht 
Gunther nicht, fondern giebt vor, Räuber haben den Sigfried ermor⸗ 
det. Aber inbiefer Unklarheit kann Die Oper die Sache nicht belaſſen. 

Zweite Scene. Jetzt tritt Sagen vor die Leiche. Die Wun⸗ 
den bluten. Chriemhildens Klage und Zorn bricht in der höchſten 
heroifchen Form aus. Hagen in ftolger Haltung erwiebert ihr 
Worte des tiefften Trotzes, Chriemhilde geht in Verzweiflung 
und in der Dual des ungefättigten Rachegefühls Hinter dem Sarge, 
den man fortträgt, ab, nachdem fie noch einmal den Bruber be⸗ 
ſchworen hat, fie an Sagen zu rächen, Gunther aber dem Ver⸗ 
Langen durch die Erklärung ausgewichen ift, er könne feinen be= 
deutendften Vaſallen nicht entbehren. 

Dritte Scene. Gunther und Hagen bleiben, während der 
Tranerzug abgeht. Hagen erklärt fich entfchloffen zu einer neuen 
argen That. Den reihen Schag, melden Sigfried ber Wittwe 


423 


nachgelaflen, den Nibelungenhort, will er rauben und in ben 
Rhein verfenfen, denn Chriemhilde Hat zuleßt noch ihre einzige 
Hoffnung darauf gefeßt, durch große Breigebigkeit Freunde an 
dem Hofe zu gewinnen, bie fie an dem Mörder rächen follen. 
Der ſchwache Gunther, zuerſt noch von Mitleid bewegt, läßt ſich 
zu diefer neuen Unthat beftimmen und beide gehen mit dem gegen- 
feitigen Verſprechen, bis in ben Tod zu verſchweigen, wo ber 
Schatz Hege, hinweg, um ihren Entſchluß fogleich auszuführen. 
Vierte Scene Ein Zimmer im Pallafte. Chriemhilde in 
tiefer Trauer; ein Knappe Fündigt ihr den Raub an; fie verän- 
dert ihre Züge, bleibt aber ſtumm und fleinern. Schmerz und 
Wuth arbeiten innerlich und finden Feine Worte mehr. Jetzt er⸗ 
feheinen ihre Brüder; Giſelher fucht fie von Herzen, Gunther in 
feiner gewohnten halb reblichen, Halb treulofen Art zu tröften; 
da wird eine Botfchaft angenielvet, bie von dem großen Hunnen⸗ 
könig Ezel kommt. Man befiehlt, die Boten einzulaffen. 
Fünfte Scene. Der edle Nübiger erfcheint mit glänzendem 
Gefolge und trägt die Werbung Gzel8 vor. Chriembilde, ſtumm 
vor Bewegung, bedeutet nur mit der Hand, daß ihr jeber Ge⸗ 
danke näher liegt, als ber einer zweiten Bermählung. Vergebens 
dringt Gunther in fie. Jetzt tritt ihr Müdiger näher und flüftert 
ihr zu, ob fie wohl geheimes Weh habe? Cr gelobe ihr Hilfe 
und Rache. Bei diefen Worten bligt ein Gedanke in ihr auf: 
bie arme Wittwe am Hofe zu Worms tft wehrloß, aber Ezels 
Gemahlin, die über Unzähliche und über bed eveln Nübigerd noch 
befonders zugeſicherte Hilfe verfügt, nicht. Sie tritt wieder zu 
den Uebrigen und giebt ihr Iawort. Die Boten treten ab, und 
Chriemhilde auch. Auch in dieſer Scene darf fie faft nichts 


rm j 


424 
ſprechen, ſingen gar nichts; das Drohende und Gefährliche ihrer 
innern Gedankenwelt ſoll durch Winke doppelt furchtbar wirken. 
Während ſich Alles entfernt, bleibt Hagen noch einen Moment 
zurück und blickt ſtumm den Abgehenden nach; Miene und Ge⸗ 
bärde zeigen an, daß er die Gründe von Chriemhildens Einwil⸗ 
ligung verfteht, aber auf jede Zukunft gefaßt ift. 

Der vierte Act umfaßt das letzte Stadium, das zur 
Schluß - Kataftrophe führt. Erfte Scene Die Nibelungen 
(diefer Name, im Nibelungenliede vergefien und erft gegen Ende 
wieder bervortretend, ift in der Oper von Anfang an als der 
Name des Burgundifhen Königshaufes zu Wormd und ihrer 
Bafalen angenommen) empfangen verfammelt die Boten von 
Ezel, die Spielleute Werbel und Swemmel, welche die Einladung 
nach Kunnenland in fröhlichen Tönen ausrichten. Ezels Sehn- 
fucht, feine Schwäger zu fehen, Chriemhildend Sehnfucht, die 
Brüder wieder zufumarımen, wird ald Motiv auögefprochen. Gunther 
ift unentſchloſſen. Sagen räth nach allen Kräften ab und fpricht 
aus, daß fle ale in den Tod reiten würden. Ihm ſtimmt Rumold 


‚ der Küchenmeifter bei; es ift von Intereffe, diefe Figur, die in 


andern Denkmalen unferer Heldenſage derb Humoriftifch erfcheint, 
nicht auszulaſſen; er rath munter, lieber bei Schüfleln und 
Töpfen im Frieden zu Haufe zu bleiben. Gifelher aber, der Lieb⸗ 
ling feiner Schwefter, räth eifrig zu der Fahrt und wirft Hagen 


‚vor, er rathe aus Schuldbewußtſein ab. Seht erfcheint diefer in 


feiner Größe, indem er erklärt, wenn man nicht abftehe, fo fei 
er der Erfte, der feit und gefaßt dem Schickſal entgegengehe. Ja 
jeßt dringe er auf die Fahrt. Jener hohe antife Sinn, der das 
Schickſal in feiner finfteren Größe Fennt, aber ohne Zittern und 


425 


ohne Verdruß in feinen Abgrund fchreitet, muß hier feinen Aus⸗ 
prud finden. Die Fahrt wird befchloffen. 

Zweite Scene. DasUfer der Donau, deren angeſchwollene 
Wogen man braufen hört. Hagen in voller Rüſtung tritt hervor, 
in der Berne zeigen ſich an höheren Uferftellen Theile des Nibes 
lungenheeres, man fieht fie rathlo8 auf den Strom bliden. Hagen 
fhildert die Noth um eine Meberfahrt und ſucht eine Furth am 
Ufer. Da hört er plätfchern, die Stimmen der Meerweiber lafſen 
fih hören, er raubt ihnen die Gemwänder und verlangt ald Bes 
dingung der Nüdgabe Prophezeiung ded Ausgangs dieſes Zugs. 
Sie vertünden ihm den gewiſſen Tod fämmtlicher Nibelungen. 
Feſt und männlich, wiewohl tief bewegt, nimmt er die Kunde auf. 
Sie geben ihn noch an, wie er dem Fährmann rufen müffe. Der 
raube Ferge kommt, nachdem Hagen die gewaltige Stimme nach ihm 
geſchickt hat, der Streit mit ihn entfpinnt fh (Av. 25), Hagen 
ſchlägt ihm das Haupt ab, iſt num im Beflte der Fähre, ruft die 
Seinigen herbei und verfündigt ihnen, was die Meerweiber ges 
wahrfagt. Zuerft tiefe Schweigen, dann entfchloffener Zuruf, doch 
nicht von der Fahrt abftehen zu wollen. Man ſieht noch, wie er 
die erfte Schaar über den Strom rudert. Es bedarf feines Wortes 
über bie ungeheure muſikaliſche Gewalt diefer gangen Scene, wozu 
das finftere Bild des wilden Stromes, ber trübe, graue Tag ftimmt. 

Dritte Scene. Die Burg zu Bechlaren. Rüpdiger bewirthet 
die Reiſenden, verlobt feine Tochter dem Gtfelher, ſchließt Waffen- 
brüderſchaft mit den Nibelungen, welche beim Abſchied mit Ge- 
ſchenken beflegelt wird, einem Waffenkleid für Gunther, einem 
Schwert für Gernot, einem Schild für Hagen u. f. w. (ſ. Av. 27). 
Dieſe Zwiſchenhandlung darf inder Oper nicht fehlen, fonft gienge 


426 


die ſchwere Eollifion verloren, in welche Rüdiger fpüter geräth, 
da Verſprechen und Lehnstreue ihn für Chriemhilde Fämpfen, 
Schwur der Freundfchaft und Verſchwägerung ſich wenigftend 
neutral halten heißen. Ebendaher darf Gifelher in der Oper 
keinesfalls mwegbleiben; er jpielt ohnedies eine wichtige Rolle bei 
der Annahme der Einladung nad) Humnenland. 

Vierte Scene. Empfang der Nibelungen buch Chriem- 
bilden in Hunnenland, vereinigt mit dem herrlichen Auftritt 
„Wie fie der Schildwacht pflagen“ (Av. 30). Lokal: Links, vom 
Profil gefehen, dad Portal von Ezels Burg. Ueber diefem eine 
Zinne. Im Angefiht des Zuſchauers, in der Front ein Neben= 
pallaft, beftimmt, die Nibelungengäfte aufzunehmen. Im Anfang 
der Scene erfcheinen auf der Zinne Ezel und Chriembilbe, in bie 
Berne blickend nach den heranziehenden, aber noch nicht ſicht⸗ 
baren Nibelungen. Chriembilde, da fie alle in voller Rüſtung 
fieht, drückt in wenigen Lauten die Gefühle aus, welche die legte 
Strophe von Av. 27 enthält, während ber arglofe Ezel nur 
herzliche Freude zu erkennen giebt. Inzwiſchen fteht Dieterich von 
Berne mit feinem greifen Waffenmeifter Hildebrand unter dem 
Portale, beauftragt, die Gäfte zu empfangen. Im Momente, 
wo fie auf der andern Seite der Bühne mit Rüdiger, ber fie von 
Bechlaren an begleitet hat, erfcheinen, tritt er ihnen entgegen, 
begrüßt fie und antwortet ihnen auf ihre flüfternde Srage, ob 
Chriemhilde noch immer den Sigfried beweine, mit einem bes 
denklichen, warnenden Winfe. Inzwifchen ift Chriembilde mit 
Ezel herabgeftiegen und fieht unter dem Portale. Nun der, in 
Av. 28. fo bedeutungsvoll gezeichnete Empfang. Schweigend 
weist fie die dargebotene Hand Guntherd (und Gernots) ab, nur 


427 


Giſelher begrüßt fie mit Sandfehlag und Kuß. - Hagen bemerkt 
dieß, tritt auf das Profcenium und fohnallt ſchweigend feinen 
Heln fefter. (Av. 28, Str. 1675). Hierauf herzlichere Be⸗ 
grüßung Ezeld. Die drohenden Neben, die im Liede nun fogleich 
zwiſchen Chriemhilde und Hagen gewechfelt werben, fallen weg, 
um bie Kraft auf einen fpäteren Auftritt zwiſchen beiden zu fparen. 
Es ift ſpät Abends, die Gäfte wünfchen fogleih ihre Wohnung 
zu beziehen und werben nach dem anliegenden, oben genannten, 
Gebäude gewiefen. Knappen, durch einen Wink Chriembildend 
biezu angewiefen, wollen ihnen die Waffen abnehmen, fie dulden 
ed aber nicht. Ezel, Chriemhilde, Dieterih u. f. w. ziehen fi 
in den Pallaft zurüd, die Hauptſchaar der Nibelungen ift in das 
Gebäude getreten, Gunther, (Gernot), Gifelher, Hagen, Volker 
ftehen noch haußen und drücken, Giſelher befonderd, bange Bes 
ſorgniß eines nächtlichen Ueberfalls aus. Da vereinigen fih Hagen 
und Volker im Schwure ewiger Waffenbrüderfhaft, und beſchlie⸗ 
Ben, bie Schlafenden zu bewachen. Alle Andern ziehen ſich zu⸗ 
rück. Es iſt tiefe Nacht geworden und nun folgt die herrliche, 
für die Oper ganz geſchaffene Scene der Schildwacht (Av. 30). 
Volker lehnt den Schild an die Wand und: „ſuozer unde ſenfter 
gigen er began, do entſwebete er an den Betten vil manegen 
ſorgenden Mana. Dann tritt er in dad Haus, verſichert ſich, 
daß Alle ſchlafen, umd waffnet ſich wieder völlig; mit drohendem, 
anfchmwellendem Gemurmel ſchleicht eine Qunnen= Schaar heran 
und wird von den getreuen Wächtern zurüdgefchlagen. 

Fünfte Scene. Der wahrhaft erhabene Auftritt der 
Av. 29. („Wie er niht gen ir ufſtuont /) geht im Liebe der nächte 
Then Schildwacht voraus. Hier laſſe ih ihn nachfolgen, theils 


428 


um die theatraliſche Anordnung zu erleichtern, theils weil er be⸗ 
ſonders bedeutungsvoll die letzte Station vor dem völligen Aus- 
bruch der blutigen Kataſtrophe bezeichnet. Ich bitte jeden muflfa- 
fh Begabten, nur die Av. 29. zu leſen und dann: fih zu 
fragen, ob ihm nicht Alles von felbft zu einer Tonwelt ſich ge 
ftaltet. Zur Anordnung der Schaubühne ift jo viel zu bemerken. 
Es ift allmählich Tag geworden. Hagen und Volker ſetzen ſich 
auf eine Bank vor dem Saale, um zu ruhen. Da hört man von 
ferne dumpf anfehwellende, murrende, drohende Töne einer gros 
Ben Menſchen⸗Maſſe. Hagen und Volker erneuern ihren Schwur, 
ſich nicht zu verlaſſen. Volker will die Freunde wecken, aber 
Hagen in ſeinem Heldengefühle duldet es nicht. Jetzt erſcheint von 
der Seite Chriemhilde an der Spitze einer großen gewaffneten 
Hunnen⸗Schaar, und zeigt, zu ihnen gewandt, mit drohendem 
Finger auf Sagen.“ Sie gebietet hierauf den Kriegern, flille zu 
ftehben und das Bekenntniß feiner Schuld aus Hagens eigenem 
Munde zu vernehmen ; fie kenne feinen Trog genug, um zu wiſ⸗ 
fen, daß er nicht Kiugnen werde (Str. 1709). Inzwiſchen faßen 
Hagen und Volker ſchweigend, bewegungslos, zwei ernſte, ſtille, 
große Heldengeſtalten, wie in Erz gegoſſen. Hagen hat das große 
Schwert, das er Sigfried genommen, ruhig über ſeine Schenkel 
gelegt, Volker hat ebenfalls ſein Schwert von der Bank, wo es 
lag, an ſich gezogen und ſtützt ruhig die Sand auf den Knopf 
des Griffed. Da Chriembilde auf fie zugeht, fordert Volker ven 
Hagen auf, vor der Königinn ſich zu erheben, diefer weist es 
trogig ab. Chriemhilde tritt ihm vor die Füße, wirft ihm feine 
Verbrechen vor, er gefteht fie mit erhabener Feſtigkeit unerfchüt- 
terlicher Ueberzeugung (die großen Worte: ich bin's et aber Has 


429 


gne m. f. w. Av. 29, Str. 1728). Jetzt tritt ſie wieder zu ihren 
Hunnen, die Schuld iſt geftanden, Sagen fol jetzt die Strafe 
finden , fie hebt die Schaar gegen ihn, aber unſchlüſſig umſum⸗ 
men die Sunnen die beiden immer gleich unbewegten Männer und 
verlieren fich endlich. Jetzt treten dieſe in’8 Haus zurüd, um nach 
folchen offenen Beweiſen feindlichen Sinnes die Ihrigen aufs Neue 
zur DVorficht zu ermahnen. Während Chriemhilde zitternd vor 
MWuth allein fteht, tritt ihres Gemahls Bruder Blöbelin zu ihr 
und fragt fie nach) dem Grund ihrer Keidenfchaft. Jetzt ift fie ent⸗ 
ſchloſſen, Freund und Feind zu opfern, auf ihre Verfühnung mit 
Gunther, ihre Liebe zu Gifelher Feine Rüdficht zu nehmen, einen 
Sturm zu beſchwören, wo feine Unterfeheidung mehr ift, und 
Die Nibelungen follen noch dieſen Tag, wenn fie alle im Pallafte 
fyeifen,, von einem überlegenen Sunnen= Heer überfallen, aber 
damit ihre Kriegsknechte fie nicht unterftügen, diefe fimmtlich in 
ben befonberen, abgelegenen Gebäude, wo fie wohnen, über dem 
Effen niedergemacht werden. Dazu läßt ſich Blödelin bereit fin= 
den, da ihm Chriemhilde ald Lohn die ſchöne Wittwe Nudungs 
zur Gemahlinn verſpricht (Av. 31). 

Fünfter Act. Schluß - Kataftrophe, ungeheurer blutiger 
Durchbruch des Schickſals im entfeflelten Sturme aller muſikali⸗ 
ſchen Kräfte. Erfte Scene. Großer Saal in Ezels Pallaft. Die 
Nibelungen mit möglihft großen ritterlichen Gefolge fiten zu 
Tiſch mit Ezel, Chriemhilde, Dieterich, Nüdiger und einer reichen 
Umgebung Hunnifcher Großen. Man führt Chriemhilvdens Kind 
Ortlieb *) herein und eben ift Chriembilde und Ezel, Gunther, 


*) Nor der Einheit der Zeit bedarf ed teined fo großen Mefpectd, um fich 
daran zu finden, daß feit dem dritten Acte Ehriemhilde dem Ejel einen 


430 


(Gernot), Gifelher zärtlich liebkoſend mit ihm befchäftigt, da er⸗ 
feheint unter der Thür im Hintergrund eine ſchreckliche Geſtalt: 
es ift Dankwart, unter deſſen Aufficht die Knechte aßen; alle 
find erſchlagen, er allein hat fi durchgehauen und tritt nun mit 
blanfem, blutigem Schwerte, die ganze Rüſtung von Blut bes 
ronnen, unter bie Thür; furchtbar erfchallt feine Stimme, indem 
er den Nibelungen das Ereigniß verkündet und fie aufruft, ſchnell 
fih zur Rache und Nothwehr zu erheben. Sogleich führt Hagen 
auf, haut Chriemhildens Kind, feinen Hofmeifter, Werbel und 
Swemmel nieder; ein Moment, und Alles ift im wilden Hand⸗ 
gemenge. Ezel und Chriemhilde flehen Dieterih um Schuß, dieſer, 
für feine Perſon entſchloſſen, neutral zu bleiben, fpringt auf einen 
Tiſch, feine Stimme fhallt „alfam ein Wifanded-Horn“, er be 
gehrt einen kurzen Waffenftilftand, um Ezel und Chriemhilden 
aus dem Saale zu führen, Gunther gewährt es ihm, er führt 
die Zitternden hinaus. Ihm fhließt fih Rüdiger mit Gefolge an, 
ber weder für noch gegen die Nibelungen fechten kann, ohne fein 
Gewiffen zu verlegen. Kaum haben diefe den Saal verlaffen, jo 
beginnt das Kampfgewühl von Neuem und ruht nicht, bis alle 
im Saale anmwefenden Hunnen gefallen find. Es wird ftille, bie 
Nibelungen ruben müde auf ihren Schilven. Diefe I höne Grupre 
der ruhenden, neuer Kämpfe. gewärtigen Streiter muß fich tiefer 
im Grunde des Saaled fammeln, wohin zulegt der Kampf fich 
um ſo mehr gedrängt hat, weil es zugleich galt, neue, herein⸗ 


Knaben geboren haben foll. Uebrigens kann die Oper von der boshaften 
Abſicht, womit Chriemhilde dad Kind zur Tafel kommen laͤßt (Av. 33 
v. 30.) abfehen. Dad Kind wird eingeführt, um die Paufe vor Dant: 
wartd Eintritt zu füllen, und ald erſtes Opfer von bagens Kampfwurh. 


431 


dringende Schaaren abzumehren und die Hunnen, die im Saale 
befindlich find und hinausdrängen, zurüdzuhalten ; ih mache aber 
darauf aufmerkfam, weil jeßt für einen Wechfel der Decoration 
der Vordergrund gemonnen werben muß. 

Zweite Scene. Rüdigers rührender Kampf mit fi, fein 
Eintritt in den Streit, fein Tod. Zunächſt einige Vorbemerkungen: 
Es verfteht fh, daß das lang gedehnte, immer neu beginnende 
Getümmel phyſiſchen Kampfes nicht auf die Bühne gehört, und 
daß es auf wenige Haupt » Momente zu beſchränken iſt. Daher 
gibt die Oper nur Eine Scene des Kanıpfes in unmittelbarer An⸗ 
ſchauung, im vorhergehenden Auftritt; das Uebrige fordert eine 
andere Anorbnung, welde fo befchaffen ift, daß man nur von 
ferne den Lärm des Streited Hört. Daher fällt Iringe Kampf 
(Av. 36.) weg, und werben nur die weſentlichſten Auftritte her⸗ 
vorgehoben,, Rüdigers Kampf, der Kampf von Dieterih8 Mans 
nen, Dieterih8 Sieg Über Sagen und Gunther. In der vorlie⸗ 
genden zweiten Scene nun hat bie Decoration gewechfelt, und 
ſtellt wieder das Local von Act IV, Se. A u. ff. dar. Das Ge 
bäude, worin die Nibelungen wohnen und kämpfen, fteht alfo 
im Hintergrund ; eine Treppe führt in zwei Armen zu feinem 
Eingang , in diefen dringen diejenigen ein, welche mit den Nibes 
Lungen ftreiten wollen, und man hört dad Klirren und Tofen des 
Streites wie aus einer Borhalle, welche hinter dieſem Cingange 
angenommen wird. Die Nibelungen Eönnen fich nicht in's Offene 
berausmwagen , weit fle fonft umzingelt und von ber’ Uebermacht 
erbrückt würden. 

Jetzt ſtehen fie Höhnend und herausfordernd auf der Treppe 
und unter den Fenſtern. - Rüdiger erfheint, Ezel und Chriems 


432 


hilde beſtürmen ibn, zu fechten; jener mahnt an die Vafallen- 
pflicht, dieſe an das Act III, Sc. 5 gegebene Verfprechen, er 
dagegen beruft ſich auf feine Waffenbrüderfchaft, feine Verſchwaͤ⸗ 
gerung , feine Pilichten als Geleitömann ber Nibelungen von 
Bechlaren bis Hunnenland. Schredlliher innerer Kampf des 
edlen Mannes, der im Liede Vater aller Tugende heißt, deſſen 
Herz „Tugende biert wie der junge Maie Bluomen“. Endlich 
ſiegt die Ältere Pflicht, er iſt zum Streit entſchloſſen, ruft feine 
Mannen berkei, und die Arme auf den Schild geſtützt eröffnet 
er jenes amenklich rührende Geſpräch mit den Nibelungen, deren 
Zon aus drohenden Trotze plötzlich in Weichheit übergeht, 
da fie jeben, daß fie mit dem liebften Freunde ftreiten ſollen. 
Hier ſoll der tieffte Ton beutjcher Innigfeit vernommen werden. 
Rüdiger wünſchte lieber todt zu fein; fie zeigen ihm die Gefchenfe 
ber, die er ihnen in Berhlaren gegeben, das Schwert, mit dem 
ſie nun ihn felber töbten follen u. ſ. w. Sagen zeigt den ge- 
ſchenkten Schild, er it zerhauen, Rüdiger ſchenkt ihm jeßt feinen 
eigenen. Die rauben Helden ſchämen fich der Thränen nicht. Gi- 
jelber,, der Verlobte feiner Tochter, mahnt ihn an dieß ſchöne 
Band, Rüdiger flebt ihn, nach feinem Tode nicht die Tochter 
die traurige Pflicht des Vaters entgelten zu laffen. Sagen und 
Volker verfprechen noch, den Kampf mit ihn felbft zu vermeiden. 
Jetzt ſtürzt ſich Rüdiger mit feinen Dannen in den Eingang des 
Hauſes. Man hört das Tofen des Kampfes. Dumpfes Still: 
ſchweigen der Erwartung unter den Perfonen auf der Bühne. 
Nah einiger Zeit wird es ſtill. Rüdigers Leichnam wird aus dem 
Haufe getragen, doch nicht ganz auf die Vorberbühne ; denn die 
Hibelungen behalten ihn zurück. Unendlicher Klagegefang ertönt. 
Auch feine Mannen find ſämmtlich erfehlagen. 


433 


Dritte Scene. Es ift hier eine Veranlaffung , die Deco⸗ 
ration wieber zu wechfeln, welche zu benügen um ſo zweckmaͤßi⸗ 
ger ift, damit das Gemüth und die Sinne von bem Getöfe und 
den Schauerfcenen des wilderen Ausbruchs der Wuth fich erholen 
und auf die legten ſchrecklichſten Auftritte Kraft und Friſche fam- 
meln. Ein Burgzimmer; Dieterih, der Held der Beſonnenheit, 
berufen zum Werkzeug der letzten vollſtreckenden Gerechtigkeit, tritt 
auf. Man Hört durch die offenen Fenſter die durchdringenden 
Laute der Klage um Rüdiger. Helferich tritt ein und meldet ihm 
die Urfache, Rüdigers Tod. Dieterich begreift ihn nicht, da 
Ruͤdiger neutral bleiben wollte, wie er ſelbſt. Er beftellt feine 
Mannen, d. h. die außerlefenften,, Hildebrand und den wilden 
Wolfhart an ihrer Spige, und trägt ihnen auf, zu fragen und 
Ruͤdigers Leichnam zu verlangen. Er verbeut ihnen aufs Strengſte 
den Streit, aber aus der aufgeregten Haltung Wolfharts erräth 
man leicht, daß die Kampfluft fich nicht bezwingen laſſen wird. 
Sie treten ab. ‚ Dieterich bleibt allein, gibt feinem Schmerz über 
dieſe ganze tragifche Entwicklung, aber auch feinem Abſcheu über 
Chriemhildens wachſende Verwilderung Worte, und febt fi 
dann wartend an ein Fenſter. Man hört zuerft erneuten Klages 
laut von ferne, dann erneutes dumpfes Kampfgetöfe; Dieterich 
erkennt in jenem die Klage feiner Mannen um Rüdiger, aus dies 
fem fchließt er nur, e8 müfjen neue Sunnenfchaaren in den Kampf 
geichickt fein. Nach einiger Zeit wird es ftille. Durch das Fenſter 
ſieht man den Wicberfchein einer Feuersbrunft am Horizont. 
Jet erſcheint wankend, ſich kaum aufrecht erhaltend, ber greife, 
ſchwer verwundete Hildebrand , ftellt ſich ſchweigend vor Die- 
terih, und dieſer fragt tropfenmeife die Schreckensnachricht aus 

Kritiſche Fänge ll. 28 


434 


ihm heraus, wie feine Mannen ſich reizen ließen zum Kampfe 
unb außer Hildebrand alle gefallen find. („Was ihr Habt ber 
Lebenden, bie feht ihr bei euch ſtahn, das bin ich Seelen-alleine, 
die andern, bie find tobt). Zugleich erzählt aber auch Hilde⸗ 
brand, daß, während noch der Streit dauerte und die Amelungen 
beinahe alle fon gefallen waren, bie wilde Chriembilde Feuer 
in das Haus werfen ließ, daß außer Gunther und Sagen alle 
Nibelungen theils erfchlagen, theils verbrannt find und biefe 
beiden tobesmüb vor dem Kaufe fliehen. — So glaube ich bie 
zur Schilderung von Chriemhildens wachſender Wuth unentbehr- 
liche That, daß fie das Haus in Brand ſtecken läßt, aufnehmen 
zu können, ohne die ohnebieß überfchwellende Maſſe der Scenen 
noch mehr zu häufen. — Dieterich beklagt in jener epifchen Weife 
(Av. 38.) den Tod feiner Mannen. Die Muſik muß den alter» 
thümlichen,, vollömäßigen Toon bier und überhaupt mit vollem 
Gefühl für diefe uralt einfache Welt wiedergeben. Jet Tann aber 
Dieterich nicht länger neutral bleiben, er läßt fh waffnen und 
geht ruhig entſchloſſen ab, die Strafe zu vollziehen. 

Bierte Scene. Die alte Decoration. Vor dem innen aus⸗ 
gebrannten, noch gloftenden Hauſe ftehen , auf ihre Schilde ge⸗ 
ſtützt, zwiſchen Leichnamen, ftil und finfter Gunther und Hagen. 
Dieterich in feiner ruhigen Größe tritt vor fie, fordert Rechen⸗ 
ſchaft, verfpricht ihnen ſicheres Geleite nach Haufe, wenn fie ſich 
ergeben , fie antworten groß und ftolz, wie follten fich zmei fo 
fühne Männer ergeben, die noch fo wehrlich gemaffnet vor dir 
ſtehen? (Av. 39, Str. 2275). Jetzt beginnt er den Kampf, 
der aber un fo weniger zur Darftellung gebracht werben Fann, 


435 


da ee vom Schwert in einen Ringkampf übergeht. Im Augen⸗ 
blicke/ wo biefer Streit anfängt, wachſelt bie Scene. | 

Yünfte Scene. Ein Kerker. AR ein. Hinter 
ihr Dieterich und Hildebrand, welche Hagen und Gunther ge 
feſſelt bringen. Dieterich hat es für Pflicht gehalten, ihr beide 
als die Mörder ihres Gemahls zu übergeben, aber ex ermahnt 
fie jetzt, bie Gefangenen nicht unebel zu behandeln. Chriemhilbe 
antwortet nicht. Zuerft läßt fie Gunther durch den Gefängniß⸗ 
wörter, der geöffnet bat, in einen andern Sender abführen. 
Jetzt tritt fle vor Sagen. Ste verlangt von ihm die Zurückgabe 
des Nibelungenhorts. Cr erklärt feſt, er habe geſchworen, fo 
lange einer feiner Seren lebe, zu verſchweigen, wo er ihn vers 
borgen. Sie geht fehweigend ab, und ehrt nad kurzer Zeit 
zurüd. Sie trägt das blutende Haupt ded Bruders an den Haa⸗ 
ren, fie erjheint Eraß verftört,, zur Medufe umgewandelt. Gie 
hält das Haupt dem Hagen unter bie Augen. Cr antwortet vie 
großen Worte voll Gefühl des Schteffals: „du haft es nach deinem 
Willen viel gar zu Ende bracht, und ift au Alles ergan- 
gen, als ich mir hatte gedacht; nun iſt von Burgonten der 
edele König tobt, Gifelher der junge und auch Herr Gernot; 
den Scha den weiß nun Niemand, als Gott und ich, ver fol 
bie, Teufelinn, immer wohl verholfen fein«. Während Dieterich 
und Hildebrand vor Entfegen noch ſtarr zurückſtehen, reißt fie 
in einem Nu Sigfrieds Schwert dem Gefefielten, Wehrlofen 
von der Seite, und mit dem Ausruf, „fo will ich doch behalten 
Sigfrieds Schwert“ u. ſ. m. (Av. 39, Str. 2309) ftößt fie ihn 
nieder. Jetzt bricht Dieterich8 empörtes Gefühl des fittlichen Maa⸗ 
Bes in mächtigen Worten und Tönen aus und auf einen Wink 


436 


son feiner Hand haut Hildebrand bie Chriemhilde nieder. Schluß: 
Ezel ſtürzt herbei, wirft fic klagend auf Chriemhilde; Dieterich 
beklagt die Helden und ſpricht in wenigen groſſen Worten den 
blutigen Gang des Schickſals aus, das durch das Ganze gieng. 
Dieß wäre denn ein ſchwacher Verſuch von ganz ungeübter 
- Sand, einen ungeheuren Stoff zu bewältigen. inter allen Män- 
geln, die ih an biefem Verſuche bemerfe, ohne eine Abhilfe zu 
wiſſen, tft dieß der größte, daß Chriemhildens Rolle die Kraft 
nieht von Einer, fondern von zehn SKtehlen fordert. Ich wollte 
nur feinen Moment auslaſſen, ‚worin fie bedeutend iſt. Freilich 
kommt mir jede Scene, worin fie nach dieſem Schema auftritt, 
nicht nur bedeutend, ſondern weſentlich und unentbehrlich vor. 
Doch nicht nur Chriemhildens Rolle, fondern Die ganze Oper, 
dieß Fällt fogleih in Die Augen, würde nah dieſem Plane übers 
mäßig groß, und doch müßte ich nichts mwegzulaflen, ohne eine 
° Schönheit, ohne ein erflärended Motiv zu opfern. Ein Geübterer 
als ich würde vielleicht dennoch Rath wiſſen. Sollte aber nicht 
zu helfen fein — und ich zmeifle jelbft daran —, jo wäre e8 gar 
nicht unthunlih, die Oper in zwei Theile zu trennen und dieſe 
an zwei aufeinanberfolgenden Abenden aufzuführen. Der erfte 
Theil würde die zmei erften Acte umfaffen und mit Sigfrieds Tod 
ichließen,, der die erfte, zum Folgenden wieder ald Erpofition 
fich verhaltende, Kataftrophe bildet. Math würbe gewiß auf bie- 
jem oder einem andern Wege werben; hätten wir nur erft bie 
Hauptſache, den Componiften 


A 


— 









THE BORROWER WILL BE CHARGED 
AN OVERDUE FEE IF THIS BOOK IS 
NOT RETURNED TO THE LIBRARY ON 
OR BEFORE THE LAST DATE STAMPED 
BELOW. NON-RECEIPT OF OVERDUE 
NOTICES DOES NOT 
BORROWER FROM C 









IR 

N ver, 

RN ; 
—JF