LEBENSBILDER AUS DER OBERLAUSITZ
„Nach Sachsen“, Werbung des Landesverkehrsverbandes Sachsen, Karten¬
material in 7 Teilen, Umschlagsgestaltung Kurt Fiedler, Dresden, Limpert-
Verlag, 1934-1936: Dresden und Umgebung; Sächsische Schweiz und
Dresden; Dresden und das Ost-Erzgebirge; Sächsisches Erzgebirge (Mitte,
Westen), Chemnitz, Zwickau; Sächsisches Vogtland und seine Bäder, Plau¬
en; Leipzig, Sächsisches Burgenland; Oberlausitz und Zittauer Gebirge
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LEBENSBILDER AUS DER
OB ERLAU SITZ
60 Biografien aus Bautzen, Bischofswerda und Umgebung
Frank Fiedler und Uwe Fiedler
Bischofswerda, 2017
ISBN 978-3-7448-7197-6
Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand, Norderstedt
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Impressum
© 2011-2017 Frank Fiedler und Dr. Uwe Fiedler, Bischofswerda; 7., überarbeitete Auflage
Die Autoren gewähren Open Access unter der Lizenz CC BY-NC-ND.
Redaktionsschluss: 29. Juli 2017
Abbildungen: 311, siehe Abbildungsverzeichnis Seite 414 f.
Das vorliegende Werk stellt eine Forschungsarbeit im Sinne gemeinnütziger Heimatforschung
dar. Die Autoren verfolgen kein Gewinnstreben.
Umschlagsgestaltung, Layout, Satz: Dr. Uwe Fiedler
Bilder Vorderseite: Porträts von Walther Hempel, Friedrich Hesse, Max Neumeister (Quellen lt.
Abbildungsverzeichnis für die Seiten 150, 158, 232)
Bild Rückseite: Südansicht von Bautzen um 1850 auf einem Gemälde von Johann Carl August
Richter (Quelle: Wikimedia Commons, Public Domain)
Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand, Norderstedt
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio¬
grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar.
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Vorwort
Mit den „Lebensbildern aus der Ober¬
lausitz“ soll an das Wirken bedeuten¬
der Persönlichkeiten dieser ostsäch¬
sischen Region erinnert werden. Dies
schließt sowohl in der Oberlausitz
geborene Personen ein, die sich und
damit ihrer Heimat in nah und fern
einen Namen gemacht haben, aber
auch „Zugereiste“, denen die Oberlau¬
sitz zu einer neuen Heimat geworden
war. Bei der Auswahl der Biografien
ging es nicht um die oberflächliche
Vorstellung einer „Elite“, sondern vor¬
rangig um originäre Forschungsar¬
beiten zu berühmten Personen, aber
auch zu Menschen, deren Lebenslauf
beispielhaft für ihre Zeit steht.
Die Anregung zu diesem Buch er¬
hielten die Autoren durch den Erfolg
ihrer Arbeiten zum Biographischen
Lexikon der Oberlausitz der Oberlau-
sitzischen Gesellschaft der Wissen¬
schaften. Von 2007 bis zum Wiki-
Update 2011 wurden die 25 auch hier
vertretenen Biografien über 125.000
Mal online aufgerufen. Die Grundla¬
gen dafür schuf Frank Fiedler, der in
den letzten 25 Jahren viele Beiträge
in verschiedenen heimatkundlichen
Heftreihen veröffentlichte. Seit meh¬
reren Jahren ist zudem Uwe Fiedler
unter Pseudonym Ghosttexter in der
deutsch- und in der englischsprachi-
gen Wikipedia sowie im Stadtwiki
Dresden aktiv. Weitere Biografien in
diesem Buch gehen auf diese Vorar¬
beiten zurück. Für alle Beiträge gilt,
dass sie für diesen Druck nochmals
erheblich überarbeitet wurden. Neben
notwendigen Anpassungen an die Ge¬
gebenheiten eines Printmediums und
einer reichen Ausstattung mit Bildern
konnten zusätzlich viele neue Details
recherchiert werden.
Nachdem die ersten Auflagen mit 34
Artikeln erschienen waren, konnten
zuletzt weitere Arbeiten ergänzt wer¬
den. Zudem wurden auch die Bio¬
grafien aus den ersten Auflagen stetig
weiter erforscht. Die Themen reichen
jetzt von A wie Avenarius, einem
Maler und Grafiker, bis Z wie Zeissig,
einem Dresdner Kunstprofessor.
Aufgrund der örtlichen Bindung
der Autoren stellen Biografien aus
Bischofswerda und Großdrebnitz
einen gewissen Schwerpunkt dar, es
finden sich aber auch viele Arbeiten
zu Bautzen und Umgebung. Wissen¬
schaftler und Künstler verschiedener
Profession werden ebenso vorgestellt
wie Pfarrer, darunter auch sorbi¬
sche Geistliche, Heimatforscher und
Freimaurer. Besonders hervorgeho¬
ben seien die Arbeiten zu Bruno
Steglich, Gottlob Friedrich
Thormeyer, Gottfried Unterdör¬
fer und zu mehreren Angehörigen
der Familie Stöckhardt.
Frank Fiedler Dr. Uwe Fiedler
5
Inhaltsverzeichnis
Seite
Avenarius, Johannes Maximilian (Maler und Grafiker) 8
Azemar, Francois Basile (Offizier der napoleonischen Armee) 12
Barthel, Bruno (Heimatforscher in Großdrebnitz) 16
Biram, Arthur (jüdischer Schulgründer aus Bischofswerda) 20
Biram, Else (jüdische Soziologin aus Bischofswerda) 34
Blochmann, Heinrich August (Landwirtschaftsreformer) 42
Boleslaw I Chrobry (König von Polen) 48
Böttiger, Karl August (Altertumsforscher, Schuldirektor) 58
Creutz, Gerhard (Ornithologe in Neschwitz) 66
Cyz, Jan (sorbischer Schriftsteller, Landrat) 70
Derlitzki, Georg (Agrarwissenschaftler in Pommritz) 72
Derlitzki, Dorothea (Arbeitswissenschaftlerin in Pommritz) 76
Friedrich, Edmund (Baineologe aus Bischofswerda) 78
Garbe, Richard (sächsischer Landespfarrer) 84
Gedike, Ludwig (Schulreformer) 88
Giese, Ernst (Architekt aus Bautzen) 96
Gnauck, Ernst (Gemeindevorstand in Kleindrebnitz) 108
Goller, Josef (Professor an der Kunstgewerbeschule Dresden) 116
Groitzsch, Wiprecht von (Markgraf, Herrscher der Oberlausitz) 124
Heiden, Eduard (Agrarwissenschaftler in Pommritz) 134
Heller, Robert (Schriftsteller aus Großdrebnitz) 138
Heller, Woldemar (Pianist aus Großdrebnitz) 146
Hempel, Walther (Rektor der Technischen Hochschule Dresden) 150
Hermann, Paul (Rittergutsbesitzer auf Weidlitz und Pannewitz) 154
Hesse, Friedrich (Gründer der Universitätszahnklinik Leipzig) 158
Hesse, Walther (Bakteriologe bei Robert Koch, Bezirksarzt) 164
Kanig, Karl Traugott (Pfarrer, sorbischer Liederdichter in Klix) 174
Klotz, Christian Adolph (Philologe aus Bischofswerda) 180
Langner, Norbert (Karpfenteichwirt in Königswartha) 186
Lehmann, Julius (Agrarwissenschaftler in Weidlitz, Pommritz) 190
Lier, Adolf (Landschaftsmaler aus Herrnhut) 196
Lier, Hermann Arthur (Bibliothekar und Historiker) 200
Lier, Leonhard (Journalist aus Herrnhut) 202
Loges, Gustav (Agrarwissenschaftler in Pommritz) 206
Marloth, Carl Julius (Sorbe, Pfarrer, Schriftsteller) 210
Meißner, August Gottlieb (Schriftsteller aus Bautzen) 214
Mittag, Karl Wilhelm (Stadtchronist von Bischofswerda) 218
6
Nake, Johann Gottfried (Schafzüchter der Wettiner) 222
Neumeister, Max (Direktor der Forstakademie Tharandt) 232
Nostitz, Gottlob Adolf Ernst von (Präsident der OLGdW) 240
Nostitz, Eduard Gottlob von (sächsischer Innenminister) 248
Nostitz, Julius Gottlob von (sächsischer Gesandter) 256
Pache, Johannes (Komponist aus Bischofswerda) 260
Petermann, Georg (Prediger böhmischer Exulantengemeinden) 266
Richter, Siegmund Ehrenfried (Buchdrucker, Verleger) 272
Rietschel, Ernst (Professor an der Kunstakademie Dresden) 276
Schindler, Osmar (Professor an der Kunstakademie Dresden) 288
Schneider, Johann Gottlob (Hoforganist) 294
Siebelis, Karl Gottfried (Direktor des Gymnasiums Bautzen) 300
Steglich, Bruno (Agrarwissenschaftler in Dresden) 306
Steudner, Hermann (Botaniker und Afrikaforscher) 318
Stöckhardt, Johann Heinrich (Pfarrer in Putzkau) 328
Stöckhardt, Gerhard Heinrich Jacobjan (Pfarrer und Freimaurer) 330
Stöckhardt, Robert (Jura-Professor in St. Petersburg) 338
Stöckhardt, Ernst Theodor (Agrarwissenschaftler aus Bautzen) 344
Thormeyer, Gottlob Friedrich (Hofbaumeister in Dresden) 354
Unterdörfer, Gottfried (Förster und Schriftsteller in Uhyst/Spree) 368
Vetter, Hermann (Professor am Konservatorium Dresden) 378
Winckler, Georg (Märtyrer der Reformation) 382
Zeissig, Johann Eleazar (Direktor der Kunstakademie Dresden) 392
Autobiografische Retrospektive von Frank Fiedler 404
Weitere Quellen 412
Abbildungsverzeichnis 414
Kurzbiografien von Heimatforschern aus Bischofswerda und
Umgebung
Gnauck, Max Otto 415
Leppelt, August 416
Paeßler, Roland 417
Sorber, Willy 419
Steudtner, Hermann 420
Weber, Johannes 423
Winkler, Friedrich Wilhelm 424
Die Oberlausitzer Familie Baumeister 425
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Johannes Maximilian Avenarius (1920, Otto Müller, Staatliche Museen zu
Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Lizenz: CC BY-NC-SA 3.0 DE).
Avenarius, Johannes Maximilian
Professor, Maler, Grafiker und Schriftsteller
07.01.1887 Greiffenberg/Gryföw Slaski (Schlesien) - 21.08.1954 Berlin
V: Ludwig (*5.2.1851 Leipzig, 119.3.1911 Hirschberg), Sohn des Buchhändlers und Verlegers
Eduard Avenarius, 1869 Abitur am Friedrichsgymnasium Berlin, Jurastudium in Berlin, Leipzig
und Halle, 1876 Promotion zum Dr. jur. in Jena, Appellationsgericht Breslau, Staatsanwaltschaft
Ratibor, ab 1885 Amtsrichter in Greiffenberg, ab 1893 Rechtsanwalt und später Notar und
Justizrat in Hirschberg, nationalliberaler Reichstagabgeordneter, ab 1893 Meister vom Stuhl der
Hirschberger Freimaurer-Loge „Zur heißen Quelle“, Mitglied der Provinzialsynode Schlesien
der evangelischen Kirche, führte im Namen der Erbengemeinschaft den väterlichen Verlag bis
1896 weiter; M: Helene Karoline Klara geb. Rühlmann (*5.9.1852 Halle, J1944 Hirschberg),
Bauerntochter aus Niedermöllern bei Kosen; G: Cäcilie Marie Julie Emilie (*27.5.1883 Ratibor,
tl6.5.1952 Detmold), Eduard (*24.1.1886 Greiffenberg, J1949 Meißen, Medizinstudium in
München, Dr. med.); E: (1) 14.5.1918 Berlin, Elisabeth geb. Reuter (*18.10.1897 Erbach/Donau,
J1977, Tochter der Schriftstellerin Gabriele Reuter, Scheidung 1922), (2) 5.2.1926 Breslau, Anna
Maria geb. Ronge (1889-1974, Kunstgewerblerin, Schülerin von Max Wislicenus und Wanda
Bibrowicz in Breslau); K: Klaus Ludwig (*26.2.1919, t fünf Wochen nach der Geburt)
Avenarius entstammte einer künstle¬
risch und literarisch geprägten Fami¬
lie. Ein Großvater, Eduard Avenarius,
war ein bekannter Buchhändler in
Leipzig und hatte eine Tochterfirma
des Brockhaus-Verlags gegründet, die
er in Paris vertrat. Zu seinem Freun¬
deskreis zählten Heinrich Heine und
sein Schwager Richard Wagner. Seine
Ehefrau, Johannes Avenarius“ Gro߬
mutter Cäcilie, war eine Tochter des
Hofschauspielers Ludwig Geyer, des
Stiefvaters von Richard Wagner. Ein
Onkel, Richard Avenarius, war ein
Philosoph, ein anderer Onkel, Ferdi¬
nand Avenarius, gründete in Dresden
die Zeitschrift „Kunstwart“ und den
Dürerbund. Er gehörte zu den Initia¬
toren und Förderern von Deutschem
Werkbund, Gartenstadt Hellerau und
Bund Heimatschutz. Johannes“ Vater,
Ludwig Avenarius, stand mit seinem
Bruder Ferdinand in enger Verbin¬
dung und übte mit seinem politi¬
schen, christlichen und kulturellen
Engagement ein prägenden Einfluss
auf den Sohn aus.
Johannes Avenarius besuchte bis
1902 das humanistische Gymnasi¬
um in Hirschberg, 1905 legte er in
Wittenberg das Abitur ab. Zu seinen
Verwandten in Dresden hatte er enge
Beziehungen. Seine Großmutter Cäci¬
lie lebte dort bis 1897. Sein Onkel Fer¬
dinand förderte das künstlerische In¬
teresse des Neffen. Im Sommer 1905
nahm Johannes Avenarius zusammen
mit dem Stiefsohn des Onkels, Wolf¬
gang Schumann, später ein bekannter
Journalist und Schriftsteller, Pri¬
vatunterricht im Zeichnen bei Karl
Hanusch, einem Stipendiaten des Dü¬
rerbundes. Ab 1905 studierte Johan-
9
Johannes Avenarius hielt sich viel in
Blasewitz bei seinem Onkel Ferdi¬
nand auf. Jener hatte sich mit dem
Journalisten und Kunsthistoriker
Paul Schumann in der Wachwitzer
Straße 3 (spätere Avenariusstraße
4) von Schilling & Graebner eine
Villa errichten lassen. Ferdinand
Avenarius wohnte dort zusammen
mit Schumanns erster Ehefrau
Else, einer Tochter des deutsch¬
amerikanischen Schriftstellers
Rudolf Doehn, sowie deren Sohn
Wolfgang Schumann. Vermutlich
hier und möglicherweise im Haus
Uhlenkamp in Kämpen auf Sylt, wo
Ferdinand Avenarius seine Sommer
verbrachte, erhielt Johannes Avena¬
rius mit Wolfgang Schumann von
Karl Hanusch, einem Stipendiaten
des Dürerbundes, 1905 einen ersten
Zeichenunterricht. 1910 ließ Ferdi¬
nand Avenarius in der benachbarten
Bahnhofstraße 24 das Dürerbund¬
haus errichten.
nes Avenarius bei Robert Sterl, einem
Freund des Onkels, in der Unterklasse
der Dresdner Kunstakademie, in der
Mittelklasse waren Richard Müller
und sicher auch Osmar Schindler
seine Lehrer. 1907 kam er erstmals
mit Gerhart Hauptmann zusammen,
mit dem er zeitlebens befreundet
blieb. Im selben Jahr wechselte er
nach München, wo sein Bruder
Eduard Medizin studierte. 1907/1908
hörte Avenarius als Hospitant an der
Universität München Pathologie,
Psychologie bei Theodor Lipps und
Kunstgeschichte bei Fritz Burger. Mit
Burger besuchte er im Oktober 1913
den „Ersten Freideutschen Jugendtag“
auf dem Hohen Meißner in Hessen,
wo die fortschrittliche Jugend ein
Zeichen gegen hurra-patriotische
Tendenzen im Vorfeld des Ersten
Weltkriegs setzen wollte.
Nach seiner Rückkehr nach Schlesien
im Jahre 1910 arbeitete Avenarius
freischaffend. Er traf wieder auf Karl
Hanusch, der an der „Akademie
für Kunst und Kunstgewerbe“ Bres¬
lau lehrte. Als 1913 in Breslau dem
hundertjährigen Jubiläum der Befrei¬
ungskriege gegen Napoleon gedacht
wurde, schuf Avenarius mehrere
Porträts bedeutender Schlesier, dar¬
unter von den Brüdern Hauptmann.
Im Ersten Weltkrieg wurde er an der
französischen Front verwundet. Nach
Kriegsende setzte Avenarius seine
künstlerische Laufbahn fort. Er malte
Kirchen aus, schuf Buchillustrationen
und Porträtzeichnungen. Aufträge
10
für Raumausmalungen kamen bis
aus Wien und Göteborg. Avenarius
schrieb zudem Gedichte und Er¬
zählungen in schlesischer Mundart.
Für Gerhart Hauptmann illustrierte
er Bücher. Hauptmann sammelte
Avenarius 1 Gemälde und ließ ihn sein
Haus in Agnetendorf bei Hirschberg
mit Fresken gestalten. Mit Görlitz, wo
er seine zweite Frau kennen lern¬
te, war Avenarius eng verbunden.
Hanusch holte Avenarius 1924 an die
Kunstschule für Textilindustrie nach
Plauen, 1925 wurde er Professor an
der „Akademie für graphische Künste
und Buchgewerbe“ in Feipzig mit
Lehre in Plauen. 1933 entließen ihn
die Nazis wegen angeblich entar¬
teter, kommunistischer Kunst und
nahmen ihn in Untersuchungshaft.
Durch Fürsprache einflussreicher
Kräfte, darunter Gerhart Hauptmann,
konnte Avenarius aber zunächst
weiter künstlerisch arbeiten. 1943 fiel
er erneut in Ungnade und der Druck
seines Romans „Schoepse-Christel”
wurde verboten. Nach dem Zweiten
Weltkrieg musste Avenarius im Zu¬
sammenhang mit der Vertreibung der
verbliebenen deutschen Bevölkerung
Schlesien verlassen. Er ging 1946
nach Berlin, wo er wiederum kirchli¬
che Bilder schuf. Avenarius starb 1954
in Berlin, seine Urne wurde fünf Jahre
später nach Görlitz überführt. Das
Graphische Kabinett des Kulturhis¬
torischen Museums Görlitz bewahrt
seinen künstlerischen Nachlass auf.
Quellen: Gerlinde und Klaus Schneider (Leun, aus
der Familie von Professor Karl Hanusch), Mittei-
Avenarius war mit seinen Fresken
maßgeblich an der Gestaltung
der Eingangshalle zum Gerhart-
Hauptmann-Haus in Agnetendorf
bei Hirschberg beteiligt. Foto: Irena
Goderska (Wikimedia Commons,
Lizenz: CC BY-SA 3.0)
lungen 30.10.2007; Wojciech Kunicki: „Meister /
du hast deine Hand gehalten. Johannes Maximilian
Avenarius und seine Kreationen des „Schlesischen“
an der Schnittstelle zwischen Literatur und bilden¬
der Kunst“; Gerhard Kratzsch: „Kunstwart und Dü¬
rerbund. Ein Beitrag zur Geschichte der Gebildeten
im Zeitalter des Imperialismus“. Vandenhoeck u.
Ruprecht, Göttingen 1969; Ludwig Avenarius: „Ave-
narische Chronik“. O. R. Reisland 1912; Wolfgang
Liebehenschel: „Johannes Maximilian Avenarius
(1887-1954): Der bedeutende schlesische Künstler
und Philosoph erblickte vor 125 Jahren das Licht
der Welt“. Schlesischer Gottesfreund, 2012, H. 2;
Wojciech Kunicki: „ - auf dem Weg in dieses Reich“:
NS-Kulturpolitik und Literatur in Schlesien 1933 bis
1945“. Leipziger Universitätsverlag, 2006; Matrikel¬
bücher Universität München
11
Les Cabannes, ein kleines Dorf in den mittleren Pyrenäen nahe Toulouse,
hat heute etwa 350 Einwohner und liegt nur 2 Kilometer entfernt von
Cordes-sur-Ciel, einem mittelalterlichen Anziehungspunkt für Touristen.
Foto: Stephen Colebourne (Flickr, Lizenz CC BY-ND 2.0)
Insignum des 150. Linien-Infan-
terieregiments, das Azemar 1813
als Oberst u. a. in der Schlacht von
Bautzen befehligte.
Das Regiment bestand seit 1794 und
wurde 1990 aufgelöst. Seine erste
Auszeichnung erhielt es im August
1813 unter Azemar nach dem Sieg
in Goldberg (Niederschlesien).
Azemar, Francois Basile
Offizier der napoleonischen Armee
01.01.1766 Les Cabannes (Tarn) - 13.09.1813 Großdrebnitz
V: Antoine (*1721 Les Cabannes), Gerber; M: Anne geb. Portes (*2.9.1719 Cordes-sur-Ciel);
G: Jacques Francois (*5.4.1750 Cordes-sur-Ciel), Marie (*8.5.1752 Cordes-sur-Ciel), Joseph
(*28.3.1754 Cordes-sur-Ciel)
Azemars Eltern wohnten zunächst in
Cordes-sur-Ciel, bevor sie mit ihren
drei ältesten Kindern in das benach¬
barte Les Cabannes, die Heimat des
Vaters, zogen. Hier wurde Francois
Basile geboren. Der Sohn eines Ger¬
bers entschied sich früh für die mili¬
tärische Laufbahn. Am 2. März 1783
trat er als Soldat des Regiments von
Vivarais in die königliche Armee von
Louis XVI. ein. Aus einfachen Ver¬
hältnissen stammend, fehlte es ihm
aber an Protektion. Er schloss sich
den revolutionären Streitkräften an.
Am 18. September 1791 wurde Aze¬
mar zum Hauptmann des 3. Frei-
willigenbataillons de 1‘Oise, ein Jahr
später zum Bataillonskommandeur
befördert. Azemars Bataillon gehörte
zur Nordarmee des deutschstämmi¬
gen Generals Nikolaus von Luckner.
Am 26. April 1792 komponierte
Rouget de Lisle Luckner zu Ehren die
Marseillaise als Kriegslied der Rhein¬
armee, 1794 fiel jener der Guillotine
zum Opfer. Azemar wurde am 21.
März 1794 zum Brigadekommandeur
des 50. Linien-Infanterieregiments
ernannt und war vom 28. Juli bis
1. Oktober Stadtkommandant von
Bruges (bei Bordeaux). 1796 trat er
in die Armee Cötes de 1‘Ocean ein.
Unter dem Kommando von General
Jean Joseph Amable Humbert war
er an der französischen Invasion zur
Unterstützung des Aufstands in Irland
gegen die britische Vorherrschaft
beteiligt und nahm an der Schlacht
von Castlebar teil. Am 27. August
1798 besiegten die irischen Auf¬
ständischen mit ihren französischen
Verbündeten die britische Übermacht
(2000:6000 Mann). Nach der vernich¬
tenden Niederlage von Ballinamuck
am 8. September geriet Azemar für
sechs Wochen in Kriegsgefangen¬
schaft, bevor er ausgetauscht wurde.
Er quittierte den aktiven Militärdienst
und übernahm bis 1803 in Tarn bzw.
in Dünkirchen leitende Funktionen
in der Verwaltung und in der Militär¬
reserve und -gerichtsbarkeit.
Ab 1804 diente Azemar in der na¬
poleonischen Armee, für die er 1805
in Italien kämpfte. Seit 1804 war er
Mitglied der Ehrenlegion. Am 7.
April 1809 wurde Azemar zum Major
des 64. Linienregiments unter Oberst
Baradin de Peschery befördert. Am 5.
und 6. Juli nahm er an der Schlacht
13
bei Wagram teil, als Napoleon mit
seinen Verbündeten aus Sachsen,
Bayern und Italien die Truppen von
Erzherzog Karl von Österreich schlug
und damit den 5. Koalitionskrieg für
sich entschied.
Am 16. Januar 1813 übernahm Aze-
mar als Oberst das Kommando über
das 150. Linienregiment, mit dem er
im Mai in Leipzig stationiert war und
an den Schlachten in Lützen und bei
Bautzen (20. Mai) teilnahm. Frank-
reich und seine Alliierten Sachsen
und Bayern versäumten dabei einen
entscheidenden Sieg gegen Preußen
und Russland. Im August 1813 war
Azemars Regiment an den Kämpfen
am Katzbach beteiligt und siegte in
Goldberg (Zlotoryja, Niederschlesi¬
en). Die Kampagne stand unter dem
Oberbefehl von Marschall Jacques
MacDonald. Am 29. August beför¬
derte Napoleon Azemar zum Briga¬
degeneral. Seine Brigade gehörte zur
16. Division des 5. Korps. Seit dem 1.
August war er Offizier der Ehrenlegi¬
on. Am 13. und 14. September 1813
wurden das 149. und 150. Linienregi¬
ment unter Eugene Charles Auguste
de Mandeville bzw. Azemar in der
Nähe von Großdrebnitz in Kämp¬
fe verwickelt. Schon am ersten Tag
Azemars Unterschrift.
fiel Azemar, von einer Kugel tödlich
am Kopf getroffen. Insgesamt verlor
sein „150e Regiment d‘ Infanterie de
Ligne“ im Zeitraum vom 27. August
bis zum 14. September 1813 fünf
gefallene und vierzehn verwundete
Offiziere, davon je zwei in Großdreb¬
nitz. Die Entscheidung fiel, als am 14.
September Vicomte de Saint-Priest,
ein Lranzose in russischen Diensten,
mit seiner Kavallerie eintraf. Er nahm
mehr als hundert Gefangene. Am 20.
September besetzte der österreichi¬
sche General Adam Albert von Neip-
perg das Dorf. Azemar gehörte zu den
162 Generälen bzw. Admirälen, die
Frankreich von 1805 bis 1815 auf den
Schlachtfeldern Europas verlor. Sein
Name wurde auf einer Bronzetafel in
der Schlachtengalerie („Galerie des
batailles“) des Schlosses Versailles
eingraviert.
Quellen: lesbataillonsdevolontaires.wifeo.com; www.lescabannes81.fr;lescabannestarn.free.fr;
www.napoleon-series.org; Georg Heinrich Pertz, Hans Delbrück: „Das Leben des Feldmarschalls
Grafen Neithardt von Gneisenau“. Reimer, 1864; Carl von Plotho: „Der Krieg in Deutschland
und Frankreich in den Jahren 1813 und 1814“. Amelang, 1817; Österreichische Militärische
Zeitschrift. Bd. 3, H. 7-9, Wien 1838, S. 138; Noel Charavay: „Les Generaux morts pour la patrie
(armees de terre et de mer, 1805-1815)“. 1908; „Galeries historiques du palais de Versailles“. Bd.
6, Ausg. 1, Imprimerie Royale, 1840; www.geneanet.org
14
Napoleon empfängt eine Nach¬
richt: Bei der Schlacht von Bautzen
kämpften insgesamt 250.000 Solda¬
ten mit rund 30.000 Pferden.
„Gänse, deren es in dieser Gegend so viele
gibt, flatterten da in Scharen von mehreren
Hunderten umher, und wie viele wurden des
Abends im Biwak gebraten. Fast auf jedem
Tornister sah man eine Gans festgeschnallt.
Hier sei es mir erlaubt, in der Kürze zu sagen,
wie wir sie brieten: Die Gans wurde, ohne ge¬
rupft zu sein, aufgeschnitten und ausgeweidet,
und, nachdem sie inwendig rein gewaschen,
wurde sie mit einem Holze zugespengelt
[verschlossen], in den Federn und dick über
dieselben mit angemachtem Lehm bestrichen
und so in die glühenden Kohlen verscharrt.
Hatte sie ihre Zeit gelegen, so wurde sie
herausgenommen. Mit der nun gebrannten
Lehmkruste gingen alle Federn und Haare mit
aus, und der Braten war fertig. Schöpfen- oder
Hammelbraten wickelten wir in Papier ein
und verscharrten ihn ebenfalls in die Kohlen.
Das Papier verbrannte nicht, sondern ver¬
kohlte nur, und es gab einen herrlichen und
wohlschmeckenden Braten.“
Johann Jakob Röhrig, 150. Linien-Infante-
rieregiment, zur Schlacht bei Bautzen am
20. Mai 1813; Röhrig, Karl (Hg.): „Unter der
Fahne des ersten Napoleon. Jugendgeschich¬
te des Hunsrücker Dorfschullehrers Johann
Jakob Röhrig, von ihm selbst erzählt“. 2.,
verm. und verb. Aufl., Altenburg, 1908
Geburtshaus von Bruno Steglich
in Kleindrebnitz, Franzosengräber
im Südwesten des Grundstücks
(Ober-Steglichs Gut).
„Beim Schlächter Steglich, am Putzkauer
Wege, hatte der Feldscher das Lazarett aufge¬
schlagen, von hier wurden den verwundeten
Soldaten abgeschnittene Arme und Beine
in Wagenladungen nach den benachbarten
Feldern gefahren und dort vergraben. Auf
Ober-Steglichs Mühlenwiese, am Hopfengar¬
ten, befanden sich mehrere Franzosengräber,
ebenso waren an der Dorfstraße bei Gottlieb
Steglichs Scheune einige Franzosen so flach
eingescharrt, dass die Füße über den Erdbo¬
den herausragten und sich die Leute deshalb
scheuten, vorüber zu gehen.“
Bruno Steglich: „Erinnerungen aus mei¬
nem Leben“. Unveröffentlicht, Dresden 1927
15
Ehregott Bruno Barthel,
Barthel, Ehregott Bruno
Kirchschullehrer und Heimatforscher in Großdrebnitz
23.04.1856 Langhennersdorf b. Freiberg - 18.01.1933 Kleindrebnitz
V: Friedrich August (1829-1887), Gutsbesitzer in Langhennersdorf; M: Christiane Friederi¬
cke geh. Scheinert (*1833 Reichenbach bei Hainichen, 11907 Langhennersdorf); G; Amalie
Auguste (1854-1907), Friedrich Louis (1857-1922), Friedrich Emil (1864-1950), Selma Alma
(1872-1935); E: 30.7.1879 Asta Clementine geb. Leipnitz (*6.6.1854 Schandau, tll-5.1947 Klein¬
drebnitz); K: Gertrud (1881-1960, verh. mit dem Kleindrebnitzer Gemeindevorstand Oskar
Gnauck), Bruno Arthur (1882-1953, Drogeriebesitzer in Dresden, verh. mit Tochter Hedwig des
Kleindrebnitzer Gemeindevorstands Ernst Gnauck), Helene (1887-1961), Fritz (1892-1950)
Barthel wurde 1862 in die Kirchschu-
le Langhennersdorf eingeführt. Zeitig
lernte der Junge Klavier spielen.
Schon mit 10 Jahren begann er, sich
für landwirtschaftliche Probleme,
Wetterbeobachtungen und ihre
Zusammenhänge zu interessieren.
Am 15. April 1870 bestand Barthel
die Aufnahmeprüfung am Lehrer¬
seminar Nossen, das er bis 1876
besuchte. 1871 begann er Tagebuch
zu führen, nachdem er sich zuvor
die Gabelsberger Kurzschrift ange¬
eignet hatte. Jahrzehnte vor ihrer
offiziellen Einführung in Deutschland
beherrschte er damals auch schon
die lateinische Schrift. Nach einer
Kandidatenprüfung wurde Barthel
im April 1876 in Elstra als Vikar
eingestellt, vier Wochen später als
Hilfslehrer. Am 11. März 1879 erhielt
er die Berufung zum dritten ständi¬
gen Lehrer in Elstra. Hier heiratete
Barthel die Tochter des Pächters vom
Gasthaus „Zum Stern“, Asta Leipnitz.
Seine Berufung zum Kirchschullehrer
in Großdrebnitz erfolgte zum Januar
1881, nachdem er einige Wochen
zuvor als Lehrer auf Probe eingestellt
worden war. Barthel hatte sich dafür
gegen andere Kandidaten in einem
Wettbewerb durchsetzen müssen,
der aus Orgelspiel, Singen, Kate-
chisieren, Schreiben und Rechnen
bestand. Zu seinen Aufgaben zählte
das regelmäßige Vertreten des Pfar¬
rers mit Lesegottesdiensten. Aus dem
wirtschaftlich prosperierenden Raum
Freiberg stammend, erkannte Barthel
das Entwicklungsdefizit seiner neuen
Heimat und setzte sich mit Erfolg für
den „Fortschritt auf dem Lande“ ein.
In diesem Zusammenhang zu sehen
sind die Gründungen des örtlichen
Landwirtschaftlichen Vereins (1900),
der örtlichen Spar- und Darlehens¬
kasse (1903) und einer Schulbuchstif¬
tung für Kinder aus finanzschwachen
Familien (1905). Das Startkapital
erhielt die Schulbuchstiftung aus den
Erlösen eines Kinderkonzerts, das
am 3. April 1905 unter Leitung von
Barthel im Erbgericht Großdrebnitz
stattfand. Barthel selbst stiftete den
Reinertrag seines erfolgreichen Bu¬
ches, der Chronik „Altes und Neues
17
aus Groß- und Kleindrebnitz“. Er
schrieb in seiner Chronik von Groß-
und Kleindrebnitz die Vorarbeiten
von Pfarrer Carl Julius Marloth
fort, ging jedoch weit darüber hinaus.
Neben ortsgeschichtlichen Vorkomm¬
nissen schilderte Barthel Ereignisse
von überregionaler Bedeutung mit
ihren Auswirkungen auf das dörfliche
Leben, darunter die Einführung der
Reformation, verschiedene Kriegs¬
handlungen seit dem Dreißigjährigen
Krieg und die Zeit der Hexenpro¬
zesse. Eine regionalgeschichtliche
Besonderheit stellte demnach die auf
Befehl von August dem Starken 1729
eingerichtete „Poststraßenumgehung“
von Schmiedefeld über Bühlau nach
Kleindrebnitz dar. Wegen eines Strei¬
tes mit der Herrin auf Großharthau,
der Gräfin von Flemming, hatte sich
der König für seine häufigen Reisen
nach Polen eine neue Straße unter
Umgehung von Großharthau bauen
lassen. Auffällig ist aber, wie kurz Bar¬
thel die Geschichte der Großdrebnit-
zer Orgel abhandelte, obwohl gerade
die Orgel sein wichtigstes Arbeitsins¬
trument war und Wilhelm Leberecht
Herbrig, dessen Vater zusammen mit
dem Sohn die Orgel gebaut hatte,
erst wenige Jahre vor Barthels An¬
kunft das Dorf verlassen hatte. Es
bleibt ungeklärt, inwiefern Barthel
bereits Kenntnis von problematischen
Details in der Biografie Herbrig jun.
hatte und durch deren Übergehen
das „Kulturgut Orgel“ vor Schaden
bewahren wollte. In der Wissenschaft
fand Barthels Chronik ein kritisches
Echo. Hubert Maximilian Ermisch
bemängelte im „Neuen Archiv für
sächsische Geschichte“ von 1910 vor
allem die Quellenarbeit.
Barthel verfasste neben der Chronik
weitere bemerkenswerte heimat¬
kundliche Beiträge in der Beilage
„Unsere Heimat“ zum „Sächsischen
Erzähler“: „Die Stolpener Amtstei-
che und das Vorwerk Kleindrebnitz“,
„Der Steinwall auf dem Rüdenberg
bei Großdrebnitz“, „Die Jagdsäule
auf der Rückersdorfer Straße“, „Die
ersten Großdrebnitzer Feuerspritzen“,
„Die Großdrebnitzer Wollspinnerei“
sowie anonym u. a. zur Bahnhofsein¬
weihung Weickersdorf (1909) und
zur Vereinstätigkeit. Darin wird auch
eine große Sachkenntnis und Un¬
voreingenommenheit gegenüber der
slawischen Besiedlungsgeschichte
der Oberlausitz deutlich. Bedeu¬
tende Söhne des Ortes wie Bruno
Steglich und Hermann Vetter
werden jedoch gar nicht, bzw. wie Ro¬
bert Heller und Max Neumeister
nur sehr knapp behandelt. Das Ta¬
gebuch „Erlebtes und Gesammeltes“
enthält neben Tagesnachrichten, z.
B. Zeitungsausschnitten, und Fami¬
lieninformationen auch Auszüge aus
den Kirchenbüchern zu Geburts- und
Sterbefällen. Sie dokumentieren die
hohe Kindersterblichkeit um 1900.
Zwischen dem 2. April 1922 und
dem 23. November 1923 hat Barthel
systematisch den Verlauf der „Teue¬
rung“, d. h. der Inflation und deren
Folgen, beschrieben. Umfangreich
18
sind seine Aufzeichnungen zum Wet¬
ter und dessen Auswirkungen auf die
Landwirtschaft. In der Diskussion um
die strittige Lokalisierung des 1007
urkundlich ersterwähnten Trebista
änderte Barthel seine Meinung von
Großdrebnitz zu Doberschau. 1928
übereignete er der Dresdner Münz¬
sammlung Talermünzen aus der
Zeit des Dreißigjährigen Krieges aus
einem Fund auf Kleindrebnitzer Flur.
Mit dem Kleindrebnitzer Gemeinde¬
vorstand Ernst Gnauck war Barthel
freundschaftlich und durch die Heirat
je zweier Kinder familiär verbunden.
Gnauck hatte dem Wahlgremium
angehört, das Barthel 1881 zum
Kirchschullehrer berief. Wenn später
etwas vertraulich bleiben sollte, korre¬
spondierten sie in Gabelsberger Kurz¬
schrift. Barthels Tagebuch endet am
1. Juni 1931, als sein Schwiegersohn
Oskar Gnauck den Freitod wählte.
Regional wirksam wurde Barthel
als Begründer des Bezirksvereins
Bischofswerda des Deutschen Leh¬
rervereins für Naturkunde (10. Juli
1895). Hier arbeitete er eng mit
Hermann Steudtner zusammen. Im
Ergebnis von naturkundlichen Studi¬
en in seiner Freizeit entstanden eine
beachtliche Mineraliensammlung, die
er später der Schule in Großharthau
überließ, und eine Schmetterlings-
sammlung als Anschauungsobjekte
für den Unterricht. Barthel war von
1896 bis 1902 Mitglied im Gemein¬
derat von Großdrebnitz, er war Leiter
des Männergesangvereins, Mitglied
des Kirchenvorstands, Mitglied im
sächsischen Lehrerverein und ein ta¬
lentierter Zeichner. 1904 wurde Bar¬
thel der Kantortitel und 1912 der Titel
„Oberlehrer“ verliehen. Am 23. Okto¬
ber 1916 erhielt er von König Fried¬
rich August III. das Verdienstkreuz
und am 19. März 1925 zeichnete ihn
Professor Hermann Gräfe, Landwirt¬
schafts-Ökonomierat aus Bautzen,
mit der Bronzenen Medaille für den
Dienst in der Landwirtschaft aus. Sein
Spätwerk „Kriegsleiden in der Heimat
1914-1918“, geschrieben, als der Na¬
tionalsozialismus bereits Fuß gefasst
hatte, widerspiegelte Barthels zutiefst
humanistische Einstellung - nach der
Machtergreifung Adolf Hitlers wurde
die Veröffentlichung verhindert. Sie
erfolgte 1994, mehr als 60 Jahre nach
der Entstehung des Werkes. Wegen
seiner Leistungen, aber auch wegen
seiner Bindung an alle Schichten
der dörflichen Bevölkerung ist sein
Ansehen in Großdrebnitz bis heute
erhalten geblieben. Barthels Ehren¬
grab wurde 1998 unter Denkmal¬
schutz gestellt.
Quellen: S. 412 ff.
19
Arthur Biram, rechts sein Geburtshaus (nach 1900, mit Buchdruckerei Paul
Klepsch), links neben der Kirche von Gottlob Friedrich Thormeyer.
Biram, Arthur (Yitzhak)
Dr. phil., jüdischer Schulgründer
13.08.1878 Bischofswerda - 05.06.1967 Haifa/Israel
V: Adolph Rudolph (*30.3.1850 Liegnitz, 19.6.1915), Textilkaufmann in Bischofswerda, Dresden,
Berlin und Frankfurt/O.; M: Eva geh. Neufeld (* in Schrimm/Posen, 121.3.1921), Schwester
des Unternehmers Hermann Neufeld in Grimma; G: Gertrud (*11.7.1879 Bischofswerda),
Julius (*4.11.1881 Bischofswerda, 15.7.1916, Kaufmann in Frankfurt/O., im Ersten Weltkrieg
gefallen, Gedenkstein in Slubice), Else (Elsa Sara, *7.2.1883 Bischofswerda, 116.7.1966 Haifa,
Dr. phil., Kultursoziologin, lebte in der Gartenstadt Mannheim und ab 1933 in Haifa, gründe¬
te mit ihrem Mann Dr. Wilhelm Bodenheimer und ihrem Bruder Max ein Sanatorium), Max
Moritz (*30.3.1884 Bischofswerda, 116.7.1945 Haifa, Manager eines Sanatoriums in Haifa),
Fritz (*1.10.1888 Dresden, Kaufmann in Frankfurt/O., nach den Olympischen Spielen 1936
nach Argentinien geflohen, Kaufmann in La Lucila); E: 1924 Hanna geb. Thomaschewsky (* in
Königsberg, 11968, Tochter von Haim Thomaschewsky, Mühlenbesitzer in Königsberg und nach
1895 Kaufmann in Berlin, und Minna geb. Jaruszlawski, 9 Geschwister und 5 Halbgeschwister
aus der ersten Ehe des Vaters mit einer Schwester ihrer Mutter, verschwägert mit Davis Trietsch
aus Dresden und Theodor Zlocisti, Turnlehrerin an der Jüdischen Mädchenschule Berlin, Wirt¬
schaftsleiterin am Realgymnasium Haifa); K: Aaron (*22.4.1928 Haifa, 111.9.1951 während eines
Reservedienstes, 1944 Absolvent der Hebrew Reali School Haifa, kämpfte in einer jüdischen
Brigade der britischen Armee im Zweiten Weltkrieg, Maschinenbaustudium am Technion und
in London, Pilot im Unabhängigkeitskrieg, 1953 wurde ein Militärinternat der Reali School auf
dem Mount Carmel nach ihm benannt), Benjamin (*21.9.1930,13.5.1968 auf dem Mount So¬
dom durch einen Terroranschlag mit einer Mine, arbeitete als Ingenieur für die Dead Sea Works,
seine Söhne Roni und Amir arbeiten in leitenden Positionen im Investment-Bereich)
Arthur Biram wurde 1878 als Sohn ei¬
nes Kaufmanns in Bischofswerda, Alt¬
markt 8, geboren. Die Großeltern Bi¬
ram stammten aus der Provinz Posen
in Preußen. Um 1850 zogen sie in das
niederschlesische Liegnitz westlich
von Breslau. Hintergrund war mögli¬
cherweise, dass Juden in der Provinz
21
Die frühen Lebensstationen von Arthur Biram sind in der preußisch¬
sächsischen Landkarte blau markiert: Bischofswerda, Dresden, Hirschberg
und Berlin. Seine Vorfahren waren ansässig in Bomst, Grätz, Liegnitz sowie
die Eltern mit seinen jüngeren Geschwistern und zeitweise auch mit Biram
selbst in Frankfurt/O. Ebenfalls grün markiert sind Städte, die mit Ver¬
wandten in Verbindung standen: Breslau, Görlitz, Löbau und Cottbus.
Posen von der rechtlichen Gleichstel¬
lung in Preußen lange ausgenommen
blieben. Zu den strittigen Fragen
gehörte auch das Recht, einem „hö¬
herwertigen“ Gewerbe nachzugehen,
wie beispielsweise dem Textilhandel.
Nachdem die jüdische Bevölkerung
1868 in Sachsen ihre staatsbürgerli¬
chen Rechte erhalten hatte, kam es zu
einer starken Zuwanderung und auch
die Familie Biram ließ sich hier nie¬
der. Der Zuzug vollzog sich offenbar
entlang der schlesisch-sächsischen
Eisenbahnlinie. Von den Liegnitzer
Geschwistern ist 1870/71 Theodor Bi¬
ram in Görlitz als Soldat im Deutsch-
Französischen Krieg nachgewiesen,
1875 wurde in Löbau das erste Kind
von Rosalie verh. WolfF geboren und
1878 in Bischofswerda das erste Kind
von Adolph, Arthur Biram.
In Bischofswerda gab es keine eigene
jüdische Gemeinde, auch im größeren
Bautzen nicht. Zum Religionsunter¬
richt der Kinder musste ein Lehrer
aus Dresden kommen. Vermutlich
spielte dies eine wesentliche Rolle,
dass die Familie Adolph Biram nach
Dresden zog, als Arthur, der älteste
22
Sohn, sieben Jahre alt war. In Dresden
gründete Adolph Biram mit Salomon
WolfF, einem Schwager aus Löbau, ein
Handelsgeschäft. Nach dem Besuch
von Bürgerschule und des Kreuzgym¬
nasiums unter Heinrich Stürenburg
bis 1893 wechselte Arthur Biram in
der 9. Klasse (Obertertia) auf das hu¬
manistische Gymnasium Hirschberg
in Niederschlesien. Rabbiner und
Religionslehrer war hier sein Onkel
Max Biram, ein ehemaliger Zacharias
Frankel-Schüler aus Breslau. Etwa
zur selben Zeit zogen Birams Familie
sowie die Firma des Vaters, WolfF &
Biram, nach Berlin.
Das Jahr 1896 wurde zur Zäsur für
viele, auch die gut integrierten deut¬
schen Juden. Theodor Herzl schrieb
nach antisemitischen Ausschreitun¬
gen in Paris („Dreyfus-AfFäre“) das
Buch „Der Judenstaat“ und initiierte
damit den politischen Zionismus mit
dem Ziel, einen eigenen Staat Israel
zu errichten. Der Versuch, sich durch
Assimilierung und Christianisierung
der Verfolgung zu entziehen, war
gescheitert. Birams Vater hoffte, dass
sein Sohn Arthur Rabbi in einem
solchen Staat werden möge. Vater und
Sohn bekannten sich nach dem ersten
Weltkongress von 1897 in Basel zur
zionistischen Bewegung.
Nach dem Abitur im Jahre 1897 stu¬
dierte Biram an der Universität Berlin
orientalische Philologie, Philosophie
und Nationalökonomie bei Eduard
Sachau, Friedrich Delitzsch, August
Arthur Biram in Berlin.
Fischer, Georg Simmel und Friedrich
Paulsen. Auch der Philologe Ulrich
von Wilamowitz-Moellendorff und
der Historiker Eduard Meyer gehör¬
ten zu seinen Lehrern. Außerdem
besuchte Biram bei dem Gelehrten
Moritz Steinschneider private Semi¬
nare über mittelalterliche Religions-
philosophie. Parallel zum Studium an
der Universität ließ sich Biram an der
Hochschule für die Wissenschaft des
Judentums in Berlin zum Rabbiner
ausbilden. Sein Vater unterstützte die
Hochschule als förderndes Mitglied.
Der Sohn wurde hier von Martin
Schreiner für die Beziehungen zwi¬
schen der jüdischen und arabischen
Kultur interessiert. Nachdem eine
23
Arthur Biram (hinter seiner Mutter) mit Eltern und Geschwistern (vermut¬
lich nach 1910 in Frankfurt/O. mit erstem Kind von Julius Biram).
historische Abschrift eines Werkes
von Abu-Rasid al-Nisaburi gefunden
worden war, widmete Biram diesem
Thema seine Dissertation. Zu einigen
Fragen konsultierte er den Orienta¬
listen Ignaz Goldziher in Budapest.
In Leipzig, wo August Fischer in¬
zwischen einen Lehrstuhl für orien¬
talische Philologie inne hatte, pro¬
movierte Biram mit der Arbeit „Die
atomistische Substanzenlehre aus
dem Buch der Streitfragen zwischen
Basrensern und Bagdadensern“ zur
Philosophie des Abu-Rasid al-Nisabu¬
ri. Die Doktor-Prüfung bestand er am
18. Juli 1900, die Dissertationsschrift
wurde 1902 publiziert. 1904 schloss
Biram das Rabbi-Seminar ab, bis 1908
blieb er an der Berliner Universität
im Fach Altphilologie eingeschrieben.
Seine Eltern wohnten seit 1903 in
Frankfurt/Oder, nachdem der Ge¬
schäftspartner des Vaters, Salomon
Wolff, verstorben und die Berliner
Firma verkauft war.
An den deutschen Universitäten orga¬
nisierten sich seit dem ausgehenden
19. Jahrhundert jüdische Akademiker
und Studenten in einer Vielzahl von
Vereinen. Dies war eine Reaktion auf
den erstarkenden Antisemitismus in
Deutschland, aber auch ein Zeichen
für ein erwachendes Nationalbe¬
wusstsein der Juden, das über die
bloße Zusammengehörigkeit in einer
Religionsgemeinschaft hinausreichte.
Biram gehörte schon 1898 dem „Ver¬
ein Jüdischer Studenten“ an und war
später maßgeblich an der zunehmen-
24
den „Zionisierung“ der Studenten¬
schaft beteiligt. Junge Vereinsmitglie-
der unterrichtete er beispielsweise in
jüdischer Geschichte. 1898 gründete
er mit weiteren Studenten und Vertre¬
tern zionistischer Vereinigungen wie
seinem späteren Schwager Theodor
Zlocisti einen Turnverein im Geden¬
ken an Shimon bar Kokhba, dessen
niedergeschlagener Aufstand gegen
die römischen Besatzer nach dem
Jahre 135 die Diaspora des jüdischen
Volkes aus seiner Heimat in Palästina
ausgelöst hatte. Unter der Leitung von
Israel Auerbach entwickelte sich der
„Kochba-Club“ zu einer weltweiten
jüdischen Bewegung mit mehre¬
ren 10.000 Mitgliedern innerhalb
der Maccabi World Union. Wie in
der deutschen Turnbewegung nach
Friedrich Ludwig Jahn ging es um die
Förderung eines nationalen Bewusst¬
seins, gestärkt werden sollte aber auch
die Selbstverteidigung. Physische
Ertüchtigung verband die nationale
Idee mit dem bürgerlichen Ideal einer
allseits gebildeten Persönlichkeit. Ne¬
ben dem Sport spielte die Förderung
der jüdischen Kultur, v. a. der Musik,
eine große Rolle. Biram verfasste Ar¬
tikel für die „Jüdische Turnzeitung“,
das offizielle Organ von Bar-Kochba.
1901 gehörte er an der Hochschule
für die Wissenschaft des Judentums
zu den Mitbegründern eines zionis¬
tischen Studentenvereins, der sich
jedoch nach Androhung von Ex¬
matrikulationen wieder auflöste. Zu
Birams Freundeskreis zählten dabei
Max Schioessinger und Judah Leon
Magnes, später Präsident der Hebrew
University of Jerusalem. In den Kon¬
flikten um die jüdischen deutschen
Vereine widerspiegelten sich auch
Differenzen innerhalb der jüdischen
Bevölkerung, zwischen liberalen und
konservativen Strömungen, zwischen
Zionisten und eher auf die Integrati¬
on setzenden Gemeindemitgliedern.
1901 war Biram maßgeblich an der
Gründung des Dachverbandes „Bund
Jüdischer Corporationen“ (BJC)
beteiligt. 1906 gründete er mit Felix
Rosenblüth (Pinchas Rosen) und
Kurt Blumenfeld den Verein jüdischer
Studenten „Makkabäa“. Mit Heinrich
Loewe leitete er die „Organisation für
hebräische Sprache“. Das Studium des
Hebräischen bildet ein Kernelement
des Zionismus.
In den zionistischen Kreisen Berlins
bewegten sich seinerzeit auch die
Thomaschewsky-Schwestern. Hanna
wurde später Arthur Birams Frau. Sie
war Mitglied des Kochba-Clubs und
gehörte 1910 zu den Gründerinnen
des „Jüdischen Frauenbundes für
Turnen und Sport“. Emma Thoma-
schewsky heiratete Davis Trietsch aus
Dresden, einem der bedeutendsten
Zionisten überhaupt und Gegenspie¬
ler von Theodor Herzl. Hulda, später
mit dem Arzt und Schriftsteller Theo¬
dor Zlocisti verheiratet, war 1897 eine
von 14 weiblichen Delegierten zum
Ersten Zionistenkongress in Basel.
Biram arbeitete nach Abschluss des
Rabbi-Seminars als Sekretär und
25
Grab von Arthur Birams Eltern (vermutlich Jüdischer Friedhof Frank¬
furt IO. / Slubice - 1976 zerstört): Die Geburtsdaten sind nur unscharf zu
erkennen. Gegen ein Geburtsjahr 1830 des Vaters Adolph spricht, dass lt.
einer Mitteilung aus der Familie im Dresdner Gewerbeantrag von 1885
der 31.3.1850 als Geburtstag vermerkt ist, das Geburtsjahr der Mutter Eva
erscheint auf dem Grabstein als 1833. Die Familie Adolph Biram ist in den
Dresdner Adressbüchern von 1886 bis 1894 nachgewiesen (Rosmariengasse
4, Seidnitzer Straße 6). Die Firma Wolff & Biram war in der Frauenstra¬
ße ansässig. Adolph Biram war demnach ein Sohn von Salomon Biram
(Händler, *20.11.1816 Grätz, t3.1.1887 Dresden) und dessen Frau Johanna
(*25.7.1816 Bomst, t27.10.1896 Föbau). Arthur Birams Großeltern sind auf
dem Neuen Jüdischen Friedhof Dresden begraben. Sie waren ein Jahr nach
der Familie Adolph Biram nach Dresden gekommen. Johanna Biram ist als
Witwe Bieram bis 1898 in den Dresdner Adressbüchern vermerkt, auf ih¬
rem Totenschein steht aber als Wohnort Bischofswerda. Deren weitere Kin¬
der, also Onkel und Tante von Arthur, waren: Theodor (*7.12.1846 Bomst,
f6.10.1898 Föbau, nahm am Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 teil,
Kaufmann, um 1874 Cottbus, um 1885 Fa. Salomon Wolff Föbau, Jüdischer
Friedhof Görlitz), Julius (* in Fiegnitz, am 6.8.1870 in der Schlacht bei
Wörth gefallen, Gedenkstein Fiegnitz), Max (*1.1.1853 Fiegnitz, f22.6.1916
Hirschberg, Elementarschule Fiegnitz, bis 1879 Ausbildung in Breslau, Dr.,
ab 1887 Rabbiner in Hirschberg), Rosalie (*29.11.1854 Fiegnitz, ab spätes¬
tens 1875 Föbau, danach Dresden, verh. mit Salomon Wolff, f 1931 Berlin).
26
Bibliothekar an der Hochschule für
die Wissenschaft des Judentums,
gab für Studienanfänger aber auch
Hebräisch-Kurse. Vor der Jüdischen
Gemeinde Potsdam hielt er den Vor¬
trag „Jüdische Hochschulen“. Rabbi¬
ner war hier seinerzeit der acht Jahre
ältere Paul Rieger. Der wissenschaft¬
lich interessierte Rieger stammte aus
Dresden und hatte seine Ausbildung
in Breslau sowie an der Hochschule
für die Wissenschaft des Judentums in
Berlin erhalten. Seinem ehemaligen
Lehrer Moritz Steinschneider, der den
Zionismus ablehnte und beispiels¬
weise die jüdische Forschung und
Lehre in allgemeine Universitäten
integrieren wollte, widmete Biram
zum 90. Geburtstag im Jahre 1906
in „Ost und West“ eine ausführliche
Würdigung: „Mit Steinschneider
wollen wir der jüdischen Wissen¬
schaft die Anerkennung innerhalb
des gesamten Wissenschaftsbetriebs
erkämpfen.“ Biram verfasste zudem
Beiträge für die „Jewish encyclope-
dia“. Er entschied sich schließlich
gegen eine theologische und für eine
pädagogische Laufbahn. 1909 absol¬
vierte Biram die Lehramtsprüfung für
Lateinisch, Griechisch und Hebräisch
am Askanischen Gymnasium Berlin,
einer altsprachlichen Eliteschule. Er
unterrichtete danach in Neuruppin
und am Berliner „Gymnasium zum
Grauen Kloster“ klassische Sprachen
und Literatur.
Die Familie Biram engagierte sich in
verschiedenen jüdischen karitativen
Die Gebäude der Hebrew Reali
School im Technion-Komplex im
Stadtteil Hadar wurden von Alexan¬
der Baerwald erbaut. 1923 begrüßte
man hier Albert Einstein anlässlich
seines ersten Haifa-Besuchs.
Vereinigungen. So gehörten Arthur
Biram und sein Vater in Berlin und
Frankfurt/Oder dem „Verein zur
Unterstützung ackerbautreiben¬
der Juden in Palästina und Syrien“
(ESRA) an. Sein Onkel Max Biram in
Hirschberg war Mitglied im „Hilfs¬
verein der deutschen Juden“ (EZRA),
den Paul Nathan, Eugen Landau und
der bedeutende Kunstmäzen James
Simon 1901 in Berlin zur Unterstüt¬
zung verfolgter Juden aus Osteuropa
gegründet hatten und der jenen bei
ihrer Emigration nach Amerika oder
Palästina half.
Der „Hilfsverein der deutschen
Juden“ engagierte sich im seiner¬
zeit osmanischen Palästina für den
Aufbau eines jüdischen Bildungswe¬
sens nach deutschem Vorbild. Man
betreute bis zu 50 Einrichtungen
einschließlich Kindergärten, Rab¬
biner- und Lehrer-Seminare, Bib¬
liotheken und Handwerkerschulen.
27
Die Bestrebungen des „Hilfsvereins“
befanden sich in Übereinstimmung
mit der damaligen Außenpolitik des
deutschen Kaiserreichs, das seinen
Einfluss im Nahen Osten ausweiten
wollte. Im Rahmen der Planungen
für die erste jüdische Hochschule in
Palästina, das „Technion“ in Haifa,
wurde 1909 vom „Hilfsverein“ eine
Mittelschule gegründet. Hier sollten
die Schüler die Zugangsvoraussetzun¬
gen für die Hochschule erwerben. Mit
der Fertigstellung des Technions war
geplant, diese Schule in den Hoch¬
schulkomplex zu integrieren. 1913
eskalierte aber ein heftiger Sprachen¬
streit. Der „Hilfsverein“ legte die
Lehrsprachen pragmatisch fest. Die
Schüler und Studenten, die aus den
verschiedensten Kulturen stammten,
sollten sich untereinander, aber auch
mit ihren türkischen und arabischen
Nachbarn unterhalten können und
mit Fremdsprachen auf ihre spätere
Karriere vorbereitet werden. Weil
man fortschrittliche, liberale Lehrme¬
thodiken aus Deutschland einführen
wollte, sollten von dort auch Lehrer
kommen; jene bevorzugten aber ihre
Muttersprache. Zudem war Deutsch
seinerzeit die führende Wissen¬
schaftssprache, und der „Hilfsverein“
war dem deutschen Kaiserreich auch
politisch verpflichtet. Aus Sicht des
„Zionistischen Komitees“ lief dies den
nationalen Ambitionen der Juden in
Palästina zuwider. Man unterstellte
dem „Hilfsverein“, deutschnationale
Interessen durchsetzen und Hebräisch
zum Unterrichtsfach degradieren zu
wollen. Die jüdische Bevölkerung
Palästinas stammte nach den ersten
Einwanderungswellen vorwiegend
aus Osteuropa und war konservati¬
ver, von Pogromen in ihrer Heimat
geprägt, als die eher liberalen, oft aus
idealistischen Gründen gekommenen
Einwanderer aus Deutschland. Es
kam zu Demonstrationen und Schul¬
boykotten, die bisherige Mittelschule
des Vereins musste schließen.
Der Sprachenstreit wurde mit dem
Konzept einer „Hebrew Reali School“
beigelegt und Arthur Biram wurde
anlässlich des Chanukka-Fests im De¬
zember 1913 in sein Amt als Direktor
Arthur Biram beim Militär.
28
der Reali eingeführt. Das „Technion“
nahm erst 1924 seinen Betrieb auf.
Biram publizierte seine „Leitsätze für
die hebräische Realschule in Haifa“
am 3. Juli 1914 in „Die Welt“: „Wie
alle Kinder sollen auch unsere Kinder
etwas wissen und was sie wissen, als
stets gegenwärtigen Besitz haben.
Aber sie sollen es lebend ergreifen
lernen, nichts Fertiges von uns hin¬
nehmen, sondern bei der Aufnahme
und Aneignung lebendig mitwirken.
Wie wir das Gewordene nie ohne das
Werden zeigen, so sollen unsere Kin¬
der unter ihrer Hand und aus ihrem
Mund die Dinge werden lassen, sollen
Begriffe und Kenntnisse entstehen,
aus ihrer geistigen und körperlichen
Arbeit herauswachsen lassen.“ Die
Schüler sollten ganzheitlich gebil¬
det werden. Neben der Vermittlung
naturwissenschaftlich-technischer
Kenntnisse, die zunächst im Mittel¬
punkt standen als Zugangsvorausset¬
zung für das Technion, legte Biram
Wert auf eine humanistische Bildung
einschließlich jüdischer und arabi¬
scher Geschichte und Kultur und auf
die Entwicklung sozialer Kompeten¬
zen. Biram selbst lehrte Bibelkunde
und antike Geschichte.
Nach Ausbruch des Ersten Welt¬
kriegs trat Biram wie seine Brüder
der deutschen Armee bei; er war zum
Fronteinsatz in Russland und dien¬
te im deutsch-türkischen Korps in
Palästina. In Afula, einem wichtigen
Verkehrsknoten an der Damaskus-
Haifa-Strecke, befehligte er den
Arthur Biram (1928) führte eine
umfangreiche Korrespondenz, bei¬
spielsweise mit Albert Einstein und
dem aus Dresden stammenden Ban¬
kier Hans Arnhold (Albert Einstein
Archives, The Hebrew University of
Jerusalem; Einstein Papers Project,
California Institute of Technology).
Eisenbahnfahrdienst. Im September
und Anfang Oktober 1918 schlugen
alliierte Truppen, an deren Seite auch
Zionisten aus Palästina wie Jaakow
Dori kämpften, die Türken in diesem
Gebiet.
Nach dem Krieg vertrat Biram zu¬
nächst David Yellin am Hebräischen
Lehrer-Kolleg in Jerusalem. Gro߬
britannien und Frankreich teilten die
vormals osmanischen Provinzen im
Nahen Osten unter sich auf. Palästina
wurde britisches Mandatsgebiet, der
Einfluss der deutschen Juden nahm
ab. Die Verantwortung für die He¬
brew Reali School ging vom „Hilfs¬
verein der deutschen Juden“ auf das
„Zionistische Komitee“ über.
1920 kehrte Biram nach Haifa zurück,
wo er wieder die Leitung der Reali
29
Vertrag bfi (Dürftet* fcn lwbtäifd)tn ftralfchulc ln jf*iifa, £*.
am 19. Wai
3m ttahmrn brr ©rranflaltungm bn 3cfaia:{ogr roirb brr befannir
raläftmrnftiAf 5<fudmnnn T*. ©i*am, brt Stilfr b«t (HralfAuU in
.fcaifa, am ©tm<tag, bcn 19. Wat, im Üolal b« „(Joncorbta", tyrann«:
ftrafjc 9/0, abmbf pünftlid) 8 Vt U$r einen ©ertrag ballen: „Bit
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£ A u l n> r f e n in $ a I ä fH n a." Snflrf>örißf unb $rrunb< be»
Wiifllirbn b»t 3efaia:9oge haben ju bem ©ertrag freien Eintritt.
Ankündigung eines Vortrags von
Arthur Biram in München vor
der Jesaia-Loge, Bayerische isra¬
elitische Gemeindezeitung, 1931,
Heft 10. Arthur Biram gehörte wie
seine Geschwister Julius und Else
Biram der jüdischen, Freimaurer¬
ähnlichen Organisation „B‘nai
B‘rith“ an. Der Orden war 1843 in
New York gegründet worden, um
die Interessen der jüdischen Bürger
zu vertreten und die jüdische Kultur
zu fördern. B‘nai B‘rith ist mit
seiner Logenstruktur ähnlich wie
die Freimaurer organisiert und der
Förderung von Toleranz, Humanität
und Wohlfahrt verpflichtet. Darü¬
ber hinausgehende Beziehungen zur
Freimaurerei bestehen jedoch nicht.
Entgegen aller Verschwörungstheo¬
rien handelt es sich nicht um einen
Geheimorden. Besonders mit der
Zunahme antisemitischer Tenden¬
zen in den deutschen Freimaurer-
Logen im späten 19. Jahrhundert
verzeichneten die jüdischen Logen
einen großen Zulauf. Sie öffneten
sich zudem auch weiblichen Mitglie¬
dern. B‘nai B‘rith ist vor allem auch
für seine karitativen Leistungen
bekannt. Die „B‘nai B‘rith Youth
Organization“ stellte Arthur Biram
finanzielle Mittel für die israelische
Tzofim-Jugendbewegung („Scouts“)
zur Verfügung.
übernahm. Die Briten bauten Haifa
zur wichtigsten Stadt Palästinas aus.
Gleichzeitig eskalierten die Konflikte
mit den arabischen Palästinensern,
weil die Briten jenen im Krieg ge¬
machte Versprechungen nicht einhiel¬
ten. Biram war Mitglied der Palestine
Oriental Society, in der sich von
1920 bis 1948 jüdische und arabische
Intellektuelle trafen, und gehörte
dem Jewish National Council („Vaad
Leumi“) an. 1924 heiratete er seine
Frau Hanna. 1920 war sie nach Haifa
ausgewandert, wo sie an der Reali
Sport lehrte.
Biram setzte trotz des elitären An¬
spruchs sein Konzept einer „Arbeits¬
schule“ durch, in der auch manuelle
Arbeit und Landwirtschaft unterrich¬
tet wurden. Dies war wesentlich für
die Akzeptanz der Schule, denn viele
der früh in Palästina eingewanderten
Juden wollten hier Landwirtschaft
betreiben. Als Schule mit Internat
bot die Reali gute Möglichkeiten
für Aktivitäten außerhalb des Un¬
terrichts. Biram war schon damals
ein Anhänger der Ganztagsschule.
Seine Versuche, den Schülern größere
Mitbestimmungsrechte einzuräumen,
scheiterten am konservativ gepräg¬
ten Lehrerkollegium. Ab 1924 wurde
Unterricht bis zur 12. Klasse gegeben.
Eine von Biram favorisierte noch
engere Zusammenarbeit mit dem
Technion, ggf. sogar eine Verschmel¬
zung, kam auch wegen akademischer
Vorbehalte gegen Birams praxisorien¬
tierte Lehrkonzepte zulasten theore-
30
tischer Grundlagenvermittlung nicht
zustande. Zudem bestanden gegen
ihn persönliche Vorbehalte: Er galt
bei der Mehrzahl russischer Einwan¬
derer, die außerdem von der Oktober¬
revolution geprägt worden waren, als
zu „preußisch“.
Biram gehörte dem „Eretz Israel“-
Direktorium des Technions an, als
Albert Einstein dort dem akademi¬
schen Rat Vorstand. Als Kuratori-
umsmitglied am Technion konnte
Biram die Zusammenarbeit mit der
Reali maßgeblich beeinflussen. In den
1930er Jahren wuchs die Schülerzahl
der Reali im Zuge der verstärkten
Einwanderung von deutschen Juden
in Palästina auf 1147 Schüler in 34
Klassen. Die Stadt und mir ihr die
Hebrew Reali School dehnten sich
immer mehr bis in das Gebiet des
Mount Carmel aus.
Besonderen Wert legte Biram auf
die Erziehung zu moralischen Wer¬
ten und zum Patriotismus, auf den
Schulsport und die Selbstverteidi¬
gung. Hinzu kam die vormilitärische
Ausbildung. Nach antijüdischen
Ausschreitungen in Hebron initiierte
Biram 1937 an der Reali das „Hagam-
Programm“ zur physischen Ertüchti¬
gung und machte die vormilitärische
Ausbildung nun auch für Mädchen
obligatorisch. Das Programm war
Vorbild für die zionistische Schulaus¬
bildung im ganzen Land. Die Schüler
wurden in die paramilitärische Orga¬
nisation „Hagana“ unter Jaakow Dori,
Dem Schulsport galt Birams beson¬
dere Aufmerksamkeit. Damit wurde
das im Zionismus propagierte
„Muskeljudentum“ Realität. Foto:
Gymnastikübung auf dem Gelände
der Hebrew Reali School im Jahre
1938, Wikimedia Commons, Uni-
versity of Haifa, Younes & Soraya
Nazarian Library, OpenGLAM.
einem Reali-Absolventen und später
erstem israelischen Generalstabschef,
integriert.
1936 bezog Biram sein Haus Eder
Street 17 im Stadtteil Ahuza im
Carmel-Gebiet. Shlomo Dostrovs-
ky und Yaakov Green hatten es im
Bauhaus-Stil errichtet. Es lag unweit
des Bodenheimer-Sanatoriums, das
seine Schwester Else Biram zusam¬
men mit ihrem Mann führte und zu
dessen Leitungsgremium auch Arthur
Biram gehörte.
Zu Birams bekanntesten Schülern
zählten Ezer Weizmann, Verteidi¬
gungsminister und langjähriger isra¬
elischer Präsident, und der Archäo¬
loge Avraham Biran. Ein großer Teil
der Lehrerschaft der Reali und auch
31
Schüler beteiligten sich im Zweiten
Weltkrieg in einer jüdischen Brigade
der britischen Armee am Kampf ge¬
gen die faschistischen Achsenmäch¬
te und nahmen an den folgenden
gewaltsamen Auseinandersetzungen
um die Unabhängigkeit eines Staa¬
tes Israel teil. Unter ihnen war auch
Birams älterer Sohn, Aaron. 1948, im
Jahr der Gründung des Staates Israel,
emeritierte Biram. Joseph Bentwich
folgte ihm als Direktor.
Seine Funktion als Kuratoriumsvor-
sitzender des Technions behielt Biram
bis 1956. Als Direktor des „Teachers’
Training Seminary of the Reali
School“ widmete er sich weiterhin
der Lehrerausbildung. 1953 gründete
Biram auf dem Mount Carmel zu¬
sammen mit Premierminister David
Ben-Gurion ein Militärinternat,
das damals nach seinem zwei Jahre
zuvor ums Leben gekommenen Sohn
„Aaron Biram Military Academy“
genannt wurde und heute als „IDF Ju¬
nior Command Preparatory School“
geführt wird. 1955 ernannte ihn der
IDF-Offiziersclub zum Ehrenmit¬
glied. Mit Ben-Gurion stand Biram in
wiederholtem Kontakt. So besuchte
er mit ihm 1963 die Hebrew Reali
School anlässlich der Feier zu deren
50-jährigen Bestehen.
Biram schrieb mehrere Bücher zur
Geschichte des Judentums und der
Bibel, darunter die mehrbändige
„Geschichte Israels in der Zeit der
Bibel, im Rahmen der Geschichte des
Alten Orients“. Insgesamt verfasste er
etwa 50 Publikationen in Hebräisch,
Englisch, Deutsch und Arabisch.
Seine Verdienste um die neue Hei¬
mat, insbesondere beim Aufbau des
Bildungswesens, wurden 1954 mit
dem Israel-Preis, der höchsten Aus¬
zeichnung seines Landes, und 1964
mit dem Ehrendoktor der Hebrew
University of Jerusalem sowie zusam¬
men mit Martin Luther King einem
Ehrengrad des „Jewish Theological
Seminary“ in den USA gewürdigt.
Arthur Biram verstarb am ersten Tag
des „Sechstagekriegs“ von 1967. Die
von ihm gegründete Hebrew Reali
School mit über 20.000 Absolventen
in den ersten hundert Jahren ihres
Bestehens erwarb sich den Ruf einer
Kaderschmiede der israelischen
Armee. Sie wird heute von etwa 4000
Schülern unterschiedlicher ethnischer
Gruppen einschließlich arabischer
Schüler besucht und ist auf mehre¬
re Standorte im Stadtgebiet (Hadar,
Ahuza, Carmel) verteilt. Stipendien
ermöglichen den Besuch der semi¬
privaten Schule auch für Kinder aus
einfachen Verhältnissen. Der High
School-Zweig der Hebrew Reali
School „Beit Biram“ in Ahuza und
eine Hauptstraße zwischen dem Tech-
nion-Israel Institute of Technology
und der Universität Haifa im Carmel-
Gebiet tragen Birams Namen. Die
israelische Post würdigte das hundert¬
jährige Jubiläum der Schulgründung
im Jahre 2013 mit einer Sonderbrief¬
marke.
32
An die Familie Biram erinnern heute in Sachsen die Gräber der Großeltern
von Arthur und Else auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Dresden-Jo¬
hannstadt (links: Salomon, t!887; rechts: Johanna, t!896).
Quellen: S. 412 ff.
33
Die Biram-Geschwister, Dresden oder Berlin in den 1890er Jahren.
Quellen: Mitteilungen von Juan Moser und Renate Biram; Else Biram: Dissertation, 1917; Stadtarchiv Bi¬
schofswerda; Adressbücher von Dresden, Berlin; Marie-Luise Zürcher: „Der erste Arzt der Gartenstadt“.
Gartenstadt-Genossenschaft Mannheim eG, Mitgliederzeitung, 5/2005; digi.ub.uni-heidelberg.de; Report
of the Executive Committee of the Constitution Grand Lodge Independent Order of Bnai Brith, 1916;
Yotam Hotam, Joachim Jacob: „Populäre Konstruktionen von Erinnerung im deutschen Judentum und
nach der Emigration“. Vandenhoeck & Ruprecht, 2004; Gilbert Herbert, Silvina Sosnovsky: „Bauhaus on
the Carmel and the crossroads of empire: architecture and planning in Haifa during the British mandate“.
Yad Izhak Ben-Zvi, 1993; World Zionist Organization: „Report on Activities“. 1937; „La Mujer judia:
publicaciön dedicada a la memoria de la Sra. Adele Eshel (Q.E.P.D.)“. Institute Stephen Wise, Congreso
Judio Mundial, 1959; Luise Hirsch: „From the Shtetl to the Lecture Hall: Jewish Woman and Culture Ex¬
change“. University Press of America, 2013; Volker Kirchberg: „Visitor Studies in Germany. Past, Present,
and Potential“; Amira Kahat, University of Haifa; David Tidhar: „Encyclopedia of Founders and Builders
of Israel“. 1963
Biram, Else (Elsa Sara)
Dr. phil., jüdische Kultursoziologin
07.02.1883 Bischofswerda - 16.07.1966 Haifa
V: Adolph Rudolph (*30.3.1850 Liegnitz, f9.6.1915), Textilkaufmann in Bischofswerda, Dresden,
Berlin und Frankfurt/O.; M: Eva geh. Neufeld (* in Schrimm/Posen, t21.3.1921), Schwester des
Unternehmers Hermann Neufeld in Grimma; Grab der Eltern vermutlich Jüdischer Friedhof
Frankfurt/O. / Slubice - 1976 zerstört; G: Arthur (*13.8.1878 Bischofswerda, 15.6.1967 Haifa,
Dr. phil., Gründer der Hebrew Reali School in Haifa, Träger des Israel-Preises, Ehe mit Hanna
geb. Thomaschewsky aus Königsberg), Gertrud (*11.7.1879 Bischofswerda, früh verstorben),
Julius (*4.11.1881 Bischofswerda, t5.7.1916, Ehe mit Emmy geb. Hartwig/Samuel aus Aachen, 3
Kinder, Hardenberg-Loge Frankfurt/O., im Ersten Weltkrieg gefallen, Gedenkstein in Slubice),
Max Moritz (*30.3.1884 Bischofswerda, JT6.7.1945 Haifa, Ehe mit Margarethe geb. Neufeld aus
Grimma, Manager im Bodenheimer-Sanatorium Haifa), Fritz (*1.10.1888 Dresden, Ehe mit
Alice geb. Beer aus Naugard/Pommern, nach den Olympischen Spielen 1936 über Belgien und
Uruguay nach Argentinien geflohen, Kaufmann in La Lucila/Buenos Aires); E: 24.2.1914 Berlin,
Wilhelm Lion Bodenheimer (*27.1.1890 Darmstadt, t Juli 1980 Haifa, Großcousin von Lion
Feuchtwanger, studierte 1909 in Zürich und bis 1913 in Heidelberg Medizin, Dr. med., erster
Arzt der Gartenstadt Mannheim, leitete ein Sanatorium in Haifa, 1957 wieder in Deutschland
eingebürgert, 1965 wohnhaft in Tel Aviv); K: Ricka (*1915 Mannheim, Krankenschwester, Ehe
mit Arieh Levavi, als israelischer Botschafter nach der Entführung von Adolf Eichmann 1960
aus Argentinien ausgewiesen, während des Sechstagekriegs Außenminister), Adolf Rudolf/
Rudi (*1917 Mannheim, Hotelschule in der Schweiz, 1941-1945 englischer Militärdienst, lebte
20 Jahre in Rom und leitete das Excelsior in der Via Veneto, Manager des King David Hotels
von Yekutiel Federmann in Jerusalem und des Jerusalem Plaza Hotels, 1975 Gründung des CP
Plaza Frankfurt/M., nach 1980 Pächter des Hotels Primus in Frankfurt-Sachsenhausen), Peter
Josef/Gad (*1920 Mannheim, J2006 Haifa, Angestellter im Bodenheimer-Sanatorium, Leiter des
Dagon-Lagerhauses im Hafen von Haifa, spielte und unterrichtete Musik)
Else Biram zog mit ihren Eltern und
Geschwistern um 1885 von ihrer
Geburtsstadt Bischofswerda nach
Dresden, wo der Vater mit Salomon
WolfF, einem Schwager aus Löbau,
ein Geschäft betrieb. Sie besuchte in
Dresden und nach dem Umzug der
Familie von 1895 bis 1898 in Berlin
die Schule. Anschließend erwarb sie
hier drei Jahre lang kaufmännische
Praxis im Bekleidungsgeschäft ihres
Vaters in der Neuen Friedrichstraße
78. Um 1903, nachdem sein Ge¬
schäftspartner Wolff gestorben war,
verkaufte der Vater das Geschäft in
Berlin und ging als Kaufmann nach
Frankfurt/Oder. 1904 setzte Else
Biram gegen den Willen ihrer Eltern
in Berlin die Ausbildung fort und be¬
legte bei der Frauenrechtlerin Helene
Lange „Gymnasialkurse für Frau¬
en“, in denen sie sich auf das Abitur
Hcrrcnklc] de r - Fuhrt k
Briefkopf der väterlichen Firma.
35
Frankfurt/Oder war seit dem Umzug aus Berlin im Jahre 1903 Lebensmit¬
telpunkt der Familie Biram. Der Vater ist im Adressbuch von 1906 als Kauf¬
mann im Geschäft Kayser & A. Sickler, Große Scharrnstraße 47, angegeben.
Die Familie war damit in einer der wichtigsten Geschäftsstraßen Frank¬
furts ansässig. Auch der Sohn Fritz (Salomon Friedrich) arbeitete hier. Im
Zusammenhang mit den Ausbürgerungen und Enteignungen zur Nazizeit
werden aus der Familie Biram aufgeführt: Emmy verw. Biram (*6.2.1885)
mit Hanna (*8.2.1910 Sulzbach) und Hans (*25.3.1913 Frankfurt), die Brü¬
der Max und Fritz mit Frau Alice (*30.5.1899) sowie Ingeborg (*25.9.1922
Frankfurt) und Marianne (*17.6.1927 Frankfurt). In „The Conference on
Jewish Claims against Germany“ wird Emmy Biram geh. Samuel mit Bezug
auf die Große Scharrnstraße 61 und 44 (Fa. Paul Loewenthal) genannt.
vorbereitete. Ihren Lebensunterhalt
verdiente sie selbst als Büroangestell¬
te. 1909 legte Biram am Realgymna¬
sium Charlottenburg das Abitur als
externer Prüfling ab. Anschließend
studierte sie in Freiburg, Berlin,
München und von 1911 bis 1913 in
Heidelberg Nationalökonomie sowie
Jura, Kunstgeschichte und Sozial¬
wissenschaften. Auch ihren späteren
Mann, den Mediziner Wilhelm Lion
Bodenheimer, lernte sie in Heidelberg
kennen.
Biram war schon im Elternhaus im
Sinne des Zionismus erzogen worden.
So gehörten ihr Vater und ihr Bruder
Arthur Biram in Berlin und später
in Frankfurt/Oder dem „Verein zur
Unterstützung ackerbautreibender
Juden in Palästina und Syrien“ an.
Else Biram selbst besuchte 1909 den
9. Zionistenkongress in Hamburg
und engagierte sich in zionistischen
Studentenkreisen.
Am 15. Dezember 1913 bestand
Biram in Heidelberg ihre mündliche
36
Doktor-Prüfung. Zuvor hatte sie in
Mannheim umfangreiche Datenerhe¬
bungen zur Kulturrezeption der Be¬
völkerung durchgeführt. Mithilfe von
etwa 12000 Fragebögen sowie vielen
Interviews und der Unterstützung des
Mannheimer Museumsdirektors Fritz
Wiehert erfasste sie die verschiedenen
kulturellen Aktivitäten.
Nach dem Studium folgte Biram Wil¬
helm Bodenheimer nach Mannheim.
Jener arbeitete als Assistenzarzt am
städtischen Krankenhaus, übernahm
aber gleichzeitig aus ideeller Verbun¬
denheit auch die ärztliche Betreuung
der 1910 gegründeten Gartenstadt.
1914 publizierte Bodenheimer-
Biram „Die jugendliche Arbeiterin“
in der „Zeitschrift für Kinderpflege“.
1915 zogen sie und ihr Mann in die
Gartenstadt. 1916 übernahm Biram
die Leitung des städtischen Wohl¬
fahrtsamtes für straffällige Mädchen
in Frankfurt/Main. In dieser Zeit
stand sie auch in Verbindung mit Sa-
lomon Altmann, inwischen Professor
an der Handelshochschule Mann¬
heim, den sie als Privatdozenten für
Nationalökonomie aus ihrer Heidel¬
berger Zeit kannte.
Während des Ersten Weltkriegs hatte
Elses Mann Dienst im Mannheimer
Lazarett. Ihre Brüder dienten in der
deutschen Armee. Einer von ihnen,
der ein reichliches Jahr ältere Julius,
fiel 1916, Fritz geriet 1915 in franzö¬
sische Kriegsgefangenschaft und Max
wurde verwundet.
1917 verteidigte Else ihre Dissertati¬
on „Kunstpflege im 19. Jahrhundert“
in Heidelberg bei Alfred Weber. Die
Arbeit bestand aus zwei Teilen. Im
Teil „Öffentliche Kunstpflege“ stellte
die Autorin die Epochen „Höfisch“
(großherzogliche Kunstsammlun¬
gen), „Bürgerlich“ (Kunstvereine) und
„Kommunal“ (Kunsthallen, Ausstel¬
lungen, Popularisierung) gegenüber.
Im Teil „Erlebniszentren der Bevöl¬
kerungsschichten“ thematisierte sie
Führungen, Lesen, Schaulust, Besitz
und Dilettantismus. Ihre Arbeit
erschien 1919 auch bei Eugen Diede-
richs in Jena als Teil der Abhandlung
„Die Industriestadt als Boden neuer
Kunstentwicklung: bildende Kunst
und modernes Leben, öffentliche
Kunstpflege, Erlebniszentren der
Bevölkerungsschichten, Entfaltung
produktiver Kräfte auf dem Boden
des organisierten Industriezentrums“
in den „Schriften zur Soziologie der
Kultur“. Biram hatte mit ihrer em¬
pirischen Soziologie in Deutschland
Neuland betreten, ohne für ihre Pi-
Familie Bodenheimer (vermutlich
in Mannheim mit ihrem Sohn Gad).
37
onierleistung angemessen gewürdigt
worden zu sein.
1918 ließ sich Birams Mann, der im
Jahr zuvor in Heidelberg „Ueber die
Beziehungen zwischen Sauerstoff¬
verbrauch und Tätigkeit des Frosch¬
herzens“ promoviert hatte, mit einer
eigenen Arztpraxis in der Gartenstadt
Mannheim nieder, Else führte die
Geschäfte.
Vor dem Hintergrund der wach¬
senden Einwanderung in Palästina
schrieb Biram zu „Kunsterziehungs¬
fragen“ in „Der Jude“ (1921/22). Sie
erhoffte sich aus Palästina neue Im¬
pulse für die Kunstbetrachtung und
sah die Kunst als wichtigen Bestand¬
teil der zionistischen Erziehung der
Kinder an: „Die Erziehung zur Kunst
hat schon in der Schule einzusetzen,
sie muß sich zur Aufgabe machen,
Kinder zu gestaltenden Menschen zu
bilden, sie schaffen zu lehren, nicht
ihnen von Kunst zu sprechen“. Biram
argumentierte in diesem Artikel auch
gegen Paul Zucker, dessen Hoff¬
nungen auf Palästina sie zwar teilte,
dessen vor allem auf Erwachsenenbil¬
dung orientiertem Konzept sie aber
widersprach. Ihr Unterrichtsprinzip
einer „Arbeitsschule“, des Lernens
durch selbstständiges und praktisches
Aneignen statt durch bloße Rezepti¬
on, gehörte ebenso zu den Leitlinien
der Hebrew Reali School unter Elses
Bruder Arthur Biram. Deutlich
wurde im Artikel „Kunsterziehungs¬
fragen“ auch Else Birams Absage an
einen neuen Individualismus. Sie
sah die Zukunft im gemeinschaftli¬
chen Handeln. Das Kunsthandwerk
sollte aus der in Gemeinschaften neu
erblühenden Werkarbeit erwachsen.
In der Gartenstadt Hellerau sah sie
ein Vorbild für die Gründung von
Handwerkergemeinden in Palästina
und für die Qualitätsarbeit.
Biram gehörte in Mannheim mit ih¬
rem Mann zu den aktiven Mitgliedern
der jüdischen Gemeinde. Zusammen
mit dem Rabbiner Max Grünewald
gründete sie ein jüdisches Lehrhaus,
wo Erwachsene zum jüdischen Leben
in Europa und Palästina, zu sozialen
Themen, zum Chassidismus und zu
Siedlungsfragen unterrichtet wurden.
1930 unternahm Biram mit anderen
Wissenschaftlern im Rahmen des
Kartells Jüdischer Verbindungen eine
Reise nach Palästina. 1931/32 verfass¬
te sie in der Zeitschrift „Die lebendige
Stadt“ den Artikel „Der Waldhof“.
Auch in der „Israelitischen Gemein¬
dezeitung“ von Mannheim erschienen
Beiträge von ihr. Dr. Bodenheimer
war in der Gartenstadt vor allem in
der Arbeiterschaft hoch angesehen.
Wenn nötig, behandelte er die Pati¬
enten kostenlos. Nach der Machter¬
greifung durch die Nationalsozialisten
verlor er seine Zulassung, auch ihr
Zuhause, seit 1925 „Am Grünen Hag
2“, musste die Familie aufgeben. In
der Gartenstadt-Genossenschaft hat¬
ten linientreue Nazis das Sagen. Ein
Selbstmordversuch von Elses Mann
schlug fehl.
38
Haifa 1935. Bedingt durch wirtschaftliche Großprojekte wie den Hafen und
durch die massenhafte Flucht aus Deutschland nach 1933 wuchs die Ein¬
wohnerzahl rasch an. Allein zwischen 1931 und 1936 verdoppelte sie sich
auf 100.000, gleichzeitig erhöhte sich der Anteil der jüdischen Bevölkerung.
Im Frühjahr 1933 verließ die Familie
Deutschland in Richtung Haifa, wo
Elses Bruder Arthur Biram die He-
brew Reali School leitete. Else wirkte
zwei Jahre als Sozialarbeiterin. 1935
gründete sie mit ihrem Mann und
ihrem Bruder Max ein Sanatorium
in Haifa-Ahuza im Carmel-Gebiet.
Es wurde von Richard Kaufmann
im Stil des Bauhauses errichtet. Zur
Einweihung am 30. August kamen
der britische Administrator Edward
Keith-Roach und der arabische Bür¬
germeister Hassan Bey Shukri. Die
Familie Bodenheimer wohnte auch
im Sanatorium. Den ursprünglichen
Plan, eine Klinik zu gründen, hat¬
ten sie auf Rat von Theodor Zlocisti
fallengelassen. Jener war in Berlin
einer der engsten Mitstreiter von
Arthur Biram in der zionistischen
Bewegung gewesen, später über seine
Frau Hulda mit ihm verschwägert
und als Mediziner und Schriftsteller
in Palästina vor allem in der Klimato¬
logie bekannt.
Das Bodenheimer-Sanatorium ver¬
band Meeresnähe mit Höhenlage, war
mit moderner Medizintechnik aus¬
gestattet und bot den Privatpatienten
eine Vielzahl physiotherapeutischer
Leistungen. An Tuberkulose erkrank¬
te Kinder konnten sich hier erholen.
Dem Direktorium gehörten neben
den geschäftsführenden Wilhelm
39
Das Bodenheimer-Sanatorium
(Foto: Fritz Biram, 1936/37) befand
sich auf dem Mount Carmel in einer
Höhe von 330 Metern. Es war umge¬
ben von einem Naturpark mit einem
Pinienwald. Man rühmte seinerzeit
den Blick über die Ausläufer des
Carmel bis zum Meer.
Bodenheimer und Max Biram auch
Arthur Biram, Benno Lewy, Albert
Goldberg und Theodor Zlocisti an.
1937 wurden die Bodenheimers
eingebürgert. Else sammelte für den
Jüdischen Nationalfonds, in dessen
Auftrag sie 1936/37 Frankreich, die
Schweiz und mehrere Balkanstaaten
bereiste, Spenden für Umwelt- und
Wasserprojekte und leitete „Irgun
Olei Merkaz Europa“, eine Organi¬
sation der aus Mitteleuropa einge¬
wanderten Juden. Sie war Mitglied
der Liberalen Partei, in der Zionisten
versuchten, sich unabhängig von den
politischen Strömungen zu engagie¬
ren. Biram unterstützte auch dort vor
allem die Einwanderer in Palästina.
Zu den bekanntesten Patienten in
Bodenheimers Sanatorium gehörten
Arnold Zweig, der sich hier von den
Anstrengungen um seine Anfang
des Zweiten Weltkriegs in Palästina
geschriebene „Dialektik der Alpen;
Emigrationsbericht oder Warum wir
nach Palästina gingen“ erholte, und
Leonard Bernstein. Ab 1944 war Else
Biram alleinige Geschäftspartnerin
ihres Mannes. Mit dem Religions¬
philosophen Martin Buber waren
sie befreundet. 1949 wurde die Ehe
geschieden. Das Sanatorium schloss
1955 aus wirtschaftlichen Gründen.
Else Biram war Mitglied der Or¬
ganisation B‘nai Brith. Sie gehörte
dem allgemeinen Komitee an, leitete
15 Jahre den Tourismusausschuss
und sammelte in Israel, Europa und
Südamerika, wo sie sich von 1947 bis
1949 aufhielt, Spenden für ein von
B‘nai B'rith gegründetes Altersheim
Else Bodenheimer-Biram.
40
Blick über Ahuza zum Carmel Medical Center. Rechts unterhalb des Hoch¬
hauses von Mishan liegt das inzwischen um eine Etage aufgestockte, ehema¬
lige Bodenheimer-Sanatorium. Foto: Yaakov Schatz (Wikimedia Commons,
Lizenz CC BY-SA 3.0)
in Haifa. An der Organisation der Ge¬
neral Convention vom 25. bis 29. Mai
1959 in Jerusalem war sie maßgeblich
beteiligt.
Biram blieb auch in Israel publizis¬
tisch tätig. So verfasste sie beispiels¬
weise Beiträge zum Verhältnis von
Liberalismus und Sozialismus. 1959
publizierte sie beim Jüdischen Welt¬
kongress zur Gleichberechtigung der
Frauen in Israel.
Seit 2005 sind Mannheim und Haifa,
die beiden wichtigsten Lebenssta¬
tionen Birams, Partnerstädte. Das
ehemalige Sanatoriumsgebäude, Eder
Street 12, wurde erweitert und im Stil
der 1930er Jahre saniert. Es ist heute
Teil einer Residenzanlage, deren
Betreiber Mishan zu Hevrat HaOv-
dim gehört, einem Unternehmen des
1920 von David Ben-Gurion in Haifa
gegründeten Gewerkschafts-Dachver¬
bandes Histadrut.
41
Heinrich August Blochmann begann seine Berufslaufbahn im Rittergut
Großseitschen bei Bautzen, das er 1807 vermutlich im Zusammenhang mit
seiner Heirat pachtete.
Quellen: William Lobe: „Blochmann, Heinrich August“ und Artikel zu 2 Brüdern, Allgemeine
Deutsche Biographie, Bd. 2,1875, S. 708-712; Friedrich August Schmidt, Bernhard Friedrich
Voigt: „Neuer Nekrolog der Deutschen“. 29. Jg., Teil 2, 1851, S. 948-951; Herbert Zeißig: „Eine
Deutsche Zeitung. 200 Jahre Dresdner Anzeiger“. 1930; Johann Christian Crell: „Curiosa Saxo-
nica“. 1750; Adolf Schulz: „Gottlieb Sigismund Blochmann. Pfarrer in Reichstädt 1784 bis 1798“.
Reichstädter Nachrichten, April 2001, S. 4-5; Herbert Schönebaum: „Blochmann, Karl Justus“.
Neue deutsche Biographie, Bd. 2, 1955, S. 307-308; Julius Kühn: „Das Studium der Landwirth-
schaft an der Universität Halle“. Plötzsche Buchdruckerei Halle, 1888; Heinrich Gerd Dade: „Die
deutsche Landwirtschaft unter Kaiser Wilhelm II.“ C. Marhold Halle, 1913; Münchener politi¬
sche Zeitung, 1836; Deutsche Vierteljahrs-Schrift, Cotta, 1853; Ludwig Friedrich Gottlob Emst
Gedike: „Lectionsplan des Bauzner Gymnasiums“. Monse Bautzen, 1802; gedbas.genealogy.net;
germanyroots.com; myheritage.de; Kirchenbücher Hochkirch; Adressbücher der Stadt Dresden;
Amtlicher Bericht Versammlung deutscher Land- und Forstwirthe in Dresden, 1838; Holger
Starke: „Vom Brauerhandwerk zur Brauindustrie: die Geschichte der Bierbrauerei in Dresden
und Sachsen 1800-1914“. Böhlau Verlag, 2005
Blochmann, Heinrich August
Landwirtschaftsreformer
12.02.1787 Reichstädt - 08.12.1851 Friedrichstal
V: Gottlieb Sigismund (*5.9.1750 Lauban, (12.8.1798 Reichstädt), Sohn des Bürgermeisters
Johann Ehrenfried Blochmann, Hauslehrer bei der Familie Bücher in Dresden, Pfarrer in
Podrosche und Reichstädt; M: Henriette Juliane geb. Bücher (Tochter eines Dresdner Advo¬
katen, *22.5.1759 Dresden, t November 1813 Dresden während einer Epidemie im Kriegs¬
jahr); G: 3 Schwestern, 7 Brüder, darunter 3 früh verstorbene Geschwister, Rudolf Sigismund
(*13.12.1784 Reichstädt, (21.5.1871 Dresden, Vorstand der mechanischen Werkstätten von
Joseph von Fraunhofer in Benediktbeuren, Inspektor des mathematisch-physikalischen Salons
Dresden, Pionier der Kanalisation in Dresden und der Gasbeleuchtung in Deutschland, plante
für die Ökonomische Gesellschaft im Königreiche Sachsen den Vorläufer der TH Dresden, sein
Sohn Georg Moritz errichtete Stadtgasanstalten in Bautzen und Zittau), Karl Justus (*19.2.1786
Reichstädt, (31.5.1855 Genf, Pädagoge bei Johann Heinrich Pestalozzi, gründete in Dresden
mit Unterstützung von Detlev von Einsiedel und König Friedrich August dem Gerechten eine
Privatschule, stellte 1838 Julius Adolph Stöckhardt als Lehrer ein, verheiratet mit einer Schwester
des Malers Julius Schnorr von Carolsfeld), Friederike Juliane Elise (*22.3.1788), Ernst Ehrenfried
(*27.6.1789 Reichstädt, (15.1.1862, gründete in Dresden die Blochmannsche Druckerei, die den
Dresdner Anzeiger produzierte, sein Sohn Heinrich Wilhelm Clemens stiftete die Buchdruckerei
ergänzend zur Dr. Güntzschen Stiftung, der Sohn Heinrich Ferdinand war Orientalist in Kalkut¬
ta, die Tochter Clementine heiratete den Fotografen Hermann Krone), Ferdinand (*1.7.1791),
Wilhelm (29.3.1793-1.4.1793), Adolph (*2.4.1794), Juliane Friederike Caroline (*18.7.1795),
Moritz (*18.9.1796), Wilhelmine Juliane (24.2.1798-1829, verheiratet mit Alexandre Philippe
Lavit aus Genf, Theologe und französischer Sprachlehrer, besuchte bei ihrem Bruder Karl Justus
in Yverdon das Töchterinstitut und arbeitete an dessen Dresdner Schule als Lehrerin); E; 1807,
Christiane Dorothea geb. Frömmelt (1788-1864); K: Emilie Agnes (* vor 1819; (1822 Laus-
ke), Juliane Auguste Ottilie (1819-1881, verh. mit Pastor Karl Jentzsch in Audenhain), Bertha
(*28.8.1820 Lauske, (24.2.1901 Zelazne, verh. mit Eduard Friedrich von Rechenberg), Carl Emil
(*1822 Lauske, Gutsbesitzer in Naundorf bei Torgau), 2 weitere Töchter
Blochmann entstammte einer pro¬
testantischen böhmischen Familie.
Ein Heinrich Blochmann hatte 1556
die Heimat aus religiösen Gründen
verlassen und war ins Riesengebirge
geflohen. Dessen Nachkommen in
Löwenberg und Hirschberg mussten
das zwischenzeitliche Zuhause wieder
aufgeben und siedelten sich im kur¬
sächsischen Lauban an. Hier konnten
sie sich erfolgreich etablieren. Johann
Siegmund Blochmann, 1674 in Lö¬
wenberg geboren und 1756 in Lauban
gestorben, war Stadtrichter und wie
sein Sohn, Heinrich Augusts Gro߬
vater Johann Ehrenfried Blochmann,
Bürgermeister. Der 1777 in Lauban
geborene Cousin Johann Christian
Ehrenfried Leberecht Blochmann
erwarb sich in Danzig einen Namen
als Dichter. Blochmanns Vater war
Pfarrer im erzgebirgischen Reich¬
städt bei Dippoldiswalde und wegen
seiner Wohltätigkeit hoch angesehen.
43
Julius Schnorr von Carolsfeld hat ihn
später gezeichnet, wie er die Strümp¬
fe von seinen Füßen streifte, um sie
einem Bedürftigen zu schenken. Nach
dem frühen Tod ihres Mannes zog
Blochmanns Mutter mit den Kindern
zu Verwandten nach Dresden, wo
sie Französisch und Handarbeiten
unterrichtete und künstliche Blumen
herstellte. Heinrich August wurde
zusammen mit seinem Bruder Karl
Justus Blochmann auf das Gymnasi¬
um in Bautzen geschickt. Ermöglicht
hatte dies Johann Wilhelm Prentzel,
ein Verwandter. Rektor in Bautzen
war Ludwig Gedike.
Da er sich besonders für die Natur in¬
teressierte, entschied sich Blochmann,
ohne das Gymnasium abzuschließen,
1802 für eine landwirtschaftliche
Ausbildung in Friedersdorf am Queis.
1807 pachtete er das Rittergut Groß-
seitschen. Nach einer zwischenzeitli¬
chen Tätigkeit als Inspektor des Gutes
Kleinförstchen übernahm Blochmann
1815 die Inspektion der gräflich
Breßler‘schen Güter in der Oberlau¬
sitz und in Schlesien. Dabei han¬
delte es sich um einen bedeutenden
Komplex von 23 Höfen einschließlich
zweier Herrschaften und eines Vor¬
werks. Während dieser Zeit wohnte er
in Lauske. 1825 übernahm er die Ver¬
waltung des Rittergutes Zschocha am
Queis. Sein erfolgreiches Wirken trotz
der Schwierigkeiten der Nachkriegs¬
jahre verhaft Blochmann zu einem
ausgezeichneten Ruf bis weit über die
Grenzen der Oberlausitz hinaus.
Althergebrachte Besitz- und Abhän-
gigkeitsverhältnisse auf dem Land
wie Fron- und Abgabelasten sowie
herrschaftliche Nutzungsrechte von
Grund und Boden behinderten die
Entwicklung der sächsischen Land¬
wirtschaft. Unter Anton dem Gütigen,
seit 1827 König, wurden Reform¬
versuche unternommen. Ab 1829
gehörte Blochmann einer Kommissi¬
on zur Entwicklung eines Verfahrens
für die gleichmäßige Besteuerung von
Grundeigentum an. In der Schrift
„Geschäftsanweisung für die behufs
einer Besteuerung versuchsweise aus¬
zuführende Abschätzung des Grund¬
eigenthums im Königreiche Sachsen“
legte er in 12 Abschnitten die Ab¬
schätzungsgrundsätze bei Ackerbau,
den Wiesen, Weiden, Grasländereien,
Gärten, Obst- und Holzpflanzungen,
Waldungen, Weinbergen, Teichen,
der Fischerei, Jagd, den Berg- und
Hüttenwerken, Stein- und anderen
Brüchen, Gruben, Zinsen, Lehngel¬
dern, Deputaten, Frondiensten und
Gebäuden sowie Vorschriften für
die Dokumentation dar. Die Schrift
erschien bei Meinhold in Dresden, wo
seinerzeit Blochmanns Bruder Ernst
Ehrenfried eine leitende Stellung inne
hatte. 1830 wurde Heinrich August
Blochmann zum Kommissionsrat
ernannt. Er wohnte zu jener Zeit in
Dresden in der Großen Plauenschen
Gasse unweit der von seinem Bruder
Karl Justus gegründeten Schule.
Die Verfassung von 1831 und das
Gesetz über die Ablösung der feuda-
44
Ablösungen und
Gemeinheitsteilungen
Bruno Barthel schrieb 1907 in
„Altes und Neues aus Groß- und
Kleindrebnitz“ mit Bezug auf die
Wirkungen des von Blochmann mit¬
verfassten Gesetzes über „Ablösun¬
gen und Gemeinheitsteilungen“, das
Sachsens Bauern bis 1852 schrittwei¬
se von vielen Frondiensten und Ab¬
gaben befreite: „Nachdem alle diese
Ablösungen geordnet waren, wur¬
den die Grundstücksbesitzer hier
und andernwärts eigentlich erst freie
Herren ihres Eigentums und hatten
nun ein ganz anderes Interesse an
der Verbesserung desselben wie
früher. Deshalb wurde dadurch auch
ein gewaltiger Fortschritt in der
sächsischen Landwirtschaft einge¬
leitet und damit in der Hauptsache
auch ein erfreulicher Aufschwung
der ganzen wirtschaftlichen Lage
unseres Vaterlandes hervorgerufen.“
Zum Teil auf Kosten der „Kleinen
Leute“ auf dem Lande kam es zu
einer beträchtlichen Intensivierung
der landwirtschaftlichen Produkti¬
on in sächsischen Großbetrieben,
denen als Ablöse wahlweise jährlich
Zinsen oder einmalige Kapitalab¬
findungen zuflossen. Innerhalb
von wenigen Jahrzehnten stieg die
landwirtschaftliche Nutzfläche in
Sachsen um 30000 ha, die Getreide¬
produktion verdreifachte sich und
auch der Viehbestand wuchs erheb¬
lich (amuellner.gmxhome.de).
len Rechtsverhältnisse gegen Entschä¬
digung vom 17. März 1832 bildeten
Meilensteine für eine Modernisierung
Sachsens. Blochmann war an der
Ausarbeitung eines Teils des Gesetzes
beteiligt und wurde zudem als Sach¬
verständiger konsultiert. Zur Planung
und Durchführung der Gesetzesre¬
form wurde eine „Generalkommissi¬
on für Ablösungen und Gemeinheits¬
teilungen“ eingesetzt, bestehend aus je
zwei ökonomischen und juristischen
Räten unter Leitung eines Direktors.
Anfangs war dies Carl Gottlieb von
Hartmann. Das zuständige Innen¬
ministerium stand unter der Leitung
von Bernhard August von Lindenau.
Ab 1836 leitete Julius Gottlob
von Nostitz und Jänkendorf die
Generalkommission, dessen Bruder
Eduard Gottlob von Nostitz
und Jänkendorf war Innenminister.
Blochmann gehörte diesem Gremium
ab 1832 als „Wirklicher Kommissions¬
rat“ an und war zuständig für ökono¬
mische Fragen. Sein zuvor verfasstes
Werk bildete eine Grundlage für die
Arbeit der Spezialkommission für
die Bewertung des Grundeigentums.
Vor der Verabschiedung eines neuen
Grundsteuergesetzes wurden jedoch
Änderungen am Blochmannschen
System vorgenommen. Kraft seines
Amtes beriet Blochmann das Lan¬
desjustizkollegium und später das
königliche Oberappellationsgericht.
1830 hatte Blochmann das Rittergut
Neustruppen bei Pirna gekauft, 1831
wurde er Vorsteher des königlichen
45
Von 1841 bis 1849 besaß Blochmann Schloss und Rittergut Wachau.
Soldatenknabeninstituts in Klein¬
struppen. 1835 ging Blochmann nach
Dresden, um sich auf seine Amts¬
geschäfte zu konzentrieren. Schon
ein Jahr später übernahm er aber
die Administration des Rittergutes
Potschappel, wo er sich wieder prak¬
tisch betätigen wollte und sich um
den Hopfenanbau in Sachsen verdient
machte. Blochmann veröffentlichte
weiterhin landwirtschaftliche Schrif¬
ten, z. B. die „Praktische Anleitung
zur ökonomischen Buchführung
nach einem einfachen und übersicht¬
lichen Plane“, mit der Landwirte zur
Rechnungsführung befähigt werden
sollten. 1837 nahm er an der ersten
Versammlung deutscher Landwirte in
Dresden teil. Zu den sächsischen Teil¬
nehmern der von August Gottfried
Schweitzer von der Forstakademie
Tharandt maßgeblich organisierten
Veranstaltung zählten Julius Gott¬
lob von Nostitz und Jänkendorf,
Johann Gottfried Nake und Hein¬
rich Cotta. Die 1840 von Blochmann
herausgegebenen „Mittheilungen aus
dem Gebiete der Landwirtschaft für
bäuerliche Wirthe und angehende
Oekonomen“ verbreiteten Wissen zur
Steigerung der landwirtschaftlichen
Erträge. Dem ersten Heft zum Thema
Ackerbau sollte eigentlich noch
eine Abhandlung über Wiesen und
Viehzucht folgen, auf die Blochmann
jedoch aus Zeitgründen verzichten
musste.
Von 1839 bis 1842 war Blochmann als
Lehnsträger des Rittergutes und Zivil¬
besitzer am schließlich gescheiterten
Projekt eine Aktienbierbrauerei in
Medingen beteiligt. 1837 hatte Hein¬
rich Ficinus ermutigende Wasserana-
46
lysen durchgeführt, 1839 wurde die
Brauerei gegründet. Zum Direktori¬
um gehörten Vertreter der Banken
Bondi und Kaskel. Eine Schadenser¬
satzklage des Mitgründers Ferdinand
von Reiboldt gegen Blochmann und
die Direktoren im Jahre 1842 leitete
das Ende des Unternehmens ein.
1841 gab Blochmann seine Verwal¬
tungstätigkeit auf und kaufte Rittergut
und Schloss Wachau bei Radeberg.
Hier gründete er einen „ökonomi¬
schen Verein“, der sich nach Bloch¬
mann dem Landbau als „reinste und
ergiebigste Quelle für den National¬
reichtum“ verschrieben hatte, und
eine Knechteschule. Ebenso wie sein
Bruder, der Pädagoge Karl Justus
Blochmann, orientierte er sich dabei
an Johann Heinrich Pestalozzi. In
der landwirtschaftlichen Ausbildung
sah man eine Chance, Kindern aus
einfachen Verhältnissen eine besse¬
re Zukunft zu ermöglichen. Neben
der praktischen Ausbildung wurde
Grundlagenwissen einschließlich
Schreiben und Rechnen vermittelt.
1845 verfasste Blochmann „Das Rit¬
tergut und Dorf Wachau bei Radeberg
in geschichtlicher, statistischer und
landwirths chaftlicher B eziehung“.
Im selben Jahr erwarb er das nahe
Gut Friedrichstal. 1849 verkaufte
Blochmann Wachau, behielt aber das
um 155 Acker Holzland von Wach¬
au erweiterte Friedrichstal, wo er
seinen Lebensabend verbrachte. In
Wachau und Friedrichstal arbeitete
Julius Kühn aus Pulsnitz für Bloch-
Seinen Lebensabend verbrachte
Blochmann auf dem Gut Fried¬
richstal bei Radeberg. Es ging nach
seinem Tod in den Besitz seines
Schwiegersohns Eduard Friedrich
von Rechenberg und später in den
des Dresdner Sanatoriumsbetreibers
Heinrich Lahmann über.
mann, der mit großer Energie Wa¬
chau instand gesetzt, mit Rodungen
zusätzliche Flächen gewonnen und
Kühn in die Melioration, d. h. die
Trockenlegung der an stauender Näs¬
se leidenden Felder, eingeführt hatte.
Als berühmter Agrarwissenschaftler
in Halle erinnerte sich Kühn später
an Blochmann als einen der hervorra¬
gendsten Praktiker.
Heinrich August Blochmann fand
auf dem Dresdner Trinitatisfriedhof
die letzte Ruhe. 20 Jahre später wurde
neben ihm sein Bruder Rudolf Sigis¬
mund, der Gasbeleuchtungspionier,
beigesetzt.
47
Boleslaw I Chrobry war ab 1024 erster König Polens und herrschte von 1002
bis 1004 sowie von 1007 bis 1025 auch in der Oberlausitz.
Boleslaw I Chrobry
König von Polen
966 - 17.06.1025
V: Mieszko I. (*922 od. später, f25.5.992), ab 960 Herrscher in der großpolnischen Region mit
dem Hauptort Gniezno/Gnesen bei Poznan, 963 erster polnischer Herzog, mit seiner Taufe im
Jahre 966 legitimierte Mieszko seinen kurz zuvor ausgerufenen Staat Polen bei den Nachbarn;
M; Dobrawa (1977), Tochter des böhmischen Herzogs Boleslav I„ brachte der Überlieferung
nach Mieszko I. und damit Polen zum christlichen Glauben, möglicherweise in erster Ehe mit
Günther von Merseburg verheiratet und Mutter der Meißner Markgrafen Ekkehard I. und Gun-
zelin; G; Sigrid die Stolze (* um 965, 980 Königin von Schweden, 995 Königin von Dänemark
und dadurch Herrscherin auch in Britannien), ? Vladivoj (* vor 977,11003, 1002 Herzog von
Böhmen), ? Adelheid (*955, Herzogin und Großfürstin von Ungarn, ältere Halbschwester aus
einer früheren Ehe des Vaters oder dessen jüngere Schwester), die jüngeren Halbbrüder Mieszko
(* um 979,1 nach 992), Swiftopelk (* um 980,1 vor 991), Lambert (* um 981,1 nach 992);
E: (1) 984 Henilda (Tochter des Meißner Markgrafen Rikdag), (2) 985 Judith (Tochter des
Großfürsten von Ungarn), (3) 987 Emnilda (*973,1 um 1017, Tochter des slawischen Fürsten
Dobromir aus der Lausitz), (4) 3.2.1018 ?Großseitschen, Oda (1 nach 1025?, Tochter des Mei߬
ner Markgrafen Ekkehard I.); K: N.N. (*984/985, Fürstin von Pommern), Bezprym (986-1032,
1031 Fürst von Polen), N.N. (*988, Äbtissin), Reglindis (989-1016, ab 1002 mit dem späteren
Meißner Markgrafen Hermann I. verheiratet, Mitstifterin des Naumburger Doms), Mieszko II.
(990-10.5.1034, Boleslaws Nachfolger als polnischer König, verheiratet mit Richeza, Nichte von
Otto III., wurde 1031 von Kaiser Konrad II. zur Abtretung der Oberlausitz gezwungen, die als
Zubehör der Mark Meißen an Hermann I. gelangte), Mathilde (* um 995, t nach 1018, ab 1013
verheiratet mit Svjatopolk, Sohn des Großfürsten der Kiewer Rus, Fürst von Turow), Otto (1000-
1033, anlässlich der Zeremonie von Gniezno auf den Namen von Otto III. getauft, ab 1031
Herzog und Mitregent von Polen), Mathilde (* nach 1018, verheiratet mit Otto von Schweinfurt)
Boleslaw entstammte der Adelsfamilie
der Piasten und war einer der ein¬
flussreichsten Herrscher seiner Zeit.
Er wollte ein emanzipiertes Reich der
Westslawen schaffen und gleichzeitig
zur Verbreitung des Christentums
beitragen. Insbesondere auch das
Geschehen in der Mark Meißen und
den Nachbarregionen Schlesien und
Böhmen wurde maßgeblich durch
ihn geprägt. Sein Einfluss reichte bis
in die Kiewer Rus, den ersten, von
Wikingern gegründeten Staat der
Ostslawen (Russen, Weißrussen und
Ukrainer), der zu seinen Lebzeiten
eine Blüte erlebte. Boleslaw wird in
Polen als Nationalheld verehrt.
Boleslaw war ein Sohn des polnischen
Herzogs Mieszko und der böhmi¬
schen Herzogstochter Dobrawa, die
ihm den Vornamen ihres Vaters,
Boleslav I., gab. Die Ehe der Eltern
diente dem Interessensausgleich zwi¬
schen Polen, das vor allem nordwärts
expandierte, den Deutschen, die unter
Markgraf Gero von der Ostmark und
Kaiser Otto I. ihre Ostexpansion for¬
cierten, und den Böhmen unter Bo¬
leslav I., die wenige Jahre zuvor von
49
den Deutschen unterworfen worden
waren und ihrerseits das kleinpolni¬
sche Territorium um Krakau besetzt
hielten. Herzog Mieszko musste nach
Geros Invasion östlich der Oder
im Jahre 963 ebenfalls die deutsche
Oberhoheit anerkennen und Tribut
leisten. Die Eheschließung von Miesz¬
ko und Dobrawa zwei Jahre später fiel
in eine Zeit bedeutender machtpoli-
tischer Änderungen. Nach Geros Tod
wurde seine große Ostmark aufgeteilt.
Die Mark Meißen im Südosten, mit
den Gauen Daleminzi um Meißen,
Nisan im Elbtal und Milska im Gebiet
der heutigen Oberlausitz, sollte zum
Schauplatz wiederholter Auseinander¬
setzungen mit den benachbarten Böh¬
men und Polen werden. In Merseburg
erhielt Günther die Markgrafschaft.
Es ist überliefert, dass er bis 965 mit
Dobrawa verheiratet gewesen sein
soll. Wie seine Söhne Ekkehard I. und
Gunzelin, in diesem Fall Halbbrüder
von Boleslaw, war er später Markgraf
von Meißen. Mit Dobrawa fasste das
Christentum in Polen Fuß. Es ist zu
vermuten, dass Boleslaw kurz vor
der Taufe des Vaters im Jahre 966 zur
Welt kam, da frühe Quellen auf eine
Eheschließung der Eltern im Jahre
965 und die Geburt als Sohn eines
heidnischen Vaters und einer gläubi¬
gen Mutter verweisen. Die Christia¬
nisierung Polens war aber nicht allein
dem missionarischen Eifer der Herzo¬
gin zu danken. Das Bekenntnis zum
Christentum brachte dem polnischen
Herrscher einen großen Reputations¬
gewinn bei den Nachbarn und auch
praktische Vorteile. Mit dem Übertritt
zum Christentum einher ging die
Einführung der lateinischen Sprache
und damit erstmals der Gebrauch
einer Schriftsprache in Polen. Sie war
Voraussetzung, den kulturellen Rück¬
stand zum westlichen Teil Europas
aufzuholen. Mieszko baute Burgen
und erweiterte das polnische Herr¬
schaftsgebiet bis an die Ostsee. Dabei
geriet er 972 mit Hodo, dem Mark¬
grafen der Lausitz, in Konflikt, den er
in der Schlacht bei Zehden besiegte.
Kaiser Otto I. zwang Mieszko darauf,
seinen siebenjährigen Sohn Boleslaw
in Geiselhaft nach Quedlinburg bzw.
Magdeburg zu geben. Nach dem
frühen Tod der Mutter im Jahre 977
kühlte sich das Verhältnis zwischen
Polen und Böhmen ab. Der Vater
heiratete Oda von Haldensleben,
eine Tochter des Markgrafen von der
Nordmark, und knüpfte dadurch erste
Verbindungen zum sächsischen Adel.
Boleslaw begleitete seinen Vater oft
auf dessen Reisen durch das Land.
Boleslaw wurde von seinem Vater
im Jahre 984 mit einer Tochter des
Markgrafen Rikdag von Meißen ver¬
heiratet. Die Böhmen unter Boleslav
II., Dobrawas Bruder, besetzten aber
die Markgrafschaft und damit wa¬
ren die Pläne der Polen, nach dem
Tod von Kaiser Otto II. im Jahre 983
in der Mark Meißen Fuß zu fassen,
zunächst gescheitert. Boleslaw löste
die Ehe wieder auf. Mithilfe der Ehe¬
schließung mit Judith von Ungarn
im Jahr darauf wurde versucht, eine
50
Allianz gegen Böhmen zu schmie¬
den. Boleslaws dritte Ehe, im Jahre
987, sollte wiederum die Allianz mit
Meißen festigen und war ebenfalls
gegen Böhmen und dessen Vormacht¬
streben in Schlesien gerichtet. Im
Rahmen einer Doppelhochzeit hei¬
ratete Boleslaw eine Schwägerin von
Gunzelin, eines Bruders des damali¬
gen Meißner Markgrafen Ekkehard I.
Auch dank der guten Beziehung nach
Deutschland und mit der Unterstüt¬
zung seines Sohns Boleslaw war es
Mieszko möglich, 990 Krakau und
992 Schlesien mit Breslau zu er¬
obern. Im Auftrag des Vaters regierte
Boleslaw das kleinpolnische Territo¬
rium um Krakau. Zu den Unterstüt¬
zern der Polen gehörten Familienan¬
gehörige des für Krakau zuständigen
Prager Bischofs Adalbert, dessen
Reformorientierung im eigenen
Land von einflussreichen Gegnern
angefeindet wurde und der deswegen
Prag auch zeitweise verlassen musste.
Mieszko hinterließ ein Herzogtum
Polen, das von der Oder bis an die
Warthe reichte. Nach seinem Tod
Der heutige Breslauer Dom geht auf
einen Vorgängerbau unter Boleslaw
zurück.
Die Burg Bautzen befindet sich auf
einem Felssporn oberhalb der Spree.
Im Zusammenhang mit einer Be¬
lagerung durch König Heinrich II.,
der dabei fast gefallen wäre, wurde
Bautzen 1002 erstmals urkundlich
erwähnt. Es gab dem Land Budissin
den Namen.
sollte das Land unter seinen Söhnen
aufgeteilt werden. Das polnische
Kernland unterstellte er dem Papst,
was praktisch aber nur eine Verpflich¬
tung zum Tribut bedeutete.
Boleslaw wurde im Jahre 992, als sein
Vater starb, Herzog von Polen. Sein
erstes Bemühen galt, die verbrieften
Ansprüche seiner Stiefgeschwister
abzuwehren. Mit diplomatischem
und kriegerischem Geschick konnte
er danach das polnische Territorium
rasch erweitern. Er verbündete sich
995 mit den Deutschen unter König
Otto III. gegen die Sorben an Elbe
und Ostsee und unterwarf Mähren
und die Slowakei in seinem Bestre¬
ben, ein vereinigtes Reich der West¬
slawen zu schaffen. Während seiner
Regentschaft genoss die jüdische
Bevölkerung Polens einige Privilegi¬
en, allerdings befahl Boleslaw, deren
51
Schriftgut zu verbrennen. Um 995
führte er die ersten polnischen Mün¬
zen ein.
Das polnische Territorium war kir-
chenpolitisch umstritten. Das unter
Boleslav II. entstandene Bistum Prag
umfasste auch Breslau und Kra¬
kau. Ein Vorschlag aus dem Bistum
Meißen, für Teile von Böhmen und
Schlesien eine eigene Diözese einzu¬
richten, scheiterte. Gegen die deut¬
schen Kirchenfürsten entschied Otto
III., die zu Deutschland benachbarten
Gebiete nicht zu integrieren, son¬
dern zu Verbündeten aufzubauen, als
Vorposten zum Schutz des Reiches.
Boleslaw erkannte die sich daraus
für ihn ergebenden Möglichkeiten.
Er löste die Reliquien des Prager
Bischofs Adalbert von den baltischen
Prußen aus, die jener mit Unterstüt¬
zung Boleslaws hatte missionieren
wollen, und begrub sie in Gniezno.
Anlässlich der Wallfahrt von Otto III.,
der zu den Anhängern des inzwischen
heiliggesprochenen Adalberts gehör¬
te, im März 1000 erkannte der Kaiser
Boleslaw als souveränen Herrscher
Polens an. Bei dieser Gelegenheit
wurde vermutlich auch die spätere
Eheschließung von Boleslaws Thron¬
folger Mieszko II. mit einer Nichte
von Otto beschlossen, und Boleslaw
taufte seinen jüngsten Sohn auf den
Namen Otto. Papst Sylvester II. ge¬
währte Polen eine eigene Erzdiözese
mit Sitz in Gniezno, wobei Breslau ei¬
nen Bischofssitz erhielt. Damit wurde
Boleslaw zum Gründungsvater einer
eigenständigen polnischen National¬
kirche, die unabhängig von Deutsch¬
land direkt dem Papst unterstellt war.
1002 unterstützte Boleslaw den Mei߬
ner Ekkehard I. beim Versuch, die
Nachfolge des verstorbenen Kaisers
Otto III. anzutreten. Er wurde durch
die Furcht angetrieben, dass sich die
Deutschen erneut mit den Böhmen
gegen Polen verbünden und jene
Schlesien und Krakau zurückfordern
könnten. Nach Ekkehards Ermordung
eroberte Boleslaw mit Unterstützung
von dessen Gefolgsleuten Meißen und
die Lausitz. Die offizielle Markgra¬
fenwürde in Meißen erhielt jedoch
Ekkehards Bruder Gunzelin. Um die
bereits bestehenden, engen familiären
Beziehungen mit Meißen zu festigen,
verheiratete Boleslaw im Jahre 1002
seine Tochter Reglindis mit Hermann
I., einem Sohn von Ekkehard I.
Um Boleslaw zu besänftigen, be¬
lehnte ihn der neue deutsche König,
Heinrich II., mit der Markgrafschaft
Lausitz (Niederlausitz) und dem Gau
Milska, der dadurch praktisch von der
Mark Meißen abgetrennt wurde. Ein
Attentat gegen den Polen anlässlich
der Huldigung des Königs in Merse¬
burg im Jahre 1002 hatte Zwietracht
zwischen Heinrich II. und Boleslaw
gesät. Mit der Brandschatzung der
Burg Strehla eröffnete Boleslaw offi¬
ziell den Streit. Der Konflikt spitzte
sich zu, als Boleslaw 1002 und 1003
in die böhmische Thronfolge eingriff,
zunächst seinen vermutlichen Bruder
52
Z w i n z e k
W i e I e c k i
W^GRY
POLSKA ZA PANOWANIA BOLESLANVAI CHROBREGO
(992 -1025)
POZNAN Stolica Polski
Gdansk Pozostale miasta (grody) 0 50 100 km
Granice Polski w 1025 I I I
. - Granice pozostalych ziem i panstw
I I Teiytorium Polski w 992
[•^■1 Ziemie przylqczone do Polski
' Ziemie czasowo przvlqczone
Levy Hradec^ ^
Wyszehrad
Sazawa
CZECHY
(1003 - 1004 pol.)
RUS
KI JOWSKA
Misnia
(1002 pol.)
Das polnische Territorium erweiterte sich zur Zeit der Herrschaft von
Boleslaw deutlich. Es bestand 992 aus der dunkleren rosa Fläche und um¬
fasste 1025 die mit der dicken roten Linie umrahmten Gebiete inkl. Lau¬
sitz, Milska, Mähren und Slowakei. Einige Länder konnten nur kurzfristig
gehalten werden (Meißen, Böhmen). Grafik: Poznaniak, aus: „Ilustrowany
Atlas Historii Polski“ (Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0)
Vladivoj installierte und sich schlie߬
lich selbst zum Herzog proklamieren
ließ. Bereits 1004 musste er Böhmen
aber wieder aufgeben. Heinrich II.
erneuerte die deutsche Vorherrschaft.
Sein Vorgehen stand im Zusammen¬
hang mit seiner Absicht, die in Gniez-
no vereinbarte relative polnische
Eigenständigkeit, in kirchlichen wie
politischen Angelegenheiten, zu revi¬
dieren. Dies war für ihn wichtig, denn
er musste seine Autorität als König
53
Boleslaw I Chrobry befestigt Grenzpfähle an Elbe und Saale.
wahren und hinter Boleslaw stand die
sächsische Fürstenopposition. Dabei
schreckte Heinrich auch nicht davor
zurück, sich mit den heidnischen
Lutizen zu verbünden, die Deutsche
und Polen zuvor gemeinsam bekriegt
hatten. Milska wurde 1004 von den
Deutschen zurückerobert. König
Heinrich II. und Hermann I., obwohl
ein Schwiegersohn von Boleslaw I
Chrobry, besetzten Bautzen. Heinrich
II. konnte bis zum Friedensschluss
1005 in Poznan im ersten von ins¬
gesamt drei Kriegen mit Boleslaw des¬
sen Einfluss zunächst zurückdrängen,
ohne dass sich dieser ihm tatsächlich
unterwarf. Zu Boleslaws Verbündeten
gegen Heinrich zählte der mit ihm
verschwägerte dänische König.
König Heinrich II. schenkte 1007 die
Kastelle Trebista, Godobi und Os-
trusna dem Hochstift Meißen unter
Bischof Eido I. Sie befanden sich im
Gau Milska, der im Verlauf des Jahres
wieder an Boleslaw fiel. Für diese
Schenkung des Königs, unter dem das
Reichskirchensystem ein Blüte erleb¬
te, gab es eine politische Motivation.
Die Bischöfe stellten in Deutschland
ein bedeutendes Gegengewicht zum
immer selbstbewusster auftretenden
54
weltlichen Adel dar. Diese Funktion
und ihre missionarische Tätigkeit in
von Sorben besiedeltem Gebiet konn¬
ten die Bischöfe am besten verbinden,
wenn ihr Besitz bis in die Nähe von
Bautzen, dem Hauptort von Milska,
reichte. Es ist zu vermuten, dass dieser
bischöfliche Besitz während der pol¬
nischen Besatzung von Milska zumin¬
dest infrage stand. Die Lokalisierung
des Kastells und späteren Burgwards
Trebista innerhalb von Milska ist für
das Verständnis der Ostsiedlung in
Sachsen von großer Bedeutung. Lange
vermutete man Großdrebnitz bei
Bischofswerda wegen der scheinbaren
sprachlichen Ähnlichkeit als heutige
Ortschaft. Seit etwa 100 Jahren wird
nach einer Untersuchung des 1241
beurkundeten Grenzverlaufs zwi¬
schen der damals böhmischen Ober¬
lausitz und den Gebieten der Meißner
Bischöfe Doberschau favorisiert und
heute gilt Bischofswerda als ein mög¬
licher Kandidat.
Die meißnische Verwandtschaft von
Boleslaw spielte in jener Zeit eine
zwiespältige Rolle. Schwiegersohn
Hermann I. regierte im Auftrag des
deutschen Königs bis zur polnischen
Rückeroberung 1007 die Oberlausitz,
versuchte aber häufig zu vermitteln.
In den folgenden kriegerischen
Auseinandersetzungen mit Hein¬
rich II. besetzte Boleslaw erneut die
verlorenen Gebiete. Markgraf Gun¬
zehn wurde nachgesagt, mit Boleslaw
zu paktieren, weswegen ihn der
König 1010 absetzte. 1013 erkannte
Boleslaw im Frieden von Merseburg
die Lehnshoheit von Heinrich II.
zwar formal an, faktisch musste der
deutsche König aber die lausitzischen
Eroberungen zuzüglich Milska der
Polen akzeptieren. Ihr Verhältnis
blieb konfliktträchtig. Ein Feldzug
Boleslaws nach Kiew zur Befreiung
seines Schwiegersohns Svyatopolk,
eines Stiefsohns des Kiewer Großfürs¬
ten, scheiterte. Dem König verwei¬
gerte er die Gefolgschaft auf dem Zug
nach Rom, seinen Lehnsverpflichtun-
gen kam er nicht nach und auch die
geforderte Unterwerfung blieb aus.
Heinrich, inzwischen Kaiser, hielt
Mieszko II., Boleslaws Sohn, zeitweise
gefangen. Der deutsche Feldzug 1015
bis zur Oder wurde durch die Polen
abgewehrt, die ihrerseits unter Miesz¬
ko II. Meißen angriffen und die von
Hermann I. verteidigte Burg teilweise
zerstörten. Den Brand löschten die
Verteidiger mit Bier (Ersterwähnung
von Bier in Sachsen). Bischof Eido I.
von Meißen, dem Boleslaw die Ber¬
gung und Bestattung der Leichen der
vorangegangenen Schlacht gestattet
hatte, wollte Heinrich II. Bericht
erstatten, starb jedoch auf der Reise
in Leipzig (Ersterwähnung der Stadt
Leipzig). Zu jener Zeit war in Meißen
Hermann I. Markgraf, bis zum Tod
seiner Frau Reglindis im Jahre 1016
Boleslaws Schwiegersohn. Neuer
Bischof wurde mit Edward ein Bruder
Hermann I.
55
Bericht über die Eheschließung von
Boleslaw I. Chrobry mit Oda von
Meißen im Jahre 1018 in der Chro¬
nik Thietmars von Merseburg. Mit
der Hochzeit wurden die traditio¬
nell guten Beziehungen des polni¬
schen Herrschers mit der Meißner
Markgrafenfamilie gefestigt. Oda
war eine Schwester von Boleslaws
vormaligem Schwiegersohn, Mark¬
graf Hermann I.
Mithilfe seines Schwiegervaters
Boleslaw gelangte Svyatopolk 1015
zwischenzeitlich an die Macht in der
Kiewer Rus. Während des letzten der
drei Kriege mit Boleslaw belagerte
1017 Heinrich II. erfolglos die Burg
Nimptsch vor Breslau. Am 30. Januar
1018 im Frieden von Bautzen errang
Boleslaw die erneute Anerkennung
seiner Herrschaft über die Lausitz
und den Gau Milska durch den Kai¬
ser. Bei dieser Gelegenheit vertiefte er
seine Beziehungen zum meißnischen
Adel durch Heirat mit Oda, einer
Tochter des ehemaligen Markgrafen
Ekkehard I. Die Hochzeit, die der Fes¬
tigung des Friedens diente, fand ver¬
mutlich auf der Burg Großseitschen
bei Bautzen statt.
Auch wenn Boleslaw nicht die Herr¬
schaft über die Mark Meißen erobern
konnte, war sein Einfluss groß und
er insgesamt der Sieger im Konflikt
mit Heinrich II. Sein Status entsprach
wieder dem nach dem Akt von Gniez-
no im Jahre 1000 unter Otto III. In
der Folgezeit agierten Boleslaw und
Heinrich II. als Verbündete. Eine
wichtige Rolle hatten dabei die engen
Bande der Polen zu den Meißner
Markgrafen gespielt. Gunzelin wurde
vom deutschen König deswegen sogar
abgesetzt. Auch dessen Nachfolger,
Gunzelins Neffe Hermann I., unter¬
stützte die Kriege Heinrich II. gegen
Boleslaw eher halbherzig, war er doch
mit dessen Tochter Reglindis verhei¬
ratet; zwei Jahre nach ihrem Tod ver¬
mählte er mit Oda eine Schwester mit
seinem bisherigen Schwiegervater.
1018 besiegte Boleslaw den von
Heinrich II. zunächst unterstützten
Yaroslav I. von Kiew und installierte
seinen Schwiegersohn und Yaroslavs
Halbbruder Svyatopolk, der jedoch
im Folgejahr starb und wieder von
Yaroslav abgelöst wurde, auf dem
Thron. Gemeinsam zogen Boleslaw
und Heinrich II. nach Italien. Solan¬
ge der Kaiser lebte, zügelte Boleslaw
56
Denkmal für Boleslaw in Breslau an der Schweidnitzer Straße.
seine Ambitionen. Erst am 25. De¬
zember 1024, nach dessen Tod, ließ
er sich zum ersten polnischen König
krönen. Gleichzeitig wurde die Meiß-
nerin Oda damit möglicherweise zur
ersten polnischen Königin, allerdings
ist ihr Sterbejahr ungesichert und ihre
Ehe galt wegen ihres vorehelichen
Lebenswandels und einer Nebenfrau
Boleslaws als problematisch.
Boleslaw war am Ende seines Lebens
als Herrscher von der Elbe bis zum
Bug, von der Ostsee bis zur Donau
anerkannt. Im Dom zu Poznan fand
er seine letzte Ruhe. Sein Sohn und
Nachfolger, Mieszko II., verlor in den
Folgejahren nicht nur viele der vom
Vater eroberten Gebiete, sondern
auch die polnische Königskrone. Im
Jahre 2001 erinnerte das Stadtmuse¬
um Bautzen in einer Gemeinschafts¬
ausstellung mit dem „Muzeum Miejs-
kie Wroclawia“ an „Milceni et Silensi:
Die Oberlausitz und Schlesien um
das Jahr 1000 in der Zeit des Boleslaw
Chrobry“.
Quellen: Henry Lang: „The Origins of the
Polish State. Mieszko I and Boleslaw Chrobry.“
University of Buffalo, 1995; Heinz Schuster-
Sewc: „Zur Lokalisierung der in der Schen¬
kungsurkunde Heinrichs II. (1006) genannten
drei Kastelle: Ostrusna, Trebista, Godobi." In:
Letopis, Bd. 53, H. 2, 2006, S. 67-72; Herbert
Ludat: „Boleslaw I. Chrobry“. In: Lexikon des
Mittelalters, Bd. 2, München-Zürich 1983,
Sp. 359-364; Rezensiert von: Piotr Gotöwko,
Rochala Pawel, Nimptsch im Jahre 1017, Ori¬
ginaltitel: „Niemcza 1017“. 30.6.2016, in forum
historiae iuris; „Dithmars, Bischofs zu Merse¬
burg, Chronik in Acht Büchern, nebst dessen
Lebensbeschreibung, aus der lateinischen in
die deutsche Sprache übersezt und mit An¬
merkungen erläutert von M. Johann Friedrich
Ursinus, Pfarrern in Boritz“. Dresden 1790
57
Karl August Böttiger, von Carl Christian Vogel von Vogelstein porträtiert.
David d‘Angers und Reinhard Krüger schufen Porträtmedaillons. Auch die
Maler Gerhard von Kügelgen und Johann Friedrich August Tischbein por¬
trätierten Böttiger.
Böttiger, Karl August
Magister, Altertumsforscher, Schriftsteller, Journalist und Pädagoge
08.06.1760 Reichenbach - 17.11.1835 Dresden
V: Karl (1730-1776), Conrektor in Reichenbach, Archidiakon in Elsterberg; M: Johanna geb.
Pietzsch (*1734,12.5.1812 Dresden, 2. Ehe mit dem Kaufmann Oberländer aus Gera);
E: 8.9.1786 Loschwitz, Eleonore geb. Adler (118.2.1832 Dresden, Tochter eines Geheimen
Finanzsekretärs); K: August (11791 Weimar nach Postkutschenunfall in Jena bei der Anreise
von Bautzen nach Weimar), Karl Wilhelm (*15.8.1790 Bautzen, 126.11.1862 Erlangen, Professor
für Geschichte in Leipzig und Erlangen, korresp. Mitglied der OLGdW), Moritz (1797-1798),
Gustav (*9.6.1799,112.9.1857 Dresden, Amtsaktuar), ab 1809 mehrere Pflegetöchter
Böttiger erhielt in Elsterberg Pri¬
vatunterricht bei seinem Vater. Zu
seinem Mitschüler Friedrich Wilhelm
Döring, Sohn des hiesigen Ober¬
pfarrers, entwickelte sich eine enge
Freundschaft. Sie besuchten ab 1772
das Fandesgymnasium Pforta. Dort
wurde Böttigers Begeisterung für
das Altertum geweckt. Erst wenige
Jahre zuvor hatte der Begründer
der wissenschaftlichen Archäologie,
Johann Joachim Winckelmann, sein
Hauptwerk zur Geschichte der Kunst
des Altertums veröffentlicht. 1778 be¬
gann Böttiger mit Unterstützung des
Stiefvaters ein Studium der Philologie
bei Johann August Ernesti in Eeip-
zig. Auch bei den Professoren Ernst
Platner, Samuel Friedrich Nathanael
Morus und Friedrich Wolfgang Reiz
hörten er und Döring Vorlesungen.
Die finanzielle Unterstützung durch
die Eltern versiegte, als jene nach
dem großen Brand von Gera 1780
in wirtschaftliche Schwierigkeiten
gerieten. Böttiger musste das Studium
unterbrechen und seinen Eebensun-
terhalt als Hofmeister und Privatleh¬
rer verdienen. 1781 kam er erstmals
nach Dresden, wo er in Diensten
beim Kommandanten der Neustadt
von Pfeilitzer, dem Geheimen Finanz¬
direktor von Ferber und der Gräfin
von Zinzendorf stand. Zu seinen
Förderern zählte Hofmarschall Joseph
Friedrich von Racknitz, der ihn auch
in die Freimaurerei einführte. Das
Interesse daran vertiefte sich während
Böttigers Anstellung bei Friedrich
Magnus I. zu Solms-Wildenfels, als er
auch den Maler Christian Feberecht
Vogel kennen lernte. 1784 erlangte
Böttiger in Wittenberg den Abschluss
als Magister.
Die Berufslaufbahn begann Bötti¬
ger in Guben als Gymnasialdirektor
in der Nachfolge seines Freundes
Döring. Hier gründete er zudem ein
Privatinstitut. Als er in Föbau die
Feitung eines neuen Mustergymna¬
siums übernehmen sollte, entschied
er sich jedoch für Bautzen. Böttiger
leitete das dortige Gymnasium von
1790 bis 1791. Gerhard Heinrich
Jacobjan Stöckhardt gehörte zu
59
Gottlob Adolf Ernst von Nostitz und Jänkendorf bestätigte Böt-
tiger am 16. Juli 1802 dessen Mitgliedschaft seit 1790 in der Oberlausitzi-
schen Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz (Deutsche Fotothek, CC
BY-SA 4.0).
seinen Schülern. Der langjährige
Conrektor Johann Gottlieb Cober, ein
ehemaliger Mitarbeiter von Hein¬
rich von Brühl, machte ihm aber das
Leben schwer. Ab 1790 war Bötti-
ger Mitglied der Oberlausitzischen
Gesellschaft der Wissenschaften, in
deren „Lausizischer Monatsschrift“ er
„Über das Bauzner Bakwerk“ schrieb.
Im „Lausizischen Magazin“ erschie¬
nen mehrere pädagogische Abhand¬
lungen. Vermutlich aus der Zeit in
Bautzen rührte seine enge Bekannt¬
schaft mit Gottlob Adolf Ernst
von Nostitz und Jänkendorf.
Johann Gottfried Herder empfahl
Böttiger 1791 als Gymnasialdirektor
und Oberkonsistorialrat in Weimar.
Er führte dort eigene archäologi¬
sche Untersuchungen durch, die in
seine Schulprogramme einflossen.
Böttigers profunde Kenntnisse zum
Altertum verhaften ihn zum Eintritt
in die gesellschaftlichen Kreise des
klassischen Weimar, so bei Herzogin
60
Anna Amalia. Auch für Literatur und
Theater entwickelte er eine große
Leidenschaft. Böttiger zählte bekannte
Gelehrte, darunter Gottlob Adolf
Ernst von Nostitz und Jänken-
dorf, zu seinen Gästen. Zunächst
bestand auch ein gutes Verhältnis zu
Johann Wolfgang von Goethe, den
er in Fragen des Altertums beriet.
Dank seines umfangreichen Brief¬
wechsels und der Publikationen in
einer Vielzahl von Zeitschriften,
wie in dem von ihm von 1795 bis
1803 herausgegebenen „Journal des
Luxus und der Moden“, gilt Böttiger
heute als Chronist des Weimar von
Goethe und Schiller („Literarische
Zustände und Zeitgenossen“, Dresden
1838). Er schrieb alles auf, was ihm
an menschlichen Schwächen und
sozialen Ungerechtigkeiten begegne¬
te - ohne Ansehen der Person und
ohne Rücksicht auf Vertraulichkeiten.
Teilweise verbarg er die Kritiken in
einem historischen Gewand. So kam
es zum Streit mit Goethe, der in ihm
nun den „Böttigerschen Kobold“ sah,
und mit Friedrich Schiller, der ihn
„Magister Ubique“ nannte. Schiller
warf Böttiger vor allem die unautori¬
sierte Weitergabe des Manuskripts zu
„Wallenstein“ vor. Böttigers Gegen¬
spieler Ludwig Tieck karikierte ihn in
„Der gestiefelte Kater“ (1797) in der
Figur des Literaturkritikers Bötticher.
Befreundet war Böttiger mit Chris¬
toph Martin Wieland, dessen „Teut-
schen Merkur“ er von 1797 bis 1809
herausbrachte.
Szene aus Böttigers wichtigstem
Werk aus seiner Weimarer Zeit:
„Sabina oder Morgenszenen im
Putzzimmer einer reichen Römerin.
Ein Beytrag zur richtigen Beurthei-
lung des Privatlebens der Römer
und zum bessern Verständniß der
römischen Schriftsteller“ (1803).
Mit seinen vielen Schriften zum Al¬
tertum erlangte Böttiger seinerzeit
große Bekanntheit. Er trug damit
wesentlich zur Popularisierung der
Altertumswissenschaften bei. Schon
zeitgenössische Kritiken beklagten
jedoch, dass seinen vorrangig der
mythologischen Auslegung anti¬
ker Kunstwerke und dem antiken
Alltagsleben gewidmeten Schriften
die wissenschaftliche Tiefe fehle. Be¬
kannte Werke aus Böttigers Dresd¬
ner Zeit zu dieser Thematik waren
„Ideen zur Archäologie der Malerei“
(1811) und „Ideen zur Kunst-My¬
thologie“ (1826/1836).
61
Coselpalais, ehemals „Hinter der Frauenkirche“ 5. Bis 1815 wohnte hier
auch Gottlob Adolf Ernst von Nostitz und Jänkendorf.
Nachdem die Konflikte in Weimar
eskalierten, wechselte Böttiger 1804
nach Dresden, wo er einflussreiche
Freunde wie Hofmarschall Joseph
Friedrich von Racknitz und Ober¬
hofprediger Franz Volkmar Reinhard
besaß. Er arbeitete als Studiendirektor
am Pageninstitut, einer Bildungsan¬
stalt für adlige Schüler, und an der aus
der Vereinigung mit dem Kadetten¬
haus hervorgegangenen Ritterakade¬
mie sowie ab 1814 auch als Leiter des
Antikenmuseums. Nach 1822 verblieb
ihm die Tätigkeit im Museum. Die
Skulpturen, Vasen, Bronzen und die
von Anton Raphael Mengs gesam¬
melten Gipsabdrücke dienten Kunst¬
studenten als Anschauungsmaterial.
Böttiger erklärte in seinen Vorlesun¬
gen vor der „Gipsklasse“ der Kunst¬
akademie die Hintergründe. Er regte
an, Nachbildungen der Antiken anfer¬
tigen zu lassen, und machte Vorschlä¬
ge, wie man die Schätze einem breiten
Publikum zugänglich machen kön¬
ne. Die Arnoldische Buchhandlung
verlegte seine „Andeutungen zu 24
Vorlesungen über Archäologie“. Böt¬
tiger nahm alles auf, was er an Wissen
erwerben konnte. Seine Privatbiblio-
thek war legendär. Wissen vermittelte
er aus Passion und beschränkte dies
nicht auf seine dienstlichen Aufgaben.
Böttigers Vorträge in seiner Wohnung
im Coselpalais waren ihrer Unter¬
haltsamkeit wegen gerühmt. Sogar
der spätere König Johann ließ sich
von ihm in die Klassiker der Römer
und Griechen einführen und die
griechische Sprache lehren. Böttiger
62
knüpfte eine Vielzahl von Kontakten
zu einflussreichen, literarisch und
künstlerisch interessierten Persön¬
lichkeiten. Wie der Kunstsammler
Johann Gottlob von Quandt zählte
er zum Freundeskreis von Arthur
Schopenhauer. Historisch bedeutsa¬
me Zeitdokumente sind seine Artikel
zu Literatur und Theater. Politische
Bedeutung besaß Böttigers journalis¬
tisches Schaffen während der Befrei¬
ungskriege. Die von ihm redigierte
Zeitschrift „London und Paris“ war
durch die französische Revolution an¬
geregt worden, sich mit den europäi¬
schen Antipolen England und Frank¬
reich auseinanderzusetzen. Böttigers
Karikaturen auf Napoleon ermutigten
auch andere Autoren, die französische
Besatzungsherrschaff zu kritisieren.
Nach Theodor Körners Tod im Jahre
1813 bemühte er sich um die Grün¬
dung eines Gedenkvereins. Ab 1820
gab Böttiger die Zeitschrift „Amal-
thea oder Museum der Kunstmytho¬
logie und bildlichen Alterthumskun¬
de“ und als deren Fortsetzung ab 1828
„Archäologie und Kunst“ heraus. Sein
Credo für die Altertumswissenschaft
bestand darin, dass sie Vergangenheit
und Gegenwart verbinden müsse:
„Des Alterthums Erforscher sey ein
Janus-Kopf.“
Böttiger war maßgeblich am Ent¬
stehen eines elitären Vereinslebens
in Dresden beteiligt. Mit Elisa von
der Recke und Christoph August
Tiedge, deren literarischen Zirkel
er wie Gottlob Adolf Ernst von
Böttiger, links im Vordergrund
sitzend, beobachtet im Gemälde von
Carl Christian von Vogel und Vogel¬
stein, wie Pierre Jean David d‘Angers
im Jahre 1834 eine Büste von Lud¬
wig Tieck modellierte. Weiterhin im
Bild zu sehen sind der Maler selbst
(neben Böttiger stehend), dahinter
Wolf Graf Baudissin, hinter der Büs¬
te Carl August Förster, Otto Magnus
Freiherr von Stackeiberg, Moritz
Steinla und Alexander Freiherr von
Ungern-Sternberg, alles bedeutende
Künstler, Schriftsteller und Alter¬
tumsgelehrte, vor Tieck dessen Sohn
Johannes, hinter ihm seine Tochter
Dorothea (Deutsche Fotothek, CC
BY-SA 4.0). Die Anwesenheit Böt¬
tigers, der in der ersten Fassung für
den Verleger Brockhaus noch fehlte,
in diesem Bild ist insofern bemer¬
kenswert, weil sein Verhältnis zu
Tieck zerrüttet war.
Nostitz und Jänkendorf, Lud¬
wig Tieck und aus Leipzig Robert
Stöckhardt besuchte, bestanden
freundschaftliche Verbindungen. Böt-
63
tiger gehörte dem spätromantischen
Dresdner Liederkreis und dessen
Nachfolger Albina an. Neben Nos¬
titz zählten Theodor Hell (Winkler)
und Johann Gottlob von Quandt zu
den aktivsten Mitstreitern in diesen
geselligen Vereinen literarisch Inter¬
essierter. Der Albina gehörten später
auch Carl Gustav Carus, Gottfried
Semper und Ernst Rietschel an.
Selbst der berühmte Dichter Ludwig
Tieck suchte zunächst den Kontakt
zum Liederkreis, aber schon länger
existierende Spannungen zwischen
Böttiger und Tieck eskalierten im
Zusammenhang mit dessen Zerwürf¬
nis mit Hell. Böttiger initiierte den
Sächsischen Altertumsverein, später
ein äußerst angesehener Verein unter
Schirmherrschaft des Königshauses,
mit einem Artikel in der Dresdner
Abendzeitung vom 25. Oktober 1819.
Unterstützung fand er dafür u. a.
bei Quandt und Nostitz. Nach dem
Zerwürfnis zwischen Tieck und Hell
übernahm Böttiger die Redaktion der
von Hell herausgegebenen Abend¬
zeitung. 1828 gründete Böttiger den
Sächsischen Kunstverein, der von
Quandt geleitet wurde und dem auch
Carus, Nostitz und Hell angehörten.
In der Sächsischen Bibelgesellschaft
wirkte er als Sekretär.
Böttiger wurde am 8. November 1781
durch Johann Samuel Petermann,
einen Sohn von Georg Petermann,
formal in die Dresdner Preimaurer-
Loge „Zum Goldenen Apfel“ auf¬
genommen, am 3. Dezember 1783
wurde er offiziell Mitglied. In Weimar
hatte er zu den Preimaurern Pried-
rich Justin Bertuch, Johann Joachim
Christoph Bode und Johann Wolf¬
gang von Goethe enge Verbindungen.
Von 1814 bis 1820 wirkte er in der
Dresdner Apfelloge als deputierter
Meister vom Stuhl bzw. erster Auf¬
seher. Zu ihren Mitgliedern zählte
Gottlob Friedrich Thormeyer.
Als Gottlob Adolf Ernst von
Nostitz und Jänkendorf 1830
Landesgroßmeister der Großen Lan¬
desloge Sachsen wurde, war Böttiger
dessen Stellvertreter. Wiederum mit
Nostitz, Carus, Quandt und Hell
engagierte er sich im sozialen Unter¬
stützungsverein „Rath und That“, der
den Freimaurern nahe stand.
Neben seinen vielfältigen künstleri¬
schen und literarischen Interessen
sowie gesellschaftlichen Aktivitäten
engagierte sich Böttiger auch für
die Naturwissenschaften. Mit dem
weltberühmten Mineralogen Abra¬
ham Gottlob Werner stand Böttiger
in regem brieflichen Kontakt, und er
gehörte wie Carus und Racknitz der
1817 von Werner wenige Monate vor
dessen Tod gegründeten Dresdner
Mineralogischen Gesellschaft an.
Dem in seinem Beisein verschiedenen
Freunde widmete Böttiger die „Worte
auf der Anhöhe der Landstraße nach
Gorbitz gesprochen an Werners Sarge
in der Ilten Stunde der Nacht zwi¬
schen dem 2ten und 3ten July 1817“
und „Ueber Werner s Umgang mit
seinen Schülern, vorgelesen am Er-
64
innerungstage von Werner‘s Tod den
30. Juny 1819“. Böttiger war Mitglied
der Naturwissenschaftlichen Gesell¬
schaft ISIS in Dresden, der Leipziger
Societät, der Senckenbergischen
Naturforschenden Gesellschaft in
Frankfurt, der Gesellschaft deutscher
Naturforscher und Ärzte und der
Sächsischen Gesellschaft für Botanik
und Gartenbau FLORA. Mit dem
Mediziner Burkhard Wilhelm Seiler
verfasste er 1825 „Erklärungen der
Muskeln und der Basreliefs an Ernst
Matthaeis Pferde-Modellen“.
Böttiger trug den Titel Hofrat und
war Mitglied der Sächsischen Aka¬
demie der Künste und von vielen
weiteren Akademien der Wissen¬
schaften und Künste, so in Paris, St.
Petersburg, Wien, München, Breslau,
Neapel, Korfu und Göttingen. Er hat
dazu beigetragen, breiteren Bevöl¬
kerungsschichten eine Teilhabe an
Kultur und Bildung zu ermöglichen.
Kontroverse Meinungen über ihn
widerspiegeln den Konflikt zwischen
Böttigers Anspruch eines Univer¬
salgelehrten, Kritiken am wissen¬
schaftlichen Wert konkreter Arbeiten
und der Wertschätzung von Wissen¬
schafts-Publizistik. Böttiger fand auf
dem Dresdner Eliasfriedhof die letzte
Ruhe.
Quellen: Karl Ludwig Urlichs: „Böttiger, Karl Au¬
gust“. Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 3, S.
205-207, 1876; Karl Wilhelm Böttiger: „Karl Au¬
gust Böttiger: Eine biographische Skizze“. Brock¬
haus, 1837; Ludwig Sickmann: „Böttiger, Karl
August“. Neue Deutsche Biographie, Bd. 2, S. 414,
Porträt nach einer Büste von Ernst
Rietschel (1833). Rietschel hatte
bei Böttiger Archäologie und Kunst¬
theorie studiert und war von diesem
sehr gefördert worden. Gottlob
Adolf Ernst von Nostitz und
Jänkendorf verfasste den Nachruf
„Carl August Böttiger: sein Bild;
sein Denkmal“.
1955; „Nekrolog Karl August Böttiger“. Allgemeine
Literaturzeitung, 1/1836; Dirk Hempel: „Litera¬
rische Vereine in Dresden. Kulturelle Praxis und
politische Orientierung des Bürgertums im 19.
Jahrhundert“. Walter de Gruyter - Max Niemeyer
Verlag, 2008; „Neues Gemählde von Dresden:
in Hinsicht auf Geschichte, Oertlichkeit, Kultur,
Kunst und Gewerbe“. Arnoldische Buchhandlung,
1817; Walter Steiner, Uta Kühn-Stillmark: „Fried¬
rich Justin Bertuch: Ein Leben im klassischen
Weimar zwischen Kultur und Kommerz“. Böhlau,
2001; Freies Deutsches Hochstift - Frankfurter
Goethe-Museum: „Katalog der Gemälde“. Walter
de Gruyter, 1982; Stefani Freyer, Katrin Horn, Ni¬
cole Grochowina: „FrauenGestalten Weimar-Jena
um 1800“. Winter 2009; Dresdner Adressbücher;
„Die Freimaurerloge zum goldenen Apfel im Ori¬
ent Dresden 1776-1876“. Heinrich Dresden, 1876
65
Das Alte Schloss Neschwitz - ehemalige Wohn- und Arbeitsstätte.
443
überreich, vom Verfasser W&X.
ABHANDLUNGEN UND BERICHTE
DES NATURKUNDEMUSEUMS GÖRL
Band 42
Leipzig 1967
Der Fischotter (Lutra lutra (L.)) in der Oberlausitz
Von GERHARD CKEUTZ
Vogelschutzwarte Neschwitz der Deutschen Akademie
der Landwirtschaftswissenschaften zu Berlin
Eine persönliche Erinnerung von Frank Fiedler.
Creutz, Gerhard
Dr., Ornithologe in Neschwitz
16.03.1911 Copitz b. Pirna - 18.09.1993 Berchtesgaden
V: Georg, ab 1901 Inhaber eines Schreibwarengeschäfts mit Buchbinderei, ab 1910 mit einer
Buchdruckerei in Pirna; G: 2 ältere Brüder, 1 jüngere Schwester (Annemarie, *err. 1921); E; 1938
Lisette geb. Brünn (27.6.1913-15.6.1986); K: 3 Söhne, darunter Konrad (*1943 Dresden, Pfarrer
in Hinterhermsdorf, Saupsdorf und Sebnitz, Vorsitzender des Arbeitskreises Sächsische Schweiz
des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz, Mitglied im Gesamtvorstand für Naturschutz,
Heimatgeschichte und Denkmalpflege), Christian (8.3.1946-11.2.2006)
Creutz besuchte in Copitz und Pirna
Volksschule und Realgymnasium.
Frühzeitig erwachte sein Interesse
an der Natur der nahen Sächsischen
Schweiz. Er beringte Bussardjunge
und interessierte sich für die geolo¬
gische Sammlung des Museums in
Pirna. 1928 begann die enge Freund¬
schaft mit Martin Zieschang. Der
Sohn des Pfarrers in Dohna und
später Klix machte den Freund mit
den Schönheiten der Oberlausitzer
Heide- und Teichlandschaft bekannt
und erweckte damit in diesem eine
tiefe Verbundenheit, die ein Leben
lang hielt. Im Jahre 1931 beschrieb
Creutz in seiner ersten ornithologi-
schen Publikation Beobachtungen des
Flussregenpfeifers an den Elbufern
von Pirna.
Nach einem Studium am Pädago¬
gischen Institut der TH Dresden
erlangte Creutz 1933 die Lehr¬
befähigung an den Volksschulen
Sachsens. Im gleichen Jahr begann
er, ehrenamtlich die Vogelschutzan¬
lagen der Staatlichen Versuchs- und
Forschungsanstalt für Gartenbau in
Pillnitz zu betreuen, nachdem er im
Jahr zuvor dem Verein Sächsischer
Ornithologen beigetreten war. Creutz
leitete in Dresden die Ortsgruppe des
Deutschen Bundes für Vogelschutz.
Wegen seiner nazikritischen Haltung
wurde ihm die dauerhafte Übernah¬
me in den Schuldienst verwehrt und
er musste sich als Aushilfslehrer ver¬
dingen, zeitweise sogar in Dänemark.
Den Zweiten Weltkrieg überlebte er
als Soldat in Frankreich und Italien
unversehrt.
Von 1945 bis 1952 arbeitete Creutz in
Pillnitz, zunächst als Lehrer und ab
1946 als Schulleiter. Gemeinsam mit
seinem langjährigen Freund Hein¬
rich Dathe bemühte er sich ab 1949
um die Neugründung einer vogel-
kundlichen Arbeitsgemeinschaft im
Kulturbund in Dresden. Die offizielle
Gründung der Fachgruppe „Orni¬
thologie und Vogelschutz“ erfolgte
am 8. Juni 1951 und Creutz leitete sie
bis 1953. 1952 wurde er für ein Jahr
von der Schultätigkeit freigestellt, um
seine Promotion an der TH Dresden
bei Professor Karl Jordan (Institut
67
für Zoologie) zu Populationsstudien
am Trauerschnäpper zu bearbeiten.
1953 erhielt Creutz eine Anstellung
als Wissenschaftlicher Mitarbeiter der
Vogelschutzwarte Seebach. Die Deut¬
sche Akademie der Landwirtschafts¬
wissenschaften erteilte ihm im selben
Jahr den Auftrag, die Vogelschutz¬
station Neschwitz im dortigen Alten
Schloss zu gründen und zu leiten.
Als langjähriger Leiter führte Creutz
die Vogelschutzstation Neschwitz zu
hohem Ansehen. Deren Vorläufer war
1930 vom Landesverein Sächsischer
Heimatschutz auf Initiative von Ru¬
dolf Zimmermann ins Leben gerufen
und 1936 als Vogelschutzwarte staat¬
lich anerkannt worden. Sie ist eng mit
dem Namen des Forstwissenschaftlers
Dr. Freiherr Arnold Vietinghoff-
Riesch, ihrem ehemaligen Leiter, ver¬
bunden. Zu ihren Aufgaben gehörten
unter Creutz die Vogelberingung, die
Betreuung von Nistkästen, Nahrungs¬
untersuchungen und die Bestimmung
von Siedlungsdichten. In Lehrgängen
wurde das Wissen an Generationen
von Beringern weitergegeben. Die
Oberlausitzer Fischwirtschaft nutzte
Untersuchungsergebnisse zur Vogel¬
abwehr zur Steigerung der Erträge.
1964 wurde die Vogelschutzstation
wieder in den Rang einer Vogel¬
schutzwarte erhoben. Der Leiter der
Biologischen Zentralanstalt, Professor
Stubbe, ernannte Creutz zum Leiter
des Wildforschungsgebiets Milkwitz.
Neben der Tätigkeit als Ornithologe
untersuchte er die Säugetierfauna der
Oberlausitz (z. B. Elch, Nerz, Muffel¬
wild). Es entstand eine umfassende
Dokumentation zum Niedergang
der Fischotterpopulation und Creutz
erwarb sich entscheidende Verdienste
um erfolgreiche Schutzmaßnahmen
und Wiederbesiedelung. Außerdem
konnte er zum Erhalt von Schloss und
Park Neschwitz beitragen. Von der
staatlich verfügten Schließung der
Vogelschutzwarte 1971 war Creutz
tief getroffen. Sie brachte ihn um sein
Lebenswerk - die gesammelten Ma¬
terialien wurden DDR-weit verteilt.
Vermutlich hatte eine Rolle gespielt,
dass Creutz als politisch unzuverläs¬
sig galt. Fragen von Vogelforschung
und Vogelschutz hatten für ihn nie
an Staatsgrenzen halt gemacht. In
den letzten Arbeitsjahren bearbeitete
er Forschungsprojekte im Auftrag
des Instituts für Forstwissenschaf¬
ten Eberswalde - man befasste sich
staatlicherseits z. B. mit der Ansiede¬
lung von Rebhühnern und Fasanen
für privilegierte Jäger. Auch nach dem
Ausscheiden aus dem Berufsleben
1976 widmete er sich mit nimmermü¬
dem Engagement dem Naturschutz
und führte Exkursionen durch.
Creutz war Autor bedeutender wis¬
senschaftlicher Bücher zur Vogelkun¬
de, z. B. zu Graureiher, Wasseramsel,
Weißstorch und zum Vogelzug.
Besonders mit den in vielen Auflagen
erschienenen „Taschenbüchern zur
heimischen Vogelfauna“ („Singvögel“,
„Raub- und Rabenvögel“, „Sumpf-
68
und Wasservögel“, „Durchzügler und
Wintergäste“), aber auch mit Kinder¬
büchern und Lehrmaterial hat er sich
große Verdienste um die Verbreitung
populärwissenschaftlicher Kenntnisse
erworben. In den Fachzeitschriften
„Der Falke“ und „Journal of Orni-
thology“ publizierte er regelmäßig.
Creutz war Mitherausgeber der
Reihe „Beiträge zur Vogelkunde“
und Mitglied im Redaktionsbeirat
der Zeitschrift „Der Falke“ und der
„Sächsischen Heimatblätter“. Insge¬
samt schrieb Creutz 600 Titel, darun¬
ter 8 Bücher. Ein Teil der Publikatio¬
nen entstand aus Sicherheitsgründen
unter Pseudonymen wie „C. Gerhard“,
„C. Hartmut“ oder „C. Galle“.
Creutz arbeitete in vielen renom¬
mierten ornithologischen Gremien
mit, beispielsweise in der Deutschen
Ornithologen-Gesellschaft und im
Zentralvorstand der Gesellschaft für
Natur und Umwelt des Kulturbundes
der DDR, und er wirkte als Vorsit¬
zender des Bezirksfachausschusses
Dresden. Schon 1958 hatte er sich
- im Widerspruch zu den zentralisti¬
schen Bestrebungen in der DDR - um
die Gründung des Naturwissenschaft¬
lichen Arbeitskreises Oberlausitz im
Kulturbund verdient gemacht. Dieser
stand unter der Schirmherrschaft
seines ehemaligen Professors Karl
Jordan von der TH Dresden. Creutz
leitete den Arbeitskreis bis zu dessen
Verbot durch die staatlichen Organe
im Jahre 1988; zu seinen Mitstrei¬
tern gehörten u. a. die bekannten
Botaniker Max Militzer und Theodor
Schütze. Dem Arbeitskreis Sächsische
Schweiz trat Creutz 1959 bei, ab 1962
leitete er eine avifaunistische Sam¬
melstelle und 1968 gründete er den
Avifaunistischen Arbeitskreis Ober¬
lausitz. Dessen „Beiträge zur Ornis
der Oberlausitz“ waren gleichzeitig als
politisch einzig mögliche Form einer
Zuarbeit für ein „Handbuch der Vögel
Mitteleuropas“ gedacht. Creutz wurde
zum Ehrenmitglied der Naturfor¬
schenden Gesellschaft der Oberlausitz
ernannt und er war Ehrenmitglied des
Vereins Sächsischer Ornithologen.
Seinen Lebensabend verbrachte
Creutz in Haidholzen bei Rosen¬
heim zusammen mit einer ebenfalls
verwitweten Jugendfreundin. Profes¬
sor Wolfram Dünger widmete dem
großen Naturfreund den Nachruf
„Leben und Werk eines Oberlausitzer
Ornithologen - in memoriam Dr.
Gerhard Creutz (1911 - 1993)“. Auf
dem Grabstein in Neschwitz steigt ein
singender Vogel unter dem Kreuz gen
Himmel - ein Symbol auch für den
tiefen Glauben der Ehefrau.
Quellen: S. 412 ff.
69
Porträt von Jan Cyz am Schloss Milkel,
Hü
Cyz, Jan
Dr., sorbischer Schriftsteller, Verleger und Landrat in Bautzen
auch: Ziesche, Johann
13.01.1898 Säuritz - 21.11.1985 Bautzen
Cyz stammte aus kleinbäuerlichen
Verhältnissen. Er besuchte in Bautzen
die Domschule und in Prag das Deut¬
sche Gymnasium. 1920 begann Cyz
ein Studium der Rechtswissenschaften
an der Karls-Universität Prag. Im sel¬
ben Jahr übernahm er den Vorsitz der
sorbischen Studentenbewegung. 1926
beendete er sein Studium mit der
Promotion und übernahm in Cottbus
die Leitung der Wendischen Buch¬
handlung. Nach der Machtergreifung
der Nationalsozialisten wurde Cyz
wegen seines Engagements in der
nationalsorbischen Bewegung verhaf¬
tet. Nach seiner Freilassung leitete er
von 1934bis 1937 die Schmalersche
Druckerei im Wendischen Haus in
Bautzen und gab die sorbische Ta¬
geszeitung „Serbske Nowiny“ heraus.
Im selben Jahr wurde die Domowina
verboten. Cyz kam erneut in Haft,
im Februar 1945 floh er während
der Luftangriffe auf Dresden. Nach
dem Krieg wurde mit Cyz erstmals
ein Sorbe Landrat in Bautzen. Er war
maßgeblich an der Neugründung der
Domowina beteiligt, deren Bundes¬
vorstand er angehörte. Cyz leitete
die Nowa-Doba-Druckerei und gab
die sorbische Tageszeitung „Nowa
doba“ heraus. Er war Vorsitzender
des Kreisausschusses der Nationalen
Front, Mitglied des Vorstands der
Urania und Mitbegründer des Kul¬
turbundes der DDR im Kreis Bautzen
sowie erster Vorsitzender des Baut-
zener Klubs der Intelligenz. Neben
seinen vielen Schriften in sorbischer
Sprache verfasste Cyz das Buch „Die
Kämpfe um die Befreiung der Lausitz
während der großen Schlacht um
Berlin 1945“, und er widmete mehrere
Arbeiten der Biografie von Jan Arnost
Smoler, eines bedeutenden Repräsen¬
tanten der nationalen Wiedergeburt
der Sorben im 19. Jahrhundert und
Mitbegründer des sorbischen Kul¬
tur- und Wissenschaftsvereins Macica
Serbska. In Milkel wurde die Sorbi¬
sche Sprachschule nach Cyz benannt,
die sich von 1953 bis zum Ende der
DDR im dortigen Schloss befand. Das
Sorbische Institut in Bautzen bewahrt
seinen Nachlass auf.
Literatur: Peter Kunze: „Bibliographie der
Veröffentlichungen von Jan Cyz“. Institut für
Sorbische Volksforschung, Domowina-Verlag,
1977, H. 2, S. 239-256; Walter Starke: „In memo-
riam Dr. Jan Cyz-Ziesche: 13.1.1898-20.9.1985“.
Bautzener Kulturschau, 1985, H. 11, S. 3-4; M.J.
Dypman-Budyski: „Nekrolog: Landrat Dr. Jan
Cyz: 1898-1985“. Minoritas, 1986, H. 1, S. 51-52;
Manfred Ladusch: „Cyz, Jan“. Sorben. Ein Kleines
Lexikon, Domowina-Verlag, 1989, S. 78-79;
Manfred Ladusch: „Zum 100. Geburtstag von Dr.
Johannes Ziesche, Sorbischer Verleger, Bautzens
Landrat und Schriftsteller“. Oberlausitzer Kultur¬
schau, 1998, H. 2, S. 28-29; Helge Tietze: „Dr. jur.
Jan Cyz: Johann Ziesche (1898-1985)“. Lausitzer
Almanach, 2009, S. 16-21
71
Derlitzki, Georg Max Ludwig
Professor, Begründer der Landarbeitsforschung in Pommritz
30.04.1889 Bergfriede/Ostpreußen - 02.05.1958 Kindisch
V: Ludwig (*10.2.1853 Thyrau, 17.5.1902 Bergfriede), Volksschullehrer; M: Alma Rosalie geh.
Kaul (*22.1.1857 Löbau, 124.2.1934 Göttingen); G: Erich Rudolph (*11.7.1885 Bergfriede,
t20.2.1947 Brandis); E: Dorothea geh. Ebert (*2.10.1888 Niewerle, fl5.10.1967, Tochter eines
Pfarrers, promovierte Sprachwissenschaftlerin in Marburg, Arbeitslehre im Haushalt); K: Jürgen
(18.7.1916-12.5.1942), Rotraut (*7.6.1918, Dipl.-Landwirtin)
Derlitzki besuchte die Volksschu¬
le Bergfriede, ging ab 1900 auf das
humanistische Gymnasium Osterode
und legte 1908 das Abitur ab. Nach
einer landwirtschaftlichen Lehre in
Brödinen studierte er 6 Semester
Rechts- und Staatswissenschaften
in Berlin und 3 Semester Land- und
Forstwissenschaft in Gießen. 1913
promovierte Derlitzki bei Paul Gi-
sevius zum Thema „Systematik des
Roggens durch Untersuchungen über
den Ährenbau“, anschließend arbeite¬
te er als Assistent am Landwirtschaft¬
lichen Institut der Universität. 1914
legte Derlitzki das landwirtschaftliche
Staatsexamen ab. Mit „Untersuchun¬
gen über Keimkraft und Triebkraft
und über den Einfluss von Fusarium
nivale“ habilitierte er sich 1917. Ein
Jahr später berief ihn das Land¬
wirtschaftliche Institut Gießen zum
Abteilungsvorstand. Derlitzki lehrte
bis 1919 als Privatdozent Acker- und
Pflanzenbau, publizierte zur Düngung
und Streckung des Kartoffelsaatgutes
und leitete die Samenkontroll- und
Maschinenprüfstation der Landwirt¬
schaftskammer Wiesbaden. Damit
konnte er Wissenschaft und Praxis
eng verknüpfen. Danach übernahm
Derlitzki in der Nachfolge von Gus¬
tav Loges die Leitung der Versuchs¬
station Pommritz.
In den Jahren 1919/20 erfolgte in
Sachsen eine Umstrukturierung des
landwirtschaftlichen Versuchswesens
mit dem Ziel, die Landwirtschaft wie¬
der rentabel und damit konkurrenz¬
fähig zu machen. Aus den ehemaligen
Versuchsstationen gingen drei spezi¬
alisierte Versuchsanstalten hervor: in
Leipzig-Möckern unter Leitung von
Gustav Fingerling, in Dresden unter
Leitung von Bruno Steglich und
in Pommritz mit Derlitzki als erstem
Direktor, der außerdem zum Profes¬
sor ernannt wurde. Die Versuchssta¬
tion wurde dafür mit dem Rittergut
Pommritz unter eine einheitliche
Leitung gestellt (141 ha). Seit der
Gründung 1864 durch Julius Leh¬
mann bestand in Pommritz eine For¬
schungstradition auf dem Gebiet der
Agrikulturchemie. Mit der Umstruk¬
turierung erfolgte gleichzeitig eine
thematische Umorientierung auf die
landwirtschaftliche Betriebslehre un¬
ter besonderer Berücksichtigung der
73
Landarbeitslehre einschließlich des
landwirtschaftlichen Maschinenwe¬
sens. Es ging dabei um die Schaffung
günstiger Arbeitsbedingungen durch
Mechanisierung und Organisation
und um Untersuchungen zur Arbeits¬
ausführung (Arbeitstechniken und
-motivation). Die Versuchsanstalt in
Pommritz war die erste Einrichtung
der Welt mit einem solchen Profil.
Die Entwicklung der Landarbeitsleh¬
re zu einer selbstständigen Disziplin
ist das große, bleibende Verdienst
Derlitzkis. Sein Ziel bestand in der
Gesundung der Landwirtschaft durch
Senkung der Gestehungskosten pro
Produktionseinheit bei voller Berück¬
sichtigung der Arbeitsqualität. Er pro¬
pagierte zwar eine Rationalisierung
nach den Lehren des „Taylorismus“,
wies aber stets auf Besonderheiten der
Landwirtschaft gegenüber der Gro߬
industrie hin. Derlitzki sah Mecha¬
nisierung immer auch als Schutz der
Menschen vor Überanstrengung und
gesundheitlichen Schädigungen an.
Das 1922 erstmals erprobte, arbeits¬
sparende Ernteverfahren für Zucker¬
rüben - das „Pommritzen“ - ist noch
heute Grundlage der Rüben-Vollern-
temaschine. Weitere bekannte Ver¬
fahrensentwicklungen unter seiner
Leitung betrafen die „Rübensamen¬
mühle“ (zur Trennung der Samen),
den „Pommritzer Walzenwagen“ für
einen effizienten Felddrusch und den
„Pommritzer Bauernkran“ (zur Hand¬
habung der Dungkarre). Darüber
hinaus erfolgten Untersuchungen zu
verschiedenen Heubergungsverfahren
und erstmals in der Landwirtschaft
arbeitsphysiologische Studien mit
Hilfe von Respirationsapparaten.
Ausgangspunkt der Überlegungen
war, dass schlechte Arbeitsorganisa¬
tion und -hygiene verantwortlich für
körperliche Überforderung seien, z.
B. durch anhaltendes Arbeiten im
Stehen. Derlitzki führte deswegen den
„Pommritzer Kartoffelauslesetisch“
ein, der die Arbeit im Sitzen ermög¬
lichte. Die Arbeit Derlitzkis war
international anerkannt. Er fungierte
ab 1927 als wissenschaftlicher Beirat
und Vorsitzender des Ausschusses für
Landarbeitsforschung des Interna¬
tionalen Agrarinstituts in Rom und
übernahm 1932 die Leitung eines Re¬
ferates in der Sektion für Arbeitshy¬
giene des Völkerbundes. Unter seiner
Leitung besaß die Versuchsanstalt
Pommritz Weltgeltung. Studiengäste
kamen, um im Ausland Einrichtun¬
gen nach dem Pommritzer Vorbild
aufzubauen. Um die internationa¬
le Bekanntheit zu erhöhen, nutzte
Derlitzki u. a. auch das neue Medi¬
um Film. Gleichzeitig verlor er aber
nie die Arbeit in Pommritz aus den
Augen. Bis 1928 wurde die Versuchs¬
anstalt erheblich erweitert. Neben
dem gepachteten Rittergut Drehsa
(352 ha) kam auch ein 30 ha großes
Versuchsgut in Steindörfel (nach Der¬
litzki „Georgenhof“ genannt) hinzu,
wo neue Technologien demonstriert
werden konnten. In Sornßig wurden
zudem seit 1926 Waldbauversuche
durchgeführt. Seine Arbeitsergebnis-
74
se publizierte Derlitzki u. a. in den
Schriften der Ökonomischen Gesell¬
schaft im Freistaat Sachsen und der
Deutschen Landwirtschafts-Gesell¬
schaft. 1931 hatte die Versuchsanstalt
Pommritz ca. 130 Mitarbeiter.
Derlitzki durchschaute frühzeitig die
Ideologie der Nazis und lehnte es ab,
NSDAP-Mitglied zu werden. Weil er
sich gegen die Außerbetriebsetzung
von Landmaschinen zur „Schaffung“
von Arbeitsplätzen wehrte, erhielt er
am 28. März 1934 die Kündigung.
Sie wurde auch nicht zurückge¬
nommen, als die Pommritzer Beleg¬
schaft, einschließlich von NSDAP-
Mitgliedern, dagegen protestierte.
Derlitzki übernahm ein 35 ha großes
Bauerngut in Kindisch bei Kamenz
(„Luisenhof“) und bewirtschaftete
es nach seinen Erkenntnissen der
Landarbeitsforschung. Das Gut
hatte eine große Ausstrahlung auf die
Umgebung. Auch hier blieb Derlitz-
ki wissenschaftlich tätig. Zwischen
1935 und 1942 führte er im Auftrag
des „Reichskuratoriums für Technik
in der Landwirtschaft“ arbeits- und
wärmewirtschaftliche Versuche in 34
Orten Deutschlands und 2 Dörfern
Österreichs durch, um die Verbrei¬
tung der Elektrizität im ländlichen
Raum zu befördern. Die Untersu¬
chungen galten v. a. der Nutzung von
Elektrowärmegeräten, um den Ver¬
brauch fester Brennstoffe zu reduzie¬
ren und durch erhöhte Nachfrage den
Strompreis zu senken. Die Ergebnisse
publizierte er wiederholt zusammen
mit dem Pommritzer Helmut Nauck.
Nach einem Betriebsunfall verlor
Derlitzki ein Bein.
Nach 1945 beteiligte sich Derlitzki
am Wiederaufbau der Landwirtschaft,
so in der „Arbeitsgemeinschaft für
Landarbeitsforschung“. Zudem leitete
er die „Vereinigung der gegenseiti¬
gen Bauernhilfe“ in Kindisch und ab
1948 den Ausschuss für Landarbeit
der Deutschen Landwirtschafts-
Gesellschaft. Aufgrund einer politisch
motivierten Verleumdung wegen
angeblich schlechter Behandlung von
Zwangsarbeitern während des Krieges
musste er mehrfach für mehrere
Monate in Untersuchungshaft. Tat¬
sächlich hatte er aber abgelehnt, in die
SED einzutreten; die französischen
Zwangsarbeiter waren nach der Be¬
freiung zunächst sogar noch freiwillig
in Kindisch geblieben, um das Gut
zu schützen. 1949 wurde er endgültig
freigesprochen. Derlitzki übernahm
eine beratende Tätigkeit beim Aus¬
bau der arbeitswissenschaftlichen
Forschung in Halle-Etzdorf. Ab 1950
unterstützte er die Gründung der
Staatlichen Lehr- und Versuchsanstalt
Gundorf, wo die Pommritzer Traditi¬
on fortgeführt wurde. 1952 erhielt er
einen vollen Lehrauftrag für Land¬
arbeitslehre an der Landwirtschaft¬
lichen Fakultät der Martin-Luther-
Universität Halle-Wittenberg, wo er
bis zur Emeritierung 1955 erfolgreich
eine fundierte Landarbeitsforschung
aufbaute.
Quellen: S. 412 ff.
75
Grabstätte der Familie Derlitzki auf dem Friedhof Elstra. Das Foto wurde
von Uwe Fiedler der Wikipedia zur Verfügung gestellt.
Derlitzki, Dorothea
Dr. phil., Arbeitswissenschaftlerin in Pommritz
02.10.1888 Niewerle - 15.10.1967
V: Wilhelm Ebert, Pfarrer in Niewerle; M: Luise geb. Gose; E: Georg Derlitzki (*30.4.1889
Bergfriede/Ostpreußen, t2.5.1958 Kindisch, Professor, Begründer der Landarbeitsforschung in
Pommritz); K: Jürgen (18.7.1916-12.5.1942), Rotraut (*7.6.1918, Dipl.-Landwirtin)
Dorothea Ebert besuchte von 1894
bis 1899 die Höhere Mädchenschule
in Luckenwalde, bis 1900 die Höhere
Mädchenschule in Stendal und bis
1904 die Höheren Mädchenschulen II
und I in Hannover. 1908 schloss sie in
Hannover das Lehrerinnen-Seminar
mit einem Examen für mittlere und
höhere Mädchenschulen ab. 1909
bestand sie am Realgymnasium
Kassel das Abitur. Von 1909 bis 1910
studierte Ebert Deutsch, Geschich¬
te und Französisch in Marburg, bis
1911 in Berlin und danach wieder in
Marburg. Am 27. Mai 1914 bestand
sie das Doktorexamen. Danach hielt
sie sich in Frankfurt/Main auf. Ihre
Promotion „Die Sprache des Trie¬
rer Psalters“ verteidigte sie 1915 in
Marburg. Betreut wurde diese Arbeit
von Friedrich Vogt und Edmund
Ernst Stengel. 1919 kam sie mit ihrem
Ehemann, Georg Derlitzki, von
Gießen nach Pommritz, als dieser
zum Leiter der dortigen Versuchs¬
anstalt berufen wurde. Zusammen
richteten sie 1926 eine eigenständige
hauswirtschaftliche Abteilung zur
Rationalisierung der Arbeit der Land¬
frauen in Hof, Haus, Stall und Garten
ein. Dorothea Derlitzki beschrieb das
Konzept 1926 in „Arbeitsersparnis¬
se im Landhaushalt“. Die Derlitzkis
wollten Misstrauen der Bäuerinnen
gegenüber neuen Arbeitsmethoden
abbauen, machten die „Pommritzer
Wanderkurse“ populär und trugen
so dazu bei, die traditionelle Überbe¬
lastung der Bauersfrauen zu über¬
winden. Dorothea Derlitzki stellte
die körperliche und psychologische
Überforderung der Landfrauen als
Krise dar, für welche die Weimarer
Staatsregierung schnellstens Abhilfe
zu schaffen hätte, weil auch davon
das Wohlergehen ganz Deutschlands
abhängen würde. Nach der Kündi¬
gung ihres Mannes durch die Nazis
bewirtschafteten die Derlitzkis ab
1934 einen Bauernhof in Kindisch.
Nach dem Tod ihres Mannes führte
Dorothea Derlitzki mit ihrer Tochter
den Hof bis 1960 weiter.
Quellen: Dorothea Ebert: „Die Sprache des
Trierer Psalters“. Dissertation, Marburg 1915;
Rotraut Derlitzki, Eberhard Schulze: „Georg
Max Ludwig Derlitzki (1889-1958)“. LAMO,
Discussion Paper No. 58, 2004; Elizabeth
Bright Jones: „Landwirtschaftliche Arbeit und
weibliche Körper in Deutschland, 1918-1933“.
34. Kongress der Deutschen Gesellschaft für
Volkskunde, Berlin, 2003; Christa Ladusch:
Hochkircher Kulturnachrichten, August 2001
77
Dr. Edmund Friedrich war maßgeblich beteiligt, der Balneologie, der Lehre
von den Heilbädern, ihren Arten und Anwendungen, im 19. Jahrhundert in
Deutschland zum Durchbruch zu verhelfen (Foto: Wilhelm Höffert).
Friedrich, Edmund
Dr. med., Baineologe
15.04.1826 Bischofswerda - 11.02.1912 Dresden
V: Paul Karl Gottlieb (*1770 Schneeberg, 19.11.1830 Wendishain), Theologiestudium in Leipzig,
1806 Diakon in Finsterwalde, 1814 Dissertation „Symbolae philologico-criticae ad interpreta-
tionem Psalmi centesimi decimi“ in Leipzig, 1816 Archidiakon in Bischofswerda und Prediger
in Goldbach, 1828 „Andeutungen und Materialien zu Trau- und Leichenreden für Prediger
auf dem Lande“ (3 Bände), 1830 Pfarrer in Wendishain, Unterlagen zur Nachlassverwaltung
im Sächsischen Staatsarchiv; M: Amalia Charlotte geb. Sperrfarth aus Dresden, dritte Ehe ihres
Mannes, ? jene „Madame Friedrich“, die 1818 zur Kirchweihe in Bischofswerda unter Fran¬
cesco Morlacchi gesungen hat; G; 3 ältere, die ersten beiden in Finsterwalde geboren, darunter
Carl (? * in Fürstenwalde, 1829-1834 Fürstenschule Grimma, Finanzbeamter in Leipzig und
Braunschweig); Paten: Johann August Sachse (königl.-sächs. Steuerbuchhalter), Sophia Klengel
(Bischofswerda), August Friedrich Künzel (königl.-sächs. Obersteuerkassierer, Dresden)
Friedrich verlor früh seine Eltern. Er
wuchs bei Verwandten in Dresden
auf, wo er ab 1836 die Kreuzschule
besuchte. 1845 begann er, in Leipzig
Jura zu studieren, wechselte aber
bereits nach einem halben Jahr zur
Medizin. Sein Professor, Johann von
Oppolzer, war ein Verfechter einer
ganzheitlichen Therapie und zählte
zu den Begründern der wissenschaft¬
lichen Balneologie. Nach einem
Aufenthalt in Heidelberg bei Karl von
Pfeufer, einem Professor für Arznei¬
mittellehre, promovierte Friedrich
1850 in Leipzig mit „De pleuritide“.
Anschließend unternahm er Studien¬
reisen nach Prag zu dem Internisten
Anton von Jaksch und nach Wien,
wohin Oppolzer berufen worden war.
Von 1852 bis 1855 arbeitete Friedrich
als Hilfsarzt an der Kinderheilanstalt
in Dresden, danach ließ er sich mit ei¬
ner eigenen Praxis nieder. 1854 stellte
er die von Otto Kohlschütter, Grün¬
der der Dresdner Kinderheilanstalt,
begonnene deutsche Fassung „Prak¬
tisches Handbuch über die Krankhei¬
ten des weiblichen Geschlechts“ aus
dem Englischen nach Samuel Ashwell
fertig. In seiner Schrift „Der Abdomi¬
naltyphus der Kinder“ fasste Friedrich
die Krankheitsbilder von 275 Typhus-
Patienten der Kinderheilanstalt aus 21
Jahren seit ihrer Gründung zusam¬
men. Emil Noeggerath lobte diese Ar¬
beit im New York Journal of Medicine
als „excellent in every respect“. Von
1855 bis 1887 beteiligte sich Friedrich
an den von Carl Christian Schmidt
gegründeten „Jahrbüchern der ge-
sammten Medizin“.
Edmund Friedrich war ein Verfechter
des Turnens, dem er nicht nur eine
gesundheitliche, sondern auch eine
ethische und nationale Bedeutung
beimaß. Er studierte in Schweden und
Norwegen die Praxis der Heilgymnas¬
tik und beschrieb seine Erfahrungen
79
in „Die Heilgymnastik in Schweden
und Norwegen nach eigener An¬
schauung für Aerzte und Turnlehrer“
(1855). Aus der Sicht eines deutsch¬
nationalen Turners fand er einige
Kritikpunkte. Zum Turnen publizierte
Friedrich auch in der Tagespresse,
und er war von 1855 bis 1871 Mithe¬
rausgeber der „Neuen Jahrbücher für
die Turnkunst“.
Mit seinem Buch „Gesundheitspflege
für das Volk“ gewann Friedrich einen
1862 in Breslau ausgelobten Preis¬
wettbewerb zum Thema „Rathschläge
an das Volk zur Erhaltung der Ge¬
sundheit“. Die Wettbewerbsbeiträge
sollten allgemeinverständlich sein „in
Fürsorge namentlich derjeniger seiner
Mitmenschen, welche ausschließlich
sich durch Arbeit das tägliche Brod
erwerben müssen.“ Ausführlich be¬
handelte Friedrich auf insgesamt 248
Seiten Ernährung, Luft, Arbeit, Sexu¬
alkunde und Krankheitspflege, wobei
er als einer der Ersten darlegte, dass
Nahrungsmittel besser als Lebensmit¬
tel zu bezeichnen seien. Der Patholo¬
ge Hermann Lebert hielt das Referat.
Friedrich schrieb zudem 1867 die
„Uebersicht der wichtigeren Beiträge
in der englischen und amerikanischen
Literatur der Jahre 1855 bis 63 zur
Pathologie und Therapie der Lungen¬
tuberkulose“ und „Die Paracentese
des Unterleibs bei Darmperforation
im Abdominaltyphus“.
1861 hatte Friedrich in Dresden u.
a. mit Friedrich von Boetticher und
Karl Gutzkow dem Vorstand eines
Komitees für den Aufbau deutscher
Seestreitkräfte angehört. Während
der Kriege 1866 und 1870/71 diente
er als Arzt bzw. Oberarzt in Dresd¬
ner Kriegslazaretten. 1871 leitete er
den Sanitätszug des 12. Armeekorps.
Friedrich schrieb: „Die Deutschen
Sanitätszüge im Feldzuge gegen
Frankreich“ (1871/72, Gesellschaft für
Natur- und Heilkunde Dresden).
Das Reisen war Friedrichs Leiden¬
schaft. Er besuchte Russland, Belgien,
England, Holland, Frankreich, die
Schweiz und Italien. Seinen Lebens¬
unterhalt bestritt er dabei teilweise
als Reisearzt. Besonders die See
hatte es ihm angetan. Die Ergebnisse
seiner baineologischen und klima-
tologischen Studien veröffentlichte
Friedrich in zahlreichen Aufsätzen
und Monographien. Albert Eulenburg
berief ihn als Mitarbeiter für Balneo¬
logie an der „Real-Encyklopädie der
gesamten Heilkunde“ (nach 1880).
Friedrich schrieb: „Herbstaufenthalt
und Überwinterung Kranker auf den
Deutschen Nordseeinseln“ „Über
Seeluftkuren bei Asthma und in den
Anfängen der Phthise“ (1886, Ge¬
sellschaft für Natur- und Heilkunde
Dresden), „Die deutschen Insel- und
Küstenbäder der Nordsee“ (1888),
„Die holländischen und belgischen
Seebäder und Seehospize“ (1889),
„Über den Salzgehalt der Seeluft und
die therapeutische Verwertung der
wirksamen Faktoren der Nordseeluft“
(1890), „Die deutschen Kurorte der
80
1898 veranschaulichte Max Liebermann, wie Seebäder innerhalb von 100
Jahren in Deutschland in Mode gekommen waren. „Die Wirkung des Auf¬
enthalts in einem Seebadeort ist nur zum Teil auf das Baden im Seewasser
zu beziehen; eine mindestens gleichwichtige Rolle spielen dabei die klima¬
tischen Verhältnisse. Die Seeluft ist sehr rein,.... Die meist starke Luftbe¬
wegung steigert die Wärmeabgabe durch die Haut sehr bedeutend, damit
werden auch die wärmebildenden Prozesse stark angeregt... Bad im Seewas¬
ser, dessen Wirkung auf der Temperatur, dem Salzgehalt und der Bewegung
des Wassers beruht.“ (Meyers Großes Konversations-Lexikon, 1909).
Nordsee“ (1891), „Mitteilungen aus
einigen Kurorten der Nordsee und
einigen Ostseebädern“ (1895), „See¬
reisen in Prophylaxe und Therapie der
Lungenschwindsucht“ (1899, Berli¬
ner Klinische Wochenschrift) und
„Mitteilungen aus dem Küstenhos¬
pital zuRefsnaes 1875-1900“ (1901,
Zeitschrift für Tuberkulose und
Heilstättenwesen). In „Die Seereisen
zu Heil- und Erholungszwecken, ihre
Geschichte und Literatur“ (1906)
stellte Friedrich dar, wie sich die An¬
schauungen über die Indikation von
Seereisen im Laufe der Zeit gewandelt
hatten. Zudem erschienen von ihm
Beiträge in der Münchner Monats¬
schrift für praktische Balneologie,
von 1895 bis 1898 Organ des Allge¬
meinen Deutschen Bäderverbandes,
81
und in der „Zeitschrift für diätische
und physikalische Therapien“ (1898
in Berlin von Ernst von Leyden und
Alfred Goldscheider gegründet). Dort
beschrieb er am Beispiel der Dresdner
Heide den Nutzen von Sandbädern
im Binnenland für die Behandlung
tuberkulöser Kinder, ein Bad in der
kalten Prießnitz zum Abschluss
inklusive. 1895 nahm Friedrich am II.
Internationalen Kongress für Thalas¬
sotherapie in Ostende teil, 1899 am
Kongress zur Bekämpfung der Tuber¬
kulose als Volkskrankheit in Berlin,
wo Walther Hesse einen Vortrag
hielt. 1897 referierte Friedrich vor
der Naturforschenden Gesellschaft in
Görlitz „Über vulkanische Schlacken
als Treibprodukte der Nordsee“.
Friedrich war ab 1854 für mehr als
50 Jahre Mitglied der Gesellschaft
für Natur- und Heilkunde, die sich
in Dresden dem Informationsaus¬
tausch zwischen Ärzten und Na¬
turforschern widmete und der auch
Walther Hempel und Walther
Hesse angehörten. Der Gesellschaft
Deutscher Naturforscher und Ärzte
gehörte Friedrich ebenfalls an. Ab
1865 war er für fast 50 Jahre Mitglied
in der Naturwissenschaftlichen Ge¬
sellschaft ISIS. Die ISIS galt seit ihrer
offiziellen Anerkennung 1835 als die
führende Wissenschaftlerorganisa¬
tion Dresdens, so zählten die Rek¬
toren des Polytechnikums bzw. der
Technischen Hochschule Walther
Hempel, Gustav Anton Zeuner, Oscar
Drude und Bernhard Pattenhausen
zu ihren Mitgliedern. Des Weiteren
gehörten ihr zur Zeit von Edmund
Friedrich der Mediziner Carl Gus¬
tav Carus, Walther Hesse, Johann
Friedrich Judeich aus Tharandt, Franz
Ledien vom Botanischen Garten,
Julius Lehmann, Bruno Steglich
und Julius Adolph Stöckhardt an.
Von Anfang an stand die ISIS allen
naturwissenschaftlich Interessierten,
Akademikern und Laien, gleicher¬
maßen offen. Die Mitglieder waren
verpflichtet, sich aktiv mit Vorträ¬
gen am wissenschaftlichen Leben
zu beteiligen. Ludwig Reichenbach,
Gründer des Botanischen Gartens
in Dresden, prägte die ISIS über 30
Jahre als deren Leiter. Als 1866 nach
einer Statutenänderung die Wahlperi¬
oden auf zwei Jahre begrenzt wurden,
verließ er aus Protest die Gesellschaft.
Im Zeitraum von 1868 bis 1886 leitete
der Geologe und Mineraloge Hanns
Bruno Geinitz die ISIS für insgesamt
sieben Jahre. Geinitz gehörte zudem
wie Friedrich der Gesellschaft für
Natur- und Heilkunde an. Jener war
noch zur Zeit von Reichenbach Mit¬
glied der ISIS geworden, aber offenbar
blieb ihr Verhältnis ungetrübt. Als
Reichenbach 1879 starb, war es an
Friedrich, den langjährigen Vorsit¬
zenden in den „Sitzungsberichten
und Abhandlungen der ISIS“ zu wür¬
digen. Friedrich ging ausführlich auf
die Verdienste Reichenbachs ein. Die
Streitigkeiten, die zu Reichenbachs
Austritt aus der ISIS geführt hatten,
und den erbitterten Nachfolgestreit
um die Präsidentschaft der seinerzeit
82
in Dresden ansässigen Leopoldina
nach dem Tod von Carl Gustav Carus
im Jahre 1869 erwähnte er nur kurz.
Die Leopoldina entschloss sich, statt
einen eigenen Nachruf für Reichen¬
bach zu verfassen, den Beitrag Fried¬
richs im Wesentlichen nachzudru¬
cken. Die positive Gesamtwürdigung
ersetzte man jedoch durch Kritik.
In den Dresdner Vereinen beschäftig¬
te sich Friedrich neben der Balneolo¬
gie auch mit botanischen und geolo¬
gischen Fragen. So war er Mitglied
im Verein für Erdkunde unter Sophus
Rüge, schrieb „Nochmals die Heimat
des Borsdorfer Apfels“ und sprach
in der ISIS über die Verbreitung der
Esskastanie sowie auch hier über
„Vulkanische Schlacken als Treib¬
produkte der Nordsee“. Von 1870 bis
1875 führte Friedrich die Geschäfte
des Geselligkeitsvereins „Montags¬
gesellschaft“. Unter Leitung des
Konrektors der Kreuzschule Gustav
Helbig und maßgeblicher Beteiligung
liberaler Kräfte wie Ernst Riet-
schel und Karl Gutzkow hatte sich
in der nachrevolutionären Zeit das
inhaltliche Profil des vormals hoch¬
politischen, literarisch-künstlerischen
Vereins um Gottfried Semper und
Richard Wagner wesentlich verändert,
der elitäre Charakter war jedoch im
Unterschied zu anderen Gesellschaf¬
ten erhalten geblieben. Bekannte
Wissenschaftler wie Oskar Schlömilch
und der Botaniker Matthias Schleiden
traten neu ein.
Friedrich wohnte und praktizierte
in Dresden Wallstraße 5a (1862),
Dohnaplatz 13 (1868), Wiener Straße
11 (1892) und Lindengasse 20 (1904).
Für seine Verdienste wurde er mit
dem Titel Sanitätsrat und dem Rit¬
terkreuz zum Albrechtsorden geehrt.
In Meyers Großem Konversations-
Lexikon von 1909 gehörte er zu den
wenigen zitierten Literaturnachweisen
zum Thema Seebäder. Edmund Fried¬
rich fand auf dem Trinitatisfriedhof
die letzte Ruhe. Dem Dresdner Bür¬
gerhospital vererbte er 6000 Mark.
Quellen: Julius Leopold Pagel: „Biographisches
Lexikon hervorragender Ärzte des neunzehnten
Jahrhunderts“. 1901; Neuer Nekrolog der Deut¬
schen, 1832; Karl Wilhelm Mittag: „Chronik
der königlich sächsischen Stadt Bischofswerda“.
May Bischofswerda, 1861; Neue Jahrbücher für
die Turnkunst, Schönfeld, 1860; Manfred Stürz¬
becher: „Beiträge zur Berliner Medizingeschich¬
te“ Bd. 18; Max Erich Richard Matthes: „Lehr¬
buch der klinischen Hydrotherapie“. Fischer
Jena, 1900; Sitzungsberichte und Abhandlungen
der Naturwissenschaftlichen Gesellschaft Isis;
Jahresbericht des Vereins für Erdkunde zu Dres¬
den, 1896; Gotthold Pannwitz: „Bericht über
den Kongress zur Bekämpfung der Tuberkulose
als Volkskrankheit“. 1899; Hubertus Averbeck:
„Von der Kaltwasserkur bis zur physikalischen
Therapie“. Books on Demand, 2013; Dirk Hem-
pel: „Literarische Vereine in Dresden. Kulturelle
Praxis und politische Orientierung des Bürger¬
tums im 19. Jahrhundert“. Walter de Gruyter,
2008; Kirchenarchiv Bischofswerda; Dresdner
Adressbücher 1852-1912; Dresdner Anzeiger,
3. September 1912; Dresdner Geschichtsblät¬
ter, 1909-1912, Bd. 5, S. 237; Werner Wilhelm
Schnabel: „Repertorium Alborum Amicorum“.
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-
Nürnberg; Webseite des Sächsischen Staats¬
archivs; Christian Gottlob Immanuel Lorenz:
„Grimmenser-Album“. 1850; Zeitschrift für
Rechtspflege und Verwaltung, Bd. 37, 1872
83
■ *
Dreifach ist der Schritt der Zeit: Zögernd kommt die Zukunft hergezogen,
pfeilschnell ist das Jetzt entflogen, ewig still steht die Vergangenheit.
(Eintrag von Richard Garbe in einem Kleindrebnitzer Gästebuch)
Garbe, Richard Erich Christian
Pfarrer in Großdrebnitz, sächsischer Landespfarrer für Frauenarbeit
29.07.1910 Hohndorf b. Freiberg - 02.08.1992 Hannover
V: Friedrich (*1876), Bergmann; M: Helene geb. Neumann (*1887); G: Käthe (*1920); E: 1937
in Oelsnitz, Erika Frieda geb. Grunert (*1915, tl.2.2008 Hannover); K: Frieda Christel Helena
(*1938)
Garbe studierte in Leipzig Theologie
und legte am 20. Juli 1934 das erste
Theologische Staatsexamen ab. Am 1.
Januar 1935 erhielt er seine erste An¬
stellung im Dienst der Evangelisch-
Lutherischen Landeskirche Sachsen
als Pfarrvikar von Großdrebnitz und
Goldbach und am 16. Februar 1936
wurde er ordiniert. Bereits während
des Studiums hatte Garbe die Werbe¬
aktionen der Nazis erlebt. Seine ersten
Dienstjahre fielen in eine Zeit heftiger
Auseinandersetzungen zwischen dem
deutschchristlichen Kirchenregi¬
ment der Landeskirche unter Bischof
Friedrich Coch und Anhängern der
„Bekennenden Kirche“. Im Herbst
1937 eskalierte der Streit sachsenweit.
Viele regimekritische Pfarrer wurden
entlassen. Auch in Goldbach besaßen
die Deutschen Christen um Kantor
Max Gelbke großen Einfluss. Der
erreichte beim Landeskirchenamt,
dessen Leiter Erich Kotte kurz zuvor
auf Betreiben von Oberkirchenrat
Johannes Klotsche abgesetzt worden
war, dass er gegen Garbes Willen
jeden vierten Sonntag im Monat
und jeden ersten Feiertag an hohen
Festen Lesegottesdienst halten sollte.
Eine Denunziation führte zu Garbes
Dienstentlassung am 1. Dezember
1937. In der offiziellen Begründung
des Landeskirchenamtes wurde ange¬
führt, dass er sich gegen die Beurlau¬
bung des Bautzener Superintendenten
Walter Theodor Berg ausgesprochen
und das landeskirchliche Gemein¬
deblatt abbestellt hätte. Die gesamte
Aktion der Nazis war aber ein Fehl¬
schlag, denn es gelang nicht, die
Großdrebnitzer Bevölkerung gegen
ihren Pfarrer aufzubringen. Auf Ein¬
spruch beim Landeskirchenamt durch
mehrere Kirchenvorsteher wurde die
Entlassung für Großdrebnitz zurück¬
genommen und die Wahl Garbes als
ständiger Pfarrer von Großdrebnitz
ungeachtet der Anfeindungen durch
die Nationalsozialisten nach Verord¬
nung des Evangelisch-Lutherischen
Landeskirchenamtes vom 28. Februar
1939 bestätigt. In Goldbach durfte
er keinen Dienst mehr tun. Auch in
Großdrebnitz stand Garbe jedoch
während seiner sonntäglichen Predig¬
ten unter der Beaufsichtigung durch
die Polizeibehörde. Das blieb gültig
bis zum 26. August 1939, jenem Tag,
an dem Richard Garbe zum Wehr¬
dienst eingezogen wurde.
85
In dieser schweren Zeit entstand eine
Publikation Garbes, die heute für
die Ortsgeschichtsschreibung von
großem Wert ist und die damals wohl
seiner Protesthaltung entsprang. Sie
erschien in der ehemaligen Tagungs¬
zeitung „Sächsischer Erzähler“, Sonn¬
tagsbeilage „Unsere Heimat“ vom 11.
und 18. April 1938. Der dort mit einer
Fortsetzung abgedruckte Beitrag von
Garbe, P. (P. vermutlich für „Pfarrer“):
„Vorarbeiten für eine Dorfchronik“
ging im Inhalt nicht auf NS-ideologi-
sche Aspekte ein. Stattdessen wurden
der nationalsozialistischen Ideologie
fremde Autoren wie Bruno Barthel
und Kirchschullehrer Willy Sorber,
1937 in Großdrebnitz suspendiert, als
bedeutende lokale Geschichtsquellen
genannt.
Während Garbe seinen Wehrdienst
leistete, musste sich die Ehefrau im
Dorf kleinlicher Gehässigkeiten
führender NS-Mitglieder erwehren.
In dieser Zeit war für sie die Unter¬
stützung des Bürgermeisters Otto
Heinrich von großer Bedeutung.
Zum Kriegsende kam Garbe an der
Westfront in amerikanische Ge¬
fangenschaft und wurde frühzeitig
entlassen - aber nicht nach Hause in
die sowjetische Besatzungszone. Das
Überschreiten der Zonengrenze war
äußerst gefahrvoll und gelang nur
mit Unterstützung durch ihm zuge¬
tane Menschen auf dem Tender einer
Dampflokomotive. Auf dem weiten
Weg nach Hause geriet er noch ein
weiteres Mal in Gefahr bei einer Raz¬
zia durch Russen, die Heimkehrern
aus den westlichen Besatzungszonen
galt. Für diese war der Abtransport in
nunmehr russische Kriegsgefangen¬
schaft vorgesehen. Fremde Menschen
halfen spontan, den Gefährdeten
zu verbergen. Glücklich zur Familie
heimgekehrt, teilte er am 25. Oktober
1945 der Superintendentur mit, dass
er seine Amtstätigkeit in Großdreb¬
nitz wieder aufgenommen habe. Am
9. November 1945 konnte ihm die
Superintendentur seinen neuen Per¬
sonalausweis (mit russischer Überset¬
zung und Abstempelung) zustellen.
Erst jetzt war Garbe in Sicherheit.
Im Jahr 1947 kam der einst aus der
Schule entfernte Oberlehrer Willy
Sorber zurück in das Dorf. Garbe hat¬
te diese Heimkehr ermöglicht durch
die Einstellung Sorbers als Kantor
und dessen Aufnahme in eine Woh¬
nung auf dem Pfarrgrundstück. Der
damalige Theologiestudent Reinhard
Eeue erhielt bei Garbe zeitweise Kost
und Eogis.
Garbe musste bald erkennen, dass der
sozialistische Nachfolgestaat nicht nur
kirchen-, sondern auch menschen¬
feindliche Züge annahm. Allerdings
waren im Großdrebnitz der Nach¬
kriegszeit die Bemühungen, eine
„Klassenkampfstimmung“ zu erzeu¬
gen, vergeblich geblieben. Das hatte
seine Ursache in der Kirchenfreund¬
lichkeit der Einwohner, aber auch in
einer der Kirche gegenüber toleranten
Haltung des (Neu-)Lehrerkollegiums.
Das lieb gewordene Großdrebnitz
86
Jakobikirche Freiberg. Foto: Unu-
korno 2008 (Wikimedia Commons),
Lizenz: CC BY-SA 3.0
verließ Garbe im Jahr 1951, um in
Freiberg an der Jakobikirche die
Pfarrstelle zu übernehmen. Hier
geriet er erneut in Konfrontation mit
den Machthabern. Dieses Mal schien
kein weiterer Ausweg möglich als die
Republikflucht. Dem Einsatz des da¬
maligen Landesbischofs Dr. Gottfried
Noth war es zu verdanken, dass Garbe
in die DDR zurückkehren konnte.
Am 26. Oktober 1960 wurde Garbe
als Landespfarrer für sächsische Frau¬
enarbeit berufen. Gleichzeitig wirkte
er bis zum 31. Dezember 1966 als
Gemeindepfarrer in Dresden-Kaditz.
Ende der 1960er Jahre beteiligte sich
Garbe an der DDR-weiten Vorberei¬
tung des Weltgebetstages in Berlin.
Emmauskirche Dresden-Kaditz.
Foto: X-Weinzar 2007 (Wikimedia
Commons), Lizenzen: CC BY-SA
3.0, GFDL
Er initiierte die Herausgabe einer
Diaserie und erarbeitete die ersten
beiden Teile selbst. 1970 bestand
die Serie aus 135 Aufnahmen. Die
Diaserie wurde bis 1990 fortgeführt.
Zum 31. Juli 1977 schied Garbe aus
dem Dienst aus. Seine vorausgegange¬
nen Bemühungen um eine Wohnung
waren von den staatlichen Stellen
blockiert worden, seinem Antrag auf
Ausreise in die Bundesrepublik wurde
dagegen ohne weiteres stattgegeben.
Das unterstreicht, welches Misstrauen
die Behörden der DDR diesem Pfar¬
rer entgegenbrachten. Er hatte zwei
Diktaturen standgehalten.
Quellen: Pfarrarchiv Großdrebnitz; Mitteilungen
Pfarrer Sebastian Führer (Martinskirche Großdreb¬
nitz), Erika Garbe, Klaus Giesemann und Christa
Freundenberg; Auskunft Evangelisch-Lutherisches
Landeskirchenamt Sachsen; www.frauenarbeit-
sachsen.de, Geschichte der Kirchlichen Frauenar¬
beit; Hans Meiser, Hannelore Braun, Nora Andrea
Schulze, Carsten Nicolaisen: „Verantwortung für
die Kirche“. Bd. 3, Vandenhoeck & Ruprecht, 1985;
Reinhard Leue: „1947 - Unterwegs durch die Ober¬
lausitz“ Oberlausitzer Hausbuch 2006
87
Ludwig Gedike.
Quellen: Heinrich Kämmel: „Gedike, Ludwig Friedrich Gottlob Ernst“, Hermann Schulze: „Gaupp, Ernst
Theodor“ Allgemeine Deutsche Biographie, 1878; Fritz Borinski: „Gedike, Friedrich“. Neue Deutsche
Biographie, 1964, S. 125-126; Dr. Schubart: „Zur Geschichte des Gymnasiums in Budissin“. Gedr. bei E.M.
Monse, 1863; „Zur festlichen Feier des fünfzigjährigen Jubiläums der ersten Bürgerschule zu Leipzig.“ Carl
Gustav Naumann Leipzig, 1853; Friedrich August Schmidt, Bernhard Friedrich Voigt: „Neuer Nekrolog der
Deutschen“. Verlag B.F. Voigt, 1840; Johann Samuel Ersch, Johann Gottfried Gruber: Allgemeine Encyclo-
pädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge, Bd. 55, Gleditsch, 1852; Gottlieb Friedrich
Otto: „Lexikon der seit dem fünfzehenden Jahrhunderte verstorbenen und jetztlebenden Oberlausizischen
Schriftsteller und Künstler“. Bd. 2,1801; Herbert E. Brekle, Edeltraud Dobnig-Jülch: „Bio-bibliographisches
Handbuch zur Sprachwissenschaft des 18. Jahrhunderts“. Bd. 3, De Gruyter 1994; Sanct Johannis Freimaurer-
Loge zur goldnen Mauer, Mitgliederverzeichnis 1805; http://freimaurer-wiki.de; http://www.leipzig-lexikon.
de; Heinrich Heinlein: „Der Friedhof zu Leipzig in seiner jetzigen Gestalt oder Vollständige Sammlung
aller Inschriften auf den ältesten und neuesten Denkmälern daselbst“. 1844; Jens Häseler, Rolf Geissler: „La
Correspondance de Jean Henri Samuel Formey (1711-1797): Inventaire alphabetique Vol. 29, Serie „Vie des
Huguenots“. Honore Champion, 2003; Lausizische Monatsschrift, 1793, 1796, 1797, 1800, 1802; Leipziger
Adressbuch, 1830; Britta L. Behm, Uta Lohmann, Ingrid Lohmann: „Jüdische Erziehung und aufklärerische
Schulreform“. Waxmann Verlag, 2002; Topographische Chronik von Breslau, 1806; Ernst Gustav Vogel,
Johann Carl Christoph Vogel: „Zur Erinnerung an L.F.G.E. Gedike, ersten Director der Bürgerschule zu
Leipzig“. Leipzig, 1839
Gedike, Ludwig Friedrich Gottlob Ernst
Professor, Schulreformer
22.10.1761 Boberow- 09.07.1838 Breslau
V: Friedrich (*16.11.1718 Berlin, 130.4.1762 Boberow), Magister, Pfarrer, Besitzer einer großen
Briefsammlung an Philipp Spener; M: Catharina Eleonore geh. Seger, Pfarrerstochter aus
Bechlin; G: Friedrich (*15.1.1754 Boberow bei Lenzen, 12.5.1803 Berlin, Gymnasialdirek¬
tor, Oberkonsistorialrat, Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Akademie der
Künste Preußens, wichtiger Modernisierer des preußischen Bildungswesens, verband in seinen
Schulprogrammen die klassische humanistische Bildung mit Ideen der Aufklärung, stärkte
die öffentlichen Realschulen, 1788 an der Einführung des Abiturs beteiligt, Freimaurer-Loge
„Zu den drei Weltkugeln“); E: Breslau, Johanna Christine Charlotte geb. Kruttge (Tochter eines
Arztes, 1 nach 1838); K: Ernst Friedrich Gustav (1791-18.1.1797), Eduard Ludwig (*30.9.1793
Bautzen, 113.5.1821 Leipzig, Studium in Leipzig, königlich-preußischer Regierungs-Assessor in
Magdeburg), Luise Karoline (*29.3.1796 Bautzen, verheiratet in Berlin), Luise Auguste (*7.2.1800
Bautzen, 1 nach 1859, ab 1823 in Leipzig und später in Breslau mit dem Juraprofessor Ernst
Theodor Gaupp verheiratet, Vorstandsmitglied der Breslauer Singakademie)
Gedike entstammte einer märkischen
Pfarrerfamilie. Sein Großvater Lam¬
bert Gedicke war in Halle von August
Hermann Francke im Sinne des Pie¬
tismus geprägt worden. Als Kleinkind
verlor Ludwig den Vater. Seine frühe
Kindheit verbrachte er in Perleberg.
Mit 10 Jahren fand Gedike Aufnahme
im Schindler‘sehen Waisenhaus in
Berlin, später besuchte er das dortige
Gymnasium “Zum grauen Kloster“.
Besonders sein sieben Jahre älterer
Bruder, Friedrich Gedike, bemühte
sich sehr um Ludwigs Ausbildung.
Friedrich erhielt 1775 eine Anstellung
als Hauslehrer in der Familie des
Aufklärers Johann Joachim Spalding
und nahm Ludwig als Schüler mit.
Mit finanzieller Unterstützung des
Schindler‘sehen Waisenhauses konnte
Gedike 1780 die Universität Halle
beziehen, wo er Theologie, Philolo¬
gie und Pädagogik studierte. Seinen
Lebensunterhalt verdiente er sich teil¬
weise selbst mit Privatunterricht. In
Halle wurde er am 1. September 1780
auch in die Freimaurer-Loge „Zu den
drei Degen“ aufgenommen. Der Di¬
rektor des Gymnasiums „Zum grauen
Kloster“, Anton Friedrich Büsching,
holte Gedike 1782 als Lehrer zurück
nach Berlin. Dessen Bruder Friedrich
arbeitete inzwischen an der selben
Schule. Minister Karl Abraham von
Zedlitz, ein Anhänger der Kant‘sehen
Philosophie und Förderer des Volks¬
schulwesens, veranlasste noch im
selben Jahr Gedikes Berufung an das
Elisabeth-Gymnasium in Breslau
als dritter Professor, weil die dortige
Ausbildung in den alten Sprachen in
der Kritik stand.
Gedike unterrichtete ab Januar 1783
neun Jahre am Elisabeth-Gymnasium
in Breslau die lateinische, griechische
89
Das Elisabeth-Gymnasium ging
auf eine 1293 bei der St.-Elisabeth-
Kirche Breslau gegründete Elemen¬
tarschule zurück, die als Pfarrschule
eng mit der Kirche verbunden war.
Nach der Reformation wurde die
Schule städtisches Gymnasium und
am alten Standort mehrfach umge¬
baut. Anfang des 20. Jahrhunderts
bezog sie einen Neubau an einem
anderen Platz.
und hebräische Sprache. Das Gymna¬
sium wurde in jener Zeit von Johann
Kaspar Arletius geleitet. Besonders
auch mit dessen Nachfolgern als
Rektor Philipp Julius Lieberkühn und
Johann Ephraim Scheibel sowie dem
damaligen Pro-Rektor des Maria-
Magdalenen-Gymnasiums in Breslau,
Johann Kaspar Friedrich Manso,
stand Gedike in enger Verbindung.
Unter der Regentschaft des preußi¬
schen Königs Friedrich II. („der Gro¬
ße“) und dem Einfluss des führenden
preußischen Pädagogen Friedrich
Gedike, Ludwigs Bruder, waren in
Breslau frühzeitig fortschrittliche
Schulreformen eingeleitet worden. Zu
Ludwig Gedikes Aufgaben gehörten
die Prüfung von Schulamtskandida¬
ten, die Aufsicht über das königliche
Seminar für Landschullehrer und die
Mitarbeit bei der Organisation der
israelitischen Wilhelmsschule. Diese
am 15. März 1791 mit anfangs 125
Schülern eingeweihte Schule entstand
im Zuge der vom preußischen König
Friedrich Wilhelm II. befohlenen
Neuordnung des „Judenwesens“ in
Breslau ab 1790. Die jüdische Bevöl¬
kerung erhielt erweiterte Bürgerrech¬
te, gleichzeitig musste sie sich feste
Familiennamen zulegen. Der König
wies die Schulgründung für jüdische
Kinder an, um „die künftige Genera¬
tion zu nützlichen Bürgern des Staats
zu bilden“. Aufgeklärte preußische
Beamte und Pädagogen unterstützten
die Integration der jüdischen Mitbür¬
ger, auch auf jüdischer Seite fassten
aufklärerische Ideen Fuß. Die Zeit
der Aufklärung war insgesamt durch
einen verstärkten interkulturellen,
christlich-jüdischen Dialog gekenn¬
zeichnet. Das Schulkollegium als Auf-
90
sichtsgremium der Wilhelmsschule
stand unter der Leitung von Friedrich
Albert Zimmermann. Neben Gedike
als christlichem Pädagogen gehörten
dem Gremium Vertreter der jüdi¬
schen Gemeinde an, darunter als
Oberlehrer der Reformer Joel Loewe.
Vorbehalte gegenüber der säkularen,
vom preußischen Staat geförderten
Einrichtung gab es vor allem aber
auch seitens traditioneller jüdischer
Kreise. Anlässlich der Eröffnung der
Schule sagte Gedike dazu: „nicht
leichtsinnige Spötter und Verächter
eures Glaubens, nicht schadenfrohe
und seichte Verächter der durch reli¬
giöse Ueberzeugungen gegründeten
Gemüthsruhe ihrer Brüder, sondern
aufgeklärte und redliche Verehrer der
Religion, gute, zufriedene und mit
dem Geiste ächter Duldung und Liebe
erfüllte Menschen, geschickte und
patriotische Bürger solle sie erziehen“.
Gedike schrieb in Breslau „Einige
Gedanken über den jetzigen Zustand
der alten Litteratur in unsern gelehr¬
ten Schulen, und dessen Ursachen“
(1787), worin er sich für eine mehr
inhaltliche Rezeption der klassischen
Literatur statt reiner Sprachaneignung
aussprach, und ein „Hebräisches
Lesebuch für Schulen, mit einem
vollständigen hebräisch - deutschen
Wörterverzeichniß“ (1790). Beim
Aufbau des Lesebuchs, darunter den
nach Schwierigkeitsgraden geordne¬
ten Beiträgen, orientierte er sich am
Vorbild seines Bruders. Von seinem
Lehrer Lieberkühn gab Gedike die la¬
teinische Übersetzung des „Robinson“
(1789) und dessen „Kleine Schriften“
mit einer Lebensbeschreibung heraus
(1791). Zudem arbeitete er an den
„Schlesischen Provinzblättern“ mit.
Im Oktober 1791 bekam Gedike
in der Nachfolge des nach Weimar
gewechselten Karl August Bötti-
ger die Leitung des Gymnasiums in
Bautzen übertragen. Seine in Breslau
erworbenen Erfahrungen ließen ihn
schnell erkennen, dass das Schul¬
wesen in der Oberlausitz dringend
reformbedürftig war. Gedike erwarb
sich besonders mit seinen struktu¬
rierten, planvollen Schulprogrammen
große Verdienste um die Lehran¬
stalt. Er nutzte diese deutsch oder
lateinisch verfassten Jahresberichte
aber auch, um seine grundsätzlichen
Überlegungen zur Pädagogik und
zum Schulwesen in der Oberlausitz
darzulegen. Gedike schrieb u. a. „Vor¬
stellung an Altern, die ihre Kinder
unserer Schule anvertrauen“ (1793),
„Erinnerung an einige in unserm
Jahrzehend leicht zu verkennende
und zu vergessende Wahrheiten,
mit Rücksicht auf die Oberlausitz“
(1794) und „Gedanken eines Schul¬
manns über eine dem Schulwesen in
Chursachsen bevorstehende Verände¬
rung, mit besonderer Beziehung auf
die Oberlausitz“ (1795). Im Mittel¬
punkt der gymnasialen Ausbildung
in Bautzen standen seinerzeit zur
Vorbereitung auf ein Universitätsstu¬
dium die alten Sprachen. Gedike legte
jedoch auch Wert auf die Vermittlung
91
Gedikes Vorgänger als Direktor des
Bautzener Gymnasiums war Karl
August Böttiger. Auf Gedike
folgte Karl Gottfried Siebelis.
naturwissenschaftlicher Kenntnisse,
und auch Abgänger in die berufliche
Praxis, zum Beispiel in die Landwirt¬
schaft, sollten gute Voraussetzungen
erwerben. Ein weiteres Ziel Gedi¬
kes bestand darin, an seiner Schule
geeignete Schüler für eine Tätigkeit
als Volksschullehrer vorzubereiten.
Er richtete in Bautzen vorbildhaft für
Sachsen ein Lehrerseminar ein, um
die Qualität der Schulausbildung zu
erhöhen. Zu Gedikes bekanntesten
Schülern in Bautzen gehörte neben
dem späteren Landwirtschaftsrefor-
mer Heinrich August Blochmann
auch dessen Bruder Karl Justus Bloch¬
mann, Pädagoge bei Johann Heinrich
Pestalozzi und 1824 Begründer des
Blochmannschen Instituts in Dres¬
den. Sein Credo beschrieb Gedike
1797: „Das Schul- und Erziehungs¬
wesen ist einer immer fortgehenden
Verbesserung fähig und bedürftig“.
So führte er im Latein-Unterricht
das Experiment ein, dass sich die
Schüler zunächst gegenseitig zensier¬
ten, ehe er die Arbeiten bewertete.
Die Einführung von Abiturprüfun¬
gen als Gymnasialabschluss, wie sie
unter maßgeblicher Mitwirkung von
Gedikes Bruder Friedrich 1788 in
Preußen schon erfolgt war und von
Ludwig Gedike auch für Bautzen vor¬
geschlagen wurde, erfolgte erst nach
dessen Weggang aus Bautzen mit
Ratsbeschluss vom 19. Juli 1821 unter
seinem Nachfolger Karl Gottfried
Siebelis.
Gedike war in seiner Bautzener
Zeit Mitglied der Oberlausitzischen
Gesellschaft der Wissenschaften. Er
wird in der „Lausizischen Monats¬
schrift“ von 1793 u. a. gemeinsam mit
Karl August Böttiger, August
Gottlieb Meissner und Gottlob
Adolf Ernst von Nostitz und
Jänkendorf genannt. Gedike schrieb
auch Aufsätze für diese Zeitschrift,
so „Vorlesungen gehalten am letzten
Dez. 1801 in einem gesellschaftlichen
Kreise“ (1802).
Der Förderung der Bildung des
aufstrebenden Bautzener Bürgertums
galt 1802 auch die Gründung der
Freimaurer-Loge „Zur goldenen Mau¬
er“. Gedike als Stifter war gleichzeitig
ihr erster Meister vom Stuhl. Die
Loge gehörte der National-Mutterloge
„Zu den drei Weltkugeln“ an, bei der
Ludwigs Bruder Friedrich Gedike
92
Die Loge „Zur goldenen Mauer“
wurde 1802 von Gedike in Bautzen
als Bildungsstätte für das aufstre¬
bende Bürgertum gegründet.
Mitglied war. Nach seinem Weggang
aus Bautzen blieb Ludwig Gedike
Ehrenmitglied der Loge. Meister von
Stuhl wurde Landsteuersekretär Au¬
gust Gotthold Taube. Zu den frühen
Logenmitgliedern gehörten Johann
Christian Göritz (Premierleutnant der
sächsischen Infanterie), Maximilian
Carl August Petschke (Oberamts¬
advokat), Johann Wilhelm Prentzel
(Kaufmann), Friedrich Gottlieb
Schierz (Oberamtsadvokat), Heinrich
Gottlob Gräve (Oberamtsadvokat),
Gottlob Heinrich Ohle (Regiments-
Chirurg), Christian Holtsch (Kauf¬
mann), Johann George Domsch
(Stadt-Zolleinnehmer), Johann Chris¬
tian Gottlieb Thomaschke (Kauf¬
mann) und Christian Heinrich Schul¬
ze (Buchhändler). Mitglieder der
Loge „Zur goldenen Mauer“ waren
später zudem Gerhard Heinrich
Jacobjan Stöckhardt, Robert
Stöckhardt, Ernst Theodor Stö¬
ckhardt, Gottlob Adolf Ernst
von Nostitz und Jänkendorf und
Gedikes Nachfolger am Gymnasium,
Karl Gottfried Siebelis.
Seit dem späten 18. Jahrhundert
entstanden in Deutschland Bürger¬
schulen als städtische Mittelschulen
(zweiten Ranges) bzw. höhere Bürger¬
schulen (ersten Ranges), aus denen
sich später Realschulen entwickelten.
Sie ermöglichten dem Bürgertum
eine über das Niveau der einfachen
Volksschulen hinausgehende Bildung
und dabei im Unterschied zu den
lateinischen Schulen einen Unterricht
in deutscher Sprache. Die öffentliche
Trägerschaft sollte helfen, die Quali¬
tät des Unterrichts zu heben und die
Kosten für die Eltern zu senken. We¬
sentlichen Anteil an dieser Entwick¬
lung hatten zuvor die pietistischen
Strömungen der protestantischen
Kirche wie unter Philipp Spener in
Dresden und Berlin und August Her¬
mann Francke in Halle mit seinem
Waisenhaus. Bereits sie erkannten,
dass Bildung Voraussetzung für den
zukünftigen Erfolg im Leben ist, und
dass das Gemeinwohl und der Reich¬
tum eines Landes entscheidend davon
abhängen, dass große Teile der Bevöl¬
kerung an Bildung teilhaben können.
In seiner Schrift „Das Schulwesen
in der Oberlausitz im Jahre 1850“
(1799) formulierte Gedike als Ziel die
Neuausrichtung der Schulbildung auf
die Bedürfnisse von Handwerk und
93
Die Leipziger Bürgerschule auf den Mauern der Moritzbastei in einem ko¬
lorierten Kupferstich von Carl Benjamin Schwarz aus dem Jahre 1804. Vor
allem Bürgermeister Carl Wilhelm Müller (1728-1801) hatte sich für einen
prachtvollen Neubau als Symbol des Wohlstands der Stadt eingesetzt.
Gewerbe, auf eine praktische Ausbil¬
dung und die besondere Förderung
von Schülern aus einfachen Verhält¬
nissen. Demgemäß schlug er in den
drei größeren Städten des Oberlau¬
sitzer Sechsstädtebundes (Görlitz,
Bautzen, Zittau) die Einrichtung von
Bürgerschulen ersten und zweiten
Ranges neben den Gymnasien vor, in
den drei kleineren Städten (Kamenz,
Löbau, Lauban) die Umwandlung der
lateinischen Schulen in höhere Bür¬
gerschulen, und in weiteren Städten
die Einrichtung von Bürgerschulen
zweiten Ranges.
Am 15. April 1803 erhielt Gedike
vom Magistrat der Stadt Leipzig den
Auftrag zur Einrichtung und Leitung
einer großen Bürgerschule. Dem
waren jahrelange Planungen voraus¬
gegangen. 1795 stellten die Innungen
den offiziellen Antrag auf Einrichtung
einer Bürgerschule bei der Stadt.
Nachdem man 3156 schulpflichtige
Jungen und 3142 Mädchen gezählt
hatte und mit dem erwarteten hohen
Zuspruch auf bedeutende Mittelrück¬
flüsse als Schulgeld hoffte, erfolgte
am 3. Mai 1796 der Beschluss zum
Bau einer allgemeinen Bürgerschule.
94
Planungsmängel verursachten jedoch
Verzögerungen und steigende Kosten.
1802 stand das Projekt kurz vor dem
Scheitern. 1803 veröffentlichte Gedike
seine „Grundlinien des Planes der
neuen Bürgerschule zu Leipzig“, die
von der Stadt positiv aufgenommen
wurden. Die Schüler sollten praxisori¬
entiert gebildet werden, ohne „Hang
zu müßigen, unfruchtbaren Grübe¬
leien“. Der Lehrplan umfasste Kennt¬
nis des Menschen (einschließlich
Gesundheitslehre), deutsche Spra¬
che, Schreiben, Zeichnen, Rechnen,
Mathematik (für die Knabenschule),
Naturgeschichte, Physik, Erdbeschrei¬
bung, Geschichte, Verfassungskunde,
Singen, französische und griechische
Sprache, Gewerbskunde, Gedächt¬
nis- und Urteilfähigkeit sowie als
wichtigen Schwerpunkt die Religi-
ons- und Sittenlehre. Mit Beginn des
Jahres 1804 öffnete die Schule für
265 Schülerinnen und Schüler in drei
Knaben- und zwei Mädchenklassen.
Zur Lehrerschaft gehörten Johann
Friedrich Adolf Krug, ein Absolvent
des Bautzener Gymnasiums unter
Böttiger und zuletzt Privatlehrer in
Meffersdorf, Johann David Goldhorn
von der Peterskirche Leipzig und der
Privatschullehrer Johann Gottfried
Köhler. Die endgültige Fertigstellung
der Bürgerschule verzögerte sich mit
dem napoleonischen Krieg und der
Völkerschlacht zu Leipzig 1813. Das
Schulgebäude diente zeitweise als
Lazarett. Der Unterricht fand über
die gesamte Stadt verstreut statt.
Zudem mangelte es der Schule lange
an notwendigen Ausstattungen. Im
Bildungsbürgertum der Universitäts-
und Kaufmannstadt Leipzig fand
Gedike jedoch viel Unterstützung.
Zeitweise besuchten über 900 Schü¬
ler die Bürgerschule. Ein Resümee
des Geleisteten publizierte Gedike
in „Neue Nachricht von der jetzigen
Beschaffenheit der Leipziger Bürger¬
schule“ (1826). Mit den politischen
Veränderungen des Jahres 1830, die
schließlich in der ersten sächsischen
Verfassung und der Einführung
einer konstitutionellen Monarchie
mündeten, kam auch das öffentliche
Schulwesen auf den Prüfstand. Die
Staatsbürger erhielten größere Ver¬
antwortung. Die Naturwissenschaf¬
ten und Fremdsprachen gewannen
immer mehr an Bedeutung, während
an der Gedikschen Schule die Religi¬
on noch stärker im Mittelpunkt stand.
Nach 50 Jahren Arbeit als Pädagoge
legte Gedike 1832 sein Amt nieder.
Gedikes Verdienste wurden vielfältig
gewürdigt. Die „Lausitzer Prediger-
Gesellschaft“, der mehrere seiner
ehemaligen Schüler aus Bautzen
angehörten, wählte ihn in Leipzig
zum Ehrenmitglied. Die Stadt Leip¬
zig gewährte ihm eine großzügige
Pension. Gedike zog sich danach in
seine frühere Heimat Breslau zurück,
wo die Familie seiner jüngeren Toch¬
ter wohnte. Hier engagierte er sich
auch für Kleinkinderschulen. Im Jahr
1910 ehrte ihn die Stadt Leipzig mit
der Benennung der Gedikestraße im
Stadtteil Eutritzsch.
95
Professor Ernst Giese war ein führender Architekt des Historismus. Die
sächsische und die österreichische Kunstakademie ernannten ihn zum
Ehrenmitglied. Der preußischen Akademie gehörte er als ordentliches
Mitglied an. Giese führte die Titel Baurat und Geheimer Hofrat. Er war
Mitglied der Allgemeinen Deutschen Kunstgenossenschaft.
Giese, Ernst Friedrich
Professor, Architekt
16.04.1832 Bautzen - 12.10.1903 Berlin-Charlottenburg
V: Carl Christian (*13.8.1786 Görlitz, t9.12.1861 Dresden), Enkel des Görlitzer Archidiakons
Gottlieb Christian Giese (1721-1788) und ältester Sohn des Advokaten, Senators, Stadtrichters
und Bürgermeisters Christian Matthäus Friedrich Giese (1748-1806), Gymnasium Görlitz, 1805
Jurastudium Leipzig, Landsteuerregistrator und Brandkassenbuchhalter in Bautzen, landständi¬
scher Sekretär der Oberlausitz, 1849 Sekretär der Brandversicherungs-Kommission in Dresden;
M: Johanne Charlotte geb. Fiebiger (*1792 Bautzen, (2.1.1856 Dresden); G: Charlotte (Juni
1822-23.10.1826), Ida (*23.4.1823 Bautzen, (7.11.1887 Dresden), Carl Friedrich (*1824 Bautzen,
(9.1.1847 Bautzen, Jurastudium in Leipzig), Johann Wilhelm (1830-1902, Jurastudium in
Leipzig, königl.-sächs. Zollrat in Leipzig und Flamburg, zuletzt wohnhaft in Charlottenburg); E:
13.5.1865 Dresden, Gertrud geb. Barteides (*27.4.1846 Dresden, (1933, Tochter des Kaufmanns
Eduard Friedrich Barteides, 1848 Vermieter von Robert und Clara Schumann, führendes Mit¬
glied in Singakademie, Liedertafel und Wagner-Verein, ältere Halbschwester der Sängerin Elli
Jürgensen/*30.11.1866 Dresden); K: Ernst lohannes (*12.4.1866 Dresden, (14.1.1929 Dresden,
Notar und Rechtsanwalt in Dresden, vertrat die erste Ehefrau Emma von Karl May im Schei¬
dungsprozess), Max Eduard (*5.7.1867 Düsseldorf, (9.7.1916 München-Pasing, Kunststudium
in Düsseldorf und München, Landschaftsmaler in Dresden und München, verschwägert mit der
Malerin Elisabeth Schmook), Gertrud Elisabeth (*28.12.1868 Düsseldorf, verh. Ausfeld, wohn¬
haft in Charlottenburg), Karl Friedrich (*14.8.1871 Düsseldorf, (1939, Büro für Architektur und
Bauausführung Giese & Sohn 1891-1901 in Dresden, auch tätig in Köln und Düsseldorf, Vater
des Korvettenkapitäns und Autors Fritz E. Giese), Gertrud Dorothea (*10.10.1873 Dresden, verh.
mit dem Dresdner Museumsdirektor Jean Louis Sponsel), Wilhelm Georg (*2.4.1877 Dresden),
Katharina Elisabeth (*9.11.1880 Dresden), Martha Johanna (*18.3.1882 Dresden, verh. Kühl),
Karl Rudolf (*16.11.1883 Dresden), Emmy Elisabeth (*14.8.1887 Dresden, verh. Hüllsburg)
Nach dem Besuch des Gymnasiums
in Bautzen studierte Giese im Un¬
terschied zu seinen beiden älteren
Brüdern, die entsprechend einer
Familientradition in Leipzig Jura
belegten, ab 1846 an der Technischen
Bildungsanstalt in Dresden. Johann
Andreas Schubert gehörte hier zu
seinen Lehrern. Gieses Studium fiel
in eine Zeit tiefgreifender Änderun¬
gen an der Vorläufereinrichtung der
heutigen TU. Viele Lehrkräfte und
Studenten engagierten sich in der
Revolution von 1848/49. Das Lehr¬
angebot der Anstalt verbreiterte sich,
gleichzeitig entstand der Bedarf, die
bislang eher praktisch-mechanische
Ausbildung besser theoretisch,
ingenieurmäßig zu fundieren. Unter
dem 1850 berufenen Direktor Julius
Ambrosius Hülße wurde die Lehran¬
stalt 1851 zur Polytechnischen Schule
erhoben. 1852 wechselte Giese in das
Atelier von Hermann Nicolai, der
als Nachfolger des geflohenen Gott¬
fried Semper die Architektur an der
Kunstakademie im Sinne der Dresd¬
ner Neorenaissance prägte. 1853 trat
Giese mit einem Entwurf für die neue
Dresdner Kreuzschule hervor. Zwei
97
Das Schloss Gauernitz wurde von
Giese & Schreiber im Stil der Neo¬
renaissance umgebaut (Ansicht um
1900).
Jahre später wurde er mit einem zwei¬
jährigen Reisestipendium für Italien
ausgezeichnet. Die Reise führte ihn
nach Venedig, Verona, Florenz, Rom
und Pompeji. Hier vertiefte Giese
sein kunsthistorisches Wissen und
er fertigte Zeichnungen bedeutender
Gebäude an. In der „Zeitschrift für
Bauwesen“ publizierte er Skizzen zum
Palazzo Pubblico in Siena. Eine An¬
sicht des Palazzo Vecchio in Florenz
befindet sich im Dresdner Kupfer¬
stich-Kabinett.
1857 machte sich Giese in Dresden
mit Bernhard Schreiber, ebenfalls ein
Nicolai-Schüler, selbstständig. 1859
erhielten Giese und der Mediziner
Wilhelm Gustav Seifert bei einem
Preisausschreiben der Leopoldina
zur zeitgemäßen Organisation von
Irrenheilanstalten für ihren Entwurf
„Suaviter in mode, fortiter in re“
den ersten Preis. Von 1862 bis 1865
errichteten Giese & Schreiber die
Landesbank Altenburg und bis 1866
bauten sie das Schloss Gauernitz um.
1865 wurden sie gemeinsam mit Edu¬
ard Müller beauftragt, die Festhalle
für das Deutsche Sängerbundesfest
in Dresden zu errichten. Die Halle
entstand auf den Waldschlösschen-
Wiesen und war für 20000 Sänger
ausgelegt. Beim Wettbewerb zum Bau
der Wiener Hofoper erhielten Giese
& Schreiber wie auch bei der Kreuz¬
schule Dresden den zweiten Preis.
Der Nicolai-Schüler Oswald Haenel
(Brückner‘sehe Villa in Löbau) be¬
gann bei ihnen seine Berufslaufbahn.
Für ihre Verdienste um die Archi¬
tektur in Sachsen wurden Giese und
Schreiber 1864 anlässlich des 100.
Jahrestags der Gründung der Kunst-
Das Stadttheater Düsseldorf (An¬
sicht um 1900) wurde von Giese im
Stil der Neorenaissance errichtet.
Die Architektur des bereits 1867
entworfenen Bauwerks lehnte sich
an jene des ersten Semper‘schen
Hoftheaters in Dresden an. Zur
Eröffnung am 29. November 1875
war das Haus noch unfertig und die
Kosten hatten sich verdoppelt. Das
Gebäude wurde seitdem mehrfach
umgebaut und erhielt 1925 den
Namen „Opernhaus“.
98
akademie mit der Ehrenmitglied¬
schaft geehrt, 1867 mit der silbernen
Medaille des Dresdner Gewerbe-Ver¬
eins. Eine ihre letzten gemeinsamen
Arbeiten war 1866 der Entwurf des
Nymphenbrunnens von Gustav Broß-
mann auf dem Räcknitzplatz.
1866 wurde in Dresden der erste
Sohn von Ernst Giese und seiner
Frau Gertrud geh. Barteides geboren.
1863 hatte Giese mit seinem späte¬
ren Schwiegervater einem Komitee
zur Erinnerung an den 50. Todestag
von Theodor Körner angehört. Aus
diesem Anlass erhielt die Dresdner
Körnerstraße ihren Namen.
Die Zusammenarbeit mit Schrei¬
ber endete, als Giese 1866 den Ruf
als Professor für Baukunst an die
Akademie nach Düsseldorf erhielt.
Rektor war hier der Maler Eduard
Bendemann, zu Gieses Studienzeiten
Professor an der Dresdner Kunstaka¬
demie, der ihn noch im selben Jahr
mit einem Atelieranbau betraute.
Nach Bendemanns Rücktritt im Jahre
1867 gehörte Giese dem Direktorium
der Düsseldorfer Kunstakademie an.
Im selben Jahr wurde sein Entwurf
für das Düsseldorfer Stadttheater
ausgewählt, der jedoch lange umstrit¬
ten blieb. In Rheinberg baute er ein
Palais für die Unternehmerfamilie
Underberg, in Düsseldorf war er am
Entwurf eines Denkmals für Fried¬
rich Wilhelm von Schadow beteiligt.
In Dresden-Johannstadt plante und
baute Giese den Neuen Israelitischen
Die Oberlausitzer Bank Zittau.
Friedhof mit Feierhalle. Nach dem
Deutsch-Französischen Krieg von
1870/71 lösten französische Repara¬
tionszahlungen einen Gründerboom
und damit einen Aufschwung der
Bautätigkeit im Deutschen Reich aus.
In Zittau errichtete Giese 1871 die
Oberlausitzer Bank.
1872 verließ Giese Düsseldorf, wo im
März des Jahres ein großer Teil des
Schlosses mit der darin untergebrach¬
ten Kunstakademie abgebrannt war,
und kehrte nach Dresden zurück.
Einen Ruf nach Wien hatte er abge¬
lehnt. Giese verband sich zunächst
mit Friedrich Hartmann. Den späte¬
ren Kunsthistoriker Cornelius Gurlitt
99
Die Düsseldorfer Kunsthalle wur¬
de von Giese & Weidner in einem
Stilgemisch gebaut. Von Anfang an
stand sie in der Kritik wegen pom¬
pöser Gestaltung und zu großer
Treppenhäuser zulasten der Ausstel¬
lungsräume. Sie wurde nach schwe¬
ren Beschädigungen im Zweiten
Weltkrieg 1959 abgerissen.
holten sie im August 1873 zu sich.
Gurlitt, der praktische Erfahrungen
als Architekt erwerben konnte, ohne
zuvor ein Examen absolviert zu ha¬
ben, kündigte aber bereits nach einem
halben Jahr, weil ihn Giese nur mit
nachgeordneten Arbeiten betraute.
Giese hatte inzwischen den verbind¬
lichen Auftrag für das Düsseldorfer
Stadttheater erhalten, womit eine
Ära monumentaler Neubauten in der
Stadt begann.
1874 gründete Giese mit Paul Weid¬
ner ein neues Architekturbüro. Bis
1881 errichteten sie die Düsseldorfer
Kunsthalle in unmittelbarer Nähe von
Gieses Theaterbau. Das von Giese &
Weidner 1875 gebaute neoklassizis¬
tische „König-Albert-Bad“ in Löbau
erhielt seinen Namen nach einem
Kuraufenthalt des sächsischen Königs.
Blasewitz, wohin Giese über seine
Ehefrau auch verwandtschaftliche
Beziehungen besaß, entwickelte sich
in den 1870er Jahren rasch zu einem
vornehmen Villenvorort Dresdens.
Wegen der gestiegenen Schülerzahl
wurde ein neues Lehrgebäude benö¬
tigt. Giese & Weidner errichteten bis
1876 die spätere 63. Volksschule, die
seinerzeit als Musterbau gemäß der
sächsischen Schulreform galt und die
auch von Frank Fiedler besucht wur¬
de. Bis 1879 bauten Giese & Weidner
das naturhistorische Museum „Lud¬
wig Salvator“ für Ludwig Wilhelm
Schaufuß. In einem am Lothringer
Weg, Ecke Goetheallee, errichteten
Die ehemalige 63. Volksschule in
Dresden ist heute nach dem Kom¬
ponisten Johann Gottlieb Naumann
benannt. Sie ist eng mit dem Dresd¬
ner Kreuzchor verbunden. Die
Jungen besuchen die Schule in der
Vorbereitungsklasse 3 und als Kru-
zianer in der Klassenstufe 4.
100
Das Landhaus von Karl Louis Bar¬
teides, Stifter und Gemeinderatsmit¬
glied in Blasewitz, wurde von Giese
bis 1875 errichtet. Der Entwurf
stammte wohl noch aus der Zeit
mit Hartmann. Barteides war ein
Onkel von Gieses Frau: Er wurde am
9.4.1821 als Sohn eines Kaufmanns
in Dresden geboren und besaß das
Rittergut Böhrigen. In Blasewitz
setzte er sich zur Ruhe. Das Haus
wurde unter der Adresse Naumann¬
straße 4 errichtet. Nach Barteldes‘
Tod 1880 ging es zunächst in den
Besitz seiner Witwe Amalie Rosalie
über. Später wurde im mittleren Teil
der Naumannstraße der Barteldes¬
platz eingerichtet. Das Haus erhielt
die Nr. 1.
Gebäude wohnte der jüdische Hofju¬
welier Julius Jacoby. Victor Klemperer
erhielt im September 1942 seine Ein¬
weisung in das von den Nazis als „Ju¬
denhaus“ missbrauchte Gebäude und
beschrieb eine „riesige viereckige bis
zum Dach reichende Mittelhalle“. Die
Villa wurde 1945 bei den Bomben¬
angriffen auf Dresden zerstört. Frank
Fiedler, als Schüler der Schillerschule
Blasewitz an den Beräumungsarbeiten
beteiligt, kann sich erinnern, dass sich
aus dem hochwertig gebauten Haus
noch viel Baumaterial gewinnen ließ.
Bei mehreren bedeutenden Aus¬
schreibungen erhielten Giese & Weid¬
ner Preise für ihre Entwürfe, so für
das Hamburger Rathaus, den Berliner
Reichstag, das Groote Schouwburg-
Theater in Rotterdam, das Leipziger
Reichsgericht und den Dresdner
Ausstellungspalast. Teilweise gehörten
sie danach Konsortien an, welche die
siegreichen Entwürfe realisierten bzw.
wie beim Städtischen Ausstellungspa¬
last in Dresden Umplanungsarbeiten
Vornahmen. In mehreren Quellen
werden diese Bauten deshalb in Gie¬
ses Werkeliste aufgeführt, wie bei¬
spielsweise in „175 Jahre TU Dresden:
Die Professoren der TU Dresden,
1828-2003, Band 3“.
Zusammen mit dem Bildhauer Robert
Diez gewannen Giese & Weidner zwei
bedeutende Preisausschreiben der
Stadt Dresden für Brunnenanlagen
Ernst Giese entwarf die zwei Brun¬
nenanlagen auf dem Albertplatz
in Dresden (Abbildung: „Stilles
Wasser“).
101
Das Gewandhaus am Hauptmarkt in Bautzen wurde von Giese & Weidner
von 1882 bis 1883 im Stil der Neorenaissance anstelle eines abgebrannten
historischen Kaufhauses errichtet. Der Neubau beherbergte das städtische
Stiebermuseum. Nach einem Brand im Jahre 1976 erhielt das Gebäude ei¬
nen neuen Giebel. Es dient heute der Stadtverwaltung u. a. als Standesamt.
aus Mitteln der Güntz-Stiftung zur
Verschönerung der Stadt. Der Gän¬
sediebbrunnen für den Ferdinand¬
platz, heute in der Weißen Gasse,
wurde 1879 in München preisgekrönt.
1880 erhielten ihre Entwürfe „Klar
Wasser“ und „Trüb Wasser“ für den
Albertplatz den Zuschlag. Deren
Fertigstellung verzögerte sich und die
Einweihung konnte erst 1894 erfol¬
gen. Die inzwischen „Stilles Wasser“
und „Stürmische Wogen“ genannten
Monumentalbrunnen galten seiner¬
zeit als Meilenstein der Dresdner
Kunstentwicklung. Obwohl im Krieg
nahezu unbeschädigt geblieben, wur¬
den die „Stürmischen Wogen“ 1945
zugunsten eines sowjetischen Ehren¬
mals demontiert. Sie sind nach er¬
folgter Restaurierung wieder an ihren
angestammten Platz zurückgekehrt.
Nach Gieses Plänen entstanden zu¬
dem einige Fabrikanlagen der aufstre¬
benden Dresdner Zigarettenindustrie.
1885 war Giese Kommissionsmitglied
für die Planung des Durchbruchs der
König-Johann-Straße vom Altmarkt
zum Pirnaischen Platz.
Giese, der auch Mitglied des Kir¬
chenbau-Vereins war, hat sich gro¬
ße Verdienste um den sächsischen
Kirchenbau erworben. Bei der mit
Weidner von 1883 bis 1887 errichte¬
ten Martin-Luther-Kirche wird die
Verpflichtung auf das Eisenacher
Regulativ deutlich, das seit 1861 u. a.
die Neogotik als verbindlichen Baustil
102
Der Turm der Lutherkirche in
Dresden-Neustadt ist 81 Meter
hoch. Giese & Weidner entwarfen
nicht nur die äußere Architektur,
sondern waren auch für den In¬
nenraum zuständig. Die Bleiglas¬
fenster (Abb. unten) wurden u.
a. von Bruno Urban aus Pulsnitz
realisiert.
103
für neue Kirchenbauten vorgab. Die
Gemeinde der Dresdner Neustadt war
seinerzeit auf über 50000 Mitglieder
angewachsen und benötigte ein eige¬
nes Kirchengebäude. Es sollte über
1200 Gläubigen Platz bieten. Giese &
Weidner belegten beim Wettbewerb
nur den 2. Platz hinter Tony Eul aus
Belgien, erhielten aber trotzdem den
Zuschlag. Die Kirche entstand als
gotische Basilika mit neoromanischen
Ergänzungen, wobei auch Elemente
von Eul einflossen. Der Bau wurde
pünktlich zum 404. Geburtstag von
Luther fertig, hatte aber das Doppelte
der veranschlagten Summe gekostet.
Ab 1891 führte Giese ein gemeinsa¬
mes Büro mit seinem Sohn. Mit dem
Bildhauer Johannes Schilling schuf
er 1892 das Denkmal für Gottfried
Semper auf der Brühlschen Terrasse.
Bis 1898 stellten Giese & Sohn den
Hauptbahnhof Dresden fertig. Der
Entwurf - um Elemente von Arwed
Rossbach ergänzt - stammte noch aus
der Zeit mit Weidner. Dieser Bau war
ein wesentlicher Bestandteil der Neu¬
organisation des Schienenverkehrs in
Dresden. Die Einwohnerzahl und das
Verkehrsaufkommen waren seit der
Eröffnung des ehemaligen Böhmi¬
schen Bahnhofs im Jahre 1848 stark
angestiegen. Claus Koepcke und Otto
Klette entwickelten das funktionale
Grundkonzept des neuen Bahnhofs
mit einer großen, tiefergelegten Kopf¬
bahnhalle und zwei höhergelegten
Durchgangshallen. Damit sollte dem
täglichen Verkehrschaos in der Stadt
Bei Sempers Denkmal auf der
Brühlschen Terrasse vor der Kunst¬
akademie und der Frauenkirche ar¬
beitete Giese mit Johannes Schilling
zusammen. Giese war wie Schilling
ein Verehrer Sempers und gehörte
dem Komitee der Gottfried-Semper-
Stiftung an, die jungen Architekten
Reisen nach Italien finanzierte.
Gieses Entwurf für den Unterbau
wurde von Kessel & Röhl in Berlin
aus poliertem schwedischen Gra¬
nit realisiert, die bronzene Statue
wurde in Lauchhammer gegossen.
Das Denkmal blieb während der
Zerstörung Dresdens 1945 erhal¬
ten. Verschiedentlich wird für den
Sockel der Architekt Constantin
Lipsius angegeben, der die Einwei¬
hungsrede hielt.
104
Der Dresdner Hauptbahnhof wurde in einem Stilgemisch aus Neorenais¬
sance und Neobarock mit einem Tragwerk aus Stahl für das Glasdach
errichtet. Er bildet einen Verkehrsknoten für Züge in alle Richtungen.
wegen der Schranken an den ebener¬
digen Gleisanlagen des Böhmischen
Bahnhofs begegnet werden. Das Emp¬
fangsgebäude von Giese & Weidner
entstand nach dem Vorbild des Gare
du Nord in Paris und wurde von einer
Kuppel gekrönt.
Als Vorsitzender des Dresdner Archi¬
tektenvereins gehörte Giese zu den
Opponenten von Constantin Lipsius,
ebenfalls ein ehemaliger Nicolai-
Schüler, und seines Neubaus der
Kunstakademie an der Brühlschen
Terrasse bis 1894. Einige Jahre zuvor
in Leipzig hatte Lipsius zusammen
mit August Hartei beim Bau der St.
Petri-Kirche den Vorzug erhalten, ob¬
wohl Gieses Entwurf im Wettbewerb
siegreich geblieben war.
Giese war 1878 unter dem Rektor
Gustav Anton Zeuner als Profes¬
sor an das Polytechnikum berufen
worden. Nach der Abtrennung der
Baugewerkenschule im Jahre 1873
wurde hier eine eigenständige Ar¬
chitekturausbildung neben jener an
der Kunstakademie aufgebaut. Die
1875 gegründete Hochbauabteilung
ging auf Bemühungen der Rektoren
Julius Ambrosius Hülße (bis 1873)
und Gustav Anton Zeuner sowie der
ehemaligen Nicolai-Schüler Rudolph
Heyn und Carl Weißbach zurück,
die der Hochbauabteilung in der
Folgezeit vorstanden. Hier wirkten
seinerzeit mehrere ehemalige Schüler
von Johann Andreas Schubert, so
auch Giese. Er vertrat in den fol¬
genden mehr als 20 Jahren das Fach
105
Rosenkranzkirche Radibor, Hei¬
matgemeinde von Alojs Andritzki.
Die Gestaltung des Innenraums
leitete von Mayenburg. Die sakralen
Statuen kamen aus der Mayer‘schen
Hofkunstanstalt München.
„Entwerfen von Hochbauten“, hielt
Vorlesungen über Städtebau und
stand dem Atelier für Baukunst vor.
Bei Weißbach und Giese studierten
Rudolf Schilling und Julius Graebner,
die später als Schilling & Graebner die
protestantische Kirchenarchitektur
in Sachsen zu hoher Blüte führten
und ihren Lehrer Giese beim Wettbe¬
werb um die Lutherkirche Radebeul
besiegten. Ein weiterer bekannter
Schüler Gieses war Hermann Thü-
Mit dem Bau der Kirche, geleitet
durch den Baumeister Simon aus
Herrnhut, wurde Quatitz zur Paro-
chie. Am 16. Oktober 1899 fanden je
ein deutsch- und ein sorbischspra¬
chiger Weihgottesdienst statt.
me (Neues Krankenhaus Radeberg).
Das Polytechnikum erhielt 1890 den
Rang einer Technischen Hochschule.
1891/92 stand die TH Dresden unter
der Leitung von Walther Hempel.
1904, im Jahr nach Gieses Tod, über¬
nahm dessen ehemaliger Mitarbeiter
Cornelius Gurlitt, seit 1893 Professor
an der TH, das Rektorenamt.
Von 1895 bis 1896 bauten Giese &
Sohn zusammen mit dem Benedikti-
106
ner-Pater Pirmin Campani und Georg
Heinsius von Mayenburg, einem
Dresdner Giese-Schüler, die katholi¬
sche Rosenkranzkirche Radibor. Sie
entstand in Form einer neoromani¬
schen Pfeilerbasilika mit einem 52
Meter hohen Turm. 1898/99 leiteten
sie den Bau der protestantischen Kir¬
che in Quatitz, wiederum mit einem
52 Meter hohen Turm. Theodor Gro¬
ße (*1874 Bischofswerda, fl950 Pots¬
dam) war bei ihnen angestellt. Beim
Bau des 1901 eingeweihten Bautzener
Schiller-Gymnasiums gehörte Giese
dem Preiskomitee an. Als letzter Bau
Gieses entstand von 1899 bis 1901
in Chemnitz die St. Lukaskirche in
einer Mischung von Neoromanik und
Neorenaissance.
Nach geschäftlichen Verlusten als
Aufsichtsrat von Bau- und Immobi-
lienbanken musste Giese Bankrott
anmelden. Gesundheitlich gezeichnet
emeritierte Giese daraufhin und ging
nach Berlin-Charlottenburg, wo er
Baugutachten erstellte und wenig
später starb.
Quellen: Anton Bettelheim: „Biographisches Jahr¬
buch und deutscher Nekrolog“. Bd. 8, G. Reimer,
1905; Herrmann A. L. Degener: „Wer ists?“ Berlin,
1908; Reiner Pommerin, Thomas Hänseroth, Dorit
Petschel: „175 Jahre TU Dresden: Die Professoren
der TU Dresden, 1828-2003“; Schülerverzeichnisse
der Technischen Bildungsanstalt und der Polytech¬
nischen Schule zu Dresden, 1846-1853; www.tu-
dresden.de (einschl. DFG-Projekt „Nachlass Corne¬
lius Gurlitt“); www.rheinoper.de; www.duesseldorf.
de; Adressbücher der Stadt Dresden, 1849,1863,
1880,1892, 1900; Adressbücher von Blasewitz 1879,
1880,1883; Leipziger Zeitung, 1856,1866; Deutsche
Bauzeitung, Verl. E. Toeche, 1892,1899; www.blase-
witz.de; Manfred Zumpe: „Die Brühlsche Terrasse
Die St. Lukaskirche am Josephi-
nenplatz in Chemnitz (Ansicht um
1904) wurde im Zweiten Weltkrieg
beschädigt, die Reste in den 1950er
Jahren gesprengt.
in Dresden“. Verl. f. das Bauwesen, 1991; „Im neuen
Reich“. Wochenschrift für das Leben des deutschen
Volkes, 1880; Hans Müller: „Dome - Kirchen -
Klöster, Kunstwerke aus zehn Jahrhunderten“. VEB
Tourist Verlag, 2. Aufl., 1986; www.radibor.de;
www.kirchgemeinde-guttau-malschwitz-quatitz.de;
Dietrich Buschbeck: „Dem Architekten Ernst Giese
auf der Spur. Zu seinem Todestag am 12. Oktober“.
Elbhang-Kurier, H. 10/2003, S. 12; Michael Laschet,
Berlin, Mitteilungen 2014; Evangelisch-Lutherisches
Kirchspiel Dresden-Neustadt: „Martin-Luther-
Kirche Dresden-Neustadt“; Immatrikulationen
1778-2012, archivierte Matrikelbücher der heutigen
Hochschule für Bildende Künste Dresden; Carl
Gottlieb Anton: „Verzeichniss der Schüler des
Gymnasiums zu Görlitz, welche in den Jahren von
1803, bis 1854, die Prima oder auch nur die Sekunda
besucht haben“. 1856; Lausitzisches Magazin, 1789;
Neue lausizische Monatsschrift, 1806; Günther
Giese, Mitteilungen 2017; Adressbuch Berlin 1902;
Matrikelverzeichnisse Universität Leipzig; Sächsi¬
sche Constitutionelle Zeitung, 18.8.1863
107
Ernst Gnauck,
Gnauck, Friedrich Ernst
Gemeindevorstand und Erbgerichtsbesitzer in Kleindrebnitz
22.09.1852 Kleindrebnitz - 01.12.1927 Kleindrebnitz
V: Carl Gottfried (15.10.1802-30.3.1882), Erbrichter und Gemeindevorstand in Kleindrebnitz;
M: Eleonora Carolina geb. Richter (11.9.1818-18.1.1894), aus Weickersdorf; G; 11 Geschwister;
E: Emma Pauline geb. Friebel (3.11.1855-18.10.1932), aus Altstadt (Stolpen); K: 6 Söhne, darun¬
ter Oskar (1.6.1877-1.6.1931, Gemeindevorstand in Kleindrebnitz), Bruno (2.11.1888-
16.9.1969, letzter Erbgerichtsbesitzer aus der Familie Gnauck), 3 Töchter, 1 Pflegekind
Ernst Gnauck stammte aus einer alt¬
eingesessenen Bauernfamilie, die sich
im benachbarten Goldbach schon im
16. Jahrhundert nachweisen lässt. We¬
nig später ließen sich Nachkommen
im nahen Weickersdorf nieder. Nach
der Ableitung des Namens „Gnauck“
vom unterfränkischen „gnauken“
(bejahend nicken) ist anzunehmen,
dass frühere Vorfahren mit der Ost¬
besiedelung nach Sachsen gekommen
waren. Der Kleindrebnitzer Zweig
ging im 18. Jahrhundert aus dem
Weickersdorfer hervor, dem auch
der Leisniger Altertumsforscher Max
Otto Gnauck angehörte.
Der Vater, Carl Gottfried Gnauck,
war nach der sächsischen Landge¬
meindereform der erste gewählte
Gemeindevorstand (1839-1851) in
Kleindrebnitz. Er kaufte 1849 zusätz¬
lich zum Stammgut das Erbgericht
Kleindrebnitz vom Rennersdorfer
Kammergutsverwalter Johann
Gottfried Nake. Es verblieb für
drei Generationen im Familienbesitz.
Die Eltern legten großen Wert auf
eine gute Schulbildung ihrer Kinder.
Siegel des Erbgerichts Kleindrebnitz
Weil in Großdrebnitz der Lehrer für
136 Schüler zuständig war, schickten
sie ihren Sohn Ernst nach Bühlau
zur Schule, um ihm einen optimalen
Unterricht angedeihen zu lassen. Er
wohnte in dieser Zeit bei einer älteren
Schwester. Aufgrund der familiären
109
Erbgericht Kleindrebnitz, im Hintergrund das „Auszugshaus“.
Situation - es hatten außer ihm nur
noch Schwestern überlebt - kaufte
Gnauck 1875 beide Güter von seinem
Vater. Er wurde als Gemeindeältester
und Stellvertreter des Gemeindevor¬
stands in den Gemeinderat und am 5.
März 1887 zum Gemeindevorstand
von Kleindrebnitz gewählt. Dieses
Amt hatte er für die außergewöhnlich
lange Zeit von 32 Jahren inne.
Gnauck arbeitete im Kirchen- und
Schulvorstand für Groß- und Klein¬
drebnitz mit und bemühte sich als
Mitglied bzw. Leiter der landwirt¬
schaftlichen Vereine von Bischofs¬
werda und Großdrebnitz um die
Einführung moderner Produkti¬
onsmethoden. Professor Bruno
Steglich berichtete vor der „Ökono¬
mischen Gesellschaft im Königreiche
Sachsen“ von Gnaucks Beteiligung
an der IX. Braugerstenausstellung in
Dresden. Am 15. Januar 1903 war
Gnauck zudem Mitbegründer der
örtlichen Spar- und Darlehenskasse,
die sich der Förderung der dörfli¬
chen Wirtschaft verschrieben hatte.
Zu den Selbstverständlichkeiten im
Gemeinderat unter Gnauck gehörte
es, Bedürftige zu unterstützen. Die
„Armenkasse“ wurde mit ausreichen¬
den Mitteln ausgestattet. In Notfällen,
z. B. nach Bränden, bei Erwerbslosig¬
keit oder nach der Geburt uneheli¬
cher Kinder, erhielten die Betroffenen
unbürokratische Hilfe.
110
Wichtige Errungenschaften seiner
Amtszeit waren die Einrichtung einer
Eisenbahnhaltestelle in Weickersdorf,
der Bau des Kirchturms Großdrebnitz
(beides mit aktiver Beteiligung von
Kleindrebnitz) sowie die Einführung
der Telegrafie im Dorf Das heraus¬
ragende Ereignis stellte 1909 die
Eröffnung des Bahnhofs Weickers¬
dorf dar. Im 19. Jahrhundert war es
den Oberlausitzer Bauern gelungen,
zunehmend die Produktion von Roh¬
milch zu steigern, und 1903 wurde
die Eisenbahnstrecke Görlitz-Dresden
für den Milchtransport zu den Dresd¬
ner Molkereien und Großmärkten
freigegeben. Gemeinsam mit dem
Weickersdorfer Gemeindevorstand
Hartmann hatte Gnauck sich lange
um die Errichtung eines Bahnhofs
für Weickersdorf, Kleindrebnitz und
die benachbarten Dörfer bemüht. Mit
Unterstützung des aus Kleindrebnitz
stammenden Max Neumeister,
seinerzeit Mitglied der sächsischen
Eisenbahnkommission, gelang dieses
wirtschaftlich bedeutsame Vorhaben
schließlich. Am 1. Oktober 1909 be¬
ging man im Beisein des Prinzen Siz-
zo von Schwarzburg auf Großharthau,
inzwischen Eigentümer des ehema¬
ligen Vorwerks von Johann Gott¬
fried Nake unweit des Bahnhofs, die
feierliche Einweihung. Kleindrebnitz
Familie des Erbgerichtsbauern Ernst Gnauck (vorn rechts, um 1896).
in
beteiligte sich mit erheblichen finan¬
ziellen Mitteln am Bahnhof, der nahe
der Ortsgrenze zwischen Weickers¬
dorf und Kleindrebnitz gelegen ist.
Den örtlichen Bauern wurde es da¬
durch möglich, die leicht verderbliche
Rohmilch schneller an die Kunden bis
nach Dresden auszuliefern.
Für seine Verdienste um das Dorf
und seine Bewohner wurde Gnauck
am 14. Mai 1912 von König Friedrich
August III. das Ehrenkreuz verliehen.
In dem bekannten Kirchschullehrer
und Heimatforscher Bruno Barthel
wusste er stets einen guten Freund an
seiner Seite. Zudem waren sein Sohn
Oskar und seine Tochter Hedwig je¬
weils mit Kindern von Barthel verhei¬
ratet. Gnauck leitete den von Barthel
gegründeten landwirtschaftlichen
Verein von Großdrebnitz und vertrat
den Kantor Barthel beim sonntäg¬
lichen Orgelspiel. Auch die örtliche
Spar- und Darlehenskasse hatten sie
gemeinsam gegründet. Wenn etwas
vertraulich bleiben sollte, korrespon¬
dierten sie in Gabelsberger Kurz¬
schrift. So wie es Gnauck von seinen
Eltern kennengelernt hatte, handelte
er verantwortungsbewusst bei der
Erziehung seiner Kinder. Gnauck be¬
griff Ausbildung als Investition in die
Zukunft und ermöglichte auch jenen
Kindern einen guten Start ins Leben,
die nicht als Hoferben infrage kamen.
Bildung beschränkte er aber nicht
auf die Landwirtschaft - die meisten
seiner Kinder lernten z. B. Klavier
spielen. Als eine Schwester mit einem
Urkunde zum Ehrenkreuz 1912.
unehelichen Kind in Not geriet, nahm
Gnauck es zu sich und ermöglich¬
te ihm eine Berufsausbildung zum
Drogisten.
Das Erbgericht Kleindrebnitz wurde
1911 von seinem Sohn Bruno über¬
nommen. Als Gastgeber für verschie¬
dene Vereine (Königlich sächsischer
Militärverein, Landwirtschaftsverein,
Gesangverein; unter dem Sohn Bruno
auch der neugegründete Schach¬
verein) war es zusammen mit dem
Erbgericht Großdrebnitz zum Zent¬
rum des dörflichen Lebens geworden.
Der älteste Sohn Oskar folgte Gnauck
am 1. März 1919 im Amt des Ge¬
meindevorstands. Ernst Gnauck blieb
112
(& Sftcfer^borf. (©timieüjung.) 3tm 1. ©ftbr.
fanö ^tcr Die - 'StntoeT^mt g langerfefjnten
^af)nt)o fg ftatt. fcftlicf)cm ©dpnucf prangte
bas neue ©ebäube. 2tfit allen Bügen fuhren bie
intereffierten ©cmcinbePorfteber nad) 93ifd)of§»
merba unb äuritd. fftaefebem bet 3Jtittag§äug
eingölaufen, fattb feftlicfecr Grmpfang am
93at)nt)of ftatt. Sie SBegriifeungäanfpracfee
hielt §err ©emeinbeborftanb artmann-
ÜBeicfergbotf. hierauf orbnete man fic^ $u einem
gelang unb mit bolier aP^ufif ging§ aum @rblcbn»
geriet, mo man um 2 Uhr ba§ ^efteffen einnaljm.
hierbei maren bertreten ©e. ®urd)Iaudht ^ rin a
hon ©djmaraburg, £)6erflnanarat $ it a •
T8re£öen~unb S3auämtmann © p e cf * SSaufeen. Sie
33 egrüfe ung bei ber Xafer, moran 80 ^erjonen
teitnatjnien, batte ©emeinbeb or fteber © n a u cf»
®I.*®rebmfe übernommen unb liefe feine fftebe in
ein' ßegeiftert aufgenommene§ ®önig§bod) auS»
flingen. 21ud) ©e. 'Surdblaudjt hielt eine %\\*
fpradje, bie barin gipfelte, bafe bie beteiligten @c=
mctnbeu fid) red)t lange ber neuen ©rrungenfefeaft
in gegenfeitiger görberung erfreuen niödjtcn.
2)ann tonrben in bem feftlidj gefdjmüclten ©aale
nod) mehrere £rinffprücfee gemedjfelt. ©egen S
Uhr tourbe bie flefttafel aufgehoben unb ber ©aal
au einem flotten 2änad)cn geräumt.
Aufsatz von Bruno Barthel in der Beilage „Unsere Heimat“ zum „Sächsi¬
schen Erzähler“ (anonym, Oktober 1909).
aber Orts- und Friedensrichter. Der
jüngste Sohn Kurt pachtete nach 1945
aus dem Besitz eines Schwiegerenkels
von Gnauck in Pulsnitz das Hotel
„Stadt Dresden“, das Geburtshaus des
berühmten Agrarwissenschaftlers
Julius Kühn.
Die folgende Stammtafel wurde
sowohl in Breite als auch Tiefe auf
historisch bedeutende Familienzweige
begrenzt. Weitere Angehörige besa¬
ßen ebenfalls Bauerngüter in Wei¬
ckersdorf, Groß- und Kleindrebnitz.
Quellen: S. 412 ff.
113
Martin Gnauck
nach Richard Garbe Bauer sowie Salz- und Landfuhrmann (bis nach Leipzig und Breslau)
Thomas Gnauck (1618 - 1679)
Gerichtsschöppe, Bauer sowie Salz- und Land¬
fuhrmann auf dem Stammgut
Hanss Johann Gnauck (1655 - 1729)
Hans George Gnauck (1695 - 1725)
Gerichtsschöppe und Landfuhrmann auf dem
Stammgut
Anna Elisabeth Gnauck (1725 - 1796)
der ursprüngliche Kleindrebnitzer Zweig der Gnaucks ging
durch Heirat 1745 in der Großdrebnitzer Erbrichterfamilie
Klahre auf
Friedrich Martin Gnauck (1709 - 1774)
Bauer und Landfuhrmann, ging von Weickersdorf nach Bühlau
Johann Gottfried Martin Gnauck (1753 - 1798)
in Bühlau geboren, kaufte das Kleindrebnitzer Stammgut der Familie
Johann Gottfried Gnauck (1774 - 1836)
Bauer und Landfuhrmann auf dem Stammgut
Carl Gottfried Gnauck (1802 - 1882)
Erbrichter, erster gewählter Gemeindevorstand nach der sächsischen
Landgemeindereform (1838), kaufte zusätzhch zum Stammgut das Erb¬
gericht von Johann Gottfried Nake (1849)
Friedrich Ernst Gnauck (1852 - 1927)
langjähriger Gemeindevorstand und Erbgerichtsbesitzer
Bruno Gnauck
(1888-1969), Friedens¬
richter, verkaufte Erbge¬
richt an Farn. Szczekalla
nach Tod beider Söhne
Paul Gnauck
(1880-1945)
Oskar Gnauck
(1887-1931), Ge¬
meindevorstand,
Schwiegersohn v.
Bruno Barthel
Luise Gnauck
(1913-2006), aufge¬
wachsen im Erbgericht,
Schwiegermutter von
Frank Fiedler
Willy Gnauck
(1906-1980), verkaufte
im Zusammenhang mit
Kollektivierung Stamm¬
gut an Farn. Brendler
Die Spalten repräsentieren einzelne Ahnenlinien, wobei Spaltengruppen unter einem
übergreifenden Tabelleneintrag für Geschwister stehen. Die Zeilen stellen den Bezug
zwischen korrespondierenden Generationen über verschiedene Linien hinweg her.
114
(* 1586)
auf einem der ältesten und größten Bauerngüter von Kleindrebnitz (Stammgut)
Christoph Gnauck (1610 - 1671)
Bauer und Gerichtsschöppe, in Weickersdorf „am Drebnitzer Weg über n Haufen geritten“
(Heckei: Chronik der Stadt Bischofswerda)
Martin Gnauck (1634 - 1705)
Bauer und Salzfuhrmann
Martin Gnauck (1681 - 1758)
Bauer und Salzfuhrmann
Andreas Gnauck (t 1772) Christoph Gnauck (?1725 - 1763)
Freirichter auf dem Erbgericht Amts-, Land- und Gerichtsschöppe, Bauer auf Gut Nr. 2, einem der größten
Bauerngüter von Weickersdorf (nahe dem heutigen Bahnhof)
Rosina Gnauck
heiratete 1734 Christoph Näther a. Potenz,
Dokument zum bäuerlichen Hochzeits¬
brauchtum im Sächsischen Staatsarchiv
Johann Christoph Gnauck (1756 - 1813)
Bauer auf Gut Nr. 14, Gerichtsschöppe, Salzfuhrmann, sein Bruder Adam
Gottlieb (auch Gerichtsschöppe, Besitzer von Gut 2) vermutlich durch
napoleonische Truppen ermordet
Carl Christoph Gnauck (1791 - 1865)
Bauer auf Gut Nr. 2, Gerichtsschöppe, vermutlich auch Salzfuhrmann; seine
Frau, Christiane Caroline geb. Beyer, entstammte dem in Weickersdorf ver¬
bliebenen Zweig der Familie Beyer/Bayer (Bayer AG; nach Namenswechsel)
Karl Julius Gnauck (1826 - 1905)
zwischenzeitlich in Bühlau, wo sein erstes Kind gebo¬
ren wurde, Besitzer von Gut Nr. 2, kaufte 1868 von
den Leunerschen Erben auch Gut Nr. 8
Friedrich August
Heinrich Gnauck
(1820-1905) Gutsbe-
besitzer Großdrebnitz
Karl Hermann G.
(* 1872), besaß Gut
Nr. 2
Max Otto Gnauck Meta Flora G.
(1858-1904), Lehrer (1860-1908)
und Altertumsforscher
in Leisnig
Richard G.
(1878-1944)
Carl Ernst Paeßler
(1890-1963), Freiguts¬
besitzer in Belmsdorf,
Enkel von Bernhard
Paeßler
Curt Gnauck
(1905-1945)
Bürgermeister
in Rammenau
Roland Paeßler
(1928-2016), Landwirt
und Heimatforscher
Vielfältige Beziehungen bestanden zur Erbrichterfamilie Klahre. Die farbliche Hinter¬
legung der Tabelleneinträge bezieht sich auf den jeweiligen Lebensmittelpunkt:
Kleindrebnitz, Weickersdorf bzw. weiß bei abweichenden Orten. Siehe auch S. 415 ff.
115
Mosaikbild am Hauptportal der Christuskirche Bischofswerda, 1907 von
Josef Goller zusammen mit Villeroy & Boch geschaffen. Das Foto wurde
von Uwe Fiedler der Wikipedia zur Verfügung gestellt.
Goller, Josef
Professor, Glasmaler und Grafiker
25.01.1868 Dachau - 29.05.1947 Obermenzing bei München
V: Adam, Tischler und Instrumentenbauer; E: Clara Fanny geb. Kunze (*27.9.1865 Zittau,
129.5.1927 Dresden, Tischlerstochter aus Zittau); K: Clara Elise (*1.10.1888 vermut! in Zittau,
11970 vermut! in Braunschweig, ab 1911 verheiratet mit dem Maler Arno Drescher, Tanzunter¬
richt bei Mary Wigman), Josefa Anna (*10.10.1889 Dresden), Clara Gertrud (*2.6.1891 Dres¬
den), Martha Helene (*15.5.1892 Dresden), Johanne Margarethe (*5.11.1893 Dresden), Charlotte
Erna (*6.12.1894 Dresden), Elsa Maria (*5.12.1895 Dresden), Josef Friedrich (*30.11.1896
Dresden), Johann Otto (*2.10.1898 Dresden, 1928 ausgewandert in die USA)
Josef Goller absolvierte in München
an der Mayer sehen Hofkunstanstalt
eine sechsjährige Lehre als Glasmaler.
Gleichzeitig bildete er sich autodi¬
daktisch und mit dem Besuch von
Abendkursen an der Kunstgewerbe¬
schule auf grafischem Gebiet weiter.
1887 erhielt Goller in Zittau bei der
Hofglasmalerei Türcke & Schiein sei¬
ne erste Anstellung. In Zittau heirate¬
te er auch die Tochter eines Tischlers.
1890 übernahm Goller die künstle¬
rische Leitung der Dresdner Anstalt
für Glasmalerei von Bruno Urban. Er
orientierte sich als Glasmaler zu¬
nächst am Historismus, entwickelte
sich jedoch zunehmend zu einem
führenden Vertreter des Jugendstils.
Zu seinen Spezialgebieten gehörten
die Bemalung von amerikanischen
Opaleszenz-Gläsern und die Mosaik-
Verglasung. 1892 verfasste Goller
einen Artikel, in dem er zunächst
auf die historische Entwicklung der
Glasmalerei vom Mittelalter bis zu
ihrem Höhepunkt im 17. Jahrhundert
einging, eine geringere Bedeutung
im Barock und Rokoko beklagte und
auf einen erneuten Aufschwung,
ausgehend von München, seit dem
Beginn des 19. Jahrhunderts ver¬
wies. Entscheidend war laut Goller,
von der Imitation der Ölmalerei auf
Glas abzugehen: „Heute arbeitet der
Glasmaler wieder, wie im Mittelal¬
ter, in flotter, breiter und dem Glase
entsprechenden einfachen Manier,
und meidet möglichst unnütze Unter¬
malungen; Hauptsache muß das Glas
selbst sein, denn die Malerei soll nur
darin bestehen, Licht und Schatten zu
schaffen...“ Die Kunstglasanstalt von
Bruno Urban, von 1899 bis 1901 Ur¬
ban & Goller, realisierte Entwürfe be¬
kannter Maler, aber auch Glasgemäl¬
de nach Vorlagen von Goller selbst
für Kirchen, Rathäuser, Schulen und
andere öffentliche Gebäude sowie für
Privathäuser. Eine der ersten gemein¬
samen Arbeiten betraf das Rathaus
in Pirna. In Radebeul entwarf Goller
die Chorfenster der Lutherkirche
sowie Treppenfenster und Fenster im
Ratssaal des Rathauses. Die Fenster
der Nikolaikirche in Pulsnitz entstan-
117
„Der pflügende Bauer“ im Rathaus
Radebeul. Foto: Der Naundorfer
(Wikimedia Commons, CC BY-SA
4.0, Ausschnitt)
den unter Federführung von Bruno
Urban, der aus dieser Stadt stammte.
Auch vier Fenster im Standesamts¬
saal des Nürnberger Rathauses sowie
Kirchenfenster in Johanngeorgenstadt
entstanden in jener Zeit. In Zusam¬
menarbeit mit den Architekten Schil¬
ling & Graebner schufen Urban &
Goller das Kolossalfenster im Vestibül
und weitere Fenster des Kaiserpalas¬
tes in Dresden sowie das Glasgemälde
für den Altar der protestantischen
Kirche in Dux. Für die wegweisende
I. Internationale Kunstausstellung
im Ausstellungspalast, die 1897 den
Jugendstil nach Dresden brachte (vgl.
Osmar Schindler), entwarf Gol¬
ler das Glasgemälde „Tänzerin“, für
die Deutsche Kunstausstellung 1899
Fenster für ein Treppenhaus von Max
Rose. Ab 1901 arbeitete Goller als
Glasmaler unabhängig.
Goller galt schon früh als genialer
Zeichner. Er machte sich einen Na¬
men mit karikaturistischen Plakaten
und entwarf dekorative Innenraum¬
gestaltungen. Karl Schmidt gewann
ihn 1898 als künstlerischen Mitarbei¬
ter seiner damaligen Firma „Dresdner
Werkstätten für Handwerkskunst
Schmidt und Engelbrecht“ in Laube¬
gast. Goller stand in enger Beziehung
zu Grafikern wie Johann Vincenz
Cissarz, der ebenfalls auftragsbezogen
für Schmidt arbeitete. Mit dem Auf¬
schwung des Plakatwesens in Dresden
für Reklame und Information wa¬
ren Plakatgestalter gesucht. Sowohl
Cissarz als auch Goller arbeiteten
für die Lithographische Anstalt von
Theodor Beyer. 1902 gehörte Goller
zu den Gründern der Gruppe „Die
Eibier“ um Gotthardt Kuehl, Leiter
des Ateliers für Genremalerei an der
Kunstakademie und ein Wegbereiter
des Impressionismus in Dresden. Von
Goller stammte das Wahrzeichen der
„Eibier“, ein Schiff auf bewegten Wo¬
gen. Die „Eibier“ standen im Unter¬
schied zum aufkommenden Expres¬
sionismus jener Zeit („Die Brücke“)
nicht für experimentelle Malerei. Sie
verbanden solide Technik mit hei¬
matlichen Motiven aus der Natur und
zeigten Menschen im Alltag.
Für die 3. Deutsche Kunstgewer¬
beausstellung 1906 in Dresden schuf
Goller für mehrere Ausstellungsräu¬
me farbige Glasfenster mit Bezügen
zu den Exponaten, beispielsweise für
das Wohnzimmer von Fritz Schu¬
macher im Sächsischen Haus, für
die Friedhofskapelle von Max Hans
Kühne und die Bibliothek von Wil¬
helm Kreis. Diese Ausstellung gab den
118
EmilRi'hTer? Kunst-
Salon FEBR1909
DlEELBIER
AUSSTELLUNG v AQUARELLEN
PASTELLEN und QRAPHIK-
Plakat für eine Ausstellung der „El-
bier“ mit dem von Goller geschaffe¬
nen Signet.
Anstoß zur Gründung des Deutschen
Werkbundes 1907 in München, dem
sowohl Karl Schmidt, Goller als auch
dessen Druckhaus Theodor Beyer an¬
gehörten. Mit der Ansiedlung seiner
Deutschen Werkstätten begründete
Schmidt 1909 die Gartenstadt Hel¬
lerau. Der Deutsche Werkbund, von
1910 bis 1912 mit seiner Zentrale in
der Gartenstadt Hellerau ansässig,
verstand sich als Vereinigung von
Künstlern, Architekten, Unterneh¬
mern und Sachverständigen zur
„Veredelung der gewerblichen Arbeit
im Zusammenwirken von Kunst,
Industrie und Handwerk“. Ebenfalls
von der 3. Deutschen Kunstgewer¬
beausstellung beeinflusst, hatte sich
unter Führung von Stadtbaurat Hans
Erlwein der Dresdner Künstlerverein
„Die Zunft“ gegründet. Die Bildhauer,
Architekten, Maler und Kunstge¬
werbler entwickelten einen speziellen,
an der Zweckmäßigkeit orientierten
Dresdner Stil im Zusammenwirken
der verschiedenen Kunstformen. Eine
Arbeitsgemeinschaft innerhalb der
„Zunft“, der auch Goller angehörte,
gab die „Dresdner Künstlerhefte“ he¬
raus. Goller illustrierte zudem für das
„Kunstgewerbeblatt“, die Zeitschrift
des Vereins Kunstgewerbe-Museum
zu Leipzig.
Offenbar war es zwischen Hans
Erlwein und Goller zum Bruch ge¬
kommen. Jener trat aus der „Zunft“
aus und gehörte 1908/1909 zu den
Beschwerdeführern gegen Erlwein
wegen vermeintlicher Bevorzugung
von „Zunft“-Mitgliedern bei öffentli¬
chen Aufträgen. Als 1909 die Grup¬
pen „Zunft“ und „Eibier“ sowie weite¬
re Künstler die „Künstlervereinigung
Dresden“ gründeten, beteiligte sich
Goller nicht.
Mit vielen Vertretern der damaligen
Reformbewegungen arbeitete Gol¬
ler als Glasmaler an gemeinsamen
Bauvorhaben, so mit den Architekten
William Lossow (Kunstgewerbemu¬
seum und Garnisonkirche Dresden),
Hans Erlwein (Sparkasse Schulgasse
Dresden) und Schilling & Graebner
(Lutherkirche Radebeul und Kaiser¬
palast, Handelsbank Dresden, Kirche
Dux).
119
Die Buntglasfenster in der Pfarr¬
kirche St. Martin in Dresden aus
der Zeit mit Urban, darunter „St.
Viktor“, heben sich vor dem dunk¬
len Hintergrund mit strahlenden
Farben hervor.
Zu Gollers wichtigsten Glasmalar¬
beiten zählten die Verglasungen im
Empfangsraum für Staatsoberhäup¬
ter im Leipziger Hauptbahnhof (mit
Lossow), Arbeiten für die Neuen
Rathäuser in Dresden, Gera und
Chemnitz sowie das Ständehaus in
Dresden. Während viele seiner Werke
in der Dresdner Innenstadt bei den
Bombenangriffen 1945 verloren gin¬
gen, wurden die Fenster der früheren
Garnisonkirche, heute St. Martin an
der Stauffenbergallee, wieder rekon¬
struiert. Zusammen mit der vollstän¬
digen Ausmalung der Kirche durch
Paul Mohn bilden sie ein beeindru¬
ckendes Ensemble. Im Chemnitzer
Rathaus wurden im Jahre 2005 zwölf
historische Bilder in Wappenform mit
floralen und kulinarischen Motiven
wieder eingesetzt.
Goller übernahm neben der Glas¬
gestaltung dekorative und grafische
Arbeiten, von denen sich mehrere im
Kupferstich-Kabinett Dresden, aber
auch im Kunstgewerbemuseum Prag
befinden. Beispielsweise entwarf er
die farbliche Neugestaltung des Foy¬
ers der Semperoper im Stil des Neo¬
klassizismus. Für das „Central-The-
ater“ in Chemnitz malte Goller den
Hauptvorhang. Zu seinen bekanntes¬
ten Auftraggebern für Werbegrafiken
gehörte die „Heinrich Ernemann AG
für Camerafabrikation“ in Dresden.
Für die Große Kunstausstellung Dres¬
den 1904 entwarf Goller ein Plakat,
für die Internationale Photographi¬
sche Ausstellung in Dresden 1909
120
Reklamemarken und Postkarten. Auf
der Dresdner Jahresausstellung „Das
Papier“ 1927 führte er ein Schat¬
tenspiel vor. Sein „Volkstümliches
Schattenspiel-Theater“ präsentierte
Goller regelmäßig im Kunstsalon
„Kühl und Kühn“. In seinen späten
Dresdner Jahren ist er mehrfach mit
Ölgemälden auf akademischen Kunst¬
ausstellungen hervorgetreten.
In der Oberlausitz entwarf Goller
Kirchenfenster in Königswartha und
Seitendorf, das Mosaik über dem
Eingangsportal der Christuskirche
Bischofswerda und Glasfenster für
die Synagoge Görlitz (mit William
Lossow). Die Fenster der Kirche
Schmeckwitz wurden nach Entwürfen
von Woldemar Kandier durch Urban
& Goller realisiert. Goller illustrierte
zudem in Alfred Moschkau: „Ritter¬
burg und Kloster Oybin im Zittauer
Gebirge. Deren Beschreibung, Ge¬
schichte und Sagen“ (1905).
An der Dresdner Kunstgewerbe¬
schule unter dem Direktor Carl
Ludwig Theodor Graff unterrichtete
Goller von 1900 bis 1901 zunächst
Abendklassen. Das Angebot dieser
Abendklassen richtete sich vorrangig
an junge Handwerker und umfasste
Architektur, Modellieren, Zeichnen
und Malen. Nach dem Neubau der
Kunstgewerbeschule an der Elias-
straße (heutige Güntzstraße) lehrte
Goller unter William Lossow ab 1906
(ab 1908 als Professor) in der Nach¬
folge von Otto Rennert in den Tages-
In den Königswarthaer Kirchen¬
fenstern mit Petrus und Paulus und
den vier Evangelisten wird Gollers
dekoratives Talent deutlich. Dabei
ergänzten sich sein feines stilisti¬
sches Gefühl und eine sichere Farb¬
gebung. Goller war nicht nur ein
gesuchter Glasmaler bei repräsenta¬
tiven Neubauten wie der Lutherkir¬
che Radebeul (1892), dem Kaiserpa¬
last Dresden (1897) und dem Neuen
Rathaus Chemnitz (1911), sondern
auch dort, wo es darum ging, die
Fenster in ein bestehendes histori¬
sches Ensemble stilgerecht einzufü¬
gen wie in den Kirchen Johanngeor¬
genstadt und Königswartha.
klassen Glasmalerei (Schüler waren
Otto Griebel, Oskar Fritz Beier) sowie
Plakatentwurf (Otto Dix, Georg Karl
Heinicke aus Bautzen, Kurt Fiedler).
Die Kunstgewerbeschule Dresden
begleitete seit 1875 die Industrialisie-
121
Die „Deutsche Bauzeitung“ schrieb
1919 zu der von Lossow & Kühne
im Jugendstil errichteten Synagoge
Görlitz: „Die von Prof. Goller in
Dresden entworfenen Glasfenster
lassen in ihrer großen Fläche reiches
Tageslicht in das Innere fluten.“
rung Sachsens mit Ausbildungsange¬
boten in neuen Kunstzweigen und im
Kunsthandwerk. Mit William Lossow
wurde 1906 ein Vertreter der jungen
Reformarchitektur zum Direktor
bestellt. Die Ideen des Deutschen
Werkbundes fassten in der Dresdner
Kunstausbildung Fuß. Lossow holte
nicht nur Josef Goller in den Lehr¬
körper, auch Oskar Seyffert, 1908
Mitbegründer des Landesvereins
Sächsischer Heimatschutz, Adolf Son¬
nenschein und Lossows Nachfolger
ab 1914, Karl Groß, waren Mitglieder
im Deutschen Werkbund. Zur Lehrer¬
schaft gehörten neben bekannten
Künstlern, so der Maler und Bildhau¬
er Richard Guhr (Goldener Rathaus¬
mann Dresden, Richard-Wagner-
Denkmal Graupa) und der Maler Carl
Rade (später Lehrer von Gottfried
Zawadzki), auch externe Lehrkräf¬
te wie Wilhelm Ellenberger, an der
Tierärztlichen Hochschule Dresden
Direktor von Bruno Steglich. Mit
der Kunstgewerbeschule war das
Kunstgewerbemuseum verbunden,
für welches Goller ein Glasmosaik mit
Adler geschaffen hatte. Es ist heute im
Besitz der Staatlichen Kunstsammlun¬
gen Dresden. 1928, ein Jahr nach dem
Tod seiner Frau, kehrte Goller nach
München zurück.
Der wohl bekannteste Oberlausitzer
Absolvent der Kunstgewerbeschule zu
Gollers Zeit war nach dem Ersten
Weltkrieg Paul Sinkwitz. Sinkwitz stu¬
dierte u. a. bei Gollers Schwiegersohn
Arno Drescher. Ab 1931 lehrte er
selbst an der nunmehrigen Kunstge¬
werbeakademie. Mehrere von Gol¬
lers Schülern machten sich ebenfalls
einen Namen in der Oberlausitz.
Oskar Fritz Beier schuf Bleiglasfenster
für die Kirche Wilthen, Max Merbt
restaurierte die Schlösser Rammenau
und Neschwitz und entwarf Bildta¬
peten für das Rittergut Schirgiswalde
und Kurt Fiedler schuf Werbegrafiken
für Christoph & Unmack in Niesky
und den Görlitzer Waaren-Einkaufs-
Verein. Karl Heinicke stellte wieder¬
holt beim Bautzener Kunstverein aus.
122
Die Kunstgewerbeschule von Los¬
sow & Vieweger wurde während des
Zweiten Weltkriegs zerstört und da¬
nach unter Leitung von Mart Stam
vereinfacht wieder aufgebaut.
Das Stadtmuseum Bautzen bewahrt
eine größere Anzahl seiner Werke auf.
Otto Garten aus Elstra war von Goller
entdeckt worden und studierte ab
1917 an der Kunstgewerbeschule. Sein
Nachlass befindet sich im Sorbischen
Museum Bautzen.
Quellen: Benny Waszk: „Prof. Josef Goller
- sein Leben und Wirken in Chemnitz und
Umgebung“. In: Chemnitzer Roland: Vereins¬
spiegel für Heimat, Brauchtum, Geschich¬
te, Kunst, Chemnitz, Bd. 11 (2004), 2, S.
7-10; Ortsverein Loschwitz-Wachwitz e. V.,
Ortsverein Pillnitz e.V. (Hrsg.): „Künstler am
Dresdner Elbhang“. Teil 1, Dresden, Elbhang-
Kurier-Verlag, 1999; Ulustrirte kunstgewerb¬
liche Zeitschrift für Innendekoration, H. 1,
1892, S. 7; Deutsche Kunst und Dekoration.
Bd. 1. Verlagsanstalt Alexander Koch, Darm¬
stadt, Oktober 1897-März 1898, S. 116 und
5/1899; Matthias Erfurth (Stadtwiki Dresden,
Informationen zu den Kindern); Pfarrer
Andreas Kecke (Königswartha); Allgemeines
Lexikon der bildenden Künstler von der Anti¬
ke bis zur Gegenwart: Unter Mitwirkung von
etwa 400 Fachgelehrten. Von Ulrich Thieme,
Hans Vollmer, Felix Becker. Seemann Leipzig,
14. Bd., 1921, S. 345-346; Saur, Künstlerlexi¬
kon, 2008; Wer ist's?, 1905 und 1909; Herold
Hofmeister, Harald Adler: „Leipzig Haupt¬
bahnhof: Geschichte und Geschichten“. Verlag
Forum, 1994; Heinrich Magirius: „Gottfried
Sempers zweites Dresdner Hoftheater“. Verlag
H. Böhlau, 1985; Ulrike Lorenz: „Dix avant
Dix“. Glaux 2000; Willy Doenges: „Ausstel¬
lungen - Dresden“. In: Cicerone, 2. Jahrgang,
Nr. 17,1910, S. 592; Maria Mirtschin: „Garten,
Ota (Otto)“. In: Sächsische Biografie, hrsg.
vom Institut für Sächsische Geschichte und
Volkskunde e.V., bearb. von Martina Schatt-
kowsky; www.christusbote.de; „Katholische
Pfarrkiche St. Marien in Dresden“. Kunstverlag
Josef Fink, 2007
HABE EIN HERZ
FÜR DIE
HEIMKEHRENDEN KRIEGER
UND DIE BEDÜRFTIGE BEVÖLKERUNG
BRING ALLE ALTKLEIOER. UNIFORMEN.WÄSCHE u SCHUHE
AUCH VON FRAUEN u KINDERN zur ALTBEKLEIDUNGSSTELLE.
ÄNNftHMESTEUt'
Plakat zur Unterstützung der Not¬
leidenden nach dem Ersten Welt¬
krieg. Viele von Gollers Schülern
lernten die Schrecken des Krieges
kennen, so Otto Dix, der für seine
Kriegsgemälde berühmt wurde.
123
Tumba-Deckplatte des Gra¬
fen Wiprecht von Groitzsch.
Gipsabguss nach dem Ori¬
ginal aus Sandstein in der
Laurentiuskirche zu Pegau.
Die farbige Erscheinung des
Abgusses gibt die Bemalung
und Belegung mit Edelstei¬
nen im Rahmen der Restau¬
rierung unter Oskar Mothes
(aus der Familie von Bruno
Steglich) und Chr. Zucchi
im Jahre 1871 wieder. Die
Bemalung wurde dort um
1934/35 entfernt. Foto: Ka-
terBegemot (Germanisches
Nationalmuseum, Wikime-
dia Commons), Lizenzen:
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Groitzsch, Wiprecht von
Markgraf von Meißen und der Niederlausitz, Herrscher der Oberlausitz
* um 1050 in der Altmark - 22.05.1124 Pegau
V: Gaugraf Wiprecht I. vom Balsamgau (* um 990,129.4.1050); M: Sigena von Leinungen (* um
1025, tll 10, in zweiter Ehe mit Friedrich I. von Pettendorf verheiratet, zuletzt dritte Äbtissin des
Klosters Vitzenburg); G: 2 Schwestern, u. a. Gisela (* um 1045); E: (1) 1084 Juditha von Böhmen
(*1066,19.12.1108 Bautzen), (2) 1110 Kunigunde, Tochter des ehemaligen Markgrafen Otto I.
von Meißen und Witwe des Grafen Kuno von Beichlingen; K: Bertha (116.5.1144, verheiratet
mit Graf Dedo von Wettin, 1136 Erbin der Herrschaft Groitzsch), Wiprecht der Jüngere (*1087,
127.1.1116, verheiratet mit einer Stiefschwester), Heinrich (* um 1090,131.12.1135 Mainz, ab
1124 Herrscher der Oberlausitz, ab 1131 als Heinrich III. Markgraf der Niederlausitz)
Wiprecht von Groitzsch war eine
vielgestaltige Persönlichkeit des
Mittelalters. Er spielte in den politisch
bedeutsamen Auseinandersetzungen
zwischen Kaisertum und Papsttum
eine wichtige Rolle. Während der
deutschen Expansionsbewegung nach
Osten bis in die Oberlausitz organi¬
sierte er die Ansiedelung von Bauern
und Handwerkern, einhergehend mit
einer Christianisierung und Assimi-
lierung der Sorben. Die neuen Mark¬
grafschaften waren heftig umkämpft.
Gleichzeitig versuchten die regionalen
Herrscher, sich gegenüber der deut¬
schen Zentralgewalt zu emanzipieren.
Gewalt, wechselnde Allianzen und
gezielte Heiraten trugen dazu bei, den
jeweiligen Herrschaftsanspruch aus¬
zudehnen. Dank guter Beziehungen
nach Böhmen erlangte Wiprecht für
mehr als drei Jahrzehnte die Herr¬
schaft über die Oberlausitz. Ausein¬
andersetzungen mit den Wettinern
endeten mit dem Niedergang seiner
Familie und dem Aufstieg der Wetti¬
ner zum Herrscherhaus Sachsens.
Wiprechts Großvater Wulf, ein sor¬
bischer Adliger aus Pommern, hatte
nach dem zwischenzeitlichen erneu¬
ten Vordringen der Slawen nach Wes¬
ten nach dem Tod Kaiser Otto II. 983
in Rom Grundbesitz in der Altmark
erlangt. Mit der Wiederherstellung
der deutschen Vorherrschaft entlang
der Elbe assimilierte sich die Familie
und erhielt die Grafschaft des Balsam¬
gaus. Nach dem Tod des Vaters wurde
Wiprecht von seinem Vormund Udo
von Stade, Markgraf der Nordmark,
in Stade und Tangermünde erzogen.
Udo, der eine Operationsbasis für
geplante Eroberungen in Ostelbien
benötigte, überzeugte ihn um 1070,
die altmärkische Gaugrafschaft gegen
Güter im Süden von Leipzig einzu¬
tauschen. Sie befanden sich in einem
unruhigen, gleichzeitig aber chancen¬
reichen Gebiet in den Marken Zeitz
und Merseburg.
Wiprecht ließ auf seinem Besitz
Groitzsch eine neue Burg, erstmals als
mörtelgebundenen Steinbau, errich-
125
Freigelegte Reste der Wiprechtsburg
Groitzsch bei Leipzig. Foto: Rolo-1
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ten, deren Rundkapelle der älteste
Kirchenbau Sachsens ist. Er wurde
von lokalen Adligen angefeindet, die
selbst die Grafschaft beanspruchten,
und musste deshalb seinen Besitz von
1073 bis 1075 verlassen. Wiprecht
schloss sich mit seinen Kriegern
Böhmenherzog Vratislav an. Die
Böhmen unterstützten König Hein¬
rich IV. im Kampf für die Stärkung
der Zentralgewalt in Deutschland
gegen abtrünnige Fürstenhäuser, zu
denen insbesondere auch die Sachsen
(„Altsachsen“ zwischen Niederrhein
und Unterelbe) gehörten. Am 13. Juni
1075 besiegte die königliche Allianz
in einer Schlacht an der Unstrut die
Sachsen. Zum Dank belehnte der
König im Jahre 1076 Vratislav - gegen
den abtrünnigen Egbert II. - mit der
Mark Meißen. Wiprecht vermittelte
wiederholt zwischen Heinrich IV. und
Vratislav.
Im Jahre 1076 begann der Investitur¬
streit von König und Papst um Befug¬
nisse bei der Berufung von Geistli¬
chen und damit ein Kampf um die
Neuordnung zwischen weltlicher und
geistlicher Macht. Der Papst wollte
die Dominanz der deutschen Reichs¬
kirche seit Karl dem Großen nicht
mehr hinnehmen und stellte auch den
Herrschaftsanspruch des deutschen
Königs über Italien infrage. Unter¬
stützung erhielt er vom Hochadel, der
sich vom König emanzipieren wollte.
Papst Gregor VII. konterte den Ab¬
dankungsbefehl von Heinrich IV. mit
dessen Bannung. Heinrich, dessen
Regentschaft infrage stand, muss¬
te sich beugen und 1077 den Gang
nach Canossa antreten. Nachdem der
zum Gegenkönig ausgerufene Rudolf
von Rheinfelden getötet war, betei¬
ligten sich Vratislav und Wiprecht
am Rachefeldzug gegen den Papst.
Wiprecht unterwarf 1081 an der
Spitze eines 1000-köpfigen Ritterhee¬
res die Lombardei. Drei Jahre wurde
Rom belagert, ehe Wiprecht nach der
Überlieferung als Erster mit 24 Mann
die Mauer erklommen haben soll.
Als Dank für seine Hilfe im Kampf
gegen Papst und deutschen Hochadel
belehnte ihn der 1084 im Beisein Wi-
prechts zum Kaiser gekrönte Heinrich
IV. mit Colditz, Grimma und Leisnig.
Auch Geistliche der kaiserlichen Par¬
tei wie die Bischöfe von Köln, Mainz,
Halberstadt, Münster und Zeitz sowie
die Äbte von Fulda und Hersfeld
belohnten ihn. Mit Wiprecht wurde
dadurch ein Vertreter des niederen
Adels zu einem der mächtigsten Män¬
ner im östlichen Deutschland.
126
Der heilige Benno missioniert die
Sorben, Stefano Torelli, Hofkirche
Dresden; zu dem zwischen 1066 und
1106 amtierenden Bischof Benno
pflegte Wiprecht ein gutes Verhält¬
nis, obwohl sie während des Inves¬
titurstreits auf unterschiedlichen
Seiten standen und Benno zeitweise
seines Amtes enthoben war. So
beteiligte sich jener an der Exkom¬
munikation von König Heinrich IV.
und der Einsetzung des Gegenkö¬
nigs. Als Bischof von Meißen war
Benno auch für Wiprechts Besitz in
Nisan und Budissin zuständig, Teile
des Landes dazwischen besaß das
Hochstift Meißen unter Benno.
Nach der Heirat mit Prinzessin Judi-
tha, Vratislavs Tochter, im Jahre 1084
erhielt Wiprecht die Gaue Budissin
(die spätere Oberlausitz entlang der
Spree um Bautzen) und Nisan (Elbtal
um Dresden) in der Markgrafschaft
Meißen. Die Grenze zwischen Nisan
und Budissin verlief westlich von Stol¬
pern Die Oberlausitz wurde dadurch
zu einem von Meißen weitgehend
unabhängigen Territorium im Drei¬
ländereck mit Polen und Böhmen.
Mit der Unterstützung Wiprechts
erlangte Vratislav 1086 den böhmi¬
schen Königsthron. Dies geschah
vor dem Hintergrund eines weiter
schwelenden Konflikts um die Mark
Meißen, wo sich Egbert II. im Bunde
mit den Sachsen erneut festgesetzt
hatte und drohte, ein gefährlicher
Feind des Kaisers zu werden. Vra¬
tislav holte sich das ihm verliehene
Land zunächst zurück. Auch Bischof
Benno von Meißen, der sich nach
seiner zwischenzeitlichen Absetzung
durch Heinrich IV. dem vom Kaiser
eingesetzten Gegenpapst Clemens III.
unterworfen hatte, wurde in den Kon¬
flikt hineingezogen. Benno gewährte
dem heiligen Beneda aus Böhmen
Zuflucht, nachdem Wiprecht dessen
Bitte um Fürsprache bei Vratislav ab¬
gelehnt hatte. Im Jahre 1088 ließ Vra¬
tislav Beneda in Meißen ermorden.
Weil Egbert von Meißen nicht aufgab,
verlor Vratislav 1089 nach Entscheid
des Fürstengerichts Regensburg die
Mark Meißen endgültig. Egbert selbst
wurden alle Besitzungen entzogen,
127
viPEPJiyn
Durch Heirat mit Juditha von Böhmen wurde Wiprecht von Groitzsch für
insgesamt fast vier Jahrzehnte zum Herrscher der Oberlausitz.
die Mark Meißen ging an seinen
Schwager Heinrich I. (von Eilenburg)
aus dem Hause Wettin, der jedoch die
Herrschaft Wiprechts über Budissin
und Nisan anerkennen musste.
Wiprecht lud während seiner Herr¬
schaft fränkische und thüringische
Bauern und Handwerker ein und
beförderte damit die Besiedlung der
östlichen Gebiete, so zunächst in der
Pegauer Gegend, später auch in der
Oberlausitz. Unter Wiprecht sollte
sich die 150 Jahre zuvor erlahmte
Ostexpansion Deutschlands relativ
friedlich vollenden. Verkehrswege er¬
schlossen das Land, gerodete Wälder
machten Platz für Dörfer und Acker¬
land. Sein Beitrag zur systematischen
Erschließung eines großen Teils des
heutigen Sachsens ist sein größter,
bleibender Verdienst. So konnte er
auch die unter Vratislav anfangs nur
formal bestehende Herrschaft über
Nisan und Budissin festigen. Wi¬
precht residierte in Bautzen auf der
Ortenburg, in unmittelbarer Nähe
siedelten sich Handwerker, aber auch
Ritter und Edelleute an (Burglehn).
In dieser Zeit wurde die Böhmisch-
Oberlausitzer Kaiserstraße angelegt
bzw. ausgebaut. Wegen der ständi¬
gen Auseinandersetzungen um den
Territorialbesitz war für Vratislav,
Wiprecht und dessen Sohn die enge
Anbindung der Oberlausitz an Böh¬
men besonders wichtig. Es entstan¬
den seinerzeit Waldhufendörfer, die
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JuAilk«. W«. D ärtmtrv ♦ i/01.
vermutlich heutigen Ortschaften wie
Oppach, Taubenheim, Spremberg
und Ebersbach entsprachen, auch
wenn diese erst später urkundlich
ersterwähnt wurden. Eine massenhaf¬
te Zuwanderung in die Oberlausitz
erfolgte aber erst nach Wiprechts
Tod und dauerte bis in das folgende
Jahrhundert an.
In zahlreichen Fehden festigte Wi-
precht seine Herrschaft. Er ging dabei
äußerst brutal vor. In Zeitz verfolgte
er 1089 seine Feinde Vicelin von
Profen und Hageno von Tubichin, die
ihn seinerzeit aus Groitzsch vertrie¬
ben hatten. Sie standen inzwischen in
Verbindung mit den Bischöfen von
Merseburg und Naumburg-Zeitz, um
ihren Machtanspruch durchzusetzen.
Wiprecht tötete Videlin und 17 Mann.
Weil Hageno in der Jakobskirche
Zeitz Zuflucht gefunden hatte, ließ
er die Kirche abbrennen und dem
Gegner beide Augen ausstechen.
Gegen solch barbarisches Tun, aber
auch gegen Verschwendungssucht
und Machtgier, wie sie Heinrich IV.
nachgesagt wurden, richtete sich die
Propagierung sittlicher Werte durch
die Papstkirche, die zunehmende
Wirkung erzielte. Frömmigkeit und
Buße als Voraussetzung des ewigen
Seelenheils bestimmten das Denken
auch vieler weltlicher Herrscher zur¬
zeit der 1096 beginnenden Kreuzzüge.
Bischöfen der päpstlichen Partei in
Magdeburg und Merseburg gelang
es, Wiprecht 1090 zu einer Pilger¬
fahrt nach Rom zu bewegen, um die
Lossprechung vom Bann zu erlangen.
Wegen der Zeitzer Kirchenschändung
veranlasste ihn Papst Urban II., nach
Santiago de Compostella an das Grab
des Apostels Jakobus, des Namens¬
patrons der zerstörten Kirche, zu
wallfahren. Auf Verlangen des Papstes
stiftete Wiprecht auch das 1096
geweihte Kloster Pegau. Das Kloster
und die Burg Groitzsch entwickelten
sich zu Zentren der Christianisierung
der Sorben. Als erstes Kloster östlich
der Saale besaß Pegau zudem eine
erhebliche Bedeutung als kulturelle
Institution mit Schule und Bibliothek.
Der Kriegsheld Wiprecht von
Groitzsch erwies sich als Berater des
böhmischen Herrscherhauses zu¬
nehmend auch als vorausdenkender
Staatsmann. Nach Vratislavs Tod 1092
folgte diesem zunächst ein Bruder,
dann sein Sohn Bretislav II., ohne je¬
doch den Königstitel wieder erlangen
zu können. Wiprecht war an Kultur
und der Verbreitung des Christen¬
tums viel gelegen. Er ließ Kirchen und
weitere Klöster wie in Lausigk, das er
dem päpstlichen Stuhl unmittelbar
unterstellte, und Reinersdorf errich¬
ten. Mit seiner wachsenden Religio¬
sität entfremdete sich Wiprecht von
Heinrich IV. Er schloss sich dessen
Sohn Heinrich V. im Kampf gegen
den erneut gebannten Vater an. Der
Sohn hatte erkannt, dass im Reich ein
weitverbreiteter Wunsch nach Aus¬
söhnung mit dem Papst im Investitur¬
streit bestand. Zudem fürchtete er um
seine Thronfolge, zu der es sowieso
129
Mit seinem Verrat unterstützte
Wiprecht von Groitzsch die Macht¬
übernahme durch Heinrich V. (im
Bild rechts bei der Übergabe der
Reichsinsignien von seinem Vater,
Heinrich IV.). Das Ereignis stellte
einen Meilenstein beim Niedergang
von Macht und Ansehen des mittel¬
alterlichen deutschen Kaiserreichs
dar.
nur kommen konnte, weil sein Vater
den ältesten Sohn wegen Parteinahme
für den Papst abgesetzt hatte. Auch
Heinrich V., seit 1099 König, verbün¬
dete sich mit der päpstlichen Partei
gegen den Vater. Wiprecht war es, der
Heinrich IV. aus dem sicheren Geleit
nach Böhmen wieder an den Rhein
in die Hände des Sohnes führte. Als
Gesandter der Mainzer Fürsten¬
versammlung und von Heinrich V.
erpresste Wiprecht vom gefangenen
Heinrich IV. zu Böckelheim 1105 die
Herausgabe der Reichsinsignien. Er
gehörte zu den Gesandten um den Bi¬
schof von Konstanz, die Papst Pascha-
lis zur Kaiserkrönung von Heinrich V.
einladen sollten, wobei Wiprecht aber
unterwegs durch Kaisertreue festge¬
setzt und erst nach Fürsprache des
Bischofs von Bamberg freigelassen
wurde. Mit dem Tod des Markgra¬
fen der Nordmark, Lothar Udo III.,
erledigten sich die Markgrafschaften
Zeitz und Merseburg und Wiprecht
wurde zu einem bedeutenden Gegen¬
gewicht gegen die dortigen Bischöfe.
Aber auch mit Heinrich V. kam es
zum Konflikt, als jener in böhmische
Erbfolgestreitigkeiten gegen Wi-
prechts Verwandtschaft eingriff, um
den deutschen Einfluss zu stärken. Es
war ursprünglich vorgesehen, dass die
böhmische Regentschaft jeweils an
den Ältesten aus der Familie um Vra-
tislav und seine Brüder gehen sollte.
Bretislav II., Sohn Vratislavs, gelang
es dagegen, seinen Bruder Borivoj II.
als seinen Nachfolger durchzusetzen.
Dessen Macht wurde mehrfach durch
Nachfahren der Brüder Vratislavs in¬
frage gestellt, die sich dafür mit Hein¬
rich V. verbündeten. Wiprecht, der
mit Borivoj schon in Italien gekämpft
hatte, sandte seinen Sohn Wiprecht
den Jüngeren zu Hilfe. Der kam aber
130
zusammen mit Borivoj 1110 in Hein¬
richs Gefangenschaft und konnte erst
1112 gegen Abtretung von Budissin
und Nisan und weiterer Besitztümer
befreit werden, mit denen Heinrich V.
seinen engen Gefolgsmann Hoyer von
Mansfeld, den er als Gegenkraft zu
den aufrührerischen Sachsen aufbau¬
en wollte, belehnte. Der Vater Wi-
precht trat nun offen gegen Heinrich
V., seit 1111 Kaiser, auf. Der konnte
aber Wiprecht den Jüngeren auf seine
Seite ziehen, der sogar half, 1113
seinen Vater in Groitzsch zu belagern.
Nachdem dies fehlgeschlagen war
und der Kaiser daraufhin ihm die ver¬
sprochene Belehnung mit Naumburg
verweigerte, stellte er sich wieder an
die Seite des Vaters.
Im Zusammenhang mit Erfolgestrei¬
tigkeiten brachen neue Konflikte der
sächsischen Fürsten mit dem Kaiser¬
haus aus, zudem war der Kaiser vom
Papst gebannt, weil auch Heinrich V.
auf seinem Investiturrecht bestand.
Während eines Gefechts in Warnstädt
im Jahre 1113 fiel Wiprecht, auf säch¬
sischer Seite kämpfend, verwundet
in die Gewalt des Grafen Hoyer von
Mansfeld. Die Reichsstände in Würz-
Wiprechts Herrschaft Groitzsch lag
an der Grenze der Marken Zeitz und
Merseburg. Die Mark Meißen grenz¬
te im Süden an Böhmen, im Osten
an Polen und im Norden an die
Niederlausitz (oben: F. W. Putzger‘s
historischer Schul-Atlas, 1877). Zu
Beginn von Wiprechts Herrschaft
war dieses Territorium vorwiegend
von Sorben, z. B. um Bautzen und
entlang der Elbe, besiedelt (s. un¬
ten). Bis 1300 verzehnfachte sich die
Bevölkerung. Wiprecht beherrschte
nicht das ganze Gebiet um Bautzen.
Teile davon gehörten dem Bischof
von Meißen (Benno).
Schulatlas von
Lange u. Diercke.
Grimma.
f o Jßomaj
Hauptsiedl ungsFormen
I Bl Slawische-Dorfcmtagen,
I _ I Deutsche, Darfanlagai
I- II Slawische-DorfaJilagen, unter
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Nach A. Hornig
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1123.
©ertcub
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frttb 11113.
Durch Heirat war Wiprecht von Groitzsch mit den Wettinern verwandt, die
ihrerseits aber den mächtigen (alt)-sächsischen Fürsten aus der antikaiserli¬
chen Opposition näherstanden.
bürg verurteilten ihn zum Tode. Der
Sohn rettete den Vater durch Überga¬
be von Groitzsch und anderer Besit¬
zungen an den Kaiser. Danach muss¬
ten sich Wiprechts Söhne einige Zeit
als Raubritter durchs Leben schlagen.
Wiprecht wurde auf der Reichsfeste
Trifels in Haft genommen. Der Kaiser
hatte gegen die sächsischen und thü¬
ringischen Fürsten gesiegt. Als er aber
anlässlich seiner Vermählung 1114
Ludwig von Thüringen festnehmen
ließ, bildete sich ein neues Bündnis,
dem sich auch Wiprechts Söhne
anschlossen. Wiprecht der Jüngere
erschlug Hoyer am 11. Februar 1115
in der Schlacht am Welfsholz. Hein¬
rich V. verlor mit dieser Niederlage
erheblich an Einfluss. Im weiteren
Verlauf eroberten Wiprechts Söhne
Groitzsch und erzwangen mit der Be¬
lagerung Naumburgs die Freilassung
des Vaters. Der musste aber Groitzsch
und Leisnig erneut erobern, nachdem
1116 sein Sohn Wiprecht d.J. gestor¬
ben war. Mit dem Kaiser söhnte er
sich danach wieder aus, Budissin und
Nisan erhielt er um 1118 zurück. In
den Besitz der ihm zugesprochenen
Mark Niederlausitz gelangte er gegen
Markgraf Heinrich II. jedoch nicht.
Rückhalt gewährten ihm Erzbischof
Adelgot von Magdeburg, ein Sohn
von Wiprechts Schwester Gisela, des¬
sen Einsetzung Wiprecht seinerzeit
erfolgreich betrieben hatte, und auch
Adelgots Nachfolger ab 1119, Rüdiger
von Veltheim. So erhielt Wiprecht die
Burggrafschaff Magdeburg und die
Vogtei über das Kloster zum Neuen
Werke in Halle. 1121 war es vermut¬
lich Heinrich V., der an der Grenze
zwischen Nisan und Budissin in
Stolpen eine Burg bauen ließ.
132
Mit der Aussöhnung von Kaisertum
und Papst 1122 im Wormser Konkor¬
dat erledigte sich ein lang anhaltender
Loyalitätskonflikt für Wiprecht. Seine
Tochter Bertha war mit einem Bruder
von Konrad dem Großen verheira¬
tet. Auch Wiprechts zweite Ehefrau
entstammte dem Hause Wettin. Die
verwandtschaftlichen Bindungen
führten zu Erbfolgestreitigkeiten mit
den Wettinern. Als Markgraf Hein¬
rich II. 1123 starb, verlieh Kaiser
Heinrich V. Wiprecht die Markgraf¬
schaff Meißen und erneut die Nie¬
derlausitz. Konrad der Große, ein
Cousin Heinrich II., der schon dessen
Rechtmäßigkeit angezweifelt und sich
selbst als legitimen Nachfolger von
Heinrich I. angesehen hatte, besetzte
die Mark Meißen, bevor Wiprecht
sein Amt antreten konnte. Für Kon¬
rad ergriff Stammherzog Lothar von
Sachsen Partei. Einerseits war er mit
diesem verschwägert und es lag damit
in Lothars eigenem Interesse, ein
Erbrecht der Wettiner durchzusetzen.
Außerdem entzündete sich bei dieser
Gelegenheit erneut der Streit mit
Kaiser Heinrich V., zu dessen wich¬
tigsten Opponenten er gehörte. Im
Bunde mit Albrecht von Ballenstädt
(„der Bär“) vertrieben sie Wiprecht,
ohne dass die vom Kaiser zu dessen
Schutz aufgebotenen Herzoge Vladis-
lav I. von Böhmen, ein Sohn Vratis-
lavs, und Otto von Mähren ernsthaft
in den Kampf eingegriffen hätten.
Wiprecht zog sich in seinen letzten
Jahren aus der Politik zurück und
widmete sich verstärkt der Religion.
Während eines Aufenthalts in seinem
Kloster in Halle fing das Stroh von
Wiprechts Lager Feuer. Er trat es mit
bloßen Füßen aus, verletzte sich aber
so schwer, dass er kurz danach an den
Folgen im Kloster Pegau verstarb. Die
unrechtmäßige Aneignung der Mark
Meißen durch Konrad den Großen
wurde 1127 durch den inzwischen
zum König gekrönten Lothar endgül¬
tig anerkannt, die Niederlausitz konn¬
te erst Wiprechts Sohn Heinrich 1131
von Albrecht zurückerlangen. Konrad
wurde so zum Stammvater des sächsi¬
schen Kurfürsten- und Königshauses.
Nach dem Tod des kinderlosen Hein¬
rich kamen Wiprechts Besitzungen
zumeist an die Wettiner. Sie vollende¬
ten, was Wiprecht von Groitzsch von
Thüringen bis zur Oberlausitz begon¬
nen hatte, und schufen ein großes,
einheitliches Herrschaftsgebiet.
Quellen: Meyers Großes Konversations-
Lexikon, Bd. 20, Leipzig 1909, S. 681-682;
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Bd. 4,
Leipzig 1841, S. 741; Ernst Bernheim: „Groitsch,
Wiprecht von, der Aeltere“. Allgemeine Deut¬
sche Biographie, Bd. 9, 1879, S. 711-713; Ro¬
land Paeßler: „Die Erbrichter in der Umgebung
von Bischofswerda“. In: Mathias Hüsni (Hrsg.):
Schiebocker Landstreicher, H. 3, Burkau 2008,
S. 8-16; www.genealogie-mittelalter.de; T. Fla-
the: „Wiprecht von Groitzsch“. In: Archiv für die
sächsische Geschichte, Bd. 3, H. 1, Leipzig 1864,
S. 82-127; www.genealogie-93-generationen.eu;
Alexander Dinter: „Wer war eigentlich Wiprecht
von Groitzsch?“, 2011; www.bautzenweb.de;
Johann Gottfried Theodor Sintenis: „Die Ober¬
lausitz: ein belehrendes und unterhaltendes Le¬
sebuch“. 1812; Joachim Bahlcke: „Geschichte der
Oberlausitz: Herrschaft, Gesellschaft und Kultur
vom Mittelalter bis zum Ende des 20. Jahrhun¬
derts“. Leipziger Universitätsverlag, 2001
133
Eduard Heiden, Deutsches Museum München, Archiv (PT Krause-Album
3698), Fotograf: Friedrich Robert Süss, Bautzen.
Heiden, Joachim Christian Eduard
Professor, Agrarwissenschaftler in Pommritz
08.02.1835 Greifswald - 20.12.1888 Pommritz
G: Maria (?, bei der Taufe von Heidens Sohn 1871 unverheiratete Zeugin aus Greifswald); E:
1868 Hochkirch, Alma geb. Michels, aus Weitenhagen bei Greifswald, bis ca. 1927 als Witwe in
Greifswald ansässig; K: Alma Louise Emma Johanne (* 11.6.1869 Pommritz, um 1930 unver¬
heiratet in Greifswald ansässig), Eduard Rudolf Erwin Alfred Ludwig (31.10.1871-13.12.1871),
Martha Louise Olga Bertha (3.7.1875-18.8.1875), Albert Eduard Rudolf Prosper (25.6.1877-
22.7.1877)
Heiden wurde in Greifswald zunächst
privat unterrichtet, besuchte die
Bürgerschule und ab 1846 das Gym¬
nasium. Ab 1854 studierte er Staats¬
wissenschaften und Naturwissen¬
schaft. Botanik lehrte in Greifswald
Carl Jessen. Besonders interessierte
sich Heiden für die Agrikulturchemie.
1855 nahm er eine Tätigkeit an der
angegliederten Landwirtschaftlichen
Akademie Eldena auf und ab 1857
arbeitete er als Assistent am chemi¬
schen Laboratorium der Akademie
unter Eduard Baumstark. In der Tra¬
dition des ersten Akademiedirektors,
Friedrich Gottlob Schulze, bildeten
Lehre und Praxis eine Einheit. Eldena
genoss in der Fachwelt einen ausge¬
zeichneten Ruf. 1858 erhielt Heiden
die Lehrberechtigung als Privatdozent
im Fach Agrikulturchemie. Mit der
Dissertation „Über das Keimen der
Gerste“ erwarb er 1859 den Titel Dr.
phil. Auch während seiner Assis¬
tenzzeit am Laboratorium der Land¬
wirtschaftlichen Akademie Waldau/
Ostpreußen ab 1862 hielt Heiden
Vorlesungen über Agrikulturchemie.
1864 erschien mit „Die Phosphorsäu¬
re in ihren Beziehungen zur Land¬
wirtschaft“ seine erste bedeutende
Schrift. Die Studenten in Eldena und
Waldau baten ihn, die Vorlesungen
zur Düngerlehre als Lehrbuch zu pub¬
lizieren, dessen Erscheinen sich durch
private Probleme und politische
Wirrnisse jedoch verzögerte. Um das
Buch fertigzustellen, nahm Heiden
1867 Urlaub, statt nach der Auflö¬
sung von Waldau eine Anstellung
in Berlin anzunehmen. Die Bände 1
und 2 erschienen in der 1. Auflage
1866/1868 in Stuttgart, in der 2. Auf¬
lage 1879/1887 in Hannover. Heiden
baute sie wie seine zweisemestrige
Vorlesung auf: Der erste, theoretische
Teil behandelte das „Bedürfnis der
Pflanze“, der zweite, praktische Teil
die „Befriedigung desselben“.
Am 25. Januar 1868 trat Heiden sein
Amt als Vorstand der landwirtschaft¬
lichen Versuchsstation in Pommritz
an. Nach dem Weggang von Julius
Lehmann im Jahr zuvor hatte zu¬
nächst Cuno Frisch die Leitung über¬
nommen, der jedoch nach wenigen
Monaten verstarb. Pommritz bildete
135
unter den deutschen Versuchsstati¬
onen insofern eine Ausnahme, dass
neben angewandter Forschung auch
Grundlagenuntersuchungen durch -
geführt wurden. Heiden setzte unter
Lehmann begonnene Arbeiten fort.
Er verglich wasserlösliche und -unlös¬
liche Phosphorsäure hinsichtlich der
Fruchtbarkeit der Böden sowie die
Wirkung des Zusatzes stickstoffhalti¬
ger Verbindungen bzw. humusbilden¬
der Substanzen und widerlegte dabei
Justus von Liebig, indem er den Wert
des Humus für die landwirtschaftliche
Pflanzenproduktion nachwies. Schon
früh entwickelte Heiden in Pommritz
ein neues Arbeitskonzept. Zunächst
erfolgte die strikte Trennung vom Rit¬
tergut, das gewinnorientiert arbeiten
sollte. Die Versuchsstation erhielt 2,5
Hektar Land pachtfrei und konnte im
Stall acht Schweine unterbringen. Die
Räumlichkeiten und technische Aus¬
stattung der Station wurden erweitert
und Heiden bekam einen zweiten
Assistenten. Sein Hauptaugenmerk
galt der Verbesserung der landwirt¬
schaftlichen Erträge. Er untersuchte
langjährig Größe und Zusammenset¬
zung der Wurzeln und des Oberteils
verschiedener Kulturpflanzen (Getrei¬
de, Kartoffeln, Klee) in unterschied¬
lichen Entwicklungsstadien, um
Rückschlüsse auf die Nährstoffbilanz
zu ziehen. Heiden führte Düngungs¬
und Fruchtfolgeversuche durch, um
„rohen Boden“ fruchtbar zu machen.
Er propagierte die Verwertung städ¬
tischer Fäkalien zur Erhöhung der
Bodenfruchtbarkeit und untersuch¬
te auch die Eignung verschiedener
Guano-Dünger. Anbauversuche für
Getreide- und Gemüsesorten wurden
im Hinblick auf deren Eignung für
die Oberlausitz durchgeführt. Zudem
wurde die Kontrolle von Dünge- und
Futtermitteln ausgebaut. Heiden zähl¬
te zu den führenden Vertretern der
deutschen Agrikulturchemie, die bis
zur Umstrukturierung unter Georg
Derlitzki Leitthema in Pommritz
blieb.
Heiden setzte die grundlegenden
Untersuchungen seines Vorgängers
Julius Lehmann zur Ernährung von
Schweinen fort und veröffentlichte
1879 die Ergebnisse langjähriger
Versuche in „Untersuchungen über
die zweckmäßigste Ernährung des
Schweins“. Er analysierte die Wir¬
kung verschiedener Futtersorten (u.
a. mehrerer Getreidearten, Kartoffeln
und saurer Milch) für unterschiedli¬
che Altersklassen und bewertete die
Wirtschaftlichkeit des Futters. Daraus
wurden Schlussfolgerungen für die
Rasseauswahl und die Zusammenset¬
zung von Futtermischungen gezogen.
Ähnliche Untersuchungen führte er
auch für andere Haustierarten durch.
Heiden war der Erste, der im Rahmen
von Fütterungsversuchen die Mine¬
ralstoffbilanz (Kalzium, Phosphor)
wissenschaftlich untersuchte, und
wird international auch heute noch
zu jenen Wissenschaftlern gezählt, die
sich besonders um die Grundlagen¬
forschung zur Ernährung von Schwei¬
nen verdient gemacht haben.
136
1871 wurde Heiden zum Professor
ernannt, 1873 konnte er sein Lehr¬
buch mit dem 3. Band, „Leitfaden
der gesamten Düngerlehre und Statik
des Landbaues“, vervollständigen.
Sein besonderes Anliegen bestand
darin, den Landwirten wissenschaft¬
liche Erkenntnisse in verständlicher
Form nahe zu bringen. 1875 erschien
Heidens Volksbuch „Die Düngerlehre
in populärwissenschaftlicher Dar¬
stellung“. Viele seiner Bücher, so zur
Ernährung von Schweinen und zur
Fruchtbarmachung von Boden, wur¬
den von Cohen & Risch in Hannover
verlegt. Zu Heidens Hospitanten bzw.
Assistenten an der Landwirtschafts¬
schule Bautzen gehörte 1877 Bruno
Steglich, dem er erste Grundlagen
im agrikulturchemischen und pflan¬
zenphysiologischen Versuchswesen
vermittelte. Heidens Pommritzer
Assistent Ernst Güntz aus Malschwitz
leitete später die Versuchsstation
Danzig. Seine Ergebnisse publizier¬
te Heiden in den „Mittheilungen
der Versuchsstation Pommritz“, in
den Jahresschriften „Die landwirt¬
schaftlichen Versuchs-Stationen“, im
„Chemischen Zentralblatt“, in den
„Jahresberichten über die Fortschritte
der Chemie der Pflanze“, in „Fühling's
landwirtschaftlicher Zeitung“ und
im „Sächsischen Amtsblatt“. Zum 25-
jährigen Jubiläum des landwirtschaft¬
lichen Versuchswesens in der Ober¬
lausitz im Jahre 1882 wurde Heiden
mit dem Ritterkreuz des Sächsischen
Albrechts-Ordens erster Klasse ausge¬
zeichnet.
Quellen: Bruno Steglich: „Erinnerungen aus
meinem Leben“. Dresden, unveröffentlicht,
1927; Jens Klemme: „Entwicklung der Er¬
nährungsforschung bei Wiederkäuern im 19.
Jahrhundert - Fütterungsversuche, Energie¬
haushalt und Eiweißstoffwechsel“. Dissertation
Tierärztliche Hochschule Hannover, 2003;
Tina König: „Entwicklung der Ernährungs¬
forschung beim Schwein (bis 1930)“. Disser¬
tation Tierärztliche Hochschule Hannover,
2004; Theophil Gerber: „Persönlichkeiten aus
Land- und Forstwirtschaft, Gartenbau und
Veterinärmedizin“. Bd. 1, NORA Verlags¬
gemeinschaft Dyck & Westerheide, 2004,
S. 276; Wolfgang Böhm: „Biographisches
Handbuch zur Geschichte des Pflanzenbaus“.
K.G. Saur München, 1997, S. 105-106; Gisela
Stressmann: „Zur Entwicklung der Auffas¬
sungen über die Bedeutung des Humus für
die Steigerung der Bodenfruchtbarkeit in
der deutschen landwirtschaftlichen Literatur
des 19. Jahrhundert“. Tagungsbericht Akad.
Landwirt.-Wiss. DDR, 173, Bd. 5, 1979, S.
41- 45; Register der Bestattungen und Taufen,
Kirchgemeinde Hochkirch; Friedrich Nobbe:
„Eduard Heiden“. Die landwirthschaftlichen
Versuchs-Stationen, Bd. 36, 1889, S. 74-79;
Jana Fietz: „Nordische Studenten an der
Universität Greifswald in der Zeit von 1815 bis
1933“. Beiträge zur Geschichte der Universität
Greifswald, Bd. 5, Franz Steiner Verlag, 2004;
Eduard Heiden: „Denkschrift zur Feier des
fünfundzwanzigjährigen Bestehens der agri-
cultur-chemischen Versuchsstation Pomm¬
ritz“; Friedrich Nobbe: „Statistische Revue
über den Bestand des land- und forstwirth-
schaftlichen Versuchswesens nach 25-jähriger
Entwicklung“. Die landwirthschaftlichen Ver¬
suchsstationen, Schönfeld, 1877, S. 176-195;
Brockhaus“ Konversationslexikon, Leipzig,
Berlin und Wien, 14. Auff, 1894-1896; Bruno
Schöne (Bearb.): „Die Sächsische Land¬
wirtschaft: ihre Entwickelung bis zum Jahre
1925, sowie Einrichtungen und Tätigkeit des
Landeskulturrats Sachsen zu Dresden“. Verlag
des Landeskulturrates Sachsen, 1925, 517 S.;
Adressbücher Greifswald
137
Robert Heller: Stahlstich von Lazarus Sichling (um 1850, Stadtgeschicht¬
liches Museum Leipzig). Die Universitätsbibliothek Hamburg bewahrt elf
Briefe und ein Gedicht für die Mutter auf, die Nationalbibliothek Wien
neben dem Stich von Sichling eine Lithografie von Otto Speckter und Karl
Niedorf sowie zwei Theaterstücke.
Heller, Wilhelm Robert
Dr. phil., Schriftsteller und Journalist in Leipzig, Frankfurt und Hamburg
24.11.1812 Großdrebnitz - 07.05.1871 Hamburg
V: August Wilhelm (*1786 in Roßwein als Sohn des Lehrers an der Mädchenschule Johann
Christoph Heller, 11.8.1838 Wilschdorf), Lehrer in Großdrebnitz und Wilschdorf bei Stolpen;
M: Johanne Christiane Friederike geb. Schmidt (* in Dresden, Tochter des Händlers Carl
Schmidt, t Februar 1856 Dresden); G: Woldemar (*24.11.1814 Großdrebnitz, fl8.2.1856
Dresden, Schüler von Friedrich Wieck, Musiklehrer, Pianist und Komponist), Julius (*14.7.1816
Großdrebnitz), Minna (*17.11.1822 Großdrebnitz, verh. Fiala); E: (1) mit einer Pfarrerstochter
in Leipzig, Scheidung; (2) Ida geb. von Destinon (*17.8.1848 Grönwohld, tl892, ihr Vater Carl
von Destinon Besitzer von Gut Horst in Stolpe am See, 2. Ehe mit Paul Frey)
Heller wuchs in Großdrebnitz auf, wo
sein Vater von 1811 bis 1823 Lehrer
war und sich große Verdienste um das
Schulwesen erwarb (Einführung einer
zweiten Schulklasse, Teilnahmepflicht
am Rechen- und Schreib unterricht).
Die Familie stand in Verbindung mit
den lokalen Erbrichterfamilien Klahre
und Gottlöber, die zu den Taufpaten
von Robert Hellers Geschwistern ge¬
hörten. Prägend für seine frühe Kind¬
heit war der Befreiungskrieg gegen
Napoleon, in dessen Verlauf es auch
zu Gefechten zwischen französischen
und russischen Truppen in Großdreb¬
nitz kam. Viele Einwohner des Dorfes
flohen, während der Einquartierung
von Soldaten kam es zu Zerstörungen
und Plünderungen. Der Franzose
Francois Basile Azemar fiel am 13.
September 1813 in Großdrebnitz. Das
nahe Bischofswerda war abgebrannt
und wurde von Gottlob Friedrich
Thormeyer wieder aufgebaut. Seine
Jugendzeit verlebte Heller in Wilsch¬
dorf bei Stolpen. In Dresden besuchte
er die Kreuzschule und in Bautzen
das Gymnasium. Über die Zeit am
Gymnasium bei Karl Gottfried
Siebelis berichtete er 1844 in „Rosen,
eine Zeitschrift für die gebildete Welt“
unter dem Titel „Erinnerungen eines
Bautzner Schülers“. Heller selbst galt
nach den Erinnerungen von Ernst
Theodor Stöckhardt als extra¬
vaganter, zu Späßen aufgelegter und
durchaus beliebter Schüler.
Nach dem Abschluss eines Jurastu¬
diums seit 1832 in Leipzig trat Heller
1835 eine Stelle als Accessist beim
dortigen Kriminalgericht an. Der
große Erfolg seiner ersten Novelle,
„Die Eroberung von Jerusalem“, in
der von Theodor Hell herausgegebe¬
nen Dresdner Abendzeitung im Jahre
1836 ermutigte ihn, den Staatsdienst
zu quittieren. Es entstand das geflü¬
gelte Wort von „Hell und Heller“ für
die Abendzeitung, die unter Hell, der
führende Funktionen in Hofthea¬
ter, Hofkapelle und Kunstakademie
inne hatte, eher höfisch-konservativ
ausgerichtet war. Heller blieb zwar in
139
Leipzig als Notar gemeldet, er wid¬
mete sich aber bald ausschließlich der
Schriftstellerei. Seit dem Studium war
er mit Robert Schmieder befreundet,
der die Abendzeitung ab 1843 heraus¬
gab. In Leipzig hatte er vermutlich mit
seinem Bruder Woldemar Heller
Kontakt zu dem musikalischen Kreis
um Friedrich Wieck. In den 1830er
Jahren promovierte Robert Heller
zum Dr. phil.
Der eigentlich eher unpolitische
Heller kam um 1840 in Leipzig mit
Heinrich Laube zusammen, dem
er zeitlebens freundschaftlich ver¬
bunden blieb. So fand er Anschluss
an die literarische Bewegung libe¬
raler Dichter des Vormärz „Junges
Deutschland“. 1840 beteiligte sich
Dr. Robert Heller an „Gutenbergs-
Album“ von Johann Heinrich Meyer
aus Braunschweig zur 400-Jahr-Feier
der Erfindung des Buchdrucks. Heller
verglich den Buchdruck mit der
seinerzeit aufstrebenden Eisenbahn
und schrieb: „So hoch wir den Geist
über den Leib stellen, so hoch müssen
wir den deutschen Gutenberg über
den Schotten Watt stellen: denn die
Buchdruckerkunst ist die Eisenbahn
des Gedankens.“ Ab 1840 bereite¬
te er mit Robert Blum und Gustav
Kühne die Gründung des Leipzi¬
ger „Schiller-Vereins“ vor, die 1842
erfolgte. Später hielt er hier mehrfach
Vorträge. Mit Laube hatte Heller
Kontakt zu deutschen Schriftstellern,
die sich zwischen 1833 und 1845 im
Schweizer Exil aufhielten. Mit Robert
Blum gründete er 1842 in Leipzig den
Literatenverein. Bei Innenminister
Eduard Gottlob von Nostitz
und Jänkendorf intervenierten sie
vergeblich für Erleichterungen bei der
Zensur. Gemeinsam mit Blum schloss
sich Heller dem Freundeskreis um
Johann Peter Lyser an, von dem er
sich jedoch später entfremdete. Der
1848 bei Wien hingerichtete Blum sah
Heller immer skeptisch - er war ihm
zu konservativ. Noch 1843 beklagte
sich jener bei Schmieder über die
„Tyrannis der Gesinnungsmenschen“
und ihren Liberalismus.
In Leipzig nahm Heller als Autor und
Herausgeber mehrerer Zeitungen,
Zeitschriften und Taschenbücher
führend am literarischen Leben teil.
Er schrieb für die von Karl Her-
loßsohn herausgegebene Zeitschrift
„Der Komet“, die zu den einfluss¬
reichsten Blättern des Vormärz zählte,
1835 einen kritischen Beitrag über
Heinrich Heine. 1838 gründete er
als Ergänzung zum gleichnamigen
Taschenbuch die Zeitschrift „Rosen“,
die bei Friedrich August Leo sechs
mal wöchentlich erschien und in der
Neuigkeiten aus Literatur und Kunst
besprochen wurden. Diese Zeitschrift
spielte vermutlich eine wesentliche
Rolle, dass sich Heller als Schriftstel¬
ler etablieren konnte, da er durch sie
regelmäßige Einnahmen erzielte. Als
Herausgeber der „Rosen“ hatte er
einen entscheidenden Anteil am Be¬
ginn der schriftstellerischen Laufbahn
von Friedrich Gerstäcker, indem er
140
die von dessen Mutter eingereichten
Tagebuchaufzeichnungen aus Ame¬
rika publizierte. 1845 übergab Heller
seine Zeitschrift an George Hesekiel.
In dem von ihm 1842 gegründeten
Almanach „Perlen“, der von Reclam
in Leipzig und später der Friedrich
Konischen Buchhandlung Nürnberg
verlegt wurde, publizierte Heller vor¬
rangig eigene Novellen. Hier erschie¬
nen auch Werke, die sich vermutlich
auf seinen Erlebnissen in Kindheit
und Jugend gründeten, so 1845 „Un¬
ter Bauern“ und 1847 „Die Erbtochter
von Lauterbach“. Heller leitete die
„Perlen“ bis 1848, danach übernahm
Ludwig Bechstein. Ab 1846 gab Heller
die „Illustrierte Jugendzeitung“ bei
Brockhaus & Avenarius heraus. Nach¬
dem er sich erfolgreich einen Namen
als Belletrist erworben hatte, wagte
Heller 1845 den Versuch, ein Stück
auf die Theaterbühne zu bringen.
„Der letzte Wille“ erwies sich aber als
großer Misserfolg, wobei das Pfeif¬
konzert von Gegnern schon vorher
verabredet worden war. Allerdings
gab Heller auch selbst zu, dass sein
Werk technisch nicht den Anforde¬
rungen eines Bühnenstücks entspro¬
chen hatte, sondern eher romanhaft
aufgebaut war.
Hellers Patriotismus trug teilweise na¬
tionalistische Züge. Um 1848 gehörte
er in Leipzig zu den Mitbegründern
eines antislawischen Vereins, der das
„deutsche Element“ in Polen, Böh¬
men und Mähren stärken wollte, und
er teilte auch antijüdische Vorurteile.
Heller war Mitglied der „Deutschen
Gesellschaft zur Erforschung Vater¬
ländischer Sprache und Altertümer
in Leipzig“. Schon in Leipzig rühmte
man seine exzellenten Kontakte in
der Kulturszene. Viele seiner Kollegen
besuchten ihn und schlossen dabei
wiederum neue Bekanntschaften. Er
engagierte sich 1842 für die in Leipzig
erschienenen „Leipziger Tage und
Nächte“ des in Not geratenen Gus¬
tav Theodor Drobisch und hatte mit
seiner ersten Frau Kontakt zu dem
in jenem Jahr nach Leipzig gekom¬
menen Eduard Maria Oettinger.
Heller galt als Lebemann, vor allem
dem Essen und Trinken zugeneigt,
der sehr gerne ganze Gesellschaften
geistreich unterhielt, wie sich Otto
von Corvin erinnerte. Er trennte sich
von seiner Frau, weil sie ihm untreu
war. Statt ihr die juristische Schuld
am Zerbrechen der Ehe zuzuweisen,
was für sie erhebliche Folgen gehabt
hätte, verließ er sie und nahm dafür
vier Wochen Gefängnis in Kauf, als
sie ihn verklagte.
Im Zusammenhang mit der Deut¬
schen Revolution 1848/49 folgte
Heller als Berichterstatter aus der
Paulskirche dem Abgeordneten Laube
nach Frankfurt. Er arbeitete dort in
der Nachfolge von Georg Gottfried
Gervinus bis 1850 als Redakteur bei
der „Deutschen Zeitung“. Robert Hel¬
ler war der Autor der zunächst ano¬
nym erschienenen „Brustbilder aus
der Paulskirche“. Dieses Werk wurde
vom Publikum mit großem Interesse
141
aufgenommen und stellt heute ein
bedeutendes Zeitdokument dar. Es
enthält biografische Umrisse der Mit¬
glieder der deutschen konstituieren¬
den Nationalversammlung. Das Buch
schließt mit den Worten: „Der große
einige Gott verleihe uns seinen Segen
zu einem einigen Vaterlande.“ Aus
der Sicht Hellers und seiner liberalen
Gesinnungsgenossen war damit die
Einführung einer konstitutionellen
Monarchie gemeint. Mit der fehlge¬
schlagenen Revolution verschwanden
auch viele der politisch-literarischen
Magazine, für die Heller so lange
erfolgreich gearbeitet hatte.
Nach einer Reise in die Schweiz und
das Rhein- und Moseltal sowie einer
kurzen Zwischenstation in Berlin als
Kammerreferent bei der „Constitutio¬
nellen Club-Zeitung“ wechselte Heller
1851 nach Hamburg. Er arbeitete für
die „Hamburger Nachrichten“ und
galt als der führende Literatur-, Thea¬
ter- und Musikkritiker der Stadt, sein
Urteil als „letztes Wort“. Zu Hellers
weniger bekannten Projekten jener
Zeit zählt ein Almanach mit Georg
Gottfried Gervinus, Carl Welcker u. a.
über „alle weisen Herrscher der Welt“
(1854). Heller gehörte 1855 zu den
Gründern des Hamburger Zweig¬
vereins der „Deutschen Schiller-Stif¬
tung“. 1859 bearbeitete er ein melo¬
dramatisches Festspiel nach Ludwig
van Beethoven, op. 114, „Die Ruinen
von Athen“, für den „Philharmoni¬
schen Verein Hamburg“ (abgedruckt
im „Ersten poetischen Beethoven-
Album“ von Hermann Josef Landau,
Prag 1872). 1860 beurteilte Heller als
erster Kritiker wohlwollend Johan¬
nes Brahms in dessen Heimatstadt
Hamburg. Bekannt geworden ist er
in dieser Zeit aber auch wegen sehr
harscher Kritiken, beispielsweise an
den Schauspielern Emil Devrient und
Bogumil Dawison. 1861 wurde Heller
nach einer solchen Kritik von Dawi¬
son beleidigt, den er daraufhin zum
Duell forderte, worauf sich Dawison
aber nicht einließ. Diese Vorkomm¬
nisse belasteten das Verhältnis zu
Karl Gutzkow zusätzlich, der ehemals
ebenfalls zum Umfeld von Heinrich
Laube gehört hatte und mit beiden
Schauspielern befreundet war. Heller
fand in Hamburg guten Kontakt zur
Bürgerschaft, war wegen seines Esp¬
rits ein gern gesehener Gesellschafter
und mit den niederdeutschen Dich¬
tern und Schriftstellern Fritz Reuter
und Klaus Groth freundschaftlich
verbunden. Sein Anliegen, Reuter ins
Hochdeutsche zu übersetzen, lehnte
der Autor 1862 jedoch ab. 1865 wurde
Heller für seine Verdienste um die
„Deutsche Schiller-Stiftung“ mit dem
Ritterkreuz 1. Klasse des weimari-
schen Falkenordens ausgezeichnet.
Heller gehörte zu den beliebtesten
Romanschriftstellern des 19. Jahrhun¬
derts. Seine Werke, die mehrheitlich
während der Leipziger Jahre ent¬
standen sind, als die Schriftstellerei
entscheidend zu seinem Lebensun¬
terhalt beitragen musste, zeugen von
einem umfangreichen historischen
142
Wissen. Sie waren angesehen wegen
ihres Spannungs- und Erfindungs¬
reichtums sowie ihrer erzählerischen
Ästhetik und erreichten Leser, die
sich von Literatur gleichermaßen Un¬
terhaltung und Bildung erwarteten.
Vielfach erschienen sie in mehreren
Bänden bzw. als Buchserie. In sei¬
nem ersten bekannten Roman, „Der
Wende“ von 1837, erzählte Heller
aus der Zeit der deutschen Ostsied¬
lung die fiktive Liebesgeschichte vom
Sohn eines sächsischen Markgrafen,
der in der Gefangenschaft des Wen¬
denherzogs Boguslav in der Nähe
von Bautzen dessen Tochter kennen¬
lernte. Im selben Jahr erschien der
erste Teil einer dreibändigen Novel¬
lensammlung. Wiederum stand eine
Liebesgeschichte vor einem histori¬
schen Hintergrund im Mittelpunkt;
sie handelte von einem Römer und
einer Jüdin während der „Eroberung
von Jerusalem“ durch Kaiser Titus.
„Der Schleichhändler“ von 1838
behandelte auch Elektoralschafe. In
Rennersdorf bei Stolpen, zwischen
Großdrebnitz und Wilschdorf gele¬
gen, befand sich zu jener Zeit die von
Johann Gottfried Nake geleitete
sächsische Stammzuchtstelle. In „Das
schwarze Bret“ erinnerte sich Heller
an sein Studium in Leipzig und die
Funktion der schwarzen Bretter als
Informations- und Kommunikati¬
onsmittelpunkt. In den „Novellen aus
dem Süden“ von 1841 verarbeitete
er seine Italienreise. Es folgte „Eine
neue Welt“, worin der Autor das
seinerzeit immer populärer werdende
Amerika thematisierte. Internatio¬
nal bekannt wurde „Der Prinz von
Oranien“ von 1843 über Wilhelm I.
von Oranien, den die zeitgenössische
Kritik als „lebensvolles Gemälde aus
dem niederländischen Freiheitskrieg“
gegen Spanien bezeichnete. Es betraf
jene Zeit im 16. Jahrhundert, als
die Familie Stöckhardt Flandern
verließ und nach Sachsen kam. Der
Roman „Die Kaiserlichen in Sach¬
sen“ von 1845 befasste sich mit dem
Siebenjährigen Krieg von 1756 bis
1763. Hervorhebenswert ist, dass erst
mit Hellers gleichnamigen Roman
von 1848 das öffentliche Interesse am
Bauernführer Florian Geyer erwachte.
1859 schrieb Heller während seiner
Hamburger Zeit „Das Geheimnis
der Mutter“, entstanden anlässlich
eines Besuchs bei Heinrich Laube,
inzwischen künstlerischer Leiter
des Burgtheaters in Wien, und der
österreichischen Aristokratie gewid¬
met. In „Hohe Freunde“ (1862), einer
Novelle aus dem klassischen Weimar,
schilderte der Autor den positiven
Einfluss Goethes auf Herzog Carl Au¬
gust. Auch dieses Werk beurteilte die
Kritik seinerzeit sehr wohlwollend. In
„Primadonna“ (1871) wurde die Zeit
von Kurfürst Johann Georg III. von
Sachsen lebendig. Hellers Novellen
und Erzählungen fanden wiederholt
Aufnahme in Sammelwerke beliebter
Autoren.
In Erinnerung geblieben ist auch
manche Eigenwilligkeit Hellers. Er
hatte in Hamburg in zweiter Ehe die
143
Patriziertochter Ida von Destinon
geheiratet. Später lebte er von ihr
getrennt in einem Hotel zusammen
mit seinem Kanarienvogel, den er wie
einen Freund behandelte und des¬
sen Tod durch einen Unfall er kaum
verwinden konnte. Heinrich Laube
gab im Gedenken an Robert Heller
dessen „Nachgelassene Erzählun¬
gen“ heraus. Hellers Aufzeichnungen
fanden auch Eingang in Vorarbeiten
für eine Großdrebnitzer Dorfchronik,
über die Richard Garbe berichtete.
Seine sterblichen Überreste wurden
nach 1900 auf den neuen Friedhof
in Hamburg-Ohlsdorf überführt.
Heller fand auf dem Althamburgi¬
schen Gedächtnisfriedhof, Sammel¬
grab 44 (Dichter und Schriftsteller),
Stelle 6 die letzte Ruhe. Auf dem
nachträglich angebrachten Gedenk¬
stein ist wie in vielen Biografien das
falsche Geburtsjahr 1814 vermerkt,
in manchen Quellen wird sogar 1813
angegeben. Nach den Eintragungen
im Großdrebnitzer Taufbuch trifft
aber 1812 zu, 1814 wurde sein Bruder
Woldemar Heller geboren. Damit
korrespondieren auch ein Eintrag
im Immatrikulationsverzeichnis der
Universität Leipzig und ein Eintrag zu
Woldemar Heller in einem Schulbuch
des Lehrerseminars zu Dresden-
Friedrichstadt, welcher für jenen das
Geburtsjahr 1814 ausweist. Die Ursa¬
che der Verwechslung von 1812 und
1814 ist nicht geklärt. Die Angabe
1814 findet sich auch bei Autoren, die
in Kontakt mit Robert Heller standen,
wie die Herausgeber eines Schrift¬
stellerlexikons für Hamburg im Jahre
1857.
Quellen: Tauf- und Traubücher der Martinskirche
Großdrebnitz; Kneschke: „Robert Heller“ Allge¬
meine Deutsche Biographie, Bd. 11, S. 695-697;
Universität Innsbruck, Institut für Germanistik,
„Projekt Historischer Roman“, 1991-1997; Bruno
Barthel: „Altes und Neues aus Groß- und Klein¬
drebnitz“ Friedrich May Bischofswerda, 1907;
Richard Garbe: „Vorarbeiten für eine Dorfchronik
von Großdrebnitz“ Unsere Heimat, Beilage zum
Sächsischen Erzähler, 11.4./18.4.1938; Universi¬
tätsbibliothek Hamburg, Schriftensammlung; J.P.
Jordan, J.E. Schmaler: „Jahrbücher für slawische
Literatur, Kunst, Wissenschaft“. Leipzig und
Bautzen, 1848; Antje Gerlach: „Deutsche Literatur
im Schweizer Exil“. Arnold Hückstädt: „Fritz
Reuter im Urteil der Literaturkritik seiner Zeit“.
Hinstorff, 1983; Margrit Arnscheidt: „Wandlungen
in der Auffassung des deutschen Bauernkriegs“.
1976; Friedrich Hirth: „Johann Peter Lyser: Der
Dichter, Maler, Musiker“. G. Müller, 1911; Julius
Elias, u. a.: „Jahresberichte für neuere deutsche
Literaturgeschichte“. G.J. Göschensche Verlags¬
handlung, B. Behrs Verlag, 1893; Percy Ernst
Schramm: „Hamburg, Deutschland und die Welt:
Leistung und Grenzen“. Callwey, 1943; Ernst
Gotthelf Gersdorf: „Repertorium der gesammten
Deutschen Literatur“. F.A. Brockhaus, 1837; Julius
Stettenheim: „Heitere Erinnerungen“. S. Fischer,
Berlin, 1896; Max Kalbeck: „Johannes Brahms“. Bd.
2, 3. AufL, Deutsche Brahms-Gesellschaft Berlin,
1912; Berliner Revue, Bd. 16, Verlag R. Heini-
cke, 1859; Feodor Wehl: „Zeit und Menschen“.
Tagebuch 1863-1884; Alfred Meissner: „Geschichte
meines Lebens“. Prochaska, 1884; „Die Inspekti¬
onen Großenhain, Bischofswerda und Radeberg“
Sachsens Kirchen-Galerie, Bd. 7; www.geni.com;
Neue Berliner Musikzeitung, 19.3.1856; Dresdner
Adressbücher; Helmut Schoenfeld, Mitteilungen
2013; Leipziger Adressbücher; Hamburger Adress¬
bücher; stolpe-am-see.de; Otto von Corvin: „Ein
Leben voller Abenteuer“. Frankfurter Societaets-
Druckerei, 1924; Mittheilungen der Deutschen Ge¬
sellschaft zur Erforschung vaterländischer Sprache
und Alterthümer in Leipzig, 1844; Franz Brümmer:
„Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten
vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegen¬
wart“. Bd. 3. 6. Aufl. Leipzig, 1913; Lexikon der
hamburgischen Schriftsteller bis zur Gegenwart.
Perthes, 1857; Matrikelbücher Universität Leipzig
144
Bibliografie (Auswahl)
„Gedanken über H. Heines romantische Schule“, in: „Der Komet“, Beilage, Nr. 48,
1835
„Bruchstücke aus den Papieren eines wandernden Schneidergesellen“, 1836, Dro-
bisch Leipzig
„Der Wende“, Erzählung, 1837, 226 S., Drobisch Leipzig
„Novellen“, 1837-1840, 3 Bände, u. a. „Die Eroberung von Jerusalem“, „Der Treu¬
lose“, „Der Bettler“, „Der Finkensteller“, Arnold Leipzig und Dresden
„Alhambra“, spanische Novellen, 1838, Altenburg, Verl. H.A. Pierer
„Der Schleichhändler“, Roman, 1838, 2 Bände, Altenburg, Verl. H.A. Pierer
„Das Schwarze Bret“, 1838, 2 Bände, S. 268+242, Altenburg, Verl. H.A. Pierer
„Eine Sommerreise“, 1840, Reclam Leipzig
„Novellen aus dem Süden“, 1841-1843, 3 Bände, Altenburg, Verl. H.A. Pierer
„Eine neue Welt“, 1843, 2 Bände, Altenburg, Verl. H.A. Pierer
„Der Prinz von Oranien“, historischer Roman, 1843, 3 Bände, S. 298+321+340,
Reichenbach Leipzig, Meyer Amsterdam 1846
„Das Erdbeben von Caracas“, Novelle, 1844
„Der Schwarze Peter“, Roman, 1844, 2 Bände
„Der letzte Wille“, Lustspiel in 5 Aufzügen, Leipzig, Tauchnitz, 1845, 56 S.
„Die Kaiserlichen in Sachsen“, historischer Roman, 1845, 2 Bände, S. 297+348,
Reichenbach Leipzig
„Der Albanese“, um 1845, 2 Bände, Reclam Leipzig, in: Wohlfeile
Unterhaltungsbibliothek für die gebildete Lesewelt
„Eine Steppenreise“, romantische Erzählung, 1846, Reclam Leipzig, in: Wohlfeile
Unterhaltungsbibliothek für die gebildete Lesewelt
„Sieben Winterabende“, Novellen und Erzählungen, 1846, 2 Bände, Wigand Leip¬
zig
„Schillers Mutter“, Vortrag im Schillerhaus Leipzig, 1846
„Kyselak. Eine Unsterblichkeit des 19. Jahrhunderts“, in: Sächsischer Volkskalen¬
der auf das Jahr 1847
„Florian Geyer“, Roman, 1848, 3 Bände, S. 398+340+376, Wigand Leipzig
„Brustbilder aus der Paulskirche“, 1849, 2 Bände, Mayer Leipzig
„Der Reichspostreiter in Ludwigsburg“, historische Novelle, 1857, Meidinger
Frankfurt/M., Band 1 von Ausgewählte Erzählungen
„Das Geheimnis der Mutter“, 1859, Meidinger Frankfurt/M., Band 2 von Ausge¬
wählte Erzählungen
„Hohe Freunde“, Novelle, 1862, 304 S., Thomas Leipzig, Band 3 von Ausgewählte
Erzählungen
„Posenschrapers Ihilde“, historischer Roman, 1863, Thomas Leipzig
„Primadonna“, historischer Roman, 1871, 2 Bände, S. 304+284, Janke Berlin
145
Schule und Kirche Großdrebnitz nach einer Zeichnung von Johann Fried¬
rich Wilhelm Wegener aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wolde-
mar Hellers Vater lehrte an der Großdrebnitzer Schule von 1811 bis 1823.
Die Taufpaten des Sohnes waren Friedrich Leberecht Fritsche (Pfarrer),
Clara Maria Jacobi (Witwe des Waldheimer (?) Stadtrichters Johann Gott¬
helf Jacobi) und Traugott Chrysostomus Stäber (Kantor in Neustadt).
Lizenz: Deutsche Fotothek, CC BY-SA 4.0
Quellen: Marie Wieck: „Aus dem Kreise Wieck-Schumann“. Zahn & Jaensch Dresden, 1914;
Cathleen Köckritz: „Friedrich Wieck: Studien zur Biographie und zur Klavierpädagogik“.
Studien und Materialien zur Musikwissenschaft, Bd. 44, Olms 2007; Robert Schumann, Erich
Valentin: Zeitschrift für Musik, G. Bosse, 1840, 1853; Louis Kindscher: Niederrheinische Musik-
Zeitung für Kunstfreunde und Künstler, 1855, 1856; Rheinische Musik-Zeitung für Kunstfreun¬
de und Künstler, 1855; Allgemeine Schulzeitung, Diehl 1836; Neue Berliner Musikzeitung, 19.
März 1856; Kirchenarchiv Großdrebnitz; Didaskalia: Blätter für Geist, Gemüth und Publizität,
Bd. 16, 1856; Allgemeine musikalische Zeitung, Bd. 42, 1840; Neue Zeitschrift für Musik, Bd.
10-11, 1839; Adressbücher der Stadt Dresden; Karl Otto Meyer: „Entwickelung einiger ellip¬
tischen Funktionen“. Blochmann 1847; Friedrich Wieck: „Klavier und Gesang: Didaktisches
und Polemisches“. Alamire 1853; Ute Bär: „Eine Pianistin im Schatten Clara Schumanns?“ Die
Tonkunst, 2007, Nr. 1, S. 52-54; Christian Traugott Otto: „Die Schule und das Schullehrer-Se¬
minar zu Dresden-Friedrichstadt 1785-1835“. Adolf Kohut: „Friedrich Wieck: ein Lebens- und
Künstlerbild“ C. Piersson, 1888
Heller, Woldemar
Musiklehrer, Pianist und Komponist
24.11.1814 Großdrebnitz - 18.02.1856 Dresden
V: August Wilhelm (*1786 in Roßwein als Sohn des Lehrers an der Mädchenschule Johann
Christoph Heller, 11838 Wilschdorf), 1808 Absolvent des Lehrerseminars in Dresden-Fried¬
richstadt, Lehrer in Großdrebnitz und Wilschdorf; M: Johanne Christiane Friederike geb.
Schmidt (* in Dresden, Tochter des Händlers Carl Schmidt, t Februar 1856 Dresden); G: Robert
(*24.11.1812 Großdrebnitz, 17.5.1871 Hamburg, Dr., Schriftsteller und Journalist in Leipzig,
Frankfurt/M. und Hamburg), Julius (*14.7.1816 Großdrebnitz), Minna (*17.11.1822 Großdreb¬
nitz, verh. Fiala)
Die Familie Heller war bis 1823
in Großdrebnitz ansässig und zog
danach in das nahe Wilschdorf.
Woldemar Heller absolvierte von
1832 bis 1836 das Lehrerseminar in
Dresden-Friedrichstadt unter Christi¬
an Traugott Otto. Der spätere Hofor¬
ganist und Johannes PACHE-Lehrer
Theodor Berthold gehörte zu seinen
Mitschülern. Ein von Heller kompo¬
nierter Wechselgesang wurde von den
Schülern anlässlich der Abgangsfeier
vorgetragen. In Leipzig nahm Hel¬
ler danach Unterricht bei Friedrich
Wieck. Der führte ein Leihinstitut für
Musikalien und Pianofortes und lehr¬
te Klavierspiel. Seine Tochter Clara
war Wiecks berühmteste Schülerin.
Woldemars Bruder Robert Heller
begann seinerzeit in Leipzig eine
Karriere als Schriftsteller. Woldemar
Hellers frühe Kompositionen wur¬
den im Winterhalbjahr 1839/1840 in
Leipzig im Musikverein Euterpe auf¬
geführt. Die Allgemeine musikalische
Zeitung schrieb darüber: „der Kom¬
ponist der Ouvertüre ist uns gänzlich
unbekannt, seine Komposizion soll
jedoch nicht ohne Talent sein und
schon ziemlich viel Geschick in Be¬
handlung und Ausführung des Stoffs
zeigen“, und die Zeitschrift für Musik
unter dem Chefredakteur Robert
Schumann lobte in Hellers Kompo¬
sitionen „gesunde Natürlichkeit und
freundlichen Sinn“. Zwischenzeitlich
war Heller vermutlich Lehrer am
Großherzoglichen Fräulein- Institut
der Amalie Jung in Mannheim.
Seit seinem Zuzug um 1840 gehörte
Heller zu den führenden Klavierleh¬
rern Dresdens. Er unterrichtete von
1841 bis 1848 als freier Mitarbeiter
an der Schule von Karl Justus Bloch¬
mann, wo der Maler Ernst Ferdinand
Oehme zu seinen Kollegen gehörte,
sowie als Privatlehrer unter anderem
von Marie Wieck, einer Halbschwes¬
ter der berühmten Clara Wieck-Schu¬
mann, die ebenfalls Pianistin wurde.
1843 debütierte Marie bei einem Kon¬
zert von Clara in Dresden, 1844 gab
sie ihr Solodebüt in Bischofswerda.
Auch Bernhard Rollfuß, später Besit¬
zer einer Dresdner Musikschule, und
147
Das Friedrich-Wieck-Haus in
Loschwitz war nach dem Zuzug der
Familie Wieck ab 1840 ein Zentrum
des gesellschaftlichen Lebens in
Dresden. Auch Woldemar Heller ge¬
hörte zu den regelmäßigen Gästen.
die Gesangspädagogin Emma Seiler-
Diruf gehörten zu Hellers Schülern.
Woldemar Heller stand seinem Lehrer
Friedrich Wieck sehr nahe und zählte
in Dresden zu dessen Freundeskreis.
Aktuelle und ehemalige Schüler
kamen im Hause Wieck zusammen,
um Musik zu hören und darüber zu
diskutieren. Marie Wieck erinnerte
sich: „Da wir jedoch zu Hause ein
echtes Kunstleben führten, war ein
fortwährendes Reisen nicht nach
meinem Sinn. Schüler gingen ein
und aus. Abends saß gewöhnlich in
jeder Ecke irgendein spitzbübischer
junger Mann, der die Urteile und
Belehrungen von Wiecks Munde
ablas. Wieck ließ Vorspielen, machte
dabei Bemerkungen über Anschlag
und Ausdruck... Natürlich hatten
diejenigen, die sich später hervorta¬
ten, besonderen Unterricht bei Wieck
gehabt. Zu nennen wären: Woldemar
Heller, einer der ersten Klavierleh¬
rer Dresdens...“ Ebenfalls zu diesem
Kreis gehörten der Oderwitzer Gustav
Merkel (Organist der Dresdner
Hofkirche), Isidor Seiss (Professor am
Konservatorium Köln), Hans von Bü-
low (Hofkapellmeister in München),
der Musikdirektor Friedrich Reichel,
der Friedrich Schneider-Schüler Fritz
Spindler und Karl Riccius (Chordi¬
rektor vom Hoftheater).
Ab 1853 veröffentlichte Heller einige
Kompositionen bei renommierten
Musikverlagen. Die Zeitschrift für
Musik schrieb 1853 über „Deux
Nocturnes pour Piano“: „Die beiden
Nocturno's sind ansprechende Salon¬
stücke, die für die tüchtige Technik
des Componisten sprechen, der mit
diesem ersten Werke in anständiger
Weise vor die Öffentlichkeit tritt und
für weitere derartige Arbeiten zu er¬
freulichen Hoffnungen berechtigt.“
1855 erschienen bei Breitkopf & Här¬
tel in Leipzig „Walzer, quasi Mazurka,
für Pianoforte“ (op. 4), „Tarantelle
in A-Moll“ (op. 5), „Jagdszene, ein
Clavierstück“ (op. 6) und „Tarantelle
in D-Moll“ (op. 7). In der Rheini¬
schen Musik-Zeitung hieß es dazu:
„Diese Compositionen sind sämmt-
lich hübsch, klar, mitunter sogar ganz
originell und zeichnen sich vor so
vielen neuen Erscheinungen auch
durch ihre leicht in die Finger fal¬
lende Schreibart sehr vorteilhaft aus.
Wir dürfen dieselben allen Pianisten
148
als recht dankbar empfehlen.“ Hellers
Lehrer Friedrich Wieck hatte zu¬
nächst nach dem System von Johann
Bernhard Logier unterrichtet, das er
jedoch schließlich mit einer eigenen
Methode ersetzte. Sie bestand in einer
natürlichen Haltung der Hand, in der
Ausbildung des Handgelenks und in
von Wieck erfundenen, sehr einfa¬
chen Fingerübungen sowie einer nach
und nach sich an Kraft steigernden
Fingergelenkigkeit. Wieck schrieb
dazu: „Auch der erfahrenste Künst¬
ler bleibt immer ein Schüler und das
Lehren der Kunst insbesondere ist ein
tägliches Lernen.“ Seine Grundsätze
gab er an seine Schüler weiter. Neben
seinen beiden Töchtern Clara und
Marie hob er Woldemar Heller und
Ernst Ferdinand Wenzel hervor, die
seine Lehren mit Leben erfüllten. Mit
Heller plante er das Buch „Kleine,
rhythmisch abgeschlossene Übungen“.
Es sollte den Lesern „einen guten,
technischen Anschlag, ohne Noten¬
gebrauch“ lehren. Vermutlich ist es zu
diesem Buch wegen des frühen Todes
Hellers nicht mehr gekommen.
Heller wohnte bis 1856 mit seiner
Mutter, die kurz vor ihm starb, in
der Dresdner Amalienstraße 2. Die
Berliner Musikzeitung erinnerte an
ihn: „Ein talentvoller Tonkünstler
und Komponist hübscher Salonstü¬
cke.“ Die Didaskalia: Blätter für Geist,
Gemüth und Publizität in Frankfurt/
Main lobten an Hellers Kompositio¬
nen die „Frische ihrer Melodie und
Vornehmheit des Styles“.
Louis Kindscher, Niederrheinische
Musik-Zeitung für Kunstfreunde
und Künstler, 29.3.1856, S. 103-104,
zu op. 7, „Tarantelle in D-Moll“:
„dass es noth thut, mit der Ein¬
fachheit und gesunden Natur der
Outrirt- und Blasirtheit, der allge¬
meinen Unnatur und dem grossen
Nichts der modernen Salon-Roman¬
tik entweder den Rücken zuzukeh¬
ren oder - wie der oben erwähnte
D-Moll-Accord - kühn und trotzig
die Spitze zu bieten.“ (s. Abb.) Zu
op. 4 hieß es: „Die Melodien sind im
Ganzen ansprechend und zugleich
in ihrer Verbindung wohl geordnet,
so dass dadurch das Interesse immer
rege erhalten wird.“, und zu op. 5:
„Die Melodie hat eigenthümlichen
Reiz durch unerwartete pikante
Wendungen, die aber doch zugleich
so im Fluss, so natürlich erscheinen,
dass man fast vermuthen möchte,
der Componist habe sie wirklich auf
italischem Boden abgelauscht.“
149
Walther Hempel: Ein weiteres Porträt, von Carl Bantzer gemalt, befindet
sich in der Gemäldegalerie Neue Meister Dresden.
Hempel, Walther Matthias
Professor, Chemiker, Rektor der Technischen Hochschule Dresden
05.05.1851 Pulsnitz - 01.12.1916 Dresden
V: Eduard (1810, f4.12.1872 Dresden), Kaufmann; M: Marie Wilhelmine geb. Jauch (1826-1888),
Dresdner Kaufmannstochter aus einer Pulsnitzer Bandhändlerfamilie; G: Georg Eduard (*17.4.1847
Pulsnitz, fll. 10.1904 Ohorn, Stadtverordnetenvorsteher in Pulsnitz, Landtags- und Reichstagsabge¬
ordneter der Deutschkonservativen Partei, bedeutender Kakteensammler, Vizepräsident der Handels¬
kammer Zittau), Johannes Wilhelm (1849-1865), Carl Constantin (1853-1911); E: 1883 Louisa Delia
geb. Monks (*5.11.1848 Boston, f9.12.1939), Tochter eines irischstämmigen Geschäftsmanns und
der Malerin Delia Smith Hatton (zuletzt in Dresden), Schwester von George Howard Monks (1883
Erfinder von Halma, Medizinprofessor in Harvard) und des Malers Robert Hatton Monks (beide
in den 1880er Jahren in Europa, darunter in Dresden bzw. Paris); K: Robert (1883-1959), Eberhard
(*30.7.1886 Dresden, fl6.9.1967 Dresden, Kunsthistoriker, Professor in Graz und Dresden), Elisabeth
Susanne (1888-1969, Übersetzerin), Georg Arthur (1893-1914)
Hempel lebte mit seinen Eltern ab
1853 in Dresden, wo die Familie
die Grundstücke Ammonstraße 3/4
besaß. Im Haus Nr. 4 wohnte bis zu
seinem Tod 1861 Ernst Rietschel.
Hempel besuchte in Dresden die
Annenschule und legte 1867 das
Abitur ab. Danach studierte er bis
1870 Chemie am Dresdner Polytech¬
nikum bei Hugo Fleck. Am Deutsch-
Französischen Krieg nahm Hempel
als Freiwilliger in einem Artillerie¬
regiment teil, mit dem er sich an der
Belagerung von Paris beteiligte. Nach
dem Krieg setzte er sein Studium in
Berlin fort. Hempel zog abweichend
vom damaligen Trend die anorga¬
nische Chemie der organischen vor.
Von 1872 bis 1873 studierte er in
Heidelberg bei Robert Bunsen, bei
dem er auch promovierte.
1873 kehrte Hempel nach Dresden
zurück, wo er an der chemischen
Zentralstelle für öffentliche Gesund¬
heitspflege bei Hugo Fleck als Assis-
Die erste Bandweberei in Pulsnitz
wurde 1767 von Walthers Urgro߬
vater Christoph Hempel gegründet.
Dessen Witwe und ihr Sohn Fried¬
rich August Hempel sen. führten die
Fabrik unter dem Namen „Chris¬
toph Hempels Witwe und Sohn“
weiter. Walthers Vater Eduard zog
sich früh aus dem Familiengeschäft
zurück und baute in der Dresd¬
ner Ammonstraße drei Häuser.
Die Pulsnitzer Fabrik wurde von
Walthers Onkel Friedrich August
Hempel jun., später von Walthers
Bruder Georg geführt. Sie war im
19. Jahrhundert das erfolgreichste
Unternehmen der Stadt. Die Fabrik¬
gebäude wurden 1997 abgerissen.
151
tent arbeitete und 1874 der Naturwis¬
senschaftlichen Gesellschaft ISIS und
1875 der Gesellschaft für Natur- und
Heilkunde beitrat. Ab 1876 arbeitete
er als Assistent von Rudolf Schmitt
am Polytechnikum. Zwei Jahre später
habilitierte Hempel sich mit einer
Arbeit „Über technische Gasanaly¬
se“. Schon hier wurde deutlich, dass
er die wissenschaftlichen Untersu¬
chungen eng am praktischen Bedarf
ausrichtete. In der rasch wachsenden
chemischen Industrie seiner Zeit
wurden große Mengen Gase erzeugt
bzw. verbraucht, ohne dass geeignete
Analysemöglichkeiten zur Verfügung
standen. Mit konstruktivem Geschick
und ausgezeichneten Fertigkeiten im
Glasblasen ausgestattet, entwickelte
Hempel eine Gasbürette und eine
Gaspipette, mit deren Hilfe Gasgemi¬
sche schnell, einfach und sehr präzise
analysiert werden konnten. Diese
Technologie begründete Hempels
weltweiten Ruf und wurde von ihm
in den Folgejahren kontinuierlich
weiterentwickelt. 1879 erhielt er in
der Nachfolge von Wilhelm Stein die
Berufung zum außerordentlichen und
1880 zum ordentlichen Professor für
„Technische Chemie“ am Polytech¬
nikum. Der damalige Rektor, Gustav
Anton Zeuner, erfüllte zudem seine
Forderung nach einer Trennung
von organischer und anorganischer
Chemie und berief ihn zum Leiter
des „Laboratoriums für Anorganische
und Analytische Chemie“. Hempel
unternahm erste Reisen nach England
und die USA, wo er in Boston seine
spätere Ehefrau kennen lernte. Auch
dank Hempel genoss die Chemie an
der 1890 zur Hochschule erhobenen
TH Dresden einen ausgezeichneten
Ruf. Als Schmitt 1891 die Wahl zum
Rektor nicht annahm, übernahm
Hempel dieses Amt. 1892 und 1902
wurde er für zwei weitere Amtsperi¬
oden gewählt. Unter seiner Leitung
erfuhr die chemische Ausbildung eine
große Aufwertung, indem einzel¬
ne Teilbereiche eigene Professuren
erhielten. Fritz Foerster war sein
bekanntester Schüler. Hempel gilt
heute als ein Pionier der technischen
Gasanalyse. Er hat die Grundlagen
technisch-chemischer Prozesse aufge¬
klärt. Die von Hempel gelebte Einheit
von Wissenschaft und Praxis vermit¬
telte er auch an seine Studenten, mit
denen er regelmäßig Exkursionen in
Industriebetriebe unternahm. Bei der
Chemischen Fabrik v. Heyden gehörte
er dem Aufsichtsrat an. Hempel
bereitete das chemische Wissen für
Probleme des Alltags auf. So arbeitete
er schon damals an der Erhöhung
der Energieeffizienz von Heizungen
und an der Verminderung der dabei
entstehenden Rauchbelastung. Zu¬
dem untersuchte er Nahrungsmittel.
In seinem Laboratorium erforschten
Julius Lehmann und Walther Hes¬
se die Haltbarmachung von Milch.
Hempel nutzte die Ergebnisse, um auf
dem Familienbesitz in Ohorn keim¬
freie „Ohornmilch“ zu produzieren.
Auch nach seiner Pensionierung im
Jahre 1912 hielt er noch Vorlesungen
über „Metallurgie“ und über „che-
152
Die Besitzer des Rittergutes Ohorn waren einstmals die „Herren von Puls¬
nitz“. 1828 kaufte Walthers Großvater Friedrich August Hempel sen. das
Anwesen. Anschließend befand es sich im Besitz von Walthers Onkel Guido
und von 1895 bis 1904 im Besitz seines Bruders Georg. Von 1939 bis 1945
war Walther Hempels Sohn Eberhard der Besitzer. Jener erlebte hier den
Bombenangriff auf Dresden. Sein Institut an der TH Dresden und das vom
Vater geerbte Haus Altenzeller Straße 44 wurden in dieser Nacht zerstört.
mische Großindustrie“. 1913 unter¬
nahm er mit seinem Sohn Eberhard
Hempel eine Reise zum Stromboli,
um die Geologie und vulkanische
Gase zu untersuchen. Während des
Ersten Weltkriegs vertrat Hempel
zum Militärdienst einberufene Kol¬
legen. Zuletzt widmete er sich der
Luftschifffahrt. Für seine Verdienste
wurde Hempel vielfach geehrt. Die
Leopoldina berief ihn 1888 zum
Mitglied und er war Mitglied der
Königlich Sächsischen Gesellschaft
der Wissenschaften und ab 1912
Vizepräsident der Deutschen Chemi¬
schen Gesellschaft. Die Universitäten
Karlsruhe und Leipzig ernannten ihn
zum Ehrendoktor und er trug den
Titel „Geheimer Hofrat“. In Dresden,
Leverkusen und Pulsnitz sind Straßen
nach Hempel benannt.
Quellen: F. Foerster: „Walther Hempel t“ Zt. für
Angewandte Chemie, Nr. 1, 1917, S. 1-12; Johannes
Deichmüller: Sitzungsberichte und Abhandlungen
Isis, 1917; Walther Fischer: „Hempel, Walther Mat¬
thias“ Neue Deutsche Biographie, 1969, S. 513-514;
„Walther Hempel, Geheimer Rat und Professor in
Dresden, zum Gedächtnis“. Zahn & Jaensch, Dres¬
den, 1916; Heiner Hegewald: „Zur Entwicklung der
Technischen Chemie im 19. Jahrhundert unter be¬
sonderer Berücksichtigung der Chemikerausbildung
an der Technischen Hochschule Dresden und ihren
Vorgängereinrichtungen“ Dissertation, Halle, 2005;
ohorn.info; ma.findacase.com; americanancestors.
org; wiki.olgdw.de; pulsnitz.de; Portal biorab
153
Paul Hermann als Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung
(1848, Foto von Hermann Biow).
Hermann, Paul
Dr. jur., Rittergutsbesitzer, Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung
17.04.1809 Dresden - 17.08.1862 Weidlitz
V: Friedrich Wilhelm (*1774, tll.4.1822 Dresden), Ratssyndikus und Bürgermeister (1816—
1822, während der Stadtentfestigung durch Gottlob Friedrich Thormeyer) in Dresden,
Sohn des Dresdner Kammerassistenzrats Johann Zacharias Hermann, Nachfahre von Hans
Hermann, Handelsherr und Mitglied des großen Rats in Nürnberg, sowie der Bürgermeister von
Torgau Paul Hermann (t27.4.1704) und Johann Zacharias Hermann (t 1735); M: Charlotte Wil¬
helmine geh. Kuhn aus Freiberg; E: 14.10.1839, Julie geh. von Weidenbach (*20.9.1811 Augsburg,
123.5.1888 Weidlitz); K: Paul Friedrich (19.7.1847-1917, Dr., Erbe von Weidlitz und Pannewitz,
verh. mit Therese geb. Roscher)
Hermann absolvierte trotz des frühen
Todes des Vaters die Kreuzschule in
Dresden und legte 1827 das Abitur
ab. Danach studierte er Rechts¬
wissenschaften an der Universität
Leipzig und Kameral- und Staatswis¬
senschaften in Berlin. 1830, im Jahr
seiner Volljährigkeit, erhielt er die
Rittergüter Weidlitz und Pannewitz,
die Hermann zunächst verpachtete.
1832 kehrte er als Rechtspraktikant
nach Dresden zurück und arbeitete
im Zentralkomitee des Vereins für
Statistik des Königreichs Sachsen. Die
Aufgabe des Vereins bestand darin,
mit statistischen Erhebungen zur Be¬
völkerung und Wirtschaft die Regie¬
rung zu unterstützen. Unter Leitung
von Finanzminister Heinrich Anton
von Zeschau arbeitete Hermann hier
beispielsweise mit Johann Gott¬
fried Nake zusammen. Nach seiner
Promotion 1835 in Leipzig über das
sächsische „Gesetz über Zusammen¬
legung der Grundstücke“ (vom 14.
Juni 1834) ließ er sich in Dresden als
Anwalt nieder.
Nach großen Gebietsverlusten infolge
der napoleonischen Kriege musste
Sachsen im 19. Jahrhundert dringend
seine landwirtschaftliche Produkti¬
on steigern. Ab 1836 beteiligte sich
Hermann unter Leitung von Julius
Gottlob von Nostitz und Jänken-
dorf an der Umgestaltung der sächsi¬
schen Landwirtschaft. Er war bis 1837
Assessor bei der Generalkommission
für Ablösungen und Gemeinheits¬
teilungen, der auch Heinrich Au¬
gust Blochmann als ökonomischer
Rat angehörte, danach juristischer
Spezialablösungskommissar.
1841 übernahm Hermann die Be¬
wirtschaftung seiner Rittergüter. Er
ließ in Weidlitz das neue Herrenhaus
errichten und den umgebenden Park
erweitern. In Pannewitz wurde der
Wirtschaftshof ausgebaut.
Auch in der Oberlausitz setzte sich
Hermann für Fortschritte in der
Landwirtschaft ein. Er leitete ab 1843
den landwirtschaftlichen Bezirks-
155
Das Rittergut Weidlitz befand sich
von 1816 bis 1945 im Besitz der
Familie Hermann. Der bekannteste
Vorbesitzer war ab 1746 Kabinetts¬
minister Heinrich von Brühl. 1749
verkaufte er Weidlitz an den Kur¬
fürstlich Sächsischen Hof- und Justi-
zienkanzlei-Sekretär Friedrich Phi¬
lipp Lingke (*1713 Dresden), einen
Urgroßvater von Paul Hermann.
Nach Lingkes Tod 1783 blieben
Weidlitz und Pannewitz im Besitz
seiner Kinder. Als letztes starb am
20.5.1816 seine Tochter Christiane
Friederike (*16.8.1741 Dresden),
verheiratet mit dem Kurfürstlich
Sächsischen Kammerassistenzrat
und Obersalzinspektor Johann Za¬
charias Hermann (tl802), die ihre
Besitzungen ihrem Sohn vererbte,
dem Vater von Paul Hermann. Im
Zusammenhang mit der Schlacht
von Bautzen 1813 kam es in Weid¬
litz zu erheblichen Verwüstungen.
verein Bautzen und den Zweigverein
„Am Schwarzwasser“ Ab 1849 stand
Hermann dem Oberlausitzer Kreis¬
verein vor, sein Stellvertreter war
Ernst Theodor Stöckhardt.
Vom 18. Mai bis 22. September 1848
vertrat Hermann den Wahlkreis
Bautzen in der Frankfurter National¬
versammlung. Er gehörte der einfluss¬
reichen, nationalliberalen Fraktion
„Casino“ vom rechten Zentrum an,
die sich für eine konstitutionelle
Monarchie einsetzte, eine Einheit
Deutschlands mit föderalen Befugnis¬
sen befürwortete und gegen „Anar¬
chie“ auftrat.
Um die verfügbaren Fördermittel ef¬
fektiv einzusetzen, wurden in Sachsen
neue Organisationsstrukturen in der
Landwirtschaft benötigt. Ansprech¬
partner der Regierung war ab 1850
der neu gegründete Landeskulturrat.
Das Gründungsmitglied Hermann
hatte hier bis 1856 den stellvertreten¬
den Vorsitz unter Wilhelm Crusius
von der Leipziger Oekonomischen
Societät inne. Zuständiger Regie¬
rungskommissar war Theodor Reun-
ing, Vortragender Rat im Innenminis¬
terium. Als ordentliches Mitglied und
zuständig für Wissenschaft gehörte
auch Julius Adolph Stöckhardt dem
Landeskultur rat an.
Um Wissenschaft und Praxis enger zu
verzahnen, wurden landwirtschaft¬
liche Versuchsstationen gegründet.
Sachsen spielte dabei eine führende
Rolle. Die 1852 in Leipzig-Möckern
unter Mitwirkung des Landeskultur¬
rates gegründete Versuchsstation war
deutschlandweit die erste Einrichtung
ihrer Art. Nach den Erkenntnis¬
sen von Justus von Liebig stand die
156
Agrikulturchemie im Mittelpunkt.
Hermann beteiligte sich im Landes¬
kulturrat an der Koordinierung der
regionalen Landwirtschaftsvereine
und organisierte über die Kreisverei¬
ne den Wissenstransfer in die land¬
wirtschaftliche Produktion. König
Friedrich August II. verlieh ihm am
7. Juni 1852 für Verdienste um die
Landwirtschaft das Ritterkreuz des
Albrechtsordens.
Dem sächsischen Landtag gehörte
Hermann, seit 1842 Stellvertreter, ab
1853 an. Einer seiner Abgeordneten¬
kollegen war Eduard Gottlob von
Nostitz und Jänkendorf.
1854 schlug Theodor Reuning dem
hiesigen Kreisverein vor, auch in der
Oberlausitz eine landwirtschaftliche
Versuchsstation einzurichten. Nach¬
dem das Innenministerium Bautzen
als Standort abgelehnt hatte, stellte
Hermann 1857 sein Rittergut Weidlitz
zur Verfügung. Als wissenschaftli¬
cher Leiter wurde Julius Lehmann
gewonnen. Hermann stand dem Ku¬
ratorium vor. Mit dem Ziel, Landwirt¬
schaft und Naturwissenschaften zu
verbinden, gründeten die Weidlitzer
Hermann und Lehmann zusammen
mit Wissenschaftlern aus Möckern,
Tharandt und Chemnitz, darunter
Ernst Theodor Stöckhardt, 1858
die renommierte Zeitschrift „Die
Landwirtschaftlichen Versuchs-
Stationen“. Bis 1860 gehörte Hermann
mit Theodor Reuning und Julius
Adolph Stöckhardt dem Direktorium
des „Aktienvereins zur Veredlung der
Viehzucht“ an. Der auf sechs Jahre
befristete Vertrag mit der Versuchs¬
station Weidlitz sollte um weitere
sechs Jahre verlängert werden, als
Hermann 1862 starb. Er wurde in der
Familiengrabstätte auf dem Friedens¬
berg nahe der Verbindungsstraße von
Weidlitz nach Pannewitz beigesetzt.
Im Herrenhaus Weidlitz befand sich
eine größere Zahl wertvoller Gemäl¬
de, darunter Porträts von Hermanns
Urgroßvater Friedrich Philipp Lingke,
seiner Großmutter Christiane Frie¬
derike Hermann und seinem Vater
Friedrich Wilhelm Hermann. Die
Bilder kamen nach 1945 in den Besitz
der Staatlichen Kunstsammlungen
Dresden und des Museums Bautzen
und wurden 2010 restituiert.
Quellen: Gustav Adolf Poenicke: „Album
der Rittergüter und Schlösser im Königreiche
Sachsen“. 1859; Robert Heller: „Brustbilder
aus der Paulskirche“. Mayer Leipzig, 1849;
www.zhsf.uni-koeln.de; Heinrich Gerd Dade:
„Die deutsche Landwirtschaft unter Kaiser
Wilhelm II.“ Bd. 2, C. Marhold, 1913; Die
Landwirtschaftlichen Versuchs-Stationen,
Schönfeld, 1859; Annalen der Landwirtschaft
in den Königlich Preußischen Staaten, Bd.
33-34, Wiegandt u. Hempel, 1859; Dresdner
Adreß-Kalender, 1837; Schöne: „Die Sächsi¬
sche Landwirtschaft“. 1925; Mittheilungen des
Statistischen Vereins für das Königreich Sach¬
sen, 1833; Cornelius Gurlitt: „Weidlitz“. Be¬
schreibende Darstellung der älteren Bau- und
Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen, Bd.
32, 1908; Heinz Kurz: „Roscher, Wilhelm Ge¬
org Friedrich“. In: Neue Deutsche Biographie,
Bd. 22, Duncker & Humblot, Berlin 2005, S.
39-41; Georg Müller: „Paul Hermann“. In:
Sächsische Lebensbilder, Bd. 1, 1930
157
Friedrich Hesse: Erstes deutsches Zahnärztliches Institut vor 125 Jahren in
Leipzig begründet. Pressemitteilung der Universität Leipzig, 22.04.2009,
erschienen beim Informationsdienst Wissenschaft, http://idw-online.de
Hesse, Friedrich Ludwig (Louis)
Professor, Zahnmediziner in Leipzig
07.12.1849 Bischofswerda - 22.10.1906 Leipzig
V: Friedrich Wilhelm (*15.6.1817 Großröhrsdorf, tl.12.1897 Oberlößnitz), Dr. med., prak¬
tizierte in Bischofswerda, Bezirksarzt in Zittau; M: Auguste Louise geh. Großmann (*1824,
123.1.1885), Tochter des Tuchfabrikbesitzers Christian Gottlob Großmann; G: 5 Brüder und 6
Schwestern, darunter Hermann (*1844 Bischofswerda, nach Amerika ausgewandert), Richard
(*13.9.1845 Bischofswerda, 123.1.1913 Radebeul, Dr. med., Arzt in Brooklyn, Kurarzt in Schwei¬
zermühle, Badearzt in Rosenthal, um 1900 leitender Arzt am Genesungsheim Fiedler- und
Augustushaus Oberlößnitz), Walther (*27.12.1846 Bischofswerda, 119.7.1911 Dresden, Dr. med.,
Hygieniker und Bakteriologe), Marie (2.12.1852-15.10.1934, verh. mit Wilhelm August Schrä¬
der), Georg (*1865 Bischofswerda, 11931 Dresden, Direktor einer privaten chirurgischen Klinik
in Dresden), zwei Geschwister verstarben früh; E: Mai 1883, Agnes geb. Thiersch (1863-1954,
Tochter des Leipziger Universitätsrektors Carl Thiersch und Enkelin des Justus von Liebig); K:
Johanna verh. Long (*28.2.1885 Leipzig, 111.3.1976 Leipzig, Mutter des Silbermedaillengewin¬
ners im Weitsprung Berlin 1936, Luz Long), Richard (*12.3.1886 Leipzig, 121.5.1958 Friedrichs¬
hafen, Dr. med. dent.), Agnes verh. Leclercq (*18.10.1888 Leipzig, 130.1.1973 Dresden), Karl
(*16.1.1890 Leipzig, 110.9.1967 Löbau, Dr. med.), Kurt (*13.9.1894 Leipzig, 14.9.1914 Stra߬
burg), Fritz (*19.7.1897 Leipzig, 126.12.1980 Mainz, Professor der Chirurgie Saarbrücken)
Hesses Vater praktizierte fast drei
Jahrzehnte als Arzt in Bischofswerda.
Ab 1859 betrieb er am Stadtrand ein
Heim, in dem schwächliche Kinder
Gesundheitsbetreuung und Schul¬
unterricht erhielten. Das Ehepaar
Hesse hatte auch viele eigene Kinder.
Zusammen mit seiner Frau, einer
Tochter aus der bekannten Tuchma¬
cherdynastie Großmann, legte der Va¬
ter großen Wert auf eine gründliche
Schulausbildung - mit bemerkens¬
wertem Erfolg. Vier Söhne wurden
Mediziner, drei Töchter erhielten eine
Lehrerinnenausbildung am Freimau¬
rerinstitut für Töchter in Dresden.
Es war von der Loge zum „Goldenen
Apfel“ gegründet worden. Vater Hesse
war ab 1857 Mitglied der Dresdner
Loge „Zu den drei Schwertern und
Asträa zu grünenden Raute“.
Friedrich Hesse besuchte zunächst die
Stadtschule Bischofswerda, wurde zu¬
hause unterrichtet und wechselte mit
13 Jahren auf die Kreuzschule Dres¬
den. 1868 begann er - wie schon seine
Brüder Richard und Walther zuvor -
ein Medizinstudium an der Universi¬
tät Leipzig. Er unterbrach es, um 1870
als Einjährig-Freiwilliger während
des Deutsch-Französischen Krie¬
ges in die Armee einzutreten. Nach
dem Krieg setzte Hesse bei Christian
Wilhelm Braune das Studium fort
und erhielt nach seiner Approbation
1873 bei Wilhelm His eine Anstel¬
lung als Assistent am Anatomischen
Institut. 1874 promovierte Hesse bei
Professor His mit Untersuchungen
„Ueber die Muskeln der menschlichen
Zunge“. 1875 wurde er zum Prosek¬
tor ernannt. Hesse erhoffte sich von
159
der anatomischen Ausbildung, breit
anwendbares Grundlagenwissen zu
erwerben, v. a. im Hinblick auf eine
angestrebte Chirurgenlaufbahn.
Neben Braune und His gehörte auch
der berühmte Physiologe Carl Ludwig
zu seinen Förderern. Mit ihm führte
er u. a. Experimente zur Mechanik
der Herzbewegung durch. In einem
Brief an den Bruder Walther Hesse
schrieb Ludwig später, dass Friedrich
Hesse unzweifelhaft die Befähigung
zu einem Professor der Anatomie
habe, er ihn aber trotzdem unter¬
stützt, diese Laufbahn zugunsten der
eines Zahnarztes aufzugeben. Das
Jahr 1877 markierte den Höhepunkt
der anatomischen Laufbahn Hesses.
Er habilitierte sich zum Privatdozen¬
ten und unternahm eine Studienreise
nach Paris zu Louis-Antoin Ranvier,
bei dem er ein Vierteljahr am College
de France arbeitete, und nach Stra߬
burg zu Heinrich Wilhelm Waldeyer.
1879 erhielt Hesse eine Studienreise
in die USA. Mit Hilfe seines Bruders
Richard, Arzt in Brooklyn, knüpfte er
Kontakte zu amerikanischen Zahn¬
medizinern. Besonders beeindruckte
ihn das seinerzeit unvergleichlich
reichhaltig ausgestattete Medical
Department der Pennsylvanischen
Universität. Er beschloss, sich der
Zahnheilkunde zuzuwenden. In
Abstimmung mit His und Ludwig
entwickelte er Pläne für einen wis¬
senschaftlichen Zahnheilkundeun¬
terricht in Deutschland. 1880/1881
nahm Hesse mit Förderung durch die
Albrechtstiftung unter Carl Thiersch
einen zweijährigen Studienurlaub
am New Yorker Dental College, wo
er 1881 das Examen ablegte. Um
den Aufenthalt zu finanzieren und
Mittel für seine berufliche Zukunft zu
erwerben, betrieb er im Hause seines
Bruders eine Zahnarztpraxis. Die
Kombination von in Leipzig erworbe¬
nen naturwissenschaftlichen Grund¬
lagen und Ausbildung an neuesten
technischen Einrichtungen und Ma¬
terialien in den USA sollte sich später
als entscheidende Voraussetzung für
seine Karriere als Zahnmediziner
erweisen. Hesse eröffnete im Februar
1882 eine erfolgreiche Zahnarztpraxis
in Leipzig. Bei Dr. Klare bestand er im
selben Jahr die deutsche zahnärztliche
Prüfung.
Im Mai des Jahres 1883 heiratete
Hesse Agnes Thiersch. Sein Schwie¬
gervater war der bekannte Leipziger
Chirurg Carl Thiersch (seit 1876
Universitätsrektor), dessen Vater
wiederum, Friedrich Thiersch, ein
bekannter Philologe. Die Schwie¬
germutter, Johanna Thiersch, war
die Zweitälteste Tochter des Justus
von Liebig, eines der bedeutendsten
deutschen Chemiker überhaupt.
Zu Hesses Schwägern gehörten der
protestantische Theologe und Kir¬
chenhistoriker Adolf von Harnack
und der Historiker und Politiker Hans
Delbrück. Carl Thiersch zählte neben
Braune, His und Ludwig zu den
wichtigsten Befürwortern der Ein¬
richtung einer Lehrstätte für Zahn¬
ärzte in Leipzig. Im Jahre 1883 erhielt
160
Hesse den Auftrag des Königlichen
Ministeriums zur Konzeption von
Status und Etat eines Zahnärztlichen
Instituts an der Universität Leipzig.
Es sollte sich - nach amerikanischem
Vorbild - finanziell teilweise selbst
tragen. Am 16. Oktober 1884 wurde
es in Leipzig, Goethestraße 5, als ers¬
tes derartiges Institut in Deutschland
eröffnet. Die Gründung war auch
dank Pfarrer Friedrich Adolph Huth
möglich geworden, der dafür in sei¬
nem Testament 15000 Mark gestiftet
hatte. Hesse, seit dem 28. April 1884
außerordentlicher Professor, wurde
zum Leiter des Instituts berufen. Das
Institut hatte anfänglich nur 7 Stu¬
denten. Es erhielt zwar Fördermittel,
befand sich aber nicht in direkter
staatlicher Trägerschaff. Zu seinen
Patienten zählten vorwiegend Arbei¬
ter und Gewerbetreibende, die durch
Studierende für geringes Entgelt bzw.
kostenfrei behandelt wurden. Trotz
vieler Probleme im Vorfeld war Hesse
Leipzig treu geblieben, obwohl ihm
inzwischen ein ehrenvolles Angebot
als Gründungsdirektor eines Berliner
Zahnärztlichen Instituts Vorgelegen
hatte. Hesse orientierte auf Zahner¬
haltung und Kariesprophylaxe anstel¬
le einer reinen Extraktionstherapie.
Erstmals in Deutschland erhielten ab
1886 Mitglieder einer Ortskranken¬
kasse konservierende Behandlungen.
Hesse bemühte sich sachsenweit um
die Kariesprophylaxe an Schulen und
den Schutz der Patienten vor über¬
höhten Honorarforderungen. Schon
1891 wurden in Chemnitz kostenlose
Zahnuntersuchungen für Volksschü¬
ler eingeführt. Dieses soziale Engage¬
ment führte zu Auseinandersetzun¬
gen mit den Krankenkassen um die
Übernahme der Kosten und belastete
die Wirtschaftlichkeit seiner Zahn¬
klinik. Hesse legte den Schwerpunkt
auf Ausbildung (universitäre Anbin¬
dung) sowie auf praktische Tätigkeit.
Für eigene wissenschaftliche Arbeit
blieb wenig Raum. Er vertrat das
(damals bereits unübliche) Prin¬
zip eines einheitlichen Unterrichts,
wonach der gesamte Unterricht der
Person des Direktors unterstand. 1898
erfolgte die vollständige Übernahme
durch die Universität. Hesse wurde
als erster Lehrstuhlinhaber berufen.
Steigende Studentenzahlen und die
Notwendigkeit wissenschaftlicher
Fundierung, aber auch zu geringe
Eigenfinanzierung hatten diesen
Schritt erforderlich gemacht. Hesse
war von 1890 bis 1906 Vorsitzender
des „Zahnärztlichen Vereins für das
Königreich Sachsen“, von 1891 bis
1900 erster Vorsitzender des „Zen¬
tralvereins Deutscher Zahnärzte“ und
Mitglied des Exekutivkomitees der
„Federation Dentaire Internationale“.
Die Konkurrenzsituation zwischen
verschiedenen die Zähne behandeln¬
den Berufsgruppen führte zu hefti¬
gen Standesauseinandersetzungen,
in denen sich Hesse besonders aktiv
engagierte. Jahrelang vergebliche,
leidenschaftliche Bemühungen um
die Gleichstellung der Zahnheilkunde
mit der übrigen Medizin sowie ein
Gerichtsstreit mit „Spezialärzten für
161
Zahn- und Mundkrankheiten“ ohne
zahnärztliche Approbation zehrten an
seiner Gesundheit. Die universitären
und staatlichen Stellen gewährten
ihm dabei nur wenig Unterstützung.
Hesse wurde depressiv und gab seine
Privatpraxis auf. Am 22. Oktober
1906 wählte er den Freitod.
Hesse erwarb sich große Verdienste
um eine optimale theoretische und
praktische Ausbildung und um die
zahnärztliche Versorgung der Be¬
völkerung. 1906 hatte das Leipziger
Institut bereits 44 Studierende. Zu
Lebzeiten wurde er mit Ehrenmit-
gliedschaften des Zentralvereins
Deutscher Zahnärzte, der Leipziger
Zahnärztlichen Gesellschaft, des Ver¬
eins für Mitteldeutschland und des
Vereins Österreichischer Zahnärzte
gewürdigt. Nach seinem Tod setzte
die Verwirklichung seiner Ziele ein:
1909 erfolgte die Einführung einer
neuen Prüfungsordnung mit dem
Abitur als Vorbedingung für die Auf¬
nahme des Zahnheilkundestudiums,
1910 die Einrichtung eines großzü¬
gigen Zahnärztlichen Instituts in der
Nürnberger Straße und 1919 erhiel¬
ten die Zahnmediziner ein eigenes
Promotionsrecht. Das Vermächtnis
Hesses wurde in Leipzig von Theo¬
dor Dependorf und Wilhelm PfafF
fortgeschrieben. Drei seiner Söhne
schlugen eine medizinische Laufbahn
ein, einer davon als Zahnarzt. In Jena
wirkte Gustav Hesse, ein Sohn von
Walther Hesse, von 1907 bis 1945
als Direktor des Zahnärztlichen Ins¬
tituts in der Tradition seines Onkels
und konnte 1921 die Anerkennung
als Universitätsinstitut erreichen.
Seit 1994 erinnert ein zweij ähnliches
wissenschaftliches Friedrich-Hesse-
Symposium für Studenten und junge
Wissenschaftler an der Poliklinik für
Konservierende Zahnheilkunde der
Universität Leipzig an seine bedeu¬
tenden Leistungen. Aus Anlass des
125. Jahrestages der Gründung der
Universitäts-Zahnklinik wurde im
Jahre 2009 beschlossen, das „Zent¬
rum für Orale Medizin“ nach Fried¬
rich Louis Hesse zu benennen. Die
Arbeiten der Autoren zu den Brüdern
Hesse im Biographischen Lexikon der
Oberlausitz seit 2007, zu Walther
Hesse auch in der Wikipedia und im
Stadtwiki Dresden, wurden seither
viele 1000 Mal gelesen und haben so
die Erinnerung an die vergessenen
Söhne Bischofswerdas geweckt. Im
Jahre 2012 widmete ihnen der lokale
Geschichtsverein an ihrem ehemali¬
gen Wohnhaus eine Erinnerungstafel.
Hesses Geburtshaus in Bischofswer¬
da (2. v. 1., Abb. rechts) mit Gondel¬
teich und Fronfeste.
Quellen: Hannelore Schwann: „Friedrich Louis
Hesse (1849-1906)“. J. A. Barth, Leipzig, 1984; Klaus
Kroszewsky: „Friedrich Louis Hesse: zum 100. To¬
destag am 22. Oktober 2006“. In: Jubiläen, Leipzig,
2006, S. 143-148; Paul Schwarze: „Ein Gedenkblatt
für Friedrich Louis Hesse“. Deutsche Monatsschrift
für Zahnheilkunde, H. 12,1906, S. 695-700; Marie
Agnes Möbius (Kleinröhrsdorf, Enkelin von Hesse)
und Dr. Dieter Möbius, Mitteilungen; Universität
Leipzig, Pressemitteilungen; Gerold Rüdiger He-
ckert: „Odontologie im numismatischen Spiegel. Ein
Beitrag zur Geschichte der Zahnheilkunde“ Inaug.-
Diss., Justus-Liebig-Universität Gießen, 2006
162
163
Es
Hesse, Walther
Dr. med., Bakteriologe und Hygieniker
27.12.1846 Bischofswerda - 19.07.1911 Dresden
V: Friedrich Wilhelm (*15.6.1817 Großröhrsdorf, tl.12.1897 Oberlößnitz), Dr. med., praktischer
Arzt in Bischofswerda und Bezirksarzt in Zittau; M: Auguste Louise geh. Großmann (*1824,
123.1.1885), Tochter des Bischofswerdaer Tuchfabrikbesitzers Christian Gottlob Großmann; G: 5
Brüder und 6 Schwestern, Hermann (*1844 Bischofswerda, Kaufmann, nach Amerika ausgewan¬
dert), Richard (*13.9.1845 Bischofswerda, 123.1.1913 Radebeul, Dr. med. 1869 in Leipzig, Arzt
in Brooklyn, Long Island College Hospital, St. Marys Hospital für Frauen, Kurarzt in Schweizer¬
mühle, ab 1885 Badearzt in Rosenthal, um 1900 leitender Arzt am Genesungsheim Fiedler- und
Augustushaus Oberlößnitz, verh. mit Ida geb. Cassebeer aus Hastings-On-The-Hudson, New
York), Elise, Friedrich Louis (*7.12.1849 Bischofswerda, 122.10.1906 Leipzig, Professor und
Gründer der Universitätszahnklinik Leipzig), Anna, Marie (2.12.1852-15.10.1934, verh. mit Wil¬
helm August Schräder), Hulda, Ida, Emma (1 mit sechs Monaten), Georg (1 mit zwei Wochen),
Georg (*1865 Bischofswerda, 11931 Dresden, Direktor einer privaten chirurgischen Klinik in
Dresden); E: 16.5.1874 Genf, Fanny Angelina geb. Eilshemius (*22.6.1850 New York, 11.12.1934
Dresden); K: Friedrich Henry (9.2.1875-3.8.1960, Dr. med., Orthopäde und Chirurg, Chefarzt
des Waldsanatoriums Blasewitz), Gustav (*24.12.1876 Schwarzenberg, 11.4.1945, Professor,
Direktor der Universitätszahnklinik Jena), Walter (*25.3.1879 Schwarzenberg)
Die medizinische Berufslaufbahn hat¬
te bei den Hesses Tradition. Der Va¬
ter, Friedrich Wilhelm Hesse, ließ sich
1842 als praktischer Arzt in Bischofs¬
werda nieder, wo er von 1845 bis 1846
die Arbeiter am Bau der Sächsisch-
Schlesischen Eisenbahntrasse be¬
treute. Von 1871 bis 1892 amtierte er
als Bezirksarzt in Zittau. Hesse sen.
stammte ursprünglich aus Großröhrs¬
dorf, wo wiederum sein Vater „kleine
Chirurgie“ praktiziert und ein Gro߬
vater als Wundarzt gearbeitet hatten.
Friedrich Wilhelm Hesse war der ers¬
te akademisch ausgebildete Mediziner
seiner Familie. Er stand am Anfang
einer bedeutenden Ärztedynastie, so
gründete Friedrich Louis Hesse,
ein Bruder Walthers, die Universitäts-
Zahnklinik Leipzig.
Walther Hesses Eltern hatten 1843
geheiratet. Die Praxis des Vaters war
aber zunächst wirtschaftlich nicht
sehr erfolgreich und auch die Eltern
der Mutter konnten aus den Erträgen
ihrer Tuchfabrik kaum Hilfe leisten.
Erst mit der Betreuung des Eisen¬
bahnbaus besserte sich die Lage. Die
Familie wohnte Ende der 1840er Jahre
mit drei Söhnen und einer Tochter
mietfrei in einem Haus der Schwie¬
gereltern. 1849 kaufte der Vater ein
Haus mit Garten am damaligen Stadt¬
rand, weil er hoffte, dass seine Kinder
hier gesünder aufwachsen würden.
Ein Angebot des Schwiegervaters, den
jüngsten Sohn, Walther, in Pflege zu
nehmen, wurde abgelehnt. Zusam¬
men mit den Söhnen des Superinten¬
denten Heinrich August Lehmann
erhielten die Jungen Privatunterricht.
165
Blick entlang der historischen Stadtgrenze von Bischofswerda zum heuti¬
gen Stadtbad: Links zu sehen ist die Silhouette der Fronfeste am ehemali¬
gen Dresdner Tor. Rechts im Bild befindet sich das Wohnhaus der Familie
Hesse. Es wurde von Hesses Vater 1849 einschließlich Garten erworben und
1859 als Heim für schwächliche Kinder eingerichtet.
Später besuchte Walther die Kreuz¬
schule in Dresden. Die drei Schwes¬
tern Elise, Marie und Ida wurden am
Freimaurer-Institut für Töchter in
Dresden zu Lehrerinnen ausgebildet.
Es war von der Loge „Zum goldenen
Apfel“ gegründet worden. Der Vater
Hesse gehörte seit 1857 der Freimau¬
rer-Loge „Zu den drei Schwertern
und Asträa zu grünenden Raute“ in
Dresden als Mitglied an, später in
Zittau der Loge „Friedrich August zu
den 3 Zirkeln“.
Walther Hesse ging 1866 wie sein
älterer Bruder Richard und zwei Jahre
später der jüngere Bruder Friedrich
Louis zum Medizinstudium an die
Universität Leipzig. Er meldete sich
1867 freiwillig zum einjährigen Mi¬
litärdienst und promovierte 1870 am
Pathologischen Institut bei Professor
Ernst L. Wagner. Hesse nahm 1870/71
als Feldassistenzarzt am Deutsch-
Französischen Krieg teil, darunter an
den Schlachten um Gravelotte und
St. Privat. Hier begann sein soziales
Engagement. Hesse kritisierte die me¬
dizinische Versorgung der Truppen,
die hygienischen Bedingungen und
machte Verbesserungsvorschläge. Das
aktive Eintreten für soziale Fragen
blieb charakteristisch für sein weiteres
Berufsleben. Die erste international
bekannte Arbeit war ein Ergebnis
seiner Tätigkeit als Schiffsarzt auf der
New York - Linie. Professor Gavingel
aus Le Havre bezeichnete Hesses Er¬
kenntnisse zur Seekrankheit als erste
wissenschaftliche Arbeit zu dieser
Thematik überhaupt, die „Zittauer
Medizinische Gesellschaft“ zeichnete
ihn dafür aus. Nach einer Assistenz
an der Heil- und Pflegeanstalt Pirna
166
arbeitete Hesse von 1874 bis 1877 als
praktischer Arzt in Zittau. Zusam¬
men mit seinem Vater, dem dortigen
Bezirksarzt, bemühte er sich um die
Schaffung gesunder Lernbedingungen
für Schüler, z. B. durch systematisches
Lüften von Schulräumen. 1874 trat
Hesse der Dresdner Freimaurer-Loge
„Zum goldenen Apfel“ bei.
Hesse hatte seine spätere Ehefrau,
Angelina Eilshemius, 1872 in New
York kennen gelernt, als er seinen
Bruder Richard besuchte und dieser
ihn in die Eilshemius-Familie ein¬
führte. Sein späterer Schwiegervater,
Henry Gottfried Eilshemius, war ein
wohlhabender Kaufmann holländi¬
scher Abstammung und 1842 von
Emden in die USA eingewandert.
Dessen Ehefrau, Cecile Elise (*1824)
aus Lugano, war schweizerisch¬
französischer Abstammung aus der
Familie des Malers Leopold Robert
(vermutlich dessen Cousine, ande¬
re Quellen sprechen von Tochter
und Vater). Im Alter von 15 Jahren
wurde Angelina auf eine Schule in die
Schweiz geschickt. Als sie mit ihren
Eltern erneut Europa besuchte, kam
sie nicht nur in die Schweiz, sondern
auch nach Dresden, wo sie Walther
wiedertraf. Die Hochzeit fand 1874 in
der Schweiz statt. Gleichzeitig heira¬
tete ihre Schwester Cecilie Eugenie
einen Neffen des schweizerisch-ame¬
rikanischen Zoologen und Paläon¬
tologen Louis Agassiz. Die künstle¬
risch talentierte Angelina war in den
Folgejahren nicht nur Hausfrau und
Hesse arbeitete eng mit seiner Frau
Fanny Angelina zusammen. Das Au¬
genmerk galt vorrangig den Infek¬
tionskrankheiten. Rasch wachsende
Bevölkerungszahlen in den Städten
und eine unzureichende Wasserver-
und Abwasserentsorgung waren im
19. Jahrhundert mitverantwortlich
für die bedrohliche Zunahme von
Infektionen. Die Hesses haben we¬
sentliche Beiträge zum Verständnis
ihrer mikrobiologischen Grundla¬
gen und mit Arbeiten zur Hygiene
zu ihrer Bekämpfung geleistet.
Mutter, sondern stand Walther z. B.
auch mit äußerst präzisen Zeichnun¬
gen zur Seite. Neben Angelina wurde
v. a. ihr Bruder Louis Eilshemius als
Maler bekannt. Mehrere Familienmit-
167
Verlag von Friedrich Yieweg nnd Sohn in Braanschweig.
(Zn beziehen darch jede Bnohhandlung.)
Tabellen zur Reduction eines Gasvolnmens
auf 0° Temperatur und 760 mm Luftdruck
nach '
Dr. med. Walter Hesse,
Königlicher Bezirksarzt in Schwarzenberg 1. S.
gr. 4. geh. Preis 3 Mark.
Anzeige des Verlags Friedrich Vieweg und Sohn in der Jenaer Literaturzei¬
tung Nr. 34, 1879.
glieder waren zeitweise in Dresden
ansässig. Louis besuchte die Realschu¬
le, sein Bruder Fritz Emil studierte
bis 1879 an der TH und ihr Vater war
wie Edmund Friedrich Mitglied im
Dresdner Verein für Erdkunde unter
dem Vorsitz von Sophus Rüge.
Als Bezirksarzt in Schwarzenberg
von 1877 bis 1890 war Hesse für
83 Gemeinden verantwortlich. Um
seine Kenntnisse in der Arbeits- und
Umwelthygiene zu vertiefen, nahm
er sich 1878/79 einen Studienurlaub
bei Max von Pettenkofer in München.
Hesses Weiterentwicklung von Pet-
tenkofers Methode zur quantitativen
Bestimmung des Kohlendioxidge¬
halts der Luft fand später Aufnahme
im Übersichtswerk „Gasanalytische
Methoden“ von Walther Hempel.
In Schwarzenberg lernte Hesse die
Schattenseiten des Bergbaus kennen.
Er untersuchte mit dem Bergarzt
Friedrich Hugo Härting die „Schnee¬
berger Bergkrankheit“. Bei durch¬
schnittlich 650 beschäftigten Bergleu¬
ten waren 150 an dieser Krankheit im
Zeitraum von 1869 bis 1877 gestor¬
ben. Chronische Lungenerkrankun¬
gen bei Bergleuten kannte man schon
seit dem späten 15. Jahrhundert, 1567
wurden sie erstmals von Paracelsus
beschrieben, der zunächst unter dem
Begriff „Bergsucht“ unterschiedli¬
che Krankheiten zusammenfasste.
Im Schneeberger Revier erkrank¬
ten sehr häufig junge Bergleute, die
nach wenigen Monaten oder Jahren
starben. Für dieses Krankheitsbild
wurde der Begriff „Schneeberger
Bergkrankheit“ geprägt. Mithilfe von
Sektionen erkannten Hesse, selbst
ausgebildeter Pathologe, und Härting
die Bergkrankheit als Lungenkrebs.
Es war das erste Mal, dass eine innere
Krebserkrankung auf berufsbeding¬
te äußere Einflüsse zurückgeführt
wurde. Aufgrund fehlender Kennt¬
nisse zur Radioaktivität nahm man
damals an, dass Arsen die wesentliche
Krankheitsursache sei. Hesse war im
168
Rahmen der Zusammenarbeit mit
Harting für die Untersuchung der Ar¬
beitsbedingungen in den Bergwerken
zuständig. Während seiner Tätigkeit
im Erzgebirge wandte er sich aktiv
gegen die miserablen Arbeits- und
Lebensbedingungen der einfachen
Leute. Sein besonderes Augenmerk
galt der Luftquabtät, insbesondere
der Belastung mit Kohlendioxid und
Staub. In den Steinkohlebergwerken
des Zwickauer Reviers analysierte
Hesse die klimatischen Verhältnisse.
Er unterbreitete Verbesserungsvor¬
schläge, um die damals noch zur
Arbeit herangezogenen Kinder besser
zu schützen.
In seiner ärztlichen Berufspraxis war
bei Hesse die Überzeugung gewach¬
sen, dass Bakterien die Ursache vieler
Erkrankungen sein könnten. Bald
wurde die Bakteriologie zu seinem
Arbeitsschwerpunkt. International
zählen Hesse und seine Ehefrau heute
zu den Wegbereitern der modernen
Mikrobiologie. 1881/82 nahm er sich
während der Schwarzenberger Zeit
einen Forschungsurlaub am „Kaiser¬
lichen Gesundheitsamt“ bei Robert
Koch. Die Einführung fester Nährbö¬
den für Bakterienkulturen in Kochs
Labor gilt als Geburtsstunde der mo¬
dernen Mikrobiologie. In Flüssigkul¬
turen lassen sich Bakterienarten nicht
zuverlässig genug trennen. Die von
Koch zunächst als Nährbodenverfes-
tiger verwendete Gelatine wies jedoch
prinzipielle Nachteile auf: Nährböden
auf Gelatinebasis verflüssigen sich üb-
Rote Blutkörperchen auf Agar-Agar,
links mit Staphylokokken infiziert,
rechts mit Streptokokken. Blutagar
ist als Nährboden von Bedeutung
für die Diagnostik von Bakterien,
die rote Blutkörperchen durch Hä¬
molyse zersetzen, wie z. B. Mala¬
riaerreger. Quelle: National Cancer
Institute der USA, Bill Branson, Wi-
kimedia Commons, Public Domain.
licherweise schon bei Temperaturen
über 28° - viele Bakterienstämme be¬
nötigen aber ca. 37° für ein optimales
Wachstum. Außerdem können viele
Bakterien Gelatine verwerten. Hesse
informierte Koch über eine bahnbre¬
chende Idee seiner Ehefrau. Angelina
kannte für ihre Puddings und Gelees
Rezepte, bei denen die für Gelatine
bekannten Probleme nicht auftraten
- sie hatte sie noch in New York von
einem holländischen Immigranten
aus Java erhalten. Das aus Meeralgen
gewonnene Agar-Agar geliert nach
einmaligem Aufkochen beim Ab¬
kühlen unter 44° und wird auch bei
erneuter Erwärmung nicht wieder
flüssig. Zudem sind die meisten Bak¬
terien nicht in der Lage, die Polysac¬
charide des Agar zu verwerten. Die
169
Substrate konnten damit sterilisiert
und Bakterienkulturen auch über
lange Zeit reproduzierbar untersucht
werden. Robert Koch zitierte in
seiner berühmten und später seinen
Nobelpreis mitbegründenden Rede
„Die Ätiologie der Tuberkulose“ von
1882 zur erstmaligen Identifikation
des Tuberkulosebakteriums gelierte
und speziell präparierte Blutseren
als Nährböden und erwähnte Agar
nur am Rande, die Hesses gar nicht.
Agar-Agar erwies sich aber seitdem
als so erfolgreich, dass es aus der
Bakteriologie nicht mehr wegzuden¬
ken ist. Die Ideengeberin blieb lange
unbekannt.
Es ist das Hauptverdienst der Hesses,
Agar in die bakteriologische Praxis
eingeführt zu haben. Von seiner Frau
unterstützt, setzte Walther Hesse die
Forschungen auf diesem Gebiet auch
in den Folgejahren in Schwarzenberg
fort. Dabei gelten v. a. seine Beiträge
Hesses Villa in Dresden-Strehlen,
Julius-Otto-Straße 11.
zur quantitativen Bestimmung der
bakteriellen Belastung von Fuft und
Wasser, aber auch zu Infektionskrank¬
heiten wie Typhus und Cholera als
bedeutsam. 1885 verfasste er gemein¬
sam mit seinem Bruder Richard,
inzwischen Kur- und Badearzt in
Schweizermühle bzw. Rosenthal, die
Schrift „Über Züchtung der Bacillen
des malignen Oedems“
1890 wurde Hesse als Bezirksarzt
nach Dresden-Strehlen berufen. Zu
seinem Verantwortungsgebiet ge¬
hörten in den Folgejahren mehrere
Amtsgerichtsbezirke bis Tharandt und
Radeberg. Ihre Söhne schickten die
Hesses auf das Vitzthum-Gymnasium
(vgl. Artikel zu Julius Fehmann).
Hesse erwarb sich auch in Dresden
große Verdienste um die moder¬
ne Hygiene und hat weiter zu den
Grundlagen der Bakteriologie beige¬
tragen. Er führte Desinfektionsver¬
fahren ein und förderte das Impfwe¬
sen. Seine Erfahrungen aus der Praxis
publizierte er vielfach in angesehenen
wissenschaftlichen Zeitschriften und
er hielt Vorträge vor der „Gesellschaft
für Natur- und Heilkunde zu Dres¬
den“. Hesse blieb gegenüber Neuerun¬
gen stets aufgeschlossen und über¬
nahm rasch die Petrischale, um die
Bakterien nicht in, sondern auf Agar
zu ziehen. Besonders den Kindern
und ihren Krankheiten galt seine Auf¬
merksamkeit. Er schrieb: „Unter den
Krankheiten, die heben und Gesund¬
heit der Säuglinge bedrohen, nehmen
die Erkrankungen des Verdauungsap-
170
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„Zur Diagnose der Diphtherie“, MM&I, 1894, Springer
„Die Petrische Doppelschale als feuchte Kammer“, MM&I, 1894, Springer
„Ueber die Beziehungen zwischen Kuhmilch und Cholerabacillen“, MM&I, 1894, Springer
„Ueber Gasaufnahme und -abgabe von Culturen des Pestbacillus“, MM&I, 1897, Springer
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„Ein neues Verfahren zur Züchtung des Tuberkel-Bacillus“, MM&I, 1899, Springer
„Ueber einen neuen Muttermilchersatz: Pfunds Säuglingsnahrung“, MM&I, 1900, Springer
„Ist der Nährstoff heyden bakterienhaltig?“ European Food Research and Technology, 1901, Springer
„Zur quantitativen Bestimmung der Wasserkeime“ Centralblatt für Bakteriologie, 1902
& Niedner, „Zur Methodik der bakteriologischen Wasseruntersuchung“ MM&I, 1902, Springer
„Ueber die Abtödtung der Tuberkelbacillen in 60° C. warmer Milch“, MM&I, 1903, Springer
MM&I: Medical Microbiology and Immunology, zu Hesses Zeit: „Zeitschrift für Hygiene
und Infektionskrankheiten, medizinische Mikrobiologie, Immunologie und Virologie“,
gegründet von Robert Koch
171
parates die hervorragendste Stellung
ein. Die Bedrohung ist um so grösser,
je jünger die Säuglinge sind.“ Seine
Arbeit „Ueber Sterilisirung von Kin¬
dermilch“ (1890) schuf die Grundlage
zur Einführung der Pasteurisierung
von Kindermilch in Pfunds Molkerei.
1893 berichtete er in der Festschrift
anlässlich des 50-jährigen Doktorju¬
biläums seines Vaters in Zittau „Ueber
Milchsterilisirung im Grossbetriebe“.
Der Ausbruch von Typhus-, Diph¬
therie- und Cholera-Epidemien in
der Region Dresden ließ Hesse die
mikrobiologischen Grundlagen dieser
Krankheiten im Labor untersuchen,
er analysierte den Bakteriengehalt im
Dresdner Albertbad und verfasste
Hygienevorschriften. Zur Thematik
öffentliche Gesundheit unternahm
Hesse 1899 eine Studienreise nach
Norddeutschland, England und
den USA. Dabei galt sein Hauptin¬
teresse den dortigen Wasser- und
Abwasseranlagen. Hesse führte seine
wissenschaftlichen Untersuchungen
in seinem Zuhause in der Strehlener
Julius-Otto-Straße sowie in einem
ihm zur Verfügung gestellten Labo¬
ratorium an der Technischen Hoch¬
schule Dresden durch. Hier und im
„Laboratorium für Anorganische und
Analytische Chemie“ der TH arbeite¬
te Hesse eng mit Professor Walther
Hempel zusammen. Er bemühte
sich außerdem gemeinsam mit der
Chemischen Fabrik Heyden Radebeul
um eine industrielle Herstellung von
Agar-Agar, und er entwickelte ver¬
schiedene Variationen für spezielle
Anwendungen, z. B. zur Bestimmung
der Keimzahl in Trinkwasser und
Milch. 1901 wurde Hesse Mitglied der
„Naturwissenschaftlichen Gesellschaft
ISIS“ unter Hempels ehemaligem
Schüler Fritz Foerster. Gustav Hes¬
se untersuchte auf Anregung seines
Vaters in Dresden vor der Berufung
nach Jena die Herstellung von Nähr¬
böden zur Bakterienzüchtung. Hesses
Laboratorium an der TH wurde nach
seinem Tod aus Angst vor einer bak¬
teriellen Verunreinigung abgebrannt.
Die Erben verkauften das Haus in
Strehlen um 1918 und Angelina zog
in die Winckelmannstraße. In der
nahe gelegenen Lüttichaustraße und
später im privaten „Südsanatorium“
in der Schnorrstraße 82 praktizierte
ihr Sohn Friedrich Henry.
Hesses Leistungen sind mit der
Ernennung zum „Geheimen Me¬
dizinalrat“ gewürdigt worden. Sein
Vermächtnis wurde durch seine
Kinder und Enkelkinder fortgeführt,
von denen viele die ärztliche Berufs¬
laufbahn eingeschlagen haben.
Das Wandgrabmal der Familie Hes¬
se (rechts) von Arnold Kramer auf
dem Friedhof Radebeul-Ost zeigt
die Eltern mit Walther und seinen
9 erwachsenen Geschwistern. Drei
Grabtafeln, davon eine seitlich an¬
gebrachte, erinnern an 14 Familien¬
angehörige, darunter Walther, sein
Bruder Richard und seine Schwester
Marie, seine Frau Angelina und die
beiden Söhne Friedrich und Gustav.
172
Quellen: S. 412 ff.
173
Karl Traugott Kanig (Quelle: Gabriele Hollborn, Ururenkelin von Kanig)
Kanig, Karl Traugott
Pfarrer und sorbischer Liederdichter in Klix
auch: Konik, Korla Bohuwjer
29.07.1804 Hochkirch - 24.10.1878 Klix
V: George Gotthelf (*8.11.1782 Hochkirch, tll-4.1848 Hochkirch); M: Margarethe geh. Schuster
(aus Kubschütz, 11859 Hochkirch); G: Johanna Carolina (*31.12.1805 Hochkirch), George
Gotthelf (*12.8.1807 Hochkirch, 11807 Hochkirch), Anna Maria (*28.11.1809 Hochkirch, 11811
Hochkirch), Johann August (*29.11.1811 Hochkirch, 118.12.1834 Leipzig, Gymnasium Bautzen,
Theologiestudium in Leipzig), Maria Christiana (*30.11.1813 Hochkirch, 11813 Hochkirch),
Maria Christiana (*30.9.1815 Hochkirch), Johann Ernst (*13.5.1818 Hochkirch, Gymnasium
Bautzen, Sprachübungen bei Jan Arnost Smoler, Theologie- und Medizinstudium in Leipzig, Dr.
med., Gerichtsarzt in Weißenberg), George Gotthelf (*5.12.1824 Hochkirch); E: (1) 21.9.1830
Kleinwelka, Juliane Charlotte geb. Wannack (*8.6.1809 Kleinwelka, 110.4.1851 Klix, Tochter des
Gutsverwalters Georg Wannack aus der Brüdergemeine Kleinwelka), (2) 20.7.1855 Klix, Mathil¬
de Caroline verw. Hallensieben geb. Kanig (*24.7.1812 Löbau, 16.1.1889 Radebeul, Tochter von
Carl Benjamin Kanig, Apotheker in Löbau, erste Ehe mit Ernst Wilhelm Gottfried Hallensieben,
Kaufmann in Sondershausen); K: Alwin Theodor (*28.9.1834 Klix, 118.4.1876 Gablenz, Pfarrer),
Karl Otto Georg (*23.1.1845 Klix, 11910 Kleinzschachwitz, Oberpfarrer in Pulsnitz)
Kanig wurde als erstes Kind einer
alteingesessenen Krämerfamilie in
Hochkirch geboren. Er wuchs im vom
Vater gebauten Haus „GGK 1807“ in
der Blutgasse auf. Als kleines Kind
wäre er fast im brennenden Zuhause
ums Leben gekommen, später noch¬
mals bei einem Unfall in der Scheu¬
ne. Die streng altlutherischen Eltern
sahen in der knappen Rettung ein
Zeichen Gottes, dass er mit dem Kind
noch Großes plant, was später den
Lebensweg des Sohnes entscheidend
beeinflussen sollte. Zu den einschnei¬
denden Ereignissen in jungen Jahren
zählte auch der Befreiungskrieg gegen
Napoleon. Wiederholt zogen unter¬
schiedliche Truppenverbände durch
den Ort. So weilte der Kaiser selbst in
der Nacht vom 4. zum 5. September
1813 in Hochkirch und schlief im
Pfarrhaus, während die Bauerngü¬
ter in der Umgebung brannten. Um
später Theologie studieren zu können,
ging Kanig nach Bautzen auf das
Gymnasium. Wegen finanzieller Pro¬
bleme der Eltern musste er die Schule
zwischenzeitlich unterbrechen und
eine kaufmännische Lehre aufneh¬
men. Auf dem Gymnasium begeis¬
terte ihn Rektor Karl Gottfried
Siebelis derart für alles Lateinische,
dass sich Kanig auch später noch die¬
ser Sprache wiederholt bediente. Von
1824 bis 1827 studierte er Theologie
in Leipzig, wo er der Lausitzer Predi¬
gergesellschaft angehörte.
Nach dem Studium begann Kanig
als Hilfsprediger in seiner Heimatge¬
meinde Hochkirch. Hier erwarb sich
zu jener Zeit Pfarrer Michael Möhn
175
Vom Fuß des Turms der Kirche
in Hochkirch führt die Blutgasse
ins Tal in Richtung Pommritz. Sie
erinnert an die Schlacht zwischen
Preußen und Österreich, die im Jah¬
re 1758 17000 Tote forderte.
große Verdienste um die Gleichbe¬
rechtigung der sorbischen Sprache an
Schulen und die Verbreitung sorbi¬
schen Liedguts. 1829 wurde Kanig
als Pfarrer nach Uhyst/Spree berufen.
Das Pfarramt Uhyst stand seinerzeit
unter dem Patronat der Herrnhuter
Brüdergemeine und Kanig fand in
dem Grafen Dohna auf Mönau einen Kirche in Uhyst.
väterlichen Freund und Berater.
Kanig wird den „erweckten sorbi¬
schen Pastoren“ zugerechnet. Die
Erweckungsbewegung, auch Neupie¬
tismus genannt, der sorbischen
Lutheraner stellte eine spezielle Va¬
riante des Spätpietismus dar. Kanigs
Heimat, die Gegend um Hochkirch,
war seinerzeit ein Zentrum dieser
sorbischen pietistischen Bewegung,
die sich auch um die Verbreitung
religiöser Schriften im Volke bemüh¬
te. Als Pfarrer von Uhyst hielt Kanig
sonntagsabends Missionsstunden im
Sinne der Herrnhuter Brüdergemeine
und Gläubige kamen von weit her, um
daran teilzunehmen.
Nachdem Heinrich LXIII. Prinz Reuß
zu Köstritz, Herr auf Spreewiese,
176
Klipphausen und Klix, eine Predigt
von Kanig in Uhyst gehört hatte, bot
er diesem 1834 die vakante Stelle in
Klix an. Diakon war hier der liberale
Handrij Zejler, der Wunschkandidat
der Gemeinde. Kanig ging sein pie-
tistischer Ruf voraus und die Klixer
Gemeinde stellte sich zunächst vehe¬
ment gegen ihn. Nach Kanigs Beru¬
fung wechselte Zejler als Pfarrer nach
Lohsa. Das Diakonat wurde von Ka¬
nig bis 1840 mit übernommen, weil
nach dem Großbrand von 1830 Geld
gespart werden musste. Dank der Un¬
terstützung der Familie Reuß konnte
Kanig, der mehr als vier Jahrzehnte
in Klix wirken sollte, mit der Zeit das
Vertrauen seiner Gemeinde gewin¬
nen. Im August 1834 gehörte er zu
jenen 18 evangelischen Geistlichen,
die im Namen von 50000 Sorben bei
der sächsischen Regierung gegen die
Benachteiligung ihrer Muttersprache
protestierten, im Jahr darauf geneh¬
migte der Landtag per Gesetz den
Gebrauch der sorbischen Sprache in
einigen Schulfächern. Die tiefgläubige
Prinzessin Reuß zu Köstritz, spätere
Großherzogin Auguste von Mecklen¬
burg, erhielt bei Kanig am 6. Oktober
1838 ihre Konfirmation.
Kanig zählte zu den bedeutendsten
sorbischen Liederdichtern und zu
den aktivsten Vertretern der Inne¬
ren Mission unter den Sorben. 1842
wurde sein „Jesu, Dobry Ljekar-
jo“ in das „evangelisch-wendische
Gesangbuch“ aufgenommen. 1848
organisierte Kanig das erste sorbische
Innenaufnahme der Kirche in Kl ix
im 19. Jahrhundert.
Missionsfest in Baruth, 1853 vereinig¬
te er die sorbischen Missionsvereine
und 1854 gründete er zusammen mit
dem Klixer Diakon Johann Rudolf
Richter, später Pfarrer in Kotitz, die
Zeitschrift „Missionski Posol“. Der in
einer monatlichen Auflage von 900
Stück herausgegebene Missionsbote
widmete sich Missionsberichten, Pre¬
digten und Liedern. Kanig übersetzte
dafür deutsche Choräle in das Sor¬
bische. 1855 verfasste er eine Schrift
zu Martin Luther: „Nebo Dr. Merten
Lutherowe Ziwenje“. Seine Bemühun¬
gen um die sorbische Sprache gingen
so weit, dass er die Verordnung zum
stärkeren Gebrauch der deutschen
Sprache im Schulunterricht von 1860
nicht an die Lehrer seines Aufsichts¬
bezirks weitergab, wofür er von der
Kreisdirektion gerügt wurde. Für den
1862 von Jaromer Hendrich Imis ge¬
gründeten „Wendischen evangelisch¬
lutherischen Buchverein“ mit seinen
etwa 1000 Mitgliedern verfasste er für
die Jahre 1862-1868 sowie 1870 einen
biblischen Wegweiser: „Bibliski pucz-
177
Ein Grabmal an der Außenwand der Kirche zu Klix erinnert noch heute an
Kanig: „Er war vor vielen wie ein Wunder, aber der Herr war seine starke
Zuversicht.“
178
nikwudoty wot serbskejo lutzerdkose
knihowarso towarstewa“. 1862 betrug
die Auflage 3000 Stück. Kanig war
Mitglied im „Erweiterten Ausschuss“
des Buchvereins. Seine 38 Lieder in
„Zionsky Hlosy“ (Zionsstimmen,
1868) wurden von Michal Domaska
als „vom Heiligen Geist getragen“
geschätzt. Im neuen evangelischen
Gesangbuch ist er mit mehreren
Übersetzungen und einem Original¬
werk vertreten.
Neben seiner Arbeit als Pfarrer und
seinen Bemühungen um die Eman¬
zipation der Sorben nahm Kanig
auch am gesellschaftlichen Leben teil.
1852 spendete er für das von Edu¬
ard Gottlob von Nostitz und
Jänkendorf in Oppach gegründete
Rettungshaus. Mit Ernst Theodor
Stöckhardt von der Landwirt¬
schaftsschule im benachbarten Brösa
stand er in regelmäßigem Kontakt.
Karl Traugott Kanig begründete eine
Familientradition, nach der inner¬
halb der folgenden 100 Jahre fünf
Nachfahren gleichen Familienna¬
mens wiederum Pfarrer in Sachsen
wurden. Die bekanntesten darunter
waren Otto Kanig (Lehrer an der
Thomasschule Leipzig, 1874 Diako-
nus und 1875 Gymnasialprofessor in
Bautzen, 1891 Oberpfarrer in Puls¬
nitz) und dessen Sohn Karl Moritz
Gerhard Kanig (*25.11.1875 Bautzen,
t6.7.1958 Klittlitz, 1899-1906 Missi¬
onar in Ukamba/Kenia, später Pfarrer
in Glauchau, Großolbersdorf und
Kittlitz). Ein Urenkel, Ernst Kanig,
erwarb sich große Verdienste als Vi¬
kar in Ober- und Niedercunnersdorf
sowie Löbau und Vorsitzender der
Sächsischen Missionskonferenz.
Quellen: Siegfried Störzner: „Welche Hei¬
matgedenktage bringt das Jahr 1938 der
Bischofswerdaer Pflege und ihrer Umgebung?“
Unsere Heimat, Beilage zum Sachs. Erzähler,
Nr. 1, 3.1.1938; Wilhelm Haan: „Sächsisches
Schriftsteller-Lexicon“. Robert Schaefers Verlag
Leipzig, 1875, S. 153-154; Reinhold Grünberg:
„Sächsisches Pfarrerbuch. Die Parochien und
Pfarrer der Ev.-luth. Landeskirche Sachsens
(1539-1939)“. Ernst Mauckisch Freiberg, 1940,
S. 410; Gabriele Hollborn (Weimar, Ururenke¬
lin); Franz Lau: „Herbergen der Christenheit“.
Evangelische Verlagsanstalt, 1980; Zeitschrift
für slavische Literatur, Kunst und Wissenschaft,
1862, S. 233; Jakub Wjacslawk: „Wendische
(sorbische) Bibliographie“. 1929; Walter J.
Rauch: „Presse und Volkstum der Lausitzer
Sorben“. Holzner, 1959; K. Jahn: „Auguste,
Großherzogin von Mecklenburg-Schwerin:
ein Lebensbild“. Ausg. 4, A. Hildebrand, 1865;
Erhard Hartstock: „Die sorbische nationale
Bewegung in der sächsischen Oberlausitz
1830-1848/49“. Domowina-Verlag, 1977; Neues
lausitzisches Magazin, Bd. 8, 1844, S. 127, Bd.
39, 1862, S. 391; Peter Kunze: „Sorbisches
Schulwesen: Dokumentation zum sorbischen
Elementarschulwesen in der sächsischen Ober¬
lausitz des 18./19. Jahrhunderts“. Domowina-
Verlag, 2002; Theodor Birnich: „Die Parochie
Klix“. Neue Sächsische Kirchengalerie, 1904;
Siegmund Musiat: „Sorbische/wendische Ver¬
eine 1716-1937“. Domowina-Verlag, 2001; Jan
Malink (Macica Serbska), Mitteilungen 2013;
Ernst Theodor Stöckhardt: „Stammtafel der
Familie Stoeckhardt, Putzkauer und Lauterba¬
cher Zweig“. Wagner Weimar, 1883; Leipziger
Zeitung, 4.7.1852; Deutsches Geschlechterbuch,
Bd. 143, C.A. Starke, 1967; Amts-Blatt der Re¬
gierung in Breslau, Bd. 54, 1863; Peter Kunze:
„Jan Arnost Smoler“. Bd. 10 von Schriften des
Sorbischen Instituts, Domowina-Verlag, 1995;
gedbas.genealogy.net; Kirchenarchiv Hoch-
kirch; Matrikelverzeichnisse Universität Leipzig
179
Christian Adolph Klotz, Kupferstich von Johannes Michael Stock, Deutsche
Fotothek, Lizenz: CC BY-SA.
Klotz, Christian Adolph
Professor in Göttingen und Halle
13.11.1738 Bischofswerda - 31.12.1771 Halle
V: Johann Christian (*5.3.1701 Höngeda bei Mühlhausen, 12.9.1776 Bischofswerda), 1725 Ma¬
gister der Philologie, 1727 Habilitation und Adjunkt der philosophischen Fakultät in Wittenberg,
1729 Archidiakonus, 1730 Heirat, 1738 Superintendent in Bischofswerda; M: Christiane Friede¬
rike geh. Auenmüller (*17.7.1709 Bischofswerda, 13.4.1774 Bischofswerda), Tochter von Gottlob
Auenmüller (Rechtskonsulent, 131.5.1735 als Bürgermeister von Bischofswerda) und Schwester
von Friedrich Gottlob Auenmüller (*1.11.1711 Bischofswerda, 113.7.1776 Braunsdorf, Inspektor
der Porzellanmanufaktur Meißen von 1740 bis 1764 zur Zeit von Heinrich von Brühl und Jo¬
hann Joachim Kandier, von Prinz Xaver entlassen); G: Christian August (besuchte das Gymna¬
sium Görlitz, studierte Jura), Christiana Carolina (heiratete am 11.10.1763 den Mittagsprediger
von St. Petri und Paul und Katecheten der Johannislcirche Christian Gottlob Bürger/113.7.1767
in Zittau), 1 Bruder und 2 Schwestern früh verstorben; E: 1763 Göttingen, Johanna Maria geh.
Sachse (* um 1740, Tochter eines Ratsapothekers); K: 1 Tochter (1 früh in Göttingen)
Klotz kam schon als Kind von drei
Jahren mit dem seinerzeit jugend¬
lichen Gotthold Ephraim Lessing
zusammen, als sich dieser bei einem
Verwandten, dem Putzkauer Pfarrer
Johann Gotthelf Lindner, aufhielt
und mit jenem den befreundeten
Vater Klotz in der Superintendentur
in Bischofswerda besuchte. Der Sohn
erhielt zuhause Privatunterricht und
besuchte kurzzeitig die Fürstenschule
St. Afra in Meißen.
1756 wechselte Klotz auf das
Görlitzer Gymnasium, wo ihn der
langjährige Rektor Friedrich
Christian Baumeister für die alten
Sprachen begeisterte. Bei diesem
Wechsel hatte wohl eine Rolle ge¬
spielt, dass sich Klotz“ Vater und der
Görlitzer Rektor aus ihrer Witten¬
berger Zeit vermutlich gut kannten.
Friedrich Christian Baumeister
wechselte 1729 zum Philosophie-
Studium nach Wittenberg, wo Johann
Christian Klotz von 1727 bis 1729 als
Adjunkt der philosophischen Fakultät
wirkte. In der Religion sympathisier¬
te Christian Adolph Klotz mit dem
Pietismus der Herrnhuter Brüderge¬
meine. 1757 verfasste er ein Gedicht
auf die Belagerung von Zittau („Thre-
nodia cineri Zittav“).
1758 bezog Klotz die Universität
Leipzig. Zu seinen Förderern zählten
der Strafrechtsreformer Karl Ferdi¬
nand Hommel und der Rektor und
Professor für Dichtkunst Carl Andre¬
as Bel. Auch bei dem Philologen und
Theologen Johann August Ernesti
nahm er Unterricht. Klotz verfasste
1758 seine philologische Dissertati¬
onen „Pro M. Tullio Cicerone adver-
sus Dionem Cassium et Plutarchum
dissertatio“ (in Görlitz mit Baumeister
bei Fickelscherer) und „Ad virum
doct. I. C. Reichelium epistola, qua
181
Bischofswerda im 18. Jahrhundert: Vor der Kirche (A) befand sich die Su-
perintendentur (N). Möglicherweise war dieses Gebäude sogar das Geburts¬
haus von Klotz. Später wirkte hier Gottlob Ernst Ottomar Baumeister, ein
Sohn des Görlitzer Rektors, den Klotz 1 Vater 1767/1768 nach Bischofswerda
zu seiner Unterstützung geholt hatte.
de quibusdam ad Homerum perti-
nentibus disputatur“. Er publizierte
Spottschriften auf die gelehrten Kreise
Leipzigs („Mores eruditorum“, „Geni¬
us seculi“), um dagegen selbst ano¬
nym zu polemisieren („Somnium in
quo, praeter cetera, genius seculi cum
moribus eruditorum vapulat“). Klotz
erlangte die gewünschte Aufmerk¬
samkeit. Mit streitbaren Rezensionen
sollte er sich in der Folgezeit viele
Gegner machen. Bekannt wurden vor
allem seine Streitschriften gegen den
niederländischen Philologen Pieter
Burmann den Jüngeren („Antibur-
mannus“, „Funus Petri Burmanni
Secundi“). Das Kriegsjahr 1760 ver¬
brachte Klotz in Bischofswerda.
1761 hielt Klotz Vorlesungen an der
Universität Jena über den römischen
Dichter Horaz, dem 1762 auch seine
Habilitation „De felici Horatii au-
dacia“ (gedruckt bei Fickelscherer
in Görlitz) galt. In Jena wirkte er
zudem als Sekretär der lateinischen
Gesellschaft. 1762 wurde er unter
Georg III., König von Großbritanni¬
en und Kurfürst von Hannover, zum
außerordentlichen und 1763 zum
ordentlichen Professor an der phi¬
losophischen Fakultät in Göttingen
berufen. Hier geriet er zunehmend
in Konkurrenz zu Christian Gottlob
Heyne, der statt Klotz die Professur
der Beredsamkeit und die Direktion
des philologischen Seminars erhielt.
182
1765 wechselte Klotz als Hofrat und
Professor für Philosophie und Be¬
redsamkeit nach Halle. Sein Schüler
Johann Georg Meusel folgte ihm.
Im selben Jahr kam der Historiker
Carl Renatus Hausen nach Halle, den
Klotz schon seit seiner Leipziger Zeit
kannte. In Halle förderte er Friedrich
Justus Riedel und freundete sich mit
dem Laubaner Gottlob Benedikt von
Schirach an. Zu seinen eifrigsten An¬
hängern zählten auch Johann Georg
Jacobi, später erster protestantischer
Professor in Freiburg, und der Dich¬
ter Gottfried August Bürger. Fried¬
rich der Große ernannte ihn zum
jüngsten preußischen Geheimrat,
als Klotz einen Ruf von Stanislaus II.
August Poniatowski nach Warschau
ablehnte. Die von ihm geforderte Mit-
Berufung von Carl Renatus Hausen
war zunächst bestätigt worden, doch
schließlich verzichtete Klotz selbst.
Später entzweiten sie sich, weil Klotz
Hausen zunehmend misstraute. Ab
1768 leitete Klotz auch die Universi¬
tätsbibliothek.
Klotz war seit 1763 Mitglied der
„Akademie der gemeinnützigen Wis¬
senschaften“ in Erfurt. Als der zustän¬
dige (katholische) Mainzer Erzbischof
Emmerich Joseph von Breidbach zu
Bürresheim Ende der 1760er Jahre die
in die Krise geratene Erfurter Univer¬
sität reformieren wollte, beauftragte
er damit den Protestanten Klotz. Der
holte neben Christoph Martin Wie¬
land und Friedrich Justus Riedel auch
den skandalumwitterten, ebenfalls in
Bischofswerda geborenen Karl Fried¬
rich Bahrdt (1769).
Klotz war Mitglied der Kaiserlichen
Königlichen Kupferstecher-Gesell¬
schaft zu Wien, der Kaiserlichen
Akademie zu Roveredo, der Kurfürst¬
lichen Mainzischen Akademie der
Wissenschaften, des historischen In¬
stituts zu Göttingen, der lateinischen
Gesellschaften zu Jena und Baden, der
Physikalisch-Ökonomischen Bienen-
gesellschaft in der Oberlausitz und
der deutschen Gesellschaft in Altdorf
sowie Kanonikus des Stifts Wurzen.
Er war vielseitig belesen und schrieb
zu den unterschiedlichsten Themen in
Literatur, Geschichte, Religion, Kunst
und Philologie. Klotz zählte zu den
bekanntesten Autoren der Epoche
von „Aufklärung“ und „Sturm und
Drang“. Er war rhetorisch begabt
und scharte mit seiner Eloquenz eine
breite Anhängerschaft um sich. Klotz
gab die seinerzeit bedeutenden litera¬
rischen Zeitschriften „Acta litteraria“,
„Deutsche Bibliothek der schönen
Wissenschaften“ und „Neue hallische
gelehrte Zeitungen“ heraus. Er gilt
zudem als der bedeutendste Dichter
in lateinischer Sprache seines Jahr¬
hunderts. In der posthum gedruckten
Sammlung „Briefe deutscher Gelehr¬
ten an den Herrn Geheimen Rath
Klotz“ wird deutlich, welch große
Anerkennung Klotz zeitweise genoss.
Mit seinem Ruhm wuchsen jedoch
auch der Anspruch von Klotz, sich zu
allen Themen seiner Zeit zu äußern,
183
Auszug aus dem Streit
mit Gotthold Ephraim
Lessing
Lessing schrieb in „Briefe antiqua¬
rischen Inhalts“ Bezug nehmend
darauf, dass Klotz Lessing in seinen
Rezensionen etwas ironisch immer
mit seinem Magistertitel nannte,
den Lessing nie verwandte: „Was
kann Herr Klotz damit, daß er
mich, der ich mich nie so nenne,
stets Herr Magister Lessing nennt,
anders wollen, als mir den Abstand,
der zwischen ihm als geheimen
Rath und mir als Magister Statt fin¬
det, recht fühlbar machen? Allein
ziemt es wohl dem Schmetterling,
so verächtlich auf die Raupe herab-
zublicken, aus der er sich bildete?
Denn ich wüßte in der That nicht,
aus welcher andern Ursache ihn
sein König zum geheimen Rath
gemacht habe, als weil er ihn für
einen guten Magister gehalten.
Auch ist es bloß der Magister,
mit dem ich es hier zu thun habe:
denn wenn Herr Klotz nicht auch
Magister wäre, so wüßte ich nicht,
was ich mit dem geheimen Rath
anfangen sollte; und wehe dem
Herrn geheimen Rath, wenn ihn
sein Magister im Stiche läßt!“
und seine Neigung, auch berühmte
Zeitgenossen kritisch zu hinterfra¬
gen. Vor allem Friedrich Nicolai
und dessen „Allgemeine deutsche
Bibliothek“ wurden zur Zielscheibe
von Klotz“ Kritik. Dessen Schrift
„Über das Studium des Alterthums“
erschien 1766, zwei Jahre nach dem
Grundlagenwerk der Altertums¬
wissenschaft „Geschichte der Kunst
des Altertums“ von Johann Joachim
Winckelmann. Es folgten kontrover¬
se Dispute zwischen Winckelmann,
Klotz, Lessing und Herder, was auch
bei Karl August Böttiger („Kleine
Schriften archäologischen und anti¬
quarischen Inhalts“) sichtbar wird.
Auf die Erarbeitung eines Buchs zur
Weltgeschichte verzichtete Klotz auf
Rat von Gotthold Ephraim Lessing
und schrieb dafür 1767/68 „Beytrag
zur Geschichte des Geschmacks
und der Kunst aus Münzen“ und
„Ueber den Nutzen und Gebrauch
der alten geschnittenen Steine und
ihrer Abdrücke“. Klotz widmete sich
verstärkt der bildenden Kunst und
hielt Kontakt zur 1764 gegründeten
Dresdner Kunstakademie, insbeson¬
dere zu Christian Ludwig von Hage¬
dorn und Giovanni Battista Casanova.
Der Dichter Johann Wilhelm Ludwig
Gleim war ihm wohlgesonnen.
Von Berühmtheiten wie Lessing und
Johann Gottfried Herder wurde Klotz
in den letzten Jahren wegen man¬
cher Oberflächlichkeiten in seinen
Schriften vernichtend diskreditiert.
Sie reagierten damit auch auf dessen
kritische Rezensionen. In „Laokoon
oder über die Grenzen der Mahle-
rey und Poesie“ (1766) hatte Lessing
versucht, bildende Kunst und Litera-
184
tur als grundsätzlich verschieden, als
die Behandlung von Gegenständen
versus Handlungen darzustellen.
Dies stand im Gegensatz zu Johann
Joachim Winckelmann und Horaz
(„ut pictura poesis“, „ein Gedicht ist
wie ein Gemälde“). Als Klotz ihn in
„Ueber den Nutzen und Gebrauch der
alten geschnittenen Steine und ihrer
Abdrücke“ (1768) kritisierte, erzürn¬
te dies Lessing derart, dass er Klotz
in der Folgezeit wiederholt angriff.
Neben inhaltlichen Aspekten spielten
allerdings auch subjektive Faktoren
eine Rolle. Lessings Freund Friedrich
Nicolai stand mit der „Allgemeinen
deutschen Bibliothek“ in direkter
Konkurrenz zu Klotz, und Lessing
selbst war nach dem Scheitern seines
Projekts „Hamburger Dramaturgie“
unter Druck. Klotz sah in Lessings
Argumenten sophistisches Diskutie¬
ren über Kleinigkeiten - und nannte
ihn betont „Magister Lessing“ Der
Streit zwischen Lessing und Klotz
nahm teils skurrile Züge an. Wenn
sich jemand Lessing als Verbünde¬
ten sichern wollte, so der ehemalige
Günstling von Heinrich von Brühl
und Leiter des Kupferstichkabinetts
Carl Heinrich von Heinecken in
seinem Streit mit Christian Ludwig
von Hagedorn, musste er nur seinen
eigenen Gegner als Freund von Klotz
darstellen. Johann Eleazar Zeissig
stellte den Streit zwischen Lessing
und Klotz bildlich dar (S. 396).
Missgunst und verletzte Eitelkeiten
seiner Konkurrenten sowie eigene
Streitlust ebneten den Weg zu einer
weitgehenden Isolierung von Klotz
am Ende seines kurzen Lebens. Dies
verstellte lange den Blick auf seine
Leistungen. Klotz hatte das Denken
seiner Zeit mitbestimmt und Interesse
an Literatur und Geschichte geweckt.
Quellen: Conrad Bursian: „Klotz, Christian
Adolph“. Allgemeine Deutsche Biographie,
Bd. 16, Duncker & Humblot, Leipzig 1882, S.
228-231; Carl Renatus Hausen: „Leben und
Charakter Herrn Christian Adolph Klotzens“.
Hemmerde Halle, 1772; „Gotth. Ephr. Lessings
sämmtliche Werke“. Karlsruhe, 1825; Karl
Wilhelm Mittag: „Chronik der königlich säch¬
sischen Stadt Bischofswerda“. Friedrich May,
Bischofswerda, 1861; Herbert Jaumann: „Hand¬
buch Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit“. Bd.
1, Walter de Gruyter, 2004, S. 370-371; Johann
Gottfried Herder: „Kritische Wälder oder
Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst
des Schönen betreffend, nach Maßgabe neuerer
Schriften“. Herders Sämmtliche Werke, Bd. 3,
Berlin 1878; Manfred Beetz, Hans-Joachim
Kertscher: „Anakreontische Aufklärung“. Bd. 28
von Hallesche Beiträge zur Europäischen Auf¬
klärung, Walter de Gruyter, 2005; „Fortsetzung
und Ergänzungen zu Christian Gottlieb Joechers
allgemeinem Gelehrten-Lexicon“. 1810; Christi¬
an Adolph Pescheck: „Handbuch der Geschichte
von Zittau“. Bd. 2, 1837; Friedrich Christian
Baumeister: „Verzeichniß aller derjenigen Studi-
renden, so unter meiner Rectorats-Verwaltung
von Ao. 1736 bis 1785 in Prima Classe des
Görlitzischen Gymnasii sich als Zuhörer befun¬
den haben“. Fickelscherer Görlitz; Lausitzisches
Magazin, 1774; Jan Philipp Reemtsma: „Lessing
in Hamburg: 1766-1770“. C.H.Beck, 2007; Le¬
ben und Wirken der vorzüglichsten lateinischen
Dichter des XV. - XVIII. Jahrhunderts, sammt
metrischer Uebersetzung ihrer besten Gedichte,
beigefügtem Originaltexte, und den nöthigen
Erläuterungen“. J. B. Wallishausser, 1828; Rainer
Rückert: „Biographische Daten der Meissener
Manufakturisten des 18. Jahrhunderts“. Baye¬
risches Nationalmuseum, 1990; „Historisches
Taschenbuch“. Brockhaus 1850
185
Langner, Norbert
Diplomfischwirt
08.05.1940 Attendorf/ Schlesien - 30.09.2010 Königswartha
Norbert Langner besuchte von 1954
bis 1958 die Erweiterte Oberschu¬
le in Schulpforte und studierte von
1960 bis 1964 an der Humboldt-
Universität Berlin Fischwirtschaft.
Bei Wilhelm Schäperclaus hörte er
Vorlesungen zu Fischkrankheiten und
Karpfenteichwirtschaft. Nach dem
Abschluss des Studiums war er bis
1967 im VEB Binnenfischerei Dres¬
den tätig. Danach kam Langner in die
Oberlausitz und wirkte bis 1990 als
Produktionsleiter im VEB Binnenfi¬
scherei Königswartha und bis 1991
als Mitarbeiter der Geschäftsführung
im Treuhandbetrieb. Ab 1992 bis zu
seinem Eintritt in den Ruhestand im
Jahre 2005 war er als Fischereireferent
bei der Sächsischen Landesanstalt für
Landwirtschaft maßgeblich an der
Weiterentwicklung der Oberlausitzer
Teichwirtschaft beteiligt. In dieser
Funktion lehrte Langner auch an der
Fischereischule Königswartha. Er hat
wesentlich dazu beigetragen, dass in
Königswartha, einmalig in Deutsch¬
land, Lehre, Forschung und Praxis der
Teichwirtschaft eine Einheit bilden.
Norbert Langner hat sich große
Verdienste um die naturverträgliche
Entwicklung der Karpfenteichwirt¬
schaft im Umfeld des Oberlausitzer
Biosphärenreservats erworben. Zur
Optimierung des Fütterungsregimes
von Karpfen konnte er beitragen,
indem er eine große Menge von
Rohdaten statistisch auswertete
und dadurch Tendenzen der Futter¬
aufnahme in der Wachstumsphase
sichtbar machte. Seine langjährigen
praktischen Kenntnisse publizierte
er in vielen Arbeiten und verbreitete
sie zudem im Rahmen von Fortbil¬
dungstagen für Haupterwerbsbetriebe
der Karpfen- und Forellenprodukti¬
on. Für die Sächsische Landesanstalt
für Landwirtschaft entstand eine
über 100-seitige Dokumentation zu
den biologischen, rechtlichen und
wirtschaftlichen Grundlagen der
Teichwirtschaft. Diese Arbeit stellt
Aufzuchtverfahren, B ewirts chaftungs -
maßnahmen und Fischbesatz im Zu¬
sammenhang mit einer ganzheitlichen
Betrachtung des Lebensraums „Teich“
vor. Auch zu anderen Themengebie¬
ten konnte er wesentliche Beiträge
liefern, so zum „Atlas der Farn- und
Samenpflanzen Sachsens“ (2000) und
für „Die Libellenfauna Sachsens“
(2005). Eine von Langner erstellte
Übersicht über die sächsischen Teiche
in Haupterwerbsbetrieben und ihre
Größen diente 2008/2009 als Kartie¬
rungsgrundlage des Monitoringpro¬
gramms für den Fischotter in Sach¬
sen. Zudem hat er sich mit eigenen
Beobachtungen zu Fischottervorkom¬
men an diesem Programm beteiligt.
187
Norbert Langner hat die Schönheit
und Schutzwürdigkeit der Oberlausit¬
zer Heide- und Teichlandschaft einer
breiten Öffentlichkeit zugänglich ge¬
macht. Er leitete eine Vielzahl von Ex¬
kursionen, z. B. im Rahmen jährlicher
Frühlingsspaziergänge unter Schirm¬
herrschaft des sächsischen Ministeri¬
ums für Umwelt und Landwirtschaft
und für den Landesverein Sächsi¬
scher Heimatschutz. Auch nach dem
Eintritt in den Ruhestand unterstützte
er mit seinen Erfahrungen seinen
Sohn Frank, der seit 1992 die Teich¬
wirtschaft Langner, bestehend aus
den Teichgruppen Entenschenke und
Commerau, führt. Über viele Jahre
engagierte sich Norbert Langner als
Kirchenvorstand. Die Kirchgemeinde
Königswartha war in die Christliche
Friedenskonferenz korporiert und
Langner gehörte zu den Mitarbeitern
des Ökumenischen Basisseminars um
Jan Laser. Er war zudem im Königs-
warthaer Geschichtsverein aktiv und
er hielt die Schönheit der umhegen¬
den Oberlausitzer Kulturlandschaft
in Bildern fest. Zwei Tage vor der
Eröffnung seiner Foto-Ausstellung
„Königswarthaer Teichgesichter“ ist
Norbert Langner verstorben. Er hin-
terließ seine Ehefrau Annemarie, eine
Tochter und zwei Söhne.
Quellen: http://www.sz-trauer.de/; Nachruf Königswarthaer Geschichtsverein RAK e.V.; M.
Pfeifer & G. Füllner: „Möglichkeiten der Futtereinsparung bei der Karpfenproduktion“. Fischer
& Angler in Sachsen, 2010, S. 69 ff.; http://www.smul.sachsen.de/; http://www.teichwirtschaft-
langner.de/; Mitteilungen von Frank Langner, 25.10.2012, und Annemarie Langner, 24.11.2012;
Kareen Seiche: „Monitoringprogramm für den Fischotter im Freistaat Sachsen im Winter
2008/2009“. Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie, Referat Fischerei Königswar¬
tha; Gert Füllner: „Norbert Langner verstorben“. Fischer & Teichwirt 11/2010
Bibliografie
& R Dyhrenfurth: „Analyse der Satz¬
karpfenproduktion im VEB Binnenfi¬
scherei Dresden“. Deutsche Fischerei-
Zeitung, Neumann Radebeul, H. 12,
1965
„Intensivierung in den Lausitzer
Teichen und die Vogelwelt“. Abhand¬
lungen Ber. des Naturkundemuseums
Görlitz, 1977, S. 21-22
„Triops und Limnadia - zwei seltene
Arten niederer Krebse in den Teichen
der Oberlausitz“. Natura lusatica, 1985
„Die Fische des Kreises Bautzen“. Na¬
tura lusatica, H. 10, 1988, S. 29-41 (mit
Zitaten von Gerhard Creutz, Bruno
Steglich und Frank Fiedler)
„Betrachtungen zum Oberlausitzer
Teichgebiet vom Standpunkt des Teich¬
wirts“. Ber. der Naturforschenden Ges.
der Oberlausitz, Bd. 2, 1993, S. 29-33
& G. Füllner: „War 1992 der „Jahrhun¬
dertsommer“ für die Teichwirtschaft?“
Fischer & Teichwirt, Bd. 44, H. 1, 1993,
S. 11-13
& G. Füllner: „Zahlen zur Binnenfi¬
scherei im Freistaat Sachsen“. Info¬
dienst für Beratung und Schule der
Sächsischen Agrarverwaltung, 1995,
1997, 1998, 2004
& G. Füllner, M. Pfeifer: „Karpfen¬
teichwirtschaft. Bewirtschaftung von
Karpfenteichen. Gute fachliche Praxis“.
Sächsische Landesanstalt für Landwirt¬
schaft, 2007
188
Impressionen vom Frühlingsspaziergang in
Königswartha mit Norbert Langner am 2. Mai 2004
Die Fischteiche bei Regenwetter. Der Dichter Gottfried Unterdörfer
beschrieb in seinem Tagebuch gefühlvoll die Teichlandschaft, die auch bei
Regen schön ist, wenn man es sehen will, den Glanz auf den Kiefernstäm¬
men und die leisen, tröstlichen Töne (9.1.1992).
Links: Schon mit geringer Vergrößerung wird deutlich, wie viel Leben und
damit welch großes Nahrungsangebot für die Fische im Teichwasser zu fin¬
den ist. Rechts: Das Raseneisenerz war als Grundstoff für die Eisenverhüt¬
tung einstmals ein bedeutender Wirtschaftsfaktor in der Oberlausitz. Sein
Abbau hat wesentlich zur heutigen Gestalt des Teichgebiets beigetragen.
189
Gedenkstein mit Porträtrelief unweit der Riedelmühle in Waldbärenburg.
Lehmann, Julius Alexander
Professor, Nestor des landwirtschaftlichen Versuchswesens in der Oberlausitz
04.07.1825 Dresden - 12.01.1894 Dresden
V: Johann Gottlob (*28.10.1786 Kötzschenbroda, t um 1866), 1839-1852 Freimaurer-Loge
„Zum goldenen Apfel“, Feuerlöschdirektor in Dresden; M: Christiane Frederike geh. Einenkel
(*29.6.1790 Dresden, tl868); G: Heinrich Edmund (Landbauinspektor und Baumeister, bis 1864
in Dresden, danach Leitung der Restaurierung der Albrechtsburg Meißen); E: 1866 Hochkirch,
Marie Emilie geh. Richter (*28.11.1843 Elstra); K: Amalie Johanna verh. Herrmann
Lehmann studierte ab 1848 in Jena
und ab 1849 in Gießen bei Justus
von Liebig. In seiner Dissertation
von 1851 zum Dr. phil. behandelte er
Kaffee aus chemisch-physiologischer
Sicht. In „Virchows Archiv für patho¬
logische Anatomie und Physiologie
und für klinische Medizin“ von 1857
wurden die Umsicht und Ausdau¬
er seiner Untersuchungen gelobt.
Anschließend arbeitete Lehmann in
Freiberger und Pariser Laboratorien.
1854 wechselte Lehmann als Oberleh¬
rer nach Dresden an das Vitzthum-
Blochmannsche-Gymnasium. Es
ging auf eine 1824 von Karl Justus
Blochmann gegründete Privatschu¬
le zurück, die 1828 mit der Stiftung
von Rudolph Vitzthum von Apol¬
da verbunden wurde. Karl Justus
Blochmann, der wie sein Bruder
Heinrich August Blochmann am
Bautzener Gymnasium bei Ludwig
Gedike gelernt hatte, führte hier
einen fundierten naturwissenschaft¬
lichen Unterricht ein. Zum Lehr¬
körper gehörte vormals auch Julius
Adolph Stöckhardt. Lehmann lehrte
Chemie, Mineralogie, Zoologie und
Naturgeschichte in Gymnasial-,
Progymnasial- und Realklassen. Im
Schulprogramm von 1855 publizierte
er „Allgemeine Betrachtungen über
die Pilze, und chemische Beiträge
zur näheren Kenntniss derselben“.
Die Schulschriften wurden bei einem
weiteren Bruder von Blochmann,
Ernst Ehrenfried, und später bei des¬
sen Sohn Heinrich Wilhelm Clemens
Blochmann gedruckt. Direktor war
inzwischen Georg Bezzenberger,
ein Schwiegersohn von Karl Justus
Blochmann, der selbst noch Religion
unterrichtete. Zur Durchführung
von chemischen Elementaranalysen
entwickelte Lehmann einen gasbetrie¬
benen, kostengünstigen Heizapparat
auf der Grundlage von 12 Bunsen-
Lampen. Er führte die Arbeiten an
der Polytechnischen Schule durch
und publizierte sie 1857 in den „An¬
nalen der Chemie und Pharmacie“
von Justus von Liebig. Zu Lehmanns
Schülern gehörte Hans Hübner, der
als Professor für Chemie in Göttingen
Gustav Loges examinierte, der spä¬
ter einer von Lehmanns Nachfolgern
in Pommritz werden sollte.
191
Das v. Vitzthum-Blochmanrfsche Gymnasial-Erziehungshaus, gezeichnet
von Emst Ferdinand Oehme, in Stahl gestochen von J. Fleischmann, um
1830, Lizenz: Deutsche Fotothek CC BY-SA.
1857 erhielt Lehmann die Berufung
als Vorstand der landwirtschaftlichen
Versuchsstation im Rittergut Weidlitz
von Paul Hermann. Wesentlichen
Einfluss besaß vermutlich Liebigs
Empfehlung an Theodor Reuning.
Alternativ hatte sich Lehmann von
Liebig Unterstützung für seine
Bewerbung zum sächsischen Apo¬
thekenvisitator erbeten. Lehmanns
Aufgabe in Weidlitz bestand darin,
naturwissenschaftliche Erkenntnisse,
vor allem der Agrikulturchemie, für
die Landwirtschaft der Oberlausitz
nutzbar zu machen. Zur Wissens¬
vermittlung hielt er Vorträge vor
dem landwirtschaftlichen Verein.
Lehmann verfügte in Weidlitz über
ein Laboratorium und ein Gewächs¬
haus sowie in Pannewitz über einen
Versuchsstall. Für das Laboratorium
richtete er mit der Hilfe von Rudolf
Sigismund Blochmann eine kleine
Gasanstalt ein. Lehmanns erster
Assistent war Conrad Wicke, dem
Dr. Stößner folgte. Für das sächsische
Innenministerium entwickelte er
hier eine Methode, Mehl aus ausge¬
wachsenem Roggen mittels Kochsalz
zu einem lange haltbaren Brot zu
backen. Lehmann wies für Brot mit
Salzzusatz eine geringere Schimmel¬
bildung nach. Die Versuche wurden
zunächst in der Bäckerei Techritz und
dann in der Militärbäckerei Dresden
durchgeführt. Zudem untersuchte
Lehmann in Weidlitz Pflanzendünger
und Futtermittel auf ihren Nährstoff¬
gehalt. 1858 gründeten Lehmann und
Hermann in Verbindung mit Ernst
Theodor Stöckhardt und Julius
Adolph Stöckhardt die Zeitschrift
„Die Landwirtschaftlichen Versuchs-
Stationen“, die sich der Verbindung
von landwirtschaftlicher Praxis und
naturwissenschaftlichen Grundlagen
widmete.
Die Arbeit der Versuchsstation
Weidlitz hatte sich trotz ungünstiger
Verkehrslage grundsätzlich bewährt,
sodass der bis 1862 laufende Kon¬
trakt um 6 Jahre verlängert werden
sollte, als Hermann starb. Zwei Jahre
192
nach dessen Tod erfolgte 1864 die
Verlegung nach Pommritz, wofür das
dortige Rittergut durch die Landstän¬
dische Bank der Oberlausitz von den
Erben des Carl Friedrich Wilhelm
von Zenker für 93000 Taler erworben
wurde. Die Arbeit der Versuchsstation
Pommritz war anfangs in das Ritter¬
gut integriert. 1864 wurde Lehmann
zum Professor ernannt. Seine
Assistenten waren Johann Seyffert,
dann Gerdemann und Kästner und
schließlich Arthur Petermann und
Hugo Weiske. Angebote aus München
(1864) und den USA (1865) lehnte er
ab. Insgesamt publizierte Lehmann
in den 10 Jahren als Vorstand von
Weidlitz und Pommritz 57 Schrif¬
ten, darunter zum Nährstoffgehalt
von Futterstoffen, zur Düngung und
Analysen zu den Inhaltsstoffen von
Milch. Auf ihn gehen die ersten wis¬
senschaftlichen Versuche mit Fleisch¬
futtermehl bei Schweinen zurück. Als
Futtermittelzusatz entwickelte er eine
Salzmischung aus phosphorsaurem
Natron und Chlorkalium. Lehmann
führte zudem Qualitätsprüfungen von
Auf Initiative des Geheimen Regierungsrates Theodor Reuning und des
Rittergutsbesitzers Paul Hermann wurde 1857 durch den landwirtschaft¬
lichen Kreisverein Bautzen auf dem Rittergut Weidlitz eine der ersten land¬
wirtschaftlichen Versuchsstationen Deutschlands eingerichtet. Lehmann
war deren wissenschaftlicher Leiter, Hermann stand dem Kuratorium vor.
193
Die landwirtschaftliche Versuchs¬
station in Pommritz.
Düngern und Futtermitteln durch.
Seine letzte Schrift, ein Gutachten im
Auftrag des sächsischen Finanzminis¬
teriums, galt umweltbedingten Verun¬
reinigungen (durch Hüttenrauch) von
Futtermitteln und deren Wirkungen
auf den tierischen Organismus. In
den folgenden fünf Jahrzehnten führ¬
ten in Pommritz Eduard Heiden
und Gustav Loges die von Lehmann
begründete agrikulturchemische
Tradition fort.
1867 erhielt Lehmann den Ruf als
Professor an die landwirtschaftliche
Akademie in Proskau/Oberschlesi-
en. 1869 wurde er auf Empfehlung
von Justus von Liebig, seit 1852 an
der Ludwig-Maximilians- Universität
München, zum Vorstand der zent¬
ralen Versuchsstation des landwirt¬
schaftlichen Vereins Bayerns beru¬
fen. Auch in München untersuchte
Lehmann Pflanzen- und Tierernäh¬
rung. Er führte Soja als Futterpflanze
ein. 1872 wurde die Versuchsstation
als landwirtschaftliche Abteilung in
die 1868 gegründete Polytechnische
Schule, die heutige TU München,
integriert. 1873 starb Justus von
Liebig. Lehmann lehrte bis zu seiner
krankheitsbedingten Emeritierung als
Professor für Agrikulturchemie.
1879 kehrte Lehmann nach Dresden
zurück. Er trat hier der Naturwis¬
senschaftlichen Gesellschaft ISIS bei.
Mitglieder zur Zeit Lehmanns waren
Walther Hempel, Edmund Fried¬
rich und Heinrich Wilhelm Clemens
Blochmann, den er schon seit seiner
Zeit als Lehrer am Gymnasium kann¬
te, sowie viele bekannte Wissenschaft¬
ler wie Oscar Drude, Hanns Bruno
Geinitz und Gustav Anton Zeuner.
Nach 1890 führten Lehmann und
Walther Hesse milchwirtschaftli-
che Untersuchungen im Labor von
Walther Hempel durch. Lehmann
verglich die chemische Natur von
Muttermilch und Kuhmilch, um diese
durch geeignete Zusätze besser für
die Säuglingsernährung nutzbar zu
machen. Seine Ideen wurden später
von Hempel und Hesse verwertet.
Lehmann war eng mit Kipsdorf und
dem oberen Weißeritztal verbun¬
den, für dessen Erschließung er sich
engagierte. Er verbrachte viel Zeit im
Julius-Alexander-Haus in Waldbä¬
renburg. Nach seinem Tod widmete
ihm der „Verschönerungsverein
zu Kipsdorf, Bärenfels und Bären¬
burg“ unweit der Riedelmühle einen
Gedenkstein mit einem Porträtrelief.
Das originale Relief fiel im Zweiten
Weltkrieg der Rüstungsindustrie zum
Opfer, wurde aber inzwischen auf Ini-
194
Das Julius-Alexander-Haus Waldbärenburg (nach 1900).
tiative einer Urenkelin Lehmanns aus
München und des Vereins „Freundes¬
kreis Kurort Oberbärenburg“ origi¬
nalgetreu wiederhergestellt.
Quellen: Meyers Konversations-Lexikon, Bd.
12, 1908, S. 331-333; „Ueber das Verbacken
des Mehls aus ausgewachsenem Getreide“.
Polytechnisches Journal, 1859, Nr. LXXVI., S.
309-311; Walther Hempel: „Die Milchunter¬
suchungen Professor Dr. Julius Lehmanns“.
Pflügers Archiv, Nr. 10-12, 1894, S. 558-578;
Tina König: „Entwicklung der Ernährungsfor¬
schung beim Schwein (bis 1930)“. Dissertation
Tierärztliche ttochschule Hannover, 2004;
Joseph Stewart Fruton: „Contrasts in Scien¬
tific Style: Research Groups in the Chemical
and Biochemical Sciences“. Memoirs of the
American Philosophical Soc., Bd. 191, 1990;
Friedrich Nobbe: „Statistische Revue über den
Bestand des land- und forstwirthschaftlichen
Versuchswesens nach 25-jähriger Entwicklung“,
„Die gegenwärtig in Deutschland thätigen
landwirtschaftlichen Versuchsstationen“.
Die landwirtschaftlichen Versuchsstationen,
Schönfeld, 1877, S. 176-195, 1863, S. 223 ff.;
Walter von Boetticher: „Die Geschichte des
Oberlausitzschen Adels und seiner Güter“.
Bd. 3, Oberlößnitz 1919; Neill Busse: „Der
Meister und seine Schüler: Das Netzwerk Justus
Liebigs und seiner Studenten“. Georg Olms
Verlag, 2015; William Shurtleff; Akiko Aoyagi:
„History of Soybeans and Soyfoods in Eastern
Europe (Including All of Russia) (1783-2015):
Extensively Annotated Bibliography and Sour-
cebook“. Soyinfo Center, 28.10.2015; Website
TU München; Register der Eheschließungen,
Kirchgemeinde Hochkirch; Polytechnisches
Centralblatt, 15. Mai 1857; Friedrich Christian
Paldamus: „Blochmann, Karl Justus“. Allge¬
meine Deutsche Biographie, Bd. 2, 1875, S.
709-711; Sitzungsberichte und Abhandlungen
der Naturwissenschaftlichen Gesellschaft Isis,
1886; Peter Salzmann: „Neues Relief über
verwitterter Inschrift“. SZ Dippoldiswalde,
15.2.2011; Eduard Heiden: „Denkschrift zur
Feier des fünfundzwanzigjährigen Bestehens
der agricultur-chemischen Versuchsstation
Pommritz“, Adressbücher Dresden; myheri-
tage.de; Angelika Lasius: „Wandmalereien der
Albrechtsburg Meissen: Historienbilder des 19.
Jahrhunderts“. Edition Leipzig, 2000
195
Adolf Lier war ein führender Landschaftsmaler seiner Zeit und ein Weg¬
bereiter der Freilichtmalerei in München. Erst Jahre später konnte sich die
Freilichtmalerei mit der Unterstützung des Dresdner Anzeigers (vgl. Leon¬
hard Lier) auch in Dresden durchsetzen. Viele seiner Bilder befanden sich
in Privatbesitz, so in der Familie (Rosalie Lier, München; Adolf Leonhard
Lier; Oscar Lier, Apotheker Kinne, Herrnhut; Hermann Lier, Martha Lier,
Berlin) und in der Oberlausitz (Graf von Einsiedel auf Reibersdorf; Walter
von Boetticher). In Dachau ist heute eine Straße nach Adolf Lier benannt,
und in Herrnhut erinnert das Heimatmuseum an ihn.
Lier, Heinrich Adolf
Professor, Landschaftsmaler
21.05.1826 Herrnhut - 30.09.1882 Vahrn bei Brixen
V: August Ludwig (1779-1847), Goldschmied, Inhaber einer Kolonialwarenhandlung; M: Chris¬
tiane Sophie (*1789 Herrnhut, 11863); G: Louise (heiratete 1846 den Apotheker Otto Bernhard
Kinne), Hermann Gustav (übernahm 1854 das Familiengeschäft); E: September 1858 München,
Rosalie geh. Hofmann (Kinderpflegerin der späteren bayerischen Könige Ludwig und Otto); K:
1 Adoptivtochter, Pauline Hofmann (*1871 Glasgow, t nach 1928, Tochter von Liers Schwager
Peter Hofmann, Mitbesitzer einer Lithographieanstalt, Pianistin, verh. Mennacher)
Schon als Kind begeisterte sich Lier
für das Zeichnen und illustrierte seine
Schulbücher. Mit 11 Jahren wurde
er auf die Knabenerziehungsanstalt
der Herrnhuter Brüdergemeine nach
Niesky geschickt. Auch hier fanden
seine Zeichnungen nicht immer
ungeteilten Beifall ob der Orte, wo er
sie anbrachte. Noch verstärkt wur¬
de seine Neigung zur Kunst durch
Besuche bei einer Tante in Dresden.
Stundenlang verweilte Lier in der Ge¬
mäldegalerie, tief beeindruckt wollte
er selbst Maler werden. Seinen Vater
konnte er davon aber nicht überzeu¬
gen, denn der machte sich Sorgen um
die finanzielle Zukunft des Sohnes.
Lier wurde 1840 auf die Baugewer¬
kenschule in Zittau geschickt, wo er
auch das Maurerhandwerk erlern¬
te. Ein Arbeitsunfall beim Bau des
Rathauses hätte ihn fast das Leben
gekostet. 1844 wechselte er auf die
Dresdner Baugewerkenschule unter
Gustav Heine, die lose der Techni¬
schen Bildungsanstalt angegliedert
war. Sie wurde später abgetrennt
(1873) und als Ingenieurschule der
Zittauer Einrichtung unterstellt (nach
1945). Als Lier 1846 bei einer aka¬
demischen Kunstausstellung für den
„Entwurf zu einem herrschaftlichen,
an einem Strom gelegenen Wohnge¬
bäude“ mit einer kleinen silbernen
Medaille ausgezeichnet wurde, fand
er Aufnahme im Atelier von Gott¬
fried Semper an der Kunstakademie
und der Weg zum Architekten schien
vorgezeichnet. Kurz nach dem Tod
seines Vaters im Jahre 1847 erhielt
Lier das Angebot, in Basel unter
Leitung von Melchior Berri am dor¬
tigen Museumsbau mitzuwirken. Zu
seinen Pflichten gehörte der Entwurf
der Decken. In Basel begeisterte sich
Lier für die Revolution. Er schloss
sich Friedrich Hecker auf dessen
bewaffnetem Freischaarenzug an, um
in Karlsruhe die badische Regierung
zu stürzen. Nach der Niederlage der
Revolution entdeckte Lier seine Liebe
zur Malerei wieder, wobei er von Carl
Adolf Mende und Karl Eduard Süffert
unterstützt wurde, der ihn 1849 nach
München empfahl. Hier lernte Lier an
der Privatschule von Johann Baptist
Berdelle Köpfe und Akte zeichnen.
Entscheidende Anregungen vermit-
197
„Am Starnberger See bei heran¬
ziehendem Gewitter“: Zum bevor¬
zugten Motiv Liers wurde nicht das
Hochgebirge selbst, sondern häutig
die flache Ebene davor mit den Ber¬
gen im Hintergrund,
telte ihm der aus Zittau stammende
Richard Zimmermann. Der Schüler
von Ludwig Richter malte genre¬
haft staffierte Landschaften. Auch
Liers Bilder waren später lange reich
staffiert, mit einem Pfarrer mit rotem
Regenschirm, oder auch mit Schafen,
Weidevieh und Hochwild. 1852 ent¬
stand als Geschenk für seine Mutter
Liers erstes Ölbild, die „Partie bei
Brixen“. Im Jahre 1853 war er erstmals
auf einer Dresdner akademischen
Kunstausstellung als Maler vertreten
(„Hohlweg im Walde“, „Heranziehen¬
des Regenwetter“). Zum Ende die¬
ser Phase des Suchens und Lernens
wurde Liers Malstil zunehmend von
Eduard Schleich und Carl Spitzweg
beeinflusst. Mit seiner „Dorfpartie bei
Habach“ für den Münchener Kunst¬
verein gelang ihm 1855 der künst¬
lerische Durchbruch. Lier liebte die
Alpen und die oberbayerischen Seen,
die er in vielen Bildern in spätroman¬
tischer Manier malte. Häufig hielt er
sich in den Malerkolonien auf der
Fraueninsel im Chiemsee um Max
Haushofer und Christian Rüben und
in Brannenburg auf. Es entstanden
Gemälde wie „Abendstimmung am
Starnberger See“, „Landschaft aus
der Umgebung von Dachau“ und
„Vom Frauenchiemsee“. 1861 un¬
ternahm Lier eine erste, kurze Reise
nach Frankreich, 1864 reiste er ein
zweites Mal nach Paris. Unter dem
Einfluss der dortigen Meister der
Landschaftsmalerei um Jules Dupre
malte Lier Stimmungslandschaften.
Man lehrte ihn hier einen ganz neuen
Blick auf die Natur, die Intimität der
Empfindung und eine Natürlichkeit
des malerischen Ausdrucks („Pay¬
sage intime“). Im Louvre studierte
und kopierte er die alten Meister. Mit
Dupre reiste Lier nach Isle-Adam an
der Oise. Die spätere Heimreise von
England führte ihn nochmals kurz
nach Herrnhut. Lier hatte bei Dupre
gelernt, die Natur durch ihre schlichte
Einfachheit wirken zu lassen. Dies
sollte auch seine eigene, koloristi¬
sche Schule der Landschaftsmalerei
in München prägen. Davon zeugten
zuerst „Die Oise in der Gegend von
Paris im Mondschein“ (Gemälde¬
galerie Dresden) und die „Partie an
der Elbe bei Pillnitz“. 1867 erhielt
er auf der Pariser Weltausstellung
für die „Dorfgasse in England bei
Mondschein mit heimkehrender
Schafherde“ eine Goldmedaille. Die
Kunstakademie Dresden wählte Lier
1868 zum Ehrenmitglied. Auf der in¬
ternationalen Kunstausstellung 1869
198
Liers letztes Motiv war die Theresienwiese mit der Bavaria, die er 1882 in
drei Varianten malte. Repro: Cybershot800i (Wikimedia Commons).
in München zeigte er mit großem
Erfolg „Vier Tageszeiten“ und „Isarge¬
gend bei München“. Lier hatte seinen
künstlerischen Höhepunkt erreicht
und gehörte jetzt zu den gesuchtesten
Malern. Im gleichen Jahr eröffnete er
in München eine private Malschule,
die er bis 1873 erfolgreich führte. Der
in Dresden geborene Hermann Baisch
war einer seiner bedeutendsten Schü¬
ler. Liers „Vier Jahreszeiten“ und eine
„Landstraße bei München im Regen“
wurden auf der Wiener Weltausstel¬
lung 1873 mit einer Kunstmedaille
ausgezeichnet. Ungeachtet beginnen¬
der gesundheitlicher Probleme war er
wieder freischaffend tätig und reiste
nach Holland („Am Strand von Sche¬
veningen“) und 1876 nach Schottland,
wo die Liers die älteste Tochter des
verstorbenen Schwagers in Pflege
nahmen. Die Münchener Akademie
wählte ihn 1877 zum Mitglied und
ernannte ihn 1881 zum Professor. Lier
malte häufig Mondschein-, Nebel-
und Regenstimmungen. Auch wenn
er sich in seinen letzten Jahren etwas
zurückzog, gehören gerade Gemälde
aus dieser Zeit zu seinen bekanntesten
Werken, wie der „Abend an der Isar“
(Nationalgalerie Berlin), der „Son¬
nenuntergang an der schottischen
Küste“ (Museum Stuttgart) und „Die
Theresienwiese mit der Bavaria bei
Abendlicht“ (Pinakothek München).
Die Städtischen Sammlungen Gör¬
litz besitzen drei Werke von Lier, das
Stadtmuseum Bautzen „Am Kanal“
und „Abendlandschaff am See“.
Quellen: Artikel von Hermann Arthur Lier in:
Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 18, 1883, S.
631-636 und Sigfried Asche in: Neue Deutsche Bio¬
graphie, Bd. 14, 1985, S. 535 f.; Friedrich von Boetti-
cher: „Malerwerke des neunzehnten Jahrhunderts“.
1891, S. 867-871; Theodor Mennacher: „Adolf Lier
und sein Werk“. Piloty 8c Loehnle, München, 1928;
„Die Kunst unserer Zeit“. F. Hanfstaengl, München,
1904; Sächsisches Staatsarchiv Dresden; www.
sophie-drinker-institut.de; wiki.olgdw.de; www.n-
k-b.de; Leipziger Zeitung 1854; ISIS Dresden
199
Hermann Arthur Lier (1897), gemalt von Hermann Eduard Mangelsdorf
(Deutsche Fotothek, Lizenz CC BY-SA 4.0).
Lier, Hermann Arthur
Professor, Dr. phil., Bibliothekar und Historiker
01.02.1857 Herrnhut - 08.02.1914 Kötzschenbroda
V: Hermann Gustav, Kaufmann, übernahm 1854 das Familiengeschäft; M: Rosine geh. Chodat;
G: Leonhard (*22.3.1864 Herrnhut, f4.1.1917 Dresden, Dr. phil., Chefredakteur des Dresdner
Anzeigers), ? Oscar (ab 1896 Gemeindevorstand in Herrnhut, Namensgeber einer Straße); E:
(1) 5.5.1888 Dresden, Karola Ida Margarethe geb. Graf (*26.8.1869), (2) 17.7.1899 Dresden,
Gertrud geb. Kunitz (28.3.1871-5.7.1922)
Lier besuchte die Erziehungsanstalt
der Brüdergemeine in Niesky und ab
1872 das Gymnasium in Zittau. Nach
dem Abitur im Jahre 1878 studierte
er Geschichte in München und ab
1879 in Leipzig, wo er 1882 auf der
Grundlage seiner bereits in München
verfassten Arbeit „Der Augsburgische
Humanistenkreis mit besonderer Be¬
rücksichtigung Bernhard Adelmanns
von Adelmannsfelden“ zum Dr. phil.
promovierte. 1881 nahm Lier eine
Tätigkeit als Hilfsarbeiter an der
Königlichen öffentlichen Bibliothek in
Dresden unter Oberbibliothekar Ernst
Wilhelm Förstemann auf. 1888 wurde
er zum Kustos und 1896 zum Bib¬
liothekar unter dem Direktor Franz
Schnorr von Carolsfeld befördert. Im
selben Jahr zog Lier nach Kötzschen¬
broda. Die Bibliothek befand sich im
Japanischen Palais. 1907 übernahm
Hubert Ermisch die Leitung. Lier
gehörte mit Bruno Steglich dem
Sächsischen Altertumsverein an. Er
schrieb für die „Kunstchronik“, das
„Deutsche Kunstblatt“ und verfasste
eine Vielzahl von Lebensbildern für
die „Allgemeine Deutsche Biogra¬
phie“ bzw. für das „Biographische
Jahrbuch und deutscher Nekrolog“,
darunter von Malern wie seinem On¬
kel Adolf Lier und von Gerhard
Heinrich Jacobjan Stöckhardt
sowie Mitgliedern der Brüdergemei¬
ne. Von Lier stammen wichtige Bei¬
träge zum „Allgemeinen historischen
Porträtwerk“ von Woldemar von
Seidlitz, dem Direktor der Dresdner
Kunstsammlungen. Die Zusammen¬
stellung von über 600 Biografien
erschien in zwei mehrbändigen Aufla¬
gen, zunächst nach Berufen geordnet
und dann nach Zeitepochen von ca.
1300 bis etwa 1840. Von 1898 bis 1906
war Lier zudem Referent für bildende
Kunst beim Dresdner Journal, später
schrieb er für die Dresdner Nachrich¬
ten. Dem reformorientierten „Verein
Bildender Künstler Dresdens“ gehörte
er wie sein Bruder Leonhard Lier
als außerordentliches Mitglied an.
Quellen: Adolf Hinrichsen: „Das literarische
Deutschland“. 2. Aufl., Berlin 1891; Hermann Chris-
tern (Hrsg.): „Totenliste 1914“. In: Deutsches Biogra¬
phisches Jahrbuch. 1914/1916, 1925; August Ludwig
Degener: „Wer ists?“ Bd. 5, 1911; Zentralblatt für
Bibliothekswesen, Bd. 13; Mitgliederverzeichnis
des Sächsischen Altertumsvereins, 1890; Dresdner
Adressbücher 1881, 1908; Mitglieder-Verzeichnis
des Vereins Bildender Künstler Dresdens, 1898
201
Leonhard Lier (1906), fotografiert von Erwin Raupp (1863-1931).
Lier, Adolf Leonhard
Professor, Journalist, Literaturwissenschaftler
22.03.1864 Herrnhut - 04.01.1917 Dresden
V: Hermann Gustav, Kaufmann, übernahm 1854 das Familiengeschäft; M: Rosine geh. Chodat;
G: Hermann Arthur (*1.2.1857 Herrnhut, 18.2.1914 Kötzschenbroda, Dr. phil., Bibliothekar an
der König! Bibliothek in Dresden, Mitarbeiter der Allgemeinen Deutschen Biographie), ? Oscar
(ab 1896 Gemeindevorstand in Herrnhut, Namensgeber einer Straße); E: 7.1.1893 Dresden,
Agnes Johanna geb. Herrmann (*10.12.1870); K: Marie Charlotte Erica (*1.4.1894 Dresden), An¬
dreas Hermann Leonhard (*1.4.1896 Dresden), Adolf Reinhard Theodor (*17.7.1898 Dresden)
Die Herrnhuter Familie Lier ging auf
den Goldschmied und Kaufmann
August Ludwig Lier zurück, Leonhard
Liers Großvater. Der Sohn eines Hof¬
kürschners und Ratsherren in Schwe¬
rin hatte nach Herrnhut geheiratet.
Ein Sohn aus dieser Ehe war Adolf
Lier, ein Onkel von Leonhard Lier.
Lier besuchte die Schule in Herrn¬
hut und das Gymnasium in Zittau.
1882/83 leistete er in Dresden seine
Militärpflicht ab. Früh interessierte
er sich für Literatur. Lier gehörte der
1882 gegründeten „Offenen Loge“
an, einem berufsständigen Verein der
Dresdner Schriftsteller. 1883 berichte¬
te er im Neuen Lausitzischen Maga¬
zin über Briefe des Zittauer Dichters
Karl Friedrich Kretschmann an Karl
August Böttiger in der Königli¬
chen öffentlichen Bibliothek, wo sein
Bruder Hermann Arthur Lier zwei
Jahre zuvor angestellt worden war.
Auch in anderen Zeitschriften erin¬
nerte er an den brieflichen Nachlass
Böttigers, so im Archiv für Literatur¬
geschichte bei Teubner. 1885 publi¬
zierte er bei Reclam zu ausgewählten
Werken des Dichters der Aufklärung
Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Seine
Studien der Philologie, Germanistik
und Literaturgeschichte ab 1885 in
Leipzig und München schloss Lier
1889 in Leipzig mit der Dissertation
„Studien zur Geschichte des Nürn¬
berger Fastnachtspiels“ über die
Meistersinger ab. Zu seinen Professo¬
ren gehörten Friedrich Zarncke und
Michael Bernays. Danach arbeitete er
für die Liegnitzer Zeitung. 1890 holte
ihn Hermann Thenius, der Lier schon
von der Offenen Loge kannte, zum
Dresdner Anzeiger. Thenius, seit 1878
Chefredakteur, setzte die 1869 von
Eduard Ferdinand Springer begonne¬
ne Entwicklung der ersten Dresdner
Zeitung von einem Inseraten- und
Amtsblatt zu einem redaktionellen
Nachrichtenblatt fort. Schon vor sei¬
nem Amtsantritt gab es die Ressorts
Politik, Wirtschaft, Örtliches und
Feuilleton. Thenius brachte 1880 die
Politik auf Seite 1. Für dieses Ressort
engagierte er Lier, der zudem für das
Feuilleton arbeitete. Um 1900 führte
der Dresdner Anzeiger politische
Leitartikel ein.
203
Lier war ein wichtiger Kulturrefor¬
mer und stand dem „Naturalismus“
nahe. Er schrieb in den 1890er Jahren
viele Beiträge für die Zeitschrift „Der
Kunstwart“ von Ferdinand Avenari-
us, die Literatur, Theater, Musik und
bildende Kunst thematisierte und sich
zu einem deutschlandweit angesehe¬
nen Blatt der Kulturreformbewegung
entwickelte. Zu Liers Themen im
Kunstwart gehörten theoretische und
historische Aspekte der Theaterkunst,
aber auch Theaterkritik und Zen¬
sur. Er war in Dresden Mitglied der
„Litterarischen Gesellschaft“ und im
Dürerbund, der die Kunstwart-Inte-
ressenten vereinigen sollte. Die Lit-
terarische Gesellschaft, 1886 aus der
Offenen Loge hervorgegangen, entwi¬
ckelte sich zu Dresdens wichtigstem
Verein für literarisch Interessierte,
indem sie sich breiten Bevölkerungs¬
schichten öffnete, darunter Frauen,
Juden, Sozialdemokraten. Überall
hier traf Lier mit Paul Schumann zu¬
sammen. Gemeinsam leiteten sie den
Verein Dresdner Journalisten. Schu¬
mann, seit 1884 als Kunstkritiker fest
beim Anzeiger angestellt, wurde für
fast 30 Jahre zu einem engen Mitstrei¬
ter. Schumann engagierte sich für die
deutsche Sprache, den Heimatschutz,
die Freilichtmalerei und die Volksbil¬
dung, machte sich aber auch durch
vehemente Kritiken an der traditio¬
nellen Dresdner Malerei und an Karl
May viele Feinde. 1901 übernahm er
die Leitung des Feuilletons. Genauso
engagiert wie Schumann, häufig aber
diplomatischer arbeitete Lier im The¬
aterreferat. Auch auf diesem Gebiet
war die Zeit reif für Veränderungen.
Das Hoftheater brachte Goethe, Schil¬
ler und Shakespeare, dagegen stand
man den jüngeren Dichtern wie Ger-
hart Hauptmann zunächst skeptisch
gegenüber. Lier förderte die junge
Dichtung im Dresdner Anzeiger, aber
auch mit Beiträgen in anderen Zei¬
tungen und Zeitschriften (Norddeut¬
sche Allgemeine Zeitung, Münchner
Allgemeine, Bühne und Welt, Blätter
für literarische Unterhaltung, Wage,
Die Grenzboten u.v.m.).
Im Jahre 1902 folgte Lier Thenius als
Chefredakteur, das Theaterreferat
übergab er Friedrich Kummer. Der
Dresdner Anzeiger blieb einer der
entschiedensten Fürsprecher von
Gerhart Hauptmann. Die Zeitung
verdankte Lier ihren weiteren raschen
Aufstieg, von 1900 bis 1914 verdop¬
pelte sich die Auflage von 23.500 auf
46.500 Exemplare. Besondere Unter¬
stützung gewährte ihm Oberbürger¬
meister Gustav Otto Beutler. Dies war
wichtig, weil der Dresdner Anzeiger
zwar formal unabhängig war, sich
aber praktisch in städtischem Besitz
befand. Angriffen auf die Pressefrei¬
heit musste widerstanden werden.
Justus Friedrich Güntz hatte 1856
den Dresdner Anzeiger in die Dr.
Güntz‘sche Stiftung eingebracht, die
er der Stadt Dresden übereignete
mit der Auflage, dass alle Erträge für
soziale Zwecke und zur Verschöne¬
rung der Stadt eingesetzt werden. Der
jeweilige Oberbürgermeister Dres-
204
dens stand der Stiftungsverwaltung
vor. Beutler amtierte von 1895 bis
1915. Zu den wichtigsten Projekten
während Liers Zeit als Chefredakteur
gehörte neben der Fortführung des
sozialen Engagements (Bürgerheim,
Güntzheim, Maternispital) der Bau
des Neuen Rathauses bis 1910, an
dem sich die Stiftung mit 600.000
Mark beteiligte.
Der Dresdner Anzeiger unter Lier
engagierte sich in besonderer Weise
für die im neu erbauten Ausstel¬
lungspalast stattfindenden Groß-
Ausstellungen. Die Erste Deutsche
Städte-Ausstellung 1903 wie auch die
Internationale Hygieneausstellung
1911 wurden nicht nur umfassend
journalistisch begleitet, sondern der
Dresdner Anzeiger unterhielt jeweils
einen eigenen Pavillon. Lier entwi¬
ckelte aber auch das Zeitungskonzept
weiter. Sein Hauptaugenmerk galt
der Politik. Lier bemühte sich um
Überparteilichkeit. Er selbst schrieb
als Chefredakteur meist nur in den
„Wochenschauen“. Den Wirtschafts¬
teil baute er mit einer internationalen
Börsenberichterstattung aus. 1902
gewann er Professor Harry Gravelius
von der TH Dresden, um erstmals in
Dresden zeitnahe Wettervorhersagen
anzubieten. In Berlin wurde 1905 eine
eigene Redaktion eingerichtet, um
besser aus dem Reichstag berichten zu
können. Auch die Auslandsberichter¬
stattung wurde intensiviert. In Wien,
Paris, London, St. Petersburg, Rom
und Konstantinopel verpflichtete der
Dresdner Anzeiger eigene Korrespon¬
denten. Zu den berühmtesten Mit¬
arbeitern zählte Ludwig Munzinger
(London, 1911).
Der sächsische König verlieh Lier
1906 anlässlich des 50. Jahrestages
der Gründung der Dr. Güntzschen
Stiftung den Professorentitel. Lier
leitete den Landesverband der säch¬
sischen Presse und war Vorstands¬
mitglied des Reichsverbandes. Dem
reformorientierten „Verein Bildender
Künstler Dresdens“ gehörte er wie
sein Bruder Hermann Arthur Lier
als außerordentliches Mitglied an.
Der Dresdner Anzeiger unterstütz¬
te die deutsche Kolonialpolitik in
Südwestafrika. Als 1914 der Erste
Weltkrieg ausbrach, bediente auch der
Dresdner Anzeiger die ganz Deutsch¬
land erfassende patriotische Begeis¬
terung.
Quellen: Herbert Zeißig: „Eine deutsche
Zeitung. Zweihundert Jahre Dresdner An¬
zeiger“. Verlag der Dr. Güntzschen Stiftung,
1930; „Lier, Hermann Arthur“. Wer ist‘s?, Bd.
5, Verlag von H.A. Ludwig Degener, 1910;
Siegfried Asche: „Lier, Adolf“. Neue Deutsche
Biographie, Bd. 14, 1985, S. 535-536; Gerhard
Kratzsch: „Kunstwart und Dürerbund. Ein
Beitrag zur Geschichte der Gebildeten im
Zeitalter des Imperialismus“. Vandenhoeck
u. Ruprecht, Göttingen 1969; Dirk Hempel:
„Literarische Vereine in Dresden. Kulturelle
Praxis und politische Orientierung des Bür¬
gertums im 19. Jahrhundert“. Walter de Gru-
yter - Max Niemeyer Verlag, 2008; Deutsches
Biographisches Jahrbuch, Bd. 2, 1917-1920;
Leonhard Lier: „Studien zur Geschichte des
Nürnberger Fastnachtspiels“. Dissertation
205
Unter Gustav Loges entwickelte sich die landwirtschaftliche Versuchssta¬
tion Pommritz zu einem Zentrum der Dünge- und Futtermittelkontrolle im
Königreich Sachsen. So stieg von 1893 bis 1913 die Anzahl der untersuchten
Düngerlieferungen von 700 auf 3209 im Jahr.
Loges, Gustav Adolph
Professor, Agrarwissenschaftler in Pommritz
21.07.1854 Marne (Schleswig-Holstein) - 20.03.1919 Pommritz
V: Johann Jacob (*7.8.1800 Marne, 18.3.1871 Marne), Tischlermeister; M: Margarethe geh. Tagge
(*22.7.1809 Westerdeich, t8.11.1865 Marne); G: Anna Christina (*11.6.1845 Marne), Maria
Magdalena verh. Ibs (*23.2.1847 Marne, 128.5.1907 Marne), Carl Theodor (*19.7.1850 Marne,
Tischler in Altona) sowie 5 ältere Halbgeschwister aus der 1. Ehe des Vaters mit Catharina geh.
Peters (Margaretha Catharina, Johann Jacob, Hermann Peter, Wilhelm Hinrich, Julius Friedrich)
Loges besuchte ab 1870 das Chris-
tianeum in Altona, wo er ein Sti¬
pendium erhielt. Als jüngstes von
insgesamt neun Kindern der Fami¬
lie war er das einzige, das auf eine
höhere Schule gehen konnte. Nach¬
dem wenige Jahre zuvor die Mutter
gestorben war, verstarb 1871 auch der
Vater. In Altona konnte Loges aber
weiterhin auf familiäre Unterstützung
zählen. Zwei Halbbrüder wie auch
der Bruder Carl Theodor arbeiteten
dort als Tischler. Nach dem Abitur
studierte Loges Chemie in Göttingen.
Hier promovierte er 1878 mit der
Arbeit „Über eine Darstellungsweise
der Nitranilide, über ein Bromnitra-
cetanilid und ein Bibromnitraceta-
nilid“. Referent und Vorsitzender der
mündlichen Prüfung in Chemie war
Hans Hübner (Co-Direktor des Allge¬
meinen Chemischen Laboratoriums
neben Friedrich Wöhler). Die münd¬
liche Prüfung in Physik legte Loges
bei Johann Benedict Listing ab.
Nach dem Studium arbeitete Loges
an der landwirtschaftlichen Versuchs¬
station Kiel mit deren langjährigem
Leiter Adolph Emmerling zusammen.
Sie führten u. a. Analysen von Wasser
und Waldböden durch. Loges erwarb
sich einen wissenschaftlichen Namen
mit Arbeiten auf den Gebieten Kris¬
tallographie und Elektrochemie. Er
schrieb „Ueber die durch Einwirkung
von Kaliumhydrat auf Traubenzucker
entstehende reducirende Substanz“,
„Ueber die Bildung von Acetol aus
Zucker“ und „Bestimmung der Härte
des Wassers“. Über seine alte Heimat
im Kreis Dithmarschen publizierte
er „Die Bezahlung der Zuckerrüben
nach Zuckergehalt in der Fabrik zu
St. Michaelisdonn und die Anbauver¬
hältnisse der Rüben in der Marsch“.
Ab 1890 leitete Loges in der Nachfol¬
ge des nach Brasilien gewechselten
Carl Brunnemann die landwirtschaft¬
liche Versuchsstation Posen.
1893 übernahm Loges die Leitung
der landwirtschaftlichen Versuchssta¬
tion Pommritz in der Nachfolge von
Paul Bretschneider. Hier führte er die
von Julius Lehmann und Eduard
Heiden begründete agrikulturche¬
mische Tradition weiter. Zu seinen
Mitarbeitern zählten Fritz Glaser,
Hugo Neubauer und Arthur Strigel.
207
Loges, G,, Ueber die Bestimmung des Humus in den Ackererden,
XXVIII, 229. — Ueber stickstoffhaltige organische Verbindungen in
der Ackererde, XXXII, 201. — Bericht über die Wertberechnung
des Feinmehls und der Phosphorsäure im Thomasmehl (Verb. 1. V.-St,
Würaburg 1893), XLIII, 3;>0. — Bericht Über die Untersuchungen
Ton Superphosphatgipa (Verb. 1. V.-St, Dresden 1894), XLV,
385. — Bericht über die Bestimmung des AmmoninkBtickstoffs in
Ammoniaksuperphosphaten ('Verb. 1. V.-St, Kiel 1895), LXVII, 198. —
Bericht über die Unfallversicherung der Assistenten an den Ver¬
suchs-Stationen (Verb 1. V.-St., Kiel 1895), LXVII, 226. — Bericht
über die Unterauchang der Superpbosphate mit citratlöaiicber Phos-
phorBäure (Verb. 1. V.-St, Wiesbaden 1896), XL1X, 60. — Antrag
des Ausschusses für Düngemittel, dass Knochenmehle nicht nach
Wagner auf citratlösliche Phosphorsäure untersucht werden sollen
(Verb. 1. V.-St., Harzbnrg 1897), L, 190.
Loges publizierte seine Arbeiten wiederholt in den jährlichen Schriften des
Verbandes landwirtschaftlicher Versuchs-Stationen (Stand 1898).
Loges veröffentlichte „Tierkörpermehl
als Futtermittel“, „Düngerkonservie¬
rungsmittel“ und „Fettbestimmung
in Nahrungs- und Futtermitteln“.
Im Mittelpunkt der Arbeit standen
aber weniger die wissenschaftlichen
Untersuchungen, sondern die immer
zahlreicher werdenden Qualitätsprü¬
fungen von Dünge- und Futtermit¬
teln. Zudem engagierte sich Loges für
eine Unfallversicherung der Assisten¬
ten an den Versuchsstationen.
Loges war Mitglied der Deutschen
Landwirtschafts-Gesellschaft, der
Deutschen Chemischen Gesellschaft,
des Naturwissenschaftlichen Vereins
für Sachsen und Thüringen in Hal¬
le, der Deutschen Gesellschaft für
Züchtungskunde und des Vereins für
Socialpolitik. Im Verband landwirt¬
schaftlicher Versuchs-Stationen im
Deutschen Reich unter der Leitung
von Friedrich Nobbe arbeitete er im
Futtermittelausschuss mit seinem frü¬
heren Direktor Emmerling und mit
Oscar Kellner (Möckern) zusammen.
Zudem wirkte Loges im Verband
als Revisor. Wie Bruno Steglich,
dessen Nachfolge an der Dresdner
Versuchsanstalt später sein ehema¬
liger Assistent Neubauer übernahm,
gehörte Loges der landwirtschaftli¬
chen Sektion der Gesellschaft deut¬
scher Naturforscher und Ärzte an.
Im Landeskulturrat vertrat Loges von
1911 bis 1919 die landwirtschaftli¬
chen Versuchsstationen. Der Landes¬
kulturrat, 1850 von Paul Hermann
mitbegründet, bestand bis 1925 und
stellte ein Bindeglied zwischen den
regionalen landwirtschaftlichen Ver¬
einen und den Regierungsbehörden
Sachsens dar. Neben Vertretern der
Kreisvereine Dresden, Leipzig, Erzge¬
birge Chemnitz, Vogtland Auerbach
und Oberlausitz Bautzen gehörten
ihm weitere Vertreter unterschied-
208
Die landwirtschaftliche Versuchsstation Pommritz (vor 1920). Unter Gustav
Loges standen wie schon seit der Gründung der Versuchsstation 1864, unter
den Direktoren Julius Lehmann, Cuno Frisch, Eduard Heiden und Paul
Bretschneider, die Agrikulturchemie sowie die Ernährung von Schweinen
im Mittelpunkt. Zu den Aufgaben der Station gehörten zudem die Weiter¬
bildung der praktischen Landwirte durch Vorträge in den Vereinen und die
Qualitätsprüfung von Dünge- und Futtermitteln.
licher Fachrichtungen an, so Max
Neumeister für das Forstwesen und
Bruno Steglich für die Fischzucht.
Das landwirtschaftliche Versuchswe¬
sen vertraten von 1872 bis 1889 Julius
Adolph Stöckhardt, bis 1904 Friedrich
Nobbe, bis 1911 Oscar Kellner und
von 1919 bis 1925 Bruno Steglich.
Den Vorsitz während Loges“ Mitglied¬
schaft hatte Rudolf Elwir Hähnel auf
Kuppritz inne. 1912 wurde Loges für
seine Verdienste um die Landwirt¬
schaft der Titel Hofrat verliehen.
Quellen: Universitätsarchiv Göttingen; The Church
of Jesus Christ of Latter-day Saints; Paul Heinrich
von Groth: „Zeitschrift für Krystallographie und
Mineralogie“ 1880; Johann Leopold Just: „Justs
botanischer Jahresbericht“. Gebr. Borntraeger, 1885;
Verein Deutscher Chemiker: „Repertorium der
analytischen Chemie“, 1887; „Repertorium der tech¬
nischen Journal-Literatur“, C. Heymann, 1887; Peter
Erasmus Müller, Christian F. Tuxen: „Studien über
die natürlichen Humusformen“ Springer 1887; Ru¬
dolf Biedermann: „Technisch-chemisches Jahrbuch“.
Springer, 1888; Friedrich Nobbe, Oscar Johann Kell¬
ner: „Die landwirtschaftlichen Versuchs-Stationen“.
1890, 1894,1898,1902,1912, 1914; Hans Niklas,
Albert Hock, F. Czibulka: „Literatursammlung aus
dem Gesamtgebiet der Agrikulturchemie“ Agri¬
kulturchemisches Institut Weihenstephan der TH
München, 1931; Chemiker-Zeitung, Bd. 43, 1919;
Adressbuch der Stadt Dresden, 1912; Bruno Schöne
(Bearb.): „Die Sächsische Landwirtschaft: ihre
Entwickelung bis zum Jahre 1925, sowie Einrich¬
tungen und Tätigkeit des Landeskulturrats Sachsen
zu Dresden“. Verlag des Landeskulturrates Sachsen,
1925, 517 S.; Dresdner Salonblatt 1912; Bericht über
das Königliche Christianeum, Altona, 1875
209
*r-
■■
Während Marloths Amtszeit von 1860 bis 1875 fanden keine wesentlichen
Umbauten an der Großdrebnitzer Martinskirche statt. Die alte Kirche hatte
bis 1852 zusätzliche bzw. vergrößerte Fenster erhalten, der damalige Kirch¬
turm, der mit seiner Spitze nur unwesentlich über das Kirchendac h reicht e,
Fenster und einen Eingang. Erst 1894 erfolgte der Au
bis zu seiner heutigen Höhe
Marloth, Carl Julius
Sorbe, Pfarrer, Schriftsteller
24.11.1807 Postwitz - 11.04.1884 Dresden
V: Carl Gottlob (*5.6.1772 Bautzen, f9.12.1833 Postwitz), Pfarrer; M: Friederike Rahel geb.
Martini, Tochter eines Kaufmanns aus Pulsnitz; G; Robert (studierte Jura), Louise; E: 5.11.1837,
Konkordia Wilhelmine geb. Auerswald (6.11.1820-25.10.1894, älteste Tochter des Pfarrers
zu Ponickau, Schwester des Pfarrers und Schriftstellers Oskar Theodor Auerswald, bis zuletzt
in Dresden ansässig); K: Malwina Concordia (*2.10.1838), Julius Richard (*8.12.1840, verh.
7.5.1869 Bernsdorf mit Berta Rosalie Koppelt, Kaufmann), Thrila Johanna (14.1.1842-30.
5.1842), Meta Franziska (*15.10.1843, verh. 5.11.1867 Großdrebnitz mit Friedrich August
Schumann aus Dresden), Maximilian Johannes Balduin (2.8.1845-26.5.1847), Reinhold Otto-
mar (*4.8.1848, verh. 1874 Dresden mit Henriette Auguste Elisabeth Schaff, Buchbinder und
Spielwarenhändler), Olga Theodora (*25.5.1850), Anna Margaretha (*18.3.1852, verh. 10.5.1874
Großdrebnitz mit Ernst Hugo Uhlig), Fanny Nathalie (4.8.1853-27.5.1856), Martha Kathinka
(22.10.1855-28.5.1856)
Marloth entstammte einer sorbischen Mädchenlehrer war. Das Predigeramt
evangelischen Theologenfamilie. an der Hospitalkirche, Königsbrücks
Sein Vater, vorheriger Diakon in Begräbniskirche, war mit dem Rekto-
Neschwitz, war 1807 als Pfarrer nach rat der seit 1836 vereinigten Knaben-
Postwitz berufen worden. Der Jun¬
ge lernte schon früh die Schrecken
des Kriegs kennen - die Familie floh
1813 nach Schirgiswalde. Von 1820
bis 1828 besuchte er das Gymnasium
in Bautzen unter Karl Gottfried
Siebelis. Danach studierte er bis 1831
Theologie in Leipzig, wo er auch der
Lausitzer Predigergesellschaft ange¬
hörte. Seinen pädagogischen Nei¬
gungen folgend - ein Großvater war
Lehrer in Bautzen gewesen - nahm
Marloth eine Stellung als Hauslehrer
in Nedaschütz an. Frühzeitig interes¬
sierte er sich für soziale Belange und
arbeitete als Diakon in Pirna. In den
Jahren von 1835 bis 1860 wirkte Mar¬
loth in Königsbrück als Schuldirektor
und Hospitalprediger, ab 1845 als
Diakon, wobei er gleichzeitig erster Hospitalkirche Königsbrück.
211
und Mädchenschule und mit dem
Diakonat verbunden.
In Königsbrück entstanden viele
schriftstellerische Arbeiten, häufig
unter dem Pseudonym „Lothmar“.
Die ersten Werke wurden bei Reichel
in Bautzen verlegt. Davon sind die
„Praktische Gedächtnislehre“ und
die „Wunderkuren eines unstudirten
Dorfdoctors“ in der British Library
nachgewiesen. Viele Werke Marloths
galten sozialen und pädagogischen
Themen. Sie fanden Eingang in wich¬
tige Fachbibliografien der Medizin,
Mathematik, Astronomie, Philo¬
sophie, Pädagogik und Philologie.
Mit seinen theologischen Schriften
wandte er sich zumeist an spezielle
Zielgruppen wie Kranke, Soldaten
und Auswanderer, denen Marloth
geistlichen Beistand leistete. 1847
unterstützte er das „Dresdner Album“
für die Hungernden im Erzgebirge,
im Vogtland und in der Oberlausitz,
das insgesamt 1700 Taler erbrachte.
Im Zusammenhang mit den revolu¬
tionären Ereignissen 1848/49 gibt es
Hinweise auf erhebliche persönliche
und berufliche Probleme. So wurde
er noch 1851 als ehemaliger Aktivist
der sogenannten „Umsturzpartei“ in
Königsbrück polizeilich überwacht:
„...Individuen wurden im Jahre 1848
als Führer der Umsturzpartei auch
bemerkbar, sind aber von ihren frü¬
heren Ansichten schon im Jahre 1850
gänzlich abgegangen.“ (Die seinerzeit
radikale Umsturzpartei gehörte zu
den Vorläufern der Sozialdemokra-
Bibliografie
„Praktische Gedächtnislehre, oder die
Kunst, ein ganz vorzügliches Gedächtnis zu
erlangen“. Reichel Bautzen, 1842
„Wunderkuren eines unstudirten Dorfdoc¬
tors. Eine Volksschrift“. Reichel Bautzen,
1844
„Die Wünschelruthe. Eine Volksschrift“.
Reichel Bautzen, 1844
„Reisen eines Verstorbenen in Sonne,
Mond u. Sterne. Eine populäre Astrono¬
mie“. Reichel Bautzen, 1844
„Einige durch Zeitumstände nöthig gewor¬
dene Bemerkungen über Verbesserung des
Erfinderwesens“. Orthaus Leipzig, 27 S.,
1844
„Stimmen über Grab, Tod u. Scheintod.
Eine Volksschrift“. O. Wigand Leipzig,
195 S„ 1845
„Ueber das Lebendigbegraben. Erzählungen
für das deutsche Volk“. O. Wigand Leipzig,
1847
„Predigt am Charfreitage“. Teubner Leipzig,
15 S„ 1847
„Ueber Emancipation der Schullehrer“.
Pulsnitz, 12 S., 1848
„Sittenspiegel für Dienstboten männlichen
und weiblichen Geschlechts in der Stadt
und auf dem Lande“. Verlag der Theodor
Schmidtchen Kunst- und Buchhandlung, 93
S. sowie Ferdinand Rühle Dresden, 1851
„Lebens-Portefeuille Gaben der Liebe und
Freundschaft“. Schmid Querfurt, 1853
Manuskripte zu „Biblische Sprüche für Ehe¬
leute“, „Biblischer Wegweiser für Auswan¬
derer“, „Biblische Sprüche für die Verhält¬
nisse des Soldatenstandes“, Sammlung von
Liedern, Sprüchen und Betrachtungen für
Kranke
„Episoden aus dem Kriegsjahr 1866“. In:
Beilage „Unsere Heimat“ zum „Sächsischen
Erzähler“, Nr. 27, 8.6.1926, veröff. von F.
Marloth, Halle/Saale (Enkel von Marloth)
„Chronik von Groß- und Kleindrebnitz“
(1504-1869).
212
tie.) Das Verhältnis zum damaligen
ersten Pfarrer von Königsbrück, Karl
Kirsch, muss schlecht gewesen sein.
Davon zeugen mehr als kritische
Vermerke des königstreuen Kirsch in
Königsbrücker Kirchenschriften, in
denen dieser z. B. die schriftstelleri¬
sche Kompetenz Marloths verneinte,
deren Anerkennung aber verschwieg.
Von 1860 bis zu seiner Emeritierung
1875 arbeitete Marloth als Pfarrer
in Großdrebnitz. Er war hier wegen
seines sozialen Engagements hoch
geachtet. So gründete er 1869 die
Volksbibliothek und schuf mit seiner
Chronik wichtige Grundlagen für die
Großdrebnitzer Ortsgeschichtsschrei¬
bung. Der chronologischen Darstel¬
lung ab 1504 vorangestellt hatte Mar¬
loth den damaligen Kenntnisstand bis
zurück in die Zeit der Ortsgründung.
Er berichtete über wiederholte Drang¬
sale der Dorfbevölkerung während
der Kriege, beschrieb aber auch
Bemerkenswertes aus dem Dorfalltag,
z. B. klimatische Besonderheiten mit
ihren Auswirkungen auf die örtliche
Landwirtschaft. Hervorzuheben ist
ein Eintrag zur gebräuchlichen Orts¬
angabe in ehemals hiesiger Volksspra¬
che: „in der Drebnitz“ statt „in Dreb-
nitz“. Diese Formulierung legt nahe,
dass die Ortsbezeichnung Drebnitz
aus der Umgebung abgeleitet wurde.
Im Zusammenhang mit der strittigen
Lokalisierung des Casteilums Trebis-
ta, das 1007 urkundlich ersterwähnt
wurde, bedeutet dies, dass ein Kastell
als Zentrum des späteren Burgward-
bezirks Trebista nicht identisch mit
einem Ort ähnlichen Namens in
dieser Gegend gewesen sein muss.
Die Chronik wurde am 18. Mai 1869
in den Grundstein des neuen Schul¬
gebäudes gelegt. In Bruno Barthel
fand Marloth einen würdigen Nach¬
folger als Heimatforscher. Die Grab¬
platte in der Martinskirche Großdreb¬
nitz erinnert noch heute an Marloth.
Quellen: Bruno Barthel: „Altes und Neues aus
Groß- und Kleindrebnitz“. Friedrich May Bischofs¬
werda, 1907; Pf. Sebastian Führer: „Gedenkblatt zur
Wiedereinweihung der Martinskirche Großdreb¬
nitz am 4. Sonntag nach Trinitatis, 19. Juni 2005“;
Martinskirche Großdrebnitz, Pfarrarchiv; Werner
Lindner: Auszüge aus dem Seelenregister der Stadt
Königsbrück; Wilhelm Haan: „Sächsisches Schrift¬
steller- Lexicon“. Robert Schaefers Verlag Leipzig,
S. 208, 1875; Erhard Hartstock, Peter Kunze: „Die
bürgerlich-demokratische Revolution von 1848/49
in der Lausitz“. Domowina-Verlag, S. 248,1977;
Reinhold Grünberg: „Sächsisches Pfarrerbuch. Die
Parochien und Pfarrer der Ev.-luth. Landeskirche
Sachsens (1539-1939)“. Ernst Mauckisch Freiberg,
1940; Emil Weller, Emil Ottokar Weller: „Lexi¬
con Pseudonymorum“. Georg Olms Verlag, 1997;
Wilhelm Engelmann, Theodor Christian Friedrich
Enslin: „Bibliotheca medico-chirurgica et anato-
mico“. 1848; Ludwig Adolph Sohncke: „Bibliotheca
Mathematica“. 1854; Johann Samuel Ersch, Chris¬
tian Anton Geissler: „Bibliographisches Handbuch
der philosophischen Literatur“. F.A. Brockhaus,
1850; Jean-Charles Houzeau, Albert Lancaster:
„Bibliographie generale de lastronomie“. 1882; Neue
Jahrbücher für Philologie und Pädagogik, B. G.
Teubner, 1842; „Dresdner Album: Zur Unterstüt¬
zung der Nothleidenden im Sächsischen Erzgebir¬
ge, im Voigtlande und in den Weberdörfern der
Oberlausitz“ Verlag Meinhold, 1847; „Die Diöcesen
Bautzen und Kamenz“. Neue Sächsische Kirchenga¬
lerie, Verlag Arved Strauch, Leipzig; Neues lausit-
zisches Magazin: Zeitschrift der Oberlausitzischen
Gesellschaft der Wissenschaften, Verlag Oettel, S.
130f., 1834; Adressbücher der Stadt Dresden; „Ab¬
schrift der in dem Grundstein des Schulgebäudes
am 18. Mai 1869 gesetzte Kurzgefaßte Chronik von
Groß- und Kleindrebnitz, gesammelt und aufgesetzt
von Carl Julius Marloth Pfarrer daselbst.“; Lausitzer
Prediger-Gesellschaft zu Leipzig, Jahresbericht 1875
213
August Gottlieb Meißner, Kupferstich von Christian Gottlob Scherf nach
einem Bild von Anton Graff.
Quellen: Franz Schnorr von Carolsfeld: Artikel „Meißner, August Gottlieb“ und „Quandt, Gottlob
von“. Allgemeine Deutsche Biographie; Rudolf Fürst: „August Gottlieb Meißner. Eine Darstellung
seines Lebens und seiner Schriften“. 1900; Walter Weber: „Meißner, August Gotllieb“. Neue Deutsche
Biographie, Bd. 16, 1990, S. 694; Oskar Ludwig Bernhard Wolff: „Encyclopädie der deutschen Natio¬
nalliteratur“ Bd. 5, O. Wigand, 1840; Brockhaus Conversations-Lexikon, Bd. 8, Leipzig 1811, S. 48-49;
Brockhaus' Kleines Konversations-Lexikon, Bd. 2, Leipzig 1911, S. 160; Woldemar von Biedermann:
„Goethe und Dresden“. Books on Demand, 2012; wiki2.olgdw.de
Meißner, August Gottlieb
Professor, Schriftsteller, Begründer der deutschen Kriminalliteratur
03.11.1753 Bautzen - 18.02.1807 Fulda
V: Abraham Gottlieb (t 16.10.1761 Bautzen), Regimentsquartiermeister beim Minckwitzschen
Kürassierregiment, Senator für Militärangelegenheiten; M: Charlotte Ernestine geb. Sergnitz
(t 1779), Tochter des Arztes Johann Gottlob Sergnitz aus Löbau; E: 13.11.1783 Johanna Christi-
ana Elisabeth geb. Becker (*1764,130.3.1807 Fulda, Tochter des Hofrats Ernst Gotthelf Becker
aus Dresden); K: 1 Sohn, Eduard (*1785 Dresden, tl868 Prag, Dr. med., Badearzt in Teplitz und
Karlsbad, Senior der Ärzte in Prag), und 3 Töchter, Bianca (*24.11.1790 Prag, t24.3.1862 Dres¬
den, verwitwete Kriegsrätin Low, ab 2.6.1819 in 2. Ehe mit dem Schriftsteller und Kunstmäzen
Johann Gottlob von Quandt verheiratet), Elvira (*1793, tl806 Fulda) und Natalie (t 1807 Fulda);
Enkel: Alfred Meißner (*15.10.1822 Teplitz, 429.5.1885 Bregenz, schrieb „Gedichte“, das Epos
„Ziska“ und die Romane „Sansara“ und „Schwarzgelb“)
Meißner zog drei Jahre nach dem
Tod des Vaters mit seiner Mutter von
Bautzen nach Löbau, wo er bis 1772
das Lyzeum besuchte. Rektor war hier
Johann Gottfried Heinitz, der zuvor
Gotthold Ephraim Lessing in Kamenz
unterrichtet hatte. 1773 bezog Mei߬
ner die Universität und studierte bis
1776 in Wittenberg und Leipzig zu¬
nächst Jura und später auch Rhetorik
und Geschichte. In Leipzig vermit¬
telte ihm Ernst Platner Grundlagen
der psychosomatischen Medizin, die
Meißners spätere Kriminalerzählun¬
gen maßgeblich beeinflussen sollten.
Bereits während des Studiums begeis¬
terte sich Meißner für Theater und
Dichtung und pflegte Umgang mit
den Mimen Conrad Ekhof, Friederike
Sophie Seyler und Ester Charlotte
Brandes. Seine ersten Versuche als
Dramatiker wurden von Johann Jacob
Engel gefördert. 1776 erschienen
einige erfolgreiche Werke Mei߬
ners, darunter die komische Oper
„Das Grab des Mufti“. Er gab zudem
historische Schriften zur Geschichte
Englands, dessen gesellschaftliches
System er bewunderte, und Deutsch¬
lands heraus.
Weil sich die Mutter Sorgen um die
wirtschaftliche Zukunft ihres Sohnes
machte, entschied sich Meißner für
eine Beamtenlaufbahn am sächsi¬
schen Hof in Dresden, wo er eine
Anstellung als Geheimer Kanzellist
im Geheimen Konsilium und wenig
später am Geheimen Archiv erhielt.
Seine schauspielerischen Neigungen
lebte er am Societaetstheater aus.
In Dresden erreichte Meißner den
Höhepunkt seiner schriftstellerischen
Laufbahn. Mit Karl Christian Canz-
ler gab er die Quartalsschrift „Für
ältere Litteratur und neuere Lectüre“
heraus. Es entstanden die Romane
„Alcibiades“ und „Bianca Capello“,
die Persönlichkeiten der italienischen
Renaissance bzw. der griechischen
Antike gewidmet waren, das Singspiel
„Alchemist“ und die Schauspiele „Ar-
215
Seinen Roman Alcibiades von 1781
widmete Meißner dem Maler Jo¬
hann Eleazar Zeissig (Schenau).
Schenau schuf die Zeichnung zum
Titelbild, die von Ephraim Gottlieb
Krüger gestochen wurde.
sene“ und „Johann von Schwaben“.
Seine Kantate „Das Lob der Musik“
wurde von Hofkapellmeister Joseph
Schuster vertont. Zudem startete
Meißner 1778 seine „Skizzen“ (pro¬
saische Aufsätze, Anekdoten, Erzäh¬
lungen, Fabeln), die schließlich in 14
Sammlungen erschienen. Sie zeichne¬
ten sich durch eine angenehme Art zu
erzählen, Einbildungskraft und Witz
aus und begründeten maßgeblich
seinen Ruf. Meißner hielt in Dres¬
den enge Beziehungen zu führenden
Künstlern seiner Zeit, darunter den
Hofkapellmeistern Johann Gottlieb
Naumann, dessen Biografie er verfass¬
te, Joseph Schuster und Franz Seyde-
lmann, die mehrere Stücke Meißners
vertonten, dem aus Zittau stam¬
menden Schriftsteller Karl Friedrich
Kretschmann und der Dichterin Elisa
von der Recke sowie den Malern Jo¬
hann Eleazar Zeissig und Crescen-
tius Jakob Seydelmann. Um die Hand
der Malerin Dora Stock, einer Tante
von Theodor Körner, bemühte er sich
vergeblich. Als Vertreter der Aufklä¬
rung kritisierte Meißner wiederholt
den Hofstaat. Zwei Söhne von Hein¬
rich von Brühl, Hanns Moritz und
Alois Friedrich, gehörten trotzdem
zu seinem engen Bekanntenkreis. Seit
1780 war Meißner Mitglied der Ober-
lausitzischen Gesellschaft der Wissen¬
schaften in Görlitz. Von 1780 bis 1787
gehörte er der von Johann Samuel
Petermann, einem Sohn von Georg
Petermann, geleiteten Freimaurer-
Loge „Zum goldenen Apfel“ an. Mit
der Loge „Herkules“ in Schweidnitz
war er zuvor affiliiert.
1785 erhielt Meißner die Professur
der Philosophie an der Universität
Prag, vermutlich auf Empfehlung
von Ernst Platner. Er übernahm aber
schließlich die Ästhetik und klassi¬
sche Literatur. Meißner gab in Prag
die Zeitschrift „Apollo“ heraus und
gründete ein Buchgeschäft. Er ver¬
fasste Biografien zur griechisch-rö¬
mischen Geschichte wie „Spartacus“,
„Epaminondas“ und „Leben des Julius
Caesar“ sowie 1796 als Sammelband
seine „Kriminal-Geschichten“. In Prag
herrschte unter Kaiser Joseph II. ein
216
tolerantes, aufgeklärtes Klima, das
auch die Berufung eines protestanti¬
schen Professors wie Meißner zuließ.
Mit dem Tod des Kaisers 1790 gewan¬
nen jedoch an der Universität restau-
rative Bestrebungen um den katho¬
lischen Klerus an Einfluss, die auch
Meißners Lehrtätigkeit erschwerten.
1805 wechselte Meißner nach Fulda
als Konsistorialrat und Direktor des
Gymnasiums. Wie in Prag kam er als
protestantischer Lehrer in ein streng
katholisches Umfeld, in dem erst
1802 die Säkularisierung eingeführt
worden war. Weil Friedrich Wilhelm
von Nassau auf Seiten der Preußen
gekämpft hatte, besetzten nach der
Schlacht von Jena napoleonische
Truppen Fulda. Mit ihnen kam der
Typhus, der Meißner 1807 im Alter
von 53 Jahren, seiner Frau und zwei
Töchtern das Leben kostete.
Meißner war seinerzeit einer der
Lieblingsschriftsteller des Publikums
und insbesondere bei der weiblichen
Leserschaft angesehen. Seine ausge-
zeichenten Fremdsprachenkennt¬
nisse ermöglichten ihm anerkannte
Übersetzungen und Bearbeitungen
aus dem Französischen, Englischen,
Italienischen, Lateinischen und Grie¬
chischen. Die berühmten Schriftstel¬
ler seiner Zeit wie Johann Wolfgang
von Goethe und Ludwig Tieck sahen
ihn dagegen kritisch mit Hinweisen
auf sprachliche Mängel und fehlende
Originalität. Nach Meißners Tod gab
Christoph Kuffner dessen gesammelte
Werke in 56 Bänden heraus.
Clara Bianca von Quandt mit Laute,
1820 von Julius Schnorr von Ca-
rolsfeld gemalt. Meißners Tochter
heiratete zwölf Jahre nach dem
Tod des Vaters in Dresden Johann
Gottlob von Quandt. Zu den regel¬
mäßigen Gästen im Hause Quandt
gehörten Ernst Rietschel, Gott¬
fried Semper, Karl August Böt-
tiger und Gottlob Adolf Ernst
von Nostitz und Jänkendorf.
Quandt übte großen Einfluss auf
das Kunstgeschehen in ganz Sachsen
aus. Er war einer der Mitbegründer
des Sächsischen Altertumsvereins
und des Sächsischen Kunstvereins
sowie Mitglied des akademischen
Rats an der Kunstakademie und der
Dresdner Galeriekommission. 1830
kaufte er das Rittergut Dittersbach.
217
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©or Ü) 111 p|e ÜBelt tnii 811g unb Spott
3 n Staub jufammcnbtitbt;
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Sie foll e« laffett ftaijn,
©ott ift mii un«, ©ott unfer JJjort
Unb Gljrlftu« bridit un« ©nljn!"
So lubelt auf au« »oßer ©ruft,
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Ötgreifl’ä mit Sitigercall.
3 nm Opfer iieigt mit Orgeiflang
©rei«, Siuljm unb Dant unb glelj’n
3 m 8icberton unb frommen Sang
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„Grijalt’ un«, £ert, in reiner 8ei)c’
Unb tnad)’ un« feft unb treu,
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Unb Sieg Ijienieben fei.“
„ 3 n Deine §ut nimm, ©ott bee Mad>t,
Dein UBort in 3 efu Gßcift,
Unb jeig’ beut böfett ©etfi bet 9 iadjt,
Dafj Du SRegente bift V*
So mögt be« 8tebe« ißeßcnfcblag
Dlitdj’« licil'ge ©olicolpu«,
Der ütottfe ruft’« im Slißen nadj
Son feinet 3 l '0e au«.
O Dag be« «jerrn, bon ©olt gemadjt,
©ergip tijit, SadJfe.t, nidjt;
9 tad) ®iauben?}»,ing nnb finftrer 9 t'ac 8 (
©rfdjirt. fein ijetie« ?idft.
Der ÜBabeljcit ©lanj, ba« fei Dein Stern,
Dem Sinter ©lanbcnStccu:
Dtt wirft inPDienfte Deine« fitrrn,
3 m 8ldjt ber ©Sahrfteit frei!
Ä. SB. 9 )? i 11 a g, Ceftrer.
Karl Wilhelm Mittag veröffentlichte mehrere Gedichte im „Sächsischen
Erzähler“.
Mittag, Karl Wilhelm
Stadtchronist von Bischofswerda
24.12.1813 Rammenau - 29.04.1864 Langebrück
V: Johann Gottlieb, Häusler in Rammenau; M: Eva Rosina geh. Häntsche (*1.9.1785 Rauschwitz,
t24.11.1840 Rammenau), Tochter eines Freibauern; G: Johann Gottlieb (*24.3.1808 Rammenau,
t nach 1840), Hanne Eleonore (*13.8.1822 Rammenau, t nach 1840); E: 1843, Emilie Paulina
geh. Lommatzsch (Tochter von Karl Gottfried Lommatzsch, Rittergutspächter und Gutsbesitzer
in Burkhardswalde; ? Pferdezüchter Gottfried Leberecht Lommatzsch, *1803 Burkhardswalde)
Karl Mittag stammte aus einfachen
Verhältnissen. Er besuchte an seinem
Geburtsort Rammenau die Schu¬
le und blieb der Heimat zeitlebens
verbunden. Mit seinem ehemaligen
Kirchschullehrer Johann Gott¬
lob Riedel war er befreundet. Von
1830 bis 1834 besuchte Mittag das
Fletcher'sche Lehrerseminar in Dres¬
den. Zurückgehend auf eine Stiftung
von Friederica Christiana Elisabeth
Freifrau von Fletcher aus dem Jahre
1769 war es 1825 gegründet worden.
Es sollte Kindern aus einfachen Fa¬
milien den Zugang zum Lehrerberuf
ermöglichen. Unterricht und Woh¬
nung waren kostenlos. Das Seminar
stand unter der Administration von
Detlev Graf von Einsiedel, der wenige
Jahre zuvor als sächsischer Kabinetts¬
minister der Stadt Bischofswerda eine
Denkmalbüste für König Friedrich
August den Gerechten gestiftet hatte.
1835 erhielt Mittag seine erste An¬
stellung als Hilfslehrer in Siebenlehn.
Ab 1837 arbeitete er als Kirchschul¬
lehrer und Organist in Heynitz bei
Meißen. Hier zeichnete Mittag für
die Ausgestaltung der 300-Jahr Feier
der Reformation, von Heinrich dem
Frommen 1539 im albertinischen
Sachsen eingeführt, unter dem Pat¬
ronat von Christian Gottlob Adolph
von Heynitz mitverantwortlich. 1842
wurde die Heynitzer Kirche umgebaut
und dabei die Orgel umgesetzt. Am
30. April 1849 gehörte Mittag zu den
Rednern einer Volksversammlung
in Meißen, die zur Anerkennung der
Frankfurter Verfassung aufriefen.
Mittag war wissenschaftlich sehr
interessiert. In Meißen gehörte er der
Naturwissenschaftlichen Gesellschaft
ISIS an und auch zur Oberlausitzi-
schen Gesellschaft der Wissenschaf¬
ten zu Görlitz hatte er Kontakt. (Die
zitierte korrespondierende Mitglied¬
schaft konnte in den Mitgliederver-
zeichnissen nicht bestätigt werden.)
Die ISIS Meißen wurde zu jener Zeit
vom Mediziner Dr. Körner und die
Muttergesellschaft in Dresden von
dem bedeutenden Naturwissenschaft¬
ler Ludwig Reichenbach geleitet.
Zu den bekanntesten Projekten in
Meißen zählte die „Chronik des Gar¬
tenwesens und Feuilleton der Isis“, he¬
rausgegeben von Karl Andreas Geyer.
Mittag selbst überarbeitete 1853 das
219
„Religions- und Spruchbuch für
evangelisch-lutherische Volksschulen
mit Rücksicht auf Dr. Mart. Luthers
kleinen Katechismus“ von Karl W.
Lotze, erschienen in der 8. Auflage bei
Klinkicht Meißen. Bei diesem Verlag
publizierte er 1858 auch sein „Hand¬
buch zur Gewichtsreform in Sachsen:
Die gesetzlichen Bestimmungen.
Über Einführung eines allgemeinen
Landesgewichts“ im Zusammenhang
mit den Standardisierungsbestrebun¬
gen des Deutschen Zollvereins, das
sich sowohl an Geschäftsleute wie
auch an Privatpersonen richtete.
Von dem befreundeten Verleger
Friedrich May, seinerzeit kurz vor
dem Eintritt in die Dresdner Frei¬
maurerloge „Zu den drei Schwertern“,
der auch Christian Gottlob Adolph
von Heynitz angehört hatte, ließ sich
Mittag überzeugen, für Bischofswer¬
da eine neue Chronik anzufertigen.
Die vormalige aus dem Jahre 1713
ging auf den Bischofswerdaer Kan¬
tor Christian Heckei zurück. Heckei
schrieb darin die Arbeit von Michael
Pusch, Archidiakonus in Pirna, fort,
die dieser in zwei Auflagen 1658
und 1659 in Dresden veröffentlicht
hatte. Mittag ergänzte nicht nur die
letzten anderthalb Jahrhunderte,
sondern führte eigene umfangreiche
Recherchen im königlich-sächsischen
Hauptstaatsarchiv, im Meißner Stifts¬
archiv und im geheimen Finanzarchiv
durch und übersetzte vielfach origi¬
nale Urkunden aus dem Lateinischen
und dem mittelalterlichen Deutsch.
Detailliert schilderte er historische
Ereignisse wie die Einführung der Re¬
formation und den großen Stadtbrand
von 1813, aber auch die wirtschaft¬
liche Tätigkeit über mehrere Jahr¬
hunderte. Mittags Chronik von 1861,
dem 500. Jahr seit der Erteilung des
Stadtrechts an Bischofswerda, ging in
ihrer Detailtreue und Vollständigkeit
weit über ihre Vorgänger hinaus und
hat bis heute keinen entsprechenden
Nachfolger gefunden. Diese Chronik,
deren Erscheinen sich am 30. Juni
2011 zum 150. Mal jährte, ist ein noch
heute häufig zitiertes historisches
Werk und wurde inzwischen wieder
neu aufgelegt.
1862 ging Mittag als Kirchschullehrer
nach Langebrück. In seinen letzten
Jahren veröffentlichte er bei May
im „Sächsischen Erzähler“ mehrere
Gedichte, darunter im Februar 1864
zu Ehren seines ehemaligen Lehrers
Johann Gottlob Riedel anlässlich
dessen 50-jährigen Amtsjubiläums.
Schon zwei Monate später mussten
Riedel und May an gleicher Stelle dem
Freund mit einem Nachruf gedenken.
Quellen: Kirchenarchiv Rammenau; www.h-
conrad.de (Die Schüler des Lehrerseminars von
1825 bis 1925); „Bischofswerda in der Chronik,
Erinnerungen an Mittags-Chronik, die vor 70
Jahren am 30. Juni erschien“. Unsere Heimat,
Beilage zum Sachs. Erzähler, Nr. 26, 29. Juni
1931; Allgemeine deutsche naturhistorische
Zeitung, Gesellschaft Isis in Dresden, Jg. 1846,
1856; Sächsisches Kirchen- und Schulblatt, Bd.
12, Verlag Dörftling und Franke, 1862, S. 112;
Der Sächsische Erzähler, Nr. 86/31. Oktober
1863, Nr. 92/21. November 1863, Nr. 13/13. Feb-
220
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reideS Saijea-nf bieiiieom coUenter un» ein toterer
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Bit nun onjebrmten ili. tu Beinern Kaetmitme, frei
tot Cet IDell (U:
O, Oap reit Bein Sob ted» beftngeo filmten, taJ
Su Sit bereitet tuft bei bin Beinen, bei bin Seu-ot*
nem in J} unc S nno juü> in unfetet Btufl! Hub*
jejetdinii turd) Borwe beb öieifltS uut ^ettenb,
irarfl Bu ein neidiitfltt unc eifriget, aujjeifl tbntifler,
iteuet Sebret unc •lltbeittt im Slieinterge unc iieblidien
©atien Ce» Jtfmn unfere ©otli?, ein iiebecoller äiutit
une fotnentet Sattr, ein uufriitiiqer. iroblmcintnctt
unb iteilnetaiencrr Sr«“" 8 , em treue« £<rj. taS tut
>flUe reell* fetaluj. als «S/eniita unc GbriR 'illitn ibeuet
um trertb! ÜBaS Bu jur iBilcutii) Orfl menid)Iit»in
©eijies. tur 4'er6teitun,j trä fflobnn uuo ©öiriltben
unc tut BrutünCuna eines gottr«lürelaiigcu elnntS In
naben unc re iten JfrtitV« unter geofie-n ®üben unb
'flnftren,jimaeii gen’irft unc gteban, unc reaj Bu audi
uns getreten, tos tritt älllen unceraefjlid) bleiben!
e&aft Bti codi eine Saal qeiäei, Cie bis in alle CStoig»
leie teilte Snefttf trägt! Biö^r ett tHiicfcituui cer
gölttidacn ©nuoe £id> in einer bebrrn, beffetn ÜBeli
bealuden unc Bit ttn t'obn fpenctit, een eie nt ine
<5roe Bit nid» ju aeben cetntodtle!
Bttn auiijtidnrtinqnwr ©tili bilde ftqnrnt betab
aut Cie Beinen unc auf bie. Centn Bu (ebtet uuo
GqieCtt aurn unc auf und Cie luic noda im Corte
bet UnooUfotnmenbelt. cet Brbfun.|en ttttc cet Sdrnitr.
Jen naeiten ! 'Bit bilden in cbfiejencem ©laubtn unc
ctbebenoet ^effnuna bin au' JineS Baierbauf, für CaS
reit bienicocn erjiebtn unc ftlbfl noeb trtojot irttcen.
Dein Andenken
meines unvergesslichen Freundes
Herrn Carl Wilhelm Mittag,
Kirchsehullehrcr zu Langcbrüok,
gestorben den 29. April 1864.
Auch Du nicht mehr! Auch Dudom Tod verfallen,
Der besten Einer, heiss geliebter Freund!
Geschlossen schon sind jene dunklen Hallen,
Die mit dem UrsiolT deinen Leib voreinl.
Es schweift mein Blick in unbegrenzte Fernen,
Will fragen dort in Jenen ew’gen Siemen,
Warum so früh schon aus dem Erdenlhal,
Dein Geist einporstieg in den Slcruensaal?
Doch keine Antwort tönt aus jenen Höhen;
Des Räthsels Lösuug will der Wellgeist nicht.
So bleibt der Mensch auf dunklen Wegen stehen
Und sucht umsonst Gewissheit, Klarheit, Licht!
Sie ziehen hin, die uns so nahe standen,
Bei denen Trost wir und Erhebung fanden.
Mit denen wir im Leben oft verkehrt
Und manchen Becher süsser Last geleert.
Doch wie es ans, so geht es tausend Andern;
Der früh, der später seinem Ziele naht.
Wir müssen Alle rastlos weiter waadern
Und immer weiter — rückwärts führt kein Pfad.
Noch Keinen hat die strenge Zeit vergessen,
Ob er auf hohem Kaiserthron gesessen,
Ob ihm gefallen war der Armuth Loos,
Ob er ein neld war ruhmesvoll und gross.
Schlaf wohl mein Freund in Deiner engen Zelle,
Von Frühlingshauch und Blumenduft umweht.
Dein freier Geist schaut jetzt die Tageshelle,
Die lleckenlos in Ewigkeit besteht.
Wir werden dort vielleicht uns Wiedersehen,
Wo wir dem grossen Urgeist näher stellen,
Wo neues Leben, neue Freuden bliihn
Und neue Gcistcsdammen uns durchgliihn.
Bischofswerda, 5. Mai 1864. Fr. M.
Nachruf im „Sächsischen Erzähler“, Wochenblatt für Bischofswerda, Stol-
pen und Umgegend, Nr. 37/ 7. Mai 1864.
ruar 1864, Nr. 37/ 7. Mai 1864; Carl Ramming: „Rammings Kirchlich-statistisches Handbuch für das
Königreich Sachsen ... Nach handschriftlichen Angaben und amtlichen Quellen bearbeitet“. Ausg. 6,
Rammingsche Buchdruckerei, 1859; Franz Otto Stichart: „Jubelchronik der dritten kirchlichen Säcu-
larfeier der Einführung der Reformation in Sachsen: zur Erinnerung für das kommende Geschlecht
auf das Jubeljahr 1939“. Grimma, 1841; Wilhelm Haan: „Kirchlich-statistisches Handbuch für das
Königreich Sachsen oder Verzeichnis der in dem Königreiche Sachsen angestellten Geistlichen,
Schulmeister, Schullehrer, Cantoren aller Confessionen“. Bd. 3, Dresden, 1838; Cornelius Gurlitt:
„Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen“. Bd. 41,
1923, Meinhold Dresden; Dresdner Journal. Herold für sächsische und deutsche Interessen. Redigirt
von Karl Biedermann, Bd. 5, Teubner, 1849; Friedrich Adolf Peuckert: „Die ger. und vollk. St. Johan¬
nisloge zu den drei Schwertern und Asträa zur grünenden Raute im Orient Dresden 1738-1882“.
Bruno Zechel, 1883; Adressbücher der Stadt Dresden
221
Johann Gottfried Nake,
Nake, Johann Gottfried
Amtsverwalter und Schafzüchter der Wettiner
06.05.1770 Dresden - 18.04.1855 Kleindrebnitz
V: Johann Gottfried (*13.1.1726 Pillnitz, f4.4.1780 Dresden), kurfürstlicher Holzanweiser im
Ostraer Holzhof, Sohn von Georg Nake aus Pillnitz und Sabine geh. Kegel aus Mühlsdorf bei
Lohmen; M: Johanne Charlotte geh. Klippgen (*1735 Meißen ?, tl5.12.1807 Dresden), Tochter
eines Schneidermeisters aus Meißen; G: Karl Friedrich (*29.10.1771 Dresden, Inhaber einer
Materialwarenhandlung in Dresden, verh. mit Sophie Friederike Ursinus, Tochter des Wils¬
druffer Bürgermeisters), Christoph Traugott (*4.1.1773, tll-10.1847, kurfürstlicher Geheimer
Registrator beim Geheimen Rat), Eva Charlotte Gertraude (*9.6.1775 Dresden, (8.5.1827, verh.
mit dem kursächsischen Pagenmeister und Pfarrer in Wachau Heinrich Benjamin Eras), Chris¬
tine (13.9.1776-17.9.1776), Marie Elisabeth (14.2.1778-1.5.1782); E: 7.9.1797 Wachau, Friede¬
rike Auguste geh. Schmaltz (*25.12.1773 Stolpen, (8.2.1864 Kleindrebnitz); K: Emst Wilhelm
(*3.9.1798,113.10.1876 Pirna, langjähriger Gerichtsamtmann in Altenberg), Auguste Wilhelmi¬
ne (*8.4.1800 Rennersdorf, t24.6.1870 Bischofswerda, verh. mit Emst Traugott von Zenker, Rit¬
tergutsbesitzer auf Steinigtwolmsdorf und Ringenhain), Hermann Ludwig (27.6.1801-21.4.1877,
Gymnasium Schulpforte, Advokat, Gerichtsdirektor, Mitarbeit in der Kommission für Ablösun¬
gen und Gemeinheitsteilungen, Stadtrat in Dresden, Vater des 2. Bürgermeisters Dr. jur. Ernst
Heinrich Nake), Auguste Louise (*3.11.1802, t28.9.1882 Radeberg, verh. mit dem Pfarrer von
Wachau Ernst Albert Eras), lulius Moritz (25.1.1804-30.11.1811), Pauline Charlotte (*22.8.1805,
t26.4.1903 Pirna, verh. mit dem Pfarrer von Podelwitz Johann Karl Gottlieb Lohse), Laura
Heloise (20.1.1807-12.11.1862, verh. mit dem Direktor der Königstädtischen Realschule Berlin
Gabriel Marie Theodor Dielitz), Bernhard Theodor (1.4.1808- 1.10.1859, Advokat in Radeburg,
Neustadt, Bischofswerda, Ebersbach), Bruno Maximilian (10.8.1810-1.9.1811), Alwin Bruno
Julius (*14.4.1812, t29.9.1868 Bischofswerda, aufgrund einer geistigen Erkrankung erwerbsun¬
fähig), Moritz Theophron (*6.12.1813, t um 1870 in Brasilien, Studium an der Forstakademie
Tharandt, Pächter landwirtschaftlicher Güter, Landesproduktenhändler in Dresden, angestellt in
der Mineralwasseranstalt seines Schwagers Dietrich Reh), Oswald Theodor (31.8.1818—
18.1.1883, Advokat in Leisnig, Mitglied des sächsischen Landtags 1849/1850)
Nake verlor früh seinen Vater. Die
Mutter konnte ihren Kindern den¬
noch eine gute Ausbildung ermög¬
lichen. In Dresden, wo die Familie
das Haus Wilsdruffer Gasse 16 besaß,
besuchte Nake die Kreuzschule. Ab
1791 studierte er zusammen mit
seinem Bruder Christoph Traugott in
Leipzig Kameralwissenschaften. Da¬
nach absolvierte Nake im Kammergut
Rennersdorf ein Praktikum. Ab 1794
arbeitete er als Wirtschaftsschreiber
im Vorwerk Lohmen und ab Dezem¬
ber 1795 in Rennersdorf, den zwei
sächsischen Stammzuchtstellen für
Merinoschafe.
1796 übernahm Nake das Kammer¬
gut Renners dorf als Administrator
im Range eines Amtsverwalters. Er
gehörte damit neben dem in Stolpen
residierenden Justizamtmann Benja¬
min August Scheibner und dem Rent-
beamten Johann Gottfried Traugott
223
darin, die feudalen Fronleistungen
der Bauern und Häusler aus den
Amtsdörfern einzufordern. Allerdings
profitierte das Kammergut davon
in geringerem Maße als das Amt in
Stolpen. Die umliegenden Dörfer
hatten dem Kammergut Gesinde zu
stellen und mussten aushelfen, wenn
dessen eigenes Personal die Arbeit
nicht schaffte. Viele Fronarbeiten
wurden auch in den dem Kammer¬
gut zugeordneten Vorwerken, z. B.
in Altstadt, und den Schäfereien
geleistet. Erich Barth schreibt: „Die
Ackerdörfer waren gehalten, alle zum
Vorwerk Rennersdorf gehörenden
Getreidefelder allein zu bestellen und
abzuernten“ (zu den Ackerdörfern
gehörten beispielsweise Lauterbach
und Wilschdorf) sowie: „Das große
Kammergut Renners dorf bestellte
„Vorwerk“ Kleindrebnitz: Histori¬
sche Torausbildung der mit Kreuz¬
gewölben gedeckten Hofeinfahrt
(oben); heutige Ansicht (rechts).
Conradi zu den höchsten Vertretern
des Kurfürsten im Amt Stolpen. Das
Kammergut unterstand direkt dem
Geheimen Finanzkollegium ohne
zwischengeschaltete Mittelbehörde.
Nake verantwortete mehrere Vorwer¬
ke und Schafzüchtereien sowie die
Schäfereischule in Stolpen. Das Amt
Stolpen ging auf ehemals bischöf¬
lichen Besitz um Stolpen und Bi¬
schofswerda zurück, der seit 1559 den
Kurfürsten gehörte. Die Amtsschösser
oder Amtsverwalter fungierten als
unmittelbare Vertreter der jeweiligen
Landesherren, wobei den örtlichen
Erbrichtern, wie beispielsweise in
Kleindrebnitz, relativ große Eigen¬
ständigkeit gewährt wurde.
Eine Aufgabe des Amtsverwalters
im Kammergut Rennersdorf bestand
224
seine eigenen Felder und die der an¬
gegliederten Schäferei selbst.“
Auf den kurfürstlichen Besitzungen
Lohmen und Rennersdorf sowie
nach der Aufhebung eines völligen
Verkaufsverbots auch von verschiede¬
nen Rittergütern wurden besonders
feinwollige Merinoschafe („Elektoral-
schafe“) gezüchtet. Die Qualität der
„Elektoralwolle“ überstieg jene der
seit 1765 unter dem Prinzregenten
Xaver aus Spanien eingeführten Me¬
rinos und machte Sachsen zu einem
führenden Exportland für Schafwol¬
le, die außerdem die Grundlage der
prosperierenden sächsischen Textil¬
industrie darstellte. Nakes Zuchtleis¬
tungen machten ihn international
bekannt und wohlhabend. Von 1779
bis 1811 wurden von Rennersdorf
insgesamt 10.000 Tiere an inländische
Schäfereien abgegeben. Der Gesamt¬
bestand durch Merinos veredelter
1802 gab es in ganz Australien erst
33.000 Schafe. 1812 gelang es John
Macarthur, die ersten sächsischen
Merinos zu importieren.
Das Kammergut Rennersdorf
(Gustav Täubert/Wilhelm Riedel,
Deutsche Fotothek, Lizenz CC BY-
SA 4.0).
Schafe in Sachsen belief sich 1800 auf
90.000. 1804 befanden sich in den
kurfürstlichen, ab 1806 königlichen
Schäfereien 3.400 reinblütige Merinos
spanischer Abstammung. Eingeführt
hatte man anfangs etwa 200 Tiere.
Neben seiner beruflichen Tätigkeit
in Rennersdorf betrieb Nake privat
Karpfenteichwirtschaft. Er hatte dazu
den Goldbacher und Weickersdorfer
Teich aus dem Besitz des Amtes Stül¬
pen gepachtet. Um die Teiche besser
bewirtschaften zu können, erwarb
er 1810 eine benachbarte Fläche der
Gemeinde Kleindrebnitz. Statt der
geplanten einfachen Hilfsgebäude
ließ er sich hier 1811 von Gottlob
Friedrich Thormeyer ein größeres
Anwesen mit Wohnhaus, Scheune
und Zugviehstall errichten. Die im
Ort dafür heute übliche Bezeichnung
als „Vorwerk“ ist nicht korrekt. Der
225
Johann Gottfried Nake kaufte das Erbgericht Kleindrebnitz 1822 von Jo¬
hann George Steglich, 1849 verkaufte er es an Carl Gottfried Gnauck. Das
Foto wurde von Uwe Fiedler der Wikipedia zur Verfügung gestellt.
Gebäudekomplex war das private
Anwesen des Verwalters des königli¬
chen Kammergutes und nicht dessen
Außenstelle. Es wurde zur Grün¬
dungszeit auch nur als „Anbau“ (zu
den Amtsteichen) bezeichnet.
Nakes Schäfereien wurden während
des napoleonischen Kriegs bis 1813
geplündert und verwüstet, weil mehr¬
mals Truppenverbände durch die
Gegend um Stolpen zogen. Um die
Herden aufzufrischen, ergänzte man
danach den Rennersdorfer Bestand
mit Tieren aus dem Ausland. Auch
die fronpflichtigen Dörfer litten unter
den Nachwirkungen des Kriegs. In
den Folgejahren vergrößerte Nake
sein privates Anwesen in Kleindreb¬
nitz durch den Kauf benachbarter
Flächen erheblich. Die Teiche legte er
schrittweise still und er begann, auf
eigene Rechnung Schafe zu züchten.
Der Komplex umfasste schließlich
sieben Gebäude einschließlich zweier
Schafställe und einer Brennerei.
1819 gelang es Nake, die Flächen der
Amtsteiche für 2.100 Taler zu kau¬
fen. Der zuständige Amtshauptmann
von Stolpen war seinerzeit Eduard
Gottlob von Nostitz und Jänken-
dorf. Als Mitarbeiter beim Geheimen
Finanzkollegium blieb jener auch in
den Folgejahren eine wichtige Be¬
zugsperson für Nake.
226
Nake bewirtschaftete sein Anwesen
nicht selbst, sondern übertrug dies
einem Vogt. 1822 kaufte er zusätzlich
das Kleindrebnitzer Erbgericht. Nakes
Motive bestanden darin, zum Vor¬
werk benachbarte landwirtschaftliche
Flächen zu erwerben und neben der
Schafzucht auch herkömmliche Land¬
wirtschaft betreiben zu können. Eine
Rolle spielte vermutlich aber auch,
dass der Unternehmer in Kleindreb¬
nitz und hohe königliche Vertreter in
Rennersdorf dadurch zusätzlich Ein¬
fluss auf die örtliche Gerichtsbarkeit
in Kleindrebnitz erlangte. Zu Nakes
Obliegenheiten gehörte die Organisa¬
tion der Fronleistungen, die das Dorf
gegenüber Kammergut Rennersdorf
und Amt Stolpen zu erfüllen hatte.
Als „Dungdorf“ war Kleindrebnitz
für die Düngung der königlichen
Felder zuständig, man musste Ge¬
höftarbeiten leisten, die Flachsfelder
bearbeiten, Holz- und Transportar¬
beiten übernehmen und die Jagden
unterstützen. Die Fluren sollten von
den Schafen des Kammergutes „be¬
hütet“ werden. Als Grundbesitzer in
Kleindrebnitz war Nake Fronpflichti¬
ger, als Administrator in Rennersdorf
Kontrolleur. Sein Versuch, Ausschank
und Beherbergung sowie die Durch¬
führung von Versammlungen vom
Erbgericht in das Vorwerk zu verle¬
gen, scheiterte am Widerstand der
Kleindrebnitzer. Damit musste er
auch seinen Plan aufgeben, die Erbge¬
richtsgebäude komplett zu vermieten
und die Flächen ausschließlich vom
Vorwerk aus zu betreiben.
Wegen der Bedeutung der Schafzucht
für Sachsen bestand in den 1820er
Jahren „Die wegen Veredelung der
Schäfereien im Königreiche Sachsen
Verordnete Commission“. Sie unter¬
stand direkt dem Geheimen Kabinett
unter Detlev Graf von Einsiedel und
wurde von Peter Carl Graf von Ho-
„Dem Elektoralschafe war eigen:
eine kleine Figur von feinem Kno¬
chenbau; langer schwacher Kopf,
feiner Hals, hoher scharfer Stock
mit schmalem Rücken, schmales
abgeschliffenes Kreuz; seichte enge
Brust mit solchem Bauche; hohe
Beine mit mageren Schultern und
Schenkel; ein feines Fell ohne Falten
mit schwachem Köder“ (Georg May:
„Das Schaf: seine Wolle, Rassen,
Züchtung, Ernährung und Benut¬
zung, sowie seine Krankheiten“, Bd.
1, Breslau 1868, S. 181-182; Abb.:
vierjähriges Mutterschaf, Rudolph
Andre 1824). Der in Wilschdorf bei
Rennersdorf aufgewachsene Ro¬
bert Heller erwähnte die Elek-
toralwolle in seinem Roman „Der
Schleichhändler“.
227
Auf dem Territorium des Amtes Stolpen (AS) lebten 1832 etwa 28.500 Men¬
schen, davon ungefähr 24.000 in Dörfern.
henthal geleitet. Neben Nake gehörte
ihr auch der Lohmener Amtsverwal¬
ter Edmund Sison an.
Nakes private Schafzucht blieb
wirtschaftlich weniger erfolgreich als
gehofft. König Friedrich August der
Gerechte wollte nach den napoleo-
nischen Kriegen mit dem kurzfristig
ertragreichen Export von Zucht¬
schafen die Not im Land lindern,
beförderte damit aber gleichzeitig
verstärkte Konkurrenz, beispielsweise
aus Australien. Auch in den USA und
Russland waren sächsische Merinos
gesucht. Die immer populärer wer¬
dende Baumwolle und billige Importe
aus England verminderten die Nach¬
frage der Textilindustrie nach Schaf¬
wolle. Der sächsische Schafbestand
sank in zwei Jahrzehnten bis 1855 um
ein Drittel auf etwa 400.000. Zudem
verursachte die Hochzüchtung der
Elektoralschafe Inzuchtprobleme.
Kritiker bemängelten eine einseiti¬
ge Überbetonung der Wollqualität
zulasten eines stabilen Körperbaus.
Verteidigt wurde Nake von August
Gottfried Schweitzer, der ab 1830 an
der Forstakademie Tharandt eine neu
geschaffene landwirtschaftliche Ab¬
teilung leitete und den Stammzucht¬
stellen Lohmen und Rennersdorf als
Schäferei-Kommissar Vorstand.
Die 1830er Jahre waren in Sachsen
durch tiefgreifende Reformen unter
König Anton dem Gütigen und dem
neu ernannten Mitregenten Friedrich
August II. geprägt, die auch die Arbeit
Nakes beeinflussten. Bruno Barthel
schrieb 1907 in „Altes und Neues aus
228
Groß- und Kleindrebnitz“ mit Bezug
auf die Wirkungen des von Heinrich
August Blochmann mitverfass¬
ten Gesetzes über „Ablösungen und
Gemeinheitsteilungen“, das Sachsens
Bauern bis 1852 schrittweise von
vielen Frondiensten und Abgaben
befreite: „Nachdem alle diese Ablö¬
sungen geordnet waren, wurden die
Grundstücksbesitzer hier und an-
dernwärts eigentlich erst freie Herren
ihres Eigentums und hatten nun ein
ganz anderes Interesse an der Verbes¬
serung desselben wie früher. Deshalb
wurde dadurch auch ein gewaltiger
Fortschritt in der sächsischen Land¬
wirtschaft eingeleitet und damit in
der Hauptsache auch ein erfreulicher
Aufschwung der ganzen wirtschaft¬
lichen Lage unseres Vaterlandes her¬
vorgerufen.“ Wenn die Grundbesitzer
die Ablösesummen nicht aufbringen
konnten, erhielten sie von der Land¬
rentenbank Kredit. Hinsichtlich der
Verpflichtungen gegenüber dem
Kammergut Renners dorf begannen
beispielsweise die Rentenzahlungen
in Großdrebnitz 1838. Das Kam¬
mergut Rennersdorf unterstand seit
1831 dem neu eingerichteten Finanz¬
ministerium unter Heinrich Anton
von Zeschau. Nake gehörte dem von
Zeschau geleiteten Verein für Statistik
des Königreichs Sachsen an, für den
auch Paul Hermann arbeitete und
dessen Aufgabe darin bestand, mit
statistischen Erhebungen zur Bevöl¬
kerung und Wirtschaft die Regierung
zu unterstützen.
Nake beteiligte sich seit den 1820er
Jahren aktiv an der Arbeit mehre¬
rer elitärer Vereine. Wie Gottlob
Friedrich Thormeyer und Gott¬
lob Adolf Ernst von Nostitz
und Jänkendorf gehörte er der
Ökonomischen Gesellschaft im Kö¬
nigreiche Sachsen an. Mitglied war
auch Peter Carl Graf von Hohenthal,
dessen Vater, ein Konferenzminis¬
ter, zu den Gründern gehört hatte.
Nake beantwortete hier Fragen zu
Klee und Kohlgewächsen und kom¬
mentierte Artikel zur Schafzucht.
1823 hatte er in der „Deputation für
landwirtschaftliches Bau- und Ma¬
schinenwesen“ mit Georg Heinrich
von Carlowitz, Gustav von Flotow,
Landbaumeister Friedrich Gottlob
Röber, Rudolf Sigismund Blochmann
und Wilhelm Gotthelf Lohrmann
zusammengearbeitet. Sie bewerte¬
ten die Einrichtung der Ställe und
Düngerstätten. 1837 nahm Nake an
der ersten Versammlung deutscher
Landwirte in Dresden teil. Zu den
sächsischen Teilnehmern der von Au¬
gust Gottfried Schweitzer maßgeblich
organisierten Veranstaltung zählten
auch Nakes Sohn Moritz Theophron
aus Kleinwolmsdorf, Julius Gott¬
lob von Nostitz und Jänkendorf
und Heinrich August Bloch¬
mann. Nakes Ehrenmitgliedschaft
im Sächsischen Altertumsverein ist
insofern sehr bemerkenswert, dass
sich dieser Verein durch eine erlesene
Mitgliederschaft auszeichnete. Karl
August Böttiger und Gottlob
Adolf Ernst von Nostitz und Jän-
229
Schafherde vor der Cicorienfabrik
Goldbach (1859), nahe dem Klein-
drebnitzer „Vorwerk“ gelegen.
(Deutsche Fotothek, CC BY-SA 4.0)
kendorf waren maßgeblich an der
Gründung beteiligt gewesen. In den
1830er und 1840er Jahren gehörten
Oberhofprediger Christoph Friedrich
Ammon, der Pädagoge Karl Justus
Blochmann, Theodor Hell, Ernst
Rietschel und Gottfried Semper
zu den berühmtesten Mitgliedern.
Kronprinz Johann stand dem Präsi¬
dium vor. Die Ehrenmitgliedschaft
ist vermutlich vor dem Hintergrund
zu sehen, dass Nake 1841 dem im
Großen Garten neu eingerichteten
Museum des Altertumsvereins das
Wochenbett der Kurfürstin Anna
sowie Gemälde übereignete, die er
während des letzten napoleonischen
Kriegs aus Schloss und Schlosskapelle
Stolpen geborgen und danach aufbe¬
wahrt hatte.
1844/45 wurden beim Bau der
Sächsisch-Schlesischen Eisenbahn
Kleindrebnitzer und Weickersdorfer
Flur und damit auch Weideflächen
von Nake durchschnitten. 1849 ver¬
kaufte er das Erbgericht Kleindrebnitz
an Carl Gottfried Gnauck, den Vater
von Ernst Gnauck. Seit der sächsi¬
schen Landgemeindereform von 1838
stand Carl Gottfried Gnauck als erster
gewählter Gemeindevorstand dem
Dorf vor.
Weil er weiterhin in Rennersdorf
wohnte, hatte Nake seine Anwesen
in Kleindrebnitz zeitweilig vermietet
bzw. verpachtet. 1849 wurde Max
Neumeister im Vorwerk geboren.
Der Vermerk bei Bruno Barthel zu
einer Wohnung der Familie Neumeis¬
ter dort ist sehr glaubwürdig. Der
Vater von Max Neumeister, Heinrich
Neumeister, war königlicher Jäger
in Revieren der Stolpener Amtsdör¬
fer. 1851, im Jahr des Wegzugs der
Neumeisters nach Leubsdorf, bezog
Nake selbst sein Anwesen, nachdem
er sich in seinem 82. Lebensjahr hatte
pensionieren lassen, weil das Ren-
nersdorfer Kammergut verpachtet
worden war. Aus Altstadt bei Stolpen
stammte der Orgelbauer Wilhelm
Leberecht Herbrig. Für ihn wird ab
1852 eine Werkstatt in Kleindrebnitz
angegeben, ohne dass es Hinweise auf
die genaue Ortslage gibt. Auch hier
ist denkbar, dass er Räumlichkeiten
im Vorwerk angemietet hatte. Schon
1828 besaß dessen Vater, Christian
Gottfried Herbrig, eine - ebenfalls
nicht lokalisierte - Werkstatt in
Kleindrebnitz, als er die Großdrebnit-
zer Orgel baute. Wilhelm Leberecht
Herbrig zog 1864 von Kleindrebnitz
230
Die ehemals königlich-sächsische Zucht bildet eine der fünf Hauptstamm¬
linien der australischen Merinos. Schafe dieser Rasse gelten nach wie vor
als die besten Wolllieferanten. Foto: Steven Walling (Wikimedia Commons,
CC BY-SA 3.0)
nach Neudrebnitz, im selben Jahr, als
die Witwe Nake in Kleindrebnitz ver¬
storben war. Das Vorwerk befand sich
seit 1857 im Besitz von Nakes Enkel
Ernst Julius von Zenker und wurde
später als Industriestandort genutzt.
Quellen: Heinrich Nake: „Angehörige der Familien
Nake und Schmaltz vom Ausgange des 18. Jahrhun¬
derts bis 1912“; Roland Paeßler: „Zur wechselvollen
Geschichte der sächsischen Schafzucht“. In: Aus
Natur und Volksweisheit, hrsg. vom Landesver¬
ein Sächsischer Heimatschutz, Bautzen 2003, S.
201-205; Roland Paeßler: „Nake, Johann Gottfried“.
Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Säch¬
sische Geschichte und Volkskunde e.V., bearb. von
Martina Schattkowsky, 2006; Roland Paeßler: „Die
Erbrichter in der Umgebung von Bischofswerda“.
In: Mathias Hüsni (Hrsg.), Schiebocker Landstrei¬
cher, H. 3, Burkau 2008, S. 8-16, zusammengestellt
und bearbeitet von Dr. Uwe Fiedler; Dresdner
Adressbücher, 1799, 1862, 1868; Churfürstlich-
Sächsischer Hof- und Staatscalender, 1799, 1826;
Cornelius Gurlitt: „Beschreibende Darstellung der
älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs
Sachsen“; Wilhelm Adolf Lindau: „Dresden und
die Umgegend“. Arnoldische Buchhandlung, Bd.
2, 1822; Schöne: „Die Sächsische Landwirtschaft“.
1925; Schriften und Verhandlungen der Ökonomi¬
schen Gesellschaft im Königreiche Sachsen, 1828;
Bruno Barthel: „Altes und Neues aus Groß- und
Kleindrebnitz“. Friedrich May Bischofswerda,
1907; Amtlicher Bericht Versammlung deut¬
scher Land- und Forstwirthe in Dresden, 1838;
Heinrich Janke: „Die Wollproduktion unserer
Erde und die Zukunft der deutschen Schafzucht:
Nebst praktischen Züchtungsregeln“ Joh. Urban
Kern, Breslau, 1864; August Gottfried Schweitzer:
„Ausführlicher Bericht über einen in der königl.
sächsischen Stammschäferei zu Rennersdorf mit
der Erziehung zweijähriger Kammwolle gemach¬
ten Versuch“. In: Oekonomische Neuigkeiten
und Verhandlungen, Zeitschrift für alle Zweige
der Land- und Hauswirthschaft, des Forst- und
Jagdwesens im Oesterreichischen Kaiserthum, Bd.
39, S. 129-135, Calve, 1835; Mittheilungen des
Statistischen Vereins für das Königreich Sachsen,
1833; Sächsischer Altertumsverein: Mittheilungen,
Ausg. 7-14; Bericht über die Arbeiten des Königl.
Sächsischen Vereins für Erforschung und Erhaltung
Vaterländischer Alterthümer, 1841, 1842; Bruno
Barthel: „Die Stolpener Amtsteiche und das Vor¬
werk Kleindrebnitz“. Beilage „Unsere Heimat“ zum
„Sächsischen Erzähler“, Nr. 6-7, 1922; Dr. Klaus
Mann, Mitteilungen zur Orgelbauerfamilie Herbrig;
Erich Barth: „Frondienste für die Burg und das
Amt Stolpen“. Stolpner Hefte, H. 9, 2001
231
Max Neumeister (Archiv Fachrichtung Forstwirtschaft Tharandt, TU Dresden).
Neumeister, Max Heinrich August
Professor, Forstwissenschaftler in Tharandt
15.05.1849 Kleindrebnitz - 01.12.1929 Dresden
V: Johann Heinrich (*7.9.1819 Baruth, tll.1.1878 Kleinröhrsdorf), Geodät bei der Königl. Lan¬
desvermessung Wartha, 1844 Absolvent der Forstakademie Tharandt, 1848 Jäger im Altstädter
Revier, 1851 Unterförster in Leubsdorf, 1858 Königl. Sächs. Oberförster in Landesgemeinde,
später Kleinröhrsdorf; M: Auguste Caroline Sophie geh. Geisler (*27.2.1830 Weickersdorf,
11910 Sebnitz), lebte als Witwe bis 1908 in Dresden; G; Curt Willinwald (*16.9.1851 Leubsdorf,
18.3.1931 Leubsdorf, 1873 Absolvent der Forstakademie Tharandt, Königl. Förster), Richard
Eugen (*26.12.1852 Leubsdorf, t Cannstatt bei Stuttgart, Sprachlehrer), Arthur Heinrich
(*26.4.1857 Leubsdorf, besuchte die Kreuzschule Dresden), Rosa Concordia (*24.4.1858 Lan¬
desgemeinde, Technische Zeichnerin), Sophie Elisabeth verh. Stein (*1860,114.3.1920 Sebnitz),
Ernst Alexander (*17.4.1863 Landesgemeinde, 121.6.1918 Ostrau, Annenschule Dresden, Kö¬
nigl. Förster), Selma Maria (*10.3.1866 Kleinröhrsdorf); E; 20.10.1876 Dresden, Agnes Owella
Franziska geh. Fincke (*7.1.1852 Schöneck, 113.1.1938 Dresden), Tochter des Rentamtmanns in
Marienberg und vormaligen Bürgermeisters von Schöneck Friedrich Wilhelm Fincke; K: keine
Der Försterberuf hatte in der Fami¬
lie von Max Neumeister Tradition.
Schon sein Urgroßvater Peter Chris¬
tian August Neumeister (*11.10.1755
Putzkau, 110.3.1811 Crosta) war
hochgräflicher Förster und Schloss¬
verwalter. Der Großvater Johann
Heinrich Neumeister (*21.1.1783
Gleina bei Guttau, 122.11.1839 Neu-
Callenberg) arbeitete als Revierförster
und Schlossverwalter.
Neumeisters Geburtshaus, das so¬
genannte „Vorwerk“, war 1811 nach
Plänen von Gottlob Friedrich
Thormeyer errichtet worden. Der
Rennersdorfer Kammergutsverwalter
und Schafzüchter des sächsischen
Königs Johann Gottfried Nake
versuchte, auf den Flächen der stillge¬
legten Amtsteiche von Goldbach und
Weickersdorf auf eigene Rechnung
Merinoschafe zu züchten.
Die Familie Neumeister verließ
bereits 1851 Kleindrebnitz, nach¬
dem der Vater eine neue Anstellung
in Leubsdorf im Vogtland erhalten
hatte. Nach dem Besuch des Real¬
gymnasiums Annaberg absolvierte
Max Neumeister ein Vorpraktikum
im Forstamt Landesgemeinde sei¬
nes Vaters und arbeitete ein Jahr im
Staatsforstrevier Kleinröhrsdorf, der
nächsten Dienststelle des Vaters.
Das Kleindrebnitzer Vorwerk war
nach Bruno Barthel Neumeisters
Geburtshaus.
233
Während des Studiums der Forst¬
wirtschaft von 1867 bis 1869 an
der Akademie Tharandt gehörten
Johann Friedrich Judeich („Sächsi¬
sche Bestandeswirtschaft“) und Max
Preßler („Bodenreinertragslehre“)
zu Neumeisters wichtigsten Lehrern.
Julius Adolph Stöckhardt unterrichte¬
te Chemie, Friedrich Nobbe Botanik
und Pflanzenphysiologie. Seit ihrer
Gründung durch Heinrich Cotta im
Jahre 1816 hat die Forstakademie
unser heutiges Waldbild entscheidend
geprägt: Die ungeplante Bewirtschaf¬
tung des Bauernwaldes, Ursache für
den damals verbreiteten Verfall der
Wälder, wurde ersetzt durch plan¬
volle Aufforstung und Ernte. Ein
systematisches Wegenetz war für die
wirtschaftliche Nutzung des Waldes
besser geeignet als Jagdwege, die sich
spinnenförmig von einem Zentrum
ausbreiteten. Seit ca. 1860 verband
die „Sächsische Bestandeswirtschaft“
wirtschaftliche Kriterien mit wald¬
baulichen Aspekten wie Altersklassen
und räumliche Ordnung. Aufgabe der
Absolventen war es, das Gelernte in
die Praxis überzuführen. Für her¬
vorragende Studienleistungen wurde
Neumeister eine Medaille verliehen.
Nach dem Studium wechselte Neu¬
meister in die Praxis und arbeitete
zwei Jahre im Langebrücker Staats¬
forstrevier, benachbart gelegen zum
Kleinröhrsdorfer Revier des Vaters.
Diese wie eine einjährige Tätigkeit an
der Königlich-Sächsischen Forstein¬
richtungsanstalt Dresden gehörten
zu den Voraussetzungen für eine
Laufbahn im höheren sächsischen
Staatsforstdienst. Aus dem Jahr
1871 stammt die erste Publikation
Neumeisters mit Beobachtungen in
Langebrück zu Generationen des
Fichtenborkenkäfers. 1872 bestand
er die Staatsprüfung für den höheren
Forstdienst mit Auszeichnung und
wurde an der Forsteinrichtungsanstalt
Dresden angestellt. Entsprechend
gehörten Forsteinrichtungs arb eiten
zu seinen Hauptaufgaben. Neumeister
arbeitete in Görlitz, auf den fürstlich-
reußischen Besitzungen, auf den
fürstlich-claryschen Besitzungen in
Böhmen und in verschiedenen Staats¬
forstrevieren. 1877 beteiligte er sich
mit dem Beitrag „Windmantel oder
Waldmantel“ an der Versammlung
sächsischer Forstvereine in Zittau.
1880 vertrat Neumeister den zweiten
forstlichen Professor Max Weißwan¬
ge in Tharandt bei Vorlesungen zu
Waldbau und Forstschutz. Zu den
Pflichten des zweiten forstlichen Pro¬
fessors gehörte auch die Verwaltung
des Staatsforstreviers Tharandt, das
als Lehr-Forstrevier der Verbindung
von Theorie und Praxis diente. Als
Weißwange nach Tharandt zurück¬
gekehrt war, trat Neumeister dessen
Nachfolge als Forstmeister beim
Fürsten Hermann von Hatzfeldt in
Trachenberg (Schlesien) an. Er leitete
dort das fürstliche Kameralamt und
wurde Generalbevollmächtigter der
Forstverwaltung. In dieser Funkti¬
on vermittelte er vielen sächsischen
234
Die Forstakademie Tharandt, Lithografie von E. Müller, 1850, Lizenz: Deut¬
sche Fotothek CC BY-SA.
Forstdienstanwärtern eine Anstellung
in Schlesien.
Nach Weißwanges Weggang 1882
erhielt Neumeister den Ruf an die
Forstakademie Tharandt, wo er zum
Professor ernannt wurde. An der
Universität Leipzig verteidigte er
1887 seine Dissertation zum „Dr.
phil.“ mit der Arbeit „Wie wird man
Forstwirth?“ Durch Entwicklung
verbesserter Lehrinhalte und Lehrme¬
thodik wollte er zu einer sozialen und
wissenschaftlichen Hebung des Forst¬
fachs beitragen. Neumeister lehrte
bis 1906 Waldbau, bis 1894 außer¬
dem Jagdkunde, Forstschutz, Forst¬
verwaltung und von 1894 bis 1906
Forsteinrichtung. Von 1894 bis 1904
leitete er in der Nachfolge des verstor¬
benen Johann Friedrich Judeich die
Königlich-Sächsische Forstakademie
in Tharandt als Direktor.
Neumeister zählte zu den herausra¬
genden Persönlichkeiten der Forst¬
akademie Tharandt des 19. Jahr¬
hunderts. Er ist aber weniger durch
bahnbrechende wissenschaftliche
Leistungen als durch Bewahrung
und Fortschreibung des Erbes seiner
beiden ehemaligen Lehrer Judeich
und Preßler bekannt geworden. Diese
hatten 26 bzw. 43 Jahre in Tharandt
gelehrt und geforscht und die Aka¬
demie zur Weltgeltung geführt. Zu
Neumeisters Zeit betrug der Anteil
ausländischer Studenten nahezu
235
Neumeisters Berufsweg wurde ent¬
scheidend von seinem Vater geprägt
- 1878 setzte er diesem ein ehrendes
Grabmal in Kleinröhrsdorf.
50%. 1904 stellte er im Rahmen eines
umfassenden Werks zum Unterrichts¬
wesen im Deutschen Reich anlässlich
der Weltausstellung in St. Louis die
Forstakademie vor. Während seiner
Amtszeit als Akademiedirektor schu¬
fen die Bildhauer Johannes Schilling
und Reinhard Schnauder Büsten zur
Erinnerung an Judeich und Preßler,
dem Neumeister auch einen Bei¬
trag in der Allgemeinen Deutschen
Biographie widmete. Unter seinem
Kuratoriumsvorsitz wurden 1904 die
landwirtschaftlichen Versuchsstatio¬
nen Tharandt, die zuvor als Samen¬
kontrollstation unter Friedrich Nobbe
an die Forstakademie angegliedert
war, und Dresden hinsichtlich
Landwirtschaft unter der Leitung von
Bruno Steglich vereinigt. Neu¬
meister wirkte in Tharandt zudem als
Stadtrat.
In Judeichs Nachfolge gehörte Neu¬
meister von 1894 bis 1925 dem
sächsischen Landeskulturrat als
gewählter Vertreter für das Forstwe¬
sen an. Ebenfalls in der Nachfolge
seines ehemaligen Lehrers gab er den
jährlichen „Forst- und Jagdkalender
für Deutschland“ heraus. Zudem
beteiligte sich Neumeister als Autor
an Lehrbüchern und Enzyklopädien
(z. B. am Brockhaus) zur Forst- und
Jagdwissenschaft. Besondere Bedeu¬
tung besaßen seine Überarbeitungen
und Neuauflagen mehrerer Bücher
von Preßler und Judeich, so der
„Forst- und Forstbetriebseinrichtung“
zum Hochwaldideal nach Preßler,
der „Preßlerschen Kubierungstafeln“
und Judeichs „Forsteinrichtung“. Mit
seinem wichtigsten eigenen Werk,
„Die Forsteinrichtung der Zukunft“,
schrieb Neumeister Judeichs grund¬
legendes Buch fort, welches viele
Länder im Sinne der „Sächsischen
Bestandeswirtschaff“ beeinflusst hatte
und in mehrere Sprachen übersetzt
worden war. Die Forsteinrichtung
galt zu jener Zeit als die Königs-
disziplin der Forstwissenschaft. Sie
sollte durch planvolle Gestaltung des
Waldes dessen langfristigen Ertrag
sichern. Schon im 19. Jahrhundert
236
hatten vorausschauende Menschen
erkannt, dass nur durch nachhaltige
Bewirtschaftung der Reichtum des
Waldes zukünftigen Generationen
erhalten werden kann. Besonderes
Augenmerk lag bei Neumeister auf
der Minimierung von Sturmschä¬
den. Quer zur Hauptwindrichtung
verlaufende, lange schmale Schläge
blieben durch Altbestand abge¬
deckt. Hinter dem Schlag sicherte
ein stufenweise ansteigender, nach
Altersgruppen geordneter Baumbe¬
stand ein Aufgleiten des Windes. Im
Tharandter Forstlichen Jahrbuch und
in den Berichten zu den Versamm¬
lungen des sächsischen Forstvereins
erschienen regelmäßig Beiträge von
Neumeister. Seine Arbeiten betrafen
forstmathematische Fragen, aber z.
B. auch die „Laub- und Kalkfütte¬
rung des Edel- und Rehwildes“. Der
Preßlersche Zuwachsbohrer ist von
Neumeister weiterentwickelt worden.
In abgewandelter Form kommt er
noch heute zum Einsatz, um anhand
von Jahresringen Zuwachs und Alter
von Bäumen zu bestimmen, ohne sie
zu fällen.
Neumeisters Leistungen sind vielfach
gewürdigt worden. 1895 wurde er
zum Mitglied der Deutschen Akade¬
mie der Naturforscher Leopoldina in
Halle/Saale gewählt, 1896 erhielt er
die Ernennung zum Geheimen Forst¬
rat, 1902 zum Geheimen Oberforstrat
und 1904 zum Ehrenmitglied der
Sächsischen Gesellschaft für Botanik
und Gartenbau Flora. Verschiedene
„Die Forsteinrichtung der Zukunft“.
Dresden Schönfeld, Sonderabdruck
aus: Thar. Forstl. Jahrb., 50. Jg.,
1900,122 S.
Staaten verliehen ihm hohe Aus¬
zeichnungen, z. B. 1897 die Königin -
Regentin der Niederlande und der
griechische König das Offizierskreuz
des Königlich Griechischen Erlöser-
Ordens. 1901 bekam er den serbi¬
schen St. Ava-Orden und 1903 die
Ernennung zum Großoffizier des Bul¬
garischen Civilverdienstordens. Auch
in Spanien, Norwegen und Rumänien
erhielt Neumeister hohe staatliche
und forstliche Auszeichnungen.
Die Amtszeit Neumeisters in Tha¬
randt vollendete sich 1904 mit der
237
Erhebung der Forstakademie zur
Hochschule. Wie Gustav Anton
Zeuner an der TH Dresden legte er
als langjähriger Akademiedirektor
mit der Einführung des Wahlrektorats
sein Amt nieder, das jetzt jährlich
befristet neu besetzt wurde.
Von 1906 bis 1919 leitete Neumeister
den Forstbezirk Dresden als Ober¬
forstmeister. Zu seinem Forstbezirk
gehörte die Dresdner Heide, seit
1906 auch Moritzburg. Von 1910 bis
1920 war Neumeister Vorsitzender
des sächsischen Forstvereins und
er leitete das Prüfungsamt für den
höheren sächsischen Staatsforstdienst.
1907 beteiligte sich Neumeister mit
einem Beitrag zur Dresdner Heide
an einem wissenschaftlichen Füh¬
rer durch Dresden. Im selben Jahr
erstellte er für den Fandeskulturrat
ein Gutachten zu einem geplanten
Preisausschreiben für Rauchgas-
Neutralisierungsanlagen zur Ver¬
meidung von Schäden in Fand- und
Forstwirtschaft. Der Wettbewerb
wurde von den zuständigen Minis¬
terien grundsätzlich positiv bewer¬
tet, obwohl Experten vor einem
absehbaren Scheitern warnten. Die
Gutachter, neben Neumeister auch
Bruno Steglich und Oskar Kellner
aus Möckern, empfahlen zwar einen
solchen Wettbewerb mit einem Preis¬
geld von bis zu 20000 Mark, doch
auch sie warnten vor Erfolgsrisiken.
Das schließliche Scheitern gab ihnen
recht. Gustav Foges und Bruno
Steglich vertraten von 1911 bis 1925
in der insgesamt 31 Jahre währenden
Zugehörigkeitsperiode von Neumeis¬
ter zum Fandeskulturrat in diesem
Gremium die landwirtschaftlichen
Versuchsstationen.
Auch noch in seiner Dresdner Zeit er¬
innerte sich Neumeister seiner Ober¬
lausitzer Wurzeln. Als Mitglied des
sächsischen Eisenbahnrats erreichte
er im Zusammenwirken u. a. mit dem
Kleindrebnitzer Gemeindevorstand
Ernst Gnauck 1909 die Errichtung
eines Bahnhofs in Weickersdorf. Aus
Anlass der 350 Jahre zuvor im Dorf
eingeführten Reformation spendete er
1909 der Martinskirche Großdrebnitz
einen kunstvollen Deckel zum neuen
Taufstein. Den hatten die Angehöri¬
gen der letzten vier Großdrebnitzer
Pastorenfamilien, darunter von Carl
Julius Marloth, gestiftet.
Während des Ersten Weltkriegs
verfasste Neumeister ein „Merkblatt
zur Gewinnung von Faubreisigfutter“.
1917 leitete er die Hauptversammlung
des Deutschen Forstvereins, dem
er viele Jahre angehörte, in Erfurt.
Bei dieser Gelegenheit befürwortete
er eine Kriegsbewirtschaftung der
Wälder. Zuletzt wohnte Neumeister in
Dresden, Wilhelmplatz 10 (vormals
Hermann von Nostitz-Wallwitz).
Nach seinem Tod wurde er auf dem
Inneren Neustädter Friedhof beige¬
setzt. An seine Verdienste erinnert in
Tharandt noch heute ein nach ihm
benannter Wanderweg durch das Tal
der Wilden Weißeritz.
238
Grabstein für Neumeister und seine Frau auf dem Inneren Neustädter
Friedhof in Dresden.
Quellen: Prof. Dr. Harald Thomasius (1966-1992 Lehrstuhlinhaber Waldbau, 1978-1982 Di¬
rektor der Sektion Forstwissenschaft der TU Dresden): Unterlagen und Mitteilungen; Geheimer
Forstrat Groß: „Dem Andenken Dr. Max Neumeister“. Tharander Forstliches Jahrbuch, S. 1-5,
1930; Adolf Hinrichsen: „Das literarische Deutschland“. Carl Hinstorf‘s-Verlag, S. 431, 1887;
Ehregott Bruno Barthel: „Die Stolpener Amtsteiche und das Vorwerk Kleindrebnitz“. „Unsere
Heimat“, Beilage zum Sächsischen Erzähler, 5./12.3.1922; Deutsche Akademie der Landwirt¬
schaftswissenschaften zu Berlin: „Archiv für Forstwesen“. 1966; Kirchenarchiv Großdrebnitz;
Innerer Neustädter Friedhof Dresden, Friedhofsverwaltung; Deutsche Akademie der Naturfor¬
scher Leopoldina, Mitteilungen, 16.8.2007; Henry Holder Stephenson: „Who's who in Sci¬
ence“. The Macmillan Company, 1912; Sitzungsberichte und Abhandlungen „Flora, Sächsische
Gesellschaft für Botanik und Gartenbau“; Tharander Forstliches Jahrbuch 1844, 1848, 1852,
1891, 1897, 1901, 1903; Dieter Bulling, Kleinröhrsdorf: Mitteilungen, 13.5.2010; Martin Bem-
mann: „Beschädigte Vegetation und sterbender Wald: Zur Entstehung eines Umweltproblems
in Deutschland 1893-1970“. Vandenhoeck & Ruprecht, 2012; Ottfried Bloßfeld: „Tharandt um
1900 - ein blühendes Gemeinwesen“; F. Schöne: „Ueber Shaksperes Julius Cäsar mit besonderer
Berücksichtigung des Verhältnisses zur Quelle des Stückes“. Gymnasium zum heiligen Kreuz in
Dresden, 1878; Dresdner Adressbücher; gw.geneanet.org; Schöne: „Die Sächsische Landwirt¬
schaft“. 1925; „Wer isfs?“ Degener, 1908
239
Porträt von Gottlob Adolf Ernst von Nostitz und Jänkendorf, gezeichnet
von Carl Christian Vogel von Vogelstein (1824).
Nostitz und Jänkendorf, Gottlob Adolf Ernst von
Dr. E.h., sächsischer Konferenzminister und Schriftsteller
21.04.1765 See (Oberlausitz) - 15.10.1836 Oppach
V: Wolf Gottlob (*30.12.1718 See, 125.1.1768 Moholz), Erb-, Lehn- und Gerichtsherr auf
Oppach und Moholz; M: Juliane Eleonore Ernestine geb. von Kiesewetter (*13.10.1740 Wanscha,
120.2.1824 Dresden), 2. Ehe von Nostitz, Tochter des Landesältesten des Görlitzer Fürstentums
Ernst Ludwig von Kiesewetter; G: Ernestine Caroline (*21.2.1761,121.2.1834 Dresden), Chris¬
tiane Augusta (*21.10.1767), 2 Halbgeschwister aus 2. Ehe der Mutter; E: 31.5.1786 Schkeuditz,
Henriette Sophie geb. von Bose (*18.2.1769 Oberthau, 13.3.1848 Dresden, Ehrenstiftsdame);
K: Traugott Adolph Karl (*24.3.1787,11787 Dresden), Elise (*1788,123.8.1853 Aszod, heiratete
1812 nach Ungarn Karl von Podmanitzky, in erster Ehe mit Julie Charpentier aus Freiberg ver¬
heiratet, ihre Tochter Julie war Schriftstellerin und musste 1849 mit ihrem Mann Miklos Josika
aus Ungarn fliehen), Therese Clementine (*7.11.1789 Dresden, 121.3.1870 Dresden, verh. mit
Karl Alexander Graf von Rex), Eduard Gottlob (*31.3.1791 Bautzen, 18.2.1858 Oppach, 1836-
1844 sächsischer Innenminister), Theodor (*,1 1792 Bautzen), Lydia Augustina (*18.8.1794 Do¬
berschau, 117.11.1810 Dresden), Ida Rosalie (*9.1.1796 Bautzen, 128.3.1796 Doberschau), Julius
Gottlob (*12.7.1797 Doberschau, 118.3.1870 Dresden, 1838-1848 und 1849-1864 Gesandter
beim Deutschen Bundestag), Agnes Luise (*10.9.1798 Bautzen, 117.5.1875 Altengottern, verh.
mit Julius von Marschall), Klara Minona (29.12.1799-11.2.1882, verh. mit Viktor Julius von
Bülow, Besitzer von Schloss Beyernaumburg), Klothilde Septimie (*27.1.1801 Bautzen, 11852
Oppach, Dichterin, schrieb auch für Carl Maria von Weber), Heliodora Oktavia (*23.6.1805
Doberschau, 118.2.1871 Dresden, verh. mit Geheimrat Bruno von Schimpff)
Die Nostitz sind eines der ältesten
Oberlausitzer Adelsgeschlechter. Seit
dem 15. Jahrhundert ist die Familie
in mehrere Linien verzweigt, der Re¬
formation schlossen sie sich schon in
der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts
an. Die Linie Nostitz und Jänkendorf
bildete sich um 1600. Über mehrere
Jahrhunderte wirkten die Nostitz
in der Oberlausitz als Hauptleute,
Oberamtsmänner und Landesälteste.
Gottlob Adolf Ernst von Nostitz und
Jänkendorf hatte früh seinen Vater
verloren. Seine Mutter und sein Stief¬
vater (seit 1770, Wedig Christoph von
Kayserling) ließen ihn von August
Wilhelm Hauswald privat unterrich¬
ten und schickten ihn noch vor dem
16. Geburtstag auf die Universität
Leipzig, wo er Rechts- und Staatswis¬
senschaften studierte. Besonders der
Philosoph Ernst Platner gehörte zu
seinen Förderern. In Leipzig schloss
sich Nostitz Studentenvereinen an, in
denen die Dichtkunst gepflegt wurde.
Nach seinem Examen erhielt er eine
Anstellung als Auditor am Oberhof¬
gericht, 1785 ging er als Finanzrat
nach Dresden.
1789 übernahm Nostitz die Ver¬
waltung der Familiengüter in der
Oberlausitz. Das Rittergut Oppach
hatte er in 4. Generation von seinem
Vater geerbt, Doberschau nach seiner
Heirat erworben. Moholz, See (1791)
241
Gut See bei Niesky, wo Nostitz 1765 geboren wurde.
und das Bautzener Burglehnhaus
(1793) verkaufte er. Nostitz wirkte
in der Oberlausitz als Gerichtsbei¬
sitzer, war Mitglied der Kriminal-
Kassen-Deputation und Beisitzer des
landständischen Waisenamtes. 1792
wurde er zum Landesältesten des
Kreises Bautzen gewählt, ab 1804 lei¬
tete er die Provinzverwaltung auf der
Ortenburg als Oberamtshauptmann.
In Zittau gründete er nach dem Vor¬
bild von Ludwig Gedike in Leipzig
die erste Bürgerschule. Besonderes
Augenmerk widmete Nostitz sozialen
Belangen. Seit 1793 war er Ritter des
St. Johanniter-Maltheser-Ordens. Auf
seinem Gut Oppach stiftete Nostitz
1794 ein Armenhaus und 1799 ein
Armeninstitut. Seine Überlegungen
beschrieb er in „Versuch über Ar¬
menversorgungsanstalten in Dörfern“
(1801). Lange vor dem von seinem
Sohn Julius Gottlob von Nostitz
und Jänkendorf mitverantworteten
Gesetz zu „Ablösungen und Gemein¬
heitsteilungen“ erließ er Frondienste
gegen kleine Geldzahlungen. Der
Oberlausitzischen Gesellschaft der
Wissenschaften zu Görlitz, der er seit
1790 angehörte, stand Nostitz von
1795 bis 1817, zwei Jahre nach der
Teilung der Oberlausitz, als Präsident
vor. Schon in dieser Zeit bemühte er
sich um Kunst und Kultur und zählte
Friedrich Schiller zu seinen Bekann¬
ten. Mit Karl August Böttiger,
1790/91 Direktor des Gymnasiums in
Bautzen, blieb er fast fünf Jahrzehnte
freundschaftlich verbunden. Nostitz
erwarb sich besondere Verdienste
242
um die Förderung der Sorben und
übersetzte sorbische Volkslieder ins
Deutsche. Seine eigenen Gedichte,
aber auch heimatgeschichtliche Bei¬
träge („Über die in Königswartha ent¬
deckten Lausizischen Alterthümer“)
wurden in der „Lausizischen Monats¬
schrift“ gedruckt, mehrere Gedichte
in Liedertafeln und Oratorien vertont.
Aus dem Französischen übersetzte er
griechische und römische Mythen.
1805 zählte Nostitz zu den Grün¬
dungsmitgliedern des Gesellschafts¬
vereins „Bautzner Societät“, die 1808
sein Stadthaus kaufte.
Am 26. September 1807 kehrte
Nostitz als Oberkonsistorialpräsident
nach Dresden zurück, wo er bis 1815
im Coselpalais „Hinter der Frauen¬
kirche“ 5 wohnte, wie auch Karl
August Böttiger. In dieser für das
Kirchen- und Schulwesen Sachsens
bedeutsamen Funktion überarbeitete
er zusammen mit Oberhofprediger
Franz Volkmar Reinhard die Verfas¬
sung der Universität Leipzig. König
Friedrich August der Gerechte berief
ihn 1809 als Konferenzminister ins
Geheime Konsilium, den vormaligen
und später auch wieder so genann¬
ten Geheimen Rat. Als „Wirklicher
Geheimrath“ gehörte Nostitz zu den
höchsten Vertretern der Staatsver¬
waltung. Er beteiligte sich in ver¬
schiedenen Funktionen bzw. Kom¬
missionen maßgeblich an sozialen
und politischen Reformprojekten.
Nostitz leitete die „zur Besorgung der
allgemeinen Straf- und Versorgungs-
Anstalten verordnete Commission“.
1811 initiierte er die Gründung
einer „Irren-Heilungsanstalt“ auf der
vormals königlichen Festung Sonnen¬
stein in Pirna. In ihr gingen frühere
sächsische Anstalten in Waldheim
und Torgau auf, in denen wesent¬
lich weniger humane Bedingungen
geherrscht hatten. Die Entscheidung
war aber auch kriegsbedingt, weil
Torgau zur Festung erklärt worden
war. Insgesamt wurden in der An¬
fangszeit etwa 200 Personen auf dem
Sonnenstein untergebracht. Unter
Nostitz“ Oberaufsicht entwickelte sich
die neue Anstalt zu einer Einrichtung
von europäischem Ruf. Während der
Befreiungskriege ging Nostitz auf
Distanz zu Napoleon, den er zuvor
unterstützt hatte. Sein Sohn Eduard
Gottlob von Nostitz und Jän-
kendorf kämpfte sogar mit Theodor
Körner in der Lützow'schen Freischar.
Im nach-napoleonischen Reformstreit
1817 unterlagen die Konferenzmi¬
nister dem Kabinettsminister Detlev
Graf von Einsiedel. Statt dass das
Geheime Konsilium mit dem Gehei¬
men Kabinett vereinigt und damit
aufgewertet wurde, verblieben dem
Geheimen Rat als Nachfolgeeinrich¬
tung des Konsiliums nur beratende
Funktionen und die Vertretung
ständischer Interessen. Zudem hatte
sich Einsiedel mittels Gefolgsleuten
die Stimmenmehrheit im Ratscol¬
legium gesichert. Nostitz organi¬
sierte Entschädigungsleistungen für
Lasten aus dem Krieg, bereitete eine
243
Ansicht von Pirna mit Festung Sonnenstein, Ausschnitt eines Gemäldes von
Canaletto (1753-1755).
Steuerreform vor, erarbeitete einen
militärischen Strafkodex und stand
den Armen- und Waisenhausanstal¬
ten Sachsens vor. 1824 gründete er in
Bräunsdorf eine Landeswaisenanstalt
für 150 Kinder, die zu Landarbeitern,
Handwerkern oder Soldaten erzo¬
gen wurden. 1826 widmete Robert
Stöckhardt Nostitz seine Habili¬
tationsschrift. Als Friedrich August
244
der Gerechte 1827 starb, drängten in
Sachsen überfällige Reformen. König
Anton der Gütige beauftragte neu ein¬
gesetzte Kommissionen, Gesetze zur
Abschaffung von Feudallasten („Ab¬
lösungen und Gemeinheitsteilungen“)
und eine neue Gewerbeordnung
vorzubereiten. Andererseits wurde die
Zensur verschärft und die polizeiliche
Willkür und die Allmacht des Gehei¬
men Kabinetts bestanden fort. Nostitz
war Mitglied der Ökonomischen Ge¬
sellschaft im Königreiche Sachsen, die
sich hauptsächlich der Förderung der
Landwirtschaft widmete, aber auch
für die Planungen zur Gründung der
Technischen Bildungsanstalt im Jahre
1828 als Vorläufer der heutigen TU
Dresden verantwortlich zeichnete.
Die Initiative dazu ging auf den Ge¬
heimen Rat um Nostitz zurück.
Anlässlich der 300-Jahr-Feier der
Augsburger Konfession kam es im
September 1830 in Sachsen zu Unru¬
hen, die durch ein tiefes Misstrauen
der überwiegend protestantischen
Bevölkerung gegen die katholische
Obrigkeit geprägt waren. Nostitz
gehörte mit Lindenau, Könneritz
und Zezschwitz zu jenem Minis¬
terquartett, das am 13. September
König Anton den Gütigen veranlasste,
Friedrich August II. als Mitregenten
einzusetzen. Dies, die Entlassung
von Detlev Graf von Einsiedel und
die Ankündigung einer Verfassung
halfen, die Lage zu befrieden. Nostitz
war als Vorsitzender des Geheimen
Rats an der Ausarbeitung der ersten
sächsischen Verfassung von 1831
unter dem liberalen Kabinettsminister
Bernhard von Lindenau beteiligt. Den
von König Anton unterschriebenen
Text zeichnete Nostitz gegen. Die
Szene wurde von Ernst Rietschel
in einem Relief für das Augusteum in
Leipzig dargestellt. Erstmals räumten
die Wettiner ihrem Volk einige Mit¬
bestimmungsrechte ein. Anton der
Gütige wurde zum ersten konstituti¬
onellen Monarchen Sachsens, Nostitz
stand dem neu geschaffenen Staatsrat
als oberster Instanz des Zivilstaates
vor. Unter der Präsidentschaft von
Prinz Johann gehörten dem Staatsrat
auch der Leiter des Gesamtministeri¬
ums Lindenau sowie weitere Minis¬
ter an. Nostitz erwarb sich den Ruf
eines gemäßigten, toleranten und der
Wohlfahrt, Wissenschaft und Kunst
aufgeschlossenen Schöngeistes. Auf
seine Anregung hin wurden aber
auch die ersten landwirtschaftlichen
Vereine in Sachsen gegründet.
Neben seiner politischen Tätigkeit
war Nostitz Schriftsteller unter dem
Pseudonym „Arthur vom Nordstern“.
Die Dichtkunst sah er eher als Hobby
an, wobei er sich durch dichterische
Gewandtheit und Vertrautheit mit
den Klassikern auszeichnete. Seine
Werke waren überwiegend roman¬
tischer Natur. 1820 übersetzte er
George Gordon Byron, dem er sich
sehr verbunden fühlte. Viele Eindrü¬
cke gewann Nostitz auf einer Reise
nach der Schweiz, Oberitalien und
Ungarn („Erinnerungsblätter eines
245
Reisenden im Hochsommer 1822“,
1824). Seine Werke erschienen ver¬
streut in verschiedenen Zeitungen,
darunter der Dresdner Abendzeitung
und der Dresdner Morgenzeitung,
sowie in Taschenbüchern wie von
Johann Friedrich Kind oder wurden
unter Freunden verteilt. Er schrieb
aber auch für Carl Maria von Weber,
der ihm mit großer Wertschätzung
begegnete. Nostitz war zudem ma߬
geblich am Entstehen eines elitären,
literarisch-kulturellen Vereinslebens
in Dresden beteiligt. Solche Vereine
boten seinerzeit wichtige Möglichkei¬
ten zur Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben. Nostitz kam als Adeligen eine
wichtige Mittlerrolle zwischen der
Hofgesellschaft und dem aufstreben¬
den Bürgertum zu. Er besuchte wie
Karl August Böttiger und Ludwig
Tieck den informellen literarischen
Zirkel von Elisa von der Recke und
Christoph August Tiedge. In der
Hofgesellschaft um Prinz Johann, wo
sich Adel und Bildungsbürgertum in
Vorträgen und Gesprächen zu Kunst
und Geschichte näher kamen, traf er
auf Carl Gustav Carus, Theodor Hell
(Winkler) und wiederum Ludwig
Tieck. Nostitz leitete den Dresdner
Liederkreis, war Mitglied im Kunst¬
verein und im Verein Albina, der in
der Tradition des Liederkreises stand,
und gehörte zu den Initiatoren des
Sächsischen Altertumsvereins.
Im spätromantischen Liederkreis
kam Nostitz u. a. mit Karl August
Böttiger, Theodor Hell und Johann
Friedrich Kind zusammen. Auf Einla¬
dung des Freiherrn von Seckendorf-
Zingst trafen sich ab 1814 Künstler,
Schriftsteller und Beamte bei „Thee
und Butterbrod“, weswegen der Kreis
zunächst Dichter-Thee hieß. Unter
Leitung von Nostitz schloss man sich
enger zusammen. Man hörte Litera¬
tur, Dichtung und Musik und disku¬
tierte zwanglos darüber. Der Verein
besaß mit der Dresdner Abendzei¬
tung ein eigenes Publikationsorgan.
Sie wurde von Johann Christoph
Arnold verlegt und von Theodor Hell
und Johann Friedrich Kind herausge¬
geben. Die Treffen des Liederkreises
fanden zumeist bei den verheira¬
teten Vereinsmitgliedern statt und
Nostitz lud oft in sein Sommerhaus
nach Loschwitz ein. Eine kolorierte
Radierung des Anwesens mit Wein¬
berg, heutige Plattleite 18, von Carl
Heinrich Beichling befindet sich im
Kupferstich-Kabinett. Eng verbunden
mit dem Liederkreis war der 1825
gegründete Sächsische Altertumsver¬
ein. Seine Gründung ging auf einen
Vorschlag von Karl August Bötti¬
ger zurück, den dieser bereits 1819 in
der Dresdner Abendzeitung publiziert
hatte. Nostitz gehörte zu den Un¬
terzeichnern eines Gesuchs an den
König mit der Bitte um Zulassung des
Vereins.
In Bautzen war Nostitz Freimaurer
in der Loge „Zur goldnen Mauer“, in
Dresden Ehrenmitglied der Logen
„Zum goldnen Apfel“, „Zu den drei
Schwertern“ und „Asträa zur grü-
246
nenden Raute“. Mit den Freimau¬
rern Gerhard Heinrich Jacobjan
Stöckhardt und Karl Gottfried
Siebelis stand er auch über die
Bautzner Societät in Verbindung.
Nostitz leitete in Dresden den sozia¬
len Unterstützungsverein „Rath und
That“, der 1803 von Carl Graf Bose
und Oberhofprediger Franz Volkmar
Reinhard gegründet worden war und
den Freimaurern nahe stand. 1815
brachte Nostitz ein Freimaurer-Lie¬
derbuch heraus. Die Mitglieder von
„Rath und That“, darunter mit Karl
August Böttiger und Theodor Hell
führende Mitglieder von Freimaurer-
Logen, linderten mit Mitgliedsbei¬
trägen und gesammelten Spenden
die Not wegen Krankheit, Unfällen
und Alter. Den Bautzener Ortsver¬
ein gründete Gerhard Heinrich
Jacobjan Stöckhardt 1820 auf
Nostitz“ Veranlassung. 1823 richtete
der Dresdner Verein „Rath und That“
eine Freischule für 300 Kinder ein, die
evangelisch gebundenen Eltern eine
Alternative zur katholischen Frei¬
schule bot. 1830 wurde Nostitz in der
Nachfolge von Heinrich Wilhelm von
Zeschau zum Großmeister der Lan¬
desloge Sachsen gewählt. Seine Söhne
Eduard Gottlob von Nostitz und
JÄNKENDORF Und JULIUS GOTTLOB
von Nostitz und Jänkendorf
gehörten in Dresden der Loge „Zum
goldenen Apfel“ an.
Für seine Verdienste erhielt Nostitz
1817 das Großkreuz des königlich
sächsischen Civilverdienstordens. Das
Ehrenamt des Ordenskanzlers sämtli¬
cher sächsischer Orden bekleidete er
später bis zu seinem Tod. Nostitz war
seit 1814 Senior des Hochstifts Merse¬
burg. 1836 verlieh ihm die Universität
Leipzig die Ehrendoktorwürde. Kurz
vor dem Ende seines Lebens gedachte
er dem 1835 verstorbenen Freund
Karl August Böttiger mit einem
Gedicht. Sein Sohn Eduard Gott¬
lob von Nostitz und Jänkendorf
nutzte 1840 als sächsischer Innenmi¬
nister die Vorarbeiten des Vaters als
Grundlage seiner Armenordnung.
Quellen: Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie,
Bd. 11-12, Brockhaus, 1825; Franz Brümmer:
„Nostitz-Jänkendorf, Gottlob Adolf Ernst von“.
ADB Bd. 24, 1886; Neues lausitzisches Magazin,
1836; Gottlieb Friedrich Otto: „Lexikon der seit
dem fünfzehenden Jahrhunderte verstorbenen und
jetztlebenden Oberlausizischen Schriftsteller und
Künstler“. Burkhart Görlitz; Robert Luft: „Nostitz“
Neue Deutsche Biographie, 1998; Hans Mirtschin:
„Die Gesellschaft Societät zu Bautzen“. Altstadtver¬
ein Bautzen, Vortrag 26.10.2010; Sanct Johannis
Freimaurer-Loge zur goldnen Mauer, Mitglieder¬
verzeichnisse 1816, 1832; Lausizisches Magazin,
1775; Friedrich August Schmidt, Bernhardt Fried¬
rich Voigt: „Neuer Nekrolog der Deutschen“. Bd.
14, Teil 2, 1838; Cornelius Gurlitt: „Beschreibende
Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler
des Königreichs Sachsen“. Bd. 34; Dirk Hempel: „Li¬
terarische Vereine in Dresden“. Walter de Gruyter,
2008; „Die Freimaurerloge zum goldenen Apfel im
Orient Dresden 1776-1876“. Heinrich Dresden,
1876; Gothaisches genealogisches Taschenbuch der
briefadeligen Häuser, 1913; August Wilhelm Bern¬
hardt von Uechtritz: „Diplomatische Nachrichten
adeliche Familien betreffend“. 1790, 1792; Dresdner
Adressbücher; Maria Görlitz: „Parlamentarismus in
Sachsen“. LIT Münster, 2011; Lausitzisches Magazin
oder Sammlung verschiedener Abhandlungen
und Nachrichten zum Behuf der Natur-, Kunst-,
Welt- und Vaterlandsgeschichte, der Sitten, und der
schönen Wissenschaften, Bd 1, Fickelscherer, 1768,
Boris Böhm: „...daß es mir gewiß angenehm ist,
euch nützlich zu werden...“ Elbhang-Kurier, H. 9,
2015; Zita Szylagyi, Aszod, Mitteilungen
247
Eduard Gottlob von Nostitz und Jänkendorf wurde mit dem Großkreuz
des sächsischen Civilverdienstordens, des russischen Annenordens und
des sachsen-ernestinischen Hausordens sowie mit dem preußischen roten
Adlerorden ausgezeichnet, Lizenz: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel,
http://www.portraitindex.de/documents/obj/34013970, CC BY-SA.
Nostitz und Jänkendorf, Eduard Gottlob von
Sächsischer Innenminister, Rittergutsbesitzer auf Oppach
31.03.1791 Bautzen - 08.02.1858 Oppach
V: Gottlob Adolf Ernst (*21.4.1765 See, tl5.10.1836 Oppach), Rittergutsbesitzer auf Oppach,
Konferenzminister, Schriftsteller; M: Henriette Sophie geb. von Bose (*18.2.1769 Oberthau,
t3.3.1848 Dresden); G: Traugott Adolph Karl (*24.3.1787, tl787 Dresden), Elise (*1788,
t23.8.1853 Aszod, heiratete 1812 nach Ungarn Karl von Podmanitzky, dessen erste Ehe mit Julie
Charpentier aus Freiberg), Therese Clementine (*7.11.1789 Dresden, 421.3.1870 Dresden, verh.
mit Karl Alexander Graf von Rex), Theodor (*,t 1792 Bautzen), Lydia Augustina (*18.8.1794
Doberschau, tl7.ll.1810 Dresden), Ida Rosalie (*9.1.1796 Bautzen, 428.3.1796 Doberschau), Ju¬
lius Gottlob (*12.7.1797 Doberschau, 418.3.1870 Dresden, 1838-1848 und 1849-1864 Gesandter
beim Deutschen Bundestag), Agnes Luise (*10.9.1798 Bautzen, 417.5.1875 Altengottern, verh.
mit Julius von Marschall), Klara Minona (29.12.1799-11.2.1882, verh. mit Viktor Julius von
Bülow, Besitzer von Schloss Beyernaumburg), Klothilde Septimie (*27.1.1801 Bautzen, 41852
Oppach, Dichterin, schrieb für Carl Maria von Weber), Heliodora Oktavia (*23.6.1805 Dober¬
schau, 418.2.1871 Dresden, verh. mit Bruno von Schimpff, Zollvereinsbeamter und Kreisdirektor
in Zwickau) E: (1) 27.11.1816 Dresden, Wilhelmine Friederike Erdmuthe geb. von Beschwitz
(*28.1.1796 Sornitz, 417.7.1821 Dresden), (2) 31.5.1824 Merseburg, Therese Freiin von Gut-
schmid (*26.12.1797 Merseburg, 419.12.1863 Dresden, Tochter des Stiftskanzlers von Merseburg
Christian Friedrich Freiherr von Gutschmid); K: Marie Amalie (*2.9.1817 Dresden, 41.1.1893
Rom, verh. mit Rudolf von Metzradt auf Zedtlitz und Hermsdorf, nach 1859 Ferdinand von
Platner, Bibliotheca Platneriana des Deutschen Archäologischen Instituts Rom), Wolf Gottlob
Adolf (*23.10.1819 Dresden, 415.6.1874 Taubenheim, Hauptmann, Rittergutsbesitzer auf Tau¬
benheim, verh. mit Marie Elisabeth geb. von Polenz), Anna (*30.6.1825 Dresden, 421.12.1899
Wiesbaden, verh. mit Hermann von Witzleben, Besitzer des Ritterguts Kitzscher), Fürchtegott
Richard (*1.6.1826, 4 in Pirna, bis 1862 Rittmeister, danach Kammerherr), Helene Sophie Hen¬
riette (*3.11.1827 Dresden, 418.8.1891 Dresden, verh. mit General Alban von Montbe), Gottwalt
Arthur (*18.1.1829 Dresden, 421.7.1905 Nieder-Lößnitz, Hauptmann, verh. mit Elisabeth geb.
Freiin von Uexküll, Besitzer des Gotischen Hauses Radebeul), Gotthold Eduard Leo (*15.8.1831
Dresden, 431.7.1871 Pirna, verh. mit Ida geb. von Arnim, Rittergutsbesitzer auf Oppach, Premi¬
erleutnant, Landtagsabgeordneter), Meta (*10.10.1839 Dresden, 43.10.1880, verh. mit Richard
Freiherrn von Berlepsch, Sohn des Oberlandforstmeisters August Adolph von Berlepsch, Besit¬
zer des Klosterguts Seebach, heiratete 1882 eine Tochter von Anna verh. von Witzleben)
Eduard Gottlob von Nostitz und
Jänkendorf wurde 1791 in Bautzen
geboren. Sein Vater, Gottlob Adolf
Ernst von Nostitz und Jänken¬
dorf, war 1789 aus Dresden in die
Oberlausitz zurückgekehrt und erhielt
1792 die Berufung zum Landesäl¬
testen des Kreises Bautzen und 1804
zum Leiter der Provinzverwaltung auf
der Ortenburg als Oberamtshaupt¬
mann. Der Sohn besuchte unter Karl
Gottfried Siebelis das Gymnasium
in Bautzen und ab 1806 das Landes¬
gymnasium in Schulpforte. 1807 zog
die Lamilie wieder nach Dresden. Bis
1815 wohnten sie wie Karl August
Böttiger im Coselpalais „Hinter
der Lrauenkirche“ 5. Nostitz, dessen
249
Das ehemalige Bautzener Stadthaus
seiner Familie, Burglehn 1, war
möglicherweise das Geburtshaus
von Eduard Gottlob von Nostitz und
Jänkendorf. Es beherbergt heute die
Gaststätte „Mönchshof“. Im Hinter¬
grund sieht man die Michaeliskir¬
che. Die Grundstücke wurden dem
Landadel vormals durch den auf der
Ortenburg residierenden Landvogt
als landesherrliches Lehen über¬
geben. 1734 erwarb Wolf Gottlob
Traugott von Nostitz auf Oppach,
See, Sproitz und Moholz, ein Ur¬
großvater von Eduard Gottlob, das
Haus. Sein Vater, Gottlob Adolf
Ernst von Nostitz und Jänken¬
dorf, verkaufte es 1793.
Vater als Oberkonsistorialpräsident
sowohl für die Landesgymnasien wie
beispielsweise Schulpforte als auch
die Universität Leipzig verantwortlich
zeichnete, studierte ab 1809 in Leipzig
und ab 3. Oktober 1811 in Heidelberg
Jura. Der Wechsel war vom Vater
veranlasst worden, um den Sohn
dem Einfluss des Studentenordens in
Leipzig zu entziehen. Die Universität
in Heidelberg galt als „Juristenuni¬
versität“ mit Schwerpunkt Römi¬
sches Recht, die Stadt Heidelberg als
Zentrum der Romantik. Seit 1809 (bis
1844) gehörte Nostitz der Freimaurer-
Loge „Zum goldenen Apfel“ an.
Nach Napoleons gescheitertem Russ¬
landfeldzug lavierte der preußische
König Friedrich Wilhelm III. zwi¬
schen dem vormaligen Verbündeten
Frankreich und Russland. Aus Angst,
von den französischen Truppen
verhaftet zu werden, ging der König
Anfang 1813 nach Breslau. Er er¬
mächtigte Ludwig Adolf Wilhelm von
Lützow zum Aufruf für ein Freikorps,
in dem sich die patriotisch gesinnte
Jugend Deutschlands sammeln sollte.
Im Februar, noch vor dem offiziellen
Seitenwechsel Preußens, erfolgte die
Gründung. Neben Nostitz, der sein
Studium in Heidelberg unterbrochen
hatte, kamen unter anderem der
Dichter Theodor Körner und der spä¬
tere Turnvater Friedrich Ludwig Jahn.
Nostitz“ Vater diente währenddessen
dem mit Napoleon verbündeten säch¬
sischen König Friedrich August dem
Gerechten als Minister. Am 26. Au-
250
Eduard Gottlob von Nostitz und
Jänkendorf wurde für seinen Dienst
in der Lützow‘schen Freischar im
Krieg gegen Napoleon mit dem Ei¬
sernen Kreuz 2. Klasse ausgezeich¬
net (Ölbild Schloss Taubenheim).
gust 1813 half der Sohn, den gefalle¬
nen Theodor Körner aus dem Gefecht
gegen Napoleons Truppen zu bergen
und in Wöbbelin zu begraben. Am 10.
Oktober verhinderte ein Posten unter
dem Befehl von Nostitz in Hohnstorf
- Teile der Freischar waren inzwi¬
schen in die Nordarmee unter Ludwig
von Wallmoden-Gimborn eingeglie-
dert worden - die Elbquerung der
feindlichen Truppen aus Lauenburg.
Nostitz wurde dabei durch eine
Kartätschenkugel schwer verwundet.
1814, nach dem Sieg gegen Napoleon
in der Völkerschlacht zu Leipzig, trat
er als Volontär des Ulanen-Regiments
in sächsische Dienste. Johann Adolf
von Thielemann, dem Nostitz als
Ordonnanzoffizier diente, hatte das
sächsische Heer neu organisiert, um
sich an Preußens Seite am Feldzug
gegen Frankreich zu beteiligen. Nach
Kriegsende quittierte Nostitz den Ar¬
meedienst und schloss sein Studium
an der Universität Wittenberg ab.
1817 wurde Nostitz als Kammerrat
beim Geheimen Finanzkollegium
unter Wilhelm Friedrich von Gut-
schmid, einem Onkel seiner späteren
zweiten Frau, angestellt. Er traf hier
auf Gustav von Flotow, mit dem er
über viele Jahre in Kontakt bleiben
sollte. Ab 1819 wirkte Nostitz im
Meißnischen Kreis als Amtshaupt¬
mann unter dem Kreishauptmann
Heinrich Sigismund von Zeschau mit
Zuständigkeiten für Dresden, Pirna
rechts der Elbe, Radeberg, Stolpen,
Hohnstein und Lohmen. Zu seinem
Gebiet gehörte auch Bischofswer¬
da, das in jener Zeit von Gottlob
Friedrich Thormeyer wieder aufge¬
baut wurde. Ab 1821 arbeitete Nos¬
titz als Geheimer Referendar bei der
Geheimen Ratskanzlei. Sie war dem
Geheimen Ratskollegium zugeordnet,
dem Nostitz“ Vater angehörte. 1825
kehrte Eduard Gottlob von Nostitz
und Jänkendorf als Kammerkredit -
kassen-Kommissar und Geheimer
Finanzrat zum Geheimen Finanz¬
kollegium um Prinz Johann, George
Ernst August Friedrich von Manteuf-
fel und Günther von Bünau zurück.
Gustav von Flotow war einer seiner
Mitarbeiter.
251
Nostitz vertrat anlässlich der Eröffnung der Leipzig-Dresdner Eisenbahn
am 7. April 1839 die sächsische Staatsregierung. Er erinnerte in seiner Rede
an die großen Erwartungen, die der König und die Regierung mit dem
Projekt verbinden.
Nach Inkrafttreten der von seinem
Vater, Gottlob Adolf Ernst von
Nostitz und Jänkendorf, maßgeb¬
lich mitgeprägten ersten sächsischen
Verfassung von 1831 ersetzten Fach¬
ministerien die ehemaligen Kollegi¬
albehörden. Nostitz arbeitete ab 1832
als Abteilungsvorstand und Direktor
unter dem Finanzminister Heinrich
Anton von Zeschau.
1836 wurde Nostitz zum Minister
des Innern unter dem Vorsitzenden
des Gesamtministeriums Bernhard
von Lindenau bestellt und kraft
dieses Amtes Mitglied des Staatsrats.
Die Minister wurden vom König
ernannt, waren ihrerseits aber dem
Landtag berichtspflichtig. Nostitz
unterstanden als permanente Mit¬
telbehörden die Kreis direktionen
und Amtshauptmannschaften, aber
auch wichtige temporär eingerichtete
Kommissionen (Vorbereitung eines
neuen Grundsteuersystems, Ablö¬
sungen und Gemeinheitsteilungen
unter seinem Bruder Julius Gott¬
lob von Nostitz und Jänkendorf
mit Heinrich August Blochmann
und anfangs Paul Hermann). Zu
seinem Zuständigkeitsbereich zählten
das Gewerbewesen, die Polizeibe¬
hörden, die Zensur, die Amtsärzte,
die Angelegenheiten der jüdischen
Gemeinden, mehrere Lehreinrich¬
tungen (Technische Bildungsanstalt,
die Baugewerkenschulen, Chirur-
gisch-medicinische Akademie mit
Thier-Arzney-Schule, v. Vitzthum-
Blochmannsches Gymnasial-Erzie-
hungshaus) und das Wirken der Ver¬
eine (Gewerbeverein, Gesellschaft für
Natur- und Heilkunde, Ökonomische
Gesellschaft im Königreiche Sachsen,
Statistischer Verein, Altertumsverein;
siehe Ernst Rietschel und Johann
Gottfried Nake). Sein ehemaliger
Mitarbeiter Gustav von Flotow war
Vorstand in mehreren dieser Vereine.
Mit weiteren Ministern zeichnete
Nostitz zudem für das sächsische
Kirchenwesen „in Evangelicis“ verant¬
wortlich. Einige Verantwortlichkeiten
aus dem Ressort Inneres hatte sich
252
Lindenau Vorbehalten (die Kunstaka¬
demien in Dresden und Leipzig, die
königlichen Sammlungen sowie die
Versorgungs- und Strafanstalten, dar¬
unter die von Gottlob Adolf Ernst
von Nostitz und Jänkendorf in
Pirna und Bräunsdorf gegründeten
sowie die Landeswaisenanstalt in
Großhennersdorf).
Nostitz führte in Sachsen zur Zeit
von König Friedrich August II. eine
Landgemeindeordnung (1838), eine
Armenordnung (1840) und Gesetze
zur Teilbarkeit des Grundeigentums,
zum Schutz von künstlerischen und
literarischen Werken sowie zu einer
besseren Rechtsstellung der jüdischen
Bevölkerung ein. In einer Zeit des
wirtschaftlichen Aufschwungs kam
insbesondere den Bereichen Indus¬
trie, Handwerk, Handel und Verkehr
große Bedeutung zu. So betrafen der
Bau der Eisenbahnstrecke Leipzig-
Dresden und deren Einweihung 1839
sowie die Planungen für die Säch¬
sisch-Schlesische Eisenbahn Nostitz“
Zuständigkeitsb ereich.
Auch in Sachsen gärte die gesell¬
schaftliche Unzufriedenheit des
Vormärz. Entgegen der vorgesehenen
weitreichenden Pressefreiheit nach
der Sächsischen Verfassung („Die
Angelegenheiten der Presse und des
Buchhandels werden durch ein Gesetz
geordnet werden, welches die Freiheit
derselben, unter Berücksichtigung
der Vorschriften der Bundesgesetze
und der Sicherung gegen Mißbrauch,
1840 wurde die von Gottfried Sem¬
per erbaute Synagoge in Dresden
geweiht (Gustav Täubert, um 1850).
Als der für Dresden und Leipzig
zuständige Oberrabbiner Zacharias
Frankel 1836 nach Sachsen kam,
durften die Juden hier ihre Religion
noch nicht öffentlich ausüben, die
Errichtung einer Synagoge war ih¬
nen untersagt. Sie besaßen kein Bür¬
gerrecht, ihr Eid keine Glaubwür¬
digkeit. Die vom Innenministerium
unter Nostitz erlassenen Gesetze
stellten einen bedeutenden Beitrag
zur Emanzipation der jüdischen
Bevölkerung in Sachsen dar.
als Grundsatz feststellen wird.“) und
liberaler Tendenzen unter Linde¬
nau als Innenminister nahm unter
Nostitz die Zensur wieder zu. Ge¬
setzentwürfe zur Pressefreiheit traten
nicht in Kraft. Weil aber verglichen
mit anderen deutschen Staaten in
Sachsen noch relativ tolerante Rege¬
lungen galten, konnte sich Leipzig
zu einem Zentrum liberaler Dichter
und Schriftsteller entwickeln. Der von
Robert Heller 1842 maßgeblich
mitbegründete Literatenverein forder¬
te vergeblich weitere Verbesserungen
253
ein. Der bereits aus Preußen vertrie¬
bene Arnold Rüge verließ nach der
Beschlagnahme einer Ausgabe seiner
„Deutschen Jahrbücher für Wissen¬
schaft und Kunst“ 1843 Sachsen und
schloss sich in Paris mit Karl Marx
zusammen. Sein Mitarbeiter Michail
Bakunin ging nach Zürich.
Aus gesundheitlichen Gründen legte
Nostitz 1844 sein Ministeramt nieder
und zog sich auf sein Gut Oppach
zurück. Bis 1847 gehörte er dem
Staatsrat an, bis 1850 war er Richter
am Staatsgerichtshof. Die Familie war
von dieser revolutionären Zeit unmit¬
telbar betroffen. Nostitz‘ Nichte Julie,
eine Tochter seiner Schwester Elise,
und ihr Mann, Miklos Josika, waren
als Revolutionäre 1849 aus Ungarn
geflohen, fanden aber nur kurzzeitig
Aufnahme in Sachsen und emigrier¬
ten schließlich nach Brüssel.
Um das Schicksal verwahrloster
Kinder zu lindern, entstand im 19.
Jahrhundert deutschlandweit eine
„Rettungshausbewegung“. Bereits in
seiner Zeit als Minister in Dresden
war Nostitz mit dieser christlich-
sozialen Bewegung in Berührung ge¬
kommen, als im Rahmen der Verant¬
wortlichkeiten Lindenaus innerhalb
des Ressorts „Inneres“ beispielsweise
Bräunsdorf und Großhennersdorf
als Rettungshäuser genutzt wurden.
Neben diesen staatlich organisierten
Einrichtungen entstanden in Sachsen
ab 1850 in Stollberg, Lößnitz, Riesa,
Waldkirchen und Schwarzenberg
Anstalten unter Führung karitativer
Vereine. 1853 wurden für die Ober¬
lausitz in Berthelsdorf für Mädchen
und von Nostitz in Oppach für etwa
20 Jungen solche Rettungshäuser
gegründet. Der Gründung in Oppach
voraus ging 1852 ein Vortrag von
Nostitz über „Rettungsanstalten für
arme verwahrloste Kinder insbe¬
sondere auf dem Lande“ vor einer
Oppacher Gemeindeversammlung.
Neben Spenden, beispielsweise von
Karl Traugott Kanig und in
Dresden von Gustav von Flotow,
flössen in den Fonds auch Einnahmen
aus dem Druck jenes Vortrags sowie
weiterer Schriften wie des von Nos¬
titz herausgegebenen dichterischen
Nachlasses seiner Schwester Klothil¬
de Septimie. Nach dem Vorbild des
Rauhe-Hauses in Hamburg wurden
drei Grundsätze verfolgt: Erziehung
im Familienleben, zur Religiosität
und Sittlichkeit und zur Arbeit. Das
Rettungshaus in Oppach strahlte eine
große Vorbildwirkung in die Umge¬
bung aus. Von den 26 evangelischen
Rettungshäusern Sachsens im Jahre
1895 lagen allein 7 in der Oberlausitz,
neben Oppach und Berthelsdorf jene
in Zittau, Göda, Dittelsdorf, Elstra
und Neukirch.
Nostitz war Kanoniker des Kollegiat-
stifts in Wurzen (ab 1810), Domherr
und Senior des Hochstifts zu Meißen
(ab 1828) und Propst des Domcapi-
tularkollegiums St. Petri in Bautzen
(ab 1841). Das Hochstift Meißen
vertrat er Anfang der 1830er und in
254
Nostitz 1 Vater, Gottlob Adolf Ernst von Nostitz und Jänkendorf,
hatte 1786 auf alten Gewölben des Oppacher Niederhofs ein Herrenhaus er¬
richten lassen. Eduard Gottlob von Nostitz und Jänkendorf baute das Haus
1844 im neogotischen Stil um.
den 1850er Jahren im sächsischen
Landtag. Um sich einer besseren me¬
dizinischen Behandlung unterziehen
zu können, verbrachte Nostitz sein
letztes Lebensjahr in Dresden. Alle
vier Söhne von Nostitz verfolgten eine
militärische Karriere. Sein Sohn Leo
führte zudem das karitative Engage¬
ment des Vaters in Oppach mit der
Gründung eines Armenvereins fort.
Quellen: Bernhard Pfeiffer: „Die Parochie Oppach“.
Neue Sächsische Kirchengalerie, 1904; Neues
lausitzisches Magazin, 1874; „Genealogisches Ta¬
schenbuch der uradeligen Häuser“. Perthes Gotha,
1903; „Beiträge zur Geschichte des Geschlechtes
von Nostitz“ Gressner & Schramm Leipzig, 1876;
Cornelius Gurlitt: „Oppach“. Beschreibende Dar¬
stellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des
Königreichs Sachsen, Bd. 34, 1910; Gustav Poenicke:
„Expedition des Albums Sächsischer Rittergüter
und Schlösser“. Bd. 3, 1859; Felix Wilhelm: „Die
Geschichte des Luttitz-Nostitzschen Burglehnhau¬
ses“ Bautzen, 1937; Dresdner Adressbücher 1817,
1820, 1822, 1826,1832, 1837; Königlich-Sächsischer
Hof- und Staats-Kalender, 1810; Staats-Handbuch
für das Königreich Sachsen, 1843; Zita Szylagyi,
Aszod, Mitteilungen 2016; Leipziger Zeitung, 4.
Juli 1852, 28. Februar 1858; Herbert Zeißig: „Eine
deutsche Zeitung. Zweihundert Jahre Dresdner
Anzeiger.“ Verlag der Dr. Güntzschen Stiftung,
1930; Christian Ludwig Enoch Zander: „Geschichte
des Kriegs an der Nieder-Elbe im Jahre 1813“. Bd.
1, 1839; Immatrikulationsverzeichnisse Universität
Heidelberg; „Die Leipzig-Dresdner Eisenbahn in
den ersten fünfundzwanzig Jahren ihres Bestehens“.
1864; „Statistik der evangelischen Rettungshäuser
Deutschlands“. Berlin 1897; Rene Sternke, Klaus
Gerlach: „Karl August Böttiger - Briefwechsel mit
Christian Gottlob Heyne“. Walter de Gruyter, 2015
255
Julius Gottlob von Nostitz und Jänkendorf trug den Titel „Wirklicher Ge¬
heimrat“. Für seine Verdienste wurden ihm der sächsische Zivilverdienstor¬
den, der hannoversche Guelphen-Orden, der württembergische Friedrich-
Orden, der badische Zähringer Löwen-Orden, der kurfürstlich-hessische
Wilhelmsorden, der großherzoglich-hessische Orden von Philipp dem
Großmüthigen, der sächsisch-ernestinische Hausorden, der luxemburgische
Orden der Eichenkrone sowie die Ehrenbürgerschaft Bremens verliehen.
Lizenz: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, http://www.portraitindex.
de/documents/obj/34014839, CC BY-SA.
Nostitz und Jänkendorf, Julius Gottlob von
Sächsischer Gesandter beim Deutschen Bundestag
12.07.1797 Doberschau - 18.03.1870 Dresden
V: Gottlob Adolf Ernst (*21.4.1765 See, tl5.10.1836 Oppach), Rittergutsbesitzer auf Oppach,
Konferenzminister, Schriftsteller; M: Henriette Sophie geb. von Bose (*18.2.1769 Oberthau,
13.3.1848 Dresden); G: Traugott Adolph Karl (*24.3.1787,11787 Dresden), Elise (*1788,
123.8.1853 Aszod, heiratete 1812 nach Ungarn Karl von Podmanitzky, in erster Ehe mit Julie
Charpentier aus Freiberg verheiratet), Therese Clementine (*7.11.1789 Dresden, 121.3.1870
Dresden, verh. mit Karl Alexander Graf von Rex), Eduard Gottlob (*31.3.1791 Bautzen,
18.2.1858 Oppach, 1836-1844 sächsischer Innenminister), Theodor (*,t 1792 Bautzen), Lydia
Augustina (*18.8.1794 Doberschau, 117.11.1810 Dresden), Ida Rosalie (*9.1.1796 Bautzen,
128.3.1796 Doberschau), Agnes Luise (*10.9.1798 Bautzen, 117.5.1875 Altengottern, verh. mit
Julius von Marschall), Klara Minona (29.12.1799-11.2.1882, verh. mit Viktor Julius von Bülow,
Besitzer von Schloss Beyernaumburg), Klothilde Septimie (*27.1.1801 Bautzen, 11852 Oppach,
Dichterin, schrieb auch für Carl Maria von Weber), Heliodora Oktavia (*23.6.1805 Doberschau,
118.2.1871 Dresden, verh. mit Geheimrat Bruno von Schimpff); E: 31.5.1825 Wurschen, Erdmu-
the Charlotte Luise geb. von Rex-Thielau (*20.12.1805 Lautitz, 118.7.1884 Dresden); K: Gottlob
Adolf (*27.5.1826 Bautzen, 14.8.1880 Nadelwitz, Hauptmann, verh. mit Luise geb. Demisch),
Hertha Gertrud Charlotte (*9.11.1827 Bautzen, 117.11.1914 Dresden, verh. mit Carl Alexan¬
der von Schwerin), Georg Gottlob (*30.1.1829 Lautitz, 110.8.1896 Würzburg, Oberfinanzrat,
beteiligt am Ausbau des Eisenbahnwesens in Sachsen, verh. mit Hedwig Karoline Marie geb. von
Larisch), Margarete Marie (*14.8.1830 Lautitz, Stiftsdame von Joachimstein), Charlotte Dorothee
(*27.1.1832 Lautitz, 116.3.1906 Dresden, verh. mit dem russischen Diplomaten Alexander Baron
von Mengden), Otto Gottlob (*28.3.1836 Lautitz, 119.12.1870 Lagny, Hauptmann), Sophie Elisa¬
beth (*13.1.1844 Frankfurt/M., Stiftsdame von Joachimstein)
Nostitz begann seine Berufslauf¬
bahn 1820 als Kammerjunker am
Ober-Hof-Marschallamt. Seit 1815
gehörte er der Freimaurer-Loge „Zum
goldenen Apfel“ an, seit 1822 der
Oberlausitzischen Gesellschaft der
Wissenschaften. 1823 wurde er zum
Vogt des Klosters Marienthal bestellt.
1829 beriefen ihn die Oberlausitzer
Landstände zum Landesbestallten. In
den 1830er Jahren vertrat Nostitz die
Oberlausitz im sächsischen Landtag
und führte das Rittergut Lautitz. 1835
wurde er zum Landesältesten der
Oberlausitz gewählt.
Als Direktor der Kommission für
Ablösungen und Gemeinheitsteilun¬
gen ab 1837 zeichnete Nostitz für die
Reform der sächsischen Landwirt¬
schaft mitverantwortlich. Dabei ar¬
beitete er eng mit Heinrich August
Blochmann sowie anfangs mit Paul
Hermann, aber auch dem zustän¬
digen Innenminister, seinem Bruder
Eduard Gottlob von Nostitz und
Jänkendorf, zusammen. 1837 nahm
Nostitz an der ersten Versammlung
deutscher Landwirte in Dresden teil.
Zu den sächsischen Teilnehmern der
von August Gottfried Schweitzer von
257
Nostitz besaß das Rittergut Lautitz von 1828 bis 1841.
der Forstakademie Tharandt maßgeb¬
lich organisierten Veranstaltung zähl¬
ten auch Johann Gottfried Nake
und Heinrich August Blochmann.
Von 1840 bis 1848 vertrat Nostitz
Sachsen beim Deutschen Bundestag.
Der Bundestag bildete das höchste
Organ des Deutschen Bundes. Der
1815 nach der Niederlage Napoleons
gegründete Deutsche Bund war eher
ein Staatenbund als ein Bundesstaat
und stand im Zeichen des Konflikts
zwischen Preußen und Österreich um
die Vorherrschaft in Deutschland. Zur
Gründung gehörten ihm 35 Mo¬
narchien und 4 Freie Städte an. Im
Bundestag in Frankfurt a. M. berie¬
ten die bevollmächtigten Gesandten
national bedeutsame innen- und
außenpolitische sowie militärische
Angelegenheiten. Sachsen besaß eine
„Virilstimme“ im engeren Rat, also
ein volles Mandat. Nostitz vertrat in
den 1840er Jahren Sachsen zudem in
Stuttgart als Gesandter. Die nationale
Bewegung von 1848 forderte notwen¬
dige Reformen ein und die Deutsche
Nationalversammlung („Paulskir¬
chenparlament“) erklärte den Bun¬
destag am 28. Juni 1848 für aufgelöst.
Nach der Zerschlagung der Deut¬
schen Nationalversammlung wurde
Nostitz 1849 wieder nach Frankfurt
entsandt. Er vertrat Sachsen zudem in
Kassel, Karlsruhe und Darmstadt als
Gesandter. Die Dresdner Verhandlun¬
gen vom 23. Dezember 1850 bis zum
15. Mai 1851 über eine neue Verfas¬
sung des Deutschen Bundes blieben
258
ergebnislos. Nostitz unterstützte in
Frankfurt die österreichfreundliche
Politik von Friedrich Ferdinand von
Beust, des sächsischen Gegenspielers
von Otto von Bismarck. Auch im
Zusammenhang mit einer geplanten
Verschärfung des Bundespressege¬
setzes vertrat Nostitz sehr konserva¬
tive Positionen. 1855 wurde ihm die
Ehrenbürgerschaft Bremens zuteil.
Die Bürgerschaft hatte es zunächst
verhindern können, dass die fort¬
schrittliche Verfassung der Stadt nach
dem Scheitern der Revolution wieder
außer Kraft gesetzt wurde. Der kon¬
servative Senat der Stadt verband sich
jedoch mit dem Deutschen Bundes¬
tag, die Bürgerschaft wurde aufgelöst
und die Verfassung geändert. Nostitz
war daran als Referent in der zustän¬
digen Kommission des Bundestags
beteiligt.
1864 übernahm Carl Gustav Adolph
von Bose Nostitz“ Mandat. Mit dem
preußisch-österreichischen Krieg
von 1866 lösten sich Deutscher Bund
und Bundestag auf. Seit 1864 wohnte
Nostitz“ Nichte Julie Josika geb. Pod-
manitzky, eine Tochter seiner Schwes¬
ter Elise, mit ihrem Mann, Miklos
Josika, in Dresden. Julie Josika war
Schriftstellerin und hatte 1849 mit
ihrem Mann aus Ungarn fliehen und
über Leipzig nach Brüssel emigrieren
müssen.
Quellen: Robert Luft: „Nostitz“. Neue Deutsche
Biographie, 1998; Neues lausitzisches Magazin,
1835, 1838, 1839; „Genealogisches Taschenbuch der
uradeligen Häuser“. Perthes Gotha, 1903; Adressbü-
Nostitz wohnte zuletzt in Dresden
„An der Bürgerwiese 15b“ (spätere
Nr. 22) im 1. OG. Der Hauseigentü¬
mer, der Naturforscher Otto Stau¬
dinger, betrieb parterre ein Dampf¬
bad.
eher der Stadt Dresden; Heinz Georg Holldack:
„Untersuchungen zur Geschichte der Reaktion in
Sachsen, 1849-1855“. Kraus Reprint, 1965; Joseph
Bernhard Schönfelder: „Urkundliche Geschichte
des Königlichen Jungfrauenstifts und Klosters St.
Marienthal, Cistercienser-Ordens, in der König¬
lichen Sächsischen Oberlausitz“. Schöps, 1834;
Tobias C. Bringmann: „Handbuch der Diplomatie,
1815-1963“. Walter de Gruyter, 2001; Zita Szylagyi,
Aszod, Mitteilungen 2016; Amtlicher Bericht
Versammlung deutscher Land- und Forstwirthe in
Dresden, 1838; Gustav Adolf Poenicke: „Album der
Rittergüter und Schlösser im Königreiche Sachsen“.
Bd. 3; Richard Kohnen-Vogell: „Pressepolitik des
Deutschen Bundes: Methoden staatlicher Pressepo¬
litik nach der Revolution von 1848“. 1995; Wilhelm
von Bippen: „ Aus Bremens Vorzeit“. BoD - Books
on Demand, 2015
259
Hans Volkmann: „Johannes Pache, ein Meister des deutschen Chorliedes“.
Unsere Heimat, Beilage zum Sachs. Erzähler, Nr. 49, 6. Dezember 1937.
Pache, Johannes Fürchtegott Jonathan
Dirigent, Komponist, Kantor
09.12.1857 Bischofswerda - 24.12.1897 Limbach
V: Emil (*1822 Grimma, 120.8.1892 Bischofswerda), Vater Chausseegeldeinnehmer in Wen-
disch-Paulsdorf, 1843 Hilfslehrer Strahwalde, 1845 Lehrer Sebnitz, ab 1850 Lehrer Bischofswer¬
da, Oberlehrer; M: Ottilie geh. Gerdessen, Arzttochter aus Strahwalde; G: Alfred Emil Immanuel
(*2.11.1846 Sebnitz, 116.7.1913 Dresden-Tolkewitz, 1874 Diakon Bischofswerda, 1877 Pfarrer
Steinigtwolmsdorf, 1888 Direktor Pädagogium Langebrück, 1905 Direktor Realschule Altstadt,
1908 Pfarrer Waldkirchen, dessen Sohn Alexander Pache, *31.12.1878 Steinigtwolmsdorf, Prof.
Dr. phil., Lehrer und Schriftsteller in Dresden und Zwickau), 1 Schwester (1 Nov. 1848 Sebnitz),
Martin Moritz Georg (*26.10.1853 Bischofswerda, 14.3.1923 Dresden, 1879 Vikar Reinhardts¬
dorf, 1880 Diakon Döhlen, 1882 Pfarrer Wildenfels, 1894 erster Pfarrer der Heilig-Kreuz-Kirche
Leipzig, 1900 Superintendent Großenhain, 1915 Geheimer Rat im Landeskonsistorium); E: (1)
13.4.1885 Strasburg/Westpreußen, Martha geh. Heinrich (*23.1.1862,11893 Limbach), (2) Mar¬
tha geh. Knackfuß (Tochter von Emil Knackfuß, Teilhaber der Strumpfwarenfabrik Reinhold
Esche in Limbach, Klavier- und Sprachlehrerin, verschwägert mit Diakon Bernhard Dinter, als
Witwe bis 1921 in Dresden ansässig); K: Wolfgang (*12.2.1890, Lehrer in Limbach)
Paches Vater galt als ausgesprochen
tätige Persönlichkeit und gründete
z. B. den örtlichen Frauenverein und
den Militärverein. Er wollte auch
seinen Jüngsten, wie dessen Brüder,
auf eine theologische Berufslaufbahn
vorbereiten und schickte ihn deshalb
1870 auf das Gymnasium in Zittau
unter Heinrich Julius Kämmel. Hier
zeigte sich schon bald Paches musika¬
lische Begabung. Er übte regelmäßig
Klavier und sang als Solosopranist im
Chor von Kantor Paul Fischer, dem
er wichtige musikalische Anregungen
zu verdanken hatte. Es entstanden
erste Lied- und Klavierkompositio¬
nen. Darunter litten seine schulischen
Leistungen. Nachdem er das zweite
Mal sitzen geblieben war, wollte ihn
der Vater in Dresden am Lehrerse¬
minar anmelden. Auf die Frage des
Direktors, ob er zum Lehrerberuf
Lust hätte, antwortete der Sohn zum
Entsetzen des strengen Vaters jedoch:
„Nein, nur zur Musik.“ Daraufhin
wurde Pache auf das Gymnasium in
Bautzen geschickt. Er sang im Schul¬
chor, musizierte mit Freunden und
verdiente sich etwas Geld als Klavier¬
lehrer. Es entstanden verschiedene
Kompositionen, die später unverän¬
dert gedruckt wurden.
Ab 1877 ließ sich Pache in Dresden
bei Hoforganist Theodor Berthold im
Orgelspiel und in der Theorie sowie
bei dem kurz zuvor aus München von
Hans von Bülow gekommenen Herr¬
mann Scholtz im Klavierspiel ausbil¬
den. 1879 fand er eine erste Anstel¬
lung als Organist und Musikdirektor
in Herisau bei St. Gallen. Aus privaten
Gründen kehrte Pache schon 1881
nach Dresden zurück. Um seinen Le-
261
Blick über den Mühlteich zur Christuskirche Bischofswerda, davor Paches
Geburtshaus (linkes Eckhaus). Das Foto wurde von Uwe Fiedler der Wiki-
pedia zur Verfügung gestellt.
bensunterhalt zu verdienen, arbeitete
er als Begleiter an der Gesangschule
von Augusta Götze, als Lehrer an
der Zillmannschen Musikschule und
zeitweise als Liedermeister von sechs
Vereinen gleichzeitig. Trotzdem litt er
Not und wechselte 1884 nach Leip¬
zig, wo er in Konzerten als Organist
und Pianist auftrat. Hier entstanden
vielbeachtete Kompositionen. 1885
wechselte Pache als Kapellmeister an
das Saisontheater in Naumburg. Er
gründete hier zudem einen Männer¬
gesangverein, der noch lange später
seinen Namen trug. Ab 1886 beriet
er in Leipzig Musikverlage. Diese
wirtschaftlich lohnende Tätigkeit
eröffnete ihm einigen künstlerischen
Freiraum. Pache hatte die Jahre der
Not in Dresden nie vergessen und un¬
terstützte später vielfach Bedürftige.
Pache war ein Meister des deutschen
Chorliedes und schuf vorwiegend
Männerchöre, v. a. in den frühen
Jahren mit sehr romantischem
Charakter. 1886 entstand z. B. „Ein
Winzerfest am Rhein“, eine bekannte
Walzer-Idylle für Männerchor mit
Begleitung des Pianoforte (op. 38).
Opus 169 vereinte den „Waldeszau¬
ber“ (Solo mit Männerchor) mit der
262
Frühlingsbegeisterung in „Lenzwon¬
ne“. Sein vokalmusikalisches Schaffen
ging jedoch weit darüber hinaus.
Neben Frauen- und gemischten
Chören gehörten dazu auch Sologe¬
sänge und Duette. Für gemischten
Chor vertonte Pache „Wohlauf, es
ruft der Sonnenschein“ von Ludwig
Tieck (op. 44). Zu den beliebtesten
Frauenchören zählten „Frau Holle“
(op. 135) als Kupplerin, mit einem
Text von Otto Hausmann, und die
märchenhafte „Frau Sage“ mit einem
Text von Frieda Schanz. Seine durch¬
aus nationalpatriotische Gesinnung
wurde deutlich in „Niederwaldfahrt“
und v. a. in „Die Germanenschlacht“
(op. 106); diesen Chor widmete Pache
dem Universitäts-Sängerverein zu St.
Pauli in Leipzig und dessen Diri¬
genten Hermann Kretzschmar. Das
bedeutendste Einzelwerk Paches war
sicher seine Oper „Tobias Schwalbe“
mit einem Text von ihm selbst nach
„Der Nachtwächter“ von Theodor
Körner. Zu den Höhepunkten seines
instrumentalmusikalischen Schaffens
zählten Duette für zwei Violinen,
Streichquartette, eine Suite für Klavier
und Violine sowie Bearbeitungen
von auserlesenen Vortragsstücken
berühmter Meister wie Bach, Händel,
Haydn für Harmonium, darunter von
Ludwig van Beethoven: Larghetto aus
der 2. Sinfonie D-Dur op. 36, Andan¬
te aus der Sonate op. 26 und Andante
aus der Sonate F-Moll op. 57 (Beetho¬
ven-Haus Bonn).
Um wieder mehr Musik praktizieren
zu können, trat Pache 1889 in Lim-
bach eine Stelle als Kantor und Orga¬
nist an. Er führte in den wenigen ihm
verbleibenden Jahren den Kirchen¬
chor zu hoher Blüte und gilt als Be¬
gründer der traditionsreichen Limba-
cher Kirchenmusik. Hier entstanden
auch verschiedene kirchliche Kompo¬
sitionen, darunter op. 183 „Nocturne"
für Orgel. Höhepunkt der Limbacher
Tätigkeit war die Aufführung seines
150. Werkes, des Oratoriums „Ka-
pernaum“ mit einem Text von Diakon
Bernhard Dinter, anlässlich seines 35.
Geburtstages. Die Aufführung wurde
zu einem großen Erfolg - das Werk
blieb aber ungedruckt. In seinen
letzten Jahren plante Pache auch eine
Oper mit den Hauptpersonen Goethe
und Friderike von Sesenheim; Anton
Ohorn hatte schon begonnen, dafür
ein Textbuch zu schreiben. Der frühe
Tod des Komponisten verhinderte
schließlich die Fertigstellung und der
Stoff wurde später von Franz Lehar in
der Operette „Friderike“ behandelt.
In seinem kurzen Leben schuf Pache
eine Vielzahl von Kompositionen, die
seinerzeit sehr erfolgreich waren. Das
Gesamtwerk reicht bis op. 185. In vie¬
len Werken widerspiegelte sich sein
volkstümliches und lebensbejahendes
Wesen. Wirtschaftlichen Zwängen
folgend entstanden auch „leichte“
Musikstücke, die dem damaligen
Zeitgeist entsprachen. Dazu zählten
unterhaltsame Salonstücke unter dem
falschen Namen Johannes Gerdessen
263
Das Pachedenkmal in Limbach steht
heute unter Denkmalschutz.
(Gerdessen war der Mädchenname
der Mutter). Pache geriet zuneh¬
mend in Vergessenheit, als sich der
Geschmack des Publikums wandelte.
Gesundheitlich von einer Lungen¬
krankheit schon schwer gezeichnet,
dirigierte er in Bischofswerda in
seinem letzten Lebensjahr einen
seiner Chöre anlässlich des Bundesge¬
sangsfestes und musste erleben, dass
man sich in seiner Geburtsstadt nicht
mehr zu ihm bekannte.
Auch nach Paches Tod gehörten seine
Chöre noch lange zum Repertoire vie¬
ler Gesangvereine. Er war nicht nur in
Deutschland bekannt, sondern auch
bei den deutschen Einwanderern in
den USA beliebt. Die New York Times
berichtete am 25. Juni 1894 auf Seite
1 unter „Prize Singers and Singers
Who Got Only Money and Farne“ von
einem Gesangswettbewerb, für den
u. a. Paches „Waldeinsamkeit“ als
Wettbewerbsstück ausgewählt worden
war. Seine Kompositionen erschie¬
nen z. B. in New York (Carl Fischer,
1898-1904; unter „Sacred Choruses“
bei H.W. Gray; Schirmer) und in Bos¬
ton (A.P. Schmidt, Orgelmusik, 1897).
Der Verleger Gamble Hinged Mu-
sic Chicago stellte 1936 in „Graded
masterworks for strings“ u. a. Werke
von Edvard Grieg, Charles Gounod
und Pache zusammen. Beim gleichen
Verleger erschien im selben Jahr
auch eine musikalische Partitur zum
Thema „Freischütz“ (Carl Maria von
Weber) mit Beteiligung von Pache.
Einige Musikstücke des Komponisten
befinden sich in der US-Library of
Congress. Noch in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts wurde Pache in
vielen einschlägigen internationalen
Lexika zitiert.
An seiner letzten Wirkungsstätte Lim¬
bach ist Pache 1902 mit der Einwei¬
hung eines Denkmals im Stadtpark,
vermutlich nach einem Entwurf des
Wiener Bildhauers Wilhelm Leissring,
geehrt worden. Es wurde in Sandstein
gestaltet und ist über 3 Meter hoch.
Unterhalb des in Erz gegossenen
Bildnisses erinnert die Zeile „Der
liebe Herrgott hält die Wacht“ an ein
Lied von Pache. Für das Denkmal
264
Erinnerungstafel am Geburtshaus
in Bischofswerda: „Am 9. Dezember
1857 wurde hier geboren Johannes
Fürchtegott Jonathan Pache.“
trafen Spenden auch aus Indianapolis
und Syrakus in den USA ein. Die von
Pache begründete Kirchenmusiktra¬
dition führten u. a. Franciscus Nagler,
Alfred Stier (späterer Landeskirchen¬
musikdirektor in Sachsen) und Rudolf
Levin erfolgreich fort. 2004 wurde die
ehemalige Kirchstraße in Limbach
nach Pache benannt. Im Jahre 2007
erinnerten mehrere Veranstaltungen
an seinen 150. Geburtstag: Am 6. Mai
fand eine Matinee statt. Es erklan¬
gen ausschließlich Werke Limbacher
Kantoren - von Pache wurde „Herr,
auf dich traue ich“ aufgeführt. Am
Geburtstag selbst, dem 9. Dezember,
erinnerten ein Posaunengottesdienst
in der Stadtkirche mit anschließender
Feier des Heiligen Abendmahls, eine
Kranzniederlegung am Pachedenkmal
im Stadtpark und eine CD „Limba¬
cher Komponisten und Interpreten
von Bach bis Pache, von Barock bis
Pop“ an den ersten hauptamtlichen
Kantor in Limbach. Als in der Lim¬
bacher Stadtkirche im Jahre 2014
des berühmten Kreuzkantors Rudolf
Mauersberger gedacht wurde, erklan¬
gen Werke von Mauersberger selbst,
der Kreuzkantoren Ernst Julius Otto
und Gottfried August Homilius sowie
von Pache.
In der Geburtsstadt Bischofswerda er¬
innert eine auf Initiative des Heimat¬
forschers Hermann Steudtner ange¬
brachte Gedenktafel am Geburtshaus
Pfarrgasse 8 an den Sohn der Stadt.
Quellen: Hans Volkmann: „Johannes Pache,
ein Meister des deutschen Chorliedes“. Unsere
Heimat, Beilage zum Sachs. Erzähler, Nr. 49,
6. Dezember 1937; E.W.: „Erinnerungen an
Johannes Pache“. Unsere Heimat, Nr. 10, 9. März
1924; Meyers Konversationslexikon, Verlag des
Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien,
Vierte Auflage, 1885-1892, 18. Band: Jahres-
Supplement 1890-1891; Hermann Schnurr¬
busch: „Johannes Pache zum 100. Todestag“.
Journal für das Limbacher Land, Survival
Verlag Limbach-Oberfrohna, 5 (1997), S. 16-17;
„Matinee zum 150. Geburtstag - Musikalischer
Gottesdienst mit Werken Limbacher Kantoren“,
„Musikalische Referenz für Johannes Pache“,
Stadtspiegel, Amtsblatt der Großen Kreisstadt
Limbach-Oberfrohna, 17. Jg., Nr. 9 (26.4.2007),
Nr. 11 (24.5.2007); „Der Kantatesonntag - eine
besondere Geburtstagsfeier“, Gemeindebrief
Ev.-Luth. Kirchgemeinde Limbach-Kändler,
April/Mai 2007, Nr. 51, S. 8; Gemeindebrief
Ev.-Luth. Kirchgemeinde Limbach-Kändler
Dezember 2007 / Januar 2008, Nr. 55; Franz
Kössler: „Personenlexikon von Lehrern des 19.
Jahrhunderts“. Berufsbiographien aus Schul-Jah-
resberichten und Schulprogrammen, 1825-1918,
Bd. Paalhorn-Pyrkosch; Reinhold Grünberg:
„Sächsisches Pfarrerbuch“. Freiberg 1939-1940;
Neues Archiv für Sächsische Geschichte, 1920,
S. 152; Dresdner Adressbücher; „Die Limbacher
Fabrikanten-Familie Esche“ (www.graenz.name);
„Es war eine Schule fürs Leben“ (www.blick.de);
Die Gartenlaube, 1902; www.westpreussen.de
265
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Petermann, Georg
Pietistischer Pfarrer in Berlin, der Lausitz und Dresden
auch: Petermannus, Georgius; Petrman, Jiri; Petrmann, György
19.03.1710 Pukanz - 19.12.1792 Dresden
V: Daniel, Kürschner in Pukanz; G: George (*1709 Pukanz, 112.11.1782 Zibelle, studierte zusam¬
men mit seinem Bruder in Halle, 1739 Substitut und ab 1751 Pfarrer in Zibelle, verheiratet mit
Elisabeth geb. Zenker, ihr Sohn George, *9.8.1750 Zibelle, Kaufmann in Löbau, verheiratet mit
Johanne Eleonora Rahel geb. Fröhnel, *26.5.1755 Walddorf, t29.12.1794 Löbau, Tochter des Chi¬
rurgen Johann Gottlieb Fröhnel, ein weiterer Sohn Daniel, *1747 Zibelle, 26.9.1760 Aufnahme
in die Lateinische Schule in Halle); E: (1) fl745; K: Johann Samuel (*1747 Dresden, 11811 Han¬
nover, Theologe, Hofmeister beim Freiherren von Mengden in Wildenfels, 1776 Gründer der
Freimaurer-Loge zum Goldenen Apfel - ab 1781 in Dresden, wo später Karl August Böttiger
Meister vom Stuhl war, ab 1778 Lehrer an der Pagenschule Dresden, ab 1786 Hofmeister beim
Prinzen von Mecklenburg-Strelitz, ab 1791 Postkommissarius beim Generalpostamt Berlin)
Petermann musste an seinem damals
ungarischen Heimatort Pukanz (heute
Pukanec, Westslowakei) eine katholi¬
sche Schule besuchen. Um den Sohn
zu schützen, schickten ihn die protes¬
tantischen Eltern später nach Bohn-
witz und Bagdan. Ab 1724 besuchte er
das Gymnasium in Schemnitz (Bans-
kä Stiavnica), 1728 wechselte er nach
Pressburg (Bratislava).
Am 1. Oktober 1733 bezog Peter¬
mann die Universität Halle zum
Studium der Theologie. Er hörte
Vorlesungen von Siegmund Jakob
Baumgarten, Johann Gottlieb Heinec-
cius und Johann Heinrich Michaelis.
Gotthilf August Francke prägte ihn
nachhaltig im Sinne des Pietismus
seines 1727 verstorbenen Vaters,
August Hermann Francke. Petermann
blieb mit Francke, Direktor des Wai¬
senhauses Halle, auch nach dem Stu¬
dium in langjährigem Briefkontakt.
Seine Berufslaufbahn begann er 1734
als Lehrer an der Mägdlein-Schule der
Francke'schen Stiftungen.
Im Oktober 1734 erhielt der Student
Petermann auf Empfehlung von
Francke an den Geheimen Finanz-,
Kriegs- und Domänenrat Christi¬
an von Herold eine Anstellung als
Lehrer und zeitweise als Prediger der
böhmischen Exulantengemeinde in
Berlin. Der vormalige Pfarrer der
Böhmen vor ihrem Weggang 1732 aus
Großhennersdorf in der Oberlausitz,
Johann Liberda, war auf Betreiben
von Henriette Sophie von Gersdorff
in Sachsen verhaftet worden und so
hatte die Gemeinde in Berlin keinen
eigenen Pfarrer mehr. Petermann
geriet jedoch zunehmend in theologi¬
sche Meinungsverschiedenheiten mit
seiner Gemeinde, die sich wieder stär¬
ker den Traditionen der Brüderlehre
zuwandte. So wurden Betstunden
267
auch ohne Pfarrer abgehalten. Geist¬
lichen Beistand erhielt die Gemeinde
vom reformierten Oberhofprediger
von Berlin, Daniel Ernst Jablonsky.
Petermann, der zunächst nur für
ein Jahr in Berlin hatte bleiben und
danach nach Halle zurückkehren
wollen, beschränkte sich bald auf
seine Aufgaben als Lehrer. Andreas
Macher, zuvor Konrektor in Teschen,
übernahm 1735 die Pfarrstelle.
Peter mann unterrichtete in Berlin
etwa 70 Kinder. Die Organisation
des Schul- und Katechismusunter¬
richts erfolgte nach dem Vorbild des
Halleschen Waisenhauses. Von hier
besorgte sich Petermann die benö¬
tigten Schulbücher in deutscher und
tschechischer Sprache. Wegen der
Armut der böhmischen Exulanten bat
er Gotthilf August Francke um Hilfe,
die dieser auch gewährte. Geeignete
Schüler bereitete Petermann auf ein
Universitätsstudium vor. Dafür grün¬
dete er mit Unterstützung von Adolph
Gebhard Manitius eine „Anstalt der
studierenden Böhmen“. 1737 wurde
die in der Tradition der Prager Beth¬
lehemskapelle des Jan Hus stehende
Bethlehemkirche der böhmischen
Exulantengemeinde in Berlin ge¬
weiht (im Zweiten Weltkrieg schwer
beschädigt, in der DDR abgetragen).
Gemeinsam mit Andreas Macher
und dem ehemaligen Großhenners-
dorfer Augustin Schultze verfasste
Petermann anlässlich der Kirchweihe
Lobgedichte auf den König („Das
kleine Bethlehem als ein geistlich Brot
- Haus für hungrige Selen“). Schon in
Oberlausitzer Wurzeln
der böhmischen
Gemeinde in Berlin
1729 begann der preußische König
Friedrich Wilhelm I., in der Fried¬
richstadt protestantische Böhmen
anzusiedeln. Ein großer Teil der seit
etwa 1717 in Großhennersdorf un¬
tergekommenen und ursprünglich
aus den Landkreisen Leitomischl
und Landskron an der Grenze zu
Mähren stammenden Flüchtlinge,
etwa 500 Personen, wollte 1732
ebenfalls nach Berlin. Sie verließen
ihre zwischenzeitliche Oberlausitzer
Heimat aus Unzufriedenheit über
die materiellen und rechtlichen
Verhältnisse, aber auch aus litur¬
gischer Opposition. Ihr Katechet
Johann Liberda reichte ihnen zwar
beim Abendmahl nach Tradition der
Brüder-Unität Brot statt Oblaten,
doch der Druck, sich der in Sachsen
vorherrschenden lutherischen Kir¬
che anzupassen, blieb groß. Liber¬
da war ein Anhänger von August
Hermann Francke in Halle, welcher
die Fluchtbewegung aus Böhmen
förderte und dafür Großhennersdorf
als Stützpunkt auserkoren hatte. Die
Herrin auf Großhennersdorf, Hen¬
riette Sophie von Gersdorff, stand
zwar dem Pietismus nahe, im Unter¬
schied zum benachbarten Herrnhu¬
ter Nikolaus Ludwig von Zinzendorf
und Pottendorf wollte sie aber an der
Leibeigenschaft nicht rütteln
268
und so kam es zum Bruch mit ihren
Böhmen. Nachdem der preußische
König die Großhennersdorfer Ex¬
ulanten zunächst nicht aufnehmen
wollte, siedelte er sie und Glaub ens-
brüder aus Zittau auf Vermittlung
von Liberda in Neu-Cölln und der
Friedrichstadt an. Obwohl in Berlin
insgesamt eine größere Toleranz als
in Sachsen herrschte, blieben auch
hier Konflikte unvermeidlich.
dieser Zeit traten Konflikte zwischen
verschiedenen protestantischen Strö¬
mungen hervor. Petermann wurde in
der Folge wiederholt in Streitigkeiten
zwischen Nikolaus Fudwig von Zin-
zendorf und Pottendorf sowie Fran-
cke verwickelt, bei denen es z. B. um
Eifersüchteleien im Zusammenhang
mit den Missionen in Amerika ging,
wo sowohl die Herrnhuter als auch
die Lutheraner in Halle die Führungs¬
rolle beanspruchten.
Anfang 1738 ging Petermann als böh¬
mischer Prediger nach Gebhardsdorf
(Giebultöw) am Queis zu Gottlob
Friedrich von Gersdorff. Augustin
Schultze hatte ihm die Berufung
überbracht. Diese Entscheidung
durch den Standesherren statt durch
das Konsistorium sorgte für Unmut.
Vor allem fürchtete man aber eine
Hinwendung der hiesigen Exulanten
zu den Brüdergemeinen Großhen¬
nersdorf und Herrnhut. Am 24. März
1738 wurde Petermann in Leipzig or¬
diniert, kurz darauf trat er seine Stelle
als Pfarrer in Uhyst/Spree an. 1741
holte ihn Kabinettsminister Erdmann
Graf von Promnitz als Archidiakon in
Vetschau und Pfarrer in Missen. An
diesen Wirkungsstätten hatte es der
pietistische Petermann nicht leicht.
In Gebhardsdorf gab es schon unter
seinem Vorgänger theologische Kon¬
flikte, die wegen der Einführung eines
neuen Gesangbuchs durch Peter¬
mann erneut aufbrachen, bis sich die
Gemeinde sogar beschwerte. In Uhyst
wurde er als „Heuchler aus Halle“
diffamiert und auch in Vetschau gab
es Anfeindungen und Beschwerden
beim Konsistorium in Lübben.
Die Kirche in Uhyst/Spree wurde
bis 1716 fertiggestellt, der Bau des
Turms dauerte jedoch bis 1735,
also wenige Jahre vor Petermanns
Amtsantritt.
269
Petermann wurde 1747 zum Prediger
der böhmischen und deutschen
Gemeinde der Johanniskirche in
Dresden berufen. Die Kirche („die
Böhmische“) befand sich in der Nähe
des Pirnaischen Tores am Stadtrand
des alten Dresdens und war seit 1650
nach einer Stiftung von Kurfürst Jo¬
hann Georg I. Heimstatt der ab 1620
massenhaft aus Böhmen geflüchteten
Protestanten. Auch hier war Peter¬
mann wegen seines Pietismus nicht
unumstritten. Schon seine Wahl wur¬
de von heftigen Auseinandersetzun¬
gen überschattet. Den ursprünglichen
Kandidaten des Oberkonsistoriums,
Interimspfarrer Wenceslaus Grego-
rius, lehnte die Gemeinde ab. Auf
Drängen von August III. kam es zu
einer Kampfabstimmung, bei der sich
Petermann klar gegen Georg Körner
durchsetzte. Das Oberkonsistorium
hatte skeptische Gemeindemitglieder
beschwichtigt, bei diesem Petermann
handele es sich nicht um jenen in
Gebhardsdorf und Zibelle missliebig
aufgefallenen, bezüglich Gebhards¬
dorf offenbar fälschlicherweise. Viele
Mitglieder verließen die Johannisge¬
meinde, aber Petermann konnte auch
viele einflussreiche Persönlichkeiten
als Besucher seiner Gottesdienste
und als Spender gewinnen, was das
Überleben und den weiteren Ausbau
der Gemeinde sicherte. 1756 gründete
die böhmische Gemeinde in Dresden-
Neustadt die Neidesche Stiftsschule,
zusätzlich zu einer in der Pirnai¬
schen Gasse betriebenen Schule.
Ein persönlich gutes Einvernehmen
bestand zwischen Petermann und
Johann Christian Schlipalius, 1746
Katechet und Mittagsprediger an der
Frauenkirche, 1754 Prediger an der
Sophienkirche und 1756 Prediger an
der Kreuzkirche in Dresden.
Zur damaligen Zeit war der Kirchhof
der Johanniskirche die bevorzugte
Begräbnisstätte des Dresdner Bürger¬
tums. Die Begräbnisse wurden jedoch
zumeist nicht von den Pfarrern der
Johanniskirche durchgeführt, de¬
nen die Kirchenleitung Calvinismus
unterstellte, sondern von der Stadt -
geistlichkeit. 1752 fand hier Johann
Christoph Knöffel, Architekt der
Brühlschen Terrasse und des Barock¬
schlosses Rammenau, die letzte Ruhe,
1753 der Orgelbauer Gottfried Silber¬
mann und 1762 der Zeitungspionier
Johann Christian Crell.
Der Siebenjährige Krieg bis 1763
stellte die böhmische Gemeinde in
Dresden vor große Probleme. Das
Pfarrhaus war abgebrannt, Kirchenge¬
räte und Geldspenden aus Hamburg
gingen verloren. Kollekten in Regens¬
burg und Lübeck, Beiträge des Ober¬
konsistoriums, aber auch Spenden der
deutschen Gemeinde, bei der Peter¬
mann sehr angesehen war, machten
den Wiederaufbau des Pfarrhauses
1770 möglich. Petermann blieb bis
zum Schluss mit den Franckeschen
Stiftungen in Halle eng verbunden
und sammelte z. B. Spenden für die
Missionen in Indien und Nordame¬
rika.
270
Die aus Holz gebaute Johannis¬
kirche (Zeichnung Moritz Krantz,
Deutsche Fotothek, CC BY-SA 4.0)
musste 1784 abgerissen werden. Die
Gottesdienste fanden danach in der
nahen Waisenhauskirche statt.
1784 gründete sich unter Petermanns
Leitung eine Dresdner Partikularge¬
sellschaft aus mehreren „erweckten“
Pfarrern. Zuletzt war Petermann
Senior des geistlichen Ministeri¬
ums. 1789 begann unter Leitung von
Ratsbaumeister Christian Heinrich
Eigenwillig der Neubau der Johan¬
niskirche. Ihre Weihe im Jahre 1795
erlebte Petermann nicht mehr.
Petermann verfasste in seiner Dresd¬
ner Zeit eine Reihe theologischer
und sprachwissenschaftlicher Bücher.
Unter seinen Werken ragen das böh¬
mische Gesangbuch von 1748 („Ho-
spodina Srdcem y Rty Chwäleni“),
eine böhmische Grammatik sowie
ein Buch mit böhmischen Postillen
von 1783 („Krestanske Wjry Zäklad“)
hervor. Er gab zudem eine böhmische
Bibel heraus. Schon 1775 publizierte
Petermann beim Intelligenz-Comp¬
toir (ehemals Siegmund Ehrenfried
Richter) die theologische Streit¬
schrift „Erlaubte Beleuchtung“ gegen
bibelkritische Abhandlungen des
Engländers Eduard Harwood, wobei
er auch auf Antithesen des Berliner
Oberkonsistorialrats Wilhelm Abra¬
ham Teller zurückgriff.
Quellen: Christian Adolph Pescheck: „Die
böhmischen Exulanten in Sachsen“. Hierzel,
Leipzig 1857; Franckesche Stiftungen zu Halle
(Saale): Datenbank zu den Einzelhandschrif¬
ten in den historischen Archivabteilungen;
Digitalisierte „Bergmannsche Exulanten¬
sammlung“, in Zusammenarbeit der Ludwig-
Maximilians-Universität München und des
Hauptstaatsarchivs Dresden; Paul Flade:
„Neue Sächsische Kirchengalerie, Ephorie
Dresden 1“. 1906; Christian Gottlieb Jöcher,
Johann Christoph Adelung, Heinrich Wilhelm
Rotermund: „Allgemeines Gelehrten-Lexicon“.
Gleditsch, 1816; Gottfried Lebrecht Richter:
„Allgemeines biographisches Lexikon alter
und neuer geistlicher Liederdichter“. 1804;
Lausitzisches Magazin“. Bd. 25, Fickelscherer
1792; Karl Gottlob Dietmann: „Die gesamte
der ungeänderten Augsp. Confeßion zuge-
thane Priesterschaft in dem Churfürstenthum
Sachsen und denen einverleibten, auch einigen
angrenzenden Landen“. Bd. 1, 1752; Website
Johannes-Kantorei; www.apfelloge.de; www.
genbo.de; Ursula Bach: „Auszug und Ankunft.
Der Weg der Evangelischreformierten Beth¬
lehemsgemeinde durch drei Jahrhunderte“;
Thomas Keller: „Das tolerante Brandenburg/
Preußen? Toleranzpolitik am Beispiel der
böhmischen Exulanten in Brandenburg/Preu¬
ßen“. GRIN Verlag, 2007; Frank Metasch: „Die
Einwanderung und Integration von Exulanten
in Dresden während des 17. und 18. Jahrhun¬
derts“. Dissertation TU Dresden, 2006; www.
uhyst.de; Lausitzisches Magazin, 15.12.1782
271
S>ien(hi 0 $/ ben 16. SSftctt), 5 (o. 1752.
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gen, ton geritfctlit&en €itationen unb ^Wfinwtionen, von ©atfcen, fo in-'unb außerhalb Der
fetabt iu taufen, juterfaufen, ;u eerauctieniren, jumietben, unb |u eermietben finb, teie auch
na i »erlebten, gefunben unf geßoblen morben; ferner, uen Seibern, fo iu oerleiben oberiu (ebnen
gcfudit rcerben, unb ton Perfonen, reeltbe il>re Ownße antragtn, ober ©ivnße tu »ergeben
haben: oon äoancemfittb, Promotionen unb Sefbrberungen, oon @tlb:unb iffieefifeli
courä, unb son anbern bem gemeinen ®efen n&cbtgen unb nnbliiten @ad>rn
Sluf ©r. Äönigl. SRajefl. in fohlen unD (Eburfi. SDurcftl. ju ©aebfen oflergn. Spedd-ConcefEon
K6nigl. tHanöafa unö Perorbnungen,
t>om "Ja bv 1736.
&roßbnijl.g}?aie(lin alle bibljero eingeftblithent, unter Denen Dem
$ol)Ien unb Sburfl. SKtlnjtmmbat d. b. 1732. ton 9 - 3 M- un6
I)urd)l 311 ©aebfen beffen (Erläuterung d. a. 1733. Den 3 5 Kar|
'JJafenf, t»egen2t»; ebemaia beygeftigten Ulbbriitfcn, nicht mit be*
ncfxming beriDui griffenc germgbaitige <3olD= unb ©übermänif,
cateii wt»S Louis d’ infonbttljeit aber Da$ fßaperift&e, ®arggtdfl.
Ors nt nicht SBarepthifthe, SBrtrtenibergifcbe, unD aöes an--
I^ertt Wehrt; ede Dere neue golbene unb filberne auf föirttte»
fle gemünzt fcptt, D. D. £re§ben am 2. @e()alt au^gemäntte Selb / in Cbcn.cbfra
Sttirj 1736. toorinnen angemerfrt roitb, Dag unb incorporivten ganDen gor »W/
u c«a
Titelblatt von Richters Zeitung (später „Dresdner Anzeiger“) aus dem Jahre
1752. Diese Gestaltung blieb gültig bis 1760. Der Druck erfolgte in Löbau.
Richter, Siegmund Ehrenfried
Buchdrucker in Görlitz, Verleger in Dresden
16.03.1711 Bautzen - 01.06.1762 Dresden
V: Gottfried Gottlob (*21.2.1682 Bautzen, 118.10.1738 Bautzen, Buchdrucker); G: Karl Gottfried
(*13.1.1716 Bautzen, tlö.l 1.1745 Bautzen, Buchdrucker); E: (1) 22.2.1736 Johanna Christiana
geb. Herguth (115.3.1736, Pfarrerstochter aus Henneberg), (2) 26.2.1737 Görlitz, Friederica
Christiana (t Ende 12/1796, Tochter des Buchdruckers Nicolaus Schill in Lauban, verschwägert
mit dem Historiker Karl Gottlob Dietmann, 2. Ehe mit Hofrat Johann Gottfried Haymann,
Assessor an der Kommerzien-Deputation Dresden)
Richter stammte aus einer Bautzener
Buchdruckerfamilie. Sein Großvater
Andreas Richter (1639-1719) hatte
1676 die Familientradition mit der
Übernahme der Buchdruckerei von
Christoph Baumann begründet.
1707 übergab er das Geschäft seinem
Sohn Gottfried Gottlob Richter. Dem
folgte 1738 dessen jüngerer Sohn Karl
Gottfried Richter. Richters Buch¬
druckerei ist insbesondere für eine
Vielzahl von Drucken in sorbischer
Sprache bekannt geworden. Siegmund
Ehrenfried Richter, der ältere Sohn
von Gottfried Gottlob Richter, lernte
bis 1729 beim Vater und ging dann
nach Altdorf, Würzburg und Augs¬
burg. 1734 nahm er eine Stelle in der
Druckerei von Christoph Zipper &
Söhnen in Görlitz an, 1736 übernahm
er die Druckerei. Auf sein Erbrecht
an der Familiendruckerei in Bautzen
verzichtete er. Richter hat 66 Schrif¬
ten produziert, die für ihren klaren
Druck sowie für schöne Initial- und
Finalstöcke und Zierleisten gerühmt
wurden. Zu seinen Autoren zählten
der Historiker Christian Knauth, die
Theologen Karl Gottlob Dietmann,
David Hollaz und Christoph Hay¬
mann mit Schriften zur Religions¬
geschichte sowie Gymnasialdirektor
Friedrich Christian Baumeister.
1745 ergänzte er sein Geschäft um
einen Buchhandel, indem er sich
mit Johann Friedrich Fickelscherer
verband. Die Görlitzer Firma Richter
& Co. ging nach Richters Tod in den
alleinigen Besitz Fickelscherers über,
der das Geschäft bis 1794 fortführte
und u. a. das „Lausitzische Magazin“
und die „Lausizische Monatsschrift“
der Oberlausitzischen Gesellschaft
der Wissenschaften herausbrachte.
1746 nahm Richter in Dresden eine
Stelle als Hoffaktor an. Hoffaktoren
wurden an Fürstenhäusern mit der
Regelung finanzieller Angelegenhei¬
ten betraut. Dazu zählte inbesondere
die Beschaffung von Geldmitteln für
Luxusgüter - während der Regent¬
schaft von August III. mit seinem
Minister Heinrich von Brühl eine
besonders anspruchsvolle Tätigkeit.
Am 25. Januar 1749 stellte Richter in
Dresden ein Gesuch an August III.
um Erteilung des Privilegs für das
273
Adreß-Comptoir, einer Vermittlungs¬
anstalt zu Produkten, Dienstleistun¬
gen und Informationen, und dem
damit verbundenen Anzeigenblatt.
Weder die Erben des wirtschaftlich
erfolglosen Vorbesitzers Gottlob
Christian Hilscher noch dessen
ehemaliger Konkurrent Johann
Christian Crell wollten die 1730
gegründete, erste Zeitung Dresdens
fortführen. Andererseits wuchs mit
der zunehmenden Bevölkerung und
wirtschaftlichen Aktivität der Bedarf
daran. Die landesherrliche Zustim¬
mung beinhaltete die Übertragung
der Hilscher‘sehen Konzession, ohne
den Abdruck von Kirchennachrichten
zu gestatten. Die strikte Trennung von
Anzeigenblättern, politischen Zei¬
tungen und speziellen Nachrichten¬
zetteln wie jenen der Kirchner wurde
eifersüchtig verteidigt. Bei Richter
erschien das Anzeigenblatt ab dem 1.
Juli 1749 wöchentlich. Es sollte bis zur
Gründerzeit vorrangig ein Inseraten-
und Amtsblatt bleiben, bis es ab 1869
die Redakteure Eduard Ferdinand
Springer, Hermann Thenius und
Leonhard Lier zu einer führenden
Zeitung heutigen Zuschnitts machten.
Bereits Richter hatte aber das Konzept
der Zeitung erweitert. Als Neuerung
gab es die „Gelehrten Anzeigen“ als
Beilage. Zudem tauchten unter „Ver¬
mischtes“ aktuelle Nachrichten auf.
Richters Credo bestand darin, „Vielen
zu nutzen, einen jeden zu vergnü¬
gen und niemanden zu beleidigen“.
Er publizierte lokale und regionale
Nachrichten und ignorierte dabei ur¬
sprüngliche Verbote. Damit machte er
seinerseits Crell und dessen „Dresd¬
ner Merkwürdigkeiten“ Konkurrenz.
Er druckte auch Preislisten und
kirchliche Nachrichten neben Fami¬
lien-, Stellen- und Gerichtsanzeigen
und Wohnungsangeboten. Die „Ge¬
lehrten Anzeigen“ richteten sich an
Wissenschaftler, die ihr Wissen und
ihre Gedanken auf unterhaltsame Art
einem breiten Leserkreis nahebringen
wollten. Neben Theologie, Jura, Me¬
dizin, Wirtschaft, Naturwissenschaf¬
ten, Landwirtschaft und Geschichte
fand sich auch Raum für Poesie und
Literatur. Richter selbst beteiligte sich
mit einigen Gedichten. In der Hoch¬
zeit der Kleinstaaterei bildeten Artikel
über das Münzwesen einen gewissen
Schwerpunkt. Ein solcher Beitrag
erregte 1752 das Missfallen des Hofes,
der sich bei der Zensur, also dem
Stadtrat, beschwerte. Der Autor hatte
Sachsen zwar gegen Kritiken in einer
Berliner Zeitung wegen der Qualität
sächsischer Münzen verteidigt, somit
aber publik gemacht, dass es eine
solche Kritik gab. Richter redete sich
damit heraus, dass er das Manuskript
anonym erhalten habe. Den Autor
konnte oder wollte er nicht nennen.
Die Recherche in der Druckerei in
Löbau nach dem Originalmanuskript
blieb erfolglos. Richter weitete auch
den Vertrieb aus, allerdings musste
er die meisten Ausgabestellen, wie in
Berlin, Breslau, Hamburg und Wien,
wieder schließen. Neben Leipzig
verblieben nur Görlitz und Löbau.
Letztere waren naheliegend, weil die
274
Produktion der Zeitung in der Löbau-
er Zweigstelle von Richters eigenem
Druckhaus in Görlitz erfolgte. Mit
seinem erweiterten Zeitungskonzept
hatte Richter das Anzeigenblatt zum
Mittelpunkt des geistigen Lebens in
Dresden gemacht. Mit Beginn des
Siebenjährigen Krieges 1756 stand
er vor einer neuen Herausforderung.
Wechselnde Besatzungsmächte be¬
dienten sich der Zeitung für ihre Ver¬
lautbarungen, Friedenssehnsucht und
Kriegsberichterstattung musste Raum
gegeben werden. Richter rief in seinen
Gedichten göttliche Hilfe gegen die
Schrecken des Krieges an. Durch den
Beschuss mit Kanonen während der
Belagerung Dresdens durch preußi¬
sche Truppen im Jahre 1760 wurde
auch das Domizil von Richters Zei¬
tung in der Landhausstraße zerstört,
die daraufhin auf das Areal der spä¬
teren Kunstakademie zog. Nachdem
sich die Lage etwas beruhigt hatte,
dokumentierte man den Ablauf der
Kampfhandlungen und deren Folgen
ausführlich. Den Hubertusburger
Friedensschluss von 1763 hat Richter
nicht mehr erlebt. Wenige Tage nach
seinem Tod wandte sich die Witwe
an den Hof mit dem Appell, ihr das
Anzeigerprivileg zu übertragen, auch
im Hinblick auf die wirtschaftlichen
Folgen des anhaltenden Krieges.
Dem Gesuch wurde am 23. Juni 1762
stattgegeben. Damit begann eine Zeit
heftiger Auseinandersetzungen, in die
auch renommierte Druck- und Ver¬
lagshäuser wie die von Johann Gott¬
lob Immanuel Breitkopf und Johann
Christoph Arnold verwickelt waren.
Verschiedene Anwartschaften wurden
für den Fall des Ablebens oder des
Wegzugs der Witwe Richter zugesagt.
Gültig blieb jene für Breitkopf, der
den Anzeiger inzwischen druckte und
der die Anwartschaft 1790 zusammen
mit Buchhandlungen in Dresden,
Görlitz und Bautzen (Drachstedt)
an Carl Christian Richter weiterver¬
äußerte. Mit dem Tod von Richters
Witwe trat die Option in Kraft, wobei
dies Carl Christian Richter nicht
mehr erlebte. Johann August Tode,
ein Verwandter der Witwe Siegmund
Ehrenfried Richters, wurde mit der
Administration beauftragt. Aber erst
mit dem Verkauf im Jahre 1837 durch
Carl Christian Richters Enkelin,
der Freiin von Schlichten, an Justus
Friedrich Güntz für 17.000 Taler kam
die inzwischen „Dresdner Anzeiger“
genannte Zeitung in ruhigere Bah¬
nen. Nach Güntz“ Stiftung im Jahre
1856 ging der Anzeiger in städtischen
Besitz über und die Erträge wurden
fast 100 Jahre lang für die Wohlfahrt
und die Verschönerung Dresdens
eingesetzt. Richters großer Verdienst
bestand darin, die Zeitung zu einem
wirtschaftlich gesunden Unterneh¬
men geführt zu haben.
Quellen: J. Braun: „Richter, Andreas“. Allgemeine
Deutsche Biographie, Bd. 28,1889, S. 446-447;
Herbert Zeißig: „Eine deutsche Zeitung. Zwei¬
hundert Jahre Dresdner Anzeiger“. Verlag der Dr.
Güntzschen Stiftung, 1930; Gottlieb Friedrich Otto:
„Lexikon der seit dem 15. Jahrhundert verstorbenen
und jetztlebenden Oberlausizischen Schriftsteller
und Künstler“. Görlitz, 1800 ff.; Christian Friedrich
Gessner u. a.: „Der so nöthig als nützliche Buchdru¬
ckerkunst und Schriftgiesserey“. 1741
275
Ernst Rietschel, im Bild porträtiert von seinem Studienfreund Julius Thae-
ter, war ein Bildhauer von internationalem Rang. Zusammen mit Ernst
Hähnel gilt er heute als Begründer der bedeutenden Dresdner Bildhauer¬
schule. Rietschel hat maßgeblich den Übergang vom Klassizismus zum
Realismus geprägt und wurde für sein Schaffen vielfach ausgezeichnet. So
war er Mitglied einer Vielzahl von nationalen und internationalen Kunst¬
akademien.
Rietschel, Ernst Friedrich August
Professor, Bildhauer
15.12.1804 Pulsnitz - 21.02.1861 Dresden
V: Friedrich Ehregott (*8.2.1768, t21.12.1828), Beutler und Handschuhmacher, Küster an der
St. Nicolai-Kirche Pulsnitz; M: Caroline Salome geh. Röllig (*6.9.1770 Gersdorf, fl 1.10.1834);
G: 5, darunter Karoline Friederike (*10.10.1795), Juliane Friederike (*9.2.1800); E; 1) 12.10.1832
Lauchhammer, Albertine geh. Trautscholdt (*1811, tll.7.1835, Tochter eines Oberhüttenmeis¬
ters und Buchhalters von Detlev Graf von Einsiedel), 2) 2.11.1836 Dresden, Charlotte geh. Carus
(*1810, tl2.5.1838, Tochter von Carl Gustav Carus), 3) 2.5.1841 Jena, Marie geh. Hand (*1819,
tl8.7.1847), 4) 30.4.1851 Dresden, Friederike geh. Oppermann (1841-1906, Schwester von An¬
dreas Oppermann, Advokat in Zittau, Kunstschriftsteller); K: 2 Töchter aus erster Ehe (Adelheid,
*20.9.1833; Johanna, *,tl835), 1 Sohn aus zweiter Ehe (Wolfgang, *28.8.1837, 41874, Arzt in
Dresden), 2 Söhne und 1 Tochter aus dritter Ehe (Georg, *10.5.1842 Dresden, 113.6.1914 Leip¬
zig, 1868 Pastor in Rüdigsdorf bei Borna, 1874 in Zittau, 1878 Superintendent und 1884 erster
Direktor des Predigerseminars in Wittenberg, 1887 Pfarrer an der Matthäikirche Leipzig, 1889
ordentlicher Professor der praktischen Theologie in Leipzig, 1890 Universitätsprediger und Di¬
rektor des Predigerkollegiums zu St. Pauli; Margarethe Charlotte, *8.10.1845, JT846; Hermann,
*19.4.1847 Dresden, 1T8.2.1914 Berlin, Nestor der Heizungs- und Klimatechnik, Rektor der TH
Berlin), 1 Tochter aus vierter Ehe (Gertrud, *4.7.1853, fl937, verh. mit Ernst Rudorff, Professor
an der Musikhochschule Berlin, 1904 Mitbegründer des Deutschen Bundes Heimatschutz)
Rietschel wuchs in ärmlichen Ver¬
hältnissen auf. Er erhielt von einem
Pulsnitzer Lehrer unentgeltlich
Zeichenunterricht und konnte mit
kleineren künstlerischen Arbeiten
zum Familieneinkommen beitragen,
eine kaufmännische Lehre brach
er früh ab. Johann Gottlob Seyffert
vermittelte ihm 1820 eine Freistelle
an der Kunstakademie in Dresden.
In den offiziellen Matrikellisten
taucht sein Name allerdings nicht
auf. Rietschel wurde in Dresden
von den Malern Johann Friedrich
Matthäi, Ferdinand Hartmann und
Crescentius Jakob Seydelmann sowie
dem Kunsthistoriker Karl August
Böttiger unterrichtet. Der sächsi¬
sche Kabinettsminister Detlev Graf
von Einsiedel verpflichtete ihn 1823
als Modelleur für seine Eisengießerei
in Lauchhammer. Rietschel nahm
dafür Unterricht bei Hofbildhauer
Franz Pettrich. Er beteiligte sich er¬
folgreich mit Zeichnungen und ersten
plastischen Arbeiten an Dresdner
akademischen Kunstausstellungen.
Gleichfalls vertreten war hier später
sein Namensvetter und Schüler Ernst
Wilhelm Rietschel (*11.2.1824 Gei߬
mannsdorf, t2.12.1860 München),
mit dem er seitdem mehrfach ver¬
wechselt wurde.
1826 ging Rietschel statt nach Lauch¬
hammer mit Empfehlungsschreiben
von Einsiedel, der ihn auch finanzi¬
ell unterstützte, und Böttiger nach
Berlin zu dem berühmten Bildhauer
Christian Daniel Rauch. Als erste
277
selbstständige Arbeit schuf er die
Neptun-Statue für den Marktbrunnen
in Nordhausen. 1828 gewann Riet-
schel den Wettbewerb für ein Reise-
Stipendium nach Italien, konnte
den Preis als Nichtpreuße aber nicht
erhalten. Er wurde ihm stattdessen
1830 von der sächsischen Regierung
ausgezahlt. Zuvor besuchte er zusam¬
men mit Rauch München, wo er am
Monument von König Maximilian I.
Joseph mitwirkte.
1831 kehrte Rietschel aus Italien nach
Deutschland zurück. Er begann in
Rauchs Atelier mit Arbeiten an der
kolossalen Statue von König Friedrich
August dem Gerechten für Dresden.
Das Denkmal ging auf die Initiative
eines Vereins um Prinz Johann, Karl
August Böttiger, Gottlob Fried¬
rich Thormeyer und Johann Gott¬
lob von Quandt zurück, die eigentlich
Rauch gewinnen wollten, der jedoch
Rietschel empfahl. Als Kabinetts¬
minister Detlev Graf von Einsiedel
nach den Unruhen des Jahres 1830
sein Amt verlor, schien der Auftrag
zunächst gefährdet. Rietschels erstes
großes Werk konnte schließlich 1843
im Zwingerhof eingeweiht werden.
Für die musikalische Umrahmung
der Festveranstaltung waren Richard
Wagner und Felix Mendelssohn
Bartholdy verantwortlich. Seit 2008
steht das Denkmal auf dem Dresdner
Schloßplatz zwischen Hofkirche und
Brühlscher Terrasse. Richard Wagner
erinnerte sich später an Rietschel:
„der krankhafte bleiche Mann mit
seiner oft weinerlich ängstlichen
Ausdrucksweise konnte von mir
eigentlich nur schwer als Bildhau¬
er begriffen werden; doch da nicht
unähnliche Eigenschaften mich schon
bei Schnorr nicht abgehalten hatten,
diesen als gewaltigen Maler aufzufas¬
sen, so gelang mir die Befreundung
mit Rietschel um so mehr, als ich an
diesem keinerlei Affektation wahr¬
nahm und eine seelenvolle, zärtliche
Wärme mich immer geneigter zu ihm
hinzog. Von ihm entsinne ich mich
auch zuerst sehr warme, ja begeis¬
ternde Anerkennung meines Wesens,
namentlich auch als Dirigent gehört
zu haben. Trotz aller Kollegialität
unseres reichen Künstlerkreises kam
es sonst nämlich niemals zu dem, was
ich hier meine, und es war im Grunde
genommen eigentlich immer, als ob
keiner etwas von dem andern hielte.“
Ab 1832/33 lehrte Rietschel als außer¬
ordentlicher Professor der Kunstaka¬
demie Bossier- und Modellierkunst
an der Technischen Bildungsanstalt
unter Wilhelm Gotthelf Fohrmann.
Diese hatte ihren Sitz zunächst in
einem Pavillon auf der Brühlschen
Das Denkmal für König Friedrich
August den Gerechten auf dem
Schloßplatz in Dresden ist das
heute am häufigsten gesehene Werk
Rietschels (Foto rechts). Es steht ne¬
ben der Freitreppe zur Brühlschen
Terrasse von Gottlob Friedrich
Thormeyer. Der Sockel des Denk¬
mals stammt von Gottfried Semper.
278
279
Der Gartenpavillon auf der Brühl-
schen Terrasse wurde von Johann
Christoph Knöffel 1747 erbaut (im
selben Jahr von Canaletto gemalt).
1828 erfolgte hier die Gründung der
Technischen Bildungsanstalt, der
heutigen Technischen Universität.
Nach dem Wegzug der Bildungsan¬
stalt gehörte der Gartenpavillon zur
Kunstakademie, die seit 1791 in der
umgebauten Brühlschen Bibliothek
(im Bildhintergrund) angesiedelt
war. Rietschel, der selbst an der
Kunstakademie studiert hatte, besaß
im Gartenpavillon sein Atelier.
Terrasse gegenüber der Brühlschen
Bibliothek, wo die Kunstakademie
untergebracht war, zog jedoch noch
1833 in die Rüstkammer am Jüden-
hof.
Ab 1834 lehrte Rietschel als Professor
für Bildhauerkunst an der Kunstaka¬
demie unter Heinrich Carl Graf Vitz¬
thum von Eckstädt, seinem früheren
Lehrer Ferdinand Hartmann (künstle¬
rische Leitung) und Theodor Winkler
(Hell) für die Expedition, blieb aber
zunächst zusätzlich an der Tech¬
nischen Bildungsanstalt tätig. Der
Kunstakademie gehörten seinerzeit
Karl August Böttiger und Franz
Pettrich als Mitglieder an. Schon kurz
nach Rietschels Amtsantritt geriet
die Kunstakademie in eine Krise. Der
Landtag stellte sogar ihre Existenz
in Frage. Hartmann verteidigte sie
schließlich erfolgreich mit dem Hin¬
weis auf die Kunst als Staatsaufgabe.
Zudem unterbreitete er Vorschläge,
wie die Arbeit effektiver zu gestalten
sei. Ab 1836 wurden der Atelierunter¬
richt eingeführt, die Generaldirektion
aufgelöst und ein Akademischer Rat,
dem auch Rietschel angehörte, als
Leitungsgremium berufen. In dieser
Funktion zeichnete Rietschel mitver¬
antwortlich für die Weiterentwicklung
der Kunstakademie. So wurden aus
Düsseldorf die Maler Julius Hübner
und Eduard Bendemann geholt, die er
schon aus seiner Berliner Zeit kannte,
und Julius Schnorr von Carolsfeld,
mit dem er seit seinem Aufenthalt in
München freundschaftlich verbunden
war. Bekannteste Schüler in Rietschels
Atelier für Bildhauerei waren Johan¬
nes Schilling (1842), Gustav Adolf
Kietz (nach 1844), Adolf Donndorf
(1853) und Robert Henze ( 1858 ).
280
Prägend für Rietschels Karriere
war das ambivalente Verhältnis zu
dem Architekten Gottfried Semper,
seit 1834 Professorenkollege an der
Kunstakademie. Mit ihm arbeitete
Rietschel nach dem Denkmal für
Friedrich August den Gerechten auch
beim Hoftheater (1838-1841) und
der Gemäldegalerie (1847-1855, nach
Sempers Flucht aus Dresden fertigge¬
stellt) zusammen. Bei beiden Vorha¬
ben schuf Rietschel den Bildschmuck
gemeinsam mit Ernst Hähnel. Semper
sah in den zwei Bildhauern die ideale
Ergänzung, um seine Anschauung
vom Zusammenwirken der Künste
zu realisieren. Beim Hoftheater hatte
er Hähnel ausdrücklich empfohlen.
Rietschel schmückte am Hoftheater
zwei Giebel mit einer „Allegorie der
Tragödie“ bzw. der Musik auf dem
Rücken eines Adlers emporgetra¬
gen, und schuf die beiden sitzenden
Figuren Schillers und Goethes (heute
am Eingang der Semperoper). An der
Ausschmückung der Gemäldegalerie
war auch der Rietschel-Schüler Jo¬
hannes Schilling beteiligt. Hier hatte
Rietschel jedoch zunächst die Calber-
lasche Zuckersiederei von Gottlob
Rietschel war ein Meister der
baubezogenen Plastik. In Bautzen
erinnert daran der Rietschelgiebel
am Puppentheater des Deutsch¬
sorbischen Volkstheaters auf der Or-
tenburg. Es handelt sich dabei um
die Figuren des Orestgiebels („Alle¬
gorie der Tragödie“, Orestie-Trilogie
von Aischylos) des 1869 abgebrann¬
ten Semper‘schen Hoftheaters in
Dresden. Das Werk befand sich ab
1905 am Bautzener Stadttheater am
Lauengraben, fand aber nach dessen
Abriss 1969 keine Verwendung. Die
Figuren kamen nach Quatitz und
Nadelwitz. Seit der Eröffnung des
Burgtheaters im Jahre 2003 ist das
Werk, durch Glas geschützt, am
heutigen Standort zu sehen. Neben
der Ausschmückung von Hoftheater
und Gemäldegalerie von Gottfried
Semper in Dresden schuf Rietschel
Reliefs und Statuen für das Haupt¬
gebäude der Universität Leipzig
(Augusteum), das Giebelfeld an der
Berliner Oper, die Quadriga für das
Braunschweiger Schloss und Plasti¬
ken für das Logenhaus der Dresdner
Lreimaurer.
281
Friedrich Thormeyer Sempers
Neubau-Entwurf vorgezogen. Der
Fassadenschmuck der Gemäldegalerie
erinnerte an bedeutende Vertreter
der Künste. Von Rietschel stammte
der Entwurf der Nordseite, für die
er u. a. die Statuen des Perikies und
Phidias, von Holbein, Dürer, Giotto
und Goethe sowie zahlreiche Reliefs
schuf. In den 1840er Jahren wechsel¬
te Gustav Adolph Kietz von Semper
zur Bildhauerei bei Rietschel. Sem¬
per und Rietschel gehörten zu den
Gründungsmitgliedern des Dresdner
Gewerbe-Vereins und bemühten sich
dort um die Gründung einer Gewer¬
beschule für junge Handwerker.
Rietschel pflegte in Dresden gute
Kontakte zum Hof, vor allem zum
späteren König Johann, hatte aber
auch vielfältige Beziehungen zu
bedeutenden Künstlern und Literaten
seiner Zeit. In den 1830er und 1840er
Jahren gehörte er neben Carl Gustav
Carus, Theodor Winkler, Johann
Gottlob von Quandt, Karl Gutz¬
kow, Gottfried Semper und Richard
Wagner zu den aktiven Mitgliedern
in verschiedenen Vereinen, die er
teilweise sogar mit initiiert hatte. Früh
fand Rietschel Anschluss an die von
Quandt und Friedrich Anton Serre
organisierten Gesprächskreise. In der
Dresdner Neustadt und auf dem Gut
Maxen kam er bei Serre u. a. auch mit
Gottlob Friedrich Thormeyer
zusammen. Rietschels Umfeld war
teilweise noch dem konservativen
Spektrum zuzurechnen, zunehmend
Rietschels Denkmal für Carl Ma¬
ria von Weber (1860) steht vor der
Dresdner Gemäldegalerie und ist
der Semperoper zugewandt. Der
Unterbau stammt von Sempers
Nachfolger an der Kunstakade¬
mie, Hermann Nicolai. Rietschels
Bildwerke haben zum kulturellen
Antlitz Deutschlands als Land der
Dichter und Denker beigetragen. In
Leipzig schuf er 1850 ein Denkmal
für Albrecht Daniel Thaer. 1853
stellte Rietschel die Statue für Gott¬
hold Ephraim Lessing in Braun¬
schweig und 1857 die kolossale
Doppelstatue mit Johann Wolfgang
von Goethe und Friedrich Schiller
(rechts) in Weimar fertig.
282
widerspiegelte sich aber auch hier die
Aufbruchstimmung des Vormärz, so
im Kreis um Julius Mosen. Im Säch¬
sischen Kunstverein mit seinen etwa
2000 Mitgliedern besaß Rietschel, der
dem Direktorium angehörte, wesent¬
lichen Einfluss auf die Förderung der
bildenden Kunst und der Künstler
in Sachsen. Der Verein organisierte
Ausstellungen und kaufte Kunst auf.
Rietschel gehörte den ebenfalls eher
unpolitischen Albina und Sächsischer
Altertumsverein an, war aber auch
Mitglied im Literarischen Museum
und der Montagsgesellschaft. Erst als
es hier im Zusammenhang mit der
Revolution von 1848/49 für ihn zu
politisch zuging, blieb er fern. Mit
den befreundeten Julius Hübner und
Eduard Bendemann, die ebenfalls
mehreren dieser Vereine angehörten,
wohnte er in einem Haus. Die Söh¬
ne der drei Künstler lernten an der
Schule von Karl Justus Blochmann,
einem Bruder von Heinrich August
Blochmann, die für ihre naturwis¬
senschaftliche Ausbildung bekannt
war. In seinem Haus erlebte Rietschel
hautnah den erbitterten Streit zwi¬
schen Hübner und Julius Schnorr von
Carolsfeld als Vertreter der Düssel¬
dorfer bzw. Münchner Malschule in
Dresden - ihm kam wiederholt eine
Vermittlerrolle zu.
Im Unterschied zu Semper sah Riet¬
schel die revolutionäre Entwicklung
in Deutschland eher skeptisch. Er
gehörte wie Bendemann und Hübner
dem Deutschen Verein an, der sich
am 11. April 1848 gegründet hatte. Sie
strebten grundsätzlich ein „einiges,
freies und starkes Deutschland“ an,
standen aber weiterhin zu einer kon¬
stitutionellen Monarchie in Sachsen,
die sie auf eine breite demokratische
Grundlage stellen wollten. Eine wirk¬
liche Revolution lehnte man ab. Dem
radikaleren Vaterlandsverein trat
Rietschel nicht bei. Als es am 3. Mai
1849 die ersten Toten gab, verteidigte
er zusammen mit seinem Schüler
Kietz in der Akademischen Legion
der Bürgerwehr das Rathaus der Stadt
gegen „Militär und Proletariat“.
Ein erstes wegen seiner Perfektion
gerühmtes Werk Rietschels war die
1850 bis 1854 im Auftrag von König
283
Friedrich Wilhelm IV. geschaffene Pi¬
eta für die Friedenskirche in Potsdam.
Vom Protestantismus geprägt, stellte
der Künstler nicht mehr nur eine Ver¬
herrlichung der Gottesmutter Maria
mit dem in ihrem Schoße ruhen¬
den Leichnam Christi dar, sondern
betonte die Verehrung des heiligen
Leichnams selbst, indem er ihn auf
den Boden legte und Maria neben
ihm niederknien ließ. Danach schuf
Rietschel mit der Statue für Gotthold
Ephraim Lessing in Braunschweig
ein für seine realistische Darstellung
gerühmtes Werk. Dieser Realismus
prägte auch das 1857 eingeweihte Mo¬
numentalwerk für Johann Wolfgang
von Goethe und Friedrich Schiller
in Weimar. Rietschel setzte sich bei
diesem Auftrag gegen seinen früheren
Lehrer Rauch durch, dessen Entwurf,
die beiden Dichter in einem anti¬
ken Kostüm darzustellen, abgelehnt
wurde. Das Doppel-Monument sollte
ebenso realistisch werden wie die
Lessing-Statue in Braunschweig und
so fiel die Wahl auf Rietschel. Der
war sich ob seines Entwurfs selbst
nicht sicher und schickte Gustav
Adolph Kietz mit den Modellen nach
München in die Erzgießerei, weil er
die Kritik des bayerischen Königs
fürchtete. Am 3. September 1857,
dem 100. Geburtstag von Großherzog
Karl August, wurde sein Goethe-
Schiller-Denkmal enthüllt. Rietschel
stellte die beiden Dichter gleichrangig
nebeneinander, ein in sich ruhender
Goethe legt dabei als Zeichen seiner
Freundschaft dem jüngeren, voran¬
strebenden Schiller die Hand auf die
Schulter. Drei Jahre später wurde in
Dresden das Denkmal für Carl Maria
von Weber enthüllt. Wegen der Flucht
von Richard Wagner als einem der
wichtigsten Fürsprecher hatte es hier
Verzögerungen gegeben.
Als letztes Hauptwerk entwarf Riet¬
schel in Worms ein monumentales
Reformationsdenkmal. Es erinnert
an das Erscheinen Luthers vor dem
Reichstag in Worms im Jahre 1521,
um vor Kaiser Karl V. seine Thesen zu
verteidigen. Um die Gestalt Luthers
gruppierte Rietschel Laien- und Pries¬
tervertreter sowie Stätten der Refor¬
mation. Mit diesem Ensemble wollte
er „eine feste Burg“ des Glaubens
symbolisieren. Rietschel selbst schuf
neben dem Entwurf der Gesamtan¬
lage auch die Lutherfigur und die
Statue des John Wiclef, eines Wegbe¬
reiters der Reformation aus dem 14.
Jahrhundert. Die anderen Bildwerke
wurden nach Rietschels Tod von sei¬
nen Schülern Adolf Donndorf (Savo-
narola, Friedrich der Weise, Reuchlin,
Petrus Waldaus, Magdeburg), Gustav
Adolph Kietz (Hus, Philipp der Gro߬
mütige, Melanchthon, Augsburg) und
Johannes Schilling (Speyer) entwor¬
fen. Beteiligt war zudem der Architekt
Hermann Nicolai, Sempers Nachfol¬
ger als Professor für Baukunst an der
Kunstakademie Dresden. Rietschel
selbst ist in Worms mit einem Porträt
an der rechten Ecke des Reichstagsre¬
liefs dargestellt.
284
Das Luther-Denkmal vor der
Dresdner Frauenkirche stammt vom
Rietschel-Schüler Adolf Donndorf.
Es lehnt sich am Vorbild des großen
Reformationsdenkmals seines Leh¬
rers in Worms an. Der Kopf Luthers
beim Dresdner Denkmal geht auf
einen Entwurf von Rietschel selbst
zurück. Das Wormser Luther-Denk¬
mal wurde häufig, teilweise nach
abweichenden Entwürfen Rietschels,
nachgegossen. Zu den bekanntesten
Luther-Denkmalen nach Rietschel
gehören neben jenem an der Frau¬
enkirche Monumente in Washing¬
ton und in Görlitz. Für die Walhalla
schuf Rietschel eine Büste Luthers.
Vor allem mit seinen monumentalen
Hauptwerken hat Rietschel Identi¬
fikationsfiguren des Strebens nach
deutscher Einheit verewigt. Dane¬
ben schuf er eine große Anzahl von
kleineren Plastiken, so von Karl
August Böttiger (s. Seite 65) und
dem berühmten Mineralogen Abra¬
ham Gottlob Werner. Die Abgüsse
seiner Werke wurden zunächst im
Rietschel-Museum, um das sich nach
seinem Tod Hermann Hettner, Julius
Schnorr von Carolsfeld, Carl Gustav
Carus und Ernst Hähnel maßgeblich
bemüht hatten, im Palais im Großen
Garten gezeigt. Das repräsentative
Palais beherbergte seit 1841 im Unter¬
geschoss den Sächsischen Altertums¬
verein, dem auch Rietschel angehörte.
Der Verein präsentierte hier sakrale
Bildwerke. 1869 wurde das Rietschel-
Museum im Obergeschoss unterge¬
bracht, wo es bis 1889 verblieb. Seit
1861 hatte ein Komitee zur Gründung
eines solchen Museums eine nahezu
Martin Luther steht im Zentrum des
Wormser Reformationsdenkmals
mit einer Bibel im Arm (siehe auch
Abb. links). Die Lutherfigur hat
Ernst Rietschel geschaffen, der Kopf
stammt von Adolf Donndorf.
285
vollständige Sammlung von Modellen
zu Rietschels Bildwerken zusam¬
mengetragen. Aus Worms kamen als
Geschenk die Modelle zum dortigen
Reformationsdenkmal. König Johann
stellte die Räumlichkeiten im Palais
zur Verfügung. Das Museum stand
unter der Leitung von Hermann Hett-
ner. Heute befinden sich Rietschels
Werke in der Dresdner Skulpturen¬
sammlung.
Seine letzte Ruhe fand Rietschel in
Dresden auf dem Trinitatisfriedhof.
Das Medaillon schuf sein Schüler
Adolf Donndorf. Die nach dem Zwei¬
ten Weltkrieg rekonstruierte Grabstät¬
te befindet sich in unmittelbarer Nähe
zum Grab von Carl Gustav Carus, für
das Rietschel Reliefs angefertigt hatte.
Besonders in Rietschels Heimatstadt
Pulsnitz wird sein Andenken in
Ehren gehalten. An seinem Geburts¬
haus erinnert eine Gedächtnistafel
an ihn. Zudem werden hier einige
Gipsabgüsse und Dokumente aufbe¬
wahrt. Der Stein am Grab der Eltern
auf dem Pulsnitzer Friedhof stammt
von Rietschel. Seit 1890 steht auf
dem Marktplatz ein Denkmal, von
seinem Schüler Gustav Adolph Kietz
geschaffen, eine Straße sowie Grund-
und Mittelschule tragen Rietschels
Namen. Seit 1933 gibt es in der St.
Nicolai-Kirche eine „Ernst-Rietschel-
Kapelle“, nur wenige Schritte vom
Geburtshaus entfernt, mit Zeichnun¬
gen, Briefen, einer Kopie der Potsda¬
mer Pieta und weiteren Skulpturen in
Gipsabgüssen. 1990 wurde der Ernst-
Rietschel-Kulturring gegründet, der
alle zwei Jahre einen von Rietschels
Nachfahren gestifteten Kunstpreis
für Bildhauerei vergibt, und im Jahre
2000 öffnete in Rietschels Geburts¬
haus eine Galerie.
Das Rietschel-Denkmal in Pulsnitz
stammt von Gustav Adolph Kietz.
Es steht auf einem Sockel aus Granit
und wurde aus Mitteln des Landes-
Kunstfonds und der Stadt Pulsnitz
errichtet. In einer Sitzecke vor dem
Ratssaal des Rathauses (im Hin¬
tergrund) ist Rietschel auf einem
Bleiglasfenster abgebildet.
286
Das Denkmal für Ernst Rietschel
auf der Brühlschen Terrasse wur¬
de von dessen Schüler Johannes
Schilling 1876 an der Stelle seines
ehemaligen Ateliers errichtet. Hier
befand sich zunächst die Technische
Bildungsanstalt, später übernahm
die Kunstakademie den Pavillon.
Rietschels Schüler haben mit ihren
Bildwerken den „Balkon Europas“
maßgeblich geprägt. Von Schilling
stammen an der Freitreppe vom
Schloßplatz die Plastiken „Abend“
und „Nacht“ (unten) und „Morgen“
und „Mittag“ (oben), das Denkmal
für Gottfried Semper in der Nähe
des Albertinums und die vergolde¬
te „Saxonia“ auf einem Turm des
Oberlandesgerichts. Schilling und
Robert Henze schufen kunstvolle
Figuren bzw. Reliefs für die Kunst¬
akademie. Von Henze stammt auch
die Figur der Fama auf deren Spitze.
Quellen: Richard Muther: „Rietschel, Ernst“. ADB, Bd. 28, 1889, S. 596-602; Bärbel Stephan:
„Rietschel, Ernst Friedrich August“. NDB, Bd. 21, 2003, S. 613-614; Andreas Oppermann: „Ernst
Rietschel“. Brockhaus, 1863; www.ernst-rietschel.com; Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 16,
Leipzig 1908, S. 930; Paul Schumann: „Dresden“. Berühmte Kunststätten, Bd. 46, E. A. Seemann,
Leipzig 1909; Dirk Hempel: „Literarische Vereine in Dresden. Kulturelle Praxis und politische
Orientierung des Bürgertums im 19. Jahrhundert“. Walter de Gruyter, 2008; Christiane Thei-
selmann: „Das Denkmal Friedrich August I. von Sachsen von Ernst Rietschel“. Zeitschrift für
Kunstgeschichte, Bd. 53, H. 1, 1990, S. 1-24; Max Georg Mütterlein: „Gottfried Semper und des¬
sen Monumentalbauten am Dresdner Theaterplatz“. Dissertation, TH Dresden, 1913; Friedrich
von Boetticher: „Malerwerke des 19. Jahrhunderts“. Dresden, 1898; „Allgemeine Betrachtungen
über die Pilze und chemische Beiträge zur näheren Kenntniss derselben von Dr. Julius Lehmann“.
Blochmann und Sohn, 1855; Adressbücher der Stadt Dresden, 1833, 1834, 1837.1861; Kunstchro¬
nik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe, 22.10.1869, E.A. Seemann Leipzig, S. 1-2 ; Max
Maria von Weber: „Carl Maria von Weber. Ein Lebensbild“. Ernst Keil Leipzig, 1866; Carl Fried¬
rich Glasenapp: „Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern“. Band 2, Breitkopf & Härtel Leipzig,
1905; Wilhelm Kaulen: „Freud“ und Leid im Leben deutscher Künstler: ihren mündlichen Mit¬
teilungen nacherzählt“. Winter Frankfurt, 1878; www.worms.de; Ekkehard Mai: „Die deutschen
Kunstakademien im 19. Jahrhundert: Künstlerausbildung zwischen Tradition und Avantgarde“.
Böhlau Verlag Köln Weimar, 2010; Kunstakademie Dresden - Studentenordnung 1778-2012
287
Quelle Bildzitat:
Lebenslauf des Ma¬
lers Osmar Schindler,
Maschinuskript ohne
Datum, vermutlich
verfasst von Pfarrer
Semm (1924-1935 in
Bischofswerda),
digitalisiert, leicht
bearbeitet und mit
Anmerkungen versehen
von Pfarrer Dr. Tobias
Mickel Bischofswerda,
im April 2005, http://
www.christusbote.de
Schindlers letztes Werk
war für die Sakristei der
Christuskirche in Bi¬
schofswerda bestimmt.
Das Bild ist infolge
des frühen Todes des
Künstlers unvollendet
geblieben. Er stellte da¬
rin auch seine Mutter,
sich selbst (links) sowie
Frau und Sohn dar.
Schindler war während des Studiums auch von dem bekannten Bildnisma¬
ler Leon Pohle geprägt worden. Sein „Bildnis eines Bildhauers“ wurde 1888
bei einer Ausstellung von Studienarbeiten an der Dresdner Kunstakademie
mit einer Großen Silbernen Medaille ausgezeichnet. Nach dem Studium
verdiente sich Schindler seinen Lebensunterhalt als Porträtmaler. Bedeu¬
tende Persönlichkeiten wie Christian Otto Mohr (Professor am Polytech¬
nikum und der TH Dresden), Hermann Prell (Professor an der Kunstaka¬
demie) und Wilhelm von Rueger (Vorsitzender des Gesamtministeriums)
ließen sich später von ihm porträtieren. Ein frühes Damenbildnis (1891,
ehemals Heimatmuseum Bischofswerda) gehört wie neun weitere Bilder
Schindlers zum Bestand der Gemäldegalerie Neue Meister Dresden.
Schindler, Osmar Heinrich Volkmar
Professor, Maler in Dresden
21.12.1867* Burkhardtsdorf- 19.06.1927 Dresden-Wachwitz
(* lt. Grabstein auf dem Friedhof Dresden-Loschwitz abweichend: 22.12.)
V: Carl Friedrich Julius (120.6.1878 Bischofswerda, Kaufmann); M: Emilie Auguste geh. Arnold
aus Bischofswerda (1827-27.11.1903); G: 2 Brüder (Ottomar, Oskar); E: 1906 Emma Minna geh.
Arnold (26.5.1866-9.11.1939); K: Ernst Arnold (*1906, 11906), Heinrich Erhard (*5.4.1908,
vermisst April 1945)
Schindler wurde im erzgebirgischen
Burkhardtsdorf geboren. Die Fa¬
milie besaß in dieser Gegend einst¬
mals mehrere Spinnereien. Sein
eigentliches Zuhause fand er aber in
Bischofswerda. Von hier stammte
seine Mutter und nach einer kurzen
Zwischenstation bei Mittweida zog
die Familie 1876 hierher. Schindler
besuchte in Bischofswerda die Volks-
Wohnhaus in der Osmar-Schindler-
Straße Bischofswerda.
schule und war Kurrendaner. Sein
Studium an der Kunstakademie Dres¬
den ab 1882 wäre nach dem frühen
Tod des Vaters ohne die finanzielle
Unterstützung durch seinen Onkel
Carl Ernst Theodor Schindler, dessen
eigener Sohn in Italien verstorben
war, undenkbar gewesen. Nachdem er
zunächst bei Oskar Rassau Bildhauer
werden wollte, wandte sich Schind¬
ler bald der Malerei zu. Er lernte an
der Kunstakademie bei Ferdinand
Pauwels, Leon Pohle, Friedrich Preller
d.J., also Vertretern der Weimarer
Malschule, und Karl Gottlob Schön¬
herr, der vor allem für seine religiösen
Motive bekannt war. Schönherr malte
1889 in Bischofswerda das Altarbild.
Ab 1890 hielt sich Schindler mehr¬
fach längere Zeit im Ausland auf. In
Dresden wurde er vom einflussrei¬
chen Monumentalmaler Hermann
Prell inspiriert und gefördert. 1895
traf Schindler bei Florenz sein großes
Vorbild Arnold Böcklin, ebenfalls ein
ehemaliger Weimarer, mit dem er die
Vorliebe für naturnahes Malen teilte.
Im selben Jahr erhielt er einen weg¬
weisenden Auftrag für zwei allegori-
289
„Die erste internationale Kunstaus¬
stellung zu Dresden im Jahre 1897
muß als epochemachend für Dres¬
den bezeichnet werden. Hier wurde
zum ersten Male der Grundsatz
betont und in die Tat umgesetzt,
daß es sich nicht um einen gro¬
ßen Kunstmarkt, sondern um eine
Eliteausstellung handeln dürfe, und
daß es auch nicht bloß gelte, diese
ausgewählten Kunstwerke auszustel-
sche Wandgemälde („Architektur“,
„Chemie“) für die Königlich-Techni¬
sche Staatslehranstalt Chemnitz. 1897
wurden sie in Dresden im Canaletto-
Saal an der Brühlschen Terrasse mit
großem Erfolg gezeigt. Sie gelten seit
dem Umbau der Chemnitzer Aula in
einen Hörsaal in den 1950er Jahren
als verschollen.
len, sondern auch Ausstellungskunst
zu zeigen, durch die Art der Ausstel¬
lung, durch architektonische und
dekorative Anregungen künstlerisch
zu wirken und anzuregen.“ (Paul
Schumann: „Dresden“. Berühmte
Kunststätten Bd. 46, 1909) Auf sei¬
nem Ausstellungsplakat, das heute
zum Bestand des Kupferstichkabi¬
netts Dresden gehört, stellte Schind¬
ler einen „siegkündenden olympi¬
schen Wettstreiter“, umrahmt von
einem Goldmosaik, dar. Mit der
Wahl des Motivs erinnerte er an die
in der Öffentlichkeit begeistert auf¬
genommenen ersten Olympischen
Spiele der Neuzeit 1896 in Athen,
ein Gleichnis für die Aufbruch¬
stimmung in Dresdens Kunstleben.
Gleichzeitig steht Schindlers Werk
für den Aufstieg der Plakatgestal¬
tung zu einer eigenständigen Kunst¬
richtung, als „Kunst für die Straße“.
Die „Plakatwelle“ ging Anfang des
19. Jahrhunderts von den damali¬
gen Zentren der Industrialisierung
und Kunst, London und Paris, aus.
Schindlers Plakat gehörte zu den
ersten bedeutenden Arbeiten dieser
Kunstrichtung in Dresden.
1897 gewann Schindler den Wettbe¬
werb für das Plakat zur I. Internatio¬
nalen Kunstausstellung in Dresden,
nachdem der ursprüngliche erste
Preisträger disqualifiziert worden war.
Diese Ausstellung markierte einen
Wendepunkt in der bildenden Kunst
Dresdens. Nach Jahren der Stagna¬
tion kamen von 1895 bis 1901 mit
290
Gotthardt Kuehl, Carl Bantzer, Otto
Gussmann und Eugen Bracht Vertre¬
ter moderner Stilrichtungen an die
Kunstakademie. Sie lösten schrittwei¬
se Schindlers Lehrer, als Vertreter des
Kolorismus traditionell geprägt, im
Leitungsgremium der Akademie, dem
akademischen Rat, ab. Insbesondere
Kuehl, ein ehemaliges Gründungsmit¬
glied der Münchner Sezession, nahm
großen Einfluss auf die Gestaltung
der I. Internationalen Kunstausstel¬
lung in Dresden, in der sich nach dem
Vorbild der Münchner Sezessionisten
Einflüsse von Impressionismus und
Jugendstil widerspiegelten. Auch
Schindler schuf in jener Zeit Gemäl¬
de, die diesen Stilrichtungen, teilweise
in gemischten Formen, zuzuordnen
sind. Aus der verbliebenen bzw.
wieder gewachsenen Distanz zum Im¬
pressionismus entwickelte er später,
wie der Bautzener Hans Unger, einen
eigenen neorealistischen, farbintensi-
ven Malstil. Vor allem der Dresdner
Anzeiger, unter dem Kunstredakteur
Paul Schumann ein Fürsprecher der
Avantgarde, gehörte zu den Kritikern.
Im Jahre 1900 erhielt Schindler eine
Anstellung an der Kunstakademie,
drei Jahre später erfolgte die Beru¬
fung zum Professor. Bis 1924 bildete
er Generationen von Kunststudenten
aus. Schindler lehrte in der Mittel¬
klasse (Gipssaal) und der Oberklasse
(Aktsaal, Malsaal). Zu seinen namhaf¬
testen Schülern zählten George Grosz,
Karl Hanusch, Bernhard Kretzschmar
und Paul Wilhelm. Er entdeckte
zudem das Talent von Hanns Georgi
und ließ ihn während dessen Ausbil¬
dung am Fletcherschen Lehrersemi¬
nar in seinem Atelier arbeiten. Mit
dem aufkommenden Expressionismus
und später der Neuen Sachlichkeit
sowie dem Aufstieg solcher Maler wie
Otto Dix schwand jedoch Schind¬
lers Reputation. Als Künstler ist er,
selbst ein tiefgläubiger Christ, durch
Monumental- und Altarbilder in
Kirchen hervorgetreten. Sie werden
für ihre Harmonie in Farbe und
Form gerühmt. Das Wandaltarbild in
Klotzsche (1905-1907) zeigt, in Kas¬
einfarben direkt auf Putz gemalt, die
Kreuzigung Christi. Viele von Schind¬
lers Gemälden sind volkstümlich
gestaltet. Das Altarbild in der Luther¬
kirche Chemnitz (1908) zeigt Jesus
inmitten einfacher Menschen - den
Kirchenbesuchern im gutbürgerlichen
Lutherviertel oblag es, das Bild zu
deuten. Die „Emmausjünger“ (1915)
in der Kirche Freital-Potschappel
tragen die Kleidung von Stahlarbei¬
tern. Auch in Otterwisch, Jahnsbach
und Bischofswerda finden sich noch
heute Schindlers Kirchengemälde, das
Altarbild der Dresdner Annenkirche
wurde 1945 zerstört. Ein christliches
Motiv zeigt zudem das monumentale
Wandbild im heutigen Evangelischen
Gymnasium Annaberg.
Schindler ließ sich von seinen Reisen
(„Am Gardasee“), von der Sagen¬
welt („Siegfried“) und der deutschen
Geschichte („Schiller, aus Don Carlos
vortragend“) inspirieren, nahm aber
291
auch zu Ereignissen der Zeitgeschich¬
te Stellung mit „Weltbrand 1914“.
Das berühmteste Werk, schon 1901
geschaffen, zeigt ein Motiv aus dem
alltäglichen Leben. „Im Kumtlampen¬
schein“ widerspiegelt sich ein Stück
Romantik nach (fast) vollbrachtem
Tagewerk - und die tiefe Verbunden¬
heit zwischen Mensch und Pferd, als
sie noch die Mühsal des Alltags teil¬
ten. Schindler, der selbst lange in der
Johannstadt wohnte, malte dafür den
Kutscher Hermann mit seinem alten
Schimmel vom Fuhrgeschäft Jank
in der Pfotenhauerstraße. Das Bild
befindet sich im Besitz der Gemälde¬
galerie Neue Meister, eine Lithografie
mit demselben Motiv im Kupferstich¬
kabinett. Viele Kopisten trugen dazu
bei, Schindlers Hauptwerk weltweit
bekannt zu machen. Reproduktionen
finden sich noch heute in unzähligen
Wohnzimmern. Das Pastell „David
und Goliath“ gehörte, nachdem es
bei Aufräumungsarbeiten im Schloss
Königsbrück nach 1945 gefunden
292
worden war, ebenfalls zum Bestand
der Gemäldegalerie Neue Meister,
wurde aber 1998 an die Alteigentü¬
mer zurückgegeben. Trotz seiner gro¬
ßen Arbeitsbelastung an der Akade¬
mie und durch Auftragsarbeiten war
Schindler mehrfach auf bedeutenden
Kunstausstellungen vertreten, z. B.
mit „Im Kumtlampenschein“ 1901 in
Dresden (Kleine Goldene Medaille),
„David und Goliath“ auf der Weltaus¬
stellung St. Louis 1904 und „Verspot¬
tung Christi“ mit großem Erfolg in
Berlin 1909. Letzteres Bild, im Besitz
der Kirche Fischerhude, wird heute
wegen vermeintlich antijudaistischer
Tendenzen kontrovers diskutiert.
Auch wenn Schindler Bischofswerda
schon in jungen Jahren verlassen hat¬
te, blieb er der Stadt doch verbunden.
Hier war sein Vater begraben und
hier lebte noch lange seine Mutter.
Die Mutter malte er, wie sie vom
Fenster des Wohnhauses, die Bibel
lesend, den Blick über Bischofswerdas
Dächer streifen ließ. Die nach ihm
benannte Straße erinnert noch heute
an Osmar Schindler.
Quellen: Falk Drechsel, Zwönitztal-Kurier,
24.2.2007; Gernot Werner: „Er schuf Gemälde, auf
denen Ross und Reiter bekannt sind: vor 75 Jahren
verstarb Osmar Schindler“. Dresdner Neueste
Nachrichten, 12 (2002), 10.6., S. 7; Ortsverein
Pillnitz e.V.: „Künstler am Dresdner Elbhang“ Teil
1, Elbhang-Kurier-Verlag, 1999, S. 145; Heike Bie¬
dermann u. a.: „Osmar Schindler in der Dresdner
Galerie“. Sandstein Verlag Dresden, 2011; Friedrich
von Boetticher: „Malerwerke des 19. Jahrhun¬
derts“. Bd. 2,1898, S. 562; Adressbücher der Stadt
Dresden, 1892, 1904,1913; Johannes Weber: „Aus
der Geschichte meiner Heimat“. Unveröffentlichte
Chronik von Bischofswerda, 1977, S. 100; Websites
der Kirchen Bischofswerda, Klotzsche, Potschappel
und Chemnitz; Paul Schumann: „Dresden“. Be¬
rühmte Kunststätten Bd. 46, Verlag E.A. Seemann
Leipzig, 1909; Kataloge der Kunstausstellungen St.
Louis, Dresden und Berlin
Sakristeigemälde „Blindenheilung“ in Bischofswerda. Im Bild zu sehen sind
auch Schindlers Frau und Sohn (Mutter mit Kleinkind).
293
Johann Gottlob Schneider war einer der bekanntesten Orgelvirtuosen seiner
Zeit. Die Dresdner nannten ihn „Orgel-König“.
Schneider, Johann Gottlob
Hoforganist in Dresden
28.10.1789 Altgersdorf - 13.04.1864 Dresden
V: Johann Gottlob (*1.8.1753 Waltersdorf, 13.5.1840 Altgersdorf), Sohn des armen Häuslers
und Zwillichwebers Johann Christoph Schneider, der durch sein Musiktalent weit über seinen
Heimatort Waltersdorf hinaus bekannt war, musste in seiner Jugend am Webstuhl arbeiten,
lernte trotzdem Klavier und Violine, 1774 Organist, 1779 zusätzlich Unterschulmeister in
Waltersdorf, 1787 Hauptlehrer und Organist in Alt- und Neugersdorf, 1832 Civilverdienstor-
den; M: Anna Rosina geh. Hänisch (*5.1.1762 Jonsdorf, 19.1.1832 Altgersdorf), Bleichnerin;
G: 1 vor seiner Geburt verstorbener Halbbruder, 1 Halbschwester (18.3.1774-1808, verh. 1792
mit Karl Gottlieb Krause aus Neusalza) aus der 1. Ehe des Vaters, Johann Christian Friedrich
(*3.1.1786 Waltersdorf 123.11.1853 Dessau, 1798 Gymnasium Zittau, sang im Kirchenchor und
wirkte als Chorpräfekt, 1805 humanistische Studien an der Universität Leipzig, in der Musik bei
Johann Gottfried Schicht, unterrichtete ab 1806 Orgel und Gesang an der Ratsfreischule, 1807
Organist der Paulinerkirche, 1807 Freimauer-Loge „Balduin zur Linde“, 1810 Musikdirektor
der Operngesellschaft von Joseph Seconda, 1813 Organist an der Thomaskirche, 1816 Leitung
der Singakademie, 1817 Musikdirektor am Stadttheater Leipzig, 1820 „Elementar-Handbuch
der Harmonie und Tonsetzkunst“ bei Peters, 1822 Hofkapellmeister in Anhalt-Dessau, leitete
zahlreiche überregionale Musikfeste, 1829 Gründung der Musikschule Dessau, komponierte 16
Oratorien, darunter „Das Weltgericht“ in 3 Teilen für Soli, Chor und Orchester (1820), sowie 6
Opern und 23 Sinfonien, Mitglied, Ehrendoktor bzw. Ehrenmitglied der Universitäten Halle und
Leipzig, der Konservatorien Paris und Stockholm sowie der Oberlausitzischen Gesellschaft der
Wissenschaften), Johann Gottlieb (*19.7.1797 Altgersdorf, f4.8.1856 Hirschberg, besuchte das
Gymnasium Zittau, Studium in Leipzig, 1815 Musiklehrer in Bautzen, 1817 Organist in Sorau,
1825 Organist an der Kreuzkirche in Hirschberg), 4 früh verstorbene Geschwister; E: 12.11.1812
Julie Friederike Auguste geh. Weidisch (5.8.1789-21.6.1856), Tochter eines Zittauer Stadtrichters
Schneider war der Sohn eines Lehrers
und Organisten in Alt- und Neugers¬
dorf. Den ersten Musikunterricht
erhielt er im Alter von fünf Jahren wie
zuvor sein älterer Bruder Friedrich
und später der jüngere Bruder Johann
Gottlieb vom Vater. Neben dem Or¬
gelspiel lernte Schneider auch Klavier,
übte viele Orchesterinstrumente
(Violine, Viola, Oboe, Klarinette,
Fagott, Horn, Trompete und Posaune)
und war insbesondere ein talentierter
Cellist. Im Alter von zehn Jahren trat
er in Rumburk bei einem Konzert
(„Die Schöpfung“ von Joseph Haydn)
als Posaunenbläser auf. Seinen Vater
musste er gelegentlich an der Orgel
vertreten. 1801 kam Schneider auf
das Gymnasium in Zittau, wo er wie
zuvor sein Bruder Friedrich musika¬
lisch sehr gefördert wurde. Er sang als
Sopran im Chor der Johanniskirche
unter Johann Gottlieb Schönfeld, trat
mit Soli in Konzerten in Görlitz und
Löbau auf und wirkte als Präfekt des
Chores. Orgelunterricht erhielt er
von Johann Gottlieb Unger. 1810 gab
Schneider in Zittau ein Klavierkon¬
zert.
295
Das Geburtshaus von Johann Schneider, heute Neugersdorf, Rudolf-Breit-
scheid-Straße 4, wurde von der Familie 1788 bezogen. Das Umgebindehaus
steht unter Denkmalschutz. Foto: Matej Batha (Wikimedia Commons,
Lizenz CC BY-SA 3.0)
Nach einem kurzen Studium der
Rechte an der Universität Leipzig
im Jahre 1810 bei Christian Gottlieb
Haubold widmete sich Schneider
ganz der Musik und interpretierte als
Organist an der Paulinerkirche vor¬
zugsweise Johann Sebastian Bach. Die
Stelle hatte er 1811 in der Nachfolge
seines Bruders Friedrich erhalten.
Im selben Jahr wurde er zudem als
Gesanglehrer an der Ratsfreischule
unter Karl Gottlieb Plato angestellt.
Wichtige musikalische Anregungen
verdankte er Thomaskantor Johann
Gottfried Schicht. Gefördert wurde er
aber auch vom Universitätsprofessor
Ernst Platner.
1812 kehrte Schneider als Organist
an der Görlitzer Hauptkirche St. Peter
und Paul mit ihrer Sonnenorgel in
die Oberlausitzer Heimat zurück.
Er studierte die Orgelbaukunde, um
Orgeln selbst prüfen und reparieren
zu können, lehrte Orgel, Klavier und
Gesang und gründete einen Gesang¬
verein. Georg Ottomar Baumeister
gehörte zu seinen Schülern. Ab 1816
gab Schneider Orgelkonzerte, die ihn
weit über die Grenzen der Oberlausitz
hinaus führten, beispielsweise nach
Altenburg, Dessau, Freiberg, Gotha,
Leipzig, Liegnitz und Weimar. Man
rühmte sein Improvisationsvermögen
und die Interpretationen von Johann
296
Sebastian Bach. In Görlitz organi¬
sierte er Musikfeste, so 1820 mit dem
„Weltgericht“ seines Bruders Fried¬
rich. Mit dem Musikdirektor seiner
Kirche, Johann August Blüher, veran¬
staltete er Konzerte, in denen Schnei¬
der dirigierte, sang oder Klavier
spielte. Bei einem Gastspiel in Dres¬
den begeisterte er Heinrich Vitzthum
von Eckstädt, seinerzeit Direktor von
Hofkapelle, Hoftheater und Kunstaka¬
demie, und Theodor Winkler (Hell)
derart, dass man ihm die Stelle des
Hoforganisten an der katholischen
Hofkirche in der Nachfolge von An¬
ton Dreyssig (aus Leutersdorf, einem
Nachbarort von Neugersdorf) anbot,
die er aber nicht annahm.
Bei einem Auftritt in der Dresdner
Sophienkirche überzeugte Schneider
Oberhofprediger Christoph Friedrich
Ammon und anlässlich der Orgelprü¬
fung der Silbermannschen Orgel in
der katholischen Hofkirche im Jahre
1825 Carl Maria von Weber, die ihn
als Hoforganisten an die evangelische
Sophienkirche empfahlen. Auch an
anderen Orten wurde er wiederholt
zu Rate gezogen, um Orgelprüfungen
vorzunehmen. So spielte er 1825 auf
der von ihm geprüften neuen Orgel
in Bischofswerda. Am 12. Dezember
1825 trat Schneider die Nachfolge des
evangelischen Hoforganisten Fried¬
rich George Kirsten in Dresden an.
Er konzertierte in der Sophienkirche
und der Kreuzkirche, wirkte als Inst¬
ruktor der evangelischen Kapellkna-
ben und spielte vor König Anton dem
Die Görlitzer Sonnenorgel von Eu-
genio Casparini mit einem Prospekt
von Johann Conrad Buchau wurde
1703 fertiggestellt und seit 1827
mehrfach umgebaut. Ihren Namen
verdankt sie den 16 Sonnen, um die
herum die Orgelpfeifen wie Sonnen¬
strahlen angeordnet sind. Foto: Za -
iron (Wikimedia Commons, Lizenz
CC BY-SA 3.0)
Gütigen sowie bei privat organisierten
Aufführungen wie von Carl Gustav
Carus.
Schneider war seit dem 2. November
1815 Freimaurer in der Görlitzer Loge
„Zur gekrönten Schlange“ und ab
dem 9. Februar 1827 in Dresden in
der Loge „Zum Goldenen Apfel“, in
der er auch als Musikdirektor wirkte.
Logenbrüder waren seinerzeit u. a.
297
Die Prüfung der Silbermann-Orgel
mit Vorspiel in der katholischen
Hofkirche von Dresden im Jah¬
re 1825 war von entscheidender
Bedeutung für Schneiders Karriere.
Später bewahrte er sie vor einer
von Hofkapellmeister Carl Gottlieb
Reißiger geforderten Umstimmung.
Johann Gottlob Schneider: „So wie
diese Orgel gebaut ist, wird keine
mehr gebaut“.
Karl August Böttiger, Eduard
Gottlob von Nostitz und Jänken-
dorf, Julius Gottlob von Nostitz
UND JÄNKENDORF Und GOTTLOB
Friedrich Thormeyer.
1830 übernahm Schneider die Direk¬
tion der Dreyssigschen Singakade¬
mie, mit der er viele öffentliche Auf¬
tritte hatte. Als Lehrer für Orgelspiel
war er so anerkannt, dass die Schüler
von weit her zu ihm kamen. Theodor
Berthold, Edmund Kretschmer und
Gustav Adolf Merkel gehörten zu sei¬
nen bekanntesten Dresdner Schülern.
Felix Mendelssohn Bartholdy war
mehrfach bei Schneider in Dresden
und empfahl diesen den Schülern des
Leipziger Konservatoriums. Auch
Robert Schumann nahm Stunden.
Zudem bildete Schneider Schüler
des Friedrichstädter Lehrerseminars
zu Organisten aus. 1832 wurde die
Jehmlich-Orgel in der Kreuzkirche
durch Johann Schneider und Kreuz¬
kantor Ernst Julius Otto eingeweiht.
Schneider veröffentlichte nur wenige
Kompositionen. 1849 erschien bei der
Arnoldischen Verlagsbuchhandlung
sein mit dem Waldenburger Seminar¬
direktor Friedrich Wilhelm Schütze
herausgegebenes „Evangelisches
Kirchenpräludienbuch“ als Lehr- und
Lernbuch für den Orgelunterricht in
Schullehrer-Seminarien.
1853 ging Schneider auf Initiative
von Sigismund Ritter von Neukomm
mit dem Kölner Männergesangverein
nach London zu zwei sehr erfolgrei¬
chen Konzerten in der Exeter-Hall.
Eine in England erhoffte Konzertrei¬
se durch das Land kam aber nicht
zustande.
298
Die Sophienkirche, die protestanti¬
sche Hofkirche, war die Wirkungs¬
stätte Schneiders in Dresden (vor
dem Umbau, ca. 1850). Die Orgel
stammte von Gottfried Silbermann.
König Johann verlieh Schneider am 4.
März 1857 anlässlich des 50. Jahres¬
tags der Gründung der Dreyssigschen
Singakademie das Ehrenkreuz des
Verdienstordens. Nachdem er im
Jahr zuvor nach dem Tod seiner
Frau schon hatte seine Tätigkeit im
Chor ruhen lassen, gab Schneider
die Direktion 1857 endgültig auf. Zu
seinem 50-jährigen Organistenjubi¬
läum am 21. August 1861 erhielt er
das Ritterkreuz des Albrechtsordens
und von der Universität Leipzig
die Ehrendoktorwürde. Mehrere
Dresdner Vereine verliehen ihm eine
Ehrenmitgliedschaft, so der Päda¬
gogische Verein (schon vorher), der
Tonkünstlerverein, die Liedertafel von
Ernst Julius Otto und Orpheus. Die
Organisten Dresdens und ehemalige
Kapellknaben gründeten eine Johann
Schneider-Stiftung, die elternlosen
Lehrersöhnen Stipendien für eine
Orgelausbildung gewährte.
Johann Gottlob Schneider wurde
auf dem Dresdner Trinitatisfriedhof
neben seiner Frau beigesetzt.
Quellen: Hans Michael Schletterer: „Schnei¬
der, Johann Gottlob“/„Schneider, Friedrich“.
In: Allgemeine Deutsche Biographie, heraus¬
gegeben von der Historischen Kommission
bei der Bayerischen Akademie der Wissen¬
schaften, Bd. 32 (1891), S. 129-131/110-119;
Gustav Schilling: „Encyclopädie der ge-
sammten musikalischen Wissenschaften:
oder Universal-Lexicon der Tonkunst“. F. H.
Köhler, 1838; Königlich Sächsischer Hof-,
Civil- und Militär-Staat, 1828; www.christus-
bote.de; Wm. A. Little: „Mendelssohn and
the Organ“. Oxford University Press, 2010; C.
Lenning (pseud. von Friedrich Mossdorf),
Hermann Theodor Schietter, Moritz Alex¬
ander Zille, Verein Deutscher Freimaurer:
„Allgemeines Handbuch der Freimaurerei“.
Bd. Quaderstein-Zytomierz. Nachträge
und Berichtigungen, F.A. Brockhaus, 1867;
„Johann Schneider‘s Goldnes Amtsjubiläum“.
Urania: Musik-Zeitschrift für Orgelbau, Orgel-
und Harmoniumspiel, Nr. 1, 1862, S. 12-15;
Neues Universal-Lexikon der Tonkunst: Für
Künstler, Kunstfreunde und alle Gebildeten,
Bd. 3, Schäfer, 1861; Neuer Nekrolog der
Deutschen, Bd. 18, Ausg. 1, B.F. Voigt, 1842;
Friedrich August Leßke: „Johann Schneider,
der Meister im Orgelspiel“. Bunte Bilder aus
dem Sachsenlande, Bd. 3, 1900, S. 53-66; Ber¬
liner musikalische Zeitung, 6.7.1833; Moritz
Fürstenau: „Johann Schneider“. Leipziger
allgemeine musikalische Zeitung, 13.2.1867,
S. 56-57
299
Das alte Bautzener Gymnasium auf
der Schulbastei am Kornmarkt (bis
1868, Lithographie um 1840, oben,
mit Porträt).
Medaille von Hofgraveur Reinhard
Krüger (rechts).
Siebelis, Karl Gottfried
Magister, Pädagoge und Philologe in Bautzen
10.10.1769 Naumburg - 07.08.1843 Bautzen
V: Johann Gottlieb (11772), Bäckermeister in Naumburg; M: 11772; G: 4 ältere; E: (1) 16.10.1803
Juliana Wilhelmina geb. Behr (t Februar 1810, Tochter eines Konsistorialassessors in Gera),
(2) bis zu seinem Tod; K: 1 Sohn aus 1. Ehe, Carl Hermann (wechselte 1819 vom Gymnasium
Bautzen nach Gera, während des Armeedienstes diszipliniert), 1 Sohn aus 2. Ehe, Johannes
(*15.5.1817 Bautzen, t8.10.1867 Hildburghausen, Mitglied der Lausitzer Predigergesellschaft,
Philologe und Gymnasialprofessor in Hildburghausen), Töchter: Anna verh. Käuffer (JT833,
Lehrerin, verheiratet mit einem ehemaligen Bautzener Conrektor, Professor am Landesgymnasi¬
um Grimma und Hofprediger in Dresden), Marie (verheiratet mit Pfarrer Krüger, Purschwitz)
Siebelis verlor früh seine Eltern und
wurde von den (Stief-)Großeltern
Kießling aufgezogen. Der Stiefgroßva-
ter stammte aus Löbau in der Ober¬
lausitz und besaß in Naumburg eine
Strumpffabrik, verstarb aber noch
während Siebelis“ Schulzeit, sodass
dieser in Kost und Logis gegeben
werden musste. Am Rathsgymnasium
Naumburg wurde Siebelis von seinem
Lateinlehrer Priedrich Wilhelm
Döring gefördert, vor allem aber von
Rektor Müller. Befreundet war er mit
seinem Mitschüler Georg Priedrich
Pöschmann, später Professor für Ge¬
schichte in Dorpat.
Im Jahre 1788 begann Siebelis in
Leipzig ein Studium der Theologie,
Philosophie und Philologie, wobei
ihm sein Erbteil und Stipendien aus
Naumburg und Zeitz zugute kamen.
Er freundete sich mit seinem Studi¬
engenossen Gottfried Hermann an.
Zu seinen Lehrern zählten neben
Christian Daniel Beck auch Samuel
Priedrich Nathanei Morus, Wolfgang
Reiz, Karl August Gottlieb Keil, Ernst
Cor. Gottf. Siebcli», Nnmbnrjcnnii, juveni» ingcnii felici*«imi an
mwle«tiae eximiae , j*m in eo est, ut relicta «chola patria inUni-
veraitatem litcrarum Lijisicain iter parct. Parcntibu« rcro jam
olim orbatu« non ita omnino inatructits esse videtur, ut hoc iter
multorum «anc «umtnum so Ins ac ope aliorum deatitotu« felifciter
ingrediatur atque nbaolvat. Omni aaaiduitate, iminO) quam po-
tiu» laudaverim, diligentia atuduit omnia gentri« Uteri«, quihtu
acta« «cholastica «tudore «ölet. Operam «uara dedit hebraicao,
graecae, latin&e ut et teutonicae lingoae, nec non reUquia Ute¬
ri« , quae ornant doctum, ct in omnibui, quae aggrcditur, egre-
gie adjuvant. Quam ob rem non poMutn non etiam atque etiam Aus dem
coramendare hiyn« «doleicenli« pauperUtem uc integriUtem am- Abgangs-
nibu«, quo» i« nditnru* e«t , literarum fautoribu» ac patroaia. Zeugnis.
301
Platner und Johann Georg Rosen¬
müller. Nach dem erfolgreichen
Abschluss der Magisterarbeit riet
ihm August Wilhelm Ernesti, sich zu
habilitieren. Doch Siebelis ging das
kleine ererbte Vermögen aus und er
musste seinen Lebensunterhalt als
Hauslehrer verdingen. Trotzdem fand
er Aufnahme in der „Societas Philo-
logica Lipsiensis“ seines Professors
Beck, der auch Gerhard Heinrich
Jacobjan Stöckhardt angehörte.
Siebelis“ angegriffener Gesundheitszu¬
stand verhinderte danach Anstellun¬
gen als Lehrer in Halle bzw. Eisleben.
1798 wurde Siebelis auf Vermittlung
seines ehemaligen Naumburger
Rektors Müller zum Conrektor an
die Stiftsschule in Zeitz berufen. Pür
den Schulgebrauch schuf er hier 1800
sein bekanntes Werk „Hellenica“. Zur
Berufswahl als Lehrer sagte Siebelis
selbst im Rückblick auf sein Leben:
„So wurde ich, was ich wünschte,
praktischer Schulmann und noch
jetzt im Greisenalter bereue ich es
nicht, sondern danke Gott, dass er
mich hat Schulmann werden lassen.“
Siebelis trat am 30. Januar 1804 am
Gymnasium in Bautzen das Rekto¬
renamt in der Nachfolge von Lud¬
wig Gedike an. Den Tipp sich zu
bewerben hatte ihm der befreundete
Priedrich August Carus aus Bautzen
gegeben, inzwischen Philosophie¬
professor in Leipzig. Das Bautzener
Gymnasium entwickelte sich unter
Leitung von Gedike und Siebelis zu
einer der führenden deutschen Lehr¬
anstalten. Siebelis war sozial engagiert
und stets bescheiden: Er förderte Kin¬
der aus wenig bemittelten sorbischen
Pamilien, wie z. B. Handrij Lubjensky
und Bjedrich Adolf Klin, und grün¬
dete 1810 zwei Armenschulklassen.
Die Schrecken des napoleonischen
Krieges 1813 erlebte Siebelis hautnah.
Mehrfach wurden französische und
russische Truppen im Gymnasium
und in seiner Wohnung einquartiert.
1814 führte Siebelis neue Lehrbücher
nach der Grammatik von Philipp Karl
Buttmann ein.
Siebelis gehörte seit 1816 zu den Prei-
maurern der Loge „Zur goldnen Mau¬
er“, die sich besonders sozialen Zielen
verpflichtet fühlte. Schon 1819 war er
in den dritten Rang und zum zwei¬
ten Redner unter dem Meister vom
Stuhl Gerhard Heinrich Jacobjan
Stöckhardt befördert worden, des¬
sen Söhne Robert Stöckhardt und
Ernst Theodor Stöckhardt zu
seinen bekanntesten Schülern zähl¬
ten, wie auch der spätere Philologe
Karl Priedrich Ameis, Karl Trau¬
gott Kanig und Eduard Gottlob
von Nostitz und Jänkendorf. Mit
Stöckhardt, Gottlob Adolf Ernst
von Nostitz und dem katholischen
Bischof Pranz Lock gehörte Siebelis
dem Gesellschaftsverein „Bautzner
Societät“ an.
Im Jahre 1817, nach der Gründung
des Landständischen Seminars, er¬
hielt das Gymnasium den Status einer
höheren Lehranstalt zum Zwecke der
302
Vorbildung für die Universität. Es
herrschte jedoch akuter Lehrerman¬
gel. 1826 wurden von 6 Lehrern in
4 Klassen 270 Schüler unterrichtet,
wovon innerhalb eines Jahres 36 auf
die Universität gingen. Ab 1827 konn¬
te Siebelis - nachdem das Bautzener
Gymnasium neben kommunaler auch
staatliche Unterstützung erhielt -
schrittweise den Lehrkörper erwei¬
tern.
Seit 1826 war Siebelis Mitglied der
Oberlausitzischen Gesellschaft der
Wissenschaften. Außerdem berief
ihn die Lateinische Gesellschaft zu
Jena zum Ehrenmitglied. Im Jahre
1829 gründete er anlässlich seines
25-jährigen Amtsjubiläums die
Stiftung des „Stipendiums Siebeli-
sianum“, das bis weit nach seinem
Tode einem Primaner für die beste
prosaische oder poetische Behand¬
lung eines gegebenen Themas in
lateinischer Sprache gewährt wurde.
Zum Amtsjubiläum erhielt Siebelis
u. a. eine von Hofgraveur Reinhard
Krüger geschaffene Medaille. Nicht
immer wurde er aber so geehrt: Als
es darum ging, einen Teil der Stiftung
von Gregorius Mättig für die Grün¬
dung einer Bürgerschule in Bautzen
zu verwenden, zog sich Siebelis
breiten Unwillen zu. Er beschwerte
sich erfolgreich beim König, dass dies
nicht den Statuten der Mättig-Stiftung
entspräche, die nur die Pörderung der
hiesigen evangelischen Schule, inzwi¬
schen zum Gymnasium geworden,
vorsähe. Seit jener Zeit verstimmten
insbesondere Kritiken nicht mehr,
dass Siebelis“ strikte Orientierung am
klassischen Humanismus vermeint¬
lich zulasten der deutschen Sprache
und praktischer Ausbildung ginge.
Im Jahre 1835 gelang es Siebelis, das
Gymnasium zeitgemäß umzuorgani¬
sieren: In diesem Rahmen wurde die
Prima in drei Klassen aufgeteilt. Sie
bildeten zusammen mit der ehema¬
ligen zweiten Klasse das eigentliche
Gymnasium; die neuen Quinta und
Sexta bildeten das Progymnasium.
Katholische und protestantische
Schüler lernten bei ihm in Eintracht
und Siebelis versuchte, seine Schüler
für das Sammeln sorbischer Kostbar¬
keiten (Volkslieder, Märchen, Sagen,
Sprichwörter) zu begeistern. 1832
hatte er den sorbischen Sprachunter¬
richt eingeführt und 1839 gestattete er
die Gründung des Vereins „Societas
Slavica Budissinensis“ zur Pflege der
sorbischen Sprache und Kultur.
Regelmäßig zu Ostern publizierte
Siebelis seine Schulschriften, in denen
er das Programm des Bautzener
Gymnasiums darlegte. Hierin gab er
wissenschaftlichen Diskussionen den
Vorrang vor Selbstdarstellung. Sein
ehemaliger Schüler Robert Heller
vermerkte dazu: „Die Ehre seiner
Schule, der sittliche Wohlstand und
der wissenschaftliche Fortschritt
seiner Zöglinge ging ihm über alles“.
Siebelis zeichnete eine breite Gelehr¬
samkeit aus, und er war ein bedeu¬
tender Kritiker und Erklärer des
Altertums. Insgesamt gehen auf ihn
303
54 Schriften zurück. Siebelis publi¬
zierte in den Schulschriften eigene
Arbeiten zu philologischen und his¬
torischen Themen, aber auch Werke
mit pädagogischem und theologi¬
schem Inhalt. 1811/12 ergänzte und
vollendete Siebelis die vom Gothaer
Professor Carl Gotthold Lenz begon¬
nene Bearbeitung von Bruchstücken
verschiedener Geschichtsschreiber
über Attika. 1813 erörterte er die
Vorbildwirkung von Johannes von
Müller, einem Schweizer Geschichts¬
schreiber und Publizisten aus dem
Umfeld von Johann Gottfried Herder,
auf Gymnasiasten. Große Beach¬
tung fand 1817 „Die Bibel, die beste
Grundlage der Erziehung unserer
Kinder“ anlässlich der 300-Jahr-Feier
der Reformation. Nachdem Carl
Ludwig Fernow, Johann Heinrich
Meyer und Johannes Schulze bis 1820
schon 7 Bände zu den Werken des
bedeutenden Kunsthistorikers Johann
Joachim Winckelmann herausgege¬
ben hatten, wurde Siebelis gebeten,
für den achten Band ein umfassendes
Register anzufertigen, wozu er mit
Karl August Böttiger in Kontakt
stand. Mit der „kritisch-exegetischen“
Ausgabe des griechischen Schriftstel¬
lers Pausanias in 5 Bänden von 1822
bis 1828 schuf er sich selbst ein Denk¬
mal. In „Stimmen aus den Zeiten der
alten griechischen und römischen
Classiker“ (1832) schrieb Siebelis
die zeitlosen Worte: „Durch das jetzt
überall vorherrschende, wetteifernde
Streben nach unmittelbarem Nutzen
und Gewinn, der sich durch Zah¬
len berechnen läßt, und nach dem
Reichthum, der noch größeren Vor¬
theil versprechende Unternehmungen
unterstützen soll, wird die Achtung
gegenüber des Menschen hohe Würde
... in den Hintergrund gedrängt.“
Siebelis emeritierte am 6. April 1841.
Für seine Verdienste wurde er zum
Ritter des Königlich Sächsischen Ci-
vilverdienstordens ernannt. Er galt als
einer der bedeutendsten Pädagogen
seiner Zeit, machte sich auch interna¬
tional einen Namen. Siebelis war ein
Lehrer aus Passion und bekannte sich
zur Liebe zur jungen Generation. Sein
ehemaliger, ihn verehrender Schüler
Ameis schilderte in einem Nachruf
die segensreiche Wirkung auf das
Bautzener Gymnasium, aber auch
für die Weiterentwicklung deutscher
Schulprogramme im Sinne des klassi¬
schen Humanismus, und seine Erzie¬
hungsprinzipien fern von autoritärem
Diktat: Nichts war in den Augen von
Siebelis schlimmer als „ängstliche
und erniedrigende Aufseherei“. Er
verteidigte stets die humanistische
Bildung, denn sie entfremde die
Schüler keineswegs dem christlichen
Glauben, sondern trage im Gegenteil
zu seiner Weckung bei.
Quellen: Carl Friedrich Ameis: „Der Gym¬
nasiallehrer in seinem edlen Berufe und als
Mensch, als Blätter der Erinnerung an Karl
Gottfr. S.“. Henningssche Buchhandlung Go¬
tha, 1845; Richard Hoche: „Siebelis, Karl Gott¬
fried“. In: Allgemeine Deutsche Biographie,
Bd. 34 (1892), S. 168; Wilhelm Pökel: Philolo¬
gisches Schriftsteller-Lexikon. A. Krüger, 1882;
Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie. F.A.
304
Brockhaus Verlag Leipzig, 1847; Johann Georg Meusel: „Das Gelehrte Teutschland“. 1825; Sanct
Johannis Freimaurer-Loge zur goldnen Mauer, Mitgliederverzeichnisse 1816, 1819, 1832, 1834,
1842; E. F. Wüstemann, Jahrbücher für Philologie und Paedogogik. B. G. Teubner, 1829 und 1846;
Dr. Schubart: „Zur Geschichte des Gymnasiums in Budissin“. Gedr. bei E.M. Monse, 1863; Peter
Kunze: „Siebelis, Karl Gottfried“. In: Sächsische Biografie, Institut für Sächsische Geschichte und
Volkskunde, bearb. von Martina Schattkowsky; Otto, G. F.: Lexikon d. OL Schriftst. u. Künstler,
Görlitz 1800 ff; Elans Mirtschin: „Die Gesellschaft Societät zu Bautzen“. Vortrag vor dem Altstadt¬
verein, Bautzen, 26.10.2010
Bibliografie (Auswahl)
„Diatribe de Aeschyli Persis“, Leipzig, 1794
„Elellenika seu antiquissimae Graecorum historiae res insigniores usque ad primam olympia-
dem“, Barth Leipzig, 1803 und 1815
„Symbolae criticae et exegeticae“, 1803
„Übersetzung des Anfanges der Schrift des Seneca über die Wohlthaten“, Bautzen, 1806
„Einige Worte über die beiden unteren Classen des Bautzener Gymnasiums“, Bautzen, 1807
„Ueber Amtstreue, vorzüglich in Beziehung auf den Schulmann“, Bautzen, 1807
„Trauergedicht an Karl Gottfried Siebelis in Bautzen bey dem Tode seiner Gattin“, Bruder
Leipzig, Februar 1810
„Wie müssen Jünglinge auf gelehrten Schulen studiren?“, Bautzen, 1811
„Philochori fragmenta“, Schwickert Leipzig, 1811
„Phanodemi, Demonis, Clitodemi atque Istri fragmenta“, Car. Gottl. Lenz et. S., 1812
„Johannes von Müller, ein Muster für studirende Jünglinge“, Bautzen, 1813
„Vier Schulschriften“, Dresden, 1817
„Wie Johannes v. Müller über die griechischen und römischen Classiker und ihr Studium
urtheilte“, Bautzen, 1817
„Die Bibel, die beste Grundlage der Erziehung unserer Kinder“, Zittau und Leipzig 1817,
Bautzen 1834
„Haben denn auch die Gelehrtenschulen unsers Vaterlandes Ursache, an der frohen Feyer des
Regierungs-Jubiläums des Königs Antheil zu nehmen?“, Monse Bautzen, 1818
„Register zu Winckelmanrfs Werken“, Heinrich Meyer und Joh. Schulze (Hrsg.), Walthersche
Hofbuchhandlung Dresden, 1820
„Einige Gedanken von Luther über die alten Sprachen und Classiker, und über die Schulen
und Städte, in welchen das Studium betrieben und befördert werden soll“, Bautzen, 1822
„Pausanias“, 5 Bände, Leipzig, 1822-1828
„De Strabonis patria, genere, aetate“, Bautzen, 1828
„Disputationi de Rhiano subjuncta est brevis horum solemnium et rerum scholasticarum
hujus anni narratio“, Bautzen, 1829
„Stimmen aus den Zeiten der alten griechischen und römischen Classiker“, Bautzen, 1832
„Kleines griechisches Wörterbuch in ethymologischer Ordnung“, Leipzig, 1833
„Disputationes quinque, quibus periculum factum est. Stimmen aus den Zeiten der alten
griechischen und römischen Classiker“, ergänzte Schrift, Leipzig, E. Kummer, 1837, 196 S.
„Additamenta ad disputationes quinque, quibus periculum factum est ostendendi, in
veterum Graecorum Romanon que doctrina religionis ac morum plurima esse, quae cum
Christiana consentiant amicissime etc.“, Leipzig, 1842
„Lebensbeschreibung“, Weller Bautzen, 1843
305
Bruno Steglich (Quelle: Christa Haensel, München).
Steglich, Carl Bruno Max
Professor, Agrarwissenschaftler in Dresden
09.02.1857 Kleindrebnitz - 28.01.1929 Dresden
V: Carl Christian (*14.8.1815 Kleindrebnitz, t23.12.1874 Großdrebnitz), Bauerngutsbesitzer;
M: Johanna Auguste geb. Gottlöber (*2.8.1821 Großdrebnitz, fl5.1.1894 Bischofswerda); G:
Auguste Alwine verh. Biebrach (*4.8.1843 Kleindrebnitz, t20.12.1885, verheiratet mit dem Lehn-
dorfer Rittergutsbesitzer), Clara Mathilde verh. Rumpelt (*3.4.1845 Kleindrebnitz, t22.7.1915
Bischofswerda, verheiratet mit einem Radeberger Fabrikbesitzer), 1 früh gestorbener Bruder;
E; 24.4.1887 Leipzig, Margaretha Therese geb. Ledig (*8.2.1864 Leipzig, fll.8.1942 Trebsen); K:
Elsa ( Else ) Caroline (*6.4.1885 Rochlitz, t6.3.1973 Kochel, verheiratet mit dem Papierfabrikbe¬
sitzer Johannes Max Wiede in Trebsen), Olga Loddy ( Lotte ) (*19.7.1887 Rochlitz, t22.5.1977
Pullach, Schwiegertochter von Heinrich Gustav Haensel, Fabrikant und Ehrenbürger in Pirna),
Carl Christian (*29.9.1894 Dresden, t6.9.1914 Harre/Belgien)
Bruno Steglich hatte seine Wurzeln
in einem der größten Bauerngüter
von Kleindrebnitz und im Erbgericht
Großdrebnitz. Seine Vorfahren sind
als Bauern in Klein- und Großdreb¬
nitz über acht Generationen nach¬
weisbar und hatten mehrfach das Amt
eines Gerichtsschöppen inne. Georg
Steglichs Geburtshaus (oben) und
sein Vater Carl Christian (links).
Steglich (* um 1540) wurde erstmals
1576 erwähnt als Bauerngutsbesit¬
zer mit 3 Ruten und 30 Schock. Carl
Christian Steglich, Bruno Steglichs
Vater, war Bauer und Salzfuhrmann,
während des Maiaufstands 1849
Hauptmann der Kommunalgarde
in Kleindrebnitz und kaufte 1861
das Erbgericht Großdrebnitz seiner
Schwiegereltern. In Großdrebnitz
übernahm er auch die Funktion des
Gemeindevorstands. Um sich weiter¬
zubilden, gehörte er dem forstwirt¬
schaftlichen Verein Stolpen an.
307
Nach dem Tod des Vaters leitete die Mutter das Erbgericht Großdrebnitz
mit einem Verwalter, bis es 1887 an die Familie Hilmes verkauft wurde.
Bruno Steglich besuchte in Großdreb¬
nitz die Schule und erhielt Privat¬
unterricht. Von 1867 bis 1871 ging
er in Bautzen auf die Bürgerschule
und das Realgymnasium, von 1871
bis 1876 besuchte er in Dresden die
„Dreikönigschule“, eine Realschule I.
Ordnung. Das Rüstzeug für die späte¬
re Laufbahn in der Agrarwissenschaft
erwarb sich Steglich bereits in seiner
Oberlausitzer Heimat, nachdem er
ursprünglich Ingenieur werden woll¬
te. Im elterlichen Erbgericht hatte die
Arbeitspferdezucht Tradition. Wäh¬
rend der Hospitanz- und Assistenzzeit
an der Landwirtschaftsschule Bautzen
(1877-1878) bei Eduard Heiden
konnte er auch Erfahrungen in der
Versuchsstation Pommritz sammeln,
die jener seinerzeit leitete. Es ent¬
wickelte sich bei Steglich ein starkes
Interesse am agrikulturchemischen
und pflanzenphysiologischen Ver¬
suchswesen. Während eines Volonta-
riats auf dem Rittergut Deutschbase¬
litz (1876-1877, Verwalter: Bernhard
Müller, Eigentümer: Friedrich Theo¬
dor von Zezschwitz) erlernte Steglich
die Teichwirtschaft. 1878/79 leistete
er in Bautzen im 4. Königlichen
Sächsischen Regiment Nr. 103 seine
einjährige freiwillige Militärpflicht
ab. Steglichs Ausbildung fiel dank der
positiven Wirkungen des von Hein¬
rich August Blochmann mitver¬
fassten Gesetzes über „Ablösungen
und Gemeinheitsteilungen“ in die
Zeit eines großen Aufschwungs der
308
sächsischen Landwirtschaft. Begin¬
nend in Leipzig-Möckern wurde das
landwirtschaftliche Versuchswesen in
Deutschland aufgebaut. Dieser Ent¬
wicklung Rechnung trug auch eine
Umgestaltung der wissenschaftlichen
Ausbildung in Sachsen. 1869 erfolgte
die Loslösung der Landwirtschaftsleh-
re von der Forstakademie Tharandt
und die Etablierung als eigenständige
Fachrichtung im Sinne von Justus
von Liebig unter Leitung von Adolph
Biomeyer an der Universität Leipzig.
Steglich studierte von 1879 bis 1883
bei Biomeyer und Friedrich Anton
Zürn. Seit dieser Zeit war er Mitglied
der „ Akademisch - Landwirtschaftli¬
chen Verbindung Agronomia“, für die
er das Wappen entworfen hatte und
der er zeitlebens verbunden blieb.
1882 reichte Steglich seine Disser¬
tation „Über den Mechanismus des
Pferdehufes“ ein, die mit „magna cum
laude“ bewertet wurde. Als schrift¬
liche Examensarbeiten verfasste er
„Genaue Information über ein Land¬
gut (Rittergut Großzschocher) mit
Entwerfung das den Verhältnissen am
besten entsprechenden Wirtschafts¬
planes und Begründung desselben“
und „Die Bedeutung des Wassers für
die Lebensvorgänge der Pflanzen“. Mit
dem „Großen Examen“ in Landwirt¬
schaft, Botanik und Tierheilkunde
von 1883 erwarb er die Berechtigung,
die landwirtschaftlichen Fachdiszipli¬
nen als Lehrer zu vertreten.
Ab 1883 lehrte Steglich an der land¬
wirtschaftlichen Schule Rochlitz, ab
Oktober 1887 in Chemnitz. Beson¬
ders Rochlitz wurde zu einer wich¬
tigen Lebensstation. 1884 heiratete
er Margaretha Therese geh. Ledig.
Deren Mutter, Olga geh. Mothes,
entstammte der Juristendynastie
des Advokaten Dr. August Ludwig
Mothes (15.5.1794-19.1.1856, Frei¬
maurer „Minerva zu den drei Pal¬
men“, Namensgeber einer Straße in
Leipzig). Steglichs Schwiegervater, Dr.
Karl Hermann Ledig (17.10.1828-26.
9.1864), war bei Mothes zeitweise Re¬
ferendar und übernahm nach dessen
Tod die Praxis. Zu den Geschwistern
von Steglichs Schwiegermutter gehör¬
ten der Architekt und Kunstschrift-
steiler Dr. Oskar Mothes (27.12.1828-
4.10.1903) und der Rittergutspächter
Hugo Mothes in Stötteritz, mit dem
Druckereibesitzer und Verleger Otto
Dürr und dem Kaynaer Pfarrer Hein¬
rich Trübenbach, ehemals Hauslehrer
bei Mothes, war sie verschwägert.
Pfarrer Trübenbach führte die Trau¬
ung von Steglich und Margaretha
Therese an der Nikolaikirche Leipzig
durch. Zu den angeheirateten Cousins
von Steglich gehörte August Mothes,
Jurist in Leipzig, mit dem enge Kon¬
takte bestanden. In Rochlitz wurden
beide Töchter des Ehepaars Steglich
geboren. An der landwirtschaftlichen
Schule in Rochlitz schrieb Steglich
1884 mit seiner „Anleitung zum Plan-
und Situationszeichnen“ zu einem
Thema, das zu jener Zeit an allen
landwirtschaftlichen Lehranstalten
gelehrt wurde. Das Buch erschien
bei dem renommierten Landwirt -
309
schaftsverlag von Paul Parey in Berlin.
Zur Landwirtschaftsschule Rochlitz
gehörte auch eine Fischzuchtanstalt.
In Steglichs Rochlitzer Zeit fielen die
Untersuchungen des Sächsischen
Fischereivereins zu den Fischereiver¬
hältnissen von Zschopau und Mulde,
die in den Folgejahren auf weitere
Gewässersysteme ausgedehnt wurden.
Vermutlich hat diese Arbeit unter
dem Protektorat von Prinz Georg,
Herzog von Sachsen, einen wichtigen
Einfluss auf Steglichs spätere Karri¬
ere gehabt. In seiner bekanntesten
Publikation, „Die Fischwässer im
Königreiche Sachsen“ (1895), fass¬
te er die 10-jährigen, etappenweise
durchgeführten Untersuchungen des
Sächsischen Fischereivereins in einer
nahezu lückenlosen Übersicht über
die fischereiliche Nutzung sächsischer
Gewässer zusammen. Steglich selbst
hatte die Untersuchungen zur Wei¬
ßen Elster und Pleiße sowie mit den
Schwerpunkten geologische Beschaf¬
fenheit, Wasserqualität und Fließ-
hindernisse zur Elbe durchgeführt.
Wichtigster Mitarbeiter war Adolf
Endler, der weitere Gewässersysteme
untersuchte und später die Landwirt¬
schaftsschule in Meißen leitete.
Steglich war 1887 in Chemnitz der
Deutschen Landwirtschafts-Gesell¬
schaft (DLG) beigetreten. Zum 1.
April 1890 erhielt er den königlichen
Auftrag, eine landwirtschaftliche Ver¬
suchsstation in Dresden als Abteilung
einer „Versuchsstation für Pflan¬
zenkultur“ am Botanischen Garten
unter Oscar Drude einzurichten und
als Vorstand zu leiten. Er war damit
praktisch Versuchs-Kulturobergärtner
Franz Ledien gleichgestellt. Die neue
Versuchsstation ergänzte die seit 1862
an der Tierärztlichen Hochschule
Dresden bestehende Einrichtung zur
Untersuchung des Stoffwechsels von
Haustieren und die 1869 von Fried¬
rich Nobbe in Tharandt gegründete
„Pflanzenphysiologische Versuchs¬
und Samenkontrollstation“ an der
Forstakademie. Die enge Abstim¬
mung und Zusammenarbeit mit Tha¬
randt wurde durch ein gemeinsames
Kuratorium unter Johann Friedrich
Judeich überwacht. Während in Tha¬
randt mikroskopische und chemische
Untersuchungen sowie Vegetations¬
versuche im Gewächshaus im Mittel¬
punkt standen, wurden in Dresden
Anbauversuche im Freien durchge¬
führt. Dafür standen zwei Hektar zur
Verfügung. Steglichs Hauptaufgaben
bestanden in der Organisation und
Durchführung von Arbeiten zur
Verbesserung landwirtschaftlicher
Nutzpflanzen, in der Hauptsache
verschiedener Getreidesorten, durch
Züchtung und zur Ertragssteigerung
durch Düngung. Die von Steglich
1896 initiierte und angeleitete Pir-
naer Saatzuchtgenossenschaft erhielt
für den „Pirnaer Roggen“ auf der
Weltausstellung in Paris 1900 eine
Goldmedaille. Steglich widmete sich
mit Kursen für Landwirte zudem
frühzeitig der Wissensvermittlung.
1901 wurde ihm der Professorenti¬
tel verliehen. 1904 erfolgte die Zu-
310
Steglichs wichtigstes Werk (1895).
sammenführung der Dresdner und
Tharandter Einrichtungen in der
„Pflanzenphysiologischen Versuchs¬
station zu Dresden“. Die Samenkon¬
trollstation ging dabei in Steglichs
landwirtschaftlicher Abteilung auf.
Dem gemeinsamen Kuratorium stand
zu jener Zeit Max Neumeister vor.
Die Dresdner Versuchsstation führte
Samen- und Sortenprüfungen durch
und beriet die praktischen Landwirte.
Es galt, wissenschaftliche Grundlagen
für die heimische Landwirtschaft und
den Obstbau zu schaffen und dafür z.
B. auch dendrologisch-phänologische
Beobachtungsstationen im Erzgebir¬
ge zu betreiben. Auf Anregung der
„Kaiserlichen biologischen Anstalt
für Land- und Forstwirtschaft“ zu
Dahlem wurde nach Vorschlag und
Begutachtung durch den Landeskul¬
turrat, zufolge Ministerialverordnung
vom 23. September 1904, im König¬
reich Sachsen die Organisation des
Pflanzenschutzdienstes unter Leitung
von Steglich gegründet. Angegliedert
Direktoriumsgebäude des Botanischen Gartens im Bau (Foto Bruno
Steglich, 1891, dessen spätere Dienstwohnung Stübelallee 2), Eröffnung des
vergrößerten Botanischen Gartens am neuen Standort Ostern 1893.
311
waren landesweite Meldestellen. In¬
ternational fanden Steglichs Arbeiten
zu Pflanzenzüchtung, Pflanzenschutz
und Obstbau in den USA und Skan¬
dinavien Beachtung. Im Jahre 1904
unternahm er mit Unterstützung der
Julius Adolph Stöckhardt-Stiftung
und der sächsischen Regierung eine
Studienreise nach Skandinavien, die
ihn auch in die bekannte Saatzucht¬
anstalt Svalöf (Schweden) führte.
Besondere Verdienste erwarb sich
Steglich um den Ausbau des Feld¬
versuchswesens in Sachsen durch
Einrichtung zahlreicher, nach klima¬
tischer Lage und Bodenbeschaffen¬
heit ausgewählter Anbaustationen.
Um 1910 arbeitete er auch mit dem
Rittergut Schmölln des August
Schmatz zusammen. Auf 183 Hektar
wurden Schmöllner Gebirgsweizen,
Gelbhafer, Hannagerste und Oberlau¬
sitzer Thimotheegras angebaut. Die
Samenkörner dieses ertragreichen
und wertvollen Futtergrases unter¬
schieden sich in Schwere und Größe
vorteilhaft von den marktüblichen
Sorten und wurden im Rahmen eines
Samenpreiswettbewerbs der Deut¬
schen Landwirtschafts-Gesellschaft
mit einem ersten Preis ausgezeichnet.
Zahlreiche Vorträge vor der Ökono¬
mischen Gesellschaft im Königrei¬
che Sachsen dienten einer schnellen
Verbreitung der wissenschaftlichen
Erkenntnisse. Die Ökonomische Ge¬
sellschaft gewährte den praktischen
Landwirten seinerzeit vielfältige
Unterstützungsleistungen, neben der
Weiterbildung auch zur Durchfüh¬
rung von Samen- und Sortenprüfun¬
gen sowie beim Verkauf. Steglich war
in der Ökonomischen Gesellschaft
Mitglied im Gesellschaftsausschuss
und Obmann im Sonderausschuss
für landwirtschaftliche Erzeugnisse
und Hilfsstoffe. Als Vorstandsmitglied
verfasste er 1914 eine Lestschrift zum
150-jährigen Bestehen der Schwes-
tergesellschaft Ökonomische Societät
in Leipzig - sein Schwiegergroßvater
Ludwig Mothes hatte die umstritte¬
ne Abtrennung der Ökonomischen
Gesellschaft mit Sitz in Dresden
seinerzeit als Syndikus der Leipziger
Societät begleitet. Steglich engagierte
sich im Landeskulturrat als Verant¬
wortlicher für Lischzucht und ab 1919
für das landwirtschaftliche Versuchs¬
wesen, in der Deutschen Landwirt¬
schafts-Gesellschaft (Hochzucht¬
kommission für landwirtschaftliche
Pflanzenzuchten, Kommissionen für
Saatenanerkennung, Sortenversuche,
Flachs-, Obst- und Weinbau), im Ver¬
band landwirtschaftlicher Versuchs¬
stationen unter Leitung von Lriedrich
Nobbe im Ausschuss für Pflanzenpro¬
duktion und Pflanzenschutz sowie im
Sächsischen Lischereiverein. Unter
seinem langjährigen Vorsitz stand
insbesondere der Besatz der Gewässer
im Vordergrund. Grundlage hierfür
war eine Verbreitung der künstlichen
Lischzucht, v. a. von Forelle, aber auch
Lachs, Schnäpel und Felchen. Unter
der Leitung des Lischereivereins wur¬
de die Regenbogenforelle in Sachsen
eingeführt. Besonders erfolgreich war
die Tätigkeit des Vereins in der Teich-
312
Wirtschaft. Neben seinem Wirken in
der Versuchsstation lehrte Steglich
von 1912 bis 1921 als Professor für
Land- und Volkswirtschaft an der
Tierärztlichen Hochschule Dresden
unter Wilhelm Ellenberger. Steglich
war Mitglied in der Gesellschaft
deutscher Naturforscher und Ärzte, in
der Deutschen Botanischen Gesell¬
schaft, in der Naturwissenschaftlichen
Gesellschaft ISIS Dresden (seit 1890),
schriftwechselndes Mitglied bei FLO¬
RA - Sächsische Gesellschaft für Bo¬
tanik und Gartenbau (seit 1900), und
er interessierte sich für geschichtliche
Belange. So war er Mitglied im Verein
für die Geschichte Dresdens und im
Sächsischen Altertumsverein.
Der Erste Weltkrieg unterbrach
Steglichs berufliche Karriere. Nach
dem frühen Kriegstod seines Soh¬
nes Carl Christian in den belgischen
Ardennen - den Steglich nie vollstän¬
dig verwinden konnte - trat er 1914
freiwillig als Offizier des Landsturm-
Bataillons XII/9 in den Armeedienst
und war bis 1918 zeitweise in Ma¬
zedonien, Ungarn und Frankreich
im Einsatz. 1916 erhielt Steglich die
Beförderung zum Hauptmann der
Landwehr. Außerdem wurde ihm
das Kriegsverdienstkreuz verliehen.
Fachliche Arbeiten in Dresden sollten
helfen, die Not der Bevölkerung zu
lindern, so 1915 im Rahmen der
Schädlingsbekämpfung in der Land¬
wirtschaft die „Anleitung zu gemein¬
samer Vertilgung der Feldmäuse“ im
Auftrag des Innenministeriums.
Steglich meldete sich mit 57 Jahren
freiwillig zum Kriegsdienst.
Steglichs großer Verdienst lag im
steten Ausbau der zunächst kleinen
Versuchsstation zu einer selbststän¬
digen, vom Botanischen Garten
losgelösten „Staatlichen Landwirt¬
schaftlichen Versuchsanstalt“ mit den
drei Abteilungen Pflanzenernährung
und Bodenchemie, Pflanzenbau und
Samenkontrolle sowie Pflanzenschutz.
Zu seinen wichtigsten Mitarbeitern
gehörten Walter Baunacke (Phyto¬
pathologie) und Hermann Pieper
(Saatgutforschung). Nach der Neu¬
ordnung des landwirtschaftlichen
Versuchswesens 1919/20 bestanden
in Sachsen insgesamt drei Versuchs-
313
anstalten, neben Dresden in Pomm-
ritz unter der Leitung von Georg
Derlitzki und in Möckern unter
Gustav Fingerling. Steglich führte
die Dresdner Versuchsanstalt bis
zu seiner Versetzung in den Ruhe¬
stand im November 1923 zu großem
Ansehen für ihre Leistungen bei der
Erforschung und Verbreitung der
wissenschaftlichen Grundlagen der
Landwirtschaft und des Obst- und
Gartenbaus in Deutschland. Für seine
Verdienste um die sächsische und
deutsche Landwirtschaft wurden ihm
hohe staatliche und wissenschaftliche
Auszeichnungen zuteil. 1901 erhielt
er das Albrechtskreuz, 1908 verlieh
ihm König Friedrich August III. das
Ritterkreuz erster Klasse, 1912 wurde
er zum Regierungsrat ernannt und
1914 verlieh ihm der König die Krone
zum Ritterkreuz des Albrechtsordens.
Die DLG ehrte ihn mit der „Großen
Silbernen Eyth-Denkmünze“ (1910),
der Landesobstbauverein (1899),
der Landwirtschaftliche Kreisverein
Dresden (1915) und der Deutsche
Fischereiverein (1919) jeweils mit
der silbernen Verdienstmedaille. Die
Ökonomische Gesellschaft zu Dres¬
den und der Sächsische Fischereiver¬
ein ernannten Steglich zum Ehren¬
mitglied.
Bemerkenswert in seinem persön¬
lichen Leben war die Bekanntschaft
mit namhaften Künstlern seiner Zeit.
Die musische Aufgeschlossenheit
Steglichs ging bis in die Zeit im Groß-
drebnitzer Erbgericht zurück, wo er
Klavierunterricht erhielt und wo die
Eltern eine Vielzahl von Nachdrucken
berühmter Gemälde besaßen. Vom
Hofmaler Ludwig Otto befanden
sich eine Großdrebnitzer Ansicht
und ein Porträt von Steglichs Sohn
Carl Christian im Besitz der Familie
Bruno Steglich. Ludwig Otto hatte die
jüngste Tochter Marie des ehemaligen
Großdrebnitzer Pfarrers Carl August
Rüdiger - eine Freundin von Steglichs
Schwester Clara - geheiratet und kam
häufig ins Dorf, um hier zu malen.
Auch im Dresdner Verein „Harmo¬
nie“ (Palais Hoym) bestanden vielfäl¬
tige gesellschaftliche Kontakte. Robert
Sterl schuf ab 1907 insgesamt sechs
Porträts von Mitgliedern der Familie
Wiede von Steglichs Tochter Else. Das
Bildnis von Else Wiede aus dem Jahre
1925 befindet sich heute ebenso in
der Gemäldegalerie Neue Meister wie
die von Ludwig Otto 1918 gemalten
Porträts von Else und ihrem Mann
Johannes Wiede. 1912 entwarf Karl
Schulz ein Kirchenfenster in Trebsen,
das u. a. Steglichs Tochter und Enkel
zeigt und durch die Glasmalanstalt
Bruno Urban aus Dresden realisiert
wurde.
Nach der Pensionierung bis zu sei¬
nem Tod wohnte Steglich in Dresden,
Blochmannstraße 21. Nach der Ein¬
segnungsfeier auf dem Trinitatisfried¬
hof wurde er nach Trebsen überführt.
Hier erinnert noch heute ein 1930
von Georg Wrba geschaffenes Grab¬
mal an ihn. An seinem Geburtsort
geriet er jedoch in Vergessenheit.
314
Kirchenfenster in Trebsen mit
Steglichs Tochter Else, Schwieger¬
sohn und Enkel.
Lediglich in den Vorarbeiten von Ri¬
chard Garbe für eine Dorfchronik
von 1938 findet sich ein Vermerk. Da¬
ran änderte selbst ein auszugsweiser
Nachdruck aus Steglichs unveröffent¬
lichtem Manuskript „Erinnerungen
aus meinem Leben“ in den Großdreb-
nitzer Kirchenbriefen 1995 nichts, da
dies nur unter dorfgeschichtlichen
Aspekten erfolgte, ohne die Bedeu¬
tung des Autors zu erkennen. Die
Wiederentdeckung geht auf Frank
Fiedler zurück, der etwa im Jahre
2000 bemerkte, dass jener Bruno
Steglich aus dem Großdrebnitzer Kir¬
chenbrief mit dem Autor der „Fisch¬
wässer im Königreiche Sachsen“
identisch ist. 2004 erschien in den
„Sächsischen Heimatblättern“ eine
erste Biografie von Frank Fiedler und
Mathias Hüsni, basierend auf dem
Nachruf von Walter Baunacke und
eigenen Recherchen in Großdrebnitz,
Dresden und Trebsen. Der Wert jener
Arbeit bemaß sich v. a. darin, dass 75
Jahre nach dem Tode des Nestors des
Georg Wrba schuf: Grabmal Bruno
Steglich (1930, oben), Büste Johan¬
nes Wiede (1932), Halbreliefs von
Bruno Steglich (unten) und Mar¬
garetha Steglich (je 1932), Grabmal
Wiede in Trebsen (1934), Büsten für
Johannes Wiede und Else Wiede (je
1935).
landwirtschaftlichen Versuchswesens
in Dresden erstmals eine ausführliche
Würdigung erschien. Im selben Jahr
zitierte Theophil Gerber ihn in „Per-
315
sönlichkeiten aus Land- und Forst¬
wirtschaft, Gartenbau und Veterinär¬
medizin, Biographisches Lexikon“,
Band 2, mit einem kurzen Artikel (S.
743-744). Das Institut für Sächsische
Geschichte und Volkskunde der TU
Dresden beauftragte Frank Fiedler
danach, einen Beitrag zu Steglich für
die „Sächsische Biografie“ zu schrei¬
ben. Die Recherchen wurden dadurch
erschwert, dass einerseits Steglichs
Lebenserinnerungen nach ihrem teil¬
weisen Nachdruck in Großdrebnitz
verschollen blieben, andererseits gab
es lange keine Hinweise auf heuti¬
ge Nachkommen, selbst in Trebsen
nicht. Kurz vor dem Erscheinen 2006
des mit Uwe Fiedler gemeinsam ver¬
fassten Online-Artikels in der Säch¬
sischen Biografie konnte der Kontakt
zur Familie hergestellt werden, was
viele wesentliche Erkenntnisse er¬
möglichte. Steglichs erste Tochter Else
war in Trebsen mit dem Papierfabrik¬
besitzer Johannes Wiede, einem Sohn
des bedeutenden sächsischen Firmen¬
gründers Anton Wiede, verheiratet
gewesen. Nach der Enteignung nach
dem Zweiten Weltkrieg hatte sie noch
einige Zeit in Halle gelebt. Gestor¬
ben ist sie 1973 in Kochel am See,
also nicht in Bad Tölz, wie man in
Trebsen nach einem zu DDR-Zeiten
abschlägig beschiedenen Umbet¬
tungsantrag vermutete. Identität und
Verbleib der zweiten Tochter, Lotte,
waren bis vor kurzem unbekannt. Sie
hatte einen Sohn des Chemikers und
Fabrikanten Heinrich Gustav Haensel
(Ehrenbürger von Pirna) geheiratet
und war 1977 in Pullach verstorben.
In München und Umgebung wohnen
auch heute noch Nachkommen und
Verwandte von Steglich. Im „Schie¬
bocker Landstreicher“ erschien 2010
von Uwe Fiedler der Artikel „Zwei
Professoren aus einem kleinen Dorf“,
der Steglich und Max Neumeister
gemeinsam gewidmet war. Zudem
ist Uwe Fiedler federführend an den
Artikeln zu Steglich in der Wikipedia
und im Stadtwiki Dresden beteiligt.
Quellen: Walter Baunacke: „Regierungsrat Prof.
Dr. S. t“. Die kranke Pflanze 6/1929, H. 3, S. 37
fl; Fr. Schäfer: „Wissenschaftlicher Führer durch
Dresden“, v. Zahn & Jaensch, Dresden, 1907; P.
Hillmann: „Die deutsche landwirtschaftliche
Pflanzenzucht“. Berlin, 1910; Christa Haensel:
Familiennachlass Wiede/Haensel/Steglich, Mün¬
chen, mit B. Steglich: „Erinnerungen aus meinem
Leben“, Dresden 1927, Günter Kloss: „Georg Wrba
(1872-1939): ein Bildhauer zwischen Historismus
und Moderne“. Imhofl 1998, Hermann Pieper:
Nachruf Prof. Bruno Steglich, 1929; Universi¬
tätsarchiv Leipzig; Kirchenarchiv Großdrebnitz,
Kirchenarchiv Trebsen; Evangelisch-Lutherisches
Pfarramt St. Nikolai - St. Johannis Leipzig; Säch¬
sisches Staatsarchiv Leipzig; Arbeitsgemeinschaft
für mitteldeutsche Familienforschung; Stadtarchiv
Dresden; Archiv des Rochlitzer Geschichtsver¬
eins; Sächsische Landesanstalt für Landwirtschaft
Dresden; Friedrich W. Rach, Pressereferent DLG
Frankfurt/M.; Dr. Klaus Schmiedel, Königstein;
Roland Paeßler: „Ahnenlinie der „oberen“ Bauern
Steglich in Kleindrebnitz, mit Anmerkungen zur
Verbreitung der Familie Steglich in Kleindrebnitz
und Großdrebnitz und einer Zuarbeit von Frank
Fiedler“. 2004; Richard Garbe: „Vorarbeiten für
eine Dorfchronik von Großdrebnitz“. Unsere
Heimat, Beilage zum Sächsischen Erzähler,
11.4./18.4.1938; Dr. Karl Steinmüller: Wiede-
Chronik mit Stammtafel Steglich, 1939; Die
landwirthschaftlichen Versuchsstationen, G.
Schönfeld, 1890, S. 472-476; Dresdner Adress¬
bücher 1892-1929; Schöne: „Die Sächsische
Landwirtschaft“. 1925
316
Bibliografie (Auswahl)
„Über den Mechanismus des Pferdehufes unter besonderer Berücksichtigung der Hufrotationsthe¬
orie des Prof. Dr. Lechner in Wien“, Dissertation, Universität Leipzig, Julius Klinkhardt, 1883
„Anleitung zum Plan- und Situationszeichnen: für Landwirte und landwirtschaftliche Lehranstal¬
ten“, Parey, Berlin, 1884
„Schematische Darstellung des Zahnwechsels beim Pferd zur Altersbestimmung aus dem Gebiß:
für Landwirthe, Offiziere, Sportsmen und Pferdebesitzer“, Voigt, Leipzig, 1885
„Einrichtung, Ziel und Aufgaben der Versuchsstation für Pflanzenkultur zu Dresden“, Mitteilungen
der Ökonomischen Gesellschaft im Königreiche Sachsen, 1890/91
„Über Verbesserung und Veredelung landwirtschaftlicher Kulturgewächse durch Züchtung“, Mit¬
teilungen der Ökonomischen Gesellschaft im Königreiche Sachsen, 1892/1893
„Die Fischwässer im Königreiche Sachsen: Darstellung der gesammten sächsischen Fischereiver¬
hältnisse“, hrsg. vom Sächsischen Fischerei-Verein, Schönfeld, Dresden, 1895, 290 S.
„Sortenauswahl und Züchtung des Getreides“, Mitteilungen der Ökonomischen Gesellschaft im
Königreiche Sachsen, 1895/96
„Das Nährstoffbedürfnis der Obstbäume“, Sitzungsberichte und Abhandlungen FLORA, 1898
„Über die Züchtung des Pirnaer Roggens und Untersuchungen auf dem Gebiete der Roggenzüch¬
tung im allgemeinen“, Jahrbuch der DLG, S. 198-210, 1898
„Beschaffenheit und Gewinnung guter Braugerste“, Mitteilungen der Ökonomischen Gesellschaft
im Königreiche Sachsen, 1898/1899
&v. Langsdorff, „Illustrierter landwirtschaftlicher Vereinskalender“, 1899
„Neuere Anschauungen und Erfahrungen über die Anwendung und Wirkung der künstlichen
Düngemittel“, Mitteilungen der Ökonomischen Gesellschaft im Königreiche Sachsen, 1903
„Einrichtung u. Tätigkeit der Saatzuchtanstalt Svalöf in Schweden und Fortschritte auf dem Gebiet
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S. 581-587, 1906
& H. Degenkolb und M. Barth, „Statik des Obstbaues“, Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft und
Parey, Berlin, 1907, 147 S.
„Bearbeitung von Selektions- und Zuchtverfahren für Roggen“, Jahrbuch der DLG, 1907
„Förderung und Hebung der Rentabilität des Pflanzenbaues durch Organisation der Pflanzenzüch¬
tung“, Mitteilungen der Ökonomischen Gesellschaft im Königreiche Sachsen, 1908
„Über Düngungsversuche mit Kalkstickstoff, Stickstoffkalk und Kalksalpeter“, Verhandlungen der
Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte, F.W.C. Vogel, 1908
„Das Auftreten der Bisamratte in Sachsen und ihre Bekämpfung“, Schriften Sächs. Fischereiver., 49,
S. 34-44, 1919
„Ergebnisse zwölfjähriger Düngungsversuche in der Gutswirtschaft des Herrn Richard Kirchner in
Grünbach b. Wilsdruff“, Arbeiten aus dem Gebiet der Sächsischen Landwirtschaft, H. 6, 1920
& Fingerling, G. Derlitzki, „Neuorganisation der landwirtschaftlichen Versuchsstationen in Sach¬
sen und ihre Aufgaben“, Mitteilung der Ökonomischen Gesellschaft im Freistaat Sachsen, H. 47,
Dresden, 1921
„80 Jahre ohne Stalldünger“, Berichte über Düngungsversuche auf dem Staatsgute Wingendorf im
Freistaate Sachsen, Jahrbuch der DLG, S. 18-28, 1921
„Die Bedeutung der Phosphorsäurefrage für die Intensivierung der Bodenproduktion“, Schriften
der Ökonomischen Gesellschaft im Freistaat Sachsen, Reichenbach, Leipzig, 1922
„Zweck und Ziele des Pflanzenschutzes und dessen Organisation im Freistaate Sachsen“, Arbeiten
aus den Gebieten der sächs. Landwirtschaft, H. 9, S. 10-16, 1922
& Pieper, „Vererbungs- und Züchtungsversuche mit Roggen“, Fühlings Landw. Zeitung, 71, 1922
„Die Einwanderung, Ausbreitung und Lebensweise der Bisamratte, ihre wirtschaftlichen Gefahren
und ihre Bekämpfung in Sachsen bis zum Jahre 1922“, Korresp.-Bl. f. Fischzüchter, 30 u. 31, S.
66-70 und 7-11, 1925
Mitarbeit bei B. W. Schöne, „Die Sächsische Landwirtschaft - ihre Entwicklung bis zum Jahre
1925, sowie Einrichtungen und Tätigkeit des Landeskulturrats Sachsen zu Dresden“, Dresden, 1925
„Erinnerungen aus meinem Leben“, unveröffentlichtes Manuskript, Dresden, 1927
317
Porträtbüste des Steudner-Denkmals im Görlitzer Stadtpark.
itJraff
Steudner, Carl Julius Theodor Hermann
Dr. phil. h.c., Botaniker, Mediziner und Afrikaforscher
01.09.1832 Greiffenberg (Gryföw Skjski) / Schlesien - 10.04.1863 Wau / Afrika
V: Carl Theodor Hermann (*11.9.1806 Greiffenberg, 19.5.1832 Greiffenberg), Leinwandkauf¬
mann, Sohn des Kaufmanns Carl Theodor Steudner (1777-1821) und Charlotte Fredericke Hen
riette geh. Weissig (1785-1837); M: Juliane Louise Mathilde geh. von Monsterberg (*27.9.1809
Görlitz, 123.9.1876 Görlitz), Tochter eines Leutnants und Juliane geh. Gebauer
Hermann Steudner stammte als
einziges Kind von Carl Theodor
Hermann Steudner, einem reichen
Leinwandkaufmann, aus begüterten
Verhältnissen. Die Steudners waren
im schlesischen Greiffenberg seit
Jahrhunderten ansässig und hatten
mehrfach das Amt des Bürgermeisters
inne. Mehrere Familienmitglieder ar¬
beiteten als Ärzte. Die Familie ging in
der achten Generation vor Hermann
Steudner zurück auf Melchior Steud¬
ner (1507-1585), der Greiffenberg
zwischen 1549 und 1579 langjährig
als Bürgermeister Vorstand. Dessen
Sohn Johann Steudner (1544-1609)
war Senator in Greiffenberg. Eine
Tochter von ihm heiratete den Na¬
turforscher Caspar Schwenckfeld, auf
den bedeutende Arbeiten zur Fauna,
Flora, Geologie und Geographie
Schlesiens zurückgehen. Melchior
Steudner (1586-1646) in der sechsten
Generation studierte Theologie und
Jura, war Senator, Stadtrichter und
von 1617 bis 1636 Bürgermeister von
Greiffenberg. In seine Amtszeit fielen
1620 der Baubeginn am Rathausturm
und 1630 der Wiederaufbau der abge¬
brannten Kirche St. Hedwig. Dessen
Sohn Theodor Steudner (1645-1715)
studierte Medizin und promovierte
1669 in Leyden. Graf Schaffgotsch
ernannte ihn zum Leibarzt. Von
1706 bis 1715 war er Bürgermeister
in Greiffenberg. Theodor Steudner
(1688-1766) in der vierten Gene¬
ration vor Hermann Steudner war
ein preußischer Accise-Kontrolleur.
Dessen Sohn Carl Friedrich Steudner
(1728-1807) war wiederum Arzt in
Greiffenberg, dessen Sohn Carl Theo¬
dor Steudner (1777-1821) Kaufmann.
Ein Cousin des Vaters von Hermann
Steudner, Johann Ernst Robert Steud¬
ner (1810-1876), war Kreisphysikus
in Hirschberg und Meister vom Stuhl
der dortigen Freimaurer-Loge.
Hermann Steudners Vater verstarb
schon vor der Geburt des Sohns.
Jener besuchte in Greiffenberg die
Elementarschule und höhere Bür¬
gerschule. Deren Rektor, Heinrich
Gustav Moritz Laubichler, weckte die
Begeisterung des Jungen für Botanik
und Geologie, die sich in gemeinsa¬
men Exkursionen zum benachbarten
Riesengebirge weiter festigte. 1844
zog die Mutter mit ihrem Sohn nach
319
Görlitz, damit er auf eines der be¬
rühmtesten Gymnasien Schlesiens,
das Augustum im ehemaligen Fran¬
ziskanerkloster, gehen konnte. 1846
wechselte Steudner auf die Realschule
Görlitz, wo er 1850 das Abitur ableg¬
te.
Steudner studierte ab 1850 Natur¬
wissenschaften in Berlin, wobei sein
hauptsächliches Interesse der Bota¬
nik galt. Eigentlich hatte er Medizin
studieren wollen, tatsächlich belegte
er aber neben Botanik bei Alexan¬
der Braun, Nathanael Pringsheim,
Carl Jessen und Karl Koch, der sich
seinerzeit in Berlin habilitierte,
auch Naturgeschichte, Mineralogie,
Geognosie, Versteinerungskunde,
Zoologie, Chemie und vergleichende
Physiologie bei bedeutenden Lehrern
wie Christian Gottfried Ehrenberg
(Begründer der Mikropaläontologie),
Heinrich Wilhelm Dove (Begründer
der wissenschaftlichen Meteorologie
und Wettervorhersage) und Carl Rit¬
ter (Wegbereiter einer wissenschaft¬
lichen Geographie). 1852 begann
Steudner ein Medizinstudium in
Würzburg. Hier lernte er Rudolf Vir-
chow kennen, der wegen seiner Betei¬
ligung an der Märzrevolution Berlin
hatte verlassen müssen und von 1849
bis 1856 in Würzburg lehrte. Steudner
war mit dem späteren „deutschen
Darwin“, Ernst Haeckel, befreundet.
Sie besuchten Virchows Vorlesung
zur „allgemeinen pathologischen
Anatomie“ und dessen berühmten
„pathologisch- anatomischen Mikros¬
kopierkurs“ sowie Lehrveranstaltun¬
gen bei Franz von Rinecker und Al¬
bert von Kölliker. Außerdem hörten
sie Botanik-Vorlesungen bei August
Schenk, unternahmen mit ihm
botanische Exkursionen und arbei¬
teten an dessen Herbarium. Aus der
Würzburger Zeit stammen Exponate
des Flechtenherbars des Senckenberg
Museums für Naturkunde Görlitz. Im
Februar 1854 wurde Steudner wegen
Trunkenheit und Widerstands gegen
die Staatsgewalt zu einer dreimonati¬
gen Festungshaft verurteilt.
Steudner kehrte im Herbst 1854 nach
Berlin zurück. Nach Ableistung seiner
Militärpflicht widmete er sich wis¬
senschaftlichen Studien. Das Erbe des
Vaters sicherte ihm finanziellen Spiel¬
raum. Er schloss sich in Berlin Karl
Koch an. Koch war am Botanischen
Garten angestellt und Generalsekre¬
tär des „Vereins zur Beförderung des
Gartenbaues im Preußischen Staate“.
Die Verbindung von Koch und Steud¬
ner bestand wohl zum gegenseitigen
Vorteil, denn Koch litt mit seiner
vielköpfigen Familie in Berlin lange
Not, da ihm die angestrebte Professur
zunächst verwehrt blieb und er sich
mit befristeten und schlecht bezahl¬
ten Anstellungen zufrieden geben
musste. Seine fachübergreifenden
Arbeiten zu Botanik und Gartenbau
fanden wenig Anerkennung. Steudner
arbeitete in der Berliner Zeit an einer
umfassenden Pflanzen-Geographie.
Dazu unternahm er Exkursionen in
alle deutschen Gebirge, in die öster-
320
Nachweis der Alge „Ulothrix variabilis Kützing“ durch Steudner in
einem Brunnen in Biesnitz am Fuß der Landeskrone. Ludwig Rabenhorst
schrieb: „Der meist quadratische Zellenkern ist hier sehr charakteristisch.“
Abbildung: University of Michigan (Lizenz CC BY-NC)
reichischen Alpen und die Lombar¬
dei. 1857 stellte er in einem Katalog
des Botanischen Gartens Berlin die
dort vorhandenen Arten von Thalia
L. nach der - umstrittenen - Eintei¬
lung von Koch zusammen. Ludwig
Rabenhorst publizierte einen Algen¬
nachweis Steudners aus Görlitz. Vor
dem Gartenbauverein berichtete jener
über Gartenbauausstellungen in der
Oberlausitz. 1860 wurde Steudner in
Berlin in die „Gesellschaft Naturfor¬
schender Freunde“ gewählt und er
knüpfte Kontakte zur „Gesellschaft
für Erdkunde“ um seine früheren
Professoren Dove und Ehrenberg.
Steudner beteiligte sich wie Hermann
Ludwig Heinrich Fürst von Pückler
aus Muskau an einer von Carl Ritter
gegründeten Stiftung zur Förderung
der Geographie. Dessen Nachfolger
als Präsident der Gesellschaft für
Erdkunde, Heinrich Barth, weckte in
Steudner das Interesse am „Schwar¬
zen Kontinent“. Steudner meldete
sich für die von Ernst II., Herzog von
Sachsen-Coburg und Gotha, initiier¬
te Expedition in die Nilländer. Das
Ziel der Expedition bestand in der
Aufklärung des Schicksals des Afri¬
kaforschers Eduard Vogel aus Leipzig,
der seit 1855 als verschollen galt. Es
wurde vermutet, dass er in das für
Europäer gesperrte Sultanat Wadai
(heute östlicher Tschad) eingedrun¬
gen war.
321
Als Vorbereitung für die vom be¬
rühmten Afrikareisenden Theodor
von Heuglin geleitete Expedition
lernte Steudner die arabische Spra¬
che. Seine Dissertation zum Thema
Pfeilwurzgewächse („Marantaceae“)
reichte er an der Universität Jena kurz
vor der Abreise nach Afrika ein. Die
Promotionsurkunde „Doctoris Phi¬
los ophiae Honores“ ist auf den 9. Mai
1861 datiert. Burkard Wilhelm Leist
und Carl Nipperdey vertraten dabei
die Universität. Während der Anfahrt
über Wien und Triest informierte sich
Steudner in Wien bei Theodor Kot-
schy über die von ihm und Wilhelm
Schimper in Ostafrika gesammelten
Pflanzen.
Nach der Ankunft am 4. März 1861 in
Alexandria [1] besuchte er zunächst
die Hafenstadt Rosette [2] im Nil¬
delta und erforschte die Umgebung
Kairos [3]. Er beabsichtigte, in Kairo
den Freimaurern beizutreten. Man
vermutete davon Vorteile bei der Auf¬
nahme in Arabien. Neben Steudner
als Botaniker und Geologe gehörten
auch der Astronom und Meteorologe
Gottlob Theodor Kinzelbach und als
Präparator der spätere österreichische
Honorarkonsul in Khartum Martin
Hansal zur Gruppe, die ebenfalls
Freimaurer waren bzw. wurden. Um
ungünstigen klimatischen Verhält¬
nissen zur Reisezeit in Khartum, dem
eigentlichen Ausgangspunkt der Su¬
che in Wadai, aus dem Weg zu gehen
und mehr Zeit zur Akklimatisierung
zu gewinnen, wählte man als Reise¬
route einen Umweg über Abessinien.
Die Erforschung und kartografische
Erfassung unbekannter Landstriche
stellte aber nur ein Nebenziel der
Expedition dar. Die Reise führte von
Kairo nach Suez [4] und gemeinsam
mit Mekka-Pilgern auf einem Dampf¬
schiff nach Dschidda [5] (heute
Saudi-Arabien), bevor man auf einer
Barke über das Rote Meer nach Mas-
saua [6] (Eritrea) übersetzte, das am
17. Juni 1861 erreicht wurde. Auf dem
nahen Dahlak-Archipel [7] führten
sie ornithologische und botanische
Studien durch. Aus dem Land der
Bogos kommend, dem nächsten Ziel,
stieß der Ethnograph Werner Mun-
zinger hinzu. Auf Maultieren und
Kamelen erreichte die Gruppe über
Keren [8] auf ihrer Reise durch das
raue Hochland Abessiniens am 14.
November 1861 Adua [9]. Steudner
interessierte sich neben der Flora v. a.
für die afrikanische Naturmedizin. In
Adua wurden sie schon von Wilhelm
Schimper erwartet. Auch Schimper
empfahl der Expedition, statt direkt
nach Khartum zu reisen, zunächst
beim abessinischen Kaiser Tewodros
freies Geleit zu erbitten. Der führte
Krieg gegen abtrünnige Stämme in
der südlich gelegenen Galla-Provinz.
Auf der Suche nach dem Kaiser
kamen Heuglin und Steudner zuerst
nach Gonder [ 10 ] und über Gaffat
bei Debra Tabor [ 11 ] am 15. März
1862 zur Festungsstadt Magdala [12].
Nachdem sie den Kaiser im Kriegs¬
lager auf der Hochebene Edschebet
bei den Kollo-Bergen erreicht hatten,
322
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Eine Gruppe mit Heuglin, Steudner und dem Jäger Schubert bestieg Ende
September 1861 den Zad‘-Amba. Sie trafen auf Mönche, selbst Gemsjäger
nahmen den beschwerlichen Weg kaum auf sich: „Mit Händen und Füßen
uns anklammernd, oft durch das dicht verwachsene Gestrüpp auf dem Bau¬
che kriechend, bald durch schachtähnliche Felsenrisse wie Schornsteinkeh¬
rer senkrecht hinaufklimmend...“ (Steudner in Mitteilungen an H. Barth)
ließ dieser sie jedoch zunächst nicht
frei Weiterreisen. Die Gruppe wurde
Zeuge brutaler Plünderungen. Nach
dreiwöchigem Aufenthalt durften
sie am 25. April 1862 zusammen
mit dem Dessauer Botaniker und
Zeichner Christoph Eduard Zander
aufbrechen. Heuglin und Steudner
hatten im Unterschied zu Munzinger
und Kinzelbach ab Adua die geplante
Route verlassen und nutzten die kreuz
und quer durch das nördliche Abessi¬
nien führende Suche nach dem Kaiser
zu systematischen wissenschaftlichen
Untersuchungen. Steudner gewährte
den Einheimischen und seinen Expe¬
ditionskollegen wiederholt medizini¬
sche Hilfe. Aber auch er selbst hatte
mit gesundheitlichen Problemen zu
kämpfen. Am Tanasee [13] vorbei
kamen sie unterhalb der Einmündung
des Rahad [14] zum Blauen Nil, über
den sie schließlich am 6. Juli 1862
Khartum [15] im Sudan erreichten.
Hier erfuhren sie, dass Heuglin wegen
seiner „Eigenmächtigkeit“ die Lei¬
tung der Expedition - und damit die
finanzielle Unterstützung - entzogen
worden war. Während eines mehrmo¬
natigen Zwangsaufenthalts unternah¬
men Heuglin und Steudner auf den
Spuren des österreichischen Botani-
324
kers Theodor Kotschy zunächst eine
dreiwöchige Reise nach Kurdufan.
Sie erhofften sich von dem angeneh¬
meren Klima auch gesundheitliche
Besserung.
Auf Einladung der holländischen
Hofdame und Abenteurerin Alex-
andrine Tinne beteiligten sie sich ab
dem 25. Januar 1863 an deren Expe¬
dition nach den im Südwesten Sudans
gelegenen und bis nach Zentralafrika
reichenden Quellgebieten des Wei¬
ßen Nils. Steudner war begeistert von
der guten Ausrüstung Tinnes, die
einen Dampfer für ein Jahr gemie¬
tet hatte und der Barken, 150 Trä¬
ger, Leibwächter und 40 Maultiere
zur Verfügung standen. Die Reise
führte stromaufwärts in den Bahr
al-Ghazal (Gazellenfluss), der am
5. Februar 1863 erreicht wurde. Die
Gebiete entlang des Gazellenflusses
waren sumpfig und verseucht mit
Malaria-Mücken. Am 25. Februar
1863 erreichte man den Rek-See [16]
(Meschra er Rek) im Quellgebiet des
Gazellenflusses. Viele Expeditions¬
mitglieder erkrankten. Heuglin und
Steudner erhielten den Auftrag, einen
Landweg zum angrenzenden, ge¬
sünderen Gebirge zu suchen. Wegen
der nahenden Regenzeit war Eile
geboten - man musste auch verlorene
Zeit aufholen, weil die Damen nicht
auf Luxus verzichten wollten und
an Land in Sänften getragen werden
mussten. In der Nähe des Djurflusses
bei Waw [17] im südwestlichen Sudan
erkrankte Steudner an „Gallenfieber“
Die Expeditionsgruppe von Heuglin
(ganz rechts sitzend und Wasser¬
pfeife rauchend) und Steudner (im
Bild links neben Heuglin).
(eine Diagnose, die früher häufig im
Zusammenhang mit Typhus gestellt
wurde) und verstarb nach drei Tagen.
Seine Kameraden bestatteten ihn
unter einer Baumgruppe nahe dem
Fluss. Mit Steudner verlor die Gruppe
nicht nur einen wichtigen Naturfor¬
scher, sondern auch den Arzt. Weitere
4 der 9 Expeditionsmitglieder star¬
ben in der Folgezeit. Die Expedition
konnte deswegen nicht alle Ziele
erreichen. Sie wurde später von Georg
Schweinfurth vollendet. Die umfang¬
reichen Ergebnisse der Tinneschen
Expedition auf botanischem Gebiet
publizierte Theodor Kotschy 1865
unter dem Titel „Plantae Tinneanae“.
Die Expedition von Heuglin und
Steudner war seinerzeit umstritten.
Sie hatte das eigentliche Ziel, Vogel
zu finden, verfehlt - auch Munzinger
und Kinzelbach mussten schließlich
dessen Tod konstatieren. Es war auch
Steudner zu danken, dass stattdessen
eine überaus große Zahl wichtiger
325
botanischer, mineralogischer und
faunistischer Studien sowie kartogra¬
fische Arbeiten durchgeführt werden
konnten. Sie hatten eigenverantwort¬
lich entschieden, die aussichtslose
Suche nach Vogel abzubrechen und
dafür den wissenschaftlichen Unter¬
suchungen den Vorrang zu geben.
Die Expedition wurde v. a. von Alfred
Brehm verteidigt. Es sei vermerkt,
dass Steudner mit privaten Mitteln
von 500 Talern pro Jahr die Reise erst
mit ermöglicht hatte und auch dieser
Beitrag nach der Routenänderung
gesperrt wurde.
Steudner leistete unter ungünstigen
klimatischen Verhältnissen und von
Krankheiten geplagt in der Kürze der
ihm zur Verfügung stehenden Zeit
mit seinen Expeditionskameraden
wichtige Pionierarbeit. Er gehörte
zu den ersten Opfern der deutschen
Afrikaforschung des 19. Jahrhunderts.
Die von ihm verfassten Berichte in
der „Zeitschrift der Berliner Gesell¬
schaft für Erdkunde“ und der „Zeit¬
schrift für allgemeine Erdkunde“
besaßen große Bedeutung, weil viele
der bereisten Gebiete von keinem Bo¬
taniker vor ihm erforscht worden wa¬
ren. Er schilderte auf lebendige Weise
jedoch nicht nur die Natur, sondern
zudem Land und Leute, sodass die
Berichte auch einen hohen ethnologi¬
schen Wert besitzen. Karl Koch wurde
von Heuglin gebeten, Steudners
Aufzeichnungen und Sammlungen
auszuwerten. Ein Teil der natur¬
historischen Sammlung ging nach
Görlitz. Steudners Beobachtungsgabe
sind bemerkenswerte Entdeckun¬
gen zu verdanken. An ihn erinnern
die Namen vieler Pflanzenarten
(„Steudneri“; „Steud“ ist dagegen dem
Botaniker Ernst Gottlieb von Steudel
zuzuordnen) sowie der Zwergwüs¬
tengecko („Tropiocolotes Steudneri“,
1869 von Wilhelm Peters beschrie¬
ben). Karl Koch hatte schon 1862 die
Gattung „Steudnera K. Koch“ aus der
Familie der Aronstabgewächse nach
Steudner benannt. Wilhelm Stricker
erinnerte im „Archiv für pathologi¬
sche Anatomie und Physiologie und
für klinische Medicin“ von Rudolf
Virchow im „Ärztlichen Nekrolog
1863“ an ihn. Die von Steudner
gesammelten Pflanzen befinden sich
heute in international bedeutenden
Herbarien, darunter in der Sammlung
afrikanischer Gewächse im Bota¬
nischen Museum Berlin-Dahlem,
in den Kew Royal Botanic Gardens
London, im Natural History Museum
London, Museum national d'histoire
naturelle Paris, Swedish Museum of
Natural History Stockholm und South
African National Biodiversity Institu¬
te, National Herbarium Pretoria. Die
gefundenen Gesteine hatte Steudner
an Alexander Sadebeck gesandt,
der sie der Deutschen Geologischen
Gesellschaft zugänglich machte. Eine
Insektensammlung ging an das Zoo¬
logische Museum Berlin.
Steudner hatte nie die Bindungen
nach Görlitz verloren. Er war Eh¬
renmitglied der Naturforschenden
326
„Aloe steudneri“ kommt in Eritrea
und Äthiopien im felsigen Semien-
Gebirge in Höhen um 3000 Meter
vor. Hermann Steudner hatte hier
das Typusexemplar gesammelt.
Gesellschaft, die aus seinem Nachlass
Briefe aus Afrika an seine Mutter auf¬
bewahrt. Görlitz gedachte dem früh
Verstorbenen mit einem am 15. Ok¬
tober 1874 unweit des Parkhäuschens
im Stadtpark enthüllten Denkmal. Es
entstand auf Initiative und auf Kosten
der Mutter kurz vor ihrem eigenen
Tod und bestand nach dem Entwurf
des Berliner Bildhauers Eduard Au¬
gust Lürssen aus einem Obelisk, einer
darauf stehenden marmornen Por¬
trätbüste sowie zwei seitlichen Sphin¬
xen. Die später angebrachte Bronze¬
büste fiel im Zweiten Weltkrieg dem
Metallbedarf der Rüstungswirtschaft
zum Opfer. Der Obelisk blieb erhalten
und trägt noch immer seinen Namen.
Die Reste des Denkmals stehen heute
an der westlichen Friedhofsmauer.
Quellen: „Zur hundertjährigen Wiederkehr des
Geburtstages von Hermann Steudtner“. In: Martin
Noack, Niederschlesische Heimatblätter, 1928-1939;
Friedrich Ratzel: Allgemeine Deutsche Biographie,
Bd. 36, S. 155-156; Löwenberger Heimatgrüße
(Goldammer-Verlag Würzburg): Heinz Kulke, „Der
Frühvollendete - Zum 100. Todestage Hermann
Steudners, des aus Greiffenberg stammenden Afri¬
kaforschers“ (08/63), S. 3-5, „Dr. Hermann Steud¬
ner - der Afrikaforscher aus Greiffenberg“ (09/72),
S. 10-11, „Die Sippe der Steudner aus Greiffenberg“
(03/80), S. 10-11; Karl Heinrich Emil Koch: „Nach¬
ruf“. Wochenschrift des Vereines zur Beförderung
des Gartenbaues in den Königlich preussischen
Staaten, Wiegandt 8c Hempel, Nr. 30, Berlin,
25.7.1863, S. 1; „Personalnotizen“ Plant Systematics
and Evolution, Springer Wien, Bd. 11, H. 3, 1861,
S. 101-102 u. Bd. 13, H. 1, 1863, S. 335-337; Ernst
Haeckel: „Entwicklungsgeschichte einer Jugend,
Briefe an die Eltern 1852/1856“ (8.2., 17.2., 27.2.,
1.6.1853). Leipzig, KF. Köhler, 1921; Karl Heinrich
Emil Koch: Wochenschrift des Vereines zur Beförde¬
rung des Gartenbaues in den Königlich preussischen
Staaten, Wiegandt & Hempel, Berlin, 25.7.1862, S.
115; Dr. Clemens Wimmer: Mitteilungen, Bücherei
des Deutschen Gartenbaues e.V. Berlin; Sitzungs¬
berichte der Gesellschaft naturforschender Freunde
zu Berlin, 1907; Annelore Rieke-Müller: „Der Blick
über das ganze Erdenrund - Deutsche Forschungs¬
reisen und Forschungsreisende im 19. Jahrhundert
bis zur Deutschen Afrika-Expedition 1860-1863“.
Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, Bd. 22, Heft
2-3, S. 113-123, Wiley-VCH Verlag GmbH & Co.
KGaA, Weinheim, 1999; Dr. Schindler: „Nekrolog.
Vorgetragen zur Hauptversammlung im October
1863“. In: Abhandlungen der Naturforschenden
Gesellschaft zu Görlitz, Bd. 12, S. 201-205, 1865;
Abhandlungen der Naturforschenden Gesellschaft
zu Görlitz, Bd. 13, S. 8,1868; Bo Beolens et al: „The
Eponym Dictionary of Reptiles“. JHU Press, 2011;
Würzburger Abendblatt, 23.2.1854; Steudners Rei¬
seberichte; Universitätsarchive Würzburg und Jena,
Mitteilungen 29.9.2007 bzw. 24.9.2015
327
Der Turm der Putzkauer Kirche wurde von 1701 bis 1707 zu Johann Hein¬
rich Stöckhardts Amtszeit errichtet.
Stöckhardt, Johann Heinrich
Magister, Philologe und Pfarrer in Putzkau
13.07.1657 Miltitz - 14.08.1711 Putzkau
V: Johann Gerhard (‘um 1626 Dresden, 11691 Brinnis), Pfarrer in Miltitz und Brinnis; M:
Martha geh. Schütze (*2.10.1632 Friedrichswalde), Pfarrerstochter; G: David (*3.10.1658 Miltitz,
t jung), Esther Catharina (*19.11.1661 Miltitz, J1744, verh. mit Christian Laurentii, Pfarrer
in Papstdorf und Wehlen, deren Tochter Esther Christiana verh. mit Pfarrer Johann Gottfried
Metzner in Neukirch), Gottlieb (*5.4.1664 Miltitz, 11742, Pfarrer in Lauterbach, verh. mit Do¬
rothea geh. Metzner aus Neukirch); E: 16.10.1683 Putzkau, Margareta Elisabeth geh. Hentschel
(*1662 Putzkau, JT709 Putzkau); K: Johann Jacob (*1684 Putzkau, fl721, ab 1711 Pfarrer in
Putzkau), Johanna Margaretha (*1685 Putzkau, verh. mit Christian Jentsch, Archidiakonus in
Bischofswerda), Johann Gerhard (*28.7.1686 Putzkau, JT9.4.1745 Schwarzbach, Pfarrer in Dob¬
ra, Thierbaum und Schwarzbach), Henriette Catharina (*1688, verh. mit Christoph Friedrich
Faber, Pfarrer in Klix), Esther Martha (*1693, t jung), Johann Gottfried (*1697/1698 Putzkau,
t2.10.1759 Saaleck, Pfarrer in Saaleck), Johanna Catharina (*1700, verh. mit Johann Balthasar
Lange, Pfarrer in Reichwalde und Neschwitz)
Der spätere Begründer des Putzkauer
Zweiges der Gelehrtenfamilie Stöck¬
hardt besuchte ab 1665 die Kreuz¬
schule Dresden. Ab 1670 absolvierte
er - wie später sein Bruder Gottlieb
(Begründer des Lauterbacher Zwei¬
ges) - die Fürstenschule Grimma. An
der Universität Leipzig verteidigte
Stöckhardt 1678 seine „Dissertatio de
blanda mulierum rhetorica, occasione
axiomatis Richteriani publicae erudi-
torum censurae & ventilationi exposi-
tai“ bei Georg Schultze zur Redekunst
der Frauen. 1679 leitete er selbst die
Prüfungskommission Philologie zur
Magisterarbeit von Johann Michael
Reinhold aus Freiberg. Seine Studi¬
en schloss Stöckhardt 1680 mit der
„Publica et solemnis misericordiae
divinae promulgatio“ über die „gött¬
liche Barmherzigkeit“ bei Professor
Georg Möbius ab. Am 27. September
1683 wurde er Substitut und 1685 in
der Nachfolge seines Schwiegervaters,
Jakob Hentschel, Pfarrer in Putzkau.
1687 gehörte er zur Erbengemein¬
schaft, die das großväterliche Haus in
Dresden, zwischen Kreuzkirche und
Frauenkirche gelegen, an die Familie
Schaffhirt verkaufte. Putzkau war
seinerzeit dem Freiherrn von Frie¬
sen verpflichtet. Als dessen Ehefrau
Maria Margaretha 1689 starb, hielt
Stöckhardt eine vielbeachtete Lei¬
chenpredigt. Von 1701 bis 1707 leitete
er die Rekonstruktion der Putzkauer
Kirche mit dem Anbau des steinernen
Turms. An Stöckhardt erinnerte lange
außen an der Südseite der Kirche das
Epithaphium VIXIT, VICIT, VIVIT
(„Jesus hat gelebt, gesiegt und lebt“).
Drei seiner Söhne und viele weitere
Nachfahren wurden wiederum Pfar¬
rer, darunter sein Urenkel Gerhard
Heinrich Jacobjan Stöckhardt in
Bautzen.
Quellen: S. 412 ff.
329
Stöckhardt, Gerhard Heinrich Jacobjan
Magister, Pastor, Philologe und Freimaurer
28.03.1772 Schwepnitz b. Königsbrück - 28.10.1830 Bautzen
V: Johann Gottrau (*4.10.1717 Putzkau, tl5.5.1791 Schwepnitz), wuchs bei seinem Stiefvater
Jacob Barthel in Bischofswerda auf, Gymnasium Freiburg und 1731-1737 Bautzen, Universität
Leipzig, 1741 Hospitalprediger und Mädchenlehrer in Königsbrück, 1742 Pfarrer in Schwepnitz
mit Kosel und Grüngräbchen; M: Johanna Sophia geh. Hoffmann (*1734, t7.9.1820 Klitz-
schen), Pfarrerstochter aus Glaubitz; G: Halbgeschwister (1. Ehe des Vaters) Esther Johanna
Christiana (*2.12.1754 Schwepnitz, t6.12.1754 Schwepnitz), Gerhard Samuel (*28.9.1756
Schwepnitz, tl7.6.1758), Schwester (2. Ehe des Vaters) Esther Theodora (*14.10.1763 Schwep¬
nitz, f 18.3.1813, verh. mit Pfarrer Carl Gottlob Meyer in Klitzschen); E: (1) 9.7.1799 Oelsnitz,
Johanna Juliane Theophila geh. Pinder (*27.4.1772 Oelsnitz, JT6.3.1811 Bautzen, Tochter des
Bürgermeisters Johann Christoph Pinder in Adorf), (2) 1812 Bautzen, Erdmuthe Wilhelmine
geh. von Leonhardi (*1.4.1778 Weida, f4.3.1820 Bautzen, Tochter des holländischen Flottenka¬
pitäns und ehemaligen Gouverneurs von Ceylon Commodore von Leonhardi und Stieftochter
von George Leonhard von Sperl auf Gräfendorf), (3) 29.4.1821 Pirna, Henriette geh. Wintruff
(*1793 Weida, 1T2.10.1834 Pirna, Tochter des Advokaten Daniel Christoph Wintruff); K: (1.
Ehe, 4 Söhne und 1 Tochter) Gerhard Julius (*20.12.1800 Glauchau, tl-6.1825 Bautzen, Mitglied
der Lausitzer Predigergesellschaft, designierter Bürgerschullehrer und Freimaurer in Bautzen),
Heinrich Robert (*11.8.1802 Glauchau, flO.10.1848 St. Petersburg, Professor für römisches
Recht), Hermann Eduard (*24.10.1803 Glauchau, t24.12.1845 Lichtenstein, Gymnasium Baut¬
zen, Kaufmann in Glauchau, Bautzen, Waldenburg und Lichtenstein), Gustav Albin (*20.2.1805
Bautzen, tll-2.1855, Dr. med., Gymnasium Bautzen, Lehre an der Ratsapotheke Bautzen,
Medizinstudium in Leipzig, Assistent bei Carl Gustav Carus, Verdienste als praktischer Arzt in
Glauchau während der Cholera-Epidemie 1848), Aurora (1807-1809 Bautzen), (2. Ehe, 4 Söhne)
Ernst Hermann (*1812 Bautzen,t früh), NN (t früh), Hermann Constanz (*7.10.1814 Bautzen,
t8.11.1875 Dresden, Gutsverwalter, Versicherungsinspektor in Mannheim, Wien, Pest und Dres¬
den), Emst Theodor (*4.1.1816 Bautzen, t27.3.1898 Bautzen, Agrarwissenschaftler)
Gerhard Heinrich Jacobjan Stöck¬
hardt wurde als jüngstes von vier
Kindern des Schwepnitzer Pfarrers
Johann Gottrau Stöckhardt geboren.
Sein Vater, ein Sohn des Putzkauer
Pfarrers Johann Jacob Stöckhardt und
Enkel von Johann Heinrich Stöck¬
hardt, machte ihn schon früh mit
Latein und Griechisch vertraut und
vermittelte ihm so die Aufgeschlos¬
senheit für fremde Sprachen. Gerhard
Heinrich Jacobjan Stöckhardt lernte
in seiner Kindheit und Jugend früh
Not und Entbehrungen kennen.
Brände und harte Winter betrafen die
ganze Gemeinde. Die Pfarrersfamilie
litt unter Erkrankungen des Vaters
und Verlusten durch Einbruch.
Stöckhardt besuchte ab 1787 das
Gymnasium in Bautzen, zunächst
unter dem als Lateiner gerühmten
Rektor Christoph Jeremias Rost
und 1790/91 unter Karl August
Böttiger, einem Philologen, Alter¬
tumsforscher und Schriftsteller der
331
Aufklärung. Böttiger lehrte Stöck-
hardt die englische Sprache. In dieser
Zeit erwachte auch sein Interesse an
allem Italienischen. Die Anregungen
dazu erhielt er von Johann Gottlieb
Cober, von 1762 bis 1792 Konrektor
in Bautzen. Cober war als vormaliger
Hauslehrer noch lange in Verbin¬
dung zum ehemaligen sächsischen
Gesandten in Rom Johann Ludwig
Graf von Bianconi geblieben und galt
als ausgewiesener Philologe. Für ihn
verfasste Stöckhardt 1797 den Nach¬
ruf „Canzone alla morte di Cobero“.
Für seine schulischen Leistungen
erhielt Stöckhardt eine Ratsmedaille.
Mit Friedrich Wilhelm Ehrenfried
Rost, Philosophieprofessor in Leipzig
und Sohn des Bautzener Schulrektors,
blieb er auch später noch in Kontakt,
ebenso mit Karl August Böttiger.
Kurz nach dem Tod des Vaters im
Jahre 1791 begann Stöckhardt sein
Studium an der Universität Leipzig.
Durch Vermittlung des späteren
Ministers von Burgsdorff und seines
Professors Christian Gottlieb Seyd-
litz erhielt er dafür ein königliches
Stipendium. Zu seinen Lehrern
zählten neben Seydlitz Ernst Platner,
Karl Adolf Caesar und Karl Heinrich
Heydenreich aus Stolpen in der Phi¬
losophie, Christoph Friedrich Loes-
ner in der Philologie sowie Samuel
Friedrich Nathanei Morus, Gottlieb
Immanuel Dindorf, Karl August Gott-
lieb Keil, Christian Gottlieb Kühnöl,
Karl Christian Palmer, Johann Georg
Rosenmüller, Gottlieb Samuel Forbi-
ger und der aus Kamenz stammende
Johann Friedrich Burscher in der
Theologie. Stöckhardt schloss sich
der „Societas Philologica Lipsiensis“
von Christian Daniel Beck an, wo er
Karl Gottfried Siebelis kennen¬
lernte. Durch seinen Vater geprägt,
der selbst noch in sorbischer Sprache
gepredigt hatte, gehörte Stöckhardt
der Lausitzer Predigergesellschaft als
außerordentliches Mitglied an. 1793
verteidigte er seine Magisterarbeit
„Commentatione de poesi cum philo-
sophia arctissime coniuncta“ bei Karl
August Gottlieb Keil. Anschließend
wollte sich Stöckhardt als Privatdo¬
zent für Philosophie, Philologie und
Kunsttheorie habilitieren. Zudem
predigte er an der Thomaskirche und
der Paulinerkirche. Auch der damals
berühmte Literaturkritiker Giralomo
Tiraboschi war schon auf ihn auf¬
merksam geworden. Sie korrespon¬
dierten regelmäßig und Tiraboschi
vermittelte 1793 Stöckhardts Aufnah¬
me in die „Societa de' Volschi“.
1794 berief Graf Carl Heinrich von
Schönburg auf Empfehlung Dindorfs
Stöckhardt zum Privatlehrer der ein¬
zigen Tochter des Hauses, Renate Au¬
guste Louise Henriette (1783-1859),
nach Vorder-Glauchau/Wechselburg.
Stöckhardt verzichtete daraufhin auf
die Fortsetzung seiner universitären
Karriere. Sein Werdegang verlief
damit ähnlich wie der eines Cousins
seines Vaters, des fast 40 Jahre als
Diakon in Glauchau und Pastor in
Gesau wirkenden Gottfried Gerhard
332
Stöckhardt (1721-1788). Dieser war
ebenfalls nach seinem Studium in
Leipzig zunächst beim Grafen von
Schönburg Hauslehrer, und er war
gleichfalls schriftstellerisch tätig. Mit
den Schönburgs hielt sich Gerhard
Heinrich Jacobjan Stöckhardt oft
in Dresden auf und er nutzte diese
Gelegenheiten, um seine Italienisch-
Kenntnisse zu vertiefen. Zudem
wurde er häufig mit der Korrespon¬
denz des Grafen in Französisch und
Englisch betraut. Zu Schönburgs en¬
gen Bekannten gehörte dessen vorma¬
liger Hofmeister Christian Gottfried
Körner. Vermutlich durch Schönburg
und Körner kam Stöckhardt erstmals
mit der Freimaurerei in Berührung.
In dieser Zeit erwarb er sich mit
der Herausgabe und sachkundigen
Kommentierung italienischer Lesebü¬
cher von Giovanni Boccaccio („Scelta
delle migliori novelle di Boccaccio
con annotazione“, 1794) und Ludovi-
co Ariosto („Le commedie in prosa,
1‘erbolato e le lettere di Lodovico
Ariosto“, 1798) einen Namen als
Philologe. 1799 wurde Stöckhardt
zum Archidiakonus in Glauchau und
Pastor an die Filialkirche in Gesau
bestellt.
Im Jahre 1804 kehrte Stöckhardt als
Pastor Secundarius und Mittagspredi¬
ger an der Hauptkirche St. Petri nach
Bautzen zurück. Pastor Primarius
war hier Friedrich Wilhelm Janson
Sartorius. Vertrauensvoll arbeitete
Stöckhardt an der Simultankirche St.
Petri mit dem katholischen Bischof
Franz Georg Lock zusammen. Im
Dom St. Petri wurden während des
napoleonischen Kriegs 1813 Verletzte
versorgt und Kriegsgefangene festge¬
halten. Stöckhardt half wiederholt als
Dolmetscher. Anlässlich der Feier zu
seiner 25-jährigen Amtseinführung
im Jahre 1824 wurde seine „Begeis¬
terung für alles Heilige auf dem Weg
durchs irdische Leben“ hervorgeho¬
ben. Stöckhardt erwarb sich große
Verdienste um seine Gemeinde mit
der Ausarbeitung des neuen Gesang¬
buches („Sammlung alter und neuer
geistlicher Lieder“, 1826) und um den
theologischen Nachwuchs mit der
Einrichtung einer „Uebungsanstalt
in theologischen Wissenschaften“ für
die Mitglieder des Predigerkollegiums
im Bautzener Bezirk (1828): „...mit
einem zweckmässigen Plane zur Er¬
richtung solcher Anstalten, wodurch
die Candidaten des Predigtamtes in
der Oberl. zur Führung geistlicher
Aemter zweckmässig vorbereitet wer¬
den können ...“. Dem Magistrat der
Stadt Bautzen diente Stöckhardt um
1829 als geistlicher Schulinspektor.
Eine bedeutende Rolle in Stöckhardts
Leben spielte die Freimaurer-Loge
„Zur goldnen Mauer“. Sie war 1802
auch als Bildungsstätte für das auf¬
strebende Bautzener Bürgertum vom
damaligen Rektor des Gymnasiums,
Ludwig Gedike, gegründet worden.
Die Logenbrüder bemühten sich stets
um das Allgemeinwohl; sie waren
mildtätig und gründeten ein Privat¬
seminar zur Ausbildung von Volks-
333
Der Dom in Bautzen.
Schullehrern. Unter dem Meister vom
Stuhl August Gotthilf Taube wurde
Stöckhardt 1805 in die Loge aufge¬
nommen. Schnell stieg er auf, wurde
schon 1806 in den 3. Rang befördert
und stand ihr nach Taubes Tod 1816
für mehr als 13 Jahre als Meister vom
Stuhl vor. Die große Bedeutung der
Freimaurer für das Bautzen des 19.
Jahrhunderts ist den Namen ihrer
Mitglieder zu entnehmen, zu denen
beispielsweise Karl Siegmund Borne¬
mann (Direktor der Bürgerschule),
Friedrich August Adolph von Gers-
dorf (Oberamts-Regierungs-Präsi-
dent), Heinrich Gottlob Gräve (Histo¬
riker), Ernst Friedrich Hartz (späterer
Bürgermeister), Ernst Gottlob Monse
(Druckereibesitzer), Gottlob Heinrich
Ohle (Medizinprofessor in Dresden),
334
Karl Benjamin Preusker (Bibliotheks¬
gründer), Karl Gottfried Siebelis,
Friedrich August Treutier (Professor
der Naturgeschichte in Dresden)
sowie die späteren Professoren für
römisches Recht bzw. Agrarwissen¬
schaft, Stöckhardts Söhne Heinrich
Robert Stöckhardt und Ernst
Theodor Stöckhardt gehörten.
Besonders bekannt wurde die Frei¬
maurerloge „Zur goldnen Mauer“
- noch zu Taubes Zeiten - während
der Befreiungskriege gegen Napoleon.
Obwohl Sachsen auf der Seite Napo¬
leons stand, empfing man Gebhard
Leberecht von Blücher und August
Neidhardt von Gneisenau im Septem¬
ber 1813 festlich: Die beiden Führer
der Schlesischen Armee gehörten der
nationalen Mutterloge „Zu den drei
Weltkugeln“ an. Blücher hielt bei die¬
sem, seinem zweiten Besuch in Baut¬
zen in einem Jahr die berühmte, von
Vaterlandsliebe und humanitärer Ge¬
sinnung zeugende Rede. Zum Schluss
trank man auf das Wohl der beiden
(gegnerischen) Könige. Im Jahre 1820
gründete Stöckhardt auf Veranlassung
des Repräsentanten der Freimaurer-
Landesloge und späteren Landesgro߬
meisters Gottlob Adolf Ernst von
Nostitz und Jänkendorf zusam¬
men mit Bischof Lock den freimau¬
rernahen Ortsverein „Rath und That“,
der sich der sozialen Fürsorge und öf¬
fentlichen Wohlfahrt verpflichtet sah.
Dem Verein gehörten anfangs 25, ein
Jahr später 126 Mitglieder an. Großes
Ansehen erwarben sich die Bautze-
ner Freimaurer unter Stöckhardt, als
sie 1827 Hilfe für die Geschädigten
des Stadtbrandes organisierten. Ab
1827 gaben Seminardirektor Pomsel,
Zeichenlehrer von Gehrsheim und
Schlossapotheker Eduard Paeßler
Handwerkslehrlingen in einer Sonn¬
tagsschule unentgeltlich Unterricht.
Diese Schule wurde zur Keimzelle für
die Bautzener Industrie- und Gewer¬
beschule, der Verein „Rath und That“
für die Kinder-Arbeitsschule und die
Kinderbewahranstalt.
Von den vielen Schriften, Überset¬
zungen sowie Gedichten Stöckhardts
sind die 1811 erschienene „Sprachleh¬
re für Italienisch-Lehrer mit Lesebuch
für Schüler“ und das ab 1801 mehr¬
fach aufgelegte Deutsch-Italienische
Wörterbuch „Dizionario portatile,
italiano - tedesco, e tedesco-italiano“
hervorhebenswert. Die Sprachlehre
wurde seinerzeit gerühmt, wie gewis¬
senhaft der Verfasser bemüht war,
seine Theorie mit der Anwendung
zu verbinden. Noch 1838 schrieb
Felix Mendelssohn Bartholdy an den
Verlag, um ein Exemplar des Wörter¬
buchs zu erhalten. Seine Kenntnisse
des Italienischen brachte Stöckhardt
auch anlässlich von Festlichkeiten
zur Verherrlichung der sächsischen
Königsfamilie zur Geltung. Die von
Friedrich August dem Gerechten in
Auftrag gegebene Kantate „Albino
und Tajo“ wurde anlässlich der Ver¬
mählung von Maria Josepha Amalia
von Sachsen mit dem spanischen
König Ferdinand am 29. August 1819
im großen Königlichen Konzertsaal
335
aufgeführt. Die Übersetzung des alle¬
gorischen Stücks mit Bezug zur Elbe
stammte von Theodor Hell, die Musik
von Hofkapellmeister Francesco Mor-
lacchi und den königlichen Kammer¬
sängern um Sassaroli und Benincasa.
Stöckhardt schrieb zudem für die
Jenaische allgemeine Literaturzeitung,
die Leipziger Literaturzeitung und das
Neue Lausitzische Magazin.
Für seine Verdienste wurde Stöck¬
hardt 1826 mit der Aufnahme in
die Oberlausitzische Gesellschaft
der Wissenschaften geehrt. Er war
außerdem Ehrenmitglied der Großen
Landesloge von Sachsen sowie der
nationalen Loge „Zu den drei Weltku¬
geln“. Vom 25. bis 27. Juni 1830, we¬
nige Monate vor seinem Tod, konnte
Stöckhardt noch an den Feierlichkei¬
ten in Bautzen zum 300. Jahrestag der
Augsburger Konfession teilnehmen.
Am zweiten Tag predigte er: „Wie wir
unsere Kinder zum Festhalten an der
evangelischen Lehre ermuthigen sol¬
len“. Heinrich Robert Stöckhardt
verfasste einen Lebenslauf seines
Vaters, der im Neuen Lausitzischen
Magazin als Nekrolog gedruckt wur¬
de. Hermann Arthur Lier erinnerte
an ihn in der Allgemeinen Deutschen
Biographie. Gerhard Heinrich Jacob-
jan Stöckhardt ist namentlich auf der
großen Glocke des Domes St. Petri
verewigt. Das Stadtmuseum Bautzen
besitzt ein von Friedrich Freiherr von
Gersheim gemaltes Porträt.
Quellen: Nekrolog im Neuen Lausitzischen
Magazin, IX, S. 435-443; Lindner und Hersch
(Bearb.): „Das Gelehrte Teutschland, oder Lexi¬
kon der jetzt lebenden Gelehrten Teutschlands“
(17. Nachtrag zur 4. Ausg.). Lemgo, Verlag der
Meyerschen Hof-Buchhandlung, 1825; Gottlieb
Friedrich Otto: „Lexikon der seit dem fünfze¬
henden Jahrhunderte verstorbenen und jetzt¬
lebenden Oberlausizischen Schriftsteller und
Künstler“. Burkhart Görlitz, Bd. 3, S. 336-337,
1803; Hermann Arthur Lier: „Gerhard Heinrich
Jacobian Stöckhardt“. Allgemeine Deutsche
Biographie, Bd. 36, S. 287-288; Reinhold Grün¬
berg (Bearb.): „Sächsisches Pfarrerbuch. Die
Parochien und Pfarrer der Ev.-luth. Landes¬
kirche Sachsens (1539-1939)“. Verlagsanstalt
Ernst Mauckisch Freiberg, 1940; Allgemeine
Literatur-Zeitung, Nr. 66, S. 526-527, Januar-
März 1799; Jenaische allgemeine Literatur-
Zeitung, Nr. 42, S. 329-336, 27. Februar 1812;
Nr. 203, S. 1620-1621, 1825; S. 214, März 1831;
„Stammtafel der Familie Stoeckhardt, Putzkau¬
er und Lauterbacher Zweig, den Verwandten zu
Lieb zusammengestellt und mit Erläuterungen
auf Grund handschriftlicher Mittheilungen
und sonstiger Quellen-Nachweise versehen von
Prof. Dr. Ernst Theodor Stoeckhardt“. Wagner
Weimar, 1883; The Church of Jesus Christ of
Latter-day Saints; Karin Stöckhardt, Mitteilun¬
gen; Dr. Schubart: „Zur Geschichte des Gymna¬
siums in Budissin“. E.M. Monse, 1863; Martin
Reuther: „Oberlausitzer Forschungen: Beiträge
zur Landesgeschichte“. Koehler & Amelang,
1961; Richard Wilhelm: „Die Glocken der Stadt
Bautzen“. 1917; Katalog der Gemäldesamm¬
lung Stadtmuseum Bautzen, 1954; Leipziger
Zeitung, 25.9.1820; Michael Wetzel: „Carl
Heinrich III., Graf von Schönburg“ Sächsische
Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische
Geschichte und Volkskunde e.V., bearb. von
Martina Schattkowsky; Archivverbund Bautzen,
Stadtarchiv, 66001 Verein Rat und Tat, lfd.
Nr.; Morgenblatt für gebildete Leser, Bd. 13,
Cottasche Buchhandlung, 1819; „Beschreibung
der Feierlichkeiten, welche am dritten Jubelfeste
der Augsburger Confession den 25., 26. und 27.
Juni 1830 im Königreich Sachsen stattgefunden
haben: nebst einigen Jubelpredigten und Anga¬
be der zu diesem Feste in Sachsen erschienen
Schriften“. J.F. Glück, 1830
336
Ein ernstes Wort ward unsenii Bund gesprochen,
Verwaist steht er von seinem Oberhaupt! —
Ein Glied der Kette ward in Ihm zerbrochen,
Ein Bruderherz hat uns der Tod geraubt!
Es war wie wir in einen Kreis geschlungen,
Oer bis nach Westen hin zum Grabe reicht;
Flat uns geliebt — gcknmpfet und gerungen —
Geglaubet — und die Palme dort erreicht!
Ihrem vollendeten Meister
Gerhard Heinr. Jacobjan
Stöckhardt. Die Brüder der
Loge zur goldnen Mau¬
er, E. G. Monse Bautzen,
1.11.1830.
Nun sehn wir den Vollendeten im Glanze,
Wie keiner unsre Erdennacht erhellt.
Und schauen Ihn in Seinem Siegeskranze,
Als den Bewohner einer hölicrn Welt!
Was Er als Lehrer und als Mensch gewesen.
Als Meister in der Säulen Doppelreihn,
Das wird man tief in unseriu Innern lesen,
End Ihm ein Denkmal unsrer Liebe scyn!
Sie war ja stets in allen Seinen Leiden
Das Loos, nach dem Sein Herz in Stillem rang;
Und traun! — der Mann ist wahrlich zu beneiden.
Deut cs wie. Ihm um diesen Preis gelang.
Er hat vollendet Seiner Laufbahn Stufen,
Zum ew’gcn Osten leitet Ihn der Stern,
Wo Brüder Ihm verklärt entgegen rufen,
Der Aar nun weilet — und das Leiden fern!
Vermagst Du einen Tropfen Deiner Labe.
Vollendeter! ■— so senk ihn in das Herz
Der Deinen, die gebeugt an Deinem Grabe
Mit Wckmuth kämpfen und gerechtem Schmerz!
Wir haben Viel, doch Sic weit Mehr verloren!
Still stellt ein Herz, um das die Liebe weint
Zu Gatten- und zu Vaterglück geboren,
War Grofscs Ihm und Schönes gleich vereint 1
Doch auch von dort, wo Geister IIid begrüfsen.
Schaut noch Sein Auge liebevoll zurück;
Er lieht zu Seines Herrn und Meisters Etifsen
Pur Seiner Lieben. Seiner Brüder Glück;
Und segnet uns, ein Hirt, mit frommen Munde,
Der Seine Herde treu iui Btiseu trügt,
Bis einst auch uns die ernste, grofse Stunde
Zur herrlichen Vereinung liebend schlägt!
Quellen zu den Freimaurern:
Sanct Johannis Freimaurer-Loge
zur goldnen Mauer, Mitglieder¬
verzeichnisse 1805, 1806, 1808,
1816, 1819, 1829 und Jahresbe¬
richt vom 24. Juni 1831; Roland
Paeßler: „Das Auftreten Blüchers
in der Bautzener Freimaurerloge“.
Vortrag, Barockschloss Rammen¬
au, um 1989; Brief Blüchers an die
Bautzener Freimaurer, 15.6.1814;
Roland Baier: „Die Bautzener
Johannis-Freimaurerloge Zur
goldenen Mauer“. In: „Zwischen
Wesenitz und Löbauer Wasser“,
1997, H. 2, S. 56-61
337
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Der Jura-Professor Robert Stöckhardt war auch ein talentierter Musiker
und Komponist.
Stöckhardt, Heinrich Robert
Professor, Jurist in St. Petersburg
11.08.1802 Glauchau - 10.10.1848 St. Petersburg
V: Gerhard Heinrich Jacobjan (*28.3.1772 Schwepnitz, f28.10.1830 Bautzen), Pastor Secunda-
rius am Dom St. Petri Bautzen; M: Johanna Juliane Theophila geb. Pinder (*27.4.1772 Oelsnitz,
116.3.1811 Bautzen); G: Gerhard Julius (*20.12.1800 Glauchau, fl.6.1825 Bautzen, designierter
Bürgerschullehrer), Hermann Eduard (*24.10.1803 Glauchau, f24.12.1845 Lichtenstein, Kauf¬
mann in Glauchau, Bautzen und Lichtenstein), Gustav Albin (*20.2.1805 Bautzen, fl 1.2.1855,
Dr. med., Verdienste während der Cholera-Epidemie in Glauchau 1848), Aurora (1807-1809
Bautzen), 3 Halbbrüder aus der 2. Ehe des Vaters, Ernst Hermann (*1812 Bautzen), Hermann
Constanz (*7.10.1814 Bautzen, f8.11.1875 Dresden, Gutsverwalter, Versicherungskaufmann in
Dresden, Mannheim und Wien), Ernst Theodor (*4.1.1816 Bautzen, f27.3.1898 Bautzen, Ag¬
rarwissenschaftler); E: 16.5.1828 Bautzen, Emilie geb. Voigt (*17.9.1803 Naumburg, f 12.8.1871
Kosen); K: Clara Henriette Marie (*13.10.1829 Bautzen, f6.2.1897 San Remo, Landschaftsmale¬
rin), Julius Reinhold (*6.4.1831 Bautzen, f29.1.1901 Berlin, studierte Theologie, Volkswirtschaft
und Jura, vertrat als Düsseldorfer Regierungsrat das Deutsche Reich zur Weltausstellung 1873
in Wien, 1880 Vortragender Rat im Ministerium für öffentliche Arbeiten in Berlin, Kompo¬
nist), Hermann (*18.3.1833 St. Petersburg, f6.3.1835), Carl Robert (*29.3.1835 St. Petersburg,
f7./.8.12.1880 New York, Studium Gewerbeschule Chemnitz und Polytechnikum Dresden,
Photograph und Dekorationsmaler in Gotha und den USA), Julie Emilie Louise (*26.11.1838 St.
Petersburg, f 18.5.1895 Berlin, heiratete 1858 den Besitzer einer Kinderspielwarenfabrik Gerhard
Söhlke aus Berlin), Woldemar Heinrich Julius (*3.2.1840 St. Petersburg, kaufmännische Lehre
bei seinem Onkel Carl Voigt in Leipzig, Kaufmann in Mailand, Manchester und London), Fried¬
rich Heinrich (*14.8.1842 St. Petersburg, f4.6.1920 Berlin/Woltersdorf, Architekturprofessor),
Ernst Friedrich Gerhard (*25.7.1845 St. Petersburg, Buchhändler und Schriftsteller in Stuttgart,
Karlsruhe und Berchtesgaden, gab die Zeitschrift Deutsche Adelschronik heraus, verfasste Reise¬
berichte und kunsthistorische Beiträge, wird häufig mit Ernst Hardt verwechselt)
Robert Stöckhardt kam als Zweijäh¬
riger zusammen mit den Eltern und
seinem älteren Bruder Gerhard Julius
nach Bautzen, wo der Vater, Ger¬
hard Heinrich Jacobjan Stöck¬
hardt, eine Anstellung als Pastor
Secundarius und Mittagsprediger an
der Hauptkirche St. Petri erhalten
hatte. Nach wenigen Jahren verstarb
die Mutter. Zu den Halbgeschwistern
aus der zweiten Ehe des Vaters gehör¬
te der spätere Agrarwissenschaftler
Ernst Theodor Stöckhardt. In
Bautzen besuchte Stöckhardt das
Gymnasium unter dem Rektor Karl
Gottfried Siebelis, mit dem der
Vater auch über die Freimaurerloge
„Zur goldnen Mauer“ verbunden
war. Besonders die musischen Fächer
sowie die Sprachen begeisterten den
Jungen. Freie Phantasien am Flügel
zeugten von seiner hohen musi¬
kalischen Begabung. Während der
Schulzeit stand Stöckhardt seinem
Bruder Gerhard Julius so nahe, dass
Siebelis die ihnen zuerkannte, aber
nur einmal vorhandene Ratsprämie
unter ihnen verloste. Zu Stöckhardts
339
V I R l Ü
1LLUSTRISSIM1S ET EXCELLENTISSIMIS
GOTTLOB ADOLPHO ERNESTO NOSTITZ
et J AENKEN DORF
DOMINO IN OPPACH ETC. ETC.
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OBOIMA *T. JOAXMJ» M ELITEN Ml» KQITT1 TBAETEriO
I. \OOVItX 3 I DEMCXATO «CU. nCLI..
Seine Habilitationsschrift von 1826 widmete Stöckhardt Gottlob Adolf
Ernst von Nostitz und Jänkendorf.
Freunden in Bautzen zählte der
spätere Leipziger Orientalist Heinrich
Leberecht Fleischer.
An der Universität Leipzig studierte
Stöckhardt ab 1820 bei seinem Vor¬
bild Christian Gottlieb Haubold und
bei Johann Christian August Hein-
roth Jura und Philosophie. 1821 trat
er der Lausitzer Predigergesellschaft
bei, für die er als Sekretär wirkte.
Nach dem juristischen Baccalaureat
1824 und seiner Habilitation am 10.
Juni 1826 zum Privatdozenten vertei¬
digte Stöckhardt am 26. September
seine Dissertation mit „Analysen zum
Einfluss des Klimas auf Geist, Körper
und die Entwicklung von Wissen¬
schaften und Künsten“. Der spätere
Physiologe Alfred Wilhelm Volkmann
gehörte zu seinen Freunden. Ab 1824
hielt Stöckhardt Vorlesungen zum Na¬
tur- und Völkerrecht, zum Römischen
Recht, zur Rechtsgeschichte und
Rechtstheorie sowie zu Verbindungen
von Recht und Philosophie und leitete
juristisch-exegetische Übungen. Es
entstanden erste bedeutende Schrif¬
ten. In „Wissenschaft des Rechtes“
bekannte er sich zu einem modernen
Staat, der nach seiner Meinung die
„... zur höchsten Einheit erhobene
Freiheit der einzelnen menschlichen
Individuen“ darstellt, und zu einem
universell gültigen, von staatlichen
und geistlichen Autoritäten unabhän¬
gigen Naturrecht. Auch während des
Studiums und seines späteren Berufs¬
lebens blieb Stöckhardt Musik und
Poesie gegenüber aufgeschlossen. Er
komponierte lyrische Stücke für Pia¬
no und hatte Verbindungen bis nach
340
Dresden (Elise von der Recke, Chris¬
toph August Tiedge). Im Hause der
Witwe Voigt in Naumburg lernte er
seine spätere Frau Emilie kennen. Die
Familie Voigt war sehr kunstsinnig.
Stöckhardts Schwager Carl Friedrich
Eduard Voigt gehörte zu den Förde¬
rern des Feipziger Gewandhaus-Or¬
chesters und zum Bekanntenkreis von
Robert Schumann.
Stöckhardt hatte schon in jungen
Jahren viel persönliches Feid erfah¬
ren. Nach seiner Mutter war 1820
auch seine erste Stiefmutter, Erdmu-
the Wilhelmine geh. von Feonhardi,
frühzeitig verstorben, 1825 sein
geliebter Bruder Gerhard Julius. Als
der Vater wegen Krankheit seinen
baldigen Tod voraussah, holte er
seinen nunmehr ältesten Sohn nach
Bautzen zurück, um die Familie
zu unterstützen. Stöckhardt erhielt
1828 eine Anstellung als Königlicher
Sächsischer Rechts-Consulent. Von
1824 bis 1831 gehörte er den Bautze-
ner Freimaurern an. Aus dieser Zeit
stammen zwei der bedeutendsten
wissenschaftlichen Arbeiten Stöck¬
hardts. Die „Tafeln zur Geschichte
des Römischen Rechts“ begründe¬
ten seinen Ruhm. In der folgenden
Analyse zum Unterschied zwischen
Zivil- und Strafrecht („Dolus civilis“
und „Dolus criminalis“) konnte er
auf diese umfangreichen historischen
Studien zurückgreifen. Stöckhardt
diskutierte u. a. die Resozialisierung
von Straftätern als Ziel der Bestra¬
fung, deren Erfolg er bezweifelte, und
er kritisierte standesabhängige Urtei¬
le. Seinen jüngeren Brüdern erteilte
er Unterricht in Sprachen und Musik,
mit dem Konrektor des Gymnasiums
Friedrich Gotthelf Fritsche war er
befreundet. Bald merkte Stöckhardt
jedoch, dass ihn das heben in Baut¬
zen beruflich nicht ausfüllen konnte.
Sein ausgezeichneter Ruf drang bis
nach St. Petersburg. Im damaligen
Russischen Reich wurde Römisches
Recht gelehrt, das seinerzeit in vielen
europäischen Staaten als maßgebliche
Rechtsquelle galt. Stöckhardt erhielt
1831 die Berufung als Professor an
das Pädagogische Hauptinstitut in St.
Petersburg, wo die zukünftigen Fehrer
höherer Schulen studierten. Zu seiner
Familie gehörten im Jahr des Umzugs
zwei kleine Kinder, die in Bautzen
geborenen Clara und Reinhold.
Stöckhardt wurde in St. Petersburg
zum Kaiserlichen Hofrat ernannt.
Fürst Christoph von hieven, ein
Ratgeber von Zar Nikolaus, unter¬
richtete ihn in der russischen Sprache.
Stöckhardt arbeitete in der Gesetzge¬
bungskommission mit und lehrte ab
1835 als Professor an der Kaiserlichen
Rechtsschule. 1837 schrieb er als
Lehrbuch für die juristischen Einlei-
tungswissenschafiten die „Allgemeine
juristische Fundamentallehre“. Für
seine großen Verdienste um den Auf¬
bau einer modernen Juraausbildung
und Gesetzgebung in Russland wurde
er zum Staatsrat ernannt, in den
russischen Adelsstand erhoben und
mit dem Annen-, dem Wladimir- und
341
1842 dem Stanislaus-Orden 2. Klasse
ausgezeichnet. Stöckhardt bemühte
sich in St. Petersburg zudem um den
wissenschaftlichen und kulturellen
Austausch zwischen Russland und
Deutschland. Beispielsweise übersetz¬
te er 1833 einen von Unterrichtsmi¬
nister Sergei Semjonowitsch Uwarow
vor der Russischen Akademie der
Wissenschaften gehaltenen Vortrag
zu Johann Wolfgang von Goethe ins
Deutsche. Im Jahre 1844 organisierte
er einen Auftritt von Clara Schumann
während ihrer Russlandreise. Für
die St. Petersburger Zeitung schrieb
Stöckhardt als Musikreferent und er
war Korrespondent von Robert Schu¬
manns „Neuer Zeitschrift für Musik“.
Schumann zählte ihn zu „seinen“
auswärtigen „Davidsbündlern“. Als
seine Gönner Lieven und Uwarow
wegen des steigenden Einflusses der
altrussischen Partei ihre Stellungen
verloren, blieb davon auch Stöckhardt
nicht unberührt. Gefälligkeitsempfeh-
lungen bei der Besetzung von Profes¬
suren widerstrebten ihm. Stöckhardt
gab 1847 die Juraausbildung ab und
vertrat bis zu seinem Tod Philologie
und lateinische Literatur.
Stöckhardt wurde in St. Petersburg
beigesetzt, sein Herz aber nach
seinem Wunsch nach Naumburg
überführt. Die Ehefrau kehrte hierher
mit sieben Kindern zurück. Die neun¬
zehnjährige Clara erteilte als ältestes
der Geschwister den jüngeren Unter¬
richt. In Naumburg knüpfte sie Kon¬
takt zur Familie von Friedrich Nietz¬
sche. Nachdem sie mit Mutter und
Geschwistern nach Weimar überge¬
siedelt war, ließ Clara sich zur Male¬
rin ausbilden. Geprägt wurde sie von
Friedrich Preller d.Ä. (Direktor der
Fürstlich freien Zeichenschule) sowie
Carl Hummel und Max Schmidt von
der Weimarer Malerschule. Clara
malte bevorzugt Landschaften und
Architektur in Öl und Aquarell. Mit
ihren Werken konnte sie zum Le¬
bensunterhalt der Familie beitragen.
Verschiedene Thüringen-Motive, bei¬
spielsweise „Ilmufer mit Goethes Gar¬
tenhaus“, zeigte sie von 1870 bis 1877
auf Berliner akademischen Kunst¬
ausstellungen. 1871 starb Robert
Stöckhardts Witwe, 1872 übernahm
sein Bruder Ernst Theodor Stöck¬
hardt in Weimar einen leitenden
Posten im Staatsministerium. Clara
Stöckhardt besuchte in Weimar oft
ihren Onkel. Die Geschwister waren
inzwischen selbstständig. So konnte
sie sich verstärkt ihren eigenen künst¬
lerischen Ambitionen widmen und
reiste zu Studienaufenthalten nach
Italien. Auf Dresdner akademischen
Kunstausstellungen zeigte sie 1876
und 1877 mehrere Aquarelle und
Ölbilder mit Italien-Motiven. 1880
heiratete sie den italienischen Offizier
Gino Cantoni.
Clara Stöckhardt hatte maßgebli¬
chen Anteil, dass ihren Geschwistern
- ganz im Sinne des verstorbenen
Vaters - die Begeisterung für alles
Schöne vermittelt wurde. Ihr Bruder
Reinhold blieb auch während seiner
342
Robert Stöckhardts Familie war nach seinem Tod mehrere Jahre in Weimar
ansässig. Seine Tochter Clara malte hier „Ilmufer mit Goethes Gartenhaus“.
erfolgreichen Beamtenlaufbahn der
Musik treu, komponierte selbst und
gehörte zum Freundeskreis von Theo¬
dor Fontane und Clara Schumann. Sie
trafen sich auf Stöckhardts Annenhof
in Hohenwiese bei Schmiedeberg im
Riesengebirge und in Berlin. Fried¬
rich Heinrich Stöckhardt, wie Ernst
Giese ein Nicolai-Schüler, war als
Architekt für seine Brunnenentwürfe
in Erfurt („Am Anger“, 1890), Dessau
(von den Nazis zerstörtes Brunnen¬
denkmal für Moses Mendelssohn,
1890) und Göttingen („Gänseliesel“,
1901) bekannt. Aber auch die anderen
Geschwister spielten Musik oder wa¬
ren anderweise künstlerisch talentiert.
Quellen: Karin Stöckhardt, Mitteilungen,
2009; Jenaische allgemeine Literatur-Zeitung
1825, 1826, 1832, 1833, 1841; Christian Daniel
Beck (Hrsg.); „Allgemeines Repertorium der
neuesten in- und ausländischen Literatur“.
1826, 1832; Karl Goedeke: „Grundriss zur Ge¬
schichte der deutschen Dichtung“. 1859, 1862;
Virtuelle Fachbibliothek Osteuropa, Erik-
Amburger-Datenbank; Nekrolog, Blätter für
literarische Unterhaltung, Brockhaus Leipzig,
1849, Bd. 2, S. 923f.; Herrmann A. L. Dege-
ner: „Wer ist‘s?“ Berlin, 1908; Ernst Theodor
Stoeckhardt: „Stammtafel der Familie Stoeck-
hardt, Putzkauer und Lauterbacher Zweig“.
Wagner Weimar, 1883; Carl August Jentsch:
„Geschichte der Lausitzer Predigergesellschaft
zu Leipzig und Verzeichniss aller ihrer Mit¬
glieder“. Schmaler & Pech, 1867; Historisches
Vorlesungsverzeichnis der Universität Leipzig;
Friedrich von Boetticher: „Malerwerke des 19.
Jahrhunderts“. Dresden, 1898
343
Das vermutliche Porträt von Ernst Theodor Stöckhardt befindet sich im
Archiv des Deutschen Museums München. Es wurde dort zunächst Julius
Adolph Stöckhardt zugeordnet (PT_03590_01_01). Zum Zeitpunkt der Be¬
schaffung durch das Museum im Jahre 1928 war nur der Nachname Stöck¬
hardt vermerkt. Der dokumentierte Aufnahmeort Jena spricht für eine
Abbildung von Ernst Theodor Stöckhardt.
Stöckhardt, Ernst Theodor
Professor, Landwirtschaftslehrer in Brösa, Chemnitz und Jena
04.01.1816 Bautzen - 27.03.1898 Bautzen
V: Gerhard Heinrich Jacobjan (*28.3.1772 Schwepnitz, t28.10.1830 Bautzen), Pastor Secunda-
rius am Dom St. Petri Bautzen, Schriftsteller, Freimaurer; M: Erdmuthe Wilhelmine geb. von
Leonhardi (*1.4.1778 Weida, 14.3.1820 Bautzen), Tochter von Commodore von Leonhardi,
holländischer Flottenkapitän und ehemaliger Gouverneur von Ceylon, und Schwester von Carl
August von Leonhardi, Stadtkommandant und Ehrenbürger von Leipzig; G: Ernst Hermann
(*1812 Bautzen), Hermann Constanz (*7.10.1814 Bautzen, 18.11.1875 Dresden, Gutsverwalter in
der Landwirtschaft, Versicherungskaufmann in Dresden, Mannheim und Wien), 4 Halbbrüder
und 1 Halbschwester aus der 1. Ehe des Vaters, Gerhard Julius (*20.12.1800 Glauchau, 11.6.1825
Bautzen, Mitglied der Lausitzer Predigergesellschaft, designierter Bürgerschullehrer, Freimau¬
rer), Heinrich Robert (*11.8.1802 Glauchau, 110.10.1848 St. Petersburg, Freimaurer, Professor
für Römisches Recht), Hermann Eduard (*24.10.1803 Glauchau, 124.12.1845 Lichtenstein, Kauf¬
mann in Glauchau, Bautzen und Lichtenstein), Gustav Albin (*20.2.1805 Glauchau, 111.2.1855,
Dr. med., Assistent bei Carl Gustav Carus, praktizierte in Glauchau, Verdienste während der
Cholera-Epidemie 1848), Aurora (1807-1809 Bautzen); E: 22.9.1840 Coelestine geb. Mitschke
(*24.5.1818 Purschwitz, 11894), Tochter des Pfarrers Wilhelm Mitschke; K: Gerhard Erwin
(*14.7.1841 Purschwitz, 130.7.1842 Brösa)
Ernst Theodor Stöckhardt entstamm¬
te der Putzkauer Linie einer weitver¬
zweigten protestantischen Theologen¬
familie. Die Stöckhardts haben sich
über Generationen große Verdienste
um das geistliche Leben, aber auch
um Wissenschaft und Wohlfahrt in
Sachsen und darüber hinaus erwor¬
ben. Die Familie geht auf den wäh¬
rend der Religionswirren mit seinen
Eltern aus Flandern vertriebenen und
nach Sachsen eingewanderten Kauf¬
mann Gerhard van Stoeckhardt zu¬
rück. Kurfürst August warb während
seiner Regentschaft bis 1586 etwa
20.000 Einwanderer aus den Nieder¬
landen an, um mit ihrer Hilfe ein leis¬
tungsstarkes Textilgewerbe in Sachsen
aufzubauen. Van Stoeckhardts Enkel
begründeten im späten 17. Jahrhun¬
dert als Pfarrer in der Umgebung von
Bischofswerda die beiden Hauptlinien
der Familie, den Putzkauer (Johann
Heinrich Stöckhardt) und den
Lauterbacher Zweig. Der in Putzkau
geborene Großvater von Ernst Theo¬
dor, Johann Gottrau Stöckhardt, war
zuletzt Pfarrer in Schwepnitz. Sein
Grabmal auf dem dortigen Friedhof
zählte Cornelius Gurlitt zu Sachsens
Bau- und Kunstdenkmälern.
Stöckhardt verlor schon mit vier
Jahren die Mutter. Entscheidende
Anregungen verdankte er seinem
Vater. Gerhard Heinrich Jacobjan
Stöckhardt, ab 1821 wieder verhei¬
ratet, war ein hochgebildeter Mann
und seit 1804 Pfarrer am Petridom in
Bautzen. Zur Familie gehörte u. a. der
ältere Halbbruder Robert Stöck¬
hardt. Der Vater wirkte in Bautzen
345
Schloss Milkel.
als Meister vom Stuhl der Freimau¬
rerloge „Zur goldnen Mauer“. Die
Bautzener Freimaurer machten sich
seinerzeit um ihre Mitbürger verdient,
indem sie beispielsweise unentgeltlich
naturkundlichen Unterricht erteil¬
ten. Es wurde auch für den Sohn zur
Mission, einer breiten Bevölkerungs¬
schicht fundiertes Fachwissen zu ver¬
mitteln. 1838 trat er in die Bautzener
Freimaurerloge ein.
Stöckhardt sollte zunächst wie sein
Vater eine theologische Berufslauf¬
bahn einschlagen. Er besuchte das In¬
stitut des Freimaurers Karl Siegmund
Bornemann in Bautzen, ab 1826 das
Gymnasium unter dem Rektor Karl
Gottfried Siebelis und er erhielt
von seinem Vater Unterricht in Italie¬
nisch und Französisch. In der Familie
wurde zudem die Hausmusik gepflegt.
Von Anfang an bestand ein sehr enges
Verhältnis zu seinem wenig älte¬
ren Bruder Hermann Constanz. Sie
durchliefen die Schulen gemeinsam
und später unterstützte Ernst Theodor
den Bruder durch Vermittlung beruf¬
licher Kontakte. Besonders interes¬
sierte sich Stöckhardt als Schüler für
die Reformationsgeschichte und die
hebräische Sprache, die Karl Friedrich
Ameis, selbst noch ein Schüler, lehrte.
Befreundet war er mit Johannes
Siebelis, gute Beziehungen bestan¬
den aber auch zu dem etwas älteren
Robert Heller, dessen Urteil in
sprachlichen Dingen gefragt war.
Krankheitsbedingt musste Stöckhardt
1832, zwei Jahre nach dem frühen
Tod des Vaters, das Gymnasium vor¬
zeitig verlassen. Unterstützung erhielt
er vor allem von seinem Vormund
Johann Friedrich Schulze, gleichzeitig
Nachfolger des Vaters als Pastor am
Petridom. Der Vater seines Schul¬
freundes Robert Pohlenz, ein Inspek¬
tor der Herrschaft Milkel im Besitz
von Georg Graf von Einsiedel, bildete
den Jungen in der Eandwirtschaft aus.
Von 1834 bis 1842 arbeitete Stöck¬
hardt als Verwalter auf verschiedenen
Rittergütern in der Umgebung Baut¬
zens, bis 1837 in Jessnitz, danach in
Eippitsch (im Besitz der Familie von
Damnitz) und ab 1839 in Purschwitz,
Ortsansicht von Purschwitz um
1840.
346
das sich damals im Besitz der Stadt
Bautzen befand. In Purschwitz konnte
er erstmals mit größerer Eigenver¬
antwortung agieren. 1840 heiratete
er eine Tochter des dortigen Pfarrers
Wilhelm Mitschke. Im nahen Bautzen
besuchte er den Gesellschaftsverein
„Societät“. Stöckhardt vervollkomm-
nete im Selbststudium seine landwirt¬
schaftlichen Kenntnisse. Als die Stadt
Bautzen das Rittergut Purschwitz
aus finanziellen Gründen verkaufen
musste, pachtete er 1842 das Ritter¬
gut Brösa aus dem Besitz des Grafen
Schall-Riaucour, wobei sich Stöck¬
hardt zunächst vergeblich um das
Rittergut Putzkau bemüht hatte.
Am 18. Oktober 1847 eröffnete Stöck¬
hardt in Brösa ein privates landwirt¬
schaftliches Lehrinstitut. Er hatte
Bildung als Voraussetzung für eine
Steigerung der Produktion erkannt
und wollte den angehenden Landwir¬
ten das theoretische wie praktische
Rüstzeug für ihr Berufsleben vermit¬
teln. Als Lehrer der Naturwissen¬
schaften holte Stöckhardt Emil von
Wolff nach Brösa, einer seiner Schüler
war Friedrich von Boetticher, später
sein Schwager und in Dresden ein
bedeutender Kunsthistoriker. Anläss-
Rittergut Brösa: Zur Lehranstalt ge¬
hörten ein Laboratorium, mineralo¬
gische und botanische Sammlungen
und eine Bibliothek. Ein Kurs um¬
fasste zwei Wintersemester Theorie.
Im Sommersemester konnte zusätz¬
lich ein Praxiskurs belegt werden.
Das Mindestalter betrug 16 Jahre.
Die Landwirtschaftsschule Brösa
war die erste ihrer Art in Sach¬
sen, als erste Einrichtung in ganz
Deutschland war 1818 die Acker¬
bauschule in Hohenheim gegründet
worden. Die landwirtschaftliche
Ausbildung in Sachsen begann 1830
an der Forstakademie Tharandt
mit einem eigenen Lehrstuhl, den
August Gottfried Schweitzer über¬
nahm. Die Bedeutung der landwirt¬
schaftlichen Abteilung in Tharandt
nahm stetig zu. 1847 begründete
Julius Adolph Stöckhardt einen
Lehrstuhl für Agrikulturchemie.
Kleinere Ausbildungseinrichtungen
gab es in Schullwitz und - von
Heinrich August Blochmann
gegründet - in Wachau. Größere
Bedeutung erlangte die landwirt¬
schaftliche Abteilung an der Gewer¬
beschule Chemnitz ab 1850 unter
Ernst Theodor Stöckhardt.
347
lieh des Maiaufstandes 1849 brachte
jener Stöckhardt in Schwierigkeiten.
Boetticher war zum Barrikadenbau
nach Dresden gereist, zwar rechtzeitig
zurückgekehrt, doch auch Stöckhardt
wurden jetzt Sympathien für die Re¬
volution unterstellt.
Stöckhardt war zuerst Sekretär und
später Vorsitzender des 1844 gegrün¬
deten Klixer landwirtschaftlichen
Vereins, der sich neben praktischen
Fragen der Landwirtschaft auch der
Ausbildung sowie dem Obstbau und
der Teichwirtschaft widmete, und
er beteiligte sich am „Land- und
forstwirthschaftlichen Wochenblatt
des sächsischen Markgrafthums
Oberlausitz“. Im landwirtschaftlichen
Kreisverein Bautzen wirkte er als
Stellvertreter von Paul Hermann. Zu
Stöckhardts Bekanntenkreis während
der Brösaer Zeit zählten der Bautze-
ner Organist Carl Eduard Hering und
Pfarrer Karl Traugott Kanig aus
dem benachbarten Klix.
Stöckhardts Leistungen machten ihn
schnell auch außerhalb der Oberlau¬
sitz bekannt. 1849 gehörte er einer
Kommission zur Erörterung der
Grundsteuerverhältnisse im Erzgebir¬
ge an. Dabei wurde Julius Ambrosius
Hülße auf ihn aufmerksam, seinerzeit
Direktor der Königlichen Gewer¬
beschule in Chemnitz, später des
Polytechnikums in Dresden. Im Jahr
darauf erhielt Stöckhardt auf Hülßes
Empfehlung, der ihn zusammen mit
Albert Christian Weinlig vom Innen¬
ministerium in Brösa besucht hatte,
die Berufung zum Professor und zum
Aufbau einer landwirtschaftlichen
Abteilung an der Gewerbeschule
in Chemnitz. Er folgte hier seinem
Cousin Julius Adolph Stöckhardt
(4. Grades, aus dem Lauterbacher
Zweig), der in Chemnitz von 1838 bis
1847 gewirkt hatte und inzwischen
an der Forstakademie Tharandt die
Agrikulturchemie zu hoher Blüte
führte. Jener gehörte über viele Jahre
zu den wichtigsten fachlichen Bezugs¬
personen von Ernst Theodor Stöck¬
hardt, mit dem auch enge familiäre
Beziehungen gepflegt wurden. Beide
zählten in den Folgejahren zu den
Schrittmachern des landwirtschaftli¬
chen Versuchswesens in Deutschland,
dessen Ziel in der Vermeidung von
Hungerkrisen wie 1847/48 durch
Steigerung der landwirtschaftlichen
Produktion bestand. Der Brösaer
Wolff wurde 1852 zum Gründungsdi¬
rektor der ersten landwirtschaftlichen
Versuchsstation Deutschlands in
Leipzig-Möckern bestellt, die Julius
Adolph Stöckhardt initiiert hatte.
Ernst Theodor Stöckhardt war ein
Wegbereiter der Landwirtschaftsaus¬
bildung in der Oberlausitz und ganz
Sachsen. In Chemnitz entstanden
wichtige Schriften, so „Bemerkungen
über das landwirtschaftliche Unter¬
richtswesen“ (1851), das „Lehrbuch
über Drainage“ (1852) und wenig
später das gemeinsam mit Julius
Adolph Stöckhardt überarbeitete
Standardbuch „Der angehende Pach-
348
>3$ «Tsflin MS
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Sa 1b SitifiUg.
Stöckhardts Credo, vom Titelblatt seines Lehrbuchs über Drainage.
ter“. Der landwirtschaftliche Kreisver¬
ein im Erzgebirge unter Stöckhardts
Leitung gründete 1853 zusammen
mit der Chemnitzer Gewerbeschule
eine der ersten landwirtschaftlichen
Versuchsstationen Deutschlands. Als
deren Leiter erhielt Stöckhardt die
Möglichkeit, die Ausbildung der Stu¬
denten mit praktischen Versuchen zu
verbinden. Wie sein Vorbild Albrecht
Daniel Thaer gab Stöckhardt einer
praxisorientierten, wissenschaftlich
fundierten Ausbildung den Vorrang
gegenüber der reinen Grundlagen¬
vermittlung. Seiner Ausstrahlung als
Lehrer war es zu verdanken, dass die
Studentenschaft der landwirtschaft¬
lichen Abteilung bei einem Anstieg
von 4 auf 60 Schüler auf fast ein
Drittel der gesamten Gewerbeschule
anwuchs. Auf Reisen nach Großbri¬
tannien, Belgien, Frankreich, in die
Niederlande, Schweiz und nach Ös¬
terreich konnte er sich weiterbilden.
1855 nahm er an der Weltausstellung
in Paris teil.
Von 1855 bis 1866 war Stöckhardt
Herausgeber und leitender Redakteur
der „Zeitschrift für deutsche Land-
wirthe“ in der Nachfolge von Julius
Adolph Stöckhardt. Beide gehörten
dem Landeskulturrat Sachsens als
ordentliche Mitglieder an. 1858
gründeten die Stöckhardts u. a. mit
Paul Hermann und Julius Leh¬
mann aus Weidlitz die Zeitschrift
„Die Landwirtschaftlichen Versuchs-
Stationen“, die sich der Verbindung
von landwirtschaftlicher Praxis und
naturwissenschaftlichen Grundlagen
verschrieben hatte.
349
Stöckhardt wurde 1861 an die
Universität Jena als Direktor des
landwirtschaftlichen Lehrinstituts
berufen. Sein Vorgänger, Friedrich
Gottlob Schulze, hatte hier 1826 das
erste universitäre landwirtschaftliche
Institut in Deutschland gegründet.
Diese Lehrtradition fortsetzen zu
dürfen, war für Stöckhardt eine große
Auszeichnung. In Chemnitz hinter-
ließ er eine spürbare Lücke. Nahezu
parallel zu seinem Wechsel nach Jena
kam von dort Friedrich Nobbe als
Lehrer nach Chemnitz. Er entwickelte
sich später in Tharandt, wo ihn Julius
Adolph Stöckhardt förderte, zu einem
international bedeutenden Samen-
kundler. Ernst Theodor Stöckhardt
gründete 1862 in Jena eine landwirt¬
schaftliche Versuchsstation, die er bis
1872 leitete. Gleichzeitig war er Di¬
rektor der Ackerbauschule Zwätzen,
die unter seiner Leitung verstaatlicht
wurde, Vorstand des landwirtschaft¬
lichen Vereins und der Wander¬
versammlung Thüringer Landwirte
sowie von 1863 bis 1872 Herausgeber
der „Landwirtschaftlichen Zeitung für
Thüringen“.
1862 wurde Stöckhardt in die Deut¬
sche Akademie der Naturforscher
Leopoldina aufgenommen. Deren
Sitz wechselte im selben Jahr von Jena
nach Dresden, nachdem Carl Gustav
Carus die Nachfolge von Dietrich
Georg von Kieser als Präsident ange¬
treten hatte. Ernst Theodor und Julius
Adolph Stöckhardt gehörten zudem
der Gesellschaft Deutscher Natur¬
forscher und Ärzte an. Stöckhardt
leistete in Jena Bahnbrechendes. Die
mit ihm eingeführte Personalunion
vom Direktor der Lehranstalt und
Leiter der Versuchsstation erwies sich
als Erfolgsmodell, denn sie verbesser¬
te die materiellen Möglichkeiten der
Studentenausbildung. Der Lehrplan
wurde stetig erweitert und umfasste
auch naturwissenschaftliche Grund¬
lagen. Stöckhardt gewann solche
bekannten Wissenschaftler wie Karl
Snell und Ernst Abbe für die Lehre.
Eine Zusammenarbeit gab es zudem
mit Ernst Haeckel, für dessen Theorie
von der Vererbbarkeit erworbener
Eigenschaften Stöckhardt Indizien
lieferte. Im Nachfolgestreit um die
Leopoldina-Präsidentschaft nach Ca¬
rus“ Tod 1869 stellten sich die Jenaer
hinter Wilhelm Friedrich Georg Behn
und gegen Ludwig Reichenbach.
Die zunächst steigenden Studenten¬
zahlen in Jena ebneten den Weg für
weitere universitäre Landwirtschafts¬
institute, z. B. von 1869 bis 1872 in
Leipzig, Gießen und Göttingen - die
deutsche Agrarwissenschaft und mit
ihr die landwirtschaftliche Produk¬
tion erlebten einen großen Auf¬
schwung. Dank Stöckhardt war die
Landwirtschaftswissenschaft inzwi¬
schen eine gleichberechtigte Disziplin
in Jena. Kriegsbedingt und mit der
wachsenden Konkurrenz, z. B. durch
Julius Kühn in Halle, sanken die Stu¬
dentenzahlen in Jena aber wieder.
350
1872 ernannte das Weimarer Staats¬
ministerium Stöckhardt zum Refe¬
renten und Vortragenden Rat für
Landwirtschaft und Gewerbe und
gleichzeitig zum Finanzkommissar
der Universität Jena. In diesen Funkti¬
onen initiierte er die Gründung einer
Gewerbekammer für das Großher¬
zogtum Sachsen. Ab 1872 gehörte
Stöckhardt zudem als Gründungs¬
mitglied dem deutschen Landwirt¬
schaftsrat an. Er war maßgeblich an
der Vorbereitung von internationalen
und nationalen landwirtschaftlichen
Ausstellungen beteiligt, beispiels¬
weise anlässlich der Weltausstellung
in Wien 1873, bei der Stöckhardts
Neffe Reinhold, der älteste Sohn von
Robert Stöckhardt, die Präsenta¬
tion des Deutschen Reiches leitete.
Stöckhardts Verdienste wurden mit
der Ernennung zum Großherzoglich
Sächsischen Geheimen Regierungsrat
und von der Universität Jena mit dem
Ehrendoktortitel gewürdigt.
In Weimar wohnte die Nichte Marie
von Boetticher, die spätere Ehefrau
des Weimarer Oberbürgermeisters
Karl Pabst, zeitweise bei den Stö¬
ckhardts. Die ebenfalls in Weimar
wohnende Nichte Clara, eine Tochter
von Robert Stöckhardt und Malerin,
besuchte Onkel und Tante häufig.
Die Lehrjahre in der Landwirtschaft
der Oberlausitz hatten Stöckhardt
nachhaltig geprägt. Er erkannte die
große Bedeutung einer systemati¬
schen Ausbildung von Landwirten für
Die Bautzener Freimaurerloge „Zur
goldnen Mauer“ wurde 1802 von
Ludwig Gedike gegründet. Von
1816 bis zu seinem Tod 1830 leitete
sie Stöckhardts Vater, Gerhard
Heinrich Jacobjan Stöckhardt,
als Meister vom Stuhl. Mitglieder
waren auch Karl Gottfried Sie-
belis, Gottlob Adolf Ernst von
Nostitz und Jänkendorf und
Robert Stöckhardt. Ernst Theo¬
dor Stöckhardt wurde 1838 in die
Loge im I. Rang aufgenommen und
stieg 1840 bzw. 1842 in den II. bzw.
III. Rang. Von 1889 bis 1897 leitete
er sie als Meister vom Stuhl.
In Chemnitz besuchte Stöckhardt
die Freimaurer-Loge „Harmonie“.
Auch während seiner Zeit in Thürin¬
gen engagierte sich Stöckhardt bei
den Freimaurern. So leitete er das
„ Maurer kr änzchen“ der Weimarer
Loge „Amalia“.
351
die Hebung des Wohlstands der Men¬
schen. Die Tätigkeit als Landwirt¬
schaftslehrer wurde zu seiner Passion.
Die Verbindung von Ausbildung und
Praxis war ihm wichtiger als eigener
wissenschaftlicher Ruhm. Stöckhardt
vergaß dabei nie seine Wurzeln. Die
Oberlausitzische Gesellschaft der
Wissenschaften zu Görlitz berief
ihn 1862 zum korrespondierenden
Mitglied. Nachdem er 1888 in den
Ruhestand getreten war, kehrte Stö¬
ckhardt nach Bautzen zurück, um in
seiner Geburtsstadt den Lebensabend
zu verbringen. Er war weiterhin sehr
aktiv und führte historische For¬
schungen zur Freimaurerei und zur
Oberlausitzer Adelsfamilie von Dam-
nitz durch, in einer Übersicht stellte
er die aus der Lausitz und Schlesien
stammenden Wissenschaftler in der
Leopoldina zusammen.
Ab 1889 leitete Stöckhardt die Baut-
zener Freimaurerloge „Zur goldnen
Mauer“ als Meister vom Stuhl. In der
National-Mutterloge „Zu den drei
Weltkugeln“ war er ebenso Ehren¬
mitglied wie bei „ Amalia“ in Weimar,
„Carl zu den 3 Adlern“ in Erfurt,
„Carl August zu den 3 Rosen“ in Jena,
„Friedrich August zu den 3 Zirkeln“
in Zittau, „Zur gekrönten Schlange“
in Görlitz, „Zum goldenen Apfel“ in
Dresden, „Apollo“ in Leipzig, „Bru¬
derkette zu den drei Schwanen“ in
Zwickau, „Zur Harmonie“ in Chem¬
nitz, „Zu den ehernen Säulen“ in
Dresden und „Isis“ in Lauban. 1891
gehörte er zu den Gründungsmitglie¬
dern der Comenius-Gesellschaft zur
Pflege von Wissenschaft und Volks¬
bildung.
Stöckhardt wohnte in Bautzen zuletzt
Albertstraße 8 (heutige August-Bebel-
Straße). Er wurde in der Familien¬
gruft in Jena bestattet.
Quellen: „Stammtafel der Familie Stoeck-
hardt, Putzkauer und Lauterbacher Zweig, den
Verwandten zu Lieb zusammengestellt und
mit Erläuterungen auf Grund handschriftli¬
cher Mittheilungen und sonstiger Quellen-
Nachweise versehen von Prof. Dr. Ernst
Theodor Stoeckhardt“. Wagner Weimar, 1883;
Walter Boetticher: „Ernst Theodor Stoeck¬
hardt“. Leopoldina, H. 34, 1898, S. 88-91;
Theophil Gerber: „Persönlichkeiten aus Land-
und Forstwirtschaft, Gartenbau und Veteri¬
närmedizin“. Bd. 2, NORA Dyck & Westerhei¬
de, 2004, S. 753; Neues lausitzisches Magazin,
Bd. 40, 1863; Gustav Adolf Poenicke: „Album
der Rittergüter und Schlösser im Königrei¬
che Sachsen“. Bd. 3, 1859; Stephan Luther:
„Von der Kgl. Gewerbschule zur Technischen
Universität“. Chemnitz, 2003; Joachim Har¬
tung, Andreas Wipf: „Die Ehrendoktoren der
Friedrich-Schiller-Universität in den Berei¬
chen Naturwissenschaften und Medizin“, hain
Verlag, 2004; Wieland Berg, Michael Kaasch:
„Halle als Sitz der Leopoldina. Zufall oder
glückliche Fügung?“ Leopoldina, H. 5, 2010, S.
293-330; Ernst Haeckel: „Generelle Morpho¬
logie der Organismen“. Reimer, 1866; Karin
Stöckhardt; Sanct Johannis Freimaurer-Loge
zur goldnen Mauer, Mitgliederverzeichnisse
1808, 1819, 1840/42, 1852/53; Schöne: „Die
Sächsische Landwirtschaft“. 1925; Nekrologe
Comenius-Gesellschaft und Freimaurer-Zei¬
tung; Cornelius Gurlitt: „Schwepnitz“. In: Be¬
schreibende Darstellung der älteren Bau- und
Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen. 35.
Heft: Amtshauptmannschaft Kamenz (Land).
C. C. Meinhold, Dresden 1912; Olaf Bastian
u. a.: „Oberlausitzer Heide- und Teichland¬
schaft“. Böhlau, 2005, S. 75
352
Ahnentafel Ernst Theodor Stöckhardt
Emst Theodor
Stöckhardt
•4 1 1816
♦ 27.3 1898
Gerhard
f Catharlna \
van Stoeckhardt
Eurlonls
* 1563
* 1582?
+ 02.09.1651
v ♦ J
Ernst Stöckhardt hat sich um die Erinnerung an seine Familie mit einer
kommentierten Stammtafel verdient gemacht.
353
Porträt Thormeyers, gezeichnet von Carl Christian Vogel von Vogelstein am
25. Juni 1813 in Rom, das später mit Vogelsteins Sammlung in den Besitz
des Kupferstichkabinetts Dresden überging.
Thormeyer, Gottlob Friedrich
Hofbaumeister in Dresden
23.10.1775 Dresden - 11.02.1842 Dresden
V: Gottlob Friedrich (1753- 7.12.1833), Schuhmachermeister und Handelsmann; M: Christiane
Regina geb. Starcke (April 1745-20.11.1814), Tochter des Modelleurs an der Meißner Porzellan-
Manufaktur Johann Samuel Starcke; G: Christiana Dorothea (*29.3.1774), Friedrich August
(22.5.1777- 6.5.1831, Schuhmachermeister), Carl Gottlob (*12.11.1778), Johanna Carolina
(*5.9.1780), Maximilian Ludwig (*3.6.1783, Schuhmacher), Juliana Eleonora (*9.11.1785); E:
22.7.1801 Tharandt, Juliane Sophie geb. Hübler (13.5.1780-18.8.1810), Tochter des kurfürstli¬
chen Hofgärtners in Übigau und im Dresdner Großen Garten Johann Gottfried Hübler (1795
Landschaftsgarten Kloster Altzella); K: Emilie (6.5.1802-27.4.1849), verheiratet mit dem Diakon
und Katecheten an der Kreuzkirche Adam Carl Georg Wagner, Juliane Adelheid (12.6.1804-
14.5.1817); Enkel: 3 Mädchen, 2 Jungen
Thormeyer lernte schon als 10-Jäh-
riger an der Dresdner Kunstakade¬
mie. Zunächst wurde er an der darin
integrierten Akademie für Malerei,
Bildhauerei und Kupferstecherei von
den Unterlehrern Christian Gott¬
lieb Mietzsch und Christian Gottlob
Fechhelm im Zeichnen unterrichtet.
Bei ihnen kopierte er nach Origina¬
len von Giovanni Battista Casanova,
Co-Direktor neben Johann Eleazar
Zeissig. Später wechselte Thormeyer
zur parallelen Akademie für Baukunst
zu Friedrich August Krubsacius. Von
1791 bis 1795 prägte ihn hier Gott¬
lob August Hölzer im Sinne eines
barocken Klassizismus. Zeichnen,
Perspektive, Risse und Säulenordnung
unterrichtete Johann Alexander Da¬
vid Friedrich. Hölzer und Krubsacius
waren maßgeblich am Wiederaufbau
der 1792 geweihten Kreuzkirche, zu
deren Gemeinde die Familie Thor¬
meyer gehörte, in einem Gemisch
von Spätbarock und Klassizismus
beteiligt.
Nach dem Studium ließ sich Thor¬
meyer als Architekt in Dresden nie¬
der, bekannt wurde er aber zunächst
durch seine Architekturzeichnungen.
Er schuf Ansichten vom Dom Meißen
(1794), von Leipzig und vom Schloss
Pillnitz (1801), die von Christian
August Günther gestochen bzw. von
Francois Aubertin radiert wurden.
1799 unternahm er eine Studien¬
wanderung durch Sachsen, Sachsen/
Anhalt und Thüringen. Es entstanden
Aquarelle und Deckfarbenbilder von
den Parks in Wörlitz, Weimar und
Dieskau. Thormeyer beteiligte sich
am „Ideenmagazin für Liebhaber von
Gärten, Englischen Anlagen und für
Besitzer von Landgütern“ des Leip¬
ziger Philosophieprofessors Johann
Gottfried Grohmann, das von 1796
bis 1806 erschien. 1808 war er mit
11 Zeichnungen, die u. a . Christian
Gottlob Hammer gestochen hatte,
in dem Buch „Dresden mit seinen
Prachtgebäuden und schönsten Um¬
gebungen“ vertreten.
355
Der Canaletto-Blick auf Dresden:
Die berühmte Stadtansicht nach
Bernardo Bellotto (1748) in einem
Stich von Christian Gottlob Ham¬
mer nach einer Zeichnung von Gott¬
lob Friedrich Thormeyer (um 1818).
1800 holte der neuberufene Ober¬
landbaumeister Johann Gottlob
Hauptmann Thormeyer als Konduk¬
teur ins Hofbauamt, wo er zunächst
für Vermessungs- und Zeichenarbei¬
ten zuständig war. Größere Bauauf¬
träge blieben wegen der unsicheren
politischen und wirtschaftlichen Lage
aus. Zu Thormeyers frühen Arbeiten
als Architekt zählte 1800 der Um¬
bau des Herrenhauses vom Ritter¬
gut Helfenberg, für Tharandt und
Radeberg entwarf er Badhäuser, in
Kleindrebnitz 1811 ein Anwesen für
den Kammergutsverwalter Johann
Gottfried Nake und 1812 plante
er den Umbau der Meißner Fürsten¬
schule St. Afra. Auf einigen Baustel¬
len beschäftigte Thormeyer den aus
armen Verhältnissen stammenden
Wilhelm Gotthelf Lohrmann, später
Gründungsvorsteher der heutigen
TU Dresden, als Hilfsarbeiter. Auch
Johann Andreas Schubert, später
Konstrukteur der „Saxonia“, vermit¬
telte er eine Anstellung.
Von 1801 bis 1830 war Thormeyer
Freimaurer, möglicherweise beein¬
flusst von seinem Oberlandbaumeis¬
ter Johann Gottlob Hauptmann. Für
Ignaz Aurelius Fesslers „sämmtliche
Schriften über Freymaurerey“ von
1807 zeichnete er einen „magischen
Teppich“. Thormeyer gehörte der
Loge „Zum goldenen Apfel“ an, in der
Loge „Zu den drei Schwertern und
Asträa zur grünenden Raute“ war er
Ehrenmitglied. Ein führendes Mit¬
glied der Apfelloge war Karl August
Böttiger, Gottlob Adolf Ernst
von Nostitz und Jänkendorf war
Ehrenmitglied. Der befreundete Bild¬
hauer Franz Pettrich, ein langjähriger
Kollege Thormeyers im Hofbauamt,
gehörte ebenfalls der Apfelloge an.
Sachsen war seinerzeit mit Napoleon
verbündet. Die Dekorationen und Eh¬
renbauten zu dessen Besuch in Dres¬
den im Mai 1812 entwarf Thormeyer
zusammen mit Oberlandbaumeister
Johann Gottlob Hauptmann. Im
selben Jahr erhielt er in der Nachfol¬
ge seines ehemaligen Lehrers Hölzer
den Rang eines Hofbaumeisters im
Hofbauamt. Daraufhin bildete er sich
auf einer Reise über Süddeutschland
und die Schweiz bis nach Italien im
Architekturzeichnen weiter, wodurch
er auch den Kriegswirren in Dresden
entfloh, die schließlich in der Nieder¬
lage Napoleons und seiner Verbünde-
356
Die Freitreppe zur Brühlschen Terrasse von Thormeyer ist heute ein vielge¬
nutzter Aufgang zum „Balkon Europas“. Mit ihrer Hilfe wurde der ehemali¬
ge Brühlsche Garten der Öffentlichkeit zugänglich. Seit 1791 war hier in der
Brühlschen Bibliothek die Kunstakademie ansässig, wo Thormeyer zu jener
Zeit Architektur studierte. Im Gartenpavillon gegenüber wurde 1828 unter
Thormeyers früherem Mitarbeiter Wilhelm Gotthelf Lohrmann die heuti¬
ge TU Dresden gegründet. Der Figurenschmuck der Treppe stammt vom
Ernst RiETSCHEL-Schüler Johannes Schilling.
ten in der Völkerschlacht zu Leipzig
sowie in der Gefangenschaft des
sächsischen Königs Friedrich August
I. („der Gerechte“) in Preußen mün¬
deten. Sachsen stand danach unter
einem russisch-preußischen „Gene¬
ralgouvernement der Hohen Verbün¬
deten Mächte“. Nach seiner Rückkehr
nach Dresden erhielt Thormeyer 1814
vom russischen Gouverneur Nikolai
Grigorjewitsch Repnin-Wolkonski,
einem Freimaurer, Aufträge für Tor¬
häuser am Großen Garten und für die
Freitreppe zur Brühlschen Terrasse,
die Repnin der Allgemeinheit zu¬
gänglich machen wollte. Das Ober¬
militärbauamt, dem Thormeyer jetzt
angehörte, stand unter der Leitung
von Johann August Le Coq. Repnins
Berater war Johann Gottfried Körner,
Meister vom Stuhl der Freimaurerloge
„Zu den drei Schwertern“. Ebenfalls
1814 entwarf Thormeyer die Denk¬
male für die Helden der Freiheits¬
kriege Theodor Körner in Wöbbelin
(im Auftrag des befreundeten Vaters)
und Jean-Victor Moreau (im Auftrag
Repnins, zusammen mit dem Bild-
357
Blick auf Dresden von Thormeyers
Moreau-Denkmal auf der Räcknitz¬
höhe.
hauer Christian Gottlieb Kühn) auf
der Dresdner Räcknitzhöhe. Wegen
der vielen Toten während des Kriegs
von 1813 wurde in Dresden ein neuer
Friedhof benötigt. Thormeyer erhielt
den Auftrag, die später Trinitatis¬
friedhofbenannte Begräbnisstätte am
damaligen Stadtrand zu projektieren,
die er schließlich - aus Kostengrün¬
den einfacher gestaltet - bis 1816
fertigstellte.
Die beiden Torhäuser am Großen
Garten wurden 1945 bei den
Bombenangriffen auf Dresden zer¬
stört und 1999 nach Thormeyers
Entwürfen wiederaufgebaut.
1815 veröffentlichte Thormeyer den
„Vorschlag zu einem Denkmahle der
Wiederkehr Sr. Majestät des Königs
von Sachsen etc. Friedrich August
nach Dresden am 7. Juni 1815, nebst
zwey Abbildungen in Steindruck“.
Pläne für ein monumentales Denkmal
in Form eines Sandsteinobelisken
anlässlich des 50-jährigen Thron¬
jubiläums im Jahre 1818 lehnte der
Monarch selbst ab. Nach dem Tod
des beliebten Königs gründete sich
ein Denkmalverein um Thormeyer,
Karl August Böttiger und Johann
Gottlob von Quandt. Thormeyer
gehörte später dem Komitee an, das
Ernst Rietschel den Zuschlag für
ein Skulpturdenkmal gab, der damit
seinen ersten großen Auftrag erhielt.
Rietschel realisierte den Auftrag bis
1835 für den Zwinger, der Sockel
stammte von Gottfried Semper. Seit
2008 steht das von Thormeyer ma߬
geblich geförderte Denkmal auf dem
Schloßplatz nahe seiner Freitreppe
zur Brühlschen Terrasse.
König Friedrich August I. beauftragte
Thormeyer 1815, das zwei Jahre zuvor
abgebrannte Bischofswerda wieder¬
aufzubauen. Gemeinsam mit Bürger¬
meister Heinrich Gottlob Süßemilch,
jener trat 1816 der Freimaurerloge
„Zum goldenen Apfel“ bei, plante er
öffentliche Gebäude und zahlreiche
Bürgerhäuser. Zu den wichtigsten
Bauten nach seinen Entwürfen zählen
die Christuskirche, das Rathaus,
der „Bischofssitz“ und das Gasthaus
„Zum Goldenen Löwen“. Auch das
358
Das Rathaus von Bischofswerda um 1900. Thormeyer hat das Antlitz der
Stadt mit ihrem klassizistischen Markt nachhaltig geprägt. Laut der Disser¬
tation von Gero Schilde (1922) und nach einer unveröffentlichten Chronik
von Johannes Weber (1977) würdigte die Kirchgemeinde die Verdienste
Thormeyers 1818 mit dem Bürgerrecht.
Hofkapellmeister Francesco Mor-
lacchi nach einer Zeichnung von
Gottlob Friedrich Thormeyer. In
der historischen Literatur wird für
Morlacchi wie für Thormeyer im
Zusammenhang mit der Einweihung
der damaligen Marienkirche eine
Ehrenbürgerschaft in Bischofswerda
zitiert, die im dortigen Stadtarchiv
aber nicht nachgewiesen ist. Vgl.:
„Conversations-Lexicon der neues¬
ten Zeit und Literatur“, M bis R, Bd.
3, Brockhaus, 1833, S. 173; ebenso
bei Fischer & Fuchs 1837, F. H. Köh¬
ler 1840 und 1841 sowie V. Bartelli
Perugia 1860.
359
Zur Weihe am 30. Oktober 1818 der seit 1816 nach Thormeyers Plänen
errichteten Marienkirche (heutige Christuskirche) in Bischofswerda er¬
klang Musik von Hofkapellmeister Francesco Morlacchi. Nach Thormeyers
Entwürfen wurden auch der Taufstein und der Kronleuchter gefertigt.
360
1818 zu Ehren des Königs aufgestellte
Denkmal soll nach einer unveröffent¬
lichten Chronik von Johannes Weber
von ihm entworfen sein.
Heinrich Conrad Wilhelm Calberla
gründete neben dem Italienischen
Dörfchen elbwärts vom Zwinger die
erste sächsische Zuckersiederei. Der
Bau von Thormeyer (1817/20) war
eines der ersten Industriegebäude
Dresdens. Von Beginn an hatte
die Freimaurerloge „Zu den drei
Schwertern“ einen Flügel angemie¬
tet, später war die Loge „Asträa zur
grünenden Raute“ ebenfalls hier an¬
sässig. Thormeyer war wie Gottlob
Adolf Ernst von Nostitz und
Jänkendorf Ehrenmitglied der
Loge „Asträa zur grünenden Raute“,
mit dem Logenmitglied Friedrich
Anton Serre war er befreundet.
Nach Calberlas Tod 1836 wurde die
Fabrik aufgegeben, die Freimau¬
rer bauten sich zusammen mit der
Apfelloge ein eigenes Logengebäude
und die ehemalige Zuckersiederei
diente nach einem Umbau ab 1853
als erstes „Hotel Bellevue“.
Ab April 1817 wurden die Rückbau¬
arbeiten an der ehemaligen Dresdner
Stadtbefestigung unter einer von
Thormeyer geleiteten „Demolitions-
kommission“ fortgesetzt. Die Pläne
dafür reichten bis in das vorange¬
gangene Jahrhundert zurück. Erste
Arbeiten ab 1809 unter dem 1813
verstorbenen Johann Gottlob Haupt¬
mann, an denen Thormeyer als des¬
sen Mitarbeiter im Hofbauamt sicher
schon beteiligt gewesen war, zielten
darauf ab, Verkehrsbehinderungen
als Hemmnis der wirtschaftlichen
Entwicklung zu beseitigen. Außerdem
sah Napoleon, auf dessen Befehl dies
erfolgte, damals keinen Sinn mehr
in der Dresdner Stadtfestung. Schon
1812 wurden die Arbeiten wegen der
Von 1822 bis 1824 wurde im Westen
der Altstadt nach Plänen von Thor¬
meyer der Antonsplatz im Bie¬
dermeier-Stil als Handelszentrum
angelegt. Er hieß zunächst „Demo¬
litionsplatz“ und wurde 1828 nach
dem regierenden König Anton dem
Gütigen benannt. 1846 errichtete
hier die Polytechnische Schule, die
heutige TU Dresden, einen Neubau
(Zeichnung: Thormeyer, 1826).
361
Von 1822 bis 1824 baute Thormeyer den Turm der Annenkirche.
veränderten militärischen Situation
aber für fünf Jahre wieder eingestellt.
Thormeyers Pläne reichten weit über
eine bloße Entfestigung hinaus. Trotz
knapper Finanzmittel und schwieri¬
ger Eigentumsverhältnisse konnte er
sein gesamtheitliches Konzept für die
Neugestaltung Dresdens weitgehend
realisieren. Für die Integration von
Innenstadt und Vorstädten wurden
neue Straßen und Plätze benötigt.
Eine Ringstraße sollte in der Altstadt
den Pirnaischen Platz mit dem An¬
tonsplatz verbinden, die ebenso neu
angelegt wurden. Von den Garten¬
anlagen am Zwinger, die Thormeyer
362
zusammen mit Hofgärtner Carl
Adolf Terscheck gestaltete, über die
Brühlsche Terrasse bis zu dem neuen
Botanischen Garten entstand ein grü¬
ner Ring. Der sternförmig mit einem
Kranz von Radialstraßen angelegte
Albertplatz auf Neustädter Seite (frü¬
her Bautzner Platz) gehörte zu den
schönsten Plätzen Deutschlands. Die
nahe Antonstadt (Äußere Dresdner
Neustadt) plante Thormeyer in einem
Stilgemisch aus Klassizismus und
Biedermeier. In diesen Jahren errich¬
tete er auch die „Calberlasche Zucker¬
siederei“ anstelle einer alten Elbbastei
an der Augustusbrücke und den
Turm der Annenkirche. Thormeyer
unterbreitete zudem Vorschläge, wie
die Straßen und Plätze zu bepflastern
seien, um eine langfristige Haltbar¬
keit zu gewährleisten. In den 1820er
Jahren stand Thormeyers Hofbauamt
unter der Leitung von Johann Chris¬
tian Schuricht, einem Freimaurer der
Schwerterloge. Die von 1827 bis 1829
gebauten Torhäuser am Weißen Tor
nahe dem Japanischen Palais anstelle
niedergerissener Festungsanlagen
waren Thormeyers letzte bedeutende
Arbeiten in Dresden. Um 1829/1830
war die Entfestigung abgeschlossen.
Sie stellte einen Meilenstein in der
Entwicklung Dresdens von einer
barocken Residenzstadt zu einer
modernen Metropole dar. Diese Zeit
fiel aber in eine architekturhistorisch
relativ unbedeutende Periode Dres¬
dens, weil es nach den Zerstörungen
in der Schlacht von Dresden vom 26.
und 27. August 1813 an finanziellen
Das Leipziger Tor beim Japanischen
Palais mit den beiden Wachhäusern
von Gottlob Friedrich Thormeyer
(Aquarell von Johann Carl August
Richter, um 1830). Die vorherigen
Torhäuser am Platz waren Teil der
Dresdner Befestigungsanlage und
wurden von Thormeyer durch rein
klassizistische Bauten ersetzt. Die
Ruine des südwestlichen Torhau¬
ses wurde 1969 abgebrochen, das
nordöstliche Torhaus 2014 teilweise
restauriert.
Mitteln fehlte, um repräsentative
Großaufträge zu vergeben. Trotzdem
gelang es Thormeyer, noch unter dem
Einfluss der französischen Revoluti¬
onsarchitektur, einen charakteristi¬
schen, geradlinigen Klassizismus zu
entwickeln.
Um 1830 begann die Umgestaltung
des Theaterplatzes zwischen Resi¬
denzschloss/Hofkirche, Zwinger
und dem kleinen Komödienhaus am
Italienischen Dörfchen. Thormey¬
er war fast 20 Jahre maßgeblich an
den Planungen für das Hoftheater
beteiligt gewesen, das aber schlie߬
lich von Gottfried Semper realisiert
363
wurde. 1816 hatte Thormeyer einen
ersten Entwurf zum Umbau des alten
Hoftheaters von Matthäus Daniel
Pöppelmann am Zwinger eingereicht.
Die Umbaukosten sollten bei 1150
Sitzplätzen 21154 Taler betragen. In
spätere Planungen war er als Berater
eingebunden. Es schien zunächst so,
dass seine besser an die Zwingerum¬
gebung angepasste Überarbeitung der
Entwürfe von Theodor Ottmer und
Joseph Thürmer aus dem Jahre 1829
realisiert werden würde. Der General¬
intendant des Hoftheaters, Wolf Adolf
August von Lüttichau, unterstützte
Thormeyers Pläne, die jedoch an der
Finanzierung scheiterten. Da weiter¬
hin Handlungsbedarf bestand, auch
weil das verfügbare Platzangebot im
Theater die Nachfrage nicht deckte,
wurden die Planungen 1834 wieder
aufgenommen. Thormeyer hatte nach
Schurichts Tod im Jahre 1832 noch
kurz unter Anton Ludwig Blaßmann
im Hofbauamt gearbeitet, war danach
aber zum Oberlandbaumeister ohne
Bezug auf das Hofbauamt berufen
worden. Zu den Planungen des Hof¬
theaters zog man Otto von Wolframs¬
dorf vom Hofbauamt und Carl Gott¬
hard Langhans hinzu, zudem wurden
Neubaupläne diskutiert. Langhans
legte auf der Grundlage der bisheri¬
gen Vorschläge einen neuen Entwurf
zum Umbau des Pöppelmannschen
Hoftheaters vor. Er sollte die ästhe¬
tische Leitung, Thormeyer die öko¬
nomische übernehmen. 1835 erhielt
Thormeyer den Auftrag für konkrete
Pläne und er fertigte Stiche an. Mit
der Thronbesteigung durch Friedrich
August II. im Jahre 1836 änderte sich
die Situation. Auf Empfehlung von
Karl Friedrich Schinkel ließ man die
Umbauplanungen zugunsten eines
kompletten Neubaus ab 1838, des ers¬
ten Semperschen Hoftheaters, fallen.
Zudem hatte Semper ein ganzheitli¬
ches Konzept entwickelt, bestehend
aus Hoftheater, dem Denkmal für
Friedrich August I. und der Ergän¬
zung des Zwingers mit einer Gemäl¬
degalerie. Der Historismus löste den
Klassizismus ab. 1839 wurde Thor¬
meyer mit Ernst Rietschel in eine
Kommission berufen, die verschiede¬
ne Standorte für die zuvor im Stallhof
untergebrachte Gemäldegalerie prü¬
fen sollte. Den Auftrag erhielt später
wiederum Semper; Rietschel hatte
für eine Nutzung der von Thormeyer
erbauten Zuckersiederei, für die von
den Erben Calberlas nach einer neuen
Nutzung gesucht wurde, plädiert. Der
Dresdner Kunstverein organisierte
hier Ausstellungen.
Der Schwiegersohn eines sächsischen
Hofgärtners gehörte 1828 zu den
Begründern der „FLORA - Sächsi¬
sche Gesellschaft für Botanik und
Gartenbau“. Neben Thormeyer und
dem Initiator Ludwig Reichenbach
zählten auch Karl August Böt-
tiger, Oberhofprediger Christoph
Friedrich Ammon, der Pädagoge Karl
Justus Blochmann, Hofmarschall
Carl Graf von Bose und Kammerherr
Georg von Carlowitz zu den Stif¬
tungsmitgliedern. Exklusivität war
364
ein Merkmal der Vereinsgründungen
im Dresden des frühen 19. Jahrhun¬
derts, und die Botanik war unter der
Regentschaft von Friedrich August
I. zu hohem Ansehen gelangt. Erst
später traten der Gesellschaft mit Carl
Adolf Terscheck und Jakob Seidel
auch Gärtner bei. Die Publikationen
der FLORA erschienen zunächst als
Beilage der „Dresdner Abendzeitung“
von Theodor Hell. Zu den prominen¬
ten Mitgliedern im Laufe der Zeit
gehörten auch Carl Gustav Carus,
Heinrich Cotta, Oscar Drude, Max
Neumeister und Bruno Steglich.
Schon 1820 hatte Reichenbach im
Zusammenwirken mit Terscheck
und mit Thormeyers Unterstützung
den Botanischen Garten in den alten
Befestigungsanlagen gegründet. Thor¬
meyer besuchte zudem literarisch und
künstlerisch geprägte Gesellschaften.
So zählte er wie Carl Gustav Carus,
Theodor Hell und Ernst Rietschel
zu den häufigen Gästen beim Major
und Mäzen Lriedrich Anton Serre.
Wie Gottlob Adolf Ernst von
Nostitz und Jänkendorf gehörte
Thormeyer zu den ersten Mitgliedern
der „Ökonomischen Gesellschaft im
Königreiche Sachsen“. Sie war Fra¬
gen der Volkswirtschaft und dabei
besonders der Landwirtschaft ge¬
widmet und stand unter der Leitung
von Kabinettsminister Detlev von
Einsiedel. 1827 war sie maßgeblich an
den Vorbereitungen zur Gründung
der Technischen Bildungsanstalt, der
heutigen TU Dresden, beteiligt. Das
Konzept erarbeitete Rudolf Sigismund
Das Schweizerhaus auf der Bastei,
von Hermann Krone 1857 foto¬
grafiert. Besonders Maler wie die
Schweizer Adrian Zingg und An¬
ton Gratf, Lehrer an der Dresdner
Kunstakademie zur Studienzeit
Thormeyers und Namensgeber der
Sächsischen Schweiz, erwarben sich
große Verdienste um deren touris¬
tische Propagierung. 1826 entstand
nach Plänen von Thormeyer das ers¬
te feste Gaststättengebäude auf der
Bastei, in dem Gäste auch übernach¬
ten konnten. Die Bastei wurde in der
Folgezeit zum Hauptausflugsziel der
Sächsischen Schweiz. Das Schwei¬
zerhaus von Thormeyer wurde 1894
bedeutend erweitert.
Blochmann. 1831 übernahm Gustav
von Flotow die Leitung der Ökono¬
mischen Gesellschaft, die Thormeyer
zu ihrem Ehrenmitglied ernannte.
365
Grab von Gottlob Friedrich Thor¬
meyer auf dem Eliasfriedhof. Foto:
Bananenfalter (Wikimedia Com¬
mons, Lizenz CCO 1.0 Universell)
Manchen Neuerungen stand Thor¬
meyer skeptisch gegenüber. Als in der
Dresdner Neustadt zwischen Schwar¬
zem und Weißem Tor die Furnierfab¬
rik „F. W. Schaft & Co.“ eine Dampf¬
kraftanlage betrieb, wurden davon
nicht nur viele Schaulustige angelockt,
sondern die Anwohner fühlten sich
durch Lärm, Rauch und Erschütte¬
rungen so belästigt, dass sie sich mit
Thormeyer als Wortführer dagegen
beschwerten. Thormeyer selbst war
wirtschaftlich erfolgreich gewesen.
Nach seinem Tode veröffentlichte der
Dresdner Anzeiger am 10. März 1842
eine Auktionsanzeige, die von einem
ansehnlichen Vermögen zeugte.
Thormeyer hatte früh seine Ehe¬
frau verloren. Sie fanden mit ihren
Töchtern in einer von Thormeyer
entworfenen Grabstätte neben dem
Grab seiner Eltern auf dem Dresdner
Eliasfriedhof die letzte Ruhe. Ihre
Enkelinnen Sophie Adelheid Wagner
verh. Salles und Charlotte Elise Wag¬
ner verh. Parrot de Puyroche lebten
als Malerinnen in Frankreich.
In Dresden erinnern eine Straße in
Zschertnitz und die Villa Thormey¬
er auf dem Gelände der ehemaligen
Neustädter Festungswerke (Oberer
Kreuzweg 8) an ihn. Die Villa war
1826 von Thormeyer für den Mu¬
sikinstrumentenmacher Ernst Philip
Rosenkranz errichtet worden und ist
eines der wenigen Zeugnisse der klas¬
sizistischen Stilepoche in Dresden.
Das Kupferstichkabinett bewahrt eine
Sammlung seiner Zeichnungen auf.
In Bischofswerda trägt eine Straße im
Gewerbegebiet unweit des „Goldenen
Löwen“ Thormeyers Namen.
Quellen: Georg Kaspar Nagler: „Neues allgemeines
Künstler-Lexicon“. Fleischmann, 1848, S. 387-388;
„Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von
der Antike bis zur Gegenwart“. Seemann, Bd. 33,
1939, S. 87-88; Paul Ehmig: „Gottlob Friedrich
Thormeyer“ Dresdner Geschichtsblätter, Nr. 1,
1896, S. 233-240; Gustav Müller: „Nachträgli¬
ches über Hofbaumeister Thormeyer“ Dresdner
Geschichtsblätter, Nr. 2,1897, S. 31-34; Ursula Pi-
etzsch: „Er baute die bekannteste Dresdner Freitrep¬
pe: vor 222 Jahren wurde Hofbaumeister Gottlob
Friedrich Thormeyer geboren“. Dresdner Amts¬
blatt, 43,1997, S. 6/8; Johannes Weber: „Aus der
Geschichte meiner Heimat“. Unveröff. Chronik von
Bischofswerda, 1977, Bd. 4, S. 22-23; Karl Wilhelm
Mittag: „Chronik der königlich sächsischen Stadt
366
„Villa Thormeyer“, zwischen Albertplatz und Albertbrücke gelegen.
Bischofswerda“. May Bischofswerda, 1861; Christi¬
ane Theiselmann: „Das Denkmal Friedrich August
I. von Sachsen von Ernst Rietschel“. Zeitschrift
für Kunstgeschichte, Bd. 53, H. 1, 1990, S. 1-24;
Arthur Weichold: „Wilhelm Gotthelf Lohrmann
1796-1840“. J.A. Barth, 1985; Rudolph Zaunick:
„Gründung und Gründer der Naturwissenschaftli¬
chen Gesellschaft ISIS vor hundert Jahren“. Sitzungs¬
berichte und Abhandlungen der naturwissenschaft¬
lichen Gesellschaft Isis, 1934, S. 9-49; Allgemeine
Literaturzeitung, Bd. 1, Nr. 50, 1809; Zeitung für die
elegante Welt, Bd.12, Janke, 1812; Andrea Dietrich:
„Zwischen Tradition und Modernität: König Johann
von Sachsen 1801-1873“. Schriften zur sächsischen
Geschichte und Volkskunde, Bd. 8, Leipziger
Universitätsverlag, 2004; Klaus Jan Philipp: „Um
1800: Architekturtheorie und Architekturkritik in
Deutschland zwischen 1790 und 1810“. Edition Axel
Menges, 1997; Max Georg Mütterlein: „Gottfried
Semper und dessen Monumentalbauten am Dresd¬
ner Theaterplatz“ Dissertation, TH Dresden, 1913;
Thomas Kantschew: „Die städtebauliche Entwick¬
lung Dresdens im 19. Jahrhundert“. FU Berlin, 1996;
www.eliasfriedhof-dresden.de; Miriam Liese: „Die
Eröffnung der Brühlschen Terrasse durch den russi¬
schen Fürst Nikolai Grigorjewitsch Repnin-Wolkon-
ski“ 2009; Bastian Wienrich: „Die Querbebauung
der Elbe am Beispiel der Stadt Dresden: Inwieweit
wirkte der ästhetische Aspekt bei der Bebauung bzw.
„Nichtbebauung“ des Dresdner Elbabschnittes“
GRIN Verlag, 2007; Günter Jäckel: „Dresden zur
Goethezeit: 1760-1815“. Dausien, 1988; Dresdner
Geschichtsverein (Hrsg.): „Dresden: die Geschichte
der Stadt von den Anfängen bis zur Gegenwart“.
Junius, 2002; Petra Listewnik, Michael Schäfer, Jörg
Ludwig: „Wirtschaft und Staat in Sachsens Indus¬
trialisierung, 1750-1930“. Bd. 3 von Beiträge zur
Wirtschaftsgeschichte, Leipziger Universitätsverlag,
2003; Friedrich Adolf Peuckert: „Die ger. und vollk.
St. Johannisloge zu den drei Schwertern und Asträa
zur grünenden Raute im Orient Dresden 1738-1882:
Ein Beitrag zur Geschichte der Freimaurerei in
Dresden und Sachsen. Nach archivalischen Quellen
bearbeitet“. Bruno Zechel, 1883; „Die Freimau¬
rerloge zum goldenen Apfel im Orient Dresden
1776-1876“. Heinrich Dresden, 1876; Adressbücher
der Stadt Dresden; Ursula Müller geh. Thormeyer,
Mitteilungen 2015; Gero Schilde: „Gottlob Friedrich
Thormeyer, ein spätklassizistischer Architekt Sach¬
sens“. Dissertation 1922
367
Gottfried Unterdörfer in Milkel. Foto: Burkhard Unterdörfer, Mitte der
1960er Jahre.
Unterdörfer, Max Gottfried Rudolf
Dichterförster in Uhyst/Spree
17.03.1921 Zschornaub. Kamenz- 09.09.1992 Uhyst
V: Otto Max (*21.9.1895 Brunndöbra, 113.8.1945 im Internierungslager Toszek/Tost, Schle¬
sien), Förster in Kamenz; M: Erna Linda geb. Franke (*5.2.1900 Bernsdorf, 18.5.1981 Lö-
bau), kaufmännische Angestellte; G: Erna Johanna Erika verh. Gebier (*20.4.1924 Kamenz,
111.3.2008 Ebersbach, kaufmännische Angestellte); E: 26.8.1950 Christa Charlotte geb. Burg¬
hardt (*9.12.1920 Kamenz, 113.2.2012 Thyrow), Tochter des Maschinenfabrikanten Friedrich
Burghardt; K: Burkhard (*17.6.1951, Oberforstrat in Ludwigsfelde, Schwiegersohn eines Studien¬
freundes von Richard Garbe)
Gottfried Unterdörfer wurde als
erstes Kind einer Försterfamilie in
Zschornau bei Kamenz geboren.
Kurz danach zog die Familie in das
neu erbaute Kamenzer Forsthaus am
Rande der Stadt nahe Wiesa. Hier
verlebte er Kindheit und Jugend. Es
war der Vater, der in seinem Sohn
mit gemeinsamen Pirschgängen das
innige Verhältnis zur Natur erweck¬
te, und es war v. a. die Mutter, die
den Kindern den tief verwurzelten
christlichen Glauben vermittelte. Von
1931 bis 1937 besuchte Unterdör¬
fer das Reform-Realgymnasium in
Kamenz. Wie seine Vorfahren über
vier Generationen entschied er sich
für eine Laufbahn als Förster. Nach
einer Lehre bei der Sächsischen Lan¬
desforstverwaltung studierte er von
September bis Dezember 1940 an der
Forstschule in Reichstadt. Schon in
dieser Zeit zeigte sich, dass Unterdör¬
fer lieber im Wald Gedichte schrieb,
als mit der Waffe auf Jagd zu gehen.
Als Infanterieoffizier an der Ostfront
lernte Unterdörfer den Krieg mit allen
seinen Schrecken kennen und wurde
mehrfach verwundet. Er kam am 9.
Mai 1945 in Bayern in amerikanische
Gefangenschaft. Nach seiner Entlas¬
sung wollte er im Februar 1946 nach
Hause zurückkehren, wurde jedoch
bereits in Erfurt durch die Rote Ar¬
mee erneut gefangen genommen und
in ein Lager bei Moskau verbracht.
Hier entstanden erste Gedichte, die
bezeugen, wie sehr er sich nach seiner
Lausitzer Heimat sehnte. Erst am 19.
Dezember 1949 konnte er schließlich
heimkehren, durch Krieg und Gefan¬
genschaft gesundheitlich gezeichnet.
Mit der in Gefangenschaft geschriebe¬
nen „Kriegssonette“ hatte Unterdörfer
später seinen ersten großen Erfolg
als Dichter. Aus diesen Jahren des
Schreckens wuchs jene tiefempfunde¬
ne Sehnsucht nach Frieden, die viele
seiner späteren Werke auszeichnete.
1950 zog Unterdörfer mit seiner Frau
nach Uhyst/Spree, wo er eine Stelle
als Revierförster antrat. 1955 konn¬
ten sie das neue Forsthaus beziehen.
Es lag einsam zwischen Mönau und
369
hautnah, als allein in seinem Revier
ca. 1/3 des Waldes verloren ging. Sein
Engagement für den Naturschutz
wurde zur Hoffnung für viele Gleich¬
gesinnte, brachte Unterdörfer in der
DDR aber wiederholt in Konflikt mit
dem Staat. Er unterstützte die kirchli¬
che Umweltarbeit, und der Kummer
über die angerichtete Naturzerstörung
und den Heimatverlust für viele
Menschen kommt in mehreren seiner
Werke zum Ausdruck. Auch wenn
die ökonomischen und politischen
Zwänge schier übermächtig waren,
hatte sein stetes Bemühen manchen
Erfolg. Mit Generationen von Uhyster
Allee mit alten Eichen zwischen Mö-
nau und Uhyst/Spree, nahe Unter-
dörfers ehemaligem Forsthaus.
Uhyst an einer Allee aus Eichen und
Birken und wurde für viele Jahre zum
geliebten Zuhause. Besonders die viel¬
gestaltige Vogelwelt der umhegenden
Teichlandschaft hatte es ihm angetan.
Unterdörfer zählte den bedeutenden
Ornithologen Dr. Wolfgang Makatsch
zu seinen engen Bekannten, ebenso
den Botaniker Max Militzer. Häufig
führte er Schülergruppen durchs Re¬
vier oder ging zu ihnen in die Schule.
Unterdörfer sah es als seine Mission
an, der jungen Generation die Liebe
zur Natur nahezubringen. Er erleb¬
te deren Zerstörung durch den sich
ausweitenden Braunkohlentagebau
Bergbaufolgelandschaft Bärwalder
See nahe Uhyst - nach weitgehen¬
dem Abschluss der Sanierungsar¬
beiten (oben, 2000) und natürliche
Wiederbesiedelung (unten, 2005).
370
Schülern wurden von ihm und seinen
Mitarbeiterinnen 500 Nistkästen auf¬
gehängt, mehr als 50 wilde Müllplätze
beseitigt und hunderttausende Kie¬
fernsämlinge gepflanzt. In Erinnerung
an den gemeinsamen Kampf um die
Erhaltung der Natur stellten Freunde
an eine alte gerettete Eiche im März
2000 einen Stein mit dem aus seinem
Buch „Wege und Wälder“ stammen¬
den Spruch: „Wanderer, deinen Augen
Glück.“
Frank Fiedler ist eine Exkursion
mit Bischofswerdaer Ferienschülern
durch das Uhyster Forstrevier im
Jahre 1964 mit vielen Einzelheiten in
Erinnerung geblieben. Ohne Zögern
war Unterdörfer der Bitte gefolgt, die
Exkursion zu leiten. Was die Kinder
erlebten, überstieg alle Erwartungen.
Haubentaucher trugen ihre Jungen
huckepack, Zwergrallen liefen auf den
Schwimmblättern des Laichkrautes
im Ochsenteich und Raubvögel flogen
über das Gelände. Nachts im Zeltla¬
ger erklang ein Schmatzen aus dem
Röhrichtgürtel - es waren die Karp¬
fen, die unter der Wasseroberfläche
den Bewuchs an den Schilfhalmen
ab weideten. Unterdörfer sorgte für
weitere Höhepunkte. Er holte die
12- bis 14-jährigen Schüler ab und
führte sie durch sein Revier. Keiner
hatte bis dahin etwas von Schellenten
gehört, die in Schwarzspechthöhlen
hoch in Altbuchen brüten und deren
noch nicht flugfähige Jungen aus bis
zu 15 Metern hinabspringen. Auf dem
Heimweg „umzingelten“ die Schüler
eine junge Ringelnatter, die aufgeregt
auf einzelne losschoss, aber abdreh¬
te, weil die Schüler hoch sprangen.
Schließlich sprang eines der Kinder
zur Seite - und die Ringelnatter ward
nicht mehr gesehen. Ein paar Tage
später besuchte der Förster erneut die
Gruppe und bot ihr eine „Kuhteich¬
rundfahrt“ mit einem Fischerkahn.
Zu Unterdörfers Lebzeiten erschie¬
nen 10 Bücher in zum Teil mehreren
Auflagen. Sie waren in der DDR
häufig nur schwer zu erhalten und
für innige Naturverbundenheit, die
poetische Beschreibung der Oberlau¬
sitzer Heimat und die Liebe zu deren
Menschen, aber auch für die Ver¬
mittlung christlicher Werte bekannt.
Unterdörfer bezog sich in seinem
Wirken auf die Bekennende Kirche
und Dietrich Bonhoeffer. Er wollte
stets für Andere da sein. Vielfach
basierten seine Werke auf autobiogra¬
fischen Erinnerungen: die Schrecken
des Krieges, Erlebtes und Gesehenes
im Kreis von Familie und Kirchge¬
meinde. Besonders beeindruckend
in seinem dichterischen Schaffen ist,
mit welch feiner Beobachtungsgabe
er selbst dem Unscheinbaren in der
Natur Sinn und Bedeutung verleihen
konnte. Hier wird der christliche
Hintergrund des Dichters deutlich,
für den auch scheinbar unbedeutende
Tiere und Pflanzen schön sind und
ein Lebensrecht besitzen. Unterdörfer
ging davon aus, dass der Einzelne kei¬
nen Einfluss auf das „große“ Weltge¬
schehen nehmen kann, sondern sich
371
stattdessen darum bemühen muss,
an seinem Platz das Bestmögliche zu
tun. Das Schöne im Alltäglichen zu
erkennen, ist dafür eine wesentliche
Voraussetzung, wie Unterdörfer ver¬
mitteln wollte. Mit seinen Werken hat
er vielen seiner Zeitgenossen wieder
zur Heimatorientierung verholfen.
Dazu trugen auch häufige Schriftstel¬
lerlesungen und Lesegottesdienste in
Uhyst bei. Unterdörfer, der in seinen
frühen Uhyster Jahren Pfarrer Da¬
niel Hoffmann kennen gelernt hatte,
gehörte damit zu den Begründern
einer Tradition, die auch heute noch
im „Uhyster Lesewinter“ lebt. Es war
zudem für ihn selbstverständlich, sich
für die Belange der sorbischen Mit¬
menschen einzusetzen. Das Ehepaar
Unterdörfer verband eine langjäh¬
rige Freundschaft mit der Witwe
Jutta Baudert, Schwiegertochter des
Dem Maler Hanns Georgi zeig¬
te Unterdörfer auf ausgedehnten
Erkundungsfahrten aus seiner Sicht
Malenswertes: eine Wasserfläche
weiß von blühendem Hahnenfuß
(Abb. oben), Teichrallen und Hö¬
ckerschwäne auf der Wasserfläche
(Abb. Mitte), aufgeforstete Kippen
eines Braunkohletagebau-Restlochs.
Unterdörfer war verwundert, dass
der Maler mit geübtem Blick noch
ganz andere Motive entdeckte: einen
Teichwinkel aus schwarzbraunem
Sumpf, vom angrenzenden Un¬
terholz beschattet, und die Was¬
serfläche des Braunkohletagebau-
Restlochs, spiegelnd in einer Vielfalt
von Farben. Besonders beeindruckt
hat Unterdörfer aber, wie Georgis
Bilder alles Lichtbedürftige durch¬
leuchteten, so wie die Erlen in der
Verlandungszone eines Teiches
(Abb. unten): „Stehendes Wasser
wird belebt durch die auf Rabatten
hockenden, Feuchtigkeit liebenden,
einander in die Höhe treibenden
Bäume, durch deren Rinde man das
rötliche Holz ahnt.“
372
Gedenkstein an Gottfried Unterdörfer, auf private Initiative gesucht, ange¬
fertigt und aufgestellt an der Straße zwischen Mönau und Lieske.
373
Unterdörfer schrieb am 18. April
1992 in sein Tagebuch: „Gang um
den Drehnaer Oberteich mit dem
breiten Damm, der ihn zum Sar-
kassenteich abgrenzt. Vielstämmige
mächtige Weiden umsäumen ihn“.
Bereits abgestorbene Exemplare
dienen Großvögeln, beispielsweise
Reihern, als Ruheplatz.
ehemaligen Bischofs der Herrnhuter
Brüdergemeine Walther Baudert, die
wiederholt mit zwei Schwestern im
Forsthaus Uhyst Hausmusik darbot.
Mit Armin Stolper, Chefdramaturg
des Deutschen Theaters in Berlin,
hielt Unterdörfer engen Kontakt.
Mitglied im Schriftstellerverband der
DDR war er nicht. Stattdessen fühlte
er sich Künstlern verbunden, mit de¬
nen er die Liebe zur Oberlausitz und
die christliche Weltanschauung teilte.
Dies galt besonders für Gottfried
Zawadzki, mit dem Unterdörfer seit
der Schulzeit befreundet war. Mehr¬
fach schrieb er Beiträge in Büchern
von oder über Johannes Lebek. Aber
auch Hanns Georgi, Maler in Sebnitz,
weilte off bei den Unterdörfers.
Unterdörfer war Mitglied im Re¬
daktionskollegium „die kirche“
Görlitz und im Gemeindekirchenrat
Gottfried Unterdörfer, selbst ein
aktives Mitglied der Uhyster Kir¬
chengemeinde, verfasste 1992 einen
Beitrag zur Geschichte der Kirche.
Zu den ehemaligen Pfarrern zählten
Georg Petermann (1738-1741)
und Karl Traugott Kanig
(1829-1834).
374
„Ich möchte einen Kranich sehen.“ Unterdörfer beschrieb sein Bemühen,
die beeindruckenden Vögel zu beobachten. In den Jahren 2014 und 2015
waren sie regelmäßig in der Nähe von Unterdörfers ehemaligem Forsthaus
zu sehen, teilweise nur wenige hundert Meter entfernt.
Uhyst. 50 Jahre nach Beginn seiner
Arbeit im Forst trat Unterdörfer im
Sommer 1987 in den Ruhestand. Er
war zeitlebens ein Verfechter, die
nachhaltige Entwicklung von Natur
und Landschaft nicht kurzfristigen
wirtschaftlichen Interessen zu opfern.
Dieses Vermächtnis wird heute im
UNESCO-Biosphärenreservat Ober¬
lausitzer Heide- und Teichlandschaft
bewahrt, welches sich in unmittel¬
barer Nachbarschaft zu Unterdörfers
früherem Revier befindet.
In seinem Nachlasswerk „Ich möch¬
te einen Kranich sehen“, mit einem
Titelbild von Zawadzki, wird der
Reichtum innerer Werte besonders
deutlich. Das Tagebuch seiner letzten
Monate enthält viele Begebenheiten
aus dem Alltag, erzählt mit Humor
und Weisheit. Dazwischen reflektiert
Unterdörfer Episoden aus seinem Le¬
ben, Kindheitserlebnisse, Geschehnis¬
se in der Familie und die Arbeiten an
einem Dorfbuch für Uhyst. Er beglei¬
tete die neue Zeit durchaus kritisch,
warnte aber schon damals vor einer
Verklärung der DDR-Vergangenheit
und erinnerte an deren Militarismus.
Der letzte Eintrag, einen Tag vor sei¬
nem Tod, ist charakteristisch für sein
Weltbild: Er versprach den Hornissen
in seinem Garten, sie zu beschützen.
Entsprechend seinem Wunsch wurde
Unterdörfer in Thyrow/Brandenburg
beigesetzt, wo 15 Jahre zuvor schon
sein literarisches Vorbild Heinrich
Alexander Stoll zur letzten Ruhe
gebettet worden war.
Quellen: Heinz Pacholke: „Biographie
Gottfried Unterdörfer“. Internetpublikation
und Begleittext zu einem Lichtbildervor-
375
Das Ehepaar Unterdörfer hatte ein besonderes Verhältnis zu der östlich des
Forsthauses einsam im Wald gelegenen Neuteichgruppe (Foto: 2012). Sie
nutzten Badegelegenheit und Kahnfahrtmöglichkeiten im Kahn der Teich¬
wirtschaft auch mit Sohn, Enkel oder Gästen. Hier fand Unterdörfer die
Ruhe zum Ausspannen oder zur Beobachtung bemerkenswerter Vogelarten
wie Rohrweihe, Rohrdommel, Kranich und Seeadler, aber auch Freude an
seltenen Pflanzenarten des Teichufers. Sein „Tagebuch“ weist für annähernd
ein Dreiviertel des Jahres 1992 mit 20 Einträgen auf den Neuteich hin.
Darunter befindet sich der Hinweis, dass dort die Anregung erfolgte für die
Erzählung „Die Nacht am See“ aus „Dem Holzhaus gegenüber“ (1963).
trag im Gottfried-Unterdörfer-Museum; Monika Jeschke, Stadtarchiv Kamenz, Mitteilungen
2008; Hans-Dietrich Haemmerlein: „Er war in Natur und Kirchengemeinde beheimatet, Zum
Gedenken an Gottfried Unterdörfer“, die kirche Görlitz, Nr. 43, 25.10.1992, S. 6; Jutta Baudert,
Mitteilungen, 2009; Burkhard Unterdörfer, Mitteilungen, 2011; Hans Reichelt; „Regenzeit und
Reiherruf“, die kirche Görlitz, Nr. 29 u. 42, 1984; Hans-Dietrich Haemmerlein: „Natur und Men¬
schen gaben dem dichtenden Forstmann Themen“. Sächsische Zeitung Niesky, 22.9.1992, S. 12;
Elsa Niemann: „Innige Naturverbundenheit und Liebe zu den Menschen“. Sächsische Zeitung
Sebnitz, 17./18.10.1992; Rulo Melchert: „Die Freuden wachsen im Gartengeviert“. Sächsische
Zeitung Sebnitz, 5.9.2001; Tagesspiegel: „99 Zeilen Schwerk, Von Goethes Zeitungsverzicht zum
Trostbuch eines Lausitzer Försters“. 09.02.2002; Armin Stolper: „Der gute Mensch von Uhyst: Zu
Gottfried Unterdörfers 10. Todestag am 9. September 2002“. In: Oberlausitzer Kulturschau, Bd.
8, 2002, H. 9, S. 20-21
376
Bibliografie
„Du lebst vom Du“. Gedichte, Union Verlag Berlin, 1959 und 1962
„Dem Holzhaus gegenüber“. Erzählungen, Union Verlag Berlin, 1960 und
1963
„Ich will den Bogen setzen“. Gedichte, Union Verlag Berlin, 1964
„Von Abend zu Abend“. Neun Liebesgeschichten, Union Verlag Berlin, 1965
und 1967
„Nicht die Bäume allein“. Erzählungen und Skizzen, Union Verlag Berlin,
1968 und 1971
„Regenzeit und Reiherruf“. Erzählungen und Betrachtungen, Evangelische
Verlagsanstalt Berlin, 1971
„Wildtaubenruf“. Erzählungen und Gedichte, Union Verlag Berlin, 1973
und 1976
„Jahresringe“. Geschichten unter Bäumen, Union Verlag Berlin, 1981
„Weltreise in das lange Holz“. Ausgewählte Prosa, Union Verlag Berlin, 1984
„Wege und Wälder“. Kleine Prosa, Union Verlag Berlin, 1986
„Ich möchte einen Kranich sehen“. Erzählungen, Gedichte und ein Tage¬
buch, hrsg. vom Uhyster Heimatverein e. V., Lusatia Verlag Dr. Stübner &
Co. KG Bautzen, 2001
„Als die Sümpfe blühten“. Erzählungen, Lusatia Verlag Dr. Stübner & Co.
KG Bautzen, 2010
weitere Mitwirkungen, Auszüge bzw. Manuskripte (Auswahl):
„Kleines Wasserrad und andere ernsthafte Geschichten“. Mit anderen Auto¬
ren, Evangelische Verlagsanstalt Berlin, 1963 und 1964
Dorfklub Uhyst (Hrsg.): „Uhyst und Umgebung“. September 1965
„Begegnungen mit Hanns Georgi“. In: Begleitheft zur Ausstellung zum 80.
Geburtstag von Hanns Georgi, Gemälde, Aquarelle, Illustrationen, S. 4-6,
Veranstalter: Rat der Stadt Sebnitz, August 1981
„Der Teich“. Mit Holzschnitten von Johannes Lebek, 120 Exemplare Privat¬
druck, Druck und Einband von R. Walter Göttingen, 1983
„Häuser der Kindheit“. Original Holzschnitte von Johannes Lebek, als Pri¬
vatdruck herausgegeben von Hubert Wegner, Druckerei Küster Hannover,
1984
„Förstertagebuch“ Manuskript, 1985
„Ein Lebensweg in Bildern“. In: Johannes Lebeck: „Der Holzschneider Jo¬
hannes Lebeck. Leben und Werk“. Rudolf-Schneider Verlag München, 1988
Johannes Lebek: „Holzschnittfibel“. Mit einem Beitrag von Gottfried Unter¬
dörfer, Verlag der Kunst Dresden, 1991
Gemeindeverwaltung Uhyst (Hrsg.): „Uhyst an der Spree“. 1992
Gottfried Zawadzki: „Malerei - Grafik - Kirchenraum - Glasbild“. Mit
einem Vorwort von Gottfried Unterdörfer, Lausitzer Druck- und Verlagsge¬
sellschaft Bautzen, 1993
377
Es ist überliefert, dass Hermann Vetter (Porträt um 1908) in seiner Jugend
an seinen Geburtsort zurückgekommen sein soll, um auf der Herbrig-Orgel
zu spielen. Pfarrer in Großdrebnitz bis 1875 war Carl Julius Marloth.
TE 1 “'
Vetter, Friedrich Hermann
Professor am Dresdner Konservatorium
09.07.1859 Großdrebnitz - 21.05.1928 Dresden
V: Friedrich August , Bauerngutsbesitzer (1880-1895, Nr. 83) und Gemeinderatsmitglied in
Lauterbach; M: Wilhelmine Pauline geh. Winkler (*10.2.1837 Bühlau, t in Lauterbach), 7.7.1861
verehel. Vetter; E: 22.7.1884 Dresden, Rosa Wanda geb. Böhme (16.2.1864-25.7.1898), Toch¬
ter des Lokalrichters und Gutsbesitzers Carl Friedrich Böhme; K: Eleonore Vera Wanda Edith
(*5.9.1889 Dresden, Mitbesitzerin der Erbbegräbnisstätte Böhme, Mittelweg 184, Dresden St.
Pauli; verh. mit Rechtsanwalt Dr. jur. Woldemar Erwin Schreier/Dezember 1945 letztes Begräb¬
nis Familiengrabstätte; Nachbesitzerin des Hauses Elisenstraße 75/77 ihres Vaters; t nach 1945)
Vetter wurde in Großdrebnitz gebo¬
ren (vermutlich im Schulhaus) und
getauft, wo sich seine damals noch
ledige Mutter zeitweilig aufhielt.
Aufgewachsen ist er in Lauterbach.
Sein Vater gab ihm den ersten Musik¬
unterricht.
Um 1880 bezog Vetter das Dresdner
Konservatorium. Er blieb mit dieser
Musikschule über 40 Jahre verbun¬
den und war ein wichtiger Akteur in
einer Phase des Wandels der Dresd¬
ner Musikausbildung. Das Konser¬
vatorium, Vorläufer der heutigen
Musikhochschule, war 1856 vom
Kammermusiker Friedrich Tröstler
gegründet und 1859 an Friedrich
Pudor verkauft worden. Unter dessen
Leitung erhielt die Einrichtung 1881,
also etwa zur Zeit von Vetters Studi¬
enbeginn, das Prädikat „Königliches
Konservatorium“. Der König war
oberster Protektor, viele Lehrkräfte
gehörten der sächsischen Hofkapelle
an. Damit hob sich das Konservato¬
rium nicht nur größenmäßig unter
den damals ausschließlich privaten
Musikschulen Dresdens hervor, z. B.
den Zillmannschen Musikschulen
und der Gesangs- und Opernschule
von Auguste Götze, bei denen sei¬
nerzeit Johannes Pache tätig war,
der Musikschule für Damen von
Bernhard Rollfuß, einem Schüler
von Woldemar Heller, sowie der
von Friedrich Wieck gegründeten
Akademie für Klavierspiel. Vetter
lernte am Konservatorium bei Eugen
Krantz, Theodor Kirchner, Wilhelm
Rischbieter und Hofkapellmeister
Franz Wüllner. Insgesamt waren hier
mehr als 70 Lehrer beschäftigt. Ab
1883 unterrichtete Vetter am Kon¬
servatorium selbst Klavier. Friedrich
Pudor wurde als Direktor seinerzeit
zunächst durch Franz Wüllner als
künstlerischem Leiter unterstützt. Um
1885 führte man einen akademischen
Rat ein, dem u. a. Hofkapellmeister
Adolf Hagen, Theodor Kirchner, und
das Mitglied der Dresdner Hofka¬
pelle Eduard Rappoldi angehörten.
Der Unterricht erfolgte in den drei
Abteilungen für (1) umfassende prak¬
tische und theoretische Ausbildung
379
einschließlich Kompositionslehre für
Dirigenten, Instrumentalsten, Sänger
und Musiklehrer, (2) Ausbildung in
Einzelfächern sowie (3) Elementar¬
unterricht für einzelne Instrumente
oder Gesang. Der Sitz des Konserva¬
toriums befand sich langjährig in der
Landhausstraße 6 bzw. 11. 1887 über¬
nahm Heinrich Pudor die Leitung
von seinem Vater. Weil Pudor mit
seinem Konzept, ausschließlich auf
deutsche Musik zu setzen, auf heftige
Kritik stieß, verkaufte er das Kon¬
servatorium 1890 an Eugen Krantz.
Nach dessen Tod führten die Söhne
Johannes Krantz und Curt Krantz das
Konservatorium bis zur Verstaatli¬
chung 1937 weiter. Sie entwickelten
das Profil einer Hochschule der Ton¬
kunst mit verbundener Theaterschule
und staatlichem Musiklehrerseminar.
Das Konservatorium trug den Bei¬
namen „Hochschule für Musik und
Theater“. Zudem wurden Kirchenmu¬
siker ausgebildet und es bestand eine
Volksmusikschule.
Vetter machte sich als Autor und He¬
rausgeber von Musikdrucken einen
Namen. Seine „Technischen Studien“
von 1899 wurden von Eugen d'Albert
ausdrücklich für den Klavierunter¬
richt empfohlen. Sie bestanden aus
vier Heften. Zwei hatte Vetter bereits
1894 veröffentlicht: „Uebungen mit
fortrückender und stillstehender
Hand in kontrapunktischer Zwei-
stimmigkeit“ und „Der Fingerwechsel
bei unterbrochner, sowie ununter-
brochner Tonwiederholung und im
Das Palais Hoym, Landhausstraße
11, war schon vor der Gründung
des Konservatoriums ein kulturelles
Zentrum. Der Dresdner Gesell¬
schaftsverein Harmonie hatte hier
seinen Sitz. Robert Schumann gab
Konzerte, Gottfried Semper, Ernst
Rietschel und später Bruno
Steglich gingen hier ein und aus.
Doppelgriffspiel“. Weitere der zumeist
bei Friedrich Hofmeister in Leipzig
erschienenen Vortrags- und Studien¬
werke Vetters für Klavier waren: „Die
ersten Musikstückchen für Anfänger
im Klavierspiel“ (1897, neun melo¬
dische, instruktive und progressive
380
Vortragsstücke), „24 melodische
Klavier-Etüden für gleichmässig
fortschreitende Ausbildung beider
Hände, sowie des Vortrags“ (1900,
drei Hefte für die drei Stufen des
Elementar-Unterrichts) und „Das Stu¬
dium der Tonleitern, Arpeggien und
Doppelgriffstonleitern für Klavier zu
2 Händen“ (1905). Daneben gab Vet¬
ter Musikdrucke bekannter Klavier¬
virtuosen wie Johann Baptist Cramer
(„66 ausgewählte Klavier-Etüden“),
Franz Liszt („12 Etüden op. 1“), Vic¬
tor Alphonse Duvernoy („Vorschule
der Geläufigkeit für Pianoforte. 20
Etudes-Exercices sans Octaves“) und
Friedrich Burgmüller („12 brillante
und melodische Etüden“) heraus.
Das Konservatorium berief Vetter
1907 zum Professor und Direktori-
umsmitglied. Dem Direktorium ge¬
hörten seinerzeit auch die Professoren
Karl Heinrich Döring und Felix Drae-
seke, die Kammermusiker Maximi¬
lian Gabler und Albert Wolfermann
sowie Konzertmeister Henri Petri an.
Klavierunterricht erteilte neben Vetter
die bekannte Konzertpianistin Laura
Rappoldi-Kahrer. Das Konservatori¬
um arbeitete stark gewinnorientiert;
der „Kunstwart“ von Ferdinand Ave-
narius hatte schon 1904 hinterfragt,
dass eine solche Schule als könig¬
liche Einrichtung auftreten durfte
und für Freistellen auch finanzielle
Unterstützung erhielt. Mehr als 100
Lehrkräfte unterrichteten Anfang des
20. Jahrhunderts am Konservatorium
etwa 1300 Schülerinnen und Schüler
von Grund- bis Hochschulklassen
in Musiktheorie, an Tasten-, Streich-
und Blasinstrumenten sowie in den
Fächern Gesang und Bühne. Allge¬
mein Musikinteressierte konnten sich
als Hörer einschreiben. 1908 erschien
bei Hofmeister in Leipzig Vetters
bekanntestes Werk, „Zur Technik des
Klavierspiels“. Weil die Ausbildung an
den vielen konkurrierenden privaten
Musikschulen häufig mangelhaft war,
gehörte Vetter als Vorstandsmitglied
des Musikpädagogischen Vereins zu
den Initiatoren einer Prüfungsord¬
nung für Musikschullehrer, die 1913
in Kraft trat. Der Erste Weltkrieg und
seine Folgen prägten einen großen
Teil seiner Direktoriumszeit. 1922
unterrichtete er kurz vor seiner Pen¬
sionierung die spätere New Yorker
Pianistin Irma Wolpe-Rademacher.
Quellen: E. W. Fritzsch: „Musikalisches Wochen¬
blatt“. 1897, 1899; Hermann Abert, Rudolf Gerber:
„Illustriertes Musiklexikon“. J. Engelhorns nachf.,
1927; Rudolf Maria Breithaupt: „Die natürliche
Klaviertechnik“ 1927; Hofmeisters Handbuch der
Musikliteratur, 1934; Emil Breslaur, Anna Morsch:
„Der Klavierlehrer“. Peiser Verlag, 1895; S. Freitag:
„Richard Kaden (1856-1923)“; lexm.uni-hamburg.
de; Asher (Hrsg.): „Das Unterrichtswesen im
Deutschen Reich aus Anlass der Weltausstel¬
lung in St. Louis unter Mitwirkung zahlreicher
Fachmänner“. Berlin 1904; Horst Gersdorf:
„Kultur im 770jährigen Bischofswerda“. Zwischen
Wesenitz und Löbauer Wasser, 1997, H. 2, S.
8-21; Stadtarchiv Bischofswerda, Auszug aus dem
Taufbuch Großdrebnitz (korrigierte und ergänzte
Angaben von Christfried Marschner, Ortschronist
von Großdrebnitz, 26.10.2007); M. Hesse: „Das
Neue Musiklexikon“. Nach: Arthur Eaglefield Hüll,
Alfred Einstein: „Dictionary of Modern Music and
Musicians“, 1926; Der Kunstwart: Rundschau über
alle Gebiete des Schönen, Bd. 17/2, 1904; Dresdner
Adressbücher; Friedhofsverwaltung St. Pauli Dres¬
den; Bert Wawrzinek, Lauterbach, 2016
381
Kardinal Albrecht von Brandenburg, Erzbischof von Magdeburg und
Mainz, hält eine Messe in der Stiftskirche Halle ab (Albrecht Dürer, 1523)
Einer der anwesenden Geistlichen war sicher Georg Winckler.
Winckler, Georg
Bacc. jur., Prediger, Märtyrer der Reformation
* um 1490/1495 in Bischofswerda oder Goldbach - 23.04.1527 im Spessart bei
Aschaffenburg
V: Bürger in Bischofswerda; E: um 1526 mit einer Adligen
Wincklers Geburtsdatum ist in der
Literatur unbekannt. Von der Imma¬
trikulation im Sommersemester 1509
an der Universität Leipzig kann aber
abgeleitet werden, dass er Anfang
der 1490er Jahre geboren wurde.
Sowohl die Immatrikulation als auch
die Bischofswerdaer Chronik von
1713 von Christian Heckei und die
nachfolgende von Karl Wilhelm
Mittag verweisen auf eine Herkunft
aus Bischofswerda, jedoch nicht die
vorherige Chronik von Michael Pusch
von 1659. Einige historische Quellen
geben Goldbach als Geburtsort an.
Ohne tatsächlichen biografischen
Bezug bei Georg Winckler ist die
Zitierung dieses kleinen Dorfes kaum
vorstellbar. Möglicherweise ist dieser
Widerspruch dadurch zu erklären,
dass im Mittelalter der Umzug vom
Dorf in die Stadt kein einfacher Orts¬
wechsel war. Auch wenn die Erbun¬
tertänigkeit in Sachsen weniger ausge¬
prägt war, bestanden auf dem Dorf
feudale Abhängigkeiten. 1559 gab
es unter den 29 Goldbacher Grund¬
besitzern einen Hans Winckler (mit
identischer Schreibweise). Eventuell
entstammte Georg Wincklers Vater
einem parallelen Familienzweig. Dies
könnte erklären, wenn er seinen Sohn
in Goldbach hätte taufen lassen, weil
es seinerzeit in Bischofswerda keine
Stadtkirche gab. Der hier ansässige
Erzpriester, der dem Archidiakonat
Bautzen unterstand, war mit seinen
Kaplanen für die drei Kapellen der
Stadt zuständig und beaufsichtigte
weitere Kirchen in der Umgebung.
Vor diesem Hintergrund wäre aber
auch verständlich, wenn eine mögli¬
che Geburt von Georg Winckler noch
in Goldbach vor einem Umzug in die
Stadt in der Überlieferung verloren
gegangen wäre. Bischofswerda ge¬
hörte zu jener Zeit nicht nur geistlich
zum Bistum Meißen, sondern wie im
gesamten Bereich des Hochstifts übte
der Bischof zudem die weltliche Herr¬
schaft aus. Bischof Johann VI. von
Saalhausen bemühte sich seit seiner
Amtseinführung 1488 um wirtschaft¬
liche Fortschritte auch in der Provinz.
Das Markttreiben in Bischofswerda
belebte sich und die Innung der
Leinenweber wurde 1491 anerkannt.
In der Stadt Bischofswerda wuchs der
Wohlstand, was sicher Einwohner
aus den umhegenden Dörfern anzog.
Die Stadt wurde in jener Zeit aber
auch zum Schauplatz von Konflikten
zwischen dem Bischof und dem säch¬
sischen Herzog Georg dem Bärtigen,
383
Bischofswerda um 1623 mit der 1497 unter Bischof Johann VI. geweihten
Marienkirche. Die vorherige, vermutlich 1076 von Benno von Meißen ge¬
stiftete Kirche war 1469 abgebrannt (Blick von Osten nach Westen).
der eine Schutzherrschaft über das
bischöfliche Gebiet beanspruchte.
Als ein ehemaliger Gefolgsmann von
Herzog Georgs Vater 1504 Bischofs¬
werda überfiel und eine größere Zahl
der Einwohner in monatelange Gei¬
ßelhaft nahm, der Bischof ihm aber
die erbetene Unterstützung versagte,
ließ Herzog Georg die Stadt besetzen
und gab sie erst 1507 zurück.
Wincklers Eltern waren vermutlich
wohlhabend, denn die finanziellen
Belastungen eines langen Studiums
konnten sich im ausgehenden Mit¬
telalter nur wenige leisten und lange
Studienzeiten waren wegen der mehr¬
stufigen Graduierungsprozedur, aber
auch wegen der Reisebelastungen
nachhause nicht ungewöhnlich. Der
Sohn wurde als Georgius Winckeler
im Sommersemester 1509 an der
Universität Leipzig unter dem Rektor
Thilo von Trotha immatrikuliert. Es
ist unbekannt, ob Winckler häufig
nach Bischofswerda zurückkehrte
oder für seinen Lebensunterhalt
bezahlte Stellungen annehmen
musste. Nach Prager Vorbild galt in
Leipzig eine 4-Nationen-Verfassung.
Sowohl die Studenten als auch die
Lehrkräfte kamen aus Meißen (dem
heutigen Sachsen zzgl. Thüringen und
Südbrandenburg), Bayern, Sachsen
(einschließlich Norddeutschland,
Baltikum) und Polen (einschließlich
Böhmen), wobei die Grenzen dazwi¬
schen und nach außen relativ flexibel
gehandhabt wurden. Die Leitungs¬
gremien waren paritätisch besetzt.
Daraus resultierte schon damals ein
internationaler Charakter der Uni¬
versität in der Messestadt. Im Som¬
mersemester 1509 wurden insgesamt
353 Studenten neu immatrikuliert,
darunter 110 aus Meißen. Etwa 10%
der ungefähr 8000 Einwohner Leip¬
zigs waren seinerzeit Studenten. Den
Kern der mittelalterlichen Universität
Leipzig bildete die Artistische (Phi¬
losophische) Pakultät, wo im Sinne
eines Gymnasiums die Grundlagen
384
für das Studium an einer der drei
höheren Fakultäten (Theologie, Jura,
Medizin) gelegt wurden. Man unter¬
richtete beispielsweise Metaphysik,
Poesie, Grammatik und mathemati¬
sche Grundlagen. Seit der Gründung
einer konkurrierenden Universität in
Wittenberg (1502) im Zusammen¬
hang mit der Landesteilung durch die
Wettiner bemühte sich Herzog Georg
der Bärtige um zeitgemäße Reformen
in Leipzig. Die Hauptvorlesungen an
der Artistischen Fakultät waren da¬
nach kostenlos. Im Sommersemester
1509 stand diese Fakultät unter der
Leitung des Dekans Arnold Wöste-
feld. Voraussetzung für eine Gra¬
duierung an einer der drei höheren
Fakultäten war im Allgemeinen ein
artistischer Magistergrad, wobei jener
aber nicht den selben Stellenwert wie
der Magister (Promotion) an einer
der drei höheren Fakultäten besaß.
Den Übergang von der Artistenfakul¬
tät auf eine der drei höheren schaff¬
te nur eine kleine Elite. Die große
Mehrzahl der Studenten verblieb an
der Artistischen Fakultät, ohne je eine
Graduierung zu erlangen. Studenten,
die es sich leisten konnten, wechselten
für ihr Jura- oder Theologiestudium
häufig die Universität. Der Wert der
mittelalterlichen Graduierungen lag
weniger auf wissenschaftlichem Ge¬
biet, es ging vielmehr darum, neues
Lehrpersonal für die Universität zu
rekrutieren. Die Magisteruniversität
des Mittelalters war mehr auf Weiter¬
gabe des vorhandenen Wissens als auf
neue Erkenntnisse ausgelegt.
Zu Wincklers Kommilitonen ge¬
hörte der 1497 in Leipzig geborene
Christoph Kruschwitz, genannt
Türk. Nach dem Baccalaureat an der
Artistischen Fakultät 1516 ging er
zum Jura-Studium nach Italien. 1521
wurde er an die Juristische Fakultät
in Leipzig berufen. Winckler erlangte
seinen Abschluss als bacc. jur. 1522 an
der Juristischen Fakultät bei Ludwig
Fachs auf dem Gebiet des kanoni¬
schen Rechts.
Wincklers Studienzeit wurde theo¬
logisch durch die beginnende Re¬
formation von Martin Luther im
nahen Wittenberg geprägt. Jener
brandmarkte 1517 mit seinen 95
Thesen den Ablasshandel, mit dessen
Hilfe Albrecht von Brandenburg,
als Erzbischof von Magdeburg ein
Vorgesetzter Luthers, finanziellen
Verpflichtungen gegenüber dem
Papst im Zusammenhang mit der
Berufung in seine Ämter nachkam.
Der Berliner Kurfürstensohn Alb-
recht, 1513 mit 23 Jahren Erzbischof
von Magdeburg und Administrator
von Halberstadt geworden, seit 1514
Erzbischof und Kurfürst von Mainz,
residierte ab 1514 in Halle auf der
Moritzburg. 1518 wurde er Kardinal.
Diese Ämterhäufung war aber nicht
nur Ausdruck seines persönlichen
Ehrgeizes, sondern auch von Interes¬
senskonflikten zwischen dem Mainzer
Domkapitel und dem Kurfürstenhaus
Brandenburg einerseits und dem
Kurfürstentum Sachsen-Wittenberg.
Vor allem die Zugehörigkeit von
385
Leipziger Disputation von 1519 (von Julius Hübner) mit Johannes Eck
(links) und Martin Luther (rechts), in der Mitte sitzend Herzog Barnim von
Pommern als Ehrenrektor und Herzog der Bärtige von Sachsen.
Erfurt war strittig. Im Unterschied zu
Wittenberg, wo zwar der Erzbischof
von Magdeburg ebenfalls oberster
Geistlicher war, weltlicher Landesherr
aber Kurfürst Friedrich der Weise,
unterstand Halle dem Erzbischof von
Magdeburg auch als Landesherrn.
Trotz des persönlichen Angriffs gegen
ihn hielt Albrecht lange an einer
toleranten Haltung gegenüber der
Reformation fest. Viele der erzbi¬
schöflichen Räte sympathisierten mit
Luther. Albrechts abwartende Haltung
auf dem Wormser Reichstag von 1521
rettete möglicherweise Luthers Leben.
Die Universität Leipzig wurde 1519
zum Schauplatz einer der berühm¬
testen theologischen Auseinander¬
setzungen, der „Leipziger Disputa¬
tion“. Auf Anregung von Georg dem
Bärtigen stellte sich Martin Luther
seinen Gegnern zum Streitgespräch.
Die Leipziger Universität, im Herr¬
schaftsbereich des reformationskriti¬
schen Georgs gelegen, stand dabei auf
der Seite von Luthers Gegnern. Jener
war von 200 bewaffneten Studenten
aus Wittenberg begleitet worden,
die nicht nur ihn schützen wollten,
sondern ihrerseits dessen Gegner
bedrohten. Bewaffnete Kräfte ver¬
suchten, gewaltsame Auseinanderset¬
zungen zwischen den Studenten aus
Leipzig und Wittenberg zu verhin¬
dern. Da auch Studierende die mehr¬
tägige Disputation besuchen durften,
ist stark anzunehmen, dass Winckler
Augenzeuge des Streitgesprächs wur¬
de. Im selben Jahr musste die Uni¬
versität wegen der Pest zeitweise von
Leipzig nach Meißen verlegt werden.
386
Nach dem Studium in Leipzig trat
Winckler als Kanoniker und Kaplan
in die Dienste von Erzbischof Alb-
recht, vermutlich von Beginn an in
Halle. Albrecht hatte hier 1520 ein
neues Collegiatstift eingerichtet. Er
war den Werten von Humanismus
und Bildung aufgeschlossen und
übergab dem „Neuen Stift des hei¬
ligen Moritz und der Seligen Maria
Magdalena zum Schweißtuch des
Herrn“ die Verantwortung für die
Wissenschaft im Erzstift Magdeburg,
es war sogar die Gründung einer
Universität geplant. Um 1523 ging
Albrecht zunehmend auf Distanz zur
Reformation. Als Bollwerk gegen ihr
rasches Ausbreiten baute er in Halle
eine Stiftskirche, den heutigen Dom.
Albrecht benötigte zudem für seine
riesige Reliquiensammlung, die zuvor
in der Sankt-Maria Magdalenenkapel-
le auf der Moritzburg untergebracht
war, einen geeigneten Aufbewah-
Halle, im 16. Jahrhundert mit Moritzburg und Dom abgebildet, war kir¬
chenpolitisch von großer Bedeutung für die Reformation. Hier residierte
mit dem Erzbischof von Magdeburg und Mainz, Kardinal Albrecht, der
nach dem Papst ranghöchste kirchliche Würdenträger im „Heiligen Rö¬
mischen Reich Deutscher Nation“ und gleichzeitig einer der wichtigsten
Gegner Luthers. Halle war aber dank des Reichtums aus dem Salzhandel
auch ein Ort mit großer bürgerlicher Tradition. Erst Streitigkeiten zwi¬
schen den Handwerkerinnungen und den Pfännern (Salzsiedern) hatten
dafür gesorgt, dass 1478 die Stadt nach 200-jähriger Selbstständigkeit in
erzbischöflichen Besitz gelangte. Erzbischof von Magdeburg war seit 1476
mit Ernst von Sachsen ein Wettiner. Ernst ließ in Halle mit der Moritzburg
eine neue Residenz errichten. Nach Ernsts Tod 1513 übernahm Albrecht
von Brandenburg das Erzbistum.
387
Der Dom zu Halle. Der prachtlie¬
bende Erzbischof Albrecht ließ eine
einfache Dominikanerkirche zu
seiner Stiftskirche umbauen. Die
Innenausstattung schufen Albrecht
Dürer, Matthias Grünewald und
Lukas Cranach d. Ä.
rungsort, um sie den Prozessionen
der Wallfahrer zu präsentieren. Dass
für den Bau der Stiftskirche Einnah¬
men aus dem Ablasshandel fließen
sollten, veranlasste Martin Luther
1521 zu der Schmähung „Wider
den Abgott zu Halle“. Zu den erzbi¬
schöflichen Räten gehörte ab 1522
Wincklers ehemaliger Studienkollege
Christoph Kruschwitz. 1523 sorgte
ein Hofkaplan Albrechts für Aufse¬
hen. Nicolaus Demuth, auch Propst
im Kloster Neuwerk, verließ am 14.
April sein Amt, um zu heiraten und
sich der Reformation anzuschließen.
Im selben Jahr wirkte Thomas Münt¬
zer für einige Monate in Glaucha bei
Halle. 1524 wurde der konservative
Kruschwitz Kanzler des Erzbistums
Magdeburg.
Albrecht berief mit seinem Hofkap¬
lan Winckler einen engen Vertrauten
zum Pfarrer an die am 23. August
1523 geweihte Stiftskirche in Halle.
Der rhetorisch begabte Prediger zog
zu seinen Gottesdiensten die Besu¬
cher in Scharen an und sich damit
den Neid der Pfarrer der anderen
Hallenser Kirchen zu, die weitgehend
leer blieben. Aber auch Winckler
öffnete sich ab 1524 der Reformati¬
on, zunächst vorsichtig, ohne Luther
in seinen Predigten namentlich zu
erwähnen. Auch vermied er Kritik
am Papst. Winckler besuchte Luthers
Gottesdienste in Wittenberg, zuletzt
am 20. März 1527.
Winckler entwickelte sich im katho¬
lisch-konservativ geprägten Klerus
Halles zum wichtigsten Vertreter der
lutherischen Lehre. Der immer noch
gemäßigte Albrecht ließ ihn gewäh¬
ren, auch aus Dankbarkeit für seine
erfolgreiche Diplomatie während
des Bauernaufstandes, für den es in
Halles Bürgerschaft große Sympa¬
thien gab. Winckler trug mit seinen
Predigten wesentlich zur Beruhigung
der Lage bei. Albrecht konnte direkt
388
mit Hallenser Bürgern verhandeln. So
kam es in Halle zu keinem Aufstand
wie in anderen Städten. Albrecht trat
nach der Niederschlagung der Bauern
1525 in Frankenhausen dem antilu¬
therischen Dessauer Bund bei und
vertrat zunehmend radikalere Positi¬
onen gegen die Reformation. Als sich
Winckler immer offener zu Luther
bekannte, wurde er zunächst für drei
Monate suspendiert, ohne dass er sich
umstimmen ließ.
Beschwerden von Konrad Hoffmann,
Kanonikus am Neuen Stift, aber auch
aus dem Kloster Neuwerk veranlass-
ten Albrecht, Winckler, der inzwi¬
schen mit ungeweihtem Wasser tauf¬
te, die Messen abgeschafft hatte und
das Abendmahl nach protestantischer
Sitte in beiderlei Form (Brot und
Wein) reichte, 1527 in seine Residenz
Aschaffenburg zu zitieren, wo sich der
Erzbischof wegen der Reformations¬
unruhen aufhielt. Es schien zunächst
so, als habe Winckler den Erzbischof
besänftigen können. Die Heimreise
verzögerte sich auf Betreiben des
Mainzer Domkapitels. So musste
Winckler ohne seinen Diener, den
man bereits zurückgeschickt hatte,
dafür aber auf einem „Narrenpferd“
und in Begleitung eines unbekannten
Reiters heimkehren. Zwei Meilen von
Aschaffenburg entfernt wurde Winck¬
ler im Spessart von einem vermumm¬
ten Reiter angeschossen und dann
erstochen. Es kam der Verdacht auf,
dass Konrad Hoffmann zumindest
Anstifter, vielleicht sogar eigenhändig
Um seine Macht zu zeigen, stattete
Albrecht seine Stiftskirche prunk¬
voll aus. Die Kanzel wurde 1526
geschaffen, also noch zu Lebzeiten
Wincklers. Sie ist in Sandstein
gemeißelt und mit viel Blattgold
verziert. Das Schriftband an der
Kanzel galt vermutlich dem abtrün¬
nigen Winckler: „Das ganze Wort
Gottes ist feurig, ein Schild denen,
die darauf hoffen; füge nichts seinen
Worten hinzu, damit du nicht des
Irrtums überführt und als Lügner
erfunden werdest.“ Foto: Barbara
Wetzel (www.kirchbau.de, Lizenz
CC BY 3.0)
der Mörder gewesen sei. Der Mord an
dem beliebten Prediger rief in Halle
große Empörung hervor. Historisch
bedeutsam war Wincklers Ermordung
vor allem wegen seines engen Verhält¬
nisses zu Albrecht und der kirchen-
politischen Rolle Halles als Residenz
des mächtigen Erzbischofs. Martin
389
Luther, obwohl von kursächsischer
Seite zur Zurückhaltung gedrängt,
richtete am 17. September 1527 ein
Trostschreiben an die Christen zu
Halle, in welchem er über den Mord
berichtete. Luther gab Erzbischof Al-
brecht zwar keine direkte Schuld, wies
jedoch daraufhin, dass Winckler auf
dessen Befehl hin erschienen sei, und
forderte Albrecht auf, den Mörder zu
bestrafen. Damit schrieb Luther dem
Erzbischof indirekt eine Mitverant¬
wortung zu, die Philipp Melanchthon
dagegen ausschloss. Gegner der Re¬
formation wie der sächsische Herzog
Georg der Bärtige erwiderten Luthers
Schrift heftig. Am 26. April 1528
erneuerte Luther seine „Trostschrift
an die Christen zu Halle“, die er zur
Standhaftigkeit aufrief.
Vehement gegen Luthers Trostschrift
trat auch Johannes Cochläus auf.
Während des Bauernkriegs war er
zeitweise nach Mainz, dann nach
Köln geflohen. Seit 1526 war er
Kanonikus auf dem St. Victorsberg
bei Mainz. Cochläus verteidigte die
Mainzer Domherren und lenkte statt -
dessen den Verdacht auf die adlige
Verwandtschaft von Wincklers Frau.
1529 berief Herzog Georg der Bärti¬
ge Cochläus als Privatsekretär nach
Dresden.
Von Winckler ist heute überliefert,
dass er christliche Lieder gesam¬
melt und auch selbst verfasst habe.
Michael Vehe, nach Wincklers Tod
vom Erzbischof als Propst nach Halle
geant>ie£br
(teil ju Aallf rbcr'Ür
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Ngrrj roo.
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vom Qacr.nncuc.
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Martin Luther: „Tröstung an die
Christen zu Halle über Herrn Geor¬
gen, ihres Predigers, Tod“. 1527:
„Ich habe mir längst vorgenommen,
meine Lieben Herrn und Freunde,
eurer Liebe zu schreiben eine Ver¬
mahnung und Trost wider den Un¬
fall, so euch der Satan zugefügt hat
durch den Mord, welchen er began¬
gen hat an dem guten und frommen
Mann, Magister Georgen, und euch
also eures treuen Predigers und Got¬
tes Wort beraubet. Es hat mich aber
allezeit verhindert, sonderlich mei¬
ne Schwachheit; und wiewohl ich
noch nicht recht heraus bin, kann
ich doch nicht länger verziehen.
Und wenn wir uns gleich in diesem
Fall nicht trösten wollten, so wäre es
doch unbillig, solchen schändlichen,
verräterischen Mord...“
390
geholt, um die Stiftskirche wieder
im katholischen Sinne zu führen,
wird teilweise unterstellt, dass sein
historisch bedeutsames, katholisches
Liedbuch „Ein New Gesangbuechlin
Geystlicher Lieder vor alle gutthe
Christen nach ordenung Christli¬
cher kirchen“ (1537) auf Wincklers
Sammlung zurückgehen solle. Quelle
hierfür ist Johann Christoph Oleari-
us, ein Historiker des evangelischen
Liedschatzes, mit seiner „Hymnologia
Passionalis“ (1707). Olearius wies
dem Lied „Da Jesus an dem Kreutze
stunde“ aus Vehes Sammlung eine
Autorenschaft Wincklers zu, dem
demnach auch „Die Propheten seind
erfüllet“, „Zu Tisch dieses Lämmleins
so rein“, „Lobsinget mit Freuden alle
Rechtgläubigen“, „Vater im Himmel,
wir Deine Kinder bitten durch Christ
das ewige Kind“ zuzuordnen wären.
Bei Vehe ist tatsächlich die Mitar¬
beit eines G.W. vermerkt, was heute
aber eher auf Georg Witzei bezogen
wird unter Hinweis auf dessen „Odae
christianae: Etliche christliche Gesen-
ge, gebete vnd Reymen, für die Gots-
förchtigen Läyen“ (1541). Witzei hatte
sich seinerzeit wieder von Luther
abgewandt. Andererseits publizierte
Vehe deutschsprachige Liedtexte, wie
es Martin Luther propagierte. Olea¬
rius interpretierte das missverständ¬
liche Zitat eines Liedautors G.W. bei
Vehe mit persönlichem Neid, aber
auch mit politischer Vorsicht wegen
der Missliebigkeit des lutherischen
Predigers Winckler im katholisch
beherrschten Halle jener Tage.
Quellen: Adolf Brecher: „Winckler, Georg“.
Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 43, 1898,
S. 365; Karl Wilhelm Mittag: „Chronik der
königlich sächs. Stadt Bischofswerda“. May Bi¬
schofswerda, 1861; Michael Pusch: „Episcopoli.
Graphia Historica. Das ist: Wahrhafftige Histori¬
sche Beschreibung der Churf. Sächsischen Stadt
Bischoffswerda“. Wolfgang Seyffert Dreßden,
1659; Michael Pusch, Christian Heckei: „Histo¬
rische Beschreibung der Stadt BischofFswerda.
vormahls durch Michael Puschen; continuirt/
vermehret/ und an vielen Orten/ wo man nötig
befunden/ geändert und verbessert nebst einem
Anhang von der Bischoffswerdischen Diöces /
durch Chriatian Heckei. Harpetern Dreßden,
1713; Georg Pilk. „Die Amtsdörfer bei Bischofs¬
werda im Jahre 1559“. Unsere Heimat, 9.6.1925;
Matrikel- und Promotionsverzeichnis Univer¬
sität Leipzig; Adolf Laube, Ulman Weiss: „Flug¬
schriften gegen die Reformation (1525-1530)“.
Akademie Verlag, 2000, S. 525; Johann George
Kirchner: „Historische Nachricht von dem Mär¬
tyrertode der ersten Lutherischen Blutzeugen
Jesu Christi“. Waisenhaus Halle, 1755; „Martin
Luthers Kritische Gesamtausgabe“. Böhlau, 1933;
Nicole Kuropka: „Philipp Melanchthon - Wis¬
senschaft und Gesellschaft“. Spätmittelalter und
Reformation, Bd. 21, Mohr Siebeck, 2002; Otto
Michaelis: „Protestantisches Martyrerbuch“. J.F.
Steinkopf, 1932; Norbert Böhnke: „Renaissance
Halle“. 2001; Armin Stein: „Die Stadt Halle a.
d. Saale“. Eugen Strien Halle, 1901; Hallisches
patriotsches Wochenblatt, Bd. 2, in Commission
der Buchhandlung des Waisenhauses, 1841;
Enno Bünz, Franz Fuchs. „Der Humanismus
an der Universität Leipzig“. Otto Harrassowitz
Verlag, 2009; Johann Christian Gueinz: „Memo¬
ria Georgii Winckleri, veritatis divinae contra
offucias Romanae curiae apud Hallenses saeculo
post Christum natum XVI testis integerrimi, re-
novata interprete M. Io. Christ. Gueinzio“. Halle
1729; Werner Freitag: „Mitteldeutsche Lebens¬
bilder: Menschen im späten Mittelalter“. Böhlau
2002; Gottfried Lebrecht Richter: „Allgemeines
biographisches Lexikon alter und neuer geistli¬
cher Liederdichter“. Martini 1804; Paul Redelin:
„Cardinal Albrecht von Brandenburg und das
Neue Stift zu Halle. 1520-1541“. F. Kirchheim,
1900; „Vehe, Michael“ und „Witzei, Georg“ in
der Allgemeinen Deutschen Biographie
391
Johann Eleazar Zeissig (Stich von Christian Friedrich Stölzel).
Zeissig, Johann Eleazar (Schenau)
Professor, Maler, künstlerischer Leiter der Kunstakademie Dresden
07.11.1737 Großschönau - 23.08.1806 Dresden
V: Elias (Damastweber); M: Anna Elisabeth geb. Paul; G: 10, wobei Zeissig während seiner Kind¬
heit der einzige Sohn neben fünf Schwestern war
Zeissig wuchs in einfachen Verhält¬
nissen auf. Sein Vater förderte trotz¬
dem das frühzeitig erwachte künst¬
lerische Interesse des Sohns, den er
aber zunächst die Damastweberei ler¬
nen ließ. Um 1749 durfte Zeissig nach
Dresden gehen. Von Adam Manyoki,
seit 1731 sächsischer Hofmaler, er¬
hoffte man sich eine Förderung. Doch
dem greisen Manyoki fehlten dafür
die Mittel und so empfahl er Zeissig
an den Rechtsanwalt Dr. Rauffuß am
Neumarkt. Hier konnte der Junge
seinen Lebensunterhalt als Schrei¬
ber verdienen. Schließlich durfte er
bei Johann Christian Beßler, einem
Schüler von Anton Raphael Mengs,
an der Malerakademie Zeichenunter¬
richt nehmen. Sie stand vormals unter
der Leitung von Louis de Silvestre,
nach dessen Rückkehr nach Paris
1748 unter der seines Sohns Charles-
Francois de Silvestre und später unter
jener seines Neffen Charles Hutin.
Von Charles-Francois de Silvestre
und Hutin wurde Zeissig im Stil der
französischen Malerei geprägt.
Nach dem Ausbruch des Sieben¬
jährigen Kriegs im Jahre 1756 ging
Zeissig mit Charles-Francois de
Silvestre nach Paris, wo dessen Vater
inzwischen als Rektor die Academie
Royale leitete. Zeissig setzte in Paris
seine Studien bei Louis und Charles-
Francois de Silvestre fort. Er legte
seinen Familiennamen ab, weil ihn
die Franzosen nicht richtig ausspre¬
chen konnten, und nannte sich nach
seinem Geburtsort Schenau. Zeissig
war mit dem Kupferstecher Johann
Georg Wille befreundet und wur¬
de von Jean-Simeon Chardin und
Jean-Baptiste Greuze beeinflusst. Der
sächsische Gesandte in Paris, Gene¬
ral Fontenay, war sein Freund und
Gönner. Die Kronprinzessin Maria
Josepha (Madame la Dauphine), eine
Tochter des sächsischen Kurfürsten
und polnischen Königs August III.,
beauftragte ihn mit Kopien nach
Christian Wilhelm Ernst Dietrich
und dessen Nachahmung der heiligen
Nacht von Corregio. Den Kontakt
hatte Marie Maximilienne de Silvest¬
re vermittelt, eine Zeichnerin und
älteste Tochter von Louis de Silvestre,
die Vorleserin und eine Vertraute der
Kronprinzessin war. Nicolas-Charles
Silvestre, ein Bruder von Louis de Sil¬
vestre und königlicher Zeichenmeis¬
ter in Paris, unterstützte ihn ebenfalls.
Zeissig schuf Porträt- und Genre¬
bilder, im Louvre und in Versailles
393
Louis, Dauphin de France, Biblio-
theque Nationale de France.
durfte er kopieren. 1765 hatte er sich
als Genremaler durchgesetzt, Stiche
nach seinen Bildern waren gesucht.
In Sevres erlernte Zeissig zudem die
Porzellanmalerei. In einigen Quel¬
len werden ihm mit Johann Daniel
Heimlich gezeichnete Arbeiten (*1740
Straßburg) als Pseudonym zugerech¬
net. Zeissig blieb in der Gunst des
Hofes bis zum Ableben des Kronprin¬
zen und dessen Frau (1765/67).
Nachdem 1764 unter der Gene¬
raldirektion von Christian Ludwig
von Hagedorn in der Nachfolge
der ehemaligen Malerakademie die
Kunstakademie als reguläre, integrier¬
te Lehreinrichtung gegründet worden
war, bestehend aus einer Akademie
für Malerei, Kupferstecherei und Bild¬
hauerei und einer Akademie für Bau¬
kunst in Dresden sowie einer Aka¬
demie für Zeichnerei, Malerei und
Architektur in Leipzig, suchte man
in ganz Europa nach renommierten
Lehrern. Mit ihnen sollte nach dem
Siebenjährigen Krieg der Ruf Dres¬
dens als Kunstmetropole aufpoliert
werden. Als sich Zeissigs Zeit in Paris
dem Ende neigte, nahm er Kontakt
mit der Dresdner Kunstakademie
Für seine Genremalereien, die sen¬
timentale Verklärung von Alltags¬
szenen, erhielt Zeissig die größte
Anerkennung. Drucke nach dem
Gemälde „Die bittende Mutter“
(„La mere qui intercede“) von 1767
befinden sich in vielen Museen (z. B.
im British Museum).
394
auf. 1767 sandte er zwei allegorische
Zeichnungen nach Dresden: „Die
Erziehung oder Minderjährigkeit des
Durchlauchtigsten Fürsten“ und „Die
Frohlockung oder Aufmunterung
der Musen“. Sein Aufnahmestück für
die Kunstakademie, bereits 1768 von
Zeissig angekündigt, „Priamus bittet
Achill um die Feiche Hektors“, galt
einem historischen Thema. Es wurde
von der Kritik sehr negativ beurteilt
und den offiziellen Gutachtern wurde
unterstellt, dass Zeissigs Aufnahme
sowieso schon beschlossene Sache
gewesen wäre.
Die ersten Pläne zur Gründung einer
Kunstakademie in Dresden gingen
auf August III. zurück. Standen da¬
mals auf Vorschlag von Carl Hein¬
rich von Heinecken noch Fouis de
Silvestre und die Maler der Hofkirche
Stefano Torelli und Anton Raphael
Mengs (der mehr als Italiener galt) als
Gründungsdirektoren zur Diskussion,
entschied man sich später, unter dem
Prinzregenten Xaver und der Witwe
von Kurfürst Friedrich Christian, Ma¬
ria Antonia Walpurgis, bewusst dafür,
die Kunstakademie mit Christian
Fudwig von Hagedorn unter die Fei-
tung eines Deutschen zu stellen. Der
Professorenschaft gehörten sieben
deutsche, fünf italienische und zwei
französische Fehrer an, darunter die
Maler Charles Hutin, der als einziger
aus dem ehemaligen Fehrkörper der
Malerakademie verblieben war und
die künstlerische Feitung inne hatte,
Bernardo Bellotto (Canaletto) und
Die kurfürstliche Familie im Jahre
1772 (Gemäldegalerie Alte Meister):
Karl von Sachsen (Bruder), Marie
Amalie von Pfalz-Zweibrücken
(Ehefrau), Kurfürst Friedrich Au¬
gust der Gerechte, Maria Antonia
Walpurgis (Mutter), Maria Anna
von Sachsen (Schwester), Maria
Amalia von Sachsen (Schwester),
Maximilian von Sachsen (Bruder),
Anton der Gütige (Bruder und
Nachfolger als sächsischer König),
Prinz Xaver (Onkel und vormaliger
Prinzregent).
Giovanni Battista Casanova sowie der
Architekt Friedrich August Krubsaci-
us und der Bildhauer Johann Gott¬
fried Knöffler. 1766 holte Hagedorn
noch den Bildnismaler Anton Graff
und den Fandschaftsmaler Adrian
Zingg aus der Schweiz, die sich später
als Propagierer der Sächsischen
Schweiz einen Namen machten. 1768,
im Jahre der Thronbesteigung Fried¬
rich August des Gerechten, wurde
395
In seiner allegorischen Darstellung
auf Gotthold Ephraim Lessing
nimmt Zeissig Bezug auf dessen
Streit mit Christian Adolph
Klotz. Germanien hängt Lessings
Porträt am Tempel der Unsterblich¬
keit auf, wo sich auch die Bilder von
Shakespeare, Sophokles und Moliere
befinden. Die Tragödie lehnt sich
auf die Urne ihres Lieblings und
blickt auf Lessings Antlitz. Die Muse
des Lustspiels verdeckt ihr Gesicht
und die Leder entsinkt ihrer Hand.
Der sitzende Genius der Antike im
Vordergrund hat Klotz 1 Buch über
die Münzen verächtlich hinter sich
geworfen und vergleicht Lessings
Schrift über Laokoon mit einer
kleinen Ligur. Daneben enthüllt die
Label ihren Schleier, auf den einige
von Lessings Labein gewebt wurden.
Zeissig auf Empfehlung von Johann
Georg Wille, auswärtiges Mitglied der
Dresdner Kunstakademie, ebenfalls
zum Mitglied gewählt. Die Kunst¬
akademie bezog im gleichen Jahr das
Fürstenberg'sche Haus gegenüber der
Hofkirche. Christian Wilhelm Ernst
Dietrich, den Zeissig in Paris kopiert
hatte, und Adam Friedrich Oeser,
Direktor des Leipziger Zweigs der
Kunstakademie, lehrten hier. Ende
1769 kam Zeissig selbst nach Dres¬
den, ein Jahr später stellte er erstmals
vier Gemälde aus. Sie zeigten im
Auftrag von Maria Antonia Walpurgis
eine Epoche ihrer Genesung. Schon
um 1771 entdeckte Zeissig das Talent
des damals 12-jährigen Christian
Leberecht Vogel (später berühmt für
seine Kinderbildnisse), der daraufhin
ein Stipendium erhielt.
Die Porzellan-Manufaktur Meißen
stand wegen der Folgen des Sieben¬
jährigen Kriegs und stärkerer inter¬
nationaler Konkurrenz seinerzeit
vor großen Herausforderungen. Mit
der Gründung der Kunstakademie
Dresden wurde 1764 in Meißen eine
Zeichenschule eingerichtet, um die
Ausbildung zu verbessern, und unter
eine gemeinsame Generaldirektion
mit der Kunstakademie von Hage¬
dorn gestellt. Das Direktorium der
Manufaktur um Freiherrn Maximili¬
an Robert von Fletscher bemühte sich
zudem um eine neue künstlerische
Ausrichtung. Aus Paris wurde 1764
Michael Victor Acier geholt und dem
berühmten Modellmeister des Barock
396
Das Kunstgespräch (1777, seit 1948 Gemäldegalerie Alte Meister, Leinwand
80 x 63,5): Der Mäzen Thomas Freiherr von Fritsch (rechts) im Gespräch
mit Christian Ludwig von Hagedorn (links), im Hintergrund v.l.n.r. Adrian
Zingg, Johann Eleazar Zeissig und Anton Graff. Die neue Kunstakademie
musste sich der öffentlichen Diskussion stellen und über Kunst aufklären.
397
Spendenaufruf der Dresdner Frei¬
maurer als Beilage zum Dresdner
Anzeiger.
und Rokoko Johann Joachim Kaend-
ler zur Seite gestellt. Die Leitung der
Zeichenschule übernahm Christian
Wilhelm Ernst Dietrich, der auch die
künstlerische Oberaufsicht über alle
Modelleure und Maler der Manu¬
faktur ausübte. 1773 wurde Zeissig
dessen Nachfolger. Wie Acier sollte
er den „guten Geschmack“ aus Paris
einführen, dabei die Maler in Per¬
spektive und Zeichnung anleiten
und die Modelleure beraten. 1774
übernahm Camillo Graf Marcolini,
ein Vertrauter des Kurfürsten, die
Leitung der Porzellan-Manufaktur.
Nach Kaendlers Tod 1775 war Acier
alleiniger Modellmeister in Meißen.
Gemeinsam mit Zeissig, den er schon
seit ihrer gemeinsamen Studienzeit in
Paris kannte, verhalf er mit Unterstüt¬
zung von Marcolini in Meißen dem
Klassizismus französischer Prägung
zum Durchbruch. In der farblichen
Gestaltung übernahm man das „Bleu
du roi“ aus Sevres. Vielfach lieferte
Zeissig die zeichnerischen Vorlagen
zu Aciers Plastiken, so bei „Die gute
Mutter“ oder den „Devisenkindern“.
Schon während seiner frühen Dresd¬
ner Jahre stand Zeissig den Freimau¬
rern nahe, ohne selbst beizutreten. In
den Hungerjahren von 1771 bis 1773,
aufgrund von Missernten, Hochwas¬
ser und Inflation, erwarben sich die
Freimaurer große Verdienste um die
Dresdner Bevölkerung. Für zunächst
30 verarmte Kinder gründete die
Loge „Zu den drei Schwertern“ das
Freimaurer-Institut. Finanziert wurde
es teilweise aus dem Verkauf eines
Drucks nach Zeissigs Gemälde „Der
Weise“, von Christian Friedrich Stöl-
zel gestochen. Es stellt den Stifter des
Freimaurer-Ordens dar, wie er auf ein
Bild mit den Wohltaten der Freimau¬
rer gegen die Armut zeigt. Mithilfe
einer Beilage zum Dresdner Anzeiger,
mit einem von Adrian Zingg gesto¬
chenen Werk Zeissigs als Titelblatt,
sammelte man Spenden. Johann
Ludwig Giesel schuf nach Zeissigs
Zeichnung für die Loge „Zu den drei
Schwertern“ ein Wandgemälde.
1774 wurde Zeissig unter dem Di¬
rektor der Malereiakademie Charles
Hutin zum Honorar-Professor für
Genre- und Porträtmalerei ernannt.
398
Nach dem Tod Hutins übernahm er
ab 1777 als ordentlicher Professor die
künstlerische Leitung der Akademie
für Malerei, Bildhauerei und Kupfer¬
stecherei alternierend mit Giovanni
Battista Casanova, einem Bruder des
Giacomo Casanova. Canaletto blieb
in jenen Jahren auswärtiges Akade¬
miemitglied, Graff und Zingg lehrten
weiterhin, neu geholt wurde der Ma¬
ler Crescentius Jakob Seydelmann.
Zu Zeissigs bekanntesten Schülern an
der Kunstakademie gehörten Chris¬
tian August Lindner, der hier später
selbst lehrte, die Dresdner Brüder
Carl und August Friedrich, Johann
Daniel Dusler und Johann Gottlob
Klingner ebenfalls aus Dresden,
Ludwig August Sack aus Görlitz, Jo¬
hann August Lingke aus Zittau sowie
die wie Zeissig aus Großschönau
stammenden Gottlieb Schiffner und
Gotthelf Weber.
Der Bautzener Schriftsteller August
Gottlieb Meissner, der ihm 1781
seinen „Alcibiades“ widmete, gehörte
zu Zeissigs Bewunderern. Das Ver¬
hältnis zu Casanova war dagegen von
Beginn an gespannt und verschlech¬
terte sich weiter mit der erneuten
Hinwendung Zeissigs zur Histori¬
enmalerei, der Domäne Casanovas.
So war es kein Zufall, dass jener im
Unterschied zu Christian Ludwig von
Hagedorn, Adrian Zingg und An¬
ton Graff in Zeissigs Gemälde „Das
Kunstgespräch“ fehlte.
*
Eine Zuordnung von Porzellanen
aus Meißen zu Zeissigs Schaffens¬
zeit ist mittels des von 1774 bis 1815
gültigen Signets möglich.
1780 übernahm Marcolini in Hage¬
dorns Nachfolge auch die Generaldi¬
rektion der Kunstakademie. Dessen
ungeachtet förderte er weiterhin
besonders die Porzellan-Manufaktur
in Meißen. Seit Johann Joachim Win-
ckelmann war es Mode, die Antiken
in Porzellan nachzuahmen. Auch
in Meißen wurden auf Marcolinis
Anweisung solche Porzellanfiguren
hergestellt, wofür er die Modelleu¬
re die von Anton Raphael Mengs
399
Tisch auf den Frieden von Teschen
im Louvre Paris: Kaiserin Maria
Theresia und Friedrich August
der Gerechte schenkten den Tisch
Louis-Auguste de Breteuil für seine
Vermittlung zwischen Preußen und
Österreich während des Bayerischen
Erbfolgekrieges 1779. Der Tisch
wurde von Johann Christian Neuber
geschaffen und von Zeissig mit fünf
Medaillons aus Meißner Porzellan
versehen. Foto: Tangopaso (Wiki-
media Commons, Public Domain).
gesammelten Gipsabgüsse studieren
ließ. Die Eigenständigkeit der Ma¬
ler der Manufaktur blieb unter der
Oberaufsicht Zeissigs gering. Dessen
ehemaliger Schüler Heinrich Gotthelf
Schaufuß erhielt eine Anstellung als
Figurenmaler und Zeichenmeister.
Auch nachdem Acier 1780 Meißen
verlassen hatte, entstanden in Zusam¬
menarbeit mit Zeissig und den ver¬
bliebenen Modelleuren bedeutende
Arbeiten. 1782 fertigte Johann Gott¬
lob Matthäi nach Zeichnungen von
Zeissig und einem ersten Entwurf von
Acier die Modelle der teils in Biskuit,
teils in glasiertem Porzellan ausge¬
führten Figuren für den Prunkkamin
im Grünen Gewölbe zu Dresden.
Beteiligt waren Johann Carl Schön¬
heit und Christian Gottfried Jüchzer
sowie der Juwelier Johann Christian
Neuber. Zu Zeissigs Mitarbeitern bzw.
Schülern in Meißen gehörten auch
Carl Gotthelf Starcke sen./jun. aus der
Familie der Ehefrau von Gottlob
Friedrich Thormeyer.
1786 kam es zum „Dresdner Ge¬
mäldekrieg“ zwischen Zeissig und
Casanova, der vor allem durch deren
Anhänger ausgetragen wurde. Anlass
war ein euphorisches Lob für Zeissigs
„Auferstehung Christi“ in der
Kirche Großschönau. Foto: Jwaller
(Wikimedia Commons, Lizenz CC
BY-SA 3.0, Ausschnittsvergröße¬
rung)
400
„Kreuzigung Christi“ in der Kreuz¬
kirche Dresden, 1788-1792 gemalt,
1897 verbrannt.
Gemälde „Auferstehung Christi“, das
auf einer Dresdner Kunstausstellung
bei Casanovas Anhängern ein äußerst
negatives Echo fand. 1794 behandelte
Karl Friedrich Kretschmann dieses
Werk, das sich inzwischen im Besitz
der Großschönauer Kirche befand,
ausführlich in der „Lausitzer Mo-
nathsschrift“. Er nahm Zeissig darin
gegen Casanovas Kritik in Schutz. Zu
Zeissigs bekanntesten Werken zählte
zudem das Altarblatt der Kreuzkirche,
das er auf eigene Kosten malte, weil
der ursprünglich beauftragte August
Christoph Kirsch, ein Schüler Casa¬
novas, 1787 verstorben war.
1791 bezog die Kunstakademie die
umgebaute ehemalige Brühlsche Bib¬
liothek auf der Brühlschen Terrasse.
Nach dem Ableben von Casanova im
Jahre 1795 führte Zeissig die Aka¬
demie der Malerei, Bildhauerei und
Kupferstecherei gemeinsam mit Cres-
centius Jakob Seydelmann. Die Stelle
in Meißen gab er auf. In den ihm
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In der Literatur ist vielfach zitiert,
dass Zeissig nach dem Ableben
von Casanova die alleinige künst¬
lerische Leitung der Dresdner
Kunstakademie inne gehabt hat.
Dem widersprechen die jährlichen
Darstellungen in den historischen
Adressbüchern, z. B. im Jahre 1800.
401
„Zwei Frauen und drei Männer beim
Kartenspiel“, Metropolitan Museum
of Art New York, Open Access for
Scholarly Content (OASC).
verbleibenden Jahren holte Zeissig zu¬
sammen mit Camillo Graf Marcolini
weitere namhafte Künstler nach Dres¬
den, so 1799 den Porträtmaler Joseph
Grassi. 1803 erhielt Adrian Zingg die
lange verwehrt gebliebene Professur.
Dominierten am Beginn von Zeissigs
akademischer Laufbahn in Dresden
noch Historienmalerei und Klassizis¬
mus, so begann unter seiner Leitung
eine Erneuerung. Insbesondere Zingg
wurde zu einem Wegbereiter der Ro¬
mantik, die später unter Caspar David
Friedrich in Dresden zum Durch¬
bruch gelangte.
Als Zeissig starb, attestierte die zeit¬
genössische Kritik, dass er sich um
die Kunstakademie und die jungen
Maler große Verdienste erworben
habe. Seine eigenen jüngeren Arbei¬
ten wurden dagegen kritisiert (Dresd¬
ner Abendzeitung, 30.8.1806). Das
Lexikon von Georg Kaspar Nagler
schrieb: „Schenau hatte zwar Phan¬
tasie und Geschick zur Komposition,
seine Zeichnung ist aber nicht selten
unrichtig, seinen Figuren fehlt es an
wahrem Leben und Ausdruck, und
die Färbung ist bunt, selbst in den
Schatten noch glühend. Er scheint
hierin den Rubens missverstanden
zu haben.“ Zeissig wurde auf dem
Dresdner Johannisfriedhof beigesetzt,
1854 aber wegen dessen Einebnung
nach Großschönau umgebettet. Eine
Vielzahl von seinen Werken befindet
sich heute im Besitz von Oberlausit¬
zer Museen, so in Bautzen („Mädchen
mit Tauben“, „Unterzeichnung des
Ehevertrages“), in Görlitz („Ehepaar
in der Laube“, „Familienszene“), in
Zittau („Bildnis eines jungen Man¬
nes“, „Christus am Ölberg“) und eine
größere Anzahl Bilder im Deutschen
Damast- und Frottiermuseum Gro߬
schönau. Zeissigs Werke finden sich
aber auch im Metropolitan Museum
of Art New York und der National
Gallery of Art Washington. Die Staat¬
lichen Kunstsammlungen Dresden
besitzen neben den Ölgemälden „Die
kurfürstliche Familie“, „Das Kunstge¬
spräch“ und „Bildnis des sächsischen
Kurfürsten und Königs Friedrich
August des Gerechten“ vor allem
mehrere Porzellane „mit dem grünen
Band“ nach Zeissigs Entwürfen.
402
Unterzeichnung des Ehevertrages (1802). Katalog der Gemäldesammlung
Stadtmuseum Bautzen (1954), von Dr. Eva Schmidt: „Seine Familienbild¬
nisse gehören durch ihren malerischen Reiz und die unkonventionelle
Auffassung zu seinen besten Leistungen.“ Inventarnummer 3630
Quellen: Hyacinth Holland: „Schenau, Johann Vogt: „Von Kunstworten und -werten“. Bd.
Eleaz Zeißig genannt“. Allgemeine Deutsche 32 von Wolfenbütteier Studien zur Aufklä-
Biographie, Bd. 31, 1890, S. 36-37; Gottlob rung, Walter de Gruyter, 2010; SKD Online
Friedrich Otto: „Lexikon der seit dem 15. Collection; Taschenbuch der Freimaurer, Bd.
Jahrhundert verstorbenen und jetztlebenden 6, 1803; Willy Doenges: „Meissner Porzellan:
Oberlausitzischen Schriftsteller und Künst- seine Geschichte und künstlerische Entwick¬
ler“. Görlitz, 1800-1803; Paul Schumann: lung“. W. Jess Dresden, 1921; Heinrich Keller:
„Dresden“. Seemann Leipzig, 1909; „Professor „Nachrichten von allen in Dresden lebenden
Johann Eleazar Zeissig, genannt Schenau“ Künstlern“. 1788; Pauline Gräfin von Spee:
(www.kirche-grossschoenau.de); Kai Wen- „Die Klassizistische Porzellanplastik der
zel: „Zeissig, Johann Eleazar, gen. Schenau Meissener Manufaktur von 1764 bis 1815“.
(Schönau)“. Sächsische Biografie, hrsg. vom Dissertation, Bonn 2004; Neue Bibliothek der
Institut für Sächsische Geschichte und Volks- schönen Wissenschaften und freyen Künste,
künde e.V., bearb. von Martina Schattkowsky; Bd. 27,1, 1782; gw.geneanet.org; Barbara
Adressbücher der Stadt Dresden; Staatliche Marx, Christoph Oliver Mayer: „Akademie
Kunstsammlungen Dresden: „Gemäldegalerie und/oder Autonomie: akademische Diskurse
Dresden Alte Meister“. 20. Aufl., 1978; Margrit vom 16. bis 18. Jahrhundert“. Peter Lang, 2009
403
Frank Fiedler, 1944 gezeichnet von seinem Vater.
Autobiografische Retrospektive von Frank Fiedler
Lehrer a. D., Heimatforscher
*29.11.1930 Dresden
V: Friedrich Kurt Fiedler (*8.3.1894 Eichbusch, fl 1.11.1950 Dresden), Grafiker, Meisterschüler
von Josef Goller; M: Nannv Louise geh. Schuchardt (9.11.1897-9.4.1948); G: Sonja (1922-2012),
Gert (1935-1984); E: Brunhilde geh. Gnauck (*4.4.1935, Urenkelin des ehemaligen Kleindrebnit-
zer Gemeindevorstands Ernst Gnauck); K: Uwe (*24.9.1958, Dr.-Ing.)
Meine Kindheit verbrachte ich in
einem künstlerisch geprägten Umfeld
in Dresden-Blasewitz. Unser Wohn¬
haus, die Heinrich-Schütz-Straße 2,
spielte einstmals in der deutschen
Kulturgeschichte als Dürerbundhaus
eine bedeutende Rolle. 1910 hatte
es Heinrich Tscharmann für Fer¬
dinand Avenarius, noch unter der
Adresse Bahnhofstraße 24, für diese
große, deutschlandweite Organisati¬
on des Bildungsbürgertums erbaut.
Es beherbergte neben den Dienst¬
räumen des Dürerbundes auch die
lokale Redaktion der Zeitschrift „Der
Kunstwart“. Mein Vater, Kurt Fiedler,
war seinerzeit ein bekannter Grafiker.
Er arbeitete u. a. für solche führenden
Verlage wie Teubner, Steinkopff und
Güntz und zählte Villeroy & Boch,
den Zirkus Sarrasani und das Dresd¬
ner Planetarium zu seinen Kunden.
Unsere Familie teilte sich eine Etage
der großen Villa an der Elbe mit dem
Schwager Edmund Schuchardt, einem
405
bekannten Architekten und späteren
Dozenten an der Hochschule für Bil¬
dende Künste, und dessen jüdischer
Ehefrau Fanny. Ich wurde dadurch
schon frühzeitig mit den politischen
Konflikten der Nazizeit konfrontiert.
Weil mein Onkel lieber ins Arbeitsla¬
ger ging, als sich scheiden zu lassen,
und mein 1945 an der TH Dresden
beschäftigter Vater Ausweisdokumen¬
te fälschte, überlebte meine Tante als
eine der wenigen jüdischen deutschen
Mitbürger den Holocaust in Dres¬
den. Zu den Hausbewohnern jener
Zeit zählte auch Götz Heidelberg,
später maßgeblicher Erfinder der
Transrapid-Technik. Hauseigentümer
waren Avenarius Stiefsohn Wolf¬
gang Schumann und dessen Ehefrau
Eva. Sie lebten während der Nazizeit
zeitweise im Exil; Eva Schumann
wurde in der DDR zur Ehrenbürgerin
von Freital ernannt. Unser Wohnhaus
fiel den Bombenangriffen des 13./14.
Februar 1945 zum Opfer. Wir hatten
jedoch Glück im Unglück, überlebten
vollzählig und fanden Aufnahme in
Eichbusch, der Heimat meines Vaters.
Mein lebenslanges Interesse an gewäs-
serkundlichen Themen geht auf jene
Kindheitstage in Blasewitz zurück.
Meinem Vater und dem im Haus
wohnenden Oberlehrer i. R. Minkert
verdankte ich vielfältige Anregungen,
mich mit der Natur, z. B. der Fauna
der nahen Elbe, zu beschäftigen. Der
Garten des Blasewitzer Wohnhauses
war ganz im Sinne der vom Dürer¬
bund propagierten Naturverbunden¬
heit gestaltet. So befand sich beidsei¬
tig alter Baumbestand der natürlichen
Hartholzaue mit vorwiegend ein¬
heimischen Baumarten (Spitzahorn,
Ulme, Hainbuche, Esche). Diese
naturnahe Gartengestaltung wurde
später zum Vorbild, um im eigenen
Garten Lebensräume für Wildbienen
(regelmäßige Bruten), Bergmolche
(regelmäßig anwesend), Haselmäuse
(zeitweise anwesend), verschiedene
Vogelarten (z. B. die regelmäßigen
Bruten der Tannenmeise im Laub-
holzbestand) und seit einigen Jahren
besonders erfolgreich für die Wald¬
eidechse zu schaffen.
Nachdem ich frühzeitig die Mutter
verloren hatte, verließ ich das Gymna¬
sium und bewarb mich um eine Aus¬
bildung zum Neulehrer. Um meine
Chancen trotz des jugendlichen Alters
zu erhöhen, trat ich auch der SED bei.
Dabei spielte zudem eine Rolle, dass
in der Familie zunächst eine durchaus
positive Einstellung zum Sozialismus
bestand. Mein Vater, ein ehemali¬
ges SPD-Mitglied und zeitweilig als
Französisch-Dolmetscher in einem
Kriegsgefangenenlager eingesetzt,
hatte mir eindringlich von den
Verbrechen der Nazis berichtet. Es
war meinem Vater zu jener Zeit noch
nicht möglich, in der zunehmenden
„Kaltstellung“ als künstlerischer
Mitarbeiter der SED-Landesleitung
zugunsten eines Gegenspielers aus
der ehemaligen KPD das kommende
System zu durchschauen.
406
Unmittelbar nach dem Krieg hatte
ich begonnen, mich für Fossilien zu
interessieren. Aus dieser Zeit stamm¬
ten ca. 10 Fundstücke aus der Kreide
des Rathsteinbruches bei Freital,
darunter eine große Austernschale
und ein Stein mit mehreren Seeigel¬
stacheln. Für die Examensarbeit von
1957 entstand eine Sammlung von
Samen tertiärer Laubgehölze vom
Hasenberg bei Wiesa. Zusammen
mit ca. 8 großen Stücken aus dem
Karbon von Zwickau-Oelsnitz, einem
Geschenk des dortigen Steigers Kurt
Beier, der Examensarbeit und ei¬
ner Sammlung wertvoller Literatur
(darunter Bestimmungsbücher: „Die
Laubgehölze der Braunkohlezeit“, ein
Buch der Urania-Reihe zu den Fossili¬
en der Schreibkreide von Rügen und
ein antiquarisches Bestimmungsbuch
zu versteinerten Mollusken) habe ich
diese Fundstücke Anfang der 1990er
Jahre dem Museum der Westlausitz
Kamenz (z. Hd. Ursula Rathner) als
Geschenk übergeben.
Nach dem erfolgreichen Abschluss
des Neulehrerlehrgangs in Dresden
erhielt ich meine erste Anstellung als
Lehrer für Biologie und Sport in Stei-
nigtwolmsdorf (1950). In Großdreb¬
nitz (ab 1952) lernte ich meine spätere
Frau kennen. In dieser Zeit legte ich
auch das Staatsexamen im Fernstu¬
dium ab. Es folgten Anstellungen an
verschiedenen Schulen Bischofswer¬
das (ab 1961) und zeitweise in Burkau
(1969-1973). Aus gesundheitlichen
Gründen (wegen zwei Hüftoperati-
onen) schied ich 1991 vorzeitig aus
dem Schuldienst aus.
Außerhalb des Schulunterrichts leitete
ich verschiedene Schüler-Arbeits¬
gemeinschaften zu Biologie, Natur¬
schutz und Landeskultur. Weniger
erfreulich entwickelten sich die poli¬
tischen Umstände. Als Klassenlehrer
versuchte ich, insbesondere christlich
gebundene Schüler, die sich aus Glau¬
bensgründen dem System nicht völlig
unterordnen wollten (z. B. Teilnahme
an der Jugendweihe), vor Schikanen
zu bewahren. Als Sportlehrer kam ich
von 1971 bis 1973 sowie von 1978 bis
1986 als Rettungsschwimmer Stufe
I zum Einsatz. Auch nach meinem
Ruhestand war ich gerne behilflich,
wenn sich Schüler im Rahmen ihrer
Belegarbeiten mit Fragen zu natur¬
kundlichen Themen an mich wand¬
ten.
Seit meiner Kindheit war ich sport¬
lich vielseitig aktiv. Um dem in der
Familie politisch verpönten Dienst in
der HJ zu entgehen, schloss ich mich
1943 in Dresden einer Leistungsklasse
Rudern an. In Großdrebnitz betrieb
407
ich von 1953 bis 1961 Leichtathle¬
tik und war v. a. im Speerwurf im
Raum Ostsachsen relativ erfolgreich.
Zwischen 1957 und 1967 spielte ich
in Bischofswerda aktiv Handball,
von 1972 bis 1986 stellte ich mich als
ehrenamtlicher Übungsleiter dem
Bischofswerdaer Handballnachwuchs
zur Verfügung.
Nach dem Umzug in die Oberlausitz
hatte sich bei mir eine innige Ver¬
bundenheit zur hiesigen Heide- und
Teichlandschaft entwickelt. Sowohl
Gerhard Creutz (schon seit dessen
Dresdner Zeit), mit dem ich zur
Thematik Fischotter zusammenge¬
arbeitet habe, als auch Gottfried
Unterdörfer zählte ich zu meinen
Bekannten. Meine biologischen
Arbeiten beziehen sich schwerpunkt¬
mäßig - direkt oder indirekt - auf die
Gewässerfauna. Beobachtungen in
der Natur und historische Recherchen
werden ergänzt durch Erfahrungen,
die ich als Angler, Aquarianer und
langjähriger UTP-Lehrer („Unter¬
richtstag in der Produktion“) in der
landwirtschaftlichen Variante sowie
als nebenberufliche Aushilfskraft in
der Binnenfischerei von Kleindrebnitz
sammeln konnte. In den Jahren 1972
und 1984 beteiligte ich mich an der
„Aktion Fischotter“ der Martin-Lu¬
ther-Universität Halle unter Feder¬
führung von Professor Michael Stub¬
be. Bis 1989 war ich als langjähriges
Mitglied im Kreisvorstand Bischofs¬
werda des Deutschen Anglerverban¬
des zuständig für Kultur und Bildung.
Auch wenn das besondere Interesse
der Gewässerfauna gilt, entstanden
zudem Publikationen zu Beobachtun¬
gen auf anderen Gebieten der heimi¬
schen Fauna, v. a. der Ornithologie,
sowie botanische Nachweise. 1994
verlieh mir der Landkreis Bischofs¬
werda anlässlich dessen Vereinigung
mit dem Landkreis Bautzen eine
Silberne Gedenkmünze für Verdiens¬
te um den Naturschutz. Viele meiner
Arbeiten wurden in Bibliografien der
Sächsischen Landes- und Universi¬
tätsbibliothek Dresden, des Muse¬
ums für Tierkunde Dresden und der
Senckenbergischen Naturforschenden
Gesellschaft Görlitz übernommen.
Besonders die Arbeiten zum Fisch¬
otter fanden auch außerhalb Sach¬
sens Beachtung, wie verschiedene
Anfragen aus dem In- und Ausland
sowie die Bitte um Unterstützung bei
Arbeiten zu einer Promotion an der
Universität Nürnberg-Erlangen (Lia-
na Geidezis) zeigen.
Die heimatgeschichtlichen Arbei¬
ten sind vorwiegend historischen
Persönlichkeiten aus dem Raum
Bischofswerda gewidmet, vor allem
aus dem heutigen Ortsteil Großdreb¬
nitz, wohin ich auch nach meinem
beruflichen Weggang noch lange
enge familiäre und freundschaftliche
Bindungen besaß. Es gelang mir mit
einer Arbeit aus dem Jahre 1990, die
Verdienste des bereits in Vergessen¬
heit geratenen Kirchschullehrers und
Heimatforschers Bruno Barthel
wieder in das Bewusstsein des Dorfes
408
Viele meiner heimatgeschichtlichen Arbeiten zu Großdrebnitz betrafen die
hiesigen Pfarrer (Richard Garbe, Carl Julius Marloth) bzw. Kirch-
schullehrer (Bruno Barthel, Willy Sorber). Der langjährige Pfarrer von
Großdrebnitz Sebastian Führer gewährte mir dafür stete Hilfe.
409
zu rücken. Als Beitrag zu einer aus¬
gewogenen Erinnerung an verdienst¬
volle Großdrebnitzer Persönlichkei¬
ten entstanden in den Folgejahren
Arbeiten für die Sächsische Biografie
zu dem Agrarwissenschaftler Bruno
Steglich und dem Pfarrer Richard
Garbe. Viele weitere Arbeiten zur
Heimatkunde von Bischofswerda und
Umgebung betrafen Biografien von
verdienstvollen Natur- und Heimat¬
forschern wie Wilhelm Winkler, Ernst
Emil Wustmann, Johannes Weber,
August Leppelt und Hans-Werner
Otto, aber auch solche Themen wie
die Stieleichen des Lutherparks mit
ihren in der Stadtgeschichte Bi¬
schofswerdas teilweise ignorierten
Beziehungen zur früheren teichwirt -
schaftlichen Nutzung sowie die Gar¬
tenanlage „Am Hunger“. Umfassend
wurde die historische Entwicklung
von Nutzung und Fauna dieses außer¬
gewöhnlichen Gartenareals im Süden
der Stadt dargestellt. Im Rahmen
einer neu aufgelegten heimatkund¬
lichen Schriftenreihe habe ich mich
zudem bemüht, dass der Stadtchro¬
nist des 20. Jahrhunderts Johannes
Weber und der Heimatforscher
Roland Paeßler angemessene Berück¬
sichtigung fanden. Die Sichtung und
Sicherung des Nachlasses meines
Vaters, Kurt Fiedler, gehört aktuell
zu meinen wichtigsten Aufgaben.
So habe ich dem Museum in Niesky
Werbegrafiken für die Fa. Christoph
& Unmack übergeben. Über seine Ar¬
beiten für den Waaren-Einkaufsverein
Görlitz wurde im Stadtwiki Dresden
berichtet. Die Spur meiner Vorfah¬
ren konnte ich bis in die Oberlausitz
zurückverfolgen. Mein Ururgroßvater
Karl Traugott Johne war Zimmer¬
mann und stammte aus Rammenau,
ein anderer Zweig reicht demnach bis
zur Familie Klippel aus Sohland.
Erholung finden meine Frau und ich
in unserem Garten „Am Hunger“.
Bibliografie
„Die Fische des Kreises Bischofswerda“, Bischofswerdaer Land 4, S. 36-42, 1986*
„Beobachtungen des Baumfalken“, Der Falke, Heft 8, S. 272-273,1986
„Der Fischotter, Lutra lutra L., im Kreis Bischofswerda“, Bischofswerdaer Land 5, S. 41-48,
1987
„Bemerkenswerte Gehölze in Bischofswerda, Die Stieleichen des Lutherparkes“, Bischofswer¬
daer Land 6, S. 78-82, 1988 (seitens Herausgeber vertauschte Werte in Tabelle)
„Erfahrungen mit Otocinclus spec.“, Aquarien Terrarien, Heft 6, S. 194-197, 1988
„Der Sperber im Neubaugebiet Bischofswerda-Süd“, Der Falke, Heft 4, S. 123-124, 1989
„Ehregott Bruno Barthel: Lehrer, Kantor und Heimatforscher“, Bischofswerdaer Land 8, S.
97-98,1990
*durch Hrsg, verschuldete, sinnentstellende Vertauschung von Passagen zu Gründling u. Döbel
410
„Wasserqualität im Aquarium - Erfahrungen mit mehreren Arten tropischer Zierfische“,
Aquarien Terrarien, Heft 2, S. 65-66, 1990
„Zum Rückgang des Fischotters in Sachsen in den Jahren 1884-1919 - Berichte in den
Schriften des Sächsischen Fischerei-Vereins“, Abh. Ber. Naturkundemus. Görlitz, Bd. 64, Nr.
10, 1990
„Beobachtungen an Querungen von Otterwechseln mit Verkehrswegen im Landkreis Bi¬
schofswerda“, Veröffentlichungen Museum der Westlausitz 16, Kamenz, S. 60-66, 1992
„Zum Vorkommen des Fischotters im Landkreis Bischofswerda“, Ber. Naturforsch. Gesell¬
schaft Oberlausitz, Görlitz, H. 2, S. 35-39, 1993
„Zur Fischotterbekämpfung in Sachsen bis zum Jahr 1920“, Sächsische Heimatblätter 5, S.
304-308, 1993
& O. Zinke: „Beobachtungen zu Biologie und Verhalten des Fischotters, Lutra lutra L“, Veröf¬
fentlichungen Museum der Westlausitz 17, Kamenz, S. 66-77, 1993
„Abriß der historischen Verbreitung bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts“, Freistaat Sachsen,
Landesamt für Umwelt und Geologie, Artenschutzprogramm Fischotter, S. 7-9, 1996
„Historische Teichwirtschaft im Raum Bischofswerda“, Zwischen Wesenitz und Löbauer
Wasser 3, S. 41-49, 1998
„Zeugnisse früherer wirtschaftlicher Tätigkeit am Laufe des Weickersdorfer Wassers“, Zwi¬
schen Wesenitz und Löbauer Wasser 4, S. 3-7, 1999
„Das Jahr 1900 in den Gemeinden Groß- und Kleindrebnitz“, Zwischen Wesenitz und Lö¬
bauer Wasser 5, S. 52-58, 2000
& H.-W. Otto: „Der Hunger im Süden der Stadt Bischofswerda, einst und jetzt“. Zwischen
Wesenitz und Löbauer Wasser 6, S. 69-80, 2001
„Zu den Veränderungen der Fischfauna in der ehemaligen Äschenregion der Wesenitz
(1591-1989)“, Sächsische Heimatblätter 2, Klaus Gumnior Chemnitz, S. 127-133, 2003
& M. Hüsni: „Regierungsrat Prof. Dr. Bruno Steglich (1857-1929) - ein bedeutender Wissen¬
schaftler Sachsens“, Sächsische Heimatblätter 2, Klaus Gumnior Chemnitz, S. 176-180, 2004
& H.-W. Otto: „Ernst Emil Wustmann (1864-1923). Ein Bischofswerdaer Lehrer erforschte
die „niedere“ Tier- und Pflanzenwelt von Bischofswerda“, Veröffentlichungen Museum der
Westlausitz 25, Kamenz, S. 41-50, 2004
„Zu Biologie und Verhalten ausgewählter Fischarten in den Steinbruch-Restgewässern des
Klosterberggebietes bei Demitz-Thumitz“, NABU Landesverband Sachsen e.V.: Jahresschrift
für Feldherpetologie und Ichthyofaunistik in Sachsen, H. 8, S. 100-111, 2006
„Johannes Weber zum 100. Geburtstag - Ein bedeutender Chronist Bischofswerdas“, Schie¬
bocker Landstreicher, Nr. 1, S. 9-10, Burkau 2006
„Erinnerungen an die historische Verbreitung des Wolfes in der Umgebung von Bischofswer¬
da“, Schiebocker Landstreicher, Nr. 1, S. 44-48, Burkau 2006
„August Leppelt - Ein Wegbereiter naturkundlicher Heimatforschung nach dem 2. Welt¬
krieg“, Schiebocker Landstreicher, Nr. 2, S. 43-46, Burkau 2007
„Seltenes altes Ackergerät aus dem ehemaligen Erbrichtergut Belmsdorf“, Schiebocker Land¬
streicher, Nr. 2, S. 55-56, Burkau 2007
„Zum 75. Geburtstag von Hans-Werner Otto“, Schiebocker Landstreicher, Nr. 3, S. 17-20,
Burkau 2008
„Naturerlebnisse auf den Spuren des Dichterförsters Gottfried Unterdörfer“, Schiebocker
Landstreicher, Nr. 3, S. 73-78, Burkau 2008 (seitens Hrsg. Fehler in Überschrift, Bild, Tabelle)
& U. Fiedler: „Zwischen Dürerbund und Kulturbund - Aus dem Leben des Dresdner
Grafikers Kurt Fiedler“, Sächsische Heimatblätter, Jg. 55, 1/09, Klaus Gumnior Chemnitz, S.
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„Zum Salzfuhrwesen in Großdrebnitz in den Lebenserinnerungen von Prof. B. Steglich“,
Schiebocker Landstreicher, Nr. 4, S. 55-56, Burkau 2009
„Erfahrungen mit der Waldeidechse (Zootoca vivipara (JACQUIN, 1787)) in einem Garten¬
gelände im Süden der Stadt Bischofswerda“, NABU Landesverband Sachsen e.V.: Jahresschrift
für Feldherpetologie und Ichthyofaunistik in Sachsen, H. 11, S. 11-17, Leipzig 2009
„Beobachtungen zum Verhalten der Waldeidechsen (Zootoca vivipara (JACQUIN, 1787))
in einem Gartengelände und Maßnahmen zu ihrem Schutz“, NABU Landesverband Sachsen
e.V.: Jahresschrift für Feldherpetologie und Ichthyofaunistik in Sachsen H. 14, S. 24-29,
Leipzig 2012
411
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Berichte der Naturforschenden Gesellschaft
der Oberlausitz, Bd. 3 (1994), S. 3-23; Konrad
Creutz: „Erinnerungen an meinen Vater. Zum
95. Geburtstag von Dr. Gerhard Creutz“. Ar¬
beitskreis Sächsische Schweiz im Landesverein
Sächsischer Heimatschutz e.V., Mitteilungsheft
3, S. 58-59, Eigenverlag Pirna, 2006; Hans
Christoph Stamm: „Gerhard Creutz (1911-
1993)“. In: Mitteilungen des Vereins Sächsi¬
scher Ornithologen, Hohenstein-Ernstthal, 7
(1994) 5, S. 335-338; Mitteilungen von Martin
Fiedler (Pillnitz, 1950), Gottfried Unterdör¬
fer (Uhyst/Spree, um 1985), Roland Miersch
(Kleinröhrsdorf, seit ca. 1983), Prof. Dr. Franz
Bairlein (Präsident der Deutschen Ornitho-
logen-Gesellschaft, Wilhelmshaven, 2007),
Joachim Neumann (2009); www.pirna.de
Derlitzki, Georg
Rotraut Derlitzki, Eberhard Schulze: „Georg
412
Max Ludwig Derlitzki (1889-1958)“. LAMO,
Institut für Agrarentwicklung in Mittel- und
Osteuropa, Discussion Paper No. 58, 2004;
Christa Ladusch: Hochkircher Kulturnach¬
richten, April 2000 und August 2001; Theophil
Gerber: „Persönlichkeiten aus Land- und
Forstwirtschaft, Gartenbau und Veterinär¬
medizin“. Bd. 1, NORA Verlagsgemeinschaff
Dyck 8c Westerheide, S. 129-130, 2004;
Wolfgang Böhm: „Biographisches Handbuch
zur Geschichte des Pflanzenbaus“. K.G. Saur
München, S. 48-49, 1997; Roland Paeßler:
persönliche Mitteilungen, 2.8.2007; fami-
lytreemaker.genealogy.com; catalogus-pro-
fessorum-halensis; Schöne: „Die Sächsische
Landwirtschaft“. 1925
Gnauck, Emst
Gemeindebuch Klein-Drebnitz, Protokolle der
Gemeinderatssitzungen 10.2.1887-22.3.1919;
Bruno Barthel: „Die Stolpener Amtsteiche
und das Vorwerk Kleindrebnitz“. In: Unsere
Heimat, Beilage zum Sächsischen Erzähler,
5./12.3.1922; Roland Paeßler: „Die Gnauck’s
in Goldbach und Weickersdorf“. Manuskript,
1977; Roland Paeßler: „Nachkommen des
Bauern und Salzfuhrmanns Martin Gnauck“.
Manuskript, 1989; Roland Paeßler: „Her¬
kunft und Verbreitung der Familie Gnauck“.
Manuskript, 26.3.2001; Bruno Barthel:
Tagebuch „Erlebtes und Gesammeltes“; Bruno
Steglich: „Bericht über die neunte Braugers¬
ten Ausstellung in Dresden“. Mittheilungen
Oekonomische Gesellschaft im Königreiche
Sachsen, Ausgaben 8-11, S. xxviii; Hans von
Polenz: „Als noch die Milchzüge fuhren ...“.
In: Oberlausitzer Hausbuch, 2010, S. 63-65;
Datenbank der Kirche Jesu Christi der Heili¬
gen der Letzten Tage; Mitteilungen des Stadt¬
archivs Bischofswerda und der Christuskirche
Bischofswerda (zum Kirchenbuch Goldbach)
Hesse, Walther
Wolfgang Hesse: „Walther and Angelina
Hesse - Early Contributors to Bacteriology“.
ASM News, 58: 425-428, 1992; Marie-Agnes
Möbius, Mitteilungen; Peter G. Hesse: „Wal¬
ther Hesse“. Neue Deutsche Biographie, Bd. 9,
Duncker & Humblodt Berlin, S. 22-23; Uni-
versity of Wisconsin, Madison - Microbiology
Textbook; Adressbücher der Stadt Dresden,
1904, 1931, 1936; Hubertus Averbeck: „Von
der Kaltwasserkur bis zur physikalischen The¬
rapie“. Books on Demand, 2013; „Lebenslauf
von Medicinalrath Dr. Friedrich Wilhelm Hes¬
se, von ihm selbst erzählt“, Autobiographie,
gedr. 1899, C. Rieh, Gärtner'sehe Buchdru¬
ckerei Dresden
Stöckhardt, Johann Heinrich
Reinhold Grünberg: „Sächsisches Pfarrerbuch.
Die Parochien und Pfarrer der Ev.-luth.
Landeskirche Sachsens (1539-1939)“. Ver¬
lagsanstalt Ernst Mauckisch Freiberg, 1940;
Christian Gottlob Lorenz: „Grimmenser-
Album: Verzeichniss sämmtlicher Schüler der
königlichen Landesschule zu Grimma von
ihrer Eröffnung bis zur dritten Jubelfeier,“.
Verl.-Comptoir, 1850; The Church of Jesus
Christ of Latter-day Saints; Konrad Händel:
„Die Vorfahren der Geschwister Paul, Elisa¬
beth, Margarete und Johanna Händel, Nach
dem Forschungsstande vom 1. Mai 1939“. In
Auszügen neu herausgegeben und mit einer
Einleitung und Ergänzungen versehen von
Bernhard Pabst, 2. Aufl. Berlin 2008; „Putz¬
kau feiert den 300 Jahre alten Kirchturm“.
Sächsische Zeitung, Bischofswerda und
Umgebung, 22.6.2007, S. 17; Willy Richter:
„Die Matrikel der Kreuzschule: Gymnasium
zum Heiligen Kreuz in Dresden“. Teile 1-3,
Bd. 17 von Genealogie und Landesgeschichte,
Verlag Degener, 1967; Bernd John: „Aus der
Geschichte der Putzkauer Kirche“. In: Wer-
begemeinschaft Bischofswerda e.V. (Hrsg.),
Bischofswerda 2009, Blatt März; Pfarrer i.R.
Friedrich August Lange: „Unser Putzkau“. In:
Heimatstimmen, 1927; Thomas Schaffhirt,
Potsdam, Mitteilungen 2011; Ernst Theodor
Stoeckhardt; „Stammtafel der Familie Stoeck-
hardt, Putzkauer und Lauterbacher Zweig“.
Wagner Weimar, 1883
413
Abbildungsverzeichnis
Foto Uwe Fiedler
Grafik Uwe Fiedler
Bildarchiv Frank Fiedler
Kurt Fiedler
200 Jahre Dresdner Anzeiger
Academy architecture and architectural review
Adressbücher der Stadt Dresden
Archiv für die sächsische Geschichte
Bibliotheque Nationale de France
Bildarchiv Forstwirtschaft Tharandt, TU
Dresden
Bilder aus dem Sachsenlande
Christusbote Bischofswerda
Deichmüller: Isis, 1917
Deutsche Bauzeitung
Deutsche Fotothek
Deutsches Museum München
Dresdner Salonblatt
Erika Garbe (t)
Gemäldekatalog Bautzen
Gurlitt: Kunstdenkmäler
Christa Haensel
Flaifa Historical Society
Flarvard University Library
Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel
History of Medicine
Gabriele Hollborn
Informationsdienst Wissenschaft
Jenaer Literaturzeitung
Gunter Kretzschmar
Löwenberger Heimatgrüße
Mennacher: Adolf Lier und sein Werk
Seiten
19, 33, 42, 46, 51, 57, 66 o, 69-70, 76, 90,
lOOu-104, 106, 116, 120-121, 127, 151, 163,
166, 170, 173, 176, 178, 186, 189-190, 224r,
226, 236, 239, 242, 250, 262, 265, 269, 279,
281-282, 2851, 286-287, 289, 293, 298, 328,
334, 346 o, 357, 358u, 360, 362, 367, 370 l,ru,
372-376, 399, 407,409
114-115, 323, 353; Montage, Vorlagen PD: 22,
300
16, 21, 66u, 92, 98 o, 107-113, 123ru, 153,
194-195,198, 209, 228, 233, 237, 264, 283,
285r, 292 o, 308, 311 o, 315 l,ro, 324, 343,
346u-347, 354, 358 o, 359, 361, 363, 370 ro,
384, 387, 396, 405, 410, 419, 421, 423
2,404
202, 272
10
401r
132
394 o
232
294
288
150
122
60, 63, 146, 180, 192, 200, 225r, 230, 235, 271
134, 344
78, 206, 378
84
403
2241,401 1
15r, 210, 300-301, 311u, 313, 315ru
27, 37, 40 ru
23, 28-29
248, 256
164, 167
174
158
168
72
318
196
414
John Moser
Metropolitan Museum of Art New York
Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg
Niederrheinische Musik-Zeitung
Dr. Rudolf Otto (t)
Roland Paeßler (+)
Österreichische Nationalbibliothek Wien
Sachsens Kirchen-Galerie f.
Sächsischer Erzähler
Wilfried Schmid
Schriften des Verbandes landwirtschaftlicher
Versuchs-Stationen
Stadtgeschichtliches Museum Leipzig
Stadtarchiv Bischofswerda
Staatliche Museen zu Berlin
Karin Stöckhardt
Universitätsbibliothek Trier
University of Michigan
Burkhard Unterdörfer
www.kirchbau.de
Wikimedia Commons, Flickr (cc-Lizenz)
Wikimedia Commons/ Wikipedia/ Wikisour-
ce (gemeinfrei)
Gemeinfrei aus öffentlichen Quellen (books.
google.com, archive.org, hathitrust.org)
zeno.org
24, 26, 34, 36, 40 o
402
154
149
128
93, 222, 337, 351,418
88, 266
177,211,251
260
325
208
138
218,221
8
338
425
321
368
389
11-12 o, 31, 41, 53, 87, 100 o, 118, 124, 126,
231, 296-297, 366, 400r, 407
12u, 15 1, 20, 39, 48, 54, 56, 62, 96, 98u, 100 o,
119, 130-131,156, 169, 182, 193, 199, 214, 225
1, 240, 252, 255, 258-259, 276, 290, 292u, 327,
330, 356, 380, 384, 386, 392, 394-395, 397,
400 1,426
14, 30, 35, 47, 58, 61, 65, 67, 99, 149, 216, 227,
301, 340, 349, 361, 363, 365, 382, 384, 386,
390, 398, 401 1
81, 94, 105, 123 lo, 148, 217, 244, 253, 280,
299, 365, 382, 388
Kurzbiografien von Heimatforschern aus Bischofs¬
werda und Umgebung
Gnauck, Max Otto
* 19.06.1858 in Weickersdorf
t 03.06.1904 in Leisnig
Gnauck wurde als zweites von zehn
Kindern eines Bauerngutsbesitzers
geboren. Seine Vorfahren bis ein¬
schließlich des Großvaters waren über
vier Generationen Salzfuhrleute in
Weickersdorf. Über seine Großmutter
Christiane Caroline Beyer bestand
ein Ahnenverbund mit der Familie
von Friedrich Bayer, des Gründers
der Bayer AG (Wechsel der Namens¬
schreibweise 30.8.1849). Gnauck
besuchte die Volksschule Goldbach,
die Bürgerschule Bischofswerda, von
415
1872 bis 1873 das Annenrealgym-
nasium in Dresden und bis 1879 das
Kreuzgymnasium unter Friedrich
Hultsch. Nach Ableistung der Militär¬
pflicht studierte er Geschichte, Geo¬
graphie und alte Sprachen von 1881
bis 1882 in Tübingen und danach in
Leipzig. 1887 wurde er als Probeleh¬
rer am Wettiner Gymnasium in Dres¬
den unter dem Rektor Otto Meitzer
angestellt, wo er bis 1891 Geschichte
und Geographie unterrichtete. Nach
einer kurzen Tätigkeit als Vikar an
der Realschule Plauen ging er 1892
als Lehrer an die Realschule Leisnig.
Gnauck war Vorstandsmitglied im
Geschichts- und Altertumsverein
Leisnig, dessen Archiv aus seinem
Nachlass eine wertvolle Sammlung
alter Landkarten, Chroniken, Porträts
und Städtebilder als „Gnaucksamm-
lung“ übernahm. Sein bekanntestes
Werk war „Odorich von Pordenone,
ein Orientreisender des 14. Jahrhun¬
derts“ (1895). Mit der Königlichen
Bibliothek in Dresden (vgl. Hermann
Arthur Lier) stand er langjährig in
brieflichem Kontakt.
Leppelt, August
* 29.10.1919 in Heinzendorf (Hyncice)
t 26.09.1988 in Bischofswerda
Leppelts Kindheit war überschattet
von wirtschaftlichen Schwierigkeiten
wegen der mehrjährigen Arbeits¬
losigkeit des Vaters als Folge der
Weltwirtschaftskrise und dessen
frühzeitigem Tod. Der Sohn besuchte
an seinem Heimatort fünf Jahre die
Volksschule und danach drei Jahre
im benachbarten Braunau (Broumov)
die Bürgerschule. Erst 1936 erhielt er
eine Lehrstelle in einer Kunstlederfa¬
brik, zwei Jahre später erlebte er den
Einmarsch der Soldaten Hitlers. 1939
wurde Leppelt selbst eingezogen.
Im Sommer 1945 kam er aus ameri¬
kanischer Kriegsgefangenschaft frei.
Er hielt sich kurze Zeit in Sohland auf
und besuchte 1946 in Bautzen einen
Neulehrerlehrgang. Arbeitsorte waren
ab 1946 die Lutherschule Bautzen,
ab 1948 die Grundschule Bischofs¬
werda und ab 1949 die Grundschule
Schmölln. Ab 1949 leitete er eine Ar¬
beitsgemeinschaft der Jungen Natur¬
forscher, die über einen Zeitraum von
mehr als 30 Jahren Bestand hatte. Im¬
mer neue Teilnehmer pflanzten und
pflegten Wald- und Obstbäume. Die
Pappeln am Sportplatz und die Obst¬
anlage am Mühlteich in Schmölln
erinnern daran. Leppelt, der selbst die
Schmetterlingsfauna erforschte, leitete
zudem junge Imker oder allgemein
an Insekten interessierte an. Jährlich
führte er mit wenigen eingearbei¬
teten Helfern gemeinsam für die
Schulen Schmölln, Rothnaußlitz und
Demitz-Thumitz in den Sommerferi¬
en naturkundliche Spezialistenlager
durch, meist in Commerau bei Klix.
Zeitweise nahmen daran auch Schü¬
ler und Lehrer aus anderen Schulen
teil, beispielsweise Frank Fiedler aus
Bischofswerda. 1958 wurde Leppelt
als pädagogischer Mitarbeiter an die
Station Junger Naturforscher und
416
Techniker in Bischofswerda versetzt,
am 1. Januar 1962 übernahm er die
Leitung der Station. 1970 kehrte er an
die Schmöllner Schule zurück.
Nach Ausbildung und Prüfung bei
Gerhard Creutz in Neschwitz
begann Leppelt 1960 mit der Vogel¬
beringung. Seine Beringungsliste
weist 262 Einträge auf, darunter
Gebirgsstelze, Drosselrohrsänger,
Gartengrasmücke, Gartenrotschwanz,
Heckenbraunelle, Sumpfmeise,
Teichrohrsänger, Trauerfliegen-
schnäpper und ein Kuckuck. In seiner
Wirkungszeit hatte der Niedergang
der Fischotterpopulation in fast ganz
Europa ein bedrohliches Ausmaß
erreicht. In der DDR stand die Art
unmittelbar vor dem Aussterben. Im
Jahr 1969 erhielt Leppelt Kenntnis
vom Verkehrstod eines Otters bei
Großharthau. Er erreichte, dass das
davon gefertigte Standpräparat an das
Museum in Schmölln kam. Es handel¬
te sich um den ersten nachgewiesenen
Verlust eines Otters in der Umgebung
von Bischofswerda nach rund 50
Jahren. Dieser Totfund erregte auch
dank Gerhard Creutz in der Fach¬
welt beträchtliche Aufmerksamkeit
(irrtümliche Datierung 1971). Einige
Jahre später konnte Leppelt selbst den
Fund eines solchen Verkehrsopfers
sichern. Am 7. August 1985 wurde ein
männlicher Otter von 106 cm Länge
und einem Gewicht von 9 kg östlich
der Ortsverbindungsstraße Bischofs¬
werda-Schmölln gefunden. Systemati¬
sche Spurensuche durch Frank Fiedler
brachte den Beweis, dass dort der
Wechsel von Ottern zwischen dem
Horkaer Teich (Bischofswerda) und
dem Silberwasser (Kynitzsch) verlief.
Dabei handelt es sich um einen der
seltenen bekannten Landwechsel,
die große Gewässersysteme über die
Wasserscheide verbinden: Wesenitz
(Horkaer Teich) und Schwarze Elster
(Silberwasser). Im Jahr 1979 erlitt
Leppelt während des Schulunterrichts
einen Infarkt und musste invalidisiert
werden. Soweit es ihm gesundheitlich
möglich war, unterstützte er trotzdem
auch weiterhin Schüler-Arbeitsge¬
meinschaften.
Literatur
Frank Fiedler: „August Leppelt - Ein
Wegbereiter naturkundlicher Heimat¬
forschung nach dem 2. Weltkrieg“. M.
Hüsni, A. Mikus (Hrsg.), Schiebocker
Landstreicher, H. 2, Burkau 2007, S.
43-46
Paeßler, Roland
* 28.02.1928 in Belmsdorf
t 23.01.2016 in Bühlau
Paeßler stammte aus dem Erbrichter¬
und Freigut Belmsdorf. Nach 1945
war er als Landwirtschaftslehrer und
selbstständiger Landwirt tätig. Zwi¬
schenzeitlich floh er in die Bundesre¬
publik. Nach einem Fernstudium an
der Universität Leipzig von 1959 bis
1964 bei Kurt Rauhe leitete Paeßler
genossenschaftliche Landwirtschafts¬
betriebe. Von 1970 bis 1990 vertrat
er die Demokratische Bauernpartei
417
Erbrichtergut Belmsdorf.
Deutschlands als Kreistagsabge¬
ordneter. Paeßler war Mitglied der
Kreisfachgruppe Heimatgeschichte
/ Ortschronik Bischofswerda und
1981 Gründungsvorsitzender der
Gesellschaft für Heimatgeschichte des
Kreises Bischofswerda. Bei der Erar¬
beitung der Sächsischen Verfassung
von 1992 war sein Rat gefragt. Paeßler
schuf wichtige heimatkundliche
Arbeiten zur Geschichte der Ritter¬
güter, zur deutschen Ostsiedlung,
zur sächsischen Schafzucht und zu
den Freimaurern, mehrere Ortschro¬
niken und Beiträge zur Sächsischen
Biografie, beispielsweise zu Johann
Gottfried Nake, sowie Ahnenta¬
feln, z. B. zu den Familien Steglich
und Gnauck und zum Ahnenverbund
lokaler Erbrichterfamilien mit dem
Philosophen Johann Gottlieb Fichte
und der Großindustriellenfamilie
Bayer. Paeßler erhielt für besondere
Verdienste um den Landkreis Bautzen
das Ehrenzeichen in Silber.
Literatur
Ina Riedel, Frank Fiedler: „Auf den
Spuren unserer Vorfahren. Der
Heimatforscher Roland Paeßler feiert
am 28. Februar seinen 75. Geburts¬
tag“. Wochenkurier, Bischofswerda,
26.02.2003, S. 1
Frank Fiedler: „Seltenes altes Acker¬
gerät aus dem ehemaligen Erbrichter¬
gut Belmsdorf“. M. Hüsni, A. Mikus
(Hrsg.), Schiebocker Landstreicher,
H. 2, Burkau 2007, S. 55-56
Roland Paeßler: „Die Erbrichter in
der Umgebung von Bischofswerda“.
Mathias Hüsni (Hrsg.), Schiebocker
Landstreicher, H. 3, Burkau 2008, S.
8-16, zusammengestellt und bearbei¬
tet von Dr. Uwe Fiedler
Roland Paeßler: „Der Salzhandel und
das Salzfuhrwesen im ehemals Stol-
pener Gebiet“. Mathias Hüsni (Hrsg.),
Schiebocker Landstreicher, H. 4,
Burkau 2009, S. 52-55
Familie
Roland Paeßler war ein Nachfahre
von Johann Gottfried Nake in der
5. Generation; 1. Generation: dessen
Tochter Auguste Wilhelmine Nake,
verheiratet mit Ernst Traugott von
Zenker (Rittergutsbesitzer auf Stei-
nigtwolmsdorf und Ringenhain); 2.
Generation: Alwine Constanze von
Zenker, verheiratet mit Carl Bern¬
hard Paeßler (Sohn des Bautzener
Schlossapothekers Eduard Paeßler,
Verwalter des Familienguts Schmölln,
Gutsbesitzer in Belmsdorf, Bezirks-
Friedensrichter, 24 Jahre Mitglied des
sächsischen Landtags, Mitglied der
Oberlausitzischen Gesellschaft der
Wissenschaften, Auszeichnung mit
418
dem Albrechtsorden 1. Klasse); 3.
Generation: Carl Paeßler (Freigutsbe¬
sitzer in Belmsdorf); 4. Generation:
Carl Ernst Paeßler (Gutsbesitzer in
Belms dorf)
Sorber, Willy
* 07.09.1884 in Hohnstein
t 1954 in Großdrebnitz
Sorber besuchte das Königliche
Lehrerseminar in Pirna. Nach einer
Anstellung als Hilfslehrer wurde er
1910 Lehrerin Gaußig, 1921 wechsel¬
te er nach Neukirch. Die Erfahrungen
der Inflation prägten ihn nachhaltig.
In Großdrebnitz engagierte er sich
ab Oktober 1923 als Schulleiter und
Kantor für soziale und kulturelle
Belange. Unter seiner Leitung erhielt
die Schule eine moderne Wasserver¬
sorgung und er leitete den Männer¬
chor, später den gemischten Chor,
mit dem er auch Operetten aufführte.
Mit Schulkindern wurden Singspiele
aufgeführt. Sorber war zwar Mitglied
der NSDAP, ging jedoch zum Regime
zunehmend auf Distanz. Deshalb
wurde er 1937 zunächst für ein halbes
Jahr suspendiert. Schon während
seiner Zeit als Direktor hatte Sorber
sich an der Großdrebnitzer Ortsge¬
schichtsschreibung beteiligt. Aller¬
dings konnte er bei den Nazis nicht
publizieren. Erste Vorarbeiten für eine
neue Dorfchronik veröffentlichte der
mit Sorber verbundene und ebenfalls
nazikritische Pfarrer Richard Garbe
1938. Ein Jahr später erhielt Bürger¬
meister Otto Heinrich den Auftrag,
eine Dorfchronik im nationalsozialis¬
tischen Sinne nach der Anleitung des
„Dorfbuches“ anfertigen zu lassen. Er
führte dieses Vorhaben jedoch nicht
aus. Heinrich hatte die Verbindungen
zu den in Ungnade gefallenen Sorber
Willy Sorber (links) mit Großdrebnitzer Schülern 1927 auf dem Valtenberg.
Vierte Schülerin von links in der hinteren Reihe ist Luise Gnauck, eine En¬
kelin von Ernst Gnauck.
419
und Garbe nicht abreißen lassen.
Es ist zu vermuten, dass der 1939
im „Sächsischen Erzähler“ anonym
erschienene Beitrag „Das Drebnitzer
Schulhaus erzählt“ auf Sorber zurück¬
geht.
Auf Sorbers Strafversetzung nach
Sacka folgte eine Verkettung tragi¬
scher Ereignisse. Erst verlor er seine
Frau. Als sich von einer Gruppe
Schüler mehrere Kinder unerlaubt
entfernten, kam zu einem tödlichen
Unfall. Ohne dass Sorber unmittelba¬
re Schuld trug, war er jedoch verant¬
wortlich, ein willkommener Anlass
für weitere Maßregelungen. Schlie߬
lich brannte auch noch die Schule in
den letzten Kriegstagen aus und er
verlor sein Hab und Gut. Großdreb¬
nitz erinnerte sich seiner und holte
ihn nach dem Zweiten Weltkrieg
zurück. Er erhielt auf Vermittlung
von Pfarrer Richard Garbe eine
Wohnung in einem Nebengebäude
der Schule und eine Anstellung als
Kantor. Hier begann Sorber, an einer
Chronik des Dorfes zu schreiben.
Zudem unterstützte er den späteren
Bischofswerdaer Stadtchronisten
Johannes Weber, der zu jener Zeit
als Lehrer in Großdrebnitz das Dorf
fotografisch dokumentierte. Zur
Motivation der damaligen Arbeiten
von Sorber und Garbe verwies Otto
Heinrich später darauf, dass Bruno
Barthel die Bauerngüter als Träger
des dörflichen Lebens nicht behandelt
hatte. Genau dies wurde zum Haupt¬
gegenstand der Arbeiten von Sorber.
Es entstand eine umfangreiche Über¬
sicht über die Geschichte der Erbhöfe
des Dorfes. Heinrich schrieb seine
Chronik schließlich erst nach dem
Tod Sorbers und bedauerte, dass die¬
ser sein Werk nicht mehr hatte vollen¬
den können, da er dafür viel besser
geeignet gewesen wäre als Heinrich
selbst. Sorbers Arbeiten sind durch
ein Missgeschick in der Familie bis
auf eine Notizensammlung verloren
gegangen. Der Wert seines heimatge¬
schichtlichen Schaffens misst sich so
v. a. im Einfluss, den er auf Garbe und
Heinrich hatte, und schließlich in der
Wertschätzung des kulturellen Erbes
von Groß- und Kleindrebnitz.
Familie
Sorbers jüngste Tochter, Lieselot¬
te Grützner verw. Lenzmann, war
Mitbesitzerin der Fa. Lenzmann
im Kleindrebnitzer Vorwerk (siehe
Johann Gottfried Nake). Unge¬
klärt ist, ob ein verwandtschaftlicher
Zusammenhang bestand zu Oscar
Sorber, Mitarbeiter der Heilanstalt
Sonnenstein in Pirna, Mitglied der
Oberlausitzischen Gesellschaft der
Wissenschaften und Autor der Bücher
„Geschichte der Stadt Schandau“
(1876) und „Sagenklänge aus dem
Sachsenlande“ (1894).
Steudtner, Karl Hermann
* 23.01.1855 in Neugersdorf
t 13.12.1940 in Bischofswerda
Steudtner ging in Leutersdorf und
in Zittau zur Schule. In Zittau prägte
420
Oskar Friedrich nachhaltig das Inter¬
esse des Jungen für die Naturwissen¬
schaften. Steudtner wohnte zu jener
Zeit im Hause Karl Gottlob Morawek,
bei dem der Heimatforscher Johann
Gottlieb Korschelt, der Bibliothekar
Carl Anton Tobias, Gymnasialdi¬
rektor Heinrich Julius Kümmel und
der Heimatforscher Alfred Mosch¬
kau ein- und ausgingen. Morawek
weckte nicht nur sein Interesse an
historischen Fragen, als Landschafts¬
gärtner konnte er dem Jungen auch
viel botanisches Wissen vermitteln.
Auf Ratschlag eines Lehrers vertiefte
Steudtner ab 1872 seine botanischen
Kenntnisse bei dem Naturforscher
Michael Rostock, seinerzeit Volks¬
schullehrer in Dretschen. Mit Rostock
verband ihn später eine langjährige
Freundschaft. Nach seiner Lehrer¬
ausbildung in Bautzen bekleidete
Steudtner Dienststellen in Sohland
(ab 1876) und an der Bürgerschule
Bischofswerda (ab 1878). In Bischofs¬
werda gab er auch Unterricht an der
Fortbildungsschule. Steudtner lehrte
Religion, Deutsch, Rechnen, Geo¬
graphie, Naturgeschichte und Schön¬
schreiben, an der Fortbildungsschule
auch Zeichnen, wofür er sich 1882 bei
Adolf Clauson-Kaas weiterbildete.
Die Schule an der Kirchstraße (im Bild mit dem heutigen Goethepark) ist
eng mit dem Wirken der ehemaligen Bischofswerdaer Lehrer Hermann
Steudtner, Johannes Weber, Friedrich Wilhelm Winkler und Frank Fiedler
verbunden. Max Otto Gnauck, August Leppelt, Roland Paeßler und Johan¬
nes Weber gingen hier zu Schule.
421
Besonders in Bischofswerda erwarb
sich Steudtner einen guten Namen
als Natur- und Heimatforscher. Seine
detaillierten Aufzeichnungen besitzen
große Bedeutung für das Erkennen
von Veränderungen in der Flora und
Fauna der Oberlausitz. Von Steudt-
ners Belegen im Oberlausitzherbar
des Senckenberg Museums für Natur¬
kunde Görlitz betreffen etwa die Hälf¬
te das Stadtgebiet von Bischofswerda
und die unmittelbar benachbarten
Dörfer. Das regelmäßige Sammel¬
gebiet reichte aber bis Bautzen mit
Schwerpunkten am Valtenberg, im
Wesenitztal, in Gaußig und Göda. Er
bearbeitete vorrangig Gefäßpflanzen
und Pilze.
Neben den pflanzenkundlichen
Dokumentationen sind auch die
Arbeiten zur Fisch- und Vogelfauna
hervorzuheben. In Beiträgen zur
Fischfauna der Wesenitz beschrieb
Steudtner deren Verarmung infolge
der Industrialisierung. Er stellte 15
Arten fest. Die Arbeiten zur Karpfen-
teichwirtschaft in Bischofswerda sind
wertvolle Fiteratur zur ehemaligen
Bedeutung dieses Wirtschaftszweigs.
Hervorzuheben sind seine prakti¬
schen Hinweise für Karpfenteich-
wirte. Eine Folge von Beiträgen im
Jahre 1921 wies Steudtner als soliden
Kenner und aufmerksamen Beobach¬
ter der heimischen Vogelwelt aus. Er
nannte 102 Arten mit ausführlicher
Beschreibung des Vorkommens,
wodurch das Ausmaß der heutigen
Verarmung der Vogelfauna erkennbar
wird (z. B. Feldlerche „massenhaft“,
Nachtschwalbe „regelmäßig“, Wachtel
„häufig“). Bemerkenswert ist seine
Beschreibung des seinerzeit gemein¬
samen Auftretens von Nebel- und
Rabenkrähe in und um Bischofswer¬
da. Es wird aber auch deutlich, dass
die Greifvögel an Individuen- sowie
Artenzahl seither gewonnen haben.
Steudtner war Mitbegründer des
örtlichen Fehrervereins, in dessen
Vorstand er ab 1883 für 24 Jahre mit¬
arbeitete, des Bischofswerdaer Obst¬
bauvereins und eines Naturheilvereins
sowie Mitglied des Fandesobstbau¬
vereins. Am 10. Juli 1895 gründete
der Großdrebnitzer Kirchschullehrer
Bruno Barthel den Bezirksverein
Bischofswerda des Deutschen Fehrer¬
vereins für Naturkunde, den Steudt¬
ner viele Jahre leitete. Anlässlich des
25-jährigen Gründungsjubiläums
hielt er als Vorsitzender einen vielbe¬
achteten Vortrag zu Bakterien. 1899
gründete Steudtner den Naturwis¬
senschaftlichen Verein. Er verfasste
wichtige Beiträge zur Stadtgeschichte
von Bischofswerda, darunter eine
unvollendete Fortschreibung der
Stadtchronik, und erwarb sich beson¬
dere Verdienste um die Bewahrung
des Andenkens an den Heimatfor¬
scher Ernst Emil Wustmann und an
den Komponisten Johannes Pache,
dessen Vater, Emil Pache, sein Eeh-
rerkollege in Bischofswerda gewesen
war. Als jahrzehntelanges Mitglied
im Bischofswerdaer Promenadenaus¬
schuss beteiligte sich Steudtner an der
422
Gestaltung des heutigen Goetheparks
unter Leitung des Dresdner Gar¬
tenkünstlers Max Bertram. Ein Teil
seines Nachlasses befindet sich im
Stadtarchiv Bischofswerda.
Literatur
Frank Fiedler: „Historische Teichwirt¬
schaft im Raum Bischofswerda“. Zwi¬
schen Wesenitz und Löbauer Wasser
3, 1998, S. 41-49
Frank Fiedler: „Zu den Veränderun¬
gen der Fischfauna in der ehemaligen
Äschenregion der Wesenitz (1591—
1989)“. Sächsische Heimatblätter 2,
Verlag Klaus Gumnior Chemnitz,
2003, S. 127-133
Weber, Johannes
* 11.11.1905 in Dresden
t 02.02.1982 in Bischofswerda
Weber war der Sohn eines Bahn¬
angestellten. Die Familie kam in
seinem sechsten Lebensjahr nach
Bischofswerda, als der Vater hierher
versetzt wurde. Der Sohn besuchte
die Volksschule und anschließend das
Lehrerseminar. Nach einer elfjährigen
Tätigkeit an der Dorfschule in Rackel
bei Bautzen kehrte er als Lehrer an
die Schule in Bischofswerda zurück.
Weitere Stationen seines Berufslebens
waren Großdrebnitz und bis zum
Erreichen des Rentenalters 1970 die
Sonderschule Bischofswerda. Beson¬
dere Beachtung in seinem heimat-
geschichtlichen Schaffen verdient
die maschinengeschriebene Chronik
„Aus der Geschichte meiner Heimat“
An der Schule in Großdrebnitz
(links von der Kirche) lehrten Bru¬
no Barthel, Willy Sorber, Johan¬
nes Weber und Frank Fiedler.
mit dem Schwerpunkt Bischofswerda.
Ab 1970 verfasste Johannes Weber auf
der Grundlage seiner reichhaltigen
Materialsammlung das vierbändi¬
ge Werk in dreifacher Ausführung.
Umfang und Gehalt der Arbeit stellen
ihn in eine Reihe mit den bekannten
Chronisten der Stadt Bischofswerda,
wie beispielsweise Karl Wilhelm
Mittag. Neben lokalhistorischen
Themen schrieb Weber auch Beiträge
zur Regionalgeschichte (z. B. „Die
Oberlausitzer Grenzurkunde von
1241“, „Zur 4. Deutschen Kunstaus¬
stellung in Dresden“, „Die Schifffahrt
auf der Elbe“). Er war Redaktions¬
mitglied und regelmäßiger Autor
der von 1956 bis 1962 erschienenen
heimatgeschichtlichen Monatsschrift
„Der Spiegel - das kulturelle Leben
im Kreis Bischofswerda“. Weber war
vielseitig interessiert und begabt. Er
erstellte umfangreiche Fotodokumen¬
tationen als Diareihen, beispielsweise
zu Bischofswerda mit einer speziellen
423
Reihe zum Napoleonstein, Gei߬
mannsdorf, Rammenau, Großdreb¬
nitz und zum Klosterberg, schrieb
Gedichte, löste gern mathematische
Probleme, spielte Klavier und kom¬
ponierte zur eigenen Freude. Auf
Initiative von Frank Fiedler wurden
mehrere seiner Arbeiten im „Schiebo¬
cker Landstreicher“ gedruckt.
Literatur
Frank Fiedler: „Johannes Weber zum
100. Geburtstag - Ein bedeutender
Chronist Bischofswerdas“. M. Hüsni,
A. Mikus (Hrsg.), Schiebocker Land¬
streicher, H. 1, Burkau 2006, S. 9-10
Winkler, Friedrich Wilhelm
* 24.01.1863 in Jahnshorn
t 21.03.1918 in Bischofswerda
Winkler war der Sohn eines einfachen
Bauern. Er gehörte neben Bruno
Barthel und Hermann Steudtner
zu jenen Lehrern im Bischofswerdaer
Land, die sich um 1900 um die hei-
mat- und naturkundliche Forschung
besonders verdient gemacht haben.
Seine bekanntesten Arbeiten sind in
dem Lesebuch „Unsere Heimat - die
Lausitz“ zu finden. „Ein Schreckens¬
tag für Bischofswerda“, der sich auf
das Wüten einer kroatischen Heer¬
schar am 7. Oktober 1631 bezieht,
wurde am 576. Oktober 1991 in der
Sächsischen Zeitung nachgedruckt.
Weitere Schriften betrafen den
Stadtbrand von 1813, die „Lage und
Gründung der Stadt Bischofswerda“,
die Botanik und eine Beschreibung
betrieblicher Arbeitsgänge in der
Tuchfabrik Großmann-Herrmann.
In vielen Arbeiten thematisierte er
das Leiden der einfachen Menschen
im Krieg. Beispielsweise beschrieb er
die Carlowitz’sche Fehde im Zusam¬
menhang mit dem Testament des
Bischofs Nicolaus II. von Meißen, in
dessen Folge das Amt Stolpen 1559 in
den Besitz des Kurfürsten August von
Sachsen gelangte und das damit die
Reformation übernahm. Darüber hin¬
aus sind mehrere Arbeiten Winklers
im „Gebirgsfreund“ in Zittau erschie¬
nen. In Bischofswerda arbeitete er im
Naturwissenschaftlichen Verein und
im hiesigen Bezirksverein des Deut¬
schen Lehrervereins für Naturkunde
mit. Winklers Heimatverständnis
wird deutlich in dem Zitat: „Doch
ob reich oder arm an Schönheit oder
Fruchtbarkeit deine Heimat sei, habe
sie heb und halte sie wert. Sie ist ein
Heiligtum mit dem großen Zeltdach
des Himmels darüber und das Stück¬
chen Erde, das deine Eltern und dich
trägt und ernährt.“
Literatur
Frank Fiedler: „Unvergessen - dank
seiner Beiträge in einem heimatkund¬
lichen Lesebuch. Dem Bischofswer-
daer Oberlehrer Wilhelm Wink¬
ler zum Gedenken“. Sächsische
Zeitung, Ausgabe Bischofswerda,
9710.01.1993, S. 11
Uwe Fiedler: „Winkler, Friedrich,
Wilhelm“. Mathias Hüsni (Hrsg.),
Schiebocker Landstreicher, H. 3, Bur¬
kau 2008, S. 145-146
424
Die Oberlausitzer Familie Baumeister
Pädagogen, Theologen, Juristen, Mediziner und Militärs in Görlitz, Bautzen,
Bischofswerda, Breslau, Glogau, Barby, Bunzlau, Dresden, Herrnhut, Hirsch¬
berg, Kleinwelka, Niesky, Reibersdorf, Taubenheim, Uhyst und Zittau
(1) Die Oberlausitzer Familie Bau¬
meister wurde durch den am 17. Juli
1709 in Körner im Fürstentum Gotha
als Sohn eines Pfarrers geborenen
Friedrich Christian Baumeister
begründet. Er besuchte von 1722 bis
1727 das Gymnasium in Gotha. Seine
Studien der Philologie, Philosophie
und Theologie in Jena sowie ab 1729
in Wittenberg schloss er 1730 mit ei¬
ner Magisterarbeit in der Philosophie
ab. Anschließend lehrte er in Witten¬
berg Philosophie sowie Latein und
Hebräisch. 1734 wurde er hier zum
Adjunkt der philosophischen Fakultät
berufen. 1736 heiratete er eine Toch¬
ter des Wittenberger Theologiepro¬
fessors Haserung. Sie hatten 10 Söhne
(5 früh verstorben) und eine Tochter
(Johanne Friederike Wilhelmine,
20.8.1744-2.8.1803, verh. mit Gottlieb
Jeremias Behrnauer, Amtssekretär).
1736 übernahm Friedrich Chris¬
tian Baumeister das Rektorenamt
des Gymnasiums in Görlitz („Au-
gustum“). Er wirkte hier fast 50 Jahre.
1738 war er Mitbegründer der Bei-
träger-Bibliothek. Zu seinen Schülern
gehörten Christian Adolph Klotz
sowie Vorfahren von Ernst Giese.
Mit seinen philosophischen Schriften
hat er sich um die Verbreitung der
Ideen der Aufklärung, insbesondere
von Christian Wolff, große Verdienste
erworben. Viele der Werke wurden
bei Siegmund Ehrenfried Richter
gedruckt. 1758 logierte Friedrich der
Große nach der Schlacht von Hoch-
kirch im Gartenhaus Baumeisters in
der Heilig-Grab-Straße 20 (27.-30.10.,
16./17.11.). Er starb am 8. Oktober
1785 in Görlitz.
425
Bischofswerda im 18. Jahrhundert: Vor der Kirche (A) befand sich die
Superintendentur (N). Hier wirkten der Vater von Christian Adolph
Klotz und Gottlob Ernst Ottomar Baumeister.
(2.1) Christian Friedrich Baumeister
(12.6.1737-30.9.1798) besuchte das
Görlitzer Gymnasium seines Vaters.
Das Studium seit 1756 an der Uni¬
versität Leipzig schloss er 1760 als
Dr. med. mit der Arbeit „de therapia
perjucunda“ bei Anton Wilhelm Plaz
ab. 1772 wurde er Landesphysikus
für Görlitz, Zittau und Lauban. Er
redigierte medizinische Beiträge für
die Lausizische Monatsschrift und
war Mitglied der Oberlausitzischen
Gesellschaft der Wissenschaften.
Seit 1770 war er verheiratet mit der
Arzttochter Christiane Friederike
geb. Geißler. Sie hatten fünf Kin¬
der: Ottomar (12.2.1771-8.8.1773),
Christiane Friederike (* 29.1.1774,
verh. mit Hanns Salomo Friedrich
Lingke, Oberamtsadvokat in Gör¬
litz), Friedrich Ottomar (* 29.7.1776,
Standartenjunker im kursächsischen
Kürassierregiment, von Kaiser Franz
II. 1792 in den Adelsstand erhoben),
Karl Friedrich (* 26.4.1778), Ernst
Friedrich (* 26.8.1785).
(2.2) Gottlob Ernst Ottomar Bau¬
meister (* 12.1.1739 Görlitz, t
11.5.1797 Bischofswerda) besuchte
das Görlitzer Gymnasium seines
Vaters und studierte ab 1758 Theo¬
logie und Philologie an der Univer¬
sität Leipzig, u. a. bei Johann August
Ernesti. 1762 wurde er Hofmeister in
Eisleben, 1767/1768 kam er als Sekre¬
tär von Superintendent Johann Georg
Klotz nach Bischofswerda. 1769 wur¬
de er hier Diakon, 1777 Archidiakon,
1788 Pfarrer und Superintendent. Er
war verheiratet mit Rahel Christiane
geb. Hofmann.
426
(2.3) Karl August Baumeister (*
21.8.1741 Görlitz, t 8.8.1818 Herrn¬
hut) besuchte das Görlitzer Gymna¬
sium seines Vaters und studierte ab
1761 in Wittenberg und ab 1763 in
Leipzig Theologie. Ab 1764 war er
Hauslehrer in Königsberg bei einer
mit der Brüdergemeine verbundenen
Familie. 1769 kam er nach Görlitz
zurück, wo er am Gymnasium unter¬
richtete. 1774 wurde er Hilfsprediger
in Taubenheim, 1779 Schlossprediger
und Lehrer sowie 1782 Inspektor im
Seminar der Brüdergemeine in Barby,
1789 Prediger in Niesky und 1792
Prediger in der Brüdergemeine Klein-
welka. Seit 1779 war er mit Johanne
Elisabeth geb. Claviere (* 13.2.1744
Genf, f 9.11.1801 Kleinwelka) ver¬
heiratet. Sie hatten drei Töchter. 1797
wurde er zum Direktor des Pädago¬
giums in Uhyst berufen. 1801 ging
er als Prediger nach Herrnhut, 1814
wurde er dort Bischof.
(2.4) Samuel Gottfried Baumeister
(* 12.9.1750 Görlitz) besuchte das
Görlitzer Gymnasium seines Vaters
und studierte ab 1770 in Leipzig
Jura. Ab 1774 war er Amtsassessor
in Reibersdorf. 1777 promovierte er
in Erfurt zum Doktor beider Rechte
(weltlich und kanonisch, Doctor iuris
utriusque). Ebenfalls 1777 wurde er
zum Amtsdirektor in Reibersdorf er¬
nannt. 1796 legte er sein Amt nieder
und praktizierte in Zittau.
(3.2.1) Friedrich Wilhelm Ottomar
Baumeister (* 1774 Bischofswerda,
t 24.01.1828 Glogau) besuchte das
Gymnasium Görlitz. 1794 promovier¬
te er an der Universität Leipzig bei
Christian Gottlob Biener. Im April
1796 wurde er als Advokat in Görlitz
zugelassen und im Dezember dessel¬
ben Jahres als Aktuar am kurfürstli¬
chen Amt in Görlitz angestellt. Am
25. März 1799 heiratete er in Bautzen
Antonie Juliane geb. Petschke (t nach
1802), eine Tochter des Oberamts¬
kanzlers Karl Ehrenreich Petschke.
In zweiter Ehe war er mit Charlotte
Gottliebe geb. Petschke (t 1849)
verheiratet. Seit 1804 war er Mitglied
der Oberlausitzischen Gesellschaft
der Wissenschaften. 1807 diente er als
Amt-Vize-Sekretarius unter Amts¬
hauptmann Ernst August Rudolph
von Kyaw. 1808/1810 war er Sekretär
der OLGdW, 1813 Sekretär im Amt
Görlitz. 1815 kam Görlitz von Sach¬
sen zu Preußen. Bei seinem Wechsel
1817 als Oberlandesgerichtsrat nach
Glogau schenkte er dem Görlitzer
Gymnasium 2000 in der Oberlausitz
gesammelte und nach Linnes System
geordnete Pflanzen sowie 300 Mine¬
ralien. Seinem Sohn Georg Ottomar,
später ein bekannter Klaviervirtuose,
erteilte er den ersten Musikunterricht.
Jener folgte ihm wie ein weiterer Sohn
an das Oberlandesgericht Glogau.
(3.2.2) Ernst Ferdinand Baumeis¬
ter (* 5.4.1779 Bischofswerda, t
28.6.1849 Dresden) besuchte die
Gymnasien Görlitz und Bautzen
und studierte Jura an der Universität
Leipzig, wo er als Sekretär der Lau-
427
sitzer Predigergesellschaft wirkte. Ab
1801 war er Advokat, 1802 Aktuar am
Stadtgericht und 1808 Stadtschreiber
in Görlitz, wo er auch der Freimau¬
rer-Loge „Zur gekrönten Schlange“
angehörte, 1810 Sekretär am Ober¬
amt der Oberlausitz in Bautzen, 1812
Vize-Kanzler und 1821 Oberamtsre¬
gierungsrat in Bautzen. 1818 nahm
er an der Weihe der von Gottlob
Friedrich Thormeyer errichteten
Kirche in Bischofswerda teil. 1830
wurde er zum Hof- und Justizrat in
Dresden und 1831 zum Geheimen
Justizrat am sächsischen Justizmi¬
nisterium unter Julius Traugott von
Könneritz ernannt. 1838 erhielt er
den sächsischen Civilverdienstorden.
Er war seit 1804 verheiratet mit einer
Tochter von Stadtrichter Christian
Matthäus Friedrich Giese, einer Tante
von Ernst Giese. Ihre Tochter Marie
heiratete Major von Gößnitz.
(4.2.1.1) Georg Ottomar Baumeister
(* 27.10.1800 Görlitz, f nach 1872
Breslau) besuchte unter Carl Gottlieb
Anton das Gymnasium Görlitz. In
Görlitz erhielt er von seinem Vater
auch den ersten Musikunterricht.
Johann Gottlob Schneider un¬
terrichtete ihn ebenfalls. 1815 kam
Görlitz von Sachsen zu Preußen.
Während des Jura-Studiums in Bres¬
lau ab 1818 freundete er sich mit Carl
Schnabel an und beteiligte sich an
dessen Winterkonzerten. 1821 wurde
er in Berlin Mitglied der Singaka¬
demie von Carl Friedrich Zelter. Er
publizierte eigene Kompositionen bei
C. G. Förster in Breslau. 1826 erhielt
er eine Anstellung als Oberlandesge¬
richtsassessor in Glogau, 1829 wurde
er Direktor des Land- und Stadtge¬
richts Hirschberg, 1832 Oberlan¬
desgerichtsrat in Breslau und 1846
Mitglied des Oberzensurgerichts.
Zusammen mit Christian Friedrich
Koch gab er das „Schlesische Archiv
für die praktische Rechtswissenschaft“
heraus. 1872 trat er als Wirklicher
Geheimer Oberjustizrat in Breslau in
den Ruhestand. Sein Sohn Ottomar
studierte an der Landwirtschaftlichen
Akademie Proskau.
(4.2.1.2) Gustav Maximilian Bau¬
meister (* 17.1.1802 Görlitz, f nach
1852) besuchte unter Carl Gottlieb
Anton das Gymnasium Görlitz,
war Oberlandesgerichtsreferendar
in Glogau, 1827 Stadtgerichtsasses¬
sor in Bunzlau, 1830 Assessor und
Aktuar am Inquisitoriat Görlitz und
damit zuständig für Görlitz, Lauban,
Rothenburg, 1834 (bis 1840) Mitglied
der Oberlausitzischen Gesellschaft
der Wissenschaften (Abteilungen
Rechtswissenschaften, Geschichte),
1835 Kriminalrichter, 1836 Inquisito-
riatsdirektor, 1837 Land- und Stadt¬
gerichtsrat in Görlitz, 1840 Kriminal¬
richter am Inquisitoriat Breslau.
(4.2.1.3) Paul Friedrich Hugo Fer¬
dinand von Baumeister (* 4.7.1821
Glogau, t 24.7.1887 Bad Reinerz) war
Major und wurde nach dem Krieg
1870/1871 in den erblichen preußi¬
schen Adelsstand erhoben.
428