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Full text of "Lehrbuch der Anatomie des Menschen : mit Rücksicht auf physiologische Begründung und praktische Anwendung"

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Sr.CuBtar  Sresel 


iL^lb^Bj 


Dr.GuBtaT  Dresel 


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LEHRBUCH 


DEK 


ANATOMIE  DES  MENSCHEN 


MIT  EtlCKSICHT 


AUF 


PHYSIOLOGISCHE  BEGRÜNDUNG  UND 
PRAKTISCHE  ANWENDUNG. 


VON 


JOSEPH    HYBTL 


k.  k.  Hofratb,  Uoetor  der  Mcdicin  und  Chirurgie,  emcr.  Prufesiior  der  descriptiren,  topoffrapliisehen  und  rerglei- 
clMSden  Anatomie  an  der  Wiener  Uniremitllt,  Comtbur  de«  kaiiierl.  Ootiterreichiachen  Ordens  dw  elaornea 
Krone,  de«  kSniKl.  ProusHiwliun  Kronen -Ordens,  de^  kr»nig'l.  KaieriNchen  Verdienstordens  ron  heil.  Michael  and 
des  kaistsrl.  llezicanisrhen  (juadalupe-Ordons,  Gross-CMnciur  des  kais.  Otiouiani sehen  Mc^JidU^Ordens,  UlUer  des 
Üviturruichischen  Leopold-  und  Frana  Joseph-Ordenii,  des  Ordens  der  frana.  Khrenlei^ion,  Officier  de«  kOnlgl. 
irriorhiaehea  Ordens  dos  ErlOsurs,  Besitaer  der  goldenen  VerdienstuiedalUc  der  Boale  Assoriaaione  del  bone  inerltl 
Italiani,  Khrendoctor  der  Leipsif(nr  UnivcrsilNt,  Khrenmit;7licd  des  freien  Deotschun  Iloohstifles  fllr  Wissenschafi 
und  Kunst  au  Frankfurt  am  Main,  der  kSnigl.  unf^arischcn  Akademie  der  Wissonscballen  in  Test,  der  kOnlgl. 
Akademie  der  Wlssenscliaften  und  Künste  au  Palermo,  der  llnirersltllten  Moskau  und  Kiew,  und  dmr  kais. 
Knsaiwhen  natorforsehendon  CiescUschaft  au  Moskau,  der  Sorietj  of  Natural  Uistory  au  Boston,  der  California 
State  MedIraJ  Societjr  In  Sacraraento,  der  med.  Chirurg.  Akademie  in  Ht.  Petersburg,  de«  Vereine«  deutwhcr 
Aerate  und  Naturforscher  in  Paris,  der  Gonellsrhafl  fllr  Natur-  und  Heilkunde  in  Dresden,  der  kOnigl.  ungarischen 
naturwissenschaftlichen  OcselUchaft  in  Punt,  der  Gesellschaft  der  Aerate  in  Krain,  und  des  Mnsealt'oreinoa  au 
I.aibach,  der  bShmisdien  Gusellschaft  der  Aerate,  und  der  Akademie  der  bildenden  Kdnste  in  Prag,  der 
Iratlichen  Gesellschaft  der  Bukowina  in  Cacrnowitx ,  ordontlichum  Mitglied  der  kaiserl.  Akademie  der 
Wissenschaften  in  Wien,  und  der  kUnlgl.  Akademie  der  Wissanaehaften  au  München,  der  Academla  Caesarea 
Leopolde-Carolina  caturae  curiosorum,  der  kSnigl.  b8limi*ehen  Gesollschaft  der  Wissenschaften  in  Prag,  und 
das  k.  k.  aoologisch -botanischen  Vereins  in  Wien,  aiiswKrtigem  Mitglied  der  Bodetas  nie<lica  Fenniea  au 
HeNingfors,  der  American  Fhilosophiral  StMUety  au  Philadelphia,  und  der  Medlcal  Iloyal  Society  au  Kdinbnrg, 
correspondlrendem  Mitglied  der  Aead<imie  Imperiale  de  M4ducine,  der  Bociift^  «natomiqno  und  der  Sodiii  da 
Biologie  an  Paris,  der  9oci4t4  Imperiale  dc^  scienccs  naturelles  de  Cherbourg,  der  Academla  srieniiamm 
Institutl  Bononlensis.  der  kOnigl.  Akademie  der  Witsvnncbaften  au  Berlin,  der  kaiserl.  Akademie  au  Si.  Fatan- 
borg,  der  kBnlgl.  GesslUrhaft  der  Wissenschaften  au  Gffttingen.  der  Anthropological  Society  an  London,  der 
Natural  Hlstory  Society  au  Dublin,  der  k^nigl.  medicinisohoo  Gesellschaft  an  Athen,  der  Academy  of  Hataral 
Sciences  su  Philadelphia,  der  Kllint  Soricty  of  Natural  Hlstory  an  Charleston,  South-Carolina,  der  Qes«ll* 
Schaft  der  Wissenschaften  tiir  NiedorlÜndiacli-IncUcn  an  Bataria,  der  kaiserl.  kOnigl.  geologischen  Relchsanstali 
in  Wien,  des  Ateneo  au  Venedig,  de»  Istituto  l^mbardo  per  lu  «cience,  lottere,  ed  arti  an  Mailand,  sowie 
der  gelehrten  roodiciniiichvn  und  naturwi««ensciiafllich(;n  Gesvllschaflon  au  Amsterdam,  Bonn.  Breslau.  Brunn, 
Brüssel.  Krlaagrn,  Freiborg,  Halle,  l^eipalj;,  lAimberg,  Pust  und  Stockholm, —  Khrenbürgor  Wion's  und  MOdling's, 
der  kSnigl.   Ungarischen  Freistadt  Kis-.Marton,  und  di-s  lande«filrstl.  Marktes  Purchtoldtdorf  in  Niv^ler-Oesterreieh. 


VIERZEHNTE, 

UMGKAUBEITETE  UND  REICH  VKKHRHRTB  AUFLAGE. 


WIEN,  1878. 

W  I  L  H  E  L  JI    B  R  A  U  M  Ü  L  L  E  R 

K.  K.  HOF-  L'ND  UNIVEKSITÄTSBUCUHÄNDLKK. 


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VOEWOKT  ZUR  VIERZEHNTEN  AUFLAGE. 


JJie  Aufforderung,  eine  neue  Auflage  meines  Lehrbuches  der 
Anatomie  zu  veranstalten,  erging  vom  Verleger  an  mich,  kurz 
nachdem  ich  meine  Stellung  als  Professor  der  Anatomie  nieder- 
gelegt hatte.  Diese  Aufforderung  kam  nicht  unerwartet,  da  bei  der 
Beliebtheit  des  Buches,  die  Lebensdauer  seiner  einzelnen  Auflagen, 
nicht  über  dritthalb  Jahre  reichte,  und  die  dreizehnte  derselben, 
gegen  Ende  1875  ausgegeben  wurde. 

Ich  habe  mich  auf  die  Herausgabe  der  vorliegenden  vier- 
zehnten Auflage,  mehr  als  auf  jene  der  vorhergegangenen  vorbereiten 
können,  da  es  mir,  in  der  Zurückgezogenheit  meines  gegenwärtigen 
Aufenthaltes,  eine  Lebensregel  geworden :  feriandi  torporem  diligentia 
evitare  (Oic.j.  So  erscheint  sie  denn  auch,  unter  Beibehaltung  der 
alten  Eintheilung,  reich  vormehrt,  und  in  jenen  Capiteln  sorg- 
faltig umgearbeitet,  deren  Verständniss ,  ohne  Beihilfe  von  Tafeln 
oder  Holzschnitten,  dem  Anf&nger  so  leicht  als  möglich  zu  machen 
ich  bestrebt  war.  Die  neuesten  Früchte,  welche  der  fast  er- 
schöpfte Boden  der  Anatomie  getragen  hat,  wurden,  soweit  sie 
genussbar  sind,  dem  Texte  einverleibt.  Dass  ich  mich  zugleich 
mit  Vorliebe  in  die  Erklärung  der  anatomischen  Kunstausdrücke 
eingelassen  habe,  werden  mir  Jene  Dank  wissen,  welche  es  zugeben, 
dass,  wer  die  anatomische  Sprache  zu  sprechen  lernt,  ihre  Worte 
auch  verstehen,  und  sie  richtig  schreiben  und  aussprechen  soll.  Ich 
glaube,  durch  die  zahlreichen  etymologischen  und  geschichtlichen 
Notizen,  welche  manches  Unerwartete  bringen,  etwas  Gutes  gestiftet 
zu  haben,  denn  sie  sind  ebenso  belehrend  als  anziehend.  Was  sonst 
noch  zur  Empfehlung  dieser  umgearbeiteten  Auflage  zu  sagen  wl 


H  .' 


IV  Yorrede  mr  ersten  Anflage. 

möge  dieselbe  dem  Leser  selbst  sagen.  Ich  habe  nur  noch'  zu 
bemerken^  dass  der  Preis  des  Buches,  durch  zweiunddreissig  Jahre 
seiner  Existenz,  derselbe  geblieben  ist,  obwohl  das  Volumen  der 
vierzehnten  Auflage  jenes  der  ersten  um  das  Doppelte  übertrifft. 

Wenn  es  mir  Befriedigung  gewährt,  das  brauchbarste  anato- 
mische Lehrbuch  geschrieben  zu  haben,  werden  auch  die  Studenten 
nicht  ungehalten  sein,  dass  es  zugleich  das  billigste  ist. 

Perchtoldsdorf  bei   Wien,  im  März,  1878. 

Jos.  Hyrtl. 


VOEKEDE  ZUE  BESTEN  AUFLAGE. 


Ich  habe  mich  zur  Herausgabc  dieses  anatomischen  Lehr- 
buches entschlossen,  um  meinen  Schülern  einen  Leitfaden  an  die 
Hand  zu  geben,  welcher  in  gedrängter  Kürze  den  gegenwärtigen 
Standpunkt  der  Anatomie  schildert,  sie  mit  dem  Geiste  der  Wissen- 
schaft und  ihren  Tendenzen  bekannt  macht,  und  ihnen  zugleich 
eine  kleine  Andeutung  über  die  grossen  Anwendungen  giebt,  deren 
die  Anatomie  im  Gebiete  der  Praxis  föhig  ist.  Anatomische  Com- 
pendien  von  dem  bescheidenen  Umfange  des  vorliegenden,  fördern 
in  der  Regel  die  Wissenschaft  nicht,  und  haben  keinen  andern 
Zweck,  als  Jene,  welche  sich  mit  dem  Fache  näher  befreunden 
wollen,  füi-  das  Studium  umfassenderer  Werke  vorzubereiten,  an 
welchen  die  anatomische  Literatur  so  reich  ist.  Ich  fand  mich  um 
so  mehr  veranlasst,  diese  Arbeit  zu  unternehmen,  als  ich  während 
meiner  Wirksamkeit  als  Lehrer  der  Anatomie  die  Beobachtung 
machte,  dass  sich  die  Studirenden  häutig  solcher  Handbücher  be- 
dienen, bei  deren  Auswahl  nicht  immer  auf  ihren  Gehalt  Rücksicht 
genommen  wird. 

Bei  der  vorzugsweise  praktischen  Richtung,  welche  der  medi- 
cinische  Unterricht  in  den  österreichischen  Staaten  einschlägt,  habe 
ich  fUr  nützlich  erachtet,  die  trockenen  Details  der  anatomischen 
Beschreibungen  mit  Andeutungen  über  physiologische  Verhältnisse 
zu  verbinden^  da  nach   diesen  der  wissbegierige  Zuhörer  zunächst 


Vorrede  mr  ersten  Auflage.  y 

verlangt,  und  von  gewöhnlichen  Schulbtichern  wenig  AofsehlasB 
darüber  erhält.  Da  ich  ferner  die  Ueberzeugung  habe,  dasB  Nie- 
mand jene  Anatomie,  welche  er  im  ärztlichen  Leben  braucht,  aus 
Büchern  lernt,  sondern  nur  durch  praktische  Uebung  am  Leichnam 
sich  eigen  macht,  so  habe  ich,  wo  es  anging,  die  Schilderung  der 
Theile  so  vorgenommen,  wie  sie  sich  unter  dem  Messer  entwickeln, 
und  deshalb  die  Muskellehre  mit  der  topographischen  Anatomie  der 
Regionen  verbunden.  Organe,  um  welche  das  praktische  Bedürfniss 
wenig  fragt,  werden  so  compendiös  als  möglich  abgehandelt;  dagegen 
Kegionen,  welche  das  Interesse  des  Praktikers  mehr  anregen,  aus- 
führlicher besprochen.  Man  wird  deshalb  den  Leisten-  und  Schenkel- 
kanal, den  Situs  viscerum,  das  Mittelfleisch,  und  andere  Gegenden, 
an  welchen  häuflg  operirt  wird,  mit  grösserer  Umständlichkeit  be- 
handelt finden,  als  die  Faserung  des  Gehirns  oder  den  Bau  des 
Gehörorgans.  Durch  diese  Behandlungsweise  dürfte  sich  das  Werk 
vielleicht  zu  seinem  Vortheile  von  anderen  Schriften  dieser  Art 
unterscheiden.  Von  1  jiteraturquellen  werden  nur  jene  angegeben, 
welche  sich  auf  den  Text  direct  beziehen,  und  welche  ich  aus 
eigener  Erfahrung  für  die  weitere  Ausbildung  im  Fache  als 
empfehlenswerth  kennen  lernte. 

Es  war  meine  Absicht,  das  Buch  mit  Tafeln  auszustatten,  da 
ich  sehr  wohl  einsehe,  wie  sehr  die  bildliche  Anschauung  den  Be- 
griffen zu  Statten  kommt,  und  zugleich  weiss,  mit  welchem  Bei- 
falle die  illustrirtcn  Ausgaben  englischer  Handbücher  auch  in 
Deutschland  aufgenommen  wurden.  Die  dadurch  nothwendig  ge- 
wordene Vertheuerung  des  Buches  bestimmte  mich  jedoch,  diesen 
Plan  vor  der  Hand  aufzugeben.  Ich  pflege  in  meinen  Vorlesungen, 
wo  es  angeht,  den  Bau  und  die  räumlichen  Verhältnisse  der  Or- 
gane durch  Zeichnungen  von  Durchsclmitten,  und  ihr  Nebeneinander- 
scin  durch  skizzirte  Entwürfe  zu  versinnliclien.  Werden  diese  vom 
Zuliörer  copirt,  so  kann  er  sich  dadurch  einen  anatomischen  Atlas 
bilden,  der  ihm  beim  Studium  des  Textes  wesentliche  Dienste 
leisten  wird.  —  Von  der  Entwicklungsgeschichte  habe  ich  nur  so 
viel  aufgenommen ,  als  mir  erforderlich  .  schien ,  um  die  späteren 
Zustände  des  schwangeren  Uterus  und  seines  Inhaltes  verständlich 
zu  machen,  dagegen  die  in  Form  und  Lage  der  Organe  auftreten- 
den Varietäten,  auf  deren  Vorkommen  der  Chirurg  gefasst  sein 
BoU,  oder   die   sich   auf  interessante  Weise   aas  der  vergleichenden 


VI  Vorrede  zur  ersten  AnflAge. 

ÄBatomie  interpretiren  lassen,  am  betreffenden  Orte  zusammengestellt. 
Die  allgemeine  Anatomie  wurde,  nach  üblichem  Gebrauche,  der 
speciellen  vorangeschickt,  obgleich  ich  weiss,  dass  das  Studium  der 
ersteren  nur  durch  die  Kenntniss  der  letzteren  möglich  wird.  — 
Da  ich  mir  wohl  denke,  dass  fiir  den  angehenden  Arzt  praktische 
Bemerkungen,  sofern  sie  ohne  specielle  Kenntniss  der  Krankheiten 
verständlich  sind,  nicht  ohne  Nutzen  auch  in  einem  anatomischen 
Handbuche  Platz  finden  können,  so  habe  ich  solche,  wo  es  thunlich 
war,  beigefügt;  wenigstens  weiss  ich  aus  eigener  Erfahrung,  dass  es 
mir  als  Studenten  sehr  willkommen  gewesen  wäre,  zu  erfahren,  warum 
man  Anatomie  lernt.  Sollte  diese  Abweichung  von  der  streng  ana- 
tomischen Aufgabe  Jemanden  schädlich  vorkommen,  so  steht  es 
ihm  ja  frei,  die  betreflfenden  Paragraphen  zu  überschlagen. 

Vollständigkeit  und  Kürze  zu  vereinigen,  war  der  Zweck,  den 
ich  erreichen  wollte,  —  Deutlichkeit  ist  nicht  immer  das  Ergebniss 
vieler  Worte,  —  und  wenn  die  allzu  compendiöse  Form  dieses 
Buches  dem  kritischen  Vorwurf  unterliegt,  so  wird  sie  wahrschein- 
lich in  den  Augen  derer,  für  welche  es  geschrieben  wurde,  nicht 
die  tadelnswertheste  Eigenschaft  desselben  sein. 


Wien,  im  August,  1846. 


Hyrtl. 


INHALT. 


§. 

1. 

§. 

2. 

§. 

3. 

§. 

4. 

§. 

6. 

§. 

6. 

§. 

7. 

§. 

8. 

§. 

9. 

§. 

10. 

§. 

11. 

§. 

12. 

§. 

13. 

§. 

14. 

§. 

16. 

§. 

16. 

Einleitung  und  Vorbegriffe. 

Seite 

Organisches  und  Anorganisches 8 

Organisation.     Organ.    Organismus 7 

Lebensverrichtnngen 8 

Begaff  der  Anatomie 10 

Eintheilung  der  menschlichen.  Anatomie 1] 

Topographische  Anatomie 14 

Vergleichende  Anatomie  und  Entwicklungsgeschichte 16 

Verh&ltniss  der  Anatomie  zur  Physiologie 18 

Verhältniss  der  Anatomie  zur  Medicin 20 

Verhältniss  der  Anatomie  zur  Chirurgie 28 

Lehr-  und  Lemmethode 27 

Terminologie  der  Anatomie       81 

Besondere  Nutzanwendungen  der  Anatomie 84 

Geschichtliche    Bemerkungen    über    die    Entwicklung    der    Anatomie. 

Erste  Periode 36 

Zweite  Periode  der  Geschichte  der  Anatomie 48 

Allgemeine  Literatur  der  Anatomie 64 


Erstes    Buch. 
Gewebslehre  und  allgemeine  Anatomie, 

§.  17.  Bestandtheile  des  menschlichen  Leibes 77 

§.  18.  Die  thierische  Zelle 80 

§.  19.  LebeuBeigenschaften  der  Zellen 82 

§.  20.  Metamorphose  der  ZeUen 86 

§.  21.  Bindegewebe 86 

§.  22.  Eigenschaften  des  Bindegewebes 89 

§.  28.  Bindegewebsmembranen 90 

§.  24.  Elastisches  Gewebe 91 

§.  26.  Fett 98 

§.  26.  Physiologische  Bedeutung  des  Fettes 95 

§.  27.  Pigment 98 

§.  28.  Oberhaut  und  Epithelien 100 

§.  29.  Allgemeine  EigeuBchaften  der  Epithelien 102 

§.  80.  Physiologische  Bemerkungen  über  die  Epithelien 106 

|.  81.  Muskelgewebe.    Hauptgmppen  desselben 108 

§.  82.  Anatomische  Eigenschalten  der  Muskeln llt 

|.  88.  Chemische  Eigenschafken  des  Muskelgewebe!  iift 


VIII  Inhalt. 

Seite 

Physiologische  Eigenschaften  des  Muskelgewebes.     Irritabilität    .     .     .  114 

Sensibilität,  Stoffwechsel,  Todtenstarre,  und  Tonus  der  Muskeln        .     .  117 

Verhältniss  der  Muskeln  zu  ihren  Sehnen 120 

Benennung  und  Eintheilung  der  Muskeln 121 

Allgemeine  mechanische  Verhältnisse  der  Muskeln 123 

Praktische  Bemerkungen  über  das  Muskelgewebe 125 

Fibröses  Gewebe 128 

Formen  des  fibrösen  Gewebes 129 

Praktische  Bemerkungen  über  das  fibröse  Gewebe 131 

Seröse  Häute 132 

Praktische  Bemerkungen  über  die  serösen  Häute 136 

Gefässsjstem.     Begriff   des    Kreislaufes    und    Eintheilung    des   Gefäss- 

sjstems 137 

Arterien.     Bau  derselben 140 

Allgemeine  Verlaufs-  und  Verästlungsgesetze  der  Arterien       .     .          .  142 

Physiologische  Eigenschaften  der  Arterien 146 

Praktische  Anwendungen 147 

Capillargefässe.     Anatomische  Eigenschaften  derselben 152 

Phjsiologfische  Eigenschaften  der  Capillargefässe 156 

Venen.     Anatomische  Eigenschaften  derselben 167 

Verlaufs-  und  Verästlungsgesetze  der  Venen 169 

Physiologische  Eigenschaften  der  Venen 160 

Praktische  Anwendungen 162 

Lymph-  und  Chjlusgefässe.     Anatomische  Eigenschaften  derselben       .  164 

Verlaufsgesetze  der  Lymph-  und  Chylusgefäase 166 

Bau  der  Lymphdrüsen 167 

Physiologische  und  praktische  Bemerkungen 169 

Blut.     Mikroskopisclie  Untersuchung  desselben 173 

Gerinnung  des  Blutes 176 

Weitere  Angaben  über  chemisches  und  mikroskopisches  Verbalten  des 

Blutes 177 

Physiologische  Bemerkungen  über  das  Blut 179 

Bildung  und  Rückbildung  des  Blutes 181 

Lymphe  und  Chylus 182 

Nervensystem.     Eintheilung  desselben 184 

Mikroskopische  Elemente  des  Nervensystems 185 

Ursprung  (centrales  Ende)  der  Nerven 190 

Peripherisches  Ende  der  Nerven 191 

Pacini*8che  Körperchen  und  Wagner*s  Tastkörperchen 194 

Anatomische  Eigenschaften  der  Nerven 196 

Physiologische  Eigenschaften  des  animalen  Nervensystems       .     .     .     .  199 

Physiologische  Eigenschaften  des  vegetativen  Nervensystems  ....  204 

Praktische  Anwendungen 207 

Knorpelsystem.     Anatomische  Eigenschaften 209 

Physiologische  Eigenschaften  der  Knorpel 212 

Knochensystem.     Allgemeine  Eigenschaften  der  Knochen 213 

Eintheilung  der  Knochen 216 

Knochensubstanzen 218 

Beinhaut  und  Knochenmark 219 

Verbindungen  der  Knochen  unter  sich 222 

Näheres  ül)er  Knoclienverbindungen        225 

Structur  der  Knochen       227 

Physiologische  Eigenschaften  der  Knochen 229 

Entstehung  und  Wachsthum  der  Knochen 231 

Praktische  Bemerkungen        236 

Schleimhäute.     Anatomische  Eigenschaften  derselben 237 

Physiologische  Eigenschaften  der  Schleimhäute       239 

Drttsensystem.     Anatomische  Eigenschaften  desselben 242 

Eintheilung  der  Drüsen 243 

Physiologische  Eigenschaften  der  Drüsen 246 

Allgemeine  Bemerkungen  über  die  Absonderungen 248 


§. 

34. 

§. 

35. 

§. 

36. 

§. 

37. 

§. 

38. 

§. 

39. 

§. 

40. 

§. 

41. 

§. 

42. 

§. 

43. 

§. 

44. 

§. 

45. 

§. 

46. 

§. 

47. 

§. 

48. 

§. 

49. 

§. 

50. 

§. 

61. 

§. 

62. 

§. 

53. 

§. 

64. 

§. 

65. 

§. 

66. 

§. 

57. 

§. 

58. 

§. 

59. 

§. 

60. 

§. 

61. 

§. 

62. 

§. 

63. 

§. 

64. 

§. 

66. 

§. 

66. 

§. 

67. 

§. 

68. 

§. 

69. 

§. 

70. 

§. 

71. 

§. 

72. 

§. 

73. 

§. 

74. 

§. 

75. 

§. 

76. 

§. 

77. 

§. 

78. 

§. 

79. 

§. 

80. 

§. 

81. 

§. 

82. 

§. 

83. 

§. 

84. 

§. 

85. 

§. 

86. 

§. 

87. 

§. 

88. 

§. 

89. 

§. 

90. 

§. 

91. 

§. 

92. 

Inhalt.  IX 

Zweites    Buch. 
Vereinigte  Knochen-  und  Bänderlehre. 

Seit« 

93.     Object  der  Knochen-  und  Bänderlelire 266 

A.  Kopfknochen. 

§.     94.     Eintheiinng  der  Kopfknochen 267 

a)  Schädelknochen. 

§.     95.     Allg^emeine  Eigenschaften  der  Schädelknochen 268 

§.     96.     Hinterhauptbein 260 

§.     97.     Keilbein 264 

§.     98.     Stirnbein 270 

§.     99.     Siebbein 274 

§.  100.     Seitenwandbeine  oder  Scheitelbeine 276 

§.   101.     Schläfebeine 278 

§.  102.     Verbindung^arten  der  Schädelknochen.     Fontanellen 286 

§.  103.     lleberzählige  Schädelknochen 289 

§.  104.     Schädelhöhle 291 

b)  Gesichtsknochen. 

§.  105.     Allgemeine  Bemerkungen  über  die  Gesichtsknochen 294 

§.  106.     Oberkieferbein 296 

§.   107.     Jochbein        299 

§.  108.     Nasenbein 300 

§.  109.     Gaumenbein        301 

§.   110.     Thränenbein        303 

§.  111.     Untere  Nasenmuschel 303 

§.  112.     Pflugscharbein 304 

§.   113.     Unterkiefer 306 

§.  114.     Kinnbacken-  und  Kiefergelenk 307 

§.  115.     Zungenbein 308 

§.   116.     Höhlen  und  Gruben  des  Gesichtsscbädels 309 

§.  117.     Verhältniss  der  Hirnschale  zum  Gesicht        314 

§.   118.     Altersverschiedenheit  des  Schädels       318 

§.   119.     Entwicklung  der  Kopfknochen 320 

B.  Knochen  des  Stammes. 

a)    Urknochen    oder    Wirbel. 

§.  120.     Begriff  und  Eintheilung  der  Wirbel 321 

§.   121.     Halswirbel 324 

§.  122.     Brustwirbel 327 

§.   123.     Lendenwirbel 328 

§.   124.     Kreuzbein 330 

§.  125.     Steissbein 332 

§.   126.     Bänder  der  Wirbelsäule 334 

§.  127.     Betrachtung  der  Wirbelsäule  als  Ganzes 339 

§.   128.     Beweglichkeit  der  Wirbelsäule 343 

b)  Nebenknochen  des  Stammes. 

§.  129.     Brustbein 344 

§.  130.     Bippen 348 

§.  131.     Verbindungen  der  Rippen 361 

§.  132.     Allgemeine  Betrachtung  des  Brustkorbes 362 

C.  Knochen  der  oberen  Extremitäten  oder  Brustglieder. 

§.  133.     Eintheilung  der  oberen  Extremitäten 364 

§.   134.     Knochen  der  Schulter.     Schlüsselbein 364 

§.  135.     Schulterblatt 366 

§.  136.     Verbindungen  der  Schulterknochen 868 

|.  187.     Oberarmbein                      AftA 

§.  188.     Schnltergelenk 


Inhal t 

Seite 

139.     Knochen  des  VorderannB 362 

§.  140.     £llbogengelenk 365 

§.  141.     Knochen  der  Hand 366 

§.  142.     Bänder  der  Hand        372 

§.  143.     All^meine  Bemerkiing^en  über  die  Hand 376 

D.  Knochen  der  unteren  Extremitäten  oder  Bauehglieder. 

§.  144.     Eintheilung  der  unteren  Extremitäten 379 

§.  146.     Hüftbein 379 

§.  146.     Verbindungen  der  Hüftbeine 384 

§.  147.     Das  Becken  als  Ganzes 386 

§.  148.     Unterschiede  des  männlichen  und  weiblichen  Beckens 389 

§.  149.     Oberschenkelbein 391 

§.  160.     Hüftgelenk 394 

§.   161.     Knochen  des  Unterschenkels 397 

§.  162.     Kniegelenk 400 

§.  163.     Knochen  des  Fusscs 404 

§.  164.     Bänder  des  Kusses 410 

§.  155.     Allgemeine  Bemerkungen  über  den  Fuss 414 

§.  156.     Literatur  der  Knochen-  und  Bänderlehre 418 


§• 

167. 

s- 

168. 

§• 

169. 

§. 

160. 

§• 

161. 

§• 

162. 

s. 

163. 

§■ 

164. 

§• 

165. 

§. 

166. 

s- 

167. 

§. 

168. 

§• 

169. 

§. 

170. 

s. 

171. 

s- 

172. 

§• 

173. 

174. 

§. 

176. 

§. 

176. 

§. 

177. 

§. 

178. 

§. 

179. 

§. 

180. 

Drittes    Buch. 
Muskellehre,  mit  Fascien  und  topographischer  Anatomie, 

A.  Kopfmuskeln. 

Eintheilung  der  Kopfmuskeln 427 

Kopfmuskeln,  welche  sich  an  Weichtheilen  inseriren 427 

Muskeln  des  Unterkiefers 435 

Fascien  des  Gesichtes 437 

Einige  topographische  Beziehungen  des  Masseter  und  der  Pterygoidei  438 

B.  Muskehl  des  Halses. 

Form,  Eintheilung  und  Zusammensetzung  des  Halses 439 

Specielle  Beschreibung   der  Halsmuskeln,   welche    den  Kopf  und  den 

Unterkiefer  bewegen       441 

Muskeln  des  Zungenbeins  und  der  Zunge 443 

Tiefe  Halsmuskeln 447 

Topographische  Anatomie  des  Halses 449 

Fascie  des  Halses 452 

C.  Muskeln  der  Brust. 

Aeussere  Ansicht  der  vorderen  imd  seitlichen  Brustgegend    ....  453 

Muskeln  an  der  Brust 454 

D.  Muskeln  des  Bauches. 

Allgemeines  über  die  Bauchwand 459 

Specielle  Beschreibung  der  Bauchmuskeln 462 

F<ucia  tranweraay     Scheide  des  Kectus,  und  weisse  Bauchlinie       .     .  466 

Leistenkanal 468 

Leistengruben 470 

Einiges  zur  Anatomie  der  Leistenbrüche 471 

Zwerchfell 476 

E.  Muskeln  des  Rückens. 

Allgemeine  Betrachtung  des  Rückens,  und  Eintheilung  seiner  Muskeln  478 

Breite  Rückenmuskeln 479 

Lange  Rückenmuskeln 482 

Kurze  Rückenmuskeln 486 


§. 

181. 

§. 

182. 

§. 

183. 

§. 

184. 

§. 

185. 

§■ 

186. 

§. 

187. 

§. 

188. 

§. 

189. 

§. 

190. 

§. 

191. 

§. 

192. 

§. 

193. 

§. 

194. 

§. 

19Ö. 

§. 

196. 

§. 

197. 

§. 

198. 

§. 

199. 

§. 

200. 

§. 

201. 

§. 

202. 

Inhalt  XI 

F.  Muskeln  der  oberen  Extremität. 

S«ite 

Allgemeine  Betrachtung  der  Form  der  oberen  Extremität      ....  489 

Muskeln  an  der  Schulter 491 

Muskeln  am  Oberarme 494 

Muskeln  am  Vorderarme 498 

Muskeln  an  der  Hand 608 

Fasoie  der  oberen  Extremität 611 

G.  Muskeln  der  unteren  Extremität. 

Allgemeine  Betrachtung  der  unteren  Extremität 614 

Muskeln  an  der  Hüfte 616 

Wirkungsweise  der  Hüftmuskeln,  und  topographische  Verhältnisse  der 

Gesässmuskeln  zu  den  wichtigsten  Gefässen  und  Nerven 621 

Muskeln  an  der  vorderen  Peripherie  des  Oberschenkels 622 

Muskeln  an  der  inneren  Peripherie  des  Oberschenkels 624 

Topographisches  Verhältniss   der  Muskeln   und   Gefässe   am  vorderen 

Umfang  des  Oberschenkels 626 

Muskeln  an  der  hinteren  Peripherie  des  Oberschenkels 629 

Topographie  der  Kniekehle 630 

Muskeln  an  der  vorderen  und  äusseren  Seite  des  Unterschenkels  .     .  632 

Muskeln  an  der  hinteren  Seite  des  Unterschenkels 636 

Muskeln  am  Fusse 640 

Fascie  der  unteren  Extremität.     Eintheilung  derselben 648 

Schenkelbinde  und  Schenkelkanal 648 

Einiges  zur  Anatomie  der  Schenkelbrüche 646 

Fascie  des  Unterschenkels  und  des  Fusses       648 

Literatur  der  Muskellehre       649 


Viertes    Buch. 

Sinnenlehre, 

§.  203.    Begriff  der  Sinneswerkzeuge  und  Eintheilung  derselben 666 

A.  Tastorgan. 

Begriff  des  Tastsinnes 666 

Structur  der  Haut 667 

Tastwärzchen 660 

Drüsen  der  Haut 662 

Oberhaut       664 

Physikalische  und  physiologische  Eigenschaften  der  Oberhaut  .     .     .  666 

Nägel 668 

Haare 670 

Physikalische  und  physiologische  Eigenschaften  der  Haare    .     .     .     ^  672 

Unterhautbindegewebe 674 

B.  Geruchorgan. 

Aeussere  Nase 676 

Nasenhöhle  und  Nasenschleimhaut 677 

C.  Sehorgan. 

I.  Schutz-   und.  IfilTsapparate. 

§.  216.     Augenlider  und  Augenbrauen 680 

§.  217.     Conjunctiva 688 

§.  218.    Thränenorgane 686 

§.  219.     Augenmuskeln 688 

II.  .A^uffapfel. 

§.  820.    Allgemeines  über  den  Augapfel 690 

|.  221.    Sclerotic»  und  Cornea r  "* 


§. 

204. 

§. 

206. 

§. 

206. 

§. 

207. 

§. 

208. 

§. 

209. 

§. 

210. 

§. 

211. 

§. 

212. 

§. 

213. 

§. 

214. 

§. 

216. 

S-  S2S.     Choroiile»  nnd  Iru 59& 

9.  323.     GeAue  und  Nerven  der  ChoroUleft  und  Irii 699 

%.  224.     Ketin>       GOl 

S.  226.     BkQ  der  Retina ROi 

%.  226.     Kern  dei  Auge».     GlukCrper 606 

§.  227.     Linse 607 

9.  228.     Humor  aqueut.    Augenkamme m.     Beeondere  Membranen  des  embryo- 
nischen Auges 609 

D.  Gehßroi^an. 

{.  829.     Kinlheilung  des  OeklirorKans       610 

I.  Ä.euHHere  Sphtti-e. 

|.  230.     Ohrmuschel 611 

$.  231.     AeuBserer  Gehttrgan^ «13 

g.  232.     Trommelfell       615 

II.  Mittlere  Sphftre. 


III.  Innere»  S|>h(lre  <xlei-  Labyrinth. 

8.  236.     Vorhof 622 

|.  236.     Bogengänge        623 

%.  2,17.     Schnecke        624 

g.  238.     Htatiges  Lab^irinth 627 

%.  239.     Innerer  GehO^uig  und  FftUopischer  Kanal 629 

g.  240.     Literatur  der  gesammten  Rinnenlehre       630 


Fünftes   Buch. 

Eingeweidelehre  und  Fragmente  aus  der  EnUvicHungeyeschichte. 

A.  Eingeweidelehre. 

g.  241.     Begriff  nnd  Eintheilung  der  Eingeweidelehre 639 

§,  24!.     Begriff  und  Eintlieilnng  des  Yrrij.iuiiiiif-ir^rgan» 640 

g.  243.     Mundhühlf 641 

g.  244.     Wpicher  Gaumen,  Iilhtntii  fauätan,  und  Mandeln 642 

9.  24&.     Die  Muskeln  des  weichen  Gaumens G44 

§.  246.     Zähne.     Htmctur  dereelben 646 

g.  247.     Formen  der  Zglme 649 

g.  248.     Zahnfleisch 661 

g.  249.     Entwickln  II IC  und  LebenseigenscbaAen  der  ZKhne   ■ 662 

g.  260.      Varietäten  ilcr  Zlthne 664 

g.  281,     SiieiclieldrUscn,     Aeusaerc  Verhältnisse  der^lben 666 

g.  862.     Bau  der  Speiuheldrtlsen 669 

g.  263.     Zunge 669 

g.  264.     G es chmackjw« rauhen  der  Zunge 661 

g.  266.     Uinnenrnnakeln  der  Zunge       664 

g.  2S6.     Eaehtn  666 

g.  867.     Raclieiimuskeln 867 

g.  268.     8peiBer6hre 66S 

g.  269.  Uebersicht  der  Lage  des  Verdaunngskanals  in  der  BancbhShle      .     .  670 

g.  260.     Zuaamniensetzang  des  Verdannngakanats 672 

g.  261.     Magen 678 

g.  262.     Stmctnr  des  Magens 676 

g.  263.      Dflnndarm 678 

g.  264.     Speuielle  Betrachtung  der  DUnndarmschleimliaiit 680 

g.  266.  lieber  die  Frage,  wie  die  L/mpligefXsse  in  dun  Uarmzntten  entspringen  686 


Inhalt  Xni 

Seit« 
§.  266.     Verhalten  der  Lymphgefösse  zu  den  aolitären  und  aggreg^rten  Follikeln 

der  Darmschleimhaut 686 

§.  267.     Ueber  das  Cylinderepithel  des  DUnndarms 687 

§.  268.     Dickdarm 689 

§.  269.     Specielles  über  die  einzelnen  Schichten  des  Dickdarms 690 

§.  270.     Muskeln  des  Afters 692 

§.  271.     Ueber  den  Sphincler  ani  teHhu       698 

§.  272.     Leber.     Aenssere  Verhältnisse  derselben 694 

§.  273.     Praktische  Behandlung  der  Leber  in  der  Leiche 697 

§.  274.     Gallenblase 699 

§.  275.     Bau  der  Leber 700 

§.  276.     Die  Bauchspeicheldrüse 703 

§.  277.     MihB 706 

§.  278.     BauchfeU 707 

IL  Reupirationsorgan. 

§.  279.     Begriff  und  Eintheilung  des  Respirationsorgans 712 

§.  280.     Kehlkopf.     Knorpelgerüst  desselben 713 

§.  281.     Bänder  der  Kehlkopf knorpel 716 

§.  282.     Stimmbänder  und  Schleinihaut  des  Kehlkopfes 717 

§.  283.     Muskeln  des  Kehlkopfes 719 

§.  284.     Luftröhre  und  deren  Aeste 721 

§.  285.     Lungen.     Ihr  Aeusseres 723 

§.  286.     Bau  der  Lungen 726 

§.  287.     Ein-  und  Ausathmen 727 

§.  288.     Brustfelle 729 

§.  289.     Nebendrüsen  und  Respirationsorgane.     Schilddrüse 731 

§.  290.     Thymus 732 

§.  291.     Lage  der  Eingeweide  in  der  Brusthöhle 734 

III.  Harn-  un<l  GreaclileclitöorRane. 

§.  292.     Eintheilung  der  Harn-  und  Geschlechtsorgane 737 

A.  llarnwerkzeuge. 

§.  293.     Nieren  und  Harnleiter 738 

§.  294.     Näheres  über  Einzelnheiten  der  Nierenanatomie 743 

§.  295.     Nebennieren 747 

§.  296.     Harnblase 748 

§.  297.     Praktische  Bemerkungen  über  die  Harnblase 751 

§.  298.     Harnröhre 752 

B.  Geschlechtswerkzenge. 

§.  299.     Eintheilung  der  Geschlechtswerkzenge 757 

I.  ]VIftnn.Iiche  Greschleclitsorgane. 

§.  300.     Hode  und  Nebenhode.     Sperma  und  Spermatozoon 767 

§.  301.     Verhäitniss  des  Hoden  zum  Peritoneum.   Tnnica  vaginalU  propria  testü  762 

§.  302.     Samenstrang  und  dessen  Hüllen 764 

§.  303.     Hodensack  und   Tunica  dartos 766 

§.  304.     Samenbläschen  und  Ausspritzungskanäle 766 

§.  305.     Vorsteherdrüse 767 

§.  306.     Cowper'sche  Drüsen       769 

§.  307.     Männliches  Glied 769 

II.  Weibliolie  GreRchleclitaorganLe. 

§.  308.     Anatomischer    und    physiologischer    Charakter    der    weiblichen     Ge- 
schlechtsorgane        773 

§.  309.    Eierstöcke 778 

§.  310.     Bau  der  Eierstöcke.     Nebeneierstock 775 

§.  311.     Schicksale  des  Folliculua  Graafii  und  des  Eies 777 

§.  312.     Gebärmutter.     Aeussere  Verhältnisse  derselben 779 

§.313      Gebärmutterhöhle 781 

§.  314.    Bau  der  Gebärmutter 782 

§.  315.    EUeiter 784 

f.  816.    Matterscheide •    .    •    ,  786 


Bdi* 

%.  317.     Hjmea 788 

g.  318.     AeiiM«re  Schun 789 

%.  Blfl.     BrilBte 792 

§.  SSO.     Bui  der  Briiate 794 

III.  Mitlelfleisuh. 

g.  33t.     Auadehnung'  und  Grenzen  dei  Mittel Qeiiches 196 

f  SSa.     HüBkeln  des  MitlelfleiBcfaes 79« 

g.  8!9.     FkMuen  des  Uitteiaeiscfaei.     Fatcia  pelvit 799 

g,  824.      Faicia  ptnVW  iJrepHo  et  gaperßcMit 80O 

S-  896.    Tupographie  den  Miltelfleisdicit 801 

|.  8»G.    Die  8lei8«dril»e 804 

B.  Fragmente  aus  der  Entwicklungsgeschichte. 

.     VirNnde runden  dca  Eies  im  Eileiter  hii  lum  Auftreten  der  Keimh&ut  SOG 

.     VerHndenmgeti  dss  ßea  im  Utem».     KrM'lu'iiu'ii  iltys  Embryo    .     .     .  807 

.      Weilern   PortBclirilt«'  der  Entiricklung  des  Bmbtyo 809 

.     W„lii-M'li,;r  KuquT 818 

HeniuLUche  Eier  aus  dem  ersten  Scliwan^recbsitsmonate.  Jfem&ronae 

deddttae 814 

.     Menachliche  Eier  ans  dem  iweiten  ScbwKngerech&ftsiiionate        .     .     .  816 

.     Zur  Oebnrt  reifen  Ei.     Schaf  haut 817 

t'nichtwn"»er 817 

.     üeßishaiit         818 

.    Miitterknulien 919 

.     NabeUtrang 821 

.     Veriindoningen  Her  GebUnnutter  in  der  Schnangerschaft 826 

Lage  des  Kmbryo  in  der  Oeblnnntler 886 

,     Literatur  der  Eingeweidelehre 888 


Sechetea    Buch. 
Gehirn-    und    Nerveidehre. 

A.  Centraler  Theil  des  animalen  NervenBj-ateras.     Gehirn  und 

Rückenmark. 

S.  341.     Htlllen  des  Oehims  und  ROckenmariH.     Dura  maier 839 

g.  848.     Arachnoidea 843 

§.  848.     Pia  maUsr 8*6 

g.  344.     Eintheiinng  des  Gehirns 847 

§.  845.     Grosses  Gehirn 8" 

g.  846.     Grosses  Gehirn  von  nuten  nntersncht 869 

§.  847,     Anal'imie  deskliiinenOehinnvonnnten.  Varolsbrflcke.  VerlingertesHark  868 

g.  348.     Analomio  d*»  kleinen  Gehirns  von  oben.     Vierte  Gebimkamraer    .     .  866 

g.  849.     Embryohim 869 

8.  860.     Eflckenmark 870 

g.  361.     Einiges  Ober  Stractor  des  Gehirns  und  Ktickenmarka 873 

B.  Peripherißchcr  Theil  des  animalen  NervenBjstemB.    Nerven. 

I.  a-ehirniiervf  II. 

g.  862.     Entes  Paar 876 

g.  863.     Zweites  Paar 878 

g.  864.     Drittes,  viertes  tind  »ecbstea  P*»r 880 

g.  866.     Fünftes  Paar.     Erster  Ast  desselben 888 

g.  S66.     Zweiter  Ast  des  fflnften  Paares 884 

g,  867.     Dritter  Att  de«  fünften  Paares 886 

g.  868.    PhTÜologiadieB  Ober  das  fOnfte  NerrenpMr 888 


Inhalt.  XV 

Seit« 

§.  359.     Ganglien  am  fünften  Paare.     Ganglion  G<uaer% 890 

§.  360.     Ganglion  cUiare 891 

§.  361.     Ganglion  spheno-palatinum 892 

§.  862.     Ganglion  «tipramaxillare,  oHcum  et  aubmaxillare 895 

§.  363.     Siebentes  Paar 897 

§.  864.     Achtes  Paar 900 

§.  366.     Neuntes  Paar 901 

§.  366.     Zehntes  Paar 908 

§.  367.     Physiologisches  über  den  Vagus 908 

§.  368.     Eilftes  Paar 909 

§.  369.     Zwölftes  Paar 911 

II.  Hüokenxnarksnerven. 

§.  370.     Allgemeiner  Charakter  der  Bttckenmarksnerven 912 

§.  371.     Die  vier  oberen  Ilalsnerven 915 

§.  372.     Die  vier  unteren  Halsnerven 918 

§.  373.     Pars  stipraclavicularia  des  Armnervengeflechts 918 

§.  374.     Pars  infraclavicularis  des  Armnervengeflechts 919 

§.  376.     Brustnerven 924 

§.  376.     Lendennerven 926 

§.  377.     Kreuznerven  und  Steissnerven 930 

C.  Vegetatives  Nervensystem. 

§.  378.     Halstheil  des  Sympathicus 935 

§.  379.     Brusttheil  des  Sympathicus 938 

§.  380.     Lendentheil  und  Kreuzbeintheil  des  Sympathicus 989 

§.  381.     Geflechte  des  Sympathicus 940 

§.  382.     Kopfgeflechte  des  Sympathicus 941 

§.  383.     Halsgeflechte  des  Sympathicus 943 

§.  384.     Brustgeflechte  des  Sympathicus 944 

§.  386.     Bauch-  und  Beckengeflechte  des  Sympathicus        944 

§.  386.     Literatur  des  gesammten  Nervensystems       947 


Siebentes    Buch. 

Gefässlehre. 

A.  Herz. 

§.  387.     Allgemeine  Beschreibung  des  Herzens 963 

§.  388.     Bau  der  Herzwand 967 

§.  389.     Specielle  Beschreibung  der  einzelnen  Abtheilnngen  des  Herzens     .     .  969 

§.  390.     Mechanismus  der  Herzpumpe 963 

§.  391.     Herzbeutel 967 

B.  Arterien. 

§.  392.     Aorta,  Arteria  jndmonali»  und  Ducitts  Botalli 968 

§.  393.     Primitive  Aeste  des  Aortenbogens 969 

§.  394.     Varietäten  der  aus  dem  Aortenbogen  entspringenden  Schlagadern       .  972 

§.  396.     Verästlung  der  Carotis  externa 974 

§.  396.     Endäste  der  Carotis  externa 978 

§.  397.     Verästlung  der  Carotis  interna .981 

§.  398.     Verästlung  der  Schlüsselbeinarterie 984 

§.  399.     Verästlung  der  Achselarterie       989 

§.  400.     Verästlung  der  Armarterie 990 

§.  401.     Verästlung  der  Vorderarmarterien 992 

§.  402.     Die  beiden  Hohlhandbogen 994 

§.  403.     Wichtige  Abnormitäten  des  Ursprungs  der  Vorderarmarterien    .     .     .  996 

§.  404.    Aeste  der  absteigenden  Bmstaorta       997 

§.  406.    Unpaare  Aeste  der  Bauchaorta 999 

§.  406.    Paarige  Aeste  der  Bauchaorta |fi 


XVI  Inhalt. 

8«ito 

§.  407.     Verästlung^  der  Beckenarterie 1004 

§.  408.     Verlauf  der  Schenkelarterie 1010 

§.  409.     Aeste  des  Bauchstückes  der  Sehenkelarterie 1011 

§.  410.     Aeste  der  eig-entlichen  Schenkel arterie 1018 

§.  411.     Aeste  der  Kniekehlenarterie 1014 

§.  412.     Anomalien  der  Schenkelarterie  und  ihrer  Aeste 1015 

§.  413.     Verästlung  der  Arterien  des  Unterschenkels 1016 

§.  414.     Arterien  des  Plattfnsses 1018 

§.  416.     Varietäten  der  Arterien  des  Unterschenkels 1020 

C.  Venen. 

§.  416.  Allg'emeine  Schilderung'  der  Zusammensetzung  der  oberen  Hohlyene     1021 

§.  417.     Innere  Drosselvene  und  Blutleiter  der  harten  Hirnhaut 1023 

§.  418.     Venen,  welche  sich  in  die  Sinu»  durale  tnatrig  entleeren 1026 

§.  419.     Gemeinschaftliche  Gesichtsvene 1028 

§.  420.     Oberflächliche  und  tiefe  Halsvenen 1030 

§.  421.     Venen  der  oberen  Extremität 1082 

§.  422.     Venen  des  Brustkastens .  1034 

§.  423.     Untere  Hohlvene 1036 

§.  424.     Venen  des  Beckens 1038 

§.  426.     Venen  der  unteren  Extremität 1039 

§.  426.     Pfortader 1041 

D.  Lymphgefasse  oder  Saugadern. 

§.  427.     Hauptstamm  des  Lymphgefässsystems 1043 

§.  428.     Saugadem  des  Kopfes  und  Haines 1044 

§.  429.     Saugadem  der  oberen  Extremität  und  der  Brustwand 1046 

§.  430.     Saugadem  der  Brasthöhle 1047 

§.  431.     Saugadem  der  unteren  Extremität  und  des  Beckens 1048 

§.  432.     Saugadem  der  Bauchhöhle 1049 

§.  433.     Literatur  des  gesammten  Gefösssystems 1051 


EINLEITUNG  UND  VORBEGRIFFE. 


Hjril,  Lelirbaek  d«r  Anatomie.  14.  Aufl. 


§.  1.  Organisches  und  Anorganisches. 

Was  den  Raum  erfüllt,  und  Objeet  unserer  Ansehauung  ist, 
heisst  Natur.  Wir  trennen  sie  in  das  organische  und  anorga- 
nische Naturreich.  Die  Wissenschaft,  welche  sich  die  Aufgabe 
stellt,  die  Eigenschaften,  und  durch  sie  das  Wesen  der  Körper 
dieser  beiden  Reiche  auszumitteln,  ist  die  Naturlehre  im  weitesten 
Sinne  des  Wortes.  Man  ist  übereingekommen,  die  Naturlehre  der 
anorganischen  Körper:  Physik,  und  jene  der  organischen:  Physio- 
logie, oder  Biologie  zu  nennen.  Das  Ideale,  welches  nie  zur 
sinnlichen  Anschauung  kommt,  ist  das  Objeet  der  Philosophie. 

Eine  Reihe  von  Thätigkeiten,  welche  jeder  organische  Körper, 
von  seiner  Entstehung  bis  zu  seinem  Untergange  vollzieht,  bildet 
den  Begriff  des  Lebens.  Dieses  Woii;  drückt  nicht  mehr  als 
die  Form  der  Erscheinung  aus,  —  die  Natur  und  letzte  Ursache 
derselben  liegt  jenseits  der  Grenze,  über  welche  der  menschliche 
Oeist  vorzudringen  nie  vermögen  wird. 

Die  organischen  Körper  unterliegen,  so  wie  die  anorganischen, 
den  allgemeinen  Gesetzen  der  Materie,  und  die  Grundstoffe,  aus 
welchen  sie  bestehen,  finden  sich  als  solche  auch  in  der  anorganischen 
Natur.  Thiere  und  Pflanzen  geben,  als  letzte  chemische  Zersetzungs- 
producte,  die  einfachen  Stoffe  (Elemente)  anorganischer  Körper.  Allein 
die  Verbindung  der  Grundstoffe  ist  in  beiden  Naturreichen  eine  ver- 
schiedene. Während  die  Elemente  anorganischer  Körper  entweder 
mechanisch  gemengt  sind,  oder  chemisch  zu  binären  Verbindungen 
und  deren  Combinationen  zusammentreten,  enthalten  die  organischen 
Körper,  nebst  einem  Antheile  binärer  chemischer  Verbindungen, 
vorzugsweise  Grundstoffe  in  solchen  ternären  und  quaternären  Com- 
binationen, welche  im  anorganischen  Naturreiche  nicht  vorkommen, 
und  deshalb  vorzugsweise  organische  Substanzen  genannt  werden. 
So  ist  z.  B.  der  phosphorsaure  Kalk,  welcher  sich  in  den  Knochen  der 
Wirbelthiere  vorfindet,  dieselbe  binäre  Verbindung  vonPho* 


uDd  Calciumoxvd.  welche  als  solche  auch  im  Mineralreiche  bekannt 
ist^  während  der  Zucker,  die  Stärke,  das  Fett,  temare  Verbindun- 
gen von  Wasserstoff.  Saaerstoff  und  Kohlenstoff  sind,  und  das 
Fibrin^  das  Casein,  das  Albumin,  quatemäre  Verbindungen  von 
Wasserstoff,  Sauerstoff.  Kohlenstoff  und  Stickstoff  (mit  Phosphor  und 
Schwefel)  darstellen.  —  Die  anorganischen  Korper  lassen  sich  auf 
chemisehem  Wege  in  ihre  Bestandtheile  zersetzen .  und  durch  die 
Wieder^'creinigung  derselben  neu  herstellen:  —  über  die  organischen 
Substanzen  besitzt  die  Chemie  weit  geringere  Macht,  da  sie  dieselben 
zwar  zerlegen,  aber  nur  äusserst  wenige  von  ihnen  erzeugen  kann. 

In  den  anorganischen  Körpern  hängen  die  kleinsten,  letzten 
Bestandtheile  derselben,  entweder  durch  physische  Attraction  oder 
durch  chemische  Vem-andtschaft  zusammen.  Letztere  ist  ein  so 
kräftiges  Verbindungsprincip,  dass  zwei  Elemente,  zwischen  welchen 
chemische  Verwandtschaft  stattfindet,  sich  rasch  zu  einem  zusammen- 
gesetzten Körper  verbinden,  wenn  sie  sich  im  freien  Zustande  be- 
gegnen. Warum  thun  sie  dieses  nicht  im  organischen  Körper?  — 
Es  mnss  in  diesem,  der  chemischen  Verwandtschaft  ein  stärkeres 
Agens  entgegenwirken,  durch  welches  sie  gezwungen  werden,  ihrer 
Neigung  zu  binären  Verbindungen  so  lange  zu  entsagen,  und  anderen 
Verbindungsnormen  so  lange  zu  folgen,  als  jenes  Agens  die  Ober- 
hand behält.  Stellt  dieses  seine  Herrschaft  ein,  so  streben  die  ein- 
fachen Grundstoffe  des  organischen  Leibes,  jene  chemischen  Ver- 
bindungen einzugehen,  für  welche  sie  so  viel  Vorliebe  äussern;  es 
bilden  sich,  unter  dem  günstigen  Einflüsse  von  Wärme,  Luft  und 
Feuchtigkeit,  die  chemischen  Zersetzungsproducte  der  Fäulniss. 
Dieses  Agens  nun,  welches  die  Verbindungsverhältnisse  der  Grund- 
stoffe im  organischen  Körper  erzwingt,  und  für  eine  gewisse  Zeit 
aufrecht  erhält,  ist,  seiner  Erscheinung  nach,  eine  von  den  im  an- 
organischen Naturreiche  waltenden  Kräften  wesentlich  verschiedene 
Thätigkeit,  und  kann  als  organische  Kraft,  den  chemischen  oder 
physikalischen  Kräften  entgegengesetzt  werden,  wobei  jedoch  zu 
erinnern  ist,  dass  das  Wort  Kraft  immer  nur  die  gedachte,  nicht 
die  wirkliche  T'rsache  von  Erscheinungen  bezeichnet. 

Die  organische  Kraft  beschränkt  ihre  Thätigkeit  nicht  blos  auf 
das  Resultat  des  ruhigen  Nebeneinanderseins  der  neuen  Verbindun- 
gen. Jeder  Theil  eines  organischen  Körpers  ist,  so  lange  das  Leben 
dauert,  in  einem  ununterbrochenen  Wechsel  seiner  Stoffe  begriffen. 
Die  Intensität  dieses  Wechsels  steht  mit  der  Grösse  der  lebendigen 
Thätigkeit  in  geradem  Verhältnisse.  Die  Verluste,  welche  das  Ma- 
teriale  der  lebenden  Maschine,  durch  Abnutzung  und  Verbrauch 
erleidet,  bedingen  das  Bedürfniss  eines  äquivalenten  Ersatzes.  Auf- 
nahme neuer  Stoffe  von  aussen  her,  Verarbeitung,  Umwandlung, 
und    Substitution    derselben    an    die    Stelle    der    abgenutzten    und 


§.  1.  OrganischM  und  Anorganisches.  5 

aasgeschiedenen ^  tritt  uns  als  eine  weitere  fundamentale  Aeusserung 
der  organischen  Kraft  entgegen.  Sie  ist  zugleich  das  charakteristische 
Merkmal  lebendiger  Organismen,  im  Gegensatze  von  anorganischen 
Körpern,  und  wird  als  Stoffwechsel  bezeichnet.  Kein  anorganischer 
Körper  zeigt  das  Phänomen  des  Stoflfwechsels.  Er  kann  sich  zwar, 
durch  Anschliessen  gleichartiger  Theilchen  an  seiner  Oberfläche, 
vergrössern;  aber  was  in  ihm  einmal  verbunden  ist  und  zusammen- 
hält,, bleibt  in  diesem  Zustande;  er  giebt  nichts  aus  und  nimmt 
dafür  nichts  ein;  er  verfügt  über  keine  innere  Bewegung,  welche 
den  Austausch  seiner  letzten  Moleküle  vermitteln  könnte,  und  ver- 
harrt, wie  er  ist,  bis  er  durch  elementare  oder  chemische  Kraft 
seine  Daseinsform  verliert.  Er  kann,  bei  gleichbleibender  Gestalt, 
an  Volumen  und  Gewicht  zunehmen,  selbst  innerhalb  der  Grenzen 
des  Systems,  welchem  er  angehört,  gewisse  Veränderungen  seiner 
Dimensionen  darbieten,  allein  der  einmal  fertige  Krystall  bleibt,  was 
er  ist,  und  die  Bewegung  seiner  kleinsten  Theilchen,  durch  deren 
Gruppirung  er  zu  Stande  kam,  wurde  nur  einmal  gemacht.  Der 
Stoffwechsel  setzt  dagegen  den  organischen  Körper  in  eine  noth- 
wendige  Verbindung  mit  der  ihn  umgebenden  Welt,  da  er  nur  aus 
ihr  entlehnen  kann,  was  er  zu  seiner  Erhaltung  bedarf.  Für  ihn 
werden  dieselben  chemischen  und  physischen  Potenzen,  welche  den 
Ruin  des  Anorganischen,  sein  Verwittern  und  Zerfallen,  langsam 
vorbereiten,  zu  noth wendigen  Bedingungen  seiner  Existenz,  und 
wurden  unter  der  Rubrik  der  Lebensreize,  von  der  älteren  Physio- 
logie zusammengefasst,  welchen  Namen  sie  wohl  nicht  verdienen,  da 
die  fortgesetzte  Einwirkung  dieser  sogenannten  Lebensreize,  den 
Verfall  des  organischen  Körpers  auf  die  Dauer  nicht  aufhalten  kann. 
Nach  einem  ihr  eingeborenen  Plane  entwickelt  die  organische 
Kraft  den  Organismus,  entborgt  der  Aussenwelt  den  Stoff,  aus 
welchem  sie  ihn  aufbaut,  und  giebt  ihr  denselben  verändert  wieder 
zuinick.  Sie  vervielfältigt  und  theilt  sich  in  dem  Maasse,  als  das 
Materiale  zunimmt,  in  welchem  sie  wirkt,  und  mit  welchem  sie  Eins 
ist.  Von  der  ersten  Bildung  des  organischen  Keimes  bis  zu  jenem 
Momente,  wo  das  Lebendige  den  unabwendbaren  Gesetzen  der  Auf- 
lösung anheimfallt,  ist  sie  ohne  Unterbrechung  thätig.  Der  Vergleich, 
den  man  zwischen  einer  Maschine  und  einem  lebenden  Organismus 
anstellt,  ist  nur  insofern  zulässig,  als  in  beiden  ein  zweckmässiges 
Zusammenwirken  untergeordneter  Theile,  zur  Realisirung  einer  dem 
Ganzen  zu  Grunde  liegenden  Idee  beobachtet  wird.  Sonst  giebt  es 
keine  Aehiilichkeit  zwischen  beiden,  und  die  Rohheit  des  Vergleiches 
wird  um  so  augenfälliger,  wenn  man  bedenkt,  dass  die  bewegende 
Kraft  der  Maschine  nicht  in  ihr,  sondern  ausser  ihr,  erzeugt  wird, 
und  Stillstand  eintritt,  wenn  der  äussere  Impuls  nicht  mehr  auf  sie 
wirkt;  während  die  Thätigkeiten  des  Lebendigen^  ihren  letzten  Gnind 


6  g.  1.  Or^nitehes  and  AnorgAnitehes. 

in  ihm  selbst  haben,  in  ihm  und  durch  ihn  bestehen,  und  von  ihm 
getrennt  nicht  einmal  gedacht  werden  können.  Der  Verbrauch  an 
Stoff  und  Kraft  wird  auch  in  der  Maschine  durch  Speisung  von 
aussen  her  ausgeglichen,  und,  wenn  ihr  Gktng  in  Unordnung  geräth, 
lässt  man  das  Räderwerk  ablaufen,  um  nachzubessern,  wo  es  fehlt. 
Im  Triebwerke  eines  lebenden  Organismus  darf  keine  Pause  ein- 
treten; —  es  gilt  das  rollende  Rad  während  seines  Umschwunges 
auszutauschen;  jedes  Atom  des  organischen  Stoffes  reparirt  sich 
selbst;  —  der  Stoffwechsel  lässt  es  nie  zu  einem  höheren  Grade 
von  Abnutzung  kommen,  und  was  in  einem  Momente  verloren  geht, 
giebt  der  nächste  wieder.  Ist  einmal  Stillstand  eingetreten,  so  hat 
der  Organismus  seine  Rolle  ausgespielt;  das  Band  ist  gelöst,  welches 
seine  Bestandtheile  zum  lebensfähigen  Ganzen  sinnreich  vereinte; 
die  chemische  Affinität  tritt  in  ihre  durch  das  Leben  bestrittenen 
Rechte,  und  führt  die  organischen  Stoffe  in  jenen  Zustand  zurück, 
in  welchem  sie  waren,  als  sie  der  todten  Natur  angehörten.  In 
anorganischen  Köi*pem  giebt  es  keinen  Gegensatz  zwischen  Leben 
und  Tod. 

Die  organische  oder  Lebenskraft  macht  uns  keine  einzige 
Lebenserscheinung  klar;  sie  ist,  so  lange  uns  die  Einsicht  in  das 
Wesen  des  Lebens  fehlt,  nichts  mehr  als  hypothetische  Annahme, 
eine  wesenlose  Abstraction,  —  ein  vielgebrauchtes  Wort,  welches 
müssigen  Geistern  Alles,  dem  wahren  Forscher  nichts  erklärt.  Die 
Physiologie  hätte  wahrlich  sehr  wenig  zu  thun,  wenn  sie  sich  be- 
gnügte, in  dem  Worte  „Lebenskraft"  den  letzten  Grund  aller  Lebens- 
thätigkeiten  zu  verehren.  Der  Physiker  giebt  sich  zufrieden,  und 
hält  eine  Erscheinung  für  erklärt,  wenn  er  als  ihren  letzten  Grund 
die  Schwere  oder  die  Elcktricität  erkannt  hat,  weil  die  Aeusserungen 
dieser  Kräfte,  und  die  Gesetze,  nach  welchen  sie  sich  richten,  ihm 
bekannt  sind.  Dem  Physiologen  dagegen  ist  die  Lebenskraft  nur 
ein  Ausdruck,  mit  welchem  er  einen  bestimmten  Begriff  um  so 
weniger  verbinden  kann,  als  es  eine  logische  Unmöglichkeit  ist,  dass 
den  verschiedenen  Lebensäusserungen  Eine  Kraft  zu  Grunde  liegen 
könne.  Die  Annahme  einer  Lebenskraft  ist  jedoch  bei  dem  gegen- 
wärtigen Zustande  unserer  Kenntniss  des  Lebens,  eine  unabweisliche 
Nothwendigkeit,  denn,  weder  aus  chemischen  noch  aus  physikalischen 
Kräften,  die  sich  in  den  Besitz  der  anorganischen  Natur  theilen, 
lassen  sich  die  Lebenserscheinungen  folgerichtig  deduciren  und  er- 
klären. Wenn  die  Asche  eines  organischen  Körpers  nur  Stoffe 
führt,  welche  auch  in  der  anorganischen  Welt  vorkommen,  lässt  sich 
daraus  gewiss  nicht  schliessen,  dass  das  Leben  dieses  organischen 
Körpers,  nur  das  Resultat  der  Theileffecte  dieser  anorganischen 
Grundstoffe  gewesen  sei.  Man  kann  zwar  in  hochpoetischer  Weise 
sagen,  dass  ein  Eisentheilchen   dasselbe  bleibt ,   mag  es  im  Sckooss 


§.  2.  OrganiMtioD.  Organ.  Organismus.  7 

der  Erde  ruhen,  oder  im  Meteorstein  den  unendlichen  Raum  durch- 
fliegen^  oder  im  Blutstropfen  durch  ein  thierisches  Eingeweide  rinnen. 
Allein  die  Physiologie  kann  dieses  Eisentheilchen  im  lebenden 
Blute  auf  keine  Weise  wiederfinden.  Erst  in  der  Blutasche  kommt 
es  wieder  zum  Vorschein.  Was  ist  also  aus  ihm  geworden  im  leben- 
digen Blute?  Es  konnte  die  ihm  zukommenden  mineralischen  Eigen- 
schaften unmöglich  in  ihrer  vollen  Eigenthümlichkeit  beibehalten 
haben.  Sonst  müsste  ja  der  Magnet  dieses  Eisentheilchen  aus  dem 
Blute  herausziehen.  Was  aus  ihm  im  lebendigen  Leibe  wird,  weiss 
man  nicht,  und  der  Chemismus  bewahrt  sein  Recht  nicht  über  das 
Lebendige,  wohl  aber  über  das  Todte,  und  mag  dabei  bleiben.  Er 
hat  den  Schleier,  welcher  das  Antlitz  der  Göttin  birgt,  nicht  auf- 
gehoben, wohl  aber  beim  versuchten  Lüften  desselben,  ihm  neue 
Falten  eingedrückt. 


§.  2.  Organisation.  Organ.  Organismus. 

Die  anorganischen  Körper,  selbst  die  vollkommensten  der- 
selben —  die  Krystalle,  —  welche  eine  neuere  mineralogische  Schule, 
im  Gegensatz  zu  den  nicht  krystallisirten  Mineralien,  als  Individuen 
bezeichnete,  sind  immer  nur  Aggregate  gleichartiger  kleinster  Be- 
stand theilchen,  während  organische  Körper  aus  verschiedenartigen 
Gebilden,  welche  sich  wechselseitig  durchdringen,  zusammengesetzt 
sind.  Hierin  hegt  der  Begriflf  der  Organisation,  als  Modus  der 
Vereinigung  heterogener  Glieder  zu  einem  Ganzen,  welchem  ein 
vernünftiger  Plan  zu  Grunde  liegt.  Aggregate  sind  nicht  organisirt. 
Aufrechthaltung  einer  individuellen  Lebensexistenz  durch  Zusammen- 
wirken heterogener  Theile,  ist  die  Idee,  die  sich  in  der  Organisation 
ausspricht.  Jeder  Theil  des  Ganzen,  welcher  seine  paitielle  Existenz 
dem  Endzwecke  unterordnet,  der  durch  die  vereinte  Wirkung  aller 
übrigen  Theile  erzielt  werden  soll,  heisst  Organ,  und  die  zweck- 
mässige Vereinigung  aller  Organe  zu  einem  lebensfähigen  Ganzen: 
Organismus.  Ein  Organ  (5pYavov,  Werkzeug  jeder  Art)  hat  den 
Grund  seines  Vorhandenseins  nicht  in  sich,  sondern  in  dem  Ganzen, 
welchem  es  angehört.  Der  letzte  Zweck  der  Organe  ist  somit  nicht 
ihr  eigenes  Bestehen,  sondena  ihre  Concurrenz  zum  Bestehen  des 
Ganzen.  Sie  bilden  eine  Kette,  deren  GUeder  nicht  blos  eines  mit 
dem  anderen,  sondern  jedes  mit  allen  übrigen  zusammenhängt,  und 
von  welchen  keines  ausgehoben  werden  darf,  ohne  den  Begriff  des 
Ganzen  zu  stören.  Die  Aggregattheile  anorganischer  Körper  dagegen 
existiren  blos  neben  einander,  sie  bedingen  sich  nicht  wechselweise, 
und  hören,  selbst  wenn  sie  aus  ihrem  Zusammenhange  gebracht  werden, 
nicht  auf  su  sein^  was  sie  sind. 


8  §•  3.  L«b«ntTerriehtiiDgen. 

Die  Begriffe  organisch  und  organisirt  dürfen  nicht  ver- 
wechselt werden.  Jede  durch  das  Leben  eines  Organismus  erzeugte 
Substanz,  welche  in  der  anorganischen  Welt  nicht  vorkommt,  heisst 
organisch,  und  sie  muss  nicht  nothwendig  organisirt  sein,  d.  h. 
sie  kann  dem  Auge  homogen  erscheinen,  und  weder  durch  das  Messer, 
noch  durch  andere  anatomische  Hilfsmittel,  in  ungleichartige  Theile 
zerlegbar  sein.  Alles  Organisirte  aber  besteht  aus  verschiedenen 
organischen  Substanzen  von  bestimmter  Form,  welche  sich  nach 
einem  gewissen  Gesetze  neben  einander  lagern  oder  durchdringen, 
und  sich  durch  die  Zergliederung  oder  das  Mikroskop  als  Differentes 
unterscheiden  lassen.  Eiweiss,  Protein,  Blutserum,  Lymphe,  sind 
organisch,  aber  nicht  organisirt  (sie  heissen  deshalb  auch  formlose 
organische  Substanzen);  —  Nerv,  Muskel,  Drüse  dagegen,  sind 
organisirt,  und  eo  ipso  auch  organisch. 


§.  3.  Lebensverrichtungeii. 

In  doppelter  Lebensform  tritt  uns  das  organische  Naturreich 
vor  Augen,  als  Thier-  und  Pflanzenwelt.  In  beiden  finden  sich, 
nebst  wesentlichen  Unterschieden,  zahlreiche  Uebereinstimmungen. 
Ja  in  den  niedrigsten  Formen  beider,  wird  es  oft  sehr  schwer,  ihre 
animalische  oder  vegetabilische  Natur  mit  Sicherheit  zu  bestimmen. 
Beide  leben,  d.  h.  sie  zeigen  eine  Aufeinanderfolge  bestimmter,  und 
sich  wechselseitig  bedingender  Entwicklungen  und  Thätigkeiten.  Bei 
Pflanzen  und  niederen  Thieren  manifestiren  sich  diese  Thätigkeiten 
im  engeren  Kreise  und  in  verschwimmender  Form;  bei  höheren 
Thieren  und  im  Menschen,  in  reicherer  Entfaltung  und  schärferer 
Ausprägung.  Entstehung  durch  Zeugung,  Succession  von  Bildungs- 
stadien, Ernährung,  Stoffwechsel,  Saftbewegung,  Ab-  und  Ausson- 
derungen, finden  sich  in  Thier  und  Pflanze.  Die  Pflanze  empfangt 
ihren  Nahrungsstoff  aus  dem  Boden',  in  welchem  sie  gedeiht.  Sie 
saugt  ihn  durch  ihre  Wurzeln  an  sich,  leitet  ihn  durch  ein  wunder- 
bar complicirtes  System  von  Zellen  und  Röhren  zu  allen  ihren 
Theilen,  und  scheidet  davon  dasjenige  nach  aussen  wieder  ab, 
welches  zu  ihrer  Ernährung  und  ihrem  Wachsthum  nicht  mehr 
dienen  kann.  Kohlensäure,  Wasser,  Ammoniak,  und  einige  Salze, 
genügen  vollkommen  zu  ihrer  Erhaltung.  Anders  verhält  es  sich  im 
Thiere  und  Menschen.  Ihre  vollkommenere  Bauart,  ihre  intensivere 
Lebensenergie,  fordern  zusammengesetztere  Nahiningsstoffe.  Sie 
nehmen  diese  Stoffe,  welche  durch  den  Lebensact  einer  Pflanze  oder 
eines  anderen  Thieres  zu  ihrem  Genüsse  vorbereitet  wurden,  durch 
eine  einzige  Oeffnung  auf.  (Nur  die  niedrigsten  Thierformen,  wie 
z.  B.  die  Amoeben,  haben  keine  solche  Oeffnung,  sondern  ernähren 


§.  S.  LebeniTerrielitaBffen.  9 

sich  durch  Stoffaufnahme  von  ihrer  ganzen  Oberfläche  aus).  Ein 
eigener  Wächter  (Instinct  in  den  niederen,  Geschmack  in  den  höheren 
Thieren)  sorgt  dafür,  dass  sie  in  der  Wahl  ihrer  Nahrung  keine 
Missgriffe  machen,  und  erlaubt  dabei  ihrer  Willkür  einen  gewissen 
Spielraum,  welcher  der  Pflanze  gänzlich  abgeht.  Durch  die  Ver- 
dauung (Digestio),  welche  im  Darmkanale  stattfindet,  wird  der 
nahrhafte  Bestandtheil  der  Nahrung  vom  unnahrhaften  getrennt. 
Der  nahrhafte  Bestandtheil  wird  durch  Gefassröhren  aufgesogen 
(Absorptio),  in  das  Blut  gebracht,  diesem  gleichartig  gemacht  (Assi- 
müatio),  und  durch  die  Schlagadern,  welche  mit  dem  Druckwerke 
des  Herzens  in  Verbindung  stehen,  zu  allen  Organen  hingeführt, 
um  sie  zu  ernähren  (Nutriiio) ;  der  unnahrhafte  Bestandtheil  dagegen 
wird  als  Caput  mortuum  der  Verdauung,  aus  dem  Bereiche  des  leben- 
digen Leibes  fortgeschafft  (Excretio),  Das  den  Organen  zugeflihrte 
Blut  strömt,  nachdem  es  seine  nährenden  Bestandtheile  an  diese 
abgegeben,  und  dafür  die  Abfalle  ihres  Stoffverbrauches  aufgenommen 
hat,  in  den  Kanälen  der  Blutadern  wieder  zum  Herzen  zurück^ 
um  von  hier  aus  in  die  Lungen  getrieben  zu  werden,  wo  es  aus 
der  Atmosphäre  Sauerstoff  aufnimmt,  und  dafür  Kohlensäure  zurück- 
giebt,  dadurch  neuerdings  nahrungskräftig  wird,  und  auf  anderen 
Wegen,  als  es  zu  den  Lungen  kam,  diese  verlässt,  um  zum  Herzen 
zurückzukehren,  von  welchem  es  sofort  in  die  Schlagadern  gepumpt, 
und  durch  diese  zu  den  nahrungsbedürftigen  Organen  geführt  wird. 
Der  in  der  Lunge  statthabende  Austausch  gewisser  Blutbestand- 
theile  gegen  andere  neue,  bildet  den  Begriff  des  Athmens  (Respt- 
ratio),  die  Blutbewegung  zum  und  vom  Herzen  jenen  des  Kreis- 
laufes (Circulatio),  Das  Blut  dient  nicht  blos  auf  die  angeführte 
Weise  zur  Ernährung;  es  werden  vielmehr  aus  ihm  noch  besondere 
Flüssigkeiten  durch  die  Thätigkeit  besonderer  Organe,  welche  man 
Drüsen  nennt,  abgesondert  (Secretio),  und  diese  Flüssigkeiten  (Secreta) 
zu  den  verschiedensten  Zwecken  im  thierischen  Haushalte  verwendet. 
So  werden  Speichel,  Galle,  Harn,  und  alle  flüssigen  Auswurfstoffe, 
durch  Secretion  aus  dem  Blute  bereitet. 

Ernährung,  Kreislauf,  Athmung,  Ab-  und  Aussonderungen, 
sorgen  für  die  Erhaltung  des  Individuums.  Zur  Erhaltung  der  Gat- 
tung führt  die  Zeugung  (Generatio) ,  welche  in  der  Pflanze  auf 
einer  Nothwendigkeit ,  im  Thiere  auf  einem  Instincte  beruht,  im 
Menschen  ein  durch  die  Dazwischenkunft  des  Geistigen  veredelbarer 
Trieb  ist.  —  Auch  in  der  Pflanze  finden  sich  Analogien  dieser  auf- 
gezählten thierischen  Verrichtungen,  welche  zusammengenommen  als 
Ernährungs-  oder  vegetatives  Leben  bezeichnet  werden. 

Empfindung  und  Bewegung  sind  nur  dem  Thiere  eigen, 
haben  in  der  Pflanzenwelt  nichts  Aehnliches  oder  Gleiches,  und 
werden  somit  als  animales  Leben  vom  vegetativen  unterschieden. 


10  §.  4.  BeirriiF  der  Anatomie. 

Diese  Unterscheidung  der  Lebensmanifestationen  im  Thiere  und  im 
Menschen  als  vegetatives  und  an  i  mal  es  Leben,  ist  jedoch  in 
den  Erscheinungen  des  Lebens  keineswegs  so  scharf  gezeichnet,  wie 
sie  der  Verstand  nimmt,  da  die  Ernährungsfunctionen  ohne  Bewegung 
und  Empfindung  eben  so  wenig  vor  sich  gehen  können,  als  letztere 
ohne  erstere. 


§.  4.  B^ff  der  Anatomie. 

Die  Anatomie  zu  definiren,  ist  für  Jeden,  welcher  das  grie- 
chische Wort  in's  Deutsche  übertragen  will,  überflüssig.  Sie  zerlegt 
die  Organismen  in  ihre  nächsten  construirenden  Bestandtheile,  eruirt 
das  Verhältniss  derselben  zu  einander,  untersucht  ihre  äusseren, 
sinnlich  wahrnehmbaren  Eigenschaften  und  ihre  innere  Structur, 
und  lernt  aus  dem  Todten,  was  das  Lebendige  war.  Sie  ist  also 
recht  eigentlich  die  Wissenschaft  der  Organisation.  Sie  zer- 
stört mit  den  Händen  einen  vollendeten  Bau,  um  ihn  im  Geiste 
wieder  aufzuführen,  und  den  Menschen  gleichsam  nachzuerschaffen. 
Eine  herrlichere  Aufgabe  kann  sich  der  menschliche  Geist  nicht 
stellen.  —  Die  Anatomie  gilt  mit  Recht  fiir  eine  der  anziehendsten, 
und  zugleich  gründlichsten  und  vollkommensten  Naturwissenschaften, 
und  ist  dieses  in  kurzer  5ieit  geworden,  da  ihre  Aera  erst  ein  Paar 
Jahrhunderte  umfasst.  Wenn  man  mit  dem  römischen  Redner  die 
Wissenschaft  überhaupt  als  cognitio  certa  ex  pnncipüs  certis  definirt, 
so  steht  die  Anatomie  unter  allen  Naturwissenschaften  am  ersten  Platz. 

Wie  jede  Wissenschaft  unter  einer  verschiedenen  Behandlungs- 
weise,  und  den  hiebei  verfolgten  Tendenzen,  einen  verschiedenen 
Charakter  annimmt,  so  auch  die  Anatomie.  Ihre  nächste  und  allge- 
meinste Aufgabe  besteht  darin,  die  Zusammensetzung  eines  Orga- 
nismus aus  verschiedenen  Theilen  mit  verschiedenen  Thätigkeiten 
kennen  zu  lernen.  Da  der  menschliche  Geist  sich  nicht  mit  dem 
gedankenlosen  Anschauen  der  Dinge  zufrieden  giebt,  sondern  Plan 
und  Bestimmung  auszumitteln  sucht,  so  kann  die  innige  Verbindung 
der  Anatomie  mit  der  Functionenlehre  (Physiologie  im  engeren 
Sinne)  nicht  verkannt  werden.  Die  Anatomie  ist  somit  Grundlage 
der  Physiologie,  und  dadurch  zugleich  Fundamentalwissenschaft  der 
gesammten  Heilkunde. 

Indem  die  organische  Welt  zwei  Naturreiche,  Pflanzen  und 
Thiere  umfasst,  wird  auch  die  Anatomie  Pflanzen-  und  Thier- 
anatomie  sein,  Phyto-  et  Zootomia.  Nur  einen  kleinen  Theil  der 
letzteren  bildet  die  Anatomie  des  Menschen,  welche,  wenn  man 
lange  Namen  liebt,  Anthropotomie  genannt  werden  mag.  Dem 
Wortlaute  nach  drückt  Anatomie  (von  dvatifAvstv,  aufschneiden)  nur 


$.  5.  Eintheiliing  der  menaehlielien  Anatomie.  11 

eines  jener  Mittel  aus,  deren  sich  die  Wissenschaft  zur  I^ösung  ihrer 
Aufgabe  bedient,  —  die  Zergliederung.  Zergliederungskunde 
ist  somit  ein  beschränkterer  Begriff,  als  jener  der  Anatomie,  obwohl 
beide  häufig  im  selben  Sinne  gebraucht  werden. 

Die  Zergliederung  macht  uns  nur  mit  den  leicht  zugänglichen 
äusserlichen  Verhältnissen  der  Organe  bekannt.  Um  ihren  inneren 
Bau  aufzuklären,  genügt  sie  allein  nicht.  Der  Wissenschaft  müssen 
noch  eine  Menge  technischer  Mittel  zu  Gebote  stehen,  durch  welche 
auch  das  Verborgene,  das  dem  freien  Auge  nicht  mehr  Wahrnehm- 
bare, in  das  Bereich  der  Untersuchung  gezogen  werden  kann,  und 
die  Anatomie  wird  somit,  nebst  den  rohen  Handgriffen  der  Zer- 
gliederung, noch  über  eine  reiche  und  subtile  Technik  zu  verfügen 
haben,  welche  bei  jeder  Detailuntersuchung  unentbehrlich  wird.  Die 
Anatomie  ist  somit  theils  Wissenschaft,  theils  Kunst,  und  wird 
ersteres  nur  durch  letzteres.  Wenn  man  sich  blos  damit  begnügt, 
die  Resultate  der  anatomischen  Forschungen  kennen  zu  lernen,  ohne 
sich  darum  zu  kümmern,  wie  sie  gewonnen  wurden,  mag  man 
immerhin  auch  eine  theoretische  und  praktische  Anatomie 
unterscheiden. 


§.  5.  Eintheilung  der  mensohlicheiL  Anatomie. 

In  so  fern  die  Anatomie  die  Organe  des  menschlichen  Leibes 
im  gesunden  Zustande  allseitig  kennen  zu  lernen  bemüht  ist,  führt 
sie  den  Namen  der  normalen  oder  physiologischen  Anatomie. 
Mit  ihr  beginnt  auf  den  Universitäten  das  Studium  der  Medicin  und 
Chirurgie.  —  Die  Veränderungen,  welche  in  den  Organen  durch 
Krankheit  bedingt  werden,  sind  Object  der  pathologischen  Ana- 
tomie. Die  pathologische  Anatomie  verhält  sich  zur  Krankheitslehre, 
wie  die  normale  zur  Physiologie.  Ihre  Beziehungen  sind  nothwendige 
und  bedingende;  —  eine  kann  ohne  die  andere  nicht  existiren. 

Die  physiologische  Anatomie  befasst  sich  a)  theils  mit  der 
Kenntnissnahme  der  äusserlich  wahrnehmbaren  Eigenschaften,  Ge- 
stalt, Lage,  Verbindung  der  Organe,  und  behandelt  sie  in  der 
Ordnung,  wie  sie  zu  gleichartigen  Gruppen  (Systemen),  oder  zu 
ungleichartigen  Apparaten,  welche  aber  auf  die  Hervorbringung  eines 
gemeinschaftlichen  Endzweckes  berechnet  sind,  zusammengehören. 
Sie  heisst  in  dieser  Richtung  beschreibende,  specielle  oder 
systematische  Anatomie,  und  zerföUt  in  so  viele  Lehren,  als  es 
im  menschlichen  Leibe  Systeme  und  Apparate  giebt:  Knochen-, 
Bänder-,  Muskel-,  Gefass-,  Nervenlehre  für  die  Systeme;  Eingeweide- 
and  Sinneulehre  für  die  Apparate.  Oder  b)  sie  geht  generalieirend 
zu  Werke  9  abstrahirt  aus  der  beschreibenden  Anatomie  a 


12  §.6*  Eintheilang  der  raentehliolien  Anatomie. 

Normen,  ordnet  ihre  vereinzelten  Darstellungen  zu  einem  Systeme, 
dessen  Eintheilungsgrund  der  innere  Bau  der  Organe  (das  Gewebe, 
Textura*)  ist,  und  wird  als  Geweblehre  (Histologie,  von  Itto^, 
auch  IcTtov,  Gewebe)  von  der  speciellen  unterschieden.  Man  nennt 
die  Geweblehre  auch  allgemeine  Anatomie.  Da  die  Gewebs- 
arten  nur  mit  Hilfe  des  Mikroskops  untersucht  werden  können, 
führt  die  Lehre  von  den  Geweben  gewöhnlich  den  wohlberechtigten 
Namen:  mikroskopische  Anatomie.  Sie  wird  in  der  Gegenwart 
bei  Weitem  schwunghafter  betrieben,  als  die  beschreibende  Anatomie. 
Die  Aussicht  auf  Entdeckungen,  welche  in  einer  so  jungen  Wissen- 
schaft, wie  es  die  mikroskopische  Anatomie  ist,  weit  lockender  er- 
scheint, als  in  dem  vielfach  und  gründlich  durchforschten  Gebiete 
der  Messeranatomie,  und  der  Umstand,  dass  man  in  der  mikro- 
skopischen Anatomie  mit  viel  weniger  Geschicklichkeit  ausreicht, 
als  in  der  präparirenden,  wirbt  ihr  ein  Heer  von  Verehrern  mit 
mehr  weniger  Beruf,  Befähigung,  und  Ehrlichkeit.  Man  hat  es 
zugleich  viel  bequemer  mit  ihr,  als  mit  der  zergliedernden  Anatomie, 
indem  die  Mikroskopie  überall  ihre  kleine  Werkstatt  aufschlagen  kann, 
und  unser  Geiiichsinn  durch  sie  auf  keine  so  harte  Probe  gestellt 
wird,  wie  an  halbfaulen  Leichen.  Ein  alter,  etwas  derber  Anatom 
sagt:  Zur  Anatomie  gehört  die  Hand  eines  Künstlers,  die  Geduld 
eines  Engels,  und  der  Magen  eines  Schw — .  Diese  heterogenen 
Anforderungen  werden  nun  an  die  mikroskopirende  Anatomie  mit 
Manschetten  und  Glac^ehandschuhen  nicht  gestellt.  Sie  ftihrt  uns, 
wenngleich  auf  mancherlei  Umwegen,  und  nicht  ohne  harte  Ent- 
täuschungen, zur  Erkenutniss  des  kleinsten  Geformten  im  thierischen 
Organismus.  Wie  das  Teleskop  dem  Astronomen  zeigt,  was  hinter 
dem  mit  freiem  Auge  sichtbaren  Sternenmeere  liegt,  so  zeigt  das 
Mikroskop  dem  Anatomen  die  Unendlichkeit  in  absteigender  Linie, 
bis  in  das  Gebiet  des  Structurlosen.  Die  Gewebslehre  ist  das 
Schoosskind  der  neuesten  Zeit,  und  so  mancher  hochverdiente  Mann, 
welcher  bei  Einführung  dieses  Kindes  in  die  wissenschaftliche  Welt 
zu  Pathen  gestanden,  wirkt  auch  jetzt  noch  für  seine  Erziehung  und 
Ausbildung. 


*)  Textnr  und  Strnctur  werden  in  der  Geweblehre  als  synonym  gebraucht. 
Sie  sind  es  aber  nicht.  Structura,  von  »truo,  aufschichten,  drückt  eine  Zusammen- 
setzung aus  gleichartigen  Tlieilen  aus,  wie  der  Steine  zur  Mauer,  zum  Pflaster,  und 
der  Worte  zum  Satz.  So  finden  wir  bei  Cicero:  »tructnra  verhormn,  und  bei 
Gel  SU  s:  structura  otitium,  für  Skelet  Es  soll  also  auch  in  der  Geweblehre  Struc- 
tur  nur  fttr  die  Bauart  solcher  Gebilde  angewendet  werden,  welche  Aggregate 
gleichartiger  Bestandtheile  sind,  wie  die  Epidermis,  die  Nägel,  der  Haarschaft,  die 
Epithelien,  der  Zahnschmelz,  die  Stabschicht  der  Netzhaut,  die  KrystalUinse  u.  a. 
Textura  dagegen,  von  texo,  weben,  kann  nur  für  die  Bauart  von  Organen  in 
Oebraucli  kommen,  welche  aus  verschiedenartigen,  unter  einander  verflochtenen  und 
verwebten  Bestandtheilen  zusammengesetzt  sind.  Diese,  von  den  klaBsischen  Autoren 
sehr  scharf  bezeichnete  sprachliche  Segpel,  wird  aber  von  den  Histologen  gar  nicht 
beachtet,  da  sie  eben  Histologen,  und  keine  Etymologen  sind. 


%.  5.  Eintheilaug  der  aeosclüi^eD  Anatomie.  13 

Was  in  den  kleinsten  Bestandtheilen  des  menschlichen  Leibes 
während  des  Lebens  vorgeht,  bildet  keinen  Gegenstand  der  An- 
schauung. Die  meisten  Verrichtungen  dieser  Bestandtheile  sind  uns, 
trotz  der  Foi*tschritte  der  Mikroskopie,  unbekannt  geblieben,  wenn 
sie  uns  nicht  auf  anderen  Wegen  erschlossen  wurden.  Nicht  durch 
das  Mikroskop  haben  wir  erfahren,  dass  die  Muskelfaser  sich  zu- 
sammenzieht, und  die  Bindegewebsfaser  nicht,  dass  gewisse  Nerven- 
iibrillen  Bewegungsimpulse  fortleiten,  andere  dagegen  nur  Empfin- 
dungen. Wie  bei  allem  Forschen  in  den  Geheimnissen  des 
Organischen,  ist  ein  fortwährendes  Annähern  an  ein  letztes  Ziel  in 
den  mikroskopischen  Arbeiten  gegeben,  aber  dieses  letzte  Ziel  steht 
in  unendlicher  Feme.  Man  kann  es  selbst  geradezu  behaupten,  dass 
die  Mikroskopie  der  neuesten  Zeit  mehr  Fragen  als  Antworten 
brachte,  mehr  Räthsel  aufgab  als  löste;  denn  mit  dem  Wissen  wächst 
der  Zweifel.  Die  Geschichte  der  Mikroskopie  liefert  uns  eine  un- 
unterbrochene Widerlegung  von  Irrthümem,  sehr  oft  durch  Auf- 
stellung von  neuen.  Da  dieses  mehr  weniger  auch  von  anderen 
Wissenschaften  gilt,  welche  in  einem  fortdauernden  Umbau  begriflFen 
sind,  wird  man  in  dem  Gesagten  für  die  Mikroskopie  nichts  Detrac- 
torisches  finden.  Ihre  enorme  Fruchtbarkeit  hat  uns  mit  einer  massen- 
haften Literatur  beschenkt,  welche  sich  kaum  mehr  bewältigen  lässt, 
—  eine  Alexandrinische  Bibliothek ,  in  wenig  Jahren  zum  grossen 
Theil  eines  gleichen  Looses  werth. 

Genau  genommen,  tragen  nicht  alle  Untersuchungen  der  allge- 
meinen Anatomie,  den  histologischen  oder  mikroskopischen  Charakter 
an  sieh.  Die  Kintheilungen  der  Einzelheiten  eines  organischen 
Systems,  z.  B.  der  Muskeln,  der  Knochen,  die  Aufstellung  aUgemeiner 
Normen  für  Verlauf  und  Verbrc-itungsweisen  anderer,  die  Abstraction 
der  Gesetze,  denen  die  anatomischen  Verhältnisse  der  Organe  sich 
unten:»rdnen,  sind  Argumente  der  allgemeinen  Anatomie,  nicht  der 
Histologit^.  und  wurden  schon  zu  jenen  Zeiten  richtig  aufgefasst  und 
beurtheilt .  wo  man  weder  an  Gewebe .  n^Krh  an  den  anatomischen 
Gebrauch  des  Mikroskopes  dachte. 

In  den  Lectionskatalogen  der  Wien^-r  medicinischen  Facultät 
figurirt  zur  allgemeinen  Erheiterung  auch  eine  höhere  Anatomie. 
Es  rauss  demnach  auch  eine  niedere  ^eben.  Wo  fangt  die  eine 
an,  und  hört  die  andere  auT?  Nur  H«ichmuth  <AeT  Beschränktheit 
konnte  sfJchen   Unterschied  erfinden. 

E*  er^Trbr*  *j<rh  v*>n  «-Ifj*!.  d^i  die  HuU/^/jne.  4i*  «p«ci<&ll«  'fdkr  J^' 
»chnribeode  Azi^h'jmi^  T.<rari»Mxru  -zud  de^L^lb  in  deri  V<M*r«nx4^a  r.i<;ht  al«  Ein- 
leisnng  in  die  ^a^iomhchfr  WiM«n«<hjifi  rorxfu^t^cinrki  v'^rrdtm  darf.  He  lunn 
jedocli  ixmer  den  emen  PUtz  ia  einem  aoUomv^hen  Haadbaebe  ematfaattm^ 
obwoU  der  Vortn^.  «.^II  er  dem  Anfirafer  atttzücb  aeni,  mtki  wt  üar  xn  htgmmtm 

aUgemeiner  UAid  ipcciellffr  AttMkmnt  ÜMt  mek  tket' 


14  §.  6.  Topographiiohe  Anatomie. 

hanpt  schwer  bestimmen.  Beide  spielen  so  häufig  in  einander  hinüber,  bedingen 
sich  wecliselseitig  so  nothwendig,  und  müssen  im  Vortrage  so  oft  mit  einander 
verwebt  werden,  dass  eine  strenge  Sonderung  derselben  unausführbar  wird. 

Die  Anatomie  der  Menschenracen,  der  Altersstufen,  der  Varie- 
täten der  Organe,  bilden  keine  selbstständigen  Doctrinen,  sondern  werden 
vielmehr  der  beschreibenden  Anatomie  an  passender  Stelle  eingewebt. 


§.  6.  Topographische  Anatomie. 

Untersucht  die  Anatomie  die  verschiedenen  Bestandtheile  des 
menschlichen  Körpers  nicht  nach  den  einzelnen  Systemen,  welchen 
sie  angehören,  wie  es  im  gewöhnlichen  Schulvortrag  geschieht, 
sondern  beschäftigt  sie  sich  mit  der  Gruppirung,  d.  i.  mit  dem 
Nebeneinandersein  derselben  in  einem  gegebenen  Räume,  von  den 
oberflächlichen  zu  den  tiefliegenden  übergehend,  so  wird  sie  topo- 
graphische Anatomie  genannt.  Diese  Behandlungsart  der  Ana- 
tomie ist  jedenfalls  die  praktisch-nützlichste,  da  es  der  Arzt  nie  mit 
isolirten  Systemen  des  menschlichen  Körpers,  sondern  mit  der  Ver- 
bindung aller  zum  lebendigen  Ganzen  zu  thun  hat.  Das  örtliche 
Verhältniss  der  Organe  in  einem  gegebenen  Räume,  ist  für  den 
praktischen  Arzt  und  Wundarzt  vom  höchsten  Interesse,  indem  die 
Störungen  dieses  Verhältnisses,  eine  Gruppe  von  localen  Krankheits- 
erscheinungen hervorrufen,  welche  nur,  wenn  jenes  Verhältniss  be- 
kannt ist,  richtig  beurtheilt  werden  können. 

Die  topographische  Anatomie  abstrahirt  in  der  Regel  von  den 
fiinctionellen  Bestimmungen,  selbst  von  dem  Baue  der  einzelnen 
Organe,  und  stellt  sich  überhaupt  keine  andere  Aufgabe  als  jene, 
die  Verwendung  des  anatomischen  Raumes  und  die  Verpackung 
seines  differenten  Inhaltes  kennen  zu  lernen.  Dass  die  topographische 
Anatomie,  wie  sie  jetzt  in  unseren  Schulen  gelehrt  wird,  die  Kennt- 
niss  der  systematischen  voraussetzt,  leuchtet  von  selbst  ein.  Für 
den  Anßinger  ist  sie  unverständlich. 

Die  topographische  Anatomie  ist  älter,  als  die  systematische, 
oder  beschreibende.  Im  Mittelalter  konnten  anatomische  Demon- 
strationen nur  selten  an  den  Universitäten  gegeben  werden,  weil 
wenig  Leichen  zui*  Verfugung  standen.  War  eine  solche  zur  Hand, 
wurde  sie  so  zergliedert,  dass  man  zuerst  die  drei  Körperhöhlen, 
und  hierauf  die  Gliedmassen  in  Arbeit  nahm,  was  man  in  der  bar- 
barischen Schulsprache  der  damaligen  Zeit  ancUomizzare,  resecare, 
oder  excaniare  nannte.  Bei  dieser  Excamatio  wurde  nun  zuerst  der 
Unterleib  (imus  venter)  vorgenommen,  hierauf  die  Brust  (medius 
venter),  dann  der  Kopf  (supremus  venter),  so  dass  die  Haut,  dann 
die  Muskeln  und  die  Knochen,   welche  die  Wand  der  betreffenden 


g.  6.  Topognpbisohe  Anatoinie.  15 

Körperhöhle  bilden^  zuletzt  die  Eingeweide,  mit  dem  Wenigen,  was 
man  von  ihren  Gelassen  und  Nerven  damals  wusste,  vorsecirt  und 
erklärt  wurden.  Die  Gliedmassen  (Membra),  mit  ihren  Muskeln, 
Knochen,  GefUssen  und  Nerven,  machten  den  Schluss.  Eine  solche 
Demonstration  dauerte  anfänglich  vier  Tage,  und  wurde  später  auf 
neun  und  zwölf  Tage  ausgedehnt.  Bemerkungen  über  Verrichtungen 
und  Krankheiten  der  vorgezeigten  Organe,  nahmen  gewöhnlich  mehr 
Zeit  in  Anspruch,  als  die  Anatomie.  Auch  die  Schriften  jener  Zeit 
halten  sich  ausnahmslos  an  diese  topographische  Methode.  Die 
systematische  Anatomie  kam  erst  durch  Jac.  Sylvius  im  16.  Jahr- 
hundert in  Aufnahme. 

Nimmt  aber  die  topographische  Anatomie  zugleich  auf  das 
Bedürfniss  des  Arztes  Rücksicht,  erörtert  sie  den  Einfluss  der  räum- 
lichen Verhältnisse  auf  Krankheitserscheinungen,  untersucht  sie,  wie 
sich  die  palpable  Krankheit  eines  Organs  in  den  nebenliegenden 
reflectirt,  in  sie  übergreift,  ihre  mechanischen  Beziehungen  stört, 
und  ihre  Verrichtungen  beeinträchtigt,  leitet  sie  hieraus  die  Regeln 
ab,  nach  welchen  dem  localen  Uebel  local  begegnet  werden  soll, 
beurtheilt  sie,  vom  anatomischen  Standpunkte  aus,  den  Werth  der 
blutigen  Eingriffe  (Operationen),  und  stellt  Normen  für  sie  auf:  so 
wird  sie  insbesondere  chirurgische  Anatomie  genannt;  ein  Name, 
der  fuglich  in  den  der  angewandten  Anatomie  umzuwandeln 
wäre,  da  die  Ergiebigkeit  dieses  Faches  für  die  Medicin  keine  ge- 
ringere als  für  die  Wundarzneikunde  ist,  und  es  überhaupt  nur 
Eine  Heilkunde  giebt.  Die  angewandte  Anatomie  enthält  sich  aller 
beschreibenden  Details,  aus  denen  keine  unmittelbaren  praktischen 
Folgerungen  gezogen  werden  können;  -—  sie  ist  die  Blumenlese  der 
zahlreichen  Nutzanwendungen  unserer  Wissenschaft,  —  somit  die 
eigentliche  Anatomie  des  prakticirenden  Arztes. 

Die  Gestaltung  der  Obei-flächc  des  Organismus  beruht  auf  der 
Gruppirung  seiner  inneren  Organe.  Deshalb  braucht  nicht  erst  be- 
wiesen zu  werden,  dass  die  Kenntniss  der  äusseren  Form  des 
menschlichen  Leibes  (Morphologie,  unpassend  Anatomia  exteima) 
einen  sehr  wichtigen  Theil  der  topographischen  Anatomie  bildet,  und 
wenn  man  bedenkt,  wie  mit  gewissen  inneren  krankhaften  Zuständen, 
entsprechende  Veränderungen  der  Oberfläche  Hand  in  Hand  gehen, 
so  wird  die  praktische  Wichtigkeit  dieser  Lehre  fiir  Jenen,  welcher 
Arzt  werden  will,  keiner  besonderen  Empfehlung  bedürfen.  Die 
Beinbrüche  und  Verrenkungen,  die  Wunden  und  das  Heer  von 
Geschwülsten,  also  gerade  die  häufigsten  chirurgischen  Krankheiten, 
bestätigen  täglich  ihre  nutzvolle  Anwendung.  Die  ästhetische  Seite 
dieses  Zweiges  unserer  Wissenschaft,  begründet  nebenbei  seine 
Geltung  in  der  bildenden  Kunst,  und  die  plastische  Anatomie, 
welche   die   äusseren  Umrisse   des  menschlichen  Leibes  auf  innere 


16  §.7.  Vergleichende  Anatomie  und  Kntwicklnngsgeechichte. 

Bedingungen  redueirt,  giebt  erst  den  Werken  der  Kunst  die  Wahr- 
heit des  Lebens. 


§.  7.  Vergleichende  Anatomie  und  Entwicklungsgeschichte. 

Die  vergleichende  Anatomie  hält  die  Heerschau  über  die 
bunten  Schaaren  der  Thiere  und  deren  Bau,  von  der  Monade,  deren 
Welt  ein  Wassertropfen  ist,  bis  zum  Ebenbilde  Gottes.  Wie  das 
Leben  in  seinen  tausendfältigen  Daseinsformen  sich  selbst  und  sein 
Substrat  veredelt;  wie  es,  von  den  ereten  und  einfachsten  Regungen, 
sich  durch  eine  endlose  Reihe  von  Organismen  fort  und  fort  weiter- 
bildet; wie  Plan  und  Gesetzmässigkeit  in  Bau  und  Verrichtungen 
jedem  Individuum  den  Stempel  relativer  Vollkommenheit,  d.  h. 
höchster  Zweckmässigkeit  für  seine  Existenz,  aufdrückt,  dieses  zu 
kennen,  ist  das  preiswürdige  Object  der  vergleichenden  Anatomie, 
welcher  somit  die  Würde  einer  philosophischen  Wissenschaft  zu- 
kommt. Sie  hilft  nicht  zunächst  einem  praktischen  Bedürfnisse  ab, 
wie  die  angewandte  Anatomie;  —  ihr  A^el  beruht  nicht  auf  den 
materiellen  Rücksichten  des  Nutzens,  sondern  auf  Veredlung  des 
Geistes  durch  Wahrheit. 

Vergleichende  Anatomie  und  Zootomie  sind  nicht  identische 
Wissenschaften.  Während  die  Zootomie  nur  das  Einzelne  mono- 
graphisch behandelt,  und  die  Summe  anatomischer  Kenntnisse  ver- 
grössert,  giebt  diesen  die  vergleichende  Anatomie  erst  Bedeutung 
und  Zusammenhang,  und  begeistigt  das  todto  Material  durch  die 
Ideen,  welche  sie  aus  ihnen  schöpfte.  Diese  Ideen  sind  in  unserer 
Zeit  so  kühn  und  grossaitig  hervorgetreten,  dass  sie  selbst  die  Macht 
geltend  machen,  die  Kluft  zu  ebnen,  welche  den  Menschen  von  der 
Thierwclt  trennt,  und  seinen  Ursprung,  seine  höhere  Organisation 
und  geistige  Begabung,  nur  als  gesetzmässige  und  unabweisliehe 
Folge  von  Entwicklungen  angesehen  wissen  wollen,  welche  in  die 
entlegenste  Ferne  der  Geschichte  der  Erde  und  ihres  organischen 
Lebens  zurückreichen.  Diese  Entwicklungsfolge  soll  es  verstehen 
lehren,  dass  der  Mensch  nicht  geschaflfen  wurde,  sondern  durch  zwin- 
gende Macht  der  Naturgesetze  entstand,  d.  h.  sich  aus  niedrigeren 
Wesen,  als  er  selbst  ist,  entwickelte.  Geologie,  Palaeontologie  und 
organische  Entwicklungskunde,  haben  die  Naturwissenschaft  in 
diesen  Bestrebungen  unterstützt.  Schon  im  Anfange  dieses  Jahr- 
hundertes  sagte  Oken:  ^.Der  Mensch  ist  das  grimmigste  Raubthier, 
„der  unterwüiügste  Wiederkäuer,  die  artigste  Meerkatze  (damit  ist 
„das  schöne  Geschlecht  gemeint)  und  der  scheusslichste  Pavian,  das 
„stolzeste  Ross,  und  das  geduldigste  Faulthier,  der  treueste  Hund 
„und    die   falscheste  Katze,    der  grossmüthigste   Elephant   und   die 


§.  7.  Vergleichende  ÄBatomie  nnd  EntwicklaBgegeschichte.  17 

„hungrigste  Hyäne^  das  frommste  Reh  und  die  ausgelassenste  Ratte. 
„Theilweise  ist  der  Mensch  allen  Thieren  gleich;  ganz  aber  nur  sich; 
pder  Natur,  und  Gott!"  —  Das  verdaue,  wer  kann!  —  Wird  es 
nun  dieser  Schule  gelingen,  Ideen  solcher  Art,  in  wissenschaftlich 
bewiesene,  also  verständliche,  geschlossene  Sätze  zu  fassen?  Werden 
diese  Sätze  auch  die  Wunden  heilen,  welche  sie  in  dem  Gefühle 
der  Menschenwürde,  in  dem  Bewusstsein  einer  höheren  als  thieri- 
sehen  Bestimmung,  unfehlbar  aufreissen  müssen?  Wird  die  Wissen- 
schaft auf  ihrem  Wege  stille  stehen,  oder  sich  zur  Umkehr  bereden 
lassen?  Nur  auf  diese  letzte  Frage  lässt  sich  bestimmte  Antwort 
geben.  Sie  lautet:  Nein,  —  denn  der  Kampf  des  Wissens  mit  dem 
Glauben  wird  dauern,  so  lange  es  Menschen  giebt.  Und  so  wollen 
wir  es  auch  nicht  unbedingt  für  unmöglich  halten,  dass  der  philo- 
sophische Geist  der  vergleichenden  Anatomie,  einst  eine  neue  Ordnung 
der  Dinge  schaffen  kann.  Aber  man  vergesse  nicht,  dass  die  Zeit 
ein  Element  der  Wahrheit  ist.  Die  Wahrheit  kommt  nur  lang- 
sam und  gradweise.  Sie  vor  der  Zeit  erfassen  zu  wollen,  hat,  so 
lange  die  Welt  steht,  nur  zu  Täuschungen  geftlhrt. 

Die  Entwicklungsgeschichte  oder  Evolutionslehre  be- 
schäftigt sich  nicht  mit  dem,  was  die  Organe  des  thieri sehen  Leibes 
sind,  sondern  wie  sie  es  wurden.  Sie  studirt  die  Gesetze,  nach 
welchen  aus  dem  einfachen  Keim,  der  thierischc  Embryo  sich  zum 
Fötus,  und  dieser  zum  geburtsreifen  Kinde  entwickelte,  wie  die  Viel- 
heit der  Organe  sich  bildete,  welche  Metamorphosen  sie  durchliefen, 
bevor  sie  den  Culminationspunkt  ihrer  Ausbildung  erreichten.  Sie 
gehört  ganz  der  Neuzeit  an,  und  wohl  hat  keine  Wissenschaft  in 
so  kurzer  Zeit  so  Vieles  und  Ueberraschendes  geleistet,  wie  sie. 
Die  durch  Störung  der  Entwicklungsgesetze  bedingten  Abweichungen 
in  Form  und  Bau  —  Ilemmungsbildungen,  Monstrositäten 
—  finden  durch  sie  ihre  wissenschaftliche  Erledigung. 

Die  Worte  Embryo  und  Feiua,  welche  in  der  Anatomie  so  hänfig  gebraucht 
werden,  sind  nicht  synonym.  Ihr  Unterschied  besteht,  ein  für  allemal  gesagt, 
in  Folgendem.  Embryo  (70  ^(jißpuov,  von  ßpuEtv,  sprossen  oder  keimen)  bedeutet 
die  nngebome  Frucht  im  Mutterlelbe  (xb  evto;  t^(  yaotpo^  ßpuov,  quod  in  vetUre  matrü 
puüulal,  East),  so  lange  noch  nicht  alle  Formtheilc  des  werdenden  Leibes  ent- 
wickelt sind.  Sind  diese  aber  bereits  ausgebildet,  so  heisst  die  Frucht  fettM, 
(gewöhnlich,  obwohl  sprachlich  unrichtig,  auch  foetusj,  von  dem  veralteten  feo^ 
erzeugen,  woher  auch  feniina  und  fecundus  stammt.  Fetum  edere,  heisst  ge- 
bären, bei  Cicero.  Uebrigens  bedient  man  sich  heutzutage  der  Worte:  Fetus 
und  Embryo,  ganz  promiscue. 

Da  die  Entwicklungsgeschichte  das  Werden  der  Organe,  nicht  einen  fertigen 
und  bleibenden  Zustand  derselben  untersucht,  es  somit  nicht  mit  Heschreibungen 
Tollendeter  Formen,  sondern  mit  Uebergängen  vom  Einfachen  zum  Zusammen- 
gesetzten zu  thun  hat,  so  wird  sie  gewöhnlich  in  die  physiologischen,  nicht  in  die 
anatomischen  Vorträge  aufgenommen.  In  der  descriptiven  Anatomie  kommt  der 
Lehrer  oft  in  die  Lage,  auf  die  Ergebnisse  der  Entwicklungsgeschichte  Rücksicht 
Hjrtl,  L«hrbach  der  Anatomie.  14.  Aufl.  2 


18  f.  S.  TerUItei«  4cr  AMtew«  rar  nyiivlofM. 


m  nehmen,  mid  gut  ist  es,  wenn  er  es  so  oft  aJs  mliglich  thnt,  denn  der  an»- 
tomische  S«chTerfaait  im  Tollkomsnen  entwickelten  Orgmnismos,  wird  besser  Ter- 
standen,  wenn  man  weiss,  auf  welche  Weise  er  zo  Stande  kam. 


§.  8.  Yerhältiiias  dflr  Anatomie  snr  Physiologie. 

Bis  zu  Haller's  Zeil  befajmdelten  die  anatomischen  Schriften 
aach  die  Physiologie,  d.  i.  die  Verrichtungen  der  Organe;  „n&qm 
enirn  mmlUi  m  pl^fialogieia  jcran»,  mjt  quae  per  anatomen  didiernui.^ 
Diese  Worte  bezeichnen  richtig  das  Verhaltniss  der  älteren  Anatomie 
zur  älteren  Physiologie.  Aus  ihnen  spricht  nur  etwas  zu  viel  Hoch- 
achtung eines  grossen  Anatomen  für  sein  Fach.  Die  neuere  Physio- 
logie ist  bemüht y  sich  als  «organische  Physik*^  mit  der  Glorie 
einer  exacten  Wissenschaft  zu  umgeben.  Alles  Irren  ist  ihr  auch 
sofort  unmöglich  geworden  (eciUeei!).  Wo  Physik  und  Mechanik  in 
das  Triebrad  lebendiger  Bewegungen  eingreifen,  lässt  sich  Exact- 
heit  der  ^Uethode*  allerdings  anstreben,  und  Niemand  wird  es 
bezweifeln,  dass  die  Arbeiten  ober  Athmung,  Verdauung,  Ham- 
bereitung,  und  Nenrenphysik^  ihren  Werth  behaupten,  wenn  auch  die 
Structur  der  betreffenden  Organe  eine  ganz  andere  wäre,  als  sie 
wirklich  ist.  Der  Charakter  jener  Arbeiten  ist  eben  ein  rein  chemi- 
scher oder  physikalischer.  Wie  es  sich  aber  mit  der  Exactheit  der 
,,Resultate'^  verhah.  zeigen  die  Wörtcheu:  ,,es  scheint^  und  „es 
dürfte"^,  und  die  noch  exaeter  klingende  Verbindung  beider  „es 
dürfte  scheinen^  welche  die  Seiten  gewisser  physiologischer 
Schriften  in  unliebsamer  Anzahl  schmücken. 

Es  kann  der  Anatomie  nicht  zugemuthet  werden,  sich  allein 
mit  der  Aeusserlichkeit  der  Organe  abzugeben.  Ihre  Tendenz  ist 
der  Enträthselung  der  Functionen  zugewendet,  ihr  Princip  ist  Physio- 
logie. £in  geistloses  Handwerk,  —  und  ein  solches  wäre  die  Anatomie 
ohne  Verband  mit  Physiologie,  —  hat  keinen  Anspruch  'auf  den 
Namen  einer  Wissenschaft.  Kann  man  die  Einrichtung  einer 
Maschine  studiren,  ohne  Vorstellung  ihres  Zweckes,  oder,  so  lange 
man  bei  Vernunft  ist.  den  Klang  der  Worte  hören,  ohne  den  Sinn 
der  Rede  aufzufassen?  Ist  es  möglich,  harmonisch  geordnete  Theile 
eines  Ganzen  zu  sehen,  sie  blos  anzustarren,  ohne  zu  denken?  Die 
Physiologie  setzt  die  Anatomie  nicht  voraus,  sie  existirt  Tielmehr 
in  und  mit  ihr.  Der  Anatom  kann  keine  Untersuchung  vornehmen^ 
ohne  von  der  physiologischen  Frage  auszugehen,  oder  am  ESnde 
auf  sie  zu  stossen.  Die  Bahnen  beider  Wissenschaften  begegnen 
und  kreuzen  sich  an  so  vielen  Punkten,  dass  nur  wenig  divergirende 
ZwischensteUen  eintreten.  Die  Physiologie  eine  angewandte  Ana- 
tomie zu  nennen,  ist  unlogisch,  da  eine  reine  Anatomie  nicht  existirt. 
Beruht  die  Eintheilniig  der  anatomischen   Systeme  und  AppaAla 


§.  8.  Verh&ltniM  der  Anatomie  inr  Physiologie.  19 

nicht  auf  physiologischer  Basis?  werden  die  Arten  der  Gelenke 
nicht  nach  ihrer  möglichen  Bewegung  unterschieden?  führt  nicht 
eine  ganze  Schaar  von  Muskeln  physiologische  Namen?  —  Wer 
kann  den  Mechanismus  der  Herzklappen,  die  sinnreiche  Construc- 
tion  des  Auges  und  seiner  dioptrischen  Theile,  die  anatomischen 
Verhältnisse  der  Bewegungsorgane,  und  so  vieles  Andere  beschauen, 
ohne  einem  physiologischen  Gedanken  Raum  zu  geben?  Ist  nicht 
die  Hälfte  eines  anatomischen  Lehrbuches  in  physiologischen  Worten 
abgefasBt,  und  hat  irgend  Jemand  deshalb  über  Unveratändlichkeit 
Klage  geführt? 

Allerdings  unterrichtet  uns  das  anatomische  Factum  nicht  über 
jede  physiologische  Frage.  Das  leider  so  oft  missbrauchte  Experi- 
ment am  lebenden  Thiere,  die  chemischen  und  physikalischen  Ver- 
suche ,  Vergleich ,  Induction ,  Analogie ,  tragen  nicht  weniger  dazu 
bei,  das  physiologische  Lehrgebäude  aufzuführen,  und  seine  dunklen 
Kammern  dem  Tageslicht  der  Wissenschaft  zu  öffnen.  Die  Grund- 
festen dieses  Gebäudes  sind  und  bleiben  jedoch  die  anatomischen 
Thatsachen.  Es  war  deshalb  mit  der  Trennung  der  Physiologie  und 
Anatomie  von  jeher  eine  missliche  Sache.  Sie  existirt  de  fa>cto  in 
den  medicinischen  Lectionskatalogen,  aber  nicht  de  jure,  und  wurde 
überhaupt  nur  durch  die  Nothwendigkeit  veranlasst,  die  täglich  sich 
vermehrende  Menge  physiologischer  Ansichten  und  Meinungen,  zum 
Gegenstande  eigener  Schriften  und  Vorträge  zu  machen.  Man  nehme 
aber  der  Physiologie  die  Anatomie  (und  die  organische  Chemie), 
und  sehe,  was  dann  übrig  bleibt. 

Für  die  Bildung  praktischer  Aerzte,  und  diese  ist  doch  der 
Hauptzweck  medicinischer  Studien,  könnte  es  nur  erspriesslich  sein, 
wenn  die  Physiologie  der  Schule,  sich  mehr  mit  dem  Menschen,  als 
mit  Fröschen,  Kaninchen  und  Hunden  beschäftigte,  und  statt  der 
Stubenweisheit,  für  welche  nur  ein  Fachmann  schwärmen  kann, 
mehr  das  Bedürfniss  des  Arztes  in's  Auge  fasste.  So  lange  dieses 
nicht  geschieht,  wird  die  Physiologie  von  den  Studiren  den  nur  als 
eine  Rigorosumplage  gefürchtet,  nicht  als  eine  treue  und  nützliche 
Gefährtin  auf  den  Wegen  der  pi*aktischen  Medicin  geliebt  und 
gesucht.  Mögen  deshalb  die  Lehrer  der  Physiologie  recht  oft  an 
Baco  denken:  vana  omnis  erudiüonü  ostentatio,  nid  utäem  operam 
90cum  ducat,  und  die  Freunde  der  empörendsten  und  nutzlosesten 
Thierquälerei  (nur  von  dieser  rede  ich)  es  beherzigen,  dass  die 
Worte  der  Schrift:  „Der  Gerechte  erbarmet  sich  auch  des 
Thieres"  nicht  blos  für  die  Wiener  Fuhrknechte  geschrieben 
wurden. 


2* 


^  |^  »x  YtrIiAtt&ltt  der  Anatoml«  snr  Medioin. 


^«  0«  Yerli&ltiiiss  der  Anatomie  zur  Medioin. 

Wir  wollen  die  Klage  der  Studirenden  nicht  für  gänzlich  un- 
biJjrHUulot  halten,  dass  die  Medicin  zu  viel  von  sogenannten  Hiifs- 
wiimoniiehaften  mit  sich  schleppt.  Diese  HUfswissenschaften  aUe, 
morden  von  den  gelehrten  Professoren  derselben,  für  den  ärzt- 
lichen Unterricht  als  sehr  wichtig,  selbst  als  unentbehrlich  aus- 
gegeben. Ja  wenn  es  einer  medicinischen  Facultät  einfiele,  höhere 
Mathematik  und  Astronomie  in  ihre  Vorlesungen  aufzunehmen, 
würde  der  Lehrer  dieser  Wissenschaften  gewiss  in  der  ersten  Stunde 
es  allen  seinen  Zuhörern  an's  Herz  legen,  dass  man  ohne  Integral- 
und  Differenzialrechnung ,  und  ohne  Einsicht  in  den  motvs  codi, 
Mderumque  meatus,  kein  guter  Arzt  werden  könne. 

Im  Erkennen  und  Heilen   der  Krankheiten    liegt  die  Aufgabe 
Jer  Medicin.     Ersteres  allein  ist  Wissenschaft;  letzteres  war  bisher 
Jjmpine,  und  wird  es  noch  lange  bleiben.    Um  Krankheiten  zu  er- 
nennen, macht  der  Arzt  seine  lange  Schule  durch;   heilen  dagegen 
jcftnn  Jeder,  der  weiss,  was  hilft.     Und  dieses  Wissen  hat  einen  so 
l^escheidenen  Umfang,    dass   es  Max.  StoU,   einer  der  gefeiertsten 
Aerzte  seiner  Zeit,  auf  seinen  Fingernagel  schreiben  wollte.    Bevor 
man  aber  daran  denken  darf,  zu  heilen,  hat  der  Arzt  zuerst  darauf 
zu  sehen:  nicht  zu  schaden  (wpwrov  tb  jj.t)  ßX^irreiv.  Hipp.).     Auch 
hiezu  gehört  eine  Art  von  Wissenschaft,  und  Mancher  kommt  sein 
Lebelang  nicht  weiter.  —  Im  Erkennen  der  Krankheiten,  nicht  im 
Heilen  liegt  die  Würde  der  Medicin,  und  an  dieser  hat  die  Anatomie, 
nach  dem  einstimmigen  Urtheile  aller  wissenschaftlichen  Aerzte,  den 
ersten  Antheil.     Cognüio  corporis  humani,  principiv/m  sermonU  in  arte» 
Rolfink  nannte  die  Anatomie:  medidnae  octdus,  vergass  aber  hinzu- 
zusetzen: quandoqvs  coecuHens. 

Es  hiesse  den  Standpunkt  der  Anatomie  sehr  verkennen,  wenn 
man  in  ihr  blos  ein  Vorbereitungsstudium  zur  Heilkunde  erblicken, 
und  ihre  vielfältigen  Anwendungen  in  praoci,  als  die  einzige  Em- 
pfehlung derselben  dem  Studirenden  hinstellen  wollte.  Der  Nutzen  ist 
leider  das  Idol  der  Zeit,  dem  alle  Kräfte  huldigen,  alle  Talente 
fröhnen,  und  ein  gutes  Kochbuch  wird  von  Millionen  Familien  fiir 
nützlicher  gehalten,  als  die  Micamqm  Celeste  von  Laplace.  Im 
Qrunde  haben  sie  für  ihren  Gesichtskreis  nicht  Unrecht.  Würde 
aber  allein  die  Nützlichkeit  den  Werth  einer  Sache  bedingen,  dann 
müsste  auch  das  Trinkwasser  theurer  sein  als  das  Gold.  —  Am 
allerwenigsten  darf  man  es  dem  Schüler  verargen,  wenn  er  bei 
einem  Fache,  dessen  Betrieb  so  viel  Zeit  und  Mühe  in  Anspruch 
nimmt^  wie  die  Anatomie,  vorerst  ft*agt,  wozu  er  es  brauchen  kann, 
und  erwartet,  dass  man  es  ihm  sagt.  Die  cadaverum  eordes  und  die 


§.  9.  Yarliiltaiii  der  Anatomie  nur  Medioiii.  21 

mephMa  der  Secirsäle  entschuldigen  diese  Neugierde.  Allein  die 
Anatomie  als  Wissenschaft ,  ist  keine  Magd  der  Heilkunde.  Jede 
Naturforschung  hat  einen  absoluten^  nicht  in  ihren  Nebenbeziehungen 
gegründeten  Werth.  So  auch  die  Anatomie.  Sie  bietet  Wahrheit 
aus,  verschenkt  sie  aber  nicht,  sondern  lässt  sie  nur  theuer  erkaufen. 
Das  Geheinmiss  des  Lebens  aufzuhellen,  ist  an  und  für  sich  ein 
erhabener  Zweck,  der  jede  Rücksicht  des  Nutzens  und  der  Brauch- 
barkeit auf  dem  Markte  des  Lebens  ausschliesst.  Hieher  gehören 
DöUinger's  Worte:  „Ehe  man  fragt,  wozu  ein  Wissen  nütze,  sollte 
man  billig  erst  untersuchen,  welchen  inneren  eigenthümlichen  Gehalt 
und  Werth  es  habe,  inwiefern  es  den  menschlichen  Geist  zu  er- 
füllen und  zu  erheben  fähig  sei,  ob  es  an  sich  gross  und  kräftig, 
Anstrengung  fordernd,  uns  die  Macht  und  den  Gebrauch  unserer 
Kräfte  kennen  lehre". 

Die  ganze  Welt  gesteht  es  zu,  dass  die  Anatomie  die  Grund- 
lage der  Medicin  abgiebt.  Dieses  ist  richtig.  Die  Medicin  kann 
der  Anatomie  nicht  entbehren,  obgleich  die  Anatomie  sehr  wohl  ohne 
Medicin  bestehen  kann.  Und  sie  bestand  auch  lange  schon,  bevor 
die  Medicin  noch  Anspruch  auf  Wissenschaftlichkeit  machen  konnte. 
Wir  kennen  alle  die  merkwürdige  Thatsache,  dass  die  grossen  Ent- 
deckungen in  der  Anatomie,  lange  Zeit  den  Entwicklungsgang  der 
Heilkunde  nicht  förderten,  und  grossartige  physiologische  Irrthümer, 
welche  sich  durch  Jahrhunderte  zu  behaupten  wussten,  denselben 
nicht  hemmten,  ihm  auch  keine  andere  Richtung  gaben.  Die  Philo- 
sophie hat  sich  in  dieser  Beziehung  viel  einflussreicher  bewiesen  als 
Anatomie  und  Physiologie.  Es  hat  eine  Zeit  gegeben,  wo  Philosoph 
und  Arzt  synonym  waren,  imd  die  Aerzte  über  die  Krankheiten 
nicht  klüger  urtheilten,  als  die  Philosophen  über  das  Unbegreifliche. 
Die  Anatomie  wurde  damals  gar  nicht  befragt.  Das  Humidum  und 
CaUdum  wurde  für  viel  wichtiger  gehalten.  Jahi*tausende  hindurch 
hat  die  Medicin  wohl  allerlei  Zeichen  gesehen,  imd  Heilmittel  ge- 
funden ,  aber  keine  einzige  Wahrheit ,  kein  einziges  Lebensgesetz. 
Unbewiesener  Glaube  drückte  ihrem  Walten  den  Stempel  der  Un- 
fruchtbarkeit auf,  und  der  dem  Menschen  angeborene  Instinct  des 
Denkens,  führte  nur  zu  grund-  und  gehaltlosen  Theorien.  Selbst  in 
unseren  Tagen  hat  sie  nicht  ganz  aufgehört  zu  sein,  was  sie  seit 
ihrem  Beginne  war,  ein  nicht  ohne  Sorgfalt  zusammengestückeltes, 
und  treuherzig  nachgebetetes  System  conventioneller  Täuschungen, 
welche  man  für  Wahrheit  nimmt. 

Als  die  Anatomie  im  Mittelalter  ihre  Wiedergeburt  feierte,  und 
Sitz  und  Stimme  erhielt  im  Rathe  der  Aerzte,  pries  man  zwar  ihre 
Wichtigkeit,  aber  ohne  sie  zu  verstehen.  Man  weidete  sich  blos  an 
grossen  Hoffnungen  für  die  Zukunft,  und  blieb  um  ao  eifirigerer 
Parieigäiiger  der  herrschenden  medicinisoheii  P' 


22  §.  9,  Yerh&ltaiit  der  Anatomie  sw  Medieln. 

nicht  80  lange  um,  wo  die  akademischen  Gesetze  gewisser  Uni- 
versitäten, den  Betrieb  der  Anatomie  entweder  gar  nicht,  oder  nur 
den  Wundärzten  gestatteten.  Auch  diese  Periode  des  Jammei*s  ging 
vorüber;  es  fiel  ein  Lichtstrahl  auch  in  diese  Nacht,  und  Hess  das 
Bewusstsein  entstehen,  dass  das  Heil  der  Heilkunde  aus  fi'ucht- 
barerem  Boden,  als  aus  dem  Flugsande  der  Hypothesen,  welchen 
die  Schulen  zusammenwirbelten,  erblühen  müsse.  Sie  hat  ihn  end- 
lich nach  langem  vergeblichen  Suchen  gefunden,  und  die  Anatomie 
hat  ihr  hiebei  die  Leuchte  vorgetragen.  Dass  hier  vorzugsweise  die 
pathologische  Anatomie  gemeint  ist,  versteht  sich  von  selbst.  In 
Wien  wurde  sie  zu  Anfang  dieses  Jahrhunderts  durch  Rud.  Vetter 
(später  Professor  der  Anatomie  zu  Krakau)  gegründet.  Fast  Niemand 
nennt  heutzutage  diesen  Namen  mehr.  Und  dennoch  waren  Vetter's 
Aphorismen  aus  der  pathol.  Anat.,  Wien,  1803,  die  erste,  be- 
deutungsvolle Leistung  auf  einem  bisher  brachgelegenen  wissen- 
schaftlichen Gebiete.  Viele  haben  Worte  und  Gedanken  dieses 
Buches  benützt,  —  erwähnt  hat  es  (ausser  Virchow)  keiner!  — 
Man  sollte  es  kaum  glauben,  dass  der  Versuch,  die  Heilkunde  auf 
anatomischem  Wege  vorwärts  zu  bringen,  so  lange  hinausgeschoben 
werden  konnte.  Die  Bahn  ist  nun  gebrochen,  und  was  bereits 
geschah,  berechtigt  zu  den  schönsten  Erwartungen.  Die  Medicin 
ist  endlich  Naturforschung  geworden,  und  fühlt  die  Wahrheit,  welche 
in  den  Worten  Baco's  liegt:  „non  ßngendum  aut  excogüandum,  sed 
inoeniendum,  quid  Natura  faciai  cUque  fercU^'.  Ein  Rückschritt  ist 
nicht  mehr  möglich.  Man  kann  nicht  mehr  zurückfallen  in  den  alten 
Fehler,  sich  Begriffe  von  Krankheiten  aus  ihren  äusseren  Symptomen 
zu  construiren;  von  Kräften,  Factoren,  Polaritäten  zu  träumen,  die 
nicht  existiren;  für  jedes  Leiden  eine  Formel  aufzustellen,  was  man, 
um  sich  selber  zu  betrügen,  rationelles  Verfahren  nannte,  und  die 
Hauptsache  zu  überaehen,  dass  die  Krankheit,  wie  jede  andere 
Naturerscheinung,  analysirt  und  auf  ihre  in  der  Organisation  be- 
gründeten ursächlichen  Momente  zurückgeführt  werden  müsse.  Mehr 
kann  der  Arzt  nicht  thun,  —  weniger  darf  er  aber  auch  nicht  thun. 
—  Da  die  Lebensdauer  der  Menschen,  seit  die  Medicin  den  oben 
gepriesenen  neuen  Weg  einschlug,  nicht  zunahm,  und  die  Ziffern 
der  Sterblichkeitstabellen  nicht  kleiner  wurden,  wird  man  wohl  ein- 
sehen ,  dass  das ,  was  man  zum  Lobe  der  Medicin  hört  oder  Uest, 
nur  den  diagnostischen,  nicht  den  curativen  Theil  derselben  angeht, 
obwohl  auch  dieser  nicht  mehr  daran  glaubt,  dass  eine  Arznei  um 
so  besser  wirkt,  je  schlechter  sie  schmeckt,  und  dass  man  der  Mittel 
nicht  genug  auf  einmal  verschreiben  könne,  damit  doch  gewiss  das 
rechte  darunter  sei. 

Ich  weise,  dass  das  Gesagte  dem  Anfänger,  an  welchen  diese 
Worte  gerichtet   sind,   nicht  ganz  verständlich   ist,  ihm  vielleicht 


§.  10.  Yerli&ltniM  der  Anatomie  lar  Chinirgie.  23 

selbst  frivol  vorkommt.  Sollte  er  sich  in  der  Reife  seiner  Jahre^  ein 
Urtheil  über  die  Wissenschaft  gebildet  haben  ^  der  er  jetzt  sein 
Leben  und  seine  Kräfte  zu  widmen  im  Begriffe  steht,  so  wird  er  die 
hier  vorgetragene  Ansicht  über  den  praktisch  medicinischen  Werth 
der  Anatomie,  nicht  zu  hoch  gehalten  finden.  Hat  mir  doch  ein 
Becensent  die  Ehre  erwiesen,  von  diesen  meinen  Expectorationen 
zu  sagen:  „sie  enthalten  Goldkörner,  aber  in  bitterer  Schale".  Dem 
ist  leicht  abzuhelfen.  Man  werfe  die  Schale  weg,  und  behalte  die 
Kömer. 

ffHic  locus  est,  tibi  mors  gaudet  succurrere  vitae,^  So  las  ich 
über  der  Thüre  eines  Pariser  Secirsaales  geschrieben,  und  wahrlich, 
es  bedarf  nicht  schönerer  und  mehr  bezeichnender  Woile,  um  die 
Seele  des  Eintretenden,  an  der  Schwelle  schon,  mit  Ehrfurcht  zu 
füllen.  Diese  soll  die  vorwaltende  Stimmung  jedes  Einzelnen  sein, 
der  an  den  der  Auflösung  verfallenen  Resten  unseres  eigenen  Ge- 
schlechtes lernen  will,  Gesundheit  und  Leben  seiner  Mitmenschen 
zu  wahren. 


§.  10.  Verhältniss  der  Anatomie  zur  GMnir^e. 

Anatomie  und  Chirurgie  sind  einander  sehr  nahe  verwandt. 
Beide  arbeiten  mit  dem  Messer.  Der  Einfluss,  welchen  die  Anatomie 
auf  Chirurgie  ausübt,  ist  nie  verkannt  worden,  und  bedarf  selbst 
fiir  den  Laien  keiner  weitläufigen  Erörterung.  Schon  im  Mittelalter 
erliess  Kaiser  Friedrich  11.  den  Befehl,  dass  Niemand  zur  Ausübung 
der  Wundarzneikunde  berechtigt  werden  durfte ,  der  sich  nicht 
ausweisen  konnte,  die  Zergliederungskunst  erlernt  zu  haben.  So 
heisst  es  in  Lindenhrogii  codex  legum  antiquarum :  Jvbemus ,  ut 
nuUus  chirurgus  ad  prcuvim  advuttatur^  nisi  testimoniaies  literas  affercU, 
quod  per  annum  saltem  in  ea  medidnae  parte  studuerit,  guae  chirurgiae 
instruit  facidtatem,  et  praesertim  ancUomiam  in  schola  didicerit,  et  sit 
in  ea  parte  medicinae  perfecttis,  sine  qua  nee  incisiones  salvbriter  fieri 
possunt,  necfactae  curari.  Die  Geschichte  der  neueren  Chirurgie  kann 
es  beweisen,  welchen  Vor th eil  sie  aus  dem  Bunde  mit  der  Anatomie 
gezogen.  So  lange  die  letztere  mit  sich  selbst  ausschliesslich  zu 
thun  hatte,  und  sich  keine  Einsprache  in  chirurgische  Fragen  er- 
lauben durfte,  war  auch  die  erstere  zum  meisten  nichts  Anderes, 
als  eine  Summe  roher  und  gedankenloser  Technicismen.  Wir  wenden 
uns  mit  Abscheu  von  den  Gräuelscenen,  welche  die  alte  Chirurgie, 
ungeschickt  und  grausam,  in  der  Meinung  das  Beste  zu  thun,  über 
ihre  Kranken  verhing.  „Quos  medidna  non  sanat,  ferrum  sanat,  guos 
ferrum  non  sanat,  ignis  sancU,  guos  ignis  non  sanat,  ü  jam  nullo  modo 
sanandi  sunt.^  So  hat  der  Ahnherr  der  Wundärzte  «»»^'•^He»,  iind 


24  §•  10.  YerhUtniss  der  Anatomie  snr  Chirurgie. 

seine  blinden  Verehrer  im  Mittelalter,  wussten  denn  auch  nichts 
Besseres  zu  thun,  als  auszusehneiden,  auszureissen,  auszubrennen, 
—  und  dieses  nannte  man  Chirurgie.  Kein  Wimder  fiii-wahr, 
wenn  diese  Chirurgen  in  Deutschland,  bis  in  das  15.  Jahrhundert, 
für  unehrlich  gehalten  wurden,  und  kein  Handwerksmann  einen 
Lehrburschen  in  Dienste  nahm,  wenn  er  nicht  bescheinigen  konnte, 
dass  er  ehrlicher  Aeltern  Kind,  und  keinem  Abdecker,  Henker, 
oder  Bader  verwandt  sei  (Sprengel).  Erst  Kaiser  Wenzel  erklärte 
die  Bader  im  Jahre  1406  für  ehrlich,*)  erlaubte  ihnen  eine  Zunft 
zu  bilden,  und  ein  Wappen  zu  führen.  —  Wie  verschieden  ist  auch 
heutzutage  noch,  selbst  unter  gebildeten  Menschen,  die  Ansicht  über 
Chirurgie  und  Medicin.  Man  liebt  den  Arzt,  man  sehnt  sich  nach 
seinem  Kommen,  nach  seinem  tröstenden  Wort,  denn  mit  ihm  kehrt 
auch  die  Hoffnung  ein,  und  das  Vertrauen,  dass  er  mit  harmlosen 
Papierstreifen  die  finsteren  Mächte  alles  Uebels  überwältigen  kann. 
Dem  Nahen  des  Wundarztes  dagegen  sieht  man  mit  bangem  Herzen, 
selbst  mit  Furcht  entgegen,  denn  seine  Hand  ist  bewaffnet  mit 
scharfen  Eisen,  und  was  er  bringt,  sind  vor  der  Hand  Schmerzen. 
Man  denke  sich  diesen  Mann  noch  unwissend  und  herzlos,  und  seine 
Unbeliebtheit  ist  erklärt. 

Als  sich  die  Anatomen  Palfin  und  Dionys,  vor  anderthalb 
Jahrhunderten,  zuerst  herausnahmen,  ein  Wort  über  Chirurgie  mit- 
zureden, datirt  sich,  von  diesem  Zeitpunkte  an,  der  rasche  Auf- 
schwung der  französischen  Chirurgie,  und  es  dürfte  nicht  schwer 
sein,  zu  beweisen,  dass  der  Vorzug,  welchen  man  in  Deutschland 
den  Chirurgen  jenseits  des  Rheins  einräumt,  mitunter  darin  seinen 
objectiven  Grund  hat,  dass  die  chinirgische  Anatomie  in  keinem 
Lande  trefflichere  und  productivere  Vertreter  gefunden  hat,  als 
dort,  wo  der  Weg  zu  jenen  Lehrstühlen,  welche  es  irgendwie  mit 
Anatomie  zu  thun  haben,  durch  den  Secirsaal  führt,  —  nicht  über 
die  Hintertreppen  der  Ministerhötels. 

Die  Erkenntniss  chinirgischer  Krankheiten  beruht  auf  der 
Beobachtung  ihrer  äusseren  Erscheinung,  ,und  auf  der  geistigen 
Auffassung  ihrer  Bedeutung.  Die  äusseren  Erscheinungen  geben 
sich,  in  der  bei  weitem  grösseren  Mehrzahl  der  Fälle,  durch  Störun- 
gen mechanischer  Verhältnisse,  durch  Aenderung  der  Form,  des 
Umfangs,   oder   durch   formliche  Trennungen  des  Zusammenhanges 


*)  Möglicher  V^eiae  waren  die  Kenntnifisef  and  ganz  besonders  die  mores  der 
Bader  jener  Zeit,  einer  zeitlicheren  Ehrenerklärung  nicht  besonders  hold.  Dieser 
Gedanke  beschleicht  mich,  wenn  ich  es  lese,  dass  anno  1190,  ein  Bader,  dem  Grafen 
Dedo  II.  von  Groiz,  den  Bauch  aufschnitt,  um  ihn  von  überg^osser  Fettleibigkeit 
zu  heuen,  weshalb  denn  gesetzlich  bestimmt  wurde,  dass  der  Arzt,  unter  dessen 
Händen  ein  Edelmann  stirbt,  den  Verwandten  desselben  zur  beliebigen  Verfügung 
ausgeliefert  werden  solle,  ja  selbst,  um  der  Frauen  Ruf  zu  wahren,  der  Wundarzt 
einen  schweren  Eid  zu  schwören  hatte,  dass  er  einer  Dame  nur  in  Gegenwart  ihrer 
nächsten  Verwandten  zur  Ader  lasse. 


§.  10.  Verhftltniss  der  Anatomie  cur  Chirurgie.  25 

kund.  Können  es  andere  als  anatomische  Gedanken  sein,  welche 
bei  der  Untersuchung  solcher  Zustände,  die  Hand  des  Wundarztes 
leiten?  Den  Sitz,  die  Richtung  eines  Beinbruches  zu  erkennen,  die 
Gefährlichkeit  einer  Verwundung  zu  beurtheilen,  gelingt  dem  Ana- 
tomen, der  nicht  Chirurg  ist,  wahrlich  nicht  schwerer,  als  dem 
Wundarzt,  der  kein  Anatom  ist.  Letzterer  steht  dem  Gaimer  näher, 
als  dem  Arzte.  Ich  halte  es  für  überflüssig,  die  Wichtigkeit  der 
Anatomie  für  den  Wundarzt  noch  weiter  zu  motiviren.  Nur  eine 
ganz  besonders  vortheilhafte  Seite  chirurgisch-anatomischer  Studien 
erlaube  ich  mir  hervorzuheben.  Wie  selten  trifft  es  sich,  alle  jene 
interessanten  chirurgischen  Krankheitsfälle  auf  den  Kliniken  zu  beob- 
achten, welche  unsere  Aufmerksamkeit  in  so  hohem  Grade  fesseln. 
Nicht  in  jedem  Jahre  kommen  alle  Formen  chirurgischer  Leiden  vor. 
Der  Schüler  muss  sich  deshalb  an  die  Handbücher  wenden,  und  was 
diese  sagen,  ist  nicht  immer  vollwichtiger  Ersatz  für  mangelnde 
Autopsie.  Die  Anatomie  kann  hier  auf  die  trefflichste  Weise  aus- 
helfen. Ihr  steht  in  der  Leiche  ein  reiches  Promptuarium  von 
Krankheitsformen  zur  Verfügung,  welche  sich  nach  Belieben  her- 
vorrufen, absichtlich  erzeugen  lassen.  Ich  sage  nicht,  dass  solche 
Behelfe  die  klinische  Beobachtung  ersetzen,  oder  sie  entbehrlich 
machen  können.  Aber  nutzlos  wird  gewiss  Niemand  eine  solche 
Uebung  nennen,  die  gerade  die  wichtigsten  (pathognomonischen) 
Erscheinungen  zur  gründlichen  Anschauung  bringt.  Alle  Beinbrüche, 
alle  Ven'enkungen,  alle  Hernien,  alle  Höhlen  wassersuchten ,  lassen 
sich  auf  diese  Weise  mit  dem  besten  Erfolge  an  der  Leiche  studiren. 
Ich  kann  nicht  umhin,  noch  eines  besonderen  Vortheiles  zu 
erwähnen,  den  die  Chinirgie  aus  einem  bei  uns  vielleicht  zu  wenig 
gewürdigten  Zweige  der  Anatomie  schöpfen  kann,  —  ich  meine  das 
Studium  der  äusseren  Form  des  menschlichen  Leibes.  Da  die  äussere 
Form  nur  das  Ergebniss  der  inneren  Zusammensetzung  ist,  und  wir 
von  gewissen  äusseren  Anhaltspunkten  auf  den  Zustand  innerer  Or- 
gane schliessen,  so  wird  die  praktische  Bedeutimg  dieses  Zweiges 
der  Anatomie,  keiner  besonderen  Empfehlung  bedürfen.  Richtig 
und  schön  bemerkt  Ross,  in  seinem  Versuche  einer  chirurgischen 
Anatomie:  „Das  Studium  der  äusseren  Körperform  bietet  dem  Chirui*- 
„gen  eine  reiche,  noch  lange  nicht  erschöpfte  Fundgrube  dar;  — 
„die  allgemeinen  Bedeckungen  werden  für  ihn  zu  einem  Schleier,  der 
„weit  mehr  durchsehen  lässt,  als  Mancher  vielleicht  glaubt".  Und  in 
der  That,  wie  leicht  erkennt  der  richtige,  sogenannte  praktische 
Blick,  an  einer  bestimmten  Alteration  der  äusseren  Form  einer 
Leibesgegend,  aus  dem  Vorkommen  einer  einzigen  Vertiefung  öder 
Erhabenheit  an  einem  Orte,  wo  keine  sein  soll,  die  Natui*  des  sich 
so  einfach  äussernden  Uebels,  ohne  erst  durch  die  Tortur  der  so- 
genannten manuellen  Untersuchung,  hinter  welcher  der  ungeschickte 


2b  S*  10-  VerhUtniM  der  Anatomie  rar  Chirargie. 

Wundarzt  seine  Verlegenheit  zu  bergen,  und  Fassung  zu  gewinnen 
sucht,  dem  Kranken  unnöthiges  Leid  zu  verursachen.  Der  Chirurg 
soll  ein  Auge  haben  für  die  Form,  wie  der  Künstler,  und  da  er  in 
den  Secirsälen  so  äusserst  wenig  Gelegenheit  findet,  die  Gestalt  ge- 
sunder menschlicher  Leiber  zu  schauen,  und  die  nackten  Kampf- 
spiele und  Tänze  der  Griechen,  welche  die  herrlichsten  Formen, 
durch  lebendige  Bewegung  verschönert,  vor  empfanglichen  Augen 
enthüllten,  unserem  behosten  Zeitalter  nicht  anstehen,  so  muss  er 
am  höchsteigenen  Leibe,  oder,  wie  der  Künstler,  am  lebenden 
Modell,  sich  im  Studium  normaler  Formen  üben,  um  die  abnormen 
verstehen  zu  lernen.  Die  Kleider  der  Frauen,  über  welche  sich 
schon  Seneca  erzürnte:  vestes  nihil  cdtzturae,  nuUum  corpori  auxäiwn, 
sed  et  nuUum  pudori,  erlauben  gelegentlich  auch  heutzutage  noch 
einen  guten  Theil  des  Körpers,  welchen  die  nur  hie  und  da  ange- 
brachten Kleidungsstücke  unbedeckt  lassen,  mit  anatomischen  Sinnen 
zu  prüfen. 

Die  Anatomie  giebt  dem  Wundarzte  seinen  praktischen  Blick, 
seine  lebendige  Anschauungsweise,  Selbstständigkeit  und  Schärfe 
der  Beobachtung  und  des  Urtheiles,  und  setzt  ihn  in  den  Stand,  bei 
jedem  vorkommenden  FaUe  sich  nicht  nach  den  vagen  Worten  der 
Compendien,  sondern  nach  wohlverstandenen  anatomischen  Gesetzen 
zu  Orientiren.  Die  Anatomie  erhebt  den  Wundarzt  erst  zum  Ope- 
rateur. Sie  bestimmt  sein  Urtheil;  sie  leitet  seine  Hand;  —  sie 
adelt  selbst  seine  Kühnheit,  welche  alles  versuchte,  —  sogar  die 
Unterbindung  der  Aorta! 

Ein  berühmter  deutscher  Chirurg  sagte,  dass  die  Anatomie 
den  Wundarzt  furchtsam  mache,  und  ihm  den  Muth  lähme,  im 
menschlichen  Leibe,  dessen  Wunder  er  als  Anatom  mit  einer  Art 
von  heiliger  Scheu  betrachtet,  und  welche  er  nur  durch  die  sorg- 
samste und  minutiöseste  Zergliederung  zu  entschleiern  hoffen  darf, 
mit  gewaffneter  Hand  zu  schalten  und  zu  walten.  Es  ist  fürwahr 
etwas  Richtiges  an  der  Sache.  Wer  nur  für  aUe  die  Kleinlichkeiten 
und  Umständlichkeiten  subtiler  anatomischer  Arbeiten  Sinn  hat,  wer 
sich  in  den  die  Geduld  eines  Sisyphus  erschöpfenden  Präparationen 
der  feinsten  Gefksse  und  Nerven  gefällt,  und  mit  der  Aengstlichkeit 
eines  allerdings  höchst  nützlichen  und  lobenswerthen  Handwerk- 
fleisses,  am  Secirtische  niedliche  und  ge&llige  Arbeit  zu  liefern,  für 
den  eigentlichen  Zweck  des  anatomischen  Berufes  hält,  der  ist  nicht 
zum  Chirurgen  geboren.  Mancher  höchst  achtbare  Anatom  würde 
als  operirender  Wundarzt  eine  sehr  klägliche  Rolle  spielen.  Allein 
es  ist  zu  weit  gegangen,  wenn  obiger  Satz  auch  die  chirurgische 
Anatomie,  welche  gewissermassen  nur  die  Blumenlese  praktischer 
Anwendungen  der  Anatomie  enthält,  gerade  bei  Jenen  in  Verdacht 
zu  bringen  beabsichtigte^  die  ihrer  am  meisten  bedürfen. 


S.  11.  Ii«hr-  and  L«nim«thodo.  27 


§.  11.  Lehr-  und  Lemmethode. 

Das  Lehren  bedingt  das  Lernen.  Die  Schüler  eines  guten 
Lehrers  werden  viel,  —  jene  eines  schlechten  wenig  oder  gar  nichts 
lernen.  Wenn  ich  zurückdenke  an  jene  Zeit,  welche  ich  als  Schüler 
in  anatomischen  Hörsälen  zubrachte,  möchte  es  mich  fast  bedünken, 
dass  sie  verloren  war.  Mit  welchen  Erwai*tungen  betrat  ich,  als 
junger  Mann  diese  Räume,  und  wie  wenig  habe  ich  daraus  für  das 
Leben  mitgenommen!  Die  Schuld  liegt  nicht  an  der  Wissenschaft, 
sondern  an  der  Art  des  Lehrens.  Jeder  Lehrer  der  medicinischen 
Hilfswissenschaften  behandelt  dieselben  gewöhnlich  so,  als  ob  es 
seine  Pflicht  wäre,  lauter  Gelehrte  für  sein  specielles  Fach  zu  bilden, 
und  es  fehlt  selbst  nicht  an  Solchen,  welche  die  Würde  ihrer  Wissen- 
Bchafifcen  um  so  höher  zu  stellen  vermeinen,  je  weniger  sie  sioh  zur 
Fassungsgabe  ihrer  Zuhörerschaft  herablassen  zu  müssen  glauben. 
Man  docirt  so  viel,  als  man  eben  weiss.  Darunter  giebt  es  aber 
auch  Ueberflüssiges  für  den  ärztlichen  Bedarf,  und  dieser  soll  doch, 
so  dünkt  mich,  dort,  wo  es  sich  um  Erziehung  zum  praktischen 
Leben  handelt,  in  den  Vordergrund  treten,  denn  der  Student  studirt 
in  der  Regel  nicht  der  Wissenschaft,  sondern  des  Benifes  wegen, 
welcher  ihm  seinen  Lebensunterhalt  verschaffen  soll.  Warum  lässt 
sich  unter  jungen  Aerzten  so  oft  die  Klage  vernehmen,  dass  man 
erstens  zu  vergessen,  und  zweitens  zu  lernen  anfangen  müsse,  wenn 
man  aus  der  Schule  tritt? 

Selbst  die  Methode  des  Vortrages  ist  nicht  immer  geeignet, 
die  Aufmerksamkeit  der  Schüler  zu  fesseln,  und  Theilnahme  für 
seinen  Inhalt  zu  erregen.  Hätte  die  Anatomie  keine  geistreiche  Seite, 
wäre  sie  als  rein  beschreibende  Wissenschaft,  blos  auf  das  trockene 
Aufzählen  der  Eigenschaften  der  Organe  beschränkt,  und  geschieht 
dieses  überdies  noch  mit  einer  gewissen,  in*s  Breite  gedehnten  Um- 
ständlichkeit, welche  man  Genauigkeit  nennt,  so  würde  es  allerdings 
unvermeidlich  sein,  dass  der  Eindruck  einer  solchen  Behandlung 
der  Anatomie  ex  cathedra,  in  einer  abspannenden,  gedankenlosen 
Leere  bestände,  bei  welcher  man  so  dick  als  lang  werden  kann. 
Ist  der  Vortrag,  wie  sein  Object,  ein  Leib  ohne  Leben,  dann  sind 
und  bleiben  beide  —  todt.  Dieses  Häufen  von  nichtssagenden 
Worten,  dieser  Aufwand  an  Ueberflüssigem ,  diese  einschläfernde 
Monotonie  der  Beschreibungen,  diese  häufigen  Wiederholungen,  ver- 
bunden mit  der  Abgeschmacktheit  veralteter  Ausdrücke,  an  denen 
die  Sprache  der  Anatomie  so  viel  Ueberfluss  hat,  haben  es  nie 
verfehlt,  in  dem  enttäuschten  Hörer  solcher  Vorlesungen,  eine  kläg- 
liche Verödung  des  Geistes  und  der  Gedanken  zu  erzielen,  und 
leise  schleicht  sich  bei  ihm  vor  dem  Entschlummern  die  Erinnerung 


28  $•  11«  Lehr«  und  Lernmcthod«. 

an  die  Worte  ein,  welche  Göthe  dem  Schüler  im  Faust  in  den 
Mund  legt:  „Hier  in  diesen  Hallen,  will  es  mir  keineswegs  gefallen ; 
„denn  in  den  Sälen,  auf  den  Bänken,  vergeht  mir  Hören,  Seh'n 
„und  Denken".  Insbesondere  wird  dieses  dann  der  Fall  sein,  wenn 
der  Lehrer  imter  der  drückenden  Bürde  leidet,  welche  ihm  die  stete 
Wiederholung  bekannter  Dinge  auferlegt,  und  die  gerade  der  Gte- 
lehiiie  am  meisten  fühlt,  weshalb  er  seine  Vorlesestunde  nur  zu  oft 
als  taediöse  Greschäftssache,  als  nothwendiges  Uebel  seines  Standes 
abfertigt  (an  n'amuse  pas  les  autres,  quand  on  s'ennvie  soirtnime). 
Grosse  Gelehrte  sind  aus  diesem  Grunde  häufig  schlechte  Lehrer. 
Gilt  aber  nicht  umgekehrt. 

Wie  ganz  anders  erscheint  dagegen  die  Anatomie,  welche  Be- 
friedigung und  geistige  Anregung  fliesst  aus  ihr,  wenn  sie  das  todte 
Wort  mit  dem  lebendigen  Gedanken  beseelt,  Reflexion  und  Urtheil 
ihren  Wahrnehmungen  einflicht,  und  den  Verstand  nicht  weniger 
als  das  Auge  in  ihr  Interesse  zieht.  Ich  habe  es  immer  als  ein 
wesentliches  Merkmal  eines  guten  Vortrages  erkannt,  dass  der  Zu- 
hörer an  dem  Stoffe,  der  ihm  geboten  wird,  ein  freies  geistiges 
Interesse  finde,  ihn  in  sich  aufnehme  und  weiterbilde  aus  intellec- 
tuellem  Vergnügen,  so  dass  er  seiner  nicht  blos  habhaft,  sondern 
auch  sicher  werde,  nicht  blos  empfange,  sondern  mitwirke,  nicht 
blos  geniesse,  sondern  auch  verdaue. 

Es  scheint  kaum  möglich,  Gegenstände  geistlos  zu  behandeln, 
welche,  wie  der  menschliche  Leib,  der  Ausdruck  der  höchsten 
Weisheit  sind,  vor  deren  Walten  wir  uns  beugen  in  Demuth  und 
Bewunderung.  Wir  haben  es  zwar  in  der  Wiener  Zeitung  lesen 
können,  dass  zur  Anatomie  eben  nicht  viel  Verstand  gehört,  und 
pflichten  dem  Schöpfer  dieser  Idee  in  so  fern  bei ,  als  sie  aus  tief- 
fühlender Anschauung  seiner  eigenen  Leistungen  hervorging. 

Es  soll  ferner  dem  Schüler  durch  den  Vortrag  klar  werden, 
warum  und  wozu  er  Anatomie  studirt.  Nichts  belebt  den  Vortrag 
einer  Wissenschaft  für  den  Neuling  in  so  anmuthiger  und  anregen- 
der Weise,  als  das  farbenreiche  Colorit  ihrer  Anwendungsfähigkeit. 
Nicht  abstracte  Gelehrsamkeit,  sondern  praktische  Bildung  soll  die 
Schule  bringen. 

Der  physiologische  Charakter  der  Anatomie,  ihre  innige  Be- 
ziehung zur  praktischen  Heil  Wissenschaft,  der  Geist  der  Ordnung  und 
Planmässigkeit,  welcher  das  Object  ihrer  Wissenschaft  durchdringt, 
giebt  Anhaltspunkte  genug  an  die  Hand,  sie  anziehend  und  lehrreich 
zu  machen.  Um  nur  Ein  Beispiel  anzuführen:  wie  ermüdend  erscheint 
die  descriptive  Anatomie  der  Rückenmuskeln,  wenn  sie,  wie  sie  auf 
einander  folgen,  mit  ihren  verwickelten  Ursprüngen  und  InsertioneB 
umständlich  beschrieben  werden,  —  ein  reizloses,  ödes  GMÜtohti 
werk!  —  und  wie  gewinnt  diese  Masse  Fleisch  an  Lieht  luid 


1. 11.  L«kr-  niid  LenuMtkod«.  29 

wenn  sie  auf  die  typische  Uebereinstimmung  der  einzelnen  Wirbel- 
Bäolenfitücke  y  und  die  Analogien  des  Hinterhauptknochens  mit  den 
Wirbelelementen  bezogen  wird!  —  Auf  so  viele  Fragen:  „warum 
es  so  sei^y  hat  die  Anatomie  eine  Antwort  bereit^  wenn  man  sie  ihr 
nur  zu  entlocken  versteht.  Wer  für  den  geistigen  Reiz  der  Wissen- 
schaft ^cht  empftnglich  ist,  der  wird  vielleicht  durch  ihren  mate- 
riellen Nutzen  bestochen,  und  darum  muss  die  Anatomie  ex  cathedra 
in  beiden  Richtungen  verfolgt  und  gewürdigt ,  und  auf  die  zahl- 
reichen Anwendungen  der  Wissenschaft  im  Gebiete  der  Medicin 
und  Chirurgie,  wo  es  sich  auf  verständUche  und  ungezwungene  Art 
thun  lasst,  hingewiesen  werden. 

In  einer  demonstrativen  Wissenschaft  geht  alles  Weitere  vom 
Sehen  aus.  Die  Objecte  der  Anatomie  müssen  also  dem  Vortrage 
zur  Seite  stehen,  und  jedes  Hilfsmittel  versucht  werden,  richtige  und 
allseitige  Anschauungen  zu  ermöglichen.  Die  künstlichen  Darstellungen 
von  schwierigen  und  complicirten  Gegenstanden  in  vergrössertem 
Haassslabe,  naturgetreue  Abbildungen,  Durchschnitte  und  Aufrisse, 
an  der  Tafel  entworfen,  sollen  den  Demonstrationen  an  der  Leiche 
vorangehen,  und  ein  reiches,  geordnetes,  den  Zustand  der  Wissen- 
schaft repräsentirendes  anatomisches  Museum,  wie  ich  ein  solches 
für  menschliche  und  vergleichende  Anatomie  in  Wien  geschaffen 
habe,  auf  die  liberalste  Weise  jenen  Studirenden  offen  stehen,  welche 
Neigung  fühlen,  sich  mit  der  Anatomie  eingehender  vertraut  zu 
machen,  als  es  zur  Erlangung  des  Doctordiploms  noth wendig  ist. 
Was  in  den  Vorlesungen  gezeigt  wird,  soll  sich  unter  den  Händen 
des  Lehren  entwickeln,  nicht  schon  fertig  zur  Schau  gestellt 
werden,  damit  der  Zuhörer  auch  mit  der  Methode  des  Zergliedems 
und  mit  der  analomisehen  Technik  bekannt  gemacht  werde.  Das 
Vorzeigen  fertiger  Präparate  nützt  viel  weniger,  ab  das  Vorprapariren. 
Das  erstere  geschieht  für  die  Gaffer,   das  letztere   für  die  Denker. 

Die  praktischen  Zergliedemngen  sollen  femer  unter  steter  Auf- 
sicht und  Anleitiing  eines  sachkundigen  und  berufttreuen  Demon- 
strators,  oder  mehrerer,  vorgenommen,  und  eine  Sectionsanslak  mit 
dem  DÖth%en  Leichenbedarf,  mit  zweckmässigen,  lichten  und  ge- 
sunden Räumlichkeiten«  und  mit  aDem  Uebrigen  reich  dofirt  werden, 
was  die  in  der  Natur  der  Sache  liegenden  Unannehmlichkeiten  ana- 
tomischer Bea^äftigung  am  wenigsten  fühlbar  macht.  Leider  ist 
in  Wien  die  ABat«Mwe  nur  in  die  ni^s^esnnden  und  finsteren  Winkel 
einer  aken  Fabrik  verwiesen,  weiche  Gottes  Sonne  nicht  bescbeint, 
während  DeioaeUaads  kleinste  Universitätsstädte^  welche  nicht  mehr 
EinwcJiiier  hsW ■  >  ab  das  Wiener  Krankenkaos  Betten  zählt,    ihr 

Lehrer  haben,  welche  würdig  sind,   sie  zu  be- 

■Mcfat  nicht  den  Geist  der  Schule;  —  es 

K«*^        L^rt.      Unter   allen    aaatooiisebea 


30  S>  II«  I<«lu'-  nnd  Lernmethode. 

Museen,  welche  ich  kenne,  ist  das  Wiener  am  reichsten  an  ana- 
tomischer Handarbeit.  Hierin  liegt  einiger  Trost  dafür,  dass  die 
anatomische  Anstalt  selbst,  was  Zweckmässigkeit  anbelangt,  allen 
übrigen  nachsteht.     Meine  Klagen  blieben  unerhört. 

Die  Uebungen  an  der  Leiche  leisten  für  die  Bildung  des  Ana- 
tomen wichtigere  Dienste,  als  die  Theilnahme  am  Schulunterrichte. 
Der  Lehrer  kann  nur  anregen,  Gedanken  erwecken,  den  Geist  der 
Wissenschaft  und  seine  Richtungen  andeuten;  —  die  feststehende 
Ueberzeugung,  das  bleibende  Bild  der  anatomischen  Verhältnisse, 
verdankt  seinen  Ursprung  nur  der  eigenen  Untersuchung.  Und 
diese  eigene  Untersuchung  soll  so  gepflogen  werden,  als  ob  der 
Schüler  an  der  Leiche  erst  zu  verificiren  hätte,  was  in  den  Büchern 
gesagt  wird.  Nur  die  Skepsis  leitet  die  Hand  des  Entdeckers;  — 
der  Zufall  bewährt  sich  ungleich  weniger  gefällig.  Jeder  andere 
Versuch,  sich  etwa  durch  Leetüre  und  Abbildungen,  grundfeste 
anatomische  Bildung  anzueignen,  ist  und  bleibt  unfruchtbar  —  wie 
das  Gebet  des  Armen. 

Nachschreiben  anatomischer  Vorlesungen  möchte  ich  nur  Jenen 
empfehlen,  welche  in  selbstzufriedener  Gedankenlosigkeit,  den  Trost 
gemessen  wollen,  was  schwarz  auf  weiss  geschrieben  steht,  bequem 
nach  Hause  tragen  zu  können.  Und  Viele  sind  recht  wohl  damit 
zufrieden.  —  Je  zahlreicher  übrigens  ein  anatomisches  CoUegium 
besucht  wird,  desto  grösser  sind  die  Schwierigkeiten  für  den  Lehrer. 
Dieses  liegt  in  der  Natur  demon8ti*ativer  Vorlesungen,  welche  um 
so  nutzbringender  werden,  je  kleiner  die  Zuhörerschaft.  Das  Statut 
der  ältesten  anatomischen  Schule  zu  Bologna  (anno  1406,  de  ana- 
ihomia  quolibet  aimo  fienda),  gestattete  bei  den  Demonstrationen  an 
männlichen  Leichnamen  nur  20  Zuhörer,  an  weiblichen,  welche  sel- 
tener zu  Gebote  standen,  30.  Den  kleinen  Universitäten  Deutsch- 
lands verdankt  auch  unsere  Wissenschaft  mehr  Fortschritte,  als  den 
mit  ihren  1000  Studenten  prunkenden  Residenzen!  Man  vergleiche 
nur  den  Gehalt  der  Inauguralschriften  der  ersteren,  mit  jenem  der 
letzteren.  Bei  uns  hat  man  sie,  ihrer  Erbäi-mlichkeit  wegen,  gänz- 
lich abschaffen  müssen,  während  die  Berliner,  Breslauer  und  Dor- 
pater  Dissertationen,  zur  classischen  Literatur  der  feineren  Anatomie 
gehören. 

Da  es  bei  den  praktischen  Uebungen  an  der  Leiche,  dem  An- 
fänger zum  grössten  Nutzen  dient,  bereits  eine  Vorstellung  von  dem 
zu  haben,  was  er  aufsuchen  soll,  so  kann  es  nicht  genug  empfohlen 
werden,  dass  er  durch  vorläufige  Ansicht  schon  fertiger  Präparate, 
durch  Benutzung  naturgetreuer  Abbildungen,  und  durch  die  Leetüre 
einer  praktischen  Anleitung  zum  Seciren,  sich  zu  den  Präparir- 
übongen  vorbereite.  Eine  solche  Anleitung  zu  geben,  hielt  ich  als 
anatomischer  Lehrer  tfXr  meine  besondere  Pflicht,  und  schrieb  deshalb 


§.  12.  Terminologie  der  Anstomie.  31 

mein  nützlichstes  Buch:  „Handbuch  der  praktischen  Zergliederungs- 
kunst^  Wien,  1860",  in  welchem  der  Schüler  Alles  findet,  was  er 
zum  Seciren  bedarf,  und  welches  auch  der  Fachmann  mit  Nutzen 
durchlesen  kann. 

Die  malo  omme  aufgehobene  Schule  für  Militärärzte  in  Wien,  befand  sich 
in  der  glücklichen  Lage,  als  Lehrmittel  über  jene  weltberühmte  Sammlung  von 
Wachspräparaten  verfügen  zu  können,  welche  die  Munificenz  des  grossen  kaiser- 
lichen Menschenfreundes,  Joseph^s  II.,  dem  feldärztlichen  Unterrichte  widmete. 
Es  ist  in  dieser  ausgezeichneten  Sammlung  dem  Studirenden  die  trefflichste  Ge- 
legenheit geboten,  sich  durch  die  Betrachtung  plastischer  Darstellungen,  ein  Bild 
dessen  vorläufig  einzuprägen,  was  er  durch  seine  eigenen  Präparationsversuche 
darstellen  wiU.  Nur  Florenz  besitzt  eine  ähnliche  Sammlung.  Beide  wurden, 
unter  Fontana's  Leitung,  durch  die  Künstler  Gaetano  Zumbo  und  den  Spanier 
Novesio  ausgeführt.  Zumbo  hatte  übrigens  noch  die  originelle  Idee,  dem 
Florentiner  Museum  eine  Wachsbüste  seines  eigenen  Schädels,  und  zwar  im  dritten 
Grade  der  Fäulniss,  zu  hinterlassen. 

Nicht  minder  nützlich  bewährt  es  sich,  dass  der  Schüler,  um  von  den  Vor- 
lesungen Nutzen  zu  ziehen,  durch  seine  Privatstudien  dem  Lehrer  voraneile,  damit 
er  den  Vortrag  als  Commentar  zu  seinem  bereits  erworbenen  Wissen  benutzen 
könne.  Es  spricht  sich  leichter  zu  einem  Auditorium,  welches  in  den  zu  behan- 
delnden Materien  nicht  gänzlich  unbewandert  ist,  und  der  Besuch  anatomischer 
Collegien  bringt  mehr  Vortheil,  wenn  das,  was  hier  verhandelt  wird,  durch  eigene 
Verwendung  dem  Zuhörer  schon  früher  wenigstens  theUweise  bekannt  wurde. 
Fleissige  Schüler  überholen  den  Lehrer;  mittelmässige  bequemen  sich  ihm  auf 
dem  Schritt  zu  folgen;  indifferente  schleppen  ihm  nach,  oder  lassen  ihn  allein 
seines  Weges  ziehen. 

Unsere  Studieneinrichtung  hielt  bis  zum  Jahre  1848  an  dem  Grundsatze, 
dass  der  Lehrer  nicht  blos  vorzutragen,  sondern  auch  am  Ende  des  Jahres  durch 
Prüfungen  das  Maass  der  erworbenen  Kenntnisse  seiner  Zuhörer  festzustellen  habe. 
War  dieser  Grundsatz  gut,  so  hätte  er  nicht  aufgegeben  werden  sollen.  War  er 
schlecht,  so  begreift  man  nicht,  warum  er  für  einen  Theil  der  Studentenschaft 
wieder  zur  Geltung  kam,  für  jene  nämlich,  welche  Benefizien  beanspruchen.  Er 
war  aber  beides  zugleich;  —  g^t  im  Princip,  schlecht  in  der  Anwendung.  Gilt 
nun  die  Lemfreiheit  nur  für  Einige,  dann  liegt  auch  hierin  ein  sprechendes  Zeug- 
niss  des  Misstrauens  in  ihre  allgemeine  Nützlichkeit,  welche  nur  dort  sich  be- 
währen kann,  wo  Lehrer  und  Schüler  die  rechte  Ansicht  von  ihr  und  von  dem 
wahren  Geiste  des  Universitätslebens  haben,  wie  er  in  den  Gymnasien  geweckt 
werden  soll.  Hätten  sie  diese  Ansicht  nicht,  dann  müsste  man  die  jungen  Männer 
bedauern,  deren  Studien  hineinfallen  in  eine  so  verworrene  Zeit,  wie  wir  sie  jetzt 
in  Gestenreich  durchleben. 


§.  12.  Terminologie  der  Anatomie. 

Obwohl  die  Anatomie  in  allen  Ländern  der  Welt  in  der  Landes- 
sprache gelehrt,  und  ihre  Schriften  in  derselben  Sprache  geschrieben 
werden,  hat  sie  doch  die  alten  lateinischen  und  griechischen  Namen 
beibehaken,  was  ihr  zwar  einen  gelehrten,  aber,  wie  mir  scheint, 
auch  einen  pedantischen  Anstrich  giebt. 


32  $.  IS.  Terminologie  dor  instomio. 

Die  Sprache  der  Anatomie  nennt  He  nie  mit  Recht  principlos. 
Sie  ist  in  der  That  ein  bontes  Gemisch  von  einigen  bezeichnenden^ 
oder  wenigstens  sinnigen^  and  vielen  absurden,  schlecht  gewählten 
Ausdiücken,  oft  allzuläppisch  fUr  das  ernste  Handwerk  des  Ana- 
tomen. Die  Schwärmerei  für  nomina  obaoleta,  tritt  besonders  in  der 
Synonymik  auf  ergötzliche  Weise  hervor.  Geht  es  doch  mit  der 
Terminologie  in  der  Medicin  auch  nicht  besser.  Fast  alle  Krank- 
heiten führen  ganz  absurde  Namen.  Ich  nenne  nur  Catarrh  und 
Rheuma,  Krebs  und  Markschwamm,  Schlagfluss  und  Brand,  grauer 
und  schwarzer  Staar,  Carbunkel  und  Furunkel,  Beinfrass,  Aussatz 
und  Schwindsucht,  und  die  häufigste  von  allen  Erkrankungen  trägt 
als  Name  eine  Metapher:  Entzündung.  Hat  man  je  daran  gedacht, 
diese  Tropen  durch  Besseres  zu  ersetzen?  Nein.  Es  bleibt  beim 
Alten,  bis  es  von  selbst  besser  wird.  Die  beschreibende  Thier-  und 
Pflanzenkunde  haben  eine  viel  treffendere  und  bessere  Nomenclatur. 
Da  die  Theile  des  menschlichen  Körpers  grösstentheils  zu  einer 
Zeit  bekannt  wurden,  wo  man  sich  nicht  viel  Mühe  gab,  über  ihre 
Verrichtungen  nachzudenken,  auch  das  Bedürfniss  einer  wissenschaft- 
lichen Sprache  noch  nicht  fühlte,  so  darf  es  nicht  wundern,  in  jenem 
Theile  der  Anatomie,  welcher  aus  dem  entlegenen  Alterthum  stammt, 
die  sonderbarsten,  bizarrsten,  mit  imseren  gegenwärtigen  physio- 
logischen Ansichten  im  grellsten  Widerspruche  stehenden  Benen- 
nungen zu  finden.  Die  immer  noch  geläufigsten  Worte:  Musculua 
(wörtlich  übersetzt  Mäuslein),  Arteria  (Luflgang),  Bronchus  (Weg  für 
das  Getränk),  Parenchyma  (Erguss),  Thymus  (Brustdrüse),  Nervus 
(worunter  man  alle  strangartigen  Gebilde  von  weisser  Farbe  zu- 
sammenfasste,  also  nebst  den  Nerven  auch  Sehnen  und  Bänder,  wie 
das  Wort  Aponeurosis  beweist),  drücken  vi  nominis  etwas  ganz 
Anderes  aus,  als  wir  heutzutage  dainmter  verstehen.  Das  Mittelalter 
war  in  der  Wahl  seiner  anatomischen  Benennungen  noch  unglück- 
licher. Die  Einfalt  unserer  Vorfahren,  und  die  geistige  Beschränkt- 
heit der  damaligen  Zeiten,  gefiel  sich  in  den  unpassendsten  Ausdrücken, 
deren  mystische  und  religiöse  Interpretationen  vielleicht  dazu  dienen 
sollten,  die  missgünstigen  Blicke,  welche  ein  finsterer  Zeitgeist  auf 
die  Anatomie  zu  werfen  nicht  unterliess,  in  freundlichere  zu  ver- 
wandeln. Hieher  gehören  der  Morsus  diaboli,  das  Pomum  Adami, 
die  Lyra  Davidis,  das  Psalterium,  das  Memento  mori,  der  Musculus 
religiosus,  das  CoUare  Hdvetii^  etc.  Wie  sehr  es  den  Anatomen  zu 
thun  war,  ihr  für  unheilig  gehaltenes  Treiben  in  einem  besseren 
Lichte  erscheinen  zu  lassen,  mag  ihren  Geschmack  an  derlei  Be- 
nennimgen  entschuldigen.  Hat  doch  der  sonst  tüchtige,  und  sehr 
gelehrte  Adrianus  Spigelius,  sich  nicht  entblödet,  in  den  Muskeln 
des  Gesässes,  ein  dem  Menschen  verliehenes  Polster  zu  bewundern, 
„Cid  insedendo,  rerum  divinarum  cogitaüofdbus  recHus  atitmum  applicare 


§.  19.  Terminologie  der  Anatomie  33 

posrit^^  gleichwie  Andere  in  dem  Kapuzenmuskel  ein  allen  Sterb- 
lichen umgehängtes  pi'o  memoria  zu  sehen  geneigt  waren,  „tä  vitam 
religiosam  ducendam  esse  meminerint'^ .  —  Die  obscönen  Bezeichnungen 
gewisser  Qehirntheile,  als:  Anus,  Vulva,  Penis,  Nates,  Testes,  Mammae, 
welche  man  im  Mittelalter  erfand:  „ut  scientia  anatomica  juvenäbus 
magis  grata  reddatur^  (Vesling),  haben  anständigeren  weichen 
müssen;  allein  die  auf  rohen  Vergleichen  beruhenden  Benennungen 
(Schleienmaul ,  Seepferdefiiss ,  Fledermausflügel ,  Schnepfenkopf, 
Hahnenkamm,  Herzohren,  Hammer  und  Ambos,  etc.)  werden  blos 
getadelt,  aber  dennoch  beibehalten.  Die  Mythologie  hat  die  Namen 
ihrer  Götter  und  Göttinnen  der  Anatomie  geliehen  (Os  Priapi,  Mons 
Veneris,  Comu  Ammwiis,  Tendo  AcMllis,  Nymphae,  Iris,  Eh/meti,  Hebe 
für  die  weibliche  behaarte  Scham,  Linea  Martis  et  Satumi,  etc.). 
Die  Botanik  ist  durch  die  Amygdcda,  den  Arbor  vitae,  das  VerttdUum 
(im  Chordensysteme  des  Gehirns),  die  Olive,  den  Nudeus  lentis,  die 
SUiqua,  das  Os  pisiforme,  die  Caruncida^  myrtiformes,  —  die  Zoologie 
durch  den  Tragus,  Hircus,  Hippocampus,  Helix,  den  Vermis  bombidnvs, 
den  Rabenschnabel,  die  Comua  limacum,  den  Pes  anserinus ,  etc. 
repräsentirt ,  imd  eben  so  gross  ist  das  Heer  von  Namen,  welche 
einer  weit  hergeholten  Aehnlichkeit  mit  den  verschiedensten  Gegen- 
ständen des  täglichen  Gebrauches  ihre  Entstehung  verdanken.  Die 
Hundszähne,  der  Rachen,  der  Schmeerbauch,  das  Scrotum 
(bei  den  Arabisten  häufig  als  Scartum  erwähnt),  das  Ohrenschmalz 
und  die  Augenbutter,  sind  eben  keine  Erfindungen  einer  an- 
ständigen Sprechweise,  aber  noch  immer  besser  als  jene  Namen, 
deren  Ursprung  und  Sinn  gar  nicht  auszumitteln  ist. 

In  der  Benennung  der  Organe  nach  ihren  vermeintlichen  Ent- 
deckern, war  die  Anatomie  sehr  ungerecht.  Es  lässt  sich  mit  aller 
historischen  Schärfe  nachweisen,  dass  viele  Gebilde  des  menschlichen 
Körpei*8,  welche  den  Namen  von  Anatomen  führen,  nicht  von  diesen 
entdeckt  wurden.  Die  Aufzählung  derselben  wäre  für  diesen  Ort 
zu  umständlich.  Den  grössten  Männern  des  Faches  wurde  die  Ehre 
nicht  zu  Theil,  ihr  Andenken  in  der  anatomischen  Terminologie  zu 
verewigen,  und  Viele  sind  derselben  theilhaffcig  geworden,  von  denen 
die  Geschichte  sonst  nichts  Rühmliches  zu  berichten  hat. 

Die  Versuche,  welche  g^emacht  wurden,  die  anatomische  Nomenclator  zn 
modemisiren,  blieben  ohne  Dank  und  Nachahmung.  Selbst  das  Unrichtige  wird 
ungern  aufgegeben,  wenn  es  durch  langen  Bestand  eine  gewisse  EhrwQrdigkeit 
errang.  Man  kann  der  Anatomie,  so  wie  der  Medicin  und  Astronomie,  ihre  alten 
Namen  belassen,  da  es  sich  gar  nicht  um  den  Laut,  sondern  um  Begriffe  handelt. 
Ich  habe  es  auch  nicht  für  unpassend  gehalten,  die  Synonymen  eines  Organs 
im  Texte  des  Buches  aufzuführen,  besonders  wenn  sie  hervorragende  Eigen- 
schaften des  fraglichen  Organs  ausdrücken,  und  sich  dadurch  eine  Art  knner 
Beschreibung  aus  ihnen  nisammenstellen  lässt  Auch  die  hnmoristiBchen  Benemuiiigaii 
wurden  angenommen. 
Hjrtl,  Lelurbveh  der  Anatomie.  14.  Aufl.  B 


34  §•  IS.  Besondere  Nntzanwendniifen  der  Anatomie. 

Eine  selbst  den  richtigen  Vorstellangen  gefährlich  werdende  WillkOr  in 
der  Bezeichnung  der  Flächen  und  Ränder  verschiedener  Organe,  wird  dadurch 
begünstig^,  dass,  was  bei  liegender  Stellung  oben  und  unten,  bei  stehender 
vorn  und  hinten  wird,  so  wie,  je  nachdem  man  sich  eine  Gliedmasse  aus-  oder 
einwärts  gedreht  denkt,  das  Innen  zum  Aussen  werden  muss,  und  umgekehrt. 
He  nie  hat,  um  diesen  Begriffsstörungen  auszuweichen,  Termini  eingeführt,  welche 
ftlr  jede  Körperstellung  feste  Geltung  haben.  So  harren:  dorsal  und  ventral, 
sagittal  und  frontal,  medial  und  lateral,  und  die  von  Owen  gebrauchten 
Ausdrücke:  distal  und  proximal  (entfernter  oder  näher  dem  Herzen)  des  ana- 
tomischen Bürgerrechtes.  —  Sehr  berücksichtigenswerthe  Vorschläge  zu  einer 
Reform  der  anatomischen  Nomenclatur,  hat  John  Barclay  gegeben  (-^  new 
<MnaL  nomencUUure.  Edinb,  1603),  und  die  von  C.  L.  Dumas  vorgeschlagenen 
neuen  Muskelnamen  (Stfsihne  mithodique  de  nomendature  des  mutdet,  McntpeU, 
1797)  wurden,  wenigstens  theilweise,  von  den  französischen  Anatomen  bereits 
adoptirt  Diese  Namen  sind  aus  Ursprung  und  Ende  des  Muskels  zusammen- 
gesetzt, kommen  dem  Gedächtniss  sehr  zu  Statten,  werden  aber  durch  ihre  Länge 
zuweilen  sehr  unbequem,  dann  nämlich,  wenn  ein  Muskel  mehrere  Ursprungs»  und 
Endpunkte  hat.  Fflr  die  Muskeln  des  Zungenbeins  und  der  Zunge,  welche  nur 
Einen  Ursprungs-  und  Endpunkt  haben,  war  diese  Benennungsart  schon  Jahr- 
hunderte vor  Dumas  in  Gebrauch  (durch  Cowper,  Douglas,  Riolan,  u.  A.), 
und  ist  es  gegenwärtig  noch.  Reformvorschläge  Einzelner  werden  nie  etwas  aus- 
richten. Nur  ein  Cong^ess  der  Anatomen,  eine  Art  anatomischer  Accademia  della 
cnisca,  könnte  unserer  Wissenschaft  eine  festgestellte  Sprache  geben.  Uebrigens 
ist  das  geschichtliche  und  etymolog^ische  Studium  der  alten  anatomischen  Benen- 
nungen, nicht  ohne  Reiz  für  den  Sprachforscher.  Es  wurde  deshalb  Einiges  davon, 
an  geeig;iieten  Stellen,  in  dieser  neuen  Auflage  meines  Lehrbuches  aufgenommen. 
Die  gpriechischen  Benennungen  füg^  ich  bei,  weil  die  Namen  der  Krankheiten, 
selbst  die  modernen,  aus  den  griechischen  Namen  der  betreffenden  Org^e  ab- 
geleitet sind,  wofür  das  neue  Wort:  Spondylarthrocace  (Beinfirass  der  Wirbel- 
säule) ein  ausgiebiges  Beispiel  bietet,  von  a;cdvduXo(,  Wirbel,  £pOpov,  Gelenk, 
und  xaxY),  Schlechtigkeit,  oder  schlechter  Zustand. 


§.13.  Besondere  Nutzanwendungen  der  Anatomie. 

Dai*f  die  grauenumgebene  Wissenschaft  des  Todes^  la  abamUa 
anatomia,  wie  sie  der  Dichterkönig  Italiens  genannt,  es  wagen,  auch 
auf  das  Interesse  der  Nichtärzte  Anspruch  zu  erheben?  Es  scheint 
unmöglich.  Ich  denke  jedoch,  kein  Gebildeter  soll  Fremdling  sein 
im  Gebiete  der  Anatomie.  Des  Menschen  höchste  Aufgabe  ist  die 
zur  Wissenschaft  erhobene  Kenntniss  seines  Selbst.  Nicht  dem 
Philosophen  allein  gelten  die  Worte :  pwOi  aeauTÖv !  Wenn  der  Alltags- 
mensch auch  in  die  Tiefen  der  Anatomie  sich  nicht  einlassen  kann, 
so  werden  doch,  wenn  er  überhaupt  ein  Freund  des  Denkens  ist, 
die  Umrisse  derselben  für  ihn  Anziehendes  haben.  Was  kann  ihn 
mehr  interessiren,  als  eine  Kenntniss,  die  seine  Person  so  Aahe  angeht? 
Ludwig  XIV.  liess  den  Dauphin  in  der  Anatomie  unterrichten,  für 
welche  dessen  Erzieher,  der  berühmte  Kanzelredner  Bossuet,  sich 


§.  18.  BMonder«  Nntssrnrendnngen  der  Anatomie.  35 

mit  Eifer  interessirte.  Göthe  hat  sich  unter  Loder  in  Jena,  und 
in  Strassburg  unter  Lobstein,  durch  zwei  Jahre  mit  anatomischen 
Studien  beschäftiget.  Er  war  es,  der  dem  Menschen  (gegen  Camper 
und  Blumenbach)  sein  Os  intermaxillare  vindicirte  (1786),  und  die 
Wirbelidee  des  Kopfes  zuerst  erfasste  (1790).  —  Herder  war  in 
seinen  Jünglingsjahren  unserer  Wissenschaft  mit  solchem  Eifer  er- 
geben, dass  nur  die  nachtheiligen  Wirkungen,  welche  die  Atmo- 
sphäre der  Leichen  auf  seine  Gesundheit  zu  äussern  begann,  ihn 
bestimmen  konnten,  seinen  Entschluss,  Arzt  zu  werden,  aufzugeben. 
—  Napoleon  I.,  welcher  bekanntlich  nur  die  mathematischen  Wissen- 
schaften begünstigte,  äusserte  dennoch  einmal  den  Wunsch,  die 
Anatomie  des  Menschen  besser  kennen  zu  lernen,  als  durch  die 
Schwerthiebe  seiner  Cuirassiere.  Der  gegenwärtige  Czai*  aller  Reussen 
8tudii*te  unter  Prof.  Einbrodt  zu  Moskau  Anatomie  (nach  einer 
mir  gemachten  mündlichen  Mittheilung  Prof.  Sokoloffs),  und  ich 
habe  selbst  in  früheren  Jahren  hochgestellten  Männern  von  Geist 
und  Wissensdrang,  Unterricht  in  meinem  Fache  gegeben. 

Soll  jedoch  die  Anatomie  nur  das  Interesse  Einzelner  anregen? 
Wie  viel  Irrwahn,  dem  selbst  die  gebildete  Menschenclasse  huldigt, 
wäre  umgangen;  wie  viel  Gefahr  für  Gesundheit  und  Leben  der 
Einzelnen  wäre  vermieden;  wie  viel  absurde  Vorstellungen  über 
Nützliches  und  Nachtheiliges  im  Leben  wären  unmöglich,  wenn  der 
Anatomie  auch  der  Eingang  in  das  tägliche  Leben  offen  stünde. 
Kann  nicht  ein  Fingerdruck  auf  ein  verwimdetes  Geftlss,  das  Leben 
eines  Menschen  retten;  kann  nicht  eine  allgemeine  Vorstellung  über 
den  Bau  des  menschlichen  Körpers,  das  nur  allzuoft  widersinnige 
Verfahren  zur  Rettung  Scheintodter  und  Ertrunkener  auch  in  den 
Händen  von  Nichtärzten  mit  glücklichem  Erfolge  krönen,  und  ist 
nicht  in  so  vielen  Gefahren,  die  Selbsthilfe  eine  Eingebung  ana- 
tomischer Vorstellungen?  Es  wäre  von  grossem  Vortheil,  wenn  die 
Bildung  von  Lehrern,  Seelsorgern,  und  öffentlichen  Amtspersonen, 
von  welchen  man  nur  Kenntnisse  über  die  Erkrankungen  der  Haus- 
thiere  fordei-t,  auch  einen  kurzen  Inbegriff  unserer  Wissenschaft 
umfasste,  und  der  elementare  Unterricht  in  den  niederen  Schulen 
würde  deshalb  nicht  schlechter  bestellt  sein,  wenn  die  Schüler,  statt 
mit  den  Zeichen  des  Thierkreises,  oder  den  Wüsten  Afrika's,  auch 
ein  wenig  mit  sich  selbst  bekannt  würden.  Warum  wurde  der  Orbis 
pictuB  beim  Schulunterricht  ausser  Gebrauch  gesetzt,  in  welchem 
auch  einige  anatomische  Bilder,  ich  weiss  es  aus  meiner  Jugend, 
die  Aufmerksamkeit  der  Kinder  in  hohem  Grade  fesselten?  Er 
könnte  recht  gut  neben  der  Rechentafel  und  dem  Katechismus,  im 
Bücherriemen  der  Schulknaben  stecken,  und  was  das  Kind  aus  ihm 
lernt^  wird  gewiss  nicht  bedenklicher  sein,  als  die  Affaire  Joseph's 
mit  der  Dame  Potiphar. 


36  §.  14.  Erat«  Periode  der  Oesebichte  der  Anatomie. 

Die  Nutzanwendungen  der  Anatomie  in  der  plastischen  Kunst 
sind  so  wesentlich,  dass  die  grossen  italienischen  Meister,  anatomische 
Studien  eifrig  betrieben,  und  ihren  Schülern  nachdrücklich  em- 
pfahlen; so  Leonardo  da  Vinci,  und  dessen  Lehrer  Della  Torre, 
von  denen  noch  gegenwärtig  anatomische  Handzeichnungen  existiren. 
(Mengs,  über   die  Schönheit    und   den  Geschmack  in  der  Malerei, 

Pa«.  77.) 

Geognosie  und  Geologie   können   der  Behelfe   nicht  entbehren, 

welche  die  anatomische  Kenntniss  der  im  Schoosse  der  Erde  be- 
grabenen antediluvianischen  Thiergeschlechter  ihren  Forschungen 
darbietet,  und  die  Geschichte  der  Verbreitung  des  Menschen- 
geschlechts, des  Wechsels  der  Bevölkerungen  in  jenen  Zeiten,  über 
welche  die  historischen  Urkunden  schweigen  und  blos  die  Ver- 
muthungen  sprechen,  schöpft  ihre  verlässlichsten  Data  aus  —  Gräbern. 


§.  14.  descMclitliclie  Bemerkungen  über  die  Entwicklung  der 

Anatomie.    Erste  Periode. 

Was  das  Alterthum  in  der  anatomischen  Wissenschaft  ge- 
arbeitet, gesehen  und  gedacht,  hat  seinen  unbezwei feiten  Werth, 
denn  in  der  Kunst,  wie  in  der  Wissenschaft,  schöpft  aus  der  classi- 
schen  Vergangenheit,  die  Gegenwart  ihre  Inspirationen,  wenn  sie 
auch  nicht  immer  so  ehrlich  ist,  ihre  Quellen  zu  nennen.  Ich  sage: 
Inspirationen,  denn  eigentliche  Belehrung  kann  man  sich  in  der 
Naturwissenschaft  bei  den  Alten  nicht  holen.  Sie  hatten  ja  nur 
Ahnungen  und  Vorgefühle  der  Wahrheit;  —  Experimentiren  und 
Induction,  ohne  welche  es  keine  reale  Wissenschaft  giebt,  kannten 
sie  gar  nicht. 

Die  Geschichte  der  Wissenschaften  ist  die  Geschichte  des 
Menschengeistes.  Der  Kampf  zwischen  Wahrheit  und  Irrthum 
bildet  ihren  StoflF.  Er  war  reich  an  Niederlagen,  reicher  an  Fort- 
schritten und  Siegen.  Die  Geschichte  fiihrt  uns  von  den  unscheinbaren 
Anfängen  geistiger  Entwicklung,  zu  ihren  herrlichsten  Triumphen; 
sie  zeigt  uns  die  Ii'rwege,  auf  welche  missleitete  Forschimg  gerieth, 
und  lehrt  uns  dieselben  vermeiden.  Sie  macht  uns  gleichsam  zu 
Zuschauern  und  Zeugen  der  bedeutenden  Entdeckungen,  welche  den 
Geist  des  Forschens  auf  neue  Bahnen  lenkten.  Sie  macht  uns 
bekannt  mit  den  grossen  Männern,  welche  der  Wissenschaft  das 
Gepräge  ihres  fruchtbaren  Geistes  aufdrückten,  lehrt  uns  ihr  G^nie 
bewundern,  und  ihren  Fussstapfen  folgen,  und  ftlhrt  uns  die  Bei- 
spiele vor,  zur  Nachahmung,  oder  —  zur  Warnung. 

Kein  Anatom  soll  in  der  Geschichte  seiner  Wissenschaft  ein 
Fremdling  sein.     Wie  viel  als  neu  Gepriesenes   altert  lange  in  den 


(.  14.  Ente  Periode  der  Gesckichte  der  Anatomie.  37 

Tergessenen  Schriften.  Fast  auf  jeder  Seite  der  Haller'schen  EU- 
fmemia  pk^dologiae  finden  sich  Dinge,  welche,  mit  einiger  Grewandtheit 
im  Zufichneiden ,  moderne  Autoritäten  und  Autoritätchen  berühmt 
machen  können,  und  auch  gemacht  haben.  Möge  darum  die  folgende, 
nur  in  allgemeinen  Umrissen  entworfene  Skizze,  als  eine  Einleitung 
zur  Greschichte  der  Anatomie  dienen.  Sie  macht  weiter  keinen 
Ansprach,  als  die  jungen  Freunde  der  Wissenschaft,  mit  den  ehr- 
würdigen Namen  jener  Männer  bekannt  zu  machen,  welche  in  der 
beschreibenden  Anatomie  oft  genannt  werden,  und  von  welchen  es 
nicht  ohne  Interesse  ist,  das  Zeitalter  ihrer  Thätigkeit  und  ihres 
Flores  zu  kennen.  Sie  erzählt  nebenbei  auch  einige  curiose  Episoden 
der  Leidens-  und  Lebensgeschichte  der  Anatomie,  welche  von  den 
anatomischen  Historikern  nicht  erwähnt  werden. 

Die  Anatomie  des  Menschen  ist  eine  junge  Wissenschaft,  — 
kaum  ein  Paar  Jahrhunderte  alt.  Das  classische  Alterthum,  gross 
in  Kunst  und  speculativer  Philosophie,  kannte  sie  fast  gar  nicht. 
Die  Geschichte  der  Anatomie  zerfallt  deshalb  in  zwei  Perioden. 
Die  erste  gehört  der  Vorzeit  an,  und  erstreckt  sich  bis  in  die 
Mitte  des  16.  Jahrhunderts.  Die  zweite  datirt  von  der  Renaissance. 

Man  kann  die  vereinzelten  anatomischen  Wahrnehmungen, 
welche  das  Schlachten  der  Thiere,  die  Opfer,*)  das  Balsamiren  der 
Leichen,  und  die  zufalligen  Verwundungen  lebender  Menschen  ver- 
anlassten, keine  Anatomie  nennen,  denn  zur  Anatomie,  als  Wissen- 
schaft,  gehört  die  Absicht,  die  Theile  eines  Thieres  oder  eines 
Menschen  kennen  zu  lernen,  was  beim  Schlachten  und  Opfern 
der  Thiere,  und  beim  Balsamiren  der  menschlichen  Leichen,  durch- 
aus nicht  der  Fall  war.  Die  Menschen,  welche  bei  den  Aegypteni 
das  Balsamiren  der  Leichen  verrichteten  (Paraschistcie),  waren,  nach 
Diodorus  Siculus,  in  der  Anatomie  durchaus  unerfahren.  Ich 
habe  in  meinen  AntiquUatibus  anatomicis  rarionbus  das  Messer  ab- 
bilden lassen,  welches  ich  in  einer  Mumie  aus  Siut  fand,  und  welches 
ohne  Zweifel  jenem  Paraschisten  gehörte ,  welcher  die  Zubereitung 
dieser  Mumie  besorgte,  und  sein  Werkzeug  in  ihr  zurückliess.  Das- 
selbe gleicht  dem  Kern'schen  Steinmesser  auf  ein  Haar.  Die 
siebenzehn  Bücher,  welche  der  ägyptische  König  Athotis,  nach 
Jul.  Africanus,  geschrieben  haben  soll,  wollen  wir  gerne  ver- 
missen, und  gar  nicht  viel  Weith  legen  auf  eine  Stelle  im  Plinius 
(Uisl,  not.  Üb.  XIX.  cap.  öj,  nach  welcher  die  ägyptischen  Könige 
sich   mit   der  Zergliederung   von  Leichen    beschäfldgt  haben  sollen; 


*)  Ans  der  OpfermnAtomie  jedoch  lasst  sich  kAom  etwas  für  die  Geschichte 
der  Zogüederangaknnst  entDehmen,  da  die  von  den  Harmspieet  den  Gdttem  znrecht 
fetdunttenen  Eingeweide  Coda  prtmeetaj.  Aber  welche  Arnobius  spricht  (Üb.  VII, 
eapu  M),  OBS  keinen  AnfiMhlnM  geben.  Aber  das  bei  dieser  Analomia  taerm  befolgte 


«>Q  ft  14,  Bnt«  Ptriodo  der  Geschichte  der  Anstomie. 

^w^  mü««^tt^t\  Ar^nn  Könige  ganz  eigener  Art  gewesen  sein.  —  Dass 
^  tthrifit*««  mit  der  Anatomie  der  Aegyptier  herzlich  schlecht  be- 
^(t^lf  fl^wt>«t<kn  f^ein  musste,  leuchtet  aus  gewissen  anatomischen  Vor- 
M^huw^i^  di<^«c«  Volkes  ein,  welche  ims  durch  Macrobius  und 
nii\iu<t  ülx^rlirfbrt  wurden.  So  soll  z.  B.  das  Herz  des  Menschen, 
v^M^  ^i^v  i^t^burt  an,  jährlich,  bis  zum  fünfzigsten  Lebensjahre,  um 
^^^1^  Umohiuo  an  Gewicht  zunehmen,  und  von  da  an,  jährlich  um 
^%^\\\ii\^vit^i  wieder  abnehmen,  weshalb  der  Mensch  nicht  über  hun- 
\Wv\  Jahrt^  alt  werden  könne.  Femer  soll  ein  feiner  Nerv  direct 
y\y\\%  Ht^rvon,  zum  vierten  Finger  der  linken  Hand  (nicht  aber  der 
^"^t^ht^iO  icolangen.  Dieser  Finger  hiess  deshalb  bei  den  Anatomen 
i)<i«  Mittolalters:  Digitus  cordis,  während  er  an  der  rechten  Hand 
IHifilHii  m^dUcus  genannt  wurde:  quia  hoc  digito  medid  pharmaca, 
i»0i/i*M  propinanda,  miscere  solebant  Da  das  Heirathen  eine  Herzens- 
iin|i^|t«g(mheit  ist,  oder  sein  soll,  wird  der  Trauring  nur  am  Digitus 
ivräii  getragen. 

Erst  als  die  Heilwissenschaft  sich  mit  der  Anatomie  verbündete, 
und  das  ärztliche  Bedürfhiss  ihre  nähere  Bekanntschaft  nachsuchen 
machte,  nahm  sie  den  Charakter  einer  Wissenschaft  an.  Ihr  Ent- 
wicklungsgang war,  wie  jener  der  Naturwissenschaft  überhaupt,  ein 
langsamer  und  öfters  unterbrochener.  Die  Schwierigkeiten,  welche 
sich  ihrem  Gedeihen  entgegenstellten,  schienen  unüberwindlich  zu 
sein,  und  wurzelten  weniger  in  der  natürlichen  Scheu  vor  dem 
Objecto  der  Wissenschaft  —  der  Leiche,  als  in  der  Gewalt  des 
Aberglaubens  und  des  Vorurtheils.  Sehr  richtig  bemerkt  Vicq 
d'Azyr:  Fanatomie  est  peut-itre,  parmi  touiea  les  sdences,  ceUe,  dont 
on  a  le  plus  cü&>r4  les  avantageSy  et  dont  on  a  le  moins  favorisi  les 
progrh.  Selbst  die  religiösen  Vorstellungen  des  Alterthums  sprachen 
das  Verdammungsurtheil  über  sie.  Der  Glaube,  dass  die  Seelen  der 
Verstorbenen  so  lange  an  den  Ufern  des  Styx  herumirren  müssten, 
bis  ihre  Leiber  beerdigt  waren  (Homer,  Odyss.  V,  66—72),  machte 
die  Anatomie  bei  den  Griechen  unmöglich,  ebenso  wie  sie  es  bei 
den  Hebräern  war,  bei  welchen,  nach  dem  dritten  und  vierten  Buche 
Moses,  die  Berührung  eines  Todten,  selbst  das  Betreten  seines 
Hauses  oder  Zeltes,  auf  sieben  Tage  imrein  machte,  und  von  dem 
Besuch  des  Tempels  ausschloss  (Gackenholz,  de  immunditie  ex 
contreetatione  mortuorum,  Heimst.  1708).  —  Es  war  bei  den  Griechen 
religiöse  Pflicht,  jeden  zufällig  geftindenen  Menschenknochen,  mit 
einer  Handvoll  Erde  zu  bestreuen,  um  ihm  dadurch  wenigstens 
symbolisch  die  Ehre  des  Begräbnisses  angedeihen  zu  lassen,"^)  und 


*)  Bei  den  Römern  fluid  8ioh  gleichfalls  diese  fromme  Sitte,  wie  eine  Stelle 
bei  Quinctilian  (Declam.  6,  6)  beweist:  hine  et  Ute  f>enü  affeeUu,  qttod  ignoti» 
eadmisHbu»  humum  eong€rimu9,  et  intepuUum  quodlibet  corpus  nuUa  fuÜruUio 
imn  rapida  tramcurrU,  ut  fwn  quantuloeumque  veneretur  aggettu.  Nor  Hingerichtete 


§.  14.  Erata  Periode  der  Oeechiohte  der  Anatomie.  39 

die  Athener  gingen  in  der  Sorge  für  die  Seelen  der  Todten  sogar 
so  weit,  dass  sie  einen  ihrer  siegreichen  Feldherren  zum  Tode,  ver- 
nrtheilten,  weil  er  nach  gewonnener  Schlacht,  über  der  Verfolgung 
der  Feinde,  auf  die  Beerdigung  der  Gefallenen  vergass.  —  Unbe- 
graben  zu  bleiben,  und  den  Raubthieren  zur  Beute  zu  werden,  war 
auch  den  alten  Hebräern  ein  fürchterlicher  Gedanke  (Ps.  29.  2,  3, 

—  Hesek.  29.  5,  —  2.  Sam.  21,  10).  —  Die  Römer,  welche  die 
Ausübung  der  Heilkunde  lange  Zeit  nur  Sklavenhänden  überliessen, 
fiihlten  dieselbe  Abneigung  gegen  unsere  Wissenschaft,  welche  sie 
als  eine,  die  Menschenwürde  entheiligende  Anmassung  verwarfen. 
Gegen  Thierzergliederung  waren  beide  Völker  nachsichtiger,  und 
die  wenigen  Männer,  welche  die  Geschichte  als  Anatomen  dieser 
Zeit  anführt,  haben  sich  nur  mit  thierischen  Leibern  befasst,  und 
deshalb  für  die  menschliche  Anatomie  nichts  geleistet.  —  Die 
Wiedergeburt  der  Wissenschaften  im  Abendlande,  äusserte  auf  das 
Schicksal  der  Anatomie  sehr  wenig  Einfluss,  und  obgleich  sie  damals 
begann,  sich  äusserlich  freier  zu  bewegen,  so  wagte  sie  es  dennoch 
nicht,  an  der  Autorität  der  alten,  auf  Thierzergliederungen  basirten 
Ueberlieferungen  zu  zweifeln. 

Die  Schriften,  welche  über  diese  lange  und  Sagenreiche  Erst- 
lingsperiode der  Wissenschaft  Zeugniss  geben  könnten,  sind  durch 
die  Unbild  der  Zeit  grösstentheils  verloren  gegangen.  Was  sich  von 
ihnen  bis  auf  unsere  Tage  erhielt,  hat  mehr  Werth  für  den  ana- 
tomischen Historiker,  als  für  den  Forscher,  welcher  Wahrheit  sucht. 

—  Alcmaeon  von  Croton,  ein  Schüler  des  Pythagoras  (500  Jahre  vor 
Christas),  hat,  nach  dem  Zeugnisse  Galen's,  das  erste  anatomische 
Werk  geschrieben.  Seine  Behauptung,  dass  die  Ziegen  durch  die  Ohren 
athmen,  macht  ihn  zum  Entdecker  der  Eustachi'schen  Ohrtrompete. 
Anazagoras  von  Clazomene,  Lehrer  des  Socrates  und  Euripides, 
Empedocles  von  Agrigent,  und  Democritus  der  Abderite,  f  404 
Jahre  vor  Christus,  sollen  sich,  nach  dem  Texte  des  Plutarch 
und  Chalcidius,  mit  Zergliederungen,  letzterer  besonders  mit  ver- 
gleichender Anatomie  beschäftigt  haben,  wofür  ihn  seine  Mitbürger, 
welche  solchem  Streben  keine  Anerkennung  zollten,  für  irrsinnig 
hielten,  und  ihm  nicht  erlaubten,  in  ihrer  Mitte  zu  wohnen.  Ob 
Hippocrates,  f  352  Jahre  vor  Christus,  welchen  die  Geschichte 
den  divtu  paier  medidnae  nennt,  sich  mit  der  Anatomie  befreundet 
habe,  ist  aus  seinen  als  echt  anerkannten  Schriften  nicht  zu  entnehmen. 


(Dig.  XLt VIII.  24.,  de  cadaveribwi  punitorumj  und  SelbBtmörder  (Worte  des  Gesetzes : 
komidda  nuepullus  ai^jiciaturj  durften  nicht  begraben  werden.  In  späteren  Zeiten 
wurde  dfts  Gesetz  auf  Selbstmörder  aus  Lebensüberdruss  nicht  mehr  ange* 
wendet:  otfjiciantur,  qui  manus  sibi  irUulerwit,  non  iaedio  vitae,  sed  mala  con- 
teimÜa.  Galen  selbst  gesteht,  dass  er  seine  ersten  osteologischen  Studien,  an  den 
TOD  der  Tfber  aiMgespfllteii,  und  von  der  Sonne  gebleichten,  unbeerdigten  Knochen 
■ihWr  ÜngMckllAm  machte. 


40  §•  1^  Ente  Periode  der  Geschichte  der  Anatomie. 

Hall  er  schrieb  über  diese  Frage  ein  gelehrtes  Programm:  quod 
Hipp,  Corpora  humana  secuerit,  Gott.  1737.  Die  ihm  zugeschriebenen 
Bücher:  dt  osmtm  natura,  de  glandtdis,  de  camibuSy  de  venis,  de 
natura  pueri,  etc.^  welche  etwas  Anatomie  enthalten,  stammen  aber 
unzweifelhaft  von  späteren  Autoren  ab.  Ein  glücklicher  und  ver- 
ständiger Beobachter  von  Krankheitserscheinungen  (faUere  et  foXli 
nescivs,  wie  Macrobius  sagt),  verfiel  er,  so  oft  er  auf  das  ana- 
tomische Gebiet  abstreifte,  in  grobe  Fehler.  Nur  mit  den  Knochen 
scheint  er  näher  bekannt.  Nerven  und  Sehnen  wusste  er  nicht  zu 
unterscheiden.  Beide  führen  bei  ihm  den  Namen:  veupa,  und  Arterien 
und  Venen  verwechselte  er  unter  der  gemeinschaftlichen  Benennung: 
^Xißei;.  In  der  Priesterschule  der  Asclepiaden,  deren  Gründer  Aescu- 
lap,  mit  göttlichen  Ehren  gefeiert  wurde,  und  aus  welcher  auch 
Hippocrates  hervorging,  sollen  sich  Traditionen  anatomischer  Kennt- 
nisse vererbt  haben  (Galen). 

Aristoteles,  ein  Schüler  Plato's,  Lehrer  und  Freund  Alexan- 
der's  des  Grossen,  hat  in  seiner  Historia  animalium,  dem  ehrwür- 
digen Fundamentalwerke  der  Naturgeschichte,  so  zahlreiche  und 
mit  so  musterhafter  Genauigkeit  ausgearbeitete  Daten  über  die 
Anatomie  der  Thiere  niedergelegt,  dass  mehrere  derselben  selbst 
die  Bewunderung  der  Neuzeit  noch  verdienen.  Cuvier  erklärte  die 
Anatomie  des  Elephanten  bei  Aristoteles  für  besser,  als  jene,  welche 
der  Akademiker  d'Aubenton  schrieb.  Menschliche  Anatomie  ist 
ihm,  aller  Wahrscheinlichkeit  nach,  ganz  fremd  geblieben  (Le 
Clerc).  In  einem  Zeitalter  lebend,  wo  siegreiche  Kriege  dem  griechi- 
schen Heldenvolke,  in  Asien  einen  unbekannten  Welttheil  eröffneten, 
und  wo  die  Liberalität  seines  königlichen  Gönners,  ihn  in  den 
Besitz  der  grössten  Schätze  des  indischen  Thier-  und  Pflanzenreiches 
versetzte,  wurde  er,  dem  keine  Vorarbeiten  zu  Gebote  standen,  der 
Gründer  der  zoologischen  Systematik.  Die  Anatomie  verdankt  ihm 
die  scharfe  Trennung  der  Nerven  (x6pot)  von  den  Sehnen  (veupa),  und 
die  Entfaltung  des  arteriellen  Gef&sssjstems  aus  Einem  Haupt- 
stamme, welchen  er  zuerst  dcopn^  nannte.  Die  Nerven  nannte  er 
deshalb  7c6pot,  weil  er  sie  für  hohl  hielt,  um  die  im  Gehirn  erzeugten 
Lebensgeister  durch  den  ganzen  Körper  zu  verbreiten.  Diese  Lebens- 
geister hiessen  Spiritus  animcdes,  zum  Unterschiede  der  Spiritus 
vitales,  welche  im  linken  Herzen  aus  Luft  und  Blut  bereitet,  und 
durch  die  Aorta  allen  Bestandtheilen  des  Leibes  zugeführt  werden. 
Bis  in  das  17.  Jahrhundert  hat  sich  diese  Lehre  der  Spiritus  ani- 
maJss  und  vitales  erhalten. 

Nach  Alexander's  Tode  zerfiel  sein  Riesenreich  in  kleinere 
Throne,  welche  dem  blutigen  Handwerk  der  Waffen  entsagten,  und 
friedliche,  menschenbeglückende  Kunst  und  Wissenschaft  in  ihren 
mächtigen  Schutz  nahmen.   So   entstand  zu  Alezandria  (320  Jahi*e 


1. 14.  Eni«  Periode  der  Geschieht«  der  Anatomie.  41 

vor  Christus),  die  von  Ptolomäus  Euergetes  neben  dem  Serapeion 
gestiftete  medicinische  Schule,  welche  durch  Jahrhunderte  blühte, 
und  eine  Bibliothek  von  700.000  Bänden  besass. 

In  ihr  scheint  die  menschliche  Anatomie  ihr  erstes  Asyl  ge- 
funden zu  haben ;  wenigstens  bildeten  sich  in  dieser  Schule  Männer, 
welche,  wie  Herophilus,  Eudemus  und  Erasistratus,  ihr  Leben 
unserer  Wissenschaft  widmeten.  Leider  sind  ihre  Schriften  nicht 
auf  uns  gekommen,  und  nur  Einiges  über  ihre  Leistungen  in  Ga- 
len us  und  Rufus  Ephesius  erwähnt.  Ein  griechischer  Arzt, 
Herophilus,  310  Jahre  vor  Christus  (welcher  bei  dem  König  von 
Syrien,  Seleucus,  hoch  in  Ehren  stand,  da  er  aus  dem  Pulse  des 
kranken  Königssohnes  erkannte,  dass  derselbe  in  seine  Stiefmutter 
verliebt  sei),  und  sein  College,  Erasistratus,  sollen  selbst  lebende 
Verbrecher  mit  allerhöchster  Genehmigung  zergliedert  haben.  Eine 
Stelle  im  Tertullian  (de  anima,  cap.  10),  sagt  hierüber:  Hero- 
philus als  mediciia  aut  laniusy  qui  aexcentoa  exsecuit,  ut  naturam 
scrutaretur,  qui  hominem  odit  ut  nosset,  nesdo  an  omnia  interna  ejus 
liquido  exploraverit,  ipsa  morte  mutante,  quae  vixerant,  et  morte  non  sim- 
plici,  sed  inter  artificia  exsectionis  errante.  Gewichtiger  als  dieses 
Zeugniss  des  afrikanischen  Kirchenvaters,  ist  jenes  des  berühmten 
Römischen  Arztes,  Cornelius  Celsus:  nocentes  homines,  a  regibus 
ex  carcere  cuxeptos,  vivos  inddit,  consideravitque  etiam  spiritu  rewia- 
nente  ea,  quas  antea  clausa  fuere  (de  medicina,  in  prooemio).  Galen, 
dem  wir  Alles  verdanken,  was  wir  von  Herophilus  wissen,  hat 
von  dieser  Anatomie  lebender  Menschen  nichts  erwähnt.  Möglicher 
Weise  ist  die  ganze  Sache  eine  Erfindung,  welche  der  Hass  der 
Zeitgenossen  ausheckte,  und  die  Leichtgläubigkeit  der  Nachwelt 
verbreitete.  Ging  es  doch,  zu  Ende  des  Mittelalters,  dem  geachteten 
Anatomen,  Jacobus  Berengarius  in  Bologna,  ebenso  (nach  Leon  a 
Capoa,  Raggionamenti,  etc.  Nap,  1681,II,pag,  60),  — Es  ist  ausgemacht, 
dass  Herophilus  die  Chylusgeftlsse  des  menschlichen  Darmkanals, 
welche  während  der  Verdauung  von  Milchsaft  (chylus)  strotzen,  und 
dadurch  sichtbar  werden,  gekannt  hat,  was  selbst  der  spätere  Ent- 
decker derselben,  Caspar  Aseili,  zugiebt.  Im  Galenus,  de  usu 
partium,  lib.  IV.,  findet  sich  hierüber  folgende  merkwürdige  Stelle: 
Toti  mesenterio  natura  venas  effecit  proprias,  intestinis  nutriendis  dicatas, 
haudquaquam  ad  hepar  traßcientes.  Verum,  ut  et  Herophilus  dicebat, 
in  glandulosa  quasdam  corpora  desinunt  hae  venas,  cum  ceterae  omnes 
sursum  ad  portas  (hiemit  ist  die  Leber  gemeint)  ferantur.  —  Hero- 
philus machte  zahlreiche  Entdeckungen  in  der  Detailanatomie,  deren 
einige  heutzutage  noch  seinen  Namen  führen.  Die  Plexus  choroidei 
des  Gehirns,  das  Torcular  Herophüi,  die  vierte  Gehirnkammer,  der 
Calamus  scriptorius,  das  Duodenum  wurden  von  ihm  zuerst  erwähnt. 
Erasistratus  genoss  durch  seine   vielseitigen  Entdeckungen  eines 


42  S.  14.  Ente  Periode  der  Oeeehiehte  der  Anatomie. 

gleichberechtigten  Rahmes.  Er  schied  die  Bewegungs-  von  den 
Empfindongsnerven,  entdeckte  die  ValvuUie  tricuspidcdes  und  semi- 
lunares  des  Herzens,  rügte  zuerst  das  Unrichtige  der  Ansicht,  dass 
die  Getränke  durch  die  Luftröhre  passiren,  und  gebrauchte  für  die 
Substanz  der  Organe,  das  noch  heute  übliche  Wort:  Parenchyma 
(von  xopa  und  ^YX^u);  ergiessen,  da  er  alle  nicht  faserigen  oder 
vasculären  Gebilde,  aus  ergossenem  Blut  entstehen  liess). 

Claudius  Galenus  (geb.   131  nach  Christus),   Arzt  an   der 
Fechterschule  zu  Pergamus,  studirte  zu  Alexandria,  wohin  er  reiste, 
um,  wie  er  selbst  angiebt,  ein  vollkommenes  menschliches  Skelet  zu 
sehen.     Er   übte   die   Heilkunde   zu  Rom,    unter   den  Imperatoren 
Marcus  Aurelius  und  Commodus,  wo  er  auch  als  Lehrer  eine 
Anzahl  Schüler  um  sich  versammelte,  und  dieselben  an  einem,  von 
dem  welterobemden  Volke  wenig  besuchten,   und  deshalb   ruhigen 
Orte  —   im  Tempel   der  Friedensgöttin  —   in   der  Anatomie  und 
in  der  praktischen  Heilkunde  unterrichtete.    Das  Haus  neben  dem 
Tempel,  in  welchem  er  seine  Lehrmittel,  darunter  auch  menschliche 
Knochen,  aufbewahrte,  nannte  er:  dnco^iQ.  —  Galen's  Schriften  sind 
die  Hauptquelle,   aus   welcher  wir  den  Zustand   der  Anatomie  vor 
Galen  kennen  lernen.  Dass  er  je  menschliche  Leichname  zergliederte, 
wird  mit  Recht  verneint.     Seine  Beschreibungen  passen   nur  selten 
auf  die  menschlichen  Organe,    obwohl   er   sie   selbst   als   denselben 
entlehnt  angiebt.   Er  scheint  sich  vorzugsweise  der  Affen  bei  seinen 
Zergliederungen  bedient  zu  haben.     So   sind   z.   B.    seine  Angaben 
über  das  Herabreichen  des  hinteren  Musculus  scalenus  bis  zur  6.  Rippe, 
über  den  Ursprung  des  Rectus  abdominis  vom  oberen  Ende  des  Brust- 
blattes, über  das  Brustbein,  über  den  Zwischenkiefer,  über  das  Kreuz- 
bein, über  die  Nabelarterien,  die  Augenmuskeln,  u.  m.  a.  den  Affen 
entnommen,  unter  welchen  besonders  der  in  Nordafrica  damals  häufig 
vorkommende  Inuus  syloanus  ihm  in  Menge  zu  Gebote  stand.     Die 
wenigsten  seiner  Beschreibungen  lassen  sich  auf  den  Menschen  be- 
ziehen, denn  das  Zeitalter,  in  welchem  er  lebte,  und  welches  Tausende 
von  Unglücklichen  den  brutalen  Launen  des  römischen  Pöbels  und 
seiner  verderbten  Imperatoren  opferte,  sie  selbst  den  wilden  Thieren 
vorwarf,  wollte  der  Anatomie  nicht  Eine  Leiche  gönnen.   Ein  Mann 
von  Staunenswerther  Gelehrsamkeit,   voll  Talent  und  Geist,  errang 
er  sich  durch  seine  Schriften,  welche  durch  vierzehn  Jahrhunderte 
als  Gesetzbücher  der  anatomischen   und   heilkundigen  Wissenschaft 
galten,  den  lange  Zeit  unangetasteten  Ruhm  der  ersten  und  höchsten 
medicinischen  Autorität,  und  es  hat  vieler  Kämpfe  bedurft,  um  am 
Beginne  der  zweiten  Periode  unserer  Geschichte,  sein  Ansehen  fallen 
zu  machen.    Nie  hat  der  Name  und  das  Ansehen  eines  Mannes,  so 
lange,  so  unumschränkt,  und  so  unbestritten,  in  einer  Wissenschaft 
geherrscht,  wie  Galen  in  der  Medicin.  Nur  in  der  Naturgeschichte 


S.  14.  Bnt«  Periode  4tr  Geteki^to  ^n  kaaUmi:  43 

and  Philosophie,  behauptete  Aristoteles  einen  gleichen  Rang.  Man 
ging  in  der  blinden  Verehrung  dieses  Mannes  selbst  so  weit,  dass, 
als  der  grosse  Reformator  der  Anatomie,  Vesal,  durch  seine  Zer- 
gtiedemngen  die  Irrthümer  Galen's  aufdeckte,  man  geneigter  schien, 
eine  Aenderung  im  Baue  des  Menschen  anzunehmen  (wie  es  Jacobus 
Sylvius  that),  als  den  grossen  Altmeister  eines  Fehlers  zu  zeihen. 
Was  seine  anatomischen  Schriften  auch  in  unseren  Tagen  lesens- 
werth  macht,  sind  die  schönen  Reflexionen,  welche  er  den  ana- 
tomischen Beschreibungen  hin  und  wieder  einzuflechten  pflegte.  Sie 
sind  in  dem  Geiste  eines  Mannes  geschrieben,  welcher  von  der 
hohen  Bedeutung  seiner  Wissenschaft  so  durchdrungen  war,  dass 
er  sie  einen  semumem  sacrum,  et  verum  Canditaris  nostri  hymnum  nannte. 
Merkt  Euch,  Ihr  christlichen  Anatomen!  diese  edlen  Worte  eines 
Heiden.  Oalen  war  zugleich  einer  der  schreibseligsten  Aerzte. 
Man  schätzt  die  2jahl  seiner  Werke  auf  400J  Sie  behandelten  ausser 
Medicin,  auch  philosophische,  grammatische,  mathematische,  selbst 
juridische  Argumente.  In  den  stürmischen  Zeiten,  welche  auf  den 
Verfül  des  römischen  Reiches  folgten,  und  in  welchen  die  Anatomie, 
wie  aUe  Kunst  und  Wissenschaft,  kein  Lebenszeichen  von  sich  gab, 
waren  die  medicinischen  Werke  Galen's  das  einzige  Testament  der 
Arzneikunde^  welchem  alle  Völker  des  Abendlandes  Glauben  zu- 
schworen,  und  sich,  wie  die  Araber,  denen  durch  den  Koran  yer- 
boten  war,  menschliche  Leichen  zu  öflhen,  (Rhases,  Averro^s, 
Aricenna)  und  die  Barbaro - Latini ,  in  Commentaren  und  Ueber- 
setzui^n  desselben  erschöpften.  Galen*s,  in  griechischer  Sprache 
geschriebene  Werke,  wurden  im  elften  Jahrhundert,  auf  Befehl  des 
Normtonischen  Königs  Robert  Ton  Sicilien^  durch  Nie.  Rnbertus 
de  Regio,  aus  den  arabischen  Uebersetzungen  in's  lateinische  fiber- 
tragen^  and  dadurch  dem  Abendlande  amgänglicfa  gemacht,  I^eichen 
konnten  und  dnrftf'n  in  jener  Zeit  nicht  zergliedert  werden.  Nach 
einer  Stelle  im  Cassiodorus,  Benedictinermönch  und  Arzt  im 
7.  Jahrhunderte,  wurden,  um  die  Entweihung  der  Gräber  durch  die 
wahrscheinlich  bisher  öftere  heimlich  Torgenommene  Exhumation 
der  Leichen,  i  ob  gerade  zu  anatomischen  Zwecken  ? )  zu  verhindeni, 
auf  den  christlichen  Kirchhöfen  Grabhöter  angestellt,  und  das 
SaUsehe  Gesetz  untersagte  jeden  Umgang  mit  einem  Menschen, 
welcher  *ich  des  Verbrechens  des  Leichen raubes  schuldig  ge- 
macht hätte. 

Durch  Luigi  Mondino  de' Liizzi(Mondino,  abgekürzt  ron 
Raimondo,  —  de'  Luzzi,  vom  FamiHenwappen ,  zwei  Hechte, 
htm  «.  hfueäj,  Professor  zu  Bologna  (Ort  und  Jahr  seiner  Geburt 
unbekannt,  gestorben  132^  ly  feierte  unsere  Wi«eiMchaft  ihre  Wieder- 
geburt zn  Anfitng  des  14.  Jahrhunderts.  Er  wagte  et,  nach  so 
tangem  Verfiüle  der  Anatomie,   wieder  Hasd  an  die  MsaeehBehe 


44  §•  1A>  Ente  Periode  der  Geschichte  der  Anatomie. 

Leiche  zu  legeD,  und  zergliederte  drei  weibliche  Körper.  Von 
welcher  Art  diese  neu  erstandene  Anatomie  gewesen  sein  mag,  er- 
sehe ich  aus  folgendem  Cerevis-Latein  des  Guido  Cauliacus  (Guy 
de  Chauliac,  Capellan  und  Leibarzt  Papst  Urban's  V.):  Magister 
meus,  Bertuccius  (ein  Schüler  des  Mondino),  fecä  anatomiam  per 
hunc  moduni.  Situato  corpore  in  banco,  fadebat  de  ipso  quataor  lectiones, 
Li  prima  tra^tabantur  membra  nutritiva,  quia  dHus  putrebilia,  —  in 
secunda  membra  spiritaiia,  —  in  tertia  membra  animata,  —  in  quarta 
extremitates  (ractc^antur.  —  Mondin o  schrieb  ein  kleines  anatomisches 
Opus,  welches  bald  unter  dem  Titel  Anatomia  Mundini  (horrtbüe  dictu 
auch  Anathomia  Mundini),  bald  Anatome  omnium  humani  corporis  in- 
teriorum  membrorum,  vor  der  Erfindung  der  Buchdruckerkunst  durch 
Abschriften  vei-vielfaltigt  und  entstellt  wurde,  später  durch  Druck 
viele  Auflagen  erlebte,  und,  obwohl  es  nach  unseren  Begriffen  sehr 
unvollständig  und  incorrect  war  (mendis  et  erraiis  innumeris  refertum), 
dennoch  durch  zwei  Jahrhunderte  in  grossem  Ansehen  stand. 
Mondino's  Verdienst  bestand  eigentlich  nur  darin,  der  erste  ana- 
tomische Schriftsteller  im  Abendlande  gewesen  zu  sein,  und  zuerst 
die  Anatomie  an  der  Leiche  vorgetragen  zu  haben,  während  bisher 
nur  die  Texte  des  Galen  und  der  Araber,  ex  cathedra  vorgelesen  und 
interpretirt  wurden.  Sein  Buch  ist  für  uns  nur  mehr  eine  an  Un- 
richtigkeiten reiche  Curiosität.  Was  es  Gutes  enthält  (man  bedenke 
die  Zeit,  in  welcher  es  geschrieben  wurde),  ist  den  Arabern  ent- 
nommen, deren  Benennungen  beibehalten  sind  (z.  B.  Alkatim  für 
Lende,  Myrach  für  Unterleib,  Caib  für  Sprungbein,  Syphac  für 
Bauchfell).  Wir  erfahren  aus  Jac.  Douglas  (Bibliographia  anat. 
pag.  86),  dass  zu  Padua,  der  berühmtesten  aller  damaligen  Uni- 
versitäten, die  Statuta  academica  ausdrücklich  befahlen :  ut  anatomid 
Patavini  explicationem  textucUem  ipsius  Mundini  sequantur.  Auch  auf 
deutschen  Universitäten,  z.  B.  Würzburg  und  Tübingen,  wurde  noch 
zu  Anfang  des  16.  Jahrhunderts,  die  Anatomie  nach  dem  Texte  des 
Mundinus  gelehrt  (Froriep,  Kölliker).  —  Die  gelehrten  Unter- 
suchungen von  Medici  und  von  Mazzoni  Toselli  haben  aber 
dargethan,  dass  schon  lange  vor  Mundinus,  in  Bologna  anatomische 
Zergliederungen  abgehalten  wurden,  entweder  auf  Befehl  des  Magi- 
strates bei  Vergiftungsverdacht,  oder  auch  geheim  und  illegal  an 
exhumirten  Leichen:  praeter  sectiones  anatomicas  permissas,  aliae 
quoque  instituebantur  occulte,  et  cadavera  in  sepulcretis,  anatomiam 
studendae  causa,  furtim  subripiebantur  (Mondini,  nuovi  common- 
tarii  Instit.  Bonon.  1846.  pag.  492).  Es  wird  daselbst  auch  ei'wähnt, 
dass  einem  sicheren  Maestro  Alberto  (einem  Zeitgenossen  des 
Mundinus),  der  Process  gemacht  wurde,  weil  er  (1319)  in  seinem 
eigenen  Hause,  die  Leiche  eines  Gehenkten,  welche  er  dui'ch  seine 
Schüler  stehlen  liess,  secirt  hatte.    In  Unteritalien  stand  es  besser 


9.  14.  Eni«  Perlode  der  Oetchiehte  der  Anatoinie.  45 

mn  die  Anatomie,  da  schon  zur  Zeit  der  Hohenstauffen,  von  Kaiser 
Friederich  11.  ein  Gesetz  gegeben  worden:  tU  in  SicUia,  omni 
quinquenmo,  corpus  humanwm  dissecaretur,  utque  ad  eam  solennem  ana- 
tomen,  ex  universo  regno,  medici  et  chirurgi  convocarentur  (Hai  1er, 
Bibl.  anat,  T,  L  pag,  140).  —  Leider  wurde  die  von  Mundinus 
durch  Wort  und  Schrift  in  ein  neues  Dasein  gerufene  Anatomie  des 
Menschen,  sehr  bald  durch  die  berühmte  Bulle  Bonifaz  VIU. 
(anno  1300)  gefährdet,  welche  den  Kirchenbann  über  Jene  aus- 
sprach, die  es  wagten,  einen  Menschen  zu  zerstückeln,  oder  seine 
Gebeine  auszukochen.  Die  Beschäftigung  der  damaligen  Mönche 
(besonders  der  Benedictiner)  mit  der  Heilkunde,  und  die  nicht  un- 
gegrundete  Beftirchtung,  dass  sie  dadurch,  wie  die  weltlichen 
Doctoren,  dem  Beten  und  Fasten  abgeneigt  werden  dürften  (artis 
salutaris  exerdtio  ob  sciecularia  beneficia  abutentea) ,  scheint  diese 
Strenge  der  Kirche  gegen  unsere  Wissenschaft  veranlasst  zu  haben. 
Mondino  selbst  gesteht:  „Ossa  autem  cUia,  qtjuze  sunt  infra  basüare, 
non  bene  ad  sensum  appareiity  nisi  ossa  üla  decoquantur,  sed  propter 
peccatum  dimittere  consuevi".  Und  doch  konnten  Andere  die  schöne 
Sünde  nicht  lassen,  durch  die  Zergliederung  von  Gottes  Ebenbild, 
mehr  von  des  Schöpfers  Herrlichkeit  inne  zu  werden,  als  die  Himmel 
uns  davon  erzählen.  Ich  glaube  und  bekenne,  dass,  was  der  Mensch 
wissen  kann,  er  auch  wissen  darf.  Es  ist  übrigens  nicht  blos 
möglich,  sondern  selbst  wahrscheinlich,  dass  die  citirte  Bulle  sich 
nicht  auf  das  anatomische  Präpariren  der  Knochen,  sondern  auf  die 
Abstellung  eines  damals  nicht  ungewöhnlichen  Gebrauches  bezog, 
welcher  darin  bestand,  die  Knochen  der  Ritter  und  Edlen,  welche 
mit  den  Klriegsheeren  nach  Italien  kamen  und  dort  starben,  durch 
Auskochen  zu  entfleischen  (carnibus  pea*  excociionem  consumtis),  um 
sie  in  die  Heimat  zurückzusenden  (wie  es  jetzt  noch  die  Chinesen 
in  Califomien  thun).  A.  Corradi  erwähnt  der  Fürsten,  Bischöfe, 
und  Herren  im  Heere  Barbarossa's  vor  den  Mauern  Roms,  welche 
ausgekocht  wurden,  —  diesen  Kaiser  selbst,  welcher  als  Kreuzfahrer 
in  Syrien  starb,  und  dessen  Cadaver  in  Antiochia  „dixatum  est,^  um 
die  Knochen  nach  Deutschland  zurückzuschicken,  —  Ludwig  den 
Heiligen,  welcher  vor  Tunis  starb,  und  dessen  Leib  zerstückelt 
und  gekocht  wurde,  ut  ossa  pura  et  Candida,  a  came  quasi  evelli 
potuissent,  —  Philipp  den  Kühnen,  dessen  entfleischte  Knochen 
in  St.  Denys  beigesetzt  wurden,  u.  m.  A.  Wenn  die  fragliche  BuUe 
erlassen  wurde,  um  solcher  Menschenabkochung  zu  steuern,  dann 
verdient  sie  allerdings  den  Tadel  nicht,  welchen  Jene  auf  sie  häuften, 
die  ihre  Worte  missverstanden  haben  (wie  es  auch  mit  Mundinus 
der  FaU  gewesen  zu  sein  scheint).  Das  wissenschaftliche  Seciren 
der  Leichen  haben  aber  die  Päbste  nie  verboten,  im  Gegentheile 
den  Universitäten   die  Erlaubniss   dazu   ertheilt,   wie  es   die   alten 


46  I«  14.  Eni«  Periode  d«r  GMchioht«  der  Anatomie. 

Siaiuia  der  medicinischen  Facultäten  ausdrücklich  anfuhren.  Ist  es 
doch  auoh  bekannt,  dass  Michel  Angelo  im  Kloster  San  Spirito 
an  FlorenSy  von  dem  Prior  desselben  eine  Halle  zu  seinen  ana- 
tomiaohen  Arbeiten  angewiesen  erhielt,  und  Realdus  Columbus 
(de  r«  anaUmuca,  Üb.  XV)  berichtet  uns,  die  Leichen  von  Cardinälen, 
Bischöfen  und  Prälaten,  selbst  einen  General  der  Jesuiten,  zur 
Sichenstellung  der  Todesursache,  anatomisch  untersucht  zu  haben, 
was  aioh  mit  der  Furcht  vor  Excommunication  gewiss  nicht  verein- 
baren lUsat,  In  Alex.  Benedicti  AncUamice,  Itb.  I,  cap.  L,  heisst  es 
aaadrttcklich :  hunc  resecandi  modum,  pontificales  constiiutiones  jam 
fdridem  permuere. 

Alessandro  Benedetti,  Professor  der  Anatomie  zu  Padua, 
14^X  wo  er  das  erste  anatomische  Amphitheater  erbaute,  Matthaeus 
dff  Oradibus,  ein  Abkömmling  der  Grafen  von  Ferrara  (f  1480), 
dw  Vonetianer  Marcantonio  della  Torre  (Lehrer  des  Leonardo 
da  Vinci),  Magnus  Hundt  (Professor  der  Medicin  zu  Leipzig), 
i^uinthcrus  Andernacensis  (Leibarzt  König  Franz  I.  von  Frank- 
w^ichV  Gabriel  de  Zerbis,  Professor  der  Anatomie  zu  Rom  und 
l^idua,  seines  tragischen  Endes  wegen  bekannt,  indem  er  von 
dt^n  Sklaven  eines  Pascha  von  Bosnien,  welcher  unter  seiner  ärzt- 
Hohon  Behandlung  starb,  zwischen  zwei  Brettern  eingeklemmt,  und 
di>r  iJiugc  nach  entzweigesägt  worden  sein  soll  (1505*),  Alexander 
Aohillinus  (Professor  zu  Bologna,  f  1512),  Berengarius  Car- 
dio usis  (Professor  zu  Pavia,  f  1525),  waren  mehr  weniger  treue 
Anhänger  des  Altherkömmlichen.  Secirt  hatten  diese  Männer  nur 
j4u«sorst  wenig,  denn  die  Anatomie  war  noch  so  verhasst,  dass  ein 
Schüler  des  Benedetti,  bei  welchem  man  Menschenknochen  in 
Keinem  Schi*anke  verborgen  fand ,  torturae  pericidum  subüt ,  quia  ossa 
pro  sanctorum  rdiquü»  habebantur.**)  —  Die  meisten  der  hier  ge- 
nannten Anatomen,  behielten  die  arabische  Nomenclatur  des  Mun- 
dinus  bei,  und  schrieben  ein  eben  so  schlechtes  Latein,  wie  er. 
Die  Geschichte  nennt  sie  deshalb  Arabisten,  auch  Lattno-barbari. 

Jac.  Sylvius  (geb.  1417),  Professor  der  Anatomie  zu  Paris, 
trat  bei  all'  seiner  unbedingten  Verehrung  fiir  Galen,  dennoch  in 
Einzelnheiten  etwas  selbstständiger  als  seine  Vorgänger  auf,  änderte 


*)  Nftch  dem  Zengmas  des  g^elehrten  Mich.  Medici  (ScuoUt  anal,  di  Bologna, 
P^'  ^)*  genas  der  Türke,  nnd  überh&nfte  den  Zerbis  mit  Reichtbflmeni.  Dieser  war 
schon  auf  dem  Heimweg,  als  der  Pascha  recidiv  wurde  und  starb.  Da  man  nun 
glaubte,  er  sei  von  Zerbi  vergiftet  worden,  wurde  eine  Galeere  nachgeschickt,  welche 
das  Schiff  des  heimkehrenden  Arztes  an  der  dalmatinischen  Küste  einholte.  Um 
Rache  zu  nehmen,  wahrscheinlich  aber  auch,  um  die  Schfttze  zurückzunehmen,  wurde 
Zerbis,  und  sein  Sohn,  wirkUch  auf  die  genannte  barbarische  Weise  umgebracht. 

**)  Diese  Angabe  ist  der  Bibliotheca  anatomica  Haüeri,  T,  L  pag,  140,  ent- 
nommen. Als  ich  nun  im  Benedetti  nachschlug,  um  Näheres  über  diese,  mir  ver- 
dJlchtige  SteUe  zu  er&hren,  fand  ich,  dass  es  sich  hier  um  eine,  im  Grunde  komische 
G«8ehicht«,  und  nichts  weniger  als  um  Tortur  handelte.  Hall  er  hat  die  Anatomie 
det  BeneäidHt»,  lib,   V,  eop.  ^,  sicher  nicht  gelesen.  -^ 


|.  14.  Ente  Periode  der  Oeechlchte  der  Anfttoaie.  47 

und  berichtigte  theilweise  die  anatomische  Nomenclatur ,  vervoll- 
8t&nd]gte  die  Anatomie  der  Muskeln  und  G^fässe,  und  hat  noch 
überdies  das  Verdienst,  seine  Schüler  (damals  studirten  Graubärte) 
auch  zur  praktischen  Zergliederung  der  Leichen  angehalten  zu  haben, 
während  an  den  übrigen  Universitäten,  man  sich  blos  mit  dem  Zu- 
sehen begnügen  musste.  Viele,  jetzt  noch  in  der  Mjologie  gebräuch- 
liche Benennungen,  wurden  von  ihm,  und  seinem  Nachfolger,  Joh. 
Biolan,  eingeführt,  wähi'end  man  die  Muskeln  bisher  nur  durch 
Zahlen  unterschied,  was  zu  Verwirrung  und  Verwechslung  häufigen 
Anlass  gab.  Er  war  der  erste  unter  den  christlichen  Anatomen, 
welcher  seinen  Namen  in  der  Fossa  Sylvii  und  im  Aquaeductus  Sylvii 
verewigte.  Seine  Isagoge  anatomica  nennt  Douglas:  solertU  ingenü 
foetara  incomparahüis.  Er  versuchte  es  auch,  die  Blutgefässe  mit 
eingespritzten  Flüssigkeiten  zu  füllen,  und  gilt  deshalb,  obwohl  mit 
Unrecht  (da  dieses  Verdienst  Bologna  gebührt),  für  den  Erfinder 
der  anatomischen  Einspritzungen.  —  Sein  schmutziger  Geiz  verhalf 
ihm  zu  der  witzigen  Grabschrift: 

8ylviu8  hie  situa  est,  gratis  qui  nü  dedit  unquam, 
Mortuus  et  gratis,  quod  legis  ista,  dolet. 

In  Wien  wurde  die  erste  anatomische  Zergliederung  im  Jahre  1404,  von 
Mag.  Oaleatns  de  St.  Sophia  ans  Padna,  auf  dem  Kirchhofe  des  Btirger- 
spitals  anter  freiem  Himmel  vorgenommen.  Sie  dauerte  acht  Tage ;  und  im  Jahre 
1433  wurde  ein  sicherer  Magister  Aygl  allda,  zum  Lehrer  der  Anatomie  erwählt. 
Er  tractirte  den  Galen,  de  tuu  partium,  und  demonstrirte  zuweilen  in  dem  Hause 
der  medicinischen  Facultät  in  der  Weihburggasse  (in  welchem  auch  die  erste 
Buchdruckerei  in  Wien  sich  ansiedelte),  die  Lage  der  Eingeweide  an  den  Leich- 
namen gerichteter  Verbrecher.  Weibliche  Leichen  wurden  erst  1452  vom  Mag^trat 
zugelassen.  Als  Curiosum  mag  erwähnt  werden,  dass  anno  1440,  ein  mit  dem 
Strange  gerichteter  Dieb,  bei  den  Vorbereitungen  zur  Section  wieder  lebendig 
wurde,  ein  Fall,  der  sich  1492  wiederholt  haben  soll  (?),  weshalb  die  hoch- 
nothpeinliche  Justiz,  die  Verabfolgung  der  Leiber  von  Missethätem  an  die 
Schule,  bis  auf  Weiteres  einzustellen  für  gut  befand.  Besagter  Dieb  wurde  auf 
Kosten  der  Facultät  in  seine  Heimat  (Baiem)  imter  Begleitung  des  Pedellus 
Johannes  zurfickgeschickt,  dort  aber,  wegen  wiederholtem  Diebstahl,  in  Regens- 
burg mit  besserem  Erfolg  zum  zweitenmal  gehenkt.  Dieser  Fall  steht  nicht  allein 
in  der  Geschichte  der  Anatomie,  denn  im  Jahre  1650,  brachten  die  Aerzte  in 
Oxford,  ein  Weib,  Anna  Green,  welche  am  Galgen  in*s  ewige  Leben  befördert 
wurde ,  wieder  in*s  irdische  zurück ,  in  welchem  ihr  noch  ein  langes  Dasein  be- 
schieden war.  Interessanter  Weise  stellte  sich,  bald  nach  ihrer  Wiederbelebung 
heraus,  dass  sie  unschuldig  verurtheilt  war.  Margaret  Dickson,  in  Edinburg 
gehenkt  (1728),  wurde  gleichfalls  wieder  zum  Leben  gebracht,  heirathete  hierauf, 
und  lebte  noch  dreissig  Jahre.  Ein  anderer  Fall  dieser  Art  ereignete  sich  in  Irland 
(Cork,  1766),  wo  ein  gehenkter  Dieb,  Patrick  Redmond,  durch  einen  Schau- 
spieler, welcher  ein  zu  Grunde  gegangener  Wundarzt  war,  wieder  lebendig  gemacht 
wurde,  sich  einen  Whiskyrausch  antrank,  und  in  diesem  Zustande  auf  die  Bühne 
sprang,  um  seinem  Lebensretter  persönlich  seinen  Dank  abnistatten.  Von  einem 
Gehenkten,  welcher  auf  die  Parieer  Anatomie  febnieht.  umA  dort  terafa  die 
Studenten,  mittelst  Branntwein,  wieder  lebe»  »lan 


48  §•  15>  Zweit«  Periode  der  Oeechichte  der  Anatomie. 

(Arähropo^aphia,  Pari*,  1626,  pag,  103).  Ja  im  Cardanns  (de  varietate  verum, 
lib,  14,  cap,  76)  wird  eines  Falles  erwähnt,  wo  ein  Mann  zweimal  gehenkt  und 
zweimal  wieder  lebendig  gemacht  wurde.  Erst  beim  dritten  Hängen  starb  er 
wirklich.     Er  hatte  eine  verknöcherte  Luftröhre. 


§.  15.  Zweite  Periode  der  öescMchte  der  Anatomie. 

Die  zweite  Periode  unserer  Wissenschaft  beginnt  im  16.  Jahr- 
hundert, mit  dem  berühmten  anatomischen  Triumvirat  des  Vesalius, 
Eustachius,  und  Fallopia. 

In  jener  folgenreichen  Zeit,  in  welcher  der  menschliche  Gteist 
die  Fesseln  einer  geistlosen  Scholastik  zerbrach,  erwachte  auch  mit 
Macht  das  Bewusstsein  der  Noth wendigkeit  anatomischer  Studien, 
und  hielt  gegen  Anfeindung  und  Verfolgung  siegreichen  Stand.  Die 
Wissbegierde  warf  sich  mit  dem  Feuereifer  des  Enthusiasmus  auf 
das  noch  brachliegende  Feld  der  Anatomie.  Lehrkanzeln  erhoben 
sich  zuerst  in  den  bedeutendsten  Städten  Italiens,  dann  Frankreich's 
und  Deutschland's,  und  ein  edler  Wetteifer  spornte  die  Bekenner  der 
Wissenschaft  zu  nimmer  rastender  Thätigkeit  an.  Hemmt  uns  nur 
nicht,  —  wir  werden  uns  schon  selber  helfen,  war  ihre  Devise.  In 
den  speculativen  Wissenschaften,  in  Kunst  und  Poesie,  kann  das 
Genie  seine  Zeit  überflügeln,  —  in  der  Erfahrungswissenschaft  bringt 
der  inihige  Fleiss  der  Zeit,  was  der  Gedankenflug  nicht  in  Eile  er- 
reichen kann.  Diese  Zeit  war  nun  für  die  Anatomie  gekommen, 
und  der  grosse  Mann,  welcher  sie  brachte,  war  Andreas  Vesalius, 
der  Reformator  der  Anatomie.  Seine  Feinde,  katholischen  Glaubens, 
nannten  ihn  den  Luther  der  Anatomie.  Er  war  1514  zu  Brüssel 
geboren.  Seine  Familie  stammte  aus  deutschem  Gau,  aus  Wesel 
im  Herzogthume  Cleve,  —  daher  der  Name  Vesalius.  Eine  durch- 
greifende Umstaltung  unserer  Wissenschaft  ging  von  dem  Riesen- 
geiste dieses  Mannes  aus.  Er  studirte  zu  Löwen,  und  musste,  vieler 
Verfolgungen  wegen,  die  ihm  sein  Eifer  für  die  Anatomie  zuzog, 
sein  Vaterland  verlassen.  Nach  seinem  eigenen  Geständnisse,  plün- 
derte er  die  Kirchhöfe,  und  entwendete  die  Leichname  der  Ver- 
brecher von  Galgen  und  Rad,  um  sie  unter  und  in  seinem  Bette 
wochenlang  verborgen  zu  halten,  und  nur  des  Nachts  an  ihnen  zu 
arbeiten.  Ich  besitze  in  meiner  Sammlung  von  Porträten  berühmter 
Anatomen,  einen  Kupferstich,  welcher  den  Vesal  bei  dieser  nächt- 
lichen Arbeit  darstellt.  Unter  dem  damals  gefeierten  Lehrer  der 
Anatomie  zu  Paris,  Jac.  Sylvius,  widmete  sich  Vesal  seinem  Be- 
rufe mit  ganzer  Seele.  Seine  grosse  Gewandtheit  im  Bestimmen  der 
Knochen  mit  verbundenen  Augen,  besonders  der  Hand-  und  Fuss- 
wurzelknochen ,  ob  sie  rechte  oder  linke  seien,  was  selbst  seinem 
Lehrer  oft  misslang,  and  seine  Belesenheit  in  den  alten  anatomischen 


§.  15.  Zweite  Periode  der  Geschichte  der  Anatomie.  49 

Schriften,  verschaflFte  ihm  schon  als  sehr  jungem  Manne,  einen  ent- 
sprechenden Grad  von  Berühmtheit,  zugleich  aber  auch  die  grimmige 
Feindschaft  seines  Lehrera,  dessen  Hörsaal  sich  nimmer  füllen  wollte, 
seit  Vesal  auch  zu  lehren  begann.  Er  bereiste  hierauf  Italien,  und 
eiTcgte  durch  seine  in  Pisa,  Bologna,  und  anderen  Universitäten  ge- 
haltenen anatomischen  Demonsti*ationen  die  Aufmerksamkeit  seiner 
Zeitgenossen  in  so  hohem  Grade,  dass  die  Republik  Venedig  ihn  in 
seinem  dreiundzwanzigsten  Lebensjahre  als  Professor  anatomiae  nach 
Padua  berief.  Barbam  alere,  non  facü  phäosophum!  —  In  seinem 
neunundzwanzigsten  Lebensjahre  gab  er  sein  grosses,  in  classischem 
Latein  geschriebenes  Werk :  De  corporis  liumani  fabrica  lihri  septem, 
Basä.  1543,  heraus.  Es  war  ein  opus  cedro  dignum,  zu  welchem 
nicht,  wie  Blumenbach  meinte,  Titian,  sondern  dessen  Schüler, 
Johann  Stephanus  von  Kaikar,  die  Zeichnungen  lieferte,  und 
die  Holzschnitte  verfertigte.  Boerhave  sagt  von  diesem  Werke: 
opus  incomparabile,  quod  periturum  nunquam,  omnis  aem  tempore  prae- 
darissimum  (MeÜi,  stud.  med.  T,  L  pag,  271).  —  Vesal  wurde  später 
Leibarzt  Kaiser  CarFs  V.  und  seines  Nachfolgers  Philipp's  H.,  und 
starb,  seines  Glückes  und  Ruhmes  wegen  von  seinen  Zeitgenossen 
auf  das  Unwürdigste  verkannt  und  gekränkt,  nachdem  er  seine 
Handschriften  verbrannt  und  sein  Amt  niedergelegt,  in  seinem 
fünfzigsten  Jahre,  auf  der  Rückkehr  von  einer  Pilgerfahrt  nach 
Jerusalem,  welche  er  zur  Sühne  des  Verbrechens,  Anatom  gewesen 
zu  sein  (wie  Andere  sagen,  häuslichen  Unfriedens  wegen),  unter- 
nahm, schiflFbrüchig  an  den  Küsten  der  Insel  Zante,  wo  sein  Leichnam 
von  einem  Goldschmied  erkannt,  und  in  der  Capelle  der  heiligen 
Jungfrau,  mit  der  einfachen  Grabschrift  beigesetzt  wurde: 

Andreae   Vesalii  Brtixellensis  tumulus. 

Dieser  Grabstein  lügt  wenigstens  nicht. 

Es  ist  gänzlich  unrichtig,  wenn  es  in  anatomischen  Geschichts- 
werken heisst,  dass  Vesal  deshalb  bei  Hofe  und  bei  der  Geistlich- 
keit in  Ungnade  fiel,  und  zu  einer  Pilgerfahrt  nach  dem  heiligen 
Lande  verurtheilt  wurde,  weil  er  in  Madrid  den  Leichnam  eines 
grossen  Herrn  secirte,  dessen  Herz  noch  geschlagen  haben  soll.  Nur 
die  Cabale  seiner  Feinde  konnte  solche  Lügen  ersinnen,  und  nur 
die  Scheu  vor  anatomischen  Studien  an  einem  Hofe  und  bei  einem 
Volke,  wie  des  damaligen  Spaniens,  für  welches  zwar  die  Sonne 
nicht  unterging,  aber  das  Himmelslicht  der  Wissenschaft  und  der 
Aufklärung  auch  nicht  aufgehen  wollte,  konnte  sie  glaubwürdig 
finden.  Wahr  aber  ist  es,  dass  VesaTs  grosses  anatomisches  Werk, 
auf  Befehl  Kaiser  CarFs  V.  der  Inquisitionscensur  vorgelegt,  und  die 
theologische  Facultät  zu  Salamanca  befragt  wurde,  ob  es  katho- 
lischen   Christen   zu   gestatten    sei ,    Leichen    zu   zergliedern.     Die 

Hjrtl,  Lehrhnch  der  Anatomie.  U.  Aufl.  4 


50  §.  15.  Zweite  Periode  der  Oescbielite  der  Anatomie. 

Antwort  fiel  glücklicher  Weise  bejaheud  aus  (1556).  Kaiser  Carl  V. 
und  seine  Käthe  wussten  wahrscheinlich  nicht,  dass  schon  Ferdi- 
nand der  Katholische^  den  Aerzten  und  Chiruq[en  in  Saragossa 
die  Erlaubniss  gab,  im  Hospital  der  Stadt,  so  oft  sie  es  nöthig 
hielten,  anatomische  Zergliederungen  vorzunehmen:  «in  incon^er  en 
pena  alguna  (Morejon,  Hut,  hihliogr.  Madrid,  1842,  I.  p,  252),  und 
dass  das  Spital  des  Klosters  Quadalupa  in  Estremadura,  vom  Pabste 
die  Bewilligung  erhielt,  Leichen  zu  öfiiien,  um  verborgene  Krankheits- 
ursachen aufzufinden  (Ibid.  IL  pag.  26),  —  Vesal  war  der  erste 
anatomische  Denker.  Er  wusste  den  Zauber  zu  lösen,  welchen  das 
blind  verehrte  Ansehen  Qalen's,  auf  die  Medicin  und  ihre  Schwester- 
wissenschaften ausübte.  Er  widerlegte  die  Irrthümer  des  grossen 
römischen  Anatomen,  und  bewies,  dass  die  Galen'schen  Lehren  die 
Anatomie  der  Affen  und  Hunde,  aber  nicht  jene  des  Menschen  be- 
handelten. Denken  war  damals  gefahrlich,  und  jene  Art  illegitimen 
Verstandes,  welche  Aufklärung  heisst,  wurde  selbst  in  der  Wissen- 
schaft gehasst,  und  möglichst  unschädlich  gemacht.  Mancher  musste 
es  mit  dem  Leben  bezahlen,  mehr  Verstand  gehabt  zu  haben  als 
Andere.  Kein  Wunder  also,  wenn  das  Genie  dieses  Mannes  sich 
den  wüthenden  Hass  seiner  Zeitgenossen  zuzog,  der  sich  zuweilen 
auch  auf  komische  Weise  kund  gab,  wie  z.  B.  der  erwähnte  Sylvius 
unseren  Vesal  in  einer  Streitschrift  absichtlich  Vesanus,  statt 
Ve  sali  US  nannte,  während  sein  dankbarer  Schüler,  der  grosse 
Fallopia,  von  ihm  nur  als  divinua  Vesalius  spricht.  —  Die  Wissen- 
schaft verdankt  diesem  deutschen  Restaurator  der  Anatomie,  den 
ersten  Antrieb  zur  Bewegung  des  Fortschrittes,  welche,  einmal  be- 
gonnen, unaufhaltsam  dem  besseren  Ziele  zueilte.  Im  Palazzo  Pitti 
zu  Florenz,  sah  ich  das  Porträt  dieses  merkwürdigen  Mannes,  über 
dessen  Leben  Prof.  Burggraeve  historische  Notizen  herausgab 
(£tude8  8ur  Andre  Vesal.  Gand,  1841),  Z\x  Vesal's  Zeiten  gab  es, 
ausser  zu  Padua  und  Pisa,  noch  keine  anatomischen  Anstalten,  und 
zweckmässig  eingerichtete  Vorlesesäle.  Er  musste  seine  Leichen 
entweder  in  seiner  Wohnung,  oder  in  Privathäusern  unterbringen. 
Gute  anatomische  Theater  entstanden  erst  1556  zu  Montpelier,  1594 
zu  Paris,  1600  zu  Leyden,  und  1644  zu  Kopenhagen. 

Gabriel  Fallopia,  ein  modenesischer  Edelmann  (geb.  1523, 
f  1562),  Schüler  des  Vesal,  wirkte  im  Geiste  seines  Lehrers, 
welchen  er  an  Correctheit  noch  übertraf,  und  erwarb  sich  durch 
seine,  an  wichtigen  Entdeckungen  reichen  Observationes  anatomicae, 
Venet,  1561,  den  Ruf  eines  grossen  und  genauen  Zergliederers, 
welchen  er  leider  dadurch  befleckte,  dass  er  zu  Pisa,  an  verurtheilten 
Verbrechern,  Versuche  über  die  Wirkungsart  der  Gifte  vornahm, 
wie  er  selbst  gesteht :  dtix  enim  corpora  justäiae  tradenda,  ancUomicü 
exhibebat,   ut  morte ,   qua  ipsis  videbatwr ,  interficerefiäiuir  (de  compos. 


« ^      •• 


§.  15.  Zweit«  Periode  der  Oeschiehte  der  Anatomie.  Ol 

mecUcam.  cap.  8).  Dass  er  nicht  der  einzige  war,  welcher  von  einer 
so  unmenschlichen  Erlaubniss  Gebrauch  machte,  ersehe  ich  aus 
Benedetti's  Worten:  quandoque  viventes  in  custodits  petunt,  ut potiua 
medtcarum  collegüs  tradantarj  quam  camificis  manu  publice  trvddentur 
(AnaUmice,  Venet  1493,  lib.  1.  cap,  1).  Die  Collegia  medica  tödteten 
nämlich  die  Verbrecher  einfach  mit  Opium,  oder  einem  anderen 
Gift,  um  ihre  Leichen  den  Anatomen  zu  geben,  während  die  Hin- 
richtung durch  den  Henker,  oft  mit  den  grössten  Grausamkeiten 
verbunden  war.  Und  wahrlich,  wenn  heute  die  peinliche  Justiz,  die 
Missethäter  als  Schlachtopfer  an  die  experimentirenden  Physiologen 
ausbötc,  würden  sich  ohne  Zweifel  moderne  Fallopia's  unter  ihnen 
finden.  Auch  die  Wissenschaft  hat  ihre  Fanatiker.  Uebrigens  haben 
auch  sehr  ehrenwerthe  Chirurgen  der  damaligen  Zeit,  an  verurtheilten, 
lebenden  Verbrechern,  sich  in  der  Ausführung  des  Steinschnittes 
geübt.  Ueberstanden  diese  unglücklichen  Versuchsmenschen  die 
Operation,  war  ihnen  das  Leben  geschenkt.  Im  Kiolan  (Anatome 
carp,  hum.  pag.  9)  lese  ich:  Rex  Ludovlcus  XL  medicis  Parisienrnbus 
miliiem  capite  damnatiim  et  calculo  laborantem  permisit  vivum  in- 
et der  e,  ut  calculum  extrahendi  modum  perquirerent,  quod  factum  anno 
1474,  mense  Januario. 

Bartholomäus  Eustachius  (sein  Geburtsjahr  ist  nicht  be- 
kannt, sein  Tod  fiillt  auf  1574),  war  ein  streitsüchtiger  und  gelehrter 
Gegner  des  Vesal,  wie  seine  Opuscula  anatomica,  Venet,  1564,  be- 
weisen. Seine  Tabulae  anatomicae,  über  deren  Verfertigung  er  starb, 
wurden  durch  hundertfunfzig  Jahre  für  verloren  gehalten,  bis  die 
Kupferplatten  zu  Rom  aufgefunden,  und  durch  Pabst  Clemens  XI. 
seinem  Leibarzte  J,  Mar.  Lancisius  geschenkt  wurden,  welcher, 
selbst  Anatom,  sie  im  Jahre  1714  herausgab,  und  den  Text  dazu 
schrieb.  Sie  sind  so  vollständig,  dass  der  grosse  Alb  in,  in  der 
Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  noch  nach  ihnen  lehrte. 

Es  ist  nun  ganz  natürlich,  dass  in  jener  Zeit,  wo  die  zu  einem 
neuen  Leben  erwachte  Wissenschaft,  einer  genaueren  und  sorgsameren 
Pflege  gewürdigt  wurde,  die  grossen  Entdeckungen  an  der  Tages- 
ordnung waren,  und,  wer  immer  sich  etwas  mehr  mit  der  Anatomie 
einliess,  sicher  sein  konnte,  seinen  Namen  durch  irgend  einen  Fund 
zu  verewigen.  Die  italienische  Schule  rühmt  sich  mit  Recht  einer 
grossen  Anzahl  von  Anatomen,  deren  jeder  sein  Schärflein  zum 
schnellen  Aufblühen  unserer  Wissenschaft  beitrug.  Dass  sie  nur  das 
rohe  Material  sichteten,  und  von  subtileren  Untersuchungen  noch 
nichts  wissen  konnten,  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  und  in  der  Art 
des  Fortschrittes  jedes  menschlichen  Wissens.  Eustachius  war 
übrigens  der  Erste,  welcher  sich  nicht  blos  mit  der  anatomischen 
Formenlehre  begnügte,  sondern  auch  den  inneren  Bau  der  Organe 
aufzudecken    anstrebte.     Die    Geschichte    erwähnt    noch    folgende 

4» 


52  §  16.  Zweite  Periode  der  Oeechicht«  der  Anatomie. 

bedeutende  Namen  aus  dieser  Zeit:  Fabricius  ab  Aquapendente 
(1537 — 1619),  Prof.  zu  Padua,  wo  das  gegenwärtig  noch  existirende, 
höchst  originell  construirte  anatomische  Theater,  von  ihm  gegründet 
wurde.  Dasselbe  entspricht  aber  nicht  genau  dem  von  Alessandro 
Benedetti  gegebenen  Vorbild:  arenas  instar  drcumcavatis  aedüibus, 
quäle  Romae  et  Veronae  cemitur,  tantae  magnitudinü ,  ut  spectantium 
numero  mfficicU,  ne  mdnerum  magistri,  qtd  resectores  sunt,  a  multi- 
tudine  pertwrbentur.*)  —  Const.  Varoli,  Prof.  zu  Bologna  (1543 
bis  1575),  und  dessen  Nachfolger  J.  Caes.  Aranti  (starb  1589),  — 
Volcherus  Coyter,  Stadtphysicus  zu  Nürnberg  (1534—1600),  — 
Caspar  Bauhin,  Prof.  der  Anatomie  und  Botanik  zu  Basel  (1560 
bis  1624),  Sohn  eines  aus  Frankreich  vertriebenen  calvinistischen 
Arztes,  welcher  schon  in  seinem  siebzehnten  Lebensjahre  das  seltene 
Glück  genoss ,  Leibarzt  einer  Königin  zu  sein,  —  Adrianus 
Spigelius,  welchen  Ha  11  er  splendidus  et  doquens  nennt,  Prof.  zu 
Padua  (1616 — 1625),  der  erste  der  vielen  Anatomen,  welche  an 
Sectionsverletzung  starben,  —  und  Julius  Casserius,  Prof.  zu 
Padua  (wahrscheinlich  1545  —1605).  Letzterer  hinterliess  eine  herr- 
liche Sammlung  von  achtundsiebenzig  anatomischen  Tafeln,  welche 
ein  deutscher  Arzt,  Daniel  Rindfleisch,  gelehrter  Weise  Bucretius 
genannt,  an  sich  kaufte,  und  zugleich  mit  Adriani  Spigelii,  de 
corp,  hum,  fabrica  lihris  decem,  zu  Venedig,  1627,  auflegen  Hess. 
Mag  man  es  immerhin  Wassertropfen  und  Sandkörner  nennen,  was 
der  Fleiss  dieser  Männer  zum  Aufbau  unserer  Wissenschaft  bei- 
getragen hat ;  —  ich  finde  nur  Ehrendes  in  solchem  Vergleich,  denn 
aus  den  Sandkörnern  wurden  Felsen,  und 

„Wo  w&ren  denn  die  Meere, 

Wenn  nicht  zuerst  der  Tropfen  wäre." 

£s  dai*f  nicht  unberührt  bleiben,  dass  die  grossen  Anatomen 
dieser  Zeit,  zugleich  die  ausgezeichnetsten  Aerzte  und  Wundärzte, 
und  die  gefeiertsten  Lehrer  der  Medicin  waren.  Der  Glanz  ihres 
Namens  rief  sie  an  fürstliche  Höfe,  und  strahlte  auf  die  Wissenschaft 
zurück,  welcher  sie  ihn  verdankten.  Nicht  lange  lächelte  den  Ana- 
tomen die  Gunst  der  Herrscher.  Sterndeuter  und  Goldmacher 
nahmen  bald  ihre  Stelle  an  den  Höfen  ein,  und  behaupteten  sie  bis 
zu  Anfang  der  neueren  Zeit.  Und  würde  Jemand  in  unseren  Tagen 
von  dem  grossen  Arcanum  wieder  Lärm    zu   machen  verstehen,  er 


*)  Um  diese  SteUe  zu  verstehen,  muss  man  wissen,  dass  die  ersten  Professoren 
der  Anatomie  an  den  italienischen  Schulen,  sowie  in  Paris  und  Montpelier,  viel  zu 
grosse  Herren  waren,  um  sich  selbst  bei  ihren  Vorlesungen  mit  dem  Handwerk  der 
ZergUederung  abzugeben.  Sie  ttberliessen  dieses  Geschäft,  ihren  Gehilfen,  welche 
meist  Chirurgen  waren  (rndnerum  magittri),  und  Resedoret,  oder  Prosectores  genannt 
wurden.  Der  Professojr  gab  ex  cathedra  blos  die  Erklärung  zu  dem,  was  diese  Leute 
aufiseigten.  Solcher  Brauch  erhielt  sich  bis  Vesal  und  Real  das  Columbus, 
welche  auf  den  schönen  Titelkupfem  ihrer  Werke,  als  selbst  secirend  darge- 
stellt sind. 


§.  15.  Zweite  Periode  der  Geschichte  der  Anatomie.  53 

wäre  den  Kaisern  und  Königen,  und  ihren  Finanzministern,  ein  viel 
wichtigerer  Mann,  als  der  Entdecker  der  menschlichen  Steissdrüse. 
Das  magnum  inventum  des  Kreislaufs  bedingt  einen  neuen  Ab- 
schnitt dieser  Periode.  Mehrere  Vorarbeiten  zur  Begründung  einer 
richtigen  Ansicht  von  der  Circulation  des  Blutes,  gingen  voraus.  Sie 
wurden  von  Realdus  Columbus  (Apotheker,  später  Prosector  und 
Nachfolger  des  Vesal  in  Padua),  Fabricius  ab  Aquapendente 
(welcher  zuerst  bemerkte,  dass  die  Klappen  der  Venen,  der  centri- 
fugalen  Bewegung  des  Blutes  im  Wege  stehen),  Andreas  Caesal- 
pinus  (ein  sehr  gelehrter  Mann,  von  seinen  Zeitgenossen  „papaphüo- 
wphorum^  genannt),  und  Michael  Servetus  (Jurist,  Arzt,  Theolog, 
und  zugleich  hitziger  Kopf,  1553  zu  Genf  als  Ketzer  verbrannt) 
voi^enommen.  Dem  Engländer  William  Harvey  (1578  zuFolkston 
geboren,  starb  1657),  der  während  seines  Aufenthaltes  in  Italien, 
wo  er  zu  Padua  promovirte,  von  diesen  Vorarbeiten  Kenntniss 
erhielt,  gelang  es,  die  neue  Lehre  des  Kreislaufes,  welche  anfangs 
den  Aerzten  sehr  ungelegen  kam,  mit  wissenschaftlicher  Schärfe 
zu  begründen.  Und  dieses  grosse  Werk  hat  er  durch  die  Anatomie 
vollbracht:  „non  ex  libris,  sed  ex  dissectionibiLs,  non  ex  placüis  phüo- 
»ophorum,  sed  ex  fabrica  naturae  discere  et  docere  anatomen  profiteor^. 
—  Jeder  Entdecker  neuer  Wahrheiten  gilt  anfangs  für  einen 
Ruhestörer,  da  er  die  Welt  aus  der  Behaglichkeit  gewohnter  Ideen 
aufrüttelt.  Harvey  erfuhr  dies  nur  zu  bald.  Er  wurde  von  seinen 
Zeitgenossen,  welche  ihm  den  spottenden  Beinamen  Circulator  (Markt- 
schreier) gaben,  so  sehr  angefeindet  (malo  cum  Gcdeno  errare,  quam 
Harvei  veritatem  amplecti),  dass  sein  Ruf  als  Arzt,  wie  er  sich 
selbst  in  einem  Briefe  an  einen  seiner  Freunde  beschwei't,  zu  sinken 
begann.  Wenn  ein  voller  Wagen  kommt,  sagt  Lichtenberg,  be- 
kommen viele  Karrenschieber  zu  thun.  Harvey  hatte  es  nun  mit 
sehr  vielen  Karrenschiebern  zu  thun.  Nicht  weniger  als  fünfund- 
zwanzig Gegner  seiner  Lehre  traten  auf  einmal  auf.  Darunter  der 
gelehrte,  aber  eitle  und  hochmüthige  Joh.  Riolan,  durch  ein  halbes 
Jahrhundert  Professor  der  Anatomie  in  Paris,  welcher  sich  selbst 
den  Prinoeps  anatomicorum  nannte.  Diesen  allein  wies  Harvey  in 
einem  Briefe  zurecht.  Den  anderen  vierundzwanzig  zu  antworten, 
hielt  er  unter  seiner  Würde.  Einer  von  diesen  vierundzwanzig 
bewies  sogar,  dass  König  Salomo  und  die  Chinesen,  den  Kreislauf 
schon  gekannt.  In  dem  Museum  des  /?.  College  of  Physicians  in  London, 
belinden  sich  sechs  Holztafeln  mit  getrockneten  Nerven  und  Blut- 
gefässen; eine  darunter  zeigt  die  Aortenklappen.  Sie  sollen  von 
Harvey  herstammen,  welcher  sie  in  Padua,  unter  der  Anleitung 
von  Fabricius  ab  Aquapendente  bereitete,  und  sich  in  England 
derselben  bediente,  als  er  Vorlesungen  über  seine  wunderbare  Ent- 
deckung   hielt.     Ich    kenne    keine   älteren    anatomischen   Präparate. 


54  §.  15.  Zweite  Periode  der  Geschichte  der  Anatomie. 

Sie  sind  zwar  nicht  von  der  Art,  wie  wir  sie  heutzutage  zu  machen 
verstehen,  aber  ihr  Alter  und  der  Name  des  grossen  Mannes,  von 
dem  sie  herrühren,  macht  sie  ehrwürdig.  Auch  in  der  Sammlung 
des  College  of  Surgeons,  werden  ähnliche,  getrocknete,  und  auf  Holz 
ausgespannte  Nervenpräparate  aufbewahrt,  welche  ein  englischer 
Arzt,  John  Evelyn,  von  Fabricius  Bartoletus  in  Padua  kaufte. 
Sie  müssen  dritthalbhundert  Jahre  alt  sein,  da  Bartoletus,  der 
Gehilfe  des  A.  Vesling,  eines  berühmten  deutschen  Anatomen  in 
Padua  war,  welcher  1649  starb.  Ich  finde  in  dem  Werkchen  von 
R.  Knox,  Great  Artista,  and  great  Anatomüts ,  London,  1832,  eine 
geschichtlich  interessante  Notiz,  pag,  160,  161,  über  einen  Fascikel 
von  Handzeichnungen  Leonardo  da  Vinci's,  welcher  in  der  Privat- 
bibliothek der  Königin  Victoria  von  England  aufbewahrt  wird.  Unter 
Anderem  enthält  diese  Sammlung  eine  Zeichnung  der  verschiedenen 
Stellungen  der  Vdlvulae  semäunares  (deren  Nodvli  Arantii  ganz  genau 
dargestellt  sind),  welche  nur  unter  einer  richtigen  Vorstellung  von 
der  Bewegung  des  Blutes  durch  das  Herz,  entworfen  werden  konnte. 
Da  der  grosse  Maler  lange  vor  Fabricius  und  Harvey  lebte, 
glaubt  Knox,  dass  diese  Angabe,  der  Prioritätsfrage  wegen,  nicht 
unwichtig  sei.  Dagegen  ist  aber  zu  sagen,  dass  die  Anatomen  des 
Mittelalters,  den  Schluss  der  Valvulae  semüunares,  damals  Trivalvmm 
genannt,  nie  verkannt  haben,  wohl  aber  jenen  der  VdlvuUie  tricuspi- 
dales  und  mitrales,  welche  nach  der  damals  herrschenden  irrigen 
Ansicht,  bei  der  Diastole  der  Herzkammern,  Blut  einlassen,  bei  der 
Systole  aber  wieder  herauslassen. 

Fast  gleichzeitig  mit  Harvey,  entdeckte,  1622,  Caspar  Aselli, 
Prof.  zu  Pavia,  an  einem  Hunde  die  Chylusgefilsse  des  Gekröses. 
Nach  den  damals  herrschenden  Ansichten  über  die  blutbereitende 
Thätigkeit  der  Leber,  liess  Aselli  seine  Vasa  lactea  zur  Leber  gehen. 
Erst  sechs  Jahre  später  wurden  die  Chylusgefösse  auch  im  mensch- 
lichen Gekröse  von  La  Peiresc,  Senator  in  Aix,  welcher  durch 
Gasse ndi  von  Aselli's  Entdeckung  Kunde  erhielt,  gesehen.  Ein 
Student  der  Medicin,  Jean  Pecquet,  entdeckte  1647  den  Ductus 
thoradciis  in  einigen  Hausthieren,  und  Olaus  Rudbeck,  Prof.  zu 
Upsala,  im  Menschen,  1650.  Thomas  Bartholin,  der  grösste 
Polyhistor  seines  Zeitalters,  und  Verfasser  einer  Anatomia  reformata, 
beschäftigte  sich  mit  der  Untersuchung  der  Lymphgefasse  überhaupt, 
deren  Ursprung  die  Anatomen  jener  Zeit  in  nicht  geringere  Streitig- 
keiten verwickelte,  als  es  derselben  Frage  wegen  heutzutage  der 
Fall  ist.  Würdige  Repräsentanten  dieser  Periode  sind:  Lancisi, 
Glisson,  Willis,  der  Däne  Nil  Stenson  (gewöhnlich  Nicolaus 
Steno  oder  Stenonius  genannt,  welcher  der  Erste  ahnte,  dass  die 
Petrefacten  keine  miraada  naturae,  sondern  Ueberreste  und  Zeugen 
längst  entschwundener  Schöpfdngsalter  seien ;  starb,  nachdem  er  den 


§.  15.  Zweite  Periode  der  Oeicliichte  der  Anatomie.  55 

ff 

protestantischen  Glauben  abgeschworen,  1686  in  Mecklenbui'g  als 
Titttlarbischof  von  Titiopolis,  in  partibus  infidelium) ,  —  Valsalva, 
Santorini,  Regnier  de  Graaf,  Winslow,  und  der  ehrwürdige 
Veteran  der  deutschen  Chirurgie,  Laurentius  Heister  (1683 — 1758). 
Leider  seufzte  auch  diese  Periode,  wie  die  früheren,  noch  aller 
Orten  unter  dem  Drucke  des  Leichenmangels,  und  des  gehässigen 
Vorurtheiles  der  Menge,  indem  nur  justilicirte  Verbrecher  dem 
Messer  der  Zergliederer  überlassen  wurden.  So  lässt  Schiller  in 
den  „Räubern"  den  Roller,  welcher  recta  vom  Galgen  zurück- 
kommt, zu  seinen  Cameraden  sagen :  „war  schon  mit  Haut  und  Haar 
auf  die  Anatomie  verhandelt,"  und  in  England  war  es  lange  Zeit 
nichts  Ungewöhnliches,  dass  zum  Tode  verurtheilte  Verbrecher,  ihren 
Leib    noch    bei   Lebenszeiten    an    die    Anatomen    verkauften.     Die 

» 

Statuten  der  Universität  zu  Padua  erlaubten  nur  die  Leichname 
von  Verbrechern  (justiziati)  zu  seciren,  und  diese  durften  keine  ge- 
borenen Paduaner  oder  Venezianer  sein  (Tosoni).  Ebenso  waren 
in  Ferrara,  nach  Börse  tti,  und  in  Bologna,  nur  die  Leiber  Von  Ver- 
brechern (dummodo  cives  honesti  non  »int)  der  Anatomie  verfallen, 
und  dieses  noch  mit  der  Restriction,  dass  jährlich  nicht  mehr  als 
Ein  corptis  secandum  der  Anatomie  vergönnt  wurde.  *)  Durch  Edict 
des  Grossherzogs  Cosmus  I.,  wurde  in  Pisa  alljährlich  eine  öflFent- 
liche  Zergliederung   eines  Missethäters ,    welcher   eigens   zu   diesem 


*)  Unter  den  Professoren  der  Anatomie  in  Bolog'na,  erwähnt  Keen  selbst 
eine  Fran,  Madonna  Manzolina,  wie  auch  eine  Professorin  des  canonischen 
Rechtes,  Namens  Nove Ha  d'Andrea,  welche  so  schön  gewesen  sein  soll,  dass  sie 
nur  hinter  einer  Curtine,  ihre  Vorträge  hielt,  wie  die  verschleierte  Göttin  von  Sais, 
um  sich  den  bewundeniden  Blicken  ihrer  Zuhörer  zu  entzielien  (Sketch  of  enrly  hist. 
of  Anal.  pag.  7).  Ich  gab  mir,  wie  natürlich,  Mühe,  über  Keen's  Anatomen  aus 
dem  schönen  Geschlecht,  etwas  Näheres  zu  erfahren,  fand  aber  nur  in  dem  Geschichta- 
werk  von  M.  Medici  (Sulla  scttola  anal,  di  Bologna,  1S67,  jyag.  S49)  einen  gewissen 
Giovanni  Manzolini  (geb.  in  Bologna,  1700,  f  1765),  welcher  sich  mit  Malerei 
beschäftigte,  und  in  der  Schule  des  Ercole  Lelli,  anatomische  Figuren  in  Wachs 
zu  poussiren  lernte.  Er  machte  mit  diesen  Arbeiten  einiges  Aufsehen,  und  unter- 
richtete auch  seine  Frau  Anna,  ihm  dabei  behilflich  zu  sein.  Sie  übertraf  bald  ihren 
Mann  an  Correctheit  und  Schönheit  der  Darstellung.  IJesonders  rühmend  wird  der 
Ausführung  eines  hochschwangeren  Uterus  in  Wachs  von  ihrer  Hand  (con  liUti  i 
particolarij  erwähnt  Da  es  in  Italien  Sitte  war,  und  noch  ist,  einen  Künstler  von 
einiger  Bedeutung,  Profettsore  zu  nennen,  mag  wohl  Manzolini,  imd  sofort  auch 
seine  Frau,  mit  diesem  Titel  honorirt  worden  sein.  Es  verdient  bemerkt  zu  werden, 
dass  der  unsterbliche  Luigi  Galvani,  seine  anatomischen  Vorlesungen,  zu  welchen 
er  die  Präparate  derManzolina  ver>vendete,  mit  einer  Rede  eröffnete,  welche  den 
Titel  führt:  de  Maiizoliniana  Suppellvctili,  Bonon.  /777.  Von  einer  Professorin  de 
facto  war  aber  keine  Rede.  Eben  so  wenig  war  Alessandra  Giliani  dal  Porsi- 
ceto,  welche  um  die  Zeit  des  Mundinus  lebte,  eine  Professorin  der  Anatomie. 
Sie  war  dem  Mundinus  und  seinem  Prosector,  Ottone  Agenio  Lustrulano,  bei 
ihren  anatomischen  Arbeiten  behilflich,  und  fasste  eine  wahre  Leidenschaft  für  unsere 
Wissenschaft.  Ihre  (^ewandtheit  in  der  Präparation  der  Gefiisse  führte  sie  selbst 
zur  Erfindung  der  anatomischen  Eins[>ritzungen  ^)?er  coiiservare  le  vene  e  le  arterie 
le  piii  »ottili,  e  per  poterle  sempre  far  vedere,  le  riempiva  d''nn  liquore  di  vario  colore, 
che  subito  infuso  s^induriva  e  condeiisava,  senza  mai  corromperfti.  Medici,  litt.  cit. 
pag.  29).  —  Auch  die  Novella  d' Andrea  finde  ich  nicht  unter  den  dreizehn  ge- 
lehrten Frauen,  deren  sich  Bologna  rühmt,  und  welche  Medici  (op,  cit.  pag.  36 IJ 
namentlich  aufführt 


56  §•  15*  Zweite  Periode  der  Geitchiehte  der  Anatomie. 

Zwecke  erdrosselt  werden  musste  (strangolato  dal  cameßce) ,  ange- 
ordnet. Sie  nahm  nur  zwölf  Tage  in  Anspruch  (A.  Corradi). 
Heinrich  VIII.  in  England^  erlaubte  dem  College  of  Surgeons,  jähr- 
lich „fourfeloiis/^  und  Königin  Elisabeth  dem  College  of  Physicians 
eben  so  viel  (Keen).  Erst  König  Georg  11.  (1726)  befahl  ,jall 
crimincds^'  den  Anatomen  auszuliefern.  Ein  päbstliches  Breve  gestand 
der  Tübinger  Facultät  die  corpora  mcdeßcantium  zu,  welche  auch  an 
der  Wiener  Universität,  bis  zum  Jahre  1742,  die  einzigen  Objecto 
des  anatomischen  Unterrichtes  bildeten.  —  Die  Studenten  der  Medicin 
hatten  aber  blos  das  Recht,  den  Sectionen,  welche  immer  öffentlich 
abgehalten  wurden,  beizuwohnen;  —  selbst  seciren  durfte  Keiner. 
Dasselbe  war  auch  in  Deutschland,  England,  und  Frankreich  der 
Fall.  Zu  Monroes  und  noch  zu  H unteres  Zeit,  hatten  die  wenigsten 
praktischen  Aerzte  in  England,  je  eine  Leiche  geöffnet.  Petrus 
Paaw  rühmte  sich  denn  auch:  sese  hina  aut  terna  (mcUeßcorum) 
cadavera,  quotannis  secuisse  (Primitiae  anat,  Lagd.  1616).  Ja  es  gab 
selbst  eine  Art  von  „fahrenden  Anatomen"  (z.  B.  Fabricius  Hildanus), 
welche  die  Städte  aufsuchten,  wo  eben  Hinrichtungen  stattfanden, 
um  daselbst  anatomische  Demonstrationen  abzuhalten,  und  der  Prager 
Rector  magnißcus,  Jessenins  von  Jessenitz,  welcher  nach  der 
Schlacht  am  weissen  Berge  als  Rebell  enthauptet  und  geviertheilt 
wurde,  ersuchte  wiederholt  schriftlich  den  Prager  Magistrat,  die 
Missethäter  so  lange  am  Leben  zu  lassen,  bis  er  ihre  Leiber  y,ad 
usum  anatomicum^^  benöthigen  würde,  wo  sie  sodann  nicht  geköpft, 
sondern  gehenkt  werden  mögen,  aus  begreiflichen  Gründen.  Der 
Schrecken,  welchen  der  Name  des  Jenenser  Anatomen  Rolfinck 
dem  Volke  einflösste,  veranlasste  manchen  armen  Sünder  zur  Bitte, 
nach  dem  Richten  nicht  gerolfinckt  zu  werden;  und  dem 
Professor  Alb  recht,  der  in  Göttingen,  nur  in  einem  finsteren  Keller 
des  Festungsthurmes  neben  dem  Groner  Thore,  seine  Zergliederungen 
halten  durfte,  wurde  von  den  Einwohnern  der  Stadt  Wasser  und 
Holz  verweigert!  Caspar  Bauhin  und  Felix  Plater  in  Basel, 
klagten  laut  über  das  Odium,  welches  ihre  Beschäftigung  mit  Ver- 
brecherleichen, beim  Volke  über  sie  brachte  (Miescher),  und 
G.  Cortese  in  Messina,  welcher  binnen  vierundzwanzig  Jahren,  nur 
zwei  Verbrecherleichen  erhalten  konnte,  hatte  Noth  sie  zu  seciren: 
„non  commode,  sed  tumultuose,  et  cum  maxima  difficultate*^ .  Es  scheint 
fast  nach  solchen  Daten,  dass  die  Anatomie  damals  zu  den  „ehr- 
losen Gewerben"  zählte.  Nur  in  Frankreich  wusste  man,  früher  als 
anderswo,  die  Wissenschaft  dieser  unwürdigen  Fesseln  zu  entledigen. 
Duverney  (Jean-Guichard)  erwarb  sich  durch  seine  Gelehrsamkeit, 
und  durch  die  geistreiche  Behandlungsweise  eines  für  die  Menge 
so  abstossenden  Gegenstandes,  eine  so  hervoiTagende  Stellung,  dass 
es  in  den  höchsten  Ständen  der  Gesellschaft  (nous  auires  geniäshommes) 


$.  16.  Zweite  Periode  der  Geschichte  der  Anatomie.  57 

Mode  wurde,  seine  Vorlesungen  zu  besuchen,  und  dass  Bossuet, 
der  Erzieher  des  Dauphin,  ihn  zum  Lehrer  des  königlichen  Kron- 
prinzen in  der  Anatomie  designii-te.  In  solcher  Stellung  war  es  ihm 
ein  Leichtes,  Alles  auszuführen,  was  der  Entwicklung  der  Anatomie 
in  Frankreich  gedeihlich  werden  konnte.  Die  von  Duverney  ein- 
genommene Stelle  eines  Hof- Anatomen,  existirte  in  der  Revolutions- 
zeit noch.  Ihr  letzter  Besitzer  war  der  würdige  und  gelehrte  ana- 
tomische Historiograph  Portal. 

Noch  hatte  man  nicht  mit  dem  Vergi'össerungsglase  in  die 
Tiefen  der  Wissenschaft  geschaut.  Wie  so  oft,  war  es  ein  glücklich 
Ohngefkhr,  dem  die  Wissenschaft  die  Ei*tindung  ihres  wichtigsten 
Geräthes  verdankt,  denn,  wie  der  Dichter  sagt:  magnis  exigua  in- 
terdum  stAsunt  pnncipia  rebus.  Ein  Glasschleifer  zu  Middelburg  in 
Holland,  Hans  Lippershey,  gegen  Ende  des  16.  Jahrhunderts, 
verfiel  zuerst  auf  die  Idee  zusammengesetzter  optischer  Apparate. 
Sie  wurde  in  ihm  dadurch  erweckt,  dass  sein  Söhnlein,  mit  einer 
Convex-  und  einer  Concavlinse  zugleich  nach  dem  Wetterhahn  eines 
nahen  Kirchthurmes  schauend,  ausrief:  sieh'  Vater,  der  Hahn  kommt 
vom  Thurme  herab  (d.  h.  er  kam  dem  Auge  näher).  So  entstand 
das  Fernrohr,  welchem  bald  auch  das  Mikroskop  nachfolgte,  durch 
Zacharias  Hansen,  1590.  Mit  diesem  Werkzeug  war  die  Sehkraft 
des  anatomischen  Auges  vertausendfacht.  Marcello  Malpighi 
(1628 — 1694)  glänzte  zuerst  durch  die  Grossartigkeit  seiner  mikro- 
skopischen Entdeckungen  im  Thier-  und  Pflanzenleibe,  welche  die 
Royal  Societfj  in  London  veröffentlichte.  Er  lehrte  zu  Bologna,  Pisa, 
und  Messina,  war  ein  Freund  des  grossen  Alphons  Borelli,  welcher 
die  Gesetze  der  Mechanik  auf  die  Anatomie  der  Muskeln  und  der 
Gelenke  anzuwenden  verstand,  und  starb  als  Leibarzt  Pabst  Inno- 
cenz'  XII.  Es  ist  sogar  in  unserer  Zeit  vorgekommen,  dass  ein  Ab- 
schreiber des  Malpighi,  einen  akademischen  Preis  davontrug.  — 
Lorenzo  Bellini  zu  Florenz,  Heinrich  Meibom  zu  Lübeck, 
J.  C.  Peyer,  und  sein  Landsmann  B  runner  zu  Schaff  hausen, 
Anton  Nuck  zu  Leyden,  Jean  Mery  zu  Paris,  Clopton  Havers 
zu  London,  sowie  die  Italiener  A.  Pacchioni  und  J.  Fantoni, 
sind  die  durch  ihre  Leistungen  berühmten  Zeitgenossen  Malpighi's. 
Die  beiden  Niederländer  Ant.  Ijeeuwenhoeck  (1632 — 1723),  und 
Joh.  S  wammer  dam  (1627 — 1680),  machten  in  dem  Gebiete  der 
mikroskopischen  Anatomie  (besonders  crsterer,  obwohl  er  nicht 
Latein  kannte)  folgenreiche  Entdeckungen.  Ich  möchte  wohl  be- 
zweifeln, dass  wir  an  den  Manuscripten  des  letzteren,  viel  verloren 
haben,  welche  er,  als  er  unter  die  mystischen  Schwärmer  ging,  ver- 
brannte ,  aus  Furcht  vor  dem  Frevel ,  ^  die  Geheimnisse  der  Natur 
dem  sterblichen  Auge  aufzuschliessen.  —  Friedr.  Ruysch  (1638 
biß  1731),  Prof.  der  Anatomie  und  Botanik  zu  Amsterdam,  brachte 


58  g.  16.  Zweite  Periode  der  Geschichte  der  Aaatomie. 

die  von  Swammerdam  geübte,  durch  van  Hörne  vervollkomm- 
nete Methode,  die  feinen  Blutgefässe  mit  erstarrenden  Massen  aus- 
zufüllen, so  weit,  dass  seine  Injectionen  weltberühmt  wurden,  und 
die  Pariser  Academie  ihn  unter  ihre  vierzig  Unsterblichen  auf- 
nahm. Der  überraschende  Reich thum  der  Organe  an  feinsten  Blut- 
gefässen, welche  er  zuerst  darstellte,  führte  ihn  selbst  zu  der  über- 
triebenen Behauptung :  ,,  totum  corpus  ex  vasculis^,  Peterder  Grosse, 
welcher  sich  zu  Shardam  aufhielt,  um  Schiffsbaukunde  zu  studiren, 
und  wo  er  nebenbei  auch  niedere  Chirurgie,  d.  i.  Aderlässe  und 
2^hnausziehen,  aus  Passion  prakticirte,  besuchte  ihn  öfters,  wohnte 
seinen  Vorlesungen  fleissig  bei,  und  kaufte  seine  Präparatensammlung 
mit  dem  Recept  zu  seiner  Injectionsmasse ,  um  30.000  Goldgulden. 
Dat  GcUenys  opes.  Ein  Theil  der  Sammlung  ging  aber  schon  während 
der  Seereise  nach  St.  Petersburg  zu  Grunde,  da  die  Matrosen  den 
Spiritus  von  den  Präparaten  wegtranken.  Auch  gegenwärtig  —  so 
erzählte  mir  ein  ehemaliger  Professor  anatomiae  in  Russland  — 
würde  die  Erhaltung  von  Weingeistpräparaten  daselbst  sehr  zweifel- 
haft sein,  wenn  nicht  die  als  Anatomiediener  verwendeten  Soldaten 
zusehen  müssten,  wie  das  alljährlich  systemisirte  Quantum  Spiritus 
mit  einer  Dosis  Sublimat  versetzt  wird,  welche  selbst  einem  Scythen- 
magen  Respect  zu  gebieten  vermag.  Der  Geschmack  und  die  Zier- 
lichkeit, mit  welcher  Ruysch's  anatomische  Arbeiten  verfertigt 
und  aufgestellt  waren,  machte  sein  anatomisches  Museum  auch  bei 
der  gaffenden  Menge  beliebt.  Man  nannte  dasselbe,  das  achte  Welt- 
wunder. Vor  Ruysch's  Zeiten  kannte  man  (ausser  in  Dänemark 
von  Ole  Worm  und  Thomas  Bartholin)  anatomische  Museen 
nicht.  Man  kann  mit  Recht  sagen,  Ruysch  popularisirte  die  Ana- 
tomie, welche  ihm  übrigens  keine  grossen  Entdeckungen  zu  ver- 
danken hat.  Die  von  ihm  gebrauchte,  und  als  Ldquor  balsamicus  oft 
erwähnte  Conservirungsflüssigkeit  seiner  feuchten  Präparate,  ver- 
änderte Leichen  und  Leichen theile  so  wenig,  dass  sie  die  Frische 
des  Lebens  beizubehalten  schienen,  und  sogar  die  Sage  geht,  Peter 
der  Grosse  habe  ein  von  Ruysch  injicirtes  Kind  für  ein  schlafendes 
gehalten  und  geküsst.  In  Leyden  habe  ich  noch  zwei  angeblich  von 
Ruysch  herstammende,  ganz  unbrauchbare  Präparate  angetroffen. 
Ebenso  in  Greifswalde  (einen  injiciiten  Schenkel  und  eine  Planta 
pedis  eines  Kindes).  Sonst  ist  von  allen  Schätzen,  welche  Ruysch 
mit  Beihilfe  seines  Sohnes,  und  als  dieser  starb,  mit  jener  seiner 
Tochter  Rachel,  in  seinem  langen  Leben  (er  wurde  93  Jahre  alt) 
verfertigte,  und  in  seinem  Thesaurus  anatomicus  abbilden  liess,  nichts 
mehr  vorhanden !  Er  verkaufte  noch  eine  zweite  anatomische  Samm- 
lung an  König  Stanislaus  von  Polen,  welcher  sie  der  Universität 
Wittenberg  schenkte.  Auch  sie  ist  verschollen.  Ein  ähnliches  Schick- 
sal erlebte  die  von  A.  Vater  errichtete,  und  von  ihm  beschriebene 


§.  15.  Zweite  Periode  der  Oeschiclite  der  Anatomie.  59 

Sammlung  (Museum  anat.  proprium,  HdmsL  1760),  Sie  wurde  von 
einem  Apotheker,  der  Gläser  wegen,  um  einen  Spottpreis  gekauft. 
Meine  Privatsammlung  von  5000  Injectionspräparaten,  Skeleten  und 
Gehörorganen,  vernichtete  das  Jahr  1848.  Ich  sah  sie  in  den  Oetober- 
tagen,  mit  meiner  übrigen  Habe  in  Rauch  aufgehen.  Sic  transit 
gloria  mundi! 

Die  Anatomie  war  nun  als  Wissenschaft  vollberechtigt.  Man 
gab  die  nutzlose  Polemik  auf,  welche  bisher  häufig  den  Hauptinhalt 
der  anatomischen  Schriften  (pleins  de  vide)  bildete,  und  wendete 
sich  dem  Reellen  zu.  Physiologie  und  Medicin  erfuhren  eine  ein- 
flussreiche Rückwirkung;  erstere  wui'de  durch  Albert  Haller,  den 
grössten  Gelehrten  seines  Zeitalters  (1708 — 1777),  gross  und  muster- 
haft in  Allem,  was  er  unternahm,  zu  einer  mit  der  Anatomie  iden- 
tificirten  Wissenschaft  erhoben,  und  für  letztere  durch  Joh.  Bapt. 
Morgagni  (1682 — 1771),  und  den  grossen  Anatomen  der  Leydener 
Hochschule,  Bernhard  Siegfried  Albin  (welcher  nur  an  dem 
kleinen  Fehler  litt,  die  verdienstlichen  Arbeiten  seiner  Schüler  für 
die  seinen  auszugeben),  der  erste  Versuch  zu  Gleichem  gemacht. 
Morgagni's  Adversaria  anatomica  können  noch  immer  als  Muster 
von  anatomischer  Genauigkeit  dienen.  Sein  unsterbliches  Werk,  de 
sedibus  et  causis  morborum,  welches  er  in  seinem  achtzigsten  Lebens- 
jahre herausgab,  war  die  erste  Vorarbeit  für  die  gegenwärtige, 
pathologisch-anatomische  Richtung  der  Medicin. 

Unter  dem  bescheideneu  Titel:  Elementa phydoloffiaSj  speicherte 
der  grosse  Haller,  Albin's  Schüler,  nicht  nur  die  Vorräthe  alles 
dessen  auf,  was  man  vor  ihm  wusste,  sondern  vermehrte  sie  durch 
die  Früchte  seines  unermüdlichen  Eifers  am  Secirtische.  Seine  Zeit- 
genossen nannten  ihn  einen  abyssus  eruditionis.  Mit  Recht  ruft 
Cruveilhier  über  diesem  Werke  ohne  Gleichen  aus:  combien  de 
dScouvertes  modeimes  contenues  dana  ce  bei  ouvrage!  —  Halle r's  Name 
wird  jetzt  noch  —  hundert  Jahre  nach  seinem  Tode  —  von  jedem 
Anatomen  mit  Ehrfurcht  genannt,  und  wenn  man  die  Physiologen 
der  Gegenwart  fragte,  wer  der  Erste  Mann  ihres  Faches  ist,  würde 
jeder  sagen,  oder  es  sich  wenigstens  denken:  „der  bin  ich";  — 
wenn  man  sie  aber  um  den  zweiten  fragte,  würden  alle  einstimmig 
Hai  1er  nennen.  Seme  „Icones^^  halte  ich  für  sein  grösstes  Werk, 
denn  hier  zeigt  sich  der  Anatom  in  der  Fülle  seiner  Gelehrsamkeit 
und  seiner  praktischen  Gediegenheit.  So  wird  denn  die  Dankbarkeit 
der  Wissenschaft  den  Lorbeer  seines  Grabes  auch  in  alle  Zukunft 
schmücken  mit  immer  frischem  Grün,  wenn  von  den  Grössen  der 
Gegenwart  und  air  dem  eiteln  Lärm,  welchen  sie  erregten,  kein 
Nachhall  mehr  klingen  wird.  —  Die  sonderbarste  Auszeichnung, 
welche  Hall  er  zu  Theil  wurde,  war  seine  Ernennung  zum  General- 
major des  polnischen  Heeres,  durch  den  Fürsten  Radziwil.     Der 


60  §•  15-  Zweite  Periode  der  Oeschichte  der  Anfttomie. 

grosse  Mann  starb  mit  dem  Finger  an  der  Radialarterie,  und  mit 
den  Worten:  „Sie  schlägt  nicht  mehr".  Sein  letzter  Gedanke  war 
noch  Physiologie.  Die  Entwicklungsgeschichte  wurde  von  Hall  er 
zuerst  in  Angriff  genommen. 

Die  vergleichende  Anatomie  beschäftigte  die  geistvollsten 
Männer  dieser  Zeit.  Jean  Marie  d'Aubenton  (1716 — 1799),  Felix 
Vicq  d'Azyr,  die  Gebrüder  John  und  William  Hunter,  der 
Niederländer  Peter  Camper  (1722 — 1789)  glänzen  als  Sterne  erster 
Grösse  im  Buche  der  Geschichte.  Panizza,  und  sein  weit  weniger 
bekannter,  obwohl  nicht  weniger  verdienstvoller  Gegner  Rusconi, 
repräsentiren  diese  Wissenschaft  auf  Italiens  klassischem  Boden. 
Oesterreich  hat  sich  weit  mehr  gelehrter  Ritter  und  Barone,  Hof- 
und  Regierungsräthe  mit  unvermeidlichen  Orden,  als  vergleichender 
Anatomen  zu  rühmen. 

Die  beschreibende  Anatomie  wurde  durch  den  Fleiss  und  die 
Genauigkeit  der  deutschen  Zergliederer  am  meisten  gefördert.  Ihnen 
verdankt  diese  Wissenschaft  ihre  schönsten  und  wichtigsten  Ent- 
deckungen. Alle  Ganglien  des  Nervensystems  führen  die  Namen 
deutscher  Anatomen.  Die  Gelehrtenfamilie  der  Meckel,  so  wie 
die  Professoren:  Weitbrecht,  Zinn,  Wrisberg,  Walther,  Reil, 
Rosenmüller,  Sömmering,  E.  H.  Weber,  J.  Müller,  Arnold, 
Henle,  Luschka,  Bischoff,  W.  Gruber,  Reichert,  u.  v.  a. 
stellt  die  Wissenschaft  auf  die  höchste  Höhe  der  Anerkennung.  Ich 
müsste  in  diesen  Ehrenkreis  alle  deutschen  Professoren  der  Jetztzeit 
aufnehmen,  denn  was  diese  Männer  gedacht  und  geschaffen  haben, 
ist  ein  bleibender  Ruhm  der  Wissenschaft  geworden.  In  Oesterreich 
hat  nur  Ein  Mann,  den  Namen  eines  denkenden  Anatomen  verdient, 
und  mit  Würde  getragen.  Das  ist  sehr  wenig  für  ein  so  grosses 
Reich.  Er  hiess  Georg  Prochaska.  In  der  Physiologie  der  Nerven 
wurde  durch  ihn  eine  neue  Bahn  aufgeschlossen.  Wenn  nur  Ein 
Stern  am  finsteren  Himmel  steht,  leuchtet  er  um  so  heller.  Um- 
stände sorgen  dafür,  dass  ihrer  so  bald  nicht  mehr  werden  sollen.  Die 
anatomische  Technik  aber  war  in  Oesterreich  immer  gut  vertreten. 
—  Dass  in  der  beschreibenden  Anatomie  kein  Verdienst  mehr  zu 
ernten,  kein  Dank  mehr' zu  holen  sei,  wurde  durch  die  Entdeckun- 
gen vieler  trefflicher  Zergliederer  der  Gegenwart  widerlegt,  welche, 
jeder  in  seiner  Sphäre,  und  viele  mit  freudig  überraschender  Frucht- 
barkeit, die  Schätze  unserer  Wissenschaft  fortwährend  vermehren. 
Und  es  giebt  noch  Winkel  in  diesem  engen  Haus  —  sechs  Bretter 
und  zwei  Brettchen  —  wo  Manches  verborgen  liegt  für  spätere 
Finder,  mögen  sie  Genies  sein,  oder  nur  Fleiss  zur  Arbeit  bringen. 
Von  letzteren  gilt,  was  Leibnitz  sagte:  est  profecto  casu^  quMamvn 
inveniendo,  qtu  nan  semper  maadmis  ingenüs  maxima,  sed  mediocribua 
quoque  nonnuUa  offerL 


§.  15.  Zweite  Periode  der  Oeecbicbte  der  Anatoinie.  61 

Die  praktische  Richtung  der  Anatomie,  ihre  Anwendung  auf 
Heilwissenschaft,  wurde  durch  die  Engländer  Baillie,  die  beiden 
Hunter,  Cruikshank,  Hewson,  Everard  Home,  Abernethy, 
John  und  Charles  Bell,  A.  Cooper,  und  den  Niederländer 
Sandifort,  mit  schönen  Erfolgen  ausgebeutet.  Es  ist  fürwahr  zu 
wundern,  dass  es  in  England,  bei  der  ausserordentlichen  Schwierig- 
keit, sich  Leichen  zu  verschaffen,  überhaupt  eine  Anatomie  gab. 
Nur  durch  die  verwegensten  Gauner,  welche  die  gefährliche  Bande 
der  sogenannten  body-snatchers  oder  resurrection-men  bildeten,  war  es 
möglich,  eine  aus  den  Kirchhöfen  gestohlene  Leiche  zu  erhalten, 
um  den  Preis  von  20 — 30  L.  Sterl.;  —  ja  John  Hunter  hat  für 
den  gestohlenen  I^eichnam  des  irischen  Riesen  O'Beirn  (8  Fuss 
4  Zoll  hoch),  dessen  Skelet  jetzt  im  anat.  Museum  des  College  of 
Surgeons  in  London  steht,  500  L.  St.  (5000  Gulden)  bezahlt  (Life 
of  J.  Hunter,  pag.  106).  Die  Kühnheit  und  Schlauheit  dieser  Diebe 
war  80  gross,  dass  der  berühmte  Chirurg,  Sir  Astley  Cooper,  welcher 
einer  Parlamentsverhandlung  über  diesen  Gegenstand  als  Beirath 
zugezogen  war,  erklärte,  dass  er  die  Leiche  jedes  Menschen  in 
England,  was  immer  für  eines  Standes  und  Ranges,  durch  sie  er- 
halten könne  (Life  of  A.  Cooper,  V.  L,pag.  107).  —  Die  Wachsam- 
keit der  Polizei  machte  die  Leichendiebe  nur  um  so  kühner  in 
ihren  Forderungen.  Sie  erhielten  von  den  anatomischen  Schulen 
jährliche  Extrahonorare  bis  zu  600  fl.,  und  wenn  sie  in's  Geföngniss 
kamen,  10  Schilling  wöchentliche  Zulage.  Diese  saubere  Wirthschaft 
dauerte  lange  genug,  bis  sie  durch  ein  grauenvolles  Ereigniss  in 
fklinburg  ihr  Ende  fand  (1828).  Zwei  Leichendiebe,  Burke  und 
Hare,  lockten  arme  Teufel  auf  der  Strasse  an  sich,  machten  sie 
betrunken,  erstickten  sie  unter  Bettdecken,  und  verkauften  sie  an  die 
Anatomen.  Sechszehn  Menschen  wurden  auf  diese  Weise  von  ihnen 
gemordet.  Das  Verbrechen  wurde  zuerst  durch  die  Schüler  geahnt, 
angezeigt,  und  durch  die  Hinrichtung  der  Mörder  gesühnt.  Burke 
wurde  öffentlich  secirt,  und  seine  Haut  gegerbt.  Ein  Anatomiediener 
Hess  sich  daraus  einen  „Tabaksbeutel"  machen  (Goodsir,  Anat, 
Mem.  V.  L,  pag.  163).  Auch  dem  Prof.  Rob.  Knox  wurde  der 
Process  gemacht,  da  doch  mit  Recht  anzunehmen  war,  dass  er  die 
gewaltsame  Todesart  der  von  ihm  gekauften  Leichen,  hätte  erkannt 
haben  sollen.  Die  Jury  aber  sprach  ihn  „not  guilty^*.  Er  musste 
sein  Amt  aufgeben,  und  starb,  gemieden  von  Jedennann,  in  London 
in  Armuth  und  Noth.  Nun  erst  leuchtete  den  Engländern  die  ge- 
bieterische Nothwendigkeit  ein,  die  anatomischen  Schulen  auf 
gesetzlichem  Wege  mit  Leichen  zu  versorgen.  Die  Warburton- 
Bill  (1832)  weist  den  Anatomen  und  ihren  Schülern,  alle  Leichen 
jener  Menschen  zu,  welche  in  den  Spitälern  sterben,  als  gänzlich 
unbekannt    von   Niemandem    reclamirt    werden,    und   somit,    nach 


62  $.  15.  Zweite  Periode  der  Oeiehielito  der  Anatomie. 

juridischer  Phrase,   eine   res  mdlius  sind.     Bei  uns  in  Wien   ist  es, 
seit  Maria  Theresia,  ebenfalls  so. 

Die  chirurgische  Anatomie  war  in  Frankreich  schon  weit  ge- 
diehen, bevor  man  ihren  Namen  in  Deutschland  kannte.  Palfin, 
Portal,  Lieutaud,  Desault,  Boyer,  J.  Cloquet,  .  Velpeau, 
Blandin,  Malgaigne,  Pötrequin  und  Eichet,  sind  ihre  geist- 
reichen Repräsentanten.  —  In  Deutschland  war  es  Hesselbach, 
in  Italien  Scarpa,  welche  sich  der  chirurgischen  Anatomie  mit 
Erfolg  annahmen.  —  In  dem  praktischen  England  hat  dieses  Fach 
von  eminenter  Nützlichkeit,  zahlreiche  Bearbeiter  gefunden,  während 
die  beschreibende  Anatomie  nur  durch  gute  Schulbücher  ver- 
treten wird. 

Bichat  (geb.  1771,  f  1802)  schuf  die  allgemeine  Ana- 
tomie. Ich  möchte  ihn  den  ersten  Philosophen  der  Anatomie  nennen. 
Durch  keine  Detailentdeckung  berühmt,  zerlegte  er  den  mensch- 
lichen Leib  nicht  in  Organe,  sondern  in  Gewebe,  deren  Eigenschaften 
er  in  dreifacher  Richtung,  anatomisch,  physiologisch  und  pathologisch, 
mit  der  dem  französischen  Geiste  eigenen  lichtvollen,  praktischen 
und  einnehmenden  Gewandtheit  zu  prüfen  verstand.  Ein  allzufrüher 
Tod  entriss  ihn  der  Wissenschaft.  Sein  Leben  war,  wie  die  Revo- 
lutionszeit, in  welche  es  fiel,  zu  stürmisch  bewegt,  um  lange  dauern 
zu  können.  Arm  an  Jahren,  reich  an  Verdienst,  erlosch  die  ge- 
gönnte Frist,  zu  kurz  für  so  riesige  Gedankenarbeit.  Was  hätte  ein 
Mann  noch  leisten  können,  von  welchem  Corvisart  an  Bonaparte, 
damals  ersten  Consul  der  französischen  Republik,  schrieb:  Bichat 
vient  de  mourir  sur  un  champ  de  bataiUe,  qui  campte  phis  d'une  victime; 
personne  en  si  peu  de  temps  Wa  fait  tant  de  choses  et  si  bien.  Warum 
hat  man  diese  edlen  Worte  nicht  unter  seine  Bildsäule  geschrieben, 
welche  das  dankbare  Frankreich  auf  dem  Schauplatz  seiner  aU- 
bewunderten  Thätigkeit  (im  Hotel  Dieu)  aufirichtete? 

Die  Gewebslehre  erhielt  durch  Schwann 's  Entdeckung,  dass 
die  Zelle  das  organische  Element  fiir  Thier  und  Pflanze  sei  (1830), 
ein  oberstes  Princip,  welches  ein  neues  Licht  in  die  Entstehungs- 
weise und  die  genetische  Verwandtschaft  thierischer  Gebilde  warf. 
Sehr  einfach  klingt  die  Zauberformel,  mittelst  welcher  der  schlum- 
mernde Geist  der  Histologie  beschworen,  und  der  reiche  Schatz, 
den  er  hütete,  gehoben  wurde:  „Thier  und  Pflanzen  sind  aus  Zellen, 
„oder  deren  Metamorphosen  zusammengesetzt,  —  an  die  Fomi  dieser 
„Sollen  ist  das  Leben  gebunden,  —  ohne  diese  Zellen  kommt  es 
„nicht  zur  Erscheinung^.  Hiemit  war  denn  auch  das  Ei  des  Columbus 
nicht  blos  auf  die  Spitze  gestellt,  sondern  auch  ausgebrütet.  Die 
Physiologie  hat  es  mit  schuldiger  Dankbarkeit  anerkannt,  dass  der 
Schlüssel  zur  Lösung  des  grossen  Lebensräthsels,  nunmehr  feierlichst 
in  ihre  Hand  gegeben   ist.     Würde  aber  dieses   Räthsel  wirklich 


§.  15.  Zweite  Periode  der  Geschielite  der  Anatomie.  63 

einmal  gelöst,  so  dass  es  nichts  mehr  zu  denken  und  zu  forschen 
gäbe,  dann  wahrlich  lohnte  es  sich  auch  nicht  mehr  zu  leben.  Non 
prcpius  f(i8  est  mm*tali  atiingere  Divos.  Schwann  liess  seit  seiner 
grossen  Entdeckung,  nichts  Bedeutendes  mehr  in  der  Anatomie  von 
sich  hören,  als  hätte  das  einmalige  Auflodern  der  Geistesflamme 
allen  LebensstofF  verzehrt  für  immer.  —  Die  Gewebslehre  zählt  auf 
dem  Boden  unseres  gemeinsamen  Vaterlandes  ihre  grössten  Männer. 
Eine  lange  Reihe  von  Namen  deutscher  Histologen,  ist  durch  ihre 
Leistungen  geadelt,  selbst  verewigt,  und  die  histologischen  For- 
schungen haben  in  der  so  rührigen  Jetztzeit,  eine  solche  Ausdehnung 
gewonnen,  dass  ihre  Ergebnisse  nicht  mehr  als  ein  Ergänzungs- 
bestandtheil  der  beschreibenden  Anatomie  betrachtet  werden  können, 
sondern  den  Gegenstand  besonderer  Vorlesungen  und  eines  besonderen 
praktischen  Unterrichts  bilden.  Den  deutschen  Histologen  reihen 
sieh,  mit  zahlreichen,  höchst  verdienstvollen  Leistungen,  die  Eng- 
länder und  Franzosen,  die  Niederländer,  die  Russen  und  Polen 
an,  und  die  claasica  terra  Italide  feiert  ihre  Wiedergeburt  dui'ch 
rührige  Arbeit  auf  diesem  fruchtbaren  Gebiete,  zum  Beweise,  dass 
der  politische  Aufschwung  einer  Nation,  auch  auf  ihre  streng  wissen- 
schaftliche Thätigkeit  den  mächtigsten  Einfluss  äussert.  Im  passe 
dei  morti,  wie  man  Italien  nannte,  wird  es  noch  recht  lebendig 
hergehen.  Denn  der  Ruhm  der  Alten  in  der  Anatomie,  kann  die 
Jungen  nicht  schlafen  lassen. 

Die  vergleichende  Anatomie  erhob  sich  zum  Lieblings- 
studium  aller  Anatomen  von  Verstand,  und  zählte  bei  allen  gebil- 
deten Nationen  zahlreiche  Freunde  und  Vertreter.  Durch  Cuvier's 
Riesengeist  entstand  die  Paläontologie,  welche,  im  Verbände  mit 
Geologie,  eine  gewaltige  Revolution  unserer  Gedankenwelt  über  den 
Entwicklungsgang  des  organischen  Lebens  bis  zum  Menschen  hinauf, 
vorzubereiten  sich  anschickt.  Unser  Leben  fallt  nur  in  die  Periode 
der  ersten  Zuckungen  dieser  Revolution.  —  Der  Gang  der  ver- 
gleichenden Anatomie  war,  seit  ihrem  Entstehen,  vorwiegend  der 
Beschreibung  der  thierischen  Organisation  zugewendet.  Wie  lichtvoll 
die  Reflexion  über  den  Fortschritt  vom  Einfachen  zum  Zusammen- 
gesetzten auch  für  die  menschliche  Anatomie  werden  kann,  haben 
die  vergleichenden  Arbeiten  V  i  c  q  d ' A  z  y  r's  (Memoiren  der  Pariser 
Akademie,  1774),  R.  Owen's  (On  the  Ärchetj/pe  and  Homologies  of 
(he  Vertebrate  Scdeton ,  1848),  ganz  vorzüglich  aber  Joh.  Mülle r's 
(Anatomie  der  Myxinoiden,  1835)  bewiesen,  und  es  wäre  zu  wünschen, 
dass  die  hier  eingeschlagene  Tendenz,  den  Forschungen  in  der 
menschlichen  Anatomie  allgemein  zu  Grunde  gelegt  würde.  Allein 
die  vergleichende  Detailanatomie,  d.  h.  die  beschreibende  (nicht  die 
raisonnirende) ,  insbesondere  jene  der  Wirbelthiere ,  ist  in  unseren 
Tagen  schlafen  gegangen.     Nur   die   vergleichende  Osteologie  wird, 


64  §.  16.  Allgemeine  Literatar  der  Anatomie. 

der  Paläontologie  wegen,  noch  betrieben.  Selbst  die  Jahresberichte 
über  die  Fortschritte  der  vergleichenden  Anatomie  der  Wirbelthiere, 
haben,  wegen  Stofiiuangel,  durch  fast  zwanzig  Jahre  aufgehört  zu 
erscheinen,  und  gelangen  erst  jetzt  wieder  zu  einem  kümmerlichen 
Leben.  Es  fehlt  wahrlich  nicht  an  Material  zur  Arbeit,  aber  an 
Männern,  die  sie  unternehmen  könnten  und  möchten.  Mit  tiefem 
Bedauern  sieht  die  Gegenwart  dieses  ruhmlose  Feiern  und  Ver- 
kümmern einer  der  anziehendsten  Wissenschaften.  Ich  glaube,  die 
vergleichende  Anatomie  hat  nur  darum  an  Popularität  verloren,  weil 
sie  nicht  nach  Brod  geht,  und  jene  Lehrer  immer  seltener  werden, 
welche  der  Bedeutsamkeit  der  thierischen  Formenlehre  ihr  Recht 
widerfahren  lassen.  Die  Physiologie  hat  sich  in  unsem  Tagen 
gänzlich  von  der  vergleichenden  anatomischen  Richtung  abgewendet, 
ja  in  den  Sitzungsberichten  der  Wiener  Akademie  haben  sich  die 
physiologischen  Abhandlungen,  im  tiefinnigsten  Bewusstsein  ihrer 
Unfehlbarkeit,  eine  Zeit  lang  den  astronomischen,  nicht  den  ana- 
tomischen angeschlossen.     So  etwas  war  nur  in  Wien  möglich. 

In  der  Entwicklungsgeschichte  glänzt  der  verdienteste 
Ruhm  deutscher  Naturforschung.  Pander  und  Döllinger  haben 
die  von  Haller  und  Wol ff  betretene  Bahn  geebnet;  Baör,  Bischoff 
und  Reichert,  sind  bis  an  die  entferntesten  und  unbekanntesten 
Punkte  derselben  vorgedrungen,  und  der  Deutsche  darf  mit  Stolz 
sagen,  dass  Alles,  was  in  diesem  Fache  Grosses  geschah,  von  seinem 
Vaterlande  ausging,  welches,  bis  vor  kurzem  arm  an  nationalen 
Thaten,  an  denen  das  Selbstgefühl  eines  grossen  Volkes  erstarken 
könnte ,  keinen  Ruhm  sein  eigen  nennen  durfte ,  als  jenen ,  dessen 
Ehrenpreis  auf  dem  Felde  der  Wissenschaft  eiTungen  wird.  Das- 
selbe gilt  von  der  Histologie  und  mikroskopischen  Anatomie.  Deutsch- 
lands kleinste  Universitäten  haben  in  diesen  beiden  Gebieten  sehr 
Verdienstliches,  einzelne  Grosses  geleistet,  und  die  durch  Purkinje 
in's  Leben  gerufenen  physiologischen  Institute,  arbeiten  gegenwärtig 
noch  bei  Weitem  mehr  für  die  Anatomie,   als   fiir  die  Physiologie. 


§.  16.  Allgemeine  Literatur  der  Anatomie. 

Es  wird  in  der  Anatomie  mehr  geschrieben  als  studirt  und 
gelesen.  Man  hat  deshalb  nicht  ganz  mit  Unrecht  der  deutschen 
Anatomie  ihr  Prunken  mit  Literatur  vorgeworfen.  Namentlich  ist 
sie  in  einem  Lehrbuche  nicht  recht  an  ihrem  Platz,  und  mag  für 
gelehrten  Aufputz  desselben  gehalten  werden.  Um  diesem  Tadel 
nicht  zu  unterliegen,  und  zugleich  dem  allerdings  nicht  sehr  dring- 
lichen Bedürfnisse  des  Anfängers  zu  entsprechen,  dessen  Literatur- 
Kenntniss  sich  in  der  Regel  nur  auf  das  Handbuch  erstreckt,  welches 


S.  16.  Allgemeine  Litentnr  der  Anatomie.  65 

er  sich  anschaffte,  soll  hier  nur  ein  Verzeichniss  von  Büchern  an- 
geführt werden,  welches  Jeden,  der  eine  nähere  Bekanntschaft  mit 
den  einzelnen  Zweigen  unserer  Wissenschaft  suchen  will,  mit  den 
besten  und  wichtigsten  Quellen  derselben  bekannt  macht. 

1.  Oeschickte  der  AnatOTnie. 

Andr.  Ottomar  Godicke,  historia  anat.  nova,   etc.  Halae,  1713. 

—  Gotdieb  Stollen,  Einleitung  zur  Historie  der  medicinischen  Gelahrt- 
heit. Jena,  1731.  Die  Geschichte  der  Anatomie  und  Physiologie,  von 
pag.  385 — 513,  enthält  interessante  Notizen  über  das  Leben  und 
Wirken  der  berühmtesten  Anatomen  bis  auf  Herrm.  Friedr.  Teich- 
meyer. —  Anton  Portal,  histoire  de  Tanatomie  et  de  la  Chirurgie. 
6  Vol.  Paris,  1770 — 1773.  Durchaus  biographisch  bearbeitet.  — 
Alb.  Haller,  bibliotheca  anat.  2  Vol.  Tigur.,  1774—1777.  Reicht  bis 
1776,  und  enthält  die  genauesten  Angaben  über  die  gesammte  ana- 
tomische Bibliographie.  —  Thom.  Lauth,  histoire  de  Tanatomie. 
Tom.  I.  et  n.  Strasbourg,  1815  und  1816.  Bei  der  umfassenden 
Anlage  des  Ganzen  ist  sehr  zu  bedauern,  dass  der  zweite  Theil,  den 
Entwicklungsgang   der   neueren  Anatomie   nur  in  Kürze  behandelt. 

—  Kurt  Sprengel,  Versuch  einer  pragmatischen  Geschichte  der  Arznei- 
kunde, 3.  Auflage,  ist  ein  Optis  cedro  dignum,  dessen  Studium,  jedem 
Arzte  und  jedem  Anatomen,  welcher  auf  Wissenschaftlichkeit  An- 
spruch macht,  unentbehrlich  ist.  —  Jos.  Hyrtl,  antiquitates  anatomicae 
rariores,  etc.  Vindob.,  1835,  cum  tabb.  Enthält  blos  Nachrichten  über 
den  Ursprung  der  Anatomie.  —  A.  Burggraeve,  Pr^cis  de  Thistoire 
de  l'anatomie.  Gand,  1840.  —  Hyrtl,  Geschichte  der  Anatomie  an 
der  Prager  Universität,  in  den  Oesterr.  med.  Jahrbüchern,  1843.  — 
Hyrtl,  Geschichte  der  Anatomie  an  der  Wiener  Universität,  in  dessen : 
Vergangenheit  und  Gegenwart  des  Museums  für  menschl.  Anat.  an 
der  Wiener  med.  Facultät.  1869.  —  Dem  anatomischen  Geschichts- 
forscher unentbehrlich  sind  die  Werke :  Tosoni,  delY  Anatomia  degli 
Antichi,  etc.  Padova,  1844.  —  Medid,  Compeudio  storico  della  Scuola 
anat.  di  Bologna.  Bol.,  1857.  —  W.  Keen,  A  sketch  of  the  early 
history  of  Anat.  Philadelphia,  1870.  —  A.  Corradi,  L'  Anatomia  in 
Italia  nel  medio  evo.  Padova,  1873. 

2.  Handbücher  iiier  descriptive  Anatomie. 

Mit  Uebergehung  aller  älteren,  welche  in  der  alphabetisch  ge- 
ordneten, und  mit  einem  zum  leichten  Aufsuchen  dienenden,  voll- 
ständigen Materien register  versehenen  BtbUotheca  medico  -  chirurgica 
und  anatomico'physiologica  von  W.  Engelmann  nachgesehen  werden 
können,  führe  ich  von  neueren  nur  jene  an,  welche  durch  Originalität 
and  Genauigkeit,    über   dem  Wüste   der   Compilationen   und   Buch- 

Ujrtl,  Lehrbach  der  Anatomie.  14.  Aufl.  5 


66  §•  16«  Allgemeine  Literatur  der  Anatomie. 

händler-Speculationen  stehen,  mit  welchen  die  anatomische  Literatur 
seit  zwanzig  Jahren  förmlich  tiberschwemmt  wird. 

J.  F,  Meckel,  Handbuch  der  menschlichen  Anatomie.  Halle  und 
Berlin,  1815  bis  1820.  4  Bände.  —  K  HOdebrandt,  Lehrbuch  der 
Anatomie  des  Menschen ,  umgearbeitet  von  E.  H.  Weber,  Braun- 
schweig, 1830 — 1832.  4  Bände.  Zum  Nachsehen  älterer  Literatur 
noch  immer  zu  brauchen.  —  E.  A.  Lauth,  Handbuch  der  praktischen 
Anatomie.  Stuttgart,  1835— -1836.  2  Bände.  Durch  die  technischen 
Eegeln  jedem  Anatomen  werthvoU.  —  J.  Crwoeilhier  (et  S4e),  trait^ 
d'anatomie  descriptive.  Paris.  5.  Auflage.  Durch  Benützung  miss- 
verstandener deutscher  Arbeiten  etwas  entstellt.  —  TL  Sömmerring, 
vom  Baue  des  menschlichen  Körpers.  Neue  Originalausgabe  in  9  Bän- 
den, durch  einen  Verein  der  geach totsten  Anatomen  Deutschlands 
besorgt.  —  M.  J,  Weber,  vollständiges  Handbuch  der  Anatomie, 
Leipzig,  1845.  3  Bände.  Mit  Präparationsmethode  und  vielen  eigenen 
Beobachtungen,  ohne  Literatur.  —  F,  Arnold,  Handbuch  der  Ana- 
tomie des  Menschen.  Freiburg,  1843 — 1851,  mit  synoptischen  und 
mikroskopischen  Abbildungen,  letztere  zum  Theil  aus  subjectiven 
Anschauungsweisen  hervorgegangen.  —  Quains  Anatomy.  7.  edit. 
London,  1866,  deutsch  von  E.  Hoffmann.  Erlangen,  1877.  —  G.  Ellis, 
Demonstrations  of  Anat.  6.  edit.  London,  1872.  —  Schnell  beliebt 
wurde :  H,  Gray,  Descriptive  and  Surgical  Anatomy.  6.  edit.  London, 
1872;  als  „the  most  excellent  work  of  Anatomy  extant"  angekündigt. 
—  C  Sappey,  traitö  d'anat.  descriptive.  (2.  Auflage  in  4  Bänden.) 
Paris,  1867 — 1873.  —  //.  Luschka,  Anatomie  des  Menschen.  Tüb., 
3  Bände,  1862 — 1866.  —  Handbücher  von  H.  Meyer,  3.  Auflage  (in 
Zürich),  C  Langer  (in  Wien),  C.  Eckhard  (in  Giessen),  Aeby  (in 
Bern),  und  HoUstein  (in  Berlin),  letzteres  in  der  5.  Auflage.  — 
Henle's  Handbuch  der  systematischen  Anatomie  des  Menschen 
(3  Bände.  Braunschweig,  mit  zahlreichen  Holzschnitten,  3.  Auflage 
im  Zuge)  macht  eigentlich  alle  vorhergehenden  entbehrlich.  So  denkt 
und  schreibt  in  der  Anatomie  nur  die  höchste  Meisterschaft. 

3,  Praktische  Anatomie  oder  Zergliederungskunst, 

J.  Shaw,  Manuel  for  the  Student  of  Anatomy,  etc.  London, 
1821.  8.  Deutsch,  Weimar,  1823.  Beschreibend  mit  Präparations- 
methode und  chirurgischen  Anwendungen.  —  M.  J,  Weber,  Elemente 
der  allgemeinen  und  speciellcn  Anatomie,  mit  der  Zergliederungs- 
kunst. Bonn,  1826 — 1832.  —  A.  C,  Bock,  der  Prosector.  Leipzig, 
1829.  —  E.  A.  Lauth,  nouveau  manuel  de  Tanatomiste.  Paris  et 
Strasbourg,  1836.  Deutsch,  Stuttgart.  1836.  2  Bände.  —  Th.  Bischoff, 
der  Führer  bei  den  Präparirübungen.  München,  1874.  —  G.  Valentin, 
die  kunstgerechte  Entfernung  der  Eingeweide  des  m.  K.,  Frankf., 
1857.  —  Auch  H,  Meyer* s  u.  •/.  Budgets  Anleitungen  zu  den  Präparir- 


§.  16.  Allgemeine  Literatur  der  Anatomie.  67 

Übungen,  (erstere  Leipzig,  3.  Auflage,  1873,  letztere  Bonn,  1866), 
beschäftigen  sich  mit  der  gewölmliehen  Secirsaalpraxis.  —  Eine 
vollständige  Darstellung  aller  Zweige  der  anatomischen  Technik  fehlt 
noch,  denn  das  von  Straus-Durckimm  herausgegebene,  französische 
Handbuch  der  praktischen  Zergliederung  aller  Thierclassen  (Trait^ 
pratique  et  thöorique  d'auatomic  comparative.  Paris,  1842.  2  vol.) 
ist  für  den  grossen  Plan  des  Autors  viel  zu  compendiös.  —  HyrÜ, 
Handbuch  der  prakt.  Zergliederungskunst,  Wien,  1860,  enthält  auch 
die  Literatur  aller  Zweige  der  anatomischen  Technik. 

Wie  anatomische  Museen  eingerichtet  sein  sollen,  habe  ich  in 
meinem  Werke  dargelegt:  Vergangenheit  und  Gegenwart  des  Wiener 
anat.  Museums.  Wien,  1869.  Für  vergleichende  Anatomie  habe  ich 
dasselbe  geleistet  in  der  Schrift:  Das  vergl.  anat.  Museum  an  der 
Wiener  med.  Facultät.  Wien,  1865.  Mein  Nachfolger  braucht  nur 
zu  beschi'ciben ,  was  er  hier  beisammen  findet,  und  er  kann  sich 
einen  berühmten  Namen  macheu.  Ich  aber  habe  für  diese  reiche 
Saat  meines  anatomischen  Lebens,  wenig  Dank  geerntet. 

4.  Anatomische   Wörterbücher,  Synonymik  und  Nomenclatur, 

H»  Th.  Schreger,  Synonymik  der  anat.  Literatur.  Fürth,  1803. 
—  J,  Barday,  New  Anatomical  Nomenciator.  Edinburg,  1803  (Vor- 
schläge zu  einer  neuen  Nomenclatur).  —  «/.  F.  Pierer  und  L.  Choulant, 
medicinisches  Real  Wörterbuch.  Leipzig,  1816 — 1829.  8  Bände.  Nebst 
Beschreibungen,  auch  Geschichte  und  Synonymik.  —  Encyklopädisches 
Wörterbuch  der  med.  Wissenschaften.  Berlin,  1828.  ff.  —  Cyclopaedia 
of  Anatomy  and  Physiology.  Ed.  by  R.  Todd.  London.  Die  ver- 
gleichend anatomischen  Artikel  von  R.  Owen  besonders  ausgezeichnet. 
Im  Physiologischen  wird  sie  weit  übertroffen  durch:  R.  Wagner' 8 
Handwörterbuch  der  Physiologie.  Braunschweig.  4  Bände.  1842 
bis  1853. 

5.  Kupferwerke  über  die  gesammte  Anatomie  des  Menschefi. 

Es  war  eine  Zeit,  wo  man  sich  durch  Herausgabe  anatomischer 
Tafeln  berühmt  machen  konnte,  obwohl  der  eigentliche  Ruhm  dem 
Künstler  gebührt.  Diese  Zeit  ist  hin.  Eigenes  Arbeiten  an  der 
Leiche,  macht  alle  Tafeln  und  Holzschnitte  übei-flüssig.  Sie  sind 
immer  mehr  von  artistischem  als  wissenschaftlichem  Werth,  und 
erhalten  sich  nur  dadurch,  dass  praktische  Aerzte,  die  Unterlassungs- 
sünden ihrer  Studentenjahre,  durch  nachträgliche  Bilderschau  gut 
zu  machen  haben.  Nebst  den  älteren  Tafeln  von  Caldani  und  Loder, 
dem  Prachtwerke  von  Mascagni  (Anatomia  universa  XLIV  tabulis 
repraesentata.  Pisa,  1823.  foL),  und  den  neueren  ausländischen  von 
Uzara  (London),  J,  Quain  und  Er,  Wilson  (London),  Burgery  und 
Jacob    (Paris),    Bonamy    und    Beau    (Paris),     erwähne    ich    noch: 

6« 


68  §•  16.  Allgemeine  Literatnr  der  Anatomie. 

J.  M.  Langenbeck,  icones  anatomicae.  Göttingen,  1826 — 1838.  Des- 
selben Verfassers  Handbuch  der  Anatomie,  bezieht  sich  auf  dieses 
Kupferwerk.  —  M.  J.  Weher,  anat.  Atlas.  Düsseldorf.  2.  Auflage. 
—  F.  Arnold,  tabulae  anatomicae.  Turici,  1838 — 1843.  Jedem  Ana- 
tomen unentbehrlich.  —  R,  Froriep,  atlas  anatomicus  partium  cor- 
poris hum.  per  strata  dispositarum.  Weimar,  4.  Auflage.  —  E.  Bock's 
Handatlas  der  Anatomie  des  Menschen,  6.  Auflage,  wird  viel  be- 
nützt. —  Für  Schüler  empfehle  ich:  C.  Heitzmann's  descr.  und  topogr. 
Anat.  in  600  Abbildungen.  Wien,  2.  Auflage,  1875,  so  wie  Herders 
anat.  Handatlas,  Braunschw.,  2.  Auflage,  und  den  niedlichen  und 
billigen  Handatlas  von  N,  Masse,  2.  Auflage.  Paris,  1872.  —  Das 
in  Paris  1868 — 1871  erschienene  Prachtwerk  in  8  Bänden:  Trait^ 
complet  de  Tanatomie  de  Thomme,  avec  Atlas,  kann  seines  hohen 
Preises  wegen  (1600  Fr.)  nur  von  reichen  Bibliotheken  angeschafft 
werden.  —  A,  Eckerts  herrliche  Icones  physiologicae,  enthalten  bild- 
liche Darstellungen  über  Organenstructur  und  Entwicklungsgeschichte 
in  artistisch  vollendetster  Weise.  —  Im  Jahre  des  Herrn  1639,  hat 
ein  ehrlicher  Schwabe  in  Ulm,  Joh,  Remmdin,  ein  Catoptrum  rrdcro- 
cosmicum  herausgegeben  (Augsburg),  mit  anat.  Abbildungen,  an  denen 
die  verschiedenen  Lagen  der  Weichtheile,  schichtweise  bis  auf  die 
Knochen  abgehoben  werden  konnten.  Diese  Spielerei  machte  damals 
einiges  Aufsehen.  Herr  AchiUe  Comte  in  Paris,  ist  nun  in  unseren 
Tagen  ein  Remmelinus  redivivus  geworden,  indem  er  seine: 
Structure  et  Physiologie  de  Vhomme,  dimontrSes  ä  Vaide  de  figures, 
d^coupSes  et  sfwperposies,  veröffentlichte,  deren  ungewöhnlicher  Success 
(9.  Auflage,  Paris,  1872)  Zeugniss  giebt,  dass  auch  die  moderne 
Zeit,  das  Tändeln  mit  stratificirteu  Bildern  liebt,  denen  nicht  der 
geringste  Werth  zugesprochen  werden  kann,  selbst  wenn  ihre  Aus- 
führung so  hübsch  und  so  geschmackvoll  ist,  wie  an  dem  vor- 
liegenden französischen  Werke. 

6.  Allgemeine  Anatomie  und  Gewehslehre, 

Eine  Fluth  von  Erzeugnissen  verschiedenen  Gehaltes,  hat  die 
Literatur  dieses  Faches,  besonders  in  Specialabhandlungen,  zu  einem 
Umfang  aufschwellen  gemacht,  der  kaum  mehr  zu  übersehen  ist. 
Zum  Glück  geht  Vieles  eben  so  schnell  unter,  als  es  auftauchte. 
Aber  man  kann  sich  eines  gewissen  Unbehagens  nicht  erwehren, 
wenn  man  es  ansehen  muss,  wie  das  leidige:  guot  capita,  tot  sen- 
tenticie,  die  Solidität  der  anatomischen  Wissenschaft  untergräbt.  Ein 
Conseils-Präsident,  der  bei  der  Abstimmung  über  wichtige  Fragen, 
nur  Separatvota  zu  registriren  hat,  kann  nicht  übler  daran  sein,  als 
ein  histologischer  Referent  der  Gegenwart. 

Th.  Schwann,  mikroskopische  Untersuchungen  über  die  Ueber- 
einstimmung  in  der  Structur  der  Pflanzen  und  Thiere.  Berlin,  1889. 


§.  16.  Allgemeine  Literaiar  der  Anatomie.  69 

Mit  diesem  Fundamental  werk  beginnt  die  neue  Gestaltung  der  Histo- 
logie. —  J.  Henle,  allgemeine  Anatomie.  Leipzig,  1841.  Gute  Bücher 
können  nicht  altern.  —  A.  KöUiker,  Handbuch  der  Gewebslehre  des 
Menschen,  5.  Auflage.  Leipzig,  1867.  —  H.  Frey,  Histologie  und 
Histochemie  des  Menschen,  mit  Holzschnitten.  Leipzig,  1859.  — 
G.  Valentin,  Untersuchung  der  Pflanzen-  und  Thiergewebe  im  polari- 
sirten  Lichte.  Leipzig,  1861.  —  L.  8.  Beale,  die  Structur  der  ein- 
fachen Gewebe,  etc.  A.  d.  Engl,  von  V,  Carus,  Leipzig,  1862.  — 
Dem  sehr  schönen  photographischen  Atlas  der  allg.  Gewebslehre 
von  Hessling  und  Kollmann,  Leipzig,  1860,  kann  man  wenigstens 
nicht  nachsagen,  dass  er  Ideale  liefert,  da  die  Natur  selbst  die 
Zeichnerin  gewesen.  —  A.  B^clard,  Elements  d'anat.  g^n.  4.  ^dit. 
Paris,  1865.  —  Cl.  Bernhard,  Le9ons  sur  les  propri^t^s  des  tissus 
vivants.  Paris,  1865.  —  In  Fr,  Leydig's  Lehrbuch  der  Histologie 
des  Menschen  und  der  Thiere,  mit  Holzschnitten,  Frankfurt  a.  M., 
1857,  begrüssten  wir  den  ersten  dankenswerthen  Versuch  einer  ver- 
gleichenden Histologie.  —  Von  A,  KöUiker^ s  Icones  histologicae,  ist 
nur  die  1.  und  2.  Abtheilung  erschienen.  Solche  Bücher,  deren 
Leserkreis  ein  sehr  kleiner  ist,  erleben  gewöhnlich  ihre  Vollendung 
nicht.  —  Das  Handbuch  der  Gewebslehre  von  S,  Stricker,  Leipzig, 
1868 — 1871,  enthält  mehrere  sehr  gut  geschriebene  Artikel. 

7.   lieber  den  Gehrauch  des  Mikroskops. 

Wenn  auch  Uebung  fiir  den  besten  Lehrer  gilt,  so  ist  doch 
der  Nutzen  guter  Anleitungen  nicht  zu  verkennen.  Solche  findet 
man  vorzüglich  in:  J,  Vogel,  Anleitung  zum  Gebrauche  des  Mikro- 
skops, etc. Leipzig,  1841.  —  Purkinje'» Artiiiel „Mikroskop"  in  Wagners 
Handwörterbuch  der  Physiologie,  mit  Anhangsbemerkungen  des 
Herausgebers.  —  Harting's  classisches  Werk :  Het  Microscop,  deszelfs 
gebruik,  geschiedenis  en  teegenwoordige  toestand.  Utrecht,  1848  bis 
1850,  hat  in  deutscher  Uebersctzung  bereits  zwei  Auflagen  erlebt. 
—  Ä  Welker,  über  Aufbewahrung  mikroskop.  Objecte,  nebst  Mit- 
theilungen über  die  Mikroskope.  Giessen,  1856.  —  L.  S.  Beale,  how 
to  work  with  the  Microscope,  with  32  plates.  London,  1861.  — 
H.  Frey,  das  Mikroskop  und  die  mikrosk.  Technik.  Leipzig,  5.  Auf- 
lage. 1873.  —  H,  Hager,  das  Mikroskop  und  seine  Anwendung. 
Berlin,  1866.  —  S,  Exner,  Leitfaden  zur  mikrosk.  Untersuchung. 
Leipzig,  1873. 

8.  Pathologische  Anatomie, 

Die  Specialwerke  und  Compendien  von  Andral,  Cruveilhier, 
Hasse,  Gluge  (mit  Atlas),  Vogel,  Bock  (3.  Auflage),  Engel,  Wislocki, 
Fih'ster  (8.  Auflage),  und  das  Handbuch  der  pathol.  Anatomie  von 
Prof.  Rokitansky  in  Wien,   3.  Auflage,  repräsentiren  diese  Wissen- 


70  §•  16.  Allgemeine  Litentur  der  Anatomie. 

Bchaft  in  ihrer  praktischen  Richtung.  —  Für  path.  Histologie  hat 
C.  Wedl  die  Bahn  eröffnet,  in  seinen  Grundzügen  der  pathol.  Histo- 
logie. Wien,  1854,  mit  Holzschnitten.  Die  älteren  Handbücher  von 
Voigtd,  F,  Meckd,  W.  Otto,  und  Lobstein,  beschäftigen  sich  nur  mit 
dem  pathologischen  Befunde,  ohne  dessen  Beziehungen  zu  seiner 
graduellen  Entwicklung,  und  sind  deshalb  dem  ärztlichen  Bedürf- 
nisse weniger  zusagend,  obwohl  ihre  Angaben  über  Missbildungen 
und  Varietäten  (besonders  F.  Meckeljy  dem  Anatomen  immer  werth- 
voll  bleiben. 

9.  Eräwic/dungsgeschichte. 

Das  Studium  dieses  so  interessanten  Faches  der  Anatomie,  hat 
leider  in  neuester  Zeit,  durch  den  Verfall  der  morphologischen  Rich- 
tung der  Physiologie,  bedeutend  abgenommen.  Die  wichtigsten  allge- 
meinen Arbeiten,  durch  welche  man  mit  der  übrigen,  so  ungemein 
reichen  Literatur  dieses  Faches  bekannt  wird,  sind:  F.  G.  Dam, 
Grundriss  der  Zergliederungskunde  des  neugebornen  Kindes,  etc. 
Mit  Anmerkungen  von  Sömmerring,  2  Bände,  Frankfurt,  1792  bis 
1793.  (Veraltet.)  —  A.  Rathke,  Abhandlungen  zur  Bildungs-  und 
Entwicklungsgeschichte  des  Menschen  und  derThiere.  Mit  14  Kupfer- 
tafeln. Leipzig,  1832  u.  1833.  —  G.  Valentin,  Handbuch  der  Ent- 
wicklungsgeschichte des  Menschen,  mit  vergleichender  Rücksicht  der 
Entwicklung  der  Säugethiere  und  Vögel.  Berlin,  1835.  —  K.  B.  Reichert, 
das  Entwicklungsleben  im  Wirbelthierreiche.  Berlin,  1840.  — 
Th.  L.  W,  Bischoff,  Entwicklungsgeschichte  der  Säugethiere  und  des 
Menschen.  Leipzig,  1842.  —  Sehr  concis  und  dennoch  erschöpfend, 
sind  A.  KöUiker's  akad.  Vorträge  über  Entwicklungsgeschichte, 
Leipzig,  1861,  mit  vortrefflichen  Holzschnitten.  —  Die  in  den 
citirten  Werken  zu  findenden  Daten,  betreffen  vorzugsweise  die 
Entwicklungsgeschichte  der  Thiere,  welche  ungleich  genauer  bekannt 
ist,  als  jene  des  Menschen.  Die  Leichtigkeit,  sich  thierische  Em- 
bryonen in  allen  Entwicklungsphasen  zur  Untersuchung  zu  ver- 
schaffen, was  bei  menschlichen  Eiern  nur  durch  seltenen  Zufall 
möglich  wird,  erklärt  es,  warum  die  menschliche  Evolutionslehre 
über  die  ersten  Bildungsvorgänge  noch  sehr  unvollkommen  ist.  — 
Eine  vollständige  Angabe  der  Literatur  über  Entwicklungsgeschichte 
findet  sich  in  Bischoffs  „Entwicklungsgeschichte  mit  besonderer 
Berücksichtigung  der  Missbildungen '^  im  Hand  Wörterbuch  e  der 
Physiologie. 

10.  Bildungshemmungen, 

F.  L,  Fleischmann,  Bildungshemmungen  des  Menschen  und  der 
Thiere.  Nürnberg,  1823.  —  J.  Geoffroy  St.  HHaire,  histoire  des  ano- 
malies  de  Torganisation.  Tom.  I.  —HI.  Paris,  1832  - 1836.  —  Serres, 


%.  18.  Allgemeine  Literatur  der  Anatomie.  7 1 

reclierches  d'anatomie  transcendente,  etc.  Avec  atlas  de  20  planches 
in  fol.  Paris,  1832.  —  L.  Barkow ,  monstra  animalium  duplicia. 
Lipsiae,  1829 — 1836.  2  Vol.  —  A.  W.  Otto,  monstroi-um  sexcentorum 
descriptio  anat.  Cum  XXX  tabb.  Vratislaviae,  1841,«fol.  —  W,  Vrolxky 
tabulae  ad  illustrandam  embryogenesin  hominis,  Amsterdam  und 
Leipzig.  Fase.  XIX.  u.  XX.  bereits  1849  eraehienen ;  —  seitdem  ist 
Stillstand  eingetreten.  —  A,  Förster,  die  Missbildungen  des  Menschen. 
Jena,  1861,  mit  Atlas.  Auch  für  den  praktischen  Arzt  verwendbar. 

11,   Topographische  Anatomie. 

Nebst  den  älteren  Schriften  von  Palfin,  Portal,  Allan  Bums,  und 
den  absichtlich  übergangenen,  grossen  und  kostspieligen  englischen 
Kupferwerken,  gehören  hierher:  Milne  Edwards,  manuel  d'anatomie 
chirurgicale.  Paris,  1826.  Ein  kleines,  aber  sehr  gutes  Compendium. 
—  E.  Wilson,  Practical  and  Surgical  Anatomy.  London,  2.  edit.  — 
M.  Vdpeau,  Manuel  d'anat.  chirurgicale,  generale  et  topographique. 
Paris,  1837.  Für  Anfänger  empfehlenswerth.  —  Ph.  Er.  Blandin, 
traitö  d'anat.  topographique.  2.  ^dit.  Bruxelles,  1837.  Avec  un  atlas 
de  planches  in  fol.  —  J.  F.  Malgaigne,  traite  d'anat.  chirurgicale  et 
de  Chirurgie  experimentale.  2  Vol.  Paris,  1837.  Eine  höchst  inter- 
essante Leetüre,  wenn  auch  der  Verfasser  zuweilen  sich  in  allzu 
subtile  Discussionen  einlässt.  Eine  deutsche  Uebersetzung  er- 
schien in  Prag,  1842.  Die  zweite  Auflage  des  französischen  Originals 
ist  bedeutend  vermehrt.  —  J,  E.  Pitrequin,  traite  d'anat.  medico- 
chirurgicale.  2.  edit.  Paris,  1857.  Enthält  wenig  Anatomie,  mehr 
Operatives.  —  F,  Jarjavay,  trait^  d'anat.  chirurgicale.  Paris,  2  Vol. 
1852 — 1854,  steht  dem  Malgaigne'schen  Werke  in  mancher  Hinsicht, 
nur  nicht  an  Umfang,  nach.  —  Meiner  Ansicht  nach  das  beste  Werk, 
welches  die  französische  Literatur  in  diesem  Fache  aufzuweisen  hat, 
ist:  Richet,  traite  pratique  d'anatomie  med.  chir.  Paris,  4.  edit.  — 
Die  „Anatomie  chirurgicale  homalographique"  von  Z.  Gendre,  Paris, 
1858,  fol.,  giebt  Ansichten  von  Durchschnitten  verschiedener  Gegen- 
den an  gefrornen  Leichen.  Derlei  Durchschnittsansichten  sind  ein 
guter  Probirstein  anatomischer  Ortskenntniss ,  und  zugleich  in  der 
That  nicht  selten  eine  Art  Räthsel,  dessen  Lösung  selbst  den  kun- 
digen Fachmann  in  momentane  Verlegenheit  bringt.  Die  Nouveaux 
el^ments  d'anat.  chir.  von  B.  Anger,  Paris,  1869,  mit  Atlas,  sind 
reich  an  schönen  Abbildungen.  —  Ausser  den  Schriften  von  Seeger 
und  Nuhn,  wurde  in  neuerer  Zeit  die  deutsche  Literatur  dieses 
Faches,  durch  folgende  Werke  bereichert:  W.  Roser,  Chirurgisch- 
anatomisches Vade  mecum.  2.  Auflage.  Stuttgart,  1851.  Mit  Holz- 
schnitten. Sehr  kurz  und  sehr  gut.  —  G.  Ross,  Handbuch  der 
chirurgischen  Anatomie.  Leipzig,  1848.  Ich  habe  diese  kurze  und 
originelle  Schrift  mit  wahrem  Vergnügen  gelesen.  —  J.  HyrÜ,  Hand- 


72  §•  ^^'  Allgemeine  Literattir  der  Anatomie. 

buch  der  topographischen  Anatomie  und  ihrer  praktischen,  medicinisch- 
chirurgischen  Anwendungen.  6.  Auflage,  2  Bände.  Wien,  1872.  Das 
„Archiv  für  wissenschaftliche  Heilkunde"  1848,  pag.  106,  äusserte 
sich  über  die  erste  Auflage  dieses  Werkes:  „Die  vorliegende  Schrift 
„hat  in  uns  den  freudigen  Gedanken  angeregt,  dass  jetzt  die  deutsche 
„Schule,  wie  in  allen  anderen  Theilen  der  Medicin,  so  auch  in  der 
„angewandten  Anatomie,  die  anderen  überflügelt.  Wir  sehen  einen 
„Anatomen  ersten  Ranges,  von  den  bisher  in  Deutschland  herrschen- 
„den  Systemen  der  abstracten  Anatomie,  eine  Ausnahme  machen,  und 
„sich  jener  lebendigen  Betrachtung  der  anatomischen  Verhältnisse 
„zuwenden,  welche  von  der  physiologischen  Heilkunde  gefordert 
„wii'd*'.  —  F.  fWirer,  Handbuch  der  chirurg.  Anat.  mit  Atlas. 
Berlin,  1857.  Sehr  tüchtig,  aber  mehr  praktisch  als  anatomisch 
durchgeführt.  —  «/.  Engel's  Compendium  der  topograph.  Anat.  Wien, 
1860,  wurde  zunächst  für  seine  Schüler  geschrieben.  —  Chirurgisch- 
anatomische Tafeln  von  Nvhn,  Bierkowsky,  R.  Froriep  (5.  Auflage), 
Pirogoff,  J.  Madise  (London,  2.  Auflage),  Henke  (Leipzig,  1864  bis 
1867),  und  W.  Braune  (Leipzig,  1875). 

12.  Morphologie  und  Racemiudium. 

J.  8.  ElsholtZy  anthropometria.  Francof.  ad.  Viadr.  1663.  Ein 
höchst  unterhaltendes  Schriftchen.  —  G.  Carus,  Symbolik  der  mensch- 
lichen Gestalt.  2.  Auflage.  Leipzig,  1858.  —  Desselben  Proportions- 
lehre der  menschlicheiv  Gestalt.  Leipzig,  1854.  —  Fr,  Blumenbach, 
de  generis  humani  varietate  nativa.  Gottingae,  1795.  Fundamental- 
werk der  Racenkunde.  —  P.  N.  Gerdy,  anatomie  des  formes  ext^- 
rieures  du  corps  humain.  Paris,  1829.  Für  Künstler  und  Wundärzte 
gleich  nützlich.  Deutsch,  Weimar,  1831.  —  6.  Schadow,  Polyclet, 
oder  von  den  Maassen  der  Menschen  nach  dem  Geschlechte, 
Alter,  etc.  Mit  vielen  Abbildungen  in  Fol.  max.,  Text  in  4.  Berlin, 
1834.  Nur  für  Künstler  geeignet.  —  J,  C.  Prichard,  Naturgeschichte 
des  Menschengeschlechts.  Nach  der  dritten  Auflage  des  englischen 
Oidginals  mit  Anmerkungen  und  Zusätzen  herausgegeben  von 
R.  Wagner.  4  Bände.  Leipzig,  1840—1848.  Höchst  umfassende, 
naturhistorische,  ethnographische  und  linguistische  Angaben.  Leider 
fehlen  die  Abbildungen  des  Originals.  —  W.  Lawrence,  Lectures  on 
Comparative  Anatomy,  Physiology,  Zoology,  and  the  Natural  History 
of  Man.  Ijondon,  1848.  9.  Auflage.  Eine  lehrreiche  und  unterhaltende 
compilatorische  Arbeit.  —  Ch.  Hamilton  Smith,  the  Natural  History 
of  the  Human  Species.  Edinburg,  1848.  —  C.  Nott  und  R,  Gliddon, 
Types  of  Mankind.  London,  1854.  —  H.  Huxley,  Zeugnisse  fiir  die 
Stellung  des  Menschen  in  der  Natur.  A.  d.  Engl.  Braunschweig, 
1863.  —  C.  Vogt,  Vorlesungen  über  den  Menschen.  Giessen,  1863. 
In  neuester  Zeit   ist  die  Literatur  dieses  Faches,   besonders  durch 


§.  16.  AUflfem«ine  Literatur  der  Anatomie.  73 

die  Druckschriften  der  anthropologischen  Gesellschaften  in  England 
und  Frankreich,  in  rascher  Zunahme  begriflFen.  In  Deutschland 
erscheint  seit  1866  ein  Archiv  für  Anthropologie,  unter  der  Redac- 
tion  von  A,  Ecker  und  L,  Lindenschmü. 

13.  Anatomie  für  Künstler. 

Die  Verfertiger  hieher  gehöriger  Schriften  sind  oft  genug  weder 
Anatomen  noch  Künstler.  Demgemäss  gestaltet  sich  der  Werth 
ihrer  Leistungen.  Sie  sind  leider  sehr  zahlreich.  Eine  löbliche 
Ausnahme  in  dieser  Classe  bildet:  E.  Harless,  Lehrbuch  der  plasti- 
schen Anatomie.  2.  Auflage,  mit  zeitgemässen  Zusätzen  von  Prof. 
R.  Hartmann.  Stuttgart,  1876.  Ich  sage  nicht  zu  viel,  wenn  ich  die 
eigenthümliche  Behandlungsweise  des  Gegenstandes,  als  genial  be- 
zeichne. —  J.  B.  L&o&lU,  Methode  nouvelle  d'anat.  artistique.  Paris, 
1863.  —  Ch.  Roth,  Plastisch -anat.  Atlas,  zum  Studium  des  Modells 
und  der  Antike.  Stuttg.  1870—1872.  —  F.  Berger's  Handbuch  der 
Anat.  für  bildende  Künstler,  hat  bereits  die  dritte  Auflage  erlebt. 
Berlin  1867. 

14.  Vergleichende  Anatomie. 

Diese  Wissenschaft  ist  eine  der  wenigen,  in  welchen  es  keine 
schlechte  Literatur  giebt. 

A.  Hauptwerke.  G.  Cuvier,  le9ons  d'anatomie  compar^e, 
publikes  par  Dumerü  et  Duvemoy.  Paris,  1836 — 1846.  Unterliegt 
übrigens  dem  allgemeinen  Tadel  französischer  Sammelwerke,  dass 
es  auf  fremde,  und  namentlich  deutsche  Leistungen  zu  wenig  Rück- 
sicht nimmt.  —  J.  F.  Meckel,  System  der  vergleichenden  Anatomie. 
6  Bände  in  7  Abtheilungen.  Halle,  1821—1833.  Unvollendet.  (Ge- 
schlechtsorgane, Sinneswerkzeuge  und  Nervensystem  fehlen.)  — 
Die  herrlichen,  von  G.  Carus  und  d' Alton ,  herausgegebenen  Er- 
läuterungstafeln zur  vergl.  Anatomie  sind  jedem  Fachmann  unent- 
behrlich. Ebenso  die  Icones  zootomicae  von  F.  Carue,  1857,  durch 
welche  jene  von  R,  Wagner  (Leipzig,  1841)  verdrängt  wurden.  — 
R.  Owen,  Comparative  Anatomy  of  Veilebrates.  3  Vol.  London, 
1866 — 1868.  Man  nimmt  in  England  und  Frankreich  von  den 
Leistungen  der  Deutschen  wenig  Notiz.  Von  37  grösseren,  vergl. 
anat.  Abhandlungen,  welche  ich  seit  22  Jahren  in  den  Schriften 
der  kaiserl.  Akademie  veröflFentlicht  habe,  kennt  Owen  nur  eine 
einzige.  Und  wahrlich,  es  verlohnte  sich  der  Mühe,  die  Sprache 
der  Deutschen  zu  erlernen,  und  ihre  reiche,  geistige  Arbeit  in  sich 
aufzunehmen,  wenn  man  auf  der  Höhe  seiner  Berufswissenschaft 
stehen  will. 

B.  Compendien.  Die  Handbücher  von  G.  Carus,  (1836) 
und  R.   Wagner,  (1844)  sind  wenig  mehr  im  Gebrauche.  —  Rymer- 


74  §.  10.  AUgemoine  Literatur  der  Anatomie. 

Jones,  General  Outline  of  the  Animal  Kingdom,  etc.,  illustrated  by 
571  engravings.  4.  edit.  London,  1871.  —  R.  E.  Grant,  Outlines  of 
Comparative  Anatomy.  Deutsch  von  C.  Ch.  Schmidt  Leipzig,  1842. 
Mit  105  Holzschn.  Ist  durch  die  schlechte  Uebersetzung  ungeniess- 
bar.  —  V.  Siebold  und  Stannius,  Lehrbuch  der  vergl.  Anatomie, 
2  Bände.  Berlin  1845 — 1848.  Von  der  zweiten  Auflage  sind  nur 
2  Lieferungen  (Fische  und  Amphibien)  erschienen.  —  0.  Schmidt, 
Handbuch  der  vergl.  Anatomie.  6.  Auflage.  Jena,  1871.  Ein  sehr 
brauchbarer,  kurzer  Leitfaden  für  Vorlesungen  und  Privatstudien, 
mit  Atlas.  —  C.  Bergmann  und  R.  Leuckart,  anatomisch-physiologische 
Uebersicht  des  Thierreichs.  Mit  Holzschnitten  (etwas  roh).  Nach 
einer  trefflichen,  übersichtlichen  Weise  behandelt.  Stuttgart,  1853. 
—  Th.  Huxley,  Manual  of  the  Anatomy  of  Vertebrated  Animals. 
London,  1871.  Deutsche  Uebersetzung  von  F.  Ratzd.  Breslau,  1873. 
Am  meisten  verdient  empfohlen  zu  werden:  C.  Gegenhauer,  Grund- 
riss  der  vergl.  Anatomie.  Leipzig,  1874.  —  F,  Leydig,  Handbuch 
der  vergl.  Anatomie.  Tübingen.  Sollte  lieferungsweise  erscheinen, 
so  wie  dessen  Tafeln  zur  vergl.  Anatomie,  welche  vergl.  Anatomie 
mit  vergl.  Histologie  verbinden.  Solche  Werke  des  Fleisses,  werden 
nur  von  Kennern  geschätzt.  Sie  haben  deshalb  kein  Glück,  und 
nehmen  ein  vorzeitiges  Ende. 

15,  Zeüeckriften, 

Lehrreich  für  alle  Fächer  der  Anatomie  sind  und  bleiben  flir 
alle  Zeiten  folgende:  Reü's  Archiv,  12  Bände;  Meckd/a  deutsches 
Archiv  für  Physiologie,  8  Bände;  Meckel's  Archiv  fiir  Anatomie 
und  Physiologie,  welches  durch  J»  Müller  bis  1858  fortgesetzt  wurde, 
und  von  diesem  Jahre  an,  von  Reichert  und  Du  Bois-Reymond  redigirt 
wird.  Dieses  Archiv,  so  wie  Siebold's  und  Kölliker's  Zeitschrift  fiir 
wissenschaftliche  Zoologie,  Virchow's  Archiv  für  path.  Anatomie  und 
Physiologie,  M.  Schultzens  Archiv  für  mikroskop.  Anatomie,  die  2ieit- 
schrift  für  Anatomie  und  Entwicklungsgeschichte  von  Hie  und  Braune, 
liefern  Originalaufsätze  über  alle  Zweige  anatomisch-physiologischer 
und  pathologischer  Forschungen.  —  Die  Jahresberichte  von 
Canstadt,  von  F.  Hoffmann  und  G.  Schwalbe,  über  die  Fortschritte 
der  Anatomie  in  ihren  verschiedenen  Richtungen,  werden  Jene, 
welche  an  der  Entwicklung  der  Wissenschaft  Antheil  nehmen,  von 
deren  Bereicherungen  unterrichten.  Sehr  wünschenswerth  erscheint 
es  mir,  dass  diese  Jahresberichte,  wie  es  in  jenen  von  Henle,  im 
histologischen  Theile  der  Fall  war,  ihren  bisherigen  referirenden 
Charakter,  in  einen  mehr  kritisirenden  umwandeln  mögen.  Die 
Neuigkeitserzähler  würden  sich  dann  einer  grösseren  Zui*ückhaltung 
zu  befleissen  haben. 


ERSTES  BUCH. 


Gewebslehre  und  allgemeine  Anatomie. 


§.  17.  Bestandtheile  des  menscUicIieii  Leibes*). 

Ziergliederung  und  Mikroskop  lehren  die  FormbeBtandtheile 
die  chemische  Analyse  die  Mischungsbestandtheile  des  mensch- 
lichen Leibes  kennen.  Beide  zerfallen  in  nähere  und  entferntere, 
je  nachdem  sie  durch  die  erste  anatomische  oder  chemische  Zer- 
legung, oder  durch  wiederholte  Trennungen  beiderlei  Art,  erhalten 
werden.  Mischungsbestandtheile,  welche  nicht  mehr  in  einfachere 
Grundstoffe  zerlegt  werden  können,  heissen  chemische  Elemente; 
Formbestandtheile,  welche  durch  keine  anatomische  Behandlung,  in 
verschiedenartige  kleinere  Theilchen  getrennt  werden  können,  heissen 
mikroskopische  Elemente,  oder  kleinste  Gewebtheilchen. 
Zur  Erklärung  folgende  zwei  Beispiele:  —  Ein  Muskel  ist  ein  Form- 
bestandtheil  des  menschlichen  Leibes.  Seine  näheren,  durch  die 
Zergliederung  darstellbaren  Bestandtheile  sind:  sein  Fleisch,  seine 
Sehnen,  seine  Hüllen.  Seine  entfernteren  Bestandtheile  sind:  Binde- 
gewebe, Muskelfasern,  Blutgefässe  und  Nerven.  Die  Muskelfasern 
bestehen  wieder  aus  einer  Menge  nicht  weiter  zu  theilender  Fäserchen, 
welche  somit  die  entferntesten  Bestandtheile  oder  mikroskopischen 
Elemente  desselben  darstellen.  —  Kochsalz  ist  ein  näherer  Mischungs- 
bestand theil  vieler  thierischen  Flüssigkeiten.  Salzsäure  und  Natron 
wären  die  entfernteren;  Chlor,  Wasserstoff,  Natrium  und  Oxygen 
die  entferntesten,  nicht  mehr  zu  zerlegenden  chemischen  Elemente 
desselben. 

Die  chemischen  Elemente  sind  einfache  Stoffe,  welche  sich  als 
solche  nicht  blos  im  thierischen  Leibe,  sondern  auch  in  der  uns 
umgebenden  anorganischen  Welt  vorfinden.  Sie  sind  feuerflüchtig 
oder  fix,  gasfxirmig  oder  fest.  Zu  ihnen  gehören  der  Sauei'stoff, 
Stickstoff,  Kohlenstoff  und  Wasserstoff,  Phosphor,  Chlor,  Schwefel, 
Fluor,  Kalium,  Natrium,  Calcium,  Magnium,  Silicium,  Mangan  und 


*)  Dem  Anfänger  empfehle  ich,  das  Studium  der  Anatomie  mit  dem  zweiten 
finehe  (Knochenlehre)  za  beginnen,  nnd  von  der  allgemeinen  Anatomie  für  jetzt  nur 
dasjenige  durchzugehen,  was  auf  Knochen  Bezug  hat  (§.  77—86,  und  §.  40 — 44). 


78  %-  17-  Bestandtbeile  des  menschliehen  Leibes. 

Eisen.  Aluminium,  Titan,  Arsen,  Kupfer,  Jod,  Brom,  u.  m.  a.  seheinen, 
wenn  sie  im  thierischen  Leibe  gefunden  werden,  nur  zuiUUig  vor- 
handen, und  durch  Nahrungsstoffe  oder  Arzneien  dem  Organismus 
für  eine  gewisse  Zeitdauer  einverleibt  worden  zu  sein. 

Die  Verbindungen  dieser  ehemischen  Grundstoffe,  oder  die 
näheren  Mischungsbestandtheile  unseres  Leibes  sind  doppelter  Art: 
organisch  und  anorganisch. 

Die  organischen  Verbindungen  können  nur  unter  dem  Ein- 
flüsse des  Lebens  stattfinden,  und  kommen  im  todtcn  Mineralreiche 
nicht  vor.  Die  wichtigsten  von  ihnen  sind  :  I^eim  (Glutin),  Chondrin, 
Keratin,  Fettarten ,  Blutroth,  und  die  sogenannten  eiweissartigen 
Stoffe:  Albumin,  Fibrin,  Casein ,  und  Globulin  (Crystallin).  Man 
nannte  die  letzteren  auch  Proteinverbindungen,  da  Mulder  aus 
ihnen,  durch  Behandlung  mit  Kalilauge,  ein  zusammengesetztes 
Radical,  das  Protein,  darstellte,  welches  jedoch ^  neueren  Unter- 
suchungen zufolge,  im  schwefelfreien  Zustande  kaum  vorkommen 
dürfte.  —  Alle  eiweissartigen  Stoffe  enthalten  Kohlenstoff,  Wasser- 
stoff, Stickstoff,  und  Sauerstoff  (am  meisten  Kohlenstoff,  am  wenigsten 
Wasserstoff),  nebst  Schwefel ;  —  einige  noch  Phosphor,  oder  Salze, 
z.  B.  das  Casem  phosphorsauren  Kalk. 

Fol^^ndes  Verhalten  der  eiweissartigen  Stoffe  fi^egen  chemische  Beagentien, 
wird  bei  histologischen  Arbeiten  Ton  Wichtigkeit  sein.  1.  Von  concentririer  Salpeter- 
säure werden  sie  beim  Erhitzen  g^lb  gefiirbt  (Xanthoprotetnaänre).  3.  Salpeter- 
saares QnecksUberoxydnl  färbt  sie  beim  Eiiiitzen  rothbrann  (Millon).  3.  Bfit 
Knpferoxjrdsalzen  and  AlcaUen  färben  sie  sich  violett  4.  In  Wasser  aafgell^ 
geben  sie,  anter  Zasatz  von  Zacker  and  etwas  Schwefels&are,  eine  schöne  rothe 
Flüssigkeit.  5.  Werden  sie  aas  ihren  LSsangen  darch  vorsichtigen  Zosatt  Ton 
Blotlaagentals  gefällt 

Die  anorganischen  Verbindungen  chemischer  Elemente  finden 
sich  in-  und  ausserhalb  des  thierischen  Leibes,  können  auch  durch 
Kunst  erzeugt  und  wieder  in  ihre  Elemente  zurückgeführt  werden, 
während  die  organischen  wohl  in  die  einfinchen  Grundstoffe  zerlegt, 
aber  nie  durch  Verbindungsversuche  wieder  neu  hergestellt  werden 
können.  So  kann  das  Fett  in  Sauerstoff,  Kohlenstoff  und  Wasser- 
stoff zerlegt,  aber  unter  keiner  Bedingung  durch  Vereinigung  dieser 
drei  Elemente  neu  erzeugt  werden,  dagegen  der  phosphorsaure  Kalk 
der  Knochen,  auf  chemischem  Wege  in  seine  Elemente  aufgelöst, 
und  jederzeit  wieder  neu  daraus  zusammengesetzt  werden  kann.    . 

Die  mikroskopischen  Elemente,  d.  h.  die  letzten  Bestandtbeile 
der  Form,  welche  durch  das  Messer  nicht  mehr  in  ein£Eichere  Theilcben 
mexiegt  werden  können,  sind: 

1.  Elementarkör  neben  (Granula),  d.  i.  solide  mikroskopische 
Kügelchen,  von  fiist  unmessbarer  Kleinheit,  frei  in  Flüssigkeiten  oder 
in  einer  homogenen,  weichen  Grundsubstanz  (Blastem)  suspendirt, 
odtr  SU  groMeren  Klumpen  ziuumimengeballty  oder  zwischen  andere 


§.  17.  Bestandiheile  dei  mensehlieben  Leibes.  79 

mikroskopische    Elemente    eingestreut.     Als    Beispiele    dienen:    die 
Pigmentkömehen  und  die  Körnchen  im  Protoplasma. 

2.  Zellen  (Cellvlae),  d.  i.  mikroskopische  Klümpchen  einer 
gleichartigen  organischen  Substanz  (Protoplasma),  in  deren  Innerem 
ein  Kern  lagert,  welcher  selbst  wieder  ein  einfaches,  oder  mehrere 
Kern  körperchen  einschliesst. 

3.  Röhrchen  (Ihbuli),  hohle  Cylinder,  aus  einem  strukturlosen 
Häutchen  gebildet,  mit  oder  ohne  Verästlung. 

4.  Fasern  (Mbrae) ,  fadenförmige  solide  Cylinder,  welche  zu 
Bündeln  (FascicuU),  oder  zu  breiten  flachen  Blättern  (Lamellae)  zu- 
sammentreten. —  3.  und  4.  sind  keine  primitiven  Formelemente, 
sondern  secundäre,  d.  h.  sie  sind  aus  2.  hervorgegangen. 

Gebilde ,  in  welchen  sich  weder  Zellen ,  noch  Fasern  und 
Röhrchen  erkennen  lassen,  heissen  structurlos  oder  hyalin. 

Die  Bestandtheile  der  Mischung  sind  kein  Object  der  Ana- 
tomie; sie  gehören  in  das  Bereich  der  organischen  Chemie.  Die 
mikroskopischen  Elemente  der  Organe  aber,  und  die  Art  ihrer  Ver- 
bindung kennen  zu  lernen,  ist  Vorwurf  der  Qewebslehre. 

Alle  organischen  Gebilde  von  gleichem  Gewebe,  gehören  Einem 
Systeme  an.  Ein  System  ist  entweder  ein  zusammenhängendes 
Ganzes,  welches  den  Körper  in  bestimmter  Richtung  durchdringt, 
oder  es  begreift  viele,  unter  einander  nicht  zusammenhängende,  aber 
gleichartig  gebaute  und  gleich  functionirende  Organe  in  sich.  Man 
kömite  die  ersteren  allgemeine  Systeme  nennen.  Sie  haben  ent- 
weder keinen  Centralpunkt ,  von  welchem  sie  ausgehen,  z.  B.  das 
Bindegewebssystem ,  oder  besitzen  einen  solchen ,  wie  das  Nerven- 
und  Gefasssystem,  in  Gehirn  und  Herz.  —  Die  letzteren  wären 
besondere  Systeme  zu  nennen,  und  zu  diesen  werden  gezählt :  das 
Epithelialsystem ,  das  elastische  System,  das  Muskelsystem,  das 
fibröse  System,  das  seröse  System,  das  Knorpelsystem,  das  Knochen- 
system, das  Haut-  und  Schleimhautsystem,  und  das  Drüsensystem. 

Das  Wort  System  wird  noch  in  einem  anderen  Sinne  gebraucht, 
insofern  man  dai*unter  nicht  den  Inbegriff  gleichartig  gebauter  Organe, 
sondern  eine  Summe  verschiedener  Apparate  versteht,  welche  zur 
Hervorbringung  eines  gemeinsamen  Endzweckes  zusammen- 
wirken. So  spricht  man  von  einem  Verdauungs-,  Zeugungs-,  Athmungs- 
system,  als  Gruppen  von  Organen,  deren  Endzweck  die  Verdauung, 
die  Zeugung,  das  Athmen  ist.  Man  könnte  sie  physiologische 
Systeme  nennen,  da  ihr  Begriff  nur  functionell,  nicht  anatomisch 
aufgefasst  ist. 

Die  Formbestandtheile  sind  fest  oder  flüssig;  die  flüssigen  tropfbar  oder 
gasfbrmig.  Die  gasförmigen  kommen  entweder  frei  in  Höhlen  und  Schläuchen  des 
Leibes  vor,  wie  im  Athmungs-  und  VerdauiingBSjstem ,  wohin  sie  entweder  von 
MHMeii  her  eingeführt,  oder  in  diesen  Bäumen   selbst  gebildet  worden;   oder  sie 


80  $.18.  Die  thierifclie  Zelle. 

sind  an  tropfbar -flfbsige  Bestandtheile  gebunden,  ungefähr  wie  die  Gase  der 
Mineralwässer,  und  können  durch  die  Lufitpumpe  daraus  erhalten  werden. 

Die  tropfbar -flüssigen  Formbestandtheile  finden  sich  in  so  grosser  Menge, 
dass  sie  mehr  als  ^j^  des  Gewichtes  des  menschlichen  Leibes  ausmachen.  Eine 
vollkommen  ausgetrocknete  Guanchenmumie  mittlerer  Grösse  (ohne  Eingeweide) 
wieg^  nur  13  Pfd. 

Die  flüssigkeiten  bieten  in  ihren  Verhältnissen  zu  den  festen  Theilen,  ein 
dreifEMÜies  Verhältniss  dar.  a)  Sie  durchdringen  sämmtliche  Gewebe  und  Organe, 
und  bedingen  ihre  Weichheit,  theilweise  auch  ihr  Volumen,  z.  B.  Wasser  und 
Blutplasma,  b)  Sie  sind  in  den  vollkommen  geschlossenen  und  verzweigten  Röhren 
des  Gefässsystems  eingeschlossen,  wie  das  Blut,  die  Lymphe,  der  Chylus,  und  in 
einer  fortwährenden  Strömung  begriffen,  c)  Sie  bilden  den  Inhalt  gewisser  Kanäle, 
von  und  in  welchen  sie  erzeugt,  und  durch  welche  sie  an  die  Oberfläche  des 
Körpers,  oder  in  die  inneren  Räume  desselben  befördert  werden,  —  Absonderungen, 
Stcreta, 


§.  18.  Die  thierische  Zelle. 

Die  Gewebslehre  (Histologie)  beschäftigt  sich  mit  dem  Studium 
der  letzten  anatomischen  Bestandtheile  der  Organe,  und  der  Art 
ihrer  mannigfachen  Verbindung  unter  einander  (Gewebe).  Die  zu 
einem  Gewebe  verbundenen  anatomischen  Bestandtheile  der  Organe 
gehen  aus  kleinen  organischen  Köi*perchen  hei*vor,  welche  Zellen 
heissen.  Zellen,  und  ihre  verschiedenen  Abkömmlinge,  sind  also 
gleichsam  die  Bausteine,  aus  welchen  sich  alle  Gewebe,  alle  Organe 
construiren.  Man  nennt  sie  deshalb  auch  Elementarorganismen. 
Ihre  Grösse  variirt  vielfach  zwischen  0,1'"  (menschliches  Ei),  bis 
herab  zu  0,0077"'  (menschliche  Blutkörperchen). 

Man  Hess  bis  vor  kurzer  Zeit,  die  Zelle  aus  einer  structur- 
losen  Hülle  oder  Zellenmembran,  einem  Kern,  und  einem  halb- 
flüssigen, weichen  Inhalt  zwischen  beiden  bestehen.  Gegenwärtig 
ist  jedoch  die  Zellenmembran,  als  ein  nothwendiges  Constituens  aller 
Zellen,  aufgegeben,  und  nur  die  als  Protoplasma  benannte  Sub- 
stanz des  Zellenleibes  (analog  der  von  Duj ardin  als  Sarcode  be- 
nannten, contractilen  Grundsubstanz  niederer  Thiere),  nebst  dem 
Zellenkern,  werden  als  wesentliche  und  unveräusserliche  Bestand- 
theile der  Zelle  anerkannt.  Was  man  noch  Zellenmembran  nennt, 
ist  nur  die  erhärtete  Grenzschichte  der  Zellensubstanz.  Es  kann 
nämlich  an  der  Oberfläche  des  Protoplasma  eine  solche  Verdichtung 
Platz  greifen,  dass  diese  verdichtete  Schichte  als  eine  Zellenmembran 
imponirt.  Eine  solche  Membran,  muss  sich  begreiflicher  Weise  unter 
dem  Mikroskop  mit  doppeltem  Contour  zeigen.  Dieser  bildet  das 
sicherste  Criterium  ihrer  Existenz,  welche  denn  auch  an  verschie- 
denen Zellen,  z.  B.  an  gewissen  Epithelial-,  wie  auch  an  den  Nerven-, 
Fett-,  Pigment-  und  EnchymzeUon  nicht  weggeläugnet  werden  kann. 
Denn  diese  ZeUen   können   dazu  gebracht  werden,  ihren  Inhalt  zu 


§.  18.  Die  thieriMhe  ZeUe.  81 

entleeren,  worauf  die  Zellenmembran  als  leere  Hülse  oder  leerer 
Becher  zurückbleibt.  Die  als  Speichel-,  Blut-  und  Lymphkörperchen 
bekannten  Zellen,  sowie  die  embryonalen  Bildungszellen,  besitzen 
entschieden  keine  Zellenmembran.  Sie  werden  deshalb  auch  nackte 
Zellen  genannt.  Das  Protoplasma  ist  insofern  das  wichtigste  an 
der  Zelle,  als  in  ihm  die  eigentlichen  Vorgänge  ihres  Lebens  ab- 
laufen. Dasselbe  erscheint  als  eine  weiche,  homogene,  eiweissartige 
Substanz,  öfters  mit  eingestreuten  Körnchen,  von  punktförmigem 
bis  grobkörnigem  Ansehen. 

Der  Zellenkern  (Nudeus  s.  CytohlaMos),  über  dessen  functionelle 
Bedeutung  die  Wissenschaft  noch  keinen  Aufschluss  zu  geben  ver- 
mochte, tritt  in  zwei  Formen  auf:  als  festes,  oder  als  hohles 
Körperchen,  von  0,002'" — 0,005'"  Durchmesser,  welches  entweder 
die  Mitte  des  Zelleninhaltes  einnimmt,  oder  excentrisch  an  der  inneren 
Fläche  der  Zellenhülle  anliegt.  Hohle  Kerne  in  Bläschenform, 
unterliegen  jedoch  einigem  Bedenken.  Allerdings  lassen  sich  an 
einigen  Kernen  (z.  B.  an  jenen  der  Ganglienzellen)  doppelte  Con- 
touren,  als  Beweis  der  Gegenwart  einer  Begrenzungshaut  des  Kernes 
und  somit  seiner  Bläschennatur,  wahrnehmen.  Aber  es  gilt  von 
dieser  Begrenzungshaut  des  Kernes,  was  von  der  Begrenzungshaut 
der  ganzen  Zelle  früher  betont  wurde;  —  sie  ist  höchst  wahrschein- 
lich nur  die  von  der  Grundsubstanz  des  Kernes  differente  Grenzschicht 
desselben.  Hat  man  doch  Zellenkeme,  unter  gewissen  äusseren  Be- 
dingungen, mit  einander  zusammenfliessen  gesehen  (Rollett),  was 
von  häutig  begrenzten  Kernen  nicht  angenommen  werden  kann.  — 
Die  Kerne  enthalten  gewöhnlich  Ein,  zuweilen  auch  zwei  bis  drei 
kleinere,  das  Licht  stark  brechende  Körner,  als  Kernkörper chen 
(NudeoU);  ja  man  spricht  sogar  von  kleinsten  Kemchen  in  den  Kern- 
körperchen,  und  nennt  sie  Nudeololi,  Die  Unbeständigkeit  der  Kern- 
körperchen  macht  es  zweifelhaft,  ob  sie  als  wesentliche  Bestandtheile 
der  2iellen  anzusehen  sind.  —  Es  giebt  ein-  und  mehrkernige  Zellen. 
Einkernige  kommen  seltener  vor,  als  mehrkemige.  —  Das  Fehlen 
der  Kerne  ist  ein  scheinbares  oder  wirkliches.  Ersteres  beruht  ent- 
weder auf  einem  gleichen  Lichtbrechungsvermögen  des  Kernes  und 
des  2iellenleibes,  wodurch  beide  nicht  von  einander  unterschieden 
werden  können,  oder  auf  einem  Maskirtsein  des  Kernes  durch  eine 
undurchsichtige  Zellensubstanz,  wie  z.  B.  in  den  Pigmentzellen. 
Fehlt  der  Kern  wirklich,  wie  in  den  menschlichen  Blutkörperchen, 
80  mag  er  doch  in  der  Jugend  der  Zelle  vorhanden  gewesen,  und 
in  der  foi'tschreitendcn  Entwicklung   derselben   untergegangen  sein. 

Befindet  sich  zwischen  den  Zellen  etwas,  was  nicht  Zelle  ist, 
BD  heisst  dieses  Intercellularsubstanz.  Man  hat  seit  lange  die 
Intercellularsubstanz  als  das  Residuum  des  Mutterbodens  genommen, 
in  welchem  sich  die  Zellen  entwickelten,  und  sie  deshalb  Blastem 

Hjrtl,  Lehrbuch  der  Anatomie.  14.  Aail.  6 


82  §.  19.  LebAnseigeDschaflen  der  ZeMen. 

(von  ßXa(rrav(i),  keimen)  genannt.  Neueren  Ansichten  zufolge,  bilden 
jedoch  die  Zellen  sich  ihre  Intercellularsubstanz  selbst.  Die  Zellen 
sind  das  Primäre,  die  Intercellularsubstanz  das  Secundäre.  —  Nach 
Verschiedenheit  der  physikalischen,  chemischen  und  baulichen  Zu- 
stände der  Intercellularsubstanz,  wird  ihr  Ansehen  bei  verschiedenen 
Geweben  sich  sehr  verschieden  gestalten  müssen.  Das  Verhältniss 
der  Zellen  zur  Intercellularsubstanz,  bietet  alle  denkbaren  Grade 
des  Ueberwiegens  der  einen  über  die  andere  dar.  Allenthalben  und 
unmittelbar  sich  berührende  Zellen  eines  Gewebes,  schliessen  die 
Intercellularsubstanz  gänzlich  aus,  wie  in  gewissen  Epithelien,  sowie 
umgekehrt  die  Intercellularsubstanz  derart  die  Oberhand  über  die 
Zellen  gewinnen  kann,  dass  letztere  gänzlich  in  den  Hintergrund 
treten,  wie  z.  B.  im  Glaskörper  des  Auges,  und  in  der  Wharton'schen 
Sülze  des  Nabelstranges. 


§.19.  Lebenseigenschaften  der  Zellen. 

Das  Leben  des  Gesammtorganismus  beruht  auf  dem  Theilleben 
der  Zellen.  Das  Leben  der  Zellen  äussert  sich  durch  Ernährung, 
Wachsthum,  Veränderung  der  Zellensubstanz  (Zelleninhalt),  Rück- 
wirkung auf  die  Umgebung  der  Zelle,  sowie  durch  Fortpflanzung 
(Vermehrung  der  Zellen)  und  selbstthätige  Bewegungserscheinungen. 
Diese  Thätigkeiten,  zu  welchen  bei  gewissen  Zellen  (Nervenzellen) 
selbst  Empfindung  sich  gesellt,  bilden  den  Inbegrifif  des  Zellenlebens. 
Wer  uns  eine  Zelle  künstlich  erzeugen,  und  das  Leben  derselben 
gründlich,  d.  h.  nicht  blos  formell  (der  Erscheinung  nach)  verstehen 
lehren  wird,  der  hat  auch  das  uralte  Welträthsel  gelöst,  welches 
eine  vieltausendjährige  Sphinx  so  sorgfältig  hütet.  Wird  er  je  ge- 
boren werden?  — 

Wenn  die  Zellen  leben,  müssen  sie,  wie  alles  Lebendige,  dem 
StoflFwechsel  unterliegen,  d.  h.  sie  müssen  zum  Ersatz  ihrer  eigenen, 
durch  den  Lebensact  verbrauchten  Stoffe,  neues  Material  in  ge- 
nügender Menge  aus  ihrer  Umgebung  aufnehmen,  dasselbe  sich 
assimiliren,  und  was  sie  nicht  verbrauchen  können,  wieder  aus  sich 
abgeben.  Die  durch  das  Blut  in  alle  Theile  des  lebendigen  Körpers 
ausgesendete  Ernährungsflüssigkeit,  liefert  das  Material,  aus  welchem 
der  Leib  der  Zelle  sich  durch  Tränkung  (Imbibition)  ernährt.  Die 
Zelle  verbraucht  die  aufgenommenen  Stoffe  theils  zu  ihrem  eigenen 
Wachsthum,  theils  verwandelt  sie  dieselben,  um  sie  in  anderer 
Foim  als  sie  gekommen  sind,  wieder  nach  aussen  zurückzustellen. 
Eine  fortwährende  Au&ahme  ohne  Abgabe,  wäre  ja  schon  aus  räum- 
lichen Verhältnissen  nicht  denkbar.  Was  die  Zelle  aus  sich  abgiebt, 
ist  für  die  Bedürfnisse  des  Organismus   1.  entweder  nutalos,  selbst 


§.  19.  Lebenieigensehaften  der  Zellen.  83 

schädlich,  und  muss  als  Auawurfsstoff  aus  dem  Körper  ausgeschieden 
werden,  oder  2.  was  die  Zelle  in  sich  gebildet  hat,  dient  zur  Er- 
füllung feraerer  bestimmter  Zwecke  im  organischen  Haushalte,  wie 
z.  B.  die  Absonderungen  der  Drüsenzellen ;  oder  endlich  3.  die  Aus- 
scheidungen der  Zelle  nehmen  bestimmte  Formen  an,  lagern  sich 
um  die  Zellen  heioim  in  bestimmten  Gruppirungen,  imd  vermehren 
das  Material  der  Intercellularsubstanz  um  jede  einzelne  Zelle,  oder 
um  Gruppen  von  Zellen  herum.  Bei  der  ersten  und  zweiten  Ver- 
wendungsart, kann  die  Zelle  selbst  durch  Berstung  (Dehiscenz)  zu 
Qrunde  gehen,  und  mit  dem  ausgeschiedenen  Inhalt  zugleich  entfernt 
werden,  wie  bei  gewissen  Drüsenzellen. 

Die  Vermehrung  der  Zellen  kann  nur  auf  zweierlei  Weise  ge- 
dacht werden :  entweder  durch  Bildung  neuer  Zellen,  zwischen  und 
unabhängig  von  den  alten,  oder  durch  Bildung  neuer  Zellen  aus  den 
alten.  Man  nannte  die  erste  £ntstehungsform  die  intercellulare, 
auch  exogene,  oder  freie,  die  zweite  aber  die  elterliche 
(endogene). 

Die  freie  oder  exogene  Zellenbildung  wurde  lange  Zeit  für 
die  einzige  Vermehrungsart  der  Zellen  gehalten.  Der  Gründer  der 
Zellenlehre,  Schwann,  hielt  sie  dafür.  Nach  seiner  Ansicht  soll 
sich  in  der  formlosen  organisirbaren  Materie  (Blastem),  eine  Menge 
anmessbar  kleiner  Elementarkörnchen  bilden,  welche  sich  zu 
Kiümpchen  aggregiren.  Diese  Klümpchen  sind  die  Kerne  der  ent- 
stehenden Zellen.  Um  die  Kerne  lagert  sich,  durch  wiederholte 
Niederschläge  aus  dem  Blastem,  eine  Substanzschichte  ab,  welche 
sich  zur  Zellenmembran  verdichtet.  Durch  Imbibition  aus  dem 
Blastem,  füllt  sich  der  Raum  zwischen  Kern  und  Zellenmembran 
mit  dem  Zelleninhalte,  durch  dessen  Zunahme  die  Zellenmembran 
immer  mehr  und  mehr  vom  Kerne  abgehoben  wird,  und  zwar  ent- 
weder rings  um  den  Kern  henim,  wodurch  der  Kern  im  Centrum 
der  Zelle  zu  liegen  kommt,  oder  die  Zellenmembran  hebt  sich  nur 
von  der  Einen  Seite  des  Kernes  ab,  wodurch  dieser  an  oder  in  der 
Wand  der  Zelle,  also  excentrisch  lagern  muss.  Was  vom  Blastem, 
nach  vollendeter  Zellenbildung,  noch  erübrigt,  ist  und  bleibt  Inter- 
cellularsubstanz. —  Die  Beobachtungen  über  Zellenentwicklung  im 
bebrüteten  Ei,  und  in  pathologischen  Neubildungen,  haben  die  freie 
Zellenzeugung  fast  um  alle  ihre  Anhänger  gebracht.  Virchow  spricht 
es  unumwunden  aus:  omnis  ceUtUa  ex  cellula. 

So  ist  denn  nun  die  zweite,    die   elterliche  Vermehrungsart 

der  ZJellen,  gegenwärtig   fast  zur  ausschliesslichen  Geltung  gelangt. 

Es  muss  den  Fortschritten  der  Zellenkunde  vorbehalten  bleiben,  ob 

mit  Recht  oder  Unrecht.  Der  Analogie  nach,  sollte,  da  kein  organisches 

Wesen  elternlos^  d.  h.  durch  Urzeugung,  entsteht,  und  das  omrie  vivum 

6» 


84  §.  19.  Lebensei^ntehaften  der  Zellen. 

ex  VIVO,  für  alles  Lebendige  gilt,  jede  Zelle  nur  aus  einer  anderen, 
aus  einer  Mutterzelle  entstehen  können. 

Der  Vorgang  bei  dieser  Art  von  Zellenneubildung  resumirt  sich 
in  Folgendem.  In  der  Mutterzelle  verlängert  sich  der  Kern,  er  wird 
oval,  seine  Kernkörperchen  rücken  auseinander ;  er  schnürt  sich  zu 
zwei  Kernen  ab.  Gleichzeitig  beginnt  auch  das  den  Kern  um- 
lagernde Protoplasma,  von  einer,  oder  von  zwei  entgegengesetzten 
Seiten  her,  sich  einzuschnüren.  Dadurch  entsteht  oberflächlich  an 
der  Zelle  eine  Furche.  Diese  wird  immer  tiefer,  und  schneidet 
zuletzt  ganz  durch,  so  dass  nun  zwei  Zellen  statt  Einer  vorliegen. 
—  Eine  zweite  Art  der  elterlichen  Zellenbildung,  welche  man  die 
endogene  zu  nennen  pflegt,  besteht  darin,  dass  die  in  der  Mutter- 
zelle durch  Theilung  des  ursprünglichen  Kernes  entstandenen  neuen 
Kerne  (es  können  deren  30 — 40  in  einer  einzigen  Mutterzelle  vor- 
kommen), vom  Zelleninhalt  eine  umgebende  Hülle  erhalten,  und 
dadurch  zu  neuen  Protoplasmaballen  werden.  Die  trächtige  Zelle 
(sit  venia  verbo)  wird  hiebei  grösser  und  ihre  Hülle  dünner,  bis  sie 
endlich  dehiscirt,  und  die  Brut  der  jungen  Zellen  Freiheit  und  Selbst- 
ständigkeit erlangt.  Unter  den  pathologischen  Neubildungen  kennt  man 
die  endogene  Zellenbildung  nur  bei  den  Perl-  imd  Markgeschwülsten, 
der  Epulis,  u.  m.  a.  —  Jede  endogen  entstandene  Zelle  kann,  wenn 
sie  frei  geworden,  selbst  wieder  Mutterzelle  werden,  und  dieser 
Process  sich  sofort  oft  wiederholen. 

Eine  Vervielfälti^^g  der  ZeUen  durch  Sprossen,  welche  sich  von  der  Mutter- 
zeUe  trennen,  kommt  häufig  in  der  Pflanzenwelt  vor. 

Eine  höchst  merkwürdige,  und  erst  in  der  neuesten  Zeit  ge- 
würdigte Lebenserscheinung  gewisser  Zellen,  ist  ihre  Bewegung  (zu- 
erst von  Siebold,  1841,  an  den  Embryonalzellen  der  Planarien 
beobachtet).  Sie  tritt  1.  als  Veränderung  der  Form,  und  2.  als  Orts- 
veränderung (Wandern)  auf,  und  lässt  sich  an  farblosen  Blut- 
körperchen, an  den  Furchungskugeln  des  befruchteten  Eies,  an 
Lymph-,  Speichel-  und  Eiterkörperchen  gut  beobachten.  Niedere 
Thiere,  welche  ganz  und  gar  aus  Protoplasmasubstanz  ohne  alle 
Differenzirung  einzelner  Gewebe  oder  Organe  bestehen,  wie  die 
Amoeben,  fesseln  das  Auge  durch  die  bizarre  Mannigfaltigkeit  ihrer 
Formveränderung.  Man  sieht  von  der  Oberfläche  der  genannten 
Körperchen,  Fortsätze  sich  erheben,  sich  verästeln,  unter  einander 
verfliessen,  sich  wieder  einziehen,  und  neuerdings  Tiervorsprossen. 
Die  Zelle  selbst  wird  während  dieser  Vorgänge  länglich,  höckerig, 
ästig,  sternförmig,  um  bald  wieder  in  ihre  ursprüngliche  runde  Form 
zurückzukehren.  Die  Ortsveränderung  (Wandern)  wird  dadurch  aus- 
geführt, dass  sich  ein  Fortsatz  des  Zellenleibes  vorwärts  streckt, 
und  der  Rest  der  Zelle  sich  an  diesem  Fortsatz  nachzieht. 


§.  80.  Metomorphote  der  Zellen.  85 

Mit  den  Bewegungserscheinungen  an  den  Zellen,  hängt  auch 
eine  innere  Bewegung  der  punktförmigen  Körnchen  im  Protoplasma 
der  Zelle  zusammen.  Es  scheint,  dass  diese  Bewegung  blos  durch  die 
Zusammenziehungen  des  Zellenprotoplasma  hervorgerufen  wird. 

Das  Leben  der  Zellen  endet  auf  verschiedene  Weise.  Sie 
gehen  entweder  durch  Abfallen  von  dem  Boden  zu  Grunde,  auf 
welchem  sie  lebten,  wie  die  oberflächlich  gelegenen  Zellen  der  Epi- 
dermis und  der  Epithelien,  oder  sie  sterben  ab  durch  chemische 
Umwandlung  und  Verödung  ihrer  Substanz.  Ob  die  Stoffe,  welche 
man  auf  chemischem  Weg,  aus  den  Zellen  nach  ihrem  Tode  dar- 
stellt, auch  während  des  Lebens  der  Zelle  schon  als  solche  in  ihr 
enthalten  waren,  ist  eine  bis  jetzt  unbeantwortete  Frage. 


§.  20.  Metamorphose  der  Zellen. 

Alles  was  im  Organismus  nicht  2^11e  ist,  ist  aus  Zellen  ent- 
standen. Die  Zellen  müssen  also  sehr  verschiedenartige  Metamor- 
phosen eingegangen  haben.     Die  wichtigsten  derselben  sind: 

a)  Die  Zellen  bleiben  isolirt,  und  ihre  Metamorphose  beschränkt 
sich  blos  auf  Veränderung  ihrer  Form,  Zunahme  ihrer  Grösse,  und 
Umwandlung  ihrer  Substanz.  Hieher  gehören  die  in  einem  flüssigen 
Blastem  frei  schwimmenden  Blut-,  Lymph-,  Schleim-  und  Eiter- 
körperchen,  die  Fett-  und  Pigmentzellen,  und  die  durch  ein  zähes 
Bindungsmittel  flächenhaft  aneinandergereihten  Zellen  der  Epithelien. 
Die  isolirten  Zellen  können  sich  abplatten,  sich  verlängern,  rundlich 
bleiben,  oder  eckig,  spindelförmig  werden,  oder  durch  ramificirte 
Auswüchse  ein  ästiges  Ansehen  gewinnen,  oder  durch  Vertrocknung 
ihrer  Substanz,  zu  einem  Plättchen  oder  Schüppchen  werden,  wie 
in  der  Oberhaut. 

b)  Die  Zelle  kann,  durch  Ablagerung  auf  ihre  äussere  Ober- 
fläche, sehr  verschiedentlich  verändert  werden.  So  entstehen  z.  B. 
durch  kömige  Deposita  von  aussen,  Henle's  complicirte  Zellen, 
d.  i.  kugelige  Körper,  deren  Mittelpunkt  eine  Zelle  bildet  (gewisse 
Ganglienzellen) . 

c)  Die  Zellen  werden  sternförmig,  und  schicken  Fortsätze  oder 
Aeste  aus,  welche  mit  ähnlichen  Foi-tsätzen  benachbarter  Zellen,  oder 
mit  Fasern  anderer  Art  sich  verbinden.  So  die  Knochen-  und  Binde- 
gewebskörperchen,  die  sternförmigen  Pigmentzellen,  und  die  Gang- 
lienzellen. 

d)  Die  Zellen  lagern  sich  der  Reihe  nach  aneinander,  ver- 
wachsen, und  werden  durch  Schwinden  ihres  Inhaltes  und  ihrer 
Zwischenwände,  zu  einer  continuirlichen  Röhre.  Drüsenschläuche 
und  Nervenröhren. 


86  §•  Si*  Bindegewebe. 

e)  Die  nach  zwei  Richtungen  verlängerten  Zellen,  reihen  sich 
der  Länge  nach  aneinander,  und  zerfasern  sich  in  derselben  Rich- 
tung zu  Bündeln  longitudinaler  Fäden  (Bindegewebsfasern),  oder 
sie  reihen  sich  nicht  aneinander,  sondern  verlängern  sich,  jede 
einzeln  sehr  bedeutend,  mit  fibrillärer  Umwandlung  ihres  Inhaltes 
(Muskelfasern). 

f)  He  nie  stellte  die  Ansicht  auf,  dass  nicht  alle  Kerne  durch 
umhüllendes  Protoplasma  zu  Zellenleibern  werden,  sondern  durch 
Verlängerung  und  Veinvachsung  mehrerer  in  linearer  Richtung,  in 
sehr  feine  Fasern,  welche  er  Eernfasern  nannte,  übergehen.  Die 
Kernfaser  jedoch  ist  wohl  nur  eine  elastische  Faser  (§.  24).  Virchow's 
und  Do  nders*  Untersuchungen  bestreiten  die  Entstehung  der  Kern - 
fasern  aus  Kernen,  und  nehmen  auch  für  sie  die  Entstehung  aus 
spindelförmig  verlängerten  Zellen,  welche  den  früh  verschwindenden 
Kern  sehr  enge  umschliessen,  in  Anspruch. 

Die  Entstehung  der  Gewebe  aus  Zellen  föUt,  wie  alle  Entwicklungsprocesse, 
der  Physiologie  anheim,  und  es  konnten  deshalb  nur  die  äussersten  Umrisse 
dieses  Vorganges  hier  gegeben  werden,  was,  insofern  es  die  verschiedenen  Gewebe 
auf  gleichartige  Ursprungsverhältnisse  zurückführt,  und  das  einfache  Gesetz  kennen 
lehrt,  welches  der  Entwicklung  des  Mannigfachen  zu  Grunde  liegt,  seines  Nutzens 
nicht  entbehrt. 

Schwann  hat  das  grosse  Verdienst,  die  Zellentheorie,  als  einen  der 
ergiebigsten  Fortschritte  der  neueren  Physiologie,  welcher  auf  die  ganze  Gestaltung 
derselben  den  wichtigsten  Einfluss  Übte,  geschaffen  zu  haben,  nachdem  durch  die 
Vorarbeiten  von  Raspail  und  Dutrochet,  die  Zelle  als  organisches  Element 
anerkannt,  und  durch  J.  Müller,  Purkinje  und  Valentin,  auf  die  Verwandt- 
schaft verschiedener  thierischer  Zellen  mit  den  Pflanzenzellen  hingewiesen  wurde. 
Von  einer  massenhaften  Literatur  nenne  ich  nur  die  bedeutsamsten  Arbeiten: 
Th,  Schwärm,  mikroskopische  Untersuchimgen  über  die  Uebereinstimmung  in  der 
Structur  und  dem  Wachsthume  der  Pflanzen  und  Thiere.  Berlin,  1839.  —  HenU, 
aUgemeine  Anatomie,  pag.  122,  wo  auch  das  Geschichtliche  ausführlich  zur 
Sprache  kommt.  —  M.  Schnitze,  im  Archiv  für  Anat  1860  u.  1861;  —  Brücke,  die 
Elementarorganismen,  in  dem  akad.  Sitzungsberichte,  1861;  —  Reichert,  Über  die 
Reformen  in  der  Zellenlehre.  Berlin,  1863;  —  W,  Kühne,  über  Protoplasma  und 
dessen  Contractilität  Leipzig,  1864.  —  Ch,  Rohm,  Anatomie  et  Physiologie  cellu- 
laires.  Paris,  1873,  und  HeUztnofim,  über  Protoplasma,  in  den  Wiener  akad. 
Sitzungsberichten,  1873. 

Da  es  ganz  gleichgültig  ist,  in  welcher  Ordnung  die  einzelnen  Gewebe 
abgehandelt  werden,  indem  jedes  derselben  für  sich  ein  Ganzes  bildet,  so  erlaubte 
ich  mir,  die  einfacheren  den  complicirten  voranzuschicken. 


§.21.  Bindegewebe. 

Das  Bindegewebe  (Zellgewebe  oder  Zellstoff  der  älteren 
Autoren^  Textus  ceUvlosus)  bildet  eines  der  allgemeinsten  und  am 
meisten  verbreiteten  organischen  Gewebe,  indem  es  theils  die  Organe 
umhüllt  und  unter  einander  verbindet,  theils  die  Lücken  und  Räume 


§.  21.  Bindegewebe.  87 

ausfüllt^  welche  durch  die  Nebeneinanderlagerung  und  theilweise 
Berührung  derselben  gebildet  werden,  theils  in  den  Bau  der  Organe 
selbst  eingeht,  und  das  Stütz-  und  Bindungsmittel  ihrer  differenten 
Bestandtheile  abgiebt.  Es  wird  daher  ein  peripherisches  oder 
umhüllendes,  und  ein  organisches  oder  parenchymatöses 
Bindegewebe  unterschieden. 

Die  letzten  mikroskopischen  Elemente  dieses  Gewebes  sind 
keine  Zellen  im  histologischen  Sinne,  wie  es  der  Name  Zellgewebe 
vermuthen  liesse,  sondern  solide,  glattrandige,  weiche,  unverästelte, 
und  deshalb  auch  nie  untereinander  Verbindimgen  eingehende,  glas- 
helle, nur  bei  grösserer  Anhäufung  weisslich  erscheinende,  sanft 
wellenförmig  geschwungene  Fäden  (Bindegewebsfasern)  von 
0,0005'"  Durchmesser  im  Mittel,  welche  wie  die  Haare  einer  Locke, 
zu  platten  Bündeln  zusammentreten,  an  welchen  ein  eigenthümliches, 
der  Länge  nach  gestreiftes  Ansehen  unter  dem  Mikroskop,  die  Zu- 
sammensetzung derselben  aus  Fasern  verräth.  Wie  angelegentUch 
auch  sich  die  Mikrologen  mit  diesen  Fasern  abgegeben  haben,  so 
wurde  doch  Anfang  und  Ende  derselben  noch  nicht  sicher  erkannt. 

Die  Faserbündel  des  Bindegewebes  verflechten  sich  vielfältig, 
und  tauschen  häufig  kleinere  Fadenfascikel  wechselseitig  aus,  wodurch 
ihr  Zusammenhang  inniger,  aber  zugleich  auch  verworren  wird,  so 
dass  es  zur  Entstehung  von  interstitiellen  Lücken  und  Spalten 
kommt.  Die  Bündel  haben  keine  besondere  Hüllungsmembran,  und 
ihre  Fasern  lassen  sich  duixh  Nadeln  auseinander  ziehen,  indem 
sie  nur  durch  eine  gallertartige,  homogene,  oder  fein  granulirte 
Zwischensubstanz  lose  zusammenhalten.  Die  verbindende  Zwischen- 
substanz hat  aber  eine  andere  chemische  Zusammensetzung  als 
die  eigentlichen  Bindegewebsfasern,  löst  sich  durch  Einwirkung  von 
Reagentien  (Kalk-  oder  Barytwasser,  chromsaures  Kali)  auf,  und 
gestattet  den  Fasern  sich  von  einander  zu  geben,  so  dass  man  sie 
selbst  vereinzelt  zur  Anschauung  bringen  kann.  Zwischen  den 
Bündeln  finden  sich,  theils  reihenweise  auf  einander  folgend,  theils 
unregelmässig  vertheilt,  wirkliche  kernhaltige  ZeUen  (im  histo- 
logischen Sinne)  eingestreut,  und  zwar  in  sehr  veränderlicher  Menge, 
und  in  den  verschiedensten  Uebergangsformen,  von  der  rundlichen 
und  spindelförmigen,  bis  zur  strahlig  verästelten  Gestalt.  Diese  Zellen 
führen  den  Namen  der  Bindegewebskörperchen.  Die  Bindegewebs- 
fasern entwickeln  sich  im  Embryoleben  aus  Zellen.  Diese  ZeUen 
treiben  Fortsätze  aus,  welche  zu  langen  und  feinen  Fasern  werden,  und 
in  immer  feinere  Fäden  (Bindegewebsfasern)  auswachsen.  Die  Reste 
der  Zellen  aber  sind  die  eben  genannten  Bindegewebskörperchen. 
Andere  Autoren  dagegen  behaupten,  dass  die  Bindegewebsfasern 
nicht  aus  den  ZeUen,  sondern  aus  einer  zwischen  den  Zellen  befind- 
Uchen^  homogenen  Substanz,  durch  Zerklüften  derselben  entstünden. 


88  §•  Sl-  Bindegewebe. 

—  Recklingshausen  hat  in  den  interstitiellen  Lücken  des  Binde- 
gewebes, noch  eine  besondere  Art  von  Zellen  entdeckt,  welche 
kleiner  als  die  Bindegewebskörperchen  sind,  als  contractile  Proto- 
plasmagebilde Bewegungserscheinungen  zeigen,  und  wirkliche  Orts- 
veränderungen, selbst  in  weiten  Strecken  ausfuhren. 

Das  Bindegewebe  fuhrt  reichliche  Blutgefässe.  Ob  sich  Nerven 
in  ihm  verlieren,  oder  es  blos  durchsetzen,  um  zu  anderen  Organen 
zu  gelangen,  lässt  sich  mit  Bestimmtheit  nicht  sagen. 

Eine  erst  in  der  neuesten  2feit  bekannt  gewordene  Form  des 
Bindegewebes,  ist  das  reticuläre.  Es  besteht  aus  einem  Netze 
feinster  Fasern,  welche  als  verästelte  Fortsätze  von  Zellen,  sich 
vielfaltig  untereinander  verbinden,  oder,  es  tritt  an  die  Stelle  des 
Zellennetzes,  ein  Netz  von  feinen,  glatten,  kernlosen  Fasern,  welche 
an  den  SteUen  ihres  wechselseitigen  Begegnens,  zusehends  breiter 
erscheinen.  In  den  Maschen  und  Lücken  dieses  Netzes,  lagern  die 
übrigen  Bestandtheile  des  betreffenden  Organs.  Das  reticuläre  Binde- 
gewebe giebt  also  für  diese  Bestandtheile  gleichsam  die  Stütze  oder 
das  Gerüste  ab.  Die  Stützfasern  der  Netzhaut,  das  Reticulum  der 
Lymphdrüsen  und  anderer  adenoider  Organe,  gehören  hieher. 

Den  Bindegewebsfasern  sind  häufig  elastische  Fasern  (§.  22 
und  24)  beigemischt.  Grössere  Bindegewebsfaserbündel  sieht  man 
öfters,  besonders  bei  Anwendung  von  Essigsäure,  von  elastischen 
Fasern  in  Spiraltouren  umwunden,  selbst  von  membranartigen  homo- 
genen Streifen  derselben  Art,  im  Inneren  durchsetzt  (He nie). 

Reichert*s  Ansicht  znfolge,  wären  die  Streifen  des  Bindegewebes,  nicht  der 
mikroskopische  Ansdrack  seiner  fftserigen  Zusamttiensetziing ,  sondern  die  Folge 
von  Faltungen,  welche  die  sonst  homogene,  stmctnrlose  Substanz  des  Binde- 
gewebes eingeht.  Diese  Faltungen  verschwinden,  wenn  man  das  untersuchte  Stück 
Bindegewebe  mit  einem  Glasplättchen  breitdrückt,  und  die  vergleichend  anatomische 
Untersuchung  des  Bindegewebes  bei  Thieren,  hat  die  faserigen  Elemente  desselben 
häufig  nicht  nachweisen  können.  Die  leichte  Spaltbarkeit  des  Bindegewebes  in 
einer  gewissen  Richtung,  soll  nach  Reichert  in  der  Gegenwart  von  Spaltöffnungen, 
durch  welche  die  homogene  Masse  gewissermassen  aufgeschlitzt  würde,  begründet 
sein.  —  Allerdings  ist  die  nicht  gefaserte  Beschaffenheit  mancher  Bindegewebs- 
arten  eine  unläugbare  Thatsache.  Kölliker  hat  für  diese  Form  des  Bindegewebes, 
den  Namen  homogenes  Bindegewebe  eingeführt  (Schleimgewebe  nach 
Virchow),  obwohl  in  demselben  das  obenerwähnte  reticuläre  Stützwerk  feinster 
Fasern  keineswegs  fehlt.  Andererseits  kann  der  faserige  Bau  vieler  Bi^degewebs- 
arten,  durch  das,  an  den  Rissstellen  von  selbst  eintretende  ZerfaUen  der  stärkeren 
Bündel  in  feinere  Fasern,  nicht  verkannt  werden.  W.  Müller*s  schöne  Unter- 
suchungen zeigten  uns,  dass  das  Bindegewebe  im  polarisirten  Licht  doppelbrechend 
ist,  und  die  optische  Axe  der  Längsrichtung  der  Fasern  entspricht  —  Uebergänge 
von  gefasertem  in  nicht  gefasertes  oder  homogenes  Bindegewebe,  lassen  sich  an 
vielen  Orten  nachweisen.  Das  nicht  gefaserte  Bindegewebe,  ist  aller  Wahrschein- 
lichkeit nach,  nur  eine  unvollkommene  Entwicklungsstufe  des  g^faserten. 

Beicheri,  Bemerkungen  zur  vergleichenden  Natarfonchung.  Dorpat,  1845. 
—  Leydig,  Lehrbuch  der  Histologie  des  Menschen  und  der  Thiere.  Frankfort  a.  M., 


§.  22.  EigenBehftft«n  de«  Bindegewebea.  89 

1857,  1.  Theil.  2.  Abschn.  —  BolleU,  Untersuchiingen  über  die  Structor  des  Binde- 
gewebes, in  den  Sitzungsberichten  der  kais.  Akademie.  XXX.  Bd.,  and  in  Stricker^e 
Handbnch  der  Gewebslehre.  —  A.  K'ölliker,  neue  Untersuchungen  über  die  Ent- 
wicklung des  Bindegewebes.  Würzburg,  1861.  —  F,  BoU,  Bau  und  Entwicklung 
der  Gewebe,  im  Archiv  für  mikrosk.  Anat  7.  Band.  —  L,  Löwe,  Histologie  des 
Bindegewebes.  Oesterr.  med.  Jahrbücher.  1874. 


§.  22.  Eigenschaften  des  Bindegewebes. 

Die  physikalischen  Eigenschaften  des  Bindegewebes  ent- 
sprechen seiner  physiologischen  Bestimmung.  Seine  Weichheit  und 
Dehnbarkeit  erlaubt  den  Organen,  welche  es  verbindet,  einen  ge- 
wissen Spielraum  von  Bewegung  und  Verschiebung,  seine  Elasticität 
hebt  die  schädlichen  Wirkungen  der  Zerrung  auf,  seine  Zusammen- 
setzung aus  geschlängelten ,  gekreuzten  und  vielfach  verwebten 
Bündeln,  sichert  seine  Ausdehnbarkeit  in  jeder  Richtung. 

Das  chemische  Verhalten  ist  selbst  für  Anatomen  kennens- 
werth.  Eine  besondere,  für  die  mikroskopische  Behandlung  des 
Bindegewebes  wichtige  Veränderung,  erleidet  das  Bindegewebe  durch 
schwache  Essigsäure.  Es  verliert  sein  gestreiftes  Ansehen,  die  Con- 
touren  der  einzelneu  Fasern  verschwimmen,  seine  Bündel  quellen 
auf  und  werden  durchsichtig,  wodurch  die  beigemengten  elastischen 
Fasern,  welche  unverändert  bleiben,  scharf  hervortreten.  Ein  noch 
kräftigeres,  und  alles  Bindegewebe  in  kurzer  Zeit  auflösendes  Reagens, 
ist  ein  Gemenge  von  Salpetersäure  und  chlorsaurem  Kali.  Man 
bedient  sich  desselben,  um  durch  Auflösung  des  parenchymatösen 
Bindegewebes  in  den  Organen,  die  übrigen  histologischen  Bestand- 
theile  derselben  besser  zur  Ansicht  zu  bringen.  —  In  kaltem  Wasser, 
Alkohol  und  Aether,  bleibt  das  ge faserte  Bindegewebe  lange  unver- 
ändert, und  fault  überhaupt  schwer.  In  siedendem  Wasser  schrumpft 
es  anfangs  stark  ein,  wobei  die  charakteristische  Längsstreifung  des- 
selben, als  Ausdruck  seiner  Zusammensetzung  aus  Fasern,  verloren 
geht.  Durch  Kochen  des  Bindegewebes  erhält  man  Leim,  welcher 
durch  Tannin,  aber  nicht  durch  Säuren  ge&llt  wird,  und  bei  der 
Behandlung  mit  Schwefelsäure,  Leucin  undQlycocoll  (Leimsüss)  giebt. 

Von  den  vitalen  Eigenschaften  des  Bindegewebes  muss 
seine  leichte  Wiedererzeugung,  wenn  es  durch  Krankheit  oder  Ver- 
wundung zerstört  wurde,  und  seine  Theilnahme  an  dem  Wieder- 
ersatze  von  Substanzverlusten,  an  der  Narbenbildung,  und  an  der 
Zusammenheilung  getrennter  Organe,  hervorgehoben  werden.  Die 
Beobachtung  am  Krankenbette  lehrt,  dass  das  Bindegewebe  das 
einzige  und  schnell  geschaffene  Ersatzmittel  jener  Organe  wird,  deren 
krankhafte  Zustände  eine  Entfernung  derselben  aus  dem  lebenden 
Organismus  durch  chirurgiBcheii  Eingriff  nothwendig  machten.    Die 


«tU  §.  88.  Bindegewebsmembm&en. 

SchneUigkeit,  mit  welcher  unter  besonderen  Umständen  krankhafte 
Ergüsse  im  Bindegewebe  auftauchen  und  verschwinden,  so  wie  seine 
absolute  Vermehrung  und  Wucherung  in  Folge  gewisser  Erankheits- 
processe,  belehren  hinlänglich  über  die  Energie  der  in  ihm  waltenden 
vegetativen  Processe.  —  Bindegewebe,  welches  nicht  von  Nerven 
durchsetzt  wird,  scheint  fiir  Reize  nicht  empfanglich  zu  sein. 

Hat  man  ein  Bindegewebsbttndel  mit  Essigsäure  behandelt,  so  bemerkt  man 
sehr  oft,  in  dem  Maasse,  ab  das  Object  durch  die  Einwirkung  der  Säure  durch- 
sichtig wird  und  aufquillt,  eine  schnürende  Faser  in  Spiraltouren  um  dasselbe 
laufen.  Diese  Faser  ist  feiner  als  die  Bindegewebsfasern,  und  hat  dunklere  Con- 
touren.  Ist  ihre  Continuität  irgendwo  unterbrochen,  so  scheint  sie  sich  vom 
Bündel  loszudrehen;  ist  sie  unverletzt,  so  bedingt  sie,  weg^n  des  Aufschwellens 
des  Bündels,  Einschnürungen  desselben.  Dass  solche  Fasern  an  allen  Bündeln 
existiren,  muss  verneint  werden,  da  man  häufig  vergebens  nach  ihnen  sucht  In 
dem  fadenfbrmigen  Bindegewebe,  welches  man  an  der  Basis  des  Gehirns  zwischen 
Arachnoidea  und  Pia  mater  erhalten  kann,  finden  sie  sich  auf  leicht  zu  erkennende 
Weise.  Sie  sind,  ihrem  anatomischen  und  chemischen  Verhalten  nach,  mit  den 
Bindegewebsfasern  nicht  identisch,  können  Umwicklungsfasern  genannt  werden, 
und  gehören,  aller  Wahrscheinlichkeit  nach,  dem  elastischen  Gewebe  an,  von 
welchem  später.  Nach  Anderen  entstehen  dagegen  die  Einschnürungen  nicht  durch 
Umwicklung^fasem,  sondern  dadurch,  dass  eine  das  Bindegewebsbündel  umhüllende 
elastische  Scheide,  durch  das  Aufquellen  des  Bündels  stellenweise  einreisst,  das 
Bündel  sich  durch  die  Spalten  der  Scheide  vordrängt,  und  dadurch  eine  knotige  ^^'^^ 
wulstige  Form  bekommt,  während  das  zwischen  je  zwei  Wülsten  befindliche,  nicht 
geborstene  Stück  der  Scheide,  die  Einschnürungen  des  Bündels  bedingt  (Reichert, 
Leydig). 

An  vielen  Bündeln  ohne  Umwicklungsfasem,  bemerkt  man  dunkelrandige, 
spindelförmige^  in  die  Länge  gezogene  Kerne,  welche  zuweilen  ganz  deutlich  an 
beiden  Enden  in  Fäden  auslaufen,  die  mit  ähnlichen  Fäden  eines  nächst  vorderen 
und  hinteren  Kernes  zusammenhängen,  und  eine  absatzweise  stärker  und  schwächer 
werdende,  aber  continuirliche  dunkle  Faser  bilden,  die  von  Ilenle  als  Kernfaser 
bezeichnet  wurde. 


§.  23.  Bindegewebsmeiiibranen. 

Wie  früher  erwähnt  (§.  21),  unterscheiden  wir  ein  umhüllen- 
des und  ein  parenchymatöses  Bindegewebe.  In  beiden  Fällen 
bindet  es,  in  dem  ersten,  Organ  an  Organ,  in  dem  zweiten  Organ- 
theile  unter  einander.  Hat  das  Bindegewebe  eine  grosse  Flächen- 
ausdehnung gewonnen,  so  spricht  man  von  Bindegewebshäuten 
(Membranae  cellularei).  Nehmen  solche  Häute  die  Form  von 
cylindrischen  Hüllen  um  langgezogene  Organe  an ,  «o  heissen  sie 
Bindegewebsscheiden  (Vaginae  cdlulares).  Liegt  flächenartig 
ausgebreitetes  Bindegewebe  unter  der  äusseren  Haut,  unter  einer 
Schleimhaut  oder  serösen  Haut,  und  verbindet  es  diese  mit  einer 
tieferen  Schichte,  so  wird  es  Teactus  ceUuiaria  subcuiaiMus,  gubmueasus, 
iitb§ara§u9  genannty  and  in  diesem  Zustande  wohl  auch  ala  besondere 


9.  S4.  ElMtischM  0«irab6.  91 

Membran  beschrieben.  Häuft  es  sich  aber  in  grösseren  Massen  an, 
in  welche  andere  Gebilde  eingeschaltet  werden,  so  heisst  es  Binde- 
gewebs! ag  er  (Stroma  cdluLare). 

Der  Begriff  einer  Bindegewebshaut  wird  in  sehr  verschiedenem 
Sinne  genommen.  Versteht  man  darunter  jedes  in  der  Fläche  aus- 
gebreitete und  condensirte  Bindegewebe,  so  giebt  es  sehr  viele 
Bindegewcbshäutc.  Wird  der  Zusammenhang  solcher  Häute  fester, 
ihr  Gewebe  dichter,  imd  stehen  sie  überdies  in  einer  umhüllenden 
Beziehung  zu  den  Muskeln,  so  werden  sie  auch  als  Binden,  Fasciae 
aufgeführt,  in  welchen  die  Faserung  schon  mit  freiem  Auge  zu  er- 
kennen ist,  und  welche  daher  vorzugsweise  fibrös  genannt  werden. 
Da  ihre  Festigkeit  und  Stärke  mit  der  Entwicklung  der  von  ihnen 
umschlossenen  Muskeln  übereinstimmt,  also  bei  schwachen  Muskeln 
geringer,  als  bei  kräftig  ausgebildeten  ist,  so  kann  es  wohl  ge- 
schehen, dass  eine  Fascie  an  einem  Individuum  blös  als  Binde- 
gewebe erscheint;  während  sie  an  einem  anderen  als  fibröses  Gebilde 
gesehen  wurde.  So  verhält  es  sich  mit  der  Fascia  superficialis  perinei, 
transversa,  Cooperi,  etc.  Die  chirurgische  Anatomie  verdankt  einen 
guten  Theil  ihrer  Unklarheit  im  Capitel  der  Fascien,  diesem  wenig 
gewürdigten  Umstände. 

Ich  glanbe  beBser  zu  thnn,  wenn  ich  die  fibrösen  and  serösen  Membranen, 
welche  sich  durch  ihre  äusseren  anatomischen  Merkmale  so  auffallend  unter  sich 
und  vom  Bindegewebe  unterscheiden,  als  besondere  Gewebsformen  im  Verlaufe 
abhandle. 


§.  24.  Elastisches  &ewebe. 

Da  das  Bindegewebe  an  sehr  vielen  Orten  mit  elastischem 
Gewebe,  mit  Fett,  und  mit  Pigmenten  gemischt  vorkommt,  so  reiht 
sich  hier  die  Untersuchung  dieser  drei  Materien  an. 

Das  elastische  Gewebe,  Tela  elastica,  kommt  im  mensch- 
lichen Körper  kaum  ganz  rein,  sondern  mit  anderen  Geweben, 
namentlich  dem  Bindegewebe,  gemengt  vor.  Seine  mikroskopischen 
Elemente  sind  rundliche  oder  bandartig  platte,  sehr  scharf  contouriite, 
bei  grösserer  Anhäufung  gelb  erscheinende  Fasern,  mit  massig 
weUenfbrmig  geschwungenem  Verlauf.  Abgerissene  Enden  derselben 
rollen  sich  gerne  ranken  förmig  ein.  Vereinzelte,  gerade  oder  ge- 
schlängelte elastische  Fasern,  begleiten  gewöhnlich  die  Bindegewebs- 
bündel.  Vermehrt  sich  ihre  Zahl  an  gegebenem  Orte ,  so  hängen 
sie  meist  durch  seitliche  Aeste  netzförmig  unter  einander  zusammen, 
was  Bindegewebsfasern  niemals  thun,  und  bilden  Stränge  oder  Platten, 
ja  gelbst  Häute,  welche  nach  der  Richtung  der  Fäden  sehr  dehnbar 
sind,  und  bei  nachlassender  Ausdehnung,  ihre  frühere  Gestalt  wieder 


92  §.  84.  ElMtitohM  Gewebe. 

annehmen.     In   letzterer    Eigenschaft   beruht   eben   das  Wesen   der 
Elasticität. 

Durch  Wasser,  Weingeist,  verdünnte  Säuren  und  Alkalien,  so 
wie  durch  Austrocknen  an  der  Luft,  werden  die  elastischen  Fasern 
nicht  verändert.  Sie  widerstehen  deshalb  auch  der  auflösenden 
Kraft  des  Magensaftes,  sind  also  unverdaulich.  Sie  geben  beim 
Sieden  keinen  Leim,  und  unterscheiden  sich  dadurch  auch  chemisch 
von  den  Bindegewebsfasern.  Die  Dicke  der  elastischen  Fasern 
schwankt  von  0,0008'"— 0,008'". 

Das  elastische  Gewebe  erscheint  am  vollkommensten  entwickelt, 
und  nur  mit  wenig  Beimischung  von  Bindegewebsfasern,  in  den 
gelben  Bändern  der  Wirbelsäule  und  im  Nackenband,  in  den  Bändern, 
welche  die  Kehlkopf-  und  Luftröhrenknorpel  verbinden,  in  den 
unteren  Stimmritzenbändem,  in  dem  Aufhängebande  des  männlichen 
Gliedes,  und  in  der  mittleren  Haut  der  Arterien.  In  vielen  Fascien 
mischt  es  sich  reichlich  mit  den  Bindegewebsfasern  derselben,  was 
auch  im  Peri-  und  Endocardium ,  im  subserösen  Bindegewebe  des 
Bauchfells  an  der  vorderen  Bauchwand,  in  der  äusseren  Haut, 
in  der  Vorhaut,  und  im  Textus  cdlvlaris  submucosus  des  Darm- 
schlauches der  Fall  ist.  Unverständlich  erscheint  mir  das  Vor- 
kommen von  elastischen  Fasern  in.  Membranen,  welche  der  Elasticität 
nicht  bedürfen,  da  sie  gar  nie  in  die  Lage  kommen,  gespannt  zu 
werden,  wie  die  harte  Hirnhaut  und  die  Beinhaut.  Ich  kann  nicht 
unterlassen,  zu  bemerken,  dass,  wenn  elastische  Fasern  mit  Fasern 
eines  anderen  Gewebes  gemengt  erscheinen,  oder  elastische  Mem- 
branen auf  Häuten  anderer  Natur  lagern,  diese  letzteren  ebenso 
elastisch  sein  müssen,  wie  die  ersterenr.  Würde  z.  B.  die  innere 
und  äussere  Haut  eines  Arterienrohres  weniger  elastisch  sein,  als 
die  eigentliche  elastische  Haut  desselben,  so  müssten  die  ersteren 
bei  der  durch  die  Pulswelle  gegebenen  Ausdehnung  der  Arterie 
gezerrt,  und  bei  der  darauffolgenden  Zusammenziehung  der  Arterie 
gefaltet  werden,  was  nicht  geschieht.  Der  Name  elastisch,  eignet 
sich  also  schlecht  zur  Bezeichnung  einer  einzigen  Gewebsform,  da 
ein  gleicher  Grad  von  Elasticität  auch  allen  anderen  Geweben  zu- 
kommen muss,  welche  mit  dem  elastischen  Gewebe  anatomisch 
verbunden  sind. 

Das  elastische  Gewebe  dient  dem  Organismus  vorzugsweise 
durch  seine  physikalischen  Eigenschaften.  Durch  seine  mit  Festig- 
keit gepaarte  Dehnbarkeit,  widersteht  es  der  Gefahr  des  Reissens, 
eignet  sich  deshalb  vorzugsweise  zum  Bandmittel,  und  vereinfacht, 
indem  es  lebendige  Kräfte  ersetzt,  das  Geschäft  der  Muskeln.  Es 
hat  nur  äusserst  wenig  Blutgefässe,  keine  Nerven,  und  einen  trägen 
Stoflfwechsel.  Wunden    und  Substanzverluste  desselben  heilen  nicht 


S.  16.  Fett.  93 

durch  Wiederersatz  des  Verlorenen,  sondern  durch  fibröse  Narben- 
substanz. 

Man  wählt  zur  mikroskopischen  Untersnchnng  einen  dünnen  Schnitt,  oder 
einen  abgelösten  Streifen  des  Kackenbandes  eines  Wiederkäuers.  Man  befeuchtet 
diesen  mit  Essigsäure,  um  seinen  bindegewebigen  Antheil  durchsichtig  zu  machen. 
Die  Elemente  des  elastischen  Gewebes  erscheinen  dann  scharf  und  dunkel  ge- 
randet,  die  abgerissenen  Aeste  mit  zackigen  Bruchrändem,  häufig  hakenförmig 
gekrümmt,  selbst  rankenförmig  aufgerollt.  Die  netzförmigen  Verbindungen  der 
elastischen  Fasern  xmter  sich,  sind  zuweilen  so  entwickelt,  dass  das  Object  das 
Aussehen  einer  durchlöcherten  Membran  annimmt  Man  kann  eingetrocknete 
Stücke  des  Nackenbandes,  an  welchen  sich  feine  Schnitzeln,  welche  dann  be- 
feuchtet werden  müssen,  leichter  als  an  frischen  abnehmen  lassen,  zum  Gebrauche 
aufbewahren. 

Wie  das  elastische  Gewebe  als  Stellvertreter  von  Muskeln  auftritt,  und 
bewegende  Kräfte  spart,  lässt  sich  durch  eine  Fülle  von  Belegen  aus  der  ver- 
gleichenden Anatomie  anschaulich  machen.  Das  Zusammenlegen  des  ausgestreckten 
Vogel-  und  Fledermausflügels,  die  aufrechte  Stellung  des  Halses  und  Kopfes  bei 
hom-  oder  geweihtragenden  Thieren,  die  während  des  Gehens  verborgene  Lage  der 
scharfen  Krallen  beim  Katzengeschlechte,  u.  s.  w.  werden  nicht  durch  Muskelwirkung, 
sondern  durch  elastische  Bänder  bewerkstelligt  Muskelwirkung  erschöpft  sich  und 
erfordert  Erholung,  —  elastische  Kraft  ist  ohne  Ermüdung  und  Unterlass  thätig. 

Ä,  Eulenberg'' s  Dissertatio  de  tela  elastica.  BeroL,  1836.  4^.  —  L.  Benjamin, 
Miäler'a  Arch.  1847.  (Zootomisch  Interessantes  über  das  elastische  Gewebe.)  — 
Dondera,  in  der  Zeitschrift  für  wissenschaftliche  Zoologie,  Bd.  III,  348.  —  K'öüiker, 
Über  die  Entwicklung  der  sogenannten  Kemfasem,  in  den  Verhandlungen  der 
Würzburger  phjs.  med.  Gesellschaft  Bd.  III.  Heft  1. 


§.25.  Fett 

Fett,  Adepa  8.  Pinguedo,  kommt  im  freien  Zustande  im  Blute 
und  im  Chylus  vor;  in  Zellen  eingeschlossen,  ist  es  ein  häufiger 
Genosse  des  Bindegewebes  um  und  zwischen  den  verschiedenen 
Organen,  wo  es  bei  jedem  gesunden  Individuum  in  grösserer  oder 
geringerer  Menge  gefunden  wird.  In  den  auszehrenden  Krankheiten, 
ja  selbst  durch  den  Hungertod,  schwindet  es  an  gewissen  SteUen 
(in  der  Augenhöhle,  um  die  Nieren,  in  der  Vola  marnis  und  Planta 
pedü)  nie  vollkommen.  In  den  Knochen  abgelagertes  Fett,  bildet 
das  Mark  derselben.  Im  Inneren  der  Organe  wird  es,  abgesehen 
von  den  chemisch  an  diese  gebundenen  Fettarten,  nicht  angetroffen, 
ebensowenig,  als  es  selbst  bei  den  wohlgenährtesten  Individuen,  an 
den  Augenlidern,  den  Ohrmuscheln,  in  der  Vorhaut  des  männlichen 
Gliedes,  und  in  der  Schädelhöhle  je  vorkommt. 

Das  Fett  wird  in  Zellen  erzeugt  —  Fettzellen.  Jede  Fettzelle 
besteht  aus  einer  structurlosen,  durchsichtigen  Membran,  und  einem 
Fetttröpfchen  als  Inhalt.  Verliert  die  Zelle  ihren  fetten  Inhalt,  so 
wird  ein  Kern  in  ihr  sichtbar.  Aber  auch  an  fetthaltigen  Zellen 
läsBt  sich  der  Kern,  durch  Anwendung  der  Müller'schen  Flüssigkeit 


94  §•  95.  Fett. 

(2y.2  chromsaures  Kali,  1  schwefelsaures  Natron,  100  Wasser)  und 
durch  Imbibition  der  Zelle  mit  Carminlösung  sichtbar  machen.  Der 
Durchmesser  der  Fettzellen  schwankt  von  0,4'"  bis  0,06'".  Ihre 
Oberfläche  ist,  so  lange  das  darin  enthaltene  Fetttröpfchen  flüssig 
oder  halbflüssig  bleibt,  gleichmässig  gerundet,  ihr  Rand  unter  dem 
Mikroskope  scharf,  und  wegen  starker  Lichtbrechung  dimkel.  Es 
liegen  immer  mehrere,  zu  einem  Klümpchen  aggregirte  FettzeUen 
in  einer  Masche  des  Bindegewebes,  von  deren  Wand  Blutgefässe 
abgehen,  welche  zwischen  den  Fettzellen  durchlaufen,  ihnen  capillare 
Reiser  zusenden,  und  sich  zu  ihnen  beiläufig  wie  der  verästelte 
Stengel  einer  Weinti'aube  zu  den  Beeren  verhalten.  Mehrere  Fett- 
klümpchen  bilden  einen  grösseren  oder  kleineren  Fettlappen,  welcher 
von  einer  Bindegewebsmembran  umwickelt  wird.  Zuweilen,  nament- 
lich an  der  Grenze  grösserer  Fettlappen,  stösst  man  auf  Fettzellen 
kleinerer  Ali;,  in  welchen  der  Fetttropfen,  von  einer  Schichte 
körniger  Zellensubstanz  umgeben  wird,  welche,  bei  der  Profilansicht 
der  Zelle,  einen  breiten  Ring  oder  Hof  um  das  Fetttröpfchen  bildet. 
—  Nerven  können  einen  Fettklumpen  oder  Fettlappen  wohl  durch- 
setzen, aber  die  Fettzellen  erhalten  durchaus  keine  Fäden  von  ihnen. 
Das  Fetttröpfchen  ist  nur  im  lebenden  Thiere  flüssig,  und  stockt 
nach  dem  Tode,  wodurch  die  Fettzelle  ihre  Rundung  einbüsst,  und 
runzelig  wird. 

Das  Fett  ist  eine  vollkommen  stickstofffreie  Substanz,  welche  ans  einer 
Verbindung  verschiedener  Fettsäuren  (Oelsäure,  Talgsäure,  Marg^arinsäure)  mit 
Glyceryloxjd  besteht,  in  letzter  Analyse  79  pCt.  Kohlenstoff,  11,5  Wasserstoff  und 
9,5  Sauerstoff  liefert  (Chevreul),  und  sich  somit  von  den  fetten  Oelen  der  Pflanzen 
nicht  wesentlich  unterscheidet.  Menschenfett  und  Olivenöl  haben  nach  Liebig 
dieselbe  Zusammensetzung. 

Es  häuft  sich  das  Fett  bei  reichlicher  Nahrung,  Mangel  an 
Bewegung,  und  bei  jener  Gemüthsruhe,  welcher  sich  zufriedene 
Menschen  erfreuen,  allenthalben  gerne  an,  und  schwindet  unter  ent- 
gegengesetzten umständen  eben  so  leicht  wieder.  Vor  der  Vollendung 
des  Wachsthums  in  die  Länge,  lagert  sich  nur  wenig  Fett  um  die 
inneren  Organe  des  menschlichen  Leibes  ab,  welche  wie  die  Netze 
und  das  Gekröse,  im  mittleren  Lebensalter  ein  bedeutendes  Quantum 
davon  aufnehmen.  Bei  Embryonen  und  Neugeborenen  erscheinen, 
selbst  bei  exorbitirender  Fettbildung  unter  der  Haut,  das  Netz  und 
die  Gekröse  fettlos.  In  jedem  interstitiellen  und  umhüllenden  Binde- 
gewebe, kann  die  Fettentwicklung  Platz  greifen,  und  erreicht  ihre 
höchste  Ausbildung  im  Unterhautbindegewebe  als  sogenannter  Pan- 
fUculua  adipoms,  vorzüglich  um  die  Brüste,  am  Gesässe,  und  am 
Unterleibe,  so  wie  auch  in  den  Netzen  und  Gekrösen,  besonders 
des  Dünndarms,  und  in  den  Interstitien  der  Muskeln,  wo  die  grossen 
Gef&sse  der  Gliedmassen  verlaufen. 


§.  S6.  Physiologitehe  B«dratnng  des  Fettes.  95 

Die  Vitalität  des  Fettes  steht  auf  einer  sehr  niedrigen  Stufe. 
Seine  Empfindlichkeit  ist  gleich  Null^  und  seine  Zellen  besitzen 
durchaus  keine  Contractilität.  Der  Stoffwechsel  scheint  in  ihm  gänz- 
lich zu  mangeln^  da  das  einmal  abgelagerte  Fett^  erst  bei  beginnender 
Abmagerung  wieder  in  den  Kreislauf  gebracht  wird.  Wunden  eines 
fettreichen  PanmcidiLs  adtposm,  haben  wenig  Neigung  zu  schneller 
Heilung,  und  die  chirurgische  Praxis  weiss,  wie  hoch  dieser  Um- 
stand bei  der  Heilung  der  Amputations-  und  Steinschnittwunden 
fetter  Personen  anzuschlagen  ist.  —  Bis  zu  einem  gewissen  Grade  ist 
die  Fettbildung  ein  Zeichen  von  Gesundheit  und  Lebensfiille,  dar- 
über hinaus  wird  sie  beschwerlich,  und  in  höherem  Grade  eine  kaum 
zu  heilende  Krankheit.  Welch'  monströsen  Umfang  die  Fettbildung 
erreichen  kann,  beweisen  die  Erfolge  des  Mästens  der  Thiere,  und 
die  zuweilen  enorme  Grösse  der  Fettgeschwülste  (Lipomata).  Man 
hat  weibliche  Brüste  und  männliche  Hodensäcke  durch  Fettwucherung 
ein  Gewicht  von  30  Pfunden  erreichen  gesehen  (Larrey),  und  sich 
zur  Abtragung  derselben  mit  dem  Messer  entschlossen. 

Nach  Verschiedenheit  der  Consistenz  und  der  Gebrauchsweise 
des  Fettes,  werden  mehrere  Arten  desselben  unterschieden,  welche 
auch  in  der  Anatomie  gekannt  sind.  Das  spisse  Fett  ist  Sebum,  das 
weiche  und  ölige  isLgegen  Adqps,  welches,  wenn  es  aus  der Thiermilch 
stammt,  Butyrum  heisst.  Jedes  Fett,  welches  in  der  Medicin  als 
Salbe  gebraucht  wird,  heisst  Axungia,  von  ungere  (ah  unctione  axium^ 
axungia  dicta).  Die  Griechen  unterschieden  weiches  und  hartes 
Fett,  als  TcijjieXT^  und  aieap.  Aus  ersterem  Wort  wurde  neuerer  Zeit, 
ganz  unnöthiger  Weise,  von  den  Pathologen  Pimdosis  gebildet,  für 
Fettsucht,  da  die  griechischen  Aerzte  schon  ein  Wort  für  diese 
Krankheit  hatten,  nämlich  x(6t7](;. 

Der  Temperaturgrad,  bei  welchem  flüssige  thierische  Fette  gerinnen,  ist 
sehr  verschieden.  Hierauf  beruht  zum  Theil  die  verschiedene  technische  Ver- 
wenduug  der  Fette.  Die  mächtige  Fettschichte,  welche  sich  unter  der  Haut  der 
in  den  Polarmeeren  hausenden  Säugethiere  vorfindet,  und  ihnen  als  schlechter 
Wärmeleiter  die  trefflichsten  Dienste  leistet,  bleibt  als  Thran  bei  den  tiefsten 
Temperaturgraden  flüssig.  Man  benutzt  deshalb  den  Thran  vorzugsweise,  um 
StiefeUeder  und  Riemzeug  geschmeidig  und  biegsam  zu  erhalten,  während  das 
selbst  bei  höheren  Wärmegpraden  nicht  schmelzende  Bärenfett,  zu  Pomaden  und 
Bartwichsen  gesucht  wird.  Bei  mittleren  Temperaturgraden  flüssig  werdende  Fette, 
wie  das  Knochenmark,  eignen  sich  am  besten  zu  Salben,  —  starrbleibende  zu 
Pflastern. 


§.  26.  Physiologische  Bedeutimg  des  Fettes. 

Die  physiologische  Bedeutung  der  Fettablagerung  ergiebt  sich 
aua  den  Ernährungsvorgängen.  Ein  Ueberschass  kohlenstoff-  und 
waBserstofireicher  Nahrungsmittel  (Oele,  Fette,  und  die  stickstoffireien 


96  §•  t6.  Physiologische  Bedeatnng  de«  Fettes. 

vegetabilischen  Substanzen  des  Zuckers,  Amylon,  Gummi,  Pectin) 
ist  das  Antecedens  derselben.  Um  den  Kohlen-  und  Wasserstoflf 
dieser  Substanzen  aus  dem  Körper  wieder  ausscheiden  zu  können, 
werden  grosse  Mengen  Sauerstoff  erfordert.  Diese  werden  durch 
den  Respirationsact  herbeigeschafft.  Ist  die  genossene  Kohlen-  und 
Wasserstoffmenge  zu  gross,  um  durch  die  eingeathmeten  Sauer- 
stoffmengen als  Kohlensäure  und  Wasser  ausgeathmet  zu  werden, 
so  lagei't  sich  der  Ueberschuss  in  jener  Form,  die  wir  Fett  nennen, 
im  Bindegewebe  ab.  Wird  ein  fetter  Mensch  auf  knappe  Kost 
reducirt,  und  die  reichliche  Nahruugszufuhr  abgeschnitten,  so  muss 
durch  die  ununterbrochen  fortdauernde  Ingestion  von  Sauerstoff,  und 
Egestion  von  Kohlensäure  und  Wasser,  wozu  das  Fett  seinen  Kohlen- 
und  Wasserstoff  hergiebt,  die  Fettmenge  nothwendig  abnehmen. 
Man  könnte  sagen,  das  Fett  wird  in  diesem  Falle  ausgeathmet.  Da 
gesteigerte  Muskelthätigkeit,  also  körperliche  Arbeit,  den  Athmungs- 
process  beschleunigt,  erklärt  es  sich,  warum  Fettwerden  ein  Vor- 
recht der  Faulen  und  Reichen  ist,  und  angestrengte  Arbeit,  nicht 
blos  Bewegung  in  freier  Luft,  das  Fett  des  Müssiggängers  vertreibt. 

Dass  das  Fett  die  Geschmeidigkeit,  Fülle  und  Rundung  der 
Formen  bedingt,  die  inneren  Organe  als  schlechter  Wärmeleiter  vor 
Abkühlung  schützt,  kann  allerdings  sein;  dass  es  aber  als  eine 
Vorrathskammer  zu  betrachten  sei,  wo  der  Organismus  seinen  Ueber- 
fluss  an  Nahrungsstoff  aufspeichert,  um  in  der  Zeit  des  Mangels 
sich  dessen  zu  bedienen,  ist  eine  aus  obgenannten  chemischen  Gründen 
durchaus  irrige,  obwohl  im  gewöhnlichen  Leben  sehr  verbreitete 
Vorstellung.  Die  reichste  Fettnahrung  fuhrt,  wegen  Mangel  an 
Stickstoff,  welchen  alle  thierischen  Gewebe  zu  ihrer  Ernährung  be- 
nöthigen,  zum  sicheren  Hungeii;ode. 

Ein  wichtiger  und  wenig  gewürdigter  Nutzen  des  Fettes,  fliesst 
aus  den  physikaUschen  Eigenschaften  der  FettzeUen.  Wenn  jede 
Fettzelle  ein  geschlossenes  Bläschen  ist,  dessen  wassergetränkte  Haut 
einen  ziemlichen  Grad  von  Stärke  besitzt,  so  ist  leicht  einzusehen, 
dass  selbst  ein  starker  Druck  kaum  vermögen  wird,  den  öligen 
Inhalt  der  Zelle,  durch  die  feuchte  Wand  durchzupressen.  Das 
Wasser  in  der  Zellenwand  wird  durch  Capillarität  in  den  Poren 
der  Wand  so  fixirt,  dass  es  durch  das  nachdrückende  Fett  nicht 
zum  Ausweichen  gebracht  wird.  Die  Fettzelle  verhält  sich  somit 
beiläufig  wie  ein  Luftkissen,  durch  welches  wir  den  Druck  auf 
gewisse  Organe  abzuschwächen  pflegen.  Diese  mechanische  Ver- 
wendung der  Fettzellen,  erklärt  uns  ihr  häufiges  und  regelmässiges 
Vorkommen  im  Plattfusse,  in  der  Hohlhand,  und  auf  dem  Gesässe, 
wo  äusserer  Druck  am  öftesten  und  anhaltendsten  wirkt.  Bei  allge- 
meiner Abmagerung,  und  bei  Fettarmuth  der  Reconvalescenten  aus 
fieberhaften  Krankheiten,   ist^    abgesehen   von  der  Schwäche  der 


§.  f6.  Physiologisclie  Bedentnng  des  Fettes.  97 

Muskelkraft^  das  Schwinden  der  FettzeUen  wohl  eine  Hauptursache, 
warum  längeres  Gehen,  Stehen,  selbst  Sitzen,  nicht  vertragen  wird. 
Dieses  Schwinden  des  Fettes  ist  jedoch  nicht  als  ein  Vergehen  der 
FettzeUen  zu  nehmen.  Es  schwindet  nur  der  Inhalt  der  Fettzellen. 
Die  Zelle  selbst  bleibt  zurück,  schrumpft  ein,  und  enthält  blos  etwas 
wässeriges  Serum.  —  Da  die  durchfeuchtete  Wand  der  Fettzelle  ein 
Hindemiss  für  die  Aufsaugung  des  Fettes  beim  Abmagern  abgiebt, 
so  kann  diese  Aufsaugung  nur  so  gedacht  werden,  dass  das  Fett 
vor  seiner  Aufsaugung  verseift  wird,  in  welchem  Zustande  die 
wassergetränkte  Zellenwand,  durch  welche  das  Fett  zu  passiren  hat, 
seinen  Durchgang  gestattet. 

Uebermässige  Fettabsonderung  kann  den  Muskeln,  zwischen 
welchen  sie  sich  eindrängt,  ihren  Raum  streitig  machen,  und  sie 
durch  Druck  so  sehr  zum  Schwinden  bringen,  dass  sie,  wie  bei  ge- 
mästeten Hausthieren ,  kaum  als  rothe ,  den  Speck  durchziehende 
Striemen,  noch  zu  erkennen  sind.  Von  diesem  Verdrängtwerden  der 
Muskeln  durch  umlagerndes  Fett,  ist  die  sogenannte  fettige  Um- 
wandlung derselben  zu  unterscheiden,  welche  als  Krankheit,  ohne 
allgemeine  Fettwucherung,  vorkommt,  und  vorzugsweise  gelähmte 
Muskeln  befallt. 

Das  Knochenmark,  Medvlla  ossium,  stimmt  in  jeder  Hinsicht 
mit  der  gegebenen  Beschreibung  des  Fettgewebes  überein,  und  ist 
somit  Fett  und  nicht  Mark.  Der  Begriff  des  Markes  gehört  einer 
ganz  anderen  Gewebsform,  dem  Nervensystem,  an,  indem  man  nur 
von  einem  Gehimmark,  Rückenmark,  und  Nervenmark  spricht.  Es 
kann  daher  das  Knochenmark  auch  unmöglich  empfindlich  sein,  wie 
man  im  gewöhnlichen  Leben  meint.  —  Das  Trocknen  der  Knochen 
auf  der  Bleiche,  wodurch  der  Wassergehalt  der  Knochensubstanz 
verloren  geht,  und  letztere  mit  dem  von  der  Markhöhle  aus  in 
sie  eindringenden  Fette  imprägnii-t  wird,  lässt  die  Knochen  oft 
erst  während  des  Bleichens  fett  werden ,  während  sie  es  im 
frischen  Zustande  nicht  zu  sein  schienen.  —  Der  Bindegewebsantheil 
ist  im  Fette  des  Knochenmarkes  ein  viel  geringerer,  als  im  gewöhn- 
lichen Fett. 

Die  Fettzellen  zeigten  sich,  bei  SOOfacher  Vergrössening,  gleichförmig  ge- 
rundet, sphärisch  oder  oval,  mit  dnnklen  Rändern,  und  hinlänglich  durchsichtig, 
am  durch  eine  Zelle  hindurch,  eine  darunterliegende  deutlich  zu  unterscheiden. 
Bei  Beleuchtung  von  oben,  erscheinen  die  FettzeUen  weiss.  Man  bemerkt  in  der 
Regel  keinen  Unterschied  von  Zellenwand  und  Inhalt.  Dass  aber  eine  Zellenwand 
vorhanden  ist,  schliesst  man  daraus,  dass  durch  Behandlung  der  Zelle  mit  Aether, 
sich  ihr  Fettcontentum  ausziehen  lässt,  und  die  Zellenmembran  unversehrt  zurück- 
bleibt. —  Beginnt  die  Fettzelle  zu  trocknen,  so  wirkt  die  Zellenmembran,  deren 
Feuchtigkeit  verdimstet,  nicht  mehr  isolirend  auf  den  Inhalt,  —  letzterer  schwitzt, 
als  fetter  Beschlag,  an  der  Oberfläche  der  ZeUe  heraus,  und  fliesst  mit  ähnUchen 
Fettperlen  der  nahen  Zellen  zusammen.  Dieses  aus  seiner  Zelle  gewichene  Fett 
erscheint  linsenförmig,  als  schillerndes  sogenanntes  Fettauge,  wie  man  deren 
Hyrtl,  Lehrbuch  der  Anatomie.  U.  Anfl.  7 


98  §.  27.  H^ent. 

viele  auf  den  FleUchbrOhen  schwimmen  sieht,  and  in  der  Milch,  im  Chylns,  im 
Eiter,  und  unter  besonderen  Umständen  auch  in  eini^n  Secreten  antrifft.  Mittelst 
des  Compressorium  (einer  Vorrichtong  ssnm  Abplatten  mikroskopischer  Objecte 
durch  methodischen  Druck)  bemerkt  man,  dass  die  Fettzellen  einen  sdemlichen 
Druck  aushalten,  ohne  zu  platseen,  und,  wenn  der  Druck  nachlässt,  ihre  frühere 
Gestalt  wieder  annehmen,  vorausgesetzt,  dass  das  Fett  nicht  gestockt  war.  Der 
Kern  der  Fettzellen  kommt  nur  bei  fettleeren  Zellen  zur  Ansicht  —  Die  stern- 
förmigen Figuren  an  der  Oberfläche  gewisser  Fettzellen,  welche  He  nie  zuerst 
beobachtete,  wurden  von  ihrem  Entdecker  für  Stearinkrystalle  gehalten.  Ihre 
Unauflöslichkeit  in  Aether  steht  dieser  Annahme  entgegen.  Ich  habe  sie  beim 
Dachs  und  Siebenschläfer  sehr  ausgezeichnet  angetroffen,  und  beim  neuholländischen 
Strauss,  an  beiden  Polen  der  Fettzellen,  als  Krjstallrosen  von  16 — 20  Strahlen 
gesehen.  Ohne  Zweifel  entstehen  diese  Krjstallformen  erst  während  des  mit  dem 
Tode  eintretenden  Erstarrens  des  Fettes ,  durch  Ausscheiden  krystallisirender 
Margarinsäure. 

Bei  Thieren  konunen  auch  farbige  Fettarten  (bei  den  Vögeln  unter  der 
Haut  des  Schnabels  und  der  Füsse,  in  der  Iris)  vor.  Auch  kann  die  Fett- 
absonderung einen  periodischen  Charakter  annehmen,  wie  im  Larvenzustande  der 
Insecten,  bei  den  Raubvögeln,  dem  Wilde,  und  bei  den  Winterschläfem. 

Ausführliches  enthalten:  Ascheraon,  über  den  ph3rsiolog^chen  Nutzen  der 
Fettstoffe,  in  Müller' a  Archiv.  1840.  p.  44.  —  KöUücer,  histoL  Bemerkungen  über 
Fettzellen,  in  der  Zeitschrift  für  wiss.  Zool.  2.  Bd.  p.  118.  —  WUUch,  Binde- 
gewebs-, Fett-  und  Pigmentzellen,  im  Archiv  für  pathol.  Anat.  1866.  —  i2.  Hein, 
de  ossium  meduUa.  Berol.,  1866. 


§.  27.  Pigment 

Die  Färbung  der  Organe  hängt  theils  von  ihrem  Gewebe,  von 
der  Gestalt  und  der  Zusammenfugung  ihrer  kleinsten  Theilchen, 
von  ihrem  Blutreich th um,  bei  durchscheinenden  Gebilden  auch  von 
der  Färbung  der  Unterlage,  oder  von  einem  besonderen,  molecularen, 
theils  in  dem  betreffenden  Organe  frei  vertheilten,  theils  aber  in 
Zellen  enthaltenen  Farbstoff  ab,  welcher  das  Protoplasma  der  Zelle 
allenthalben  durchdringt.  Dieser  Farbstoff  heisst  Pigment,  und  die 
Zellen,  welche  ihn  führen,  Pigmentzellen.  ZeUen  mit  schwarzem 
Pigment,  finden  sich  unter  der  Oberhaut  des  Negers,  und  im  Tapetum 
nigrum  der  Thier-  und  Menschenaugen.  Die  Brustwarze  und  ihr 
Hof,  die  Haut  der  äusseren  Genitalien  und  der  Aftergegend,  besitzen 
gleichfaUs  Pigmentzellen,  und  in  den  Schenkeln  des  grossen  Gehirns, 
in  den  Bronchialdrüsen,  in  der  Lungensubstanz,  und  in  den  Ampullen 
der  Bogengänge  des  Labyrinthes,  wird  dunkles  Pigment  gefimden. 
Die  Sommersprossen  (Ephdides)  und  Leberflecke  (CMocumata)  ver- 
danken ihr  Entstehen  dem  Pigment,  und  nur  von  dem  durch  die 
Sonne  gebräunten  Teint  der  Südländer  ist  es  noch  unentschieden, 
ob  er  durch  chemische  Veränderung  der  Oberhaut,  oder  durch 
Pigmentbildung  bedingt  wird. 


S.  S7.  Pigment  99 

Anatomische  Eigenschaften.  Man  unterscheidet  an  den 
Pigmentzellen,  Hülle  (Zellenmembran)  und  Inhalt.  Die  Hülle  be- 
steht aus  einem  structurlosen  Häutchen,  welches  entweder  eine  poly- 
gonale, oder  rundliche  Form  besitzt,  oder  mit  ästigen  Fortsätzen 
besetzt  erscheint.  Liegen  mehrere  Pigmentzellen  dicht  gedrängt  in 
einer  Fläche  neben  einander,  so  platten  sie  sich  gegenseitig  ab,  und 
nehmen  die  polygonale  Form  an,  wie  in  der  Pigmentschichte  der 
Aderhaut  des  Auges.  Man  sieht  sie  dann  unter  dem  Mikroskop 
durch  helle  Streifen  von  einander  getrennt,  welche  theils  der  durch- 
sichtigen Zellenwand,  theils  dem  formlosen  Blastem,  in  welchem  die 
Zellen  eingebettet  sind,  entsprechen.  Rücken  sie  etwas  auseinander, 
so  fällt  die  Ursache  des  Eckigwerdens  weg,  und  sie  erscheinen  rund- 
lich, wie  auf  der  hinteren  Fläche  der  Iris,  auf  den  Ciliarfortsätzen, 
unter  der  Oberhaut  des  Negers,  und  in  den  dunkel  -  pigmentirten 
Hautstellen  weisser  Eacen.  Sind  sie  mit  Aesten  besetzt,  welche  ent- 
weder blind  endigen ,  oder  mit  den  Aesten  benachbarter  Zellen 
zusammenfliessen,  so  entsteht  jene  Zellenform,  welche  im  Menschen 
in  der  Lamina  fusca  des  Auges,  bei  Thieren  dagegen  viel  häufiger 
vorkommt,  wie  z.  B.  in  den  Pigmentflecken  der  Haut  der  Frösche, 
und  des  Chamäleon,  in  den  gesprenkelten  schwarzen  Flecken  im 
Peritoneum  vieler  Amphibien  und  Fische,  in  der  Haut  der  Kalk- 
schale der  Krebse,  und  in  der  allgemeinen  Decke  der  Cephalopoden 
(Chromatoplioren).  Der  Inhalt  der  Pigmentzellen  besteht  aus  einem, 
mit  unmessbar  kleinen  Pigmentkörnchen  durchdrungenen  Protoplasma. 
Wenn  eine  Zelle  platzt  oder  zerdrückt  wird,  schwimmen  die  Pigment- 
moleküle in  der  die  Zelle  umgebenden  Flüssigkeit  einzeln  oder  als 
Aggregate  herum,  und  zeigen  dabei  lebhafte  Bewegungen  (Brown'sche 
Molekularbewegung).  Diese  Bewegungen  sind  aber  keine  selbst- 
thätigen,  sondern  werden  durch  Strömungen  der  umgebenden  Flüssig- 
keit veranlasst,  welche  die  Moleküle  des  Pigments  mit  sich  führen. 
Der  Einfluss  des  leichtes  und  der  Wärme,  erzeugt  solche  Strömungen, 
und  diese  setzen  nicht  blos  die  Moleküle  des  Pigments,  sondern  auch 
andere  pulverige  Substanzen  in  ganz  gleiche  Bewegung.  —  Fast  in 
allen  Pigmentzellen  findet  sich  ein,  von  den  Pigmentkörnchen  theil- 
weise  oder  vollkommen  verdeckter,  heller  und  durchsichtiger  Kern. 
—  Es  ist  sehr  interessant,  dass,  wenn  die  Pigmentbildung  unter- 
bleibt, die  Zellen  dennoch  vorhanden  sind,  wie  man  an  dem  farb- 
losen Tapetum  im  Auge  der  rothäugigen  Kaninchen  beobachten  kann. 

Chemisches  Verhalten.  Die  Pigmentzellen  sind  in  Essig- 
säure löslich,  im  Wasser  platzen  sie,  und  entziehen  sich  durch 
Entleerung  ihres  Inhaltes  der  Beobachtung.  Die  Pigmentkörnchen 
dagegen  sind  weder  durch  Wasser,  noch  durch  concentrirte  Essig- 
säure,   Aether,   oder    verdünnte    Mineralsäuren    zerstörbar.     Durch 

kaustische  Alkalien  werden    sie   bald  aufgelöst.     Nach    Scheercr's 

7» 


100  §.  S8.  OberbEQt  und  EpHhelien. 

Analyse  besteht  das  schwarze  Pigment  im  Rindsauge  aus :  58,284  Pro- 
cent KohlenstoflF,  22,030  SauerstoflF,  13,768  Stickstoff,  5,918  Wasserstoff. 
Ueber  die  physiologische  Bestimmung  des  Pigments  sind 
wir  nur  im  Auge  unterrichtet,  wo  es  aus  demselben  optischen  Gnmde 
geschaffen  wurde,  aus  welchem  man  alle  optischen  Instrumente  an 
der  Innenfläche  schwärzt.  Die  Bedeutung  der  Hautpigmente,  welche 
bei  vielen  Thieren  ein  äusserst  lebhaftes  Colorit  besitzen,  liegt  ganz 
im  Dunkel.  In  gewissen  Krankheiten  wird  das  schwarze  Pigment 
in  bedeutenden  Massen  angehäuft  (Melanosis). 

Man  wähle  zur  Untersnchung  das  Pigment  der  Choroidea  eines  frisch  ge* 
schhMshteten  Thieres,  welches  sich  mit  Vorsicht  in  grösseren  Läppchen  auf  den 
Objectträger  bringen  lässt  Jeder  Drack  und  jede  Zerrung  müssen  sorgfältig  Ter« 
mieden  werden,  da  die  Zellen  leicht  platzen,  und  die  hellen  Zwischenlinien  der 
ZeUenmosaik,  nur  im  onversehrten  Zustande  des  Objects  zu  beobachten  sind.  Man 
vermeide  auch,  wenn  man  nicht  gerade  die  Molekularbewegung  der  PigmentkGmer 
sehen  will,  jeden  Wasserzusatz,  und  bediene  sich  zur  Befeuchtung  lieber  des 
frischen  Eiweisses  oder  des  Blutserums.  Um  die  Pigmentmoleküle  genauer  zu 
sehen,  muss  die  LinearvergrOsserung  auf  760  vermehrt  werden. 

Das  merkwürdige  Farbenspiel  in  der  Haut  des  Chamäleon  und  der  cepha^ 
lopodischen  MoUusken,  hängt  von  einer  unter  dem  Einflüsse  des  Nervensystems 
stehenden  Contractilität  ästiger  Pigmentzellen  ab,  welche  Grösse  und  Form  der 
Zellen,  sowie  ihren  Farbeneffect  ändert 

C.  Bruch,  über  das  kömige  Pigment  der  Wirbelthiere.  Zürich,  1844.  — 
Virehow,  die  pathol.  Pigmente,  im  Archiv  für  pathol.  Anat.  1.  Bd. 


§.  28.  Oberhaut  und  Epithelien. 

Zu  jenen  Geweben,  in  welchen  die  Zellen,  aus  denen  sie 
ursprünglich  sich  aufbauen,  der  Form  nach  am  wenigsten  verändert 
werden,  gehören  jene  Begrenzungsgebilde,  welche  sowohl  an  der 
äusseren  Oberfläche  des  thierischen  Leibes,  als  auch  an  den  inneren 
freien  Flächen  von  Höhlen  und  Kanälen  vorkommen.  Ihre  Be- 
schreibung folgt  naturgemäss  jener  des  Fettes  und  des  Pigmentes. 
Die  Begrenzungs-  oder  Deckgebilde  der  äusseren  Leibesoberfläche 
heissen  Oberhaut,  Epidermis;  —  jene  der  inneren  Höhlen  und 
Kanäle  Epithelium*). 

Die  Zellen  der  Epithelien  bleiben,  so  lange  sie  überhaupt 
dauern,  in  ihrem  ursprünglichen,  weichen  Zustande,  welcher  ihnen 

*)  Ich  glaubte,  dass  dieser  Name  von  h:\  to  xAo;,  anfder  Endfläche, 
abzuleiten,  nnd  somit  richtiger  EpUelium  zu  schreiben  sei.  Da  jedoch  Fried.  Ruysch, 
in  seinem  Thesaurus  anat.  III.  Xum.  2S,  das  Wort  EpUhelium  zuerst  für  jene  feine 
Epidermis  gebrauchte,  welche  die  Tastwärzchen  des  Lippensaumes  bedeckt  (Ot)Xi^, 
papilla),  ist  wohl  die  ältere  Schreibart  auch  die  richtige.  Als  man  aber  das  Lippen» 
epithel  des  Ruysch  auf  alle  Häute  übertrug,  auch  auf  solche,  welche  keine  Papülen 
(Öv)Xai)  führen,  wurde  die  Anatomie  um  ein  unsinniges  Wort  reicher.  Man  wird  sa- 
geben, dass  für  die  Häute  ohne  PapiUen,  das  Wort  Epitel  noch  immer  besser  wäre, 
als  EpitheL 


§.  S8.  Oberhaut  and  Epithelien.  101 

als  kernhaltigen  Zellen  zukommt.  Die  Zellen  der  Oberhaut  dagegen, 
verhornen  durch  Umwandlung  ihres  Leibes  in  Keratin  (Hornstoff). 
Was  aus  dem  Kern  der  verhornten  Zellen  wird,  ist  unbekannt,  da 
die  mit  der  Verhornung  gegebene  Trübung  der  Zelle,  in's  Innere 
derselben  keine  Einsicht  erlaubt.  Die  Zelle  verliert  während  des 
Verhornungsprocesses  ihre  Fülle  und  Rundung,  und  wird  zuletzt  zu 
einem  trockenen  Schüppchen  oder  Platt chen,  welches  mit  seinen 
Nachbarn  zu  einer  mehr  oder  weniger  beträchtlichen  Hornschichte 
verschmilzt,  an  welcher  keine  fernere  lebendige  Umbildung,  höch- 
stens mechanische  Abnützung  durch  Reibung,  oder  Abfallen  durch 
Verwittern,  beobachtet  wird.  Das  weiche  Blastem,  welches  die 
jungen  Zellen  der  Oberhaut  umgab,  erleidet  dieselbe  Erhärtung,  wie 
die  Zellen,  und  dient,  wenn  es  ebenfalls  vollkommen  vertrocknet 
und  verhornt  ist,  den  Scheibchen  und  Plättchen  zum  festen  Bindungs- 
mittel. Dieses  Bindungsmittel  wird  durch  verdünnte  Schwefelsäure 
aufgelöst,  wodurch  die  Scheibchen,  welche  der  Wirkung  der  Säure 
widerstehen,  sich  lockern  und  endlich  trennen.  —  Geht  von  den 
älteren,  bereits  abgelebten  Zellenschichten,  eine  durch  Abblättern 
verloren  (was  an  der  menschlichen  Oberhaut,  durch  eine  Art  von 
ununterbrochener  Häutung  fortwährend  stattfindet),  so  wird  durch 
neuen  Nachschub  frischer  Zellen  von  unten,  der  Defect  wieder  aus- 
geglichen. Jede  tiefe  Schichte  muss  somit  einmal  die  oberste  werden, 
um  ebenso  abzufallen,  wie  ihre  Vorgänger.  —  Epidermis  und  Epi- 
thelien empfinden  nicht,  haben  keine  eigene  Bewegung,  besitzen 
weder  Blutgefässe  noch  sicher  gestellte  Nerven,  können  sich  somit 
weder  entzünden,  noch  schmerzen,  noch  irgendwie  durch  sich  selbst 
erkranken,  und  zeichnen  sich  durch  ihre  prompte  Regeneration  vor 
allen  übrigen  Geweben  aus.  Als  schlechte  Wärme-  oder  Electricitäts- 
leiter  (letztere  nur  im  trockenen  Zustande),  können  sie  als  eine  Art 
Isolatoren  des  Organismus  angesehen  werden.  Neuester  Zeit  will 
man  feinste  Nervenfasern  in  gewisse  Zellen  der  Epithelien  und  der 
Oberhaut  (bei  Thieren)  eindringen  gesehen  haben. 

Der  früher  erwähnte  Hornstoff  ist  in  kaltem  Wasser  anlöslich,  schwillt  bei 
längerem  Befeuchten  etwas  auf,  erweicht  sich  durch  Einwirkung  von  Alkalien 
(daher  der  allgemeine  Gebrauch  der  Seife  beim  Waschen),  löst  sich  aber  selbst 
nach  langem  Kochen  nicht  auf.  Alkohol  und  Aether  lassen  ihn  unverändert; 
kaustische  fixe  Alkalien  lösen  ihn  unter  Entwicklung  von  Ammoniakgeruch  auf. 
Bei  lOQO  R.  erweicht  er  sich,  liefert  bei  trockener  Destillation  sehr  viel  kohlen- 
saures Ammoniak  mit  empjreumatischem  Oele,  verbrennt  unter  Luftzutritt,  und 
hinterlässt  eine  Asche,  welche  kohlensauren  und  phosphorsauren  Kalk,  nebst  einem 
Antheile  phosphorsauren  Natrons  g^bt. 

Die  Oberhaut,  ihr  Zugehör  als  Haare  und  Nägel,  sowie  die  Haut  selbst, 
welcher  diese  Gebilde  angehören,  habe  ich,  gegen  den  gewöhnlichen  Gebrauch,  in 
die  specielle  Anatomie  aufgenommen  (§.  205—212).  Die  Beziehungen  des  Haut- 
org^s  zu  den  Sinnen  und  den  Eingeweiden,  bestimmten  mich  zu  dieser  Abweichung. 
£•  erübriget  hier  somit  nur  die  Schilderung  der  Epithelien. 


102  §•  29.  Allgemeine  Eigensehaftea  der  Epithelien. 


§.29.  Allgemeine  Eigenschaften  der  Epithelien. 

Die  freie  Fläche  einer  Membran,  einer  Höhlenwand,  eines 
Kanals  und  seiner  Verzweigungen,  besitzt  einen  aus  Zellen  zusammen- 
gesetzten Ueberzug.     Dieser  ist  das  Epühdium. 

Das  Epithel  erscheint  theils  als  einfaches  Zellenstratum,  theils 
als  mehrfach  geschichtetes  Zellenlager.  Die  Form  der  Zellen  variirt 
nach  Verschiedenheit  des  Ortes,  wo  sie  vorkommen.  Der  Kern  der 
Zellen  zeigt  sich  bei  starken  Vergrösserungen  mit  einem  oder  zwei 
dunkleren  Kernkörperchen  versehen,  und  liegt  selten  in  der  Mitte 
der  Zelle,  meistens  an  oder  selbst  in  der  Wand  derselben.  An  ab- 
geplatteten Zellen  bildet  der  Kern  an  beiden  Flächen  derselben 
einen  Vorsprung. 

Man  unterscheidet,  nach  der  Form  der  Zellen,  zwei  Arten  von 
Epithelien:  Pflaster-  und  Cylinderepithel. 

a)  Das  Pflasterepithel.  Es  wird,  seines  mosaikartigen  An- 
sehens wegen,  so  genannt.  Seine  Zellen  sind  anfangs  rundlich,  flachen 
sich  aber  durch  gegenseitigen  Druck  ab,  und  werden  eckig.  Die 
runden  oder  ovalen  Zellenkerne  sind  bei  jungen  Zellen  nur  von  einer 
dünnen  Schichte  Zellen  Substanz  umschlossen.  Bei  älteren  ZeUen 
nimmt  die  Zellensubstanz  an  Dicke  zu.  Das  Pflasterepithel  hat  eine 
sehr  grosse  Verbreitung  im  thierischen  Körper.  Es  findet  sich  an 
den  freien,  glatten  Flächen  aller  serösen  Membranen,  femer  an  der 
inneren  Oberfläche  der  Blut-  und  Lymphgefässe ,  in  den  feineren 
Verzweigungen  vieler  Drüsenausfiihrungsgänge ,  auf  den  wahren 
Stimmbändern  des  Kehlkopfes,  in  den  Luftbläschen  der  Lungen, 
und  an  gewissen  Schleimhäuten ,  z.  B.  der  Trommelhöhle  (nur 
stellenweise),  als  einfache  Zellenschichte.  Mehrfach  geschichtet 
dagegen  erscheint  es  an  einigen  Synovialhäuten,  und  an  bestimmten 
Strecken  der  Schleimhaut  des  Verdauungs-  und  Zeugungssystems, 
wo  es  so  mächtig  wird,  dass  es  durch  Maceration  in  grösseren  oder 
kleineren  Stücken  abgezogen  werden  kann,  wie  auf  der  Schleimhaut 
der  Mundhöhle,  der  unteren  Partie  des  Rachens,  der  Speiseröhre,  der 
weiblichen  Scheide.  In  der  Harnblase,  den  Harnleitern,  den  Nieren- 
becken und  Nierenkelchen,  kommt  es  ebenfalls  mehrfach  geschichtet, 
aber  mit  geringerer  Mächtigkeit  vor.  —  Grosse,  flache  und  breite 
Zellen  des  Pflasterepithels,  bilden  das  sogenannte  Plattenepithel.  — 
Man  hat  in  neuester  Zeit  das  Epithel  jener  Höhlen  und  Kanäle,  welche 
keine  Communication  mit  der  Aussenwelt  haben  (seröse  und  Synovial- 
membranen, Blut-  und  Ly mphgefasse ,  Kammern  des  Gehirns)  mit 
dem  Namen  Endothel  belegt.  Wer  einen  so  widersinnigen  Namen 
erfinden  konnte,  der  weiss  wahrlich  nicht,  was  Epithel  vi  nomima 


§.  29.  AUfemeioe  Eigensehaften  der  Epithelien.  103 

bedeutet.    Endothel  ist  eine  etymologische  Monstrosität.    Wöi-tlich 
übersetzt  würde  es  lauten:  in  der  Warze. 

M.  Schnitze  beschrieb  (Med.  Centralblatt,  1864.  N.  12)  eine  neue,  höchst 
interessante  Art  von  Zellen,  welche  in  den  tieferen  Schichten  der  geschichteten 
Pflasterepithelien  yorkommen,  als  Stachel-  oder  Riffzellen.  Sie  sind  mit 
Stacheln  oder  mit  Leisten  (Riffen)  besetzt,  durch  deren  Vermittlung  die  Zellen 
ineinander  greifen  und  zusammenhalten.  Dass  diese  Stacheln  auch  in  jene  Haut- 
scbicbte  eingreifen,  auf  welcher  das  betreffende  Epithel  lagert,  hat  H  e  n  1  e  an  der 
äusseren  Haut,  als  Verzahnung  derselben  mit  der  Oberhaut,  schon  yor  Schnitze 
erw&hnt. 

b)  Das  Cylinderepithel  besteht  aus  Zellen,  deren  Höhe  ihre 
Breite  übertriflFk,  und  welche  senkrecht  auf  der  betreffenden  Unter- 
lage stehen.  Die  Zellen  dieses  Epithels  sind  keine  Cylinder  im 
mathematischen  Sinne,  da  sie  sich  durch  ihr  Nebeneinandersein 
gegenseitig  abplatten,  und  ihr  aufsitzendes  Ende  meistens  schmal, 
das  freie,  von  der  Unterlage  abgewendete  Ende  dagegen  breiter  ist. 
Die  Cylinder  sind  also  eigentlich  Prismen  (meistens  sechskantige), 
oder  abgestutzte  Kegel.  Da  auf  einer  Ebene  aufgepflanzte  Kegel 
sich  nicht  allseitig  berühren,  so  bleiben  zwischen  den  schmäleren 
Theilen  der  Kegel  Räume  übrig,  in  welchen  sich  junge  Zellen  ent- 
wickeln können.  Der  Kern  der  Zelle  liegt  in  der  Mitte,  zwischen 
dem  schmalen  und  breiten  Zellenende,  und  ist  zuweilen  so  ansehn- 
lich, dass  er  die  Zellenwand  herauswölbt,  wodurch  die  Cylinderform 
noch  mehr  beeinträchtigt  wu*d,  und  bauchig  erscheint.  —  Faden- 
förmige Fortsätze,  welche  von  dem  aufsitzenden  Ende  der  Zelle  in 
die  Unterlage  der  Epithelien  eindringen,  wurden  an  verschiedenen 
Orten  (Riechschleimhaut,  Hirnhöhlenwandungen)  erkannt.  —  Das* 
Cylinderepithel  findet  sich  im  Darmkanale,  vom  Mageneingange  bis 
zum  After,  in  den  Stämmen  und  in  den  Zweigen  der  Ausführungs- 
gänge fast  aller  Drüsen,  in  den  Saraenbläschen,  in  der  Gallenblase, 
dem  Vas  deferens,  und  in  der  Harnröhre  bis  in  die  Nähe  der  äusseren 
Oeffnung  derselben,  wo  Pflasterepithel  vorkommt.  Auch  das  Cylinder- 
epithel erscheint  als  einfach  oder  mehrfach  geschichtet.  Bei 
dem  letzteren  besteht  aber  nur  die  oberste  Schichte  aus  Cylinder- 
zellen,  welche  immer  den  erwähnten  fadenförmigen  Fortsatz  führen, 
während  die  tieferen  Schichten  aus  unregelmässig  gestalteten  Zellen 
zusammengesetzt  werden. 

Der  Uebergang  von  Pflaster-  in  Cylinderepithel  erscheint  nur  an  den 
Mündungen  der  AusfÜhrungsgänge  der  Speicheldrüsen  plötzlich,  sonst  wird  er 
durch  Zwischenformen,  welche  Henle  Uebergangsepithel  nannte,  vorbereitet. 
—  Der  Umstand,  dass  man  mitunter  auf  cylindrische  ZeUen  mit  zwei  Kernen 
stösst,  kann,  seiner  Seltenheit  wegen,  nicht  als  Beleg  der  Ansicht  dienen,  dass 
sich  die  CylinderzeUen  durch  Uebereinanderstellen  von  Pflasterzellen,  und  Resorption 
der  Zwischenwände  entwickeln. 

Als  besondere  Art  des  Cylinderepithels  erscheint  das  Flimmer- 
epithel.     Denkt    man    sich   auf  dem   breiten,    freien  Ende   einer 


104  §•  ^*  Allgemeine  Eigenschiften  der  Bpitbelien. 

bauchigen  Cylinderzelle,  eine  Menge  kurzer,  heller ^  spitziger,  und 
unmessbar  feiner  Fädehen  aufsitzen,  welche  Cilien  (Flimmer- 
haare) heissen,  und  während  des  Lebens,  ja  selbst  eine  geraume 
Zeit  nach  dem  Tode,  in  wirbelnder  Bewegung  sind  (flimmern),  so 
erhält  man  die  Form  einer  Flimmerzelle.  Auf  der  Leibesoberfläche 
niederer  Thiere  kommen  statt  der  Flimmerzellen,  blos  vibrirende 
Fäden  vor,  mittelst  welcher  sich  das  Thier  in  Wasser,  wie  durch 
Ruderschläge  fortbewegt.  In  jenen  wesentlichen  Bestandtheilen  des 
männlichen  Samens,  welche  als  Spermatozoon  bezeichnet  werden, 
hat  man  Flimmerz^llen  mit  einem  einzigen  langen  Flimmerhaare 
erkannt.  —  Die  flimmernde  Bewegung  ist  sehr  rasch  und  lebhaft. 
Wenn  man  eine  grössere  vibrirende  Fläche  unter  dem  Mikroskope 
betrachtet,  denkt  man  an  das  Wogen  und  Wirbeln  eines  hoch- 
gewachsenen Kornfeldes,  über  welches  der  Wind  wegstreicht.  — 
Schon  die  älteren  Mikroskopiker  kannten  dieses  merkwürdige  Phä- 
nomen im  Allgemeinen.  Purkinje  und  Valentin  aber  entdeckten 
die  Flimmerzellen,  als  Vermittler  dieser  Bewegung. 
Flimmerepithel  findet  sich: 

1.  auf  der  Schleimhaut,  welche  die  respiratorischen  Wege  aus- 
kleidet, und  zwar:  a.  in  der  knöchernen  Nasenhöhle,  und  ihren 
Nebenhöhlen,  von  wo  es  in  die  Thränenwege  eintritt,  bis  in  die 
Thränenröhrchen  hin,  wo  es  durch  Pflasterepithel  ersetzt  wird;  ß.  in 
dem  oberen  Theile  des  Pharynx  (bis  zum  zweiten  Halswirbel  herab), 
von  wo  es  in  die  Tubae  Euatachü  eindringt;  7.  im  Kehlkopfe  (mit 
Ausnahme  der  wahren  Stimmbänder),  und  in  der  Luftröhre  und  deren 
Verzweigungen ;  • 

2.  auf  der  Schleimhaut  des  Uterus  (nur  stellenweise),  und  der 
Tuben ; 

3.  in  den  Samenge&ssen  des  Nebenhodens,  von  den  Cani 
vasculosi  Haüeri  an,  eine  Strecke  weit; 

4.  in  den  Gehirnkammem ,  im  Aqtuxeductus  Sylvü ,  und  im 
Centralkanal  des  Rückenmarks  bei  Embryonen.  Bei  Ei-wachsenen  ist 
dieses  Vorkommen  ungewiss,  indem  Henle  es  an  einem  15  Minuten 
nach  dem  Tode  untersuchten  Verbrecher  nicht  finden  konnte; 

5.  in  den  Anfängen  der  Harnkanälchen  (im  Menschen  noch 
nicht  sichergestellt,  sehr  deutlich  dagegen  bei  den  nackten  Am- 
phibien). 

Brücke  hat  die  Ansicht  aufgestellt,  dass  die  Flimmerzellen 
•  ihrem  freien  Ende  nicht  durch  Zellenwand  geschlossen,  sondern 

n  sind,  und  die  Cilien  in  dem  Zelleninhalt  (Protoplasma)  wurzeln. 

beruft   sich    darauf,   dass   in   dem   flüssigen  Secret  der  Nasen- 

tnleimhant  im  Anfange  eines  Schnupfens,  birnförmige,  am  dicken 

kde  mit  Cilien  bepflanzte  Körper  beobachtet  werden,  welche  Kerne 

ren.  Diese  Körper  sollen  der  Zelleninhalt  der  Flimmerzellen  sein, 


§.  S9.  Allgemeine  Eigenschaften  der  Epithelien.  105 

welcher  aus  dem  offenen  Becher  der  Zellen  heraustrat,  und  mit 
dem  Secret  der  Nasenschleimhaut  nach  aussen  geschafft  wurde.  Die 
entleerten  Hülsen  der  Zellen  bleiben  auf  der  Schleimhaut  zurück. 
Hat  sie  Brücke  dort  gesehen? 

Die  Richtung  der  Bewegung  der  Cilien  strebt  im  Allgemeinen 
gegen  die  Endmündung  des  betreffenden  Kanals  oder  Schlauches, 
also  in  den  Athmungsorganen  nach  oben,  in  den  Geschlechtswegen 
nach  unten.  Henle  sah  ein  auf  die  Luftröhrenschleimhaut  der 
noch  warmen  Leiche  eines  gerichteten  Verbrechers  gelegtes  Minimum 
von  Kohlenpulver,  binnen  15  Secunden  um  die  Breite  eines  Knorpel- 
ringes, durch  Flimmerbewegung  gegen  den  Kehlkopf  fortgeschafft 
werden.  Wenn  man  in  den  Lungensack  eines  eben  getödteten 
Frosches,  durch  eine  kleine  Wunde  desselben  Kohlenpulver  ein- 
bringt, findet  man  nach  einigen  Stunden  dasselbe  schon  in  der 
Mundhöhle. 

Was  die  Art  der  Bewegung  der  einzelnen  Flimmerhaare  an- 
belangt, so  ist  diese  bei  den  Säugethieren  entweder  ein  mit  Biegen 
und  Aufrichten  verbundenes  Hin-  und  Herschwingen  (etwa  wie  an 
einer  schwingenden  Ruthe),  oder  eine  nach  der  Länge  der  Cilien 
hinlaufende  Wellenbewegung.  Haken-  und  peitschenformige  Be- 
wegungen der  Flimmerhaare  kommen  bei  Mollusken,  Bewegungen 
in  einer  Kegelfläche  bei  den  Räderthierchen  vor. 

Um  einfaches  Pflasterepithel  kennen  zu  lernen,  reicht  es  hin,  mit  dem 
Scalpelle  über  die  freie  Fläche  einer  serösen  Membran,  gleichviel  welcher,  leicht 
hinzustreifen,  und  die  abgeschabte  schleimige  Masse  auf  den  Objectträger  zu 
bringen,  sie  mit  Blutserum  zu  befeuchten,  auszubreiten,  und  mit  einem  dünnen 
Glas-  oder  Glimmerblättchen  zu  bedecken.  Man  wird  einzelne  rundliche  Zellen 
und  mosaikartige  Aggpregate  derselben  zur  Ansicht  bekommen.  Die  Aggpregate 
zerfallen,  wenn  sie  jüngerer  Formation  sind,  durch  Zugabe  von  Essigsäure  (welche 
das  Bindungsmittel  der  Zellen  löst)  in  einzelne  Zellen.  Um  mehrfach  geschich- 
tetes Pflasterepithel  und  die  Metamorphosen  der  Zellen  in  den  alten  und 
jungen  Schichten  zu  studiren,  wählt  man  eine  dünne  Schleimhaut,  am  besten  die 
Bindehaut  des  Augapfels,  präparirt  sie  ohne  viel  Zerrung  los,  und  legt  sie  einmal 
so  zusammen,  dass  die  äussere  (freie)  Fläche  auch  nach  der  Faltung  die  äussere 
bleibt.  Mit  derselben  Behandlung  durch  Anfeuchtung  und  Bedeckung,  wird  das 
Object  so  in  das  Sehfeld  des  Mikroskopes  gebracht,  dass  man  den  Faltungsrand 
sieht,  an  welchem  die  verschiedenen  Schichten  dieses  Epithels  bei  Veränderung 
des  Focns,  ganz  befriedigend  untersucht  werden  können.  Das  Compressorium 
leistet  hiebei  gute  Dienste.  Hat  das  zu  untersuchende  Epithel  eine  festere  Unter- 
lage, wie  auf  der  Hornhaut  des  Auges,  und  in  den  Drüsenschläuchen,  so  können 
dünne  Schnitte  desselben,  mit  Valentin's  Doppelmesser  (welches  vor  dem  Schnitte 
in  Wasser  getaucht  wird)  bereitet,  eine  sehr  belehrende  Profilansicht  gewähren.  — 
Das  Cylinderepithel  erscheint,  von  der  Fläche  gesehen,  als  Pflasterepithel. 
Nur  die  Seitenansicht  lässt  die  wie  Basaltsäulen  neben  einander  gelagerten 
cylindrischen  Zellen  erkennen.  Am  besten  eignen  sich  hiezu  die  Darmzotten  eines 
ausgehungerten  Säugethieres.  An  menschlichen  Leichen  sind  die  Epithelialcylinder 
der  Darmzotten  theilweise  abgefallen,  und  man  thut  besser,  feine  Querschnitte  der 
Lieberkühn'schen  Drüsen  des  Dickdarms  auszuwählen,  an  welchen  die  cjUndrischen 


106  8*  90.  Physiologische  Benerknogen  ttber  die  Epithelien. 

Zellen,  von  der  Drttsenwand  gegen  das  Lnmen  derselben  gerichtet,  wie  Radien 
eines  Kreises,  dessen  Mittelpunkt  die  Höhle  der  Drttse  ist,  gesehen  werden.  Essig- 
säure macht  die  getrübten  Zellen  wände  durchsichtiger,  und  die  Kerne  deutlicher. 
Einzelne  Zellen  des  Flimmerepithels  sind  leicht  zu  haben,  wenn  man 
irgend  eine  flimmernde  Schleimhaut  abschabt,  imd  den  Brei,  nachdem  er  yerdünnt, 
bei  600  Linear -Verg^össerung  betrachtet.  Die  Cilien  selbst  lassen  sich  nur  an 
ruhenden,  d.  i.  todten  Flimmerzellen  wahrnehmen;  an  den  lebenden  Zellen,  mit 
flimmernder  Bewegung  ihrer  Cilien,  sieht  man  den  Wald  vor  Bäumen  nicht.  Um 
das  überraschende  Schauspiel  des  Flimmems  einer  ganzen  Schleimhautflftche  zu 
beobachten,  eignet  sich  ganz  yorzugsweise  die  Rachenschleimhaut  der  Frösche, 
welche  (wie  oben  die  Conjunctiya  des  Auges)  gefaltet,  und  der  Rand  der  Falte 
im  Sehfeld  fixirt  wird.  Ich  bediente  mich  jedoch  zu  den  Schuldemonstrationen 
lieber  der  Zungenspitzen  kleiner  Frösche,  welche  abgetragen  werden,  und  da  sie 
nicht  gefaltet  zu  werden  brauchen,  um  einen  freien  Schleimhautrand  zu  erhalten, 
das  Phänomen  in  seiner  ganzen  Pracht  selbst  ftir  den  ungewandten  Zuschauer 
genussbar  machen.  Die  durch  die  Wimperbewegung,  wie  durch  Ruderscbläge, 
erregt  Strömung  des  Wassers,  welches  das  Object  nmgfiebt,  und  in  welchem  ab- 
gefallene Epithelialzellen  oder  Blutsphären  fortgerissen  werden,  leitet  den  Neuling 
zuerst  auf  die  Fixirung  des  Flimmeractes.  Im  Nasenschleime,  den  man  mit  einer 
Feder  aus  dem  tiefen  Innern  seiner  eigenen  Nase  herausholt  (£.  H.  Weber), 
zeigen  die  Flimmerzellen  ihre  Cilien,  und  zuweilen  ihr  mehr  weniger  lebhaftes 
Wimperspiel  ganz  deutlich.  Im  Gehörorgane  der  Pricke  wurden  Flimmer- 
bewegungen von  Ecker  entdeckt.  —  Auch  flimmern,  wie  schon  bemerkt  wurde,  die 
Hautbedeckungen  sehr  vieler  niederen  Thiere,  —  selbst  die  Sporulae  gewisser  Algen. 


§.  30.  Physiologische  Bemerkimgen  über  die  Epithelien, 

Gegenwärtig  noch  vereinzelt  dastehende,  mehrseitig  wieder  an- 
gegriflFene  Beobachtungen  über  die  Epithelien  gewisser  Schleimhäute 
und  der  Gehimhöhlen,  lassen  es  vermuthen,  dass  unseren  Ansichten 
über  die  functionelle  Bedeutung  der  Epithelien,  wichtige  Reformen 
bevorstehen.  So  will  man  z.  B.  an  gewissen  Epithelialzellen  der 
Nasenschleimhaut  und  der  Zunge  (Froschzunge),  gesehen  haben,  dass 
sie  mit  den  feinsten  Endfäden  der  bezüglichen  Sinnesnerven  in  un- 
mittelbarem Zusammenhang  stehen. 

Die  Entstehung  der  Epithelialzellen,  die  Metamorphosen,  welche 
sie  durchmachen,  sprechen  zu  deutlich  für  einen  besonderen  Lebensact 
in  diesen  Gebilden,  als  dass  man  sie  noch  länger  blos  für  ein  Schutz- 
mittel gewisser  Membranen  ansehen  könnte.  Ihre  Existenz  ist  nur 
insofern  an  diese  Membranen  gebunden,  als  letztere  mittelst  ihrer 
Blutgefässe  den  Stoff  hergeben,  aus  welchem  sich  die  Epithelial- 
zeUen  ernähren.  Das  Zellenleben  selbst  dagegen  kann,  wenn  es 
einmal  erwacht  ist,  von  jenen  Membranen  aus  nicht  absolut  beherrscht 
werden. 

Das  Abfallen  der  Epithelien,  und  die  entsprechende  Neubildung 
derselben,  ist  ein  sehr  weit  verbreitetes,  aber  dennoch  kein  allge- 
meiiiefl  Phänomen.     Die  Flimmerepithelien  unterliegen,  so  viel  wir 


g.  90.  Physiologiseb«  Bemerkungen  Aber  die  Epithelien.  107 

aus  den  jetzt  vorliegenden  Beobachtungen  entnehmen  können^  dem 
Abfallen  weit  weniger  wie  das  Cylinderepithel.  Allerdings  enthält 
der  während  des  Schnupfens  reichlich  abgesonderte  flüssige  Nasen- 
schleim, und  der  Auswurf  aus  Kehlkopf  und  Luftröhre,  einzelne 
Flimmerzellen;  diese  scheinen  jedoch,  abgesehen  von  den  krank- 
haften Bedingungen,  unter  welchen  sie  ausgeleert  werden,  mehr  auf 
mechanische  Weise  von  dem  Boden  losgerissen  zu  werden,  auf 
welchem  sie  wurzelten,  als  durch  physiologische  Processe  abgelöst 
worden  zu  sein.  —  Viel  häufiger  treffen  wir  rundliche  Epithelial- 
zellen  in  den  Absonderungsstoffen  der  Drüsen,  im  Schleime,  in  den 
Thränen,  im  Speichel,  in  der  Galle,  dem  Samen,  dem  Harne,  etc. 
Bei  den  Epithelien  der  geschlossenen  Höhlen  kann  der  Wechsel 
nicht  mit  Abfallen  oder  Abstossen  im  Ganzen,  sondern  wahrschein- 
lich nur  mit  Auflösung  und  Aufsaugung  der  älteren  Formationen 
im  Zusammenhange  stehen,  und  muss  überhaupt  sehr  langsam  von 
Statten  gehen.  —  Bei  Entzündungen  wird  das  Flimmerepithel  ab- 
geworfen, und  durch  Pflasterepithel  ersetzt. 

Man  kann  es  als  sicher  annehmen,  dass  die  Zellen,  welche  die 
innere  Oberfläche  der  Drüsenkanäle  einnehmen,  an  dem  Absonderungs- 
processe  wichtigen  Antheil  haben.  Da  die  Absonderungssäfte  aus 
dem  Blute  stammen,  so  müssen  sie,  bevor  sie  in  die  Höhle  des  aus- 
führenden Drüsenkanals  gelangen  können,  sich  durch  die  Zellen- 
schichte seines  Epithels  durchsaugen,  und  erleiden  dabei  durch  die 
Einwirkung  der  Zellen  jene  eigenthümliche ,  ihrem  Hergang  nach 
ganz  unbekannte  Veränderung,  durch  welche  sie  die  Qualität  eines 
bestimmten  Secretes  annehmen.  Bei  dem  Secretionsvorgang  betheiligte 
Epithelialzellen  heissen  Secretions-  oder  Enchymzellen. 

In  der  Flimmerbewegung,  welche  auch  nach  Trennung  der 
Zelle  vom  Organismus  fortdauert  (bei  Schildkröten  selbst  acht  Tage 
nach  dem  Tode  noch  nicht  erlischt),  liegt  der  sprechendste  Beleg 
für  das  eigene  Loben  der  Epithelialzellen.  Die  Natur  dieser  Be- 
wegung der  Wimperhaare,  und  ihre  physiologische  Bestimmung  sind 
gänzlich  unbekannt.  Man  ergeht  sich  nur  in  Vermuthungen.  Dass 
die  Richtung  der  Fliramerbeweguug  gegen  die  Ausgangsöffnung  des 
betreffenden  Schleimhautrohres  strebt,  gilt  wohl  für  viele,  aber  nicht 
für  alle  Schleimhäute,  und  dass  durch  die  Flimmerbewegung  der 
Schleim  an  den  Wänden  der  Schleimhäute  gegen  die  Ausmündungs- 
stelle derselben  fortgeführt  werde,  erscheint  mir  als  eine  für  so  zarte 
Kräfte  sehr  rohe  Arbeit.  Auch  müssten  dann  alle  Schleimhäute 
Flimmerzellen  besitzen.  Die  Nervenkraft  bleibt  bei  den  Flimmer- 
bewegungen ganz  aus  dem  Spiele,  da  diese  Bewegung  nach  Zer- 
störung des  Nervensystems,  oder,  was  dasselbe  sagen  will,  nach 
Herausnahme  der  Zelle  aus  ihren  Verbindungen,  fortdauert.  Schwache 
Säuren,    Alkohol,   Aether,   Galle,   und   niedere   Temperaturagrade, 


108  §•  S1*  lliiRkelgew«be.  Huptgrnppen  dessellMn. 

hemmen  die  Flimmerbewegungen,  und  bringen  sie  zum  Stillstand, 
indem  sie  in  der  umgebenden  Flüssigkeit  Niederschläge  erzeugen, 
welche  einen  für  die  schwachen  Cilien  unübei*windlichen  Widerstand 
bilden.  Werden  diese  Niederschläge  durch  eine  Kalisolution  auf- 
gelöst, beginnt  die  Cilienbewegung  von  Neuem.  Wärme  und  Elec- 
tricität  sollen  das  Vibriren  der  Cilien  fördern ;  —  Opium,  Blausäure, 
narkotische  Gifte,  verhalten  sich  indifferent  gegen  dasselbe. 


§.31.  Muskelgewebe,  Hauptgruppen  desselben. 

Die  Muskeln  (Musculi^  griechisch  [jlü6^,  von  [juietv,  zusammen- 
ziehen), sind  die  activen,  die  Knochen  die  passiven  Bewegungs- 
organe des  thierischen  Leibes.  Die  Muskeln  kommen  in  ihm  in 
sehr  grosser  Menge  vor,  und  bilden  das  Fleisch  desselben.  Kein 
anderes  organisches  System  nimmt  so  viel  Raum  für  sich  in  An- 
spruch, wie  die  Muskeln.  Sie  ziehen  sich  auf  Geheiss  des  Willens, 
oder  durch  die  Einwirkung  äusserlich  auf  sie  angewendeter  Reize, 
z.  B.  Galvanismus,  zusammen,  werden  kürzer,  und  verkleinern  da- 
durch die  Distanz  ijweier  beweglichen  Punkte,  zwischen  welchen  sie 
ausgespannt  sind.  Das  Vermögen,  sich  auf  Reize  zusammenzuziehen, 
heilst  Irritabilität,  oder  besser  Contractilität. 

Alle  stärkeren  Muskeln,  besonders  die  Muskeln  des  Skeletes, 
bestehen  aus  gröberen  Bündeln,  Fasciculi  muscvlarea,  welche  ge- 
wöhnlich parallel  neben  einander  liegen,  aber  auch  sich  in  ver- 
schiedenen, meistens  sehr  spitzigen  Winkeln  zusammengesellen.  Die 
kleineren  und  grösseren  Bündel  dieser  Art,  besitzen  Bindegewebs- 
hüllen, welche  von  der,  den  ganzen  Muskel  umhüllenden  Vagina 
ceUidaris  abgeleitet  werden.  In  der  kunstmässigen  Ablösung  dieser 
Vagina  von  der  Oberfläche  der  Muskeln,  besteht  das  Präpariren 
derselben. 

Jedes  Muskelbündel  stellt  eine  Summe  mit  freiem  Auge 
erkennbarer  kleinerer  Bündelchen  dar,  und  diese  sind  wieder  Stränge 
von  sehr  feinen,  nicht  mehr  durch  das  Messer  in  dünnere  Fäden  zu 
zerlegenden  Muskelfasern,  FSbrae  muscidares.  An  dem  Querschnitte 
eines  gehärteten  Muskels,  z.  B.  geräucherten  Fleisches,  lässt  sich 
das  Verhältniss  der  Fasern  zu  den  kleineren  und  grösseren  Bündeln, 
l  dieser  zum  Ganzen,  mit  der  Loupe,  selbst  mit  dem  freien  Auge 
snnen. 

Hau  leitet  das  Wort  mtueulus  auch  von  [i\ii,  d.  i.  Maus  ab,  weil  die  spindel- 

Jmlgen  Muskeln,  mit  ihren  lan^n  Sehnen,  sich  mit  dem  Körper  und  Schweif 

(•tt  Xmu  Tergleichen  lassen.     Der  altdeutsche  Name:  Mäuslein,   drückt  wohl 

■•  AUeitang  aas.   —  Die  Restauratoren  der  Anatomie  im   14.   und   16.  Jahr- 

m^  gefafmeheii  statt  MiucuIub,  den  Ausdruck  Laeerlu»,  Meister  Scbjlbans, 

Aibvek  d«r  Wundareiney,  StrMsbuzg,  1617,  sagt  hierOber:  „Musonlus 


§.  81.  Ma8kelf«w«b«.  Hftaptgnipp«n  dMNiben.  109 

^unb  Lacerto»  ip  ein  S^ing,  aber  Musculus  loürt  genennt  na^  bcr  form  ainer  mou8j, 
^Lacertos  nad)  bcr  formen  ainer  ^e^be(^«j,  bann  gleichwie  bie  tl^^erlin  feinb  an  beiben 
^enben  f(ein  (b.  i.  bünn),  unb  long  gegen  bem  fd^wanft,  unb  in  bcr  mitten  bidf,  alfo 
,,fctnb  au(^  h\^e  müdglin  unb  lacerti". 

Bei  mikroskopischer  Untersuchung  erscheinen  die  Muskelfasern 
in  zweifacher  Form,  und  zwar  als: 

a)  Quergestreifte  Fasern.  Sie  zeigen,  nebst  feinen  parallelen 
Längslinien,  welche  theils  continuirlich ,  theils  in  Absätzen  der 
Richtung  der  Faser  folgen,  eine  sehr  markirte  Querstreifung, 
welche  nicht  blos  die  Oberfläche  der  Faser  in  querer  Richtung 
zeichnet,  sondern  auch  in  die  Tiefe  derselben  eingreift,  und  dadurch 
die  Faser,  in  abwechselnd  helle  und  dunkle  Platten  oder  Scheiben 
schneidet,  ähnlich  den  Platten  einer  Vol tauschen  Säule.  Sie  finden 
sich  in  allen  der  Willkür  gehorchenden,  lebhaft  fleischrothen  Muskeln 
des  Skelets  (sogenannte  animalische  Muskeln),  und  unter  den 
unwillkürlichen,  im  Herzen,  im  Pharynx,  und  stellenweise  auch  in 
der  Speiseröhre. 

Die  Dicke  der  quergestreiften  Faseni  wechselt  sehr,  nach  der 
Verschiedenheit  der  Muskeln,  welchen  sie  angehören.  So  beträgt 
sie  bei  den  Gesichtsmuskeln  0,005'''  —  0,008'"-;  bei  den  Stamm- 
muskeln 0,01'"  —  0,25'".  Ihre  Länge  ist  geringer,  als  jene  des  be- 
treff^enden  Muskels.  Es  müssen  sich  deshalb  mehrere  Fasern  der 
Länge  nach  aneinanderreihen,  um  der  I^änge  des  Muskels  zu  ent- 
sprechen. Die  Aneinanderreihung  erfolgt  mittelst  zugespitzter,  selbst 
auch  mittelst  gespaltener  Enden. 

Jede  quergestreifte  Faser  besitzt  eine  structurlose  Hülle  (Sarco- 
lemma,  von  aap?,  Fleisch,  und  XafjLßive'.v,  aufnehmen  oder  enthalten). 
Diese  Hülle  ist  an  ihrer  inneren  Oberfläche  mit  länglichen  Kernen 
besetzt,  und  umschlicsst  den  Inhalt  der  Muskelfasern,  als  eigent- 
liche contractile  Substanz  des  Muskels.  Die  erwähnte  quere  Streifung 
gehört  nicht  dem  Sarcolemma  an,  sondern  dem  Inhalte. 

Ueber  den  Bau  des  contractilen  Inhaltes  dieser  Muskelfasern, 
haben  sich  die  Mikrologen  noch  nicht  geeiniget.  Sie  stehen  sich 
vielmehr  in  zwei  Lagern  feindlich  gegenüber.  Die  ältere  Schule 
lässt  den  Inhalt  einer  Faser  aus  feinsten,  perlschnurähnlich  in 
dunklere  und  hellere  Abschnitte  gegliederten  Fäserchen  —  den 
Muskelfibrillen  (auch  Primitivfasern)  bestehen,  und  erklärt 
daraus  das  längsgestreifte  Ansehen  der  Muskelfaser.  Durch  Macera- 
tion  der  Muskelfasern  in  sehwachem  Weingeist,  lösen  sich  diese 
Fäserchen  von  einander,  und  können  einzehi  gesehen  werden.  Jede 
derselben  zerfallt  durch  Behandlung  mit  verdünnter  Salzsäure,  der 
Quere  nach,  in  kleinste  Säulenstücke.  Die  erwähnte  perlschnur- 
ähnliche  Gliederung  der  Fibrillen  aber  soll,  indem  die  dunkleren 
und  helleren  Abschnitte  aller  Fibrillen  in  gleichen  Querebenen  neben 


110  §•  91-  Kukelgewebe.  Hiuptfruppen  desBelben. 

einander  liegen,  die  Querstreifung  der  Muskelfaser  erzeugen.  Dieses 
ist  der  Glaubensartikel  der  Fibrillentheorie.  Jener  der  Seheiben- 
theorie lautet:  Der  Inhalt  des  Sareolemma  einer  Muskelfaser,  be- 
steht aus  übereinander  gelagerten  Scheiben  (Bowman's  dücs),  wie 
die  Münzen  einer  Geldrolle.  Zweierlei  Arten  dieser  Scheiben,  helle 
und  dunkle,  folgen,  der  Länge  der  Muskelfaser  nach,  alternirend 
auf  einander.  Den  zweierlei  Scheiben  entsprechen  lichtere  und 
dunklere  Zonen  an  der  Oberfläche  der  Faser,  daher  die  Quer- 
streifung. Die  lichteren  Zonen  sind  etwas  breiter,  als  die  dunkleren. 
Die  Scheiben,  welche  den  lichteren  Zonen  entsprechen,  lassen  sich 
durch  Behandlung  der  Muskelfaser  mit  verdünnter  Salzsäure  isoliren, 
indem  diese  Säure,  die  den  dunkleren  Zonen  entsprechenden  Scheiben 
auflöst.  Die  Scheiben  aber  sind  wieder  aus  kleinen  Säulenstückchen 
zusammengesetzt,  deren  Richtung  senkrecht  auf  den  platten  Flächen 
der  Scheiben  steht.  Sie  lösen  sich  durch  Behandlung  der  Scheibe 
mit  schwachem  Weingeist  von  einander,  und  hcissen  bei  den  eng- 
lischen Anatomen  Sarcous  Elements,  —  bei  Brücke  Disdiaclasten, 
(avec  du  grec,  on  a  taujours  raison,  sagt  Moliere),  weil  sie  das  Licht 
doppelt  brechen.  Ein  Grieche  aber  würde  auch  mit  Diclasten 
genug  haben.  —  Beide  nur  in  den  Hauptzügen  angegebenen  An- 
sichten, haben  achtbare  Vertreter.  Im  Grunde  sind  beide  Theorien 
nicht  wesentlich  verschieden.  Denn  wenn  eine  Muskelfaser,  durch 
Maceration  in  Weingeist,  sich  in  Längenlibrillen  zerlegt,  welche  durch 
verdünnte  Salzsäure  in  kleinste  Säulenstücke  zerfallen,  und  wenn 
diese  Faser,  durch  Maceration  in  verdünnter  Salzsäure,  sich  in 
Querscheiben  auflöst,  welche  durch  Weingeist  in  dieselben  kleinsten 
Säulenstücke  zerlegt  werden  können,  so  haben  doch  sicher  beide 
Theile  Recht.  Wer  die  einschlägige  Literatur  durchzuarbeiten  Lust 
hat,  dem  gebe  Gott  Geduld  dazu. 

Indem   die   animalen  Muskeln   in   der  Regel   mit  Sehnen   ent- 
springen und  endigen^  so  fi*ägt  es  sich,  wie  gehen  die  Muskelfasern 
in  Sehnenfasem  (§.  40)  über.   Auch   hierüber  streiten  Achiver  und 
Trojaner.     Der  Uebergang  beider  Fasergattungen  geschieht   in   der 
Alt,  dmsB  das  abgeiiindete   oder  gezackte   Ende   der   Muskelfaser, 
^«^ktarftimig  von  Sehnenfasem  eingehülst  und  durch  eine  Art  von 
ni  Kalilaiige  löst^  mit  ihnen  fest  verbunden  wird.  Andere 
"TifiiBiTm    aus  dem   Sareolemma    der   Muskelfasern, 
^«elbeiiy  hervorgehen  (Ger lach).  Ausführliches 
Be  Anheftiuig  der  Muskelfasern  an  ihre  Sehnen, 

866. 

to  Aniehen   der   uiimalen    MüskelfiEtsern,  entspricht  nicht 

minimiiintt  danelben,  sondern  ist  zugleich  der  optische 

hpalMUiiiM,  welche  den  Inhalt  einer  Faser  dnrchsetsen^ 

•r  sla  Iiflcken  erscheinen,  von  welchen  verlstelte 


§.  81.  Muskelgewcb«.  Hftaptgrnppea  deiMlb«n.  111 

Spältchen  aaslaufen.  Ihre  Besümmiing  kann  darin  bestehen,  das  durch  die  Capillar- 
gefösse  herbeigeführte  ernährende  Blutplasma,  in  möglichst  innigen  Verkehr  mit 
den  Muskelfibrillen  zu  bringen.  —  Die  im  Inneren  der  contractilen  Substanz  einer 
Muskelfaser,  oder  an  der  Innenseite  des  Sarcolemma,  vorfindlichen,  sogenannten 
Muskelkörperchen,  halte  ich  ftir  die  Kerne  der  Zellen,  aus  welchen  sich  die 
Muskelfaser  entwickelte. 

b)  Die  zweite  Form,  unter  welcher  die  Muskelfasern  unter  dem 
Mikroskope  erseheinen,  umfasst  die  Gruppe  der  glatten,  d.  h.  nicht 
quergestreiften  Fasern.  Sie  finden  sich  in  den  sogenannten  organi- 
schen Muskeln,  d.  i.  jenen,  deren  Bewegungen  vom  Willen 
unabhängig  sind ,  und  welche  nicht  selbstständig ,  sondern  als 
integrirende  Bestandtheile  anderer,  und  zwar  sehr  vieler  Organe 
auftreten.  Man  hat  diese  Fasern  nachgewiesen :  im  Verdauungs- 
kanale,  in  den  Harnwegen  und  in  der  Harnblase,  den  Samenbläschen, 
der  Gebärmutter,  der  Iris,  der  Choroidea,  den  Ausfuhrungsgängen 
vieler  Drüsen,  in  den  Bindegewebshülsen  der  Lymphdrüsen,  den 
Bronchien  der  Lunge  bis  in  die  Endverzweigungen  derselben,  in  der 
Milz,  in  den  Wänden  der  Blutgefässe,  in  der  Brustwarze,  in  der 
Dartos,  im  Gewebe  der  Cutis,  jedoch  nur  an  behaarten  Stellen  der- 
selben, und  nach  Pflüg  er  und  Aeby,  auch  im  Eierstocke  aller 
Wirbelthiere. 

Die  glatten  Muskelfasern  bestehen  aus  kernfährenden,  spindel- 
förmigen, leicht  abgeplatteten,  bedeutend  verlängerten,  zuweilen  auch 
kurzen,  fast  rhombischen  Zellen,  an  welchen  eine  besondere,  vom 
Inhalt  verschiedene  Zellenmembran,  nicht  nachgewiesen  werden  kann. 
Der  Zelleninhalt  ist  eine  contractionsftlhige  Substanz.  Kölliker  nannte 
diese  Zellen  deshalb  zuerst  muskulöse  oder  contractile  Faser- 
zellen. Ihre  Kerne  sind  elliptisch,  oder  stäbchenförmig  in  die 
Länge  gestreckt.  —  Glatte  Muskelfasern  von  ansehnlicher  Länge 
finden  sich  vorzugsweise  in  der  Tunica  muscularis  des  Darmkanals; 
die  kurzen,  fast  rhombischen,  vorzüglich  in  den  Wänden  der  Arterien, 
in  den  Drüsenausführungsgängen,  und  im  Balkensystem  der  Milz. 
—  Zwischen  den  glatten  Muskelfasern  treflFen  wir  ein  structurloses 
Binduugsmittel  (Kitt),  in  welchem,  nebst  einer  Menge  von  Körnern, 
viele  eckige  Zellen  eingebettet  sind,  deren  Ausläufer  untereinander 
sich  verbinden.  Verdünnte  Salpetersäure  oder  Kalilauge,  löst  dieses 
Bindemittel  auf,  und  ermöglicht  es,  vollkommen  isolirte  glatte  Muskel- 
fasern zur  Anschauung  zu  bringen.  —  Glatte  Muskelfasern  kommen 
in  den  Organen,  deren  Ingrediens  sie  bilden,  entweder  zerstreut  und 
vereinzelt,  oder  zu  platten  Strängen  vereinigt  vor,  welche,  wenn  sie 
sich  in  Flächen  aggregiren,  die  sogenannten  Muskelhäute  erzeugen, 
deren  entwickeltste  Form  wir,  als  Längs-  und  Kreisfaserschichte  im 
Magen  und  im  Darmkanal  antreffen. 

Die  aus  glatten  Muskelfasern  bestehenden,  sogenannten  organi- 
schen  Muskeln,   besitzen   keine   Sehnen,    bedingen   niemab   Orts- 


112  8*32.  Anitomische  EigenschEften  der  Muskeln. 

Veränderungen,  sondern  nur  Verengei-ungen  oder  Verkürzungen  der 
Organe,  in  oder  an  welchen  sie  vorkommen,  laufen  in  gekreuzten 
Doppelsehichten  (als  Längs-  und  Kreisfaserschichte)  über  einander 
hin,  und  hängen  mit  dem  Skelet  nicht  zusammen.  Mit  einer  einzigen 
Ausnahme,  welche  durch  den  Sphincter  und  DtUUator  fUfiUae  ge- 
geben wird,  haben  sie  keine  Antagonisten. 


§.  32.  Anatomische  Eigenschaften  der  Muskeln. 

Die  Muskeln  sind  sehr  gefassreich.  Die  Arterien  derselben 
treten  gewöhnlich  an  mehreren  Stellen  in  sie  ein,  dringen  zwischen 
den  Bündeln  schräg  bis  zu  einer  gewissen  Tiefe  vor,  senden  auf- 
und  absteigende  Aeste  ab,  welche  der  Lüngenrichtung  der  Bündel 
folgen,  und  sich  in  capillare  Zweige  auflösen,  welche  die  Muskel- 
fasern mit  lang-  und  schmalgegitterten  Netzen  umstricken,  ohne  in 
das  Innere  der  Fasern  selbst  einzugehen.  —  Die  Nerven  stehen  oft 
in  einem  grossen  Missverhältniss  zur  Masse  der  Muskeln.  Sehr 
kleine  Muskeln  haben  oft  starke,  —  sehr  grosse  Muskeln,  dagegen 
schwache  Nerven.  Als  besonders  eclatante  Beispiele  dienen  die 
Augenmuskeln  mit  ihren  dicken,  und  die  massenhaften  Gesäss- 
muskeln  mit  ihren  dünnen  motorischen  Nerven.  Wie  aber  die 
Nerven  in  den  Muskeln  endigen,  wird  in  §.  61  gesagt. 

Es  wurde  viel  gestritten,  ob  die  rothe  Farbe  der  Muskeln  von 
dem  Blute  ihrer  zahlreichen  Capillargefässe  herrühre,  oder  der 
Muskelfaser  eigenthümlich  sei.  Die  mikroskopische  Beobachtung 
einzelner  Muskelfasern,  lässt  eine  gelbröthliche  Färbung  derselben 
erkennen,  welche  ganz  genügt,  bei  solcher  Anhäufung  von  Fasern, 
wie  sie  in  der  Fleischmasse  eines  Muskels  stattfindet,  die  intensive 
Färbung  des  letzteren  zu  erklären,  obwohl  nicht  zu  läugnen  ist, 
dass  die  Gegenwart  des  Blutes  den  Purpur  des  Fleisches  erhöhen 
muss.  Ein  durch  Wasserinjection  in  die  Blutgefässe  ausgewaschener 
Muskel,  wird  wohl  blässer,  aber  nicht  weiss.  Es  kann  aber  nur 
das  Blut  in  den  Capillargefässen  einen  Einfluss  auf  die  Röthung 
des  Muskels  ausüben ;  denn  jener  Bestandtheil  des  Blutes,  welcher 
aus  den  Capillargefässen  austritt,  und  die  Muskelfasern  tränkt,  ist 
wasserklar,  und  enthält  kein  Atom  Blutroth. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  der  animalen  Muskelfasern  wird 
unter  denselben  Modalitftten  wie  bei  den  bereits  erwähnten  Geweben  Yorgenommen. 
Die  mikroskopischen  Charaktere  der  quergestreiften  Muskelfasern  sind  leiclit  zu 
erkennen.  Schwieriger  ist  die  Beobachtung  ihrer  Fibrillen,  welche  nur  nach  voraus- 
gegangener Maoeration  in  verdünntem  Weingeist  gelingt,  besonders  an  den  Riss- 
steUen  der  Fasern,  an  welchen  sich  die  Fibrillen  von  selbst  auseinanderlegen. 
Um  die  Scheiben  einer  quergestreiften  Muskelfaser  von  einander  weichen  zu 
machen,    und    eine  klare    Ansicht  derselben  im   isolirten  Zustande  zu  gewinnen. 


§.  8S.  Chemisch«  Eigeaichafken  dei  tfiukelgewebes.  113 

macerirt  man  die  Faser  durch  24  Standen  in  yerdünnter  Salzsäure.  Dasselbe 
Zerfallen  in  Scheiben  erleiden  die  Muskelfasern  nach  Fr  er  i  eh  s  durch  die  Ein- 
vrirkung  des  Magensaftes,  und  nach  meinen  Beobachtungen  auch  durch  Mund* 
Speichel,  wie  man  an  jenen  Fleischresten  zuweilen  sehen  kann,  welche  beim 
Reinigen  des  Mundes  in  der  Früh*  mit  dem  Zahnstocher  zwischen  den  Zähnen 
hervorgeholt  werden.  —  Schwieriger  ist  die  Erkenntniss  der  organischen  Muskel- 
fasern. Sie  erfordert  den  Gebrauch  der  Reagentien,  unter  welchen  Salpetersäure, 
welche  sie  gelb  färbt,  und  Kalilauge,  welche  sie  leichter  isolirbar  macht,  am 
meisten  angewendet  werden.  Um  die  lebendige  Contraction  von  Muskelfasern  zu 
beobachten,  bedient  man  sich  eines  sehr  dünnen  und  durchscheinenden  Bauch - 
muskels  eines  Frosches.  Derselbe  muss  auf  der  belegten  Seite  eines  Stückchens 
Spiegelglas,  an  welcher  man,  zur  Beobachtung  des  Muskels  bei  durchgehendem 
Licht,  in  der  Mitte  die  Folie  etwas  abkratzte,  ausgebreitet,  und  mit  dem  Rotations- 
apparate unter  dem  Mikroskope  gereizt  werden. 

Die  Literatur  über  das  Muskelgewebe  ist  ungeheuer  zahlreich,  aber  die 
ältere  auch  gänzlich  werthlos,  was  mitunter  auch  von  einem  g^ten  Theil  der 
neueren  gilt.  —  lieber  die  Verbreitung  der  glatten  Muskelfasern  handelt 
A,  KöUiker,  in  der  Zeitschrift  für  wissenschaftliche  Zoologie,  1.  Bd.  pag.  48.  — 
Neuere  Arbeiten  von  Leydig  in  MüUer's  Archiv.  1856.  —  A,  Rottett,  Untersuchungen 
zur  näheren  Kenntniss  der  quergestreiften  Muskelfaser,  in  den  Sitzungsberichten 
der  kais.  Akad.  1857.  —  H,  Welcher,  in  der  Zeitschrift  für  rat.  Med.,  VIII.  Bd. 
—  Jahn  und  Welcher,  ebend.  X.  Bd.  (Kemgebilde  und  plasmatisches  Gefäss- 
sjstem).  —  H.  Munh,  zur  Anat.  und  Phys.  der  quergestreiften  Muskelfaser,  in 
den  Nachrichten  der  königl.  Gesellsch.  der  Wissensch.  zu  Göttingen,  1858.  — 
Brüche,  Untersuchungen  über  den  Bau  der  Muskelfasern,  Denkschriften  der  kais. 
Akad.  Bd.  XV.  —  Kühne,  myologische  Untersuchungen.  Leipzig,  1860,  und 
dessen :  Peripherische  Endorgane  der  motor.  Nerven.  Leipzig,  1862.  —  M,  SchuUsse 
und  O.  Deiters,  Archiv  für  Anat.  1861.  —  A.  Weiamarm,  über  die  zwei  Typen 
des  contractilen  Gewebes,  in  der  Zeitschrift  für  rat.  Med.  XV.  Bd.  —  Cohnheim 
in  Virchow'a  Archiv,  34.  Bd.  —  J,  Eberth,  ebenda,  37.  Bd.  —  KöUiher,  Zeit- 
schrift für  wissensch.  Zool.  16.  Bd. 


§.  33.  Chemisclie  Eigenscliafteii  des  Muskelgewebes. 

Durch  Maceriren  lassen  sich,  wie  schon  gesagt,  die  animalen 
Muskelfasern  in  ihre  Fibrillen  zerlegen,  und 'verlieren  zugleich  ihre 
rothe  Farbe,  da  der  ihnen  anhängende  Farbstoff,  welcher  mit  dem 
Blutroth  identisch  zu  sein  scheint,  im  Wasser  löslich  ist.  Längeres 
Verweilen  an  der  Luft  röthet  sie  durch  Oxydirung  dieses  Farb- 
stoffes, und  durch  Verdunstung  des  Wassers;  vollkommen  ein- 
getrocknet werden  sie  schwarzbraun,  wie  an  den  Mumien  in  den 
Katakomben  der  St.  Stephanskirche  und  des  Kapuzinerklosters  zu 
Palermo  zu  sehen.  In  der  Erde  vermodert  das  Muskelfleisch  lang- 
sam, ohne  Entwicklung  fauler  Gase.  Kein  beerdigter  Leichnam 
wird  von  Würmern  gefressen,  wie  die  Leute  glauben.  Nur  un- 
beerdigt,  und  zur  Sommerszeit,  wo  die  Schmeissfliegen  ihre  Eier  in 
Unzahl  auf  die  Cadaver  legen,  verzehren  die  auskriechenden  Maden 
(welche  doch  keine  Würmer  sind)  eine  Leiche  mehr  weniger  schnell^ 

Hjrtl,  L«Iirbae1i  d«r  Anatomie.  14.  Aufl.  8 


114  §•  84.  Physiologische  Eigenschftften  des  Muskelgewebes.  Irritabilitftt. 

und  unter  stinkender  Gasentwicklung.  Dieses  kann  in  der  Erde 
nicht  geschehen.  Deshalb  sind  Kirchhöfe  in  der  Nähe  grosser 
Städte,  lange  nicht  so  schädlich,  als  man  glaubt.  Pettenkofer  hat 
die  Luft  der  Kirchhöfe  selbst  reicher  an  Ozon  gefunden,  als  die 
Stadtluft.  —  Durch  Kochen  werden  die  Muskeln  anfangs  fester, 
schrumpfen  zusammen,  und  werden  zuletzt  wieder  weich  und  mürbe, 
ohne  sich  jedoch  selbst  bei  lange  fortgesetztem  Kochen  aufzulösen. 
Der  Leimgehalt  der  Fleischbrühen  stammt  nicht  vom  Muskelfleisch, 
sondern  von  den  Bindegewebsscheiden  der  Muskeln,  von  den  Sehnen 
und  Knochen. 

Als  Hauptbestandtheile  der  Muskeln  sind  zwei  stickstoffreiche, 
dem  Faserstoff  des  Blutes  verwandte  Substanzen,  das  Muskel fibrin 
oder  Syntonin,  und  das  Myosin,  bekannt  geworden.  Letzteres 
unterscheidet  sich  vom  ersteren  hauptsächlich  durch  seine  Unlöslich- 
keit in  concentrirten  Salzlösungen.  Aus  frischem  Muskelfleisch  lässt 
sich  eine  sauer  reagirende  Flüssigkeit  (Muskelserum)  auspressen,  aus 
welcher  Lieb  ig  und  Scheerer  eine  Summe  stickstoffhaltiger  und 
Stickstoff  loser  Körper  darstellten,  wie:  Kreatin,  Kreatinin,  Sarcosin, 
Butter-,  Milch-,  Ameisensäure,  und  Muskelzucker  (Inosit).  Für  den 
Anatomen  sind  diese  Stoffe  blos  Namen.  Ihre  Natur  imd  Wesenheit 
gehört  vor  das  Forum  der  organischen  Chemie. 

Der  g^sse  Wassergehalt  der  Muskeln  beträgt  nach  Berzelius  77,  nach 
Bibra  74  Procent.  Er  ist,  nebst  der  Blutmenge,  welche  die  Muskeln  enthalten, 
die  Ursache  des  leichten  Fanlens  derselben  an  der  Luft,  wobei  sich  das  Fleisch, 
wie  in  den  Secirsälen  täglich  gesehen  wird,  mit  einer  schmierigen  Schimmel- 
wucherung (By88U8  aepHcaJ  bedeckt,  unter  welcher  der  Zersetzungpiprocess  rasch 
fortschreitet.  Trocknen,  Räuchern,  Einsalzen,  sind  deshalb  die  besten  Mittel, 
Fleisch  durch  lange  Zeit  vor  Verderbniss  zu  schützen,  und  in  den  anatomischen 
Laboratorien  muss  man  sich,  wenn  Leichenmangel  eintritt,  durch  Injection  der 
Cadaver  mit  salzsaurem  Zinn,  mit  dem  Liquor  von  Gannal  oder  Goadley, 
helfen.  In  hermetisch  verschlossenen  Blechbüchsen  lässt  sich  Fleisch  jahrelang 
unversehrt  für  den  Genuss  aufbewahren.  Hierauf  beruht  das  Apert'sche  Ver- 
fahren der  FleischcoDservirung  für  den  Bedarf  von  Armeen  und  Flotten.  Nur  das 
conservirte  Geflügel,  welches  der  französischen  Armee  in  der  Krim  zugesendet 
wurde,  war  verdorben;  wahrscheinlich  der  Luft  wegen,  welche  alle  Yogelknochen 
enthalten.  Wie  sehr  die  Kälte  die  Fäulniss  des  Fleisches  verhindert,  beweist  das 
von  Pallas  im  sibirischen  Eise,  mit  Haut  und  Fleisch,  selbst  mit  dem  Futter 
im  Magen,  wohlerhalten  aufgefundene  vorweltliche  Mammuth.  Die  Leiche  des 
von  Peter  dem  Grossen  nach  Sibirien  verbannten  Fürsten  Menzikoff,  wurde  nach 
92  Jahren,  daselbst  noch  völlig  erhalten  angetroffen,  in  Uniform  und  Ordensschmuck 
—  eine  bittere  Ironie  auf  menschliche  Grösse. 

§.  34.  Physiologische  Eigenschaften  des  Muskelgewebes. 

Irritabilität 

Die  vorragendste  physiologische  Eigenschaft  des  lebendigen 
Muskels  ist  seine  Zusammenziehungsfähigkeit  (Irritabilität  oder 


§.  34.  Phyaiologisch«  Eigenschaften  des  Maskelgewebe«.  Irritabilit&t.  115 

Contractilität).  Sie  äussert  sich  auf  die  Einwirkung  von  Reizen.  Man 
spricht  von  inneren  und  äusseren  Reizen.  Das  durch  die  Nerven 
einem  Muskel  übertragene  Geheiss  des  Willens  ist  ein  innerer,  — 
mechanische,  chemische,  oder  galvanische  Einwirkung,  wie  sie  bei 
physiologischen  Experimenten  angewendet  wird,  ein  äusserer  Reiz. 
Der  Galvanismus  wirkt  unter  den  verschiedenen  Reizen  am  inten- 
sivsten. Ure  in  Glasgow  galvanisirte  die  frische  Leiche  eines 
Gehenkten  mit  einer  Batterie  von  700  Platten,  deren  Conductoren  an 
Rücken  und  Ferse  des  Cadavers  angebracht  wurden,  und  erhielt  so 
kräftige  Muskelcontractionen ,  dass  der  Fuss  des  Leichnams  einen 
bei  diesem  Versuch  beschäftigten  Mann  niederschleuderte.  —  Der 
continuirliche  Strom  einer  galvanischen  Säule,  versetzt  einen  Muskel 
nicht  in  continuirliche  Zusammenziehung,  sondern  erzeugt  nur  bei 
seinem  Anfange  und  bei  seinem  Ende,  welche  dem  Schliessen 
und  Oeffnen  der  Kette  entsprechen,  eine  momentane  Contraction. 
Ed.  Weber  hat  in  dem  discontinuirlichen  Strome  des  eiectromagne- 
tischen  Rotationsapparates  ein  Mittel  gefunden,  die  Muskeln  in  con- 
tinuirliche Zusammenziehung  zu  versetzen. 

Der  durch  Haller  veranlasste  Streit,  ob  die  Irritabilität  eine 
reine  Eigenschaft  der  Muskelfaser,  oder  durch  den  Einfluss  der 
Nerven  bedingt  sei,  ist,  genau  genommen,  nur  ein  Streit  um  des 
Kaisers  Bart.  Die  Möglichkeit  einer  Zusammenziehung  muss  in  den 
Kräften  des  Muskels  liegen,  welche  von  seinem  Baue  abhängig  sind, 
und  der  Impuls  des  Willens,  diese  Möglichkeit  in  die  Erscheinung 
treten  zu  lassen,  muss  durch  den  Nerven  auf  den  Muskel  wirken. 
Die  Gegenwart  der  Nerven  ist  also  eine  nothwendige  Bedingung  der 
Abhängigkeit  des  Muskels  von  der  Seele,  nicht  aber  der  Zusammen- 
ziehungsfahigkeit  überhaupt.  Das  Herz  des  Hühnerembryo  pulsirt 
ja  schon  zu  einer  Zeit,  wo  keine  Spur  von  Nerven  in  ihm  zu  ent- 
decken ist,  und  das  amerikanische  Pfeilgift  (Curare),  welches  die 
motorischen  Nerven  der  Muskeln  lähmt,  benimmt  keineswegs  der 
Muskelfaser  das  Vermögen,  sich  auf  äussere  Reize  zusammenzuziehen. 

Ueber  das  Verhalten  der  Muskelfasern  während  der  Contraction 
hat  uns  zuerst  Ed.  Weber  belehrt.  Durch  sinnreiche,  mit  der 
grössten  Präcision  angestellte  Versuche,  wurde  bewiesen,  dass  die 
von  Prevost  und  Dumas  dem  Contractionszustande  eines  Muskels 
zugeschriebene  Zickzackbiegung  seiner  Fasern,  nur  während  ihrer 
Erschlaffung  eintritt.  Die  Muskelfaser  ist  während  ihrer  Zusammen- 
ziehung geradlinig,  und  wird  während  ihrer  Erschlaffung  im  Zickzack 
gebogen,  weil  die  mit  ihrer  Ausdehnung  nothwendig  verbundene 
Reibung  auf  ihrer  Unterlage,  keine  lineare  Verlängerung  erlaubt. 

Ein  contrahirter  Muskel  wird  zugleich  dicker.  Ist  die  Zunahme 

an  Dicke  gleich  der  Abnahme   an  Länge?     Wäre   dieses  der  Fall, 

80  bliebe  das  Volumen  des  Muskels  und  seine  Dichtigkeit  dieselbe« 

8» 


1 16  f.  U.  PliT<i<>1*gl)eka  ElpmehifUn  du  Maakaliaw*!»!.  InlUbilltU. 

Allein  schon  da»  während  der  Contraetioii  eines  MuskelB  zu  fühlende 
Hartwerden  desaelben  beweist  eine  Verdichtung,  und  somit  ein 
Uebcrwicgen  der  Längen  Verkürzung  Über  die  Zunahme  an  Dicke. 
Der  Unterschied  ist  jedoch  so  unbedeutend,  dass  man  von  ihm 
gänzlich  zu  abstrahiren  gewohnt  ist. 

Die  animalischen  und  die  ot^aniselien  Muskeln  verhalten  sieh 
bei  Reizungsversuchen  verschieden.  Die  animalischen  Muskeln  ziehen 
sich,  wenn  sie  gereizt  werden,  blitzschnell  zusammen,  und  erschlaffen 
ebenso  schnell,  während  die  organischen  sich  langsam  zusammen- 
ziehen, und  ebenso  langsam  erschlaffen.  Nur  die  organischen  Muskeln 
der  Iris  des  Auges  verkürzen  sich  und  erschlaffen  so  schnell  wie 
die  animalischen.  Diese  blitzschnelle  C'ontraction  der  animalischen 
Muskeln  ist  jedoch  nicht  so  buchstäblich  zu  nehmen,  indem  Helm- 
holtz  fand,  dass  zwischen  Reizung  und  Contraction  eine,  wenn  auch 
sehr  kurze,  dennoch  messbare  Zeit  vergeht. 

Auf  die  Zusammen  Ziehung  eines  Muskels  folgt  dessen  Erschlaf- 
fung, als  ein  Zustand  der  Ruhe  und  Erholung.  Ein  Muskel,  der  mit 
wechselnder  C'ontraction  und  Expansion  arbeitet,  kann  viel  längere 
Zeit  thätig  sein,  ohne  zu  ermüden,  als  ein  anderer,  der  in  einer 
permanenten  Zusammenziehung  verharrt.  Gehen  ermüdet  deshalb 
weniger  als  Stehen ,  und  ein  Mann ,  der  mit  seinen  Armen  einen 
Tag  lang  die  schwerste  Arbeit  zu  verrichten  vermag,  wird  nicht  im 
Stande  sein,  das  leichteste  Werkzeug  mit  ausgestreckter  Hand  zehn 
Minuten  long  ruhig  zu  halten.  Soldaten  werden  durch  eine  zwei- 
stündige Parade  viel  mehr  ermüdet,  als  durch  einen  vierstündigen 
Marsch. 

Die  Znfnhr  dei  wtariellen  Btales  übt,  nftcli  Segalas  nnd  Fowler,  einen 
vrichtigen  Einänia  auf  di«  Erhaltmig  der  ImtabililKt.  Die  IrritabilitXt  rerioindert 
»ich  logar  nach  Unterbindung  der  Arterien  schneller,  als  nach  Abschneidnng  dar 
Nerran.  Unterbindna^  der  ÄgrUi  uötfoBunofü  eraenpt«  LUimuug  subon  nach 
10  Minnten,  nnd  die  Li^tor  der  grossen  Stumme  der  Gliedmassen,  welche  den 
Ki^ilanf  nioht  «nmal  Tollkommen  aufhebt,  Knuert  eine  merkwürdige  Einwirkung 
r  dto  B«wa(tuiBifUuckeit,  welche  unmittelbar  nach  der  Operation  auf  ein 
roducirt  ist.  und  aicli  «rat  mit  der  Entwicklung  des  Collateralkreislanfes 
r  eitiBtetIt.  Da  oln  Mnefael,  wenn  er  vom  Leibe  getrennt  wird,  eine  Zeitlang 
I  Oiganiuition  und  die  davon  anagahendan  KrMtle  behalt,  bevor  er  durch  die 
*  lentürl  winl,  so  wird  die  Irrükbüität  auch  an  ausgeschnittenen  Muskeln, 
I  iu  dot  Lmicht^,  Itlinvrv  oder  lllngtre  Zeit  sich  erhalten. 

Die  KtioL'hen,    an    wckhun    ^icti   Muskeln  inseriren,    können  als  Hebel  be- 
'    InvhtuI  werdon.  •Ivreu  bowegvnde  Krni^  tm  Hnskel,  und  deren  au  bewegende  Laut 
was   mit    i)un  inBaumenhSngt,  Uegt.     Das  nSchste  Qelenk,    in 
a  «ich  bewegt,  altllt  den  Dreh-  oder  Stutzpunkt  des  Hebels 
k  Wir>l  im  VvtUufe  der  Muskrilahn,  nnd  dnrch  die  praktische  Belituidlung 
n  klar  wfrdeii,  dan  eis  und  deraelbe  Knochen  bald  als  einarmiger, 
iui|[wr  Hiibvl  wiAt,  —  Du  die  Unskeln  «ich  gerne  in  der  NUie  der 
J  nisr  Mlten  Iu  grOasrrrr  Sntfemang  davon,   an  der  Hebelstange  des 
1   nitlwnn  sie   mit|roH«ii  KnltTwIiUt  wirken,  welcher  noch 


S.  96.  SeoBibilit&t,  StofFweehMl,  Todtenatarre,  und  Tonus  der  Moilceliu  117 

gesteigert  wird  durch  die  schiefe  Richtung  der  Sehne  zum  Knochen.  Wenn  auch 
dem  letzteren  Uebelstande  durch  die  für  Muskelinsertionen  bestimmten  Knochen- 
fortsätze  (Tuherctda,  Ccnidyli,  Spinae),  und  durch  die  grössere  Dicke  der  Gelenk- 
enden abgeholfen  wird,  über  welche  sich  die  Sehnen  krümmen^  und  somit  unter 
grösseren  Winkeln  sich  befestigen  können,  so  bleibt  doch  in  ersterer  Beziehung 
das  mechanische  Verhältniss  so  ungünstig,  dass,  um  eine  Last  von  wenig  Pfunden 
zu  bewegen,  der  Muskel  eine  Contraction  ausführen  muss,  welche  unter  vortheil- 
hafteren  Gleichgewichtsbedingungen,  eine  vielmal  grössere  Last  bewegen  könnte. 
Wie  hätte  es  aber  mit  der  Gestalt  der  oberen  Extremität,  und  mit  ihrer  Brauch- 
barkeit ausgesehen,  wenn  die  Vorderarmbeuger  sich  in  oder  unter  der  Mitte  der 
o8»a  antibrachii  befestigt  hätten?  welche  unförmliche  Masse  hätte  z.  B.  der 
Ellbogen  im  Beugungszustande  dargestellt?  und  wie  langsam  wären  die  Be- 
weg^gen  der  Hand  gewesen,  während,  bei  naher  Muskelanheftung  am  Drehpunkte 
des  Hebels,  das  andere,  freie  Ende  des  Hebels  (die  Hand)  schon  bei  einem  ge- 
ringen Ruck  des  Biceps  einen  grossen  Kreisbogen  beschreibt,  und  somit  die 
Schnelligkeit  der  Bewegung  reichlich  ersetzt,  was  an  Muskelkraft  scheinbar  ver- 
geudet wurde. 


§.  35.  Sensibilität,  Stoffwechsel,  Todtenstarre,  und  Tonus 

der  Muskeln. 

Die  Sensibilität  eines  Muskels  muss,  der  geringen  Menge  seiner 
sensitiven  Nerven  wegen,  eine  geringe  genannt  werden.  Das  Durchs 
schneiden  der  Muskeln  bei  Amputationen,  schmerzt  bei  weitem 
weniger,  als  der  erste  Hautschnitt.  Auch  das  bei  Operationen  am 
Lebenden  so  oft  nöthige  Auseinanderziehen  nachbarlicher  Muskeln, 
um  auf  tiefere  Gebilde  einzudringen,  setzt  keine  Steigerung  der 
Schmerzen,  welche  mit  dem  operativen  Eingriffe  überhaupt  gegeben 
sind.  Die  äusseren,  mechanischen  Verhältnisse,  in  welchen  ein 
Muskel  sich  befindet,  die  Reibung,  Zerrung,  und  der  Druck,  denen 
er  durch  seine  Bestimmung  fortwährend  ausgesetzt  ist,  wären  mit 
grosser  Empfänglichkeit  desselben  für  äussere  Beleidigungen  nicht 
wohl  verträglich  gewesen.  Nichtsdestoweniger  besitzt  der  Muskel 
ein  sehr  scharfes  und  richtiges  Gefühl  für  seine  eigenen  inneren 
Zustände,  für  den  Mangel  oder  lleberfluss  an  Bewegungskraft.  Es 
äussert  sich  dieses  Gefühl  in  seinen  beiden  Extremen  als  Ermüdung 
oder  Erschöpfung,  und  als  Kraftgefühl.  Wir  werden  uns  der 
Grösse  der  Contraction  in  jedem  Muskel  mit  einem  solchen,  durch 
Uebung  noch  zu  schärfenden  Grade  von  Sicherheit  bewusst,  dass 
wir  daraus  ein  Urtheil  über  die  Grösse  des  überwundenen  Wider- 
standes, über  Gewicht,  Härte  und  Weichheit  eines  Gegenstandes 
abgeben  können,  und  die  Muskelbewegung  ein  wichtiges  und  noth- 
wendiges  Glied  des  Tastsinnes  wird.  Unter  krankhaften  Bedingungen 
steigert  sich  die  Empfindlichkeit  der  Muskeln  bis  zum  heftigsten 
Schmerz^  wie  bei  den  tonischen  Krämpfen. 


118  S«S5.  6«niiibiliat,  Stoffwechsel,  TodtensUrre,  und  Toniu  der  Muskeln. 

Die  Ernährungsthätigkelten,  der  Stoffwechsel,  gehen  im 
lebenden  und  arbeitenden  Muskelfleische  sehr  lebhaft  von  Statten. 
Der  absolute  Reichthum  der  Muskeln  an  Blutgefässen  spricht  dafür, 
und  wird  dadurch  noch  bedeutungsvoller,  dass  er  blos  dem  Er- 
nährungsgeschäfte, und  keiner  anderen  Nebenbestimmung  (z.  B.  der 
Absonderung,  wie  bei  den  Drüsen)  gewidmet  ist.  Häufige  Uebung 
und  Gebrauch  der  Muskeln  fordert  ihre  Entwicklung,  und  lässt  sie 
an  Masse  und  Gewicht  zunehmen.  Muskelstärke  lässt  sich  deshalb 
bis  zu  einem  unglaublichen  Grade,  durch  planmässige  Uebung  er- 
zielen. Diese  Kunst  verstehen  die  Japanesen  am  gründlichsten, 
wie  die  unmöglich  scheinenden  Kraftäusserungen  ihrer  Athleten 
beweisen.  —  Die  Zahl  der  Fasern  wird  in  einem  durch  Gebrauch 
an  Dicke  zunehmenden  Muskel,  wirklich  vermehrt,  während  die 
absolute  Dicke  der  einzelnen  Fasern  nicht  augenfällig  zunimmt. 
Ein  athletischer  Turner  und  ein  schwächliches  Mädchen,  lassen  in 
den  Dimensionen  ihrer  Muskelfasern  keinen  frappanten  Unterschied 
erkennen,  wenn  die  Volumsdifferenz  der  ganzen  Muskeln  auch  das 
Fünffache  beträgt.  So  habe  ich  es  gefunden,  —  Andere  natürlich 
anders.  —  Von  der  absoluten  Vermehrung  der  Muskelsubstanz 
(Hypertrophie),  unterscheidet  man  die  scheinbare,  welche  durch 
Verdickung  der  Bindegewebsscheiden  der  einzelnen  Muskelbündel 
gegeben  wird.  —  Andauernde  Unthätigkeit  und  Ruhe  eines  Muskels, 
bedingen  dessen  Schwund  (Atrophie),  wie  bei  Lähmungen  und 
allgemeiner  Fettsucht.  —  Die  Muskelsubstanz  erzeugt  sich,  wenn 
sie  durch  Krankheit  oder  Verwundung  verloren  ging,  nie  wieder, 
und  ein  entzwei  geschnittener  Muskel  heilt  nicht  durch  Muskel- 
fasern, sondern  durch  ein  neugebildetes,  fibröses  Gewebe  zusammen. 

Ein  Phänomen  am  todten  Muskelfleisch  interessirt  den  Ana- 
tomen als  Todten  starre,  Rigor  mortis.  Bei  allen  Wirbelthieren 
wird  sie  beobachtet.  Sie  stellt  sich  im  Menschen  nie  vor  10  Minuten, 
und  nie  nach  7  Stunden  post  mortem  ein.  Sie  äussert  sich  als  eine 
allmälig  zunehmende  Verkürzung  der  Muskeln,  mit  Hartwerden 
derselben.  Der  Unterkiefer,  welcher  im  Erlöschen  des  Todeskampfes 
durch  seine  Schwere  herabsank,  wird  durch  die  Todtenstarre  seiner 
Hebemuskeln,  gegen  den  Oberkiefer  so  fest  hinaufgezogen,  dass 
der  Mund  nur  durch  grosse  Kraftanstrengung  geöffnet  werden  kann; 
der  Nacken  wird  steif,  der  Stamm  gestreckt,  die  Gliedmassen, 
welche  kurz  nach  dem  Tode  weich  und  beweglich  waren,  und  in 
jede  Stellung  gebracht  werden  konnten,  werden  starr  und  unbeugsam ; 
der  Daumen  wird,  wie  beim  Embryo,  unter  die  zur  Faust  ge- 
beugten Finger  eingezogen,  etc.  Die  Todtenstarre  ist  es,  welche 
die  bei  ärmeren  Leuten  übliche  Sitte  entstehen  Hess,  dem  eben 
Verschiedenen  sogleich  die  Wäsche  auszuziehen,  da  sie  einige 
Stunden  nach  dem  Tode,  der  Starrheit  des  Leichnams  wegen^   nur 


S.  85.  SensibilH&t,  StofFfrechsel,  Todtensturre,  und  Tonas  der  Mnskeln.  119 

losgeschnitten  werden  kann.  Ebenso  legt  man  schwere  Körper, 
z.  B.  Münzen,  auf  die  im  Sterben  sich  schliesseuden  Augenlider, 
damit  die  Lidspalte  durch  das  Erstarren  des  Levator  palpebrae  nicht 
geöffnet  werde.  —  Selbst  Muskeln,  welche  gelähmt  waren,  bleiben 
von  der  Todtenstarre  nicht  verschont.  Ihre  Dauer  ist  sehr  ungleich. 
Sie  richtet  sich,  nach  dem  früheren  oder  späteren  Eintreten  der 
Starre,  in  der  Art,  dass  sie  desto  länger  dauert,  je  später  sie  sich 
einstellte.  Je  schneller  Fäulniss  eintritt,  desto  früher  schwindet  die 
Todtenstarre.  Mit  dem  Eintritt  der  Starre,  erlischt  auch  die  Reiz- 
barkeit in  den  Muskeln.  Die  Starre  kann  nicht  von  der  Gerinnung 
des  Blutes  abhängen ,  da  sie  nach  Verblutungen  sehr  intensiv  zu 
sein  pflegt,  und  bei  Ertrunkenen,  wo  das  Blut  nicht  gerinnt,  eben- 
falls eintritt.  Man  huldigt  gegenwärtig  der  Ansicht,  dass  das  im 
Muskelfleische  enthaltene  Fibrin,  durch  seine  Ausscheidung  und 
Coagulation,  die  Todtenstarre  bedingt.  Beginnt  die  Erweichung  des 
Fibrins  durch  das  organische  Wasser  des  Muskels  beim  Eintritt  der 
Fäulniss,  so  schwindet  die  Starre. 

Ein  in  sehr  verschiedenem  Sinne  gebrauchtes  Wort,  ist  der 
Tonus  der  Muskeln.  Wir  verstehen  darunter  einen  auch  im  Zu- 
stande der  Ruhe  dem  Muskel  zukommenden  Spann ungsgrad,  welcher 
ihm  nicht  erlaubt,  bei  rein  passiver  Verkürzung,  wie  sie  z.  B.  bei 
Knochenbrüchen  mit  Uebereinanderschieben  der  Bruchenden  vor- 
kommt, zu  schlottern  oder  sich  zu  falten.  Dieses  Vermögen,  bei 
jeder  Verkürzung  geradlinig  zu  bleiben,  muss  auf  einer  beständig 
thätigen  Contractionstendenz  beruhen,  welche,  um  ein  Wort  zu  haben, 
Tonus  genannt  werden  mag.  —  Ist  ein  Organ  mit  mehreren  Muskeln 
ausgestattet,  welche  in  entgegengesetzter  Richtung,  aber  symmetrisch 
an  dasselbe  treten,  und  würden  die  Muskeln  der  einen  Seite  plötzlich 
gelähmt,  so  wird  das  Organ,  ohne  dass  wir  es  wissen  und  wollen, 
durch  die  Muskeln  der  gesunden  Seite  nach  ihrer  Richtung  gezogen, 
und  bleibt  in  einer  durch  den  Tonus  der  nicht  gelähmten  Muskeln 
bewirkten  permanenten  Abweichung.  So  wird  z.  B.  bei  halbseitigen 
Gesichtslähmungen  der  Mund  gegen  die  gesunde  Seite  verschoben. 
—  Wird  ein  Muskel  entzweigeschnitten,  so  ziehen  sich  seine  Enden 
zurück,  und  der  Schnitt  wird  (^ine  weite  Kluft.  Alles  dieses  erfolgt 
ohne  Willenseinfluss,  als  noth wendige  Folge  des  Tonus. 

Die  Zurückziehung  durchschnittener  Muskeln  hat  ftir  den  Wundarzt  hohe 
Wichtigkeit.  Würde  eine  Gliedmasse,  wie  es  vor  Zeiten  geschah,  und  bei  den 
Beduinen  jetzt  noch  üblich  ist,  durch  einen  Beilhieb  amputirt,  oder  abgedrellt,  so 
wird  die  Schnittfläche  des  Stumpfes  eine  Kegelfläche  sein,  an  deren  Spitze  der 
Knochen  vorsteht,  welcher  durch  die  gleichfalls  sich  zurückziehende  Haut  nicht 
bedeckt  werden  kann.  Die  Amputation  darf  deshalb  nicht  in  Einem  Trennungs- 
acte  bestehen,  sondern  muss  in  mehreren  Tempo's  verrichtet  werden,  indem  die 
Muskeln  tiefer  als  der  Knochen  entzweit  werden  soUen. 


120  I'  M,  Jnkiltaim  d«r  Mukeln  ra  ihnn  S^Dea. 

§.  36.  Yerhältniss  der  Muskeln  zu  ihren  Sehnen. 

Die  willkürlichen  Muskeln  stehen  ausnahmslos  an  ihrem  An- 
fange und  Ende  mit  fibrösen,  metailischglänzenden  Strängen,  oder, 
wenn  sie  zu  den  breiten  Muskeln  gehören ,  mit  solchen  Häuten  in 
Verbindung,  welche  Sehnen,  Tendines ,  und  Sehnenhäute,  Apo- 
neuroses,  heissen. 

Damit  mehrere  Muskeln  zugleich  von  Einem  Punkte  des 
Skeletes  entspringen,  oder  an  einem  solchen  enden  können,  mussten 
sie  an  ihrem  Anfange  und  Ende  mit  Sehnen  versehen  werden, 
deren  Umfang  bedeutend  kleiner,  als  jener  der  Muskeln  selbst  ist. 
Raumerspamiss  ist  somit  der  letzte  Grund  der  Sehnenbildung.  Man 
unterscheidet  die  Sehnen  als  Ursprungs-' und  Endsehnen.  Diese 
wurden  vor  Zeiten  Caput  et  Cauda  miisculi  genannt,  während  das 
eigentliche  Fleisch:  Muskelbauch,  Venter  musculi,  hiess.  Diese 
Namen  passen  jedoch  nur  auf  die  langen  und  spindelförmigen 
Muskeln,  deren  Gestalt  in  der  That  an  eine  geschundene  Maus 
erinnert,  mit  Kopf,  I^eib  und  Schweif,  jedoch  ohne  Gliedmassen. 

Dnrch  langes  Kochen  kann  die  Verbindung  von  Muskeln  und  Sehnen  so 
gelockert  werden,  dass  man  beide  ohne  Gewalt  trennen  kann.  Um  den  Ueberg^ng 
von  Muskelflcinch  in  Sehnen  nicht  durch  einen  plötzlichen  Abschnitt,  sondern  mit 
allmäliger  Abnahme  den  Umfanges  eines  Muskels  möglich  zu  machen,  reichen  die 
Sehnen  entweder  im  Fleische,  oder  an  einem  Rande  desselben  weiter  hinauf, 
wodurch  sich  viele  Muskelfasern  nach  und  nach  an  die  Sehne  ansetzen  können, 
und  eine  gefälligere  Form  des  sich  gegen  Ursprung  und  Ende  verjüngenden 
Muskelbauohes  resultirt. 

Wird  der  Bauch  eines  Muskels  durch  eine  eingeschobene  Sehne 
in  zwei  Thoile  getheilt,  so  heisst  ein  solcher  Muskel  ein  zwei- 
bäuchiger,  Diventer,  Ist  die  eingeschobene  Sehne  kein  minder 
Strang,  sondern  ein  fibröses  Septum  mit  vielen  kurzen  und  zackigen 
Ausläufern  in  das  Fleisch,  so  heisst  sie:  sehnige  Inschrift, 
Inscriptio  tendineaf  weil  eine  solche  Stelle  das  Ansehen  hat,  als  sei 
mit  Sehnenfarbe  auf  dem  rothen  Muskel  in  querer  Richtung  ge- 
kritzelt worden.  Es  darf  nicht  als  Ursache  dieses  Unterbrechens  eines 
Muskels  mit  Zwischensehnen  angesehen  werden,  dem  Muskel  grössere 
Festigkeit  zu  geben ,  weil  von  mehreren  Muskeln ,  welche  durch 
Länge ,  Dicke  und  Wirkungsart  übereinstimmen ,  nur  Einer  diese 
Einrichtung  besitzt,  während  sie  den  übrigen  fehlt.  So  hätte  z.  B.  der 
Mtisadm  »temoh^oid^tu  ihrer  nicht  weniger  bedurft,  als  der  damit 
versehene,  kürzere  Stemothtfreoid^m ,  und  der  Grracäis  hätte  ihrer 
ebenso  benöthigt,  wie  der  gleichlange  Semitendinostis,  Eine  InscripHo 
iendinea  giebt  zugleich  ein  gutes  Bild  einer  Muskelnarbe. 

Verläuft  die  Sehne  eines  Muskels  in  seinem  Fleische  eine 
Strecke  aufwärts,   und  befestigen   sich   die  Muskelbilndel  von  zwei 


§.  37.  Benennung  und  Eintheilonf  der  Moikeln.  121 

Seiten  her  unter  spitzigen  Winkeln  an  sie,  so  heisst  ein  solcher 
Muskel  ein  gefiederter,  M,  pennatus.  —  Liegt  die  Sehne  an  einem 
Rande  des  Fleisches,  und  ist  die  Richtung  der  Muskelbündel  zu 
ihr  ebenso  schief,  wie  beim  gefiederten  Muskel,  so  wird  er  halb- 
gefiedert,  AI.  semipennatuSy  genannt.  —  Hat  ein  Muskel  mehrere 
Ursprungssehnen,  welche  fleischig  werden,  und  im  weiteren  Zuge  in 
einen  gemeinschaftlichen  Muskelbauch  übergehen,  so  ist  er  ein  2-, 
3-,  4-köpfiger,  btceps,  triceps,  quadriceps. 

Die  Stelle,  wo  die  Ursprungs-  und  Endsehne  eines  Muskels 
am  Knochen  haftet,  heisst  Pimctum  originü  et  inseriwnis.  Man  hat 
sie  auch  Punctum  ßxum  et  mobUe  genannt ,  wobei  jedoch  tibersehen 
wurde,  dass  die  meisten  Muskeln  unter  gewissen  Umständen  das 
Punctum  ßxum  zum  mobile  -machen  können.  Es  wird  dieses  von  der 
Stärke  des  Muskels,  und  von  der  grösseren  oder  geringeren  Be- 
weglichkeit seines  Ursprungs-  oder  Endpunktes  abhängen.  So  wird 
der  Jochmuskel  immer  den  Mundwinkel  gegen  die  Jochbrücke,  und 
nicht  umgekehrt  bewegen,  während  der  Biceps  brachii  den  Vorder- 
arm gegen  die  Schulter,  oder,  wenn  die  Hand  sich  an  etwas  fest- 
hält, die  Schulter,  und  mit  ihr  den  Stamm,  der  Hand  nähern  kann. 


§.37.  Benennuiig  und  Eintheilung  der  Muskeln. 

In  der  Nomenclatur  der  Muskeln  herrscht  keine  Gleichförmig- 
keit, und  kann  auch  keine  herrschen.  —  Da  viele  Muskeln  einander 
sehr  ähnlich  sind,  so  reicht  man  mit  der  Benennung  nach  der  Ge- 
stalt nicht  aus.  Da  mehrere  derselben  gleiche  Wirkung  haben,  und 
auch  ihre  Ursprungs-  und  Endpunkte  übereinstimmen,  so  lassen  sich 
weder  Benennungen  nach  der  Wirkimg,  noch  zusammengesetzte  Aus- 
drücke, welche  Anfang  und  Ende  bezeichnen,  allgemein  gebrauchen. 
Wo  es  angeht,  ist  ein  aus  Ursprung  und  Ende  des  Muskels  zu- 
sammengesetzter Name  jeder  anderen  Benennung  vorzuziehen,  weil  er 
gewissennassen  eine  Beschreibung  des  Muskels  enthält,  und  das  Er- 
lernen vieler  Muskeln  am  wenigsten  erschwert.  Chaussier  hat  es 
versucht,  die  Terminologie  der  Muskeln  von  diesem  Gesichtspunkte 
aus  umzuarbeiten,  ohne  dass  sein  Bemühen  Nachahmung  gefun- 
den hätte. 

Die  Eintheilung  der  Muskeln  beruht  auf  ihrer  Form.  Ich  unter- 
scheide zwei  Hauptgruppen:  A)  soHde,  und  B)  hohle  Muskeln. 

A)  Solide  Muskeln.  Sie  zerfallen  nach  den  drei  cubischen 
Dimensionen  des  Raumes  in  : 

a)  Lange  Muskeln,  mit  vorwaltender  linearer  Ausdehnung.  Ihre 

Fasern  laufen  in  der  Regel  parallel.  Sie  sind  wieder  einfach 

oder  zusammengesetzt,  und  werden  letzteres  dadurch,  dass 


122  g.  S7.  B«nennimg  und  Einttieilang  der  Mmkeln. 

sich  mehrere  Köpfe  in  einen  Muskelbauch  vereinigen,  oder 
ein  Muskelbaueh  mehrere  Endsehnen  entwickelt,  wie  an  den 
Beugern  und  Streckern  der  Finger  und  Zehen.  Sie  kommen 
vorzugsweise  an  den  Gliedmassen  vor. 

b)  Breite  Muskeln,  mit  Flächenausdehnung  in  die  Länge  und 
Breite.  Sie  entspringen  entweder  ohne  Unterbrechung  von 
langen  Knochenrändem ,  oder  mit  einzelnen  Bündeln  von 
mehreren  neben  einander  liegenden  Knochen,  z.  B.  den  Rippen, 
wo  dann  diese  Bündel  Zacken,  De/iitaiiones,  heissen.  Sie  bilden 
nie  rundliche,  strangförmige  Sehnen,  sondern  flache,  sehnige 
Ausbreitungen  (Aponewroses).  Sie  finden  sich  nur  am  Stamme, 
und  eignen  sich  ganz  vorzüglich  zur  Begrenzung  der  grossen 
Leibeshöhlen. 

c)  Dicke  Muskeln.  Alle  breiten  Muskelkörper  von  namhafter 
Mächtigkeit  heissen  so.  Sie  sind  durch  ihre  Stärke  aus- 
gezeichnet, und  haben  entweder  parallele  Fleischbündel,  wie  der 
Glutaeus  magnus',  oder  verfilzte,  wie  der  Deltoides.  Ist  ein 
dicker  Muskel  zugleich  von  einer  seiner  Dicke  ziemlich  gleichen 
Länge  und  Breite,  so  heisst  er  kurz. 

Diesen   drei   Arten   von  Muskelformen  muss   man  noth- 
gedrungen  noch  eine  vierte  beigesellen. 

d)  Ringmuskeln.  Sie  umgeben  gewisse  Leibesöffnungen,  deren 
Verschluss  sie  zu  besorgen  haben. 

B)  Hohle  Muskeln.  Sie  gehören  sämmtlich  der  Classe  der 
unwillkürlichen  Muskeln  an.  Sie  kommen  in  viel  geringerer  Menge 
vor  als  die  soliden,  und  bilden  entweder  für  sich  hohle  Organe,  wie 
das  Herz  und  die  Gebärmutter,  oder  sie  umgeben  als  mehr  weniger 
deutliche  Muskelhaut,  Tunica  muscvlarU,  die  Höhlen  von  röhren- 
oder  schlauchförmigen  Organen.  Sie  sind  am  Darmkanal  und  an 
der  Harnblase  ein  Gegenstand  anatomischer  Zergliederung,  in  den 
Drüsenausführungsgängen  und  Blutgefössen  dagegen  nur  mit  dem 
Mikroskope  nachweisbar.  Da  sie  nur  an  solchen  Organen  vorkommen, 
auf  welche  die  Willkür  keinen,  oder  nur  beschränkten  Einfluss  übt, 
so  werden  sie  als  unwillkürliche  oder  organische  Muskeln  be- 
nannt, während  die  soliden  Muskeln,  welche  als  Organe  der  Orts- 
bewegung, der  Sprache,  der  Respiration,  und  der  Sinne,  unter  dem 
Einflüsse  des  freien  Willens  stehen,  als  willkürliche  oder  an i male 
Muskeln  zusammengefasst  werden.  Die  Sonderung  lässt  sich  jedoch 
weder  histologisch  noch  functionell  scharf  durchführen.  Das  quer- 
gestreifte Ansehen  der  animalen  Muskelfasern  findet  sich,  wie  früher 
erwähnt,  auch  am  Herzen  und  am  oberen  Drittel  der  Speiseröhre, 
and  die  Athmungsmuskeln ,  welche  willkürlich  bestimmbare  Be- 
wegungen ausführen,  setzen  im  Schlafe,  in  der  Ohnmacht,  und  im 
Schlagflosfl  ihre  Action  unwillktbrlich  fort.    Die  rothe  Färbung  der 


S.  S8.  Allgemeine  meclianisclie  VerMltnisse  der  Mnslceln.  123 

animalen,  und  die  blasse  der  organischen  Muskeln,  ist  nichts  Wesent- 
liches, und  mag  weniger  von  einem  wirklichen  Farbenunterschiede 
der  Primitivfasern,  als  vielmehr  von  ihrer  grösseren  oder  geringeren 
Anhäufung  abhängen.  Die  dünne  Muskelschichte  des  Darmrohrs 
erscheint  deshalb  blass,  während  die  dicke  Fleischsubstanz  des 
Herzens  viel  röther  ist,  als  mancher  dünne  animale  Muskel,  z.  B. 
das  Platjfsma  myoides.  Verdickt  sich  die  organische  Muskelschichte 
eines  Darmstückes  oder  der  Harnblase  durch  Krankheit,  so  wird 
sie  eben  so  fleischroth,  wie  ein  stark  arbeitender  animaler  Muskel. 
Der  rothe  Muskelmagen  der  körnerfressenden  Vögel,  und  die  krank- 
haften Hypertrophien  der  Darm-  und  Harnblasen  muskelhaut,  be- 
stätigen dieses  zur  Genüge. 

Andere  mehr  weniger  geläufige  EintheUungen  beruhen  auf  mehr  «ireniger 
allgemeinen  Eintheilungsgründen.  Muskeln,  welche  gleiche  Wirkung  haben,  oder 
sich  wenigstens  in  der  Erzielung  eines  gewissen  Effectes  synergisch  unterstützen, 
heissen  Coädjutcres;  jene  Muskeln,  deren  Wirkungen  sich  gegenseitig  neutralisiren, 
Antagcnistae.  Beuger  und  Strecker,  Auswärts-  und  Einwärtswender,  Aufheber  und 
Niederzieher  sind  Antagonisten,  mehrere  Beuger  dagegen  Coadjutoren.  Unter 
Umständen  können  Antagonisten  Coadjutoren  werden.  So  werden  alle  Muskeln 
des  Armes,  wenn  es  sich  darum  handelt,  ihm  jenen  Grad  von  Starrheit  und  Un- 
beugsamkeit zu  geben,  welcher  z.  B.  beim  Stemmen  oder  Stützen  nothwendig 
wird,  für  diese  Gesammtwirkung  Coadjutoren  sein. 


§.  38.  Allgemeine  mechanische  Verhältnisse  der  Muskeln. 

Da  jede  Muskelfaser  die  Richtung  einer  Kraft  bezeichnet,  so 
finden  die  statischen  und  dynamischen  Gesetze  der  Kräfte  überhaupt 
auch  auf  die  Muskeln  ihre  Anwendung.  Folgende  mechanische  Ver- 
hältnisse ergeben  sich  zunächst  aus  dieser  Anwendung. 

1.  Muskeln,  deren  Fasern  mit  der  Länge  des  Muskels  parallel 
laufen,  erleiden,  wenn  sie  wirken,  den  geringsten  Verlust  an  be- 
wegender Kraft,  indem  ihre  Wirkung  gleich  ist  der  Summe  der 
Partialwirkungen  ihrer  einzelnen  Bündel  und  Fasern.  —  Muskeln 
mit  convcrgenten  Bündeln  wirken  nur  in  der  Richtung  der  Diagonale 
des  Kräfteparallelogramms,  dessen  Seiten  durch  die  convergirende 
Richtung  der  Muskelfasern  gegeben  sind,  und  haben  somit  einen 
TotalefFect,  welcher  kleiner  ist,  als  die  Summe  der  partiellen 
Leistungen  aller  Bündel.  Je  spitziger  der  Vereinigungswinkel  zweier 
Bündel,  desto  geringer  ist  ihr  Kraftverlust;  je  grösser  der  Winkel, 
desto  grösser. 

2.  Bei  Muskeln  mit  längsparalleler  Faserung,  steht  die  Grösse 
ihres  Querschnittes,  mit  der  Grösse  ihrer  möglichen  Wirkung  in 
geradem  Verhältniss,  d.  h.  ein  Muskel  dieser  Art,  der  zweimal  so 
dick  ist;  als  ein  anderer,   wird  zweimal  mehr  leisten  können.     Die 


1 24  S>  S9-  Allfemein«  mechAiiiielie  Verh&ltiiisM  der  Muskeln. 

Länge  eines  Muskels  mit  parallelen  Fasern,  hat  sonach  auf  seine 
Kraftäusserung  gar  keinen  Einfluss,  wohl  aber  seine  Dicke.  Ein 
langer  Muskel  wird  nicht  kräftiger  sein,  als  ein  kurzer  von  gleicher 
Breite  und  Dicke.  Nur  absolute  Vermehrung  der  Muskelfasern 
steigert  die  Kraft  eines  Muskels.  Lange  Muskeln,  in  welchen  die 
einzelnen  Bündeln  sehr  kurz  sind,  weil  sie  mehr  der  Quer-  als  der 
Längenrichtung  des  Muskels  entsprechen  (z.  B.  die  Pennati,  Semi- 
pennati),  werden  somit  mehr  Kraft  aufbringen,  als  gleich  lange 
Muskeln  mit  zur  Sehne  parallelen  Fasern.  Dagegen  wird  die  Grösse 
der  Verkürzung  bei  letzteren  eine  bedeutendere  sein.  —  Man  unter- 
scheidet den  anatomischen  Querschnitt  eines  Muskels  vom  physio- 
logischen. Der  anatomische  steht  senkrecht  auf  der  Längenaxe 
des  Muskels,  —  der  physiologische  steht  senkrecht  auf  der  Faserungs- 
richtung des  Muskels.  Ersterer  ist  immer  plan.  Letzterer  kann 
auch  eine  krumme  Ebene  sein,  wie  er  es  bei  allen  Muskeln  mit 
radienartig  convergirenden  Fasern  sein  muss.  Nur  bei  Muskeln, 
deren  Faserung  der  Länge  des  Muskels  parallel  zieht,  fällt  der 
physiologische  Querschnitt  mit  dem  anatomischen  zusammen. 

3.  Ein  Muskel  mit  längsparalleler  Faserung,  kann  sich  im 
Maximum  um  Y«  seiner  Länge  zusammenziehen.  Dieses  wurde 
wenigstens  beim  Hyoglossus  des  Frosches  beobachtet.  Für  die  ein- 
zelnen menschlichen  Muskeln,  wurde  bis  jetzt  noch  keine  Norm 
aufgestellt. 

4.  Je  weiter  vom  Gelenk,  und  unter  je  grösserem  Winkel  sich 
ein  Muskel  an  einem  Knochen  befestigt,  desto  günstiger  ist  für 
seine  Action  gesorgt.  Je  länger  er  wird,  und  mit  je  mehr  Theilen 
er  sich  kreuzt,  desto  grösser  ist  sein  Kraftverlust  durch  Reibung. 
In  ersterer  Hinsicht  wirken  die  aufgetriebenen  Gelenkenden  der 
Knochen,  die  Knochenfortsätze,  die  Rollen,  und  die  knöchernen 
Unterlagen  der  Sehnen  (Sesambeine)  als  Compensationsmittel;  in 
letzterer  die  schlüpfrigen  Sehnenscheiden  und  Schleimbeutel,  welche 
als  natürliche  Verminderungsmittel  der  Reibung  hoch  anzuschlagen 
sind,  und  dasselbe  leisten,  wie  das  Schmieren  einer  Maschine. 

5.  Besteht  ein  Muskel  aus  2,  3,  4  Portionen,  welche  einen 
gemeinschaftlichen  Ansatzpunkt  haben,  so  wird  die  Wirkung  eine 
sehr  verschiedene  sein,  wenn  alle  oder  nur  eine  Portion  in  Thätig- 
keit  gerathen.  Alle  Muskeln  mit  breiten  Ursprüngen  und  conver- 
genten  Bündeln  (Ddtoides,  CucuUaris,  Pectoralis  major,  etc.),  können 
aus  diesem  Gesichtspunkte  zu  vielen  und  interessanten  mechanischen 
Betrachtungen  Anlass  geben,  welche  bei  der  speciellen  Abhandlung 

ieser  Muskeln  im  Schulvortrage,  mit  Nutzen  eingeflochten  werden. 

6.  Da  von  der  Stellung   des  Ursprungs   zum  Endpunkte  eines 
nftkels,  die  Art  seiner  Wirkung  abhängt,  so  wird  eine  Aenderung 

168  VerhältnisseB  auch   auf  die   Muskelwirkung  Einfluss  haben. 


■%• 


§.89.  Pnktisobe  Bemerkangen  ftber  du  Mmkelg^webe.  125 

Ist  der  gestreckte  Vorderarm  einwärts  gedreht,  so  wirkt  der  Flexor 
biceps  als  Auswärtswender;  bei  auswärtsgedrehter  Hand  der  Flexor 
carpi  radicdia  als  Einwärtswender.  Auch  in  dieser  Beziehung  kann 
jeder  Muskel  Gegenstand  einer  reichhaltigen  und  sehr  lehrreichen 
Erörterung  werden.- 

7.  Die  angestrengte  Thätigkeit  eines  Muskels  zur  Ueberwindung 
eines  grossen  Widerstandes,  ruft  häufig  eine  ganze  Reihe  von  Con- 
tractionen  anderer  Muskeln  hervor,  welche  darauf  abzwecken,  dem 
erstbewegten  einen  hinlänglich  sicheren  Ursprungspunkt  zu  gewähren. 
Man  nennt  diese  Bewegungen  coordinirt.  Es  ist  z.B.  am  nackten 
Menschen  leicht  zu  beobachten,  wie  alle  Muskeln,  welche  am 
Schulterblatte  sich  inseriren,  eine  kraftvolle  Contraction  ausführen,  um 
das  Schulterblatt  festzustellen,  wenn  der  am  Schulterblatt  entspringende 
Biceps  sich  anschickt,  ein  grosses  Gewicht  durch  Beugen  des 
Vorderarmes  aufzuheben.  Würden  die  Schulterblattmuskeln  in  diesem 
Falle  unthätig  bleiben,  so  würde  der  Biceps  das  nicht  fixirte 
Schulterblatt  (an  welchem  er  entspringt),  viel  lieber  herab  bewegen, 
als  das  schwer  zu  hebende  Gewicht  hinauf. 

8.  Da  die  Configuration  der  Gelenkenden  der  Knochen,  und 
die  sie  zusammenhaltenden  Bänder,  die  Bewegungsmöglichkeit  eines 
Gelenkes  allein  bestimmen,  so  muss  sich  die  Gruppirung  der  Muskeln 
um  ein  Gelenk  herum,  ganz  nach  der  Beweglichkeit  desselben 
richten.  Es  kann  deshalb  aus  der  bekannten  Einrichtung  eines  Ge- 
lenks, die  Lagerung  und  Wirkungsart  seiner  Muskeln  in  vorhinein 
augegeben  werden.  So  werden  z.  B.  an  einem  Winkelgelenke, 
welches  nur  Beugung  und  Streckung  zulässt,  wie  die  Fingergelenke, 
die  Muskeln,  oder  deren  Sehnen,  nur  an  der  Beuge-  und  Streck- 
seite des  Gelenks  vorkommen  können,  während  freie  Gelenke  allseitig 
von  Muskellagern  umgeben  werden. 


§.  39.  Praktische  Bemerkungen  über  das  Muskelgewebe. 

Ungeachtet  des  grossen  Blutgeßlssaufwandes  im  Muskel,  ist  er 
doch  zur  Entzündung  sehr  wenig  geneigt,  und  wenn  sie  ihn  ergreift, 
bleibt  sie  auf  die  Scheiden  des  Muskels  und  seiner  Bündel  be- 
schränkt. —  Muskelentzündungen  nach  Amputationen  sind  immer 
mit  bedeutender  Retraction  der  Muskeln  verbunden,  und  es  kann 
somit  geschehen,  dass  auch  nach  kuustgemäss  vorgenommenen  Ab- 
setzungen der  Gliedmassen ,  wenn  Entzündung  den  Stumpf  befallt, 
der  Knochen  an  der  Schnittfläche  hervorragt,  ein  liir  die  Heilung 
der  Amputationswunde  sehr  nachtheiliger  Umstand.  —  Jeder  Muskel 
verträgt  einen  hohen  Grad  passiver  Ausdehnung,  wenn  dieser  allmälig 
eintritt,   z.  B.  durch  tiefliegende  Geschwülste,   oder,   wie   bei   den 


126  §•  99.  Praktische  Bemerkungen  ftber  du  Muskelgewebe. 

Bauchmuskeln,  durch  Bauchwassersucht.  Er  zieht  sich  wieder  auf 
sein  früheres  Volumen  zusammen,  wenn  die  ausdehnende  Potenz 
beseitigt  wird.     Dieses  ist  eine  Wirkung  des  Tonus. 

Ein  relaxirter  Muskel  reisst  leichter  als  seine  Sehne,  wenn 
z.  B.  eine  Gliedmasse  durch  ein  Maschiuenrad  ausgerissen  oder  ab- 
gedreht wird.  Befindet  sich  dagegen  ein  Muskel  in  einer  energischen 
Contraction,  so  reisst  seine  Sehne,  oder  geht  selbst  der  Knochen 
entzwei,  an  welchem  sie  sich  befestigt.  Die  Risse  der  Achillessehne, 
die  Querbrüche  der  Kniescheibe  und  des  Olekranon  (welche  Brüche 
im  Gininde  auch  nur  Querrisse  dieser  Knochen  sind),  entstehen  auf 
solche  Art. 

Die  Verrückung  der  Bruchenden  eines  gebrochenen  Knochens, 
dessen  Fragmente  sich  nicht  an  einander  stemmen,  beruht  grössten- 
theils  auf  dem  Muskelzuge.  Sie  lässt  sich  am  Cadaver  für  jede 
Bruchstelle  in  voraus  bestimmen,  wenn  man  das  Verhältniss  der 
Muskeln  in  Anschlag  nimmt,  und  sie  erfolgt  im  vorkommenden 
Falle  immer  nach  derselben  Richtung.  An  gebrochenen  Gliedmassen, 
welche  gelähmt  waren,  oder  es  durch  die  den  Brach  bewirkende 
Ursache  wurden,  ist  wenig,  oder  keine  Dislocation  der  Fragmente 
zugegen,  wenn  diese  nicht  durch  die  brechende  Gewalt  selbst  er- 
zeugt wurde.  —  Der  Muskelzug  giebt  auch  ein  schwer  zu  über- 
windendes Hindemiss  für  die  Einrichtung  der  Verrenkungen  ab, 
und  die  praktische  Chirurgie  konnte  oft  weder  durch  Flaschenzüge 
und  Streckapparate,  noch  durch  betäubende  und  schwächende  Mittel 
zum  Ziele  kommen.  Wäre  es  nicht  gerathen,  durch  Herabstimmung 
jener  Momente,  welche  die  Irritabilität  mit  bedingen  (Blutzufluss 
und  Innervation),  den  übermächtigen  Muskelzug  zu  schwächen,  und 
die  Einrichtungsversuche  mit  gleichzeitiger  Compression  der  Haupt- 
schlagader und  der  Nerven  zu  verbinden? 

Unwillkürliche  und  schmerzhafte,  andauernde,  oder  mit  Er- 
schlaffung abwechselnde  Muskelcontraction  heisst  Krampf,  Spasmus; 
andauernder  gleichzeitiger  Krampf  aller  Muskeln,  Starrkrampf, 
Tetanus,  Man  kann  sich  von  der  Gewalt  der  Muskelcontraction 
einen  Begriff  machen,  wenn  man  ei*{khrt,  dass  Krämpfe  Knochen- 
brüche hervorbringen  (Kinnbackenbrüche  beim  rasenden  Koller  der 
Pferde),  und  bei  jener  fürchterlichen  Form  des  Starrkrampfes, 
welcher  Opisthotonus  heisst,  der  Stamm  sich  mit  solcher  Kraft  im 
Bogen  rückwärts  bäumt,  dass  alle  Versuche,  ihn  gerade  zu  machen, 
fruchtlos  bleiben. 

Permanent  gewordene  Contractionen  einzelner  Muskeln,  werden 
bleibende  Richtungs-  und  Lagerungsänderungen,  Verkrümmungen 
oder  Missstaltungen  der  Knochen  setzen,  an  welchen  sie  sich  be- 
festigen. Die  Klumpfüsse,  der  schiefe  Hals,  gewisse  Krümmungen 
der   Wirbelsäule,    und   die   sogenannten   falschen   Ankylosen,   d.  i. 


§.  39.  Praktitehe  Bemerknn^n  über  du  Muskelgewebe.  1 27 

Unbeweglichkeit  der  Gelenke,  nicht  durch  Verwachöung  der  Knochen- 
enden, sondern  durch  andauernde  Muskelcontracturen,  entstehen  auf 
diese  Weise.  Dauern  solche  permanente  Contractionen  lange  Zeit, 
so  wandelt  sich  der  Muskel  häufig  in  fibröses  Gewebe  um,  und 
wirkt  wie  ein  unnachgiebiges  Band,  welches  durchschnitten  werden 
muss,  um  dem  missstalteten  Gliede  seine  natürliche  Form  wieder  zu 
geben  (Myotomie,  Tenotomie). 

Erlöschen  des  Bewegungsvermögens  eines  Muskels  heisst  Läh- 
mung, Paralysis,  und  bewirkt,  wenn  sie  unheilbar  ist  und  Jahre 
andauert,  Schwund  des  gelähmten  Muskels,  Umwandlung  in  Fett, 
oder  in  einen  Bindegewebsstrang ,  welcher  blos  aus  den  Scheiden 
der  Muskelbündel  besteht,  deren  fleischiger  Inhalt  eben  durch  die 
Atrophie  mehr  weniger  verloren  ging. 

Einfache  quere  Muskelwunden  heilen  um  so  leichter,  je  weniger 
die  retrahirten  Enden  des  zerschnittenen  Muskels  auseinander  stehen. 
Es  muss  deshalb  dem  verwundeten  Gliede  eine  Lage  gegeben  werden, 
in  welcher  die  Annäheining  der  beiden  Enden  möglichst  vollkommen 
ist:  die  gebogene  bei  Trennungen  der  Beuger,  die  gestreckte  bei 
Streckern.  Die  Chirurgen  sagen,  dass  .ihnen  Fälle  vorgekommen 
sind,  in  welchen  sich  die  Enden  eines  zerschnittenen  Muskels  gar 
nicht  zurückzogen,  —  ein  Umstand,  welcher  bei  Amputationen  von 
grosser  Bedeutung  wäre.  Wird  nämlich  unter  der  Stelle  amputirt^ 
wo  ein  Nerv  in  das  Muskelfleisch  eintritt,  so  wird  die  Retraction 
am  stärksten  sein,  weil  das  obere  Ende  des  Muskels  durch  seinen 
Nei'ven  noch  mit  den  Centralorganen  des  Nervensystems  zusammen- 
hängt. Amputirt  man  über  dieser  Stelle,  so  wird  der  Muskel, 
dessen  Nerv  zugleich  durchschnitten  wird,  gelähmt,  und  zieht  sich 
wenig  oder  gar  nicht  zurück.  —  Chassaignac  unterwarf  alle 
Muskeln  der  Extremitäten  einer  genauen  Untersuchung  der  Eintritts- 
stellen ihrer  Nerven,  und  fand,  dass  die  Nerven  nie  im  oberen 
Viertel,  und  nie  unter  der  Mitte  eines  Muskels  eintreten. 

In  den  Zwischenräumen  der  Muskeln  verlaufen  die  grösseren 
Blutgefässe.  Die  Muskeln  können  deshalb  als  W^egweiser  bei  der 
Auffindung  derselben  dienen,  und  da  es  öfters  nothwendig  wird,  bei 
der  Ausführung  chirurgischer  Operationen,  Muskeln  zu  spalten,  um 
zu  tiefliegenden  Krankheitsherden  oder  Producten  zu  gelangen ,  so 
ist  selbst  die  Kenntniss  der  Faserung  eines  Muskels  von  praktischem 
Werthe,  indem  die  Spaltung  eines  Muskels,  aus  leicht  begreiflichen 
Gründen,  der  Faserung  desselben  parallel  laufen  soll. 

Bei  jeder  Muskelpräparation  im  Vortrage,  läsat  sich  eine  Fülle  praktisch- 
nützlicher  Bemerkungen  an  die  rein-anatomischen  Facta  knüpfen,  welche  ohne 
alle  speciellen  Kenntnisse  von  Krankheiten  verständlich  sind,  and  den  Schülern 
den  Werth  der  Anatomie  bei  Zeiten  schätzen  lehren. 


1 28  §.  40.  Fibr6e«B  0«w«be. 

§.  40.  Fibröses  Q-ewebe, 

Das  anatomische  Element  des  fibrösen  Gewebes,  Textus  fihroms, 
ist  die  Bindegewebsfaser.  Diese  Faser  ist  aber  im  fibrösen  Gewebe 
feiner  als  im  gemeinen  Bindegewebe,  und  hat  keine  wellenförmige, 
sondern  eine  mehr  gestreckte  Richtung.  Maceration  in  Kalkwasser^ 
bringt  die  Bindegewebsfasern  des  fibrösen  Gewebes  durch  Auflösen 
des  Kittes,  der  sie  zusammenhält,  zum  freiwilligen  Auseinander- 
weichen. Sie  sind  also  sehr  leicht  darzustellen.  Viele  derselben  ver- 
einigen sich  zu  Bündeln,  auf  welchen  zuweilen  auch  umspinnende 
Fasern  gesehen  werden.  Ich  behandle  hier  das  fibröse  Gewebe  als 
besondere  Gewebsgattung ,  weil  die  Formen,  in  welchen  es  im 
Körper  auftritt,  von  dem  gewöhnlichen  Vorkommen  des  Binde- 
gewebes difFeriren.  —  Das  fibröse  Gewebe  entwickelt  sich  auch  im 
Embryo,  wie  das  Bindegewebe  aus  Zellen,  deren  sehr  lang  aus- 
laufende Fortsätze  zu  Fasern  werden,  während  die  Reste  der  Zellen 
mit  ihren  Kernen,   die   sogenannten    Sehnenkörperchen    bilden. 

Die  Bindegewebsfasern  des  fibrösen  Gewebes  halten  im  Leben 
durch  eine  Kittsubstanz  so  fest  zusammen,  dass  alle  Organe  dieser 
Gewebsform,  einen  hohen  Grad  von  Härte  und  Festigkeit  besitzen, 
deshalb  den  mechanischen  Trennungen,  der  Fäulniss,  selbst  der 
Siedhitze  länger  und  besser  widerstehen  als  gewöhnliches  Binde- 
gewebe^ und  sich  durch  diese  mechanischen  Eigenschaften  vorzüglich 
zu  Bindungsmitteln  fester  Theile  (Knochen ,  Knorpel) ,  und  zu 
verlässlichen  Leitern  eignen,  durch  welche  eine  Kraft,  z.  B.  vom 
Muskel  aus,  auf  einen  Knochen  übertragen  wird  (Sehnen).  Der 
schimmernde  Metallglanz,  welcher  eine  Folge  einer  leichten  Kräuse- 
lung der  Priraitivfasem  ist,  zeichnet  das  fibröse  Gewebe  vor  allen 
übrigen  Geweben  auf  sehr  auffallende  Weise  aus. 

Die  chemischen  Eigenschaften  der  fibrösen  Gewebe,  stimmen 
mit  jenen  des  Bindegewebes  überein,  ihre  Vitalität  ist  sehr  gering, 
ihre  Blutgefässe  verhältnissmässig  ärmlich,  jedoch,  wie  sich  an  der 
Achillessehne  beweisen  lässt,  nicht  blos  ihrer  Bindegewebshülle  an- 
gehörend. Ihre  Nerven  sind  zwar  spärlich,  aber  mit  Bestimmtheit 
nachgewiesen.  Ihre  Empfindlichkeit  im  gesunden  Zustande  ist  kaum 
des  Namens  werth,  obwohl  bei  Entzündungen  derselben  die  furchtbar- 
sten Schmerzen   wüthen  können.     Sie  besitzen  keine  Contractilität. 

Ich  habe  zuerst  gezeigt  (Über  das  Verhalten  der  Blutgefässe  in  den  fibrösen 
Geweben,  Oest  Zeitschr.  für  prakt.  Heilkunde,  1869,  Nr.  8),  dass  in  allen  fibrösen 
Oeweben  schon  die  kleinsten  arteriellen  Ramificationen  von  doppelten  Venen  be- 
gleitet werden.  Da  sich  die  Lumina  zweier  Blutbahnen  wie  die  Quadrate  ihrer 
Durchmesser  verhalten,  wird  es  klar  sein,  dass  die  Geschwindigkeit  der  venösen 
Blutbeweg^ng  in  den  fibrösen  Geweben  eine  bedeutend  geringere  sein  nuiss,  als 
der  arteriellen.  Daher  die  Neigung  zu  Congestion,  Stase,  Exsudat,  welche  das 
Wesen  des  nur  in  den  fibrösen  Gebilden  hausenden  Rheumatismus  bilden. 


§.  41.  Formen  des  fibrönen  Qewebes.  ]  29 


§.41.  Formen  des  fibrösen  Q-ewebes. 

Es  lassen  sich  drei  Hauptformen  des  fibrösen  Gewebes  auf- 
stellen: A)  das  strangförmige ,  B)  die  fibrösen  Häute,  und  C)  das 
cavemöse  Gewebe. 

A)  Das  strangförmige  fibröse  Gewebe  besteht  aus 
parallelen  Bindegewebsfasern,  welche  sich  zu  primären  Bündeln, 
diese  zu  secundären,  und  sofort  auch  zu  tertiären  Bündeln  vereinigen. 
Die  primären  Bündel  scheinen  eine  structurlose,  feinste,  elastische 
Scheide  zu  besitzen;  die  secundären  und  tertiären  dagegen  haben 
Bindegewebsscheiden.  Den  primären  Bündeln  sind  auch  elastische 
Fasern  eingewebt,  welche  sich  einander  feinste  Aeste  zusenden.  Kern- 
artige, spindelförmige  oder  ovale  Körperchen,  liegen  in  wechselnder 
Menge  zwischen  den  Bündeln.  Man  unterscheidet  folgende  Arten 
dieser  Gewebsform: 

a)  Sehne,  in  der  Volkssprache  Flechse,  Tendo,  am  Ursprungs- 
und Anheftungsende  der  Muskeln,  als  Tendo  originis  und  Tendo 
insertionis, 

h)  Band,  Ligamentum  (8ea[jL0<;,  von  öiw,  binden),  Verbindungsstrang 
zweier  Knochen,  oder  Befestigungsmittel  beweglicher  Theile 
an  stabilere.  Ihre  kräftigste  Entwicklung  erreichen  sie  als 
Gelenkbänder.  Diese  liegen  immer  an  jenen  Gegenden  der 
Gelenke,  gegen  welche  zu  die  Bewegung  nicht  gestattet  ist, 
bei  den  Winkelgelenken  z.  B.  an  deren  Seiten. 

B)  Die  fibrösen  Häute,  Fasciae,  Membranae fibrosae,  Aponeu- 
roses,  sind  Ausbreitungen  des  Fasergewebes  in  der  Fläche,  welche 
anderen  weicheren  Gebilden  zur  Hülle  und  Begrenzung  dienen.  Sie 
enthalten  gleichfalls  elastische  Fasern.  —  Die  Bezeichnung  Fasda 
passt  nicht  gut  auf  die  fibrösen  Häute,  da  dieses  Wort  nur  für 
lange  und  schmale  Bandstreifen  im  Gebrauche  war,  mit  welchem 
neugebome  Kinder  so  umwickelt  wurden,  dass  nur  das  Gesicht  frei 
blieb,  ein  Gebrauch,  welcher  jetzt  noch  in  Unteritalien  anzutreffen 
ist.  'ATcoveupwai^  aber  datirt  aus  Hippocratischer  Zeit,  wo  der  Unter- 
schied zwischen  fibröser  Faser  und  Nervenfaser,  noch  nicht  erfasst 
war,  und  alles  Faserige  von  weisslicher  Farbe,  wie  Sehnen,  Bänder, 
und  fibröse  Häute,  für  nervig  (vfeup(i)8Y3<;)  gehalten  wurde.  Sagt  doch 
auch  die  deutsche  Sprache  jetzt  noch,  nerviger  Arm  für  sehni- 
ger Arm. 

Die  fibrösen  Häute  kommen  unter  dreierlei  Formen  vor: 
a)  Ebene  oder  flache  Faserhäute.  Sie  trennen  oder  begrenzen 
Höhlen,  oder  sind  zwischen  gewissen  Muskelgruppen  als  natür- 
liche Scheidewände  derselben  eingeschaltet.     Hieher  gehören: 
OL)  das    Centrum   tendineum   diaphragmatU ,   ß)   gewisse  Fascien^ 

Hyrti,  Lehrbuch  der  Anatomie.  U.  Aafl.  9 


130  §*41-  Formen  dM  fibrftsen  Oewabes. 

als:  Fascia  transversa,  hypogastrica ,  perinei,  äiaca,  palmaris, 
plantaris,  etc.,  y)  d^®  Zwischenmuskelbänder,  Ligamenta  inter- 
muscularia,  h)  die  Verstopfungsbänder  gewisser  Locher  und 
Spalten,  Ligamenta  obturataria. 

b)  Hohle  Cylinder,  durch  Einrollen  einer  ebenen  Faserhaut  zu 
einem  Rohre,  welches  andere  Gebilde  scheidenartig  einschliesst. 
Formen  derselben  sind:  a)  Muskel-  und  Sehnenscheiden, 
Va^nae  musculares  und  Vaginae  tendinum,  Ihre  grösste  Aus- 
bildung erreichen  sie  als  sogenannte  Fascien,  welche  besonders 
an  den  Extremitäten  eine  allgemeine  Hülle  für  sämmtUche 
Muskeln  bilden,  und  durch  Scheidewände,  welche  sie  zwischen 
gewisse  Muskelgruppen,  oder  zwischen  einzelne  Muskeln  ein- 
schieben, eine  genauere  Isolirung  derselben  zu  Stande  bringen. 
Sie  werden  nach  den  Regionen,  wo  sie  vorkommen,  als  Fascia 
humeri,  antibrachü,  femoris,  cruris,  etc.  beschrieben.  Die  Vaginae 
tendinum,  Sehnenscheiden,  sind  Fortsetzungen  der  Muskel- 
scheiden, weil  die  Sehnen  in  der  Verlängerung  des  Muskels 
liegen,  ß)  Fibröse  Kapselbänder  der  Gelenke,  Ligamenta 
capsularia.  Sic  stellen  hohle  Säcke  dar,  welche  die  Gelenk- 
enden zweier  oder  mehrerer  Knochen  mit  einander  verbinden, 
den  Höhlenraum  der  Gelenke  bestimmen,  und  an  ihrer  inneren 
freien  Fläche  mit  Synovialhaut  (§.  43,  B)  überzogen  sind. 
y)  Bein  haut,  Periostemn,  und  Knorpelhaut,  Perichondrium, 
Erstere  ist  sehr  reich  an  Blutgefässen,  welche  Zweigchen  in 
die  Poren  der  Knochen  absenden.  Die  Knorpelhaut  ist  viel 
gefassärmer.  Die  wichtige  Beziehung  beider  zur  Ernährung 
ihres  Einschlusses,  lässt  sich  nicht  verkennen,  und  wird  durch 
die  tägliche  chirurgische  Erfahrung  hinlänglich  constatirt. 
S)  Nerven  scheiden,  NeurHemmatay  als  Umhüllungsmembranen 
der  Nervenstämme  und  ihrer  Verästlungen. 

c)  Geschlossene  fibröse  Hohlkugeln,  welche  die  Grösse  und 
Gestalt  weicher  Organe  bestimmen,  und  ihnen  zugleich  zum 
Schutze  dienen.  Hieher  gehören  die  Faserhaut  des  Auges 
und  jene  vieler  Eingeweide  (des  Hoden,  der  Eierstöcke,  der 
Milz,  etc.),  die  harte  Hirnhaut,  und  der  fibröse  Herzbeutel.  Die 
innere  Oberfläche  dieser  Hohlkugeln  ist  entweder  glatt,  oder 
mit  Balken  (Trabeculae)j  oder  mit  Scheidewänden  (Septula)  be- 
setzt, welche  sich  in  das  weiche  Parenchym  des  eingeschlossenen 
Gewebes  einsenken ,  und  es  stützen.  Beispiele  dieses  ver- 
schiedenen Verhaltens  wird  die  Eingeweidelehre  liefern. 

C)  Das  cavernöse  Gewebe,    Textus  cavernosus.     Man  denke 

sich  von  einer  fibrösen  Hüllungsmembran  eine  grosse  Anzahl  Fort- 

•IUs6y  Bälkchen  und  Fasern,  nach  einwärts  abtreten,  sich  verästeln, 

id  auf  maniiigfaltige  Weise  kreuzen,  so  werden  sie  die  Grundlage 


§.  42.  PnktiBche  Bem«rlningen  Aber  das  flbrSse  Gewebe.  131 

oder  das  Gerüste  eines  cavernosen  Gewebes  bilden,  dessen  Lücken 
durch  eine  besondere,  später  zu  erwähnende  anatomische  Einrichtung 
der  Bhitgefasse,  die  Fähigkeit  erhalten,  strotzend  anzuschwellen^ 
wobei  das  betreffende  Organ  hart  wird,  sich  steift,  und  wenn  es 
cylindrische  Form  besitzt,  sich  erigirt.  Das  cavernöse  Gewebe  heisst 
deshalb  auch  Schwellgewebc,   Textus  erectilis. 


§.  42.  Praktische  Bemerkungen  über  das  fibröse  Q-ewebe. 

Die  geringe  Vitalität  des  fibrösen  Gewebes  ist  der  Grund, 
warum  es,  mit  Ausnahme  der  Entzündungen,  nicht  leicht  primärer 
Sitz  von  Krankheiten  wird.  Seine  Verwendung  im  Organismus  zu 
rein  mechanischen  Zwecken,  unterwirft  es  vorzugsweise  mechanischen 
Störungen  durch  Zerrung  und  Riss,  und  die  oberflächliche  Lagerung 
der  Fascien  macht  ihre  Verwundungen  häutig.  —  Die  Constriction, 
welche  die  Fascien  der  Gliedmassen  auf  die  von  ihnen  umschlossenen 
Muskeln  ausüben,  erklärt  es,  dass  bei  Wunden  oder  Rissen  der 
Fascien ,  das  Muskelflcisch  sich  vordrängt ,  und  eine  sogenannte 
Hemia  muscidaris  bildet.  Bei  jeder  chirurgischen  Operation,  welche 
in  eine  gewisse  Tiefe  eindringt,  kommt  gewiss  irgend  eine  Fascie 
dem  Messer  entgegen,  und  muss  getrennt  werden,  —  Grund  genug, 
warum  die  Kenntniss  der  Fascien  dem  Chirurgen  nicht  abgehen  darf. 

Die  geringe  Ausdehnbarkeit  der  Fascien  wird  das  Wachsthum, 
die  Grösse  und  die  Form  von  Geschwülsten  bestimmen,  welche  unter 
ihnen  sich  entwickeln,  und  es  ist  die  erste  Frage,  welche  sich  der 
Wundarzt  bei  dem  Gedanken  an  die  Exstirpation  von  Geschwülsten 
stellt,  diese,  ob  sie  innerhalb  oder  ausserhalb  einer  Fascie  wurzeln. 
Jede  Ausschälung  von  Geschwülsten  extra  fasdam,  ist  ein  leichter, 

—  jede  Entfernung  krankhafter  Gebilde  intra  fasciam,  ein  bedeutender 
chirurgischer  Act. 

Unter  den  Fascien  ergossene  Flüssigkeiten  (Eiter,  ^eschwürs- 
jauche,  Blut)  werden,  je  nachdem  die  Fascie  stark  oder  schwach, 
solid  oder  durchlöchert  ist,  sich  schwer  oder  gar  nicht  einen  Weg 
nach  aussen  bahnen,  sie  werden  vielmehr  die  Fascie  in  bestimmten 
Richtungen  unterminiren ,  und  weit  greifende  Verheerungen  in  der 
Tiefe  anrichten  können,  bevor  die  Oberfläche  merklich  leidet.  Sind 
aber  blutige  Ergüsse  an  eine  Stelle  gekommen,  wo  die  deckende 
Fascie  dünner  wird,  oder  plötzlich  abbricht,  so  können  sie  nun  erst 
durch  blaue  Färbung  der  Haut  sich  äusserlich  kundgeben.  Die  Ver- 
färbung der  Haut  deutet  somit  nicht  immer  die  Stelle  an,  wo  die 
Gewalt,  welche  ein  Blutextravasat  erzeugte,  ursprünglich  einwirkte. 

—  Die  geringe  Nachgiebigkeit  der  Fascien,  wird  bei  entzündlichen 

Anschwellungen   tieferer   Organe,   Einschnürungen,   und,   in  Folge 

9* 


132  §.  43.  S«rÖ8«  H&nte. 

dieser,  Steigerung  des  inflammatorischen  Schmerzes  bedingen,  wo- 
durch die  Spaltung  der  Fascie  durch  das  chirurgische  Messer,  als 
Palliativmittel  noth wendig  werden  kann. 

Risse  der  Fascien  und  Sehnen  äussern  wenig  Heiltrieb,  und 
entblösste  Stellen  derselben,  zeigen  eine  grosse  Neigung  zum  Ab- 
sterben. Dieses  ist  besonders  der  Fall,  wenn  das  Bindegewebe, 
welches  mit  beiden  Flächen  einer  Fascie  zusammenhängt,  und  die 
Emährungsgefasse  zufuhrt,  vereitert  oder  verbrandet,  worauf  ganze 
Stücke  der  Fascien,  so  weit  das  Bindegewebe  zerstört  wurde,  ab- 
sterben, und  als  brandige  Fetzen  losgestossen  werden. 

Blossgelegte  und  ihrer  Emährungsgefasse  beraubte  Sehnen 
sterben  oft  ab,  und  ihre  Trennung  vom  Lebendigen  (Exfoliation) 
geht  nur  allmälig  vor  sich,  wodurch  der  Heilungsprocess  sehr  in 
die  Länge  gezogen  werden  kann.  Hiebei  ist  noch  zu  bemerken, 
dass  die  abgestorbene  Sehne  sich  öfters  erst  an  der  Einpflanzungs- 
stelle in  das  Muskelfleisch,  von  letzterem  ablöst.  Ich  sah  nach 
einem  Panaritium  (Wurm  am  Finger),  die  ganze  Sehne  des  Flexor 
poüicis  longus  aus  der  Abscesshöhle  als  weissen  halbmacerirten  Faden 
herausziehen. 

Einfache  Sehnenschnitte  so  ausgeführt,  dass  die  Luft  keinen 
Zutritt  zur  Schnittfläche  erhält,  wie  bei  der  subcutanen  Teno- 
tomie,  heilen  gern  und  schnell,  besonders  wenn  die  Sehnenscheide 
nicht  gänzlich  durchgeschnitten  wird.  Die  glücklichen  Resultate, 
welche  die  neuere  Chirurgie  in  diesem  Gebiete  aufzuweisen  hat, 
bestätigen  diese  lange  bezweifelte  Wahrheit.  Die  Resultate  waren 
auch  in  der  That  so  glücklich,  dass  man  mit  den  Sehnenschnitten 
eine  Zeitlang  sehr  freigebig  verfuhr. 

Die  Muskel-  und  Sehnenscheiden,  und  die  fibrösen  Ligamenta 
intemmsciUaria ,  werden  auf  die  Localisirung  gewisser  Krankheits- 
processe  einen  mächtigen  Einfluss  üben,  und  Vereiterungen  der 
Weichtheile  werden  sich  nicht  nach  allen  Richtungen  ausbreiten. 
Erst  wenn  der  Damm  durchbrochen,  welchen  eine  Fascie  dem 
Wachsthum  einer  bösartigen  Geschwulst,  z.  B.  einem  Krebs,  ent- 
gegenstellte, wuchert  dieser  mit  tödtlicher  Hast. 

Die  weite  Verbreitung  des  fibrösen  Gewebes,  die  zahlreichen 
Brücken,  welche  es  zwischen  hoch-  und  tiefliegenden  Organen  bildet, 
erklären  viele  krankhafte  Sympathien  entfernter  Theile,  welche 
sonst  nicht  zu  verstehen  sind,  wie  das  Wandern  von  Entzündungen 
und  rheumatischen  Affectioncn  von  einer  Gegend  zur  anderen. 

§.  43.  Seröse  Häute. 

Wie  das  fibröse  Gewebe,  so  erscheinen  auch  die  serösen 
Häute,  Membranae  seroaae,  nur  als  eine  besondere  Modification  des 


§.48.  8«rtee  Hinte.  133 

Bindegewebes  in  Flächenform.  Sie  fuhren  ihren  Namen  von  ihrem 
Geschäfte.  Dieses  besteht  in  der  Absonderung  eines  serösen 
Fluidums.  Dünn,  durchscheinend,  und  nie  von  jener  Stärke,  wie 
sie  so  oft  den  Fascien  zukommt,  überziehen  sie  die  inneren  Ober- 
flächen solcher  Höhlen,  welche  mit  der  Aussenwelt  keine  Verbindung 
haben,  und  sind  somit  geschlossene  Säcke.  Sie  besitzen  nur  spär- 
liche Blutgefässe  und  Nerven,  aber  reichliche,  zu  Netzen  verbundene 
Saugadern.  Die  Bindegewebsbündel,  aus  welchen  sie  bestehen,  sind 
mit  zahlreichen  elastischen  Fasern  gemischt.  Die  Ausdehnbarkeit 
der  serösen  Membranen  ist  daher  sehr  bedeutend,  ihre  Empfind- 
lichkeit dagegen  im  gesunden  Zustande  kaum  bemerkbar. 

Jede  seröse  Haut  hat  eine  freie,  und  eine,  durch  subseröses 
Bindegewebe  an  die  Wand  der  betrefi"enden  Höhle  befestigte 
Fläche.  Das  subseröse  Bindegewebe  ist  entweder  dicht,  straff, 
und  kurz,  und  in  diesem  Falle  fettlos;  oder  lose,  imd  weitmaschig, 
mit  mehr  weniger  Fett.  Ihre  freie  Fläche  wird  von  einer  ein- 
fachen Schichte  Plattenepithel  bedeckt,  welche  in  neuester  Zeit 
ganz  widersinnig  mit  dem  Namen  Endothel  beehrt  wurde.  Sie 
erscheint  uns  eben  und  glatt,  und  erhält  durch  ihre  Befeuchtung 
mit  Serum,  Glanz  und  Schlüpfrigkeit.  Es  kommt  auch  vor,  dass 
sich  nur  das  Epithel  ohne  eigentliche  seröse  Membran  vorfindet 
(wie  auf  der  inneren  Fläche  der  harten  Hirnhaut,  und  auf  der  freien 
Fläche  der  Knorpel  und  Zwischenknorpel  der  Gelenke),  oder  eine 
seröse  Membran  ohne  Epithel  auftritt,  wie  in  einigen  Schleimbeuteln. 
Nicht  selten  findet  sich,  wie  Todd  und  Bowman  zuerst  gezeigt 
haben,  unter  dem  Plattenepithel  eine  homogene  structurlose  Schichte. 

Als  innere  Auskleidung  geschlossener  Körperhöhlen,  wird  jede 
seröse  Membran  die  Gestalt  eines  Sackes  haben  müssen,  welcher  sich 
der  Gestalt  der  Höhle  genau  anpasst.  Enthält  die  Höhle  Organe,  so 
bekommen  diese,  durch  Einstülpung  des  Sackes,  besondere  Ueberzüge. 
Man  bezeichnet  den  serösen  Ueberzug  einer  Höhlenwand  mit  dem 
Namen  Lamina  parietcdis  (äusserer  Ballen) ,  und  jenen  der  in  der 
Höhle  enthaltenen  Organe  mit  dem  Namen  Lamina  visceralis  (innerer 
Ballen)  der  betreffenden  serösen  Membran.  Je  grösser  die  Anzahl 
solcher  Organe  wird,  desto  complicirter  wird  die  Gestalt  des  inneren 
Ballens  des  serösen  Sackes.  Die  Lamina  parietalts  und  visceralis 
dieser  serösen  Doppelblase,  kehren  sich  ihre  freien  glatten  Flächen 
zu,  und  da  diese  schlüpfrig  sind,  können  sie  leicht  und  ohne  er- 
hebliche Reibung  an  einander  hin-  und  hergleiten. 

Einen  interessanten  Befand  im  Epithel  der  serösen  Membranen  hat  die 
Neuzeit  aufgedeckt.  Es  finden  sich  nämlich  im  Centram  einer  sternförmigen 
Grappe  von  EpithelialzeUen,  scharf  begrenzte,  mndlichef  oder  dreieckige  Stellen 
als  Oeffiiangen  (Stomata),  durch  welche  die  LymphgefHsse  der  betreffenden 
Mrteen   Membnm,   mit   der   HGhle    derselben     im   freien   Verkehr   stehen.     Im 


134  §.48.  SerÖM  H&Qte. 

Bauchfell  des  Frosches  sind  diese  Stamata  am  leichtesten  aufzufinden.  Die  sie 
zunächst  umgebenden  Epithelialzellen  müssen  contractil  sein,  da  die  Stomala  sich 
öffnen  und  schliessen  können.  Die  Stomata  erklären  es  uns,  wie  Ergüsse  in  die 
Höhlen  der  serösen  Membranen  ebenso  schnell  wieder  verschwinden  können,  als 
sie  entstanden.  Näheres  hierüber  ist  in  den  Arbeiten  der  physiol.  Anstalt  zu 
Leipzig,  1866,  enthalten. 

Nach  Verschiedenheit  des  Vorkommens  und  des  Secretes  der 
serösen  Häute,  werden  folgende  Arten  derselben  unterschieden: 

A)  Eigentliche  seröse  Häute  oder  Wasserhäute.  Sie 
kleiden  a)  die  grossen  Körperhöhleu  aus,  und  erzeugen  Einstülpungen 
für  die  Organe  derselben,  oder  bilden  b)  um  einzelne  Organe  herum 
besondere  Doppelsäcke.  Zu  a)  gehören  die  beiden  Brustfelle  und  das 
Bauchfell;  zu  b)  die  eigene  Scheidenhaut  des  Hoden  und  der  seröse 
Herzbeutel.  —  Die  allgemeine  Regel,  geschlossene  Säcke  zu  bilden, 
erleidet  nur  bei  Einer  serösen  Membran  —  dem  Bauchfelle  des 
Weibes  —  eine  Ausnahme,  da  dieses  durch  die  Orifida  ahdomincdta 
der  Muttertrompeten,  mit  der  Gebärmutterhöhle,  und  sonach  mittel- 
bar mit  der  Aussenwelt  in  offenem  Verkehr  steht. 

B)  Synovialhäute.  Man  hat  bis  auf  die  neuere  Zeit  die 
Synovialhäute  für  vollkommen  geschlossene  Säcke  gehalten.  Sie 
kleiden  jedoch  die  Höhlen  der  Gelenke  nicht  vollständig  aus.  Die 
Sjnovialhaut  eines  Gelenkes  überzieht  blos  die  innere  Fläche  der 
fibrösen  Gelenkkapsel,  und  hört  am  Rande  der  Knorpel  auf,  welche 
die  Gelenkflächen  der  Knochen  überziehen.  Sind  Zwischenknorpel 
im  Gelenke  vorhanden,  so  setzt  sich  nur  das  Epithel  der  Synovial- 
membran  auf  sie  fort.  —  An  der  Befestigungsstelle  der  fibrösen 
Kapsel  an  die  Knochen,  bildet  die  Synovialhaut  häufig  kleinere 
Fältchen,  welche  körniges  Fett  und  sehr  oft  kleine  wasserhaltende 
Cysten  einschliessen.  Diese  Fettkörner  und  Cysten  wurden  einst 
für  Drüsen  gehalten  (Glandulae  Havenianae),  nach  ihrem  Entdecker, 
dem  Engländer  Clapton  Havers  (Oateologia  nova,  etc.  London, 
1691.  pag.  167).  Man  glaubte  in  ihnen  die  Absonderungsorgane 
des  schlüpfrigen,  eiweissreichcn ,  dickflüssigen  Saftes  gefunden  zu 
haben,  welcher  den  Binnenraum  eines  Gelenks  beölt,  und  Gelenk- 
schmiere, Synovia  ([tL^a  bei  Hippocrates,  verwandt  mit  mucus) 
genannt  wird.  Die  Synovia  ist  jedoch  ein  Secret  der  gesummten 
Synovialhaut,  wie  das  Serum  einer  eigentlichen  serösen  Haut.  Die 
erwähnten  Fältchen  der  Synovialhaut  unterscheiden  sich  durch  ihr 
Gewebe  von  der  eigentlichen  Synovialhaut,  indem  sie  nach  Ger- 
lach aus  lockerem,  maschigem  Bindegewebe  bestehen,  und  sehr 
reich  an  Blutgefässen  sind.  Die  Faserbündel  dieses  Bindegewebes 
setzen  sich  in  Gestalt  von  Fransen  oder  keulenförmigen  Zotten,  über 
den  freien  Rand  der  Fältchen  hinaus  fort,  imd  schicken  zuweilen 
selbst  kürzere  oder  längere  fadenförmige  Aeste  ab,  weiche,  so  wie 


§.  43.  Ser5se  H&nte.  135 

die  Falte  selbst^  mit  einer  Epithelialschichte  überzogen  sind,  und  deren 
jeder  eine  capillare  Gefassschlinge  enthält,  welche,  besonders  in 
rheumatischen  Gelenken,  das  Eigenthümliche  besitzt,  dass  ihr 
Kaliber  an  den  Umbeugungsstellen  ihres  aufsteigenden  Schenkels 
in  den  absteigenden,  zuweilen  auf  das  Zwei-  bis  Dreifache  anwächst. 
Als  besondere  Unterarten  der  Synovialhäute  erscheinen: 

a)  Die  Sy  novialscheiden  der  Sehnen,  Vagina^  tendinum  syno- 
viales. Sie  kleiden  die  fibrösen  Sehnenscheiden  aus,  sind  somit 
Kanäle,  und  erleichtem  durch  ihr  öliges,  schlüpfriges  Secret, 
das  Gleiten  der  Sehnen  in  diesen  Scheiden.  Dass  sie  sich  auch 
auf  die  äussere  Oberfläche  der  Sehnen  umschlagen ,  also 
Doppelscheiden  bilden,  lässt  sich  bei  den  meisten  derselben 
mit  Bestimmtheit  erkennen. 

b)  Die  Schleimbeutel,  Schleimsäcke,  oder  Schleimbälge, 
Bursae  mucosae.  Sie  stellen  verschieden  grosse,  abgeschlossene 
Säcke  dar,  welche  entweder  zwischen  einer  Sehne  und  einem 
Knochen,  oder  zwischen  der  äusseren  Haut  und  einem  von 
ihr  bedeckten  Knoehenvorsprung  eingeschaltet  sind,  und  deshalb 
in  Bursae  mucosae  svbtendinosae  und  subciUaneae  eingetheilt 
werden.  Verminderung  der  Reibung  liegt  ihrem  Vorkommen 
zu  Grunde.  Die  Bursas  suhtendinosae  communiciren  öfters  mit 
den  Höhlen  naheliegender  Gelenke.  Bursa  ist  ein  neulateinisches 
Wort.  Kein  römischer  Autor  gebraucht  dasselbe.  Ohne  Zweifel 
entstand  es  aus  dem  griechischen  ßupja,  welches  einen  Schlauch 
bedeutet,  der  aus  einer  abgezogenen  Thierhaut  gebildet  wurde, 
wie  jetzt  noch  die  Weinschläuche  in  den  südlichen  Ländern 
Europas.  Der  Ausdruck  Bursa  mucosa,  wurde  zuerst  von 
Alex.  Monro,  1788,  gebraucht  (Descripüon  of  Hie  hursae 
mucosasy  etc.,  EdM.,  1788).  —  Viele,  namentlich  neugebildete 
(accidentelle)  Schleimbeutel,  sind  nach  den  Untersuchungen 
von  Luschka  und  Virchow,  keine  selbstständigen  serösen 
Säcke,  sondern  vielmehr  nur  Hohlräume  zwischen  sich  reiben- 
den Bindegewcbspartieen ,  welche  eines  besonderen  Epithels 
entbehren,  und  keine  Synovia,  sondern  Serum  oder  eine  colloide 
Substanz  absondern.  Luschka,  Structur  der  serösen  Häute. 
Tübingen,  1851. 

Obwohl  die  serösen  Hänte  der  Bindegewebsgruppe  angehören,  kommt  es 
doch  in  ihnen  nie  zur  Fettablagening,  selbst  wenn  diese  im  ganzen  Bindegewebs- 
sjsteme  wnchert,  und  der  Texttts  ceüularis  «»fjgerMtM  damit  überfüUt  ist. 

Das  Senim  der  echten  serösen  Membranen,  und  die  Synovia,  unterscheiden 
sich  nur  durch  ihren  Eiweissgehalt,  welcher  im  Serum  1  pCt.,  in  der  Synovia 
6  pCt.  in  100  Theilen  Wasser  beträgt.  Salzsaures  und  phosphorsaures  Natron, 
nebst  phosphorsaurem  Kalk,  findet  sich  in  beiden  in  sehr  geringen  Quantitäten. 
Der  Eiweissgehalt  beding^  die  Gerinnbarkeit  beider  Flüssigkeiten,  welche  bei 
kräftigen    Individuen    und    gut    genährten     Thieren     bedeutender    ist,    ab    bei 


136  S*  M*  Praktische  Bemerkangen  Aber  die  Mrösen  H&nte. 

schwächlichen.  Bei  mikroskopischer  Untersuchung  der  Synovia,  findet  man  auch 
abgestossene,  fettig  degenerirte,  in  Auflösung  begpriffene  Epithelialzellen  und  deren 
fireie  Kerne  vor. 


§.  44.  Fraküsclie  Bemerkungen  über  die  serösen  Häute. 

Da  das  Blutserum  dieselben  Bestandtheile  wie  das  seröse  Secret 
einer  Wasserhaut  enthält^  so  erscheint  die  Absonderung  der  serösen 
Häute  als  ein  Durchschwitzen  oder  Sintern  des  Blutserum ,  dessen 
Strömung  nach  der  freien  Fläche  der  Haut  gerichtet  ist.  Diese 
Strömung  geht  mit  grosser  Schnelligkeit  vor  sich,  wie  man  an  der 
schnellen  Ansammlung  von  Serum  in  eben  entleerten  wassersüchtigen 
Höhlen  (Bauchhöhle,  Ditiica  vagüiaiis  propria  testis)  beobachten 
kann.  Die  Wiederansammlung  des  Wassers  in  der  Bauchhöhlen- 
wassersucht nach  geschehener  Entleerung  durch  den  Stich ,  lässt  sich 
selbst  durch  Einschnürung  des  Bauches  mittelst  Bandagen  nicht 
verhüten.  —  Bei  normalem  Sachverhalte  wird  nicht  mehr  Serum  ab- 
gesondert, als  eben  zur  Befeuchtung  der  freien  Fläche  einer  serösen 
Membran  nöthig  ist.  Krankhafte  Vermehrung  dieses  serösen  Secretes 
bildet  die  Höhlenwassersuchten  (Hydrops  ascites,  Hydrothorax, 
Hydrocephaltu,  etc.). 

Die  Organe,  welche  in  einer  Leibeshöhle  eingeschlossen  sind, 
füllen  diese  so  genau  aus,  dass  nirgends  ein  leerer  Raum  erübrigt. 
Es  ist  somit  kein  Platz  fiir  serösen  Vapor  vorhanden,  von  welchem 
man  früher  träumte.  Die  Bauchwand  und  die  Brustwand  sind  mit 
der  Oberfläche  der  Bauch-  und  Brusteingeweide  in  genauem  Contact. 
Würde  irgendwo  zwischen  Wand  und  Inhalt  einer  Höhle,  ein  leerer 
Raum  sich  bilden,  so  würde  der  äussere  Luftdruck  die  Wand  so 
viel  eindrücken,  als  zur  Vernichtung  des  leeren  Raumes  erforderUch 
ist.  Wasserdunst  von  so  geringer  Spannung,  wie  sie  die  Leibeswärme 
geben  könnte,  würde  dem  Luftdrucke  nicht  das  Gleichgewicht  halten 
können.  Hat  sich  dagegen  das  wässerige  Secret  einer  serösen 
Membran  in  grösserer  Menge  angesammelt,  dann  schwillt  die  Höhle 
in  dem  Maasse  auf,  als  die  flüssige  Absonderung  zunimmt.  Wird 
eine  solche  hydropische  Höhle  angestochen,  so  springt  die  Flüssig- 
keit im  Strahle  wie  aus  einer  Fontaine  hervor,  selbst  wenn  die 
Wand  der  Höhle  nicht  mit  musculösen  Schichten  umgeben  ist. 
Diese  Beobachtung  bekräftigt  die  Elasticität  der  serösen  Membranen, 
welche  selbst  nach  wiederholten  Ausdehnungen  durch  Wassersucht 
nicht  ganz  und  gar  vernichtet  wird. 

Da  die  in  einander  hineingestülpten  Ballen  einer  serösen  Mem- 
bran (Bichat's  Vergleich  mit  einer  doppelten  Nachtmütze)  sich 
allenthalben   berühren,    so   darf  es   nicht   wundem,    wenn   durch 


§.  45.  Gefiassystem.  Begriff  des  KreieUafes  and  Eintheilnng  des  Geftsssystems.  137 

Entzündungen,  welche  mit  der  Ausscheidung  plastischer  Stoffe  an 
der  freien  Oberfläche  der  serösen  Membranen  einhergehen,  häufig 
Verlöthungen  und  Verwachsungen  derselben  stattfinden,  und  da  die 
im  eingestülpten  Ballen  enthaltenen  Eingeweide,  eine  gewisse  Be- 
weglichkeit haben,  welche  auf  diese  Verwachsungen  ziehend  oder 
zerrend  einwirkt,  so  wird  die  Verwachsungsstelle,  wenn  sie  einen 
beschränkten  Umfang  hatte,  nach  und  nach  in  die  Länge  gezogen, 
und  zu  einem  sogenannten  falschen  Bande,  Lig,  spurium,  metamor- 
phosirt  werden,  wie  an  den  Bauch-  und  Brusteingeweiden  so  häutig 
beobachtet  wird.  Solche  falsche  Bänder  haben  dann  ganz  das  An- 
sehen seröser  Häute,  und  besitzen  auch  ihre  bindegewebige  Structur. 
Sie  sind  ebenso  geftlssarm,  wie  die  serösen  Häute,  und  der  Wund- 
arzt greift  ohne  Bedenken  zur  Schere,  um  sie  zu  trennen,  wenn  sie 
z.  B.  an  Eingeweiden  vorkommen,  welche  in  einer  Bruchgeschwulst 
liegen,  und,  ihrer  Verwachsungen  mit  dem  Bruchsack  wegen,  nicht 
zurückgebracht  werden  können. 

Die  Entzündungen  der  serösen  Membranen  gehen  nicht  leicht  anf  die  Organe 
über,  welche  sie  umhüllen.  Der  Textua  ceUulari»  äubseroaus  wird  dagegen  durch 
Ablagerung  gerinnbarer  Btoffe  häufig  verdickt,  und  kann  in  diesem  Zustande  auf 
die  Ernährung  des  von  ihm  bedeckten  Organs  nachtheiligen  Einfluss  äussern. 
Da  der  wässerige  Thau,  welcher  eine  seröse  Haut  befeuchtet,  oder  die  dünne 
Scliiclite  Synovia  einer  Synovialmembran,  gewissermassen  als  Zwischenkörper  wirkt, 
welcher  zwei  seröse  Hautflächen  nur  in  mittelbare  Berührung  kommen  lässt,  so 
kann  von  Verwachsungen  derselben  nur  dann  die  Rede  sein,  wenn  dieser  Zwischen- 
körper fehlt,  oder  durch  gerinnbare  und  organisirbare  Exsudate  ersetzt  wird.  Eine 
gesunde  Synovialliaut  wird  selbst  nach  jahrelanger  Unthätigkeit  eines  Gelenks 
nicht  verwachsen  können.  Cruveilhier's  Fall  verdient,  seiner  Seltenheit  wegen, 
hier  erwähnt  zu  werden.  Eine  wahre  Ankylose  des  rechten  Kinnbackengelenks, 
hatte  auch  das  linke  zu  einer  83jährigen  Unthätigkeit  verdammt.  Die  anatomische 
Untersuchung  zeigte  weder  in  den  Knorpeln,  noch  in  der  Synovialhaut  dieses  zur 
ewigen  Ruhe  gelangten  Gelenks,  eine  erhebliche  Aenderung. 


§.  45.  &efösssystein,  Begriff  des  Kreislaufes  und  Eintheilung 

des  Grefässsystems. 

Im  weiteren  Sinne  heissen  alle  häutigen  und  verzweigten 
Röhren,  welche  Flüssigkeiten  führen:  Gefässe,  Vasa,  Nach  Ver- 
schiedenheit dieser  Flüssigkeiten,  giebt  es  Luft-,  Gallen-,  Samen-, 
Blut-,  Lymphgefasse ,  u.  s.  w.  Unter  Gefässsystem,  Systema 
vasorum,  im  engeren  Sinne,  verstehen  wir  jedoch  blos  die  Blut- 
und  Lymphgefasse,  von  welchen  hier  gehandelt  wird,  und  be- 
trachten die  übrigen  Gefasse  bei  den  Drüsen,  deren  wesentlichen 
Bestandtheil  sie  bilden. 

Das  Blut  ist  jene  im  thierischen  Leibe  kreisende  Flüssigkeit, 
aus  welcher  die  zum  Leben   und  Wachsthum    der  Organe  noth- 


138  §.  45.  0«fära«jBtdiD.  Begriff  des  Kreitlanfee  und  Eintheilnng  des  Oef&SMystemt. 

wendigen  Stoffe  bezogen  werden.  Das  Blut  wird  aus  den  Nahrungs- 
mitteln bereitet,  und  auf  wunderbar  verzweigten  Wegen,  in  Röhren, 
deren  Kaliber  bis  zur  mikroskopischen  Feinheit  abnimmt,  in  allen 
Organen,  mit  Ausnahme  der  Homgebilde  und  der  durchsichtigen 
Medien  des  Auges,  vertheilt.  Die  Bewegung  des  Blutes  in  seinen 
Geftlssen,  hängt  von  der  Propulsionskraft  eines  eigenen  Triebwerkes 
ab.  Dieses  Triebwerk  ist  das  vom  ersten  Auftreten  des  Kreislaufs 
im  Embryo  bis  zum  letzten  Athemzug  des  Sterbenden  thätige  Herz, 
welches  ohne  Unterlass  Blut  empfangt  und  ausstösst.  Die  Gefässe, 
welche  das  Blut  vom  Herzen  zu  den  nahrungsbedürftigen  Organen 
leiten,  heissen,  weil  sie  pulsiren,  Schlagadern  oder  Pulsadern, 
Arteriae;  die  Gefasse,  welche  das  zur  Ernährung  nicht  mehr  taug- 
liche Blut  zum  Herzen  zurückfuhren,  Blutadern,  Venae.  Dem 
Wortlaute  nach  sind  auch  die  Arterien  Blutadern,  —  sie  enthalten 
ja  Blut.  Da  man  jedoch  in  jenen  Zeiten,  aus  welchen  diese  Be- 
nennungen stammen,  nur  die  Venen  für  Blutwege  hielt,  die  Arterien 
dagegen,  weil  sie  nach  dem  Tode  blutleer  getroffen  werden,  für 
Luftwege  ansah,  wie  der  Name  Arterie  (aicb  toö  iepx  "n^peiv,  vom 
Luftenthalten)  ausdrückt,  so  mag  die  Beibehaltung  des  alten  Namens 
hingehen,  wenn  nur  der  alte  Begriff  nicht  damit  verbunden  wird. 
Der  deutsche  Ausdruck  Ader,  im  Indischen  aedur,  bezeichnete 
ursprünglich  Blut,  wie  aus  dem  angelsächsischen  aedrewegga, 
Blutweg,  Blutgefäss,  zu  entnehmen,  und  wie  das  Aderlassen, 
i.  e.  Blutlassen,  noch  jetzt  bezeuget. 

Das  Wort  cipTV)p{a  wurde  ursprünglich  nur  von  der  Luftröhre  gebraucht. 
Als  Eraaistratus  dieses  Wort  auch  auf  die  Schlagadern  anwendete,  erhielt  die 
Luftröhre  durch  Galen  den  Namen  api7)p{a  Tpor/Eta  (ihrer  unebenen,  quergeringelten 
Oberfläche  wegen,  von  tpotyu;,  rauh),  während  er  die  Schlagadern,  ihrer  glatt 
cylindrischen  Oberfläche  wegen,  als  apiTjpfai  XEtixi  zusammenfasste  (von  Xero;,  glatt, 
verwandt  mit  laevvtj.  Man  weiss  nun,  warum  heutzutage  noch  die  Luftröhre 
tractiea  heisst,  d.  i.  die  rauhe  (ncUicet  arteria),  und  warum  sie  auch  bei  lateinischen 
Schriftstellern  den  Namen  aapera  arteria  fUhrt.  —  Nach  derselben  Lehre  gelangte 
die  durch  die  Luftröhre  in  die  Lungen  geführte  Luft,  aus  diesen  durch  die  Arteria 
venona  (unsere  heutigen  Lung^nvenen)  in  das  Herz,  und  wurde  von  diesem  in  die 
Schlag^em  getrieben.  Letztere  mussten  also  Luft  ffihren,  und  verdienten  somit 
den  Namen  ap'nr]p{ai.  Da  man  aber  bald  durch  Verwundungen  erfuhr,  dass  die 
Arterien  Blut  führen,  suchte  man  die  alte  Lehre  und  das  alte  Wort  dadurch  zu 
retten,  dass  man  Blut  aus  dem  rechten  Herzen,  durch  die  Scheidewand  hindurch, 
in  das  linke  durchsickern  Hess,  um  sich  mit  der  Luft  daselbst  zu  mischen,  und 
sofort  in  die  Arterien  zu  gelangen.  AU*  diesem  Gefasel  machte  die  g^sse  Ent- 
deckung Harvey's  Über  den  wahren  Sachverhalt  des  Kreislaufes  ein  Ende. 

Die  Venen,  welche,  nach  oben  erwähnten  Vorstellungen,  allein  Blut  führten, 
hiessen  ^X^ßc;,  von  ^X^co,  fliessen  (das  lateinische  fluo).  Der  Aderlasa  heisst  jetzt 
noch  PhleboUniUa, 

Die  Arterien  verästeln  sich,  nach  Art  eines  Baumes,  durch 
fortschreitend  wiederholte  Theilungen,  in  immer  feinere  Zweige^ 
welche  zuletzt  in  die  Anfänge  der  Venen  übergehen.   Die  kleinsten 


§.  45.  GefUssystem.  Begriff  das  KreitUnfM  und  Eintheilmig  des  OefiMayttemt.  139 

und  bisher  für  structurlos  gehaltenen  Verbindungswege  zwischen 
den  Arterien  und  Venen,  heissen  Capillargefässe,  Vasa  capiüaria* 
Da  das  Blut  aus  dem  Herzen  in  die  Arterien,  von  diesen  durch  die 
CapiUargefösse  in  die  Venen  strömt,  und  .von  den  Venen  wieder 
zum  Herzen  zurückgeführt  wird,  so  beschreibt  es  durch  seine  Be- 
wegung einen  Kreis,  und  man  spricht  insofern  von  einem  Kreis- 
lauf, Circulatio  sangtdnis.  Die  Capillargefasse  lassen  den  flüssigen 
Bestandtheil  des  Blutes  (Flawna)  durch  ihre  Wandungen  durch- 
treten, damit  sie  mit  den  zu  ernährenden  Organtheilchen  in  nähere 
Beziehung  treten  können.  Die  Organtheilchen  suchen  sich  aus  dem 
Plasma,  mit  welchem  sie  bespült  werden,  dasjenige  aus,  was  sie  an 
sich  binden  und  für  ihre  verbrauchten  Stoffe  eintauschen  wollen; 
der  Rest  —  Lymphe  —  wird  von  besonderen  GefJlssen,  welche 
ihres  farblosen,  wasserähnlichen  Inhaltes  wegen  Lymphge fasse, 
Vasa  lymphatica,  und  ihrer  Verrichtung  wegen  Saugadern  genannt 
werden,  wieder  aufgesaugt,  und  aus  den  Organen  neuerdings  in  den 
allgemeinen  Kreislauf  gebracht.  Denn  die  LymphgefUsse  sammeln 
sich  alle  zu  einem  Hauptstamm,  welcher  in  das  Venensystem  ein- 
mündet. Die  Lymphe  wird  also  zuletzt  mit  dem  Blute  der  Venen 
gemischt,  und  fliesst  mit  diesem  zum  Herzen  zurück.  Als  eine 
Abart  der  Lymphgefiisse  erscheinen  die  Chylusge fasse,  welche 
keine  Lymphe,  sondern  jenen  im  Darmkanale  aus  den  Nahrungs- 
mitteln ausgezogenen  Saft  führen,  welcher  seiner  milchweissen  Farbe 
wegen  Milchsaft,  Chyltis,  genannt  wird.  Die  Chylusgeßlsse  ent- 
leeren sich  in  den  Hauptstamm  des  Lymphgefasssystems ,  und  der 
Milchsaft  wird  somit  auf  demselben  Wege  wie  das  Venenblut  zum 
Herzen  zurückgeleitct  werden.  Da  aus  dem  Milchsafte  erst  Blut 
gemacht  werden  soll,  und  das  Venenblut  ebenfalls  einer  neuen  Be- 
fähigung zum  Ernähnmgsgeschäftc  bedarf,  diese  Umwandlung  aber 
nur  durch  Vermittlung  des  Oxygens  der  atmosphärischen  Luft 
möglich  wird,  so  kann  das  mit  Milchsaft  gemischte  Venenblut,  nicht 
allsogleich  aus  dem  Herzen  wieder  in  die  Schlagadern  des  Körpers 
getrieben  werden.  Das  Venenblut  muss  vielmehr  zu  einem  Organ 
geführt  werden,  in  welchem  es  mit  der  atmosphärischen  Luft  in 
Wechselwirkung  tritt,  seine  unbrauchbaren  Stoffe  absetzt,  und  dafür 
neue  (Oxygen)  aufnimmt.  Dieses  Organ  ist  die  Lunge.  Was  vom 
Herzen  zur  Lunge  strömt,  ist  Venenblut;  was  von  der  Lunge  zum 
Herzen  strömt,  ist  Arterienblut.  Der  Weg  vom  Herzen  zur  Lunge, 
und  durch  die  Lunge  zum  Herzen,  beschreibt  ebenfalls  einen 
Kreis,  welcher  aber  kleiner  ist,  als  jener  vom  Herzen  durch  den 
ganzen  Körper  zum  Herzen.  Man  spricht  also  von  einem 
kleinen  und  grossen  Kreislaufe  (Lungen-  und  Körperkreislauf),  welche 
in  einander  übergehen,  so  dass  das  Blut  eigentlich  die  geschlungene 
Bahn  einer  8  durchläuft. 


140  §.  46.  Artorien.  Bau  derselben. 

Das  Geßisssystem  besteht,  dieser  übersichtliehen  Darstellung 
nach,  aus  folgenden  Abtheilungen: 

1.  Herz,  2.  Arterien,  3.  Capillargefässe,  4.  Venen,  5.  Lymph- 
und  Chylusgefasse.  Das  Herz  wird  in  der  speciellen  Anatomie  des 
Gefiisssystems,  der  Bau  der  übrigen  aber  hier  zur  Sprache  gebracht. 


§.  46.  Arterien.  Bau  derselben. 

An  den  Stämmen,  Aesten,  und  Zweigen  der  Arterien,  findet 
sich  der  Hauptsache  nach  derselbe  Bau.  Ohne  das  Mikroskop  zu 
gebrauchen,  unterscheidet  man  eine  innere,  mittlere  und  äussere 
Arterienhaut.  Die  innere  Haut  (Intima)  trägt  an  ihrer  freien  Ober- 
fläche eine  einfache  Schichte  Plattenepithel,  als  Fortsetzung  des 
Plattenepithels  der  Herzkammern.  Dasselbe  besteht  aus  rhombischen 
oder  spindelförmigen,  nicht  immer  deutlich  abgegrenzten  Zellen  mit 
elliptischen  Kernen.  Unter  diesem  Plattenepithel  lagert  eine  über- 
wiegend aus  longitudinalen  Fasern  bestehende  elastische  Haut. 
Epithel  und  elastische  Haut  wurden  vormals  zusammen  als  glatte 
Gefässhaut,  Tanica  glabra  vcLsorum,  den  serösen  Häuten  beigezählt. 
Die  äussere  Haut  der  Arterien  ist  eine  Bindegewebsmembran,  mit 
allen  diesem  Gewebe  zukommenden  mikroskopischen  Eigenschaften. 
Sie  heisst  Membrana  adventitia  (bei  Haller  adstitia),  oder  Membrana 
cellularü.  An  den  grösseren  Arterienstämmen  enthält  sie  auch 
organische  Muskelfasern,  aber  immer  nur  in  sehr  beschränkter 
Menge.  Die  mittlere  Arterienhaut  (Media)  wurde  lange  als  Tunica 
ela^tica  beschrieben.  Man  Hess  sie  aus  longitudinalen  und  kreis- 
förmigen oder  Spiralen,  bandartigen,  elastischen  Fasern  bestehen, 
welche  eine  innere  Längenschichte  und  eine  äussere  Kreisfaser- 
schichte bilden  sollten.  Die  Fortschritte  der  mikroskopischen  Ana- 
tomie haben  aber  ein  reiches  Vorkommen  von  queren  organischen 
Muskelfasern  neben  den  elastischen  in  der  mittleren  Arterienhaut 
sichergestellt,  so  dass  man  sie  als  Tunica  muscuio-elastica  bezeichnen 
muss.  Die  muskulösen  und  die  elastischen  Elemente,  welch'  letztere 
theils  als  vernetzte  Fasern,  theils  als  breite  bandartige  Streifen  und 
Platten  gesehen  werden,  bilden  in  der  mittleren  Arterienhaut  mehrere, 
durch  Faseraustausch  untereinander  zusammenhängende  Lagen.  Je 
grösser  eine  Arterie,  desto  mehr  überwiegen  die  elastischen  Fasern 
über  die  muskulösen,  und  umgekehrt.  Die  grössten  Arterien  (Aorta) 
verdanken  ihre  gelbe  Farbe  nur  dem  quantitativen  Vorwalten  der 
elastischen  Elemente,  deren  Massenanhäufung  sich  immer  durch 
gelbe  Farbe  auszeichnet.  In  gewissen  Arterien  (innere  Kieferarterie 
und  Art.  poplitea)  greifen  die  organischen  Muskelfasern  auch  in  die 
innere  Gefksshaut  über. 


$.  46.  Arterien.  Bau  derselben.  141 

Die  mittlere  Haut  bedingt  vorzugsweise  die  Dicke  der  Arterien- 
wand.  Diese  Dicke  muss  bedeutend  genannt  werden.  Sie  entspricht 
dem  starken  Druck,  welchen  die  Arterienwand  vom  Blute  auszu- 
halten hat.  Die  n^ttlere  Arterienhaut  nimmt  mit  der  durch  fort- 
gesetzte Theilung  zunehmenden  Feinheit  der  Arterien  ab,  und  ver- 
schwindet in  den  Capillargefilssen  gänzlich.  Ihre  theils  elastischen, 
theils  muskulösen  Elemente,  erlauben  den  Gefiissen,  sich  bei  an- 
kommender Blutwelle  auszudehnen,  sich  nach  Vorbeigehen  der  Welle, 
wieder  auf  ihr  früheres  Lumen  zu  verkleinern,  und,  wenn  sie  durch- 
schnitten werden,  sich  zurückzuziehen,  und  dabei  offen  zu  klaffen. 

Man  hat  ernährende  Geßisse  (Vasa  vasorum)  in  den  Wandungen 
der  grösseren  Arterien  durch  subtile  Injection  dargestellt.  Ich  be- 
haupte, dass  sie  nur  der  äusseren  Haut  der  Arterien  angehören.  In 
der  mittleren  und  inneren  Haut  habe  ich  sie  nie  gesehen.  Netze 
von  Nervenfasern  wurden  selbst  in  den  feineren  Ramificationen  der 
Arterien  aufgefunden.  Die  Endigungsweise  der  letzteren  ist  jedoch 
nicht  mit  wünschenswerther  Sicherheit  festgestellt. 

Das  einfache  Plattenepithel  der  Arterien,  untersucht  man  am  besten  an 
frisch  geschlachteten  Thieren.  Durch  Abschaben  der  inneren  Oberfläche  einer 
gprösseren  Arterie,  erhält  man  rhombische,  bandartig  schmale,  zugespitzte,  mit 
deutlichem  Kerne  versehene  Zellen  (Spindelzellen).  Ihre  Gruppirung  zum  Pflaster- 
epithel, erkennt  man  am  Faltungsrande  einer  dünnen,  abgezogenen  LameUe,  oder 
noch  deutlicher  am  freien  Rande  jener  natürlichen  Falten,  welche  als  Klappen, 
Valvulae,  am  Ursprünge  der  Aorta  und  der  Lungenschlagader  vorkommen.  —  An 
der  mittleren  Haut  grösserer  Arterienstämme,  unterscheidet  He  nie  vier  differente 
Schichten,  welche  von  innen  nach  aussen  in  folgender  Ordnung  liegen: 

aj  Die  gefensterte  Haut  Sie  ist  fein,  durchsichtig,  und  aus  breiten, 
elastischen  Fasern  gewebt,  welche  sich  zu  Netzen  verbinden.  Ihren  Namen  erhielt 
sie  der  runden  oder  eckigen  Oeffnungen  wegen,  welche  in  gprösserer  oder  geringerer 
Anzahl  zwischen  den  Faserzügen  auftreten,  und  welche  an  abgezogenen  Stücken 
dieser  Haut,  die  sich  gerne  der  Länge  nach  einrollen,  dem  Rande  derselben  ein 
gekerbtes  oder  ausgezacktes  Ansehen  verleihen.  £s  wäre  allerdings  möglich,  dass 
die  Grundlage  der  sogenannten  gefensterten  Haut,  eine  structurlose  Membran  ist, 
auf  welcher  Fasergitter  lagern,  so  dass  die  Maschen  der  Gitter,  ihrer  Durch* 
sichtigkeit  wegen  für  Löcher  imponiren. 

b)  Die  Längs faser haut  Sie  besteht  aus  elastischen  Longitudinalfasem, 
welche  sich  durch  Anastomosen  zu  rhombischen  Maschen  verbinden.  Man  erkennt 
sie  an  vorsichtig  abgezogenen  Stücken  der  gefensterten  Haut,  an  deren  äusserer 
Fläche  sie  in  grösseren  oder  kleineren  Fragmenten  anhängt. 

cj  Die  Ringfaser  haut.  Sie  besteht  Überwiegend  aus  organischen  Muskel- 
fasern, und  aus  elastischen  Fasern,  letztere  von  verschiedener,  jedoch  immer  sehr 
bedeutender  Breite,  so  dass  sie  stellenweise  plattenförmig  erscheinen.  Die  zur 
Gefässaxe  quere  Richtung  beider  Fasergattungen,  begünstigt  die  Trennung  der 
*  Arterien  in  der  Quere,  durch  Reissen,  oder  durch  Umschnüren  mit  einem  feinen 
Faden.  In  den  Nabelarterien  des  Embryo  besteht  die  Ringfaserhaut  nur  aus 
organischen  Muskelfasern,  mit  Ausschluss  der  elastischen,  welche  auch  in  der 
inneren  Gefässhaut  vollständig  fehlen.  Dieses  Ueber wiegen  der  muskulösen  Ele- 
mente in  den  Wandungen  der  Nabelarterien,  erklärt  es  uns,  dass  diese  Schlag- 
adern sich  durch   ringförmig^  Contraction  gänzlich  verschliessen   können,  wie  es 


142  i.41.  Allgenein«  Yerlftnft-  und  Yertotlnngsgesetze  der  Arterien. 

in  der  Gegend  des  Nabeliinges  gleich  nach  der  Gebnrt  des  Kindes  der  Fall  sein 
muss,  um  seinem  Verbluten  vorzubeugen.  Häufig,  namentlich  an  den  Arterien  der 
Eingeweide,  wird  die  Ringfaserhaut  durch  schräge  oder  longitudinale  Muskelfasern 
verstärkt,  welche  bald  innen  bald  aussen,  bald  auf  beiden  Seiten  dieser  Haut 
zugleich  lagern. 

dj  Die  elastische  Haut.  Sie  liegt  unmittelbar  unter  der  Adventitia  der 
Arterie,  und  besteht  fast  ausschliesslich  aus  breiten,  dicht  genetzten,  elastischen 
Fibrillen.  Es  waltet  keine  bestimmte  Richtung  in  der  Faserung  vor.  An  kleineren 
Arterien  lässt  sie  sich  nicht  darstellen ;  an  grösseren  dagegen  findet  man  sie  leicht, 
wenn  man  eine  gehärtete,  und  der  Länge  nach  aufgeschnittene  Arterie,  mit  vier 
Nadeln  an  den  vier  Ecken  befestigt  und,  nach  Entfernung  der  inneren  Schichten, 
mit  dem  AblOsen  der  RingfiMem  so  lange  fortfi&hrt,  bis  man  auf  eine  weisse  derbe 
Haut  kommt,  von  welcher  sich  weder  longitudinale  noch  transversale  Bündel  ab- 
ziehen lassen.     Diese  ist  die  elastische  Haut 

Die  liier  genannten  Schichten  der  Arterienwand  sind  nicht  scharf  von  ein- 
ander abgegrenzt.  Die  Elemente  Einer  Schichte  greifen  vielmehr  in  jene  der 
vorhergehenden  und  der  nachfolgenden  ftber. 


§.  47.  Allgemeine  Verlauft-  und  Verästiungsgesetze  der  Arterien. 

1.  Alle  Arterien   sind   cylindrische  Kanäle,   welche,    so  lange 
sie  keine  Aeste  abgeben,    ihr  Kaliber   nicht   ändern.     Die   astlosen 
Stämme  der  Oarotiden  bei  sehr  langhalsigen  Thieren  (Kameel,  Giraffe,  • 
Schwan)    haben  an  ihrem  Ursprung  und  an  ihrer  von  diesem  weit 
entfernten  Theilungsstelle  denselben  Querschnitt. 

2.  Die  grossen  Arterienstämme  verlaufen,  mit  Ausnahme  des 
Aortenbogens,  meistens  geradlinig,  die  Aeste  und  Zweige  derselben 
häufig  mehr  weniger  geschlängelt.  Ich  muss  hier  bemerken,  dass 
Arterien,  welche  im  uninjicirten  Zustande  keine  Schlängelung  zeigen, 
dieselbe  im  injicirten  Präparate  im  ausgezeichneten  Grade  besitzen. 
So  z.  B.  die  Arteria  maxiUaris  externa.  Die  Injection  streckt  das 
elastische  Gefassrohr  in  die  Länge,  und  da  es  auf  einen  bestimmten 
Raum  angewiesen  ist,  kann  die  Streckung,  d.  h.  Verlängerung,  nur 
durch  Schlängelung  ausgeführt  werden.  Die  Schlängelung  der  Ge- 
fiLsse  wächst  mit  dem  Grade  der  Füllung  derselben  durch  die 
Injectionsmasse.  In  Organen,  welche  ein  veränderliches  Volumen 
haben,  sich  ausdehnen  und  zusammenziehen,  breiter  und  schmäler 
werden  können,  wie  die  Zunge,  die  Lippen,  die  Gebärmutter,  die 
Harnblase,  u.  s.  w.,  werden,  aus  begreiflichen  Gründen,  die  Gefilss- 
schlängclungen  zur  Norm.  An  gewissen  Schlagadern,  namentlich  an 
der  Arteria  spermatica  interna  des  Hodens,  bedingt  der  ausgezeichnet 
rankenformige  Verlauf  derselben,  eine  erhebliche  Abschwächung  des* 
Blutdruckes.  —  Die  Krümmungen  der  Arterien  liegen  entweder  in 
einer  Ebene,  und  heissen  schlangen  förmig,  oder  sie  bilden 
Schraubentouren,  und  werden  dann  spiral  genannt.  Bei  alten  In- 
dividuen werden   mehrere,    sonst  geradlinige  Arterien,   geschlängelt 


§  47.  Allgemein«  Verlauft-  und  VerftstlnnffegMetie  der  Arterien.  143 

getroffen  (Art.  iliaca,  splenica).  Die  Schlängelungen  hängen  ent- 
weder von  der  Umgebung  der  Arterien  ab,  z.  B.  von  gekrümmten 
Knocheukanälen ,  Löchern  oder  Furchen,  durch  welche  sie  gehen, 
oder  werden  dadurch  bedingt,  dass  die  Bindegewebsscheide  der 
Arterie  an  einer  bestimmten  Stelle  straffer  angezogen  ist,  als  an  der 
gegenüberliegenden.  Die  Krümmungen  der  Carotis  vor  ihrem  Ein- 
tritte in  den  CancUis  caroHcus,  die  rankenförmigen  Schlängelungen 
der  inneren  Samen-,  Nabel-  und  Gebärmutterarterien,  entstehen  auf 
diese  Weise.  Sie  lassen  sich  durch  Lospräpariren  der  Bindegewebs- 
scheide  ausgleichen.  An  der  convexen  Seite  einer  Krümmung, 
verdichtet  sich  das  Gewebe  der  Arterienwand,  weil  das  Anprallen 
des  Blutstromes,  die  convexe  Seite  mehr  als  die  concave  geföhrdet. 

3.  Nie  verläuft  eine  Schlagader  grösseren  Kalibers  ausserhalb 
der  Fascie  eines  Gliedes,  sondern  möglichst  tief  in  der  Nähe  der 
Knochen.  Eben  so  allgemein  gilt  es,  dass  die  grösseren  Arterien- 
stämme, sieh  in  ihrem  Verlaufe  an  die  Beugeseiten  der  Gelenke 
halten.  Würden  sie  an  den  Streckseiten  der  Gelenke  lagern,  so 
wäre  es  unvermeidlich,  dass  sie  während  der  Beugung  eine  bis  zur 
Aufhebung  ihres  Lumens  gesteigerte  Zerrung  auszuhalten  hätten, 
welche  bei  dem  Verlaufe  an  der  Beugeseite,  gar  nie  vorkommen  kann. 

4.  Wo  immer  sich  ein  grösserer  Arterienstamm  gabelförmig 
in  zwei  Zweige  theilt,  ist  die  Summe  der  Durchmesser  der  Zweige 
grösser,  als  der  Durchmesser  des  Stammes,  und  so  muss  es  sein, 
da  die  Lumina  cylindrischer  Röhren  sich  wie  die  Quadrate  der 
Durchmesser  verhalten,  und  die  beiden  Aeste  unmöglich  dieselbe 
Quantität  Blut  aufnehmen  könnten,  welche  ihnen  durch  den  Stamm 
zugeführt  wird,  wenn  die  Summe  ihrer  Durchmesser  nicht  grösser 
wäre,  als  jener  des  Stammes.  —  Die  Capacität  des  Arteriensystems 
nimmt  bei  allen  Thieren  gegen  die  Capillargefasse  hin  auf  eine  in 
der  That  nicht  unerhebliche  Weise  zu.  Indem  nun  die  Venen  ein 
gleiches  Verhalten  zeigen,  so  wird  die  Sprachweise  jener  Physio- 
logen verständlich,  welche  das  arterielle  und  venöse  Gefilsssystem, 
in  'Hinsicht  ihrer  Capacität  mit  zwei  Kegeln  vergleichen,  deren 
Spitzen  im  Herzen  liegen,  deren  Basen  im  Capillargefasssystem 
zusammenstossen. 

5.  Die  Winkel,  welche  die  abgehenden  Aeste  mit  dem  Stamme 
machen,  sind  sehr  verschieden.  Spitzige  Ursprungswinkel  finden 
sich  gewöhnlich  bei  Arterien,  welche  einen  langen  Verlauf  zu  machen 
haben,  um  zu  ihrem  Organe  zu  kommen  (Art.  spermatica  interna); 
rechte  Winkel  unter  entgegengesetzten  Umständen  (Art.  renalis). 
Ist  der  Winkel  grösser  als  ein  rechter,  so  heisst  die  Arterie  eine 
zurücklaufende,  Art.  recurrens.  Es  kann  auch  eine  unter  spitzigem 
Winkel  entsprungene  Arterie  später  sich  umbeugen  und  zurück- 
laufend werden,  wie  die  Arieria  recurrens  radialis  et  ulnaris.   Oeffnet 


144  §>  47.  Allgemeine  Verlanfi-  und  Yer&stlnngtgeeetM  der  Arterien. 

man  eine  spitzwinkliche  Theilungsstelle  einer  Arterie,  so  findet  man 
im  Inneren  einen  vorspringenden  Sporn  (Operon),  welcher  die  Blut- 
ströme der  beiden  Aeste  theilt,  und  an  rechtwinkligen  Ursprungs- 
stellen fehlt.  —  Die  wichtigen  Ramificationen  der  Schlagadern  der 
Gliedmassen  finden  immer  in  der  Nähe  der  Gelenke  statt;  —  die 
minder  wichtigen  auf  dem  Wege  von  einem  Gelenk   zum  anderen. 

6.  Verbinden  sich  zwei  Arterien  mit  einander,  so  dass  das  Blut 
der  einen  in  die  andere  gelangen  kann,  so  entsteht  eine  Zusammen- 
mündung, AnaMomods,  von  avaTTOfjL^o),  öffnen  oder  sich  ergi essen. 
Sie  ist  entweder  bogenförmig,  durch  Zusammenmünden  zweier 
Arterienzweige  (Gefässbogen,  Areas),  oder  zwei  Stämme  werden 
in  ihrem  I^aufe  durch  einen  mehr  weniger  queren  Communications- 
kanal  verbunden  (z.  B.  die  Arteriae  communicantea  an  der  Basis 
des  Gehirns),  oder  aus  zwei  Arterien  wird  durch  Verschmelzung 
eine  einfache  (Art,  hcLsüaris,  vordere  und  hintere  Rückenmarks- 
arterie). Gleichförmige  Vertheilung  der  Blutmasse  und  des  Druckes, 
unter  welchem  sie  steht,  liegt  den  Anastomosen  überhaupt  zu  Grunde. 
Die  queren  Communicationskanäle  zwischen  zwei  Arterienstämmen 
gewähren  noch  den  Vortheil,  dass,  wenn  einer  der  beiden  Stämme 
ober-  oder  imterhalb  der  Anastomose  comprimirt  wird,  der  Blutlauf 
nicht  in  Stockung  geräth.  Die  Verzweigungen  der  Lungen-,  Leber-, 
Milz-,  und  Nierenarterien  innerhalb  der  genannteh  Organe,  bilden 
niemals  Anastomosen.  —  Vereinigen  sich  zwei  Spaltungsäste  einer 
Arterie  neuerdings  wieder  zu  einem  Stamme,  so  entsteht  eine  soge- 
nannte Insel,  und  theilt  sich  ein  Stamm  in  mehrere  oder  viele 
Zweige,  welche  sich  entweder  wieder  zu  einem  Stamme  vereinigen, 
oder  pinselförmig  auseinander  fahren,  so  nennt  man  diese  Verviel- 
fältigung durch  Spaltung  ein  Wunder  netz.  Es  giebt  demnach 
bipolare  und  unipolare  Wundemetze,  d.  h.  mit  oder  ohne  Wieder- 
vereinigung der  Spaltungszweige.  Bipolare  Wundemetze  kommen 
im  Menschen  nur  an  den  kleinsten  Zweigen  der  Nierenarterie  in 
den  sogenannten  Malpighi'schen  Körperchen,  unipolare  nur  an  den 
Venen  der  Choroidea  vor.  An  den  Extremitäten  der  Edentaten 
und  Halbaffen,  sowie  an  den  Intercostalarterien  der  Delphine  und 
Waltische,  an  den  Gekrösearterien  der  Schweine,  und  den  Carotiden 
vieler  Wiederkäuer,  erreichen  die  Wundernetze  einen  erstaunlichen 
Entwicklungsgrad . 

7.  Die  Arterien  functioniren  nicht  blos  als  Leitungsröhren  des 
Blutes,  sondern  sie  haben  auch,  durch  ihre  elastischen  und  con- 
tractilen  Elemente,  auf  die  Fortbewegung  des  Blutes  einen  wichtigen 
Einfluss.  —  Varietäten  ihres  Ursprungs  und  Verlaufes  sind  ohne 
allen  Nachtheil  für  die  Blutbewegung.  Für  viele  untergeordnete 
Arterien,  z.  B.  Muskelzweige,  sind  die  Varietäten  des  Verlaufes 
zahllos,   und  selbst  grosse  Arterien  lebenswichtiger  Organe,  unter- 


§.  48.  Pbjtioloffifloh«  EigeMchaften  der  Arterien.  145 

liegen  in  ihren  Ursprüngen  mitunter  höchst  sonderbaren  Spielarten. 
So  besitze  ich  ein  Präparat^  an  welchem  die  obere  Kranzarterie  des 
Magens,  aus  dem  Aortenbogen  entspringt. 

8.  Nur  die  grösseren  Schlagaderstämme  fuhren  in  ihren 
Wandimgen  ernährende  Arterien  (Vcisa  vasorum),  welche  meist  aus 
den  Nebenästen  des  Stammes,  seltener  aus  dem  Stamme  selbst  ent- 
springen, welchen  sie  zu  ernähren  haben.  Ich  habe  schon  angeführt, 
dass  sie  nur  der  AdventiHa,  nicht  aber  der  mittleren  und  inneren 
Arterienhaut  angehören.  —  Es  verdient  Beachtung,  dass  selbst  die 
kleinsten  Verzweigungen  der  arteriellen  Vasa  vasorum,  von  doppelten 
Venen  begleitet  werden,  ein  Vorkommen,  welches  sonst  nur  dem 
fibrösen  Gewebe  und  der  Gallenblase  zukommt. 

9.  Neben  einander  liegende  Arterien  und  Venen  werden  von 
einer  gemeinschaftlichen  Bindegewebsscheide  umschlossen.  Eine 
Zwischenwand  der  Scheide  isolirt  die  Arterie  von  der  Vene.  Die 
ernährenden  Gefasse  der  Arterien  müssen  diese  Scheide  durch- 
bohren. In  der  Spaltung  der  Scheide,  und  in  dem  Freimachen  der 
in  ihr  eingeschlossenen  Arterie,  liegt  der  am  meisten  Aufmerksamkeit 
erfordernde  Act  der  chirurgischen  Arterienunterbindung. 

Es  Hessen  sich  diese  Gesetze  sehr  vervielfältigen,  wenn  man  Alles  auf- 
zählen wollte,  was  die  Arterien  nicht  thnn.  Dass  die  Arterien  der  oberen  Körper- 
hälfte hinter,  jene  der  unteren  vor  den  gleichnamigen  Venen  liegen,  gilt  nur  für 
die  Hanptstämme,  und  selbst  nicht  fttr  alle,  indem  eine  sehr  ansehnliche  Vene  der 
unteren  Leibeshälfte:  die  linke  Nierenvene,  in  der  Reg^l  vor  der  Aorta  obdo- 
minalia  liegt.  —  lieber  die  Vtua  vtuarum  handelte  ich  ausftihrlicher  im  Quarterly 
Review  of  Nat  Hist.  1862,  Jnljr,  und  in  einer  Specialschrift:  Ueber  die  Schlag- 
adern der  unteren  Extremitäten  (Denkschriften  der  kais.  Akad.  1864). 


§.  48.  Fhysiologisclie  Eigenscliafteii  der  Arterien. 

Die  wichtigsten  Eigenschaften  der  Arterien  sind  ihre  Elasticität 
und  Contractilität,  durch  welche  das  vom  Herzen  in  die  Arterien 
gepumpte  Blut,  von  diesen  weiter  getrieben  wird.  Die  Elasticität 
kommt  allen  Schichten  der  Arterienwand  zu.  Selbst  dem  Epithel 
darf  sie  nicht  fehlen,  da  man  sich  doch  nicht  denken  kann,  dass 
die  Zellen  desselben  auseinander  weichen,  wenn  die  Arterie  durch 
den  Andrang  der  Blutwelle  ausgedehnt  wird.  Elasticität  und  Con- 
tractilität stehen  in  inniger  Beziehung  zu  der  auffallendsten  Bewegungs- 
erscheinung an  den  Arterien,  zum  Pulse.  Die  alten  Aerzte  erklärten 
den  Puls  als  die  Erscheinung  einer  selbstthätigen  Expansion  und 
Contraction  der  Arterien,  und  hielten  ihre  mittlere  Haut  für  durchaus 
musculös.  Später  wandte  man  sich  zum  anderen  Extrem,  erklärte 
die  Arterien  für  vollkommen  passiv,  und  ihre  Expansion  und  Con- 
traction für  die  Folge  der  Ausdehnung  bei  eindringender,  und  des 

üjTil,  L«lirbiicli  der  Anatomie.  U.  Aufl.  10 


1 46  §.  4S.  Phyiiologiiehe  EigenichafteD  der  Arterien. 

Collabirens  nach  vorbeigegangener  Blutwelle.  Auch  diese  Vorstellung 
musHte  aufgegeben  werden,    seit   die  Existenz   organischer  Muskel- 
fasern in  den  Wänden  der  Arterien  constatirt  wurde,  und  Reizungs- 
versuche an  frischen  Schlagadern  amputirter  Extremitäten  und  des 
Mutterkuchens,   eine   lebendige   Contraction    der  Arterien  sicher- 
gestellt haben.    Die  mit  jedem  Pulsschlage  ankommende  Blutwelle, 
sucht  die  Arterien  auszudehnen.     Sie   hat  die  physische  Elasticität 
der  Arterie,  und  ihre  lebendige  Contractilität  zu  überwinden.     Die 
Arterie  dehnt  sich  aus    (schwillt  unter  dem  Finger  an),  so  viel  es 
diese  beiden  Factoren  gestatten.     Ist  die  Blutwelle  vorbeigegangen, 
so  stellt  die  Elasticität  der  Arterie,  in  Vorbindung  mit  der  lebendigen 
Contractilität,   das  frühere  Volumen   der  Arterie   wieder   her.     Der 
Puls  ist  somit  der  Ausdruck  der  Stosskraft  des  Herzens.   Die  Zahl 
und  der  Rhythmus  der  Pulsschläge  hängt  von  der  Herzthätigkeit 
ab,  —  die  Härte  oder  Weichheit   von   dem   grösseren   oder  ge- 
ringeren  Widerstände ,    welchen   die  Arterienwände    der    Blutwelle 
entgegensetzen,  —  während  die  Grösse  oder  Kleinheit  des  Pulses 
von  der  Gesammtmenge  des  Blutes  und  von  der  Grösse  der  durch 
das  Herz  ausgetriebenen  Blutwclle  bedingt  wird.    Es  kann  deshalb 
der  Puls  scheinbar   entgegengesetzte  Eigenschaften   darbieten.     Ein 
kleiner  Puls  kann  hart,  ein  grosser  weich  sein.     Körpergrösse   und 
Temperament   äussern   auf  die  Zahl  der  Pulsschläge   in   gegebener 
Zeit  (ptUsus  freqtiens  et  rarus)  einen  merklichen  Einfluss.   Ein  kleiner 
Sanguiniker  hat  mehr  Pulsschläge  in  der   Minute,   als   ein   grosser 
(langer)  Phlegmatiker.    —   Nebst   dem    durch   den  Puls   gegebenen 
Anschwellen  imd  Abfallen  der  Arterie  unter  dem  fühlenden  Finger, 
krümmt  sie  sich  während  des  Strotzens  auch  seitlich  aus,  d.  h.  sie 
schlängelt     sich ,    indem     sie     sich     zu    verlängern     strebt.     Diese 
Schlängelungen   der   Arterien    während   des  Durchgangs   der   Blut- 
welle, lassen  sich  auch   durch   künstliche  Injection  von  Flüssigkeit 
erzielen,  und  sind  letztere  mit  gerinnenden  oder  erstarrenden  Stoffen 
gemacht  worden,  so  kann  man  die  Schlängelungen  fixiren.  —  Ver- 
lust der  Elasticität   der  Arterien   durch   krankhafte  Processe,   oder 
durch  hohes  Alter,  wird  ihre  Krümmungen  gleichfalls  zu  permanenten 
Erscheinungen  machen,    wie    man   an  den  rankenft)rmigen  Schläfe- 
arterien hochbejahrter  Greise  zu  sehen  Gelegenheit  hat. 

Der  Umstand,  daas  eine  lebende  ArteriCf  wenn  sie  durchschnitten  wird^  ihr 
Lumen  verengert,  während  die  todte  am  Cadaver  sich  nur  der  Lunge  nach 
retrahirt,  bestätigt  zur  Genüge  die  lebendige  Contractilität  der  Arterienwände. 
Unter  dem  Mikroskope  kann  man,  durch  Anwendung  von  Beizen,  die  Contractilität 
der  feinen  Arterien,  in  der  Schwimmhaut  der  FrGsche,  zur  klaren  Anschauung 
bringen.  Durchschneidung  der  Gefässnerven,  oder  vorübergehende  Herabstimmung 
ihres  Einflusses  auf  die  contractilen  Arterienwandongen,  setzt  augenblickliche  Er- 
weiterung der  Arterien.  Man  sieht  am  Kaninchenohre,  nach  Trennung  des  Sym- 
pathicus  am  Halse,   sämmtliche  GeflUte  sieh  erweitern,   und   die   mit   gewitien 


g.  49.  Praktische  AnweoduDg«n.  147 

psychischen  Veranlassnngen  sich  einstellende  plötzliche  Böthe  des  Gesichts,  wahr- 
scheinlich  auch  die  Erection  des  männlichen  Gliedes,  kann  nur  aus  dem  momentan 
herabgesetzten  Einfluss  der  Gefässnerven  erklärt  werden. 

Die  Empfindlichkeit  der  Arterien  ist  unbedeutend,  und  die 
Nerven,  welche  in  ihren  Wandungen  sich  verästeln,  sind  gewiss 
nicht  vorwaltend  sensitiver  Natur.  Wenn  man  bei  Unterbindung 
einer  grösseren  Arterie  nach  Amputationen,  im  Momente,  wo  die 
Ligatur  festgeschnürt  wird,  ein  Zusammenfahren  oder  Zucken  des 
Kranken  beobachtet  hat,  so  ist  dieses  erstens  nicht  bei  jeder  Arterien- 
unterbindung gesehen  worden ,  und  kann  zweitens ,  bei  unvoll- 
kommener Isolirung  der  Arterie,  durch  NervenfiJamente  bedingt 
werden,  welche  die  Hast  des  Operateurs  zufallig  in  die  Ligatur- 
schlinge  aufnehmen  machte. 

Die  Ernährungsthätigkeit  in  den  Wandungen  der  Arterien 
äussert  sich  durch  das  schnelle  Verheilen  der  Wunden  unter  günstigen 
Umständen,  und  durch  die  verschiedenen  Formen  krankhafter  Ab- 
lagerungen zwischen  den  einzelnen  Hautschichten  der  GeßLsswand. 

Kan  kennt  ganz  genau  die  Entstehungsweise  der  Arterien,  welche  im 
bebrüteten  £i  beobachtet  werden  kann.  Die  gr^isseren  Arterien  entwickeln  sich 
im  Embryo  aus  kernhaltigen  Zellen,  welche  sich  zu  Strängen  gruppiren,  worauf 
die  innersten  ZeUen  dieser  Stränge  zu  Blutkttgelchen  werden,  die  äussersten  sich 
zur  Gefasswand  metamorphosiren ,  indem  sie  sich  zu  den  verschiedenen  Formen 
von  Fasern  umgestalten,  welche  die  Wand  eines  Blutgefässes  bilden.  Die  mittleren 
behalten  ihre  ursprüngliche  Zellennatur  als  Epithel. 


§.  49.  Praktische  Anwendungen. 

Der  gefahrdrohende  Charakter  der  Blutungen  durch  Ver- 
wundungen der  Arterien,  und  das  Vorkommen  dieser  Blutungen  bei 
allen  chirurgischen  Operationen,  giebt  dem  arteriellen  Q-efasssystem 
ein  hohes  praktisches  Interesse.  Bis  in  das  16.  Jahrhundert  wusste 
man  diese  Blutungen  nur  durch  die  Anwendung  der  grausamsten 
Stillungsmethoden  zu  bemeistern.  So  wurde  z.  B.  die  Amputation 
der  Gliedmassen  mit  glühenden  Messern  vorgenommen,  oder  die 
Trennung  der  Weichtheile  um  den  Knochen  herum,  durch  Abdrellen 
mit  einer  Pechschnur,  unter  unsäglichen  Martern  des  Kranken,  aus- 
geführt, der  blutende  Stumpf  aber  mit  geschmolzenem  Blei  oder 
siedendem  Theer  übergössen.  Ein  französischer  Wundarzt,  Ambroise 
Parö,  Leibchirurg  der  Könige  Franz  II.  und  Carl  IX.,  machte 
diesen  Gräueln  dadurch  ein  Ende,  dass  er  die  Unterbindung  der 
Arterien  in  Aufnahme  brachte.  Carl  IX.,  welcher  in  der  Pariser 
Bluthochzeit  auf  seine  eigenen  Unterthanen  schoss,  schätzte  diesen 
Mann  so  hoch,  dass  er  ihn  allein^  unter  allen  Hugenotten ^   in  der 

Metzelei  der  Bartholomäusnacht  zu  schonen  befahl  ^   ihn   selbst  im 

10» 


148  §.  48.  Pnktiseh«  Anwendnnfen. 

Louvre  versteckt  hielt,  nachdem  er  sich  weigerte  Katholik  zu  werden. 
Die  Antwort,  welche  er  dem  Könige  gab,  als  ihn  dieser  zu  über- 
reden suchte,  den  protestantischen  Glauben  abzulegen,  ist  zu  originell, 
um  nicht  hier  angeführt  zu  werden.  Sie  lautete  (nach  Sully's 
Memoiren ,  Vol.  I.  chap.  6) :  Majestät !  Drei  Dinge  sind  mir  un- 
möglich: 1.  in  den  Leib  meiner  Mutter  zurückzukehren,  2.  aufzu- 
hön^n,  ein  treuer  Diener  meines  Königs  zu  sein,  und  3.  eine  Messe 
KU  hören«  Dieser,  mit  höfischer  Schmeichelei  gepaarte  Trotz,  ver- 
ffhho  »eine  Wirkung  auf  den  schwachen  König  nicht. 

Die  allgemein  gültige  Regel,   in  jedem   vorkommenden  Falle 
Ä>  viel  als  möglich  mit  Umgehung  der  grösseren  Gefässstämme  zu 
o|H*rirt»n,  wird    von  jedem  wissenschaftlichen  Operateur  nach  Ver- 
%lioU8t  RtnvUrdigt.     Blutung,  welche  man  nicht  erwartete,   und   auf 
wt^lolu*  man  nicht  gefasst  war,  ist  für  jede  Operation  ein  wichtiger, 
*olU*t  tnn  sehr  gefilhrlicher  Zufall.     Man   sucht  sich  deshalb  durch 
lUuorbiudung  oder   Compression    des   Hauptgefässes  jener  Körper- 
*MU\  au  welcher  operirt  werden  muss,  vor  ihrem  Eintritte  zu  sichern. 
*-    In  praktischer  Beziehung   vermindert   sich   die  Wichtigkeit  der 
Ulutf^ii^sse  mit  der  Abnahme  ihrer  Grösse,   imd  die  umständliche 
Uowchreibung  jener  Gefässzweige,  deren  Verwundung  nicht  gefahr- 
bringend, und  deren  Unterbindung  nie  nothwendig  wird,  erscheint 
(»ornit  dem  praktischen  Arzte  nutzlos.   Nur  im  Auge  erscheint  auch 
die  Kenntniss  der  kleinsten  Blutgefässe  dem  Operateur   bedeutsam. 
Die  Contractilität    der   Geßlsse   bedingt   den   allgemeinen  Ge- 
brauch der  Kälte  zur  Stillung  von  Blutungen  aus  kleineren  Arterien. 
Wie    bedeutend    der    Einfluss    ist,    welchen    die    Nerven    auf   die 
Zusammenziehungs&higkeit    der   Gefasse    äussern,    zeigt    die    blut- 
stillende  Wirkung    der   Gemüthsaffecte    (Ueberraschung ,   Schreck) 
imd  jene  eines  plötzlich  veranlassten  Schmerzes,  z.  B.  Schnüren  des 
Fingers  mit  einem  Bindfaden  beim  Nasenbluten,  Reiben  einer  bluten- 
den Wundfläche  mit  den  Fingern,  etc. 

Eine  krankhafte  Ausdehnung  aller  Häute  einer  Arterie,  welche 
durch  Berstung  oder  Verbrandung  lebensgefährlich  werden  kann, 
heisst  Aneurysma  verum.  Sie  kommt  nur  an  Schlagadern  grösseren 
Kalibers  vor.  Die  kleinste  Arterie,  an  welcher  man  bisher  ein 
wahres  Aneurysma  beobachtete,  war  die  Ärteria  auricularis  posterior 
(Ch.  Bell).  Da  aber  die  Arterienhäute  eine  verschiedene  Structur 
besitzen,  und  die  elastische  Intima  derselben  durch  Krankheit  ihrer 
Elasticität  verlustig  geworden  sein  kann,  während  die  mittlere  imd 
äussere  Gefässhaut  noch  relativ  gesund  sind,  so  darf  es  nicht  über- 
raschen, wenn  bei  den  Zerrungen,  denen  die  Arterienstämme  hie 
and  da  unterliegen,  die  innere  Arterienhaut  an  einer  oder  mehreren 
Stellen  Risse  bekommt,  das  Blut  zwischen  die  getrennten  und  ganz 
gebliebenen  Arterienhäute  eindringt,  und  nur  die  letzteren  zu  einem 


§.48.  Praktitehe  Anwendungen.  149 

aneurysmatischen  Sacke  ausdehnt.  Dieser  heisst  dann  Aneurysma 
spurium.  Berstet  in  Folge  der  zunehmenden  Ausdehnung  auch 
dieser  Sack,  so  ergiesst  sich  das  Blut  frei  in  alle  Bindegewebsräume, 
in  welche  es  von  dem  geborstenen  Aneurysmensack  gelangen  kann, 
und  dehnt  diese  zu  einem  pulsirenden  Cavum  aus,  welches  dann 
Aneurysma  spurium  consecutivum  oder  diffusum  genannt  wird. 

Wird  eine  lebende  Arterie  grösserer  Art  quer  angeschnitten, 
so  klafft  die  Wunde  bedeutend,  und  der  Blutverlust  ist  sehr  gross, 
wenn  die  Arterienwunde  mit  der  äusseren  Hautwxmde  correspondirt. 
Wird  sie  vollends  quer  durchgeschnitten,  so  zieht  sich  das  elastische 
Arterienrohr  in  seiner  Bindegewebsscheide  stärker  zurück,  als  diese. 
Die  Scheide  wird  durch  den  Zug  der  Arterie  gefaltet  und  eingezogen. 
Das  aus  der  Arterie  ausströmende  Blut,  hängt  sich  als  Coagulum 
an  die  Wand  der  Scheide  an,  verengert  diese  noch  mehr,  füllt  sie 
endlich  aus,  und  die  Blutung  steht  früher  still,  als  bei  incompleter 
Trennung  des  Gefässes,  bei  welcher  eine  Zurückziehimg  der  Arterie 
nicht  stattfinden  kann.  Daher  der  Rath  der  älteren  Militärchirurgie, 
angeschnittene  Arterien  ganz  zu  trennen  (Theden).  Dass  es  wirk- 
lich die  Scheide  ist,  welche  bei  vollkommenen  queren  Trennungen 
der  Arterien  die  Blutung  vermindert,  ja  selbst  zum  Stillstand  bringt, 
zeigt  der  Versuch  am  lebenden  Thiere.  Wird  die  Cruralarterie  eines 
grossen  Himdes  sammt  ihrer  Scheide  durchschnitten,  so  stillt  sich 
die  Blutung  nach  kurzer  Zeit  von  selbst,  und  das  Thier  erholt  sich. 
Wird  aber  die  Scheide  der  Arterie  in  einer  grösseren  Strecke  los- 
präparirt  und  entfernt,  und  hierauf  die  Arterie  durchschnitten,  so 
ist  der  Verblutungstod  gewiss.  —  Längenwunden  der  Arterien  klaffen 
viel  weniger  als  quere.  Die  nach  der  Länge  einer  Arterie  ver- 
laufenden elastischen  Fasern,  welche  den  quergerichteten  an  Zahl 
überlegen  sind,  halten  die  Ränder  einer  arteriellen  Längenwunde 
mehr  im  Contact,  und  erleichtern  ihre  Verheilung,  welche  selbst, 
wie  die  Chirurgen  sagen,  per  primam  intentionem  (d.  i.  durch  schnelle 
Verwachsung  mittelst  plastischen  Exsudates,  ohne  Eiterung)  zu 
Stande  kommt,  was  bei  Querwunden  nicht  möglich  ist. 

Unterbindet  man  eine  Arterie  mit  einem  dünnen  Faden,  welcher 
fest  zugeschnürt  wird,  so  bleibt  die  äussere  und  die  darauf  folgende 
elastische  Haut  ganz;  die  Ringfaserhaut  und  die  übrigen  inneren 
Häute  aber  werden   durch   den  Faden   kreisförmig   durchschnitten. 

Eine  miterbnndene  Arterie  verwächst,  von  der  Unterbindnngsstelle  an  bis 
mm  n&chst  oberen  und  unteren  stärkeren  Nebenast.  Diese  Verwachsung  ist  an- 
fangs eine  blosse  Ausfüllung  mit  geronnenem  Blute  (provisorische  Obliteration). 
Später  bildet  sich  durch  plastisches  Exsudat,  welches  sich  organisirt,  und  mit  dem 
geronnenen  Blute  verschmilzt,  ein  solider  Pfropfen  (ThrombusJ ,  welcher  mit  der 
Arterienwand  verwächst  (definitive  Obliteration),  so  dass  sie  in  einen  festen  und 
soliden  Strang  umgewandelt  wird,  dessen  Peripherie  kleiner  als  jene  der  Arterie 
ist,  deren  Fortsetzung^er  darstellt 


150  §.  49.  PraktiBche  ADwendang«ii. 

Die  Unterbindung  einer  gH)88eren  Schlagader,  z.  B.  der  Brachialis  oder 
Cruralis,  hebt  den  Kreislauf  in  den  Theilen  unter  der  Unterbindungsstelle  nicht 
vollkommen  auf;  er  findet  nur  mit  verminderter  Energie  und  auf  Umwegen  statt. 
Da  über  und  unter  der  Unterbindungsstelle  Aeste  abgehen,  welche  in  ihren  weiteren 
Verzweigungen  mit  einander  anastomosiren,  so  wird  durch  diese  Anastomosen  das 
Blut  in  das  unter  der  Ligaturstelle  befindliche  Stück  der  Arterie,  aber  mit  ungleich 
schwächerer  Triebkraft  gelangen.  Haben  sich  diese  Anastomosen  so  sehr  erweitert, 
dasB  sie  zusammen  dem  Lumen  des  abgebundenen  Gefasses  gleichen,  so  geht  der 
Kreislauf  ohne  weitere  Unordnung  vor  sich,  und  wird  sodann  Collateralkreislauf 
genannt.  Ich  besass  einen  Hund,  dem  ich  in  der  Zeit  meiner  physiologischen 
Jugendsünden,  die  Arteria  mnominata  und  beide  Ärteriae  crurales  in  der  Frist 
eines  Jahres  unterbunden  hatte,  und  welcher  sich,  obwohl  sein  Blut  auf  ungewöhn- 
lichen Wegen  kreiste,  ganz  wohl  befand.  Selbst  die  absteigende  Aorta  der  Brust- 
höhle kann  verwachsen,  und  durch  die  Entwicklung  der  Collateralgefösse  supplirt 
werden.  Die  von  Römer,  Meckel,  u.  A.  beschriebenen  Fälle,  und  ein  im  Prager 
anatomischen  Museum  befindlicher  beweisen  es.  Letzterer  gehörte  einem  voll- 
kommen gesunden  Individuum  an,  welches  an  Lungenentzündung  starb.  Der 
Collateralkreislauf  ging  von  den  Aesten  der  Subclavia,  durch  ihre  Anastomosen 
mit  den  Intercostalarterien,  zu  dem  unter  der  Verwachsungsstelle  gelegenen  Theil 
der  Aorta.  Die  Intercostalarterien  waren  zur  Grösse  eines  Schreibfederkiels  er- 
weitert, rankenförmig  geschlängelt,  selbst  aufgeknäuelt,  und  erzeugten  durch  ihr 
Pulsiren  ein  continuirliches  Zittern  der  Thoraxwand,  welches  als  schwirrendes 
Geräusch  zu  hören  war,  und  vom  Kranken  viele  Jahre  vor  seinem  Tode  gefilhlt 
wurde. 

Die  Befestigung  einer  Arterie  an  ihre  Umgebung  ist  so  locker, 
dass  sie  kleine  seitliche  Orts  Veränderungen  ausfuhren  kann.  Sie 
schlüpft  deshalb  unter  dem  drückenden  Finger,  und  eben  so  oft 
und  glücklich  unter  stechenden,  oder  der  Länge  nach  schneidenden 
Werkzeugen  weg.  Nur  kranke  Arterien  sind  durch  ihre  verdickten 
Scheiden  fester  an  den  Ort  gebunden,  welchen  sie  einmal  inne  haben. 
—  Da  die  Arterienscheiden  nicht  in  dem  Grade  elastisch  sind,  wie 
die  Arterien  selbst,  so  wird  eine  durch  ihre  Scheide  hindurch  ver- 
letzte Arterie,  eine  grössere  Wunde  darbieten,  als  die  in  der  Scheide 
vorhandene.  Das  Blut  wird  nicht  in  der  Menge,  in  welcher  es  aus 
der  Arterienwunde  kommt,  durch  die  kleinere  Wunde  der  Scheide 
abfliessen  können.  Es  wird  sich  somit  Heber  zwischen  Scheide  und 
Arterie  einen  Weg  präpariren,  und  sogenannte  Blutunterlaufungen 
bedingen,  welche  einen  grossen  Umfang  gewinnen,  und  sich  weit 
über  und  unter  die  Verwundungsstelle  der  Arterien  ausdehnen  können 
(Dissecting  Aneurt/sma  der  englischen  Pathologen).  Derselbe  Vorgang 
kann  auch  stattfinden,  wenn  bei  Verschliessung  der  äusseren  Wunde 
durch  Verbände  oder  durch  Vorlagern  anderer  Weichtheile,  das 
Blut  vom  Wimdkanale  aus  zwischen  umliegende  Gewebe  sich  er- 
giesst.  So  entstehen  die  sogenannten  blutigen  Infiltrationen 
und  Sugillationen,  welche  nicht  zu  verwechseln  sind  mit  den 
Senkungen  des  Blutes  in  seinen  GefUssen,  welche  nach  den  Gesetzen 
der  Schwere  gegen  die  abschüssigsten  Stellen  des  Leichnams  statt- 
finden ,    und    als   Todtenflecken    ein    gewöhnliches    Leichen- 


9.49.  Praktische  Anwendungen.  151 

vorkommuiss  sind.  Jede  im  Leben  beigebrachte  Wunde,  hat  sugillirte 
Ränder,  —  eine  der  Leiche  beigebrachte  aber  nicht. 

Die  Zurückziehung  durchschnittener  Arterien  erschwert  ihr 
Auffinden  im  lebenden  Menschen  bei  Verwundungsfäilen ,  und  er- 
heischt eine  Verlängerung  oder  Erweiterung  der  Wunde,  um  das 
blutende  Ende  linden  und  unterbinden  zu  können.  Gefösse,  welche 
iwrenige  oder  keine  Seitenäste  abgeben,  ziehen  sich  sehr  stark  zurück ; 
solche,  welche  durch  ihre  Seitenäste  gleichsam  an  benachbarte 
Organe  befestigt  werden ,  weniger.  Man  kann  diese  praktisch 
wichtige  Erfahrung  am  Cadaver  constatiren.  Wird  die  Kniekehlen- 
arterie einfach  entzweigeschnitten,  so  beträgt  ihre  Retraction  circa 
1  Zoll.  Werden  aber  früher  ihre  Seitenäste  getrennt,  und  das  Geföss 
dadurch  allseitig  isolirt,  so  zieht  es  sich  um  l^/^ — 2  Zoll  zurück. 

Ein  Umstand,  welcher  für  die  ärztliche  Behandlung  gewisser 
Blutungen  von  Nutzen  sein  dürfte,  crgiebt  sich  aus  der  Betrachtung 
des  Hauptstammes  einer  Gliedmassenarterie  im  stark  gebeugten  Zu- 
stande des  Gelenkes,  an  welchem  sie  verläuft.  Wird  der  Ellbogen 
in  forcirte  Beugung  gebracht,  so  wird  der  Puls  der  Radialarterie 
sehr  schwach.  Bei  stark  gebeugtem  Unterschenkel,  durch  möglichst 
starkes  Heraufziehen  der  Ferse  mit  der  Hand,  verschwindet  der  Puls 
in  der  Arteria  tibialis  postica  vollkommen.  Nicht  das  Knicken  der 
Arterie  am  gebeugten  Gelenk,  sondern  die  Compression  derselben 
durch  die  an  einander  gepressten  Muskelmassen  in  der  Nähe  des 
gebeugten  Gelenkes,  bedingt  diese  Erscheinung,  von  welcher  in 
Verwundungsfällen,  bevor  chirurgische  Hilfe  geleistet  werden  kann, 
und  beim  Transport  Blessirter,  Nutzen  zu  ziehen  wäre. 

Wie  wichtig  der  Verlauf  der  Arterien  zwischen  den  Muskeln 
ist,  und  wie  sehr  der  Druck  dieser  Muskeln  abnorme  Ausdehnungen 
derselben  hintanzuhalten  vermag,  erhellt  daraus,  dass  Aneurysmen 
am  häufigsten  an  solchen  Schlagadern  entstehen ,  welche  in  ihrer 
nächsten  Umgebung  blos  Bindegewebe  und  Fett,  aber  keine  Muskeln 
haben,  wie  die  Arteria  cruralis  in  der  Fossa  üeo-pectinea,  die  Arteria 
Poplitea  in  der  Kniekehle,  die  Arteria  aanllaris,  etc. 

Wir  mtissen  die  unrichtige  VorsteHung  aufgehen,  dass  die  iSchwere  des 
Blutes,  seine  Bewegung  f?)rdem  oder  hemmen  könne.  Wenn  eine  Pumpe  Flüssig- 
keit in  einem  System  geschlossener  Röhren  herumtreiben  soll,  so  ist  es  ganz  gleich- 
giltig,  welche  Lage  die  Röhren  haben,  ob  vertical  oder  horizontal.  Die  Schwere 
hemmt  nicht  die  Bewegung  in  den  aufsteigenden,  noch  f<3rdert  sie  die  Bewegung 
in  den  absteigenden  Röhren  des  System».  Sie  hat  aber  einen  unlfingbaren  Einfluss 
auf  die  gleichmässige  Vertheilung  der  Flüssigkeit  im  Röhrensystem,  wenn  dessen 
Röhren  nachgiebig  sind,  wie  die  Blutgefässe  des  Menschen  (besonders  bei  ge- 
schwächter oder  aufgehobener  ElasticitÄt  derselben),  in  welchem  Falle  die  ab- 
steigenden Röhren  weiter  werden  müssen  als  die  aufsteigenden. 


152  S«  M*  CapUlargeOsM.  AiiAtomisehe  EigenseliAfken  derMlb«ii. 


§.  50.  Capillargefässe.  Anatomisclie  Eigenscliafteii  derselben. 

Durch  die  Entdeckung  des  Kreislaufes  wurde  es  sichergestellt, 
dass  alles  Blut  aus  den  Arterien  in  die  Venen  übergeht.    Die  mikro- 
skopischen Gefösse,  welche  diesen  Uebergang  vermitteln,  waren  aber 
zu  Harvey's  Zeiten  noch  unbekannt.     Die  Alten   hatten  nur  vage 
Vorstellungen  von  ihnen,  und  nannten  sie  TficJäsmi  (von  Opi?,  xpix^^» 
Haar).     Sie  kannten  nämlich  nur  die  feinen  venösen  Verästlungen, 
welche  in  den  Häuten  des  Magens  und  Darmkanals  mit  freiem  Auge 
gesehen  werden  können,  wenn  sie,  wie  es  so  oft  der  Fall  ist,  von 
Blut  strotzen.     Dass   aber   diese   feinen  venösen  Verästlungen,   mit 
ähnlichen  feinen  Verzweigungen  der  Arterien  zusammenhängen,  war 
ihnen  gänzlich  unbekannt.     Erst   der  grosse   Malpighi   entdeckte 
diese  haarfeinen  Uebergangsgefilsse   zwischen  Arterien   und  Venen 
in  der  Froschlunge  (1661),  und  erkannte  ihre  Bedeutung  als  allgemein 
verbreitetes  Zwischenglied   der  arteriellen   und  venösen   Blutbahn. 
Man  nennt  diese  kleinsten  Blutgefässe,  welche  den  Zusammenhang 
zwischen  Arterien  und  Venen  vermitteln:  Capillargefässe  (Vasa 
ccepiUaria).  Der  Uebergang  der  Arterien  in  Venen  durch  die  Capillar- 
gefässe, gab  der  Lehre  vom  Kreislaufe  erst  die  volle  Begründung. 
Bevor  man  diesen  Uebergang  kannte,   liess   man  das  Blut  sich   in 
die  Organe  frei  ergiessen,  stocken,  gerinnen,  und  sich  in  ihre  Sub- 
stanz umwandeln.  So  entstand  schon  zu  Zeiten  der  Alexandrinischen 
Schule    der  noch   immer  gebräuchliche   Ausdruck:    Parenchyma 
(ItX^ü),  ergiessen)  für  Organensubstanz.    Noch  in  den  ersten  Decen- 
nien    unseres    Jahrhunderts ,    wurden    den    Capillargefässen    eigene 
Wandungen  abgesprochen  (Döllinger,  Wedemeyer,  u.  A.).  Man 
hielt  sie  fiir  Gänge,  welche  sich  das  Blut  in  der  organischen  Sub- 
stanz  selbst   gräbt,   und  stellte    sich  vor,   dass    das  Blut   an   allen 
Stellen  dieser  Gänge  austreten,  sicK  neue  Laufgräben  wühlen,  und 
so   zu  jedem  Organtheilchen   gelangen    könne.     Diese   für   die   Er- 
klärung der  Nutritionsprocesse  sehr  bequem  eingerichtete  Annahme, 
musste   mit   all'   ihrem   poetischen  Anhang  über  Umwandlung   und 
Metamorphose    des   Blutes ,    der   auf   dem    Wege    mikroskopischer 
Forschung   sichergestellten  Existenz   der  Wandungen   der  Capillar- 
gefässe weichen. 

Es  lässt  sich  nicht  sagen ,  wo  die  Capillargefässe  beginnen, 
und  wo  sie  endigen,  da  sie  allmälig  aus  den  grösseren  Arterien 
durch  Verjüngung  des  Durchmessers  und  Vereinfachung  der  Wand- 
schichten hervorgehen,  und  ebenso  allmälig  in  immer  grössere  und 
grössere  Venen  übergehen.  Die  Grenzen  des  Capillargefässsystems 
sind  also  mehr  ideal,  als  anatomisch  festgestellt. 


§.60.  d^UlargaflMe.  AnAtomiiehe  BigenMhafton  denelben.  153 

Bis  auf  die  neueste  Zeit  hat  man  die  Wand  der  Capillargefässe 
ftir  structurlos  gehalten^  mit  einfacher  oder  doppelter  Contour,  je 
nach  Verschiedenheit  des  Kalibers,  und  mit  ovalen,  hellen,  meist 
quergelagerten  Kernen,  welche  theils  an  der  inneren  Oberfläche  der 
structurlosen  Membran  aufsitzen,  theils  in  ihrer  Substanz  einge- 
schlossen sind.  Da  traten  gleichzeitig  Eberth  (Sitzungsberichte  der 
Würzburger  phys.  med.  Gesellschaft,  1865),  und  Auerbach  (Bres- 
lauer Zeitung,  1865)  mit  der  bedeutungsvollen  Entdeckung  hervor, 
dass  bei  Injection  von  Höllensteinlösung  (74  Procent),  die  scheinbar 
structurlose  Wand  der  Capillargefässe,  aus  platten,  spindelförmigen, 
meist  der  Ijängsrichtung  der  Capillargefasse  parallelen  Zellen  zu- 
sammengesetzt erscheint,  welche  durch  geschlängelte  dunkle  Linien 
sich  gegen  einander  abgrenzen.  Diese  Linien  sind  nichts  anderes, 
als  die  bei  der  Versilberung  braun  oder  schwarz  sich  förbende 
Zwischensubstanz  der  Zellen.  Die  Capillargefasse  bestehen  somit 
aus  einer  sogenannten  Epithelialmembran,  d.h.  einer  Membran, 
welche  aus  verschmelzenden  Zellen  hervorgegangen  ist.  Die  Umrisse 
der  Zellen  werden  erst  durch  die  Versilberung  kenntlich.  —  In 
manchen  Organen  (Gehirn  und  Netzhaut)  gesellt  sich  zu  der  aus 
Zellen  zusammengesetzten  Membran  der  Capillargefasse,  noch  eine 
äusserst  zarte  UmhüUimgshaut  hinzu,  welche  als  adverUiÜa  captUaris 
bezeichnet  werden  kann.  Wird  der  Durchmesser  der  Capillaren 
grösser,  so  lagern  sich  um  das  Zellenrohr  Spuren  von  Bindegewebs-, 
Muskel-  und  elastischen  Fasern  auf,  welche  gleichsam  die  Vor- 
zeichnung der  in  den  grösseren  Arterien  erwähnten  dreifachen 
Wandschichte  darstellen. 

Die  Capillargefasse  setzen  die  Capillarnetze,  Retia  capülaria, 
zusammen,  welche  in  jeder  Gewebsform  charakteristische  Eigen- 
schaften darbieten.  Diese  hängen  ab  1.  von  der  Weite  der  Capillar- 
gefasse, welche  von  0,002'" — 0,010'"  zunimmt,  und  2.  von  der  Weite 
und  der  Gestalt  der  Maschen  des  Netzes.  Je  gefilssreicher  ein 
Organ,  je  mehr  Blut  es  braucht  und  verarbeitet,  je  reichlicher  es 
absondert,  desto  kleiner  sind  die  Maschen,  und  desto  grösser  der 
Durchmesser  der  Capillargefasse.  In  Organen  mit  einer  bestimmt 
vorwaltenden  Faserrichtung,  sind  die  Maschen  in  derselben  Richtung 
oblong  (Muskeln,  Nerven).  In  Häuten  und  Drüsen  kommen  kreis- 
förmige, und  alle  Arten  eckiger  Maschen  vor.  In  den  Tast-  und 
Geschmackswärzchen,  in  den  Zotten  des  embryonischen  Chorion, 
und  in  den  zottenähnlichen  Vegetationen  an  der  inneren  Fläche 
vieler  Synovialhäute,  gehen  die  capillaren  Arterien  durch  schlingen- 
förmige  Umbeugung  in  capillare  Venen  über. 

Es  giebt  auch  Organe,  z.  B.  die  Schwellkörper  (Corpora 
oavemosa)  der  männlichen  Ruthe  und  der  Clitoris,  in  welchen  ein 
grosser  Theil  der  kleinsten   arteriellen  Geisse  nie   capillar  wird^ 


154  §.  so.  Ca^UftiKefltte.  ABatomisehe  Eigeaselufteii  dwrtelben. 

sondern  immer  noch  relativ  weit,  in  die  gleichfalls  sehr  weiten 
Venenanfänge  einmündet,  welche  die  Lücken  ausfüllen,  die  durch 
die  Kreuzung  des  faserigen  Grundgewebes  eines  Schwellkörpers  ge- 
bildet werden.  Dass  aber  auch  an  anderen  Orten  kleine  Arterien, 
ohne  capillar  zu  werden,  in  Venen  übergehen,  steht  gegen  alle  Ein- 
rede fest.  Ich  habe  diese  wichtige  Thatsache  an  dem  Daumenballen 
der  Fledermäuse,  an  den  Ballen  der  Zehen  und  der  Ferse  bei  den 
Viverren,  in  der  Matrix  des  Pferdehufes  und  der  Klauen  der  Wieder- 
käuer, in  den  Zehen  und  in  der  nackten  Haut  an  der  Wurzel  des 
Schnabels  der  Vögel,  und  jüngst  auch  in  den  Cotyledonen  der 
menschlichen  Placenta  nachgewiesen. 

Ich  habe  nie  gesagt,  dass  der  Stamm  einer  Arterie  in  den  Stamm  einer 
Vene  übergeht  Da  ich  den  betreffenden  Aufsatz  in  einer  englischen  Zeitschrift 
(NaL  Hut.  Review,  1862),  veröffentlichte,  kann  mein  Englisch  von  den  deutschen 
Anatomen  missverstanden  worden  sein.  Ich  wollte  nur  sagen,  dass  der  Ueberg^ng 
der  Arterien  in  Venen  nicht  ausschliesslich  durch  CapUlargefösse ,  sondern  auch 
durch  weitere  GefHsse  als  die  Capillaren  sind,  vermittelt  werden  könne.  Will 
man  diese  weiten  Oefftsse  aber  auch  noch  Capillargef&sse  nennen,  so  hat  der 
Streit  ein  Ende.  Ein  russisches  Fräulein,  welches  in  Bern  zum  Doctor  der  Medicin 
promovirt  wurde,  hat  diesen  Gegenstand  zum  Inhalt  ihrer  Inaugural  -  Dissertation 
gemacht  (Fanny  Berlinerblau,  über  den  directen  Uebergang  von  Arterien  in 
Venen,  Berlin,  1875).  Hieher  g^ehören  auch  die  Beobachtungen  von  Hojer 
(Anat.  Jahresbericht  für  1874,  pag.  176). 

Nie  endigt  ein  CapillargefUss  blind.  Nur  die  in  gewissen 
Schwellkörpern  vorkommenden  gewundenen  Arterienästchen,  welche 
als  Vasa  helicina  Mudleri  in  der  speciellen  Anatomie  der  Geschlechts- 
organe erwähnt  werden,  bilden  eine  Ausnahme  dieser  Regel.  Eben 
so  wenig  geht  je  ein  Capillargefass  in  einen  absondernden  Drüsen- 
kanal über,  oder  mündet  mit  einer  OefFnung  auf  der  Oberfläche 
einer  Membran,  wie  die  Alten  glaubten  (aushauchende  Geftlsse). 

Dass  die  Wände  der  Capillargefilsse  nicht  blos  das  flüssige 
Blutplasma,  sondern  auch  die  geformten  Bestandtheile  des  Blutes: 
farblose  und  rothe  Blutkörperchen,  durch  sich  hindurchtreten  lassen, 
hat  Stricker  (Sitzungsberichte  der  kais.  Akad.  1865)  zuerst  ge- 
sehen, und  später  Cohnheim  (Virchow's  Archiv,  1867,  40.  Bd.), 
durch  die  beweiskräftigsten  Argumente  zu  einer  festgestellten  That- 
sache erhoben.  Schon  früher  hat  F.  Keber  (1854)  in  seinen  mikro- 
skopischen Untersuchungen,  betreffend  die  Porosität  der  Körper,  über 
Poren  der  Capillargefiisswand  gehandelt,  und  die  feinsten  derselben 
von  ,,',j'"  Durchmesser,  sowie  spalt-  oder  ritzförmige  Formen  der- 
selben von  ^'"  Länge  gemessen,  ohne  dass  seinen  Angaben  damals 
von  Seite  der  Mikrologen  viel  Gewicht  beigelegt  wurde.  Stricker 
berichtet  auch  über  Bewegungsphänomene  an  der  Capillargefasswand, 
wie  sie  an  dem  Zellenprotoplasma  früher  (§.  19)  erwähnt  wurden. 
Die  Capillargefksswand  treibt  nämlich  Aeste  hervor,  welche  sich 
wieder  zurückziehen,  oder  bleibend  werden^  sich  verlängern,  hohl 


§.  50.  CftpillargelftsBe.  AnatornfBcbe  EigVBsehaflMi  derselben.  155 

werden,  mit  benachbarten  und  entgegengesetzten  Aesten  ähnlichen 
Ursprungs  zu  Netzen  zusammenfliessen ,  und  so  fein  sind,  dass  sie 
nur  Blutplasma  durchlassen.  Die  Frage,  ob  es  überhaupt  Capillar- 
gefasse  gäbe,  welche  nur  farbloses  Blutplasma,  aber  keine  rothen 
Blutkörperchen  zulassen,  sogenannte  Vcua  serosa  (wohl  zu  unter- 
scheiden von  den  Lymphgefässen,  welche  auch  Vasa  serosa  genannt 
wurden),  muss,  wenigstens  für  das  Auge,  bejahend  beantwortet 
werden.  Wenn  ein  fremder  Körper  uns  in's  Auge  fällt,  röthet  sich 
das  Weiss  im  Auge  plötzlich,  und  man  wird  in  ihm  eine  Unzahl 
feinster  rother  Qefösse  (Capillargefässe)  gewahr,  welche  sich  doch 
gewiss  nicht  im  Augenblick  gebildet  haben  konnten,  sondern  als 
Vasa  serosa  schon  vorhanden  waren,  und  erst  durch  den,  in  Folge 
der  Reizung  stattfindenden  Eintritt  rothen  Blutes  in  sie,  sichtbar 
werden. 

Man  kennt  auch  capillare  Blutbahnen  ohne  alle  Begrenzungs- 
membran. Sie  wurden  als  lacunäre  Blutwege  von  Häckel, 
Leydig  und  Eberth  in  den  Kiemen  der  Crustaceen  aufgefunden. 
Auch  in  der  Menschenmilz  und  in  den  Lymphdrüsen  sollen  sie 
vorkommen. 

Die  feinsten  CapillargefÜisse  haben  so  dünne  und  durchsichtige  Wandungen, 
dass  sie  im  lebenden  Thiere  nur  durch  das  Blut,  welches  sie  enthalten,  dem  An- 
fänger sichtbar  werden.  Es  gehört  grosse  Vertrautheit  mit  mikroskopischen 
Arbeiten  dazu,  leere  Capillargef&sse  zu  untersuchen.  Bei  stärkeren  Capillargefässen, 
deren  Wand  schon  eine  messbare  Dicke  zeigt,  erscheinen  die  Ränder  derselben 
als  Doppellinien.  Die  Entfernung  der  DoppeUinien  eines  Randes  entspricht  der 
Dicke  der  Gefässwand. 

Das  schönste  und  überraschendste  Schauspiel  gewährt  die  Betrachtung  leben- 
diger Capülargefässe  in  durchsichtigen  Organen  niederer  Wirbelthiere.  Man  wählt 
hiezu  am  besten  junge  Kaulquappen,  welche  in  jeder  Pfütze  zu  haben  sind,  und 
in  deren  durchsichtigem  Schweif,  das  Phänomen  des  Kreislaufes  stundenlang  beob- 
achtet werden  kann.  Um  das  Thier^  ohne  es  zu  verwunden,  zu  fixiren,  und  sein 
Herumschlagen  zu  verhindern,  bedeckt  man  es  auf  einer  nassen  Glasplatte  mit 
einem  einfachen  nassen  Leinwandläppchen,  welches  nur  die  Schwanzspitze  hervor- 
ragen lässt.  Auch  die  freien  Kiemen  der  Embryonen  von  Salamandra  aira, 
welche  jedoch,  da  sie  nur  im  Hochgebirge  zu  Hause  sind,  nicht  immer  zu  Gebote 
stehen,  können  hiezu  verwendet  werden.  Das  Phänomen  ist  bei  diesen  Thieren 
noch  herrlicher  als  bei  den  Quappen.  Um  an  der  Schwimmhaut  und  dem  Mesen- 
terium der  Frösche,  oder  an  der  Lunge  der  Tritonen,  Beobachtungen  anzustellen, 
werden  complicirte  Vorrichtungen  zur  Befestigung  des  Thieres  erforderlich,  und 
die  damit  verbundene  Verwundung  des  unglücklichen  Schlachtopfers  auf  dem 
mikroskopischen  Altar  der  Wissenschaft,  lässt  die  Erscheinung  nie  so  rein  auftreten, 
und  nie  so  lange  andauern,  wie  am  unverletzten  Thiere. 

Um  die  Capillarg^fässnetze  der  verschiedenen  Organe  näher  kennen  zu 
lernen,  werden  sie,  von  den  Arterien  aus,  mit  gefärbten  erstarrenden  Flüssigkeiten 
durch  Einspritzung  gefüllt.  Man  bedient  sich  hiezu  entweder  des  gekochten  Leimes 
(Hausenblase),  oder  harziger  Stoffe  in  ätherischen  Oelen,  gewöhnlich  Terpentinöl, 
au^elöst,  mit  einem  Farbenzusatz.  Sehr  gute  Dienste  leistet  gewöhnliche  Maler- 
ikrbe  mit  Schwefeläther  dilnirt  Hanptregel  bei  dieser  Ii\jection  ist  es,  statt  einer 


156  §.  6t.  PhytioloiriBek«  BigenteliafIeD  der  Capillugefftste. 

gfroBsen  Arterie,  lieber  mehrere  kleinere  zu  ii\jiciren,  wodurch  die  Arbeit  zwar  er- 
schwert, aber  der  Erfolg  um  so  mehr  gesichert  wird.  Hat  man  das  Capillargefäss- 
System  eines  Organs,  von  den  Arterien  und  Venen  aus,  wie  ich  es  thue,  mit  ver- 
schieden gefärbten  Injectionsmassen  gefüllt,  so  erhält  man  die  prachtvollsten 
Präparate,  deren  Anfertigung  mir  eine  Lieblingsbeschäftigung  geworden,  und  über 
deren  Bereitung  ich  in  dem  VI.  Buche  meiner  praktischen  Zergliederungsknnst, 
Wien,  1860,  ausführlich  handelte.  Diese  Präparate  werden  jetzt  noch,  jährlich 
zu  Hunderten,  durch  Verkauf  und  Tausch,  in  alle  Welt  verbreitet 


§.51.  Physiologische  Eigenschaften  der  Gapillargefasse. 

Ernährung  und  Stoffwechsel  beruhen  auf  der  Permeabilität  der 
Capillargefasswandungen,  durch  welche  der  flüssige  Bestandtheil  des 
Blutes  den  Gefassraum  verlassen,  und  mit  den  umliegenden  Gewebs- 
theilen  in  unmittelbare  Berührung  treten  kann.  Ist  der  flüssige 
Bestandtheil  des  Blutes  aus  den  Capillargefassen  ausgetreten,  so 
tränkt  er  die  umgebenden  Gewebe,  und  kommt  sofort  auch  zu 
Stellen,  wo  keine  Gapillargefasse  verlaufen.  Der  Mittelpunkt  einer 
Masche  des  Gapillametzes  kann  nur  auf  diese  Weise  durch  Tränkung 
seine  Ernährungsstoffe  beziehen,  und  Gebilde,  welche  keine  Blut- 
gefässe besitzen,  wie  die  Linse,  die  structurlosen  Membranen,  die 
Nägel,  der  Zahnschmelz,  die  Epithelien,  etc.,  sind  deshalb  nicht 
vom  Ernährungsprocesse  ausgeschlossen.  Die  Bewässerung  einer 
Wiese  durch  Gräben,  würde  sich  zu  einem  rohen  Vergleiche  schicken. 

Die  Gapillargefasse  besitzen  Contractilität.  Es  ist  Thatsache, 
dass  das  Lumen  lebendiger  Gapillargefasse  sich  unter  dem  Mikro- 
skope zusehends  ändert,  und  sich  bis  zu  dem  Grade  verkleinert, 
dass  keine  Blutkörperchen  mehr  durch  dieselben  passiren  können 
(Stricker).  Umgekehrt  wird  durch  die  Durchschneidung  der 
Nerven  einer  Gliedmasso  beim  Frosche,  eine  sehr  bedeutende  Er- 
weiterung der  Capillargef&sse  mit  Verlangsamung  der  Blutbewegung 
gesetzt.  Alles  dieses  erklärt  sich  auch  leicht,  aus  der  dem  Proto- 
plasma der  Zellen  der  Capillargefässwand  inwohnenden  Bewegungs- 
fahigkeit. 

Werden  die  Gapillargefasse  durch  irgend  einen  Einfluss,  welcher 
ihre  ( *ontractilität  herabzusetzen  vermag,  erweitert,  so  muss  die 
Schnelligkeit  der  Blutbewegung  abnehmen,  was  auch  umgekehrt 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  gilt.  Man  sieht  die  Blutkügelchen 
träger  durch  die  erweiterten  Capillarröhren  gleiten,  und  an  den 
Wänden  derselben  hinrollen,  während  sie  im  normalen  Mittelzuatande 
der  (xefJlsse,  in  der  Axe  derselben  gleiten,  ohne  zu  rollen,  imd  ohne 
die  Gefasswand  zu  beiiihren.  Bei  grösserer  Abnahme  der  Fort- 
bewegungsgeschwindigkeit ^  tritt  Stockung  mit  dem  Maximum  der 
Erweiterung  ein^  und  ein  rothes  Coagulum^  in  welchem  die  einzelnen 


§.  5S.  y«n«n.  Anatomiiohe  Eigrateluiften  denelben.  157 

Blutkügelchen  schwer  oder  gar  nicht  mehr  zu  unterscheiden  sind, 
verstopft  die  kleinsten  Gefilsse.  Dieses  findet  bei  jeder  Entzündung 
statt.  Die  vis  a  tergo  durch  die  nachdrückende  Blutsäule ,  kann 
auch  Berstungen  solcher  verstopfter  Capillargefasse ,  und  dadurch 
Blutextravasation  bedingen,  als  sogenannte  capillare  Hämor- 
rhagie. 

Das  Blut  strömt  in  den  Capillaren  nicht  stossweise,  wie  in  den 
grösseren  Arterien,  sondern  mit  gleichförmiger  Geschwindigkeit.  Nur 
wenn  Unordnungen  im  Kreislaufe  entstehen,  das  Thier  ermattet, 
oder  seinem  Ende  nahe  ist,  schwankt  die  Blutsäule  unregelmässig 
hin  und  her,  oder  ruht  in  einzelnen  Gewissen,  während  sie  in  an- 
deren noch  fortrückt. 

Jene  Capillargefilsse ,  deren  Durchmesser  kleiner  ist  als  eine 
Blutsphäre,  werden  nur  das  durchsichtige  Plasma  des  Blutes  ohne 
Blutkügelchen  einlassen,  und  nur  dann  sichtbar  werden,  wenn  eine 
abnorme  Erweiterung  derselben  auch  dem  rothen  Blutbestandtheile 
Eintritt  gestattet.  Sie  werden  Vcisa  serosa  genannt,  und  der  Streit 
über  ihre  Existenz  ist  noch  nicht  definitiv  beigelegt. 

Die  Literatur  über  Gapinargefässe  ist  sehr  zahlreich.  Die  schönsten  Ab- 
bildungen der  Capillargefässnetze  gab  Berresj  in  seiner  ,,Anatomie  der  mikroskoj». 
Gebilde".  —  Hasse  und  KöHiker,  über  Capillargefässe  in  entzündeten  Theilen,  in 
Henle  und  Pfeuffer^s  Zeitschrift.  1.  Band.  —  -4.  Platner,  über  Bildung  der  Ca- 
pillargefässe, in  Miiller's  Archiv.  1844.  —  A.  KöUiker,  in  den  Mittheilungen  der 
naturforschenden  Versammlung  in  Zürich.  Nr.  2.  —  J.  Billeter,  Beiträge  zur  Lehre 
von  der  Entstehung  der  Gefässe.  Zürich,  1860.  —  In  Prochaakd*»  disquisitio  ana- 
tomico-phys.  corp.  hum.  Vindob.,  1812,  ist  den  Capillargef&ssen  das  IX.  Capitel 
gewidmet  —  Hia,  über  ein  perivasculäres  Kanalsystem,  in  der  Zeitschrift  für  wiss. 
Zool.  1865.  —  Stricker,  über  Bau  und  Leben  der  capillaren  Blutgefässe.  Wiener 
akad.  Sitzungsberichte,  1865.  —  Eberth,  über  Bau  und  Entwicklung  der  Blut- 
capillaren.  Würzburg,  1865,  und  Virckow's  Archiv,  1868.  —  Chrzonttzczewtky,  ebend. 
1866.  —  Legroa,  sur  Tepithelium  des  vaisseaux  sanguins.  Journal  de  TAnat.  1866. 
—  Stricker y  Sitzungsberichte  der  Wiener  Akad.  61.  und  62.  Bd.  —  HyrÜ,  Ver- 
zeichnisB  mikroskop.  Injectionspräparate.  Wien,  1873.  —  lieber  den  Uebergang 
kleiner  Arterien  in  Venen,  ohne  Vermittlung  von  Capillaren,  schrieb  auch  J.  P.  Sncquel, 
de  la  circulation  dans  les  membres,  etc.  Paris,  1862.  Hieher  gehört  auch  meine 
Abhandlung:  Neue  Wundemetze  und  Geflechte,  im  22.  Bande  der  Denkschriften 
der  kais.  Akad. 


§.  52.  Tenen.  Anatomische  Eigenschaften  derselben. 

Nicht  alle  Venen  führen  venöses  Blut  aus  den  Organen  zum 
Herzen  zurück.  Es  giebt  auch  Venen,  welche  Blut  gewissen  Organen 
zuführen.  Solche  Venen  finden  sich  im  Menschen  nur  als  Pfort- 
ader der  Leber. — Venen,  welche  arterielles  Blut  zum  Herzen  zui'ück- 
fähren,   sind  die  Lungenvenen,    und   die  Nabelvene  des   Embryo. 


158  %  M.  VenM.  AnAtooiisck«  Eifir«nsehafl«n  derselben. 

Indem  der  Blutdruck  in  den  Venen  bedeutend  kleiner  ist  als 
in  den  Arterien,  kommen  den  Venen  viel  dünnere  Wände  zu,  als 
den  Schlagadern.  Die  dünnen  Venenwände  lassen  das  Blut  durch- 
scheinen. Deshalb  sind  volle  Venen  dunkelblau.  Sonst  finden  sich 
in  den  Venen  alle  histologischen  Elemente  der  Arterien,  in  denselben 
drei  Schichten,  als  intima,  media,  und  adventitia.  Allein  die  media 
ist  viel  dünner,  und  überwiegend  aus  Bindegewebsfasern  zusammen- 
gesetzt, welchen  elastische  Fasern  und  glatte  Muskelfasern  nur  in 
verhältnissmässig  geringer  Menge  beigemischt  sind. 

In  wiefern  einzelne  Venen  besondere  Modificationen  ihres  Baues 
darbieten,  ist  nur  bei  einigen  untersucht.  So  besitzen  die  Stämme 
der  Hohl-  und  Lungenvenen,  an  ihren  Einmündungsstellen  in  die 
Vorkammern  des  Herzens,  eine  jsehr  ansehnliche  Schichte  quer- 
gestreifter Kreismuskelfasem,  welche  eine  Fortsetzung  der  Muskel- 
schichte der  Vorkammern  ist,  und  an  den  Venen  des  schwangeren 
Uterus  werden  in  allen  Häuten  derselben  mehr  weniger  entwickelte 
Muskelfasern  gesehen.  In  den  Venen  des  Gehirns,  der  harten  Hirn- 
haut, der  Netzhaut,  in  den  Knochenvenen,  und  in  den  Venen  der 
Schwellkörper,  fehlen  die  Muskelfaseni.  In  der  Pfortader  und  Milz- 
vene dagegen  sind  sie  sehr  reichlich  vertreten. 

Die  geringe  Dicke  der  Yenenwandungen  und  ihr  minderer  Elasticitätsgrad 
bedingt  das  Zusammen^ftllen  durchschnittener  Venen.  Die  Dicke  einer  Arterien- 
wand betr&gt  gfewöhnlich  das  Drei-  bis  Vierfache  einer  gleich  grossen  Vene.  Die 
Schwäche  der  elastischen  Haut  erlaubt  den  Venen  nur  einen  sehr  geringen  Grad 
von  Zurückziehung,  wenn  sie  zerschnitten  werden. 

In  vielen  Venen  der  Gliedmassen,  und  im  Verlaufe  der  Haupt- 
stämme der  Körpervenen,  finden  sich  Klappen,  Valvulär  (von 
valvae,  Thürflügel),  welche  man  sich  durch  Faltung  der  inneren 
Venenhaut  entstanden  denkt.  Sie  stehen  entweder  einfach  am  Ein- 
mündungswinkel eines  Astes  in  den  Stamm,  oder  paarig,  höchst 
selten  auch  dreifach  im  Verlaufe  eines  Stammes,  werden  daher  in 
Astklappen  und  Stammklappen  eingetheilt,  und  sind  so  ge- 
richtet, dass  ihr  freier  Rand  gegen  das  Herz  sieht.  Sie  beschränken 
somit  die  centripetale  Bewegung  der  Blutsäule  nicht,  und  treten 
erst  in  Wirksamkeit,  wenn  das  Blut  eine  retrograde  Bewegung 
machen  wollte.  Es  lassen  sich  deshalb  klappenhaltige  Venen  vom 
Stamm  gegen  die  Aeste  nicht  injiciren.  In  Venen  von  V2'"  Durch- 
messer, kommen  sie  schon  vor,  fehlen  jedoch  allen  Capillarvenen. 
Auch  in  gewissen  grösseren  Venenstämmen  werden  sie  vermisst, 
bis  auf  Spuren,  wie  an  der  Pfortader,  der  Nabelvene,  den  Gehim- 
und  Lungenvenen,  und  allen  Venenverzweigungen,  welche  im  Inneren 
drüsiger  Organe  enthalten  sind.  Jene  Stelle  der  Venenwand,  welche 
von  der  anliegenden  Klappe  bedeckt  wird,  ist  etwas  ausgebuchtet, 
wodurch  gefüllte  Venen  knotig  erscheinen,   und   die   gleichförmige 


$.  58.  VerUnft-  and  VMrtetlaagtftMtM  dar  Venen.  159 

cylindrische  Rundung ,  wie  sie  den  Arterien  zukommt ,  an  ihnen 
verloren  geht.  —  Zum  Verständniss  älterer  anatomischer  Schrift- 
steller, bemerke  ich,  dass  die  Klappen  der  Venen  vor  Zeiten  nicht 
Valvulae,  sondern  Oatiola  hiessen,  welchen  Namen  ihnen  Fabr.  ab 
Aquapendente,  der  Entdecker  derselben,  beilegte  (de  venarum 
ostiolü.  Patav.  1603). 

Die  Klappen  sind  in  der  Regel  dicker  als  die  übrige  Venenwand,  and 
nntersacbt  man  ihren  Bau,  so  stösst  man  anter  dem  einschichtigen  Epithel,  aaf 
eine  aas  elastischen  and  Bindegewebsfitsem  bestehende  Schichte.  Gegen  den  freien 
Band  der  Klappe  zu,  bilden  die  Bindegewebsfasern  dickere  Bündel,  welche  dem 
Klappenrande  parallel  laufen. 


§.  53.  Verlaufs-  und  Veräsüungsgesetze  der  Venen. 

lieber  Verlauf  und  Verzweigung  der  Venen,  lässt  sich  im 
Allgemeinen  Folgendes  sagen : 

1.  Die  Verbreitung  der  Venen  und  ihre  Verästlung  stimmt 
mit  jener  der  Arterien  nicht  genau  überein.  Auffallende  Unter- 
schiede sind: 

a)  An  den  Gliedmassen  treten  eigene  oberflächliche  oder  Haut- 
venen, Venae  subcuianeae,  auf,  welche  extra  fasciam  verlaufen, 
und  von  keinen  Arterien  begleitet  werden.  Nur  die  tiefliegen- 
den Venen  folgen  ihren  gleichnamigen  Arterien,  und  heissen 
deshalb  Comites  oder  SateUitee  arteriarum. 

h)  Die  Venen  des  Halses,  Kopfes  und  Gehirns,  haben  andere 
Verästlungsnormen  als  die  entsprechenden  Arterien. 

c)  Die  grossen  Stämme  der  oberen  und  unteren  Hohlvene,  das 
Pfortader-  und  Lungenvenensystem ,  und  die  Herzvenen,  be- 
gleiten nur  streckenweise  ihre  correspondirenden  Arterien. 

d)  Das  System  der  Vena  azygos  und  die  Venae  dijploeticae  haben 
im  arteriellen  System  gar  keine  Analogie. 

2.  An  den  Extremitäten,  in  der  harten  Hirnhaut,  und  in  der 
Gallenblase,  begleiten  immer  zwei  Venen  eine  Arterie.  An  anderen 
Stellen  bleiben  die  Venen  einfach,  werden  sogar  in  der  Rücken- 
furche des  männlichen  Gliedes,  und  im  Nabelstrange,  von  doppelten 
Arterien  escortirt.  Nimmt  man  nun  zugleich  darauf  Rücksicht,  dass 
das  Volumen  einer  Vene  immer  grösser  ak  jenes  der  begleitenden 
Arterie  ist,  so  wird  die  Capacität  des  Venensystems  jene  des  Arte- 
riensystems nothwendig  übertreffen  müssen.  Nach  Hall  er  verhalten 
sich  beide  Capacitäten  wie  9:4,  nach  Bore  11  i  wie  4:1.  —  Die 
Duplicität  der  Venen  beginnt  an  der  oberen  Extremität  schon  unter 
der  Mitte  des  Oberarms;  —  an  der  unteren  Extremität  aber  erst 
unterhalb  der  Kniekehle. 


160  §•  54.  Phyiiologische  Eigenschaften  der  Venen. 

3.  Anastomosen  kommen  im  Venensystem  häufiger  und  schon 
zwischen  den  grösseren  Stämmen  vor.  Ausnahmslos  anastomosiren 
die  hoch-  und  tiefHegenden  Venen  der  Gliedmassen  durch  Ver- 
bindungskanäle mit  einander.  Die  Anastomosen  spielen  überhaupt  im 
Venensystem  eine  so  wichtige  Rolle,  dass  selbst  bei  vollkommener 
Obliteration  einer  der  beiden  Hohlvenen,  das  Blut  derselben  durch 
Zweigbahnen  in  die  andere  gelangen  kann. 

4.  Treten  mehrere  und  zugleich  gewundene  Venen  durch  zahl- 
reiche Anastomosen  in  Verbindung,  so  entstehen  die  Venengeflechte, 
Plexus  venod.  Sie  sind  um  gewisse  Organe  (Blasenhals,  Prostata, 
Mastdarm,  etc.)  sehr  dicht  genest,  und  engmaschig.  Ihre  höchste 
Entwicklung  erreichen  sie  in  den  Schwellkörpern,  welche  in  der 
That  nichts  Anderes  sind,  als  von  fibrösen  und  muskulösen  Balken 
gestützte,  und  von  fibrösen  Häuten  umschlossene  Plexus  venosi.  An 
Stellen,  wo  die  Arterien  geschlängelt  verlaufen,  bleiben  die  Venen 
mehr  gestreckt,  z.  B.  im  Gesicht. 

5.  Das  Kaliber  einer  Vene  nimmt  nicht  nach  Maassgabe  der 
Aufnahme  von  Aesten  zu.  Nicht  selten  wird  eine  Vene  plötzlich 
weiter,  um  sich  gleich  wieder  zu  verengem  (constant  als  sogenannter 
oberer  und  unterer  Bulbus  ander  Vena  jugvlarü  communis) ;  auch 
ist  die  Inselbildung  häufiger  als  an  den  Arterien. 

6.  Die  Varietäten  der  Venen  verhalten  sich  zu  jenen  der 
Arterien  so,  dass  in  gewissen  Bezirken  die  Venen,  in  anderen  die 
Arterien  häufiger  anomal  verlaufen  oder  sich  verzweigen,  und  eine 
Arterienvarietät  keine  entsprechende  Abweichung  der  betreffenden 
Vene  bedingt.  Dieses  gilt  auch  umgekehrt.  Venen,  denen  keine 
Arterien  correspondiren,  wie  die  Hautvenen,  die  Äzygos  und  Hemi- 
azygos,  varüren  häufiger  als  die  übrigen. 


§.  54.  Physiologische  Eigenschaften  der  Venen. 

Schon  der  Umstand,  dass  die  häufigste  imd  älteste  aller 
chirurgischen  Operationen,  der  Aderlass,  an  einer  Vene  verrichtet 
wird,  macht  die  Lebenseigenschaften  der  Venen  dem  Arzte  wichtig. 
Der  Aderlass  wurde  zuerst  von  den  trojanischen  Helden  Chiron 
und  Melampus  an  einer  cretensischen  Königstochter  gemacht,  und 
mit  der  Hand  der  geheilten  hohen  Patientin  honorirt. 

Die  physische  Ausdehnbarkeit  der  Venen  ist  grösser,  die 
lebendige  Contractilität  derselben  viel  kleiner  als  jene  der 
Arterien.  Aus  diesem  Grunde  sind  die  Volumsänderungen  einer 
Vene,  durch  Stockungen  des  venösen  Kreislaufes,  oder  durch 
stärkeren  Blutantrieb  von  den  Arterien  her,  auffallender  als  an  den 
Arterien.  Man  kann  dieses  an  den  Venen  des  Halses  bei  stürmisch 


$.  64.  PkytiologisclM  EifraBchaflen  der  Venen.  161 

aufgeregter  Respiration ^  oder  bei  Anstrengungen,  sehr  gut  be- 
obachten. Die  Contractilität  der  Venen  reagirt  auf  äussere  Reize 
nicht  so  auffallend,  wie  jene  der  Arterien.  Mechanische  Reizung  und 
Galvanismus  bedingen  zwar,  nach  den  Beobachtungen  von  Tiede- 
mann  und  Bruns,  Verengerungen  der  Venen,  und  der  Einfluss 
der  Kälte  auf  das  Abfallen  strotzender  Hautvenen,  wird  durch  die 
tägliche  ärztliche  Erfahrung  nachgewiesen.  Allein  die  auf  diese 
Weise  erhaltenen  Zusammenziehungen  erfolgen  träger,  und  erreichen 
nie  jenen  Grad,  wie  er  bei  Arterien  vorkommt,  wo  die  Contraction 
das  Gefasslumen  ganz  aufzuheben  (Hunt er),  oder  doch  bis  auf  ein 
Drittel  zu  vermindern  vermag  (Schwann).  Kölliker's  Reizungs- 
versuche an  der  Vena  saphena  major  et  minor,  und  tibialis  postica 
frisch  amputirter  Gliedmassen,  haben  die  Zusammenziehungsföhig- 
keit  dieser  Venen  unbezweifelbar  festgestellt.  An  den  Hohlvenen 
und  Lungenvenen,  in  welche  sich,  wie  früher  bemerkt,  die  Muskel- 
schichte der  Herzvorkammern  fortsetzt,  sind  auch  selbstthätige, 
rhythmische  Contractionen  schon  seit  Hall  er  bekannt,  und  bei  kalt- 
blütigen Thieren  (Fröschen)  sehr  leicht  zu  beobachten. 

Der  mechanische  Nutzen  der  Venenklappen  wurde  früher 
darin  gesucht,  dass  sie  in  Venen,  in  welchen  das  Blut  gegen  seine 
Schwere  strömt,  wie  an  den  unteren  Extremitäten,  der  Blutsäule 
als  Stützen  dienen  sollen,  um  ihr  Rückgängigwerden  zu  verhindern. 
Da  jedoch  nicht  alle  Venen,  in  welchen  das  Blut  gegen  seine 
Schwere  aufsteigt,  Klappen  haben,  z.  B.  die  Pfortader,  und  da 
andere  Venen,  in  welchen  die  Richtung  des  Blutstromes  mit  der 
Gravitationsrichtung  übereinstimmt,  Klappen  besitzen,  z.  B.  die 
Gesichts-  und  Halsvenen,  so  kann  die  Schwere  des  Blutes  allein 
das  Vorkommen  der  Klappen  nicht  erklären.  Es  giebt  uns  vielmehr 
der  Druck,  welchen  die  dünne  Venenwand  von  ihrer  Umgebung, 
und  namentlich  von  den  sich  contrahirenden  Muskeln,  auszuhalten 
hat,  die  einzige  haltbare  Erklärimg  der  Klappenbildung  an  die 
Hand.  Die  Blutsäule  einer  durch  die  angrenzenden  Muskeln  com- 
primirten  Vene,  sucht  nach  zwei  Richtungen  auszuweichen,  centri- 
petal  und  centrifugal  (gegen  das  Herz,  und  vom  Herzen  weg).  Dem 
Ausweichen  in  centripetaler  Richtung  stellt  sich  nichts  entgegen, 
da  das  Venenblut  in  dieser  Richtung  überhaupt  zu  strömen  hat. 
In  centrifugaler  Richtung  ausweichend,  würde  das  Blut  mit  dem  in 
centripetaler  Richtung  heranströmenden  in  Conflict  gerathen,  und 
eine  Stauung  hervorgerufen  werden.  Diese  centrifugale  Richtung 
der  venösen  Blutsäule,  und  die  durch  sie  veranlasste  Stauung,  wird 
durch  die  Klappen  verhütet,  welche  sich  vor  der  centrifugalen 
Blutsäule  wie  zwei  Fallthüren  schliessen,  und  das  Venenlumen  ab- 
sperren. Da  nun  aber,  dieser  Absperrung  wegen,  auch  die  Be- 
wegung   der    centripetal    strömenden    Blutsäule    coupirt    wäre,    so 

Hjrtl,  Lehrbneh  der  Anatomie.  14.  Aufl.  11 


1 62  §•  55.  Praktische  Anwendttogen. 

ergiebt  sich  von  selbst  die  Nothwondigkeit,  dass  alle  tiefliegenden, 
dem  Muskeldrucke  ausgesetzten  Venen,  durch  Abzugskanäle  mit 
den  oberflächlichen,  extra  fasdam  gelegenen,  und  somit  dem  Muskel- 
druck nicht  ausgesetzten  Venen  in  Verbindung  stehen.  —  Gesunde 
Klappen  schliessen  in  den  meisten  Venen  wirklich  so  genau,  dass 
der  Kückfluss  des  Blutes  unmöglich  wird,  und  somit  der  Muskel- 
druck zugleich,  wegen  Bethätigung  der  centripetalen  Blutströmung, 
als  bewegende  Kraft  fiir  die  Bewegung  des  Venenblutes  in  Anschlag 
gebracht  werden  muss.  Aus  dem  Gesagten  lässt  sich  das  anatomische 
Factum  erklären,  dass  nur  die  tiefliegenden,  dem  Muskeldrucke  aus- 
gesetzten Venen,  vollkommen  schliessende  Klappenpaare  besitzen. 
—  Das  hier  Gesagte  gilt  auch  von  den  Klappen  der  Lynaph-  und 
Chylusgefösse  (§.  56). 


§.  55.  Praktische  Anwendungen. 

Wunden  der  Venen,  welche  dem  chirurgischen  Verbände  oder 
den  Compressionsmitteln  zugänglich  sind,  heilen  schnell  und  leicht. 
Die  prompte  Heilung  der  Aderlasswunden  dient  als  Beleg.  Durch- 
schnittene Venen  bluten  nur  aus  dem  vom  Herzen  entfernteren 
Schnittende.  Wird  jedoch  eine  Vene ,  in  welcher  das  Blut  gegen 
seine  Schwere  fliesst,  und  die  zugleich  abnormer  Weise  einen  in- 
Bufficienten  Klappenverschluss  besitzt,  entzweit,  so  kann  sich  Blutung 
auch  aus  dem  oberen  Stücke  der  Vene  einstellen.  Bei  Amputationen 
im  oberen  Drittel  des  Oberschenkels,  wo  die  Vena  cruraUe  nur 
niedrige  oder  keine  Klappen  besitzt,  kommt  solche  Blutung  öfters 
vor,  und  erfordert  sogar,  wo  sie  gefahrdrohend  wird,  die  Unter- 
bindung der  Vene.  —  Jene  Venen,  deren  Wand  mit  benachbarten 
Gebilden  verwachsen  ist  (Knochen-,  Leber,  Schwellkörpervenen, 
u.  a.  m.),  werden,  wenn  sie  verwundet  wurden,  weder  zusammen- 
fallen, noch  sich  selbstthätig  contrahiren,  woraus  die  Gefährlichkeit 
der  Verwundimgen  solcher  Organe,  und  die  Schwierigkeit  der  Blut- 
stillung sich  ergiebt. 

Die  häufigen  Anastomosen  hoch-  und  tiefliegender  Venen  unter 
einander,  werden  bei  Verengerungen,  Verwachsungen,  imd  Com- 
pressionen  einzelner  Venen  durch  Geschwülste,  der  venösen  Blut- 
strömung eine  Menge  von  Nebenschleussen  öffnen,  durch  welche 
dem  Stocken  vorgebeugt,  und  der  Rückfluss  zum  Herzen  auf 
anderen  Wegen  eingeleitet  wird.  Nur  werden  sich  solche  Aushilfs- 
kanäle, der  Grösse  des  übertragenen  Geschäftes  entsprechend  aus- 
dehnen müssen,  und  da  in  der  Regel  die  tiefliegenden  Venen  das 
Hemmniss  erfahren,  so  werden  die  hochliegenden  vorzugsweise  die 
Ausdehnung  zu  erleiden  haben.  Die  Richtigkeit  dieser  Ansicht  wird 


^  65.  Praktisch«  AnweBdanf^n.  163 

durch  die  bisher  übersehene  Einrichtung  der  Klappen  an  den  Com- 
municationsvenen  bewährt,  indem  die,  an  der  Abgangsstelle  einer 
Verbindungsveno  aus  einer  tiefliegenden  befindliche  Klappe,  niemals 
genau  schlicsst,  und  häufig,  wie  im  Ellbogenbug,  vollkommen  fehlt, 
dagegen  an  der  InsertionsöfFnung  in  die  hochliegende  Vene  ganz 
genau  deckt.  Bleibende  Ausdehnungen  subcutaner  Venen  sind  somit 
für  den  denkenden  Arzt  ein  Fingerzeig  auf  Verengerungen  oder 
VerSchliessungen  tiefer  gelegener  Venenstämme. 

Krankhafte  Erweiterungen  (Varices)  kommen  in  solchen  Venen 
häufig  vor,  in  welchen  der  Seitendruck  der  Blutsäule  ein  beziehungs- 
weise grosser  ist,  und  durch  den  Druck  der  Umgebung  nicht  parirt 
wird,  also  in  hochliegenden  Venen,  in  welchen  das  Blut  gegen  die 
Schwere  strömt.  In  den  vom  Herzen  entfernteren  Abschnitten 
längerer  Venen  sind  sie  häufiger  als  in  kürzeren.  Die  Varices  sind 
entweder  einfache  sackartige  Ausdehnungen  einer  bestimmten  Stelle 
der  Venenwand,  oder  befallen  einen  längeren  oder  kürzeren  Abschnitt 
eiaes  Venenrohrs  rfls  Ganzes.  DieVergrösserung  des  Lumens  varicöser 
Venen  ist  in  der  Regel  auch  mit  einer  Zunahme  der  Länge  der 
Vene  verbunden,  welche  sich  durch  Schlängelung,  ja  sogar  Auf- 
knäuelung,  besonders  an  den  subcutanen  Venen  der  unteren  Ex- 
tremität bei  den  sogenannten  Krampfadern  ausspricht.  Vielleicht 
erklärt  die  alternirende  Stellung  der  Astklappen,  welche  der  Aus- 
dehnung weniger  Folge  leisten,  als  die  den  Klappen  gegenüber- 
liegenden Wände  einer  Vene,  die  geschlängelten  Krümmungen  einer 
varicösen  Vene. 

Die  Entzündung  der  Venen  (Phlebitis)  beeinträchtigt,  durch 
ihre  in  die  Wand  der  Venen  abgelagerten  Producte,  das  vitale 
Contractionsvermögen  derselben  ebenso,  wie  in  den  Arterien.  Es 
darf  deshalb  nicht  wundem,  Varices  in  Folge  von  Entzündungs- 
processen  entstehen  zu  sehen,  ohne  jedoch  in  der  Entzündung  das 
einzige  veranlassende  Moment  derselben  zu  suchen.  Die  durch  die 
Entzündung  bedingte  Verdickung  der  Venenwand,  giebt  zugleich 
die  Ursache  ab,  warum  solche  Venen  für  Arterien  imponiren  können, 
und  nicht  zusammenfallen,  wenn  sie  durchschnitten  werden.  Bluten 
überdies  solche  durchschnittene  Venen  noch,  so  ist  die  Täuschung 
noch  leichter  möglich.  Sehr  achtbare  Operateure  gestehen,  Miss- 
griffe  gemacht,  und  nach  Amputationen,  Venen  statt  Arterien  unter- 
bunden zu  haben.  —  Die  Entzündung  der  Venen,  imd  die  mit  ihr 
auftretende,  vielleicht  durch  sie  bedingte  eiterige  Blutentmischung 
(Pyaemia) ,  ist  die  gewöhnliche  Ursache  des  tödtlichen  Ausganges 
von  Verwundungen  und  operativen  Eingriffen.  Wie  sehr  diese  Krank- 
heit von  den  Chirurgen  gefürchtet  wird,  mag  der  Ausspruch  eines 
der  grössten  englischen  Wundärzte  beweisen  (A.  Cooper),  welcher 

in  seinen  Vorträgen   über  die  Phlebitis   die  Worte   aussprach:   „er 

11* 


164  §.66.  Lymph-  und  ChjhugvtUB^  AiutoBiflGli«  EiifentchAften  denelb«n. 

„wolle  sich  lieber  die  Cmralschlagader  als  die  Saphenvene  unter- 
„binden  lassen^.  Wer  beide  Ge&sse  kennt^  wird  es  einsehen^  welche 
Tragweite  dieser  Aeusserung  eines  vielerfahrenen  Wundarztes  zu- 
kommt. 


§.  56.  Lpiph-  und  Ghylusgefasse.  Anatomisclie  Eigenschaften 

derselben. 

Das  Lymphgefäss-  oder  Saugadersystem  ist  kein  selbst- 
ständiges Gefasssystem ,  sondern  ein  Anhang  des  Venensystems^ 
indem  die  Hauptstämme  des  Lymphgefasssystems  in  Venenstämme 
einmünden.  Dasselbe  besteht  l.aus  eigentlichen  Lymphgefässen, 
Vctsa  lymphatica  (von  lympha,  Wasser),  auch  Vasa  aquom,  oder  serosa, 
welche  den  wässerigen  Rückstand  des  durch  die  Capillargefasse  zur 
Ernähnmg  der  Organe  ausgeschiedenen  Blutplasma^  aus  den  Organen 
zurückführen,  und  2.  aus  Chylusgefässen,  Vasa  chylifera  s.  lactea, 
welche  das  nahrhafte  Product  der  Verdauung:  den  Milchsaft, 
Chylus,  aus  dem  Darmkanale  aufnehmen,  und  den  eigentlichen 
Lymphgefössen  übermitteln.  Die  Chylusgefasse  dienen  dem  Thier- 
leibe,  wie  die  Wurzeln  dem  Pflanzenleibe,  und  wurden  deshalb 
auch  poetischer  Weise  „Wurzeln  des  Thieres"  genannt. 

Lt/nipha  bedeutet  klares  Wasser,  und  ist,  trotz  des  griechischen  Klanges, 
ein  echt  lateinisches  Wort  Die  Griechen  kannten  es  nicht  Dasselbe  wird  auch 
Umpha  geschrieben  (obsolet  Unipa,  woher  limpidus  stammt).  Thom.  Bartholin 
führte  den  Aasdruck  Vasa  JymphaHca  in  die  Anatomie  ein  ( Vaaa  lymph,  vn  homine 
inverUa,  Hafii,  1654).  Dieser  Name  ist  seither  allgemein  adoptirt,  zum  wahren 
Aerger  der  Sprachkenner,  welche  wissen,  dass  lyniphalicus  bei  den  Römern 
wahnsinnig  (wasserscheu)  ausdrückte.  —  Chylus  dagegen  ist  urgriechisch,  heisst 
Pflanzensaft,  und  wurde  schon  von  Galen  für  das  durch  die  Verdauung  bereitete 
Nahrungsextract  gebraucht  (d^  atra  bile  L.  L  c  3). 

Die  Structur  der  Wand  der  grösseren  Lymphgefässe,  stimmt 
mit  jener  der  Venen  in  den  Hauptpunkten  überein.  Die  Wände 
der  Lymphgeßlsse  sind  aber  dünner,  als  jene  von  gleich  starken 
Venen.  Sie  besitzen  das  einfache  Plattenepithel  und  die  Längs- 
faserhaut  der  Venen  und  Arterien,  als  Intima.  In  der  Media  prä- 
yaliren  die  Ringmuskelfaseru  über  die  elastischen,  wie  es  in  ganz 
ausgezeichneter  Weise  im  Uauptstamme  des  LymphgefUsssystems, 
im  Ductus  thoracicus,  der  Fall  ist.  Ihre  Adventitia  enthält  longitudinal 
und  schief  verlaufende  Muskelfasern,  und  stimmt  auch  sonst  mit 
jener  der  Venen  vollkommen  überein.  —  Alle  Lymphgefässe  grösseren 
und  mittleren  Kalibers,  sind  mit  einer  grossen  Menge  von  Klappen 
versehen,  welche,  wie  in  den  Venen,  in  einfache  Ast-  und  paarige 
Stammklappen  eingetheilt  werden,  lieber  einem  Klappenpaare  zeigt 
sich    das   Kaliber    des   Ge&sses    nach    zwei    Seiten    ausgebaucht. 


§.  56.  Ljm^h.'  vnd  ChjliuireftsM.  AiuitomMoli«  EifentokAften  deraellMn.  165 

weshalb  in  den  älteren  Abbildungen  die  Lymphgefässe  als  Schnüre 
herzförmiger  Erweiterungen  dargestellt  erscheinen.  Die  Entfernung 
der  auf  einander  folgenden  Klappen  eines  Ge&sses  ist  sehr 
gering,  und  variirt  von  V" — 4'". 

Die  feineren  Lymphgefässe  verlieren  die  Ringmuskelfasern 
der  Media,  behalten  aber  noch  eine  Zeitlang  die  longitudinalen  der 
Adventitia  bei.  Die  spindelförmigen,  durch  geschlängelte  Linien  von 
einander  abgemarkten  Zellen  des  Epithels,  werden  in  den  kleineren 
Lymphgefassen  so  voll  und  hoch,  dass  sie  das  Lumen  derselben 
erheblich  kleiner  erscheinen  lassen,  als  es  nach  dem  äusseren 
Umfang  dieser  Gefasse  zu  vermuthen  wäre.  Li  den  feinsten  Lymph- 
gefassen (Lymphcapillaren)  finden  wir  nichts,  als  eine  Bindegewebs- 
membran  mit  Epithel.  Sie  haben  keine  Klappen,  höchstens  undeut- 
liche Rudimente  derselben,  stellenweise  auch  ringförmige,  niedrige 
Vorsprünge  nach  dem  Lumen  hin.  Die  Klappen  in  den  stärkeren 
Lymphgefassen  sind  jedoch  keineswegs  überall  in  dem  Grade 
sufficient,  dass  sie  die  künstliche  Füllung  der  feineren  und  feinsten 
Lymphgefassverästlungen  vom  Stamme  gegen  die  Aeste,  unbedingt 
zu  verhindern  vermöchten.  Jeder  praktische  Anatom,  welcher  sich 
mit  der  mühevollen  Arbeit  der  LymphgefKss-Injection  beschäftigt 
hat,  wird  mir  hierin  aus  seiner  eigenen  Erfahrung  beipflichten. 

Ueber  die  Anfänge  der  feinsten  Lymphgefässe  wurde  viel 
gestritten.  Gegenwärtig  hat  sich  die  Ansicht  Geltung  verschafft, 
dass  die  capillaren  Lymph-  und  ChylusgefUsse  mit  offenen  Mündun- 
gen in  den  Interstitien  der  Gewebe  ihren  Anfang  nehmen,  wie  die 
Drainageröhren  in  einem  versumpften  Grunde.  Auch  sollen  im 
Verlauf  der  Lymphcapillaren  noch  Oeffnungen  (Stomata)  vorkommen, 
mittelst  welcher  dieselben  frei,  mit  den  einer  eigenen  Wand  ent- 
behrenden Interstitien  im  Gewebe  der  Organe  (Saftkanäle)  ver- 
kehren, so  dass  das  in  diesen  Interstitien  befindliche  Blutplasma, 
nach  Abgabe  seiner  ernährenden  Bestandtheile  an  das  betreffende 
Gewebe,  als  Lymphe  in  die  Lymphcapillaren  einströmen,  d.  h.  von 
ihnen  absorbirt  werden  kann.  —  Netzförmige  Verbindungen  der 
Lymphcapillaren  finden  sich  überall,  —  am  schönsten  in  den  serösen 
Membranen. 

Die  capillaren  Lymphgefössnetze  zeigen  zahlreiche,  von  Stelle 
zu  Stelle  vorkommende  Ausweitungen.  Teich  mann  erklärt  diese 
Ausweitungen  für  Zellen,  und  benennt  sie  auch  als  Saugader- 
zellen, da  er  an  einigen  derselben,  einen  in  ihre  Wand  ein- 
gelassenen ovalen  Kern  mit  Bestimmtheit  erkannte.  —  Wo  die 
Lymphcapillaren  zu  grösseren  Stämmen  zusammentreten,  beginnt 
in  letzteren  die  Klappenbildung.  Die  Klappen  bezeichnen  somit 
die  anatomische  Grenze  des  capillaren  Bereiches  der  Lymphgefässe. 
—  Die  Lymphcapillaren  in  den  derben,  parenchymatösen  Organen 


166  §*67.  yerlaa(lig«setze  der  Lymph-  und  Ckylasgefilsse. 

(Drüsen ,  Muskeln)  sind  viel  schwerer  durch  künstliche  Füllung 
darzustellen,  als  in  den  häutigen  Gebilden  mit  Flächenausdehnung 
(Membranen),  und  deshalb  sind  auch  die  Angaben  über  sie  nicht 
übereinstimmend.  Die  technisch  anatomische  Behandlung  der  Lymph- 
gefilsse,  zählt  überhaupt  zu  den  schwierigsten  Aufgaben  der  prak- 
tischen Anatomie.  Sie  erfordert  mehr  Zeit,  Geduld  und  Geschick- 
lichkeit, als  irgend  eine  andere  anatomische  Hantirung.  Darum 
mögen  in  dieser  Frage  nur  Berufene  mitreden. 
'  In  der  neuesten  Zeit  wurde  von  mehreren  Seiten  (His,  Robin, 
Gillavry)  die  Beobachtung  gemacht,  dass,  wie  bei  den  Reptilien 
gewisse  Blutgefassstämme  innerhalb  grosser  Lymphbehälter  liegen, 
so  auch  bei  den  warmblütigen  Thieren,  und  selbst  im  Menschen,  in 
bestimmten  Organen  die  capillaren  Blutgefässe,  ganz  oder  zum 
grössten  Theil  innerhalb  von  Lymphgeftlssen  lagern,  welche  förmliche 
Scheiden  um  sie  bilden,  so  dass  die  Capillargefässe  ringsum  von  der 
Lymphe  umspült  werden. 

Im  Gehirnmarke,  in  der  Medtdla  ossium,  im  Auge  (mit  Aus- 
nahme der  Netzhaut),  im  inneren  Gehörorgan,  in  der  Placenta,  und 
in  den  Eihäuten  des  Embryo,  konnten  bis  jetzt  selbst  gröbere 
Lymphgefässe  noch  nicht  aufgefunden  werden. 

Die  Ghylasgefösse,  welche  sich  nur  durch  ihren  Inhalt,  nicht  durch  ihren 
Bau  von  den  Lymphgefässen  unterscheiden,  lassen  sich  bei  Thieren,  welche  man 
kurz  nach  der  Verdauung  schlachtet,  in  ihrer  natürlichen  Füllung  durch  den  milch- 
weissen  Chylus,  sehr  gut,  wenn  gleich  nur  für  kurze  Zeit,  beobachten. 

lUtkUngtkauaen,  die  LymphgefEsse,  und  ihre  Beziehung  zum  Bindegewebe. 
Berlin,  1862.  —  C.  Ludwig  und  Schweigger- Seidel,  die  Lymphgefasse  der  Fascien 
und  Sehnen.  Leipzig,  Fol.,  1872. 


§.  57.  Verlaufegesetze  der  Lpiph-  und  Chylusgefässe, 

Folgende  allgemeine  Gesetze  gelten  für  den  Verlauf  der  Lymph- 
und  ChylusgefUsse: 

1.  Die  LymphgefUsse  begleiten  die  grösseren  Blutgefässe,  an 
welchen  sie  sich  wohl  auch  zu  Netzen  verketten,  oder  zu  Convoluten 
verschlingen.  Sie  halten  sich,  wie  Teichmann  gezeigt  hat,  mehr 
an  die  Arterien,  als  an  die  Venen,  und  an  letztere  nur  dann,  wenn 
diese,  wie  es  bei  den  subcutanen  Venen  der  Fall  ist,  nicht  von 
Arterien  begleitet  werden.  Sie  lassen  sich,  je  nachdem  sie  innerhalb 
oder  ausserhalb  der  Fascie  einer  Gliedmasse  verlaufen,  in  hoch- 
imd  tiefliegende  eintheilen.  Beide  verfolgen  mehr  weniger  gerad- 
linige Bahnen.  Nur  der  Uauptstamm  des  Systems,  der  Ductus 
thoracicus,  bildet  vor  seiner  Einmündung  in  die  Vena  imonüncUa 
sinistra,  einen  stärkeren,  nach  oben  convexen  Bogen. 


§.  68.  Bau  der  LymphdrüMii.  167 

2.  Sie  durchlaufen  oft  lange  Strecken,  ohne  Aeste  aufzunehmen, 
und  theilen  sich  zuweilen  in  zwei  Zweige,  welche  sich  wieder  zu 
einem  Stämmchen  vereinigen  (Inselbildung).  An  einem  Präparate 
unserer  Sammlung,  sehe  ich  den  Stamm  des  Ductus  thoradcua  in  eine 
Unzahl  inselbildender  Gänge  zerfallen. 

3.  An  gewissen,  und  immer  an  denselben  Stellen  des  Körpers^ 
welche  gewöhnlich  grössere  Bindegewebslager  enthalten,  wie  die 
Beugeseiten  der  Gelenke,  die  Zwischenmuskelräume ,  etc.,  äussern 
die  Lymphgefösse  ein  Bestreben,  sich  durch  Reduction  ihrer  Zahl 
zu  vereinfachen.  Mehrere  derselben  treten  nämlich  in  eine  sogenannte 
Lymphdrüse,  Glandula  lymphaHca,  ein,  um  in  geringerer  Anzahl 
wieder  aus  derselben  herauszukommen  (Vasa  afferentia  und  efferentia). 
In  der  Regel  linden  sich  mehrere  Lymphdrüsen  in  demselben  Binder 
gewebslager  zusammen,  und  stehen  unter  einander  durch  Zwischen- 
gefasse  in  Verbindung,  wodurch  die  sogenannten  Plexus  lymphaüci 
entstehen.  Die  Gestalt  der  Drüsen  ähnelt  jener  einer  Eichel,  — 
woher  der  Name  Glandula  stammt  (von  glans).  Häufig  ist  sie  auch 
bohnenförmig,  mit  einer  Art  von  Narbe  (HiluSy  richtiger  Häurn^  der 
schwarze  Tupfen  am  concaven  Rande  einer  Bohne),  für  die  ein- 
imd  austretenden  Blutgefässe.  Ich  bemerke  überflüssiger  Weise, 
dass  Haus,  welches  Wort  wir  auch  bei  den  Nieren,  der  Limge,  und 
der  Milz,  wieder  hören  werden,  eigentlich  eine  veraltete  Form  von 
pilus  (Haar)  ist,  wie  der  Ausdruck  ne  hüum  und  nihüum  (nicht  ein 
Haarbreit)  beweist.  —  Die  Grösse  der  Lymphdrüsen  kann  bis  V*  im 
längsten  Durchmesser  steigen.  Je  weiter  vom  Mittelpunkte  des 
Leibes  entfernt,  desto  kleiner  sind  sie,  je  näher  demselben,  desto 
grösser.  Die  aus  einer  Drüse  heraustretenden  Lymphgefasse  suchen 
eine  entlegenere  zweite,  dritte,  vierte  auf,  bevor  sie  in  den  Haupt- 
lymphstamm übergehen.  Ueber  den  Bau  der  Lymphdrüsen  handelt 
der  nächste  Paragraph. 

Während  den  Blatgefäasen  ihr  Verlauf  so  leicht  und  kurz  als  möglich  ge- 
macht wurde,  scheint  die  Natur,  durch  Anbringen  der  zahlreichen  Lymphdrüsen, 
mit  den  Lymphgefössen  die  entgegengesetzte  Absicht  zu  verfolgen,  und  die  Lymphe 
auf  Umwegen  so  langsam  als  möglich  dem  Blute  zuströmen  zu  lassen. 

Der  Durchmesser  der  Lymphgefasse  bietet  nicht  die  grossen  Differenzen, 
von  Weite  und  Enge  dar,  wie  die  Blutgefässe,  d.  h.  die  kleinsten  Lymphgefasse 
haben  einen  grösseren  Durchmesser  als  die  kleinsten  Blutgefässe;  der  Haupt- 
stamm der  Lymphgefasse  dagegen  (Ductus  thoraciauj,  einen  bedeutend  kleineren 
als  die  Hauptstämme  des  Blutgefässsystems  (Aorta,   Venae  cavaej. 


§.  58.  Bau  der  Lymphdrüsen. 

Ueber   kein   Organ   des   menschlichen   Körpers    wurde   in   se 
kurzer  Zeit  so  Vieles  und  so  Verschiedenartiges  vorgebracht,  wie 


168  §.  58.  BftQ  der  Lymphdiftten. 

über  die  Lymphdrüsen.  Allgemein  ausgedrückt,  sind  die  Lymph- 
drüsen die  Bildungsstätten  der  Lymphkörperchen  (§.  65),  welche 
in  dem  Bindegewebsstroma  der  Drüse  alle  Entwicklungsstadien 
durchmachen,  bis  sie  von  dem  die  Drüse  durchsetzenden  Lymph- 
strom aufgenommen  und  fortgeführt  werden. 

Man  huldigte  lange  Zeit  der  Ansicht  Hewson's,  dass  die  ein- 
tretenden Gefasse  einer  Lymphdrüse,  sich  in  ihr  in  Netze  auflösen, 
welche  den  austretenden  ihren  Ursprung  geben.  Das  Lymphgeftlss- 
netz  einer  Lymphdrüse  wurde  demnach  als  Wundernetz  aufgefasst, 
welches,  umsponnen  von  den  CapillargefUssen  der  Drüse,  auf  die 
in  ihm  enthaltene  Lymphe  eine  veredelnde  Wirkung  äussern  sollte 
(Assimilation).  Von  dieser  sehr  einfachen  Vorstellung  ist  man  aber 
schon  längere  Zeit  zurückgekommen,  imd  bekennt  sich  gegenwärtig 
über  den  Bau  der  Lymphdrüsen  zu  folgendem  Credo,  welches 
natürlich  auch  seine  Ketzer  imd  Sectirer  zählt. 

Wie  sich  an  ausgepinselten  Durchschnitten  von  Lymphdrüsen 
des  Gekröses  (Mesenterialdrüsen) ,  welche  in  Chromsäure  gehärtet 
wurden,  sehen  lässt,  besitzt  jede  Lymphdrüse  eine  Bindegewebs- 
hülle, reich  an  organischen  Muskelfasern.  Die  Hülle  sendet  in  das 
Innere  der  Drüse  eine  Anzahl  Fortsätze  ab,  durch  welche  das 
Parenchym  der  Drüse  bis  in  eine  gewisse  Tiefe  in  kleinere,  mit 
freiem  Auge  eben  noch  imterscheidbare  Abtheilungen  gebracht 
wird,  welche  Alveoli  heissen  (Drüsenelemente  bei  Brücke).  Die 
Alveoli  sind  nicht  vollkommen  von  einander  isolirt,  sondern  ver- 
schmelzen gegen  die  Tiefe  hin  mit  einander.  Jeder  Alveolus  besteht 
aus  einem  feinfaserigen  Bindegewebsgerüste  (ReticuLum) ,  dessen 
Maschen  von  dicht  zusammengedrängten  Lymphkörperchen  in  allen 
Zuständen  der  Entwicklung,  vom  einfachen  Kern,  bis  zur  voll- 
ständigen Protoplasmazelle ,  eingenommen  werden.  Die  Kerne  liegen 
mehr  in  der  Mitte  der  Alveoli,  die  fertigen  Zellen  nach  der  Ober- 
fläche, besonders  aber  gegen  die  gleich  zu  erwähnende  Marksubstanz 
der  Drüse  hin.  Die  Summe  sämmtlicher  Alveoli  bildet  die  so- 
genannte Rindensubstanz  der  Lymphdrüsen.  Sie  imterscheidet 
sich  durch  ihre  weissliche  Farbe  (bedingt  durch  Gefassarmuth)  und 
ihre  Consistenz,  von  der  weichen,  röthlichen  und  geiUssreichen 
Marksubstanz  der  Drüse.  Was  man  nun  Marksubstanz  nennt, 
ist  gleichfalls  ein  eigenthümliches  Gerüste  oder  Gebälke,  dessen 
nicht  aus  Bindegewebe,  sondern  aus  Zellen  (Lymphkörperchen) 
aufgebaute  Balken:  Zellenbalken  heissen.  Zwischen  den  Zellen- 
balken müssen  nothwendig  Räume  übrig  bleiben,  welche  ein  wahres 
Labyrinth  von  Gängen  bilden,  durch  welche,  das  ist  gewiss,  die 
Lymphe  der  Vasa  inferentia,  in  die  Vasa  efferentia  übergeht, 
während  dieses  Ueberganges  einzelne  Zellen  von  den  Zellenbalken 
ablöst,  und  mit  sich   als  Lymphkörperchen  fortfUhrt.  So  weit  wäre 


§.  69.  PhTtiologiache  und  pnktitoke  B«iiierkiing«iu  169 

alles  richtig.  Die  Meinimgsdifferenzen  beginnen  erst  mit  der  Beant- 
wortung der  Frage,  ob  die  Räume ,  durch  welche  die  Lymphe  der 
zufuhrenden  Lymphgefasse  in  die  abführenden  überströmt,  eine 
eigene  Wand  besitzen,  oder  ob  sie  sogenannte  wandlose  Gänge  sind, 
d.  h.  solche,  deren  Wand  nur  durch  die  Zellenbalken,  nicht  durch 
eine  Membrana  propria  gebildet  wird.  In  diese  Streitfrage  näher 
einzugchen,  kann  nur  für  Jene  Interesse  haben,  welche  sich  mit 
der  Anatomie  der  Lymphdrüsen  eingehend  beschäftigen  wollen.  Es 
steht  ihnen  dazu  die  bimtscheckigste  Literatur  zu  Gebote,  auf 
welche  ich,  um  Raum  für  Nützlicheres  zu  sparen,  hiemit  verweise, 
Sie  findet  sich  in  dem  ausgezeichneten  Artikel  von  Recklings- 
hausen: das  Ly mphgefUsssystem ,  in  Stricker's  Gewebslehre, 
9.  Cap.,  zusammengetragen.  An  Widersprüchen  in  den  Angaben 
eines  und  desselben  Autors  fehlt  es  wahrlich  nicht,  weil  sich  der- 
selbe zuweilen  in  seinem  eigenen  Garten  verirrt.  Die  oben  erwähnten 
Räume,  durch  welche  der  Weg  von  den  zufuhrenden  zu  den  ab- 
fuhrenden Lymphgefassen  der  Drüsen  fuhrt,  enthalten,  frei  in  ihrer 
Axe,  wirkliche  Bindegewebsbalken,  welche  mit  den  Zellenbalken 
durch  zahlreiche  Fortsätze  in  Verbindung  stehen.  Zwischen  diesen 
Fortsätzen  muss  sich  der  Lymphstrom  durcharbeiten.  Diese  Ein- 
richtung hat  vor  der  Hand  den  unverkennbaren  Nutzen,  den  Lymph- 
bahnen, welche  nur  von  weichen  Zellenbalken  begrenzt  werden, 
mehr  Halt  zu  geben,  damit  sie  sich  bei  Stauungen  der  Lymphe 
nicht  abnormer  Weise  erweitern  können.  —  Es  soll  noch  einen 
zweiten  Uebergang  zwischen  zu-  und  abführenden  Lymphgefassen 
einer  Drüse  geben.  Man  will  nämlich  zwischen  der  contractilen 
Hülle  der  Drüse,  und  ihrer  Corticalsubstanz,  Hohlräume  beobachtet 
haben,  in  welche  sich  zufuhrende  Lymphgef&sse  ergiessen,  und  aus 
welchen  abführende  Gefasse  hervorgehen. 

H,  Frey,  die  Lymphdrüsen  des  Menschen  und  der  Säogethiere.  Leipzig, 
1861.  —  Sehr  ausführlich,  wenn  anch  nicht  sehr  klar,  wird  über  die  Stractor 
der  Lymphdrüsen  von  Brücke  gehandelt,  in  dessen  phjsiol.  Vorlesungen.  1.  Bd. 
pag.  195. 


§.59.  Physiologische  und  praktische  Bemerkungen. 

Man  hält  die  Lymphdrüsen  für  die  Bildungsstätten  der  Lymph- 
körperehen. Da  nun  aber  Lymphgefasse,  welche  noch  durch  keine 
Lymphdrüsen  passirten,  schon  in  ihrer  Lymphe  Lymphkörperchen 
enthalten,  so  müssen  diese  auch  anderswo,  als  in  den  Lymphdrüsen 
entstehen  können.  Die  Organe,  wo  dieses  geschehen  soll,  sind  nach 
Brücke,  die  in  der  speciellen  Anatomie  als  Peyer'sche  Follikel 
und  ihre  Verwandten,  bekannten  Gebilde.    Er  bezeichnet  dieselben 


170  I*  68*  Phytiok»gische  nnd  praktische  Bemerknagen. 

deshalb  als  peripherische  Lymphdrüsen.  Hier  wird  es  gut 
sein^  Folgendes  zu  bemerken.  Wir  wissen^  dass  die  capillaren  Blut- 
gefässe^ die  im  Blute  enthaltenen  Lymphkörperchen  (farblose  Blut- 
körperchen) durch  sich  hindurchtreten  lassen.  Dadurch  kommen 
diese  Körperchen  in  die  interstitiellen  Gewebsräume  der  Organe, 
aus  welchen,  wie  wir  gleichfalls  wissen,  die  Lymphgefilsse  mit 
offenen  Mündungen  ihren  Ursprung  nehmen.  Wir  brauchen  also  keine 
peripherischen  Lymphdrüsen,  um  das  Vorkommen  von  Lymph- 
körperchen  in  den  Lymphgefflssen,  welche  noch  keine  Lymphdrüsen 
passirt  haben,  zu  erklären.  Auch  wurde  früher  angegeben,  dass 
viele  feinere  Blutgefässe  innerhalb  bewandeter  Lymphbahnen  liegen; 
die  Lymphkörperchen  des  Blutes  also,  nach  ihrem  Austritt  durch 
die  Capillargefässwand ,  gleich  in  die  umgebenden  Lymphbahnen 
gelangen  müssen. 

Die  wichtigste  Lebenseigenschaft  der  Lymph-  und  Chylus- 
gefässe  liegt  in  ihrer  Contractilität.  Diese  ist  allgemein  als  bewegendes 
Moment  ihres  Lihaltes  anerkannt.  Nach  J.Müller  stellten  sich  am 
entblössten  Ductus  tkoradcas  einer  Ziege,  auf  starken  galvanischen 
Reiz,  Zusammenziehungen  ein.  Henle  sah,  unter  Anwendung  des 
Rotationsapparates,  Contractionen  des  Ductus  thoradcua,  an  einem 
mit  dem  Schwert  gerichteten  Verbrecher  entstehen,  und  an  den  mit 
Chylus  gefüllten  Saugadem  des  Gekröses  lebender  Thiere,  wurden 
sie  von  vielen  Beobachtern  gesehen.  In  gewissen  Lymphreservoiren 
der  Amphibien  und  Vögel  treten,  mit  der  Entwicklung  einer  sehr 
deutlichen  Muskelschichte,  selbst  rhythmische  Contractionen  und 
Expansionen  auf,  weshalb  man  diese  pulsirenden  Lymphbehälter 
auch  Lymphherzen  nannte. 

Die  physiologische  Bestimmimg  der  Lymphgefflsse  zielt  dahin, 
die  aus  den  Capillargefassen  ausgetretenen  flüssigen  Bestandtheile 
des  Blutes,  nachdem  sie  den  Ernährungszwecken  gedient,  durch 
Aufsaugung  (ÄbsorpHo)  wieder  in  den  Kreislauf  zu  bringen.  Aus- 
scheidung durch  die  Capillargefflsse,  und  Aufsaugung  durch  Lymph- 
gefässe,  müssen  bei  normalen  Zuständen  gleichen  Schritt  halten.  Es 
lässt  sich  leicht  einsehen,  auf  wie  vielerlei  Weise  dieses  Gleichheits- 
verhältniss  gestört  werden  könne.  Führen  die  Lymphgefässe  weniger  ab, 
als  die  CapillargefUsse  ausschieden,  so  muss  das  Ausgeschiedene  sich 
stagnirend  anhäufen,  wodurch  wässerige  Anschwellung  (Oedema), 
oder   in   höheren   Graden   Wassersucht   (Hydrops)   gegeben  wird. 

In  der  absorbirenden  Thätigkeit  der  Lymphgefflsse  liegt  eine 
fruchtbare  Quelle  ihrer  häufigen  Erkrankungen.  Nehmen  sie  reizende, 
schädliche  Stoffe  auf,  gleichviel  ob  sie  im  Organismus  erzeugt,  oder 
durch  Verwundung  demselben  einverleibt  wurden  (vergiftete  Wunden, 
wohin  auch  die  bei  Leichenzergliederung  entstandenen  Verwundungen 
gehören),  so  können  sie  sich  entzünden,  die  Entzündung  den  Lymph- 


).  59.  Physiologische  and  praktische  BenerkangeD.  171 

drüson  mitthcilen,  und  Anschwellungen^  Verstopfungen,  Verhärtungen, 
und  Vereiterungen  derselben  bedingen,  wie  z.  B.  die  Bubonen,  als 
Entzündungen  und  Vereiterungen  der  Leistendrüsen,  durch  das  von 
den  Lymphgefassen  der  Geschlechtstheile  zugeführte  venerische 
Gift.  Da  sich  zu  vergifteten  Wunden  auch  häufig  Entzündung  der 
Venen  gesollt,  deren  Folgen  so  oft  lethaler  Natur  sind,  so  ist  ihre 
Gefthrlichkeit  evident.  Mehrere  Anatomen,  wie  Hunter,  Hun- 
czowski,  und  mein  geehrter,  der  Wissenschaft  zu  früh  entrissener 
College  Eolletschka,  starben  in  Folge  von  Inoculirung  des  Leichen* 
giftes  durch  Sectionswunden. 

Ein  merkwürdiger  und  in  praktischer  Beziehung  wenig  ge- 
würdigter Antagonismus  herrscht  zwischen  der  Absorption  der  Lymph- 
und  Chylusgefösse.  Bei  Thieren,  welche  lange  hungerten,  findet 
man  die  Lymphgefilsse  von  Flüssigkeit  strotzend,  die  Chylusgefässe 
dagegen  leer,  und  bei  einem  nach  reichlicher  Fütterung  getödteten 
Thiere,  zeigt  sich  das  Gegentheil.  Interstitielle  Absorption  kann 
sonach  durch  Hunger  gesteigert  werden,  während  in  jenen  Krank- 
heiten, wo  sie  herabgestimmt  werden  soll,  karge  Diät  vermieden 
werden  muss.  Bei  Thieren,  welche  durch  reichliche  Blutentziehung 
getödtet  werden,  findet  man  die  Lymphgefilsse  voll,  und  die  Steige- 
rung der  Absorption  durch  Aderlässe,  ist  auch  in  der  medicinischen 
Praxis  bekannt.  Man  könnte  diese  Erscheinung  so  auffassen  und 
erklären,  als  beeilten  sich  die  Lymphgefilsse,  den  Verlust  zu  ersetzen, 
welchen  das  GefUsssystem  durch  Blutentziehungen  erlitt.  Dass  die 
Blutentziehungen  zugleich  das  Austreten  des  Blutplasma  aus  den 
Capillargefassen  erschweren,  ist  eine  nothwendige  Folge  der  ver- 
ringerten Capacität  der  Blutgefässe,  und  der  damit  verbundenen 
Dichtigkeitszimahme  ihrer  Wände. 

Die  Lymphe  der  austretenden  Gefässe  einer  grösseren  Lymph- 
drüse, unterscheidet  sich  von  jener  der  eintretenden,  durch  ihre 
röthere  Färbung  und  grössere  Neigung  zur  Coagulation.  Die  Lymphe 
muss  somit  während  ihres  Durchganges  durch  eine  Lymphdrüse, 
faserstoffreicher  geworden  sein,  und  rothes  Pigment  aufgenommen 
haben.  Dass  beides  durch  Vermittlung  der  Blutgefässe  geschieht, 
welche  sich  in  den  Alveoli  einer  Lymphdrüse  verästeln,  versteht 
sich  von  selbst.  Man  bezeichnet  diese  Veränderung,  durch  welche 
die  Lymphe  dem  Blute  an  Farbe  und  Mischung  ähnlicher  wird, 
in  der  alten  Medicin  mit  dem  Namen  der  Assimilation. 

Die  Geschichte  des  lymphatischen  Gefasssystems  bildet  eines  der  inter- 
essantesten Capitel  der  Geschichte  der  Anatomie.  Deshalb  hier  ein  Bruchstück 
aus  derselben.  —  Die  Vota  ch^lifera,  welche  in  ihrer  natürlichen  Füllung  mit 
dem  milchweissen  Chylus  bei  Thieren,  die  in  der  Yerdauungszeit  getödtet 
werden,  leicht  zu  sehen  sind,  wurden  weit  früher  entdeckt,  als  die  Vtua  lyra- 
phatica,  deren  wässeriger  und  farbloser  Inhalt,  sie  nur  schwer  auffinden  lässt 
Herophilus,  welcher,    wie  im    §.14  erwähnt  wurde,   lebende  Verbrecher  secirt 


172  |.  59.  PhysiologiBche  and  praktisch«  Benerkangen. 

haben  boU,  hat  im  Gekröse  dieser  Unglücklichen,  die  Chylnsgefasse  zuerst  ^• 
sehen.  Die  in  demselben  Paragraph  citirte  Stelle  aus  Galen,  giebt  Zeugniss 
dafiOr.  Er  nannte  sie  Venae  propriae  meaenterü,  mid  kannte  auch  ihren  Eintritt 
in  die  Lymphdrüsen  des  Mesenterium  (glandulota  quaedam  corporaj.  Bis  in  das 
17.  Jahrhundert  blieb  diese  Stelle  im  Galen  den  Anatomen  räthselhaft  und  un- 
verständlich, da  keiner  derselben,  ungeachtet  der  häufig  yorgenommenen  Zer- 
gliederungen lebender  Thiere,  die  Chylusgefässe  wieder  gesehen  hat.  Da  kam 
ein  Liebling  der  Götter  des  anatomischen  Olymps  daher,  Prof.  Gasparo  Aselli 
zu  Pavia,  welcher  am  23.  Juli,  1622,  bei  der  Vivisection  eines  Hundes,  diese  Ge- 
fässe,  von  weissem  Chylus  strotzend,  im  Gekröse  als  tenuissimos  candidi8simo»que 
funiculoB  neuerdings  auffand.  Er  hielt  sie  anfangs  für  Nerven.  Als  er  aber  die 
wirklichen  Nerven  des  Gekröses  neben  den  fraglichen  weissen  Strängen  verlaufen 
sah,  schnitt  er  einen  derselben  durch,  sah  den  Chylus  aus  demselben  ausströknen, 
und  rief  in  freudiger  Ueberraschung  seinen  anwesenden  Freunden  das  Archi- 
medische El>pi]xa  zu,  denn  die  mysteriöse  Stelle  des  Galen  hatte  nun  endlich 
durch  ihn  ihr  Yerständniss  gefunden.  Die  Venae  propriae  mesenterii  waren  die 
absorbirenden  Chylusgefässe !  —  Er  verfolgte  sie  bis  in  die  grosse  Lymphdrüse 
in  der  Wurzel  des  Gekröses,  welche  er  aber,  ihres  Ansehens  wegen,  für  ein 
Pancreas  hielt,  weshalb  diese  Drüse,  welche  ein  Agg^gfat  von  Lymphdrüsen  ist, 
und  bei  den  meisten  fleischfressenden  Säugethieren  vorkommt, '  noch  in  unserer 
Zeit  von  den  vergleichenden  Anatomen  Pancreas  AselU  genannt  wird.  Da  er 
aber  auch  zahlreiche  Lymphgefässe  zwischen  der  Leber  und  dem  Pancreas  Aselli 
antraf,  verfiel  er  in  den  Lrrthum  zu  glauben,  dass  diese  LymphgefKsse  den  Chylus 
vom  Pancreas  zur  Leber  führen,  damit  er  dort  in  Blut  umgewandelt  werde,  wie 
denn  damals  die  Galen*sche  Lehre,  dass  die  Leber  das  blutbildende  Organ  sei 
(haematopciSseos  organon)  noch  allgemeine  Geltung  hatte.  Im  Menschen  hat 
Aselli  die  Chylusgefässe  nicht  gesehen.  Dort  wurden  sie  durch  die  Aerzte  in 
Aix  (Aquae  SexUaeJ,  1628,  an  einem  Hingerichteten  aufgefunden.  —  Im  Jahre 
1649  entdeckte  Jean  Pecquet,  Arzt  zu  Dieppe,  das  von  ihm  als  JßeceptoctcZttm 
chi/U  benannte  Reservoir  an  der  Lendenwirbelsäule.  Er  zeigte,  dass  die  Viua 
chylifera  sich  nicht  in  die  Leber  begfeben,  wie  Aselli  glaubte,  sondern  in  diesen 
Behälter  einmünden,  welcher  durch  den  Ductus  thorackus  mit  dem  System  der 
oberen  Hohlader  in  Zusammenhang  steht.  Dieses  wurde  durch  Untersuchungen 
an  Thieren  sichergestellt,  und  durch  Olaus  Rudbeck,  1650,  auch  im  Menschen 
bestätigt  Pecquet*s  Schrift:  Experimenta  nova  anoL,  etc.,  Paris,  1651,  nennt 
Hall  er:  nobile  opus,  inter  praecipua  seculi  decora.  Und  sie  verdient  diese  Ehre, 
denn  durch  sie  war  ein  neues  Gefässsystem  der  Anatomie  geschenkt,  welches  auch 
ein  neues  Licht  über  die  Vorgänge  des  Blutlebens  und  der  Ernährung  ver- 
breitete. —  Die  eigentlichen  LymphgefKsse ,  welche  keinen  Chylus ,  sondern 
Lymphe  führen,  wurden  in  der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  fast  gleichzeitig  durch 
den  Schweden  O.  Rudbeck,  den  Dänen  Th.  Bartholin,  und  den  Engländer 
Jolivius  (Joliflf)  in  den  verschiedenen  Organen  des  menschlichen  Leibes  auf- 
gefunden, und  dadurch  die  Lehre  von  diesen  Gefässen  in  ihrem  ganzen  Umfang 
begründet,  so  dass  es  Hewson  (1774),  Cruikshank  (1786),  und  vorzüglich 
P.  Mascagni  (1784)  ermöglicht  wurde,  eine  erschöpfende  Darstellung  des  lym- 
phatischen Gefässsystems  zu  geben.  (Siehe  Literatur,  §.  433).  Das  Andenken  an 
Aselli,  als  Gründer  dieser  Lehre,  hat  die  Universität  Pa via  durch  die  Errichtung 
eines  Marmordenkmals  in  ihren  Hallen  verewigt.  Sein  Werk:  De  lactihus  a.  lacleis 
venis,  kam  efst  nach  seinem  Tode  zu  Mailand,  1627,  heraus. 


$.  GO.  BUt.  MlkrotkopiBcha  üntenncliiing  denelben.  173 


Inhalt  des  Gefässsystems« 

§.  60.  Blut  Mikroskopische  üntersuchuiig  desselben. 

Obwohl  die  praktische  Anatomie  über  und  über  mit  Blut  zu 
thun  hat^  betrachtet  sie  dennoch  dieses  Fluidum  nicht  als  ein  ihr 
zuständiges  Object  der  Untersuchung.  Sie  hat  dasselbe  der  Physio- 
logie ganz  und  gar  anheimgestellt.  In  den  Schriften  der  letzteren 
Wissenschaft  ist  demnach  Ausführlichkeit  über  alles  dasjenige  zu 
suchen,  was  die  hier  folgenden  Paragraphe,  im  Bewusstsein  ihrer 
Nichtberechtigung,  nur  in  Umrissen  andeuten. 

Das  Blut,  Sangvia  («V«),  ist  jene  rothe,  gerinnbare,  schwach 
salzig  schmeckende,  und  Spuren  einer  alkalischen  Reaction  zeigende 
Flüssigkeit,  welche  in  eigenen  Gefassen  und  in  beständiger  Bewegung 
zu  und  von  •  den  Organen  strömt.  Die  heilige  Schrift  nennt  das 
Blut  den  flüssigen  Leib,  welcher  Ausdruck  nicht  actu,  sondern 
poteniia  zu  nehmen  ist,  indem  das  Blut,  als  allen  Organen  gemein- 
schaftlicher Nahrungsquell,  die  Stoffe  enthält,  aus  welchen  die 
Organe  sich  erzeugen  imd  ernähren.  Im  5.  Buche  Moses,  cap.  12 
heisst  es:  „Das  Blut  ist  die  Seele,  darum  sollst  Du  die  Seele  nicht 
„mit  dem  Fleische  essen".  —  Die  Menge  des  Blutes  im  vollkommen 
ausgewachsenen  Menschen  von  circa  150  Pfund  Gewicht,  kann  auf 
11  bis  12  Pfund  angeschlagen  werden. 

In  seinem. lebenden  Zustande  beobachtet,  was  nur  an  durch- 
sichtigen Theilen  kleiner  Thiere  möglich  ist,  lässt  uns  das  Blut 
einen  festen  oder  geformten,  und  einen  flüssigen  Bestandtheil 
unterscheiden. 


a)  Fester  Bestandtheü  des  Blutes. 

Den  festen  oder  geformten  Bestandtheil  des  menschlichen 
Blutes  bilden  zwei  Arten  von  sogenannten  Blutkörperchen:  die 
rothen  und  die  farblosen.  Beide  schwimmen  im  flüssigen,  wasser- 
hellen und  durchsichtigen  Blutliquor,  Plasma  sanguinis. 

Die  von  Swammerdam  zuerst  beim  Frosch  (1658),  und  hier- 
auf von  Leeuwenhoek  beim  Menschen  (1673)  entdeckten  rothen 
Blutkörperchen,  werden  unpassend  Globvli  s.  Sphaerulc^  sanguinis 
genannt,  indem  sie  keine  Kugeln,  sondern  kreisrunde  (nur  beim 
Kameel  und  LIama  elliptische),  das  Licht  doppelt  brechende  Scheiben 
darstellen,  deren  Flächen  nicht  plan,  sondern  derart  gehöhlt  sind, 
dass  die  Scheibe  biconcav  erscheint.  Der  Flächendurchmesser  der- 
selben   beträgt    im    Mittel    0,0077"'    (Welcker),    nach    Anderen 


174  $.  Mt.  BlaL  Mikroskopische  Uotennchnng  desselben. 

Vi26  Mm.,  und  der  Dickcndurchmesser  ungeßihr  ein  Viertel 
davon.  Bei  allen  Säuge thieren  sind  sie  kleiner;  nur  beim  Seehund 
ebensogross  wie  im  Menschen.  —  Der  von  Einigen  in  den  Blut- 
körperchen gesehene  Kern  (Nasse),  existirt  in  der  That  an  gttnz 
frischen  Blutkörperchen  der  Säugethiere  und  des  Menschen  nicht. 
An  den  elliptischen  Blutkörperchen  der  Amphibien  tritt  er,  besonders 
unter  Anwendung  von  Jodtinctur,  sehr  deutlich  hervor.  —  Aus  den 
Gefässen  herausgetretene  Blutkörperchen,  verlieren  ihre  glatte  Ober- 
fläche, werden  höckerig,  und  schrumpfen  ein. 

Im  Blute  des  erwachsenen  Menschen  kreisen  60  BiNionen 
Blutkörperchen  (Vierordt).  Wer  an  der  Richtigkeit  dieser  Ziffer 
zweifelt,  möge  nachzählen.  Im  vorgerückten  Alter,  und  in  gewissen 
Krankheiten,  z.  B.  in  der  Bleichsucht,  nimmt  diese  Menge  bedeutend 
ab.  —  Man  negirt  gegenwärtig  allgemein  die  Zellennatur  der  Blut- 
körperchen, und  erklärt  sie  geradezu  fiir  Protoplasmaklümpchen, 
deren  weiche  Masse  mit  Blutroth  getränkt  ist,  und  keine  darstell- 
bare Begrenzungshaut  besitzt.  —  Das  Protoplasma  der  rothen  Blut- 
körperchen ist  ein  in  Wasser  unlöslicher,  in  Säure  und  Alkalien 
aber  löslicher  Eiweisskörper,  welcher  mit  dem  krystallisirbaren 
Hämatoglobin ,  und  dem  eisenhaltigen  Hämatin,  sowie  mit  Kali- 
salzen (besonders  phosphorsaurem  Kali)  durchdrungen  ist.  —  Das 
Hämatin  soll,  den  neuesten  Untersuchungen  zufolge,  nicht  als  solches 
in  den  rothen  Blutkörperchen  enthalten  sein,  sondern  sich  erst 
durch  die  Einwirkung  von  Säuren  aus  ihnen  herausbilden.  Wir 
wissen,  dass  dasselbe  der  Träger  des  im  Blute  vorhandenen  Eisens 
ist;  denn  die  Asche  des  Hämatins  giebt  10  pCt.  Eisenhyperoxyd. 
Wie  das  Eisen  im  Hämatin  vorkommt,  ist  zur  Stunde  noch  nicht 
mit  Sicherheit  eruirt.  Durch  chemische  Reagentien  lässt  sich  sein 
Vorhandensein  im  frischen  Blute  nicht  constatircn,  wohl  aber  gelingt 
es,  dasselbe  in  metallischer  Form  aus  der  Blutasche  zu  erhalten. 
—  Sichergestellt  im  Menschen-  und  Säugethierblut,  aber  nicht  er- 
klärt, ist  das  Vorkommen  sternförmiger  Blutkörperchen,  welche 
zuerst  im  Blute  von  Typhuskranken  gesehen  wurden,  aber  mit  dem 
Typhus  in  keinem  causalen  Nexus  stehen,  da  sie  bei  kerngesunden 
Menschen,  und  zwar  häufig  genug  vorkommen.  Nur  so  viel  steht 
fest,  dass  die  sternförmigen  Blutkörperchen,  aus  den  rothen  scheiben- 
förmigen hervorgehen. 

Die  farblosen  Blutkörperchen  sind  im  Menschenblut  grösser 
als  die  rothen,  bei  den  Thieren  mit  elliptischen  Blutkörperchen 
jedoch  (Vögel,  Amphibien,  und  Fische)  kleiner.  Das  feinkörnige 
Protoplasma  ihres  Leibes  schliesst  ein  oder  mehrere  rundliche  Kerne 
(mit  Kemkörperchen)  ein.  Zuweilen  bietet  ihre  Oberfläche  ein 
granolirtes  Ansehen  dar.  Das  granulirte  Ansehen  tritt  an  kleineren 
Körperchen  dieser  Art  deutlicher  hervor  als  an  grösseren.  Sie  sind, 


§.  60.  Blot  Mikroskopische  Üntersochnng  dosselben.  175 

ihres  Fettgehaltes  wegen,  specifisch  leichter  als  die  rothcn  Blut- 
körperchen. Ihr  quantitatives  Verhältniss  zu  den  rothen  Blut- 
körperchen scheint  ein  sehr  variables  zu  sein.  Die  Angaben  der 
Autoren  stimmen  deshalb  nicht  blos  nicht  überein,  sondern  differiren 
in  wahrhaft  ausserordentlicher  Weise,  So  ist  das  Verhältniss  nach 
Sharpejr  1  :  50,  nach  Henle  1  :  80,  nach  Donders  1  :  375.  Im 
Allgemeinen  lässt  sich  sagen,  dass  sie  in  der  Jugend,  und  nach 
genommener  Nahrung,  zahlreicher  zur  Anschauung  gelangen.  Es 
giebt  eine  trostlose,  und  nicht  eben  seltene  Krankheit,  bei  welcher 
die  farblosen  Blutkörperchen  über  die  farbigen  numerisch  das 
Uebergewicht  erhalten.  Virchow  schildert  diese  Krankheit  als 
Leucaemia. 

Eine  Zellenmembran  kommt  an  den  farblosen  Blutkörperchen 
(eben  so  wenig  als  an  den  rothen)  vor.  Ein  Kern  aber  existirt 
zweifellos  in  ihnen,  und  tritt  unter  Anwendung  von  Essigsäure  deutlich 
hervor.  Sie  zeigen  die  grösste  Uebereinstimmung,  oder  sind  vielmehr 
identisch  mit  den  Lymph-  und  Chyluskörperchen,  und  mit  den  im 
frischen  Eiter  vorkommenden  granulirten  Eiterkörperchen.  In 
letzterer  Beziehung  lässt  sich  deshalb  auf  den  mikroskopischen 
Nachweis  von  Eiter  im  Blute  nicht  viel  Werth  legen.  Die  farblosen 
Blutkörperchen  wandeln  sich  allmälig  in  gcfiirbte  Blutkörperchen 
um,  deren  jüngere  Lebenszustände  sie  darstellen. 

Bei  aufmerksamer  Beobachtung  unter  dem  Mikroskope,  sieht 
man,  dass  die  farblosen  Blutkörperchen,  langsam  aber  fortwährend 
ihre  Gestalt  ändern,  indem  sie  eiförmig,  bimförmig,  eckig,  selbst 
sternförmig  werden.  Dieser  zugleich  mit  wirklicher  Ortsveränderimg 
(der  kriechenden  Bewegung  einer  Amöbe  ähnlich)  auftretende  Ge- 
staltenwechsel, lässt  sich  stundenlang  beobachten.  Während  des 
Ablaufens  solcher  Bewegungen,  bemerkt  man  zugleich,  dass  die 
farblosen  Blutkörperchen  kleinste  Partikelchen  (z.  B.  FarbstoflFmole- 
küle,  Fetttröpfchen,  Milchkügelchen),  welchen  sie  begegnen,  in  die 
Substanz  ihres  Leibes  aufnehmen.  —  Ueber  die  chemische  Natur 
der  farblosen  Blutkörperchen  lässt  sich  nur  im  Allgemeinen  sagen, 
dass  ihre  Bestandtheile  Proteinsubstanzen  sind,  mit  beigemengten 
Salzen  und  Fett. 

h)  Flüssiger  Blutbestandtheil. 

Der  flüssige  Bestandtheil  des  Blutes,  Plasma  sanguinis,  ist 
eine  wässerige  Lösung  von  Fibrin  und  Albumin,  welche  Lösung 
nebstdem  geringe  Quantitäten  von  Casein  (vorzüglich  im  Blute 
Schwangerer  und  Säugender),  Fett,  Extractivstoffe,  Zucker;  ferner 
Harnstoff,  Harnsäure,  und  verschiedene  Salze  enthält,  unter  welchen 
die  chlorsauren  prävaliren.  Spuren  von  Gallenpigment  sind  ebenfalls 


176  §.  61.  Oerinnviig  des  BlnUfi. 

im  Blute  nachgewiesen.  Ein  flüchtiger  Bestandtheil,  welcher  aus  dem 
eben  gelassenen  Blute,  mit  Wasser  in  Dampfform  davongeht,  be- 
stimmt den  eigenthümlichcn  animalischen  Geruch  des  Blutdunstes, 
Vapor  8,  Halitus  sanguinis. 

Das  Blatplasma  wird  auch  zum  Träger  für  die  fremdartigen  Stoffe,  welche 
mit  den  Nahmngsmitteln  oder  dnrch  Medicamente  in  den  Körper  g^lang^n.  Auch 
Luftarten  sind  im  gebundenen  Zustande  im  Blute  (ung^fUhr  wie  die  Gase  in  den 
Mineralwässern)  vorhanden,  und  entwickeln  sich  g^ossentheils  schon  unter  der 
Luftpumpe.  Kohlensäure,  Sauerstoff  und  Azot,  sind  bereits  definitiv  nachgewiesen. 


§.61.  Greriimulig  des  Blutes. 

Wird  das  Blut  aus  der  Ader  gelassen,  so  gerinnt  es  (CoagulaHo 
scmguinis).  Das  Wesentliche  dieses  Vorganges,  welcher  auch  im 
Lebenden,  bei  gewissen  pathologischen  Zuständen,  z.  B.  bei  Ent- 
zündung, innerhalb,  oder,  wie  bei  Blutextravasaten ,  ausserhalb 
der  Gefässe  stattfinden  kann,  besteht  in  Folgendem: 

Die  Gerinnung  des  Blutes  ist  eigentlich  nur  eine  Gerinnung 
des  im  Plasma  enthaltenen  Fibrins. 

Frisch  gelassenes  Blut  fUngt  binnen  2 — 5  Minuten  an  zu 
stocken,  bildet  anfangs  eine  weiche,  gallertige,  leicht  zitternde  Masse, 
welche  sich  immer  mehr  und  mehr  zusammenzieht,  und  eine  trüb- 
gelbliche Flüssigkeit  aus  sich  auspresst,  in  welcher  der  fest  gewordene 
Blutklumpen  schwimmt.  Dieser  Klumpen  wird  Blutkuchen,  Mo- 
centa  s.  Hepar  s.  Crassammtum  sanguinis  genannt;  das  gelbliche 
Fluidum,  in  welchem  er  schwimmt,  ist  das  Blutwasser,  Serum 
sanguinis. 

Woraus  besteht  der  Blutkuchen  ?  —  Das  im  Blutliquor  (Plasma) 
aufgelöst  gewesene  Fibrin,  scheidet  sich  durch  das  Gerinnen  in 
Form  eines  immer  dichter  und  dichter  werdenden  Faserfilzes  aus, 
und  schliesst  die  rothen  Blutkörperchen  in  seinen  Maschen  ein. 
Blutplasma  minus  Fibrin  ist  somit  Serum  sanguinis,  Fibrin  plv^  Blut- 
körperchen ist  Placenta  sanguinis.  Gerinnt  das  Fibrin  langsam,  so 
haben  die  rothen  Blutkörperchen  Zeit  genug,  sich  durch  ihre  Schwere 
einige  Linien  tief  zu  senken,  bevor  der  Faserstoff  sich  zu  einem 
festeren  Coagulum  formte.  Die  sinkenden  Blutkörperchen  legen 
sich  zugleich  mit  ihren  breiten  Flächen  aneinander,  und  bilden 
dadurch  geldrollenähnliche  Säulen.  Die  oberen  Schichten  des  Blut- 
kuchens werden  sodann  gar  keine  rothen  Blutkörperchen  enthalten, 
wohl  aber  alle  farblosen,  ihrer  specifischen  Leichtigkeit  wegen.  So 
entsteht  dann  auf  dem  Blutkuchen  eine  mehr  weniger  dichte  und 
zähe  Lage,  welche  Speckhaut,  Crusta  placentae,  genannt  wird.  Je 
langsamer  das  Blut  gerann,  desto  dicker  wird   die  Speckhaut  sein. 


§.62.  Weitere  AngAben  &ber  ehem.  nnd  mikroskop.  Verhalten  des  Blntes.  177 

Da  sich  die  Speckhaut  bei  Entzündungskrankheiteu ,  und  vorzugs- 
weise beim  hitzigen  Rheumatismus,  durch  ihre  Dicke  und  zugleich 
durch  ihre  Zähigkeit  besonders  auszeichnet,  so  wird  sie  auch 
Crusta  inßammatoria  8.  pleuriüca  8,  lardacea  genannt.  Das  Blut  yon 
Schwangeren  und  Wöchnerinnen  zeigt  ebenfalls  eine  starke  Speck- 
haut. Setzt  man  dem  Blute  solche  Stoffe  zu,  welche  das  Gerinnen 
seines  Faserstoffes  verlangsamen,  so  wird  die  Speckhaut  natürlich 
dicker  ausfallen,  als  bei  schnell  gerinnendem  Blute.  Benimmt  man 
dem  Blute  seinen  Faserstoff  durch  Peitschen  desselben  mit  Ruthen, 
an  welche  sich  der  Faserstoff  als  flockiges  Gerinnsel  anhängt,  so 
coagulirt  es  gar  nicht. 

Wenn  in  den  letzten  Lebensmomenten  die  Blntmasse  sich  znr  Entmischung 
anschickt,  werden  die  TVabeculae  cameae  des  Herzens,  und  die  sehnigen  Befestigongs- 
föden  der  Klappen,  deren  mechanische  Einwirkung  auf  das  Blut  während  der 
Zusammenzieh nng  des  Herzens  dem  Schlagen  mit  Ruthen  vergleichbar  ist,  eine 
ähnliche  Trennung  des  Faserstoffes  und  Anhängen  desselben  an  die  losen  Fleisch- 
bündel und  Sehnenfäden  der  inneren  Herzoberfläche  bedingen,  wodurch  die  soge- 
nannten fibrösen  Herzpolypen  (nach  älterem  Ausdruck)  entstehen,  welche 
man  in  grösserer  oder  geringerer  Menge  in  jeder  Leiche,  deren  Blut  gerann,  findet, 
und  welche  ihre  Entstehung  rein  mechanischen  Verhältnissen  in  den  letzten  Lebens- 
acten  verdanken.  —  Da  manche  Aerzte  noch  immer  viel  auf  die  Dicke  der  Speck- 
haut halten,  und  sie  fCbr  ein  Zeichen  entzündlicher  Blutmischung  nehmen, 
so  mögen  sie  bedenken,  welchen  Einfluss  die  dem  Kranken  verabreichten  Arzneien 
(besonders  die  Mittelsalze,  welche  man  so  häufig  den  an  Entzündung  Leidenden 
verordnet)  auf  die  Verlangsamung  der  Gerinnung,  und  somit  auf  die  Dicke  der 
Speckhaut  ausüben.  —  Die  Gerinnung  des  Blutes  ist  der  Ausdruck  seines  er- 
löschenden Lebens,  und  die  Veränderungen,  die  es  von  nun  an  erleidet,  sind 
durch  chemische  Zersetzungsprocesse  bedingt  —  Fäulniss. 


§.  62.  Weitere  Angaben  über  chemisches  und  mikroskopisches 

Verhalten  des  Blutes. 

Die  chemische  Analyse  hat  gezeigt,  dass  Blut  und  Fleisch 
eine  fast  gleiche  elementare  Zusammensetzung  zeigen.  Playfair  und 
Boeckmann  fanden  folgendes  Verhältniss  zwischen  getrocknetem 
Blut  un4  Fleisch  des  Rindes: 


Fleisch 

Blut 

Kohlenstoff: 

51,86, 

51,96, 

Wasserstoff: 

7,58, 

7,25, 

Stickstoff: 

15,03, 

15,07, 

Sauerstoff: 

21,30, 

21,30, 

Asche : 

4,23, 

4,42. 

Das  Serum  8anguini8   ist  sehr  reich  an  IJJweiss,  welches  nicht 
von  selbst  gerinnt,  wie  das  Fibrin,   sondern   erst  durch   Erhitzen. 

Hyrtl,  Lehrbucli  der  Anatomie.  14.  Anfl.  12 


1 4  8  §.69.  Weitere  Angaben  fiber  oheni.  nnd  mikroskop.  Verhalten  des  Blntae. 

Was  nach  der  Gerinnung  des  Eiweiases,  vom  Blutserum  noch  er- 
übrigt, ist  Wasser  mit  aufgelösten  Salzen  und  Extractivstoffen. 

Der  Blutkuchen  kann  durch  Auswaschen  von  dem  FärbestofFe 
der  in  ihm  eingeschlossenen  Blutkörperchen  befreit,  und  als  feste, 
zähe,  weisse,  aus  den  fadenförmigen  Elementen  des  geronnenen 
Faserstoffes  zusammengesetzte  Masse  dargestellt  werden.  Diese 
Masse  ist  jedoch  nicht  reiner  Faserstoff,  da  sie  noch  die  Reste  der 
durch  das  Auswaschen  und  Kneten  unter  Wasser  zerstörten  rothen 
und  farblosen  Blutkörperchen  in  sich  enthält. 

Eine  merkwürdige  Eigenschaft  des  Haematoglobin  (§.  60),  liegt 
in  seiner  Krystallisirbarkeit.  Die  Globulinkry stalle  des  Menschenblutes 
sind  rhombische  Prismen  von  Amaninth-  bis  Zinuoberröthe.  Die  Blut- 
kry stalle  sind  für  die  gerichtliche  Mediciu  von  grösster  Wichtigkeit, 
denn  sie  dienen  nicht  nur  zur  Constatirung  von  sehr  alten  Blut- 
flecken, sondern  überhaupt  zur  Erkenntniss  kleinster  Mengen  Blut. 
Um  sie  zu  erhalten,  setzt  man  einem  eingetrockneten  Blutstropfen 
in  einem  Uhrglase  etwas  Kochsalz  zu,  befeuchtet  denselben  mit 
einigen  Tropfen  Eisessig,  und  dampft  die  Mischung  bei  Kochhitze  ab. 

Im  Serum  des  Blutes  behalten  die  Blutkörperchen  ihre  Eigen- 
schaft längere  Zeit  unversehrt  bei.  Durch  Wasserzusatz  schwellen 
aber  die  platten  Scheiben  derselben  zu  Kugeln  auf,  werden  zugleich 
blass,  indem  das  Wasser  ihren  färbenden  Inhalt  extrahirt,  und  er- 
leiden sofort  eine  Reihe  von  Veränderungen,  welche  mit  ihrem  Ruine 
endigt.  Man  darf  deshalb  Blutkörperchen  nur  im  Serum ,  oder  im 
frischen  Eiweiss,  oder  in  Zuckerwasser  der  mikroskopischen  Beob- 
achtung unterziehen. 

Durch  eine  Reihe  von  Entladungsschlägen  einer  Leydner 
Flasche  wird  das  frische  undurchsichtige  Blut  lackfarbenähnlich 
durchsichtig,  wobei  die  Blutkörperchen  bis  auf  äusserst  zarte  und 
blasse  Reste  zerstört  werden. 

Zur  mikroAkopischen  Untersuchung  des  Blutes  eignet  sich  vorzugsweise  das 
Blut  der  nackten  Amphibien^  deren  Blutkörperchen  bedeutend  grösser  als  die  der 
SSngetbiere  sind.  Die  oralen  und  platten  Blutkörperchen  des  gemeinen  Frosches 
haben  0,01'"  im  längsten,  0/)O6"'  im  kleinsten  Durchmesser;  jene  des  Proteus  sind 
so  gross  (0,05  Mm.  lang,  und  halb  so  breit),  dass  man  sie  schon  mit  freiem  Auge 
gesehen  zu  haben  versichert.  —  Das  baldige  Gerinnen  des  frischen  Blutes  erschwert 
seine  mikroskopische  Untersuchung.  Die  Coagnlationstendenz  des  Blutes  kann 
aber  durch  Beimischung  einer  sehr  geringen  QuantitKt  ron  aufgelöstem  kohlen- 
sauren Kali  hintangehalten  werden. 

Im  Froschblute  zeigt  jedes  Blutkörperchen  einen  Kern.  Dieser  Kern  lagert 
excentrisch.  Man  sieht  deshalb,  wenn  sich  ein  Blutkörperchen  wälzt,  den  Kern 
nicht  im  Centrum  der  Bewegung.  —  Durch  vorsichtige  Behandlung  llsst  sich  in 
dem,  nur  sehr  langsam  coag^lirenden  Froschblute,  das  Plasma  von  den  Blut- 
körperchen mittelst  nicht  zu  feinen  Filtrirpapiers  abseihen.  Die  KOrperchen  bleiben 
auf  dem  Filtnim  zurück^  und  sammelt  man  sie  in  einem  Uhrglase,  welches  Waseer 
enthllt,    so    zieht   dieses  anfangs  den  FSrbestoff  derselben  ans,  wodnreh  sie  so 


§.  6S.  Physiolo^fcbo  B«iBor1cang«ii  ftber  daa  Blnt. 


179 


durchsichtig  werden^  dass  der  Kern  derselben  nur  von  einem  feinen,  blassen  Hofe 
umgeben  erscheint,  welcher  die  farblose  Masse  des  Blutkörperchens  ist.  Zusatz 
von  Jodtinctnr  macht  die  Begrenzung  dieses  Hofes  wieder  deutlich. 


Die  ckemiBche  Znsammeusetsang  des  Blut- 

seranm  ist  nach  Denis  folgende.   Es  finden 

■ich  in  1000  Theilen  Senun: 

Wasser 900,0 

Eiweiss 80,0 

Cholestearin 5,0 

Chlomatrium 5,0 

Flüchtige  Fettsäuren      ....  3,0 

Gallenpigment 3,0 

Serolin 1,0 

Schwefelsaures  Kali 0,8 

Schwefelsaures  Natron  ....  0,8 

Natron 0,5 

Phosphorsaure 8  Natron  ....  0,4 

Phosphorsaurer  Kalk      ....  0,3 

Kalk 0,2 

1000 


Die  Zasammeneetiaog  des   ganzen  Blutes 

nach  Le  Can  n  ist  folgende.  In  1000  Theilen 

finden  sich: 

Wasser 780,10—785,69 

Faserstoff 2,10—     3,56 

Eiweiss 65,09—  69,42 

Blutkörperchen  .     .     .  138,00—119,63 

Krjstallinisches  Fett  .  2,43—     4,30 

Flüssiges  Fett    .     .     .  1,31—     2,27 

Alkoholextract   .     .     .  1,79—     1,92 

Wasserextract  .  .  .  1,26—  2,01 
Salee    mit    alkalischer 

Basis 8,37—     7,80 

Erdsalze     und    Eisen- 

oxyd 2,10-     1,41 

Verlust 2,40—     2,59 

1000        1000 


Venöses  und  arterielles  Blut  unterscheiden  sich  nicht  durch  messbare  Ver- 
schiedenheiten der  Gestalt  und  Grösse  der  Blutkörperchen,  sondern  durch  ihren 
Gasgehalt.  Nach  Magnus  soll  im  arteriellen  Blute  mehr  Sauerstoff  im  Verhältniss 
zur  Kohlensäure  vorkommen,  und  nach  den  Angaben  Anderer,  die  Menge  des 
Faserstoffes  grösser,  jene  des  Eiweisses  aber  geringer  sein,  als  im  Venenblute.  — 
Die  farblosen  Blutkörperchen  finden  sich  im  Blute  der  grossen  Venenstämme 
liäufiger  als  Im  Arterienblute. 


§.  63.  Physiologische  Bemerkungen  über  das  Blut 


Das  Blut  bildet  den  Hauptfactor  für  die  lebendige  Thätigkeit 
der  Organe,  indem  es  die  fiir  ihre  Ernährung,  und  somit  fiir  ihre 
Existenz  und  Function  nothwendigen  Materialien  liefert.  Dass  das 
Älterthum  im  Blut  den  Sitz  der  Seele  annahm,  wurde  bereits  gesagt. 
Ich  erinnere  hier  an  die  purpurea  anima  des  Virgil.  Diese  Vor- 
stellung wurde,  bis  zur  Entdeckung  des  Kreislaufes,  noch  insofern 
festgehalten,  als  man  das  arterielle  Blut  als  den  Träger  der  Spiriius 
vitales  ansah.  Nur  hieraus  lässt  sich  der  im  Mittelalter  noch 
übliche  Usus  verstehen  und  zum  Theil  entschuldigen,  dass  die  Aerzte, 
den  Kranken,  das  Blut,  welches  sie  ihnen  durch  die  Aderlässe  ent- 
zogen, bevor  es  auskühlte,  wieder  trinken  Hessen,  wie  die  merk- 
würdige Stelle  im  Salomon  Albertus  beweist  (Hut.  plerarumque 
partium  corp.  hum.y  pag.  65),  welche  lautet:    Sanguinem,  quem  mdgus 

chyrurgtmim,  prius  adkue,  quam  intepuerÜ,  ingurgüare  cogit  eoe,  quibu$ 

12» 


1 80  §•  68.  Physiologiaeho  BomerknngMi  ftb«r  dM  Blnt. 

detraetus  est,  ratus,  subesse  animam,  quae  tali potatione  corpari postliminio 
restituatur. 

Man  hält  allgemein  daran  ^  dass  die  Blutkörperchen  beim  Er- 
nährungsgeschäfte nicht  zunächst  interessirt  sind.  Das  Blutplasma 
wird  durch  die  Wand  der  Capillargefösse  hindurchgepresst ,  ver- 
breitet sich  zwischen  den  umlagernden  Gewebselementen^  und  speist 
sie  mit  den^  zu  ihrer  Ernährung  dienenden  Stoffen.  Der  Durch- 
tritt der  rothen  und  der  farblosen  Blutkörperchen  durch  die  Öefass- 
wand  ist  zwar  ebenfalls  sichergestellt^  aber  die  Art  ihrer  Verwendung 
bei  der  Ernährung  der  Organe  noch  nicht  ermittelt. 

Organe,  welche  intensive  Emährungs-  oder  Absonderungs- 
thätigkeiten  äussern,  bedürfen  eines  reichlicheren  Zuflusses  von 
Plasma,  und  da  mit  der  Zahl  und  Feinheit  der  Capillarge&sse,  die 
das  Plasma  ausscheidende  Fläche  wächst,  so  wird  der  Reichthum 
oder  die  Armuth  an  Capillargefössen ,  ein  anatomischer  Ausdruck 
für  die  Energie  der  physiologischen  Thätigkeit  eines  Organs  sein. 
Es  kann  jedoch  auch  in  Organen  mit  sehr  wenig  energischem  Stoff- 
wechsel ,  eine  abundante  Blutzufuhr  nothwendig  werden ,  wenn 
nämlich  der  Stoff,  aus  welchem  das  Organ  besteht,  und  welchen  es 
vom  Blute  erhalten  soll,  im  Blute  nur  in  sehr  geringer  Menge  vor- 
handen ist.  Um  das  nöthige  Quantum  davon  zu  liefern,  muss  viel 
Blut  dem  Organe  zugeführt  werden.  So  erklärt  z.  B.  der  geringe 
Gehalt  des  Blutes  an  Kalksalzen,  den  Gefässreichthum  der  Knochen- 
substanz. 

Die  Beobachtung  des  Kreislaufes  in  den  CapillargeiUssen 
lebender  Thiere  lehrt  Folgendes: 

1.  Die  farbigen  Blutkörperchen  strömen  rasch  in  der  Axe  des 
Gefässes,  die  farblosen  dagegen  gleiten  träger  längs  der  Gefasswand 
hin,  wobei  sie  öfters  Halt  zu  machen  scheinen,  als  ob  sie  an  die 
GefUsswand  anklebten. 

2.  Es  findet  keine  stossweise,  sondern  eine  gleichförmige  Blut- 
bewegung im  Capillarsysteme  statt. 

3.  Aendem  die  Capillargefasse  ohne  Einwirkung  von  Reiz- 
mitteln ihren  Durchmesser  nicht,  wohl  aber  die  Blutkörperchen, 
welche,  um  durch  engere  Gefässe  zu  passiren,  sich  in  die  Länge 
dehnen,  und,  wenn  der  schmale  Pass  durchlaufen,  wieder  ihr  früheres 
Volumen  annehmen. 

4.  An  den  Theilungswinkeln  der  Capillargefösse,  welche  einem 
gegen  den  Strom  vorspringenden  Sporn  zu  vergleichen  sind,  bleibt 
häufig  eine  Blutsphäre  querüber  hängen,  biegt  sich  gegen  beide  Aeste 
zu,  und  scheint  zu  zaudern,  welchen  sie  wählen  soll,  bis  sie  zuletzt 
in  jenen  hineingerissen  wird,  in  welchen  sie  mehr  hineinragte. 

5.  Das  Austreten  des  Plasma  durch  die  Capillargefilsswand  ist 
kein  Gegenstand  unmittelbarer  Wahrnehmung. 


g.  64.  Bildang  und  Rftckbildmiif  dM  Blntet.  181 

6.  Ist  das  Thier  seinem  Ende  nahe,  so  geräth  der  Capillar- 
kreislauf  in  Unordnung,  die  Blutsäule  schwankt  ruckweise  hin  und 
zurück,  bevor  sie  in  Ruhe  kommt,  das  GefUsslumen  erweitert  sich, 
die  Blutkörperchen  ballen  sich  auf  Haufen  zusammen,  und  ver- 
schmelzen zu  einer  formlosen  Masse,  welche  ihren  Färbestoff  nach 
und  nach  dem  Serum  ablässt. 

Das  Hindurchtreten  des  Plasma  durch  die  GefUsswand,  und 
das  Eindringen  desselben  in  die  Gewebe,  wird  gewöhnlich  mit  dem 
von  Dutrochet  zuerst  eingeführten  Namen  der  Exosmose  und 
Endosmose  bezeichnet  (1^-  und  €vü)6^ü>,  hinaus-  und  hineintreiben). 

Das  Plasma  ist  wasserhell,  kann  aber  unter  krankhaften  Bedingungen  ge- 
färbt erscheinen.  Wenn  nämlich  der  Wassergehalt  des  Blutes  bei  hjdropischem 
Zustande  desselben  zunimmt,  oder  sein  Salzgehalt  bei  Scorbat  ond  Fanlfiebem 
abnimmt,  wird  das  Blntroth  sich  im  Plasma  auflösen,  und  eine  röthlichgef&rbte 
Tränkung  der  Gewebe  bedingen.  Die  blutrothen  Petechien,  die  falschen  Blut- 
unterlaufongen ,  die  scorbntischen  Striemen  (Vibke»),  die  fleischwasserähnlichen, 
hydropischen  Ergüsse  in  die  Körperhöhlen,  entstehen  auf  diese  Weise.  —  Abundirt 
der  gelbe  Färbestoff  im  Blute  durch  Störung  oder  Unterdrückung  der  Gallen- 
absonderung, so  wird  die  Tränkung  der  Gewebe  mit  gelbem  Plasma  eine  allge- 
meine werden  können,  wie  in  der  Gelbsucht.  —  Bei  Entzündungskrankheiten  kann 
das  Plasma,  wenn  es  einmal  die  Gefässe  überschritten  hat,  in  den  Geweben  ge- 
rinnen, und  wird  dadurch  jene  Härte  bedingt,  welche  Entzündungsgeschwülsten 
eig^n  ist.  —  Da  das  Blutplasma,  an  der  äusseren  Oberfläche  der  Blutgefässe  zum 
Vorscheine  gekommen,  reicher  an  Nahrnng^stoffen  ist,  als  jenes,  welches  sich 
schon  eine  Strecke  weit  durch  die  Gewebe  fortsaugte,  und  bereits  viel  von  seinen 
plastischen  Bestandtheilen  verlor,  so  ist  begreiflich,  warum  gerade  in  der  Nähe 
der  Blutgefässe  die  Ernährung  lebhafter  als  an  davon  entfernteren  Punkten  sein 
wird.  Die  Fettablagerung  folgt  deshalb  ausschliesslich  den  Blutgefässramificationen, 
und  wo  diese  weite  Netze  bilden,  werden  auch  die  Fettdeposita  diese  Form  dar- 
bieten. Man  hat  auch  nur  aus  diesem  Grunde  jene  Bauchfellsfalten,  welche  sich 
entlang  den  netzförmig  anastomosirenden  Blutgefässen  gern  mit  Fett  beladen, 
Netze  genannt. 


§.  64.  Bildimg  und  Rückbildung  des  Blutes. 

Die  Vermehrung  der  Blutkörperchen  im  Embryo  geht,  ausser 
der  Umwandlung  embryonaler  Bildungszellen  in  Blutkörperchen, 
auch  durch  Theilung  der  schon  vorhandenen  vor  sich.  Dass  auch 
die  Leber  des  Embryo  neue  Blutkörperchen  bilde,  wie  Weber, 
Reichert,  Kölliker,  Gerlach  und  Fahrner  annehmen,  ist  eben 
nur  eine  Annahme.  Im  Erwachsenen  sind  es  die  farblosen  Blut- 
körperchen, welche  sich  durch  Schwinden  des  Kerns,  und  Füllung 
des  Zellenleibes  mit  Blutroth,  in  Blutkörperchen  umwandeln.  So 
glaubt  man  wenigstens.  Gesehen  hat  diese  Umwandlung  Niemand. 
Da  nun  dieser  Ansicht  zufolge,  die  farblosen  Blutkörperchen  junge 
Blutkörperchen  sind^  welche  dem  Blute  fortwährend  durch  den  Haupt- 


182  8.65.  Lymplie  und  Chylni. 

stamm  des  lymphatischen  Gefilsssystems  (Ductus  thoradcus)  zugeführt 
werden,  so  müsste  sich  die  Zahl  der  Blutkörperchen  fortwährend 
vermehren.  Dieses  kann  jedoch  nur  zu  einem  gewissen  Maximum 
steigen,  und  wir  sind  deshalb  nothgezwungen ,  eine  Rückbildung 
oder  Zerstörung  der  alten  und  abgelebten  Blutkörperchen  anzu- 
nehmen. Dass  die  Ausscheidung  derselben  durch  die  Leber  geschehe, 
wo  sie  zur  Gallenbereitung  verwendet  werden  sollen  (Schultz),  ist 
nicht  mit  Bestimmtheit  nachgewiesen.  Die  neuere  Zeit  will  auch 
in  der  Milz  das  Organ  gefunden  haben ,  in  welchem  die  alten  und 
unbrauchbaren  Blutkörperchen,  ihre  Rückbildung  und  Auflösung 
erfahren.  Man  hat  in  nUcroscopids  schon  viel  gefunden,  was  nicht 
existirt,  und  mancherlei  Wege  eingeschlagen,  die  sich  schon  nach 
den  ersten  Schritten  als  ungangbar  zeigten.  Eine  durchaus  sicher- 
gestellte, massenhafte  Ausscheidung  rother  Blutkörperchen,  kennt 
man  nur  in  der  Menstruation. 

Die  erste  gpenaae  Untenachang  der  Blutkörperchen  verdanken  wir  H  e  w  s  o  n^s 
Experimental  Inqniries.  London,  1774—1777.  Seine  richtigen  und  naturgetreuen 
Schilderungen  wurden  durch  Home,  Bauer,  Prövost  und  Dumas  theilweise 
entstellt,  und  die  Lehre  vom  Blute,  durch  die  abenteuerlichen  Ausleg^gen,  welche 
ungeübte  Beobachter  früherer  Zeit,  ihren  Anschauungsweisen  gaben,  in  eine  wahre 
Polemik  der  Meinungen  umgestaltet  Das  Geschichtliche  hierüber  enthalten  die 
betreffenden  Capitel  von  E.  H.  Weber  und  He  nie.  —  Die  zu  einem  enormen 
Umfang  gediehene  Literatur  über  das  Blut  suche,  wer  Lust  dasu  verspürt,  in 
physiologischen  und  chemischen  Handbüchern.  Da  jede  dieser  Schriften  in  den 
Details  Anderes  bietet,  ist  es  nicht  gleichgiltig,  welche  man  zur  Hand  nimmt. 


§.65.  Lymphe  und  Chylns. 

A.  Lymphe. 

Reine  Lymphe,  wie  sie  aus  den  Saugadern  frisch  getödteter 
Thiere  erhalten  wird,  stellt  eine  wässerige,  alkalisch  reagirende,  zu- 
weilen gelblich,  oder,  wie  in  der  Nähe  des  Milchbrustganges,  röth- 
lich  gefärbte  Flüssigkeit  dar,  welche,  wie  das  Blut,  feste  Körperchen 
enthält,  aber  in  viel  geringerer  Menge.  Diese  Lymphkörper chen 
sind  kleiner,  oder  von  derselben  Grösse  wie  Blutkörperchen,  zugleich 
rund,  glatt  oder  granulirt,  und  schliessen  einen  durch  Essigsäure 
deutlich  zu  machenden,  stark  körnigen  Kern  ein.  Sie  stimmen  mit 
den  farblosen  Blutkörperchen  in  allen  Eigenschaften  überein,  zeigen 
also  dieselbe  wechselnde  Gestalt,  und  dieselben  Contractions- 
Erscheinungen.  Ausnahmsweise  finden  sich  unter  ihnen  welche  von 
bedeutender  Grösse,  und  mit  mehrfachen  Kernen.  Nebst  diesen 
Lymphkörperchen  enthält  die  Lymphe  noch  kleinere  Körnchen, 
welche  man  für  nackte  Kerne  zu  halten  geneigt  war,  an  denen 
aber  eine  peripherische,  ganz  minimale  Schichte  von  wahrer  Zellen- 


§.  64.  Lymphe  and  Cbylas.  183 

Substanz   anter   günstigen   Umständen    zur   deutlichen   Anschauung 
gelangt. 

Die  Lymphe  gerinnt  spontan  wie  das  Blut,  —  nur  viel  langsamer. 
Im  Hauptstamme  des  lymphatischen  Systems  (Ductus  thoracicus) 
zeichnet  sich  der  Inhalt  durch  prompte  Coagulation  und  deutliche 
Röthe  aus.  Die  CoagulationsfUhigkeit  rührt  vom  Faserstoff,  die 
Röthe  vom  Hämatin  her.  Der  Kuchen  der  Lymphe  ist  bei  weitem 
nicht  so  consistent,  wie  der  Blutkuchen,  und  erscheint  am  Beginne 
seines  Entstehens  als  wolkige  Trübung,  welche  sich  nach  und  nach 
zu  einem  weichen,  fadigen  Knollen  contrahirt.  —  Das  Serum  der 
Lymphe  ist  eiweissreich ,  und  führt  dieselben  Stoffe,  welche  im 
Blutserum  suspendirt  oder  aufgelöst  gefunden  wurden,  nebst  Eisen- 
oxyd, von  welchem  es  jedoch  noch  nicht  entschieden  ist,  ob  es  nicht 
auch  an  die  Lymphkörperchen  gebunden  vorkommt,  wie  das  Eisen 
des  Blutes  an  die  Blutkörperchen. 

Marchand  und  Colberg  gaben  folgende  Analyse  menschlicher  Lymphe 
(menschlicher  Chylus  wurde ,  so  viel  ich  weiss ,  noch  nicht  untersucht).  In 
1000  Theilen  Lymphe  finden  sich: 

Wasser 969,26 

Faserstoff 6,20 

Eiweiss 4,34 

Extractivstoff 3,12 

Flüssiges  und  krystallinisches  Fett  .  2,64 

Salze 15,44 

Eisenoxyd Spuren. 

B.  Chylus, 

Milchsaft,  Chylvs,  heisst  das  durch  den  Verdauungsact  be- 
reitete, milchweisse,  nahrhafte  Extract  der  Speisen,  welches  schliess- 
lich in  Blut  umgewandelt  wird.  Er  besteht  wie  das  Blut  aus  einem 
flüssigen  und  festen  Bestandtheil.  Der  erstere  ist  das  an  aufgelösten 
Nährstoffen  reiche  Plasma  des  Chylus;  der  letztere  erscheint  in 
doppelter  Form:  1.  als  kleinste,  stark  lichtbrechende  Kömchen, 
welche  aus  Fett  mit  einer  Eiweisshülle  bestehen,  xmd  2.  als  kern- 
haltige Chyluskörperchen,  identisch  mit  den  oben  erwähnten  Lymph- 
körperchen.    Burdach  nannte  den  Chylus  das  weisse  Blut. 

Der  Chylus  gerinnt,  wenn  er  rein  ist,  nicht.  Um  ihn  rein  zur 
mikroskopischen  Untersuchung  zu  erhalten,  muss  man  im  Mesenterium 
eines  gefütterten,  eben  geschlachteten  Thieres,  ein  strotzendes  Chylus- 
gefass,  bevor  es  noch  durch  eine  Drüse  ging,  anstechen,  und  das 
hervorquellende  Tröpfchen  auf  einer  Glasplatte  auffangen.  Um  den 
Chylus  in  grösserer  Menge  zur  chemischen  Prüfung  zu  sammeln, 
handelt  es  sich  darum,  den  Ductus  tharcuncus  eines  grossen  Thieres 
nach  reichlicher  Fütterung  zu  öffnen.   Man  erh&lt  jedook  nie  dAdnrqli 


184  S-  M-  NorrenByiteiB.  Binthtilmng  destelben. 

reinen  Chylus,  da  der  Milchbrustgang  zugleich  Hauptstamm  für  das 
Lymphsystem  ist. 

Frischer  und  möglichst  reiner  Chylus  hat  eine  milchweisse 
Farbe,  welche  von  der  reichlichen  Gegenwart  der  oben  erwähnten 
Fettkörnchen  abhängt.  Die  Eiweisshtille  dieser  Fettkömchen  lässt 
sich  allerdings  nicht  durch  Beobachtung  constatiren.  Sie  muss  aber 
zugegeben  werden,  weil  sonst  nicht  zu  begreifen  wäre,  warum  die 
einzelnen  winzigen  Fetttröpfchen  nicht  zu  grösseren  Tropfen  zu- 
sammenfliessen.  Die  Farbe  des  Chylus  ist  um  so  weisser,  und  der 
Gehalt  an  fettigen  Elementen  um  so  bedeutender,  je  reicher  an  Fett 
das  genossene  Futter  der  Thiere  war  (Milch,  Butter,  fettes  Fleisch, 
Knochenmark).  Die  Fettkörnchen  äussern  ein  grosses  Bestreben, 
sich  in  Klümpchen  zu  gruppiren. 

FiMentoff  and  Hämatin  finden  sich  im  Chylus   in   um  so  ^össerer  Menge 
vor,  durch  je  mehr  Gekrösdrttsen  er  bereits  wanderte. 


§.66.  Nervensystem.  Eintheilung  desselben. 

Die  gangbarste  Eintheilung  des  Nervensystems  wurde  von 
Bichat  aufgestellt.  Er  unterschied  zuerst  ein  animales  und 
vegetatives  Nervensystem.  Das  animale  Nervensystem  besteht 
aus  dem  Gehirn  und  Rückenmark,  und  den  Nerven  beider;  wird 
deshalb  auch  Systema  cerebro-spinale  genannt.  Es  ist  das  Organ  des 
psychischen  Lebens,  und  vermittelt  die  mit  Bewusstsein  verbundenen 
Erscheinungen  der  Empfindung  und  Bewegung.  Das  vegetative 
Nervensystem,  Syatema  Vegetativum  s.  sympathicam ,  steht  vorzugs- 
weise den  ohne  Einfluss  des  Bewusstseins  waltenden  vegetativen 
Thätigkeiten  der  Ernährung,  Absonderung,  und  den  damit  ver- 
bundenen unwillkürlichen  Bewegungen  vor ,  und  wird  auch  als 
sympathisches,  organisches  oder  splanchnisches  Nerven- 
system, dem  cerebro-spinalen  entgegengestellt. 

Beide  Systeme  bestehen  nicht  scharf  geschieden  neben  ein- 
ander. Sie  greifen  vielmehr  vielfach  in  einander  ein,  verbinden 
sich  häufig  durch  Faseraustausch,  und  sind  insoferne  auf  einander 
angewiesen,  als  das  vegetative  Nervensystem  einen  grossen  Theil 
seiner  Elemente  aus  dem  animalen  bezieht,  und  bei  niederen  Wirbel- 
thieren  ganz  und  gar  durch  das  animale  vertreten  werden  kann. 
Die  physiologische  Sonderung  ist  nicht  weniger  prekär,  als  die 
anatomische,  da  der  Einfluss  des  animalen  Nervensystems  auf  die 
vegetativen  Processe,  sich  in  vielen  Einzelnheiten  deutlich  herausstellt. 

Man  unterscheidet  an  beiden  Systemen  einen  centralen  und 
peripherischen  Antheil.  Der  Centraltheil  des  animalen  Nerven- 
systems wird   durch  Gehirn    und    Rückenmark  repräsentirt ;     der 


§.  67.  Mikroskepitelie  Eltmente  des  NerTentyitMU.  185 

peripherische  durch  die  weissen,  weichen,  verästelten  Stränge  und 
Fäden ,  welche  die  verschiedenen  Organe  des  Leibes  mit  dem 
Centrum  dieses  Nervensystems  in  Verband  bringen,  und  Nerven 
genannt  werden,  bei  den  älteren  deutschen  Anatomen:  Spannadern, 
von  spannen,  d.i.  verbinden.  Das  Wort  veupov  bedeutete  ursprüng- 
lich Sehne  oder  Flechse,  auch  Bogensehne  (tendere  nervum,  den 
Bogen  spannen),  ist  bei  Homer  ganz  mit  Tdvwv  synonym,  wird  auch 
von  Geis  US  für  Sehne  gebraucht  (wie  er  denn  die  Achillessehne 
nervus  latus  nennt),  und  wurde  erst  durch  Aristoteles  auf  die  aus 
dem  Gehirn  entspringenden  Nerven  angewendet.  —  Der  Centraltheil 
des  vegetativen  Nervensystems  ist  nicht  so  einfach,  wie  jener  des 
animalen.  Er  erscheint  in  viele  untergeordnete  Sammel-  und  Ausgangs- 
punkte von  Nerven  zerfallen,  welche  als  graue,  rundliche  oder  eckige 
Körper,  an  vielen,  aber  bestimmten  Orten  zerstreut  vorkommen,  und 
den  Namen  Nervenknoten,  Ganglia,  führen. 


§.67.  Mikroskopische  Elemente  des  Nervensystems. 

Sie  sind  zweierlei  Art:  Fasern  und  Zellen. 

A.  Nervenfasern. 

a)  Fasern  der  Gehirn-  und  Rückenmarksnerven. 

Jeder  Gehirn-  und  Rückenmarksnerv,  an  was  immer  für  einem 
Punkt  seines  Verlaufs  er  untersucht  wird,  erscheint  als  ein  Bündel 
zahlreicher,  äusserst  feiner,  bei  durchgehendem  Lichte  heller,  bei 
reflectirtem  Lichte  mattglänzender  Fasern,  —  Nerven-Primitiv- 
fasern.  Diese  laufen  durch  die  ganze  Länge  des  Nerven  hindurch, 
ohne  an  Dicke  merklich  zu-  oder  abzunehmen,  geben  während  ihres 
Verlaufes  keine  Aeste  ab,  durch  welche  mehrere  benachbarte  sich 
verbinden  könnten,  und  werden  durch  ähnliche  Scheidenbildungen 
aus  Bindegewebe,  wie  sie  bei  den  Muskelbündeln  angeführt  wurden, 
zu  grösseren  Bündeln,  und  mehrere  dieser  zu  einem  Nerven- 
stamme vereinigt.  Der  Durchmesser  der  Primitivfasem  ist  in  ver- 
schiedenen Nerven  ein  verschiedener,  und  beträgt  zwischen  0,0006'" 
bis  0,0085'".  In  einem  und  demselben  Nerven  kommen  schon  Fasern 
verschiedener  Dicke  vor,  in  solcher  Mischung,  dass  die  dicken  oder 
die  dünnen  die  Oberhand  behalten.  Die  Nerven  der  Sinnesorgane 
und  die  Nerven  der  Empfindung,  fuhren  feinere  Fasern,  als  die 
Nerven  der  Muskeln. 

An  jeder  Primitivfaser  lassen  sich  drei  Bestandtheile  derselben 
unterscheiden.  1.  Eine  structurlose  HüUe,  2.  ein  markweioher  Inhak, 
und  3.  ein  Axencylinder.    Diese  Bestandtheile  sind  jftik 


186  §.  67.  Mikrofkopiieh«  ElonaDto  dM  NenreuTstemf. 

frischen  Primitivfasem ,  welche  voUkommen  homogen  erscheinen, 
nicht  zu  erkennen.  Sie  treten  erst  hervor,  wenn  die  von  selbst 
eintretende,  oder  durch  Reagentien  hervorgerufene  Gerinnung  der 
homogenen  Substanz  einer  lebenden  Primitivfaser,  die  lichtbrechen- 
den Verhältnisse  derselben  ändert.  Wir  wollen  sie  nun  einzeln 
durchgehen. 

Die  Hülle  der  Primitivfaser  ist  ein  ungemein  feines,  voll- 
kommen structurloses,  nur  hie  und  da  mit  ovalen  Kernen  versehenes 
Häutchen  (wie  es  das  Sarcolemma  einer  Muskelfaser  war). 

Der  Inhalt  der  Nervenfasern  —  das  Nervenmark  —  ist 
ein  homogener,  zäher,  opalartig-durchscheinender,  albuminöser  Stoff, 
welcher  am  Querriss  einer  Nervenfaser  nicht  ausfliesst,  sondern  sich 
nur  als  abgerundeter  Pfropf,  oder  als  spindelförmiger  Tropfen,  heraus- 
drängt. Er  besteht  aus  einem  Eiweisskörper,  und  mehreren  anderen, 
in  Alkohol  löslichen  Substanzen  (Cerebrin,  Protagon,  Cholestearin  und 
Fett).  Durch  Gerinnen  verliert  dieser  Inhalt  sein  homogenes  An- 
sehen, zieht  sich  von  der  Hülle  der  Primitivfaser  zurück,  und  erhält 
zugleich  wellenförmig  gebogene  Ränder,  welche  innerhalb  der  mehr 
geradelinigen  Ränder  der  structurlos^n  Hülle  der  Faser  deutlich  ge- 
sehen werden,  wodurch  die  betreffende  Primitivfaser  zu  einer 
doppelt  contourirten  wird.  Nach  längerer  Zeit  zerklüftet  das 
Mark  der  Faser  in  unregelmässige  Fragmente.  —  Der  mikroskopisch 
nachweisbare  Unterschied  von  Hülle  und  Inhalt,  giebt  der  Primitiv- 
faser die  Bedeutung  eines  Röhrchens,  und  man  spricht  deshalb  von 
Nervenröhrchen  in  demselben  Sinne  als  von  Nervenprimitiv- 
fasern. 

Weder  Mark  noch  Hülle  sind  das  Wesentliche  an  einer  Nerven- 
faser. Sie  scheinen  blos  als  isolirende  Hüllen  eines  dritten,  wesent- 
lichen Gebildes  in  der  Nervenprimitivfaser  eine  Rolle  zu  spielen. 
Dieses  Gebilde  ist  Purkinje's  Axencylinder,  auch  Remak's 
Primitivband  genannt.  Um  den  Axencylinder  gut  zu  sehen, 
bereitet  man  sich  Querschnitte  eines  in  einer  Lösung  von  doppelt 
chromsaurem  Kali  gehärteten,  dickeren  Nerven,  oder  des  Rücken- 
markes, und  tränkt  diese  Schnitte  mit  einer  ammoniakalischen 
Carminlösung ,  wobei  sich  die  Axencylinder  der  Nervenfasern  roth 
imbibiren,  während  Mark  und  Scheide  ungefärbt  bleiben.  Der  Axen- 
cylinder besteht  aus  einer,  dem  Muskelfibrin  ähnlichen  albuminösen 
Substanz,  ohne  Fett  (Lehmann).  Er  erhält  sich  an  den  feinsten 
Nervenfasern,  an  welchen  die  beiden  anderen  constituirenden  Bestand- 
theile  derselben  —  Hülle  und  Mark  —  nicht  mehr  nachweisbar 
sind.  Es  gebührt  ihm  somit  unzweifelbar  über  beide  der  Vorzug 
functioneller  Wichtigkeit.  Remak  und  Mauthner  machen  den 
Axencylinder  selbst  wieder  zu  einem  Rohre,  dessen  Wand  aus 
feinsten  Parallelfasem  bestehen  soll.   Schuitze  schreibt  ihm  feinste 


§.  67.  Hikrotkopitehe  Elemente  des  Nenrettsjetenui.  187 

fibriDäre  Structur  zu.  —  Die  Festigkeit  und  Elasticität  des  Axen- 
cylinders  erklärt  es,  dass,  wenn  Mark  und  Hülle  reissen,  der  Axen- 
cylinder  gewöhnlieh  unversehrt  bleibt,  sich  auch  an  seitlichen  Riss- 
stellen der  Hülle  schlingenartig  hervordrängt.  An  Querschnitten 
besonders  dicker  Primitivfasern,  zeigen  die  Axencylinder  eine  stern- 
förmige Gestalt,  wahrscheinlich  als  Folge  des  Einschrumpfens, 
wodurch  sie  kantig  werden. 

Nervenprimitivfasern ,  welche  die  drei  angeführten  Bestand- 
theile,  als  Hülle,  Inhalt,  und  Axencylinder  besitzen,  heissen  mark- 
haltige,  oder,  ihrer  scharfen  dunklen  Contouren  wegen,  auch 
dunkelrandige.  Fehlt  das  Mark,  und  wird  der  Axencylinder  von 
der  Hülle  so  dicht  umschlossen,  dass  er  sich  mit  ihr  identificirt,  und 
die  Faser  die  Bedeutung  einer  markführenden  Röhre  verliert,  so 
nennt  man  diese  Fasern  marklose.  Sie  kommen  als  unmittelbare 
Verlängerungen  der  markhaltigen  Fasern  ,  sowohl  gegen  deren 
peripherisches  Ende,  als  auch  am  Ursprünge  derselben  aus  den 
Fortsätzen  der  Ganglienzellen  vor. 

b)  Fasern  des  Gehirns  und  Rückenmarks. 

Von  mehreren  Anatomen  werden  diese  Fasern  als  eine  von 
den  oben  beschriebenen  Fasern  der  Gehirn-  und  Rückenmarksnerven 
verschiedene  Art  aufgestellt.  Sie  finden  sich  in  der  weissen  Substanz 
des  Gehirns  und  Rückenmarks,  und  in  den  Riech-,  Seh-  und  Hör- 
nerven, welche,  wie  die  Entwicklungsgeschichte  lehrt,  ursprünglich 
Ausstülpungen  der  drei  embryonalen  Gehirnblasen  sind.  Sie  bestehen 
aus  Hülle,  wenig  Mark,  und  Axencylinder,  welcher  sehr  schwer 
darzustellen  ist.  An  Feinheit  übertreffen  sie  die  Primitivfasem  der 
Hirn-  und  Rückenmarksnerven.  Ihr  Mark  ballt  sich  durch  die  Ge- 
rinnung in  rundliche  Klümpchen  zusammen,  wodurch  sie  ein  perl- 
schnurartiges Ansehen  annehmen.  Dieses  Ansehen  nehmen  sie  so 
rasch  an,  dass  man  lange  der  Meinung  war,  es  komme  ihnen  das- 
selbe normgemäss  auch  im  frischen  Zustande  zu.  Man  nannte  sie 
deshalb  varicöse  Fasern. 

c)  Graue  oder  sympathische  Nervenfasern. 

Diese  Fasern  sind  marklos.  Sie  bestehen  nur  aus  einem  Axen- 
cylinder, mit  oder  ohne  Scheide.  Streng  genommen,  bilden  sie 
keine  eigene  Art  von  Nervenfasern,  da  alle  markhaltigen  Fasern,  wie 
wir  früher  angeführt  haben,  an  ihrem  Ursprung  und  an  ihrem 
peripherischen  Ende  marklos  sind.  Da  die  markhaltigen  Nerven- 
fasern, sich  wegen  starker  Lichtbrechung  und  Reflexion  des  Markes, 
weiss  präsentiren,   können   die   marklosen  Fasern  nicht  weiss  sein. 


188 


S.  6T.  MikTMk^^iM^  Pf  »I»  4m  NtnrwMyttens 


Sie  erscheinen  vieJmehr  b<*i  |jrö«serer  Anhäufung  grau,  —  daher 
ihr  Name:  graue  Nervx^nfaM'jni.  Sympathische  oder  auch  vegeta- 
tive Fasern  heisson  «<**  iHn!^«  massenhaften  Vorkommens  im  Sym- 
pathicus  wofc^n«  in  wt^lcWin  «ie  auch  zuerst  von  Remak  aufgefunden 
wurden.  Honl^  n^i^ni  «i«^«  ihres  Ansehens  wegen ,  gelatinöse 
Fasern.  Wi^»  iHriMi  Ra«  betrifft,  so  bestehen  sie  aus  einer  leicht 
granulirh^n  xni^^r  H\xm\^non  Substanz,  und  führen  von  Stelle  zu 
Stelle,  «T'niwt^^iHr  in  iHr^m  Inneren  eingeschlossene,  oder  oberflächlich 
Äwflit»^:^'^^  *|MiHWhSirmige  Kerne,  deren  Längenaxe  der  longitudi- 
naln^«  KtK'^Hl^n^  Uw  Ka^er  folgt.  Sie  sind  feiner  als  die  Fasern  der 
tVro(^^v^M^^%^rv«^n.  Nerven,  welche  durch  gewisse  physiologische 
F»^*tA^I^  sWr  t^r^jane,  in  welchen  sie  vorkommen,  an  Masse  zu- 
^MT^wv^  #  R  «lie  Nerven  des  schwangeren  Uterus,  verdanken  ihre 
^Niw^^rv^H^^ru^i|f  nur  einer  numerisch  wachsenden  Entwicklung 
^^w^«im'  ^emu«"!!  Fasern.  Valentin  und  Kolli ker  bestreiten  ihre 
Nt^^v^^l^alur«  und  erklären  sie  für  Bindegewebsftlden,  eine  Ansicht, 
>M^K"Wr  ioh  nicht  beipflichten  kann,  da  diese  Fasern  durch  eine 
MUvhu*\jj  von  Salpetersäure  und  chlorsaurem  Kali  (das  empfind- 
Uvk^l^  Keagens  auf  Bindegewebe)  nicht  im  geringsten  afficirt  werden. 
IW  häutige  Vorkommen  dieser  Fasern  im  Gehirn  und  Rückenmark, 
w\\  Hie  ilen  übrigen  wahren  Nervenelementen  zur  Stütze  dienen, 
i^n«»  auf  nachweisliche  Art  mit  ihnen  zusammenzuhängen,  Hess  sie 
auch  als  sogenannte  Stützfasern  bezeichnen.  Schliesslich  bemerke 
ioh  noch,  dass  man  sich  bewogen  fand,  in  den  grauen  Nervenfasern, 
ihres  tiberwiegend  zahlreichen  Vorkommens  im  embryonischen 
Nerven  wegen ,  einen  niederen  Entwicklungsgrad  gewöhnlicher 
Nervenprimitivfasern  anzuerkennen,  wie  denn  auch  am  neugebornen 
Kinde,  an  gewissen  Organen  (weicher  Gaumen),  Mengen  von  grauen 
Fasern  zu  sehen  sind,  während  bei  Erwachsenen  daselbst  nur  mark- 
hältige  Fasern  angetroffen  werden.  Uebrigens  besteht  der  Sym- 
pathicus  nicht  einzig  aus  diesen  Fasern.  Es  treten  vielmehr  auch 
zahlreiche  markhaltige  Cerebrospinalfasern  in  ihn  ein,  und  mischen 
sich  mit  den  grauen. 

B.  Nervenzellen, 

Sie  sind  rundliche,  ovale,  oder  birnförmige,  auch  eckige,  stern- 
förmige, meistens  plattgedrückte,  kernhaltige  Zellen.  Ihre  Grösse 
schwankt  zwischen  0,003''*  und  0,05"'.  In  grösseren  Massen  an- 
gehäuft, kommen  sie  in  den  Ganglien  vor,  und  werden  deshalb 
gewöhnlich  Ganglienzellen  genannt.  Da  sie  in  Wasser  stark 
aufquellen  und  sphäroidisch  werden,  erhielten  sie  auch  den  Namen 
Ganglienkugeln.  In  der  grauen  Gehimsubstanz ,  deren  Farbe 
von  diesen  2iellen  abhängt^  finden  sie  sich  ebenso  zahhreich^  wie  in 


§.  67.  MJkrotkopitohe  BleuMnte  d«0  Nerrensyttent.  189 

den  Ganglien.  Sie  wurden  aber  auch  in  den  peripherischen  Aub- 
breitnngen  gewisser  Nerven,  z.  B.  des  Sehnerven  und  Hörnerven, 
angetroffen. 

Jede  Nervenzelle  besteht  1.  aus  einer  structurlosen  Umhüllungs- 
membran, welche  sich  in  die  HiiUe  der  aus  der  Zelle  hervortretenden 
Primitivfasern  fortsetzt,  2.  aus  einem  rundlichen  Kern,  welcher  in 
der  Regel  nur  ein,  selten  zwei  Kemkörperchen  enthält  (ja  man 
spricht  selbst  von  Kernen  der  Kemkörperchen  als  Nudeololi),  3.  aus 
einem  zwischen  Hülle  und  Kern  befindlichen  körnigen,  blassen  oder 
pigmentirten  Protoplasma,  als  Zelleninhalt. 

Es  finden  sich  Ganglienzellen  mit  und  ohne  Aeste.  Die  Aeste 
oder  Fortsätze  gehen  in  marklose  Nervenfasern  über,  welche  zu 
markhaltigen  Fasern  werden.  Einzelne  Fortsätze  einer  Zelle  ver- 
binden sich  auch  häufig  mit  denen  einer  zweiten.  Viele  derselben 
jedoch  verästeln  sich  in  feinere  Zweige,  welche  in  das  umgebende 
Gewebe  eindringen,  wie  die  Wurzeln  der  Pflanzen  in  den  Grund, 
ohne  daselbst  eine  Verbindung  mit  anderen  Nervenfasern  einzu- 
gehen. Mangel  oder  Zahl  der  Fortsätze  verhalf  den  Ganglienzellen 
zur  Benennung  als  apolare,  unipolare,  bipolare  und  multi- 
polare Zellen.  —  Apolare  Ganglienzellen,  auch  freie  oder  insulare 
genannt,  weil  sie  zwischen  den  Primitivfasern  wie  Inseln  einge- 
schlossen liegen,  finden  sich  in  grosser  Anzahl  in  allen  Ganglien. 
Man  ist  jedoch  nie  ganz  gewiss,  ob  man  es  nicht  mit  einem  Kunst- 
product  zu  thun  hat,  da  die  Fortsätze,  bei  der  vergleichungsweise 
rohen  Behandlung  der  Ganglien  durch  Zerzupfen,  leicht  abreissen, 
oder  die  Zelle  unter  dem  Mikroskope  so  zu  liegen  kommt,  dass  jene 
Seite  derselben,  aus  welcher  ein  Fortsatz  abgeht,  die  abgewendete 
ist,  oder  an  Durchschnittspräparaten  gerade  jener  Theil  der  Zelle, 
von  welcher  ein  Fortsatz  ausging ,  nicht  mehr  vorhanden  ist. 
Unipolare  Ganglienzellen  kommen  in  den  Ganglien  des  Sympathicus 
vor;  bipolare  hat  man  in  den  Spinalganglien,  im  Ganglion  Oasseri, 
jugidare  vagi  und  glo88opharyngei  aufgefunden,  und  multipolare  vorzugs- 
weise in  der  grauen  Substanz  des  Gehirns  und  Rückenmarks,  wo 
sie  auch  am  grössten  sind,  und  sich  durch  ihre  verästelten  Fortsätze 
auszeichnen,  während  die  kleinsten  derselben,  in  jenen  mikroskopisch 
kleinen  Ganglien  einheimisch  sind,  welche  in  der  Wand  des  Darm- 
kanalö,  der  Harnblase,  des  Herzens,  und  einiger  anderer  Organe 
eingeschaltet  liegen.  —  An  vielen  Ganglienzellen  im  Gehirn  und 
Rückenmark,  nimmt  ihr  Protoplasma  derart  an  Menge  ab,  dass  man 
nur  grosse  Kerne  vor  sich  zu  haben  glaubt,  welches  Vorkommen  denn 
auch  durch  den  Namen  Nuclearformation  ausgedrückt  wird.  Die 
sogenannte  Körnerschichte  der  Netzhaut  gehört  ebenfalls  hieher. 

Jedes  Ganglion  besitzt,  so  wie  jeder  dickere  Nervenstamm,  eine 
geiassreiche  Bindegewebsscheide  —  das  Neurilemma.   Dieses  schickt 


1 90  |.  9%.  Unprang  (etntnüat  Ende)  der  Narren. 

Fortriätze    in   die   Substanz   des  Ganglion,  und  zwischen  die  Faser- 
bUndel  der  Nerven  hinein. 

Das  Zerfaaem  eines  Nerven  mit  Nadelspitzen,  ist  für  Gebilde  von  solcher 
Feinheit,  wie  die  Primitivfasem  der  Nerven,  eine  rohe  Vorbereitung  zur  mikro- 
ttkopischen  Untersuehong.  Um  Primitivfasem  zu  sehen,  thut  man  besser,  lieber 
die  feinsten  natürlichen  Nervenramificationen,  als  gröbere,  durch  Kunst  zerfaserte 
Bündel,  unter  das  Mikroskop  zu  bringen.  Die  feinen  Nerven  durchsichtiger  Theile, 
z.  B.  der  Bauchfellduplicaturen,  die  freien  Nervenföden,  welche  man  beim  Ab- 
ziehen der  Haut  der  Frösche  zwischen  dieser  und  den  Muskeln  ausgespannt  findet, 
die  Augenlider  der  Frösche,  etc.  eignen  sich  zu  solchen  Untersuchungen  sehr  gut. 
Die  Reagentien,  deren  man  sich  zur  Darstellung  der  Axencylinder  bedient,  sind 
concentrirte  Essigsäure,  Chromsäure,  Sublimat  (Czermak),  Jod  (Lehmann), 
Aether  (Kölliker),  und  Collodium  (Pflüger). 

Literatur.  Die  ältere  Literatur  ist  in  Heulens  Gewebslehre  und  in 
Valentin^s  Bearbeitung  der  Sömmerring^schen  Nervenlehre  vollständig  gesammelt. 
Die  wichtigsten  neueren  Arbeiten  deutscher  Forscher  über  Neuromikrographie 
sind:  A.    W.   VdUanann,  Über  Nervenfasern  und  deren  Messung,  in  MiiUer'a  Archiv. 

1844.  —  Purkinje,    mikroskopisch- neurologische  Beobachtungen.     MUUer^$  Archiv. 

1845.  —  Remak,  übor  ein  selbstständiges  Darmnervensystem.  Berlin,  1847.  — 
R,  Wagner,  neue  Untersuchungen  über  Bau  und  Endigung  der  Nerven.  Leipzig, 
1847.  —  R.  Wagner,  sympatliische  Nervenganglienstructur  und  Nervenendigungen, 
in  dessen  Handwörterbuch  der  Physiologie.  3.  Bd.  —  F.  H,  Bidder,  zur  Lehre 
von  dem  Verhältniss  der  Ganglienkörper  zur  Nervenfaser.  Dorpat,  1848.  — 
A,  Kölliker,  neurologisclie  Bemerkungen,  Zeitschr.  für  wissenschaftliche  Zoologie. 
1.  Bd.  —  N.  Lisberkühn,  de  structura  'gangliorum  penitiori.  Berol.,  1849.  — 
C.  Axmann,  Beiträge  zur  mikroskopischen  Anatomie  und  Physiologie  des  Ganglien- 
nervensystems.  Berlin,  1853.  —  G.  Wagner,  Über  den  Zusammenhang  des  Kernes 
und  Kemkörpers  der  Ganglienzelle  mit  dem  Nervenfaden,  in  der  Zeitschrift  für 
wiss.  Med.  8.  Bd.  —  Ueber  die  Deutung  gewisser  faseriger  Elemente  und 
2^11en  des  centralen  Nervensystems  ab  Bindegewebsfasern  und  Bindegewebs- 
körperchen,  sind  Bidder'a  und  Kupffer*8  Untersuchungen  über  die  Textur  des 
Rückenmarks,  Leipzig,  1857,  nachzusehen.  Eine  Kritik  derselben  enthält  Henle'» 
Jahresbericht.  1857.  —  B,  SUtUng,  neue  Untersuchungen  über  den  Bau  des 
Rückenmarks,  mit  Atlas,  Cassel,  1857 — 1859,  wo  g^ndliche  Würdigung  alles  Be- 
kannten, und  reiche  Angabe  neuer  Beobachtungen  zu  finden  ist.  —  Deüer$,  über 
Gehirn  und  Rückenmark.  Braunschweig,  1865.  —  M.  Schuäze,  de  ceUularum 
fibrarumque  nervearum  structura.  Bonn.,  1868.  —  Fast  jedes  Heft  der  anatom. 
Zeitschriften  bringt  Beiträge  zu  dieser  massenhaft  angewachsenen  Literatur. 


§.  68.  Ursprung  (centrales  Ende)  der  ITerven. 

Es  leuchtet  a  priori  ein,  dass  der  Ursprung  der  Nerven,  auch 
der  Ausgangspunkt  ihrer  Thätigkeiten  ist.  Es  bleibt  deshalb  eine 
der  wichtigsten  Aufgaben  der  Anatomie,  die  Stellen  nachzuweisen, 
an  welchen  die  mikroskopischen  Elemente  der  Nerven  ihre  Ent- 
stehung nehmen. 

Der  Ursprung  der  Primitivfasem  der  Nerven  ist  theils  im  Ge- 
hirn, theils  im  Rückenmark^  theils  in  den  Ganglien  zu  suchen.  Sie 


§.  69.  PeripbftriMhes  End«  der  Narren.  191 

gehen  sämmtlich  aus  den  Zellen  der  grauen  Substanz  hervor.  Das 
ist  ein  ausnahmsloses  Gesetz !  Faserursprünge  ausserhalb  der  Zellen 
kennt  man  nicht.  Aus  welcher  Zelle  und  aus  welchem  Fortsatz 
einer  Zelle  aber  jede  einzelne  Faser  der  verschiedenen  Nerven  ent- 
springt, wird  wohl  ewig  unbekannt  bleiben!  Ein  hartes,  aber  wahres 
Urtheil  über  die  Zukunft  der  mikroskopischen  Neurotomie.  „Kurz", 
sagt  Volk  mann,  „wir  kennen  die  Anfänge  der  Nervenfasern  nicht, 
und  werden  sie  wahrscheinlich  niemals  kennen." 

Bezüglich  des  Ursprunges  von  Primitivfasern  aus  den  Ganglien- 
zellen, hat  zuerst  Kolli k er  gezeigt,  d&ss  die  structurlose  Hülle  der 
Ganglienzellen,  sich  in  die  structurlose  Hülle  der  aus  dem  Ganglion 
hervortretenden  Primitivfasem  fortsetzt,  und  dass  der  Axencylinder 
aus  dem  Kern  der  Gtinglienzelle  hervorgeht.  Dass  die  Ganglien 
wirkliche  Erzeugungsstätten  neuer  Primitivfasern  sind,  beweisen  die 
in  den  Ganglien  vorkommenden  unipolaren  Zellen,  welche  nur  mit 
Einer  peripherisch  auslaufenden  Faser  zusammenhängen.  Die 
Frage:  ob  es  wirklich  auch  Ganglienzellen  ohne  Faserursprünge 
gebe  (apolare),  wurde  von  KöUik er  dahin  beantwortet:  dass  solche 
Zellen,  nicht  blos  im  Gehirn  und  Rückenmark,  sondern  auch  in  den 
Ganglien  des  Sympathicus  und  der  Cerebrospinalnerven  so  constant 
und  häufig  vorkommen,  dass  die  Frage  eigentlich  die  ist,  ob  über- 
haupt ein  Ganglion  existirt,  in  welchem  dieselben  gänzlich  mangeln. 
—  Das  Mark  einer  Primitivfaser  kann  nicht  als  eine  Fortsetzung 
des  Inhaltes  der  Ganglienzelle  angesehen  werden,  da  aDe  Primitiv- 
fasern marklos  aus  der  Zelle  Iiervorkommen,  und  das  Mark  erst  im 
weiteren  Verlauf  der  Faser  sich  einfindet. 

Durch  die  den  Gegenstand  dieses  Paragraphes  betreffenden  zahlreichen 
Arbeiten,  welche  theils  an  kaltblütigen  Wirbelthieren,  theils  an  Wirbellosen  vor- 
genommen wnrden,  wurde  zwar  eine  reiche  Ernte  von  vereinzelten  That- 
sachen  über  den  fraglichen  Gegenstand  eingebracht,  welche  aber  bei  weitem 
noch  nicht  hinreicht,  die  Untersuchungen  über  das  Verhältnis»  der  Ganglien  zu 
den  Nerven  als  abgeschlossen  zu  betrachten.  Wer  die  Schwierigkeit  dieser  Art 
mikroskopischer  Forschungen  kennt,  wird  es  zugeben,  dass  noch  sehr  viel  zu 
thun  übrig  ist,  um  auch  nur  von  einem  einzigen  Ganglion  sagen  zu  können,  das 
Wechselverhältniss  seiner  ein-  und  austretenden  Nerven    sei  genügend  aufgekl&rt. 


§.  69.  Peripherisclies  Ende  der  Uerven. 

Ueber  das  peripherische  Ende  der  Sympathicusfasern  weiss 
mau  so  viel  wie  Nichts.  Besser  sind  wir  mit  den  Cerebrospinalfasem 
daran,  über  deren  Endigungen  wir  der  vergleichenden  Anatomie  bei 
weitem  mehr  Aufschlüsse  als  der  menschlichen  zu  danken  haben. 
Vor  Allem  ist  zu  bemerken^  dass  die  bisherigen  Annafamen  eines 
unverästelten  Verlaufes^  und   einer  an  allen  Punkten  des  Verlaufes 


192 

%.  e».  Peripkeritcket  Ende  der  Nerrea. 

«ich  gleichbleibenden  Dicke  einer  Primitivfaser,  nicht  mehr  statt- 
haft sind.  Der  unverästelte  Verlauf  gilt  nur  fUr  jene  Strecke,  welche 
eine  Nervenfaser  bis  zu  ihrem  peripherischen  Endigungsbezirke 
zurücklegt.  Nahe  ihrem  peripherischen  Ende,  wird  die  Primitiv- 
faser marklos,  und  ihr  Axencylinder  pflegt  sich  in  feinere  Fasern 
zu  spalten.  Die  Spaltung  wiederholt  sich  mehrfach.  Es  kommt 
wohl  auch,  durch  Verbindung  der  Spaltungsäste,  zu  Netzen,  welche 
aber  nicht  als  Endgeflechte  anzusehen  sind,  da  aus  ihnen  noch 
Ausläufer  abgehen.  Wie  endigen  nun  diese  letzten  Ausläufer  einer 
Pnmitivfaser  ? 

Eme  entschiedene  und  über  alle  Zweifel  erhabene  peripherische 

uaigungsweise  von  Nervenfasern,  kennen  wir  bisher  in  den  Pacini- 

sehen  Körperchen  (§.  70)  als  knopffdrmige,  ringsum  abgeschlossene, 

in  keine  Nachbarstheile   ausstrahlende  Endanschwellung   des  Axen- 

cyhnders.  Ebenso  in  den  stabförmigen  Körpern  der  Netzhaut,  und  nach 

sehr  warmen  Versicherungen,  auch  in  den  Terminalzellen  des  G-ehör- 

nerven,  in  gewissen  Epithelialzellen  der  Riechschleimhaut  und  der 

Ziunge,  in  den  freien  Endanschwellungen  der  sympathischen  Fasern 

in  Lusohka's  Steissdrüse  (§.  325),  u.  m.  a.   Nach  Krause  endigen 

die  sensitiven  Nervenfasern  in  der  Conjunctiva,  im  weichen  Gaumen, 

in   der   Clitoris,    im   männlichen    Gliede,    im   rothen    Lippenrande, 

gleichfalls  mit  knopfförmigen   Auftreibungen    (Kolben).      Krause 

hofft,   dass   die    von   verschiedenen  Autoren  angeführten    „freien" 

Nervenendigungen,  sich  alle  als  kolbige  herausstellen  werden,   denn 

die   Mikroskopie   gebietet   über   sehr   fügsame   Charaktere,    welche 

sich  leicht  hineinfinden,  totiea  mutatam  flere  fidem. 

Die  von  Gerber,  Hannover,  Emmert,  u.  A.  angenommenen 
peripherischen  Nervenschlingen,  d.  i.  bogenförmige  Uebergänge 
zweier  Primitivfasem  an  ihrem  peripherischen  Ende,  erfreuten  sich 
nur  kurze  Zeit  ihrer  Geltung,  indem  viele  jener  Beobachtungen, 
welche  die  Existenz  der  Schlingen  nachwiesen,  durch  entgegen- 
gesetzte aufgewogen  wurden.  Vom  theoretischen  Standpunkte  aus, 
sind  die  Schlingen  nicht  blos  etwas  Käthselhaftes ,  sondern  etwas 
Unbrauchbares,  man  möchte  sagen,  etwas  Absurdes  (Volk mann). 
Die  Schlinge  lässt  sich  in  der  That  mit  unseren  Vorstellungen  über 
Nervenleitung  nicht  vereinbaren.  Und  dennoch  giebt  es  deren 
(§.  71.  5).  Ich  kann,  unter  Berufung  auf  den  citirten  Paragraph, 
nur  sagen:  dass  wahrscheinlicher  Weise  unsere  Vorstellungen  über 
die  Leistung  einer  Schlinge,  nicht  aber  die  Schlingen  selbst  etwas 
Irriges  sind.  Wenn  mehrere  Primitivfasem  an  ihrem  peripherischen 
Ende  sich  theilen,  ihre  Theilungsäste  sich  vielfaltig  untereinander 
verbinden,  Netze  und  Geflechte  bilden,  wie  es  so  oft  in  den  ver- 
schiedensten Organen  von  jedem  Mikrologen  gesehen  werden  kann, 
wie   will   man,  frage   ich^   diese  Verbindungen  anders  nennen  als 


§.  69.  Peripherische  Ende  der  Nerren.  193 

Schlingen?   und   was   ist   ein  Geflecht  Anderes,  als  eine  Summe 
von  Schlingen? 

Die  peripherischen  Endigungen  der  Sinnesnerven  erwähne  ich 
bei  den  betreflfenden  Paragraphen  der  Nervenlehre.  Die  Enden  der 
motorischen  Nerven  in  den  animalen  Muskeln,  gestalten  sich  nach 
Kühne  so,  dass  die  letzten  Ausläufer  einer  motorischen  Nerven- 
faser ihre  doppelten  Contouren  verlieren,  ihre  Hülle  in  das  Sarco- 
lemma  der  Muskelfaser  übergeht,  ihr  Axencylinder  aber  nicht  in 
das  Innere  dieser  Faser  eindringt,  sondern  unter  dem  Sarcolemma 
mit  einer  knospenförmigen  Anschwellung  oder  einer  plattenförmigen 
Ausbreitung  endet,  welche  auf  einer  Sohle  von  Protoplasmakörnern 
und  Kernen  aufruht.  Diese  Endplatten  oder  Endknospen  sind  gegen 
den  Inhalt  der  Muskelfaser  sehr  scharf  abgesetzt;  gegen  das  Sarco- 
lemma zu,  sind  sie  stärker  gewölbt,  und  drängen  dasselbe  als 
scharf-  oder  stumpfspitzige  Hügel  hervor,  welche  Doyfere  zuerst 
bei  Crustaceen  gesehen  hat.  Ihre  Peripherie  ist  so  ansehnlich,  dass 
sie  bis  einem  Drittel  der  Peripherie  der  Muskelfaser  entsprechen. 
Ihr  Rand  erscheint  nicht  selten  in  kolben-  oder  lappenformige  Fort- 
sätze verlängert.  Kölliker's  Einwendungen  haben  an  der  Lehre 
Kühne's  nichts  geändert.  Sie  wurde  von  anderen  Mikrologen  so 
vielseitig  bestätigt,  dass  sie  gegenwärtig  allgemein  adoptirt  ist.  — 
Bezüglich  der  Nervenendigungen  in  den  organischen  Muskeln,  hat 
Franke nhauser  gefunden,  dass  die  Axencylinder  der  motorischen 
Primitivfasem ,  in  die  Kerne  der  spindelförmigen  Faserzellen  ein- 
treten. 

In  den  Speicheldrüsen  sollen  die  Nervenfasern  in  die  Epithelien 
derselben  eindringen,  die  Zellen  derselben  mit  ihren  marklos  ge- 
wordenen Aesten  umspinnen,  ja  selbst  in  den  Kernen  dieser  Zellen 
endigen.  Hoyer,  Cohnheim  und  Kölliker,  sahen  die  marklosen 
Ausläufer  des  Nervennetzes  der  Faserschichte  der  Hornhaut,  die 
vordere  structurlose  Schichte  dieser  Membran  durchbohren,  und 
sich  zwischen  den  Zellen  des  mehrfach  geschichteten  Epithels,  bis 
in  die  oberflächliche  Schichte  desselben  erheben,  um  zwischen  den- 
selben frei  zu  endigen.  Ebenso  fand  Langerhans,  dass  die  mark- 
losen Nervenfasern  der  Cutis,  zwischen  die  Zellen  des  Mucua 
Malfighii  eindringen,  und  daselbst  in  kleineren  Zellen  untergehen, 
welche  selbst  wieder  fadenförmige  Ausläufer  gegen  die  Epidermis 
hin  absenden,  unterhalb  welcher  sie  mit  leichten  Anschwellungen 
endigen  sollen.  Man  will  sogar  kolbige  Nervenenden  zwischen  den 
Epidermiszellen  gesehen  haben. 

Ueber  Nervenendigungen  handeln:  Kollikerf  Sitzungsberichte  der  med.  phys. 
Gesellschaft   zu  Wtlrzburg,    1866.    Dec.    (Zitterrochen.)   —  Leyäig,    Zeitschrift  fiir 
wiss    Zoologie,  V.  Bd.,  und  MiiOer't   Archiv,    1866.  —  R    Wagner,  über  die  En- 
digungen der  Nerven  im  iüUgWMias^  Fmmntigf»  NoÜieii,  1867.  4.  Bd.  —  Krau99f 
Hyrtl,  Lehrbuch  d«r  Ana*^  18 


194  §.  70.  PaciDi^scIie  Körperchen  und  Wagner*6  Tastkörperchen. 

die  tenninalen  Körperchen  der  einfach  sensitiven  Nerven.  Hannover,  1860,  und  im 
Archiv  für  Anat.  1868.  —  Kühfie,  die  peripherischen  Endorgane  motor.  Nerven. 
Leipzig,  1862.  —  Oreeff,  im  Arch.  fiir  mikr.  Anat.  1.  Bd.  —  W.  Pflüger,  die 
Endigungen  der  Nerven  in  den  Speicheldrüsen.  Bonn,  1866.  —  Hoyer,  Arch.  für 
Anat  und  Phys.  1866.  —  Oohnheim,  med.  Centralhlatt  1866,  Nr.  26.  —  Kölliker, 
Würzburger  phjs.  med.  Gesellschaft,  1866.  —  Engdmofm,  Jena^sche  Zeitschrift, 
1.  und  4.  Bd.  —  Frankenhauäer,  Nerven  der  Gebärmutter,  etc.  Jena,  1867.  — 
Baue,  die  Nervenendigungen  in  den  Geschlechtsorganen.  Zeitschrift  für  rat.  Med. 
1868.  —  Langerhang,  Virchow^s  Arch.  44.  Bd.  —  Mojgisovics  (Nervenendigungen 
in  der  Epidermis),  Sitzungsberichte  der  Wiener  Akad.  1875: 


§.  70.  Pacini'sclie  Körperchen  und  Wagner's  Tastkörperchen. 

Als  sehr  charakteristische  Formen  von  peripherer  Nerven- 
endigung sind  die  Pacini'schen  Körperchen  und  Wagner's  Tast- 
körperchen eines  eigenen  Paragraphes  werth.  Sie  wurden  von 
Krause,  mit  den  von  ihm  entdeckten  Endkolben  sensitiver  Nerven 
in  eine  Gruppe  zusammengestellt,  und  als  ,,terminale  Endkörperchen 
sensitiver  Nerven"  benannt. 


a)  Padnische  Körperchen. 

Es  finden  sich  an  den  feineren  Ramificationen  vieler  Nerven 
weisse,  kleine,  elliptische  Körperchen,  seitlich  anliegend,  oder  durch 
Stiele  mit  ihnen  zusammenhängend.  Ihre  Länge  variirt  von  l'/s 
bis  2  Millimeter.  Am  häufigsten  und  grössten  kommen  sie  an  den 
Hohlhand-  und  Fingerästen  des  N&rvus  tUnaris  und  medianus  (be- 
sonders im  Tastpolster  der  Fingerspitzen),  an  beiden  Nervi  plantares, 
seltener  und  kleiner  am  Plexus  sacrcUis,  coccygeus  (Luschka)  und 
epigastricus,  am  Nervus  crurcUis,  an  einigen  Hautnerven  der  oberen 
und  unteren  Extremität,  an  jenen  der  männlichen  und  weiblichen 
Brustwarze  vor.  Auch  an  den  Nerven  der  Bänder  und  der  Bein- 
haut wurden  sie  in  neuester  Zeit  beobachtet  (Rauber).  Ich  erwähnte 
ihr  Vorkommen  auch  am  Nervus  tnfraorbüalis.  In  der  Handfläche 
eines  Prachtpräparates  meiner  Sammlung,  zähle  ich  deren  über  250 
(Herbst  spricht  von  600).  Sie  bestehen  aus  sehr  vielen  conceii- 
trischen,  häutigen  Kapseln,  welche  durch  serumhaltige  Zwischen- 
räume von  einander  getrennt  sind.  Auch  der  Stiel  ist  ein  System 
in  einander  geschobener  Röhren.  Die  innerste  Kapsel  umschliesst 
keinen  Hohlraum,  wie  man  anfangs  meinte,  sondern  einen  aus 
homogenem,  kemfiihrendem  Bindegewebe  bestehenden  Kolben  (Innen- 
kolben). —  Der  durch  den  Stiel  des  Körperchens,  in  Begleitung 
eines  CapiUargefässes  eindringende  Axencylinder,  dessen  Scheide  und 
Mark,   in   die  concentrischen  Kapseln  des  Körperchens  übergeht, 


§.  70.  Pftcini*sehe  KArp«roh«n  nnd  Wagner*!  Tastkörperchen.  195 

endigt  im  Innenkolben  mit  einer  einfachen  knopfförmigen  An- 
schwellung^ oder  theilt  sich  gabelförmig^  um  mit  kleineren  Eoiöpfchen 
aufzuhören.  —  Man  braucht  sich  von  einem  Pacini'schen  Körperohen, 
nur  die  häutigen  Kapseln  und  den  Innenkolben  wegzudenken^  um 
Krause's  kolbige  Enden  sensitiver  Nerven  zu  erhalten.  Eine  Ver- 
wandtschaft beider  lässt  sich  somit  immerhin  annehmen. 

Die  PacinTschen  Körperehen  waren  schon  dem  Professor  der  Anatomie  za 
Wittenberg,  A.  Vater,  vor  130  Jahren,  als  Papulae  nerveae  bekannt,  obwohl  er 
von  ihrer  Stmctur  keine  Ahnung  hatte.  Sie  wurden  aber  anfangs  gar  nicht  be- 
achtet, und  kamen  in  Vergessenheit,  bis  sie  in  unserer  Zeit  von  Pacini  zum 
zweitenmal  entdeckt  und  auch  auf  ihre  Stmctur  genauer  untersucht  wurden. 
Henle,  Kölliker  und  Osann  fanden  sie  in  allen  Sftugethierordnungen  auf, 
Herbst  auch  an  den  Mittelhandknochen  bei  Vögeln.  Niemals  sind  die  Nerven, 
an  welchen  sie  vorkommen,  motorischer  Natur.  Beim  Erwachsenen  sind  sie  an 
den  Hautnerven  der  Fingerspitzen  und  Zehen  am  zahlreichsten,  und  zwar  weniger 
an  den  Hauptstämmen,  als  an  den  feineren  Zweigen  derselben.  Man  präparirt  sie 
am  besten,  wenn  man  Haut  und  Fleisch  einer  Fusssohle  hart  an  den  Knochen 
loslöst,  und  dann  von  innen  her  die  Nervenstämme  verfolgt.  So  lange  die  Nerven 
noch  unter  der  Fascia  pkmtaris  liegen,  zeigen  sie  nur  wenig  Pacini*sche  Körper- 
chen ;  haben  sie  aber  die  Fascie  durchbohrt,  und  sind  sie  in  das  fettreiche  Unter- 
hautzellgewebe gelangt,  so  findet  man  sie  viel  zahlreicher  damit  ausgestattet, 
selbst  bis  zu  ihren  feinsten  Verästlungen  hin.  Bei  der  Katze  kommen  sie  auch 
an  den  sympathischen  Geflechten  im  Mesenterium,  und  in  dem  Bindegewebe  um 
das  Pancreas  vor,  wo  sie  auch  am  leichtesten,  fast  ohne  alle  Präparation,  dem 
Anfänger  zugänglich  sind.  Er  braucht  nur  das  Mesenterium  gegen  das  Licht  zu 
halten,  um  diese  Körperchen  als  runde  helle  Punkte  zu  sehen.  Da  sie  sich 
schon  bei  Embryonen  vorfinden,  und  bei  vollkommen  gesunden  Individuen  nie  ver- 
misst  werden,  kann  an  einen  pathologischen  Ursprung  derselben  nicht  gedacht 
werden.  Man  hat  auch  an  eine  Verwandtschaft  der  Pacini*schen  Körperchen  mit 
den  electrischen  Organen  gewisser  Fische  gedacht 

Ausführliches  siehe  bei  F,  Padni,  nuovi  org^ni  scoperti  nel  corpo  umano, 
Pistoja^  1840.  —  J,  Heide  und  A.  Köiüker,  über  die  Padni'schen  Körperchen. 
Zürich,  1844,  wo  auch  das  Historische  zusammengestellt  ist  —  Purkinje,  über  die 
Pacini'schen  Körperchen,  in  Casper'a  Wochenschrift  1846.  Nr.  48.  —  G.  Herbat, 
die  Pacini'schen  Körperchen.  Göttingen,  1848  (besonders  reich  an  vergl.  anat  An- 
gaben). —  F.  Leydig  (über  die  Pacinl*schen  Körperchen  der  Taube),  in  der  Zeit- 
schrift für  wiss.  Zoologie,  6.  Bd.  —  A,  Kölliker,  in  der  Zeitechrift  für  wias. 
Zoologie,  5.  und  8.  Bd.  —  W.  Keferatein,  in  den  Göttinger  Nachrichten,  1868. 
Nr.  8.  —  Hyrü,  Oesterr.  Zeitschrift  für  prakt.  Heilkunde,  1869.  Nr.  47  (Pacini'sche 
Körperchen  am  Nervus  infrcurrbitalis).  —  Krause,  anat.  Untersuchungen.  Hannover, 
1861.  —  Rauher,  Untersuchungen  über  das  Vorkommen  der  Vater'schen  Körper- 
chen. München,  1867,  und  desselben  Autors:  Vater'sche  Körperchen  in  den  Gelenks- 
kapseln, Med.  Centralblatt.  1874. 

h)   Tastkörperchen. 

G.  Meissner  und  R.  Wagner  machten  1852  den  interessanten 
Fund,  dass  gewisse  Tastwärzchen  der  Haut,  gewöhnlich  die  niedrigen 
und  dicken,  besonders  an  der  Volarfläche  der  lotsten  Finger-  und 
Zehenglieder,  einen  elliptischen,  Beken  qihir 


196  §•  71.  Anatomische  Eigeatehaften  der  Nerren. 

Körper  einschliessen,  zu  welchem  das  letzte  Ende  eines  oder  zweier 
feinster  Tastnervenfaden,  in  terminaler  Beziehung  steht.  Wagner 
nannte  diese  Körper  Corpuscula  tactua.  Durchschnittlich  sind  sie 
0,02'"  lang,  und  0,008—0,01'"  breit.  Die  übrigen  längeren  und 
konischen  Tastwärzchen  der  Haut,  enthalten  blos  Capillargefass- 
schlingen,  aber  weder  Tastkörperchen  noch  Nerven.  Nach  Meiss- 
ner kommen  an  den  Nagelgliedern  auf  400  nervenlose  Papillen, 
108  nervenhältige.  Wie  die  Tastnerven&den  in  den  Tastkörperchen 
endigen,  steht  noch  nicht  fest.  Die  quergestreifte  Oberfläche  der 
Tastkörperchen  lässt,  was  im  Inneren  vorgeht,  nicht  belauschen. 
Man  ist  auch  über  die  Natur  der  Querstreifen  nicht  einig.  Meiss- 
ner erklärt  sie  für  die  in  Spiraltouren  um  einen  inneren  homogenen 
Bindegewebskem  herumgehenden  Endäste  einer  Nervenprimitivfaser. 
Der  Umstand,  dass  bei  Lähmung  der  betreffenden  Hautnerven ,  die 
Querstreifung  der  Tastkörperchen  schwindet,  vindicirt  wohl  ihre 
Bedeutung  als  spirale  Aufknäuelung  einer  terminalen  Nervenfaser, 
wogegen  Kölliker  und  Bidder  Einwendungen  erhoben  haben. 

MeUtner,  Beiträge  zur  Anat.  und  Phys.  der  Etaut  Leipzig,  1868.  —  Neuere 
Angaben  von  G^erlach  und  Nuhn,  in  der  illofltr.  med.  Zeitschrift  2.  Bd.  — 
Leydig,  Möller'B  Archiv.  1866.  —  Ecker,  Icones  physiol.  Tab.  XVII.  —  J.  Qerlach, 
in  dessen  mikroskopischen  Stadien.  Erlangen,  1868.  —  Krause,  anat.  Unter- 
snchungen.  pag.  8,  seqq.  —  A.  Rauber,  Diss.  inang.  1866  (Tastkörperchen  der 
Bänder  und  Beinhautnerren). 


§.71.  Anatomische  Eigenschaften  der  Iferven. 

1.  Die  grösseren  Nervenstämme  bilden  lomdliche  oder  platte 
Stränge,  mit  einer  Bindegewebshülle  (Neurüemma) ,  und  faserigem, 
weichem  Inhalte.  Stärke  oder  Schwäche,  Lockerheit  oder  Straffheit 
des  Neurilemma,  bedingt  die  grössere  Härte  oder  Weichheit  des 
Nerven.  Das  Neurilemma  enthält  die  EmährungsgefUsse  des  Nerven, 
und  fuhrt  sie  seinen  Bündelabtheilungen  zu.  Der  Gefässreichthum 
der  Nerven  ist,  wie  schon  ihre  weisse  Farbe  beurkundet,  kein  be- 
deutender. Die  feinsten  Capillargefkssnetze  bilden  in  den  Nerven 
langgestreckte  Gitter  oder  Maschen. 

2.  Das  scheinbare  Dickerwerden  der  Nerven  nach  ihrem  Aus- 
tritte aus  der  Schädel-  oder  Rückgratshöhle,  beruht  nicht  auf  einer 
Vermehrung  der  Fasern,  oder  auf  einem  Dickerwerden  derselben, 
sondern  auf  dem  Auftreten  der  Scheide,  welche  jeder  Nerv,  bei 
seinem  Durchgang  durch  das  betreffende  Loch  der  Hirnschale  oder 
des  Rückgrates,  von  der  Dura  mater  erhält.  —  Oertliche  Verdickungen 
im  Verlaufe  der  Nerven  entstehen  auf  zweifache  Weise: 

a)  Durch    Divergenz    der    Primitivfasem ,     welche     auseinander 
weichen^  wie  die  FlachsflUlen  eines  angedrehten  Strickes,  sich 


§.  71.  Anatomische  EigenachftfteD  der  Nerrea.  197 

neuerdings  an  einander  legen,  und  in  den  dadurch  gebildeten 
Zwischenräumen  Ganglienkugeln  aufnehmen ,  welche  selbst 
wieder  neue  Nervenfasern  erzeugen.  Diese  Verdickungen  oder 
Anschwellungen,  welche  gewöhnlich  eine  gefössreichere  Hülle 
als  der  Nerv  selbst  besitzen,  und  durch  mehr  weniger  graue 
Färbung  sich  von  der  Farbe  des  Nervenstammes  unterscheiden, 
heissen  Nervenknoten,  Ganglia,  Fo^Y^wv  ist  bei  Hippocrates 
eine  schmerzhafte,  rundliche  Geschwulst  an  den  Gelenken,  was 
wir  Ueb  erb  ein  nennen.  Galen  gebraucht  dieses  Wort  zuerst 
für  Nervenknoten  (de  usu  partium,  Hb.  6,  cap,  5),  Die  Aus- 
drücke Gangliones,  Nodi,  und  Corpora  olivaria,  kommen  bei 
älteren  Anatomen  ebenfalls  zur  Bezeichnung  der  Ganglien  vor. 

b)  Durch  Anlagerung  eines  anderen  Nervenstammes,  also  durch 
Verbindung  zweier.  Diese  Verdickung  ist  nie  knoteuartig, 
sondern  mehr  gleichförmig,  und  erstreckt  sich  auf  längere  oder 
kürzere  Stellen,  je  nachdem  der  hinzugetretene  Nerv  sich  früher 
oder  später  wieder  entfernt.  Man  könnte  sie  die  cylindrische 
Verdickung  nennen. 

c)  Durch  massenhaftere  Entwicklung  grauer  Fasern  in  Mitten 
eines  Cerebrospinalnerven ,  wie  sie  z.  B.  von  Kollmann  im 
Bauchtheile  des  Vagus  beobachtet  wurde. 

3.  Die  Primitivfasern  der  Nerven  haben,  wie  oben  bemerkt 
wurde,  keine  Aeste,  können  also  nicht  durch  Anastomosen,  unter  ein- 
ander zusammenhängen.  Nur  in  ihren  centralen  und  peripherischen 
Endbezirken  zeigen  die  Primitivfasern  dichotomische  Theilungen, 
und  Anastomosen  zwischen  den  verschiedenen  Theilungsästen.  Ver- 
ästelt sich  nun  ein  Nervenstamm,  so  kann  der  Ast  des  Nerven,  nicht 
als  eine  Summe  von  Aesten  der  Primitivfasern  genommen  werden. 
Der  Ast  entsteht  vielmehr  nur  dadurch,  dass  von  vielen,  in  einem 
Nervenstamme  parallel  neben  einander  liegenden,  nicht  anastomo- 
sirenden  Primitivfasern,  ein  Bündel  sich  ablöst,  und  seitwärts  abtritt. 

4.  Verbinden  sich  zwei  Nerven  (nicht  Nervenfasern)  zu  einem 
Stamme,  oder  werden  sie  durch  Zwischenbogen  unter  einander  ver- 
einigt, so  heisst  diese  Verbindung  Nervenanastomose.  Ein 
solcher  Zwischenbogen  führt  den  Namen  Ansa,  weil  er  eben  gebogen 
ist,  wie  ein  Henkel  (ansa),  Anastomosen  kommen  an  aUen  Nerven 
vor,  mit  Ausnahme  der  drei  höheren  Sinnesnerven  des  Geruchs, 
Gesichts  und  Gehörs.  —  Aus  dem  in  3.  Gesagten  leuchtet  ein,  dass 
Nervenanastomose  etwas  Anderes  ist  als  Gefassanastomose.  Gefass- 
anastomose  ist  wahre  Höhlencommunication,  —  Nervenanastomose 
nur  Austritt  eines  Faserbündels  aus  einem,  und  Eintritt  desselben 
in  einen  zweiten  Nervenstamm.  Das  Faserbündel  kann  an  dem 
Stamme,  zu  welchem  es  trat,  vor-  oder  zurücklaufen,  d.  i.  eine 
Anastomons  progressiva  s.  regresdva  darstellen. 


|M  |*Tt.  AMlMiiMk«  BifttBscbafton  der  Herren. 

5.  I)i<^  AnastomosU  regressiva  kann  nur  durch  Faserbündel  zu 

Stande  kommen,  welche  an  jenen  Nerven,   zu  welchen   sie   gehen, 

rücklÄufig  werden,    d.  h.  zu  dem  Centralorgan  zurückkehren,  von 

welchem  sie  entsprungen  waren.    Sie  bilden  also  Schlingen,  haben 

Bomit  kein  peripherisches  Ende,   und  wurden  von  mir  als  „Nerven 

ohne  Ende"  bezeichnet  (On  Nervs  withotU  ends,  im  Quarterly  Review 

of  Nat,  Hist  18l>2.  Januar j,  und:   Ueber   endlose  Nerven,   in    den 

Sitmng^horiohtini  dor  kais.  Akad.  1865).    An  vielen  bogenförmigen 

N'psrv^nanüJ^toiiu^on,  nie  aber  an  spitzwinkligen,  lassen  sich  zurück- 

lÄnfriniio  NorvvnbUudel  ohne  peripherisches  Ende,   mit  dem  Messer 

^iÄr^^wvllf^nv  Ihr^^  physiologische  Bestimmung  ist  ein  ungelöstes  Räthsel, 

A^   ^i\\   \4iuo    mit    irgend   einem   peripherischen   Organe   in   nähere 

W'^iji^hJwi^^  »u  treten,   un verrichteter  Sache  umkehren,    und   somit 

%\nIs"^v  tu  ^l^Hu  motorischen,  noch  sensitiven,  noch  trophischen  Nerven 

^^^KvH  k\Nuuon.     Vor  der  Hand  dienen  sie  dazu,  die  Werthlosigkeit 

\VM  li%^i«uugAversuchen  durchschnittener  Nerven  verstehen  zu  machen. 

\Xw\l    nämlich    das   peripherische  Ende  eines  Nerven,  welches  mit 

s^ixiom  Änderen  durch  rückläufige  Anastomose  in  Verbindung  steht, 

gVAViat,    80  wird  der  Erfolg  der  Reizung   auch  jene  Erscheinungen 

m  Mch  Hchliessen,  welche  als  Reflex,  von  den  durch  die  rückläufigen 

r  l^Hi^rn  t^rregten  Centralorganen  veranlasst  werden.    Es  wäre  höchste 

M\X^  dass  die  Physiologie   die  Existenz  der  endlosen  Nerven  eines 

gnädigen  Blickes  würdigte,    denn    todtschweigen   lässt   sich    einmal 

tnne  so  wichtige  Sache  nicht. 

ö.  Die  Fasern  einer  Anastomosia  progressiva  können  bei  dem 
Nerven  bleiben,  welchen  sie  aufsuchten  (Anastomosis  permaTietis),  oder 
ihn  wieder  verlassen  (Ancutomosis  temporanea),  um  zu  ihrem  Mutter- 
Btamm  zurückzukehren,  oder  zu  einem  dritten,  vierten  Nerven  zu 
treten.  Veränderte  Association  der  Faserbündel  ist  also  die  Idee 
der  Nervenanastomose.  Um  uns  die  physiologische  Bedeutung  eines 
Nerven  klar  zu  machen,  müssen  wir  wissen,  ob  die  Anastomose, 
welche  er  mit  einem  anderen  eingeht,  darin  besteht,  dass  der  Nerv  A 
dem  Nerv  B  einen  Verbindungszweig  zusendet,  oder  A  von  B  einen 
solchen  erhält,  ob  also  die  Anastomose  eine  Anastomosis  eniissionis, 
oder  eine  Anastomosis  receptionis  ist. 

7.  Giebt  der  Nerv,  welcher  ein  Faserbündel  aufnimmt,  dafür 
eines  an  den  Abgeber  zurück,  so  nenne  ich  diese  Anastomose  eine 
wechselseitige,  Anastomosis  mutua;  nimmt  er  nur  auf,  ohne  ab- 
zugeben, eine  einfache,  Anastomosis  simplex, 

8.  Theilen  sich  mehrere  Nerven  wechselseitig  Faserbündel  mit, 
so  dass  ein  vielseitiger  Austausch  eintritt,  so  entsteht  ein  Nerven- 
geflecht, Plexus  nervosus.  Die  aus  einem  Geflechte  heraustretenden 
Nerven,  können  somit  Faserbündel  aus  allen  eintretenden  Nerven 
besitzen.     Enthalten   die  Maschen  eines  Geflechtes  Ganglienkugeln, 


S.  TS.  PkTtiologiseha  Bigenteh»fleii  des  uiiniAlaa  NarTOiuystenii.  199 

was  übrigens  nur  an  kleinen  Geflechten  geschieht,   so   entsteht  ein 
Gangliengeflecht,  Plexus  gangliosus. 

9.  Die  Nerven  verlaufen  in  der  Regel  geradelinig,  und  machen 
nur  am  Kopfe  und  an  den  Gliedmassen  leichte  Biegungen  um  ge- 
wisse Knochen  herum.  Die  Primitivfasem  jener  Nerven,  welche 
Dehnungen  unterliegen,  verlaufen  aber  nicht  geradelinig,  sondern 
wellenförmig  neben  einander,  wodurch  eine  bedeutende  Verlängerung 
des  Nerven,  ohne  Zerrung  seiner  Fasern,  möglich  wird.  —  Jede 
grössere  Arterie  hat  einen  oder  mehrere  Nerven  zu  Begleitet'n.  Sie 
liegen  aber  nicht  in  der  Scheide  der  Arterie,  obwohl  die  Nerven- 
scheide mit  der  Gefassscheide  organisch  zusammenhängen  kann.  Die 
grössten  Nervenstränge  haben  dagegen  nicht  immer  grosse  Gefasse  in 
ihrem  Gefolge  (Nervus  ischiadicus,  medianus  am  Vorderarm,  etc.). 

10.  Die  Stärke  und  Dicke  der  Nerven  eines  Organs,  steht  weder 
mit  der  Masse  desselben,  noch  mit  der  Intensität  seiner  Wirkung  im 
Verhältniss.  Ein  häufig  gebrauchter  und  kraftvoll  entwickelter  Muskel, 
hat  keine  stärkeren  Nerven,  als  derselbe  Muskel  eines  schwachen 
Individuums.  Kleine  Muskeln  haben  oft  stärkere  Nerven  als  zehn- 
mal grössere.  Der  Nervus  trochlearis,  abducens,  octdomotorius,  und  die 
Nerven  der  Gesichtsmuskeln,  sind  im  Verhältniss  viel  ansehnlicher, 
als  die  Nerven  der  Rücken-  oder  Gesässmuskeln. 

11.  Die  Nerven  der  Muskeln  treten  an  der  inneren  Seite  der- 
selben ein,  d.  h.  an  jener,  welche  der  Mittellinie  des  Stammes  oder 
der  Axe  der  Gliedmassen  zugekehrt  ist. 

12.  Die  Verlaufsrichtung  eines  Nerven  variirt  nur  selten.  Da- 
gegen ist  die  Folge  seiner  Aeste,  seine  TheUungsstelle ,  und  seine 
Anastomose  mit  benachbarten  Nerven,  häufigen  Spielarten  unter- 
worfen, welche  in  chirurgischer  Hinsicht  Beachtung  verdienen.  Da 
die  Primitivfasern  eines  Astes ,  schon  im  Stamme  präformirt  sind, 
so  wird  eine  höhere  oder  tiefere  Theilung  eines  Nerven,  in  seiner 
physiologischen  Wirkung  nichts  ändern. 

13.  Die  zwei  Hauptstränge  des  vegetativen  Nervensystems 
(Nervus  sympatkicus)  laufen  mit  der  Wirbelsäule  parallel,  und  ihre 
peripherischen  Verbreitungen  halten  sich  an  die  Ramificationen  der 
Gefasse,  vorzugsweise  der  Arterien,  und  da  diese  häufig  unsymmetrisch 
sind,  so  kann  das  für  das  Cerebrospinalsystem  geltende  Gesetz  der 
Symmetrie,  auf  den  Sympathicus  nicht  anwendbar  sein. 


§.  72.  Physiologische  Eigenschaften  des  animalen  Iferven- 

systems. 

Es  ist  noch   nicht  lange   her,    dass   man   die  physiologischen 
Eigenschaften   der  Nerven   auf  experimentellem  Wege   kennen  zu 


200  §•  7S.  Phjsiologisohe  EigeMchaflen  dea  animalen  NenreuTtteais. 

lernen  versuchte.  Bevor  Ch.  Bell  den  ersten  nachwirkenden  Impuls 
zur  genaueren  physiologischen  Prüfung  eines  in  seinen  Lebens- 
äusserungen so  gut  als  unbekannten  Systems  gab,  war  die  Lehre 
von  den  Gesetzen  der  Nerventhätigkeit,  ein  vollkommen  brach 
liegendes  Feld.  Die  Ehrfurcht  vor  den  Lebensgeistern,  welche  in 
den  wundersam  verschlungenen  Bahnen  des  Nervensystems  ihr 
Wesen  treiben  sollten,  schien  jeden  Versuch  hintangehalten  zu  haben, 
diese  geheimnissvollen  Potenzen  vor  das  Forum  der  Wissenschaft 
zu  citiren,  und  Alles,  was  man  nicht  zu  erklären  wusste,  erklärte 
die  stehende  Formel  des  „Nerveneinflusses".  Was  das  eigentlich 
wirksame  Agens  in  den  Nerven  sei,  wissen  wir  zwar  eben  so  wenig, 
als  wir  die  Natur  des  Lebens  verstehen.  Wir  werden  es  auch 
schwerlich  je  erfahren,  und  die  Wissenschaft  hat  das  Ihrige  gethan, 
wenn  sie  uns  die  Gesetze  kennen  lehrt,  welchen  die  Thätigkeiten 
der  Nerven  gehorchen,  und  die  Erscheinungen  analysirt,  um  sie  auf 
einfache  Pidncipien  zu  reduciren.  Da  es  sich  hier  nur  darum  handelt, 
einen  kurzen  Umriss  der  vitalen  Verhältnisse  dieses  Systems  zu 
geben,  so  kann  Folgendes  genügen. 

1.  Die  Nerven  sind,  wie  die  Telegraphendrähte,  niemals  Er- 
reger, sondern  nur  Leiter  von  Eindrücken  zum  oder  vom  Central- 
bureau  des  Gehirns.  Die  Eindrücke  werden  entweder  von  den 
Centi*alorganen  gegen  die  peripherischen  Gebilde,  also  centrifugal, 
oder  von  der  Peripherie  gegen  die  Centralorgane,  d.  i.  centripetal, 
mit  grosser  Schnelligkeit  fortgepflanzt.  Jene  Nerven,  welche  centri- 
petal leiten,  heissen  sensitive  oder  Empfindungsnerven,  — 
welche  centrifugal  leiten,  motorische  oder  Bewegungsnerven. 
Das  Gehirn  und  das  Rückenmark  sind  die  Centra  für  die  animalen, 
die  Ganglien  fiir  die  vegetativen  Nerven.  Jeder  Reiz,  welcher  im 
Verlaufe  eines  Nerven  angebracht  wird,  sei  er  mechanischer, 
chemischer  oder  dynamischer  Natur,  wird,  wenn  der  Nerv  ein 
Empfindungsnerv  ist,  Empfindungen,  wenn  er  ein  Bewegungsnerv 
ist,  Contractionen  in  den  Muskeln,  zu  welchen  er  läuft,  aber  niemals 
Empfindung  veranlassen.  Schmerz,  als  eine  Art  von  Empfindung, 
kann  niemals  durch  motorische  Nerven  vermittelt  werden.  —  Es  giebt 
bei  gewissen  Fischen  sogenannte  electrische  Nerven.  Sie  leiten, 
wie  die  motorischen,  centrifugal,  und  bringen  die  Impulse  des  Willens 
vom  Gehirn  her,  welche  die  willkürlichen  Entladungen  des  elec- 
trischen  Organes  bedingen.  Die  electrischen  Schläge  sind  beim 
Zitteraal  so  gewaltig,  dass  sie  ein  Pferd  zu  tödten  im  Stande  sind. 

2.  Der  Unterschied  zwischen  ausschliesslich  centrifugaler  und 
centripetaler  Richtung  der  Leitung,  ist  jedoch  nur  ein  scheinbarer. 
Jede  Primitivfaser  leitet,  wenn  sie  an  irgend  einem  Punkte  ihres 
Verlaufes  gereizt  wird,  den  Reiz  nach  beiden  Richtungen  fort. 
Da  jedoch  die  empfindenden  Fasern  nur  an  ihrem  centralen  Ende 


§.  7S.  Phyiiolo^Mh«  BigenschAfken  des  animalea  NerrMujstoms.  201 

mit  Nervenelementen  in  Verbindung  stehen,  welche  fähig  sind,  den 
Reiz  wahrzunehmen,  und  die  motorischen  Fasern  nur  an  ihrem 
peripherischen  Ende  mit  contractionsföhigen  Muskeln  zusammen- 
hängen, so  wird  die  physiologische  Wirkung  der  Erregung  einer 
Nervenfaser,  in  dem  einen  Falle  Empfindung,  in  dem  anderen  Be- 
wegung sein.  Nicht  die  Leitungsverschiedenheit  der  Faser,  sondern 
die  Verschiedenheit  der  Organe,  mit  welchen  sie  an  beiden  Enden 
zusammenhängt,  bedingt  somit  die  Verschiedenheit  des  Reizerfolges. 
In  einem  von  Bidder  angestellten  Versuch,  wurden  der  Nervus 
hypoglo89U8  (motorisch)  und  der  Nervus  Ungualis  (sensitiv)  durch- 
schnitten, und  das  periphere  Ende  des  Hypoglossus,  mit  dem  centralen 
des  Lingttalis  zusammengeheilt.  Wurde  nun  der  Lingualis  oberhalb 
der  Verwachsungsstelle  gereizt,  so  entstanden  Zuckungen  in  der 
Zunge,  was  nicht  möglich  wäre,  wenn  der  Nervus  lingualis,  obwohl 
ein  Gefilhlsnerv,  nicht  die  Fähigkeit  besässe,  auch  in  centrifugaler 
Richtung  Reize  fortzupflanzen.  Nichtsdestoweniger  sind  die  in  1. 
gebrauchten  Ausdrücke  so  gang  und  gebe,  dass  man  sie  füglich 
beibehalten  kann. 

3.  Man  hat  die  Leitung  der  Erregung  durch  den  Nerven,  für 
unmessbar  schnell  gehalten.  Dieses  ist  sie  nicht.  Sie  muss  im  Ver- 
hältniss  zur  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der  Imponderabilien,  selbst 
eine  langsame  genannt  werden.  Die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit 
des  electrischen  Stromes  beträgt  61,000,  jene  des  Lichtes  mehr  als 
40,000  Meilen  in  der  Secunde,  während  sie,  nach  den  Versuchen 
von  Helmholtz,  im  Nervus  ischiadicus  des  Frosches  nicht  grösser 
ist  als  33  Meter  (im  Menschen  34  Meter)  in  der  Secunde.  Das 
wäre  nun  beiläufig  die  Schnelligkeit  des  Fluges  der  Brieftaube.  Die 
Leitungsschnelligkeit  variii-t,  wie  Versuche  an  Thieren  lehrten,  in 
einem  und  demselben  Nerven  nach  Verschiedenheit  seiner  Temperatur. 
Kälte  verzögert  sie  augenfilllig,  oder  hebt  sie  ganz  auf. 

4.  Das  Vermögen,  Empfindungen  oder  Bewegungsimpulse  zu 
leiten,  ist  eine  angeborene,  immanente  Eigenschaft  der  Nerven,  und 
kommt  jeder  ihrer  Primitivfasern  zu.  Da  die  Primitivfasern  nie  mit 
benachbarten  durch  Aeste  communiciren ,  und  ohne  Unterbrechung 
von  ihrem  Anfange  bis  zum  Ende  verlaufen,  so  können  sie  als 
physiologisch  isolirt  gedacht  werden,  d.  h.  einem  gewissen  peri- 
pherischen Bezirke,  wird  ein  bestimmter  Centralpunkt  entsprechen, 
und  der  durch  Reiz  bedingte  Erregungszustand  einer  Nervenfaser, 
wird  im  Verlaufe  des  Nerven  niemals  auf  eine  benachbarte  über- 
springen (Lex  isolationis).  Im  Centralorgane  dagegen  (und,  nach 
dem  im  §.  69  Gesagten,  auch  in  den  peripherischen  Verästlungs. 
bezirken  der  Nerven)  müssen  wir  eine  solche  Vertheilung  der 
Erregung  auf  benachbarte  Fasern  annehmen,  welche  daselbst  mit 
der    zuerst    erregten    in   anastomotischer   Verbindung    stehen.     Die 


202  S*  ?>•  Phjiiologiache  Eigeo8ehafl«n  des  uühuJmi  NanrenfTttems. 

Erscheinung  der  sogenannten  Mitbewegung  und  Mitempfindung 
wird  nur  hieraus  erklärlich.  Wenn  der  Wille  einen  Muskel  in  Be- 
wegung setzt,  und  dabei  unwillkürlich  noch  ein  paar  andere  thätig 
werden,  so  heisst  dieses  Mitbewegung.  Die  Fehlgriffe  des  An- 
fängers im  Erlernen  des  Violin-  und  Clavierspielens,  sind  durch  un- 
controlirte  Mitbewegung  von  Muskeln,  welche  ruhig  bleiben  sollten, 
bedingt.  Wenn  der  Schmerz,  welchen  ein  cariöser  Zahn  veranlasst,  sich 
mit  Ohrenschmerz  vergesellschaftet,  so  ist  dieses  Mitempfindung. 
—  Die  unwillkürlichen  Bewegungen,  welche  sich  auf  Erregung  der 
Empfindungsnerven  einstellen,  und  Reflexbewegungen  genannt 
werden,  setzen  ebenfalls  eine  Ueberti'agung  der  Reizung  von  sensi- 
tiven auf  motorische  Nerven  in  den  Centralorganen  voraus.  Wenn 
auf  Kitzeln  sich  Lachen  und  krampfhafte  Verzerrung  des  Gesichtes 
einstellt,  wenn  auf  Tabakschnupfen  Niesen  entsteht,  oder  auf  Kratzen 
des  Zungengrundes  Würgen  und  Erbrechen,  auf  Reizung  der  Kehl- 
kopfschleimhaut *Husten  eintritt,  wenn  man  vor  Schmerz  die  Lippe 
beisst,  wenn  die  Ö^liedmasse  des  Kranken  unter  dem  chirurgischen 
Messer  zuckt,  so  sind  dieses  Reflexbewegungen,  welche,  durch 
die  Reizung  sensitiver  Nerven,  im  Gehirn  und  Rückenmark  aus- 
gelöst wurden.  Die  Reflexbewegungen  stellen  sich  zwar  unwillkür- 
lich ein,  aber  dennoch  mit  dem  Charakter  der  Zweckmässigkeit, 
wie  denn  ein  schlafender  Mensch,  dessen  Nase  gekitzelt  wii*d,  mit 
der  Hand  eine  Bewegung  macht,  als  ob  er  Fliegen  von  seinem 
Gesichte  wegjagen  wollte,  und  selbst  enthimte  Frösche,  deren  Haut 
mit  einer  Säure  betupft  wird ,  abstreifende  Bewegungen  an  der 
irritirten  Hautstelle  mit  ihren  Extremitäten  vollziehen. 

5.  Jeder  Nerv,  welcher  in  centripetaler  Richtung  zum  Gehirn 
leitet  (Gefahlsnerv) ,  wird  seinen  Erregungszustand  nur  dann  zum 
Bewusstwerden  kommen  lassen,  wenn  die  Seele  in  Mitwissenschaft 
des  Vorganges  gezogen  wird  (Aufmerksamkeit).  —  Warum  ein 
Nerv  durch  Bewegung,  ein  anderer  durch  Empfindung  auf  Reize 
reagirt,  kann  durch  die  anatomische  Structur  der  motorischen  und 
sensitiven  Nerven  nicht  erklärt  werden,  da  die  Primitivfasern  beider 
Nervenarten  sich  mikroskopisch  gleich  verhalten.  —  Die  Empfindungs- 
nerven wirken  nicht  alle  auf  gleiche  Art.  Einige  derselben,  wie 
die  Sinnesnerven ,  dienen  nur  specifischen  Sinneswahmehmungen ; 
andere,  wie  die  Tastnerven,  vermitteln  allgemeine  Gefühlswahr- 
nehmungen, wie  Druck,  Schmerz,  Hitze,  Kälte,  Glätte,  Rauhigkeit, 
Schwere,  Leichtigkeit,  und  wieder  andere  erregen  keine  Empfindung, 
sondern  die  oben  (in  4)  erwähnten  Reflexbewegungen.  Sie  wurden 
zuerst  von  Marshall  Hall  als  excito-motorische  Nerven  unter- 
schieden. —  Ein  Sinnesnerv  kann  nie  wie  ein  Tastnerv  empfinden, 
und  umgekehrt  kann  ein  Tastnerv  nie  einen  Sinnesnerv  vertreten.  — 
Es  giebt  auch  centrifugal  leitende  Nerven^  welche^  entweder  direct^ 


9. 7S.  Physiologisehe  Bigmi»ohafl«ii  dM  aainalan  VarreBsyttenu.  203 

oder  durch  Vermittlung  eines  Reflexes,  auf  die  Absonderungs- 
vorgänge in  den  Drüsen  Einfluss  nehmen.  Sie  heissen  Secretions- 
nerven,  z.  B.  der  Thränennerv,  die  Chorda  tympani,  etc.  Andere 
äussern  auf  gewisse  Muskehi  keine  erregende,  sondern  eine  bewegungs- 
hemmende  Einwirkung,  als  sogenannte  Hemmungsnerven,  über 
deren  Berechtigung  jedoch,  noch  mancherlei  Bedenken  obwalten. 
Henle  machte,  bei  Gelegenheit  der  Vornahme  physiologischer 
Experimente  an  der  Leiche  eines  G-eköpften,  die  Beobachtung,  dass, 
nach  Durchleitung  eines  Stromes  des  Rotationsapparates  durch  den 
linken  Vagus,  das  Herzatrium,  welches  noch  60 — 70  Contractionen 
in  einer  Minute  machte,  plötzlich  im  Expansionszustand  still  hielt. 
25  Minuten  nach  dem  Tode,  nachdem  die  Bewegung  des  Atrium 
schon  erloschen  war,  erwachte  sie  plötzlich  wieder  mittelst  Strom- 
leitung durch  den  Sympathicus.  So  entstand  der  erste  Gedanke 
von  Hemmungsnerven. 

6.  Ein  mit  einer  speciiischen  Empfindlichkeit  versehener  Sinnes- 
nerv wird,  er  mag  durch  was  immer  für  Reize  afficirt  werden,  nur 
solche  Gefühle  hervorrufen,  welche  er  überhaupt  zu  veranlassen 
vermag,  z.  B.  der  Sehnerv  wird,  er  mag  durch  Druck,  oder  durch 
Galvanismus,  oder  durch  jenes  Agens,  welches  wir  Lichtstoff  nennen, 
gereizt  werden,  nur  auf  die  Eine  Weise,  nämlich  durch  Licht- 
empfindung, reagiren. 

7.  Das  Vermögen  der  Nei^ven ,  auf  R^ize  Empfindungen  oder 
Bewegungen  zu  veranlassen,  heisst  Reizbarkeit.  Sie  wird  durch 
die  Einwirkung  der  Reize  nicht  blos  erregt,  sondern  auch  geändert. 
Massige  Reize  steigern  sie  dadurch ,  dass  sie  sie  in  anhaltender 
Uebung  erhalten.  Stärkere  Reize  schwächen  sie,  und  ein  gewisses 
Maximum  der  P>regung  hebt  sie  sogar  auf.  Ist  die  Reizbarkeit 
durch  einen  Reiz  bestimmter  Art  erschöpft,  so  kann  sie  doch  für 
Reize  anderer  Art,  oder  für  einen  stärkeren  Reiz  derselben  Art, 
noch  empfänglich  sein.  Ein  Nerv  z.  B.,  der  auf  die  Wirkung  einer 
schwachen  galvanischen  Säule  zu  reagiren  aufgehört  hat,  ist  durch 
eine  kräftigere  Säule ,  oder  durch  mechanische  oder  chemische 
Reizung,  noch  immer  erregbar.  Wechsel  der  Reize  wird  es  somit 
nicht  zu  einem  solchen  Grade  von  Erschöpfung  kommen  lassen,  als 
andauernde  Wirkung  eines  bestimmten  kräftigen  Reizes.  Die  durch 
mittlere  Reize  geschwächte  oder  erschöpfte  Reizbarkeit,  erholt  sich 
durch  Ruhe  wieder.  Die  beste  Erholung  für  überreizte  Nerven 
giebt  der  Schlaf.  Ein  Kranker,  welcher  schläft,  ist  nicht  schwer 
krank,  und  ein  Kranker,  welcher  fortwährend  über  Schmerzen 
klagt,  ist  besser  daran,  als  einer,  der  über  gar  nicht«  klagt,  denn 
die  Sensibilität  bildet  den  Gradmesser  der  Lebensenergie. 

8.  Ein  vom  Gehirn  oder  Rückenmark  getrennter  Nerv,  behält 
noch  eine  Zeitlang  seine  Reizbarkeit,  verliert  sie  aber,   wenn  seine 


^^  i  CS^  flifvMiCiMk«  BifWsekaftoB  dea  regetatiTen  Narreiuysteaia. 

\\swn^*^^iAl  ^wrvh  Verwachsung  nicht  wieder  hergestellt  wird,  nach 
ASAvi  JWÄv^k  >^JIkonu«on.  —  Jene  Stoffe,  welche  das  Vermögen  be- 
x^>v.s^  vl^wh  ilm>  Einwirkung  auf  Nerven,  ihre  Reizbarkeit  zu  ver- 
(M^^^in''^'^  %Hior  KU  tilgiMi,  heissen  narkotische  Stoffe.  Sie  setzen, 
>ri^VMH  5^h^  {lU  ModiOHiuente  oder  Gifte  dem  Organismus  einverleibt 
v^>m>Ih^Wv  ^lon  Vorlust  der  Reizbarkeit  entweder  geradesiu,  wie  die 
IUa^i^uiv«  inlor  nach  einer  vorhergegangenen  heftigen  Erregung, 
\^^>  ^Uii  Strvohnin.  Durch  die  wissenschaftliche  Anwendung  der 
K^^^iuittol  auf  die  Nerven,  hat  man  die  physiologischen  Eigenschaften 
vl^M'  loUtortM)  auf  dem  Wege  des  physikalischen  Experiments  kennen 
^«lornl.  ilono  Doctrin  der  Physiologie,  welche  sich  mit  der  Fest- 
»IoUuuij:  <ler  Lobenseigenschaften  der  Nerven  und  ihrer  Wirkungs- 
^«Hot«t^  bofasst,  heisst  deshalb  Nervenphysik. 

U.  Die  sensitiven  und  motorischen  Eigenschaften  der  Nerven 
trotoii  am  reinsten  in  den  hinteren  und  vorderen  Wurzeln  der 
KUokenmarksnerven  hervor.  Die  vorderen  Wurzeln  der  Rücken- 
mark snerven  sind  ausschliessend  motorisch,  die  hinteren  ausschliessend 
iiensitiv  (BelTscher  Lehrsatz).  Wie  sich  die  Gehirnnerven  in  dieser 
Beziehung  verhalten,  wird  am  betreffenden  Orte  in  der  speoiellen 
Norvenlehre  enthalten  sein. 

10.  Der  Stoffwechsel  kann  in  den  Nerven  nicht  lebhaft  und 
energisch  sein.  Die  relativ  geringe  Menge  von  Capillarge&ssen  im 
Nervenmark,  lässt  dieses  vermuthen.  Nichtsdestoweniger  regenerirt 
sich  ein  getrennter  Nerv  durch  Bildung  neuer  Nervenfilamente,  und 
übernimmt  wieder  theilweise  seine  frühere  Function.  Je  geringer 
der  Abstand  der  Schnittenden  eines  getrennten  Nerven  ist,  desto 
schneller  heilt  er  wieder  zusammen.  Man  hat  selbst  zolllange 
Trennungen  an  den  Extremitätennerven  grosser  Thiere ,  durch 
Regeneration  ausgefüllt  gesehen  (Swan).  Die  neugebildeten  Nerven- 
elemente waren  den  normalen  vollkommen  isomorph,  obgleich  weniger 
zahlreich,  und  mit  Bindegewebsfasern  gemischt. 

11.  Du  Bois  verdanken  wir  die  Entdeckung,  dass  die  Nerven- 
fasern, wie  die  Muskelfasern,  electromotorisch  wirken,  und  die 
Nervenströme  nur  schwächer  sind  als  die  Muskelströme.  Jedes  physio- 
logische Handbuch  giebt  über  diese  Ströme  näheren  Aufschluss. 


§.  73.  Physiologische  Eigenschaften  des  vegetativen  Uerven- 

systems. 

Der  Sympathicus  ist  durch  die  in  seinen  Ganglien  entspringen- 
den Nervenfasern  ein  selbstständiges ,  durch  die  zahlreichen ,  vom 
Gehirn  und  Rückenmark  zu  ihm  ti*etenden,  und  mit  ihm  sich  ver- 
zweigenden   Nerven  y    ein    vom    Cerebrospinalsysteme    abhängiges 


(.  7S.  Phjnologische  Bisentehafttn  das  Tegetatir«!!  NerTensyttoois.  205 

System.  Man  hielt  ihn  bis  auf  die  neueste  2^it  fiir  den  Vermittler 
der  Emährungsprocesse.  Sein  Name  vegetatives  Nervensystem 
entsprang  aus  dieser  Ansicht.  Seit  jedoch  die  Ernährungsvorgänge 
in  vollkommen  nervenlosen  Gebilden ,  wie  im  Horngewebe ,  im 
Knorpel  y  in  der  Gry  stalllinse ,  u.  s.  w.  genauer  bekannt  wurden, 
muBsten  die  Vorstellungen  von  der  ausschliesslichen  Abhängigkeit  der 
vegetativen  Processe  vom  Sympathicus,  bedeutende  Einschränkungen 
erfahren.  Viele  Organe  (ich  nenne  nur  die  Milchdrüse,  die  Synovial- 
häute,  die  Zahn  säckchen,  die  Haut),  besitzen  keine  nachweisbaren 
sympathischen  Nervenfasern,  dagegen  aber  Fäden  vom  Cerebrospinal- 
system.  Nerven,  welche  auf  die  Ernährung  der  Organe  Einfluss 
nehmen,  werden  trophische  Nei*ven  genannt.  Dieser  Name  ist  voll- 
kommen gerechtfertigt,  denn  wir  wissen,  dass  Durchschneidung  ge- 
wisser Nerven,  durch  Aufhebung  oder  Störung  der  Ernährung,  Ent- 
zündung, Erweichung,  Vereiterung,  selbst  Brand  der  bezüglichen 
Organe  bedingt,  und  gewisse  Hautkrankheiten  (Ausschläge)  halten 
sich  genau  an  Gegenden,  in  welchen  sich  ein  bestimmter  Nerv  ver- 
ästelt, welcher  nun  eben  erkrankt  sein  muss.  Der  Sympathicus  be- 
theiligt sich  nur  insofern  bei  den  Ernährungs-  und  Secretionsprocessen, 
als  er  Bewegungen  veranlasst,  welche  auf  diese  Processe  Einfluss 
nehmen.  Diese  Bewegungen  gehen  ohne  Willensintervention  von 
Statten,  und  wir  wissen  durch  das  Gefühl  nichts  von  ihrer  Gegen- 
wart. Das  Herz,  der  Magen,  die  Gedärme  bewegen  sich,  ohne  unser 
Mitwissen,  und  nur  stürmische  Aufregung  dieser  Bewegungen  beim 
Herzklopfen,  Erbrechen,  und  Bauchgrimmen,  macht  uns  dieselben 
fühlbar.  Die  Centra,  von  welchen  diese  Bewegungen  ausgehen,  sind 
die  Ganglien  des  Sympathicus,  welche  insofern  als  motorische  Apparate 
anzusehen  sind.  Die  in  den  Ganglien  entspringenden,  dem  Sym- 
pathicus eigenthümlichen  grauen  Nervenfasern,  leiten  die  Bewegungs- 
impulse zu  den  betreffenden  Organen.  Das  Gehirn  und  das  Rücken- 
mark können  durch  die  Nerven&den,  welche  sie  dem  Sympathicus 
einflechten,  nur  einen  modificirenden  Einfluss  auf  diese  Bewegungen 
äussern,  welcher  sich  in  Leidenschaften  und  Affecten,  welche  im 
Gehirn  als  Seelenorgan  wurzeln,  kund  giebt.  Das  Herzklopfen,  die 
Brustbeklemmung,  die  wechselnde  Röthe  und  Hitze,  welche  gewisse 
Seelenzustände  begleiten,  bestätigen  den  modificirenden  Einfluss  des 
Cerebrospinalsystems  auf  die  vegetativen  Acte.  Das  Cerebrospinal- 
system  kann  aber  seine  Thätigkeiten  einstellen,  wie  im  Schlaf,  in 
der  Ohnmacht,  im  Schlagfluss,  es  kann  auch  durch  Missbildung  ganz 
oder  theilwcise  fehlen,  wie  bei  hemicephalen  und  aencephalen  Miss- 
geburten, die  vegetativen  Thätigkeiten  werden  deshalb  nicht  unter- 
bleiben, und  die  Verdauung,  Ernährung,  Absonderung,  der  Kreislauf, 
gehen  ohne  seine  Einwirkung  ihren  Gang  fort.  Die  genannten  Arten 
von  Missgeburten   sind  deshalb  in  der  Regel  ganz  gut  genährt,   da 


206  §.  78.  Physiologische  Eigensehafton  dos  T^fotatiTon  Noirensystems. 

ihr  Sympathicus  nicht  fehlt.  Selbst  ein  aus  dem  I^eibe  heraus- 
geschnittenes Eingeweide  wird,  wenn  es  sympathische  Ganglien  und 
Gangliennerven  besitzt,  seine  Bewegungen  eine  Zeitlang  fortfuhren, 
wie  am  exstirpirten  Herzen  und  Darmkanale  gesehen  wird. 

Die  aus  den  Ganglien  entspringenden  Nerven  sind  ganz  gewiss, 
wie  jene  des  Cerebrospinalsystems,  nicht  nur  motorischer,  sondern 
ebenfalls  sensitiver  Natur,  d.  h.  einige  von  ihnen  leiten  zu  den 
Ganglien,  andere  von  den  Ganglien  weg.  Man  sieht  ja  auf  Reizungen 
blossgelegter  Theile,  welche  vom  Sympathicus  versorgt  wei-den,  die 
Bewegungen  derselben  sich  steigern.  Es  muss  der  Eindruck  des 
Reizes,  der  durch  den  sensitiven  Gangliennerv  zum  Ganglion  gebracht 
wurde,  dort  auf  die  motorischen  Nerven  desselben  übergesprungen 
sein.  Die  Ganglien  sind  somit  nicht  blos  einfache  Erreger  der  Be- 
wegung, sondern  auch,  wie  Gehirn  und  Rückenmark,  Reflexorgane. 
Die  sensitiven  Eindrücke  auf  die  Ganglien,  werden  in  diesen  auf 
die  motorischen  Nerven  der  Muskeln  reflectirt,  d.  h.  nicht  zum 
Bewusstsein  gebracht,  und  nicht  empfunden.  Ein  Beispiel  möge 
genügen,  um  die  Sache  so  zu  nehmen,  wie  ich  mir  sie  vorstelle. 
Die  Galle  oder  die  Darmcontenta ,  sind  für  die  Darmschleimhaut 
Reize.  Sie  erregen  die  sympathischen,  sensitiven  Nervenfasern  der- 
selben, welche  sofort  ihre  Erregung  dem  Ganglion,  aus  welchem  sie 
entsprangen,  mittheilen.  Das  Ganglion  überträgt  die  Erregung  auf 
die  motorischen  Nerven,  und  es  wird  dadurch  ein  stärkerer  peristal- 
tischer  Motus  des  Darmes  hervorgerufen,  welcher  die  Ursache  des 
Reizes  fortzuschaffen  hat.  Diese  Reizung  der  Darmschleimhaut 
kann  eine  gewisse  Höhe  erreichen,  ohne  dass  sie  empfunden  wird. 
Wir  schliessen  blos  auf  ihre  Gegenwart,  aus  der  copiöseren  Ent- 
leerung des  Darmes  (Diarrhoea),  Wird  der  Reiz  so  intensiv,  dass 
er  nicht  mehr  ganz  als  Bewegungsimpuls  auf  die  motorischen  Nerven 
reflectirt  werden  kann,  so  springt  er  auf  die  im  Ganglion  vor- 
handenen Cerebrospinalnerven  über.  Sind  diese  sensitiver  Natur,  so 
werden  sie  den  übernommenen  Reizungszustand  zum  Gehirne  fort- 
pflanzen, und  durch  Gefühle  zum  Bewusstsein  bringen,  welche, 
wenn  der  Reiz  sehr  heftig  war,  sich  zum  Schmerz  steigern.  Nun 
wird  die  häufige  Darmentleerung,  mit  Grimmen  und  Schneiden 
(Kolik)  vergesellschaftet  sein  müssen.  Sprang  der  Reiz  auf  motorische 
Fasern  des  Cerebrospinalsystems  über,  so  können  die  Entleerungen 
mit  Muskelkrämpfen  verbunden  werden,  wie  die  tägliche  ärztliche 
Erfahrung  an  sensiblen  Individuen  und  Kindern  nachweist.  Die 
Ganglien  sind  somit  nicht  blos  Erreger  oder  erste  Quelle  der  Be- 
wegungen der  vegetativen  Organe,  sondern  zugleich  Reflexorgane, 
wodurch  sie  als  eben  so  viele  Gehirne  in  nuce  gelten  können. 

Ich  hftbe    diese    Ansieht   Aber   die  Bedeutung  der  sympathischen  Ganglien 
schon  seit  Jahren  in  meinen  Yorlesmigen  entwickelt.  In  der  Abhandlang  K  0 1  li  k  e  r*8 


§.  74.  PnktiBche  Anwendangen.  207 

(die  Selbstotändig^keit  nnd  Abhängigkeit  des  sympathischen  Nervensystems.  1845), 
wird  sie  ausführlich  erörtert.  Da  sie  physiologischer  Natnr  ist,  wird  man  es 
dem  Anatomen  verzeihen,  sich  anf  ein  ihm  fremdes  Terrain  begeben  zn  haben. 
Machen  doch  auch  Physiologen  Ausflüge  auf  anatomischem  Gebiete  im  Nebel. 


§.  74.  Praktische  Anwendungen. 

Einen  Nerven  durchschneiden,  heisst  eben  so  viel,  als  das 
Organ  vernichten ,  welchem  er  angehört.  Es  braucht  nicht  mehr 
Worte,  um  die  hohe  Bedeutung  des  Nervensystems,  dem  Arzte  und 
Wundarzte  im  Allgemeinen  einleuchtend  zu  machen. 

Der  Unterschied  sensitiver  und  motorischer  Nerven,  hat  in  die 
Pathologie  der  Nervenkrankheiten  laicht  und  Klarheit  gebracht.  Die 
Pathologie  der  Neuralgien,  das  sind  andauernde,  schmerzhafte  Affec- 
tionen  gewisser  Organe  oder  ganzer  Bezirke,  so  wie  die  Heilung 
derselben  durch  chirurgische  Hilfeleistung,  erhielten  erst  durch  die 
Feststellung  jenes  Unterschiedes,  ihren  wissenschaftlichen  Gehalt. 
Als  man  noch  die  Emptindlichkeit  ftir  eine  allgemeine  Eigenschaft 
aller  Nerven  hielt,  musste  der  Sitz  der  Neuralgien  nothwendig 
verkannt  werden,  und  es  wurden  deshalb  bei  den  Heilungsversuchen 
derselben  durch  Entzweischneiden  der  Nerven,  auch  solche  Nerven 
durchschnitten,  welche  als  rein  motorisch,  niemals  Schmerz  ver- 
anlassen können.  Die  Geschichte  des  Gesichtsschmerzes  (Proso- 
pcUffia,  Dolor  Fothergilli),  und  die  zu  seiner  Heilung  vorgenommenen 
Durchschneidungen  des  Nervus  communicans  faciei,  welcher  als  ein 
motorischer  Nerv  nie  schmerzen  kann,  geben  ein  trauriges  Zeugniss 
dieser  Wahrheit.  Auch  die  Unterscheidung  der  Emptindungslähmungen 
(Anaesthemae)  und  der  Bewegungslähmungen  (Parcdyses)  beruht  auf 
festgestellten  physiologischen  Eigenschaften  der  Nerven. 

Die  bekannte  sensitive  oder  motorische  Eigenschaft  eines 
Nerven,  wird  bei  der  Vornahme  chirurgischer  Operationen  an  ge- 
wissen Gegenden,  volle  Berücksichtigung  verdienen,  um  die  Summe 
der  Schmerzen  so  gering  als  möglich  ausfallen  zu  lassen.  Hätte  man 
eine  Geschwulst  oder  ein  nervenreiches  Organ  zu  exstirpiren,  so  soll 
der  erste  Schnitt  auf  jener  Seite  gefuhrt  werden ,  wo  die  Nerven 
eintreten.  Sind  diese  getrennt,  so  wird  jede  fernere  Beleidigung  des 
Organs  durch  Druck  oder  Schnitt  schmerzlos  sein,  während  sie  im 
hohen  Grade  schmerzhaft  sein  muss,  wenn  die  Trennung  der  Nerven 
zuletzt  folgt.  Die  Castration  mag  als  Beispiel  dienen.  —  Es  wäre 
kein  geringer  Triumph  der  wissenschaftlichen  Chirurgie,  wenn  der 
Versuch  mit  Erfolg  gekrönt  würde,  hartnäckige  und  unerträgliche 
Nervenschmerzen  in  gewissen  Organen,  nicht  durch  die  Amputation 
oder  Ausrottung  der  Organe ,  sondern  durch  Resection  ihrer  sen- 
sitiven Nerven  zu  heilen.  Die  Fälle  sind  in  den  Annalen  der  Wund- 


208  §.  74.  Praktische  Anwendangan. 

arzneikunde  nicht  gar  so  selten,  wo  man  nicht  zu  besänftigende, 
chronische  Schmerzen  der  Brust  oder  der  Hoden,  durch  die  Ab- 
tragung dieser  Organe  geheilt  zu  haben  sich  rühmt.  In  den  Hand- 
büchern der  Operationslehre  wird  unter  den  Anzeigen  zur  Vornahme 
der  Abtragung  eines  Gliedes  oder  Organs,  der  incurable  Nerven- 
schmerz noch  immer  angeführt. 

Der  mechanische  Reiz  der  Empfindungsnerven  erklärt  es,  warum 
bei  der  Abbindung  krankhaft  entarteter  Organe,  und  bei  der  Unter- 
bindung der  Ai-terien  (wenn  Nervenzweige  mit  in  die  Ligatur  gefasst 
werden),  Schmerzen  entstehen  können,  welche  mit  der  geringen 
Grösse  des  chirurgischen  Eingriffs  in  schreiendem  Miss  Verhältnisse 
stehen.  Diese  Schmerzen  werden  so  wüthend,  und  können  durch 
Reflex  so  gefahrliche  allgemeine  Zufalle  veranlassen,  dass  sie  das 
Lüften  der  Ligaturen  nothwendig  machen,  wie,  um  nur  einen  illustren 
Fall  anzuführen,  die  geschichtlich  bekannte  GefUssunterbindung  am 
amputirten  Arme  Nelson's  beweist.  —  Handelt  es  sich  darum,  ein  ent- 
artetes Organ  abzubinden,  so  muss  die  Ligatur  so  kräftig  als  möglich 
zugeschnürt  werden,  um  die  Nerven  der  unterbundenen  Partien 
nicht  blos  zu  drücken,  sondern  zu  zerquetschen,  d.  h.  zu  desorgani- 
siren.  Der  Druck  unterhält  eine  fortwährend  wirksame  und  heftig 
schmerzende  mechanische  Irritation,  während  durch  Zerquetschung 
die  Structur  des  Nei'ven  und  mit  ihr  seine  Leitungsf^higkeit  auf- 
gehoben wird. 

Das  geringe  Vermögen  der  Nerven,  sich  zurückzuziehen, 
wenn  sie  durchschnitten  wurden,  kann  es  bedingen,  dass  sie  in 
dem  sich  bildenden  Narbengewebe  grösserer  Wunden,  besonders  der 
Amputationswunden,  eingeschlossen,  und  durch  die  jedem  Narben- 
gewebe eigenthümliche  Zusammenziehung  so  eingeschnürt  werden, 
dass  andauernde  Nervenschmerzen  sich  einstellen,  welche  die  Excision 
der  Narbe,  ja  sogar  die  nochmalige  Vornahme  der  Amputation  er- 
heischen. Wäre  es  nicht  zu  versuchen,  die  an  der  Amputations- 
wunde vorstehenden  Nervenenden,  statt  sie  abzutragen,  einfach  um- 
zubeugen,  und  zwischen  die  Muskeln  hineinzuschieben,  und  könnte 
diese  Methode  nicht  in  jenen  Fällen  ebenfalls  angewendet  werden, 
wo  ein  durch  Exsection  eines  Nervenstückes  zu  heilender  Nerven- 
schmerz, durch  Wiederverwachsung  der  getrennten  Nervenenden 
Recidiven  befiii-chten  lässt? 

Die  Methode,  zu  amputirende  Gliedmassen  mit  einem  Bande 
über  der  Amputationsstelle  einzuschnüren,  und»  durch  Pelottcn, 
welche  dem  Verlaufe  der  Hauptner venstämme  entsprechen,  Taub- 
werden und  Einschlafen  der  Gliedmasse  zu  bewirken,  und  sie  in 
dieaem  Zustande  abzunehmen,  hat  unter  den  praktischen  Wund- 
ärzten selbst  zu  jener  Zeit  keinen  Eingang  finden  können,  wo  die 
jetzt    üblichen    Änaesthetica   noch   nicht   bekannt  waren.     Es   möge 


§.  75.  KnorpelB/Btom.  Anatomische  Eigenschaften.  209 

hier  die  Erfahrung  Hunte  r's  über  diesen  Gegenstand  angeführt 
werden.  An  einem  Manne  wurde  der  Schenkel,  dessen  Crural-  und 
Hüftnerv  durch  Pelotten  taub  gebunden  waren,  amputirt.  Er  äusserte 
verhältnissmässig  wenig  Schmerz,  obwohl  er  ein  sehr  empfindliches 
Individuum  war,  und  eben  deshalb  der  Versuch  mit  dem  Druck- 
verbande zur  Probe  bei  ihm  gemacht  wurde.  Nach  gemachter 
Qefässligatur  wurde  die  Druckbinde  entfernt.  Ein  kleines  Gefäss 
blutete,  und  musste  unterbunden  werden.  Der  Kranke  klagte  über 
den  unbedeutenden  Unterbindungsact  der  kleinen  Arterie  ohne  die 
Druckbinde  mehr,  als  über  die  Amputation  des  Schenkels  mit 
der  Binde. 

Da  die  Nerven  an  sehr  vielen  Orten  die  grossen  Gefässe  der  Gliedmassen 
begleiten,  und  bei  der  Anfsnchnng  und  Isolimng  der  GefUsse  wohl  umgangen 
werden  müssen,  so  hat  man  versacht,  eine  allgemeine  Regel  aufzustellen,  welcher 
das  Verhältniss  der  Nerven  zu  den  Arterien  unterliegt,  um  in  jedem  vorkommen- 
den Falle*,  wie  aus  einer  Formel,  die  Lage  des  Nerven  bestimmen  zu  können. 
Die  Lagerung  des  Nerven  ist  allerdings  für  eine  bestimmte  Arterie  eine  sehr 
bestimmte,  lässt  sich  aber  nicht  im  Allgemeinen  ausdrücken.  Velpeau  (Chirurg. 
Anatomie.  3.  Abth.  p.  144)  stellte  eine  solche  Regel  auf,  nach  welcher  Nerv, 
Arterie  und  Vene  so  liegen,  dass,  vom  Knochen  aus  gezählt,  die  Arterie  das 
erste,  die  Vene  das  zweite,  der  Nerv  das  dritte  sei.  Von  der  Haut  aus  gezählt, 
wäre  dann  die  Ordnung  umgekehrt.  Ich  begreife  es  nicht,  wie  ein  achtbarer 
Chinirg  und  Anatom,  auf  diesen  kaum  für  zwei  Körperstellen  geltenden  Gedanken 
kommen  konnte.  Etwas  genauer  ist  die  Angabe  von  Foulhioux  (Revue  med. 
1825.  pag.  ()8).  Ueber  dem  Zwerchfelle  soll  der  Nerv  immer  an  jener  Seite  der 
Arterie  liegen,  welclie  von  der  Medianlinie  des  betreffenden  Köri»ertheiles  oder 
der  Axe  des  Gliedes  abgewendet  ist;  unter  dem  Zwerchfelle  dagegen  an  der  der 
.  Axe  zugewendeten  Seite.  Icli  will  zugeben,  dass  dieses  Verhältniss  ftir  die  obere 
Extremität,  für  den  Oberschenkel  und  den  Unterschenkel  gilt,  allein  in  der  Knie- 
kehle Endet  sich  eine  solenne  Ausnahme,  weshalb  Foulhioux  in  seiner  Abhand- 
lung diese  seinem  Systeme  gefährliche  Stelle  ganz  übergeht.  So  lange  es  Arterien 
giebt,  welche  an  allen  Seiten  von  Nerven  umgeben  sind,  wie  die  Achselarterie, 
oder  von  Nerven  gekreuzt  werden,  wie  die  Schenkel-  imd  vordere  Schienbein- 
arterie, wird  es  immer  gerathener  sein,  sich  lieber  auf  die  Angaben  der  speciellen 
Anatomie,  als  auf  allgemeine  Regeln  zu  verlassen. 


§.  75.  Knorpelsystem.  Anatomisclie  Eigenschaften. 

Die  Knorpel,  Cartilagines  (x^vBpo;,  —  in  der  Vulgärsprache  der 
Wiener:  Kruspel)  gehören  zu  den  Hartgebilden  des  menschlichen 
Körpers,  deren  Festigkeit  jedoch  zugleich  mit  einem  hohen  Grade 
von  Elasticität  sich  combinirt.  Viele  derselben  können  geknickt  und 
gebogen  werden,  ohne  zu  brechen;  andere  sind  spröder,  und  zeigen, 
wenn  sie  gebrochen  werden,  glatte  oder  faserige  Bruchflächen.  Sie 
sind  sämmtlich  mehr  weniger  durchscheinend,  in  dünne  Scheiben 
geschnitten   opalisirend,     und   von  gelblich   oder    bläulich    weisser 

Uyrtl,  Lehrbuch  der  Anatomie.  14.  Aufl.  14 


^  '^'  S»  '*•  Küor^tUytUm.  Anatomisohe  ElgBiitehaften. 

V\\h^.  \\\nm  sie  trocknen,  werden  sie  bernsteinfarbig  und  brüchig, 
i»ohnuuj»t\»ii  ÄU»ÄUimen,  schwellen  im  Wasser  wieder  auf,  widerstehen 
dor  FäuhÜ88  lange,  und  lösen  sich  in  kochendem  Wasser,  unter 
/urUoklasdung  eines  unlöslichen  Rückstandes  (Zellen  und  Fasern) 
»u  oiuor  gelatinösen  Masse,  welche  aber  keinen  Leim,  sondern  das 
tluroh  J.  Müller  vom  Leim  unterschiedene  Chondrin  enthält.  Das 
(liondrin  unterscheidet  sich  vom  gewöhnlichen  Leim  durch  seinen 
Sehwefelgehalt,  und  durch  seine  Fällbarkeit  durch  Alaun  und  Essig- 
säure. Die  Knorpel  enthalten  nebstdem  noch  anorganische  Salze, 
unter  welchen,  nach  den  Analysen  von  Frommherz  und  Gugert, 
kohlensaures  und  schwefelsaures  Natron  prävaliren. 

Durch  Fäulniss  werden  die  Knorpel  gewöhnlich  roth,  wegen 
Tränkung  mit  aufgelöstem  Blutroth.  Die  Knorpel  besitzen  eine  fibröse 
Umhüllungshaut,  das  Perichondrium,  welches  aber  an  den  die 
Gelenkenden  der  Knochen  überziehenden  Gelenkknorpeln  fehlt, 
und  an  den  Zwischenknorpeln  der  Gelenke,  durch  eine  von  der 
Synovialmembran  entlehnte  Epithelialschichte  ersetzt  wird. 

Man  unterscheidet  an  jedem  Knorpel  1.  eine  Grundsubstanz 
(Intercellularsubstanz) ,  2.  Höhlen  in  dieser,  und  3.  wirkliche  läng- 
liche Zellen,  sogenannte  Knorpelkörperchen,  in  den  Höhlen. 
Die  Grundsubstanz  ist  entweder  mehr  weniger  homogen  und  glas- 
artig durchscheinend,  oder  gefasert.  Hierauf  beruht  die  Eintheilung 
der  Knorpel  in  hyaline  oder  echte,  und  in  Faserknorpel,  von 
welchen  eine  Abart  als  Netzknorpel  besonders  unterschieden  wird. 
Zwischen  diesen  Formen  der  Knorpel  giebt  es  Uebergänge.  Zu  den 
hyalinen  Knorpeln  gehören  die  Luftröhren-  und  Kehlkopfknorpel 
(mit  Ausnahme  der  Cartilagines  Santorinianae  und  der  Epiglottis), 
die  Nasenknorpel,  die  knorpeligen  Ueberzüge  der  Gelenkflächen  der 
Knochen,  und  die  ossificirenden  Knorpel  des  Fötus.  Zu  den  Faser- 
knorpeln zählen  die  Knorpel  des  äusseren  Ohres,  der  Eustachischen 
Trompete,  Theile  der  Zwischen wirbelbänder ,  die  Knorpel  der 
Synchondrosen  und  Symphysen,  die  auf  den  Rändern  der  Gelenk- 
gruben aufsitzenden  Knorpelringe  (Labra  cartüaginea) ,  die  in  ge- 
wissen Sehnen  eingewebten  Sesamknorpel,  die  Cartäagines  Santo- 
rinianae,  Wrisbergü,  und  die  Epiglottis,  —  Den  IJebergang  von  den 
hyalinen  zu  den  Faserknorpeln  bilden  die  Rippenknorpel,  die  Carti- 
lago  thyreaidea  und  xyphoidea,  welche  bei  jungen  Individuen  echte, 
bei  alten  aber  faserige  Knorpel  darstellen.  Die  netzartig  verfilzten 
Fasern  der  meisten  Faserknorpel  stimmen  mit  elastischen  Fasern 
überein,  von  welchen  sie  sich  nur  durch  ihre  ungleichförmige  Dicke 
unwesentlich  unterscheiden.  In  den  Cartäagines  interarticulares,  in 
den  Knorpeln  der  Augenlider,  a.  m.  a.  besteht  das  Fasergerüste 
aus  wahren  Bindegewebsfaaem. 


^  75l  KMrT«lsyM«i.  Awto»wcW  Eiff«0ckafheB.  211 


Wenn  sieh  ein  Knorpel  früher  oder  spater  in  Knochen  um- 
wandelt, wie  es  bei  den  Hjalinknorpetn  so  oft  der  Fall  ist,  so  wird 
er  ein  verknöchernder  Knorpel,  Cartilago  oinesctn*,  genannt,  wo 
nichty  ein  bleibender,  Cartäago  perennis  s,  permanens,  wie  es  die 
Faserknorpel  sind. 

Die  Substanz  der  hyalinen  Knorpel  Erwachsener,  entbehrt  be- 
stimmt der  ernährenden  Gefasse.  obwohl  diese  in  der  fibrösen 
Hüllungsmembran  der  Knorpel  (Perichondnum},  jedoch  auch  da  nur 
sehr  spärlich  vorkommen. 

Die  länglichen  Knorpelkörperchen  eines  Gelenkknorpels  sind 
an  den  tiefen,  mit  dem  Knochen  zusammenhängenden  Schichten  des 
Knorpels,  in  der  Intercellularsubstanz  in  Längsreihen  geordnet, 
während  an  der  freien  Fläche  desselben  (Reibfläche"!  die  Inter- 
cellularsubstanz durch  grosse  Vermehrung  der  Knorpelkörperchen 
fast  ganz  verdrängt  wird,  letztere  überdies  eine  Querlage  annehmen, 
und  durch  ihre  Aneinanderlagerung,  einer  Schichte  von  Pflaster- 
epithelium  gleichen. 

Bereitet  man  einen  feinen  Schnitt  eines  hyalinen  Knorpels,  so  bemerkt  mftn 
in  ihm,  bei  einer  Ver^ssenmg  von  300,  Lficken  oder  Höhlen,  nm^ben  und  ein- 
geschlossen von  einer  hellen,  oder  wie  angehauchtes  Glas  matten  Gmndsubstans. 
Diese  Gmndsnbstanz  ist  entweder  homogen  und  stmcturlos,  oder  fein  granulirt 
Ihr  g^nulirtes  Ansehen  ist  nicht  die  Folge  einer  Zersetzung  oder  Gerinnung,  da 
dasselbe  auch  den  möglichst  frischen  Knorpeln  eben  geschlachteter  Thiere,  oder 
amputirter  Gliedmassen  zukommt.  Die  Lücken  oder  Höhlen  sind  in  sehr  variabler 
Menge  vorhanden,  öfters  auf  Haufen  zusammengedrängt,  von  der  mannig^Bbchsten 
Gestalt,  und  haben  0,006'" — 0,04"'  Durchmesser.  Sie  schliessen  die  Knorpelzellen 
ein,  welche  die  betreffende  Höhle  vollständig  ausfällen.  Das  Protoplasma  der 
Zellen  birgt  einen  grossen  granulirten  Kern.  Nicht  selten  beherbergt  eine  Höhle 
zwei,  seltener  drei  oder  vier  solcher  Zellen.  Der  Kern  enthält  selbst  wieder  zwei 
bis  drei  Kemkörperchen,  und  ausnahmsweise  auch  Fetttröpfchen,  welche  letztere 
in  den  Faserknorpeln  und  bei  älteren  Individuen  liäufiger,  als  in  echten  Knorpeln 
junger  Leichen  beobachtet  werden.  Setzt  man  Wasser  zu,  so  löst  sich  die  Knorpel- 
zelle ganz  oder  theil weise  von  der  Wand  der  Knorpelhöhle  ab,  und  schrumpft 
derart  ein,  dass  zwischen  Zelle  und  Höhlenwand  ein  heller  Ring  zum  Vorschein 
kommt.  Heidenhain's  Versuche  haben  die  Contractilität  der  Knorpelzellen  con- 
statirt.  —  Durch  Behandlung  mit  sehr  verdünnter  Schwefel-  und  Chromsäure 
gelingt  es,  auch  die  hyaline  Intercellularsubstanz  in  concentrische  Schalensjsteme 
zu  zerlegen,  welche  an  der  Schnittfläche  des  Präparates  als  ringförmige  Streifen 
gesehen  werden.  Dies  sind  die  Knorpelkapseln  der  Autoren.  Zwei  oder 
mehrere  nachbarliche  Knorpelkapseln,  welche  nur  Eine  Knorpelzelle  enthalten, 
werden  häufig  von  grösseren  Kapseln,  und  mehrere  dieser  letzteren  von  noch 
grösseren  umgeben.  —  Die  Entwicklung  der  Knorpel  hat  gelehrt,  dass  in  den 
ersten  Anlagen  derselben^  blos  hüllenlose  Protoplasmaklümpchen  mit  Kern  (Primor- 
dialzellen)  vorhanden  sind,  die  sogenannte  Grundsubstanz  (hyalin  oder  faserig) 
aber  erst  secundär  hinzukommt. 

In  einigen  Faeerknorpeln  nimmt  die  Entwicklung  der  faserigen  Intercellular- 
substanz so  zu,  dass  die  Knorpelhöhlen  und  Zellen  fast  ganz  verdrängt  werden, 
wie  in  den  Zwischenknorpeln  des  Knie-  und  Handwurzelgelenks.  —  In  jenen 
pathologischen   Neubildungen,  welche  Enchondrome    genannt    werden,   finden 

14* 


212  §•  76.  Phjrtiologiiche  Eigenschaft«!!  der  Knorpel. 

sich  auch  sternförmige  Knorpelzellen  (wie  in  den  Knorpeln  der  Haie  nach  Lejdig). 
£s  g^ebt  auch  Knorpel,  welche  blos  aus  Zellen,  ohne  wahrnehmbare  Zwischen- 
substanz, bestehen,  wie  die  Chorda  doracdia  der  Säugethier-  und  Vogel-Embryonen 
und  mehrerer  Knorpelfische. 

Literatur.  M,  Meckauer,  de  penitiori  cartilaginum  stmctura.  Vratislaviae, 
183G.  —  Herde,  allgem.  Anatomie,  pag.  791.  —  Sahmcmn,  über  Gelenkknorpel. 
Tübingen,  1 846.  —  Herrn,  Meyer,  der  Knorpel  und  seine  Verknöcherung,  in  Müller'a 
Archiv.  1849.  —  Bergmann,  de  cartilaginibus.  Mitaviae,  1850.  —  Luschka,  die 
Altersveränderungen  der  Zwischenwirbelknorpel,  im  Archiv  für  path.  Anat.  1 856. 
—  Ä.  Bauer,  zur  Lehre  von  der  Verknöcherung  des  primordialen  Knorpels,  in 
Müller^ 8  Arch.  1857.  —  Die  histologischen  Arbeiten  von  KoUiker,  M,  SchuUze, 
Heidenhain,  vu  v.  a.  finden  sich  in  den  Jahresberichten  über  die  Fortschritte  der 
Anatomie  excerpirt. 


§.  76.  Physiologische  Eigenschaften  der  Knorpel. 

Die  Knorpel  sind  unempfindlich.  Man  kennt  keine  Nerven 
in  ihnen.  Die  physiologischen  Bestimmungen,  welchen  sie  gewidmet 
sind,  erfordern  es  so.  Die  knorpeligen  Ueberzüge  der  Gelenkflächen 
der  Knochen,  und  die  Knorpel,  welche  die  Form  gewisser  Organe 
bestimmen,  wie  die  Ohrknorpel,  die  Augenlid-  und  Nasenknorpel, 
würden  ihrem  Endzwecke  weit  weniger  entsprechen,  wenn  sie  für 
die  mechanischen  Einwirkungen,  denen  sie  ausgesetzt  sind,  und 
welche  in  den  Gelenken  einen  hohen  Intensitätsgrad  erreichen,  empfind- 
lieh wären.  Im  kranken  Zustande  steigert  sich  ihre  Empfindlichkeit 
auf  eine  furchtbare  Höhe,  wie  die  Erweichung  der  Knorpel  bei  ge- 
wissen Gelenkkrankheiten  lehrt.  Gesunde  Knorpel  können  geschnitten 
oder  abgetragen  werden ,  ohne  Schmerzen  zu  erregen.  Diese  Be- 
obachtung machte  schon  die  ältere  Chirurgie  (Heister),  welche  es 
als  Grundsatz  aufstellte,  nach  der  Amputation  der  Gliedmassen  in 
den  Gelenken  (Enucleation),  die  überknorpelten  Knochenenden 
abzuschaben,  um  den  Vemarbungsprocess  zu  beschleunigen. 

Die  Elasticität  der  Knorpel  ist  ebenfalls  auf  ihre  mechanische 
Bedienstung,  und  bei  den  Knorpeln  der  Nase  und  des  Ohres,  wohl 
auch  auf  ihre  Blossstellung,  und  dadurch  gegebene  Gefährdung  durch 
mechanische  Einwirkungen  berechnet.  Schwindet  sie  durch  Alter 
oder  Ossification,  so  können  mechanische  Einwirkungen  selbst  Brüche 
der  Knorpel  erzeugen,  wie  sie  am  Schildknorpel  beobachtet  wurden. 
Man  überzeugt  sich  am  besten  von  der  Elasticität  der  Knorpel, 
wenn  man  ein  Scalpell  oder  einen  Pfriemen  in  eine  Symphyse  oder 
in  ein  Zwischenwirbelband  stösst,  wo  es  nicht  stecken  bleibt, 
sondern  wie  ein  Keil  wieder  herausspringt.  —  Die  Federkraft  der 
Rippenknorpel  erleichtert  wesentlich  die  respiratorischen  Bewegungen 
des  Brustkorbes,  und  die  Elasticität  der  Zwischenwirbelbänder  und 
der  Symphysen^    liefeii;    das  beste   Schutzmittel   gegen    die   Stösse, 


§.  77.  KnocheoHy^tem.  Allgemeine  Bigeiisohaflen  der  Knochen.  213 

welche  das  Becken  und  der  Rückgrat  beim  Sprung  und  Lauf,  und 
bei  so  vielen  körperlichen  Anstrengungen  auszuhalten  haben.  Die 
Knorpel  vertragen  deshalb  anhaltenden  Druck  viel  besser,  als.  selbst 
die  Knochen,  und  man  kennt  Fälle,  wo  Aneurysmen  der  Brustaorta, 
durch  Druck  selbst  die  Wirbelkörper  atrophirten,  ohne  den  Schwund 
der  Zwischenwirbelbänder  erzwingen  zu  können. 

Da  die  ausgebildeten  Knorpel  keine  Blutgefilsse  besitzen,  so 
können  ihre  Nutritionsthätigkeiten  nur  durch  Tränkung  mit  Blut- 
plasma vermittelt  werden.  Der  Umsatz  der  Ernährungsstoffe  im 
Knorpel  geht  aber  so  träge  vor  sich,  dass  die  Ernährungskrankheiten 
der  Knorpel  sich  durch  lentescirenden  Verlauf  auszeichnen,  und  die 
üebernährung  (Hypertrophie)  der  Knorpel  noch  gar  nie  beobachtet 
wurde.  Das  Perichondrium  wird  als  gefUssbegabte  Membran  sich 
zum  Knorpel  als  Ernährungsorgan  verhalten.  Wird  es  entfernt,  so 
stirbt  der  Knorpel  ab,  wenn  er  nicht  von  einer  anderen  Seite  her 
Blut  zugeführt  erhält.  Da  ein  Gelenkknorpel  seine  Nahrungszufuhr 
vom  Knochen  aus  erhält,  so  muss,  wenn  letzterer  durch  Krankheit 
zerstört  wird,  die  knorpelige  Kruste  der  Gelenkflächen,  ganz  oder 
stückweise  vom  schwererkrankten  Knochen  abfallen.  Man  findet 
deshalb  in  den  durch  Beinfrass  angegriffenen  Gelenken,  sehr  häufig 
kleine  Fragmente*  der  (Jelenkknorpel  oder  lose  Knorpelschalen  vor. 

Die  Substanzverluste,  welche  im  Knorpel  durch  Verwundung 
oder  Geschwüre  bedingt  werden,  regeneriren  sich  niemals  durch 
wahre  Neubildung  von  Knorpclmasso ,  sondern  durch  Fasergewebe 
ohne  Knorpelzellen.  Ein  aus  dem  Schildknorpel  eines  Hundes  heraus- 
geschnittenes dreieckiges  Stück,  wurde  nicht  wieder  ersetzt,  sondern 
die  Oeffnung  durch  eine  fibröse  Membran,  als  Verlängerung  des 
Perichondrium,  ausgefüllt. 

Dass  Knorpel  Substanz  abnormer  Weise  an  ungewöhnlichen  Stellen  des 
Organismus  gebildet  werden  könne,  beweist,  nebst  der  Knorjielbildung,  welche 
den  Ossificationen  seröser  Häute  vorausgeht,  das  Enchondronia  Muelleri. 


§.  77.  Knochensystem.  Allgemeine  Eigenschaften  der  Knochen. 

Ta  \/.h  o(7T£a  T(o  cwjjLaT'.  aiaaiv,  xai  ipOonfjTa,  y,a{  e^.toq  luapsx'^vTat,  sagt 
Hippocrates  (ossa  autem  corpori  humano  firmüatem,  rectitudinem,  et 
formam  condliant).  In  der  That  dienen  die  Knochen,  welche  nebst 
den  Zähnen,  die  härtesten  Bestandtheile  unseres  Leibes  sind,  dem 
ganzen  Menschenkörper  zur  Grundveste.  Sie  bilden  durch  ihre 
wechselseitige  Verbindung,  ein  aus  mehr  weniger  beweglichen 
Balken,  Sparren  und  Platten  aufgebautes  Gerüste  (das  Skelet), 
welches  die  Grösse  (Höhe)  des  Körpers  bestimmt,  sämmtlichen 
Weichtheilen  zur  Unterlage  und  Befestigung  dient,  ihnen  Halt  und 


214  §•  77.  Knoehensystem.  Allgemeine  EigensehAffcen  der  Knochen. 

Stütze  giebt,  geräumige  Höhlen  zur  Aufnahme  und  zum  Schutze 
der  Eingeweide  erzeugt,  den  Muskeln  feste  Angriffspunkte  und 
leicht  bewegliche  Hebelarme  darbietet,  und  den  Blutgefässen  und 
Nerven  die  Bahnen  ihres  Verlaufes  vorschreibt.  Da  die  Knochen, 
ihrer  Härte  wegen,  sich  allenthalben  an  der  Oberfläche  des  mensch- 
lichen Leibes  durchfühlen  lassen,  geben  sie  eine  verlässliche  Richt- 
schnur ab,  die  Lage  und  die  räumlichen  Verhältnisse  der  um  die 
Knochen  herum  gruppirten,  oder  von  ihnen  umschlossenen  Organe, 
zu  beurtheilen  und  festzustellen.  Starre  Festigkeit  und  Härte,  ver- 
bunden mit  einem  gewissen  Grade  von  Elasticität,  so  wie  gelblich 
weisse  Farbe,  kommen  allen  Knochen  in  verschiedenem  Maasse  zu. 
Sie  verlieren  durch  Austrocknen  zwar  an  Gewicht,  aber  nicht  an 
Gestalt  und  Grösse,  und  widerstehen  der  Fäulniss  so  beharrlich, 
dass  sich  selbst  die  Knochen  der  Thiere,  welche  die  antediluvianische 
Welt  bevölkerten,  und  durch  die  kosmischen  Revolutionen  schon 
längst  aus  dem  Buche  der  Schöpfung  gestrichen  wurden,  noch  un- 
versehrt im  Schoosse  der  Erde  erhalten  haben. 

Die  genannten  Eigenschaften  der  Ejiochen  sind  die  natürliche 
Folge  ihrer  Zusammensetzung  aus  organischen  und  anorgani- 
schen (mineralischen)  Bestandtheilen. 

Die  anorganischen  Bestandtheile  werden  als  sogenannte 
Knochenerde  zusammengefasst.  Die  Knochenerde  stammt  zum 
grössten  Theil  aus  der  uns  umgebenden  anorganischen  Natur. 
Der  Zahn  der  Zeit  zernagt  den  kalkhaltigen  Fels  zu  Trümmern; 
diese  werden  Staub;  Wind  und  Regen  bringen  den  Staub  in  die 
Ebene,  dort  düngt  er  den  Acker,  die  Wiese,  und  giebt  der  Pflanze 
ihre  Nahrung,  welche  von  Thieren  und  Menschen  verzehrt,  denselben 
die  erdigen  Stoffe  zufuhrt,  aus  denen  die  Knochen  sich  aufbauen. 
Milch  und  Fleisch  enthalten  gleichfalls  ansehnliche  Mengen  phosphor- 
saurer Salze.  Auch  das  sogenannte  harte  Trinkwasser,  welches 
doppelt  kohlensauren  ELalk  fuhrt,  sorgt  für  den  Bedarf  unseres 
Leibes  an  Knochenerde. 

Der  organische  Bestandtheil  der  Knochen  zeigt  sich  uns  als 
eine  biegsame  und  elastische,  durchscheinende,  knorpelähnliche 
Substanz,  welche  Knochenknorpel  (Ossein)  genannt  wird,  obwohl 
sie  eigentlich  kein  Knorpel,  sondern  ungefasertes  Bindegewebe  ist, 
und  deshalb  beim  Kochen  kein  Chondrin  giebt,  wie  die  Knorpel, 
sondern  Leim,  wie  das  Bindegewebe.  Wir  wollen  dennoch  den 
Namen  Knochenknorpel  beibehalten,  weil  er  sich  in  der  ana- 
tomischen Sprache  seit  lange  eingebürgert  hat.  Dem  Knochenknorpel 
verdanken  die  Knochen  ihren,  wenn  auch  geringen  Elasticitätsgrad, 
ihr  Verwittern  an  der  Luft,  und  ihre  theilweise  Verbrennlichkeit. 
Auf  den  holzarmen  Falklandsinseln ,  braten    die  Eingebomen  einen 


§.  77.  Knochensystem.  Allgemeine  Eigentchaften  der  Knocben.  215 

Ochsen  mit  dessen  eigenen,  mit  etwas  Torf  gemischten  Knochen. 
Kameelknochen  werden  in  den  Wüsten  als  Brennmaterial  benützt. 
Die  anorganischen  Bestandtheile  der  Knochen  bedingen  ihre 
weisse  Farbe,  ihre  Härte  und  Sprödigkeit,  und  ihre  Beständigkeit 
im  Feuer,  welche  nur  durch  hohe  Schmelzhitze,  und  durch  bei- 
gegebene Flussmittel  überwunden  wird  (milchfarbiges  Knochenglas). 
Eine  richtige  Proportion  der  anorganischen  und  organischen  In- 
gredienzien verleiht  den  Knochen  ihre  Festigkeit,  Dauerhaftigkeit, 
und  ihre  bis  zu  einem  gewissen  Grade  ausreichende  Widerstands- 
kraft gegen  alle  Einflüsse,  welche  Cohäsion  und  Form  der  Knochen 
zu  ändern  streben.  —  Als  vielgebrauchtes  Düngungsmittel  (Knochen- 
mehl) wirken  die  Knochen  mehr  durch  ihre  anorganischen  als 
organischen  Bestandtheile. 

Nach  Bibra's  Analyse  enthielt  der  Oberschenkel  eines  25jäh- 
rigen  Mannes: 

Basisch  phosphorsaure  Kalkerde   mit  Fluorcalcium  59,63 

Kohlensaure  Kalkerde 7,33 

Phosphorsaure  Talkerde       1,32 

Lösliche  Salze 0,69 

Knochenknorpel  mit  Fett  und  Wasser  ....  31,03 
Das  Verhältniss  des  Knochenknorpels  zur  Knochenerde  variirt 
in  verschiedenen  Knochen  desselben  Individuums,  und  in  verschiede- 
nen Altersperioden.  Die  Knochen  der  Embryonen  und  Kinder 
enthalten  mehr  Knochenknorpel,  die  Knochen  Ei'wachsener  mehr 
mineralische  Bestandtheile,  und  im  hohen  Alter  können  letztere  so 
überhandnehmen,  dass  der  Knochen  auch  seinen  geringen  Grad  von 
Biegsamkeit  und  Elasticität  verliert,  und  spröde  und  brüchig  wird, 
wie  das  häufige  Vorkommen  der  Fracturen  bei  Greisen  beurkundet. 
Im  kindlichen  Alter,  wo  mit  der  Prävalenz  des  Knochenknorpels 
auch  die  Biegsamkeit  der  Knochen  grösser  ist,  kommen  Brüche 
selten,  dagegen  Knickungen  an  den  langen  Knochen,  und  Einbüge 
an  den  breiten  Knochen  des  Schädels  öfter  vor. 

Die  Knochenerde  bildet  beiläufig  die  Hälfte  des  Gewichts  eines 
jungen,  2/3  des  Gewichts  eines  ausgewachsenen,  und  '/g  eines  ge- 
sunden Greisenknochen.  Die  langen  Knochen  der  Extremitäten 
enthalten  mehr  anorganische  Substanz  als  die  Stammknochen,  die 
Schädelknochen  mehr  als  beide.  —  Durch  Krankheit  kann  das 
Verhältniss  der  organischen  zu  den  anorganischen  Bestandtheilen  so 
geändert  werden,  dass  das  Ueberwiegen  der  einen  oder  der  anderen, 
abnorme  Biegsamkeit  oder  Brüchigkeit  der  Knochen  setzt.  Die 
Verkrümmungen  sonst  geradliniger  Knochen  in  der  englischen 
Krankheit  (Rhachiiis),  wo  die  Knochenerde  im  Uebermaasse  durch 
den  Harn  abgeführt  wird,  so  wie  ein  hoher  Grad  von  Fragilität  der 
Knochen  (Osteop^  ««^n  Ernährungskrankheiten,  sind 


216  §•  78'  Eintheilang  der  Knooheo. 

das  nothwendige  Resultat  der  Mischungsänderung.  —  Bei  einem 
rhachitischen  Kinde  fand  Bostock  in  einem  Wirbel  79,75  Procent 
thierische,  und  nur  20,25  erdige  Substanz. 

Der  organische  Bestandtheil  der  Knochen  (Knochenknorpel) 
lässt  sich  durch  Kochen  extrahiren,  und  bei  hoher  Siedhitze  im 
Papiniani^schen  Digestor,  bleibt  nur  die  morsche,  leicht  zerbröckelnde, 
wie  wurmstichige,  anorganische  Grundlage  als  Rest  zurück.  Der 
in  kochendem  Wasser  aufgelöste  organische  Bestandtheil  stellt  eine 
gelatinöse  Masse  dar,  welche  in  grösserer  Menge  aus  Thierknochen, 
besonders  aus  den  schwammigen  Theilen  derselben  und  ihren 
weichen  Zugaben  (Bänder,  Sehnen,  etc.)  gewonnen,  als  Genussmittel 
verwendet  wird.  Man  denke  an  die  Belagerungen  von  Numantia, 
Sagunt,  und  Paris  (durch  Heinrich  von  Navarra),  wo  der  wüthende 
Hunger  nach  zerstampften  Thier-  und  Menschenknochen  als  letzte 
Nahrungsmittel  griff;  —  man  denke  an  Rumford'sche  Suppen  und 
an  d'Arcet^s  Knochensuppentafeln  fiir  Soldaten  im  Kriege.  Hunde 
frassen  zwar  diese  Tafeln  nicht,  und  einem  Victualienhändler  ver- 
zehrten die  Ratten  alles  Essbare,  mit  Ausnahme  dieser  Soldatenkost. 
Sie  werden  aber  in  Spitälern  und  Feldlazarethen  gebraucht  — 
wenigstens  verrechnet.  Was  die  Siedhitze  leistet,  leistet  auch  die 
verdauende  Thätigkeit  des  Magens.  Sie  entzieht  den  Knochen  ihren 
organischen  Bestandtheil,  verschont  aber  den  Kalk,  welcher  mit 
den  Excrementen  als  solcher  entleert  wird.  So  erklärt  sich  der 
weisse  Koth  (album  graecum)  der  fleischfressenden  Thiere.  —  Durch 
Glühen  wird  der  Knochenknorpel  unter  Entwicklung  von  Ammoniak 
verbrannt,  und  die  Erden  bleiben  mit  Beibehaltung  der  Knochen- 
form zurück  (Calciniren  der  Knochen). 

Der  organische  Bestandtheil  der  Knochen  geht  durch  das  Verwittern  der- 
selben nur  znm  Theil  verloren.  Ein  nicht  unansehnlicher  Rest  desselben  wird, 
wahrscheinlich  durch  die  Art  seiner  Verbindung  mit  dem  erdigen,  vor  der  Zer- 
störung durch  Fäulniss  geschützt  So  fand  Davy  in  einem  Stimknochen  aus 
einem  Orabe  zu  Pompeji,  noch  357]  Procent  organische  Substanz,  und  in  einem 
Mammuthzahne  30,6. 

Nur  die  deutsche  Sprache  hat  für  O»  zwei  Ausdrücke :  Knochen  und 
Bein;  ersteres  im  aUgemeinen  Sinne,  letzteres  für  Einzelheiten.  Es  giebt  deshalb 
eine  Knochen-,  aber  keine  Beinlehre,  so  wie  gegentheilig  Siebbein,  Brustbein, 
Schienbein,  gesagt  wird,  aber  nicht  Siebknochen,  Brustknochen,  oder  Schien- 
knochen. Soll  auch  Bein  auf  eine  Vielheit  von  Knochen  angewendet  werden, 
mnss  ihm  das  cumulative  Ge  vorgesetzt  werden:  Gebein. 


§.  78.  Eintheiluiig  der  Knochen. 

Nach  Verschiedenheit   der   Gestalt   unterscheidet   man  lange, 
breite,  kurze,  und  gemischte  Knochen. 


§.  78.  Sintheilnng  der  KnocheiL  217 

Die  langen  Knochen,  auch  Röhrenknochen,  mit  Ueber- 
wiegen  des  Längendurchmessers  über  Breite  und  Dicke,  besitzen 
ein  mehr  weniger  prismatisches,  mit  einer  Markhöhle  versehenes 
Mittelstück,  Corpus  8,  Diaphysis,  und  zwei  Endstücke,  Epiphyses 
(i-rci-^öeiv,  anwachsen).  Die  Endstücke  sind  durchaus  umfänglicher 
als  das  Mittelstück,  und  mit  überknorpelten  Gelenkflächen  versehen, 
mittelst  welcher  sie  an  die  überknorpelten  Enden  benachbarter 
Knochen  anstossen,  und  mit  diesen  durch  die  sogenannten  Bänder 
beweglich  verbunden  werden.  Die  langen  Knochen  stecken  zumeist 
in  der  Axe  der  oberen  und  unteren  Gliedmassen. 

Die  breiten  Knochen,  mit  prävalirender  Flächenausdehnung, 
finden  sich  dort,  wo  Höhlen  zur  Aufnahme  wichtiger  Organe  ge- 
bildet werden  mussten,  wie  an  der  Hirnschale,  an  der  Brust,  und 
am  Becken.  An  der  Hirnschale  bestehen  sie  aus  zwei  compacten 
Tafeln,  welche  durch  zellige  Zwischensubstanz  (Diploe)  von  einander 
getrennt  sind.  Sollen  auch  lange  Knochen  zu  Höhlenbildung  ver- 
wendet werden ,  so  verlieren  sie  ihre  Markhöhle ,  welche  durch 
schwammige  Substanz  vertreten  wird ,  ihr  prismatisches  oder 
cylindrisches  Mittelstück  verflacht  sich,  und  sie  werden  ihrer  Länge 
nach,  entsprechend  dem  Umfange  der  Höhle,  gekrümmt  (z.  B.  die 
Rippen).  Lange  und  zugleich  breite  Knochen,  wie  das  Brustbein, 
enthalten  keine  Markhöhlen,  sondern  eine  feinzellige  Diploe.  —  Die 
Fläche  der  breiten  Knochen  ist  entweder  plan,  wie  am  Pflugschar- 
bein, oder  im  Winkel  geknickt,  wie  am  Gaumenbein,  oder  schalen- 
förmig gebogen,  wie  an  den  meisten  Knochen  der  Hirnschale;  — 
oder  es  treten  viele  plane  Knochenlamellen  zu  einem  einzigen  gross- 
zelligen  Knochen  zusammen,  welcher  deshalb  bei  einer  gewissen 
Grösse  eine  bedeutende  Leichtigkeit  besitzen  wird  (Siebbein). 

Die  kurzen  Knochen  sind  entweder  rundlich,  oder  unregel- 
mässig polyedrisch,  und  kommen  in  grösserer  Zahl,  über  oder  neben 
einander  gelagert,  an  solchen  Orten  vor,  wo  eine  Knochenreihe, 
nebst  bedeutender  Festigkeit,  zugleich  einen  gewissen  Grad  von 
Beweglichkeit  besitzen  musste,  wie  an  der  Wirbelsäule,  an  der  Hand- 
und  Fusswurzel,  was  nicht  zu  erreichen  gewesen  wäre,  wenn  an  der 
Stelle  mehrerer  kurzer  Knochen,  ein  einziger  langer  und  ungegliederter 
Knochenschaft  angebracht  worden  wäre.  Man  hat  die  kurzen  Knochen 
auch  vielwinkelige  genannt,  welche  Benennung  ich  deshalb  ver- 
werfe, weil  mehrere  kurze  Knochen  gar  keine  Winkel  haben  (Sesam- 
beine), und  auch  viele  breite  und  lange  Knochen  vielwinkelig  sind. 

Die  gemischten  Knochen  sind  Combinationen  der  drei  ge- 
nannten Knochenformen. 

Die  specielle  Osteogn^aphie  beschreibt  die  FlXchen,  Winkel,  Bänder,  Erhaben- 
heiten und  Vertiefungen,  welche  an  iMUnr  ^*  **-irftmmen.  Um  spätere 
Wiederholungen  zu  yermeiden,  uff^-  *  Bimelheiten 


218  §.  79.  KnoehensnbBteiiieii. 

hier  festg^estellt  werden.  Fläche,  Superfidea,  ist  eine  Beg^nzungsehene  eines 
Knochens.  Sie  kann  eben,  convex,  concav,  winkelig  geknickt,  oder  wellenförmig 
gebogen  sein.  Ist  sie  mit  Knorpel  überkrustet,  und  dadurch  glatt  und  schlüpfrig 
gemacht,  so  heisst  sie  Oelenkfläche,  Superficies  artictdaris  8.  glenoidea.  Winkel, 
Angultu,  ist  die  Durchschneidungslinie  zweier  Flächen,  oder  ihre  gemeinschaftliche 
Kante.  Die  Winkel  sind  scharf  (kleiner  als  90^),  oder  stumpf  (gprösser  als  90"), 
oder  abgerundet,  geradlinig  oder  gebogen.  Rand,  Margo,  heisst  die  peripherische 
Umgrenzung  breiter  Knochen.  Er  ist  breit  oder  schmal,  gerade  oder  schief  ab- 
geschnitten, glatt,  rauh,  oder  mit  Zacken  besetzt,  gewulstet  oder  zugeschärft,  auf- 
gekrempt,  oder  in  zwei,  auch  in  drei  Lefzen  gespalten.  Fortsatz,  Processus y 
heisst  im  Allgemeinen  jede  Henrorragung  eines  Knochens.  Unterarten  der  Fort- 
sätze sind:  Der  Höcker,  Tubert  Protuberantiaf  Tuberosüas,  ein  rauher,  niedriger, 
mit  breiter  Basis  aufsitzender  Knochenhügel.  Im  kleineren  Maassstabe  wird  er 
zum  Tuberadum.  Der  Kamm,  Crista,  ist  eine  ganz  willkürlich  angewendete  Be- 
zeichnung für  gewisse  scharfe  oder  stumpfe,  gerade  oder  gekrümmte,  auf  Knochen - 
flächen  aufsitzende  Riffe.  Stachel,  Spina,  heisst  ein  langer  spitziger  Fortsatz. 
Gelenkkopf,  Caput  artieulare,  ist  jeder  überknorpelte ,  mehr  weniger  kugelige 
Fortsatz,  welcher  gewöhnlich  auf  einem  engeren  Halse,  Coüumf  am  Ende  eines 
Knochens  aufsitzt.  Wird  die  Kugelform  mehr  in  die  Breite  gezogen,  so  spricht 
man  von  einem  Knorren,  Oondylus.  Sehr  häufig  werden  stumpfe,  nicht  über- 
knorpelte Processus,  ebenfalls  Oondyli  genannt,  wie  denn  überhaupt  im  Gebrauche 
der  osteolog^schen  Terminologie  sehr  viel  Willkür  herrscht.  Ursprünglich  bedeutet 
Condylus  nur  die  Knoten  an  einem  Schilfrohre,  und  metaphorisch  auch  die  Knoten 
der  Fingergelenke.  —  Der  von  den  Alten  aufgestellte  Unterschied  zwischen 
Apophjsis  und  Epiphjsis,  wird  von  den  besten  neueren  Schriftstellern  nicht  beachtet 
Apophysis,  was  man  mit  Knochenauswuchs  übersetzen  könnte,  ist  jeder  Fortsatz, 
der  aus  einem  Knochen  herauswächst,  und  zu  jeder  Zeit  seiner  Existenz,  einen 
integprirenden  Bestandtheil  desselben  ausmacht.  Epiphysis,  Knochenanwuchs, 
ist  ein  Knochenende  oder  Fortsatz,  welcher  zu  einer  gewissen  Zeit  mit  dem  Körper 
des  Knochens  nur  durch  eine  zwischenliegende  Knorpelplatte  zusammenhängt,  und 
erst  nach  vollendetem  Wachsthume  des  Knochens  mit  ihm  verschmilzt. 

Die  Vertiefungen  heissen,  wenn  sie  überknorpelt  sind.  Gelenkgruben, 
Foveae  articulares  s,  glenoidales  (von  fXijvT),  glatte,  concave  Fläche),  nicht  über- 
knorpelt, überhaupt  Gruben.  In  die  Länge  gezogene  Gruben  sind:  Rinnen, 
und  seichte  Rinnen:  Furchen,  Sulci.  Sehr  schmale  und  tiefe  Rinnen  heissen 
Spalten,  Fissuren,  welcher  Ausdruck  auch  für  jede  long^tudinale  Oeffnung  einer 
Höhle  gebraucht  wird.  Löcher,  Faramina,  sind  die  Mündungen  von  Kanälen; 
kurze  und  weite  Kanäle  heissen  Ringe.  Kanäle,  welche  in  den  Knochen,  aber 
nicht  wieder  aus  ihm  führen,  sind:  Ernährungskanäle,  und  ihr  Anfang  ander 
Oberfläche  der  Knochen  ein  Ernährungsloch,  Foramen  nutritiutn.  Die  Höhlen 
in  den  Mittelstücken  der  langen  Knochen  werden  Cava  meduUaria,  Markhöhlen, 
genannt  Enthalten  sie  kein  Mark,  sondern  Luft,  wie  in  gewissen  Schädelknochen, 
so  heissen  sie  J^us  s.  ArUra. 


§.  79.  Enochensubstanzen. 

Die  Knochensubstanz  hat  nicht  an  allen  Punkten  des  Knochens 
dieselben  Attribute  der  Dichtigkeit  und  Härte.  Wir  unterscheiden 
1.  eine  compacte,  2.  eine  schwammige,  und  3.  eine  zellige 
KnochenBubstanz. 


§.  80.  Bttiiihsiit  nnd  Knochenmark.  219 

1.  Die  Oberfläche  der  Knochen  wird,  bis  auf  eine  gewisse 
Tiefe,  von  compacter  Knochensubstanz  gebildet.  Diese  erscheint 
dem  unbewaiTneten  Auge  homogen,  und  von  sehr  dichtem  Gefiige. 
Sie  wird  jedoch  allenthalben  von  sehr  feinen  Kanälchen  (Gefäss- 
kanälchen,  Canalicvli  Haversiani)  durchzogen,  welche  nur  mit  be- 
waffnetem Auge  gut  zu  sehen  sind.  Die  Möglichkeit,  die  auf  der 
Oberfläche  der  compacten  Substanz  befindlichen  Mündungen  dieser 
Kanälchen  durch  Druck  und  Reibung  verschwinden  zu  machen, 
bedingt  das  zu  technischen  Zwecken  dienende  Poliren  der  Knochen. 
—  Die  compacte  Substanz  zeigt  im  Mittelstücke  der  Röhrenknochen 
ihre  grösste  Mächtigkeit,  und  nimmt  gegen  die  Endstücke  derselben 
allmälig  ab.  An  den  breiten  Knochen  finden  wir  zwei  Tafeln  com- 
pacter Substanz  vor,  eine  äussere  und  eine  innere,  und  an  den 
kurzen  Knochen  existirt  sie  nur  als  Kruste  von  sehr  unbedeutender 
Dicke,  oder  fehlt,  wie  an  den  Körpern  der  Wirbel,  gänzlich. 

2.  Die  schwammige  Knochensubstanz,  welche  sich  in  den 
langen  Knochen  an  die  compacte ,  in  der  Richtung  gegen  die 
Epiphysen  zu,  anschliesst,  besteht  aus  vielen,  sich  in  allen  möglichen 
Richtungen  kreuzenden  Knochenblättchen,  wodurch  ein  System  von 
Lücken  und  Höhlen  entsteht,  welche  unter  einander  communiciren, 
und  mit  den  Hohlräumen  des  gemeinen  Badeschwammes  verglichen 
werden  können.  Man  kann  sich  die  Markhöhle  der  langen  Knochen 
durch  Verschmelzung  dieser  Lücken  und  Räume  zu  einem  grösseren 
Cavum,  entstanden  denken. 

3.  Werden  die  Lücken  der  schwammigen  Substanz  sehr  klein, 
so  entsteht  die  zellige  Substanz,  und  haben  die  Blättchen  der 
zelligen  Substanz,  die  Feinheit  von  Fasern  angenommen,  so  wird 
sie  Netzsubstanz  genannt.  In  den  Gelenkenden  der  langen,  und 
im  Inneren  der  kurzen  Knochen,   findet   sieh   nur  zellige  Substanz. 

Man  hat  es  erst  in  neuerer  Zeit  erkannt,  dass  die  schwammige  Knochen- 
snbstanz  kein  regeUoses  Gewirr  von  Knochenblättchen  und  Bälkchen  ist,  sondern 
dass  jedem  solchen  Blättchen  und  Bälkchen,  eine  bestimmte  mechanische  Ver- 
wendimg zukommt,  wodurch  sie  zu  wohlberechneten  und  wohlgefügten  Architekturs- 
theilchen  der  Knochen  werden,  und  mit  der  Verwendungsart  des  Knochens  im 
innigen  und  nothwendigen  Zusammenhange  stehen.  Näheres  hierüber  enthält: 
Meyer,  im  Archiv  für  Anat.  und  Physiol.  1867,  —  J.  Wolff,  im  Archiv  für  pathol. 
Anat.  Bd.  56,   —  Langerhans,  ebenda,  61.  Bd.,  —  Aeby,  Med.  Centralblatt  XI. 


§.  80.  Beinhaut  und  Knochenmark. 

Besondere  Attribute  frischer  Knochen  sind,  nebst  den,  die 
Gelenkenden  der  Knochen  überziehenden  Knorpeln,  noch:  die  Bein- 
haut und  das  Mark.  Beide  müssen  durch  Fäulniss  zerstört  werden, 
um  den  Knochen  zu  bleichen  und  trocken  aufzubewahren. 


220  f*  W*  Beinhant  nnd  Knochenmark. 

Die  Beinhaut,  Periosteum,  ist  eine  fibröse  Umhüllungsmembran 
der  Knochen.  An  den  knorpelig  incrustirten  Gelenkenden  und  an 
den  Muskelanheftungsstellen  der  Knochen  fehlt  sie.  Sie  steht  zu  den 
von  ihr  umhüllten  Knochen  in  einer  sehr  innigen  Ernährungsbeziehung, 
und  besitzt  deshalb  Blutgefässe  in  grosser  Menge.  Diese  Gefilsse 
bilden  dichte  Netze,  und  schicken  durch  die  Geftlsskanälchen  (§.  79 
und  83)  Fortsetzungen  bis  in  die  centrale  Markhöhle  der  Röhren- 
knochen, wo  sie  mit  den  GefUssnetzen  des  Knochenmarks  anastomo- 
siren,  welche  von  den  grösseren,  durch  die  Foramina  nutHtia  zum 
Knochenmark  gelangenden  Ernährungsgefiissen  gebildet  werden.  An 
den  Epiphysen  der  langen  Knochen,  und  an  gewissen,  porös  aus- 
sehenden kurzen  Knochen  (z.  B.  an  den  Wirbelkörpern),  hängt  -sie, 
der  zahlreichen  Gefösse  wegen,  die  sie  in  den  Knochen  abschickt, 
viel  fester  an,  als  an  der  glatten  äusseren  Fläche  compacter  Sub- 
stanz. Je  jünger  ein  Knochen,  desto  entwickelter  zeigt  sich  der 
Gefassreichthum  seiner  Beinhaut.  Hat  man  einen  gut  injicirten 
dünnen  Knochen  eines  jüngeren  Individuums,  z.  B.  eine  Rippe  oder 
eine  Armspindel,  durch  Behandlung  mit  verdünnter  Salzsäure  durch- 
sichtig gemacht,  und  dann  getrocknet,  so  kann  man  sich  leicht  von 
der  Anastomose  der  äusseren  Beinhautgeftsse  mit  den  Gefössen  des 
Knochenmarkes  überzeugen.  Die  Venen  der  Beinhaut  begleiten 
theils  die  Arterien,  wie  z.  B.  in  den  langen  Knochen,  theils  ver- 
laufen sie  isolirt,  und  in  besonderen  Röhren  oder  Kanälen  einge- 
schlossen, wie  in  den  breiten  Knochen  der  Hirnschale,  wo  sie  Venas 
diploSticae  heissen.  Nerven  besitzt  die  Beinhaut  unbestreitbar.  Die 
letzten  Endigungen  derselben  sind  jedoch  noch  nicht  mit  wünschens- 
werther  Sicherheit  eruirt. 

Genauere  mikroskopische  Untersnchung  der  Beihhant  lässt  an  ihr  zwei 
Schichten  unterscheiden.  Die  äussere  besteht  vorwaltend  aus  Bindegewebe,  und 
enthält  die  Blutgefässe  und  Nerven.  Die  darunter  liegende  Schichte  erscheint  als 
ein  dichtes  Netzwerk  elastischer  Fasern,  durch  dessen  Maschen  die  von  der  äusseren 
Schichte  kommenden  Blutgefässe,  in  die  Substanz  des  Knochens  eingehen.  Das 
Vorkommen  elastischer  Fasern  in  der  Beinhaut  vollkommen  ausgewachsener 
Knochen,  welche  an  Umfang  und  Länge  nicht  mehr  zunehmen,  lässt  sich  nur 
daraus  erklären,  dass  die  Knochen,  bei  all'  ihrer  Festigkeit,  einen  gewissen  Grad 
von  Biegsamkeit  besitzen,  dem  die  elastischen  Elemente  in  der  Beinhaut  ent- 
sprechen. 

C.  Beckf  anat.  phys.  Abhandlung  über  einige  in  Knochen  verlaufende,  und 
in  der  Markhaut  verzweigt  Nerven.  Freiburg,  1846.  (Im  Oberarm  und  Oberschenkel, 
in  der  Ulna  und  im  Radius  durch  Präparation  dargestellt.)  —  KöUiker,  über  die 
Nerven  der  Knochen,  in  den  Verhandlungen  der  Würzburg.  Gesellschaft,  I.  — 
Luschka,  die  Nerven  der  harten  Hirnhaut,  des  Wirbelkanals  und  der  Wirbel. 
Tübingen,  1850.  —  BatUter,  über  die  Nerven  der  Knochen.  München,  1868. 

Das  Knochenmark,  dessen  bereits  bei  Gelegenheit  des  Fettes 
(§.  25)  erwähnt  wurde,  nimmt  die  Markhöhle  der  Knochen  ein.  Wenn 
man  einen  seiner  Beinhaut  beraubten^  frischen  und  fetten  Knochen 


§.80.  Beinhftnt  und  Knochenmark.  221 

in  warmer  Luft  trocknet,  sickert  alles  Knochenfett  (Mark)  an  der 
Oberfläche  aus,  und  der  Knochen  erscheint  fortwährend  wie  beölt. 
Dieses  geschieht  nur  deshalb,  weil,  durch  das  allmälige  Eintrocknen 
der  in  den  Gefasskanälchen  der  compacten  Knochensubstanz  ent- 
haltenen Blutgefässe,  dem  von  der  Markhöhle  herausschwitzenden 
Fette  eine  Abzugsbahn  geöffnet  wird. 

Das  Knochenmark  wird  nicht  eben  reichlich  von  Bindegewebe 
durchsetzt.  An  der  Oberfläche  des  Markklumpens  erscheint  das 
Bindegewebe  nicht  als  continuirliche  Schichte,  oder  in  der  Membran- 
form eines  sogenannten  inneren  Periosts  (Endoosteum  8.  Periosteum 
intemum),  welches  nur  in  der  Einbildung  älterer  Anatomen  existirte, 
obwohl  der  Name  selbst  in  neueren  Schriften  noch  sporadisch  vor- 
kommt. Man  kann  niemals  vom  Knochenmark  eine  continuirliche 
häutige  Hülle  abziehen. 

Das  Mark  der  langen  Knochen  erhält  eine  nicht  unbeträcht- 
liche Blutzufuhr  von  jenen  Arterien,  welche  durch  die  Foramma 
nutritia  in  die  Markhöhle  gelangen.  Die  Blutgefässe  des  Markes 
verästeln  sich  längs  der  das  Mark  durchsetzenden  Bindegewebs- 
bündel,  dringen  von  innen  her  in  die  Gefasskanäle  der  compacten 
Rindensubstanz  ein,  und  anastomosiren ,  wie  früher  erwähnt,  allent- 
halben mit  den  vom  äusseren  Periost  in  den  Knochen  eintretenden 
Qefasszweigen.  Dass  auch  durch  die  Foramina  nutritia  Nerven  in 
die  Markhöhlen  der  Knochen  gelangen,  und  dass  unzählige  feine 
Zweige  des  animalen  und  vegetativen  Nervensystems  direct  mit  den 
Blutgefässen  in  die  compacte  und  schwammige  Substanz  der  Knochen 
eingehen,  ist  durch  ältere  und  neuere  Beobachtungen  constatirt.  — 
Die  Diploe  der  breiten,  und  die  schwammige  Substanz  der  Gelenk- 
enden der  Knochen,  enthält  statt  Mark  ein  röthliches,  gelatinöses 
Fluidum,  welches  nach  Berzelius  aus  Wasser  imd  Ex tractivstoffen, 
und  nur  äusserst  geringen  Spuren  von  Fett  besteht. 

Die  alte  Ansicht ,  dass  das  Knochenmark  der  Nahrungsstoff  der  Knochen 
sei :  {xusAo;  rpo^Tj  oar^cov,  meduUa  mUriinenttim  oasium,  wird  durch  die  fettige  Natur 
des  Markes  zur  Genüge  widerlegt  Die  Fettablagemng  ereignet  sich  im  Knochen 
ebenso^  wie  an  allen  anderen  disponiblen  Orten,  wo  Fett  bei  Nahrungsüberschuss 
als  nutzloser  organischer  Ballast  deponirt  wird.  Dass  es  den  Knochen  leichter 
maclie,  kann  nicht  die  einzige  Ursache  seiner  Gegenwart  sein.  Er  wäre  ja  noch 
leichter,  wenn  gar  kein  Fett  in  ihm  abgelagert  würde,  wie  in  den  lufthaltigen 
Knochen  der  Vögel.  Es  scheint  vielmehr  die  Fettmasse  des  Markes  den  Blut- 
gefässen, welche  vom  Mark  ans  in  die  Knochensubstanz  einzudringen  haben,  als 
Schutz-  und  Fixirungsmittel  zu  dienen,  und  die  Gewalt  der  Stösse  abzuschwächen, 
welche  bei  den  Erschütterungen  der  Knochen  leicht  Veranlassung  zu  Rupturen  der 
Gefässe  geben  könnten,  ähnlich  wie  das  Fett  in  der  Augenhöhle  für  die  feinen 
Ciliararterien  und  Nerven  eine  schützende  Umgebung  bildet. 

In  sehr  seltenen  Fällen  findet  man  die  Markhöhle  der  Röhrenknochen 
durchaus  von  compacter  Knochensubstanz  aoBgefUllt^  ohne  dass  im  Leben  irgend 


222  §•  81.  Yerbindangen  der  Knochen  nnter  siclu 

eine  abnorme  Erscheinung,  Kunde  von  solcher  Obliteration  der  Höhle  gegeben 
hätte.  Der  niederländische  Anatom,  Fried.Rujsch,  soll  sich  eines  Essbesteckes 
bedient  haben,  dessen  Griffe  aus  soliden  Menschenknochen  gedrechselt  waren. 


§.81.  Verbindimgen  der  Knochen  unter  sich. 

Die  durch  Vermittlung  von  Weichtheilen  zu  Stande  kommenden 
Verbindungen  der  Knochen  bieten,  von  der  festen  Haft  bis  zur 
freiesten  Beweglichkeit,  alle  möglichen  Zwischengrade  dar.  Absolut 
unbeweglich  ist  wohl  keine  einzige  Knochenverbindung  zu  nennen, 
aber  die  Beweglichkeit  sinkt  in  einigen  derselben  auf  ein  Minimum 
herab,  welches,  wie  an  den  Knochen  der  Hirnschale,  ohne  Anstand 
=  0  genommen  werden  kann.  Die  festesten  Knochenverbindungen 
können  unter  besonderen  Umständen  sich  lockern,  und  Verschiebungen 
gestatten.  Wir  fassen  die  verschiedenen  Arten  von  Knochenverbin- 
dungen unter  folgenden  Hauptformen  zusammen. 

A)  Gelenke,  ArticulaHonea. 

Ein  Gelenk  (lipOpov,  woher  Artus  und  Articidus  abgeleitet  sind, 
sowie  Arihrüü,  Gelenksentzündung,  Gicht),  ist  die  Verbindung  zweier, 
wohl  auch  mehrerer  Knochen,  welche  durch  überknorpelte ,  meist 
congruente  Flächen,  an  einander  stossen,  und  durch  Bänder  derart 
zusammengehalten  werden,  dass  sie  ihre  Stellung  zu  einander  ändern, 
d.  h.  sich  bewegen  können.     Die  Bänder  sind: 

1.  Ein  fibröses  Kapselband,  Ligamentum  capsulare,  vom 
rauhen  Gelenkumfang  eines  Knochens,  zu  jenem  eines  anstossenden 
gehend,  und  an  seiner  inneren  Oberfläche  mit  einer  Synovial- 
membran  ausgekleidet^  welche,  nach  dem  Texte  von  §.  43,  B,  sich 
nicht  auf  die  überknorpelten  Knochenenden  umschlägt,  wie  man  seit 
langer  Zeit  fälschlich  angenommen  hat,  sondern  am  Beginne  des 
Knorpelüberzuges  endet.  Das  Epithel  der  Synovialmembran  ist  ein 
einfaches,  nicht  geschichtetes  Pflasterepithel. 

2.  Hilfsbänder,  Ligamenta  accessoria,  um  die  Verbindung  zu 
kräftigen,  oder  die  Beweglichkeit  einzuschränken.  Sie  liegen  in  der 
Regel  ausserhalb  des  Gelenkraumes,  und  streifen  in  verschiedener 
Richtung  über  die  Gelenkkapsel  weg.  Bei  mehreren  Gelenken 
kommen  jedoch  solche  Bänder  auch  innerhalb  des  Gelenkraumes 
vor,  z.  B.  im  Hüft-  und  Kniegelenk. 

Eine  besondere  Eigenthümlichkeit  gewisser  Gelenke,  bilden  die 
sogenannten  Zwischenknorpel,  Cartäagines  interarticulares  s,  meni- 
scaideae.  Sie  kommen  nur  in  Gelenken  vor,  deren  Contactflächen 
nicht  congruiren,  und  stellen  demnach  zunächst  eine  Art  von  Lücken- 
büssem  dar,  zur  Ausfüllung  der  zwischen  den  discrepanten  Gelenk- 


§.  81.  Yerbindiingeii  der  Knoehen  unter  lieh.  223 

flächen  erübrigenden  Räume.  Sie  ei*scheinen  als  freie,  zwischen  die 
Gelenkflächen  der  Knochen  eingeschobene,  und  nur  an  die  Kapsel 
befestigte  Faserknorpelgebilde,  entweder  nur  bis  auf  eine  gewisse 
Tiefe  in  den  Gelenkraum  eindringend,  oder  denselben  ganz  und  gar 
durchsetzend. 

Von  der  Form  der  Gelenkenden  der  Knochen,  der  Lagerung 
der  Hilfs-  und  Beschränkungsbänder,  hängt  die  Grösse  der  Beweg- 
lichkeit eines  Gelenkes  ab.  Selbst  beim  freiesten  Gelenke  kann  der 
zu  bewegende  Knochen  sich  nicht  in  gerader  I^inie  von  jenem  ent- 
fernen, mit  welchem  er  articulirt.  Würde  er  diese  Bewegung  an- 
streben, so  müsste  in  dem  Gelenke  sich  ein  leerer  Kaum  bilden, 
und  dieses  gestattet  der  äussere  I^uftdruck  nicht. 

Man  kann  folgende  Arten  von  Gelenken  unterscheiden: 

a)  Freie  Gelenke,  Artlirodiae  (apOpwSta  bei  Galen,  seichtes 
Gelenk).  Sie  erlauben  die  Bewegung  in  jeder  Richtung. 
Sphärisch  gekrümmte,  genau  an  einander  passende  Gelenk- 
flächen, und  laxe  oder  dehnbare  Kapseln,  mit  wenig  oder 
gar  keinen  beschränkenden  Seitenbändern,  sind  nothwendige 
Attribute  dieser  Gelenkart,  deren  Repräsentant  das  Schulterblatt- 
Oberanngelenk  ist.  Wird  die  freie  Beweglichkeit  dadurch  etwas 
limitirt,  dass  eine  besonders  tiefe  Gelenkgrube  einen  kugeligen 
Gelenkkopf  umschlicsst,  so  heisst  das  Gelenk  ein  Nuss-  oder 
Pfannengelenk,  Enarihrosis  (^vapOpox?».^  bei  Galen),  wie  es 
zwischen  Hüftbein  und  Oberschenkel  vorkommt. 

h)  Sattelgelenke.  Sie  sind,  wie  die  gleich  folgenden  Knopf- 
gelenke, deutsche  Erfindungen,  haben  somit  noch  keine  gelehrt 
klingenden  griechischen  oder  lateinischen  Namen  erhalten.  Eine 
in  einer  Richtung  convexe,  und  in  der  darauf  senkrechten 
Richtung  concave  Flächenkrümmung,  bildet  eine  Sattelfläche. 
Stossen  zwei  Knochen  mit  entsprechenden  Flächen  dieser  Art 
an  einander,  so  ist  ein  Sattelgelenk  gegeben.  Ein  solches  wird 
in  zwei  auf  einander  senkrechten  Richtungen  beweglich  sein. 
Beispiele:  das  Carpo-Metacarpalgelenk  des  Daumens,  und  das 
Brustbein -Schlüsselbeingelenk.  Riebet  bezeichnet  diese  Ge- 
lenke als  nrticulations  par  emboitemeiit  r^ciproque, 

c)  Knüpfgelenke.  Sie  besitzen,  wie  die  Sattelgelenke,  Beweg- 
lichkeit in  zwei  auf  einander  senkrechten  Richtungen.  Ein 
Gelenkkopf  mit  elliptischer  Convexität,  und  eine  entsprechend 
concave  Gelenkgrube,  bilden  ein  Knopfgelenk,  welches  von 
Cruveilhier  zuerst  unter  der  Benennung  Articulatimi  condy- 
lie^ine  als  eine  besondere  Gelenkart  aufgeführt  wurde.  Beispiele 
sind  das  Gelenk  zwischen  Vorderarm  und  Handwurzel,  und 
das  Kiefergelenk. 


224  §.  81.  VerbiDdongen  der  Knochen  nnter  sich. 

d)  Winkelgelenke  oder  Charniere,  Ginglymi  (Y^TTXufxo;,  Thür- 
angel),  gestatten  nur  Beugung  und  Streckung,  also  Bewegung 
in  einer  Ebene.  Eine  Rolle,  Trochlea,  an  dem  einen,  und 
eine  entsprechende  Aufnahmsvertiefung  am  anstossenden  Gelenk- 
ende, so  wie  zwei  nie  fehlende  Seitenbänder  charakterisiren  das 
Winkelgelenk,  welches  durch  die  Finger-  und  Zehengelenke 
sehr  zahlreich  vertreten  ist. 

e)  Dreh-  oder  Radgelenke,  Articulationes  trochoideae,  welche 
höchst  komischer  Weise  auch  Trochüi  genannt  werden,  denn 
Tp6xtXo<;  ist  Zaunkönig.  Sie  kommen  dann  zu  Stande,  wenn 
ein  Knochen  sich  um  einen  zweiten,  oder  an  diesem  zweiten 
sich  um  seine  eigene  Axe  dreht.  So  bewegt  sich  z.  B.  der 
Atlas  um  den  Zahnfortsatz  des  zweiten  Wirbels,  das  Köpfchen 
der  Armspindel  aber  an  der  Eminentia  capitata  des  Oberarm- 
beins um  seine  eigene  Axe. 

f)  Straffe  Gelenke,  Amphiarthroaes ,  finden  dort  statt,  wo  sich 
zwei  Knochen  mit  geraden,  ebenen,  oder  massig  gebogenen, 
überknorpelten  Flächen  an  einander  legen,  und  durch  straffe 
Bänder  so  fest  zusammenhalten,  dass  sie  sich  nur  wenig  an 
einander  verschieben  können.  Sie  gehören  ausschliesslich  einigen 
Hand-  und  Fusswurzelknochen  an.  Amphiarthrom  ist  ein  von 
Andreas  Laurentius  neugebildetes  Wort,  kommt  bei  den 
Griechen  niemals  vor,  und  wurde  sehr  unrecht  dem  Aristo- 
telischen Ausdruck  BidpOpox?!^  substituirt,  welches  die  lateinischen 
Autoren  mit  ArticuUuio  dubia,  mixta,   oder  neutra  übersetzten. 

In  entsprechendster  Weise  Hessen  sich  noch  die  Gelenke  nach  der  Zahl 
ihrer  Bewegong^axen  mbriciren,  und  es  könnten  einaxige,  zweiaxige,  nnd  vielaxige 
Gelenke  unterschieden  werden.  Einaxige  Gelenke  wären  die  Winkel-  und  Rad- 
gelenke, erstere  mit  horizontaler,  letztere  mit  verticaler  Drehnng^xe.  Zweiaxig 
erscheinen  die  Sattel-  nnd  Knopfgelenke,  indem  sie  in  zwei  auf  einander  senk- 
rechten Richtungen  Bewegung  gestatten.  Vielaxige  sind  nur  die  freien  Gelenke.  — 
Da  bei  allen  Eintheilungen  immer  etwas  übrig  bleibt,  was  sich  der  Eintheiliing 
nicht  fügt,  so  sollte  auch  zu  den  hier  aufgezählten  Gelenkarten  noch  eine  letzte 
hinzugefügt  werden,  nämlich  die  gemischten  Gelenke,  welche  die  Attribute 
zweier  der  genannten  in  si^h  yereinigen,  wie  z.  B.  das  Kniegelenk  jene  des 
Winkel-  und  Drehgelenks. 

B)  Nähte,  Suturae. 

Man  bezeichnet  mit  diesem  Namen  eine  der  festesten  Knochen- 
verbindungen, welche  dadurch  gegeben  wird,  dass  zwei  breite  Knochen 
durch  wechselseitiges  Eingreifen  ihrer  zackigen  Ränder  zusammen- 
halten (engrenure  der  Franzosen,  Syntaxis  serrata,  bei  Galen  ^astj 
und  ipfXT^).  Den  Namen  Sutura,  von  mio,  nähen,  erklärt  Sp ige lius: 
Compodtio  qttaedam,  ad  verum  cansutarum  simäiiudinem  facta.  £in- 
zackung  wäre  besser  als  Naht.  Eine  Unterart  der  Nähte  bilden 
die  sogenannten   falschen  Nähte,  Suturae  apuriae  8.  nothae.     Man 


§.  9i.  Näheres  ftber  Knochenyerbindangen.  225 

versteht  unter  diesem  Namen  die  Verbindungen  von  Knochenrändern 
ohne  vermittelnde  Zacken,  und  zwar  entweder  durch  Uebereinander- 
schiebung  derselben,  wodurch  eine  Schuppennaht,  Sutura  squamosa, 
entsteht,  oder  durch  einfaches  Aneinanderschliessen  rauher  Knochen- 
ränder, als  Harmonia  (apjjLOv(a,  von  apo),  zusammenpassen).  In  den 
wahren  und  falschen  Nähten  existirt  ein  weiches,  knorpeliges  oder 
faseriges  Verbindungsmittel  der  betreffenden  Knochenränder. 

C)  Fugen,  Symphyses  (auv-pw,  zusammenwachsen). 

Ihr  Wesen  beruht  darin,  dass  dick  überknorpelte  Knochen- 
flächen, durch  straffe  Bandapparate,  mit  einem  Minimum  von  Beweg- 
lichkeit zusammengehalten  werden.  Eine  spaltförmige  Höhle,  als 
Analogen  einer  Gelenkhöhle,  trennt  die  beiden  überknorpelten 
Knochenflächen.  Fehlt  diese  Höhle ,  so  verschmelzen  die  über- 
knorpelten Knochenflächen,  und  diese  Verschmelzung  ist  es,  welche 
als  Synchondrosis  von  der  Sfjmphym  unterschieden  wird,  obwohl 
viele  Anatomen  beide  Ausdrücke  als  synonym  gebrauchen. 

D)  Einkeilungen,   Gomphoses. 

Sie  finden  sich  nur  zwischen  den  Zähnen  und  den  Kiefern.  Eine 
konische  Zahnwurzel  steckt  im  Knochen,  wie  ein  eingeschlagener 
Keil  (fifJWJO^,  Nagel,  Pflock). 

Die  Alten  erwähnen  noch  zweier  Arten  von  Knochenverbindungen: 
aj  Syndesmosia.     Sie  besteht  in  der  Verbindung  zweier  Knochen   durcli  ein 
fibröses  Band  (osaab;).    Ein  Beispiel  derselben  giebt  die  Verbindung  des  Zungen- 
beins mit  dem  Griffelfortsatz  des  Schläfebeins. 

fj)  Schiiidylesis.  Sie  bezeiclmet  jene  feste  Verbindungsforra,  wo  der  scharfe 
Rand  des  einen  Knochens,  zwischen  den  gespaltenen  Lefzen  eines  anderen  (wie 
bei  Schindeln)  steckt.  Zwischen  Pflugscharbein  und  Keilbein  zu  beobachten.  Das 
Wort  oyivouAr^ai;,  von  oyl^to,  spalten,  kommt  schon  bei  Galen  vor,  aber  nicht  als 
Art  einer  Knochenverbindung,  wie  ich  es  hier  gebrauche,  sondern  als  Spaltung. 


§.  82.  Näheres  über  Knochenverbindungen. 

Bezüglich  des  Vorkommens  der  eben  aufgezählten  Arten  von 
Knochenverbindungen,  lässt  sieh  Folgendes  feststellen: 

1.  Alle  Gelenke  sind  paarig.  Vom  Kinnbackengelenk  bis  zu 
den  Zehengelenken  herab  gilt  diese  Regel,  welche  nur  eine  Aus- 
nahme hut,  und  diese  ist  durch  das  unpaare  Gelenk  zwischen  Atlas 
und  Zahnfortsatz  des  Epistnypheus  gegeben. 

2.  Alle  Symphysen  sind  unpaar,  mit  Ausnahme  der  paarigen 
Symphysis  sacro-iliaca, 

3.  Die  Symphysen  gehören  ausschliesslich  der  Wirbelsäule, 
den  Brustbeinstücken,  und  dem  Becken  an.  Sie  liegen  somit  in  der 
Medianlinie,  oder  (wie  die  Symphyses  sacro-ilicuMe)  nahe  an  derselben. 
Da    die    in    der    Medianlinie    der    hinteren    Leibeswand    gelegenen 

Hyrtl,  Lehrbuch  der  Anatomie.  14.  Aufl.  15 


226  §.  82.  Näheres  Ober  Knochenyerbindixngen. 

unpaaren  Wirbelknochen,  das  feste  Stativ  des  gesammten  Skeletes 
zu  bilden  haben,  so  wird  es  verständlich,  warum  zwischen  ihnen  keine 
Gelenke,  sondern  feste  Symphysen  vorkommen  müssen,  während 
die  durch  ihre  Beweglichkeit  mehr  weniger  bevorzugten  paarigen 
Knochen  des  Brustkorbes  und  der  Extremitäten,  keine  Symphysen, 
sondern  Gelenke  zu  ihrer  wechselseitigen  Verbindung  benöthigen. 

4.  Wahre  und  falsche  Nähte,  so  wie  Harmonien,  kommen  nur 
zwischen  den  Kopfknochen  vor.  Sie  gestatten,  trotz  ihrer  Festigkeit, 
ein  dem  Wachsthume  des  Kopfes  entsprechendes,  allmäliges  Aus- 
einanderwoichen  der  einzelnen  Kopfknochen ,  und  machen  dann 
erst  einer  knöchernen  Verschmelzung  (SynostosU)  der  betreffenden 
Knochen  Platz,  wenn  das  Wachsthum  des  Kopfes  seine  Vollendung 
erreicht  hat. 

In  der  Thierwelt  finden  sich  Nahte  auch  zwischen  anderen  Knochen  als 
(Ion  Kctpfknoohen.  So  z.  B.  a)  zwischen  den  Platten  des  Rückenschildes  der 
HchildkWiten.  Man  hat  deshalb  ein  Fragment  einer  solchen  Platte  von  einer 
rloülgfon  vurweltlichen  Schildkröte,  eine  Zeitlang  für  ein  Stück  Schädelknochen 
A\wn  prtt-adamitischen  Menschen  gehalten,  b)  Zwischen  den  seitlichen  Hälften 
<I(*H  SclmltergUrtels  gewisser  Fische  (SiluroideiJ.  c)  Zwischen  den  die  Hornhaut 
(li^H  Auges  umgebenden  Knochenplatten  bei  einigen  Vogelarten  (z.  B.  SulaJ. 
tl)  Zwischen  den  Wirbeln  jener  Fische,  deren  Leib  von  einem  starren,  aus  eckigen 
Hcliildem  zusammengesetzten  Panzer  umschlossen  ist,  und  deren  Wirbelsäule 
somit  ihre  sonst  beweglichen  Symphysen  gegen  unbewegliche  Suturen  vertauscht 
(Kofferfische). 

5.  In  den  frühen  Perioden  des  Embryolebens  giebt  es  noch 
keine  Gelenke.  Knorpel  nimmt  die  Stelle  der  Gelenke  ein.  Dieser 
Knorpel  schwindet  sehr  früh',  so  dass  eine  spaltförmige  Höhle  in 
ihm  entsteht.  Mit  der  zunehmenden  Geräumigkeit  dieser  Höhle, 
bleibt  vom  Knorpel  nichts  übrig,  als  die  zunächst  an  die  Knochen 
des  entstehenden  Gelenkes  anliegende  Schichte,  und  seine  äussere 
Begrenzungsmembran  (Perichondrium).  Erstere  wird  zum  Knorpel- 
überzug der  Gelenkflächen  der  betreffenden  Knochen,  letztere  zur 
Kapsel  des  Gelenks.  Schmilzt  der  Knorpel,  welcher  die  Stelle  eines 
zukünftigen  Gelenks  einnimmt,  an  z^ei  Punkten,  welche  beim  Fort- 
schreiten der  Verflüssigung  nicht  mit  einander  zusammenfliessen, 
sondern  durch  einen  Rest  jenes  Knorpels  von  einander  getrennt 
bleiben,  so  wird  ein  zweikammeriges  Gelenk  entstehen,  in  welchem 
sich  die  Scheidewand  der  Kammern  entweder  zu  einer  Cartüago 
interarticidaris ,  oder  zu  intracapsularen  Bändern  umbildet.  Nur  an 
einer  Stelle  des  menschlichen  Körpers  perennirt  das  embryonische 
Verhältniss  durch  das  ganze  Leben.  Während  nämlich  zwischen 
den  vorderen  knorpeligen  Enden  der  Rippen  und  dem  Brustbein, 
sich  auf  die  erwähnte  Weise  wahre  Gelenke  entwickeln,  verbleibt 
es  zwischen  dem  ersten  Rippenknorpel  und  der  Handhabe  des 
Brustbeins  auf  der  primitiven  Continuität  beider,   und  es  muss  als 


g.  88.  Strnctur  der  Knochen.  227 

Ausnahme  betrachtet  werden,   wenn  es  hier  zur  Entwicklung  eines 
Gelenkes  kommt,  wie  bei  den  übrigen  Rippen. 

Bei  den  Delphinen  und  Walfischen  sind,  durch  das  ganze  Leben  hindurch, 
die   Knochen    ihrer   Brustflossen    (welche   unvollkommen   entwickelte    Hände    dar- 
stellen) nicht  durch  Gelenke,   sondern    durch  Knorpel   unter  einander  verbunden.    \ 
Bei  den  vorweltlichen  Ichthjosauren  und  Plesiosauren  war  es  eben  so. 


§.  83.  Structur  der  Knochen. 

Die  compacte  Knochensubstanz  ist  von  feinen  Kanälchen  durch- 
zogen, welche  Blutgefässe  enthalten.  Man  war  lange  Zeit  der  Meinung, 
dass  sie  blos  Mark  fuhren,  und  nannte  sie  deshalb  Markkanälchen. 
Diesen  Namen  verdienen  sie  nicht.  Sie  werden  richtiger  Gefäss- 
kanälchen  genannt.  Clopton  Havers,  ein  englischer  Anatom 
des  17.  Jahrhunderts,  hat  ihrer  zuerst  erwähnt,  weshalb  sie  auch 
Cancdiadi  Haversiani  hcissen.  Nur  in  sehr  dünnen  Knochen  fehlen 
sie,  z.  B.  in  der  Lamina  papt/racea  des  Siebbeines,  und  stellenweise 
am  Gaumen-  und  Thräncnbein.  Sie  laufen  in  den  Röhrenknochen 
mit  der  Längenaxe  derselben  parallel,  hängen  aber  auch  durch 
Querkanäle  zusammen,  und  bilden  somit  ein  Netzwerk  von  Kanälen, 
welches  an  der  äusseren  und  inneren  Oberfläche  der  Knochen  mit 
freien,  aber  feinen  Oeffnungen  mündet.  In  den  breiten  Knochen 
ziehen  sie  entweder  den  Flächen  derselben  parallel,  wie  am  Brust- 
bein, oder  ihre  Richtung  ist  sternförmig  von  bestimmten  Punkten 
ausgehend  ( 7 übet' frontale,  parietale,  etc.).  In  den  dünnen  Blättchen 
der  schwammigen  Knochensubstanz  kommen  sie  nicht  vor. 

Hat  man  feine  Querschnitte  von  Röhrenknochen,  mit  verdünnter 
Salzsäure  ihres  Kalkgehaltes  beraubt,  und  sie  durchsichtig  gemacht, 
so  sieht  man  folgende  Begrenzung  der  Geßisskanälchen.  Jedes 
Gefösskanälchen  wird  von  concentrischen  cylindrischen  Scheiden 
oder  Lamellen  eingeschlossen,  zu  welchen  das  Kanälchen  die  Axe 
vorstellt.  Die  Zahl  der  Scheiden  variirt  von  4 — 10,  und  darüber. 
Jede  Seheide  ist  ein  äusserst  dünnes  Blättchen  einer  gleichartigen, 
structurlosen  Substanz,  welche  die  organische  Grundlage  des  Knochens 
bildet,  und  frülier  (§.  77)  als  Knochenknorpel  erwähnt  wurde,  ob- 
gleich er  kein  Knorpel ,  sondern  ungefasertes  Bindegewebe  ist. 
Mehrere  Gefasskanälchen  mit  ihren  Scheiden,  werden  von  grösseren 
eoiicentrischeii  Scheiden  umschlossen,  welche  zuletzt  in  einer  mehr- 
blätterigen grössten  Scheide  stecken,  welche  so  gross  ist,  wie  der 
Umfang  des  Knochens  selbst  (äussere  Grundlamellen).  Parallel 
den  äussersten  Grundlamellen,  ziehen  auch  ähnliche  im  Inneren  des 
Knochens,  um  die  Markhöhle  zunächst  herum,  als  innere  Grand- 
lamellen. Die  Structur  der  Knochen  ist  ala** 
lamellös. 


228  §.  88.  Straetar  der  Knochen. 

In  den  Lamellen  der  concentrischen  Scheiden,  bemerkt  man 
auf  demselben  Querschnitte  des  Knochens,  mikroskopisch  kleine, 
runde  oder  oblonge ,  gegen  die  Axe  des  Kanälchens  concave,  in  ver- 
zweigte Aeste  ausstrahlende  Körperchen,  die  sogenannten  Knochen- 
körperchen,  eingeschaltet,  deren  Grösse  sehr  verschieden  erscheinen 
muss,  je  nachdem  der  Durchschnitt  zufallig  durch  die  Mitte  eines 
Körperchens,  oder  näher  an  seinen  Enden  lief.  Diese  Körperchen 
sind  so  wie  ihre  Aeste  hohl.  Bei  Beleuchtung  von  oben  erscheinen 
sie  unter  dem  Mikroskope  kreideweiss,  bei  Beleuchtung  von  unten 
dunkel.  Die  Aeste  der  Körperchen  stossen  theils  mit  jenen  der 
benachbarten  zusammen,  und  bilden  ein  fein  genetztes  Glestrippe, 
oder  sie  münden  in  die  Gefusskanälchen ,  ja  auch  in  die  Lücken 
der  schwammigen  Substanz  ein,  oder  sie  endigen  frei  an  der  äusseren 
und  inneren  Oberfläche  der  Knochen.  Ist  aber  die  Oberfläche  eines 
Knochens  mit  Knorpel  incrustirt,  wie  an  den  Gelenkenden,  so  gehen 
die  gegen  den  Knorpelüberzug  gerichteten  Aestchen  der  Knochen- 
körperchen,  bogenförmig  in  einander  über  (Gerlach).  Der  Ent- 
decker dieser  mikroskopischen  Gebilde  in  den  Knochen,  J.  Müller, 
nannte  sie  Corpuscula  chaicophoray  da  er  meinte,  dass  sie  das  Depot 
der  in  den  Knochen  befindlichen  Kalksalze  seien.  Sie  enthalten 
jedoch,  im  frischen  Zustande  des  Knochens  nur  Blutplasma  und 
eine  Zelle,  oder  deren  Reste,  im  getrockneten  Knochen  dagegen 
Luft.  Knochenerde  führen  sie  nie,  welche  vielmehr  in  der  die 
Körperchen  umgebenden,  ungefaserten  Bindegewebssubstanz  (Knochen- 
knorpel) deponirt  ist,  wie  man  sich  durch  mikroskopische  Unter- 
suchung von  feinen  calcinirten  Knochenschnitten  überzeugen  kann. 
—  Die  Knochenkörperchen  bilden,  dem  Gesagten  zufolge,  in  ihrer 
Gesammtheit,  ein  den  ganzen  Knochen  durchziehendes  System  von 
kleinsten  Röhren  und  Lücken,  durch  welches  der  aus  den  Blut- 
gefässen der  Knochen  stammende  Ernährungssaft  (Plasma)  zu  allen 
Theilchen  des  Knochens  geführt  wird.  Man  kann  sich  an  entkalkten 
Knochenschnitten  von  Embryonen  und  rhachitischen  Individuen,  von 
der  Gegenwart  einer  Zelle  (Knochenzelle,  He  nie)  in  der  Höhle  der 
Knochenkörperchen  überzeugen.  Die  Knochenzelle  füllt  die  Höhle 
der  Knochenkörperchen  entweder  vollkommen  aus,  oder  lässt  einen 
Theil  derselben  frei.  Sollte  ihr  Kern  nicht  gleich  auffallen,  kann 
er  durch  Anwendung  kaustischen  Natrons  sichtbar  gemacht  werden. 
Diese  Zellen  schicken  aber  keine  Fortsätze  in  die  Aeste  der  Knochen- 
körperchen hinein.  —  Es  ist  begreiflich,  dass  sehr  dünne  Knochen, 
oder  die  Blättchen  der  schwammigen  Knochensubstanz,  zu  deren 
Ernährung  die  Gefässe  ihres  Periosts  genügen,  keine  Gefasskanälchen 
benöthigten,  welche  dagegen  in  den  dicken  Knochen  zu  einer  un- 
erlässlichen  Noth wendigkeit  werden,  um  ihre  Masse  allenthalben 
mit  Ernährungsstofi*en  zu  durchdringen. 


§.  84.  Physiologische  Eigenschaften  der  Knochen.  229 

Um  die  Knochenkörperchen  zu  sehen,  schneidet  man  sich  mit  feinster  Säge 
aoB  der  compacten  Substanz  der  Röhrenknochen  möglichst  dünne  Scheibchen,  der 
Länge  und  der  Quere  nach,  und  schleift  diese  auf  feinkörnigem  Sandstein  so  lange, 
bis  sie  hinlänglich  durchscheinend  geworden  sind.  Natürlich  sieht  man  an  solchen 
Schliffen  nicht  die  ganzen  Knochenkörperchen,  sondern  nur  ihre  Durchschnitte, 
welche  längliche,  spindelförmige,  an  beiden  Enden  zugespitzte,  und  mit  ästigen 
Strahlen  besetzte  Figuren  darstellen.  Die  Durchsdmitte  der  Markkanälchen  er- 
scheinen bei  Querschnitten  als  nmdliche  Oeifnungen,  bei  Längsschnitten  als  lon- 
gitadinale  Rinnen.  Die  concentrischen  Ringe  von  Knochenknorpel,  von  welchen 
sie  umschlossen  werden,  sind  bei  dieser  Behandlungsart  nicht  zu  sehen.  Um  sie 
sichtbar  zu  machen,  muss  das  Knochenscheibchen  durch  verdünnte  Salzsäure  seines 
Kalkgehaltes  beraubt  werden,  worauf  es  in  reinem  Wasser  ausgewaschen  wird.  — 
An  ganzen  Knochen,  welclie  durcli  verdünnte  Salzsäure  erweicht  wurden,  kann 
man  von  der  Oberfläche  derselben,  concentrische  Blätter  mit  Vorsicht  ablösen. 
Langsames  Verwittern  der  Knochen  an  der  Luft,  lässt  ihre  Oberfläche  wie 
schuppig  erscheinen,  da  sich  die  äusseren  Lamellen  ihrer  Rindensubstanz  stück> 
weise  abschilfern. 

Dass  die  Gefasskanälchen  ein  von  der  Oberfläche  des  Knochens  bis  in  die 
Markhöhle  hineinreichendes  Kanalsystem  bilden,  wird  durch  einen  einfachen  Ver- 
such bewiesen.  Wenn  man  nämlich  Quecksilber  in  die  Markhöhle  eines  gut 
macerirten  und  quer  durchschnittenen  Röhrenknochens  giesst,  so  sieht  man  die 
Metalltröpfchen  an  unzähligen  Punkten  der  Knochenoberfläche  hervorquellen. 
Gerlach  hat  zu  demselben  Zwecke  Injectionen  der  Markhöhlen  mit  gefärbten 
und  erstarrenden  Flüssigkeiten  angewendet. 

W.  Sharp ey  beschrieb  in  der  6.  Ausgabe  von  Quain*s  Anatanit/,  pag.  120, 
unter  dem  Namen  perforating  fihres,  eigenthümliche,  von  der  Beinhaut  ausgehende, 
und  die  äusseren  (irundlamellen  des  Knocliens  senkrecht  durchbohrende  Faser- 
bündel, welche  an  mit  Salzsäure  entkalkten  Knochen,  durch  Auseinanderreissen 
ihrer  Lamellen  sichtbar  werden.  Sie  verhalten  sich  also  zu  den  Lamellen  wie 
Nägel,  welche  durch  mehrere  Bretter  getrieben  werden,  und  lassen  an  den  aus 
einander  gerissenen  Ijamellen  die  Ijöcher  erkennen,  in  welchen  sie  enthalten  waren. 
H.  Müller  erklärte  sie  für  Züge  verdichteter  Bindegewebssubstanz,  deren  Bildung 
der  Anlagenmg  der  ersten  Knochenlamellen  beim  Verknöcherungsprocess  entweder 
vorherging,  oder  wenigstens  mit  derselben  zugleich  fortschritt.  Kölliker  hält  sie 
den  elastischen  Fasern  verwandt.  Würzburger  naturw.  Zeitschrift,   1.  Bd. 

Literatur.  Deutsch,  de  penitiori  ossium  structura.  Vratisl.,  1834.  — 
Miescher,  de  inflammatione  ossium.  Berol.,  1836.  —  Virchcnjo,  Verband!,  der  Würzb. 
phys.-med.  Gesellschaft.  I.  Nr.  13.  —  Uobin,  sur  les  cavites  caract^ristiques  des 
OS.  Gaz.  med.  1857.  N.  14.  16.  —  Lieherkühn,  Müll.  Arch.  1860.  —  Fre^,  Histo- 
logie, 1867,  pag.  280.  —  H.  Meyer,  Arch.  für  Anat.  1867.  —  M.  Fehr,  Bau  des 
Knochens  im  gesunden  und  kranken  Zustande.  Archiv  für  klin.  Chir.  17.  Bd.  — 
Brunn,  zur  Ossificationslehre,  im  Archiv  für  Anat.  und  Physiol.   1874. 


§.  84.  Physiologische  Eigenschaften  der  Knochen. 

Die  Knochen  sind  im  gesunden  Zustande  unemptindlicli ,  und 
vertragen  jede  mechanische  Beleidigung,  ohne  Schmcrzgefiihl  zu 
veranlassen.  Gefühlvolle  physiologische  Thierquäler  versichern ,  dass 
das  Sägen,  Bohren,  Schaben  und  Brennen  gesunder  Knochen,  die 


230  §>  84.  Phyiiologische  Eigenschaften  der  Knochen. 

Summe  der  Schmerzen  nicht  vermehrt,  welche  durch  die  Bloss- 
legung  der  Knochen  hervorgerufen  wurden.  Die  Knochenzacken, 
welche,  nach  schlecht  gemachten  Amputationen,  am  Knochenstumpfe 
zurückbleiben,  so  wie  die  Zacken  am  Rande  der  Trepanations- 
wunden, können  eben  so  schmerzlos  mit  der  Zange  abgezwickt 
werden.  Krankheiten  der  Knochen  dagegen,  insbesondere  die  Ent- 
zündung derselben,  steigern  ihre  Empfindlichkeit  auf  eine  furcht- 
bare Höhe,  welche  selbst  die  Verstümmelung  durch  Amputation,  als 
eine  Wohlthat  erscheinen  lässt.  —  Contractilität  besitzen  die  Knochen 
ebenfalls  nicht,  obwohl  sie  im  Stande  sind,  langsam  ihre  Gestalt  zu 
ändern,  ihre  Oefiiiungen  und  Kanäle  zu  verengern,  wenn  die  Theile, 
welche  durch  sie  durchgehen,  zerstört  wurden  und  verloren  gingen. 
So  zieht  sich  der  amputirte  Knochenstumpf  zu  einem  soliden  mark- 
losen Kegel  zusammen,  so  verengert  sich  die  Zahnlücke  nach 
Ausziehen  eines  Zahnes,  die  Augenhöhle  nach  Verlust  des  Augapfels, 
das  Sehloch  nach  Atrophie  des  Nervus  opticus,  der  durch  Wasser- 
sucht ausgedehnte  Hirnschädel,  nach  Resorption  oder  Entleerung 
des  ergossenen  Serums,  und  die  Gelenkfläche  eines  Knochens  ver- 
flacht sich  und  verstreicht  zuletzt  gänzlich,  wenn  Verrenkungen 
vorkommen,  welche  nicht  wieder  eingerichtet  wurden.  Die  eben 
erwähnten  Vorgänge  sind  jedoch  nicht  Folgen  einer  activen  Con- 
traction  der  Knochen,  sondern  eines  mit  Resorption  verbundenen 
Einschrumpfens  derselben. 

Die  Festigkeit  der  Knochen  resultirt  aus  der  Verbindung  ihrer 
organischen  und  anorganischen  Bestandtheile.  Reine  Kalkerde  hätte 
sie  zu  spröde,  und  reiner  Knochenknorpel  viel  zu  weich  gemacht. 
Wie  glücklich  ein  hoher  Grad  von  Festigkeit  und  Tenacität  durch 
die  Mischung  der  Knochenmaterialien  erzielt  wird,  zeigen  die  von 
B^vau  gemachten  Versuche,  bei  welchen  ein  Knochen  von  1  Quadrat- 
zoll Querschnitt,  erst  bei  einer  Belastung  von  3G8  — 743  Centnern 
entzwei  ging.  Ein  Kupferstab  von  demselben  Querschnitte  riss 
schon  bei  340  Centner,  und  schwedisches  Schmiedeisen  bei  648.  — 
Die  besondere  Verwendung  eines  Knochens  wird  das  Verhältniss 
bestimmen,  in  welchem  die  organischen  Materien  zu  den  an- 
organischen stehen.  Lange  Knochen,  welche  elastisch  sein  müssen, 
um  dem  Drucke  und  den  Stosskräften,  welche  sie  in  der  Richtung 
ihrer  Länge  treffen,  durch  Ausbiegen  etwas  nachgeben  zu  können, 
und  kurze  Knochen ,  welche  nie  in  die  Lage  kommen ,  gebogen 
zu  werden,  werden  sich  durch  dieses  Verhältniss  von  einander 
unterscheiden.  Knochen ,  welche  sehr  elastisch  sein  müssen ,  ohne 
besondere  Festigkeit  zu  benöthigen,  können  sogar,  wie  man  an  den 
Rippen  sieht,  durch  Ansätze  von  Knorpeln  verlängert  werden. 

Lange  Knochen,  welche  der  Gefahr  des  Splitterns  unterliegen 
würden,  wenn  sie  vollkommen  geradlinig  wären,  haben  wohlberechneter 


§.  85.  Entstehung  und  Wachsthnm  der  Knochen.  231 

Weise,  eine  gewisse  Krümmung  im  weiten  Bogen  oder  in  einer  Wellen- 
linie, wodurch  sie  in  geringem  Grade  federnd  werden.  —  Es  ist 
bekannt,  dass  bei  einem  soliden  Stabe,  während  er  gebogen  wird,  die 
Theilchen  der  convexen  Seite  aus  einander  weichen,  jene  der  concaven 
wenigstens  im  Anfange  der  Krümmung  sich  einander  nähern.  In 
der  grösseren  oder  geringeren  Schwierigkeit  dieses  Auseinander- 
weichens  und  Näherns,  liegt  der  Grund  der  schwereren  oder  leich- 
teren Brechbarkeit.  Eine  mittlere  Axe,  d.  i.  eine  Reihe  von 
Theilchen,  wird  weder  verlängert  noch  verkürzt,  verhält  sich  in- 
different, und  kann,  nebst  ihren  nächstliegenden  Theilchen,  bei 
welchen  das  Auseinanderweichen  und  das  Nähern  unbedeutend  sind, 
herausgenommen  werden,  ohne  dass  der  Stab  merklich  an  seiner 
Festigkeit  verliert,  welche  im  Gegentheile  vermehrt  wird,  wenn  die 
herausgenommenen  Theilchen  an  der  Oberfläche  des  Stabes  an- 
gebracht werden.  Von  zwei  Holzstäben  gleichen  Gewichtes,  deren 
einer  hohl,  der  andere  solid  ist,  wird  also  der  hohle  eine  grössere 
Last  tragen  können,  als  der  solide.  Dieses  scheint  der  Grund  des 
Hohlseins  der  langen  Knochen  zu  sein.  In  den  Hospitälern  Frank- 
reichs, habe  ich  die  Krücken,  deren  sich  Amputirte  bedienen,  hohl 
gefunden. 


§.  85.  Entstehung  und  Wachsthum  der  Knochen. 

Ueber  Entstehung  und  Wachsthum  der  Knochen  belehrt  uns 
der  Verknöcherungsprocess.  Unsere  Kenntniss  des  Verknöche- 
rungsprocesses  hat  sich  durch  die  erfreuliche  Uebereinstimmung  der 
neuesten  Untersuchungsresultate  von  Bruch,  H.  Müller,  Lieb  er- 
kühn, Acby,  Gegenbauer,  Robin,  u.  A.  auf  eine  Weise  con- 
solidirt,  welche  von  den  bisher  gangbaren  Ansichten  hierüber  wesent- 
lich verschieden  ist.  Indem  ich  auf  die  am  Ende  dieses  Paragraphes 
citirten  Schriften  verweise,  welche  jedoch  kaum  ein  mit  den  P^lementen 
der  Wissenschaft  ringender  Schüler  zur  Hand  nehmen  wird,  beschränke 
ich  mich  hier  blos  auf  allgemeine,  seinem  Verständniss  zugängliche 
Angaben. 

Der  Verknöcherungsprocess  geht  von  zwei  Seiten  aus.  Erstens 
von  der  knorpelig  präformirten  Grundlage  des  werdenden  Knochens, 
und  zweitens  von  dem  Perichondrium  dieses  Knorpels.  Jene  Knochen- 
substanz, welche  sich  aus  dem  Knorpel  bildet,  heisst  die  primäre; 
jene  welche  vom  Perichondrium  ausgeht,  die  secundärc.  Bei  der 
Vorknöcherung  des  präformirten  Knorpels,  geht  es  so  zu.  Die  Zellen 
des  verknöchernden  Knorpels  vermehren  sich  durch  lebhaft  angehen- 
den Theilungsprocess,  und  ordnen  sich  reihenfÖrmig  und  parallel 
zu  einander.     Es  bilden  sich  zugleich  Kanäle  in  ihm,  welche  Blut- 


232  9«  86'   Entetehang  and  Wachstham  der  Knochen. 

gefässe,  und,  um  diese  herum,  sogenannte  Markzellen  enthalten. 
Letztere  sind  wahre,  bei  der  Verflüssigung  der  Knorpelsubstanz  zur 
Kanalbildung,  frei  gewordene  Knorpelzellen.  Nach  diesen  Vor- 
bereitungen beginnt  die  Verknöcherung  an  gewissen  Stellen  des 
Knorpels,  welche  Puncta  ossißcationü  heissen.  Es  lagern  sich  in  der, 
die  Knorpelzellen  verbindenden  Zwischensubstanz,  Kalksalze  in  Form 
von  Krümeln  ab.  Die  Knorpelzellen  selbst  nehmen  keine  Kalkerde 
auf.  Die  verkalkte  Zwischensubstanz  wird  aber  bald  wieder  durch 
Aufsaugung  zum  Theil  so  entfernt,  dass  unter  einander  communi- 
cirende,  längliche  Höhlungen  entstehen,  welche  sich  mit  den 
sogenannten  fötalen  Markzellen  füllen.  Das  Schicksal  dieser  Zellen 
ist  ein  doppeltes.  Die  mehr  central  lagernden  Zellen  bilden  sich 
zum  Knochenmark  um,  die  peripherischen  dagegen  werden  von 
einer  schichtweise  fortschreitenden  Verkalkung  ihrer  immer  mehr 
und  mehr  zunehmenden  Zwischen  Substanz  (H.  Müller's  osteogene 
Substanz)  umschlossen.  So  entsteht  der  primäre  Knochen.  Während 
dieses  im  Innern  des  verknöchernden  Knorpels  vorgeht,  wird  auch 
von  der  inneren  Fläche  des  Perichondrium  aus,  eine  Lage  osteogener 
Substanz  ausgeschieden.  Diese  besteht  aus  Zellen,  welche  den  Binde- 
gewebszellen ähnlich  sehen,  sich  aber  nicht  in  faseriges  Binde- 
gewebe umwandeln,  sondern  spindelförmig  nach  zwei  entgegen- 
gesetzten Richtungen  sich  verlängern,  Aeste  bekommen,  und  die 
früher  erwähnten  Knochenkörperchen  darstellen.  Durch  die  fort- 
währende Vermehrung  dieser  Zellen,  und  durch  ununterbrochene 
Bildung  von  Zwischensubstanz,  in  welcher  sich  die  Kalksalze  des 
Knochens  ablagern,  wird  der  secundäre,  d.  h.  der  nicht  aus 
Knorpel  hervorgegangene  Knochen  erzeugt,  welcher  den  primären 
wie  eine  Scheide  einhüllt. 

Man  hat  es  erst  in  neuester  Zeit  erkannt,  dass  gewisse  Schädel- 
knochen, namentlich  jene  des  Schädeldaches,  gar  keine  knorpelig 
präformiiiie  Grundlage  haben,  sondern  aus  einem  weichen,  von  der 
Beinhaut  gebildeten,  bindegewebigen  Blastem  hervorgehen,  während 
jene  der  Schädelbasis  aus  knorpeliger  Grundlage  entstehen.  Hierüber 
handelt  §.  119  der  Knochenlehre. 

Dass  auch  die  Beinhaut,  so  lange  der  Knochen  an  Dicke  wächst, 
fortwährend  an  diesem  Wachsthum  sich  durch  Bildung  secundärer 
Knochensubstanz  betheiligt,  ergiebt  sich  aus  Folgendem.  Werden 
junge  Thiere  mit  Färberröthe  gefüttert,  so  werden  ihre  Knochen 
roth  (bei  jungen  Tauben  schon  binnen  24  Stunden).  Die  erste  Ab- 
lagerung einer  rothen  Schichte  erfolgt  zunächst  unter  der  Beinhaut; 
das  Mark  wird  nicht  verändert.  Setzt  man  mit  der  Fütterung  durch 
Färberröthe  aus,  so  entfernt  sich  der  rothe  Ring  vom  Periost  und 
rückt  nach  einwärts.  Es  hat  sich  um  ihn  ein  neuer  weisser  Ring 
gebildet.     Je  dicker  dieser  wird,  desto  mehr  nähert  sich  der  rothe 


§.  85.    Entstehung  and  Wachithom  der  Knochen.  233 

Ring  der  Markhöhle,  und  verschwindet  endlich  vollkommen.  Dieses 
kann  nicht  anders  erklärt  werden,  als  dadurch,  dass  an  der  inneren 
Obei*fläche  der  Knochen  fortwährend  resorbirt,  an  der  äusseren, 
durch  Vermittlung  des  Periosts,  fortwährend  neu  gebildet  wird.  So 
lange  mehr  neugebildet  als  fortgeschafft  wird,  nimmt  der  Knochen 
an  Dicke  zu.  Das  Periost  steht  also  in  einer  innigen  Beziehung  zum 
Wachsthum  der  Knochen  in  die  Dicke. 

Die  Puncta  ossificationis  werden  in  verschiedenen  Knochen  zu 
verschiedenen  Zeiten  abgelagert,  niemals  jedoch  vor  dem  zweiten 
embryonischen  Lebensmonate.  Das  Schlüsselbein  und  der  Unterkiefer 
erhalten  ihren  Verknöcherungskern  am  frühesten,  —  schon  am  Be- 
ginne des  zweiten  Monats;  das  Erbsenbein  dagegen  am  spätesten, 
—  erst  zwischen  dem  8.  und  12.  Lebensjahre.  —  Breite  Knochen 
besitzen  einen  oder  mehrere  Verknöcherungspunkte ,  kurze  in  der 
Regel  nur  einen,  lange  gewöhnlich  drei,  deren  einer  dem  Mittel- 
stücke, die  beiden  anderen  den  Endstücken  des  Knochens  an- 
gehören. Ist  die  Ossitication  eines  Röhrenknochens  so  weit  gekommen, 
dass  derselbe  seine  bleibende  Gestalt  angenommen  hat,  so  ist  die 
Trennungsspur  zwischen  Mittelstück  und  Endstücken,  noch  immer 
als  nicht  verknöcherter  Knorpel  kennbar.  In  diesem  Zustande 
heissen  die  Enden  der  Röhrenknochen:  Epiphysen.  Von  den 
Knorpeln  der  Epiphysen  aus  wird  immer  fort,  bis  zur  gänzlichen 
Verschmelzung  der  drei  Stücke  des  Knochens,  neue  Knochenmasse 
gebildet,  welche  sich  an  die  bereits  vorhandene  anschliesst.  Zwei 
in  das  Mittelstück  eines  Röhrenknochens  gebohrte  Löcher,  ändern 
deshalb  durch  das  Wachsthum  des  Knochens  in  die  Länge,  ihre 
wechselseitige  Entfernung  nicht,  sondern  entfernen  sich  nur  von 
den  Enden  (richtiger:  die  Enden  entfernen  sich  von  ihnen).  Die 
Verschmelzung  des  Mittelstücks  mit  den  Epiphysen,  bezeichnet  den 
Schlusspunkt  des  Wachsthums  eines  Knochens  in  die  Länge.  Sie 
ereignet  sich  um  das  20.  Lebensjahr. 

Die  beiden  Epiphysen  eines  Röhrenknochen  verschmelzen 
nicht  zur  selben  Zeit  mit  dem  Mittelstückc.  Es  ist  ein  für  alle  langen 
Knochen  geltendes  Gesetz,  dass  jene  Epiphyse,  gegen  welche  die 
in  die  Markhöhle  des  Knochens  eindringende  Arteria  nutritia  ge- 
richtet ist,  früher  als  die  andere  verschmilzt.  So  im  Oberarm  die 
untere  Epiphyse  früher  als  die  obere,  im  Oberschenkel  die  obere 
früher  als  die  untere.  Hat  ein  langer  Knochen  nur  Eine  Epiphyse, 
so  geht  die  Richtung  seiner  Arteria  nutritia  gegen  jenes  Ende  des 
Knochens,  wo  die  Epiphyse  fehlt. 

Vergleichungen  der  Lebensdauer  verschiedener  Thiere,  mit  dem 
Zeitpunkt  der  Epiphysenverschmelzung  (Elefant  30  Jahr,  Kameel  8, 
Pferd  5,  Rind  ^^/i,  Hund  2,  Kaninchen  1  Jahr,  Meerschwein 
7  Monat),  haben  zu  dem  Ergebniss  geführt,  dass  das  Verschmelzungs- 


234  $•  ^'   Entstehang  und  Wachitham  der  Knochen. 

Jahr  mit  5  oder  6  multiplicirt ,  die  natürliche  Lebensdauer  des 
Thieres  giebt.  Demgemäss  wäre  diese  Lebensdauer  für  den  Menschen 
100 — 120  Jahre,  da  die  Epiphysen  seiner  Röhrenknochen  im  Anfang 
der  Zwanzigerjahre  mit  den  Mittelstücken  verwachsen.  Dient  zur 
Beruhigung  für  Alle,  welche  gerne  leben.  Ich  citire  die  Worte  der 
Schrift:  erunt  dies  hominum  centum  viginti  annorum.  Nicht  die  Natur 
macht  den  Menschen  frühzeitig  sterben,  — -  er  selbst  bringt  sich 
um,  durch  seine  Dummheit  und  seine  Laster.  Vitam  non  accepimtbs, 
sed  fadmus  brevem,  sagt  Seneca.  Man  denke  an  das  Alter  der 
Patriarchen,  an  Cornaro's  Lebensgeschichte,  und  lese  Flourens, 
de  la  Long4vit4,  Paris,  1856.  Der  längsten  Lebensdauer  erfreut  sich 
übrigens,  nach  Casper's  statistischen  Reihen,  der  geistliche  Stand, 
—  die  kürzeste  aber  ist  den  Aerzten  beschieden.  Vielen  Anatomen 
(Ruysch,  den  drei  Monro,  Morgagni,  Duvernoy,  Sömmer- 
ring,  u.  A.)  war,  wie  den  Fleischhauern,  ein  langes  Leben  be- 
scheert.  —  Es  giebt  Thiere,  bei  welchen  man  noch  nie  die  Epi- 
physen mit  den  Mittelstücken  der  Röhrenknochen  verwachsen 
gefunden  hat,  z.  B.  die  Walthiere  unter  den  Säugern,  die  Batrachier 
unter  den  Amphibien.  Folgt  daraus,  dass  diese  Thiere  immerfort 
wachsen,  und  eine  unglaublich  lange  Lebensdauer  haben  müssen, 
wie  uns  Beispiele  von  Kröten  zeigen,  welche  lebend  in  Steinen  und 
Bäumen  eingewachsen  gefunden  wurden. 

Der  Stoffwechsel  und  die  mit  ihm  zusammenhängende  Er- 
nährung der  Knochen,  wirkt  und  schafft  lange  nicht  so  träge,  als 
es  auf  den  ersten  Blick  aus  der  Härte  der  Knochen  und  ihrem 
Reichthum  an  erdigen  Substanzen  zu  vermuthen  wäre.  Werden 
nach  Chossat's  Versuchen,  Hühner  oder  Tauben  längere  Zeit  mit 
rein  gewaschenem  Getreide,  ohne  Sand  und  erdige  Anhängsel,  ge- 
füttert, so  reicht  die  im  Getreide  enthaltene  Erdmenge  nicht  hin, 
den  Stoffwechsel  im  anorganischen  Bestandtheile  der  Knochen  zu 
unterhalten.  Die  Knochenerde  wird  foi'twährend  durch  die  rück- 
gängige Ernährungsbewegung  aus  den  Knochen  entfernt,  und  die 
neue  Zufuhr  bietet  keinen  genügenden  Ersatz.  Die  Knochen  er- 
weichen sich  deshalb,  wegen  Prävalenz  ihrer  bindegewebigen  Grund- 
lage, sie  werden  dünn  und  biegsam,  und  schwinden  theilwcise,  wie 
die  Löcher  beweisen,  welche  im  Brustbeinkamme  und  an  den 
Darmbeinen  entstehen.  Wird  das  Futter  mit  Kreide  oder  Kalk  ge- 
mengt, so  verlieren  sich  die  Erscheinungen  der  Knochenerweichung 
und  des  Knochenschwundes,  und  die  normale  Festigkeit  kehrt 
zurück.  Je  jünger  der  Knochen,  desto  rascher  seine  Ernährungs- 
metamorphose. —  Das  Casei'n,  ein  Hauptbestandtheil  der  Milch, 
enthält  unter  allen  Protein  Verbindungen  (§.  17)  am  meisten  phosphor- 
sauren   Kalk.      Hieraus    wird    es    verständlich,    woher    das    rasche 


§.  85.   EnistehiiDg  und  Wachstham  der  Knochen.  235 

Wachsthum  der  Knochen  im  Säuglingsalter,  sein  wichtigstes  Material 
zum  Aufbau  des  Skeletes  bezieht. 

Die  Blutgefässe  der  Beinhaut  liefern  den  Nahrungsstoflf  der 
Knochen.  Es  folgt  daraus  jedoch  keineswegs,  dass  Entblössung  eines 
Knochens  und  Entfernung  seiner  Beinhaut,  sein  Absterben  zur  un- 
abweislichen  Folge  haben  müsse,  da  die  in  die  Markhöhle  durch 
die  Foramina  nutritia  eindringenden  Ernährungsarterien,  welche  durch 
feine  Zweigchen  mit  den  von  der  äusseren  Beinhaut  in  den  Knochen 
gelangenden  Arterienästchen  anastomosiren ,  die  von  der  Beinhaut 
her  mangelnde  Blutzufuhr  ersetzen  können.  Im  Falle  auch  diese 
Ernähningsarterien  der  Markhöhle  aufhören  würden  Blut  zuzuführen, 
stirbt  der  Knochen  th  eil  weise  oder  ganz  ab  (NecrosU,  vexpb^,  todt), 
und  wird  als  sogenannter  Sequester  ausgestossen.  Dass  auch  der 
im  Knochenmark  enthaltene  Bindegewebsantheil ,  mit  der  Bildung 
und  Regeneration  des  Knochens  zu  schaflfen  hat,  beweist  H unteres 
Versuch.  An  einem  lebenden  Thiere  wurde  das  Mittelstück  des 
Oberarmbeins  von  seinen  weichen  Umgebungen  isoHrt,  seine  Beinhaut 
abgeschabt,  und  ein  Loch  in  die  Markhöhle  gebohrt.  Um  die  den 
Knochen  umgebenden  Weichtheile  von  der  Theilnahme  an  der  Aus- 
füllung dieses  Loches  durch  Callusbildung  zu  hindern,  wurde  die 
angebohrte  Stelle  mit  einem  Leinwandbande  umgeben.  Das  Loch 
füllte  sich  von  der  Markhöhle  her,  also  gewiss  durch  Ver- 
mittlung des  blutgefassreichen  Bindegewebes  des  Markes,  mit  neu 
gebildeter  Knocliensubstanz  aus,  welche,  wenn  das  Thier  jung  ist, 
so  rasch  zunimmt,  dass  der  Knochenpfropf  selbst  über  die  äussere 
Bohröffnung  hinausragt. 

Die  Verwendbarkeit  der  Färberröthe  zu  Versuchen  über  Wachsthnm  und 
Ernährung  der  Knochen,  beruht  auf  einer  chemischen  Affinität  zwischen  dem 
färbenden  Stoffe  und  dem  phosphorsauren  Kalk,  welche  durch  folgendes,  von 
Rutherford  angestelltes  Experiment  anschaulich  gemacht  wird.  Giebt  man  in 
eine  Abkochimg  von  Färberröthe  salzsaure  Kalklösung,  so  geschieht  dadurch  keine 
Aendenmg.  Setzt  man  eine  Lösimg  von  phosphorsaurer  Soda  hinzu,  so  entsteht 
durch  doppelte  Wahlverwandtschaft  phosphorsaurer  Kalk  und  salzsaure  Soda,  von 
welchen  der  erstere,  seiner  Unlöslichkeit  wegen,  sieh  niederschlägt,  und  den  fär- 
benden Bestandtheil  der  Lösung  mit  sich  nimmt. 

lieber  Entwicklung  der  Knochen  handeln:  //.  Müller,  Würzb.  Verh.  Bd.  VIII. 
—  Kölliker,  ebenda.  —  Baur,  zur  Lehre  von  der  Verknöcherung,  Müller  s  Archiv. 
1857.  —  Aehy,  der  hyaline  Knorpel,  und  seine  Verknöcherung.  Gott.  Nachrichten. 
1857.  Nr.  23.  —  C.  Britch,  Beiträge  zur  Entwicklung  des  Knochensystems,  im 
1 1 .  Bde.  der  Schweiz,  naturforsch.  Gesellsch.  —  //.  Müller,  über  die  Entwicklung 
der  Knochensubstanz,  etc.,  in  der  Zeitschr.  filr  wiss.  Zool.  9.  Bd.  —  Lieberkühn, 
im  Archiv  für  Anat  und  Physiol.  1860  und  186*2.  -  //.  Müller,  über  Ver- 
knöcherung, in  der  Würzburger  naturw.  Zeitschrift,  IV.  Bd.  —  Waldeyer,  der 
Ossificationsprocess.  Archiv  für  mikr.  Anat.  1.  Bd.  —  lioUeU,  in  Stricker»  lland- 
buch  der  Histologie,  wo  die  Ergebnisse  aller  einschlägigen  Arbeiten  gewürdigt 
werden.  —  lieber  die  Blutgefässe  der  Knochen  handeln:  C.  Langer,  im  36.  Bde. 
der  Wiener  akad.  Denkschriften,  and  Albrecht  Budge  (Vortrag  in  der  Sitzung  des 


236  §•  86.  Praktische  Bemerkno^en. 

med.  Vereins  zu  Oreifswald,  1876).  Letzterem  verdanken  wir  die  wichtige  Ent- 
deckung, da88  die  in  den  Havers'schen  Kanälen  enthaltenen  Blutgefässe,  von 
Ljmphräumen  umgeben  sind,  welche  von  den  Lymphgefassen  des  Periosts  aus 
injicirt  werden  können,  und  auch  mit  der  Höhle  der  Knochenkörperchen  in  Ver- 
bindung stehen.  Sie  sind  mit  Epithel  ausgefüttert 


§.86.  Praktische  Bemerkungen. 

Gebrochene  Knochen  heilen,  wenn  schwere  Complicationen 
fehlen,  in  der  Regel  leicht  zusammen,  und  um  so  schneller,  je  jünger 
das  Individuum.  In  jedem  Museum  für  vergleichende  Anatomie  kann 
man  es  sehen,  wie  schön  die  Natur  die  Knochenbrüche  der  Thiere 
heilt,  wobei  ihr  keine  Chirurgie  in's  Handwerk  pfuscht.  Die  Bruch- 
enden werden  durch  neu  gebildete  Knochensubstanz  (Caütis)^  deren 
Erzeugung  fast  den  nämlichen  Gesetzen  unterliegt,  wie  die  normale 
Knochenbildung,  zusammengelöthet.  Hat  ein  Knochenbruch  ohne 
bedeutende  Verrückung  der  Bruchenden  stattgefunden,  so  ergiesst 
sich  anfangs  Blut  zwischen  die  Knochenenden,  und  die  sie  um- 
gebenden Weichtheile.  Dieses  Blut  gerinnt,  und  mischt  sich  mit 
einem  plastischen  Exsudate,  welches  von  den  Blutgefässen  der  Bein- 
haut, des  Markes,  und  der  die  Bruchstelle  zunächst  umlagernden 
Weichgebilde  geliefert  wird.  In  der  zweiten  und  dritten  Woche 
nach  dem  Bruche,  organisirt  sich  dieses  Exsudat  zu  Knorpelsubstanz, 
welche  sich  in  wahre  Knochensubstanz  umwandelt.  Dieser  erst- 
gebildete Knochencallus  hält  die  Enden  des  gebrochenen  Knochen 
so  fest  zusammen,  dass  selbst  der  Gebrauch  desselben  von  nun  an 
möglich  ist.  Dupuytren  nannte  diesen  Callus:  cal  provisoire.  Er 
enthält  keine  Markhöhle.  Erst  wenn  sich  durch  Aufsaugung  seiner 
innersten  Masse,  eine  Höhle  bildete,  welche  die  Markhöhlen  des 
oberen  und  unteren  Fragmentes  mit  einander  verbindet,  wird  er 
zum  cal  d4fini,  welcher  unter  günstigen  Umständen  an  Umfang  so 
viel  abnimmt,  dass  nur  eine  geringe  Wulstung  an  der  Oberfläche 
des  Knochens,  die  Stelle  andeutet,  wo  der  Bruch  stattgefunden  hatte. 

War  die  Verrückung  der  Bruchenden  gross,  oder  der  Knochen 
nicht  blos  gebrochen,  sondern  zugleich  zersplittert,  so  bildet  der 
massenhaft  erzeugte  Callus,  einen  dicken  unförmlichen  Knochen- 
wulst,  welcher  als  eine  Art  von  Zwinge,  die  Bruchenden  und  ihre 
Fragmente  zusammenhält.  —  Dass  die  Bildung  des  neuen  Knochens 
nicht  nothwendig  von  den  Resten  des  alten  ausgehen  müsse,  sondern 
die  weichen  Umgebungen  der  Knochen,  Beinhaut,  Muskeln  und 
Zellgewebe,  durch  ihre  Blutgefässe  hiebei  activ  interveniren ,  be- 
weisen Heiners  schöne  Beobachtungen,  nach  welchen  bei  Hunden 
das  Wadenbein   und   die  Rippen,   nach   vollkommener  Exstirpation 


§.  87.  SehlemUnt«.  Anatomiiche  Eigenschaften  derselben.  237 

mit  der  Beinhaut^  reproducirt  wurden  (obwohl,  so  viel  ich  an  He  ine's 
Präparaten  sah,  auf  sehr  unvollkommene  Weise). 

Zufallige  Knochenbildung  erscheint:  1.  als  Verknöcherung  von 
Weichtheilen ,  Ossißcatio,  und  2.  als  Knochenauswuchs,  Exostosis. 
Nicht  Alles,  was  für  Verknöcherung  gilt,  ist  es  auch.  Die  soge- 
nannten verknöcherten  Arterien,  Venen,  Bronchialdrüsen,  Schild- 
drüsen, etc.,  besitzen  nicht  die  Structur  der  wahren  Knochen;  sie 
sind  vielmehr  durch  erdige  Deposita  in  das  Gewebe  des  betreffen- 
den Organs  bedingt,  und  werden  besser  Verkalkungen  genannt. 
Nur  die  Verknöcherungen  der  harten  Hirnhaut,  der  Sehnen,  der 
hyalinen  Kjiorpel,  der  Muskeln  (z.  B.  im  Glutaeua  magnua  des  Rindes 
nicht  gar  selten,  und  häufig  beim  Späth  der  Pferde),  besitzen  wahren 
EjQOchenbau. 

R.  Hein,   über    die    Reg^eneration    gebrochener  und  resecirter  Knochen,  im 
XV.  Bd.  des  Arch.  f.  path.  Anat.  —  Lieherkühn,  Arch.  f.  Anat.  u.  Phja.  1860. 


§.87.  ScUeimliäute.  Anatomische  Eigenschaften  derselben. 

Während  die  geföss-  und  nervenarmen  serösen  Membranen 
geschlossene  Körperhöhlen  auskleiden,  wie  die  Brust-,  Bauch-, 
Schädelhöhle,  überziehen  die  geföss-  und  nervenreichen  Schleim- 
häute, Membranae  mucosae,  die  innere  Oberfläche  solcher  Höhlen, 
welche  mit  der  Aussenwclt  durch  Oeffnungen  communiciren  (Ver- 
dauungs-,  Athmungs-,  Harn-  und  Geschlechtsorgane).  Die  Schleim- 
häute setzen  sich  in  alle  Kanäle  und  Drüsenausführungsgänge  fort, 
welche  mit  diesen  Höhlen  zusammenhängen.  Wenn  man  die  Schleim- 
häute als  Fortsetzungen  der  äusseren  Haut  betrachtet,  so  ist  dieses 
nicht  im  einfachen  Sinne  des  Wortes  zu  nehmen,  denn  die  Schleim- 
häute entwickeln  sich  selbstständig,  unabhängig  von  der  äusseren 
Haut,  und  gehen  nur  in  letztere  an  den  Körperöffnungen  über. 

Die  eigentliche  Grundlage  jeder  Schleimhaut,  welche  sich  in 
den  feinsten  Ausbreitungen  derselben  erhält,  besteht  aus  einer  sehr 
dünneu,  strueturlosen ,  höchstens  etwas  granulirten  Schichte,  die 
Basement  Membrane  der  englischen  Mikrologen,  an  deren  äussere 
Fläche  sich  eine  verschieden  dicke,  getass-  und  nervenreiche,  aber 
nur  spärlich  mit  elastischen  Fasern  gemischte  Bindegewebsschichte 
anschliesst,  und  an  deren  inneren,  der  Höhle  der  Schleimhaut  zu- 
gekehrten Fläche,  das  Epithel  aufliegt.  Auf  die  Bindegewebsschichte 
folgt  an  gewissen  Stellen,  wie  z.  B.  in  der  ganzen  Länge  des  Darm- 
kanals, eine  noch  zur  Schleimhaut  gehörige  Schichte  glatter  Muskel- 
fasern, mit  querem  und  longitudinalem  Verlauf. 

Diese  Schichte  glatter  Muskelfasern  erreicht  in  der  Schleimhaut   des  Oeso- 
phagus  eine  bedeutende  Dicke,  so  dass  sie  durch  das  Messer  darstellbar  wird,  und 


238  §•  87.  Schleimh&nte.  Anatomische  Eigenschaften  derselben. 

in  der  Schleimhaut  des  nntcren  Mastdarmendes  nimmt  sie  derart  an  Mächtigkeit 
za,  dass  Kohlraasch  sie  sogar  als  einen  besonderen  Muskel  beschrieb,  welchen 
er  SusterUalar  membranae  mucosae  nannte.  —  An  vielen  Schleimhäuten  wird  die 
structurlose  Grundlage  derselben  bis  zur  Unkenntlichkeit  dünn.  In  den  letzten 
Verzweigungen  der  Drüsenausfiihrungsgänge  erhält  sie  sich  dagegen  als  einziges 
Substrat  derselben,  so  wie  andererseits  die  Wand  gewisser,  auf  der  Fläche  der 
Schleimhaut  mündender  einfacher  Drüschen,  nur  ans  ihr  besteht 

Nach  Verschiedenheit  der  Organe,  welchen  eine  Schleimhaut 
angehört,  modificiren  sich  ihre  mikroskopischen  Eigenschaften  ver- 
schiedentlich, wie  in  der  speciellen  Anatomie  an  seinem  Orte  er- 
wähnt wird. 

Alle  Schleimhäute  haben,  wie  die  serösen  Membranen,  eine 
freie  und  eine  angewachsene  Fläche.  Die  freie  Fläche  ist  mit  einer 
Epithelialschichte  bedeckt,  deren  Zellen  an  bestimmten  Stellen  die 
Formen  des  Pflaster-,  Platten-,  Cylinder-,  Flimmerepithels  darbieten. 
Die  angewachsene  Fläche  ist  mittelst  Bindegewebe  (Textus  ceUviarü 
svbmucosus)  an  unterliegende  Flächengebilde  (beim  Darmkanal  z.  B. 
an  die  Muskelhaut)  angeheftet.  Die  Schleimhäute  von  weiten 
Schläuchen  sind  dicker,  als  in  engen,  besitzen  mit  wenig  Ausnahmen 
zahlreiche  Blutgefässe  und  Nerven,  sind  dehnbar,  ohne  besonders 
elastisch  zu  sein,  müssen  sich  also,  wenn  der  Kanal,  welchen  sie  aus- 
kleiden, sich  zusammenzieht,  mehr  weniger  falten.  Diese  Falten 
müssen  wir  von  jenen  unterscheiden,  welche  auch  bei  der  grössten 
Ausdehnung  des  Kanals  nicht  verstreichen,  und  an  gewissen  Orten 
(z.  B.  im  Dünndaime)  so  häufig  vorkommen,  dass  die  Sehleimhaut- 
fläche  bedeutend  grösser  ist,  als  die  Fläche  des  Schlauches,  welche 
von  ihr  überzogen  wird. 

Auf  der  freien  Fläche  gewisser  Schleimhautsbezirke  zeigen 
sich  zahlreiche  Hervorragungen  und  Vertiefungen.  Die  Hervor- 
ragungen sind  entweder  Warzen,  PapillaSy  oder  Flocken,  Flocci, 
oder  Zotten,  Villi;  die  Vertiefungen  erscheinen  als  die  Mündungen 
verschiedener  Formen  von  Drüsenbildungen.  In  der  speciellen  Ana- 
tomie wird  von  diesen  Gebilden  am  geeigneten  Orte  ausführlich 
gesprochen. 

Man  unterscheidet  drei  Schleimliautsysteme,  welche  unter  ein- 
einander  nicht  zusammenhängen: 

1.  Das  Systßina  gastro-piämonale  für  die  Verdauungs-  und 
Athmungseingeweide,  2.  das  Systema  uro-genitule  für  die  Harn-  und 
Geschlechtsorgane,  und  3.  das  Schleimhautsystem  der  Brüste. 

Die  Nerven  der  Schleimhäute  stammen  theils  vom  Cerebrospinalsystem 
theils  vom  Sympathicus.  Sie  bilden  in  der  Schleimhaut  subtile  Geflechte,  soge- 
nannte Endplexus,  von  welchen  sich  einzelne  Nervenfäden  in  etwa  vorhandene 
Zotten  und  PapUlen  der  Schleimhaut  erheben,  sich  in  denselben  ein-  oder  mehr- 
mal dichotomisch  theüen,  und  sich  dabei  um  das  Doppelte  verfeinern.  Wie  sie 
endigen,  ist  flir  keine  Schleimhaut  mit  nnbezweifelbarer  Sicherheit  festgestellt.  Die 


§.  88.  Physiologische  EigenschAften  der  Schleimh&nte.  239 

frfiher  angenommenen  Endschlingen  existiren  nirgends.  Von  dem  Verhalten  der 
feinsten  Nervenfasern  zn  den  Epithelialzellen,  wurden  höchst  überraschende  Be- 
fände mitgetheilt,  auf  welche  wir  in  den  Capiteln  der  Sinnen-  und  Eingeweide- 
lehre zurückkommen  werden.  —  Die  Blutgefässe  sind  in  der  Sclileimhaut  des  Ver- 
dauungssystems, der  Nasenhöhle,  der  weiblichen  Geschlechtstheile,  der  männlichen 
Harnröhre,  der  Bindehaut  der  Augenlider  sehr  zahlreich,  und  bilden  reiche,  eng- 
maschige Capillargefassnetze.  Die  Capillargefässe  der  übrigen  Schleimhäute  sind 
schwächer  an  Kaliber,  und  ihre  Netze  so  fein,  dass  Injectionen  derselben  weit 
schwieriger  als  im  Verdauung^kanal  gelingen. 


§.  88.  Physiologische  Eigenschaften  der  Schleimhäute. 

Die  Schleimhäute  fuhren  ihren  Namen  von  dem  Stoffe,  welchen 
sie  absondern,  Schleim.  Die  Schleimabsonderung  kommt  nicht 
allein  den  sogenannten  Schleimdrüsen  einer  Schleimhaut  zu.  Sie 
findet  auf  der  ganzen  Fläche  einer  Schleimhaut  statt.  Der  Schleim, 
Mucus,  ist  ein  Gemenge  vci*schiedener  Stoffe.  Er  wird  aus  Wasser, 
Epithelialzellen,  Schleirakörperchen  (von  welchen  in  der  Anmerkung), 
zufalligen  Beimischungen  von  Staub  und  Luftbläschen  (in  den 
Athmungsorganen) ,  Speiseresten  (im  Verdauungssystem),  und  aus 
den  specitischen  Secreten  der  Schleimhäute,  über  welche  er  vor 
seiner  Ausleerung  hingleitete,  und  die  er  mechanisch  mit  sich  führt, 
zusammengesetzt.  Bei  Reizungszuständen  und  Entzündungen  der 
Schleimhäute,  ist  das  schleimige  Secret  derselben  reich  an  Eiter- 
kügelchen:  eiteriger  Schleim,  Materia  puriformis. 

Der  Schleim  erscheint  als  eine  grauliche,  klebrige  und  fadenziehende  Sub- 
stanz, welche  speci6sch  schwerer  als  Wasser  ist,  und  deslialb  in  ilim  zu  Boden 
sinkt,  wenn  sie  iiiclit  etwa  Luftbläschen  enthält,  wie  in  den  Sputis.  Er  verdankt 
seine  klebrige  Beschaffenheit  dem  Mucin,  welches  durch  Essigsäure  ans  ihm 
niedergeschlagen  wird,  und  in  verdünnten  Mineralsäuren  löslich  ist  Mit  Luft  in 
Berührung  vertrocknet  der  Schleim,  zum  Theil  schon  innerhalb  des  Leibes  an 
Stellen,  wo  Luft  durchstreift,  wie  in  der  Nasenhöhle,  wo  er  zu  halbharten  Krusten 
eingedickt  wird.  Wenn  er  krankhafter  Weise  in  grösserer  Menge  abgesondert 
wird  (als  Schleimfluas,  Blennorrhoe,  von  ßX^vvo;  Schleim,  und  ^feiv  fliessen), 
ist  er  dünnflüssig;  zuweilen,  wie  beim  Schnupfen,  wässerig. 

Die  Empfindlichkeit  der  Schleimhäute  tritt  an  gewissen 
Stellen  sehr  scharf  hervor,  wird  jedoch  vorzüglich  nur  durch  gewisse 
Reize  einer  bestimmten  Art  angeregt.  So  ist  z.  B.  die  Schleimhaut 
des  Darnikanals  tiir  die  Galle  nicht  empfindlich,  während  Galle  auf 
der  Schleimhaut  der  Augenlider  intensive  Schmerzemptindung  hervor- 
ruft. Schleimhäute,  welche  vom  Cerebrospinalsystem  ihre  Nerven 
erhalten,  sind  empfindlicher  als  jene,  welche  vom  Sympathicus  ver- 
sorgt werden.  So  wird  die  gekaute  Nahrung,  in  der  Mundhöhle  und 
im  Pharynx,  durch  Vermittlung  der  hier  vorhandenen  Cerebrospinal- 
nerven  gefühlt,    gleitet   aber,    selbst    wenn  sie  mit  den  schärfsten 


240  §•  9S.  PhTsiologische  Eigrenschaften  der  Schleimli&at«. 

Gewürzen  versetzt  ist,  unbemerkt  durch  Magen  und  Gedärme, 
welche  mit  sympathischen  Nervenzweigen  ausgestattet  sind.  Auf 
zwei  Schleimhäuten  wird  die  Sensibilität  sogar  zu  einer  specifischen 
Sinnesenergie  gesteigert,  zum  Geschmack  und  zum  Geruch.  — 
Die  Schleimhaut  der  Eingangs-  und  Ausmündungshöhlen  der  Ein- 
geweide (At7*ia),  zeichnet  sich  durch  den  hohen  Grad  ihrer  Empfind- 
lichkeit vor  anderen  Schleimhautpartien  ganz  besonders  aus.  Deshalb 
ruft  ein  fremder  Körper  im  Kehlkopfe,  den  heftigsten  Husten  hervor, 
während  er  in  den  Luftröhrenästen  jahrelang  verharren  kann,  ohne 
Beschwerde  zu  erregen,  und  die  Einführung  einer  Sonde  oder  eines 
Schlundstossers,  erregt  im  Istkmus  faudumWürg-  und  Brechbewegung; 
im  Oesophagus  wird  sie  nicht  einmal  gefühlt.  Die  Erregung  der 
Empfindlichkeit  in  den  Atrien  der  Schleimhautsysteme  wird  von 
mehr  weniger  heftigen  Reactionsbewegungen  gewisser  Muskeln  be- 
gleitet, welche  sich  nur  einstellen,  wenn  sie  durch  Empfindungsreize 
der  betreffenden  Schleimhaut  herausgefordert  wurden.  Sie  wurden 
als  Reflexbewegungen  bereits  früher  ei-wähnt,  §.  72,  4.  Das 
Niessen,  der  Husten,  das  Erbrechen  nach  Kitzeln  des  Rachenein- 
ganges, die  Schlingbewegung,  die  Samenejaculation,  die  Austreibung 
des  Kothes  und  Harns,  gehören  hieher. 

Contractilität  besitzen  die  Schleimhäute  nur  auf  Rechnung 
der  glatten  Muskelfasern,  mit  welchen  sie  dotirt  sind.  Besässen  sie 
selbst  Contractilität,  so  würden  sie  sich  nicht  bei  Verengerung  ihrer 
Höhlen  in  Falten  legen.  Der  leere  Magen,  die  leere  Harnblase  und 
Harnröhre,  haben  Schleimhautfalten,  welche  im  ausgedehnten  Zu- 
stande fehlen.  Es  lässt  sich  jedoch  den  Schleimhäuten  ein  gewisses, 
wenn  auch  sehr  unvollkommenes  Bestreben  nicht  absprechen,  sich, 
wenn  sie  ausgedehnt  wurden,  wieder  zusammenzuziehen.  Dieses  beruht 
jedoch  nur  auf  der  Elasticität  ihres  Gewebes.  Jede  in  Folge  von 
Entzündungen  verdickte  Schleimhaut  verliert  dieses  Vermögen,  und 
hat  sie  es  verloren,  so  kann  sie  nicht  mehr  dem  Drucke  entgegen- 
wirken, welchen  die  in  einer  Schleimhauthöhle  angesammelte  Flüssig- 
keit auf  sie  ausübt.  Sie  wird  vielmehr  durch  diesen  Druck  aus- 
gebuchtet, d.  i.  durch  die  Maschen  der  Muskelgitter,  welche  sie 
von  aussen  bedecken,  beuteiförmig  vorgedrängt.  Dadurch  entstehen 
die  sogenannten  Diverticula,  welche  am  häufigsten  an  der  Harnblase 
von  Steinkranken  und  Säufern,  nach  vorausgegangenen  Blasen- 
entzündungen beobachtet  werden. 

So  lange  Schleimhäute,  welche  sich  mit  ihren  freien  Flächen  berühren,  mit 
Epithel  tiberzogen  sind,  kann  ihre  Berührung  nie  in  eine  Verwachsung  tibergehen. 
Der  Schleim,  welchen  sie  absondern,  wirkt  hier  zugleich  mit  dem  Epithel,  als 
fremder  Zwischenkörper,  welcher  den  Coalitus  aosschliesst  Ist  aber  das  Epithel 
▼erloren,  und  die  Schleimhaut  in  einem  kranken  Zustande,  der  keine  Regeneration 
des  Epithels  erlaubt,    x.  B.  entzündet,  verschwärt,  oder  in  Eiterung  begriffen,  so 


§.  88.  PliTtiologiiohe  EigvnieliafteD  der  BehleimhAuto.  241 

können  »neh  Schleimhantfl&chen  ganz  oder  theilweise  verwachsen.  Das  Ankjlo- 
ond  Symblepharon,  die  Obliteration  oder  Verengerung  eines  Nasenloches  nach 
Mensohenblattem,  die  Verwachsung  der  Lippen  mit  dem  Zahnfleisch  nach  Ge- 
schwüren, die  Stenosen  des  Oatophoffut  nach  Vergiftung  durch  Schwefelsäure,  des 
Mastdarms  durch  Ruhr,  der  Harnröhre  und  Scheide  durch  syphilitische  Geschwüre, 
bestätigen  das  Gesagte. 

Die  Schleimhäute  des  Syatema  gastro-jmlmonale  und  uro-genitcde 
äussern,  trotz  ihrer  verwandten  Struetur,  wenig  Sympathien  für 
einander,  und  es  ist  nur  ein  Fall  von  Mitleidenschaft  beider  Systeme 
durch  Civiale  näher  j^eleuchtet  worden,  nämlich  die  gastrischen 
Störungen,  welche  nach  längerem  Manövriren  mit  Steinzerbohrungs- 
instrumenten  in  den  Harn  wegen,  sich  einzustellen  pflegen.  Dagegen 
stehen  einzelne  Abschnitte  desselben  Systems,  in  unverkennbarer 
sympathischer  Wechselbeziehung.  Die  Zunge  ändert  z.  B.  ihr  Aus- 
sehen bei  gastrischen  Leiden  (lingua  apeculum  primarum  viarum),  — 
die  Bindehaut  des  Auges  röthet  sich  bei  Katarrhen  der  Nasen- 
schleimhaut, die  Harnröhrenschleimhaut  juckt  bei  Gegenwart  eines 
Steines  in  der  Harnblase  (öfteres  Ziehen  am  männlichen  Gliede  bei 
Kindern,  ist  dem  Chirurgen  ein  sicheres  Zeichen  von  der  Gegen- 
wart eines  Steines),  Kitzel  in  der  Nase  und  Afterzwang  (Tenesmus) 
deuten  auf  Würmer  im  Darmkanale. 

Oberflächliche  Substanzverluste  der  Schleimhaut  werden  durch 
Regeneration  der  verlorenen  Schleimhaut  ersetzt.  Tiefgehende  De- 
structionen  derselben,  durch  Verbrennung  oder  Geschwür,  werden 
nur  durch  Narbengewebe  ausgefüllt,  welches  seiner  Zusammen- 
ziehung wegen,  Verengerung  des  betreffenden  Schleimhautrohres 
setzt.  Nur  im  Darmkanale  erscheint  an  der  Stelle,  wo  typhöse 
Geschwüre  heilten,  ein  Gewebe  von  serösem  Ansehen,  auf  welchem 
sich  selbst  neue  Darmzotten  entwickeln  sollen. 

Noch  eine  physiologische  Eigenschaft  der  Schleimhäute,  welche 
wenig  gewürdigt  wurde,  verdient  Erwähnung.  Ich  will  sie  die 
respiratorische  Thätigkeit  derselben  nennen.  In  jeder  Schleimhaut, 
welche  mit  der  atmosphärischen  Luft  in  Berührung  steht,  findet 
Oxydation  des  Blutes  in  den  Capillargefiissen  statt,  —  daher  ihre 
Röthe.  Der  Gefassreichthum  allein  ist  nicht  und  kann  nicht  die 
Ursache  der  Röthe  sein,  da  viele  Schleimhäute  eben  so  gefassrcich 
sind,  wie  die  Mund-  oder  Nasenschleimhaut,  ohne  so  roth  zu  er- 
scheinen, wie  diese.  Je  mehr  eine  Schleimhaut  dem  Luftzutritt  ent- 
zogen ist,  desto  mehr  nimmt  ihre  Röthe  ab.  Daher  sehen  wir  den 
Scheideneingang  und  das  Orificium  der  männlichen  Harnröhre  leb- 
hafter geröthet,  als  die  Schleimhaut  der  Tvia  Fallapiana,  oder  der 
Harnröhre.  Schleimhäute,  zu  welchen  kein  Luftzutritt  stattfindet, 
werden  intensiv  roth,  sobald  sie  an  die  Atmosphäre  kommen,  wie 
die  Vorftllle  des  Mastdarms,  der  Scheide,  und  der  widernatürliche 
After  beweisen. 

Hjrtl,  Lehrbach  der  Anatomie.  U.  Aufl.  16 


242  §•  ^-  Drftsensyit««.  Anatomiiche  EiYenichaften  desMlben. 

Schleimkörperchen  sind,  nebst  den  Epithelialzellen ,  nie  fehlende  Vor- 
kommnisse im  Schleime.  Sie  sind  nindo,  ovale,  seltener  granulirte,  scheinbar 
solide  Körperchen,  von  durchschnittlich  0,005'"  Durchmesser.  Durch  Einwirkung 
von  Wasser  tritt  ein  Kern  deutlich  hervor.  Durch  Behandlung  mit  Essigsäure 
zerf&llt  der  Kern  in  2 — 4  kleinere  Körner  von  0,001'"  Durchmesser.  Sie  verhalten 
sich  im  Uebrigen  wie  Eiter-  und  Lymphkörperchen. 


§.  89.  Srüsensystem.  Anatomische  Sigenschafteii  desselben. 

Einfache  oder  zusammengesetzte  Bereitungsorgane  von  Flüssig- 
keiten heissen  Drüsen,  Glandulae  (a3eve<;  bei  Galen).  Die  Art  der 
Bereitung  wird  Absonderung.  Seci^etio,  genannt.  Häutige  Schläuche 
von  sehr  verschiedener  Länge,  bilden  das  anatomische  Element  der 
Drüsen.  Die  Schläuche  sind  immer  an  einem  Ende  offen,  imd 
münden  auf  einer  freien  Hautfläche  aus.  An  dem  anderen  Ende 
sind  sie  entweder  blind  abgeschlossen,  oder  sie  hängen  mit  einer 
Gruppe  von  rundlichen  oder  kolbenförmigen  Bläschen  zusammen, 
welche  in  sie  einmünden,  und  Adni  genannt  werden. 

In  den  einfachsten  Formen  bestehen  die  Drüsenschläuche  und 
Drüsenbläschen  aus  einer  mehr  weniger  structurlosen  Grundmembran 
9iit  Epithel,  welches  im  Schlauche  cylindrisch  ist,  in  den  Drüsen- 
bläschen aber  aus  rundlichen  oder  eckigen  Zellen  zusammengesetzt 
erscheint.  Bleibt  der  Drüsenschlauch  einfach  und  un verästelt,  so 
heisst  die  Drüse  tubulös;  gruppiren  sich  aber  um  den  Schlauch 
Drüsenbläschen,  welche  sich  in  ihn  öffnen,  so  wird  die  Drüse  acinös 
oder  trauben förmig  genannt.  Einfache  tubulöse  Drüsen  sind  meist 
nur  Gegenstand  mikroskopischer  Anschauung;  —  acinöse  Drüsen 
können  zwar  auch  einfach  bleiben,  d.  h.  einen  unverästelten  Aus- 
fuhrungsgang besitzen ,  wie  z.  B.  Talgdrüsen ,  und  Meibom'sche 
Drüsen ;  meistens  aber  verbinden  sich  viele  einfache  acinöse  Drüsen 
zu  einer  zusammengesetzten  Drüsenform ,  welche  somit  einen 
baumförmig  verästelten  Ausfuhrungsgang  besitzen  wird,  und  eine 
bedeutende  Grösse  erreichen  kann.  Solche  Drüsen  erscheinen  dann 
entweder  als  gerundete,  mehr  weniger  glatte,  oder  aus  Lappen 
zusammengesetzte ,  mit  Furchen  und  Einschnitten  (Grenzen  der 
Lappen)  versehene  Massen,  deren  Lappen  von  einer  bindegewebigen 
Hülle  umgeben  und  zusammengehalten  werden.  Die  Wand  des 
mehr  weniger  verästelten  Ausführungsganges,  besteht  in  diesem  Falle 
aus  einer  structurlosen  Grundmembran ,  mit  einer  gefassreichcn, 
organische  Muskelfasern  führenden  Bindegewebsschichte  an  ihrer 
äusseren,  und  einem  Epithelialbeleg  an  ihrer  inneren  Fläche.  —  Das 
Bindegewebe ,  welches  die  einzelnen  Drüsenlappen  umgiebt  und 
zusammenhält,  ist  sehr  gef&ssreich.  Die  Blutgefässe  betreten  die 
Drüse  entweder  an  einem  oder  an  mehreren  Punkten.    Ersteres  ist 


§.  90.  Eintheilong  der  Drüsen.  243 

bei  mehr  compacten  Drüsen  mit  glatter  Oberfläche,  welche  nur  Einen 
Einschnitt  besitzen,  letzteres  bei  Drüsen  mit  mehreren  Einschnitten 
und  mit  gelappter  Oberfläche  der  Fall.  Die  Blutgefässe  umspinnen 
mit  ihren  Capillarnetzen  die  Verzweigungen  der  Ausfuhrungsgänge, 
und  liefern  den  Stoff  (Plasma),  welcher  durch  die  Lebensthätigkeit 
der  Drüse  umgearbeitet,  und  als  bestimmte  Secretionsflüssigkeit, 
Speichel,  Galle,  Magensaft,  etc.,  zum  Vorschein  kommen  soll.  — 

Da  alle  Drüsenausführungsgänge  auf  der  äusseren  Haut  oder 
auf  den  inneren  Schleimhäuten  münden,  so  mag  die  Vorstellung 
immerhin  beibehalten  werden,  als  seien  sie  Ein-  oder  Ausstülpungen 
dieser  Häute.  Nur  ist  die  Sache  nicht  im  genetischen  Sinne  zu 
nehmen,  da  nach  den  Ergebnissen  der  Entwicklungsgeschichte,  die 
Verästlungen  eines  Ausfuhrungsganges  nicht  als  röhrige  Auswüchse 
einer  präexistirenden  Membran  entstehen. 

Die  letzten  Ramificationen  der  Ausführungsgänge  stehen  mit 
dem  CapillargefUsssystem  nirgends  in  offener  Anastomose.  Sie  enden 
auf  dreifache  Weise:  a.  als  abgerundete,  blindsackformig  geschlossene 
Kanälchen,  ohne  bläschenartig  ei'weitertes  Ende ;  ß.  als  kolben-  oder 
bläschenförmige  Endei-weiterungen  der  Kanälchen ;  7.  als  netzfoimige 
Anastomosen  mehrerer  Kanälchen  unter  einander. 

Die  stärkeren  Verzweigungen  der  Ausführungsgänge  der  Drüsen 
besitzen  an  ihrer  inneren  Oberfläche  eine  aus  Cylinderzellen  be- 
stehende Epithelialschichte.  In  den  feinsten  Verästlungen  dagegen, 
und  in  den  Endbläscheu  (Acini),  findet  sich  in  allen  Drüsen  nur 
mosaikartiges,  oder  aus  rundlichen  Zellen  bestehendes  Pflasterepithel, 
dessen  Zellen ,  ihrer  Betheiligung  am  Secretionsprocesse  wegen, 
Secretionszellen  (Enchymzellen)  genannt  zu  werden  pflegen. 

In  der  Kindheit  der  Wissenschaft  hiessen  nur  die  oliven-  oder  eicholförmigen 
Lymphdrüsen:  Glandtdae,  (d.  i.  Eichelchen).  Auch  wurden  damals  mehrere  Organe 
in  die  Sippschaft  der  Drüsen  aufgenommen,  welche  unseren  gegenwärtigen  Be- 
griffen zufolge,  nicht  mehr  dahin  gehören,  z.  B.  Glandula  pinealis,  HyjpophyHa 
cerebri;  und  umgekehrt  wurden,  durch  die  Auffindimg  der  Ausführungsgänge,  viele 
Organe  den  Drüsen  einverleibt,  über  deren  Bedeutung  und  Verrichtung  man  vor 
Alters  keine  Vorstellung  hatte,  und  ihnen  deshalb  Mamen  gab,  welche  nur  ihre 
Lage  ausdrücken :  Parotis,  Prostaia,  Paritsthmia  (Mandeln). 


§.  90.  Eintheilung  der  Drüsen. 

Die  Form  des  Ausführungsganges  und  seiner  Endigungsweise 
giebt  gegenwärtig  den  Anhaltspunkt  ab,  die  Drüsen  zu  classificiren. 

Man  unterscheidet  einfache  und  zusammengesetzte 
Drüsen. 

A)  Einfache  Drüsen.   Sie  bestehen  nur  aus  einem  einfachen 

Schlauch,  mit  oder  ohne  acinöse  Endbläschen,  und  zerfallen  somit  in : 

16» 


244  &.  90.  Eintheilnng  der  DrftMD. 

a)  Einfache  tabulöse  Drüsen.  Hieher  gehören  die  Schweiss- 
drüsen^  Ohrenschmalzdrüsen,  die  Drüsen  der  Gebärmutter- 
schleimhaut, die  Pepsindrüsen  des  Magens  und  die  Lieberkühn'- 
Bchen  Drüsen  des  Darmkanals. 

b)  Einfache  acinöse  Drüsen,  bei  denen  ein  einfacher  unver- 
ästelter  Ausftihrungsgang ,  mit  einer  Gruppe  von  Drüsen- 
bläschen (Adnt)  zusammenhängt.  Hieher  gehören  die  Schleim- 
drüsen, die  Talgdrüsen,  und  die  Meibom'schen  Drüsen. 

Zu  den  einfachen  Drüsen  werden  formell  auch  jene  drüsen- 
ähnlichen Gebilde  eingereiht,  welche  unter  dem  Namen  geschlossene 
Follikel  passiren.  Sie  bestehen  (jedoch  nicht  alle)  aus  einer  ge- 
schlossenen Bindegewebsmembran ,  deren  Binnenraum  von  einem 
zarten  Fasergerüste  ausgefüllt  wird,  in  dessen  Interstitien  eine  grosse 
Menge  von  Lymphkörperchen  in  allen  Stadien  der  Entwicklung 
lagert.  Dieses  Gerüste  mit  seinem  Zelleninhalt,  erinnert  an  die  Alveoli 
der  Lymphdrüsen  (§.  58).  Es  werden  deshalb  die  geschlossenen 
Follikel  den  Lymphdrüsen  angereiht,  und  als  lymphoide,  oder 
lymphadenoide  Organe  benannt.  Follikel  mit  einer  mehr 
weniger  deutlichen  häutigen  Begrenzung,  sind  durch  die  Glandula 
coccygea,  und  intercarotica ,  und  durch  die  Balgdrüsen  der  Mandeln, 
des  Zungengrundes,  und  des  Rachens  repräsentirt.  Man  bezeichnet 
diese  Drüsenformationen  auch  mit  dem  Namen  conglobirte  Drüsen, 
wobei  ich  bemerke,  dass  dieser  Name  ursprünglich  nur  den  wahren 
Lymphdrüsen  (§.  58)  beigelegt  wurde.  Follikel  ohne  Wand,  welche 
also  eigentlich  keine  Follikel  sind  (Ivcua  a  non  lucendo),  sondern  nur 
Anhäufungen  von  Lymphkörperchen  in  einem  bindegewebigen  Faser- 
gerüste, kommen  entweder  einzeln  und  zerstreut,  oder  in  Gruppen 
vor.  Man  unterscheidet  deshalb  Folliculi  solitarii,  und  Folliculi 
agminati  8,  congregati.  Erstere  linden  sich  in  der  Schleimhaut  des 
Magens  und  des  Dickdarms,  letztere,  als  Peyer'sche  Drüsen,  nur 
im  Ileum. 

Der  alte,  verjährte  Glaube  an  eine  Begrenzung^smembran  der  Peyer^schen 
Drüsen,  wurde  von  Henle  völlig  gestürzt.  Nicht  zwischen  dem  Balkenwerke  eines 
Follikels,  sondern  im  Bindeg^websstroma  der  Darmschleimhant  selbst,  lagern  die 
L3rmphkörperchen.  Die  Follikel  besitzen  keine  ihnen  eigene  Wand,  Überhaupt 
kein  ihnen  eigenes  Parenchym,  wie  die  Lymphdrüsen,  und  können  deshalb,  wie 
schon  gesagt,  weder  Follikel,  noch  geschlossen  genannt  werden.  Demnach 
sind  sie  auch  keine  Drüsen,  sondern  Deposita  von  Lymphkörperchen  im  Gewebe 
der  Darmschleimhaut  Will  man  diese  Schleimhaut  adenoid  nennen,  kann  man 
vernünftiger  Weise  nichts  dagegen  haben.   Herde,  Zeitschrift  für  rat.  Med.  Bd.  VIII. 

B)  Zusammengesetzte  Drüsen.  Sie  bestehen  aus  einem 
Systeme  verzweigter  Ausführungsgänge,  deren  letzte  Enden  ent- 
weder mit  Endbläschen  (Acini)  besetzt  sind,  und  somit  traubig  er- 
scheinen (Speicheldrüsen),  oder  Netze  bilden,  welche  in  den  Lücken 


§.  90.  EintheiluDg  der  Drftsen.  246 

der  Capillargefassnetze  lagern  (Leber),  oder  schlingenformig  in  ein- 
ander übergehen  (Hoden).  Jeder  Acinus  eines  traubigen  Kanal- 
endes, lässt  sich  als  ein  einfaches  Drüsenbläschen  sammt  seinem 
Zugehör  nehmen,  und  darum  jede  zusammengesetzte  Drüse  als  ein 
Conglomerat  vieler  einfacher  betrachten.  Man  nennt  sie  deshalb 
auch  Glandulae  conglomeratae,  zum  Unterschiede  der  Glandulae  con- 
globatae,  mit  welchem  Namen  man,  wie  früher  gesagt,  nur  die  wahren 
Lymphdrüsen  belegte,  da  ihre  Gestalt  im  Allgemeinen  rundlich,  und 
ihre  Oberfläche  glatt  und  nicht  gelappt  ist,  wie  es  jene  der  Glan- 
dvlae  conglomeratae  ist.     Unterarten  derselben  sind: 

a)  Glandulae  compositae  acinosae,  Sie  bestehen  aus  mehreren, 
ja  vielen  Lappen,  jeder  Lappen  aus  Läppchen,  jedes  Läppchen 
aus  einer  Gruppe  von  Acini.  Die  Speicheldrüsen,  die  Milch- 
drüsen ,  die  Thränendrüsen  gehören  hieher.  Die  Drüsen- 
kanälchen  benachbai*ter  Läppchen  gehen  in  grössere  Kanäle, 
und  diese,  nach  wiederholter  Verbindung,  in  den  Hauptkanal 
oder  Ausführungsgang  der  Drüse  über.  Sie.  werden  deshalb 
auch  Drüsen  mit  baumförmig  verzweigtem  Ausführungsgange 
genannt.  Die  Ausführungsgänge  der  acinösen  Drüsen  vereinigen 
sich  entweder  zu  einem  einzigen,  oder  die  Vereinigung  bleibt 
unvollkommen,  und  es  existiren  mehrere,  getrennt  mündende 
Ausführungsgänge,  was  in  der  weiblichen  Brust,  in  der  Thränen- 
und  Vorsteherdiüse  der  Fall  ist. 

b)  Glandulae  compositae  tubulosae,  wohin  die  Nieren  und 
Hoden  gehören.  Dem  Woiiisinne  nach  sind  auch  die  Drüsen 
mit  baumförmig  verzweigtem  Ausführungsgange  Glandulae 
tuivlosae,  indem  sie  aus  verzweigten  Röhren  bestehen.  Im 
engeren  Sinne  dagegen  werden  zu  den  Glandvlis  compositis 
tubvlom  nur  jene  gerechnet,  bei  welchen  die  Drüsenkanälchen 
sich  weniger  durch  Astbildung,  als  durch  ihre  Länge  aus- 
zeichnen. Die  langen  Drüsenkanäle  verlaufen  entweder  gerade, 
wie  in  den  Nierenpyramiden,  oder  in  vielfachen  Krümmungen 
und  Windungen,  wie  im  Hoden. 

Eine  eigene  Gruppe  von  Drüsen,  bilden  die  sogenannten  Drüsen 
ohne  Ausführungsgänge.  Ihr  äusseres  Ansehen  erinnert  an  jenes 
einer  Drüse,  aber  das  wesentlichste  Attribut  einer  Drüse  —  der 
Ausführungsgang  —  fehlt.  Hieher  gehören  die  Schilddrüse,  die 
Thymus,  die  Nebennieren,  und  die  Milz.  Schilddrüse  und  Milz  wurden, 
ihres  Reichthums  an  Blutgefässen  wegen,  vor  Zeiten  als  Ganglia 
va^culosa  benannt. 

Wenn  die  in  der  specieUen  Anatomie  der  Eingeweide  enthaltenen  Be- 
schreibungen der  einzelnen  Drüsen  dem  Anfanger  bekannt  geworden  sind,  wird 
es  ihm  leicht  sein,  sich  ein  umfassendes  Schema  der  Drüsen  zu  constmiren,  dessen 
Hauptrubriken  hier  blos  angegeben  wurden. 


246  §•  91.  Physiologiiehe  Eiffentchaften  der  Drftsen 


§.91.  Physiologische  Eigenschaften  der  Drüsen. 

Der  in  den  Drüsen  stattfindende  Vorgang,  durch  welchen  aus 
dem  Blute  neue  Flüssigkeiten  zu  verschiedenartigster  Verwendung 
gebildet  werden,  heisst  Absonderung,  Secretio.  Absonderung  und 
Ernährung  sind  insofern  einander  verwandt,  als  zu  beiden  Stoffe 
dienen  müssen,  welche  aus  dem  Blute  bezogen  werden.  Die  Per- 
meabilität der  Gefässwandungen  ist  somit  nothwendige  Bedingung 
der  Emähning  und  der  Secretion.  Bei  der  Ernährung  brauchen 
jedoch  die  flüssigen  Bestandtheile  des  Blutes  nur  aus  den  Gefass- 
wandungen  herauszutreten  (Exosmom),  um  ihren  Nutritionszweck  zu 
erfüllen ;  bei  der  Secretion  dagegen  müssen  die  Stoffe,  welche  durch 
Exosmosis  aus  den  Capillargefassen  traten,  neuerdings  die  Wand 
von  Drüsenkanälchen  und  Drüsenacini  durchdringen  (Endosmosis), 
um  in  den  Höhlen  derselben  eis  Secreta  zu  erscheinen.  Würden 
alle  Secreta  aus  Stoffen  bestehen,  welche  schon  im  Blute  vorräthig 
und  präformirt  sind  (wie  z.  B.  der  Harnstoff  und  die  Harnsäure), 
so  könnte  man  sich  die  Secretion  als  eine  Art  Seihungsprocess 
denken,  für  welchen  die  Wände  der  Capillargefasse  und  der  Drüsen- 
kanälchen,  doppelte  Filtrirapparate  abgeben.  Die  alte  Medicin  hatte 
diese  rohe  Ansicht  von  allen  Secietionen,  und  nannte  deshalb  die 
Drüsen:  Colatoria,  von  colare,  durchseihen.  Die  Gegenwart  von  so 
vielen  Mischungsbestandtheilen  der  Secrete,  welche  im  Blute  als 
solche  nicht  vorkommen,  heisst  uns  diese  mechanische  Vorstellung 
aufgeben.  Wir  sind  gezwungen  anzunehmen,  dass  die  Bestandtheile 
des  Blutes,  während  sie  durch  die  doppelten  Filtra  gehen,  solche 
chemische  Verändemngen  erleiden,  welche  ihnen  den  Charakter  des 
neuen  Secretionsfluidum  geben.  Wie  es  aber  mit  dieser  Veränderung 
hergehe,  ist  durchaus  unbekannt,  da  immer  nur  die  Producte  der 
Secretion,  nicht  aber  das  Werden  derselben,  Gegenstand  mikro- 
skopischer Anschauung  sind.  Die  genauesten  Kenntnisse,  die  wir 
von  dem  Baue  so  vieler  Drüsen  haben,  konnten  und  werden  uns 
nie  hierüber  Aufschluss  geben,  um  so  weniger,  als  ähnlicbgebaute 
Drüsen  häutig  sehr  verschiedene  Secrete  liefern ,  wie  die  Speichel- 
und  Slilchdrüsen.  Dass  die  Epithelialzellen  der  Drüsenkanälchen 
und  der  Acini,  beim  Seeretionsprocesse  betheiligt  seien,  und  Stoffe 
in  ihren  Höhlen  bilden,  um  sie  durch  Dehiscenz  in  die  Höhle  der 
Drüsenkanälchen  zu  entleeren ,  wurde  zuerst  von  H  e  n  1  e  und 
Goodsir  ausgesprochen.  Wir  finden  Gallenfett  in  den  Zellen  der 
Leber,  Butterfette  in  den  Zellen  der  Milchdrüse,  Pepsin  in  den 
Zellen  der  Magendrüsen,  Samenthierchen  in  den  Zellen  des  Canals 
des  Nebenhodens. 


§.  91.  Physiologische  Eigenschaften  der  Drftsen.  247 

Die  Fortbewegung  der  secernirten  Flüssigkeiten  in  den  Aus- 
führungsgängen^  ist  theils  eine  nothwendige  Folge  des  Offenseins  der 
letzteren  nach  einer  Richtung  hin ,  theils  eine  Wirkung  der  Con- 
ti'actilität  der  Kanalwandungen,  welche  durch  physiologische  Ex- 
peiimente  constatirt  wurde.  Gallen-,  Harn-,  Samenwege  zeigen,  wenn 
sie  gereizt  werden,  sogar  wurmfbrmige  Bewegungen.  Ferner  besteht 
die  Umgebung  einer  Drüse  immer  aus  mehr  weniger  beweglichen 
Organen,  welche  durch  ihre  Verschiebung  auf  die  Drüse  drücken, 
und  somit  ebenfalls  ein  thätiges  Excretionsmoment  abgeben  können. 
Bei  den  Speicheldrüsen,  welche  von  den  Kaumuskeln,  bei  den 
Darmdrüsen,  welche  durch  die  wurmförmige  Bewegung  der  Gedärme 
gedrückt  und  dadurch  entleert  werden,  ist  dieser  mechanische  Um- 
stand in  die  Augen  springend.  Die  Abschüssigkeit  der  Ausfühnings- 
gänge,  und  besondere  Krümmungen  derselben,  erleichtern  ebenfalls 
die  Fortbewegung  des  Secretes.  Die  korkzieherartige  Krümmung 
des  Kanales  der  Schweissdrüsen  ist  offenbar  hierauf  berechnet,  da 
durch  sie  der  Bewegungsweg  in  eine  lange  schiefe  Ebene  um- 
gewandelt wird,  welcher  leichter  zurückgelegt  wird,  als  ein  gerade 
ansteigender. 

Viele  Secrete  haben  keine  weitere  Verwendbarkeit  im  Organismus, 
und  werden  so  bald  als  möglich  nach  aussen  entleert.  Sie  heissen 
Humores  excrem&ntitii  (Harn,  Schweiss).  Andere  werden  nur  ge- 
bildet, um  zu  gewissen  Zwecken  zu  dienen.  Sie  heissen  Humores 
inqmlini.  Diese  Zwecke  werden  entweder  noch  innerhalb  des  Körpers 
erreicht,  oder  ausserhalb.  Speichel  und  Magensaft  wirken  innerhalb, 
Milch  und  Same  ausserhalb  des  Körpers.  Erstere  werden  deshalb 
in  den  Anfang  oder  in  den  weiteren  Verlauf  des  VerdauuÄgssystems 
entleert,  letztere  nur  in  das  Ende  ihres  bezüglichen  Systems,  wie 
der  Same  in  den  Endschlauch  des  Urogenitalsystems  (Harnröhre), 
oder  direct  an  die  Leibesoberfläche  abgeführt,  wie  die  Milch.  — 
Es  giebt  auch  Secrete  gemischter  Art,  von  welchen  ein  Theil  noch 
im  thierischen  Leibe  verwendet  wird,  ein  Theil  aber  Auswurfsstoff 
ist,  z.  B.  die  Galle,  von  welcher  gewisse  Bestandtheile  in  den  Fäces 
vorkommen,  während  die  anderen  zur  Dünndarm  Verdauung  bei- 
tragen, und  im  Darmkanal  wieder  aufgesogen  werden. 

Die  complicirte  Structur  der  Drüsen,  und  ihre  darauf  basirte 
hochgestellte  Lebensthätigkeit,  machen  sie  zu  sehr  wichtigen  Organen 
des  thierischen  Haushaltes.  Erhaltung  der  Individuen  (Ernährung), 
und  Erhaltung  der  Art  (Fortpflanzung)  ist  au  ihre  Thätigkeit  ge- 
bunden. Je  grösser  eine  Drüse  wird,  und  je  mehr  sie  schon  im 
Blute  vorhandene  AusscheidungsstoÖe  absondert ,  desto  wichtiger 
wird  ihre  Function,  und  desto  gefährlicher  ihr  Erkranken.  Unter- 
bleiben der  Nierensecretion  führt  zum  gewissen  Tode,  und  die  unter- 


248  §•  9S.  Allgvmeiae  Bemerknngen  Über  die  Abiondernoffen 

brochene  Thätigkeit  der  Lunge  setzt  Erstickung,  während  beide 
Hoden  ohne  Nachtheil  der  Gesundheit  eingebtisst  werden  können. 
—  Sind  Secretionsorgane  paarig,  und  wird  das  eine  durch  Krankheit 
oder  Verwundung  in  Stillstand  versetzt,  so  übernimmt  das  andere 
das  Geschäft  seines  Gefährten,  und  gewinnt  in  der  Regel  auch  an 
Volumen  und  Gewicht.  Jede  gesteigerte  Secretion,  welche  den 
Schaden  gut  macht,  der  durch  das  Unterbleiben  einer  anderen  ge- 
setzt werden  könnte,  heisst  vicariirend.  —  Exstirpirte  Drüsen 
werden  nicht  regenerirt. 

Die  anatomische  Literatur  kennt  nur  Ein  Werk,  welches  über  die  Structur 
sämmtUcher  Drttsen  handelt.  Es  ist «/.  Malier^  de  glandularum  secernentium  struc- 
tura  penitiori.  Lips.  1830.  Fol.  Die  Schriften  über  einzelne  Drüsen,  werden  in 
den  betreffenden  Paragraphen  der  Eingeweidelehre  angeführt. 


§.  92.  Allgemeine  Bemerkungen  über  die  Absonderungen. 

1.  Das  Qi^dl^  und  Quantum  einer  Absonderung  hängt  von  dem 
Blute  und  von  dem  Baue  des  Absonderungsorgans  ab.  Verschieden 
gebaute  Drüsen  können  nie  gleichartige  Secrete  liefern.  Je  reicher 
das  Blut  an  Secretionsstoffen  ist,  desto  reichlicher  werden  diese  in 
den  Secreten  erscheinen.  Hat  deshalb  eine  Drüse  durch  Erkrankung 
eine  Zeitlang  ihre  secretorische  Thätigkeit  eingestellt,  so  häufen 
sich  die  Stoffe,  welche  durch  sie  hätten  entleert  werden  sollen,  im 
Blute  an ;  und  beginnt  die  Drüse  später  wieder  ihren  regelmässigen 
Geschäftsgang,  so  wird  ihre  Absonderung  copiöser  sein  müssen. 
Hierauf  beruhen  die  von  den  Aerzten  sogenannten  kritischen  Aus- 
leerungen. 

2.  Je  dünner  das  Blutplasma  ist,  desto  leichter  wird  dessen 
Exosmose  und  Endosmose.  Die  Secretionen  werden  deshalb  durch 
jene  Umstände  vermehrt,  welche  eine  grössere  Verdünnung  der 
Blutmasse  bedingen,  wie  z.  B.  durch  Trinken  und  Baden.  Dass 
die  Secretionen  in  diesem  Falle  an  ihren  specifischen  Stoffen  nicht 
gehaltreicher  werden,  versteht  sich  von  selbst.  Eindickung  das 
Blutes  durch  Wasserverlust  mittelst  Schweiss  und  copiöser  seröser 
Absonderungen,  wird  auf  den  Gang  der  Secretionen  in  entgegen- 
gesetzter Weise  einwirken ,  also  Verminderung  derselben ,  und 
relatives  Ueberwiegen  der  specifischen  Secretionsstoffe  herbeifuhren. 
So  erscheint  bei  Kranken,  welche  viel  schwitzen  und  wenig  trinken, 
der  Harn  gesättigt  und  trübe,  als  Urina  cruda  der  alten  Aerzte. 
—  Ein  allgemeiner,  aber  sehr  irriger  Glaube  vermeint,  dass  man 
in  den  Dampfbädern  schwitzt.     Das  Wasser,   welches   die   Ober- 


§.  92.  Allgemtine  Bemerkungen  Aber  die  Absondernngen.  249 

fläche  des  Körpers  im  Dampf  bade  überzieht ,  ist  kein  Schweiss, 
sondern  ein  Niederschlag  des  umgebenden  Dampfes  auf  die 
kältere  Haut. 

3.  Die  Zahl,  Weite,  und  Verlaufsrichtung  der  Capillarge&sse 
einer  Drüse,  haben  insofern  auf  die  Secretion  Einfluss,  als  sie  die 
Menge  des  Blutes,  welches  zur  Absonderung  dient,  die  Geschwindig- 
keit seiner  Bewegung,  und  den  Druck,  unter  welchem  es  strömt, 
bedingen.  Drüsen,  welche  reich  an  weiten  Capillargefassen  sind, 
werden  copiösere  Absonderungsmengen  liefern,  und  je  geschlängelter 
der  Verlauf  der  Capillargefässe  ist,  desto  länger  wird  das  Blut  in 
der  Drüse  verweilen ,  und  desto  grösser  wird  auch  der  Druck 
werden,  der  den  Austritt  seines  Plasma  bestimmt.  Das  blutgefclss- 
arme  Parenchym  des  Hoden  und  der  Vorsteherdrüse  lässt  keine 
reichlichen  Secretionen  erwarten,  während  der  Reichthum  an  Capillar- 
gefassen, durch  welche  sich  die  Leber,  die  Niere,  die  Speichel- 
drüsen auszeichnen,  mit  den  grossen  Secretionsmengen  dieser  Drüsen 
innig  zusammenhängt. 

4.  Da  zu  jeder  Drüse  gleichbeschaffenes  arterielles  Blut  ge- 
langt, aus  welchem  in  den  einzelnen  Drüsen  verschiedene  Stoffe 
bereitet  werden,  so  kann  die  Mischung  des  venösen  Blutes  nicht  in 
allen  Drüsen  dieselbe  sein.  Da  dasselbe  auch  für  das  Venenblut 
der  verschiedenen  Organe  des  thierischen  Leibes  gilt,  deren  jedes 
einzelne  dem  Blute  nur  solche  Bestandtheile  entzieht,  welche  es  zu 
seiner  individuellen  Ernährung  benöthigt,  so  begreift  sich,  dass  in 
den  Hauptstämmen  des  Venensystems  sehr  verschieden  beschaffene 
Blutströme  zusammenlaufen,  welche  gleichförmig  gemischt  werden 
müssen,  bevor  sie  in  die  Lunge  gebracht  werden.  Vermuthlich 
erklärt  sich  hieraus  die  stärkere  Entwicklung  der  genetzten  Muskel- 
schichte der  rechten  Herzvorkammer,  deren  die  linke,  als  Sammel- 
platz des  gleichförmig  gemischten  arteriellen  Lungenblutes,  nicht 
bedurfte.  —  Zu  den  meisten  Secretionen  wird  nur  arterielles  Blut 
verwendet.  Die  Theilnahme  des  venösen  Blutes  am  Absonderungs- 
geschäfte tritt  nur  in  der  Leber  evident  hervor.  —  Unterbindung 
der  zuführenden  Arterie  einer  Drüse,  bedingt  nothwendig  Stillstand 
ihrer  Function. 

5.  Alle  Secretionen  stehen  unter  dem  Einflüsse  des  Nerven- 
systems. Wir  kennen  diesen  Einfluss  schon  im  Allgemeinen  durch 
die  tägliche  Erfahrung,  dass  Gemüthsbewegungen  und  krankhafte 
Nervenzustände,  die  Menge  und  Beschaffenheit  der  Absonderungen 
ändern.  Es  ist  bekannt,  dass  Aerger  einer  Säugenden,  durch  die 
veränderte  Beschaffenheit  der  Milch,  dem  Säuglinge  Bauchzwicken 
und  Abweichen  zuziehen  kann,  und  ebenso,  dass  Furcht  oder  ängst- 
liche    Spannung    des     Gemüths    die    Harnsecretion ,    Appetit    die 


250  §.  9S.  Allgeaeina  Bemerknngen  flb«r  die  Abtondernngeu. 

Speichelsecretion ,  wollüstige  Vorstellungen  die  Absonderung  des 
männlichen  Samens  vermehren.  —  Besondere  Nervenerregungen 
wirken  auf  besondere  Drüsen,  der  Zorn  auf  die  Leber,  die  Geilheit 
auf  die  Hoden ,  Furcht  auf  die  Nieren ,  Appetit  auf  die  Speichel- 
drüsen ,  Trauer  und  Schmerz  auf  die  Thränendrüsen ,  während 
Heiterkeit  und  Frohsinn,  wie  sie  der  Wein  erzeugt,  auf  alle  Secre- 
tionen  bethätigend  einwirken.  In  dieser  Hinsicht  wird  der  Alkohol- 
gehalt des  Blutes  ein  besonderer  Reiz  für  die  einzelnen  Secretions- 
organe,  und  alle  Reize  steigern  die  organischen  Thätigkeiten.  Wie 
so  Gemüthsbewegungen  eine  plötzliche  qualitative  Aenderung  der 
Secrete,  und  schädliche,  ja  giftige  Eigenschaften  derselben  setzen 
können,  liegt  jenseits  aller  Vermuthungen. 

6.  Die  quantitativen  Aenderungen  der  Secretionen,  Ver- 
mehrung und  Verminderung,  oder  Unterdrückung,  sind  leichter 
erklärbar,  wenn  man  bedenkt,  dass  die  Poro^tät  der  Gefilss- 
wandungen,  und  die  auf  ihr  beruhende  Möglichkeit  des  Durch- 
schwitzens,  von  dem  Einflüsse  der  motorischen  Drüsennerven  ab- 
hängt. Da  gewisse  Ganglien,  welche  Nerven  zu  den  Drüsen  schicken, 
durch  die  in  ihnen  entspringenden  Nervenfasern,  als  selbstständige 
Nervencentra  der  Drüsen  gelten,  so  werden  die  Erfahrungen  erklär- 
bar, laut  welchen,  nach  der,  „mit  der  grössten  Schonung"  aus- 
geführten Zerstörung  des  Cerebrospinalsystems  bei  Thieren,  die 
Secretionen,  wenn  auch  vermindert,  noch  fortdauerten  (Bidder, 
Valentin,  Volkmann). 

7.  Im  Leben  ist  die  Membran  der  Drüsen  kanälchen ,  wie  alle 
thierischen  Membranen  überhaupt,  nur  für  bestimmte  Stoffe  permeabel. 
Nach  dem  Tode  schwitzt  Alles  durch,  was  im  Wasser  löslich  ist. 
Einen  guten  Beleg  hiefür  liefert  die  Gallenblase,  welche  im  lebenden 
Thiere  ihren  Inhalt  nicht  durch  Exosmose  austreten  lässt,  während 
im  Cadaver  die  ganze  Umgebung  derselben,  Bauchfell,  Darmkanal, 
Netz,  gelb  getränkt  wird. 

8.  Jede  Reizung  einer  Drüse  vermehrt  den  Blutandrang  zur 
Drüse,  und  dadurch  ihre  Absonderung.  Übt  stimultis,  ibi  congestio  et 
secretio  aucta,  lautet  ein  uralter  und  noch  immer  wahrer  Aphorismus. 
Wird  der  Blutandrang  zur  Drüse  bis  zur  Entzündung  gesteigert, 
welche  die  Capillargefösse  durch  Blutcoagula  verstopft,  so  muss 
die  Secretion  abnehmen,  und  endlich  unterbleiben.  Findet  sich 
eine  andere  Drüse  von  gleichem  Baue  vor,  so  kann  sie  vicariirend 
wirken.  —  Wird  die  Gallenbereitung  in  der  lieber  unterbrochen, 
so  kann  der  im  Blutplasma  enthaltene  Farbstoff  der  Galle,  in  allen 
übrigen  Geweben,  welche  mit  Blutplasma  getränkt  werden,  zum 
Vorschein  kommen ,  und  Gelbsucht  entstehen ,  so  wie ,  nach 
Unterbrechung  der  Harnsecretion,  die  Schweiss-  und  Serumbildung 


§.  92.  Allgmueine  Bemerkungen  Aber  die  Abiondeningen.  251 

den  urinösen  Charakter,  der  schon  durch  den  Geruch  sich  verräth, 
annehmen.  Wirkt  die  Steigerung  Einer  Secretion  vermindernd  auf 
eine  andere  ein,  so  sagt  man,  beide  stehen  in  einem  antagonistischen 
Verhältnisse.  So  wird  die  Milchsecretion  durch  vermehrte  Darm- 
absonderung (Diarrhöe) ,  die  Harnsecretion  durch  Schweiss ,  die 
Serumausschwitzung  im  Bindegewebe  (Wassei*sucht)  durch  urin- 
ti'eibende  Mittel  vermindert.  Die  ärztliche  Behandlung  so  vieler 
Absonderungskrankheiten  basirt  auf  dem  Antagonismus  der  Secre- 
tionen. 

9.  Die  Absonderung  findet  nicht  blos  in  den  Acini  der  baum- 
fbrmig  ramificirten  Ausfuhrungsgänge  statt.  Sie  ist  vielmehr  an 
der  ganzen  inneren  Oberfläche  des  verzweigten  Ausführungsganges 
thätig.  —  Die  Secrete  erleiden  während  ihrer  Weiterbeförderung 
durch  die  Ausfuhrungsgänge,  eine  Veränderung  ihrer  Mischung, 
welche  zunächst  als  Eindickung  oder  Concentration  erscheint.  In 
den  Nieren  tritt  dieses  am  deutlichsten  hervor,  da  der  Harn  um  so 
concentrirter  wird,  je  näher  er  der  Harnröhre  kommt.  Eben  so  ist 
der  Same  im  Vas  deferens  dicker  als  jener  der  Hodenkanälchen,  in 
welchen  sich  noch  keine  Samenthierchen  vorfinden. 

10.  Viele  Drüsen,  welche  fortwährend  absondern,  haben  an 
ihren  Hauptausführungsgängen  grössere  Nebenreservoirs  angebracht, 
in  welchen  die  abgesonderten  Flüssigkeiten  entweder  blos  bis  zur 
Ausleerungszeit  aufbewahrt,  oder  auch  durch  Absorption  ihrer 
wässerigen  Bestandtheile ,  und  durch  Hinzufügung  der  Abson- 
derungen der  Reservoirs  selbst,  in  ihrer  Zusammensetzung  verändert 
werden  (Gallenblase ,  Samenblase ,  Harnblase).  Wird  die  Aus- 
sonderung des  Secretes  längere  Zeit  unterlassen,  so  sind  die  Drüsen- 
kanäle damit  überfüllt,  und  es  kann  keine  fernere  Absonderung  vor 
sich  gehen. 

11.  Langer  Secretionsstillstand  hebt  die  Absonderungsfahigkeit 
der  Drüsen  ganz  und  gar  auf,  wie  im  Gegentheile  häufigere  natur- 
gemässe  Entleerungen  derselben,  ihre  secretorische  Thätigkeit  durch 
Uebung  stärken.  So  kann  das  anfangs  einem  gesunden  Menschen 
gewiss  schwer  fallende  Gelübde  der  Keuschheit,  mit  der  Zeit  leicht 
zu  halten  sein,  während  andererseits  häufige  Begattung  für  gewisse 
Temperamente  eine  Gewohnheit,  und  wohl  auch  eine  Nothwendigkeit 
werden  kann. 

12.  Krankhafte  Vermehrung  der  Absonderung  kann  auf  zwei- 
fache Weise  entstehen :  durch  Reizung,  oder  durch  örtliche  Schwäche. 
Im  ersten  Falle  wird  das  Seeret  keine  Mischungsänderung  erleiden, 
im  zweiten  dagegen  werden  seine  wässerigen  Bestandtheile  präva- 
liren.  So  ist  häufiges  Schwitzen  Folge  örtlicher  Schwäche  der  Haut, 
und  die  Mischung  aller  krankhaften  Profluvien    (Samen-,  Speichel-, 


252  §.  98.  Allgemeine  Bemerkungen  über  die  Abeondenmgen. 

Schleimflüsse  y  etc.)  ist  arm  an  plastischen  ^  reich  an  wässerigen 
Bestandtheilen.  —  Bei  Krankheiten^  welche  mit  Abzehrung,  allge- 
meinem Verfalle ,  und  Entmischung  der  Blutmasse  einhergehen, 
können  alle  Secretionen  zugleich  profus  und  wässerig  werden. 
Ein  solennes  Beispiel  davon  giebt  die  Lungensucht,  mit  ihren  er- 
schöpfenden Schweissen ,  Durchfallen ,  örtlicher  und  allgemeiner 
Wassersucht. 


ZWEITES  BUCH. 


Vereinigte  Knochen-  und  B&nderlehre. 


§.  93.  Object  der  Knochen-  und  Bänderlehre. 

Die  vereinigte  Knochen-  und  Bänderlehre,  Osteo-Syiides- 
mologia,  beschäftigt  sich  mit  der  Beschreibung  der  Knochen,  und 
der  sie  zu  einem  beweglichen  Ganzen  —  Skelet  —  vereinigenden 
organischen  Bindungsmittcl :  der  Bänder.  Ihr  Object  ist  das  natür- 
liche Skelet  (Sceleton  naturale),  zum  Unterschiede  vom  künstlichen 
(Scdeton  artificiale),  dessen  Knochen  nicht  durch  natürliche  Bänder, 
sondern  durch  beliebig  gewählte  Ersatzmittel  derselben,  Draht, 
Leder-  oder  Kautschukstreifen,  mit  einander  verbunden  sind.  Da 
weder  die  Knochen,  noch  die  sie  vereinigenden  Bänder,  einer  selbst- 
thätigen  Bewegung  fähig  sind,  und  sie  nur  durch  die  von  aussen 
her  auf  sie  wirkenden  Muskelkräfte  veranlasst  werden,  aus  dem 
Zustande  des  Gleichgewichtes  zu  treten,  so  können  sie,  den  activen 
Muskeln  gegenüber,  auch  als  passive  Bewegungsorgane  auf- 
gefasst  werden. 

Die  im  gewöhnlichen  Leben  übliche  Bezeichnung  der  Haupt- 
formbestandtheilc  des  menschlichen  Leibes :  als  Kopf,  Rumpf,  obere 
und  untere  Gliedmassen,  ist  auch  in  die  Wissenschaft  übergegangen, 
welche  von  den  Knochen  des  Kopfes,  des  Rumpfes,  der  oberen  und 
unteren  Gliedmassen,  als  Hauptabtheilungen  des  Skelets,  handelt. 

Die  Gcsaramtzahl  der  Knochen  wird  von  verschiedenen  Autoren 
sehr  verschieden  angegeben,  je  nach  dem  sie  einen  Knochen,  der 
aus  mehreren  Stücken  besteht,  für  Einen  Knochen,  oder  für  so 
viele  zählen,  als  er  Stücke  hat.  Wenn  man  Brust-  und  Steissbein 
als  einfache  Knochen  rechnet,  so  besteht  das  menschliche  Skelet? 
mit  Einschluss  der  Zähne  und  Gehörknöchelchen,  aber  ohne  Sesam- 
beine, aus  240  Knochen.  Ein  alter  Gedächtnissvers  giebt  sie  auf 
228  an: 

,,  Ossibus  ex  denisy  bis  centenisqtie  novenis,^^ 

Ob  das  Wort  Skelet  von  cx^XXw  (austrocknen)  stammt,  ist 
zweifelhaft.     Herodot   spricht  nämlich   von    einem   sole  aridum   et 


256  f  •  M*   Objeet  der  Kaoehan-  vnd  Biadtrlekn. 

exsiccatum  cadaver,  welches  die  Aegyptier  bei  ihren  Festgelagen,  als 
Sinnbild  der  Vergänglichkeit,  jedoch  rosenbekränzt,  aufstellten,  und 
mit  dem  Rufe  begrüssten:  edite  et  hihite  —  post  mortem  tales  eritis. 
—  Skelet  kann  auch  von  oxeXo?,  Schenkel,  abgeleitet  sein,  denn 
der  grösste  Knochen  des  Schenkels  ist  auch  der  grösste  Knochen 
des  Skeletes,  und  kann  ihm  seinen  Namen  gegeben  haben.  Dann 
wäre  richtiger:  Skelet,  anstatt  Skellet  oder  Skelett  zu  schreiben. 
Da  aber  (jxeXXo),  austrocknen,  auch  oxeXeo)  geschrieben  wird,  ent- 
behrt die  Interpretation  des  Wortes  Skelet  nach  Herodot,  nicht 
aUer  Begründung. 

Die  Römer  gebraachten  für  Skelet  das  Wort  Larva,  welcher  Aasdnick 
zugleich  die  Seelen  böser  Menschen  bezeichnet,  welche  anstät  und  flüchtig  auf 
der  Erde  herumirren.  Diese  Larvae  wurden  aber  als  Skelete  gedacht  und  dar- 
gestellt So  sagt  Seneca:  Nemo  tarn  puer  est,  tU  cerberum  timecU,  et  tenebras,  et 
larvarum  habüum,  nudis  oanbus  cohaererUium  (Epiat,  XXIV,),  —  Der  ägyptische 
Gebrauch :  Skelete,  und  zwar  künstlich  bereitete  (larwu),  auf  die  Tafel  zu  bringen, 
um  die  Theilnehmer  des  Gelages  zum  heiteren  Lfebensg^nuss  zu  stimmen,  g^g 
auch  auf  die  Römer  über,  wie  ich  aus  der  Stelle  des  Petronius  Arbiter  er- 
sehe: potanUbus  ergo,  larvata  argenteam  attulU  »ervus,  nc  aptatam,  ut  articuli 
ejtu  vertebraeque  m  omnem  partem  moverentur,     Trimulcio  adjecU: 

Heu!  heu!  nos  miaeroa,  qtuun  totua  homundo  nü  est! 
Sic  erimus  cuncU,  postquam  nos  auferet  Orctis. 
Ergo  vivamus,  dum  licet  esse  bene. 

In  diesen  Worten  lieget  doch  gewiss  die  Quinta  essenäa  aUer  Lebens- 
Philosophie. 

Zur  Empfehlung  der  Osteolog^e  diene  Folgendes.  Eine  genaue  Kenntniss 
des  Knochensjrstems  macht  sich  in  doppelter  Hinsicht  nützlich.  Erstens  in  ana- 
tomischer, da  man  in  dem  Studium  der  Anatomie  keinen  Schritt  vorwärts  machen 
kann,  ohne  beständig  auf  die  Knochen  zurückzukommen,  welche  als  Schutz-  und 
Stützgebilde  zu  den  übrigen  Bestandtheilen  des  menschlichen  Körpers  in  den 
innigsten  Beziehungen  stehen ;  zweitens  in  praktischer  Hinsicht,  da  alles  Erkennen 
und  alles  Behandeln  einer  grossen  Anzahl  chirurgischer  Krankheiten,  ohne  richtige 
Vorstellung  von  den  mechanischen  Verhältnissen  der  Knochen,  unmöglich  ist. 
Ich  kenne  die  Abbildung  einer  alten  Gemme,  in  welcher  ein  griechischer  Priester 
die  Hand  eines  vor  ihm  stehenden  Skeletes  in  jene  der  Hygiea  legt,  während  ein 
fliegender  Genius  über  beide  seine  Fackel  schwingt.  Wahrlich  ein  schönes  und 
tiefes  Symbol  der  innigsten  Verbindung  der  Heilkunde  mit  der  Osteologie. 
Hippokrates,  der  Ahnherr  der  Heilkunde,  welcher  dem  Delphi'schen  Apoll  ein 
aus  Erz  geformtes  menschliches  Skelet  verehrte,  hat  schon  vor  dritthalb  tausend 
Jahren  seinem  Sohne  Thessalus  die  Lehre  gegeben,  sich  mit  dem  Studium  der 
Geometrie  und  Arithmetik,  zum  besseren  Verständniss  der  Knochenlehre  zu  be- 
schäftigen (^dit  Littr^,  vol.  IX.  pag.  392),  und  Galen  sandte  seine  Schüler  mit 
den  römischen  Legionen  nach  Deutschland,  um  an  den  Leichen  erschlagener 
Germanen,  sich  jene  osteolog^schen  Kenntnisse  zu  holen,  welche  bei  der  Sitte  der 
Römer,  ihre  Leichen  zu  verbrennen,  zu  Hause  nicht  erworben  werden  konnten. 

Bei  keinem  Systeme  bietet  sich  die  Gelegenheit,  die  Nutzanwendungen  der 
Anatomie  im  Schulvortrage  anschaulich  zu  machen,  so  reichlich  dar,  wie  im 
Knochensysteme,  und  wichtige  praktiache  Wahrheiten  können,  ohne  alle  specielle 
Kenntniss   der   chirurgischen   Krankheitslehre,   an   die    Schilderung   der  Knochen 


§.  94.  EintlMilimg  der  Koi»fknoclMii.  257 

angeknüpft  werden.  Es  lässt  sich  vor  dem  Skelet  bestimmen,  welche  Knochen 
hfiofi^  oder  selten,  und  unter  welchen  Umständen  sie  brechen,  welche  Gelenke 
den  Verrenkungen,  und  welchen  Arten  von  Verrenkungen  sie  unterliegen,  welche 
Verschiebung  der  Muskelzug  an  gebrochenen  oder  verrenkten  Knochen  bedingen 
wird,  and  welche  mechanische  Hilfe  dagegen  in  Anwendung  zu  bringen  ist.  Die 
Osteologie  lehrt  fürwahr  die  Chirurgie  der  Fracturen  und  Luxationen,  aber  in 
anatomischen  Worten. 

Ueberdies  schätzen  wir  zugleich  in  der  Osteologie  einen  Abschnitt  der 
Anatomie,  dessen  Erlernung  nicht  durch  jene  Unannehmlichkeiten  erschwert  wird, 
denen  die  Behandlung  der  weichen,  bluthaltigen,  der  Fäulniss  unterliegenden 
Weichtheile  unseres  Leibes,  in  den  Secirsälen  nicht  entgehen  kann.  Ein  gut  be- 
reitetes Skelet  soll,  so  möchte  ich  es  wünschen,  ein  friedlicher  Mitbewohner  Jeder 
medicinischen  Stndirstube  sein.  Seine  stumme  Gesellschaft  würde  sich  zuweilen 
nützlicher,  und  sein  Umgang  belehrender  herausstellen,  als  jener  eines  lebendigen 
Contubemalen. 


A.   Kopfknochen. 

§.  94.  Eintheilung  der  Kopfknochen. 

Allgemein  wird  es  zugegeben,  dass  die  wahre  Hauptsache  der 
Osteologie,  der  knöcherne  Kopf  ist.  Seine  Grösse  und  Gestalt  wird 
durch  den  Zusammentritt  von  22  Knochen  bedingt,  welche,  mit 
Ausnahme  eines  einzigen ,  des  Unterkiefers ,  fest  und  unbeweglich 
zusammenpassen,  und,  weil  ihrer  viele  in  die  Kategorie  der  breiten 
und  flachen  Knochen  gehören,  die  Wandungen  von  Höhlen  bilden, 
die  zur  Aufnahme  des  Gehirns  und  der  Sinnesorgane  dienen.  Es 
ergicbt  sich  schon  hieraus  die  Eintheilung  des  Kopfes  in  den  Hirn- 
schädel oder  die  Hirnschale  (cranium,  im  Mittelalter  <Äeca  cereftn, 
seltener  auch  oUa  capitis) ^  und  in  das  Gesicht  (Feldes),  Die  Hirn- 
schale wird  aus  8  Schädelknochen  (Ossa  cranü),  das  Gesicht 
aus  14  Gesichtsknochen  (Ossa  faciei)  zusammengesetzt,  welche 
Unterscheidung  mehr  praktisch  geläutig,  als  wissenschaftlich  ist, 
indem  gewisse  Schädelknochen  auch  an  der  Zusammensetzung  des 
Gesichtes  Theil  nehmen,  und  einer  derselben,  das  Siebbein,  mit 
Ausschluss  eines  sehr  kleinen  Theiles  seiner  Oberfläche,  ganz  dem 
Gesichte  angehört. 

Calvaria  bezieht  sich  eigentlich  nur  auf  das  Schädeldach,  und  stammt  von 
calvtts,  kahl,  der  Glätte  des  Schädeldaches  wegen.  —  Craniwn  ist  kein  römisches 
Wort,  und  findet  sich  deshalb  bei  keinem  classischen  Schriftsteller.  Es  wurde  von 
den  Anatomen  des  Mittelalters  gebildet  aus  dem  griechischen  xdipT)  (synonym  mit 
x£9aXri),  welches  aucli  als  xoiprjvov  und  xpavfov  bei  Homer  vorkommt,  woraus  sich 
cramium  ergiebt.  —  Bei  Ausonius  lesen  wir  zuerst  tetta  für  Hirnschale.  Das 
italienische  testay  und  das  französische  tJ^,  für  Kopf,  schreibt  sich  daher.  Das 
lateinische  ca/put  aber  stammt,  wie  Varro  an  Cicero  schrieb,  daher,  quod  nervi 
et  seMus  hinc  initium  capiatU.  Mag  sein. 
Hyrtl,  Lehrbuch  der  Anatomie.  14.  Aafl.  17 


258  I-  95.  AllfMMiBe  Eigraickaften  d«r  SekÜelknoekea. 


a)  Öchädelknochen. 

§.  95.  Allgemeine  Eigenschaften  der  Schädelknoclien. 

Die  knöcherne  Hirnschale  wird  in  das  Schädeldach  (Cal- 
varia,  Fomix  cranüj  bei  Plinius:  coelum  capitis),  und  in  den 
Schädelgrund  (Basis  cranii)  eingetheilt.  Letzterer  fuhrt  seiner 
kahnfbrmigen  Gestalt  wegen,  bei  den  griechischen  Autoren  den 
Namen  oxa^tov.  Beide  setzen,  als  hohle,  mehr  weniger  unregelmässige 
und  oblonge  Halbkugeln,  das  knöcherne  Gehäuse  des  Gehirns,  die 
Acropolis  der  menschlichen  Seele,  zusammen. 

Die  Schädclknochcn  werden  in  die  paarigen  und  unpaarigen 
eingetheilt.  Paarig  sind  die  beiden  Scheitelbeine  und  Schläfe- 
beine. Sie  liegen  symmetrisch  rechts  und  links  von  der  verticalen 
Durchschnittsebene  des  Schädels,  und  bilden  den  grössten  Theil  der 
oberen  und  seitlichen  Wand  desselben.  Unpaarig  sind:  das  Hinter- 
hauptbein, Keilbein,  Stirnbein,  und  Siebbein,  welche  sich 
an  der  Bildung  der  hinteren,  der  vorderen,  und  der  unteren  Wand 
des  Schädels  betheiligen. 

Die  paarigen  Schädelknochen  erzeugen  durch  ihre  Vereinigung 
einen,  von  einer  Seite  zur  anderen  über  den  Scheitel  weggehenden 
Bogen,  dessen  Coiicavität  nach  unten  sieht.  Die  unpaarigen  setzen 
dagegen  einen  von  vorn  nach  hinten  unter  der  Schädelhöhle  laufen- 
den Bogen  zusammen,  dessen  Concavität  nach  oben  gerichtet  ist. 
Beide  Bogen  schliessen  durch  ihr  Ineinandergreifen  die  Schädel- 
höhle vollkommen  ab,  und  bilden  die  ovale  Schale  derselben  (Hirn- 
schale). Jedes  Stück  dieser  Schale,  also  jeder  Schädelknochen,  muss 
demnach  einen  breiten,  convex-concaven,  also  wieder  schalenförmigen 
Knochen  darstellen,  dessen  convexe  Fläche  nach  aussen,  dessen 
concave  Fläche  nach  dem  Gehirne  sieht.  Diese  Schalenform  fallt  an 
gewissen  Schädelknochen  (z.  B.  Stirnbein,  Seitenwand-  und  Hinter- 
hauptbein) schon  auf  den  ersten  Blick  auf;  bei  anderen  (z.  B.  Keil- 
und  Schläfebein)  kommt  sie  nur  gewissen  Bestandtheilen  dieser 
Knochen  zu,  und  bei  Einem  derselben,  dem  Siebbein  fehlt  sie 
gänzlich.  —  An  allen  Schädelknochen,  deren  Substanz  an  bestimmten 
Stellen  zu  Höckern  (Tubera)  verdickt  erscheint,  entsprechen  diese 
Höcker  den  ersten  Ablagerungsstellen  von  Knochenerde  im  embryo- 
nischen Leben  (Pimcta  osdficationisj.  Die  Höcker  werden  deshalb 
von  den  englischen  Anatomen,  obwohl  nicht  ganz  passend,  Processus 

primigenii  genannt. 

Jeder  Knochen  der  Hirnschale  besteht  aus  zwei  compacten, 
durch  Einschub  schwammiger  Knochenmasse  —  Diploe  (von  SizXco^, 
doppelt)  —  getrennten  Platten  oder  Tafeln,  deren   äussere,  dickere, 


§.  95.  Allgemeine  Eigeoscliftften  dw  Schftdellcnochen.  259 

die  gewöhnlichen  Merkmale  compacter  Knochensubstanz  besitzt^ 
deren  innere,  dünnere,  und  an  Knochenknorpel  ärmere,  ihrer 
Sprödigkeit  und  dadurch  bedingten  leichteren  Brüchigkeit  wegen, 
den  bezeichnenden  Namen  der  Grlastafel,  Tabula  vitrea,  erhielt. 
Ein  Schlag  auf  den  Schädel  kann  deshalb  die  innere  Knochentafel 
brechen,  während  die  äussere  ganz  bleibt,  und  sind  beide  gebrochen, 
kann  die  Bruch richtung  in  beiden  eine  verschiedene  sein.  —  Da 
die  Schädelhöhle  durch  das  Gehirn  ausgefüllt  wird,  so  müssen  die 
an  der  Oberfläche  des  Gehirns  vorkommenden,  vielfältig  ver- 
schlungenen Erhabenheiten  und  Vertiefungen,  sich  an  der  inneren 
Tafel  der  eben  im  Entstehen  begriflfenen,  und  deshalb  weichen 
Schädelknochen  gewissermassen  abdrücken,  wodurch  die  sogenannten 
Y ingev^ivi dir xLQ\iQ  ([m/presdones  digitatae),  und  die  dazwischen  vor- 
springenden Erhöhungen  (Joga  cerehralia)  bedungen  werden. 

Die  Diploe  der  Schädelknochen  lässt  wohl  einen  Vergleich 
mit  den  Markhöhlen  langröhriger  Knochen  zu,  enthält  aber  nicht, 
wie  diese,  consistentes  Mark,  sondern  ein  dünnes,  mit  Fetttröpfchen 
gemischtes  Fluidum,  welches  in  der  Tjeiche  durch  aufgelöstes  Blut- 
roth roth  tingirt  erscheint.  Die  Diploe  ist  arm  an  Arterien,  aber 
sehr  reich  an  weitmaschigen  Venennetzen.  Die  Venen  der  Diploe 
sammeln  sich  zu  grösseren  Stämmen,  welche  in  besonderen,  baum- 
fbrmig  verzweigten  Knochenkanälen  der  Diploe,  Canales  Breschetiy 
verlaufen,  und  zuletzt  die  äussere  oder  innere  Tafel  des  Knochens 
durchbohren,  um  in  benachbarte  äussere  oder  innere  Venenstämme 
einzumünden. 

An  gewissen  Gegenden  des  Schädels,  welche  nur  von  wenig 
Weichtheilen  bedeckt  werden,  wie  das  Schädeldach,  stehen  die 
beiden  Tafeln  der  Schädelknochen,  wegen  stärkerer  Entwicklung 
der  Diploe,  weiter  von  einander  ab,  und  sind  auch  absolut  dicker, 
als  an  jenen  Stellen ,  welche  durch  Muskellager  bedeckt ,  und  da- 
durch vor  Verletzungen  geschützt  werden,  wie  die  Schläfen-  und 
untere  Ilinterhauptgegend.  Hier  wird  die  Diploe  sogar  stellenweise 
durch  die  bis  zur  Berührung  gesteigerte  Annäherung  beider  Tafeln 
gänzlich  verdrängt,  und  diese  Tafeln  verdünnen  sich  zugleich  so 
sehr,  dass  der  Knochen  durchscheinend  wird.  Auch  an  jenen  Wänden 
der  Schädelhöhle,  welche  diese  von  anstossenden  Höhlen  des  Ge- 
sichts, den  Augenhöhlen  und  der  Nasenhöhle,  trennen,  tritt  aus 
gleichem  Grunde  eine  bedeutende  Verdünnung  derselben  auf.  —  Im 
höheren  Alter  schwindet  die  Diploe  im  ganzen  Umfange  des  Schädels, 
und  die  beiden  Tafeln  der  Schädelknochen,  deren  Dicke  gleichfalls 
abnimmt,  verschmelzen  zu  einer  einfachen  Knochenschale ,  deren 
relative  Dünnheit  und  Sprödigkeit,  die  Gefiihrlichkeit  der  Schädel- 
verletzungen im  Greisenalter  erklärt. 

17» 


260  §.  96.  Hinterhauptbein. 

Die  Verbindungsränder  der  Schädelknochen  sind  entweder  mit 
dendritischen  Zacken  besetzt^  durch  deren  Ineinandergreifen  eine 
wahre  Naht,  Sutura  vera  8,  Syntcads  serrata,  zu  Stande  kommt,  oder 
scharf  auslaufend,  zum  wechselseitigen  Uebereinanderschieben,  als 
Suiura  spuria  8,  sgtuzmosa,  oder  rauh  und  uneben,  um  der  sie  ver- 
bindenden Knorpelsubstanz  eine  grössere  Haftääche  darzubieten. 

Nur  die  äussere  Fläche  der  Schädelknochen  wird  von  einer 
wahren  Beinhaut  (Pericranium)  überzogen,  welche  auch  über  die 
Nähte  wegstreicht,  faserige  Verlängerungen  in  dieselben  hineinsenkt, 
und  deshalb  von  ihnen  nur  schwer  abgelöst  werden  kann.  An  der 
inneren  Fläche  des  Schädels  fehlt  sie,  und  wird  durch  die  harte 
Hirnhaut  vertreten. 

Alle  Schädelknochen  werden  von  Löchern  oder  kurzen  Kanälen 
durchbohrt,  welche  Nerven  oder  Geissen  zum  Durchtritt  dienen. 
Die  Nervenlöcher  finden  sich  bei  allen  Individuen  unter  denselben 
Verhältnissen,  und  fehlen  nie.  Die  Qefasslöcher  sind,  wenn  sie 
Arterien  durchlassen,  ebenfalls  constant.  Wenn  sie  aber  zum  Durch- 
tritt von  Venen  dienen,  welche  als  sogenannte  Erm88aria  Santorini 
eine  Commuuication  der  inneren  Kopfveneu  mit  den  äusseren  unter- 
halten, unterliegen  sie  an  Grösse  und  Zahl,  mannigfaltigen  Ver- 
schiedenheiten, und  fehlen  auch  zuweilen  gänzlich.  Die  Emissaria 
wurden  von  dem  berühmten  Domenico  Santorini  in  Venedig 
(tUustrü  an(Uomicu8  nennt  ihn  Halle r)  entdeckt,  und  in  dessen 
Observationes  anat.  VeneL  1724,  beschrieben.  Von  den  Römern  wurde 
das  Wort  Emüsarium,  für  Abzugskanäle  stehenden  Wassers  gebraucht. 
Cicero,  ad  Farn,  XVL  18. 

Je  weniger  ein  Schädelknochen  an  der  Bildung  anderer  Höhlen  Antheil 
nimmt,  desto  einfacher  ist  seine  Gestalt,  und  somit  auch  seine  Beschreibung; 
je  mehr  er  an  der  Begrenzung  anderer  Höhlen  Theil  hat,  desto  complicirter  wird 
seine  Form. 

Da  man  sich  selbst  aus  den  wortreichsten  Beschreibungen  der  Knochen 
überhaupt,  besonders  aber  einiger  Kopf  knochen,  kaum  eine  riclitige  VorsteUung  von 
ihrer  Gestalt  bilden  kann,  so  wird  es  für  ein  nützliches  Studium  der  Osteologie  zur 
unerlässlichen  Bedingung,  die  einzelnen  Knochen  in  natura  vor  Augen  zu  halten. 
Abbildungen  geben  nur  schlechten  Ersatz.  Das  Besehen  der  Knochen  lehrt  sie 
besser  kennen,  als  das  Lesen  ihrer  Beschreibimgen.  £inen  Knochen  nur  aus  seiner 
Beschreibung  sich  so  richtig  vorzustellen,  dass  man  ihn  nachbilden  könnte,  ist 
unmöglich. 

§.  96.  Hinterhauptbeiii. 

Das   Hinterhauptbein,    Os  ocdpitü*)    (os  puppü,    auch   oi 
memoriae  bei  den  Arabisten,  aus  dem  plausiblen  Grunde^  dass  man 

*)  Da  das  Hinterhauptbein,  um  die   Zeit  der  Geschlechtsreife,  mit  dem 
znnlchst  vor  ihm  liegenden    Keilbein,   durch   Synostose    verwächst,   so  fand  sich 


§.  96.  Hinierliaaptb«iii.  261 

sich  beim  Besinnen,  hinter  den  Ohren  kratzt),  wird  zur  fasslicheren 
Beschreibung  in  vier  Stücke  eingetheilt,  welche  sind:  1.  der  Gnind- 
theil^  Pars  basäaris;  2.  der  Hinterhaupttheil,  Pars  occipitalis;  3.  und 
4.  zwei  Gelenktheile ,  Partes  condyloideae.  Diese  vier  Stücke  sind 
um  das  grosse  ovale  Loch  des  Knochens  —  F(yramen  occipitale 
magnumi  —  so  gruppirt,  dass  der  Grundtheil  vor,  der  Hinterhaupt- 
theil hinter  demselben,  die  beiden  Gelenktheile  seitwärts  von  ihm 
zu  liegen  kommen.  Am  Hinterhauptbeine  neugeborner  Kinder,  und 
mehrerer  Thiere  durch's  ganze  Leben  hindurch,  sind  diese  vier 
Stücke  blos  durch  Knorpel  zusammengelöthet,  und  lassen  sich  leicht 
durch  Maceration  von  einander  trennen.  Die  Eintheilung  des  voll- 
kommen ausgebildeten  Knochens  in  vier  Stücke,  beruht  somit  auf 
der  Entwicklung  desselben. 

L  Der  Grundtheil  vermittelt  die  Verbindung  des  Hinter- 
hauptbeines mit  dem  Keilbeine.  Er  verknöchert  unter  allen  Kopf- 
knochen zuerst,  und  stösst  mit  seiner  vorderen  rauhen  Fläche,  an 
den  Körper  des  Keilbeins,  welcher  unmittelbar  nach  ihm  ossificirt. 
Eine  zwischenliegende  Knorpelscheibe  verbindet  beide,  verschwindet 
jedoch  vom  15.  Lebensjahre  an,  und  weicht  einer  soliden  Ver- 
schmelzung durch  Knochenmasse,  so  dass  beide  Knochen  von  nun 
an,  nur  gewaltsam  durch  die  Säge  von  einander  getrennt  werden 
können.  Die  obere  Fläche  des  (ürundtheilcs  bildet  eine  gegen  das 
grosse  Hinterhauptloch  abfallende  Rinne.  Die  untere  ist  fiir  Muskel- 
ansätze rauh  und  gefurcht,  und  durch  eine  longitudinale  Leiste 
(Crista  basilaris)  getheilt,  deren  Stelle  zuweilen  ein  abgerundeter 
Höcker  vertritt,  welcher,  da  er  zur  Befestigung  eines  fibrösen  Streifens 
in  der  hinteren  Rachenwaud  (Phar/pix)  dient,  Tuberculum  phart/ngeum 
genannt  wird.  Die  Seitenflächen  sind  rauh,  für  die  Anlagerung  der 
Schläfebein-Pyramiden. 

2.  Der  Hinterhaupttheil,  auch  Hinterhauptschuppe  ge- 
nannt, bildet  ein  sclialenforniiges ,  dreieckiges,  mit  stark  gezahnten 
Seitenrändern  versehenes  Knochenstück,  an  welcliem  sich  eine  vor- 
dere concave,  und  eine  hintere  convexe  Fläche  findet.  An  der 
vorderen  Fläche  ragt  in  d(*r  Mitte  die  Protuherantia  occipitalis 
interna  hervor,  als  Durchkreuzungspunkt  einer  senkrechten  und 
zweier  querlaufenden  Linien,  welche  die  Eminentia  cruciata  intetma 
zusammensetzen.  Der  senkrechte  Schenkel  des  Kreuzes  zeigt  sich 
unterhalb  der  Querlinien  besonders  scharf  und  vorspringend,  und 
heisst  deshalb    auch    Crista  occipitalis   interna.     In  der  Regel  spaltet 


Sömmerrinp:  veranlasst,  beide  Knochen  als  Einen  ziusamnienzufaspen,  und  diesen 
als  Os  fxisilare  oder  apheno-oci'ipHalo  zu  benennen.  Mundinus  und  seine  Anhänger, 
deren  Vorötellnngen  über  die  Knochen  der  Hirnschale,  iiusserst  mangelhaft  waren, 
hielten  alle  am  Schädelgrunde  gelegenen  Knochen,  für  einen  einzigen,  und  nannten 
diesen   Oa  haaUare. 


262  §.  96.  Hinterhauptbein. 

sich  diese  Crista,  während  sie  zum  grossen  Hinterhauptloch  herab- 
zieht, gabelfönnig.  Die  beiden  Querschenkel  fassen  eine  Furche 
zwischen  sich,  den  Sulcus  transversus,  dessen  rechte  Hälfte  häufig 
tiefer  als  die  linke  gefunden  wird,  und  sich  von  der  Protuberantia 
an,  nach  oben  als  Sulcus  longitudinalis  verlängert.  Die  Sulci  dienen 
zur  Aufnahme  gleichnamiger  Blutleiter  der  harten  Hirnhaut.  Durch 
die  kreuzförmige  Erhabenheit  zerfallt  die  vordere  Fläche  der  Schuppe 
in  vier  Gruben,  von  welchen  die  beiden  oberen,  die  Enden  der  hin- 
teren Lappen  des  grossen  Gehirns,  die  beiden  unteren,  die  zwei 
Hemisphären  des  kleinen  Gehirns  aufnehmen.  Die  unteren  heissen 
deshalb^bei  den  Anatomen  alter  Schule,  auch  Camerae  cerebdli.  Hält 
man  den  Knochen  gegen  das  Licht,  so  erblickt  man  ein,  gegen 
diese  vier  durchscheinenden  Gruben  dunkel  abstechendes  Kreuz. 
Die  Knochenwand  der  unteren  Gruben  ist  dünner,  als  jene  der 
oberen,  und  im  decrepiden  Greisenalter  selbst  absolut  dünner,  als 
beim  neugebomen  Kinde.  —  An  der  hinteren  Fläche  der  Schuppe 
bemerkt  man  die  zuweilen  auffallend  stark  entwickelte,  und  am 
Lebenden  durch  die  Haut  gut  zu  fühlende  Protuberantia  ocdpitalis 
externa,  welche  der  inneren  nicht  entspricht,  sondern  etwas  höher 
steht,  als  diese.  Sie  schickt  zum  Hinterhauptloche  die  Crista  occi- 
püaiis  externa  herab,  welche  durch  die  beiden  quergerichteten  Lineae 
arcuatae  s.  semidrcvlares  extemae  durchschnitten  wird.  Letztere 
fallen  nur  bei  Schädeln  muskelstarker  und  bejahrter  Individuen  auf, 
bei  welchen  auch  die  Protuberantia  externa  entsprechender  Ent- 
wicklung sich  erfreut.  —  Jeder  der  beiden  Seitenränder,  welche  an 
der  Spitze  des  Hinterhaupttheils  zusaramenstossen  (wie  die  beiden 
Schenkel  eines  griechischen  A.),  zerfallt  in  ein  oberes  längeres 
Segment  (Margo  lambdoideus) ,  zur  Verbindung  mit  dem  hinteren 
Rande  des  Seiten wandbeins,  und  in  ein  unteres  kürzeres,  weniger 
gezacktes  (Margo  maatoideus),  zur  Verbindung  mit  dem  Warzentheil 
des  Schläfebeins. 

3.  und  4.  Die  beiden  Gelenk-  oder  Seitcntheile  verbinden 
den  Grundtheil  mit  der  Hinterhauptschuppe.  Man  erwähnt  an  ihnen 
eine  obere  und  untere  Fläche  und  zwei  Seitenränder. 

An  der  unteren  Fläche  beider  Seitcntheile  fallt  uns  ein  ellip- 
tischer, von  vorn  nach  hinten  convexer,  überknorpelter  Knopf  auf. 
Er  heisst  Processus  condt/loldeus,  von  xdvoyXo;,  eine  harte  Erhabenheit 
(daher  auch  Condyloma),  Mittelst  dieser  beiden  Knöpfe  articulirt  der 
Schädel  mit  dem  ersten  Halswirbel.  Die  Processus  condyloidei  beider 
Seitcntheile  convergiren  mit  ihren  vorderen  Enden ,  welche  etwas 
über  den  Rand  des  Hinterhauptloches  hinausragen,  und  dessen 
vorderen  Umfang  verschmälern.  Vor  und  hinter  den  Processus  con- 
dyloidei befinden  sich  die  sogenannten  Foramina  condyloidea ,  ein 
vorderes  und  hinteres.  Beide  sind  eigentlich  kurze  Kanäle,  welche 


§.  96.  Hinterhaaplbein.  263 

den  Knochen  schief  nach  oben  durchsetzen.  Das  Foramen  condij- 
loideum  anterius  findet  sich  bei  allen  Individuen  genau  in  denselben 
Verhältnissen,  da  es  ein  höchst  constantes  Gebilde  —  das  zwölfte 
Gehirnnervenpaar  —  aus  dem  Schädel  treten  lässt.  Fast  regelmässig 
mündet  ein  aus  der  Diploe  des  Knochens  herstammender  Venenkanal 
in  dasselbe  ein.  Das  Foramen  condyloideum  posterius  unterliegt,  da 
es  nur  ein  wandelbares  Emissamum  Santarini  durchlässt,  allerlei  Ab- 
weichungen in  Grösse  und  Lage,  fehlt  auch  auf  einer  oder  auf 
beiden  Seiten,  oder  verlängert  sich  in  einen  Kanal,  welcher  sich 
über  die  obere  Fläche  der  Seitentheile  des  üinterhauptbeins,  bis  in 
die  gleich  zu  erwähnende  Incisura  jugularis  erstreckt,  in  welchem 
Falle  die  obere  Wand  dieses  Kanals  sehr  dünn,  durchscheinend, 
selbst  durchbrochen  gefunden  wird.  —  Auf  der  oberen  Fläche  der 
Seitentheile  des  Hinterhauptbeins,  ragt  der  massig  gewölbte  Processus 
anont/mus  hervor.  Die  Bezeichnung  anwtymus  und  iiinominatus  wurde 
von  den  älteren  anatomischen  Schriftstellern  gewählt,  um  damit 
auszudrücken,  dass  das  betreffende  Gebilde,  bis  zu  ihrer  Zeit,  noch 
keinen  eigentlichen  Namen  erhalten  hat.  —  Der  innere  glatte  Rand 
beider  Seitentheile,  bildet  den  Seitenrand  des  grossen  Ilinterhaupt- 
loches;  der  äussere  Rand  zeigt  einen  tiefen,  halbmondförmig  ge- 
buchteten (xolf  (Incisura  jugularis) ,  an  dessen  hinterem  Ende  ein 
dreiseitiger,  etwas  aufgekrümmter  und  stumpfer  Fortsatz,  als  Pro- 
cessus jugularis,  zu  erwähnen  ist.  Er  wird  bei  oberer  Ansicht  von 
einer  halbkreisförmigen  Furche  für  den  Querblutleiter  der  harten 
Hirnhaut  umgeben.     Die  Furche  führt  in  die  Incisura  jugularis, 

Galen  nannte  das  Hinterhauptbein  to  xar'  tviov  oarouv,  der  Knochen  am 
Genick.  Os  ptq^yw  wurde  es  genannt,  weil  der  aufgesägte  Schädel  einem  Kahne 
gleicht,  dessen  Hintertheil,  jpuppUt,  durch  diesen  Knoclien  gebUdet  wird,  wie  der 
Vordertheil,  prora,  durch  das  Stirnbein,  als  Os  prorae.  —  Indem  in  den  unteren 
Gruben  der  vorderen  Fläche  der  Schuppe  des  Hinterhauptbeins,  das  kleine  Gehirn 
lagert,  und  diese»  vor  Alters  alrt  Sitz  des  Gedäclitnisses  galt,  entstand  der  Name 
Oa  menioriae.  Die  bei  Mundinus  und  Vesal  zu  treffende  Benennung:  Os  laitdae, 
scheint  aus  Os  InmfHlae  entstanden  zu  sein. 

Das  Hinterhauptbein  erscheint  selbst  an  den  wolilgebildetsten  Schädeln 
selten  vollkommen  symmetrisch,  und  bietet,  nebst  dem  als  ursprünglicher  Ent- 
wicklungsfehler auftretenden,  tlieilweisen  oder  comjileten  Mangel  der  Schuppe 
beim  Himbnich,  folgende  Spielarten  dar:  1.  Mehr  weniger  vollständiges  Ver- 
wachsensein mit  dem  ersten  Halswirbel,  als  angeborne  Hemmungsbildung  (Assi- 
milation), worüber  Ausfülirliches  vorliegt  in  Bockshammer's  Diss.  inaugtircdia ^ 
TtU).  1801.  —  2.  Auswärts  vom  Processus  condj/loidetts  wächst,  einseitig  oder  beider- 
seits ,  ein  Fortsatz  (Processus  jmramastoidetis ,  richtiger  paracondt/loidetisj  nach 
unten,  welelier  bis  an  den  Seitentheil  des  ersten  Halswirbels  lierabreicht,  und  mit 
ihm  articulirt.  Fälle  dieser  Art  finden  sich  zusammengestellt  von  Uli  de,  im 
Archiv  für  klin.  Chirurgie.  S.  Bd.  -  3.  Von  der  Spitze  der  Schuppe,  oder  vom 
Seitenrande  derselben,  läuft  eine  Fissur,  als  nicht  verknöcherte,  und  im  frischen 
Zustande  durch  Knorpel  verschlossene  kleine  Spalte,  gegen  die  Protuherantia 
txieriia.    Kann  für  Fractur  gehalten  worden.  Bei  VerwundungsfäUen  am  Lebenden 


264  §.  97.  Keilbein. 

wäre  die  Untencheidung  leicht,  d»  eine  Fractor  blutet,  eine  angebome  Spalte 
aber  nicht.  —  4.  Ein  an  der  unteren  Fläche  der  Paars  condyhidea  (an  der  Ansatz- 
stelle des  Mtuadua  rectus  capitis  cmUcus  lateralis)  befindlicher,  blasig  gehöhlter 
Fortsatz,  welcher  mit  den  Zellen  des  Processus  mastoideus  des  Schläfebeins  com- 
monicirt,  wurde  als  Processus  pneumaticus  von  mir  zuerst  beschrieben  (Quarterly 
Review  of  Not.  Hist.  1862,  January).  —  6.  Die  Schuppe  wird  durch  eine  quere, 
höchst  selten  durch  eine  longitudinale  Naht  geschnitten.  Das  im  ersteren  Falle 
Über  der  Quemaht  gelegene  Schuppenstttck,  entspricht  sodann  dem  Os  inter- 
parietale  gewisser  Säugethiere.  —  6.  In  der  Mitte  der  vorderen  Peripherie  des 
grossen  Hinterhauptloches  findet  sich  eine  kleine  Gelenkgrube  zur  Articulation 
mit  der  Spitze  des  Zahnfortsatzes  des  zweiten  Halswirbels  (kommt  öfter  vor,  und 
ist  bei  mehreren  Säugethieren  zur  Regel  erhoben).  —  7.  Als  sehr  seltene  Bildnngs- 
Abweichung  des  Hinterhauptbeins,  und  zugleich  als  interessante  Thierähnlichkeit 
(Vögel  und  beschuppte  Amphibien),  existirt  in  der  Mitte  des  vorderen  BCalbkreises 
des  grossen  Hinterhauptloches  ein  kleiner,  convexer  und  überknorpelter  Höcker, 
als  ein  dritter  Gelenkknopf,  welcher  auf  einer  entsprechend  ausgehöhlten  flachen 
Grube  des  vorderen  Halbringes  des  Atlas  spielt  lieber  diesen  und  andere  söge- 
•  nannte  accessorische  Gelenkhöcker  an  der  Pars  basilaris  des  Hinterhauptbeins, 
handelt  Friedlowsky,  im  60.  Bande  der  Wiener  akadem.  Sitzungsberichte.  — 
8.  Eine  über  der  Linea  seniidrcularis  sup,  an  der  Schup])e  des  Hinterhauptbeins 
befindliche,  bisher  unbeachtet  gebliebene  oder  irrig  gedeutete  Linie  (Linea  nuchae 
supremaj,  schildert  ausführlich  in  allen  Formen  ihres  Vorkommens  F.  Merkel 
(Leipzig,  1871). 


§.  97.  Keilbein. 

Complicirter ,  und  schwerer  zu  beßchreiben  als  das  Hinter- 
hauptbein, ist  das  Keilbein,  Os  cuneiforme  (Os  sphenoideum,  sphe- 
coideum,  vespiforme,  cdatwm,  polymorphon ,  pterygoideum ,  Os  carincie, 
Os  colaiorü).  Die  gebräuchlichste  von  diesen  Bezeichnungen  ist: 
Os  sphenoideum,  abgeleitet  von  a^ifjv,  Keil,  und  6t3o<;,  Gestalt.  Die 
vielen  Synonyma  bezeugen  es,  dass  die  Gestalt  des  Knochens  keine 
einfache  ist.  Er  wird  zur  Bildung  des  Grundes  und  der  Seitenwand 
der  Schädelhöhle  verwendet,  und  verbindet  sich  mit  allen  übrigen 
Knochen  der  Hirnschale,  und  mit  den  meisten  Knochen  des  Ge- 
sichtes. Hiedurch  wird  seine  Beschreibung  sehr  umständlich.  Wir 
geben  nur  das  Wesentliche  davon. 

Die  Einfalt  der  Alten  sah  in  der  Form  dieses  Knochens  eine 
Äehnlichkeit  mit  einem  fliegenden  Insecte,  einer  Wespe,  woher  die 
jetzt  noch  übliche  Eintheilung  in  Körper  und  Flügel  stammt,  und 
die  alten  Namen  os  sphecoideum  (von  a^f^S,  Wespe)  und  vespiforme, 
verständlich  werden.  Der  Name  Keilbein,  Os  cuneiforme,  (KptjvosiBe; 
ioTO'jv  bei  Galen,  entstammt  nicht  der  Gestalt  des  Knochens,  sondern: 
quia  cunei  instar,  caeteris  ossibus  calvariae  interposltum  sit  (Spigelius). 

a)  Der  Körper,  der  mittlere,  in  der  Medianlinie  des  Schädel- 
grundes liegende  Theil  des  Knochens,  ist  keilförmig.  Denkt  mau 
sich  nämlich  alle  Flügel  des  Elnochens  weggeschnitten,   so  hat  der 


S.  97.  K«ilb€in.  265 

zurückbleibende  Körper  eine  Keilgestalt,  indem  seine  obere  Fläche 
grösser,  als  seine  untere  ist,  seine  vordere  und  hintere  Fläche  somit 
nach  abwärts  convergiren. 

Der  Keilbeinkörper  schliesst  eine  Höhle  ein,  welche  durch 
eine  verticale,  häufig  nicht  symmetrisch  stehende  Scheidewand,  in 
zwei  seitliche  Fächer  (Sintis  sphenoidales)  zerfällt.  Er  zeigt  6  Flächen, 
oder  besser  Gegenden,  von  welchen  die  obere  und  die  beiden  seit- 
lichen in  die  Schädelhöhle  sehen,  während  die  vordere  und  untere 
gegen  die  Nasenhöhle  gerichtet  sind,  und  die  hintere  bei  jüngeren 
Individuen  durch  Knorpel  an  das  Basilarstück  des  Hinterhaupt- 
knochens angelöthet  wird,  bei  älteren  aber  durch  Knochenmasse  mit 
ihm  verschmilzt.  Die  obere  Fläche  des  Körpers  ist  sattelförmig 
ausgehöhlt,  Türkensattel  (Sella  turcica  s,  Epfdppium,  von  diut  und 
ncico<;,  auf  dem  Pferde),  zur  Aufnahme  des  Gehimanhangs  (Hypo- 
phyfds  cerebri).  Die  hintere  Wand  der  Sattelgrube  wird  durch  eine 
schräg  nach  vorn  ansteigende  Knochenwand,  die  Sattcllehne, 
Dorsum  ephippä,  gebildet,  an  deren  Ecken  die  nach  hinten  und 
aussen  gerichteten,  kleinen,  konischen,  und  nicht  immer  deutlichen 
Processus  clinoidei  postici  aufsitzen.  Die  hintere  Fläche  der  Sattel- 
lehne geht  in  einer  Flucht  in  die  obere  Fläche  des  Basilartheiles 
des  Hinterhauptknochens  über,  und  bildet  mit  ihr  eine  abschüssige 
Ebene  —  den  sogenannten  Clivus,  Häufig  findet  sich  vor  der  Sattel- 
grube ein  stumpfer  Knochenhöcker,  als  Sattelknopf,  Tuberculum 
ephippii,  und  beiderseits  von  diesem,  die  sehr  kleinen,  meistens  nur 
als  Höckerchen  angedeuteten  Processus  clinoidei  medii. 

Nicht  selten  sieht  man  den  Keilbeinkörper  von  Nengebomen,  durch  einen 
Kanal  perforirt,  welcher  vom  Grunde  des  TürkensatteU,  senkrecht  zur  unteren 
Fläche  des  Körpers  verlauft,  und  eine  röhrenförmige,  unten  bUnd  abgeschlossene 
Fortsetzung  der  harten  Hirnhaut  enthält.  Landzert  beschrieb  diesen  Kanal  als 
Canalis  cranw-phart/ngeus  (Petersburger  med.  Zeitschr.  14.  Bd.). 

Die  beiden  Seitenflächen  des  Keilbeinkörpers  zeigen  eine 
seichte,  schräg  nach  vorn  und  oben  im  Bogen  aufsteigende  Furche 
(Sulcus  caroticiis)  für  den  Verlauf  der  Hauptschlagader  (Carotis)  des 
Gehirns.  Diese  Furche  wird  durch  ein  an  der  äusseren  Lefze  ihres 
hinteren  Endes  hervorragendes  Knochenblättchen  (LingiUa  s.  Ligula) 
nicht  unerheblich  vertieft.  —  Die  vordere  Fläche  besitzt  zwei, 
durch  eine  vorspringende  senkrechte  Knochenplatte  von  einander 
getrennte,  un regelmässige  OefFnungen ,  welche  in  die  beiden  seit- 
lichen Fächer  der  Keilbeinhöhle  führen.  Diese  senkrechte  Zwischen- 
wand der  beiden  Oeffnungen  springt  öfters  als  scharfer  Schnabel 
vor,  und  heisst  dann  Rostrum  sphenoidale,  —  Die  untere  Fläche 
des  Keilbeinkörpers  ist  die  kleinste.  Ein  medianer  stumpfer  Kamm, 
als  Crista  sphenoidaiis,  halbirt  sie.  Eine  zu  beiden  Seiten  der  Crista 
sphenoidalis    vorkommende    Längenfurche,    wird    durch    die    Ueber- 


266  §.  97.  Keilbein. 

lagerung  des  später  zu  erwähnenden  Processus  sphenoifiaiis  des  Q-aumen- 
beins^  zu  einem  Kanal  geschlossen,  als  Canalis  sphenopalatiniis. 

h)  Die  Flügel  des  Keilbeins  bilden  drei  Paare,  welche  in  die 
kleinen  und  grossen  Flügel,  und  in  die  flügelartigen  Fortsätze  ein- 
getheilt  werden. 

1.  Paar.  Kleine  Flügel,  Aloe  minore»  s,  Processtis  ensiformes. 
Sie  entspringen  vom  vorderen  Theile  der  oberen  Fläche  des  Kör- 
pers, jeder  mit  zwei  Wurzeln,  welche  das  Sehloch  (Foramen  opti- 
cum)  zwischen  sich  fassen.  Sie  haben  die  Gestalt  eines  Krumm- 
säbels, und  liegen  horizontal,  mit  einer  oberen  und  einer  unteren 
Fläche,  einem  vorderen,  geraden,  massig  gezackten,  und  einem 
hinteren,  concaven  und  glatten  Rande.  Das  innere,  nach  der  Sattel- 
lehne gerichtete  Ende  derselben,  heisst  Processus  dinoideus  anterior, 
welche  Benennung  von  älteren  Autoren  auf  den  ganzen  kleinen 
Flügel  übertragen  wird.  Und  in  der  That  kann  dieser  Flügel  weit 
eher  mit  einer  xXi'vy]  (Lager,  Bett)  verglichen  werden,  als  die  kleinen 
sogenannten  Processus  clinoidei,  von  welchen  die  medii  und  posteriores 
sehr  unbedeutend  sind,  die  medii  selbst  sehr  oft  fehlen.  —  Das 
äussere  spitzige  Ende  des  kleinen  Flügels  erlangt  zuweilen  die 
Selbstständigkeit  eines  besonderen,  in  die  harte  Hirnhaut  eingewach- 
senen Knöchelchens. 

Die  vorderen  Känder  der  beiden  kleinen  Flügel  gehen  continuirlich  in 
einander  über.  An  ihrer  medianen  Vereinigungsstelle  ragt  öfters  ein  unpaarer 
spitziger  Fortsatz  hervor,  welcher  von  einem  Einschnitt  des  lünteren  Randes  der 
Siebplatte  des  Siebbeins  aufgenommen  wird,  und  deshalb  Spina  elhmoidalis  heisst. 
Seitwärts  von  der  Spina  ethmoidalis  kommen  zuweilen  die  ihr  ähnlichen,  aber 
kleineren,  von  Luschka  als  Aloe  miiümae  beschriebenen  Knochenblättchen  vor, 
welche  nur  bei  den  Arten  der  Gattung  Canis  zu  constanten  Vorkommnissen  werden. 

2.  Paar.  Die  grossen  Flügel,  Alae  magna^,  gehen  von  den 
Seitenflächen  des  Körpers  aus,  und  krümmen  sich  nach  aus-  und 
aufwärts.  Man  unterscheidet  an  ihnen  drei  Flächen,  und  eben  so  viele 
Ränder.  Die  Flächen  werden  nach  den  Höhlen  benannt,  gegen 
welche  sie  gekehrt  sind.  Die  Schädelhöhlen  fläche  (Superficies 
cerehralis  s.  interna)  ist  concav,  mit  flachen  Impressiones  dlgitatae 
und  Juga  cerehralia  versehen.  Eine  Gefössfui'che ,  welche  den 
oberen  äusseren  Bezirk  dieser  Fläche  in  schiefer  Richtung  nach 
vorn  und  oben  kreuzt,  und  zur  Aufnahme  des  vorderen  Zweiges 
der  Arteria  meningea  media  sammt  deren  Begleitungsvenen  dient, 
wird  von  den  meisten  anatomischen  Handbüchern  ignorirt.  —  Die 
Schläfen  fläche  (Superficies  temporcdis  s.  externa),  eben  so  gross, 
wie  die  vorhergehende,  von  oben  nach  unten  convex,  von  vorn  nach 
hinten  concav,  liegt  an  der  Aussenseite  des  Schädels  in  der  Schläfen- 
grube zu  Tage,  und  wird  beiläufig  in  ihrer  Mitte  durch  eine  quer- 
laufende Leiste  (Crista  alae  magnae)  in  zwei  über  einander  liegende 
kleinere  Felder  geschnitten,  von  denen  nur  das  obere  in  der  Schläfen- 


§.  97.  Keilbeio.  267 

grübe  eines  ganzen  Schädels  sichtbar  ist,  während  das  untere  an 
der  Basis  des  Schädels  liegt.  Das  vordere  Ende  der  queren  Crista 
entwickelt  sich  zum  Tvherculum  sfpinosum,  einer  dreieckigen,  mit  der 
Spitze  nach  unten  und  hinten  ragenden  Knochenzacke.  —  Die 
rautenförmige,  ebene  und  glatte  Augenhöhlen  fläche  (Superficies 
arbitalis  s.  anterior)  ist  die  kleinste,  und  bildet  den  hinteren  Theil 
der  äusseren  Wand  der  Augenhöhle. 

Es  lassen  sich  am  grossen  Keilbeinflügel  drei  Ränder  unter- 
scheiden: ein  oberer,  ein  hinterer,  und  ein  vorderer.  Jeder 
derselben  besteht  aus  zwei,  unter  einem  vorspringenden  Winkel 
zusammenstosscnden  Segmenten,  weshalb  von  älteren  Schriftstellern 
sechs  Flügelränder  angenommen  wurden.  Sie  bilden  zusammen  die 
polygonale  Contour  der  Äla  magna,  welche  mit  den  zackigen  Rändern 
eines  Flederraausflügels  entfernte  Aehnlichkeit  hat.  Der  obere 
Rand  erstreckt  sich  vom  Ursprünge  des  grossen  Flügels  bis  zur 
höchsten  Spitze  desselben.  Sein  äusseres  Segment  bildet  eine  rauhe 
dreieckige  Fläche,  die  zur  Anlagerung  des  Stirnbeins  dient.  Die 
hintere  äusserste  Ecke  des  Dreiecks,  welche  in  eine  scharfe  dünne 
Schuppe  ausläuft,  stösst  an  den  vorderen  unteren  Winkel  des  Seiten- 
wandbeins.  Das  innere  Segment  des  oberen  Randes  ist  nicht  gezackt, 
sondern  glatt,  sieht  der  unteren  Fläche  der  Ala  minor  entgegen,  und 
erzeugt  mit  ihr  die  schräge  nach  aus-  und  aufwärts  gerichtete,  nach 
innen  weitere,  nach  aussen  spitzig  zulaufende  obere  Augen- 
gruben spalte  (Fütsura  orbitalüs  superior  s.  spheiwidaiis).  Das  äussere 
Segment  bildet  zugleich  den  oberen ,  das  innere  den  inneren  Rand 
der  rhomboidalen  Augenhöhlenfläche  des  grossen  Flügels.  —  Der 
hintere  Rand  erzeugt  durch  seine  beiden  Abschnitte  einen  nach 
hinten  vorspringenden,  zwischen  Schuppe  und  Pyramide  des  Schläfe- 
beins eingekeilten  Winkel,  an  dessen  äusserstem  Ende,  nach  unten 
eine  mehr  weniger  konisch  zugespitzte  Zacke,  als  Dorn,  Stachel, 
Spina  angularis,  hervorragt.  Findet  sich  statt  der  Zacke  ein  scharf- 
kantiges Knochenblatt,  so  nennt  man  dieses  (obwohl  historisch 
unrichtig)  Ala  parva  Ingrassiae,  —  Der  vordere  Rand  vei'voU- 
ständigt  durcli  seine  beiden  Segmente  die  Umrandung  der  Superficies 
orbitalis.  Sein  oberes  Segment  ist  gezackt,  zur  Verbindung  mit 
dem  Jochbeine;  das  untere  Segment  ist  glatt,  und  dem  hinteren 
Rande  der  Augenhöhlenfläche  des  Oberkiefers  zugewendet,  mit 
welchem  es  die  untere  Augeng  rubenspalte  (Fissura  spheno- 
maxillaris  s.  orbitalis  inferior)  bildet. 

Der  Name  Afu  parva  Ingraftsiae  bezieht  sich  auf  Phil.  Ingrassias,  einen 
sicilianischen  Arzt  und  Anatomen  des  16.  Jahrhunderts,  welchen  seine  Zeitgenossen 
nippocrates  Siculus  nannten.  Was  dieser  jedoch  Ala  parva  nannte,  ist  der  früher 
erwähnte  Processvjt  enisiformi»  des  Keilbeinkörpers.  Hyrtl,  Berichtigung  über  die 
Ala  parva  Ingrassiae,  Sitzungsberichte  der  kais.  Akad.  1858. 


l)fs  gro«»e  Flügel  wird  durch  drei  constante  Löcher  durch- 
hohrt,  l,  l)BB  runde  Loch  liegt  in  dem  Wurzelstücke  des  grossen 
HftgeU,  neben  den  Seiten  des  Keilbeinkörpers.  Der  zweite  Ast 
d^  fünften  Nervenpaares  geht  durch  dasselbe  aus  der  Schädelhöhle 
h^rarm,  2.  Das  ovale,  und  knapp  an  und  hinter  ihm  3.  das  kleine 
ifornfttloch  (Foramen  spinomm,  richtiger  jFbram^i}  in  spina),  liegen 
arri  inn^rren  Abschnitte  des  hinteren  Flügelrandes,  und  dienen, 
f'fviU'Si-f^  dem  dritten  Aste  des  fünften  Paares  zum  Austritte,  letzteres 
der  mittleren  harten  Ilirnhautarterie  zum  Eintritte  in  die  Schädelhöhle. 

Am  Hnuneren  8<^(|^ente  des  oberen  Randes,  and  an  der  Schläfenfläche  des 
Xfftnn^rt  ^Hfl^elfl,  finden  sich  an  Grösse,  Zahl  und  Lagerung  wandelbare  Löcher 
fnr  dHi  I>f pkW^Tenen ,  wohl  auch  für  kleinere  Zweige  der  Arteria  meningea  rtiedia, 
w^f/'.hA  vnn  der  Hcbftdelhöhle  aas  in  die  Schläfegrabe  gelangen. 

3,  Paar.  Die  flügelartigen  Fortsätze,  Processus  pterygoidei 
(ir,ifj%^  eJn  FMügel),  auch  Aloe  inferiores  s,  pcdatinae  genannt,  gehen 
nicht  vom  Keilbeinkörpcr,  sondern  von  der  unteren  Fläche  der 
lfn*prungswurzel  des  grossen  Flügels  aus.  Sie  steigen,  nur  wenig 
divf^r^irend,  nach  abwärts,  und  bestehen  aus  zwei  Platten  (Laminae 
//terf/fifndfsfis),  welche  nach  hinten  auseinander  stehen,  und  eine  Grube 
/.wischen  sich  fassen,  Flügel  grübe,  Fossa  pterygoidea.  Die  äussere 
IMatf^?  ist  kürzer,  aber  breiter  als  die  innere,  welche  mit  einem 
nwJi  hinten  und  aussen  gekrümmten  Haken  (Hamtdus  ptert^goideus) 
ende.t.  Unten  wenhjii  beide  Platten  durch  einen  einspringenden 
Winkel  (Incinurnpferjigoidea)  getrennt,  welcher  durch  den  Pyramiden- 
forfsatz  des  Oaumc^nbeins  ausgefüllt  wird. 

All  dor  ob<«r<Mi  llKlfto  des  hinteren  Randes  der  inneren  Platte  des  Flügel- 
fort«atK(*M,  xioht  oino  flai^hi'  Furche  (Stürtu  ttibae  ühistachianaej  nach  aussen  and 
iihnn  hhi.  Zwisrhon  ihr  und  dem  Forameti  ovale,  beg^nen  die  beiden,  in  der 
N<«urohi|flo  wichtigen,  wenn  auch  niclit  constanten  Canaiiculi  pteri/goidei  s,  »phenoi- 
rlfi/m,  von  w(*loh«Mi  der  Russe ru  an  der  Schädelfläche  des  grossen  Flügels,  zwischen 
dnr  Litufuln  und  d«*in  Foramen  i'vtuiuium,  der  innere  aber  in  den  CantUis  Vidianug 
ausmündol. 

!)ie  mit  dem  Kiirper  und  dem  grossen  Flügel  des  Keilbeins 
vorsehmol/ene  itasis  dos  Processus  pterifgoideus ,  wird  durch  einen 
horiy.ontnl  von  vorn  nach  hinten  ziehenden  Kanal  (Canalis  Vidianne) 
perftirirt ,  von  dessen  vorderer  Oeftnung,  eine  seichte  Furche  am 
voitleren  Kunde  dos  Flügt^lfortsatzes  herabläuft ,  als  Sulcus  pterifgo- 
/NiAiftfitM.  Die  hinten^  Ooffnung  des  Vidiankanals,  steht  unmittelbar 
unter  der  Lingula  dos  Sulcus  airoticus.  Am  unzerlegten  Schädel 
kann  die  vonlon»  Oeftnung  gar  nicht,  die  hintere  aber  nur  undeut- 
lich von  unten  her  gesehen  wenlen.  Dieser  Kanal  wuixle  durch  den 
Florentiner  Vidus  Vidius,  Leibarzt  König  Franz  I.  von  Frankreich, 
gfMiau  beAchriobc^,  und  gut  abgebildet  (Anat.  corp,  hum.  lib.  VIL 
l«6.  7),  soll  also    i4SHalit  luiMiNiif,    nicht  aber    Viduanus  genannt 


i.  97.  KeilMn.  269 

werden,  wie  es  so  oft  geschieht.   Dasselbe  gilt  auch  von  dem  Vidian- 
nerv,  welcher  diesen  Kanal  passirt. 

Einen  integrirenden  Bestandtheil  des  Keilbeins  bilden  die 
Omcula  Bertini  8,  Comua  sphenoidalia.  Sie  sind  paarige  Deckel- 
knochen für  die  an  der  vorderen  Wand  des  Keilbeinkörpers  befind- 
lichen grossen  Oeffnungen  der  Sintis  sphenoidales,  deren  Umfang  sie 
von  unten  her  verkleinern.  Ihre  Gestalt  ist  dreieckig,  leicht  ge- 
bogen, indem  sie  sich  von  der  unteren  Fläche  des  Keilbeinkörpers 
zur  vorderen  aufkrümmen.  Sie  verschmelzen  frühzeitig  mit  dem 
Keil-  oder  Siebbein,  und  mit  den  Keilbeinfortsätzen  des  Gaumen- 
beines (jedoch  häufiger,  und  mittelst  zahlreicherer  Berührungspunkte 
mit  ersteren),  so  dass  sie  bei  gewaltsamer  Trennung  der  Schädel- 
knochen, an  dem  einen  oder  an  dem  anderen  Knochen  haften  bleiben, 
oder  zerbrechen,  und  man  sie  nur  aus  jungen  Individuen  unversehrt 
erhalten  kann. 

Nicht  Jo8.  Bertin  hat  diese  Knöchelchen  zuerst  beschrieben;  sie  waren 
schon  dem  alten  Wittenberger  Professor,  V.  C.  Schneider  bekannt  (de  catarrhis, 
lib.  TU.  cap.   1). 

Beim  Neugeborenen  besteht  der  Keilbeinkörper  aus  zwei,  noch  unvollkommen 
oder  gar  nicht  verschmolzenen  Stücken,  einem  vorderen  und  hinteren.  Das 
vordere  trägt  die  kleinen  Flügel,  das  hintere  die  grossen.  Die  kleinen  Flügel 
sind  mit  dem  vorderen  Keilbeinkörper  knöchern  verschmolzen ;  die  grossen  Flügel 
dagegen  mit  dem  hinteren  Keilbeinkörper  durch  Synchondrose  verbunden.  Bei 
vielen  Skugethieren  bleiben  die  beiden  Keilbeine  immer  getrennt,  und  selbst  beim 
Menschen  erhält  sich  öfters  eine,  quer  durch  den  vorderen  Theil  der  Sattelgrabe 
ziehende ,  am  macerirten  Knochen  wie  ein  klaffender  Riss  aussehende  Trennung^- 
spur,  durch  das  ganze  Leben. 

Ausser  den  im  Texte  angeführten  Varietäten  einzelner  Formbestandtheile 
des  Keilbeins,  pflegen  folgende  noch  vorzukommen.  Die  Keilbeinhöhle  wird  mehr- 
fUcherig,  setzt  sich  in  die  Proccsnt^  clinoidei  anteriorem,  selbst  in  die  Schwertflügel 
oder  in  die  Basis  der  Processus  pterygoidei  fort,  oder  entbehrt  der  Scheidewand.  — 
Die  mittleren  Processus  clinoidei  verbinden  sich  durch  knöcherne  Brücken  nicht 
nur  mit  den  vorderen,  sondern  auch  mit  den  hinteren.  Ersteres  geschieht 
häufiger,  und  kommt  auch  allein,  letzteres  nur  in  Verbindung  mit  crsterem  vor. 
Die  durch  diese  Ueberbrückung  gebildeten  Löcher  heissen,  wegen  ihrer  Beziehung 
zum  Verlauf  der  Carotis,  Foramina  carotico-dinoidea,  —  Das  Foramen  ovale  wird 
durch  eine  Brücke  in  zwei  Oeffnungen  getheilt  (drei  Fälle  im  Wiener  Museum), 
oder  verschmilzt  mit  dem  Foramen  apinosum,  welches  auch  nur  als  Ausschnitt 
gesehen  wird.  —  Ein  oberer  Fortsatz  der  inneren  Platte  des  Processus  ptery- 
goideus  kriimmt  sich  unter  die  untere  Fläche  des  Keilbeinkörpers,  als  soge- 
nannter Scheidenfortsatz,  Processus  vaginalis.  Die  äussere  Platte  wird  mit  der 
Spina  angularis  durch  eine  knöcherne  Spange  verbunden,  welche  Anomalie  als 
Verknöcherung  des  von  Civinini  beschriebenen  Bandes  (Ldg*  pterygo-spinosnm) 
zu  deuten  ist.  —  Die  Lingula  kann  sich  theilweise  als  ein  selbstat&ndiges ,  in  die 
harte  Hirnhaut  eingewachsenes  Knöchelchen  vom  Keilbein  unabhängig  machen, 
oder  auch  sich  bis  zum  Contact  mit  der  Schläfebeinspitze  verlängern.  —  lieber 
eine  seltene,  aber  für  die  Anatomie  des  fünften  Nervenpaares  belangreiche  Ano- 
malie am  Keilbein  handelt  mein  Aufsatz:  lieber  den  Porus  crctaphiHco-buceineUorius, 
in  den  Sitzungsberichten  der  kais.  Akad.  1862.   —   Die  Ptocestua  pterygoidH  siiid 


270  §.  98.  Stirnbein. 

bei  einigen  Säng^ethieren  selbstständige  Knochenstücke,  welche  durch  Nähte  in  die 
grossen  Keilbeinflügel  eingepflanzt  werden. 

Es  lenchtet  ein,  dass  eine  allzu  früh*  eintretende  Verwachsung  des  Keil- 
und  Hinterhauptbeins,  die  Entwicklung  des  Schädelgmndes  und  der  gesammten 
Hirnschale  beeinträchtigen,  und  dadurch  eine  Hemmung  in  der  Entwicklung  des 
Gehirnes  selbst  bedingen  wird.  Eine  solche  Sf/noifUms  praecox  wird  deshalb  ein 
anatomisches  Attribut  wo  nicht  die  Bedingung,  von  Blödsinn  und  Cretinismus  sein. 


§.  98.  Stimbein. 

Nebst  dem  Jochbein,  hat  das  Stirnbein  (Os  froiitis  s.  Os 
caronale,  proi^ae,  syndpitis)  auf  die  Form  der  Plirnschale,  und  zu- 
gleich auf  den  Typus  der  Gesichtsbildung,  den  bestimmendsten  Ein- 
fluss.  Es  liegt  am  vorderen  schmäleren  Ende  des  Schädelovals,  der 
Hinterhauptschuppe  gegenüber,  deren  Attribute  sich,  bei  genauem 
Vergleiche,  an  ihm  theilweise  wiederholen. 

Stirnbein  und  Hinterhauptbein  bilden  gleichsam  das  Vorder-  und  Hintertheil 
der  kahnförmig  gehöhlten  Schädelbasis,  deren  Kiel  das  Keilbein  ist.  So  werden 
die  von  Fabricius  ab  Aquapendente  diesen  drei  Knochen  beigelegten  Namen 
von  Schiffstheilen ,  als  0#  prorae  (Stimbein),  Os  p^^ppi»  (Hinterhauptbein),  und 
O*  carinae  (Keilbein),  verständlich. 

Das  Stirnbein  trägt  zur  Bildung  der  Schädelhöhle,  beider 
Augenhöhlen,  und  der  Nasenhöhle  bei,  und  wird  demgemäss  in 
einen  Stirntheil,  Pars  frontalis ,  zwei  Augenhöhlentheile,  Partes 
orbitales,  und  einen  Nasen t heil,  Pars  nasalis,  eingetheUt. 

1.  Die  Pars  frontalis  entspricht  durch  Lage  und  Gestalt  der 
Schuppe  des  Hinterhauptbeins,  und  ähnelt,  wie  diese,  einer  flachen 
Muschelschale,  deren  Wölbung,  und  grössere  oder  geringere  Neigung, 
einen  wesentlichen  Einfluss  auf  den  Typus  der  Gcsichtsbildung 
äussert.  Zwei  massig  gekrümmte  obere  Augenhöhlenränder 
(Margines  supraarbitaies)  trennen  sie  von  den  beiden  horizontal 
liegenden  Partes  orbitales.  Jeder  derselben  hat  an  seinem  inneren 
Ende  ein  Loch  (eigentlich  einen  kurzen  Kanal),  oder  einen  Ausschnitt 
(Foramen  s.  Incisura  supraorbitalis),  zum  Durchgang  eines  synonymen 
Gefasses  und  Nerven.  Zuweilen  findet  sich  an  der  genannten  Stelle 
nur  ein  seichter  Eindruck  des  Randes.  Nach  aussen  geht  jeder 
Rand  in  einen  stumpfen,  robusten,  nach  abwärts  gerichteten,  und 
unten  gezähnten  Fortsatz,  Jochfortsatz  (Processus  zygomaticus)  über. 
Je  näher  an  diesem  Fortsatz,  desto  schärfer  und  überhängender 
wird  der  Margo  supraorbitdlis. 

Die  vordere  oder  Gesichtsfläche  des  Stirntheiles  ist  convex, 
mit  zwei  halbmondförmigen  Erhabenheiten  oder  Wülsten  —  den 
Augenbrauenbogen,  Arcus  supercäiares,  —  welche  gerade  über 
den  Margines  ngffraorbitales  liegen.    Einen  Querfinger  breit  über  den 


§.  98.  Stirnbein.  271 

Augenbrauenbogen,  bemerkt  man  die  flachen  Beulen  der  Stirnhügel 
—  Tuiera  frontcdia.  Zwischen  den  inneren  Enden  beider  Arcus 
aupercüiares,  liegt  über  der  Nasenwurzel  die  flache  und  dreieckige 
Stirnglatze,  Glahdla,  Dieser  Name  stammt  von  glaber,  und  bedeutet 
eigentlich  die  glatte,  haarlose  Stelle  zwischen  den  Augenbrauen 
(jxeffOfpuov  bei  Galen,  von  i^pu;,  Braue),  deren  Breite  der  Physiognomie 
jenen  denkenden  Ausdruck  verleiht,  wie  wir  ihn  an  den  Büsten 
von  Pythagoras,  Plato,  und  Newton  vor  uns  haben.  Eine  von  dem 
Processus  zygomaticus  bogenförmig  nach  auf-  und  rückwärts  laufende 
rauhe  Linie  oder  Crista,  die  den  Anfang  einer  später,  bei  der  Be- 
schreibung des  Seitenwandbeins,  zu  ei'wähnenden  Linea  semicircularis 
darstellt,  schneidet  von  der  Gesichtsfläche  der  Pars  frontalis  ein 
kleines,  hinteres  Segment  ab.  Dieses  wird  in  die  Schläfengrube 
einbezogen,  und  vom  Musculus  temporalis,  welcher  daran  zum  Theil 
entspringt,  bedeckt. 

Man  fiberzenfjt  sich  leicht  an  seinem  eigenen  Schädel  durch  ZnfQhlen  mit 
den  Fingern,  dass  die  Haarbogen  der  Augenbrauen  (Supercilia)  nicht  den  Arcus 
siipercülares ,  sondern  den  Margines  fwpraorbitales  entsprechen,  und  somit  die  Be- 
nennung der  Araoi  ftyjyerciiiaren ,  wenn  auch  alt  lierkömmlich  und  allgemein  ge- 
bräuchlich, dennoch  unrichtig  ist. 

Die  hintere  oder  Schädelhöhlenflächc  zeigt  sich  tief 
concav,  und  wird  durch  einen  senkrechten,  in  der  Richtung  nach 
aufwärts  allmälig  niedriger  werdenden  Kamm  (Crista  frontalis)  in 
zwei  gleiche  Hälften  gethcilt.  Die  Crista  spaltet  sich  zugleich  im 
Aufsteigen  in  zwei  Schenkel ,  die  eine  Furche  begrenzen ,  welche, 
allmälig  breiter  und  flacher  werdend ,  gegen  den  zackigen  Be- 
grenzungsrand des  Stirntheils  aufsteigt.  Zu  beiden  Seiten  von  ihr 
liegen  unregelraässige  rundliche  Grübchen  oder  Eindrücke  der  inneren 
Tafel,  welche  durch  die,  bei  der  Betrachtung  der  Hirnhäute  näher 
zu  besprechenden,  sogenannten  Pacchioni'schen  Drüsen  hervor- 
gebracht werden,  und  zuweilen  die  Mächtigkeit  der  Knochenwand 
bis  zum  Durchscheinendwerden  verringern. 

Der  mehr  als  halbkreisförmige,  stark  gezahnte  Rand  des  Stirn- 
theils (Margo  coronalts)  beginnt  hinter  dem  Processus  zi/gomaticus 
mit  einer  gezackten  dreieckigen  Fläche,  welche  zur  Verbindung 
mit  einer  ähnlichen  am  oberen  Rande  des  grossen  Keilbein- 
flügels dient. 

2.  und  3.  Die  horizontalen  Partes  orbitariae  bilden  mit  der  Pai^^ 
frontalis  einen  fast  rechten  Winkel.  Sie  erzeugen,  zugleich  mit  den 
kleinen  Keilbcinflügeln ,  die  obere  Wand  beider  Augenhöhlen,  und 
werden  durch  einen  von  hintenher  zwischen  sie  dringenden  breiten 
Spalt  Siebbeinausschnitt,  Inci^ura  ethmoidalis,  —  von  einander 
getrennt.  Bei  Betrachtung  von  obenher  erscheinen  die  Partes  orbi- 
tariae umfilnglicher,   als  bei  unterer  Ansicht.     Die   obere   Fläche 


272  §.  98.  Stirnbein. 

derselben  hat  stark  ausgesprochene  Juga  cerehralia,  und  trägt  die 
Vorderlappen  des  grossen  Gehirns.  Die  untere,  glatte  und  coneave, 
gegen  die  Augenhöhle  sehende  Fläche,  vertieft  sich  gegen  den 
Processus  zygomaticus  zur  Thränendrüsengrube  (Fovea  glandulae 
lacTymcdis),  und  besitzt  gegen  die  Pars  nasalis  hin,  dicht  hinter  dem 
inneren  Ende  des  Margo  supraorbitalis,  ein  kleines,  häufig  ganz  ver- 
strichenes Grübchen  (Foveola  trochlearis),  oder  auch  ein  kurzes,  zu- 
weilen krummes  Pyramidchen  (Hamvlus  trochlearis),  zur  Befestigung 
jener  knorpelig-fibrösen  Schleife,  durch  welche  die  Sehne  des  oberen 
schiefen  Augenmuskels  verläuft.  —  Der  hintere,  zur  Verbindung 
mit  den  kleinen  Keilbeinflügeln  bestimmte,  gezackte  Rand,  geht 
ohne  Unterbrechung  nach  aussen  in  den  Margo  coronalis  über.  Der 
innere  Rand  begrenzt  die  Indsura  ethmmdalis.  Eine  Eigenthüm- 
lichkeit  dieses  Randes,  der  sich  durch  seine  Breite  und  sein  zelliges 
Ansehen  charakterisirt,  beruht  darin,  dass  die  obere  Knochenlamelle 
der  Pars  orbilalis  um  drei  Linien  weiter  gegen  die  Indsura  ethmoi' 
dalis  vordringt,  als  die  untere,  wodurch  der  Rand  zwei  Lefzen  oder 
Säume  bekommt,  die  durch  dünne  und  regellos  gestellte  Knochen- 
blättchen,  zwischen  welchen  die  erwähnten  zelHgen  Fächer  liegen, 
mit  einander  verkehren.  Von  rück-  nach  vorwärts  nehmen  diese 
Fächer  an  Tiefe  zu,  und  führen  endlich  in  zwei  hinter  der  Glabella 
und  den  Arcus  supercüiares  befindliche,  durch  eine  vollständige  oder 
durchbrochene  Scheidewand  getrennte  Höhlen  des  Stirnbeins  (Stirn- 
höhlen, Siny^  frontales),  welche  durch  Divergenz  beider  Tafeln  des 
Knochens  entstehen,  und  sich  zuweilen  bis  in  die  Tubera  frontalia 
und  die  Partes  orbttanas  erstrecken.  Stark  hervorragende  Arcus 
supercüiares  lassen  auf  grosse  Geräumigkeit  der  Stirnhöhlen  schliessen. 
—  Zwischen  der  äusseren  Lefze  des  inneren  Randes  der  Pai^s  orbi- 
taria,  und  der  anstossenden  Papierplatte  des  Siebbeins,  finden  wir 
das  Foramen  ethmoidale  anterius  und  posterius,  von  welchen  das  erstere 
häufig  auch  blos  vom  Stirnbeine  gebildet  wird. 

4.  Die  Pars  nasalis  liegt  vor  der  Indsura  ethmoidalis,  unter  der 
GlabeUa.  Streng  genommen  wäre  die  ganze  zellige  Umrandung  der 
Indsura  ethmoidalis,  ihrer  Beziehung  zum  Siebbeine  wegen,  als  Nasen- 
theil  des  Stirnbeins  anzusehen.  Aus  der  Mitte  ihres  vorderen  Endes 
ragt  der  nicht  immer  gut  entwickelte  obere  Nasenstachel  (Spina 
nasalis  superior)  nach  vorn  und  unten  hervor,  hinter  dessen  breiter, 
aber  hohler  Basis,  bei  oberer  Ansicht  ein  kleines  Loch  vorkommt 
(das  blinde  Loch,  Foramsn  coecum),  welches  entweder  directe,  oder 
durch  enge  spaltfxirmige  Seiten öfiuungen  in  die  Stirnhöhlen,  und 
durch  diese  in  die  Nasenhöhle  fuhrt.  Das  Loch  lässt  eine  kleine 
Vene  durchgehen,  welche  den  Sinus  ftddformis  m^jor  der  harten 
Hirnhaut  mit  den  Venen  der  Nasenhöhle  verbindet,  und  ist  insofern 
kein  blindes  Loch;  sondern  ein  doppelmündiger  Kanal.  —  Ueber  der 


i  98.  Stirnbein.  273 

Spina  nasalis  bemerkt  man,  bei  vorderer  Ansicht  des  Knochens,  die 
halbkreisförmige,  tief  gezähnte  Incisura  nasaJis,  zur  Einzackung  der 
Nasenbeine  und  der  Stirnfortsätze  des  Oberkiefers. 

Einwärts  vom  früher  erwähnten  Fcramen  ».  IncUura  supraorbitcUis ,  kommt 
öfter  noch  ein  zweiter  Einschnitt  am  oberen  Angenhöhlenrande  vor,  zum  Anstritte 
des  Stimnerven  und  seiner  begleitenden  Gefässc.  Nnr  selten  wird  dieser  Aus- 
schnitt zu  einem  Loche.  Man  könnte  also  mit  W.  Krause  ein  Foramen  frontale 
8,  IncUura  frorüalis  vom  Foramen  s.  Indsura  supraorbüaUa  unterscheiden.  Der 
Fall,  wo  die  IncUura  supraorhitalU  sehr  breit  erscheint  (bis  2'"),  lässt  sich  als 
Verschmelzung  der  Incisura  frontalis  und  impraorhitalia  nehmen. 

Die    häufigste   und  als  Thierähnlichkeit   bemerkenswerthe  Abweichung  des 
Stirnbeins  von  der  Norm ,   Hegt  in  der  Gegenwart   einer  Stitura  fr'ontalU ,   welche 
vertical  von  der  Nasenwurzel  gegen  den  Margo  coronalU  aufsteigt,  und  den  Stim- 
theil  in  zwei  congruente  Uälften  theilt     Sie  kommt  häufiger  bei  breiten,   als  bei 
schmalen  Stirnen  vor,   und   findet   ihre   Erklärung   in   der  Entwicklung   der  Pars 
fr-ontalis  des   Knochens,   welche   aus   zwei,    den    Tuhera  frontalia   entsprechenden 
Ossificationspunkten    entsteht.     Diese   vergrössern   sich   selbstständig,   bis   sie   sich 
mit  ihren  inneren  Rändern  berühren,  und  zuletzt  mit  einander  zu  Einem  Knochen 
verschmelzen.     Wenn   nun   bei   rascher   Entwicklung  des   Gehirns,    und    eben   so 
rascher  Zunahme  des  Schädelvolumens,  die  Knochenbildung  nicht  mit  entsprechender 
Intensität  vorgeht,  so  kann  es  bei  der  blossen  Berührung  und  zackigen  Verbindung 
beider  Hälften  des  Stirnbeins  verbleiben,  und  eine  Stirn  naht,  als  permanenter  Aus- 
druck   der    paarigen    Entwicklung    des    Knochens,    durch   das    ganze   Leben   fort- 
bestehen.    Dass    sie    bei   Weibern    häufiger    sei    als    bei    Männern,    und    bei    der 
deutschen  Nation  Öfter  vorkomme  als  bei  anderen  (Welcker),  ist  unrichtig.   Ein 
Rudiment    der   Sutura  frontalis    findet    sich    sehr    oft   über    der   Nasenwurzel.  — 
I bering  hat  bei  jungen  Embryonen  auf  das  Vorkommen  eines  paarigen  Os  frontale 
posterius  aufmerksam  gemacht,    welches  einen    eigenen   Ossificationspunkt    besitzt, 
imd    entweder    als    Fontanellknochen    in  der  Keilbeinfontanelle   (§.  102   und  103) 
selbstständig  bleibt,   oder,  wie  es  häufiger  geschieht,  mit  dem    äusseren   seitlichen 
Winkel  der  Pars  frontalis  verwächst. 

An  mehreren,  besonders  knochenstarken  Schädeln  meiner  Sammlung,  fehlen 
die  Stirnhöhlen  (Aöenähnlichkeit).  Die  auffallendste  Entwicklung  der  Stirnbein- 
höhlen findet  sich  beim  Elephanten,  dessen  ungeheures  Schädelvolumen  nicht 
durch  die  Grösse  des  Gehinis,  sondern  durcli  die  Grösse  der  Stirnhöhlen,  welche 
sich  bis  in  den  Hinterhauptknochen  erstrecken,  bedingt  wird. 

Häufig  trifft  man  neben  der  Mündung  des  Canalis  s.  Foramen  supraorbitcUe 
in  die  Augenhöhle,  oder  im  Kanäle  selbst,  ein  zur  Diploe  des  Stimtheils  fiihrendes 
Venenloch.  —  Das  Foramen  coeciim,  welches  viel  bezeichnender  Porus  cranio-nasalis 
genannt  werden  könnte,  wird  zuweilen  vom  Stirn-  und  Siebbein  zugleich  gebildet. 
—  Ein  kindlicher  Schädel,  an  welchem  die  Stelle  der  Glabella  durch  eine  grosse, 
nmde  Oeffnung  eingenommen  wird,  befindet  sich  in  meinem  Besitz.  Die  Oeffnung 
war  durch  angebornen  Hirnbruch  bedingt.  —  Die  Tuhera  frontalia  werden  bei 
hömertragenden  Thieren  zu  langen ,  hohlen ,  mit  den  Sinus  frontales  com- 
municirenden ,  mit  einer  hornigen  Rinde  überzogenen  Knochenzapfen ;  —  bei 
geweihtragenden  Thieren  dagegen,  die  ihren  Hauptschmuck  zu  Zeiten  abwerfen, 
zu  niedrigen,  flach  abgesetzten,  und  soliden  Säulen,  den  sogenannten  Rosen- 
stöcken beim  Wild. 

Ein  grosser  Theil  der  Pars  orhitaria  des  Stirnbeins,  kann  sich  zu  einem 
selbstständigen  Schädelknochen  em'ancipiren,  welcher  zu  den  anatomischen  Selten- 
heiten gehört,  da  ich  ihn  unter  600  Schädeln  nur  dreimal  zu  sehen  Gelegenheit 
Hyrtl,  Lehrbach  der  Anatomie.  14.  Aafl.  18 


274  §.  99.  Siebbein. 

hatte.  Die  betreffende  Abhandlung  iat  in  den  Sitzungsberichten  der  kais.  Akademie, 
1860,  enthalten.  —  Ueber  minder  constante  Kanäle  des  Stirnbeins  handelt  Schultz. 
Siehe  Literatur  der  Knochenlehre,  §.  156. 

Hält  man  das  Stirnbein  so,  dass  die  convexe  Stirnfläche  nach  hinten  sieht, 
und  denkt  man  sich  die  Incisura  etkmoidalia  durch  die  Anlagerung  des  Keilbeins 
in  ein  Loch  umgewandelt,  so  lässt  sich  eine  gewisse  Aehnlichkeit  des  Stirnbeins 
mit  dem  Hinterhauptbeine   nicht  verkennen. 

Bei  Galen  heisst  das  Stirnbein  to  xaTot  (xsTtorov  oorouv,  der  Knochen  an 
der  Stirn,  und  da  die  Gegend,  welche  das  Stirnbein  am  Schädel  einnimmt, 
unbehaart,  also  unbedeckt  ist,  nannten  es  die  Alten:  09  inverecundum,  schamlos, 
quod  solum  inter  calvariae  ottaa  pilorum  integumento  careat,  oh  nuditatem  oa  invere- 
cundum vocatur.  Dem  deutschen  Ausdnick:  die  Stirn  haben,  dem  franzö- 
sischen :  effronterie,  und  dem  lateinischen :  frontem  perfricaref  alle  Scham  aufgeben, 
liegt  wohl  derselbe  Gedanke  zu  Grunde.  Die  Benennung  Oa  coronale,  entstand 
nach  Casaubonus  daher:  quia  in  t^mviviia  publicia,  oa  frontale  certia  coroUia  et 
aertia  antiquUua  coronahatur. 


§.  99.  Siebbein. 

Der  zarteste,  gebrechlichste,  und  zugleich  verborgenste  aller 
Schädelknochen  ist  das  Siebbein,  Os  cribrosum  8,  ethmoideum,  von 
T^9|ji5^,  Sieb,  und  slSoc,  Gestalt  (bei  älteren  Autoren:  Os  spongiosum, 
cubicum,  cristatum,  colatorium) ,  liegt  zwischen  Schädelhöhle,  Nasen- 
höhle, und  den  beiden  Augenhöhlen,  deren  innere  Wand  es  vorzugs- 
weise bildet.  Dieser  Knochen  kann  nur  insofern  als  Schädelknochen 
angesehen  werden,  als  er  die  Indsura  eihmoidalis  des  Stirnbeins  aus- 
füllt, und  dadurch  an  der  Zusammensetzung  der  Schädelbasis  einen 
untergeordneten  Antheil  nimmt. 

Das  Siebbein  wird  in  die  Siebplatte,  die  senkrechte 
Platte,  und  die  beiden  zelligen  Seitentheile  oder  Labyrinthe 
eingetheilt.  Keiner  dieser  Bestandtheile  erreicht  auch  nur  einen 
mittleren  Grad  von  Stärke,  und  die  doppelten  Lamellen  der  Schädel- 
knochen sind,  sammt  der  Diploe,  an  den  dünnen  Platten  und  Wänden 
des  Siebbeins  nicht  mehr  zu  erkennen. 

1.  Die  Siebplatte  (Lamina  cribrosa)  liegt  horizontal  in  der 
sie  genau  umschliessenden  Incisura  eihmoidalis  des  Stirnbeins.  Sie 
ist  es,  durch  welche  das  Siebbein  den  Rang  eines  Schädelknochens 
beansprucht,  denn  alle  übrigen  Bestandtheile  dieses  Knochens  ge- 
hören der  Nasenhöhle.  Ihr  hinterer  Kand  stösst  an  die  Mitte  des 
vorderen  Randes  der  vereinigten  schwertförmigen  Flügel  des  Keil- 
beins. Ein  senkrecht  stehender,  longitudinaler,  nicht  immer  gleich 
stark  ausgeprägter  Kamm  (Crista  eihmoidalis)  theilt  sie  in  zwei 
Hälften,  und  erhebt  sich  nach  vorn  zum  Hahneukamm,  Crisia 
galli,  welcher  zuweilen,  wenn  er  besonders  voluminös  erscheint,  ein 
Cavum  einschliesst,  zu  welchem  eine,  an  der  vorderen  Gegend  der 


§.  99.  Siobbein.  275 

Basis  der  Crista  befindliche  OefFnung  führt.  Die  Siebplatte  wird, 
wie  es  ihr  Name  will,  durch  viele,  gewöhnlich  nicht  symmetrisch 
vertheilte  Oeffnungen  durchbohrt  (Foramina  crihrosa),  von  denen  die 
grösseren  zunächst  an  der  Crista  liegen ,  und  die  grösston ,  meist 
schlitzförmigen,  die  vordersten  sind.  Die  Breite  der  Sicbplatte  ist 
an  verschiedenen  Schädeln  eine  sehr  verschiedene.  Es  giebt  deren, 
an  welchen  sie  so  schmal,  und  zugleich  so  concav  erscheint,  dass 
sie  mehr  einer  durchlöcherten  Furche  als  der  flachen  Platte  eines 
Siebes  gleicht.     Von  der  unteren  Fläche  der  Siebplatte  steigt 

2.  die  senkrechte  Platte  —  obwohl  selten  genau  lothrecht 
—  herab,  und  bildet  d(^n  oberen  Thcil  der  knöchernen  Nasenscheide- 
wand, welche  durch  den  Hinzutritt  der  übrigen,  in  der  senkrechten 
Durchschnittsebene  der  Nasenhöhle  liegenden  Knochen  oder  Knochen- 
theile,  vervollständigt  wird. 

3.  und  4.  Die  zelligen  Seitentheile,  oder  das  Siebbein- 
labyrinth, sind  ein  Aggregat  von  dünnwandigen  Knochenzellen, 
die  unter  einander  und  mit  der  eigentlichen  Nasenhöhle  communi- 
ciren,  und  an  Grösse,  Zahl,  und  Lagerung  so  sehr  variiren,  dass  es 
nicht  möglich  ist,  für  jeden  speciellen  Fall  geltende  Bestimmungen 
aufzustellen.  Im  Allgemeinen  theilt  man  die  das  Labyrinth  bildenden 
Zellen  (CeUulae  ethmoidales)  in  die  vorderen,  mittleren  und  hinteren 
ein.  Sie  werden  von  aussen  durch  eine  glatte,  dünne,  aber  ziemlich 
feste  viereckige  Knochenwand  (Papierplatte,  Lamina  papt/racea) 
bedeckt  und  geschlossen,  welche  zugleich  die  innere  Wand  der 
Augenhr)hle  bildet,  und  nicht  so  weit  nach  vorn  reicht,  um  auch 
die  vordersten  Zellen  vollkommen  bedecken  zu  können,  weshalb  für 
diese  ein  eigenem  Deckelknochen ,  das  später  zu  beschreibende 
Thräuenbein,  benöthigt  wird.  Von  oben  werden  die  Zellen  durch 
den  gefächerten  Rand  der  Incisura  ethmaidalis  des  Stirnbeins  ge- 
schlossen. Nach  innen  werden  sie  durch  die  obere  und  untere 
Sieb})einni  uschel  begrenzt  (ConcJia  ethmoidalis  snperior  et  inferior). 
Di(»se  Muscheln  erscheinen  uns  als  zwei  dünne,  poröse  Knochen- 
blätter, welche  so  gebogen  sind,  dass  ihre  convexen  Flächen  gegen 
die  Laiuina  jjevpendiculari^ ,  die  concaven  gegen  die  Zellen  sehen, 
ohne  sie  jedoch  zu  schliessen.  Zwischen  beiden  Siebbeinmuscheln 
bleibt  ein  freier  Raum  oder  Gang  übrig,  der  obere  Nasengang, 
MeaUts  nariuM  ftujyerior,  in  welchen  die  mittleren  und  hinteren  Sieb- 
beinzellen einmünden,  während  die  vordereji  sich  gegen  die  concave 
Fläche  der  unteren,  grösseren  und  stärkeren  Siebbeinmuschel  öffnen. 
Nach  hinten  tragen  der  Keilbeinkörper,  die  Ussicida  Bertini ,  und 
nicht  selten  die  Augenhöhlenfortsätze  der  Gaumenbeine,  nach  vorn 
die  Pars  nasalis  des  Stirnbeins  und  die  Nasenfortsätze  der  Ober- 
kiefer, und  nach  unten  die  zelligen  inneren  Ränder  der  Augenhöhlen- 

18* 


276  §.  100.  SeiteDwuid1»«ine  od«r  Scheitelbeine. 

flächen    der   Oberkiefer,   zur   Schliessung   der   Siebbeinszellen    das 
Ihrige  bei. 

Vom  vorderen  Ende  der  unteren  Siebbeinmuschel,  und  von 
den  unteren  Wänden  der  vorderen  Siebbeinzellen,  entwickelt  sich 
rechts  und  links  ein  dünnes,  gezacktes,  senkrecht  absteigendes,  und 
zugleich  nach  hinten  gekrümmtes  Knochenblatt  —  Processus  uncinatus 
s.  Blumenbachii  —  welches  über  die  grosse  Oeffiiung  der  bei  der 
Beschreibung  des  Oberkiefers  zu  erwähnenden  Highmorshöhle  weg- 
streift, sie  theilweise  deckt,  und  nicht  selten  mit  einem  Fortsatze 
des  oberen  Randes  der  unteren  Nascnmuschel  verschmilzt. 

Diese  Beschreibong  des  Siebbeins  dürfte  nur  wenig  anf  die,  durch  rohes 
Sprengen  älterer  Schädel,  verstümmelten  Knochen  passen,  welche  gewöhnlich  in 
die  Hände  der  Schüler  kommen.  Man  wird  sich  anch  nicht  leicht  eine  VorsteUong 
von  dem  Bane  des  Siebbeins  machen  können,  wenn  man  nicht  die  Integrität 
desselben  opfert,  and  wenigstens  Ein  Labyrinth  ablöst,  da  man  sonst  nicht  zur 
inneren  Flächenansicht  der  beiden  Mnscheln  kommt. 

EEäufig^r  vorkommende  Verschiedenheiten  des  Siebbeins  sind:  zwei  kleine 
flügelartige  Fortsätze  (Proeegnu  alarea)  an  der  Criata  gaUi,  welche  in  correspon- 
dirende  Grübchen  des  Stirnbeins  passen;  —  Zer£aUen  der  Lamma  papynieea  in 
zwei  kleinere,  durch  eine  senkrechte  Naht  vereinigte  Stücke;  —  Auftreten  einer 
dritten  kleinen  Siebbeinmoschel,  welche 'über  der  Concha  superior  lieg^  Ccncha 
Santariniana  heisst,  und  beim  Neger  in  der  Regel  vorhanden  ist;  —  endlich  Ver- 
schmelzung der  Ossicula  Bertini  mit  den  Wänden  der  hinteren  Siebbeinzellen,  oder 
mit  der  Lamina  perpendiadari«.  Unsymmetrische  Stellung  der  Crista  galU,  so  dass 
auf  der  einen  Seite  derselben  mehr  Foramina  cribrosa  als  auf  der  anderen  lagen, 
beobachtete  J.  B.  Morgagni.  Kein  menschenähnlicher  Affe  besitzt  eine  so  an- 
sehnliche Critta  galU,  wie  der  Mensch. 

An  den  meisten  ägyptischen  Mumien  ist  das  Siebbein  von  der  Nasenhöhle 
aus  durchstossen,  behufs  der  Entleerung  des  Gehirns.  Bei  den  viel  selteneren 
Guanchenmumien  der  Azoren,  wird  das  Siebbein  unversehrt  gesehen,  indem  an 
ihnen  das  Gehirn  durch  ein  Loch  in  der  Par»  orbiUdis  des  Stirnbeins  heraus- 
genommen wurde. 

In  einer  kleinen,  aber  denkwürdigen  Schrift  (de  oate  cribriformi,  ViUbergae, 
1655)  widerlegte  Vict  Conr.  Schneider,  den  damals  allgemein  verbreiteten, 
von  Galen*s  Zeiten  vererbten  Glauben,  dass  die  Gerüche  durch  das  Siebbein  in 
das  Gehirn,  dagegen  der  Unrath  des  Gehirns,  als  Schleim  auf  demselben  Weg^ 
in  die  Nase  hinabgeschafft  werde.  Dieser  Vorstellung  verdankt  das  Wort  Catarrh 
seine  Entstehung,  von  xara,  herab,  und  few,  fliessen,  als  ein  vermehrtes  Herab- 
fliessen  des  Schleimes  vom  Gehirn  in  die  Nase,  wie  man  damals  Schnupfen  und 
Catarrhe  auffasste.  Der  französische  Ausdruck,  rhume  du  cerveau,  für  Schnupfen, 
drückt  wörtlich  „Fluss  vom  Gehirn"  aus,  so  auch  das  italienische  influenza. 


§.  100.  Seitenwandbeine  oder  Scheitelbeine. 

Die  sehr  leicht  fasslichen  beiden  Seitenwandbeine,  Ossa 
parietcdia  (auch  Ossa  hregmatica,  vertids,  tetragona)  lassen  sich  in  Kürze 
abfertigen,  da  sie  die  einfachsten,  an  griechischen  und  lateinischen 
Merkwürdigkeiten   ärmsten  Schädelknochen  sind.     Sie  büden   vor- 


§.  100.  SeitenwAndbeine  oder  Scheitelbeine.  277 

zugsweise  das  Dach  der  Schädelhöhle,  und  erstrecken  sich  sym- 
metrisch vom  Scheitel  zur  Schläfe  herab.  Sie  stellen  schalen- 
förmige, aber  zugleich  viereckige  Knochen  dar,  an  denen  eine 
äussere  und  innere  Fläche,  vier  Ränder,  und  vier  Winkel 
unterschieden  werden. 

Die  äussere  convexe  Fläche  ragt  in  der  Mitte  als  Scheitel- 
höcker (Tuher  parietale)  am  stärksten  vor,  und  wird,  unter  dem 
Scheitelhöcker,  durch  eine  mit  dem  unteren  Rande  des  Knochens 
fast  parallel  laufende  Linea  aemicircularis  (welche  zuweilen  doppelt 
angetroffen  wird,  als  obere  und  untere)  in  einen  oberen  grösseren 
und  unteren  kleineren  Abschnitt  getheilt.  Nur  der  untere  Abschnitt 
hilft,  zugleich  mit  den  betreffenden  Theilen  des  Stirn-,  Keil-  und 
Schläfebeins,  das  an  der  Seitenwand  des  Schädels  befindliche  Planum 
temporale  s.  semlclrculare  bilden,  von  welchem  später  (§.  116.  4). 

Die  innere  concave  Fläche  zeigt: 

a)  Die  gewöhnlichen  Fingereindrücke  und  Ccrebraljuga ,  und 
längs  des  oberen  Randes  mehrere  Pacchioni'sche  Gruben. 

b)  Zwei  baumförmig  verzweigte,  dem  Gerippe  eines  Feigen- 
blattes ähnliche  Gefässfurchen  (Sulci  meningei),  für  die  Ramificationen 
der  Arteria  durae  matrls  media  und  der  sie  begleitenden  Venen. 
Die  vordere  dieser  Furchen  geht  vom  vorderen  unteren  Winkel 
des  Knochens  aus,  und  ist  öfters  an  ihrem  Beginne  zu  einem 
Kanal  zugewölbt.  Die  hintere  beginnt  an  der  Mitte  des  unteren 
Randes. 

c)  Zwei  breitere  venöse  Sidci.  Der  eine  erstreckt  sich  längs 
des  oberen  Randes  des  Knochens,  und  erzeugt,  zugleich  mit  dem 
gleichen  des  anderen  Seitenwandbeins,  eine  Furche  zur  Einlagerung 
des  Sinus  longitudinalia  superlor  der  harten  Hirnhaut.  Der  zweite, 
kürzer  und  bogenförmig  gekrümmt,  nimmt  den  hinteren  unteren 
Winkel  des  Knochens  ein,  und  dient  zur  Aufnahme  eines  Theiles 
des  Sinus  transversus. 

Die  vier  Ränder  werden,  ihrer  Lage  und  Verbindung  nach, 
in  den  oberen,  Margo  sagittalis,  in  den  unteren,  Margo  squamosus 
s.  temporalis  y  in  den  vorderen,  Margo  coronalis ,  und  in  den 
hinteren,  Margo  lambdoideus ,  eingetheilt.  Nur  der  untere  bildet 
ein  concaves  Bogenstück,  welches  durch  das  bis  zum  Verschmelzen 
gedeihende  Aneinanderschmiegen  beider  Tafeln  des  Knochens,  scharf 
schneidend  ausläuft;  die  übrigen  drei  Ränder  sind  gerade,  und 
ausgezeichnet  zackig. 

Es  i.st  unrichtig,  die  ZuscMrfung  des  unteren  Randes,  durch  Verkürzung 
der  äusseren  Tafel,  und  dadurch  bedingtes  relatives  Längersein  der  inneren  Tafel 
zu  erklären.  Man  überzeugt  sich  bei  senkrechten  Durchschnitten  des  Knochens, 
dass  die  äussere  Tafel  eben  so  weit  herabreicht,  wie  die  innere,  die  Diploe  aber 
zwischen  beiden  Tafeln  allmälig  so  abnimmt,  dass  e«  endlich  zum  Verschmelzen 
beider  Tafeln  kommt,  —  daher  die  Schärfe  des  Bandes. 


278  §.  101.  Schläfebeine. 

Die  vier  Winkel,  welche  nach  den  angrenzenden  Knochen 
genannt  werden,  sind:  der  vordere  obere,  Angidus  frontalis ,  der 
vordere  untere,  AnguLus  sphenoidalü ,  der  hintere  obere,  An- 
gulus  lamhdoideus  8,  ocapltalis,  der  hintere  untere,  Angvlus  mastoi- 
deu8.  Der  Angulus  sphenoidalis  ist  der  spitzigste ,  der  Angulus 
mastoideus  der  stumpfste. 

Gegen  das  hintere  Ende  des  Margo  sagittalis  findet  sich  das 
Foramen  parietale,  welches  häufig  auf  einer  oder  auf  beiden  Seiten 
fehlt.     Es  dient  einem  Santorini'schen  Emissarium  zum  Austritt. 

Der  Knochen  bietet,  aasser  dem  sehr  seltenen  Zerfallen  in  zwei  Stticke 
dnrch  eine  Quemaht,  und  der  excedirenden  Grösse  des  Foramen  parietale  (Wrany, 
Präger  Vierteljahrsschrift,  2.  Bd.),  keine  erwähnenswerthen  Abweichungen  dar. 
Grub  er  hat  alles,  über  diese  beiden  Abweichungen  Bekannte,  mit  eigenen  Beob- 
achtungen vermehrt,  im  Archiv  für  path.  Anatomie  1870,  zusammengestellt.  — 
Das  Seitenwand bein  ist  der  einzige  Schädelknochen,  der  nur  aus  Einem  Ossifica- 
tionspunkt  entsteht,  welcher  dem  Tuber  parietale  entspricht.  —  Der  häufig  von 
älteren  Autoren  gebrauchte  Name  Ossa  bregmatica,  stammt  von  ßp^yjiv,  befeuch- 
ten. In  der  Kindheit  der  Medicin  glaubte  man  nämlich,  dass  die  Borken,  welche 
so  häufig  den  Kopf  von  Säuglingen  bedecken,  durch  eine  vom  Gehirn  durch  die 
Seitenwandbeine  ausgeschwitzte,  und  an  der  Luft  eintrocknende  Feuchtigkeit  ent- 
stehen. Osaa  verticis  werden  diese  Knochen  genannt,  weil  in  der  Naht,  welche 
sie  beide  mit  einander  verbindet,  jener  Punkt  liegt,  um  welchen  herum  die  Haupt- 
haare im  Wirbel  fvertexj  stehen.  Es  giebt  Menschen  mit  zwei  Haarwirbeln 
(Öuopu9oi  bei  Aristoteles).  Diese  doppelten  Wirbel  entsprechen  den  Tuhera 
parietaUa.  Solchen  Menschen  schrieb  man  Anwartschaft  auf  ein  langes  Leben  zu, 
und  nannte  sie  deshalb  [xocxpdßioi. 

lieber  das  häufige  Vorkommen  einer  doppelten  Linea  semicircularis  am 
Seitenwandbein,  und  ihren  Einfluss  auf  die  Gestalt  der  Hirnschale,  habe  ich  zahl- 
reiche Beobachtungen  in  einer,  im  XXXII.  Bande  der  Denkschriften  der  Wiener 
Akademie  enthaltenen  Abhandlung  angeführt. 


§.  101.  Schläfebeine. 

Die   paarigen    Schläfe  bei  ne,   Ossa  tempoinim  (Ossa  parietaUa 
inferiora,   lapidosa,   aquainosa,   crotaphitica,    von   xpsTa^sc,    Schläfe,  — 
memento   mori) ,   nehmen    theils    die   Basis    des   Schädels,    theils  die 
Schläfegegend  desselben  ein,  wo  das  frühzeitige  Ergrauen  der  Kopf- 
haare an  die  Fuga  temporis  erinnert,  —  daher  der  lateinische  Name. 
Die  Schläfebeine  werden,  zur  Erleichterung  ihrer  Beschreibung, 
drei  Theile,  als  Schuppen-,  Felsen-  und  Warzentheil  eingetheilt, 
Iche  sich  zu   der,   an    der  äusseren    Seite   des   Knochens    betind- 
hen  grössten  Oeflfnung  desselben  —  dem  äusseren  Gehörgang, 
9aitu8  8.  Poru8  auditorius  extemu8  088eu8y  —  so  verhalten,   dass  der 
duppentheil  über,  der  Felsentheil  einwärts,  der  Warzentheil  hinter 
elben   zu  liegen  kommt.     Diese   drei   Theile   entsprechen  aber 
den  drei  Stücken,  aus  welchen  das  embryonische  Scbläfebein 


§.  101.  BcU&febeine.  279 

besteht,  indem  1.  der  Felsen-  und  Warzentheil  niemals  getrennt, 
sondern  immer  als  Os  petroso-viastoideum  mit  einander  vereint  exi- 
stiren,  und  2.  die  Schuppe,  und  das  der  Bildung  des  äusseren  Gehör- 
ganges zu  Grunde  liegende  Os  ttjmpanicum ,  als  selbstständige 
Knochen  entstehen. 

Soll  die  Anatomie  des  Schläfebeins  gut  verstanden  werden, 
erfordert  das  Studium  seiner  Einzelheiten  einige  Aufmerksamkeit. 
Diese  Einzelnheiten  sind: 

1.  Der  Schuppentheil,  Squama  (I^episma,  von  Xs-i?,  Schuppe) 
hat  an  seiner  äusseren  Fläche  vor  und  über  dem  Meatus  auditorius 
externus  einen,  durch  zwei  zusammenfliessende  Wurzeln  gebildeten, 
schlanken,  aber  starken,  nach  vorn  gekrümmten,  und  zackig  endigen- 
den Fortsatz,  den  Jochfortsatz,  Procesaus  ztjgomaticus,  also  genannt, 
weil  er  zur  Verbindung  mit  dem  Jochbein  dient.  Zwischen  den  beiden 
Wurzeln  dieses  Fortsatzes,  liegt  die  querovale  Gelenkgrube  für 
den  Kopf  des  Unterkiefers,  Fossa  (ßenoidalia,  (rXY^vr)  ist  das  glän- 
zende Auge,  und  wird  von  Hippocrates  und  Galen  auch  für 
Gelenkfläehen  gebraucht,  wahrscheinlich  ihrer  Glätte  und  ihres, 
durch  die  Synovia  bedungenen  Glanzes  wegen.)  —  Vor  der  Fossa 
glenoidalis  bemerkt  man  einen,  in  die  vordere  Wurzel  des  Pi^ocesrns 
zygomaticus  übergehenden  Hügel  —  Gelenkhügel,  Tuberculum  arti- 
culare.  Eine  über  dem  äusseren  Gehörgang  beginnende,  senkrecht 
aufsteigende,  arterielle  Furche  fehlt  häufig.  Die  innere  Fläche 
ist  mit  ansehnlichen  Imjyressiones  digitatae,  und  stark  markirten  Juya 
cerebralla  besetzt,  und  zeigt  zwei  Gefässfurchen,  zur  Aufnahme  der 
Vasa  menmgea  media. 

Die  eine  dieser  Furchen  zieht  hart  am  vorderen  Rande  der  Schappe 
empor,  um  in  die  bei  der  Betrachtung^  des  grossen  Keilbeinflügels  an  der  Super- 
ficies cerehralis  desselben  angeführte  Furche  überzugehen,  deren  Verlängerung 
sofort  zum  vorderen  Sulcm  menitujett-»  auf  der  Innenfläche  des  Seitenwandbeins 
wird,  während  die  andere  in  stark  schiefer  Richtung  nach  hinten  und  oben  auf- 
steigt, um  gieh  in  die  hintere  der  beiden  Furchen  an  der  Innenfläche  des  Seiten- 
wandbeins fortzusetzen.  Beide  Gefässfurchen  der  Schuppe  gehen  aus  einer  sehr 
kurzen  einfachen  Furche  hervor,  welche  man  von  der  Spitze  des  einspringenden 
Winkels  zwischen  Schuppe  und  Pyramide  auslaufen  sieht. 

Der  mehr  als  halbkreisförmige  Rand  der  Schuppe,  trägt  nur 
an  seinem  vorderen  unteren  Abschnitte  Nahtzähne,  der  grössere 
Theil  desselben  erscheint  von  iimen  nach  aussen  und  oben  zuge- 
schärft, und  deckt  den  im  entgegengesetzten  Verhältnisse  zugeschärften 
unteren  Hand  des  Scheitelbeins  zu,  indem  er  sich  über  ihn  hinauf- 
schiebt. 

2.  Der  Felsen  theil  (Pars  petrosa)  gleicht  einer  Hegenden 
dreiseitigen ,  aus  steinharter  Knochenmasse  gebildeten  Pyramide, 
deren  Basis  nach  aussen,  deren  Spitze  nach  vorn  und  innen,  gegen 


280  S.  101.  SckUfebeine. 

den  Keilbeinkörper  sieht.     Er  empfiehlt  uns  drei  Flächen  und  drei 
Ränder  zur  besonderen  gefalligen  Beachtung. 

Die  hintere  Fläche,  die  kleinste  von  den  dreien,  steht  bei 
natürlicher  Lagerung  des  Knochens  fast  senkrecht,  und  hat  beiläufig 
in  ihrer  Mitte  eine  ovale  Oeflfnung,  welche  in  den  inneren  Gehör- 
gang führt,  Meatus  s,  Porus  actuticus  internus.  Drei  Linien  von  ihr 
nach  aussen,  mündet  die  bei  der  Anatomie  des  Gehörorgans  zu  berück- 
sichtigende Wasserleitung  des  Vorsaals  (Aquaeductus  vestibuli) 
in  einer  krummen,  feinen  Spalte  oder  Scharte.  Diese  Wasserleitung 
leitet  aber  kein  Wasser,  sondern  enthält,  wie  ich  gezeigt  habe,  eine 
Vene  des  inneren  Gehörorgans,  wäre  also  richtiger  Canalis  venosus 
vestibuli  zu  nennen. 

Die  vordere  obere  Fläche  wird  von  der  inneren  Fläche 
der  Schuppe  durch  eine,  nur  an  jugendlichen  Individuen  wahr- 
nehmbare, nahtähnliche  Fissur  (Sutura  s.  Fissura  petroso-squamosa) 
geschieden.  Neben  der  Spitze  der  Pyramide  zeigt  sich  an  ihr  die 
innere  Oeflhung  des  carotischen  Kanals,  von  welcher  eine  Rinne 
(Semicanalis  nervi  Vidiani)  nach  aussen  zu  einem  kleinen  Loche 
führte  welches  zu  dem  in  der  Masse  des  Felsenbeins  verlaufenden 
Fallopi' sehen  Kanal  geleitet.  Das  Loch  heisst  Hiatus  s.  Äpertura  spuria 
canalis  FaUopiae  (auch  Foramen  Tarini).  In  dieser  Rinne,  oder  aus- 
wärts von  ihr,  mündet,  nebst  kleinen  Emährungslöchem,  der  sehr 
feine  Canaliculus  petrosus,  welcher  zur  Trommelhöhle  zieht. 

£in    über  die     obere     Kante    des    Felsenbeines    sich    quer    auflagernder 

HOcker,  ist  nicht  immer  deutlich  ausgesprochen,  und  zeigt  die  Richtung  des  in  die 

FeUenbeinmasse  versenkten    CanaU»  senucircularu  superior  des   knöchernen    Ohr- 
labjrinthes  an. 

Jener  Bezirk  der  oberen  Flüche  der  Pyramide,  welcher  rück-  und  auswärts 
vom  Foramen  TarnU  Uegt,  gehOrt  eigentlich  nicht  der  Pyramide,  sondern  einem 
Knochenblatte  an,  welches  die  Verlüngerung  der  oberen  Pyramidenfläche  bildet, 
und  die  Trommelhohle  deckt.  Bian  kann  dieses  Knochenblatt  deshalb  Tegmentum 
Ufmpani  nennen.  An  gewissen  SteUen  verdünnt  es  sich  zuweilen  so  sehr,  dass  es 
selbst  durchlöchert  gefunden  wird.  (HyrÜj  über  spontane  Dehiscenz  des  Tegmentum 
fympani,  in  den  Sitzungsberichten  der  kaiserl.  Akad.  1858.)  Mit  Meissel  und  Hammer 
durchbricht  man  dasselbe  leicht,  und  geniesst  dann  die  Einsicht  in  die  Trommel- 
höhle von  oben.  Der  vorderste  Theil  seines  äusseren  Randes  schiebt  sich  in  die 
Spalte  zwischen  Schuppe  und  äusseren  Gehörg^ng  ein,  und  bildet  den  oberen 
Rand  der  gleich  zu  erwähnenden  FiMura  Glaseri,  deren  unterer  Rand  dem  0« 
tt^panicum  angehört. 

Die  untere  Fläche  des  Felsentheils  sieht  nicht  in  die 
Schädelhöhle,  sondern  gegen  den  Hals  herab.  Sie  ist  uneben,  und 
bildet  an  ihrem  äusseren  Abschnitte  ein  gekrümmtes,  den  äusseren 
Gehörgang  von  unten  und  vom  umschliessendes  Knochenblatt, 
welches  von  der  Gelenkgrube  der  Schuppe  durch  eine,  als  Fissura 
(T^oMTi  benannte  Spalte  getrennt  wird.  Heinrich  Glaser,  Professor 


§.  101.  Sdüftfebeine.  281 

in  Basel,  nannte  seine  Spalte  aber  Hiatus  (Tract,  posthum,  de  cerebro. 
BasiL  1680);  —  kommt  auf  Eins  hinaus. 

Henle  zeigte,  dass  die  Fiasura  Glaaeri  eigentlich  nicht  zwischen  Of*  tym- 
panicum  und  Gelenkgrube  des  Schläfebeins,  sondern  zwischen  dem  ersteren,  und 
dem  vorderen  Theile  des  äussersten  Randes  des  TegmerUum  tympani  liegt,  welcher 
sich  hinter  jener  Gelenkfläche  nach  aussen  vordrängt 

Das  eben  erwähnte,  gekrümmte,  den  äusseren  Gehörgang  bildende  Knochen- 
blatt, erscheint  im  Embryoleben  als  ein  knöcherner,  schmaler,  oben  offener,  und 
mit  seinen  beiden  Enden  an  die  Schuppe  angelötheter  Ring,  in  welchem,  wie  in 
einem  Rahmen,  das  Trommelfell  ausgespannt  ist.  Es  heisst  in  diesem  Zustande 
AnnuLus  tympani  oder  Os  tympanicum,  und  bleibt  in  dieser  Form  bei  einigen 
Säugethier-Ordnungen,  ein  durch  die  ganze  Lebensdauer  isolirter  Knochen. 

Man  begegnet  an  der  unteren  Fläche  des  Felsen theiles ,  von 
aussen  nach  innen  gehend: 

a)  dem  Griffelwarzenloch,  Foramen  stylo-maMoideum ,  ab 
Ausmündung  des  Fallopischen  Kanals,  genau  unter  dem  äusseren 
Gehörgange ; 

b)  neben  ihm  dem  Griffelfortsatz,  Processus  stylcideus,  von 
verschiedener  Länge ,  nach  unten  und  innen  ragend ,  und  bei  jün- 
geren Individuen  von  einer  Art  knöcherner  Scheide  umgeben; 

c)  neben  dem  Griffelfortsatze  der  seichteren  oder  tieferen 
Drosselader  grübe,  Fossa  jugularis,  mit  der  kleinen,  in  der  Nähe 
ihres  hinteren  Randes  befindlichen  Anfangsöffnung  des  Canaliculus 
mastoideus  s,  Arnoldi; 

d)  neben  der  Fossa  jugtdaris,  nach  vorn  zu,  der  unteren  Oeff- 
nung  des  carotischen  Kanals,  welcher  in  halbmondförmiger  Krüm- 
mung nach  vor-  und  aufwärts  durch  die  Pyramide  tritt,  und  gleich 
über  seiner  unteren  Oeffnung  zwei  feine  Kanälchen  (CanalicuU  caro- 
ticO'tympanid)  zur  Trommelhöhle  sendet,  und 

e)  gegen  den  hinteren  Rand  hin,  der  trichterförmigen  End- 
mündung des  Äquaeducttis  cocfdeas. 

Zwischen  der  Indsura  jugularis,  und  der  unteren  Oeffnung  des 
carotischen  Kanals,  liegt  die  flache  Fossvla  petrosa,  welche  oft  blos 
angedeutet  ist,  und  dem  in  die  Paukenhöhle  eindringenden  CanaH- 
cidns  tfjmpanicus  zum  Ursprung  dient. 

Der    in    bj    genannte    Processus    styloideua*)    ist    nach    dem    »tyltu  benannt 
(arijXo;),  der  eiserne  Griffel  zum  Schreiben  auf  Wachstafeln,  daher  bei  den  Griechen 


*)  Das  Adjectiv  styloideiui  soll  nicht,  wie  es  allgemein  geschieht,  styloideus, 
sondern  umgekehrt  styloideus  ausgesprochen  werden.  Das  Wort  ist  ja  griechisch  (aruXoei- 
OTJ;),  mit  der  Endsilbe  ij;  in  eus  latinisirt,  wo  das  e,  wie  in  ferrhia  und  lignhu, 
kurz  betont  wird.  Der  lange  Accent  muss  aber  auf  das  i  fallen,  da  dieses  %  dem 
griechischen  Diphthong  ei  entspricht.  Es  sind  noch  ohngefahr  zwanzig  Worte  in  der 
anatomischen  Sprache,  auf  welche  diese  prosodische  Bemerkung  Anwendung  finden 
soll,  wenn  auf  das  recU  dicere  etwas  gehalten  wird.  Ich  nenne  beispielsweise  nur 
drei:  mcutoideus,  hj/oidSus  und  deltoidSua.  Wflrde  der  lateinische  Ausgang  eus,  dem 
griechischen  Ausgang  aio{  entsprechen,  dann  mttsste  ganz  gewiss  etu  gesagt  werden. 
Da  aber  der  Ausgang  aio;  eine  Aehnlichkeit  ausdrückt,  und  eTdo(  ebenfalls,  so  wäre  ein 


282  §.  101.  Schl&febeine. 

oTuXoEioii;  und  Ypa9to£ior];  synonym  sind.  Phdrtim,  wie  der  Griffelfort»atz  vor 
Zeiten  genannt  wurde,  ist  von  JiAfJ/.Tpov  abzuleiten,  welches  bei  Aristoteles  für 
Sporn  des  Hahnes  vorkommt.  Das  Galen'sche  jJiAovoeiOTj;,  stammt  von  ßi'Xoc, 
Pfeil,  weshalb  Monro  den  Griö'elfortsatz  Processus  sagiUalis  nannte.  Die  Römer 
trugen  den  Stylus  im  Gürtel,  und  bedienten  sich  seiner  als  Dolch  (das  italienische 
stilettoj.  Jul.  Cäsar  wurde  mit  dem  Stylus  gemordet.  Bei  den  Arabisten  heisst 
der  Griffelfortsatz:   Calcar  capitis. 

Bringt  man  in  das  Foramen  stylo-mastoideum  eijie  Borste  ein, 
so  gelingt  es,  sie  so  weit  fortzuschieben,  dass  sie  durch  den  Hiatus 
Fallopiae  zum  Vorschein  kommt.  Eben  so  leicht  kann  eine  zweite 
Borste,  vom  inneren  Gehörgange  aus,  durch  denselben  Hiatus  zu 
Tage  geführt  werden.  Es  existirt  somit  in  der  Substanz  des  Felsen- 
beins ein  Kanal,  welcher  im  inneren  Gehörgange  seinen  Anfang, 
und  im  Foramen  stylo-mastoideum  sein  Ende  hat,  und  nebst  diesen 
beiden  Mündungen  noch  eine  Seitenöffnung  —  den  Hiatus  —  be- 
sitzt. Dieser  Kanal  heisst  bei  Vielen  noch  immer  Aquaeductus  Fol- 
lopiae,  obwohl  ihm  schon  der  Hallenser  Prof.  Cassebohra  (de  aure 
humxinaj  1785,  §.  23)  den  Namen  Canalis  Fallopiae  beilegte,  da 
er  kein  Wasser  führt,  sondern  das  siebente  Gehirnnervenpaar  aus 
dem  Schädel  herausleitet. 

Der  Canalis  Fallopiae  besitzt,  ausser  den  angeführten  Oeffnungen,  noch 
einen  kurzen  Seitenast,  welcher  als  sogenannter  Canaliculus  chordae,  dicht  über 
dem  Foranien  stylo-mojttoideum  von  ihm  abgeht,  und  in  die  Paukenhöhle  führt. 
Er  ist  bei  äusserer  Besichtigung  des  Schläfebeins  nicht  zu  sehen.  Meissel  und 
Hammer  verhelfen  auch  zu  ihm.  Ferner  verdient  erwähnt  zu  werden,  dass  der  in 
der  Fossa  Jugularis  beginnende,  und  in  der  Fissura  tyiapaiio-mastoidea  endigende 
Canaliculus  mastoideus,  sich  mit  dem  unteren  Ende  des  Canalis  Fallopiae  derart 
kreuzt,  dass  der  Canaliculus  mastoideus  zwei  Abschnitte  darbietet,  deren  einer  zum 
Canalis  Fallopiae,  der  andere  von  ihm  führt  —  So  schwer  das  Auffinden  dieser 
Kanälchen  dem  Anfanger  wird,  so  möge  er  es  dennoch  mit  ihnen  nicht  leicht 
nehmen,  da  die  Verzweigungen  gewisser  Gehirnnerven  an  diese  Kanälchen  ge- 
bunden sind.  Ihre  Wichtigkeit  ergiebt  sich  somit  erst  aus  den  Details  der  Nerven- 
lehre, und  steht  wahrlich  mit  ihrer  Grösse  im  umgekehrten  Verhältniss. 

Die  in  der  Beschreibung  des  Felsentheils  genannten  Canaliculi  petrosi  sind, 
so  wie  der  Canali<:ulus  mastoideus  und  tt/mpanicus,  nur  für  ein  Borstenhaar  per- 
meabel, und  können,  da  sie  von  gewöhnlichen  feinen  Ernährungslöchern,  bei 
äusserer  Besichtigung  des  Knochens  nicht  zu  unterscheiden  sind,  nur  durch  sorg- 
sames Sondiren  mit  dünnen  Borsten  ausfindig  gemacht  werden. 

Die  drei  Ränder  des  Felsentheils  sind:  der  obere,  vordere, 
und    hintere.     Der    obere    ist    die    Vcroinigungskante    der   hinteren 

griechisches  Wort  mit  den  Endsilben  iioaio;,  ein  grober  Fehler  gegen  die  Regeln 
der  Wortbildung.  Er  kommt  deshalb  auch  nirgends  vor.  Da  aber  griecliische  Worte 
das  lateinische  Bürgerrecht  erhalten  können,  und  erhalten  haben,  Hessen  sich  die 
genannten  Adjective,  auch  als  styloides,  mastoides,  hyoides  und  deUoides  schreiben, 
mit  dem  Genitiv  is.  Ganz  verwerflich  aber  ist  es,  Hauptwörter  daraus  zu  machen, 
wie  tStylois  und  Hyois,  welche  bei  den  Laiino-barhari  vorkommen,  inul  von  welchen 
Eines  selbst  in  unseren  Tagen  noch  allgemein  gebraucht  wird,  nämlich  die  Allan- 
toi 9,  von  aXXavro£i5ii«,  wurstähnlich  (Hamhaut  des  Embryo),  von  welcher  bei  den 
weiblichen  Genitalien  gehandelt  wird. 


§.  101.  Schl&febeine.  283 

Felseiibeinfläche  mit  der  oberen.  Er  ist  besonders  an  seiner  äusseren 
Hälfte  tief  gefurcht,  als  Salcus  petrosus  supertor,  —  Der  vordere 
ist  der  kürzeste,  und  bildet,  mit  dem  unteren  Stücke  des  vorderen 
Schuppenrandes,  einen  einspringenden  Winkel,  welcher  die  Spina 
angularis  des  Keilbeins  aufnimmt.  Am  äusseren  Ende  dieses  Randes 
liegt  eine,  in  die  Trommelhöhle  gehende  Oeffnung,  welche  durch 
eine  Knochcnleiste  in  eine  obere  kleinere,  und  untere  grössere  Ab- 
theilung gebracht  wird.  Erste re  ist  der  Anfang  des  Semicanalis  ten- 
soris  tt/mpani,  letztere  die  Insertionsöffnung  der  Tuba  EustaddL  — 
Der  hintere  Rand  der  Pyramide  erscheint  durch  die  seichte  und 
glatte  Incisura  jugularis  ausgeschnitten,  welche  mit  der  gleichnamigen 
Incisur  der  Gelenktheile  des  Hinterhauptbeins,  das  Drosselader- 
loch f Foramen  jugulare  8,  lacerum)  zusammensetzt. 

Der  Warzen-  oder  Zitze ntheil  (Pars  nuistoidea,  von  |Jia^b?, 
Brustwarze,  und  elzocy  Gestalt)  befindet, sich  hinter  dem  Meatus  audi- 
torius  externus.  Er  besitzt  eine  äussere  convexe  und  rauhe,  und  eine 
innere  concave,  glatte  Fläche.  Die  äussere  Fläche  zeigt  den  einer 
Brustzitze  ähnlichen  Processus  mastoideus,  welcher  von  unten  durch 
die  Incisura  mastoidea  wie  eingefeilt  erscheint.  Er  schliesst  eine 
vielzellige  Höhle  (Cdlulae  ina^itoideae)  ein,  welche  mit  der  Trommel- 
höhle in  freiem  Verkehr  steht,  und  von  ihr  aus  mit  Luft  gefüllt 
wird,  also  pneumatisch  ist.  Der  Processus  mastoideus  wird  von 
der  hinteren  Peripherie  des  äusseren  Gehörganges  durch  eine  Spalte 
abgegrenzt  (FisHura  tt/mpano-mastoidea),  welche,  wie  früher  angeführt, 
die  Endmündung  des  Canaliculus  mastoideus  enthält.  Die  innere 
Fläche  zeichnet  sich  durch  eine  breite,  tiefe,  halbmondförmig  ge- 
krümmte Furche  aus  (Fossa  sigmoidea^  von  ai^^iLOL-ex^oq ,  C-  nicht 
^-förmig),  in  welche  sich  der  quere  Blutleiter  der  harten  Hirnhaut 
einlagert.  Ein  zuweilen  fehlendes,  und  zum  Durchgange  eines 
Santorini'schen  Emissariums  dienendes  Loch  (Foramen  mastoideum), 
führt  von  dieser  Furche  zur  Aussenfläche  des  Knochens.  Die  Ränder 
des  Warzentheils  sind:  der  obere,  zur  tiefgreifenden  Nahtverbin- 
dung mit  dein  Angulus  mastoideus  des  Scheitelbeins,  und  der  hintere, 
zur  schwächer  gezackten  Vereinigung  mit  dem  unteren  Theile  des 
Seitenrandes  der  Hinterhauptschuppe. 

Im  Inneren  des  Schläfebeins  liegt,  zwischen  dem  Meatus  audi- 
torlus  e^vtemus  und  dem  Felsentheile,  die  Paukenhöhle  (Cavum 
ttjmpdni) y  und  in  der  Felsenpyramide  selbst,  das  Labyrinth  des 
Gehörorgans.  Viele  oben  angeführte  Kanäle  und  OefFnungen  stehen 
in  einem  innigen  Bezüge  zum  inneren  Gehörorgane,  und  können 
erst,  wenn  der  Bau  des  letzteren  bekannt  ist,  richtig  aufgefasst  und 
verstanden  werden.  Deshalb  macht  das  Studium  des  Schläfebeins 
dem  Anfänger  gewöhnlich  die  grössten  Schwierigkeiten,  die  wohl  in 
der  Natur  der   Sache   liegen,    und   nur   dann   verschwinden,    wenn 


284  §.  101.  Sehlftfebeine. 

man  die  äussere  Oberfläche  des  Knochens  auf  seinen  Inhalt  bezieht, 
welcher  aber  erst  in  der  Lehre  von  den  Sinnesorganen  besprochen 
wird.  Eine  genaue  Kenntniss  des  Felsenbeins  bildet  somit  eine 
Vorbedingung  zum  praktischen  Studium  des  Gehörorgans,  und  giebt 
insbesondere  dem  Anfänger  einen  leitenden  Faden  in  die  Hand,  ohne 
welchen  er  sich  nie  in  jenen  finsteren  Revieren  zurecht  finden  kann, 
welche  das  „Labyrinth"  des  Gehörorgans  bilden,  wo,  wenn  auch 
kein  blutlechzender  Minotaurus  zu  furchten,  doch  missmuthige  Ver- 
zagtheit genug  zu  holen  ist. 

Varianten  des  Schläfebeins  sind:  1.  Theilung  der  Schuppe  durch  eine  Quer- 
naht (Grub er).  2.  Bin  yom  vorderen  Bande  der  Schuppe  ausgehender  breiter 
Fortsatz  schiebt  sich  zwischen  den  Anguhu  sphenoidaUa  des  Seitenwandbeins  und 
den  grossen  Keilbeinflügel  ein,  und  erreicht  den  Margo  coronalis  des  Stirnbeins. 
Er  kommt  dadurch  zu  Stande,  dass  ein  in  der  vorderen  seitlichen  Fontanelle  ent- 
wickelter Schaltknochen  (§.  1 03)  mit  dem  vorderen  Schuppenrande,  nicht  aber  mit 
dem  Seitenwandbein  verwächst.  3.  Bedeutende,  bis  auf  3  Zoll  steigende  Länge 
des  Griffels  (Gm her),  oder  Zusammensetzung  desselben  aus  zwei  durch  Synchon- 
drose  oder  Synostose  verbundenen  Stücken,  sowie  Gegenwart  einer  Markhöhle  in 
ihm.  4.  Am  oberen  Felsenbeinrande  eine  narbig  eingezogene  Vertiefung,  als 
Ueberbleibsel  einer,  am  embryonischen  Felsenbein  unter  der  Wölbung  des  oberen 
Canali»  gemicirctdarü  befindlichen  Grube,  welche  Tröltsch  als  Fo8ga  subarctuUa 
benannte.  6.  Vorkommen  von  Schaltknochen  in  der  Fuge  zwischen  der  Pyramide 
und  der  Pars  basäarü  des  Hinterhauptbeins  bis  zum  Keilbeinkörper  hin.  Sie 
liegen  nur  lose  in  dieser  Fuge  und  fallen  beim  Maceriren  aus.  Am  festesten 
haftet  noch  das  der  Felsenbeinspitze  nächst  gelegene  KjiÖchelchen,  welches  mit 
einer  rauhen  Fläche  in  einem  Grübchen  des  Felsenbeins  ruht.  Man  hatte  diesem 
Knöchelchen  unrichtig  den  Namen  OsHcidtsm  sesamoideum  Cortesü  beigelegt  H  e  n  1  e 
zeig^,  dass  Corte se  (1625)  es  nur  mit  Verknöcherungen  der  Carotis  interna  zu 
thun  hatte.  Ein  ähnliches,  selten  vorkommendes  Knöchelcben,  als  Ergänzungs- 
stück des  Foramen  jugulare,  erwähnt  W.  G ruber.  Ausführlich  handelt  derselbe 
Autor  über  die  zwischen  Felsenbein  und  Keilbein,  und  zwischen  Felsenbein  und 
Basilartheil  des  Hinterhauptbeins  vorkommenden  Schaltknochen,  in  seinen  Bei- 
trägen zur  Anatomie  der  Schädelbasis,  St.  Petersb.  1869.  Ein  Schaltknochen  im 
Tegmentum  tympani  wurde  gleichfalls  von  Grub  er  aufgefunden.  Beim  Hirsch  fand 
ich  das  ganze  Tegmentum  tympani  als  selbstständigen  Knochen.  Auch  vom  Menschen 
besitze  ich  einen  ähnlichen  Fall.  6.  Eine  sehr  interessante,  von  Luschka 
beschriebene  Anomalie,  besteht  in  einem,  unter  der  Wurzel  des  Jochbogens  vor- 
kommenden Loche  (bis  Vj*"  weit),  welches  in  eine  längs  der  Sutura  petroso-squa- 
mosa  verlaufende  Furche  einmündet.  Diese  Furche  findet  sich  auch  ohne  Loch, 
und  dient  einem  Blutleiter  (Sinus  petroso-squamosus)  zur  Aufnahme.  Luschka 
nannte  das  Loch :  Foramen  jugulare  spurium,  indem  der  Sinuft  petroso-squamosus 
sich  durch  dasselbe  in  die  Vena  jugularis  externa  fortsetzt  (Zeitschr.  f.  rat.  Med.  1859). 
7.  Der  Processus  mastoideus  wird  stellenweise  so  dünnwandig,  dass  seine  Zellen 
entweder  spontan  dehisciren,  oder  durch  sehr  geringfügige  Gewalt  einbrechen  können. 
(Sieh'  meine,  pag.  280  citirte,  hieher  gehörige  Abhandlung,  in  den  Sitzungsberichten 
der  kaiserl.  Akademie,  1858.)  -  Nach  G.  Zoja  (StUV  apoßsi  mastoidea,  Milano, 
1864)  fliessen  die  Zellen  des  Warzenfortsatzes  zuweilen  zu  einer  einzigen  grossen 
Cavitas  mastoidea  zusammen.  —  Ein  von  der  hinteren  Fläche  der  Pyramide,  zu  den 
Zellen  des  Warzenfortsatzes  führender,  enger,  durch  einen  Fi>rtÄiitz  der  harten 
Hirnhaut  ausgekleideter  Kanal,  wurde  von  Voltolini  als  Canalis  petroso-mastoi- 
deus  beschrieben. 


§.  102.  Verbindangsarten  der  Sch&delknochen.  FontaDellen.  285 


§.  102.  Verbindungsarten  der  Schädelknoclieii.   Fontanellen. 

Um  die  knöcherne  Hirnschale  herzustellen,  wird  die  Verbin- 
dung der  Schädelknochen  unter  sich,  auf  verschiedene  Weise,  aber 
immer  sehr  fest,  durch  wahre  und  falsche  Nähte,  durch  An- 
lagerung (Harmonie),  und  durch  Synchondrose  bewerkstelligt. 
Naht  und  Harmonie  kommt  nur  an  den  Schädelknochen,  sonst  aber 
nirgends  am  Skelete  vor. 

1.  Wahre  Nähte  (Suturae  verae,  bei  den  Griechen  ^a<pai)  ver- 
binden nur  tief  gezahnte  Knochenränder  mit  einander.  Die  Kranz- 
oder Kronennaht  (Sutura  coronalis)  zwischen  dem  Stirnbein  und 
den  beiden  Scheitelbeinen,  die  Pfeilnaht  (Sutura  sagittcdis  s.  inter- 
parietcdis)  zwischen  beiden  Scheitelbeinen,  die  Lambdanaht  (Sutura 
lambdoidea)  zwischen  Hinterhauptschuppe  und  hinteren  Rändern 
beider  Scheitelbeine,  die  Warzennaht  (Sutura  mastoidea)  zwischen 
Warzentheil  des  Schläfebeins,  und  unterem  Seitenrande  der  Hinter- 
hauptschuppe, so  wie  die  abnorme,  das  Stirnbein  in  zwei  seitliche 
Hälften  theilende  Stirnnaht  (Sutura  frontalis),  sind  die  Repräsen- 
tanten der  wahren  Schädelnähte.  Alle  diese  Nähte  erscheinen  nur 
bei  äusserer  Ansicht  des  Kopfes  als  wahre  Nähte.  Von  innen  ge- 
sehen, besitzt  keine  derselben  das  zackige  Ansehen,  welches  den 
Charakter  der  wahren  Naht  bildet,  sondern  präsentirt  sich  als  eine 
mehr  weniger  gerade  Contactlinie,  wie  bei  der  sub  3  anzuführenden 
Harmonie.  Bei  Kahlköpfen,  deren  Schädeldach  zuweilen  so  rund 
und  glatt  ist  wie  eine  Billardkugel,  kann  man  die  Nähte,  selbst 
durch  die  verdünnten  und  glänzenden  Schädeldecken  hindurch,  er- 
kennen. Die  Vorstellung  der  alten  Aerzte,  dass  durch  die  Nähte 
die  vapores  und  fvligines  des  Gehirns  ausdampfen,  erklärt  den  jetzt 
vergessenen  Namen  der  Nähte:  Spiracula. 

Aasser  den  genannten  Nähten,  gfiebt  es  noch  mehrere  andere  am  Schädel. 
Sie  könnten,  wenn  sie  einen  Namen  erhalten  sollten,  selben  von  den  beiden 
Knochen  entlehnen,  welche  sie  vereinigen:  Sutura  squamoso-sphenoideUis,  »pheno- 
frorUalia,  etc. 

2.  Falsche  Nähte  oder  Schuppennähte  (Suturae  spuriae 
8,  squamosus)  bestehen  als  dach  ziegeiförmige  Uebereinanderschiebung 
zweier  entgegengesetzt  zugeschärfter  Knochenränder.  Sie  kommen 
vor:  1.  zwischen  Schläfenschuppe  und  Seiten wandbein  (Sutura  tem- 
poro-parietalis) ,  und  2.  zwischen  Angulus  sphenoidalis  des  Seitenwand- 
beins  und  oberem  Rand  des  grossen  Keilbeinflügels  (Sutura  spheno- 
parietalis).  —  Die  griechischen  Aerzte  gebrauchten  für  Schuppennähte 
den  Ausdruck:  Proscollemata  lepidoidea,  d.  i.  schuppenartige  Zu- 
sammenlöthung,  und  die  Lateiner :  Agglutinatio  tmbricata  (von  imbrex, 
Dachziegel). 


286  S- 102   Verbindungsarten  dor  Sch&delknochen.  Fontanellen. 

3.  Einfache  Anlagerung  oder  Harmonie,  durch  rauhe,  nicht 
gezackte  Ränder,  zwischen  welchen  aber  eine  dünne  Knorpelschichte 
vorkommt,  findet  sich  zwischen  dem  vorderen  Rande  der  Schläfen- 
pyramide, und  dem  grossen  Flügel  des  Keilbeins,  so  wie  an  den 
Contacträndern  der  Glastafel  aller  Schädelknochen. 

4.  Die  durch  einen  festen  Knorpel  vermittelte  Verbindung 
zwischen  der  Pyramide  des  Felsenbeins  mit  der  Pars  hasilaris  des 
Hinterhauptbeins,  und  der  letzteren  mit  dem  Keilbeinkörper,  dient 
als  Beispiel  einer  Stjnchondrosis. 

Schultz  (lieber  den  Bau  der  normalen  Menschenschädel.  Petersburg,  1852. 
pag.  9)  unterscheidet  mehrere  Unterarten  von  wahren  und  falschen  Nähten,  von 
welchen  die  Kopfnaht  und  die  Stiftnaht  die  zulässlichsten  sind.  Die  Kopfnaht 
charakterisirt  sich  dadurch,  dass  von  zwei  sich  etwas  übereinander  schiebenden 
Knochenrändem  der  eine  kleine  Hervorragungen  bildet,  welche  von  Löchern  des 
anderen  umschlossen  werden,  wie  in  der  Naht  zwischen  kleinem  Keilbeinfiügel 
und  Stirnbein.  Ich  habe  gezeigt,  dass  diese  kleinen  Hervorragungen  (Köpfe)  so 
gross  werden  können,  dass  sie  wie  supemuraeräre  Schaltknochen  (§.  103)  aus- 
sehen, und  auch  dafür  gehalten  wurden.  Sieh'  meine  Abhandlung:  lieber  wahre 
und  falsche  Schaltknochen  in  der  Pars  orbUaria  des  Stirnbeins,  in  den  Sitzungs- 
berichten der  kais.  Akad.  42.  Bd.  1860.  —  Die  Stiftnaht  entsteht,  wenn  ganz  lose 
Knöchelchen,  wie  Stifte,  durch  die  Löcher  zweier  zusammmenstossender  Knochen- 
ränder gesteckt  sind.  Sie  soll  in  der  Naht  zwischen  Stirnbein  und  Stirnfortsatz 
des  Oberkiefers,  und  in  der  Verbindung  vom  ßasilartheil  des  Hinterhauptbeins  mit 
dem  Keilbeinkörper,  aber  nur  während  der  Verknöcherungsperiode  der  hier  be- 
findlichen Syncliondrose  bei  jugendlichen  Individuen  vorkommen. 

In  jüngeren  Lebensperioden  sind  die  wahren  Nähte  weit  weniger 
zackig  und  kraus,  als  im  reifen  Alter.  Von  dem  Zeitpunkte  an,  wo 
der  Schädel  nicht  mehr  wächst  (bald  nach  den  Zwanziger  Jahren), 
beginnen  die  Nähte  zu  verstreichen,  d.  h.  einer  wahren  Synostose 
zu  weichen,  wobei  die  Sittura  saglttalis  meistens  den  Anfang  macht 
(Henle);  die  Sutura  coronalis,  lambdoidea,  und  mastoidea  folgen 
nach,  und  war  eine  Stimnaht  vorhanden,  so  erhält  sie  sieh  wohl 
unter  allen  am  längsten.  Ich  habe  wenigstens  sehr  deutliche  Reste 
der  Stimnaht  noch  an  zwei  Greisenschädeln  meiner  Sammlung  (der 
eine  davon  über  100  Jahre  alt)  angetroflen,  an  welchen  alle  übrigen 
Nähte  bereits  eingegangen  waren.  Deshalb  fühlte  ich  mich  veranlasst, 
zu  sagen,  dass  die  Stirnnaht  die  letztverschmelzende  ist.  Th.  Simon 
dagegen  fand,  unter  76  Schädeln  mit  Stirnnaht,  13  vor,  an  welchen, 
während  die  übrigen  Nähte  noch  wohl  erhalten  waren,  die  Stirnnaht 
schon  theilweise  verstrichen  war  (Archiv  fiir  pathol.  Anat.  öS.  Bd). 
Damit  leuchtet  aber  keineswegs  die  Unmöglichkeit  ein,  dass  diese 
theilweise  obliterirte  Stirnnaht,  nicht  alle  übrigen  überdauern  könne. 
—  Auch  besitze  ich  zwei  Schädel  von  jungen  Männern,  an  welchen 
die  Sutura  mastoidea  vollständig  verknöchert  ist,  alle  anderen  Nähte 
aber  nur  Spuren    der   beginnenden  Synostose   zeigen.     Diese  Beob- 


§.  102.  Verbindungsarten  der  Scliädelknochen.  Fontanellen.  387 

achtung  bewog  mich,  in  den  früheren  Auflagen  dieses  Buches,  die 
Sutura  mastoidea  die  erstverknöchernde  zu  nennen. 

Es  ist  in  vergleichend  anatomischer  Hinsicht  von  Interesse,  dass  die  oben 
erwähnte  Reihenfolge  der  Verknöcherung  der  Nähte,  bei  den  Affen  und  Negern 
gerade  umgekehrt  wird,  indem  die  Kranznaht  zuerst,  und  die  Lambdanaht  zuletzt 
verstreicht.  Ja  es  tritt  das  Verstreichen  der  Kranznaht  beim  Neger  selbst  be- 
deutend früher  ein,  als  das  Verstreichen  der  Hinterhau ptnähtc  bei  den  Menschen 
weisser  Race.  Da  das  Verstreichen  der  Nähte  dem  Wachsthum  des  Schädels,  und 
somit  auch  der  Entwicklung  des  Gehirns,  natürliche  Schranken  setzt,  liegt  der 
Gedanke  nicht  fern,  dass  die  geringere  geistige  Entwicklungsfähigkeit  der  schwarzen 
Race,  dieser  anatomischen  Thatsache  nicht  ganz  fremd  ist.  Ob  es  aber  deshalb 
erlaubt,  den  Neger  für  den  menschenähnlichsten  Affen  zu  halten,  und  als  Lastthier 
zu  verwenden,  wie,  vor  kurzem  noch,  in  den  amerikanischen  Sclavenstaaten, 
werden  Philanthropen  und  Philosophen  zu  entscheiden  haben. 

lieber  embryonale  und  prämature  Obliteration  der  Nähte,  handelt 
Heschl,  in  der  Prager  Vierteljahrsschrift,  120.  und  123.  Bd.  —  Vor  Zeiten  hielt 
man  das  Verstreichen  der  Nähte  nicht  für  eine  Altersmetamorphose,  sondern  für 
einen  butu^  naturae,  welcher  sich  in  allen  Lebensperioden  einstellen  könne.  Man 
nannte  solche  Schädel  mit  verschmolzenen  Nähten :  capita  canirutf  weil  bei  Hunden, 
und  bei  Fleisclifressem  überhaupt,  die  Nähte  sehr  frühzeitig  eingehen-  Celsus  sagt 
von  den  Schädeln  ohne  Nähte :  ea  capita  ßrviissima  et  a  dolore  tutiasima  9unt, 
et  in  locis  aestuosis  facilinft  iiweniuntur.  Als  Aristoteles  den  ersten  nahtlosen 
menschlichen  Schädel  sah,  rief  er  voll  Erstaunen  Oau|xa  (miraculumj  aus. 

Wie  früher  hervorgehoben  wurde,  erscheint  jede  wahre  Naht 
nur  bei  äusserer  Ansicht  als  solche.  Bei  innerer  Ansicht  wird  sie, 
wegen  sehr  geringer  Entwicklung  von  Zacken  an  der  inneren 
Knochentafel,  als  eine  geschlängelte,  selbst  als  geradlinige  Harmonie 
gesehen.  Die  Harmonie  der  inneren  Tafel  verschmilzt  nun  auch 
regelmässig  früher  als  die  Sutur  der  äusseren.  Da  die  innere  Tafel 
der  Schädelknochen  spröder  und  brüchiger  ist,  als  die  äussere,  so 
wären  Nahtzacken  an  ihr,  fiir  die  Festigkeit  des  Schädels  eher 
schädlich  als  nützlich  gewesen. 

Indem  die  Schädelknochen  sich  aus  Ossilicationspunkten  ent- 
wickeln, welche  durch  concentrische  Anlagerung  von  Knochenmasse 
an  ihren  Rändern,  in  der  Fläche  wachsen,  so  müssen  ihre  Ecken 
und  Winkel  zuletzt  entstehen,  und  es  muss  eine  Periode  im  Bildungs- 
gange des  Schädels  geben,  wo  zwischen  den  sich  nur  berührenden 
Kreisseheiben  der  Schädelknochen,  nicht  verknöcherte,  und  durch 
Weichgebilde  verschlossene  Stellen  übrig  bleiben,  welche  Fonta- 
nellen —  Fonticuli  8.  Lacunae  —  genannt  werden. 

Es  liegt  deren  je  eine  an  jedem  Winkel  des  Seitenwandbeins, 
und  wir  zählen  somit  eine  Stirn-,  Hinterhaupt-,  Keilbein-  und 
Warze nfontanelle.  Die  zwei  ersten  sind  begreiflicher  W^eise 
unpaar;  die  zwei  letzten  paarig.  Die  Stirnfontanelle  ist  die 
grösste,  rhombisch  viereckig  (wie  die  Papierdrachen  der  Kinder), 
und  erhält  sich  bis  in   das  zweite  Lebensjahr.     An  grossen  Kinds- 


288  §•  109.  Yerbindangtuien  der  Scli&d«lknoclieD.  Fontanellen. 

köpfen  kann  sie  Jahre  zu  ihrer  gänzlichen  Verknöcherung  brauchen. 
Von  ihren  vier  Winkeln  ist  der  vordere  lang  und  spitzig,  der  hintere 
aber  stumpf.  Ersterer  reicht  beim  Embryo  bis  zur  Nasenwurzel 
herab.  Da  man,  bei  Neugeborenen  und  Kindern,  die  Bewegungen 
des  Gehirns  durch  die  Stirnfontanelle  sieht  und  fiihlt,  so  wurde  ihr 
schon  von  Plinius  der  Name  Vertex  palpitans  ertheilt,  und  da  die 
Aerzte  des  Mittelalters  die  Vorstellung  hatten,  dass  durch  die  Be- 
wegung des  Gehirns,  die  Lebensgeister  in  die  Nerven  getrieben 
werden,  glauben  Einige,  dass  sich  hieraus  die  sonderbare  Benennung 
Fonticulus  8.  Föns,  i,  e.  Quelle,  ableiten  lasse.  Dem  ist  jedoch  niclit 
so.  Diese  Ausdrücke  stammen  vielmehr  daher,  dass  man  vor  Zeiten, 
bei  gewissen  Gehirnkrankheiten,  das  Glüheisen  an  jener  Stelle  der 
Hirnschale  anwandte,  wo  im  Kinde  sich  die  Stirnfontanelle  befand, 
und  die  Brandwunde  längere  Zeit  offen  und  fliessend  erhielt,  um 
die  Humores  peccantes  des  Gehirns  herauszulassen.  Die  altdeutsche, 
jetzt  nur  mehr  von  den  Hebammen  gebrauchte  Bezeichnung  der 
Stimfontanelle,  als  Blättlein  (foUolum),  drückt  die  Form  derselben 
aus.  —  Die  Hinterhauptfontanelle  ist  um  die  Zeit  der  Geburt 
schon  durch  die  Spitze  der  Hinterhauptschuppe  fast  vollständig 
ausgefiillt.  Im  Embryo  erscheint  sie  dreieckig,  und  viel  kleiner,  als 
die  Stirnfontanelle.  —  Die  kleine  Keilbein fontanelle  am  Angulus 
sphenoidalü  des  Scheitelbeins,  und  die  Warzenfontanelle  (F.  mcLStci- 
deu8  8.  C(i88erü)  werden  auch  als  vordere  und  hintere  Seiten- 
fontanelle beschrieben.  Beide  verstreichen  entweder  schon  im 
Embryoleben,  oder  finden  sich  an  den  Schädeln  von  Neugeborenen 
nur  als  Spuren  vor. 

Die  Nähte,  so  wie  die  Stirn-  nnd  Hinterhanptfontanelle,  sind  in  geburts- 
hilflicher Beziehung,  für  die  Aosmittlang  der  Lage  des  Kindskopfes  von  hoher 
Wichtigkeit.  —  Die  durch  ein  weiches  Bindemittel  zoBammengehaltenen  Nahtränder 
der  Himschalenknochen  eines  zu  gebärenden  Kindes,  erlauben  femer  durch  ihre 
Uebereinanderschiebung  eine  Verkleinerung  des  Kopf^olumens  während  der  Geburt. 
Auch  sind  die  Nähte  für  das  Wachsthum  des  Schädels  eine  unerlässlich  noth- 
wendige  Bedingung.  Ihre  Wichtigkeit  in  letzterer  Beziehung,  wurde  zuerst  von 
Gibson  erkannt,  und  von  Sommer  ring  näher  beleuchtet.  Bei  der  Zusammen- 
setzung des  kindlichen  Schädels  aus  mehreren,  durch  Säume  von  weicherem  Stoff 
getrennten  Stücken,  wird  es  diesen  Stücken  möglich,  dem  durch  das  Wachsthum 
des  Gehirns  von  innen  nach  aussen  veranlassten  Drucke  nachzugeben,  und  sich 
durch  Anschuss  neuer  Knochenmasse  am  Rande  zu  verg^össem.  Die  Schädel- 
knochen wachsen  somit,  was  ihre  Zunahme  an  Breite  betrifft,  vorzugsweise  an 
ihren  Rändern,  während  die  Zunahme  an  Dicke,  durch  Ansatz  neuer  Knochen- 
masse an  die  Flächen  der  bereits  fertigen  Schädelknochenscheiben  erfolgt.  Würde 
der  Schädel  vom  Anfange  an,  aus  Einem  Knochengusse  bestehen,  so  wäre  die 
Verg^össerung  seiner  Peripherie  wenn  nicht  unmöglich,  doch  nur  auf  sehr  lang- 
same Weise  zu  erzielen. 

Die  zackigen  Nähte  halten  übrigens  die  Schädelknochen  so  fest  an  einander, 
dftu  durch  mechanische  Gewalten  erzeugte  Brüche  der  Hirnschale,  von  einem 
Schldelknochen  sich  in  den   nächstliegenden,   ohne    durch  die  Nähte  aufgehalten 


§.  lOS.  Üeb«n&hliire  Schfcdelknoohea.  289 

xvL  werden,  und  ohne  Richtungsftndemng  fortpflanzen,  und  Trennungen  der  Nähte 
ihrer  Länge  nach  (Diasteutes  «täurarumj,  zu  den  seltensten  Folgen  von  Verletzun- 
gen gehören. 

Hat  die  Entwicklung  des  Gehirns  ihren  Culminationspunkt  erreicht,  so 
werden  die  Nähte  überflüssig,  und  verschmelzen  durch  Synostose  von  innen  nach 
aussen  zu.  Dieses  Versch^ielzen  tritt  nicht  in  der  ganzen  Länge  der  Naht  mit 
einmal  ein,  sondern  schreitet  gewöhnlich  von  der  Mitte  gegen  die  Endpunkte  vor. 
Ist  der  Druck,  den  die  ^chädelknochen  von  innen  her  auszuhalten  haben,  bei 
raschem  Wachsthum  des  Gehinis,  oder  bei  Wasseransammlungen  in  der  Schädel- 
höhle ein  bedeutender,  und  kann  in  einer  gegebenen  Zeit  nicht  so  viel  Knochen- 
materie am  Rande  des  jugendlichen  Schädelknochens  abgelagert  werden,  als  die 
Ausdehnung  der  Suturalknorpel  erfordert,  so  werden  letztere  immer  breiter,  und 
können  nachträglich  durch  neue  Knochenkeme,  welche  sich  in  ihnen  bilden  und 
verg^ssern,  ausgefüllt  werden.  So  entstehen  die  im  nächsten  Paragraphe  erwähnten 
Nahtknochen.  —  Frühzeitige  Verschmelzung  der  Nähte,  bevor  noch  das  Gehirn 
seine  vollkommene  Ausbildung  erlangte,  bedingt  Mikrocephalie,  als  Gefährtin 
des  Blödsinns.  Einseitige  Verwachsung  der  Kranz-  oder  Lambdanaht  (letztere 
nur  Einmal  von  Keen  in  Philadelphia  an  einem  Negerschädel  beschrieben),  hat 
Schiefheit  des  Kopfes  zur  Folge,  mit  und  ohne  Hemmung  geistiger  Entwick- 
lung. Dante's  Schädel  war  ein  exquisiter  Schiefschädel.  Es  giebt  aber  viele 
Schiefschädel,  an  wehchen  eine  einseitige  Obliteration  querer  Schädelnähte  nicht  vor- 
liegt. Unter  175  von  Zuckerkandl  untersuchten  Schädeln  dieser  Art,  waren 
nur  sechs  mit  einseitiger  Verschmelzung  der  Kranznaht  behaftet.  Auch  treffen 
wir  häufig  Schiefschädel  schon  an  Nengebomen,  wo  noch  keine  Nähte  existiren. 
Wir  dürfen  also  annehmen,  dass  nicht  ausgeglichene  Druckwirkungen  während  der 
Geburt,  der  fraglichen  Asymmetrie  des  Schädels  häufiger  zu  Grunde  liegen,  als 
einseitige  Synostose  der  Nähte.  —  Vorschnelles  Verwachsen  der  Pfeilnaht  bedingt 
den  Sphenocephahis  (mit  einem  der  Pfeilnaht  entsprechenden  vorspringenden  Kiel). 
Derselbe  Process  in  der  kurzen  Sutura  spheno-parietalie,  liegt  dem  Sattelkopf 
(ClinocephaluA)  zu  Grunde,  mit  einer,  der  Richtung  der  Kranznaht  parallelen  Ein- 
schnürung des  Schädeldaches. 

Wo  eine  Synchondrose  an  der  Schädelbasis  vorkommt,  setzt  sich  der 
Knorpel  derselben  in  die  knorpelige  Grundlage  der  Schädelknochen  unmittelbar 
fort.  Der  Synchondrosenknorpel  ist  demnach  der  nicht  ossificirte  Theil  des  primor- 
dialen Schädelknorpels.  Entzieht  man  der  Basis  einer  jungen  und  frischen  Hirn- 
schale durch  Behandlung  mit  verdünnter  Salzsäure  die  Knochenerde,  so  bleibt 
eine  continuirliche  Knorpelschale  zurück,  an  welcher  keine  Nahtspuren  zu  entdecken 
sind.  Da  man  die  Schädelknochen  nur  an  macerirten  Köpfen  studirt,  erhält  man 
von  den  Synchondrosenknorpeln  keine  Anschauung. 

Einen  sehr  interessanten  Artikel  über  das  Verhältniss  der  Nähte  zur  Festig- 
keit des  Schädels,  enthält  die   Cyclopaedia  of  Anat,  and  Phynol,  „Crane'*. 


§.  103.  UeberzaMige  Schädelknoclieii. 

Die  in  normaler  Weise  auf  acht  beschränkte  Zahl  der  Schädel- 
knochen, wird  in  eben  nicht  seltenen  Ausnahmsfallen,  durch  das 
Auftreten  ungewöhnlicher  Knochen  vermehrt.  Die  Vermehrung  kann 
auf  zweifache  Weise  stattfinden.  Es  zerföllt  entweder  ein  normaler 
Schädelknochen,  wie  bereits  beim  Stirn-,  Scheitel-  und  Hinterhaupt- 
bein   bemerkt   \\nirde,    durch   abnorme   Nahtbildung   in    zwei    oder 

Hyrtl,  Lehrbach  der  Anatomie.  14,  Aufl.  19 


290  |.  108.  Ueb«nählige  8ch&d«lknochen. 

mehrere  Stücke;  oder  es  entwickeln  sich  in  den  Schädelnähten 
selbstständigc  Knochen,  welche  mit  dem  Namen  der  Naht-  oder 
Schaltknoehen,  auch  Zwickelbeine  (Ossicida  siUurarum,  War- 
miana,  triquetra,  üitercalaria ,  epactalia,  raphogenUnantia*)  belegt 
werden.  Die  Entstehung  der  Nahtknochen  datirt  aus  jener  Periode 
des  Embryolebens,  wo  die  Schädelknochen  noch  durch  weiche, 
häutige  oder  knorpelige  Zwischenstellen  von  einander  getrennt 
waren.  Werden  in  diesen  weichen  Interstitien  selbstständige  Ossi- 
ficationspunkte  niedergelegt,  welche  bis  auf  eine  gewisse  Grösse 
wachsen,  ohne  mit  den  anstossenden  Knochen  zu  verschmelzen,  so 
gehören  sie  in  die  Kategorie  der  überzähligen  Schädelknochen. 
Am  häufigsten  finden  sie  sich  in  der  Lambdanaht,  wo  ihre  Zahl, 
namentlich  bei  hydrocephalischcn  Schädelformen,  bis  in  das  Un- 
glaubliche wuchert.  Ich  habe  deren  mehr  als  300  in  der  Lambda- 
naht eines  Cretinschädels  gesehen.  Sie  wurden  aber  auch  in  jeder 
anderen  Naht,  einzeln  oder  mehrfach,  und  von  verschiedener  Grösse 
angetroffen. 

Die  Nahtknochen  können  aber  noch  auf  eine  zweite  Weise 
entstehen,  ohne  einen  selbstständigen  Verknöcheruugspunkt  zu  haben. 
Es  kann  nämlich  die  am  Nahtrand  eines  sehr  jungen  Hirnschalen- 
knochens sich  ansetzende  neue  Knochensubstanz,  welche  mit  dem 
Mutterknochen  noch  keine  innige  Verbindung  eingegangen  hat, 
durch  gesteigertes  Ilirnwachsthum  oder  Hydrocephalus,  vom  Mutter- 
knochen getrennt  und  abgelöst  werden,  auf  eigene  Rechnung  fort- 
wachsen,  und  als  selbstständiger  Knochen  perenniren.  Hieher  ge- 
hören vorzugsweise  die  bandartig  langen  Schaltknochen,  welche 
zwischen  Schläfeschuppe,  grossen  Keilbeinflügel,  und  Seitenwand- 
bein  anzutreffen  sind.  War  der  neue  Knochenanflug  am  Rande  des 
Mutterknochens  durch  Fissuren  unterbrochen,  so  werden,  statt  eines 
bandartig  langen  Schaltknochens,  mehrere  kleinere  nebeneinander 
liegend  vorkommen.  Näheres  hierüber  giebt  Zuckerkandl,  in  seinen 
Beiträgen  zur  Lehre  vom  menschlichen  Schädel,  im  4.  Bande  der 
Mitthcilungen  der  Wiener  anthropologischen  Gesellschaft. 

An  den  beiden  Ptmkton,  wo  die  Pfeilnaht  mit  der  Kranznaht  und  mit  der 
Lambdanaht  zasammenutösst,  erreichen  die  Schaltknochen  in  seltenen  Fällen  eine 
merkwürdige  Grösse,  und  nehmen  hier,  »o  wie,  wenn  sie  an  den  beiden  unteren 
Winkeln  des  Seitenwandbeins  vorkommen,  den  Namen  der  Fontanellknochen 
an.  Der  dreieckige  Fontanellknochen  des  Hinterhaupts,  war  schon  den  älteren 
Aerzten  (dem  originellen  Schweizer,  Phil.  H^chener,  der  sich  selbst  zum 
ParacfUut  latinisirte,  und  Monarcha  niedicortim  nannte)   bekannt,   und   wurde  von 

*)  Der  Name  O«  epadale  stammt  von  EJiaxrd;,  d.  h.  hinzugefügt,  daher 
epactae,  die  Schalttage.  —  Der  Name:  Oana  Wormiiana  (von  dem  dSnischen  Arzte 
Ole  Worm,  Caialogiu  Attuei  WomUttni,  Hafou  i^^^if;  gebührt  ihnen  nicht,  da  schon 
(ruintherus  Andornacensis  (In»tU.  anal.  Pari»,  1636)  diese  Knochen  kannte. 
Sie  heissen  deshalb  bei  Riolan:  Chtkula  ÄndemacL 


S.  104.  8ckfidelh6hle.  291 

ihm  und  Beinen  Anhängern  als  Heilmittel  gegen  die  fallende  Sucht  angewendet, 
woher  die  alte  Benennung:  Ottiadum  antiepüepticum.  —  Der  an  der  Spitze  der 
EUnterhauptschuppe  liegende  Schaltknochen  wird  bei  vielen  Nagern,  Wiederkäuern 
und  Fledermäusen,  zu  einem  constanten  Schädelknochen,  und  ist  in  der  yer- 
gleichenden  Anatomie  als  Os  irüerparietak  bekannt  (Oeoffroy).  lieber  die  Ver- 
schiedenheiten dieses  und  anderer  Schaltknochen  an  thierischen  Schädeln,  enthalten 
reiches  Material  W.  O  rti  6  erV  Abhandlungen  aus  der  menschl.  und  vergleichenden 
Anatomie,  Petersburg,  1852,  und  die  Memoiren  der  Petersburger  Akad.  1873. 
Nach  Tschudi*8  Angabe  kommt  ein  wahres  Ot  interparietale  bei  gewissen 
Stämmen  der  Ureinwohner  von  Peru,  den  Chinchas,  Ajmaras  und  Huankas,  con- 
stant  vor.  Der  grösste  obere  Theil  der  Hinterhauptschuppe  existirt  nämlich  bei 
Neugeborenen  dieser  Stämme  als  selbstständiger  Knochen,  bleibt  es  durch's  ganae 
Leben,  oder  verschmilzt  nur  selten,  nach  dem  4.  oder  5.  Lebensmonate,  mit  dem 
Reste  der  Schuppe.  Eine  über  der  Ldnea  semicirctdaris  superior  verlaufende  Furche 
soll  auch  bei  alten  Schädeln  dieser  Stämme,  an  die  früher  bestandene  Trennung 
der  Hinterhauptschuppe  erinnern.  An  den  Schädeln  aus  Atacama  und  Guatemala, 
welche  ich  besitze,  sehe  ich  weder  ein  Os  interparieUUe,  noch  eine  Furche  an  der 
Hinterhauptschuppe. 

Ueber  das  Vorkommen  der  Schaltknochen  gelten  folgende  Regeln: 

1 .  Sie  finden  sich  nur  an  der  Hirnschale,  und  zwar  häufiger  in  den  wahren, 
als  in  den  falschen  Nähten.  Im  Qesichtsskelet  sind  mir  nur  zwei  Fälle  von  Schalt- 
knochen vorgekommen,  1.  in  der  Kreuznafat  des  harten  Gaumens,  und  2.  in  der 
Verbindungsnaht  der  beiden  Nasenbeine. 

2.  Schädel  mit  grossen  Dimensionen  zeigen  sie  häufiger,  als  kleine. 

3.  Ihre  Grösse  variirt  von  Linsengrösse  bis  zum  Umfange  eines  Thalers, 
wie  ich  an  einem  Stimfontanellknochen  vor  mir  sehe. 

4.  Paarige  Schaltknochen  am  Schädeldach,  sind  häufiger  symmetrisch  gestellt, 
als  nicht,  jene  in  der  Fossa  teniporalv*  aber  weit  öfter  asymmetrisch  als  sym- 
metrisch. 

6.  Die  Schaltknochen  bestehen  gewöhnlich,  wie  die  übrigen  Schädelknochen, 
aus  zwei  Tafeln,  mit  intercalarer  Diploö.  Ihre  innere  Tafel  ist  meistens  kleiner, 
als  die  äussere,  wodurch  ihre  Einfügung  zwischen  ihren  Nachbarn  eine  keilartige 
wird.  Aus  demselben  Grunde  fallen  die  Nahtknochen  an  macerirten  Schädeln  gerne 
aus,    und  lassen  sich,   wenn  sie  nicht  ausfallen,   leicht  mit  dem  Meissel  ausheben. 

6.  Selten  finden  sich  Schaltknochen,  welche  bei  äusserer  Ansicht  des 
Schädels  nicht  zu  sehen  sind,  indem  sie  blos  der  inneren  Tafel  der  Scliädelknochen 
angehören.  Häufiger  dagegen  kommen,  besonders  in  der  Lambdanaht,  Schalt- 
knochen vor,  welche  nur  aus  der  äusseren  Knochentafel  bestehen.  Diese  Naht- 
knochen sind  dann  immer  sehr  klein.  —  Ein  bis  jetzt  als  einzig  dastehender  Fall 
von  einem  insularen  Schaltknochen,  welcher  nicht  in  einer  Fontanelle,  oder  im 
Laufe  einer  Naht  sich  entwickelte,  sondern  in  der  Area  eines  Schädelknochens 
liegt,  welcher  ihn  ringsum  einschliesst ,  wurde  von  mir  am  Seitenwandbein ,  und 
zwar  in  der  Nähe  seines  Margo  aquamoeuB  angetroffen  (Sitzungsberichte  der  kais. 
Akad.  60.  Bd.). 


§.  104.  ScMdelhölile. 

Wir  finden  die  Grösse  und  die  Gestalt  der  Schädelhöhle, 
Cavum  cranii,  in  verschiedenen  Lebensperioden,  wie  auch  bei  ver- 
schiedenen Individuen   und  Racen,   so  verschieden,   dass,   ohne  in 

19* 


292  §.  lOi.  dch&delh^hle. 

nutzlose  Details  einzugehen,  sieh  hierüber  nur  allgemeine  Be- 
stimmungen geben  lassen.  Man  kann  insofern  sagen,  dass  die 
Schädelhöhle  im  Verhältnisse  zur  Körpergrösse  um  so  geräumiger 
gefunden  wird,  je  jünger  das  Individuum ;  denn  die  Geräumigkeit 
der  Schädelhöhle  hängt  vom  Volumen  des  Gehirns  ab,  welches  im 
Embryonen-  und  Kindesalter  relativ  zur  Körpergrösse  prävalirt. 
Dass  die  Gestalt  des  Schädels  sich  im  Allgemeinen  nach  der  Masse 
und  der  Gestalt  des  Gehirns  richtet,  ist  wahr.  Unwahr  aber  ist  es/ 
dass  man  aus  der  Gestalt  des  Schädels,  aus  gewissen  Hervorragungeu 
desselben,  auf  die  Anlagen,  Fähigkeiten,  Tugenden  und  Laster  eines 
Menschen  schliessen  könne.  Das  allgemeine  Princip  der  Abhängig- 
keit der  Schädelform  vom  Gesammtgehirn  will  ich  nicht  bean- 
ständigen, aber  die  Functionen  der  einzelnen  Gehirntheile  sind  noch 
so  räthselhaft,  dass  eine  Lehre,  die  sich  anmasst,  durch  Abgreifen 
des  Schädels  die  geistigen  Anlagen  eines  Menschen  ausfindig  machen 
zu  wollen,  nur  von  Thoren  für  Thoren  erfunden  werden  konnte. 
Dieses  über  den  Werth  der  GalTschen  Schädellehre. 

Ein  durch  die  Länge  der  Pfeilnaht  senkrecht  geführter  Schnitt, 
und  ein  anderer  durch  die  Stirnhöcker  zum  Hinterhaupthöcker  nach 
hinten  gelegter,  geben  Ovallinien,  deren  schmales  Ende  gegen  die 
Stirne  zu  liegt.  Die  Schädelhöhle  hat  somit  die  Eiform.  Die  obere 
Schale  des  Eies  heisst  Ccdvaria  8,  Fomix  craniL  Die  untere  Schale 
(Basis  cranü)  zeigt  sich  bei  innerer  Ansicht,  in  drei  Gruben  ab- 
getheilt,  welche  von  vorn  nach  rückwärts  gezählt  werden. 

1.  Vordere  Schädelgrube.  Sie  liegt  unter  allen  am  höchsten, 
und  wird  durch  die  Partes  orbitaria^  des  Stirnbeins,  die  Lamina 
ct^brosa  des  Siebbeins,  von  welcher  man  nur  sehr  wenig  sieht,  und 
die  schwciifiirmigen  Flügel  des  Keilbeius  gebildet.  Der  scharfe 
hintere  Rand  der  letzteren,  trennt  sie  von  der  darauf  folgenden 
mittleren  Grube.  Aus  der  Mitte  ihres  Grundes  ragt  die  Crista  galli 
empor,  vor  welcher  das  Foramen  coecum  und  der  Anfang  der  Crista 
frontalis  liegen. 

2.  Die  mittlere  Schädelgrube  hat  die  Gestalt  einer  liegen- 
den Qc,  und  besteht  eigentlich  aus  zwei  seitlichen  Gruben,  welche 
durch  die  Sdla  turcica  mit  einander  in  Verbindung  stehen.  Sie  wird 
durch  die  oberen  und  die  beiden  Seitenflächen  des  Körpers  des 
Keilbeins,  so  wie  durch  die  Superficies  cerebralis  des  grossen  Keilbein- 
flügels, und  durch  die  obere  Fläche  der  Felsenpyraraide  zusammen- 
gesetzt.    Der  obere  Rand  der  Pyramide  trennt  sie  von  der 

3.  hinteren  Sehädelgrube,  welche  die  übrigen  an  Grösse 
übertrifft,  und  durch  das  Hinterhauptbein,  die  hintere  Fläche  der 
Felsentheile,  und  die  innere  Fläche  der  Partes  mastoideae  der  Schläfe- 
beine gebildet  wird. 


S.  104.  Schädelhöhle.  293 

Nebst  diesem  Gruben  findeu  sich  an  der  inneren  Oberfläche 
des  Schädelgehäuses  noch  Rinnen  oder  Furchen,  welche  entweder 
verzweigt  sind,  oder  keine  Nebenäste  abgeben.  Die  verzweigten 
Furchen  nehmen  die  arteriellen  und  venösen  Gefassramificationen 
der  harten  Hirnhaut  auf,  und  heissen  SuUi  arterioso-venosi.  Sie  ent- 
springen am  Foramen  spino8um  mit  einer  Hauptfurche,  welche  an  der 
Schuppe  des  Schläfebeins  sich  in  zwei  Nebenzweige  theilt,  deren 
vorderer  über  die  Gehirnfläche  des  grossen  Keilbeinflügels  zum 
Angtdus  sphenddalia  des  Seiten wandbeins  schief  emporsteigt,  während 
der  hintere  über  die  Schläfeschuppe  beiläufig  zur  Mitte  des  unteren 
Randes  des  Seitenwandbeins  zieht,  wo  dann  beide  durch  wieder- 
holte Theilung  allmälig  sich  verjüngen,  und  über  die  ganze  innere 
Fläche  des  Seitenwandbeins  bis  auf  das  Stirn-  und  Hinterhauptbein 
hin  ausstrahlen.  —  Die  unverzweigten  Furchen  sind  viel  breiter, 
als  die  verzweigten ,  enthalten  gewisse  Blutleiter  der  harten  Hirn- 
haut, und  heissen  deshalb  Suld  venosL  Wir  unterscheiden  folgende 
Sidci  v&iiod: 

a)  Der  grösste  dereelben  beginnt  als  Sulcus  longitudinalis  schon 
an  der  Crista  des  Stirnbeins,  geht  längs  der  Sutura  sagittalis  nach 
rückwärts,  dann  an  der  rechten  Seite  des  senkrechten  Schenkels 
der  Eminentia  cruciata  inteima  des  Hinterhauptbeins  nach  abwärts, 
und  setzt  sich  in  die  Furche  zwischen  den  rechten  Hälften  der 
beiden  Querlinien  der  Eminentia  cruciata  als  Sidcus  transversus  fort, 
streift  über  den  Warzenwinkel  des  Seitenwandbeins  nach  vorn,  und 
steigt  an  der  inneren  Fläche  des  Warzentheils  des  Schläfebeins 
herab,  um  sich  um  den  Processus  jugtUaris  des  Hinterhauptknochens 
herum  zum  Foramen  jugtdare  dextrum  zu  begeben. 

b)  Zwischen  den  linken  Hälften  der  beiden  Querlinien  der 
Eminentia  cruciata  interna  des  Hinterhauptbeins,  befindet  sich  ein 
ähnlicher,  aber  schmälerer  Venensulcus,  welcher  denselben  Weg  zum 
Foramen  jugidare  »inistrum  einschlägt. 

c)  Am  oberen  Rande  der  Pyramide  liegt  ein  constanter  Sulcus 
petrosus  auperior,  und 

d)  am  vorderen  und  hinteren  Rande  der  häufig  fehlende  Sulcus 
petrosus  anterior   ei  posterioi\ 

Am  skeletirten  Schädel  existirt,  zwischen  der  Spitze  der  Felsen- 
pyramide und  dem  Keilbeinkörper,  eine  zackige  Oeffnung,  welche 
im  frischen  Schädel  durch  Knorpel  ausgefüllt  ist,  sich  in  den, 
zwischen  hinterem  Winkel  der  Pyramide  und  Seitentheil  des  Hinter- 
hauptbeins befindlichen  Spalt  (Fissura  petroso-hasilarij^)  verlängert, 
und  Foramen  lacerum  anterius  genannt  wird. 

Die  durch  einen  senkrechten  Durchschnitt  des  Schädels  er- 
haltenen Hälften  desselben,  sind  fast  niemals  vollkommen  gleich. 
Diese  Ungleichheit  trifft  besonders  gewisse  Einzelfheiten,  und  zwar 


294  ^  l^'*'  Ailfemeine  B«merkiiBfMi  Aber  4ie  6««ichUkDOcheo. 

vorzugsweise  die  Graben  des  Hinterhauptbeins^  die  Sidci  venosi  und 
Foramina  jugularia,  welche  auf  der  rechten  Seite  stärker  ausgewirkt 
gefunden  werden.  Man  glaubte  mit  Unrecht  ^  den  Grund  dieser 
Asymmetrie  in  dem  häufigen  Liegen  auf  der  rechten  Seite  gefunden 
zu  haben,  wodurch  das  venöse  Blut,  den  Gesetzen  der  Schwere 
zufolge,  nach  dieser  Seite  gravitirt. 

E«  g^ewährt  dem  AnfXng^r  yiel  Nutjsen,  sich  beim  Studium  der  Sch&del- 
gruben  nicht  der  zerlegen  Schädelknochen ,  sondern  eines  horizontal  und  eines 
verticAl  aufgesigten  Schüdels  zu  bedienen,  und  an  der  Basis  und  den  Seitenwänden 
derselben,  die  einzelnen  Oeffhungen  und  Furchen  au&usuchen,  welche  in  der 
speciellen  Beschreibung  der  Schädelknochen  genannt  wurden.  Das  relatiTe 
LagerungsverhältnisB  dieser  Oeffnungen  und  Furchen,  wird  sich  für  die  Angaben 
der  später  folgenden  Doctrinen,  besonders  der  Gefäss-  und  Nervenlehre,  als  nütz- 
lich bewähren. 

Ausführliches  über  die  osteolog^chen  Verhältnisse  der  Schädelhöhle,  über 
Nähte,  Fontanellen,  Geschlechts-  und  BacenverschiedenheiteD,  enthält  mein  Hand- 
buch der  topog^phischen  Anatomie,  6.  Aufl.  1.  Bd.  Wien,  1871. 


b)  Ghesichtsknochen. 
§.  105.  Allgemeine  Bemerkungen  über  die  Gfesichtsknochen. 

Das  Gesichtsskelet  wird  durch  vierzehn  Knochen  construirt. 
Dreizehn  derselben  (die  paarigen  Oberkiefer-,  Joch-,  Gaumen-, 
Nasen-,  Thränen-,  Muschelbeine,  und  der  unpaarige  Pflugschar- 
knochen), sind  zu  einem  unbeweglichen,  an  der  Hirnschale  be- 
festigten Ganzen  verbunden,  welches  die  zur  Unterbringung  der 
Gesichts-  und  Geruchswerkzeuge  erforderlichen  Höhlen  enthält. 
Unter  diesen  liegt  der  vierzehnte  Gesichtsknochen  (der  Unterkiefer), 
welcher  mit  dem  übrigen  Knochengerüste  des  Gesichts  in  keiner 
Verbindung  steht,  und  nur  während  des  Zubeissens,  mit  seiner  Zahn- 
reiho  jene  des  Oberkiefers  trifft.  Er  wird  an  der  Basis  des  Hirn- 
schädels, und  zwar  am  Schläfebein,  beweglich  durch  ein  Gelenk, 
suspendirt. 

Da  das  Pflugscharhein  um  eine  Zeit,  wo  noch  alle  übrigen  Kopfknochen 
getrennt  von  einander  bestehen,  schon  mit  dem  Siebbein  zu  verwachsen  beginnt, 
so  kannte  es,  mit  Portal  und  Lieutaud,  als  ein  Theil  dieses  Knochens  an- 
geMchen  werden,  wodurch  die  Zahl  der  Gesichtsknochen  auf  dreizehn  reducirt 
würde,  von  welchen  die  sechs  paarigen  das  Oberkiefergerüste  bilden,  welchem  der 
einzige  unpaare  Knochen  des  Unterkiefers  beweglich  gegenübersteht. 

Der  Oberkieferknochen  verhält  sich  zum  Gesichte,  wie  das 
vereinigte  Keilhinterhauptbein  zum  Himschädel.  Er  steUt  einen 
wahren  Basilarknochen  des  fixen  Oberkiefergerüstes  dar,  welcher 
sich    mit    allen    übrigen   Knochen    dieses   Gerüstes   verbindet,   und 


§.  106.  Oberkieferbein.  295 

ihnen  an  Grösse  bei  weitem  überlegen  ist.  Alle  Gesichtsknochen, 
welche  Verbindungen  mit  dem  Oberkiefer  eingehen,  sind  nur  des 
Oberkiefers  wegen  da,  und  dienen  ihm  auf  zweifache  Weise; 

1.  Sie  bezwecken  entweder  eine  Vermehrung  und  Kräftigung 
seiner  Verbindungen  mit  der  Hirnschale,  und  befestigen  dadurch 
den  wankenden  Thron  dieses  Gesichtsmonarchen,  damit  er  dem 
Druck  widerstehe,  welchen  er  von  seinem  unruhigen  und  viel- 
bewegten Antagonisten  —  dem  Unterkiefer  —  beim  Kauen  zu  er- 
dulden hat.  Solche  Gesichtsknochen  sind  das  Jochbein  und  das 
Nasenbein.    Ich  nenne  sie  deshalb  Stützknochen  des  Oberkiefers. 

2.  Oder  sie  dienen  zur  VergrÖsserung  gewisser  Flächen  des 
Oberkiefers.  Ilieher  sind  zu  zählen  alle  übrigen  kleineren  und 
dünneren  Gesiehtsknochen :  Gaumenbein ,  untere  Nasenmuschel, 
Thränenbein,  welche  Knochen  ich  als  Supplemente  des  Ober- 
kiefers zusammenfasse.  Die  Stützknochen  werden  einen  bedeuten- 
den Grad  von  Stärke  besitzen  müssen,  dessen  die  Supplementknochen 
leicht  entbehren  können.  Erstere  werden  kurze  und  dicke,  letztere 
flache  und  dünne  Knochen  sein. 

Die  Verbindungen  der  Gesichtsknochen  mit  den  Schädelknochen,  werden 
durch  stark  gesälinte  Nähte,  und  die  Verbindiuigen  derselben  unter  einander, 
grösstentheils  durch  Anlagerungen  bewerkstelligt. 

Von  den  paarigen  Gesichtsknochen  genügt  es,  nur  Einen  zu  beschreiben. 


§.  106.  Oberkieferbein. 

Das  Oberkieferbein,  Maxüla  superior,  Os  maxülare  superius, 
behauptet  durch  seine  Grösse  und  seine  Armirung  mit  Zähnen  als 
passives  Kauwerkzeug,  den  Vorrang  unter  seinen  Ge&hrten  und 
Nachbarn,  welche  mit  ihm  die  obere  fixe  Gesichtshälfte  aufzubauen 
haben.    Wir  unterscheiden  an  ihm  einen  Körper,  und  vier  Fortsätze. 

Der  Körper  besitzt,  wenn  man  sich  alle  Fortsätze  weg- 
genommen denkt,  die  Gestalt  eines  Keils.  Um  mit  Auf  rech  thaltung 
seiner  Grösse  und  Form,  eine  gewisse  Leichtigkeit  zu  verbinden, 
musste  er  hohl  sein.  Die  Höhle  heisst  Sinits  maxUlaris  s,  Antrum 
Highmori,  hat  ganz  die  Gestalt  des  Körpers  des  Oberkiefers,  und 
wird  nur  an  seiner  unteren  Wand  zuweilen  durch  niedrige  Quer- 
leisten in  fächerförmige  Gruben  abgetheilt.  Diese  Höhle  war  aber 
allen  Anatomen  schon  lange  vor  Nathana^l  Highmor  bekannt. 
Sie  führt  nur  den  Namen  dieses  praktischen  Arztes  in  Oxford,  weil 
er  in  seiner  Disquisitio  anat.  corp,  hum.  Hagae ,  1651,  über  die 
chirurgischen  Krankheiten,  namentlich  Fisteln  derselben,  viel  Nütz- 
liches gesagt  hat. 


296  §.  iOC.  Oberkieferbein. 

Der  Körper  des  Oberkiefers  besitzt  drei  Flächen  oder 
Wände: 

1.  Die  äussere  oder  Gesichtsfläche  (Supet^ficies  facialis) 
ist  von  vorn  nach  hinten  convex,  und  durch  eine  gegen  den 
gleich  zu  erwähnenden  Jochfortsatz  ansteigende  glatte  Erhabenheit, 
in  eine  vordere  und  hintere  Hälfte  getheilt.  Die  vordere,  welche 
etwas  eingesunken  aussieht,  zeigt  unter  ihrem  oberen  Rande  das 
Forameii  infraorbitale,  und  unter  diesem  eine  seichte  Grube,  wie  einen 
Fingereindruck  der  Knochenwand  (Fovea  maxälaris  s.  canina).  Die 
hintere  erscheint  convex,  und  wird  nach  hinten  durch  eine,  mit 
vielen  Löchern  durchbohrte  Rauhigkeit  (Taherodtas  maxillaris)  be- 
grenzt. Die  Löcher  derselben  sind  theils  der  Ausdruck  der 
schwammigen  Textur  des  Knochens,  theils  dienen  sie  als  Zugänge 
zu  GefUss-  und  Nervenkanälen,  und  heissen  in  diesem  Falle  Fw^a- 
mina  maxillaria  superiora,  obwohl  jedes  Loch  des  Oberkiefers  auf 
diese  Bezeichnung  Anspruch  hat. 

2.  Die  obere  oder  Augenhöhlenfläche,  Superficies  orhitalis 
s,  Planum  orbitale,  ist  dreieckig,  und  nach  vorn  und  aussen  etwas 
abschüssig.  Von  ihren  drei  Rändern  trägt  nur  der  innere  dort  kurze 
Nahtzacken,  wo  er  sich  mit  dem  unteren  Rande  der  Lamina  paptj- 
racea  des  Siebbeins  verbindet.  Der  vordere  ist  scharf,  der  hintere 
abgerundet.  Der  vordere  bildet  einen  Theil  des  unteren  Augen- 
höhlenrandes (Margo  infraorbitalis).  Der  hintere  erzeugt  mit  dem, 
über  ihm  liegenden,  unteren  Rande  der  Augenhöhlenfläche  des 
grossen  Keilbeinflügels,  die  untere  Augengrubenspalte  (Fissura 
orbitalis  inferior).  Von  ihm  geht  eine  Furche,  die  sich  allmälig  in 
einen  Kanal  (Canalis  infraorbitalis)  umwandelt,  nach  vorwärts.  Der 
Canalis  infraorbitalis  streicht  unter  der  Augenhöhlenflächc  des 
Körpers  des  Oberkiefers  nach  vorn,  um  am  Foramen  infraorbitale 
auszumünden. 

Der  Canalis  infraorbitalig  führt,  kurz  vor  seiner  Ausmündnng  am  Foramen 
mfraorbüale,  nach  abwärts  in  ein  Nebenkanälchen  (Canalis  alveolaris  anterior), 
welches  Anfang  zwischen  den  beiden  Lamellen  der  Facialwand  des  Oberkiefer- 
körpers, später  aber  als  Furche  an  der,  der  HighmorshÖhle  zusehenden  Fläche 
dieser  Wand,  gegen  die  Wurzeln  der  Schneidezähne  herabläuft.  Dieses  Kanälchen 
kann,  so  wie  die  mehrfibohen  Canales  alveolares  posteriores,  welche  von  den  Foramina 
maxillaria  stiperiora  aasgehen,  bei  äusserer  Untersuchung  des  Knochens  nicht  gesehen 
werden,  und  muss  mit  Hammer  und  Meissel  verfolgt  werden.  Die  Varietäten  des 
Canalis  infraorbitalis  beschreibt  erschöpfend  G ruber,  in  den  Mem.  de  VÄcad.  de 
SU-PÜersbourg,  XXL 

3.  Die  Nasenfläche  (Superficies  nasalis)  zeigt  die  grosse 
OeflFnung  der  Highmorshöhle,  und  vor  dieser  den  weiten  Sulcus 
lacrimalis  als  senkrechten  Halbkanal. 

Die  vier  Fortsätze  des  Oberkiefers  wachsen  nach  oben,  aussen, 
unten,  und  innen,  aus  dem  Körper  heraus.   Sie  sind: 


§.  106.  Oberkieferbein.  297 

1.  Der  I^ocesmis  nascUü  s.  frontcdis.  Durch  die  tiefgekerbte 
Spitze  dieses  Fortsatzes,  verbindet  sich  das  Oberkieferbein  direct 
mit  der  Hirnschale  an  der  Parsnasalis  des  Stirnbeins.  Sein  vorderer 
Rand  ist  an  der  oberen  Hälfte  geradlinig,  und  stösst  an  das  Nasen- 
bein ;  die  untere  concave  Hälfte  dieses  Randes  hilft  mit  demselben 
Rande  des  gegenständigen  Oberkieferbeins,  den  vorderen  Nasen- 
eingang (Apertura  pijrifoi^mis  narium)  bilden.  Der  hintere  Rand 
stösst  an  das  Thränenbein.  Die  äussere  Fläche  wird  durch  eine 
aufsteigende  Fortsetzung  des  Margo  infraxyrbitalis  in  eine  vordere, 
ebene,  das  knöcherne  Nasendach  bildende,  und  in  eine  hintere, 
kleinere,  rinnenförmig  gehöhlte  Abtheilung  (Thränensackgrube, 
Fossa  sacci  lacrymdlis)  getheilt,  welche  sich  nach  abwärts  in  den 
Sulcus  lacrymaiis  der  Nasenfläche  des  Oberkieferkörpers  continuirt. 
Die  innere  Fläche  deckt  mit  ihrem  oberen  Felde  einige  Zellen  des 
Siebbeinlabyrinthes,  und  wird  weiter  unten  durch  eine  vom  unteren 
Ende  des  Sulcua  lacrijmalis  nach  vorn  laufende  rauhe  Leiste  (Crista 
turhinalis)  zur  Anlagerung  der  unteren  Nasenmuschel ,  quer  ge- 
schnitten. Zuweilen  Hegt,  einen  Daumen  breit  über  der  Crista 
turbinalis,  noch  eine  rauhe,  lineare  Anlagerungsspur  des  vorderen 
Endes  der  unteren  Siebbein muschel,  als  Crista  ethmoidalis. 

2.  Der  nach  aussen  gerichtete,  stumpfpyramidale  und  niedrige 
Processus  zt/gomaticiis  dient  dem  Jochbein  als  Ansatzstelle,  und  er- 
scheint durch  eine  dreieckige,  zackenbesetzte  Fläche,  wie  abge- 
brochen. Zuweilen  zeigt  diese  Fläche  eine  unregelmässige  OeflFnung 
von  verschiedener  Grösse,  durch  welche  man  in  die  Highmorshöhle 
hineinsehen  kann. 

3.  Der  horizontal  nach  innen  gerichtete,  viereckige  und  starke 
Processus  palatlniis,  kehrt  seine  obere,  glatte,  concave  Fläche  der 
Nasenhöhle,  und  seine  rauhe,  untere  Fläche  der  Mundhöhle  zu, 
und  bildet  mit  dem  der  anderen  Seite,  den  vorderen  grösseren  Theil 
des  harten  Gaumens.  Sein  innerer  und  hinterer  Rand  sind  ge- 
zackt, ersterer  überdies  aufgebogen,  und  nach  vorn  zu  höher  werdend. 
Durch  den  Zusammenschluss  der  inneren  Ränder  des  rechten  und 
linken  Processus  palatinus,  entsteht  die  mediane  Crista  nasalis,  welche 
nach  vorn  in  die  Spina  nasalis  anterior  (vorderer  Nasenstachel)  aus- 
läuft. Einen  halben  Zoll  hinter  der  Spitze  der  Spina  nasalis  anterior 
liegt  an  der  oberen  Fläche,  dicht  am  inneren  Rande  derselben,  ein 
Loch,  welches  in  einen  schräg  nach  innen  und  abwärts  laufenden 
Kanal  (Canalis  na^o-palatinus)  führt.  Die  Kanäle  des  rechten  und 
linken  Gaumenfortsatzes  convergiren  somit,  vereinigen  sich,  und 
münden  an  der  unteren  Fläche  des  harten  Gaumens,  durch  eine 
gemeinschaftliche  Oefihung  aus,  welche  in  der,  die  Gaumenfortsätze 
verbindenden  Naht,  hinter  den  Schneidezähnen  liegt,  und  deshalb 
Foramen  incisivum  s.  paUuinum  anteritis  genannt  wird. 


298  6.  106.  Oberkieferbein. 

4.  Der  Processus  cdveolaris  wächst  aus  dem  Körper  des  Ober- 
kiefers nach  unten  heraus.  Wir  finden  ihn  bogenförmig  gekrümmt, 
mit  äusserer  Convexität.  Er  besteht  aus  einer  äusseren  schwächeren, 
und  inneren  stärkeren  Platte,  welche  ziemlich  parallel  laufen,  und 
durch  Querwände  so  unter  einander  zusammenhängen,  dass  acht 
Zellen  (Alveoli,  Diminutiv  von  cdveus,  Trog,  auch  Vertiefung) 
für  die  Aufnahme  eben  so  vieler  Zahnwurzeln  entstehen.  Die  Form 
der  Zellen  richtet  sich  nach  der  Gestalt  der  betreffenden  Wurzeln. 
Die  wellenförmige  Krümmung  der  äusseren  Platte  des  Fortsatzes 
(Jttga  (dveclaria),  lässt  die  Lage  und  Tiefe  der  Alveoli  absehen. 
Man  kann  am  eigenen  Schädel  die  Juga  recht  deutlich  fUhlen,  wenn 
man  den  Finger  über  dem  Zahnfleisch  des  Oberkiefers  hin  und  her 
föhrt.  Da  die  Jitga  alveolaria  der  Dicke  der  Zahnwurzeln  ent- 
sprechen müssen,  so  erfährt  der  Zahnarzt  aus  derselben  Unter- 
suchung am  Lebenden,  ob  ein  Zahn  leicht  oder  schwer  zu  nehmen 
ist,  und  richtet  darnach  das  Maass  der  anzuwendenden  Kraft. 

Man  begegfnet  am  Oberkiefer  auch  ansser^wöbnliche  Nähte  oder  Naht- 
spuren,  welche  als  Ueberbleibsel  embryonaler  Bildangsznstände  des  Knochens  an- 
snsehen  sind,  oj  Vom  Foramen  rnfraorhitale  snm  gleichnamigen  Margo,  und  sn- 
weilen  durch  das  ganze  Planum  orbitale  laufend,  b)  Von  der  Spitze  des  Proceatut 
frcnUüU  gegen  den  unteren  Augenhühlenrand,  wodurch  das  hintere,  die  Thränen- 
sackgrube  bildende  Stück  des  Fortsatzes  selbststündig  wird  (selten),  c)  Hinter  den 
Schneidezähnen,  quer  durch  das  Foramen  incUivtim  gehend.  Meckel  sieht  in 
dieser  letztgenannten  Nahtspur,  eine  Andeutung  zur  Isolirung  des,  bei  den  Säuge- 
thieren  existirenden ,  und  die  Schneidezähne  tragenden  O«  incuintm  «.  inter- 
nutxälare,  dessen  Begrenzung,  wenn  die  auch  an  der  vorderen  Seite  des  Körpers 
bei  dreimonatlichen  Kmbryonen  gesehene  Fissur  permanent  bliebe,  vollständig  würde. 

Am  inneren  Rande  der  Augenhöhlenfläche  des  Oberkiefers,  bemerkt  man 
zuweilen  die  Cellnlae  orhüariae  Ffalleri,  welclie  zur  Completirung  des  Siebbein- 
labyrinthes verwendet  werden.  —  Die  Highmorshöhle  wird  durch  eine  Scheide- 
wand, wie  beim  Pferde,  getheilt,  oder  fehlt  gänzlich,  wie  Morgagni  gesehen  zu 
haben  versichert.  —  Die  Altedi  der  Backen-  oder  Mahlzähne  communiciren  mit 
der  Kieferhöhle,  und  die  Spitzen  der  Zalmwurzeln  ragen  frei  in  letztere  hinauf.  — 
Das  Forauien  infraorbUaie  wird  doppelt,  wie  bei  einigen  Quadrumanen.  —  Die 
beiden  Canale»  naso-palatini  verschmelzen  im  Herabsteigen  nicht  zu  einem  unpaaren 
medianen  Kanal,  sondern  bleiben  getrennt,  so  dass  ein  doppeltes  Foramen  incUicum 
gegreben  ist  Jedes  derselben  kann  in  eine  vordere  grössere  und  hintere  kleinere 
OefTnung  zerfallen.  —  Selten  tritt  zwischen  zwei  getrennt  bleibenden  Oanalea 
tuuo-palaäni,  ein  unpaarer  medianer  Kanal  auf,  welcher  nach  oben  an  die  Nasen- 
Scheidewand  stösst,  und  daselbst  blind  endigt  —  Nicht  ungewöhnlich  erscheint 
das  Forameti  inei«icum  als  Endmündung  einer  geräumigen,  erbsengprossen  Höhle, 
in  welche  Höhle  sich  die  beiden   Canale*  noMO-palatini  öffnen. 

Greht  ein  Zahn  verloren,  so  schwindet  dessen  Alceolu»  durch  Resorption, 
welcher  Schwund  im  hohen  Alter  den  ganzen  zahnlosen  Alveolarfortsatz  an  beiden 
Kinnbacken  trifft 

Das  Oberkieferbein  heisst  bei  Hippokrates  /,  svoj  yvx6o;,  zum  Unterschied 
von  r^  xfltrw  "fvaBo;,  Unterkiefer. 


S.  107.  Jochbein.  299 


§.  107.  Jochbein. 

Das  Jochbein^  Os  zygomaticum,  wird  auch  Oa  molare  und 
jugcUe  genannt,  bei  älteren  Anatomen  subocuiare,  hypopium,  zygcma, 
auch  pudicumy  der  Schamröthe  wegen.  Bei  Hippokrates  heissen 
die  Jochbeine  xuxXot  wpoadixou,  weil  die  Gegenden,  welche  diese 
paarigen  Knochen  im  Gesichte  einnehmen,  sich  als  harte  und  rund- 
liche Hügel  anfühlen.  Aus  demselben  Grunde  nannten  die  Alten 
diese  Klnochen :  poma  facid,  welcher  Name  sich  im  französischen 
pommette  erhalten  hat. 

Das  Jochbein  hat,  nach  Verschiedenheit  seiner  Grösse  und  der 
Stellung  seiner  Flächen,  einen  sehr  bestimmenden  Einfluss  auf  die 
Gesichtsform.  Wir  erkennen  in  ihm  einen  massiven  Strebepfeiler, 
durch  welchen  der  Oberkiefer  mit  drei  Schädelknochen,  —  dem 
Stirn-,  Schläfe-  und  Keilbein  —  verbunden,  und  in  seiner  Lage 
befestigt  wird,  daher  sein  griechischer  Name  Zygoma,  von  ^uyöo), 
einjocheu,  verbinden,  und  sein  lateinischer :  Oa  jugale,  von  dem  aus 
jungo  gebildeten  jugum,  Joch.  Wir  haben  somit  auch  an  diesem 
Knochen  drei  Fortsätze  zu  unterscheiden,  welche  nach  jenen  Schädel- 
knochen, zu  welchen  sie  gehen,  benannt  werden.  Der  nach  oben 
gehende  Stirnbein fortsatz  muss  der  stärkste  sein,  da  der  Druck 
beim  Kauen  und  Beissen  von  unten  her  auf  den  Oberkiefer  wirkt, 
und  folglich  dem  möglichen  Ausweichen  dieses  Knochens  nur  durch 
eine  starke  Stütze  am  Stirnbein  entgegengewirkt  werden  konnte.  Der 
nach  hinten  gerichtete  Joch  fort  »atz  bildet  mit  dem  entgegen- 
wachsenden Jochfortsatze  des  Schläfebeins,  eine  knöcherne  Brücke 
(Pons  8,  Arcus  zygomalicus),  welche  die  Schläfengrube  horizontal 
überwölbt,  und  ihrer,  bei  verschiedenen  Menschenracen  verschie- 
denen Richtung,  Bogenspannung,  und  Stärke  wegen,  als  anatomischer 
Racencharakter  benützt  wird.  Beide  Jochbrücken  stehen  am  Schädel, 
wie  horizontale  Henkel  an  einem  Topfe,  —  daher  der  alte  Name 
Ansäe  capitis.  Der  Keilbein  fortsatz,  welcher  sich  mit  dem 
vorderen  Rande  der  Orbitalfläche  des  grossen  Keilbeinflügels  ein- 
zackt, ist  eigentlich  nur  eine  nach  hinten  gerichtete  Zugabe  des 
Stimfortsatzcs,  und  der  schwächste  von  allen  dreien. 

Ein  eigentlicher  Körper  mit  kubischen  Dimensionen  fehlt  am 
Jochbeine.  Wir  nennen  den  mit  dem  Jochfortsatze  des  Oberkiefers 
durch  eine  dreieckige,  rauhgezackte  Stelle  verbundenen  Theil  des 
Knochens:  den  Körper,  welcher  ohne  scharf  gezeichnete  Grenzen 
in  die  Fortsätze  tibergeht.  —  Die  Flächen  des  Knochens,  welche 
eben  so  gut  den  Fortsätzen,  wie  dem  Körper  angehören,  werden 
nach  ihrer  Lage  in  die  Gesichts-,  Schläfen-,  und  Augenhöhlen- 
fläche  eingetheilt.    Von  der  Augenhöhlenfläche  zur  Gesichtsfläche 


300  §.  108.  Nasenbein. 

läuft  durch  die  Substanz  des  Knochens  der  Cancdis  zygomaticus 
facialis.  Von  ihm  zweigt  sich  meistens  ein  feiner  Nebenkanal  ab, 
welcher  zur  Schläfenfläche  des  Jochbeins  führt.  Es  findet  sich 
aber  an  wandelbarer  Stelle,  gewöhnlich  hinter  dem  CanaUs  zygo- 
maticm  facialis,  noch  ein  zweiter,  das  Jochbein  durchsetzender  Kanal, 
als  Canalis  zygomaticus  temporalis,  welcher  von  der  Augenhöhle  in 
die  Schläfengrube  führt.  —  Der  Rand,  welcher  die  Augenhöhlen- 
und  Gesiehtsfläche  des  Jochbeins  trennt,  ergänzt  die  äussere  Um- 
randung der  Orbita. 

Das  Jochbein  entspricht  dem  hervorragendsten  Theil  der  Wange,  ifuda 
(von  mando,  wie  »caln  von  ncando).  Seine  Verwendung  als  Stützknochen,  nnd 
seine  vorspringende,  durch  mechanische  Schädlichkeiten  von  aussen  her  leicht  zu 
treffende  Lage  erfordert  es,  dass  das  Jochbein  der  stärkste  Knochen  der  oberen 
Hälfte  des  Gesichtsskeletes  ist.  Es  schliesst  deshalb  auch  keine  Höhle  ein.  -* 
Das  Jochbein  variirt  nur  wenig,  und  fehlt  in  äusserst  seltenen  Fällen  (Dumeril, 
Meckel),  oder  wird  durch  Quemähte  in  zwei  (Saudi fort),  ja  selbst  in  drei 
Stücke  (Spix)  getheilt  An  dem  der  Schläfe  zugekehrten  Rande  des  Knochens 
befindet  sich  häufig  eine  stumpfe  Ecke  oder  Zacke,  als  Proceamu  marginalis.  — 
Das  rechte  Jochbein  wird  gewöhnUch  etwas  stärker  gefunden,  als  das  linke,  in 
Folge  des  stärkeren  Gebrauches  des  rechten  Kaumuskels.  Nicht  g^z  selten  fehlt 
der  Canalis  zygomaticu»  facialis,  wo  dann  der  aus  der  Augenhöhle  in  die  Scliläfen- 
grübe  führende  Kanal  um  so  stärker  entwickelt  angetroffen  wird.  —  Bei  mehreren 
Edentaten  und  beim  Tenrec  (C^ntet^s  fcaftdainsj  fehlt  der  Amis  zygomaHais 
gänzlich. 


§.  108.  l!fasenl)eiii. 

Das  Nasenbein,  Os  nasi  s,  nasale,  bildet  mit  seinem  Gespan 
den  knöjphernen  Nasenrücken.  Beide  Nasenbeine  sind  zwischen  die 
oberen  Enden  der  Stirnfortsätze  der  Oberkiefer  eingeschoben,  und 
stossen  mit  ihren  inneren  Rändern,  welche  die  Spi^ia  nascdis  des 
Stirnbeins  decken,  an  einander.  Sie  stellen  längliche,  aber  ungleich- 
seitige Vierecke  dar,  und  sind  an  ihrem  oberen  Rande  dicker  als 
am  unteren.  Der  sehr  dicke,  obere,  kurze,  und  zackige  Rand,  greift 
in  die  Incisura  nasalis  de«  Stirnbeins  ein ;  der  scharfe,  untere,  längere 
Rand  ist  frei,  und  begrenzt  die  Incisura  pyriformis  narium  nach 
oben.  Die  vordere  glatte  Fläche  ist  von  oben  nach  unten  flach 
8attehV)rmig  gehöhlt;  die  hintere  rauhe  Fläche  sieht  gegen  die 
Nasenhöhle.  Ein  oder  zwei  Löcher  (Foramina  nasalia)  durchbohren 
das  Nasenbein. 

Die  oberflächliche  Lage  der  Nasenbeine  setzt  sie  den  Brüchen  mit  Eindruck 
ans.  Letzterer  wird,  da  man  der  hinteren  Fläche  der  Knochen  von  der  Nase  aus 
beikann,  leicht  zu  heben  sein. 

Kein  Knochen  des  Gesichts  erreicht  seine  volle  Ausbildung  so  frühzeitig, 
und  ist  im  neugeborenen  Kinde  schon  so  sehr  entwickelt,  wie  die  Nasenbeine. 
Sie  sind  äusserst  selten  einander  vollkommen  gleich,  verschmelzen  am  Pfottentotten- 


$.  109.  OauAenbcin.  301 

Schädel  theilweise  oder  ganz  mit  einander  (Affenähnlichkeit),  oder  fehlen  einseitig 
oder  beiderseits,  und  werden  dann  durch  grössere  Breite  des  Stimfortsatzes  des 
Oberkiefers  ersetzt.  Zuweilen  schiebt  sich  in  die  Naht  zwischen  beiden  Nasen- 
beinen  in  kurzer  Strecke  der  vordere  Rand  der  Papierplatte  des  Siebbeins  ein. 
An  einem  Schädel  meiner  Sammlung  findet  sich  ein  von  oben  her  zwischen  beide 
Nasenbeine  eingekeiltes  dreieckiges  Knöchelchen  vor,  welches  mit  dem  vorderen 
Rande  der  Spina  mualia  des  Stirnbeins  verwachsen  ist  fHyril,  Über  Schaltknochen 
am  Nasenrücken,  österr.  Zeitschrift  für  prakt  Heilkunde,  18G1,  Nr.  49).  —  Mayer 
erwähnt  noch  zweier  accessorischer ,  kleiner  Knöchelchen,  welche  unter  hundert 
Schädeln  2 — 3  Mal,  in  einem  dreieckigen  Ausschnitte  zwischen  den  unteren  Rändern 
der  Nasenbeine  vorkamen,  und  die  er  für  Analoga  der  bei  einigen  Säugethieren 
(Maulwurf)  vorkommenden  Rüsselknochen  hält  (Archiv  für  physiol.  Heilkunde. 
1849).  Mayer  nennt  sie  Ossa  wUemtualia,  Sie  scheinen  mir  besser  mit  dem 
Oa  praeitasale  einiger  Edentaten  verglichen  zu  werden. 

Van  der  Hoeven,  über  Formabweichungen  der  Nasenbeine,  in  der  Zeitschrift 
für  wiss.  Zool.  1861. 


§.  109.  &auiiienl)ein. 

Das  zarte,  und  seiner  Gebrechlichkeit  wegen,  selten  im  unver- 
sehrten Zustande  zu  erhaltende  Gaumenbein,  Os palatinum,  bildet 
insofern  einen  Supplementknochen  des  Oberkiefers,  als  es  die  Nasen- 
fläche und  den  Gaumenfortsatz  dieses  Knochens  in  der  Richtung 
nach  hinten  vergrössert.  Da  aber  Nasenfläche  und  Gaumenfortsatz 
des  Oberkiefers  zu  einander  im  rechten  Winkel  stehen,  so  muss 
auch  das  Gaumenbein  aus  zwei  rechtwinklig  zusammengefügten 
Stücken  —  Pars  peiyendicularis  et  horizontalis  —  zusammen- 
gesetzt sein. 

a)  Die  dünne  und  länglich-viereckige  Pars  perpendicuiaris  be- 
sitzt an  ihrer  inneren  Fläche  zwei  horizontale,  rauhe  Leisten:  die 
untere,  stärker  ausgeprägte  (Crüta  turbinalis)  für  die  Anlage  der 
unteren  Nasenmuschel;  die  obere,  schwächere  (Crista  ethmoidalis) 
für  die  Concha  ethmoidalis  inferior.  Die  äussere  Fläche  legt  sich 
an  die  Superficies  nasalis  des  Oberkieferkörpers  hinter  der  OefFnung 
der  Highmorshöhle  an.  Der  vordere  Rand  verlängert  sich  zu 
einem  dreieckigen  düimen  Fortsatze,  der  sich  von  hinten  her  über 
die  Oefi'nung  der  Highmorshöhle  schiebt,  und  dieselbe  verengert. 
Der  hintere  Rand  zeigt  den  Sulcus  pterygo-palatinus,  darum  so  ge- 
nannt, weil  er  mit  dem,  am  vorderen  Rande  des  Processus  ptertf- 
(joideus  des  Keilbeins  befindlichen,  ähnlichen  Sulciis,  den  (Janalis 
ptertjgo'palatinns  bilden  hilft,  zu  dessen  vollkommener  Schliessung 
auch  die,  am  hinteren  Winkel  des  Oberkieferkörpers  befindliche, 
seichte  Längenfurche  concurrirt.  Vom  oberen  Rande  entspringen 
zwei  Fortsätze,  welche  durch  eine  tiefe  Incisur  von  einander  ge- 
trennt   werden.     Die    Licisur    wird    durch    die    untere    Fläche    des 


302  §.  109.  Oa«menb«in. 

Keilbeinkörpers  zu  einem  Loche  (Foramen  spheno-paIctHnum) ,  von 
drei  Linien  Querdurchmesser,  geschlossen.  Der  vordere  Fortsatz 
wird  zur  Bildung  der  Augenhöhle  einbezogen,  und  heisst  deshalb 
Proce89U8  orbücUü.  £r  schmiegt  sich  zwischen  den  inneren  Rand 
der  Augenhöhlenfläche  des  Oberkiefers,  und  die  Lamina  papyracea 
des  Siebbeins  hinein,  und  enthält  sehr  häufig  2 — 3  kleine  CMvlae 
pcdatincie,  welche  die  hinteren  Siebbeinzellen  decken  imd  schliessen. 
Der  hintere  Fortsatz,  Processus  sphenoidaUs ,  krümmt  sich  gegen 
die  untere  Fläche  des  Keilbeinkörpers,  und  überbrückt  die  daselbst 
erwähnte  Längenfurche  zu  einem  Kanal  (Canalis  spheno-paUaUnus) 
».  97,  a. 

h)  Die  Pars  horizontalis  ist  zwar  stärker,  aber  kleiner,  als  die 
senkrechte  Platte  des  Gaumenbeins.  Viereckig  von  Gestalt,  hilft  sie 
mit  den  Gaumenfortsätzen  des  Oberkiefers  den  harten  Gaumen, 
Palatum  osseum,  bilden.  Der  innere,  zur  zackigen  Verbindung 
mit  dem  gleichnamigen  Fortsatze  des  gegenseitigen  Gaumenbeins 
dienende  Rand,  wirft  sich  zu  einer  Crista  auf,  welche  sich  nach 
vom  in  die,  durch  die  Gaumenfortsätze  des  Oberkiefers  gebildete 
Crista  nasalis  fortsetzt.  Der  vordere  Rand  stösst  an  den  hinteren 
Rand  des  Gaumenfortsatzes  des  Oberkiefers,  der  äussere  dient 
zur  Verschmelzung  mit  der  Pars  perpendundaris,  und  der  hintere, 
halbmondförmige,  bildet  mit  dem  der  anderen  Seite  die  Spina  mucdis 
posterior,  als  hinteres  Ende  der  Crista  nasalis. 

An  der  Verschmelzungsstelle  des  senkrechten  und  wagrechten 
Stückes  entspringt  der  nach  hinten  gerichtete,  und  in  diie  Hncisura 
pterygoidea  des  Keilbeins  sich  einkeilende,  Processus  pf/ramiddlie.  Er 
zeigt  uns  die  Fortsetzung  des  Sulcus  pterygo-palatintis,  welcher  zu- 
weilen ganz  von  Knochenmasse  umschlossen,  und  in  diesem  Falle, 
ohne  Beihilfe  des  Processus  ptei*ygoideus  des  Keilbeins  (und  des 
Oberkiefers)  in  einen  Kanal  umgewandelt  wird.  Dieser  Kanal  er- 
zeugt noch  zwei  Nebenkanäle,  welche  den  Pyramidenfortsatz  nach 
abwärts  durchbohren,  so,  dass  der  ursprünglich  und  oben  einfache 
Catwlis  pterygo-palatinus,  im  Herabsteigen  in  drei  Kanäle  sich  spaltet, 
welche  an  der  unteren  Fläche  des  Processus  pyramidalis,  also  am 
harten  Gaumen,  durch  die  drei  Foramina  palatina  posteriora  aus- 
münden, von  welchen  das  vordere,  als  Mündung  des  Hauptkanals, 
das  grösste  ist. 

Die  Autoren  erwähnen  keine  erheblichen  Verschiedenheiten  an  den  Gaumen- 
beinen.  Ich  besitze  jedoch  einen  Fall,  wo  die  Pars  horizontali»  des  Gaumenbeins 
mit  der  perpetidicularu  durch  Naht  verbunden  ist,  und  einen  zweiten,  an  welchem 
die  sehr  schmalen  Parte»  horizontales  zugleich  so  kurz  sind,  dass  sie  sich  einander 
nicht  erreichen,  sondern  ein  nach  hinten  gerichteter  Fortsatz,  der  Processus  palalini 
beider  Oberkiefer ,  sich  zwischen  sie  einschiebt ,  und  den  hinteren  Nasen* 
Stachel  bildet 


§.  110.  ThrSnenb«iB.  —  $.  111.  Untere  Nasenmaschel.  303 


§.  110.  Thranentein. 

Der  kleinste  und  zarteste  aller  Kopfknochen  ist  das  Thränen- 
bein,  Os  lacrymale  (auch  Oa  unguis^  von  seiner  Gestalt  und  Dünne, 
wie  die  Platte  eines  Fingernagels).  Dasselbe  dient  theils  der  Papier- 
platte des  Siebbeins,  theils  der  Thräneusackgrube  des  Oberkiefer- 
beins als  Supplement.  Ein  längliches  Viereck  bildend,  liegt  das 
Thränenbein  am  vordersten  Theile  der  inneren  Augenhöhlenwand, 
zwischen  Stirnbein,  Papierplatte  des  Siebbeins,  und  Stirnfortsatz  des 
Oberkiefers.  Seine  äussere  Fläche  wird  durch  eine  senkrechte 
Leiste  (Crista  lacrymalia)  in  eine  vordere  kleinere,  und  hintere 
grössere  Abtheilung  gebracht.  Erstere  stellt  eine  Rinne  vor,  welche 
durch  das  Heranrücken  an  den  Stirnfortsatz  des  Oberkiefers,  welcher 
eine  ähnliche  Rinne  besitzt,  die  Thräneusackgrube  (Fossa  sacci  lacry- 
rnaUs)  vervollständigt,  deren  Fortsetzung  der  absteigende  Thränen- 
Nasenkanal  (Canalis  nasO'lacrymaUs)  ist.  Die  Orista  lacrymalis  ver- 
läuft nach  unten  in  den  gekrümmten  Thränenbeinhaken  (Hamvlus 
lacrt/malts)  aus,  welcher  in  den  scharfen  Winkel  zwischen  Stim- 
fortsatz  und  Augenhöhlenfläche  des  Oberkiefers  eingefugt  wird, 
und  nicht  selten  fehlt.  Die  innere  Fläche  deckt  die  vorderen 
Siebbcinzellen. 

Das  Thränenbein  ist  beim  Neugeborenen,  nach  den  Nasenbeinen  der  ent- 
wickeltste Gesichtsknochen.  —  Bei  Alteren  Indiyidaen  erscheint,  in  Folge  seniler 
Knochenatrophie,  das  Thränenbein  häufig  durchlöchert.  Die  Durchlöcherung  kann 
so  weit  gedeihen,  dass  der  Knochen  siebartig  durchbrochen  aussieht  Ich  besitze 
einen  Fall,  wo  das  Thränenbein  durch  eine  senkrechte  Naht  in  zwei  Stücke  zer- 
fällt. Grub  er  beschrieb  ein  merkwürdiges  Unicnm  (Müller^  s  Archiv,  1848),  wo 
das  fehlende  Thränenbein,  durch  eine  grosse  Anzalil  blättchenartiger  Fortsätze 
1)enachbarter  Knochen  ersetzt  wurde.  Er  hat  auch  das  Verdienst,  ein  von 
E.  Rousseau  in  den  AnneUes  des  aciencea  naturelles ^  1829,  beschriebenes  Knöchel- 
chen, welches  zuweilen  den  oberen  Theil  der  äusseren  Wand  des  Thränennasen- 
kanals  bildet,  neuerdings  sorgfältig  auf  sein  Vorkommen  untersucht  zu  haben. 
Hierüber  handelt  auch  Luschka,  in  MiiUer'a  Archiv,  1858,  und  Mayer,  ebenda, 
1860.  —  Zuweilen  bildet  das  Thränenbein  mit  der  Lamina  papyracea  des  Sieb- 
beins ein  Continuum. 


§.  111.  Untere  ÜTasenmuscheL 

Ganz  in  der  Nasenhöhle  verborgen,  und  deshalb  bei  äusserer 
Besichtigung  des  Schädels  kaum  zu  sehen,  ist  die  untere  Nasen- 
muschel, Concha  inferior  (Os  turbinatum  8,  spongiosum,  Bucdrmm, 
Concha  Veneris).  Sie  haftet  an  der  inneren  Wand  des  Oberkiefer- 
körpers, und  gleicht  an  Gestalt  einer  Teichmuschel,  deren  Schloss 
nach  oben,  und  deren  convexc  Seite  nach  innen   gegen   die  Nasen- 


304  §.  Itt.  PflvgseliarWB. 

Scheidewand  gerichtet  ist.  Da  bereits  am  Siebbein  beiderseits  zwei 
Muscheln  bekannt  wurden,  so  wird  die  untere  l^asenmuschel ,  die 
keinen  Bestandtheil  eines  anderen  Knochens  ausmacht,  mit  Keclit 
als  freie  Nasenmuschel  bezeichnet  werden  können.  Sie  ist  dünn, 
leicht,  porös,  und  am  unteren  Rande,  welcher  etwas  nach  aussen 
und  oben  aufgerollt  erscheint,  gewöhnlich  dick  und  wie  aufgebläht. 
Der  obere  Rand  giebt  dem  in  die  Oeffnung  der  Highmorshöhle 
sich  einhäkekiden  ProcessuLS  maxülaris  den  Ursprung.  Vor  diesem 
findet  sich  der  gegen  das  Thränenbein  aufsteigende,  und  den  Canalis 
luuO'lacrymalis  theilweise  bildende  Processus  lacrymalis.  Ein  mit  dem 
Siebbeinhaken  sich  verbindender  Processus  ethmoidcdis  ist  unconstant. 
Das  vordere  und  hintere  zugespitzte  Ende  verbindet  sich  mit  der 
Orista  turhinalis  des  Oberkiefers  und  des  Gtiumenbeins. 

Die  anteren  Nasenmuscheln  verwachsen  frühzeitig  mit  den  Knochen,  zu 
welchen  sie  Fortsfttse  schicken,  und  wurden  deshalb  Mher  ftlr  Theile  anderer 
Gesichtsknochen  ^halten:  des  Thrlnenbeins  (Win slow),  des  Gaumenbeins  (San- 
torini),  des  Siebbeids  (Fallopia,  Hunold).  —  Der  alte  Name  der  Nasen- 
mnschel,  als  Stanitzelbein,  ist  eine  triviale  Uebersetzung  von  Manica  IRppo- 
craU»,  eine  Filtrirtüte  der  Apotheker,  mit  welcher  Casserius  diesen  Knochen 
verglich. 

Der  Mensch  hat  unter  allen  Säugethieren  die  am  wenigsten  entwickelten 
Nasenmuscheln.  Welch'  enormen  Entwicklungsgrad  dieser  Knochen  durch  Ast- 
bildung, Einrollung  und  Faltung,  erreichen  kann,  zeigt  das  Muschelbein  der  ge- 
meinen Ziege,  des  Ameisenbären,  des  Seehundes,  und  einiger  Beutelthiere.  —  Die 
Verwendung  der  Nasenmuscheln  lässt  sich  leicht  verstehen.  Die  Nasenhöhle  be- 
sitEt  eine  Schleimhautauskleidung,  welche  der  Träger  der  Geruchsnerven  ist, 
und  sich  in  Falten  legen  muss,  um  in  dem  engen  Räume  der  Nasenhöhle,  der 
mit  Riechstoffen  geschwängerten  Luft  eine  grosse  Oberfläche  darzubieten.  Diese 
Falten  würden  beim  Ein-  und  Ausathmen  durch  die  Nase  hin-  imd  herschlottem, 
und  öfters  den  Luftweg  ganz  verlegen,  wenn  sie  nicht  durch  knöcherne  Stützen 
in  einer  bestimmten  Lage  und  Richtung  erhalten  würden.  Diese  Stützen  sind  die 
Nasenmuscheln.  Einen  anderen  Zweck  erfüllen  sie  nicht,  und  der  genannte  er- 
klärt hinlänglich  ihre  Schwäche.  —  Angebomer  Mangel  der  unteren  Nasenmuscheln 
(und  des  SiebbeinlabyrinUis)  wurde  von  mir  beobachtet.  Sitzungfsberichte  der  kais. 
Akad.  1859. 


§.  112.  Pflugscharbein. 

Wie  die  Nasenmuscheln  ist  auch  das  Pflugscharbein,  Os 
romerisy  ganz  in  die  Nasenhöhle  einbezogen.  Dasselbe  erscheint  als 
ein  unpaarer,  flacher,  rautenfiirmiger  Knochen,  welcher  den  unteren 
Theil  der  knöchernen  Nasenscheidewand  bildet.  Es  ist  selten  voll- 
kommen plan ,  sondern  meistens  auf  die  eine  oder  andere  Seite 
etwas  ausgebogen.  Sein  oberer  Rand  weicht  in  die  beiden  Flügel 
(Alae  vomeris)  auseinander,  welche  'die  Orista  sphenoidalis  zwischen 
sich  fassen.  Der  untere  Rand  steht  auf  der  Crista  nascUis  auf;  der 


S.  US.  Unterkiefer.  305 

vordere,  längste,  verbindet  sich  an  seinem  oberen  Segmente  mit 
der  Lamina  perpendtadaris  des  Siebbeins,  an  seinem  unteren  mit 
dem  viereckigen  Nasenscheide wandknorpel ;  —  der  hintere,  kür- 
zeste, steht  frei,  und  theilt  die  hintere  Nasenöfihung  in  zwei  seit- 
liche Hälften  —  Choanae.  Das  frühzeitige  Verwachsen  des  Pflug- 
scharbeins mit  der  senkrechten  Platte  des  Siebbeins  ist  der  Grund, 
warum  es  von  Santorini,  Petit  und  Lieutaud,  nicht  als  selbst- 
ständiger Gesichtsknochen,  sondern  als  Theil  des  Siebbeins  be- 
schrieben wurde. 

Die  römische  Pflugschar,  vomer  oder  vomis,  war  keine  gekrümmte  MetaU- 
platte,  wie  es  unser  Pflugeisen  ist,  sondern  plan,  wie  das  Pflugscharbein.  Sie  machte 
nur  Furchen,  warf  aber  die  ausgehobene  Erde  nicht  um,  wie  unser  Pflug.  Daa 
griechische  uvvt;  für  Pflugscharbein,  stammt  von  ü;  C^^^Jf  Schwein,  welches 
Thier '  mit  dem  Rüssel  die  Erde  aufwühlt,  und  dadurch  die  Veranlassung  zur 
Erfindimg  des  nützlichsten  aller  Werkzeuge  —  des  Pfluges  —  gab. 

Im  Kinde  besteht  die  Pflugschar  aus  zwei,  durch  ein  Knorpelblatt  ver- 
bimdenen,  dünnen  Knochenlamellen.  Das  Knorpelblatt  setzt  sich  ununterbrochen  in 
den  Nasenscheidewandknorpel  fort.  Im  Erwachsenen  findet  sich  noch  ein  Best  des 
Knorpels  zwischen  den  beiden  Lamellen  des  Vomer.  Schrumpft  dieser  Knorpel 
beim  Trocknen  macerirter  Knochen  ein,  so  kann  dadurch  Verbiegung,  selbst 
Bruch  des  Vomer  entstehen.  —  Zwischen  den  Älae  vomeris  und  der  unteren 
Fläche  des  Keilbeinkörpers,  existirt  auch  im  Erwachsenen  ein  Loch,  welches  einen 
Ast  der  Rachenschlagader  durch  den  Vomer  hindurch  zum  .Nasenscheidewand- 
knorpel gelangen  lässt  (Tourtucd,  der  Pflug^charknorpel,  im  Rheinischen  Corre- 
spondenzblatt,  1845,  Nr.  10  und  11.) 


§.  113.  Unterkiefer. 

Der  stärkste  und  massivste  unter  allen  Schädelknoehen,  ist  der 
Unterkiefer,  Maxilla  inferior,  welcher  seiner  Bewegung  beim 
Kauen  wegen,  auch  Mandihula  genannt  wird,  von  mando.  Er  bildet 
die  untere,  bewegliche  Hälfte  des  Gesichtsskelets,  und  stellt  gewisser- 
massen  die  in  der  Mittellinie  verwachsenen  Arme  des  Kopfes  dar. 
Er  übertrifft  nicht  blos  an  Stärke  alle  Schädelknochen,  sondern 
geht  auch,  seiner  Entwicklung  nach,  allen  übrigen  Gesichtsknochen 
voran.  Seine  Beschreibung  ist  sehr  einfach  und  leicht  verständlich. 
Man  theilt  ihn  in  den  Körper  und  in  die  beiden  Aeste  ein. 

1.  Das  parabolisch  gekrümmte,  zahntragende  Mittelstück  des 
Knochens,  heisst  Körper.  In  der  Mitte  der  vorderen  Fläche  des- 
selben bemerkt  man  die  Protuberantia  mentalis,  als  die  Stelle,  wo 
die  im  Neugebornen  noch  getrennten  Seitenhälften  des  Unterkiefers, 
mit  einander  verwachsen.  Einen  Zoll  weit  von  der  Protuberantia 
nach  aussen,  liegt  das  Kinn  loch  (Foramen  mentale  e.  maxülare  an- 
terius),  unter  welchem  die  nicht  immer  gut  ausgeprügte  Linea  obliqwi 
exteima  zum  vorderen  Rande  des  Astes  hina^fin« 

Hyrtl,  Lehrbuch  der  Anatomie.  14.  Aufl. 


306  $.  118.  Unterkiefer. 

hinteren  Fläche  ragt  der  ein-  oder  zweispitzige  Kinnstachel 
(Spina  mentalis  interna)  heraus.  In  einiger  Entfernung  nach  aussen 
von  ihm,  beginnt  die  Linea  obliqua  interna  8,  mylo-hyoidea ,  deren 
Richtung  mit  der  äusseren  so  ziemlich  übereinstimmt.  Der  untere 
Rand  ist  dick  und  stumpf,  und  unter  dem  Kinnstachel  mit  zwei 
rauhen  Eindrücken  flir  den  Ursprung  der  vorderen  Bäuche  der 
Maecidi  digastrid  versehen;  der  obere  ist  gefächert,  und  besitzt 
16  Zahnzellen  (Alveoli),  welche  den  Zahnwurzeln  entsprechend  ge- 
formt sind.  Da  die  Wurzeln  der  Schneide-  und  Eckzähne  des  Unter- 
kiefers nicht  konisch  sind,  wie  jene  des  Oberkiefers,  sondern  seitlich 
comprimirt  erscheinen,  so  nehmen  sie  weniger  Raum  in  Anspruch, 
und  der  obere  Rand  des  Unterkiefers  wird,  so  weit  er  die  genannten 
Zähne  trägt,  einen  kleineren  Bogen  bilden,  als  der  entsprechende 
Theil  der  Alveolarfortsätze  beider  Oberkiefer.  Aus  diesem  Grunde 
stehen  auch  bei  geschlossenen  Kiefern  die  Schneidezähne  des  Unter- 
kiefers hinter  jenen  des  Oberkiefers  zurück. 

2.  Die  Aeste  steigen  vom  hinteren  Ende  des  Körpers  schräg 
an.  Ihre  äussere  Fläche  ist  ziemlich  glatt,  die  innere  hat  in 
ihrer  Mitte  das  durch  ein  kleines  vorstehendes  Knochenschüppchen 
(Zünglein,  Lingula)  geschützte  Foramen  maxülare  internum,  als  An- 
fang eines,  durch  den  Körper  schief  nach  vorn  laufenden,  und  am 
Foramen  mentale  endigenden  Kanals  (CancUis  inframaxiUaris  8.  alveo- 
larie  inferior).  Vom  Foramen  maxülare  internum  läuft  eine  Rinne 
(Stdcue  mylo'hyoideus)  schief  nach  abwärts,  welche  ziemlich  genau 
der  Richtung  des  Canalie  inframaxälaris  entspricht.  Der  hintere 
längste  Rand  bildet,  mit  dem  unteren  Rande  des  Körpers,  den 
Winkel  des  Unterkiefers  (Angidus  m/ixillae).  —  Am  oberen  Rande 
des  Astes  bemerken  wir  einen  Halbmondausschnitt,  durch  welchen 
eine  vordere  und  hintere  Ecke  desselben  entsteht.  Erstere  ist  flach 
und  zugespitzt,  und  heisst  Processus  coronoideus ,  —  letztere  ist  der 
Processus  condyloideus ,  welcher  auf  einem  verschmächtigten  rund- 
lichen Halse  (Collum),  ein  querovales  überknorpeltes  Köpfchen  (Capi- 
iulum  s,  Condylus)  trägt,  welches  in  die  Fossa  glenoidalis  des  Schläfe- 
beins passt.  Der  vordere  Rand  geht  ohne  Unterbrechung  in  die 
Linea  obliquu  externa  über. 

Der  Unterkiefer  erscheint  zuweilen  am  Kinne  sehr  breit  (mdchoire  d^diiej, 
zuweilen  mehr  weniger  zugespitzt,  heim  sogenannten  Bockskinn  (nach  L a v a t e r 
ein  Zeichen  von  Hang  zum  Geiz). 

Der  Canalü  mfraftiaxUlaris  variirt  durch  Verlauf  und  Weite  in  verschie- 
denen Lebensepochen  desselben  Individuums.  Beim  neugeborenen  Kinde  streicht 
er  nahe  am  unteren  Rande  des  Körpers  des  Unterkiefers  hin,  und  ist  sehr  ge- 
räumig. Im  Jünglinge  und  Manne  nimmt  er  die  Mitte  des  Knochens  ein,  und 
zieht  nach  der  Richtung  der  Linea  ofdiqua  interna.  Im  Greise,  nach  Verlust  der 
21ähne,  IKuft  er  dicht  unter  dem  zahnfHcherlosen  oberen  Hände  des  Körpers  hin, 
and  erscheint  bedeutend   enger.    Doppelte   Foramma  tneiUaUa  auf  beiden  Seiten, 


§.  114.  KinnbAcken-  and  Kiefergelenk.  307 

kommen  in  meiner  Schädelsammlung  mehnnal  vor.  —  Den  Processus  coronoideua 
einen  Kronen fortsatz  zu  nennen,  ist  zwar  Üblich,  aber  nicht  etymologisch 
richtig,  da  der  Name  von  xopcovr),  Krähe,  nicht  von  Corona  stammt  Er  gleicht 
bei  gewissen  Thieren  einem  Krähenschnabel.  Allerdings  aber  kann  man  ihn 
Krohnenfortsatz  nennen,  da  Krähe  auch  Krohne  geschrieben  wird.  So  sagt 
Coriolan:  Der  Krohnenflug  zur  Linken  scheint  Unheil  mir  zu  bringen.  Ich 
will  noch  anführen,  dass  bei  griechischen  Autoren  xopth^  auch  den  Haken  an 
beiden  Enden  eines  Bogens  (Armbrust)  bedeutet,  an  welchem  die  Schnur  befestigt 
wird.  Allerdings  hat  die  IncUura  semilunaris,  zusammt  dem  Kronenfortsatz  des 
Unterkiefers,  eine  Aehnlichkeit  mit  jenem  Haken. 

Der  Ausdruck  Kinnlade  fQr  Unterkiefer,  beruht  auf  Lade,  im    Mönchs- 
latein  ladula,  t.  e.  eitto  Hve  area,  qwie  denUt  indudü. 


§.  114.  Kiiml)aGken-  oder  Eiefergelenk. 

Das  einzige  Gelenk  am  Kopfe  ist  das  Kinnbackengelenk 
(Articxdatio  temporo-maxälaris).  Man  kann  es  als  ein  freies  Gelenk 
ansehen^  denn  es  besitzt  eine  nach  drei  auf  einander  senkrechten 
Richtungen  gestattete  Beweglichkeit.  Der  Unterkiefer  kann  nämlich 
1.  auf-  und  abwärts,  2.  nach  beiden  Seiten,  und  3.  vor-  und  rück- 
wärts bewegt  werden.  Die  Bewegung  in  verticaler  Richtung  ist 
die  umfönglichste.  Bei  den  ersten  beiden  Bewegungsarten,  wenn 
ihre  Extension  eine  geringe  ist,  verlässt  das  Köpfchen  des  Unter- 
kiefers die  Fossa  glencidalis  des  Schläfebeins  nicht;  bei  der  Be- 
wegung des  Kiefers  nach  vor-  und  rückwärts,  tritt  es  aber  auf 
das  Tuhercidum  articulare  hervor  (Schubbewegung),  und  gleitet  wieder 
in  die  Fovea  glenoidalis  zurück,  welche  Bewegung  auch  bei  weitem 
Oeffneu  und  darauf  folgendem  Schliessen  des  Mundes  stattfindet, 
wobei  jedoch  das  Köpfchen  des  Unterkiefers  nicht  einfach  nach 
vor-  und  rückwärts  gleitet,  sondern  sich  zugleich  um  seine  Quer- 
axe  dreht. 

Bei  sehr  weitem  Aufsperren  des  Mundes  wird  der  Gelenkkopf  selbst  vor 
das  Tuhercidum  artictdare  treten,  fiber  welches  er  dann  nicht  mehr  zurfick  kann, 
nnd  der  Kiefer  somit  verrenkt  ist.  Man  versteht  sonach,  wie  man  sich  durch 
aus^ebiges  Gälinen  in  anatomischen  Vorlesungen  den  Kiefer  verrenken  kann,  xmd 
wie  sich  eine  Frau,  welche  eine  grosse  Birne  am  dicken  Ende  anbeissen  wollte, 
denselben  Unfall  zuziehen  konnte,  wie  die  Oomptes  rendtu  der  Pariser  Akademie 
vor  einiger  Zeit  berichtet  haben. 

Eine  fibröse,  sehr  dünne,  weite  und  laxe  Kapsel  umgiebt  das 
Gelenk,  dessen  Höhle  durch  einen  ovalen,  am  Rande  dicken, 
in  der  Mitte  seiner  Fläche  dünnen,  zuweilen  hier  selbst  durch- 
brochenen Zwischenknorpel  (CartUago  interarticularü)  in  zwei  über 
einander  liegende  Räume  getrennt  wird,  welche  besondere  Sy novialhäute 
besitzen.  Der  dicke  Rand  des  Zwischenknorpels  ist  mit  der  fibrösen 
Kapsel  verwachsen.    Er  selbst  folgt  da    ~  ~  leokr, 


308  S*  115>  Zangenbein. 

kopfes^  tritt  mit  ihm  aus  der  Fossa  glenoidcdü  auf  das  Tuberculum 
hervor,  und  wieder  zurück,  und  dämpft  die  Gewalt  der  Stösse,  welche 
die  dünnwandige  und  durchscheinende  Gelenkgrube  des  Schläfebeins, 
bei  kräftigem  Zubeissen,  durch  das  Zurückprallen  des  Unterkiefer- 
kopfes von  der  Höhe  des  Tuberculum  in  die  Fossa  glenoidalis,  aus- 
zuhalten hat.  Seine  wichtigste  Leistung  besteht  aber  darin,  dass  er 
die  Zahl  der  Contactpunkte  zwischen  Kopf  des  Unterkiefers,  Fossa 
glenoidalis,  und  Tuberculum  des  Schläfebeins  vermehrt,  während, 
wenn  der  Zwischenknorpel  nicht  vorhanden  wäre,  die  genannten 
Gebilde  sich,  ihrer  nicht  congruenten  Krümmung  wegen,  nur  an 
Einem  Punkte  berühren  könnten,  was  durch  die  Einschaltung  dieses 
knorpeligen  Lückenbüssers  vereitelt  wird.  —  Das  Gelenk  besitzt 
zwei  Seitenbänder.  Das  äussere  ist  kurz,  stark,  mit  der  Gelenks- 
kapsel verwachsen,  und  geht  von  der  Wurzel  des  Processus  zygo- 
maticus  des  Schläfebeins,  schief  nach  hinten  und  unten  zur  äusseren 
Seite  des  Unterkieferhalses;  das  innere  übertrifft  das  äussere  an 
Länge,  ist  aber  zugleich  schwächer,  steht  mit  der  Kapsel  nicht  in 
Contact,  entspringt  von  der  Spina  angularis  des  Keilbeins,  und  endigt 
an  der  Lingula  des  Unterkieferkanals.  Ein  vom  GriiFelfortsatze  des 
Schläfebeins  zum  Winkel  des  Unterkiefers  herablaufender,  breiter, 
aber  dünner  Bandstreifen,  kann  als  Ligamentum  stylo-maxiUare  ange- 
führt werden,  und  ist,  so  wie  das  Ligamentum  laterale  intemum, 
streng  genommen,  kein  eigentliches  Aufhänge-  oder  Befestigungs- 
mittel des  Unterkiefers ,  sondern  ein  Theil  einer  gewissen ,  später 
am  Halse   zu   erwähnenden  Fascie   (Fascia  bucco-pharyngea,  §.  160). 

Da  beim  Aufsperren  des  Mundes  der  Gelenkkopf  des  Unterkiefers  nach 
vom  auf  das  Tuberculum,  der  Winkel  aber  nach  hinten  geht  (wie  man  sich  leicht 
am  eigenen  Kinnbacken  mit  dem  Finger  überzeugen  kann),  so  muss  in  der  senk- 
rechten Axe  des  Astes  ein  Punkt  liegen,  welcher  bei  dieser  Bewegung  seine  Lage 
nicht  ändert  Dieser  Punkt  entspricht  dem  Foranien  niaxillare  intemum.  Man 
sieht,  wie  klug  die  Lage  dieses  Loches  von  der  Natur  gewählt  wurde,  da  nur 
durch  die  Wahl  eines  solchen  Ortes,  Zerrung  der  in  das  genannte  Loch  ein- 
tretenden Nerven  und  Oefässe,  bei  den  Kaubewegungen  vermieden  werden  konnte. 
—  Es  verdient  noch  bemerkt  zu  werden,  dass  die  KnorpelÜberztige  der  das  Kinn- 
backengelenk  bildenden  Knochen,  namentlich  der  Foasa  glenoidalü,  äusserst  diinn 
sind,  und  fast  nur  aus  Bindegewebe  mit  sehr  wenig  Knorpelzellen  bestehen. 

lieber  die  Mechanik  des  Kiefergelenks  handelt  ausführlich  H.  Mei/er,  im 
Archiv  fttr  Anat  1866. 


§.  115.  Zungenbein. 

Das  Zungenbein  führt  seinen  Namen:  Oshyoides,  contrahirt 
für  ypsiloides,  von  seiner  Aehnlichkeit  mit  dem  griechischen  Buch- 
staben u.  Dasselbe  schliesst  sich  nur  als  ein  Additament  den  Kopf- 
knochen  an^  weil  es^  obwohl   fem  vom  Schädel  liegend^  doch  mit 


§.  116.  H61ileii  und  Graben  des  Gesichtssch&dels.  309 

einem  Knochen  desselben,  dem  Schläfebein  nämlich,  durch  ein 
langes  Band  zusammenhängt.  Dasselbe  hat  seine  Lage  an  der 
vorderen  Seite  des  Halses,  wo  dieser  in  den  Boden  der  Mundhöhle 
übergeht,  und  stützt  die  Basis  der  Zunge,  fUr  deren  knöcherne 
Grundlage  es  gilt.  Man  theilt  es  in  einen  Körper  oder  Mittel- 
stück, und  zwei  Paar  seitliche  Hörner  ein,  welche  Theile  jedoch, 
da  sie  durch  Gelenke  oder  durch  Synchondrose  beweglich  vereinigt 
werden,  und  oft  noch  im  Greisenalter  unverschmolzen  sind,  als  eben 
so  viele  besondere  Zungenbeine  angesehen  werden  können  (Meckel). 
Das  Mittelstück  (Basis)  mit  vorderer  convexer,  hinterer  concaver 
Fläche,  oberem  und  unterem  schneidenden  Rande,  trägt  an  seinen 
beiden  Enden,  mittelst  Gelenken  aufsitzend,  oder  durch  Synchon- 
drose verbunden,  die  grossen  Hörner  oder  seitlichen  Zungenbeine 
(Comita  majora),  welche  zwar  länger,  aber  auch  bedeutend  düniier 
als  das  Mittelstück  sind,  und  den  Bogen  desselben  vergrössem. 
Ihre  dreikantig  prismatische  Gestalt,  mit  einer  rundlichen  Auf- 
treibung am  äusseren  Ende,  ähnelt  einem  kurzen  Schlägel.  Das 
rechte  und  linke  grosse  Hörn  gleichen  einander  fast  niemals  voll- 
kommen. Die  kleinen  Hörner  (Comna  minora  s.  Comieula)  sind 
am  oberen  Rande  der  Verbindungsstelle  des  Mittelstücks  mit  den 
grossen  Hörnern,  durch  Kapselbänder  angeheftet.  Sie  erreichen  bei 
weitem  nicht  die  Länge  und  Stärke  der  seitlichen  Hörner,  indem 
ihre  gewöhnliche  Länge  zwischen  2 — 3  Linien  schwankt.  Häutig 
steigt  die  Länge  des  linken  um  das  Doppelte  des  rechten,  welches 
Verhältniss  Duvernoy  und  Meckel  als  Norm  ansehen. 

Die  kleinen  Hörner  des  Zungenbeins  dienen  einem  von  der 
Spitze  des  GrifFelfortsatzes  des  Schläfebeins  herabsteigenden  Auf- 
hängeband des  Zungenbeins  (Ligamentum  stylo-hyoidum  s.  Suspensorium) 
als  Insertionsstellen.  Dieses  Band  verknorpelt  und  verknöchert  theil- 
weise  nicht  selten.  Man  lernt  daraus  verstehen,  dass  eine  besondere 
Länge  der  GriflFelfortsätze,  oder  der  kleinen  Zungenbeinhörner,  nur 
durch  ein  von  oben  nach  unten,  oder  von  unten  nach  aufwärts 
fortschreitendes  Verknöchern  dieses  Bandes  zu  Stande  kommt. 


§.  116.  Höhlen  und  Gruben  des  ^esichtssohädels. 

Unter  den  Höhlen  des  Gesichtsschädels,  dienen  nur  die  Augen- 
höhlen zur  Aufnahme  eines  selbstständigen  Sinnesorgans;  —  die 
übrigen  —  Nasen-  und  Mundhöhle,  —  sind  die  Anfange  des 
Athmungs-  und  Verdauungsapparates,  welche,  wegen  einer  in  ihnen 
residirenden  specifischen  Empfänglichkeit  für  gewisse  Sinnesein- 
drücke  (Geruch   und    Q«sohmack),    auch    zu    den   Sinnesorganen 


308  |.  llö.  Zan^nbein. 

kopfes,  tritt  mit  ihm  aus  der  Fossa  glenoidalia  auf  das  Tuberculum 
hervor,  und  wieder  zurück,  und  dämpft  die  Gewalt  der  Stösse,  welche 
die  dünnwandige  und  durchscheinende  Gelenkgrube  des  Schläfebeins, 
bei  kräftigem  Zubeissen,  durch  das  Zurückprallen  des  Unterkiefer- 
kopfes von  der  Höhe  des  Tuberculum  in  die  Fossa  glenoidalis,  aus- 
zuhalten hat.  Seine  wichtigste  Leistung  besteht  aber  darin,  dass  er 
die  Zahl  der  Contactpunkte  zwischen  Kopf  des  Unterkiefers,  Fossa 
glenoidalis,  und  Tuberculum  des  Schläfebeins  vermehrt,  während, 
wenn  der  Zwischenknorpel  nicht  vorhanden  wäre,  die  genannten 
Gebilde  sich,  ihrer  nicht  congruenten  Krümmung  wegen,  nur  an 
Einem  Punkte  berühren  könnten,  was  durch  die  Einschaltung  dieses 
knorpeligen  Lückenbüssers  vereitelt  wird.  —  Das  Gelenk  besitzt 
zwei  Seitenbänder.  Das  äussere  ist  kurz,  stark,  mit  der  Gelenks- 
kapsel verwachsen,  und  geht  von  der  Wurzel  des  Processus  zygo- 
maticus  des  Schläfebeins,  schief  nach  hinten  und  unten  zur  äusseren 
Seite  des  Unterkieferhalses;  das  innere  übertriflft  das  äussere  an 
Länge,  ist  aber  zugleich  schwächer,  steht  mit  der  Kapsel  nicht  in 
Contact,  entspringt  von  der  Spina  angularis  des  Keilbeins,  und  endigt 
an  der  Lingula  des  Unterkieferkanals.  Ein  vom  Griffelfortsatze  des 
Schläfebeins  zum  Winkel  des  Unterkiefers  herablaufender,  breiter, 
aber  dünner  Bandstreifen,  kann  als  Ligamentum  stylo-maanllare  ange- 
führt werden,  und  ist,  so  wie  das  Ligamentum  laierale  intemum, 
streng  genommen,  kein  eigentliches  Aufhänge-  oder  Befestigungs- 
mittel des  Unterkiefers ,  sondern  ein  Theil  einer  gewissen ,  später 
am  Halse   zu   erwähnenden  Fascie    (Fascia  bucco-pharyngea,  §.  160). 

Da  beim  Aufsperren  des  Mundes  der  Gelenkkopf  des  Unterkiefers  nach 
vorn  auf  das  Tuberculum,  der  Winkel  aber  nach  hinten  geht  (wie  man  sich  leicht 
am  eigenen  Kinnbacken  mit  dem  Finger  überzeugen  kann),  so  muss  in  der  senk* 
rechten  Axe  des  Astes  ein  Punkt  liegen,  welcher  bei  dieser  Bewegung  seine  Lage 
nicht  ändert  Dieser  Punkt  entspricht  dem  Forainen  maxülare  intemum.  Man 
sieht,  wie  klug  die  Lage  dieses  Loches  von  der  Natur  gewählt  wurde,  da  nur 
durch  die  Wahl  eines  solchen  Ortes,  Zerrung  der  in  das  genannte  Loch  ein- 
tretenden Nerven  und  Oefässe,  bei  den  Kaubewegungen  vermieden  werden  konnte. 
—  Es  verdient  noch  bemerkt  zu  werden,  dass  die  Knorpelüberztige  der  das  Kinn- 
backengelenk bildenden  Knochen,  namentlich  der  Foasa  glenoidalig,  äusserst  dünn 
sind,  und  fast  nur  aus  Bindegewebe  mit  sehr  wenig  Knorpelzellen  bestehen. 

lieber  die  Mechanik  des  Kiefergelenks  handelt  aufiführlich  H.  Meyer,  im 
Archiv  für  Anat  1865. 


§.  115.  Zungenbein. 

Das  Zungenbein  führt  seinen  Namen:  Oshyoides,  contrahirt 
ftir  ypsäoides,  von  seiner  Aehnlichkeit  mit  dem  griechischen  Buch- 
staben y.  Dasselbe  schliesst  sich  nur  als  ein  Additament  den  Kopf- 
knochen   an,   weil   es,   obwohl    fern  vom  Schädel  liegend,  doch  mit 


§.  116.  H6hlen  und  Graben  des  GesicMssch&dels.  309 

einem  Knochen  desselben,  dem  Schläfebein  nämlich,  durch  ein 
langes  Band  zusammenhängt.  Dasselbe  hat  seine  Lage  an  der 
vorderen  Seite  des  Halses,  wo  dieser  in  den  Boden  der  Mundhöhle 
übergeht,  und  stützt  die  Basis  der  Zunge,  für  deren  knöcherne 
Grundlage  es  gilt.  Man  theilt  es  in  einen  Körper  oder  Mittel* 
stück,  und  zwei  Paar  seitliche  Hörner  ein,  welche  Theile  jedoch, 
da  sie  durch  Gelenke  oder  durch  Synchondrose  beweglich  vereinigt 
werden,  und  oft  noch  im  Greisenalter  unverschmolzen  sind,  als  eben 
so  viele  besondere  Zungenbeine  angesehen  werden  können  (Meckel). 
Das  Mittelstück  (Berns)  mit  vorderer  convexer,  hinterer  concaver 
Fläche,  oberem  und  unterem  schneidenden  Rande,  trägt  an  seinen 
beiden  Enden,  mittelst  Gelenken  aufsitzend,  oder  durch  Synchon- 
drose verbunden,  die  grossen  Hörner  oder  seitlichen  Zungenbeine 
(Comua  majora),  welche  zwar  länger,  aber  auch  bedeutend  dünner 
als  das  Mittelstück  sind,  und  den  Bogen  desselben  vergrössem. 
Ihre  dreikantig  prismatische  Gestalt,  mit  einer  rundlichen  Auf- 
treibung am  äusseren  Ende,  ähnelt  einem  kurzen  Schlägel.  Das 
rechte  und  linke  grosse  Hörn  gleichen  einander  fast  niemals  voll- 
kommen. Die  kleinen  Hörner  (Comua  minora  8.  Comicula)  sind 
am  oberen  Rande  der  Verbindungsstelle  des  Mittelstücks  mit  den 
grossen  Hörnern,  durch  Kapselbänder  angeheftet.  Sie  erreichen  bei 
weitem  nicht  die  Länge  und  Stärke  der  seitlichen  Hörner,  indem 
ihre  gewöhnliche  Länge  zwischen  2 — 3  Linien  schwankt.  Häufig 
steigt  die  Länge  des  linken  um  das  Doppelte  des  rechten,  welches 
Verhältniss  Duvernoy  und  Meckel  als  Norm  ansehen. 

Die  kleinen  Hörner  des  Zungenbeins  dienen  einem  von  der 
Spitze  des  GrifFelfortsatzes  des  Schläfebeins  herabsteigenden  Auf- 
hängeband des  Zungenbeins  (Ligamentum  stylo-hyaidum  8,  Suspensorium) 
als  Insertionsstellen.  Dieses  Band  verknorpelt  und  verknöchert  theil- 
weise  nicht  selten.  Man  lernt  daraus  verstehen,  dass  eine  besondere 
Länge  der  GriflFelfortsätze,  oder  der  kleinen  Zungenbeinhörner,  nur 
durch  ein  von  oben  nach  unten,  oder  von  unten  nach  aufwärts 
fortschreitendes  Verknöchern  dieses  Bandes  zu  Stande  kommt. 


§.  116.  Höhlen  und  Gruben  des  ^esichtsschädels. 

Unter  den  Höhlen  des  Gesichtsschädels,  dienen  nur  die  Augen- 
höhlen zur  Aufnahme  eines  selbstständigen  Sinnesorgans;  —  die 
übrigen  —  Nasen-  und  Mundhöhle,  —  sind  die  Anfange  des 
Athmungs-  und  Verdauungsapparates,  welche,  wegen  einer  in  ihnen 
residirenden  specifischen  Empfänglichkeit  für  gewisse  Sinnesein- 
drücke   (Geruch    und    Geschmack),    auch     zu    den    Sinnesorganen 


310  §•  liS>  Höhlen  und  Oruben  des  Gesicbtesch&dels. 

gezählt  werden.     Die  Höhlen  zur  Aufiiahme   des  Gehörwerkzeuges 
gehören  nicht  dem  Gesicht,  sondern  der  Hirnschale  an. 

1.  Die  beiden  Augenhöhlen,  Orbitae  (von  orbis,  jede  Run- 
dung), deren  Abstand  durch  die  Entfernung  beider  Laminae  papyra- 
ceae  des  Siebbeins  von  einander  bestimmt  wird,  stellen  liegende, 
hohle,  vierseitige  Pyramiden  dar,  die  mit  ihren  inneren  Flächen 
ziemlich  parallel  liegen,  und  deren  verlängerte  Axen  sich  am 
Türkensattel  schneiden.  Die  äussere  Wand,  vom  Jochbein  und 
grossen  Keilbeinflügel  gebildet,  ist  die  stärkste.  Die  obere,  welche 
von  der  Pars  orbitalis  des  Stirnbeins  und  den  schwertförmigen  Keil- 
beinflügeln zusammengesetzt  wird,  heisst  Lacunar  orbitae  (Plafond), 
und  ist  die  grösste;  die  innere,  vom  Procesms  frontalis  des  Ober- 
kiefers, vom  Thränenbein,  und  der  Landna  papyracea  gebildet,  die 
schwächste.  Die  untere,  von  der  Orbitalfläche  des  Oberkiefer- 
körpers und  vom  Processus  orbitalis  des  Gaumenbeins  erzeugte  Wand, 
geht  ohne  scharfe  Grenze  in  die  innere  Wand  über,  und  hat  eine 
schräg  nach  vorn  und  unten  gerichtete,  abschüssige  Lage.  Sie  wird 
gewöhnlich  Pavtmen^m  a7*&ito6y  Boden  der  Augenhöhle,  benannt. 
Pammentur^  stammt  nach  Plinius  von  pavicula,  eine  Ramme,  mit 
welcher  die  Ziegel  oder  Steine  eines  IVissbodens,  auf  einer  Unter- 
lage von  Mörtel,  festgestampft  wurden.  —  Als  offene  Basis  der 
Augenhöhlen-Pyramide  gilt  uns  die  grosse,  durch  den  Margo  supra- 
et  infraorbitalis  umschriebene  Oeffiiung  der  Augenhöhle,  Apertura 
orbitalis.  Hinter  dieser  Basis  erweitert  sich  die  Pyramide  etwas, 
besonders  nach  oben  und  aussen,  als  Fossa  glandtdas  lacrt/malis.  Die 
Winkel  der  Pyramide  sind  mehr  weniger  abgerundet.  Der  äussere 
obere  Winkel  wird  durch  die  Fissura  orbitalis  superior,  der  äussere 
untere  durch  die  längere,  aber  schmälere,  und  nur  gegen  ihr  äusseres 
Ende  hin  breiter  werdende  Fissura  orbitalis  inferior  aufgeschlitzt. 
Die  Spitze  der  Pyramide  liegt  im  Foramen  opticum.  Die  übrigen 
Oeffnungen  und  Löcher  der  Augenhöhle  und  der  anderen  Höhlen 
des  Gesichts,   sind   am  Ende  dieses  Paragraphes  zusammengestellt. 

OrbUa  wurde  von  den  Römern  nur  ftbr  Wagengeleise,  für  Rad  und  Wagen, 
für  Kreis,  und  Sternenbahn  gebraucht.  Erst  der  berühmte  Dominikanermönch, 
Albertus  Magnus,  Professor  der  Aristotelischen  Philosophie  in  Paris,  1230, 
sp&ter  Bischof  von  Regensburg,  1260,  führte  dieses  Wort  in  die  anatomische 
Sprache  ein,  in  seinen  XXVI  lAbri»  de  animalihu^,  deren  drei  nur  von  anatomischen 
Gegenständen  handeln. 

2.  Die  Nasenhöhle  (Cavum  narium)  hat  eine  viel  schwerer 
zu  beschreibende  Gestalt,  und  viel  complicirtere  Wände.  Sie  wird 
in  die  eigentliche  Nasenhöhle,  und  die  Nebenhöhlen  (Sinus  s.  Antra) 
eingetheilt.  Die  eigentliche  Nasenhöhle  liegt  über  der  Mundhöhle, 
und  ragt  bis  zur  Schädelhöhle  zwischen  den  beiden  Augenhöhlen 
hinauf.  Oben  wird  sie  durch  die  Nasenbeine  und  die  Lamina  cribrosa 


1. 116.  Höhlen  and  Graben  des  Getichtsscli&dels.  311 

des  Siebbeins,  unten  durch  die  Processus  pcdatim  der  Oberkiefer, 
und  die  horizontalen  Platten  der  Gaumenbeine  begrenzt.  Die  aus- 
gedehnten Seitenwände  werden  oben,  wo  die  Nasenhöhle  an  die 
Augenhöhle  grenzt,  durch  den  Nasenfortsatz  des  Oberkiefers,  das 
Thränenbein,  und  die  Papierplatte  des  Siebbeins  gebildet;  weiter 
unten  folgen  die  Superficies  nascdü  des  Oberkiefers,  die  senkrechte 
Platte  des  Gaumenbeins,  und  der  Processus  ptert^goideus  des  Keilbeins. 
Die  vordere  Wand  fehlt  grösstentheils,  und  es  befindet  sich  an  ihrer 
Stelle  die  durch  die  beiden  Oberkiefer  und  Nasenbeine  begrenzte 
Apertura  pyi^formis.  Die  hintere  Wand  wird  theilweise  durch  die 
vordere  Fläche  des  Keilbeinkörpers  dargestellt,  unterhalb  welchem 
sie  fehlt,  und  von  den  beiden  Choanae  s.  Aperturae  narium  posteriores 
eingenommen  wird.  Der  Name  Choanae  stammt  von  yjiei^  (giessen), 
weil  der  Nasenschleim  durch  diese  Oeffnung  sich  in  die  Rachenhöhle 
ergiesst,  und  als  Sputum  ausgeworfen  werden  kann.  Jede  Choana 
oder  hintere  Nasenöffnung,  wird  oben  durch  den  Körper  des 
Keilbeins,  aussen  durch  den  Pi*ocessus  pterygoideus,  innen  durch  den 
Vomer,  und  unten  durch  die  horizontale  Gaumenbeinplatte  umgeben. 
—  Die  knöcherne  Nasenscheidewand  (Septum  narium  osseum) ,  aus 
der  senkrechten  Siebbeinplatte  und  der  Pflugschar  bestehend,  geht 
nur  selten  ganz  senkrecht  von  der  Lamina  cnbrosa  des  Siebbeins  und 
der  Spina  nasalis  superiov  zur  Ciista  nasalis  inferior  herab,  und  theilt 
deshalb  die  Nasenhöhle  in  zwei  meist  ungleiche  Seitenhälften. 

Nebst  den  die  Wände  der  Nasenhöhle  construirenden  Knochen 
hat  man  noch  gewisse,  von  diesen  Wänden  ausgehende  knöcherne 
Vorsprünge,  als  Vergrösserimgsmittel  ihrer  inneren  Oberfläche,  in's 
Auge  zu  fassen.  Diese  sind:  die  Blättchen,  welche  das  Siebbein- 
labyrinth bilden,  die  obere  und  untere  Siebbeinmuschel,  und  die 
untere  oder  freie  Nasenmuschel.  Sie  sind  als  Stützknochen  für  die 
sie  überziehende  Nasenschleimhaut  anzusehen,  welche  dadurch  eine 
viel  grössere  Oberfläche  erhält,  als  wenn  sie  nur  die  glatten  Wände 
eines  hohlen  Würfels  überzogen  hätte.  —  Die  Muscheln  tragen  zur 
Bildung  der  sogenannten  Nasengänge,  MecUus  narium,  bei,  deren 
drei  auf  jeder  Seite  liegen.  Der  obere,  zwischen  oberer  und 
unterer  Siebbeinmuschel,  ist  der  kürzeste,  und  etwas  schräg  nach 
hinten  und  unten  gerichtet.  Es  entleeren  sich  in  ihn  die  hinteren 
und  mittleren  Siebbeinzellen,  und  die  Keilbeinhöhle.  Der  mittlere, 
zwischen  unterer  Siebbeinmuschel,  und  unterer  oder  freier  Nasen- 
muschel, ist  der  längste,  horizontal  gerichtet,  und  communicirt  mit 
der  Highmorshöhle,  den  vorderen  Siebbeinzellen,  und  der  Stirnhöhle. 
Der  untere,  zwischen  unterer  Nasenmuschel  imd  Boden  der  Nasen- 
höhle, ist  der  geräumigste,  und  nimmt  den  von  der  Fossa  lacrimalis 
der  Augenhöhle  nicht  senkrecht^  sondern  ein  wenig  schief  nach 
aussen  und  hinten   herabsteigenden  Thränennasengang   auf,   dcBseo 


312  §.116.  Höhlen  und  Oruben  des  Oesiehtssch&deln. 

AusmtindungsöfFnung   durch    das   vordere   spitze  Ende   der   unteren 
Nasenrauschel  von  oben  her  überragt  wird. 

Die  Nebenhöhlen,  welche,  obwohl  sie  als  Vergn^sserangsräume  der  Nasen- 
höhle gelten,  doch  in  keiner  Beziehung  zur  Wahrnehmung  der  Gerüche  stehen, 
sind  die  Stirn-,  Keilbein-  und  Oberkieferhöhle,  deren  bereits  früher  Erwähnung 
geschah. 

3.  Die  Mundhöhle  (Cavum  oris)  ist  die  einzige  Höhle  des 
Kopfes,  welche  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  dem  untersuchenden 
Auge,  dem  Finger,  und  den  chirurgischen  Instrumenten  offen  steht. 
Ihre  Grösse  ist,  der  Beweglichkeit  des  Unterkiefers  wegen,  eine 
veränderliche.  Es  finden  Vorgänge  in  der  Mundhöhle  statt,  welche 
ohnie  Bewegung  des  Unterkiefers  nicht  denkbar  sind.  Das  Kauen 
und  Einspeicheln  der  Nahrung,  ja  schon  die  Aufnahme  der  Nahrung 
in  die  Mundhöhle,  schliesst  vollkommen  starre  und  fixe  Wände  aus. 
Die  Mundhöhle  kann  deshalb  nicht  ganz  von  knöchernen  Wänden 
begrenzt  sein.  Die  untere  Wand  oder  der  Boden  wird  nur  durch 
Muskeln  gebildet.  Die  obere  Wand  ist  der  unbewegliche  harte 
Gaumen  oder  das  Gaumengewölbe  (Paiatum  durum  8.  oaseum), 
an  welchem  die  aus  einem  Längen-  und  Querschenkel  bestehende 
Kreuznaht  (Sutura  palatina  crudata)  vorkommt.  Da  der  harte 
Gaumen  gleichsam  das  Firmament  der  Mundhöhle  bildet,  und  sich 
so  über  der  Zunge  wölbt,  wie  der  Himmel  über  der  Erde,  wurde 
er  von  Bauhin  codum  oris  genannt,  was  auch  seine  griechischen 
Namen  oüpav6?  und  oupavCaxo^  bei  Aristoteles  ausdrückt  (daher 
Uronoraphie,  die  Gaumennaht,  und  Uranoschisma,  der  gespal- 
tene Gaumen,  oder  Wolfsrachen).  —  Die.  vordere  und  die 
beiden  seitlichen  Wände  der  Mundhöhle,  werden  bei  geschlossenem 
Munde  durch  die  an  einander  schliessenden  Zähne  beider  Kiefer 
dargestellt.  Die  hintere  Wand  fehlt,  und  wird  tm  lebenden  Schädel 
durch  eine  Oeffnung  eingenommen,  mittelst  welcher  die  Mundhöhle 
mit  der  hinter  ihr  liegenden  Rachenhöhle  communicirt. 

4.  Noch  erübrigt  am  Schädel  beiderseits  hinter  den  Augen- 
höhlen eine  Grube,  welche  durch  den  Jochbogen  überbrückt  wird, 
und  Schläfengrube,  Fossa  temporalis,  genannt  wird.  Sie  ist  eine 
unmittelbare  Fortsetzung  des  bei  der  Beschreibung  der  Seitenwand- 
beine  erwähnten  Planum  temporale,  und  wird  durch  die  Schuppe 
des  Schläfebeins,  die  Superficies  temporalis  des  grossen  Keilbein- 
flügels, den  Jochfortsatz  des  Stirnbeins,  und  den  Stirnfortsatz  des 
Jochbeins  gebildet.  Die  Schläfengrube  zieht  sich,  immer  tiefer 
werdend,  zwischen  Oberkiefer,  Flügelfortsatz  des  Keilbeins,  und 
Gaumenbein,  gegen  den  Schädelgrund  hinein,  und  nimmt  hier  den 
Namen  der  Keil-Oberkiefergrube  oder  Flügelgaumengrube 
(Fossa  spheno-maxälaris  s.  pterygo-palatina)  an.  Sie  liegt  hinter  der 
Augenhöhle,   mit  welcher   sie  durch  die  Fissura  orbücdis  inferior  in 


§.  116.  Höhlen  und  Graben  des  Gesichtssoliftd«]«.  313 

Verbindung  steht,  und  auswärts  von  dem  hinteren  Theile  der  Nasen- 
höhle. Ihre  Gestalt  ist  sehr  unregelmässig,  und  ihre  durch  Löcher 
und  Kanäle  vermittelte  Verbindung  mit  der  Schädelhöhle  und  den 
Höhlen  des  Gesichts  sehr  vielfaltig.  Gewöhnlich  bezeichnet  man 
nur  die  tiefste  und  engste  Schlucht  dieser  Grube,  welche  zunächst 
durch  den  Flügelfortsatz  des  Keilbeins  und  das  Gaumenbein  gebildet 
wird,  als  Flügelgaumengrube,  und  nennt  den  weiteren,  zwischen 
Oberkiefer  und  Keilbein  gelegenen  Theil  derselben,  Keil-Ober- 
kiefergrube. 

Löcher  und  Kanäle  der  Augenhöhle.  1.  Zur  Schädelhöhle :  Poramen 
opticum,  Fiasura  orhitalia  »uperior,  Foramen  ethmoicUde  anterius.  2.  Zur  Nasen- 
höhle: Foramen  ethmoidale  posterius,  Ductus  lacrymarum  nasalis.  3.  Zur  Schläfen- 
grube: Canaliff  zt/goniaUcus  temporalis.  4.  Zur  Fossa  pteri/ffo-palatina :  Fissura  orbi- 
talis  inferior,  ö.  Zum  Gesicht:  Canalis  zygomatiais  facialis,  Foramen  supra-orbitale, 
Canalis  infraorbiUdis. 

Löcher  und  Kanäle  der  Nasenhöhle.  1 .  Zur  Schädelhöhle :  Foramiiia 
crWrosa.  2.  Zur  Mundhöhle:  Canalis  naso-palalinus,  3.  Zur  Fossa  pterygo-palaUna: 
Foramen  spheno-paJntinum,  4.  Zur  Augenhöhle,  bei  dieser  erwähnt.  5.  Zum  Gesiebt: 
Apertura  piriformis,   Foramina  nasalia. 

Löcher  und  Kanäle  der  Mundhöhle.  1.  Zur  Nasenhöhle:  Canalis 
miMO-palatinus.  2.  Zur  Fossa  pterygo-palalina :  Canales  pterygo-palalini  s,  Canales 
palatini  descendenles.  3.  Zum  Gesicht:   Canalis  inframaxillaris, 

Löcher  und  Kanäle  der  Fossa  pterggo-palatina.  1.  Zur  Schädel- 
höhle: Foramen  rotundum.  2.  Zur  Augenhöhle:  Fissura  orbitalis  inferior.  3.  Zur 
Nasenhölile:  Foramen  spheruy-palaUnum.  4.  Zur  Mundhöhle:  Canalis  palatinus 
descendens.  5.  Zur  Schädelbasis:   Canalis    Vidianus. 

Die  Zusammensetzung  der  Augenhöhle,  so  wie  die  zu  ihr  oder  von  ihr 
führenden  Oeffnimgen  werden,  da  die  Wände  der  Augenhöhle  bei  äusserer  Inspection 
des  Schädels  leicht  zu  übersehen  sind,  auch  eben  so  leicht  studirt.  Schwieriger 
aufzufassen  ist  die  Construction  der  Nasenhöhle  und  der  Flügelgaumengrube.  Es 
müssen,  um  zur  inneren  Ansicht  der  Wände  derselben,  und  der  in  diesen  befind- 
lichen Oeffnungen  zu  gelangen.  Schnitte  durch  sie  geführt  werden,  wozu  man  für 
die  Nasenhöhle  frische  Schädel  wählt,  die  bereits  zu  einem  anderen  anatomischen 
Zwecke  dienten,  und  deren  Nasenhöhle  noch  mit  der  Schleimhaut  derselben  (Mem- 
brana pituitaria  narium  s.  Schneideri)  ausgekleidet  ist.  An  skeletirten  Köpfen 
werden  durch  das  Eindringen  der  Säge,  die  dünnen  und  nur  lose  befestigten 
Muschelknochen  leicht  zersplittert,  und  man  erhält  nur  ein  unvollkommenes  Bild 
ihrer  Lage rungs Verhältnisse,  und  ihrer  Beziehungen  zu  den  Nasengängen.  Dm 
Splittern  der  Knochen  lässt  sich  vermeiden,  wenn  man  sich  einer  dünnen  Bli^tt- 
säge  bedient,  und  den  Kopf  unter  Wasser  zersägt.  Zwei  senkrechte  Durchschnitte, 
deren  einer  mit  der  Nasenscheidewand  parallel  läuft,  deren  anderer  sie  schneidet, 
leisten  das  Nöthige. 

Die  Wichtigkeit  der  Osteologie  für  die  Nervenlehre  bewährt  sich  -«n 
schönsten  in  der  Flügelgaumengrube.  Die  Anatomie  des  zweiten  Astes  vom  Trige- 
minns  wird,  ohne  genaue  Vorstellung  der  mit  dieser  Grube  in  Verbindung  stehenden 
Kanäle  und  Oeffnungen,  unmöglich  verstanden.  Es  muss  der  Processus  pterygoideus 
des  Keilbeins  an  seiner  Basis,  mit  Schonung  der  senkrechten  Platte  des  Gaumen- 
beins, abgesägt  werden,  am  die  in  dieser  Grabe  Hegenden  oben  erwähnten  Zu- 
gangs- und  Abgangsöffhongen- sa  sehen.  ,  ,        . 


314  §.  117.  Yerhältniss  der  Uirnsehale  s«in  0«8iekt. 


§.  117.  Verhältiiiss  der  Hirnschale  zum  Gesicht 

Es  ist  durch  die  vergleichende  Osteologie  sichergestellt,  dass 
bei  keinem  Säugethier  der  Hirnschädel  den  Gesichtsschädel  so  auf- 
fallend überwiegt,  wie  beim  Menschen,  dessen  Gehirn,  als  Organ 
der  Intelligenz,  über  die  der  Sinnlichkeit  fröhnenden  Werkzeuge 
des  Kauens  und  Riechens,  welche  dem  Gesichte  angehören,  weitaus 
prävalirt.  Das  Höchste  und  Niedrigste  der  Menschennatur  steht 
am  Kopfe  gepaart,  mit  übei*wiegender  Ausbildung  des  Ersteren.  Je 
mehr  die  Kauwerkzeuge  sich  entwickeln,  und  je  grösser  der  Raum 
wird,  welchen  die  Nasenhöhle  einnimmt,  desto  vorspringender  er- 
scheint der  Gesichtstheil  des  Kopfes,  und  desto  mehr  entfernt  sich 
das  ganze  Profil  vom  Schönheitsideal.  Die  hohe  Stirn,  hinter  welcher 
eine  Welt  von  Gedanken  Platz  hat,  und  ihr  fast  senkrechtes  Ab- 
fallen gegen  das  Gesicht,  ist  ein  der  edelsten  und  geistig  entwick- 
lungsfähigsten Menschenrace  —  der  kaukasischen  —  eigenes  charak- 
teristisches Merkmal. 

Da  von  dem  Verhältnisse  des  Schädels  zum  Gesicht  die  nach 
unseren  Schönheitsbegriffen  mehr  oder  minder  edle  Kopfbildung  ab- 
hängt, imd  die  Grösse  dieses  Verhältnisses  ein  augenfälliges  Merk- 
mal gewisser  Menschenracen  abgiebt,  so  hat  man  gesucht,  die 
Beziehungen  des  Himschädels  zum  Gesicht  durch  Messungen  aus- 
zumitteln,  indem  man  durch  gewisse,  leider  nicht  in  überein- 
stimmender Weise  von  den  verschiedenen  Autoren  gewählte  Punkte 
des  Kopfes  Linien  zog  (Lhieae  craniometricae),  deren  Durchschnitts- 
winkel einen  Ausdruck  für  dieses  Verhältniss  abgiebt. 

1.  Messtmg  nach  Dauben  ton  (1764).  Man  zieht  vom  imteren 
Augenhöhlenrande  zum  hinteren  Rande  des  Foramen  ocdpitale  magnum 
eine  Linie,  und  eine  zweite  von  der  Mitte  des  vorderen  Randes 
dieses  Loches  zum  Endpunkte  der  früheren.  Der  durch  beide  Linien 
gebildete,  nach  vom  offene  Winkel  (AngtUus  occipitcdia)  erscheint 
im  Menschengeschlechte  am  kleinsten,  und  vergrössert  sich  in  der 
Thierreihe  um  so  mehr,  je  mehr  das  grosse  Hinterhauptloch  die 
Mitte  der  Schädelbasis  verlässt,  und  auf  das  hintere  Ende  des 
Schädels  hinaufrückt,  wodurch  seine  Ebene  nach  vorn  abschüssig 
wird.  Als  osteologischer  Charakter  der  Racen  lässt  sich  dieser 
Winkel  nicht  benützen,  danach  Blumenbach's  Erfahrungen,  seine 
Grösse  bei  Individuen  derselben  Race  innerhalb  einer  gewissen  Breite 
variirt.  Im  Mittel  beträgt  er  beim  Menschen  4^,  beim  Orang  37^, 
beim  Pferde  70",  und  beim  Hunde  82«. 

2.  Messung  nach  Camper  (1791).  Man  zieht  eine  Tangente 
zur  vorragendsten  Stelle  des  Stirn-  und  Oberkieferbeins,  und  schneidet 
diese  durch   eine  vom   äusseren  Gehörgang  zum  Boden  der  Nasen- 


§.117.  VerbUtniss  der  Hirnschale  zum  Getiohl.  315 

höhle  gezogene  Linie.  Der  Winkel  beider  ist  der  Angtdtbs  faciei 
Camperi,  dessen  Ausmittlung  unter  allen  Schädelmessungsmethoden 
die  häufigste  Anwendung  gefunden  hat.  Je  näher  er  90®  steht, 
desto  schöner  ist  das  Schädelprofil.  Vergrössert  er  sich  über  90^, 
so  entstehen  jene  über  die  Augen  vortretenden  Stirnen,  welche  bei 
Rhachitis  und  Hydrocephalus  vorkommen,  und,  wenn  sie  über  ein 
gewisses  Maass  hinausgehen,  die  Schönheit  des  Profils  ebenso  be- 
einträchtigen, wie  die  flachen.  An  den  berühmtesten  Meisterwerken 
hellenischer  Kunst,  wie  am  Apoll  von  Belvedere,  und  an  der  Medusa 
des  Sosicles,  finden  wir  den  Gesichtswinkel  selbst  etwas  grösser, 
als  90*^.  —  Als  Maassstab  für  die  Entwicklung  des  Gehirns  in  der 
Thierreihe,  kann  der  Camper'sche  Winkel  nicht  benützt  werden,  da 
die  Wölbung  der  Stirn  blos  durch  sehr  geräumige  Sitws  frontales 
(Elephant)  bedingt  sein  kann.  Auch  ist  seine  Grösse  bei  Schädeln, 
welche  verschiedenen  Racen  angehören,  häufig  gleich  (Neger- 
und  alter  Lithauerschädel).  Seine  Grösse  beträgt  bei  Schädeln 
kaukasischer  Race  85®  (griechisches  Profil),  beim  Neger  70®,  beim 
jungen  Orang  67®,  beim  Schnabelthier  14®.  —  Daubenton's  und 
Campe r's  Messungen  trifi't  überdies  der  Vorwurf,  dass  sie  das 
Schädelvolumen  nur  durch  die  senkrechte  Ebene  messen,  und  die 
Peripherie  (den  Querschnitt)  unberücksichtigt  lassen.  Die  Cam- 
per'sche  Messung  wird  auch  deshalb  variable  Resultate  an  Schädeln 
derselben  Race  geben,  weil  der  vorspringendste  Punkt  des  Ober- 
kiefers, welcher  in  den  Alveolis  der  Schneidezähne  liegt,  durch 
Ausfallen  der  Zähne  und  damit  verbundene  Resorption  der  Alveoli 
im  höheren  Alter  zurücktreten  muss.  Zur  schärferen  Messung  des 
Gesichtswinkels  sind  von  Morton  und  Jacquart  eigene  Goniometer 
construirt  worden. 

3.  Blumenbach's  Scheitelansicht  (1795)  ist  keine  Messung, 
sondern  eine  beiläufige  Schätzung  der  Schädel-  und  Gesichtsverhält- 
nisse. Es  werden  die  zu  vergleichenden  Schädel  so  aufgestellt,  dass 
die  Jochbogen  vollkommen  horizontal  liegen,  und  dann  von  oben 
in  der  Vogelperspective  angesehen,  wobei  obige  Verhältnisse,  und 
alle  übrigen  abweichenden  Einzelnheiten  im  Schädelbaue,  sich  dem 
geübten  Auge  besonders  scharf  herausstellen. 

4.  Cuvier's  Methode  (1797)  zerlegt  den  Schädel  in  zwei  seit- 
liche Hälften,  und  bestimmt  an  der  Durchsohnittsebene  den  Grössen- 
unterschied  von  Schädel  und  Gesicht.  Dieser  ist  beim  Orang  =  0, 
und  verhält  sich  beim  Menschen  wie  4:1. 

Die  neueren  craniometrischen  Methoden  von  Lucae  und  Aeby, 
sind  in  den  betreffenden  Werken  in  der  Literatur  der  Osteologie 
nachzusehen. 

Da  man  bei  allen  Schädelmesaungen;  die  Dicke  der  SohM^l^ 
knoehen  mitmisst,  man  also  aus  den  so  gewoDi 


316  S  117.  Verb&ltnias  der  Hirnschale  mm  Oetiokt. 

keinen  Schluss  auf  die  Capaeität  der  Schädelhöhle,  und  die  dadurch 
gegebene  Grösse  des  Gehirns  ziehen  kann,  so  haben  Tiedemann 
und  Morton  durch  Ausfüllen  der  Schädelhöhle  mit  geschlemmten 
Sand,  die  Capaeität  derselben  bei  verschiedenen  Racen  auszumitteln 
gesucht.  Tiedemann  fand  die  mittlere  Capaeität  des  Neger-  und 
Europäerschädels  gleich;  Morton  dagegen  jene  des  Negers  kleiner. 
Ein  ehrlicher  Beurtheiler  der  craniometrischen  Leistungen 
wird  gestehen,  dass  dieselben  bisher  nicht  viel  genützt  haben.  Sie 
haben  vielmehr  ihre  grösste  Befriedigung,  in  gegenseitiger  Ver- 
dächtigung gefunden.  Sie  geben  uns  keinen  Anhaltspunkt  zur  Ein- 
theilung  der  Menschenracen,  da  uns  die  Urform  des  Menschenschädels 
unbekannt  ist,  und  wir  auch  nicht  sagen  können,  was  Varietät,  oder 
Racentypus,  oder  individueller  Charakter  eines  Schädels  ist.  Wäre 
uns  die  Urform  des  Hundeschädels  (vom  Canis  primaevus)  nicht  be- 
kannt, und  sähen  wir  nicht  immerfort  neue  Hunderacen  vor  unseren 
Augen  entstehen,  wir  würden  ganz  gewiss  das  Windspiel  und  den 
Pudel,  für  zwei  verschiedene  Thiergattungen,  statt  für  zwei  Varie- 
täten halten.  Ich  beantworte  mir  hier  zugleich  folgende  Fragen : 
Was  hat  die  Craniologie  zu  leisten?  Sie  hat  die  Frage  zu  ent- 
scheiden, ob  Ein  oder  mehrere  Centra  der  Entstehung  des  Menschen- 
geschlechtes auf  Erden  ursprünglich  gegeben  waren,  und  ob  der 
Menschenschädel  wirklich  nur  durch  eine  gradweise  Entwicklung 
des  Thierschädels  entstand.  Hat  sie  dieses  geleistet?  Nein!  —  Ist 
Hoffnung  vorhanden,  dass  sie  es  leisten  wird?  Ich  habe  keine,  denn 
die  Craniologie  pflegt  die  Thatsachen  nach  ihren  Gedanken  zu 
formen,  statt  die  Gedanken  aus  den  Thatsachen  abzuleiten.  Die 
Zwischenglieder  zwischen  den  jetzt  lebenden  höchstorganisirten 
Affenschädeln  und  jenen  der  Menschen  fehlen  uns  gänzlich.  Die 
Darwinianer  sagen:  sie  sind  im  Kampf  um's  Dasein  untergegangen. 
Wie  sollen  aber  gerade  die  höchstorganisirten  Affen,  welche  die 
Kluft  zwischen  Chimpanse  und  Mensch  ausfüllen,  im  Kampf  um\s 
Dasein  imtergegangen  sein,  welchen  zu  bestehen,  sie  gerade  ihrer 
nächstmenschlichen  Organisation  wegen,  besser  geeignet  waren,  als 
die  Affengeschlechter,  welche  sich  jetzt  noch  erhalten  haben.  Wir 
haben  noch  keinen  fossilen  Affenschädel  gefunden,  welcher  den 
Sprung  vom  Orang  oder  Gorilla  zum  Menschen,  minder  abrupt  er- 
scheinen Hesse.  Die  Darwinianer  sagen :  wir  werden  solche  Schädel 
finden,  wenn  der  Boden  Asiens,  der  Wiege  des  Menschengeschlechts, 
durch  Eisenbahnen,  Kanäle,  Tunnels,  Schachte,  und  Steinbrüche, 
ebenso  zerrissen  und  zerklüftet  sein  wird ,  wie  es  jener  Europa's 
gegenwärtig  ist.  Gut  denn,  bis  dahin  ist  noch  weit,  und  die  Wissen- 
schaft kann  warten.  Vor  der  Hand  steht  der  Mensch  noch  so  hoch 
über  den  Thieren,  dass  von  einem  gradweise  vollzogenen  Ueber- 
gang,  keine  Rede  sein  kann. 


S.  117.  Verkiltniss  der  HiraschAlc  mm  Gesicht.  31 1 

Die  Uaaptantencheidang^merkmate  des  mensclitichen  und  thierischen 
SchSdeU  liegen:  1.  in  dem  ovalen  Cranium,  des^sen  Verfaüttniss  zum  Gesichutheil 
des  Kopfes  ein  g^^sseres  ist.  als  bei  allen  Thieren:  —  2.  in  dem  sich  einem  rechten 
Winkel  mehr  weniger  njihemden  Gesichtswinkel;  ---  S.  in  dem  mehr  in  der  Mitte 
dies  ScbSdelgTondes  liegenden  Foramen  occipiUüe  maffnum;  —  4.  in  dem  gerandetea, 
nicht  mrfickweichenden,  sondern  massig  promini renden  Kinn  mentum  prominulym 
Li  Dil.);  —  und  5.  in  der  bogenförmigen  Aneinanderreihung  der  gleich  hohen, 
senkrecht  gerichteteUf  und  ohne  Zwischenlücken  neben  einander  stehenden  Zahne. 
Anch  besitzt,  so  viel  mir  bekannt,  weder  der  Chimpanse,  noch  der  Gorilla  idie 
zwei  menschenJihnlichsten  Atfen")  einen  so  g^issen  ProceA^ns  mtutoid^u»,  und  einen 
so  Imngen  ProeettuA  jtti/foukmt,  wie  der  Mensch.  —  Die  Lag«  des  Hinterhanpt- 
loches  stimmt  mit  dem  Mittelpunkte  des  Schädel gnmdes  wohl  nicht  genau  flberein, 
sonst  mflsste  der  Schädel  auf  der  Wirbelsäule  l>a1anciren.  was  nicht  der  Fall  ist. 
Der  Schidel  wird  am  IJebemeigen  naoh  vom,  nur  durcli  die  Wirkung  der  Nacken- 
maskeln  gehindert.  IÜ!«f(t  diese  nach,  wie  bei  Lähmung,  beim  Ein>chlafen.  und 
im  Greisenalter,  so  folgt  er  dem  Zuge  seiner  S<.>hwere.  und  sinkt  gegen  die  Brust. 

Die  Bacenversi*hiedenheiteii  der  Schädel  gehören  in  das  Gebiet  der  physischen 
Anthropologie.  Es  wird  hier  b1o8  erwähnt,  da.<s  die  Gestalt  des  Schädels  von 
der  Norm  des  g^falligren  OvaU  OrthfcepJiuii . ,  nach  zwei  Extremen  hin  abweicht. 
Es  giebt  L  stark  nach  hinten  verlängerte,  und  iV  in  dieser  Richtung  kurze  Bacen- 
fonnen  des  Schädels  ^DoÜrhor^pftnli  —  lirachyrephali,.  Repräsentanten  der  Doiicho- 
eephali  sind  die  Neger,  und  der  Rrarht/'-ephafi  die  »lavisclien  -besonders  die 
croatischeD  und  morlachischen i  Schädel.  Das  Gesicht  kann  bei  beiden  vorstehen, 
oder  senkrecht  abfallen,  d.  h.  prognathiscli  oder  orthognathisch  sein  »v-^iOo;,  Kiefer». 
Die  Germanen,  Gelten.  Britten  und  Juden,  sind  orthognathische,  die  Negfer  und 
Grönländer  prognathische  Formen  von  Langk^pfen.  Die  Magyaren.  Finnen,  Türken, 
sind  orthognathische,  die  Kalmileken,  Mongolen  und  Tartaren  prognathische  Kurz- 
kISpfe.  —  Das  Yerhältniss  der  Schädel  höhle  mm  Gesicht  ist  bei  den  Negern  kleiner 
als  bei  allen  übrigen  Racen.  und  ein  mit  36  Europäeri^cliädeln  verglichener  Neger- 
»chldel,  nahm  unter  allen  die  geringste  Was^ermenge  auf  'Saumarezi.  Wie 
wichtig  tdr  den  Künstler  die  nationalen  Formen  der  Schädel  sind,  kann  man  aus 
dem  Missfallen  entnehmen,  welche?«  ein  Fachmann  bei  dem  Anblick  sogenannter 
Meisterwerke  der  Kunst  empfindet.  Der  Daniel  von  Rubens  ist  kein  Jude,  seine 
sabinischen  Weiber  sind  Hf>lländeriimen,  Raphael's  Madonnen  sind  hübsche  Italiene- 
rinnen,  mid  Leasing*«  Hussiten  walirlich  keine  brachycephalischen  Czechen. 

Bei  angeborenem  Blödsinne  ist  die  Hirnschale,  selbst  bei  gewöhnlicher  Grösse 
des  Gesichts,  klein,  ja  kleiner  als  die^es.  Dagegen  finden  sich  eminente  Geistes- 
anlagen nicht  immer  in  grossen  Köpfm.  —  An  antiken  Statuen  von  Göttern  und 
Halbgöttern  waren  auch,  wahrscheinlich  um  das  Febermenschliche  auszudrücken, 
Gesichtswinkel  von  UH>"  beliebt.  Bei  Neugeborenen  ist  ilie^er  Winkel  durchschnitt- 
lieh tun  10*  grösser  als  bei  Envachsenen.  Bei  der  im  h«»heren  Aller  vorkommen- 
den Gehimatrophie,  verkleinert  er  ^ich  wieder,  durch  Einsinken  und  Abllachung 
der  8time. 

Es  wird  angegeben,  das?  der  weibliche-  Schädel  absolut  kleiner,  dabei  zu- 
gleich dünnwandiger,  imd  .<^omit  auch  leichter  als  ein  männlicher,  von  gleichem 
Alter  ist;  die  Hirnschale  soll  aber  im  Verhältniss  zum  Gesicht  grösser  sein  als 
beim  Manne.  A.  Weisbach  hat  im  3.  Bande  des  Archivs  fiir  Anthropologie, 
eine  sehr  aosführliche  Charakteristik  des  deutschen  Weiberschädel*  gegeben.  Ich 
gestehe,  dass  ich  mir,  obgleich  ein  ^Iter  Anatom,  nicht  zutraue,  in  der  fieschlechts- 
bestimmung  eines  Schädels,  nicht  zu  fehlen.  Anderen  geht  es  wohl  auch  nicht  besser. 

Ansfllhrliches  über  Schädclnies^ungen  enthalten  die  in  der  Literatur  .1er 
Knoehenlehre    (g.  156)    aufgeführten    Schriften,    welchen    noch  hinzuzufügen  sind: 


318  '    §•  118-  Altenv«nchi«d«iüieit  d«t  Soh&d«ls. 

P.  Broca,  Sur  le  plan  horizontal  de  la  tiU,  etc.  Paris,  187S,  und  desselben  Autors 
Menturation  de  la  caviU  du  crdne,  ibid,,  sowie  dessen  Etudes  Mur  Ua  propriASs 
hydmmitriques  des  crdnea,  etc,  Pttria,  1874. 


§.  118.  Altersverscliiedeiilieit  des  Schädels. 

lieber  die  Altersverschiedenheiten  des  Schädels  fasse  ich  mich 
in  Kürze. 

Bei  sehr  jungen  Embryonen  gleicht  die  Gestalt  des  Schädels 
einem  Sphäroid,  mit  ziemlich  gleichen  Durchmessern.  Das  Gesicht 
bt  nur  ein  kleiner ,  untergeordneter  Anhang  desselben.  Bei  Neu- 
geborenen, und  in  den  ersten  Lebensmonaten,  waltet  die  rundliche 
Form  des  Gesichts  noch  vor,  welche  sich  erst  von  der  Zeit  an,  wo 
die  Kiefer  mit  dem  Ausbruch  der  Zähne  als  Kauwerkzeuge  ge- 
braucht zu  werden  anfangen,  in  die  länglich-ovale  umwandelt.  Die 
Schläfenschuppe  nimmt  im  ersten  Kindesalter  verhältnissmässig  einen 
weit  geringeren  Antheil  an  der  Bildung  der  Schädelseiten.  Der 
Grund  der  Schläfengrube  ist  eher  convex  als  concav,  und  der 
grösste  Querdurchmesser  liegt  zwischen  beiden  Tuiera  parietcUia. 
Wegen  Prävalenz  des  Knochenknorpels  sind  die  Kopfknochen  des 
Kindes  weich  und  biegsam,  und  man  hat  Fälle  gesehen,  wo  sie 
durch  einen  Stoss  eingebogen,  aber  nicht  gebrochen  wurden.  Aeussere 
mechanische  Einflüsse  (Binden,  Schnüren,  localer  Druck)  ändern, 
bekannten  Erfahrungen  zu  Folge,  die  ^'orm  des  kindlichen  Schädels, 
und  somit  auch  jene  des  Gehirns,  ohne  die  geistigen  Fähigkeiten 
desselben  zu  beeinträchtigen.  So  besitzen  die  Chenoux  •  Indianer, 
welche  das  Flachdrücken  der  Stime  bis  zur  hässlichsten  Missstaltung 
treiben,  nicht  weniger  Intelligenz,  als  die  übrigen  westlichen  Indianer 
Nordamerika's,  welche  mit  der  natürlichen  Form  ihrer  Schädel  zu- 
frieden sind,  und  sie  deshalb  in  Ruhe  lassen  (Phrenologen  mögen 
dieses  beherzigen).  —  Die  Nasenhöhle  ist  klein;  ihre  Nebenhöhlen 
beginnen  sich  zu  entwickeln ;  die  Stirnhöhle  erst  im  zweiten  Lebens- 
jahre. Die  Mundhöhle  erscheint,  da  die  Alveolarfortsätze  der  Kiefer 
fehlen,  niedrig.  Die  Aeste  des  Unterkiefers  ragen  über  den  oberen 
Rand  des  Körpers  nur  wenig  hervor,  und  haben  eine  schiefe  Rich- 
tung nach  hinten.  Sie  verlängern  sich  erst  mit  dem  Auftreten  der 
Alveolarfortsätze,  und  dem  Ausbruche  der  Zähne. 

Vom  Eintritte  der  Geschlechtsreife  angefangen,  ändert  sich 
die  Form  des  Schädels  nicht  mehr,  und  bleibt,  ein  geringes  Zu- 
nehmen in  der  Peripherie  abgerechnet,  stationär.  Im  Mannesalter, 
und  zwar  schon  nach  dem  20.  Lebensjahre,  beginnen  einzelne  Nähte, 
durch  Verschmelzen  der  verschränkten  Nahtzacken,  zu  verstreichen. 
Im  Greisenalter  werden  die  Schädelknochen  dünn  und  spröde,  die 


§.  118.  Altersv«rMhi6d«nh«it  des  Seh&delt.  819 

Diploe  schwindet,  an  einzelnen  Stellen  (Keilbeinfortsatz  des  Joch- 
beins, Lamina  papyracea)  entstehen  durch  Resorption  der  Knochen- 
masse OeflFnungen.  Der  Greisenschädel  verliert  V5  von  seinem  vollen 
Gewichte  im  Mannesalter  (Tenon),  das  Cavum  cranii  verkleinert 
sich  wegen  Schwund  des  Gehirns,  sinkt  wohl  auch  an  den  Scheitel- 
beinen grubig  ein,  und  das  Gesicht  verliert,  durch  Ausfallen  der 
Zähne  und  Verschwinden  der  Alveolarfortsätze,  an  senkrechter  Höhe. 
Der  Unterkiefer,  welcher  seinen  ganzen  bezahnten  Rand  einbüsste, 
bildet  einen  grösseren  Bogen  als  der  Oberkiefer,  stösst  also  nicht 
mehr  an  diesen  an,  sondern  schliesst  ihn  bei  geschlossenem  Munde 
ein.  Das  Kinn  steht  vor  (mentan  en  gcUoche),  weil  die  Aeste  des 
Unterkiefers  eine  schiefe  Richtung  nach  hinten  annehmen,  und  nähert 
sich  der  Nase  (le  nez  et  le  menton  ae  dispiäent  entrer  la  hauche),  wo- 
durch die  Weichtheile  der  Backe,  welche  ihrer  Spannkraft  ebenfalls 
verlustig  werden,  lax  herabhängen,  oder  sich  faltig  einbiegen.  Die 
Kanten  und  Winkel  sämmtlicher  Schädelknochen  werden  schärfer 
und  dünner,  und  der  anorganische  Knoehenbestandtheil  erhält  über 
den  organischen  ein  solches  llebergewicht,  dass  geringe  mechanische 
Beleidigungen  hinreichen,  Brüche  des  Schädels  hervorzurufen. 

Obwohl  die  Knochen  de«  Schädeldaches  im  Embryo  früher  zu  verknöchern 
beginnen,  als  jene  des  Schädelgrundes,  so  ist  doch  um  die  Zeit  der  Geburt,  die 
Schädelbasis  zu  einem  festeren  Knochencomplex   gediehen,  als  das  Schädeldach. 

So  lange  die  Schädelknochen  noch  dünn,  und  die  Zacken  der  Nähte  nicht 
gut  ent^vickelt  sind,  ist  es  möglich,  dem  weichen  kindlichen  Schädel  durch  Druck 
eine  bleibende  Missstaltung  aufzubringen.  Dieses  war  und  ist  bei  gewissen  rohen 
Völkerstämmen  herrschende  Volkssitte.  Schon  Hippocrates  spricht  von  scythi- 
schen  Langköpfen  (MacrocephaU  scythaeij,  welche  durch  Kunst  (vinculo  et 
idoiiei»  artibus)  erzeugt  wurden.  Die  in  Oesterreich  zu  Grafenegg  und  Inzersdorf 
aufgefundenen  Avarenschädel  (Sitzungsberichte  der  kais.  Akademie,  1861,  Juli), 
und  die  von  Pentland  nach  Europa  gebrachten  alten  Peruanerschädel,  vom 
Stamme  der  Huancas,  sind  durch  fest  angelegte  Zirkelbinden,  deren  Eindruck 
noch  zu  erkennen,  zum  Wachsthum  in  die  Länge  gezwungen  worden.  Kox 
und  Adair  haben  uns  die  Verfahrungsart  der  Indianer  am  Columbiaflusse  und 
in  Nordcarolina,  die  Köpfe  ihrer  Kinder  bleibend  flach  zu  drücken,  mitgetheüt. 
Die  Wanasch,  und  einige  tartarische  Völker,  umwickeln  ebenso  die  Schädel 
ihrer  Kinder  bis  an  die  Augen,  wodurch  sie  sich  konisch  zuspitzen.  Zusammen« 
schnüren  durch  Riemen  (Lachsindianer),  Festbinden  in  einer  hölzernen  Form 
(Tschactas),  Einklemmen  zwischen  Brettern  (Omaguas)  sind  ebenfalls  im  Gebrauche* 
Die  merkwürdigste  Entstellung,  welche  ich  kenne,  sehe  ich  an  einem  Indianer- 
schädel aus  dem  Golf  von  Mexico,  der  am  Hinterhaupt  und  am  Scheitel  durch 
einen  breiten  tiefen  Eindruck  in  zwei  seitliche  halbkugelige  Vorsprflnge  zerfällt. 
Es  ist  aber  offenbar  zu  weit  geg^gen,  wenn  man  glaubt,  dass  das  breite  Hinter- 
haupt der  alten  Deutschen,  sowie  die  breiten  Schläfen  der  Belgier,  vom  Liegen 
der  Kinder  auf  dem  Hinterkopf  oder  auf  den  Seiten  des  Kopfes  (Vesal), 
die  runden  Köpfe  der  Türken  durch  den  Turban,  und  die  flachen  Köpfe  der 
Aeg^Tptier  und  einiger  Gebirg^sstämme ,  durch  das  Tragen  schwerer  Lasten  auf 
dem  Kopfe  entstanden  seien  (Hafeland).  Durch  FoYille*s  interessante  Ab- 
handlung  aber  Bchädelmissstaltong  erfahren   wir,  dass  in  einigen  Departements 


320  §.  119.  Sntwioklang  der  Kopfknocben. 

von  Frankreich,  das  Binden  des  Schädels  der  Neugeborenen  noch  üblich  sei.  Man 
bemerkt  an  Erwachsenen  noch  die  Spuren  der  Einschnürung.  Foville  hält 
diesen  Gebrauch  nicht  ohne  Einfluss  auf  später  sich  entwickelnde  Geistesstörungen. 
Unter  4SI  Irren  im  Hospice  von  Ronen,  hatten  247  den  vom  Schnürband  her- 
rührenden Eindruck.  Die  Irrenärzte  Dela je  undMitivi^  beobachteten  Gleiches. 
Es  muss  jedoch  beachtet  werden,  das«,  wo  das  Schnüren  des  kindlichen  Schädels 
Volksgebrauch  ist,  alle  Schädel,  somit  auch  jene  der  Irren,  die  Folge  der 
mechanischen  Gewaltanwendung  an  sich  tragen  müssen. 

Nicht  immer  werden  die  Schädel  im  Greisenalter  dünner.  Man  sieht  zu- 
weilen das  Gegentheü  stattfinden,  wenn  beim  beginnenden  Schvrund  des  Gehirns, 
nur  die  innere  Tafel  einsinkt,  und  der  vergrösserte  DiploSraum,  durch  Knochen- 
substanz ausgeftUlt  wird. 

Detailschildemngen  Über  den  knöchernen  Schädel  und  seine  Höhlen,  siehe 
in  meinem  Handbuche  der  topographischen  Anatomie.  1.  Bd.  Eine  auf  zahlreiche 
Messungen  gegründete  morphologische  Entwicklungsgeschichte  des  Kopfes,  enthält 
IL  Froriep'»  Charakteristik  des  Kopfes.  Berlin,  1845.  —  EngeT»  Schrift  über 
das  Knochengerüste  des  menschlichen  Antlitzes,  Wien,  1850,  bemühte  sich  dar- 
zulegen, dass  die  differente  Form  des  knöchernen  Antlitzes,  einem  auf  sie 
wirkenden  Mechanismus,  nämlich  der  Kraft  der  Kaumuskeln,  ihre  Entstehung 
verdankt. 


§.  119.  Entwicklung  der  Kopfknochen. 

Der  Schädel  ist,  wie  schon  mehrmals  erwähnt  wurde,  in  den 
frühesten  Perioden  des  Fötallebens,  eine  theils  häutige,  theils 
knorpelige  Blase.  Der  knorpelige  Antheil,  welcher  vorzugsweise  der 
zukünftigen  Basis  cranii  entspricht,  heisst  Jacobson's  Primordial- 
cranium.  Diese  Blase  verknöchert  auf  zweierlei  Art.  Erstens 
durch  Umwandlung  ihres  knorpeligen  Antheils  in  Knochen,  welche 
wenn  sie  fertig  sind,  ihrer  Entstehung  aus  Priraordialknorpel  wegen, 
Primordialknochen  des  Kopfes  heissen.  Zweitens  durch  Bildung 
von  Knochen  aus  einem  weichen,  auf  dem  häutigen  Antheil  der 
embryonalen  Schädelblase  abgelagerten  Blastem  (Deck- oder  Beleg- 
knochen). Die  Primordialknochen  gehören  der  Schädelbasis,  die 
Deckknochen  dem  Schädeldach  an. 

Die  Primordialknochen  gehen  also  aus  präexistirendem  Knorpel 
hervor.  —  Wie  entstehen  aber  die  Deckknochen?  —  lieber  diese 
Frage  haben  genaue  Forschungen  folgenden  Aufschluss  gegeben. 
Jeder  Deckknochen  ist  von  der  häutigen  Unterlage,  auf  welcher  er 
entsteht,  durch  eine  deutliche,  abpräparirbare  Lamelle  eines  unreifen, 
homogenen  Bindegewebes  getrennt,  und  besitzt  auch  auf  seiner 
äusseren  Fläche  eine  ähnliche  Bindegewebsschichte.  In  diesen 
Bindegewebsschichten  finden  sich  sehr  zahlreiche,  grössere  und 
kleinere  Zellen  mit  Kernen.  Diese  Zellen  wachsen  vorzugsweise 
nach  zwei  Richtungen  aus,  und  werden  spindelförmig.  Nicht  diese 
Zellen,  sondern  ihre  bindegewebige,   aber    nicht   deutlich   gefaserte 


i.  190.  begriff  and  iCiütböilaiig  der  Wirbel.  331 

Intercellularsubstanz  verknöchert,  durch  Ablagerung  der  Ejiochen- 
erde.  Das  erste  Erscheinen  einer  solchen  Ablagerung,  schafft  das 
sogenannte  Punctum  ossificatixmis.  Die  genetische  Verschiedenheit 
der  Deck-  und  der  Primordialknochen  ist  deragemäss  eine  wohl- 
begründete. Jedoch  ist  zu  bemerken,  dass  auch  bei  den,  aus  prä- 
formirtem  Schädelknorpel  entstandenen  Knochen,  die  Zunahme  an 
Dicke  gleichfalls,  wie  bei  den  Deckknochen,  durch  Verknöcherung 
eines  weichen  Blastems  stattfindet,  welches  durch  die  Beinhaut  an 
die  Oberfläche  des  Knochens  abgelagert  wird. 

Als  Deckknochen  des  Schädels  entstehen  folgende:  das 
Stirnbein,  die  Seitenwandbeine,  die  obere  Hälfte  der  Hinterhaupt- 
schuppe, und  die  Schläfebeinschuppe,  die  Nasen-,  Joch-,  Oberkiefer-, 
Thränen-  und  Gaumenbeine,  die  innere  Platte  der  Processus  ptery- 
goidei  des  Keilbeins ,  die  Pflugschar  und  der  Unterkiefer.  Als 
Primordialknochen  bilden  sich:  der  Grundtheil ,  die  untere 
Hälfte  der  Schuppe,  und  die  beiden  Gelenktheile  des  Hinterhaupt- 
beins, die  grossen  und  kleinen  Flügel  des  Keilbeins,  und  die  äussere 
Platte  der  jß'ocessus  pterygoidei,  das  Siebbein,  der  Felsen-  und  Warzen- 
theil  des  Schläfebeins,  die  untere  Muschel,  das  Zungenbein,  und  die 
Gehörknöchelchen  (Kölliker). 

Da  der  eben  besprochene  Gegenstand  vor  das  Foram  der  Entwicklungs- 
geschichte gehört,  80  verweise  ich  für  nähere  Details  auf  die  bezüglichen,  in  §.  85 
angeführten  Schriften.  —  Ein  bündiges  Kesum^  des  Wichtigsten  über  die  Ent- 
wicklung der  Kopfknochen,  gab  einer  der  thätigsten  Bearbeiter  dieses  Gegen- 
standes :  KoUiker,  in  seinem  „Bericht  über  die  zootomische  Anstalt  zu  Würz- 
burg. 1849.  4." 


B.  Knochen  des  Stammes. 

Die  Knochen  des  Stammes  werden  in  die  ürknochen  oder 
Wirbel,  und  in  die  Nebenknochen  eingetheilt.  Letztere  zer- 
fallen wieder  in  das  Brustbein,  und  die  Rippen. 


a)  lUrknochen  oder  AV^irbel. 

§.  120.  Begriff  und  Eintlieiluiig  der  Wirbel. 

Die  erste  Anlage  der  Wirbelsäule  im  Embryo  geht  jener  aller 
übrigen  Knochen  des  Skelets  voraus.  Es  sollte  deshalb  die  be- 
schreibende Osteologie  eigentlich  mit  der  Betrachtung  der  Wirbel 
beginnen.     Viele   Anatomen   verfahren    so,    und    die    Wirbelsäule 

Hyrtl,  Ubximeli '^  21 


322  §.  180.  Begriir  and  Eintheilnnff  der  Wirbel. 

verdiente  wohl  den  Vorzug  solcher  Behandlung^  da  sie  es  ist,  welche 
der  Eintheilung  der  gesammten  Thierwelt  in  zwei  Hauptgruppeii  : 
Wirbelthiere  und  Wirbellose,  zu  Grunde  liegt.  In  diesem 
Buche  wurde  dagegen  die  Osteologie  mit  den  Kopfknochen  be- 
gonnen, weil,  wenn  der  Anfänger  einmal  über  sie  hinaus  ist,  er  mit 
der  Beruhigung,  das  Schwierigste  bereits  überwunden  zu  haben, 
sich  an  das  Uebrige  macht. 

Als  Grundlage  und  Stativ  des  Stammes,  dient  eine  in  seiner 
hinteren  Wand  enthaltene,  gegliederte  und  bewegliche  Säule,  Wirbel- 
säule, oder  Rückgrat,  Columna  vertehralis,  s.  Spina  dorsi  (fox^, 
woher  Rhadhitü,  die  durch  Krümmung  der  Wirbelsäule  sich  äussernde 
englische  Krankheit).  Die  einzelnen  Knochen,  aus  welchen  diese 
Säule  besteht,  helssen  Wirbel,  Vertebrae  (oncovSuXoi).  Während  die 
Knochen  des  Kopfes  sehr  mannigfaltig  geformt  erscheinen,  und 
somit  keiner  dom  anderen  ähnlich  sieht,  sind  die  Knochen  der 
Wirbelsäule  alle  einander  ähnlich,  weil  ihnen  allen  ein  gemeinsamer 
Typus  ihrer  Gestaltung  zu  Grunde  liegt.  Der  bei  Weitem  grössere 
Theil  der  Wirbelsäule  ist  hohl,  zur  Aufnahme  des  Rückenmarks. 
Es  muss  somit  jeder  Wirbel  einen  kurzen,  hohlen  Cy linder  oder 
Ring  darstellen.  Nur  das  untere  zugespitzte  Ende  der  Wirbelsäule 
—  das  Steissbein  —  ist  nicht  hohl,  sondern  solide,  und  wird  nur 
deshalb,  weil  es  bei  den  Thieren,  wie  die  übrige  Wirbelsäule,  einen 
Kanal  und  in  diesem  eine  Fortsetzung  des  Rückenmarks  einschliesst, 
und  gewisse  typische  Uebereinstimmungen  in  der  Entwicklung  des 
Steissbeins  mit  den  übrigen  Wirbeln  vorkommen,  noch  unter  die 
Wirbel  gezählt.  —  Die  Wirbelsäule  wird  der  Länge  nach  in  ein 
Hals-,  Brust-,  Lenden-  und  Kreuzsegment  eingetheilt.  Das  Steissbein 
figurirt  nur  als  Anhang  des  letzteren. 

Das  Halssegment  der  Wirbelsäule  besteht  aus  sieben  Hals- 
wirbeln (Vertebrae  colli),  das  Brustsegment  aus  zwölf  Brustwirbeln 
(Vertebrae  thoracis) ,  das  Lendensegment  aus  fünf  Lendenwirbeln 
(Vertebrae  lumbalea).  Die  das  Kreuzsegment  zusammensetzenden 
fünf  Kreuzwirbel  (Vertebrae  sacrales)  verwachsen  im  Jünglingsalter 
zu  Einem  Knochen  (Kreuzbein),  und  heissen  deshalb  falsche 
Wirbel  (Vertebrae  spuriae) ,  während  die  übrigen  durch  das  ganze 
Leben  getrennt  bleiben,  und  wahre  Wirbel  (Vertebrae  verae)  ge- 
nannt werden.  Auch  die  vier,  ihrer  Form  nach  mit  Wirbeln  kaum 
mehr  vergleichbaren  Stücke  des  Steissbeins,  werden  den  falschen 
Wirbeln  beigezählt. 

Jeder  wahre  Wirbel  hat  folgende  Attribute,  qiiae  aerio  meminisse 
juvabit.  Als  vollständiger  Ring  besitzt  er  eine  mittlere  Oeffnung 
(Foramen  vertebrale),  und  eine  vordere  und  hintere  Bogenhälfte. 
Die  vordere  Bogenhälfte  verdickt  sich  bei  allen  Wirbeln,  mit  Aus- 
nahme des  ersten  Halswirbels,  zu  einer  kurzen  Säule,  welche  Körper 


§.  ISO.  Begriff  nnd  Eintheilnng  der  Wirbel.  323 

des  Wirbels,  Qyiyus  vertebrae,  heisst.  Dieser  Körper  zeigt  eine 
obere  und  untere  plane,  oder  massig  gehöhlte  Fläche.  Beide  dienen 
den  dicken  Bandscheiben,  welche  je  zwei  Wirbelkörper  unter  ein- 
ander verbinden,  zur  Anheftung.  Sie  sind  deshalb  rauh,  und  häufig 
an  macerirten  Wirbeln,  noch  mit  vertrockneten  Resten  dieser  Band- 
scheiben belegt.  Die  vordere  und  seitliche  Begrenzungsfläche  der 
Wirbelkörper  gehen  im  Querbogen  in  einander  über,  und  sind  zu- 
gleich von  oben  nach  unten  ausgeschweift.  Die  hintere,  dem  Foramen 
vertebrale  zugekehrte  Fläche  des  Körpers,  ist  in  beiden  Richtungen 
etwas  concav. 

Der  Körper  eines  Wirbels  besteht  über  und  über  aus  schwam- 
miger Knochenmasse.  Daher  sein  poröses  Ansehen,  welches  um  so 
mehr  auffallt,  je  grösser,  und  zugleich  je  älter  der  Wirbel  ist.  Zahl- 
reiche Oeftnungen,  deren  grösste  an  der  hinteren  Fläche  des  Wirbel- 
körpers getroffen  werden,  dienen  zum  Ein-  und  Austritt  von  Blut- 
gefässen, unter  welchen  die  Venen  weit  über  die  Arterien  prävaliren. 
Da  die  Festigkeit  der  Wirbelsäule  mehr  auf  ihren  Bändern  als  auf 
der  Stärke  der  einzelnen  Wirbelknochen  beruht,  so  wird  diese 
Oekonomie  der  Natur  in  der  Anbringung  compacter  Knochensubstanz 
begreiflich. 

Nur  die  hintere  Bogenhälfte  bleibt,  im  Verhältniss  zur 
vorderen,  spangenartig  dünn,  heisst  deshalb  vorzugsweise  Bogen, 
Arcus  vertebrae,  und  treibt  sieben  Fortsätze  aus.  Als  allgemeine 
Regel  hat  es  zu  gelten,  dass  nie  ein  Wirbelfortsatz  vom  Körper  des 
Wirbels,  sondern,  ohne  Ausnahme,  vom  Bogen  desselben  abgeht. 
Die  Fortsätze  der  Wirbel  dienen  entweder  zur  Verbindung  der 
Wirbel  unter  einander,  oder  zum  Ansatz  bewegender  Muskeln.  Sie 
werden  deshalb  in  Gelenkfortsätze  und  Muskelfortsätze  (Processtu 
articulares  et  muscidares)  eingetheilt.  Wir  zählen  drei  Muskel- 
fortsätze. Der  eine  ist  unpaar,  und  wächst  von  der  Mitte  des 
Bogens  nach  hinten  heraus,  als  Dornfortsatz,  Processus  spinosus;  die 
beiden  anderen  sind  paarig,  und  stehen  seitwärts,  als  Querfortsätze^ 
Processus  transversL  Die  Gelenk fortsätze  zerfallen  in  zwei  obere 
und  zwei  untere  (Processus  ascendentes  et  desc&iidentes).  Sie  sind,  wie 
der  Name  sagt,  mit  Gelenkflächen  vorsehen,  welche  bei  den  oberen 
Fortsätzen  nach  hinten,  bei  den  unteren  nach  vorn  gerichtet  sind. 
Denkt  man  sich  alle  Fortsätze  eines  Wirbels  weggeschnitten,  so 
erhält  man  die  Urform  des  Wirbels,  als  knöcherner  Ring. 

Der  Bogen  jedes  Wirbels  besitzt  dort,  wo  er  vom  Körper  ab- 
geht, also  noch  vor  den  Wurzeln  der  ab-  und  aufsteigenden  Gelenk- 
fortsätze, an  seinem  oberen  Rande  einen  seichten,  und  am  unteren 
Rande  einen  tiefen  Ausschnitt,  welche  beide  Ausschnitte  sich  mit 
den  entgegenstehenden  Ausschnitten  des  darüber  und  darunter  liegen- 

den  Wirbels  zu  Löchern  vereinigen.     So  entstehen  die  Zwischen- 

2l» 


324  i  ISl.  Hmlswirbei. 

wirbelbeinlöcher,  Foramina  intervertebrcdia  s,  conjugaia,  zum  Aus- 
tritte der  Rückenmarksnerven. 

Nicht  bei  allen  Wirbeln  wiederholen  sich  die  aufgezählten  Theile  in  der- 
selben Art  und  Weise,  and  nicht  bei  allen  sind  sie  übereinstimmend  an  Grösse, 
Richtong  nnd  Gestalt.  Sie  erleiden  vielmehr  an  einer  gewissen  Folge  von  Wirbeln 
sehr  wichtige  Modificationen ,  welche  einen  anatomischen  Charakter  der  verschie- 
denen Abtheilmigen  der  Wirbelsäule  bilden,  worüber  in  den  folgenden  Paragraphen 
gehandelt  wird. 

Vertebra  ist  von  ver^ere,  drehen,  abgeleitet,  und  somit  verwandt  mit  Vertex 
und  VorteXf  Wirbel,  Strudel  des  Wassers,  VerUcülus,  Quirl,  und  Vertigo, 
Drehschwindel;  —  wie  denn  auch  der  Scheitel  des  Hauptes  Vertex  heisst,  weil 
die  Haare,  um  ihn  hemm,  in  concentrischen  Kreisen  stehen. 

Bhachis  und  Spina  dorsi  bezeichnen  eigentlich  nur  den  durch  die  Spitzen 
der  Domfortsfitze  der  Wirbel  gebildeten,  senkrechten,  erhabenen  Kamm,  durch 
welchen  der  Rücken  in  zwei  gleiche,  seitliche  EUllften  abgetheilt  wird.  Die  Mauer, 
welche  den  rOmischen  Circus,  unvollständig  in  zwei  Hälften  theilte,  hiess  eben- 
falls Spina,  —  Wirbel  aber  stammt  von  dem  altdeutschen  toer6en,  d.  i.  drehen, 
und  dieses  von  werf,  ein  Kreis. 


§.  121.  Halswirbel. 

Es  überrascht  uns  nicht  wenig,  aus  der  vergleichenden  Anatomie 
zu  erfahren,  dass  alle  Säugethiere,  sie  mögen  langhälsig  sein,  wie 
die  Giraffe,  kurzhälsig  wie  das  Schwein,  oder  keinen  äusserlich 
wahrnehmbaren  Hals  besitzen,  wie  der  Walfisch,  sieben  Halswirbel 
haben.  Nur  bei  den  Faulthieren  steigt  ihre  Zahl  auf  acht  und  neun, 
und  bei  der  Seekuh,  welche,  ihrer  zum  Kriechen  und  zum  Halten 
des  Jungen  dienenden  Flossenfüsse  wegen,  Manatus,  schlecht  Manati 
heisst,  sinkt  sie  auf  sechs  herab. 

Ein  charakteristisches  Merkmal  sämmtlicher  sieben  Halswirbel 
des  Menschen,  liegt  in  der  Gegenwart  eines  Loches  in  ihren  Quer- 
fortsätzen, Foramen  transversarium ,  an  welchem  wir  eine  vordere 
und  hintere  Spange  unterscheiden.  Kein  anderer  Wirbel  hat  durch- 
bohrte Querfortsätze.  Man  beachte  es  vorerst,  dass  die  vordere 
Spange  von  den  Seiten  des  Körpers,  die  hintere  aber,  wie  die 
Querfortsätze  aller  übrigen  Wirbel ,  vom  Bogen  ausgeht.  Die 
vordere  Spange  hat  auch  in  der  That,  wie  in  der  Note  zu  diesem 
Paragraphe  gezeigt  wird,  nicht  die  Bedeutung  eines  Querfortsatzes, 
sondern  einer  festgewachsenen  sogenannten  Halsrippe. 

Mit  Ausnahme  der  beiden  ersten,  theilen  die  Halswirbel 
folgende  allgemeine  Eigenschaften.  Ihr  Körper  ist  niedrig  und  in 
die  Quere  gedehnt.  Die  obere  Fläche  ist  von  rechts  nach  links, 
die  untere  von  vorn  nach  hinten  concav.  Legt  man  zwei  Hals- 
wirbel über  einander,  so  greifen  die  sich  zugekehrten  Flächen  sattel- 
förmig in   einander  ein.     Der  Bogen   gleicht   mehr   den  Schenkeln 


§.  ISl.  Umltwirb«!.  325 

eines  gleichseitigen  Dreiecks,  dessen  Basis  der  Körper  vorstellt. 
Das  Foramen  vertebrcde  ist  somit  eher  dreieckig  als  rund.  Der 
horizontal  gerichtete  Dornfortsatz  der  mittleren  Halswirbel  spaltet 
sich  an  seiner  Spitze  gabelförmig  in  zwei  Zacken,  welche  am  sechsten 
Halswirbel  zu  zwei  niedrigen  Höckern  werden,  und  am  siebenten 
zu  einem  einfachen  rundlichen  Knopf  verschmelzen.  Die  durch- 
bohrten Querfortsätze  sind  kurz,  an  ihrer  oberen  Fläche  rinnen- 
artig gehöhlt,  und  endigen  in  einen  vorderen  und  hinteren  Höcker, 
Tuberculum  anterius  et  posterius.  Die  auf-  und  absteigenden  Grelenk- 
fortsätze  sind  niedrig,  ihre  Gelenkflächen  rundlich  und  vollkommen 
plan.  Die  oberen  sehen  schief  nach  hinten  und  oben ,  die  unteren 
schief  nach  vorn  und  unten.  Der  erste  und  zweite  Halswirbel  ent- 
fernt sich  auffallend,  der  siebente  nur  wenig  von  diesem  gemein- 
samen Vorbilde. 

Der  erste  Halswirbel  oder  der  Träger  (Atlas)  hat,  da  er 
keinen  Körper  besitzt,  die  ursprüngliche  Ringform  am  reinsten  er- 
halten. Er  besteht  nur  aus  einem  vorderen  und  hinteren  Halbringe, 
—  beide  gleich  stark.  Wo  diese  Halbringe  seitlich  mit  einander 
zusammenstossen ,  liegen  die  dicken  Seitentheile  (Massae  laterales 
atlantis),  welche  sich  in  die  stark  vorragenden  und  massigen  Quer- 
fortsätze ausziehen.  Obere  und  untere  Gelenkfortsätze,  so  wie  der 
Dornfortsatz ,  fehlen.  Statt  der  Gelenkfortsätze  finden  sich  nur 
obere,  von  vorn  nach  hinten  ausgehöhlte,  und  untere,  ebene,  über- 
knorpelte  Gelenkflächen.  Der  Dornfortsatz  ist  auf  ein  kleines 
Höckerchen  in  der  Mitte  des  hinteren  Halbringes  reducirt.  Ein 
ähnliches  am  vorderen  Halbringe  erinnert  an  den  fehlenden  Körper. 
In  der  Mitte  der  hinteren  Fläche  des  vorderen  Halbringes  liegt  eine 
kleine,  rundliche,  überknorpelte  Stelle,  mittelst  welcher  der  Athis 
sich  um  den  Zahnfortsatz  des  zweiten  Halswirbels  dreht.  Sein 
Foi'amen  vertebrale  übertrifft,  wegen  Mangel  des  Körpers,  jenes  der 
übrigen  Wirbel  an  Grösse.  Die  Ausschnitte,  welche  zur  Bildung 
der  Zwischenwirbellöchcr  dienen,  liegen  dicht  hinter  den  Massae 
laterales. 

Der  zweite  Halswirbel  (Epistrophem ,  von  aipe^eiv,  drehen), 
unterscheidet  sich  eben  so  charakteristisch  wie  der  Atlas,  von  dem 
obigen  Vorbilde  der  Halswirbel. 

Sein  kleiner  Körper  trägt  an  der  oberen  Fläche  einen  zapfen- 
förmigen  Fortsatz,  den  sogenannten  Zahn  (Processus  odontoideus, 
o5ou?  bei  Hippocrates) ,  welcher  an  seiner  vorderen  und  hinteren 
Gegend  mit  einer  Gelenkfläche  geglättet  erscheint,  und  in  den  Hals, 
den  Kopf,  und  die  Spitze  eingetheilt  wird.  —  Die  oberen  Gelenk- 
fortsätze fehlen,  und  finden  sich  statt  ihrer  blos  zwei  plane,  nmd- 
liche  Gelenkflächen  nahe  am  Zahne,  welche  etwas  schräg  nach 
aussen  und  abwärts  geneigt  sind.     Die   obere   Incisur   zur  Bildung 


326  §.  ISI.  Halswirbel. 

des  Zwischenwirbelloches  findet  sich  nur  als  Andeutung.  Der  an 
seiner  Spitze  zuweilen  in  zwei  kurze  Zacken  gespaltene  Domfortsatz, 
zeichnet  sich  durch  seine  Stärke  aus. 

Der  Name  Epiatropheua  wurde  nnprfing^Uch,  und  zwar  mit  vollem  etymo- 
logischen Recht,  dem  Atlas  beigelegt  (Julius  P oll ux).  Er  iat  es  ja,  welcher 
sich  dreht.  Der  zweite  Halswirbel  hiess  damals  aan»  (auch  «Stov),  oder  vertebra 
dentata.  Eine  Stelle  im  Camerarius  (CcmmefnL  uiriusque  Unguae,  pag.  235)  sagt 
ausdrücklich:  primua  tpondylua  Epiatropheu»  vocatur,  quan  conver»or,  aecundus 
appeUatur  Axon. 

Es  lässt  sich  beweisen,  dass  der  Zahn  des  Epistropheus  eigentlich  den  Körper 
des  Atlas  darsteUt,  welcher  aber  sich  frühzeitig,  vor  Beginn  der  Verknöcherung 
des  Atlas,  sich  von  diesem  ablöste,  und  mit  dem  zweiten  Wirbel  verschmolz.  Er 
schliesst  selbst  am  geborenen  Menschen  noch  einen  Ueberrest  jenes  knorpeligen 
Stranges  (Chorda  doraalU)  ein,  um  welchen  herum  sich  aUe  Wirbelkörper  bilden. 
(H.  Müller,  über  das  Vorkommen  von  Resten  der  Chorda  doraalis  bei  Menschen 
nach  der  Geburt,  m  der  Zeitschrift  für  rat.  Med.  N.  F.  2.  Band.)  Der  vordere 
Bogen  des  Atlas  kann  deshalb  nicht  einem  Wirbelkörper  gleichgesteUt  werden, 
sondern  ist  nur  eine  knöcherne  AusfUUungsmasse,  für  die,  durch  das  Ueberwandem 
des  Atlaskörpers  auf  den  Epistropheus,  entstandene  Oe£fhung. 

Der  siebente  Halswirbel,  welcher  an  Grösse  und  Con- 
figuration  den  Uebergang  zu  den  Brustwirbeln  bildet,  hat  den 
längsten  Domfortsatz ,  und  heisst  deshalb  Vertebra  promineiis.  Der 
Dom  erscheint  nicht  mehr  gespalten,  und  auch  nicht  horizontal  ge- 
richtet, sondern  etwas  schief  nach  abwärts  geneigt.  Am  unteren 
Rande  seines  Körpers  findet  sich  seitlich  öfters  ein  Stück  einer 
überknorpelten  Gelenkfläche,  welche  mit  einem  grösseren,  am  oberen 
Rande  der  Seitenfläche  des  ersten  Brustwirbels  vorkommenden,  die 
Gelenkgrube  für  den  Kopf  der  ersten  Rippe  bildet. 

Der  hinter  den  Seitentheilen  des  Atlas  liegende  Ausschnitt,  welcher  mit 
dem  Hinterhauptbein  eine  dem  Foramen  intervertebrale  der  übrigen  Wirbel  analoge 
Lücke  bildet,  wird  zuweilen,  wie  bei  den  meisten  vierftissigen  Thieren,  durch  eine 
darüber  weggea&ogene,  dünne  Knochenspang^  in  ein  Loch  umgewandelt.  —  Sehr 
selten  besteht  der  Atlas  aus  zwei,  durch*s  ganze  Leben  getrennt  bleibenden  seit- 
lichen Hälften,  oder  es  fehlt  dem  hinteren  Bogen  die  Mitte.  —  Das  Foranien 
tranaversarium  wird  doppelt  auf  einer,  oder  auf  beiden  Seiten.  —  Zuweilen  wird 
der  Zahnfortsatz  des  Epistropheus  so  lang,  dass  er  die  vordere  Peripherie  des 
grossen  Hinterhauptloches  erreicht,  und  mit  ihr  durch  ein  Gelenk  articulirt 

Durch  die  Löcher  der  Querforts&tse  der  Halswirbel,  läuft  die  Arteria  und 
Vena  vertebrali».  Nur  das  Foramen  tratuveraariitm  des  siebenten  Halswirbels  hat 
in  der  Regel  keine  Beziehung  zur  Wirbelarterie,  lässt  aber  doch  die  Wirbelvene 
durchgehen. 

Da  jener  AntheU  des  Querfortsatzes  eines  Halswirbels,  welcher  vor  dem 
Foramen  tranaversariuni  liegt,  vom  WirbelkOrper  ausgeht,  so  kann  eigentlich  nur 
die  hinter  dem  Foramen  tranaveraarium  gelegene  Spange  eines  Querfortsatzes,  als 
eigentlicher  Querfortsatz  gedeutet  werden.  Die  vergleichende  Anatomie  lehrt,  dass 
die  vordere  Spange  des  Foramen  tranaveraarium,  wirklich  nur  der  festgewachsene 
Hals  einer  Rippe  ist,  deren  Körper  unentwickelt  blieb.  Diese  Lehre  wird,  durch 
die  Gesetze  der  Entwicklung  der  Wirbel,  zu  einer  unumstösslichen  Wahrheit.  An 
sechs-  und  auch  siebenmonatlichen  Embryonen,   sieht  man  die  zu  einem  indepen- 


§.  12S.  Bmstwirbel.  327 

denten,  selbstständi^en,  rippenähnlichen  Stabe  entwickelte  vordere  Spange  des  Fa- 
ratnen  transversarium  am  siebenten  Halswirbel  sehr  gut.  Sie  soll  und  wird  später 
an  ihrem  inneren  Ende  mit  dem  betreffenden  Wirbelkörper,  an  ihrem  äusseren  Ende 
mit  der  Spitze  der  hinteren  Querfortsatzspange  verschmelzen.  Thut  sie  dieses 
nicht,  sondern  verlängert  sie  sich  im  Bogen  gegen  die  Brustbeinhaudhabe  hin,  so 
stellt  sie  eine  wahre,  freie,  und  bewegliche  Halsrippe  vor,  deren  Länge  eine 
verschiedene  sein  kann,  je  nachdem  sie  das  Brustbein  erreicht,  oder  schon  früher 
endigt  —  Unter  den  zahlreichen  Beobachtiuigen  über  das  Vorkommen  von  Hals- 
rippen (im  Wiener  anat.  Museum  vier  Fälle),  ist  wohl  die  von  Hasse  und 
Schwarz  die  interessanteste  ,  da  der  rippentragende  Wirbel  in  der  hinteren 
Spange  seines  Querfortsatzes,  zugleich  ein  Foramen  frmnwersariujn  besitzt.  Henle's 
Jahresbericht  für  1869,  pag.  82.  —  Nach  übereinstimmenden  Beobachtungen,  geht 
die  Arteria  sitftclavia,  welche  im  Bogen  über  die  erste  Rippe  wegläuft,  im  Falle 
des  Vorhandenseins  einer  längeren  Halsrippe  am  siebenten  Halswirbel,  über  diese 
Halsrippe  weg,  welche  dann  eine  Furche  zur  Aufnahme  der  Arterie  besitzt.  Aus- 
führliches giebt  Luschka:  lieber  Halsrippen  und  Ohmh  mn proste rnalia,  im  16.  Bande 
der  Denkschriften  der  kais.  Akad.,  lind  W.  Gruber,  in  den  M4m,  de  VAcad.  de 
Sf.-retershatnff.   1869. 

Sind  die  oberen  und  unteren  GelenkOäehen  der  Seitentheile  des  Atlas,  und 
die  oberen  Oelenkflächen  des  Epistropheus,  den  auf-  und  absteigenden  Gelenk- 
fortsätzen  der  übrigen  W^irbel  analog?  Die  Antwort  auf  diese  Frage  entnehme 
man  aus  folgendem  Ideengang.  Man  denke  sich  den  Atlas  mit  einem  Körper  ver- 
sehen. Dieser  Körjier  zerfalle  in  drei  Stücke,  ein  mittleres  und  zwei  seitliche. 
Das  mittlere  rücke  nach  hinten,  und  verschmelze  mit  dem  Körper  des  zweiten 
Halswirbels,  dessen  Zahn  es  vorzustellen  hat  Die  beiden  seitlichen  rücken  aus- 
einander, werden  oben  und  unten  überknorpelt,  und  stellen  somit  die  Masaae 
latei'ales  atlarUis  dar,  mit  ihren  oberen  und  unteren  Gelenkflächen.  Wären  diese 
Gelenkflächen  Analoga  der  auf-  und  absteigenden  Gelenkfortsätze  anderer  Wirbel, 
so  müssten  ja  die  Ausschnitte  zur  Bildung  der  Foramina  irUervertehralia ,  vor 
ihnen  liegen,  wie  bei  allen  übrigen  Wirbeln.  Sie  liegen  aber  hinter  ihnen,  wie 
bei  den  übrigen  Wirbeln  hinter  den  Seitentheilen  ihrer  Körper.  Die  durch  das 
Auseinanderrücken  der  drei  gedachten  Antheile  des  Atlaskörpers  entstehende 
Lücke,  wird  durch  zwei  Ossificationspunkte  eingenommen,  welche  durch  ihr  Wachs- 
thum  und  endliche  Confluenz,  den  vorderen  Bogen  des  Atlas  darstellen. 


§.  122.  Brustwirbel. 

Die  zwölf  Brustwirbel  sind  Rippenträger,  und  besitzen  deshalb, 
als  Wahrzeichen  ihrer  Gattung,  an  den  Seiten  ihrer  Körper  kleine 
überknorpelte  Gelenkstellen,  zur  Verbindung  mit  den  Rippenköpfen. 
Diese  Gelenkstellen  verhalten  sich  folgendermassen.  Jeder  der 
neun  oberen  Brustwirbelkörper  hat  an  seiner  Seitengegend  zwei 
unvollständige,  concave  Gelenkgrübchen;  das  eine  am  oberen,  das 
andere  am  unteren  Rande.  Ersteres  ist  immer  grösser,  letzteres 
kleiner.  Thürmt  man  die  Wirbel  über  einander,  so  ergänzen  sich 
die  zusammenstossenden ,  unvollständigen,  flachen  Grübchen,  zu 
vollständigen,  concaven  Gelenkflächen  für  die  Rippenköpfe  —  Foveae 
articvlares.     Hat  der  siebente  Halswirbel  kein  Stück  einer  Gelenk- 


328  S-  19S-  Lendenwirbel. 

fläche  am  unteren  Rande  seiner  Seitenfläche,  8o  wird  das  Grübchen 
für  den  ersten  Rippenkopf,  blos  durch  die  Gelenkfläche  ara  oberen 
Rande  der  Seitenwand  des  ersten  Brustwirbels  gebildet.  Der  eilfte 
und  zwölfte  Brustwirbel  hat  eine  vollkommene  Fovea  articularis  am 
oberen  Rande.  Somit  wird  der  zehnte  nur  eine  unvollkommene 
Gelenkfläche,  und  zwar  an  seinem  oberen  Rande,  besitzen  können. 
—  Die  sonstigen  Attribute  der  Brustwirbel  sind  folgende.  Der  Quer- 
schnitt der  obersten  und  untersten  Brustwirbelkörper  ist  oval,  jener 
der  mittleren  dreieckig,  mit  gerundeten  Winkeln.  Am  vorderen  Um- 
fange des  Körpers  ist  dessen  Höhe  etwas  geringer,  als  am  hinteren. 
Die  Körper  der  Brustwirbel  gewinnen,  von  oben  nach  unten  ge- 
zählt, zusehends  an  Höhe.  Der  Querdurchmesser  nimmt  bis  zum 
vierten  an  Grösse  ab,  von  diesem  bis  zum  zwölften  aber  zu.  —  Das 
Foramen  vertebrale  der  Brustwirbel  ist  kreisförmig  und  kleiner,  als 
an  den  Hals-  und  Lendenwirbeln.  Die  Dornfortsätze  sind  lang,  drei- 
seitig, zugespitzt,  an  den  oberen  Brustwirbeln  massig  schief,  an  den 
mittleren  stark  schief  nach  unten  gerichtet,  und  dachziegelfiirmig  ein- 
ander deckend.  An  den  unteren  Brustwirbeln  zeigen  die  Dornfortsätze 
eine  horizontale  Richtung.  Die  Querfortsätze  sind  nur  an  den  oberen 
acht  Brustwirbeln  lang  und  stark.  Vom  neunten  bis  zum  zwölften 
Brustwirbel  werden  sie  so  kurz,  dass  sie  eigentlich  kein  Anrecht  mehr 
auf  die  Benennung  von  Fortsätzen  haben,  und  nur  niedrigen  Höckern 
oder  Zapfen  gleichen.  —  Die  aufgetriebenen,  knopfförmir;en  Enden 
der  zehn  oberen  Querfortsätze,  besitzen  nach  vorn  sehende,  seichte, 
überknorpelte  Gelenkflächen,  zur  Aufnahme  der  Tubercida  costarum. 
Die  auf-  und  absteigenden  Gelenkfortsätze  stehen  vollkommen 
vertical,  und  ihre  rundlichen,  planen  Gelenkflächen,  sehen  direct 
nach  hinten  und  nach  vorn. 

Die  Domfortdfitze  der  oberen  und  mittleren  Brustwirbel  liegen  selten  in 
der  verticalen  Durchschnittsebene,  sondern  weichen,  besonders  bei  Frauen,  welche 
sich  stark  schnüren,  etwas  nach  rechts  ab. 

Grosse  morphologische  Wichtigkeit  beansprucht  eine  an  der  hinteren  Fläche 
aller  Brustwirbel-Querfortsätze  bemerkbare  Rauhigkeit.  Sie  dient  gewissen  Muskeln 
des  Rückens  zum  Angriffspunkt.  An  den  kurzen  Querfortsätzen  der  untersten 
Brustwirbel  trifft  man  sie  öfters  in  zwei  über  einander  gestellte  Höcker  zer- 
fallen (§.  123). 

Die  Fovea  artictdaria  am  11.  und  12.  Brustwirbel  wird  am  Skelete  sehr 
oft  so  undeutlich,  dass  sie  mehr  einem  rauhen  Höcker  gleicht 


§.  123.  Lendenwirbel. 

Den  fünf  Lendenwirbeln  fehlen  die  Löcher  in  den  Quer- 
fortsätzen, 80  wie  die  Gelenkflächen  am  Körper,  und  am  Ende  der 
Querfortsätze.     Ihr  anatomischer  Charakter  ist  somit  ein  negativer. 


§.  ISS.  Iiendenwirbel.  329 

In  ihrer  stattlichen  Grösse  liegt  kein  absolutes  Unterscheidungs- 
merkmal von  den  übrigen  Wirbeln,  da  ein  junger  Lendenwirbel 
kleiner  ist  als  ein  alter  Hals-  oder  Brustwirbel.  Ihr  Körper  ist 
queroval,  das  Loch  für  das  Rückenmark  rund.  Die  Domfortsätze 
sind  seitlich  comprimirt,  hoch,  und  horizontal  gerichtet,  —  die 
Querfortsätze  schwächer  als  an  den  Brustwirbeln,  imd  vor  den 
Gelenkfortsätzen  wurzelnd.  Die  nach  innen  und  hinten  sehenden 
Gelenkflächen  der  oberen  Gelenkfortsätze  stehen  senkrecht,  und  sind 
von  vorn  nach  hinten  concav.  Die  unteren  Gelenkfortsätze  stehen 
näher  an  einander  als  die  oberen;  ihre  Gelenkflächen  sehen  nach 
aus-  und  rückwärts,  und  sind  convex.  Passt  man  also  zwei  Lenden- 
wirbel zusammen,  so  werden  die  unteren  Gelenk fortsätze  des  oberen 
Wirbels,  von  den  oberen  des  unteren  Wirbels  umfasst.  —  Der 
Körper  des  fünften  Lendenwirbels  ist  vorn  merklich  höher,  als 
hinten,  was  auch  bei  den  übrigen  Lendenwirbeln,  aber  in  viel 
geringerem  Grade,  vorkommt. 

Zwischen  dem  oberen  Gelenkfortsatz  und  der  Wurzel  des 
Querfortsatzes,  findet  sich  regelmässig  ein  stumpfer  Höcker,  oder 
eine  rauhe,  vom  oberen  zum  unteren  Rande  des  Querfortsatzes 
ziehende  Leiste,  welche  Processus  accessorius  heisst.  Am  äusseren 
Rande  des  oberen  Gelenkfortsatzes  kommt  eine  ähnliche  Erhabenheit 
vor,  welche  man  als  Processus  mammillaris  bezeichnet.  Der  Processus 
accessorius  find  mammillaris  sind  in  der  That  nur  höhere  Entwicklungs- 
stufen jener  Rauhigkeit,  welche  in  der  Note  des  vorhergehenden 
Paragraplies,  an  der  hinteren  Fläche  der  Brustwirbel -Querfortsätze 
angeführt  wurde,  und  deren  Zerfallen  in  zwei  über  einander  liegende 
Höcker,  den  Uebergang  zu  den  getrennten  Processus  accessarius  und 
mammillaris  bildet. 

Die  unteren  Ränder  der  breiten  und  von  den  Seiten  comprimirten  Dorn- 
fortsätze der  Lendenwirbel,  erscheinen  gegen  die  Spitze  wie  eingefeilt,  wodurch 
zwei  seitliche  Höckerchen  entstehen.  Die  zwischen  beiden  Höckerchen  befindliche 
Vertiefung  (Erinnerung  an  die  gegabelten  Dornen  der  Halswirbel)  erscheint  zu- 
weilen, wegen  Reibung  an  dem  oberen  Rande  des  nächstfolgenden  Dornfortsatzes 
beim  starken  Rückwärtsbiegen  der  Wirbelsäule,  wie  eine  Gelenkfiäche  geglättet. 
Seltener  findet  sich  am  unteren  Rande  der  Spitze  des  Dornfortsatzes  ein  besonderer, 
hakenförmig  nach  unten  gebogener  Höcker,  welcher  an  den  nächsten  Domfortsatz 
stösst,  und  mit  ihm  ein  wahres  Gelenk  bildet  (Mayer). 

Eine  schon  im  Mannesalter  auftretende  Verwachsung  des  letzten  Lenden- 
wirbels mit  dem  Kreuzbein,  kommt  nicht  gar  selten  vor,  und  bildet  den  Ueber- 
gang zur  normalen  Verwachsung  der  falschen  Kreuzbein wirbel.  Bei  Individuen 
von  besonders  hoher  Statur,  erscheint  die  Zahl  der  Lendenwirbel  um  einen  Wirbel 
vermehrt.  —  Ich  besitze  den  ffinften  Lendenwirbel  eines  Erwachsenen,  dessen 
Bogen  und  untere  Gelenkfortsätze  mit  dem  Körper  nicht  verschmolzen  sind. 

Durch  vergleichend  anatomische  Untersuchung,  und  durch  die  Ergebnisse 
der  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbelsäule,  lässt  es  sich  beweisen,  dass  die 
Processus  transversi  der  Lendenwirbel  eigentlich  den  Rippen,  nicht  aber  den 
Qnerfortsätzen  der  übrigen  Wirbel  analog  sind.   Sie  sollten  somit  besser  Processus 


S^>  §.  IM.  Knntbtin. 

•^«j«<ur^«  l^'iMuint  wi^nien.  Der  Qiierfortsatz  der  übrigen  Wirbel  wird  an  den  Lenden- 
>*irWln  vlurvh  den  I^itfcrMtM  accejutoriuM  repräsentirt  Die  anatomischen  Verhält- 
utn^  vier  KtSokennuiskeln  hekrSftigen  diese  Auffassung.  Ausführlich  über  diesen 
l«e^n«tand  handelt  Ret  «ins»  in  MüUer'a  Archiv,  1849,  und  He  nie,  im  Hand- 
Kttche  der  »vjtemat.  Anatomie,  Knochenlehre. 


§.  124.  Kreuzbein. 

I>rt«  KnMi7.be in  (0$  sacrum,  latum,  clumum,  vertebra  magna) 
wuhI  auoh  hoilijifCH  Bein  genannt.  Der  Name  stammt  wohl  daher, 
ilaH8  clor  Knochen,  als  der  grösste  Wirbel,  von  den  Griechen  [lI-^ol^ 
5xiv8\iXc;  genannt,  und  lepb;  (heilig)  sehr  oft  für  fx^Y«?  gebraucht 
wurdo,  80  z.  B.  *IX'.o;  ipTi5,  und  Upb?  tcovto;  bei  Homer.  Graecis 
omnia  magna,  sacra  vocabantur ,  sagt  Spigelius.  Hiess  doch  auch 
dor  UUckgratskanal :  tepr;  cOpiY?,  d.  i.  thtula  sacra  tiir  den  Funü 
argunttiiia  des  Rückenmarks,  nach  einer  Stelle  bei  Lauren tius. 

Diese  Erklärung  eines  seltsam  klingenden  Namens  scheint  mir  richtiger  als 
|eno,  nacli  welcher  der  Knochen,  der  Nachbarschaft  des  kothhältigen  Mastdarms 
wegen,  Oa  Macntm  genamit  wurde,  wo  sacrum  so  viel  als  detestandum  be- 
zeichnet. Allerdings  findet  man  auch  ftir  diese  Interpretation  gewährleistende 
Stellen  in  römischen  Schriften.  So  heisst  es  im  Gesetz  der  zwölf  Tafeln:  Homo 
aacer  ia  eat,  quem  popidtia  judiearU  ob  nialeficium,  und  ferner:  Palronua,  ai  dienti 
fraudem  fecerit,  aacer  eato.  Uebrigens  wird  bei  Hippocrates  auch  der  zweite 
und  siebente  Halswirbel,  und  der  fünfte  Lendenwirbel  als  ix^ya;  onovSuXo;  benannt 
—  Dass  das  Oa  aacrum  an  den  Opferthieren  sammt  dem  Mastdarm  ausgeschnitten 
wurde,  geschah  nicht  des  Mastdarms  wegen,  sondern  weil  die  Opferpriester  das 
hinter  diesem  Knochen  lagernde  beste  Fleisch  des  Thieres,  für  sich  zu  behalten 
wünschten. 

Das  Kreuzbein  repräsentirt  den  grössten  Knochen  der  Wirbel- 
säule, und  besteht  aus  fünf  unter  einander  verschmolzenen  falschen 
Wirbeln,  deren  Grösse  von  oben  nach  unten  so  rasch  abnimmt,  dass 
das  Kreuzbein  einem  nach  unten  zugespitzten  Keile  gleicht,  welcher 
zwischen  die  beiden  Hüftbeine  des  Beckens  eingezwängt  steckt,  den 
Beckenring  nach  hinten  schliesst,  und  der  auf  ihm  ruhenden  Wirbel- 
säule als  Piedestal  dient.  Obwohl  jeder  der  fünf  noch  unverwachsenen 
Kreuzbeinwirbel  eines  jugendlichen  Individuums,  die  Attribute  eines 
Wirbels  ganz  kenntlich  zur  Schau  trägt,  ist  doch  das  aus  der  Ver- 
wachsung dieser  Wirbel  hervorgegangene  Kreuzbein,  einem  Wirbel 
so  unähnlich,  dass  es  füglich  als  falscher  Wirbel  bezeichnet 
werden  kann.  Die  concav-convexe  Gestalt  dieses  Knochens,  lässt 
auch  einen  Vergleich  mit  einer  Schaufel  zu,  oder  besser  noch  mit 
einer  umgestürzten,  nach  vom  concaven  Pyramide,  an  welcher  eine 
nach  oben  gekehrte  Basis,  eine  vordere  und  hintere  Fläche,  und 
zwei  Seitenränder  unterschieden  werden.  Die  Basis  zeigt  in  ihrer 
Mitte  eine  ovale  Verbindungsstelle  für  den  letzten  Lendenwirbel 
welche    Verbindung ,    da    die    Axe    des   Kreuzbeins   nicht   in    der 


f.  1S4.  Krausbein.  331 

Verlängerung  der  Axc  der  Lendenwirbelsäule  liegt,  sondern  nach 
hinten  abweicht,  einen  vorspringenden  Winkel  bildet,  welcher  in 
der  Geburtshilfe  als  Vorberg,  Pt^omontorium ,  bekannt  ist.  Hinter 
dieser  Verbindungsstelle  liegt  der  dreieckige  Eingang  zu  einem,  das 
Kreuzbein  von  oben  nach  unten  durchsetzenden  Kanal,  welcher  eine 
Fortsetzung  des  Kanals  der  Wirbelsäule  ist,  und  Canalis  sacraiU 
genannt  wird.  Rechts  und  links  von  diesem  Eingange  ragen  die 
beiden  oberen  Gelenkfortsätze  des  ersten,  falschen  Kreuzwirbels 
hervor.  Die  vordere  Fläche  ist  concav,  und  zeigt  vier  Paar  Löcher 
(Foramina  aacralia  anteriora),  welche  von  oben  nach  unten  an  Grösse 
abnehmen,  und  zugleich  einander  näher  rücken.  Die  Löcher  eines 
Paares  verbindet  eine  quere,  erhabene  T^eiste  (als  Spur  der  Ver- 
wachsung der  falschen  Kreuz wirbelkörper).  Auswärts  von  den 
vorderen  Kreuzbeinlöchern  liegen  die  sogenannten  Massae  laterales 
08818  8acri,  welche  durch  die  nach  unten  convergirenden  breiten 
Seitenränder  begrenzt  werden.  Die  convexe  und  unebene  hintere 
Fläche  zeigt  eine  mittlere  und  zwei  seitliche ,  parallele ,  rauhe 
Leisten,  welche  eine  Reihenfolge  verschmolzener  Höcker  darstellen. 
Die  mittlere  Leiste,  Crista  sacralü  media  genannt,  wird  durch  die 
unter  einander  verwachsenen  Domen  der  falschen  Kreuzwirbel ;  die 
beiden  seitlichen,  als  Cristae  sacrales  laterales,  durch  die  zusammen- 
fliessenden,  auf-  und  absteigenden  Gelenkfortsätze  derselben  gebildet. 
Am  unteren  Ende  der  mittleren  Leiste,  liegt  die  untere  Oeffnung 
des  Canalis  sacralis,  als  sogenannter  Kreuzbeinschlitz  (Hiatus  sacralis). 
Zwei  abgerundete  Höckerchen  ohne  Gelenkfläche,  welche  die  ver- 
kümmerten absteigenden  Gelenkfortsätze  des  letzten  falschen  Kreuz- 
wirbels darstellen,  stehen  seitwärts  vom  Hiatus  sacralis.  Man  nennt 
sie  Comua  sacralia.  Den  vorderen  Kreuzbeinlöchern  entsprechend, 
finden  sich  auch  hintere  (Foramina  sacraiia  posteriora),  welche  kleiner 
und  unregelmässiger  gestaltet  sind,  als  die  vorderen.  —  Die  nach 
unten  convergirenden  Seitenränder  des  Kreuzbeins,  zeigen  an  ihrem 
oberen,  dickeren  und  breiteren  Ende,  eine  nierenformige  Verbindungs- 
fläche für  die  Hüftknochen,  und  gehen  nach  unten  in  eine  stumpfe 
Spitze  über,  an  welche  sich  das  Steissbein  anschliesst.  Bevor  sie 
diese  Spitze  erreichen,  werden  sie  halbmondft^rmig  ausgeschnitten  — 
Indsura  sacro-coccygea. 

Eine  durch  die  vorderen  Krenzbeinlöcher  eingeführte  Sonde,  tritt  durch  die 
hinteren  aus.  Beide  Arten  von  Löchern  sind  somit  eigentlich  die  Endmtlndungen 
kurzer  Kanäle,  welche  den  Knochen  yon  vom  nach  hinten  durchsetzen.  Diese 
Kanäle  stehen  mit  dem  senkrechten  Hauptkanal  (Canalis  »acrcUisJ  durch  grosse 
Oeffiiungen  in  Verbindung. 

Die  Bedeutung  der  einzelnen  Formbestandtheile  des  Kreuzbeins  als  Wirbel- 
elemente, wird  durch  die  Untersuchung  jugendlicher  Knochen,  wo  die  Verwachsung 
der  fünf  falschen  Wirbel  zu  Einem  Knochen  noch  nicht  vollendet  ist,  aufgeklärt 
Man  überzeug^  sich  an  solchen,  dass  die  hinteren  KreuzbeinlOcher  den  ZwiBchea- 


«2 


$.  1».  SUissbein. 


niumon  j^  xwoior  WirWUu>(r«'n  entsprechen,  während  die  drei  Reihen  der  ver- 
?»cl»niol«onon  Ooni-  nmi  iielenkfortoäUe,  in  den  drei  longitudinalen  Leisten  an 
dor  hintenMi  Klüoho  des  Knochens  erkannt  werden.  Man  denke  sich  fHnf  rasch 
An  t^KU'.o  ."^hnehmende,  nnd  mit  langen  und  massigen  QuerforfcȊtzen ,  so  wie  mit 
oHo«  »olohon  A*!»t|r^wach!«enen.  Rippenhälsen  (wie  bei  den  Halswirbeln)  ausgestattete 
\ViHH»U  an  ihrvn  Ki^niem,  und  an  den  Enden  ihrer  Querfortsätze  und  Rippenhälse, 
«ul  «nnAndt'r  vi^rwachsen,  so  hat  man  einen  einfachen  pyranudalen  Knochen  mit 
wnh^ifvr  S|»it»,»  )^'M>haffen,  welcher  dem  Kreuzbein  gleicht.  Die  Maagae  laterales 
y\%^^  Krt»u«boin*  wind  es,  welche  durch  die  Verschmelzung  der  massigen  Querfort- 
'^ÄUk^  wmi  Rip)H*nhälse  der  fllnf  Kreuzbeinwirbel  zunächst  gebildet  werden. 

K<(»ln  Kmu^hen  bietet  so  zahlreiche  Verschiedenheiten  seiner  Form  dar,  wie 
*U*  Kr««u«bt«in.  Fälle,  wo  das  erste  Stück  des  Steissbeins,  oder  der  letzte  Lenden- 
>WrboK    mit    dem    Kreuzbein    verwachsen    ist,    dürfen    nicht  für  eine  Vermehrung 
»•oint^r  NYirbelzahl  angesehen  werden.  Wirkliche  Vermehrung  der  Kreuzbeinwirbel 
Kft^httrt    SU    tlen    grössten    Seltenheiten.     Verminderung   der  Krouzwirbel    auf  vier, 
Kniin  eine  wirkliche    sein,    oder    dadurch    gegeben  werden,  dass  der  erste  Kreuz- 
wlrhel    »icli    selbstständig    macht,    und    einem    sechsten   Lendenwirbel  gleicht.  — 
Albin  und  Sandifort   haben    zuerst  eine   interessante  Anomalie  des  Kreuzbeins 
erwähnt,    wo  der    erste    falsche  Kreuzwirbel    auf  der    einen  Seite  die  Form  eines 
Lendenwirbels,  auf  der  anderen  die  Beschaffenheit  eines  Kreuzwirbels  hatte.  Dieser 
Fall  muss  von  jenem  unterschieden  werden,  wo  die  eine  Hälfte  des  Hinften  Lenden- 
wirbels, oder    beide,    durch    massige    Entwicklung    ihrer  Querfortsätze    und  mehr 
weniger  vollständige    Verschmelzung   derselben   mit   den   Seitentheilen   des  ersten 
Kreuzwirbels,   diesem   Wirbel    ,,assimilirt"    werden   (Dürr,   in  der  Zeitschr.  für 
wiss.  Med.  3.  Reihe.  8.  Bd.).    —   Unvollkommene  Schliessung,  oder  Offensein  des 
CanalU  scicralis  in  seiner  ganzen  Länge,  findet  man  oft  genug.    Ich  besitze  einen 
sehr  merkwürdigen  Fall  von  anomaler  Bildung  des  Kreuzbeins,   wo  die  seitlichen 
Bogenhälften  der  falschen  Wirbel,  welche  durch  ihre  Nichtvereinigung  das  Offen- 
bleiben   des    Sacralkanals    bedingen,    mit    einander    so   verwachsen  sind,  dass  die 
rechte  Bogenhälfte    des    ersten  Wirbels    mit    der    linken    des  zweiten,    die  rechte 
Hälfte  des  zweiten  mit  der  linken   des   dritten,  u.  s.  w.   zusammenstösst,  wodurch 
eine  ganz   sonderbare   Verschobenheit    der  hinteren   Flächenansicht  entsteht.     Die 
linke  Bogenhälfte  des  ersten,  und  die  rechte  Bogenhälfte  des  letzten  Kreuzwirbels 
ragen  als  stumpfe  Höcker  unverbunden   hervor.     An   einem    zweiten  Falle  wächst 
zwischen  dem  ersten  und  zweiten  hinteren   Foramen  aacreUe,  rechterseits  ein  stumpf- 
pyramidaler  Fortsatz  heraus,  der  sich  nach  aussen  krümmt,   und  mit    der  Tubero- 
aitaa  oania  ilei  durch  Synchondrose  zusammenstösst. 

Da  das  Kreuzbein  an  der  Bildung  des  Beckenringes  participirt,  und  von 
seiner  Grösse  und  Gestalt  die  in  beiden  Geschlechtem  sehr  ungleiche  Länge  und 
Weite  des  Beckens  vorzüglich  abhängt,  so  muss  der  Geschlechtsunterschied  an  ihm 
sehr  deutlich  ausgesprochen  sein.  Es  gilt  als  Norm,  dass  das  weibliche  Kreuzbein 
breiter,  kürzer,  gerader,  nnd  mit  seiner  Läng^naxe  mehr  nach  hinten  gerichtet  ist, 
als  das  männliche. 


§.  125.  Steissbein. 

Das  Steissbein,  Os  coccygis  (Kukuksbein,  von  x6kxu5,  dessen 
Schnabelform  jener  des  Steissbeins  ähnelt),  stellt  eigentlich  eine 
Folge  von  vier  kleinen  Knochen  dar,  an  deren  erstem  und  zugleich 
grösstem,   nur   wenig  Attribute   eines  Wirbels,   an  den  übrigen  gar 


S.  1S6.  dtaiubein.  333 

keine  mehr  zu  erkennen  sind.  Man  begreift  in  der  That  nicht, 
wozu  sie  da  sind.  Die  Darwinisten  sehen  im  Steissbein  ein  Erbtheil 
von  den  Vorältern  der  Menschen  —  den  AflFen  (von  welchen  aber 
jene  der  alten  Welt,  ebensowenig  wie  der  Mensch,  einen  Schweif 
besitzen). 

Die  den  Wirbeln  zukommende  Ringform,  ist  bei  diesen  vier 
Steissbeinen  ganz  eingegangen,  da  die  Bogen  fehlen,  und  nur  ein 
Rudiment  des  Körpers  erübrigt.  Das  erste  Stück  des  Steissbeins, 
hat  noch  Andeutungen  von  aufsteigenden  Gelenkfortsätzen,  welche 
nun  Comua  coccygea  heissen.  Sie  wachsen  den  Comua  sacraiia 
des  letzten  Kreuzbeinwirbels  entgegen,  ohne  sie  zu  erreichen. 
Seine  etwas  in  die  Quere  ausgezogenen  Seitentheile ,  mahnen  an 
verkümmerte  Processus  transversi.  Die  Verbindungsstelle  des  ersten 
Steisswirbels  mit  der  abgestutzten  Kreuzbeinspitze,  ist  noch  das 
wenigst  entstellte  Ueberbleibsel  einer  oberen  Wirbelfläche.  Die 
am  unteren  Ende  des  Seitenrandes  des  Kreuzbeins  erwähnte  halb- 
mondförmige Incisura  sacro-coccygea ,  wird  durch  Anlagerung  des 
ersten  Steisswirbels  zwar  bedeutend  vertieft,  aber  nicht  zu  einem 
Loche  vervollständigt.  Sie  stellt  nur  ein  misslungenes  Foramen  inter- 
vertebrale  dar. 

Bei  den  LaUiw-barhari  heisst  das  Steissbein  kurzweg  Cauda.  —  Bauhin 
betrachtete  es  als  Regel,  dass  das  weibliche  Steissbein  um  ein  Stück  mehr  hätte, 
als  das^  männliche.  Vermehrung  der  Steisswirbel,  welche  sich  auch  am  lebenden 
Menschen  als  ein  Appendix  hinter  dem  After  bemerkbar  macht,  soll  als  Racen- 
eigenthiimlichkeit  bei  einem  malayischen  Stamme  im  Inneren  Java*s  vorkommen. 
Man  entfernt  den  unangenehmen  Ueberfluss  durch  Wegschneiden.  Bartholin 
hat  die  Homine^  caudati  auch  unter  meinen  Landsleuten  (Dänen)  angetroffen,  und 
ehrlich  gesagt,  waren  wir  es  alle  im  Fötalleben,  denn  das  embryonische  Tuber- 
ctdum  coccygeum,  ist  in  der  That  ein  knochenloser  Schweif.  —  Die  Verwachsung 
des  ersten  Steisswirbels  mjt  dem  letzten  Kreuzwirbel,  ereignet  sich  nur  im 
männlichen  Geschlechte.  Bei  Weibern  wäre  eine  solche  Ankylose  etwas  Un- 
erhörtes, und  hätte  den  nachtheiligsten  Einflnss  auf  das  Gebären.  Man  behauptete, 
es  entständen  solche  Verwachsungen  gerne  bei  Individuen,  welche  oft  und  an- 
haltend reiten.  Wie  wenig  an  dieser  Behauptung  Wahres  ist,  beweist  das  Steiss- 
bein eines  alten  donischen  Kosaken  in  der  ehemals  Blumenbach^schen 
Sammlung,  an  welchem  vier  Lendenwirbel  ankylosirten,  das  Steissbein  aber  voll- 
kommen beweglich  blieb.  —  Der  dritte  und  vierte  Steisswirbel  erscheinen  bis- 
weilen nicht  auf,  sondern  neben  einander  liegend,  als  Folge  von  Verrenkung, 
welche,  bei  der  Häufigkeit  von  Fällen  auf  das  Gesäss,  nicht  eben  selten  vor- 
kommen mag.  Verwachsung  dieser  beiden  Wirbel  kommt  sehr  oft  vor.  An  den 
Steissbeinen  der  geschwänzten  Säugethiere  finden  sich  alle  Attribute  wahrer 
Wirbel.  —  lieber  angeborne  imd  erworbene  Anomalien  des  Steissbeins,  handelt 
ausführlich  meine  betre£fende  reichhaltige  Mittheilimg  in  den  Sitzungsberichten 
der  kais.  Akad.   1866. 


334  §.  IM.  B&nder  d«r  Wirb«lt&ale. 


§.  126.  Bänder  der  Wirbelsäule. 

Um  die  complicirtcn  BandvoiTichtungen  an  der  Wirbelsäule 
bequemer  zu  überschauen,  wird  eine  Classificirung  derselben  noth- 
wendig.  Ich  trenne  die  Wirbelsäulenbänder  in  allgemeine  und 
besondere.  Die  allgemeinen  Bänder  der  Wirbelsäule  finden  sich 
entweder  als  lange  continuirliche  Bandstreifen  an  der  ganzen  Länge 
der  Columna  vertebralia,  oder  sie  treten  zwischen  je  zwei  Wirbeln, 
nur  nicht  zwischen  Atlas  und  Epistropheus,  in  derselben  Art  und 
Weise  auf,  und  wiederholen  sich  so  oft,  als  Verbindung  zweier 
Wirbel  überhaupt  stattfindet.  Die  besonderen  Bänder  werden  nur 
an  bestimmten  Stellen  der  Wirbelsäule,  und  namentlich  an  ihrem 
oberen  und  unteren  Endstücke  gefunden,  wo  die  Wirbel  besondere, 
YOm  allgemeinen  Wirbeltypus   abweichende  Eigenschaften  besitzen. 

A)  Allgemeine  Bänder,  welche  die  ganze  Länge  der  Wirhdaäule 

einnehmen. 

Man  findet  sie  als  zwei  lange,  aus  Bindegewebe  und  elastischen 
Fasern  bestehende  Bänder,  an  der  vorderen  und  hinteren  Fläche 
der  Wirbelkörper  herablaufend.  Das  vordere  lange  Wirbelsäulen- 
band (Ligamentum  longiiudinale  anterius)  entspringt  an  der  Pars 
basilaris  des  Hinterhauptbeins,  ist  anfangs  schmal  und  rundlich, 
wird  im  Herabsteigen  breiter,  adhärirt  fest  an  die  vordere  Gegend 
der  Wirbelkörper  und  besonders  der  Bandscheiben  zwischen  ihnen, 
und  verliert  sich  ohne  deutliche  (xrenze  in  die  Beinhaut  des  Kreuz- 
beins. Das  hintere  (Ligamentum  longitudinale postein>us)  ist  schwächer 
als  das  vordere.  Es  liegt  im  Rückgratskanal,  und  kann  deshalb  im 
Laufe  nach  abwärts  nicht  so  an  Breite  zunehmen,  wie  das  vordere, 
welches  frei  liegt.  Am  Körper  des  zweiten  Halswirbels  beginnend, 
verliert  es  sich  im  Periost  des  Kreuzbeinkanals.  Es  hängt,  wie  das 
vordere,  viel  fester  mit  den  Bandscheiben,  als  mit  den  Wirbelkörpern 
zusammen.  Uebersieht  man  es  an  einem  geöffneten  Rückgratskanal 
in  seiner  ganzen  Länge,  so  besitzt  es  keine  parallelen,  sondern 
sägeförmig  gezackte  Seitenränder,  da  es  auf  den  Bandscheiben  breiter 
erscheint,  als  auf  den  Wirbelkörpern.  —  Das  vordere  lange  Wirbel- 
säulenband beschränkt  die  Rückwärtsbiegung,  das  hintere  die  Vor- 
wärtsbeugung der  Wirbelsäule.  Das  hintere  gewährt  noch  überdies 
den  Vortheil,  dass  die  Venengeflechte,  welche  zwischen  ihm  und  der 
hinteren  concaven  Fläche  der  Wirbelkörper  liegen,  selbst  im  höchsten 
Grade  ihres  Strotzens,  keinen  nachtheiligen  Druck  auf  das  Rücken- 
mark ausüben  können. 


§.  186.  Btader  der  Wirbelt&nle.  335 

B)  AUgenieine  Bänder,  welche  sich  zwischen  je  zioei  Wirbeln  wiederholen. 

1.  In  den  Zwischen wirbelscheiben  (Ligamenta  interverte- 
brcUia  besser  Fihro-caHüagines  intervertehrales)  sind  die  haltbarsten 
Bindungsmittel  je  zweier  Wirbelkörper  gegeben.  Jede  Zwischen- 
wirbelscheibe besteht,  bei  Betrachtung  mit  unbewaffnetem  Auge, 
aus  einem  äusseren,  breiten,  elastischen  Faserringe,  und  einem  von 
diesem  umschlossenen,  weichen,  gallertartigen  Kern,  welcher  nicht 
die  Mitte  der  Scheibe  einnimmt,  sondern  dem  hinteren  Rande  der- 
selben näher  liegt,  als  dem  vorderen.  Die  Elemente  des  Faserringes 
sind  Bindegewebsbündel  und  elastische  Fasern,  welche  theils  senk- 
recht gestellt  sind,  indem  sie  an  den  Verbindungsflächen  je  zweier 
Wirbel  festhaften,  theils  in  horizontal  liegenden  und  concentrischen 
Ringen  einander  umschliessen.  Je  näher  dem  weichen  Kerne,  desto 
mehr  gewinnen  die  elastischen  Fasern  die  Oberhand.  Ihre  theils 
senkrechte,  theils  concentrisch  gekrümmte  Anordnung  ist  der  Grond^ 
warum  der  Querschnitt  einer  Bandscheibe  kein  homogenes  Ansehen 
darbietet,  sondern  eine  Streifung  zeigt,  indem  glänzend  helle  Ringe 
mit  dunkleren  abzuwechseln  scheinen.  Dass  diese  Streifung  nicht 
auf  einem  substantiell  verschiedenen  Material  beruht,  sondern  der 
optische  Ausdruck  einer  abwechselnd  verticalen  und  horizontalen 
Faserungsrichtung  ist,  beweist  der  Umstand,  dass  die  hellen  Linien 
der  Durchschnittsfläche  dunkel,  und  die  dunkeln  hell  werden,  sobald 
man  die  Schnittfläche  von  einer  anderen  Seite  her  beleuchtet. 
Zwischen  den  Faserbündeln  finden  sich  Knorpelzellen  eingestreut, 
welche  sich ,  an  Menge  zunehmend ,  bis  in  den  weichen  Kern  der 
Bandscheibe  hinein  erstrecken.  Dieser  letztere  zeichnet  sich  durch 
eine  merkwürdige  Quellbarkeit  aus,  indem  er,  selbst  wenn  er  gänzlich 
eingetrocknet  ist,  im  Wasser  bis  nahe  zum  Zwanzigfachen  seines 
Volumens  aufschwillt.  Seine  homogene  Grundsubstanz  wird  nur 
spärlich  von  verticalen  und  schief  gekreuzten  elastischen  Fasern 
durchzogen,  in  deren  Maschen  die  oben  erwähnten  Knorpelzellen 
liegen.  Bei  älteren  Individuen  Hnden  sich  im  Centrum  des  Kernes 
grössere  oder  kleinere  Hohlräume,  mit  glatten  oder  verschiedentlich 
ausgebuchteten  Wänden.  Sie  sind  ihrem  Wesen  nach,  den  Hohl- 
räumen der  Gelenke  verwandt,  und  erscheinen,  wie  diese,  mit  einer 
Art  von  Synovialmembran  ausgekleidet. 

Ausführliches  üher  den  Bau  der  Zwischenwirhelscheibcn  ist  bei  Henle 
(Handbuch  der  systemat.  Anatomie,  Bänderlehre),  und  bei  Luschka  (Zeitschrift 
für  rationelle  Med.  Bd.  VII.)  zu  finden. 

2.  Zwischenbogenbändcr,  oder  gelbe  Bänder  (Ligamenta 
intercruralia  s.  flava)»  Sie  füllen  die  Zwischenräume  je  zweier  Wirbel- 
bogen aus,  bestehen  nur  aus  elastischen  Fasern,  und  besitzen  deshalb, 
nebst  der  gelben  Farbe,   auch  einen  hohen  Grad  von  Dehnbarkeit, 


336  i.  1S6.  B&tider  der  Wirbelitftale. 

welcher  bei  jeder  Vorwärtsbeugung  der  Wirbelsäule  in  Anspruch 
genommen  wird.  Sie  ziehen  nicht  vom  unteren  Rande  eines  oberen 
Wirbelbogens  zum  oberen  Rande  des  nächst  unteren,  sondern  mehr 
zur  hinteren  Fläche  des  letzteren. 

3.  Von  den  Zwischendorn-  und  4.  den  Zwischenquer- 
bändern  (Ligamenta  interspinalia  et  intertransversalia),  so  wie  von 
den  Kapselbändern  der  auf-  und  absteigenden  Gelenkfortsätze, 
sagt  der  Name  Alles.  Am  besten  entwickelt  trifft  man  sie  am 
Lendensegmente  der  Wirbelsäule.  Die  sogenannten  Spitzenbänder 
der  Domfortsätze  (Ligamenta  apicum)  sind  wohl  nur  die  hinteren 
verdickten  Ränder  der  Zwischendornbänder.  Sie  kommen  nur,  vom 
siebenten  Halswirbel  an,  bis  zu  den  falschen  Dornen  des  Kreuz- 
beins vor.  Vom  siebenten  Halswirbeldorn,  bis  zur  Protitherantia 
occipitaiis  externa  hinauf,  werden  sie  durch  das  im  hohen  Grade 
elastische  Nackenband  (Ligamentum  nuchae)  vertreten,  welches  beim 
Menschen  viel  schwächer  ist,  als  bei  jenen  Thieren,  deren  Köpfe 
schwere  Geweihe  tragen,  oder  zum  Stossen  und  Wühlen  verwendet 
werden.  Man  fiihlt  mit  dem  Finger  das  Band  sehr  gut  am  eigenen 
Nacken,  in  der  Nähe  des  Hinterhauptes,  wenn  man  den  Kopf  stark 
nach  vorn  beugt. 

Nitcha  stammt  aus  dem  Arabischen  (vox  arabica  est,  sagt  Consta ntinus 
Africanns).  Es  bedeutet  Rückenmark,  nicht  aber  Nacken  (§.  162).  Die 
Aehnlichkeit  der  Worte  nucfia  und  Nacken,  verschuldete  es,  dass  nucka  im 
medicinischen  Latein,  welches  nicht  zum  reinsten  gehört,  für  Nacken  gebraucht 
wird:  cesicans  ad  nucham,  —  litxatio  nuchae,  etc. 

C)  Besondere  Bänder  zwischen  einzelnen   Wirbeln, 

Tim  die  Beweglichkeit  des  Kopfes  zu  vermehren,  konnte  er 
weder  mit  dem  ersten  Halswirbel,  noch  dieser  mit  dem  zweiten 
durch  Zwischenwirbelscheiben  verbunden  werden.  Es  waren  be- 
sondere Einrichtungen  nothwendig,  um  den  Kopf  beweglicher  zu 
machen,  als  es  ein  Wirbel  auf  dem  andern  zu  sein  pflegt.  Bewegt 
sich  der  Kopf  in  der  verticalen  Ebene,  wie  beim  Jasagen,  so  drehen 
sich  die  Processus  condyloidei  seines  Hinterhauptes,  in  den  oberen 
concaven  Gelenkflächen  der  Seitentheile  des  Atlas,  welcher  ruhig 
bleibt,  um  eine  quere  Horizontalaxe.  Bewegt  sich  der  Kopf  um 
seine  senkrechte  Axe  drehend  nach  rechts  und  links,  so  ist  es 
eigentlich  der  Atlas,  welcher  diese  Bewegung  ausfuhrt,  indem  er 
sich  um  den  Zahn  des  Epistropheus,  wie  ein  Rad  um  eine  excen- 
trische  Axe,  dreht ;  —  der  Kopf,  welcher  vom  Atlas  getragen  wird, 
macht  nothwendig  die  Drehbewegung  des  Atlas  mit. 

Beim  Neigen  des  Kopfes  gegen  eine  Schulter,  wird  die  Halswirbel  sä  ule  als 
Ganzes  nach  der  Seite  zu  gebogen,  wozu  nach  Henke,  noch  eine  in  diesem  Sinne 
sehr  geringe  Beweglichkeit  der  Hinterhaupt-AtUsg^lenke  beiträgt. 


§.  126.  Binder  der  Wirbeleivle.  337 

1.  Bänder  zwischen  Atlas  und  Hinterhauptbein. 

Der  Kaum,  welcher  zwischen  dem  vorderen  Halbring  des  Atlas 
und  der  vorderen  Peripherie  des  Hinterhauptloches,  so  wie  zwischen 
dem  hinteren  Halbring  und  der  hinteren  Peripherie  dieses  Loches 
übrig  bleibt,  wird  durch  zwei  fibröse  Häute  verschlossen,  das  vordere 
und  hintere  Verstopfungsband  (Membrana  ohturatoria  anterior 
et  posterior),  Ersteres  ist  stärker  und  straffer,  letzteres  dünner  und 
schlaffer,  und  wird  beiderseits  dicht  an  seinem  äusseren  Rande 
durch  die  Arteria  vertebralis  durchbohrt,  welche  von  dem  Loche 
des  Querfortsatzes  des  Atlas  sich  zum  grossen  Hinterhauptloche 
krümmt.  —  Die  Gelenkflächen  der  Processtis  condyloidei  des  Hinter- 
hauptes und  der  Seitentheile  des  Atlas,  werden  durch  fibröse  Kapseln 
zusammengehalten,  deren  vordere  und  hintere  Wände  schlaff  und 
nachgiebig  sind,  um  die  Beugung  und  Streckung  des  Kopfes  nicht 
zu  beschränken. 

2.  Bänder  zwischen  Epistropheus,  Atlas,  und  Hinter- 
hauptknochen. 

Die  Gelenkverbindung  zwischen  Atlas  und  Zahn  des  Epi- 
stropheus ist  ein  Radgelenk  (Articidatio  trochoides).  Der  Zahn  des 
Epistropheus  wird  durch  ein  starkes  Querband  (Ligamentum  trans- 
versum  atlantis)  an  die  Gelenkfläche  des  vorderen  Halbringes  des 
Atlas  angedrückt  gehalten.  Dieses  Querband  liegt  in  der  Ebene 
des  Atlasringes,  und  ist  von  einem  Seitentheil  zum  anderen,  nicht 
ganz  quer  gespannt,  sondern  vielmehr  im  Bogen  um  den  2^hn 
herumgelegt.  Das  Band,  welches  dort,  wo  es  über  den  Zahn  weg- 
streift, knorpelartig  verdickt  erscheint,  theilt  die  Oeffnung  des  Atlas 
in  einen  vorderen,  für  den  Zahn  des  Epistropheus,  und  in  einen 
hinteren,  grösseren,  für  das  Rückenmark  bestimmten  Raum  ein. 
Vom  oberen  Rande  des  Bandes  geht  ein  Fortsatz  zum  vorderen 
Rande  des  grossen  Hinterhauptloches  hinauf,  und  vom  unteren 
Rande  ein  gleicher  zum  Körper  des  Epistropheus  herab.  Diese 
beiden  senkrechten  Fortsätze  bilden  mit  dem  Querband  ein  Kreuz  — 
Ligamentum  crudatum.  Damit  der  Zahn  aus  dem,  durch  den  vor- 
deren Halbring  des  Atlas  und  durch  das  Querband  gebildeten  Ring 
nicht  herausschlüpfe,  wird  er  auch  an  den  vorderen  Umfang  des 
grossen  Hinterhauptloches  durch  drei  Bänder  —  ein  mittleres 
und  zwei  seitliche  —  befestigt.  Das  mittlere  (Ligamentum 
Suspensorium  dentis)  geht  von  der  Spitze  des  Zahnes  zum  vorderen 
Rande  des  Foramen  occipitale  mxignum;  die  beiden  seitlichen 
(Ligamenta  alaria  s,  Mau^harti)  erstrecken  sich  Von  den  Seiten  der 
Zahnspitze,  zu  den  Seitenrändern  des  Hinterhauptloches,  und  zur 
inneren  Fläche  der  Processus  condyloidei.  Sie  beschränken  die  Dreh- 
bewegung des  Kopfes.     David  Mauchart,  Professor  in  Tübingen^ 

Hjrti,  Lekrbttflh  der  Anatoait.  14.  Aufl.  22 


338  §•  IM.  Binder  der  Wirb«ls&iüe. 

handelte    zuerst    von    ihnen    in    der    Schrift:    de    luxatione    nuchae, 
Tub.,  1747. 

Der  hier  beschriebene  Bandapparat  wird  dui*ch  eine  fibröse 
Membran  zugedeckt,  welche  über  dem  vorderen  Rande  des  grossen 
Hinterhauptloches  entspringt,  von  der  sie  bedeckenden  harten  Hirn- 
haut, durch  zwischenlagemde  Venengeflechte  getrennt  ist,  und  am 
Körper  des  zweiten  Halswirbels  dort  endet,  wo  das  lAgamentum 
longitudinale  posfterius  beginnt.  Ich  nenne  sie  Membrana  ligamentosa, 
und  verstehe  unter  dem  Namen  Apparatus  Ugamentosus,  welchen  ihr 
alte  und  neue  Schrift;steller  beilegen,  die  Gesammtheit  der  Band- 
verbindungen der  zwei  oberen  Halswirbel  und  des  Hinterhauptbeins. 
Der  Name  Apparaius  drückt  ja  eine  Vielheit  von  Theilen  aus,  und 
kann  auf  Ein  Ligament  nicht  angewendet  werden. 

Zwischen  der  vorderen  Peripherie  des  Zahnfortsatzes,  und  der 
anstossenden  Gelenkfläche  des  vorderen  Atlasbogens,  befindet  sich 
eine  kleine  Synovialkapsel.  Zwischen  der  hinteren  Peripherie  des 
Zahnes,  und  dem  über  sie  quer  weggehenden  Ligamentum  trans- 
vevsum,  findet  sich  eine  viel  grössere  Synovialkapsel,  welche  sich 
auch  um  die  Seitenfläche  des  Zahnes  herumlegt.  —  Der  vom  vor- 
deren Atlasbogen  und  dem  Ligamentum  transversum  gebildete,  zur 
Aufnahme  des  Zahnfortsatzes  bestimmte  Hohlraum,  ist  kein  cylin- 
drischer,  sondern  ein  konischer  —  oben  weiter,  als  unten,  da  auch 
der  Zahn  einen  dicken  Kopf  und  einen  schmächtigeren  Hals  besitzt. 
Dass  auch  dieser  Umstand  dem  Herausschlüpfen  des  Zahnes  aus  seiner 
Aufnahmshöhle  entgegenwirkt,  bedarf  keines  weiteren  Beweises. 

Da  der  Atlas,  zugleich  mit  dem  Kopfe,  sich  um  den  Zahn  des  Epistropheus 
nach  rechts  und  links  um  45^  drehen  kann,  wobei  die  unteren  Gelenkflächen  der 
8eitentheile  des  Atlas  auf  den  oberen  Gelenkflächen  des  Epistropheus  schleifend 
weggleiten,  so  müssen  die  Kapseln,  welche  die  unteren  Gelenkflächen  der  Seiten- 
theile  des  Atlas  mit  den  oberen  Gelenkflächen  des  Epistropheus  verbinden,  sehr 
schlaff  und  nachgiebig  sein,  wie  sie  es  in  der  That  auch  sind.  H  e  n  1  e  hat  zuerst 
gezeigt,  dass  die  einander  zugekehrten  Gelenkflächen  des  Atlas  und  Epistropheus, 
bei  der  Kopfirichtung  mit  dem  Gesicht  nach  vom,  sich  nicht  in  allen  Punkten, 
sondern  nur  mit  transversal  gerichteten  Firsten  berühren,  vor  und  hinter  welchen 
sie  klaffend  von  einander  abstehen.  Wird  eine  Seitendrehung  des  Kopfes,  z.  B. 
nach  rechts  ausgeführt,  so  tritt  linkerseits  die  hintere  Hälfte  der  seitlichen  Gelenk- 
fläche des  Atlas  mit  der  vorderen  Hälfte  derselben  Gelenkfläche  des  Epistropheus 
in  Contact,  während  rechterseits  die  vordere  Hälfte  der  seitlichen  Gelenkfläche 
des  Atlas,  mit  der  hinteren  des  Epistropheus  in  Berührung  kommt.  Bei  der 
Kopfdrehung  nach  links  findet  das  entgegengesetzte  Verhältniss  statt. 

Zerreissung  des  Querbandes  und  der  Seitenbänder  des  Zahnfortsatzes,  wie 
sie  durch  ein  starkes  und  plötzliches  Niederdrücken  des  Kopfes  gegen  die  Brust 
entstehen  könnte,  würde  den  Zahnfortsatz  in  das  Rückenmark  treiben,  und  absolut 
tödtliche  Zerquetschung  desselben  bedingen.  Die  Gewalt,  welche  eine  solche 
Verrenkung  des  Zahnfortsatzes  nach  hinten  bewirken  soll,  mus«  sehr  intensiv  sein, 
da  die  Bänder  des  Epistropheus  ein  Gewicht  von  125  Pfund,  ohne  zu  zerreissen 
tragen  (Maisonabe),  und  die  Stftriie  des  Querbandes  wenigstens   nicht  geringer 


§.  127.  Betrachtnog  der  Wirbelf&vU  »U  Games.  339 

ist,  die  übrigen  Bänder  und  Weichtheile  gar  nicht  gerechnet.  Man  hat  behauptet, 
dass  beim  Tode  durch  Erhenken,  wenn,  um  die  Dauer  des  Todeskampfes  su 
kürzen,  gleichzeitig  an  den  Füssen  gezogen  wird,  eine  Verrenkung  des  Zahnes 
nach  hinten  jedesmal  eintrete  (J.  L.  Petit).  Ich  habe  an  zwei  Leichen  ge- 
henkter Mörder,  keine  Zerreissung  der  Bänder  des  Zahnes  beobachtet,  möchte 
jedoch  die  Möglichkeit  derselben  nicht  in  Zweifel  ziehen,  wenn,  wie  es  in  Frank- 
reich vor  Einführung  der  Guillotine  geschah,  der  Henker  sich  auf  die  Schultern 
des  Deliquenten  schwingt,  und  dessen  Kopf  mit  beiden  Händen  nach  unten  drückt. 
Petit  könnte  somit  wohl  Recht  gehabt  haben.  Man  hat  ja  auch  in  einem  Falle, 
wo  ein  junger  Mensch  sich  anf  einen  andern  stürzte,  welcher  gerade  mit  seinem 
Leibe  ein  Rad  schlug,  Zersprengung  der  Bänder  des  Zahnes,  und  augenblicklich 
tödtliche  Luxation  desselben,  mit  Zermalmung  des  Rückenmarks  erfolgen  gesehen. 
Uebrigens  kann  hinzugefügt  werden,  dass  weder  Realdus  Columbus  (1546), 
noch  Mackenzie  und  Monro,  welche  letztere  im  vorigen  Jahrhundert  mehr  als 
50  gehenkte  Verbrecher  auf  die  fragliche  Verrenkung  untersuchten,  dieselbe  vor- 
fanden. Ebenso  hat  Orfila,  welcher  an  20  Leichen  directe  Versuche  hierüber 
vornahm,  wohl  einmal  einen  Bruch  des  Zahnfortsatzes,  aber  nie  eine  Luxation 
desselben  nach  hinten  entstehen  gesehen. 

Der  Bandapparat  zwischen  Zahn  des  Epistropheus,  Atlas,  und  Hinterhaupt- 
bein, wird  am  zweckmässigsten  untersucht,  wenn  man  an  einem  Nacken,  welcher 
bereits  zur  Muskelpräparation  diente,  die  Bogen  der  Halswirbel  und  die  Hinter- 
hauptschuppe absägt,  und  den  Rückgratkanal  mit  dem  grossen  Ilinterhauptloche 
dadurch  öffnet.  Nach  Entfernung  des  Rückenmarks  trifft  man  die  harte  Hirnhaut 
Unter  dieser  folgt  die  Membrana  liganienioHa,  und,  bedeckt  von  dieser,  das  Liga- 
mentum cruciaium,  nach  dessen  Wegnahme  das  Ligamentum  tnnfpemtorium,  und  die 
beiden  Ligamenta  eUaria  übrig  bleiben. 

3.  Bänder  zwischen  Kreuz-  und  Steissbein, 
Die  Spitze  des  Kreuzbeins  wird  mit  dem  ersten  Steissbein- 
stück,  und  die  folgenden  Stücke  des  Steissbeins  unter  einander, 
durch  Faserknorpelscheiben,  wie  wahre  Wirbel  vereinigt.  Dazu 
kommen  vordere,  hintere,  und  seitliche  Verstärkungsbänder  — 
Ligamenta  sacro-coccygea.  Das  Ligamentum  aacro'coccygeum  posterius 
ist  zwischen  den  Kreuzbein-  und  Steissbeinhörnern  ausgespannt, 
und  schliesst  somit  den  Hiatus  saa'O-coccygeus. 


§.  127.  Betrachtung  der  Wirbelsäule  als  Ganzes, 

Die  Wirbelsäule  dient  dem  Stamme  als  seine  Hauptstütze.  Sie 

erscheint,  mit  Ausnahme  des  Steissbeins,  als  eine  hohle,  gegliederte 

Knochenröhre,    welche   das   Rückenmark   und   die    Ursprünge    der 

Rückenmarksnerven  einschliesst.  Am  Skelete  betrachtet,  finden  wir 

die    Röhre    nur    unvollkommen    von  knöchernen  Wänden    gebildet. 

Zwischen  je  zwei  Wirbelkörpern   bleiben  Spalten,    und  zwischen  je 

zwei  Wirbelbogen    bleiben    offene   Lücken   übrig.     Erstere  sind  im 

frischen   Zustande   durch   die   dicken   Bandscheiben   der   Ligamenta 

intervertebralia  ausgefüllt,  und   letztere  werden  durch  die  Ligamenta 

flava  $.    inUercruraUa   verschlossen^    so    dass    beiderseits    nur    die 

22  • 


340  S'  1^'  Betnchtnng;  der  Wirbelsäule  als  Oanses. 

Foramina  intervertebralia  für  die  austretenden  Riickenraarksnerven 
offen  bleiben.  Die  Länge  der  Säule,  ohne  Rücksicht  auf  ihre 
Krümmungen,  in  gerader  Linie  vom  Atlas  bis  zum  Kreuzbeine  ge- 
messen, betlägt  durchschnittHch  den  dritten  Theil  der  ganzen  Körper- 
länge. Die  einzelnen  Glieder  der  Säule  —  die  Wirbel  —  nehmen 
an  absoluter  Grösse  bis  zum  Kreuzbein  allmälig  zu,  vom  Kreuzbein 
bis  zur  Steissbeinspitze  aber  schnell  ab.  Die  Breite  der  Wirbel- 
körper wächst  vom  zweiten  bis  zum  siebenten  Halswirbel.  Vom 
siebenten  Halswirbel  bis  zum  vierten  Brustwirbel  nimmt  sie  wieder 
etwas  ab,  und  steigt  von  nun  an  successive  bis  zur  Basis  des 
Kreuzbeins.  Die  Höhe  der  einzelnen  Wirbel  ist  am  Halssegmente 
fast  gleich,  und  wächst  bis  zum  letzten  Lendenwirbel  in  steigender 
Progression.  Der  Kanal  für  das  Rückenmark  bleibt  in  den  Hals- 
wirbeln ziemlich  gleichweit;  in  den  Rückenwirbeln,  vom  sechsten 
bis  zum  neunten,  ist  er  am  engsten;  in  den  oberen  Lendenwirbeln 
wird  er  wieder  weiter,  und  verengt  sich  neuerdings  gegen  die 
Kreuzbeinspitze.  Die  Seitenöffnungen  des  Kanals  (Foramina  inter- 
vertebralia), deren  wir  mit  Inbegriff  der  vorderen  Kreuzbeinlöchcr 
dreissig  zählen,  sind  an  den  Brustwirbeln  enger,  an  den  Lende n- 
und  Kreuz  wirbeln  weiter  als  an  den  Halswirbeln.  —  Die  grösste 
Entfernung  je  zweier  Dornfortsätze  kommt  am  Halssegmente  der 
Wirbelsäule  vor,  wegen  horizontaler  Richtung  und  geringer  Dicke 
dieser  Fortsätze.  Am  Brustsegmente  erscheint  sie,  wegen  Ueber- 
oinanderlagerung  der  Dornen  am  kleinsten,  und  im  Lendensegmente 
kaum  kleiner  als  am  Halse.  Das  dachziegelförmige  Uebereinander- 
schieben  der  mittleren  Brustwirbeldornen  schützt  das  Rückenmark 
gegen  Stich  und  Hieb  von  hinten  besser,  als  am  Halse  und  an  den 
Lenden.  —  Der  Abstand  zweier  Bogen  zeigt  sich  zwischen  Atlas 
und  Epistropheus  am  grössten,  sehr  klein  bei  den  Rückenwirbeln, 
grösser  bei  den  Lendenwirbeln.  Aus  diesem  Grunde  dringen  ver- 
letzende Werkzeuge  am  leichtesten  zwischen  Hinterhaupt  und  Atlas 
in  die  Rückgratshöhle  ein.  —  Die  Spitzen  der  Querfortsätze  der 
sechs  oberen  Halswii'bel  liegen  in  einer  senkrechten  Linie  über 
einander.  Der  Querfortsatz  des  siebenten  Halswirbels  weicht  etwas 
nach  hinten,  welche  Abweichung  sämmtlichen  Brustwirbelquerfort- 
sätzen zukommt,  und  sich  an  den  Lendenwirbeln  wieder  in  die  rein 
quere  Richtung  verwandelt.  An  der  hinteren  Seite  der  Wirbelsäule 
liegen  zwischen  den  Dorn-  und  Querfortsätzen  aller  Wirbel,  zwei 
senkrechte  Rinnen,  Suld  dorsales,  welche  den  langen  Rückenmuskeln 
zur  Aufnahme  dienen. 

Die  Wirbelsäule  ist  nicht  vollkommen  geradlinig,  und  darf  es 
auch  nicht  sein.  Denn  würde  der  Kopf  auf  einer  geradlinigen 
Wirbelsäule  ruhen,  so  müsste  jeder  Stoss,  welcher,  wie  beim  Sprung 
und  beim  Fall  auf  die  Füsse,   von  unten  auf  wirkt,  Erschütterung 


§.  187.  Betncbtnng  der  WirbeUäule  als  Oanses.  341 

des  Gehirns  mit  sich  bringen.  Besitzt  aber  die  Wirbelsäule  nach 
bestimmten  Gesetzen  angebrachte  Krümmungen,  so  wird  der  Stoss 
grösstentheils  in  der  Schärfung  der  Krümmungen  absorbirt,  und  wirkt 
somit  weniger  nachtheilig  auf  das  Gehirn.  Die  Krümmungen  der 
Wirbeltheile  sind  nun  folgende.  Der  Halstheil  erscheint  nach  vorn 
massig  convex,  der  Brusttheil  stark  nach  hinten  gebogen,  der  Lenden- 
theil  wieder  nach  vorn  convex,  das  Kreuzbein  nach  hinten.  Diese 
vier  Krümmungen  addiren  sich  zu  einer  fortlaufenden  Schlangen- 
kiümmung.  Man  prägt  sich  das  Gesetz  der  Krümmung  am  besten 
ein,  wenn  man  festhält,  dass  jene  Reihen  von  Wirbeln,  welche  mit 
keinen  Nebenknochen  in  Verbindung  stehen  (Hals-  und  Lenden- 
reihe), nach  vorn,  dagegen  die  mit  Nebenknochen  des  Stammes 
verbundenen  Reihen  (Brustwirbel  und  Kreuzbein)  nach  hinten 
convex  gekrümmt  sind.  Die  nach  hinten  convexcn  Krümmungen 
vergrössern  den  Rauminhalt  der  vor  ihnen  liegenden  Höhlen  der 
Brust  und  des  Beckens.  Die  Krümmungen  der  Wirbelsäule  ent- 
wickeln sich  erst  mit  dem  Vermögen  aufrecht  zu  stehen  und  zu 
gehen.  Bei  Embryonen  und  bei  Kindern,  welche  noch  nicht  gehen 
lernten,  sind  sie  nur  angedeutet ;  dagegen  stellen  sie  sich  bei  Thieren, 
welche  auf  zwei  Füssen  zu  gehen  abgerichtet  wurden,  zur  Zeit  des 
Aufrechtöcins  sehr  kennbar  ein.  Die  stärkste,  nach  vorn  convcxe 
Krümmung,  liegt  zwischen  Lendenwirbelsäule  und  Kreuzbein,  als 
sogenannter  Vorberg,  Promontorium, 

Es  läast  »ich  leicht  beweisen,  dass  eine  8cblan^enf(>rmig;  gekrümmte  Wirbel- 
säule besser  trägt,  als  eine  gerade.  Rechnung  und  Versuch  zeigen,  dass  bei  zwei 
oder  mehreren  geraden  Säulen  von  verschiedener  Höhe,  vertical  aufgestellt,  und 
vertical  gedrückt,  im  Moment  des  beginnenden  Biegens,  sich  die  Dnickgrössen 
verkehrt  wie  die  Höhen  verhalten.  Eine  kurze  Säule  erfordert  somit  mehr  Dntck, 
um  gebogen  zu  werden,  als  eine  längere.  Die  Wirbelsäule,  welche  bis  zum 
fixen  Kreuzbein  herab,  aus  drei  in  entgegengesetzten  Richtungen  gekrümmten 
Segmenten  besteht,  muss  sich  also  in  drei  entgegengesetzten  Richtiuigen  krümmen, 
d.  h.  sie  bestellt  eigentlich  aus  drei  übereinander  gestellten  kurzen  Säulen,  welche 
somit  zusammen  mehr  tragen  können,  als  eine  gerade  Säule,  deren  Länge  der 
Summe  der  drei  kurzen  Säulen  gleich  ist.  —  Man  kann  es  eben  so  leicht  zur 
Anschauung  bringen,  dass  die  nach  unten  verlängerte  Schwerpunktslinie  des 
Kopfes,  welche  zwischen  beiden  Pi'ocesaHs  condyloidei  des  Hinterhauptbeins  durch- 
geht, die  Chorda  der  drei  oberen  Krümmungen  der  Wirbelsäule  bildet.  —  Bei 
sehr  alten  Menschen  geht  die  schlangenfÖrmige  Krümmung  der  Wirbelsäule,  mit 
Ausnahme  der  Kreuzbeincurvatur,  in  eine  einzige  Bogonkrümmung  über,  deren 
Convexität  nach  hinten  sieht,  und  als  Senkrücken  bezeichnet  wird. 

Die  nach  vorn  convexen  Krümmungen  werden  durch  die  Ge" 
stalt  der  Zwischenwirbelbänder  bedingt,  welche  an  ihrem  vorderen 
Umfange  höher  als  am  hinteren  sind.  Die  nach  hinten  convexe 
Krümmung  der  Brustwirbelsäule  hängt  nicht  von  den  Zwischen- 
wirbelbändern ab,  die  hier  vorn  und  hinten  gleich  hoch  sind,  son- 
dern wird  durch  die  vorn  etwas  niedrigeren  Körper  der  Brustwirbel 


342  §.  It7.  B«tnehtang  dec  Wirbels&ule  als  Ganzes. 

erzeugt.  Die  leichte  Seitenkrümmung,  welche  die  Brustwirbelsäule 
besonders  in  ihrem  Brustsegmente  nach  rechts  zeigt,  und  die  bei 
Wenigen  fehlt,  scheint  mit  dem  vorwaltenden  Gebrauch  der  rechten 
oberen  Extremität  in  Verbindung  zu  stehen;  denn  bei  Individuen, 
welche  ihre  Linke  geschickter  zu  gebrauchen  wissen,  krümmt  sich 
die  Brustwirbelsäule  nach  links,  wie  B^clard  zuerst  nachwies. 

Die  Zusammendrückbarkeit  der  Zwischenwirbelscheiben  erklärt 
es,  wai^um  der  menschliche  Körper  bei  aufrechter  Stellung  kürzer 
ist,  als  bei  horizontaler  Rückenlage.  Auch  die  Zunahme  der  Kiiim- 
mungen  der  Wirbelsäule  bei  aufrechter  Leibesstellung  hat  auf 
diese  Verkürzung  Einfluss.  Nach  Messungen,  welche  ich  an  mir 
selber  vorgenommen  habe,  beträgt  meine  Körperlänge  nach  sieben- 
stündiger  Ruhe  5  Schuh  8  Zoll,  vor  dem  Schlafengehen  dagegen 
nur  5  Schuh  7  2k)ll  3  Linien.  Nach  längerem  Krankenlager  föllt 
oft  die  Zunahme  der  Körperlänge  auf.  Sie  verliert  sich  jedoch  wieder 
in  dem  Maasse,  als  das  Ausserbettsein  des  Reconvalescenten ,  die 
elastischen  Zwischen wirbelscheiben  durch  verticalen  Druck  auf  eine 
geringere  Höhe  bringt,  und  die  Krümmungen  der  Wirbelsäule  an 
Schärfe  zunehmen. 

Die  weibliche  Wirbelsäule  nnterscheidet  sich  von  der  männlichen  darin, 
dass  die  Querfortsätze  der  Brustwirbel  stärker  nach  hinten  abweichen,  und  das 
Lendensegment  verhältnissmässig  etwas  höher  ist 

Da  die  Domfortsätze  durch  die  Haut  zu  fühlen  sind,  so  bedient  man  sich 
der  Untersuchung  ihrer  Richtung,  um  eine  Verkrümmung  der  Wirbelsäule  aus- 
zumitteln.  —  Der  Dom  des  siebenten  Halswirbels  wird,  seiner  Länge  und  Rich- 
tung wegen,  am  meisten  den  Brüchen  ausgesetzt  sein.  —  Oft  findet  man  die 
rechte  Hälfte  eines  Wirbels  merklich  höher  als  die  linke,  was,  wenn  keine  Aus- 
gleichung durch  ein  entgegengesetztes  Verhältniss  des  nächstfolgenden  Wirbels 
herbeigeführt  wird,  Seitenverkrümmung  (ScoUoHUi)  bedingt.  —  Die  Gesetze  des 
Gleichgewichtes  fordern  es,  dass,  wenn  an  einer  Stelle  eine  Verkrümmung  des 
Rückgrats  auftritt,  in  einem  unteren  Segmente  der  Wirbelsäule  eine  compen- 
sirende,  i.  e.  entgegengesetzte  Krümmung  sich  einstellt.  —  Die  Dom-  und 
Querfortsätze  sind  als  Hebelarme  zu  nehmen,  durch  deren  Länge  die  Wirkung 
der  Rückgratsmuskeln  begünstigt  wird. 

Ich  habe  früher  bemerkt  (Note  zu  §.  121),  dass  die  beiden  Schenkel  der 
durchbohrten  Querfortsätze  der  Halswirbel,  einer  verschiedenen  Deutung  unter- 
liegen, und  nur  der  hintere  Schenkel  dem  Processus  transversus  eines  Brustwirbels 
verglichen  werden  kann,  der  vordere  aber  als  Rippenrudiment  angesehen  werden 
muss.  Denkt  man  sich  an  einem  Bnistwirbel  den  Rippenkopf  mit  der  Seiten- 
fläche des  Wirbelkörpers,  und  das  Tuberculum  costae  mit  der  Spitze  des  Processus 
transversus  verwachsen,  so  wird  der,  zwischen  Rippenhals  und  Querfortsatz  des 
Wirbels  übrig  bleibende  Raum,  einem  Foramen  traw*versarium  eines  Halswirbels 
entsprechen.  Nesbitfs  und  MeckeTs  Beobachtungen  constatirten  die  Ent- 
stehung eines  eigenen  länglichen  Knochenkeraes  in  der  knorpeligen  vorderen 
Spange  des  Foramen  transversarium  des  siebenten  Halswirbels  beim  Embryo. 
Dieser  Kern  entspricht  durch  Lage  und  Gestalt  einem  Rippenhalse,  und  ver- 
schmilzt zuweilen  gar  nicht  mit  dem  übrigen  Wirbel,  sondern  bleibt  getrennt, 
verlängert  sich  rippenartig,  und  bildet  eine  sogenannte  Halsrippe.  Bei  den  Übrigen 


§.  128.  Bewegliohlceit  der  Wirbels&ol«.  343 

Halswirbeln  wird  für  die  vordere  Spange  des  Foramen  tranaversarium,  von  Meckel 
kein  besonderer,  wohl  aber  von  J.  Weber  ein  eigener  Ossiiicationspunkt  auge- 
geben, welchen  ich  an  der  sechsten,  fünften  und  vierten  Vertebra  colli  ganz  deutlich 
an  II  gesehen  Präparaten  gesehen  habe.  Bei  den  Lendenwirbeln  ist  nicht  der 
allgemein  sogenannte  Querfortsatz,  sondern  der  Processus  accessorius  einem  Bmst- 
wirbelquerfortsatze  zu  vergleichen,  und  der  für  den  Querfortsatz  gehaltene  Pro- 
cessus transversuSf  stimmt  vollkommen  mit  einer  Rippe  überein,  weshalb  der  Name 
Processus  costarius  richtiger  klingt.  Wenn  sich  die  dreizehnte  Rippe  nicht  am 
letzten  Halswirbel,  sondern  am  ersten  Lendenwirbel  bildet,  so  sitzt  sie  immer  auf 
der  Spitze  des  Processtts  costarius,  nicht  am  Wirbelkörper  auf. 


§.  128.  Beweglichkeit  der  Wirbelsäule. 

Nur  das  aus  den  vierundzwanzig  wahren  Wirbeln  gebildete 
Stück  der  Wirbelsäule  ist  nach  allen  Seiten  beweglich.  Das  zwischen 
die  Beckenknochen  eingekeilte  Kreuzbein  steckt  fest,  und  das  Steiss- 
bein,  welches  nur  einen  Anhang  des  Kreuzbeins  darstellt,  kann  nur 
in  geringem  Grade  nach  vor-  und  rückwärts  bewegt  werden.  Die 
Beweglichkeit  der  wahren  Wirbel  hängt  zunächst  von  den  Zwischen- 
wirbelbändern ab.  Jede  Bandscheibe  dieser  Art,  stellt  ein  elastisches 
Kissen  dar,  welches  dem  darauf  liegenden  Wirbel  eine  geringe  Be- 
wegung nach  allen  Seiten  zu  erlaubt,  ihn  aber  zugleich  mit  dem 
nächst  darunter  liegenden  auf  das  Festeste  verbindet.  Wenn  die 
Beweglichkeit  zweier  Wirbel  gegen  einander  auch  sehr  limitirt  ist, 
so  wird  doch  die  ganze  Wirbelsäule,  durch  Summirung  der  Theil- 
bewegungen  der  einzelnen  Wirbel,  einen  hohen  Grad  von  ge- 
schmeidiger Biegsamkeit  erhalten.  Ueber  die  Beweglichkeit  der 
Wirbelsäule  belehren  folgende  Beobachtungsergebnisse. 

1.  Die  Beweglichkeit  der  Wirbelsäule  ist  nicht  an  allen  Stellen 
derselben  gleich.  Jene  Stücke  der  Wirbelsäule,  wo  der  Kanal  für 
das  Rückenmark  eng  ist,  haben  eine  sehr  beschränkte,  oder  gar 
keine  Beweglichkeit  (Brustsegment,  Kreuzbein),  während  mit  dem 
Grösserwerden  dieses  Kanals  an  den  Hals-  und  Lendenwirbeln,  die 
Beweglichkeit  zunimmt.  Die  grössere  oder  geringere  Beweglichkeit 
eines  Wirbelsäulensegmentes  wird  von  folgenden  Punkten  abhängen : 

1.  von  der  Menge  der  in  ihm  vorkommenden  Bandscheiben,  oder, 
was   dasselbe    sagen   will,    von   der   Niedrigkeit   der  Wirbelkörper; 

2.  von  der  Höhe  der  Bandscheiben;  3.  von  der  grösseren  oder  ge- 
ringeren Spannung  der  fibrösen  Wirbelbänder ;  4.  von  der  Kleinheit 
der  Wirbelkörper ;  5.  von  einer  günstigen  oder  ungünstigen  Stellung 
der  Wirbelfortsätze. 

2.  Mit  der  Menge  der  Bandscheiben  an  einem  Wirbelsegmente 
von  bestimmter  verticaler  Ausdehnung,  wächst  die  Menge  des  beweg- 
lichen Elementes  der  Wirbelsäule.   Daher  wird  die  Halswirbelsäule 


344  $.  1S8.  Beweglichkeit  der  Wirbels&nle. 

einen  höheren  Grad  von  allseitiger  Beweglichkeit   besitzen,    als  das 
Brust-  oder  Bauehsegment,  was  uns  Lebende   und  Todte  bestätigen 
können.  Beugung,  Streckung,  Seitwärtsneigung,  selbst  ein  geringer 
Orad  von  Drehbarkeit   um   die   Axe,  kommt   der   Halswirbelsäulc, 
nieht  aber  der  Binistwirbelsäule  zu.    Die  Höhe  der  Zwischcnwirbel- 
seheiben    nimmt   vom   letzten    Lendenwirbel  bis  zum  dritten  Brust- 
wirbel ab,  wächst  aber  bis  zum  vierten  Halswirbel  wieder,  um  von 
diesem  bis   zum    zweiten  Halswirbel   neuerdings  kleiner  zu  werden. 
Nach    den   Messungen    der  Gebrüder  Weber,   beträgt   die    mittlere 
Höhe    der  letzten  Zwischen wirbelscheibe   10,9  Millimeter,    zwischen 
drittem  und  viertem  Brustwirbel  1,9,  zwischen  fünftem  und  sechstem 
Halswirbel  4,(),  zwischen  zweitem  und  drittem  Halswirbel  2,7.    Die 
Summe  der  Höhen  aller  Zwischenwirbelscheiben  gleicht  dem  vierten 
Theil    der  ganzen   Säulenhöhe.      Die   unbeweglichsten    Wirbel    sind 
der   dritte   bis   sechste   Brustwirbel,    so  wie  der  zweite  Halswirbel. 
nie  Lendenwirbel,   welche  ihrer  grossen  Verbindungsfläche  wegen, 
schwerer   auf  einander   beweglich    wären,    sind    durch   ihre    hohen 
Handseheiben  ziemlich  beweglich  geworden.     Die  am  vorderen  und 
hinteren  Rande  ungleiche  Höhe  der  Bandscheiben  muss  nothwendig 
auf  die  Entstehung  der  Schlangenbiegung  der  Wirbelsäule  Einfluss 
nehmen. 

3.  Es  leuchtet  a  priori  ein ,  dass  die  Bandscheiben  zwischen 
den  Wirbeln,  welche  aus  elastischen  und  nicht  elastischen  Ele- 
menten bestehen,  beim  Comprimiren  eine  Krümmung  ihrer  nicht 
«elastischen  Bestandtheile  zeigen  müssen.  Je  grösser  diese  Krümmung 
war,  desto  grösser  wird,  wenn  der  Druck  nachlässt,  die  verticale 
Ausdehnung  der  Scheibe  werden,  und  mit  dieser  wächst  im 
gleichen  Schritte  die  absolute  Beweglichkeit  des  darüber  liegenden 
Wirbels. 

4.  Die  kleine  Peripherie  der  Halswirbelkörper,  und  die  ver- 
hältnissmässig  nicht  unansehnliche  Dicke  ihrer  Bandscheiben,  fiirdert 
ihre  Beweglichkeit  nach  allen  Seiten.  Die  Halswirbelsäule  besitzt 
selbst,  wie  die  Lenden  Wirbelsäule,  einen  geringen  Grad  von  Dreh- 
barkeit. 

5.  Die  Stellung  der  Fortsätze  der  Wirbel ,  ihre  Richtung  und 
Länge,  influirt  sehr  bedeutend  auf  die  Beweglichkeit  der  Wirbel- 
säule. Die  horizontalen,  und  unter  einander  parallelen  Dornen  der 
Hals-  und  Lendenwirbel,  sind  für  die  Rückwärtsbeugung  der  Hais- 
und Lendenwirbelsäule  günstige,  die  Uebereinanderlegung  der  Brust- 
dornen dagegen  ungünstige  Momente.  Die  ineinander  greifenden 
auf-  und  absteigenden  Gelenkfortsätze  der  Lendenwirbel,  begünstigen 
die  Axendrehung  der  Körper  dieser  Wirbel,  welche  Bewegung 
durch  die  Höhe  der  Zwischenwirbelscheiben  in  erheblichem  Grade 
gefördert  wird. 


§.  IM.  Brnstbein.  345 

Drückt  man  auf  eine  präparirte  und  vertical  aufgestellte  Wirbelsäule  von 
oben  her,  so  werden  ihre  Krümmungen  stärker,  und  verflachen  sich  wieder  bei 
nachlassendem  Drucke.  Während  des  Druckes  springen  die  Zwischenwirbelscheiben 
wie  Wülste  vor,  welche  bei  nachlassendem  Druck  wieder  verschwinden. 

Die  Beweglichkeit  der  Wirbelsäule  an  einzelnen  Stellen  wurde  durch 
E.  H.  Weber  dadurch  bestimmt  und  gemessen,  dass  er,  an  einer  mit  den  Bän- 
dern präparirten  Wirbelsäule,  drei  Zoll  lange  Nadeln  in  die  Dom-  und  Querfort- 
sätze einschlug,  welche  als  verlängerte  Fortsätze  oder  Zeiger,  die  an  und  für  sich 
wenig  merklichen  Bewegungen  der  Wirbel  in  vergrössertem  Maassstabe  absehen 
Hessen.  Unter  anderen  führten  diese  Untersuchungen  zur  Erkenntniss,  dass,  beim 
starken  Ueberbeugen  der  Wirbelsäule  nach  rückwärts,  sie  nicht  gleichförmig  im 
Bogen  gekrümmt  wird,  sondern  dass  es  drei  Stellen  an  ihr  giebt,  wo  die  Beugung 
viel  schärfer  ist,  als  an  den  Zwischenpunkten,  und  fast  wie  eine  Knickung  der 
Wirbelsäule  aussieht.  Diese  Stellen  liegen  1.  zwischen  den  unteren  Halswirbeln, 
2.  zwischen  dem  elften  Brust-  und  zweiten  Lendenwirbel,  3.  zwischen  dem  vierten 
Lendenwirbel  und  dem  Kreuzbein.  An  Gymnasten,  welche  sich  mit  dem  Kopfe 
rückwärts  bis  zur  Erde  beugen,  kann  man  sich  von  der  Lage  der  einspringenden 
Winkel,  welche  durch  das  Knicken  der  Wirbelsäule  entstehen,  leicht  überzeugen. 
Da  die  Bänder  an  diesen  drei  Stellen  minder  fest  sein  müssen,  so  erklärt  es  sich, 
warum  die  mit  Zerreissung  der  Bänder  auftretenden  Wirbelverrenkungen,  gerade 
an  diesen  Stellen  vorkommen.  Wie  gross  die  Festigkeit  des  ganzen  Bandapparates 
der  Wirbelsäule  ist,  kann  man  aus  Maisonabe's  Versuchen  entnehmen,  nach 
welchen  ein  Gewiclit  von  100  Pfund  dazu  gehört,  um  eine  Halswirbelsäule,  von 
150  Pfund,  um  eine  Brustwirbelsäule,  und  von  250  Pfund,  um  eine  Lenden  Wirbel- 
säule zu  zerreissen. 


b)  ISTebenknochen  des  Stammes. 

§.  129.  Brustbein. 

r 

Die  Nebenknoehen  des  Stammes  construiren  den  Brustkorb, 
und  werden  in  das  Brustbein  und  die  Rippen  eingetheilt. 

Das  Brustbein  oder  Brustblatt  führt  seinen  Namen  Sternum, 
von  oTspso?,  hart,  fest,  quia  munit  firmatqvs  pectus,  nach  Spigelius. 
Es  wird  auch  Os  s.  Scutum  pectoris,  und  Oa  xiphoides  genannt  (bei 
Hippocrates  jtyjBoc,  daher  Stethoskop  für  ein  in  der  neuen  Medicin 
viel  gebrauchtes  Instrument,  zum  Untersuchen  der  Brustorgane). 

Das  Brustbein  liegt  der  Wirbelsäule  gegenüber,  an  der  vor- 
deren Fläche  des  Stammes.  Wenn  es  schön  geformt  ist,  hat  es 
einige  Aehnlichkeit  mit  dem  kurzen,  nur  zum  Stoss  dienenden 
Schlachtschwert,  dessen  sich  die  Römer  bis  zu  HannibaPs  Zeit  be- 
dienten (ensis,  5''<po;),  wo  sie  das  lange  und  schwere  celtiberische 
Schwert  einführten.  Aus  dieser  Schwcrtgestalt  des  Brustbeins  er- 
giebt  sich  seine  Eintheilung  in  den  Griff,  die  Klinge  (gewöhnlich 
Körper  oder  Mittelstück  genannt),  und  die  Spitze  oder  den 
Schwertfortsatz.     Der  Griff  oder  die  Handhabe   (Manuhrium)f 


346  §.  129.  Brustbein. 

Btellt  den  obersten  und  breitesten  Theil  des  Knochens  dar.  Er  liegt 
der  Wirbelsäule  näher,  als  das  untere  Ende  des  Brustbeins,  und 
hat  eine  vordere,  leicht  convexe,  und  eine  hintere,  wenig  concave 
Fläche.  Der  obere  Rand  der  Handhabe  ist  der  kürzeste,  und 
halbmondförmig  ausgeschnitten ,  als  Indmra  semüunaris  8,  jugvlaris, 
welche,  in  Erinnerung  an  den  Gabelknochen  der  Vögel,  häutig  auch 
Farcula  stemi  genannt  wird.  Der  untere  ist  gerade,  und  dient  zur 
Vereinigung  mit  dem  oberen  Rande  der  Klinge.  Rechts  und  links 
von  der  Incisura  jugvlaris  liegt  eine  sattelförmig  gehöhlte,  über- 
knorpelte  Gelenkfläche,  für  das  innere  Ende  des  Schlüsselbeins 
(Indsura  davicularia).  Die  massig  convergirenden  Seitenränder 
der  Handhabe,  setzen  sich  in  jene  der  Klinge  fort,  welche  dreimal 
länger,  aber  zusehends  schmäler  ist  als  der  Griff,  und  an  ihrem 
unteren  Rande  den  Schwertfortsatz  (Processtis  xiphoidetis  s.  mucro- 
natu8  8.  ensiformis)  trägt.  Dieser  Fortsatz  ist  entweder  zugespitzt, 
oder  abrarundet,  oder  gabelförmig  gespalten.  Im  letzteren  Falle 
heisst  er  Furcula  stenii  inferil^.  Er  zeigt  häufig  ein  oder  zwei 
Löcher,  bleibt  länger  als  der  Griff  und  die  Klinge  knorpelig,  und 
*%^         wird  deshalb  auch  allgemein  Schwertknorpel  genannt. 

Die  Seitenränder  des  Brustbeins,  vom  Manubrium  bis  zum 
Schwertknorpel,  stehen  mit  den  inneren  Enden  von  sieben  Rippen- 
knorpeln in  Verbindung.  Der  erste  Rippenknorpel  geht,  ohne 
Unterbrechung  oder  Zwischenraum,  unmittelbar  in  die  knorpelige 
Grun^age  des  Manubriums  über.  Der  zweite  Rippenknorpel  articulirt 
mit  einem  Grübchen  zwischen  Handgriff  und  Klinge;  der  dritte, 
vierte,  fiinfte  und  sechste  legen  sich  in  ähnliche,  aber  immer  flacher 
werdende  Grübchen  im  Verlaufe  des  Seitenrandes,  und  der  siebente 
Rippenknorpel  in  eine  sehr  seichte  Vertiefung  zwischen  Klinge  und 
Schwertfortsatz. 

Das  weibliche  Brustbein  charakterisirt  sich  durch  die  grössere 
Breite  seiner  Handhabe,  und  durch  seine  schmälere,  aber  längere 
Klinge.  —  Das  Brustbein  besitzt  nur  eine  sehr  dünne  Rinde  von 
compacter  Knochensubstanz,  welche  eine  äusserst  fein  genetzte  Sifh- 
stantia  8pongio8a  umschliesst.  Daher  rührt  die  Leichtigkeit  des 
Knochens,  welcher  zugleich,  da  er  blos  durch  die  elastischen  Rippen- 
knorpel gehalten  wird,  eines  erheblichen  Grades  von  Schwungkraft 
theilhaftig  wird. 

Nach  Luschka  (Zeitschrift  für  rationelle  Med.  1855)  wird  die  Verbindung 
zwischen  Handhabe  und  Körper  des  Brustbeins,  beim  Neugeborenen,  und  selbst 
noch  beim  Kinde  bis  in  das  achte  Lebensjahr  hinauf,  nur  durch  Bindegewebe  und 
elastische  Fasermasse,  ohne  Theilnahme  yon  Knorpelsubstans,  bewerkstellig!  In 
der  Blüthenxeii  des  reifen  Alters,  besteht  die  Verbindungsmasse  aus  zwei  hyalinen 
Knorpelplatten,  welche  durch  swischenliegendes  Fasergewebe  zusammenhalten. 
Jm  Yorgerflckten  IJebensalter  kommt  es  selbst  ausnahmsweise  zur  Bildung  einer 


S.  IM.  Bnutbein.  347 

spaltförmigen  Höhle  zwischen   beiden  Knorpelplatten,    nnd   zum   verspAteten  Auf- 
treten eines  Gelenks. 

Die  Synchondrose  zwischen  Handhabe  und  Körper  yerwächst  häufig  schon 
im  frühen  Mannesalter.  Im  Kindesalter  zeigt  sie,  besonders  bei  Athmungsstörungen 
(Engbrüstigkeit,  Keuchhusten)  eine  oft  sehr  auffallende  Beweglichkeit.  —  Am 
unteren,  etwas  breiteren  Ende  des  Körpers  des  Brustbeins,  existirt  abnormer  Weise 
ein  angebomes  Loch  von  1 — 4  Linien  Durchmesser,  welches  im  frischen  Zustande 
durch  Knochenknorpel  und  Beinhaut  verschlossen  wird,  und  Anlass  zu  tödtlichen 
Verletzungen  durch  spitzige  Instrumente  geben  kann.  In  meinem  Besitze  befindet 
sich  ein  weibliches  Brustbein,  an  welchem  zwei  vertical  über  einander  stehende 
Löcher  coexistiren;  der  einzige  Fall  dieser  Art!  Das  untere  der  beiden  Löcher 
übertrifft  das  obere  zweimal  an  Durchmesser,  welche  sich  wie  4"' :  2'"  verhalten. 
—  Zuweilen  besteht  der  Körper  des  Brustbeins  selbst  aus  mehreren,  durch  Knorpel 
vereinigften  Stücken,  bei  den  Säugethieren  aber  meistens  aus  so  vielen  Stücken^ 
als  sich  wahre  Rippen  finden.  —  Kurze  Brustbeine  sind  gewöhnlich  breiter,  als 
lange.  Das  Brustbein  des  Donischen  Kosaken  in  der  Blume nbacVschen  Sammlung 
ist  handbreit.  —  Die  Verbindung  des  Brustbeins  mit  den  elastischen  Knorpeln  der 
wahren  Rippen,  verleiht  ihm  so  viel  Schwungkraft,  dass  es  durch  Stoss  von  vom 
her  nicht  leicht  bricht  Portal  zergliederte  zwei  durch  das  Rad ;  hingerichtete 
Verbrecher,  und  fand  an  ihnen  keine  Brüche  des  Brustbeins.  Veitoöchem  aber 
diese  Knorpel,  so  wird  die  Beweglichkeit  des  Brustbeins  sehr  beschränkt,  mit  mehr 
weniger  Athmungsbesch werde.  Diese  Verknöcherung  tritt  besonders  gerne  bei 
gichtischen  Personen  ein.  Dass  sie  nicht  nothwendig  im  vorgerückten  Alter 
auftritt,  beweist  Thomas  Parry  (alitu  Parr),  welcher  130  Jahre  alt  wurde 
(nach  einigen  Angaben  160).  Bei  seiner  Leichenuntersuchung  fand  Harvey  alle 
Rippenknorpel  unverknöchert.  In  seinem  115.  Jahre,  hatte  Parry  noch  einen 
Process  wegen  Stuprum  violentum  durchzumachen  (Th.  Bartholinus,  Htat,  anal,  rar. 
Cent,  V,  Hist,  28).  —  In  sehr  seltenen  Fällen  kommt  es  gar  nicht  zur  fintwicklung 
des  Brustbeins,  und  dieser  Schlussstein  des  Brustkastens  fehlt,  wodurch  eii^e  Spalte 
entsteht,  durch  welche  das  Herz  aus  dem  Brustkasten  treten,  und  vor  demselben 
eine  bleibende  Lage  einnehmen  kann  (Ectopia  cordisj,  —  Rechtwinkelig  nach  innen 
gekrümmte,  oder  durch  Länge  ausgezeichnete  Processus  xiphoidei,  wurden  beob- 
achtet. Desault  sah  den  Schwertfortsatz  bis  an  den  Nabel  hinabreichen.  — 
Ein  nach  vorn  gekrümmter  Schwertfortsatz,  hebt  die  Haut  der  oberen  Bauchregion 
zu  einem  runden,  mit  dem  Finger  deprimirbaren  Hügel  empor.  Die  bei  Mundinus 
und  den  Arabisten  vorkommende  Benennung  des  Schwertfortsatzes,  als  Pamum 
f/raneUum  und  Malum  punicum,  beruht  auf  der  Aehnlichkeit  der  Gestalt  dieses 
Fortsatzes  mit  einem  Blüthenblatte  des  Granatapfelbaumes  (quia  assimiUUur  parti 
balausUi  ßoris  maU  granati,  bei  Berengaritis   Carpensis), 

Breschet  (Recherches  sur  diffirentes  pihces  du  sqneleUe  des  animaux  «er- 
Ubr6s  encore  peu  connues,  Paris,  1838),  handelt  ausführlich  über  zwei  Knochenkerne, 
welche  am  oberen  Rande  der  Handhabe  des  Brustbeins,  einwärts  von  der  Incisura 
davicularis  liegen,  und  im  Menschen,  wenn  auch  nicht  constant,  doch  häufig  genug 
vorkommen.  Er  nannte  sie  Ossa  suprastemalia,  und  erklärte  sie  für  paarige  Rippen- 
rudimente, indem  er  in  ihnen  die  Andeutung  des  Stemalendes  einer  sogenannten 
Halsrippe  zu  sehen  meinte  (Note  zu  §.  121),  deren  Vertebralende  durch  die  sich 
öfters  vergrössemde  und  selbstständig  werdende  vordere  Wurzel  des  Querfortsatzes 
des  siebenten  Halswirbels  dargestellt  wird.  Nach  Luschka  (Denkschriften  der 
kais.  Akad.  Bd.  XVI)  sind  die  Ossa  suprastemalia  paarig,  symmetrisch,  an  Form 
dem  Erbsenbeine  der  Handwurzel  ähnlich,  und  mit  dem  Brustbein  durch  Synchon- 
drose zusammenhängend.  Sie  haben  auch  eine  starke  Bandverbindung  mit  dem 
in  §.  136  erwähnten  Zwischenknorpel  des  Stemo-Claviculargelenks.   Da  nun  wahre 


348  §•  130.  Bippen. 

Oaaa  »uprcuterncUia  gleichzeitig  mit  vollkommen  entwickelten,  d«  h.  bis  zum  Stemum 
reichenden  Ualsrippen  vorkommen,  so  wird  Breschet's  Deutung  derselben,  als 
Sternalenden  unvollkommen  entwickelter  Ualsrippen,  unhaltbar. 


§.  130.  Bippen. 

Rippen  (Coatae,  zXeupal  und  oxaOai  bei  Aristoteles),  sind  zwölf 
paarige^  zwischen  Wirbelsäule  und  Brustbein  liegende,  bogenförmige, 
seitlich  comprimirte,  und  sehr  elastische  Knochen.  Die  Vielheit  der- 
selben, welche  beim  ersten  Blicke  auf  ein  Skelet  gleich  in  die  Augen 
föUt,  veranlasste  ohne  Zweifel  den  Ursprung  des  Wortes  Gerippe. 
Die  Rippen,  mit  Ausnahme  der  ersten  und  der  zwei  letzten,  liegen  auf 
einer  horizontalen  Unterlage  nicht  in  ihrer  ganzen  Länge  auf.  Sie 
können  somit  keine  reinen  Kreissegmente  sein,  wie  sie  denn  wirk- 
lich, ausser  der  Flächenkrümmung,  auch  eine  Krümmung  nach  der 
Kante  aufweisen.  Ueberdies  sind  sie  noch  um  ihre  eigene  Axe 
etwas  torquirt. 

Jede  Rippe  besteht  aus  einer  knöchernen  Spange,  und  einem 
knorpeligen  Verlängerungsstücke  derselben,  dem  Rippenknorpel. 
Erreicht  der  Knorpel  einer  Rippe  den  Seitenrand  des  Brustbeins, 
so  heisst  die  Rippe  eine  wahre  (Costa  vera).  Die  oberen  sieben 
Paare  sind  wahre  Rippen.  Erreicht  aber  der  Rippcnknorpel  das 
Brustbein  nicht,  wie  an  den  fünf  unteren  Rippenpaaren,  so  legt  er 
sich  entweder  an  den  Knorpel  der  vorhergehenden  Rippe  an,  wie 
bei  der  achten,  neunten  und  zehnten  Rippe,  oder  er  endet  frei,  wie 
bei  der  eilften  und  zwölften.  In  beiden  Fällen  heissen  die  Rippen 
falsche  (Costae  spuriae,  8.  nothae,  8.  mendosae).  Die  eilfte  und  zwölfte 
werden  insbesondere ,  ihrer  grossen  Beweglichkeit  wegen ,  auch 
schwankende  Rippen  (Costae  ßuctuantes)  genannt.  Bei  S a  1  o m o n 
Albertus  heissen  die  wahren  Rippen:  costae  germanae,  und  die 
falschen:  adulterinae. 

Alle  Rippen,  mit  Ausnahme  der  ersten,  haben  eine  äussere 
convexe,  und  innere  coneave  Fläche,  einen  oberen  abgerundeten 
und  einen  unteren  der  Länge  nach  gefurchten  Rand  (Sulcus  costalis); 
die  erste  Rippe  dagegen  eine  obere  und  untere  Fläche,  einen  äusseren 
und  inneren  Rand.  An  der  oberen  Fläche  der  ersten  Rippe  macht 
sich  eine,  in  topographischer  Beziehung  (für  die  Auffindung  der 
Arteria  subclavia)  wichtige  Rauhigkeit  bemerkbar,  als  Tubercidum 
Usfranci.  —  Die  Furche  am  unteren  Rande  der  Rippen  verstreicht 
gegen  das  vordere  Ende  hin.  Von  den  beiden,  die  Furche  be- 
grenzenden Lefzen,  ragt  die  äussere  weiter  herab  als  die  innere.  — 
Das  hintere  Ende  jeder  Rippe  trägt  ein  überknorpeltes  Köpfchen 
(Capitulum),  und  am  vorderen  Ende  bemerkt  man  eine  kleine  Ver- 
tiefung, in  welche  der  Rippenknorpel  fest  eingelassen  ist.   Die  erste. 


1. 190.  RipvMi.  349 

eilfte  und  zwölfte  Rippe  besitzen  ein  rundliches  Köpfchen.  Nur 
wenn  die  Gelenkfläche  zur  Aufnahme  des  ersten  Kippenkopfes^ 
zugleich  vom  siebenten  Halswirbel  gebildet  wird,  trägt  das  Köpfchen 
der  ersten  Rippe  zwei,  unter  einem  Giebel  fCrista  capüulij  zu- 
sammenstossende ,  platte  Gelenkflächen,  welche  am  Köpfchen  der 
zweiten  bis  zehnten  immer  vorkommen,  am  Kopfe  der  eilften  und 
zwölften  aber  zu  einer  einfachen  convexen  Gelenkfläche  ohne  Crista 
verschmelzen.  Der  Kopf  der  zehn  oberen  Rippen  sitzt  auf  einem 
rundlichen  Hals.  Wo  dieser  Hals  in  das  breitere  Mittelstück  der  Rippe 
übergeht,  bemerkt  man  nach  hinten  den  Rippenhöcker  (Tvber- 
culum  eostaej,  welcher  sich  mittelst  einer  überknorpelten  Flache  an 
die  ihm  zugekehrte  Gelenkfläche  des  betreflfenden  Wirbelquerfortsatzes 
anstemmt. 

Im  Suleut  rotlaUit  findet  man,  nahe  am  Halse,  oder  an  diesem  selbst, 
mehrere  Faramina  nutHUa,  welche  in  Emahnmgvkanlle  f&hren,  deren  Ricfaton^ 
dem  Kopfchen  der  Rip|>e  zustrebt.  —  An  der  Anssenfliche  des  hinteren  Seipoents 
der  dritten  bl«  letzten  Rippe,  macht  sich  eine  mehr  weniger  stark  aosi^prigte, 
schrSg  nach  aussen  und  unten  gerichtete,  raohe  Linie  bemerUich.  dnrrh  welebe 
dieses  Segment  ron  dem  Mittelstück  der  Ripfie  abgegTvnzt  wird.  Diese  raube 
Linie  nnteHiricht  zugleich  die  bogenförmige  Krümmmig  der  Bxppe  in  der  Art,  daas 
der  hintere  Theil  der  Rippe,  gegen  den  mittleren,  wie  in  einem  stiunp£eo  Winkel 
abgesetzt  erscheint,  An^ulu*  *.  Ch/hUu  cmtfup  lantet  der  Käme,  welchen  man  s«it 
Vesal,  diesem  stumpfen  Winkel  beigelegt  hat.  An  der  ersten  imd  zweiiea  Sip|»e 
fallt  der  Am/täuti  rottae  mit  dem   Tu/jerrtdum  zusammen. 

Alle  Rippen  einer  Seite  sind  einander  ähnlich,  aber  keine  ist 
der  anderen  gleich.  Die  einzelnen  Kippen  differiren  in  folgenden 
Punkten : 

1.  Durch  ihre  Län^e.  Die  I^nge  der  Eipf»en  nimmt  von 
der  ersten  bis  zur  siebenten  ^>der  achten  zu:  von  die**T  firegtn  di« 
zwölfte  ab.  Die  Abnahme  ^Mihieht  rascher  als  die  Zunahme,  aad 
es  muss  somit  die  zwölfte  kürzer  M.-in  al«  die  e^^te. 

2.  Durch  ihre  Krümsuusii:.  Man  unterscheidet  di^tl  Arir 
von  Krümmungen:  1.  eine  Krürnr/iung  nach  der  Kanir,  2.  n 
der  Fläche,  3.  na<:h  der  Axe  •Tortilou).  Die  Knunmuii£:  lAc-i  irr 
Kante  ist  an  der  imUcu  kipj/e  arn  ausgespro^rhensten.  L>ie  Flik-iHWr 
krnmmun;^  zeigt  »«ich  an  alleu.  vo?j  d^rr  zw^heu  bi«  zwölften,  vsi 
um  so  stärker,  je  näher  eiüe  H'^ß^M-  der  z'^r^iit^n  athhu  ^.nieriiiiT  aide: 
Worten,  die  Kreist; ,  ak  d^r^^si  IV/gez/b'-gTrteiJt  man  sich  riur  J^J-J»^ 
denken  kann,  werden  von  o\/*^fi  /ia/rh  nsiUcn  '^ßnstr.  Die  Totsj:»!!*- 
krümmung,  welche  an  den  iwittleren  \i\y]p^u  am  meiswii  anrrfa74, 
lässt  sieh  daran  erkennen^  d4u>«  jef>e  Kl^/rhe  *'in*'r  K3j»j»e.  vr^'-r-r 
nahe  an  der  Wirl>elfiäule  vertiral  vuchx.  >5eh  um  s'»  ui^ti  i^iLrks: 
nach  vorn  und  unt^n  rUchUfi;  je    ujt^h^rr   >^r  dem  hmsnu^li^  k>iLixii- 

3.  Durch  ihre  RicLtuiii^.  Di/i;  iljf/|^^  iiej^n  nicLi  Lcrä/>iiial. 
f^wtA^rn  schief,  mit  ihreo  kmUsr^fMi  Vm4^m  y^hf^f  adh  mit  den  v^rdtirea. 


350  {.  ISO.  Ripp«ik. 

Nebstdem  kehren  die  der  ersten  zunächst  folgenden  Rippen^  ent- 
sprechend der  fassfbrmigen  Gestalt  des  Thorax,  ihre  Ränder  nicht 
direct  nach  oben  und  unten,  wie  die  mittleren,  sondern  nach  innen 
und  aussen,  wodurch  ihre  Flächen  nicht  mehr  rein  äussere  und 
innere,  sondern  zugleich  obere  und  untere  werden. 

4.  Durch  das  Verhältniss  des  Halses  zum  Mittelstück. 
Absolut  genommen,  nimmt  die  Länge  des  Rippenhalses  von  der 
ersten  bis  siebenten  Rippe  zu,  relativ  zur  Länge  des  Mittelstücks 
aber  ab.  An  den  beiden  letzten  Rippen  fehlt,  wegen  Mangel  des 
Tkiberculwn,  auch  der  Hals. 

Die  Rippenknorpel,  Cartilagines  costarum,  welche  für  die 
zehn  oberen  Rippen  flachgedrückt,  für  die  zwei  unteren  aber  rund- 
lich und  zugespitzt  erscheinen,  stimmen  hinsichtlich  ihrer  Länge 
mit  den  Rippen,  welchen  sie  angehören,  überein.  Je  länger  die 
Rippe,  desto  länger  auch  ihr  Knorpel.  Ihre  von  oben  nach  unten 
abnehmende  Stärke ,  so  wie  die  Art  ihrer  Verbindung  mit  dem 
Brustbein  und  unter  sich,  bedingt  die  verschiedene  Beweglichkeit 
der  Rippen.  Die  Richtung  der  drei  oberen  Knorpel,  mag  ohne 
grossen  Fehler  nahezu  horizontal  genannt  werden.  Die  folgenden 
Rippenknorpel  treten,  abweichend  von  der  Richtung  ihrer  Rippen, 
schräge  gegen  das  Brustbein  in  die  Höhe.  Die  Knoi-pel  der  sechsten 
bis  neunten  Rippe,  seltener  der  fünften  bis  zehnten,  senden  sich 
einander  kurze,  aber  breite  Fortsätze  zu,  mittelst  welcher  sie  unter 
einander  articuliren. 

Herrn  Prof.  Oehl  in  Pavia  rerdanken  wir  die  interessante  Beobachtung, 
dass  auch  der  Schwertknorpel,  zuweilen  paarige  appendiculäre  Knorpelstücke  trägt, 
welche  offenbar  Andeutungen  selbstständiger  Rippenknorpel  sind  (Sitzungsberichte 
der  kais.  Akad.  1868.  Nr.  28).  —  Die  weiblichen  Rippen  unterscheiden  sich  da- 
durch von  den  mftnnlichen,  dass  die  Krümmung  nach  der  Fläche  an  ihrem  hinteren 
Ende  stärker,  die  Krümmung  nach  der  Kante  schwächer  sich  ausprägt.  Der 
Angulus  «.  Cubitua  weiblicher  Rippen  ist  zugleich  schärfer  als  jener  der  männlichen. 
Nach  Meckel  sind,  selbst  in  kleineren  weiblichen  Körpern,  die  ersten  beiden 
Rippen  länger  als  bei  Männern. 

Zuweilen  theilt  sich  eine  Rippe,  oder  ihr  Knorpel,  vom  gabelförmig,  oder 
es  verschmelzen  zwei,  ja  selbst  drei  Rippen  theilweise  zu  einem  flachen,  breiten 
Knochenstück,  oder  es  gehen  zwei  Rippen  in  Einen  Knorpel  über.  —  Die  Zahl 
der  Rippen  sinkt  auf  eilf  herab,  wobei  nicht  die  erste,  sondern  die  zwölfte  Rippe 
fehlt,  und  der  zwölfte  Brustwirbel  ein  überzähliger  Lendenwirbel  wird.  —  Ver- 
grösserung  der  Rippenzahl,  welche  durch  das  Breiterwerden  und  die  Spaltung 
einer  Rippe  am  vorderen  Ende  vorbereitet  wird,  ereignet  sich  in  der  Regel  durch 
Einscliiebung  eines  rippentrag^nden  Wirbels  zwischen  dem  zwölften  Brust-  und 
ersten  Lendenwirbel.  Jedoch  bildet  sich  die  dreizehnte  Rippe  auch  oberhalb  der 
sonstigen  ersten,  indem  die  ungewöhnlich  verlängerte,  und  selbstständig  gewordene 
vordere  Wurzel  des  Querfortsatzes  des  siebenten  Halswirbels,  ihre,  auch  in  der 
Entwicklungsgeschichte  beg^ndeten  Rechte,  als  Halsrippe,  gleitend  macht  Der 
von  Adams  beschriebene  Fall,  wo  das  erste  Rippenpaar  das  Brustbein  nicht  erreichte, 
gehört  offenbar  hieher.  Bertin  wül  auf  beiden  Seiten  fÜnfiMim  R^pen  beobachtet 


9.  ISl.  Y«i%mauf«  A«  KipfM.  351 


haben,  wm  nicht  onmG^licb  erscheint,  wenn  man  sich  die  Bedevtanp  der  Quer- 
fortsfttxe  der  Lendenwirbel  ab  Proeegstu  eoHarü  Tergegenwirtigt.  Das  Pferd  hat 
achtzehn,  der  Elephant  neunzehn  Bippenpaare.  Der  gelehrte  Albertntllagniia, 
hat  die  Frage:  ob  Adam  beim  letzten  Gericht  mit  vierondzwaozig  oder  dieiimd- 
zwanzig  Rippen  erscheinen  werde,  einer  gründlichen  Untersnchong  wertfa  gefonden. 
Man  soll  eigentlich  nicht  Rippe,  sondern  Ribbe  schreiben,  tob  dem  alt- 
deatschen  Riebe  oder  Ribbe,  englisch  rib,  im  Schwedischen  reef,  im  Saukiit  rif. 


§.  131.  Verbindimgeii  der  Rippen. 

Die  Verbindungen  y  welche  die  Rippen  eingehen,  sind  för  die 
wahren  und  falsche  Rippen  verschieden. 

Die  wahren  Rippen  verbinden  sich  an  ihren  hinteren  Enden 
mit  der  Wirbelsäule,  an  ihren  vorderen  durch  ihre  Knorpel  mit  dem 
Seitenrande  des  Brustbeins.  Beide  Verbindungen  bilden  Gelenke, 
welche  als  ArticulcUioneM  cogto-tpmcUes  und  costo-stemdUs  bezeichnet 
werden.  Bei  den  falschen  Rippen  fehlt  die  Verbindung  mit  dem 
Brustbein. 

A)  Die  Gelenke  zwischen  den  hinteren  Rippenenden 
und  den  Wirbeln,  sind  für  die  zehn  oberen  Rippen  doppelt: 
1.  zwischen  Rippenkopf  und  seitlichen  Gelenkgrübchen  der  Wirbel- 
körper (Articidationes  cosio-vertebrales),  und  2.  zwischen  Höcker  der 
Rippe  und  Wirbelquerfortsatz  (Articidationes  casto-transversales).  Bei 
den  zwei  letzten  Rippen  fehlt  mit  dem  Höcker,  auch  die  zweite 
Gelenksverbindung. 

1.  Jede  Artictdatio  costo-vertebralis  besitzt  eine  Kapsel,  welche 
durch  ein  vorderes,  strahlenförmiges  Hilfsband  (Ligamentum  capituU 
costae  anterius  s.  radiatum)  bedeckt  wird.  Im  Inneren  des  Gelenkes 
findet  sich  bei  den  zehn  oberen  Rippen,  von  der  Crista  ihrer 
Köpfchen  zur  betreffenden  Zwischenwirbelscheibe  gehend,  das  Liga- 
mentum  transversum  capävli  costae.  An  dem  Köpfchen  der  eilften 
und  zwölften  Rippe  fehlt  es,  so  wie  auch  am  Köpfchen  der  ersten 
Rippe,  in  dem  Falle,  wenn  die  Grube  für  dieses  Köpfchen  vom 
ersten  Brustwirbel  allein,  ohne  Theilnahme  des  siebenten  Halswirbels, 
gebildet  wird.  Das  Ligamentwm  transversum  ist  kein  gewöhnliches 
fibröses  Band,  sondern  zählt  seinem  Baue  nach,  zu  den  Faser- 
knorpeln. —  An  den  beiden  unteren  Rippen  habe  ich  das  Costo- 
Vertebralgelenk  durch  eine  Synchondrose  ersetzt  getroffen. 

2.  Da  die  Querfortsätze  der  Wirbel  als  Strebebalken  dienen, 
welche  das  Ausweichen  der  Rippen  nach  hinten  verhüten,  die  Rippe 
aber  bei  den  Athembewegongen  sich  am  Querfortsatze  etwas  ver- 
schieben muss,  so  wurde  die  Errichtung  der  Articidationes  costo- 
inmmmr9al§$  SBuT'  ^**  '  [iberen  Bippen  nothwendig.  Die  zwei 
letatan  äehwäche,  und  deren  in  den  Bauch- 


S52  $•  132.  Allgemein«  Betraektniig  des  Bnutkorbet. 

muskeln  versteckte  Lage,  sie  vor  Verrenkung  besser  in  Schutz 
nimmt,  benöthigen  die  Stütze  der  Querfortsätze  nicht.  An  jeder 
Articulatio  costo-transversalis  findet  sich  eine  dünne  Kapsel,  und  ein 
starkes  Hilfsband,  welches  die  hintere  Seite  des  Gelenkes  deckt 
(Ligamentum  coato-transversale).  Auch  die,  von  dem  nächst  darüber 
liegenden  Querfortsatze  zum  oberen  Rande  und  zur  hinteren  Fläche 
des  Rippenhalses  herabsteigenden,  vorderen  und  hinteren  Liga- 
menta colli  costae,  sichern  die  Lage  der  Rippe,  ohne  ihre  Erhebung 
beim  Einathmen  zu  beschränken. 

B)  Die  Gelenke  zwischen  den  vorderen  Rippenenden 
und  dem  Brustbeine  gehören  der  zweiten  bis  inclusive  siebenten 
Rippe  an,  da  der  erste  Rippenknorpel  sich  ohne  Gelenk  an  das 
Brustbein  festsetzt.  Ausnahmsweise  kann  jedoch  auch  der  erste 
Rippenknorpel  eine  Gelenksverbindung  mit  der  Brustbeinhandhabe 
eingehen.  —  Die  Rippenknorpelgelenke  besitzen  keine  fibrösen 
Kapseln ,  sondern  nur  Synovialkapseln  mit  vorderen  deckenden 
Bändern  (Ligamenta  stemo-costalia  radiata).  In  dem  Gelenk  des 
zweiten  Rippenknorpels  mit  dem  Brustbein,  findet  sich  sehr  häufig 
ein,  das  Gelenk  horizontal  durchsetzender,  und  seine  Höhle  in  zwei 
Räume  theilender  Faserknorpel,  als  Verlängerung  des  Knorpels 
zwischen  Handhabe  und  Körper  des  Brustbeins.  —  Vom  sechsten 
und  siebenten  Rippenknorpel  geht  das  straffe  Ligamentum  costo- 
xiphoideum  zum  Schwertfortsatze. 


§.  132.  Allgemeine  Betraclitiiiig  des  Brustkorbes. 

Die  zwölf  Rippenpaare  bilden,  mit  den  zwölf  Brustwirbeln  und 
dem  Brustbein,  den  Brustkorb  oder  Brustkasten,  Tliorax  (von 
Ocopa^,  der  metallene  Brustharnisch). 

Der  Brustkorb  stellt  ein  fassfürmiges  Knochengerüste  dar,  zu 
welchem  die  Rippen  gewissermassen  die  Reifen  bilden,  und  an 
welchem  eine  vordere,  hintere  und  zwei  Seitengegenden  oder 
Wände  angenommen  werden.  Die  vordere  ist  die  kürzeste,  flacher 
als  die  übrigen,  und  wird  vom  Brustbein  und  den  Knorpeln  der 
wahren  Rippen  gebildet.  Sie  liegt  derart  schräg,  dass  das  untere 
Ende  des  Brustbeins  zweimal  so  weit  von  der  Wirbelsäule  absteht, 
als  das  obere.  Die  hintere  Wand  erscheint,  durch  die  in  die  Brust- 
höhle vorspringenden  Wirbelkörper  stark  eingebogen,  und  geht  ohne 
scharfe  Grenze  in  die  langen  Seitenwände  über.  Die  Länge  der 
vorderen,  der  hinteren,  und  der  Seitenwand ^  verhält  sich  wie 
5:11:12  Zoll. 


§.  182.  Allgemeine  Betrachtung  des  RrnstkorbM.  353 

Der  horizontale  Durchschnitt  des  Brustkorbes  hat  eine  bohnen- 
förmige,  —  der  senkrechte,  durch  beide  Seiten  wände  gelegte,  eine 
viereckige  Gestalt,  mit  convexen  Seitenlinien. 

Der  Brustraum  (Cavum  thorads)  steht  oben  und  unten  offen, 
und  klafft  auch  durch  die  Zwischenrippenräume  (Spatia  intercostalia). 
Die  obere,  kleinere  Oeffnung  (Apertura  thorads  svperior)  wird  durch 
den  ersten  Brustwirbel,  das  erste  Rippenpaar  mit  seinem  Knorpel, 
und  durch  die  Handhabe  des  Brustbeins  gebildet.  Die  untere,  viel 
grössere  Oeffnung  (Apertura  thoracis  inferior)  wird  vom  letzten  Brust- 
wirbel, dem  letzten  Rippenpaar,  den  Knorpeln  aller  falschen  Rippen, 
und  dem  Schwertfortsatz  des  Brustbeins  umschrieben.  Die  Ebenen 
beider  Oeffnungen  sind,  wegen  Kürze  der  vorderen  Brustwand,  auf 
einander  zugeneigt,  und  convergiren  nach  vorn. 

Die  Zwischenrippenräume  können,  da  die  Rippen  nicht  parallel 
liegen,  somit  nicht  überall  gleich  weit  von  einander  abstehen,  auch 
nicht  in  ihrer  ganzen  Länge  gleich  weit  sein.  Sie  erweitern  sich 
nach  vorn  zu,  sind  an  der  Uebergangsstelle  der  Rippen  in  ihre 
Knorpel  am  geräumigsten,  und  werden,  gegen  den  Rand  des  Brust- 
beins hin,  wieder  schmäler.  Eine  stark  vorspringende,  volle  und 
convexe  Brust,  ist  ein  nie  fehlendes  Zeichen  eines  kraftvollen,  ge- 
sunden Knochenbaues,  während  ein  schmaler,  vom  gekielter  Thorax, 
ein  physisches  Merkmal .  körperlicher  Schwäche  und  angeborenen 
Siechthums  abgiebt. 

Das  vordere  Ende  einer  Rippe  steht  tiefer  als  das  hintere.  Es  kann  des- 
halb, wenn  die  Hebemoskeln  der  Rippen  wirken,  die  Richtung  der  Rippen  sich 
der  horizontalen  nähern,  wodurch  das  Brustbein  emporgehoben,  und  von  der 
Wirbelsäule  entfernt  wird.  Die  Gelenke  am  hinteren  Rippenende,  und  die  Elasti- 
cität  der  Knorpel  am  vorderen,  erlauben  auch  den  Rippen  (am  wenigsten  der 
ersten)  eine  Drehung,  wodurch  ihr  MittelstUck  gehoben,  und  ihr  unterer  Rand 
mehr  nach  aussen  bewegt  wird.  Beide  Bewegungen  finden  beim  tiefen  Einathmen 
statt,  und  erweitem  den  Brustkorb  im  geraden,  vom  Brustblatte  zur  Wirbelsäule 
gezogenen,  und  im  queren,  von  einer  Seite  zur  anderen  gehenden  Durchmesser. 
Die  verticale  Vergrösserung  der  Brustliöhle,  wird  nicht  durch  die  Hebung  der 
Rippen,  sondern  vorzugsweise  durch  das  Herabsteigen  des  Zwerchfelles  erzielt. 
Hören  die  Muskelkräfte,  welche  die  Rippen  aufhoben  und  etwas  drehten,  zu  wirken 
auf,  so  steUt  sich  das  frühere  Verhältniss  wohl  schon  durch  die  Elasticität  der 
Knorpel  wieder  her. 

Der  grösste  Umfang  des  Brustkorbes  fällt  nicht  in  die  untere  Bmstapertur, 
sondern  etwa  in  die  Mitte  seiner  Höhe,  und  beträgt  im  Mittel  25  Zoll.  Die  Breite 
der  hinteren  Bmstwand  erlaubt  dem  Menschen  auf  dem  Rücken  zu  Uegen,  was 
die  Thiere  nicht  können,  da  sie  keine  Rückenfläche,  sondern  nur  eine  Rücken- 
kante haben. 

Der  weibliche  Brustkorb  erscheint  in  verticaler  Richtung  etwas  länger,  und 
mehr  fassartig  geformt,  ab  der  männlicliey  welcher  ihn  übrigens  an  Geräumigkeit 
übertrifft  Bei  Franeiiy  weleha  steh  stark  schnüren,  wird  der  untere  Umfang  des 
Brustkorbes  anlEallend  tt  ^^  «Mk^-  und  linkseitigen   falschen  Rippen 

werden  sasaimnengtiJBfccifc'  v  aobtan  Bippen  stossen  selbst 

law^aen  tw  dül   wk  iBMpal   an    einander.     Der 

Hyrtl,  LAiHth  9m  '  88 


854     §•  133.  Gintheil.  der  oberen  Extremitäten.  —  §.  134.  Knochen  der  Schalter.  Schlüsselbein. 

weibliche  Thorax,  ungeachtet  er  länger  ist  als  der  männliche,  steht  doch  höher 
über  der  Schoossfuge,  wegen  grösserer  Höhe  der  weiblichen  Lenden  Wirbelsäule, 
und  wegen  geringerer  Einsenkung  des  Kreuzbeins  zwischen  den  Hüftknochen.  — 
Wenn  ein  weiblicher  und  ein  männlicher  Leichnam  von  gleicher  Grösse  horizontal 
neben  einander  liegen,  so  steht  bei  letzterem  die  Brust  merklich  höher  als  die 
SchooBsfuge,  bei  erstcrem  niedriger  oder  gleich  hoch.  Umständliche  Erörterung 
dieser  Verhältnisse  des  Brustkorbes  in  beiden  Gesi'hlechtem  enthält  Si'mimerriiuf^a 
kleine  Schrift:  Ueber  die  Wirkung  der  »SchnÜrbrüstc.  Berlin,  1793. 

Die  Etymologen  leiten  das  Wort  Thorax  von  Optüoxto  =  Oop^axo)  ab,  welches 
springen  und  hüpfen  bedeutet,  weil  am  Thorax  der  Herzschlag  gesehen  und 
gefühlt  wird. 


C.  Knochen  der  oberen  Extremitäten  oder 

Brustglieder. 

§.  133.  Eintlieiluiig  der  oberen  Extremitäten. 

Die  beiden  oberen  Extremitäten  bestehen  aus  vier  beweglich 
unter  einander  verbundenen  Abtheilungen:  der  Schulter,  dem 
Oberarm,  dem  Vorderarm,  und  der  Hand^  welche  letztere  selbst 
wieder  in  die  Handwurzel,  die  Mittelhand,  und  die  Finger 
abgetheilt  wird.  —  Extremitas  für  Gliedraasse  findet  sich  nur  bei 
Plinius  (extrenutcUes  corporis  und  extremitcUum  dolores).  Aber  andere 
römische  Schriftsteller,  so  Celsus,  als  unser  sprachlich-medicinisches 
Vorbild,  sagen  Membra  oder  Artus, 


%.  134.  Knochen  der  Schulter.  Schlüsselbein. 

Der  Anatom  versteht  unter  Schulter  etwas  Anderes  als  der 
Laie.  Im  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  gilt  als  Schulter,  eine  am 
äusseren  oberen  Contour  der  Brust  befindliche,  weiche,  dem  Delta- 
muskel entsprechende  Wölbung,  während  die  Anatomie  unier  diesem 
Namen  zwei  Knochen  der  oberen  Extremität  zusammenfasst :  das 
Schlüsselbein  und  das  Schulterblatt. 

Das  Schlüsselbein,  davictda  (Furcida,  Ligida,  Os  juffidi  bei 
Celsus,  bei  Homer  xXr^f;,  in  der  Bedeutung  als  Riegel),  ist  ein 
massig  S-förmig  gekrümmter,  starker,  sich  mit  der  ersten  Rippe 
kreuzender  Röhrenknochen.  Er  bildet  das  einzige  Verbindungsmittcl 
der  oberen  Extremität  mit  dem  Stamme.  Sein  inneres  Endstück 
(Extremitas  stetmalis) ,  dicker  als  das  äussere,  stützt  sich  mittelst 
einer  stumpf  dreieckigen^  massig  sattelförmig  gebogenen  Gelenk- 
fläche^  auf  die  im  Allgemoinen  wohl  entsprechend  gekrümmte,  aber 


§.  134.  Knochen  d«r  Schlüter.  Sehlftstelbein.  355 

nicht  vollkommen  congruente  Incisura  clavicularia  des  Brustbeins. 
Es  hat  an  der,  dem  ersten  Rippenknorpel  zugekehrten  Gegend,  eine 
längliche  Rauhigkeit,  zur  Anheftung  des  Ligamentum  costo-daviculare. 
Sein  äusseres  Endstück  (Extremüas  acromialis)  ist  breiter  als  das 
innere,  indem  es  von  oben  nach  unten  flachgedrückt  erscheint.  Es 
zeigt  an  seinem  äussersten  Rande,  eine  kleine,  ovale  Gelenkfläche, 
zur  Verbindung  mit  dem  Acromium  des  Schulterblattes.  An  seiner 
unteren  Fläche  bemerkt  man  eine  rauhe  Stelle,  zur  Befestigung  des 
ligamefiitum  coraco-daviculare.  Das  mehr  weniger  abgerundete  Mittel- 
stück, schliesst  nur  eine  kleine  Markhöhle  ein.  Die  Krümmung 
des  Knochens  ist  in  den  beiden  inneren  Dritteln  nach  vorn  convex, 
am  äusseren  Drittel  nach  vorn  concav.  Der  Halbmesser  der  ersten 
Krümmung  übertrifft  jenen  der  zweiten. 

Im  weiblichen  Geschlechte  finden  wir  das  Schlüsselbein,  be- 
sonders an  seiner  äusseren  Hälfte,  nicht  so  scharf  gebogen,  und 
zugleich  mehr  horizontal  liegend,  als  im  männlichen.  Portal  be- 
hauptet, das  rechte  Schlüsselbein  sei  in  beiden  Geschlechtem  stärker 
gekrümmt,  als  das  linke.  —  Bei  Menschen  aus  der  arbeitenden  Classe, 
verdickt  sich  die  Eactremitas  stemalü  des  Schlüsselbeins,  wird 
kantiger,  schärfer  gebogen,  vierseitig  pyramidal,  und  ihre  Gelenk- 
fläche überragt  die  Inciswra  clavicularU  des  Brustbeins  nach  vom 
und  nach  hinten. 

Die  oberflächliche  Lage  des  Knochens  macht  ihn  der  chimrgischen  Untor- 
sachnng  leicht  zngänglich.  Erkennung  und  Einrichtung  seiner  Brüche  unterliegen 
deshalb  keinen  erheblichen  Schwierigkeiten,  —  wohl  aber  die  Erhaltung  der 
Einrichtung  y  welche  ihren  grössten  Feind  in  der  leichten  Bewegliclikeit  des 
Knochens  hat 

Das  Schlüsselbein  hat,  als  Verbindungsknochen  der  oberen  Extremität  mit 
dem  Stamme,  eine  hohe  fnnctionelle  Wichtigkeit.  Es  hält,  wie  ein  Strebepfeiler, 
das  Schnltergelenk  in  gehöriger  Entfernung  von  der  Seit«nwand  des  Thorax,  und 
beding^  mitunter  die  Freiheit  der  Bewegungen  des  Armes.  Bricht  es,  was  meistens 
auswärts  seiner  Längenmitte  geschieht,  so  sinkt  die  Schulter  herab,  das  Oberarm- 
gelenk reibt  sich  bei  Bewegungsversuchen  an  der  Thoraxwand,  und  die  Bewegungen 
der  oberen  Extremität  werden  dadurch  in  bedeutendem  Grade  beeinträchtigt.  — 
Je  kraftvoller,  vielseitiger,  und  freier  die  Bewegungen  der  vorderen  Extremität  bei 
den  Thieren  werden,  desto  grösser  und  entwickelter  erscheint  das  Schlüsselbein, 
z.  B.  bei  kletternden,  grabenden,  fliegenden  Säugethieren.  Bei  den  Katsen  nimmt 
es  nur  die  Hälfte  des  Abstandcs  zwischen  Brustbein  und  Schulterblatt  ein,  und 
fehlt  bei  den  Ein-  und  Zweihufern,  welche  ihre  vorderen  Extremitäten  nur  zum 
Gehen,  nie  zum  Greifen  verwenden,  vollkommen.  —  An  der  hinteren  Gegend  des 
Mittelstücks  finden  sicli  1 — 2  kleine  Foramma  märitia,  welche  in  eben  so  viele, 
gegen   die  Extremita»  acromiaU»  des  Knochens  gerichtete    Canales  nutrUH  führen. 

Uebor  den  Namen  des  Schlüsselbeins  habe  ich  eine  Bemerkung  zu  machen. 
Schlüsselbein  drückt  doch  eine  Aehnliclikeit  mit  einem  Schlüssel  aus.  Kein 
römischer  Schlüssel  sieht  aber  dem  Schlüsselbein  ähnlich.  Sie  sehen,  nach  den 
Abbildungen,  welche  A.  Rieh  von  ihnen  gegeben  hat,  alle  wie  unsere  jetst  ge- 
bräuchlichen Schlüssel  aus.  Es  könnte  auch  keine  absurdere  Form  für  elnmi 
Schlflssel  gedacht  werden,  als  eine  S-fOrmige.    Dftgegeo  war  bei  der  ffimiithw 


356  §.  ISft.  SehnlterbUtt. 

und  gpriechischen  Jn^nd,  ein  Spielxeug  gebräuchlich,  in  Gestalt  eines  metallenen 
Reifens,  welcher  mit  vielen,  losen,  bei  der  Bewegung  des  Reifens  klingenden 
Ringelchen  und  Schellchen  behäng^  war  (garruU  aniiuli,  bei  Martial  auch 
tintinnahula).  Der  Reif  wurde  nicht  mit  der  Hand,  sondern  mit  einem  gleichfalls 
metallenen  Stab  getrieben,  von  S-ft5rmiger  Krümmung.  Das  Ende  des  Stabes, 
welches  mit  der  Hand  gefasst  wurde,  war  etwas  breiter  (wie  die  Extremität 
acromialis  unseres  Schlüsselbeins);  das  entgegengesetzte  Ende  etwas  verdickt  (wie 
die  Kxtreynitas  stemalia).  Der  Reifen  hiess  Trocfiiut,  der  Stab  aber  Clavia  trochi. 
Von  dieser  Clavittf  ftUirt  das  Schlüsselbein  seinen  Namen.  Die  ClavU  war,  nach 
der  Abbildung  auf  einem  antiken,  geschnittenen  Stein  zu  urtheilen,  welche  den 
Reif  und  seinen  Treiber  darstellt,  etwa  17,  Fuss  lang,  gab  also  im  Diminutiv: 
Clanieula, 


§.  135.  Schulterblatt. 

Das  Schulterblatt^  Scapula,  heisst  auch  Scutulum  bei  Celsus, 
Omoplata  bei  Qaien^  und  bei  den  Anatomen  des  Mittelalters  Scop- 
tula,  von  cxixToiJLai,  sehen,  weil  die  Schulterblätter  der  Opferthiere 
zum  Wahrsagen  benützt  wurden.  Veraltet  sind  die  Benennungen 
Pterygium  und  Chelonium,  welche  von  den  alten  griechischen  Aerzten 
dem  Schulterblatte  gegeben  wurden,  weil  seine  I^age  auf  dem  Rticken, 
an  Flügel  (xcepu?),  oder  an  das  Rückenschild  der  Schildkröten 
(xeXtovTj)  erinneii;.  Dasselbe  liegt  als  ein  breiter,  flacher,  bei  seiner 
Grösse  zugleich  leichter,  in  der  Mitte  oft  sogar  durchscheinender 
Knochen^  wie  ein  knöchernes  Schild  auf  der  hinteren  Thoraxwand, 
wo  es  die  zweite  bis  siebente  oder  achte  Rippe  theil weise  bedeckt. 
Seiner  dreieckigen  Gestalt  wegen  wird  es  in  eine  vordere  und 
hintere  Fläche,  drei  Ränder,  und  eben  so  viele  Winkel  ein- 
gethcilt.     Dazu  kommen  noch  zwei  Fortsätze. 

Die  vordere  Fläche  ist,  da  sie  sich  der  convexen  hinteren 
Thoraxwand  anschmiegt,  leicht  ausgehöhlt,  und  mit  drei  bis  fünf 
rauhen  Leisten  gezeichnet,  welche  die  Urspnmgsstellen  einzelner 
Bündel  des  Mvsculus  mbscapulari»  sind,  und  nicht  durch  den  Abdruck 
der  Rippen  entstehen,  wie  man  früher  glaubte,  und  der  alte  Name 
Costae  scapuiares  noch  ausdrückt.  Die  hintere  Fläche  wird  durch 
ein  stark  vorragendes  Knochenriff,  die  Schultergräte  (Spina 
scaptdae,  besser  Schultergrat,  da  man  auch  Rückgrat  sagt,  von 
Grat,  d.  i.  Kante),  in  die  kleine  Obergrätengrube  (Fosaa  supra- 
spinata)  j  und  in  die  grössere  Untergrätengrube  (Fossa  infraspmata) 
abgetheilt.  —  Der  der  Wirbelsäule  zugekehrte,  scharfe,  innere 
Rand  des  Schulterblattes,  ist  der  längste;  der  äussere  ist  kürzer 
und. dicker,  und  zeigt,  an  starken  Schulterblättern,  zwei  deutliche 
Säume  oder  Lefzen.  Der  obere  Rand  ist  der  kürzeste,  etwas 
concav  gekrümmt,  und  scharf.  An  seinem  äusseren  Ende  findet  sich 
ein    tiefer   Einschnitt,    Indmra  äcapulae.    Der   untere   Winkel   ist 


§.  185.  Sclialtorblatt.  357 

abgenindet,  der  obere  innere  spitzig  ausgezogen,  der  obere 
äussere  aufgetrieben,  massiv,  mit  einer  senkrecht  ovalen,  flachen 
Gelcnkgrube  ftir  den  Kopf  des  Oberarmknochens  versehen  (Cavitcks 
glenoldalis).  Die  Furche,  durch  welche  diese  Gelenkgrube  von  dem 
übrigen  Knochen  wie  abgeschnürt  erscheint,  heisst  der  Hals,  Collum 
scapulae.  Einige  Autoren  beschreiben  den  äusseren  Winkel,  seiner 
Dicke  und  seines  Umfanges  wegen,  auch  als  Körper,  Corpus 
scapulae. 

Der  an  der  hinteren  Fläche  der  Scapula  aufsitzende  Schulter- 
grat, verlängert  sich  nach  aussen  und  oben,  in  einen  breiten,  von 
oben  nach  unten  flachgedrückten  Fortsatz,  welcher  über  die  Ge- 
lenkfläche des  Schulterblattes  wie  ein  Schirmdach  hinausragt,  und 
Grätenecke  oder  Schulterhöhe,  Summus  hivmerua  a.  Acromion 
(to  axpov  ToO  wjJLoO,  Höhe  der  Schulter),  genannt  wird.  An  ihrem 
äussersten  Ende  befindet  sich,  nach  innen  zu,  eine  kleine  Gelenk- 
fläche, zur  Verbindung  mit  der  Extremitas  acromialü  des  Schlüssel- 
beins. Nebst  dem  Akromion,  wird  die  Gelenkfläche  noch  durch 
einen  anderen  Fortsatz  —  den  Rabcnschnabclfortsatz,  Processus 
coracoideus  —  überwölbt,  welcher  zwischen  Incisura  semilunaris  und 
Cavitas  glenoidalis  scapulae  breit  entspringt,  sich  nach  vorn  und 
aussen  fast  im  rechten  Winkel,  ähnlich  einem  halbgebogenen  kleinen 
Finger,  über  die  Gclenkfläche  wegbiegt,  und  aus  so  compacter 
Knoehenmasse  besteht,  dass  er  unbedingt  der  stärkste  Theil  des 
Schulterblattes  genannt  werden  kann.  Er  wird  von  der  Extremitas 
acromialis  des  Schlüsselbeins,  welche  quer  über  ihn  läuft,  gekreuzt. 

Betrachtet  man  Schulterblatt  und  Schlüsselbein  beider  Schultern 
in  ihrer  natürlichen  Lagerung  am  Skelete,  so  bilden  sie  zusammen 
einen  unvollkommenen  knöchernen  Ring  oder  Gürtel,  den  Schulter- 
gürtel. Der  Schultergürtel  ist  vorn  und  hinten  offen.  Seine  vordere 
Oeffnung  wird  durch  die  Handhabe  des  Brustbeins  ausgefüllt.  Seine 
hintere  Oeffnung  (zwischen  den  inneren  Rändern  beider  Schulter- 
blätter) bleibt  unausgefxillt,  und  wird  mit  der  verschiedenen  Stellung 
der  Schulterblätter  grösser  oder  kleiner  werden  müssen. 

Die  Lage  des  Schulterblattes,  welches  nur  durch  eine  sehr  kleine  Gelenk- 
fläche mit  dem  Schlüsselbeine,  und  durch  dieses  mit  dem  Skelete  zusammenhängt, 
verändert  sich  bei  jeder  Stellung  des  Armes.  Hängen  die  Hände  an  den  Seiten 
des  Stammes  ruhig  herab,  so  stehen  die  inneren  Ränder  der  beiden  Schulterblätter 
senkrecht  und  sind  der  Wirbelsäule  parallel.  Hebt  man  den  Arm  langsam  bis  in 
die  verticale  Richtung  nach  aufwärts,  so  folgt  der  untere  Winkel  des  Schulter- 
blattes diesen  Bewegungen,  und  entfernt  sich,  einen  Kreisbogen  beschreibend,  von 
der  Wirbelsäule. 

Muskeln  überlagern  das  Schulterblatt  dergestalt,  dass  sie  nur  die  iS^ma 
scapulae  bei  mageren  Personen  durch  die  Haut,  j»  durch  den  Rock  erkennen 
lassen.  —  Das  Akromion  wird  in  MlteoMi  SUIto  Sn  so  fem  ein  selbatständi«^ 
Knochen  (als  sogenMutt«0  Ot  am  ^  mir  doreli 


358  §•  136.  Yerbindvogen  der  Skhalierknochen. 

Zwiscbentritt  eines  Knorpels  Zusammenhang  also  eine  perennirende  Epiphyse 
desselben  darstellt.  Hippocrates  erwähnt  dieses  Zustandes  als  Regel.  K.  Wag- 
ner, Kuge,  und  Grub  er,  haben  das  Akromion  sogar  durch  ein  wahres  Gelenk 
mit  der  Sjniia  scapuiae  articuliren  gesehen.  Rüge  gedenkt  eines  Falles,  in 
welchem  sich  zwei  üssa  acrotiiicdia  vorfanden  (Zeitschr.  für  rat.  Med.  VII.  Bd.). 
Ausführlich  über  diesen  Gegenstand  handelt  Grub  er,  im  Archiv  für  Anat.  und 
Physiol.  1863.  —  In  der  Mitte  der  Untergrätengrube  kommt,  als  mericwürdige 
Thierbildimg,  zuweilen  eine  grosse  Oeffnung  vor,  so  wie  auch  die  Incisuva  «emi- 
lunarut,  durch  eine  knöcherne  Querspange  in  ein  Loch  sich  umwandelt.  —  Die 
mehrfachen  Foramina  niUritia  des  Schulterblattes,  finden  sich  theils  längs  seines 
äusseren  Randes,  theils  in  der  Nähe  der  Camta«  glenotdalin.  —  Beim  sogenannten 
phthisischen  Habitus  liegen,  wegen  Schraalheit  dos  Thorax,  die  Schulterblätter 
nicht  mit  der  ganzen  Breite  ihrer  vorderen  Fläche  auf  der  hinteren  Thoraxwand 
auf,  sondern  entfernen  sich  von  ihr  mit  ihrem  inneren  Rande,  welcher  sich  nach 
hinten  wendet,  und  die  Haut  des  Rückens  aufliebt:  Scapttlae  alatae. 

Die  anatomischen  Schriften  des  Mittelalters  führen  das  Schulterblatt  als 
Spatula  und  Spathula  auf  (von  aTiaOv],  ein  breites  Stück  Holz  zum  Umrühren,  was 
wir  Spatel  nennen).  Auch  findet  sich  bei  den  Restauratoren  der  Anatomie  im 
14.  und  15.  Jahrhundert,  Huuiertut  für  Schulterblatt  Letzteres  Wort  verdient  des- 
halb Beachtung,  weil  sich  aus  ihm  erklärt,  wanim  heute  noch,  das  Akromion, 
als  der  höchstragende  Fortsatz  des  Schulterblattes,  Sumnuut  humerua  heisst.  Was 
die  Anatomie  der  Jetztzeit  llumenut  nennt,  nämlich  der  Oberarmknochen,  hiess 
damals  sonderbarer  Weise:  Adjutorium,  aniOv)  heisst  auch  ein  breites  zwei- 
schneidiges Schwert,  wie  es  die  Leibgarde  der  griechischen  Kaiser  trug  (die 
gpada  der  Italiener).  Ein  Commandant  (Protospatharius)  dieser  Leibgarde, 
unter  Kaiser  Heraclius  im  7.  Jahrhundert,  Namens  Theophilus,  schrieb  ein, 
aus  dem  Galen  und  Rufus  Ephesius  compilirtes,  anatomisches  Werk,  nach 
dessen  lateinischer  Uebersetzung  (Theoph.  Protoapatharii,  de  corp.  hiim. 
ffiffricaj,  im  13.  Jahrhundert  an  der  Pariser  Universität  die  Anatomie  gelehrt  wurde 
(Bulaeus). 


§.  136.  Verbindungen  der  Schulterknochen. 

Wir  haben  hier  zuerst  die  Verbindungen  zwischen  Brustbein 
und  Schlüsselbein,  dann  jene  zwischen  Schlüsselbein  und  Schulter- 
blatt, und  zuletzt  die  eigenen  Bänder  des  Schulterblattes  zu  be- 
trachten. 

1.  Brustbein-SchlüBselbeingelenk,  Artictdatio  sterno-clavi- 
cularis.  Nur  durch  dieses  Gelenk  hängt  die  obere  Extremität  mit 
dem  Stamme  zusammen.  Eine  fibröse,  an  ihrer  vorderen  Wand 
sehr  starke  Kapsel,  vereinigt  die  für  einander  bestimmten,  sattel- 
förmig gekrümmten  Gelenkflächen  des  Brust-  und  Schlüsselbeins. 
Die  vordere  verstärkte  Wand  der  Kapsel,  wird  als  Ligamentum 
stemO'claviculare  aufgeführt.  In  der  Höhle  des  Gelenks  lagert  ein 
scheibenförmiger  Zwischenknorpel,  dessen  Umfang  mit  der  Kapsel 
verwachsen  ist.  Die  allerdings  nicht  sehr  in  die  Augen  fallende 
Incongruenz  der  Contactflächen  der  Knochen  im  Brustbein-Schlüssel- 
beingelenk, poBtulirt  die  Gegenwart  dieses  Zwischenknorpels.  Weitere 


1. 187.  Oberarmbein.  359 

Befestigungsbänder  des  Gelenks  sind:  das  inindliche  Ligamentum 
mterdaviculare ,  welches  in  der  Incistira  jtiffularia  steind,  quer  von 
einem  Hchlüsselbeine  zum  anderen  geht,  und  das  länglich  viereckige 
lÄgamentum  costo-davundare,  vom  ersten  Rippenknorpel  zur  unteren 
Rauhigkeit  der  Extremitas  sterncUis  daviculae.  Das  Schlüsselbein  kann 
in  diesem  Gelenke  nach  auf-  und  abwärts,  so  wie  nach  vor-  und 
rückwärts  bewegt  werden  (Sattelgelenk). 

2.  Schlüsselbein-Schulterblattgelenk,  Aiiiculatio  acromio- 
davicularis.  Nebst  der  fibrösen  und  Synovialkapsel,  findet  sich  noch 
ein  breites,  von  oben  über  das  Gelenk  streifendes  Verstärkungsband 
—  Ldganientum  acronua-clavicidare.  Ein  Zwischenknorpel  in  der 
Articidatio  acromio-daiTiculafis,  welcher  von  Vesal  zuerst  erwähnt 
wurde,  durchsetzt  entweder  die  ganze  Höhle  des  Gelenksraumes, 
oder  nur  einen  Theil  desselben,  und  zwar  von  unten  auf.  Selten 
fehlt  dieser  Zwischenknorpcl,  wo  dann  die  Knorpelüberzüge  der 
betreffenden  Gelonkfiächen,  besonders  jene  des  Schlüsselbeins,  dicker 
angetroffen  werden. 

Wo  das  Schlüsselbein  auf  dem  Pivcessus  coracoideus  des  Schulter- 
blattes lagert,  wird  es  mit  ihm  durch  das  sehr  starke  Ligamentum 
caraco-clavicidare  verbunden,  an  welchem  man  eine  vordere,  drei- 
eckige Portion,  als  Ligamentum  conicum,  und  eine  hintere,  ungleich 
vierseitige,  als  Ligamentum  trnpezoides  unterscheidet. 

3.  Besondere  Bänder  des  Schulterblattes.  Vom  Pro- 
cessus covacüideus  zum  Akromioii  zieht  das  starke  und  breite  Ligor 
mentum  cora4X)-ncromiale,  Dasselbe  bildet  eine  Art  von  Gewölbe  über 
der  Gelenkfläche  des  Schulterblattes,  welches  die  Verrenkungen  des 
Oberarms  nach  oben  nicht  zuliisst.  —  lieber  die  Incisura  semilunaris 
am  oberen  Schulterblattrande,  legt  sich  das  kurze  Ligamentum  trans- 
versum,  und  verwandelt  die  Incisur  in  ein  Loch. 

Luschka  beschrieb  den  bisher  noch  nie  gesehenen  Fall  einer 
Gelenkverbindung  des  linken  Schulterblattes  mit  der  dritten  und 
vierten  Rippe,  mittels  eines  von  der  vorderen  Fläche  des  Knochens, 
in  der  Nähe  des  inneren  oberen  Winkels  ausgehenden  Foii;8atze8, 
welcher  den  Musculus  serraMis  posticus  superior  durchbohrte,  um 
mittelst  einer  laxen,  taubeneigrossen  Synovialkapsel,  mit  einer  von 
den  genannten  Rippen  gebildeten  Gelenkfläche  zu  articuliren. 


§.  137.  Oberarmbein. 

Der  einfache  Axenknochen  des  Oberarms  ist  das  Oberarm- 
bein, Os  humeri  ».  bracliü  (von  ^a/iwv).  Sein  oberes  Ende  bildet 
ein  überknorpeltes,  schief  nach  innen  und  oben^  gegen  die  Gelenk- 
fläche des  ScbulterblattoB  .fpbauen^es  Ku^lsegment  >-  Kopf,  Caput 


348  §•  130.  Kipp«n. 

Ossa  auprasternaUa  gleichzeitig  mit  vollkommen  entwickelten,  d.  h.  bis  zum  Stemtim 
reichenden  Ualsrippen  vorkommen,  so  wird  Bresche t*s  Deutung  derselben,  als 
Stemalenden  unvollkommen  entwickelter  Ualsrippen,  unhaltbar. 


§.  130.  Rippen. 

Rippen  (Costa^,  zXeupal  und  07:a6ai  bei  Aristoteles),  sind  zwölf 
paarige,  zwischen  Wirbelsäule  und  Brustbein  liegende,  bogcnfih-mige, 
seitlich  comprimirte,  und  sehr  elastische  Knochen.  Die  Vielheit  der- 
selben, welche  beim  ersten  Blicke  auf  ein  Skelet  gleich  in  die  Augen 
fällt,  veranlasste  ohne  Zweifel  den  Ursprung  des  Wortes  Gerippe. 
Die  Rippen,  mit  Ausnahme  der  ersten  und  der  zwei  letzten,  liegen  auf 
einer  horizontalen  Unterlage  nicht  in  ihrer  ganzen  Länge  auf.  Sie 
können  somit  keine  reinen  Kreissegmente  sein,  wie  sie  denn  wirk- 
lich, ausser  der  Flächenkrümmung,  auch  eine  Krümmung  nach  der 
Kante  aufweisen.  Ueberdies  sind  sie  noch  um  ihre  eigene  Axe 
etwas  torquirt. 

Jede  Rippe  besteht  aus  einer  knöchernen  Spange,  und  einem 
knorpeligen  Verlängerungsstücke  derselben,  dem  Rippenknorpcl. 
Erreicht  der  Knorpel  einer  Rippe  den  Seitenrand  des  Brustbeins, 
so  heisst  die  Rippe  eine  wahre  (Costa  vera).  Die  oberen  sieben 
Paare  sind  wahre  Rippen.  Erreicht  aber  der  Rippenknorpcl  das 
Brustbein  nicht,  wie  an  den  fünf  unteren  Rippenpaaren,  so  legt  er 
sich  entweder  an  den  Knorpel  der  vorhergehenden  Rippe  an,  wie 
bei  der  achten,  neunten  und  zehnten  Rippe,  oder  er  endet  frei,  wie 
bei  der  eilften  und  zwölften.  In  beiden  Fällen  heissen  die  Rippen 
falsche  (Costae  spurlae,  8,  nothae,  s.  mendosae).  Die  eilfte  und  zwölfte 
werden  insbesondere ,  ihrer  grossen  Beweglichkeit  wegen ,  auch 
schwankende  Rippen  (Costae  ßuctuantes)  genannt.  Bei  Salomon 
Albertus  heissen  die  wahren  Rippen:  costas  gei*vianae,  und  die 
falschen:  adulterinae. 

Alle  Rippen,  mit  Ausnahme  der  ersten,  haben  eine  äussere 
convcxe,  und  innere  concave  Fläche,  einen  oberen  abgerundeten 
und  einen  unteren  der  Länge  nach  gefurchten  Rand  (Sulcus  costalls); 
die  erste  Rippe  dagegen  eine  obere  und  untere  Fläche,  einen  äusseren 
imd  inneren  Rand.  An  der  oberen  Fläche  der  ersten  Rippe  macht 
sich  eine,  in  topographischer  Beziehung  (für  die  Auffindung  der 
Arteria  subclavia)  wichtige  Rauhigkeit  bemerkbar,  als  Taherculum 
Lisfrand,  —  Die  Furche  am  unteren  Rande  der  Rippen  verstreicht 
gegen  das  vordere  Ende  hin.  Von  den  beiden,  die  Furche  be- 
grenzenden Lefzen,  ragt  die  äussere  weiter  herab  als  die  innere.  — 
Das  hintere  Ende  jeder  Rippe  trägt  ein  überknorpeltes  Köpfchen 
(Capitidum),  und  am  vorderen  Ende  bemerkt  man  eine  kleine  Ver- 
tiefung, in  welche  der  Rippenknorpel  fest  eingelassen  ist.    Die  erste, 


§.  180.  Rippen.  349 

eilfte  und  zwölfte  Rippe  besitzen  ein  nindliches  Köpfchen.  Nur 
wenn  die  Gelenkfläehe  zur  Aufnahme  des  ersten  Rippenkopfes, 
zugleich  vom  siebenten  Halswirbel  gebildet  wird,  trägt  das  Köpfchen 
der  ersten  Rippe  zwei,  unter  einem  Giebel  (Crista  capüuli)  zu- 
sammenstossende ,  platte  Gelenkflächen,  welche  am  Köpfchen  der 
zweiten  bis  zehnten  immer  vorkommen,  am  Kopfe  der  eilften  und 
zwölften  aber  zu  einer  einfachen  convexen  Gelenkfläche  ohne  Crista 
verschmelzen.  Der  Kopf  der  zehn  oberen  Rippen  sitzt  auf  einem 
rundlichen  Hals.  Wo  dieser  Hals  in  das  breitere  Mittelstück  der  Rippe 
übergeht,  bemerkt  man  nach  hinten  den  Rippenhöcker  (Tuber- 
culum  costae),  welcher  sich  mittelst  einer  überknorpelten  Fläche  an 
die  ihm  zugekehrte  Gelenkfläche  des  betreflfenden  Wirbelquerfortsatzes 
anstemmt. 

Im  Stdcus  costalü  findet  man ,  nahe  am  Halse ,  oder  an  diesem  selbst, 
mehrere  Faramina  nutriUa,  welclie  in  Emähning^kanäle  flihren,  deren  Richtung 
dem  Köpfchen  der  Kippe  zustrebt.  —  An  der  AussenOäche  des  hinteren  Segments 
der  dritten  bis  letzten  Rippe,  macht  sich  eine  mehr  weniger  stark  ausgeprägt, 
schräg  nach  aussen  und  unten  gerichtete,  rauhe  Linie  bemerklich,  durch  welche 
dieses  Segment  von  dem  Mittelstück  der  Rippe  abgegrenzt  wird.  Diese  rauhe 
Linie  unterbricht  zugleich  die  bogenförmige  Krümmung  der  Rippe  in  der  Art,  dass 
der  hintere  Theil  der  Rippe,  gegen  den  mittleren,  wie  in  einem  stumpfen  Winkel 
abgesetzt  erscheint.  Angidua  s.  CtihUtut  costae  lautet  der  Name,  welchen  man  seit 
Vesal,  diesem  stumpfen  Winkel  beigelegt  hat.  An  der  ersten  und  zweiten  Rippe 
fällt  der  Angulus  costae  mit  dem   Tuheradum  zusammen. 

Alle  Rippen  einer  Seite  sind  einander  ähnlich^  aber  keine  ist 
der  anderen  gleich.  Die  einzelnen  Rippen  differiren  in  folgenden 
Punkten : 

1.  Durch  ihre  Länge.  Die  Länge  der  Rippen  nimmt  von 
der  ersten  bis  zur  siebenten  oder  achten  zu;  von  dieser  gegen  die 
zwölfte  ab.  Die  Abnahme  geschieht  rascher  als  die  Zunahme,  und 
es  muss  somit  die  zwölfte  kürzer  sein  als  die  erste. 

2.  Durch  ihre  Krümmung.  Man  unterscheidet  drei  Arten 
von  Krümmungen:  \,  eine  Krümmung  nach  der  Kante,  2.  nach 
der  Fläche,  3.  nach  der  Axe  (Torsion).  Die  Krümmung  nach  der 
Kante  ist  an  der  ersten  Rippe  am  ausgesprochensten.  Die  Flächen- 
krümmung zeigt  sich  an  allen,  von  der  zweiten  bis  zwölften,  und  zwar 
um  so  stärker,  je  näher  eine  Rippe  der  zweiten  steht,  oder  mit  anderen 
Worten,  die  Kreise,  als  deren  Bogensegment  man  sich  eine  Rippe 
denken  kann,  werden  von  oben  nach  unten  grösser.  Die  Torsions- 
krümmung, welche  an  den  mittleren  Rippen  am  meisten  auffallt, 
lässt  sich  daran  erkennen,  dass  jene  Fläche  einer  Rippe,  welche 
nahe  an  der  Wirbelsäule  vertical  steht,  sich  um  so  mehr  schräg 
nach  vorn  und  unten  richtet,  je    näher    sie  dem  Brustbein  kommt. 

3.  Durch  ihre  Richtung.  Die  Rippen  liegen  nicht  horizontal, 
sondern  schief,  mit  ihren  hinteren  Enden  höher,  als  mit  den  vorderen. 


350  i.  ISO.  Rippeik. 

Nebstdem  kehren  die  der  ersten  zunächst  folgenden  Rippen,  ent- 
sprechend der  fassförmigen  Gestalt  des  Thorax,  ihre  Ränder  nicht 
direct  nach  oben  und  unten,  wie  die  mittleren,  sondern  nach  innen 
und  aussen,  wodurch  ihre  Flächen  nicht  mehr  rein  äussere  und 
innere,  sondern  zugleich  obere  und  untere  werden. 

4.  Durch  das  Verhältniss  des  Halses  zum  Mittelstück. 
Absolut  genommen,  nimmt  die  Länge  des  Rippenhalses  von  der 
ersten  bis  siebenten  Rippe  zu,  relativ  zur  Länge  des  Mittelstücks 
aber  ab.  An  den  beiden  letzten  Rippen  fehlt,  wegen  Mangel  des 
T\iberculum,  auch  der  Hals. 

Die  Rippenknorpel,  CartUagines  costarum,  welche  fär  die 
zehn  oberen  Rippen  flachgedrückt,  für  die  zwei  unteren  aber  rund- 
lich und  zugespitzt  erscheinen,  stimmen  hinsichtlich  ihrer  Länge 
mit  den  Rippen,  welchen  sie  angehören,  überein.  Je  länger  die 
Rippe,  desto  länger  auch  ihr  Knorpel.  Ihre  von  oben  nach  unten 
abnehmende  Stärke ,  so  wie  die  Art  ihrer  Verbindung  mit  dem 
Brustbein  imd  unter  sich,  bedingt  die  verschiedene  Beweglichkeit 
der  Rippen.  Die  Richtung  der  drei  oberen  Knorpel,  mag  ohne 
grossen  Fehler  nahezu  horizontal  genannt  werden.  Die  folgenden 
Rippenknorpel  treten,  abweichend  von  der  Richtung  ihrer  Rippen, 
schräge  gegen  das  Brustbein  in  die  Höhe.  Die  Knorpel  der  sechsten 
bis  neunten  Rippe,  seltener  der  fünften  bis  zehnten,  senden  sich 
einander  kurze,  aber  breite  Fortsätze  zu,  mittelst  welcher  sie  unter 
einander  articuliren. 

Herrn  Prof.  Oehl  in  Pavia  rerdanken  wir  die  interessante  Beobachtung, 
dass  auch  der  Schwertknorpel,  zuweilen  paarige  appendiculAre  Knorpelstücke  trägt, 
welche  offenbar  Andeutungen  selbstständiger  Rippenknorpel  sind  (Sitzungsberichte 
der  kais.  Akad.  1858.  Nr.  23).  —  Die  weiblichen  Rippen  unterscheiden  sich  da- 
durch von  den  männlichen,  dass  die  Krttmmung  nach  der  Fläche  an  ilirem  hinteren 
Ende  stärker,  die  Krümmung  nach  der  Kante  schwächer  sich  ausprägt  Der 
Angulus  s,  CubUus  weiblicher  Rippen  ist  zugleich  schärfer  als  jener  der  männlichen. 
Nach  Meckel  sind,  selbst  in  kleineren  weiblichen  Körpern,  die  ersten  beiden 
Rippen  länger  als  bei  Männern. 

Zuweilen  theilt  sich  eine  Rippe,  oder  ihr  Knorpel,  vom  gabelförmig,  oder 
es  verschmelzen  zwei,  ja  selbst  drei  Rippen  theilweise  zu  einem  flachen,  breiten 
Knochenstück,  oder  es  gehen  zwei  Rippen  in  Einen  Knorpel  über.  —  Die  Zahl 
der  Rippen  sinkt  auf  eilf  herab,  wobei  nicht  die  erste,  sondern  die  zwölfte  Rippe 
fehlt,  und  der  zwölfte  Brustwirbel  ein  überzähliger  Lendenwirbel  wird.  —  Ver- 
grOsserung  der  Rippenzahl,  welche  durch  das  Breiterwerden  und  die  Spaltung 
einer  Rippe  am  vorderen  Ende  vorbereitet  wird,  ereignet  sich  in  der  Regel  durch 
Einschiebung  eines  rippentragenden  Wirbels  zwischen  dem  zwölften  Brust-  und 
ersten  Lendenwirbel.  Jedoch  bildet  sich  die  dreizehnte  Rippe  auch  oberhalb  der 
sonstigen  ersten,  indem  die  ungewöhnlich  verlängerte,  und  selbstständig  gewordene 
vordere  Wurzel  des  Querfortsatzes  des  siebenten  Halswirbels,  ihre,  auch  in  der 
Entwicklungsgeschichte  begründeten  Rechte,  als  Halsrippe,  geltend  macht.  Der 
von  Adams  beschriebene  Fall,  wo  das  erste  Rippenpaar  das  Brustbein  nicht  erreichte, 
gehört  offenbar  hieher.   Bertin  will  auf  beiden  Seiten  fünfzehn  Rippen  beobachtet 


§.  181.  Yerbindangen  d«r  Bippen.  361 

haben,  was  nicht  nnmöglich  erscheint,  wenn  man  sich  die  Bedentong  der  Qner- 
fortsätze  der  Lendenwirbel  als  Proceaau»  costarii  yergegpenwärtigt.  Das  Pferd  hat 
achtzehn,  der  Elephant  neunzehn  Rippenpaare.  Der  gelehrte  Albertus  Magnus, 
hat  die  Frage:  ob  Adam  beim  letzten  Gericht  mit  viemndzwanzig  oder  dreiund- 
zwanzig Rippen  erscheinen  werde,  einer  gründlichen  Untersuchung  werth  gefunden. 
Man  soll  eigentlich  nicht  Rippe,  sondern  Ribbe  schreiben,  von  dem  alt- 
deutschen Riebe  oder  Ribbe,  englisch  rib,  im  Schwedischen  ruf,  im  Sanskrit  rif. 


§.  131.  Verbindungen  der  Rippen. 

Die  Verbindungen,  welche  die  Rippen  eingehen,  sind  für  die 
wahren  und  falschefn  Rippen  verschieden. 

Die  wahren  Rippen  verbinden  sich  an  ihren  hinteren  Enden 
mit  der  Wirbelsäule,  an  ihren  vorderen  durch  ihre  Knorpel  mit  dem 
Seitenrande  des  Brustbeins.  Beide  Verbindungen  bilden  Gelenke, 
welche  als  Articulationes  costo-spinales  und  costo-stemales  bezeichnet 
werden.  Bei  den  falschen  Rippen  fehlt  die  Verbindung  mit  dem 
Brustbein. 

A)  Die  Gelenke  zwischen  den  hinteren  Rippenenden 
und  den  Wirbeln,  sind  flir  die  zehn  oberen  Rippen  doppelt: 
1.  zwischen  Rippenkopf  und  seitlichen  Gelenkgrübchen  der  Wirbel- 
körper (Articulaticmes  costo-vertebrcdes),  und  2.  zwischen  Höcker  der 
Rippe  und  Wirbelquerfortsatz  (Artiadationes  costo-transverscUes),  Bei 
den  zwei  letzten  Rippen  fehlt  mit  dem  Höcker,  auch  die  zweite 
Gelenksverbindung. 

1.  Jede  Articulatio  costo-vertebrcdis  besitzt  eine  Kapsel,  welche 
durch  ein  vorderes,  strahlenförmiges  Hilfsband  (Ligamentum  capituli 
costae  ayiterius  8.  radiatum)  bedeckt  wird.  Im  Inneren  des  Gelenkes 
findet  sich  bei  den  zehn  oberen  Rippen,  von  der  Crista  ihrer 
Köpfchen  zur  betreffenden  Zwischenwirbelscheibe  gehend,  das  Liga- 
mentum transversum  capituli  costae.  An  dem  Köpfchen  der  eilften 
und  zwölften  Rippe  fehlt  es,  so  wie  auch  am  Köpfchen  der  ersten 
Rippe,  in  dem  Falle,  wenn  die  Grube  für  dieses  Köpfchen  vom 
ersten  Brustwirbel  allein,  ohne  Theilnahme  des  siebenten  Halswirbels, 
gebildet  wird.  Das  Ligamentum  transversum  ist  kein  gewöhnliches 
fibröses  Band,  sondern  zählt  seinem  Baue  nach,  zu  den  Faser- 
knorpeln. —  An  den  beiden  unteren  Rippen  habe  ich  das  Costo- 
Vertebralgelenk  durch  eine  Synchondrose  ersetzt  getroflFen. 

2.  Da  die  Querfortsätze  der  Wirbel  als  Strebebalken  dienen, 
welche  das  Ausweichen  der  Rippen  nach  hinten  verhüten,  die  Rippe 
aber  bei  den  Athembewegungen  sich  am  Querfortsatze  etwas  ver- 
schieben muss,  so  wurde  die  Errichtung  der  Articulationes  cosio- 
transversales  für  die  zehn  oberen  Rippen  nothwendig.  Die  zwei 
letzten  Rippen,  deren  Kürze,  Schwäche,  und  deren  in  den  Bauch- 


S52  9-  132.  Allgemeine  Betreehhiiig  dee  Bnivtkorbee. 

muskeln  versteckte  Lage,  sie  vor  Verrenkung  besser  in  Schutz 
nimmt,  benöthigen  die  Stütze  der  Querfortsätze  nicht.  An  jeder 
Articulatio  costo-trarwversalis  findet  sich  eine  dünne  Kapsel,  und  ein 
starkes  Hilfsband,  welches  die  hintere  Seite  des  Gelenkes  deckt 
(Ligamentum  coato-transversale).  Auch  die,  von  dem  nächst  darüber 
liegenden  Querfortsatze  zum  oberen  Rande  und  zur  hinteren  Fläche 
des  Rippenhalscs  herabsteigenden,  vorderen  und  hinteren  Liga- 
menta colli  costae,  sichern  die  Lage  der  Rippe,  ohne  ihre  Erhebung 
beim  Einathmen  zu  beschränken. 

B)  Die  Gelenke  zwischen  den  vorderen  Rippenenden 
und  dem  Brustbeine  gehören  der  zweiten  bis  inclusive  siebenten 
Rippe  an,  da  der  erste  Rippenknorpel  sich  ohne  Gelenk  an  das 
Brustbein  festsetzt.  Ausnahmsweise  kann  jedoch  auch  der  erste 
Rippenknorpel  eine  Gelenksverbindung  mit  der  Brustbeinhandhabe 
eingehen.  —  Die  Rippenknorpelgelenke  besitzen  keine  fibrösen 
Kapseln ,  sondern  nur  Synovialkapseln  mit  vorderen  deckenden 
Bändern  (Ligamenta  stemo-costalia  radiata).  In  dem  Gelenk  des 
zweiten  Rippeiiknorpels  mit  dem  Brustbein,  findet  sich  sehr  häufig 
ein,  das  Gelenk  horizontal  durchsetzender,  und  seine  Höhle  in  zwei 
Räume  theilender  Faserknorpel,  als  Verlängerung  des  Knorpels 
zwischen  Handhabe  und  Körper  des  Brustbeins.  —  Vom  sechsten 
und  siebenten  Rippenknorpel  geht  das  straffe  Ligamentum  costo- 
xiphoideum  zum  Schwertfortsatze. 


§.  132.  Allgemeine  Betrachtuiig  des  Brustkorbes. 

Die  zwölf  Rippenpaare  bilden,  mit  den  zwölf  Brustwirbeln  und 
dem  Brustbein,  den  Brustkorb  oder  Brustkasten,  Thorax  (von 
6u)pa5,  der  metallene  Brustharnisch), 

Der  Brustkorb  stellt  ein  fassfürmiges  Knochengerüste  dar,  zu 
welchem  die  Rippen  gewissermassen  die  Reifen  bilden,  und  an 
welchem  eine  vordere,  hintere  und  zwei  Seitengegenden  oder 
Wände  angenommen  werden.  Die  vordere  ist  die  kürzeste,  flacher 
als  die  übrigen,  und  wird  vom  Brustbein  und  den  Knorpeln  der 
wahren  Rippen  gebildet.  Sie  liegt  derart  schräg,  dass  das  untere 
Ende  des  Brustbeins  zweimal  so  weit  von  der  Wirbelsäule  absteht, 
als  das  obere.  Die  hintere  Wand  erscheint,  durch  die  in  die  Brust- 
höhle vorspringenden  Wirbelkörper  stark  eingebogen,  und  geht  ohne 
scharfe  Grenze  in  die  langen  Seiten  wände  über.  Die  Länge  der 
vorderen ,  der  hinteren ,  und  der  Seitenwand ,  verhält  sich  wie 
5:  11  :  12  Zoll. 


§.  182.  Allgemeine  Betrachtnng  des  BrnstkorbM.  353 

Der  horizontale  Durchschnitt  des  Brustkorbes  hat  eine  bohnen- 
förmige,  —  der  senkrechte,  durch  beide  Seiten  wände  gelegte,  eine 
viereckige  Gestalt,  mit  convexen  Seitenlinien. 

Der  Brustraum  (Cavum  ihorads)  steht  oben  und  unten  offen, 
and  klafft  auch  durch  die  Zwischenrippenräume  (Spatia  intercostaiia). 
Die  obere,  kleinere  Oeffnung  (Apertura  thorcuds  superior)  wird  durch 
den  ersten  Brustwirbel,  das  erste  Rippenpaar  mit  seinem  Knorpel, 
und  durch  die  Handhabe  des  Brustbeins  gebildet.  Die  untere,  viel 
grössere  Oeffnung  (Apertura  thoracis  inferior)  wird  vom  letzten  Bnist- 
wirbel,  dem  letzten  Rippenpaar,  den  Knorpeln  aller  falschen  Rippen, 
und  dem  Schwertfortsatz  des  Brustbeins  umschrieben.  Die  Ebenen 
beider  Oeffnungen  sind,  wegen  Kürze  der  vorderen  Brustwand,  auf 
einander  zugeneigt,  und  convergiren  nach  vorn. 

Die  Zwischenrippenräume  können,  da  die  Rippen  nicht  parallel 
liegen,  somit  nicht  überall  gleich  weit  von  einander  abstehen,  auch 
nicht  in  ihrer  ganzen  Länge  gleich  weit  sein.  Sie  erweitern  sich 
nach  vorn  zu,  sind  an  der  Uebergangsstelle  der  Rippen  in  ihre 
Knorpel  am  geräumigsten,  und  werden,  gegen  den  Rand  des  Brust- 
beins hin,  wieder  schmäler.  Eine  stark  vorspringende,  volle  und 
convexe  Brust,  ist  ein  nie  fehlendes  Zeichen  eines  kraftvollen,  ge- 
sunden Knochenbaues,  während  ein  schmaler,  vorn  gekielter  Thorax, 
ein  physisches  Merkmal .  körperlicher  Schwäche  und  angeborenen 
Siechthums  abgiebt. 

Das  vordere  Ende  einer  Rippe  steht  tiefer  als  das  hintere.  Es  kann  des- 
halb, wenn  die  Hebemaskeln  der  Rippen  wirken,  die  Richtung  der  Rippen  sich 
der  horizontalen  nähern,  wodurch  das  Brustbein  emporgehoben,  und  von  der 
Wirbelsäule  entfernt  wird.  Die  Gelenke  am  hinteren  Rippenende,  und  die  Elasti- 
citftt  der  Knorpel  am  vorderen,  erlauben  auch  den  Rippen  (am  wenigsten  der 
ersten)  eine  Drehung,  wodurch  ilir  Mittelstück  gehoben,  und  ihr  unterer  Rand 
mehr  nach  aussen  bewegt  wird.  Beide  Bewegungen  finden  beim  tiefen  Einathmen 
statt,  nnd  erweitem  den  Brustkorb  im  geraden,  vom  Brustblatte  zur  Wirbelsäule 
gezogenen,  und  im  queren,  von  einer  Seite  zur  anderen  gehenden  Durchmesser. 
Die  verticale  Vergrösserung  der  Brusthöhle,  wird  niclit  durch  die  Hebung  der 
Rippen,  sondern  vorzugsweise  durch  das  Herabsteigen  des  Zwerchfelles  erzielt. 
Hören  die  Muskelkräfte,  welche  die  Rippen  aufhoben  und  etwas  drehten,  zu  wirken 
auf,  so  steUt  sich  das  frühere  Verhältniss  wohl  schon  durch  die  Elasticität  der 
Knorpel  wieder  her. 

Der  gprösste  Umfang  des  Brustkorbes  fällt  nicht  in  die  untere  Brustapertur, 
sondern  etwa  in  die  Mitte  seiner  Höhe,  und  beträgt  im  Mittel  25  Zoll.  Die  Breite 
der  hinteren  Brustwand  erlaubt  dem  Menschen  auf  dem  Rücken  zu  liegen,  was 
die  Thiere  nicht  können,  da  sie  keine  Rückenfläche,  sondern  nur  eine  Rücken- 
kante haben. 

Der  weibliche  Brustkorb  erscheint  in  verticaler  Richtung  etwas  länger,  und 
mehr  fassartig  geformt,  als  der  männliche,  welcher  ihn  übrigens  an  Geräumigkeit 
übertrifft.  Bei  Frauen,  welche  sich  stark  schnüren,  wird  der  untere  Umfang  des 
Brustkorbes  auffallend  verkleinert,  die  reclit-  und  linkseitigen  falschen  Rippen 
werden  zusammengeschoben,  und  die  Knorpel  der  achten  Rippen  stossen  selbst 
zuweilen  vor  dem  nach  hinten  gedrängten  Schwertknorpel  an  einander.  Der 
Hyril,  Lchrbnoh  d«r  Anfttomie.  14.  Aufl.  28 


854     §•  133.  Eintheil.  der  oberen  EztreTotUteii.  —  §.  134.  Knoehen  der  Schaltor.  SchlQstelbein. 

weibliche  Thorax,  ungeachtet  er  länger  ist  als  der  männliche,  steht  doch  höher 
über  der  Schoossfuge,  wegen  grösserer  Höhe  der  weiblichen  Lenden  Wirbelsäule, 
und  wegen  geringerer  Einsenkung  des  Kreuzbeins  zwischen  den  Hüftknochen.  — 
Wenn  ein  weiblicher  und  ein  männlicher  Leichnam  von  gleicher  Grösse  horizontal 
neben  einander  liegen,  so  steht  bei  letzterem  die  Brust  merklich  höher  als  die 
Schoossfiige,  bei  croterem  niedriger  oder  gleich  hoch.  Umständliche  Erörterung 
dieser  Verhältnisse  des  Hmstkorbes  in  beiden  Geschlechtern  enthält  SönimerHiufa 
kleine  Schrift:  Ueber  die  Wirkung  der  Schnürbrüste.  Berlin,  1793. 

Die  Etymologen  leiten  das  Wort  Thorax  von  Optuoxto  =  Oopfaxto  ab,  welches 
springen  und  hüpfen  bedeutet,  weil  am  Thorax  der  Herzschlag  gesehen  und 
gefühlt  wird. 


C.  Knochen  der  oberen  Extremitäten  oder 

Brustglieder. 

§.  133.  Eilitlieilung  der  oberen  Extremitäten. 

Die  beiden  oberen  Extremitäten  bestehen  aus  vier  beweglich 
unter  einander  verbundenen  Abtheilungen:  der  Schulter,  dem 
Oberarm,  dem  Vorderarm,  und  der  Hand,  welche  letztere  selbst 
wieder  in  die  Handwurzel,  die  Mittelhand,  und  die  Finger 
abgetheilt  wird.  —  Extremitas  für  Gliedmasse  findet  sich  nur  bei 
Plinius  (extremücUes  corporis  und  extremitatum  dolores).  Aber  andere 
römische  Schriftsteller,  so  Celsus,  als  unser  sprachlich-medicinisches 
Vorbild,  sagen  Membra  oder  Artus, 


%.  134.  Knochen  der  Schulter.  Schlüsselbein. 

Der  Anatom  versteht  unter  Schulter  etwas  Anderes  als  der 
Laie.  Im  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  gilt  als  Schulter,  eine  am 
äusseren  oberen  Contour  der  Brust  befindliche,  weiche,  dem  Delta- 
muskel entsprechende  Wölbung,  während  die  Anatomie  unter  diesem 
Namen  zwei  Knochen  der  oberen  Extremität  zusammenfasst :  das 
Schlüsselbein  und  das  Schulterblatt. 

Das  Schlüsselbein,  Clamcvia  (Furcvla,  Ligula,  Os  jugvli  bei 
Celsus,  bei  Homer  xXtqi?,  in  der  Bedeutung  als  Riegel),  ist  ein 
massig  S-förmig  gekrümmter,  starker,  sich  mit  der  ersten  Rippe 
kreuzender  Röhrenknochen.  Er  bildet  das  einzige  Verbindungsmittel 
der  oberen  Extremität  mit  dem  Stamme.  Sein  inncresEndstück 
(Extremitas  stemalis) ,  dicker  als  das  äussere,  stützt  sich  mittelst 
einer  stumpf  dreieckigen,  massig  sattelförmig  gebogenen  Gelcnk- 
fläche,  auf  die  im  Allgemeinen  wohl  entsprechend  gekrümrate,  aber 


§.  134.  Knochen  der  Schulter.  Sehlflsielbein.  355 

nicht  vollkommen  congruente  Indsura  clavtcidaris  des  Brustbeins. 
Es  hat  an  der,  dem  ersten  Rippenknorpel  zugekehrten  Gegend,  eine 
längliehe  Rauhigkeit,  zur  Auheftung  des  Ligamentum  costo-damculare. 
Sein  äusseres  Endstüek  (Extremitas  acramicdis)  ist  breiter  als  das 
innere,  indem  es  von  oben  nach  unten  flachgedrückt  erscheint.  Es 
zeigt  an  seinem  äussersten  Rande,  eine  kleine,  ovale  Qelenkfläche, 
zur  Verbindung  mit  dem  Acromium  des  Schulterblattes.  An  seiner 
unteren  Fläche  bemerkt  man  eine  rauhe  Stelle,  zur  Befestigung  des 
Ligamentum  coraco-daviculare.  Das  mehr  weniger  abgerundete  Mittel- 
stück, schliesst  nur  eine  kleine  Markhöhle  ein.  Die  Krümmung 
des  Knochens  ist  in  den  beiden  inneren  Dritteln  nach  vorn  convex, 
am  äusseren  Drittel  nach  vorn  concav.  Der  Halbmesser  der  ersten 
Krümmung  übertrifft  jenen  der  zweiten. 

Im  weiblichen  Geschlechtc  finden  wir  das  Schlüsselbein,  be- 
sonders an  seiner  äusseren  Hälfte,  nicht  so  scharf  gebogen,  und 
zugleich  mehr  horizontal  liegend,  als  im  männlichen.  Portal  be- 
hauptet, das  rechte  Schlüsselbein  sei  in  beiden  Geschlechtern  stärker 
gekrümmt,  als  das  linke.  —  Bei  Menschen  aus  der  arbeitenden  Classe, 
verdickt  sich  die  Extremitas  steivialia  des  Schlüsselbeins,  wird 
kantiger,  schärfer  gebogen,  vierseitig  pyramidal,  und  ihre  Gelenk- 
fläche überragt  die  Indswra  clavicularis  des  Brustbeins  nach  vom 
und  nach  hinten. 

Die  oberflächliciie  Lage  des  Knochens  macht  ihn  der  chirurgischen  Unter- 
BOchnng  leicht  zugänglich.  Erkennung  luid  Einrichtung  seiner  Brüche  unterliegen 
deshalb  keinen  erheblichen  Scliwierigkeiten,  —  wohl  aber  die  Erhaltung  der 
Einrichtung ,  welche  ihren  grössten  Feind  in  der  leichten  Beweglichkeit  des 
Knochens  hat 

Das  Schlüsselbein  hat,  als  Verbindungsknochen  der  oberen  Extremität  mit 
dem  Stamme,  eine  hohe  functionelle  Wichtigkeit.  Es  hält,  wie  ein  Strebepfeiler, 
das  Schultergelenk  in  gehöriger  Entfernung  von  der  Scit^nwand  des  Thorax,  und 
bedingt  mitunter  die  Freiheit  der  Bewegungen  des  Armes.  Bricht  es,  was  meistens 
auswärts  seiner  Längenmitte  geschieht,  so  sinkt  die  Schulter  herab,  das  Oberarm- 
gelenk reibt  sich  bei  Bewegungsversuchen  an  der  Thoraxwand,  und  die  Bewegungen 
der  oberen  Extremität  werden  dadurch  in  bedeutendem  Grade  beeinträchtigt.  — 
Je  kraftvoller,  vielseitiger,  und  freier  die  Bewegungen  der  vorderen  Extremität  bei 
den  Thieren  werden,  desto  grösser  und  entwickelter  erscheint  das  Schlüsselbein, 
z.  B.  bei  kletternden,  grabenden,  fliegenden  Säugethioren.  Bei  den  Katzen  nimmt 
es  nur  die  Hälfte  des  Abstandes  zwischen  Brustbein  und  Schulterblatt  ein,  imd 
feldt  bei  den  Ein-  imd  Zweihufern,  welche  ihre  vorderen  Extremitäten  nur  zum 
Gehen,  nie  zum  Greifen  verwenden,  vollkommen.  —  An  der  hinteren  Gegend  des 
Mitti'lstücks  finden  sich  1 — 2  kleine  Foramina  nutritia,  welche  in  eben  so  viele, 
gegen    die  ExfreniUns  tt^roniialu   des  Knochens   gerichtete    CcnmJtJi  ntUrüH  führen. 

lieber  den  Namen  des  Sclilüsselbeins  halie  icli  eine  Bemerkung  zu  machon. 
Schlüsselbein  drückt  doch  eine  Aehiilichkeit  mit  einem  Schlüssel  aus.  Kein 
rr)mischer  Schlüssel  sieht  aber  dem  Schlüsselbein  ähnlich.  Sie  sehen,  nach  den 
Abbildungen,  welche  A.  Uich  von  ihnen  gegeben  hat,  alle  wie  unsere  jetzt  ge- 
bräuchlichen Schlüssel  aus.  Es  kOnnte  auch  keine  absurdere  Form  für  einen 
Schlüssel  gedacht  werden,  als  eine  S-f^rmigo.     Dagegen  war  bei  der   römischen 

28» 


356  §.  ISA.  SehnlterbUU. 

und  g^riechisclien  Jugend,  ein  Spielzeug  gebräuchlich,  in  Gestalt  eines  metallenen 
Reifens,  welcher  mit  vielen,  losen,  bei  der  Bewegung  des  Reifens  klingenden 
Ringelchen  und  Schellchen  behängt  war  (garruli  annuli,  bei  Martial  auch 
tirUinnabuIa).  Der  Reif  wurde  nicht  mit  der  Hand,  sondern  mit  einem  gleichfalls 
metallenen  Stab  getrieben,  von  S-f(5rraiger  Krümmung.  Das  Ende  des  Stabes, 
welches  mit  der  Hand  gefasst  wurde,  war  etwas  breiter  (wie  die  Extremitos 
(icromudia  unseres  Schlüsselbeins);  das  entgegengesetzte  Ende  etwas  verdickt  (wie 
die  Kxtreniitaa  stemalia).  Der  Reifen  hiess  TrorJuu,  der  Stab  aber  Clavis  trochi. 
Von  dieser  Clavi«,  führt  das  Schlüsselbein  seinen  Namen.  Die  Clavis  war,  nach 
der  Abbildung  auf  einem  antiken,  geschnittenen  Stein  zu  urtheilen,  welche  den 
Reif  und  seinen  Treiber  darstellt,  etwa  17}  Fuss  lang,  gab  also  im  Diminutiv: 
Cloüicuki, 


%.  135.  Schulterblatt 

Das  Schulterblatt,  Scapula,  heisst  auch  Sctitulum  bei  Celsus, 
Omoplata  bei  Galen,  und  bei  den  Anatomen  des  Mittelalters  Scop- 
tida,  von  oxixroixai,  sehen,  weil  die  Schulterblätter  der  Opferthiere 
zum  Wahrsagen  benützt  wurden.  Veraltet  sind  die  Benennungen 
Pterygium  und  Chelonium,  welche  von  den  alten  griechischen  Aerzten 
dem  Schulterblatte  gegeben  wurden,  weil  seine  Lage  auf  dem  Rücken, 
an  Flügel  (xcepu?),  oder  an  das  Rückenschild  der  Schildkröten 
(y^eXwvY))  erinnert.  Dasselbe  liegt  als  ein  breiter,  flacher,  bei  seiner 
Grösse  zugleich  leichter,  in  der  Mitte  oft  sogar  durchscheinender 
Knochen^  wie  ein  knöchernes  Schild  auf  der  hinteren  Thoraxwand, 
wo  es  die  zweite  bis  siebente  oder  achte  Rippe  theilweise  bedeckt. 
Seiner  dreieckigen  Gestalt  wegen  wird  es  in  eine  vordere  und 
hintere  Fläche,  drei  Ränder,  und  eben  so  viele  Winkel  ein- 
getheilt.     Dazu  kommen  noch  zwei  Fortsätze. 

Die  vordere  Fläche  ist,  da  sie  sich  der  convexen  hinteren 
Thorax  wand  anschmiegt,  leicht  ausgehöhlt,  und  mit  drei  bis  fünf 
rauhen  Leisten  gezeichnet,  welche  die  Ursprungsstellen  einzelner 
Bündel  des  Musculus  subscapvlaris  sind,  und  nicht  durch  den  Abdruck 
der  Rippen  entstehen,  wie  man  früher  glaubte,  und  der  alte  Name 
Costae  scapulares  noch  ausdrückt.  Die  hintere  Fläche  wird  durch 
ein  stark  vorragendes  Knochenriff,  die  Schultergräte  (Spina 
scapulae,  besser  Schultergrat,  da  man  auch  Rückgrat  sagt,  von 
Grat,  d.  i.  Kante),  in  die  kleine  Obergrätengrube  (Fossa  supra- 
spinata)  y  und  in  die  grössere  Untergrätengrube  (Fossa  infraspinata) 
abgetheilt.  —  Der  der  Wirbelsäule  zugekehrte,  scharfe,  innere 
Rand  des  Schulterblattes,  ist  der  längste;  der  äussere  ist  kürzer 
und. dicker,  und  zeigt,  an  starken  Schulterblättern,  zwei  deutliche 
Säume  oder  Lefzen.  Der  obere  Rand  ist  der  kürzeste,  etwas 
concav  gekrümmt,  und  scharf.  An  seinem  äusseren  Ende  findet  sich 
ein    tiefer    Einschnitt,    Indsura  scapulae.     Der    untere   Winkel   ist 


S.  1S5.  SchnlterblMt.  357 

abgerundet,  der  obere  innere  spitzig  ausgezogen,  der  obere 
äussere  aufgetrieben,  massiv,  mit  einer  senkrecht  ovalen,  flachen 
Gelenkgrube  für  den  Kopf  des  Oberarmknochens  versehen  (Cavitas 
glenoidalü).  Die  Furche,  durch  welche  diese  Gelenkgrube  von  dem 
übrigen  Knochen  wie  abgeschnürt  erscheint,  heisst  der  Hals,  CoUum 
scapulae.  Einige  Autoren  beschreiben  den  äusseren  Winkel,  seiner 
Dicke  und  seines  Umfanges  wegen,  auch  als  Körper,  Corpus 
scapuUie. 

Der  an  der  hinteren  Fläche  der  Scapula  aufsitzende  Schulter- 
grat, verlängert  sich  nach  aussen  und  oben,  in  einen  breiten,  von 
oben  nach  unten  flachgedrückten  Fortsatz,  welcher  über  die  Ge- 
lenkfiäche  des  Schulterblattes  wie  ein  Schirmdach  hinausragt,  und 
Gräteneckc  oder  Schulterhöhe,  Summus  huniei'iia  s.  Acromion 
(to  dbtpov  ToO  ü){j[^'j,  Höhe  der  Schulter),  genannt  wird.  An  ihrem 
äussersten  Ende  beflndet  sich,  nach  innen  zu,  eine  kleine  Gelenk- 
fläche, zur  Verbindung  mit  der  Extremitait  acromialis  des  Schlüssel- 
beins. Nebst  dem  Akromion,  wird  die  Gelenkfläche  noch  durch 
einen  anderen  Fortsatz  —  den  Rabenschnabelfortsatz,  l^ocesaus 
coracoideus  —  überwölbt,  welcher  zwischen  Incisura  semilunaris  und 
Cavüas  glenoidfdls  scajndae  breit  entspringt,  sich  nach  vorn  und 
aussen  fast  im  rechten  Winkel,  ähnlich  einem  halbgebogenen  kleinen 
Finger,  über  die  Gelenkfläche  wegbiegt,  und  aus  so  compacter 
Knochenmasse  best<'ht,  dass  er  unbedingt  der  stärkste  Theil  des 
Schulterblattes  genannt  werden  kann.  Er  wird  von  der  Ejctremitas 
acromialis  des  Schlüsselbeins,  welche  quer  über  ihn  läuft,  gekreuzt. 

Betrachtet  man  Schulterblatt  undSehIüsselb(iin  beider  Schultern 
in  ihrer  natürlichen  Lagerung  am  Skelete,  so  bilden  sie  zusammen 
einen  unvollkommenen  knöchernen  Ring  oder  Gürtel,  den  Schulter- 
gürtel.  Der  Schultergürtel  ist  vorn  und  hinten  offnen.  Seine  vordere 
OeflFnung  wird  durch  die  Handhabe  des  Brustbeins  ausgefüllt.  Seine 
hintere  Oeffnung  (zwischen  den  inneren  Rändern  beider  Schulter- 
blätter) bleibt  unausgefiillt,  und  wird  mit  der  verschiedenen  Stellung 
der  Schulterblätter  grösser  oder  kleiner  werden  müssen. 

Die  Lage  des  Schalterblattes,  welches  nur  durch  eine  sehr  kleine  (velenk- 
fläche  mit  dem  Schlttsselheine,  und  durch  diese«  mit  dem  Skeleto  zusammenhängt, 
verHndert  sich  hei  jeder  Stellung  des  Armes.  Hängen  die  Hände  an  den  Seiten 
des  Stammes  mhig  herab,  so  stehen  die  inneren  Ränder  der  beiden  Schulterblätter 
senkrecht  nnd  sind  der  Wirbelsäule  parallel.  Hebt  man  den  Arm  langsam  bis  in 
die  verticale  Richtung  nach  aufwärts,  so  folgt  der  untere  Winkel  des  Schulter- 
blattes diesen  Bewegungen,  und  entfernt  sich,  einen  Kreisbogen  beschreibend,  von 
der  Wirbelsäule. 

Muskeln  überlagern  das  Schulterblatt  dergestalt,  dass  sie  nur  die  Spina 
seapulae  bei  mageren  Personen  durch  die  Haut,  ja  durch  den  Rock  erkennen 
lassen.  —  Das  Akromion  wird  in  seltenen  Fällen  in  so  fem  ein  selbstständiger 
Knochen  (als  sogenanntes  0*  acrcmialej,  als  es  mit  der  Spina  ^capuloe  nur  durch 


358  S*  19^*  Verbindvngen  der  Schalterknochen. 

Zwiflchentritt  eines  Knorpels  zusammenhängt,  also  eine  perennirende  Epiphyae 
desselben  darstellt.  Uippocrates  erwähnt  dieses  Zustandes  als  BegeL  B.  Wag- 
ner, Kiige,  und  Grub  er,  haben  das  Akromion  sogar  durch  ein  wahres  Gelenk 
mit  der  Spina  scapulue  articuUren  gesehen.  Rüge  gedenkt  eines  Falles,  in 
welchem  sich  zwei  Oasa  acromiialia  vorfanden  (Zeitschr.  für  rat.  Med.  VII.  Bd.). 
Ausführlich  über  diesen  Gegenstand  handelt  Grub  er,  im  Archiv  für  Anat.  und 
Physiol.  1863.  —  In  der  Mitte  der  Untergprätengrube  kommt,  als  merkwürdige 
Thierbildung,  zuweilen  eine  grosse  Oeffnimg  vor,  so  wie  auch  die  Inciaura  nemi- 
lunaris,  durch  eine  knöclieme  Querspange  in  ein  Loch  sich  umwandelt.  —  Die 
mehrfachen  Foramina  ntäritia  des  Schulterblattes,  finden  sich  theils  längs  seines 
äusseren  Randes,  theils  in  der  Nähe  der  CaüUaa  glenoidali«.  —  Beim  sogenannten 
phthisischen  Habitus  liegen,  wegen  Schraalheit  des  Thorax,  die  Schulterblätter 
nicht  mit  der  ganzen  Breite  ihrer  vorderen  Fläche  auf  der  hinteren  Thoraxwand 
auf,  sondern  entfernen  sich  von  ihr  mit  ihrem  inneren  Rande,  welcher  sich  nach 
hinten  wendet,  und  die  Haut  des  Rückens  aufhebt:  Scapttlete  alaUie. 

Die  anatomischen  Schriften  des  Mittelalters  führen  das  Schulterblatt  als 
Spatula  und  Spaihula  auf  (von  9;:aOi7,  ein  breites  Stück  Holz  zum  Umrühren,  was 
wir  Spatel  nennen).  Auch  findet  sich  bei  den  Restauratoren  der  Anatomie  im 
14.  und  15.  Jahrhundert,  Hnnierus  für  Schulterblatt  Letzteres  Wort  verdient  des- 
halb Beachtung,  weil  sich  aus  ihm  erklärt,  warum  heute  noch,  das  Akromion, 
als  der  höchstragende  Fortsatz  des  Schulterblattes,  Summus  humerus  heisst  Was 
die  Anatomie  der  Jetztzeit  Huvienis  nennt,  nämlich  der  Oberarmknochen,  hiess 
damals  sonderbarer  Weise:  Adjtäorium,  ajuaO?]  heisst  auch  ein  breites  zwei- 
schneidiges Schwert,  wie  es  die  Leibgarde  der  griechischen  Kaiser  trug  (die 
»pada  der  Italiener).  Ein  Commandant  (Protospatharius)  dieser  Leibgarde, 
unter  Kaiser  Heraclius  im  7.  Jahrhundert,  Namens  Theophilus,  schrieb  ein, 
aus  dem  Galen  und  Rufus  Ephesius  compilirtes,  anatomisches  Werk,  nach 
dessen  lateinischer  Uebersetzung  (Theoph,  Prolospatharii,  de  corp.  htim. 
fabrica)^  im  13.  Jahrhundert  an  der  Pariser  Universität  die  Anatomie  gelehrt  wurde 
(Bulaeus). 


§.  136.  Verbindungen  der  Scliulterknoclien, 

Wir  liaben  hier  zuerst  die  Verbindungen  zwischen  Brustbein 
und  Schlüsselbein,  dann  jene  zwischen  Schlüsselbein  und  Schulter- 
blatt, und  zuletzt  die  eigenen  Bänder  des  Schulterblattes  zu  be- 
trachten. 

1.  Brustbein-Schlüsselbeingelenk,  Articvlatio  stemo-clavi- 
cidaris.  Nur  durch  dieses  Gelenk  hängt  die  obere  Extremität  mit 
dem  Stamme  zusammen.  Eine  fibröse,  an  ihrer  vorderen  Wand 
sehr  starke  Kapsel,  vereinigt  die  für  einander  bestimmten,  sattel- 
förmig gekrümmten  Gelenkflächen  des  Brust-  und  Schlüsselbeins. 
Die  vordere  verstärkte  Wand  der  Kapsel,  wird  als  Ligamentum 
stemO'clavictdare  aufgeführt.  Li  der  Höhle  des  Gelenks  lagert  ein 
scheibenförmiger  Zwischenknorpel,  dessen  Umfang  mit  der  Kapsel 
verwachsen  ist.  Die  allerdings  nicht  sehr  in  die  Augen  fallende 
Incongruenz  der  Contactflächen  der  Knochen  im  Brustbein-Schlüssel- 
beingclenk,  postulirt  die  Gegenwart  dieses  Zwischenknorpels.  Weitere 


§.  187.  Oberarmbein.  359 

Befestigungsbänder  des  Gelenks  sind:  das  iniudliche  Liganiefitum 
ifderclamculare ,  welches  in  der  Incisura  jugvlaris  steivii,  quer  von 
einem  Schlüsselbeine  zum  anderen  geht,  und  das  länglich  viereckige 
Ligamentum  costo-davtcidare,  vom  ersten  Rippenknorpel  zur  unteren 
Rauhigkeit  der  Exiremitas  stemcUis  davmdae.  Das  Schlüsselbein  kann 
in  diesem  Gelenke  nach  auf-  und  abwärts,  so  wie  nach  vor-  und 
rückwärts  bewegt  werden  (Sattelgelenk). 

2.  Schlüsselbein-Schulterblattgelonk,  Articidatio  acromio' 
d€mculari8.  Nebst  der  fibrösen  und  Synovialkapsel,  findet  sich  noch 
ein  breites,  von  oben  über  das  Gelenk  streifendes  Verstärkungsband 
—  Ligamentum  acromio-clamcidare.  Ein  Zwischenknorpel  in  der 
Articulatio  acromio-clavicularis ,  welcher  von  Vesal  zuerst  erwähnt 
wurde,  durchsetzt  entweder  die  ganze  Höhle  des  Gelenksraumes, 
oder  nur  einen  Theil  desselben,  und  zwar  von  unten  auf.  Selten 
fehlt  dieser  Zwischenknorpel,  wo  dann  die  Knorpelüberzüge  der 
betreffenden  Gelenkflächen,  besonders  jene  des  Schlüsselbeins,  dicker 
angetroffen  werden. 

Wo  das  Schlüsselbein  auf  dem  Pt'oces^us  coracoideiis  des  Schulter- 
blattes lagert,  wird  es  mit  ihm  durch  das  sehr  starke  Ligamentum 
corac(hclaviculare  verbunden,  an  welchem  man  eine  vordere,  drei- 
eckige Portion,  als  Ligamentum  conicum ,  und  eine  hintere,  ungleich 
vierseitige,  als  Ligamentum  trajyezoides  unterscheidet. 

3.  Besondere  Bänder  des  Schulterblattes.  Vom  Pro- 
cessus coracoideus  zum  Akromion  zieht  das  starke  und  breite  Ligc(r 
mentum  coraco-acrominle.  Dasselbe  bildet  eine  Art  von  Gewölbe  über 
der  Gelenkfläche  des  Schulterblattes,  welches  die  Verrenkungen  des 
Oberarms  nach  oben  nicht  zulässt.  —  lieber  die  Incisura  semilunaris 
am  oberen  Schulterblattrande,  legt  sich  das  kurze  Ligam>entum  trans- 
oersum,  und  verwandelt  die  Incisur  in  ein  Loch. 

Luschka  beschrieb  den  bisher  noch  nie  gesehenen  Fall  einer 
Gelenkverbindung  des  linken  Schulterblattes  mit  der  dritten  und 
vierten  Rippe,  mittels  eines  von  der  vorderen  Fläche  des  Knochens, 
in  der  Nähe  des  inneren  oberen  Winkels  ausgehenden  Fortsatzes, 
welcher  den  Musculus  seivatus  posticus  superior  durchbohrte,  um 
mittelst  einer  laxen,  taubeneigrossen  Synovialkapsel,  mit  einer  von 
den  genannten  Rippen  gebildeten  Gelenkfläche  zu  articuliren. 


§.  137.  Oberarmbein, 

Der  einfache  Axenknochen  des  Oberarms  ist  das  Oberarm- 
bein, Os  humeri  tf,  bradiii  (von  ßpa/iwv).  Sein  oberes  Ende  bildet 
ein  überknorpeltes,  schief  nach  innen  und  oben,  gegen  die  Gelenk- 
flache  des  Schulterblattes  schauendes  Kugelsegment  —  Kopf,  Cc* 


ttn 


360  S.  1S7.  OlMnurmbeia. 

hvmeri.  Eine  rings  um  den  Rand  der  Ueberknorpelung  des  Kopfes 
herumgehende  Einschnürung,  setzt  den  Kopf  gegen  den  Schaft  des 
Knochens  ab,  und  führt  den  Namen  Collum  humeri  ancUomicum,  zum 
Unterschied  von  Collum  humeri  ddrurgicum,  welches  sich  am  Schafte 
weiter  abwärts,  bis  zur  Insertionsstelle  des  Musculus  teres  major,  er- 
streckt. Die  Chirurgen  pflegen  nämlich,  einen  über  der  Insertions- 
stelle des  Musculus  teres  mujor  stattfindenden  Bruch  des  Oberarm- 
beins, noch  als  Fractura  colli  humsri  zu  bezeichnen.  —  Auf  die 
Furche  folgen  zwei  Höcker.  Der  kleinere  (Tuberculum  minus) 
liegt  nach  vorn,  und  wird  vom  grösseren,  äusseren  (Tuberculum 
m^jus) ,  durch  eine  tiefe  Rinne  (Sulcus  intertvbercularis)  getrennt. 
Das  Tuberculum  maju>s  besitzt  drei  für  Muskelinsertionen  bestimmte, 
nicht  immer  deutlich  markiite  Flächen  oder  Eindrücke.  Von  jedem 
Höcker  läuft  ein  erhabener  Grat  (Spina  tvherculi  majoiis  et  minoris) 
zum  Mittelstück  des  Knochens  herab.  Dieses  ist  dreiseitig,  mit 
einer  vorderen,  äusseren,  und  inneren  Kante,  welchen  die 
hintere,  innere,  und  äussere  Fläche  gegenüber  stehen.  Ueber 
der  Mitte  der  äusseren  Fläche,  bemerken  wir  eine  rauhe  Stelle 
(Tuberositas),  welche  dem  Deltamuskel  zum  Ansatz  dient.  Gewöhn- 
lich findet  sich  im  oberen  Drittel  des  Mittelstücks,  dicht  vor  der 
inneren  Kante,  das,  in  einen  abwärts  gerichteten  Kanal  fiihreude 
Ernährungsloch  (Foramen  nutritium)  des  Oberarmbeins. 

Das  untere  Ende  erscheint  breiter  und  flacher,  als  das  obere, 
wie  von  vorn  nach  hinten  zusammengedrückt,  und  besitzt,  zur  Ver- 
bindung mit  jedem  der  beiden  Vorderarmknochen,  besondere  Gebilde. 
Diese  sind:  a)  die  Rolle  (Trochlea,  von  Tpc^aXia,  eine  Winde,  ver- 
wandt mit  Tp6xo<;?  Rad),  ein  kurzer,  querlicgender ,  tief  gefurchter 
Cy linder,  welcher  von  dem  grossen  Halbmondausschnitt  der  Ulna 
umfasst  wird.  Ueber  der  Rolle  liegt  an  der  vorderen  Seite  die 
Fo^ea  supratrochlearis  anterior,  und  an  der  hinteren  die  tiefere  und 
grössere  Fovea  supratroctdeaiis  posterior.  Beide  Gruben  sind  durch 
eine  dünne  Knochenwand  getrennt,  welche  zuweilen,  besonders  bei 
alten  Individuen  (auch  an  den  Negerskeleten  meiner  Sammlung), 
durchbrochen  gefunden  wird.  Neben  der  Rolle  liegt  nach  aussen 
h)  das  kugelige  Köpfchen  (Eminentia  capitata),  welches,  wie  die 
Rolle,  mit  Knorpel  überzogen  ist,  und  zur  Gelenkverbindung  mit 
dem  Radius  dient. 

Verfolgt  man  die  äussere  und  innere  Kante  des  Mittelstücks 
mit  dem  Finger  nach  abwärts,  so  wird  man  durch  sie  auf  den 
äusseren  kleineren,  und  inneren  grösseren  Knorren  des  Ober- 
arms (Condylus  extemus  et  internus)  geleitet,  welche,  da  sie  vorzugs- 
weise den  Streckern  und  Beugern  der  Hand  und  der  Finger  zum 
Ursprünge  dienen,  ganz  bezeichnend  auch  Condylus  extensorius  (der 
äussere),   und  flexorius   (der  innere)   genannt   werden  können.     Bei 


S.  138.  Schnltergelenk.  361 

französischen  Anatomen  heisst  allgemein  der  äussere  Condylus: 
Epicondyltts ,  der  innere:  Epitroddea,  Schon  aus  der  bedeutenden 
Grösse  des  inneren  Knorrens  lässt  sich  schliessen,  dass  die  Gesammt- 
masse  der  von  ihm  entspringenden  Beugemuskeln  grösser  als  jene 
der  Streckmuskeln  sein  wird.  Zwischen  Condyliis  internus  und 
Trochlea  findet  sich  an  der  hinteren  Seite  des  unteren  Endes  des 
Oberarmbeins,  eine  tiefe  Furche  (Sidcus  ulnaris) ,  für  den  Verlauf 
des  Ellbogennerven. 

Das  Oberarmbein  erscheint  im  Ganzen  etwas  nacli  innen  and  vom  ge- 
wunden (courhure  de  torsioii  der  französischen  Anatomen),  was  Alb  in,  mehr  galant 
als  richtig,  mit  den  Worten  bezeichnet:  „lanu/nam  «i  aptet  se  ad  amplexum**. 

Es  kommt  nicht  ganz  selten  vor,  dass,  1^2  ^is  2  Zoll  über  dem  Condylu» 
iTilenuut,  ein  gerader  oder  hakenförmig  nach  abwärts  gekrümmter  Fortsatz,  an 
der  inneren  Fläche  des  Knochens  aufsitzt,  welcher,  seiner  Stellung  und  seines 
Verhältnisses  zur  Arteria  bvachialis  und  zum  Nervus  medianus  wegen,  als  eine 
Analogie  des  bei  vielen  Säuge thieren  vorkommenden  Canalis  tnipracaiidt/loidetu 
gedeutet  werden  muss,  und  Procettsus  Mujn'acoiidt/lokleiui  von  Josephi  (Anatomie 
der  Säugethiere.  I.  Ud.  pag.  319)  genannt  wurde.  Ausführlich  hierflber  handeln : 
OUo,  de  rarioribus  quibundam  sceleti  humani  cum  sceleto  animalium  analogiis. 
Vratisl.,  1839;  Harkoir,  anat  Abhandl.  Breslau,  1851,  und  mit  ganz  ausgezeich- 
neter Genauigkeit  und  coniparativor  Vielseitigkeit,  W.  Gvnhev,  m  seiner  „Mono- 
graphie des  Cnnalui  iiupi'(u:o)uf.yhuleiM'* ,  St.  Petersburg,  1856,  mit  drei  Tafeln. 
Grub  er  hat  diesen  Fortsatz  unter  220  Leichen  sechs  Mal  angetroffen.  Jedesmal 
dient  er  einem  überzähligen  Fascikel  des  MuMcidua  proncUor  teren  zum  Ursprung, 
und  steht  seine  Spitze  mit  jener  des  Coiuli/htJt  hutneri  iiUernuM,  durch  ein  Liga- 
ment in  Verbindung.  Einen  Fall  von  rrocenaun  supracomlyioidemi  an  beiden  Armen 
eines  Neugebornen,  besitze  ich  in  meinem  Museum.  —  Auf  die  Erblichkeit  des 
Processus  ftupracondt/hideus  hat  Prof.  Struthers  in  Aberdeen,  zuerst  aufmerksam 
gemacht  (The  Lancet,  1873.  Febr,  15.), 


§.  138.  Schultergelenk. 

Das  Schultergelenk,  Articulatio  humeri,  ist  das  freieste  Ge- 
lenk des  menschlichen  Körpers,  die  vollkommenste  Arthrodie. 

Der  Kopf  des  Oborarmknochens  bewegt  sich  auf  der  Gelenk- 
fläche des  »Schulterblattcis  so  allseitig  und  frei,  dass  wir  jeden  Punkt 
unserer  Körperobci-flächc  mit  der  Hand  erreichen  können.  Der 
Kopf  des  Ol)erarmknochcnH  gleicht  beiläufig  dem  dritten  Theil 
einer  Kugel  von  l'/^  >^'>11  Durchmesser.  Die  Cavitas  glenoidalis  des 
Schulterblattes  aber  ist  (;in  kleineres  Segment  einer  eben  so  grossen 
Halbkugel,  und  steht  somit  nur  mit  einem  Theile  der  Oberfläche 
des  Kopfes  in  Berührung.  Sicr  hat  an  ihrem  Rande  einen  ring- 
förmigen, knorpeligen  Aufsatz  (fJmhua  cartüagineus  8,  Lahrum  glenoi- 
dale),  welcher  sie  etwa«  tiefer  macht.  —  Die  weite  und  schlaff^e  fibröse 
Kapsel,  welche  vom  anatomischen  Halse  des  Oberarmknochens,  zur 
Peripherie  der  CkmUu  glmoidaU$  icapulae  geht,   beschränkt  keine 


362  §•  189.  Knochen  dM  Vorderanas. 

der  Bowegungcn  des  Oberarms.  Wäre  sie  straff  gespannt^  so  würde 
SIC,  bei  den  grossen  Bewegungscxcursionen  des  Oberarms,  noth- 
weiidig  hemmend  einwirken.  Die  Schlaffheit  ihrer  Wände  erlaubt 
dagegen  ein  sonst  bei  keinem  Gelenk  in  so  grossem  Maassstabe  zu 
beobachtendos  Gleiten  und  Drehen  des  Oberarmkopfes  in  der 
Caüüas  glenaidalis ,  wodurch  jeder  Punkt  des  ersteren  an  letzterer 
vorbeigeht.  Der  untere  Kand  der  Kapsel  setzt  über  beide  Tuber- 
cula  brückenartig  weg,  und  verwandelt  den  Stdcus  intertuhercidaris 
in  einen  Kanal,  durch  welchen  die  Sehne  des  langen  Kopfes  vom 
Musculus  biceps,  in  die  Gelenkhöhle  dringt,  um  sich  an  der  höchsten 
Stelle  des  Limbus  cartilagineus  festzusetzen.  Die  Synovialkapsel  giebt 
dieser  Sehne  einen  scheidenartigen  Fortsatz  als  Hülle,  welcher  sich 
nach  abwärts,  dem  Sukus  intertubercularis  entlang,  bis  zur  Anheftungs- 
stcllo  der  Sohne  des  grossen  Brustmuskels  erstreckt,  und  nach  auf- 
wärts die  Bicepssehne,  bis  zu  ihrer  Insertion  an  die  höchste  Stelle 
des  Limbus  cartäagineus,  begleitet.  Eine  sackartige  Ausstülpung  der 
Synovialkapsel  schiebt  sich  zwischen  den  Rabenschnabel  imd  die 
oberen  Bündel  des  Musculus  subscapularis  ein.  Die  untere  Wand  der 
tibrösen  Kapsel  ist  die  schwächste. 

Schlemm  beschrieb  drei  Verstärkung^sbärider  an  der  Kapsel  des  Schulter- 
ffelenks  ( Mittler »  Archiv,  1853)  als  LigameiUum  coraco-brachial^,  yleiwideo-hrachiale 
internum,  et  inferui»,  deren  Namen  ihre  Lage  bezeichnen. 

Die  uneingeschränkte  BewegUchkeit  des  Scliiiltergelenks  bedingt  die  Häutig- 
keit seiner  Verrenkungen,  die  nach  jeder  Richtung,  nur  nach  oben  nicht  (ausser 
mit  gleichzeitigem  Bruch  des  Akromium)  denkbar  sind,  indem  die  Kraft,  welche 
den  Oberarmkopf  nach  oben  treiben  könnte,  an  dem  Widerstände  des  elastischen 
Ligamentum  coraco-acromiale  gebrochen  wird.  —  Die  fibröse  Kapsel  kann,  ihrer 
Schlaffheit  wegen,  die  Knochen  des  Schultergelenks  nicht  an  einander  halten.  Der 
fortwährende  innige  Contact  beider  Gelenkflächen,  hängt  nicht  von  ihr,  sondern 
vom  Luftdrucke  ab  (wie  beim  Hüftgelenk,  §.  löO). 


§.  139.  Knoclieii  des  Vorderarms. 

Der  Vorderarm,  Brachium  (auch  AntibrcuJuum,  vielleicht  rich- 
tiger Antebrachiurn) ,  enthält  zwei  neben  einander  liegende  Röhren- 
knochen, Ellbogenröhre  und  Armspindel. 

A.  Die  Ellbogen  röhre  (Ulna^  Cubitus,  Focile  niajus,  Canna 
major,  wX^vt;)  ist  der  gi'össere  der  beiden  Vorderarmknochen.  Ihr 
oberes  Ende,  dicker  als  das  untere,  wird  durch  einen  tiefen,  senk- 
recht gestellten,  halbmondförmigen  Ausschnitt  (Cavitas  sigmoidea  «. 
luncUa  major)  ausgehöhlt,  welcher  genau  die  Rolle  des  Oberarmbeins 
umfasst.  Ein  erhabener  First  theilt  die  Concavität  des  Ausschnittes 
in  zwei  seitliche  Facetten,  welche  denselben  Facetten  der  Rollen- 
furche des  Oberarms  entsprechen.     Die  obere,   dicke,   und  hinten 


§.  139.  KbmImb  d«s  Vorderarms.  363 

rauhe  Ecke  dieses  Ausschnittes,  heisst  Hakenfortsatz,  Olecranon 
(id  est:  to  xpovov  vqq  cbXevtjc,  caput  vlnae),  oder  Processus  ancmiaeus, 
von  dYxwy,  Haken,  womit  uncus  und  das  altdeutsche  Enke  ver- 
wandt ist.  Die  untere,  weniger  vorspringende  und  stumpf  zuge- 
spitzte Ecke  des  Ausschnittes,  stellt  den  sogenannten  Kronenfort- 
satz dar  (Processus  corotioideus,  über  dessen  Etymologie  schon  in 
der  Note  zu  §.  113  gesprochen  wurde).  Der  oben  erwähnte  First  in 
der  Camtas  signwideci  major,  verbindet  die  Spitzen  des  Olecranon 
und  des  Processus  coronoideus.  Häufig  wird  die  Ueberknorpelung 
der  Caritas  sigmoidea  major,  durch  eine  querlaufende,  rauhe,  nicht 
tiberknorpelte  Furche  unterbrochen.  Was  vor  dieser  Furche  liegt, 
gehört  dem  Processus  coronoideus  an ;  was  hinter  derselben ,  dem 
Olecranon,  —  Seitlich  am  Kronenfortsatzc ,  und  zwar  an  der  dem 
Radius  zugekehrten  Gegend  desselben,  liegt  eine  kleinere,  halbmond- 
förmige Vertiefung  (Cavltas  sigmoidea  ».  lunata  minor),  zur  Auf- 
nahme des  glatten  Umfangcs  des  Köpfchens  der  Armspindel.  Unter 
dem  Kronenfortsatzc  befindet  sich  die  Taherositas  idnae,  für  die 
Insertion  des  Musculus  hrachialis  internus,  —  Das  Mittel  stück  ist 
dreiseitig.  Die  schärfste  Kante  (Crista  ulnae)  sieht  der  Armspindel 
zu.  Die  beiden  Flüchen,  welche  diese  Kaute  bilden,  sind  grösser 
als  die  dritte,  in  welche  sie  durch  abgerundete  Winkel  übergehen. 
Bei  ruhig  herabhängendem  Arm  lassen  sich  diese  drei  Flächen  als 
äussere,  innere,  und  hintere  bezeichnen.  An  der  inneren  Fläche 
liegen,  ober  der  Mitte  des  Knochens,  ein  bis  zwei  schräg  nach  auf- 
wärts führende  Ernährungslöcher.  —  Das  untere  Ende,  seiner 
Gestalt  wegen  das  Köpfchen  (Capitulum)  genannt,  hat  eine  in  der 
Mitte  etwas  eingedrückte  Gelenkfläche,  welche  sich  auch  auf  jenen 
Theil  des  Randes  fortsetzt,  welcher  mit  dem  unteren  Ende  der 
Armspindel  in  Berührung  steht.  Am  hinteren  Umfang  des  Köpf- 
chens, ragt  ein  zwei  Linien  langer,  stumpfspitziger  Fortsatz  (Pro- 
cessus stt/loideus  ulnae)  herab.  Zwischen  ihm  und  dem  äusseren 
Umfang  des  Köpfchens,  verläuft  die  Rinne  für  den  Musculus  vlnaris 
extemus. 

B,  Die  Armspindel,  Speiche,  Radius  (Canna  minor,  Focüe 
minus,  Additamentum  ulnae,  Manuhrium  manus,  Trfiyyq  und  xcpKi^), 
verhält  sich  in  ihren  Eigenschaften  der  Ulna  entgegengesetzt.  An 
ihrem  oberen  Ende  fällt  uns  das  auf  einem  schmächtigeren  Halse 
aufsitzende  Köpfchen  auf,  welches  eine  seicht  vertiefte,  sich  über 
den  Rand  des  Köpfchens  herabsenkende  Gelenkfläche  besitzt.  Unter 
dem  Halse  liegt  ein  rauher  Höcker  (Tuberositas  radii)  zur  Anheftung 
dös  Musculus  biceps  brackii.  —  Das  Mittelstück  ist  dreiseitig.  Die 
schärfste  Kante  (Crista  radii)  sieht  der  Crista  ulnae  zu,  und  bildet 
mit  dieser  den  in  der  Mitte  breitesten^  oben  und  unten  zugespitzten 
Zwischenknochenraam  (Sp^^  "^^^  innere  und 


364  S.  139.  Knochen  dia  Tordenurms. 

äussere  Fläche  gehen  durch  abgerundete  Winkel  in  die  vordere 
über.  Diese  Namen  beziehen  sich  auf  jene  Stellung  des  Radius^ 
welche  er  bei  ruhig  herabhängendem  Arm  einnimmt.  An  der  Crista, 
oder  im  oberen  Bezirk  der  inneren  Fläche,  liegt  ein  einfaches, 
schräg  nach  oben  führendes  Ernährungsloch.  —  Das  untere  Ende, 
dicker  und  breiter  als  das  obere,  kehrt  seine  grösste  Fläche  nach 
abwärts  gegen  die  Handwurzel.  Diese  Fläche,  elliptisch  concav 
und  überknorpelt ,  wird  durch  eine  quere  Kantenspur  in  zwei 
kleinere  Facetten  getheilt.  Wo  dieses  untere  Ende  mit  dem  Köpf- 
chen der  Ulna  in  Berührung  tritt,  ist  es  leicht  halbmondförmig  aus- 
geschnitten (Ifidsura  semüunaris  radii),  und  überknorpelt.  Dem 
Ausschnitt  gegenüber,  verlängert  sich  das  untere  Ende  der  Arm- 
spindel in  einen  stumpfen  Höcker  (Proeessiis  atyloideus  radü).  Die 
äussere  rauhe  Seite  des  unteren  Endes  zeigt  zwei,  seltener  drei 
longitudinale  Muskelfurchen. 

Die  Ausdrucke  Oanna  moQor  und  rmnory  stammen  aiia  vor-Vesalischer  Zeit. 
Man  nannte  damals  die  Röhrenknochen,  weil  sie  hohl  sind  wie  Rohr,  cannae,  auch 
amiidines,  so  z.  B,  catrna  hrachii,  für  Oherarmbein,  cannae  cntris,  für  Unter- 
schenkelknochen. Das  französische  eanne,  Rohrstock,  und  das  italienische  cati- 
none,  dickes  Rohr  (Kanone),  haben  dieselbe  Ableitung.  —  Focile  majm  und 
mintia  sind  spottschlechte  Uebersetzungen  des  arabischen  Zenddn  (Dual  von  Zend), 
welches  einen  ans  zwei  neben  einander  liegenden  Hölzern  bestehenden  Apparat 
bezeichnet,  mit  welchem  die  Araber  durch  Reiben  Feuer  machten.  Die  Hölzer 
hatten  die  Länge  und  Dicke  der  beiden  Vorderarmknochen,  welche  deshalb  von 
den  arabischen  Aerzten  Zend  und  Zenddii  genannt  wurden.  Dass  die  Mönche, 
welche  den  Avicenna  übersetzten,  diese  Worte  durch /oci^e  wiedergaben,  geschah 
in  klösterlicher  Einfalt  und  Unschuld,  denn  focile  ist  gar  kein  lateinisches  Wort, 
und  wurde  von  ihnen  neu  geschmiedet,  wobei  ihnen  allerdings  foctM  (Feuerstätte) 
und  fodllo  (erwärmen),  im  Geiste  vorgeschwebt  haben  mochte. 

Da  das  Skelet  des  Vorderarms  aus  zwei  Knochen  besteht,  so  muss  jeder 
derselben,  der  Oberfläche  des  Vorderarms  näher  liegen,  als  der  einfache  Axen- 
knochen  des  Oberarms.  Man  kann  deshalb  die  Ulna  in  ihrer  ganzen  Länge,  den 
Radius  aber  nur  an  seiner  unteren  Hälfte,  wo  er  weniger  von  Muskelfleisch  be- 
deckt  wird,  am  eigenen  Arme  durch  die  Haut  deutlich  fühlen.  —  Die  beiden 
Knochen  verhalten  sich  hinsichtlich  ihrer  anatomischen  Eigenschaften  verkehrt  zu 
einander.  Die  Ulna  ist  oben,  der  Radius  unten  dick,  —  die  Ulna  hat  ihr  Capitulum 
unten,  der  Radius  oben,  —  das  Capitulum  ulnae  liegt  in  dem  Halbmondausschnitt 
am  unteren  Ende  des  Radius,  das  Capibdum  radii  in  der  Cavita»  »igmoidea  minor 
am  oberen  Ende  der  Ulna,  —  die  Ulna  ragt  um  die  Höhe  des  Olekranons  weiter 
nach  oben,  der  Radius  mit  seinem  unteren  Ende  weiter  nach  abwärts,  —  die 
Ulna  kehrt,  bei  ruhig  herabhängendem  Arme,  ihre  Crista  nach  vom,  der  Radius 
nach  rückwärts,  endlich  vermittelt  das  obere  Ende  der  Ulna,  durch  das  Umgreifen 
der  Rolle  des  Oberarmbeins,  die  feste  Verbindung  des  Vorderarms  mit  dem  Ober- 
arme, während  das  untere  Ende  des  Radius  durch  seine  Gelenksverbindung  mit 
den  zwei  grössten  Knochen  der  ersten  Uandwurzelreihe,  zum  Träger  der  Hand 
wird,  und  daher  von  den  Franzosen  le  pcrte-main  genannt  wird. 


§.  140.  Ellbogenreleiik.  365 


§.  140.  Ellbogengelenk. 

Das  Ellbogengelenk,  Articulatio  cMti,  trägt  den  Charakter 
eines  gemischten  Gelenks,  da  es  Winkelbewegung  und  Rotation 
ausfähren  kann.     Wir  wollen  es  einen   Trodio-ginglymiis  nennen. 

Das  Ellbogengelenk  bringt  uns  das  erste  Beispiel  eines  Gelenks 
vor  Augen,  in  welchem  drei  Knochen  zusammentreflfen.  Dasselbe 
besteht  also  eigentlich  aus  drei  Gelenken,  welche  durch  eine  gemein- 
schaftliche iibröse  und  synoviale  Kapsel,  zu  Einem  Gelenke  ver- 
einigt werden.  Die  Trochlea  des  Oberarmbeins  bildet  mit  der  Cavitus 
sigmoidea  major  der  Ulna,  die  Articulatio  humer o-vlnaris,  —  die  Emi- 
nentia  capitata  des  Oberarmbeins  mit  dem  Capitvlwni  radü,  die  Arti- 
culatio  humero-radialis ,  und  der  überknorpelte  Rand  des  Capitvli 
radii  mit  der  Cavitas  sigmoidea  minor  uliias,  die  Articulatio  radio- 
tdnaris.  Bei  der  Beugung  und  Streckung  des  Vorderarms,  geschieht 
die  Bewegung  in  den  beiden  ersten  Gelenken,  das  dritte  bleibt  voll- 
kommen ruhig.  Bei  der  Drehung  des  Radius,  durch  welche  die 
Hand  nach  innen  oder  nach  aussen  gewendet  wird  (Pronatio  et 
Supinatio) ,  bewegt  sich  das  erste  Gelenk  nicht,  indem  die  Axen- 
drehung  des  Köpfchens  der  Armspindel  nur  im  zweiten  und  dritten 
Gelenke  eine  Bewegung  veranlasst. 

Wäre  der  Radius  ein  vollkommen  geradliniger  Knochen,  so  wiirdo  die 
Axendrehung  seines  Köpfchens,  zugleich  den  ganzen  Radius,  wie  eine  Walze,  um 
seine  LKngenaxe  drehen,  ohne  dass  er  seinen  Ort  verlässt  Da  er  aber,  vom 
Halse  angefangen,  sich  derart  krümmt,  dass  bei  hängend  gedachtem  Arm,  sein 
unteres  Ende  nicht  vertical  unter  dem  oberen  steht,  so  muss,  wenn  das  Köpfchen 
sich  um  seine  Axe  dreht,  das  untere  Ende  einen  Kreisbogen  beschreiben,  dessen 
Centrum  das  unverrückte  Köpfchen  am  unteren  Ende  der  IHna  ist. 

Die  gemeinschaftliche  fibröse  Kapsel  des  Ellbogen- 
gelenks entspringt  über  der  Rolle  und  der  Eminentia  capitata  des 
Oberarmbeins,  und  schliesst  somit  auch  die  vordere  und  hintere 
Fovea  supratrochlearis  ein.  Der  Radius  wird  an  die  Cavitas  sigmoidea 
minor  vlnae  durch  das  Ringband  (Ligamentum  annulare  radii)  an- 
gedrückt, welches  den  überknorpelten  Rand  seines  Köpfchens  und 
die  oberste  Zone  seines  Halses  umgreift,  und  an  dem  vorderen 
und  hinteren  Ende  der  Cavitas  sigmoidea  minor  befestigt  ist.  Das 
dreieckige  innere  Seitenband  entspringt  schmal  vom  Condylxts 
internus  des  Oberarmbeins,  und  endigt  breit  an  der  inneren  Seite 
des  I^*oce8sus  coronoideus,  und  am  inneren  Rande  der  Cavitas  lunata 
major  vlnas.  Das  äussere  Seitenband,  schmäler  als  das  innere, 
entspringt  am  Condylus  extefnius  des  Oberarmbeins,  und  darf  nicht 
am  Radius  endigen,  sondern  verwebt  sich  mit  dem  Ringbande,  ohne 
an  den  Radius  zu  treten.  Die  Drehbewegung  des  Radios  würde  ja^ 


366  §.  lil-  Knoebm  d«r  H»nd. 

durch  die  Befestigung  des  äusseren  Seitenbandes  an  ihn,  allzusehr 
beschränkt  worden  sein.  Aus  demselben  Grunde  kann  auch  die 
fibröse  Kapsel  sich  nicht  an  beiden  Knochen  des  Vorderarms,  son- 
dern nur  an  der  Umrandung  der  Cavitas  sigmoidea  major  ulnae  in- 
serireu.  Sie  setzt  sich  auch  wirklich,  ebenso  wie  das  äussere  Seiten- 
band, nicht  an  den  Radius,  sondern  nur  an  das  Ringband  seines 
Köpfchens  an. 

Das  den  Zwischenknochenraum  ausfüllende  Ligamentum  inter- 
osseum,  reicht  nicht  bis  zum  oberen  Winkel  dieses  Raumes  hinauf. 
Die  von  der  Gegend  des  Processus  coronoideus  tdnae  zur  Tuberositas 
radii  schräg  herablaufcnde  Chorda  transverscUis  cvhüi,  ersetzt  zum 
Theile  diesen  Mangel.  Ihre  Faserric^tung  ist  jener  des  Ligamentum 
interosseum  entgegengesetzt. 

Indem  das  Olekranon  sich,  im  höchsten  Grade  der  Ausstreckong  des  Vorder- 
arms, in  die  Fooea  »upratrochlearü  posterior  des  Oberarmknochens  stemmt,  so 
kann  die  Streckung  auf  nicht  mehr  als  180^  gebracht  werden.  Das  Maximum  der 
Beugung  tritt  dann  ein,  wenn  der  Processus  coronoideus  ulnae  auf  den  Grund  der 
Fossa  suprcUrochlearis  anterior  stösst.  —  Die  fibröse  Kapsel  dient  nicht  dassu,  die 
drei  Knochen  des  Ellbogengelenks  an  einander  ssu  halten.  Man  kann  die  vordere 
und  die  hintere  Kapselwand  quer  durchschneiden,  und  man  wird  dadurch  nichts 
an  der  Festigkeit  des  Gelenks  geändert  haben.  Erst  wenn  ein  oder  beide  Seiten- 
bänder zerschnitten  sind,  welchen  die  Knochen  aus  einander.  Indem  femer  das 
untere  Ende  des  Radius  mit  den  zwei  grössten  Knochen  der  ersten  Handwurzelreihe 
durch  B&nder  hinlänglich  fest  zusammenliängt,  die  Ulna  aber  (wie  oben  gesagt 
wurde)  mit  der  Handwurzel  in  keine  unmittelbare  Berührung  kommt,  so  wird  die 
Hand  jeder  Bewegung  des  Radius  folgen,  und  durch  die  Drehung  dieses  Knochens 
nach  innen  oder  aussen,  sich  so  stellen,  dass  die  Hohlhand  nach  hinten  oder  nach 
vom  sieht,  d.  h.  die  Pronations-  und  Supinationsbewegungen  beschreiben  zu- 
sammen einen  Kreisbogen  von  180^.  Soll  die  Bewegung  der  Hand  in  einem  noch 
grösseren  Bogen  vollführt  werden,  so  muss  auch  zugleich  der  Oberarm  sich  um 
seine  senkrechte  Axe  drehen,  was  die  Laxität  der  fibrösen  Capsula  huvieri  leicht 
gestattet. 

Der  Name  Ellbogen  stammt  von  dem  altdeutschen  ele,  d.  i.  cubilus  (ver- 
wandt mit  ulmi'  und  tokirr^^  so  wie  mit  dem  englisclien  eil,  dem  französischen 
aulne,  dem  italienischen  und  spanischen  alnaj,  imd  von  dem  gleichfalls  alt- 
deutschen boga,  d.  L  biegen. 

Die  Bedeutung  der  Spirale  bei  den  Bewegungen  dos  Ellbogengelenks,  wür- 
digte H.  Meyer,  Arch.  für  Anat.  und  Phys.  1866. 


§.  141.  Enoclien  der  Hand. 

Das  Skelet  der  Hand  besteht   aus   drei  Abtheilungen:    Iland- 
wurzely  Mittelhand^  und  Finger. 

A.  Erste  Abiheilung,  Knochen  der  Handwurzel. 

Die  erste^  sieh   an   die  Vorderarmknochen  anschliessende  Ab- 
theilnng  der   Hand,   ist  die  Handwurzel,    Corpus  (vielleicht  von 


§.  141.  Knochen  d«r  Hand.  367 

Spmi),  greifen),  welche  aus  acht  kleinen,  meist  vieleckigen,  in  zwei 
Reihen  (zu  vieren)  gruppirten  Knochen  zusammengesetzt  wird.  Sie 
werden  durch  kurze  und  starke  Bänder  so  genau  und  fest  zusammen- 
gehalten, dass  sie  fast  Ein  knöchernes  Ganzes  zu  bilden  scheinen, 
welches  jedoch  durch  ein  Minimum  möglicher  Verschiebbarkeit  der 
einzebien  Handwurzelknochen  an  einander,  eines  geringen  Grades 
von  Beweglichkeit  theilhaftig  wird.  Brüche  der  Handwurzel  kommen 
deshalb  nur  höchst  selten  vor.  Der  Stoss,  welchen  Ein  Hand- 
wurzelknochen  aufnimmt,  vertheilt  sich  auf  alle  übrigen,  und  wird 
dadurch  so  abgeschwächt,  dass  die  Integrität  der  Handwui*zel  ge- 
wahrt bleibt. 

Ohne  in  eine  detaillirte  Beschreibung  der  einzelnen  Hand- 
wnrzelknochen  einzugchen,  geben  wir  nur  folgende  allgemeine  und 
für  das  Bedürfniss  des  Anfangers  genügende  Anhaltspunkte.  Man 
möge  zum  leichteren  Verständniss  derselben,  eine  gefasste  Hand  vor 
Augen  haben. 

1.  Die  erste  oder  obere  Reihe  der  Handwurzelknochen  wird, 
wenn  man  von  der  Radial-  gegen  die  Ulnarseite  zählt,  durch  das 
Kahnbein,  Mondbein,  dreieckige  Bein  (Pyramidenbein  bei 
H e n  1  e j,  und  Erbsenbein  zusammengesetzt,  (Oa  scaphoideum  8.  navi- 
culare,  Iwiatum,  triquetrum,  pidforme).  Die  zweite  oder  untere 
Reihe  enthält,  in  derselben  Richtung  gezählt,  das  grosse  und 
kleine  vielcckige  Bein  (Trapez-  und  Trapezoidbein  bei  Henle, 
das  K o p f b e i n  und  das  Hakenbein,  (Os  mtdtangulum  majus^  minus, 
capitatum,  hamatum).  Das  Kopfbein  ist  der  grösste  Handwurzel- 
knochen —  daher  Os  magnum  bei  älteren  Autoren. 

Oa  scaphaideiim  stammt  von  scapha  (axa97]  oder  axa^f;),  und  bedeutet  ein 
^kieltes  Boot,  wie  es  auf  grösseren  See&hrzengen  zum  Ausschiffen  verwendet 
wird,  —  das  englische  «kiff,  und  das  französische  e»quif,  Oa  navictilare  aber 
kommt  von  navia,  nicht  von  ruwia.  Navia  war  ein  kleines  Boot,  nur  wenig  ge- 
höhlt, wie  es  unser  Oa  7iaviculare  ist;  ruivia  dagegen  ein  gprosses  Segelschiff,  mit 
tiefem  und  geräumigem  Hohlraum,  wie  ihn  das  Oa  luiviculare  sicher  nicht  hat. 

2.  Von  den  Knochen  der  ersten  Reihe,  helfen  nur  die  drei 
ersten  das  Gelenk  zwischen  Vorderarm  und  Handwurzel  bilden; 
—  das  vierte  (Erbsenbein)  wird  hiezu  gar  nicht  verwendet,  wes- 
halb es,  genau  genommen,   nicht  die  Bedeutung  eines  Handwurzel- 

'knochens  hat,  und  von  Albin  auch  nicht  zur  Handwurzel  gezählt 
wurde:  „ad  carpum  re  vera  non  pertinet^'. 

3.  Obwohl  alle  Handwurzelknochen  eine  sehr  unregolmässige 
und  schwer  durch  Worte  anschaulich  zu  machende  Gestalt  haben, 
so  darf  man  sich  doch  erlauben,  um  die  Verbindungen  leichter  zu 
übersehen,  an  jedem  derselben  sechs  Gegenden  (nicht  mathe- 
matische Flächen)  anzunehmen;  welch«*  i^-»«-  ««^n  uch  die  Hand 
nicht   liegend  y    sondern   her  ^  dem 


368  §.  141.  Knochen  der  Hand. 

Stamme  zugekehrt  denkt,  in  die  obere  und  untere,  die  Dorsal-  und 
Volargegend,  die  Radial-  und  Ulnargegend  eingetheilt  werden. 

4.  Die  oberen  Gegenden  der  drei  ersten  Knochen  in  der 
oberen  Handwurzelreihe  bilden,  da  sie  sämmtlich  gewölbt  sind, 
durch  ihr  Nebeneinandersein  einen  elliptisch  convexen  Kopf,  welcher 
in  die  elliptische  Concavität  am  unteren  Ende  der  Vorderarm- 
knochen aufgenommen  wird.  Die  erste  Facette  der  unteren  Gelenk- 
flache  des  Radius  Bteht  mit  dem  Kahnbein,  die  zweite  mit  dem 
Mondbein  in  Contact.  Der  dritte  Knochen  —  das  dreieckige  Bein 
—  stösst  aber  nicht  an  das  Köpfchen  der  Ulna,  weil  dieses,  nach 
Angabe  des  §.  139  und  dessen  Note,  nicht  so  weit  herabreicht, 
wie  das  untere  Speichenende.  Es  bleibt  vielmehr  ein  Raum  zwischen 
beiden  Knochen  übrig,  der  gross  genug  ist,  um  einen  dicken 
Zwischenknorpel,  Cartilago  interarticularis,  aufzunehmen.  —  Die 
unteren  Gegenden  derselben  drei  Knochen  bilden  durch  ihre 
Nebeneinanderlagerung,  vom  Radial-  gegen  den  Ulnarrand  hin,  eine 
wellenförmig  gekrümmte  Fläche.  Das  besonders  tiefe  Wellenthal, 
welches  durch  die  Vertiefung  des  Os  scaphoideum  und  lunatum  ge- 
bildet wird,  hat  zu  seinen  beiden  Seiten  schmale  WeUenberge, 
deren  äusserer  dem  Os  scaphoidewn,  deren  innerer  dem  Os  triquetrum 
angehört.  —  Die  Dorsalgegend  ist  massig  convex,  die  Volar- 
gegend ebenso  concav.  Die  einander  zugekehrten  Ulnar-  und 
Radialgegenden  der  drei  ersten  Handwurzelknochen  sind,  sowie 
dieselben  Gegenden  der  vier  Knochen  der  zweiten  Handwurzelreihe, 
theils  rauh,  zur  Anheftung  sehr  kurzer  Zwischenbandmassen ,  theils 
aber  auch  zur  wechselseitigen  Aii;iculation  mit  kleinen  Gelenk- 
flächen versehen,  welche  als  seitliche  Fortsetzungen  der  an  den 
oberen  oder  unteren  Gegenden  dieser  Knochen  vorkommenden  Ueber- 
knorpelungen  erkannt  werden. 

5.  Die  vier  Knochen  der  zweiten  Reihe,  lassen  sich  unter  dem- 
selben allgemeinen  Gesichtspunkte  auffassen.  Die  oberen  Gegen- 
den derselben  bilden,  da  sie  sich  an  die  untere  Gegend  der  ersten 
Reihe  anlagern,  eine  zu  jener  umgekehrte  Wellenfläche,  deren  mitt- 
lerer hoher  Wellenberg,  vorzugsweise  durch  den  Kopf  des  Os  capl- 
tatum  erzeugt  wird.  —  Die  unteren  Gegenden  der  vier  Knochen 
dieser  Reihe  stossen  mit  den  Mittelhandknochen  zusammen,  und 
bilden  eine  Reihe  von  Gelenkflächen,  deren  erste  für  den  Mittel- 
handknochen des  Daumens  bestimmte,  dem  Os  mvltangulum  majus 
allein  angehört,  sattelförmig  gekrümmt  ist,  und  von  den  ebenen, 
unter  Winkeln  im  Zickzack  zusammenstossenden  unteren  Gelenk- 
flächen der  übrigen  Knochen  dieser  Reihe,  durch  eine  kleine,  nicht 
überknorpelte,  rauhe  Zwischenstelle  getrennt  wird.  Im  allgemeinen 
lässt  sich  sagen,  dass,  1.  die  untere  Fläche  des  Mtdtangvium  majus, 
den    Mittelhandknochen    des   Daumens    und    überdies    noch    einen 


§.141.  Knochen  der  Hand.  369 

kleinen  Theil  des  Mittelhandknochens  des  Zeigefingers  trägt ;  2.  jene 
des  Midtangulnm  minus,  mittelst  eines  vorspringenden  Giebels,  in 
einen  Winkeleinschnitt  der  Basis  dos  Mittelhandknochens  des  Zeige- 
fingers passt ;  3.  jene  des  Capitatum,  an  den  Mittelhandkuochen  des 
Mittelfingers,  und  4.  jene  des  Haken beins,  an  die  Mittelhandknochen 
des  vierten  und  fünften  Fingers  stösst.  —  Die  übrigen  Gegenden 
dieser  Knochen,  verhalten  sich  wie  die  gleichnamigen  der  ersten 
Handwurzelreihe. 

6.  Beide  Reihen  zusammen  bilden  einen,  gegen  den  Rücken 
der  Hand  convcxen,  gegen  die  Hohlhand  concaven  Knochenbogen. 
Der  erste  und  letzte  Knochen  jeder  Reihe  wird  somit  gegen  die 
llohlhand  stark  vorspringen,  und  dadurch  die  sogenannten  Eminentiae 
cai^pi  erzeugen,  welche  in  zwei  Emin&iüia^  radiales  und  zwei  ulnares 
zerfallen.  Die  Eminentia  cai'pi  radialis  superior  gehört  einem  Höcker 
des  Kahnbeins,  die  infeHor  einem  Höcker  des  grossen  viclwinkligen 
an,  —  die  Eminentia  cai'pi  idnaris  superior  wird  durch  das  Erbsen- 
bein, die  inferior  durch  den  hakeniormigen  Fortsatz  des  Hakenbeins 
erzeugt.  Von  den  Eminentiae  carpi  radiales  zu  den  ulnares  geht  ein 
starkes  queres  Band  (lÄgamentum  carpi  transre?'sum) ,  welches  die 
concave  Seite  des  Bogens  in  einen  Kanal  für  die  Sehnen  der  Finger- 
beuger umwandelt. 

•Sehr  selten  finden  sich  neun  Handwur/elknochen.  (irruber  hat  über  das 
Vorkommen  eines  ül)erziihligen  neunten  Handwur/elknochens^  und  seine  Deutung, 
Bebr  genaue  Erbebung(»n  gejiflogen,  welche  im  Archiv  für  Anat.  ISfiG,  1869  und 
1872,  niedergeU'gt  sind.  Die  Vermehrung  der  IIan«lwur/elknocben  auf  neun,  voll- 
zieht sich  entweder  durch  Zerfallen  des  Ott  naoirnlarr  in  zwei  Knochen,  oiler  durch 
Einschub  eines  neuen,  dem  Oh  intennMunn  h.  centrale  gewisser  Säugethiere  analogen 
Knr)cbelchens.  Gruber  fand  die  Zahl  der  Ilandwurzelknochen  selbst  auf  eilf 
vermehrt.  Weitere  Heobachtungen  über  Vermehrung  der  Handwurzelknochen  ver- 
danken wir  A.  Friedlowsky  (Wiener  akad.  Sitzungsbericlitt!.  61.  Bd.). 

Um  die  Handwurzel  als  Ganzes  kennen  zu  lernen,  muss  man  sie  an  einer 
gefassten  Hand  studiren.  Lose  Hamlwur/elknochen  machen  den  Anfangern  allzu 
viel  zu  scliafTen.  Am  brauch!»arsten  sin<l  jene  gefasst<Mi  Hände,  deren  Hamlwurzel- 
knochen  nielit  ndt  Draht  unbeweglich  verbunden,  sondern  so  an  Darmsaiten  auf- 
g(»selwiiirt  sind,  dass  sich  je  zwei  derselben,  in  zwei  auf  einander  senkrechten 
Richtungen  von  einand<'r  entfernen,  un<l  wieder  zusammenschieben  lassen. 

Wünscht  sich  Jemand  speciell  in  <lio  Beschreibung  der  Flächen  und  Ränder 
einzelner  Ilandwurzelknochen  einzulassen,  so  fimlet  er  in  <ler  We herrschen  Aus- 
gabe von  Hiidebrandt\s  Anatomie,  und  in  IIenle\s  Knochenlehre,  die  weit- 
läutigsten  Schildeningen.  —  Es  ist  sehr  lielehrend,  sich  nach  einem  guten  Vor- 
bilde in  «ier  Zusammenstellung  »ler  Ilandwurzelknochen  zu  üben,  die  rechten  von 
den  linken  unterscheiden  zu  lernen,  und  einen  senkrechten  Schnitt  durch  eine 
frisclie  Handwurzel  zu  legen,  um  die  Contactlinien  zu  sehen,  welche  durch  die 
Verbindung  beider  Handwur/elreihen  unter  sich,  und  mit  den  darüber  und  danmter 
liegenden  Knochen  zu  Stande  kommen.  Man  erhält,  durch  die  Ansicht  solcher 
Schnitte,  die  best«»  Vorstellung  von  der  Beweglichkeit  beider  Handwanelreihen, 
und  von  der  Lagerung  des  zwischen  üapÜtUum  ülnaB  mid  O»  ' 
geschalteten  Zwischenknorpels. 
Hyrtl,  Lehrbach  der  Anfttonue.  14.  ▲«§. 


370  §•  Ul.  KdocImd  der  Hftnd. 

B,  Zweite  Abtheüung.     Knochen  der  Mittelhand. 

Die  fünf  Mittelhandknoehen  (Oaaa  metacarpi)  liegen,  wenn 
die  flache  Hand  auf  einer  Unterlage  aufruht^  in  einer  Ebene  neben 
einander,  wie  die  Zähne  eines  Kammes,  daher  der  alte  Name  der 
Mittelhand,  als  Pecten  manus.  Nur  bei  hängender  Hand,  oder  wenn 
sie  zum  Greifen  in  Verwendung  kommt,  tritt  der  Mittelhandknoehen 
des  Daumens,  aus  der  Ebene  der  vier  übrigen  heraus.  Diese  letzteren 
nehmen  vom  Zeigefinger  gegen  den  kleinen  Pinger  an  Länge  und 
Stärke  ab,  und  bilden  den  breitesten,  aber  auch  den  am  wenigsten 
bewegliehen  Theil  der  Hand.  Sie  werden  vom  Daumen  gegen  den 
kleinen  Finger  gezählt.  Jeder  Mittelhandknoehen  hat  ein  oberes, 
einfach  schräg  abgestutztes,  wie  beim  dritten,  vierten  und  f&nften  (am 
auffallendsten  am  dritten),  oder  winklig  eingeschnittenes  Ende  (wie 
beim  zweiten),  welches  Basis  heisst.  Die  nach  oben  gegen  den 
Carpus  gekehrte,  grösste  Fläche  der  Basis  ist  überknorpelt,  und  setzt 
sich  in  kleinere,  an  der  Radial-  und  Ulnarseite  der  Basis  befindliche 
Grelenkflächen  fort.  Das  untere  Ende  ist  sphärisch  convex  (Capi- 
tuhim),  mit  einem  Grübchen  an  der  Radial-  und  Ulnarseite  für  Band- 
anheftung.  Das  Mittelstück  ist  dreikantig-prismatisch.  Die  Dorsal- 
seite finden  wir  an  allen  massig  convex,  die  ihr  gegenüberstehende 
Volarkante  concav  gekrümmt. 

Der  Mittelhandknoehen  des  Daumens  (Os  metacarpi  pollids) 
unterscheidet  sich  von  den  übrigen  durch  seine,  mit  einer  sattel- 
förmigen Gelenkfläche  versehene  Basis,  sein  von  oben  nach  unten 
flachgedrücktes,  breites  Mittelstück,  wodurch  er  einer  Phalanx  prima 
eines  Fingers  ähnlich  wird,  ferner  durch  seine  Kürze  und  seine  ab- 
weichende Lage,  da  er  mit  den  übrigen  nicht  in  einer  unveränder- 
lichen Ebene  liegt,  sondern  frei  beweglich  ist.  —  Da  bei  den  alten 
Anatomen  der  Carpus  Brachiale  heisst,  nannten  sie  consequent  den 
Metacarpus:  Poatbrachiale. 

C,  Dritte  AbtheiJung.     Knochen  der  Finger, 

Die  Knochen  der  Finger  fuhren  den  G^sammtnamen  Phalanges 
digitorum  manus.  Das  griechische  Wort:  ©aXaY;,  ist  Schlachtreihe, 
aber  auch  Walze;  —  ^aXa^f/s;,  als  Fingerglieder,  finden  sich  zuerst 
bei  Aristoteles.  Sie  sind,  trotz  ihrer  Kürze,  dennoch  den  langen 
Knochen  beizuzählen,  da  sie  im  jüngeren  Alter  einen  Körper  und 
eine  Epiphyse,  und  zwar  nur  eine  obere,  besitzen. 

Der  Daumen  hat  zwei,  die  vier  übrigen  Finger  drei  Phalangen 
oder  Glieder.  Da  die  Fingergelenke,  ihrer  fühlbaren  Aufgetriebenheit 
wegen,  bei  Celsus  Nodi  heissen,  so  werden  die  Phalangen  bei 
älteren  Autoreu  auch  häufig  IntertiocUa  genannt.    Die  Nodi  sind  die 


g.  141.  Kaocben  der  Hand.  371 

Ursache,  warum  an  mageren  oder  abgezehrten  Händen,  bei  an- 
einander geschlossenen  Fingern*,  spaltförmige  Räume  zwischen  den 
Gliedern  je  zweier  benachbarter  Finger  klaffen.  Alle  Phalangen 
sind  oblong,  der  Länge  und  Breite  nach  massig  gebogen,  mit  einer 
dorsalen  convexen,  und  volaren  concaven  Fläche,  zwei  Seitenrändem, 
einem  oberen  und  unteren  Ende  versehen.  Das  obere  Ende  heisst, 
wie  bei  den  Mittelhandknochen,  Basis.  Das  erste  Glied  jedes 
Fingers  hat  an  seinem  oberen  Ende  eine  einfache  concave  Gelenk- 
fläche, —  den  Abdruck  des  Capitulum  des  zugehörigen  Mittel- 
handknochens. Sein  unteres  Ende  zeigt  zwei,  durch  eine  seichte 
Vertiefung  getrennte  Ccmdyli,  welche  zusammen  eine  Art  von 
überknorpelter  Rolle  bilden.  Seitwärts  gewahren  wir  an  diesem 
unteren  Ende  noch  zwei  rauhe  Grübchen,  zur  Befestigung  der 
Seitenbänder.  —  Das  zweite  Glied,  welches  am  Daumen  fehlt^ 
hat  am  oberen  Ende  zwei  flache,  durch  eine  Erhöhung  geschiedene 
Vertiefungen,  zur  Aufnahme  der  Rolle  am  unteren  Ende  des  ersten 
Gliedes;  —  am  unteren  Ende  besitzt  es  eine  Rolle,  wie  das  erste.  — 
Das  dritte  Glied,  —  am  Daumen  das  zweite,  —  hat  oben  zwei 
Vertiefungen,  unten  läuft  es  in  eine  rauhe,  huf-  oder  schaufeiförmige 
Platte  aus.  Es  wurde  sehr  unpassend  mit  einer  Pfeilspitze  ver- 
glichen. Die  Länge  der  Fingerglieder  nimmt,  so  wie  ihre  Breite 
und  Stärke,  vom  ersten  zum  dritten  ab.  Die  französischen  Anatomen 
gebrauchen  für  erstes,  zweites  und  drittes  Fingerglied,  die  Aus- 
drücke phalange,  phalangine  und  phalangetts  (C  haussier). 

Ist  der  Damnen  zwei-  oder  dreigliedrig?  Dem  Nichtanatomen,  welcher  seinen 
Daumen  unbedingt  fiir  zweigliedrig  hält,  erscheint  diese  Frage  überflüssig,  wo  nicht 
absurd.  Anatomen  denken  anders.  Galen  hielt  das  Os  metacarpi  poUicU  für  die 
erste  Phalanx  des  Daumens,  welcher  somit,  wie  jeder  andere  Finger,  drei  Pha- 
langen, aber  keinen  Mittelhandknochen  hätte,  —  eine  Ansicht,  welche  in  Vesal, 
Duverney,  Bertin,  Cheselden  und  J.  Bell  Anhänger  fand.  Durch  sein 
Kxterieur  verräth  sich  das  Os  metacarpi  poflicia  gewiss  als  naher  Vetter  eine« 
ersten  Fingergliedes.  Seine  Beweglichkeit  unterscheidet  es  functionell  von  den 
nur  wenig  beweglichen  Mittelhandknochen,  und  seine  Entwicklung  erfolgt  nach 
demselben  Gesetze,  wie  die  jeder  Phalanx  prhna.  Jede  Phalanx  prima  nämlich 
entsteht  au«  zwei  Ossificationspunkten ,  einem  oberen  und  unteren.  Der  untere 
wird  zu  Ende  des  dritten  Embryo-Monats  in  der  knorpeligen  Grundlage  des 
Mittelstückes  niedergelegt;  der  obere  bildet  sich  erst  im  fünften  Lebensjahre,  und 
bleibt  bis  zum  Pubertätseintritt,  oft  auch  noch  länger,  mit  dem  Mittelstücke 
unverj»chniolzen.  Das  untere  Ende  erliält  keinen  besonderen  Knochenkem.  Genau 
so  verhält  es  sich  mit  dem  Metacarpus  des  Daumens,  während  die  Metacarpus- 
knoehen  der  übrigen  Finger,  im  Anfange  des  dritten  Embryo-Monats  einen  Ossi- 
fieationspunkt  im  Mittelstück,  und  schon  im  zweiten  Lebensjahre  einen  Knochenkem 
für  das  untere  Ende  (CapUulvmJ,  aber  keinen  für  das  obere  Ende  erhalten. 
Auch  das  winzige  Ernährungsloch  des  sogenannten  Metacarpus  des  Daumens, 
weicht  von  jenem  der  Übrigen  Metacarpi  darin  ab,  dass  es  nicht,  wie  bei  diesen, 
nach  aufwärts,  sondern,  wie  bei  den  Phalangen,  nach  abwärts  gerichtet  ist.  Da 
ferner  der  "^   dem   O»  muUangulum  majun  durch  ein, 

24» 


372  §•  liS   Bänder  der  Hand. 

einer  Athrudie  sich  näherndes  Sattelgelenk,  und  mit  der  ersten  Phalanx  durch  ein 
Winkelgelenk  verbunden  wird,  so  verhält  er  sich  auch  in  dieser  Beziehung  mehr 
wie  eine  PhaUnix  prima  der  übrigen  Finger.  Morphologisch  wäre  somit  der 
Daumen  dreigliedrig,  aber  metacarpuslos,  und  betrachtet  man  die  Bewegungen  der 
Finger  und  des  Daumens  an  der  eigenen  Hand ,  so  zeigt  es  sich ,  dass  bei  den 
Bewegungen  der  Finger  die  Metacarpusknochen  ruhen,  bei  den  Bewegungen  des 
Daumens  aber  der  sogenannte  Metacarpus  desselben  die  Bewegungen  der  beiden 
Phalangen  mitmacht  Nur  Ein  Merkmal  der  Metacarpusknochen  kommt  dem 
Metncfu'pmt  poUicU  zu,  nämlich  das«  er  an  seinem  unteren  Ende  keine  Rolle  triigt, 
wie  die  unteren  Enden  der  Phalangen,  sondern  ein  Capitulum,  wie  die  unteren 
Enden  der  Metacarpi.  Dieses  Capitulum  ist  aber  nicht  kugelig,  sondern  quer 
elliptisch.  Es  bleibt  natürlich  Jedem  unbenommen,  an  die  Zweigliedrigkeit  seines 
Daumens  zu  glauben,  und  auch  dieses  Lehrbuch  theilt  die  Ansicht  der  Zwei- 
gliedrigkeit, wenn  nicht  aus  Ueberzeugung,  doch  aus  Rücksicht  für  die  allgemeine 
Meinung,  welcher  Viele  huldigen,  ohne  im  GeringsU^n  an  ihre  Unfehlbarkeit  zu 
glauben.  Mehr  hierüber  enthält  IJffelmann,  der  Mittelhandknochen  des  Daumens, 
OGtt  1863. 

lieber  die  Sesambeine  der  Hand,  siehe  den  nächsten  Paragraph,   C, 


§.  142.   Bänder  der  Hand. 

A,  Bänder  der  Handtcurzd, 

Die  Bewegungen,  welche  die  Hand  als  Ganzes  ausführt,  smd 
1,  Beugung  und  Streckung,  2.  Zuziehung  und  Abziehung,  3.  Supi- 
nation  und  Pronation.  Nur  die  beiden  ersten  Bewegungen  geschehen 
im  Gelenke  zwischen  dem  unteren  Ende  des  Vorderarms  und  den 
drei  ersten  Handwurzelknochen  —  Artiadatio  carpi,  Sie  können  in 
ziemlich  grossem  Maassstabe  ausgeführt  werden.  Vom  Maximum 
der  Beugung  bis  zum  Maximum  der  Streckung  besehreibt  die  Hand 
einen  Bogen  von  180*^;  von  der  grössten  Zuziehung  bis  zur  grössten 
Abziehung  einen  Bogen  von  80*^.  Die  Abziehung  (Seitenbewegung 
nach  der  Ulna  zu)  ist  mehr  gestattet  als  die  Zuziehung  (Seiten- 
bewegung nach  dem  Radius  zu),  weil  der  zwischen  Ulna  und  Os 
trtquetrum  eingeschaltete  Knorpel  eine  Compression  erlaubt.  Ein- 
und  Auswärtsdrehung  der  Hand  geschieht  nicht  in  dem  Handwurzel- 
gelenk, sondern,  wie  im  §.  140  gezeigt  wurde,  im  oberen  Drehgelenk 
des  Radius  mit  der  Ulna,  also  im  Ellbogengelenk. 

1.  Articvlaüo  radio-ulnaris  inferior. 

Am  unteren  Ende  beider  Vorderarmknochen,  findet  eine  eigen- 
thümliche  Gelenkverbindung  derselben  unter  sich  statt.  Sie  gehört, 
streng  genommen,  nicht  dem  Cai'pus  an,  soll  aber  doch  hier  zur 
Sprache  kommen ,  da  ihre  Kenntniss  für  jene  der  Articulatio  carpi 
wichtig  ist.  Das  untere  Ende  des  Radius  stösst  mit  seinen  beiden 
Gelenkfacetten  direct  auf  die  zwei  ersten  Knochen  der  oberen  Hand- 
wurzelreihe  (Kahn-   und   Mondbein).     Das    untere   Ende   der   Ulna 


§.  U».  Binder  d«r  Hand.  373 

dagegen  reicht  nicht  so  weit  herab,  um  den  dritten  Knochen  der 
oberen  Handwurzelreihe  (dreieckiges  Bein)  zu  berühren.  Die  Be- 
rührung wird  nur  durch  die  Dazwischenkunft  eines  Knorpels  ver- 
mittelt. Dieser  erstreckt  sich  vom  kurzen  (hinteren)  Rande  der 
unteren  Gelenkfläche  des  Ra,diu8,  S^S^^  ^^^  Processus  styloideus  tdnete, 
an  welchen  er  durch  ein  kuraes  Band  (seiner  Farbe  wegen  Liga* 
mentvm  siihcrusntum  genannt)  geheftet  wird.  Der  Zwischenknorpel 
hat  nun  eine  obere  und  untere  Fläche.  Die  obere  bildet  mit 
Hilfe  der  Incisuixi  semilunaris  am  unteren  Ende  des  Radius,  eine 
Nische  für  das  Capitvluw  ulnae;  die  untere  liegt  in  der  Verlängerung 
der  unteren  Gelenkfläche  des  Radius,  und  stösst  an  den  dritten 
Knochen  der  oberen  Handwurzelreihe.  Eine  weite  Kapsel  (Mem- 
brana saccifo'rmis)  nimmt  das  Cnpitidum  idnae,  die  Inclsura  semilunaris 
radii,  und  die  obere  Fläche  des  Zwischenknorpels  in  ein  gemein- 
schaftliches Cavum  auf. 

Der  Zwisclienknorpel  ist  nach  He  nie  eine  wirkliche  Verlängerung  des 
Knorpelbelegs  am  unteren  Ende  des  Radius.  Man  findet  ihn  öfter,  besonders  bei 
älteren  Individuen,  in  der  Mitte  durchbrochen,  wodurch  die  Ärticttlatio  radio-ulnaru 
inferior  mit  der  gleich  zu  schildernden  Articalatio  brachio-carpea  in  Höhlen- 
commimication  zu  stehen  kommt. 

2.  Articulatio  hrachio-carpeay  kurzweg  Artiad<itio  carpi. 
Die  freie  Beweglichkeit  der  Handwurzel  am  Vorderarm  be- 
dingt eine  laxe  fibröse  Kapsel  f Ligamentum  Capsula re  artiadationis 
brachio-carpeaejy  welche  von  dem  Umfang  der  unteren  (Telcnk fläche 
des  Radius  und  des  dreieckigen  Zwischenkriorpels  entspringt,  und 
sich  an  der  Peripherie  des,  durch  die  oberen  Flächen  der  drei  ersten 
Handwurzelknochen  gebildeten  Kopfes  befestigt.  Das  Os  pisiforme 
wird  nicht  in  die  Höhle  dieser  Kapsel  einbezogen,  sondern  articulirt, 
für  sich,  mit  einer  kleinen  Gelenkfläche  an  der  Ulnarscite  des  Os 
triquetrum.  Die  Synovialhaut  der  ArHcid^tüo  hrachio-caipea  setzt 
sich  in  die  Fugen  zwischen  den  drei  ersten  Carpusknochen  nicht 
fort.  —  Die  Volarseite  der  fibrösen  Kapsel  wird  durch  zwei  Bänder 
verstärkt,  welche  vom  Radius,  und  von  dem  Zwischenknorpel 
zwischen  Köpfchen  der  ülna  und  Os  triquetrum,  zu  den  drei  ersten 
Hand  Wurzelknochen  in  gerader  und  schiefer  Richtung  laufen  (lAga- 
mentum  accessorium  rectum  et  obliquum).  An  der  Dorsalseite  der 
Kapsel  liegt  das  breitere  Ligamentum  rhomboideum,  vom  Radius  zum 
Os  lunatum  und  triqneti'um  gehend;  —  vom  (Trittelfortsatz  des  Radius 
zum  Kahnbein  erstreckt  sich  das  Ligamentum  laterale  radiale,  und 
vom  (friff*clfoitsatz  der  ITlna  zum  dreieckigen  Bein,  das  Ligamentum 
laterale  ulnare  s.  Funictdus  ligaiiientosus.  Man  kann  die  Articulatio 
brachio-carpea  eine  beschränkte  Arthrodie  nennen,  da  sie  Beugung 
und  Streckung,  Zu-  und  Abziehung  der  Hand,  aber  keine  Axen- 
drehung  vermittelt. 


374  §•  142-  B&nder  der  HMid. 

3.  Articulatio  intercarpea. 

Die  erste  und  zweite  Handwurzelreihe  bilden  unter  einander 
die  Aiiiculatio  intercarpea,  Sie  sind  durch  keine  eigentliche  fibröse 
Kapsel,  wohl  aber  durch  eine  Synovialkapsel  mit  einander  vereinigt. 
Da  sich  die  Ueberknorpelung  der  Contactflächen  je  zweier  Knochen 
der  Handwurzel,  auch  eine  Strecke  weit  auf  die  Seitenflächen  der- 
selben fortsetzt,  sieht  man  nach  Eröffnung  der  Kapsel,  Spalten 
zwischen  diesen  Knochen.  Kurze  und  straflfe  Bänder,  welche  an 
der  Dorsal-  und  Volarseite  der  Handwurzel,  von  der  ersten  Reihe 
zur  zweiten  laufen,  beschränken  die  Beweglichkeit  dieses  Gelenkes 
so  sehr,  dass  nur  eine  geringe  Beuge-  und  Streckbewegung  übrig 
bleibt,  Zuziehung  und  Abziehung  aber,  wie  schon  aus  der  wellen- 
förmigen Begrenzungslinie  beider  Knochenreihen  zu  entnehmen  war, 
ganz  ausgeschlossen  wird.  —  Unter  den  volaren  Verstärkungsbändern 
der  ArHctdatio  intercarpea,  ist  jenes  zwischen  dem  Erbsenbein  und 
dem  Haken  des  Hakenbeins  (Ligamentum  piso-uncinatum)  das  stärkste. 
Das  Ligamentum  carpi  transversum ,  welches  die  Endpunkte  der 
zwei  knöchernen  Handwui*zelbogen  mit  einander  verbindet,  geht 
über  die  concave  Seite  dieser  Bogen  wie  eine  Brücke  weg,  und 
verwandelt  sie  in  einen  theils  knöchernen,  theils  ligamentösen  Kanal, 
dessen  schon  bei  der  Betrachtung  der  Handwurzelknochen  er- 
wähnt wurde. 

UeberdieB  werden  aach  die  seitlichen  Contactflächen  der  Handwurzel- 
knochen  (mit  Ausnahme  des  Erbsenbeins) ,  so  weit  sie  nicht  ttberknorpelt  sind, 
darch  kurze,  stramme,  and  starke  Bandfasern  —  Ligame^iUi  hUerossea  —  znsammen- 
^halten. 

B.  Bänder  der  Mittelhand, 

Eine  sehr  dünne  fibröse  Kapsel,  mit  zahlreichen  Verstärkungs- 
bändem,  verbindet  die  Basen  der  Mittelhandknochen  der  vier  Finger 
mit  der  zweiten  Handwurzelreihe,  zur  festen  und  sehr  wenig  Beweg- 
lichkeit zeigenden  Articulatio  carpo-metacarpea.  Die  Synovialkapsel 
dieses  Gelenks  schickt  faltenartige  Verlängerungen  zwischen  die 
kleinen  Gelenkflächen  an  den  Seiten  der  Basen  der  Mittelhand- 
knochen. Kurze  und  straffe  Verstärkungsbänder,  welche  von  den 
Knochen  der  zweiten  Handwurzelreihe  zu  den  Basen  der  Mittel- 
handknochen laufen,  kräftigen  die  betreffenden  Gelenke  zwischen 
Carpus  und  Metacarpus,  so  wie  andererseits  die  zwischen  den  Basen 
je  zweier  Metacarpusknochen  quergespannten  Ligamenta  basium 
dorsaUa  et  volaria,  die  wechselseitige  Verbindung  derselben  zu  einer 
kaum  beweglichen  machen.  —  Auch  die  Capitula  der  vier  Metacarpus- 
knochen sind  an  der  Volarseite  durch  Querbänder  mit  einander  ver- 
bunden, welche  einige  Nachgiebigkeit  haben,   und  den  Metacarpus- 


§.  142.  BiOder  der  Hand.  375 

knochen  gestatten^  beim  Aufstemmen  der  Flachhand  auf  eine  Unterlage, 
mit  ihren  Köpfchen  etwas  auseinander  zu  weichen,  was  die  Basen 
nicht  können.  —  Das  Os  metacarpi  des  Daumens  bildet  mit  dem  Os 
multangulum  majm,  ein  durch  die  Gestalt  der  Gelenkäächen  und 
durch  die  Weite  der  Kapsel  bedingtes  selbstständiges  Sattelgelenk, 
welches  Beugung  und  Streckung  des  Daumens,  Zu-  und  Abziehung 
gestattet,  und  den  Daumen  allen  übrigen  Fingern  entgegenstellbar 
macht.  —  Das  Gelenk  der  beiden  letzten  Metacarpusknochen  mit 
dem  Hakeubein,  besitzt  zuweilen  eine  besondere  Synovialkapsel. 

A.  Fickf  die  Gelenke  mit  sattelförmigen  Flächen,  in  der  Zeitschrift  für  rat. 
Med.  1854. 

C.  Bänder  der  Fingerglieder, 

Wir  unterscheiden  an  jedem  Finger  eine  Articidatio  metacarpO' 
pkalangea,  dann  eine  erste  und  eine  zweite  Articidatio  inter-phalangea. 

Die  Articidatio  metacarpo  - phalangea ,  zwischen  dem  kugeligen 
Capitulum  des  Metacarpus  und  der  flachen  Grube  am  oberen  Ende 
der  Phalanx  prima,  ist  für  den  Zeige-,  Mittel-,  Ring-  und  Ohrfinger 
eine  Arthrodie,  welche  Beugung  und  Streckung,  Zu-  und  Abziehung, 
aber  keine  Axendrehung  des  Fingers  erlaubt,  während  das  mehr 
quergezogene,  walzenförmige  Capitulum  des  Metacarpus  des  Daumens, 
der  zugehörigen  Phalanx  pi*ima,  nur  eine  Beug-  und  Streckbewegung 
gestattet,  also  ein  Winkelgelenk  bedingt,  wie  es  an  den  übrigen 
Fingern  zwischen  der  ersten  und  zweiten  Phalanx  vorkommt. 
Sämmtliche  Articulationes  intejphalangea^i  zählen  zu  den  Winkel- 
gelenken. 

Alle  Fingergelenke  besitzen  fibröse  und  Synovialkapseln,  nebst 
zwei  Seitenbändern,  welche  aus  den  seitlichen  Grübchen  der  oberen 
Phalangen  entspringen,  und  am  Seitenrande  der  nächstfolgenden 
endigen.  Für  die  Articidatio  metacarpo-phalangea  sind  die  Seiten- 
bänder sehr  schwach  und  dehnbar,  und  müssen  es  sein,  da,  wenn 
sie  so  stark  wären ,  wie  am  zweiten  und  dritten  Fingergelenk ,  die 
durch  die  Form  der  Gelenkflächen  gegebene  Arthrodie  in  ein  Winkel- 
gelenk eingeschränkt  würde. 

Die  Volarseiten  der  fibrösen  Kapseln  der  Articidatlones  metacarpo- 
phalangeae ,  werden  an  ihrer  unteren  Wand  durch  Faserknorpel- 
substanz verdickt,  und  bilden  eine  Art  Rolle  oder  Rinne,  in  welcher 
die  Sehnen  der  Fingerbeuger  gleiten.  Man  hat  diese  verdickte  Stelle 
eines  Kapselbandes,  als  Ligamentum  transversiim  beschrieben.  In  der 
Mitte  einzelner  solcher  Faserknorpelplatten  finden  sich  knöcherne 
Kerne  eingewachsen,  welche  die  Gestalt  einer  halben  Erbse,  oder 
des  Samens  der  Sesampflanze  haben,  daher  Sesambeine,  Ossa 
sesamoidea   heissen    (im   Altdeutschen    Gleichbeine,    von   Gleich, 


376  S-  1^>  Allg^emeine  Bemerkungen  ftber  die  Hand. 

d.  i.  Gelenk).  Sie  sehen  mit  ihrer  glatten,  tiberknorpelten  Fläche, 
in  den  Gelenkraum  hinein.  An  der  Volarßeite  der  Gelenkkapsel 
zwischen  Metacarpus  und  Phalanx  prima  des  Daumens,  kommen 
eonstant  zwei  neben  einander  liegende,  durch  eine  Furche  von  ein- 
ander getrennte  Sesambeine  vor;  am  ereten  Gelenke  des  Zeige-  und 
Ohrfingers,  so  wie  am  zweiten  Gelenke  des  Daumens  trift't  man  sie 
ebenfalls  an,  aber  nur  einfach.  Ueber  die  alten  Namen  dieser 
Knöchelchen  siehe  §.  154,  Note  zu  3. 

lieber  das  Vorkommen  der  Re»ambeine   an   der   menschliclien  Hand,   giebt 
Ausführliches  Aeby,  im  Arch.  für  Anat  und  Physiol.   1875.  pag.  261. 


§.  143.  Allgemeine  Bemerkimgen  über  die  Hand. 

Schulter,  Oberarm  und  Vorderarm,  wurden  nur  der  Hand  wegen 
geschaffen,  deren  Beweglichkeit  und  Verwendbarkeit,  durch  ihre 
Befestigung  an  einer  langen  und  mehrfach  gegliederten  Knoehen- 
säule,  erheblich  gewinnen  muss.  Das  aus  siebenundzwanzig  Knochen 
bestehende,  und  durch  vierzig  Muskeln  bewegliche  Skelet  der  Hand, 
in  welchem  Festigkeit  mit  geschmeidiger  und  vielseitiger  Beweg- 
lichkeit sich  auf  die  sinnreichste  Weise  combinirt,  bewährt  sich  für 
die  roheste  Arbeit,  wie  für  die  subtilsten  Hantierungen  im  gleichen 
Grade  geschickt ,  und  entspricht  durch  seinen  wohlberechneten 
Mechanismus  vollkommen  jener  geistigen  Ueberlegenheit ,  durch 
welche  der  Mensch,  das  an  natürlichen  Vertheidigungsmitteln  ärmste 
Geschöpf,  sich  zum  Beherrscher  der  lebenden  und  leblosen  Natur 
aufwirft. 

Der  Arm  (bracJdum,  ßpa/^wv)  reicht,  in  hängender  Stellung, 
bis  zur  Mitte  des  Oberschenkels.  Weiter  herabreicliende  Arme 
haben  dem  Perserkönig  Artaxerxes,  zu  dem  Beinamen  Ijjngimanu^, 
und  einer  russischen  Fürstenfamilic ,  deren  Stammvater  mit  dieser 
Eigenthümlichkeit  behaftet  war,  zu  dem  Namen  Dolgoruki  ver- 
holfen.  Beim  Neger  langt  der  Arm  erheblich  tiefer  herab,  bei 
gewissen  Affen  selbst  bis  zur  Ferse.  Die  Verlängei-uiig  betrifft  bei 
beiden  vorzugsweise  die  Vorderarme.  Ohne  Zweifel  ist  diese,  selbst 
den  Negern  unangenehm  vorkommende  Aehnlichkeit,  der  Grund, 
warum  sie,  wenn  sie  unbeschäftigt  sind,  ihre  Hände  immer  vor  der 
Brust  verschlungen  halten.  Bei  den  ägyptischen  Mumien  von  Jung- 
frauen, liegen  die  Arme  vor  der  Scham  gekreuzt.  —  Brachiuvi  wird 
von  den  Classikern  häutig  nur  für  Vorderarm  gebraucht,  —  Lacertua 
für  Oberarm.  Antibrachium  ist  ein  barbarisches  Woi-t,  und  den 
Römern  gänzlich  unbekannt. 

Die  Hand  fuhrt  ihren  lateinischen  Namen  Manus,  von  {xio), 
tasten.   Bei  den  Dichtern  heisst  sie  auch  j>aZma^  von  7:aXa{jLr^,  breites 


9  148.  Allgemeine  Bemerkungen  ftber  die  Hand.  377 

Ende  eines  Ruders.  Sie  wird  durch  ihren  Hautüberzug,  besonders 
in  der  Hohlhand  (rola),  mit  hoher  Emptindliehkeit  ausgeiüstet,  und 
erhebt  sieh  zur  Bedeutung  eines  Tastorgans,  welches,  nach  allen 
Richtungen  des  Raumes  beweglich,  uns  von  der  Ausdehnung  der 
Materie  und  ihren  physikalischen  Eigenschaften  belehrt,  üicero 
nennt  auch  den  Rüssel  des  Elephanten  immus,  —  Die  ältesten  Maass- 
bestimmungen (uha,  Elle,  —  spithama,  Spanne,  —  pollex,  Zoll)  sind 
der  Länge  einzelner  Handabtheilungen  entnommen.  —  Die  Fähigkeit 
der  Hand,  sich  zu  einem  Löifel  auszuhöhlen,  und  zu  einer  Schaufel 
zu  strecken,  bedingt  ihren  Gebrauch  zum  Schöpfen  und  Wühlen; 
die  gekmmmten  Finger  bilden  einen  starken  und  breiten  Haken, 
welcher  beim  Klettern  die  trefflichsten  Dienste  leistet,  und  der 
jedem  anderen  Finger  entgegenstellbare  Daumen,  wirkt  mit  diesem 
wie  eine  Zange,  welche  zum  Ergreifen  und  Befühlen  kleiner 
Gegenstände  benutzt  wird. 

In  dem  langen,  freibeweglichen  und  starken  Daumen  (pollex, 
von  pollere,  dujitm  pollenfior  Hör.)  liegt  der  wichtigste  Vorzug  der 
Menschenhand.  Er  krümmt  sich  mit  Kraft  gegen  die  übrigen  Finger 
zur  Faust,  Pugnus,  die  zum  Anfassen  und  Festhalten  schwerer 
Gegenstände  dient.  Der  Daumen  leistet  hiebei  so  viel,  wie  die  übrigen 
Finger  zusammengenomnu'n,  er  stellt  das  eine  Blatt  einer  Beisszange 
vor,  deren  anderes  Blatt  durch  die  vier  übrigen  Finger  gebildet 
wird,  und  führt  deshalb  bei  Alb  in  den  Namen  manus  parva,  majori 
adjut?in%  was  di<^  gricichische  Bezeichnung,  OLvv.yv.p,  noch  besser  aus- 
drückt. Eine  Hand  ohne  Daumen  hat  ihren  besten  Theil  eingebüsst, 
denn  sie  dient  nicht  mehr  zum  Anpacken  und  Festhalten.  Julius 
Caesar  befahl,  allen  in  Uxellodunum  gefangenen  (ialliern,  die  Daumen 
abzuhauen,  weil  er  sie,  so  v(^rstünmielt,  als  Krieger  nicht  mehr  zu 
furchten  hatte.  Eben  so  Hessen  die  Athener,  im  Peloponnesischen 
Kriege,  den  gefangenen  Ruderknijchten  der  feindlichen  (ialeeren, 
die  Daumen  wegsehneiden,  und  schickten  sie  nach  Hause.  Dieselben 
Verstümmelungen  von  Kriegsgefangenen ,  kamen  auch  bei  den 
Hebräern  vor  (Judiccs,  L  v.  U,  7).  Diese  mechanische  Wichtigkeit 
des  Daumens,  wird  sofort  den  (.'hirurgen  bestimmen,  mit  seiner  Ent- 
fernung nicht  so  rücksichtslos  zu  verfahren ,  wie  mit  jener  eines 
anderen  Fingers.  Im  Mittelalter  wurde  das  Abschneiden  des  Daumens 
als  Strafe  für  schwere  Verletzungen  verhängt. 

Die  Affenhand,  deren  Stummeldaumen  Eustachius  einen 
pollex  rkÜcülns  nannte,  ist  ein  unvollkommener  organisirtes,  mecha- 
nisches Werkzeug ,  als  die  Menschenhand ,  das  Organon  organorum 
des  Anaxagoras,  und  einige  Affengattungen  entbehren  selbst  der 
Op[)Ositionsiahigkeit  des  Daumens.  —  Die  ungleiche  Länge  der 
Finger  ist  für  das  Umfassen  kugeliger  Formen  wohlberechnet, 
und  schliesst,   wenn   die  Finger   gegen    die  Hohlhand  gebeugt  und 


o7o  §.  14S.  Allgemeiii«  Bemerkangen  ftber  die  Hand. 

zusammengekrümmt  sind,  einen  leeren  Kaum  ein  (wie  z.  B.  beim 
Fliegenfangen),  der  durch  den  Daumen  als  Deckel  geschlossen  wird. 
—  Die  aus  mehreren  Knochen  zusammengesetzte  bogenftrmige 
Handwurzel,  unterliegt  der  Gefahr  des  Bruches  weit  weniger,  als 
wenn  ein  einziger  gekrümmter  Knochen  ihre  Stelle  eingenommen 
hätte.  Ihre  concave  Seite  wird  durch  das  starke  Ligamentum  cmyi 
tran^versum  in  einen  Ring  umgewandelt,  welcher  die  Beugesehnen 
der  Finger  enthält.  —  Die  feste  Verbindung  der  Mittelhand  mit 
der  Handwurzel  macht  das  Stemmen  und  Stützen  mit  den  Händen 
möglich ,  und  die  Längenkrümmung  der  einzelnen  Metacarpus- 
knochen,  so  wie  ihre  Nebeneinanderlagerung  in  einer  gegen  den 
Kücken  der  Hand  convexen  Ebene,  erleichtert  die  Aushöhlung 
der  Hohlhand  zum  poctdum  Diogenis. 

In  der  Zehnzahl  der  Finger,  welche  bei  den  ersten  Kcchnungs- 
versuchen  der  Menschen  zum  Zählen  diente ,  liegt  gewiss  die 
anatomische  Ursache  unseres  jetzigen  Zahlcn-Dekadensystems. 
Es  giebt  wilde  Völker,  welche  nur  nach  den  Fingern  bis  zehn, 
andere,  welche,  mit  Hinzunahme  der  Zehen,  nur  bis  zwanzig  zählen 
können  (wie  die  Nahoris),  und  fiir  alle  Zahlen  darüber,  nur  Ein 
Wort  haben:  Viel  (Miribiri).  Die  römischen  Ziffern  I— X,  sind 
durch  Fuigerstellungen  gegeben.  —  Die  grosse  Beweglichkeit  der 
Finger,  und  die  möglichen  zahlreichen  Combinationen  ihrer  Stellungen, 
machten  sie  zu  Vermittlern  der  Zeichensprache  für  Solche,  welche 
sich  durch  die  Lautsprache  nicht  gegenseitig  mittheilen  können.  Die 
tiefen  Trennungsspalten  zwischen  je  zwei  Fingern ,  erlauben  das 
Falten  der  Hände,  um  mit  doppelter  Kraft  zu  drücken,  und  die 
nur  im  Winkel  mögliche  Beugung  der  zwei  letzten  Phalangen,  giebt 
der  geballten  Faust  eine  Ki*aft,  die  einst  statt  des  Kcchtes  galt. 
Auch  die  Römer  gebrauchten  manus  für  Gewalt,  wie  im  manu 
capere  urbam  bei  Sali u st,  und  manu  reducert,  mit  Gewalt  unter- 
werfen, bei  Julius  Caesar. 

Wie  nothwendig  das  Zusammenwirken  beider  Hände  zu  ge- 
wissen Verrichtungen  wird,  beweist  das  alte  Sprichwort:  manus 
manum  lavat.  Eine  fehlende  Hand  kann  deshalb  nur  unv(jllkoramen 
durch  die  andere  Hand  ersetzt  werden,  und  der  Verlust  Einer  Hand 
wird  schwerer  gefiihlt,  als  jener  eines  Auges  oder  Ohres,  da  zum 
Sehen  und  Hören  unter  allen  Verhältnissen  Ein  Auge  und  Ein 
Ohr  hinreicht.  —  Die  tausendfaltigen  Verrichtungen  der  Hände 
(Hantierungen),  welche  die  Noth wendigkeit  dictirt  und  der  Verstand 
raffinirt,  und  die  ein  ausschliessliches  Prärogativ  der  Menschen  sind, 
werden  nur  durch  den  weise  berechneten  Bau  dieses  Werkzeuges 
ausfuhrbar.  Wir  können  uns  keine  Vorrichtung  denken,  durch 
welche  die  mechanische  Brauchbarkeit  der  Hand  auf  einen  höheren 
Vollkommenheitsgrad  gebracht  werden   könnte.     Jede,   wie   immer 


§.  lU.  Eintheilting  der  antertn  Extrem it&ten.  —  g.  145.  Hftftbeia.  379 

beschaffene  Zugabe,  würde  eher  hemmend  als  fördernd  wirken.  So 
ist  z.  B.  ein  sechster  Finger  wahrlich  keine  Vollkommenheit  der 
Hand;  sonst  würde  der  Besitzer  desselben  nicht  wünschen,  dieser 
Vollkommenheit  quitt  zu  werden,  und  die  Chirurgen  würden  sich 
nicht  dienstfreundlichst  beeilen,  sie  wegzuschneiden. 

Den  Frommen  empfehle  ich  zu  lesen:  Chr.  Donatns,  demanntratio  Dei 
ex  manu  hominis ,  VUeb.  1686,  —  den  Uebrigen:  Godofr.  de  Hahn,  de  manu, 
honiinetn  a  hrutin  diatinguente.  Lips.  1716.  —  Das  Glossarium  yermanicum  sagt 
über  Hand,  dass  dieses  Wort  von  han  abzuleiten  ist,  welches  haben  bedeutet, 
und  fügt  hinzu:  maniis  aymbolum  est  possessionis,  potestatis,  juris,  volunUUis,  fidei, 
promissi,  volentiae,  artis,  et  deccieritatis» 


D.  Knochen  der  unteren  Extremitäten 

oder  Bauchglieder. 

§.  144.  Eintheilung  der  unteren  Extremitäten. 

Die  untere  Extremität  besteht,  wie  die  obere,  aus  vier  beweg- 
lich mit  einander  verbundenen  Abtheihmgen :  der  Hüfte,  dem 
Oberschenkel,  dem  Unterschenkel,  und  dem  Fusse,  welcher 
selbst  wieder  in  die  Fusswurzel,  den  Mittelfuss,  und  die  Zehen 
zerfallt. 


§.  145.  Hüftbein. 

Die  Hüfte  verhält  sich  zur  unteren  Extremität,  wie  die  Schulter 
zur  oberen.  Man  könnte  sie  deshalb  die  Schulter  der  unteren  Ex- 
tremität nennen.  Sie  besteht  jedoch  nicht  aus  zwei  Knochen,  wie 
die  Schulter  der  oberen,  sondern  nur  aus  einem.  Dieser  ist  das 
Hüftbein,  Os  ümominatum*)  8.  coa.'ae,  8,  coxendtcü.  Beide  Hüftbeine 
fassen,  mit  ihren  hinteren  oberen  Stücken,  das  Kreuzbein  zwischen 
sich,  und  bilden  mit  ihm   den  Beckengürtel    oder   Beckenring. 

Das  Hüftbein  wird  in  drei  Theile  eingetheilt:  Darmbein, 
Sitzbein  und  Schambein;  es  hiess  deshalb  bei  den  alten  deutschen 
Wundärzten:  das  „T)xttjbtin'*  (Schylhans).  Nicht  die  Laune  der 
Willkür  hat  diese  Eintheilung  erdacht,  sondern  die  Entwicklungs- 
geschichte des  Knochens  sie  aufgestellt,  indem  jedes  Hüftbein  beim 
neugeborenen    Kinde    aus    drei,    nur    durch    Knoi-pel    verbundenen 

*)  Galen  US  «vwvujiov,  i.  e.  innominatum  vocavU,  quod  suo  tempore  nomine 
careret,  Spigeliui,  lik  //.  cup»  i4. 


380  $.  145.  Hftftbein. 

Stücken  besteht,  welche  die  oben  angegebene,  allgemein  übliche 
Eintheilung  veranlassten.  Um  die  Zeit  des  Zahnwechsels  (siebentes 
Lebensjahr)  beginnt  ihre  Verschmelzung,  welche  jedoch  selbst  im 
sechzehnten  Lebensjahre  noch  nicht  vollkommen  beendet  ist.  Bei 
zwei  Säugethieren  (dem  Schnabelthiere  und  der  Echidna)  bleiben 
diese  drei  Stücke  durch  das  ganze  Leben  getrennt.  Hält  man  sich 
an  die,  etwas  unter  der  Mitte  des  Knochens  befindliche,  grosse 
Gelenkgrube  (die  Pfanne),  so  Hegt  das  DaiTfibein  über  ihr,  das 
Sitzbein  unter  ihr,  und  das  Schambein  an  ihrer  inneren  Seite.  Die 
drei  genannten  Bestandtheile  der  Hüftbeine  betheiligen  sich  an  der 
Bildung  der  Pfanne,  und  man  kann  es  an  einem  jüngeren  Exemplare 
des  Knochens,  wo  noch  die  Knorpel  zwischen  seinen  drei  Bestand- 
theilen  existiren,  sehr  gut  absehen,  dass  das  Darmbein  den  oberen, 
das  Sitzbein  den  unteren,  und  das  Schambein  den  inneren  Umfang 
der  Pfanne  bildet. 

A.  Das  Darmbein,  Oa  äei  8.  iliwm,  führt  diesen  Namen,  weil 
es  mit  seiner  inneren ,  concaven  Fläche ,  jenen  Theil  des  dünnen 
Gedärmes  trägt,  welcher,  seiner  vielfachen  Windungen  wegen,  ileum 
heisst  (von  eD.sw,  winden,  zusammendrängen).  Dick  an  seiner 
Basis,  welche  die  obere  Wand  der  Pfanne  bildet,  gewinnt  dieser 
Knochen  nach  oben  zu,  die  Gestalt  einer  breiten,  in  ihrer  Mitte 
dünnen,  selbst  dui'chsch einenden  Platte,  welche  dem  verbogenen 
Kamme  eines  antiken  Helmes  ähnlich  sieht,  und  an  welcher  man 
eine  äussere  und  innere  Fläche,  und  einen  dicken  Begrenzungs- 
rand unterscheidet.  Die  äussere  Fläche  ist  an  ihrem  vorderen 
Abschnitt  convcx,  am  hinteren  concav,  und  besitzt  eine,  selbst  bei 
älteren  Individuen  nicht  immer  scharf  ausgeprägte,  mit  dem  oberen 
Rande  des  Darmbeins  nicht  parallel  laufende  Linie  (Linea  semi- 
circularis  8.  arcuata  externa),  als  die  Ursprungsgrenze  des  Musculus 
glvtaeu8  mlmmus.  Sonst  ist  diese  Fläche  glatt,  mit  einem  grossen 
Ernährungsloch  in  ihrer  Mitte,  und  vielen  kleineren  gegen  den  Rand 
zu.  Die  innere  Fläche  wird  durch  die  von  hinten  nach  vorn  und 
unten  gerichtete  Linea  arcuata  interna,  in  eine  kleinere  untere,  und 
viel  grössere  obere  Abtheilung  gebracht.  Die  untere  hilft  die 
Seitenwand  des  kleinen  Beckens,  und  zugleich  den  (irund  der  Pfanne 
bilden;  die  obere  ist  an  ihrer  vorderen  Hälfte  concav  und  glatt 
(Fossa  iliuca) ,  an  ihrer  hinteren  Hälfte  mit  einer  beknorpelten 
ohrmuschelförmigen  Verbindungsstelle  für  die  ähnlich  ge- 
staltete Fläche  am  breiten  Seitenrande  des  Kreuzbeins,  und  hinter 
dieser  mit  einem  umfönglichen ,  rauhen  Höcker  (Tuherositas  ossis 
ilei)  versehen.  —  Der  Begrenzungsrand  des  Darmbeines  zerfiillt 
L  in  den  oberen  Rand  oder  Kamm  (Crista  ossis  ilei),  welcher,  so 
wie  die  äussere  Fläche  des  Darmbeins,  vorn  nach  aussen,  und 
hinten  nach  innen,  also  S-förmig  gekrümmt  ist,  und  eine  äussere. 


§.  141».  H(Lftb«in.  381 

mittlere  und  innere  Lefze  für  die  Befestigung  der  drei  breiten 
Bauchmuskeln  besitzt;  2.  in  den  vorderen  und  hinteren  Rand, 
welche  beide  kurz  und  nicht  so  dick  sind,  wie  die  Crista,  und  fast 
senkrecht  von  den  Endpunkten  der  Crista  abfallen.  Jeder  derselben 
besitzt  einen  halbmondförmigen  Ausschnitt,  flacher  und  länger  am 
vorderen  Rande,  am  hinteren  tiefer  und  kürzer.  Die  Ecken  der 
Ausschnitte  heissen  Spinae,  und  es  muss  somit  eine  Spina  anterior 
supei'^ior  et  inferior',  desgleichen  eine  Spina  posterior  superior  et  inferior 
geben.  Der  hintere  Rand  führt ,  unter  der  Spina  postsrior  inferior 
zur  Incisura  ischiadica  major  s.  iliaca,  welche  sich  bis  zum  später  zu 
erwähnenden  Sta-chcl  des  Sitzbeins  heraberstreckt. 

B.  Das  Sitzbein,  Os  iachii,  erhielt  seinen  Namen  von  tc/eiv 
xa^ijjLsvou^,  quod  sedentes  sustineat,  RioL  (Bei  den  älteren  Anatomen 
Frankreichs  linden  wir:  Vos  de  Vassiette,  der  Knochen  des  Sitzes). 
Dasselbe  wird  in  den  Körper,  den  absteigenden,  und  auf- 
steigenden Ast  eingetheilt.  Der  Körper  bildet  die  untere  Wand 
der  Pfanne,  ist  dreiseitig,  und  hat  an  seinem  hinteren  Rande  einen 
Sporn  oder  Stachel  (Spina  ossis  ischil),  welcher,  mit  der  Spina  08»is 
Hei  posterior  inferior ,  die  oben  genannte  Incisura  ischiadica  major  s. 
iliaca  begrenzt.  Der  absteigende  Ast  (Ramvs  descendens),  ist  eine 
Fortsetzung  des  Körpers,  dessen  drei  Flächen  er  beibehält.  Er 
endigt  nacli  unten  mit  dem  dicken  und  rauhen  S  i  t  z  k  n  o  r  r  e  n 
(Ivberositas  ossis  iscldi).  Zwischen  diesem  und  der  Spina  ischii,  liegt 
die  seichte  Incixura  ischiudica  minor.  Der  aufsteigende  Ast 
(Ramus  ascendens)  erhcibt  sich  vom  Sitzknorren  nach  innen  und 
oben,  und  ist  von  vorn  nach  hinten  fiachgedrückt,  mit  vorderer 
und  hinterer  Fläche,  nebst  einem  inneren  stumpfen,  und  äusseren 
scharfen  Rande. 

C,  Das  Schambein,  Os  pubis,  zerfallt  in  einen  horizontalen 
und  absteigenden  Ast.  Der  horizontale  Ast  bildet  mit  seinem 
äusseren  Ende  die  innere  Pfannenwand,  und  stösst  an  seinem  inneren 
Ende,  durch  eine  breite,  rauhe  Verbindungsfläche,  und  darauf 
haftenden  Faserknorpel,  mit  dem  gleichnamigen  Knochen  der  anderen 
Seite  zusammen.  Die  Stelle,  wo  das  äussere  Ende  des  horizontalen 
Astes  sich  mit  dem  Pfannenstück  des  Darmbeins  beim  «Jüngling 
verbunden  hat,  bleibt  durch  das  ganze  Leben  als  ein,  von  vorn 
nach  hinten  gerichteter  Hügel  oder  Rücken  kennbar,  welcher  Tuher- 
culum  ileo-pectinenm  oder  ileo-ptihicum  genannt  wird.  Der  horizontale 
Ast  stellt  ein  kurzes,  dreiseitiges  Prisma  dar,  dessen  Flächen,  weil 
das  äussere  und  innere  Ende  dicker  ist  als  das  Mittelstück,  sämmt- 
lich  etwas  concav  sein  müssen.  Die  Concavität  zeigt  sich  besonders 
an  der  unteren  Fläche  so  sehr  ausgesprochen,  dass  einige  Anatomen 
sie  mit  dem  Namen  einer  Furche  belegen,  deren 
aussen    und    oben    nach    innen   und   unten  gl 


382  §.  145.  Hflftbein. 

Winkeln  ist  der  obere  der  schärfste,  und  heisst  Scham  bei  nkaram 
(Pecten  8.  Crista  ossis  puhis).  Er  setzt  sich  nach  aussen,  hinter  dem 
Thibercidum  ileo-pectineum,  in  die  Linea  arcuata  interna  des  Darmbeins 
fort,  und  endigt  nach  innen  am  Schambein höcker  (TiibereiUttm 
ptibiciim).  Die  beiden  unteren  Ränder  gehen  ohne  Unterbrechung 
in  die  Ränder  des  vom  Sitz-  und  Schambein  umschlossenen,  grossen 
Loches  (Foramen  obturatorium)  über,  und  zwar  der  vordere  untere 
in  den  äusseren,  der  hintere  untere  in  den  inneren  Rand  des  Loches. 
Vom  inneren  Ende  des  horizontalen  Astes  wächst  der  absteigende 
Ast  dem  aufsteigenden  Sitzbeinaste  entgegen,  und  verschmilzt  mit 
ihm.  Er  hat,  wie  dieser,  eine  vordere  und  hintere  Fläche,  einen 
äusseren  und  inneren  Rand. 

Der  Winkel,  unter  welchem  der  absteigende  Schambeinast  zum  horizontalen 
steht,  heisst  Angultu  ostis  puhis,  zum  Ilnterschied  des  Anguhis  osaium  puhis,  unter 
welchem  man  den  Raum  versteht,  der  zwisclien  den  absteigenden  Aesten  beider 
Schambeine  enthalten  ist,  und  welcher,  weil  er  besonders  im  männlichen  Geschlecht 
sich  nach  oben  zuspitzt,  immerhin  ein  Angulus  genannt  werden  kann.  Bei  Weibern, 
wo  dieser  Winkel  zum  Bogen  wird,  heisst  er  Arcus  ossium  puhis. 

Der  Ausdruck  Orista  ossis  puhis  ist  besser  als  Pectni  ossis  puhis,  denn  ein 
Kamm  muss  Zähne  haben,  welche  am  Pecten  ossis  puhis  fehlen. 

Wo  die  drei  Stücke  des  Hüftbeins  zusammenstossen,  liegt  die 
tiefe  und  sphärisch  gehöhlte  Qelenkgrube  zur  Aufnahme  des  Ober- 
schenkelkopfes —  die  Pfanne  (Acetahuium  bei  Plinius*),  y.orSXr), 
bei  den  Arabisten  pi/xis  und  pissU),  an  Grösse  und  Form  den  Essig- 
schälchen  der  alten  Römer  gleich  —  inde  nomen,  Ihre  rauhe  Um- 
grenzung, welche  Supercütum  acetabuli  heisst,  bildet  keine  vollkommene 
Kreislinie,  sondern  wird  an  der  inneren  und  unteren  Peripherie 
durch  die  Indsura  acetabuli  ausgeschnitten.  Die  innere  Oberfläche 
der  Pfanne  zeigt  sich  nicht  durchaus  überknorpelt,  sondern  hat  an 
ihrem  Grunde  eine  knorpellose,  vertiefte  Stelle  (Fossa  acetabuli), 
welche  sich  bis  zur  Incisura  acetabuli  ausdehnt,  und  gegen  das  Licht 
gehalten,  meistens  matt  durchscheinend  getroffen  wird. 

Einwärts  von  der  Pfanne,  und  etwas  tiefer  als  diese,  liegt  das 
sogenannte  Verstopfungsloch  (Foramen  obturatorium,  besser  obtu- 
ratum  oder  ovale),  welches  von  den  Aesten  des  Sitz-  und  Schambeines 
umrahmt  wird,  und  genau  betrachtet,  besonders  an  Individuen  weib- 
lichen Geschlechts,  eine  dreieckige  Form  mit  abgerundeten  Winkeln 
hat.  Im  männlichen  Geschlechte  erscheint  das  Loch  von  mehr 
ovaler  Gestalt.     Die  Umrandung   des  Loches   bildet   keine   in    sich 


*)  Auch  die  kleinen  Becher,  deren  sich  die  römischen  Taschenspieler  und  Gaukler 
bedienten,  heissen  bei  Seneca  acelahuln  (so  in  Eplst.  45:  praestufiaUn-uni  acetahuia 
et  calculi),  und  ein  Maass  ftir  eine  kleine  Quantität  Flüssigkeit  (y^  hemina),  führt 
bei  V a r  r o  denselben  Namen.  —  KotuXt)  aber  bedeutet  alles  Hohle,  nach  Apollodorus: 
rav  5:  To  xoT^ov  xoruX7)V  exoXouv,  quodcumque  cavum  est  xoTuAr^v  vocant.  Selbst  die 
Hohlhand  hiess  xotuXt].  Die  Arabisten  haben  für  acetahuium  ganz  willkürlich  das  Wort 
aeceptahulum  gebraucht  (Berengarius  Carpensis). 


§.  146.  HftftlMiD.  383 

selbst  zurücklaufende  Linie,  indem,  wie  oben  bemerkt  wurde,  der 
äussere  Rand  des  Loches,  in  den  vorderen  unteren  Rand  des 
horizontalen  Schambeinastes,  und  der  innere  Rand  in  den  hinteren 
unteren  Rand  dieses  Schambeinastes  übergeht.  Dadurch  geschieht 
es,  dass  die  untere,  furchenähnlich  stark  ausgehöhlte  Fläche  des 
horizontalen  Schambeinastes,  mit  ihrer  ganzen  Breite  die  obere  Um- 
randung des  Verstopfungsloches  bildet. 

Bei  den  anatoiuisclien  Schriftstellern  des  Mittelalters  wird  Oa  coxae  nicht 
für  das  Hüftbein,  sondern  für  das  Schenkelbein  gebraucht,  wie  jetzt  noch  im 
Italienischen  roscüt,  und  im  Französischen  cuisfte^  Schenkel  bedeutet.  Das  Hüftbein 
hiess  zu  jener  Zeit  Oh  aiirhae,  welcher  Ausdruck,  romanischen  Ursprungs  ist,  und 
im  spanischen  mica,  im  französischen  hauche,  und  im  englischen  haunch  noch  fort- 
lebt Dass  ancha  Hüftbein,  und  coxa  Schenkelbein  war,  bezeuget  uns  im  10.  Jahr- 
hundert der  Benedictinermönch ,  Arzt  und  medicinische  Schriftsteller,  Co  n  st  an- 
tin us  Africanus  (f  1087,  im  Kloster  des  Monte  Casino),  durch  die  Worte: 
coxa  rotiindatur  auperhui,  iU  aiichae.  pi^xidetn  itufrediatur,  und  Gabriel  de  Zerbis 
(gleichfalls  Mönch,  und  Profef<8or  in  Padua,  im  15.  Jahrhundert):  caput  coxae  est 
ßxum  in  pyxide  aiwhtte. 

Das  Studium  des  Hüftbeins  macht  den  AnfKngem  einige  Schwierigkeit,  da 
an  den  Knochen  Erwachsener,  deren  sie  sich  bedienen,  die  in  jüngeren  Jahren 
bestandenen  Trennungsspuren  des  Darm-,  Hüft-  und  Schambeins  nicht  mehr  ab- 
zusehen sind.  Ich  empfehle  deshalb,  zur  besseren  Orientirung,  diese  Trennungs- 
linien, am  ausgebildeten  Knochen  auf  folgende  Weise  zu  verzeichnen.  Man  be- 
schreibt mit  IHnte  oder  Bleistift  eine  über  das  Tuberculum  ileo-peclhieum  und  nach 
seiner  Richtung  laufende  Linie,  verlängert  sie  Über  den  Anfang  der  Linea  arcuata 
interna  eine  Querfingerbreite  nach  abwärts  auf  die  hintere  (innere)  Fläche  des 
Knochens,  und  lässt  sie  dann  in  zwei  Schenkel  diverg^ren,  deren  einer  nach 
aussen,  zur  Mitte  der  Inci»ura  inchiadir.a  major ,  der  andere  nach  innen,  zum  oberen 
Dritttheil  des  äusseren  Randes  des  Verstopfungsloches  geführt  wird.  Diese  ge- 
spaltene Linie  wird  die  Gestalt  eines  umgekehrten  Y  haben,  und  an  der  inneren 
Oberfläche  des  Hüftbeins,  die  Verwachsungsstelle  seiner  drei  Stücke  repräsentiren. 
Um  sie  auch  an  der  äusseren  Oberfläche  des  Knochens  darzustellen,  verlängert 
man  das  vordere  Ende  der  längs  des  Tufjerculi  ileo-pectinei  gezogenen  Linie,  eine 
Querfingerbreite  in  die  Pfanne  hinein,  und  lässt  sie  dort  wieder  in  zwei  Schenkel 
auslaufen,  welche  durch  die  Pfanne,  und  über  den  Rand  derselben  hinaus,  so  ver- 
längert werden,  dass  sie  mit  den  Endpunkten  der  an  der  inneren  Fläche  ver- 
zeichneten Schenkel  zusammenstossen.  Man  wird  dann  den  Antheil  kennen  lernen, 
welchen  jedes  der  drei  Stücke  des  Hüftbeins,  an  der  Bildung  der  Pfanne  nimmt. 
—  Die  Verschmelzungsstelle  des  absteigenden  Schambein-  und  aufsteigenden 
Sitzbeinastes,  fallt  beiläufig  in  die  Mitte  des  inneren  Randes  des  Foramen  ob- 
turalum. 

Ausser  den  drei  Ossificationspunkten ,  welche  im  Embryo  die  erste  Anlage 
des  Darm-,  Sitz-  und  Schambeins  bilden,  erhält  das  Hüftbein  noch  drei  selbst- 
ständige Verknöc'henmgspunkte,  welche  aber  erst  spät  nach  der  Geburt  auftreten. 
Der  erste  entsteht  im  V-fÖrmigen  Knorpel,  welcher  die  drei  Stücke  des  Hüftbeins 
in  der  Pfanne  verbindet;  der  zweite  im  Sitzknorren;  der  dritte  im  Lahiuvi  medium 
der   Crista  ott»is  ile.i. 

Das  weibliche  Hüftbein  zeichnet  sich  durch  die  grössere  Kürze,  Schmalheit, 
und  mehr  nach  aussen  umgelegte  Richtung  seines  Darmbeines,  durch  die  Kürze 
seines  Sitzbeines,  die  Länge  seines  horizontalen  Schambeinastes,  die  Schmalheit  der 


384  §•  146.  Yerbindangen  der  Üfiftbeine. 

das  Foramen  ohturat.um   nmgebenden  Knochenspangon ,    und   dio    mehr   droiockigo 
Gestalt  dieses  Loches  vor  dem  männlichen  aus. 

An  Abnormitäten  ist  das  Hüftbein  niclit  reich.  —  Eine  der  merkwürdigsten 
befindet  sich  in  meiner  Sammlung.  Ein  an  der  Tnchurn  acetuhvH  onts]»ringender 
Knochenbalken  läuft  quer  über  das  Fommtni  ofduraJuvi  weg,  ohne  den  änsseri'n 
Rand  desselben  zu  erreichen.  An  einem  zweiten  Becken  ist  der  absteigende 
Scbarabeinast  mit  dem  aufsteigenden  Sitzbeinaste  nicht  verbunden.  —  Einen  voll- 
ständigen knöchernen  Pfannenrand,  ohne  Incisur,  zeigt  ein  im  Prager  anatomisclien 
Museum  aufbewahrtes  Präparat.  —  Ich  besitze  ein  Darmbein,  an  «lessen  äussert'r 
Fläche  eine  sehr  tiefe  Furche  für  den  Verlauf  der  Vasa  ylutnea  avimriora  aus- 
gegraben erscheint. 


§.  146.  Verbindungen  der  Hüftbeine. 

Die  Hüftbeine  verbinden  sich  mit  dem  Kreuzbeine  durch  die 
beiden  Sf/mphyses  sacro-iliacae,  und  unter  einander  durch  die  einfaclie 
Symphysis  ossium  puhis, 

1.  Die  Symphysis  sacro-üiaca  (von  sufxoüö),  uni'iclitig  cuv^uo),  zu- 
sammenwachsen) soll  von  Rechtswegen,  nach  den  Untersuchungen 
von  Luschka,  eigentlich  zu  den  Gelenken  gezählt  werden,  indem 
die  überknorpelten,  ohrförmigen  Verbindungsflächen  des  Darm-  und 
Kreuzbeins,  welche  man  sich  früher  mit  einander  verwachsen 
dachte,  durch  eine  mit  Synovialhaut  und  Epithel  ausgekleidete, 
spaltförmige,  und  niemals  fehlende  Htihle,  von  einander  so  getrennt 
sind,  dass  sie  zwar  im  gegenseitigen  Contact,  aber  nicht  in  Con- 
tinuität  stehen.  Dieses  Gelenk,  welches  den  altherkinnmlichen 
Namen  einer  Symphyse  noch  lange  führen  dürfte,  wii-d  durch  vor- 
dere ,  untere ,  und  hintere  Verstärkungsbänder  bedeckt ,  welche 
zugleich  mit  der  über  die  Symphyse  wegstreichenden  Beinhaut, 
eine  Art  Kapsel  um  die  innere  Höhle  bilden.  Unter  den  hinteren 
Bändern  verdienen  das  lAg,  lleo-sacmm  longum  et  hreve,  ihrer  Stärke 
wegen,  besondere  Erwähnung.  Das  erste  entspringt  von  der  Spina 
posterior  superior ,  das  zweite ,  vom  ersten  bedeckt ,  von  der  Spina 
posterior  inferior  des  Darmbeins,  und  beide  enden  am  Seitenrande 
des  Kreuzbeins.  —  Zur  Fixirung  des  letzten  Lendenwirbels  am  Os 
sacrum  hilft,  nebst  der  Bandscheibe,  auch  das  Liijamentum  iho-lum- 
hale,  w^elehes  vom  Querfortsatze  des  fünften  Lendenwirbels  «Mitspringt, 
und,  in  zwei  Schenkel  gespalten,  sich  mit  einem  an  der  7\iherositas 
ossis  ilei ,  mit  dem  anderen  theils  an  der  l^asis  des  Kreuzbeins 
inserirt,  theils  sich  über  die  Symphysis  sacro-iliaca  ausbreitet. 

Luschka,    die   Kreuz-Darmbeinfnge   und    die   Soliambeinfugf,  im  Archiv  für 
pathol.  Anatomie.  7.  Bd. 

Zur  Verbindung  des  Hüftbeins  mit  dem  heiligen  Beine  dienen 
noch  zwei  kraftvolle  Bänder^  welche  zugleich  den  Raum  des  kleinen 


§.  I4(S.  Yerbindangen  der  Hüftbeine.  385 

Beckens  seitwärts  begrenzen  helfen.  Sie  sind:  o)  das  Sitzknorren- 
Kreuzbeinband^  Ligamentum  tuberoso  -  sacruvi ,  welches  am  Sitz- 
knorren  entsteht,  und,  stark  schief  nach  innen  und  oben  laufend, 
sich  ausbreitet,  um  an  der  Sjnna  posterior  inferior  des  Darmbeins, 
und  am  Rande  des  Kreuz-  und  Steissbeins,  zu  endigen.  Von  seiner 
Ursprungsstelle  am  Sitzknorren,  läuft  ein  sichelfiirmiger  Fortsatz, 
Processus  falciformis,  am  aufsteigenden  Sitzbein-  und  absteigenden 
Schambeinast  bis  zur  Symphysis  puhis  hinauf,  wo  er  mit  dem  gleich 
zu  erwähnenden  Ligamentum  arcuatum  inferlus  verschmilzt,  h)  Das 
Sitzstachel  -  Kreuzbeinband,  TJgamentum  spinoso - sacrum ,  ist 
kürzer  und  schwächer  als  das  Sitzknorren-Kreuzbeinband,  entspringt 
von  der  Spina  ossis  iscliii,  und  schlägt  eine  viel  weniger  schiefe  Rich- 
tung zum  Seitenrande  des  letzten  Kreuzwirbels  und  des  Steissbeins 
ein,  wo  es  sich  festsetzt.  Dasselbe  kreuzt  sich  sonach  mit  dem 
Ligamentum  tuberoso-sacrum.  Durch  die  Kreuzung  beider  Bänder 
werden  die  Incisura  ischiadica  major  und  minor  in  Löcher  desselben 
Namens  umgewandelt. 

2.  Die  Symphysis  ossium  puhis  schliesst,  durch  die  mediane 
Vereinigung  der  horizontalen  Schambeinäste,  den  Beckenring  nach 
vorne  zu  ab.  Der  kühne  Versuch,  diese  Symphysis  bei  gewissen 
Arten  schwerer  Geburten  zu  trennen ,  veranlasste  ein  genaueres 
Studium  ihres  Baues.  Sie  ist  nach  demselben  Typus,  wie  die  Ver- 
bindung zweier  Wirbelkörper  durch  Bandscheiben,  eingerichtet.  Es 
findet  sich,  zwischen  den  einander  zugekehrten  Endflächen  beider 
horizontalen  Schambeinäste,  ein  Faserknorpel,  welcher  in  der  Mitte 
einen  weicheren  Kern,  und  in  diesem,  nach  hinten  zu,  eine  kleine, 
spaltförmige,  constante  Höhle  enthält.  Der  Knorpel  hat  die  Gestalt 
eines  dreiseitigen  Prisma,  dessen  eine  Fläche  nach  vorn,  somit  eine 
Kante  nach  hinten  gekehrt  ist.  Er  ist  beim  Manne  schmäler  und 
länger,  beim  Weibe  kürzer,  aber  breiter.  Ein  unbedeutendes  Liga- 
mentum arcuatum  superiti^,  und  ein  viel  stärkeres  Ligamentum  arcuatum 
inferlus  kräftigen  die  Symphyse  an  ihrem  oberen  und  unteren  Rand. 
Die  Ligamenta  arcuata  identificiren  sich,  je  näher  sie  dem  Sym- 
physenknorpel  kommen,  derart  mit  ihm,  dass  eine  scharfe  Grenze 
zwischen  Band  und  Knorpel  nicht  existirt. 

Niclit  gar  selU'n  tritft  man  im  Knoriiel  der  Schamfuge  zwei  nebeneinander 
liegende*  Hülilen  an,  mit  einer  faserknorpeligen,  senkrecht  stehenden  Zwischen- 
wand, welclie  sich  zu  den  beiden  Höhlen  wie  eine  CartUago  interartictdaria  ver- 
Iiält.  Icli  habe  auch  diese  beitlen  Höhlen  nicht  nebeneinander,  sondern  hinter- 
einander liegend  angetroffen. 

Das  Foramen  obturaium  wird  durch  eine  fibröse  Membran 
(Membrana  obturatoria  s.  Ligamentum  obturatorium)  so  verschlossen, 
dass  nur  am  oberen  äusseren  Winkel  desselben,  ein  schräg  von 
innen   und  unten  nach   oben   und   aussen   laufender   Gang 

Hjrtl,  Lehrbuch  dtr  AnBtomit.  U.  Anfl.  26 


386  §•  147.  Dm  Becken  als  Ganzes. 

cbtunttorius)  offen  bleibt.  Die  obere  Wand  dieses  kurzen  Ganges 
wird  durch  die  untere  Fläche  des  horizontalen  Schanibeinastes  er- 
zeugt^ von  welcher  früher  bemerkt  wurde,  dass  sie  fiirchenähnlich 
ausgeh('»hlt  ist. 

Man  kann  an  einem  mit  Draht  g^fassten  Becken  die  Richtung  der  Bänder 
durch  Fäden  oder  Bandstreifen  nachahmen,  welche  den  Ursprung  und  das  Ende  eines 
Bandes  mit  einander  verbinden.  Die  Richtung  des  Ligamentum  tuheroso-  und 
»pinoito-sacrum,  ihre  Kreuzung,  und  ihre  Theilnalime  an  der  Bildung  des  grossen 
und  kleinen  HOftloches,  sind  für  die  später  folgenden  Details  von  besonderer 
Wichtigkeit. 

Durch  die  Symphysen  erhält  der  Beckengürtel  ein  Minimum  von  Beweg- 
liclikeit,  welches  durch  den  gelockerten  Zustand  derselben  in  der  Schwangerschaft 
vergrössert  wird.  —  Verknöchenmgen  der  Symphysen,  und  besonders  der  Schani- 
fuge, gehören  beim  weiblichen  Geschlechte  unter  die  grössten  Seltenheiten  (Otto), 
obwohl  sie  bei  gewissen  Säugethieren  regelmässig  vorkommen  (bei  den  Wieder- 
käuern, Einhufern  und  Pachydermen).  Durch  die  Bänder,  welche,  ungeachtet  ihrer 
Stärke,  doch  einem  von  innen  wirkenden  Drucke  nachzugeben  vermögen,  kann 
die  Beckenhöhle  etwas  erweitert  werden ;  sie  begrenzen  den  kleinen  Beckenraum 
so  gut  wie  Knochen,  und  haben  nicht,  wie  diese,  den  Nachtheil  imfQgsamer  Starr- 
heit —  Das  Foramen  obturalum,  das  grösste  Loch  am  Skelete,  hat  nur  eine 
unnütze  Knochen  wand  zu  vertreten,  und  bedingt  somit  eine  grössere  Leichtigkeit 
des  Beckens.  —  Durch  das  grosse  Hüftloeh,  viel  seltener  durch  das  kleine, 
können,  so  nie  durch  den  CaftalU  ofduraloriwt,  Eingeweide  der  Beckenhöhle  als 
Hemiae  nach  aussen,  und  fremde  Körper  durch  Verwundung  nach  innen  dringen. 
Im  Prager  Museum  befindet  sich  ein  Fall,  wo  eine  Nadel  im  XervtM  Mchiadints 
(welcher  durch  das  grosse  Hüftloch  aus  der  Beckenhöhle  heraustritt)  gefunden 
wurde,  und  ganz  von  ihm  umschlossen  war  (Gruber).  VerwundungsfKlle,  wo  das 
Becken  quer  durch  und  durch  geschossen  wurde,  ohne  Knochenverletzung,  sind 
ebenfalls  bekannt. 

§.  147.  Das  Becken  als  (lanzes. 

Das  Becken  fuhrt  seinen  lateinischen  Namen  Pelvis,  von  ireXir, 
auch  TÄ\\%  d.  i.  ein  grosses^  rundes,  oben  weites  Getass,  dessen  man  sich 
zum  Waschen  der  Hände  und  Füsse  bediente.  Das  Becken  stellt  einen, 
am  unteren  Ende  des  Stammes  durch  die  beiden  Hüftbeine,  und 
das  zwischen  sie  hineingeschobene  Kreuz-  und  Steissbein,  gebildeten 
Knochenring  dar,  welcher  an  seiner  hinteren  Peripherie,  vermittelst 
des  Kreuzbeins,  die  Wirbelsäule  trägt,  und  sich  mittelst  der  Pfannen, 
auf  die  Köpfe  beider  Schenkelbeine  stützt.  Eine  genaue  Kenntniss 
seiner  Zusammensetzung  und  seiner  Dimensionen ,  ist  für  den  Ge- 
burtshelfer unerlässlicli,  da  die  Technik  seiner  mechanischen  Hülfs- 
leistungen  bei  schweren  Geburten,  von  den  räumlichen  Verhältnissen 
dieses  knrjchernen  Ringes  bestimmt  wird.  Stellt  man  das  Becken  so 
vor  sich  hin,  dass  es  mit  den  beiden  Sitzknorren  und  mit  der  Steiss- 
beinspitze  auf  dem  Tische  aufsteht,  so  hat  es  wirklich  einige  Aehn- 
lichkeit  mit  einem  tiefen  Waschbecken  (ad  lavacri  simUthidlnem, 
Vesal,),    dessen   breiter,   nach   aussen   gebogener  Rand,    vorn   und 


§.  147.  Das  Beckea  als  Ganzes.  387 

hinten  abgebrochen    erscheint,    so   dass  nur  zwei  Seitenstücke  des- 
selben, die  beiden  Darmbeine,  übrig  bleiben. 

Das  Becken  wird  in  das  grosse  und  das  kleine  Becken 
eingetheilt. 

A,  Das  grosse  Becken  stellt  eigentlich  nur  die  breite  Um- 
randung des  kleinen  Beckens  dar,  und  wurde  deshalb  auch  lAibrum 
pelvis  genannt.  Es  verhält  sich  das  grosse  Becken  zum  kleinen, 
wie  beiläufig  der  Rand  einer  Tasse  zum  Grunde  derselben.  Dieser 
Rand  ist  aber  nicht  vollständig,  sondern,  wie  oben  gesagt,  vorn 
und  hinten  ausgebrochen.  Die  hintere  Lücke  des  ausgebrochenen 
Randes  wird  durch  den  letzten  Lendenwirbel  nur  unvollständig,  die 
vordere,  viel  grössere  I^ücke,  durch  die  muskulöse  Bauchwand  voll- 
ständig ausgefüllt.  Die  Höhle  des  grossen  Beckens  dient  zur  Ver- 
grÖBserung  der  Bauchhöhle,  und  geht,  sich  trichterförmig  verengernd, 
in  die  Höhle  des  kleinen  Beckens  über. 

B.  Das  kleine  Becken  bildet  eine  beim  Manne  nach  unten 
konisch  verengte,  beim  Weibe  mehr  cylindrische  Höhle,  deren 
hintere  lange  Wand,  durch  die  vordere  concave  Kreuzbein-  und  Steiss- 
beinääche,  deren  vordere  Wand  durch  die  Symphysis  ossium  pubts, 
und  die,  das  Foram&n  ohturatum  umgebenden  Aeste  des  Scham-  und 
Sitzbeins,  nel)8t  dem  Ligamentum  obturatorium,  gebildet  wird.  Die 
Seitenwände  werden  von  jenem  Theile  der  Hüftbeine,  welcher 
zwischen  Linea  arcuata  inteima  und  Tuberositas  ossis  ischit  liegt,  und 
von  den  Ligamsntis  fuberoso'  et  »pinoso-sacris  erzeugt. 

Die  Höhle  des  kleinen  Beckens  hat  eine  obere  und  untere 
Oeffnung.  Die  obere  Oeffnung  oder  der  Eingang  des  kleinen 
Beckens  (Apertura  pelvü  supenor),  wird  durch  eine  Linie  umsäumt, 
welche  vom  Promontorium,  und  vom  vorderen  Rande  der  Basis  des 
Kreuzbeins,  so  wie  von  den  beiden  Lineia  arcuatis  internis  der  Darm- 
beine, und  den  beiden  Schambeinkämmen  zusammengesetzt  wird. 
Sie  heisst,  indem  sie  aus  so  vielen  Stücken  besteht,  Linea  innomi- 
nata,  besser  Linea  terminalis ,  weil  sie  die  scharf  gezogene  Grenze 
zwischen  dem  grossen  und  kleinen  Becken  bildet.  Sie  hat  im  männ- 
lichen Gesclileclite,  wegen  stärkerem  Hervorragen  des  Promontorium, 
eine  mehr  herzförmige,  im  weiblichen  Geschlechte  eine  querovale  Ge- 
stalt. —  Die  untere  Oeffnung  oder  der  Ausgang  des  Beckens 
(Apertura  pelvis  inferior)  ist  kleiner  als  der  Eingang,  und  wird  von  der 
Spitze  und  den  Seitenrändern  des  Steissbeins,  den  unteren  Rändern 
der  Ugamenfa  tuberoBo-  und  spinoso-sacra ,  den  Höckern  und  auf- 
steigenden Aesten  der  Sitzbeine,  den  absteigenden  Aesten  der  Scham- 
beine, und  dem  Ligamentum  arcuatum  inferius  der  Schamfuge  gebildet. 
Ihre  Gestillt  ist  in  beiden  Geschlechtern  eine  herzförmige.  Die  stumpfe 
Spitze   des  Herzens  liegt  am  unteren   Rande  der  Symphysis  ossirnn 

puhis,  der  eimcefa  ^n«  wird  durch  den  VorBprung 

8ö» 


388  §•  147.  1>M  Harken  alM  OanxeM. 

(loH  StiMssbeiiiH  (M'zougt.  Durch  das  Zurückweichen  des  bewegliclien 
StciHHhciiis,  kann  (l<;i*  «gerade  Durchmesser  dieser  Oeffnung  bedeutend 
vorgWiHstM't  wenhiH,  wodurch  ihre  Gestalt  rhombisch  viereckig  w^rd. 
Denkt  iiuxn  sich  von  einem  Sitzknorren  zum  andern  eine  gerade 
Ijini(^  gezogen,  so  hcusst  der  vor  dieser  Linie  liegende  Theil  der 
Oeffnung:  Schambogen,  Arctts  oadum puhis,  welcher  im  weiblichen 
(iJeschlechte  weiter  ist  als  im  männlichen,  wo  der  Bogen  zum  Winkel 
wird,  als  Angtdus  ossium  puhis. 

Da  die  vordcM'o  Wand  des  kleinen  Beckens,  welche  durch  die 
Hymi)hy8C  der  Schambeine  und  ihre  nächste  Umgebung  gebildet 
wird,  viel  niedriger  ist  als  die  hintere,  so  werden  die  Ebenen 
der  oberen  und  unteren  Beckenöffnung  nicht  mit  einander  parallel 
Hein  können,  sondern  nach  vorn  convergiren.  Dasselbe  muss  von  je 
zwei  imaginän^n,  zwischen  der  oberen  und  unteren  Beckenöffnung 
gehegten  Durehschnittsebenen  gelten.  Würde  man  die  Mittelpunkte 
vieh^r  soleher  Durchschnittsebenen  durch  eine  Linie  verbinden,  so 
wUnl«^  diesem  kcMiie  gerade,  sondern  eine  krumme  Linie  sein,  deren 
Convexität  geg<Mi  das  Kreuzbein  sieht.  Diese  Linie  stellt  uns  die 
Hoekonaxe  dar,  welche  auch  Leitungs-  oder  Führungslinie 
heJHKt,  weil  in  ihrer  Richtung  der  Kopf  eines  zu  gebärenden  Kindes 
nach  auHH<'n  g(;trieben  wird,  und  die  Hand  des  Oeburtshelfers, 
odin*  seiiu^  nach  der  Beckenaxe  gekrümmte  Zange,  nach  dieser 
Linie  wirken. 

Ncibst  der  Beckenaxe  werden  in  der  oberen  und  unteren 
Hecke nöffnung,  so  wie  in  der  Höhle  des  Beckens  selbst,  mehrere 
f{\r  den  (ieburtshelfer  wichtige  Durchmesser  gezogen. 

n)  in  der  oberen  Beckenöffnung:  L  der  gerade  Durchmesser, 
IHamtifer  anfei'o-jyosteriar  s,  (Jonjugata ,  von  der  Mitte  des  Promon- 
torium zum  oberen  Rande  der  Stfmphf/»i8  puhis;  2.  der  quere, 
IHamv^tm*  transve^'siut ,  zwisclien  den  grössten  Abständen  der  Linea 
irmwninata;  3.  und  4.  die  beiden  schiefen,  Diametri  ohltqiii  s. 
Dev&nteri  (nach  Heinrich  Deventer,  einem  niederländischen  Ge- 
burtshelfer, so  benannt),  von  der  Sf/mph/sis  sacro-iltaca  einerseits, 
zum  entgegengesetzten    Tuhercidum  ilex)-qmhicum. 

h)  In  der  unteren  Beckenöffiiung  zieht  man:  L  den  geraden 
Durchmesser,  von  der  Steissbeinspitze  zum  unteren  Riinde  der  Sym- 
phfstH  puhw;  2.  den  queren,  zwischen  beiden  Sitzknorren.  Der 
quere  ist  constant,  der  gerade  aber  durch  die  Beweglichkeit  des 
Steissbeins  vergriisserbar.  Man  zieht  deshalb,  um  auch  für  den 
geraden  Durchmesser  eine  constante  (i rosse  zu  haben,  noch  einen 
zweiten,  von  der  Vereinigungsstc^lle  des  Kreuzbeins  mit  dem  Steiss- 
beine,  zum  unteren  Rande  der  Symphifsis  puhis, 

c)  In  der  Höhle  des  kleinen  Beckens  werden  gezogen:  L  der 
•ade   Durchmesser,    von    der   Verachmelzungsstelle   des   zweiten 


$.  148.  Unterschiede  de«  m&Dnliehen  und  weiblichen  Beckens.  389 

und  dritten  Kreiizbeinwirbels,  zur  Mitte  der  Sehambeinvereinigung, 
und  2.  der  quere,  welcher  die  Mittelpunkte  beider  Pfannen  ver- 
bindet. 

Um  eine  richtige  Vorstellung  von  der  Lage  des  Beckens  zu 
erhalten,  muss  man  es  so  stellen,  dass  die  Conjugata  mit  dem  Hori- 
zonte einen  Winkel  von  65^  bildet.  Dieser  Winkel  gicbt  die 
sogenannte  Neigung  des  Beckens,  und  variirt  sehr  wenig  bei  ver- 
schiedenen Individuen.  Bei  Männern  ist  er  um  einige  (Jrade  kleiner, 
als  bei  Weibern.  Hat  man  einem  Becken  diese  Neigung  gegeben, 
80  wird  man  rinden,  dass  die  Spitze  des  Steissbcins  ohngefahr  sieben 
Linien  höher  liegt,  als  der  untere  Rand  der  Schambeinfuge. 

Die  Neigung  des  Beckens,  oder  der  Winkel  der  Conjugata  mit  dem  Hori- 
zonte, wurde  lange  Zeit  für  viel  kleiner  als  6ö**  gelialten,  indem  man  die  Spitze 
des  Steissbeins  mit  dem  unteren  Rande  der  Scliamfuge  in  einer  Iiorizontalen  Linie 
liegend  annahm.  Dieser  irrigen  Vorstellung  über  die  Neigung  des  Heckens,  welche 
selbst  durch  die  besten  anatomischen  Abbildungen  verbreitet  wurde,  verdanken 
die  unrichtigen,  aber  nocli  immer  gebrauchten  Ausdriicke:  horizontaler  und  ab- 
steigender Ast  des  Schambeins,  aufsteigender  Ast  des  Sitzbeins,  etc.,  iliren  Ur8])nmg. 
Bei  einer  Neigung  von  6ö^  wird  der  horizontale  Ast  des  Scliambeins  eine  sehr 
abschüssige  Lage  einnehmen ;  der  absteigende  Ast  wird  stark  schief  nach  hinten 
und  der  aufsteigende  Sitzbeinast  nach  vorn  gerichtet  sein.  Dem  deutschen  Geburts- 
helfer Nägele  gebülirt  das  Verdienst,  durcli  Versuche  an  Lebenden,  die  wahre 
Neigung  des  Beckens  ausgemittelt  zu  liaben. 

Da  die  verschiedenen  Menschenracen  verschiedene  Scliädelformen  liaben, 
welche  schon  an  den  Kmbryonen  zu  erkennen  sind,  so  wird  sicli  auch  das  Becken 
nach  diesen  Kopfformen  richten,  und  einen  o^teologisclien  Kacenchurakter  dar- 
stellen. So  sticht  z.  B.  die  IMnj^sovale  Form  des  Beckens  iler  Negerinnen,  von  der 
mehr  querovalen  Form  bei  der  weissen  Kace  auffallend  ab. 


§.  148-  Unterschiede  des  männlichen  und  weiblichen  Beckens. 

Der  hcrvorragendöte  sexuale  Charakter  des  »Skeletes  liegt  in 
der  Bcckeiiform.  Kein  Thcil  des  Skoletes  bietet  so  aulTallende,  und, 
wegen  ihrer  Beziehungen  zum  (Jeburtsact,  so  wichtige  (ic^schlechts- 
verschiedenheiten  dar,  wie  das  Becken.  Dass  es  sich  hier  vorzugs- 
weise nur  um  das  kleine  Jiecken  handelt,  versteht  sich  von  selbst, 
denn  das  grosse  Becken  ist,  seiner  Weite  w(»gen,  von  keinem  be- 
stimmenden, liemmenden,  oder  fordernden  Kintiuss  auf  die  (leburt. 
Nur  im  kleinen  Becken  werden  Dimensionsänderungen  auf  den  Ab- 
lauf des  Oeburtsgeschäftes  wichtigen  f]intiuss  haben  köniu'n. 

Der  anatomische  Charakter  des  weiblichen  Beckens  liegt  in 
dessen  Weite  und  Kürze.  Das  mänidiche  Becken  charakterisirt 
sich  dagegen  vergleichungsweisc  durch  Enge  und  Höhe.  Der  Ce- 
burtsact  bedhigt  diesen  Unterschied.  Die  Bewegung  des  Kindskopfes 
durch  den  Beckenring  wird  leichter  durch  die  Weite  des  Beckens, 


390  §•  1A8>  unterschiede  dee  männlichen  und  weiblichen  Beckens. 

und  ist  schneller  beendigt  durch  die  Kürze  desselben.  Die  Weite 
des  kleinen  Beckens  nimmt  beim  Weibe  in  doppelter  Beziehung 
zu.  Erstens  gewinnt  die  ganze  Beckenhöhle  gleichmässig  mehr  an 
Umfang  als  die  männliche^  und  zweitens  geht  die  konische  Becken- 
form des  Mannes,  beim  Weibe  in  eine  mehr  cylindrische  über,  indem 
die  untere  Beckenapertur  w^eiter  wird. 

Der  grössere  Umfang  des  weiblichen  kleinen  Beckens  wird 
durch  die  grössere  Breite  des  Kreuzbeins,  so  wie  durch  die  grössere 
Länge  der  Linea  arcuata  interna,  der  beiden  Darmbeine,  und  der 
horizontalen  Schambeinäste  bedingt.  Die  mehr  cylindrische  Form 
desselben  resultirt  aus  dem  grösseren  Parallelismus  der  beim  Maime 
nach  unten  convergirenden  Sitzbeine.  Die  Pfannen  und  die  Sitz- 
knorren stehen  somit  im  Weibe  mehr  aus  einander,  und  der  Arcus 
ossium  pubia  wird  offener  und  weiter  sein  müssen,  als  im  männlichen 
Geschlechte.  Darauf  beruht  eben  der  im  vorhergegangenen  Para- 
graphe  angegebene  Unterschied  von  Anguhis  und  Arcus  ossium  puhis. 
Letzterer  wird  noch  dadurch  vergrössert,  dass  die  absteigenden 
Scham-  und  aufsteigenden  Sitzbeinäste  wie  um  ihre  Axe  gedreht 
erscheinen,  so  dass  ihre  inneren  Ränder  sich  nach  vorn  wenden. 
Das  flache  und  stark  nach  hinten  gerichtete  Kreuzbein  vergrössert 
ganz  vorzüglich  den  Raum  der  weiblichen  kleinen  Beckenhöhle, 
und  die  grosse  Beweglichkeit  des  Steissbeins  bedingt  ebenso  augen- 
fällig die  bedeutende  Erweiterungsfahigkeit  des  Beckenausganges 
während  des  Qeburtsactes.  Die  Kürze  des  weiblichen  Beckens  folgt 
aus  der  geringeren  Länge  der  Sitzbeine. 

Das  grosse  Becken  bietet  keine  so  erheblichen  Differenzen 
der  Durchmesser  dar,  und  zeichnet  sich  im  Weibe  nicht  so  sehr 
durch  seine  Weite,  als  durch  die  Schmalheit  und  Niedrigkeit  der 
Darmbeine,  vor  dem  männlichen  aus. 

Folgende  Tabelle  dient  zum  Vergleiche  der  wichtigsten  Durch- 
messer des  kleinen  Beckens  in  beiden  Geschlechtern. 

Apertura  pelvis  superior.                              im  Manne  im  Weibe 

Conjugata 4''  4"  3'" 

Querer  Durchmesser 4"  9'"  5'' 

Schiefer  Durchmesser 4"  6"'  4''  8'" 

Umfang  der  Linea  innominata      .     .     .  15"  16"  (V" 

Cavum  pelvis. 

Gerader  Durchmesser 4"  4"  6'" 

Querer  Durchmesser 4"  4"  3''' 

Senkrechter  Durchmesser  von  der  Mitte 

der   Linea    arcuata   zum    Tuber  ossis 

ischü 4"  3"  6'" 

Grösster  Umfang        13"  6"'       lo"  (3'" 


m 


m 


§.  14».  Obenchenkelboin.  391 

im  Manne       im  Weibe 

Äpertura  pelvis  inferior. 

Veränderlicher    gerader    Durchmesser, 

von  der  beweglichen  Spitze  des  Steiss- 

beins  znm  unteren  Rande  der  Schani- 

fuge 2"  9'"         3"  4^ 

Constanter  gerader  Durchmesser,    von 

der    unbeweglichen    Stjmpliysis   sacro- 

cocct/gea  ebendahin 3"  6'"         4"  3'^ 

Querdurchmesser        3"  4" 

Auf  die  Ausmittlung  der  Heckenweite  legt  der  Gebiirtslielfer  groösen  Werth, 
um  zu  entscheiden,  oh  eine  Geburt  ohne  Kimstliilfe  möglich  ist,  o<ier  nicht.  Von 
besonderer  Wichtigkeit  ist  eine  sufficiento  GrösMC  des  geraden  Durchmessers  des 
Beckeneinganges,  zwischen  Rchamfiige  und  Promontorium  (Conjufjata).  AHzu 
starkes  Hineinragen  dos  Promontorium  in  i\^n  Beckenraum,  macht  es  /.u  keinem 
Promontorium  ftoime  Mjjei,  und  die  Geburt  kann  durch  dasselbe  bis  zur  Unmöglich- 
keit erschw^ert  werden.  Dass  aber  HeU»st  bei  sehr  verengertem  Becken  einer 
Schwangeren,  durch  Zusammenraffen  der  letzten  Wehenkraft,  eine  normale  (leburt 
möglich  ist,  beweist  jener  Fall,  wo  bei  einer  Gebärenden  die  Unmöglichkeit  der 
Geburt  auf  natürlichem  Wege,  wegen  Verkrilppelung  des  Beckens,  ärztlich  aus- 
gemittelt  und  festgestellt,  sofort  der  Kaiserschnitt  als  das  einzige  Bettungsroittel 
für  Matter  und  Kind  resolvirt  wurde,  und  der  um  seine  Instrumente  nach  Hause 
eilende  Wundarzt,  bei  seiner  bewaffneten  Rückkunft,  die  Frau  —  eines  gesunden 
Knäbleins  genesen  fand. 

Der  veränderliche  gerade  Durchmesser  des  Beckenausganges,  kann  nach 
Meckel  bis  auf  fünf  Zoll  erweitert  werden,  welche  Erweiterung  jedoch  nicht  ganz 
und  gar  der  Geburt  zu  Gute  kommt,  weil  der  constante  Durchmesser  des  Ausganges 
nur  4"  3'"  misst.  Die  gegen  das  Ende  der  Schwangerschaft  eintretende  Auf- 
lockerung der  Symphysen  des  Beckens,  welche  von  Galen  schon  gekannt  fnon 
tantum  dÜatnn,  seil  et  aecari  tuto  pwisunl,  iit  iiUernis  succurratur),  von  P  i  n  e  a  u 
und  Hunter  constatirt  wurde,  bleibt  nicht  ohne  Einfluss  auf  die  Beckenerweite- 
rung. Bei  Frauen,  welche  schon  oft  geboren  haben,  sind  sämmtliche  Becken- 
durchmesser etwas  grösser,  und  die  Stpiiphysin  pubis  breiter,  als  bei  Frauen, 
welche  nicht  Mütter  wurden.  Man  will  bemerkt  haben,  dass  der  rechte  schiefe 
Durchmesser  des  Beckeneinganges,  immer  etwas  kürzer  als  der  linke  ist. 

Das  monsfhliohe  Becken  imterscheidet  sich  durch  seine  Breite,  und  durch 
die  Neigung  seiner  Darmbeine  nach  aussen,  vom  thierischen,  dessen  schmale  Ossa 
ilei  nicht  nach  aussen  umgelegt  sind.  Die  breiten,  cfmcaven,  und  nach  aussen 
geneigten  Darndieine,  können  einen  Theil  der  Last  der  Eingeweide  stützen,  und 
sprechen  somit  für  di<*   Hestimmimg  des  Menschen  zum  aufrechten  Gang^. 

An  den  IUM*k«n  n<Mig<'borener  Kinder  sind  die  (ieschlechtsunterschiede  noch 

0 

nicht  wahrzimehmiMj,  wohl  aber  die  Racenverschiedenheiten,  wie  denn  das  Becken 
eines  achtmonatlichen  Negi^rembryo  meiner  Sammlung,  die  längsovale  Form  schon 
deutlich  erkennen  lä^^t. 


§.  149.  Oberschenkelbein. 

Uas  Oberschenkelbein  rO«/ewwrw,  Femwr,  bei  den  Griechen 
iAT.pc;  und  oxsXo;,  daher  ^xeXiTC^)  igt  der  längste  und  stärkste  Rohren- 


392  §•  ^9*  Obersohenkelbeia. 

knochen,    und   überhaupt    der  grösste   Knochen   des   Skcletes.     Es 
entspricht  durch  seine  Lage  und  Gestalt  dem  Oberarmbein. 

Das  seiner  Länge  nach  etwas  nach  vom  gekrümmte  Mitte  1- 
stück  dieses  Knochens,  gleicht  einer  dreiseitig  prismatischen  Säule, 
mit  vorderer,  äusserer,  und  innerer  Fläche.  Von  den  drei  Winkchi, 
oder  Kanten,  ist  der  hintere  der  schärfste.  Er  heisst  Linea  aspera  s. 
Criata  femorns y  und  zeigt  zwei  Lefzen,  Labia,  welche  gegen  das 
obere  und  untere  Ende  des  Knochens,  als  zwei  Schenkel  aus  ein- 
ander weichen,  wodurch  diese  Enden,  besonders  das  untere,  vier- 
seitig werden.  In  oder  neben  der  Linea  aapera  liegen,  an  nicht 
genau  bestimmten  Stellen,  ein  oder  zwei,  nach  oben  dringende  Er- 
nährungslöcher. Ist  nur  Eines  vorhanden,  so  befindet  es  sich  gewöhn- 
lich unter  der  Längenmitte  der  Linea  a^pera. 

Das  obere  Endstück  des  Knochens  bildet  mit  dem  Mittel- 
stück einen  Winkel,  welcher  grösser  ist  als  ein  rechter,  und  trägt 
auf  einem,  von  vorn  nach  hinten  etwas  comprimirtcn,  langen  Halse 
(CoUum  femoi'is) ,  einen  sphärischen,  überknorpelten  Kopf  (Caput 
femoris),  auf  welchem  eine  kleine  rauhe  Grube  (Foveola)  zur  Inser- 
tion des  runden  Bandes  dient.  Der  Kopf  bildet  zwei  Drittel  einer  Kugel 
von  20 — 22  Linien  Durchmesser.  Die  grössere  Dicke  des  Schenkel- 
halses in  der  Richtung  von  oben  nach  unten  als  von  vorn  nach 
hinten,  lässt  ihn  den  Stössen  in  verticaler  Richtung,  wie  sie  beim 
Sprung,  beim  Lauf,  und  beim  Fall  auf  die  Füssc  vorkommen,  besser 
widerstehen,  als  den  von  vorn  nach  hinten  wirkenden  Brechgewalten. 
—  An  der  winkelig  geknickten  Uebergangsstelle  des  Halses  in  das 
Mittelatück,  ragen  zwei  Höcker,  als  sogenannte  Rollhügel  (Trochan- 
teres,  von  Tpo/c^,  Rad)  hervor,  welche  für  die  Drehmuskcln  des 
Schenkels  als  Hebelarme  oder  Speichen  dienen,  und  ihnen  ihre 
Wirkung  erleichtern.  Der  äussere  Rollhügel  übertrifft  den  inneren 
bedeutend  an  Grösse,  liegt  in  der  verlängerten  Axe  des  Mittelstücks, 
steht  also  gerade  nach  oben  gerichtet,  und  hat  an  seiner  inneren 
Seite  eine  Grube  —  Fossa  troclumterica»  Die  Spitze  des  grossen 
Trochanters  liegt  mit  dem  Mittelpunkte  des  Schenkclkopfes  in 
gleicher  Höhe,  Der  kleinere  innere  Rollhügel,  steht  etwas  tiefer, 
ist  mehr  nach  hinten  gerichtet,  und  wird  mit  dem  grossen  Roll- 
hügel durch  eine  vordere,  nur  schwach  angedeutete,  und  eine 
hintere,  scharf  aufgeworfene,  rauhe  Verbindungslinie  (Linea  Inier- 
trochanterica  anterior  et  posterior)  verbunden.  Der  äussere  Rollhügel 
lässt  sich  am  lebenden  Menschen,  durch  die  ihn  bedeckenden 
Weichtheile  hindurch,  sehr  gut  fühlen;  der  innere  niclit,  da  er  von  der 
Muskulatur  an  der  inneren  Seite  des  Schenkels  ganz  maskirt  wird. 

Das  untere  Endstück  des  Oberschenkelbeins  ähnelt  einer 
massigen  Rolle.  Dasselbe  zeigt  nämlich  zwei,  nur  an  ihren  unteren 
'^nd  vorderen  Gegenden  überknorpelte  Knorren^  Condylus  extemm  et 


§.  149.  Oberschenkelbein.  393 

bitemus.  Die  Ueberknorpclung  des  einen  Knorrens  setzt  sicli  an 
der  vorderen  Seite  in  jene  des  anderen  iimmterbroehen  fort,  und 
bildet  zwischen  diesen  beiden  Knorren  eine  sattelfiirmige  Vertief iinj^:, 
in  welcher  die  Kniescheibe  bei  den  Streck-  und  Reugcbewegungen 
des  Unterschenkels  auf-  und  niederg]eit<^t.  Hinten  sind  beide  Condyli 
durch  eine  tiefe,  nicht  überknorpelte  (jirubo  (Fossa  j^ojdttea  8,  inter- 
condißloidea)  getrennt.  Der  äussere  (.-ondylus  ragt  mehr  nacli  vorn 
heraus,  als  der  innere,  und  Ist  zugleich  um  drei  Linien  kürzer  und 
breiter,  als  letzterer.  Ein  senkn.^chtcr,  vr)n  vorn  nach  hinten  gehen- 
der Durchschnitt  jedes  Condylus,  gi(;bt  keinen  Kreisbogen,  sondern 
eiji  Segment  einer  Spirallinie.  An  der  SeitenHiiche  jedes  (V)ndylus 
bemerkt  man  eine  flache,  rauhe  Erhebung  (Tuherositas  condf/li),  fiir 
den  Ursprung  der  inneren  und  äusseren  Seitenbänder  des  Knie- 
gelenks. 

Merkel  (Modiciii.  (*entralblatt.  XI.)  beschrieh,  unter  dem  Namen  de» 
Schenkelsporn!»,  einen  im  Inneren  des  Schenkelhalses,  von  der  Corticalsiih^tanz 
desselben  ausstehenden,  in  die  schwammige  Substanz  leistenartig  vorspringenden, 
soliden  Fortsat/..  Er  entspringt  in  der  Gegend  des  kleinen  Troehanter,  und  ver- 
liert sicIi  an  der  vorderen  Seite  iles  Halses,  dicht  unter  dem  Kopfe,  nimmt  also 
eine  Lage  ein,  auf  welcher  bei  aufrechter  Köri)ersteUung  der  gn'isste  Druck  labtet. 
Da  er  bei  (Jreisen  durdi  Resorption  sdiwindet,  erklärt  sich  die  Häufigkeit  der 
Schenkelhalsbrüche  !>ei  ilnien. 

Wenn  die  Anatomie  den  Schenkelkopf  eine  Kugel  nennt,  so  ist  dieser 
Ausdruck  nicht  im  mathematischen  Sinne  zu  nehmen.  Die  Begrenzungslinie  eines 
beliebigen  Durchschnittes  des  Schenkelkopfes,  ist  keine  Kreislinie,  son<lern  nach 
Einigen  eine  Ellipse,  nach  Anderen  eine  aus  drei  Curven  (deren  jede  einen 
anderen  Hadius  hat)  zusammengesetzte,  krumme  Linie.  Nichtsdestoweniger  wird 
der  Ausdruck:  sphärischer  Kopf  des  Schenkelbeins,  noch  immer  von  Anatomen 
und  Chinirgen  gebraucht. 

Am  weiblichen  Schenkelbeine  erscheint  <ler  Hals  länger,  und  mehr  wag- 
recht, als  am  männlichem.  Da  das  Oberschenkelbein  nicht  vertical,  und  mit  seinem 
Gespann  nicht  ijaralbd  gegen  das  Knie  gerichtet  ist,  sondern  mit  ihm  convergirt, 
so  werden  die  Ki(;htnngen  beider  Schenkelbeine,  mit  der  Verbindungslinie  beider 
Pfannen  ein  Dreieck  bilden,  dessen  IJasis  beim  Weibe,  wegen  grösserer  Pfannen- 
distanz,  breiter  sein  muss,  als  beim  Manne.  Demzufolge  ist  der  Winkel,  welchen 
die  nach  unten  convergirenden  Schenkelbeine  bilden,  beim  Weibe  grösser  als 
beim  Manne.  —  Eine  die  Mittelpunkte  beider  Schenkelkr)pfe  verbindende  Linie, 
gie)»t  die  Axe  für  die  Beuge-  un<l  Streckbewegung  des  Stammes  auf  den  Köpfen 
der  Ober><'henkelbeine.  Der  Schwerj'unkt  des  menschlichen  Körpers  liegt,  beim 
Erwachsenen,  beiläulig  3''^  Pariser  Zoll  über  der  Mitte  dieser  Axe. 

Nur  beim  Menschen  und  einigen  Affen  übertrifft  das  Sehenkelbein  das 
Schienbein  an  Länge.  —  Das  längste  Schenkclbein  wird  im  Wiener  anat^miischen 
Museum  aufbewahrt.  Es  misst  Ü6  Zoll,  6  Linien.  Das  dazu  gehörige  Schienbein 
hat  eine  Länge  von  21  Zoll,  9  Linien,  imd  das  Hüftbein  (von  der  Mitte  der 
(Vista  bis  zum  Tuher  inchii)  von  12  Zoll.  Da»  im  anatomischen  Museum  zu  Mar- 
burg belintUiche  Schenkelbcin,  welches  für  das  grösste  galt,  misst  nur  23  Zoll, 
V/2  Pariser  I-.inien.  —  Bei  angeborener  Verrenkung  des  Hüftgelenks,  fehlt  zu- 
weilen am  Schenkelkopfe  das  Grübchen  für  das  runde  Band.  —  Ueber  einen  dem 
Procefaua  sfipracondyhideu^i  hunieri  analogen   Fortsatz  des  Schenkelbeins,   handelt 


394  §.  150.  Hüftgelenk. 

sehr  ausführlich  (t  ruber,  in  seiner  Monographie  des  CanaiiB  .supi-acandi/hidewt,  etc. 
Petersburg,  1856.  Ich  habe  ihn  an  Lebenden  beobachtet  (Sitzungsberichte  der 
kais.  Akad.  1858). 

Ein  Vergleich  des  Oberschenkelbeins  mit  dem  Oberarmbein  macht  es  er- 
sichtlich, dass  das  Caput  femorh  dem  faput  hnmeri,  das  lange  Collum  fenwrM 
dem  sehr  kurzen  Collum  analoinkum  humeri,  je  ein  Trochanter  einem  Tuherculum, 
das  untere  Ende  des  Oberschenkels  der  Trochlea  des  Oberarmbeins,  die  Tuhevosi- 
UUes  der  Cwidyli  femorin  den  Condyli  am  initeren  Ende  des  Oberarmbeins,  und 
die  FoMtta  poplUea  der  Focea  ftuprfUroi'Jilearut  poHtei-ior  entspricht.  Nur  die  Emi- 
iicntUt  capitata  des  Oberarmbeins,  ist  am  Oberschenkelbein  nicht  vertreten,  und 
die  dreikantigen  prismatisclien  Mittelstücke  beider  Knochen,  sind  gegen  einander 
um  180^  verdreht,  indem  der  Oberschenkel  eine  Fläche,  der  Oberarmknochen  aber 
eine  Kante  nach  vom  kehrt. 


§.  150.  Hüftgelenk. 

Das  Hüftgelenk  (Articulatio  coxae  s.  feniorisj  theilt  mit  dem 
Kniegelenk  den  Ruf  des  stärksten  und  festesten  Gelenkes  des 
menschliehen  Körpers.  Die  Bestimmung  der  unteren  Extremität, 
als  Stütze  des  Körpers  beim  aufrechten  Oange  zu  dienen,  machte 
eine  grössere  Festigkeit  des  Hüftgelenks,  und  eine  beschränktere 
Beweglichkeit  dessell)en  nothwendig,  als  am  Oberarmgelenk  gefunden 
wurde.  Das  tiefe  Eindringen  des  Schenkelkopfes  in  die  Pfannen- 
höhle, bedingt  jene  Form  beschränkter  Arthrodie,  welche  in  der 
Sprache  der  Techniker  Nussgelcnk  heisst.  Die  Tiefe  der  Pfanne 
wird  durch  einen  faser knorpeligen  Ring,  welcher  auf  dem 
knöcherneil  Pfannenrand  fest  aufsitzt,  und  in  einen  freien  scharfen 
Rand  auslauft,  vergrössert.  Dieser  Ring  (Limbiis  cartilaginetia  ace- 
tahuU)  geht  über  die  Incmira  acetahuU  brückenartig  weg,  und  ver- 
wandelt sie  in  ein  Loch,  durch  welches  Blutgefässe  in  die  Pfannen- 
höhle dringen.  —  Die  fibröse  Kapsel  des  (Gelenks  entspringt 
vom  rauhen  Umfange  des  knöchernen  Pfannenrandes,  schliesst  somit 
den  faserknorpeligeii  Ring  noch  ein,  und  befestigt  sich  vorn  an  der 
[jlnea  intertrochantenca  anterior,  hinten  dagegen  nicht  an  der  posteHor, 
sondern,  mit  nach  aufwärts  umgeschlagenen  Fasern,  an  die  hintere 
Fläche  des  Schenkelhalses  selbst,  und  zwar  in  geringer  Entfernung 
über  der  Linea  interfrochanfenca  posterior,  J)ieser  nach  innen  um- 
geschlagene, an  die  hintere  Fläche  des  Schenkelhalses  sich  inse- 
rirende  Theil  der  Kapsel,  ist  sehr  dünnwandig,  und  es  fehlt  nicht 
an  Autoren,  welche  die  hintere  Kapselwand  gar  nicht  an  den 
Knochen  adhäriren  lassen.  Dem  Gesagten  zufolge  enthält  die  fibröse 
Kapsel  des  Hüftgelenks,  nicht  blos  den  Kopf,  sondern  auch  den 
Hals  des  Schenkelbeins  in  sich,  und  zwar  seine  ganze  vordere 
Fläche,  und  den  grösseren  Theil  der  hinteren. 


*.  l'A  Hütuelonk  395 

Die  vordere  Kapsolwand  wird  durch  ein  von  der  Spina  (tnte- 
rior  inferior  oms  ilei  entsprinj^^endcs,  ungiMnoin  kräftipjcs,  vier  Linien 
dickes  Band  verstärkt  i  Jjtjmnmtnm  Berfini  s,  accc^sorium  antlcum), 
welches  theils  an  der  Linea  Intertntchautitrka  rmferitr  endigt,  tlieils 
mit  zwei,  um  den  Hals  des  Fenmr  lierum^xehenden,  und  sich  hinten 
zu  einer  Schlinge  vereinigenden  Schenkeln,  eiiu»  Art  Halsband 
fZona  oMcnlarls  Wrbt^rl)  bildet.  Dieses  Hand  adhärirt  nirgends  an  den 
Hals  selbst,  sondern  umschliesst  ihn  mir  lose.  1  )ie  Zona  beschrankt 
die  Streckung  di:6  Schenkels,  olin<*  .»^eine  Heugung  oder  Axendrehung 
zu  hemmen;  — i\i\i^  Llijfimentuni  ßvrthtl  hennnt  ebenfalls  die  Streckung, 
wohl  auch  die  Zuziehung  und  die  AuswärtsnJlung,  aber  nicht  die 
Einwärtsdrehung.  Der  Akademiker  .los.  Hertin  handelte  aus- 
führlicher als  seine  Vtirgänger,  von  der  Stärke  dieses  Bandes ,  in 
»einem  Traltt  cVu8t*'ol,  Paris,  17i)I,  Die  schauderhafte  Hinrichtung 
Damien's  in  Pari.«^,  ITf)!,  durch  Viertheilen,  bei  welcher  die  unteren 
Extremitäten  nicht  ausgerissen  werden  konnten,  sondern  im  Hüft- 
gelenk ausgeschnitten  werden  niussten,  gab  ihm  s|Ȋter  einen  neuen 
Beweis  der  enormen  Stärke  seines  Ligaments. 

Die  Sy novialka]>sel  überzieht  die  iinierc  Oberfläche  der 
tibrösen  Kapsel,  den  fjmhus  cartllatjltwiiHy  und  den  Hals  des  Schcnkel- 
beins:  die  ReibHächen  der  (ielenkknorpel  erhalten  von  ihr  keinen 
Ueberzug.  In  der  Ib'dile  des  <ielenks  liegt  das  runde  J^and  des 
Schenkelkopfes  ( Lhjamentum  ten-ifi,  Wi»lches  an  dor  Jndsura  acefahnli 
entspringt,  und,  bei  richtiger  Neigung  des  Beckens,  senkrecht 
zur  Grube  des  Schenkelkopfes  aufsteigt.  Das  Jiand  besteht  ober- 
flächlich aus  festeren  Fasei'schichten,  als  im  Inneren,  wo  nur  locker 
verbundene,  und  mit  P\'tt  untermischte  Bindegewebsbündel  auf- 
treten, deren  Querschnitt  tlem  Bande  den  Anschein  von  Hohlsein 
giebt.  Man  hat  dem  LhiaiatnUim  terts  den  Zweck  zugenmthet ,  die 
Zuziehung  des  Schenkels  zu  beschränken.  Dieses  ist  nicht  der 
Fall,  da  nach  Durchschneidung  des  Bandes  in  der  von  der  Becken- 
höhle aus  enitfneten  Pfanne,  die  Zuziehungsföhigkeit  des  Schenkels 
nicht  vermehrt  wird.  Das  einzige  Hemmungsmittel  der  Zuziehung 
liegt  im  l/KjauiHnfum  Berfhil,  Das  runde  Band  hätte ,  wenn  es  in 
die  Ib'dile  rlrs  <ielenkes  vorragen  würde,  «lurch  Reibung  viel  zu 
leiden  geliabt.  Ja  selbst  seine  Existenz  wäre  eompromittirt ,  wenn 
nicht  die  kn<M-pellos(*  Fovea  acefahull  zu  Steuer  Aufnahme  bereit 
stünde.  Ks  giebt  keine  vollkommene  ViMTcnkung  des  Hüftgelenks 
ohne  Zerreissung  d<^s  runden  Bandes.  Angeljorenes  Fehlen  des 
Bandes  gehört  als  Thierähidi(dikeit  CKlephant  und  lUiinoceros")  zu 
den  gWJssttMi  Seltenheiten. 

\Vc»diiroli  wird  der  ^k•}|vnkelkopf  in  d«'r  l't»iiiic  ff<*lialti*n?  —  Die  Lr.sun}? 
dieser  Frage,  die  wir  den  irntorsnchiiiiffcn  der  flchrflder  Weber  verdanken 
(Mechanik  der  menschlichen  GehwerkMQg«.  (Inuinfi^en,  1830),  führte  zu  dem  über< 


396  §.  150.  Hüftgelenk. 

rasclicnden  Resultate,  das»  das  Zusammenhalten  der  Knochen  im  Hüftgelenke  nnr 
vom  Dnick  der  Atmosphäre  abhängt;  eine  Wahrheit,  welche  auch  für  gewis.fe 
andere  Gelenke  in  gleicher  Weise  gilt.  —  Bei  den  Nussgelenken,  welche  der 
Mechaniker  baut,  hat  die  Pfanne,  wenigstens  in  einem  ihrer  Bogen,  mehr  als 
1800;  umfasst  somit  den  Kopf,  und  lässt  ihn  nicht  heraus.  Die  menschliche  Hüft- 
pfanne hält  in  keinem  ihrer  Bogen  melir  als  1 80^.  Der  Linihua  caHiUujineiis  geht 
wohl  über  den  g^össten  Kreis  des  Schenkelkopfes  hinaus,  kann  ihn  aber  nicht  in 
der  Pfanne  zurückhalten,  da  er  in  diesem  Falle  durch  die  Reibung  bald  abgenützt 
und  unfähig  gemacht  würde,  eine  so  schwere  Last,  wie  sie  in  der  ganzen  unteren 
Extremität  mit  ihren  Weichtheilen  gegeben  ist,  zu  tragen.  Die  Ka])sel  und  die 
Zmva  orhictdariü  können  am  Cadaver  zerschnitten  werden,  ohne  dass  der  Kopf  aus 
der  Pfanne  weicht.  Sie  nützen  also  für  das  Verbleiben  des  Schenkelkopfes  in 
der  Pfanne  eben  so  wenig,  wie  der  knöcherne  und  der  knorpelige  Pfannenrand. 
Um  den  £influ8s  des  Luftdrucks  bei  der  Fixirung  des  Schenkelkopfes  in  der 
Pfanne  einzusehen,  stelle  man  sich  einen  hohlen  Cylinder  vom  Durchmesser  der 
Pfanne  vor,  welcher  oben  abgerundet  und  zugeschlossen  ist.  In  die  untere  Oeff- 
nung  desselben  passe  man  den  Schenkelkopf  ein,  und  schliesse  sie  dadurch  luft- 
dicht Denkt  man  sich  nun  die  Luft  im  Cylinder  verdünnt  werden,  so  niuss  der 
Schenkelkopf  durch  den  äusseren  Luftdruck  aufsteigen,  und  ist  der  C-ylinder  ganz 
luftleer  geworden,  so  wird  der  Schenkelkopf  am  oberen,  pfannenähnlich  abge- 
rundeten Ende  desselben  anstehen.  Das  Stück  des  Cylinders,  welclies  der  Sclienkel- 
kopf  während  seines  Aufsteigens  durchlaufen  hat,  kann  man  nun  wegnehmen, 
und  durch  einen  faserknorpeligen  Ring  (Limtnui  cartüagineiis)  ersetzen,  welcher 
sich  um  den  Kopf  des  Schenkelbeins  genau  anlegt.  Bei  jedem  Versuch,  den 
Schenkel  aus  der  Pfanne  zu  ziehen,  und  dadurch  in  der  Pfanne  einen  luftleeren 
Baum  zu  bilden,  wird  der  äussere  Luftdruck  den  faserknorpeligen  Ring,  wie  ein 
Ventil,  um  den  Kopf  herum  andrücken,  und  das  Heraustreten  des  Kopfes  ver- 
hüten. Bohrt  man  in  den  Pfannengrund  vom  Becken  aus  ein  Loch,  so  hält  die 
einströmende  Luft  dem  äusseren  Luftdrucke  das  Gleichgewicht.  Der  Schenkel 
wird  nicht  mehr  durch  den  Luftdruck  balancirt,  sondern  tritt,  seiner  Schwere 
folgend,  so  weit  aus  der  Pfanne  heraus,  bis  er  vom  Linibus  cartiUujhietis  getragen 
wird.  Zerschneidet  man  diesen,  so  fallt  der  Scbenkelkopf  ganz  lieraus.  Wird 
der  Schenkelkopf  in  die  Pfanne  wieder  zurückgebracht,  und  das  Bohrloch  hierauf 
mit  dem  Finger  zugehalten,  so  balancirt  er  wieder,  wie  früher,  und  stürzt  nach 
Entfernung  des  Fingers  neuerdings  herab.  Da  die  Grösse  der  Kraft,  mit  welcher 
der  Luftdruck  auf  das  Hüftgelenk  wirkt,  gleich  ist  dem  Gewicht  einer  Queck- 
silbersäule von  der  Höhe  des  Barometerstandes,  und  dem  Umfange  der  auf  eine 
Ebene  projicirten  Pfannenarea,  so  lässt  sich  diese  Grösse  leicht  berechnen,  und 
wird  dem  Gewichte  der  unteren  Extremität  gleich  gefunden. 

Dem  Gesagten  zufolge  äquilibrirt  der  äussere  Luftdruck  den  Schenkel  im 
Hüftgelenk.  Der  Schenkel  schwingt  somit  bei  seinen  Bewegungen  wie  ein  Pendel 
ohne  Reibung,  und  die  Gesetze  der  Pendelschwingungen  finden  auf  die  lk»wegun- 
gen  de»  Schenkels  volle  Anwendung.  Sie  erklären  uns,  wanim  alle  Schritte  des- 
selben Menschen  gleich  lang  sind,  warum  kleine  Menschen  kurze  und  grosse 
Menschen  lange  Schritte  machen,  warum  die  Bewegungen  kleiner  Menschen  schnell 
und  hurtig,  jene  grosser  Menschen  gravitätisch  und  langsam  sind,  warum  ein 
kleiner  und  grosser  Mensch  Arm  in  Arm  nur  schwer  zusammengehen,  und  bald 
aus  dem  Schritt  fallen,  wanim  man  im  Militär  die  grossen  Leute  in  eigene  Com- 
pagnien,  und  die  grössten  davon  in  eine  Reihe  stellt,  n.  v.  a. 

Gegen  die  W« herrsche  Lehre  wurde  von  £.  Rose  Bedenken  erhoben 
(Mechanik  des  Hüftgelenks,  im  Archiv  fttr  Anat.  u.  Physiol.  1865).  Die  Schlüsse, 
za  welchen  Böse  durch  Versuch  und  Beobachtong   an  Kranken  gelangte,  sind: 


§.  151.  Knocheu  des  Unterschenkels.  397 

dass  der  Luftdruck  fi'ir  die  Fostifi^keit  des  Hüftgelenks  helang^lu»  ist,  und  dan», 
nebst  der  durch  die  Synovia  bedingten  AdhiUion  der  (ielenkfläclien,  vorzugsweise 
den  Muskeln  und  Bändern  das  Zusammenhalten  der  Knoclien  im  Hüftgelenke 
obliegt.  Wurde  nicht  weiter  beachtet  Beroicheningen  der  Anatomie  des  Hüftgelenks 
verdanken  wir  Srhmuh,  deutsche  Zeit'*c)ir.  f.  Chir.  Bd.  V,  und  Aftert,  med.  Central- 
bUtt,  Nr.  40. 


§.  151.  Knochen  des  Unterschenkels. 

DasSkelet  des  Untersclienkels  besteht  ans  zwei  langen  Knochen : 
dem  Schien-  und  Wadenbein,  welchen  ein  kurzer  und  dicker 
Knochen:  die  Kniescheibe,  als  Zugabe  beigesellt  ist. 

A,  Das  Schienbein,  Tibia  (Canna  major  cruris ;  xvt^ jxy;,  welches 
Wort  auch  fiir  Wa d e  und  Unterschenkel  gebraucht  wird,  wie  in 
xepixvvjfAi^,  Grainasche  und  Beinschiene),  ist  der  grössere  der  beiden 
Knochen  des  Unterschenkels,  und,  nächst  dem  Schenkelbein,  der  grüsste 
Röhrenknochen.  Seine  Gestalt  gleicht  einer  Schalmeie,  deren  Mund- 
stück der  gleich  zu  erwähnende  Knöcliel  vorstellt,  daher  der  lateinische 
Name  libia  (tibiis  canere).  Die  nuirklosen  Schienbeine  grosser  Vögel 
wurden  besonders  gerne  zu  Pfeifen  verwendet,  wie  jetzt  noch  die 
Vogelsteller  ihre  Lockpfeifchen  aus  den  Schienbeinen  der  (iänse 
bereiten.  —  Das  Schienbein  bildet  die  eigentliche  knöchenic 
Stütze  des  Unterschenkels,  und  übertrifft  das  an  seiner  äusseren 
Seite  liegende  Wadenbein,  viermal  an  Älasse  und  Gewicht.  Sein 
Mittel  stück  ist,  wie  bei  allen  bisher  abgehandelten  langen  Knochen, 
eine  dreiseitige  Säule.  Die  vordere,  besonders  scharfe  Kante,  heisst 
Schienbeinkamm,  Crista  tlbixie.  Sie  kann  am  lebenden  Menschen 
durch  die  Haut  hindurch  gefühlt  Averden.  Minder  scharf  ist  die 
äussere,  und  am  stumpfsten  die  innere  Kante.  Die  hintere 
Fläche,  zeigt  in  ihrem  obersten  Theilc  die  rauhe,  schief  von  aussen 
und  oben,  nach  innen  und  unten  laufende  Linea  popUtea.  Neben 
dem  unteren  Ende  dieser  Linie  Hegt,  nach  der  äusseren  Kante  zu, 
das  grösste  aller  Eniährungslöcher,  welches  schief  abwärts  in  den 
Knochen  dringt.  J)ie  äussere  Fläche  ist  der  Länge  nach  schwach 
concav,  die  innere  etwas  convex.  Letztere  ist  durch  die  Haut  hin- 
durch in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  leicht  zu  fühlen.  Das  obere 
Ende  breitet  sieli  wie  ein  Säulenknauf  in  die  zwei  seitlich  vor- 
springenden Schien lieinknorren  (Condt/li  tibiae)  aus,  welche  an 
ihrer  oberen  Fläche  nur  sehr  seichte  Gelenktlächen  besitzen.  Die 
Gelenktiäche  des  inneren  (^ondylus  ist  etwas  tiefer  ausgehöhlt,  und 
steht  zugleich  etwas  höher,  als  die  äussere.  Zwischen  beiden  (iehink- 
tlächen  liegt  eine,  in  zwei  stumpfe  Spitzen  getheilte  Erhabenheit 
(Eminentia  intercondylaidea).  Vor  und  hinter  derselben  liegen  rauhe 
Stellen  fUr  die  Anb-  '"«'  d«»  Kniegelenks.  Jeden 


398  §•  151.  Knochen  des  Untercchenkels. 

Condylus  umgicbt  ein  breiter,  senkrecht  abfallender,  poröser  Rand. 
Unter  der  vorderen  Verbindungsstelle  beider  Ränder,  bemerkt  man 
den  Schienbein  Stachel  (Spina,  besser  Tuberosltas  tiblae) ,  als 
Ausgangspunkt  der  vorderen  Kante  des  Mittelstücks.  Am  hinteren 
seitlichen  Umfange  des  äusseren  Condylus,  sieht  man  eine  rundliclui, 
kleine,  schräg  nach  abwärts  sehende  Gelenkfläche,  für  das  Köpfchen 
des  Wadenbeins.  —  Das  untere  Ende  hat  eine  viereckige,  nach 
abwärts  schauende,  von  vorn  nach  hinten  concave  Gelenkfläche, 
welche  nach  innen  durch  einen  kurzen,  aber  breiten  und  starken 
Fortsatz,  den  inneren  Knöchel,  Malleolus  internus,  begrenzt  wird, 
dessen  Gelenkfläche  mit  der  ersteren  fast  einen  rechten  Winkel 
bildet.  An  der  hinteren  Gegend  des  inneren  Knöchels,  verläuft 
eine  verticale  Furche  für  die  Sehnen  des  hinteren  Schienbeinmuskels 
und  des  langen  Zehenbeugers.  Dem  inneren  Knöchel  gegenüber, 
zeigt  das  untere  Ende  des  Schienbeins  an  seiner  äusseren  Seite, 
einen  zur  Aufnahme  des  unteren  Wadenbeinendes  dienenden  Aus- 
schnitt, Incüura  ßbularis. 

Das  Schienbein  nimmt  nur  bei  Individnen,  welche  in  ihrer  Jugend  Anlage 
zur  Khachitis  hatten,  eine  leise  Biegung  nach  vorn  und  aussen  an.  Seine  vordere 
Kante  ist  jedoch,  selbst  bei  vollkommen  gut  gebauten  Füssen,  an  der  oberen 
Hälfte  nach  innen,  an  der  unteren  nach  aussen  gebogen,  also  schwacli  S-  oder 
wellenförmig  gekrümmt. 

B,  Das  Wadenbein,  Fibula  (Canna  minor  ct-wm,  zepovy;),  associiii 
sich  als  schlanker  Nebenknochen  dem  Schienbein.  Es  hat  mit 
diesem  gleiche  Länge,  steht  aber  im  Ganzen  etwas  tiefer,,  so  dass 
sein  oberes  Ende  oder  Köpfchen  (Capitulum)  an  die  nach  abwärts 
gerichtete  kleine  Gelenkfläche  des  Condylus  externus  tlbiae,  nicht 
aber  an  den  Oberschenkelknochen  anstösst,  und  sein  unteres  Ende, 
welches  den  äusseren  Knöchel  (Malleolus  exteimus)  bildet,  weiter 
herabreicht,  als  der  Malleolus  internus  des  Schienbeins.  Am  Capi- 
tulum fibulae,  wird  ein  nach  oben  hei'vorragender  Höcker  bemerkt, 
als  Tubercuium  fibulae.  Die  dem  Schienbeine  zugekehrte ,  über- 
knorpelte,  innere  Fläche  des  äusseren  Knöchels,  steht  mit  der  ent- 
gegensehenden Fläche  des  inneren  Knöchels  parallel,  also  senkrecht, 
wodurch  eine  tief  einspringende  Gelenkhöhle  für  den  ersten  Fuss- 
wurzelknochen  (Sprungbein)  zu  Stande  kommt.  An  seinem  hinteren 
Kande,  welcher  seiner  Breite  wegen  besser  als  Fläche  zu  bezeichnen 
wäre,  bemerkt  man  die  zuweilen  nur  seicht  vertiefte  Furche  für 
die  Sehnen  des  langen  und  kurzen  Wadenbeinmuskels.  Das  Mittel- 
stück erscheint  als  ein  un regelmässig  vierkantiger  Schaft,  dessen 
vordere  schärfste  Kante  Crista  fibulae  heisst,  dessen  innere,  dem 
Schienbein  zugekehrte,  stumpfe  Kante,  dem  Ligamentum  interosseum 
zur  Auheftung  dient.  Gegen  das  Köpfchen  hinauf,  geht  die  vier- 
aeitige  Gestalt   des  Mittelstücks    in   eine   dreiseitige    über,    welche, 


§.  161.  Knochen  des  IJaterscheukels.  399 

ganz  nahe  am  Kiipfchcn,  durcli  Abrunduiin:  der  Kanten,  zum  Collum 
fibulae  wird. 

C  Die  Kniescheibe,  Patella  (Diminutiv  von  paUra,  ilaehe 
Schale),  heisst  auch  Mola,  von  {/.uXy;  bei  Aristoteles,  und  irifj-uXt; 
bei  Hippocrates,  Scutum  genu,  Os  ihyreoideSy  Kpüjonatis ,  und  bei 
den  Anatomen  des  Mittelalters:  Rotula  (woher  das  französische  la 
rotale,  und  das  spanische  arrodillarse,  sich  niederknien).  Sie 
wurde,  ihres  Verhältnisses  zur  Strecksehne  des  Unterschenkels 
wegen,  von  Bert  in  für  ein  wahres  Sesambein  erklärt,  —  le  grand 
08  sesamoride  de  la  Jambe.  Ihre  bei  beiden  CJeschh^chtcrn,  und  bei 
Individuen  eines  (fcschlechtes,  bemerkbare  Vorschiedenheit  an 
Grösse  und  Stärk<',  liängt  von  der  Intensität  <ler  Wirkimg  der 
Unter8clienkelstreek(»r  ab.  (Bei  Ajaa:  Telaiiwnius  lässt  sie  Pausa- 
nias  handgross  sein!)  Si<'  hält  ganz  gut  d(»n  VerghMch  mit  dem 
Olekranon  der  IJhia  aus,  da  sie,  wie  dieses,  den  Streeksehnen  zur 
Anheftung  dient.  Die  Patella  wäre  demnach  ein  frei  und  selbst- 
ständig gewordenes  Olekranon.  Diest's  wird  durch  den  alten  Namen 
der  Knieseh(Mbe:  (Jlecranon  mobile,  ganz  richtig  ausgedrückt,  wie 
denn  auch  das  Olekranon  der  riiui:  Patetla  Jijca  hiess.  Wie  das  Ole- 
kranon in  dem  Kinsclmitte  der  Trochlea  des  Oberarms  beim  Strecken 
und  Beugen  des  Vorderarms  auf  und  nieder  geht,  (;ben  so  gleitet 
die  Kniescheibe  in  der  Vertiefung  zwischen  beiden  Condj/li  femorls, 
beim  Strecken  und  Beugen  des  Unterschenkels,  auf  und  ab.  Ihre 
Gestalt  mag  herz-  oder  kastanienförmig  genannt  werden,  mit  oberer 
Basis,  und  unterer  Spitze,  welche  letztere  durch  ein  sehr  starkes 
Band  (Ligamentum  jyatellae  projrrium),  mit  der  Sjnna  tihiae  zusammen- 
hängt. Ihre  vordere;  Fläche  ist  convex  und  rauh.  Ihre  hintere 
besteht  aus  zwei  unter  einem  sehr  stumpfen  Giebel  zusammen- 
stossenden,  flach  concaven  GelenkfläclK^n,  einer  äusseren  grösseren, 
die  dem  (\mdijlu8  externus,  und  einer  inneren  kleineren,  die  dem 
Coiidf/lits  inteniuif  femoi^is  entgegensieht. 

Kleinere  Facettirnngen  tler  hinteren  Knief<clieibenfläclie  hier  anzuführen,  halte 
ich  für  eh'mentare  Vorträge  niclit  eröprieHslich.  AusfülirlicheH  liierilber  giebt  Robert, 
in  «einen:  Untersuchungen  über  die  Mechanik  des  Kniegelenks.  Oiessen,   1855. 

Das  Schien-  und  Wadenbein  werden  oben  durch  die  Arti- 
culatio  tibio-fibiüaris  mit  einander  zusammengelenkt,  wcdche  aus  einer 
sehr  straften  Kapsel  und  einem  vorderen  Vi^rstärkungsband  besteht. 
Das  Tuberculum  fibulae  ragt  übrr  das  ob«»n*  Ktulr  d<'M  Oelenks  zwei 
bis  drei  Linien  hinauf.  Schien-  und  \Vad«*nbrin  werden  überdies 
noch  der  Länge  nach,  durch  die  Membraiui  interosaea  zusammen- 
gehalten, und  an  ihren  unteren  Endrn,  durch  die  vorderen 
und  hinteren  Knöchelbänder  sehr  fest  verbunden,  welche  vom 
Malleolus  exißr^  u  und   hinteren  Ende  der  Ind- 


400  §•  152.  Kniegelenk. 

»ura  fibidaris  des  Schienbeins   laufen.     Beide  Knochen    können  des- 
halb ihre  wechselseitige  Lage  nur  in  geringem  Grade  ändern. 


§.  152.  Kniegelenk. 

Die  anatomische  Einrichtung  des  Kniegelenks  (Articidatlo  genu, 
Genundum,  vom  griechischen  ^ö'^ui)  stempelt  dasselbe  zum  Winkel- 
gelenk, erlaubt  aber  dem  Unterschenkel,  nebst  der  Beugung  und 
Streckung,  im  gebeugten  Zustande  noch  eine  Axendrehung  (Pro- 
nation und  Supination),  welche  bei  gestrecktem  Knie  nicht  möglich 
ist.  Wir  haben  es  somit,  wie  beim  Ellbogengelenk,  mit  einem 
Trocho-ginglymua  zu  thun.  Im  Ellbogengelenk  war  die  Winkel- 
bewegung und  die  Axendrehung  auf  verschiedene  Knochen  vertheilt; 
—  im  Kniegelenk,  wo  von  den  Knochen  des  Unterschenkels  nur 
das  Schienbein  als  theilnehmender  Knochen  auftritt,  muss  durch 
eine  besondere  Modification  der  Bänder,  die  Coexistenz  dieser 
beiden,  sonst  einander  ausschliessenden  Bewegungsarten,  an  Einem 
Knochen  möglich  gemacht  werden.  Im  Ellbogengelenke  wurde  das 
Maximum  der  Beugung  durch  das  Stemmen  des  Processus  coro- 
noideus  in  der  Fovea  supratrochlearis  anterior,  und  das  Maximum  der 
Streckung  durch  das  Stemmen  des  Olekranon  in  der  Fovea  supra- 
trochlearis posterior  bestimmt;  —  im  Kniegelenke  fehlen  am  Schien- 
bein solche  stemmende  Fortsätze,  und  doch  kann  man  den  Unter- 
schenkel nicht  auf  mehr  als  180^  strecken,  und  nur  mit  Mühe  so 
weit  beugen,  dass  die  Ferse  die  Hinterbacke  berührt.  Die  Ursache 
dieser  Beschränkung  liegt  einzig  und  allein  im  Bandmechanismus, 
welcher  an  diesem  Gelenke  eine  Einrichtung  besitzt,  wie  sie  bei 
keinem  anderen  Gelenke  vorkommt. 

Der  Bandapparat  des  Kniegelenks  besteht  aus  folgenden  Ein- 
zelnheiten : 

1.  Die  zwei  halbmondförmigen  Zwischenknorpel,  Fibro- 
cartilagtnes  interarticulares  (auch  semüunares,  falcatae,  hinataey  mem- 
scoideae).  Die  stark  convexe  Oberfläche  der  beiden  Condjfli  femorls 
würde  die  seichten  Gelenkflächen  der  Condyli  tibiae  nur  an  einem 
Punkte  berühren,  wenn  nicht,  durch  die  Einschaltung  der  Zwischen- 
knorpel, der  zwischen  den  Cofidf/li  fenwris  und  tihias  übrig  bleibende 
Kaum  ausgefüllt,  und  die  Berührungsfläche  beider  dadurch  ver- 
grössert  würde.  Jeder  Zwischenknorpel  hat  die  Gestalt  eines  0, 
eines  Halbmondes,  dessen  convexer  und  dicker  Rand  gegen  die 
fibröse  Kapsel,  dessen  concaver  schneidender  Rand  gegen  den 
Mittelpunkt  des  Gelenks  sieht.  Beide  Zwischenknorpel  sind  nicht 
gleich  gross.  Der  innere  ist  weniger  scharf  gekrümmt,  und  an 
seinem  convexen  Rande  mit  der  fibrösen  Kapsel  verwachsen.     Der 


§.  ir>S.  Kniegelenk.  401 

äusBorc  hat  eine  schärfere  Knimniiin|2:,  ist  an  seinem  convexen 
Rande  niedriger,  und  mit  der  fibrösen  Gelenkkapsel  nicht  ver- 
wachsen, sondern  nur  durch  eine  Falte  der  Svnovialhaut  mit  ihr 
verbunden.  Diese  Umstände  bedingen  es,  dass  der  äussere  Zwischen- 
knorpel sich  einer  grösseren  Verschiebbarkeit  erfreut,  als  der 
innere.  Die  durch  ein  kurzes  Querband  verbundenen  vorderen 
Enden  beider  Zwischenknorpel,  sind  in  der  Grube  vor  der  Emi- 
nentia  intercojidjjloidea  des  Schienbeins,  die  hinteren  Enden  aber, 
hinter  dieser  Erhabenheit,  durch  kurze  Bandfasern  befestigt. 

Die  Zwischenknorpel  vertiefen  die  seichten  OelenkflSchen  der  Schienbein- 
knorren,  nnd  adaptiren  »ie  der  Convexität  der  Schonkelbeinknorren,  —  sie  ver- 
gessen! die  Contactflächen  des  Gelenks,  und  verhüten  dadurch  die  Abnützung' 
der  sich  an  den  seichten  Schienbeinpfannen  reibenden  Condjli  des  Oberschenkels. 
Sie  vermehren  zugleich  die  Stabilität  des  Gelenks,  dämpfen  als  elastische  Zwischen- 
polster die  Gewalt  der  Strasse,  welche  das  Gelenk  beim  Spnmge  ausznhalten  hat, 
nnd  verhindern,  da  sie  den  luftleeren  Raum  des  Gelenks  ausfüllen,  eine  durch 
den  äusseren  Luftdruck  möglicher  Weise  zu  bewirkende  Einklemmung  der  Kapsel 
zwischen  den  auf  einander  sich  verschiebenden  Condyli  femorü  et  tif/iae, 

2.  Die  zwei  Kreuzbänder,  Ligamenta  cruciata,  liegen  in  der 
Höhle  des  Kniegelenks,  entspnngen  an  den  einander  zugekehrten, 
die  Incmira  intercondtjlmdea  begrenzenden ,  rauhen  Flächen  der 
Condyli  femons ,  und  inseriren  sich  in  den  Gruben  vor  und  hinter 
der  Eminentia  intercondtßoidea  tibiae.  Das  vordere  Kreuzband 
geht  vom  hinteren  Theile  der  inneren  rauhen  Fläche  des  Condtjlm 
extemus  femm^i^  zur  vorderen  Grube,  das  hintere  Kreuzband 
vom  vorderen  Theile  der  äusseren  rauhen  Fläche  des  Vondylus 
internus,  zur  hinteren.  Sie  kreuzen  sich  somit  wie  die  Schenkel 
eines  X.  Die  schiefe  Richtung  fiillt  jedoch  nicht  an  beiden  Kreuz- 
bändern gleich  gut  in  die  Augen,  indem  sich  die  Richtung  des 
hinteren  mehr  der  senkrechten  nähert. 

Beide  Kreuzbänder  sind  ansehnlich  (li<"k  und  stark,  und  halten  die  Festigkeit 
des  Gelenkes  aufrecht,  da»  hintere  liei  der  Streckung,  das  vordere  bei  der  Beugung 
des  Unterschenkels,  dessen  £inwärtH<irehung  zugleich  durch  das  luntere  be- 
schränkt wird. 

3.  Die  zwei  Seitenbänder,  Liffamenta  lateral ia,  liegen  ausser 
der  Kapsel.  Das  äussere  Seitenband  entspringt  von  der  Tube- 
rositas  des  äusseren  Schenkelknorrens ,  ist  rundlich,  und  befestigt 
sich  am  Köpfchen  des  Wadenbeins.  Das  innere  entspringt  an  der 
Tuberositas  des  inneren  Schcnkelknorrens,  ist  breiter,  länger  und 
stärker  als  das  äussere,  und  setzt  sich  zwei«  bis  drei  Zoll  unter 
dem  inneren  Condylus,  an  der  inneren  Kante  des  Schienbeins  fest. 

Wären   beide    CmulyH  fenwru   WalzenstUcke   mit   cylindrischer  Oberfläche, 

deren  Axe  durch  die  Ursprungsstellen   beider  K<;itenbftnder  geht,  so   würden  die 

Seitenbänder   bei   gebogenem   und   geitreckteio    Zustand«    des  Gelenks   dieselbe 

Spannung   haben,   und   die  Axendrahnng   dei    UntenckenkeU   bei  keiner  dieier 

Hjrtl,  Lrf»»— fc  A-  *•"*■'■'■  ".  AU.  26 


402  §.  IM.  Kniegelenk. 

beiden  Stellungen  gestatten.  Da  aber  die  Begrenzungslinie  der  Schenkelknorreii 
kein  Kreisbogen,  sondern  ein  Stück  einer  Spirale  ist,  als  deren  Endpunkt  wir  die 
Tuberonitwt  condyli  nehmen  können,  an  welcher  eben  die  Seitenbänder  entspringen, 
so  werden  diese  Urspningsstellen  der  beiden  Ligamenta  lateralia,  bei  gestrtM'ktoni 
Knie  höher  als  bei  gebeugtem  Knie  zu  stehen  kommen,  und  dadurch  die  Seiton- 
bftnder  nur  bei  gestrecktem  Knie  angespannt,  bei  gebogenem  dagegen  relax irt 
sein  müssen,  wodurch,  im  letzteren  Falle,  ein  Drehen  des  Schienbeins  um  seine 
Axe  möglich  wird. 

4.  Die  fibröse  Gelenkkapsel  miiss  einen  sehr  dünnwandigen 
und  weiten  Sack  bilden,  um  Beugung  und  Streckung,  so  wie  Drehung 
des  Unterschenkels,  nicht  zu  hindern.  Sie  entspringt  in  massiger 
Entfernung  über  den  überknorpelten  Flächen  der  CondifU  femoris, 
und  inserirt  sich  an  dem  rauhen  Umfange  beider  Schienbeinknorren. 
Fortsetzungen  der  Sehnen  der  Streckmuskeln  des  Unterschenkels 
verstilrken  sie  stellenweise.  An  ihrer  vorderen,  sehr  laxen  Wand, 
hat  sie  eine  Oeffnung,  welche  die  hintere  überknorpelte  Fläche  der 
Kniescheibe  aufnimmt,  und  durch  sie  geschlossen  wird.  Sie  ist  so 
dünn,  dass  man  sie  für  eine  blosse  Fortsetzung  der  Beinhaut  des 
Oberschenkels  zur  Tibia  angesehen  hat.  Nur  an  der  hinteren  und 
äusseren  Wand ,  wird  sie  durch  eingewebte  fibröse  Faserzüge 
verdickt. 

Das  bedeutendste  Verstürkungsbündel  der  Kapsel,  liegt  an  der  hinteren 
Wand  derselben,  und  wird  Knie  kehlen  band,  Liijamenhim  'popfifetim  ^  genannt. 
Es  entsteht  vom  Coiidylus  extemitM  feniorh ,  endigt  unter  dem  Coiulylu9  in/emujt 
tihiofif  und  hängt  auf  eine  in  der  Muskellehre  zu  erwähnende  Weise,  mit  den 
Sehnen  des  Mtisctüns  neinimenihranoaus ,  und  dem  äusseren  Ursprungskopfe  des 
üastrocnemius  zusammen.  Das  Hand  wird  dun*h  die  Action  dieser  Muskeln,  beim 
Beugen  des  Knies,  zugleich  mit  der  hinteren  Kapsel  wand  gespannt,  wodurch  die 
Kapselwand  einer  möglichen  Einklemmung  entrückt  wird.  Das  Verstärkunga- 
bündel  der  äusseren  Wand  ist  dünner,  entspringt  am  Kopfe  des  Wadenbeins,  und 
verliert  sich  aufwärtssteigend  in  der  Ka])sel.  Es  wurde  von  mehreren  Autoren  als 
Lifjanientuvi  laterale  extenium  hreve  dem  in  3  erwähnten  äusseren  Seitenbande  (als 
lonyum)  entgegengesetzt, 

5.  Die  mit  der  inneren  Fläche  der  fibrösen  Kapsel  innigst 
verwachsene  Synovialkapsel  bildet  zu  beiden  Seiten  der  Knie- 
scheibe zwei,  in  die  Höhle  des  Gelenks  hineinragende,  mit  Fett 
reichlich  gefüllte  Einstülpungen  oder  Falten,  die  Flügel  band  er, 
Ltgametita  alaria,  welche  von  der  Basis  der  Kniescheibe,  zu  den 
vorderen  Enden  der  Zwischenknorpel  herablaufen,  sich  hier  mit 
einander  verbinden,  und  in  den  Synovialüberzug  eines  dünnen,  aber 
ziemlich  resistenten  Bandes  übergehen,  welches  von  der  Anheftungs- 
stelle  des  vorderen  Kreuzbandes  am  Schienbein  entspringt,  und  sich 
in  der  Fossa  intercondyloidea  des  Oberschenkels  festsetzt.  Dieses 
Band  führt  den  altherkömmlichen  Namen  Ligamentum  mucosum. 

Ich  habe  bewiesen,  dass  durch  die  beiden  Flügelbänder,  der  vor  den  Liga- 
mentU    cmdatif    befindliehe    Raum    der    Kniegelenkhöhle ,    in    drei    vollkommen 


§.  152.  Enieg«lenk.  403 

nnabhnngige  Gelenkräume  g^theilt  wird,  deren  mittlerer  dem  Gelenke  der  Knie- 
scheibe mit  der  Rolle  des  Oberschenkels,  und  deren  seitliche  den  Gelenken 
zwischen  den  beiden  Schenkel-  und  Schienbeinknorren  angehören.  Die  Flügel- 
bänder fnnctioniren  flir  dieses  Gelenk  als  Ventile,  welche  das  Kniescheiben- 
gelenk, selbst  bei  seitlicher  Eröffnung  der  Kniegelenkkapsel,  dem  Einflüsse  des 
Luftdruckes  unterordnen,  und  ein  Ausheben  der  Kniescheibe  aus  der  Furche,  in 
welcher  sie  gleitet,  nicht  zulassen.  —  Auch  die  in  der  Höhle  des  Gelenks  ange- 
brachten Kreuzbänder,  besitzen  einen  von  der  Synovial membran  entlelmten  Ueber- 
zug.  Derselbe  geht  als  Falte  von  der  hinteren  Wand  der  Synovialis  aus,  und 
umhüllt  beide  Kreuzbänder,  welche  somit,  streng  genommen,  ausser  der  Höhle  der 
Synovialmembran,  aber  dennoch  innerhalb  der  Gelenkkapsel  liegen. 

6.  Die  Synovialkapscl  erzeugt,  nebst  den  in  5  erwähn- 
ten Einstülpungen,  eine  gewisse  Anzahl  Ausstülpungen. 
Man  bohre  in  die  Kniescheibe  ein  Loch,  ujid  fülle  durch  dieses, 
die  Kniegelenkhöhle  mit  erstarrender  Masse.  Es  werden  sich  da- 
durch drei  beutclförniige  Ausstülpungen  der  Synovialkapscl  auf- 
treiben, welche  sind:  1.  eine  obere,  unter  der  Sehne  des  Unter- 
schenkelstreckers liegende,  2.  eine  seitliche,  welche  sich  unter 
der  Sehne  des  Musculus  j^opliteiis  nach  aussen  wendet,  und  zuweilen 
mit  der  Synovialkapscl  des  Wadenbein  -  Schienbeingelenkes  com- 
municirt,  so  dass  diese  als  eine  Verlängerung  des  Kniegelenk- 
Synovialsacks  erscheint,  und  3.  eine  zweite  seitliche,  welche  sich 
zwischen  die  Sehne  des  Musculus  papllteus  und  das  äussere  Seiten- 
band einschiebt. 

Nach  G ruberes  genauen  Untersuchungen  (Prager  med.  Vierteljahresschrift. 
II.  Bd.  1.  Heft),  kommt  die  offene  Communication  der  Synovialkapscl  des  Knie- 
gelenks mit  jener  des  Wadenbein  -  Schienbeingelenks,  unter  160  Fällen  nur  eilf 
Mal  vor. 

Durch  Versuche  am  Cadaver  lassen  sich  folgende  Sätze  für 
die  Verwendung  der  Kniegelenkbänder  beweisen: 

a)  Die  fibröse  Kapsel  dient  nicht  als  Befestigungs- 
mittel der  Knochen  des  Kniegelenks.  Schneidet  man  an  einem 
präparirten  Kniegelenk  die  Seitenbänder  entzwei,  und  trennt  man 
durch  eine  dünne,  am  Seitenrande  der  Kniescheibe  in  die  Kapsel 
eingestochene  Messerklinge,  die  Kreuzbänder,  wodurch  also  die 
Kapsel,  ausser  der  kleinen  Stichöfiiiung ,  ganz  bleibt,  so  hat  man 
die  Festigkeit  des  Gelenks  im  gebogenen  und  gestreckten  Zustande 
total  vernichtet.  Der  Unterschenkel  entfernt  sich  durch  seine  Schwere 
vom  Oberschenkel,  so  weit  es  die  Schlaffheit  der  Kapsel  gestattet. 
—  Wurde  an  einem  anderen  Exemplare  die  Kapsel  ganz  entfernt, 
die  Seiten-  und  Kreuzbänder  aber  geschont,  so  bleibt  die  Festigkeit 
des  Gelenks  im  gebogenen  und  gestreckten  Zustande  dieselbe,  wie 
bei  unversehrter  Kapsel. 

b)  Die   Seitenbänder   bedingen   im   gestreckten,  aber 

nicht   im   icebogenen   Zustande   die   Festigkeit   des   Knie- 

26» 


404  §.  153.  Knochen  des  Fasses. 

gelenks.  Trennt  man  an  einem  Kniegelenk  die  Kreuzbänder  mit 
Schonung  der  Seitenbänder,  so  bemerkt  man  am  gestreckten  Knie 
keine  Verminderung  seiner  Festigkeit.  Je  mehr  man  es  aber  beugt, 
desto  mehr  beginnt  es  zu  schlottern,  der  Unterschenkel  entfernt  sich 
vom  Oberschenkel,  und  kann  um  sich  selbst  gedreht  werden.  Da 
das  innere  Seitenband  breiter  und  stärker  gespannt  ist  als  das 
äussere,  so  wird,  bei  der  Drehung  des  Unterschenkels,  nur  der 
äussere  Schienbeinknorren  einen  Kreisbogen  beschreiben,  dessen 
Centrum  der  Mittelpunkt  des  inneren  Knorren  bildet. 

c)  Die  Kreuzbänder  bedingen  theils  im  gebogenen, 
theils  im  gestreckten  Zustande,  die  Festigkeit  des  Knie- 
gelenks. Werden  die  Seitenbänder  durchgeschnitten,  die  Kreuz- 
bänder aber  nicht,  so  klappert  das  Kniegelenk,  und  der  Unter- 
schenkel lässt  sich  nach  aussen  drehen.  Diese  Drehung  nach  aussen 
erfolgt,  im  gebogenen  Zustande  des  Gelenks,  von  selbst,  indem  die 
Kreuzbänder  sich  von  einander  abzuwickeln,  und  parallel  zu  werden 
streben.  Nach  innen  kann  sich  der  Unterschenkel  nicht  drehen,  da 
hiebei  die  Kreuzbänder  sich  schraubenförmig  um  einander  winden 
müssten.  Das  hintere  Kreuzband  liefert  zugleich  ein  einflussreiches 
Hemmungsmittel  der  Streckung  des  Unterschenkels,  welcher,  wenn 
dieses  Band  zerschnitten  wird,  sich  auf  mehr  als  180®  strecken  lässt. 
Das  vordere  Kreuzband  bezeichnet  durch  seine  aufs  Höchste  gediehene 
Spannung  die  Grenze,  über  welche  hinaus  die  Beugung  des  Unter- 
schenkels nicht  mehr  gesteigert  werden  kann.  —  Der  Einfluss  der 
Kreuzbänder  auf  die  Limitirung  der  Streckung  und  Beugung  lässt 
sich  nur  dann  verstehen,  wenn  man  in  Anschlag  bringt,  dass  das 
Kniegelenk  keine  feststehende  Drehungsaxe  hat,  sondern  Unter- 
schenkel- und  Oberschenkelknorren  bei  den  Winkelbewegungen  auf 
einander  nicht  blos  rollen,  sondern  auch  schleifen,  was  nothwendig 
eine  Aendcrung  in  der  Spannung  der  Ligamenta  cruciata  herbeiführt. 

lieber  das  Kniegelenk  handeln  anefUhrlicb :  //.  Met/er,  in  MüUer^s  Archiv, 
1853.  pag.  497,  und  üoftert,  in  seinen  früher  citirten  Untersuchungen.  Details  über 
den  iiandapparat  suche  bei  Heide,  in  dessen  Bänderlelire,  pag.  132,  und  bei  Henke, 
Zeitschrift  für  rat.  Med.  3.  Reihe,  14.  IJd.  —  Den  lateinischen  Ausdruck:  genu, 
leiten  die  Etymologen  von  ffena,  Wange,  ab,  quod  genua  in  läero  nnt  genis 
appoaita,  Isidcr,  lib.  11,  cap,  2, 


§.  153.  Knochen  des  Fusses. 

Die  Knochen  des  Fusses  (Oaaa  pedis)  werden,  entsprechend 
den  Knochen  der  Hand,  in  die  Knochen  der  Fusswurzel,  des 
Mittelfusses,  und  der  Zehen  eingetheilt. 


§.  153.  Knochen  des  Fasses.  405 

A,  Erste  AbtJieäung,     KnocJwn  der  Fusswurzel. 

Die  Fusswurzel,  Tarsus  (Homer  gebraucht  Tapao^  für  Platt- 
fuss),  bildet  den  grössten  Bestandtheil,  und  zwar  die  ganze  hintere 
Hälfte  des  Fussskeletes.  Sie  besteht  aus  sieben  kurzen  und  dicken 
Knochen  (Ossa  tarsl),  welche  aber  nicht  mehr  in  zwei  transversale 
Reihen,  wie  die  Handwurzelknochen,  geordnet  sind,  sondern  theils 
über,  theils  der  Länge  und  Quere  nach  neben  einander  zu  liegen 
kommen. 

1.    Das   Sprungbein,    Talus,    abgekürzt    für    Taxillus ,    oder 
Astragaltts,  auch  Os  tesserae  s.  balistae,  hat  seinen  griechischen  Namen 
von  der  Gestalt  seines  Körpers,  welcher  so  ziemlich  einem  Würfel 
gleicht  (daxpavaXo;,  lateinisch  talus,  Würfel,  —  acripaYaXf^siv,  mit  Würfeln 
spielen,  bei  Homer).    Es  ist  der  einzige  Fusswurzelknochen,  welcher 
mit  dem  Unterschenkel  articulirt,  und  wird  in  den  Körper,  Hals 
und  Kopf  cingetheilt.     Der  Körper   zeigt   sich    uns  als  ein  würfel- 
formiges Knochenstück,  welches  in  die  Vertiefung  zwischen  beiden 
Knöcheln  hineinpasst.    Die  obere,   durchaus  überknorpeltc  Fläche, 
erscheint  von   vorn   nach    i*ückwärts   convex,   von    einer   Seite   zur 
anderen  massig  concav.     Am  vorderen  Rande   ist  die  obere  Fläche 
breiter   als  am   hinteren.     Ihre  Ausdehnung   von  vorn  nach  hinten, 
übertrifft  dieselbe  Ausdehnung  der   an    sie    stossenden  Gelenkfläche 
des  Schienbeins,   so  dass  bei  einer  mittleren  Stellung  des  Gelenkes 
(zwischen  Maximum  der  Beugung  und  Streckung),   ein   Stück    der 
Sprungbeingelenkfläche  am  vorderen,  und  ein  ebensolches  am  hinteren 
Rande  frei  bleibt,  d.  h.  mit  dem  Schienbein  nicht  in  Contact  steht. 
—   Die    überknorpeltc    obere   Fläche    des    Sprungbeinkörpers    geht 
ununterbrochen  in  die  seitlichen  Gelenkflächen  über,  von  welchen 
die  äussere  perpendiculär  abfallt,  länger,  und  in  senkrechter  und 
querer  Richtung  concav  erscheint;  die  innere  aber  kürzer  ist,  und 
mit   der   oberen    keinen    rechten,    sondern    einen   stumpfen  Winkel 
bildet.   —   Die    untere   Gelenkfläche    des    Körpers    vermittelt    die 
Verbindung  des  Sprungbeins  mit  dem  Fersenbein.    Sie  ist  ein  Stück 
einer  cylindrischen  Hohlfläche,  deren  längster  Durchmesser  schräge 
von  innen  nach   aussen   und    vorn   geht.    —   Die    vordere    Fläche 
verlängert   sich   zum    kurzen,   aber   dicken,    etwas   nach    innen   ge- 
richteten Halse  des  Sprungbeins,  welcher  den  mit  einer  sphärisch 
gekrümmten  Gclenkfläche  versehenen  Kopf  trägt,  dessen  Knorpel- 
überzug sich  ununterbrochen   in  eine  kleine,    an   der  unteren  Seite 
des  Halses  beflndliche,  plane  Gclenkfläche  fortsetzt.    Zwischen  dieser 
Gelenkfläche  des  Halses  und  der  unteren  Gelenkfläche  des  Körpers 
läuft   eine   tiefe   rauhe  Rinne   (Sulcus  tali),  schief  von   innen   und 
hinten  nach  vorj 


406  §•  1^9*  Knochen  des  Fasses. 

Bei  hinterer  Ansicht  des  Sprungbeinkörpers  bemerkt  man,  zwi.-*chen  der 
oberen  und  unteren  Gelenkfläche  desselben,  eine  Furche  schief  nach  unten  und 
innen  herabsteigen.  Sie  nimmt  die  Sehne  des  langen  Beugers  der  grossen  Zehe  auf. 

Der  als  Talus  und  Astragabia  benannte  Würfel  der  Griechen  und  Römer 
war  oblong,  an  seinen  beiden  Endflächen  convex,  und  hatte  nur  auf  seinen  vier 
platten  Seiten  Augen,  während  der  als  xußo;,  nihiis,  gebräuchliche  Würfel,  deren 
auf  allen  sechs  Seiten  führte.  —  Das  Sprungbein  der  Hausthiere,  insbesondere  des 
Schafes,  wurde,  seiner  Gestalt  wegen,  ganz  besonders  zum  Würfeln  gebraucht, 
erhielt  deshalb  den  Namen  Talus  oder  Astratjalu«,  welcher  erst  später  auch  auf 
das  menschliche  Sprungbein  übertragen  wurde. 

Auch  Knöchel  imd  Ferse  hiessen  bei  den  Römern  Tabut,  daher  Talipes, 
auf  den  Knöcheln  gehend,  d.  i.  Klurapfuss,  und  a  vertice  ad  lalum,  vom  Scheitel 
bis  zur  Ferse,  —  talon  der  Franzosen. 

2.  Das  Fersenbein,  Calcaneus,  von  calco,  treten,  Os  calcis 
(icTfipva  bei  Hippocrates,  verwandt  mit  Tuspva,  woher  pemiones,  die 
Frostbeulen  am  Fuss),  der  grösste  Fusswurzelknochen,  liegt  unter 
dem  Sprungbein,  reicht  nach  vorn  eben  so  weit  wie  dieses,  über- 
ragt es  aber  rückwärts  beträchtlich,  wodurch  der  Fersenvorsprung 
(die  Hacke,  calx  oder  calcar  pedts)  gegeben  wird,  auf  welchem 
die  Last  des  Körpers  beim  Stehen  und  beim  Auftreten  zum  grössten 
Theile  aufruht.  Es  ist  länglich  viereckig,  zugleich  seitlich  com- 
primirt,  und  endigt  nach  hinten  als  Fersen  hock  er,  Tuherositas 
cdlcaneij  an  welchem  sich  gewöhnlich  noch  zwei  nach  unten  sehende, 
ungleich  grosse  Hervorragungen  bemerkbar  machen,  deren  innere 
etwas  grösser  ist,  als  die  äussere.  An  seiner  oberen  Fläche 
sieht  man  in  der  Mitte  die  längliche,  concave,  schief  von  innen 
nach  aussen  und  vorn  gerichtete  Gelenkfläche  zur  Verbindimg  mit 
der  entsprechenden  unteren  Gelenkfläche  des  Sprungbeinkörpers. 
Vor  ihr  liegt  eine  rauhe  Furche  (Svlcus  calcanei)  ^  welche  mit  der 
ähnlichen,  an  der  unteren  Gegend  des  Sprungbeins  erwähnten,  den 
Sinus  tarsi  bildet.  Einwärts  von  dieser  Furche,  überragt  ein  kurzer, 
aber  starker,  nach  innen  gerichteter  Fortsatz  (Sustentacidum  8.  Pro- 
cessus lateralis),  die  innere  Fläche  des  Knochens,  und  bildet  mit 
dieser  eine  Art  Hohlkehle,  in  welcher  die  Muskeln,  Gefasse  und 
Nerven,  vom  Unterschenkel  zum  Plattfuss  ziehen. 

Das  Sustentaculum  führt  an  seiner  oberen  Fläche  einen  Knorpelbeleg,  um 
mit  der  Gelenkflächc  an  der  unteren  Seite  des  Spnmgbeinhalses  zu  articuliren. 
Am  vorderen  inneren  Winkel  der  oberen  Fläche,  liegt  zuweilen  noch  eine  Neben- 
gelenkfläche,  welche  einen  Theil  der  unteren  Peripherie  des  Sprungbeinkopfes 
stützt,  und  entweder  vollkommen  isolirt  int,  oder  mit  der  Gelenkfläche  des  Susten- 
taculum zusammenfliesst  Camper'»  Vermuthung,  dass  diese  Verschmelzung  bei 
Frauenzimmern  vorkomme,  welche,  wie  es  zu  seiner  Zeit  üblich  war,  Stöckelschuhe 
mit  hohen  Absätzen  trugen,  wird  dadurch  widerlegt,  dass  sie  auch  heut  zu  Tage, 
wo  die  Fussbekloidung  der  Damen  zweckmässiger  geworden,  nicht  selten  vor- 
kommt, und  auch  an  ägyptischen  Mumien,  an  einem  oder  an  beiden  Füssen,  an- 
getroffen wird.  —  Da  man  beim  Schrittmachen  mit  der  Ferse  zuerst,  und  gewaltig 
auftritt,    wird   alles  Schuhwerk    an   der  Ferse   viel  stärker  und  dicker  gearbeitet 


§.  153.  Knocheu  des  Fusses.  407 

sein  inüj*«en  (Absätze),   als   weiter  vom,   um   einer   schnellen    Abnützung  zuvorzu- 
kommen.    Der  lateinische  Name  caiveiut  für  Schuh,  hängt  hiemit  zusammen. 

Die  vordere  Fläche  des  Fersenbeins  ist  die  kleinste,  unrcgel- 
mässig  viereckig,  und  ganz  überknorpelt,  zur  Verbindung  mit  dem 
Würfelbein.  Die  äussere  und  innere  Fläche  besitzen,  wie  die 
untere,  keine  Gelenkflächen.  Die  untere  Fläche  ist  schmäler  als 
die  obere ,  massig  concav ,  und  gegen  ihr  vorderes  Ende  hin ,  zu 
einer  Quenvulst  erhöht. 

An  der  äusseren  Fläche  fällt  sehr  oft  ein  schief  nach  vorn  und  unten  ge- 
richteter Vorsprung  auf,  hinter  welchem  eine  Furche  bemerklich  wird,  in  welcher 
die  Sehne  des  MiiMcuhts  peronaeuft  lowju«  ihren  Verlauf  angewiesen  liat.  Ausnahms- 
weise wird  dieser  Vorsprung  so  hoch,  dass  er  den  Namen  eines  Processus  infra- 
malleolarls  calcanei,  welchen  ich  ihm  beigelegt  habe,  vollkommen  verdient.  Dieser 
Processus  ist  dann  immer  an  seiner  hinteren  Fläche,  auf  welcher  die  Sehne  des 
langen  Wadenbeinmnskels  gleitet,  mit  Knorpel  incrustirt.  Ich  habe  ihn  so  lang 
werden  gesehen,  dass  er  die  ihn  bedeckende  Haut  als  einen  Hügel  emporhob,  an 
dessen  Spitze  ein  durch  die  Reibung  mit  dem  Leder  der  Fussbekleidung  gebildetes 
Hühnerauge  thronte.  Der  Fortsatz  verdient  die  Beachtung  der  Wundärzte  und 
ge>viss  auch  der  Schuhmacher.  Ausführlicher  hierüber,  und  über  andere  Fortsätze 
dieser  Art,  handelt  mein  Aufsatz:  Ueber  die  Trochlearfortsätze  der  menschlichen 
Knochen,  in  den  Denkschriften  der  kais.  Akad.  18.  Bd. 

3.  Das  Kahnbein,  Os  scaphoideum  s.  navtcidare,  liegt  am 
inneren  Fussrande,  zwischen  dem  Kopfe  des  Spiimgbeins  und  den 
drei  Keilbeinen.  Seine  hintere  Fläche  nimmt  in  einer  tiefen 
Höhlung  das  Caput  tali  auf;  seine  vordere  convexe  Fläche  hat 
drei  ziemlich  ebene  Facetten,  fiir  die  Anlagerung  der  Keilbeine; 
die  convexe  Dorsal-  und  die  concavc  Plantargegend  sind  rauh, 
und  am  inneren  Rande  der  letzteren  ragt  die  stumpfe  Tuberositas 
0S818  navicidaris  hervor,  hinter  welcher  eine  Rinne  (Svlcus  ossis  navi- 
cidaris)  verläuft. 

4.  5.  6.  Die  drei  Keilbeine,  Ossa  cundforniia,  liegen  vor  dem 
Kahnbein,  mit  dessen  drei  Facetten  sie  aii;iculiren,  und  w'erden  vom 
inneren  Fussrande  nach  aussen  gezählt.  Das  erste  oder  innere 
Keilbein  (Entocuneiforme)  ist  das  grösste.  Die  stumpfe  Schneide 
des  Keils  sieht  gegen  den  Rücken  des  Fusses,  somit  die  rauhe 
Basis  gegen  die  Plantarfläche.  Die  innere  Fläche  ist  rauh,  und 
von  oben  nach  unten  sanft  convex,  die  äussere  concav,  und  gegen 
den  oberen,  so  wie  gegen  den  hinteren  Rand  mit  einer  schmalen, 
zungentbrmigen  Gelenkfläche  (einer  Fortsetzung  der  hinteren)  zur 
Anlagerung  des  zweiten  Keilbeins,  versehen.  Die  vordere  über- 
knorpelte  Fläche  erscheint  bohnenförmig,  mit  nach  innen  gerichteter 
Convcxität,  und  vermittelt  die  Verbindung  mit  dem  Mittelfuss- 
knochen  der  grossen  Zehe.  —  Das  zweite  oder  mittlere  Keil- 
bein (Mesocunelforme) ,  das  kleinste  von  den  dreien,  kehrt  seine 
Schneide  nach  der  Plantarfläehe^  somit  seine  Basis  nach  oben.  Es 
stösßt  hinten  an  die  mittlere  Facet*'  '  d  vom   an 


408  §•  ^^-  Knochen  des  Fasses. 

den  Mittelfussknochen  der  zweiten  Zehe.  Seine  Seitenflächen  sind 
theils  rauh,  theils  mit  Knorpel  geglättet,  zur  beweglichen  Verbindung 
mit  den  angrenzenden  Nachbarn.  —  Das  dritte  oder  äussere 
Keilbein  (Ectocuneiforme) ,  der  Grösse  nach  das  mittlere,  gleicht 
an  Gestalt  und  Lage  dem  zweiten,  stösst  hinten  an  die  dritte  Facette 
des  Kahnbeins,  vorn  an  den  Mittelfussknochen  der  dritten  Zehe, 
innen  an  das  zweite  Keilbein,  und  aussen  an  das  Würfelbein,  üie 
überknorpelten  Flächen,  welche  die  Verbindung  der  Keilbeme  unter- 
einander bezwecken,  nehmen  nur  Theile  der  betreffenden  Seiten- 
gegenden dieser  Knochen  ein. 

7.  Das  Würfelbein,  Os  cuboideum  (von  xußoq,  Würfel),  liegt 
am  äusseren  Fussrande,  vor  dem  Fersenbein.  Seine  obere  Fläche 
ist  rauh,  die  untere  mit  einer  von  aussen  nach  innen  und  etwas 
nach  vorn  gerichteten  Rinne  versehen,  hinter  welcher  ein  glatt- 
randiger  Wall  sich  hinzieht  —  Sidcus  et  Tuherositas  ossis  cuboidei. 
Die  innere  Fläche  besitzt  eine  kleine,  ebene  Gelenkfläehe,  für  das 
dritte  Keilbein,  und  zuweilen  hinter  dieser  eine  noch  kleinere,  für 
eine  zufallige  vierte  Gelenkfacettc  des  Kahnbeins.  Die  äussere, 
rauhe  Fläche  ist  die  kleinste;  —  die  vordere,  überknorpelte, 
stösst  mit  der  Basis  des  vierten  und  fünften  Mittelfussknochens 
zusammen. 

Denkt  man  sich  die  obere  Querreihe  der  Handwurzelknochen  so  vergrössert, 
dass  ihre  einzelnen  Knochen  die  Grösse  der  Fussworzelknochen  annehmen,  und 
denkt  man  sich  zugleich  diese  vergrösserte  Reihe  so  unter  das  untere  Ende  der 
Unterschenkelknochen  gestellt,  dass  die  Querrichtung  eine  Längenrichtung  wird, 
so  wird  diese  Reihe  das  untere  Schienbeinende  nach  vom  und  hinten  überragen, 
das  Mondbein  wird  in  die  Gabel  zwischen  beiden  Malleoli  passen,  und  das  Spning- 
bein  vorstellen,  das  Kahnbein  (der  Handwurzel)  wird  zum  Kahnbein  der  Fuss- 
wurzel  werden,  und  das  mit  dem  Erbsenbein  verwachsen  gedachte  O»  triquetrum, 
wird  das  Fersenbein  repräsentiren.  —  Die  drei  Keilbeine  und  das  Würfelbein  ver- 
halten sich  in  ihren  Beziehungen  zu  den  Metatarsusknochen,  wie  die  Knochen  der 
zweiten  Handwurzclreihe  zu  ihren  Metacarpusknochen,  so  dass  das  erste  Keilbein 
dem  Os  muUangulum  majus,  das  zweite  dem  minus,  das  dritte  dem  capUatum,  tmd 
das  Würfelbein  dem  hamatum  äquivalirt. 

Es  fehlt  nicht  an  Beobachtungen  über  Vermehrung  der  Fusswurzelknochen, 
durch  Zerfallen  eines  der  gegebenen.  So  hat  B landin  das  Wttrfelbein,  Gruber, 
Turner,  und  Friedlowsky  das  erste  Keilbein,  Stieda  das  Fersenbein,  in  zwei 
Knochen  zerfallen  gefunden.  Grub  er  sah  auch  den  an  der  hinteren  Fläche  des 
Sprungbeins  vorhandenen  stumpfen  Höcker,  welchen  er  Tnherctdum  Interale  nennt, 
sich  vom  Körper  dieses  Knochens  ablösen  und  selbstständig  werden  (Archiv  für 
Anat.  1864).  Einen  überzähligen  klemen  Fusswurzelknochen  von  Keilgestalt, 
fanden  Bankart  und  Pie- Smith  zwischen  dem  ersten  Keilbein  tmd  der  Ba8i.H 
des  zweiten  Metatarsusknochens  eingeschaltet. 

B,  Zweite  Abtheäung.     Knochen  des  Mittdfmses. 

Die  filnf  Mittelfussknochen  (Ossa  metatarsi)  liegen  in  einer 
von   aussen   nach   innen   convexen  Ebene   parallel   neben   einander, 


§.  153.  Knochen  des  Fnsses.  409 

wie  die  Zähue  eines  Kammes,  weshalb  der  Mittelfiiss  bei  alten  Ana- 
tomen aueh  Pecten  heisst  (bei  Hippocrates  zsSiov).  Sie  sind  kurze 
Röhrenknochen,  der  Länge  nach  ein  wenig  aufwärts  convex  ge- 
bogen, mit  einem  Mittelstück,  hinterem  dicken,  und  vorderem 
kugelig  geformten  Ende.  Das  Mittel  stück  ist  dreiseitig  prismatisch, 
mit  Ausnahme  des  fünften,  welches  schief  von  oben  nach  unten  com- 
primirt  erscheint.  Das  hintere  dicke  Ende  (Basis)  wird  durch  eine 
ebene  Gelenkfläche  senkrecht  abgeschnitten,  und  besitzt  an  den  drei 
mittleren  Mittelfussknochen ,  noch  kleine,  seitliche,  überknorpelte 
Stellen,  zur  wechselseitigen  Verbindimg.  Das  vordere,  kopffbrmige 
Ende  (Capitidum)  zeigt  seitliche  Grübchen,  für  Bandinsertionen.  Die 
Mittelfussknochen  werden,  wie  die  Keilbeine,  vom  inneren  Fussrande 
nach  aussen  gezählt. 

Der  erste  Mittelfussknochen,  der  grossen  Zehe  angehörig 
Os  metatarsi  halluds  s.  primum  (liallux,  richtiger  Jiallex,  grosse  Zehe), 
unterscheidet  sich  von  den  übrigen  durch  seine  Kürze  und  Stärke. 
An  der  unteren  Fläche  seines  überknorpelten  Capitulum  erhebt  sich 
ein  longitudinaler  Kamm,  zu  dessen  beiden  Seiten  sattelförmig  ge- 
höhlte Furchen  für  die  beiden  Sesambeine  liegen.  —  Der  Mittel- 
fussknochen der  zweiten  Zehe  ist  der  längste,  weil  das  zweite 
Keilbein,  an  welches  seine  Basis  stösst,  das  kürzeste  ist.  —  Der 
Mittelfussknochen  der  kleinen  Zehe  zeichnet  sich,  nebst 
seiner,  schief  von  oben  nach  unten  etwas  comprimirten  Gestalt, 
noch  durch  einen  Höcker  seiner  Basis  aus,  welcher  am  äusseren 
Fussrande  über  das  Würfelbein  hinausragt,  und  durch  die  Haut 
leicht  gefühlt  werden  kann. 

Die  Mittelfussknochen  bilden,  zugleicli  mit  der  Fusswurzel,  einen  von  vorn 
nach  liinten,  und  von  aussen  nach  innen  convexen  Bogen,  welcher  beim  Stehen 
nur  mit  seinem  vorderen  und  hinteren  Ende  den  Boden  berührt.  Dieser  Bogen 
hat  einen  äusseren,  mehr  flachen,  und  einen  inneren,  mehr  convexen  Rand,  auf 
welchen  die  Körperlast  durch  das  Schienbein  stärker,  als  auf  den  äusseren  drückt. 
Die  Spannung  des  Bogens  ist  veränderlich.  Er  verflacht  sich  in  der  Richtung  von 
vorn  nach  hinten,  und  von  aussen  nach  innen,  wenn  der  Fuss  beim  Stehen  von 
obenher  gedrückt  wird,  und  nimmt  seine  frühere  Convexität  wieder  an,  wenn  er 
gehoben  wird.  Eine  bleibende  Flachheit  des  Bogens  bedingt  den  Plattfuss, 
welcher  mit  seiner  ganzen  unteren  Fläche  auftritt.  Der  Bogen  des  Fusses  kann 
zur  Verlängerung  der  unteren  Extremität  benützt  werden,  wenn  man  sich  während 
des  Stehens,  durch  Strecken  der  Füsse  höher  macht  (auf  die  Zehen  stellt),  wobei 
der  Fuss  sich  nur  mit  den  Köpfen  der  Mittelfussknochen,  insbesondere  des  ersten 
und  zweiten,  auf  dem  Boden  stemmt,  während  die  Zehen,  ihrer  schwachen  Axen- 
knochen  wegen,  nie  dazu  verwendet  werden  können,  die  Leibeslast  zu  tragen.  — 
Durch  die  Beweglichkeit  der  einzelnen  Stücke  des  Bogens,  kann  sich  der  Fuss 
den  Unebenheiten  des  Bodens  besser  anpassen,  und  der  Tritt  wird  sicherer. 

C,  Dritte  Ahtheüung,     Knochen  der  Zehen, 

Die  Knochen  der  Zehenglieder  (Phaiangea  digüarum  pedis)  ent- 
sprechen,  durch  Zahl;»  F'  n   der  Finger^ 


410  §.  154.  Bäuder  des  Fusses. 

und  sind,  wie  diese,  Röhrenknochen  en  miniature.  An  der  Hand, 
deren  Bau  auf  vielseitige  Beweglichkeit  abzielt,  waren  die  frei  be- 
weglichen Finger  wohl  die  Hauptsache.  Am  Fusse  dagegen,  dessen 
Bau  auf  Festigkeit  und  Tragfähigkeit  berechnet  ist,  wären  finger- 
lange Zehen  etwas  sehr  Ueberflüssiges,  ja  fiir  das  Gehen  selbst 
etwas  sehr  Nachtheiliges  gewesen.  Die  Zehen  sind  deshalb  be- 
deutend kürzer  als  die  Finger.  Ihre  einzelnen  Phalangen  müssen 
somit  ebenfalls  kürzer  sein,  und  zugleich  rundlicher  und  schwächer, 
als  die  einzelnen  Phalangen  der  Finger.  Die  Phalangen  der  drei- 
gliederigen  Zehen  liegen  aber  nicht  wie  die  Fingerphalangen  in  einer 
geraden  Linie.  Die  erste  Zehenphalanx  ist  schief  nach  oben,  die 
zweite  fast  horizontal,  die  dritte  schief  nach  unten  gerichtet.  Die 
ganze  Zehe  bekommt  dadurch  die  Krümmung  einer  Kralle,  welche 
nur  mit  dem  Ende  der  dritten  Phalanx  den  Boden  berührt.  Die 
besten  Abbildungen  vom  Fussskelcte  sind  in  dieser  Beziehung 
unrichtig  zu  nennen.  Die  dritten  Phalangen  werden  an  den  zwei 
äussersten  Zehen  häufig  durch  enge  und  unnachgiebige  Fuss- 
bekleidung  verkrüppelt  gefunden;  die  zweiten  sind  mehr  viereckig 
als  oblong,  und  öfters  an  der  kleinen  Zehe  mit  der  dritten  Phalanx 
verwachsen.  Die  zwei  Phalangen  der  grossen  Zehe  (die  mittlere 
fehlt  wie  am  Daumen)  zeichnen  sich  durch  ihre  Breite  und  Stärke 
vor  den  übrigen  aus. 

Man  hat  es  nicht  beachtet,  dass  die  letzte  Phalanx  der  Zehen,  sehr  oft  an 
ihren  Seitenrändem  ein  Loch,  und,  wenn  dieses  fehlt,  einen  entsprechenden  Aus- 
schnitt besitzt,  durch  welchen  die  ansehnlichen  Zweige  der  Digital gefiisse  und 
Nerven,  zum  Rücken  der  Zehe,  namentlich  zum  blut-  und  nervenreichen  Nagelbett 
verlaufen.     Nur  He  nie  gedenkt  dieser  Löcher. 

An  schön  gebildeten  Füssen,  soll  die  grosse  Zehe  etwas  kürzer  als  die  zweite 
sein,  und  die  vordere  Vereinigungslinie  der  Zehenspitzen  einen  Bogen  bilden.  So 
sieht  man  es  wenigstens  an  den  classischen  Arbeiten  älterer  und  neuerer  Kunst, 
wenn  gleich  nicht  geläugnet  werden  kann,  dass,  bei  der  ungleich  grösseren  Mehr- 
zahl der  Füsse,  die  grosse  Zehe  die  grösste  Länge  hat.  Vielleiclit  übt  die  Festig- 
keit der  Fussbedeckung,  welche  das  Waclisthum  des  starken  Hallux  weniger  be- 
schränkt, als  jenes  der  zweiten  Zehe,  hierauf  einen  Einfluss.  Dem  Künstler  mag 
es  erlaubt  sein,  die  anatomische  Richtigkeit  der  gefälligeren  Form  ziun  Opfer 
zu  bringen,  denn  eine  gebogene  vordere  BegrenzungsUnie  des  Fusses,  hält  der 
Kunstsinn  jedenfalls  für  schöner,  als  eine  gerade. 


§.  154.  Bänder  des  Fusses. 

1.  Bänder  der  Fusswurzel. 

Der  Fuss  führt  am  Unterschenkel  dreierlei  Bewegungen  aus : 
1.  Die  Streckung  und  Beugung  in  verticaler  Ebene;  2.  die  Dreh- 
bewegung um  eine  verticale  Axe  (Abduction  und  Adduction),  bei 
welcher    die    Fussspitze    einen    Kreisbogen    in    horizontaler    Ebene 


§.  IM.  Bänder  des  Fussos.  411 

beschreibt;  3.  die  Drehung  des  Fusses  um  seine  Ijängenaxe,  Supination 
und  Pronation  genannt,  wodurch  der  äussere  oder  innere  Fussrand 
gehoben  wird.  Versuchen  an  Leichen  zufolge  verhält  sich  der  Um- 
fang dieser  drei  Bewegungen  wie  78^ :  20^ :  42^.  Die  erste  Bewegung 
wird  durch  das  Gelenk  zwischen  dem  Sprungbein  imd  dem  Unter- 
schenkel vermittelt,  und  die  Drehungsaxe  geht  horizontal  durch 
beide  Knöchel.  Die  zweite  Bewegung  tritt  in  demselben  Gelenke 
auf,  indem  die  innere  Gelenkfläche  des  Sprungbeins,  am  inneren 
Knöchel  vor-  und  rückwärts  ghüten  kann,  und  dadurch  einen  Kreis- 
bogen beschreibt,  dessen  (^entrum  im  äusseren  Knöchel  liegt.  Die 
dritte  Bewegung  leistet  das  Kugelgelenk  zwischen  Sprung-  und 
Kahnbein,  und  das  Drehgelenk  zwischen  Sprung-  und  Fersenbein. 
Sie  combinirt  sich  immer  mit  der  zweiten  Bewegungsform,  welche 
an  und  fiir  sich  sehr  klein  ist,  und  nur  durch  gleichzeitiges  Ein- 
treten der  dritten,  im  Bogen  von  20^  ausführbar  wird. 

Die  Bänder  der  Fusswurzel  bedingen:  a)  theils  eine  Ver- 
bindung dieser  mit  dem  Untersehenkel,  h)  theils  eine  Vereinigung 
der  einzelnen  Fusswurzelknoehcn  unter  einander. 

a)  Die  Verl)indung  der  Fusswurzel  mit  dem  Unter- 
schenkel bildet  das  F'uss-  oder  Sprunggelenk,  ^rficwifa/eo  joecZ/« 
8,  talo'Cruralis.  Die  beiden  Malleoli  des  Unterschenkels  (wörtliche 
Uebersctzung  von  xa  cfjpit^  Mallei,  Hämmer  oder  Schlägel),  fassen 
die  Seiten  des  Körpers  des  Sprungbeins  gabelartig  zwischen  sieh, 
und  gestatten  ihm  beim  Beugen  und  Strecken  des  Fusses  in  verti- 
caler  Ebene,  sich  um  seine  Queraxe  zu  drehen.  Es  wurde  früher 
erwähnt,  dass  bei  jener  mittleren  Stellung  des  Gelenks,  wo  die  Axe 
des  Fusses  mit  der  Axe  des  Unterschenkels  einen  rechten  Winkel 
bildet,  der  vordere  breiteste,  und  der  hintere  schmälste  Rand  der 
oberen  Gelenkfläehe  des  Sprungbeins,  nicht  mit  der  unteren  Gelenk- 
fläche des  Schienbeins  in  Contact  stehe.  Erst  beim  Strecken  des 
Fusses  im  Sprunggelenk,  kommt  der  hintere  schmale  Rand  dieser 
Gelenkfläehe,  und  beim  Beugen  der  vordere  breite  Rand  derselben, 
mit  der  Schienbeingelenkfläche  in  Berührung.  Letzteres  wird  nur 
dadurch  möglieh,  dass  der  äussere  Knöchel  etwas  nach  aussen 
weicht,  und  es  begreift  sich  somit,  warum  das  Schienbein  nicht 
beide  Knöchel  bilden  durfte,  indem  sie  in  diesem  Falle  keine  Ent- 
fernung von  einander  gestattet  hätten.  Es  erhellt  zugleich  aus  dieser 
Angabe,  dass  ein  gebeugtes  Sprunggelenk  viel  mehr  Festigkeit  be- 
sitzt, als  ein  gestrecktes.  Um  einen  Begriff  von  der  Festigkeit  dieses 
GeliMiks  im  gebogenen  Zustande  zu  haben,  muss  man  es  im  frischen 
Zustande  untersuchen,  indem,  an  gebleichten  BLnochen,  die  Knorpel- 
überzüge so  eingetrocknet  sind^  dass  das  Sprungbein  in  der  Gabel 
der  Knöchel  klappert. 


412  §•  l&l-  B&iider  des  Fasses. 

Die  Biindcr  des  Sprunggelenks  sind,  nebst  der  fibrösen 
und  Synovialkapsol ,  welche  die  Ränder  der  beiderseitigen  Oclcnk- 
fliiclien  umsäumen,  die  drei  äusseren,  und  das  einfache  innere 
Seiten  band.  Die  drei  äusseren  sind  rundlich  ,  strangförmig, 
entspringen  vom  MaUeoliis  extemus ,  und  laufen  in  divergenter 
Richtung,  das  vordere  schief  nach  vorn  und  innen  zur  äusseren 
Fläche  des  Halses  des  Sprungbeins,  als  Ligamentum  fibulare  tali 
anticum,  —  das  hintere  fast  horizontal  nach  innen  und  hinten,  zur 
hinteren  Fläche  des  Sprungbeinkörpers,  als  Ligamentum  fibulare  tali 
posHcum;  während  das  mittlere  zur  äusseren  Fläche  des  Fersenbeins 
herabsteigt,  als  Ligamentum  fibulare  calcanei.  Das  innereSeitenband 
entspringt  breit  vom  unteren  Rande  des  Malleolus  internus,  nimmt 
im  Herabsteigen  noch  an  Breite  zu,  und  endigt  an  der  inneren 
Fläche  des  Sprungbeins,  und  am  Sustentaculum  des  Fersenbeins. 
Seine  Q  estalt  giebt  ihm  den  Namen  Ligamentum  deltoides. 

Eine  Fortsetzung  der  Synovialkapsel  des  Sprunggelenks  dringt 
von  unten  her,  als  eine  kleine  Tasche  oder  Blindsack,  zwischen  die 
Contactflächen  des  Schienbeins  und  des  unteren  Wadenbeinendes  ein. 

b)  Die  Bandverbindungen  der  Fusswurzelknochen 
unter  einander  müssen,  bei  dem  Drucke,  welchen  der  Fuss  von 
obenher  auszuhalten  hat,  überhaupt  sehr  stark,  und  an  der  Sohlen- 
»oite  stärker,  als  an  der  Dorsalseite  sein.  Von  diesem  sehr  ver- 
wickelten Bandapparate,  soll  hier  nur  die  Hauptsache  berührt  werden. 

Die  einander  zugekehrten  Gelenkflächen  je  zweier  Fusswurzel- 
knochen, werden  durch  eine  fibröse,  mit  Synovialhaut  gefütterte 
Kapsel,  und  durch  Verstärkungsbänder,  zu  einem  Gelenke  vereinigt, 
welches  den  Namen  von  den  betreffenden  Knochen  entlehnt:  Arti- 
culatio  talo'caicanea,  calcaneo-cuioidea,  talo-namcularisy  u.  s.  f.  Diese 
Gelenke  erfreuen  sich  nur  einer  geringen  Beweglichkeit.  Nur  die 
Articulatio  talo-naviadaris  macht  eine  Ausnahme  von  dieser  Regel, 
weil  in  ihr  die  Berührungsflächen  der  beiden  Knochen  sphärisch 
gekrümmt  sind,  wie  es  die  in  diesem  Gelenke  gestattete  Dreh- 
bewegung des  Fusses  um  seine  Längenaxe  (Supination  und  Pronation) 
erheischt.  —  Das  Kahnbein  wird  mit  den  drei  Keilbeinen  nicht 
durch  drei  besondere,  sondern  durch  eine  gemeinschaftliche  Kapsel 
vereinigt. 

Die  Verstärkungsbänder ,  welche  den  Namen  des  Gelenks 
tragen ,  dem  sie  angehören  (Ligamentum  talo-calcaneum ,  calcaneo- 
cuboideum,  etc.),  werden,  ihrem  Vorkommen  nach,  in  äussere  und 
innere,  dorsale  und  plantare  eingetheilt.  Die  plantaren  verdienen, 
ihrer  Stärke  wegen,  besondere  Würdigung.  1.  Das  Ligamentum 
calcaneo-^mbaideum  plantare,  von  der  unteren  Fläche  des  Fersenbeins 
zur  Tvberositas  oms  cuboidei  gehend,  ist  eines  der  stärksten  Liga- 
mente des  Körperg,  und  besteht  aus  einer  oberflächlichen  und  tiefen, 


§.  154.  B&nder  des  Fussm.  413 

durch  etwas  zwischenlicgendes  Fett  getrennten  Schichte.  Die  ober- 
flächliche Schichte  ist  länger  als  die  tiefliegende,  und  gerade  von 
hinten  nach  vom  gerichtet.  Sie  heisst  deshalb  Ligamentum  plantare 
longum  8.  rectum,  und  sendet,  über  die  Furche  des  Würfelbeins 
hinüber^  eine  Fortsetzung  zu  jden  Basen  der  zwei  letzten  Mittelfuss- 
knochen.  Die  tiefliegende  Schichte  dieses  Bandes  wird  von  der 
hochliegenden  nur  theilweise  bedeckt,  ist  bedeutend  kürzer,  und 
schief  nach  innen  gerichtet  (daher  Ligamentum  plantare  ohliquum), 
da  es  sich  einwärts  von  der  Tuberontas  osds  cuboidei  an  der  unteren 
Fläche  dieses  Knochens  befestigt.  2.  Das  lÄgam^entam  calcaneo- 
naviculare  plantare,  welches,  seiner  häufigen,  durch  Verknorpelung 
bedungenen  Rigidität  wegen,  auch  Ligamentum  cartüagineum  genannt 
wird,  schliesst  nicht  selten  einen  Knochenkern  ein.  Es  zieht  vom 
Sustentaculum  des  Fersenbeins  zur  unteren  Gegend  des  Kahnbeins, 
und  hilft  mit  seiner  oberen  Fläche  die  Gelenkgrube  des  Kahnbeins 
zur  Aufnahme  des  Sprungbeinkopfes  vergrössern;  —  daher  seine  Ver- 
knorpelung und  gelegentliche  Verknöcherung.  Hieher  gehört  noch: 
das  Ligamentum  intertarseum ,  eine  kurzfaserige  und  feste  Band- 
masse, welche  im  Sinv^  tarsi  zwischen  Sprung-  und  Fersenbein  an- 
gebracht ist. 

2.  Bänder  des  Mittelfusses. 

Sie  sind:  1.  Kapselbänder,  zur  Verbindung  der  einzelnen 
Mittelfussknoehen  mit  den  correspondirenden  Flächen  der  Fusswurzel- 
knochen,  wodurch  die  fünf  straffen  Articidationes  tarso  -  metatarseae 
entstehen,  deren  Synovialkapseln  sich  zwischen  die  seitlichen  Gelenk- 
flächen der  Bases  ossium  metatarsi  fortsetzen,  —  2.  Hilfsbänder 
dieser  Gelenke,  an  der  Dorsal-  und  Plantarseite,  —  3.  Zwischen- 
bänder der  Bases,  Ligamenta  basium  transversalia  s.  interbasica, 
zwischen  je  zwei  Bases  ausgespannt,  deren  es  vier  dorsalia,  aber 
nur  drei  jylanfaiia  giebt,  indem  zwischen  Metatarsus  der  grossen 
und  der  nächstfolgenden  Zehe  kein  Querband  in  der  Planta  vor- 
kommt, —  4.  Zwischen bänder  der  Köpfchen,  Ligamenta  capt- 
tuiorum  metatarsi  dorsalia  et  plantaria,  —  von  beiden  Arten  vier. 

3.  Bänder  der  Zehenglieder. 

Die  Verbindungen  der  Zehenglieder  gleichen  jenen  der  Finger- 
glieder vollkommen.  Die  Gelenke  zwischen  den  Köpfchen  der 
Metatarsusknochen  und  den  ersten  Zehengliedem,  sind  ziemlich  frei, 
indem  sie  nebst  Beuge-  und  Streckbewegung  auch  Zu-  und  Ab- 
ziehung  gestatten.  Die  Gelenke  der  Phalangen  unter  einander  sind 
reine  Winkelgelenke.  An  allen  finden  sich  Kapseln,  mit  einem 
äusseren  und  inneren  Seitenbande,  und  einer  unteren,  stärkeren,  wie 
verknorpelten  Wand,  üi  welcher,  am  ersten  Gelenke  der  grossen 
Zehe,  zwei  ansehnliche  Sesambeine  eingewachsen  sind,  deren  dem 
Gelenke  zu^kehrte  Ff^  ^'a  Mttelförmigen  Furchen  an  der 


414  §•  155.  Allgemeine  Bemerkungen  über  den  Vum. 

unteren  Seite  des  Kopfes  des  Metatarsus  Jiallvcis  einpassen.  Am 
zweiten  Gelenke  der  grossen  Zehe  kommt  noch  ein  drittes,  so  wie 
zuweilen  an  der  inneren  Fläche  des  ersten  Keilbeins,  und  an  der 
äusseren  Ecke  der  Tuberositas  ossis  cuboidei,  ein  viertes  und  fünftes 
Os  sesamoideum  vor.  —  Mehr  als  hier  wird  für  den  wissbegierigen 
Leser  in  meinem  Handbuch  der  prakt.  Anatomie.  Wien,  1860,  über 
die  Bänder  des  Fusses  gesagt. 

Von  dem  inneren  und  zugleich  grösseren  Sesambein  der  grossen  Zelie 
Cquod  magiae  aectatöres  Albadaram  vocanty  Riol.),  glanbten  die  Mystiker^  das» 
dasselbe,  nicht  wie  die  anderen  Knochen  verwese  (totum  corpus  ptdrescU,  excepto 
Wo  otte),  sondern  sich  als  Keim  in  der  Erde  erhalte,  damit  ans  ihm,  wie 
aus  einem  Samenkorn,  der  ganze  Mensch  zum  jüngsten  Gericht  wieder  auf- 
erstehe. So  lese  ich  z.  B.  mit  Heiterkeit  bei  Fr.  Cosra.  Laurenti:  o»,  nulli  cor- 
ruptioni  chnoxium,  post  mortem  reco7idUum,  instar  aeminin  hominem,  in  extrem  i 
judicii  die,  producturum  (OnomcUologia  anthropotom.  Jiomae,  ISSl,  pag.  47).  Die 
Talmudisten  nannten  diesen  unzerbrechlichen,  unverbrennbaren,  und  überhau])t 
unzerstörbaren  Knochen:  Ossiculum  Lhs  9,  Ltiz  (K.  Nathan,  Lex,  Talmud.  Verb. 
LusJ,  Rabbi  Uschaia,  anno  210  nach  Christus,  war  der  Erfinder  dieser  Fabel, 
welche  auch  die  Anatomen  des  Mittelalters  in  so  fem  beschäftigte,  als  sie  dieses 
Knöchelchen,  mit  Baal  Aruch  nicht  an  der  grossen  Zehe,  sondern  an  der 
Wirbelsäule  aufsuchten  (Luz  est  os  in  fine  oclodecim  vertehranim),  aber  natürlich 
nicht  fanden,  und  zuletzt  das  Steissbein  dafür  hielten.  Man  liest  noch  hie  und 
da  vom  Judenknöchlein.  Eine  Stelle  des  alten  Testamentes  (Psalm  34. 
V.  21),  welche  lautest:  „aistoilit  Dominus  ossa  justorum,  unum  ex  iifis  nati  canfrin- 
„yetur*^,  hat  ohne  Zweifel  den  hebräisclien  und  christlichen  Auslegern  der  Schrift 
Veranlassung  gegeben,  nach  diesem  fingerten  Knochen  zu  fahnden. 


§.  155.  Allgemeine  Bemerkungen  über  den  Fuss. 

Der  Bau  der  unteren  Extremität  richtet  sich  nach  demselben 
Typus,  wie  jener  der  oberen,  deren  Abtheilungen  sie,  mit  wenig 
Verschiedenheiten,  wiederholt.  Das  Gesetz  der  strahligen  Bildung, 
mit  Zunahme  der  Axenknochen  von  eins  bis  fünf,  drückt  sich  in 
beiden  aus.  Das  Hüftbein  entspricht  der  Schulter,  und  man  braucht 
ein  Schulterblatt  nur  so  aufzustellen,  dass  seine  Gelenkfläche  nach 
unten  sieht,  um  die  Aehnlichkeit  desselben  mit  dem  Darmbeine 
evident  zu  machen.  Dass  das  Sitzbein  dem  Rabenschnabelfortsatz 
des  Schulterblattes,  und  das  Schambein  dem  Schlüsselbeine  ent- 
spricht, ist  an  jugendlichen  Hüftbeinen,  deren  drei  Bestandtheile 
noch  nicht  durch  Synostose  vereinigt  sind,  leicht  abzusehen.  Um 
den  Bewegungen  der  oberen  Extremität  das  möglichst  grösste  Bereich 
zu  geben,  musste  das  Schulterblatt,  welches  so  vielen  Muskehi  des 
Armes  zum  Ursprünge  dient,  selbst  ein  verschiebbarer  Knochen 
»ein.  Das  Hüftbein  dagegen ,  durch  welches  der  Stamm  auf  dem 
Oberschenkelknochen  roht^  musste  mit  der  Wirbelsäule  in  festerem 


§.  155.  Allgemeine  Bemerkungen  über  den  Fast.  415 

Zusammenhange  stehen,  wie  er  denn  durch  die  Si/mph/sis  sacro-Uiaca 
gegeben  ist. 

Das  Schenkelbein  wiederholt  durch  seinen  Kopf  und  Ilals^ 
durch  seine  beiden  Trochanteren  am  oberen  Ende,  und  seine  rollen- 
artig vereinigten  Condyli  am  imteren,  den  Kopf,  den  Hals,  die  Tuber- 
cula,  und  die  Trochlea  des  Oberarmbeins. 

Der  Unterschenkel  besteht,  wie  der  Vorderarm,  aus  zwei 
Röhrenknochen,  von  denen  jedoch  nur  das  Schienbein  mit  dem 
Oberschenkel  articulirt.  Das  Wadenbein,  welches  nicht  bis  zum 
Oberschenkel  reicht,  und  somit  auch  keinen  Theil  der  Körperlast 
trägt ,  ist  nur  der  Lage  nach ,  und  durch  den  Malleolus  extemtts, 
welcher  dem  Processus  st/jloideus  des  Radius  entspricht,  dem  Radius 
vergleichbar.  Genauer  genommen ,  vereinigt  das  Schienbein  die 
Eigenschaften  der  Ulna  und  des  Radius,  und  zwar  lässt  sich  seine 
obere  Hälfte  mit  der  Ulna,  seine  untere  mit  dem  Radius  vergleichen. 
Man  setze  die  obere  Hälfte  einer  Ulna  mit  der  unteren  Hälfte  eines 
Radius  zusammen,  und  man  wird  einen  Knochen  erhalten,  welcher 
dem  Schienbein  viel  ähnlicher  ist,  als  eine  ganze  Ulna.  Denkt  man 
sich  noch  die  Kniescheibe  mit  ihrer  Spitze  an  die  Tibia  angewachsen, 
so  springt  die  Aehnlichkeit  noch  mehr  in  die  Augen.  Die  Knie- 
scheibe fasse  ich  als  das  selbstständig  gewordene  Olekranon  des 
Unterschenkels  auf.  Beide  entwickeln  sich  aus  besonderen  Ossi- 
ficationspunkten,  und  dienen  den  Streckern  zur  Insertion.  Der 
Ossificationspunkt  des  Olekranon  verschmilzt  bald  mit  dem  Körper 
der  Ulna.  Es  wurden  jedoch  von  mir  und  de  la  Chenal  Fälle 
beschrieben,  wo  das  Olekranon  einen  Substantiven,  nicht  mit  der 
Ulna  verschmolzenen  Knochen  darstellte,  was  bei  mehreren  (iattun- 
gen  der  Fledermäuse  als  Norm  erscheint.  Das  Schienbein  führt  allein 
die  Winkel-  und  Drehbewegungen  aus,  in  welche  am  Vorderarm 
sich  Ulna  und  Radius  theilen. 

Das  Kniegelenk  entspricht  also  formell  und  functionell  dem 
Ellbogengelenk,  gilt  uns  aber  edler  als  dieses.  Denn  wir  drücken 
durch  Beugung  des  Knies,  nicht  des  Ellbogens,  Achtung  und  Ehr- 
furcht aus,  und  der  Bittende  umfasst  die  Kniee  dessen,  von  dem  er 
eine  Gnade  erfleht.  Per  tua  genua  te  obsecro,  heisst  es  bei  Plautus, 
und  Plinius  sagt:  hominis  gemhus  quaedam  religio  inest.  Man  kniet 
vor  dem  höchsten  Gott,  und  dem  allerhöchsten  Monarchen.  Die 
sklavische  Demuth  des  Orientalen   kriecht   selbst   auf  allen  Vieren. 

Der  Fuss  besteht,  wenn  man  das  Erbsenbein  der  Handwurzel 
nicht  zum  Carpus  zählt,  der  Zahl  nach  aus  eben  so  viel  Knochen, 
wie  die  Hand.  Jedoch  unterscheidet  sich  die  Zusammensetzung  der 
Fusswurzel  durchaus  von  jener  der  Handwurzel.  Das  Sprungbein 
ist  durch  seine  Einlenkung  am  Unterschenkel,  nicht  den  drei  ersten 
Handwurzelknochen  analog,  sondern  entspricht,   wie   früher  gezeigt 


416  §.  155'  Allgemeine  Bemerlrangen  Ober  den  Fnm. 

wurde  (Note  zu  §.  153),  nur  dem  Os  Iwiaium  des  Carpus.  Die  Fuss- 
wurzel  stellt  zugleich  den  grössten  Abschnitt  des  Fusses  dar,  während 
die  Handwurzel  der  kleinste  Bestandtheil  der  Hand  ist.  Theilt  man 
sich  die  Länge  des  Fusses  in  zwei  gleiche  Theile,  so  besteht  der 
hintere  nur  aus  der  Fusswurzel,  der  vordere  aus  Mittelfuss  und 
Zehen,  während  bei  der  Hand  die  obere  Hälfte  von  Handwurzel 
und  Mittelhand,  die  untere  aber  nur  von  den  Fingern  gebildet 
wird.  Die  Hand  liegt  in  einer  Flucht  mit  der  Längenaxe  des 
Vorderarms,  —  der  Fuss  bildet  mit  dem  Unterschenkel  einen 
rechten  Winkel. 

Da  der  Fuss  ein  Piedestal  für  die  knöchernen  Säulen  der  Beine 
bilden  soll,  so  waren  Festigkeit  und  Grösse  unerlässliche  Bedin- 
gungen. Diesen  beiden  Bedingungen  entspricht  der  Fuss  1.  durch 
seine  Bogenkrümmung,  welche  durch  die  Stärke  der  Plattfussbänder, 
auch  bei  der  grössten  Belastung  des  Körpers,  aufrecht  erhalten 
wird,  und  2.  durch  die  Länge  imd  Breite  des  Tarsus  und  Meta- 
tarsus.  Die  Zehen  kommen,  ihrer  Kürze  und  Schwäche  wegen,  beim 
Stehen  nicht  sehr  in  Betracht,  da  die  Endpunkte  des  festen  Fuss- 
bogens,  im  Fersenhöcker  und  in  den  Köpfchen  der  Metatarsus- 
knochen  liegen.  In  der  geringen  Festigkeit  der  Zehen,  und  in  ihrer 
Zusammensetzung  aus  kurzen,  dünnen  Säulenstücken,  liegt  auch 
der  Grund,  dass  wir  uns  nicht  auf  ihre  Spitzen  erheben  können. 
Wenn  wir  glauben,  auf  den  Zehenspitzen  zu  gehen,  so  gehen  wir 
eigentlich  nur  auf  den  Köpfen  der  Metatarsusknochen ,  vorzüglich 
jenes  der  grossen  und  der  nächsten  Zehe,  und  dieses  Gehen  würde 
ein  sehr  unsicheres,  imd  vielmehr  nur  ein  Trippeln  sein,  wenn  die 
durch  ihre  Muskeln  gebeugten,  und  nur  mit  ihren  Spitzen  den 
Boden  berührenden  Zehen,  in  diesem  Falle  nicht  als  eine  Art 
elastischer  Schwimgfedern  wirkten,  durch  welche  die  Schwankungen 
des  Körpers  corrigirt,  und  die  Sicherheit  des  Trittes  vermehrt  wird. 
Ein  Mensch,  welcher  keine  Zehen  hätte,  könnte,  mit  gestreckten 
Füssen,  nur  wie  auf  kurzen  Stelzen  gehen.  Uebrigens  sind  die 
Zehen  viel  unwichtiger  für  den  Fuss,  als  die  Finger  für  die  Hand. 
Ein  Fuss,  welcher  durch  Gangrän  oder  Verwundung  alle  Zehen 
verlor,  hat  nur  seinen  unwesentlichsten  Bestandtheil  verloren,  während 
der  Verlust  aller  Finger,  oder  jener  des  Daumens  allein,  die  Hand 
ihrer  nothwendigsten  Gebrauchsmittel  beraubt. 

Ein  Hauptunterscheidungsmerkmal  des  Fusses  von  der  Hand 
liegt  in  dem  Unvermögen,  die  grosse  Zehe,  wie  einen  Daumen,  den 
übrigen  Zehen  entgegenzustellen,  um  zu  fassen  oder  zu  halten. 
Wenn  behauptet  wurde,  dass  bei  Ziegeideckern,  guten  Kletterern, 
und  bei  den  Hottentotten,  die  grosse  Zehe  opponirbar  sei  (Bory 
de  St.  Vincent),  so  muss  dieses  so  lange  fUr  eine  blosse  Meinung 
eines  Nichtanatomen  gehalten   werden^  bis  sie   durch  anatomische 


§.  155.  Allgemeine  Bemerkungen  aber  den  Fubs.  417 

Untersuchungen  gerechtfertigt  sein  wird.  Es  ist  uns  nicht  bekannt, 
wie  es  die  Wilden  Neuhollands  zu  Wege  bringen,  ihre  langen  Speere 
im  hohen  Grase  mit  den  Füssen  nachzuschleppen,  wenn  sie  einen 
üeberfall  auf  Europäer  beabsichtigen,  und  dieselben  durch  schein- 
bares Unbewehrtscin  täuschen  wollen.  Hätte  die  grosse  Zehe  die 
angeborene,  aber  durch  Vernachlässigung  verlernte,  oder  nicht  zur 
Entwicklung  gekommene  Oppositionsfahigkeit,  so  würde  sich  diese 
gewiss  bei  jenen  Individuen  in  ihrer  ganzen  Grösse  zeigen,  welche 
mit  Mangel  der  Hände  geboren  wurden,  und  welche  die  Noth  lehrte, 
sich  ihrer  Füsse  statt  der  Hände  zu  den  gewöhnlichen  Verrichtungen 
des  täglichen  Lebens  (Schreiben,  Spinnen,  etc.)  zu  bedienen.  Ich 
habe  an  einem  Mädchen  mit  angeborenem  Mangel  der  oberen 
Extremitäten,  welches  es  so  weit  brachte,  mit  den  Füssen  eine 
Pistole  zu  laden  und  abzudrücken,  die  grosse  Zehe  nicht  entgegen- 
stellbar gefunden.  Es  fehlt  ja  übrigens  auch  die  Muskulatur  hiezu. 
Schon  die  plumpe  Gestalt  der  grossen  Zehe,  welche  die  übrigen 
Zehen  an  Masse  weit  mehr  übertrifft,  als  der  Daumen  die  Finger, 
eignet  sie  durchaus  nicht  zu  jenem  Gebrauche,  welchen  wir  von 
unserem  Daumen  machen  können. 

Die  Zehen  des  Fusses  können  unter  Umständen  nur  sehr  noth- 
dürftig  zum  Ergreifen  dienen,  wie  die  Finger  der  Hand  ohne 
Mithilfe  des  Daumens,  allein  die  Sicherheit  des  Anfassens  und 
Festhaltcns  ist  ihnen  versagt.  —  Durch  ihre  Adductionsbewegung 
können  beide  Füsse  einen  festen  Körper  umklammern,  wie  es 
beim  Emporklettem  an  einem  Baumstamme  oder  Seile,  oder  beim 
festen  Schluss  des  Reiters  auf  einem  sich  bäumenden  Pferde  ge- 
schieht. Wie  unvollkommen  und  unbehilflich  der  beste  Kletterer 
unter  den  Menschen  ist,  zeigt  die  Behendigkeit  und  Schnelligkeit 
der  kletternden  Thiere. 

Wenn  die  Füsse  die  Aufstellnngsbasis  des  Leibes  abgeben,  so  sind  grosse 
Füsse  jedenfalls  anatomisch  vollkommener  als  kleine.  Der  8chönheitskenner  denkt 
anders,  imd  schwärmt  fClr  einen  kleinen  Puppenfass.  Alle  germanischen  und 
lateinisclien  Volksstämme  haben  grössere  Füsse,  als  die  celtischen;  die  kleinsten 
Füsse  der  Welt  aber  haben  die  Weiber  der  Eskimos  und  der  Hottentotten 
(Blumenbach). 

Das  Stehen  mit  parallelen  Plattfüssen,  wobei  die  Zehenspitzen  gerade  nach 
vom  gericlitet  sind,  ist  wegen  Grösse  der  Basis,  und  wegen  der  beträchtlichen 
Entfernung  des  Schwerpunktes  von  der  Umdrehungskante  (welche  beide  Fussspitzen 
verbindet),  das  sicherste.  Je  weiter  die  Fussspitzen  sich  nach  aussen  wenden, 
desto  schwerer  und  unsicherer  wird  das  Stehen.  Der  Bauer  steht  fester  als  der 
Soldat  en  parade.  Eine  massige  Entfernung  der  Füsse  von  einander,  ist  zu  einer 
festen  Positur  nothwendig,   darf  aber   ein   gewisses  Maximum  nicht  überschreiten. 

Jede  Bewegung,    welche    der   Fuu   am   Unterschenkel  ausführt,  kann  der 

Unterschenkel    ebenfalls    am   Fuste   machen.    Der  Untenehenkel  beugt  sich  und 

streckt  sich  im  Sprunggelenk  gegen  den  Fom  beim  NIederimiero  nnd  Erheben, 

—  er  dreht  sich   mittolrt  dm  Byiiw^'-'  Hta.   um  mit 

Hyrtl,  L«hrb«ek  der  Anrte«li,  14. 


418  9*  1^   Literatur  der  Knochen-  nnd  B&ndcrlehre. 

weit  ansg^spreiteten  Extremitäten  nnd  ganzer  Bohlenfläche  zn  stehen,  —  nnd  der 
innere  Knöchel  dreht  sich  um  die  innere  Gelenkfläche  des  Sprungbeins,  wenn 
man,  auf  Einem  Fusse  stehend,  Drehbewegungen  mit  dem  Stamme  niaclit.  Hei 
sehr  starker  Aus-  und  Einwärtsdrehung  der  Fussspitzen  in  aufrechter  Stellung, 
dreht  sich  die  ganze  untere  Extremität  im  Hüftgelenke,  und  man  fühlt  den 
Trochanter  einen  eben  so  gp*ossen  Bogen  beschreiben,  wie  die  Zehen.  Sonderbarer 
Weise  behaupten  die  alten  Anatomen  (Spigelius),  dass  starke  Knöchel  bei  neidi- 
schen, kleine  bei  trägen  Individuen  vorkommen,  so  wie  noch  in  neuerer  Zeit 
Dupuytren  und  Malgaigne,  angeborene  Breite  des  Vorderarms  in  der  Nähe 
der  Handwurzel  für  ein  organisches  Zeichen  geistiger  Schwäche  erklärten. 

Ueber   die   Analogien    der   oberen    und   unteren    Extremitäten 
schrieben : 

Bergmann,  zur  Vergleichnng  des  Unterschenkels  mit  dem  Vorderarme,  in 
Müller^»  Archiv,  1841.  —  JB.  Owen,  On  Nature  of  Limbs.  London,  1849.  —  Cnt- 
oeilhter,  Traite  d*anatomie  descriptive.  4.  edit  Tom.  I.  —  Giraut  Teiilon,  in  der 
'Gaz.  mM.  1854,  N.  ö,  6.  —  L,  Fick,  Hand  nnd  Fuss,  in  Müller^  Archiv,  isr»7. 
—  Ch.  Martin»,  Nouvelle  comparaison  des  membres  pelviens  et  thoracique».  Mont- 
pellier, 1857,  und  desselben  Autors:  Comparaison  des  membres  pelviens  et  thora- 
ciques.  Paris,  1873.  —  O,  Murray  Ilutnp/iry,  On  the  Limbs  of  Vertebrate  Aninials. 
Cambridge,  1860,  und  desselben  Autors:  The  Human  Foot  and  the  Human  Hand. 
London,  1861.  —   (7.  Lncae,  die  Hand  und  der  Vxlbs,  Frankfurt,  1865. 


§.  15G.  Literatur  der  Knochen-  und  Bänderlehre. 

A)  Knochenlehre. 

a)    Gesammte    Osteologie. 

Unter  allen  organisehen  Systemen  wurden  die  Knochen  am 
frühesten  genau  bekannt.  Schon  die  älteste  osteologischc  Literatur 
enthält  treffliche  Beschreibungen  einzelner  Knochen^  und  das  (ia- 
le  nasche  Werk  de  tum  partium  wird,  selbst  in  unseren  Tagen,  noch 
immer  als  Muster  classischen  Styls  und  geistreicher  Behandlung 
dieses  Gegenstandes  gelesen,  obwohl  es,  wie  Vesal  bewies,  sich 
meist  auf  Affenkno<*hen  bezieht.  Nichtsdestoweniger  hat  selbst  die 
neueste  Zeit  noch  Manches  in  der  Osteologie  zu  entdecken  gefunden, 
und  insbesondere  durch  genauere  Würdigung  der  Gelenkflächen 
der  Knochen,  die  Mechanik  der  Gelenke  zum  Ciegenstande  streng 
wissenschaftlicher  Untersuchungen  gemacht. 

Wenden  wir  unsere  Aufmerksamkeit  der  neueren  Zeit  zu,  so 
bewundern  wir  als  unerreicht:  B,  S.  Alhini,  tabulae  sceleti  et  raus- 
culorum  corp.  hum.  Lugd.  Bat.,  1747,  fol.  max.,  und  dessen  Tabulae 
ossium.  Leidae,  1753,  fol.  max.  Die  Genauigkeit  der  Beschreibungen, 
und  die  künstlerische  Vollendung  der  Zeichnungen  (von  Wande- 
laer's  Meisterhand)  machen  diese  beiden  Werke  zum  llauptschatz 
der  osteologischen  Literatur.     Hieran  schliessen  sich: 


§.  150.  Literatur  der  Knochen-  und  Bänderlehre.  419 

S.  Th.  Sümmei^ivgy  tab.  sceleti  feminini.  Traj.  ad  Moen.,  1797, 
foL,  ferner  die  osteologischen  Tafeln  in  den  Atlassen  von  Jtd, 
Cloqmt,  und  M.  J,  Weber  (Skeletabbildungen  in  natürlicher  Grösse, 
mit  dem  Schatten  der  Umrisse  der  Weichtheile). 

Die  Leichtigkeit,  womit  man  sich  bei  jeder  anatomischen  An- 
stalt Knochen  verschafft,  macht  heut  zu  Tage  das  Studium  der 
Knochen  nach  Originalen  viel  empfehlungswerther,  als  die  Benützung 
osteologischer  Abbildungen.  Diese  dienen  sicher  mehr  zum  Schmuck 
der  Bibliotheken,  als  zum  Erlernen  der  Osteologie. 

Die  besten  speciellcn  Osteographien  sind: 

J,  Paaw,  de  hum.  corp.  ossibus.  Lugd.  Bat.,  1615.  4.  Ich 
würde  dieses  Buch  nicht  anfuhren,  wenn  ich  es  nicht  sehr  unter- 
haltend gefunden  hätte,  was  man  von  anatomischen  Werken  nur 
selten  sagen  kann,  deren  ausschliessliches  Vorrecht:  langweilig  zU 
sein,  starr  und  steif  aus  jeder  Zeile  spricht.  —  J,  F,  Blumenbach, 
Geschichte  und  Beschreibung  der  Knochen.  Göttingen,  1807.  Durch 
die  vielen  eingeschalteten  comparativ-anatomischen  Bemerkungen 
sehr  interessant.  —  Ä  Th,  Sömmen^ing ,  Lehre  von  den  Knochen 
und  Bändern,  mit  Ergänzungen  und  Zusätzen  herausgegeben  von 
K.  Wagner,  Leipzig,  1839.  Wird  durch  Henles  Knochenlehre  weit- 
aus übertroffen.  —  L.  Holden,  Human  Gsteology,  with  Plates,  2.  edit. 
Lond.  Die  Tafeln  sind  Originalien;  der  Text  enthält  jedoch  nichts 
Neues.  —  G,  Murratj  Humphry,  A  Treatise  on  the  Human  Skeleton, 
Cambridge,  1858.  Sehr  ausführlich,  mit  praktischen  Anwendungen, 
und  Berücksichtigung  der  Entwicklungsgeschichte  und  der  Be- 
wegungsgesetze. Zahlreiche  ( )riginal tafeln ,  besonders  von  Durch- 
schnitten, sehr  correct,  wie  man  sonst  in  illustrirten  Handbüchern 
nicht  zu  finden  gewohnt  ist.  —  K,  Owen,  on  the  Archetype  and 
Homologies  of  the  Vertebrate  Skeleton.  liond.,  1848,  und  dessen: 
On  the  Nature  of  Limbs.  Lond.,  1849.  Ebenso  geistreiche  als  fass- 
liche, für  die  Deutung  der  Knochen,  und  die  Zurückführung  ihrer 
Formen  auf  eine  Grundidee,  höchst  werthvolle,  vergleichend  ana- 
tomisch durchgeführte  Reflexionen.  —  Ctivier^s  „Ossemens  fossiles" 
bilden  noch  immer  das  unentbehrlichste  Hauptwerk  für  vergleichende 
Osteologie.  —  Für  Lehrer  und  Schüler  der  Anatomie  empfiehlt  sich 
C.  Tjochow,  das  Skelet  des  Menschen  auf  14  lith.  Tafeln  dargestellt, 
als  Grundlage  zum  Nachzeichnen.  Würzburg,  1865. 

b)  Schädelknochen. 

C.    Gr.    Jung,    Animadversiones    de    ossibus    generatim,    et    in 

specie  de  ossibus  rapho-geminantibus  (Nahtknochen).     Basil.,    1827. 

—  E,  Hallmann,  die  vergl.  Osteologie  des  Schläfebeins.    Hannover, 

1837.  —  F.  S.  Leuckarty  Untersuchungen  über  das  Zwischenkiefer- 

bein    des    Menschen.     Stuttgart,    1840.    —    P.  Lammers,    über    das 

27* 


42i)  l.  IM.  UUrutui  Aht  Kboclufu-  nad  Binderlehre. 

74V/m'\\ittiWu*.U*r\H^\u ,  und  nein  Verhältniftg  zur  Hasenscharte  ^  und 
zum  WoH'Hrat'JKai.  Kriangen,  lHr>3.  —  Engel,  über  den  Einfluss  der 
Ziilinbilduiip^  auf  das  Kiefer^erüst^  in  der  Zeitschrift  der  Wiener 
A<?rzt4i,  r>.  .Iiilir^aiig,  —  Dieterkh,  Beschreibung  einiger  Abnormi- 
iikU^ti  iU'M  M<fnHcht*nHcliUdelH.  I^asel^  1842.  —  G.  J.  Schultz,  Be- 
tiH*.rkung<ui  über  deji  Bau  der  nonnalen  Menschenschädel.  Peters- 
burgy  lHr)2.  Ilillt  t'ine,  oft  in  Kleinigkeiten  abschweifende  Nachlese 
über  binlier  uiib<»aelitete  OHteologische  Vorkommnisse.  —  L.  Ftck, 
über  di<j  Areliiti^ktur  de»  Scliildels,  in  Muller's  Archiv.  1853.  — 
all,  (L  Luaui,  zur  Arcliitektur  des  Mensehenschädels,  mit  32  Tafeln. 
Frankfurt  a.  M.,  1857.  —  //.  Welcher,  über  Wachsthura  und  Bau 
den  ni(MiH(dili(^hen  SchiUlelH.  I^eipzig^  18G2.  —  W.  Gruber,  Beiträge 
Kur  Anatomien  des  KeilboiiiH  und  Sehläfebeins.  Petersburg,  1859,  und 
dc^HHen  Beitrag«»  zur  Anatomie  d(i»  Schildelgrundes.  Petersburg,  1869. 

—  A.  Jiarkow,  Krllluttuningen  zur  Skelet-  und  Gchirnlehre.  Breslau, 
18(J5.  fol.  —  lAindzert,  Beiträge   zur  (Jraniologie.     Frankfurt,    1867. 

—  Gn^H^,  {\\h\v  den  Stirnfontanellknochon,  in  den  M<5m.  de  FAcad. 
de  St.  PiUersbourg,  XIX.  —  Sehr  lehrreich  in  gerichtsärztlicher  Be- 
«ieliung  iHt  diti  Abhandlung  Iloffiiuiniis  über  Spaltbildungen  und 
OHHiru'ntionHdofecte  an  den  Schädeln  Neugeborener  (Prager  Viertel- 
jahrHHchrift,  Bd.  123).  —  He^ittel,  über  die  Ossa  interparietalia,  im 
Aroliiv  für  Anat.  1874.  —  K,  Zuck^rkundl,  zur  Morphologie  des 
(JoHiehtHHehädelrt.  Stuttgart,  1875. 

«0   lh*utumj  UHil  ZuHlckfUhrung  dei*  SchäJ-elkniKheu  auf  die  allgenmneii 

Nonnen  dar    Wirbel hildimg. 

NobHt  A\  (ht'unif  oben  citirton  Werken:  C,  B,  Reichert,  über 
tlio  Vij*eeralbogtMi  dw  Wirbelthiere,  in  Müllers  Arohiv,  1837,  und 
doKsen  vei^gleiehendt*  Kntwioklung^osehiehte  des  Kopfes.  Königs- 
borg, IS,IS,  —  *S/>(Mn//«.  über  die  IVimonlialsehädel  der  Säugethiere 
und  doH  Monsehon,  Zürieh,  1846.  —  lUtlder,  de  eranii  eonfonnatione. 
l>orpali«  IS47,  A7»//«Xfjr.  MittheilungiMi  der  Zürcher  naturforschen- 
do«  iit^sollsiehatV  1847,  und  dessen  Bericht  über  die  zootomisehe 
Anstalt  in  \Vür»burg.  Leipr.ig,  1849.  —  IL  Muller,  über  das  Vor- 
konunon  von  Kosten  der  Chorda  </(>neii/iV  nach  der  Geburt.  Zeitschr. 
ftlr  rat.  Mod.  N.  F,  U.  Bd.  —  A\  Virchmc^  übt^r  die  Entwicklung 
dos  SohiidolÄrrundos^  oio»,  mit  6  Tafohu  Berlin.  1857.  —  Die  Ent- 
wioklung^ohritton  von  Inier,  /ui/AAv,  Bischoß.  l>Hg^;f.  —  G.  Joä^jä. 
luorphol.  Stu\lion  am  Kopt^kolot.  Broi^lau,  1873. 

«r    vV'.^^Yifc'vVVrMk^i«  Hini  A!titrsritr;fK'^hi^%i^At(tteH  de*  Kopf^*, 

%L  K  lUmm^nl^ich .  iHÜKvtio  omuior\uu  divonjarum  ^utium. 
i5ouu^;:;io^   17^^^   -IS:?S,  C>.    Tk.  ^mmerrtH^.  üWr  die  kOrjK'rliche 

Yors\*hiixlouhoii  dos  Xo^r^^rs  vvuu  Kurv^j^aor.  Fraukturt  a.  M.,  17rv>.  — 


§.  156.  Literatar  der  Knochen-  und  Bänderlohro.  421 

P.  Camper,  über  den  natürlichen  Unterschied  der  Gesichtszüge. 
Ans  dem  Holländischen  übersetzt  von  Sömmerring.  Berlin,  1792.  — 
Ä  G.  Morton,  Crania  araericana,  etc.  Philadelphia,  1839 — 1842,  — 
R,  Froriepy  die  Charakteristik  des  Kopfes  nach  dem  Entwicklungs- 
gesetz desselben.  Berlin,  1845.  —  J.  Engel,  Untersuchungen  über 
Schädel  formen.  Prag,  1851.  —  Sehr  wichtige  Beiträge  zur  Kenntniss 
der  Alters-,  Geschlechts-  und  Racenunterschiede  des  Schädels  ent- 
hält Hu8chke*8  ausgezeichnetes  Werk:  Schädel,  ITirn  und  Seele  des 
Menschen.  Jena,  1854.  —  L,  Fkk,  über  die  Ursachen  der  Knochen- 
formen. Göttingen,  1857,  und  dessen  neue  Untersuchungen,  etc. 
Marburg,  1859.  —  P.  Harting,  le  c^phalographe.  Utrecht,  1861.  — 
G.  Lucae,  zur  Morphologie  der  Racenschädcl.  1861  — 1864.  — 
Ch.  Aebtjj  eine  neue  Methode  zur  Bestimmung  der  Schädelform, 
Braunschweig,  1862,  und  dessen  Schädelformen  der  Menschen  und 
Affen.  Leipzig,  1867.  —  M.  J.  Weber,  die  Lehre  von  den  Ur-  und 
Racenformen  der  Schädel  und  Becken.  Düsseldorf,  1830.  — 
A.  Retzlus,  über  die  Schädel  der  Nordbewohner,  in  MnUei^'s  Archiv, 
1845,  und  über  künstlich  geformte  Schädel,  ebenda,  1854.  — 
v.  Baer,  Crania  sclecta,  etc.,  cum  16  tab.,  in  den  Möm.  der  Peters- 
burger Akademie.  Tom.  VIII.  1859.  —  B,  Davis  und  J,  Thurnam, 
Crania  britannica.  67  Platcs.  London,  1856  begonnen.  —  H.  Welcher, 
Wachsthum  und  Bau  des  menschlichen  Schädels.  Leipzig,  1862.  — 
A.  Ecker,  Crania  Germaniae,  etc.  Frib.,  1863 — 1866,  und  dessen 
Schädel  nordost-afrikanischcr  Völker.  Frankfurt,  1866.  —  Riltiinei/er 
und  His,  Crania  Helvetica.  Basel,  1864.  —  JVeisbdch,  Schädelformen 
österreichischer  Völker,  in  der  Zeitschrift  der  Gesellschaft  der  Wiener 
Aerzte.  1864.  —  G.  Carus,  Atlas  der  Cranioscopic.     Leipzig,  1864. 

—  Iliering,   über   das  Wesen    der   Prognathie.    Braunschweig,  1872. 

—  Derselbe,  zur  Reform  der  Craniometrie.  Berlin,  1873.  —  Zucker- 
kandl,  Mittheilungen  der  anthropologischen  Gesellschaft  in  Wien. 
4.  Bd.  (Schicfschädel  und  Nahtverschmelzung).  —  Reich  an  cranio- 
logischcn  Mittheilungen  sind  die  periodischen  Publieationen  der 
anthropologischen  Gesellschaften  zu  London  und  Paris,  und  des 
deutschen  Archivs  für  Ajithropologie. 

e)   Wirbelsäule. 

E.  H,  Weher,  über  einige  Einrichtungen  im  Jlechanismus  der 
menschlichen  Wirbelsäule,  in  MeckeVs  Archiv.  1828.  —  J,  Müller, 
vergl.  Anatomie  der  Myxinoiden.  Erster  Thcil :  <  )steologie  und 
Myologie.  Berlin,  1835.  fol.  Höchst  geistreiche  und  für  die  richtige 
Auffassung  und  Deutung  der  Rückenmuskeln  unentbehrliche  Re- 
flexionen über  die  Wirbelfortsätze.  —  A.  Retzius  in  Müller  s  Archiv. 
1849.  6.  Heft.  —  F.  Homer,  über  die  Krümmung  der  Wirbelsäule 
im  aufrechten  Stehen.  Zürich,  1854.  —  Die  Arbeiten  von  H.  Meyer 


423  §•  ISO*  Literatur  der  Knochen-  und  Bftnderlehre. 

in  Müller's  Archiv,  1853  und  1861,  so  wie  jene  von  Parow,  im 
Archiv  für  path.  Anat.  1864,  erörtern  die  Bcwcglichkeits Verhältnisse 
der  Wirbelsäule. 

f)  Becken, 

F.  C.  Naegele,  das  weibliche  Becken,  betrachtet  in  Beziehung 
seiner  Stellung  und  der  Richtung  seiner  Höhle.  Carlsruhc,  1823.  — 
G.  Vrolik ,  considcrations  sur  la  diversite  des  bassins  des  raccs 
humaines.  Amst.,  1826.  —  Sdiwegel,  Beiträge  zur  Anatomie  des 
Beckens,  in  dem  Wochenblatt  der  Zeitschrift  der  ärztlichen  Gesell- 
schaft in  Wien.  1855,  Nr.  37.  —  Weisbcbch,  Becken  österreichischer 
Völker,  in  der  Zeitschrift  der  Wiener  ärztlichen  Gesellschaft,  1866. 
—  0,  V.  Franque,  über  die  weiblichen  Becken  verschiedener  Menschen- 
racen,  in  ScamonVs  Beiträgen  zur  Geburtskunde.  Bd.  VI.  —  L.  Fürst, 
die  Maass-  und  Neigungs Verhältnisse    des  Beckens.     Leipzig,  1875. 

g)  Gelenke, 

Ausser  den  im  Texte  der  Osteologie  genannten,  neuesten  Ar- 
beiten über  Gelen ksmcchanik,  führe  ich  noch  folgende  an:  W.  und 
E,  Weber,  Mechanik  der  menschlichen  Gehwerkzeuge.  Göttingeii, 
1836.  8.  Ein  durch  Originalität  und  mathematische  Begründung 
seiner  Lehrsätze  gleich  ausgezeichnetes  Werk.  —  G,  B,  Günther, 
das  Handgelenk  in  mechanischer,  anatomischer  und  chirurgischer 
Beziehung.  Hamburg,  1841.  —  Ch.  Bell,  die  menschliche  Hand. 
Aus  dem  Englischen  von  Hauff,  Stuttgart,  1836.  —  J,  Hfjrtl,  Knie- 
gelenk. Oesterr.  medic.  Jahrb.  1839;  Hüftgelenk,  Zeitschrift  der 
Wiener  Aerzte.  1846.  —  Mehrere  kleinere  ^  Abhandhingen  von 
H.  Metjer  und  L,  Ftck  in  Müller' 8  Archiv.  1853.  —  Hoher f,  Anatomie 
und  Mechanik  des  Kniegelenks.  Giessen,  1855.  —  iMmjer,  über  das 
Sprunggelenk,  im  12.  Bande  der  Denkschriften  der  kais.  Akad.  — 
Derselbe,  über  das  Kniegelenk,  in  den  Sitzungsberichten  der  kais. 
Akad.  32.  Bd.  —  Henke,  die  Bewegung  des  Beines  im  Sprung- 
gelenk, in  der  Zeitschrift  für  rat.  Med.  8.  Bd. ;  über  die  Bewegun- 
gen der  Handwurzel  und  des  Kopfes,  ebenda,  7.  Bd.  —  Luschka, 
die  Halbgelenke.  Berlin,  1858.  —  F,  R,  Schmid,  Form  und  Mechanik 
des  Hüftgelenks.  Bern,  1875.  —  Henle's  Anatomie  (1.  Band)  ist 
eine  reiche  Fundgrube  für  Mechanik  der  Gelenke,  und  die  sechste 
Auflage  meiner  topographischen  Anatomie,  enthält  die  praktischen 
Anwendungen  derselben.  —  H,  Met/er,  Statik  und  Mechanik  des 
Knochengerüstes.  Leipzig,  1874. 

h)  Entwicklung,  Altersverschiedenlieiten  und  Spielarten  der  Knochen, 

J,  J,  Sue,  sur  les  propri^tös  du  squel^te  de  Thomme,  examinc 
depuis   Tage    le   plus   tendre,  jusqu'a   celui    de   60   ans   et  au  dela. 


1. 156.  Litoratnr  der  Knochen-  und  B&nderUhre.  423 

Möm.  prös.  k  TAcad.  royale  des  scienccs.  Paris,  1755.  —  F.  Isenr 
fiamm,  brcvis  dcscriptio  sceleti  humani  variis  in  aetatibus.  Erlangae, 
1796.  —  F.  CJiaussard,  recherches  sur  Torganisation  des  vieillards. 
Paris,  1822.  —  J.  van  Döveren,  observ.  osteol.  varios  naturae  lusus 
in  ossibus  exhibentes.  In  ejusdem  Specim.  observ.  acad.  Groning. 
1765.  —  Ca.  RoaenmiiUer,  diss.  de  singularibus  et  nativis  ossium 
varietatibus.  Lipsiae,  1804.  —  Tlieüe,  Beiträge  zur  Angio-  und 
Osteologic,  in  der  Zeitschr.  für  wiss.  Med.  VI.  Bd.  —  W.  Gruber y 
Abhandl.  aus  der  menschl.  und  vergl.  Anatomie.  Petersburg,  1852. 
Eine  wahre  Fundgrube  interessanter  und  seltener  Anomalien  in 
Thieren  und  Menschen.  (Osteolog.  Varietäten  als  Thierähnlichkeiten, 
Os  interparietale,  abnorme  Nähte,  etc.)  —  Schwegd,  Knochenvarie- 
täten, in  der  Zeitschrift  für  rat.  Med.  3.  Reihe.  XI.  Bd.  —  Luschka, 
über  Halsrippen  und  Ossa  suprastemalia,  im  16.  Bd.  der  Denk- 
schriften der  kais.  Akad.  —  Gurlt,  Beiträge  zur  path.  Anat.  der 
Gelenkskrankheiten.  Berlin,  1853.  —  Dürr,  Zeitschr.  fiir  wiss.  Med. 
1860,  und  Bockshamer,  die  angeborene  Synostose,  Tübingen,  1861, 
handeln  über  die  interessanten  Verschmelzungen  des  Atlas  mit  dem 
Hinterhauptbein,  und  des  fünften  Lendenwirbels  mit  dem  Kreuz- 
bein. —  Hjirtl,  über  die  Trochlearfortsätze  menschlicher  Knochen, 
in  den  Denkschriften  der  kais.  Akad.  IH.  Bd.  —  Ramhaud  et  Renault, 
origine  et  developpement  des  os.  Paris,  1864.  —  W,  Henke  und 
C  Ret/her,  Entwicklung  der  Extremitäten.  Wiener  akad.  Sitzungs- 
berichte, 1874. 

ij  Praktische  Amoeisungeji  zur  Skeletopoe, 

Nebst  den  allgemeinen  Schriften  über  Zergliederungskunst: 
.7.  Cloquet,  de  la  sceletopee,  ou  de  la  preparation  des  os,  des  arti- 
culations,  et  de  la  construction  des  squelötes,  in  dessen  Concours 
pour  la  place  de  chef  des  travaux  anatom.  Paris,  1849.  —  J.  A.  Bo* 
gros,  quelques  consid^rations  sur  la  scelctopde.  Paris,  1819.  — 
C\  Hesselhadi,  vollständige  Anleitung  zur  Zergliederungskunde.  Erster 
Band.  Arnstadt,  1805. 


JB)  Bänderlehre. 

Die  SyjKlcsmologie  hat  eine  sehr  gründliche  Bearbeitung  ge- 
funden in  Henle's  Bänderlehre,  welche  die  zweite  Abtheilung  des 
ersten  Bandes  seines  anatomischen  Handbuches  bildet.  Die  neuere 
Zeit  brachte  Luschkas  Halbgelenke  des  menschlichen  Körpers,  mit 
6  Tafeln,  Berlin,  1858,  fol.,  und  W.  Henke's  Handbuch  der  Anatomie 
und  Mechanik  der  (ielenke,  Leipzig,    1863,   so   wie   dessen  Mecha- 


424  S.  156.  Literatur  der  Knoehen-  und  Bftnderlehre. 

nismus  der  Doppelgelcnke  mit  Zwischenknorpel.  Von  älteren  Werken 
kann  nur  genannt  werden: 

J.  WeMrechtj  Syndesmologia,  sive  historia  ligamentorum  cor- 
poris hum.  Petropoli,  1742.  Mit  26  Tafeln.  Deutsch  von  Loschge, 
mit  besseren  Abbildungen  als  im  Original.  2.  Auflage.  Erlangen, 
1804.  fol.  Es  verdient  dieses  Werk  den  Namen  nicht  mehr,  welchen 
es  bei  seinem  Erscheinen  hatte.  Weit  vollständiger  und  gründlicher 
ist:  H.  Barkow,  Sjndesmologie.  Breslau,  1841. 


DRITTES  BUCH. 


Muskellehre,  mit  Fascien  und  topographischer 

Anatomie. 


A.  Kopfmuskeln. 


§.  157,  Eintheilimg  der  Kopfmuskeln. 

Unter  Kopfmuskeln,  im  engeren  Sinne  des  Worte«,  v<M'st<^lien 
wir  jene,  welelie  am  Kopfe  entspringen,  und  am  Kopfe  endigen.  Die* 
vielen  Muskeln,  welche  nur  am  Kopfe  endigen,  und  anderswo  ent- 
springen, w(*rden  nicht  als  Kopfmuskeln,  soiulern  als  Musk<'ln  j<*ner 
Gegenden  besehrieben,  durch  welche  sie  v(»rlaufen,  Im* vor  sie  zum 
Kopf  gelangen. 

Die  eigentlichen  Kopfmuskeln  zerfallen  in  zwei  Klass(*n.  Dir 
erste  wird  durch  Muskeln  gebildet,  welche  nur  mit  Kincni  Kndc  an 
einem  Kopfknochen  haften,  mit  dem  andcn^n  sieh  in  WciclitlH'ile, 
oder  in  die  Haut,  verlieren.  Sie  sind  sämmtlicli  dUnnc,  und 
vcrgleichungsweise  schwache  ^luskeln,  da  die»  (ic^bildc,  wch-ln^  si« 
zu  bewegen  haben,  sehr  wenig  Widerstan<l  lcist(Mi.  l)i(^  zweite 
Klasse  fasst  solche  Muskeln  in  sich,  wcIcIh^  an  Kopfknoeh<*n  cuit- 
springen  und  endigen.  Da  es  nur  Kin<Mi  l)(»wcgli<*licn  Knoelicn  (clen 
Unterkiefer)  am  Kopfe  giebt ,  müss<*.n  si<'  alle  sich  an  diesem 
festsetzen. 

Bevor  «ler  Schüler  zum  Studium  <ler  Munkeln  und  zur  praktiHclien  JJ«j- 
arbeitnng  derselben  an  der  Leiche  Mchreitet,  m?>pe  er  die  raragraphe  31  42  der 
allgemeinen  Anatomie  aufmerksam  durchgehen.  —  Mein  Handbuch  der  prakt. 
Zerglied  erung«kunHt,  Wien,  IHGO,  entliült  AUeH,  waii  er  zur  I'raxiH  dei4 
Seciren»  bedarf.  -  AU  Cnrionum  erwähne  ich,  da««  e»  auch  Myologieen  in  Vt*€M't\ 
gpebt:  J^h,  f/narr^,  mt/ffffM/ia  jxjrfM-a,  J'nrU,  Ih'-'J^,  und  Car,  Spon,  intjttl4njitL 
heixtUxf  cai-nünf,  f.rjnr'oin,  in   yfnufi^Ai  hihi,  nnfil.    T*mi.   II. 


§.  158.  Kopfrrjij.Hk^ln,  welche  sich  an  Weichtheilen  inseriren. 

\)V\    M'j^lc'ffi    fU"^*r    KIämwj    bewegen    eiitwijder    die    bchaart^^ 
Kopfhaut,  vl'f   'h':Wirk"M  'Vw.  YjTwt'AU'.nxuy;  und  Wrcngeruiig  der  im 


428  §.  158.  Kopfinnskoln,  welche  sich  an  Weichtheilen  inseriren. 

Gesichte  belindlichen  Oeffnungen.  So  bedeutsam  diese  Muskeln  für 
die  Mechanik  des  Mienenspiels  sind,  so  unwichtig  sind  die  meisten 
derselben  bisher  dem  praktischen  Arzte  geblieben. 

A.  Muskeln  der  behaarten  Kopfhaut. 

Sie  sind :  der  Musculus  frontalis  und  occipitalis.  Ersterer  ent- 
springt von  der  Glabella,  in  der  Gegend  der  Sutur  zwischen  Stini- 
und  Nasenbein,  fertier  von  dem  inneren  Ende  des  Arcus  superciliaris, 
wohl  auch  vom  Margo  supraorbitalis.  Er  läuft,  mit  dem  der  anderen 
Seite  divergirend,  über  den  Stirnhöcker  nach  aufwärts,  breitet  sich 
zu  einer  flachen  und  dünnen  Muskelschichte  aus,  und  inserirt  sich 
mit  einem  massig  convexen  Rande,  an  den  vorderen  Rand  einer 
Aponeurose,  welche  der  Oberfläche  der  Hirnschale  wie  eine  Kappe 
genau  angefügt  ist  (die  Schädelhaube,  Gcdea  aponeurotica  cranii). 
Diese  liegt  zwischen  Haut  und  Beinhaut,  und  breitet  sich  nach 
rückwärts  bis  zum  Hinterhaupte,  und  seitwärts  bis  zur  Schläfe- 
gegend herab  aus.  An  den  hinteren  Rand  dieser  Aponeurose,  setzt 
sich  der  viereckige,  flache,  dünne  Musculus  occipitalis  an,  welcher 
von  den  zwei  äusseren  Dritteln  der  Linea  semidrcuiaris  superior  des 
Hinterhauptbeins,  und  von  der  angrenzenden  Pars  mastoidea  des 
Schläfebeins  entsteht,  und  mit  dem  der  anderen  Seite  etwas  con- 
vergirend,  an  die  Galea  tritt.  Gegen  die  Schläfe  herab,  verliert  die 
Galea  ihren  aponeurotischen  Charakter,  und  nimmt  das  Ansehen 
einer  Bindegewebsmembran  an.  —  Es  lassen  sich  auch  die  Stirn- 
muskeln als  der  vordere,  die  Hinterhauptmuskeln  als  der  hintere 
Bauch,  und  die  Galea  als  die  Sehne  eines  einzigen  Muskels  be- 
trachten, welcher  dann  Musculus  epicranius  oder  occipito-frontalis  zu 
nennen  wäre.  —  Jedes  Muskelbündel  des  Frontalis  und  Occipitalis, 
setzt  sich  in  ein  breites  Sehnenbündel  fort,  welches,  besonders  vom 
Occipitalis  aus,  sich  weit  in  die  Galea  hinein  verfolgen  lässt.  — 
Die  beiden  Stirnmuskeln  werden  die  Galea  nach  vorn,  die  beiden 
Hinterhauptmuskeln  nach  hinten  ziehen,  und,  da  die  Galea  sehr  fest 
mit  der  behaarten  Haut  des  Schädels  zusammenhängt,  wird  letztere 
den  Bewegungen  der  Galea  folgen.  Wirken  die  Stirn-  und  Hinter- 
hauptmuskeln gleichzeitig,  so  wird  die  Galea  an  den  Schädel  stärker 
angepresst.  Wirkt  der  Musculus  frontalis  allein,  so  wird  er,  zugleich 
mit  der  Bewegung  der  Galea  nach  vorn,  die  Stirnhaut  in  quere 
Falten  legen,  welche,  wenn  sie  zu  bleibenden  Runzeln  werden,  die 
gefurchte  Stifne  der  Greise  bilden. 

Diese  Angaben  sind  den  anatomischen  Verliältnissen  des  Stimmuskels  ent- 
nommen. Cruveilhier  dagegen  stellt,  gestützt  auf  Reizimg^versuciie  des  Muskels, 
die  Behauptung  auf,  dass  der  Musculus  fvontalitt  immer  seinen  fixen  Pimkt  an  der 
Galea  nehme,  die  Stimliaut  und  die  Augenbrauen  nacli  aufwärts  bewege,  und 
dem  Gesichte  jenen  Ausdruck  verleihe,  welchen  es  bei  heiteren  Affecten,  und 
ft'endiger  Ueberraschung  annimmt. 


S.  Ifi8.  Kopfmuskolu,  welche  sich  an  Weichtheilen  inseriren.  429 

Wenn  die  Galea  ver8clüe1)bar  ist,  so  kann  sie  mit  dem  anter  ihr  liegenden 
Periost  des  Sdiädcls,  nur  eine  lockere  und  dehnbare  liindeffcwebsverbindung  ein- 
gehen, während  ihr  Zusammenhang  mit  der  behaarten  Kopfhaut,  durch  ein  sehr 
kurzes,  straffes,  und  nur  sehr  wenig  Fett  einscliliessendes  Bindegewebe  bewerk- 
stelligt wird,  lieber  einen  der  beiden  Stirnmuükeln,  und  zwar  häufiger  über  den 
rechten  als  über  den  linken,  verläuft  die  bei  körperlichen  Anstrengungen  und 
Gemüthsbewegungen  schwellende  Stimvene  fV'ena  i^rneiHirata),  „die  Ader  des 
Zornes",  aus  welcher  man  vor  Zeiten  zur  Ader  liess. 

Der  durch  sehr  kurzes  und  straffes  Bindegewebe  vermittelte  innige  Zusammen- 
hang der  Galea  mit  der  behaarten  Kopfhaut,  ist  der  Grand,  wanim  von  den  An- 
fängern, öfters,  bei  der  Ablösung  der  Kopfhaut,  die  Galea  mitgenommen  wird. 
Die  alten  Aerzte  hielten  die  behaarte  Kopfliaut,  welche  besonders  in  der  Hinter- 
hauptgegend  sich  durch  ihre  Dicke  auszeichnet,  und  deshalb  von  ihnen  Kopf- 
schwarte genannt  wurde,  für  porös.  Die  vermeintlichen  Pori  sollten  dazu  dienen, 
die  Dämpfe  des  Gehirn»  (Huperßuüuten  famosaa  ceredrij,  welche  durch  die  Nähte 
nach  aussen  dringen,  verdampfen  zu  lassen.  Ist  die  Kopfscliwarte  ungewöhnlich 
dick,  so  lässt  sie  dieses  Verdampfen  niclit  zu,  w^odurch  sich  die  Himdämpfe  ver- 
dichten, und  unter  der  Haut  zu  den  Gelenken  wandern,  um  dort  die  Gicht  ssu 
erzeugen.  Die  Medicin  hat  dun*.li  lange  Zeit,  den  Unsinn  in  allen  Formen  fllr 
WLssenschaft  genommen. 

Zuweilen  findet  sich  unter  tlem  Musculus  occijnUdiM  noch  ein  kleiner,  feder- 
spnlcndicker  Miiskelstreifen ,  welcher  in  der  Gegend  der  ProtuJterantia  ocripUnlu 
externa  von  der  oberflächlichen  Nackenfascie  entspringt,  den  Kopfursprung  de» 
Curullaria  in  querer  Richtung  überlagert,  und  sich  in  der  Gegend  der  Kopf- 
insertion  des  Kopfnickers,  entweder  in  der  Nackenfascie  oder  in  der  Fascia  jxiro- 
tidea  verliert.  Santorini  besclirieb  ihn  zuerst  als  OccipUalis  inmor  oder  (hrrn- 
gatnr  iwsticus, 

B.  Muskeln  um  die  Oet'fnungeu  d(»s  Gesichts. 

Sie  bilden  so  viel  Gruj)pen,  als  ( )eft'nun<jj(^n  im  Oesielite  vor- 
kommen. 

1.  Muskeln  der  Augenlidspalte. 

Vom  inneren  Winkel  der  Augenlidspalte  geht  ein  kurzes,  aber 
breites  Bündchen  (Ligamentum  paJpehrarum  Inteimum)  zum  Rtirn- 
foi*tsatz  des  Oberkiefers,  welches  man  am  eigenen  Kopfe  selicn 
kann,  wenn  man  die  Augenlidspalte,  durch  Zug  an  ihrem  äusseren 
Winkel,  gegen  die  Schläfe  hindrängt.  Von  diesem  Bändchen,  und 
vom  Stirnfortsatz  des  Oberkiefers  selbst,  entspringt  der  Schliess- 
muskel  der  Augenlider,  Musculus  orhiculans  s,  sphinct&r  palpe- 
brarum, welcher  eine  Kreisbewegung  um  den  Umfang  der  Orbita 
macht,  und  theils  an  demselben  Bändchen,  theils  am  inneren  Drittel 
des  Margo  wfrafrrhitaUs  endigt. 

Man  braucht  den  Muskel  nur  einmal  zu  sehen,  um  Überzeugt  zu  sein,  dass 
er  seinen  Namen  mit  Unrecht  trägt,  indem  er  nur  die  Haut  um  die  Orbita 
zusammenschieben,  und  in  strahlenf^irmige  Falten  legen  kann,  mit  den  Augenlidern 
ab(?r  nicht»  zu  schaifen  hat  Es  wäre  deshalb  riditiger,  ihn  Orhicularis  orhiUir  zu 
nennen.  Die  Schliessung  der  Augenlider  wird  vielmehr  durch  ein  besonderes, 
dünnes,  unter  der  Haut  der  Augenlider,  dicht  am  fireien  Lidrande  (wo  die  Wimpern, 
CÜia,  wurzeln)  liegendes,  gelblich-rÖthlicheB  Muakelstratum  bewirkt,  welches,  im 
Gegensatz  zum  OrbicularU  orintae,  alt  Orbkudaina  jpa^peAramm  aa  bezeichnen 
wäre,  oder,  nacli  seinem  Entdettker,  ab  M^  IHe  einxelnen 


430  §•  158.  Kopftnnskeln,  welche  sich  an  Weiohtheilen  interiren. 

Bflndel  dieses  MuAkelstratnmB  sind  so  gebogen,  dass  jene  des  oberen  und  unteren 
Augenlides,  ihre  Concavitüten  gegen  die  Lidspalte  kehren.  »Sie  müssen  also,  durch 
ihr  Geradlinig^erden  während  der  Contraction,  die  freien  LidrKnder  bis  zur  Be- 
rührung einander  nlihem.  Jene  Bündel,  welche  zunächst  am  freien  Lidrande  lagern, 
sind  etwas  dicker,  und  dichter  zusammengedrängt  als  die  übrigen. 

Eine  Partie  von  Fasern  des  OrhicuJftrvi  entspringt  von  der  äusseren  Wand 
des  Thränensacks  und  von  der  Crista  des  Thräneni)eins ,  als  ein  schmales,  vier- 
eckiges Fleisrhbündel.  Dieses  ist  der  schon  von  Duvernoy  gekannte,  von 
Rosenmüller  abgebildete  Mvscidujt  Hörnen  (Philadelphia  Journal,  1824,  Nov.). 
Homer  betrachtete  ihn  a1»er  nicht  als  Theil  des  Orhici/Jaritj  sondern  Hess  ihn,  in 
zwei  Schenkel  gespalten,  an  den  inneren  Endpunkten  der  beiden  Augcnlidknorpol 
endigen,  welche  er  nach  innen  spannen  soll,  weshalb  er  denn  auch  sofort  als  Tmsor 
tarn  benannt  wurde.  —  lieber  die  anatomischen  und  physiologischen  Verhältnisse 
des  OrltieularU  handelt  ausführlich,  und  mit  neuen  Gesichtspunkten,  P.  L  e  s  s  h  a  f t, 
im  Arch.  für  Anat.  und  Physiol.  1868. 

Der  schmale  Augcnbrauenrunzler ,  Muscidns  c(yn*iigator 
supercäü,  zieht  die  obere  Augenbraue  gegen  die  Nasenwurzel  und 
zugleich  etwas  herab.  Vom  Stimmuskel  und  Orhicularis  palpebrarum 
bedeckt,  nimmt  er  von  der  Glabella  seinen  Ursprung,  geht  über 
den  Arcus  supercäiaris  nach  aussen,  und  verwebt  sich,  beiläufig  in 
der  Mitte  des  Margo  supraorhttalis ,  mit  den  Fasern  des  Frmitalu 
und  Orbictdaris.  Indem  er  beide  Brauen  einander  nähert,  muss  sich 
die  Haut  der  Glabella  in  senkrechte  Falten  legen.  Er  ist  also  kein 
Ccrrrugator  stiperciUi,  sondern  ein  Corrugator  glabellae, 

2.  Muskeln  der  Nase. 

Der  Aufheber  des  Nasenflügels  und  der  Oberlippe, 
Levator  alae  nad  et  labii  superhris,  entsteht  vom  Stirnfortsatze  des 
Oberkiefers,  unterhalb  der  Ansatzstelle  des  Ligamentum  pcäpebral^ 
mtemum,  und  hängt  mit  dem  Ursprimge  des  Musculus  frontalis  zu- 
sammen. Er  steigt  an  der  Seite  der  Nase  herab,  und  theilt  sich  in 
zwei  Schenkel,  deren  einer  zum  Nasenflügel,  der  andere,  breitere, 
zur  Oberlippe  geht.  Er  rümpft  die  Nase  und  erweitert  das  Nasen- 
loch. (Sa n torin i  nannte  ihn  Pyramidalis),  —  Der  Zusammen- 
drücker der  Nase,  Compressor  nasi,  entspringt  aus  der  Fossa  canina 
des  Oberkiefers,  wo  er  vom  vorhergehenden  bedeckt  wird.  Während 
er  zum  Rücken  der  knorpeligen  Nase  strebt,  verwandelt  er  sich  in 
eine  dünne  Fascie,  welche  mit  jener  der  anderen  Seite  über  dem 
Nasenrücken  zusammenfliesst.  Zu  dieser  Fascie  kommt  nicht  selten 
ein  schlankes  Muskelbündelchen  vom  Stirnmuskel  herunter,  als 
Musculus  procerus  Santorini,  Neuere  Autoren  vei-wechseln  den  Procerus 
mit  dem  Pt/ramidalis,  —  Der  Niederzieher  der  Nase,  Depressor 
alae  nasi  s,  Musculus  lateralis  nasi,  entspringt,  von  den  beiden  früheren 
bedeckt,  von  der  Alveolarzelle  des  Eckzahns  und  äusseren  Schneide- 
zahns, krümmt  sich  nach  auf-  luid  vorwärts,  und  befestigt  sich  am 
hinteren  Ende  dea  Nasenflügelknorpels.  —  Der  Levator  propiius  alae 
nam  anterior  und  posterior  entspringen,  der  erstere  vom  Seitenrande 


}.  168.  Kopftnntkaln,  welche  sich  an  Weiehthellen  inseriren.  431 

der  Incüura  pyrifm^mM,  der  zweite  vom  Nasenflügelknorpel,  in 
dessen  Hauttiberzug  beide  übergehen  sollen.  —  Der  Niederzieher 
der  Nasenscheidewand,  Depressor  septt  mohilis  nariumy  besteht 
aus  Fasern  des  Orbteidaris  oris,  welche  sich  in  der  Medianlinie  nach 
oben  begeben,  um  am  unteren  Rande  des  Nasenscheidewandknorpels 
zu  enden.  Man  kann  ihn  richtiger  als  ein  Ursprungsbündel  des 
Orhicularis  oris  nehmen. 

3.  Muskeln  der  Mundspalte. 

Bei  keinem  Thiere,  selbst  bei  den  menschenähnlichsten  Affen 
nicht,  besitzt  die  Mundspalte  eine  so  zahlreiche  Muskulatur,  wie 
im  Menschen.  Der  Mund  der  Thiere  kann  deshalb  nie  jene  ver- 
schiedenen Formen  annehmen,  welche  ihn  im  Menschen  zu  einem 
so  wichtigen  und  sprechenden  Factor  der  Miene  machen.  Das 
ganze  Spiel  der  Lippen  beschränkt  sich  bei  den  Thieren  auf  das 
Ergreifen  des  Futtere,  auf  das  Fletschen  der  Zähne,  auf  die  Her- 
vorbringung einer  Grimasse,  welcher  man  es  oft  nicht  ankennt,  ob 
Freude  oder  Leid  ihre  Veranlassung  ist.  —  Die  grössto  Anzahl 
der  Muskeln  des  Mundes  liegt  beim  Menschen  in  der  Richtung  der 
verlängerten  Radien  der  Mundöffnung.  Nur  Einer  geht  im  Kreise 
um  die  Mundöffnung  herum.  Letzterer  ist  ein  Ver  engerer  und 
Schliesser,  erstere  aber  sind  Erweiterer  der  Mundöffnung.  Von 
der  Nasenseite  zum  Kinn  im  Bogen  herabgehend,  begegnet  man 
folgenden  Erweiterern  der  Mimdspalte: 

1.  Der  Aufheber  der  Oberlippe,  LevcUor  lahii  superioris 
propiius,  einen  Querlinger  breit,  entspringt  am  inneren  Abschnitte 
des  Margo  infraorhitcdis,  und  geht  schräge  nach  innen  und  unten, 
zur  Substanz  der  Oberlippe.  Er  deckt  das  Foramen  infraorhitale 
und  die  aus  ihm  hervortretenden  Gefasse  und  Nerven. 

2.  Der  Aufheber  des  Mundwinkels,  Tjevator  angidi  ori$, 
kommt  aus  der  Grube  der  vorderen  Fläche  des  Oberkieferkörpers, 
und  verliert  sich,  fast  senkrecht  absteigend,  und  an  seinem  ii\neren 
Rande  vom  I^vator  lahii  bedeckt,  im  Mundwinkel.  Er  liegt  unter 
allen  Muskeln  der  Oberlippe  am  tiefsten. 

3.  und  4.  Der  kleine  und  grosse  Jochbeinmuskel,  Mus- 
culus zijgomaticus  major  et  minor,  entspringen  von  der  Gesichtsfläche 
des  Jochbeins,  der  kleine  über  dem  grossen.  Sie  nehmen  vom  Or- 
hicularis  palpehrarum  häuiig  Fasern  auf,  und  gehen  vom  Mundwinkel 
aus,  in  die  Substanz  der  Ober-  und  Unterlippe  über,  wo  sie  sich 
mit  den  Fasern  des  Schliessmuskels  verweben. 

5.  Der  Lachmuskcl,  Risorius  Santorini,  der  kleinste  und 
schwächste  in  dieser  Muskelgruppe,  entspringt  in  der  Regel  von 
der,  den  Kaumuskel  und  die  Parotis  deckenden  Fascie  (Fascia 
parotideomasseterica),  und  läuft  quer  zum  Mundwinkel,  welchen  er, 
wie  beim  Lächeln,  nach  aussen  zieht.  Es  erscheint  zulässlich,   den 


432  9*  1^  Kopftanwkeln,  welche  sieh  so  Weichftkeilen  interiren. 

Rüoriua  Santorini,  als  das  oberste  Grenzbündel  eines  später  (§.  163) 
folgenden  Halsmuskels^  des  Platysma  myoides,  aufzufassen.  Man 
schrieb  mit  Unrecht  diesem  Muskel  die  Wirkung  zu^  das  Lach- 
grtibchen  in  der  Wange  zu  bilden  ^  welches  Grübchen  von  den 
Griechen  Gelasinos,  von  Berengarius  aber  galanter  Weise  Umbäi- 
cti8  Veneris  genannt  wurde. 

6.  Der  Niederzieher  des  Mundwinkels,  Depressor  angidi 
oris  8.  Triangularis ,  entsteht  breit  am  unteren  Rande  des  Unter- 
kiefers, und  verwebt  sich,  spitzig  zulaufend,  mit  der  Ankimftsstelle 
des  Zygomaücus  major  am  Mundwinkel. 

7.  Der  Niederzieher  der  Unterlippe,  Depressor  lahii  infe- 
rioris  s,  Quadratus  mstiti,  entspringt  am  unteren  Kieferrande,  aber 
weiter  einwärts  als  der  vorige,  und  wird  von  ihm  theilweise  be- 
deckt Er  verliert  sich  theils  in  der  Haut  des  Kinns,  theils  in  der 
Substanz  der  Unterlippe.  Die  Muskeln  beider  Seiten  convergiren 
mit  einander  so,  dass  sich  ihre  inneren  Faserbündel  wirklich 
kreuzen. 

MerUum  ist  Kinn,  welches  bei  Plinius  anch  barhamentum  heisst;  —  das 
Y^veiov  der  Griechen  bedeutet  sowohl  Kinn  als  Bart,  daher  y^vei^^»»  einen  Bart 
bekommen,  d.  i.  mannbar  werden. 

8.  Der  Aufheber  des  Kinns,  Levator  menti,  findet  sich  in 
dem  dreieckigen  Räume  zwischen  beiden  Quadrati,  entspringt  vom 
Alveolarfortsatz  des  Unterkiefers,  über  der  Protuberantta  menfalü, 
und  verliert  sich,  herabsteigend,  theils  in  die  Haut  des  Kinns,  theils 
soll  er  auch  bogenfiirmig  in  denselben  Muskel  der  anderen  Seite 
übergehen. 

9.  Die  Schneidezahnmuskeln,  Muscidt  indsivi  Coicperi,  zwei 
obere  und  zwei  untere,  nehmen  ihren  schmalen  Ursprung  an  den 
Alveolarzellen  der  seitlichen  Schneidezähne,  und  verlieren  sich  als 
gerade,  kurze,  aber  eben  nicht  schwache  Muskeln,  in  die  betreffende 
Lippe.  Einige  erklärten  diese  Muskeln  fiir  die  Kieferursprünge  des 
gleich  zu  erwähnenden  Sphincter  oris. 

Wenn  je  ein  Theil  der  Anatomie  einer  strengen  und  vorurtheilsfreien  Re- 
Tision  bedarf,  so  ist  es  die  Anatomie  der  Qesichtsmnskeln.  Man  redet  Anderen 
zu  viel  nach,  nnd  unterlXsst  das  eigene  Nachsehen.  Wanim?  Weil  die  Zer- 
gliederung der  Muskeln  der  Mundspalte  wirklich  die  schwierigste  Partie  der  prak- 
tischen Myotomie  genannt  zu  werden  verdient,  nnd  mehr  geduldigen  Fleiss  in 
Anspruch  nimmt,  als  man  gewöhnlich  darauf  verwendet. 

10.  Der  Backenmuskel,  Musculus  bucdnator  s.  buccalis,  ent- 
springt von  der  äusseren  Fläche  des  ZahnfUcherfortsatzes  beider 
Kiefer  hinter  dem  zweiten  Backenzahn,  und  vom  Hamulus  ptery- 
goideus  des  Keilbeins,  läuft  mit  ziemlich  parallelen  Fasern  quer 
gegen  den  Mund,  wird  von  den  beiden  Zygomatidsj  dem  Risorius 
und  Deprusor  anguU  oris  überlagert^  und  verliert  sich  in  der  Ober- 


1. 188.  Kopftnnskaln,  welche  sich  an  Weicktkeilen  inMiiren.  433 

und  Unterlippe,  so  zwar,  dass  die  obersten  der  vom  Unterkiefer 
entsprungenen  Bündel  in  die  Oberlippe,  und  die  untersten  der 
vom  Oberkiefer  kommenden  in  die  Unterlippe  übergehen.  An  den 
Mundwinkeln  muss  somit  eine  partielle  Kreuzung  der  Bündel  des 
Buccinator  stattfinden.  Wirkt  er  allein,  so  erweitert  er  die  Mund- 
öffnung in  die  Quere.  Wird  diese  Erweiterung  durch  die  gleich- 
zeitige Thätigkeit  des  Schliessmuskels  des  Mundes  aufgehoben,  so 
drückt  er  die  Wange  an  die  Zähne  an,  oder  comprimirt,  wenn  die 
Mundhöhle  voll  ist,  den  Inhalt  derselben,  z.  B.  die  Luft,  welche, 
wenn  die  Lippen  sich  ein  wenig  öffnen,  mit  Gewalt  entweicht,  wie 
beim  Spielen  von  Blasinstrumenten,  daher  der  alte  Name  Trom- 
petermuskel. Gegenüber  dem  zweiten  oberen  Backenzahn,  wird 
er  durch  den  Ausführungsgang  der  Ohrspeicheldrüse  durchbohrt.  — 
Die  vielen  Muskeln,  welche  zu  den  beiden  Mundwinkeln  treten, 
sind  der  Grund,  warum  die  Mundöffnimg  eine  Querspalte,  und  nicht, 
wie  der  After,  ein  faltig  zusammengezogenes  Loch  bildet. 

Der  lateinische  Name  Biiccinator  stammt  von  bticca,  d.  i.  die  beim  Blasen 
oder  Essen  aufgeblähte  Wange,  daher  bei  lateinischen  Classikem  bucco  ebenso 
Schwätzer,  als  Yielfrass  bedeutet.     Die  nicht  aufgeblähte  Wange  heisst  gena. 

Dieser  Menge  von  Erweiterern  der  Mundöffnung  wirkt  nur 
Ein  Ring-  oder  Schliessmuskel  entgegen,  Orhicülaris  oris  8. 
Sphincter  lahiorum  (von  aftf/w,  schnüren).  Er  bildet  die  wulstige 
Fleischlage  der  Lippen.  Zwischen  der  äusseren  Haut  und  der  Mund- 
schleimhaut eingeschaltet,  hängt  er  mit  letzterer  weniger  fest  als 
mit  ersterer  zusammen,  ja  es  ist  selbst  bewiesen,  dass  eine  Summe 
von  Fasern  dieses  Muskels  wirklich  in  die  Haut  der  Lippen  ein- 
geht, und  sich  in  ihr  verliert.  Man  Hess  ihn  daher  mit  Unrecht 
nur  aus  concentrischen  Ringfasern  bestehen ,  welche  nirgends  am 
Knochen  befestigt  sind,  und  sich  mit  den  übrigen,  zur  Mundspalte 
ziehenden  Muskeln  so  innig  verkreuzen  und  verfilzen,  dass  daraus 
das  schwellende  Fleisch  der  Lippen  entsteht.  Reizungsversuche 
einer  Hälfte  des  Muskels  (nach  Duchenne)  zeigten  aber,  dass  die 
Contraction  nur  auf  die  gereizte  Hälfte  sich  beschränkt,  was  nicht 
der  Fall  sein  könnte,  wenn  die  Muskelfasern  des  Sphincter  aus  einer 
Lippenhälfte  coutinuirlich  in  die  andere  fortliefen.  Sharpey  trennt 
ihn  in  eine  Pars  labialis  und  facialis,  Erstere  erstreckt  sich  so  weit, 
als  das  Lippenroth  reicht,  und  besteht  aus  wirklichen  Kreisfasern. 
Letztere  umschliesst  erstere,  besteht  nicht  aus  selbstständigen  Kreis- 
fasern, sondern  erborgt  ihre  Elemente  theils  aus  den  übrigen  zur 
Mundspalte  tretenden  Muskeln,  theils  entspringen  sie  an  den  Zahn- 
fächcrfortöätzen  des  Ober-  und  Unterkiefers  in  der  Nähe  der  Eck- 
zähne, und  am  Nasenscheidewandknorpel ,  welche  Ursprünge  die 
früher  erwähnten  Musculi  incisivi  Cowperi  und  den  Depressor  septi 
narium  bilden.  —  Der  Sphincter  oris  schliesst  den  Mund,   spitzt  die 

Hyrtl,  Lchrbueli  dar  AoatoMi*.  14.  Aufl.  28 


434  9*  li^*  Kopftnnikeln,  welche  sich  an  Weichiheilen  inaeriren. 

Lippen   zum  Pfeifen   und  Küssen    (Musculus  oscalatorius  der  Alten), 
und  verlängert  sie  zu  einem  kurzen  Rüssel  beim  Saugen. 

Durch  Combination  der  verschiedenen  Bewegungen  einzelner  Gesichtsmuskeln, 
besonders  jener  des  Miuides,  entsteht  der  eigenthümliche  Ausdruck  des  Gesichts  — 
die  Miene.  Tritt  die  Thätigkeit  einer  gewissen  Gruppe  von  Gesichtsmuskeln 
häufiger  und  andauernder  ein,  so  bildet  sich  ein  vorwaltender  Grundzug,  welcher 
bleibend  wird.  Jede  Gemüthsbeweg^ng  liat  ihren  eigenthümlichen  Dialect  im 
Gesichte,  dem  Spiegel  der  Seele.  Auch  der  schweigende  Mund  spricht  eine  ver- 
ständliche Sprache,  und  das  facundum  oris  silenUum  ist  zuweilen  beredter  als  die 
Zunge.  —  Neugeborene  Kinder  und  leidenschaftslose  Menschen  haben  keine  mar- 
kirten  Zflge;  Wilde  sehen  einander  ähnlich,  wie  die  Schafe  einer  Heerde;  das 
Mienenspiel  wird  bei  aufgeregten  Seelenzuständen  lebhaft  und  ausdrucksvoll,  und 
haben  die  Ztige  einen  gewissen  bleibenden  Ausdruck  angenommen,  so  kann  der 
Physiognomiker  daraus  einen  Schluss  auf  Gemüth  und  Charakter  wagen.  „Es  ist 
ein  merkwürdiges  Gesetz  der  Weisheit,"  sagt  Schiller,  „dass  jeder  edle  Affect  das 
menschliche  Antlitz  verschönert,  jeder  gemeine  es  in  viehische  Formen  zerreisst;" 
und  in  der  That,  wer  inwendig  ein  Schurke  ist,  trägt  auch  äusserlich  den  Fluch 
Gottes  im  Gesichte  (Galgenphysiognomie).  Die  Physiognomik  ist  jedenfalls  auf 
wissenschaftlichere  Grundlag^en  basirt,  als  die  Spielerei  der  Schädellehre. 

4.  Muskeln  des  Ohres. 

Sie  bewegen  das  Ohr  als  Ganzes^  und  sind  vergleichungsweise 
sehr  wenig  entwickelt,  woran  weder  das  Tragen  der  Kinderhäubchen, 
noch  der  Mangel  an  Uebung  schuld  ist,  da  diese  Muskeln  auch  bei 
Wilden  nicht  stärker  erscheinen.  Nur  wenig  Menschen  besitzen 
das  Vermögen,  ihre  Ohren  willkürlich  zu  bewegen.  Robespierre 
soll  es  in  einem  sehr  auffallenden  Grade  besessen  haben,  ebenso 
der  berühmte  holländische  Anatom  AI  bin.  Man  zählt  folgende 
Muskeln  des  äusseren  Ohres: 

1.  Der  Aufheber  des  Ohres,  Musculus  attollens  auricidae, 
platt,  dünn,  dreieckig,  Hegt  in  der  Schläfegegend,  unmittelbar  unter 
der  Haut  auf  der  Fasda  temporalis,  entspringt  breit  von  der  Galea 
aponeurotica  crardi,  und  tritt,  im  Abwärtssteigen  sich  zuspitzend,  an 
die  hervorragendste  Stelle  der  dem  Schädel  zugekehrten  Fläche 
des  Ohrknorpels. 

2.  Der  Anzieher  des  Ohres,  Musculus  attrahens  auriculae, 
liegt  über  dem  Jochbogen,  entspringt  von  der  Fascia  temporalis,  und 
geht  horizontal  zum  vorderen  Rande  der  Ohrkrempe. 

3.  Die  Rückwärtszieher  des  Ohres,  Musculi  retrahentes 
auriculae,  zwei  oder  drei  ebenfalls  horizontale  kleine  Muskeln,  ent- 
springen vom  Processus  mastoideus  über  der  Anheftungsstelle  des 
Kopfnickers,  und  inseriren  sich  an  der  convexen  Fläche  der  Ohr- 
muschel. 

Eine  Gruppe  kleiner  Muskeln,  welche  die  Gestalt  des  Ohrknorpels  zu  ändern 
Termögen,  da  sie  an  ihm  entspringen  und  an  ihm  auch  endigen,  wird  erst  bei  der 
Beschreibung  des  Gehörorgans  vorgenommen. 


§.  159.  Miukeln  dei  Untorkitfen.  435 


§.  159.  Muskeln  des  Unterkiefers. 

Die  Einrichtung  des  Kiefergelenks  zielt  auf  eine  dreifache 
Bewegung  des  Unterkiefers  ab,  welcher  gehoben  und  gesenkt,  vor- 
und  rückwärts,  so  wie  nach  rechts  und  links  bewegt  werden  kann. 
Von  diesen  Bewegungen  muss  das  Heben  mit  grosser  Kraft  aus- 
geführt werden,  um  die  Zähne  der  Baefer  auf  die  Nahrungsmittel, 
deren  Zusammenhang  durch  das  Kauen  aufgehoben  werden  soll,  mit 
hinlänglicher  Stärke  einwirken  zu  lassen.  Die  Hebemuskeln,  oder 
eigentlichen  Beissmuskeln,  werden  somit  die  kraftvollsten  Bewegungs- 
organe des  Unterkiefers  sein.  Hieher  gehört  der  Musculus  tempo- 
r(dis,  masseter,  und  pterygoideus  internus.  Die  Senkimg  des  Kiefers, 
welche  schon  durch  die  Schwere  des  Kiefers  allein  erfolgt,  kann 
durch  den  Musculus  biventer  beschleunigt  werden.  Die  Vor-  und  Rück- 
wärtsbewegung wird  nur  als  Nebenwirkung  von  den  Hebemuskeln 
geleistet,  weil  die  Richtung  dieser  Muskeln  zum  Unterkiefer  keine 
senkrechte,  sondern  eine  schiefe  ist,  welche  in  eine  verticale  und 
horizontale  Componente  zerlegt  werden  kann.  Der  vertical  wirkende 
Theil  der  Kraft  hebt  den  Kiefer;  der  horizontale  verschiebt  ihn 
nach  vorn  oder  hinten.  Die  Vorwärtsbewegung,  und  wohl  auch  die 
Seitwärtsbewegung  des  Unterkiefers,  hängt  vorzugsweise  vom  Mtis- 
culu^s  pterygoideus  extemus  ab.  Da  beim  Kauen  alle  drei  Bewegungen 
des  Kiefers  wechselnd  auftreten,  so  bezeichnet  man  die  Muskeln 
des  Unterkiefers  zusammen  als  Kaumuskeln. 

a)  Der  Schläfe muskel,  Musculus  temporalis,  fuhrt  seinen 
griechischen  Namen:  crotaphites,  von  yfoxio),  pvlsare,  weil  man  auf 
ihm  die  Schläfenarterie  pulsiren  fühlt,  und  bei  alten  Leuten  auch 
häufig  pulsiren  sieht.  Er  ist  der  grösste,  aber  nicht  der  stärkste 
Kaumuskel.  Man  weist  ihm  die  Linea  semicircularis  temporum,  und 
die  ganze  Ausdehnung  des  von  dieser  Linie  umgrenzten  Planum 
temporale  zum  Ursprung  an.  Ein  Theil  seiner  Fasern  entspringt 
auch  von  der  inneren  Oberfläche  einer  ihn  überziehenden,  sehr 
starken,  fibrösen  Scheide,  Fascia  temporalis,  welche  von  der  Linea 
semicircularis  temporum  zum  oberen  Rand  des  Jochbogens  zieht. 
Die  strahlig  zusammenlaufenden  Fleischbündel  des  Schläfemuskels, 
werden  auf  halbem  Weg  tendinös,  und  vereinigen  sich  zu  einer 
breiten,  metallisch  schimmernden  Sehne,  welche  unter  den  Joch- 
bogen tritt,  und  sich  am  Kronenfortsatze  des  Unterkiefers  festsetzt. 
Der  Schläfcmuskel  hebt  den  gesenkten  Kiefer,  und  wirkt  somit 
beim  Beissen,  wie  der  gleich  folgende  Masseter.  War  der  Kiefer 
vorgestreckt,  so  wird  er  durch  ihn  wieder  zurückgezogen.  Zwischen 
der  Fascia  temporalis  und  der  breiten  Sehne  des  Schläfemuskela 
findet  sich  >«  ^  maäa^  Schwinden  bei  auszehrenden  Krask* 

28» 


436  §.  159-  Motkeln  des  Unterkiefers. 

heiten  oder  im  decrepiden  Alter,  die  Schläfegegend  zu  einer  Grube 
einsinken  macht. 

Wenn  man  in  den  Urspmngsrand  eines  präpariiten  Schläfemuskels  von 
Stelle  zu  Stelle  Stiftchen  einschlägt,  und  den  Schädel  hierauf  macerirt,  wird  man 
finden,  dass  dieser  Rand  nicht  mit  der  Linea  aemicircularis  temporum  zusammen- 
fällt, sondern  unter  ihr  liegt,  und  einer  zweiten  halbmondförmigen  Linie  entspricht, 
welche  ich  die  untere  nenne,  und  welche  in  der  Regel  viel  schwächer  entwickelt 
ist,  als  die  obere.  Ueber  diesen  interessanten  imd  in  der  Craniologie  vielfältig 
verwerthbaren  Gegenstand  handelt  meine  Schrift:  die  doppelten  Schläfelinien  des 
Menschenschädels  (XXXJI.  Bd.  der  Denkschriften  der  kais.  Akad.). 

b)  Der  Kaumuskel,  Musculus  masseter,  ein  kurzer,  dicker, 
länglich  viereckiger,  mit  fibrösen  Streifen  durchzogener  Muskel, 
entsteht  vom  Jochbogen,  mit  zwei  Portionen,  einer  starken  vorderen, 
oberflächlichen,  und  einer  schwachen  hinteren,  tiefer  gelegenen, 
deren  Richtungen  convergiren,  indem  die  vordere  schief  nach  unten 
und  hinten,  die  hintere  schief  nach  unten  und  vorn  geht.  Die  vor- 
dere, ungleich  kräftigere,  und  mit  einer  starken  Ursprungssehne 
versehene  Portion,  deckt  die  hintere,  viel  schwächere,  zum  grössten 
Theile  zu,  und  beide  zusammen  befestigen  sich  an  der  äusseren 
Fläche  des  Unterkieferastes,  bis  zum  Kieferwinkel  herab.  —  Der 
Kaumuskel  hebt  den  Kiefer,  und  führt  ihn  durch  seine  vordere 
Portion  auch  nach  vorn.  Ich  finde  keinen  Schleimbeutel  zwischen 
beiden  Portionen,  wie  ihn  Theile  erwähnt. 

c)  Der  innere  Flügelmuskel,  Musculus  pteri/goideus  internus, 
darum  so  genannt,  weil  er  aus  der  Fossa  pterygoidea  kommt,  be- 
festigt sich  au  der  unteren  Hälfte  der  inneren  Fläche  des  Unter- 
kieferastes, bis  zum  Angtdus  maxillae  herab.  Er  stimmt,  was  Rich- 
tung und  Form  betrifft,  mit  der  vorderen  Masseterportiou  genau 
überein.  Er  wird  deshalb  den  Kiefer  nicht  blos  heben,  sondern 
ihn  zugleich  vorschieben ,  wohl  auch ,  wenn  er  nur  auf  einer  Seite 
wirkt,  nach  der  entgegengesetzten  Seite  bewegen.  Für  die  beiden 
letztgenannten    Actionen   hat   er   einen   gewaltigen    Helfershelfer  im 

d)  äusseren  Flügelmuskel,  MtLScvlus  pterygotdeu^  eoctemus. 
Dieser  füllt  den  tiefstgelegenen  Raum  der  Schläfegrube  aus,  und  ent- 
springt, seinem  Namen  zufolge,  vorzugsweise  von  der  äusseren  Fläche 
der  äusseren  Platte  des  Processus  pterygüldeus.  Seine  obersten  Bündel 
vindiciren  sich  jedoch  auch  die  Wurzel  des  grossen  Keilbeinflügels. 
Das  am  Keilbeinflügel  entspringende  Fleisch  dieses  Muskels,  wird 
von  dem  übrigen  durch  eine  Spalte  getrennt,  welche  der  Nervus 
buccincUarius  passirt.  Insofern  mag  man  von  zwei  Portionen  (Köpfen) 
des  Muskels  reden.  Seine  kurze  aber  starke  Sehne  inserirt  sich  an 
der  vorderen  und  inneren  Seite  des  Halses  des  Unterkiefers  und 
am  Innenrande  des  Zwischenknorpels  des  Kiefergelenks.  Würdigt 
man   seine   in   einer   horizontalen  Ebene   nach   rück-   und  auswärts 


g.  160.  Fftscien  des  Qesichtei.  437 

zum  Unterkieferhalse  gehende  Richtung,  so  ist  es  klar,  dass  er, 
wenn  er  auf  beiden  Seiten  wirkt,  die  Voi'wärtsbewegung  des  Kiefers 
ausfuhrt,  wenn  aber  nur  auf  Einer  Seite  thätig,  die  Seitwärts- 
bewegung des  Kiefers,  und  somit  die  durch  die  breiten  Kronen  der 
Mahlzähne  zu  leistenden  Reibbewegungen  vorzugsweise  vermitteln 
wird.  Thiere,  welche  der  Vor-  und  Rückwärtsbewegung  des  Kiefers 
ermangeln,  wie  die  Fleischfresser,  werden  deshalb  des  Pterygoideus 
extemus  verlustig. 

Der  Musculus  biventer,  als  Herabzieher  des  Kiefers,    folgt  bei 
den  Halsmuskeln. 

Da  jede  Hälfte  des  Unterkiefers  einen  einarmigen  Winkelhebel  vorstellt, 
und  die  Hebemaskeln  sich  nahe  am  Stützpunkte  dieses  Hebels  inseriren,  so  werden 
diese  Muskeln  nur  mit  grossem  Kraftaufwande  wirken  können,  und  die  vom  An- 
griffspunkte der  bewegenden  Kraft  weit  entfernten  Schneidezähne,  überhaupt 
geringerer  Kraftäussenmgen  fähig  sein,  als  die  Mahlzähne.  Man  beisst  eine  Birne 
mit  den  Schneidezähnen  an,  und  knackt  eine  Nuss  mit  den  Mahlzähnen  auf.  — 
Um  die  Insertionsstelle  des  Schläfe muskels  zu  sehen,  muss  die  Jochbrücke  ab- 
getragen, und  sammt  dem  Masseter  herabgeschlagen  werden.  Der  äussere  Flügel- 
muskel wird  nur  nach  Wegnahme  des  Kronenfortsatzes  des  Unterkiefers  und  des 
daran  befestigten  Schläfemuskels  zugänglich. 


§.  160.  Fascien  des  ßesiclites. 

Es  sind  deren  zwei :  Fascia  temporalis  und  huccalis.  Die  Fasda 
temporalis  wurde  bereits  im  näehstvorhergehenden  Paragraphe  er- 
wähnt. Es  harrt  somit  nur  mehr  die  Fascia  buccalis  einer  prompten 
Erledigung  durch  Folgendes.  Auf  dem  Masseter  und  Buccinator 
lagert  eine  Faseie,  welche  Fascia  buccalis  genannt  werden  kann. 
Sie  lässt  zwei  Blätter  unterscheiden.  Das  hochliegende  Blatt 
deckt  die  äussere  Fläche  des  Masseter,  und  die  zwischen  diesen 
Muskel  und  den  Warzenfortsatz  eingeschobene  Ohrspeicheldrüse, 
Parotis,  daher  dasselbe  auch  Fasda  paroHdeo-masseterica  genannt 
wird.  Dieses  Blatt  hängt  mit  der  unter  der  Haut  liegenden  Fett- 
schichte des  Gesichtes  sehr  innig  zusammen,  setzt  sich  nach  vom 
auf  die  äussere  Fläche  des  Buccinator  fort,  und  verschmilzt  mit 
dem,  diesen  Muskel  überziehenden,  tiefen  Blatte.  Nach  oben  hängt 
es  an  dem  Jochbogen,  nach  hinten  an  dem  knorpeligen  äusseren 
Gehörgang  an,  und  steigt  über  die  Insertion  des  Kopfnickers  am 
Warzenfortsatze  nach  abwärts  zum  Halse,  um  in  das  hochliegende 
Blatt  der  Fascia  colli  überzugehen.  Das  tiefliegende  Blatt  Fasda 
bucco-pharyngea,  deckt  die  äussere  Fläche  des  Buccinator,  läuft  nach 
rückwärts,  um  an  der  inneren  Seite  des  Unterkieferastes  den  Mus- 
culus pterygoideus  internus  einzuhüllen,  und  mit  dem  Ligamentum 
laterale  mtemum  des  Kiefergelenks  zu  verschmelzen^  überzieht  hier- 


438  $•  161-  Einige  topographische  Besiehangen  des  Masseter  und  der  Pterygoidei. 

auf  die  seitliche  und  hintere  Wand  des  Pharynx  bis  zum  Schädel- 
grunde hinauf,  und  identificirt  sich,  dieses  letzteren  Verhaltens  wegen, 
mit  dem  tiefliegenden  Blatte  der  Fasda  colli  (§.  167). 

Zwischen  beiden  Blättern  der  Fasäa  buccalü,  bleibt  am  vor- 
deren Rande  des  Masseter  ein  Raum  übrig,  welcher  durch  einen 
rundlichen  Fettknollen  ausgefüllt  wird.  Diese  Fettmasse,  von  Bichat 
la  baute  graisseuse  de  la  joue  genannt ,  dringt  zwischen  der  Aussen- 
fläche  des  Buccinator  und  der  Innenfläche  des  Unterkieferastes  bis 
in  den  Grund  der  Fossa  tempcraUs  hinauf.  Schwindet  sie  bei  all- 
gemeiner Abmagerung,  so  fallt  die  Backenhaut  zu  einer  Grube 
ein,  wodurch  die  den  abgezehrten  Gesichtern  eigenthümliche  hohle 
Wange  gegeben  wird. 


§.  161.  Einige  topograpMsche  Beziehungen  des  Masseter  und 

der  Pterygoidei. 

Dem  Musculus  masseter  ({jLajaacfxai,  kauen)  gebührt  wegen  seiner 
Constanten  Beziehungen  zu  gewissen  Gefössen  imd  Nerven  des 
Gesichts,  eine  besondere  topographische  Wichtigkeit.  Am  vorderen 
Rande  seiner  Befestigung  am  Unterkiefer,  steigt  die  Arteria  nuixil- 
laris  externa  vom  Halse  zum  Gesichte  empor,  und  pulsirt  unter  dem 
aufgelegten  Finger.  An  seinem  hinteren  Rande  liegt,  von  den  Körnern 
der  Parotis  umgeben,  die  Fortsetzung  der  Carotis  externa,  und  der 
Stamm  der  hinteren  Gesichtsvene;  —  seine  äussere  Fläche  wird 
von  hinten  her,  durch  die  Parotis  überdeckt,  und  der  Quere  nach 
von  dem  Ausiiihrungsgange  dieser  Drüse  (Ductus  Stenonianus),  von 
der  queren  Gesichtsarterie,  und  den  Zweigen  des  Antlitzncrven 
(Nervus  communicans  fadei)  gekreuzt,  und  am  oberen  Rayon  seiner 
inneren  Fläche,  tritt  der  durch  die  Incisura  semüunaris  zwischen 
Kronen-  und  Gelenkfortsatz  des  Unterkiefers  zum  Vorschein  kom- 
mende Nervus  massetericus  in  ihn  ein.  So  oft  er  sich  zusammenzieht, 
und  dadurch  dicker  wird,  comprimirt  er  die  zwischen  ihm  und  der 
unnachgiebigen  Fascia  parotideo-masseterica  eingeschaltete  Ohrspeichel- 
drüse, und  befördert  dadurch  den  Speichelzufluss  während  des 
Kauens.  Es  erklärt  sich  hieraus,  warum  bei  der  Ohrspeicheldrüsen- 
entzündung (Parotitis),  das  Kauen  gänzlich  aufgehoben,  und  das 
Sprechen  nur  lispelnd  möglich  ist.  Ruht  der  Muskel,  wie  im  Schlafe, 
so  strömt  kein  Speichel  in  die  Mundhöhle  zu,  und  ihre  Wände 
trocknen  gern  aus,  wenn  man  mit  offenem  Munde  schläft. 

Bevor  der  Pterygoideus  internus  an  den  Unterkiefer  tritt,  steht 
seine  äussere  Fläche  mit  dem  inneren  Seitenbande  des  Kiefergelenks 
in  Contact,  und  wird  zugleich  von  der  Arteria  und  Vena  maxälaris 
üUema  gekreuzt.    Da  die   Richtung  des  Pterygoideus  internus  vom 


§.  16S.  Form,  Eintheilang,  und  ZnflammensetsiiBg  dei  Halset.  439 

Flügelfortsatz  des  Keilbeins  schief  nach  hinten  und  unten,  jene  des 
exteniiLS  dagegen  schief  nach  hinten  und  aussen  geht,  so  wird 
zwischen  beiden  Muskeln  eine  Spalte  gegeben  sein  müssen ,  durch 
welche  die  Arteria  maxUlarü  interna,  der  Zungennerv,  und  der 
Unterkiefemerv  zu  ihren  Bestimmungsorten  ziehen.  Der  motorische 
Nerv  des  Schläfemuskels,  kreuzt  den  oberen  Rand  des  Pterygoideus 
internus,  um  sich  in  die  innere  Fläche  des  genannten  Muskels  ein- 
zusenken. 


B.  Muskeln  des  Halses. 

§.  162.  Form,  Eintheilung  und  Zusammensetzung  des  Halses. 

Der  Hals,  Collum,  ist  der  Stiel  des  Kopfes.  Er  bildet  das 
Bindungsglied  zwischen  Kopf  und  Stamm ,  und  stellt  eine  kurze, 
cylindrische  Säule  vor,  deren  knöcherne  Axe  nicht  in  ihrer  Mitte, 
sondern  der  hinteren  Gegend  näher  als  der  vorderen  liegt.  Wo  die 
Säule  sich  mit  dem  Kopfe  verbindet,  erscheint  sie  von  einer  Seite 
zur  anderen  comprimirt,  also  längselliptisch;  wo  sie  aber  an  den 
Brustkasten  grenzt,  ist  sie  von  vorn  nach  hinten  comprimirt,  also 
querelliptisch.  —  Die  Länge  und  Dicke  des  Halses  steht  nicht 
immer  mit  der  Grösse  des  Kopfes  im  Verhältnis«.  Das  Missverhältniss 
eines  grossen  Kopfes  zu  einem  kurzen  und  schmalen  Halse,  fallt 
bei  Neugeborenen  auf.  Bei  gedrungener,  vierschrötiger  Statur  (Hahitus 
quadratus) ,  ist  der  Hals  kurz  und  dick ,  und  der  Kopf  steckt ,  wie 
man  sich  ausdrückt,  zwischen  den  Schultern.  Ein  langer  und  dünner 
Hals  (Schwanenhals)  gesellt  sich  sehr  oft  zum  schmächtigen,  lungen- 
süchtigen Habitus. 

Zieht  man  auf  beiden  Seiten  des  Halses  vom  Warzenfortsatz 
eine  gerade  Linie  zur  Schulterhöhe,  so  hat  man  die  vordere  Hals- 
gegend  von  der  hinteren  getrennt.  Die  hintere  wird,  als  dem 
Rücken  angehörender  Nacken  (Cervix,  Nudia,  bei  den  Griechen 
auX^v  und  ipox^Q^o?);  später  abgehandelt.  Hier  nur  von  der  vorderen 
Halsregion. 

Cervix  heisst  bei  römischen  Dichtem  and  Prosaikern  anch  der  ganze 
Hals,  wie  in  dare  brachia  cervici,  umhalsen,  und  cerviceni  caedertf  köpfen. 
Aber  auch  die  Anatomie  verfaUt  nicht  selten  in  diese  Verwechslung,  wie  denn 
die  Halswirbel,  die  Halsnerven,  und  die  Halsarterien,  immer  nur  als  Vertebrae, 
Nervi  und  Arteriae  cervicalea  aufgeführt  werden.  Xucha  aber  ist  kein  lateinisclies 
Wort,  sondern  stammt  aus  dem  Arabischen.  Dasselbe  wurde  aber  nur  für  Rücken- 
mark gebraucht,  wie  ans  dem  Texte  des  Berengarius  zn  ersehen:  tota  nuchae 
tubatanüa  m  ftudUm  dMdUm'  «•  •«&  Stelle:  dura  et pia  nuUer 


440  S*  IM*  FonB,  Eintkailnng,  and  ZnsammenBttxvng  des  Hftlses. 

drcumdant  nucham  cum  mit»  nerois.  Nur  im  medicinischen  Latein  der  Neuzeit, 
findet  sich  nucha,  als  Nacken.  —  Die  zunächst  unter  dem  Hinterhaupt  befindliche 
Gegend  des  Nackens,  heisst  Genick,  weil  in  ihr  jene  Bewegung  des  Kopfes  auf 
der  Wirbelsäule  stattfindet,  welche  wir  Nicken  nennen. 

Es  findet  sich  keine  Gegend  im  menschliehen  Leibe,  welche, 
in  80  kleinem  Räume,,  so  viele  lebenswichtige  Organe  cinschliesst, 
wie  die  vordere  Halsregion.  Verfolgt  man,  bei  gestrecktem  Halse, 
die  Mittellinie  desselben  vom  Kinne  bis  zum  oberen  Rande  des 
Brustbeins,  so  stösst  man,  ungefähr  drei  Querfinger  breit  unter  dem 
Kinne,  auf  das  Zungenbein.  Unter  diesem  folgt  ein  bei  Männern 
gut  ausgeprägter,  hart  anzufühlender,  bei  jeder  Schlingbewegung 
aufwärts  steigender  Vorsprung  (der  Adamsapfel,  Pamum  Adanü 
8,  Nodus  gtjittwris),  welcher  dem  Kehlkopfe  entspricht,  bei  weib- 
lichen Individuen  wenig  oder  gar  nicht  auffallt,  und  auch  bei  Jüng- 
lingen vor  der  Pubertätsperiode  nur  angedeutet  ist.  Unter  diesem 
liegt  ein  weicher,  querer  Wulst,  der  Schilddrüse  angehörend,  welche 
an  schönen  Hälsen  nur  wenig  sichtbar  imd  fühlbar  ist,  bei  Dick- 
und  Blähhälsen  aber  auf  sehr  unschöne  Weise  auffallt.  Unter 
diesem  Wulst  endet  die  mittlere  Halsregion  über  dem  Manubrium 
stemi  als  Drosselgrube  (Fossa  jugularis).  —  Seitwärts  am  Halse 
liegen  zwei  vom  Brustbeine  gegen  die  Warzenfortsätze  aufsteigende, 
durch  die  Kopfnicker  gebildete  Erhabenheiten,  hinter  welchen,  über 
den  Schlüsselbeinen,  die  seichten  Foveae  supradaviculares  einsinken. 
Bei  starken  Anstrengungen  wird  an  der  Aussenfläche  des  Kopf- 
nickers eine  turgescirende  Vene  (die  Vena  jugularis  externa)  be- 
merkbar, an  welcher  man  zur  Ader  lassen  kann.  —  An  mageren 
Hälsen  bejahrter  oder  auszehrender  Individuen,  sind  die  erwähnten 
Erhabenheiten  und  Vertiefungen  sehr  scharf  gezeichnet.  An  vollen 
und  runden  Hälsen  wird  wenig  von  ihnen  gesehen. 

Die  Haut  des  Halses  ist  dünn,  verschiebbar,  lässt  sich  überall 
als  Falte  aufheben,  und  bildet  zuweilen  eine,  selbst  bei  der  grössten 
Streckung  des  Halses  nicht  auszugleichende  Querfurche  imter  dem 
Kehlkopfe,  welche,  wenn  sie  an  Frauenhälsen  vorkommt,  von  älteren 
französischen  Anatomen  Collier  de  VStius  genannt  wird.  Ueber  dieser 
Furche  kommt  bei  Personen,  welche  ein  sehr  fettes  Unterkinn 
haben  (Goder  der  Wiener,  vielleicht  verdorben  von  guttur),  noch 
eine  zweite  Querfurche  vor,  durch  welche  der  Boden  der  Mund- 
höhle, von  der  eigentlichen  vorderen  Halsgegend  sehr  scharf  ab- 
gegrenzt wird. 

Das  subcutane  Bindegewebe  des  Halses  bleibt  in  der  Regel 
fettarm,  und  verbindet  die  Haut  mit  einem  darunter  liegenden 
breiten  Hautmuskel,  dem  Platysma  myoides.  Unter  diesem  folgt  das 
hochliegende  Blatt  der  Fascia  colU,  welches  den  Kopfnicker  ein- 
Bchliesst.  —  In  der  Mitte  des  Halses  liegen,  von  oben  nach  unten^ 


§.  168.  8p«oi€lle  BeBchreibang  der  HaUmusktln.  441 

das  Zungenbein,  der  Kehlkopf,  die  Schilddrüse,  die  Luftröhre, 
hinter  dieser  die  Speiseröhre,  und  seitwärts  von  den  genannten 
Organen,  das  Bündel  der  grossen  Gefiisse  und  Nerven  des  Halses, 
welche  vom  tiefen  Blatte  der  Fascia  coUi  eingehüllt  werden.  Hat 
man  diese  Theile  entfernt,  so  präsentirt  sich  die  vordere  Fläche 
der  Wirbelsäule,  mit  den  auf  ihr  liegenden  tiefen  Halsmuskeln.  — 
Das  über  dem  Zungenbeine  liegende  Revier  der  vorderen  Hals- 
gegend, bildet  mit  dem  darunter  liegenden,  bei  gerader  Richtung 
des  Kopfes,  einen  einspringenden  rechten  Winkel,  und  entspricht 
dem  Boden  der  Mundhöhle,  weshalb  es  auch  zu  den  Kopfregionen 
gezählt  werden  kann. 


§.  163.  Specielle  Beschreibung  der  Halsmuskeln,  welche  den 

Kopf  und  den  Unterkiefer  bewegen. 

Der  Hautmuskel  des  Halses,  Platysma  mt/oides  (xXaTuajxa 
[xuoei$6?,  muskelartige  Ausbreitung,  ein  Ausdruck,  welchen  Galen 
für  alle  breiten  und  flachen  Muskeln  gebrauchte),  auch  Subcutanevs 
colli  und  Latissimus  colli,  bei  französischen  Autoren  le  peaucier  benannt, 
ist  das  letzte  üeberbleibsel  jenes  grossen,  subcutanen  Hautmuskels 
vieler  Thiere,  welcher  Pannicultis  camosus  heisst,  imd  durch  dessen 
Besitz,  die  Thiere  beßlhigt  sind,  jede  Partie  ihrer  Haut  in  zuckende 
Bewegung  zu  versetzen,  um,  wie  man  an  unseren  Hausthieren  sehen 
kann,  die  lästige  Plage  stechender  Fliegen  abzuwehren.  Das  Pla- 
tysma erscheint,  wenn  es  sorgfaltig  präparirt  vorliegt,  im  Menschen 
als  ein  breiter,  dünner,  blasser,  viereckiger,  und  parallel  gefaserter 
Muskel.  Er  entspringt  von  der  Fascie  des  grossen  Brustmuskels  in 
der  Gegend  der  zweiten  Rippe,  und  steigt  über  das  Schlüsselbein 
zur  seitlichen  Halsgegend,  und  mit  dem  der  anderen  Seite  con- 
vergirend,  zum  Unterkiefer  hinauf.  Seine  inneren  Bündel  befestigen 
sich  am  unteren  Rande  des  Unterkiefers ,  während  die  übrigen, 
über  den  Unterkiefer  hinüber  zum  Gesicht  gelangen,  wo  sie  im 
Mundwinkel  und  in  der  Fascia  parotideo-masseterica  endigen.  Der 
Convergenz  wegen,  kreuzen  sich  die  inneren  Fasern  beider  Muskeln 
unter  dem  Kinne.  Die  mittlere  Halsgegend  wird  von  ihnen  nicht 
bedeckt. 

Sehr  oft  geht  ein  Theil  der  hinteren  Bündel  nicht  zum  Gesichte,  sondern 
zum  Winkel  des  Unterkiefers.  Seltener  kommt  es  vor,  dftss  einige  hintere  Bündel 
des  Maskeis  um  das  Ohr  herum,  zur  Linea  semicirculans  siiperior  des  Hinterhaupt- 
beins, oder  zum  Warzenfortsatze  treten.  Er  zieht  den  Eüefer  herab,  und  hebt, 
wenn  dieser  fixirt  ist,  die  Haut  des  Halses  von  den  tiefer  liegenden  Organen 
empor,  indem  der  gebogene  Muskel,  während  seiner  Contraction,  geradlinig  zu 
werden  strebt  Dieses  Aufheben  der  Haut  erieM»*^— *  ^^  »~*  dee  Sehlingens 

stattfindende  Hebebew^^ong  der  Otjp 


442  S.  163.  Specialle  Betchreibiing  der  HftltmiuikalD. 

Der  Kopfnicker,  Musculus  stemo-deido-mastoideus,  liegt  unter 
dem  Platysma,  an  der  Seite  des  Halses,  zwischen  Brustbein  und 
Warzenfortsatz.  Er  entsteht  mit  zwei,  durch  eine  dreieckige  Spalte 
von  einander  getrennten  Köpfen,  von  der  vorderen  Fläche  der  Hand- 
habe des  Stemum,  und  von  der  Extremität  stemalis  des  Schlüssel- 
beins. Beide  Köpfe  schieben  sich,  während  ihres  Zuges  zum  Warzen- 
fortsatze,  so  übereinander,  dass  die  Stemalportion  die  Schlüsscl- 
beinportion  deckt.  Der  durch  ihre  Vereinigung  gebildete  dicke 
Muskelkörper,  setzt  sich  am  Warzenfortsatze  und  an  dem  angrenzen- 
den Stücke  der  Linea  semicircularis  superior  des  Hinterhauptes  an. 
Wirkt  er  unilateral,  so  dreht  er  das  Gesicht  nach  der  entgegen- 
gesetzten Seite,  und  neigt  den  Kopf  gegen  die  Schulter  seiner  Seite. 
Bei  fixirtem  Kopfe,  kann  er  wohl  den  Brustkasten  heben,  und  somit 
auch  bei  forcirter  Inspiration  mitwirken.  Dieses  beweist  seine  oft 
bedeutende  Massenzunahme  bei  chronischen  Lungenleiden,  besonders 
Emphysema  und  Oedema  pidmonum.  Den  Namen  Kopfnicker  führt 
er  aber  mit  entschiedenem  Unrecht.  Seine  Insertion  am  Kopfe  liegt 
ja  hinter  der  queren,  durch  die  Mittelpunkte  beider  Condyli  des 
Hinterhauptbeins  gehenden  Drehungsaxe  fiir  die  Nickbewegung. 
Er  wäre,  in  Anbetracht  dieses  wichtigen  Umstandes,  vielmehr  ein 
Strecker  des  Kopfes. 

Mir  scheint  es  plausibel,  den  Kopfnicker  als  SusteiUcUor  capUut,  als  Kopf- 
hält er  anßenfassen,  da  er  bei  jeder  Stellung  des  Kopfes,  ihn  in  derselben  zu  er- 
halten hat.  Dieses  kann  man  mit  eigenen  Händen  am  Halse  greifen,  wenn  man 
den  Kopf  nach  verschiedenen  Richtungen  aus  seiner  Gleichgewichtslage  bringt. 
Nur  in  so  fem  wUl  ich  sein  Anrecht  als  Kopfnicker  nicht  bestreiten,  als  er,  wenn 
er  auf  beiden  Seiten  wirkt,  die  Halswirbelsäule  nach  vom  zu  beugen  im  Stande 
ist,  wodurch  der  Kopf  sich  gegen  die  Bnist  neigt.  Bleibt  aber  die  Halswirbel- 
sänle  ruhig,  wie  beim  Nicken,  so  sind  der  Reclua  capitis  anliaui  major  und  minor 
die  wahren  Kopfnicker.  Siehe  §.   165. 

Da  es  einmal  als  Grundsatz  gilt,  von  den  beiden  Endpunkten  eines  Muskels 
jenen  für  den  Ursprung  zu  nehmen,  welcher  der  minder  bewegliche  ist,  so  kann 
ich  Sömmerring  und  T heile  nicht  beipflichten,  welche  den  Warzenfortsatz  als 
den  Ursprung  des  Kopfnickers  annehmen.  Eben  so  wenig  möchte  ich,  nach  Albin 
und  Meckel,  ihn  in  zwei  besondere  Muskeln  trennen,  und  einen  tStemo-mastoideits 
und  Cleido-mastoideits  unterscheiden.  Wenn  auch  die  beiden  Köpfe  bei  vielen 
Säugethieren  als  getrennte  Muskeln  bestehen,  so  wäre  ihre  Annahme  beim 
Menschen  eine  nutzlose  VervielfältigTmg,  und  wir  würden,  um  consequent  zu 
bleiben,  genöthigt  sein,  alle  übrigen  beim  Menschen  vereinigten,  bei  den  Thieren 
aber  getrennten  Muskelportionen,  als  selbstständige  Muskeln  zu  betrachten  (z.  B. 
die  drei  Portionen  des  Deltamuskels).  Ein  humoristischer  Anatom  des  Mittelalters 
zu  Nürnberg,  nannte  den  Kopfnicker  den  „Rathshermmuskel**. 

Der  Kopfnicker  ist  zuweilen  dreiköpfig.  Der  überzählige  dritte,  gewöhnlich 
sehr  schwache  Kopf,  liegt  entweder  zwischen  den  beiden  gewöhnlichen,  oder  an 
der  äusseren  Seite  der  Clavicularportion.  —  Als  Thierähnlichkeiten  sind  femer 
zwei  Abnormitäten  interessant.  1.  Es  löst  sich  vom  vorderen  Kande  des  Muskels 
ein  Bündel  ab,  um  zum  Winkel  des  Unterkiefers  zu  gehen  (beim  Pferde  setzt 
sich  die  glänze  Stemalportioii  am  Unterkiefer  fest),  oder  es  verlängert  sich  2.  ein 


§.  164.  MuBkeln  des  ZnnftnbeiM  and  der  Zanffe.  443 

fleischiges  Bündel  der  Stemalportion,  über  den  Brnstbeinursprung  des  PectoraUa 
major  nach  abwärts,  zur  vorderen  Fläche  des  Brustbeins,  und  befestigt  sich  ent- 
weder am  fünften,  sechsten  oder  siebenten  Rippenknorpel,  oder  reicht  selbst,  wie 
ich  gesehen  habe,  bis  zur  Scheide  des  geraden  Bauchmuskels  herab.  Dieses  ab- 
norme Bündel  cnrsirt  als  MuactUtu  stemalis  brulorum  in  den  Handbüchern. 

Ueber  die  äussere  Fläche  des  Stemo-cleido-nuutoidetu  läuft  die  Vena  jtigu- 
laris  externa  herab ;  —  dieselbe  Fläche  ¥drd  vom  schräg  nach  vom  aufsteigenden 
Nervus  auricularis  niagnits,  und  von  den  aus  dem  Plexus  cervicalis  entspringenden 
Hautnerven  des  Halses  gekreuzt;  —  am  hinteren  Rande  seines  oberen  Drittels 
zieht  der  Nervus  occipUalis  mhiar  zum  Hinterkopf  empor.  —  Die  Mitte  des  vor- 
deren Randes  des  Muskels,  dient  bei  der  Aufsuchung  und  Unterbindung  der  CaroHs 
communis  zum  Anhaltspunkt.  Die  Spalte  zwischen  seiner  Stemal-  und  Clavicular- 
portion  entspricht  der  Vena  jugularis  interna.  Der  Nervus  accessorius  WilUsU 
durchbohrt  den  hinteren  Rand  seines  oberen  Endes. 

Der  zweibäuchige  Unterkiefermuskel,  Biventer  8.  diga- 
stricus  nuixillae  Inferiorls,  entspringt  mit  seinem  hinteren  Bauch  aus 
der  Indsura  mastoidea.  Sein  vorderer  Bauch  entsteht  am  unteren 
Rande  des  Kinns.  Beide  Bäuche  werden  durch  eine  mittlere  rund- 
liehe Sehne  verbunden,  welche  durch  ein  schmales  fibröses  Blatt 
an  das  Zungenbein  anhängt,  und  deshalb  einen  nach  unten  convexen 
Bogen  bildet,  welcher,  wenn  man  das  Zungenbein  stark  nach  ab- 
wärts zieht,  ein  spitziger  Winkel  wird.  Häutig  durchbohrt  die  Sehne 
des  Biventer  den  GrifTcl-Zungenbeinrauskel  vor  seiner  Insertion  am 
Zungenbeine,  und  wird  in  diesem  Falle  von  einem  kleinen  Schleira- 
beutel  umhüllt.  Die  vorderen  Bäuche  beider  Digastrici,  werden  oft 
durch  eine  fibröse  Querbinde  mit  einander  verbunden,  oder  tauschen 
gegenseitig  ihre  innersten  Fleischbündel  aus.  —  Der  Biventer  zieht 
den  Kiefer  herab,  imd  öffnet  den  Mund. 

Ist  der  Unterkiefer  durch  seine  Hebemuskeln  gehoben  imd  fixirt,  so  ge- 
winnt auch  der  vordere  Bauch  des  Biventer,  einen  festen  Punkt,  und  der  Muskel 
wird,  wenn  er  sich  zusammenzieht,  das  Zungenbein  heben.  £^  kann  auch,  bei 
fixirtem  Kiefer,  seine  Thätigkeit  umkehren,  und  den  Warzenfortsatz  sammt  dem 
Hinterkopf  lierabziehen,  wodurch  der  Vorderkopf  in  die  Höhe  geht,  und  der  Mund 
geöffnet  wird.  Man  überzeugt  sicli  davon,  wenn  man  das  Kinn  auf  die  Hand, 
oder  auf  den  Rand  eines  Tisches  stemmt,  und  den  Mund  zu  öffnen  sucht.  Dass 
die  am  Hinterhaupte  angreifenden  Nackenmuskeln  hiebei  mitwirken,  versteht  sich 
von  selbst,  wenn  man  die  Schwere  des  Kopfes  mit  der  Schwäche  des  Biventer 
zusammenhält. 


§.  164.  Muskeln  des  Zungenbeins  und  der  Zunge. 

Die  Muskeln  des  Zungenbeins  bilden  zwei  Gruppen,  von 
welchen  die  eine  über,  die  andere  unter  dem  Zungenbeine  liegt. 
Die  Muskeln  der  Zunge  dagegen  liegen  blos  ttber  dem  Zungen- 
beine,  und  schliessen  aidi  an  «u^enbein- 


444  §•  164.  Maskaln  des  Zungenbeins  und  der  Zunge. 

muskeln  so  an,    dass    ihre   Beschreibungen  einander  folgen  können. 
Alle  Zungenbein-  und  Zungenmuskeln  sind  paarig. 

A,   Zun^enbeinmuskeln. 

a)  Gruppe  der  Zungenbeinmuskeln,  welche  unter  dem 
Zungenbeine  liegt. 

Sie  besteht  aus  folgenden  vier  Muskeln,  welche  sämratlich 
Herabzieher  des  Zungenbeins  sein  müssen. 

1.  Der  Schulterblatt-Zungenbeinmuskel,  Muscidtis  onw- 
hyoideus.  Er  entspringt  vom  oberen  Rande  der  Scapula,  nahe  am 
Ausschnitte ,  oder  vom  Querbändchen  des  letzteren ,  läuft  als  ein 
langer  und  dünner  Muskelstrang  schräg  mit  bogenförmiger  Krüm- 
mung nach  innen  und  oben,  kreuzt  sich  mit  dem  Kopfnicker,  der 
ihn  bedeckt,  ist  an  der  Stelle,  wo  er  über  die  grossen  Gefasse  des 
Halses  weggeht,  sehnig,  wird  dann  wieder  fleischig,  und  setzt  sich 
am  unteren  Rande  der  Basis  des  Zungenbeins  fest. 

Er  wird  zu  den  zweibäuchigen  Muskeln  gezählt.  Sein  Urspmngsfleisch 
bildet  den  unteren,  sein  Insertionsfleisch  den  oberen  Bauch  des  Muskels.  Aus- 
nahmsweise entspringt  der  Omo-hi/oideus  nicht  am  Schulterblatt,  sondern  am  Akro- 
mialende  der  Clavicula,  selbst  vom  Mittelstdck,  ja  sogar  vom  Stemalende  dieses 
Knochens.  —  Seine  mittlere  Sehne  und  sein  unterer  Bauch,  hängen  mit  dem  tief- 
liegenden Blatte  der  Faacia  codi  innig  zusammen,  welches  der  Onw-hyoideua  somit 
in  die  Quere  anzuspannen  vermag. 

2.  Der  Brustbein-Zungenbeinmuskel,  Musculus  stemo- 
hyoideus,  entspringt  von  der  hinteren  Fläche  der  Handhabe  des 
Brustblattes,  steigt  senkrecht  zum  Zimgenbeine  hinauf,  und  inserirt 
sich  einwärts  vom  Omo-hyoideus.  Er  ist  daumenbreit,  parallel  ge- 
fasert, und  dem  der  anderen  Seite  fast  bis  zur  Berührung  nahe 
gerückt.  Zuweilen  kommt  in  seinem  unteren  Drittel  ein  quer  ein- 
geflochtencr  Sehnenstreifen  vor,  als  sogenannte  Inscinptio  tendinea. 
Hat  man  ihn  quer  durchschnitten,  so  findet  man  unter  ihm  zwei 
ähnliche  Muskeln ,  welche  zusammengenommen  so  lang  sind ,  wie 
der  StemO'h/oideus.     Diese  sind: 

3.  Der  Brustbein-Schildknorpelmuskel,  Musculus  stenio- 
ihyreoideus.  Er  ist  breiter  als  der  Brustbein-Zungenbeinmuskcl,  und 
wird  deshalb  von  diesem  nur  zum  Theil  bedeckt,  entspringt  von 
der  hinteren  Fläche  der  Brustbeinhandhabe,  und  vom  oberen  Rande 
des  ersten  Rippenknorpels,  und  steigt  nicht  bis  zum  Zungenbeine 
hinauf,  sondern  endigt  schon  an  der  Seitenplatte  des  Schildknorpels. 
Er  gehört  somit  eigentlich  nicht  zu  den  Muskeln  des  Zungenbeins, 
sondern  zu  jenen  des  Kehlkopfes;  kann  aber  immer  hier  aufgeführt 
werden,  da  er  durch  die  Herabbewegung  des  Kehlkopfes,  auch  das 
mit  letzterem  in  Verbindung  stehende  Zungenbein  herabzieht.    Die 


§.  164.   Mafkeln  des  Zniifenbeina  and  dar  Znng«.  445 

Länge  seiner  Muskelbündel  wird  regelmässig  durch  eine  quer  ein- 
gewebte Inscriptio  tendinea  unterbrochen.  Was  ihm  an  Länge  fehlt, 
um  das  Zungenbein  zu  erreichen,  ersetzt: 

4.  der  Schildknorpel-Zungenbeinmuskel,  Muscvlvs  thyreo- 
hyoideus,  welcher  dort  entspringt,  wo  der  Stemo-thyreoideus  endigte, 
und  am  unteren  Rande  der  Basis  und  des  grossen  Homes  des 
Zungenbeins  sich  festsetzt.  Der  Thyreo-hyoideas  kann,  wenn  der 
Schildknorpel  iixirt  ist,  das  Zungenbein  unmittelbar,  der  Stemo- 
thyreoideua  nur  mittelbar  herabziehen. 

h)  Gruppe  der  Zungenbeinmuskeln,  welche  über  dem 
Zungenbeine  liegt: 

1.  Der  Griffel-Zungenbeinmuskel,  Musculus  stylo-hyoideus. 
Er  entspringt  an  der  Basis  des  Griffelfortsatzes,  bildet  einen  schlanken, 
spindelförmigen  Muskelstrang,  läuft  unter  dem  hinteren  Bauche  des 
Biventer  maxUlae  nach  vom  und  unten,  wird  zuweilen  von  der  Sehne 
des  letzteren  durchbohrt  (Schleimbeutel),  und  befestigt  sich,  gegen- 
über der  An  satzstelle  des  Omo-hyoideus,  an  der  Zungenbeinbasis. 
Er  wird  häufig  doppelt  gesehen,  zu  welcher  Anomalie  seine  Durch- 
bohrung durch  die  Sehne  des  Biventer  disponirt. 

2.  Der  Kiefer-  oder  Mahlzungenbeinmuskel,  Musculus 
mylo-hyaideus  ([x6Xt),  Kinnbacke).  Er  nimmt  seinen  Ursprung  an  der 
Linea  ohliqua  interna  s.  mylo-hyoidea  des  Unterkiefers,  und  stellt  einen 
breiten,  dreieckigen  Muskel  dar,  dessen  äusserste  Pasern  an  der 
vorderen  Fläche  der  Zungenbeinbasis  endigen,  die  übrigen  dagegen 
in  denselben  Muskel  der  anderen  Seite  entweder  ununterbrochen, 
oder  durch  Vermittlung  einer  sehnigen  Zwischenlinie  (Raphe)  fort- 
laufen. Streng  genommen  besteht  somit  nur  Ein  Mylo-hyoideus  für 
beide  Seiten,  welcher,  als  von  einer  Linea  obliqua  interna  bogen- 
förmig zur  anderen  laufend,  Transversus  mandtbuUte,  oder  noch  be- 
zeichnender Diaphragma  oris  genannt  werden  könnte.  Dieser  Muskel 
liegt  nicht  in  einer  horizontalen^  sondern  in  einer  nach  unten  aus- 
gekrümmten Ebene,  deren  tiefste  Stelle  am  Körper  des  Zungenbeins 
adhärirt.  Er  wird,  wenn  er  sich  zusammenzieht,  plan  werden,  und 
dadurch  das  Zungenbein  und  den  ganzen  Boden  der  Mundhöhle  heben. 
Um  ihn  in  seiner  ganzen  Grösse  zu  sehen,  muss  der  vordere  Bauch 
beider  Digastrici  weggenommen  werden. 

3.  Der  Kinn-Zungenbeinmuskel,  Musculus  genio-hyoideus 
(y^veiov,  Kinn),  liegt  über  dem  vorigen,  entspringt  schmal  von  der 
Spina  mentalis  interna^  läuft  gerade,  und  etwas  breiter  werdend,  zum 
Zungenbeine  herab,  und  befestigt  sich  an  der  Basis  desselben.  Er 
schmiegt  sich  an  denselben  Muskel  der  anderen  Seite  so  fest  an, 
dass  er  häufig  sich  mit  ihm  zu  einem  §ch  vr  nupaaren  Muskel 
vereinigt. 


446  fi*  16^  Mnak«ln  dM  ZvngenbelnB  und  der  Zunge. 

Da  das  Hel)«n  und  Senken  des  Zungenbeins  eine  übereinstimmende  Be- 
weg^g  des  mit  ihm  zusammenhängenden  Kehlkopfes  bedingt,  das  Heben  und 
Bonken  dos  Kehlkopfes  aber  mit  Reibung  des  vorspringenden  Pomum  Adami  an 
der  inneren  FIKche  der  Hautdecken  des  Halses  verbunden  sein  muss,  so  findet 
sich  auf  und  über  dem  Pomum,  ein  umfänglicher  Schleimbeutel  vor,  welcher  sich 
unter  den  beiden  Thyreo-h$foidei  bis  zum  oberen  Bande  der  hinteren  Fläche  des 
Zungenbeinkörpers  erstreckt,  und  deshalb  Bursa  mucoga  »uhhyoidea  genannt  \vird. 
Füllung  desselben  durch  copiöses  Secret  kann,  wie  mir  ein  Fall  bekannt  wurde, 
ftlr  Kropf  gehalten  werden. 

llntor  allen  hier  abgehandelten  Muskeln  variirt  der  Stt/h-hi/oideua  am 
öftersten  durch  Zerfallen  in  zwei  kleinere.  Die  früher  erwähnte  Spaltung  des 
Muskels  durch  die  Sehne  des  Biventer  scheint,  wio  gesagt  zu  dieser  Anomalie  zu 
disponiren.  Ich  habe  ihn  auch  dreifach,  Otto  dagegen  auf  beiden  Seiten  fehlen 
gesehen.  —  Fehlen  des  Omo-hyoidefts,  und  Ersetztwerden  desselben  durch  einen 
breiten  Stemthhjfoideu*  auf  beiden  Seiten  beobachtete  ich  zweimal.  In  sehr  seltenen 
Fällen  erscheint  sein  Ursprung  auf  die  Basis  des  Procetsua  coracoideu«,  ja  sogar 
auf  den  oberen  Rand  der  eraten  Rippe  versetzt,  woher  die  Namen  Coraco-  und 
OotU>^yoidt!H9,  Seine  mittlere  Sehne  wird  zuweilen  blos  durch  eine  Irvtcriptio  ten- 
dmea  angedeutet.  —  EÜn  anomaler  Musadus  coraco -cervicalig  entspringt  vom 
Rabenschnabelfortsats,  läuft,  bedeckt  vom  Urspmngsbauche  des  Omo-hymdeus,  nach 
vom  und  oben  in  die  Fo99a  »upradavicularis,  und  endet  im  tiefliegenden  Blatte 
der  Fa9cia  colli  «.  etrvicali»,  welches  er  anspannt. 


B.  Zungenmuskeln. 

Dio  Zunge  besitzt  zweierlei  Muskeln.  Die  einen  entspringen 
nn  Knoohou  und  endigen  in  der  Zunge;  —  die  anderen  entspringen 
und  ondigeu  in  der  Zunge  selbst.  Nur  die  erste ren  werden  hier 
gosolüldert. 

1.  Der  Kinn-Zungenmuskel,  Musculus  genio-glossus ,  über- 
trifft alle  übrigen  Muskeln  der  Zunge  an  Stärke.  Er  liegt  über  dem 
OeniO'hf/oideus ,  entspringt  mit  einer  kurzen,  aber  starken  Sehne, 
von  der  Spina  mentalis  interna,  und  läuft  nach  rückwärts  gegen  die 
untere  Fläche  der  Zunge,  in  welche  er  hinter  dem  Zungcnbändchen 
mit  strahlig  auseinander  fahrenden  Faserbündeln  eindringt.  Dicht 
unter  der  Schleimhaut  der  Mundhöhle  hinziehend,  bildet  er  vor- 
zugsweise den  Boden  der  letzteren.  Ein  Schleimbeutel  zwischen  den 
beiden  Genio-glossi,  welche  mit  ihren  inneren  Rändern  dicht  anein- 
ander liegen,  wurde  von  mir  niemals  gesehen.  —  Der  Genio-ijlossus 
zieht  die  aufgehobene  Zunge  nieder,  und  nähert  ihren  Grund  dem 
Kinnstachel,  wodurch  die  Spitze  derselben  aus  der  Mundhöhle  heraus- 
tritt.    Ich   nenne    ihn  deshalb  auch  Exserfm*  oder  Protnisor  linguae. 

2.  Zungenbein-Zungenmuskel,  Musculus  liyo-glossus.  Nach 
Entfernung  des  Biventer,  Mylo-  und  Stylo-hyoideus,  sieht  man  ihn 
vom  oberen  Rande  des  Mittelstücks  des  Zungenbeins,  so  wie  von 
dessen  grossem  und  kleinem  Home  entspringen.  Er  wurde  dieses 
dreifachen    Ursprunges   wegen    sehr  überflüssig    in   drei    besondere 


§.  1«6.  Tiefe  Hftltmuskeln.  447 

Muskeln  getheilt:  Basio-,  Cerato-/ und  Chmdrogloasvs ,  von  welchen 
der  Chondroglossus  öfters  fehlt.  Dünn  und  breit,  steigt  er  schief 
nach  vorn  und  oben  zum  hinteren  Seitenrande  der  Zunge  empor, 
und  ist  ein  Depressor  linguae.  Seine  äussere  Fläche  wird  vom  Nenms 
hypoglo88U8  gekreuzt. 

3.  Der  Griffel-Zungen rauskel,  MuscvitLS  atylo-glossus ,  ent- 
springt von  der  Spitze  des  Griflfelfortsatzes  und  vom  Ligamentum 
stylo-maxUlare,  und  liegt  über  und  einwärts  vom  Stylo-hyoideus,  Er 
geht  bogenförmig  zum  Seitenrande  der  Zunge,  wo  er  sich  mit  den 
aufsteigenden  Fasern  des  Hyo-glossus  kreuzt,  und  theils  zwischen 
den  Bündeln  desselben  in  das  Zungengewebe  eindringt,  theils,  sich 
allmälig  verjüngend,  bis  zur  Spitze  der  Zunge  ausläuft.  Zieht,  wenn 
er  einseitig  wirkt,  die  Zunge  seitwärts;  wenn  er  auf  beiden  Seiten 
wirkt,  direct  nach  rückwärts.  —  Zuweilen  entspringt  ein  acces- 
sorisches  Bündel  dieses  Muskels,  von  der  unteren  Wand  des  knor- 
peligen Gehörgangs. 

Die  in  der  Zunge  selbst  entspringenden  nnd   endigenden  Muskeln  (Binnen- 
moskeln)  werden  erst  im  §.  255  erwähnt 


§.  165.  Tiefe  Halsmuskeln. 

Nachdem  der  Unterkiefer  ausgelöst,  und  alle  Weichtheilc  des 
Halses  bis  zur  Wirbelsäule  entfernt  wurden,  gelangt  man  zur  An- 
sicht der  tiefliegenden  Halsmuskulatur.  Sie  zerfallt  in  zwei  Gruppen, 
deren  eine  die  Seitengegend  der  Wirbelsäule  einnimmt,  die  andere 
auf  der  vorderen  Fläche  der  Wirbelsäule  aufliegt. 

1.  Muskeln  an  der  Seitengegend  der  Halswirbelsäule: 

Hier  liegen  die  drei  Rippenhalter,  Scaleni  (dTcaXyjvo^ ,  un- 
gleich), welche  von  den  Querfortsätzen  gewisser  Halswirbel  zur  ersten 
und  zweiten  Rippe  herabziehen.  Sie  können  deshalb  als  Hebe- 
muskeln der  zwei  oberen  Rippen  angesehen  werden,  vorausgesetzt, 
dass  der  Hals  durch  andere  Muskeln  fixirt  ist.  Sind  aber  die 
Rippen  fixirt  und  der  Hals  beweglich,  so  werden  die  Scaleni  den 
Hals  drehen  (wenn  sie  nur  auf  Einer  Seite  agiren),  oder  ihn  vor- 
wärts beugen  (wenn  sie  simultan  auf  beiden  Seiten  wirken). 

Der  vordere  Rippenhalter,  Musculus  scalenus  anticus,  ent- 
springt vom  Querfortsatz  des  dritten  bis  sechsten  Halswirbels,  und 
läuft  an  der  äusseren  Seite  des  gleich  zu  erwähnenden  Lonffus  colli 
zur  oberen  Fläche  der  ersten  Rippe  herab,  wo  er  sich  auswärts  vom 
Tubercvlum  Lisfrand  inserirt. 

Der  mittlere  Rippenhaiter,  jUmscuLus  scalenus  medius,  folgt 
hinter  dem  vorderen,  welchen  er  an  Stärke  und  Länge  übertrifft. 
Er  entspringt  mit  sieben  Zacken  m^  *  Höckern   der 


448  8- 166.  Tiefe  HalemnakeliL 

Querfortsätze  aller  Halswirbel,  und  befestigt  sich  am  oberen  Rande 
und  an  der  äusseren  Fläche  der  ersten  Rippe.  Zwischen  dem  Ur- 
sprünge des  vorderen  und  mittleren  Scalenus,  bleibt  eine  dreieckige 
Spalte  mit  oberer  Spitze  oflfen,  durch  welche  die  im  folgenden 
Paragraph  bezeichneten  Nerven  und  Gefasse  der  oberen  Extremität 
passiren. 

Der  hintere  Rippenhalter,  Musculus  scal&iius  posticus,  ist 
der  kleinste,  und  häufig  mit  dem  mittleren  verwachsen.  Er  geht 
von  den  hinteren  Höckern  der  Querfortsätze  des  fünften  bis  siebenten 
Halswirbels  zur  Aussenfläche  der  zweiten  Rippe. 

Ueberxählige  Scaleni  kommen  nur  als  selbstständig  gewordene  Fleischbtindel 
der  drei  normalen  vor.  Am  meisten  bekannt  ist  der  Scalenits  minimus  Albini, 
welcher  dadurch  zn  Stande  kommt,  dass  die  Arteria  mfMilavia,  nicht,  wie  es  im 
folgenden  Paragraph  heisst,  zwischen  SctUenus  emticus  und  medium  durclitritt,  son- 
dern den  arUicus  so  durchbohrt,  dass  der  schwächere,  liinter  der  Arterio  liegende 
Antheil  des  dnrdibohrten  Muskels,  das  Ansehen  eines  selbstständigen  Muskels 
gewinnt. 

2.  Muskeln  auf  der  vorderen  Fläche  der  Halswirbel- 
säule: 

Der  grosse  vordere  gerade  Kopfmuskel,  Musculus  rectus 
capitis  aniicus  major,  entspringt  mit  vier  sehnigen  Zipfeln  dort,  wo 
der  früher  erwähnte  Scalenus  arUicus  entspringt,  d.  i.  vom  vorderen 
Rande  des  dritten  bis  sechsten  Halswirbel-Querfortsatzes.  Er  steigt 
etwas  nach  innen  gerichtet,  empor,  und  heftet  sich  an  die  untere 
Fläche  der  Pars  basilaris  des  Hinterhauptbeins. 

Er  wirkt,  zugleich  mit  dem  folgenden,  als  Kopfnicker,  d.  h.  beide  beugen 
den  Kopf  nach  vom,  und  protestiren  somit  gegen  den  ihnen  von  den  alten  fran- 
zösischen Zergliederem  (z.  B.  Dupr^,  1698)  beigelegten  Namen:  rewforfjetirn  (ren- 
gorger,  sich  brüsten,  den  Kopf  aufwerfen). 

Der  kleine  vordere  gerade  Kopfmuskel,  Musculus  rectum 
capitis  anticus  minor,  entsteht  am  vorderen  Bogen  des  Atlas,  geht 
schief  nach  innen  und  oben ,  wird  vom  vorigen  bedeckt ,  hat  mit 
ihm  dieselbe  Insertion,  und  somit  auch  dieselbe  Wirkung. 

Der  seitliche  gerade  Kopfmuskel,  Musculus  rectus  capitis 
latercUis,  zieht  vom  Querfortsatz  des  Atlas  zum  Processus  jugularis 
de»  Hinterhauptbeins.  Er  gehört,  genau  genommen,  zur  Gruppe 
der  in  §.  180  aufgeführten  Musculi  intertransversarii  antici  der 
Wirbelsäule. 

Der  lange  Halsmuskel,  Musculus  longus  colli,  liegt  nach 
innen  vom  Rectus  capitis  anticus  major,  und  bedeckt  die  vordere 
Wirbelsäulenfläche  vom  ersten  Halswirbel  bis  zum  dritten  Brust- 
wirbel herab.  Er  hat  einen  sehr  coraplicirten  Bau,  und  besteht 
nach  Luschka's  geiiauer  Untersuchung,  eigentlich  aus  drei  Muskeln, 
welche    füglich    als    selbstständig   angesehen    werden    sollten.     Der 


$.  166.  Topographitehe  Anatomie  dea  Halset.  449 

erste  derselben,  der  Lage  nach  der  innerste,  ist  ein  gerader,  ge- 
fiederter Muskel,  der  sich  vom  Körper  des  dritten  Brustwirbels  bis 
zum  Körper  des  Epistropheus  erstreckt.  Er  beugt  die  Halswirbel- 
säule. Der  zweite,  kleinere,  etwas  schräg  nach  aus-  und  aufwärts 
gerichtete  Muskel,  entspringt  fleischig  von  der  Seite  des  Körpers 
des  zweiten  und  dritten  oberen  Brustwirbels,  und  inserirt  sich  mit 
zwei  oder  drei  kurzen  Sehnen,  am  vorderen  Rande  der  zwei  oder 
drei  letzten  Halswirbel-Querfortsätze.  Luschka  nennt  ihn  Obliquus 
colli  (anUcus)  inferior.  Sein  Ursprung  lässt  sich  von  jenem  des 
früheren  nicht  scharf  trennen.  Seiner  schrägen  Richtung  wegen 
wird  er  die  Halswirbelsäule  drehen.  Der  dritte,  etwas  stärkere, 
entspringt  mit  zwei  Zacken  von  den  vorderen  Rändern  der  Quer- 
fortsätze des  dritten  und  vierten  Halswirbels,  läuft  schief  nach  innen 
und  oben,  und  setzt  sich  an  das  Tuberculum  des  vorderen  Halb- 
ringes des  Atlas.  Er  beugt  die  Halswirbelsäule,  und  dreht  sie  zu- 
gleich, aber  in  entgegengesetzter  Richtung,  als  der  zweite.  Luschka 
nennt  ihn   Obliquus  colli  (anticus)  superior. 

Die  obere  und  untere  schiefe  Portion  der  beiderseitigen  langen  Halsmuskeln 
bilden  einen  langen  Rhombiu,  durch  dessen  Ebene  die  beiden  geraden  Portionen 
aufsteigen.  Die  Gesammtwirkung  der  drei  Portionen  adelt  auf  die  Beugung  des 
Halses  ab. 

Luschka,  der  lange  Halsmuskel  des  Menschen,  in  MÜUer*»  Archiv.  1854. 


§.  166.  TopograpMsche  Anatomie  des  Halses. 

Nachdem  der  Anfänger  die  bisher  abgehandelten  Muskeln  im 
Einzelnen  durchgegangen,  unterlasse  er  es  nicht,  das  Ensemble  der- ' 
selben ,  und  ihre  Beziehungen  zu  den  übrigen  Weichgebilden  am 
Halse,  zum  Gegenstand  einer  sorgfaltigen  Zergliederungsarbeit  zu 
machen,  und  sich  in  der  topographisch-anatomischen  Präparirung 
des  Halses  zu  versuchen,  welche  jedenfalls  nützlicher  ist,  als  die 
isolirte  Darstellung  einzelner  Muskeln. 

Es  handelt  sich  hier  nicht  um  eine  erschöpfende  Detailschilde- 
ruug  derLagerungöverhältnissc  sämmtlicher  am  Halse  untergebrachter 
Weichtheile,  welche  für  Anfanger,  die  noch  nichts  als  das  Skelet 
kennen,  grossen  Theils  unverständlich  wäre,  sondern  um  die  Er- 
örterung dos  Nebeneinanderseins  der  wichtigeren  Gefasse  und  Ner- 
ven, welche  in  gew^issen  constanten  Beziehungen  zu  den  Muskeln 
des  Halses  stehen.  Diese  Beziehungen  sind  so  sicher  und  verläss- 
lich, dass  sie  bei  dem  Aufsuchen  grösserer  Gefässe  und  Nerven  die 
besten  Führer  abgeben. 

Hyrtl,  Lehrbuch  der  Anatomie.  14.  Anfl.  89 


450  8*  1^-  Topographische  Aufttomie  des  Halses. 

Nach  Entfernung  der  Haut,  des  Platysma  myoides,  und  des 
hochliegenden  Blattes  der  Fa^scia  colli  (siehe  den  nächsten  Paragraph), 
bemerkt  man  vorerst,  dass  die  Richtungen  des  Stemo-cleido-mastai' 
deus  und  des  Omo-hyoideus  sich  kreuzen.  Ersterer  läuft  von  innen 
und  unten  nach  oben  und  hinten,  letzterer  von  aussen  und  unten 
nach  oben  und  vorn.  Die  gekreuzten  Muskelrichtungen  beschreiben 
die  Seiten  zweier,  mit  den  Spitzen  aneinanderstossender  Dreiecke. 
Denkt  man  sich  die  Richtung  des  Omo-hyoideus,  über  das  Zungen- 
bein hinaus,  bis  zum  Kinn  verlängert,  so  ist  die  Basis  des  oberen 
Dreiecks  der  untere  Rand  des  Kiefers;  jene  des  unteren  der  obere 
Rand  des  Schlüsselbeins.  Wir  wollen  das  obere  Halsdreieck  deshalb 
Trigonum  inf ramaxillare ,  und  das  untere  Trigonum  supraclavicidare 
nennen.  Beiden  Dreiecken  entsprechen  schon  bei  äusserer  Ansicht 
des  noch  mit  der  Haut  bedeckten  Halses  magerer  Individuen,  zwei 
seichte  Gruben:  eine  obere  als  Fossa  inframaxUlaris,  und  eine 
untere  als  Fossa  supradavicularis. 

Man  beginne  mit  der  Untersuchung  des  unteren  Halsdrei- 
eckes, und  trenne,  um  es  zugänglicher  zu  machen,  den  Schlüssel- 
beinursprung des  Kopfnickers.  Ist  dieses  geschehen,  so  findet  man 
die  Area  des  Dreieckes  durch  eine  lockere,  verschiebbare  Apo- 
neurose  —  tiefliegendes  Blatt  der  Fascia  colli  —  bedeckt,  welche 
mit  dem  MvLsadus  omo-hyoideiLS  verwachsen  ist,  und  durch  ihn  ge- 
spannt werden  kann.  Unter  dieser  Fascie  folgt  laxes,  grossblättriges 
Bindegewebe,  welches  die  Drüsen  des  Plexus  lymphaticu^  supraclavi- 
cuLaris  enthält,  und  vorsichtig  abgetragen  werden  muss,  um  die  im 
Grunde  der  Grube  liegenden  Weichtheile  zu  schonen.  Man  stösst 
nun  auf  die  seitliche  Gegend  der  Halswirbelsäule,  und  die  an  ihr 
haftenden  Scaleni.  Wird  nun  das  Schlüsselbein  weggenommen,  oder 
durch  starkes  Niederziehen  des  Armes  so  weit  gesenkt,  dass  man 
die  obere  Fläche  der  ersten  Rippe  erreichen  kann,  so  findet  man 
auf  dem  Scal&iius  anticus  den  Zwerchfellsnerv,  Nervus  phrenicus,  von 
aussen  und  oben ,  nach  innen  und  unten  zur  oberen  Brustapertur 
laufen,  und  am  inneren  Rande  desselben  Muskels  die  Arteria  thyreoi- 
dea  infemor.  Vor  der  Rippeninsertion  des  Scalenus  aiiticus  zieht  die 
Veyia  subclavia  über  die  erste  Rippe  weg  nach  innen,  und  vereinigt 
sich  hier  mit  der  durch  die  Vereinigung  der  Veim  jugulaiis  interna 
mit  der  externa  gebildeten  Vena  jugularis  communis.  Zwischen  dem 
Scalenus  anticus  und  medius  bleibt  eine  dreieckige  Spalte  frei,  durch 
welche  die  vorderen  Aeste  der  vier  unteren  Halsnerven  und  des 
ersten  Brustnerven  hervortreten ,  um  sich  zum  Plexus  suhclaimis, 
welcher  im  weiteren  Laufe  zum  Plexus  axillaris  wird,  zu  verketten. 
Unter  dem  ersten  Brustnerv  kommt  die  Arteria  »uhclavia  gleichfalls 
aus  dieser  Spalte  hervor,  und  krümmt  sich  über  die  erste  Rippe  nach 
abwärts,    um  unter    dem  Schlüsselbeine  zur  Achselhöhle  zu  laufen. 


§.  166.    TopofnpbiBiAie  Anatomie  des  HalMi.  451 

Das  obere   Halsdreieck    ist   viel   grösser,    und  sein   Inhalt 
zahlreicher,   aber   auch   leichter  z»gänglich.     Während  der  Stema- 
cleido-mastoideus  noch  den  vorderen  Rand  des  unteren  Halsdreieckes 
bildete,  deckte  er  die  grossen  Gefösse  und  Nerven  zu,   welche  am 
Halse  gerade    auf-   und   absteigen :  Carotis  communis,   Vena  jugtUaris 
tntemn,  Nervus  vagus,  etc.     Durch   die  Richtung   des  Muskels  nach 
hinten  und  dljen,  werden  diese  G-efösse  und  Nerven  im  oberen  Hals- 
dreiecke   nicht   mehr   von    ihm,   sondern   nur   von  der  Fascia  eolUi, 
welche  sie   zwischen   ihre   beiden  Blätter   aufnimmt,   bedeckt  sein. 
Nach  Abtragung  des  oberflächlichen   Blattes   der  Haisbinde,   findet 
man  im  oberen  Halsdreieck  zuerst,  hart  am  Unterkiefer,  die  Oian- 
dtda  submaocülaris,  in  deren  nächster  Nachbarschaft,  einige  Lymph- 
drüsen von  Linsen-  bis  Erbsengrösse   vorkommen.     Isolirt  man  die 
Glandula   submaxätaris   von   dem   sie   in   ihrer   Lage   befestigenden 
Bindegewebe  (wobei  man  am  vorderen  Rande  der  Drttse,  den  Aus- 
fuhrungsgang  derselben  zu  schonen  hat),  so  kann  man  sie  aus  ihrer 
Nische,    gegen  das  Kinn,   herausschlagen.     Man  tiberblickt  sodann 
den   Musculus   biventer,   sfylo-hyoideus  und   mylo-hyoideus ,    und   sieht 
den  Musculus  hyoglossus  vom  Zungenbein  heraufkommen,  und,  gegen 
den  Kiefer  hinauf,  vom  Musculus  styloglossus  gekreuzt  werden.    Hat 
man  den  Musculus  biventer  ganz  entfernt,  so  gewahrt  man,   wie  der 
Nervus  h/poglossus  das  Bündel    der   grossen  Blutgefässe   von  aussen 
umgreift.  Man  erblickt  zugleich   die  Theilung   der  Carotis  communis 
in    die    externa   und   interna,    die  Verästlung  der  Carotis  externa, 
und  die  Einmündung  jener  Venen,   welche  den  Aesten  der  Carotis 
externa  entsprechen,  in  die  Vena  jugidaris  interna.  Die  Aeste  der  Carotis 
eirtema  lassen  sich  ohne  Mühe  verfolgen,  und  es  sind  von  ihnen  die 
nach    vom    abgehenden    drei:    die    Arteria   thyreoidea  superior,    die 
Arterla  lingualis,  und  Arteria  maxillaris  externa ,    in   praktischer  Be- 
ziehung besonders  wichtig.   —  Ist  man   bis   auf  den  Ursprung  des 
Musculus    stylo-hyoideus    eingedrungen,    so    wird    man    zugleich  des 
Nervus   lingv^is   ansichtig,    welcher   ziemlich    der    Richtung   dieses 
Muskels    folgt.    —    Die    schichtenweise    Präparation    der    Muskeln 
zwischen  dem  Kinn  und  dem  Zungenbeine,   so  wie  die  Darstellung 
der  in  der  Medianlinie  des  Halses  angebrachten  Organe  (des  Kehl- 
kopfes, der  Schilddrüse,  der  Luftröhre,  und  der  links  von  letzterer 
gelegenen  Speiseröhre),  lässt  sich  ohne  besondere  Verhaltungsregeln 
leicht  ausführen. 

Der  Anfanger  möge  es  sich  empfohlen  sein  lassen,  bevor  er  zur  praktischen 
Zergliederung  des  Halses  schreitet,  wenigstens  den  Stammbaum  der  hier  befind- 
lichen Blutgefässe,  und  die  Verlauftweise  der  Nerven,  in  den  betreffenden  Pam- 
graphen  der  Gefiiss-  und  Nervenlehre  nachzusehen. 


29» 


452  §.  167.  FMCie  des  Halses. 


§.  167.  Fascie  des  Halses. 

Die  Fascie  des  Halses  (Fasda  colli  s,  cervicalü)  ist  eine 
sehr  eomplicirte,  und  durch  anatomische  Präparation  als  ein  zu- 
sammenhängendes Ganzes  kaum  darzustellende  fibröse  Membran, 
welche  man  aus  einem  hoch-  und  tiefliegenden  Blatte  bestehen 
lässt,  die  sich  selbst  wieder  in  untergeordnete  Blätter  spalten,  um 
Weichtheile  des  Halses  scheidenartig  zu  umfassen.  Den  Bedürf- 
nissen und  Wünschen  des  Anfängers  genügt  eine  schematische 
Uebersicht  ihrer  verwickelten  Verhältnisse. 

Würde  man  sich  alle  Weichtheile  des  Halses  wegdenken,  und 
nur  die  Fasda  colli  zurücklassen,  so  würde  diese  als  ein  System  von 
hohlen  Röhren  und  Schläuchen  erscheinen,  durch  welche  jene  Weich- 
theile durchgesteckt  waren.  Das  hochliegende  Blatt  liegt  unter 
dem  Platysma  myoidea,  hängt  nach  oben  mit  der  Fasda  parotideo- 
masseterica  und  mit  dem  unteren  Rande  des  Unterkiefers  zusammen, 
deckt  das  Trigonum  inframa>xülare,  hüllt  den  Kopfnicker  ein,  setzt 
sich  nach  unten  über  das  Trigonum  supradamculare  zum  Schlüssel- 
beine fort,  und  adhärirt  an  ihm.  Nach  hinten  geht  es  in  die,  unter 
dem  Musculus  cucuJiaris  liegende  Fasda  nuchas  über,  und  nach  vorn 
bedeckt  es  den,  vom  Brustbein  heraufkommenden  Musculus  stemo- 
hyoideus,  stemo-thyreoideus,  thyreo-hyoideus,  so  wie  den  oberen  Bauch 
des  Omo-hyoideus,  für  welche  Muskeln  es  Scheiden  bildet,  und  hängt 
in  der  Medianlinie  mit  demselben  Blatte  der  anderen  Seite  zu- 
sammen. Es  dringt  nicht  in  die  Brusthöhle  ein,  sondern  befestigt 
sich  am  Manvhrium  stenn  und  am  Ligamentum  interclaviculare.  — 
Das  tiefliegende  Blatt  entspringt  an  der  Linea  ohliqua  interna 
des  Unterkiefers.  Es  hängt  mit  dem  Ligamentum  stylo-maxillare,  und 
mit  der  Fasda  bucco-pharyngea  (§.  160)  zusammen,  bildet  den  Grund 
des  Trigonum  inframaxülare,  geht  unter  dem  Kopfnicker  zum  Tri- 
gonum supradavictUare ,  dessen  Boden  es  ebenfalls  bildet,  wickelt 
den  unteren  Bauch  des  Omo-hf/oideus  ein,  verschmilzt  nach  hinten 
mit  der  Fasda  nuchae,  uraschliesst  scheidenartig  die  grossen  Gefasse 
des  Halses,  und  theilt  sich  einwärts  von  ihnen  in  zwei  Blätter. 
Das  eine  überdeckt  als  Fascia  praevertebralis  (hinter  dem  Pharynx 
und  der  Speiseröhre)  die  tiefen  Halsmuskeln  an  der  vorderen  und 
seitlichen  Gegend  der  Halswirbelsäulc,  während  das  andere  vor  der 
Schilddrüse  und  Luftröhre  mit  dem  entgegenkommenden  Blatte  der 
anderen  Seite  verschmilzt,  und  nach  abwärts  durch  die  obere  Brust- 
apertur in  den  Thorax  eindringt,  um  sich  theils  an  die  Beinhaut 
des  Manuhrium  stemi  festzusetzen,  theils  in  die  vordere  Wand  des 
fibrösen  Herzbeutels  überzugehen.  —  Ueber  dem  Manuhrium  stemi 
befindet  sich  zwischen  dem  hoch-  und  tiefliegenden  Blatte  der  Fasda 


S.  168.  Aenssere  Ansicht  der  Torderen  und  seitlichen  Brastgegeod.  "463 

colli,  ein  keilförmiger  Hohlraum  mit  oberer  Spitze,  welcher  sieh 
seitwärts  hinter  dem  Clavicularursprung  des  Kopfnickers  verlängert. 
Er  enthält  Bindegewebe  und  Fett,  gelegentlich  auch  lymphatische 
Drüsen,  und  lässt  sich  mittelst  Anstechens  des  hochliegenden  Blattes 
der  Fascia  colli  über  der  Iivdsura  jugvlaria  stemi  aufblasen.  Sein 
Entdecker,  W.  Grube r,  nannte  ihn  SpcUium  interaponeuroticum 
suprasteiiiale,  und  seine  seitlichen  Ausbuchtungen:  Sacci  retro-stemO' 
cleidomastoidei.  Henle's  Jahresbericht,  1867. 

Die  Fascia  colli  musa  bei  allen  blutigen,  chirurgischen  Eingriffen  am  Halse, 
wohl  berücksichtigt  werden.  So  ist  z.  B.  die  Exstirpation  von  Geschwülsten  am 
Halse,  welclie  extra  fasciam  liegen,  leicht  und  gefahrlos,  jene  der  intra  fasciam 
gelegenen  dagegen  schwieriger,  und  nicht  selten  wirklich  schwer.  Alle  intra 
fasciam  gelegenen,  also  tiefsitzenden  Geschwülste,  werden  durch  den  Widerstand 
der  wenig  nachgiebigen  Fascie  einer  ununterbrochenen  Compression  unterliegen, 
und  durch  ihr  Anwachsen  mit  einer  Menge  hochwichtiger  Organe  in  Contact  g^- 
rathen,  dieselben  durch  Druck  anfeinden,  ja  selbst  umwachsen  können,  und  somit 
viel  gefahrlichere  Zufalle  erregen,  als  die  oberflächlichen.  Einseitige  Verkürzung 
der  Fascia  kann  auch  Ursache  eines  schiefen  Halses  (caput  obstipum)  sein.  — 
L,  Dittel,  die  Topographie  der  Halsfascien.  Wien,  1857.  —  Legendre,  sur  les 
apon<^uroses  du  cou.  Gaz.  m^d.   1858.  N.   14. 


C.  Muskeln  der  Brust. 

§.  168.  Aeussere  Ansicht  der  vorderen  und  seitlichen 

Brustgegend. 

Die  vordere  Brustgegend  setzt  sich  nach  oben  und  aussen 
unmittelbar  in  die  convexen  Schultergegenden  fort,  und  wird  von 
diesen  nur  durch  eine  schwache  Depression  der  Haut  (Fossa  infrü' 
davtcularis)  getrennt.  Nach  unten  trennt  sie  der  Umfang  der  unteren 
Brustapertur  vom  Bauche.  Die  seitliche  Brustgegend,  welche  von 
der  vorderen  und  hinteren  durch  keine  natürliche  scharfe  Grenze 
abgemarkt  wird,  geht  nach  oben  in  die  Achselgrube,  und  nach 
unten  in  die  Weichen  des  Bauches  über. 

In  der  Medianlinie  der  vorderen  Brustgegend,  bemerkt  man 
oben,  als  (irenze  zwischen  Brust  und  Hals,  die  Incisura  jugidarü 
des  Brustbeins ,  und  zu  beiden  Seiten  derselben  einen ,  besonders 
bei  mageren  Individuen,  sehr  auffälligen,  rundlichen  Höcker,  — 
das  Sternalende  des  Schlüsselbeins.  Unter  der  Incisura  jugvlaris 
läuft,  bis  zum  Schwertknorpel  herab,  eine  ebene,  schmale  Fläche, 
welche  an  der  Vereinigungsatelle  der  Handhabe  des  Brustbeins  mit 
dem  Körper,  einen,  besonders  bei  Lungensüchtigen  deutlichen 
queren   Vorsprang  bildet   (nach   dem   französischen  [Arzte^Louis, 


454  §.  169.  MoAkelD  an  der  Brust. 

Angtdus  Ludovid  genannt)^  und  am  Schwertknorpel  plötzlich  zu 
einer  Grube  einsinkt  —  Magen-  oder  Herzgrube,  Scrobicidtis 
cordis.  Rechts  und  links  von  der  Medianlinie  sind  bei  mageren  Indi- 
viduen die  Vorsprünge  der  Rippen  und  ihrer  Knorpel  sichtbar  und 
zählbar.  An  der  vorderen  Brustgegend  bilden  bei  Weibern  die 
Brüste  zweiy  mit  ihren  Saugwarzen  etwas  nach  aussen  gerichtete 
Halbkugeln^  zwischen  welchen  die  Brustbeingegend  als  Busen  sich 
vertieft.  Bei  Männern  und  bei  Kindern  beiderlei  Geschlechts,  vor 
dem  Erwachen  des  Geschlechtstriebes,  zeigt  sich  diese  Gegend  mit 
dem  übrigen  Thorax  mehr  gleichförmig  gerundet  und  sind  von  den 
Brüsten  blos  die  Warzen  sichtbar.  —  Die  Haut  ist  in  der  Mittel- 
linie dünn,  und  über  dem  Brustbeine  wenig  verschiebbar.  Seitwärts 
wird  sie  dicker,  und  lässt  sich  in  Falten  aufziehen.  Das  subcutane 
Bindegewebe  zeichnet  sich  an  den  Seiten  des  Thorax,  besonders 
aber  um  die  Brustdrüsen  herum,  durch  ansehnlichen  Fettgehalt  aus, 
welcher  jedoch  am  Brustbeine  selbst  fehlt,  so  dass  die  Sternalregion 
um  so  tiefer  wird,  je  fetter  ein  Mensch  ist.  Unter  dem  subcutanen 
Bindegewebe  folgt  der  grosse  Brustmuskel,  welchen  eine  dünne 
Bindegewebs-Fascie  überzieht.  Unter  ihm  geräth  man  auf  die  der 
seitlichen  Brustgegend  eigene  Faada  coraco-pectorcUis^  und  auf  den 
Musculus  suhdavius,  pectoralis  minor,  und  setTatus  anticus  major.  Die 
Zwischenrippenräume  füllen  die  Musculi  intercostales  aus. 


§.  169.  Muskeln  an  der  Brust. 

Es  werden  hier  nur  jene  Muskeln  abgehandelt,  welche  an  der 
vorderen  und  an  den  beiden  Seitengegenden  der  Brust  vorkommen; 
die  an  der  hinteren  Gegend  gelagerten,  werden  mit  den  Rücken- 
muskeln beschrieben.  —  Die  Muskeln  an  der  vorderen  und  seitlichen 
Gegend  der  Brust,  bilden  drei  über  einander  liegende  Schichten. 

A,  Erste  Schichfs. 

Der  grosse  Brustmuskel,  3£usculus  pectoralis  major,  er- 
streckt sich  von  der  vorderen  Brustgegend  zum  Oberarm,  und 
bildet  die  vordere  Wand  der  Achselhöhle.  Er  ist  von  einer  dünnen, 
zellig-iibrösen  Fascie  bedeckt,  welche  sich  in  die  Faseie  des  Ober- 
arms fortsetzt.  Um  den  Muskel  durch  Ablösen  dieser  Fascie  gut 
zu  präpariren ,  muss  der  Arm  vom  Stamme  abgezogen ,  und  die 
Richtung  der  Schnitte  parallel  mit  der  Faserungsrichtung  des  Mus- 
kels geführt  werden.  Er  hat  im  Ganzen  eine  dreieckige  Gestalt. 
Die  convexe  Basis  des  Dreiecks  entspricht  dem  Ursprünge  des 
Muskels,   die  Spitze  der  Insertion  am  Oberarm.    Er  entsteht  vom 


§.  169.  MadkelQ  aa  der  Brust.  455 

Sternalende  des  Schlüsselbeine  als  schmale  Portio  davicidaHs,  von 
der  vorderen  Fläche  de&  Sternnm  und  der  Knorpel  der  sechs  oberen 
Rippen  als  breite  Portio  sterno-costalis,  und  häutig  noch  mittelst 
eines  schmalen  Muskelbündels  von  der  Aponeurose  des  äusseren 
schiefen  Bauchmuskels  (Portio  abdonmialU).  Von  diesem  weit  aus- 
gedehnten Ursprünge  schieben  sich  die  Fascikeln  des  Muskels  im 
Laufe  gegen  den  Oberarm  so  auf  einander  zu,  dass  in  der  Nähe 
des  Oberarms  die  Clavicularportion  sich  vor  die  Sternocostalportion 
legt,  und  beide  sich  kreuzen.  Hiedurch  gewinnt  der  Muskel  an 
Dicke,  was  er  an  Breite  verliert.  Seine  kurze,  starke,  und  breite 
Endsehne,  befestigt  sich  an  der  Spina  tubercidi  majoris.  Die  Ge- 
sammtwirkung  des  Muskels  erzielt,  allgemein  ausgedrückt,  eine 
Näherung  der  oberen  Extremität  gegen  den  Stamm,  und  wird,  nach 
den  verschiedenen  Stellungen  derselben ,  in  verschiedener  Art  er- 
folgen, was  sich  durch  Versuche  am  eigenen  Arm  oder  am  Cadaver 
sehr  gut  prüfen  lässt. 

Nichts  pflegt  die  Studirenden  bei  der  aufmerksamen  Präparation  dieses 
Muskel»  mehr  zu  überraschen,  als  das  Vorkommen  der  beim  Kopfhicker  (§.  163) 
als  Mtutculus  stemalis  erwähnten  Muskelvarietät,  welche  den  Stemalursprung  des 
Pectortüis  nusjoi'  überlagert,  und  von  sehr  verschiedener  Dix^ke,  Breite  und  Länge 
gefunden  wird.  Oft  verging  ein  Jahr,  ohne  dass  wir  des  Miuculua  stemcUü  im 
-Secirsaal  ansichtig  wurden. 

Zwischen  der  Portio  clavicularia  imd  der  Portio  stenio-costalis,  existirt  eine 
fast  horizontale  enge  Spalte,  durch  welche  die  Fascie  des  Pectoralmuskels  eine 
Fortsetzung  in  die  Tiefe  schickt.  —  Vom  Musculus  delioidetts  wird  der  Pectoralis 
majoi'  durch  eine  dreieckige,  oben  breite,  unten  gegen  den  Oberarm  spitzig  zu- 
laufende Furche  geschieden,  ha  welcher,  nebst  Fett,  die  Vena  cephalica  liegt.  Nach 
Herausnahme  de»  Fettes,  fühlt  man  oben  die  Spitze  des  Processus  coracoideua, 
und  die  von  ihm  entspringende  F<u*cia  coraco-pectoralis ,  welche  den  Gnmd  der 
Furche  bildet.  —  Von  der  Sehne  des  i*ectoralis  major  werden  viele  Faserbüudel 
zur  Verstärkung  der  Fascie  des  Oberarmes  verwendet.  —  Manchmal  krümmen  sich 
seine  untersten  Floischfasern,  vor  ihrer  Insertion  am  Oberarm,  über  die  Gefässe  und 
Nerven  der  Achsel  brückenförmig  nach  innen  und  hinten,  um  mit  der  Sehne  des 
breiten  Rückenmuskels  sich  zu  verweben.  —  Ein  von  der  Insertionsstelle  seiner 
Sehne  bis  zum  Coiidi/bts  humeri  iiUeivuis  herabziehender  fibröser,  selbst  muskulöser 
Strang,  verdient  die  Beachtung  der  Chirurgen,  da  er  während  seines  schief  nach 
innen  absteigenden  Verlaufes,  das  Bündel  der  grossen  Gefiisse  und  Nerven  am 
inneren  Rande  des  Biceps  örachii  überkreuzen  muss.  —  Tiedemann  fand  zwischen 
dem  Pectoralis  major  und  dem  Pectoralis  minor,  einen  eingeschobenen  überzähligen 
Bmstmuskel,  welcher  von  der  zweiten  bis  fünften  Rippe  entsprang,  luid  an  das 
Mehrfachwerden  des  Bmstmuskels  in  der  Classe  der  Vögel  erinnert.  —  Die 
Sternocostalportion  hat  bei  iixirtem  Arm  die  Bedeutung  eines  Inspirationsmuskels. 
Mau  sieht  deshalb  Kinder,  welche  am  Keuchhusten  leiden,  oder  Erwachsene,  die 
von  einem  asthmatischen  Anfalle  heimgesucht  werden,  unwillkürlich  sich  mit  den 
Armen  aufstemmen,  oder  einen  festen  Körper  umklammern,  um  den  Arm  zum 
fixen  Punkt  des  Pectoralis  major  zu  machen,  dessen  Sternocostalportion  nun  die 
vordere  Brustwand  hebt.  —  Bei  veralteten  Verrenkungen  im  Scholtergelenke  kann 
Verkürzung  des  grossen   BnutmiiBkelB  ein  schwer   so  ^ndea    HJudenÜBS 

der  Einrichtung   abgeben.    —    Die    CUiviei' 


456  §•  l^-  Moakeln  an  der  Brust. 

rechten  Seite  einer  hochbejahrten  Fraa  fehlen.  Completer  Mangel  der  Portio 
»iemo-coatalia  kam  mir  während  meiner  langen  anatomischen  Praxis  nur  zwei- 
mal vor. 

B.  Zweäe  Schichte. 

Der  Schlüsselbeinmuskel^  Musculus  »ubclavius,  entspringt 
an  der  unteren  Seite  des  Schlüsselbeins,  von  welcher  seine  Bündel 
nach  Art  eines  halbgetiederten  Muskels,  schief  an  eine  Sehne  treten, 
welche  sich  am  oberen  Rande  des  ersten  Rippenknorpels  inserirt. 
Da  seine  Zugrichtung  mit  der  Richtung  des  Schlüsselbeins  überein- 
stimmt ,  so  scheint  seine  Hauptverwendung  darin  zu  bestehen ,  das 
Schlüsselbein  bei  allen  Stellungen,  welche  es  annehmen  kann,  gegen 
das  Brustbein  zu  iixiren. 

Ich  nehme  hier  Anlass,  den  von  Luschka  entdeckten,  schmalen,  und 
spindelförmigen  Mugctäus  stemo-clavicularü  zu  erwähnen,  welcher  vom  oberen 
Bande  der  inneren  Hälfte  des  Schlüsselbeins,  zur  vorderen  Fläche  der  Brustbein- 
handhabe zieht  Er  ist  nicht  constant  Unter  83  Leichen  fand  ich  ihn  vier  Mal  so, 
wie  ihn  Luschka  beschrieb  (MüUer's  Archiv,  1856),  zwei  Mal  dagegen  ab- 
weichend. (Ueber  zwei  Varianten  des  MuscuIim  stemo-clavictilarut,  in  den  Sitzungs- 
berichten der  kais.  Akad.  1850,  März.)  Ueber  neue  supernumeräre  Schliisselbein- 
mnskeln,  handelt  G  ruber  im  Archiv  für  Anat.  1865. 

Zwischen  dem  Musculus  subclavius  und  der  ersten  Rippe,  sieht  man  die 
Gefässe  und  Nerven  der  oberen  Extremität  zur  Achselhöhle  hinziehen,  in  der 
Ordnung,  dass  die  Vena  auhclavia  nach  innen,  die  Nervenstämme  nach  aussen, 
und  die  Arteria  subclavia  zwischen  beiden  in  der  Mitte  liegt. 

Der  kleine  Brustmuskel,  Musculus  pectoralis  minor,  ent- 
springt mit  drei  oder  vier  Zacken  von  der  äusseren  Fläche  der 
zweiten  oder  dritten  bis  fünften  Rippe,  und  setzt  sich  mit  kurzer 
und  schmaler  Sehne  an  die  Spitze  des  Processus  coracoideus  fest. 
Zieht  die  Schulter  nieder,  oder  hebt  die  Kippen  als  Inspirations- 
muskel. Seines  zackigen  Ursprunges  wegen,  heisst  er  auch  Mus- 
culus serrtüus  anticus  minor. 

Ueber  den  Pectoralis  miitiimuSf  imd  andere  überzählige  Brustmuskeln,  handelt 
W,  Gruber,  in  den  M6m.  de  TAcad^mie  de  St.  P^tersbourg,  1860. 

Der  Musadus  subclavius  und  pectoralis  minor  sind  von  einer  Fascic  bedeckt, 
welche  gleich  nach  Wegnahme  des  Pectoralis  major  zum  Vorschein  kommt.  Sie 
entspringt  am  Rabenschnabelfortsatz,  wo  ihre  Dicke  sehr  bedeutend  ist.  Ihr 
äusserer  Abschnitt  verschmilzt  mit  jenem  Theile  der  Fascia  brachii,  welcher  über 
die  Achselgrube  wegläuft  (§.  186);  ihr  mittlerer  Abschnitt  fasst  den  kleinen 
Brustmuskel  zwischen  zwei  Blättern  ein;  ihr  innerer  und  oberer  Altschnitt  ver- 
hält sich  ebenso  zum  Musculus  sufjdavius,  befestigt  sich  am  unteren  Kande  der 
Clavicula,  und  übertrifft  die  beiden  anderen  an  Stärke.  Er  wird  als  Fascia 
coraoo-davicularis  erwähnt,  welchen  Namen  man  auch  der  Gesammtheit  der  drei 
erwähnten  Abschnitte  beilegt  Die  Faseia  coraco-clavicularis  begleitet  und  schützt 
die  unter  dem  Musculus  subclavius  hervortretenden  Gefässe  und  Nerven  auf  ihrem 
Wege  sur  Achsel.   Ihre  Stärke  und  ihre  Spannung  setzen  dem  von  aussen  her  unter 


|.  199.  Muskeln  an  dar  Brost.  457 

das  Schlüsselbein    eingebohrten    Finger,    ein   nicht    zu    bewältigendes    Hindemiss 
entgegen. 

Der  grosse  sägeförmige  Muskel,  Musculus  serrcUus  anticus 
major,  nimmt  die  ganze  Seitenfläche  des  Thorax  bis  zur  achten 
oder  neunten  Rippe  herab  ein.  Er  entspringt  mit  acht  oder  neun 
spitzigen  Zacken  (daher  sein  Name  Serratus)  von  der  äusseren 
Fläche  der  genannten  Rippen.  Die  Zacken  associiren  sich  zu  einem 
breiten  und  flachen  Muskelkörper,  welcher  die  Seiten  wand  der 
Brust  nach  hinten  umgreift,  zwischen  das  Schulterblatt  und  die 
Brustwand  eindringt,  und  sich  an  die  ganze  Länge  des  inneren 
Randes  der  Scapula  ansetzt.  Hiebei  ist  Folgendes  zu  bemerken. 
Die  erste  und  zweite  Zacke  (von  oben  gezählt),  fleischiger  als  die 
folgenden,  treten  au  den  inneren  oberen  Winkel  des  Schulterblattes, 
—  die  dritte  und  vierte,  welche  den  dünnsten  Theil  des  Muskels 
bilden,  nehmen  die  ganze  Länge  des  inneren  Schulterblattrandes 
für  sich  in  Besitz,  —  und  die  vier  oder  fünf  übrigen  Zacken  drängen 
sich  alle  gegen  den  unteren  Schulterblattwinkel  zusammen.  Dieser 
Muskel  zieht,  wenn  die  Rippen  durch  Zurückhalten  des  Athems 
festgestellt  sind,  das  Schulterblatt  nach  vorn,  und  fixirt  es  am 
Thorax.  In  dieser  Fixirung  des  Schulterblattes  liegt  eine  conditio 
sine  qua  non,  für  den  Gebrauch  jener  Muskeln,  welche  am  Schulter- 
blatt entspringen  und  am  Oberarm  oder  Vorderarm  angreifen.  Sie 
würden,  im  Falle  eine  schwere  Last  mit  den  Armen  zu  heben  ist, 
lieber  das  leicht  bewegliche  Schulterblatt  aus  seiner  Stellung  brin- 
gen, als  die  beabsichtigte  Hebewirkung  leisten.  Hieraus  wird  es 
erklärlich,  warum  Lähmung  des  Serratus,  die  Kraft  des  Armes 
schwächt. 

Nicht  Hclten  kommt  en  vor^  das»  der  Muskel  mit  neun  Zacken  von  den 
acht  oberen  Rippen  entspringt,  wo  es  dann  die  zweite  Rippe  ist,  welche  zwei 
Zacken  desHelhen  auf  sich  nimmt. 

Um  diesen  scliönen  Muskel  in  seiner  ganzen  Grösse  zu  sehen,  muss  das 
Schlüsselbein  entzweigesägt,  und  der  MimchIim  »iifjclavitM  und  pectoralis  minor  ent- 
fernt werden,  so  da!«H  das  Schulterblatt  vom  Stamme  wegfallt,  und  nur  mehr  durch 
den  Serratiui  nntictut  major  mit  der  Brust  zusammenhängt. 

(J,  Dritte  Schichte. 

Sie  besteht  aus  den,  die  cilf  Zwischenrippenräume  ausfüllenden 
äusseren  und  inneren  Intercostalmuskeln,  welche  zwei  dünne, 
fleischig-sehnige  Muskellagen  bilden.  Beide  entspringen  vom  unteren 
Rande  einer  Rippe,  und  endigen  am  oberen  der  nächst  darunter 
liegenden.  Die  Richtung  des  äusseren  geht  schräge  nach  vorn 
und  unten,  die  des  inneren  schräge  nach  hinten  und  unten.  Die 
Insertion  des  äusseren  erstreckt  sich  blos  bis  zum  Anfange  des 
Knorpels  der  betreffenden  ^  iene  des  inneren  aber  bis  zum 


458  §.  109.  Muskeln  an  der  Brust. 

Stemum.  Der  änsscre  ist  somit  um  die  Länge  eines  Rippenknorpels 
kürzer  als  der  innere,  und  ersetzt,  was  ihm  an  Länge  fehlt,  um  das 
Brustbein  zu  erreichen,  durch  eine  dünne,  glänzende  Aponcurosc, 
das  sogenannte  Ligamentum  coiiiscans.  Die  Ursprünge  beider  Inter- 
costalmuskelu  fassen  die  am  unteren  Rippenrande  befindliche  Furche, 
und  die  darin  laufenden  Geßisse  und  Nerven  zwischen  sich. 

Die  IidercmtaLen  exlerni  und  iiüerm  »ind  Einathmungsmuskeln.  Die  in 
neuester  Zeit  wieder  in  Aufnahme  gebrachte  ältere  Ansicht,  dass  die  hit^rcotitaleit 
tn^^nis  Ausathmungsmaskeln  seien,  wurde  von  Budge  widerlegt.  Er  zeigte,  dass 
nach  Durchschneidung  der  hitercostales  exteimi  in  einem  oder  mehreren  Zwischen- 
rippenräumen an  Thieren,  dennoch  inspiratorische  Verengerung  dieser  Zwischen- 
rippenräume eintritt.  —  Beim  Einathmen  wird  die  erste  Rippe  zuerst  durch  die 
Scaleni  gehoben.  Die  ersten  Iiitercoatales  exlerni  et  interni  stellen  nun  zwei  schiefe 
Kraftrichtungen  vor,  deren  Resnltirende  die  zweite  Kippe  gegen  die  gehobene 
erste  hebt,  und  so  fort  durch  alle  folgenden  Intercostalräume. 

Nach  Entfernung  beider  Intercostalmuskeln,  gelangt  man  noch  nicht  auf 
das  Rippenfell,  sondern  auf  eine  äusserst  dünne,  und  deshalb  bisher  übersehene 
Fascie,  welche  die  ganze  innere  Oberfläche  der  Brusthöhle  auskleidet,  und  sich 
zu  dieser,  wie  die  Fascia  transversa  zur  Bauchhöhle  verhält.  Ich  nenne  sie  Fascin 
endothoracica.  Sie  verdickt  sich  bei  gewissen  krankhaften  Zuständen  der  Lunge 
und  des  Rippenfells,  mit  welch'  letzterem  sie  sehr  innig  zusammenhängt,  und 
fällt  dann  besser  in  die  Augen.  Zieht  man  in  einem  durch  Wegnahme  der  vor- 
deren Wand  geöffneten  Thorax,  dessen  Inhalt  herausgenommen  ist,  das  Rippenfell 
von  der  inneren  Oberfläche  der  Rippen  ab,  so  überzeugt  man  sich  ohne  Schwierig- 
keit von  dem  Dasein  dieser  Fascie,  welche,  besonders  gegen  die  Wirbelsäule  hin, 
als  ein  selbstständiges  fibröses  Blatt,  mit  Vorsicht  in  grösserem  Umfange  isolirt 
werden  kann.  Luschka  hat  ihr  in  neuester  Zeit  eine  besondere  Aufmerksamkeit 
geschenkt,  und  ihre  Beziehungen  zum  fibrösen  Blatte  des  Herzbeutels  einer  gründ- 
lichen Untersuchung  unterworfen.  (Der  Herzbeutel  und  die  Fasciti  emlothorai'ica, 
in  den  Denkschriften  der  kais.  Akad.  17.  Bd.) 

Sehr  oft  finden  sich  an  der  inneren  Oberfläclie  der  unteren  Hälfte  der 
seitlichen  Bnistwand,  flache  und  dünne  Muskelbündel  vor,  welche  vom  unteren 
Rande  einer  oberen  Rippe  nicht  zur  nächst  unteren,  sondern,  diese  überspringend, 
zur  zweiten  ziehen.  Sie  nehmen  zuweilen  die  ganze  innere  Oberfläclie  der  Seiten- 
wand des  Thorax  ein,  und  wurden  von  dem  Niederländer,  Phil.  Verheyen, 
welcher  sie  entdeckte  (Conipe^id.  anat.  ßnixell,  1710),  Musndi  infracostal^s  genannt, 
von  Win  slow  aber  suf^costales. 

An  der  hinteren  Fläche  des  Brustbeins  und  der  Rippciiknorpel 
liegt  der  Alusculuif  triangulans  stenii  8.  üterno-costalwy  eine  Succession 
von  breiten  und  flachen  Zacken,  welche  aponeurotisch  vom  Kiirper 
und  Schwertfortsatz  des  Brustbeins  entspringen ,  und  schief  nach 
oben  und  aussen  an  die  hintere  Fläche  des  dritten  bis  sechsten 
Rippenknoi'pels  treten.  Er  zieht  die  Rippenknorpel  bei  forcirtem 
Ausathmen  herab,  und  bietet  so  viele  Spielarten  dar,  dass  Meckel 
ihn  den  veränderlichsten  aller  Muskeln  nannte. 

Henle  erkannte  in  ihm,  und  in  den  oben  erwähnten  MnsciUi  snbcattales, 
eine  Wiederholung  des   Transversus  abdomims  an  der  Brust. 

Nach  Luschka  (Sitzungsberichte  der  kais.  Akad.  1858),  kommt  in  seltenen 
Fällen  ein  besonderer  Muskel   hinter   dem    Manubrium  stemi  vor,  welchen  er  als 


§.  170.  AUgtmeiaes  über  die  BanchwMid.  459 

Transversus  coUi  bezeichnet.  Er  entspring  etwas  unter  der  Mitte  des  oberen  Randes 
des  ersten  Rippenknorpels,  besteht  aus  drei  bis  vier  lose  zusammenhängenden 
BündeUi,  welche  durch  Bindegewebe  an  die  hintere  Fläche  des  Ursprungs  des 
Stemo-hyoideua  adhäriren,  und  geht  in  Sehnenfasem  über,  welche  mit  jenen  der 
anderen  Seite  in  der  Medianlinie  zusaramenfüessen.  Er  kann  den  untersten  Theil 
des  tiefen  Blattes  der  Fascia  coUi  in  die  Quere  spannen. 


D.  Muskeln  des  Bauches. 

§.  170.  Allgemeines  über  die  Bauchwand. 

Bauch  oder  Unterleib  (Abdcmien,  8.  imus  venter,  s.  cUvits, 
welchen  der  römische  Dichter  ingenii  Tnorumque  largitor  nennt),  ist 
jener  Theil  des  Stammes,  welcher  zwischen  Brust  und  Becken  liegt. 
Abdomen  wird  weniger  für  den  menschlichen  Unterleib,  als  für  den 
feisten  Wanst  der  Mastthiere,  insbesondere  des  Schweines  gebraucht. 
Imu8  oder  infimus  venter  schreibt  der  classische  (Jelsus;  das  wäre 
deutsch:  unterer  Leib,  le  bds-ventre  der  Franzosen,  englisch  belly 
und  woviby  die  Wampen  der  trivialen  Wiener. 

Die  grosse  Lücke,  welche  am  Skelet  zwischen  dem  unteren 
Rande  des  Thorax  und  dem  oberen  Rande  des  Beckens  existirt, 
wird  nur  durch  fleischig  häutige  Decken  geschlossen,  welche  ge- 
meinhin den  Namen  Bauchwand  führen.  Der  von  der  Bauch- 
wand umgürtete  Raum,  ist  das  Cavum  abdonunts,  welches  sich 
nach  abwärts  in  den  Raum  der  Beckenhöhle  fortsetzt.  In  diesem 
Cavum  sind  die  Organe  der  Verdauung,  und  der  grösste  Theil  der 
Harn-  und  Geschleehtswcrkzeuge  verpackt.  Der  Rauminhalt  der 
Bauchhöhle  zeigt  sich  viel  grösser,  als  es  nach  der  äusseren  An- 
sicht der  Bauchwand  zu  vermuthen  wäre.  Indem  sich  nämlich  die 
Bauchhöhle  nach  abwärts  in  die  grosse  und  kleine  Beckenhöhle 
fortsetzt,  wird  auch  der  knöcherne  Beckenring  einen  Theil  ihrer 
Wandung  bilden,  und  die  weit  in  den  Thorax  hinaufragende  Wöl- 
bung des  Zwerchfells  vergrössert  sie  derart  nach  oben  zu,  dass 
auch  die  unteren  Rippen  noch  an  der  Bildung  der  seitlichen  Bauch- 
wand Theil  nehmen  werden. 

Da  der  untere  Rand  des  Thorax  mit  dem  oberen  Rande  des 
Beckens  nicht  parallel  läuft,  so  muss  die  Länge  der  weichen  Bauch- 
wand an  verschiedenen  Stellen  des  Bauches  eine  verschiedene  sein. 
Zwischen  dem  Schwertknorpel  und  der  Schamfuge  hat  die  Bauch- 
wand die  grösste  Länge.  Diese  nimmt  nach  aus-  und  rückwärts 
gegen  die  Wirbelsäule  zu  bedeutend  ab.  Würde  man  die  Bauch- 
wand von  ihren  AnheftungssteUen  ablösen;  und  in  eine  Fläche  aus- 
breiten, 80  erhielte  '^'"••ek,  dessen  längste 


460  S-  170.  AllgttmeinM  ftb«r  die  Banehwuid. 

Diagonale  dem  Ahntunde  des  Schwertknorpels  von  der  Schamfuge 
entspricht,  und  dessen  seitliche  abgestutzte  Winkel  an  die  Wirbel- 
sHule  zu  liegen  kommen.  Da  ferner  die  Peripherie  des  grossen 
Beckens,  jene  der  unteren  Brustapertur  übertriflft,  so  muss  die 
[Rauchwand  einem  stumpfen  Kegel  mit  unterer  Basis  gleichen.  Nur 
beim  Neugeborenen,  wo  die  Entwicklung  des  Beckens  hinter  jener 
des  Brustkorbes  zurücksteht,  wird  das  Verhältniss  ein  umgekehr- 
tes sein. 

F)ici  Wölbung  der  Bauchwand  ist  bei  mageren  Personen  mit 
leerem  Bauch  nach  innen,  bei  wohlgenährten  nach  aussen  gerichtet, 
und  bei  aufrechter  Stellung  an  der  unteren  Gegend  der  vorderen 
Bauchwand  stärker,  als  bei  horizontaler  Rückenlage.  Das  Einathmen 
vermehrt,  das  Ausathmen  vermindert  diese  Wölbung. 

Der  grosse  Umfang  der  Bauch  wand,  wird  durch  willkürlich 
gezogene  Linien,  in  kleinere  Felder  abgetheilt,  welche,  ihrer  Be- 
ziehung zu  den  Eingoweiden  wegen,  von  topographischer  Wichtig- 
keit sind.  Man  bezeichne  an  einer  Kindesleiche,  den  unteren  Thorax- 
rand, und  den  oberen  Beckenrand,  mit  schwarzer  Farbe,  ziehe  von 
jeder  Articidaiio  stemo-clamciUaris  eine  gerade  Linie  zur  Spina  an- 
terior sttperior  des  Darmbeins,  und  eine  andere  vom  unteren  Winkel 
des  Schulterblattes  zum  hinteren  Dritttheil  der  Crista  ossis  äei,  so 
hat  man  die  Peripherie  der  Bauchwand  in  eine  vordere,  zwei 
seitliche,  und  eine  hintere  Gegend  abgetheilt.  Die  beiden  seit- 
lichen heissen  Bauch  weichen  oder  Flanken;  die  hintere  zerfallt 
durch  die  Dornen  der  Lendenwirbel  in  eine  rechte  und  linke  Hälfte, 
welche  Lt»ndengege  nden,  Reffiones  lumbales,  genannt  werden. 
Führt  man  nun  vom  zehnten  Rippenknorpel  einer  Seite,  zu  dem- 
selben der  anderen  Seite ,  eine  f^uerlinie ,  welche  über  dem  Nabel 
liegt,  und  verbindet  durch  eine  ähnliche  Linie,  die  beiden  vorderen 
oberen  Darmboinstacheln,  so  hat  man  dadurch  die  vordere  Gegend 
tles  l^auches  in  drei  Zonen  gi»theilt,  von  welchen  die  obere :  liegio 
epitjastriai^  die  mittlere:  Keifio  mesinfontricaf  und  die  untere:  Regio 
hf^HH^a^tricti  genannt  winl.  Letztere  wird  durch  den,  bei  angezoge- 
nem Schenkel  besonders  tiefen  Leisten bug  (Hica  inguinis)  ,  vom 
Oberschenkel  gi^tronnt.  Die  beiden  erwähnten  Querlinien,  entsprechen 
den  Falten,  in  welche  sich  die  Bauchhaut  beim  Zusammenkrümmen 
des  1-oibes  legt. 

Betrachtet  man  die  Obertläche  der  Bauchwand  an  athletisch 
gi4>auton  Menschen,  oder  an  anatomisch-richtigen  bildlichen  Dar- 
stollungvMi,  so  sieht  man  eine  breite  tlache  Grube  in  der  Median- 
linie der  vonleren  Bauchwand,  vom  Schwertknorpel  an.  eine  Strecke 
weit  herabziehen,  —  die  Magengrube  (^unrichtiir  T^-^rzgrube, 
Scf»WcWM*<  «»rrf«'.  l'nter  ihr  Hegt  der  Nabel,  CmhUicns,  als  faltig 
umnuidete,    eingexogene  Narbe  des   nach   der  Geburt   abgefallenen 


S.  170.  AUgemeintB  ftb«r  die  BMicbwmnd.  461 

Verbindungsstranges  zwischen  Mutter  und  Kind.  Das  Wort  um- 
bätcus  (h[Uf<xk6<;)  stammt  von  umbo,  d.  i.  spitzer  Kegel  in  der  Mitte 
des  Schildes,  zum  Stossen  im  Handgemenge  (so  summus  dipei  umbo, 
bei  Virgil,  und  dcrrc{8o<;  ipL^aXö?  bei  Homer).  Von  Cicero  und 
Livius  wird  das  Wort  umbilicus  überhaupt  für  Mittelpunkt  ge- 
braucht, wie  z.  B.  in  umhtlicus  Gh'oedcki  und  Siciliae.  A.  Lauren. 
tius  nannte  den  Nabel  radix  ventris,  nach  r,  p'^a  ^oi(np6<;  des  Ari- 
stoteles. 

Vom  Nabel  gegen  die  Schamfuge  wölbt  sich  die  Bauchwand 
durch  reichlich  angesammeltes  Fett,  woher  der  veraltete  Name 
dieser  Gegend:  Schmerbauch  stammt.  Rechts  und  links  von  der 
Medianlinie,  sieht  man  zwei  breite  und  flache^  longitudinale  Vor- 
sprünge, durch  die  geraden  Bauchmuskeln  gebildet,  und  nach  aussen 
von  diesen,  zwei  Längenfurchen  herablaufen,  welche  die  Ueber- 
gangsstellen  der  breiten  Bauchmuskeln  in  ihre  Aponeurosen  an- 
deuten. —  Die  Bauchweichen  sind  bei  schlanken  Individuen 
concav  und  leicht  eindrückbar,  so  dass  man  in  der  Richtung  nach  auf- 
wärts mit  den  Fingern  bis  unter  die  Rippen  gelangen  kann,  wes- 
halb die  obere  Gegend  der  Bauchweichen  als  Hypocliondmum  (von  orco 
und  xövopoc,  unter  den  Knorpeln)  benannt  wird,  während  die  untere 
Gegend  der  Bauchweichen,  welche  sich  gegen  den  Darmbeinkamm 
eindrücken  lässt,  als  Darm  weiche  bezeichnet  wird.  Die  Bauch- 
weichen gehen  hinten  ohne  scharfe  Grenze  in  die  prallen,  dem 
Rücken  angehörenden  Lendengegenden  über. 

Die  Haut  des  Bauches  kann  bei  mageren  Leuten  leicht,  bei 
fetten  nur  schwer  oder  gar  nicht  in  eine  Falte  aufgehoben  werden. 
Vom  Nabel  zur  Scham  herab,  führt  sie  dichten,  mehr  weniger 
krausen  Haarwuchs,  während  die  Scham  der  Thiere,  mehr  nackt 
ist,  als  der  übrige  Leib.  —  Hat  die  Haut  einen  hohen  Grad  von 
Ausdehnung  erlangt,  wie  bei  wiederholten  Schwangerschaften,  so 
gewinnt  sie  ihre  frühere  Spannung  nicht  wieder,  und  zeigt  eine 
Menge  dichtgedrängter,  wie  seichte  Pockennarben  aussehender 
Flecken,  welche  auf  wirklicher  Verdünnung  des  Integuments  beruhen. 
Dass  aus  ihrem  Dasein  nicht  unbedingt  auf  vorausgegangene  Ge- 
burten zu  schlii'ssen  ist,  beweisen  die  Fälle,  wo  man  sie  nach  Ent- 
leerung des  Wassers  bei  Bauchwassersüchten,  und  nach  schnellem 
Verschwinden  grosser  Beh^ibtheit  auftreten  sah. 

Die  FtiHcia  superficialis  des  Bauches  lässt  uns,  besonders  in  der 
untrn'n  Bauchgegend,  zwei  deutlich  getrennte  Blätter  unterscheiden. 
Das  hochliegende  allein  ist  fetthaltig.  Sein  Fettreichthum  wölbt, 
besonders  bei  Weibern,  die  Gegend  über  der  Scham  als  Mona 
Vetieris  hervor.     Um  den  Nabel  herum^   wird  sein  '  «J*  snär- 

licher,  so  dass  die  Nabelgrabe  in  den 
je  mehr  die  Fettleibigkeit  am  ^ 


4ßS  8*  171.  8p«ei«11«  Besehrüilnmg  der  BaiielilBiiBkeln. 

platte  verlaufen  die  subcutanen  Blutgefässe  des  Bauches.  Das  tief- 
liegende Blatt  hat  die  Charaktere  einer  dünnen,  immer  fettlosen 
Bindegewebsm^mbran.  Seine  Darstellung  durch  Zergliederung,  ge- 
lingt am  besten  in  der  unteren  Bauchgegend.  —  Unter  der  Fasan 
»uperfidalis  liegt  ein  aus  zwei  longitudinalen  und  drei  breiten  Mus- 
keln zusammengesetztes  Stratum,  welches  im  nächsten  Paragraph 
beschrieben  wird,  und  dessen  innere  Oberfläche  durch  eine  dünne 
Fascie  (Fascia  transversa)  überzogen  wird.  Auf  die  Fascia  transversa 
folgt  eine  stellenweise  sehr  zarte,  an  gewissen  Gegenden  aber  durch 
Aufnahme  von  Fettcysten  sich  verdickende  Bindegewebsschicht, 
welche  das  Bindungsmittel  zwischen  Fasda  transversa  und  dem  letzten 
oder  innersten  Bestandtheil  der  weichen  Bauchwand  —  dem  Bauch- 
felle, Peritonewni  —  abgiebt. 


§.  171.  Specielle  Beschreibung  der  Baudunuskeln. 

Die  muskulöse  Bauch  wand  wird  theils  durch  lange,  theils 
durch  breite  Muskeln  gebildet.  Die  langen  Muskeln  nehmen  die 
vordere  Gegend,  die  breiten  dagegen  die  Flanken  und  einen  Theil 
der  hinteren  Gegend  des  Bauches  ein. 


A,  Lange  Bauchmuskeln, 

1.  Der  gerade  Bauchmuskel,  Musculus  rectus  abdominis, 
entspringt  von  der  äusseren  Fläche  des  fünften,  sechsten  und  sie- 
benten Rippenknorpels,  und  des  Processus  ociphoideus,  und  steigt, 
sich  massig  verschmälernd ,  zur  Scharafuge  herab ,  um  am  oberen 
Rande  und  an  der  vorderen  Fläche  derselben  zu  endigen.  Seine 
longitudinalen  Bündel  werden  durch  drei  bis  fünf  quer  eingewebte 
Sehnenstreifen,  welche  den  Namen  der  Inscriptiones  te^idineae  führen, 
unterbrochen.  Am  häufigsten  finden  sich  deren  vier,  zwei  über, 
eine  dritte  an  dem  Nabel,  und  eine  vierte  unter  demselben,  welche 
letztere  nicht  die  ganze  Breite  des  Muskels,  sondern  nur  die  äussere, 
oder  die  innere  Hälfte  desselben  durchsetzt.  In  der  Regel  greifen 
die  Inscriptiones  tendinea^  nicht  durch  die  ganze  Dicke  des  Muskels 
bis  auf  die  hintere  Fläche  desselben  durch.  —  Der  gerade  Bauch- 
muskel wird  von  einer  sehr  starken  fibrösen  Scheide  eingeschlossen, 
welche  durch  die  Aponeurosen  der  breiten  Bauchmuskeln  gebildet 
wird,  und  aus  einem  vorderen,  mit  den  Inscriptionibus  toidineis  ver- 
wachsenen, und  einem  hinteren  Blatte  besteht,  welches  nur  zwei 
bis  drei  Querfinger  breit  unter  den  Nabel  herabreicht,  wo  es  mit 
einem  scharfen  halbmondförmigen  Rande  aufhört.  Dieser  Rand  heisst 
Linea  seTmcircularis  Douglasii. 


§.  171.  Speeielle  BeBobreibiinf  der  BawAmiiAelB.  468 

Zuweilen  reicht  der  llrftpmng  des  Rectus  weiter  bIb  bis  zur  ftinften  Rippe 
hiiiAQf,  wie  es  bei  g^ewissen  Säag^etliieren  der  Fall  ist.  lieber  das  Verlialten  der 
Recti  bei  Bchwangeron,  handelt  mein  Handbuch  der  topogr.  Anat.  I.  Bd. 

2.  Der   pyramidenförmige    Muskel,    Mmcidna  pf^ramidalU. 
Siehe  §.  172. 

B.  Breite  Bauchmuskeln. 

1.  Der  äussere  schiefe  Bauchmuskeln  Musculus  obliquus 
abdominis  exter^ius,  der  Richtung  seiner  Fasern  wegen,  auch  oblique 
descendens  genannt,  entspringt  vom  vorderen  Theile  der  äusseren 
Fläche  der  sieben  oder  acht  unteren  Rippen,  mit  eben  so  vielen 
Zacken.  Die  vier  unteren  schieben  sich  zwischen  die  Rippen- 
ursprünge des  Latissinms  dorsi  ein,  die  vier  oberen  interferiren  mit 
den  vier  unteren  Ursprungszacken  des  Serratus  anticus  major,  wo- 
durch eine  im  Zickzack  zwischen  beiden  Muskelpartien  laufende 
Zwischenlinie  entsteht.  Die  hinteren  Bündel  steigen  fast  senkrecht 
zum  Labium  exteiimm  des  Darmbeinkammes  herab,  wo  sie  sich 
festsetzen.  Die  übrigen  alle  gehen  schief  zur  vorderen  Bauch  wand, 
um  daselbst  eine  breite  Aponeurose  zu  bilden,  welche  theils  über  die 
vordere  Fläche  des  geraden  Bauchmuskels  weg,  zur  Schanifuge  und 
zur  Medianlinie  des  Bauches  läuft,  wo  sie  sich  mit  der  entgegen- 
kommenden der  anderen  Seite  zu  einem  fibrösen  Strange,  genannt 
weisse  Bauch li nie,  Lmea  alba,  verflzt,  theils  gegen  den  Leisten- 
bug herabsteigt,  um  mit  einem  nach  hinten  rinnenformig  umge- 
bogenen Rande  zu  endigen,  welcher  von  dem  vorderen  oberen 
Darmbeinstachel  zum  Höcker  des  Schambeins  brückenförmig  aus- 
gespannt ist,  die  Grenze  zwischen  Bauch  und  vorderer  Fläche  des 
Schenkels  bezeichnet,  und  Leistenband  (Ligamentum  Poupartü  s, 
FcUlopiae,  auch  Arcus  cvuralis)  genannt  wird.  Fallopia  würdigte 
dieses  Band  zuerst,  welches  Fr.  Poupart  im  Journal  des  savans, 
170ß,  nicht  besser  beschrieb. 

Will  man  das  Ponpart'sche  Band  nicht  als  unteren  Rand  der  Aponeurose 
des  Mnsseren  schiefen  Bauclimuskels  ansehen,  sondern  seiner  Dicke  wegen,  für  ein 
selbstständiges  I^and  halten,  so  müsste  man  sagen,  dass  die  Aponeurose  des 
äusseren  schiefen  Bauchninskels  sich  am  Po  u  par tischen  Bande  befestigt,  was 
man  nach  Belieben  thun  kann. 

Das  Poupart'sche  Band  hat  drei  Befestigungen  an  dem  Hüft- 
bein, —  1.  an  der  Spina  anterior  Huperlor  des  Darmbeins,  2.  am 
Tuberculum  des  Schambeins,  3.  mit  einer  dreieckigen,  schief  nach 
hinten  gerichteten  Ausbreitung  seines  inn(»ren  Endes,  am  Pecten  ossfs 
pubis.  Diese  dritte  Insertion  führt  den  Namen  Ligamentum  G^imber- 
nati,  nach  dem  spanischen  Wundarzt  Ant.  de  (limbernat.  Siehe 
§§.  199  und  200. 


464  §.  171.  Speeielle  Besebreibiinf  der  Banchmaskeln. 

Einen  starken  Zoll  von  der  Schamfuge  entfernt,  lässt  sich  in 
der  Aponeurose  des  äusseren  schiefen  Bauchmuskels,  eine  dreieckige, 
schräge  nach  aussen  und  oben  geschlitzte  Oeffnung  darstellen, 
als  äussere  Oeffnung  des  Leistenkanals,  oder  Leistenring 
(Apertura  externa  canalis  ing-idnalis  s.  Annulus  inguinalis),  deren  Basis 
durch  das  innere  Ende  des  horizontalen  Schambeinastes,  deren 
unterer  äusserer  Rand  oder  Schenkel,  durch  das  Ligamentum 
Poupartii  (deshalb  auch  Crus  extemum  annvli  inguinalis  genannt), 
deren  oberer  innerer  Rand  (Crus  intemum  annuli  inguinalis)  durch 
jenen  Theil  der  Aponeurose  des  äusseren  schiefen  Bauchmuskels 
gebildet  wird,  welcher  nicht  zur  weissen  Bauchlinie,  sondern  zur 
vorderen  Fläche  der  Schamfuge  herabläuft,  wo  er  sich  mit  dem- 
selben aponeurotischen  Schenkel  der  anderen  Seite  kreuzt  (der 
linke  deckt  den  rechten),  und  mit  dem  Aufhängebande  des  männ- 
lichen Gliedes  sich  verwebt.  —  Der  Leistenring  ist  die  äussere 
Oeffnung  eines  Kanals,  welcher  durch  die  ganze  Dicke  der  Bauch- 
wand durch,  schief  nach  oben  und  aussen  aufsteigt,  um  nach  einem 
Verlaufe  von  anderthalb  Zoll  Länge,  durch  die  innere  Oeffnung 
(§.  172)  in  die  Bauchhöhle  einzumünden.  Man  nennt  deshalb  die 
äussere  Oeflfnung  auch  die  Leistenöffnung,  und  die  innere  die 
Bauchöffnung  des  Leistenkanals.  Durch  den  Leistenkanal  tritt 
bei  Männern  der  Samenstrang,  bei  Weibern  das  runde  Gebärmutter- 
band aus  der  Bauchhöhle  hervor. 

Zwischen  dem  hinteren  Rand  des  ObliqwM  extemus,  nnd  dem  vorderen 
Rand  des  LatUaimua  dorn  (welche  Ränder  sich  nnr  sehr  selten  tlberla{2^ern)  zeig^ 
sich  in  der  Lumbal g^eg^end  der  Unterleibswand,  eine  dreieckige  Stelle  mit  auf- 
wärts gekehrter  Spitze,  an  welcher  die  muskulöse  Banchwand  nur  durch  den 
Ohliquus  internus  und  Transversua  gebildet  wird.  An  dieser  Stelle  sah  Petit 
Bauchbrüche  vorkommen,  —  daher  der  Name:  Trigonum  PetUi.  Lesshaft  hat 
ein  ähnliches  Dreieck,  jedoch  mit  unterer  Spitze,  als  Trujonum  lumbale  superitu 
beschrieben  (Archiv  für  Anat.  1870).  Die  Basis  desselben  ist  die  letzte  Rippe, 
sein  innerer  Rand  der  vereinigte  Sctcrotumhali»  und  Longut»imiis  dorsif  sein  äusserer 
Rand  der  Ohliquu»  extemus,  sein  Grund  der   Transversus. 

2.  Der  innere  schiefe  Bauchmuskel,  Musculus  ob/iquus 
abdominis  internus,  seiner  Faserung  wegen  oblique  ascend&iis  genannt, 
entspringt,  vom  vorigen  bedeckt,  von  der  mittleren  Lefze  des  Darm- 
beinkammes, von  der  Spina  anterior  superior,  und  von  der  äusseren 
Hälfte  des  Po upar tischen  Bandes.  Sein  hinterer  kürzester  Rand 
hängt  mit  dem  tiefen  oder  vorderen  Blatte  der  später  (Note  zu 
§.  179)  zu  erwähnenden  Scheide  der  langen  Rückenstrecker  (Fascia 
lumbo'dorsalis)  zusammen.  Die  Richtung  der  Bündel  des  Muskels 
geht,  für  die  hintersten,  aufwärts  zum  unteren  Rande  der  drei 
letzten  Rippen,  für  die  mittleren  strahlenförmig  nach  innen  und 
oben  zur  vorderen  Bauch  wand,  für  die  untersten,  welche  von  der 
äusseren  Hälfte  des  Poupar tischen  Bandes  entspringen,  horizontal 


§.  171.  dpecielle  Beschreibung  der  Banehrnnskeln.  46t) 

nach  innen  zum  Leistenring.  Die  nicht  an  die  Rippen  gelangenden 
mittleren  und  untersten  Bündel  des  Muskels,  bilden  eine  Aponeurose, 
welche  sich  in  zwei  Blätter  spaltet,  deren  vorderes  mit  der  Apo- 
neurose  des  äusseren  schiefen  Bauchmuskels  verschmilzt,  jaiit  ihm 
die  vordere  Wand  der  Scheide  des  geraden  Bauchmuskels  bildet, 
und  in  der  ganzen  Länge  der  weissen  Bauchlinie  endigt,  während 
das  hintefe  kürzere  Blatt,  die  hintere  Wand  der  Scheide  des 
Rectus  erzeugen  hilft,  welche,  wie  früher  gesagt,  kürzer  als  die  vor- 
dere ist,  indem  sie  zwei  bis  drei  Querfinger  unter  dem  Nabel  mit 
der  Linea  semidrctdaris  Douglasii  endet,  nach  dem  Schotten,  Jac. 
Douglas  (Mt/ograplii4ie  specivfien,  Londini,  1707). 

Vom  unteren  Rande  des  inneren  schiefen  (und  queren)  Bauch- 
muskels, stülpt  sich  eine  Anzahl  von  Muskclbündeln  schlingenfiirmig 
durch  die  Leistenöftnung  des  Leistenkanals  hervor.  Diese  Muskel- 
schlingen begleiten  den  Samenstrang  bis  in  den  Hodensack  herab, 
und  stellen  in  ihrer  Gesammtheit,  den  Hebemuskcl  des  Hodens, 
Musadus  crefmaster  (xpsjjuxcmjp,  von  xpsixo),  aufhängen)  dar.  Beim  weib- 
lichen Geschlechte  finden  sich  nur  Spuren  des  Cremaster  am  runden 
Gebärmutterbande. 

3.  Der  quere  Bauchmuskel,  Musculus  transversus  ahdomiim, 
unter  dem  inneren  schiefen  liegend,  entspringt  von  der  inneren 
Fläche  der  Knorpel  der  sechs  unteren  Rippen,  von  dem  tiefliegen- 
den oder  vorderen  Blatte  der  Fascia  lumho-dorsali^,  von  der  inneren 
Lefze  des  Darmbeinkammes,  und,  mit  dem  ohUquus  internus  ver- 
einigt, von  der  äusseren  Hälfte  des  Poupar tischen  Bandes.  Seine 
Fleisehbündel  laufen  quer,  und  sind  nicht  alle  gleich  lang.  Die 
oberen  und  unteren  rücken  weiter  gegen  den  geraden  Bauchmuskel 
vor,  die  mittleren  weniger.  Der  Uebergang  des  Muskels  in  seine 
Aponeurose,  wird  somit  eine  bogenförmig  nach  aussen  gekrümmte 
Linie  bilden,  welche  als  Linea  semilunams  Spigelii  in  den  Hand- 
büchern cursirt.  Die  Aponeurose  selbst  theilt  sich  am  äusseren 
Rande  des  geracbm  Bauchmuskels  durch  einen  Querschnitt  in  zwei 
Blätter,  welche  nicht  wie  jene  des  inneren  schiefen  Bauchmuskels 
hinter  einander,  sondern  über  einander  liegen  müssen.  Das  obere 
verstärkt  die  hintere,  nur  bis  zur  Linea  Donqla^ii  reichende  Wand 
der  Scheide  des  Rectus,  Das  untere  hilft  die  untere  Hälfte  der  vor- 
deren Wand  dieser  Scheide  bilden.  Beide  endigen,  wie  die  übrigen 
Aponeurosen  der  breiten  Bauchmuskeln,  in  der  Linea  alba. 

Zuweilen  hat  die  Aponeurose  des  Trarutversu»  aucJi  eine  unterste  fleiscliipfe 
Insertion  an  der  Schanifuge.  Diese  ist  der  von  Lunclika  erwähnte  Mmvidus 
j)u/n>franj*  VC  r/tat  uf. 

Eine    jj^enaue   Revision  der  Theilnahme    der   hreitcn   Hauclnnuskeln  an  der 
nildung  der  Scheide  de»  geraden  Bauchmuskels,  wKrc  sehr  wtinschenswerth.  Man 
kann  »ich  nicht   verhehlen,   das»    die  gegebene    DarsteUung,    welche    zwar    einer 
f»       *  «4.  Ali.  30 


40G  §•  172.  Fateia  trantvtnto.  Scheide  dos  Kcctns,  und  weisse  Banclilinie. 

allgemein    angeiiommcMien    Vorstellung^    entspricht,    aber    kaum  durch    das  Messer 
"  entstand,  etwas  Gezwungenes,  selbst   l^izarres   an  sich  hat.     Dieses  gilt  besonders 
von  dem  Verhalten  der  Aponeurose  des  queren  Bauchmuskels. 

4.  Der  viereckige  Lendcnmuskel,  Muscidns  qundratus 
lumlxyimm,  liegt  an  der  hinteren  Bauchwcind,  entspringt  am  hinteren 
Abschnitt  des  Darmbeinkamines,  wird  durch  accessorische  liündel, 
welche  vom  fünften  Lendenwirbel  und  vom  Ligamentum  ileo-lumhaJe 
kommen,  verstärkt,  und  inserirt  sich  theils  mit  sehnigen  Zacken  an 
den  Querfortsätzen  der  vier  oberen  Lendenwirbel,  theils  mit  einer 
breiteren  Sehne  am  unteren  Kande  der  zwölften  Rippe. 


§.  172.  Fascia  transversa.  Scheide  des  Rectus,  und  weisse 

Bauchlinie. 

Die  innere  Oberfläche  des  Musculus  irnnsverms  wird  von  der 
Fasern  transversa  überzogen,  welche  an  den  fleischigen  Theil  des 
Muskels  durch  sehr  kurzes  und  fettloses  Zellgewebe  adhärirt,  mit 
der  Aponeurosc  desselben  d<agegen  viel  inniger  zusammenhängt.  Sie 
überzieht,  nebst  dem  queren  ßauchmuskel,  noch  den  Quadraius 
lumborumj  verdickt  sich  gegen  das  Poupart'sche  Band  zu,  und  be- 
sitzt hier  eine  kleine  ovale  Oeff'nung,  welche  die  Bauchöffnung 
des  Leiste  nkanals  oder  den  Bauch  ring  (Apertura  interna  s. 
aJjJ^minalis  canalis  inguinalis)  darstellt.  Die  Entfernung  dieser 
Oeff'nung  von  der  Sch<amfuge,  beträgt  anderthalb  Zoll  mehr,  als  jene 
der  Leistenöff*nung  des  Kanals.  Der  innere  Kand  der  Oeff'nung  ist 
scharf  gezeichnet,  der  äussere  weniger.  Bei  genauer  Untersuchung 
überzeugt  man  sich  leicht,  dass  diese  Oeff'nung  nur  der  Anfang 
einer  trichterfiirmigen  Ausstülpung  der  Fascia  traiisversa  ist,  welche 
durch  den  Leistenkanal  nach  «aussen  dringt,  den  Samenstrang  und 
den  Hoden  als  Scheide  umhüllt,  und  die  sogenannte  FaJicia  infundi- 
hidifoinnis  s,  Tunica  vaginalis  communis  des  Samenstranges  und 
Hodens  bildet. 

Die  FoMria  t.ranMverxa  hänf^  zwar  an  dem  Rand  des  Poupar tischen  Randes 
fest  an,  endi^  aber  hier  noch  nicht,  sondern  setzt  sich  bis  zum  /Vr//*??  nmtin  jnihin 
fort,  wo  sie  mit  den  spHter,  bei  der  Heschreibunp  des  Schenkelkaiials  zu  er- 
wähnenden Fascien,  verschmilzt.  Weder  die  Foftna  iliarn,  noch  die  kleine  Herk^'n- 
höhle,  werden  von  ihr  ausp^ekleidet,  sondern  erhalUm  besondere,  viel  stiirkere, 
selbstMtiindi^e  Fascien. 

Die  Scheide  des  geraden  Bauchmuskels  wird  durch 
die  Aponeurosen  der  breiten  Bauchmuskeln  gebildet,  welche,  um 
ihren  Vereinigungspunkt  —  die  weisse  Bauchlinie  —  zu  erreichen, 
vor  oder  hinter  dem  Rectus  vorbeilaufen  müssen.  Da  die  hintere 
Wand  der  Scheide  nur  bis  zur  Idnea  semicircidaris  Douglasä  reicht, 


§.  172.  Paaeia  traiuveraa.  dcbeido  dos  Bectns,  nnd  weisse  Baachlinie.  467 

80  müsste  die  hintere  Flüche  des  Reetus,  von  der  Lmea  Dauglaaii 
angefangen  bis  zur  Schamfiige  herab,  auf  dem  Bauehf(»Ue  auf  h'egeii, 
wenn  nicht  die  Fascia  transversa  das  Fehlende  der  Scheide  ersetzte. 

So  wie  die  breiten  Bauelirauskeln  die  Scheide  des  Reetus  der 
Quere  nach  spannen,  so  kann  sie  auch  ihrer  Länge  nach  gespannt 
werden,  durch  den  in  die  Substanz  ihres  vorderen  Blattes  einge- 
schlosBencu,  kleinen  und  dreieckigen  Musculm  pjframidalis  ahdominis, 
welcher  am  oberen  Rande  der  Sf/mphysis  piihis  entspringt,  und  am 
inneren,  mit  der  weissen  Bauchlinie  verwachsenen  Rande  der  Scheide 
endigt.  Er  deckt  das  untere  Endstück  des  Reetus  ahdominis,  Salo- 
mon  Albertus  und  seine  Zeit  (IG.  Jahrhimdert),  schrieben  ihm 
den  Nutzen  zu,  die  am  Schambein  befestigte  Seline  des  geraden 
Bauchmuskels,  durch  sein  fleischiges  Polster  in  Schutz  zu  nehmen : 
ne  concuhitu  nimis  atteratar,  —  Dieser  kleine  Muskel  fehlt  zuweilen, 
oder  vervielfacht  sich  auf  einer  oder  auf  beiden  Seiten,  oder  wird 
bedeutend  länger  (wie  beim  Neger),  weshalb  ich  ihn  im  §.  171  als 
langen  Bauchmuskel  aufführte.  —  Nach  oben  wird  di(^  Scheide  des 
Reetus  durch  die  von  der  Aponeurose  des  äusseren  schiefen  Bauch- 
muskels entspringende  Portio  ahdominaliif  des  grossen  Brustmuskels, 
und  durch  eine  s(*.lten  vorkommende  Varietät  des  Muscidus  sternalis 
hrtUcyintm  angespannt. 

Die  weisse  Bauchlinie,  das  Rendez-vous  aller  Aponeurosen 
des  Bauches,  repräsentirt  das  stärkste  Gebilde  der  Bauchwand.  Sie 
stellt  eigentlich  einen  fibWmen  Strang  dar,  welcher  über  dem  Nabel 
vier  bis  sechs  Linien  breit  ist,  unter  dem  Nabel  sich  verschmälert, 
zugleich  lockerer  wird,  aber  von  vorn  nach  hinten  an  Dicke  zu- 
nimmt, und  sich  am  oberen  Schamfugenrande  festsc^tzt. 

Den  Namen  Linea  alba  hat  sich  die  Anatomie  aus  d(uu  nimi- 
schcn  Circus  geholt.  Linea  ist  in  erster  Bedeutung  Leine,  d.  i. 
Schnur.  LJnea  alba  war  bei  den  Römern  eine  mit  Kreide  bestrichene 
Schnur,  welche  quer  vor  dem  Eingang  der  Rennbahn  im  Circus 
gespannt  war,  und  hinter  welcher  sich  die  Wagen  in  gleicher  Front 
aufstellten,  um  gleichzeitig,  wenn  die  Schnur  weggezogen  wurde, 
den  Lauf  zu  beginnen.  Da  diese  Wagen,  nach  vollendetem  Um- 
lauf, zu  der  Ausgangsstelle  zurückkehrten,  Avurde  linea  auch  für 
Ende  gebraucht,  wie  im  lloraz'schen:  mors  ultima  linea  rerum.  — 
An  der  Bauclnvand  erscheint  die  Linea  alba  darum  weiss,  weil 
hinter  ihr  kein  rothes  Muskelfleisch  liegt,  welches,  wie  bei  der 
Aponeurose  des  äusseren  schiefen  BauchmuskeLs ,  röthlich  durch- 
scheinen könnte,  was  übrigens  auch  die  Dicke  dieses  iibrösen 
Stranges  nicht  gestatten  würde. 

Die  lAiira  alha  dfü*  liaudics  ent*«pricht  dorn  Sfennnn  dor  I^nist,  —  «lie 
JrueriptfoneM  t4mdiiwae  den  Rii>pen,  —  der  AffMcuhtM  oltl'upniJt  ahlrnniult  r,rf/'}'^iM 
den  Knsgeren,    der    Ohfiquvn    hit^.mvM    den    inneren    Z\visclienripj»enmuökeln  *,    eine 

30* 


468  §.  173.  Leistenkanal. 

Ansicht,  welche  in  der  Anatomie  gewisser  beschuppter  Amphibien,  wo  ein  wirk- 
liches i:kernum  aMmiinale  und  wahre  ßauchrippen  vorkommen,  eine  Stütze  findet. 
Die  verschiedene,  sich  kreuzende  Fasemngsrichtimg  der  drei  breiten  Bauch- 
muskeln, leistet  fllr  die  Festigkeit  der  Bauchwand  die  treflFliclisten  Dienste.  Sie 
erinnert  an  das  Geflecht  eines  Rohrsessels,  welches,  wenn  es  hinlänglich  »tark 
und  tragfKhig  sein  soll,  niemals  blos  aus  parallelen  Zügen  bestehen  darf.  Sie 
giebt  uns  zugleich  bei  der  Untersuchung  von  Schnittwunden  des  Bauclies,  so  wie 
auch  bei  Operationen  daselbst,  ein  verlässliclies  Mittel  an  die  Hand,  die  Tiefe  zu 
bestimmen,  bis  zu  welcher  das  verwundende  Werkzeug  oder  das  chirurgische 
Messer  eindrang.  Die  Scliichtung  der  Muskeln  erlaubt  auch,  sie  einzeln  auf  unter- 
geschobenen Hohlsonden  zu  trennen.. 

Die  breiten  Bauchmuskeln  verengem  die  volle  Bauchhöhle.  Sie  ziehen  zu- 
gleich, mit  Ausnahme  des  Transversus,  die  Rippen  herab,  und  können  somit  auch 
als  Muskeln  des  Ausathmens  in  Verwendung  treten.  —  Der  Rectus  hilft  noch 
insbesondere  die  Wirbelsäule  nach  vom  zu  krümmen,  z.  B.  wenn  man  sich  nieder- 
kauert.  Bei  letzterer  Bewegung  wird  die  Bauchwand  concav,  indem  die  gleich- 
seitig sich  contraliirenden  breiten  Bauchmuskeln,  die  Scheide  des  Rectus  und  somit 
diesen  Muskel  selbst,  nach  hinten  (gegen  die  Bauchhölile)  einziehen.  Man  wird 
nun  begreifen,  warum  die  Scheide  des  Rectus  mit  den  Inscriptionen  dieses  Muskels 
verwachsen  ist,  indem  nur  auf  diese  Weise  dem  Zusammenkrtippcln  des  Muskels 
in  seiner  Scheide,  vorgebaut  werden  konnte.  Es  lässt  sich  aus  dem  Gesagten 
entnehmen,  dass  die  breiten  Bauchmuskeln,  des  Rectus  wegen  vorlianden  sind,  — 
nicht  aber  umgekehrt.  —  Die  Bauchmuskeln  üben  auf  die  Unterleibsorganc  einen 
fortwährenden  Druck  (daher  der  Name  Bauch  presse,  Prelum  nftdotninale  n. 
Cinffulum  IfaJleriJ,  welcher  vorzugsweise  bei  harten  Stnhlentleenmgen,  beim  Er- 
brochen und  PIustiM),  und  beim  Verarbeiten  der  Wehen  bei  Gebärenden,  in  An- 
spruch genommen  wird.  Wie  gross  dieser  Druck  ist,  kann  man  aus  der  Gewalt, 
mit  welclier  die  Eingeweide  aus  Schnittwunden  des  I^auches  hen'orstür/en,  und 
aus  der  Kraft  entnehmen,  welche  zuweilen  erforderlich  ist,  um  einen  Leistenbruch 
von  einiger  Grösse  zurückzubringen. 

Die  Präparation  der  I^auchmuskeln  erfordert  sehr  viel  Zeit  und  eine  ge- 
schickte Hand,  wenn  sie  ganz  tadellos  ausfallen  soll.  Die  Leichen  von  Menschen, 
welche  durch  plötzliche  Todosarten,  oder  an  acuten  Krankheiten  starben,  sind  zu 
dieser  Arbeit  vorzuziehen.  Niemals  wird  man  die  Bauclnnuskeln  an  alten  Weibern, 
welche  oft  schwanger  waren,  oder  überhaupt  an  Leiclien,  deren  Bauch  bereits 
durcli  Fäulniss  grihi  geworden,  auch  nur  einigermassen  befriedigend  untersuchen 
können.  Da  man  aber  oft  nehmen  muss,  was  man  e]>en  bekommt,  so  hat  das  Ge- 
sagt«' nur  auf  jene  anatomischen  Anstalten  Anwendung,  denen  keine  wohlthätigen 
Leichenvereine  ihre  I^elir-  und  Lernmittel  schmälern.  Jedenfalls  wäre  es  den 
Verstorbenen  lieber  gewesen,  während  ihrer  Lebzeiten  die  Beweise  einer  werk- 
thätigen  christlichen  Nächstenliebe  empfangen  zu  haben,  als  nach  ihrem  Tode  ein 
GratiHbegräbniss  zu  erhalü'n. 


§.  173.  Leistenkanal. 

Es   verdient   der  Leistenkanal^    Cannlis  inguinalis,    eine    be- 
sondere Würdij^mg,    da    er   zu    einer    der  liäuiigBten  chinirgiselien 
Krankheiten   —   den    Leistenbrüchen    —    Anlass  giebt,    deren  Dia- 
ose  und  chirurgische  Bcliandlung,  die  genaue  anatomische  Kennt- 
B   dieses   Kanals   voraussetzt.     Wir   haben  am  Leistenkanal  eine 


S.  178.  Leittenkanal.  469 

äussere  und   eine   innere  OeflFnung,    und    seine  Wand   besonders 
zu  betrachten. 

Die  äussere  Oeffuung  des  Leistenkanals  liegt,  seitwärts  von 
der  Schamgegend,  in  der  über  dem  Poupar tischen  Bande  befind- 
lichen sogenannten  Leistengegend  (Regio  inguinalis,  bei  Homer 
ßoüß<I)v,  im  vierten  Buche  der  Ilias,  Vers  492,  woher  bubones,  Leisten- 
beulen). 

Sie  wird  durch  Spaltung  der  Aponcurose  des  äusseren  schiefen 
Bauchmuskels  gegeben,  welche  in  zwei  Schenkel  (Cnira)  ausein- 
ander  weicht.  Das  Crus  intenmm  befestigt  sich,  wie  oben  gesagt,  an 
der  vorderen  Seite  der  Schamfuge;  das  Crm  exteimumiy  welches  so 
innig  mit  dem  Poupar tischen  Bande  zusammenhängt,  dass  es  mit 
ihm  Eins  zu  sein  scheint,  am  Tubei'culum  ossis  pichis.  Die  OcfFnimg 
zwischen  beiden  Schenkeln  hat  eine  dreieckige  Gestalt.  Ihr  Mittel- 
punkt steht  von  jenem  des  oberen  Randes  der  Symphyse,  bei  voll- 
kommen ausgewachsenen  Leuten,  beiläufig  fünfzehn  Linien  ab.  Der 
von  der  Spitze  des  Dreiecks  gegen  die  Basis  gezogene  Durch- 
messer, beträgt  im  Mittel  einen  Zoll.  Die  Basis  misst  sechs  bis 
acht  Linien.  Die  Fascia  superßA^ialis  hängt  an  die  Ränder  der 
OefFnung  fest  an,  und  verlängert  sich  von  hier  aus,  als  binde- 
gewebige Hülle  (Fascia  Cooperi)  über  den  Samenstrang,  welchen  sie 
umkleidet. 

Der  Begriflf  der  Leistengegend  ist  etwas  vag,  indem  diese  Region  weder 
durch  natürliclie,  noch  künstlich  gezogene  Linien  begrenzt  wird.  Dem  Wortlaute 
zufolge,  mag  .>*ie  ursprünglich  wolil  nur  auf  die  Gegend  des  Poupar tischen  Bandes 
angewandt  worden  sein,  welches  wie  eine  gut  fühlbare,  und  an  mageren  Individuen 
auch  gut  zu  sehende  Leiste,  zwischen  zwei  festen  Punkten  des  Beckens  (Schara- 
fuge  und  vorderer  oberer  Darmbeinstachel)  ausgespannt  ist.  Wir  verstehen  unter 
Leistengegend,   die    nächste    Umgebung  der  äusseren  Oeflfnung  des  Leistenkanala. 

Bezüglich  der  Wand  des  Leistenkanals  gilt  folgendes.  Von 
der  äusseren  Oeff*nung  bis  zur  inneren,  durchläuft  der  Leistenkanal 
einen  Weg  von  anderthalb  Zoll.  Schräg  nach  aus-  und  aufwärts- 
gehend, hebt  er  Huc'cc.Hsive  die  unteren  Ränder  des  inneren  schiefen 
und  queren  Hauch niuskcls  auf,  entfernt  sich  dadurch  mehr  und 
mehr  von  d(T  Obc^rfläcJH»,  und  endigt  an  der  inneren,  von  der  Fascia 
transravHa  grbildc^tcn  Oeffuung.  Die  untere  Wand  des  Kanals  bildet 
das  Poui)art'Hche  Band,  welches  sich  nach  hinten  umkrüninit,  und 
dadurch  die  Form  eiiu-r  Kinne  annimmt.  Die  obere  Wand  wird 
durch  die  vereinigte*!!  untenin  liänder  des  inneren  schiefen  und 
queren  Bauchniuskels  erzeugt.  Die  vordere  Wand  muss,  begreif- 
licher Weise,  wegen  des  allmälig  tieferen  Eindringens  des  Leisten- 
kanals in  die  Bauchwand,  immer  dicker  werden,  indem  sie  anfangs 
blos  aus  der  Aponcurose  des  äusseren  schiefen  Bauchmuskels,  später, 
wenn    der    Leistenkanal    unter    die    unteren    Ränder    des    inneren 


472  §.  175.  Einiges  snr  Anatomie  der  Leistenbrüche. 

seinen  besonderen  Beinamen  von  der  Oeffnung  ( Bruch pf orte), 
durch  welche  er  hervorgetreten,  z.  B.  Leistenbruch,  Nabelbruch, 
Schenkelbruch,  etc.  Man  huldigte  bisher  allgemein  der  Meinung, 
dass  ein  Eingeweide,  welches  einen  Bruch  bilden  soll,  das  Bauch- 
fell, als  das  natürliche  Verschlussmittel  der  betreflfenden  OcfFnung 
der  Bauchwand,  vor  sich  hertreiben  oder  ausstülpen  muss,  so  dass 
es  in  diesen  wie  in  einem  Sacke  (Bruchsack)  eingeschlossen  liegt. 
Diese  Meinung  hat  aber  einer  richtigeren  Vorstellung  in  so  ferne 
weichen  müssen,  als  nachgewiesen  wurde,  dass  das  Bauchfell  nicht 
durch  das  Eingeweide  hervorgedrängt  wird,  sondern  durch  eine, 
nicht  näher  zu  präcisirende  Tendenz  desselben,  Divertikel  zu 
bilden,  sich  von  selbst,  d.  h.  nicht  durch  den  Druck  eines  Ein- 
geweides, herausstülpt,  und  einen  Bruchsack  bildet,  welcher  so  lange 
kein  Eingeweide  enthalten  wird,  bis  nicht  ein  solches,  durch  die 
Wirkung  der  Bauchpresse  in  ihn  hineingetrieben  wird.  Der  Bruch- 
sack existirt  also  vor  dem  Bruche,  worüber  in  §.  178  des  1.  Bandes 
meiner  topographischen  Anatomie,  das  Nähere  nachgelesen  werden 
kann.  Der  Bruchsack  wird  uns,  seiner  birnförmigcn  Gestalt  wegen, 
einen  in  der  Bruchpforte  liegenden  Hals,  und  einen,  nach  Ver- 
schiedenheit der  Grösse  des  Bruches,  mehr  weniger  umfänglichen 
Grund  unterscheiden  lassen. 

Ein  Eingeweide  kann  die  Grube  an  der  äusseren  oder  an 
der  inneren  Seite  der  Plica  epigastrica,  zum  Ort  seines  Austrittes 
aus  der  Bauchhöhle  wählen.  Im  ersteren  Falle  wird  es  sich  in  den 
Leistenkanal  hineinschieben,  seine  schräge  Richtung  annehmen,  und 
seine  ganze  Länge  durchlaufen  müssen,  bevor  es  nach  aussen  ge- 
langt. So  bilden  sich  die  äusseren  Leistenbrüche,  Heriiiae 
inguinales  exteiniae,  deren  Name  ihre  Entstehung  in  der  äusseren 
Leistengrube,  und  somit  an  der  äusseren  Seite  der  Art&iia  epigcistrica 
angiebt.  Im  zweiten  Falle  wird  das  Eingeweide ,  weil  die  innere 
Leistengrube  der  äusseren  Oeflfnung  des  Leistenkanals  gegenüber- 
liegt, geradem  nach  vorn  treten,  und  durch  die  äussere  Oeffnung  des 
Leistenkanals  herauskommen,  ohne  durch  die  innere  eingetreten  zu 
sein.  Dies  sind  die  inneren  oder  directen  Leistenbrüche, 
Ilerniae  inguinales  inteiiiae,  welche  sich  natürlich  durch  ihre  gerade 
von  hinten  nach  vorn  gehende  Richtung,  so  wie  durch  ihr  Verhält- 
niss  zur  Arteria  epigastrica,  von  den  äusseren  unterscheiden. 

Der  äussere  Leistenbruch  wird  jedenfalls  leichter  entstehen,  als 
der  innere,  da  sich  die  Fa^cia  transversa,  bereits  normgeraäss  in  den 
Leistenkanal  als  Fascia  infundihuliformis  (Tunica  vaginalis  communis) 
hinein  begeben  hat,  während  der  eben  entstehende  Binichsack  für  eine 
innere  Leistenhernie,  auch  die  Fascia  transversa^  welche  den  Grund 
der  Fovea  inguinalis  interna  bildet,  hervorzustülpen  hat.  Wenn  man 
nen  Theil  der  Bruchgeschwulst,  welcher  in  der  betreffenden  Oeffnung 


S.  175.  Einiges  zur  Anatomie  der  Leistenbrftelie.  473 

der  Bauchwand  liegt,  Bruchhal»  nennt,  »o  muss  der  äussere  Leisten- 
brach einen  längeren  Hals  als  der  innere  oder  directe  haben;  und  da 
die  Leichtigkeit  der  Zurückbringung  eines  Bruches,  mitunter  von  der 
Kürze  und  Weite  seines  Halses  abhängt,  so  wird  ein  beweglicher 
innerer  Leistenbruch  leichter  zurückgehen  als  ein  äusserer.  Ist  ein 
äusserer  Leistenbruch  alt,  gross  und  schwer  geworden,  so  wurde 
die  schräge  Richtung  des  Leistenkanals,  durch  den  Zug  der  Bruch- 
geschwulst in  eine  gerade,  wie  beim  inneren  oder  directen  Bruch, 
umgewandelt,  und  es  wird  dann  in  solchen  Fällen  sehr  schwer  sein, 
durch  äussere  Untersuchung  zu  unterscheiden,  ob  man  es  mit  einem 
äusseren  oder  inneren  Leistenbruche  zu  thun  hat. 

Befindet  sich  ein  äusserer  Leistenbioich  in  seinem  ersten  Ent- 
wicklungsstadium, d.  h.  gerade  am  Eintritt  in  den  Leistenkanal,  so 
heisst  er  Hemia  incipiens.  Ist  er  etwas  weiter  in  den  Leistenkanal 
vorgerückt,  ohne  durch  die  äussere  OefFnung  desselben  heraus- 
getreten zu  sein,  so  bildet  er  die  Hemia  interstitialis.  Beide  sind, 
wegen  Fehlen  äusserer  Geschwulst,  mit  Sicherheit  schwer  zu 
diagnosticiren.  Ist  der  Bruch  aber  über  das  Niveau  der  Leisten- 
öffnung hervor  getreten,  oder  bis  in  den  Ilodcnsack  herabgestiegen, 
so  nennt  man  ihn  Hernla  unjulnalis  oder  scrotcdis.  Liegt  endlich  der 
grösste  Theil  des  (Jedärmes  im  Bruche,  welcher  in  diesem  Falle 
die  Grösse  eines  Mannskopfes  erreicht  hat,  so  heisst  diese  Hernie: 
Eventration,  —  der  höchste  Entwicklungsgrad,  auf  welchen  es 
ein  Bruch  bringen  kann. 

Wird  nun  das  in  ehicm  Bruch  enthaltene  Organ  von  der  Oeff- 
nung,  durch  welche  es  austrat,  so  (angeschnürt,  dass  ihm  die  Blut- 
zufuhr abgeschnitten,  seine  Ernährung  sistirt,  seine  Function  aufgehoben 
wird,  und  sofort  sein  Absterben  durch  Brand  (acute  Erweichung) 
Platz  greift,  so  heisst  dieser  Zustand:  Einklemmung,  Incarceratio, 
Die  Ursachen  der  Einklemmung,  deren  Erörterung  in  das  Gebiet 
der  praktischen  Chirurgie  gehört,  können  sehr  verschieden  sein. 
Vom  anatomischen  (theorctisclien)  Standpunkte  aus,  habe  ich  nur 
zu  erwähn(»n,  dass  die  IMöglichkeit  einer  krampfhaften  Einklemmung 
eines  Leistenbruches  zugegeben  werden  könnte,  da  die  obere  Wand 
des  Leistenkanals  durch  die  aufgehobenen,  und  dadurch  bogenförmig 
gekrümmten  Ränder  des  inneren  schiefen  und  queren  Bauchmuskels 
erzeugt  wird.  Suchen  diese  nacli  oben  gebogenen  Muskelränder,  ihre 
normale,  mehr  geradlinige  Richtung  wieder  anzunehmen,  so  drücken 
sie  den  Hals  des  Bruches  gegen  das  resistente  Litjamentum  Fonpartii, 
wodurch  eine  Art  Zwinge  zu  Stande  kommt,  welche  die  Einklem- 
mung setzt.  Da  die  Leisten-  und  die  Bauchöffnung  des  Leistenkanals 
nur  von  aponeurotischen  Gebilden  begrenzt  werden,  so  kann  von 
krampfiger  Einschnürung  an  diesen  beiden  Punkten  keine  Rede  sein. 
In  der  Regel   geht  jedoch    die  Kinklemmung   nicht  von  der  Wand 


472  §.  175.  Einiges  xnr  Anatomie  der  LeistenbrQche. 

seinen  besonderen  Beinamen  von  der  Oeflfnung  (Bruchpforte), 
durch  welche  er  hervorgetreten,  z.  B.  Leistenbruch,  Nabelbruch, 
Schenkelbruch,  etc.  Man  huldigte  bisher  allgeraein  der  Meinung, 
dass  ein  Eingeweide,  welches  einen  Bruch  bilden  soll,  das  Bauch- 
fell, als  das  natürliche  Verschlussmittel  der  betreflfenden  OefFnung 
der  Bauchwand,  vor  sich  hertreiben  oder  ausstülpen  muss,  so  dass 
es  in  diesen  wie  in  einem  Sacke  (Bruchsack)  eingeschlossen  liegt. 
Diese  Meinung  hat  aber  einer  richtigeren  Vorstellung  in  so  ferne 
weichen  müssen,  als  nachgewiesen  wurde,  dass  das  Bauchfell  nicht 
durch  das  Eingeweide  hervorgedrängt  wird,  sondern  durch  eine, 
nicht  näher  zu  präcisirende  Tendenz  desselben,  Divertikel  zu 
bilden,  sich  von  selbst,  d.  h.  nicht  durch  den  Druck  eines  Ein- 
geweides, herausstülpt,  und  einen  Bruchsack  bildet,  welcher  so  lange 
kein  Eingeweide  enthalten  wird,  bis  nicht  ein  solches,  durch  die 
Wirkung  der  Bauchpresse  in  ihn  hineingetrieben  wird.  Der  Bruch- 
sack existirt  also  vor  dem  Bruche,  worüber  in  §.  178  des  1.  Bandes 
meiner  topographischen  Anatomie,  das  Nähere  nachgelesen  werden 
kann.  Der  Bruchsack  wird  uns,  seiner  birnfürmigcn  Gestalt  wegen, 
einen  in  der  Bruchpforte  liegenden  Hals,  und  einen,  nach  Ver- 
schiedenheit der  Grösse  des  Bruches,  mehr  weniger  umfänglichen 
Grund  unterscheiden  lassen. 

Ein  Eingeweide  kann  die  Grube  an  der  äusseren  oder  an 
der  inneren  Seite  der  Plica  epigastrlca,  zum  Ort  seines  Austrittes 
aus  der  Bauchhöhle  wählen.  Im  erstercn  Falle  wird  es  sich  in  den 
T^eistenkanal  hineinschieben,  seine  schräge  Richtung  annehmen,  und 
seine  ganze  Länge  durchlaufen  müssen,  bevor  es  nach  aussen  ge- 
langt. So  bilden  sich  die  äusseren  Leistenbrüche,  Ileniiae 
Inguinales  extemae,  deren  Name  ihre  Entstehung  in  der  äusseren 
Leistengrube,  und  somit  an  der  äusseren  Seite  der  Artena  eplgastrica 
angiebt.  Im  zweiten  Falle  wird  das  Eingeweide ,  weil  die  innere 
Leistengrube  der  äusseren  Oeffnung  des  Leistenkanals  gegenüber- 
liegt, gerade  nach  vorn  treten,  und  durch  die  äussere  Oeffnung  des 
Lcistcnkanals  herauskommen,  ohne  durch  die  innere  eingetreten  zu 
sein.  Dies  sind  die  inneren  oder  directen  Leistenbrüche, 
Ihtmiae  inguinales  intemae,  welche  sich  natürlich  durch  ihre  gerade 
von  hinten  nach  vorn  gehende  Richtung,  so  wie  durch  ihr  Verhült- 
niss  zur  Arteria  epigasfrica,  von  den  äusseren  untersclK^iden. 

Der  äussere  Leistenbruch  wird  jedenfalls  leichter  entstehen,  als 
der  innere,  da  sich  die  Fascia  transversa,  bereits  normgemäss  in  den 
Leistenkanal  als  Fascia  infundihulifoiinis  (Tunica  vaginalis  communis) 
hinein  begeben  hat,  während  der  eben  entstehende  Bruchsack  für  eine 
innere  Leistenhernie,  auch  die  Fasda  transversa,  welche  den  Grund 
der  Fovea  inguinalis  interna  bildet,  hervorzustülpen  hat.  Wenn  man 
jenen  Theil  der  Bruchgeschwulst,  welcher  in  der  betreffenden  Oeflfnung 


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474  §.  175.  Einiget  snr  Anatomie  der  Leistenbrüche. 

des  Kanals  aus,  durch  welchen  der  Bmch  sich  vorlagerte,  sondern 
vom  Bruch  sackhals,  welcher  sich  bis  zur  completen  Strangulation 
des  vorgefallenen  Eingeweides  durch  Aufwulstung  und  Verdickung 
verengert.  Ja  ich  bin  überzeugt,  dass  die  Einklemmung  durch  den 
Bruchkanal  (nicht  durch  den  Hals  des  Bruchsackes)  mehr  in  einer 
theoretischen  Einbildung,  als  in  Wirklichkeit  existirt,  und  schliesse 
dieses  daraus,  dass,  wenn  bei  eingeklemmten  Leistenbrüchen,  die 
Incarceration  von  der  Wand  des  Leistenkanals  ausginge,  nicht 
blos  die  Bruchgeschwidst,  sondern  auch  Hode  und  Samenstrang  vom 
Brande  befallen  werden  müssten.  Solchen  Brand  des  Hodens  und 
des  Samenstranges  hat  man  aber  noch  bei  keiner  eingeklemmten 
Leistenheiiiie  vorkommen  gesehen.  Mögen  die  Chirurgen  diese  Worte 
eines  Anatomen  beherzigen  1 

Die  Einklemmung  muss,  wenn  sie  nicht  durch  gelindere  Mittel, 
als  warme  Bäder  und  Kiystiere,  zweckmässige  manuelle  Hilfe  (Taxis) 
zu  beseitigen  geht,  durch  Erweiterung  der  Bruchpfortc  mittelst  des 
Bruchschnittes  (Hemiotamia)  gehoben  werden. 

Die  Richtung  des  Schnittes  wird  beim  inneren  Leistenbruche 
eine  andere,  als  beim  äusseren  sein  müssen.  Die  Pforte  des  inneren 
Leistenbruches  hat  die  Artei^ia  eptgastrica  an  ihrer  äusseren  Seite, 
jene  des  äusseren  Leistenbruches  dagegen  an  ihrer  inneren.  Um  die 
Verwundung  der  ÄHeria  epigastrica  zu  vermeiden,  wird  also  der 
Erweiterungsschnitt  beim  inneren  Leistenbruch  nach  innen,  beim 
äusseren  nach  aussen  gerichtet  sein  müssen.  Li  Fällen,  wo  man 
nicht  ganz  entschieden  weiss,  ob  man  es  mit  einem  äusseren  oder 
inneren  Leistenbruch  zu  thun  hat,  wird  der  Schnitt  nach  oben  der 
beste  sein. 

Ueber  den  angeborenen  Leistenbruch  handelt  J{.  300. 

Dio  grössere  Länge  und  Enge  de»  weiblichen  Leistenkanals  erklärt  das 
seltene  Vorkommen  der  LeistenbrClcbe  bei  Weibern.  Einer  Erhebung  der  Londoner 
Bandag^ten  zufolge,  waren  unter  4060  Leistenbnichkranken,  nur  34  Weiber.  Wenn 
die  von  Jobert  angenommene  grössere  Weite  des  rechten  Leistenkanals  keine 
Chimäre  wäre,  würde  sie  das  liHutigere  Vorkommen  der  Hernien  auf  der  rechten 
Seite  zu  motiviren  im  »Stande  sein. 

Da  man  sich,  wenn  man  einmal  weiss,  was  ein  Bruch  ist,  selben  an  jedem 
Cadaver  erzeugen  kann,  so  hielt  ich  die  Aufnahme  dieser  praktisclien  Bemerkun- 
gen in  ein  anatomisches  Handbuch  niclit  für  nutzlos.  Es  wird  dieses  zugleich 
den  Anfängern,  welche  den  Wertli  der  Anatomie  nur  vom  Hörensagen  kennen, 
eine  kleine  Probe  von  ihrer  Nützlichkeit  geben. 

Nebst  den  Handbüchern  über  chirurgisclie  Anatomie ,  handehi  über  Bruch- 
anatomie noch:  .4.  Coojter,  The  Anatomy  and  Surgical  Treatment  of  Inguinal  and 
Congonital  Hernia.  London,  1804.  fol.  Deutsch  von  KriUt*je.  Breslau,  1801).  — 
C.  HesHtl/Hich,  über  Ursprung  und  Vorschreiten  der  Leisten-  und  Schenkelbrüche. 
Würzburg,  1814.  4.  —  J.  Clotjuet,  recherches  anat.  sur  les  hernies.  Paris,  1817 
bis  1819.  4.  —  A,  Thomson,  sur  ranatomie  du  bas  ventre  et  des  faernies.  Paris. 
].  Livr.   —  A,  Soarpa,  suH' ende.  Paris,   1821.  4.  Deutsch  von  Seiler,    Leipzig, 


S.  176.  Zw«rehfelL  475 

1828.  —  KW.  Twon,  Anatumy  of  Inguinal  and  Femoral  Uernia.  London,  1834. 
foL  —  FUxxl,  On  tlie  Anatoniy  and  Surgery  of  Inguinal  and  Fomoral  Uernia. 
Dublin,  fol.  Ein  PracLtwerk  wie  da»  vorige.  —  A.  Nuhn,  über  den  Bau  des 
Leistenkanals,  in  dessen  Beobachtungen  aus  dein  Gel)ietc  der  Anatomie,  etc. 
Heidelberg,  1850.  fol.  —  G.  MaUhes,  Phantom  des  Leisten-  und  Scticnkelkanals. 
fol.  Leipzig,  1862.  —    W.  LiukaH,  Unterleibsliemien.  Wttrzburg,  1866. 


§.  176.  Zwerchfell. 

Das  Zwerchfell  führt,  ausser  dem  gewöhnlichen  Namen: 
Diaphragma  (von  Bia^parrs'.v,  abgrenzen),  noch  folgende  bei  älteren 
Autoren:  IHazoma  bei  Aristoteles,  —  S&ptum  transverswni  bei  Cel- 
8US,  —  Praecordia  bei  Plinius,  —  Disseptum  bei  Macrobius.  Der 
häufig  vorkommende  Ausdruck:  Musculus  jikrenicas,  beruht  auf  der 
alten  Vorstellung,  dass  das  Denk-  und  Willcnsvermögen  (<ppi^iv),  so 
wie  Begierden  und  heftiges  Verlangen  (^psvs;),  in  diesem  Muskel 
ihren  Sitz  haben  müssen,  weil  das  Zwerchfell  bei  allen  leidenschaft- 
lichen Aufregungen  schneller  und  intensiver  arbeitet.  Die  verschol- 
lenen 9p£V£c  des  IT ip poerate 8  erklären  es  uns,  warum  auch  jetzt 
noch,  die  Gefässe  und  Nerven,  welche  das  Zwerchfell  versorgen, 
Arteria  et   Veiia  plireiiica  und  Nermis  phrenicus  heissen. 

Das  Zwerchfell  ist,  nebst  dem  Herzen,  der  lebenswichtigste 
Muskel  des  menschlichen  Körpers.  Sein  Stillstand  bedingt,  wie  jener 
des  Kerzens,  unausbleiblich  schnellen  Tod.  Spigelius  apostrophirt 
das  Zwerchfell  als:    Musculus   unus,   sane   omnium  fama   cdeherrimus ! 

Wir  tinden  das  Zwerchfell  (d.  i.  queres  Fell,  wo  Fell  Haut 
bedeutet,  wie  das  lateinische  pellis),  als  natürliche  Scheidewand 
zwischen  lernst-  und  l^auchhöhle,  so  in  die  untere  Brustapertur  ein- 
gepflanzt, dass  es  eine  convexe  Fläche  nach  oben,  eine  concave 
Fläche*  nach  unten  kehrt.  Wir  unterscheiden  an  ihm,  wie  an  jedem 
Muskel,  (Miien  fleischigen  und  einen  sehnigen  Bestandtheil. 
Ersterer  zerfiillt,  nach  Verschiedenheit  seines  Urspnmges,  wieder 
in  einen  LendcMi-  und  Kippentheil.  Der  muskulöse  Tlieil  schlicsst 
den  sehnigen  ringsum  ab. 

a)  Der  Lendentheil  (Pars  lumhalis)  des  Zwerchfells  besteht 
aus  drei  Schenkelpaaren,  welche  keineswegs  symmetrisch  vom  Lenden- 
segment der  Wirbelsäule  heraufkommen.  1.  Das  innere  Schenkel- 
j)aar  ist  das  längste  und  stärkste.  Seine  zwei  Schenkel  ent- 
springen sehnig  von  der  vorderen  Fläche  des  dritten  und  vierten 
Tuenden  wirbeis,  steigen  convergirend  aufwärts,  werden  fleischig, 
kreuzen  sich  vor  dem  Kr»rper  des  ersten  Lendenwirbels,  und  bilden 
mit  der  vorderen  Fläche  der  Wirbelsäule  eine  dreieckige  Spalte 
—  den  Aorten  schlitz,  Hiatus  aoHicua  —  durch  welchen  die  Aorta 
aus  der  Brust-  in  die  Bauchhöhl««-  *"  •'^  der 


476  f.  176.  Zwerchfell. 

Bauchhöhle  in  die  Brust  gelangt.  Nach  geschehener  Kreuzung, 
divergircn  die  Schenkel,  um  gleich  darauf  neuerdings  zu  conver- 
giren,  und  sich  zum  zweiten  Mal  zu  kreuzen,  wodurch  eine  zweite, 
über  dem  Hiatus  (wrticus,  und  etwas  links  von  ihm  liegende,  ovale 
OeflFnung  zu  Stande  kommt,  durch  welche  die  Speiseröhre  und  die 
sie  begleitenden  Nervi  vagi  in  die  Bauchhöhle  treten.  Diese  Oeffnung 
heisst:  Speiseröhren  loch,  Forameii  oesophageum.  Jenseits  dieses 
Loches,  treten  beide  innere  Schenkel  an  den  hinteren  Rand  des 
sehnigen  Theils.  2.  Das  mittlere  Schenkelpaar  entspringt  mit 
zwei  schlanken  fleischigen  Strängen  von  der  seitlichen  Gegend  des 
zweiten  Lendenwirbels,  und  3.  das  äussere,  kurze  und  breite,  von 
der  Seitenfläche  und  dem  Querfortsatz  des  ersten  Lendenwirbels. 
Die  Schenkel  des  mittleren  und  äusseren  Paares  kreuzen  sich 
nicht,  sondern  gehen  direct  an  den  hinteren  Rand  des  sehnigen 
Theils.  Die  linken  Schenkel  sind  meistens  etwas  schwächer,  und  ent- 
springen um  einen  Wirbel  höher,  als  die  rechten.  Die  Ursprungs- 
wcise,  die  Kreuzung,  selbst  die  Zahl  der  Schenkel  variirt  so  oft, 
dass  vorliegende  Beschreibung  nicht  für  alle  Fälle  gelten  kann,  luid 
nur  für  das  häufigere  Vorkommen  passt. 

b)  Der  Rippentheil  (Pars  costalis)  entspringt  beiderseits  von 
der  inneren  Fläche  der  sechs  oder  sieben  unteren  Rippen,  vom 
Schwertfortsatz,  so  wie  auch  von  zwei  fibrösen  Bögen  (Ligamenta 
arcuata  HaUeri),  deren  innerer  vom  Körper  des  ersten  Lendenwirbels, 
über  den  Psoas  weg,  zum  Querfortsatz  desselben  Wirbels  ausgespannt 
ist,  während  der  äussere,  auswärts  von  ersterem  gelegen,  vom  Quer- 
fortsatz des  ersten  Lendenwirbels,  über  den  Quadratm  lunibomm 
weg,  zur  letzten  Rippe  tritt.  Die  Rippenursprünge  der  Pars  costalis 
erscheinen  als  Zacken,  welche  zwischen  die  Ursprungszacken  des 
queren  Bauchmuskels  eingreifen,  und  von  diesen  durch  eine  ähnliche 
2jickzacklinie  getrennt  sind,  wie  jene,  welche  zwischen  den  Ur- 
sprüngen des  Obliquus  abdominis  exteimits,  Serratus  anticiis  major 
und  LatissimiAS  dorsi  bereits  erwähnt  wurde.  Sämmtliche  Zacken 
convcrgiren  gegen  den  Umfang  des  sehnigen  Theils,  an  welchem  sie 
sich  festsetzen. 

c)  Der  sehnige  Theil  (Pars  teiidinea  s.  Centrum  tendineum) 
nimmt  so  ziemlich  die  Mitte  des  Zwerchfells  ein,  und  liegt,  der 
kuppeiförmigen  Wölbung  des  Zwerchfells  wegen,  höher  als  der 
fleischige  Antheil  dieses  Muskels.  Sein  im  frischen  Zustande  über- 
raschend schöner,  metallischer  Schimmer,  verhalf  ihm  zu  dem  son- 
derbaren, von  dem  holländischen  Arzt  und  Philosophen,  van  II el- 
mont,  entlehnten  Namen:  Specidum  Ifelmontü.  Seine  Gestalt  ähnelt 
jener  eines  Kleeblattes,  in  dessen  rechtem  Lappen,  unmittelbar 
vor  der  Wirbelsäule,  eine  viereckige  OeflFnung  mit  abgerundeten 
Winkeln  liegt,  durch  welche  die  untere  Hohlvene  in  die  Brusthöhle 


§.  176.  ZwerehfeU.  477 

aufsteigt,   und   welche    deshalb  Foranien  pro  vena  cava  8.  quadrilate- 
rum  heisst. 

Nebst  den  genannten  drei  grossen  Oefihungen,  kommen  im  Zwerchfelle  noch 
mehrere  kleinere,  ftlr  den  Verlaaf  minder  umfangreicher  GefHsse  und  Nerven  be- 
stimmte Spalten  vor,  welche  keine  besonderen  Namen  führen.  So  befindet  sich 
zwischen  dem  inneren  und  mittleren  tSi'henkel  eine  Spalte  zum  Durchgang  des 
Nertnu  »planaJiniciat  major  und  der  Vena  azygos  (linkerseits  hemiazygos).  Der 
mittlere  Schenkel  wird  hliufig  durcli  den  Nrrwis  nplanchnicus  minor  durchbohrt. 
Zwischen  dem  äusseren  und  mittleren  Schenkel  tritt  der  Sympathicus  aus  der  Brust- 
in die  Bauchhöhle. 

Die  Wölbung  des  Zwerclifells  ragt  recliterseits,  wegen  der  Lagerung  der 
voluminösen  Leber  im  rechten  Hypochondrinm,  hölier  in  den  Thorax  hinauf,  als 
linkerseits.  —  Beim  Einathmen  verflacht  sich  die  Wölbung  des  Zwerchfells,  in- 
dem das  bogenförmig  an  das  Centnim  teiulhieiim  tretende  Fleisch  der  Par»  coat^ia 
und  Inmfjalw,  während  der  Contraction  mehr  geradlinig  wird.  Dadurch  muss  die 
Bauchhöhle  um  so  viel  verengert  werden,  als  die  Brusthöhle  vergrössert  wird. 
Das  Centrwii  t-endineitm  steigt,  während  der  Contraction  des  Zwerchfells  nicht 
mit  seiner  ganzen  Ebene  herab,  sondern  neigt  sicli  blos  so,  dass  sein  hinterer 
Rand  tiefer  zu  stehen  kommt,  als  sein  vorderer.  Man  unterlasse  es  nicht,  um 
sich  von  dieser  wichtigen  Saclie  zu  überzeugen,  die  Stellimg  des  Diaphragma  an 
zwei  Kindesleiclien  zu  vergleichen,  an  deren  einer  die  Lunge  durch  die  Luftröhre 
vollständig  aufgeblasen  wurde,  an  der  anderen  aber  nicht,  wodurch  also  die  Ein- 
athmungs-  und  Ausathmungsstellung  des  Zwerclifells  zur  deutliclien  Anscliauung 
kommen. 

Durcli  den  Dnick,  welchen  das  Zwerelifell  beim  Einathmen  auf  die  Bauch- 
eingeweide ausübt,  bethätigt  e«  die  Fortbewegung  der  (^^ontenta  des  Darmschlauclies, 
fördert  den  venösen  Kreislauf  im  Unterleibe,  und  unterstützt  mechanisch  die 
Secretionen  und  Excretioiien  der  drüsigen  Nebenorgane  dos  Verdauungssystems.  Da 
die  von  oben  her  gedriickten  Eingeweide,  dem  Dnicke  weichen  müssen,  so  drängen 
sie  sich  gegen  die  nac]igiel)ige  vordere  Bauchwand,  und  w()lben  sie  stärker.  Hört 
beim  Aiisathinen  der  Dnick  des  Zwerchfells  zu  wirken  auf,  so  schiebt  die  nun 
beginnende  Zusammenziehung  der  muskulösen  Bauchwand,  die  verschobenen  Ein- 
geweide wieder  in  ihre  frühere  Lage,  und  zwingt  das  nun  relaxirte  Zwerchfell, 
wiedt'r  zu  seiner  früheren  Wölbung  zurückzukehren,  wobei  die  in  den  Lungen 
enthalt<*ne  Luft  durch  die  Luftröhre  und  die  Stimmritze  des  Kehlkopfes  ent- 
weicht. Die  Eingeweide  befinden  sich  sonach,  so  lange  das  Athmen  dauert,  fort- 
während in  einer  hin-  und  hergehenden  Bewegung,  welche  in  demselben  Maasse 
gesteigert  wird,  als  der  Athniungsprocess  lebhafter  angeht.  Ist,  während  die 
Bauchmuskeln  wirken,  dic^  Stimmritze  geschlossen,  so  kann  die  Luft  aus  den 
Lungen  nicht  entweichen,  somit  auch  das  Zwerchfell  nicht  in  die  Höhe  steigen, 
und  die  Lage  der  Eingeweide  dva  Unt<'rleibes  nicht  verändert  werden.  Die  Ein- 
geweide werden  dann  nur  zusammengedrückt,  und  enthalten  sie  Entleer- 
bares, so  wird  dieses  lieniusgeHchafft.  Diese  von  den  Bauchmuskeln  geleistete 
Compression  der  Unterleibsorgane,  tritt  als  sogenannte  Bauch  presse  (Prehim 
otKhmunalp),  bei  allen  heftigen  Anstrengungen  in  Thätigkeit,  und  giebt  auch  das 
veranlassende  Moment  für  die  Entstehung  von  Hernien  ab. 

Bei  Ver^vnndungen  und  Zerreissungen  dos  Zwerchfells,  bei  angeborenen 
Spalten  desselben,  kann  ein  Eingeweide  des  Bauches,  am  häufigsten  die  Milz,  das 
Netz,  oder  der  Magen,  in  die  Bnisthöhle  schlüpfen,  und  eine  TIernia  diaphrag- 
matira  bilden.  Die  durch  Fall  und  Erschütterungen  entstandenen  Zwerchfellrisse, 
find«"  '*  ''*•  ISntei   Seite,    da    auf   der  rechten  die   Leber   das 


478  §.  177.  Allgem.  Betrachtung  dM  Rftckent,  nnd  Eintheiinng  seiner  Mnskcln. 

Zwerclifell  stützt.  —  Die  obere  Fläche  des  Zwerchfell»  wird  von  dem  Rippen- 
felle, die  untere  von  dem  Bauchfelle  bekleidet.  Auf  der  olieren  Fläche  der  Pars 
tendinea  ist  der  Herzbeutel  angewachsen.  —  Zwischen  dem  Costalzacken,  welcher 
vom  siebenten  Rippenknorpel  kommt,  und  jenem,  der  am  Proceftmn  xiphoidnis 
entspringt,  existirt  eine  dreieckige  Spalte,  durch  welche  Brustfell  und  Bauchfell 
in  Contact  gerathen.  Larraj  rieth,  durch  diese  Spalte  die  Function  des  Herz- 
beutels vorzunehmen.  —  Der  veränderliche  Stand  des  Zwerchfells  erklärt  e», 
wanun  eine  und  dieselbe  penetrirende  Wunde,  ganz  andere  Theile  verletzt  haben 
wird,  wenn  sie  im  Momente  des  Ein-  oder  Ausathmens  beigebracht  wurde. 

Verhindern  grosse  Geschwülste  im  Unterleibe,  Bauchwassersucht,  oder 
Fettleibigkeit,  den  Descen^tu  diaphragniati»  beim  Einathmen,  so  wird  die  dadurcl» 
beschränkte  Raumvergrösstfrung  des  Thorax,  durch  stärkeres  Heben  der  Rippen 
compensirt;  so  wie  umgekehrt,  bei  behinderter  Rippenbewegung  durch  Verknöche- 
rung der  Knorpel,  durch  Wunden  des  Thorax,  oder  Entzündung  des  Rippen- 
felles, das  Diaphragma  allein  die  Einathmungsfnnction  übernimmt.  Hierauf  l)e- 
ruht  der  von  den  Aerzten  gewürdigte  Unterschied  zwischen  üeupiratw  Ihm-aricn 
nnd  aftdmninaJi». 


E.  Muskeln  des  Rückens. 

§.  177.  Allgemeine  Betrachtung  des  Rückens,  und  Eintheilung 

seiner  Muskeln. 

Wir  begreifen  unter  Rücken,  Dorsnm.  h,  Tergiim,  die  hintere 
Gegend  des  Stammes,  welche,  von  oben  nach  unten  gerechnet,  aus 
dem  Nacken  (hintere  Ilalsgegend),  dem  eigentlichen  llückcn  (hintere 
Thoraxwand),  den  Lenden  (hintere  Bauch  wand),  und  dorn  Kreuze 
(hintere  Beckenwand)  besteht.  Die  Nackengegend  ist  von  oben 
nach  unten  leicht  concav,  von  einer  Seite  zur  anderen  convex,  und 
unten  durch  den  Vorsprung  des  siebenten  Ilalsdornes  vom  Rücken 
abgegrenzt.  Die  eigentliche  Rückengegend  ist  in  der  Längcui-  und 
Querrichtung  massig  convex.  Längs  der  Mittellinie  fühlt  man  die 
Spitzen  der  Dornfortsätze  der  Brustwirbel.  An  ihrer  oberen  seit- 
lichen Gegend  liegen  die  beweglichen  Schulterblätter,  welche  bei 
muskulösen  Körpern  einen  mehr  gleichförmig  gerundeten,  bei  mage- 
ren einen  durch  die  Spina  scapidae  scharf  gezeichneten  Vorsprung 
bilden.  Die  in  der  Längsrichtung  massig  concave  Lendengegend, 
besitzt  in  der  Medianlinie  eine  verticale  Rinne,  welche  den  zwi.schen 
den  fleischigen  Bäuchen  der  langen  Rückgratsstrecker  versenkten 
Lendendornen  entspricht.  Die  convexe  Kreuzgegend  wird  am 
wenigsten  von  Weichtheilen  bedeckt,  und  fühlt  sich  daher  im  ganzen 
Umfange  hart  an. 

Die  Haut  des  Rückens  zeichnet  sich  durch  ihre  Dicke  und 
Derbheit  au».  Die  Rückenhaut  der  Thiere  liefert  deshalb  das  beste 


S.  178.  Breite  Bückennukcln.  AH* 

Leder.  Auch  in  der  zur  französischen  Kevohitionszeit  bestandt'nt'n 
Mensehenlederfabrik  zu  Meuclon,  wurde  SatteHeder  aus  «ler  Rücken- 
haut menschlicher  Leiclien,  —  Zäume ,  und  Kiemen  lur  Patron- 
laschen  aus  der  Haut  der  Schenkel  und  Arme  fabricirt.  —  Man 
findet  die  Haut  des  KücktMis  an  den  Leichen  meist  bhiu-  oder 
dunkelroth  gefleckt  (Todtenflccke).  Auf  dem  Kreuzbeine,  und 
anderen  am  Kücken  fiihl-  und  sichtbaren  Knochenvorsprüngen,  unter- 
liegt sie  bei  schweren  Kranken,  dem  Verbranden  durch  Aufliegen 
(Decubitus). 

Eine  Fascla  superßeialh  existirt  nur  als  äusserst  dünner  Binde- 
gewcbsüberzug  der  ersten  Muskelschichte.  —  Den  ganzen  Kaum 
zwischen  Haut  und  Knochen,  welcher  zu  den  Seiten  der  Dorn  fort  sä  tze 
bedeutend  tief  ist,  nehmen  Muskeln  ein,  deren  anatomische  Dar- 
stellung einen  wahren  lVr»birstein  fiir  die  Cteduld  und  (icschicklich- 
koit  der  Studirenden  abgiebt,  weshalb  sie  sich  keiner  grossen 
Beliebtheit  zu  rühmen  haben.  Ihrer  Crestalt  nach,  bilden  die  Rücken- 
muskeln drei  (iruppen:  die  breiten,  die  langen,  und  die  kurzen, 
welche  in  den  nächsten  Paragraphen  gesondert  zur  Sprache  kommen. 
Functionen  aufg«*fasst  zerfalh»n  sie  in  vier  Gruppen.  Die  erste  oder 
hochliegende  dient  zur  Bewegung  der  oberen  Extremität,  die  zweite 
bewegt  die  Kii)pen,  die  dritte  den  Kopf,  die  vierte  die  Wirlielsäule. 
Weder  Oefösse  noch  Nerven  von  grosser  praktisclu^r  Wichtigkeit 
vcraweigen  sich  auf  (»der  zwischen  ihnen.  Daher  sind  Fleischwunden 
des  Kückens  min(b»r  gefahrvoll,  und  es  lag  si^mit  eine  Art  von  Rück- 
sicht in  der  l^arbarei  gewisser  Kr»rperstrafen,  welehe,  wie  die  Knute, 
die  Spiessruthe,  und  die  neunschwänzige  Katze,  sich  nur  den  Rücken 
der  D<;lin(juenten  auserkorcMi  haben. 

Di«*  l'rsjirtliijr«'  iiml  Knden  i'in7.(*ln«*r  Km*konmuj»kcln  l»ioten  «*inr  so  jrrosso 
FfiUo  von  V.'ir'H'tiiti'n  ilar,  «liiss  nirlit  leicht  dii*  Host-lin-ihiinp  «»iiio.«»  Autors  mit 
jenor  eint'»«  an«l<'ri*n  stiiniiit.  .I«*«!»*  Vc*rämli*ninjj  «lor  Krsjirfingo  odor  Insertionen 
Kinos  Mnski'Is  Immüh^  notliw<Mi(liß^  eine  <«nts]iree1ienile  V«»npfii'kunjr  «ler  übripren, 
nnr!  ilie  Anoniali«'  «Tstn-ekt  sieli  anf  viele  Naelil»:irn.  Tnter  diesen  möglichen 
Seliwanknn^r«'!!  flieht  i*s  jcdorli  eine  ;je\visse  eonst.'inte  (■  rosse,  und  auf  die <e  \vnr<le 
hei  d«*r  folfj^end«'!!  I{«**»elin'ilMinp  der  i-inzelnen  Küekenninskeln  vr»r/nps\veise  Rück- 
sicht p:«'nonimen. 


§.  17S.  Breite  Rückenmuskeln. 

Sie  liegen  unter  allen  Rückenniu.skeln  am  <»berHächli<'hsten. 
Die  Mehrzahl  dersellxui,  und  zwar  genide  die  breitesten  und  stärk- 
st(?n  unter  ihnen,  gehören  dem  Sehulterblatte  und  dem  Oberarm 
an,  wie  der  CunilfnrtJt,  l^tijfshnus  dorsi,  die  beiden  Rhomhoidei  und 
der  I^xator  scnpidan.  Die  übrigen  bewegen  die  Rippen,  wie  die 
beiden  Sein-ati  pogtici,  oder  den  Kopf,  wie  die  Splenü. 


480 


§.  178.  Breit«  Rfiekenmiukeln. 


Der  Kappen-  oder  Kaputzenmuskel,  Musculus  cucullaHs  s, 
trapezitis  (Musculus  menscdis,  Tischmuskel  der  älteren  Autoren),  ent- 
springt von  der  Linea  semidrcularis  superior  und  der  Protuherantia 
externa  des  Hinterhauptbeins,  vom  Ligamentum  nuchae,  den  Spitzen 
der  Domfortsätze  des  siebenten  Halswirbels  und  der  zehn  oberen 
oder  aller  Brustwirbel.  In  den  Zwischenräumen  je  zweier  Dorn- 
spitzen, dienen  die  Ligamenta  interspinaim  den  Fasern  dieses  Muskels 
zum  Ursprünge.  Von  dieser  langen  Ursprungsbasis  laufen  die  ein- 
zelnen Bündel  convergirend  zur  Schulter,  wo  sich  die  oberen  an 
den  hinteren  Rand  der  Spina  scapulae  in  seiner  ganzen  Länge,  ferner 
an  den  inneren  Rand  des  Akromion,  und  ausserdem  noch  an  das 
Schulterende  des  Schlüsselbeins  befestigen,  während  die  unteren  nur 
von  der  inneren  Hälfte  der  Spina  scapulae  Besitz  nehmen.  Es  kann 
sonach  der  Muskel  die  äussere  Hälfte  der  Spina  heben,  und  die 
innere  senken,  was  zu  einer  Drehung  des  Schulterblattes  um  eine 
horizontal  von  voni  nach  hinten  gehende  Axe  fährt.  Bei  dieser 
Drehung  geht  der  untere  Schulterblattwinkel  nach  aussen,  der  obere 
äussere,  welcher  die  Gelenkääche  trägt,  nach  oben. 

Die  Convergenz  seiner  Bündel,  ^ebt  dem  Muskel  eine  dreieckige  Gestalt. 
Hat  man  beide  CticuUart»  präparirt  vor  sich,  so  bilden  die  mit  ihren  langen  Rasen 
an  einander  stossenden  Dreiecke,  ein  ungleichseitiges  Viereck,  wolier  der  Oa- 
len'sche  Name  Muaculua  trapezius  abzuleiten  ist,  welcher  Name  somit  niclit  anf 
einen,  sondern  auf  beide  Cuctdlnres  zusammen  genommen  passt  —  Der  lange, 
untere,  spitzige  Winkel  dieses  Vierecks,  welcher  den  gleich  zu  er^vUhnenden 
Tjotisgimwt  dorii  überlagert,  ähnelt  einer  zurückgeschlagenen  Mönchskappe  (Cu- 
niUtiJfJ,  weshalb  Spigelins  die  Benennung  Musculwt  cttcuJlarU  einführte,  damit 
die  sündhaften  Sterblichen  sich  erinnern  mögen:  „intern  hmnini  reUgia^nm  (htren- 
(lavi  es»e.** 

Der  Kopfarsprung  des  Cucuüari»,  überlagert  den  von  F.  E.  Schulze  in 
Rostock  1866  entdeckten  MiMcuiits  traiutvers^in  nuchae.  Dieser  entsjiringt  vcm  dem, 
der  Protuberantia  occipitalis  externa  nächsten  Stück  der  Linea  aeinicircnlariM  aupr- 
rior,  und  bildet  eine,  circa  fünfzehn  Linien  lange,  und  sechs  Linien  breite,  a!)er 
dünne  Fleischlage,  welche  quer  nach  aussen  zieht,  um  theils  in  der  Mitte  der 
genannten  Hinterhauptlinie  zu  enden,  theils  mit  der  Kopfinsertion  des  Hternn-chulo- 
mast^ndewf  zu  verschmelzen.     Function  räthselhaft. 

CuniUiutf  von  welcher  der  Kappenmuskel  seinen  Namen  trägt,  ist  ursprüng- 
lich eine  Papierdüte,  deren  sich  die  Krämer  bedienen  (cnetiUivi  piperia,  Marl.  Ep. 
IIL  2j.  Wegen  Aehnlichkeit  mit  dieser,  wurde  auch  die  Kaput/e  am  Soldaten - 
mantel  (soffumj,  am  Reisekleid  (paemUnJ,  und  am  W^interkh^id  (lacema)  rumllujt 
genannt.  Spigelins  gab  diesen  Namen  dem  ersten  Rückenmuskel,  tptia,  mm 
conjuge  mo,  rticullutn  monackorum  non  inepte  exprimit.  Er  sclireibt  ihn  aber  sehr 
unrichtig  Cuculari«,  was  nicht  sein  darf,  da  runilmt  Knckuk,  und  bei  Platitns 
auch  Gimpel,  als  Schimpfwort  bedeutet.  —  Trapezvm  kommt  gewiss  von  Irnpe- 
zium,  d.  i.  verschobenes  oder  ungleichseitiges  Viereck.  Da  aber  das  griechische 
xpijitl^OLj  Tisch  bedeutet  (von  T^Tpa  und  TiC«>  vier  Füsse),  ist  der  CnniUarh  aucli 
zu  einem  anderen,  und  zwar  sehr  unpassenden  Namen  gekommen:  AfuMnthi/t  mrn- 
»aluiy  d.  i.  Tischmuskel.  Ein  unregelmässiges  Viereck  zur  Ti8chi»lattt»  zu 
machen,  kann  Niemandem  in  den  Sinn  kommen. 


§.  178.  Breit«  Rfickennankeln.  4^1 

Der  breite  Htc  KUckenmuskel,  Mnsculas  Inf  Inst  irnus  dorsi, 
hat  unter  allen  Muäkelu  die  gnisate  FliU'h<.»iiHU.s(lchnung.  Er  ent- 
springt mit  einer  breiten  Ai)oncurosc  (welche  das  ol)erfläcblieh(»  oder 
hintere  Blatt  der  Faseid  lunilto-d^rrsah'^  bildet,  Note  zu  §.  179),  von 
den  Domfortsatzen  der  vi(T  bis  sechs  unteren  Brustwirbel,  aller 
Lenden-  und  Kreuzwirbcl,  und  von  dem  hinteren  Segment  des 
Ldbium  extemum  der  Darmbcinerista.  Der  scharf  abgesetzte  Ucber- 
gang  dieser  breiten  Sehne  in  Fleisch,  erfolgt  in  einer  gegen  die 
Wirbelsäule  zu  convexcn  Linie.  Zu  diesem  sehnigen  Ursprünge 
gesellen  sich  noch  drei  fleischige  Zjicken,  welche  von  den  untersten 
Kippen  stammen,  iind  sich  an  den  äusseren  Rand  des  Muskels  an- 
schmiegen. Er  läuft,  die  hintere  und  die  Seitenwand  der  Brust 
umgreifend,  und  zusehends  schmäler  werdend,  ülxjr  den  unteren 
Winkel  des  Schulterblattes  zum  Oberarinknoehen,  bildet  die  hintere 
Wand  der  Achselhrdile,  und  inscrirt  sich  mit  einer  ungefiihr  zoll- 
breiten, platten  Sehn(»,  an  die  Spina  tubercnli  minoritf.  Die  Ends(«hne 
des  ifusctdus  teren  major  legt  sieh  an  jene  des  Ijitissimua  an,  und 
es  wäre  gar  nicht  unpassend,  den  Tents  major,  w(»lcher  vom  unteren 
Winkel  des  Schulterl)lattt».s  entspringt,  als  die  Scajiularportion  des 
breitesten  Rückenmuskels  anzusehen.  —  Die  Wirkung  des  Tyitis- 
simus  gestaltet  sich  elxMi  so  mannigfaltig,  wie  jene  des  Pectoralis 
major,  und  hängt  von  der  Stellung  des  Arms  al).  Den  herabhängen- 
den Arm  zieht  er  nach  rückwärts,  und  näh(»rt  (Vw.  Hand  dem  Oe- 
silsse  zu  einem  gewiss(^n  Zweck,  welchen  man  anständigen  Lesern 
nicht  näher  zu  bezeichnen  l)raucht,  woher  sein  obscöner  älterer 
Name  bei  Riolan:  Tersor  s.  Scalptor  am  (SlrÖtrnfecrmauÖlciu  bei 
Heister)  stammt.  Spigelius  sagt  in  di(;s<»r  Beziehung:  ahsqtw  hoc 
musculo,  id  officium  haud  ti.rhih<ir(itur. 

Sfint'  intori'S8ant**8to  Varietüt  besteht  in  riiuT  Verbindung  Heiner  Endselme 
mit  der  Sehne  (U*8  grossen  UruHtnnwkels,  diircli  ein  über  die  Arnmerven  und  (Je- 
filHHe  weglaufendes  fleischiges  Hilndel,  —  eine  Einrichtung,  web'lie  beim  Maulwurf 
und  in  der  Classe  der  Vr»gel  wiederkehrt.  Eine  zweite,  und  zwar  eonstante  Ver- 
l)indung,  zwiselien  der  Sehne  des  LalMHimm  und  dem  langen  Kopfe  des  Trirrjui 
hrarhü,  wurde  von  Ilalbertsma  erwähnt.  —  Ein  constanter  Schleimbeutel  liegt 
zwischen  der  Seime  des   Latlnnimm  und  dem  Oberarmbein. 

Nach  Entfernung  des  Cucidlari^  und  httimmn^  erscheinen : 
Der  grosse  und  kleine  rautenförmige  jMiiskel,  Muscidua 
rhomhoidc.us  major  et  minor.  Sie  machen  eigentlich  nur  Kinen  Muskel 
aus,  welcher  vom  Cuculhiris  bedeckt  wird.  Kr  entsjiringt  von  den 
DornfortsätzcMi  der  zwei  unt<»ren  Halswirbel  und  der  vier  oberen 
Brustwirbel,  läuft  schräg  nach  ab-  und  auswärts,  und  endet  am 
inneren  Rande  des  Schulterblattes.  Ist  die  von  den  Halswirl)eln 
entspringend«^  Portion,  von  dem  Reste  des  Muskels  durch  eine  Spalten 
getrennt,   so   nennt   man  sie  MuBCubu  rhomboideus  müior  a.  mperior, 

nyrtl,  Lehrbnch  d«r  Awa**—  •! 


482  §.  179.  Lange  Bückenmuskcln. 

und  was  übrig  bleibt,  Musculus  rhomboldeus  viajor  s,  inferior.  Beide 
nähern  die  Schulter  der  Wirbelsäule,  und  drehen  das  Schulterblatt 
in  einer  der  Wirkungsweise  des  CucuUaris  entgegengesetzten  Richtung. 

Der  Aufheber  des  Schulterblattes,  Musculus  levator  sca- 
pulae  s,  Musculus  angularis,  entspringt  mit  vier  sehnigen  Köpfen  von 
den  hinteren  Höckern  der  Querfortsätze  der  vier  oberen  Halswirbel, 
und  steigt  zum  inneren  oberen  Winkel  des  Schulterblattes  herab. 
Er  hebt  die  Schulter  (oder  eigentlich  den  inneren  oberen  Winkel 
des  Schulterblattes),  und  heisst  scherzweise  Musculus  patientiae  (a  me 
per  jocum  ita  vocatus,  sagt  Spigelius).  Bei  vielen  Säugethieren  ist 
er  mit   dem  Serratas   anHeus   major  zu  einem  Muskel  verwachsen. 

Unter  dem  Musculus  rhomhoideus  findet  sich: 

Der  hintere  obere  sägeförmige  Muskel,  Muscubis  sei^aius 
posHcus  superior.  Ursprung:  Donifortsätze  der  zwei  imtercn  Hais- 
und zwei  -oberen  Brustwirbel.  Ende :  mit  vier  Zacken  an  die  zweite 
bis  fünfte  Rippe.  Wirkung:  Rippenheben.  Weit  entfernt  von 
ihm  liegt: 

Der  hintere  untere  sägeförmige  Muskel,  Musculus  sci^ra- 
tos  posticus  inferior.  Er  wird  ganz  und  gar  vom  Latissinius  bedeckt, 
von  dessen  Ursprungssehne  (Fascia  lumho-dorsalis)  er  in  der  (regend 
der  zwei  unteren  Brust-  und  oberen  Lendenwirbel  seine  Entstehung 
nimmt.  Er  befestigt  sich,  schräg  aus-  und  aufwärts  laufend,  mit 
breiten,  dünnen,  fleischigen  Zacken,  an  die  vier  letzten  Rippen, 
welche  er  niederzieht. 

Der  bauschähnliche  Muskel  des  Kopfes  und  Halses, 
Musculus  splenius  capitis  et  colli,  liegt  unter  dem  Halstheil  des 
CucuUaris,  und  wird  an  seinem  Ursprünge  vom  Rhomboideus  und 
Serratus  posticus  superior  bedeckt.  Er  entspringt  von  den  Dornfort- 
sätzen des  dritten  Halswirbels,  bis  zum  vierten  Brustwirbel  herab, 
steigt  mit  schräg  aus-  und  aufwärts  gehenden  Fasern  zum  Hinter- 
haupt und  zur  Seite  der  Halswirbelsäule  empor,  und  befestigt  sich 
theils  an  der  Linea  semicircularis  superior  des  Hinterhauptes,  und 
am  hinteren  Rande  des  Warzenfortsatzes  als  Sple7iius  capitis,  theils 
an  den  Querfortsätzeu  der  zwei  oder  drei  oberen  Halswirbel  als 
Splenius  colli.  Dreht  den  Kopf  und  Hals.  Seine  beiden  Portionen 
werden  auch  als  zwei  verschiedene  Muskeln  beschrieben. 

Sj)leiiiiiM  stammt  von  (j;:Xiiviov,  ein  mit  Pflaster  bestrichener  Leinwandstn-if, 
xnm  Anflegen  auf  Wunden  und  Geschwüre. 


§.  179.  Lange  Rückemnuskeln. 

Während  die    im   vorigen  Paragraphe    beschriebenen  Muskeln 
durch  ihre  Breite,  und  ihre  schiefe  Faserungsrichtung  übereinkommen, 


^.  17».  Lange  Kiickcninuskeln.  48*) 

folgen  die  nuii  zu  erwähnenden  mehr  der  Längenrichtun^  der 
Wirbelsäule.  Sie  liegen  in  den  zwei  Furchrn  eing(d)ctti*t,  welchr 
zwischen  den  Dorn-  und  Querfortsätzt^n  sämnitlichor  Wirbel,  zu 
ihrer  Aufnahme  bereit  gehalten  sind. 

Der  g  e  ni  e  i  n  s  e  h  a  f 1 1  i  c  h  e  K  ü  e  k  g  r a  t  s  t  r  i^  c  k  e  r ,  Mn^^cuhis  erec- 
tor  trunci  (bei  den  Alten  Optsttithti)mr),  «Mit-springt  mit  einem  dicken, 
fleischigen  Bauehe,  von  der  hinteren  Fläche  des  Kreuzbeins,  der 
Tuberositas  und  dem  hijiteren  Ende  der  CriMa  nasis  ilet\  und  den 
Domfortsätzen  der  Lendenwirbel.  Diesc^r  Ursprung  wird  von  einer 
Starkon,  aus  zwei  Blättern  bestehenden  Seheide  ( Vagina  s.  Fasct/i 
lumbo'dormlis)  umschlossen,  deren  innere  Obcrliäehe  selbst  einiire 
neue  Urspruugsfaseikel  des  iVIuskrls  erz()ugt. 

Das  liochli»' jrciiclc  Oller  liintore  IJhitt  der  Fancut  f/niiftfMhjr.safin,  ktMiniMi 
wir  schon  als  die  Urspriingsspline  des  LtitisMimun  ihu-ni.  Ks  erstreckt  sich  weit 
am  Rücken  hinauf,  dringt  unter  dem  Khonihoideus  hl.-»  /.um  Swratnx  ihmUcuh 
jmperior  empor,  mit  tleasen  Urspnuijjssehne  es  versehmil/t,  und  »et/t  seinen  Wep 
über  ihn  hinauä,  also  zwischen  CucuUaris  untl  Splenius  (wo  es  Fajtvia  nuchae 
heisst)  his  zum  Hinterhaupte  tbrt.  Das  tieflie jjfende  oder  vordere  Blatt,  ist 
viel  kürzer,  entspringt  an  den  Querfurtsiitzen  der  Lendenwirliel,  dient  den  mitt- 
leren Fleischfasern  des  (queren  Bauch nniskels,  ja  seihst  den  hintersten  Fasern  des 
inneren  schiefen  liauchmuskels  zum  Ursprung,  und  füllt  den  Hauin  zwischen  der 
letzten  lüp])e,  und  dem  hinteren  Theile  der  Darm  bei  ncrista  aus,  indem  es  mittelst 
Dedoublirung,  zugleich  eine  Scheide  für  den  QatfdratuH  luuihorum  erzeugt.  Jenes 
Blatt,  welches  die  BauchHäche  des  Quadratus  deckt,  bildet  mit  seinem  oberen  ver- 
dickten Rande  das  bei  der  Pars  vontalix  des  Diaiihragma  erwälinte,  äussere  Lii<nnonhim 
arauitum  Hulh'ri  {^.  170).  -  Ueber  die  Fdschi  fnmf>o-clor.sfi/is,  und  ihr  Verhältniss 
zu  den  Bauch-  und  Kückenjnuskeln,  liegt  eine  ausgezeichnete  Ar])eit  von  J\  Le^n- 
hajl  vor:  die  Lund>algegend  in  anatomi.^ch-chiiurgischer  licziehnng,  im  Archiv 
für  Anatomie  und  Physiologie.   1S71. 

Während  des  Liiufes  naeli  aufwärts,  giubt  der  in  der  Vagina 
8.  FoHcia  lumho-dorsalis  eingeschlossene  Ursprungsbaueh  des  gemein- 
schaftliehen Rüekenstreekers,  einzelne  Bündel  an  die  Querfortsätze 
und  die  Processus  accessorii  der  Lendenwirbel  ab,  und  theilt  sich, 
am  ersten  Lendenwirbel  angekommen,  in  zwei  Portionen,  welche 
über  den  Kücken  bis  zum  ITalse  hinauflaufen,  und  als  Musculus 
sacro-Iumbalis  (äussere  Portion)  und  Musculus  foiigissimus  darsi  (innere 
Portion)  unterschieden  werden. 

a)  Der  Sacro-lumhalis  heftet  sich  mit  zwölf  sehnigen  Zacken 
an  die  unteren  Händer  aller  Kippen  in  der  Gegend  des  Angulus  s. 
Cuhitus  costaa,  und  schickt  zuweilen  eine  dreizehnte  Zacke  zum 
Querto rtsatzc  des  letzten  Halswirbels.  Während  diese  Zacken  zu 
ihren  respcctiven  Ins(;rtioiissteUen  aufsteigen,  erliält  der  Sacro-lum- 
halis von  den  s(^ehs  odt^r  sieben  ujituren  Kippen  Verstärkungsbündel. 
Seine  fleischigen  Ursprünge  an  den  fünf  oder  sechs  oberen  Ki])pen, 
vereinigen  sich  nielit  mit  dem  Sacro-luwhalü,  sondern  treten  zu  einem 

besonderen  länglichen  Muskelkörper  zusammen,   welcher  sieh  schief 

31* 


484  §•  17^.  Lange  RQckenmaskeln. 

nach  oben  und  aussen  zu  den  Querfortsätzen  des  sechsten  bis  vierten 
Halswirbels  begiebt,  wo  er  mit  drei  sehnigen  Spitzen  endet.  Er 
bildet  sonach  gewisserniassen  eine  Zugabe  oder  Verlängerung  des 
Sacro-lumhaJis,  und  wird  auch  als  besonderer  Muskel  unter  dem 
Namen  Musculus  cervicalis  ascendsns  aufgeführt. 

b)  Der  Longisstmus  dorsi  steigt  mit  dem  früheren  parallel 
am  Rücken  hinauf^  bezieht  imconstante  Verstärkungsbündel  von 
den  oberen  Lenden-  und  unteren  Brustwirbeln,  welche  erst  gesehen 
werden,  wenn  man  den  Körper  des  Muskels  auf  die  Seite  drängt, 
und  spaltet  sich  in  eine  Folge  kurzer,  fleischig-sehniger  Zacken, 
welche  theils  an  die  hinteren  Enden  der  Rippen,  zunächst  an  ihren 
Tuberculis  (mit  Ausnahme  der  obersten  und  untersten) ,  theils  an 
alle  Brustwirbelquerfortsätze  sich  inscriren.  —  Das  obere  Ende  des 
Longissimus  dorsi,  geht  in  den  Musculus  transverscdis  cervicis  über, 
welcher  von  den  Querfortsätzen  der  vier  oberen  Rücken-  und  zwei 
unteren  Halswirbel,  zu  den  Querfortsätzen  der  fünf  oberen  Hals- 
wirbel läuft. 

Die  vereinigte  Thätigkeit  des  Sacro-lumbalis  und  Lmigissimus 
dorsi  auf  beiden  Seiten,  richtet  den  gebogenen  Rücken  wieder  auf; 
—  auf  einer  Seite  wirkend,  krümmen  diese  Muskeln  die  Wirbelsäule 
nach  der  Seite.  Der  Scicro-lumbalis  kann  auch  die  Rippen  beim 
Ausathmen  herabziehen,  und  der  Cervicalis  ascendens  und  Transversalis 
cervids  werden  die  Drehungen  der  Halswirbelsäule  unterstützen. 

Eine  sorg^lti^e  Revision  dieser  Mnskeln,  welche  znr  Anfstelinngf  eines 
nenen  MiutcitliM  rofttnlia  rlorsi  führte,  hat  Luschka  vorgenommen  (MiUhr^i*  Arcliiv, 
1854).  —  Derselbe  vielverdiente  Antor  entdeckte  in  der  Sacralg^egend  einon,  der 
Verbindungsstelle  der  Conwa  Hocralin  mit  den  Comtm  coceygea  entsprechenden, 
subcutanen  Schleimbeutel,  welcher,  wenn  auch  nicht  constant,  doch  auch  nicht 
zu  den  anomalen  Bildungen  gehört  (Zeitschrift  fllr  rat.  Med.  8.  Bd.). 

Nach  Entfernung  der  Rippeninsertionen  des  Sacro-lumbalis, 
kommt  man  zur  Ansicht  der  Rippenheber,  Levatores  costarum, 
welche  an  den  Spitzen  der  Querfortsätze,  vom  siebenten  Halswirbel 
bis  zum  eilften  Brustwirbel  herab,  entspringen,  und  sich,  etwas 
breiter  werdend,  an  der  nächst  unteren  Rippe,  auswärts  vom  Tuber- 
culum  festsetzen.  Sie  heissen  Levatores  costarum  breves.  An  den 
unteren  Rippen  finden  sich  noch  die  Levatores  longi,  welche  nicht 
zur  nächst  xinteren  Rippe,  sondern  zur  zweit  folgenden  herabsteigen. 

Unter  dem  Splenius  capitis  et  colli,  zwischen  den  Dornfortsätzen 
der  Wirbelsäule  und  dem  Transversalis  cei'vicis,  liegen  drei,  durch 
eingewebte  Sehnenstreifen  gekennzeichnete  Muskeln:  der  zwei- 
bäuchige,  der  grosse  und  kleine  durchflochtene. 

Der  zweibäuchigc  Nackenmuskel,  Musculus  biventer  cer- 
vicis, entspringt  mit  drei  oder  vier  tendinösen  Zacken  von  den 
Spitzen    der    Querfortsätze    eben    so    vieler    oberer    Rückenwirbel, 


fl.  179.  Lange  Rückenmaskeln.  485 

einwärts  von  den  Insertionen  des  Ijmgisdnuis  dorsi,  wird  bald  naoli 
seinem  Ursprünge  fleischig  (unterer  Bauch),  steigt  sclüef  nach  innen 
in  die  Höhe,  und  geht  in  eine  zwei  bis  drei  Zoll  lange  Seline  über, 
welche  in  der  Gegend  des  sechsten  Halswirbels  vollkommen  fleisch- 
los ist.  Sie  vei'wandelt  sich  über  dem  sechsten  Halswirbel  wieder 
in  einen  Muskelstrang  (oberer  Bauch),  welcher  häuflg  eine  Inscn'ptio 
tendinea  zeigt,  und  sich  zuletzt  unterhalb  der  Linea  semicircularis 
siiperiar  des  Hinterhauptes  ansetzt.  Ziclit  den  Kopf  nach  hinten. 

Der  grosse  durchflochtenc  Muskel,  Musculm  complexus 
majt»',  liegt  neben  dem  vorigen  nach  aussen,  und  ist  oft  gänzlich 
mit  ihm  verwachsen.  Er  entspringt  gewöhnlich  mit  sieben  Bündeln 
von  den  Querfortsätzen  der  vier  unteren  Halswirbel,  und  der  drei 
oberen  Brustwirbel,  so  wie  von  den  (Tclonkfortsätzcn  des  dritten 
bis  sechsten  Halswirbels,  und  endigt,  mit  mehreren  Sehnenbündeln 
durchwirkt,  in  dem  Zwischenräume  der  oberen  und  unteren  halb- 
mondförmigen Linie  des  Hinterhauptbeins.  Wirkt  wie  der  Zwei- 
bäuchige. 

Der  kleine  durchflochtenc  Muskel,  auch  Nackenwarzen- 
muskel, Miiscidu^  compliixm  minor  s,  tradielo-ma^toideus  (Tpay^yjAs^, 
Nacken),  liegt  zwischen  Complexus  major  und  Transversalis  cervicis, 
und  kann  von  letzterem  häutig  nicht  getrennt  werden.  Er  entspringt 
von  den  Querfortsätzen  und  (jelenkfortsätzen  der  vier  unteren  Hals- 
wirbel, und  der  drei  oberen  Brustwirbel,  steigt  gerade  aufwärts,  und 
befestigt  sich  am  hinteren  Rande  des  Warzenfortsatzes.  Zieht  den 
Kopf  nach  hinten,  und  dreht  ihn  zugleich. 

Die  jetzt  an  die  Reihe  kommenden  Dorn-  und  Halbdornmuskeln 
des  Rückens  und  Nackens,  sind  thuils  unter  sich,  theils  mit  ihren 
angrenzenden  Nachbarn  mehr  weniger  innig  verschmolzen ,  und 
können  deshalb  nur  mit  grosser  Präparirgewandtlieit,  nach  dem 
Texte  ihrer  Beschreibung  dargestellt  werden. 

Der  Dornmuskel  des  Rückens,  Mtiaadus  spinal is  dortfi, 
liegt  zwischen  dem  Longisaimus  dord  und  den  Wirbeldornen,  — 
dicht  an  letzteren.  Er  kommt  von  den  Dornfortsätzen  der  zwei 
oberen  Lendenwirbel  und  der  drei  unteren  Brustwirbel,  geht  am 
Dornfortsatz  des  luuinten  Brustwirbels  vorbei,  und  setzt  sich  an  die 
darüber  folgenden  Dornen,  bis  zum  zweiten  l^rustwirbel  hinauf  fest. 
Er  lässt  sich  gewöhnlich  nur  schwer  und  künstlich  vom  Longi^dmus 
dardj  und  vom  Multifidus  spinne  trennen,  welchen  er  bedeckt.  Hilft 
die  Wirbelsäule  strecken. 

Der  iralbdornmuskel  des  Rückens,  Mmadiis  semisplnali^ 
dorsi,  entspringt  mit  sechs  langen,  sehnigen  Faseikeln  von  den  Quer- 
fortsätzen des  sechsten  bis  eilften  Brustwirbels.  Die  Ursprungsschnen 
sammeln  sich  zu  einem  flachen  Muskelbauch,  welcher  sich  nach  oben 
und   innen   in   sechs   Spitzen  auszieht^  welche  mit   platt 


486  §•  1^^-  Kurze  KQckenmaskeln. 

Sehnen  sich  au  den  Dorn  fort  Sätzen  des  letzten  Halswirbels  und  der 
fünf  oberen  Brustwirbel  inseriren.  Er  unterstützt  die  Seitwärtsbiegung 
und  vielleicht  die  Axendrehung  der  Wirbelsäule. 

Der  Dornrauskel  des  Nackens,  Musculus  spinalis  cervlcls, 
verhält  sich  durch  Lage  und  Wirkung  zur  Halswirbelsäule,  wie 
der  Splnalis  dorsi  zur  Brustwirbelsäule.  Man  kann  seiner  häufigen 
Variationen  wegen  von  ihm  nur  ungefähr  sagen,  dass  er  von  den 
Dornen  der  unteren  Halswirbel,  und  einiger  oberer  Rückenwirbel, 
seine  Entstehung  nimmt,  um  sich  an  den  Dornen  der  oberen  Hals- 
wirbel, vom  zweiten  an,  zu  befestigen.  Er  streckt  den  Halstheil  der 
Wirbelsäule. 

Der  Halbdornmuskel  des  Nackens,  Micscuhcs  semispinalh 
cervicis,  zeigt  uns  eine  Wiederholung  des  Semispinalls  dorsi  am 
Halse.  Er  wird  vom  Biventer  cervlcis  und  Complexus  major  bedeckt, 
und  deckt  selbst  den  Spinalis  cervicis  und  den  Multifidus  spimve.  Er 
entspringt  von  den  Spitzen  der  Querfortsätze  der  oberen  Rücken- 
wirbel, läuft  schräge  nach  oben  und  innen,  und  befestigt  sich  mit 
vier  sehnigen  Zacken  an  die  Dornfortsätze  des  zweiten  bis  fünften 
Halswirbels. 

Da  die  Richtung  soiner  Faaern  mit  jener  des  Seniisinnalüt  dorsi  ganz  über- 
uinstimnit,  und  sich  sein  unterstes  Bündel  an  das  oberste  des  letzteren  ansclnniegt 
(was  aber  nicht  immer  der  Fall  ist,  indem  Ein  Wirbel  zwischen  beiden  frei  bleil)en 
kann),  so  Hessen  sich  der  SeuiUphudift  dorsi  und  cercicis  in  Einen  Muskel  con- 
trahiren. 

lieber  die  Uebercinstimmimg  der  Riickenmuskeln  an  verschiedenen  Stellen 
des  Kückens,  handelt  ./.  Miilkr,  vergleichende  Anatomie  der  Myxinoiden.   1.  Theil. 


§.  180.  Kurze  Rückenmuskelii. 

Den  Nachtrab  dieses  zahlreichen  Heeres  von  langen  Rücken- 
niuskcln  bilden  die  kurzen.  Ihre  Bearbeitung  an  der  Leiclii'  ist 
der  mühsamste  Theil  der  Anatomie  der  Rückenmuskeln.  8ie  liegen, 
bedeckt  von  den  langen  Rückenmuskeln,  unmittelbar  auf  den  Wirbeln 
auf,  und  bilden  kurze,  fleischig-sehnige  Muskelkfirper,  welche  ent- 
weder zwischen  je  zwei  Wirbehi  sich  wiederholen,  oder  einen  Wirbel, 
seltener  zwei,  überspringen. 

Der  vielgetheilte  Rückenmuskel,  Musculus  multifidus 
Spinae,  führt  einen  Beinamen,  welchen  einst  auch  die  vielarmige 
Donau  trug:  multifidus  Ister,  bei  Martial.  Er  soll  eigentlich  nur 
als  eine  Succession  vieler  kurzer  und  schiefer  Muskelbündel  auf- 
gefasst  werden,  welche  von  den  Gelenk-  und  Querfortsätzen  unterer 
Wirbel,  zu  den  Dornfortsätzen  oberer  Wirbel  hinziehen.  Die  Ur- 
sprungsstellcn  dieser  zahlreichen  Bündel  sind :  a)  am  Kreuzbeine : 
die.  Cristae  sacrales  Jnteraies,  ß)  an  den  Lendenwirbeln :  die  Processus 


§.  180.  Kurze  Kückenmoskeln.  487 

accessorii  und  obliqui,  7)  au  der  Brust:  die  oberen  Räuder  der  Quer- 
fortöätzc,  3)  am  Halse:  die  Geleukfortsätze  der  vier  unteren  Hals- 
wirbel. Von  jedem  dieser  Punkte  treten  Muskelbündel  ab,  welehe 
theils  zum  naelist  darüber  liegenden  Dornfortsatze,  thoils  zum  zweiten, 
auch  dritten  oberen  Dorne  (bis  zum  zweiten  Halswirbel  hinauf), 
schräge  aufsteigen. 

Jene  tiefgelegenen  Bündel  des  MulUfichis  spinne,  welclie  fast  quer  von  ihren 
Urspmnggpunkten,  zum  unteren  Rand  des  Bogen«  und  zur  Basis  des  Dornfort- 
satzos  des  nächst  darilber  liegenden  Wirbels  »ich  erstrecken,  wurden  von  Theile 
als  Botatorejt  dorsi  besclirieben.  Es  ist  klar,  dass,  je  melir  die  Richtung  eines 
Bündels  sicli  der  queren  nähert*  seine  Zusammenziehung  desto  leichter  eine 
Drehung  des  darüber  liegenden  Wirbels  auf  dem  darunter  liegenden  bewirken, 
und  dass,  je  schiefer  die  Bündel  aufsteigen,  ihre  Wirkung  desto  mehr  auf  ein 
Strecken  der  Wirbelsäule  abzielen  wird. 

Die  Z  wisch  endo  rnmuskeln,  MiiseiiU  interspinales,  finden 
sich,  mit  Ausnahme  des  dritten  bis  zehnten  Brustwirbels,  zwischen 
je  zwei  Dornfortsätzen.  Sie  sind,  wo  sie  vorkommen,  immer  paarig, 
und  werden  durch  die  Zwischendornbänder  von  einander  gehalten. 
An  den  Halswirbeln  lassen  sie  sich,  wegen  der  gabeligen  Spaltung 
der  Dornfortsätze  in  zwei  Höcker,  am  besten  darstellen. 

Die  Zwischen  quer  fortsatzmuskeln,  Musculi  intertransver- 
süHl,  füllen  den  Zwischenraum  zweier  Querfortsätze  aus.  Am  Halse 
treten  sie  am  entwickeltsten  auf,  und  kommen  auf  beiden  Seiten 
doppelt  vor,  als  antict  und  posticl,  indem  sie  an  den  vorderen  und 
hinteren  Schenkeln  der  durchbohrten  Querfortsätze  entspringen  und 
endigen.  An  der  Brust  fehlen  sie  für  die  oberen  Brustwirbel  gänz- 
lich, und  treten  zwischen  den  unteren  nur  einfach  «luf.  Am  Lenden- 
segment der  Wirbelsäule  werden  sie  wieder  doppelt.  Die  vorderen 
liegen  hier  zwischen  je  zwei  Querfortsätzen  (Processus  costarii),  die 
hinteren  zwischen  je  zwei  Processlbus  ohliquis. 

In  einzelnen  Fällen  findet  »ich,  zwischen  der  hinteren  Fläche  des  letzten 
Kreuzwirl)ols  und  dem  letzten  Steissbeinstücke,  ein  paariger  sehniger  Muskel- 
straiig,  als  Wiederholung  des  bei  mehreren  Säugethieren  vorkommenden  Sacra- 
cocct/t/euM  iHMÜciui  a.  Kxteiu<o)'  vocct/t/is. 

Da  jene  Rückenmuskeln,  welche  sich  bis  an  den  Hals  hinauf 
erstrecken  ( Semlsplnalis  et  spinalls  colli,  Mnltißdus)  nicht  über  den 
Dorn  des  Epistropheus  hinausreichen,  somit  nicht  an  das  Hinter- 
haupt treten,  so  wurde  für  den  Raum  zwischen  Epistropheus  und 
Occiput,  eine  eigene  Muskiüatur  nothwendig,  welche  in  die  drei 
hinteren  geraden,  und  zwei  hinteren  schiefen  Kopfmuskeln 
zerfällt. 

Der  grosse  hintere  gerade  Kopfmuskel,  Musculus  rectus 
capitis  posticus  major,  entspringt  vom  Dorn  des  zweiten  Halswirbels, 
überschreitet   den   hinteren   Bogen   des   Atlas,   wird   im    Aufsteigen 


488  §.  IW«  Kaix«  Bückennaskelii. 

breiter,  grenzt  mit  dem  der  anderen  Seite,  und  greift  an  der  Linea 
senticirculaiis  inferior  des  Hinterhauptbeins  an.  Er  entspricht  dem 
Spiiudis  dord  und  coUi.  Drängt  man  die  beiden  Recti  cctpitis  postici 
majores  auseinander,  so  findet  man  zwischen  ihnen  in  der  Tiefe  die 
beiden  kleinen  hinteren  geraden  Kopfmuskeln,  Musculi  recti 
capitis  postici  minores.  Diese,  mehr  sehnigen  als  fleischigen  Muskeln, 
gehen  vom  Tuberculum  posterius  ailantis  zur  selben  Inseiiionsstelle, 
wie  die  grossen.  Beide  strecken  den  Kopf,  und  sind  den  Zwisehen- 
dommuskeln  des  Rückens  analog. 

Der  seitliche  hintere  gerade  ^opfmuskel,  Musculus  rectus 
capitis  posticus  lateralis,  entspringt  von  den  Seitentheilen  des  Atlas, 
und  endet,  gerade  aufsteigend,  hinter  dem  Foramen  jugulare  an  dem 
Processus  jugvlaris  des  Hinterhauptbeins.  Er  lässt  sich  ebensogut 
als  oberster  Intertransversarius  posticus  der  Wirbelsäule  auffassen, 
als  wir  im  Rectus  capitis  anticus  lateralis  (§.  165)  einen  Int&i'trans- 
versarius  anticus  erkannt  haben. 

Der  obere  schiefe  Kopfmuskel,  Musculus  obliquu^s  capitis 
superior  s.  minor,  entsteht  an  der  Spitze  des  Querfortsatzes  des 
Atlas,  und  endigt,  schräge  nach  innen  und  oben  laufend,  an  der 
Linea  semidradaris  inferior  des  Hinterhauptes,  nach  aussen  von  den 
Rectis.  Streckt  den  Kopf,  und  kann  nicht,  wie  Theile  anführt,  als 
eine  Wiederholung  der  Rotatores  dorsi  angesehen  werden,  da  das 
Hinterhauptbein  auf  dem  Atlas  keine  Drehbewegung  ausfuhren 
kann.  Er  entspricht  vielmehr  dem  Semispinaiis  der  Wii'belsäule, 
wobei  natürlich,  wie  bei  den  vorhergehenden  Vergleichungcn,  die 
Protiiherantia  occipitalis  exteima,  mit  ihren  beiden  Lineis  semicircida- 
rSms,  als  ein  Aequivalent  eines  Dornfortsatzes  des  Hintcrhaupt- 
wirbels  angesehen  werden  muss. 

Der  untere  schiefe  Kopfmuskel,  Musculus  obliquus  capitis 
inferior  s,  major,  begiebt  sich  vom  Dornfortsatz  des  fipistropheus, 
schräge  nach  aussen  und  oben  zum  hinteren  Rande  des  Querfort- 
satzes des  Atlas.  Dreht  den  Atlas,  und  somit  auch  den  Kopf,  welcher 
vom  Atlas  getragen  wird,  um  den  Zahnfortsatz  des  Epistrophcus.  Er 
ist  der  eigentliche  Rotator  capitis,  und  lässt  sich  mit  keinem  anderen 
Muskel  des  Rückens  vergleichen. 

Hat  man  diese  zierliclicn  Muskeln  auf  beiden  Seiten  dargestellt,  so  bilden 
die  zwei  rechten  und  linken  Obliqui  zusammen  einen  Rhombus,  in  dessen  senk- 
rechter Diagonale,  die  Kecti  so  aufsteigen,  wie  die  geraden  Portionen  der  beiden 
Ijowji  colli  in  dem  Rhombus  der  schiefen  (§.   165). 


§.  181.  Allgemeine  Betraohtang  der  Form  der  oberen  Extremit&t.  489 


F.  Muskeln  der  oberen  Extremität. 

§.181.  Allgemeine  Betrachtung  der  Form  der  oberen  Extremität 

Von  den  Knochen  der  Schulter  wird  das  Schlüsselbein  an 
seiner  vorderen  Seite  gar  nicht,  und  an  seiner  oberen  nur  theil- 
weise  von  Muskeln  bedeckt,  während  das  Schulterblatt  so  allseitig 
von  Muskeln  eingehüllt  erscheint,  dass  nur  der  Rand  seiner  Spina, 
so  wie  das  Akromion  davon  frei  bleiben.  Es  lassen  sich  deshalb 
die  Clamcula  und  die  Spina  scapulae  durch  die  Haut  hindurch  leicht 
mit  dem  Finger  fühlen,  und  bis  zu  ihrer  Verbindung  am  Akromion 
verfolgen.  Unter  dem  Akromion  folgt  die  durch  den  Oberarmkopf 
und  den  darauf  liegenden  Deltamuskel  bedingte  Wölbung  der  Schulter, 
an  deren  innerer,  dem  Stamme  zugekehrter  Seite,  eine  bei  herab- 
hängendem Arme  tiefe,  bei  aufgehobenem  seichter  werdende  Grube 
liegt  (Axüla  oder  Älaj  bei  den  Anatomen  des  Mittelalters  auch  Ascdla 
und  Subascdla).  Sie  wird  vorn  durch  den  Pectoralis  major  und 
minor,  hinten  durch  den  Latiasimus  dorsi  und  den  Teiles  major,  innen 
durch  die  Seitenwand  des  Thorax,  und  aussen  durch  das  Schulter- 
gelenk begrenzt.  —  Unter  der  Wölbung  des  Schultergelenks  erstreckt 
sich  der  Oberarm,  mehr  weniger  gleichförmig  gerundet,  zum  Ellbogen 
herab,  wo  er  an  seiner  vorderen  Seite  die  seichte  Grube  der  Ell- 
bogenbcugc,  an  seiner  hinteren  den  Vorsprung  des  Olekranon,  aussen 
und  innen  die  leicht  fühlbaren  Condyli  erkennen  lässt.  —  Der 
Vorderarm,  welcher  am  Ellbogen  am  dicksten  und  fleischigsten  ist, 
verschmächtigt  sich  gegen  die  Handwurzel  zu,  und  verliert  seine 
Rundung,  indem  seine  Dicke  mehr  abnimmt,  als  seine  Breite.  Er  lässt 
die  Ulna  ihrer  ganzen  Länge  nach,  den  Radius  nur  an  seiner 
unteren  Hälfte  durch  die  Haut  durch  fiihlen,  und  geht  mittelst  der 
Handwurzel  in  die  Flachhand  mit  ihren  bekannten  Eigenthümlich- 
keitcn  über. 

Die  Hautbedeckung  der  oberen  Extremität  liegt  auf  dem 
Schlüsselbein  nur  lose  auf,  hängt  an  das  Akromion  fester  an,  und 
lässt  sich  von  ihm  nicht  als  Falte  aufheben.  Einem  für  die  oberen 
und  unteren  Gliedmassen  geltenden  Gesetze  zufolge,  ist  die  Haut 
an  der  Streckseite  sämmtlicher  Gelenke  derber  und  dicker,  an  den 
Beugestellcn  um  so  feiner  und  zarter,  je  tiefer  gehöhlt  diese  sind. 
Sie  wird  somit  in  der  Achselgrube  feiner,  als  im  Ellbogenbug,  und 
in  diesem  wieder  dünner,  als  an  der  Beugeseite  der  Handwurzel  sein. 
An  letzterer  Stelle  fiillt  eine,  den  Vorderarm  von  der  Hand  tren- 
nende, nach  unten  convexe  Hautfurche  auf,  welche  bei  der  Beugung 
der  Hand  tiefer  wird,  und  selbst  bei  grösster  Streckung   der  Hand 


490  §.  181/  Allgemeine  Betrachtung  der  Fonn  der  oberen  Extremität. 

nie  ganz  versehwindet.  Bei  neugeborenen  Kindern,  so  wie  an  fett- 
reichen oder  hydropischen  Armen,  erscheint  die  Furche  besonders 
ausgeprägt,  und  die  Carpalgegend  bekommt  das  Ansehen,  als  wenn 
sie  mit  einem  Faden  umschnürt  wäre.  Diese  Furche,  welche  bei 
den  Chiromanten  liasceta  heisst,  entspricht  genau  der  Artieulation 
zwischen  Vorderarm  und  erster  Handwurzelreihe.  Unter  ihr  fühlt 
man  die  harten  Vorsprünge  der  Eminhitiae  carpl,  auf  welche  die 
muskulösen  Wülste  des  äusseren  und  inneren  Handballens  folgen. 
Diese  Wülste  bilden  beim  Hohlmachen  der  Hand  die  seitlichen  Be- 
grenzungen einer  seichten  Vertiefung,  in  welcher  mehrere,  auch  bei 
flach  gemachter  Hand  fortbestehende  Furchen  auffallen.  Diese 
Furchen  verkünden  dem  Aberglauben  das  Schicksal  des  Menschen; 
dem  Anatomen  aber,  sind  sie  ihrer  constanten  Beziehung  zu  gewissen 
tief  liegenden  Gebilden  der  Hohlhand  wegen  kennenswerth.  Sie 
entstehen  keineswegs  durch  Knickung  der  Haut,  in  Folge  des  öfteren 
Hohlmachens  der  Hand,  denn  sie  sind  schon  im  Embryoleben  mit 
derselben  Schärfe  gezeichnet,  wie  im  Erwachsenen.  Die  den  Fingern 
am  nächsten  gelegene  Hohlhandfurche  (Linea  mensalis  der  Chiro- 
manten), geht  zwischen  Zeige-  und  Mittelfinger  aus,  und  endet  am 
Ulnarrande  der  Hohlhand.  Sie  entspricht  der  Articulatio  metacarpo- 
phalangea  der  drei  letzten  Finger.  Die  zweite  (Linea  vitalis)  ent- 
steht zwischen  Daumen  und  Zeigefinger,  und  zieht  durch  die  Hohl- 
hand nach  aufwärts,  um  in  der  früher  erwähnten  Grenzfurche 
zwischen  Vorderarm  und  Hand  (Rasceta"^)  der  Chiromanten)  zu 
endigen.  Sie  umkreist  den  Ursprung  des  Zuziehers  des  Daumens, 
und  fuhrt,  wenn  man  an  ihrem  oberen  Ende  einschneidet,  auf  den 
Mediannerv.  Die  erste  und  zweite  Furche  kehren  sich  wie  ein 
schiefes  )(  ihre  convexen  Seiten  zu,  welche  entweder  durch  zwei 
kleinere,  im  Winkel  zusammenlaufende  Furchen  vereinigt  werden, 
und  die  Gestalt  eines  M  annehmen,  oder  unvereinigt  bleiben,  und 
eine  dritte  Furche  zwischen  sich  aufnehmen,  welche  mit  der  zweiten 
gemeinschaftlichen  Ursprung  hat,  und  nicht  ganz  bis  zum  Ulnar- 
rand  der  Hand  verläuft.  Wenn  man  in  ihr  einschneidet,  kommt 
man  auf  die  Ursprünge  der  Musculi  lumbricales. 

Die  Dorsalseite  der  Hand  lässt  bei  dürren  Händen,  die  Sehnen 
sämmtlicher  Streckmuskeln  der  Finger  absehen.  Spannen  sie  sich 
an,  so  sinken  Gruben  zwischen  ihnen  ein.  Bei  schönen  Händen 
muss  der  Ulnarrand  gerade,  nicht  durch  ein  vorspringendes  Capi- 
ttdum  08818  nietacarpi  digiti  minimi  höckerig  aufgetrieben  sein;  die 
massig  konisch  zulaufenden  Finger  müssen,  wenn  sie  aneinander 
gelegt  werden,  mit  ihren  Spitzen  etwas  convergiren ;  man  darf  weder 


*)  Bei  den  Comraentatoren  des  Avicenna  wird  Uoitceta   oder  Uasneia    (auch 
Boneta)  fttr  die  Knochen  der  Hand-  und  Fusswurzel  gebraucht. 


§.  188.  Muskeln  au  der  Schalter.  491 

Muskelsehiicn ,  noch  blaue  Venen  am  Handrücken  sehen,  und  an 
jeder  Articulatio  metctcai'po-plialangea  soll  bei  Streckung  der  Finger 
ein  kleines  Grübchen  einsinken.  —  Derlei  Angaben  interessiren 
mehr  den  Maler,  als  den  Anatomen. 

Das  subcutane  Bindegewebe  ist  an  der  vorderen  und  hinteren 
Gegend  der  Schulter  gleich  lax,  und  adhärirt  fester  an  die  Haut, 
als  an  die  unter  ihm  liegende  Fascie.  Es  kann  sich  ziemlich  reich- 
lich mit  Fettcysten  füllen,  bleibt  jedoch  über  den  Knochenvor- 
sprüngen auch  bei  grosser  Wohlbeleibtheit  fettarm.  Am  Akromion 
nimmt  es  zuweilen  eine  subcutane  Bursa  mucosa  auf,  welche  nach 
meinen  Erfahrungen  bei  Individuen,  welche  häutig  Lasten  auf  den 
Schultern,  oder  mittelst  breiter  Schulterbänder  auf  dem  Rücken 
tragen,  nie  fehlt.  Am  Oberarme  lagert  es  sich  bei  Kindern  und 
Weibern  in  den  Furchen  zwischen  den  Muskeln  copiöser  ab,  ujid 
rundet  dadurch  die  Form  der  Gliedmasse.  Schwindet  es  durch 
harte  Arbeit  oder  colliquative  Krankheiten,  so  treten  die  Muskel- 
stränge deutlicher  hervor,  was  besonders  vom  zweiköpfigen  Arm- 
muskel gilt,  an  dessen  äusserer  und  innerer  Seite  ein  longitudinaler 
Eindinick,  der  Sulcus  hlcipitalis  extermus  et  inUi'nus,  entsteht.  In  der 
Achsel  verschmilzt  es  mit  der  Fascie,  und  bleibt  fettarm,  nimmt 
dagegen  Lymphdrüsen  auf.  In  seinen  tieferen  Schichten  verlaufen 
die  subcutanen  Gelasse  und  Nerven.  Von  diesen  sind  besonders  die 
Venen  bemerkenswerth,  welche  bei  ungewohnter  Anstrengung,  und 
bei  Athmungshindernissen  turgesciren,  als  blaue  Wülste  ihren  Lauf 
durch  die  Haut  verrathen,  und  deshalb  allgemein  in  der  Ellbogen- 
beuge zur  Vornahme  der  Aderlässe  benützt  werden.  Am  Olekranon 
bleibt  das  subcutane  Bindegewebe  fettlos,  und  zeigt  daselbst  einen  sub- 
cutanen Schleimbeutel,  welcher,  wenn  er  durch  Exsudat  anschwillt, 
eine  äusserlich  sichtbare  Geschwulst  bildet,  die  unter  den  Arbeitern 
in  den  englischen  Kohlengruben  häutig  vorkommt,  und  dort  unter 
dem  Namen  the  ininers  elhoio  bekannt  ist.  Gegen  den  Carpus  ver- 
mindert sich  der  Fettreichthum  des  subcutanen  Bindegewebes,  und 
ist  am  Kücken  der  Hand  immer  geringer,  als  in  der  Hohlhand.  — 
Unter  dem  subcutanen  Bindegewebe  folgt  eine  dünne,  fettlose  Fascia 
superficialis,  und  auf  diese  die  eigentliche  Fascie  der  oberen  Extre- 
mität, deren  Untersuchung  die  Kenntniss  der  Muskeln  voraussetzt, 
und  deshalb  später  folgt. 


§.  182.  Muskeln  an  der  Schulter. 

Um    die   Muskeln   der   oberen   Extremität   mit  Erfolg   an  der 
Leiche  zu  studiren,  muss  man  sich  die  Angaben  gegenwärtig  halten^ 


492  §.  189.  Maskeln  ao  der  Schalter. 

welche    im    §.  186    über    die    Fascie    der    oberen    Extremität    ent- 
halten sind. 

Die  Muskeln^  welche  die  fleischigen  Lager  um  und  auf  der 
Schulter  bilden,  dienen  entweder  dazu,  das  Schulterblatt,  oder  den 
Oberarm,  ja  selbst  den  Vorderarm,  zu  bewegen.  Erstere  (Cuculla^is, 
Bhomboideus,  SeiTatiis  anticus  major,  und  Pectoralis  minor)  wurden, 
da  sie  anderen,  bereits  schon  abgehandelten  Gegenden  angehören, 
wie  auch  der  LatUsimus  dorsi  und  Pectoralis  major,  schon  früher 
geschildert. 

Das  Schulterblatt,  welches  mir  durch  die  sehr  kleine  Gelenkfläche  am 
Akromion,  mit  dem  Schlüsselbeine,  und  durch  dieses  mit  dem  Bnistkasten  in  Ver- 
bindung steht,  bietet  die  ganze  Ausdelinimg  seiner  Flächen,  seiner  Fortsätze,  und 
seinen  äusseren  Rand,  den  Muskeln  des  Armes  zum  Urspninge  dar.  Seine  grosse 
Verschiebbarkeit  verändert  vielfältig  den  Standpunkt  des  Schultergelenkes,  und 
begünstigt  wesentlich  die  freie  Beweglichkeit  der  oberen  Extremität 

Der  Deltamuskel,  Musculus  ddtoides  (A'^^^^^O;  ^.uch  AttoUens 
humerum,  deckt  als  dreieckige,  im  Allgemeinen  aus  zahlreichen, 
nach  unten  convergirenden  F'leischbündeln  bestehende  Muskelmasse, 
den  kugeligen  Vorsprung  des  Schultergelenks.  Er  entspringt  mit 
breiter  Basis  vom  vorderen  concaven  Rande  der  Extremitas  acro- 
mialis  des  Schlüsselbeins  als  Portio  clamcularis,  vom  äusseren  Rande 
der  Schulterhöhe  als  Portio  aa'omialis,  und  von  dem  grösseren 
Theile  der  Schulterblattgräte  als  Portio  scapvlaris,  also  genau  an 
denselben  Punkten,  an  welchen  der  CucuUaris  endigte.  Indem  seine 
Bündel  in  etwas  verworrener  Weise  zu  einer  kurzen  aber  starken 
Endsehne  zusammenlaufen,  inserirt  sich  diese  an  der  Rauhigkeit  in 
der  Mitte  der  äusseren  Fläche  des  Oberarmknochens.  Seine  Schlüssel- 
beinportion ist  von  der  Akromialportion  immer  durch  eine  Spalte 
getrennt.  Selten  existirt  eine  solche  auch  zwischen  der  Akromial- 
und  Grätenportion.  Zwischen  ihm  und  der  Kapsel  des  Schulter- 
gelenks liegt,  sich  tief  unter  das  Akromion  hinein  erstreckend,  ein 
ansehnlicher  Schleimbeutel,  welcher  zuweilen  doppelt,  selten  selbst 
mehrfacherig  wird.  Der  Deltamuskel  hebt  den  Arm.  Dass  hiebei 
seine  mittlere  Portion,  welche  vom  Akromion  entspringt,  besonders 
thätig  intervenirt,  kann  man  an  der  eigenen  Schulter  mittelst  der 
aufgelegten  Hand  deutlich  fühlen. 

Zuweilen  schliesst  sich  an  den  hinteren  Rand  des  Deltoides  ein  von  der, 
den  Infraspinalus  deckenden  Fascie  entspringendes  Fleischbündel  an.  Theile 
(in  S'ömmerriwfa  Muskellehre,  pag.  230)  beobachtete  einen  zweiten  tiefliegenden, 
anderthalb  Zoll  breiten  Armheber,  welcher  von  der  Kapsel  des  Schultergelcnks 
entsprang.  Ich  selbst  sah  mehrmals  einen  vom  Akromion  entstehenden  Spanner 
der  Schulterkapsel,  als  ein  vom  Fleische  des  Deltoides  losgerissenes,  und  selbst- 
ständig gewordenes  Bündelchen  auftreten.  —  Bei  jenen  Thieren,  welche  kein 
Schlüsselbein  besitzen,  gehen  die  Clavicularportionen  des  Deltoides  und  Cucul- 
laris  unmittelbar  in  einander  über. 


§.  18S.  Muskeln  au  der  Schulter.  491 

Muskelschiien ,  noch  blaue  Venen  am  Handrücken  sehen,  und  an 
jeder  Artkulatio  inetacaiyo-plialangea  soll  bei  Streckung  der  Finger 
ein  kleines  Grübchen  einsinken.  —  Derlei  Angaben  interessiren 
mehr  den  Maler,  als  den  Anatomen. 

Das  subcutane  Bindegewebe  ist  an  der  vorderen  und  hinteren 
Gegend  der  Schulter  gleich  lax,  und  adhärirt  fester  an  die  Haut, 
als  an  die  unter  ihm  liegende  Fascie.  Es  kann  sich  ziemlich  reich- 
lich mit  Fettcystcn  füllen,  bleibt  jedoch  über  den  Knochenvor- 
sprüngen auch  bei  grosser  Wohlbeleibtheit  fettarm.  Am  Akromion 
nimmt  es  zuweilen  eine  subcutane  Bursa  mucosa  auf,  welche  nach 
meinen  Erfahrungen  bei  Individuen,  welche  häufig  Lasten  auf  den 
Schultern,  oder  mittelst  breiter  Schulterbänder  auf  dem  Rücken 
tragen,  nie  fehlt.  Am  Oberarme  lagert  es  sich  bei  Kindern  und 
Weibern  in  den  Furchen  zwischen  den  Muskeln  copiöser  ab,  imd 
rimdet  dadurch  die  Form  der  Gliedmasse.  Schwindet  es  durch 
harte  Arbeit  oder  colliquative  Krankheiten,  so  treten  die  Muskel- 
stränge deutlicher  hervor,  was  besonders  vom  zweiköpfigen  Arm- 
muskel gilt,  an  dessen  äusserer  und  innerer  Seite  ein  longitudinaler 
Eindinick,  der  Sulcus  hicipitalis  exteiiius  et  intetmtbs,  entsteht.  In  der 
Achsel  verschmilzt  es  mit  der  Fascie,  und  bleibt  fettarm,  nimmt 
dagegen  Lymphdrüsen  auf.  In  seinen  tieferen  Schichten  verlaufen 
die  subcutanen  Gefässe  und  Nerven.  Von  diesen  sind  besonders  die 
Venen  bemerkenswerth,  welche  bei  ungewohnter  Anstrengung,  imd 
bei  Athmungshindernissen  turgesciren,  als  blaue  Wülste  ihren  Lauf 
durch  die  Haut  verrathen,  und  deshalb  allgemein  in  der  Ellbogen- 
beuge zur  Vornahme  der  Aderlässe  benützt  werden.  Am  Olekranon 
bleibt  das  subcutane  Bindegewebe  fettlos,  und  zeigt  daselbst  einen  sub- 
cutanen Sehleimbeutel,  welcher,  wenn  er  durch  Exsudat  anschwillt, 
eine  äusserlich  sichtbare  Geschwulst  bildet,  die  unter  den  Arbeitern 
in  den  englischen  Kohlengruben  häuHg  vorkommt,  und  dort  unter 
dem  Namen  the  mtner's  elbow  bekannt  ist.  Gegen  den  Carpus  ver- 
mindert sich  der  Fcttreichthum  des  subcutanen  Bindegewebes,  und 
ist  am  Kücken  der  Hand  immer  geringer,  als  in  der  Hohlhand.  — 
Unter  dem  subcutanen  Bindegewebe  folgt  eine  dünne,  fettlose  Fascia 
sxiperfidalls,  und  auf  diese  die  eigentliche  Fascie  der  oberen  Extre- 
mität, deren  Untersuchung  die  Kenntniss  der  Muskeln  voraussetzt, 
und  deshalb  später  folgt. 


§.  182.  Muskeln  an  der  Schulter. 

Um    di(i    ^luskeln    der   oberen    Extremität   mit  Erfolg   an  der 
Leiche  zu  studiren,  nniss  man  sich  die  Angaben  gegenwärtig  halten, 


492  S- 1^'  Muskeln  ao  d«r  Schalter. 

welche    im    §.  186    über    die    Fascie    der    oberen    Extremität    ent- 
halten sind. 

Die  Muskeln,  welche  die  fleischigen  Lager  um  und  auf  der 
Schulter  bilden,  dienen  entweder  dazu,  das  Schulterblatt,  oder  den 
Oberarm,  ja  selbst  den  Vorderarm,  zu  bewegen.  Erstere  (Cncidlaiis, 
Rhomboideus,  Serratm  anticus  major,  und  Pectoi'alis  minor)  wurden, 
da  sie  anderen,  bereits  schon  abgehandelten  Gegenden  angehören, 
wie  auch  der  LatUsimus  dorsi  und  Pectoralis  majoi*,  schon  früher 
geschildert. 

Das  Schulterblatt,  welches  nur  durch  die  sehr  kleine  Gelenkfläche  am 
Akromion,  mit  dem  Schlüsselbeine,  und  durch  dieses  mit  dem  Brustkasten  in  Ver- 
bindtmg  steht,  bietet  die  ganze  Ausdehnung  seiner  Flächen,  seiner  Fortsätze,  und 
seinen  äusseren  Rand,  den  Muskeln  des  Armes  zum  Urspnmge  dar.  Seine  grosse 
Verschiebbarkeit  verändert  vielfaltig  den  Standpunkt  des  Schultergelenkes,  und 
beg^stigt  wesentlich  die  freie  Beweglichkeit  der  oberen  Extremität. 

Der  Deltamuskel,  Musculus  ddtoides  (A"^^^^<0>  ^^^1^  AttoUens 
humei-um,  deckt  als  dreieckige,  im  Allgemeinen  aus  zahlreichen, 
nach  unten  convergirenden  Fleischbündeln  bestehende  Muskelmasse, 
den  kugeligen  Vorsprung  des  Schultergelenks.  Er  entspringt  mit 
breiter  Basis  vom  vorderen  concaven  Rande  der  Extremitas  acro- 
micUis  des  Schlüsselbeins  als  Portio  davicularis,  vom  äusseren  Rande 
der  Schulterhöhe  als  Portio  acromialis,  und  von  dem  grösseren 
Theile  der  Schulterblattgräte  als  Portio  scaptUaris,  also  genau  an 
denselben  Punkten,  an  welchen  der  Cucullaris  endigte.  Indem  seine 
Bündel  in  etwas  verworrener  Weise  zu  einer  kurzen  aber  starken 
Endsehne  zusammenlaufen,  inserirt  sich  diese  an  der  Rauhigkeit  in 
der  Mitte  der  äusseren  Fläche  des  Oberarmknochens.  Seine  Schlüssel- 
beinportion ist  von  der  Akromialportion  immer  durch  eine  Spalte 
getrennt.  Selten  cxistirt  eine  solche  auch  zwischen  der  Akromial- 
und  Grätenportion.  Zwischen  ihm  und  der  Kapsel  des  Öchultcr- 
gelenks  liegt,  sich  tief  unter  das  Akromion  hinein  erstreckend,  ein 
ansehnlicher  Schleimbcutel,  welcher  zuweilen  doppelt,  selten  selbst 
mehrfacherig  wird.  Der  Deltamuskel  hebt  den  Arm.  Dass  hiebei 
seine  mittlere  Portion,  welche  vom  Akromion  entspringt,  besonders 
thätig  intervenirt,  kann  man  an  der  eigenen  Schulter  mittelst  der 
aufgelegten  Hand  deutlich  fühlen. 

Zuweilen  schliesst  sich  an  den  hinteren  Rand  des  Deltoides  ein  von  der, 
den  Infraspinattts  deckenden  Fascie  entspringendes  Fleischbündcl  an.  Theile 
(in  Sönwierring'a  Muskellchre,  pag.  230)  beobachtete  einen  zweiten  tiefliegenden, 
anderthalb  Zoll  breiten  Armheber,  welcher  von  der  Kapsel  des  Scliultergelenks 
entsprang.  Ich  selbst  sah  mehrmals  einen  vom  Akromion  entstehenden  Spanner 
der  Schulterkapsel,  als  ein  vom  Fleische  des  Deltoides  losgerissenes,  und  selbst- 
ständig gewordenes  Bttndelchen  auftreten.  —  Bei  jenen  Thieren,  welche  kein 
Schlüsselbein  besitzen,  gehen  die  Clavicularportionen  des  Deltoides  und  Cucul- 
laris unmittelbar  in  einander  fiber. 


§.  182.  Hnskeln  an  der  Schulter.  493 

Der  Obcrgrätenmuskel,  Mvsadus  supi'uspinatus ,  wird  von 
der  Grätcninsertion  des  Cucullaris  bedeckt,  liegt  in  der  Fossa  supra- 
sptnata,  von  welcher  er  entspringt,  und  geht  unter  dem  Akromion 
zum  Tuberculum  niaju^  des  Oberarmknochens,  an  dessen  obersten 
Muskeleindruck  er  sich  ansetzt.  Hebt  den  Arm,  hilft  ihn  nach 
aussen  rollen,  und  schützt  gleichzeitig  die  Kapsel  durch  Spannung 
vor  möglicher  Einklemmung. 

Der  Untergrätenmuskel,  Musculus  infraspinatus,  entspringt, 
wie  sein  Name  ausdrückt,  von  der  Foasa  infraspinata,  wird  vom 
Grätenursprung  des  Deltoides  zum  Theil  bedeckt,  und  geht  über 
die  hintere  Seite  des  Schultergelenks  (Schleimbeutel)  nach  aus-  und 
aufwärts  zum  mittleren  Eindruck  des  Tuberculum  majus.  Rollt  den 
Arm  nach  aussen,  und  zieht  ihn,  wenn  er  aufgehoben  war,    nieder. 

Der  kleine  runde  Armmuskel,  Musculus  teres  minor,  ent- 
springt vom  oberen  Tlieile  des  äusseren  Schulterblattrandes,  schmiegt 
sich  an  den  unteren  Rand  des  Infraspinatus  an,  mit  welchem  er 
sehr  oft  verschmilzt,  und  endigt  am  unteren  Eindruck  des  Tuber- 
culum majus.     Wirkt  wie  der  Infraspinatus. 

Da  das  Tufjerculnm  majua  den  drei  Answärtsrollern  de»  Oberarms  zum  An- 
griffspunkt dient,  könnte  es  als  Tnhevctdum  aupinatorium,  —  und  das  Tuberculum 
mimuij  welches  als  Hebelarm  den  Einwärtsrollern  gehört,  als  Tufterculum  prona- 
lorium  bezeichnet  werden.  Die  zur  Längenaxe  des  Oberarmbeins  quere  Richtung 
der  Rollmuskeln,  und  die  Höhe  der  Tubercula,  sind  für  die  leichte  Ausführbarkeit 
der  Rollbewegungen  des  Armes  günstige  Momente. 

Der  grosse  runde  Arrarauskel,  Musculus  teres  major,  welcher 
auch  als  Scapularursprung  des  Latlssimus  dorsi  genommen  werden 
könnte,  entsteht  tiefer  als  der  vorige,  bis  zum  unteren  Winkel  des 
Schulterblattes  herab,  läuft  nach  auf-  und  vorwärts,  lässt  seine  platte 
Sehne  sich  zwar  nicht  mit  der  breiten  Sehne  des  Latlssimus  dorsi 
vereinigen ,  aber  doch  genau  an  sie  anlegen  (ein  Schleimbeutel 
zwischen  beiden),  und  befestigt  sich,  wie  diese,  an  der  /Spina  tuh&r- 
ctdi  minoris.  Zieht  den  Arm  an  den  Stamm  und  etwas  rückwäi^ts, 
dreht  ihn  zugleich  nach  innen. 

Der  gprosse  und  kleine  runde  Armmuskel  sind  durch  eine  Spalte  getrennt, 
durch  welche  der  lange  Kopf  des  Triceps  tritt. 

Der  Untorschulterblattmuskel,  Musculus  subscapuiaris, 
nimmt  die  concave  vordere  Fläche  des  Schulterblattes  ein.  So  lange 
die  Extremität  noch  mit  dem  Stamme  zusammenhängt,  ist  dieser 
Muskel  sehr  schwer  zugänglich.  Er  befindet  sich  wie  versenkt 
zwischen  Schulterblatt  und  Brustkasten  (daher  wohl  der  alte  Name 
Musculus  immsrsus  bei  Riolan).  Er  steht  mit  dem  auf  der  Seiten- 
wand des  Brustkastens  aufliegenden  Musculus  seiTatus  anticus  major 
in  Flächenberührung,  von  welchem  er  durch  die  Fasda  svbscapularisj 
und  sehr  laxes,  ärmliches  Bindegewebe  getrennt  wird.  Er  entspringt 


494  §.  183.  Maskeln  am  Oberanne. 

mit  spitzigen  sehnigen  Fascikeln  von  den  erhabenen  Leisten  an  der 
vorderen  Schiilterblattfläche,  und  mit  breiten  fleischigen  Bündeln 
von  den  Feldern  zwischen  den  Leisten.  Beide  Sorten  von  Bündeln 
stecken  zwischen  einander,  drängen  sich  im  Laufe  nach  auswärts 
dichter  zusammen,  und  heften  sich  an  eine  breite  Sehne,  welche  an 
das  Tuberculum  minus  und  die  von  ihm  herabsteigende  Spina  tritt. 
Rollt  den  Arm  nach  innen.  Zwischen  seiner  Sehne,  dem  Halse  der 
Scapula,  und  der  Basis  des  Procesms  coracoidetis,  liegt  ein  grosser 
Schleimbeutel,  welcher  mit  der  Höhle  des  Schultergelenks  communi- 
cirt,  und  eine  Ausstülpung  seiner  Synovialauskleidung  ist. 

Das  äusserste  Bündel  des  Subscaptdaris,  bleibt  bis  zu  seiner  Insertion  an 
der  Spina  tuherculi  minoris  fleischig,  und  wurde  von  G  ruber  als  SuhacapularU 
minor  aufgefasst,  welcher  sich,  bezüglich  seiner  anatomischen  Selbstständigkeit, 
zum  eigentlichen  Snfjscapulariff  so  verhält,  wie  der  Ter&f  minor  zum  Infraspinatns. 
Hierüber,  und  über  zahlreiche  andere  AnomaUen  der  Schultermuskeln,  handelt 
W.  Gruber,  die  Musadi  suhncaimlarea  und  die  neuen  Schultermuskeln,  Petersburg, 
1857.  —  Henke  sucht  eine  besondere  Action  der  hier  abgehandelten  Muskeln 
darin,  dass  sie,  über  die  Schultergelenkskapsel  wegziehend,  der  möglichen  Ein- 
knickung  der  Kapsel  durch  den  äusseren  Luftdruck  entgegenwirken,  und  dadurch 
den  Contact  der  Knochenfläclien  im  Schultergelenk  aufrecht  erhalten. 


§.183.  Muskeln  am  Oberarme. 

Es  finden  sich  am  Oberarme,  an  seiner  vorderen  und  hinteren 
Seite,  Längenmuskeln  vor,  welche  entweder  an  ihm  entspringen,  wie 
der  Brachialts  intetmns,  imd  der  mittlere  und  kurze  Kopf  des  Triceps, 
oder  an  ihm  endigen,  wie  der  Coraco-brachialis,  oder,  von  der  Schulter 
kommend,  blos  über  ihn  weglaufen,  um  zum  Vorderarme  zu  gelangen, 
wie  der  Biceps,  und  der  lange  Kopf  des  Triceps. 

A.  Muskeln  an  der  vorderen  Gegend  des  Oberarms. 

Der  zweiköpfige  Armmuskel,  Musculus  biceps  brachii,  liegt 
an  der  vorderen  inneren  Seite  des  Oberarms.  Er  entsteht  mit  zwei 
sehnigen  Köpfen  vom  Schulterblatte,  und  endigt  an  der  Tuberositas 
radii.  Sein  kurzer  Kopf,  der  zugleich  der  schwächere  ist,  Caput 
breve  s.  Musculus  coraco-radialis,  entspringt,  mit  dem  Coraco-braddali^ 
verwachsen,  vom  Processus  coracoideus.  Sein  langer  Kopf,  Caput 
longum  s.  Musculus  gleiio-radialis ,  kommt  vom  oberen  Ende  der 
Gelenkfläche  des  Schulterblattes  her,  wo  er  eine  plattrundliche  Sehne 
bildet,  welche  innerhalb  der  Gelenkskapsel  sich  an'  den  Oberarm- 
kopf genau  anschmiegt,  in  der  Rinne  zwischen  den  beiden  Tuber- 
cidis  des  Oberarms  die  Gelenkhöhle  verlässt,  und  noch  eine  Strecke 
weit  ausserhalb  der  Kapsel  durch  einen  scheidenartigen  Foi-tsatz  der 


§.  183.  Mnskoln  um  Oberarme.  495 

Synovialhaut  des  Schultergelenks  umhüllt  wh-d.  Beide  Köpfe  legen 
sich  in  der  Mitte  des  Oberarms  zu  einem  gemeinschaftlichen  Muskel- 
bauch aneinander,  welcher  über  dem  Ellbogengelenke  sich  gegen 
seine  starke,  rundliche  Sehne  scharf  absetzt.  Diese  inserirt  sich 
in  der  Tiefe  der  Ellbogenbeuge  an  die  Tuherositas  radii  (Schleim- 
beutel). Von  ihrem  inneren  Rande  geht,  bevor  sie  in  die  Beuge  des 
Ellbogens  tritt,  ein  breites,  aponeurotisches  Fascikel,  der  Lacertits 
fibrosus,  schräg  nach  innen  ab,  um  die  fibröse  Scheide  des  Vorder- 
arms zu  verstärken.  Der  iMcertus  läuft  brückenartig  über  die  Ell- 
bogengrube  hinweg.  —  Der  Biceps  dreht  im  ersten  Grade  seiner 
Wirkung  den  pronirten  Radius  nach  auswärts,  und  beugt  hierauf 
den  ganzen  Vorderarm. 

Eine  oftmals  vorkommende  Abweichung  des  Muskelb  liegt  in  der  Gegen- 
wart eines  dritten  Kopfes,  viel  schwächer  als  die  beiden  normalen,  und  von  der 
Mitte  der  inneren  Fläche  des  Oberarms,  über  dem  Brachialis  inteimu^,  entstellend. 
Dieser  dritte  Kopf  ist,  durch  Ursprung  und  Richtung  seiner  Fasern,  dem  Brochialis 
iiüeimuü  so  nahe  verwandt,  dass  ich  ihn  für  ein  von  diesem  Muskel  losgerissenes 
und  dem  Biceps  zugetheiltes  Muskelbündel  halte,  was  dadurch  bestätigt  wird,  dass 
der  Brachialis  inteinius  immer  schwächer,  als  gewöhnlich  erscheint,  wenn  ein 
dritter  Kopf  des  Biceps  vorkommt.  Die  gleiche,  auf  Beugung  des  Vorderarms 
berechnete  Bestimmung  des  Biceps  und  Brachialis  internus,  erlaubt  ihnen  diesen 
Austausch  ihrer  Fleischbündel.  Ich  habe  zugleich  gezeigt  (Oest.  Zeitschrift  für 
prakt.  Heilkunde,  1859,  Nr.  28),  dass  das  Vorkommen  eines  dritten  Bicepskopfes 
durch  jene  Verlaufsanomalie  des  Nermis  ciUaiieus  extermts  bedungen  wird,  bei 
welcher  sich  dieser  Nerv,  statt  zwischen  Biceps  und  Brachialis  internus  durch- 
zugehen, in  den  letzteren  einsenkt,  um  gleich  wieder  aus  ihm  aufzutauchen,  wo- 
durch eine  Summe  Fasern  dieses  Muskels  von  den  übrigen  abgehoben,  und  sofort 
dem  Biceps  einverleibt  wird.  —  In  seltenen  Fällen  vermehrt  »ich  die  Zahl  der 
Köpfe  sogar  bis  auf  fünf  (Pietsch^  in  Boux  Journal  de  med.  T.  31.  pag.  245). 
Ich  sah  den  langen  Kopf  gänzlich  fehlen,  und  zweimal  durch  eine  Sehnenschnnr, 
welche  von  der  Kapsel  des  Scliultergelenks  entsprang,  ersetzt  werden. 

Im  Zustande  der  Contraction  bildet  der  Biceps  einen  prallen  Längenvor- 
sprung  (Eviinentia  bicipUalis),  an  dessen  Rändern  der  Sulcus  bicipitaUs  intemtts  et 
externus  herabläuft.  In  der  Mitte  des  ersteren  schneidet  man  ein,  um  die  Arteria 
brachialis  zur  Unterbindung  aufzufinden.  Man  trifft  zuerst  auf  die  Vena  basilica, 
unter  ihr  auf  die  Fascia  brachii,  nach  deren  Spaltung  der  Nervus  medianus  zum 
Vorschein  kommt.  Unter  diesem  Nerv  liegt  die  Arteria  brachialis,  zwischen  den 
beiden  Venae  brachiales.  —  Im  Sulcus  bicipitalis  externus,  welcher  sich  nach  oben 
zwisclien  Deltoides  und  Pectoralis  major  fortsetzt,  triflft  man  ausserhalb  der  Fasele 
die  Vena  cephalica,  und  in  der  unteren  Hälfte  des  Sulcus,  den  Nervus  cutaneus 
externus,  innerhalb  der  Fascie  gelegen.  —  Unter  dem  Lacertus  fibrosus  liegt  die 
Arteria  brachialis,  und  einwärts  von  ihr  der  Nei'vus  medianus;  —  auf  demselben 
befindet  sich  die  Vena  mediana  basilica,  welche  hier  von  den  Aesten  des  mittleren 
Hautnerven  gekreuzt  wird,  und  da  sie  zur  Vornahme  der  Aderlässe  gewählt  wird, 
dieser  gefährlichen  Nachbarschaft  wegen,  mit  besonderer  Vorsicht  geöffnet  werden 
boU.  —  Die  alten  Anatomen  nannten  den  Biceps  Pisciadus,  und  bei  italienischen 
Anatomen  liest  man  heut  zu  Tage  noch  öfters  Pescetto. 

Der   Rabenarmmuskel,    Musculus   coraco-brctchicdis ,    hat   mit 
dem   kurzen   Kopfe   des   Biceps   gleichen    Ursprung,   vom  Processus 


496  §.  183.  Hnskeln  am  Oboranne. 

coracaideus,  und  endigt  in  der  Mitte  des  Oberarmknochens,  am  unte- 
ren Ende  der  Spina  tvbercxdi  minoris.  Er  wird  vom  Nervus  cutaneus 
extemvs  durchbohrt,  und  heisst  deshalb  auch  Musculus  perforatus 
CasseriL  Nur  selten  fehlt  diese  Perforation.  Er  zieht  den  Arm  nach 
innen  und  vorn.  Man  überzeugt  sich  bei  sorgfiiltiger  Präparation  des 
Muskels,  dass  er  einen  spannenden  Einfluss  auf  das  später  zu  er- 
wähnende Ligamentum  intei*musculare  intemum  ausübt  (§.   186). 

Die  Dnrchbohrnng  des  Coraco-hrachiali»  durch  den  Nervu/t  citianeu^  extemus 
disponirt  zu  seinem  Doppeltwerden,  wie  bei  den  Affen.  —  He  nie  lÄsst  den  Muskel 
an  einem  Bandstreifen  endigen,  welcher  vom  T^iherctilnm  intemum  zur  Mitte  der 
inneren  Fläche  des  Oberarmbeins  herabgeht,  und  unter  welchem  die  Arterw 
tirctimflexa  hitnieri  anterior  durchpassirt.  Der  Muskel  soll  diesen  Bandstreifon 
aufheben  und  spannen,  und  die  genannte  Arterie  gegen  Compression  in  Schutz 
nehmen  (Zeitschrift  für  rat.  Med.  8.  Bd.).  Ich  habe  diese  Insertion  öfters  gesehen, 
halte  sie  aber  nicht  fQr  die  Norm. 

Der  innere  Armmuskel,  Musculus  brachialis  internus,  ent- 
springt mit  seiner  äusseren  Zacke  von  der  äusseren  Fläche  des 
Oberarmknochens,  unterhalb  der  Insertionsstelle  des  Deltamuskels, 
und  mit  der  inneren,  von  der  inneren  Fläche  dieses  Knochens, 
unterhalb  dem  Ende  des  Coraco-brachialis,  Er  liegt  unmittelbar  auf 
dem  Oberarmknochen  auf,  bedeckt  im  Herablaufen  die  Beugeseitc 
der  Ellbogenkapsel,  mit  welcher  er  durch  festes  Bindegewebe  zu- 
sammenhängt, bildet  den  Boden  der  Ellbogengrube,  und  inserirt  sich 
an  der  Rauhigkeit  unter  dem  Processus  coronoideus  der  Ulna.  Beugt 
den  Ellbogen,  und  spannt  zugleich  die  Kapsel,  um  sie  während  der 
Beugung  des  Ellbogens  vor  Einklemmung  zu  schützen. 

Die  Grenze  zwischen  dem  Fleisch  des  SvpincUor  Iotu/im  und  des  Jirnehiafin 
in/^.miM  ist  selten  scharf  bestimmt,  da  eine  mehr  weniger  ausgesprochene  Coales- 
cenz  beider  Muskeln  stattfindet  —  Die  Stelle,  wo  der  Deltamuskel  endigt,  und 
die  äussere  Zacke  des  Brachiaiia  internus  beginnt,  ISsst  sich  als  eine  seichte  De- 
pression schon  durch  die  Haut  hindurch  erkennen,  und  dient  als  gewöhnlicher 
Applicationspunkt  der  Fontanellen  am  Oberarm. 

B.  Muskeln  an  der  hinteren  Gegend  des  Oberarms, 

Der  dreiköpfige  Streckmuskel  des  Armes,  Musadus 
triceps  s,  Extensor  brachii,  liegt  an  der  hinteren  und  äusseren  Seite 
des  Oberarms.  Die  alten  Anatomen  nannten  seine  drei  Köpfe  ^4??- 
conaei,  wegen  der  Insertion  am  Olekranon,  welches  von  ihnen  Pro- 
cessus anconaeus  genannt  wurde.  Ich  schiebe  diese  kurze  historische 
Bemerkung  hier  ein,  weil  sich  der  Schüler  ohne  sie  nicht  erklären 
könnte,  wie  so  auf  der  nächsten  Seite  auf  einmal  ein  Anconaeus 
quartus  daher  kommt.  —  Der  lange  Kopf  des  Dreiköpfigen,  Caput 
Umgum.  s.  Anconaeus  longus,  entspringt  vom  äusseren  Schulterblatt- 
rande, gleich  unter  der  CavÜ4is  glenoidalis,  und  geht  zwischen   Teres 


g.  188.  Mukeln  un  ObflTwm«.  497 

major  und  minor  nach  abwärts,  um  sich  zu  dem  äusseren  Kopf, 
Caput  extemum  8,  Anconaeus  extemua  zu  gesellen,  welcher  von  der 
Aussenseite  des  Oberarms  entspringt,  längs  einer  Linie,  welche  unter- 
halb der  Insertion  des  kleinen  runden  Armmuskels  anfangt,  und 
bis  unter  die  Mitte  des  Knochens  herabreicht.  Der  kurze  oder 
innere  Kopf,  Caput  intemum  8.  Ancanaeus  internus,  beginnt  an  der 
inneren  Seite  des  Oberarms,  hinter  dem  Ansätze  des  Teres  major, 
bis  zum  Condf/lu8  intemvs  herab,  so  wie  von  der  hinteren  Fläche 
und  der  äusseren  Kante  der  unteren  Hälfte  des  Oberarms.  Alle  drei 
Köpfe  bilden  zusammen  einen  dicken  Muskelbauch,  dessen  platte 
mächtige  Endsehne  weit  auf  der  hinteren  Fläche  des  Muskels  hin- 
aufreicht, und  am  Olecranon  ulnae  endigt  (Schleimbeutel).  Sie  schickt 
Verstärkungsbündel  zur  Scheide  des  Vorderarms. 

Nur  bei  der  Ansicht  des  Triceps  von  innen  her,  sind  seine  drei  Köpfe  deut- 
lich von  einander  za  unterscheiden.  Bei  der  Ansicht  von  hinten  und  aussen  da> 
gegen,  ist  der  kurze  Kopf  an  den  mittleren  so  dicht  angeschlossen,  dass  sie  nur 
Einen  Fleischkörper  bilden. 

Der  Radialnerv  durchbohrt  den  Triceps  schief  von  innen  und  oben,  nach 
aussen  und  unten.  —  Da  bei  der  Streckung  des  Ellbogengelenks  die  hintere 
Kapselwand  sich  faltet,  und  zwischen  den  Knochen  eingeklemmt  werden  könnte, 
so  befinden  sich,  unter  dem  unteren  Ende  des  gemeinschaftlichen  Bauches  des 
Triceps  zwei  kleine  Muskelbündel,  ein  äusseres  und  inneres,  welche  von  den  ent- 
sprechenden Kanten  des  Oberarmknochens  nach  abw&rts  zur  Kapsel  gehen,  um 
sie  in  demselben  Momente  zu  spannen,  als  sie  durch  die  Streckbewegung  gefaltet 
wird.  Theile  entdeckte  sie,  und  gab  ihnen  den  bezeichnenden  Namen  Subancoruiei. 
lieber  die  Faserung  des  Triceps  handelt  Theile  in  MuUer^s  Archiv,  1839. 

Als  eine  Zugabe  des  Triceps  erscheint  der  kurze  Ellbogen- 
höckermuskel, Anconaeu^s  qaartus,  welcher  mit  einer  runden,  am 
äusseren  Rande  des  Muskels  sich  fortsetzenden  Sehne,  vom  Condylu8 
extemus  humeri  entspringt  (Schleimbeutel),  und  sich  an  den  hinteren 
Winkel  und  die  äussere  Fläche  des  oberen  Drittels  der  Ulna  inserirt. 
Sein  oberer  Rand  legt  sich  an  den  unteren  Rand  des  kurzen  Kopfes 
des  Triceps  so  genau  an,  dass  die  Grenze  zwischen  beiden  kaum 
abzusehen  ist.  Wirkt  wie  der  Triceps. 

Um  ihn  zu  sehen,  muss  die  Fascie  des  Vorderarms,  welche  ihn  bedeckt, 
njid  ihrer  Dicke  wegen  das  rothe  Fleisch  des  Muskels  nicht  durclischeinen  lässt, 
dnrch  einen  Winkelschnitt  gespalten  werden,  dessen  horizontaler  Schenkel  vom 
Catubfhis  externuA  humeri  zum  Olekranon,  dessen  verticaler  Schenkel  vom  Ole- 
kranon bis  zum  Beginn  des  mittleren  Drittels  der  Ulna  herabreicht.  Der  dadurch 
umschriebene  dreieckige  Lappen  der  Vorderarmfascie ,  wird  von  seiner  Spitze 
gegen  seine  HaHis  hin  abpräparirt,  und  der  Muskel  blossgelegt 

Vom  Cmidylns  humeri  intenm^  (Epitrochlea)  zum  Ohcranaii  (Proce«8tia  an- 
ronaeii«j  gelangende  Muskelbündel,  welche  theils  selbstständig  auftreten,  theils  sich 
an  den  inneren  Kopf  des  Triceps  anschliessen,  wurden  von  Gruber  als  Musculus 
epitrochleo-anccnuiem  beschrieben,  und  in  vielen  Ordnungen  der  Säugethiere  als 
normale  Vorkommnisse  nachgewiesen.  Mem.  de  TAcad.  de  St.  P^tersbourg.  VII.  S^r. 
T.  X.,  in  welchem  Bande  auch  über  die  Schleimbeutel  der  Muskeln  um  das  Ell- 
bogengelenk herum,  von  demselben  Autor  gehandelt  wird. 
Uyrtl,  Lehrbach  der  AnatOToie.  14.  Aufl.  32 


498  §.  184-  Ma«keln  am  Vorderanne. 


§.  184.  Muskeln  am  Yorderarme. 

Je  näher  gegen  die  Hand  herab,  desto  zahlreicher  werden  die 
Muskehl  an  der  oberen  Extremität,  desto  complicirtcr  ihre  Verhält- 
nisse, aber  auch  desto  lohnender  ihre  Bearbeitung.  Die  Zunahme 
der  Knochen  an  Zahl,  und  die  mit  ihr  gegebene  Vermehrung  der 
Gelenke  der  oberen  Extremität  in  der  Richtung  von  oben  nach 
unten,  bedingen  die  Vermehrung  der  Muskeln  in  derselben  Rich- 
tung, und  die  Wichtigkeit  der  Hand,  als  des  complicirtesten  und 
gebrauchtesten  Theiles  der  oberen  Extremität,  erhöht  ihre  func- 
tionelle  Bedeutung. 

Die  am  Vorderarm  vorkommenden  Muskeln  entspringen  gröss- 
tentheils  an  dem  unteren  Ende  des  Oberarmbeins  von  und  zunächst 
an  den  beiden  Condyli,  in  dem  Verhältnisse,  dass  die  Beuger  und 
einer  der  beiden  Einwärtsdreher  vom  Condylus  i7itemus,  die  übrigen 
vom  Condtjlus  extsmus  und  seiner  nächsten  Umgebung  entstehen.  Das 
untere  Ende  des  Oberarmknochens  bietet  den  zahlreichen  Muskeln 
des  Vorderarms  nicht  hinlängliche  Ursprungspunkte  dar,  wesshalb 
die  innere  Fläche  der  fibrösen  Vorderarmscheide,  und  jene  Fortsätze 
derselben,  welche  zwischen  einzelne  Muskelbäuche  in  die  Tiefe  ein- 
dringen, gleichfalls  zum  Ursprung  von  Muskelfleisch  dienen  müssen. 
—  Die  fleischigen  Bäuche  der  Vorderarmmuskeln  liegen  alle  um  das 
Ellbogengelenk  herum  gruppirt,  und  setzen  sich,  gegen  die  Hand 
zu,  in  verhältnissmässig  dünne  Schntui  fort,  wodurch  die  Gestalt 
des  Vorderarms  einem  langen,  abgestutzten  Kegel  ähnlich  wird, 
dessen  grösste  Peripherie  um  den  Ellbogen,  dessen  kleinste  um  die 
Handwurzel  geht.  —  Die  einzelnen  Muskeln  des  Vorderarms  be- 
festigen sich  entweder  am  Radius,  wie  die  Aus-  und  Einwärtsdreher, 
oder  überspringen  den  Vorderarm,  um  an  der  Handwurzel,  der 
Mittelhand,  oder  den  Gliedern  der  Finger  zu  endigen. 

A.  Muskeln  an  der  inneren  Seite  des    Vorderarms, 

Sie  bilden  drei  Schichtr'n,  von  welchen  die  erste  den  Pronator 
teren,  Eadialis  intei^ms,  PalmartJi  lonf/ns,  und  IJlnans  intemun  ent- 
hält. Diese  vier  Muskeln,  w«'lclie  alle  vorwaltend  von  Einem  Punkte, 
dem  ('ondf/his  liumeri  internus,  ausgehen,  «livergiren  während  ihre« 
Laufes  nach  abwärts,  und  lassen,  zwischen  ihren  Sehnen,  die 
zweite  Lage  durehselien,  welche  blos  vom  hochliegenden  Finger- 
beuger gebildet  wird.  Das  dritte  Stratum  besteht  aus  d<*m  tief- 
liegenden Fing<Tbeuger,  dem  langen  Beuger  des  Daumens,  und 
dem  viereckigen  Einwärtsdreher,  welch'  letzteren  einige  Autoren 
einem  vierten  Stratum  zuweisen. 


§.  184.  ]fii8lt«lxi  an  Vord«runne.  499 

a)  Erste  Schichte. 

Der  runde  Einwärtsdreher,  Muscvlris  pronator  rotundus  8. 
teres  (von  Win  slow  richtiger  Pronator  ohliquua  benannt),  entspringt 
vom  Condylvs  internus  des  Oberarmbeins,  und  geht  schief  nach  vorn 
und  unten  zur  inneren  Fläche  des  Radius,  in  deren  Mitte  er  an- 
greift. Die  Wirkung  sagt  der  Name.  Sein  Ursprung  erstreckt  sich 
auch  über  den  Condylus  internus  humeri  hinauf,  auf  die  innere  Kante 
dieses  Knochens,  und  das  daselbst  adhärente  Ligamentum  intermuscur 
lare  intemum. 

£r  wird  in  der  Regel  vom  Mediannerv  durchbohrt,  so  dass  immer  mehr 
Fleisch  über,  als  unter  dem  durchbohrenden  Nerv  liegt  Der  kleine  Durch- 
bohmngsschlitz  kann  sich  zu  einer  durchgreifenden  Spaltung  des  Muskels  in  zwei 
kleinere  entwickeln,  was  bei  vielen  Quadrumanen  Regel  ist.  Ein  Sesambein  in 
seiner  Ursprungssehne  habe  ich  nur  einmal  gesehen.  Wenn  ein  Procefsu«  supra- 
eandi/loidetu  am  Oberarmbein  vorkommt  (Note  zu  §.  137),  so  geht  von  ihm  ein 
accessorisches  Muskelbündel  des  Pronator  teres  aus. 

Der  innere  Speichenmuskel,  Musculus  radialis  internv^s  s, 
Flexor  carpi  radialis,  liegt  einwärts  von  dem  vorhergehenden,  mit 
welchem  er  gleichen  Ursprung  hat.  Er  zieht  schief  zum  unteren 
Ende  des  Radius,  wo  seine  Sehne  das  Ligamentum  carpi  transversum 
durchbricht,  und  in  der  Furche  des  Multangulum  majus  (Schleim- 
beutel) zur  Basis  des  Metacarpus  indicis  herabgleitet.  Beugt  die 
Hand,  und  unterstützt  die  Pronation  derselben. 

Von  der  Insertionsstelle  des  Pronator  teres  angefangen,  beginnt  der  Radialis 
internus  sehnig  zu  werden,  und  hat  die  Sehne  des  Supinator  longvs  nach  aussen 
neben  sich.  Zwischen  beiden  Sehnen  bleibt  ein  Zwischenraum,  in  welchem  die 
Arteria  radialis  verläuft,  deren  Pulsschlag  in  der  Nähe  des  Carpus  leicht  zu 
fühlen  ist. 

Der  lange  Hohlhandmuskel,  Musculus  palmaris  longus,  ent- 
springt, wie  die  früheren,  mit  einem  schlanken,  spindelförmigen 
Muskelbauche,  und  verwandelt  sich  in  eine  lange  schmale  Sehne, 
welche  über  das  Ligamentum  carpi  transversum  wegzieht,  ausnahms- 
weise daselbst  einem  Bündel  des  Abdu^tor  pollicis  brevis  zum  Ur- 
sprung dient,  und  in  der  Hohlhand  sich  zur  Aponeurosis  palmaris 
ausbreitet,  welche  im  §.  186  zur  Sprache  kommt.  Spannt  die  Apo- 
neurose,  und  beugt  die  Hand. 

Kaum  zeigt  ein  anderer  Muskel  so  viele  Nuancen  seiner  Gestaltung,  wie 
dieser.  Er  fehlt  bei  Gegenwart  der  Hohlhand- Aponeurose ;  letztere  kann  somit 
nicht,  wie  M  e  c  k  e  1  meinte,  aus  der  strahligen  Entfaltung  seiner  Sehne  hervor- 
gehen. Zuweilen  wird  sein  Abgang  durch  eine  Sehne  des  oberflächlichen  Fing«r- 
beugers  ersetzt,  oder  er  entspringt  nicht  vom  C&ndylus  internus,  sondern  von  der 
fibrösen  Scheide  des  Vorderarms,  ja  selbst,  was  als  AffenbUdung  vorkommt,  vom 
Kronenfortsatz  der  Ulna.  Er  kann  umgekehrt  sein,  seine  Sehne  oben,  seinen 
Fleischbauch  unten  haben,  oder  er  wird  zweibäuchig  mit  mittlerer  Sehne,  oder 
oben  und  unten  sehnig  und  in  der  Mitte  fleischig,  oder  doppelt^  oder  inserirt  sich 

82* 


488  $.  1^*  Kon«  Backenmuskeln. 

breiter,  grenzt  mit  dem  der  anderen  Seite,  und  greift  au  der  Linea 
semicirculaiis  Inferior  des  Hinterhauptbeins  an.  Er  entspricht  dem 
Spinalis  cUyrsi  und  colli.  Drängt  man  die  beiden  Recti  capitis  postici 
majores  auseinander,  so  findet  man  zwischen  ihnen  in  der  Tiefe  die 
beiden  kleinen  hinteren  geraden  Kopfmuskeln,  Musculi  recti 
capitis  postici  minores.  Diese,  mehr  sehnigen  als  fleischigen  Muskchi, 
gehen  vom  Tuberculum  posterius  atlantis  zur  selben  Insertionsstcllc, 
wie  die  grossen.  Beide  strecken  den  Kopf,  und  sind  den  Zwischen- 
dornmuskeln  des  Rückens  analog. 

Der  seitliche  hintere  gerade  JSopfmuskel,  Musculus  rectus 
capitis  posticus  lateralis,  entspringt  von  den  Seitentheilen  des  Atlas, 
und  endet,  gerade  aufsteigend,  hinter  dem  Foram^n  jugulare  an  dem 
Processus  jugularis  des  Hinterhauptbeins.  Er  lässt  sich  ebensogut 
als  oberster  Intertransversarius  posticus  der  Wirbelsäule  auffassen, 
als  wir  im  ßectus  capitis  anticus  lateralis  (§.  165)  einen  Intertrans- 
versarius anticus  erkannt  haben. 

Der  obere  schiefe  Kopfmuskel,  Musculus  obliquus  capitis 
supenor  s,  minor,  entsteht  an  der  Spitze  des  Querfortsatzes  des 
Atlas,  und  endigt,  schräge  nach  innen  und  oben  hiufend,  an  der 
Linea  semudrctdaris  infenor  des  Hinterhauptes,  nach  aussen  von  den 
Rectis.  Streckt  den  Kopf,  und  kann  nicht,  wie  T heile  anführt,  als 
eine  Wiederholung  der  Rotatores  dorsi  angesehen  werden,  da  das 
Hinterhauptbein  auf  dem  Atlas  keine  Drehbewegung  ausführen 
kann.  Er  entspricht  vielmehr  dem  Semispinalis  der  Wirbelsäule, 
wobei  natürlich,  wie  bei  den  vorhergehenden  Vergleichungcn,  die 
Protuherantia  occipitalis  externa,  mit  ihren  beiden  Lineis  semicircida' 
rihus,  als  ein  Aequivalent  eines  Dornfortsatzes  des  Hinterhaupt- 
wirbels angesehen  werden  muss. 

Der  untere  schiefe  Kopfmuskel,  Musculus  obliquus  capitis 
inferior  s.  major,  begiebt  sich  vom  Dornfortsatz  des  Epistropheus, 
schräge  nach  aussen  und  oben  zum  hinteren  Rande  des  Querfort- 
satzes des  Atlas.  Dreht  den  Atlas,  und  somit  auch  den  Kopf,  welcher 
vom  Atlas  getragen  wird,  um  den  Zahnfortsatz  des  Epistropheus.  Er 
ist  der  eigentliche  Rotator  capitis,  und  lässt  sich  mit  keinem  anderen 
Muskel  des  Rückens  vergleichen. 

Hat  man  diese  zierlichen  Muskeln  auf  beiden  Seiten  dargestellt,  so  bilden 
die  zwei  rechten  und  linken  Oblitjui  zusammen  einen  Rhombus,  in  dessen  senk- 
rechter Diagonale,  die  Recti  so  aufsteigen,  wie  die  geraden  Portionen  der  beiden 
Jjotuji  colli  in  dem  Rhombus  der  schiefen  (§.   105). 


§.  184.  Mnskeln  um  Vorderarme.  501 

Muskel  wird  dadurch  besonders  interensant,  weil  in  ihm  eine  Erifinerung  an  da» 
Verhältnisa  des  hoch-  und  tiefliegenden  (langen  und  kurzen)  ZehenbeugerR  ge- 
boten wird  (§.  196  und  197).  In  der  Regel  schickt  das  Fleisch  des  hochliegenden 
Fingerbeugers  jenem  des  tiefliegenden  (oder  des  Flexor  jMlcitt  longiis)  ein 
Btindel  zu. 


c)  Dritte  Schichte, 

Der  tiefliegende  Fingerbeuger,  Musculus  flexor  di^jitoimm 
profumhis  s,  perforans,  übertrifft  den  vorigen  an  Stärke.  Er  ent- 
springt von  den  zwei  oberen  Dritteln  der  inneren  Fläche  der  UIna, 
80  wie  auch  vom  Ligamentum  interosseum.  Unbeständige  Fleisch- 
bündel, welche  von  der  inneren  Fläche  des  Radius  entstehen,  ge- 
sellen sich  diesem  Ursprünge  des  Muskels  bei.  Der  hiedurch  ge- 
bildete flache  und  breite  Fleischkörper  spaltet  sich,  etwas  tiefer  als 
der  hochliegende,  in  vier  Sehnen,  welche  auf  dieselbe  Weise,  wie 
die  Sehnen  des  hochliegenden  Beugers  verlaufen.  Die  Sehnen,  welche 
zum  Mittel-,  Ring-  und  kleinen  Finger  ziehen,  tauschen,  während 
des  Durchtritts  unter  dem  queren  ITandwurzelbande,  einzelne  Faser- 
bündel gGg^n  einander  aus,  während  die  für  den  Zeigefinger  be- 
stimmte Sehne,  sich  in  diesen  Austausch  nicht  einlässt.  Am  ersten 
Fingergliede  schieben  sich  die  Sehnen  des  tiefliegenden  Beugers 
durch  die  Spalte  der  Sehnen  des  hochliegenden  Beugers  durch,  und 
endigen  am  dritten  Gliede,  welches  sie  beugen. 

Beim  Eintritt  in  die  Hohlhand  entspringen  vom  Radialrand  der 
Sehnen  des  tiefliegenden  Beugers,  die  vier  spulenft)rmigen  Regen- 
wurmmuskeln, Musculi  lumhricales,  welche  zu  den  Radialrändern 
der  ersten  Fingerglieder  laufen,  und  hier  die  Hohlhand  verlassen, 
um  in  die  Rückenaponeurose  der  Finger  überzugehen. 

Von  den  alten  Anatomen  wurden  sie  Mtiscnli  fidicinales,  Geigermuskeln, 
genannt.  Hat  man  einen  derselben,  am  bestim  jenen  des  Zeigefingers,  bis  in  die 
Rückenaponeurose  des  Fingers  verfolgt,  und  zieht  man  an  ihm,  so  findet  man, 
dass  die  Wirkung  ilicses  kleinen  Muskels  in  einer  Beugung  der  Phalanx,  prima, 
und  in  gleichzeitiger  Streckung  der  Phalanx  neamda  und  teHia  besteht,  eine  Be- 
wegung, welche  der  Finger  bei  der  Führung  der  Haarstriche  während  des  Schrei- 
bens, und  beim  Austheilen  von  Nasenstübern  macht. 

Der  lange  Beuger  des  Daumens,  Musculus  flexor  pollicis 
loj)(ju4<,  liegt  auswärts  von  dem  tiefen  Fingerbeuger,  wird  von  ihm 
durcli  den  Nervus  interosseus  und  die  Arttrui  interossea  getrennt, 
nimmt  seine  Entstehung  an  der  inneren  Fläche  des  Radius,  von  der 
Insertionsstelle  des  Biceps  angefangen  bis  zum  unteren  Drittel  des 
Knochens  herab,  erhält  meistens  vom  hochliegenden  Fingerbeuger 
ein  Fleischbündel  zugeschickt,  und  geht,  nachdem  er  sehnig  ge- 
worden, mit  den  übrigen  Beugesehnen  unter  dem  Ligamentum  carpi 
transversum  zum  ersten  Daumengelenke,  wo  er  zwischen  den  beiden 


502  §.  184.  MuBkeln  am  Vorderarme. 

hier  befindlichen  Sesambeinchen  desselben,  an  die  zweite  Phalanx 
tritt,  an  welcher  er  endet.  —  Drängt  man  am  unteren  Ende  des  Vorder- 
arms seine  Sehne  von  jenen  des  tiefliegenden  Beugers  weg,  so  ge- 
räth  man  auf: 

Den  viereckigen  Einwärtsdreher,  Musculus  pranator  qua- 
draius  (Pronator  transversus  Winslow),  welcher  an  der  inneren 
und  hinteren  Fläche  des  unteren  Endes  der  Ulna  entspringt,  und 
über  das  Ligamentum  interosseum  quer  zum  unteren  Ende  des  Radius 
herüber  läuft,  an  dessen  innerer  Fläche  er  endigt. 

Der  Muskel  ist  reich  an  Varietäten,  welche  Macalister  zusammenstellte 
(Jofimal  of  Anal.  VIL),  Man  mass  gestehen,  dass  seine  Wirkungsweise  als  Pro- 
nator, nichts  weniger  als  einleuchtend  erscheint.  Der  Muskel  ist  ja  nicht  um  das 
untere  Ende  des  Radius  herumgekrümmt,  wie  es  bei  einem  Pronator  der  Fall  sein 
müsste,  sondern  um  jenes  der  Ulna,  welche  nicht  gedreht  werden  kann. 


d)  Fibröse  und  SynovicUscheiden  der  Sehnen  der  Fingerheuger. 

Das  Convolut  der  Sehnen  der  Fingerbeuger  wird,  während  seines 
Durchganges  unter  dem  Ligamentum  carpi  transversumy  von  einer 
weiten,  mehrfach  gefalteten  Synovialscheide  eingehüllt.  Diese  bildet 
für  jede  einzelne  Sehne  einen  besonderen  Ueberzug,  welcher  bis 
zum  Ursprünge  der  Lumbricalmuskeln  reicht. 

Speciellen  Untersuchungen  zufolge  (Gazelle  med.  tHüO.  S.  tS),  setzt  sich 
der  SynoviaUack,  welcher  sänimtliche  lieugesehnen  unter  dem  queren  Handwurzel - 
bände  einhüllt,  in  die  Synovialauskleidung  der  fibrösen  Scheiden  der  lieugesehnen 
des  Daumens  und  kleinen  Fingers,  nicht  aber  der  übrigen  Finger,  ununterJirochen 
fort.  Denn,  wenn  man  die  dritten  Phalangen  aller  fünf  Finger  einer  Leiche  am- 
putirt,  und  Wasser  in  den  Synuvialsfick  unter  dem  queren  Handwurzolbande  ein- 
spritzt, strömt  dieses  nur  aus  den  Stümpfen  des  kleinen  Fingers  und  des  Daumens, 
nicht  aber  au«  denen  der  drei  mittleren  Finger  aus.  (Jüt  meinen  P>fahrungen 
nach  nicht  als  allgemeine  Regel.  Ebensowenig  allgemeine  Geltung  hat  es,  dass 
die  Sehne  des  langen  Heugers  des  Daumens  nicht  in  dem  Synovialsack  der  übrigen 
Beugesehnen  liegt,  sondern  eine  besondere  Synovialscheide  besitzt. 

Die  Sehnen  des  Fle^vor  perforans  und  perforatus  jedes  Fingers, 
werden  durch  eine  starke  fibnise  Seheide  an  die  untere  Fläche 
des  Fingers  angedrückt  erhahen.  Die^e  Scheide  heisst  Vagina 
fibrosa  tendinum  ßexoriormn,  Sie  haftet  an  den  Badial-  und  Ulnar- 
rändem  der  einzehien  Phalangen,  und  erzeugt  sonach  mit  der  unteren 
Fläche  der  Phalangen,  einen  Kanal  mit  zur  Hälfte  fibröser,  zur 
Hälfte  knöcherner  Wand,  in  welchem  die  Beugesehnen  bei  der 
Beugung  und  Streckung  der  Finger  gleiten.  Der  Kanal  ist  mit 
Synovialmembran  ausgefüttert.  Die  tibröse  (untere)  Wand  des 
Kanals,  wird  durch  Querspalten  in  mehrere  Stücke  getheilt,  deren 
Ränder  sich  bei  der  Beugung  des  Fingers  einander  nähern,  und 
bei  der  Streckung   von   einander   entfernen.     Ein  ununterbrochener 


§.  184.  Mnskeln  am  Vorderurme.  503 

iibröser  Halbkanal  hätte,  bei  der  Beugung  des  Fingers,  stellenweise 
eingeknickt  werden  müssen.  Die  einzelnen  Stücke  der  Scheide 
nehmen,  nach  der  Richtung  ihrer  Fasern,  den  Namen  der  Quer- 
bänder und  Kreuzbänder  an.  Fehlt  an  einem  Kreuzband  einer 
der  beiden  Schenkel,  so  heisst  der  noch  übrig  bleibende:  schiefes 
Band.  —  Die  Synovialhaut,  welche  die  innere  Oberfläche  des  theils 
knöchernen,  theils  fibrösen  Kanals,  an  der  Volarfläche  der  Finger 
auskleidet,  sendet  faltenförmige  Verlängerungen,  welche  Retinacula 
heissen,  zu  den  im  Kanal  liegenden  Beugesehnen,  um  auch  diese 
zu  umhüllen.  Längs  der  Retinacula  ziehen  feine  Blutgefässe  von  der 
Beinhaut  zu  den  Sehnen.  Retinaculum  war  bei  den  Römern  das 
Tau,  durch  welches  Schiffe  am  Ufer  befestigt  wurden. 

Die  Retinacula  sind  Ueberreste  einer  in  den  ersten  Entwicklungszeiträumen 
stattgefundenen  Einstülpung  der  Synovialhaut  der  Scheide  durch  die  Beugesehnen. 
Sie  finden  sich  regelmässig  vor,  sind  am  ersten  Fingergliede  breiter  und  stärker, 
und  enthalten  immer  auch  sehnige  Fasern,  welche  das  Periost  der  betreffenden 
Phalanx  mit  den  Beugesehnen  in  Verbindung  bringen.  Die  Richtung  der  Reti- 
nacula stimmt  aber  mit  jener  der  Beugesehnen  nicht  iiberein,  denn  während  die 
Beugesehnen  gegen  die  Fingerspitzen  gerichtet  sind,  streben  die  Retinacula 
gegen  die  Basis  der  Finger.  Sie  können  deshalb  ganz  sicher  nichts  für  die 
Sicherung  der  Lage  der  Sehne  in  ihrer  Scheide  leisten,  und  sind  nur  als  Bahnen 
für  die  ernährenden  Gefässe  der  Sehnen  von  Belang.  Ebenso  ungerechtfertigt 
mnss  also  auch  der  Name  erücheinen:    ViTictda  tendinum  accesaoria. 


B.  Muskeln  an  der  äusseren  und  Radialseite  des  Vorderarms. 

Sie  sind  vorzugsweise  Strecker  der  Hand  oder  der  Finger,  und 
Auswärtsdreher.  Ihre  Richtung  geht  theils  mit  der  Vorderarmaxe 
parallel,  theils  kreuzt  sie  diese,  wie  es  für  die  drei  auf  der  Aussen- 
seite  des  Vorderarms  gelegenen  langen  Muskeln  des  Daumens  der 
Fall  ist,  welche  sich  schief  zwischen  den  Längenmuskeln  gegen  die 
Radialseite  des  Vorderarms  hervordrängen.  —  An  der  Dorsalgegend 
des  Carpus,  treten  ihre  Sehnen  unter  dem  Ligamentum  cai^i  com- 
mune dorsale  durch,  welches  für  einzelne  oder  mehrere  derselben  be- 
sondere Fächer  bildet,  indem  es  Fortsätze  zwischen    sie  einschiebt. 

Der  lange  Auswärtsdreher,  Musculus  supinatar  longus^  ent- 
springt vom  unteren  Dritttheile  der  äusseren  Kante  des  Oberarm- 
beins und  an  dem  daran  befestigten  Ligamentum  intermusculare  exter- 
num,  hält  sich  an  die  Radialseite  des  Vorderarms,  und  endet  am 
unteren  Ende  der  Armspindel  über  dem  Processus  stt/loideus.  Ist  die 
Armspindel  nach  einwärts  gedreht  (pronirt),  so  erscheint  der  Muskel 
in  einer  weiten  Spiraltour  um  den  Radius  wie  herumgelegt,  bei 
supinirtem  Radius  dagegen  geradlinig.  Er  wird  somit  nur  bei  der 
ersteren  Stellung  des  Radius  als  Supinator  wirken  können.  Bei  der 
zweiten    Stellung    unterstützt    er    die    Beugung    des    Ellbogens.    — 


504  §.  184.  Hnskeln  am  Vorderume. 

Indem  die  Auswärtsdrehung  des  Radius  den  Handteller  nach  oben 
richtet,  wie  beim  sogenannten  Handaufhalten  der  Bettler,  führte 
der  Muskel  vor  Alters  den  nicht  unpassenden  Namen  Muscidtis 
pauperum  8.  mendicantium. 

Sehr  häufig  gehen  einige  Fleischfasern  des  Brdchialis  internus 
in  den  Ursprungsbauch  des  Supinator  longus  über. 

Da  die  Arteria  radialis  »ejhr  constant  ISngs  des  inneren  Randes  des  Supi- 
nator longus  verläuft,  nannte  Cruveilhier  diesen  Muskel:  Miisculus  satdlej* 
arteriae  radialis.  —  Der  innere  Rand  des  Supinator  longus  bildet,  mit  dem  oberen 
Rande  des  Prmuitor  leres,  die  Seiten  einer  nach  unten  spitzig  zulaufenden,  drei- 
eckigen Grube,  Fovea  s.  Plica  cubitif  deren  Grund  den  Insertionsstellen  des  Biceptt 
und  Brachialis  internus  entspricht.  Sie  wird  durch  die  Fascia  antil/rarhii  und  den 
Lacertus  fihrosus  der  Bicepssehne  überdeckt,  und  schUesst  die  Arteria  hrarhialis, 
nebst  ihren  beiden  begleitenden  Venen  und  dem  Nervtis  medianus  ein.  Die  Arteria 
brachiaUs  liegt  am  inneren  Rande  der  Sehne  des  Biceps  auf  dem  Brachmlis  in- 
ternus, und  theilt  sich  hier  in  die  Arteria  radialis,  und  den  kurzen  gemeinschaft- 
lichen Stamm  der  Ulnar-  und  Zwischenknochenarterie.  Der  Nervus  medianus  liegt 
an  der  inneren  Seite  der  Arteria  hrackialis. 

Der  kurze  Auswärtsdreher,  Musculus  supinator  hrevis,  wird 
vom  Supinator  longus  und  den  beiden  äusseren  Speichenmuskeln 
bedeckt,  entspringt  vom  Condylus  exteimus  hrachii,  und  von  dem  Ring- 
bande des  Radius,  schlägt  sich  mit  oberen  queren  und  unteren 
schiefen  Fasern  um  das  obere  Ende  des  Radius  herum,  und  befestigt 
sich  an  der  inneren  Fläche  desselben,  unter  der  Tuberositas.  Er 
umgreift,  wenn  der  Arm  sieh  in  der  Pronationsstellung  behndet, 
drei  Viertheile  der  Peripherie  des  Radius,  und  ist  deshalb  der  ein- 
flussreichste und  am  günstigsten  wirkende  Auswärtsdreher  desselben. 

Er  wird,  wie  so  viele  andere  Muskeln  der  oberen  Extremität,  von  einem 
Nerven,  dem  Ilamus  profumlus  nervi  radialis,  durchbohrt,  und  kaim  bei  stärkerer 
Entwicklung  der  Durchbohrungsspalte  auch  doppelt  werden.  Wirkt  jedenfalls 
kräftiger  als  der  Supinator  longus,  da  seine  oberen  Fasern  fast  senkrecht  auf  die 
Richtung  des  Radius  fallen. 

Der  lange  und  kurze  ä  usserc  Speiehenmuskel,  J/?t»c*JMÄ 
radialis  exteimus  longus  et  breins,  s.  Extonsor  carpi  radifdfjt  lontjus  et 
brems,  liegen  neben  dem  Supinator  longus,  und  haben  mit  ihm 
gleiche  Richtung.  Der  lange  entspringt  über  dem  Condt/lits  exteimus 
hrachii,  von  der  äusseren  Kante  dieses  Knochens,  unmittelbar  unter 
dem  Ursprünge  des  Supinator  longus;  der  kurze  kommt  vom  Con- 
dylus extemus  selbst,  und  vom  Ringbande  des  Radius.  Beide  gehen, 
parallel  mit  dem  Radius,  auf  der  Aussenfläche  des  Vorderarms 
herab,  wobei  der  lange  den  kurzen  bedeckt,  passiren  ein  ihnen 
gemeinschaftliches  Fach  unter  dem  Ligamentum  carpi  dorsale,  und 
befestigen  sich,  der  lange  an  der  Basis  des  Metacarpus  indicis,  der 
kurze  an  derselben  Stelle  des  Metacarpus  digiti  medii.  Sie  strecken 
die  Hand  und  adduciren  sie;  letzteres  besonders,  wenn  sie  mit  dem 
Radialis  internus  gleichzeitig  wirken. 


§.  184.  Haskeln  un  Yordeimrm«.  505 

Der  gemeinschaftliche  Fingerstrecker,  Muscvlm  extensor 
digitorum  communis,  entsteht  mit  dem  kurzen  Speichcnmuskel  ver- 
wachsen, vom  Condylus  extemus  humeri  und  der  Fascia  antibrachii, 
trennt  sich  in  der  Mitte  des  Vorderarms  in  vier  Bäuche,  welche 
bald  plattsehnig  werden,  bis  über  die  Handwurzel  hinaus  mit  ein- 
ander parallel  laufen,  ein  für  sie  allein  bereit  gehaltenes  Fach  unter 
dem  Ligamentum  carpi  dorsale  passiren,  sodann  am  Handrücken 
divergiren,  durch  breite  Zwischenbänder  unter  sich  zusammenhängen, 
und  am  Rücken  des  ersten  Fingergliedes  in  eine  Aponeurose  über- 
gehen. Diese  ist  mit  der  Streckseite  der  Kapseln  der  Articulationes 
m£tacarpO'phalangeas  innig  verwachsen,  wird  durch  die  seitlich  an 
sie  herantretenden  Sehnen  der  Musculi  interossei  et  lumhricales  ver- 
stärkt, und  spaltet  sich  auf  dem  Rücken  der  ersten  Phalanx  in  drei 
Schenkel,  deren  mittlerer  und  zugleich  schwächster,  am  oberen 
Ende  der  zweiten  Phalanx,  die  beiden  seitlichen  erst  an  den  Seiten 
der  dritten  Phalanx  sich  befestigen.  Der  Muskel  streckt  vorzugs- 
weise das  erste  Fingerglied. 

Die  Zwischen  bände  r  der  Sehnen  des  gemeinschaftUchen  Fingerstreckers  am 
Handrücken,  variiren  in  Hinsicht  ihrer  Lage,  Breite  und  Stärke.  Am  stärksten 
lind  constantesten  trifft  man  die  Verbindung  der  Strecksehne  des  Ringfingers  mit 
jener  des  kleinen  und  des  Mittelfingers.  Dieses  erklärt  uns,  wanim  man,  wenn 
alle  Finger  zur  Faust  eingebogen  sind,  den  Ringfinger  allein  nicht  vollkommen 
strecken  kann.  Zwischen  der  Strecksehne  des  Zeigefingers  und  jener  des  Mittel- 
fingers fehlt  in  der  Regel  das  Zwischenband.  —  In  diesen  Zwischenbändern  der 
Streckseluien  der  einzelnen  Finger,  liegt  aiicli  die  Schwierigkeit,  die  Finger  der 
auf  eine  Tiscliplatte  flach  aufgelegten  Hände,  einzeln  und  schnell  nach  einander 
zu  strecken.  Uebung  und  Geduld  führen  erst  nach  vielen  misslungenen  Versuchen 
zum  Ziele. 

Der  eigene  Strecker  des  kleinen  Fingers,  Musculus  ex- 
tensoi'  digiti  minimi,  ist  an  seinem  Ursprünge  mit  dem  gemeinschaft- 
lichen Fingerstrecker,  an  dessen  Ulnarseite  er  liegt,  verwachsen, 
und  geht  am  unteren  Ende  des  Vorderarms  in  eine  dünne  Sehne 
über,  welche  ein  eigenes  Fach  des  Ligamentum  carpi  dorsale  für 
sich  in  Anspruch  nimmt,  und  längs  des  Metacaiyus  digiti  minimi 
zur  vierten  Sehne  des  Extensor  communis  tritt,  um  mit  ihr  mehr 
weniger  vollkommen  zu  verschmelzen. 

Er  fehlt  zuweilen,  wo  dann  die  vom  Extensor  communia  stammende  Streck- 
sehne des  kleinen  Fingers  doppelt  wird.  Seine  Seime  kann  sich  auch  in  zwei 
Schnüre  theilen,  welche  an  den  Ring-  und  kleinen  Finger  treten  (Säugethier- 
bildung).  Man   sollte    glauben,,  dass    der   Besitz   eines    Extensor  proprUis,  dem 

kleinen  Finger  eine  gewisse  Selbstständigkeit  in  der  Ausftihning  seiner  Streck- 
bewegung giebt.  Allein  die  Verschmelzung  der  Sehne  des  Extensor  proprius  digiti 
minimi  mit  der  Kleinfingersehne  des  Extensor  communis  digitoi-um,  stellt  die 
Streckung  des  kleinen  Fingers  anter  die  Herrschaft  des  Extensor  communis, 
imd  beschränkt  bei  einzelnen  Menschen  seine  Unabhängigkeit  in  auffallen- 
der Weise. 


O06  S*  18^'  Maskeln  am  Vorderarme. 

Der  äiissero  Ellbogenmuskel,  Musculus  ulnar Is  extenim  s. 
Exteiisor  caiyi  ulnarisj  entspringt  vom  Condylus  exteimus  humeri,  und 
von  der  Fascta  antibrachü,  ist  mit  dem  Ursprung  des  Ekcteiuor  com- 
munis digltorum  innig  verschmolzen,  liegt  im  grössten  Theile  seiner 
Länge  an  dem  Eoctensor  digiti  minimi  genau  an,  folgt  der  Längs- 
richtung der  Ulna,  wird  im  unteren  Vorderarmdrittel  sehnig,  und 
befestigt  sich  an  der  Basis  des  Metacarpus  digiti  minimi.  Streckt 
imd  abducirt  die  Hand.  Oftmals  geht  von  seiner  Sehne  eine  faden- 
förmige Verlängerung  zur  Rückenaponeurose  des  kleinen  Fingers. 
Zwischen  seinem  Ursprungsbauche  und  dem  Cajntulum  radü  liegt 
ein  Schleimbeutel. 

Die  liier  aufgezählten  Muskeln  der  äusseren  Seite  des  Vorderarms  folgen 
in  der  Ordnung,  wie  sie  aufgeführt  wurden,  vom  Radius  gegen  die  Ulna  zu,  auf 
einander,  und  laufen  unter  einander  und  mit  der  Vorderarmaxe  parallel.  Die  nun 
zu  beschreibenden  sind  zwischen  sie  eingeschaltet,  drängen  sich  schief  zwischen 
ihnen  aus  der  Tiefe  empor,  und  kreuzen  somit  ihre  Richtung. 

Der  lange  Abzieher  des  Daumens,  Musculus  ahda<:tor  pol- 
licis  longus,  platt  und  ziemlich  stark,  taucht  zwischen  ExUnsor  digi- 
tornm  communis  und  den  beiden  Radiales  externi  auf,  entspringt  vom 
mittleren  Theile  der  äusseren  Fläche  der  Ulna,  des  Ligamentum  inter- 
osseum  und  des  Radius,  läuft,  nachdem  er  allmälig  sehnig  geworden, 
zugleich  mit  der  dicht  an  ihm  liegenden  Sehne  des  Extetisor  poUicis 
brems,  über  die  Sehnen  der  beiden  Radiales  externi  schief  nach  vorn 
und  unten,  und  befestigt  sich  an  der  Basis  des  Metacarpus  des 
Daumens.  Eine  Furche  an  der  Aussenfläche  des  unteren  Radius- 
endes, leitet  die  Sehne  dieses  Muskels  zu  dieser  Lisertionsstelle. 

Seine  Sehne  schickt  nicht  selten  ein  Fascikel  zum  Os  multaw/ulum  majuj* 
(Fleischmann),  oder  zum  Aftductor  pollicis  hvevis,  selbst  zum  Opponenft  (Meckel). 
Zuweilen  sieht  man  ihn,  »einer  gan:een  Länge  nach,  in  zwei  Muskeln  getheilt,  von 
welchen  die  Sehne  des  schwächeren  sich  unmittelbar  in  das  Fleisch  des  AMuctor 
jiolUcuf  hreciJi  fortsetzt. 

Der  kurze  Strecker  des  Daumens,  Musculus  extensor  pol- 
licis  brevis,  kürzer  und  schwächer,  spindelförmig,  liegt  an  der  Ulnar- 
seite  des  vorigen,  mit  welchen  er  gleichen  Ursprung  und  Vorlauf 
hat.  Schickt  seine  Sehne  zur  Aponeurose  auf  der  Dorsalfläche  der 
ersten  Phalanx  des  Daumens. 

Man  sieht  am  Präparat,  dass  er  und  «ein  Vorgänger,  bei  der  Pronations- 
stellung  der  Hand,  das  untere  Ende  des  Radius  spiral  umgreift.  Sic  können  somit 
durch  ihre  Action  die  Auswärtsdrehuiig  der  Hand  unterstütz«* n,  wenn  iliese  kräftig 
ausgefiilirt  werden  »oll,  wie  beim  Eintreiben  eines  Bohrers,  oder  beim  Aufsperren 
eines  verrosteten  Schlosses.  —  Bei  sehr  kräftigen,  so  wie  bei  aelir  abge/.ehrten 
Armen  lebender  Menschen  sieht  man,  während  der  Daumen  mit  Kraft  abducirt 
wird,  den  schiefen  Verlauf  der  dicht  an  einander  liegenden  Sehnen  beider  Muskeln 
ganz  deutlich  am  unteren  Ende  der  Radialseite  des  Vorderarms,  durch  die  Haut 
hindurch  markirt. 


§.  184.  Mnskeln  am  Vordenurme.  507 

Der  lange  Strecker  des  Daumens^  Musculus  extensor  pol- 
licis  longus,  nimmt  seinen  Ursprung  von  der  Crista  vlnae  und  dem 
Ligavie^itum  interosseum ,  wird  bis  in  die  Nähe  des  Handgelenks, 
vom  Extensar  communis  digitorum  bedeckt,  kreuzt  mit  seiner  langen 
und  starken  Sehne,  die  Sehnen  der  beiden  Radiales  ext&imi  etwas 
tiefer  unten,  als  es  die  beiden  vorhergehenden  gethan  haben,  ver- 
schmilzt auf  der  Dorsalseitc  des  Metacarpus  pollicis  mit  der  Sehne 
des  kurzen  Streckers,  und  verliert  sich  mit  dieser  in  der  Rücken- 
aponeurose  des  Daumens. 

Streckt  und  abducirt  man  seinen  eigenen  Daumen,  so  sieht  man  zwischen 
der  Sehne  des  langen  Daumenstreckers,  und  jenen  des  Extensor  hrevdft  und  Ahductor 
lorv/us,  eine  dreieckige  Grube  einsinken,  welche  bei  älteren  französischen  Anatomen 
la  talKitikre  du  jtouce  genannt  wird. 

Der  eigene  Strecker  des  Zeigefingers,  Musculus  indicator, 
liegt  an  der  Ulnarseite  des  vorigen,  und  bedeckt  ihn  zum  Theil; 
entspringt  von  der  Crista  und  der  äusseren  Fläche  der  Ulna,  und 
verschmilzt  am  Handrücken  mit  der  vom  Extensor  communis  abge- 
gebenen Strecksehne  des  Zeigefingers.  ' 

Man  findet  seine  Sehne,  oder  selbst  seinen  Ursprungsbauch,  doppelt.  Ein 
Sehenkel  der  gespaltenen  Sehne  geht  zum  Mittelfinger  (A  Ibin),  oder  sendet  selbst 
ein  Fascikel  zum  ersten  Gliede  des  Ringfingers  (Meckel).  Der  Muskel  kann 
auch  fehlen,  und  wird  durch  einen  besonderen  kleinen  Muskel  ersetzt,  welcher 
vom  Liijamentum  carpi  dorsale  entspringt  (Moser).  Als  Thierähnlichkeiten  sind 
diese  Variationen  niclit  uninteressant,  indem  bei  vielen  Quadrumanen,  der  Strecker 
des  Zeigefingers  einen  Sehnenschenkel  zum  Mittelfinger  abgiebt,  oder,  wie  bei 
Cebus,  ein  besonderer  Strecker  des  Mittelfingers  vorkommt 

Sämmtliche  über  die  Streckseite  der  Handwurzel  herablaufende 
Sehnen  der  eben  beschriebenen  Muskeln,  werden  durch  einen,  sechs 
bis  acht  Linien  breiten,  queren  Bandstreifen,  —  das  Rückenband 
der  Handwurzel,  Ligamentum  carpi  commune  dorsale  s,  armillare, 
—  an  die  Knochen  niedergehalten,  so  dass  sie  sich,  selbst  bei  der 
stärksten  Streckung  der  Hand,  nicht  von  ihm  entfernen  können. 
Ich  betrachte  das  Ligamentum  carpi  commune  dorsale  eigentlich  nur 
als  einen  durch  quereingewebte  Faserzüge,  welche  vom  Griffel  des 
Radius  zum  dreieckigen  und  Erbsenbeine  herüberlaufen,  verstärkten 
Theil  der  Fascia  antibrachii.  Von  seiner  unteren  Fläche  treten  fünf 
Scheidewände  coulissenartig  an  das  untere  Ende  der  Vorderarm- 
knochen, wodurch  sechs  isolirte  Fächer  für  die  Aufnahme  einzelner 
Sehnen  dieser  Gegend  geschaffen  werden.  Diese  Fächer  werden 
vom  Radius  gegen  die  Ulna  gezählt,  und  enthalten,  das  erste:  den 
langen  Abzieher  und  kurzen  Strecker  des  Daumens,  das  zweite: 
die  beiden  Speichenstrecker  der  Hand,  das  dritte:  den  langen 
Daumenstrecker,  das  vierte:  den  gemeinschaftlichen  Fingerstrecker, 
und  den  eigenen  Strecker  des  Zeigeiingers,  das  fünfte:  den  Strecker 


508  8*  185.  VaskelD  an  der  Huid. 

des  kleinen  Fingers,  und  das  sechste:  den  Ulnarstrecker  der  Hand. 
Sie  bedingen  die  unveränderliche  Verlaufsrichtung  der  Muskeln^  und 
erlauben  ihnen  keine  Verrückung,  oder  gegenseitige  Beirrung  durch 
Reibung. 

Wird  dnrch  eine  plötzliche  forcirte  Action  eines  Muskels,  sein  Fach  zer- 
sprengt, so  schnellt  er  sich  aus  seiner  Lage,  und  ist  bleibend  verrenkt.  —  Alle 
Fächer  sind  innen  mit  Synovialmembranen  geglättet,  welche  darch  ihr  schlüpf- 
riges Secret,  die  Reibung  der  Sehnen  vermindern-  Vermehrung  und  Verdickung 
ihres  flüssigen  Inhalts  kann  nicht  die  unter  dem  Namen  der  Ueberheine  be- 
kannten Geschwülste  am  Handrücken  erzeugen,  weil  diese  immer  die  längliche 
Gestalt  der  betreffenden  Fächer  haben  müssten,  welche  ihnen  aber  niemals  zu- 
kommt. Die  Ueberbeine  (ihrer  Härte  wegen  so  genannt)  sind  ganz  gewiss  ent- 
weder wirkliche  Neubildungen  (Cysten),  oder  abgeschnürte  Aussackungen  der  Sjno- 
▼ialmembran  der  Sehnenscheiden. 

Als  g^te  praktische  Hebung  mag  es  dienen,  nachdem  man  die  Muskeln  der 
oberen  Extremität  studirt  hat,  sich  die  Frage  zu  stellen  und  zu  beantworten, 
welche  Muskeln  beim  Amputiren  an  verschiedenen  Stellen  dieser  Extremität,  durch- 
schnitten werden  müssen,  und  welche  ganz  bleiben.  Man  wird  daraus  die  Be- 
wegungen entnehmen,  deren  der  Stumpf  noch  föhig  ist.  Ebenso  verfahre  man  mit 
den  Muskeln  der  unteren  Extremität. 


§.  185.  Muskeln  an  der  Hand. 

An  der  Hand  ist  nun  nur  mehr  für  kurze  Muskeln  Platz.  Sie 
bilden  drei  natürliche  Gruppen,  deren  eine  die  den  Ballen  des 
Daumens  zusammeusetzenden  Muskeln,  die  zweite  die  Muskeln  am 
Ballen  des  kleinen  Fingers,  und  die  dritte  die  in  die  Zwischen- 
räume der  Metacarpusknochen  eingesenkten  Mtisculi  interossei  begreift. 
Die  Spulmuskeln  (Musculi  lumbricales)  wurden  schon  beim  tief- 
liegenden Fingerbeuger  geschildert. 

A.  Muskeln  des  Daumenhallens,   Thenar. 

Der  kurze  Abzieher  des  Daumens  ist  der  äusserste,  und 
zugleich  der  oberflächlichste  am  Ballen,  entspringt  vom  Lujamentum 
carpi  transversum,  und  endigt  am  Radialrande  der  Basis  des  ersten 
Gliedes  des  Daumens. 

Lc^pine  zeigte,  dass  auf  dem  AUlnctor  jmHivin  hrf'visy  ein  bisher  unbekannt 
gebliebener  Haiitmnskel  aufliegt,  welcher  von  der  Eiidselme  des  Abduct«)r  ent- 
springt, und  rfickläutig  in  der  Haut  des  DaiimenbaUens  sich  verliert.  .Seine  Länge 
beträgt  drei  bis  vier  Centimeter.  Kr  fehlt  nur  selten.  Wir  haben  ihn  oftmals,  und 
von  ansehnlicher  Stärke  gesehen.  In  jeder  Form  seines  Vorkommens,  erscheint  er 
mir  eigentlich  als  ein  zweiter,  aus  der  Haut  des  Daumenballens  entspringender 
Kopf  des  Afjductor  polUcis  brevit.  Im  Plattfuss  kommt  er  nicht  so  constant  vor, 
und  steht  in  derselben  Beziehung  zum  Äbductor  hallueia.  Dictumn.  des  progrh»  des 
»denoes  mSd,  1864. 


§.  185.  Voskeln  an  der  Hand.  509 

Das  Wort  Thenar  bedarf  einer  Erklärung.  Bivap,  von  OEfvco,  schlagen, 
bedeutet  ursprünglich  die  flache  Hand,  mit  welcher  man  schlägt  und  drückt. 
Gegensatz  avxiO^vap,  Kücken  der  Hand.  Die  Fusssohle  hiess  O^vap  zodd;,  und 
die  Gnibe  am  Altar,  in  welche  die  Opfer  gelegt  wurden,  O^vap  ßwjxoO.  Später 
bezeichnete  man  mit  Thenar  insgesammt  das  kurze  Muskelfleisch  der  Hohlhand 
und  des  Plattfusses,  welches  man  in  der  Kindheit  der  Anatomie,  noch  nicht  in 
einzelne  Muskelindividuen  zu  zerlegen  verstand.  Man  unterschied  sofort  an  ihm 
einen  eigentlichen  Themir  (Fleisch  des  Daumens),  einen  HypoÜienar  (Pleisch  des 
kleinen  Fingers),  und  einen  Mesolhenar  (Fleisch  zwischen  den  Metacarpusknochen). 
Als  man  aber  die  Muskeln  der  Finger  und  Zehen  genau  isolirte,  und  sie  nach 
ihrer  Wirkungsart  benannte  (Adductor,  Ähductor,  Flexor,  Opponent),  wurden  die 
alten  Namen  Thenar  und  Hypothenar  für  die  Gesammtheit  dieser  Muskeln 
aufgelassen,  und  nur  für  die  Ballen  des  Daumens  und  Kleinfingers  noch  bei- 
behalten. Bei  den  Arabisten  lese  ich  für  Thenar,  auch  Ir,  welches  Wort  als 
Hir,  schon  in  Cicero  vorkommt  (Fin.  2,  8,  23),  und  oflfenbar  das  latinisirte 
ydp  ist. 

Der  Gegensteller  des  Daumens  wird  vom  vorigen  bedeckt, 
hat  mit  ihm  gleichen  Ursprung,  und  heftet  sich  an  den  Radialrand 
und  das  Köpfchen  des  Metacarpus  pollids. 

Der  kurze  Beuger  ist  zweiköpfig.  Der  oberflächliche 
Kopf,  welcher  fast  immer  mit  dem  Gegensteller  mehr  weniger  ver- 
wachsen ist,  entsteht  vom  queren  Handwurzelbande,  der  tiefe  Kopf 
vom  Os  multangulum  majtts,  capitatum,  und  hamatum.  Beide  Köpfe 
fassen  eine  Rinne  zwischen  sich,  in  welcher  die  Sehne  des  Flexor 
pollicis  longua  sich  einbettet,  und  setzen  sich  an  beiden  Rändern 
der  Basis  des  ersten  Gliedes  des  Daumens  fest.  Die  beiden  Ossa 
sesamoidea  sind  mit  den  Endsehnen  beider  Köpfe  verwachsen.  Er 
ist  dem  Flexor  digltoimm  perforatus  oder  sublimis  der  übrigen  Finger 
analog,  während  der  lange  Beuger  des  Daumens  dem  Flexor  per- 
forans  oder  profundus  entspricht. 

Der  Zuzieher  des  Daumens  liegt  tief  im  Grunde  der  Hohl- 
hand, bedeckt  von  den  Sehnen  der  Fingerbeuger,  lässt  sich  vom 
tiefen  Kopfe  des  kurzen  Beugers  oft  nicht  trennen,  entspringt  breit 
vom  Metacarpus  des  Mittelfingers,  und  heftet  sich  zugespitzt  an  das 
innere  Sesambein  des  ersten  Daumengelenks.  Der  freie  Rand  der 
Hautfalte,  welche  sich  spannt,  wenn  der  Daumen  stark  abducirt 
wird,  schliesst  den  freien  Rand  dieses  dreieckigen  Muskels  ein. 


B,  Muskeln  des  Kleinfingerballens,  Hypothenar. 

Bei  der  sorgfältigen  Präparation  der  Muskeln  am  Kleinfinger- 
ballen, findet  man  zuerst  einen  im  subcutanen  Bindegewebe  ein- 
gelagerten viereckigen,  und  als  Palmari^  brems  benannten  Muskel 
voi-,  welcher  vom  Ulnarrande  der  Aponeurosis  palmaiis  (§.  186)  aus- 
geht, mit  drei  bis  vier  quergerichteten  Bündeln  die  Muskeln  des 
Kleinfingerballens  überkreuzt,  und  sich  in  der  Haut  am  Ulnarrande 


510  §.  185.  MoBkeln  an  der  Hand. 

der  Hand  verliert.  Er  ist  es,  welcher  durch  seine  Contraction,  das 
mehrfach  grubige  Einsinken  der  Haut  am  Ulnarrande  der  Hand 
bewirkt,  wenn  diese  mit  Kraft  zur  Faust  geschlossen  wird.  Nach 
seiner  Entfernung  lassen  sich  am  Kleinfingerballen  folgende  drei 
kleine  Längenmuskeln  isoliren. 

Der  Abzieher  liegt  am  Ulnarrande  der  Hand,  entspringt  vom 
Os  pmforme,  und  tritt  an  die  Basis  des  ersten  Gliedes  des  kleinen 
Fingers,  theilweise  auch  zur  Rückenaponeurose  dieses  Fingers. 

Der  kurze  Beuger  geht  vom  queren  Handwurzelbande  und 
vom  Haken  des  Hakenbeins  zur  selben  Ansatzstelle,  wie  der  vor- 
genannte, mit  welchem  er  sehr  häufig  verschmilzt.  Aber  selbst  in 
diesem  Falle  deutet  ein  kleiner  Schlitz,  durch  welchen  der  Hohl- 
han dast  des  Nervus  ulnaris  und  der  gleichnamigen  Arterie  hindurch- 
tritt, die  Trennung  beider  Muskeln  an. 

Der  Gegenstell  er  des  kleinen  Fingers,  unrichtig  auch  als 
Zuzieher  angeführt,  entspringt  wie  der  kurze  Beuger,  von  welchem 
er  bedeckt  wird,  ist  aber  mehr  gegen  die  Mitte  des  Handtellers 
gelagert,  und  endigt  am  Mittelstück  und  am  Köpfchen  des  Meta- 
carpus  digiti  minimi, 

C.  Die  Zwischenknochenmuskeln ,  Musculi  interossei, 

Sie  zerfallen  in  innere  und  äussere.  Innere  finden  sich 
drei.  Sie  entspringen  nur  an  einer  Seitenfläche  eines  Mittelhaud- 
beins,  vei^schliessen  somit  das  Spatium  interosseuin  nicht  vollständig, 
und  erlauben  dadurch  den  äusseren  Zwischenknochenmuskeln  sich 
bis  in  die  Hohlhand  vorzudrängen.  Der  erste  Interossem  internus 
entspringt  von  der  Ulnai*fläche  des  Metacarpus  indicis,  der  zweite 
und  dritte  von  der  Kadialfläche  des  Metacarpus  des  Ring-  und 
kleinen  Fingers.  Ihre  Endsehnen  steigen  neben  den  Köpfchen  der 
betreffenden  Mittelhandknochen  zur  Rückenfläche  des  ersten  Finger- 
gliedes empor,  und  verlieren  sich  in  dessen  Rückenaponeurose.  Sie 
ziehen  die  ausgespreiteten  Finger  gegen  den  Mittelfinger  zu.  — 
Aeussere  finden  sich  vier,  in  jedem  Interstitium  interosseuin  einer. 
Sie  entspringen  von  den  einander  zugekehrten  Flächen  je  zweier 
Ossa  metacaTpiy  füllen  also  ihren  Zwischenraum  ganz  aus,  und  lassen 
vom  Handrücken  her  die  Interossei  interni  nicht  sehen.  D(*r  erste 
geht  zur  Radialseite  der  Rückenaponeurose  des  Zeigefingers,  der 
zweite  und  dritte  zur  Radial-  und  Ulnarseite  der  Rückenaponeu- 
rose des  Mittelfingers,  und  der  vierte  zur  Ulnarseite  derselben 
Aponeurose  des  Ringfingers.  Die  zwei  Antheile  des  ersten  Iiüer- 
osseus  externuSy  welche  am  Metacarpus  pollicis  und  indicis  entstehen, 
bleiben  länger  von  einander  getrennt,  als  jene  der  übrigen,  —  ein 
Grund,    warum    man    den    vom    Mittelhandknochen    des    Daumens 


§.  186.  Faacie  dar  oberen  Eztremit&t.  51 1 

entspringenden  Antheil  des  ersten  Interosseus  extemus^  imger  Weise 
auch  als  Musculus  ahductor  indicls  beschrieb,  und  den  vom  Mittel- 
handknochen des  Zeigefingers  kommenden  Antheil,  als  ersten  hder- 
osseu^  interrms  gelten  liess,  wonach  somit  nur  drei  Externi,  aber  vier 
Interni  angenommen  wurden  (Alb in).  Die  Interossd  extermi  ziehen 
die  Finger  vom  Mittelfinger  ab,  und  spreiten  sie  aus. 

Die  Wirkung  der  Mwtctdt  int^ronsei  interni  et  ex/^emi,  und  ihr  Zahlenver- 
bältniss,  wird  am  besten  folgendennassen  anfgefasst.  Jeder  Finger  muss  der 
Mittellinie  der  ganzen  Hand,  deren  Verlängerung  durch  den  Mittelfinger  geht, 
genähert,  d.  i.  adducirt,  und  von  ihr  entfernt,  d.  i.  abducirt  werden  können.  Die 
vier  hUerosaei  externi  sind  ßUmmtlich  Abductores,  die  drei  interni  Adductores. 
Das  macht  sieben.  Da  der  Daumen  bereits  seinen  besonderen  Adductor  hat,  so 
war  nur  mehr  fftr  den  Zeige-,  Ring-  und  kleinen  Finger  ein  eigener  Adductor 
nöthig  (also  drei  Intero^aei  interni),  um  diese  Finger  dem  Mittelfinger  zu  nähern. 
Da  ferner  der  Daumen  und  der  kleine  Finger,  je  einen  besonderen  Abductor  be- 
sitzen, mussten  die  drei  mittleren  Finger,  eigene  Abductoren  erhalten,  und  zwar 
deren  vier,  weil  der  Zeige-  und  Ringfinger  nur  nach  Einer  Seite,  der  Mittelfinger 
aber  nach  zwei  Seiten,  radialwärts  und  ulnarwärts,  von  der  durch  ihn  gehenden 
Mittellinie  der  Hand  entfernt  werden  kann.  —  Wenn,  wie  eben  gesagt,  der  Inter- 
(MseuA  externuü  primiis  den  Zeigefinger  abducirt,  so  kann  sein  Zeigefingerkopf  nicht 
nach  Albin  als  erster  InteroMseus  internus  genommen  werden,  denn  alle  Intero»sei 
interni  sind  Adductoren. 


§.  186.  Fascie  der  oberen  Extremität 

Die  fibröse  Fascie  oder  Binde  der  oberen  Extremität  zerfUllt 
in  die  »Schulterblatt-,  Oberarm-,  Vorderarm-  und  Handfascie, 
welche  ununterbrochen  in  einander  übergehen,  und  einerseits  eine 
complete  fibröse  Hülle  für  die  vier  Abtheilungen  der  oberen  Extre- 
mität bilden,  so  wie  andererseits  durch  coulissenartig  in  die  Tiefe 
eindringende  Fortsetzungen,  Scheidewände  zwischen  einzelnen  Muskel- 
gruppen der  Extremität  erzeugen.  Zwischen  Fascie  und  Haut  lagert 
noch  ein  anatomisch  darstellbares  Blatt  verdichteten  Bindegewebes, 
welches  als  Fascia  superficialis  von  der  eigentlichen  fibrösen  Fascie 
unterschieden  wird. 

Die  Fascie  des  Schulterblattes,  Fascia  scapuluris,  welche 
das  ganze  Schulterblatt  umhüllt,  verwandelt  die  Fossa  supra-  et 
infraspinata,  und  die  Fossa  subscapulain^,  in  ebenso  viele  Hohlräume, 
welche  durch  die  gleichnamigen  Muskeln  ausgeiiillt  werden.  Man 
unterscheidet  somit  eine  Fascia  supraspinata,  infraspinata,  und  sah- 
Hixip^daris,  Letztere  ist  viel  schwächer,  als  die  beiden  anderen.  Sie 
hingleiten  die  von  ihnen  bedeckten  Muskeln  zu  ihren  respectiven 
Insertionen  am  (Jberarm,  imd  verlieren  sich  theils  in  die  Fascie 
des  Oberarms,  theils  aber  auch  in  die  fibröse  Kapsel  des  Schulter- 
gelenks.    Die   Fasda  infraspinata   erzeugt   zwei   Fortsetzungen,  von 


512  f.  IM.  FMci«  der  oUm  Eztrcaittt. 

weichen    die    stärkere    zwischen    den    Tere8  major    und    minor,    die 
schwächere  zwischen   leres  minor  und  Infrcupinatus  eindringt. 

Die  Fascie  des  Oberarms,  Fascia  brachü,  entspringt  an  den 
IJrH|>rungK|iunkten  des  Deltamuskels.  Sie  hängt  vorn  mit  der  dünnen 
Fascie,  wcdche  den  grossen  Brustmuskel  überzieht,  hinten  mit  der 
FaHc-i(»,  welche  den  MxlscuIus  infraspincUus  bedeckt,  zusammen.  Sie 
dedoublirt  sich,  um  den  Deltamuskel  mit  einem  hoch-  und  tief- 
liegenden Blatte  zu  umschliessen.  Vom  äusseren  Kande  des  grossen 
Brustmuskels  geht  sie  zu  demselben  Kande  des  Latisdmus  dorsi  hin- 
über, und  bildet  während  dieses  Ueberganges,  einen  bogenförmigen, 
den  (iefllssen  und  Nerven  der  Achselhöhle  zugekehrten  und  sie 
überspannenden  Rand,  —  den  Achselbogen.  Ein  Antheil  der 
Fascia  coraco^ectoralis,  welcher  sich  an  die  Fasda  hrachii  ansetzt, 
zieht  dieselbe  so  stark  in  die  Achselgrube  hinein,  dass  die  mit  ihr 
verbundene  allgemeine  Decke  ihr  nachzufolgen  gezwungen  wird, 
und  als  Achselgrube,  Fovea  axillaris,  einsinken  muss,  in  welcher 
die  Arteria  und  Vena  axillaris,  der  Plexus  axillaris  der  Armnerven, 
und  reichliches  Bindegewebe  enthalten  ist,  in  dessen  Maschen 
Iiymj)hdrÜ8en  lagern:  Gl,  alares,  contrahirt  für  axillares,  wie  Cicero 
sagt:  ita  vestra  a^dlla  ala  facta  est,  elisione  literae  vastioris,  (Litera 
vasta  ist  das  scharfklingendc  X.)  —  Unter  der  Insertion  des  Delta- 
muHkels  wird  die  Fascie  durch  Antheile  der  Sehnen  des  Deltoides, 
PecUrrali^  major,  Ijotissimus  dorsi  verstärkt,  welche  Muskeln  somit 
(?inen  spannenden  Kinfluss  auf  sie  ausüben.  Sie  schickt  zur  äusseren 
und  inneren  Kante  des  Oberarmknochens,  bis  zu  den  Condylis 
luTab,  zwei  Fortsetzungen  in  die  Tiefe,  welche  natürliche  Scheide- 
wand** zwischen  den  Bezirken  der  Strecker  und  Beuger  des  Vorder- 
arms vorstellen.  Sie  heissen  IJyam^ita  intermxAScularia,  ein  extemum 
und  ii)tm*num.  Das  extemum  erstreckt  sieh  von  der  Insertionsstelle 
dos  Deltanmskels  bis  zum  (Jondylus  extemus  herab;  —  das  internum 
vom  Ansatzpunkte  des  i\traco-bra<:hialis  bis  zum  Condylns  intei*i}us, 
und  ist  breiter  und  stärker  als  das  extemum.  Zwischen  Biceps  und 
Jirachialis  internus  wird  ein  drittes  Blatt  (juer  eingeschoben,  welches 
mit  der  die»  (Jeiasse  und  Nerven  im  iSulcus  bicipitidis  internus  um- 
hüllenden Bindegewebsseheide  im  Zusammenhange  steht. 

Die  Faseie  des  Vorderarmes,  Fascia  antibradui,  wird  am 
Kllbogen  durch  Aufnahme  der  von  den  Sehnen  des  Bieejjs  und 
Trieeps  stammenden  Verstärkungsbündel,  und  durch  Ringfasern, 
welche  längs  des  hintert»n  Winkels  der  Ulna  entspringen,  bedeutend 
vt^rstärkt.  Sie  lässt  selbst  das  Fleisch  der  um  das  Ellbogrngelenk 
gruppirten  Muskeln,  welche  am  Knochen  nicht  genug  Platz  zum 
Urspi*ung  fanden,  von  ihrer  inneren  Fläche  entspringen,  und  schiebt 
»wischen  ihre  Bäuche  »ahlreiehe  tibK>se  Fortsätze  zu  demselben 
Zweck  ein.     Die  Abgangsatellen  dieser  Fortsätze  können  schon  bei 


S.  186.  Fucie  der  oberen  EztremiUt.  513 

äusserer  Ansicht  einer  wohlpräparirten  Faseie,  als  weisse  Sti'eifen 
erkannt  werden.  —  An  der  Aussenseite  des  Vorderarms  ist  sie 
doppelt  so  stark,  als  an  der  Innenseite.  In  der  Ellbogenbeuge  liegt 
sie  nur  lose  auf  den  Gofilssen  und  Nerven  der  Plica  cubifi,  von 
welchen  sie  durch  fettreiches  Bindegewebe  getrennt  wird,  besitzt 
hier  eine  grössere  OefFnung,  durch  welche  die  tiefliegenden  Brachial- 
venen mit  der  extra  fasdam  gelegenen  Vena  mediana,  durch  einen 
ansehnlichen  Verbindungsast  communiciren,  und  adhärirt  fester  an 
die  Muskeln,  welche  die  Seiten  der  Ellbogengrube  bildeu.  Fast  alle 
Muskeln  des  Vorderarms,  und  die  zwischen  ihnen  laufenden  Gefiisse 
und  Nerven,  erhalten  Scheiden  von  ihr.  Besondere  Erwähnung 
verdient  ein  zwischen  der  ersten  und  zweiten  Schichte  der  Muskeln 
an  der  inneren  Vorderarmseite  durchziehendes  Blatt  der  Fasda  anti- 
bra^chü,  welches  um  so  stärker  erscheint,  je  näher  dem  Carpus  man 
dasselbe  untersucht.  —  In  der  Nähe  der  Arüeulatio  carpi  verdichtet 
sie  sich  zum  Ligamentum  carpi  commune  dorsale  et  volare.  Das 
dorsale  verhält  sich  zu  den  unter  ihm  durchgehenden  Streckmuskeln, 
wie  im  §.  184  schon  gesagt  wurde;  das  volare  liegt  auf  dem  Liga- 
mentwn  carpi  transversum  seu  proprium  auf,  verschmilzt  theilweise  mit 
ihm,  und  wird  von  ihm,  gegen  den  Radius  zu,  durch  die  Sehne  des 
Radialis  internus,  gegen  das  Erbsenbein  zu,  durch  den  Nervus  und 
die  Arteria  ulnaris,  und  in  der  Mitte  durch  die  Sehne  des  Palmaris 
longiis  getrennt.  Das  Ligamentum  carpi  dorsale  setzt  sich  in  die 
Dorsalaponeurose  der  Hand  fort,  welche  ein  hochliegendes,  die 
Strecksehnen  deckendes,  und  ein  tiefes,  etwas  stärkeres,  die 
Rückenfläche  der  Musculi  interossei  überziehendes  Blatt  unter- 
scheiden lässt. 

Das  Ligamentum  carpi  commune  volare  hängt  mit  der  Aponeu- 
rose  der  Hohlhand  (Aponeurosis  palmaris)  zusammen,  welche  die 
Weichtheile  in  der  Hohlhand  zudeckt,  in  der  Mitte  des  Handtellers 
am  stärksten  ist,  auf  der  Muskulatur  des  äusseren  und  inneren 
Ballens  der  Hand  sich  verdünnt,  und  am  Ulnar-  und  Radial rande  der 
Hand,  mit  der  Dorsalaponeurose  sich  in  Verbindung  setzt.  Der  mitt- 
lere, die  Beugesehnen  der  Finger  deckende  Antheil  der  Aponeurose 
ist  dreieckig,  kehrt  seine  Spitze  der  Sehne  des  Palmaris  longus  zu, 
welche  in  sie  übergeht,  und  divergirt,  gegen  die  ersten  Finger- 
gelenke hin,  in  vier  durch  Querfasern  verbundene  Zipfe,  welche 
thcils  mit  den  fibrösen  Scheiden  der  Sehnen  der  Fingerbeuger  zu- 
sanimenfliessen,  theils  in  jene  prallen  Fettpolster  der  Haut  übergehen, 
welche  beim  Hohlmachen  der  Hand  an  den  Köpfen  der  Mittelhand- 
knochen bemerkbar  werden  (Monticuli  der  Chiromanten). 

Einzelne  Abtheilangen  der  erwähnten  Fascien,  omschliessen  als  Scheiden  die 
Mnsknlatnr  so  fest,   dass,  wenn  sie  eingeschnitten  werden,  das  Mnskelfleisch  über 
die  Oefihung  der  Scheide  TorqniUt     Dieses  Vorquellen  wird,  wenn  die  Oeffnung 
Hyrtl,  Lehrbuch  der  Anatomie.  14.  Aufl.  83 


514  S.  187.  AIlgeinein(>  Betrachtnni;  der  nnUren  Extremität. 

der  Scheide  ein  zufällig  entstandener  Riss  ist,  von  den  Chinirgen  Muskelbruch 
(Hemia  mutcularia)  genannt,  und  wurde  namentlich  am  Supinator  Icmyuti  schon 
mehrmals  gesehen.  —  Da  die  grossen  Gefösse  und  Nerven  innerlialh  der  Fascien 
liegen,  so  müssen  für  die  zur  Haut  gehenden,  oder  von  der  Haut  kommenden 
Aeste  derselben,  Oeffnungen  vorhanden  sein,  welche  erst  in  der  Gefass-  und  Nerven- 
lehre  näher  bezeichnet  werden  können.  —  Die  Festigkeit  und  Unnachgiebigkeit 
der  Fascien  am  Ellbogen  und  in  der  Hohlhand,  erklärt  hinlänglicli  die  heftigen 
Zufälle,  welche  gewisse  tiefliegende  Entzündungen  und  Eiterungen  veranlassen, 
und  rechtfertigt  die  frühzeitige  Anwendung  des  Messers  bei  Abscessen  unter  diesen 
Fascien.  —  Die  vielen  Fortsätze,  welche  die  Fascie  der  oberen  Extremität  in  die 
Tiefe  sendet,  sind  der  Grund,  warum  man  sie  beim  Amputiren  nicht  zugleich  mit 
der  Haut  von  den  Muskeln  lospräparirt,  sondern  die  Haut  allein,  ohne  Fascie,  als 
Manschette  zurückschlägst. 


G.  Muskeln  der  unteren  Extremität. 

§.  187.  Allgemeine  BetracMung  der  unteren  Extremität 

Dio  untere  Extremität,  welche  die  Last  des  Stammes  zu  stützen 
und  zu  tragen  hat,  benöthigte  aus  diesem  Gründe  grössere  Länge 
und  Stilrkü.  Aus  demselben  Grunde  wurde  sie  auch  mit  viel  kraft- 
voiiernn  Muskeln  ausgestattet,  und  auf  eine  viel  weniger  bewegliche 
WeJHe  mit  dem  Stamme  verbunden,  als  die  obere.  Ihre  Länge,  im 
Vergleich  zur  oberen,  liefert  den  triftigsten  Beweis  gegen  Moscati's 
possierlichem,  aber  in  allem  Ernste  aufgestellte  Behauptung,  dass  der 
(iang  auf  allen  Vieren  der  naturgemässe,  und  jener  auf  zwei  Füssen 
nur  eine  üble  Angewohnheit  des  Menschen  sei.  Moscati  selbst  hat 
es  übrigens  bequemer  gefunden,  auf  zwei  Füssen  zu  gehen,  und  wie 
andere  Menschenkinder  zu  leben,  statt  auf  vieren  zu  kriechen,  und 
pectidum  more  in  grüne  Krautköpfe  zu  beissen. 

Das  der  ersten  Abtheilung  der  unteren  Extremität,  der  Hüfte, 
zu  Grunde  liegende  Hüftbein,  verbindet  sich  durch  eine  feste 
Symphyse  mit  dem  Kreuzbein  des  Rückgrates.  Dadurch  wird  der 
ganze  Apparat  von  Muskeln,  welcher  an  der  oberen  Extremität  die 
bewegliche  Schulter  tixiren  musste,  an  der  unteren  entbehrlich.  Da- 
gegen erreichen  die  vom  Darmbein  und  Sitzbein  zum  Oberschenkel 
gehenden  Muskeln,  welche  das  Becken  auf  den  Schenkelköpfen 
beim  aufrechten  Gange  balancirend  festhalten,  eine  Stärke,  welche 
mit  dem  zu  dieser  Thätigkeit  erforderlichen  Kraftaufwande  im  Ver- 
hältnisse steht.  Dadurch  wird  denn  auch  die  starke  Wölbung  der 
Fleischmassen  der  Hinterbacken,  Nates  s,  Clunes  (^Gesäss,  sedes)^  ge- 
geben, welche  nur  dem  menschlichen  Geschlechte  eigen  ist,  wie 
Buffon  sagt:  les  fesses  nappaHiennent  qua  Vegpece  humcUne.  — 
Beide    Hinterbacken    berühren    sich    in    der    Spalte    des    Gesässes, 


S-  187.  Allgemeine  Betrachtung  der  unteren  Extremität.  5]  5 

welche  den  After  birgt.  Vor  dem  After  liegt  das  Mittelfleisch, 
Perineum,  welches  beim  Manne  sich  bis  zur  Basis  des  Hodensacks 
erstreckt,  beim  Weibe  aber  nur  bis  zum  hinteren  Winkel  der 
Schamspalte  reicht.  Bei  ausgezehrten  Individuen  schlottert  die 
hängende  Hinterbacke,  und  wird  vom  Oberschenkel  durch  eine 
tiefe,  schief  vom  Steissbeine  gegen  den  grossen  Trochanter  ge- 
richtete Furche,  den  Svicus  »ubtschiacUciis,  getrennt,  welcher  bei  der 
Fülle  und  Prallhcit  eines  vollen  und  harten  Gesässes,  weniger  tief 
erscheint. 

Die  mächtigen  Muskellager  und  das  subcutane  fettreiche  Binde- 
gewebe des  Gesässes,  lassen  nur  die  Crista  des  Darmbeins,  und,  bei 
zusammengekauertem  Stamme,  auch  das  Tuber  ossis  üchii  fühlen. 
Die  dicke  Haut  des  Gesässes  kann  man  bei  fetten  und  kerngesunden 
Menschen  weder  falten  noch  zwicken.  Sie  verdünnt  sich  gegen  den 
After,  wo  sie  viele  Talgdrüsen  enthält,  und  wird  auf  dem  Mittel- 
fleische so  zart,  dass  man  die  subcutanen  Venen  durchscheinen 
sieht.  Das  Bindegewebe  unter  der  Haut  erreicht  durch  Fettablage- 
rung eine  bedeutende  Dicke,  und  schliesst  zuweilen  auf  dem  Tuber 
ischii,  so  wie  an  der  Spina  ossis  üei  anterior  superior,  eine  Bursa 
mucosa  subcutanea  ein.  Bei  den  Frauen  der  Buschmänner  und 
einigen  AfFengeschlechtern,  geht  diese  Fettwucherung  in*s  Monströse. 
Cuvier  hat  das  enorme  Gesäss  von  der  bekannten  Venus  hotten- 
tottica  in  Paris  abgebildet. 

Das  dicke  Fleisch  des  Oberschenkels  hüllt  das  Femur  so  voll- 
kommen ein,  dass  nur  der  grosse  Trochanter,  und  die  beiden  Con- 
dylen  am  unteren  Ende,  der  befühlenden  Hand  zugänglich  sind,  und 
ersterer  deshalb  bei  der  Ausmittlung  von  Verrenkungen  des  Hüft- 
gelenks, einen  sehr  verlässlichen  Orientirungspunkt  abgiebt.  —  In- 
dem die  Muskeln  am  Oberschenkel,  gegen  das  Knie  herab,  sämmt- 
lich  sehnig  werden,  so  vermindert  sich  der  Umfang  des  Schenkels 
in  derselben  Richtung,  und  man  kann  am  Knie,  die  Enden  des 
Ober-  und  Unterschenkels,  die  Kniescheibe,  die  Spina  tibiae,  das 
Ligamentum,  patellae  proprium^  und  selbst  die  Seitenbänder  des  Knie- 
gelenks, bei  manueller  Untersuchung  fühlen.  —  Man  findet  die  Haut 
an  der  äusseren  Seite  des  Oberschenkels  dicker,  und  minder  empfind- 
lich, als  an  der  inneren,  wo  sie  sich,  besonders  gegen  das  Leisten- 
bund zu,  so  verdünnt,  dass  man  bei  mageren  Schenkeln  die  Leisten- 
drüsen, die  Hautvenen,  ja  selbst  den  Pulsschlag  der  Artena  femoralis 
wehen  kann.  Auf  der  Kniescheibe  wird  sie  hart  und  rauh,  und  bei 
häiiHgein  Knieen  schwielig.  —  Das  Unterhautbindegewebe  ist  über 
dem  grossen  Trochanter  und  auf  der  Kniescheibe  immer  fettarm, 
und  enthält  an  beiden  Stellen  eine  Bursa  mucosa  subcutanea.  Unter 
der  Bursa  mucosa  auf  der  Kniescheibe,  liegt  noch  eine  zweite  (siehe 

§.  190).     Diese  Schloimbeutel  veranlassen,   durch  copiöse  Secretion 

33* 


516  §.  188.  Maskeln  an  der  Hüft«. 

ihres  Inhaltes,  die  unter  dem  Namen  des  Hygroma  cysticum  patdlare 
bekannte  chirurgische  Krankheitsform,  welche,  da  sie  bei  Dienst- 
boten, welche  den  Fussboden  zu  scheuern  haben  und  dabei  auf 
den  Knieen  herumrutschen,  häufig  vorkommt,  in  England  ,,the 
housefniaids  hiee^  genannt  wird.  —  An  der  hinteren  Gegend  des 
Blniegelenks  fühlt  man  bei  den  Beugebewegungen,  die  Sehnen  der 
Unterschenkelbeuger  sich  anspannen,  und  eine  dreieckige,  nach 
oben  spitzige  Grube  begrenzen,  welche  als  Wiederholung  der  Pltca 
cubiti,  den  Namen  Kniekehle,  Fossa  poplitea  (bei  den  Engländern 
„the  hollow  of  the  hg'*)  führt. 

Der  Unterschenkel  gleicht  noch  viel  mehr,  als  der  Ober- 
schenkel, einem  abgestumpften  Kegel,  dessen  Spitze  dem  Sprung- 
gelenke, dessen  Basis  dem  dicken  Fleische  der  Wade  entspricht. 
Nur  der  Mensch  erfreut  sich  so  muskelstarker  Waden,  des  auf- 
rechten Ganges  wegen.  Plinius  sagt:  homini  tantum  surae  caniosae 
sunt,  —  An  der  äusseren  Seite  des  Unterschenkels  findet  sich,  nach 
oben  zu,  noch  kräftiges  Muskelfleisch  vor;  —  nach  unten  zu,  wird 
das  Wadenbein  schon  fühlbar.  An  der  inneren  Seite  deckt  nur 
Haut  und  Fascie  das  leicht  zu  fühlende  Schienbein. 

Der  Fuss  besitzt  an  seiner  Dorsalgegend  ein  dünnes  und  sehr 
verschiebbares  Integument,  durch  welches  die  Sehnen  der  Streck- 
muskeln, und  die  Vorsprünge  der  Knochen  dem  Gefühle  zugänglich 
werden.  —  In  der  Fusssohle,  Planta,  treffen  wir  die  unverschieb- 
bare Haut  an  der  Ferse  und  am  Ballen  der  Zehen  sehr  dick,  die 
Epidermis  über  zwei  Linien  Mächtigkeit  verhornt,  und  das  reichlich 
mit  tendinösen  Balken  durchzogene  Unterhautbindegewebe,  lässt  die 
tiefer  liegenden  Gebilde  nicht  durchfühlen.  Unter  der  Tvherositas 
ealcaneiy  und  den  Köpfen  des  ersten  und  fünften  Metatarsusknochens 
liegen  subcutane  Schleimbeutel,  deren  Entstehung  nicht  dem  Drucke 
zuzuschreiben  ist,  welchen  diese  drei  Punkte  beim  Gebrauche  des 
Fusses  zum  Gehen  und  Stehen  auszuhalten  haben,  indem  sie  schon 
im  neugeborenen  Kinde  vorhanden  sind. 


§.  188.  Muskeln  an  der  Hüfte. 

Es  werden  unter  dem  Namen  der  Hüftmuskeln  nur  jene 
verstanden,  welche  die  äussere  und  innere  Fläche  des  Hüftbeins 
einnehmen,  und  am  oberen  Ende  des  Oberschenkels  endigen.  Viele 
der  vom  Hüftbeine  entspringenden  Muskeln,  gehen  weiter  am 
Schenkel  herab,  überspringen  sogar  das  Kniegelenk,  um  am  Unter- 
schenkel anzugreifen,  und  werden  deshalb  nicht  zu  den  Hüftmuskeln 
gezählt,  sondern  unter  den  Muskeln  an  der  vorderen  und  hinteren 
Seite  des  Oberschenkels  in  den  folgenden  Paragraphen  beschrieben. 


§.  188.  Maskelii  an  der  Hftfto.  517 

A,  Aeussere  Muskeln  der  Hüfte. 

Der  grosse  Gesässrauskel,  Glutaeus  magnus  (y^^outo^,  Hinter- 
backe), kommt  zuerst  nach  Entfernung  der  Haut  am  Gesässe  zum 
Vorschein.  Er  hat  eine  rautenförmige  Gestalt,  und  entspringt  vom 
hinteren  Ende  der  äusseren  Darmbeinlefze ,  von  dem  die  hintere 
Kreuzbein  fläche  deckenden  Blatte  der  Fascla  lumbo-dorsalü ,  dem 
Seitenrande  des  Steissbcins,  und  dem  Ligamentum  tuberoso-sacrum. 
Seine  zahlreichen,  parallelen,  groben,  und  locker  zusammenhalten- 
den Bündel,  bilden  gewöhnlich  eine  Muskclmasse  von  einem  Zoll 
Dicke,  welche  schräge  nach  aussen  und  unten  herabzieht,  und  in 
eine  breite  starke  Sehne  übergeht,  welche  sich  theils  an  dem  oberen 
Ende  der  äusseren  Lefze  der  Linea  aspera  femx)ris  festsetzt,  theils 
in  die  Fascia  lata  übergeht.  Zwischen  seiner  Endsehne  und  dem 
grossen  Trochanter,  liegt  ein  ansehnlicher,  einfacher  oder  gefächer- 
ter Schleimbeutel,  dem  im  weiteren  Laufe  der  Sehne  noch  zwei 
bis  drei  kleinere  folgen. 

Tiedemann  (MeckeVs  Archiv  für  Physiologie,  4.  BcL)  sah  ihn  auf  beiden 
Seiten  doppelt  bei  einem  Manne,  bei  welchem  auch  der  Cucullaris  und  Pectoralis 
doppelt  waren.  —  Bei  aufrechter  Stellung  decken  seine  imteren  Bündel  den  Sitz- 
knorren, und  gleiten  beim  Niedersitzen  von  ihm  ab,  so  dass  die  Last  des  Körpers 
den  Muskel  nicht  drückt.  Es  kann  deshalb  der  quere  Durchmesser  des  Becken- 
ansganges am  Lebenden,  nur  im  Liegen,  mit  gegen  den  Bauch  angezogenen 
Schenkeln,  ausgemittelt  werden.  ~  Alle  guten  lateinischen  Autoren  schreiben 
nicht  Oluteus,  sondern  Glutaeus,  nach  dem  aus  y^outo;  gebildeten  Adjectiv 
yXouTau);,  d.  i.  zum  Gesäss  gehörig. 

Der  mittlere  Gesässmuskel,  Glutaeus  mediiiSy  ü^gt  unter 
dem  vorigen,  welcher  jedoch  nur  seine  hintere  Hälfte  bedeckt.  Er 
entspringt  vom  vorderen  Thoile  der  äusseren  Darmbeinlefze,  welche 
der  Glutaeus  magnus  frei  lies»,  ko  wie  von  joner  Zone  der  äusseren 
Darmbeinfläche,  welche  zwisclM'n  der  TVista  und  der  Linea  semi- 
circulans  externa  liegt,  steigt  mit  crnivergenten  Faserbündeln  gerade 
abwärts,  und  setzt  sich  mit  ciiior  kurz<*n  starkf^n  Sehne  an  die  Spitze 
und  die  äussere  Fläche  des  grosHcii  Trocliaiiter  fest  (Schleimbeutel). 
Ein  unconstantes,  von  der  Spimi  anterior  inferürr  des  Darmbeins  zur 
Hüftgelenkskiipsel  ziehendes  Muskelbrindel,  wurde  von  Haugthon 
als   Glutaeus  quartus  beschrieben. 

Der  kleine  Gesässmuskel,  Glutaeus  minimus,  gleicht  einem 
entfalteten  Fächer.  Er  liegt,  vom  inittler(;ii  bedeckt,  auf  der  äusse- 
ren Darmbeinfläche  auf,  von  w<;I(!1mt  er,  bis  zur  Limta  samicircu' 
larls  ea^tenui  hinauf,  entspringt.  Er  zeugt,  wenn  er  rein  präparirt 
ist,  das  strahlige  Ansehen  des  Musculus  temporalis,  und  befestigt 
sich  an  die  innere  Fläche  der  Spitze  des  Trochanter  major  (Schleim- 

V 


51^  S.  188.  Muskeln  an  der  Hlifte. 

Alle  drei  Glutaei  sind  Abductores  fenioris.  Der  nvagnu«  zieht  üherdie«  den 
Schenkel  nach  hinten;  die  vorderen  Fasern  des  medius  und  minimua  rotiren  ihn 
nach  innen.  Ist  der  Schenkel  fixirt,  so  bewegen  sie  das  Becken  auf  den  Schenkel - 
köpfen,  oder  halten  e3  auf  denselben  fest,  um  den  aufrechten  Stamm  beim  Gehen 
und  Stehen  zu  balaneiren. 

Der  vordere  Band  des  Glutaeus  magniia  grenzt  an  den  Span- 
ner der  Schenkelbinde,  Tensor  fasciae  latae,  geht  vom  vorderen 
oberen  Darmbeinstachel  aus,  steigt  gerade  vor  dem  grossen  Tro- 
chantcr  herab,  und  pflanzt  sich  in  die  Fascia  lata  ein.  Spannt  die 
Fasoie,  und  hilft  den  Schenkel  einwärts  rollen.  Kr  gehört  streng 
genommen  nicht  dem  Gesässe,  sondern  der  äusseren  Seite  des 
Oberschenkels  an. 

Der  b  i  r  n  f ö  r  in  i  g  e  Muskel,  Musculus  pifriform  is  s.  pt/ra  midalis, 
entspringt  in  der  kleinen  Beckenhöhle  von  der  vorderen  Fläche  des 
Kreuzbeins,  in  der  liegend  des  zweiten  und  dritten  vorderen  Fora- 
mefi  sacrale.  Er  tritt  aus  der  Beckenhöhle  durch  das  Foramen 
üchiadicuin  mnjus  heraus,  streift  in  fast  querer  Richtung  an  der  hin- 
teren Fläche  der  Hüftgelenkskapsel  vorbei,  und  befestigt  sich  mit 
einer  kurzen  rundtMi  Sehne  unterhalb  des  Glutaeus  minimus  (Schleim- 
beutel). Rollt  den  Schenkel  auswärts.  Ich  sah  ihn  auf  beiden  Seiten 

fehlen. 

An    ihn    schliesst    sich    nach    unten    an:    der    innere  Ver- 

stopfungs-  oder   besser    Hüftbeinlochmuskel,    Musculus  obtu- 

r€Uoi*    s.    ohturatorius    internus,    welcher    gleichfalls    in    der    kleinen 

Beckenhöhle,  vom   Umfange  des  Forainen  obtur<itum,    und  theilweise 

von    der    inneren    Fläche    des  Verstopfungsbandes  entspringt,    seine 

Fleischbündel  gegen  das  Forainen  ischiadicum  nwius  zusammendrängt, 

und  hier  in  eine  Sehne  übergeht,  welche,  während  sie  das  genannte 

Foramen  passirt,  sich  um  die  Inclsura  iscluadica  minor  wie  um  (nne 

Rolle    herumschlägt,    und    quer    über    die    hintere  Wand    der    llüft- 

gelt^nkskapsel,    zur   Fossa   trodianterica   ablenkt,     (jleich    nach   dem 

Austritte  aus  dem  Foramen  ischiadicum  minus,  erhält  diese  Sehne  ein 

Paar    muskulöse    Zuwüchse,    —    die    beiden    Zwillingsmuskeln, 

Gemelli,  —  welche   ich    als  subalterne,   extra  pelvim  beündliciie   ITr- 

sprungsköpfe  des  Obturator  betrachte.     Der  obere    kommt  von  der 

Spina,    der    untere    von   der   Tuherositas  ossis   ischii,     Sie  hüUen  mit 

ihrem  Fleische  die  Sehne  des   Ohturatorius  internus  vollständig    ein, 

und  verschmelzen    mit    ihr,    bevor    sie  iiiren  Insertionspunkt  in  der 

Fossa  trochanterica   erreicht.      Obturator   internus    und    Gemelli   rollen 

nach  aussen. 

Die  Richtunf^  des  OUurator  internuJt  ist  keine  geradlinige.  Der  innerhalb 
und  der  ausserhalb  des  Beckens  liegende  Antheil  dieses  Muskels  bilden  mit  ein- 
ander einen  Winkel,  welcher  in  die  Iticutura  ischiaduu  miiwr  fallt.  Hier  ali^o  niuss 
sich  die  Sehne  des  Muskels  am  Knochen  reiben,  welcher  deshalb  mit  einem  knor- 
peligen Ueberzuge  versehen  wird,  auf  welchem  die  Sehne  mittelst  eines  zwischen- 


§.  188.  Mnskeln  an  der  Uftfte.  519 

Hegenden  Schleimbeiitel!*  gleitet.  Häufig  ist  dieser  Knorpelüberzug  der  Incisura 
ischiaiUca  minor  durch  scharfe  Riffe,  deren  Richtung  mit  der  Richtuugslinie  der 
Sehne  übereinstimmt,  in  mehrere  Furchen  getheilt,  welchen  entsprechend,  die 
Sehne  de«  Ohhwator  intei'uuj*  in  eben  so  viele  neben  einander  liegende  Bündel 
gespalten  erscheint.  —  Der  obere  Zwillingsmuskel  fehlt  als  Atfenälmlichkeit. 
Meckel  vermieste  sie  beide  (Regel  beim  Schnabelthier  imd  bei  den  Fledermäusen). 
R.  Columbus  und  Spigelius  betrachteten  beide  Gemelli  als  Einen  Muskel, 
welcher  die  Sehne  des  Obturatorius  beutelartig  einhüllt,  und  gaben  ihm  deshalb 
den  Namen:  Marstipium  canieum  (fleischiger  Beutel).  Lieutaud  nannte  den 
Muskel,  wahrscheinlich  seiner  gefurchten  Sehne  wegen,  le  CanneU,  —  Da  der 
fleischige  Urspning  des  OfUuratoriu/t  iiUenuis,  in  der  Beckenhöhle  liegt,  so  wird 
seine  Präparation  unter  Einem  mit  jener  des  Psocm  und  Iliaciu  intemtu  vor- 
genommen. 

An  den  Gemelhcs  inferior  sehliesst  sich  der  viereckige 
Schenkel muskel,  Musculus  quadraUis  femoris,  an,  welcher  in  trans- 
versaler Richtung,  vom  Sitzknorren  zur  Linea  intertrochantericfi posterior 
geht.  Er  ist,  seiner  wagrecht  zum  Femur  gehenden  Richtung  wegen, 
gewiss  der  kräftigste  Auswärtsroller. 

Er  deckt  den  Obturator  extermm  zu,  welcher  aber  nicht  von  hinten  her, 
sondern  viel  bequemer  von  vorn  her  präparirt  werden  soll,  und  deshalb  erst  nach 
Bearbeitung  der  Muskeln  an  der  inneren  Seite  des  Schenkels,  dargestellt  werden 
kann.  —  Riolan  machte  aus  dem  Pyriformis,  den  beiden  Gemelli,  und  dem 
Quadratus,  einen  einzigen  Muskel,  welchen  er  Qtuulrif/eminiis  nannte. 

Der  äussere  H  ii  f t  b  e  i  n  1  o  c  h  m  u  s  k  e  1 ,  Muscidus  obturator  s. 
obturatorius  extermis,  platt  und  dreiseitig,  entspringt  vom  inneren 
und  unteren  Umfange  des  Foramen  ohturatum,  aber  nicht  von  der 
Membrajia  obturatoria,  welche  er  blos  bedeckt.  Seine  quer  laufenden 
und  nach  aussen  convergircndon  Faserbündel,  gehen  dicht  an  der 
hinteren  Wand  der  llüftgoloiikskapsel  vorbei,  und  bilden  eine  runde, 
starke  Sehne,  welche  sich  am  Grunde  der  Fossa  trochanterica  inse- 
rirt.  Wirkt,  wie  seine  Vormänncr,  auswärtsrollend  auf  den  Schenkel, 
oder,  bei  Hxirtem  Schenkel,  drehend  auf  das  Becken,  wenn  man 
auf  einem  Fusse  steht. 


B,  Innere  Muskeln  der  Hüfte. 

Der  i^  r  o  s  s  e  L  e  n  d  e  n  m  u  s  k  e  1 ,  Musculus  psoas  major  (r^  »j^s a. 
Inende),  entspringt  von  der  SeitciiHächc  und  den  Querfortsätzen  des 
letzten  Brustwirbels,  und  der  vier  oberc^n  (^öfters  aller)  Lendenwirbel, 
so  wit*  von  den  IntrTvertebralscheibcn  derselben.  Dieser  fleischige 
Ursprung  l)ildct  einen  konischen,  nach  abwärts  sich  verschmächtigen- 
den  Muskelk<irper,  wehdier  über  der  Sf/mpht/si^  sacro-iliaca  sehnig 
wird,  unter  dem  Poupart'sehen  Bande,  zwischen  der  Spina  anterior* 
üifi'riur  und  dem  lulnirrnlum  ileo-pecj ineum ,  aus  der  Beckenhöhle 
hervor  tritt,  worauf  vx  MJch  nach  innen  und  unten  begiebt,  um  den 


520  5.  188-  Muskeln  an  der  Hüfte. 

kleinen  Trochanter  zu   erreichen,   welchen   er  nach  oben  und  vorn 
zieht,   dadurch  den  Schenkel  auswärts  rollt,   und  dann  auch  beugt. 

Zwischen  ihm  und  dem  nächstfolgenden  findet  sich  bisweilen  ein  kleinerer 
accessorischer  Lendenmuskel  ,  Paoas  parvus,  welcher  von  den  Querfort- 
sätzen der  oberen  Lendenwirbel  entsteht,  und  seine  schmale  Sehne  an  jene  des 
Paoaa  major  treten  lässt.  —  Das  feinfaserige,  zarte,  saftige,  ron  keinen  Sehnen- 
£ftsem  durchsetzte,  aber  von  mehreren  Aesten  des  Plextis  nerüontm  lumbalium 
durchbohrte  Fleisch  des  Paoaa  major,  macht  den  Lenden-  oder  Limgenbraten  des 
Rindes  (heefateak),  so  beUebt. 

Der  innere  Darmbeinmuskel,  Musculus  iliacus  internus, 
nimmt  die  ganze  concave  Fläche  des  Darmbeins  ein,  von  welcher 
er,  so  wie  vom  Labium  intemum  der  Crista  entspringt,  wird  im 
Herabsteigen  gegen  das  Poupar tische  Band  schmäler,  aber  dicker, 
und  inserirt  sich,  ohne  eine  eigene  Endsehne  zu  besitzen,  an  die 
Sehne  des  Psocts  major.  Wirkt  wie  dieser.  In  der  Furche  zwischen 
Psoas  und  Iliacus  lagert  der  Nervus  cruralis. 

Die  den  Iliacus  internus  bedeckende  und  mit  ihm  gleichen  Ur- 
sprung nehmende  Fascia  üiaca,  kann  durch  einen  schlanken,  vom 
letzten  Rücken-  und  ersten  liCndenwirbel  entspringenden  Muskel  — 
den  kleinen  Lendenmuskel,  Psoas  minor  — angespannt  werden, 
welcher  anfangs  auf  der  vorderen  Seite  des  Psoas  major  aufliegt, 
dann  sich  aber  an  dessen  inneren  Rand  legt,  und  seine  lange,  platte 
Sehne,  theils  an  die  Grenzlinie  des  grossen  und  kleinen  Beckens 
schickt,  theils  sie  mit  der  Fascia  ilia^ca  zusammenfliessen  lässt. 
Fehlt  öfters. 

Ich  nehme  den  Psoas  und  Iliacus,  als  Köpfe  eines  zweiköpfigen  Muskels, 
und  nenne  diesen  Fleo-pftoat.  Bei  allen  Säugethioren,  mit  Ausnahme  der  Fleder- 
mäuse, bilden  sie  blos  Einen  Muskel.  —  Die  Richtung  des  Ileo-psocM  ist  nicht 
geradlinig,  sondern  winkelig.  Die  Spitze  des  Winkels  liegt  am  Darmbein,  aus- 
wärts vom  Tuhercfdum  üeo-pectinettm,  unter  dem  P  o  u  p  a  r  t\schen  Bande,  Um  die 
Reibung  an  dieser  Stelle  zu  eliminiren,  wird  hier  ein  grosser  Schleimboutel  —  der 
grösste  von  allen  —  zwischen  Muskel  und  Knochen  eingeschaltet,  welcher  zuweilen, 
und  wie  ich  gefunden  habe,  vorzugsweise  im  höheren  Alter,  mit  der  Höhle  des 
Hüftgelenks  communicirt  Auf  den  luftdichten  Verschluss  der  Pfanne  hat  diese 
Communication  nicht  den  geringsten  nachtheiligen  Einfluss,  da  die  Communica- 
tionsöffnung  ausserhalb  des  Limbtis  cartiloffineiis  liegt. 

Wir  wollen  hier  noch  den  Musculus  coccjigeus  anreihen,  welcher 
vom  Sitzbeinstachel  kommt,  und  in  der  Richtung  des  Liijamentum 
spinoso-sacrum  an  den  Seitenrand  des  Steissbeins  tritt.  Er  zieht  das 
Steissbein  nach  vorn,  und  verkürzt  den  geraden  Durchmesser  des 
Beckenausganges. 

Es  gelingt  kaum  je,  ihn,  als  etwas  vom  Ligamentum  itpitwso-sncntvi  Ver- 
schiedenes darzustellen,  so  innig  verwebt  sich  sein  spärliches  Fleisch  mit  den 
Fasern  dieses  Bandes,  lieber  sein  Verhältniss  zum  Levalor  ani  spricht  §.  270. 


(.  189.  WirkangBweise  der  Hftftmaakeln.  und  topographische  Verhiltniis«,  etc.  521 


§.  189.  Wirkungsweise  der  Hüftmuskeln,  und  topograpMsclie 
Yerhältnisse  der  &esässmuskeln  zu  den  wichtigsten  befassen 

und  Nerven. 

Die  zahlreichen  Muskohi  an  der  äusseren  und  inneren  Seite 
der  Hüfte  sind,  ihrer  Richtung  und  Insertion  nach,  grösstentheils 
AuswärtsroUer.  Die  Einwärtsrollcr  werden  nur  durcli  den  Tensor 
fasdae,  und  die  vorderen  ]iündel  des  Glutaeus  niedius  repräsentirt. 
Die  Trochanteren  haben  als  Radspeichen  oder  Hebelarme  zu  dienen, 
um  der  bewegenden  Kraft  ein  grösseres  Moment  zu  geben.  Da  nun 
aber  die  Auswärtsrollung  nur  durch  Muskeln  gemacht  zu  werden 
braucht,  deren  Stärke  den  wenigen  Einwärtsrollern  gleichkommt,  so 
muss  wohl  die  zahlreiche  und  kraftvolle  Gruppe  der  Auswärtsroller, 
noch  eine  andere,  schwerer  zu  leistende  Verwendung  haben.  Diese 
besteht  darin,  dass  sie  das  Becken,  an  welchem  sie  entspringen, 
and  durch  das  Becken  auch  die  l^ast  des  Oberleibes,  auf  den 
Schenkelköpfen  balanciren,  eine  Aufgabe,  welche  um  so  schwieriger 
zu  erfüllen  sein  wird,  als  d(ir  Stamm  nicht  im  stabilen,  sondern  im 
labilen  Gleichgewichte  auf  den  Schenkelköpfen  ruht. 

Die  tiefliegenden  Muskeln  an  der  äusseren  Seite  der  Hüfte, 
haben  zu  gewissen,  aus  der  Beckenhöhle  kommenden  Gefössen  und 
Nerven,  sehr  wichtige  Bezi(*huugon.  Zwischen  dem  unteren  Rande 
des  Glutaeus  mmimius  und  dem  oberen  des  Pyriformis,  tritt  die  Ar- 
teria  und  Vena  (jliUaea  superwr  sammt  dem  homonymen  Nerv  aus 
der  Beckenhöhle  heraus,  und  krümmt  sich  über  den  oberen  Rand 
des  grossen  Hüftlochcs  nach  auf-  und  vorwärts.  Zwischen  Pfßri- 
formis  und  Geindhis  supenor,  verlässt  der  Nervus  ischiadicus,  und 
zwei  seiner  Nebenästc  ( Glutaeus  inferior  und  Cutaneus  femoris  posü- 
cus)  die  Becken  höhle.  Durch  dieselbe  Sj)alte  kommen  die  Arteria 
iichiadica  und  die  Artevui  pudenda  communis  (vor  dem  Nervus  ischia- 
dicus  liegend)  aus  der  Beckenhöhle  hervor.  Erstere  begleitet  den 
Nerv,  letztere  schlingt  sich  um  die  Spina  ischii  herum,  um  durch 
das  Foramen  iscliiadicum  miiuts  wieder  in  die  kleine  Beckenhöhle 
einzutreten,  und  zu  den  (Jeschlechtstheilen  zu  gehen.  Da  sie  beim 
Steinschnitt  im  Mittelfleisch  verletzt  werden,  und  gefiihrliche  Blutung 
veranlassen  kann,  so  ist  die  Stelle,  wo  sie  die  Spina  ischii  von 
aussen  umschlingt,  ein  geeigneter  Punkt,  sie  gegen  den  Knochen 
zu  comprimiren. 

Der  Nei'vus  ischiadicus  knnizt,  nach  abwärts  laufend,  die  beiden 
Gemelli  und  den  Ühturatorius  inteimus,  so  wie  den  Quadratus  femoris, 
und  gleitet  zwischen  Tuber  ossis  ischii  und  grossem  Trochanter,  zur 
hinteren   Seite   des   Oberschenkels    herab.     Man  würde,  wenn  man 


522  §•  IM.  Mnskeln  an  der  vorderen  Peripherie  des  Oberschenkels. 

während  der  Supinationsstclliing  der  unteren  Extremität,  etwas 
einwärts  von  der  Mitte  des  unteren  Randes  des  Ghitaeu^  magrms 
einschnitte,  sicher  auf  ihn  kommen.  —  Da  der  grosse  Trochanter 
sich  dem  Sitzknorren  nähert,  wenn  das  Bein  nach  aussen  geroHt 
wird,  und  sich  von  ihm  bei  entgegengesetzter  Drehung  entfernt,  so 
kann  die  Lage  des  Nervus  ischiadicm  zwischen  beiden  Knochen- 
punkten keine  unveränderliche  sein.  Er  muss  vielmehr  sich  auf 
dem  Quadratus  femoris  bei  jeder  Rollbewegung  verschieben,  und 
die  damit  verbundene  Reibung,  ist  der  Grund  der  unerträglichen 
Schmerzen,  welche  bei  Rheumatismus  und  entzündlicher  Ischias, 
jede  Bewegung  des  Schenkels  begleiten.  Der  Druck,  Avelchen  dieser 
Nerv  beim  Sitzen  auf  Einer  Hinterbacke  erleidet,  erklärt  das  all- 
gemein gekannte  Einschlafen  und  Prickeln  des  Fusses  bei  dieser 
Stellung. 

Die  Muskeln,  welche  vom  Darmbeine  zum  grossen  Trochanter  gehen,  zielien 
auch  den  verrenkten  Schenkelkopf  gegen  die  Darmheincrista  hinauf,  und  setzen 
den  Einrichtungsversuchen  ein  schwer  zu  bewältigendes  Hinderniss  entgegen.  — 
Dass  die  Fussspitzen,  wenn  man  horizontal  liegt,  nicht  gerade  nach  oben,  sondern 
nach  aussen  stehen,  ist  nicht  Folge  von  Muskelzug,  sondern  wird  durch  die  un- 
gleiche Vertheilnng  der  Muskelmasse  um  die  imaginäre  Drehungsaxe  des  Ober- 
schenkels verständlich,  welche  nicht  im  Knochen  liegt,  vielmehr,  wegen  des  Win- 
kels, zwischen  Uals  und  Mittelstück,  an  seine  innere  Seite  fällt,  somit  mehr 
Masse  des  Schenkels  an  der  äusseren  als  an  der  inneren  Seite  dieser  Drehungs- 
axe gelegeu  sein  muss,  wodurch  eben  die  Drehung  des  Schenkels  nach  aussen 
erfolgt. 


§.  190.  Muskeln  an  der  vorderen  Peripherie  des  Oberschenkels. 

Sie  gehen  entweder  vom  Becken  zum  Oberschenkelbein,  od(»r 
überspringen  dieses,  um  zu  den  Knochen  des  Unterschenkels  herab- 
zusteigen, oder  entspringen  am  Oberschenkelbein,  um  am  Unter- 
schenkel zu  endigen.  Von  aussen  nach  innen  gehend,  triflFt  man  sie 
in  folgender  Ordnung: 

Der  lange  Schenkelmuskel  oder  Schneidermuskel,  Mus- 
culus sartorius,  der  längste  aller  Muskeln,  platt,  einen  Zoll  breit, 
entspringt  vor  dem  Tensor  fasciae  latae,  von  der  Sphm  anterior 
auperior  des  Darmbeins,  läuft  schräge  nach  innen  und  unten,  kreuzt 
somit  die  übrigen,  mit  der  Schenkelaxe  mehr  parallelen  Muskeln, 
und  kommt  an  die  innere  Seite  der  Kniegelenksgegend,  wo  er 
sehnig  zu  werden  beginnt.  Seine  Endsehne  steigt  anfangs  über  den 
hinteren  Theil  der  Innenfläche  des  Condf/lits  internus  femoris  herab, 
krümmt  sich  aber  am  inneren  Condiflus  tibiae  nach  vorn,  wird  zu- 
sehends breiter,  überlagert  die  Endsehnen  des  (iracilis  und  Semiten- 
dinosus  (Schleimbeutel  dazwischen),  und  inscrirt  sich  an  und  unter 


§.  190.  MiiBkeln  an  der  vorderen  Peripherie  des  Obersehenkels.  523 

dem  Schienbeinstachel  (Schleimbeutcl).  Er  hilft  das  Bein  zuziehen, 
und  den  Untersclienkel  beugen,  dreht  ihn  aucli  um  seine  Axe  nach 
innen,  wenn  er  schon  gebogen  ist. 

Die  hiimoriHtiHchü  Benennung  SarUnnw*,  welche  ihm  von  Adr.  Spigelins 
(De  hum,  coi-p,  fahrica,  Cap.  2H)  zuerst  ge{jre>>en  wurde  (iSiUoriits  von  Kiolan), 
entstammt  einer  irrif^en  Vorntollung^  über  die  Thätigkeit  dieses  Muskels.  So  sagt 
Spigelius:  ^quem  et/o  Sa  r  fori  um  üorarr.  soleo,  quod  »artoren  eo  nuwinte  uttuüur, 
dum  cruft  rruri  iiiter  roii^n^ulum  hnjxniwU'^.  Vergleicht  man  aber  seine  unerheb- 
liche Stärke,  mit  dem  Gewichte  der  ganzen  unteren  Extremität,  so  ist  er  wohl  zn 
ohnmächtig,  ein  Bein  über  das  andere  zu  schlagen,  wie  Schneider  und  Schuster 
es  thim  bei  ihrer  sitzenden  Arbeit.  Dass  er  vielmehr  den  gebogenen  Unterschenkel 
um  seine  Axe  nach  innen  dreht,  fühlt  man  mit  der  aufgelegten  Hand,  wenn  man 
sitzend,  die  Spitze  des  einen  Fusses  durch  die  Ferse  des  andern  lixirt,  und  Dreh- 
bewegungen mit  dem  lJnti*rschenkel  auszuführen  versucht.  —  Zuweilen  wird  er 
durch  eine  «piere  liuta-iptü)  toulitten  gezeichnet  Meckel  sah  ihn  fehlen,  und 
Kelch  fand  ihn  durch  eint*  anderthalb  Zoll  lange  Zwischensehne  zweibäuchig. 
—  Die  Alten  nannten  den  Sartorius  auch  Miuicubis  /(Ufcialiit,  weil  er  lang,  dünn 
und  schmal  ist,  wie  eine  Aderlassbinde  (FoMciaj.  Es  ist  sonach  ein  Missgriff,  wenn 
Theile  den  Mnj<rtihM  tpuifor  fanviue  ItUae,  auch  Munfulna  fufnialis  nennt. 

Der  virrkcipfige  II  iitcrsc  henke  Ist  recker,  Ejctensor  cruris 
quadrtceps.  So  nenne  ich  den  an  (k*r  vorderen  Seite  des  Ober- 
schenkels gelegenen,  aus  vier  Ursprungsköpten  gebildeten,  kraft- 
vollen und  schönen  Muskel,  welcher  mit  grossem  Unrecht  von  den 
meisten  Autoren  in  vier  besondere  ^^uskeln  zerrissen  wird.  Nur 
sein  langer  Kopf,  welduT  sonst  Afusrubts  rectits  cruntf  genannt 
wird,  entspringt  an  der  Spina  anterior  inferior  des  Darmbeins,  und 
aus  einer  seichten,  rauhen  Grube  über  dem  Pfannenrande.  Die 
übrigen  drei  Kr>pf(^  nehmen  die  drei  Seiten  des  Schenkelbeins  ein, 
und  entspringen:  der  äussere,  als  Vastas  (wternm,  von  der  I^asis 
des  grossen  Uollhügels,  und  der  oberen  Hälfte  der  äusseren  Lefze 
der  Linea  nspera  femoris;  —  der  innere,  als  Vastus  internus,  von 
der  inneren  Lefze  der  Linea  anpera  bis  zum  unt(Ten  Viertel  der- 
selben herab;  —  der  mittlere,  als  (Jruralis  s.  Vastiis  mediiiSy  von 
der  Linea  intertrochanterica  anteriorj  imd  dem  oberen  Theile  der 
vorderen  Fläche  des  Schenkelbeins,  und  ist  in  der  Kegel  von  dem 
Vastns  e^vternna  nicht  der  ganzen  Länge  nach  scharf  geschieden.  — 
Der  lange  Kopf  des  Kvtensor  quadnceps  ist  doppelt  gefiedert,  der 
äussere  und  innere  besteht  aus  schief  absteigenden  Fleischbündeln, 
deren  Richtung  sich  um  so  mehr  der  horizontalen  nähert,  je  tiefer 
unten  am  Schenkel  sie  entspringen.  Diese  vier  Köpfe  vereinigen 
si(!h  üb(»r  der  Kniescheibe  zu  einer  gemeinschaftlichen  Sehne,  welche 
in  der  verläng(»rten  Richtung  des  Kectns  cruris  liegt,  sich  an  der 
llasis  uiul  den  Seitenrändern  der  Patella  festsetzt,  diese  in  die  Höhe 
zieht,  und,  weil  sie  mit  der  Tibia  durch  das  Ligamentum  patsllae 
proprium  zusammenhäugt,  den  Unterschenkel  streckt. 


534  S*  ^9^>  Muskeln  an  der  inneren  Peripherie  dee  Oberachenkels. 

Es  inseiiren  rieh  jedoch  nicht  alle  FMem  dieser  Sehne  an  der  Kniescheibe. 
Die  oberflächlichsten  von  ihnen  ziehen  aub  forma  einer  breiten  Aponeurose, 
welche  vorzugsweise  dem  äusseren  und  inneren  Vastus  angehört,  über  die  Knie- 
scheibe weg,  um,  theils  die  vordere  Wand  der  Kniegelenkskapsel  zu  verstärken, 
theils  in  die  Fascie  des  Unterschenkels  überzugehen.  Zwischen  dieser  Aponeu- 
rose  imd  der  Haut  liegt,  entsprechend  dem  Umfange  der  Kniesclieibe,  die  grosse 
Buraa  mucoaa  peitellaris  aubcutanea;  —  zwischen  der  Aponeurose  und  der  Hein- 
haut der  Kniescheibe,  Lasch ka*8  Burta  peUeUaris  profunda,  Oefters  communi- 
ciren  beide  Schleimbeutel  durch  eine  umfängliche  Oeffnung.  Die  tiefe  Bursa  wird 
zuweilen  mehrfächerig.  Ltuchka,  über  die  Buraa  patellari«  profunda,  in  Müller  a 
Archiv,  1850.  —  Sehr  ausführlich  über  die  Schleimbeutel  de»  Kniee»  handelt 
Qruber:  Die  Buraae  mucoaae  praepatellarea,  im  Bulletin  de  TAcad.  Imperiale  de 
St.  P^tersbourg.  Tom.  XV.  No.  10  und  11  und  in  seiner  Monographie  der  Knie- 
schleimbeutel.  Prag,  1857. 

Will  man  das  Ligamenlum  pateUae  proprium  als  Fortsetzung  der  Sehne  des 
Extenaor  quadricepa  betrachten,  so  ist  die  Kniescheibe,  ein  Sesambein  in  dieser 
Sehne,  als  welches  sie  schon  von  Tarin  (f  oa  a6aamoide  de  la  jomibe)  aufgefasst 
wurde.  Zwischen  diesem  Bande  und  der  Tibia  lieg^  eine  constante  Buraa  mticoaa, 
welche  nie  mit  der  Kapselhöhle  in  Verbindung  steht.  Ein  unter  der  Ansatzstelle 
des  Extenaor  cruria  quadricepa  an  der  Kniescheibe  befindlicher,  umfänglicher 
Schleimbeutel,  steht  mit  der  Sjnovialkapsel  des  Kniegelenks  im  Zusammenhang, 
und  wird  deshalb  als  eine  Ausstülpung  derselben  angesehen. 

Die  Spanner  der  Kniegelenkskapsel,  Mibsculi  »ubcrurcdes 
8.  articidares  genu,  sind  zwei  dünne,  platte,  vom  Vastm  medius  be- 
deckte, und  ihm  eigentlich  zugehörige  Muskelstreifen,  welche  von 
der  vorderen  Fläche  der  unteren  Extremität  des  Schenkelbeins  ent- 
springen, und  sich  in  die  obere  Wand  der  Kniegelenkskapsel  verlieren. 

Albin  hat  sich  die  Ehre  ihrer  Entdeckung  zugeschrieben  (Annot.  acad. 
Lib.  IV).  Der  wahre  Entdecker  jedoch  war  Dupr<5,  Wundarzt  am  Hotel-Dieu  zu 
Paris,  welcher  sie  in  seinem  Werkchen:  „Lea  aourcea  de  la  aynovie.  Paria,  1699, 
12.*^,  als  Souacruraux  anführte. 


§.  191.  Muskeln  an  der  inneren  Peripherie  des  Oberschenkels. 

Der  schlanke  Schenkelmuskel,  Musculus  gradlLs  s.  rechts 
intermis,  entspringt  mit  breiter  Sehne  von  der  Schamfuge,  dicht 
neben  dem  Aufhängebande  des  männlichen  (xlindes,  und  liegt  auf 
dem  gleich  zu  erwähnenden  langen  und  kurzen  Zuzieh  er  auf.  Seine 
lange  Endschne  windet  sich,  hinter  und  unter  jenc^r  des  Sartorius, 
um  die  inneren  Condyli  des  Schenkel-  und  Schienbeins  nach  vorn 
herum,  und  setzt  sich  mittelst  einer  dreieckigen,  von  der  aufliegen- 
den Sartoriussehne  durch  einen  Schleimbeutel  getrennten  Ausbreitung, 
welche  bei  den  älteren  Anatomen  den  Namen  des  (iänsefusses 
fUhrt,  an  der  inneren  Fläche  und  der  vorderen  Kanto  dos  Schienbeins 
unter  der  Spina  tibiae  fest  (Schleimbeutel).  Er  zieht  das  Bein  zu,  und 
dreht,  wenn  das  Knie  gebeugt   ist,   den  Unterschenkel  nach  innen. 


1. 191.  Miukeln  an  der  inneren  Peripherie  dec  Obersehenkele.  525 

Die  Zn  zieh  er  des  Sehenkels,  Musculi  adductores  femoris. 
Es  finden  sich  deren  vier.  Sie  liegen  sämmtlieh  an  der  inneren 
Seite  des  Schenkels.  Drei  davon  wurden  von  der  älteren  Anatomie 
als  ein  solbstständiger  Muskel,  Adductor  triceps,  beschrieben.  Da 
sie  jedoch  nicht  an  eine  gemeinschaftliche  Endsehne  treten,  so 
können  sie  auch  nicht  als  Kr»j)fe  Eines  Muskels,  sondern  müssen 
als  drei  verschiedene  Muskelindividucn  aufgestellt  werden.  Wollte 
man  sie  blos  als  drei  Ursprungsköpfe  Eines  Muskels  gelten  lassen, 
so  müsste  man  den  vierten  Zuzieher,  welcher  als  Kammmuskel, 
Musculus  pectineus,  neben  dem  Triceps  beschrieben  wird,  als  vierten 
Kopf  eines  Adductoi'  quadriceps  nehmen,  da  sein  Ursprung,  seine 
Richtung  und  seine  Insertion,  somit  auch  seine  Wirkung,  mit  den 
Köpfen  des  Triceps  übereinstimmt.  Ks  ist  nichtsdestoweniger  noch 
immer  üblich,  der  Kürze  wegen,  die  Bezeichnung  Triceps  zu  ge- 
brauchen. 

Der  lange  Zuzieher,  Adductor  longus  (früher  Caput  longuni 
tricipitis),  entsj)ringt  kurzsehnig  auswärts  vom  Grracilis  am  Scham- 
beine unter  dem  IIöckcT  desselben,  nimmt  im  Herabsteigen  an 
Breite  zu,  und  heftet  sich  an  das  mittlere  Drittel  der  inneren 
Lefze  der  Lhtea  asptra  fttmons ,  hinter  dem  Ursprung  des  Vastus 
internus. 

Der  kurze  Zu  zieh  er,  Adductor  brevts  (Caput  breve  tricipitis), 
wird  vom  lang(?n  Zuzieher  und  vom  Kammmuskel  bedeckt.  Er 
nimmt  seinen  Ursprung  vom  Beginn  des  absteigenden  Schambein- 
astes, und  endigt  an  der  inneren  Lefze  der  Linea  aspera  femoris, 
über  dem  langen  Zuzieher,  bis  zum  kleinen  Trochanter  hinauf. 

Der  grosse  Zuzieher,  Adductor  magnus  (Caput  magnum 
tricipitis),  entspringt  breit  am  absteigenden  Schambein-  und  auf- 
steigenden Sitzbeinaste,  so  wie  vom  Tuber  ischii,  deckt  den  Obtu- 
rator  eait&imus,  und  grenzt  nach  hinten  an  den  Semitendinosus  und 
Semimemhranosus.  Seine  oberen  Bündel  laufen  fast  quer,  und  werden 
von  dem  unteren  Rande  des  Quadraius  femoris  durch  eine  nicht 
immer  sehr  scharf  markirte  Spalte  getrennt.  Die  übrigen  treten 
schief  nach  aussen  und  unten  zum  Oberschenkel.  Die  lange  und 
breite  Endsehne,  an  welche  sich  alle  Fleischbündel  des  Muskels 
einpflanzen,  befestigt  sich  längs  der  Linea  aspera  femoris,  vom  Ende 
der  Insertion  des  Quadrat us  femoris  bis  zum  (Jondfßus  internus 
herab.  Denkt  man  sich  diese  Endsehne,  ihrer  Länge  nach,  in  drei 
Theile  getlieilt,  so  wird  sie,  wo  das  mittlere  Dritttheil  an  das  untere 
grenzt,  durch  einen  Schlitz  unterbrochen,  durch  welchen  die  Ar- 
teria  und  Vena  cruralis  zur  Kniekehle  treten.  Nebst  dieser  grossen 
Ueffnung,  hat  die  Sehne  noch  mehrere  kleine,  zum  Durchtritt  der 
in  der  Geiasslehre  zu  erwähnenden  Arteriae  perforantes. 


536  S-  19S-  Topogrn^ph.  Verh&ItnisB  der  Mnslteln  und  Oef&sio  des  Oberschenkels. 

Die  Adductores  bewirken  die  kräftige  Zuziehung  der  Beine,  wie  beim 
Scbenkelscblnss  des  Reiters.  Ihr  alter  Name,  auf  welchen  sie  aber  nur  beim 
weiblichen  Geschlechte,  und  auch  da  nicht  allzulangen  Anspnu'h  haben,  ist: 
Oitsloa  viri/mum.  —  Wirken  sie  gleichzeitig  mit  dem  Exletutor  rruris  qnadriceps, 
so  folgt  der  Schenkel  der  Diagonale  beider  rechtwinklig  auf  einander  stehenden 
Bewegungsrichtungen,  und  wird  über  den  anderen  geschlagen.  Die  Adductores  und 
Extensores  sind  somit,  wenn  sie  simultan  wirken,  die  eigentlichen  Schneidermus- 
keln. —  Der  lange  Zuzieher  erscheint  zuweilen  in  zwei  Portionen  getheilt 

Der  Kammmuökel,  Musculus  pectineus  s.  lividus,  entspringt 
von  der  ganzen  Länge  de»  Schambeinkammes^  und  A^on  einem 
Bande,  welches  am  Darmbein  in  der  Gegend  der  Pfanne  entstellt, 
und  längs  des  Pecten  piibis  bis  zum  Tuberculum  jmbis  verläuft  (Liga- 
mentum pubicum  Coaperi),  Er  deckt  den  Übturator  exteniu^  und  den 
kurzen  Kopf  des  Triceps,  und  befestigt  sich  an  die  innere  Lefze 
der  Crista  femoris  unter  dem  kleinen  Trochanter.  Zieht  zu,  und 
rollt  nach  aussen. 

Der  sonderbare  Name  lAvidtu,  welcher  ihm  von  alten  Myologen  beigelegt 
wird,  stammt  wohl  davon  her,  dass  der  Muskel,  welcher  in  so  nahe  Berührung 
mit  der  auf  ilim  aufliegenden  grossen  Vena  crurafis  tritt,  sich  mit  dem  Blutserum 
tränkt,  welches  bei  beginnender  Fäulniss  durch  die  Venen  wand  dringt,  und  den 
zersetzten  Färbestoff  des  Blutes  aufgelöst  enthält.  Riolan,  Spigelius  und 
Bartholin,  welche  diesen  Namen  gebrauchten,  sagen  nichts  über  seinen  Ursprung. 


§.  192.  Topographisches  Yerhältniss  der  Muskeln  und  Grefösse 
am  vorderen  Umfang  des  Oberschenkels. 

Die  in  den  beiden  vorhergehenden  Paragraphen  abgehandelten 
Muskeln,  stehen  zu  den  Gefussen  und  Nerven  des  Oberschenkels 
in  so  praktisch- wichtigen  Verhältnissen ,  dass  der  Anfänger  nie 
unterlassen  soll,  bei  der  Zergliederung  der  Muskeln,  auch  auf  die 
Gefösse  und  Nerven  Rücksicht  zu  nehmen,  deren  \"erlaufsge8etze 
an  so  vielen  Orten  von  der  Anordnung  der  Muskelstränge  abhängen. 

Hat  man  die  Fascia  lata  (welche  erst  am  Schlüsse  der  Muskeln 
der  unteren  Extremität  in  §.  199  geschildert  wird)  vom  Ligamentum 
Poupartü  losgetrennt,  und  sie  so  weit  abgelöst,  dass  die  einzelnen 
Muskelkörper,  welche  zwischen  der  Schamfuge  und  dem  vorderen 
oberen  Darmbeinstachel  Hegen,  nett  und  rein  zu  Tag  treten,  so 
bemerkt  man  unter  dem  Poupart'schen  Bande,  einen  dreieckigen 
Kaum,  dessen  Basis  durch  dieses  Band,  dessen  Seiten  nach  aussen 
vom  Sartorius,  nach  innen  vom  (iracilis  und  den  Adducton^n  ge- 
bildet werden.  Dieser  Kaum,  von  Velpeau  Triangulus  ingulnaUs, 
von  mir  Triangulus  svhinguinalis  genannt,  schliesst  ein  zweites,  kleineres 
Dreieck  ein,  welches  mit  ihm  gleiche  Basis  hat,  dessen  Seitenränder 
aber  auswärts  durch  den  vereinigten  Psoas  und  lUacus^  iimen  durch 


%.  19t.  TofQ^npk.  Verh&ltmn  der  Maskeln  and  Gef&ste  am  Ob«nehenkel.  527 

den  Pectineu»  dargestellt  werden.  Der  Kaum  dieses  Dreiecks  ver- 
tieft sich  konisch  gegen  den  kleinen  Trochanter  zu,  welcher  in 
seinem  Grunde  gefühlt  wird.  So  entsteht  die  in  chirurgischer  Be- 
ziehung hochwichtige  Fossa  ileo-pectinea.  Sie  wird  von  abundantem 
Fette,  und  den  tiefliegenden  1  Leistendrüsen  ausgefüllt,  und  schliesst 
die  grossen  (jletasse  und  Nerven  ein,  welche  unter  dem  Poupart- 
schen  Bande  zum  oder  vom  Becken  gehen.  Man  kann  von  dieser 
Grube  aus  (nachdem  ihr  Inhalt  rein  präparirt)  die  Hand  in  die 
Bauchhrdde  einführen,  durch  eint^  grosse,  querovale  Oeftnung,  welche 
vom  Ligamentum  Foupart'd  überspannt  wird.  Durch  diese  geräumige 
Oeffnung  tritt  eine  mit  dem  lliacus  aus  der  Beckenhöhle  herab- 
steigende Fascie  hervor,  welche  im  §.  188  als  Fascia  iliaca  er- 
wähnt wurde.  Sic;  lässt  ihren  oberen  und  zugleich  äusseren  Kand 
mit  dem  Poupart'schen  Bande,  ihren  unteren  und  zugleich  innert^n 
Kand,  mit  dem  Tuberculum  ileo-pecfineum  verwachsen,  und  winl 
deshalb  an  dieser  Stelle  Fancia  U^^o-pectinea  genannt.  Durch  die 
Fascia  ileo-pt^^^ttnea  wird  die  grosse  Oeftnung  unter  dem  Poup ari- 
schen Bande  in  zwei  seitliche  Lücken  abgetheilt.  Die  äussere 
Lücke  ist  die  Ijicuna  mnacularis,  Sie  lässt  den  Psoas,  lliacus,  und 
zwischen  beidc^n  den  Nervus  cruralis  heraustreten.  Die  innere 
heisst  I^icutm  rattorum  cruralium,  und  dient  zum  Durchgange  der 
Arterin  und  Vena  cruraJis,  welche  sich  in  das  Fettlager  der  /''o**n 
ileo-pectinea  so  (;inhüllen,  dass  wenig  Fett  auf  ihnen,  vieles  unter 
ihnen  liegen  bleibt.  Beide  (r(*{asse  sind  in  eine  gemeinschaftliche, 
durch  eine  Zwischenwand  in  zwei  Fächer  abgetheilte ,  fibröse 
Scheide  eingeschlossen.  Si«;  folgen,  während  si(».  blos  vom  luH*h- 
liegenden  Blatte  «jer  Fanda  lata  iMMJeckt  sind,  einer  Linie,  welche 
man  beiläuHg  vom  Beginm-  des  itith^ren  |)rittels  <!«•«  Poupart'schen 
Bandes,  gegen  «lit*  Spitze  i\vv  Funna  t/tut  jmrfiueft  herabzieht.  Die 
Arteria  crura/ia  liegt  «lieht  an  d«'r  Fanria  l/fu-firrtiuea  an,  die  Vena 
cruraliti  nel>en  der  Arterie  nach  innen,  un<l  nimmt  hier  di(f  Vena 
saphena  interna  auf.  Beid«^  (Jid'äsH«*  füllen  die  Lnmna  rannrnm  nicht 
ganz  aus.  Zwiselieii  der  Vena  crnraliH  und  der  dritten  lnH«Tti<m 
des  Pouj)art'sehen  r»ande.s  am  l*ecten  puhia,  wideln-  aJK  Liuamentum 
Gimhernati  benannt  wird,  bleil»t  «^in  iCaum  frei,  weleher  nur  von 
der  Fatfcia  transversa  des  Banches  und  dem  BHUelifiilJ  verschlossen 
wird.  Da  dnreh  diesen  Kaum,  dit-  Kingewt.ide  ans  der  Bauchhohle, 
so  «Mit  wie  durch  den  Leistenkanal,  od«'r  die  innere  Leist«'nL'rube 
austreten  krmnen,  um  ein«-  Hernia  v.ruraliH  vm  biMen,  so  nennt  man 
ihn:  Bauchöffnung  des  Schenkelkanals  —  Annnlus  cruralis. 
Die  Schenktdötfnung  des  Sehenktrlkanals,  und  die  Bildung  des 
Kanals  selbst,  werden  im  §.   199  beschrieben. 

Vom  unteren   Winkel  des   Irianyulus  sabinguinalis  angefangen, 
wird  «lie  ArUria  an-»   ^  Um  vom  Mu9cuiluB  sartorius  bedeckt, 


528  §•  19t.  Topograph.  Verhftltniss  der  Mukeln  and  GefUte  am  Oberschenkel. 

und  liegen  beide,  bis  zu  ihrem  Durchtritte  durcli  den  Schlitz  in  der 
Sehne  des  grossen  Zuziehers,  in  einer  Rinne,  welche  durch  die 
Adductoren  und  den   Vastus  intemiis  gebildet  wird. 

Der  Nenms  cruraiis  wird  in  der  Fossa  Ueo-pecttnea  von  der 
Arteria  cruraiis  durch  die  Fasda  Ueo-pectinea  und  die  Sehne  des 
Psoas  getrennt,  und  theilt  sich  gleich  unter  dem  Poupart'schen 
Bande,  in  hoch-  und  tiefliegende  Zweige.  Erstere  sind  1  lautäste, 
letztere  Muskeläste.  Einer  von  den  Hautästen  begleitet  die  Crural- 
arterie,  liegt  anfangs  an  ihrer  äusseren  Seite,  kreuzt  sich  liierauf 
mit  ihr,  um  an  ihre  innere  Seite  zu  kommen,  vcrlässt  sie  dann  bei 
ihrem  Eintritt  in  den  Schlitz  der  Adductorensehne,  und  begleitet 
von  nun  an  die  Vena  saphena  magna  bis  zum  Fusse  hinab,  weshalb 
er  Nenms  saphenus  genannt  wird. 

Es  erheUt  aus  diesen  Verhältnissen,  dass  die  Arteria  cruraiis,  deren  Unter- 
bindung bei  gewissen  chirurgischen  Krankheiten  nothwendig  wird,  im  Triangulus 
ntbingumaUs,  wo  sie  nicht  von  Muskeln  bedeckt  wird,  am  leichtesten  zugänglich 
ist,  und  man  sie  hier,  wenn  die  Wahl  der  Unterbindungsstelle  frei  steht,  am 
liebsten  blosslegt.  Da  sie  während  ihres  Laufes  durch  dieses  Dreieck,  die  meisten 
ihrer  Seitenäste  abgiebt,  von  denen  die  Pro/umla  femoris,  einen  bis  anderthalb 
Zoll  unter  dem  Po upar tischen  Bande  die  stärkste  ist,  und  man  so  weit  als 
möglich  unter  dem  letzten  Collateralast  die  Unterbindung  vornimmt,  so  ist  nach 
Hodgson  die  beste  Ligaturstelle  der  Arteria  cruraiis,  am  unteren  Winkel  des 
Triarufulus  subinguinaUs  gegeben,  welcher,  wenn  man  den  inneren  Rand  des  Sar- 
torius  verfolgt,  leicht  zu  finden  ist.  Die  sehr  veränderliche,  bald  höher,  bald  tiefer 
gelegene  Kreuzung^stelle  der  Arteria  cruraiis  mit  dem  Nervus  saphenus  erheischt 
Vorsicht.  —  Von  der  Spitze  des  Trianffulus  suhinguinalis  bis  zum  Durchgang 
durch  den  Schlitz  der  Adductorsehne,  muss,  wenn  hier  die  Unterbindung  der 
Crural -Arterie  nach  dem  Hunter* sehen  Verfahren  vorgenommen  werden  sollte, 
der  Sartorius  durch  einen  Haken  nach  aussen  gezogen  werden.  Unmittelbar  an 
der  EintrittssteUe  in  die  Sehne  des  Adductor,  wäre  dem  Gefasse  auch  vom 
äusseren  Rande  des  Sartorius  her,  oder  durch  eine  Längenspaltung  seines  Fleisches, 
beizukommen.  —  Das  Verhältnbs  der  Vena  cruraiis  zur  Arterie  ist  so  beschaflfen, 
dass  am  horizontalen  Schambeinaste  die  Vene  an  der  inneren  Seite  der  Arterie 
lieget,  sich  aber  im  Herabsteigen  so  hinter  sie  schiebt,  dass  über  den  Schlitz 
der  Sehne  des  Adductor,  die  Arterie  die  Vene  genau  deckt.  —  An  keiner  anderen 
Stelle  des  Verlaufs  der  Arteria  cruraiis  lässt  sich  eine  Compression  derselben 
leichter  bewirken,  als  am  horizontalen  Schambeinaste,  wo  sie  durch  den  Finger, 
der  ihren  Pulsschlag  fühlt,  einfacher  und  sicherer  als  mit  künstlichen  Vorrich- 
tungen ausgeführt  werden  kann. 

Wie  wohlthätig  anatomische  Kenntnisse  anch  dem  Nichtarzte  sein  könnten, 
beweist  folgender  Fall.  Ein  Prager  Student  schnitt  sich  auf  einem  Spaziergange 
einen  Weidenstock  zu.  Um  ilm  zu  schälen,  zog  er  ihn  unter  der  Schneide  eines 
Taschenmessers  durch,  welches  er  an  den  Schenkel  stemmte.  Einer  seiner  Ge- 
fährten stiess  ihn  an,  das  Messer  fuhr  in  den  Schenkel,  schnitt  die  Arteria  cru- 
raiis durch,  und,  bevor  Hilfe  kam,  war  er  eine  verblutete  Leiche.  Ein  Fingerdmck 
auf  den  horizontalen  Schambeinast  hätte  ihn  wahrscheinlich  gerettet. 


S.  193.  Moikela  an  der  hinter«n  Peripherie  dei  Obersehenkels.  529 


§.  193.  Muskeln  an  der  hinteren  Peripherie  des  Oberschenkels. 

Sie  sind  bei  weitem  weniger  zahlreich  als  jene  an  der  vor- 
deren und  inneren  Peripherie,  und  gehen  vom  TtAer  isckii  zum 
Untersehenkel,  welchen  sie  beugen.  Es  sind  ihrer  drei. 

Vom  Sitzknorren  ausgehend,  divergiren  sie  im  Hembsteigen 
80;  dass  der  eine  schief  gegen  die  äussere  Seite  des  Kniegelenks, 
die  beiden  anderen  gerade  gegen  dessen  innere  Seite  ziehen.  Der 
erste  nimmt  im  Herabsteigen  einen  von  der  äusseren  Lefze  der 
Linea  aspera  femoris,  unterhalb  der  Insertion  des  Glutaeus  magnua 
entspringenden  kurzen  Kopf  auf,  und  heisst  deshalb  der  Zwei- 
köpfige, Btceps  femoris.  Seine  Endsehne  befestigt  sich  am  Waden- 
beinköpfchen, unter  dem  Ligamentum  laterale  externum  des  Knie- 
gelenks, wo  ein  Schleimbeutel  vorkommt.  Die  beiden  anderen  sind 
der  halbsehnige  und  halbhäutigc  Muskel,  —  Musculus  semi- 
tendinosus  und  semim^mbranosus. 

Der  Halbsehnige  bedeckt  den  Halbhäutigen,  ist  an 
seinem  Ursprünge  mit  dem  langen  Kopfe  des  Biceps  femoris  ebenso 
verwachsen,  wie  der  Coracobrachialis  am  Oberarm  mit  dem  Ursprung 
des  kurzen  Bicepskopfes,  verschmächtigt  sich  im  Herabsteigen  pfrie- 
menförmig,  und  geht  in  der  Mitte  des  Oberschenkels  in  eine  lange, 
Bchnuribrmige  Sehne  über,  welche  sich  unter  dem  inneren  Knorren 
des  Schienbeins  nach  vom  krümmt,  und  unter  der  Sehne  des  Gra- 
cilis  zur  inneren  Schienbeinfläche  gelangt,  um  sich  neben  der  Spina 
tSnae  zu  implantiren  (Schleimbeutel). 

Da  neine  Sehne  so  lang  ist,  wie  sein  Fleisch,  so  wSire  sein  Name:  Halb- 
sehniger, gerechtfertigt.  Sein  Fleisch  wird  durch  eine,  die  ganze  Dicke  des 
Muskels  schräge  schneidende  fibröse  Einschubsmembran  (als  Inscriptio  tendmea  zu 
deuten)  durchsetzt,  an  welcher  die  Fleischfasem  der  oberen  Hälfte  endigen,  und 
jene  der  unteren  beginnen. 

Der  Halb  häutige  liegt  zwischen  Semitendinosus  \xnd  Adductor 
magnus.  Seine  dreieckige  breite  Ursprungssehne  reicht  an  der  einen 
Seite  seines  Muskelfleisches  bis  zur  Mitte  des  Oberschenkels  herab, 
wo  zugleich  seine  Endsehne  an  der  anderen  Seite  des  Fleisches  be- 
ginnt. Das  Fleisch  des  Muskels  bildet  drei  Quertinger  breit  über 
dem  Knie,  einen  runden  starken  Bauschen,  welcher  plötzlich  mit 
einem  scharfen  Absatz  wie  abgeschnitten  aufhört,  und  durch  eine 
kurze,  aber  sehr  kräftige  Sehne,  sich  am  hinteren  Bezirk  des  Con- 
dyhts  internus  tibiae  einpflanzt. 

Zwischen    dieser    Sehne,    und    dem    inneren    Seitenhande  de»  Kniegelenks, 
liegt  ein  Schleimbeutel.     Ein    ebensolcher    findet   sich    zwischen   derselben  Sehne 
Hyrtl,  Lehrbach  der  Anatomie.  14.  Anfl.  34 


530  §.  194.  Topographie  dar  KniokehJe. 

und  dem  Ursprung  des  inneren  Kopfes  des  Gastrocneraius.    Er  steht  zuweilen  mit 
der  Sjnovialkapsel  des  Kniegelenks  in  Höhlencommunication. 

Ein  breites  Faserbündel  löst  sich  vom  äusseren  Bande  der  Endsehne  des 
Semimembranosus  ab,  geht  im  Gnmde  der  Kniekehle  g^gen  den  Cmidylu^  eocternus 
femorU  herüber,  verwebt  sich  mit  dem  Ligamentum  poplUettm  (§.  152,  4),  und 
verschmilzt  zuletzt  mit  der  Ursprungssehne  des  äusseren  Kopfes  des  später  zu 
beschreibenden  Gastrocnemius.  Da  die  Beugimg  des  Unterschenkels  unter  Um- 
ständen (z.  B.  beim  Niedersetzen)  nicht  blos  durch  den  Semimembranosus  und  seine 
beiden  Helfershelfer  (Biceps  und  Semitendinosus)  bewerkstelligt,  sondern  zugleich 
durch  Mithilfe  des  Gastrocnemius  vollzogen  wird,  so  muss  sich,  wenn  der  Semi- 
membranosus und  der  äussere  Kopf  des  Gastrocnemius  sich  contrahiren,  das 
lAgamentum  poplUeum  anspannen,  wodurch  die  mit  ihm  verwachsene  hintere  Wand 
der  Kniegelenkskapsel  gleichfalls  gespannt,  aufgehoben,  und  vor  Einklemmung 
geschützt  wird. 


§.  194.  Topographie  der  Kniekehle. 

Durch  die  nach  unten  gerichtete  Divergenz  der  langen^  vom 
Sitzknorren  entspringenden  Muskeln,  wird  an  der  hinteren  Seite 
des  Oberschenkels,  gegen  das  Kniegelenk  herab,  ein  dreieckiger 
Raum  zwischen  ihnen  entstehen  müssen,  dessen  äussere  Wand 
durch  den  Biceps,  dessen  innere  durch  den  Semitendinosus,  Semi- 
membranosus und  Gracilis  erzeugt  wird.  In  der  nach  unten  offenen 
Basis  dieses  Dreiecks,  drängen  sich  die  beiden  convergirenden  Ur- 
sprungsköpfe des  zweiköpfigen  Wadenmuskels  (Gastrocnemius)  aus 
der  Tiefe  hervor,  und  verwandeln  den  dreieckigen  Raum  in  ein 
ungleichseitiges  Viereck,  dessen  obere  Seitenränder  lang,  die  unteren 
viel  kürzer  sind.  Dies  ist  die  Fossa  popUtea,  Kniekehle.  Da 
Poples  kein  griechisches,  sondern  ein  lateinisches  Wort  ist,  muss 
die  von  vielen  Autoren  beliebte  Schreibweise:  Fossa  poplitaea,  für 
unrichtig  erklärt  werden.  Es  gicbt  kein  griechisches  Wort  xsi://.- 
Tatoc.  Eigentlich  ist  Fossa  poplitea  ein  Pleonasmus,  da  poples  allein 
schon  bei  den  Classikeni  für  Kniekehle  oder  Kniebeuge  steht,  zum 
Unterschied  von  genu,  wodurch  die  Streckseite  des  Knies  ausgedrückt 
wird.  So  bei  Seneca:  succtsis  pojjlitibus  in  genua  se  excipere.  Leiten 
doch  auch   die  Sprachforscher   das    Wort  poples  von  postplicari  ab. 

Die  Kniekehle  schliesst  die  grossen  Gefasse  und  Nerven  dieser 
Gegend  in  folgender  Ordnung  ein.  Nach  Abnahme  der  Haut  und 
des  subcutanen  Bindegewebes,  welches  sich  hier  zu  einer  wahren 
Fascia  superficialis  verdichtet,  und  an  der  inneren  Seite  des  Knie- 
gelenks die  vom  inneren  Knöchel  heraufsteigende  Vena  saphena 
interna  eiusehliesst,  gelangt  man  auf  die  Fasda  poplitea,  als  Fort- 
setzung der  Fascia  lata.  Sie  deckt  die  Kniekehle,  und  schliesst  die 
vom    äusseren    Knöchel    heraufkommende   Vena   saphena  posterior  s. 


S.  194.  Topogrraphie  der  Kniekehle.  531 

minor  in  sich  ein.  Unter  der  Fascie  folgen  die  zwei  Theihmgsäste  des 
Nervus  ischiadvcus,  dessen  Stamm  unter  dem  Musculus  hiceps  in  den 
oberen  Winkel  der  Fossa  poplitea  eintritt.  Der  äussere  (Nervus 
poplüeus  ext^enius),  welcher  im  weiteren  Verlaufe  zum  Nervus  pm'o- 
naeus  wird,  läuft  am  inneren  Rande  der  Sehne  des  Biceps  zum 
Wadenbeinköpfchen  herab.  Der  innere,  stärkere  (Nervus  poplüeus 
internus,  im  weiteren  Verlauf  Nervus  tibialis  posticus  genannt),  bleibt 
in  der  Mitte  der  Kniekehle,  und  kann  bei  gestrecktem  Knie  sehr 
leicht  durch  die  Haut  gefühlt  werden. 

Um  die,  tief  im  Grunde  der  Kniekehle  lagernden  Blutgefässe 
aufzudecken,  geht  man  am  inneren  Rande  des  Nervus  poplitms 
internus  in  das  reiche  Fettlager  ein,  welches  die  ganze  Grube 
auspolstert,  und  findet  in  der  Tiefe  zuerst  die  Vena  poplitea,  welche 
hier  gewöhnlich  die  Vena  saphena  minor  aufnimmt,  und  unter  ihr, 
zugleich  etwas  nach  innen,  durch  kurzes  Bindegewebe  knapp  an 
sie  geheftet,  die  Fortsetzung  der  Arteria  cruralis  als  Arteria  popli- 
tea, welche  unmittelbar  auf  dem  unteren  Ende  des  Schenkelbeius, 
und  der  hinteren  Wand  der  Kniegelenkkapsel  aufliegt. 

Der  leichteren  Fiximng  des  LagerungsverhältniBses  der  durch  die  Ejiie- 
kehle  hindurchziehenden  Gefasse  und  Nerven,  hilft  Herr  Rieh  et  durch  den 
mnemotechnischen  Ausdruck  NVA  (gesprochen  Neva),  —  eine  anatomische  Wir- 
kung der  viel  gesuchten  und  noch  immer  nicht  gefundenen  französisch-russischen 
Allianz  I 

Der  Raum  der  Kniekehle  ist  bei  activer  Beugebewegung  des  Kniees  tiefer, 
als  im  gestreckten  Zustande,  indem  die  Muskeln,  welche  die  langen  Seitenwände 
derselben  bilden,  sich  während  ihrer  Contraction  anspannen  und  vom  Knochen 
erheben.  --  Da  die  Arteria  cruralis,  einem  allgemein  gültigen  Gesetze  zufolge, 
die  Heugeaeiten  der  Gelenke  an  der  unteren  Extremität  aufsucht,  also  von  der 
Leistengegend  zur  Kniekehle  läuft,  auf  welchem  Zuge  ihr  die  Sehne  des  langen 
Addnctor  im  Wege  steht,  so  folgt  hieraus  die  Noth wendigkeit  der  Durch- 
bohrung der  letzteren.  —  Man  liest  es  häufig,  dass  die  Arteria  cruralis  sich 
um  den  Schenkelknochen  windet.  Man  braucht  jedoch  nur  einen  Schenkel- 
knochen in  jene  Lage  zu  bringen,  in  welcher  er  im  aufrecht  stehenden  Menschen 
sich  befindet,  um  zu  sehen,  dass  eine  Arterie,  ohne  sich  im  Geringsten  zu 
winden,  von  der  Leistenbeuge  zur  Fossa  poplitea  verlaufen  kann,  wenn  sie  die 
innere  Fläche  des  Knochens  einfach  kreuzt.  —  Die  tiefe  Lage  der  Arteria 
poplitea,  macht  ihre  Unterbindung  sehr  schwer,  und  sie  ist  heut  zu  Tage  nur 
mehr  ein  anatomisches  Problem,  da  die  Wundärzte,  wenn  sie  die  Wahl  der 
Unterbindungsstelle  frei  haben,  seit  Hunt  er  lieber  die  Arteria  cruralis  unter- 
binden. -  Die  Häufigkeit  des  Vorkommens  krankhafter  Erweiterungen  (Aneu- 
rysmata)  an  der  Arteria  poplitea  ist  bekannt,  wenn  auch  nicht  genügend 
erklärt.  Es  kam  schon  vor,  dass  man  Abscesse  in  der  Kniekehle,  oder  Ausdehnun- 
gen der  bei  den  Muskeln  erwähnten  Schleimbeutel,  deren  flüssiger  Inhalt  die 
Pulsationen  der  Arteria  poplitea  fortpflanzt,  fUr  Aneurysmen  gehalten  hat. 


34« 


Di2  I'  lit.  Muk«lB  %n  d«r  vorderen  Peripherie  des  Oberscbeiikels. 

während  der  Supinationsstolluiif^  der  unteren  Extremität,  etwas 
einwärts  von  der  Mitte  de»  unteren  Kandes  des  Glutaeus  magnus 
einschnitte,  sieher  auf  ihn  kommen.  —  Da  der  grosse  Troehanter 
sich  dem  Sitzknorren  nähert,  wenn  das  Bein  nach  aussen  gerolh 
wird,  und  sich  von  ihm  bei  entgegengesetzter  Drehung  entfernt,  .so 
kann  die  Lage  des  Nervus  üchiadicus  zwischen  beiden  Knochen- 
punkten keine  unveränderliche  sein.  Er  muss  viehnehr  sich  auf 
dem  Qiuulrattuf  femoris  bei  jeder  Rollbcwegung  verschieben,  und 
die  damit  verbundene  Reibung,  ist  der  (frund  der  unerträglichen 
Schmerzen,  welche  bei  Rheumatismus  und  entzündlicher  Ischias, 
jede  Bewegung  des  Schenkels  begleiten.  Der  Druck,  welchen  dieser 
Nerv  beim  Sitzen  auf  Einer  Hinterbacke  erleidet,  erklärt  das  all- 
gemein gekannte  Einschlafen  und  Prickeln  des  Fusses  bei  dieser 
Stellung. 

Die  Muskeln,  welche  vom  Darmbeine  zum  j^ruHHen  Troehanter  gehen,  ziehen 
auch  den  verrenkten  8chenkelkopf  gegen  die  DarmheincriAta  hinauf,  und  setzen 
den  EinrichtungHverHUchen  ein  schwer  zu  bewältigende»  Hindernii^H  entgegen.  — 
Dai»H  die  FuHMpitzen,  wenn  man  horizontal  liegt,  nicht  gerade  nach  oben,  sondern 
nach  auHHen  stehen,  ist  nicht  Folge  von  Muskelzug,  sondern  wird  durch  die  un- 
gleiche Vertheilung  der  Muskelmasse  um  die  imaginäre  Drehungsaxe  des  Ober- 
schenkels verständlich,  welche  nicht  im  Knochen  liegt,  vielmehr,  wegen  des  Win- 
kels, zwischen  Hals  und  Mittelstück,  an  seine  innere  Seite  fallt,  somit  mehr 
Masse  des  Schenkels  an  der  äusseren  als  an  der  inneren  Seite  dieser  Drehungs- 
axe gelegeu  sein  muss,  wodurch  eben  die  Drehung  des  Schenkels  nach  aussen 
erfolgt. 


§.  1 90.  Muskeln  an  der  vorderen  Peripherie  des  Oberschenkels. 

Sie  gehen  entweder  v(»ni  Becken  zum  OberschtMikelbein,  oder 
überspringen  dieses,  um  zu  den  Knochen  des  IJnterschenkcds  herab- 
zusteigen, oder  entspringen  am  Oberschenkelbein,  um  am  Unter- 
schenkel zu  endigen.  Von  aussen  nach  innen  gehend,  triflft  man  sie 
in  fV)lg<Mider  Ordnung: 

Der  lange  Schenkelmuskcl  oder  Schneidermuskel,  Muj<- 
ctUus  sartoritia,  der  längste  aller  Muskeln,  platt,  einen  Zoll  breit, 
entspringt  vor  dem  Tenstyr  fnsciaa  latae,  von  der  tiplna  antenm* 
Buperlor  des  l)armb(Mns,  läuft  schräge  nach  innen  und  unten,  kreuzt 
Homit  die  übrigen,  mit  der  Schenkelaxe  mehr  parallelen  Jluskeln, 
und  kommt  an  di<».  innere  Seite  der  Kniegelenksgegend,  wo  er 
sehnig  zu  werden  beginnt.  Seine  Endsehne  steigt  anfangs  über  den 
hinteren  Theil  der  Innenfläche  des  Condi/ltis  Intenuiif  femoris  herab, 
krümmt  sich  aber  am  inneren  Condt/lus  fibiae  nach  vorn,  wird  zu- 
Behcuds  breiter,  überlagert  die  Endsehnen  des  (iracilis  und  Semiten- 
dinosuB  (Schleimbeutel  dazwischeu),  und  inserirt  sich  an  uud  unter 


§.  190.  Muskeln  an  der  vorderen  Peripherie  des  OberBOhenkels.  523 

dem  Schienbeinstachel  (Schleimbeutel).  Er  hilft  das  Bein  zuziehen, 
und  den  Unterschenkel  beugen,  dreht  ihn  auch  um  seine  Axe  nach 
innen,  wenn  er  schon  gebogen  ist. 

Die  humoristische  Benennung  Sartorius,  welche  ihm  von  Adr.  Spigelius 
(De  Ä»««.  corp.  faftrica.  Cap.  23)  zuerst  gegeben  wurde  (SiUot-iM  von  Riolan), 
entstammt  einer  irrigen  Vorstellung  über  die  Thätigkeit  dieses  Muskels.  So  sagt 
Spigelius:  „qitein  eijo  Sarlorium  vocare  aoleo,  qiiod  sartores  eo  maxime  lUaiUur, 
dum  aiut  a-uri  inter  consiiendum  impcniunt**.  Vergleicht  man  aber  seine  unerheb- 
liche Stürke,  mit  dem  Gewichte  der  ganzen  unteren  Extremität,  so  ist  er  wohl  zu 
ohnmächtig,  ein  Bein  über  das  andere  zu  schlagen,  wie  Schneider  und  Schuster 
es  tliun  bei  ihrer  sitzenden  Arbeit.  Dass  er  vielmehr  den  gebogenen  Unterschenkel 
um  seine  Axe  nach  innen  dreht,  fühlt  man  mit  der  aufgelegten  Hand,  wenn  man 
sitzend,  die  Spitze  des  einen  Fusses  durch  die  Ferse  des  andern  iixirt,  und  Dreh- 
bewegungen mit  dem  Unterschenkel  auszuftlhren  versucht.  —  Zuweilen  wird  er 
durch  eine  quere  Iiiscriptio  teiidiiiea  gezeichnet  Meckel  sah  ihn  fehlen,  und 
Kelch  fand  ihn  durch  eine  anderthalb  Zoll  lange  Zwischenschne  zweibäuchig. 
—  Die  Alten  nannten  den  Sartorius  auch  Mwtculus  fcutcialMf  weil  er  lang,  dünn 
und  schmal  ist,  wie  eine  Aderlassbinde  (FeutciaJ.  Es  ist  sonach  ein  Missgriff,  wenn 
T  h  e  i  1  e  den  Mimculiui  teiinor  faaciae  lotete,  auch  Musculus  fascialis  nennt. 

Der  vierköpfige  Unterschenkelstrecker,  Extensor  crurU 
quadriceps.  So  nenne  ich  den  an  der  vorderen  Seite  des  Ober- 
schenkels gelegenen,  aus  vier  Ursprungsköpfen  gebildeten,  kraft- 
vollen und  schönen  Muskel,  welcher  mit  grossem  Unrecht  von  den 
meisten  Autoren  in  vier  besondere  Muskeln  zerrissen  wird.  Nur 
sein  langer  Kopf,  welcher  sonst  Mitsculus  rectus  cruris  genannt 
wird,  entspringt  an  der  Spina  anterioi'  inferior  des  Darmbeins,  und 
aus  einer  seichten,  rauhen  Grube  über  dem  Pfannenrande.  Die 
übrigen  drei  Köpfe  nehmen  die  drei  Seiten  des  Schenkelbeins  ein, 
und  entspringen:  der  äussere,  als  Vastus  extermis,  von  der  Basis 
des  grossen  Rollhügels,  und  der  oberen  Hälfte  der  äusseren  Lefze 
der  Linea  aspera  femoris;  —  der  innere,  als  Vastus  internus,  von 
der  inneren  I^efze  der  Linea  a^pera  bis  zum  unteren  Viertel  der- 
selben herab;  —  der  mittlere,  als  Cruralis  s.  Vastus  medius,  von 
der  Linea  inter (rocJianterica  antenorj  und  dem  oberen  Theile  der 
vorderen  Fläche  des  Schenkelbeins,  und  ist  in  der  Regel  von  dem 
l'astiuf  externus  nicht  der  ganzen  Länge  nach  scharf  geschieden.  — 
Der  lange  Kopf  des  Extensor  quadriceps  ist  doppelt  gefiedert,  der 
äussere  und  innere  besteht  aus  schief  absteigenden  Fleischbündeln, 
deren  Richtung  sich  um  so  mehr  der  horizontalen  nähert,  je  tiefer 
unten  am  v^chenkel  sie  entspringen.  Diese  vier  Köpfe  vereinigen 
sieh  über  der  Kniescheibe  zu  einer  gemeinschaftlichen  Sehne,  welche 
in  der  verlängerten  Richtung  des  Rectus  crv/ris  liegt,  sich  an  der 
Basis  und  den  Seitenrändern  der  Patella  festsetzt,  diese  in  die  Höhe 
zicht^  und,  weil  sie  mit  der  Tibia  durch  das  Ligamentum  patellae 
proprium  zusammenhängt,  den  Unterschenkel  streckt. 


534  S*  IM*  Mnikeln  an  der  inneren  Peripherie  dee  Obenebenkels. 

Es  inseriren  sich  jedoch  nicht  alle  Fasern  dieser  Sehne  an  der  Kniescheibe. 
Die  oberflächlichsten  von  ihnen  ziehen  atib  forma  einer  breiten  Aponeurose, 
welche  yorzngsweise  dem  äosseren  und  inneren  Vastos  angehört,  über  die  Knie- 
scheibe weg,  um,  theils  die  vordere  Wand  der  Kniegelenkskapsel  zu  verstärken, 
theils  in  die  Fascie  des  Unterschenkels  überzugehen.  Zwischen  dieser  Aponeu- 
rose  und  der  Haut  Hegt,  entsprechend  dem  Umfange  der  Elniescheibe,  die  grosse 
Bursa  muco$a  patellaris  subcutanea;  —  zwischen  der  Aponeurose  und  der  Bein- 
haut der  Kniescheibe,  Lu8chka*s  Bursa  paleUnris  profimda.  Oefters  communi- 
ciren  beide  Schleimbeutel  durch  eine  umfängliche  Oeffnung.  Die  tiefe  Bursa  wird 
zuweilen  mehrfächerig.  Luschka,  über  die  Bursa  patellaris  profunda,  in  MiUler's 
Archiv,  1850.  —  Sehr  ausführlich  über  die  Schleimbeutel  des  Kniees  handelt 
Gruher:  Die  Bursae  mucosae  praepatdlares,  im  Bulletin  de  TAcad.  Impi^riale  de 
St.  P^tersbourg.  Tom.  XV.  No.  10  und  11  und  in  seiner  Monographie  der  Knie- 
schleimbeutel. Prag,  1857. 

Will  man  das  Ligamentum  peUeUae  proprium  als  Fortsetzung  der  Sehne  des 
Extensor  quadriceps  betrachten,  so  ist  die  Kniescheibe,  ein  Sesambein  in  dieser 
Sehne,  als  welches  sie  schon  von  Tarin  (Pos  s4samoide  de  la  Jambe)  aufgefasst 
wurde.  Zwischen  diesem  Bande  und  der  Tibia  liegt  eine  constante  Bursa  mucosa, 
welche  nie  mit  der  Kapselhöhle  in  Verbindung  steht.  Ein  unter  der  Ansatzstelle 
des  Extensor  eruris  quadriceps  an  der  Kniescheibe  befindlicher,  umfänglicher 
Schleimbeutel,  steht  mit  der  Sjmovialkapsel  des  Kniegelenks  im  Zusammenhang, 
und  wird  deshalb  als  eine  Ausstülpung  derselben  angesehen. 

Die  Spanner  der  Kniegelenkskapsel,  Musculi  subcrurcdes 
8.  articulares  genu,  sind  zwei  dünne,  platte,  vom  Vastus  medius  be- 
deckte, und  ihm  eigentlich  zugehörige  Muskelstreifen,  welche  von 
der  vorderen  Fläche  der  unteren  Extremität  des  Schenkelbeins  ent- 
springen, und  sich  in  die  obere  Wand  der  Kniegelenkskapsel  verlieren. 

Albin  hat  sich  die  Ehre  ihrer  Entdecktuig  zugeschrieben  (Annot.  acad. 
Lib.  IV).  Der  wahre  Entdecker  jedoch  war  Dupr6,  Wundarzt  am  Hotel-Dieu  zu 
Paris,  welcher  sie  in  seinem  Werkchen:  y^Les  sources  de  la  synovie,  Paris,  1699. 
12.'*,  als  Souscruraux  anführte. 


§.  191.  Muskeln  an  der  inneren  Peripherie  des  Oberschenkels. 

Der  schlanke  Schenkelmuskel,  Muscidus  graciliü  s.  rectus 
internus,  entspringt  mit  breiter  Sehne  von  der  Schamfuge,  dicht 
neben  dem  Aufhängebandc  des  männlichen  Gliedes,  und  liegt  auf 
dem  gleich  zu  erwähnenden  langen  und  kurzen  Zuzieh  er  auf.  Seine 
lange  Endsehne  windet  sich,  hinter  und  unter  jener  des  Sartorius, 
um  die  inneren  Condyli  des  Schenkel-  und  Schienbeins  nach  vorn 
herum,  und  setzt  sich  mittelst  einer  dreieckigen,  von  der  aufliegen- 
den Sartoriussehne  durch  einen  Schleimbeutel  getrennten  Ausbreitung, 
welche  bei  den  älteren  Anatomen  den  Namen  des  Gänse fusses 
führt,  an  der  inneren  Fläche  und  der  vorderen  Kante  dos  Schienbeins 
unter  der  Spina  tibiae  fest  (Schleimbeutel).  Er  zieht  das  Bein  zu,  und 
dreht,  wenn  das  Knie  gebeugt    ist,    den  Unterschenkel  nach  innen. 


1. 191.  MiukalD  an  der  inneren  Peripherie  dee  Obenchenkels.  525 

Die  Zuzieher  des  Schenkels,  Musculi  addiictorea  femorU. 
Es  finden  sich  deren  vier.  Sie  liegen  sämmtlich  an  der  inneren 
Seite  des  Schenkels.  Drei  davon  wurden  von  der  älteren  Anatomie 
als  ein  selbstständiger  Muskel,  Adductor  triceps,  beschrieben.  Da 
sie  jedoch  nicht  an  eine  gemeinschaftliche  Endsehne  treten ,  so 
können  sie  auch  nicht  als  Köpfe  Eines  Muskels,  sondern  müssen 
als  drei  verschiedene  Muskelindividuen  aufgestellt  werden.  Wollte 
man  sie  blos  als  drei  Ursprungsköpfe  Eines  Muskels  gelten  lassen, 
so  müsste  man  den  vierten  Zuzieher,  welcher  als  Kammmuskel, 
Musculus  pectineuSj  neben  dem  Triceps  beschrieben  wird,  als  vierten 
Kopf  eines  Addu>ctor  quadriceps  nehmen,  da  sein  Ursprung,  seine 
Richtung  und  seine  Insertion,  somit  auch  seine  Wirkung,  mit  den 
Köpfen  des  Triceps  übereinstimmt.  Es  ist  nichtsdestoweniger  noch 
immer  üblich,  der  Kürze  wegen,  die  Bezeichnung  Triceps  zu  ge- 
brauchen. 

Der  lange  Zuzieher,  Adductor  longus  (früher  Caput  longum 
tricipitia),  entspringt  kurzsehnig  auswärts  vom  Gracilis  am  Scham- 
beine unter  dem  Höcker  desselben,  nimmt  im  Herabsteigen  an 
Breite  zu,  und  heftet  sich  an  das  mittlere  Drittel  der  inneren 
Lefze  der  Linea  aspera  femaris ,  hinter  dem  Ursprung  des  Vastus 
internus. 

Der  kurze  Zuzieher,  Adductor  brevls  (Caput  breve  tridpitis), 
wird  vom  langen  Zuzieher  und  vom  Kammmuskel  bedeckt.  Er 
nimmt  seinen  Ursprung  vom  Beginn  des  absteigenden  Schambein- 
astes, und  endigt  an  der  inneren  Lefze  der  Linea  aspera  femoris, 
über  dem  langen  Zuzieher,  bis  zum  kleinen  Trochanter  hinauf. 

Der  grosse  Zuzieher,  Adductor  magnus  (Caput  magnum 
tridpitis),  entspringt  breit  am  absteigenden  Schambein-  und  auf- 
steigenden Sitzbeinaste,  so  wie  vom  Tuber  ischU,  deckt  den  Obtu- 
rator  extemuSy  und  grenzt  nach  hinten  an  den  Semitendinosus  und 
Semimembranosus,  Seine  oberen  Bündel  laufen  fast  quer,  und  werden 
von  dem  unteren  Rande  des  Quadratus  femoris  durch  eine  nicht 
immer  sehr  scharf  markirte  Spalte  getrennt.  Die  übrigen  treten 
schief  nach  aussen  und  unten  zum  Oberschenkel.  Die  lange  und 
breite  Endsehne,  an  welche  sich  alle  Fleischbündel  des  Muskels 
einpflanzen,  befestigt  sich  längs  der  Linea  aspera  femoris,  vom  Ende 
der  Insertion  des  Quadratus  femoris  bis  zum  Condylus  internus 
herab.  Denkt  man  sich  diese  Endsehne,  ihrer  Länge  nach,  in  drei 
Theile  getheilt,  so  wird  sie,  wo  das  mittlere  Dritttheil  an  das  untere 
grenzt,  durch  einen  Schlitz  unterbrochen,  durch  welchen  die  Ar- 
teria  und  Vena  cruralis  zur  Kniekehle  treten.  Nebst  dieser  grossen 
OefiFnung,  hat  die  Sehne  noch  mehrere  kleine,  zum  Durchtritt  der 
in  der  Gefassieh  re  zu  erwähnenden  Arteriae  perforantes. 


526  S.  19S.  Toptyrsph.  Verhiltniss  der  Maskaln  nntl  Oef&ste  des  Obenchenkels. 

Die  Adductores  bewirken  die  kräftige  Zu/Jehnng  der  Beine,  wie  beim 
Schenkelschi U88  des  Reiters.  Ihr  alter  Name,  auf  welchen  sie  aber  nur  beim 
weiblichen  Geschlechte,  und  auch  da  nicht  allzulangcn  Anspruch  haben,  ist: 
Cuutoa  virginwa.  —  Wirken  sie  gleichzeitig  mit  dem  Exlniwr  cnirui  qnodlricepa, 
so  folgt  der  Schenkel  der  Diagonale  beider  rechtwinklig  auf  einander  stehenden 
Bewegungsrichtungen,  und  wird  über  den  anderen  geschlagen.  Die  Adductores  und 
Extensores  sind  somit,  wenn  sie  simultan  wirken,  die  eigentlichen  Schneidermus- 
keln. —  Der  lange  Zuzieher  erscheint  zuweilen  in  zwei  Portionen  gethcilt 

Der  Kamuimuskel^  Musculus  pectineus  s,  UviduSy  entspringt 
von  der  ganzen  Länge  des  Sehambeinkammes^  und  von  einem 
Bande^  welches  am  Darmbein  in  der  Gegend  der  Pfanne  entsteht, 
und  längs  des  Pecten  pubis  bis  zum  TvJberculum  jnthis  verläuft  (Liga- 
mentum pubicum  Cooperi),  Er  deckt  den  Obturatoi*  externus  und  den 
kurzen  Kopf  des  Triceps,  und  befestigt  sich  an  die  innere  Lefze 
der  Crista  femoris  unter  dem  kleinen  Trochanter.  Zieht  zu,  und 
rollt  nach  aussen. 

Der  sonderbare  Name  Lividu»,  welcher  ihm  von  alten  Myologen  beigelegt 
wird,  stammt  wohl  davon  her,  dass  der  Muskel,  welcher  in  so  nahe  Berührung 
mit  der  auf  ihm  aufliegenden  grossen  Vejia  miralut  tritt,  sich  mit  dem  Blutserum 
tränkt,  welches  bei  beginnender  Fäulniss  durch  die  Venen wan«!  dringt,  und  den 
zersetzten  Färbestoff  des  Blutes  aufgelöst  enthält.  Riolan,  Spigelius  und 
Bartholin,  welche  diesen  Namen  gebrauchten,  sagen  nichts  über  seinen  Ursprung. 


§.  192.  TopograpMsches  Yerhältniss  der  Muskeln  und  Gefasse 
am  vorderen  Umfang  des  Oberschenkels. 

Die  in  den  beiden  vorhergehenden  Paragraphen  abgehandelten 
Muskeln,  stehen  zu  den  (iefässen  und  Nerven  de»  Oberschenkels 
in  so  praktisch-wichtigen  Verhältnissen ,  dass  der  Anfänger  nie 
unterlassen  soll,  bei  der  Zergliederung  der  Muskeln,  auch  auf  die 
Geiasse  und  Nerven  Rücksicht  zu  nehmen,  deren  Verlaufsgesetze 
an  so  vielen  Orten  von  der  Anordnung  der  Muskelstränge  abhängen. 

Hat  man  die  Fasciu  lata  (welche  erst  am  Schlüsse  der  Muskeln 
der  unteren  Extremität  in  §.  199  geschildert  wird)  vom  Ligametitum 
Poupartü  losgetrennt,  und  sie  so  weit  abgelöst,  dass  die  einzelnen 
Muskelkörper,  welche  zwischen  der  Schamfuge  und  dem  vorderen 
oberen  Darmbeinstachel  liegen,  nett  und  rein  zu  Tag  treten,  so 
bemerkt  man  unter  dem  Poupart* sehen  Bande,  einen  dreieckigen 
Raum,  dessen  Basis  durch  dieses  Band,  dessen  Seiten  nach  aussen 
vom  Sartorius,  nach  innen  vom  Gracilis  und  den  Adductoren  ge- 
bildet werden.  Dieser  Raum,  von  Velpeau  TrUtngulus  ingulnalis, 
von  mir  Triangulus  sidnnguinalis  genannt,  schliesst  ein  zweites,  kleineres 
Dreieck  ein,  welches  mit  ihm  gleiche  Basis  hat,  dessen  Seitenränder 
aber  auswärts  durch  den  vereinigten  Psoas  und  lUacus,  innen  dui*ch 


§.  19S.  Topofraph.  TerhältniBS  der  Mnskelo  and  Oef&sse  am  Oberschenkel.  527 

den  Pectineus  dargestellt  werden.  Der  Raum  dieses  Dreiecks  ver- 
tieft sich  konisch  gegen  den  kleinen  Trochanter  zu,  welcher  in 
seinem  Grunde  gefühlt  wird.  So  entsteht  die  in  chirurgischer  Be- 
ziehung hochwichtige  Fossa  ileo-pectinea.  Sie  wird  von  abundantem 
Fette,  und  den  tiefliegenden  Leistendrüsen  ausgefüllt,  und  schliesst 
die  grossen  üefasse  und  Nerven  ein,  welche  unter  dem  Poupart- 
schen  Bande  zum  oder  vom  Becken  gehen.  Man  kann  von  dieser 
Gnibe  aus  (nachdem  ihr  Inhalt  rein  präparirt)  die  Hand  in  die 
Bauchhöhle  einführen,  durch  eine  grosse,  querovale  OefFnung,  welche 
vom  Ligamentum  Poupartii  überspannt  wird.  Durch  diese  geräumige 
Oeffnung  tritt  eine  mit  dem  Iliacus  aus  der  Beckenhöhle  herab- 
steigende Fascie  hervor,  welche  im  §.  188  als  Fascia  üiaca  er- 
wähnt wurde.  Sie  lässt  ihren  oberen  und  zugleich  äusseren  Rand 
mit  dem  Poupart'schen  Bande,  ihren  unteren  und  zugleich  inneren 
Rand,  mit  dem  Tuherculum  ileo-pectineum  verwachsen,  und  wird 
deshalb  an  dieser  Stelle  Fasda  üecHpectinea  genannt.  Durch  die 
Fascia  üeo-pecttriea  wird  die  grosse  Geffnung  unter  dem  Poupart- 
schen  Bande  in  zwei  seitliche  Lücken  abgetheilt.  Die  äussere 
Lücke  ist  die  Lacuna  musculans.  Sie  lässt  den  Psoas,  Iliacus,  imd 
zwischen  beiden  den  Nervus  cruralis  heraustreten.  Die  innere 
heisst  I^cuna  vasorum  cruralium,  und  dient  zum  Durchgange  der 
Arteria  und  Vena  cruralis,  welche  sich  in  das  Fettlager  der  Fossa 
lleo-pectlnea  so  einhüllen,  dass  wenig  Fett  auf  ihnen,  vieles  unter 
ihnen  liegen  bleibt.  Beide  Gefiisse  sind  in  eine  gemeinschaftliche, 
durch  eine  Zwischenwand  in  zwei  Fächer  abgetheilte,  fibröse 
Scheide  eingeschlossen.  Sie  folgen,  während  sie  blos  vom  hoch- 
liegenden Blatte  der  Fasda  lata  bedeckt  sind,  einer  Linie,  welche 
man  beiläufig  vom  Beginne  des  inneren  Drittels  des  Poupart'schen 
Bandes,  gegen  die  Spitze  der  Fossa  ileo-pectinea  herabzieht.  Die 
Arteria  cruralis  liegt  dicht  an  der  Fasda  lleo-pectlnea  an,  die  Vena 
cruralis  neben  der  Arterie  nach  innen,  und  nimmt  hier  die  Vena 
saphena  interna  auf.  Beide  Gefasse  füllen  die  Lacuna  vasorum  nicht 
ganz  aus.  Zwischen  der  V^ena  cruralis  und  der  dritten  Insertion 
des  Poupart'schen  Bandes  am  Pecten  puhis,  welche  d\^  Ligamentum 
Glmbernatl  benannt  wird,  bleibt  ein  Raum  frei,  welcher  nur  von 
der  Fasda  transversa  des  Bauches  und  dem  Bauchfell  verschlossen 
wird.  Da  durch  diesen  Raum,  die  Eingeweide  aus  der  Bauchhöhle, 
so  gut  wie  durch  den  Leistenkanal,  oder  die  innere  Leistengrube, 
austreten  können,  um  eine  Heiniia  cruralis  zu  bilden,  so  nennt  man 
ihn:  Bauch  Öffnung  des  Schenkelkanals  —  Annulus  ci^ralis. 
Die  Schenkelöffnung  des  Schenkelkanals,  und  die  Bildung  des 
Kanals  selbst,  werden  im  §.   199  beschrieben. 

Vom  unteren   Winkel  des    Triangidus  subingulnalls   angefangen, 
wird  die-  Aiterla,  und    Ve^ia  cruralis  vom  Musculus  sartorius  bedeckt, 


528  S.  IM.  Topofnpk.  TerbUtniss  der  Mnikeln  and  Oeftue  am  Obenehenkel. 

und  liegen  beide,  bis  zu  ihrem  Durchtritte  durch  den  Schlitz  in  der 
Sehne  des  grossen  Zuziehers,  in  einer  Rinne,  welche  durch  die 
Adductoren  und  den   Vcutua  internus  gebildet  wird. 

Der  Nervus  cruralis  wird  in  der  Fossa  üeo-pectinea  von  der 
Arteria  cruralis  durch  die  Fascia  äeo-pectinea  und  die  Sehne  des 
Psoas  getrennt,  und  theilt  sich  gleich  unter  dem  Poupar tischen 
Bande,  in  hoch-  imd  tiefliegende  Zweige.  Erstere  sind  Hautäste, 
letztere  Muskeläste.  Einer  von  den  Hautästen  begleitet  die  Crural- 
arterie,  liegt  anfangs  an  ihrer  äusseren  Seite,  kreuzt  sich  hierauf 
mit  ihr,  um  an  ihre  innere  Seite  zu  kommen,  verlässt  sie  dann  bei 
ihrem  Eintritt  in  den  Schlitz  der  Adductorenschne,  und  begleitet 
von  nun  an  die  Vetia  saphena  magna  bis  zum  Fusse  hinab,  weshalb 
er  Nervus  saphenus  genannt  wird. 

Es  erhellt  aus  diesen  Verhältnissen,  dass  die  Arteria  cruralis,  deren  Unter- 
bindung bei  gewissen  chirurgischen  Krankheiten  nothwendig  wird,  im  TriangtUwt 
tubkiguinaUg,  wo  sie  nicht  von  Muskeln  bedeckt  wird,  am  leichtesten  zugänglich 
ist,  und  man  sie  hier,  wenn  die  Wahl  der  ITnterbindungsstelle  frei  steht,  am 
liebsten  blosslegt.  Da  sie  während  ihres  Laufes  durch  dieses  Dreieck,  die  meisten 
ihrer  Seitenäste  abgiebt,  von  denen  die  Profunda  feniorü,  einen  bis  anderthalb 
Zoll  unter  dem  Poupar  tischen  Bande  die  stärkste  ist,  und  man  so  weit  al8 
möglich  unter  dem  letzten  Collateralast  die  Unterbindung  vornimmt,  so  ist  nach 
Hodgson  die  beste  Lig^turstelle  der  Arteria  cruralis,  am  unteren  Winkel  des 
Triangulus  9ubinguinalis  gegeben,  welcher,  wenn  man  den  inneren  Band  des  Sar- 
torius  verfolgt,  leicht  zu  finden  ist.  Die  sehr  veränderliche,  bald  höher,  bald  tiefer 
gelegene  Kreuznngsstelle  der  Arteria  cruraÜH  mit  dem  Nemma  saphenus  erheischt 
Vorsicht.  —  Von  der  Spitze  des  Triangultis  suMnguinalis  bis  zum  Durchgang 
durch  den  Schlitz  der  Adductorsehne,  muss,  wenn  hier  die  Unterbindung  der 
Crural- Arterie  nach  dem  Hunter'schen  Verfahren  vorgenommen  werden  sollte, 
der  Sartorius  durch  einen  Haken  nach  aussen  gezogen  werden.  Unmittelbar  an 
der  Eintrittsstelle  in  die  Sehne  des  Adductor,  wäre  dem  Gefässe  auch  vom 
äusseren  Bande  des  Sartorius  her,  oder  durch  eine  Längenspaltung  seines  Fleisches, 
beizukommen.  —  Das  Verhältniss  der  Vena  cruralis  zur  Arterie  ist  so  beschaffen, 
dass  am  horizontalen  Schambeinaste  die  Vene  an  der  inneren  Seite  der  Arterie 
liegt,  sich  aber  im  Herabsteigen  so  hinter  sie  schiebt,  dass  über  den  Schlitz 
der  Sehne  des  Adductor^  die  Arterie  die  Vene  genau  deckt.  —  An  keiner  anderen 
Stelle  des  Verlaufs  der  Arteria  cruralis  lässt  sich  eine  Compression  derselben 
leichter  bewirken,  als  am  horizontalen  Schambeinaste,  wo  sie  durch  den  Finger, 
der  ihren  PuUschlag  fühlt,  einfacher  und  sicherer  als  mit  künstlichen  Vorrich- 
tungen ausgeführt  werden  kann. 

Wie  wohlthätig  anatomische  Kenntnisse  auch  dem  Nichtarzte  sein  könnten, 
beweist  folgender  Fall.  Ein  Prager  Student  schnitt  sich  auf  einem  Spaziergange 
einen  Weidenstock  zu.  Um  ihn  zu  schälen,  zog  er  ihn  unter  der  Schneide  eines 
Taschenmessers  durch,  welches  er  an  den  Schenkel  stemmte.  Einer  seiner  Ge- 
fährten stiess  ihn  an,  das  Messer  fuhr  in  den  Schenkel,  schnitt  die  Arteria  cru- 
ralis durch,  und,  bevor  Hilfe  kam,  war  er  eine  verblutete  Leiche.  Ein  Fingerdruck 
auf  den  horizontalen  Schambeinast  hätte  ihn  wahrscheinlich  gerettet. 


|.  198.  Muskeln  an  der  hinteren  Peripherie  de«  Obereehenkels.  529 


§.  193.  Muskeln  an  der  hinteren  Peripherie  des  Oberschenkels. 

Sie  sind  bei  weitem  weniger  zahlreich  als  jene  an  der  vor- 
deren und  inneren  Peripherie,  und  gehen  vom  Tuber  ischü  zum 
Unterschenkel,  welchen  sie  beugen.  Es  sind  ihrer  drei. 

Vom  Sitzknorren  ausgehend,  divergiren  sie  im  Herabsteigen 
so,  dass  der  eine  schief  gegen  die  äussere  Seite  des  Kniegelenks, 
die  beiden  anderen  gerade  gegen  dessen  innere  Seite  ziehen.  Der 
erste  nimmt  im  Herabsteigen  einen  von  der  äusseren  Lefze  der 
Linea  aspera  femoris,  unterhalb  der  Insertion  des  Glutaeus  magnua 
entspringenden  kurzen  Kopf  auf,  und  heisst  deshalb  der  Zwei- 
köpfige, Biceps  femoris.  Seine  Endsehne  befestigt  sich  am  Waden- 
beinköpfchen, unter  dem  Ligamentum  laterale  externum  des  Knie- 
gelenks, wo  ein  Schleimbeutel  vorkommt.  Die  beiden  anderen  sind 
der  halbsehnige  und  halbhäutige  Muskel,  —  Muscuius  semi- 
tendinosus  und  semhaembranosus. 

Der  Halbsehnige  bedeckt  den  Halbhäutigen,  ist  an 
seinem  Ursprünge  mit  dem  langen  Kopfe  des  Biceps  femoris  ebenso 
verwachsen,  wie  der  Coracobrachialis  am  Oberarm  mit  dem  Ursprung 
des  kurzen  Bicepskopfes,  verschmächtigt  sich  im  Herabsteigen  pfrie- 
menförmig,  und  geht  in  der  Mitte  des  Oberschenkels  in  eine  lange, 
schnurförmige  Sehne  über,  welche  sich  unter  dem  inneren  Knorren 
des  Schienbeins  nach  vom  kiümmt,  und  unter  der  Sehne  des  Gra- 
cilis  zur  inneren  Schienbeinfläche  gelangt,  um  sich  neben  der  Spina 
tibiae  zu  implantiren  (Schleimbeutel). 

Da  seine  Sehne  so  lang  ist,  wie  sein  Fleisch,  so  wHre  sein  Name:  Halb- 
sehniger, gerechtfertigt.  Sein  Fleisch  wird  durch  eine,  die  ganze  Dicke  des 
Muskels  schräge  schneidende  fibröse  Einschubsmembran  (als  IrucripHo  tendinea  zu 
deuten)  durchsetzt,  an  welcher  die  Fleischfasem  der  oberen  Hälfte  endigen,  und 
jene  der  unteren  beginnen. 

Der  Halbhäutige  liegt  zwischen  Semitendinosus  und -^cWwctor 
magnus.  Seine  dreieckige  breite  Ursprungssehne  reicht  an  der  einen 
Seite  seines  Muskelfleisches  bis  zur  Mitte  des  Oberschenkels  herab, 
wo  zugleich  seine  Endsehne  an  der  anderen  Seite  des  Fleisches  be- 
ginnt. Das  Fleisch  des  Muskels  bildet  drei  Querfinger  breit  über 
dem  Knie,  einen  runden  starken  Bauschen,  welcher  plötzlich  mit 
einem  scharfen  Absatz  wie  abgeschnitten  aufhört,  und  durch  eine 
kurze,  aber  sehr  kräftige  Sehne,  sich  am  hinteren  Bezirk  des  Con- 
dylus  internus  tibiae  einpflanzt. 

Zwischen    dieser    Sehne,    und    dem    inneren    Seitenbande  des  Kniegelenks, 
liegt  ein  Schleimbeutel.     Ein    ebensolcher    findet    sich    zwischen   derselben  Sehne 
Hyrti,  Lehrbach  der  Anatomie.  14.  Aufl.  34 


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530  §.  194.  Topognpbie  dar  KniekehJe. 

und  dem  Urepnmg  des  inneren  Kopfes  des  Gastrocnemins.    Er  steht  zuweilen  mit 
der  Sjnovialkapsel  des  Kniegelenks  in  Höhlencommunlcation. 

Ein  breites  Faserbünde]  löst  sich  vom  äusseren  Bande  der  Endsehne  des 
Semimembranosus  ab,  geht  im  Grunde  der  Kniekehle  g^gen  den  Cmuiylus  extemu^ 
fenioris  herüber,  verwebt  sich  mit  dem  Ligamentum  poplUeum  (§.  152,  4),  und 
verschmilzt  zuletzt  mit  der  Ursprungssehne  des  äusseren  Kopfes  des  später  zu 
beschreibenden  Gastrocnemins.  Da  die  Beugung  des  Unterschenkels  unter  Um- 
ständen (z.  B.  beim  Niedersetzen)  nicht  blos  durch  den  Semimembranosus  und  seine 
beiden  Helfershelfer  (Biceps  und  Semitendinosus)  bewerkstelligt,  sondern  ssugleich 
durch  Mithilfe  des  Gastrocnemins  vollzogen  wird,  so  muss  sich,  wenn  der  Semi- 
membranosus und  der  äussere  Kopf  des  Gastrocnemins  sich  contrahiren,  das 
Ligamentum  popliteum  anspannen,  wodurch  die  mit  ihm  verwachsene  hintere  Wand 
der  Kniegelenkskapsel  gleichfalls  gespannt,  aufgehoben,  und  vor  Einklemmung 
geschützt  wird. 


§.  194.  Topographie  der  Kniekehle. 

Durch  die  nach  unten  gerichtete  Divergenz  der  langen,  vom 
Sitzkuorren  entspringenden  Muskeln,  wird  an  der  hinteren  Seite 
des  Oberschenkels,  gegen  das  Kniegelenk  herab,  ein  dreieckiger 
Raum  zwischen  ihnen  entstehen  müssen,  dessen  äussere  Wand 
durch  den  Biceps,  dessen  innere  durch  den  Semitendinosus,  Semi- 
membranosus und  Gracilis  erzeugt  wird.  In  der  nach  unten  offenen 
Basis  dieses  Dreiecks,  drängen  sich  die  beiden  convergirenden  Ur- 
sprungsköpfe des  zweiköpfigen  Wadenmuskels  (Gastrocnemim)  aus 
der  Tiefe  hervor,  und  verwandeln  den  dreieckigen  Raum  in  ein 
ungleichseitiges  Viereck,  dessen  obere  Seitenränder  lang,  die  unteren 
viel  kürzer  sind.  Dies  ist  die  Fossa  popKtea,  Kniekehle.  Da 
Pöples  kein  griechisches,  sondern  ein  lateinisches  Wort  ist,  muss 
die  von  vielen  Autoren  beliebte  Schreibweise:  Fossa  poplitaea,  für 
unrichtig  erklärt  werden.  Es  giebt  kein  griechisches  Wort  xst:).'.- 
Tato;.  Eigentlich  ist  Fossa  poplttea  ein  Pleonasmus,  da  poples  allein 
schon  bei  den  Classikern  für  Kniekehle  oder  Kniebeuge  steht,  zum 
Unterschied  von  genu,  wodurch  die  Streckseite  des  Knies  ausgedrückt 
wird.  So  bei  Seneca:  sticcims  poplttibus  in  geiiua  se  excipere.  Leiten 
doch  auch   die  Sprachforscher   das    Wort  poples  von  postplicari  ab. 

Die  Kniekehle  schliesst  die  grossen  Gefasse  und  Nerven  dieser 
Gegend  in  folgender  Ordnung  ein.  Nach  Abnahme  der  Haut  und 
des  subcutanen  Bindegewebes,  welches  sich  hier  zu  einer  wahren 
Fascia  superficialis  verdichtet,  und  an  der  inneren  Seite  des  Knie- 
gelenks die  vom  inneren  Knöchel  heraufsteigende  V&iia  saphena 
interna  eiuscliliesst,  gelaugt  man  auf  die  Fascia  poplitea,  als  Fort- 
setzung der  Fascia  lata,  Sie  deckt  die  Kniekehle,  und  schliesst  die 
vom    äusseren   Knöchel    heraufkommende   Vena   saphena  posttiior  s. 


S.  194.  Topographie  der  Kniekehle.  531 

minor  in  sich  ein.  Unter  der  Fascie  folgen  die  zwei  Theilungsäste  des 
Nenms  ischiadicus,  dessen  Stamm  unter  dem  Musculus  biceps  in  den 
oberen  Winkel  der  Fossa  poplitea  eintritt.  Der  äussere  (Nervus 
pofliteus  extenius),  welcher  im  weiteren  Verlaufe  zum  Nervus  pero- 
naeus  wird,  läuft  am  inneren  Rande  der  Sehne  des  Biceps  zum 
Wadenbeinköpfchen  herab.  Der  innere,  stärkere  (Nervus  popliteus 
internus,  im  weiteren  Verlauf  Nervus  tibialis  j^osticus  genannt),  bleibt 
in  der  Mitte  der  Kniekehle,  und  kann  bei  gestrecktem  Knie  sehr 
leicht  durch  die  Haut  gefühlt  werden. 

Um  die,  tief  im  Grunde  der  Kniekehle  lagernden  Blutgefässe 
aufzudecken,  geht  man  am  inneren  Rande  des  Nervus  popliteus 
internus  in  das  reiche  Fettlager  ein,  welches  die  ganze  Grube 
auspolstert,  und  findet  in  der  Tiefe  zuerst  die  Vena  poplitea,  welche 
hier  gewöhnUch  die  Vena  saphena  minor  aufnimmt,  und  unter  ihr, 
zugleich  etwas  nach  innen,  durch  kurzes  Bindegewebe  knapp  an 
sie  geheftet,  die  Fortsetzung  der  Arteria  cruralis  als  Arteria  popli- 
tea, welche  unmittelbar  auf  dem  unteren  Ende  des  Schenkelbeins, 
und  der  hinteren  Wand  der  Kniegelenkkapsel  aufliegt. 

Der  leichteren  Fiximng  des  Lagerungsverhältnisses  der  durch  die  Eliiie- 
kehle  hindurchziehenden  Gefasse  und  Nerven,  hilft  Herr  Rieh  et  durch  den 
mnemotechnischen  Ausdruck  NVA  (gesprochen  Neva),  —  eine  anatomische  Wir- 
kung der  viel  gesuchten  und  noch  immer  nicht  gefundenen  französisch-russischen 
Allianz ! 

Der  Raum  der  Kniekehle  ist  bei  activer  Beugebewegung  des  Kniees  tiefer, 
als  im  gestreckten  Zustande,  indem  die  Muskeln,  welche  die  langen  Seitenwände 
derselben  bilden,  sich  während  ihrer  Contraction  anspannen  und  vom  Knochen 
erheben.  —  Da  die  Arteria  crurali«,  einem  allgemein  giltigen  Gesetze  zufolge, 
die  Heugeseiten  der  Gelenke  an  der  unteren  Extremität  aufsucht,  also  von  der 
Leistengegend  zur  Kniekehle  läuft,  auf  welchem  Zuge  ihr  die  Sehne  des  langen 
Adductor  im  Wege  steht,  so  folgt  hieraus  die  Noth wendigkeit  der  Durch- 
bohrung der  letzteren.  —  Man  liest  es  häufig,  dass  die  Ärteria  cruralis  sich 
um  den  Schenkelknochen  windet.  Man  braucht  jedoch  nur  einen  Schenkel- 
knochen in  jene  Lage  zu  bringen,  in  welcher  er  im  aufrecht  stehenden  Menschen 
sich  befindet,  um  zu  sehen,  dass  eine  Arterie,  ohne  sich  im  Geringsten  zu 
winden,  von  der  Leistenbeuge  zur  Fo8»a  poplitea  verlaufen  kann,  wenn  sie  die 
innere  Fläche  des  Knochens  einfach  kreuzt.  —  Die  tiefe  Lage  der  Arieria 
poplitea,  macht  ihre  Unterbindung  sehr  schwer,  und  sie  ist  heut  zu  Tage  nur 
mehr  ein  anatomisches  Problem,  da  die  Wundärzte,  wenn  sie  die  Wahl  der 
ITnterbindungssteUe  frei  haben,  seit  Hunter  lieber  die  Arteria  crureUig  unter- 
binden. -  Die  Häufigkeit  des  Vorkommens  krankhafter  Erweiterungen  (Aneu- 
rytmiata)  an  der  Arteria  poplitea  ist  bekannt,  wenn  auch  nicht  genügend 
erklärt.  Es  kam  schon  vor,  dass  man  Abscesse  in  der  Kniekehle,  oder  Ausdehnun- 
gen der  bei  den  Muskeln  erwähnten  Schleimbeutel,  deren  flüssiger  Inhalt  die 
Pulsationen  der  Arteria  poplitea  fortpflanzt,  für  Aneurysmen  gehalten  hat. 


34* 


hH2  |,  t^ti.  NMkffIfi  M  «f«!  vor<l«rftri  uo'l  iii»*«r«ii  H«it«  4«t  i;nt«r«chenk«U. 


§.  Iliri.  MuHkoln  an  der  vorderen  und  äusseren  Seite  des 

Unterschenkels. 

Hif<  nIimI  Mlliiiiiitlif'h  liiiiKo  MuHkoln,  und  orHchcincn  .so  um  die 
KiioiditMi  dt«M  llnti^'Mcdit^nkdlH  horuingtdiigort^  da»»  nur  die  innere 
Ht'liitMilM«inlllU'lM\  dit*  v<»rdnr(^  Schienlx^inkante,  und  die  beiden 
Knüt^lhd  viMi  ilini^n  uniMMliM'kt  Idt^hcn.  Kiunor  von  ihnen  entspringt 
tiMi  nlmi'm'luMikol.  Sii^  koinnion  vieluMdir  alle  von  den  Knochen 
iU^tk  |lhtPi*m*hohkelM  ht^r»  Hot/rn  iUu^r  das  Sprunggelenk  weg,  und 
Mrhl«*k(«u  ihn«  Sohnon  tht^JH  »u  den  Mitteliuäsknoehen,  theils  zu 
diMi  /ohon. 

^l.    Vordtite  Seite, 

l>io  MuMkoh)  an  dor  vonloivu  Seite  des  Unterschenkels, 
hahon  den  Haiun  *\vi>«ehen  Sehiou  und  Wadenbein  in  Besitz.  Von 
innen    naeh    aUHnen   gtdiend«    tindet    man    sie   in    folgender  (.Ordnung 

he  r  \  o  r  d  e  r  o  Sohl  t*  n  b  e  i  n  ui  u  s  k  e  1,  Mitscvitts  U'hiaiis  a  ntk%* 
¥s  fci|*|M\*«t*»  der  slÄrksU*  unter  ihnen,  entspringt  vom  äusseiva 
Kuorivn  und  der  Äusseivn  KlÄohe  dos  Schienbeins,  vom  Zwischen- 
kiu^^henlmade»  nn\l  \\»n  der  f**iA>\i  o^i^w,  und  verwandelt  sieh  ;ftm 
wwlvivn  l^rinvl  \le>  l  ntei^seheukels  in  eine  starke  Stöhne,  welche 
ubev  \la>  unUMv  Kwde  des  Schiculnnus  und  üln^r  da>  Spruug^lcnk 
*vh^^v  wach  »uucn  Uut^ ,  um  am  ersten  Keilbeine .  uivd  aii  der 
)laM>  des  i^  »('^^»M»^  V.j-Vks>s  i\i  cndii^vU  >chK*iml»euU'l  .  Ixv^it 
Ucn  Kuxs  und  divht  dm  auxleich  ein  wenii:  >«>*  um  ><riiie  l-Äiiirv^- 
aWv  dav>  der  ;n*,tciv  KviNx^ud  nach  v^ln^n  sieht,  wir  "tK-irü  Kc::c:i 
HAch  doi  alt>jw,i:>chcu  Ss'hulc  \  :cl;etv  ht  riihr^  vier  Näi;i^  H:l\^:*'> 
sIaKcv    ^\cu    x\v>.   l^cixl 


§.  195.  Maskeln  an  der  vorderen  und  Äusseren  Seite  des  Unterschenkels.  533 

Der  lange  gemeinschaftliche  Strecker  der  Zehen^ 
Musculus  ext&iisor  digitorum  communis  longus,  entspringt  von  dem 
Köpfchen  und  der  vorderen  Kante  des  Wadenbeins,  dem  Condylus 
extenius  Hbüie,  und  dem  Ligamentum  interosseum.  Er  ist  halbgeüedert. 
Die  an  seinem  vorderen  Rande  befindliche  Sehne,  theilt  sich  über 
dem  Sprunggelenk  in  fünf  platte  Schnüre,  von  welchen  die  vier 
inneren,  zur  zweiten  bis  fünften  Zehe  laufen,  um  mit  den  Sehnen 
des  kurzen  gemeinschaftlichen  Streckers,  die  Rückenaponeurose  der 
Zehen  zu  bilden,  welche  sich  wie  jene  der  Finger  verhält.  Die 
fünfte  oder  äusserste  Sehne,  setzt  sich  an  der  Rückenfläche  des 
fünften  Mittelf usskn och ens  fest,  nahe  an  dessen  Basis  (zuweilen 
auch  des  vierten,  oder  an  diesem  letzteren  allein)  und  schickt 
häufig  auch  eine  fadenförmige  Strecksehne  zur  kleinen  Zehe.  Oft 
ereignet  es  sich,  dass  das  Fleisch  des  Extensor  communis,  welches 
dieser  fünften  Sehne  den  Ursprung  giebt,  weit  hinauf  vom  gemein- 
schaftlichen Muskelbauche  des  Zehenstreckers  abgetrennt  erscheint. 
Dieses  Fleisch  führt  deshalb  seit  Win  slow  und  Alb  in  den  beson- 
deren Namen  Musculus  peronaeus  tertius. 

Indem  die  Sehnen  der  Muskeln  an  der  vorderen  Seite  des  Unterschenkels 
Über  die  Bengeseite  des  Sprunggelenks  laufen,  und  sich  bei  jeder  Spannung  von 
ihr  emporheben  würden,  so  müssen  sie  durch  starke,  in  die  Fa»cia  cniris  kreuz- 
weis eingewebte  Sehnenstreifen,  auf  dem  Fassrüste  niedergehalten  werden.  So 
ergiebt  sich  die  Nothwendigkeit  des  Ligamentum  cruckUum.  Es  besteht  dieses 
Band  aus  zwei,  sich  schief  kreuzenden  Schenkeln,  von  welchen  der  eine  vom 
inneren  Knöchel  zur  äusseren  Fläche  des  Fersenbeins  geht,  während  der  zweite 
vom  Os  naviailare  und  cuneiforrtte  prinium  entspringt,  bis  zur  Kreuznngsstelle 
mit  dem  ersten  stark  ist,  und  von  hier  an  nur  selten  bis  zum  äusseren  Knöchel 
deutlich  ausgeprägt  erscheint.  Zwei  an  der  inneren  Oberfläche  des  Kreuzbandes 
entspringende  Scheidewände,  schieben  sich  zwischen  die  Sehnen  des  Tibialia 
antictis,  Exteii»or  haUticis  lotiyiut,  und  Extensor  communitt  diffitorum  Ixmf/tis  ein,  und 
bilden  gesonderte  Fächer,  die  mit  Synovialhäuten,  welche  die  Sehnen  auch  über 
das  Kreuzband  hinaus  begleiten,  gefüttert  werden. 

Für  das  Bündel  der  Sehnen  des  langen  Zehenstreckers,  steht  am  Rücken 
des  Sprunggelenks  noch  eine  besondere  Bandschlinge  bereit,  welche  von 
Retzius  als  Ligamentum  fundiforme  tarsi,  Schleuderband,  bescli rieben  wurde 
(Müller  8  Archiv,  1841).  Man  sieht  dieses  Band,  nach  vorsichtigem  Lospräpariren 
des  Kreuzbandes,  aus  dem  Sinus  tarsi  herauskommen,  und,  nachdem  es  das 
erwähnte  Sehnenbündel  schlingenförmig  umgriffen,  wieder  dahin  zurückkehren. 
Die  Innenfläche  der  Schlinge  oder  Schleuder  trifft  man  nicht  selten  in  solchem 
Grade  verknorpelt,  dass  man  diese  Stelle  des  Bandes  bei  mageren  Füssen 
durch  die  Haut  sehen,  und  mit  dem  Finger  fühlen  kann.  Das  Band  verhindert, 
während  der  Zusammenziehung  des  Muskels,  die  Erhebung  der  Strecksehnen  vom 
Fussrücken. 

Die  Arteria  tibialia  anOca,  ein  Zweig  der  Arteria  poplitea,  welcher  durch 
die  obere  Ecke  des  Zwischenknochenraums ,  zur  vorderen  Seite  des  Unter- 
schenkels gelangt,  befindet  sioh  ssu  den  Maskeln  dieser  Gegend  in  folgendem 
Verhältnisse.  Sie  läuft  auf  dem  ZwisohenkuochenlMutde  Mi&ngs  zmschen  dem 
Fleisch    des     Tibialis   anlicu9    und    lä*!«*f*—  '««dter    unten 

Extenacr  haliuci»  longug)   h»^ 


534  S-  Id^'  Muskeln  an  der  vorderen  nnd  äusseren  Seite  des  Unterschenkels. 

Schienbeins  auf,  passirt  das  mittlere  Fach  unter  dem  Kreuzband  am  Fussrüst, 
nnd  folgt  im  Ganzen  einer  geraden  Linie,  welche  von  der  Mitte  de»  Abstandes 
zwischen  CapUulum  ßbulae  und  Spina  tihiae,  zur  Mitte  einer,  beide  Knöchel- 
spitzen verbindenden  Linie  herabgezogen  wird.  Nebst  zwei  Venen,  liat  sie  den 
Xervtts  Ubialin  anticiut  zum  Begleiter,  welcher  aus  dem  Xercu^  poplüeus  externus 
stammt,  unter  dem  Wadenbeinköpfchen  sich  nach  vorn  krümmt,  indem  er  den 
Muactdus  peronaeu»  Unuftut  und  Exteiuor  diffUonim  conuiuuiijt  IwufUH  durchbohrt, 
und  anfanglich  an  der  äusseren,  sp&ter  an  der  inneren  Seite  der  Arterie,  deren 
vordere  Fläche  er  kreuzt,  herabläuft.  —  Im  oberen  Dritttheil  ihre«  Verlaufes, 
liegt  die  Arterie  so  tief,  und  die  sie  bergenden  Muskeln  Kind  unter  »ich  und 
mit  der  dicken  Fa»cia  cruriti  so  innig  verwachsen,  das«  man  ausser  der  oben 
genannten  Linie  keinen  weiteren  Führer  zum  gesuchten  GeHisse  liat,  und  die 
Unterbindung  desselben  somit  eine  schwere  ist.  In  den  beiden  unteren  Dritteln 
des  Unterschenkels,  leitet  die  Kenntniss  der  Sehnen,  ganz  sicher  zur  Auffindung 
dieser  Arterie.  Am  Fussrücken,  wo  sie  dicht  auf  dem  Tarsus  Hegt,  wird 
sie  zwischen  den  Sehnen  des  Eoeterutor  hallucis  lot^giut  und  Exlemor  dujüorum 
Umyus  weniger  dem  Finger  zum  Pulsfühlen,  als  den  verwundenden  Werkzeugen 
zugänglich  sein. 


B.  Aeussere  Seite, 

Die  hier  befindlichen  Muskeln,  zwei  an  Zahl,  folgen  der 
Längenrichtung  des  Wadenbeins. 

Der  lange  Wadenbeinmuskel,  Musculus  peronaeu^  longus, 
entspringt  mit  zwei,  durch  den  Wadenbeinnerv  von  einander  ge- 
trennten Portionen,  mit  der  oberen  vom  Köpfchen  des  Waden- 
beins, mit  der  unteren  unter  dem  Köpfchen  bis  zum  letzten  Viertel 
der  Knochenlänge  herab.  Seine  Sehne  gleitet  in  der  Furche  au  der 
hinteren  Gegend  des  äusseren  Knöchels  herab,  tritt  hierauf  in  eine 
Rinne  an  der  äusseren  Fläche  des  Fersenbeins,  dann  über  den 
Höcker  des  Würfelbeins  in  die  Furche  an  der  Plantarfläche  dieses 
Knochens,  kommt  bis  an  den  inneren  Fussrand,  und  endigt  daselbst 
am  ersten  Keilbeine,  und  an  der  Basis  des  ersten  und  zweiten  Mittel- 
fussknochens.  Streckt  den  Fuss,  abducirt  ihn,  und  wendet  die  Hohle 
etwas  nach  aussen. 

In  der  Sehne  des  Feranaewt  Iwu/ttJt  finden  sich  an  jenen  Stellen,  wo  »ie  sich 
während  ihrer  Verschiebungen  am  Knochen  reibt  (am  äusseren  Knöchel,  am  Ein- 
tritt in  den  Snlnut  m^is  cuf^oidei),  verdickte  faserknorpelige  Stellen,  von  welchen 
jene  am  Würfelbeine,  selbst  verknöchern,  und  dann  einem  Sesambein  verglichen 
werden  kann. 

Der  kurze  Wadenbeinmuskel,  Musculus  peronaeus  brevis, 
entspringt,  vom  zweiten  Drittel  des  Wadenbeins  angefangen  bis 
zum  äusseren  Knöchel  herab,  und  wird  vom  vorigen,  mit  welchem 
er  parallel  liegt,  bedeckt.  Seine  Sehne  geht  hinter  dem  Malleolus 
extemus  zum  äusseren  Fussrande,  wo  sie  sich  an  die  Tuherositas 
oBsis   metatarsi   quinti    befestigt.     Gewöhnlich    sendet    sie  noch  eine 


S.  196.  Mufkeln  an  der  hinteren  Seite  des  Unterechenkele.  535 

dünne    accessorische    Strecksehne    zur    kleinen    Zehe.      Wirkt    wie 
der  vorige. 

Ich  habe  von  der  oben  erwähnten  accessorischen  Strecksehne  der  kleinen 
Zehe  gezeigt,  dass  sie  immer  die  Insertionsstelle  des  PeronaeitJt  tertiua  an  der  Basis 
des  fünften  Metatarsus,  oder,  wenn  dieser  Muskel  sich  am  vierten  Metatarsus  in- 
serirt,  ein  Band  durchbohrt,  welches  die  Basis  des  Metatarsus  der  kleinen  Zehe 
mit  jener  des  vierten  verbindet  (LujanierUum  intermetatarseum  dorsale).  Hyrtl,  über 
die  accessorischen  Strecksehnen  der  kleinen  Zehe,  in  den  Sitzungsberichten  der 
kais.  Akad.  1863. 

Um  das  Ausschlüpfen  der  Sehnen  beider  Peronaei  aus  der  Furche  des  äusse- 
ren Knöchels  zu  verhüten,  verdickt  sich  die  Fascie  des  Unterschenkels  hier  zu 
einem  starken  Haltbande  —  RHinctculum  a,  Ligamentum  annulare  extemum  — 
welches  sich  vom  äusseren  Knöchel  zur  äusseren  Fläche  des  Fersenbeins  herab- 
spannt, und  zur  Aufnahme  beider  Sehnen,  in  zwei  Fächer  getheilt  wird. 


§.  196.  Muskeln  an  der  hinteren  Seite  des  Unterschenkels. 

Sie  werden  durch  ein  zwischen  sie  eingeschobenes  Blatt  der 
Fascia  surae,  in  ein  hochliegendes  und  tiefliegendes  Stratum 
geschieden. 

A,  Hochliegendes  Stratum. 

Es  enthält  die  Strecker  des  Fusses.  Diese  sind  drei  an  Zahl: 
Gastrocnemius,  Soleus  und  Plantaris,  —  welche  Muskeln,  da  sie 
eine  gemeinschaftliche,  am  Höcker  des  Fersenbeins  sich  inserirende 
Endsehne  (Tendo  Achillis  s.  Chorda  magna  Hippocratis)  besitzen, 
besser  als  Köpfe  Eines  Muskels,  denn  als  besondere  Muskelindivi- 
duen zu  nehmen  sind. 

Der  zweiköpfige  Wadenmuskel  oder  Zwillingsmuskel 
der  Wade,  Musculus  gem>dlv>s  surae  (sunt  gemelli,  quia  mole,  robore, 
et  actione  pares,  sagt  Riolan),  fuhrt  seinen  griechischen  Namen: 
Gastroaiemius,  von  Ya^xi^p,  Bauch,  und  •/.vTfjji.Y),  Wade.  Derselbe  ent- 
springt mit  zwei  convergenten  Köpfen,  welche  den  unteren  Winkel 
der  Fossa  poplitea  bilden,  unmittelbar  über  den  beiden  Condyli 
fevfwris.  Der  äussere  Kopf  ist  etwas  schwächer,  und  reicht  nicht 
ganz  so  weit  herab,  wie  der  innere.  Beide  Köpfe  berühren  sich 
mit  ihren  einander  zugekehrten  Rändern,  welche  eine  Furche 
zwischen  sich  lassen.  Sie  sind  an  ihrer  hinteren  Fläche  mit  einer 
schimmernden  Fortsetzung  ihrer  Ursprungssehne  bedeckt,  und 
gehen  jeder  durch  eine  halbmondfiirmige ,  nach  unten  convexe 
Bogenlinie,  in  die  gemeinschaftliche  breite  Sehne  über,  welche 
sich  mit  jener  des  Soleus  und  Plantaris  zur  Achillessehne  ver- 
einigt. 


536  !•  IM.  l[osk«ln  an  der  hinteren  Seite  des  UntenchenkeU. 

In  den  UrspningSBehnen  heider  Köpfe  finden  sich  häufige  faserknorpelige 
Kerne,  welche  auch  verknöchert  vorkommen,  als  VesaTsche  Sesambeine. 
Camper  liess  nur  das  Sesambeinchen  im  äusseren  Kopfe  zu.  Nach  meinen 
Deobachtungen  (Oestcrr.  med.  Jahrbücher,  Bd.  20)  kommt  es  in  beiden  Köpfen 
vor,  obwohl  im  Äusseren  ungleich  häufiger.  Bei  kletternden  und  springenden 
Säugethieren  werden  sie  sehr  gross.  Q  ruber  schildert  diese  Knöchelchen  auH- 
ftlhrlich  in  den  Mini,  de  CAcad.  de  St.  Päersbourg,  1875. 

Der  Schollenmuskel,  Musculus  soleus  (von  Spigelius 
Oastrocnenmis  internus  genannt),  ist  weit  fleischiger,  und  somit  auch 
kräftiger,  als  der  vorausgehende,  unter  welchem  er  liegt.  Er  ist 
es,  welcher  durch  seine  Masse,  das  dicke  Wadenfleisch  vorzugs- 
weise bildet,  welches  schon  von  Hippocrates  yoiT:po%Yfi'^iO'f  genannt 
¥nirde  (les  moUets  der  Franzosen,  la  polpa  della  gamba  der  Ita- 
liener). Sein  Ursprung  haftet  am  hinteren  Umfange  des  Köpfchens, 
und  an  der  oberen  Hälfte  der  hinteren  Kante  des  Wadenbeins,  so 
wie  an  der  Linea  foplüea,  und  an  dem  oberen  Theile  des  inneren 
Randes  des  Schienbeins.  Man  könnte  sonach  von  einer  Fibular- 
und einer  Tibialportion  des  Muskels  reden.  Der  Fibular-  und 
Tibialursprung  sind  durch  eine  kleine  Spalte,  durch  welche  die 
hintere  Schienbeinarterie  mit  ihrem  Gefolge  tritt,  von  einander 
getrennt.  Ein  flbröses  Bündel,  verbindet  die  beiden  Ursprungs- 
portionen. Der  massige  Bauch  des  Muskels,  geht  durch  eine  breite 
und  ungemein  starke  Endsehne  in  die  Achillessehne  über.  Diese 
ist  bei  sechs  Zoll  lang,  wird  von  oben  nach  unten  schmäler  und 
KUgloich  dicker,  und  setzt  sich  an  die  hintere  Fläche  der  Ttiberosi- 
Uts  Citlcttnm  an,  woselbst  ein  Schleimbeutel  zwischen  ihr  und  dem 
Knochen  liegt. 

Hippocrates  hielt  die  Wunden  und  Quetschimgen  der  Achillessehne  für 
ItVdtlioh:  a*m  partibus  prineipibu»  sodelatem  habet,  unde  contiisiut  hie  tendo  et 
9tctn*,  febreti  ccntinua»  et  aciUiagimas  movet,  »infftdttis  excitcU,  menteni  perturbaty 
tamiemqt^e  niortem  cbccerait.  Wahrscheinlich  schreibt  sich  daher  der  Name :  Chorda 
nioffna  Hippocratiit,  Der  Glaube  an  die  Gefährlichkeit  der  Wunden  der  Achilles- 
sehne hat  sich  lange  erhalten.  In  ihm  liegt  die  Ursache,  warum  die  Teno- 
tomie  erst  so  spät  in  Aufnahme  kam,  —  ein  Operationsverfahren,  durch  welches 
die  Sehnen  jener  Muskeln  durchschnitten  werden,  deren  andauernde  und  per- 
manent gewordene  Contraction,  Entstellung,  Steifheit  und  Unbrauchbarkeit  eine» 
Gliedes  veranlasst.  —  Der  Name  Achillessehne  schreibt  sich  wohl  davon 
her,  dasH  der  griechische  Held,  welchen  die  Mythe  nur  an  dieser  Stelle  verwund- 
bar sein  liess,  an  den  Folgen  eines  Pfeilschusses  in  die  Ferse  starb.  Schon 
Homer  erwähnt  diese  Sehne  als  t^tov.  //.  XXII.  S90. 

Der  Schollenmnskel  entlehnt  seinen  Namen  aus  der  Zoologie  {a  ßffurn 
pUcui  denominalitSf  VesUngii  Syntagma  anat  cap.  19),  indem  seine  länglich  ovale 
Form,  an  jene  der  Scholle,  eines  in  den  europäischen  Meeren  häufigen  Fisches 
(Pleuronectes  tclea  Linn.)  erinnert  Die  in  die  anatomische  Nomenclatur  allge- 
mein aufgenommene  Benennung:  Sohlenmuskel,  ist  somit  absurd,  da  der 
Mutculus  »oleus  mit  der  Sohle  gta  nichts  zu  schaffen  hat.  —  Unter  dem,  den 
Tibial-  und  Fibulararsprung  des    Muskels  verbindenden    fibrösen  Bündel,  begiebt 


§.  196.  Muskeln  an  der  hinteren  Seite  des  ünterschenkele.  537 

sich  die  Ärteria  tibialis  poaUca  mit  dem  gleichnamigen  Nerv,  Eor  tiefen  Schichte 
der  Wadenmuskulatur. 

Der  lange  Waden muskel,  Musculus  plantaris,  dem  Palmaris 
longus  der  Hand  ähnlich,  und  ebenso  wie  dieser  zuweilen  fehlend, 
ist  ein  kraftloser  Hilfsmuskel  der  beiden  vorausgegangenen,  zu 
denen  er  sich  beiläufig  wie  ein  Zwimfaden  zu  einem  Ankertau 
verhält.  (Nur  beim  Tiger  und  Leopard  kommt  er  dem  Gastro- 
cnemius  an  Stärke  gleich,  und  verleiht  diesen  Thieren  die  ausser- 
ordentliche Kraft  des  Sprunges.)  Er  entspringt  am  Condtßus  exter- 
nus  femoris,  neben  dem  äusseren  Kopf  des  Gastrocnemius,  und 
verwandelt  sich  bald  in  eine  lange,  schmale  und  dünne  Sehnenschnur, 
welche  zwischen  dem  Fleische  des  Gastrocnemius  und  Soleus  nach 
abwärts  und  einwärts  zieht,  deshalb  an  den  inneren  Rand  der 
Achillessehne  gelangt,  und  theils  mit  ihr  zusammenfliesst,  theils  mit 
zerstreuten  Fasern  in  dem  fetthaltigen  Bindegewebe  zwischen 
Achillessehne  und  Fersenbein,  besonders  aber  in  der  hinteren 
Wand  der  Sprunggelenkkapsel  endigt.  Da  er  gar  nicht  in  die 
Fusssohle  kommt,  so  wäre  sein  Name  Plantaris  besser  in  Gror 
cüis  suras  umzutaufen,  welchen  Win  slow  zuerst  gebrauchte  (le 
jamhier  grUe). 

Galen,  welcher  sich,  wie  aus  vielen  Stellen  seiner  Werke  erhellt,  vor- 
zugsweise der  Affenleichen  zu  seinen  Zergliederungen  bediente,  und  die  Ergebnisse 
derselben  auf  den  Menschen  übertrug,  liess  den  Mitsctdu^  plantarw,  welcher  nur 
bei  einigen  Säugethieren  in  die  Aponeurosis  plantaris  übergeht,  auch  beim  Menschen 
dahin  gelangen  (de  iisii  partium,  lib.  2.  cap,  3),  Daher  der  absurde,  jedoch 
allgemein  angenommene  Name  PlarUaris.  Douglas,  welcher  den  Gastrocnemius 
und  Soleus  zusammen  als  Eoctensor  tarsi  inagnua  erwähnt,  nannte  den  Plantaris 
ganz  consequent  ExUnsor  tarn  minor. 


B.   Tiefliegendes  Stratum, 

Nach  Beseitigung  der  in  A.  beschriebenen  Muskeln  und  des 
tiefliegenden  Blattes  der  Vagina  surae,  kommt  man  hinter  und 
unter  dem  Kniegelenk,  auf  den  kurzen,  dreieckigen  Musculus  papli- 
teus,  und  abwärts  von  diesem,  auf  drei,  in  der  Rinne  zwischen 
beiden  Unterschenkelknochen  eingebettete  Muskeln  (Tibialis  posti- 
cus,  Flexal'  digitorum  longus  und  Flex(yr  halluds  longiAs),  welche  als 
Antagonisten  der  an  der  vorderen  Seite  des  Unterschenkels  ge- 
legenen Muskeln  functioniren,  und  ihre  Sehnen  hinter  dem  inneren 
Knöchel  zum  Plattfuss  treten  lassen,  um  entweder  die  Ausstreckung 
des  Fusses  zu  unterstützen,  oder  die  Zehen  zu  beugen. 

Der  Kniekehlenmuskel,  Muscidus popliteus  (mcht poplitaeus), 
wird  erst  gesehen,  wenn  die  beiden  Ursprungsköpfe  des  Gastro- 
cnemius diii-AV»  tmd  zurückgeschlagen  sind.    Er  nimmt  das 


538  |.  196.  MatkelA  an  der  hinteren  Seite  dee  Unterschenkels. 

dreieckige,  über  der  Linea  poplüea  gelegene  Feld  an  der  hinteren 
Fläche  des  oberen  Schienbeinendes  ein.  Die  äussere  Fläche  des 
Cofidj^liM  extemua  femoria,  dient  ihm  zum  Ursprung,  das  obere  Ende 
der  inneren  Kante  des  Schienbeins  zum  Ansatz.  Beugt  den  Unter- 
schenkel, und  dreht  ihn  nach  innen. 

Eine  Fasele,  welche  mit  der  Endsehne  des  SemimembranoHUs  znsammen- 
h&ngt,  deckt  ihn.  Unter  seiner  Ursprung^sehne,  findet  sich  ein  Schleiinbeutel, 
welcher  mit  der  Kniegelenkhöhle  communicirt. 

Der  hintere  Schienbeinmuskel,  Musculus  tibialis  posticus, 
ist  ein  halbgefiederter  Muskel,  liegt  zwischen  dem  Flexor  digi- 
torum  commufns  longus  und  Flexor  hcdluds  longus.  Er  leitet  seinen 
Ursprung  theils  von  der  hinteren  Fläche  des  Schienbeins,  vorzugs- 
weise aber  von  der  hinteren  Fläche  des  Zwischenknochenbandes 
ab.  Er  wird  vom  Flexor  digäorum  communis  so  überlagert,  dass 
dieser  entfernt  werden  muss,  um  zu  seiner  vollen  Ansicht  zu  ge- 
langen. Seine  rundlich  platte  Sehne  kreuzt  sich  über  und  in  der 
Furche  des  inneren  Knöchels,  mit  der  Sehne  des  Flexor  digitorum 
communis,  und  geht  von  hier  über  die  innere  Seite  des  Sprung- 
beinkopfes (wo  sie  durch  Aufnahme  von  Faserknorpelmasse  sich 
verdickt)  zur  Tuherositas  ossis  navicularis.  Nebenschenkel  dieser 
Sehne  begeben  sich  auch  zu  den  drei  Keilbeinen,  zum  Würfel- 
bein, und  zu  den  Basen  des  zweiten  und  dritten  Mittelfussknochens. 
Streckt  den  Fuss  und  zieht  ihn  zu,  so  dass  man  sitzend  mit 
beiden  Füssen  eine  Last  zu  fassen  und  aufzuheben,  oder  beim 
Klettern,  sich  mit  den  Füssen  zu  stützen  und  den  Leib  weiter- 
zuschiüben  vermag. 

T heile  nennt  ihn  Schwimramuskel.  Diese  Benennung  ist  jedoch  eine 
unrichtige  Uebersetzung  des  alten  Namens  Musculus  nauticHM,  indem  iiauta  nicht 
Schwimmer,  sondern  Schiffer  bedeutet,  und  der  TUtUUis  paHiciM  beim 
Schwimmen  nicht  mehr  als  ein  anderer  Muskel  des  Füssen  in,  Anspruch  ge- 
nommen wird.  Ebenso  unpassend  ist  es,  den  Namen  nautinut,  von  der  Anheftung 
an  das  Schiff bein  herleiten  zu  wollen.  Ich  finde  bei  Sp  ige  lins,  welcher  der 
Erste  war,  der  diese  sonderbare  Bezeichnimg  gebrauchte,  folgende  ganz  treffende, 
die  Benennung  Mtisciäus  nauticus  erklärende  Stelle:  hie  a  me  natiticus  vocari 
aolelf  quod  eo  nantae  poUssimum  utntUur,  dum  nialum  scandnnt  (De  hum.  cvvp. 
fahr.  Hb,  IV.  cap.  XXI Vj  —  also  Matrosenmuskel,  weil  er  zum  Erklettern 
der  Masten  hilft. 

Der  lange  Beuger  der  Zehen,  Musadus  ßexor  communis 
digitorum  longus  s.  perforans,  entspringt  mit  seinem  langen  Kopfo 
an  der  hinteren  Fläche  des  Schienbeins,  und  geht  über  dem  inneren 
Knöchel  in  eine  lange  Sehne  über,  welche  jene  des  Tibialis  posticus 
kreuzend  bedeckt,  sich  an  der  inneren  Seite  des  Sprungbeins  zur 
FuBSsohle  wendet,  vom  Musculus  abductor  haUucis  und  vom  Mus- 
culus ßexor  digitorum  brems  überlagert  wird,  und,  in  der  Mitte 
der    Sohle,    die    Fleischfasem    eines    zweiten   accessorischen 


§.  196.  Muskeln  an  der  hinteren  Seite  de«  Unterichenkels.  539 

Kopfes  aufnimmt,  welcher  von  der  unteren  und  inneren  Fläche 
des  Fersenbeins  entsteht,  und  gewöhnlich  Caro  quadrata  Sylvü  ge- 
nannt wird,  obwohl  J.  Sylvius  ihn  als  Masaa  8,  Males  camea 
aufführt.  Hierauf  theilt  sich  die  Sehne  in  vier  kleinere  Stränge, 
für  die  vier  äusseren  Zehen,  welche  sich  so  wie  jene  des  tief- 
liegenden Fingerbeugers  verhalten,  d.  h.  den  vier  Musculi  lumbri- 
ccdes  zum  Ursprünge  dienen,  an  der  ersten  Phalanx  der  Zehen  die 
Sehnen  des  Flexor  digitorum  brevis  durchbohren,  und  am  dritten 
Zehengliede  endigen.  —  Dieselben  fibrösen  Scheiden,  wie  sie  an 
den  Fingern  zur  Aufnahme  der  Beugesehneu  dienten,  finden  sich 
auch  an  den  Zehen. 

Der  lange  Zehenbeiiger  bietet  häutig  Spielarten  dar.  Die  wichtigsten  sind: 
1.  der  Ursprung  des  kurzen  Kopfes  reicht  bis  zum  Schienbein  hinauf.  *2.  Vom  unteren 
Ende  des  WadenbeinH  geseUt  sich  ein  Fleischbündel  zum  langen  Kopfe,  welches 
zuweilen  isolirt  zum  Fersenbein  herabläuft,  und  sich  im  Fette  zwischen  Achilles- 
sehne und  Sprunggelenk  verliert,  wo  dann  gewöhnlich  der  Plantaris  fehlt.  Wir  haben 
dieses  Bündel  ungewöhnlich  lang  werden,  und  in  der  Kniekehle  von  der  Fascie  auf 
dem  Miutcultis  popliteiu  entspringen  gesehen.  Kosenmüller  sah  dieses  abnorme 
Fleischbündel,  an  ein  besonderes  accessorisches  Knöchelchen  am  Spnmggelenke 
treten.  3.  Eine  oder  die  andere  der  vier  Endsehnen,  verschmilzt  mit  jener  des 
kurzen  Beugers  mehr  weniger  vollkommen  (wie  es  bei  den  Atfen  vorkommt). 
4.  Die  Beugesehne  der  zweiten  Zehe  entwickelt  sich,  wie  ich  öfter  sah,  nur  aus 
einem  besonderen  Fascikel  der  Masaa  carnea  Sylvii.  Sieh'  ferner  Gie«,  im  Arch. 
für  Anat.   1868. 

Der  lange  Beuger  der  grossen  Zehe,  Musctäiut  ße^m*  hol- 
Iticis  longus,  ist  der  stärkste  im  tiefen  Stratum  der  Wade.  Kr  liegt 
auswärts  vom  langen  Zehciibeuger.  Von  den  beiden  unteren  Dritteln 
des  Wadenbeins  ausgehend,  lässt  er  seine  Sehne  in  einer  an  der 
hinteren  Seite  des  Sprungbeinkörpers  befindlichen  Furche  herab- 
steigen. Unter  dem  Sustentaculum  tcdi ,  geht  diese  Sehne  in  die 
Sohle,  wendet  sich  gegen  den  inneren  Fussrand,  kreuzt  sich  mit 
der  Sehne  des  langen  Zchenbeugers,  hängt  mit  ihr  durch  ein  ten- 
dinöses  Zwischenbündel  zusammen,  und  läuft  endlich  zwischen 
beiden  Sesambeinen  an  der  Articidatio  metatarso-phalangea  halltuds, 
zum  Nagelgliede  der  grossen  Zehe,  an  welchem  sie  endet. 

Die  Selinen  des  TibialU  posticus  und  Flexor  dujitorum  communis  Umgtis 
werden  in  der  Furche  an  der  hinteren  Seite  des  inneren  Knöchels,  durch  ein  von 
diesem  entspringendes,  zum  Fersenbein  und  zur  Ursprnngssehne  des  Äbductor 
kallucis  herablaufendes,  und  »ich  fächerförmig  ausbreitendes  Band,  Ligamentum 
lacinintuiH  s.  annullare  inlenmm,  in  ihrer  relativen  Lage  erhalten.  Eine  fibröse 
Scheidewand  theiU  den  Raum  unter  dem  Bande  in  zwei,  mit  Synovialmombran 
ausgekleidete  Fächer.  Das  Fach  für  die  Sehne  des  Tihialis  posticus  liegt  dicht  am 
Knöchel  an,  —  jenes  für  den  Fleaoor  communis  weiter  davon  ab  und  zugleich 
oberflächlicher.   —  ^^fc"  ■■«if/niie  inUmum  spaltet  »ich,    während  es 

«un  F#'»"  FMdkel  oder  Zipfel  (laciniaej, 

wob 


540  S-  197.  Mnskeln  am  Fnste. 

lieber  die  Verbindung  der  Sehne  des  Flexor  hallucis  longiis  mit  der  Sehne 
des  Flexor  digUotttm  conimunia  in  der  Fusssohle  handelt,  auch  auf  comparative 
Daten  eingehend:  E,  Schtäze,  in  der  Zeitschrift  für  wiss.  Zool.   17.  Bd.   1807. 

Der  Nervtis  tUtiedis  posticiM,  welcher  längs  der  Medianlinie  der  Kniekehle 
zum  unteren  Winkel  derselben  herabzieht,  birgt  sich  zwischen  den  beiden  Köpfen 
des  Gastrucnemius,  dringt  unter  dem  oberen  Rande  des  Soleus  in  die  Tiefe,  und 
genellt  sich  zur  Arteria  Ubialis  poBtica,  welche  auf  dem  Muaaäwt  paplUeits  aus  der 
Kniekehle  herabkommt.  Beide  laufen  unter  dem  tiefliegenden  Blatte  der  Fcutcia 
»ttrae  zwischen  Flexor  haüucis  Umgus  und  Flexor  coniinutiM  digitorum  (die  Arterie 
einwärts  vom  Nerven  liegend)  längs  einer  Linie  herab,  welche  von  der  Mitte  der 
Kniekehle,  zur  Mitte  des  Raumes  zwischen  Achillessehne  und  innerem  Knöchel 
reicht  Hinter  diesem  Knöchel  fühlt  man  die  Arterie  deutlich  pulsiren.  Ihre 
Unterbindung  ist,  so  weit  sie  vom  Gastrocnemius  und  Soleu»  bedeckt  wird, 
äusserst  schwer.  Es  müsste  einen  halben  Zoll  vom  inneren  Rande  der  Tibia  ent- 
fernt, durch  Haut  und  Fascie  ein  sechs  Zoll  langer  Einschnitt  gemacht,  der 
innere  Rand  des  Gastrocnemius  nach  aussen  gedrängt,  der  Tibialursprung  des  Soleu» 
in  derselben  Ausdehnung  durchschnitten,  das  tiefe  Blatt  der  Viußna  siirae  auf- 
geschlitzt, und  das  Gefäss,  mit  Umgehung  des  Nerven  und  der  beiden  ße- 
gleitungsvenen  isolirt  werden.  In  der  Nähe  des  Knöchels  ist  die  Unterbindung 
viel  leichter.  Ein  zwei  Zoll  langer  Haut-  und  Fascienschnitt,  in  der  Mitte  zwischen 
Tetulo  AchÜlis  und  Malleolus  intemuSf  fällt  direct  auf  die  Gefaysscheide.  —  Die 
Arteria  peronaea,  die  schwächste  von  den  drei  Arterien  des  Unterschenkels,  ent- 
springt von  der  Arteria  tilnalis  pogtica,  zwei  Zoll  unter  dem  unteren  Rande  des 
Popliteus,  und  geht,  bedeckt  vom  Flexor  haüucis  longiutf  am  inneren  Winkel  der 
Fibula  herab. 


§.  197.  Muskeln  am  Fusse. 

A.  Dorsalseite, 

Hier  findet  sich  nur  ein  Muskel.  Es  ist  der  kurze  Strecker 
der  Zehen,  Musculus  extensor  digitorum  communis  breüis.  Er  ent- 
springt, vor  dem  Eingange  des  Sinus  tarsi,  an  einem  Höcker  der 
oberen  Fläche  des  Fersenbeins,  wird  von  den  Sehnen  des  langen 
Zehenstreckers  überschritten,  und  theilt  sich  in  vier  Zipfe,  welche 
in  platte,  dünne  Sehnen  übergehen,  die  schief  nach  vorn  und  innen 
über  den  Fussrücken  laufen,  und,  mit  den  Sehnen  des  Extensor 
communis  longus  verschmelzend,  in  die  Üorsalaponeurosc  der  vier 
inneren  Zehen  übergehen. 

Nur  selten  existirt  eine  fUnfte  >  Endsehne  fUr  die  kleine  Zehe.  FläuHg  da- 
gegen stellt  die  zur  gprossen  Zehe  gehende  Portion,  welche  allein  genommen,  so 
stark  ist,  wie  die  drei  übrigen,  einen  besonderen  Muskel  dar. 

Die  Hauptschlag^er  des  Fussrftckens,  Art^rUi  dnrsalift  pediM,  eine  Fort- 
setzung der  Arteria  tihialia  antica,  folgt  einer  Richtungslinie,  welche  von  der 
Mitte  des  Sprunggelenks  zum  ersten  hUeratitium  interosseinn  gezogen  wird.  Sie 
liegt  unmittelbar  auf  den  Fusswurzelknochen,  zwischen  den  Sehnen  des  Krleiiaor 
haüucis  und  Exleruor  digitorum  communis  longus,  und  wird,  bevor  r»ie  /.um  be- 
zeichneten Zwischenknochenraum  gelangt  (durch  welchen  sie  sich  in  den  Platt- 
fass  hinabkrflmmt),  von  der  inr  grossen  Zehe  gehenden  Strecksehne  des  Eaete^ 


§.  197.  Muskeln  am  FnsM.  541 

digüorum  communis  brevü  gekreuzt    Ihre  Unterbindung  wird,  wegen  leichter  Au8- 
führbarkeit  einer  verlässliclien  Compresaion,  nicht  gemacht. 


B,  Plantarseite. 

Die  Muskeln  der  Plantarseite  zerfallen  in  vier  Gruppen,  deren 
eine  längs  des  inneren,  deren  zweite  längs  des  äusseren  Fussrandes 
liegt,  die  dritte  zwischen  diese  beiden,  und  die  vierte  in  den  Zwischen- 
räumen je  zweier  Ossa  metatarsi  eingeschaltet  ist. 

1.  Längs  des  inneren  Fussrandes  finden  sich  die  eigenen 
Muskeln  der  grossen  Zehe.     Diese  sind: 

Der  Abzieher  der  grossen  Zehe.  Er  entspringt  vom  Tuber 
und  von  der  inneren  Fläche  des  Fersenbeins,  so  wie  vom  Liga- 
merUum  ladniatum  des  inneren  Knöchels,  und  endigt  am  ersten 
Gliede  des  Hallux,  und  an  dem  inneren  Sesambeine  der  Articulatio 
metatarso-phalangea  dieser  Zehe. 

Der  kurze  Beuger  der  grossen  Zehe  entspringt  von  den 
drei  Keilbeinen,  und  zum  Theile  auch  von  den  Bändern,  welche 
in  der  Fusssohle  die  Verbindung  zwischen  Tarsus  und  Metatarsus 
unterhalten.  Er  theilt  sich  in  zwei  Portionen,  welche  sich  an  die 
beiden  Ossa  sesamoidea  der  grossen  Zehe  anheften.  Zwischen  beiden 
passirt  die  Sehne  des  Flexor  hallucis  longus  durch.  Jene  Portion, 
welche  an  das  innere  Sesambein  tritt,  verschmilzt  mit  dem  gleich- 
falls dahin  gelangenden  Ahductor  hcUluds,  und  wird  von  einigen 
Autoren  als  ein  zweiter  Kopf  dieses  Muskels  angesehen. 

Der  Anzieher  der  grossen  Zehe  besitzt  zwei  Köpfe.  Der 
eine,  auswärts  vom  kurzen  Beuger  liegend,  kommt  von  der  Basis 
des  zweiten,  dritten,  und  vierten  Metatarsusknochens,  auch  von 
der  tibrösen  Scheide,  welche  die  Sehne  des  Peroiiaetis  longus  ein- 
schliesst,  und  geht  zum  äusseren  Sesambein  des  ersten  Gelenkes 
der  grossen  Zehe,  wo  er  mit  dem  anderen  Kopfe  verschmilzt,  welcher 
von  der  unteren  Wand  der  Kapsel  der  Articulatio  metatarso-jplialangea 
des  vierten,  selten  auch  des  fünften  Metatarsusknochens  entspringt, 
und  quer  hinter  den  Köpfen  des  vierten,  dritten  und  zweiten  Meta- 
tarsusknochens, zur  selben  Stelle  zieht. 

Casserins  entdockte  diesen  zweiten  Kopf  des  Anziehers  der  grossen  Zehe, 
betrachtete  ihn  aber  als  selbstständig,  und  nannte  ihn,  seiner  Richtung  wegen, 
TraiviversalU  pediä.  Da  man  glaubte,  er  könne  durch  Zusammendrängen  der 
Metatarsusknochen,  die  Sohle,  der  Länge  nach  rinnenf5rmig  hohl  machen,  um  sie 
gleichsam  zum  Ergreifen  von  Unebenheiten  des  Bodens  geschickt  zu  machen, 
so  heisst  er  bei  älteren  französischen  Anatomen  le  couvreur  (Muskel  de 
decker). 

2.  Längs  des  äusseren  Fussrandes   lagert   die 
kleinen  Zehe.     Sie  besteht: 


542  §.  197.  Maikeln  am  Fasse. 

a)  Aus  dem  Abzieher  der  kleinen  Zehe.  Dieser  entspringt 
von  der  unteren  Fläche  des  Fersenbeins  und  von  der  Fascia  plan- 
taris, und  inserirt  sich  an  der  äusseren  Seite  des  ersten  Gliedes  der 
kleinen  Zehe. 

b)  Aus  dem  Beuger  der  kleinen  Zehe.  Derselbe  ist  viel 
schwächer  als  der  vorige,  kommt  vom  Ligamentum  calcaneo-cuhoideum, 
und  von  der  Basis  des  fünften  Mittelfussknochens,  und  befestigt 
sich  an  der  durch  Faserknorpel  verdickten  unteren  Wand  der 
Kapsel  des  ersten  Gelenks  der  kleinen  Zehe. 

3.  Zwischen  den  kurzen  Muskeln  der  grossen  und  kleineu 
Zehe  findet  man  im  Plattfuss  den  kurzen  gemeinschaftlichen 
Zehenbeuger.  Er  liegt  unmittelbar  unter  Aar  Aponeurosis  plantaris , 
entspringt  von  ihr,  und  vom  Tuber  calcanei,  und  theilt  sich  in  vier 
fleischige,  später  sehnige  Portionen,  für  die  vier  kleineren  Zehen. 
Jede  Sehne  spaltet  sich  am  ersten  Zehengliede,  lässt  die  Sehne  des 
Flexor  communis  longus  durch  diese  Spalte  durchgehen,  und  be- 
festigt sich,  in  allen  übrigen  Punkten  dem  Flexor  perforatus  der 
Finger  entsprechend,  am  zweiten  Gliede. 

4.  Die  Zwischenknochenmuskeln. 

Es  dürfen  nicht  vier  äussere  und  drei  innere  (wie  bei  der 
Hand),  sondern  es  müssen  umgekehrt  drei  äussere  und  vier  innere 
gezählt  werden.  Nimmt  man  an,  dass  abweichend  vom  Verhältnisse 
der  Hand  (deren  Längenachse  durch  den  Mittelfinger  gedacht  wurde), 
aber  harmonirend  mit  der  Grösse  der  Zehen,  die  Axe  des  Fusses 
durch  die  grosse  Zehe  geht,  so  wird  für  die  vier  kleinereu  Zehen 
die  Adduction  in  einer  Annäherung  an  die  grosse,  und  die  Abduc- 
tion  in  einer  Entfernung  von  ihr  bestehen.  Die  Adductionsmuskeln 
liegen  in  den  Interstitien  der  Metatarsusknochen,  gegen  die  Sohle 
zu,  die  Abductoren  gegen  den  Rücken  des  Fusses.  Erstere  sind 
die  Interossei  intemi,  vier  an  der  Zahl,  letztere  die  Interossei  extemi, 
deren  nur  drei  vorhanden  zu  sein  brauchen,  da  die  kleine  Zehe 
schon  einen  besonderen  Abductor  besitzt.  —  Die  drei  externi  ent- 
springen zweiköpfig  von  den  beiden  neben  einander  liegenden 
Mittelfussknochen  des  zweiten,  dritten,  und  vierten  Zwischenknochen- 
rauras,  und  befestigen  sich  an  der  äusseren  Seite  des  ersten  (le- 
lenks  der  zweiten,  dritten,  und  vierten  Zehe  in  der  Faserknorpel- 
rolle desselben.  Die  vier  intemi  nehmen  alle  vier  Interstitia  interossea 
ein,  entspringen  jedoch  nur  an  der  inneren  Seite  eines  Mittelfuss- 
knochens, und  endigen  an  derselben  Seite  des  zugehörigen  ersten 
Zehengliedes. 


§.  198.  FMcie  der  unteren  Eztrerait&t.  —  §.  199.  Sehenkelbinde  and  Schenkelkanal.        543 


§.  198.  Fascie  der  unteren  Extremität  Eintheilung  derselben. 

Das  fibröse  Umhüllungsgebilde  der  unteren  Extremität  besteht 
wie  jenes  der  oberen,  aus  einer  subcutanen,  mehr  weniger  fetthal- 
tigen Bindegewebsschichte,  als  Fasda  superficialis,  und,  unter  dieser, 
aus  einer  wahren,  fibrösen  Binde  oder  Fascie,  deren  Stärke  jener 
der  von  ihr  umgebenen  Muskeln  entspricht. 

Die  Fasda  superficialis  zeigt  sich  an  der  vorderen  und  inneren 
Seite  der  oberen  Hälfte  des  Oberschenkels  und  an  der  Wade  am 
besten  entwickelt,  enthält  gewisse  oberflächlich  verlaufende  Gefasse 
und  Nerven,  und  kann,  wo  diese  zahlreich  auftreten,  selbst  wieder 
in  zwei  Blätter,  ein  hochliegendes  fetthaltiges,  und  ein  tiefes,  fett- 
loses getrennt  werden.  Die  eigentliche  fibröse  Fascie  bildet  eine 
vollkommen  geschlossene  Scheide  für  die  gesammte  Muskulatur 
der  unteren  Gliedmasse,  und  wird,  der  leichteren  Uebersicht  wegen, 
in  eine  Fascia  femoris  (Fascia  lata),  Fasda  cruris,  und  Fasda  pedis 
abgetheilt.  Jede  dieser  Abtheilungen  sendet  Blätter  zwischen  ein- 
zelne Muskeln  oder  Muskelgruppen  ab,  wodurch  Scheiden  entstehen, 
welche  die  Verlaufsrichtung  der  in  ihnen  enthaltenen  Muskeln  be- 
stimmen. 


§.  199.  Schenkelbinde  und  Schenkelkanal. 

Die  Schenkelbinde,  Fasda  femoris  s,  Fasda  lata,  entspringt 
theils  vom  Labium  eodemum  der  Darrabeincrista  und  dem  Kreuz- 
bein, theils  von  den  Aesten  des  Sitz-  und  Schambeins.  Man  kann 
sie  deshalb  in  eine  Portio  äeo-sacralis  und  ischio-pubica  abtheilen. 

Die  Portio  ileo-sacralis  spaltet  sich  in  zwei  Blätter,  welche  den 
Musculus  glutaeus  magims  zwischen  sich  fassen.  Das  Blatt,  welches 
die  äussere  Fläche  dieses  Muskels  deckt,  ist  so  schwach,  dass  es 
kaum  den  Namen  einer  Fascie  verdient,  das  innere  dagegen  sehr 
stark,  und  dient  zugleich  einer  Bündelschichte  des  Musculus  glutaeus 
medius  zum  Ursprünge.  Haben  sich  die  beiden  Blätter,  nachdem 
sie  den  Glutaeus  magnus  umhüllten,  wieder  vereinigt,  so  überziehen 
sie  die  vordere  und  äussere  Seite  des  Oberschenkels,  indem  sie 
die  hier  gelagerten  Muskeln  mit  Scheiden  versehen.  Zwischen 
Rectus  femoris  und  Tensor  fasciae,  dringt  ein  starker  Fortsatz  bis 
auf  das  Hüftgelenk  und  den  Oberschenkelknochen  ein.  An  der 
äusseren  Seite  des  Oberschenkels,  läuft  die  Fascie  über  den  grossen 
Trochanter  (Schleimbeutel)  nach  abwärts,  ist  hier  am  dicksten,  und 

A^«*Ar.kem  des  Unterscbenkols  und  dem  Bieeps 


544  |.  IM.  SeWak*IMii4«  ud  Sekesk«lkanftl. 

femofiM  einen  Fortsatz,    als    Ligamentum  tniermuäculare  extemum,  zur 
äusseren  Lefze  der  Ldfiea  aspera  fenwris. 

Die  Portio  üchio-pubica  j  welche  der  Portio  ileo-sacralis  an 
Stärke  nicht  gleichkommt,  hüllt  den  Gracilis  ein,  und  schickt 
zwischen  dem  Vastus  internus  und  den  Adductoren,  das  Ligamentum 
intermuscvlare  intemum  zur  inneren  Lefze  der  LJnea  aspera  femorisy 
welches  in  der  unteren  Hälfte  des  Oberschenkels  starker  als  in  der 
oberen  gefunden  wird. 

Das  Verhalten  der  Faseia  lata  in  der  Fossa  ileo-pectinea  ver- 
dient, seiner  Beziehung  zum  Schenkelkanale  wegen,  eine  ausfuhr- 
lichere Behandlung.  £s  ist  bekannt,  dass  in  der  Fossa  ileo-pectinea, 
die  Arteria  und  Vena  crurcUis  hegen,  nachdem  sie  durch  die  Lacuna 
vasorum  unter  dem  Poupart'schen  Bande  aus  dem  Becken  hervor- 
ti^ten.  Eine  gemeinschaftliche  Scheide  umhüllt  beide  Grefasse,  als 
Vagina  vasorum  cruralium.  Sie  wird  an  ihrer  äusseren  Peripherie 
durch  eine  Fortsetzung  der  Fascia  üiaca,  welche  bei  ihrem  Aus- 
tritte unter  dem  Poupart' sehen  Bande  Fasda  ileo-pectinea  heisst, 
an  ihrer  inneren  Peripherie  durch  eine  Verlängerung  der  bei  den 
Bauchmuskeln  besprochenen  Fascia  transversa  gebildet.  Mit  dieser 
Gefässscheide  verbindet  sich  die  Fasda  lata  auf  folgende,  für  die 
Anatomie  der  Schenkelbrüche  (Hendae  crurcUes)  höchst  wichtige 
Weise.  Ein  Stück  der  Portio  isckio-pubica  der  Fascia  lata  entspringt 
längs  des  Pecten  ossis  pubis,  mag  somit  Fasda  pectinea  heissen,  deckt 
den  Musculus  pectineus,  geht  hinter  der  Schenkelgefassscheide  nach 
aussen,  und  verbindet  sich  mit  dem  tiefliegenden  Blatte  der  Portio 
ileo-sacralis.  Der  vordere  Abschnitt  der  Fascia  ileo-sacralis  nämlich 
hängt,  einwärts  vom  Sartorius,  am  Poupart'schen  Bande  fest,  und 
theilt  sich  in  zwei  Blätter,  von  denen  das  tiefliegende  über  die 
Vereinigungsstelle  des  Psoas  und  Lliacus  internus  hinüber  nach  innen 
zu  läuft,  um  theils  mit  der  Fasda  ileo-pectinea  zu  verschmelzen, 
theils  an  die  Schenkelgefassscheide  zu  treten.  Das  hochliegende 
Blatt  dagegen  legt  sich  blos  oberflächlich  auf  die  Gefassscheide, 
von  welcher  es  durch  Fett  und  Bindegewebe  getrennt  wird,  und 
hört  mit  einem  freien,  halbmondförmigen,  nach  innen  concaven 
Rande  auf.  Dieser  Rand  ist  die  Plica  faldformis  von  Allan 
Bums.  Das  obere  Hörn  der  Plica  faldformis  hängt  an  das  Pou- 
part'sche  Band  an;  das  untere  Hörn  geht  ununterbrochen  in  die 
Portio  ischio-pubica  über.  Die  Oeffnung,  welche  zwischen  der  Pfica 
faldformis  und  der  Portio  isckio-pubica  übrig  bleibt,  hat  eine  läng- 
lich ovale  Form,  und  wurde  von  Scarpa  Fossa  ovalis  genannt. 
Diese  Fossa  ovalis  benützt  die  extra  fasciam  verlaufende  Ve^ia 
saphena  magna,  um  durch  sie  zur  Schenkelgefassscheide  zu  gelangen, 
welche  sie  durchbohrt,  und  in  die  Vena  cruralis  einmündet.  Hebt 
man  die  Plica  faldformis   auf,    so   kann   man   mit   dem  Finger   die 


§.  200.  Einiges  zur  Anatomie  der  Schenkelbrflche.  54«) 

Schenkelgeßlssscheide  nach  oben  verfolgen,  und  gelangt  an  ihrer 
inneren  Seite  zu  jener,  zwischen  dem  Gimbernat'schen  Bande 
und  den  Schenkelgefassen  übrig  bleibenden  Lücke  (Annulus  cru- 
ralis,  §.  192),  welche  blos  durch  die  Fascia  transversa,  bevor  sie 
zur  Geiassscheide  tritt,  und  durch  das  Bauchfell  verschlossen  wird. 
Bildet  sich  nun  am  Annultis  cruralis  eine  Hernie,  so  wird  diese, 
wenn  sie  an  Grösse  zunimmt,  sich  auf  demselben  Wege  nach  ab- 
wärts begeben,  durch  welchen  der  Finger  nach  aufwärts  geschoben 
wurde,  und  endlich  in  der  Ebene  der  Fossa  ovalis  zum  Vorschein 
kommen.  Der  Bruch  hat  dann  einen  Kanal  durch  wandelt,  dessen 
äussere  OefFnung  die  Fossa  ovalis,  dessen  innere  Oeffnung  der 
Annulus  cruralis  ist,  und  dessen  Längenaxe  mit  der  Richtung  der 
Schenkelgeftlsse  parallel  geht,  aber  etwas  einwärts  von  ihr  liegt. 
Die  Fossa  ovalis  kann  in  diesem  Falle  auch  Schenkeloffnung 
des  Schenkelkanals  genannt  werden,  so  wie  der  Annulus  cruralis  im 
§.  192,  als  Bauchöffnung  des  Schenkelkanals  bezeichnet  wurde. 
Es  fliesst  aus  dieser  Darstellung,  welche  dem  Sachverhalte  an 
Leichen  mit  und  ohne  Schenkelhernien  entnommen  ist,  dass  ein 
Mensch,  welcher  keinen  Sckenkelbruch  hat,  eo  ipso  keinen  Canalis 
cruralis  hat,  und  dass,  wenn  ein  solcher  Kanal  durch  das  Erscheinen 
einer  Schenkelhcrnie  entsteht,  seine  hintere  Wand  durch  die 
Fascia  pectinea,  und  die  Vagina  vasm^um  cruralium,  seine  vordere 
Wand  durch  das  am  Poupart'schen  Bande  befestigte  obere  Hom 
der  Plica  gebildet  werden  wird. 


§.  200.  Einiges  zur  Anatomie  der  Schenkelbrüche. 

Man  war  lange  der  Meinung,  dass  der  zwischen  den  Schenkel- 
gefassen und  der  Insertion  des  Poupar tischen  Bandes  am  Tuber- 
culum  ossis  puhis  befindliche  Raum,  d.  i.  der  Annulus  cruralis,  blos 
durch  Bindegewebe  verschlossen  wäre.  Im  Jahre  1783  bewies  der 
spanische  Wundarzt,  Ant.  de  Gimbernat  (Nuevo  metodo  de  operar 
en  la  hemia  crural,  Madrid),  die  Existenz  eines  kräftigeren  Ver- 
schlussmittels, indem  er  die  Anheftung  eines  breiten,  dreieckigen 
Fortsatzes  des  Po upar tischen  Bandes  am  Pecten  ossis  pubis  ent- 
deckte, und  die  Beziehungen  dieses  Fortsatzes,  welcher  seitdem  als 
LigaTnentum  Gimbernati  (dritte  Insertion  des  Poupart' sehen 
Bandes)  einen  bleibenden  Platz  in  der  descriptiven  Anatomie  be- 
hauptet, zu  den  Schenkelhernien  bestimmte.  Das  lÄgamentum  Grim- 
hemati  ist  eine  fibröse  Platte,  welche  vom  inneren  Ende  des  Pou- 
part'schen  Bandes  zum  Pecten  pubis  läuft,  beim  aufrecht  stehenden 
Menschen  fast  horizontal  liegt,    seine   Spitze  gegen  das  Tuberculum 

•^e   Basis    gegen    die  Schenkelvene    richtet, 

35 


o46  S*  ^^-  iSiiuges  xar  Anatoiaie  der  Sckenkalbrtclie. 

jedoch  ohne  sie  zu  erreichen.  Was  dem  Ligamentum  Gimbei-nati 
hiezu  an  Länge  fehlt^  wird  durch  ein  Stück  der  Fasda  transversa 
ersetzt.  Dieses  Stück  bildet^  so  zu  sagen,  eine  Verlängerung  des 
Gimbernat'schen  Bandes,  und  verschliesst  den  Aimtdus  cruralis, 
d.  i.  die  Oeffnung,  welche  von  Gimbernat's  Band  nach  innen,  von 
der  Vena  cruralis  nach  aussen,  von  Poupart's  Band  nach  vorn, 
und  vom  horizontalen  Schambeinast  nach  hinten  begrenzt  wird. 
J.  Cloquet  nannte  dieses  Stück:  Septum  crurale,  Astley  Cooper 
aber  Fasda  propria  hemiae  cruralis,  weil  dasselbe  sieh,  zugleich 
mit  dem  Bauchfelle,  als  Bruchsack  ausstülpt.  Schon  J.  Cloquet 
bemerkte,  dass  die  Hemia  cruralis  entweder  das  ganze  Saturn  crurale 
ausstülpt,  oder  nur  durch  eine  Oeffiaung  desselben  hervortritt. 
Das  Septum  crurale  hat  nämlich  mehrere  kleine  Löcher,  durch 
welche  die  an  der  inneren  Seite  der  Cruralvene  heraufsteigenden 
tiefliegenden  Lymphgefasse  des  Schenkels,  in  die  Beckenhöhle 
eindringen.  Diese  Löcher  werden  zuweilen  so  zahlreich,  dass  das 
Septum  die  Gestalt  eines  grossmaschigen  Gitters  annimmt,  und 
eine  oder  die  andere  seiner  Oeffiaungen  hinreicht,  wenn  sie  gehörig 
ausgedehnt  wii'd,  einen  Bruch  aus  der  Bauchhöhle  austreten  zu 
lassen,  in  welchem  Falle  die  Hemia  cruralis  keinen  Ueberzug  von 
der  Fasda  transversa,  und  somit  auch  keine  Fasda  propria  Cooperi 
haben  wird.  Man  kann  diesen  ganz  richtigen  und  erfahrungs- 
massigen  Ansichten,  noch  eine  dritte  Varietät  des  Ursprungs  der 
Schenkelhemie  hinzufügen.  Die  Scheide  der  Schenkelgefösse  näm- 
lich ist  unter  dem  Poupar tischen  Bande  weiter,  als  im  ferneren 
Verlaufe  durch  die  Fossa  ileo-pectinea,  Sie  bildet  also  eine  Art 
Trichter,  welchen  die  französischen  Autoren  über  Heraienanatomie, 
als  entonnoir  anführen,  und  welchen  die  englischen  Autoren  über 
chirurgische  Anatomie,  als  funndshaped  cavity  beschrieben  und 
trefflich  abgebildet  haben.  £s  ist  möglich,  und  gewiss  nicht  selten, 
dass  eine  Darmschlinge  sich  in  diesen  Trichter  einsenkt,  ihn  all- 
mälig  von  den  Gefassen  lospräparii*t,  und  somit  ihre  Hülle  statt 
vom  Septum  crurale,  von  der  Gefassscheide  erhält.  Die  englischen 
Anatomen  sprechen  nur  von  dieser  Form  der  Hernien.  In  der  Regel 
füllt  eine  Lymphdrüse  jenen  Raum  des  breiten  Trichtereingangs  aus, 
welchen  die  Gefasse  frei  lassen. 

Die  Fossa  ovalis,  als  äussere  Mündung  des  Schenkclkaiials, 
setzt  dem  Vordringen  einer  Hernie  insofern  ein  Hinderniss  ent- 
gegen, als  sie  durch  eine  libröse,  mit  vielen  Oeffnungen  für  die 
hochliegenden  Lymphgefasse  und  die  Vena  saphena  interna  durch- 
brochene Platte,  unvollkommen  vei*schlossen  wird,  welche  au  den 
Umfang  der  Oeffnung  fest  anhängt,  und  von  Hesselbach  zuerst 
nachgewiesen,  von  Thomson  aber  Fasda  cribrosa  benannt  wurde. 
Diese  Platte  stellt  eigentlich   nur  ein  Stück   der  Fasda  superficialis 


§.  200.  Einiges  zur  Anatomie  der  Schenkelbrücke.  547 

dar,  welches  die  Fossa  ovcUis  deckt,  und  mit  dem  Rande  derselben 
verwachsen  ist.  Der  Schenkelbruch  tritt  gewöhnlich  durch  jene 
Oeffnung  der  Fascia  ciibrosa  aus,  durch  welche  die  Vena  saphena 
zur  Schenkelvene  gelangt,  und  da  diese  Eintrittsstelle  bald  höher, 
bald  tiefer  liegt,  so  wird  die  Länge  des  Schenkelkanals  von  sechs 
Linien  bis  fünfzehn  Linien  variiren.  Es  kann  auch  geschehen,  dass 
der  Bruch  durch  mehrere  Oeffnungen  der  Fascia  ctibrosa  zugleich 
austritt,  oder,  durch  keine  derselben  gehend,  sie  in  ihrer  ganzen 
Breite  in  die  Höhe  hebt.  Combinirt  man  diese  Verschiedenheiten 
mit  jenen  am  Annulits  cruralis,  so  begreift  man,  dass  die  Hüllen  des 
Schenkelbruches  in  verschiedenen  Fällen  verschieden  sein  können, 
und  dass  ein  Fall  denkbar  ist,  wo  der  Schenkelbruch  keine  andere 
Hülle  als  das  Bauchfell  haben  wu'd,  wenn  er  nämlich  durch  ein 
Loch  des  Septum  crurale  und  zugleich  durch  ein  Loch  der  Fascia 
cribrosa  herausging. 

Der  Versuch  am  Cadaver  lehrt,  dass,  wenn  man  den  Finger  durch  den 
Schenkelkanal  in  das  Becken  einführt,  der  Druck,  welchen  er  durch  die  fibrösen 
Umgebungen  erfahrt,  bei  verschiedenen  Stellungen  der  Gliedmasse  ein  verschie- 
dener ist.  £r  vermehrt  sich  bei  gestrecktem  und  abducirtem  Schenkel,  und  wird 
kleiner  bei  dessen  Zuziehung  und  halber  Beugung  in  Hüfte  und  Knie.  Letztere 
Stellung  soll  der  Schenkel  haben,  wenn  man  eine  Schenkelhemie  zu  rcduciren 
sucht,  und  da  die  Richtung  des  Bruches  beim  Eintritte  in  den  Schenkelkanal 
(Anntdus  cruralis),  und  beim  Austritte  (Loch  in  der  Fascia  cribrosa)  einen  Winkel 
bildet,  so  muss  auch  die  Richtung  des  Reductionsdruckes  darnach  modificirt 
werden. 

Die  Einklemmungen  des  Schenkelbruchs,  welche  durch  das 
Messer  gehoben  werden  müssen,  luid  welche  niemals  krampfhaften 
Ursprungs  sein  können,  da  die  betreffenden  Oeffnungen  nur  von 
fibrösen,  nicht  von  muskulösen  Gebilden  erzeugt  werden,  kommen 
am  Anfange  oder  am  Ende  des  Schenkelkanals  vor.  In  letzterem 
Falle,  wo  die  Einklemmung  durch  eine  Lücke  der  Fascia  cribrosa 
bedingt  wird,  ist  die  Hebung  derselben  leicht,  und  ohne  Gefahr 
einer  Verletzung  wichtiger  GofUsse  auszuführen.  Sitzt  die  Ein- 
klemmung hingegen  im  Ännidus  oniralis,  so  würde  durch  einen 
nach  aussen  gerichteten  Erweiterungsschnitt,  die  Arteria  epigastiica 
verletzt  werden,  weshalb  in  dieser  Richtung  nie  erweitert  werden 
darf.  Die  Erweiteining  nach  innen,  durch  Einschneidung  des  Gim- 
bernat' scheu  Bandes,  und  jene  nach  oben,  durch  Einschneidung  des 
Poupart*schen  Bandes,  sind  nur  in  jenen  Fällen  gefahrlos,  wo  die 
Arteria  obturatoria  aus  der  Arteria  hi/poyastrica ,  also  normal  ent- 
springt, und,  ohne  mit  dem  Annulus  cruralis  in  nähere  Beziehung 
zu  kommen,  an  der  Seitenwand  des  kleinen  Beckens  zum  Canalis 
obturatorius  verläuft.  Entspringt  sie  dagegen  abnormer  Weise  aus 
der  Arteria  epiga^rica,  was  nach  Scarpa  unter  zehn  Fällen,  nach 
J.  Cl*  "  einmal  geschieht,  so  schlingt  sie  sich 

35* 


o4:S  §•  2^1  •  PMcie  des  Unterschenkels  nnd  des  Fusscs. 

um  die  obere  und  innere  Seite  des  Bruchsackhalses  herum,  und  die 
Schnitte  nach  oben  und  nach  innen  können  sie  treffen.  Nur  durch 
grosse  Vorsicht,  oder  durch  mehrere  kleinere  Einschnitte,  statt  eines 
tieferen,  ist  die  Gefahr  zu  umgehen.  Verpillat's  Vorschlag,  in 
keiner  der  genannten  Richtungen,  sondern  direct  nach  unten,  durch 
Einschneiden  des  Ligamentum  pubicum  Cooperi,  die  Einklemmung  des 
Schenkelbruchhalses  zu  heben,  verdient  um  so  mehr  Beachtung, 
als  das  Ligamentum  pubicum  mit  dem  Gimberna  tischen  Bande  un- 
unterbrochen zusammenhängt,  und  eine  Trennung  des  ersteren, 
welche  durch  keine  Gefassanomalie  gefährdet  wird,  eine  Abspan- 
nung des  letzteren,  und  somit  Lösung  der  Einklemmung  herbei- 
führen wird. 

Die  Literatur  über  die  Anatomie  der  Rchenkelhernien  ist  theils  in  jener 
Aber  die  Leistenhernien  (§.  175)  enthalten,  theils  in  folgenden  Specialabhand- 
Inngen  zu  suchen:  R,  LintoUf  On  the  Formation  and  Connexions  of  the  Cniral 
Arch.  £dinb.,  1819,  4.  —  \V.  Lawrence,  Abhandlung  von  den  Brüchen,  nach  der 
dritten  englischen  Originalausgabe  übersetzt  von  Ihisch.  Bremen,  1818. —  G.  Brenchpty 
sur  la  hemie  f^morale.  Paris,  1819.  4.  --  W.  Linhart,  über  die  Schenkelliernie. 
Erlangen,  1862. 


§.  201.  Fascie  des  Unterschenkels  und  des  Fusses. 

Die  Fascia  lata  wird  in  der  Gegend  des  Kniees,  durch  Auf- 
nahme ringförmiger  Sehnenfasern,  welche  vom  Ligamentum  inter- 
musculare  extemum  stammen,  bedeutend  verstärkt,  deckt  hinten  die 
Fossa  Poplitea,  und  adhärirt  vorn  an  die  Kniegelenkkapsel  imd  die 
Seitenbänder  des  Kniees.  Von  den  Sehnen  der  Unterschenkelbeuger 
erhält  sie  gleichfalls  verstärkende  Zuzüge,  und  wird  unter  dem 
Knie  zur  Fascie  des  Unterschenkels.  Der  die  Wadenmuskeln 
umhüllende  Theil  der  Fascie,  heisst  Fascia  surae.  Man  unterscheidet 
an  ihr  ein  hoch-  und  tiefliegendes  Blatt.  Das  letztere  geht,  straff 
gespannt,  vom  inneren  Winkel  des  Schienbeins  zum  hinteren  Winkel 
des  Wadenbeins,  und  bildet  die  Scheidewand  zwischen  der  hoch- 
und  tiefliegenden  Muskulatur  der  Wade  (§.  196).  An  der  vorderen 
Seite  des  Unterschenkels,  werden  der  Tibialis  anticus,  Ki'tensor  hal- 
lucis  und  Extensor  digitorum  longus,  von  den  beiden  Wadenboin- 
muskeln  durch  die  Anheftung  der  Fascie  an  der  vorderen  Waden- 
beinkante getrennt.  Die  Fascie  zeichnet  sich  in  der  ganzen  Länge 
dieser  Gegend  durch  ihre  Stärke  aus,  und  dient  in  ihrer  oberen 
Hälfte  selbst  dem  Muskelfleische  zum  Ursprung.  Eine  Hand  breit 
über  dem  Sprunggelenk,  wird  sie  durch  Querfasern,  welche  von 
der  CHsta  tibiae  zur  Crista  ßbulae  laufen,  gekräftigt,  und  nimmt 
den  Namen  Ligamentum  annulare  anterius  an.  Am  Sprunggelenke 
selbst,    bildet    sie    vorn    das  Ligamentum   crudatum,  innen  das  Liga- 


§.  203.  Literntnr  der  Miukellehre.  549 

mentum  ladntatum  s,  anmdare  intemiim,  und  aussen  das  Retmaculum 
tendtnum  peronaeonim  s,  annvlare  extenium,  deren  Verhältniss  zu  den 
Sehnen  der  über  das  Sprunggelenk  zum  Fusse  weglaufenden  Muskeln 
in  §.  195  und  §.  197  kurz  berührt  wurde.  —  Die  Fascie  des 
Fusses  wird  in  eine  Fascia  dorsalü  pedis,  und  Fascia  plantans  ein- 
getheilt.  Die  Fascia  dorsalts  ist  dünn  und  schwach,  heftet  sich  an 
die  Seitenränder  des  Fusses,  und  bildet  zwei  Blätter,  welche  auf 
und  unter  den  Sehnen  der  Zehenstrecker  sich  verbreiten.  Die  Fascia 
plantaris  kann  unbedingt  für  den  stärksten  Theil  der  gesammten 
Fascie  der  unteren  Extremität  erklärt  werden.  Sie  ist  in  der 
Mitte  der  Sohle  am  dicksten,  und  an  der  Tuberositas  calcanei,  wo 
sie  fest  adhärirt,  eine  liinie  und  darüber  stark.  Die  Seitentheile 
derselben  verdünnen  sich,  und  heften  sich  an  die  Ränder  des  Fusses, 
wo  sich  auch  die  Fussrückenfascie  befestigt.  Zwei  Scheidewände, 
welche  von  ihr  in  die  Tiefe  der  Sohle  eindringen,  theilen  die 
Muskeln  des  Plattfusses  in  die  in  §.  197,  B,  erwähnten  drei  Gruppen, 
und  verweben  sich  mit  einem  fibrösen  Blatte,  welches  die  untere 
Fläche  der  Musculi  interossei  überzieht.  Gegen  die  Zehen  zu,  wird 
die  Fascia  plantaris  breiter  und  dünner,  und  spaltet  sich  vor  den 
Cajntulis  ossium  metatarsi  in  fünf  Schenkel,  welche  theils  an  die 
Scheiden  der  Sehnen  der  Zehenbeuger  treten,  theils  mit  den  Quer- 
bändern der  Köpfchen  der  Mittelfussknochen  sich  verweben. 

Die  stärke  und  Unnachgiebigkeit  der  fibrösen  Fascie  der  unteren  Extre- 
mitMt  erklärt  die  heftigen  Schmerzen,  welche  bei  entzündlicher  AnschweUung 
tief  gelegener  Organe,  nothwendig  entstehen  milssen,  macht  die  grossen  Zer- 
störungen begreiflich,  welche  tiefliegende  Abscesse  veranlassen,  und  rechtfertigt 
den  frühzeitigen  Gebrauch  des  Messers  zur  Eröffnung  derselben.  Die  Fascia 
plaiüarh  wirkt,  ausser  dass  sie  die  in  der  Hohlkehle  des  Plattfusses  verlaufen- 
den Gefässe  und  Muskeln,  beim  Gehen  gegen  Druck  in  Schutz  nimmt,  zugleich  als 
Band,  um  die  Wölbung  des  Fusses  aufrecht  zu  erhalten,  und  kann,  wenn  sie 
in  Folge  eines  angeborenen  Bildungsfehlers  zu  kurz  ist,  abnorme  Krümmung  des 
Fusses  bedingen,  deren  Beseitigung  eine  subcutane  Trennung  der  Fascie  erheischt 


§.  202.  Literatur  der  Muskellehre. 

Nach  Galen' 8  Zeugniss  hat  Lycus  zuerst  über  die  Muskeln 
geschrieben,  und  eine  grosse  Anzahl  derselben  entdeckt.  Rufus 
von  Ephesus  belegte  einige  Muskeln  mit  besonderen  Namen, 
während  die  meisten  von  Galen  und  seinen  Nachfolgern  blos 
durch  Zahlen  von  einander  unterschieden  wurden.  Jacob  Sylvius, 
Professor  der  Medicin  am  CoUdge  royal  de  France  (1550),  führte  für 
die  meisten  Muskeln  zuerst  jene  Nomendator  ein,  welche  jetzt  noch 
üblich  ist. 


550  §•  202.  Litoratnr  der  Mnskellebre. 

Die  gesammte  Muskellehre  behandeln: 

B.  S.  Albinus,  historia  musculorum  hominis.  Lugd.  Bat.,  1734 
bis  1736.  4.  —  Ejusdem  tabulae  sceleti  et  musculorum  hom.  Lugd. 
Bat.  1747.  fol.  —  J,  G,  Walter,  myologisches  Handbuch  zum  Ge- 
brauch derjenigen,  die  sich  in  der  Zergliederungskunst  üben.  3.  Auf- 
lage. Berlin,  1795.  —  J.  Quain,  The  muscles  of  the  Human  Body. 
London,  1836.  fol.  —  J.  C,  M,  Langenheck,  icones  anat.  6ött.,  1838. 
fol.  Sehr  correct.  —  J,  B.  Günther  und  J.  Müde,  die  chirurgische 
Muskellchre  in  Abbildungen.  Hamburg,  1839.  —  Th.  Sömtnerring, 
Lehre  von  den  Muskeln  und  Gefilssen.  Herausgegeben  von  Tlieile. 
Leipzig,  1841;  durchaus  genaue,  und  auf  eigene  Untersuchungen 
gestützte  Beschreibungen,  mit  zahlreichen  Angaben  über  Muskel- 
varietäten. —  E.  Dursy,  die  Muskellehre  in  Abbildungen.  Tübingen, 
1856.  —  Henle's  Handbuch  enthält  zugleich  die  genauesten  Angaben 
über  den  Ursprung  und  die  Eintrittsstellen  der  einzelnen  Muskel- 
nerven. 

Ueber  die  Muskeln  einzelner  Gegenden  handeln,  nebst  den  im 
Texte  der  Myologie  angegebenen: 

D.  C.  Courcelles,  icones  musculorum  capitis.  Lugd.  Bat.,    1743. 

—  Ejusdem  icones  musculorum  plantae  pedis.  Amstel.,  1760.  — 
D.  Santorini,  observ.  anat.  Vcnet.,  1714,  reich  an  sorgfaltigen  Be- 
obachtungen über  die  kleineren  Muskeln  des  Gesichts,  des  Kehl- 
kopfes und  der  Genitalien.  —  J,  B.  Wtn^low ,  observations  sur  la 
rotation,  la  pronation,  la  supination,  etc.,  in  den  Mem.  de  TAcad.  de 
Paris,  1729.  —  Desselben,  remarques  sur  le  muscle  grand  dorsal, 
et  ceux  du  bas  ventre,  in  den  Mem.  de  TAcad.  de  Paris,  1726.  — 
A,  Fr,  Walther,  anatome  musculorum  tencriorum  corporis  hum.  Lip- 
siae,  1731.  —  J,  Heilenheck,  de  musculis  ccrvicis  et  dorsi  comparatis. 
Berol.,  1836.  —  F,  W.  Theile,  de  musculis  rotatoribus  dorsi.  Bernac*, 
1838.  —  Desselben :  Ucbcr  den  Triceps  hrachü  und  den  Flexor  digi- 
torum  suhlimis.  Müllers  Archiv.  1839.  —  A.  Haller,  de  musculis 
diaphragmatis,  in  dessen  Opp.  minor.  Vol.  1.  —  A,  Thomson,  sur 
Tanatomic  du  bas  ventre.  1.  livr.  Paris.  ^linutiös  bis  in*s  lleber- 
flüssige.  —  G.  lioss,  die  P^xtrcmitäten  dos  menschlichen  Körpers, 
ein  Chirurg,  anat.  Versuch,  in   Oppenheim's  Zeitschrift  26.  u.  31.  Bd. 

—  Ijanger,  über  die  Achselbinde  und  ihr  Verhältniss  zum  Ixitissi- 
mm  dorsi,  in  der  österr.  med.  Wochenschrift,  1846.  —  K,  Dursy, 
Beiträge  zur  Kenntniss  der  Muskeln,  Bänder,  und  F^ascien  der  Hand. 
Heidelb.,  1852.  —  Derselbe  über  <lie  Fascien  und  Schleimbeutel 
der  Fusssohle,  in  der  Zeitschrift  für  rat.  Med.  N.  F.  B.  6.    Heft  3. 

—  Duchenne  de  Bonlogne,  recherches  electro-physiologiques  sur  les 
muscles,  (jui  meuvent   le   pied.    Paris,    1856.  —  ./.  Budge,  über  die 


§.  SOS.  Literatur  des  Mnskellehre.  551 

Musculi  intercostalesy  im  Archiv  für  physiol.  Heilkunde,  1857.  — 
Luschka,  über  den  Rippenursprung  des  Zwerchfells,  in  Müller' s 
Archiv,  1857.  —  Ch.  Aehy,  die  Muskeln  des  Vorderarms  und  der 
Hand,  in  der  Zeitschrift  für  wiss.  Zool.  10.  Bd.  1.  Heft.  —  R.  Mar- 
tin, die  Gelenkmuskeln  des  Menschen.  Erlangen,  1874. 

Unter  den  Gesammtwerken  über  Anatomie,  welche  der  Muskel- 
lehre eine  besondere  Aufmerksamkeit  widmen,  verdient  immer  noch 
genannt  zu  werden :  Winsloxc's  Exposition  anatomique  de  la  structure 
du  Corps  humain.  Amstelod.,  1752,  wo  dem  Mechanismus  der  Mus- 
keln ein  eigener,  sehr  lehrreicher  Abschnitt  gewidmet  ist. 

Ueber  Muskelvarietäten  schrieben: 

A.  Fr.  Wcdther,  observationes  novae  de  musculis.  Lips.,  1733. 
—  A,  Haller,  observationes  myologicae.  Götting.,  1742.  —  J.  F.  Aen- 
flamm,  de  musculorum  varietatibus.  Erlang.,  1765.  —  J.  G.  Rosen- 
midier,  de  nonnullis  musculorum  varietatibus.  Lipsiae,  1804.  — 
F,  L,  Gantzer,  diss.  musculorum  varietates  sistens.  Berol.,  1813.  — 
W.  G.  Kelch,  Beiträge  zur  pathol.  Anatomie.  Berlin,  1813.  —  H.  J,  Sels, 
diss.  musculorum  varietates  sistens.  Berol.,  1815.  —  G,  Fleischmann, 
anat.  Wahrnehmungen  über  noch  unbemerkte  Varietäten  der  Mus- 
keln, in  den  Abhandlungen  der  phys.  med.  Societät  in  Erlangen. 
Frankfurt  a.  M.,  1810.  —  Benedek,  dissertatio  de  lusibua  naturac 
praecipuis  in  disponendis  musculis  faciei.  Vindob.,  1836.  —  W,  Gru- 
her,  Abhandlungen  aus  dem  Gebiete  der  med.  chir.  Anatomie.  Berlin, 
1847  (Omohyoideus,  Sternocleidomastoideus,  Cucullaris),  und  in  seinen 
anat.  Abhandlungen.  Petersburg,  1852.  —  A.  Nuhn,  Beobachtungen 
aus  dem  Gebiete  der  Anatomie,  etc.  Heidelberg,  1850.  fol.  (Ano- 
malien von  Muskeln  und  Gefassen.)  —  W.  Gruber,  die  Musculi  sub- 
scapulares,  und  die  neuen  supernumerären  Schultermuskeln.  Peters- 
burg, 1857.  —  Gegenbauer,  im  Archiv  für  path.  Anat.  21.  Bd.  — 
Schwegel,  in  den  Sitzungsberichten  der  kais.  Akad.,  1859.  —  Dursy 
und  Bansen,  in  der  Zeitschr.  für  rat.  Med.,  1868  (Obere  und  untere 
Extremität).  —  In  F.  Meckel^s  pathol.  Anatomie,  und  in  dessen 
Handbuch  der  menschlichen  Anatomie,  2.  Bd.,  finden  sich  zahlreiche 
Angaben  über  Muskelspielarten.  —  Alle  neueren,  hieher  gehörigen 
Beobachtungen,  wurden  sorgfältig  registrirt,  in  HenWs  Jahresberichten, 
und  Alex.  Moralisier  hat  in  seinem,  mit  dem  grössten  Fleisse  ver- 
fassten  Catalogue  of  Muscular  Anomalies,  Dublin,  1872,  die  reichste 
Aehrenlese  eigener  und  fremder  Beobachtungen  zusammengestellt.  — 
Ueber  die  als  Musculus  stemalis  brutorum  in  §.  163  angeführte 
Varietät  des  Musculus  stem(hcleid(hmast(ndeu8 ,  und  ihre  Deutung, 
handeln  Bardeleben  und  Hesse,  in  der  Zeitschrift  fUr  Anatomie  und 
Entwicklungsgeschichte^  1.  Band, 


552  S.  202.  Literatur  der  Mnskellebre. 

Es  wird  eine  Zeit  kommen,  in  welcher  die  Bedeutung  der 
Varietäten  der  Muskeln  besser  verstanden  sein  wird,  als  jetzt,  wo 
man  sie  nur  als  Curiositäten  zu  behandeln  geneigt  ist.  Darwin's 
Lehre  wird  in  den  Muskelvarietäten ,  insofern  sie  Wiederholungen 
thierischer  Bildungen  sind,  eine  Hauptstütze  finden. 

lieber  Schleimbeutel  und  Schleimscheiden: 

Ch,  M,  Koch,  diss.  de  bursis  tendinum  mucosis.  Lips.  1789.  — 
A.  Monro,  A  Description  of  all  the  Bursae  Mucosae  of  the  Human 
Body.  Edinb.  1788.  fol.  Deutsch  von  Rosenmüller.  Leipzig,  1791).  fol. 

—  E.  Gerlach,  de  bursis  tendinum  mucosis  in  capite  et  collo  rcpc- 
riundis.  c.  tab.  Viteb.,  1793.  —  N.  G,  Schreger,  de  bursis  mucosis 
subcutaneis.  Erlang.,  1825.  fol.  —  Durst/,  über  Fascien  und  Schleini- 
bcutel  der  Fusssohle,  in  der  Zeitschrift  für  wiss.  Med.  VI.  Bd. 
3.  Heft.  —  W.  Grubers  im  Texte  citirte  Abhandlungen,  und  die 
jüngste  derselben:  die  Bursae  mucosae  der  Spatia  intermetacarpo- 
phalangea,  et  tntermetatarso-phalanffea.  Petersburg,  1858.  —  A,  Bou- 
chard,  sur  les  gaines  synoviales  du  pied.  Strasbourg,  1856. 

lieber  Fascien  handebi  die  in  der  allgemeinen  Literatur  an- 
geführten Werke  über  chirurgische  Anatomie,  und  über  die  Bezie- 
hungen der  äusseren  Form  zum  Muskel system,  die  Werke 
über  plastische  Anatomie,  von  welchen  ich  nur  die  besten  anführe : 

J.  H.  Lavater,  Anleitung  zur  anatom.  Kenntniss  des  mensch- 
lichen Körpers  für  Zeichner  und  Bildhauer.  Zürich,  1790.  — 
J.   G,  Salvage,  anatomie  du  gladiateur  combattant.    Paris,  1812.  fol. 

—  P.  Mascagni,  anatomia    per    uso    degli  studiosi  di  scultura  e  pit- 
tura.  Firenze,  1816.  fol.  Prachtw^erk. 


VIERTES  BUCH. 


Sinnenlehre. 


§.  203.  Begriff  der  Sinneswerkzeüge  und  Eintlieiluiig  derselben. 

(Jrgane  oder  zusammengesetzte  Apparate,  welche  nur  eine 
bestimmte  Art  äusserer  Reize  aufnehmen,  und  vermittelst  der 
Empfindung,  welche  sie  veranlassen,  zum  Bewusstsein  bringen, 
heissen  Sinneswerkzeuge.  Jener  Zweig  der  Anatomie,  welcher 
sich  mit  ihrer  Untersuchung  beschäftigt,  ist  die  Sinnenlehre, 
Aesthesiologia.  Empfindungen,  und  durch  diese,  Vorstellungen  an- 
zuregen, ist  die  gemeinsame  physiologische  Tendenz  aller  Sinnes- 
werkzeuge ;  —  die  Art  der  Empfindung  dagegen  in  jedem  einzelnen 
Sinneswerkzeuge  eine  verschiedene.  Da  die  Empfindung  blos  ein 
zum  Bewusstsein  gelangter  Erregungszustand  eines  Nerven  ist,  so 
wird  die  anatomische  Grundbedingung  aller  Sinnesorgane  in  einer 
für  die  Aufnahme  eines  äusseren  Eindruckes  zweckmässig  organi- 
sirten  Nervenausbreitung  gegeben  sein  müssen.  Dem  Wesen  nach 
stellt  somit  jedes  Sinneswerkzeug  nur  eine  modificirte  Nervenendi- 
gung dar,  und  die  Sinnenlehre  wäre  demnach  ein  Theil  der  Nerven- 
lehrc.  Da  jedoch  die  organischen  Vorrichtungen,  durch  welche  die 
äusseren  Eindrücke  auf  das  peripherische  Ende  eines  Sinnesnerven 
geleitet  werden,  bei  gewissen  Sinnen  sehr  complicirt  erscheinen,  und 
eine  eigene  Darstellung  erfordern,  so  bilden  die  Sinneswerkzeuge 
mit  Recht  das  Object  einer  besonderen  Lehre  der  beschreibenden 
Anatomie.  Sie  als  sensitive  Eingeweide  in  die  Splanchnologie 
aufzunehmen,  erlauben  die  anatomischen  Verhältnisse  des  Tast- 
organs nicht,  welches,  als  an  der  äusseren  Oberfläche  des  Leibes 
gelegen,  unmöglich  den  Eingeweiden  einverleibt  werden  kann. 

Die  Sinneswerkzeuge  werden  in  einfache  und  zusammen- 
gesetzte eingetheilt.  Zu  den  einfachen  zählt  man  das  Tast-,  Ge- 
ruchs- und  Geschmacksorgan ;  zu  den  zusammengesetzten  das  Sch- 
und Hörorgan.  Bei  jenen  trifi*t  der  äussere  Eindruck  die  sensitive 
Nervenausbreitung  direct;  bei  diesen  kann  er  nur  durch  die  Ver- 
Vorrichtungen, die  ihn  leiten,  schwächen,  oder 


«Mtl* 


550  ^  201.  Kftgriff  «les  TuPtRinncp. 

verstärken,  auf  sie  wirken.  Alle  Sinneswerkzeuge  sind  paarig,  oder 
wenigstens  symmetrisch  unpaar  (Zunge  als  Oeschmackswerkzeug), 
und  nehmen,  mit  Ausnahme  des  Tastorgans,  die  am  Gesichtstheil 
des  Kopfes  für  sie  bereiteten  Höhlen  ein,  um,  wie  der  Geruch s- 
und  Geschmackssinn,  über  den  Eingängen  des  Leibes  zu  wachen, 
oder,  wie  der  Gesichts-  und  Gohörssinn,  möglichst  freien  Spielraum 
und  leichte  Zugänglichkeit  zu  gewinnen.  —  Der  Geschmackssinn, 
dessen  Träger  die  Zunge  ist,  wird  nicht  hier,  sondern  in  der  Ytin- 
geweidelehre,  §.  252,  abgehandelt. 

In  den  Sinneswerkzeiigen  ist  das  Band  gegeben,  welches  die  Seele  desi 
Menschen  an' die  körperliche  Welt  knüpft.  Von  ihnen  gehen  die  ersten  Impulne 
zu  seiner  intellectuellen  Entwicklung  aus,  sie  erregen  seinen  Geist,  und  bereichern 
ihn  mit  Vorstellungen  und  Begriffen.  ^*ä*7  e^t  in  intelhctn,  qnod  iion  priu,H  fu^rU 
in  ftetuiv.  Wir  erfahren  durch  die  Sinne  zunKchst  nur  einen  gewissen  Erregungs- 
zustand gewisser  Nerven,  nicht  die  Qualität  eines  äusseren  Einflusses.  Da  jedoch 
derselbe  Erregungszustand  des  Sinnesnerven  sich  so  oft  wiederholt,  so  oft  der- 
selbe äussere  Einfluss  wiederkehrt,  so  sind  wir  durch  Gewohnheit  dahin  gelangt, 
die  durch  die  Sinne  zum  Bewnsstsein  gebrachten  Eindrücke,  als  Attribute  der  Körper 
ausser  uns  zu  nehmen,  und  Farbe,  Ton,  Geruch,  als  etwas  Objectives  aufzu- 
fassen, obwohl  diese  Worte  nur  das  Bewusstwerden  eines  subjectiven  Erregungs- 
zustandes eines  bestimmten  SinnesnervtMi  ausdrücken. 


A.  Tastorgan. 

§.  204.  Begriff  des  Tastsinnes. 

Das  allen  organischen  Gebilden ,  mit  Ausnahme  der  Ilorn- 
gewebe  und  Kpithelien,  in  verschiedenem  Grade  zukommende,  durch 
die  Gegenwart  sensitiver  Nerven  vermittelte  Empfindungsvermögen, 
entwickelt  sich  in  der  Haut  zum  Tastsinn.  Dieser  belehrt  uns 
über  die  Eigenschaften  der  Körper  der  Aussenwelt,  über  ihre  Ge- 
stalt, Schwere,  Härte,  Weichheit,  Temperatur,  etc.  Die  Haut  tritt 
somit  in  die  Reihe  der  Sinnesorgane,  obwohl  ihr  noch  eine  Menge 
Nebendienste  zukommen.  Das  Verneigen  der  Haut  zu  empfinden, 
hängt  von  der  Menge  und  Feinheit  ihrer  sensitiven  Nerven  ab, 
deren  durch  verschiedene  äussere  Einflüsse  hervorgerufener  Er- 
regungszustand, die  grosse  Verschiedenheit  von  Gefühlen  bedingt, 
welche  zwischen  Schmerz  und  Wollust  liegen.  Dieses  Empfindungs- 
vermögen ist  jedoch  noch  kein  Tastsinn.  Um  zu  letzterem  zu 
werden,  wird  die  Muskelthätigkeit  in  Anspruch  genommen.  Die 
blosse  Berührung  eines  äusseren  Körpers  erregt  kein  Tastgefühl, 
und  verscliafft  uns  höchstens  eine  Vorstellung  von  der  (tröss(^  des 
Widerstandes,     welchen     ein    Körj)er     auf   die    Haut    ausübt.     Zur 


§.  205.  Strüctur  der  Haut.  557 

Bestimmung  der  Ausdehnung,  Form,  Härte,  und  Beschaffenheit  der 
Oberfläche  eines  Körpers,  muss  eine  mit  hoher  Empfindungsfehigkeit 
begabte  Hautpartie  —  wie  am  tastenden  Finger  —  durch  Muskel- 
wirkung an  der  Oberfläche  des  zu  betastenden  Körpers  herum- 
geführt, und  an  ihn  angedrückt  werden.  Wir  werden  der  Grösse 
der  Muskelanstrengung,  welche  hiozu  erforderlich  ist,  bewusst,  com- 
biniren  dieses  Bewusstsein  mit  der  durch  die  einfache  Berührung 
entstandenen  Gefühlsperception,  und  gelangen  auf  diese  Weise  zu 
einer  genauen  Vorstellung  über  die  mechanischen  Eigenschaften  eines 
Körpers.  Der  Tastsinn  bildet  mithin  den  natürlichen  Uebergang  von 
der  Muskel-  zur  Sinnenlehrc. 


§.  205.  Stnictur  der  Haut. 

Die  Haut  des  menschlichen  Leibes  (Integumentum  commune) 
besteht  aus  drei  in  anatomischer  und  vitaler  Beziehung  sehr  ver- 
schiedenen Schichten,  welche  von  aussen  nach  innen  als  Oberhaut, 
Lederhaut,  und  subcutanes  Bindegewebe  auf  einander  folgen. 
Nur  die  mittlere  —  die  Leder  haut  (Cutis,  Corium,  t6  ospp^a,  von 
8£pw,  abhäuten,  schinden)  —  erscheint  als  Träger  und  Vermittler 
der  Tastempfindungen,  und  Avird  deshalb  vor  den  übrigen  abge- 
handelt. 

CiUi«  ist  eigentlich  die  ganze  Men»clicnhaiit,  von  /.uro;,  eine  Hülie,  welche 
etwas  in  sich  fasst.  Pellift  ist  Thierhaut,  das  deutsche  Fell ;  pelliaiUi,  ein  HUiitchen, 
auch  die  Vorhaut  des  männlichen  Gliedes,  daher  apella  bei  Horaz,  einen  Juden 
bedeutet  (credat  haec  Judaeus  apellu,  runi  ego,  in  Sat.  lib.  I,  V).  Corium  (das  griechische 
xupiov)  dagegen  wird  meist  nur  für  gegerbte  Haut,  also  für  Leder  gebraucht,  wie 
z.  B.  bei  S  e  n  e  c  a :  corium  forma  publica  jicrcusaumf  das  Ledergeld  der  Spartaner, 
und  bei  Sallustius:  scuta  ex  coriin,  die  ledernen  Schilde  der  Numidier. 

Die  Grundlage  der  Cutis  bildet  ein  aus  Bindegewebs-  und 
elastischen  Fasern  bestehender  Filz  —  um  so  dichter,  je  näher  der 
Oberfläche.  Sein  äusserster  Saum  erscheint  an  mit  Chlorgold  be- 
handelten senkrechten  Hautschnitten,  selbst  homogen.  Zahlreiche 
Blutgefässe  und  Nerven  durchsetzen  den  Faserfilz  in  schief  auf- 
steigender Richtung.  Spindelfiirmige  und  netzförmig  unter  einander 
anastomosirende  Zellen  lagern  in  Menge  zwischen  den  Faserzügen, 
zwischen  welchen  auch  senimhältige  Lücken  vorhanden  sind,  Avelche 
man  für  Lymphräume  hält. 

Auch  organische  (glatte)  Muskelfasern  finden  sich  in  der  Haut 
vor,  und  zwar  entweder  als  subcutane  Muskelschichtcn ,  wie  im 
Hodensack  und  im  Hofe  der  Brustwarze,  oder  im  Gewebe  der  Haut 
selbst,  jedoch  nur  an  behaarten  Hautstellen,  wo  sie  aus  der  obersten 
dichtesten  Schichte  der  Cutis,  schief  abwärts  zum  Grunde  der  Haar- 


500  1-  »JC  Twtvmnck». 


§.  206.  Tastwärzchen. 

Zahlreiche  Gefaase  und  Xerren  dringen  in  schief  aufsteigender 
Richtung  durch  die  Maschen  des  Fasergewebes  der  Haut  gegen 
die  freie  Oberfläche  der  Cutis  vor,  bilden  im  Gewebe  der  Haut 
Netze,  von  welchen  sich  jene  der  Capillargefasse  an  verschiedenen 
Hautgegenden  durch  höchst  charakteristische  Formen  auszeichnen, 
und  gehen  zuletzt  in  den  Bau  der  Tastwärzchen  ^Papulae  (actus, 
ein,  mit  welchen  die  Oberfläche  der  Haut  wie  besäet  ist.  Die 
Summe  der  Tastwärzchen  wird  als  eine  eigene  Schichte  der  Haut 
angesehen,  welche  Corpus  $.  Stratum  papilläre  heisst. 

Die  Verbreitung  der  Tastwärzchen  ist  keine  gleichförmige. 
An  den  Lippen,  an  der  Eichel,  an  den  kleinen  Schamlefzen  der 
Weiber,  sind  sie  dicht  gedrängt,  und  erscheinen  länger,  als  an 
minder  empfindlichen  Stellen.  An  der  Brustwarze  und  Eichel  ge- 
sellen sie  sich  in  Gruppen  oder  Inselcheu  von  vier  bis  zehn  zu- 
sammen. An  der  Volarseite  der  Hand  und  der  Finger  stehen  sie 
in  gekrümmten  coucentrisch  verlaufenden  Linien  oder  Riffen,  welche 
an  den  Fingerspitzen  vollständige  Ellipsen  bilden  (Tastrosetten), 
deren  lange  Axe  am  Daumen  und  Zeigefinger  mit  der  Längeiiaxe 
des  Fingers  übereinstimmt,  an  den  übrigen  Fingern  aber  gegen  den 
Ulnarrand  derselben  abweicht.  Jedes  solche  Riff  enthält  eine  dop- 
pelte Reihe  von  Tastwärzchen.  In  der  Allee  zwischen  den  beiden 
Warzenreihen  eines  Riffes,  münden  die  gleich  zu  erwähnenden 
Schweissdrüsen  der  Haut  mit  feinsten  Oeffnungen  aus. 

Die  GriSime  der  Tastwärzchen  Tariirt  vom  kaum  merkbaren  llöckerchen, 
wie  auf  der  Haut  des  Kückens,  bis  zu  einem,  eine  halbe  Linie  und  darüber 
hohen  Kegel  mit  abgerundeter  Hpitze  (Ballen  der  Ferse;.  Ich  habe  gefunden, 
das»  die  Tastwärzchen  an  der  Ferse  von  Leuten,  welche  immer  blossfüssig  ein- 
hergingen, ungleich  länger  und  dicker  sind,  als  an  beschuht  gewesenen  Füssen. 
So  sind  sie  an  einem  Hautinjections-Präparate  aus  der  Ferse  eines  Zigeuners 
doppelt  so  hoch  und  dick,  als  an  einem  gleichen  Präparate  aus  der  Ferse  eines 
Mädchens  aus  besserem  Stande.  An  ihren  Basen  confluirende  Tastwärzchen  heissen, 
im  Gegensatz  zu  den  isolirt  bleibenden  oder  einfachen:  zusammengesetzt. 

Die  Tastwärzchen  sind  jedoch  kein  ausschliessliches  Attribut  der  äusseren 
Haut,  sondern  finden  sich  auch  an  gewissen  Sclileimhäuten,  welche  da«lurch  für 
Tastgefühle  empfanglich  werden,  wie  an  der  Shleimhaut  der  Augenlider,  der 
Zunge,  der  kleinen  Schamlefzen,  des  Scheideneinganges,  und  des  Gebännutter- 
mundes. 

Jede  Tastwarze  besteht  aus  demselben  faserigen  (iruudgewebo, 
wie  die  Cutis,  nur  nehmen  die  Bindegewebsfasern  mehr  parallele 
und  zugleich  longitudinale  Richtung  an,  und  werden,  gegon  die  Ax(» 
der  Tastwarze  zu,  von  elastischen  Fasern  in  verschiedenen  Ent- 
wicklungsstufen gekreuzt.  An  vielen  Tastwärzchen  bemerkt  man, 
wie  an  der  Oberfläche  der  Cutis,  noch  einen  structurlosen  Saum. 


§.  SüC.  TutwärzchdD.  561 

In  der  Regel  tritt  zu  jeder  Tastwarze  eine  capillare  Arterie, 
welche  un verästelt  in  ihr  aufsteigt,  um  als  Vene  zurückzukehren 
—  Gefässschlinge  der  Warze.  Nur  an  grösseren  einfachen 
oder  an  zusammengesetzten  Wärzchen  treten  mehrere  Arterien  in 
die  Basis  derselben  ein,  um  in  eine  einfache  oder  doppelte  Vene 
überzugehen.  In  den  Tastwärzchen  an  der  inneren  Fläche  der 
Backen,  besonders  in  der  Umgebung  der  Insertionsstelle  des  Ductus 
Steiiamanus,  bilden  die  einfachen  Arterien  derselben  einen  sehr 
schön  entwickelten  Knäuel,  wie  ich  ihn  durch  Injectionspräparate 
an  Kindern  und  Erwachsenen  sichergestellt  habe.  Nach  Teich- 
mann senden  die  in  der  Cutis  eingetragenen  Lymphgeftlssnetze 
blinde  Ausläufer  in  die  Tastwärzchen  ab. 

Ueber  die  Nerven  der  Tastwärzchen  differiren  die  Angaben 
der  gewandtesten  Beobachter.  R.  Wagner  spricht  nur  jenen  Tast- 
wärzchen Nerven  zu,  welche  die  von  ihm  und  Meissner  aufge- 
fundenen Tastkörperchen  enthalten.  Die  übrigen  sollen  nur  Geftlss- 
schlingen  besitzen.  Ich  halte  es  bei  dem  gegenwärtigen  Stand- 
punkte der  Mikrotomie  der  Haut,  nicht  an  der  Zeit,  den  Papillen, 
welche  keine  Tastkörperchen  enthalten,  die  Nerven  abzusprechen. 
W.  Krause  sah  die  primitiven  Nervenfasern  in  den  Tastwärzchen 
der  Lippen  mit  freien  Endkolben  aufhören.  Ueber  die  Endigungs- 
weise  der  sensitiven  Nerven  in  den  Tastkörperchen  wurde  schon 
§.  70  gesprochen. 

Die  Empfindlichkeit  der  Haut  ist  an  verschiedenen  Stellen  der  Leibesober- 
flUche  sehr  verschieden.  H.  Weber  fand,  dass  die  zwei  Spitzen  eines  Zirkels,  an 
gewissen  üautstellen  mir  Einen,  an  anderen  Stellen  aber  zwei  Geftthlseindrücke 
er/engen.  Die  kleinste  Entfernung  der  Zirkelspitzen,  welche  noch  doppelt  gefühlt 
wurden,  war  auf  der  Zungenspitze  0,5  Pariser  Linien,  am  Tastpolster  der  Finger- 
spitze r",  am  Lippenroth  2'",  an  der  Nasenspitze  3'",  am  Zungenrand  4*",  an 
den  Backen  ö'",  am  harten  Gaumen  6"*,  auf  dem  Jochbein  T**,  auf  der  Rücken- 
seite der  Metacarpusköpfchen  8'",  an  der  inneren  Fläche  der  Lippen  9'",  an  der 
Ferse   10'",  am  Nacken,  am  Oberarm  und  Oberschenkel  aber  30*". 

Ein  merkwürdiges  Verhalten  zeigen  die  Gefh'sse  der  unter  dem  Nagel  in 
Längenreihen  stehenden  Tastwärzchen.  Das  arterielle  GefKss,  welches  zu  der 
ersten  Papille  einer  Tastwärzchenreihe  tritt,  geht,  nachdem  es  in  dieser  eine  ein- 
fache Schlinge  gebildet,  zur  zweiten,  zur  dritten  und  so  fort,  und  es  ist  somit  der 
absteigende  Schenkel  einer  Schlinge  nicht  als  Vene  zu  nehmen,  da  er  zur  Arterie 
des  nächstfolgenden  Wärzchens  wird.  —  Die  auf  den  Fingern  und  auf  dem  Rücken 
der  Hände  bei  jungen  Individuen  häufig  vorkommenden,  und  oft  von  selbst  wieder 
vergehenden  Warzen  fVerrucaeJ,  enthalten  mehrere,  drei  bis  vier  Mal  verlängerte, 
und  an  ihrem  Ende  kolbig  verdickte  Tastwärzchen.  —  Es  lässt  sich  in  der  Haut 
ein  System  von  Linien  verzeichnen,  welche  die  Grenzen  der  einzelnen  Haupt- 
verästlungsgebiete  der  Hautnerven  gegen  einander  abmarken,  und  in  welchen 
das  Gefühl  und  die  Feinheit  des  Ranmsinnes  der  Haut  am  wenigsten  entwickelt 
ist.  Diese  Linien  ziehen  durch  jene  Punkte  der  Hautoberfläche,  welche  den 
stKrlcsten   Knochenvonprüngen   des   Skeletes   entsprechen,   und   auf  welche  beim 

'   Aufl.  36 


562  §.  207.  Drüsen  der  Haut. 

Hitzen,  Liegten,  Knieen,  Stemmon,  und  bei  den  verschiedenen  Artt»n  des  l^ast- 
tragens,  der  grösste  Druck  fKUt.  (Voigt,  Denkschriften  der  kais.  Akademie, 
XXII,  Band.) 


§.  207.  Drüsen  der  Haut. 

Die  Haut  besitzt  zweierlei  Arten  von  Drüsen: 

a)  Talgdrüsen,  Glandulae  sebaceas.     Sie  zählen  zu  den  ein- 
fachen acinösen  Drüsen  (§.  90).    Um  den  als  Epidermis  später 
zu   beschreibenden   hornigen    Ueberzug   der   Haut,    und    die  in  der 
Haut    wurzelnden    Hornfaden    (Haare)    gegen    die  J^inwirkung    der 
Luft  und  des  Sehweisscs  zu  schützen,  sie  geschmeidig   zu  machen, 
und  ihre  Dauerhaftigkeit  zu  vermehren,    werden    diese  (Gebilde  mit 
einer  fetten   Salbe   beölt,    welche   in    den  Talgdrüsen  der  Haut  be- 
reitet,  und    durch    deren   Ausführungsgänge    als   sogenannte    11  aut- 
schmiere   oder    Haut ta lg,    Sebum    s.    Smegma   cutaneum,     an    die 
Oberfläche    des   Integuments  geschafft   wird.     Nur   der    Handtoller, 
die  Sohle,  die  Dorsalfläche  der  zweiten  und  dritten  Phalangen,  und 
die  Haut  des  männlichen  Gliedes   (ohne  dessen  Wurzel)    entbehren 
der    Talgdrüsen.     Ihre    Clestalt    geht    vom    einfachen    keulen-    oder 
birnfiirmigen  Schlauche  (z.  B.  am  Kücken),  in  ein  mehrfach    zellig 
ausgebuchtetes,  acinöses  Säckchen  über  (an  der  Nase,   den  Lippen, 
im  Umkreis   des  Afters),    welches    sich    über   das  Fasergewebe  der 
Cutis  hinaus,  bis  in  das  Unterhautbindegewebe  erstreckt.  Die  Wand 
eines  solchen  Säckchens  besteht  aus  einer  structurlosen,  aber  kern- 
haltigen    Grundmembran ,     mit    äusserer    bindeg<'wel)iger    Auflage, 
und  innerem  mehrschichtigen  Pflasterepithel.     Die  kurzen   und  ver- 
hältnissmässig  weiten  Ausführungsgänge  der  Säckchen,  münden  ent- 
weder frei  an  der  Oberfläche  der  Epidermis,  wie  an  der  Innenfläche 
der  Vorhaut,    am    Frenulum  j>?y/e/>Mi«*,    an    den  kleintMi  Schamlc^fzen 
und  an  der  inneren  Fläche  der  grossen,    oder  senken  sich   in  einen 
Haarbalg  ein,  welcher  ZAvei  bis  fünf  solcher  Ausführungsgänge  auf- 
nehmen kjinn.     In  gewissen  C}(»gcnden,  z.  B.  an  der  Xasc,  sind  die 
Talgdrüsen    viel    grösser   als    die    zugehörigen  kleineren  llaarbälge, 
so  dass  man  hier  sagen  kann,    d(T  Haarbalg    mündet  in  eine  Talg- 
drüse ein. 

Jene  Stelh'n  der  Haut,  welche  häuflger  mit  scharfen  Feuchtig- 
keiten in  Berührung  kommen,  z.  B.  die  Umrandung  aller  Kiirper- 
öfiiiungen,  so  wie  die  Achselgruben,  Leistenfurchen,  und  die  After- 
spalte,   l)esitzen    die    zahlreichsten    und  gnissten   Drüsen  diesen*  Art. 

In  <len  Zellen  d(i8  Epithels  der  Talgdrüsen  Avird  das  Fett  des 
Hauttalges  erzeugt;  —  sie  sind  also  wahre  Secretionszellen,  Avelche, 
Wenn  sie  voll  sind,  abfallen  und  bersten,  und  durch  neuen  Nachwuchs 


§.  207.  Drüsen  d«r  Haut  563 

von  Zellen  ersetzt  werden.     Deshalb   iinden    sich   Reste  solcher  ab- 
gefallener Epithelialzellen  immer  im  Hauttalg  vor. 

Werden  die  trichterförmigen  Ausmündungsstellen  einzelner  Talgdrüsen  durch 
Staub  imd  Schmatz,  oder  durch  ein  spisseres  Secret  verstopft,  so  sammelt  sicli 
der  Talg  im  Inneren  der  Drüse  an,  dehnt  die  Wand  derselben  zu  einem  grösseren 
Beutel  aus,  welcher,  wenn  er  comprimirt  wird,  seinen  Inhalt  als  weissen  geschlKn- 
gelten  Faden  mit  schwarzem  Kopfe  herausschiesst.  Er  wird  denn  auch  vom  ge- 
meinen Manne  für  einen  Wurm  (Mitesser,  Comedo)  gehalten.  Mündet  eine 
solche  Talgdrüse  in  einen  Haarbalg  ein,  so  kann  auch  dieser  durch  die  Ansamm- 
lung des  eingedickten  Smegma  erweitert  werden,  und  zuletzt  mit  der  erweiterten 
Talgdrüse  zu  Einer  Höhle  verschmelzen,  in  welcher  man  einen  Kest  des  abge- 
storbenen Haares,  häufig  auch  ein  neugebildetes  Haar,  welches  durcli  die  ver- 
kleisterte Oeffnung  des  Haarbalges  nicht  mehr  heraus  konnte,  als  zusammengebogenes 
Härchen  antrifft.  —  Simon  ent<^leckte  eine,  in  dem  Inhalte  gesunder  und  infar- 
cirter  Talgdrüsen  parasitisch  lebende,  winzige  Milbe,  den  Acarus  /oiliaihnwif  und 
Er  dl  eine  zweite  Art  derselben;  abgebildet  in  VogeTs  Erläuterungstafeln  zur 
patholog.  Histologie,  Tab.  XII.  Die  Jagd  auf  den  Jcar{M/o^icf//or7/}u  des  Menschen 
wird  am  besten  angestellt,  wenn  man  sich  die  Talgdrüsen  des  eigenen  Nasen- 
flügels mit  den  Fingernägeln  ausdrückt,  das  weisse,  dickliche  Sebum,  mit  etwas 
Olivenöl  zwischen  zwei  dünne  Glasplättchen  bringt,  und  dieselben  einige  Mal  auf 
einander  verscldebt,  wodurch  das  Sebum  auf  eine  grössere  Fläche  vertheilt,  und 
die  sicher  in  ihm  hausenden  Acari,  bei  einer  Vergrösserung  von  200,  ganz  leicht 
aufgefunden  werden.  Die  sehr  auffallende  schnappende  Bewegung  ihrer  Krallen- 
füsse,  erlahmt  sehr  rasch  in  dem  ungewohnten  öligen  Medium. 

b)  Schwcissdriisen,  Glandulae  sudorlferae.  Sie  gehören  zu 
den  tubulösen  Drüsen  (§.  90).  Sie  können  nicht,  wie  die  Talg- 
drüsen, mit  freiem  Auge  gesehen  werden.  Nur  ihre  Mündungen  sind, 
in  den  Furchen  auf  den  HautrifFen  der  ilohlhand,  ohne  Vcrgrösse- 
rungsglas  wahrzunehmen,  imd  Avaren  deshalb  schon  den  älteren 
Anatomen  als  SchAveissporen  bekannt. 

Purkinje's  und  Breschet's  fast  gleichzeitigen  Forschungen, 
verdanken  wir  die  Kenntniss  des  schweissbereitenden  Drüsenappa- 
rates der  Haut,  welcher  eine  so  reiche  Entwicklung  darbietet,  dass 
approximativ  dritthalb  Millionen  solcher  Drüsen  in  der  menschlichen 
Haut  angenommen  werden  können.  Die  Verbreitung  dieser  Drüsen 
ist  aber  nichts  weniger  als  gleiehfi)rmig,  denn  in  der  Hohlhand 
kommen  2800,  und  am  ßesäss  nicht  ganz  400  auf  einen  Quadrat- 
zoll Haut.  Die  grössten  Schweissdrüsen  finden  wir  in  der  Achsel, 
in  der  Umgebung  des  Afters  und  in  der  Fusssohle.  Die  concave 
Seite  der  Ohrmuschel,  der  äussere  Gehörgang,  und  die  Eichel,  be- 
sitzen keine  Schweissdrüsen.  Der  Körper  einer  Sclnveissdrüse  be- 
steht aus  einem  knäuelförmig  zusammengewundenen,  feinen,  und 
structurlosen  Drüsenschlauch,  welcher  in  das  Unterhautbind(»gewebe 
hineinragt,  und  in  einen  korkzieherartig  gewundenen  Ausführungs- 
gang übergeht,  dessen  Lumen  0,05'" — 0,08'"  Durchmesser  zeigt. 
Die  Spirale  des  Ausführungsganges  ist  auf  der  rechten  wie  auf  der 

linken  Körperseite,  eine  rechts  gewundene  (Welcker),    findet  sich 

36» 


r>(>4  ^  20M.  Oberhant. 

jtMloch  nur  an  jenem  Stücke  des  Ausfuhrungsganges,  welches  die 
Kpiderniis  durchsetzt.  Je  dicker  eine  gesunde  Epidermis,  desto 
mehr  spiralo  Windungen  des  Ganges.  Bei  krankhafter  schwieliger 
Vordiokung  der  Epidermis,  wird  die  Spirale  in  eine  mehr  gerade 
Linie  ausgezogen.  Einschichtiges  Pflasterepithel  haftet  auf  der 
inneren  Fläche  des  Drüsenschlauches.  In  den  grossen  Schweiss- 
drüson  der  Achselluihle  und  der  Aftergegend,  kommt  Cylinder- 
epithel  vor.  Dieses  Epithel  sitzt  aber  nicht  auf  der  structurlosen 
Me'tnbrana  propria  des  Drüsenschlauches  auf,  sondern  auf  einer  Lage 
von  Fasorzellen,  unter  welcher  erst  die  Membrana  propria  folgt. 
lieber  Natur  und  Zweck  dieser  Faserlagen  wissen  wir  nichts 
XU  sagen. 

An  (i«*n  Schweissdrüsen  der  Achsel  lassen  sich  glatte  Muskelfasern  erkennen, 
>v«»loho  «ivT  IJingsrichtang  der  Drüse  folgen,  und  der  Wand  ihres  Schlauches  ein 
*ln(»iHjr«*»  Ansehen  geben. 

t>h  die  Function  dieser  Drilsen  ilirem  Namen  entspricht,  d.  h.  in  der  Ab- 
«KMuieninfT  vv>n  Schweiss  besteht,  unterlieg^  mancherlei  Bedenken.  Man  hat  Drilsen 
v\»«  jran«  gleicher  Structur  an  Stellen  gefunden,  wo  ganz  gewiss  kein  Schweiss 
«%H'enurt  wird,  wie  e.  B.  am  unteren  inneren  Comealrande  des  Rindsauges.  Meiss^ 
ner  (»ehauptet  deshalb,  dass  die  Schweissdrüsen  keinen  Scliweiss,  sondern  ein 
Mies  Secrt»t  liefern.  Der  Nachweis  von  Fettablagenmg  in  den  grossen  Schweiss- 
dritsten  der  Achsel,  und  von  Fettmolekülen  im  Inhalte  der  kleineren,  dient  seiner 
AuMoht  xur  Stütze. 

Zur  Untersuchung  der  Schweissdrüsen  genügt  es,  einen  aus  freier  lland 
inler  mit  dem  Valenti naschen  Doppelmesser  gemachten,  feinen,  senkrechten  Haut- 
sehnitt,  bei  einer  Linearvergrössenmg  von  60  zu  betrachten.  —  Der  Schweiss, 
Smlorj  welcher  nur  bei  hohen  Wärmegra<ien  der  Luft,  bei  Anstrengungen  oder 
Krankheiten,  in  Tropfenform  zum  Vorschein  kommt,  sonst  in  der  Regel  gleich 
nach  seiner  Absondenmg  verdunstet,  und  seine  fixen  Bestandtheile  an  der  Ilaut- 
uberfläche  zurücklässt,  ist  eine  klare,  wässerige,  sauer  reagirende  (I)e8onder.s  der 
Fnssschweiss,  welcher  zuweilen  blaue  Strümpfe  roth  färbt),  oder  neutrale  Flüssig- 
keit, von  specifischem  Geniche,  welche  nur  in  der  Achsel  und  am  Plattfuss 
weisse  Wäsche  gelblich  färbt  und  steift.  Das  quantitative  Verhältniss  der  fixtMi 
Bestandtheile  des  Schweisses  (Chlomatrium ,  schwefelsaure  Salze,  Spuren  von 
Harnstoff,  freie  Milchsäure,  milchsaure  Salze,  etc.)  erleidet  durch  die  Menge 
innerer  und  äusserer  auf  die  Hautabsonderung  einwirkender  Momente,  mannig- 
fache Aenderungen,  und  ist  überhaupt  im  gesunden  und  kranken  Zustande  nur 
wenig  bekannt 


§.  208.  Oberhaut. 

Man  kann  an  jedem  beliebigen  Punkte  der  KtirperoberHäclie, 
ein  feines,  trockenes  Häutehen  ablösen,  welches  weder  schmerzt, 
noch  blutet,  somit  weder  Nerven  noch  Gefiisse  enthält,  weisslich, 
durchscheinend,  und  pergamentartig  zähe  ist,  und  Oberhaut  ge- 
nannt wird  (Cuticula,  Epidermis  bei  Hippocratcs,  von  ezl  t6 
8^;jia,    auf   der    Haut).     Bei    den    alten    Anatomen    führte    sie   den 


§.  208.  OberhAat.  565 

sonderbaren  Namen  Heidenhaut,  wahrscheinlich  weil  sie  sich  nach 
dem  kalten  Bade  der  Taufe  abschuppt. 

Die  Oberhaut  wurde  lange  Zeit  für  einen  vertrockneten  und 
verhornten  Auswurfsstoff  der  Haut,  für  thierische  Schlacke  gehalten, 
und  weiter  nichts  in  ihr  gesucht,  als  die  Leistung  mechanischen 
Schutzes  für  das  empfindliche  Hautorgan.  Henle's  umfassenden 
Untersuchungen  verdanken  wir  eine  richtigere  Ansicht  über  die 
organische  Bedeutung,  so  wie  über  die  Lebens-  und  Ernährungs- 
weise der  Epidermis.  Wird  die  lebende  Cutis  ihrer  Oberhaut  durch 
ein  blasenziehendes  Pflaster  beraubt,  so  bildet  sich  neue  Epidermis, 
theils  vom  Rande  der  alten  aus,  theils  aber  auch  auf  der  Area  der 
entblössten  Hautfläche,  in  Form  kleiner  Inseln,  welche  sich  ver- 
grössern,  und  unter  sich  und  mit  der  vom  Rande  der  Wunde  aus 
gebildeten  Epidermis  zusammenfliessen.  Es  ergiesst  sich  nämlich 
auf  der  entblössten  Hautfläche  ein  Blastem,  in  welchem  kern- 
haltige Zellen  entstehen.  Diese  bilden  mehrere,  über  einander 
geschichtete  Lagen.  Die  tiefste  Lage  besteht  aus  Zellen,  deren 
Höhe  ihre  Breite  übertrifft.  Die  Zellen  der  oberflächlichen  Schichten 
sind  polyedrisch,  und  die  oberflächlichsten  derselben  platten  sich 
ab,  verlieren  durch  Austrocknen  ihren  Gehalt  an  Flüssigkeit,  und 
werden  endlich  zu  trockenen,  hornigen  Schüppchen  oder  Blättchen, 
welche  in  ihrer  Juxta-  und  Supraposition,  die  eigentliche  Epidermis 
darstellen.  —  Was  die  Epidermis  durch  das  fortwährende  Abfallen 
ihrer  oberflächlichsten  Blättchen  an  Dicke  verliert,  wird  durch 
neuen  Nachschub  von  unten  her  wieder  ersetzt.  Sie  befindet  sich 
somit  in  einem  fortwährenden  Umwandlungs})roce8s,  Avie  alle  übrigen 
organischen  Gebilde.  Nur  jene  Schichte  der  Epidermis,  welche  aus 
vertrockneten  Zellen  besteht,  wird  Oberhaut  genannt;  die  saftigen 
Zellen  der  tieferen  Schichten  werden  zusammen  als  Mucus  Malpigliii 
bezeiclinet.  Der  Mucus  MalpigJiü  füllt  alle  Vertiefungen  zwischen 
den  Tastwärzchen  auf  der  Oberfläche  der  eigentlichen  Cutis  voll- 
kommen aus,  und  wird  somit  an  seiner,  der  Cutis  zugewendeten 
Gegend,  Erhabenheiten  und  Vertiefungen  zeigen  müssen,  welche 
den  Vertiefungen  und  p]rhabenheiten  der  Cutis  entsprechen,  und 
deren  Gesammtansicht  den  Eindruck  eines  Netzes  macht.  So  ent- 
stand der  gleichfalls  cursirende  Name:  Rete  MalplghlL 

Das  Eigenleben  der  Epidermis  wurde  dnrch  die  von  den  französischen 
Aerzten  erfundene  firpffe  4pidei'mujne.  am  schönsten  bewiesen.  Wenn  man  auf  eine 
Wiindfläche,  welche  sich  zur  Heilung  anschickt,  ein  Stückchen  frisch  abgetragene 
Epidermis  legt,  an  welches  noch  Munut  Malpifjhii  anhängt,  so  heilt  dieses  Stttck- 
clien  an,  wächst  durch  Zellenbildung  im  ITmfang,  und  trägt  wesentlich  zur 
schnelleren  Vernarbung  der  Wunde  bei. 

An  vielen  Zellen  der  mittleren  Schichten  des  Mucus  Malpujhii,  finden  sich 
stachelähnliche  Fortsätaee,  mittelst  welcher  je  zwei  nachbarliche  Zellen  so  inein- 
and<>''  "  '  •***  d«n  Borsten  gegeneinander  gedrückte  Bürsten  (Stachel- 


566  §.  209.   Physikalische  und  physiologische  Eigenschaften  der  Oberhaut. 

Zellen,  Riffzellen).  Die  Beobachtun{2^en  von  Biesiadecki  haben  zwischen  den 
Zellen  der  tieferen  Schichten  des  Mucwt  Malpitjhiif  aucli  die  Gegenwart  von 
Wanderzellen  nachgewiesen,  welche  aus  dem  subcntanen  Bindegewebe,  wo  sie 
in  der  Nähe  der  Blutgefässe  sich  aufhalten,  durch  die  Cutis,  bis  in  den  M al- 
pig hinsehen  Schleim  auswandern  sollen.  Sie  kommen  besonders  zahlreich  unter 
patholog^chen  Bedingungen  vor  (z.  B.  bei  Eczem  und  Condylom). 

Derselbe  Autor  versichert  uns  auch,  das»  sich  einzelne,  marklos  gewordene 
Nervenfasern  der  Cutis,  über  die  Cutis  hinaus  zwischen  die  Zellen  des  Mucum 
Malpighii  vordrängen,  und  daselbst  mit  knopfRirmigen  Anschwellungen  endigen. 
Mojsisovics  fand  an  der  Schnautze  des  Schweins  die  Nervenfasern  selbst  liis 
in  die  Epidermis  gelangen.  Leider  lassen  sich  diese  merkwürdigen  Dinge  niemals 
an  frischen  Präparaten  sehen.  Sie  treten  nur  nach  Behandlung  der  Hantschnitte 
mit  Goldlösungen  hervor,  und  können  möglicher  Weise  etwas  Anderes  sein, 
als  Nerven. 

Die  schwarze  Farbe  des  Negers  hat  ihren  Grund  einzig  und  allein  in  dem 
dunklen  Pigmentinhalt  der  tiefsten  Zellenlage  des  Mu4:uJi  Malpirjhii.  Die  Laus  der 
Neger,  welche  sich  vom  i»igmentirten  Zelleninhalt  des  Miictat  Malpifjhii  nährt,  ist 
deshalb  wie  ihr  Besitzer  schwarz.  Je  höher  aber  die  tiefliegenden  Zellen,  durch 
das  Abfallen  der  obersten,  zu  liegen  kommen,  desto  mehr  entfärben  sie  sich,  und 
die  eigentliche  Oberhaut  des  Negers  ist  nicht  schwarz,  sondern  graulich.  Dieselbe 
Farbe  zeigen  die  Narben  nach  den  Brandwunden,  mit  welchen  die  Humanität  der 
weissen  Menschen,  trotz  so  viel  Moral  und  Religion,  ihre  schwarzen  Brüder 
zeichnet,  \>ie  der  Viehhändler  seine  Hammel.  Dunkle  Hautstellen  der  weissen 
Menschenrace  (Warzenhof,  Hodensack,  Umgebung  des  Afters)  enthalten  keine 
pigmenthaltigen  Epidermiszellen,  wohl  aber  Pigmentmoleküle  zwischen  den  Zellen 
des  Mucum  Malpifjhii.  Uebrigens  erscheint  die  puti.-*,  nach  Abstreifen  des  Relc 
Malpighii,  bei  allen  farbigen  Racen  so  weiss,  wie  die  der  weissen. 

Die  Dicke  der  Epidermis  variirt  von  0,04'"— 1'"  und  darüber.  Der  Unter- 
schied der  Dicke  hängt  nicht  allein  von  der  Einwirkung  äusseren  Druckes  ab, 
wie  man  nach  der  Dicke  der  Epidermis  an  der  Ferse  und  an  den  Handl)allen  bei 
gewissen  Handwerkern  (z.  B.  Grobschmiede)  schliessen  könnte,  sondern  wird  auch 
von  besonderen  Entwicklungsgesetzen  bedingt,  da  die  genannten  Stellen  selion  im 
Embryoleben  eine  doppelt  bis  dreifach  so  dicke  Epidermis  haben,  als  andere. 

Nur  die  dünne  und  zarte  Epidermis  der  kaukasischen  Racen  ist  durch- 
scheinend weiss.  Deshalb  kommen  die  Rosenwangen  und  die  Korallenlippen  nur 
diesen  Racen  zu. 


§.  209.  Physikalische  und  physiologische  Eigenschaften  der 

Oberhaut. 

Die  Epidermis  theilt  mit  allen  Horngebilden  das  VoiTCcht,  ein 
schlechter  Wärme-  und  Elcktricitätsleiter  zu  sein.  Sie  beschränkt 
die  Absorptionsthätigkeit  der  Haut,  und  hindert  die  zu  rasche  Ver- 
dampfung der  Hautfeuchtigkeit.  Von  letzterer  Wirkung  kann  man 
sich  an  Leichen  überzeugen,  an  denen  die  Epidermis  durch  An- 
wendung von  Vesicatoren  während  des  Lebens  entfernt,  oder  durch 
mechanische  Einwirkungen  abgestreift  wurde.  Die  der  Epidermis 
beraubten  Stellen  der  Haut,  vertrocknen  in  diesem  Falle  sehr  schnell 
zu  pergamentartigen,  harten  Flecken.     Am  Lebenden,  dessen  Haut 


§.  209.  Physikalische  and  physiologische  Eigenschaften  der  Oberhaut.  567 

fortwährend  neue  Feuchtigkeit  durch  die  Blutgefösse  zugeführt  er- 
hält, tritt  dieses  Vertrocknen  an  epidermislosen  Stellen  nicht  ein. 
Man  hat  diese  Beobachtung  auch  zu  verwerthen  gesucht,  wenn  über 
wirklichen  oder  Scheintod  ein  Urtheil  abzugeben  war.  —  Durch 
anhaltenden  Druck  verdickt  die  Epidermis  sich  zu  hornigen 
Schwielen,  welche  in  höherem  Entwicklungsgrade,  an  den  Zehen 
den  trivialen  Namen  der  Hühneraugen,  besser  Leichdorne 
(Clavi)  führen. 

Solche  Schwielen  können  überall  entstehen,  wo  der  zu  ihrer  Erzengang 
nothwendige  Druck  wirkt.  Ich  habe  sie  bei  Lai^tträ^ern  am  Rücken,  auf  dem 
Domfort«atze  des  siebenten  Halswirbels,  und  auch  an  der  Darmbeinspina  bei 
Frauen,  welche  ft^ste,  bis  über  die  Hüften  reichende  Mieder  trugen,  beobachtet. 
Da  ich  meine  Feder  hart  führe,  entsteht,  wenn  ich  viel  zu  sclireiben  habe,  am 
Innenrande  des  Nagelgliedes  meines  Mittelfingers,  durch  den  Druck  der  Feder, 
und  an  der  Streckseite  des  Gelenkes  zwischen  zweiter  und  dritter  Phalanx  des 
Ringfingers,  auf  welclie  ich  die  Hand  beim  Schreiben  stütze,  regelmässig  ein 
artiges  Hühnerauge. 

Das  Hülmerauge  hat  seinen  Namen  von  dem  dunklen  Fleck,  welcher  sich 
in  der  Mitte  seiner  Schnittfläche  vorfindet.  Er  entsteht  dadurch,  dass  sich  zwischen 
der  Basis  des  Hühnerauges  und  der  Cutis,  ein  Tröpfchen  Blut  ergossen  hat, 
welches,  zwischen  den  sicli  fortwährend  von  unten  auf  neu  l)ildenden  Epidermis- 
schichten  eingescJilossen,  altmälig  gegen  die  Oberfläche  des  Hühnerauges  gehoben 
wird,  wobei  der  Blutfärbestoft'  eine  Umwandlung  in  dunkles  Pigment  erleidet.  Oft 
umschlie.Hst  das  Hühnerauge  einen  weissen  Kern,  welclier  aus  phosphorsaurer 
Kalkerde  bestellt,  und  durch  seine  Härte  die  Bescli\werden  beim  Drucke  auf  das 
Hühnerauge  steigert.  Die  vielfach  gerühmte  Anwendung  von  verdünnter  Schwefel- 
säure, oder  vegetabilischen  Säuren  (z.  B.  im  Safte  der  sogenannten  Hauswurzel, 
SfAum  aci'p)  löst  diesen  Kern,  und  schafft  dadurdi  den  sclimerzenden  Hühner- 
augen oft  anlialtende  Lindenmg.  Unter  alten  Hühneraugen  entwickelt  sich  regel- 
mässig ein  kleiner  Schleimbeutel.  Das  sogenannte  Ausschneiden  der  Hühneraugen 
ist  keine  radicale  Exstirpation,  sondern  eine  palliative  schichtweise  Abtragung  der- 
selben, welche  nur  für  kurze  Zeit  hilft,  da  das  Entfernte  bald  wieder  nachwuchert 
Leute,  welche  diesen  Zweig  der  „niederen  Chirurgie"  ausüben,  benöthigen  mehr 
Vorsicht,  als  cliinirgische  Gescliicklichkeit.  Es  sind  Fälle  bekannt,  wo  auch  diese 
harmlosest«  aller  wundärztlichen  Verrichtungen,  durch  phlegmonösen  Rothlauf  zum 
Tode  führte  (P.  Frank,  Opimc.  posthnma). 

Die  vertrockneten  E]»idermisschüppchen  schwellen  in  Wasser  oder  Wasser- 
dunst auf,  erweiclien  sich,  und  wenlen  in  diesem  Zustande  leicht  durch  Reiben 
entfernt,  wonach  die  Hautausdünstung  leichter  von  Statten  geht,  und  die  heilsame 
Wirkung  der  Dampf-  und  Wannenbäder  zum  Theil  erklärlich  wird.  Dampfbäder 
aber  Schwitzbäder  zu  nennen,  ist  barer  Unsinn,  da  der  heisse  Wasserdampf  der 
Badestube  sich  auf  die  kältere  Haut  des  Ba<ienden  niederschlägst,  und  die  Nässe 
der  Haut  somit  gewiss  kein  Schweiss  ist.  —  Noch  schneller,  als  im  Wasser,  er- 
weichen sich  die  Epidermiszellen  in  Kalilösung,  weshalb  man  sich  zum  Waschen 
der  Hände  allgemein  der  Seife  bedient.  —  Die  hygroskopische  Eigenscliaft  der 
Epidermis  liedingt  das  Anschwellen,  und  dadurch  das  jeden  Witterungswechsel 
hpgIeiton<le  Schmerzen  der  Leichdorne,  und  lehrt  es  verstehen,  warum  bei  Leuten, 
welche  an  den  Füssen  schwitzen,  zur  Sommerzeit  die  Qualen  der  Hühneraugen 
viel  heftiger  zu  sein  pflegen  als  im  Winter. 

Die  gesprenkelte  F&rbang  der  Haut  bei  Sommersprossen  und  Leberflecken, 
beruht,  wie  die  Rac«nfibrb^  "r^nt,  auf  dunklerer  Pigmentining  der  Zellen 


568  §.  «10.  N««el. 

der  Epidermia.  Die  auf  den  inneren  Gebranch  von  Höllenstein  sich  einstellende 
schwarze  Hantfarbiing,  welche  auf  einer  durch  den  Lichteinfluss  bewirkton  Zer- 
setzung des  in  der  Haut  abgelagerten  Silbersalzes  beruht,  ist  durch  alte*  und  neue 
Erfahrungen  hinreichend  constatirt.  —  Alle  reizenden  und  Entzündung  veran- 
lassenden Einwirkungen  (Verbrennung,  Zugpflaster),  heben  im  Leben  die  p]pi<lermi» 
von  der  Cutis,  durch  Blasenbildung  ab.  Viele  Ausschlagskrankheiten,  selbst 
Erschütterungen,  wie  bei  Knochenbrüchen,  oder  faulige  Zersetzung  der  Säfte  beim 
Brande,  bewirken  dieselbe  Blasenbildung.  An  der  Leiche  wird  die  Epidermis 
durch  Fäulniss  oder  Abbrühen  so  gelockert,  dass  sie,  bei  vor-^ichtiger  Behand- 
lung, von  den  Händen  wie  ein  Handschuh  abgestreift  werden  kann.  —  Die  P^pi- 
dennis  senkt  «ich  in  alle  Leibesöffnungen,  kleine  wie  grosse,  ein,  und  geräth 
dadurch  in  unmittelbare  Verbindung  mit  dem  inneren  Ueberzuge  der  Eingeweide 
—  dem  Epithel. 


§.  210.  Nägel. 

Die  Nägel,  Ungaes  (5rjy£;),  sind  harte,  elastische,  viereckige, 
durchscheinende,  convex-concave  ITomplatten,  auf  der  KückenscMte 
der  letzten  Finger-  und  Zehenphalangen,  deren  pulpösen,  tastenden 
Fläche  sie  Halt  und  Festigkeit  geben.  Der  hintere  und  ein  Tlieil 
der  Seitenränder  des  Nagels  stecken  in  einer  tiefen  Ilautfurche  —  dem 
Nagel  falz,  Matrix  unguis.  Die  untere  concave  Fläche  steht  mit  der 
papillenreichen  Haut  (Nagelbett)  im  innigen  Oontact,  und  vermehrt 
durch  Gegendruck  die  Schärfe  der  Tastempfindungen.  Di(^  Papillen 
des  Nagelbettes  finden  sich  sowohl  im  hintersten  Bezirk  des  Nagel- 
bettes, als  auch  an  der  vorderen  Grenze  desselben.  In  der  ganzen 
übrigen,  vom  Nagel  bedeckten  Fläche  des  Nagelbettes,  versehmelziMi 
sie  zu  LängsrifFen  oder  Leisten,  von  welchen  sechszig  bis  neunzig 
auf  die  Breite  des  Nagelbettes  kommen.  —  Der  hintere  weiclie 
Rand  des  Nagels,  welcher  in  der  über  zwei  Linien  tiefen  Ilaut- 
furche des  Nagelfalzes  steckt,  lieisst  Radix  unguis.  Er  ist  der  jüngste 
Theil  des  Nagels,  welcher  bei  dem,  vom  Nagelfalz  nacli  vorne 
strebenden  Wachsthum  des  Nagels,  allmälig  dem  freien  Rande 
näher  rückt,  bis  auch  ihn  das  Loos  trifft,  beschnitten  zu  werden. 
Ein  weisses  Kreissegment  —  die  Lunvla  —  ziert  die  Wurzel 
schöner  Nägel. 

Der  Nagel  besteht  aus  denselben  Zellenelementen,  wie  die 
Oberhaut,  und  ist  eigentlich  nur  eine  verdickte  Stelle  derselben. 
Während  die  tieferen  Zellenschichten  des  Nagels,  und  seines  hin- 
teren im  Nagelfalz  steckenden  Randes,  weich  und  saftig  bleiben, 
verhornen  die  oberflächlichen,  und  verschmelzen  zu  einer  compacten 
Platte,  welche,  wenn  sie  ganz  trocken  ist,  beim  Durchschneiden 
zersplittert.  Durch  Kochen  in  kaustischem  Natron  lassen  sieh  die 
kernhaltigen  Zellen  der  obersten,  verhornten  Nagelschichte,  wieder 
darstellen.     Nur   die    äusserste   Epidermisschichte    setzt   sich,    vom 


§.  210.  Nägel.  569 

Fingerriicken  kommend,  an  der  Dorsalfläche,  —  und  von  der  Volar- 
seito  kommend,  an  der  unteren  Fläche  des  Nagels,  ungefähr  eine 
Luiie  hinter  seinem  freien  Rande  fest,  wodurch,  wenn  die  Epidermis 
vom  Finger  abgezogen  wird,  der  Nagel  mitgehen  muss. 

Ich  beobachtete  einen  Fall,  wo,  bei  der  Häutnng  nach  Scharlach,  mit  der 
Epidermis  auch  die  Nägel  der  zwei  letzten  Finger  abgestossen  wurden.  Nach 
Verbrennungen  und  Erfrieningen  der  Hand  ist  das  Abfallen  der  Nägel  keine 
Seltenheit.  —  Dass  der  Nagel  nicht  Mos  in  der  Matrix  gebildet,  und  von  hier 
ans  vorgeschoben  wird,  bemerkt  man,  wenn  ein  nach  Quetschung  des  Fingers  ab- 
gegangener Nagel  regenerirt  wird.  Es  bedeckt  sich  hiebei  die  ganze  Fläche  des 
Nagelbettes  mit  weichen  Homblättchen,  welche  nach  und  nach  verhärten,  und 
zu  einem  grösseren  Nagelblatte  zusammenfliessen.  Audi  spricht  das  Dickerwerden 
des  Nagels  nach  vom  zu,  für  einen  von  unten  her  stattfindenden  Anschuss  von 
Nagelzellen.  Das  kann  aber  nicht  geläugnet  werden,  dass  die  Bildung  des  Nagels 
vorzugsweise  von  dem  Nagelfalze  ausgeht.  —  Der  grosse  Nervenreichthum 
der  Nagelfurche  nnd  des  Nagelbettes,  erklärt  die  Schmerzhaftigkeit  des  zur 
Heilung  gewisser  Krankheiten  der  Nagelfurcho  nothwendigen  Ausreissens  des 
Nagels.  Da  das  Nagelbett  sehr  gefassreich  ist,  so  erscheinen  dünne  Nägel  röth- 
lich,  erblassen  bei  OJmmachten  und  Blutungen,  und  werden  blau  bei  venösen 
Stasen,  beim  Herannalicn  eines  Fieberanfalls,  und  an  der  Leiche.  —  Man  will  be- 
merkt haben,  dass,  während  der  Heilung  von  Knochenbrüchen,  das  Wachsthum 
der  Nägel  stille  steht. 

Der  Nagel  theilt  die  physikalischen  und  Lebenseigenschaften  der  Epidermis. 
Er  ist  unempfindlich,  gefass-  und  nervenlos,  nützt  dem  Organismus  nur  durch 
seine  mechanischen  Eigenschaften,  wird  spröde,  wenn  er  vertrocknet,  und  erweicht 
sich  durch  Baden,  so  wie  durch  Saugen  oder  Kauen  an  den  Fingern,  wofür  Kinder 
zuweilen  grosse  Vorliebe  zeigen.  Wenn  er  beschnitten  wird,  wäclist  er  rasch 
nach.  Wird  er  nicht  beschnitten,  so  wächst  er  bis  auf  ein  gewisses  Maximum 
der  Länge  fort,  und  nimmt  hiebei  die  Form  einer  Kralle  an.  Einem  indischen 
Fakir,  welcher  das  Gelübde  gemaclit  hatte,  seine  Hand  immer  geschlossen  zu 
lialten,  wuchsen  die  Nägel  durch  die  Spatin  interossea  der  Mittelhand  auf  den 
Handrücken  hinaus.  Grosse  Liebhaber  langer  Nägel  sind  die  muhamedanischen 
Fürsten  auf  den  Molukken.  Sie  lassen  ihre  Nägel  zu  wahren  Klauen  anwachsen, 
und  beschtltzen  sie  durch  Futterale.  Solche  Hände  dienen  sicher  nicht  zur  Arbeit, 
und  mögen  Jenen  wohlanstehen,  weldie  geboren  wurden:  frufjes  conauviere,  aed 
non  prodncere.  Mandelförmige  und  lange  Nägel,  mit  weit  über  die  Fingerspitzen 
liinausragenden  Scliaufelrändem,  werden  auch  von  unseren  Zier])engeln  für  schön 
gelialten.  Die  Zeit,  welche  mit  dem  Patzen  derselben  täglich  verloren  geht,  könnte 
zu  etwas  Nützlicherem  verwendet  werden.  Sie  sind  ein  sehr  beliebtes  und  wohl 
gepflegtes  Attribut  des  reichen  Müssigganges.  Arbeitende  Hände  brauchen  kurz- 
geschnittene Nägel.  —  Interessant  sind  die  von  Pauli,  de  vulnerum  sancUione, 
jmtj,  98,  gesammelten  Fälle,  wo  nach  Verlust  des  letzten,  oder  der  zwei  letzten 
Fingerglieder,  ein  Nagelrudiment  am  Stumpfe  des  Fingers  entstand.  Mir  ist  ein 
Fall  bekannt,  wo  nach  Amputation  des  Nagelgliedes  des  Daumens  wegen  Caries, 
ein  zwei  Linien  langer  und  drei  Linien  breiter  Nagel,  am  ersten  Gliede  sich 
bildete.  Melireres,  auch  Unterhaltendes,  über  Nägel,  giebt  G.  F.  Frank enau, 
oiii/chologia.  Lipft.   1096. 

Als  Curiosum  sei  erwähnt,  dass  die  Nägel  in  der  Jugend,  im  Sommer,  und 
an  der  rechten  Hand  schneller  wachsen,  als  im  Alter,  im  Winter,  und  an  der  linken 
Hand;  ferner  dass  der  Nagel  des  Mittelfingers  unter  allen  am  schnellsten  wächst,  und 
dass  in  der  Schwangerschaft  das  Wachsthum  der  Nägel  zusehends  geringer  ist. 


570  §.  Sil.  Haare. 


§.  211.  Haare. 

Die  IIa<ire,  Pill  s.  Crines  (Tpiysc,  —  am  Haupte  Capi/lt^  d.  i. 
capitis  pili),  entspriessen  der  Haut  als  geschiueidige  Hornfatlen,  deren 
Erzeugung  und  Wach  stimm,  wie  bei  der  Oberhaut  und  den  Nägeln, 
auf  dem  Zellenleben  beruht.  Jedes  Haar  wird  in  die  Wurzel, 
Radix,  und  den  Schaft,  Scapus,  eingetheilt.  Haarwurzel  heisst  der 
in  die  Cutis  eingesenkte  Ursprung  des  Haares;  Haarschaft  der  freie 
Theil  des  Haares,  welcher  an  den  schlichten  Kopfhaaren  eylindrisch, 
an  den  krausen  Bart-,  Achsel-  und  Schamhaaren  b(Mni  Querschnitt 
oval  oder  bohnenfiirmig  erscheint.  Schwarze  Haare  sind  häufig  an 
der  Spitze  gespalten.  Einzehie  Unebenheiten  am  Haarschaft  ent- 
stehen entweder  durch  Splitterung  des  Haares  beim  Knicken  des- 
selben, durch  Zerklüften  und  Rissigwerden  trockener  Haare,  durch 
Ankleben  von  Epidermisfragmenten  oder  Schmutz.  Die  Haarwurzel 
steckt  in  einer  taschenformigen  Höhle  der  Haut.  Diese  heisst 
Hafirbalg,  Follicidus  pili.  Bei  den  feineu  und  kurzen  Wollhaaren, 
Lanugo,  welche  die  ganze  l^eibesoberfläche,  mit  Ausnahme  der  Hohl- 
hand und  Fusssohle,  so  wie  der  Beugeseiten  der  Finger-  und  Zeiien- 
gelenke,  einnehmen,  reichen  die  Haarbälge  nicht  in  die  Tiefe  über 
das  Corium  hinaus.  Bei  den  übrigen  Haaren  dagegen  dringen  sie  bis 
in  das  Unterhautbindegewebe  ein,  und  bei  den  Spürhaaren  der  Thierc 
oft  bis  in  die  subcutanen  Muskeln.  Es  lassen  sich  am  Haarbalg 
drei  Schichten  unterscheiden,  eine  äussere,  mittlere  und  innere. 
Die  äussere  besteht  aus  longitudinalen ,  die  mittlere  aus  queren 
Bindegewebsfasern;  die  innere  ist  structurlos.  —  In  jeden  Haarbalg 
münden  benachl)arte  "^ralgdrüsen  der  Haut  ein,  und  der  Glanz  der 
Haare  beruht  einzig  und  allein  auf  ihrer  Beülung  durch  Hanttalg. 
Vielgebrauchte  Haarbürsten  und  Kämme,  sind  deshalb  immer  fi^tt, 
und  kein  Theil  unserer  Wäsche  wird  so  schnell  schmutzig,  wici  die 
Nachtmützen.  Ein  Bündelchen  organischer  Muskelfasern,  welches 
von  der  obersten  Schichte  der  Lederhaut  ausgeht,  und  sich  in  der 
Nähe  des  Grundes  der  Haartasche  anheftet,  kann  die  Haartaseh(^ 
heben,  und  erhielt  deshalb  den  Namen  An^ector  pili. 

Am  Grunde  des  Haarbalges  sitzt  ein  kleines,  gefass-  und  nerven- 
reiches  Wärzchen,  Papilla  pili.  Das  Wärzchen  ist  das  eigentliche 
Bildungsorgan  des  Haares,  denn  es  liefert  an  seiner  Oberfläche  jene 
Zellen,  aus  denen  sich  der  Haarschaft  aufbaut.  Auf  diesem,  an 
seiner  Basis  etwas  eingeschnürten,  meist  kegelfiirmig  zugespitzten 
Wärzchen,  haftet  der  breite  Theil  der  Haarwurzel,  als  Haarknopf 
oder  Haarzwiebel.  Er  besteht  an  seinem  untersten,  von  der  Haar- 
warzc  napffi'»rmig  eingedrückten  Ende,  aus  einer  Anhäufung  eckiger 
kernhaltiger  Zellen,  von  welchen  die  äussersten  plattenartig  dünn 


§.811.  Haare.  571 

werden,  und,  indem  sie  sich  während  des  stattfindenden  Nachschubes, 
dachziegelartig  überlagern,  die  Rinde  oder  das  Oberhaut chen  des 
Haarschaftes  bilden.  Die  mittleren  Zellen  verlängern  sich  spindel- 
förmig, und  bilden  durch  ihre  Aneinanderfiigung  von  unten  auf,  den 
eigentlichen  Körper  des  Haarschaftes.  Die  inneren  Zellen  erzeugen, 
durch  ihre,  mit  stellenweiser  Unterbrechung,  bis  gegen  die  Spitze 
des  Schaftes  reichende  Ucbereinandcrlagcrung,  das  sogenannte  Haar- 
mark. Das  Haarmark  vindicirt  sich  ungefähr  den  vierten  Theil 
der  Dicke  des  Haarsehaftes,  lässt  sich  jedoch  nicht  an  allen  Haaren 
mikroskopisch  erkennen.  Es  fehlt  an  den  Wollhaaren,  an  den 
Haaren  der  Kinder  bis  zum  sechsten  Lebensjahre,  und  an  der  Spitze 
aller  Haare  überhaupt.  Die  Zellen  des  Markes  werden  jedoch  erst 
nach  Behandlung  mit  kaustischem  Natron  sichtbar.  Ohne  diese 
erscheint  das  Mark  als  ein  bei  auffallendem  Lichte  glänzender,  bei 
durchgehendem  Lichte  dunkler  und  körniger  Streifen.  Das  Mark 
enthält  immer  Luft,  welche  sich  sowohl  in  den  Zellen  des  Markes, 
neben  dem  Fett  und  Pigment  desselben,  als  auch  zwischen  den- 
selben aufhält.  Durch  Einweichen  und  Kochen  lässt  sich  der  Luft- 
gehalt des  Haarmarkes  austreiben. 

Die  Rinde  des  Haarsehaftes  zeigt  bei  jjassender  Vergröaserung  eine  Menge 
dunkler  Fleckchen  und  Streifen,  deren  Gegenwart  die  Untersuchung  des  Haar- 
markes sehr  erschwert.  Sie  rühren  theils  von  körnigem  Pigment  her,  welches  in 
den  spindelförmigen  Zellen  des  Haarköq)ers  abgelagert  wird,  theils  sind  sie  luft- 
haltige Hohlräume  oder  Ritzen  zwischen  den  Zellen. 

Epidermis  und  Munis  MalpUihü  setzen  sich  durch  die  Austrittsöffnung  des 
Haares  in  den  Haarbalg  hinein  fort.  Dadurch  bilden  sie  sofort  eine  doppelte 
Scheide  für  die  Haarwurzel,  und  zwar  die  Zellen  des  Munts  Malpujhii  die  äussere 
Wurzelscheide,  jene  der  Epidermis  die  innere  Wurzelscheide  des  Haares. 
An  der  inneren  Wurzelscheide  unterscJieidet  man  wieder  eine  einfache  äussere 
Lage  kernloser  Zellen,  und  eine  innere  mehrfache  Lage  kernhaltiger  Zellen,  als 
Henle*a  und  Huxley's  Scheiden. 

Die  Schüppchen  der  Oberhaut  des  Haarschaftes  decken  sich  einander 
dachziegelförmig  so,  dass  die  der  Wurzel  näheren  Schüppchen,  sich  über  die  ent- 
fernteren legen.  Sie  kehren  sich  bei  Befeuchten  des  Haares  mit  Schwefelsäure 
vom  Haarschaft  ab,  wodurch  dieser  ästig  oder  filzig  wird.  Auch  durch  Streichen 
eines  Haares  von  der  Spitze  gegen  die  Wurzel,  werden  die  Schüppchen  des 
Haarschaftes  stärker  abstehend,  und  durch  Schaben  in  dieser  Richtung  völlig 
abgestreift. 

Die  Richtung  des  Haares  steht  nie  senkrecht  auf  der  Hautoberfläche.  An 
feinen  Durchschnitten  gehärteter  Cutis  sieht  man,  dass  auch  die  Haarbälge  schief 
gegen  die  Cutis  streben.  Im  Allgemeinen  sind  die  Haare  einer  Gegend  gegen  die 
stärkeren  Knochenvorragungen  gerichtet  (Olekranon,  Cri/tta  tihlae,  Rückgrat),  und 
stehen  in  Linien,  welche  nie  gerade,  sondern  gebogen,  und  auf  beiden  Körper- 
seiten symmetriscli  verlaufen,  und  zusammen  jene  Figuren  bilden,  welche  von 
E  seh  rieht  (Müller  h  Archiv,  1837)  als  Haarströme  oder  Haarwirbel  be- 
schrieben wurden.  Man  unterscheidet,  nach  der  Richtung  der  Haare,  conver- 
girende  und  divergirende  Haarwirbel.  Nach  Withof  standen  bei  einem 
massig  behaarten   Manne,   auf  einem   Viertel    Quadratzoll  Haut,  am  Scheitel  293, 


072  $•  212.  Physikalisehe  und  physiologiMhe  Eigentchaften  der  Haare. 

am  Kinne  39,   an   der  Schani   34,  am  Vorderarme  23,  an  der  vorderen  Seite  des 
Schenkel»  nur  13  Ilaare. 

Die  Menschenhiuire  scheinen  einem  ähnlichen,  wenn  auch  nicht  so  regel- 
mässig erfolgenden,  periodischen  Wechsel  zn  unterliegen,  wie  er  hei  Tliicrcn  als 
Hären  und  Mausern  l>ekannt  ist.  Die  Wahrscheinlichkeitsgriinde  dafür  liefen 
1.  in  dem  gleichzeitigt^n  Vorhandensein  junger  Ersatzhaare  mit  den  reifen  und 
ahznstossenden  in  einem  und  demselben  Haarhalg;  2.  in  dem  nie  felilenden  Vor- 
kommen ausgefallener  Haare  zwischen  den  noch  feststehenden;  3.  in  dem  Um- 
stände, dass  zwischen  Haaren,  welche  man  regelmässig  und  in  kurzen  Zwi-^clien- 
räumen  zu  stutzen  pflegt,  und  welche  deshalb  die  Spuren  der  Si-lieerenwirkung:  an 
ihren  Spitzen  zeigen,  immer  einzelne  dünnere  Haare  vorkommen,  deren  Spit/en 
vollkommen  unversehrt  sind. 

Zur  mikroskopischen  Untersuchung  der  Haare  wählt  man  am  zweckmässig- 
sten  graue  oder  weisse  Haare,  da  in  ihnen  kein  störender  Pigmentstoff  enthalten 
ist.  Längenschnitte  derselben  bereitet  man  sich  durch  vorsichtiges  Schaben  des 
Haares.  Querschnitte  der  eigenen  Haare  erhält  man  am  schönsten,  wenn  man 
sich  in  kurzer  Zeit  zweimal  rasirt.  Befeuchtung  der  Haarschnitte  mit  verdünnten 
Alkalien  oder  Säuren,  erleichtert  wesentlich  die  Erkenntniss  der  Structur  der  ver- 
hornten Haarbestandtheile. 


§.  212.  Physikalische  und  physiologische  Eigenschaften 

der  Haare. 

Das  Haar  vereinigt  einen  hohen  Grad  von  Festigkeit  mit  Bieg- 
samkeit und  P^lasticität.  P]in  dickes  Haupthaar  trägt  ein  Gewiclit 
von  drei  bis  fünf  Loth,  ohne  zu  zerreissen,  und  lässt  sieh,  bevor 
es  entzwei  geht,  um  ein  Drittel  seiner  Länge  ausdelmen.  Trockene 
Haare  werden  durch  Keiben  elektrisch,  und  können  selbst  Funkon 
sprühen.  Von  Katzen  und  Kappen  ist  dieses  vielfältig  bekannt  ge- 
worden, und  die  Entwicklung  der  Elektricität  im  Harzkuehen,  der 
mit  einem  Fuchsschwänze  gepeitscht  wird,  gehört  auch  hieher.  Die 
hygroskopische  ^Eigenschaft  der  Haare  wurde  in  der  Physik  zu 
Feuchtigkeitsmessern  benutzt.  Saussure  fand  selbst  das  Mumie n- 
haar  noch  hygroskopisch.  Das  fette  Oel,  welches  die  Haare  von 
den  Talgdrüsen  erhalten,  und  welches  ihnen  ihren  Glanz  und  ihre 
Geschmeidigkeit  giebt,  beeinträchtigt  die  Empföngliehkcit  der  Haare 
gegen  Feuchtigkeitsänderungen,  und  muss  durch  Kochen  in  Lauge 
oder  durch  Aether  entfernt  werden,  um  ein  Haar  als  Hygrometer 
zu  verwenden.  Das  Haar  widersteht,  wie  die  übrigen  Horngebildc 
der  Haut,  der  Fäulniss  ausserordentlich  lange,  löst  sieh  aber  im 
Papiniani'schen  Digestor  auf,  schmilzt  beim  Erhitzen,  verbrennt 
mit  Horngeruch,  und  hinterlässt  eine  Asche,  welche  Eisen-  und 
Manganoxyd,  Kiesel-  und  Kalksalze  enthält. 

Die  Farbe  des  Haares  darchläoft  alle  Nuancen  vom  Schneeweiss  bis  Pecli- 
sehwarz.  Bei  Arbeitern  in  Kupfergruben  hat  man  grüne  Haare  gesellen.  Die 
Haarfarbe  steht  mit  der  Farbe    der  Haut   in    einer     wenn    auch    nicht   absoluten 


§.  912.  Physikalische  and  physiologische  EigenBchaften  der  Haare.  573 

Beziehnng,  und  erliält  nur  bei  einem  SKugetliiere  —  dem  Cap'schen  Maulwurf  — 
metallischen  Irisschimmer.  —  Die  Pijjmentirung  der  Zellen  und  Zellenkeme  in 
der  Rinde  des  Haarschaftes  bedingt  die  Haarfarbe.  Gelblich  weiss  erscheinen  die 
Haare  bei  den  Kakerlaken  (Leucaethiopesy  Dondos,  lilafarda)  wegen  Mangel  des 
Pigments.  Kothe  Haare  enthalten  mehr  Schwefel,  als  andere,  und  ändern  deshalb 
ihre  Farbe  durch  ßleisalben,  selbst  durch  den  Gebrauch  bleierner  Kämme.  —  Dass 
das  Haar,  so  wenig  wie  Oberhaut  und  Nagel,  als  ein  abgestorbener  Ejcctionsstoff 
der  Haut  angesehen  werden  könne,  beweisen  die  mit  der  Vitalität  der  Haut  über- 
einstimmenden und  durch  sie  bedingten  Lebcnszustände  des  Haares.  He  nie  sagt 
hierüber:  „das  Verhalten  der  Haare  ist  ein  Hilfsmittel  der  Diagnose;  sie  sind 
weich  und  glänzend  bei  turgescirender,  duftender  Haut;  trocken,  spröde,  und 
struppig  bei  Collapsus  der  Körperoberfläche".  Das  plötzliche,  in  wenig  Stunden 
erfolgte  £rgrauen  der  Haare  durch  Angst,  Schreck,  oder  Veraweif  lung  (Thom. 
Morus,  Marie  Antoinette),  kann  durch  die  Umstimmung  der  lebendigen 
Thätigkeit  im  Haare,  vielleicht  auch  durch  eine  chemische  Einwirkung  eines  in 
der  Hauttranspiration  enthaltenen  unbekannten  Stoifes  bewirkt  werden.  Auch  das 
Festwerden  mit  der  Wurzel  ausgezogener  und  auf  ein  zweites  Individuum  ver- 
pflanzter Haare,  bekräftigt  das  Walten  einer  lebendigen  Thätigkeit  im  Haare.  — 
Das  Fortwachsen  der  Haare  an  Leichen  erklärt  sich  nur  aus  dem  Einfallen  und 
Schnimpfen  der  HauUlecken,  wodurch  die  Haarstoppel  vorragender  werden,  oder 
aus  dem  Rigor  der  organischen  Muskelfasern  der  Haarbälge,  welche  den  Haar- 
taschenboden heben,  und  somit  die  Spitze  des  rasirten  Haares  aus  der  Cutis  her- 
vordrängen. —  Hei  allen  Operationen  an  behaarten  Stellen,  müssen  die  Haare 
vorläufig  abrasirt  werden,  denn  ihre  Gegenwart  erschwert  die  reine  Schnitt- 
ftthrung,  einzelne  Haare,  welche  zwischen  den  Wundrändem  liegen,  hindern  ihre 
schnelle  Vereinigung,  und  die  Verklebung  der  Haare  mit  den  angewandten  Heft- 
pflastern, macht  nicht  blos  das  Wechseln  des  Verbandes  schmerahaft,  sondern  ge- 
fährdet es  auch  durch  Wiederaufreissen  der  kaum  verJiarschten  Wuiidränder. 

Die  physiologische  Bedeutung  der  Haare  ist  nichts  weniger  als  klar.  Als 
Schutzmittel  können  sie  nur  bei  den  Thieren  gelten,  deren  obere  Körjiersoite  in 
der  Regel  eine  dichtere  Haarbeklcidung  trägt,  als  die  untere.  Als  natürlicher 
Schmuck  erfreuen  sicli  die  Haare  einer  besonderen  Pflege  bei  allen  gebildeten 
und  ungebildeten  Nationen,  insonderheit  den  Frauen,  und  man  ist  darauf  bedacht, 
den  Verlust  derselben  durcli  die  Kunst  zu  verbergen.  Der  buschige  Reiz  eines 
wohlbestellten  Hackenbartes,  die  Hdrstc  des  Schnurrbartes,  der  Vollbart  des  Capu- 
ciners  und  des  Demokraten,  haben  auch  im  starken  Geschlechte  ihre  Verehrer, 
weil  sie  selbst  nichtssagenden  Gesichtern  einen  gewissen  Ausdnick  geben.  Ein 
schönes  Haar  ist  eine  wahre  Zierde  des  menschlichen  Hauptes,  wenn  dieses  nicht 
hässlich  ist.  Scheeren  des  Kopfes  war  im  Mittelalter  mitunter  Strafe  der  Pro- 
stitution, und  bei  den  alten  Deutschen  wurde  nach  Tacitus  den  Ehebrecherinnen 
das  Haupthaar  abgeschnitten;  eine  jedenfalls  mildere  Strafe,  als  das  Steinigen 
bei  den  alten  Hebräern,  und  das  einst  in  Skandinavien  über  beide  Schuldige 
verhängte  Zusammenpflihlen  auf  einem  Haufen  von  Dorngestrüpp.  Das  Keimen 
der  Scham-  und  Antlitzhaare  kündiget  als  Vorbote  den  erwachenden  Geschlechts- 
trieb an.  Warum  die  Frauen  keinen  Bart  bekämen,  erklärt  das  Alterthum: 
y^marciii  ornat  hnvha,  quam  ob  tjravitatcm  natura  cohccshü;  fenünia  eam  ne^avU, 
quoM  ad  simvUaf€m  magift,  qnmn  ad  qi^avilal^ni  factas  cnsc  coltiU'* ;  und  der  gelehrte 
Commentator  des  Mundinus  (Matth.  Curtius)  fügt  hinzu:  ^ncquc  j'eininas 
yraven  Cftse  opovlehat,  aed  oinniuo  phicülas  et  jormav*. 

Die  Haare  führen,  nach  Verschiedenheit  der  Gegend,  in  welcher  sie  vor- 
kommen, verschiedene  Namen,  deren  Unterschiede  aber  nicht  streng  beobachtet 
werden.  So  heisst  das  Haupthaar  conia  und  capillits,  —  das  lange  Haar  am 
Hinterhaupt  caesaries,   bei  Frauen   a-ines,  —  das   Stirnhaar  aiUiae  s,  capronae,  — 


574  §.  818.  UnterhftatbiDdegewebe. 

die  Locken  citwmni  (nicht  rircinni),  —  die  Haare  an  Wange  und  Kinn  Itarhn, 
mit  der  Unterabtheilung  in  mysttup,  Schnurrbart,  vUtrvtaae  Nasenhaare,  papptm 
Kinnbart,  iultu  (itouXo;)  Backenbart,  —  die  Haare  an  der  Ohrmündung  trcu/l,  —  unter 
den  Achseln  hirci  (des  bei  gewissen  Personen  penetranten  bocksartigen  Geruches 
des  Achselschweisses  wegen),  —  die  Schamhaare  pubes  crinosa,  bei  Frauen  heiterer 
Weise  auch  gynaecomyatax. 


§.  213.  Unterhautbindegewebe. 

Das  Unterhautbindegewebe  (Texttis  cdbdosus  suhcufaneus) , 
ist  eine  sehr  nachgiebige  und  dehnbare,  aus  Bindegewcbsfaser- 
bündeln  und  elastischen  Fasern  gebildete  Unterlage  der  Haut,  welche 
die  Verbindung  der  Haut  mit  den  tieferen  Gebilden,  insbesondere 
mit  den  Fascien  vermittelt,  und  die  Verschiebbarkeit  und  Faltbar- 
keit  der  Haut  bedingt.  Seine  Faserbündel  gehen  in  das  Gewebe 
der  Cutis  über,  und  erzeugen  die  faserige  Grundlage  derselben. 
Zwischen  den  Bündeln  bleiben  Maschen  oder  Lücken  frei,  welche 
unter  einander  communicireii.  Diese  Maschen  werden  von  Fett 
eingenommen.  Massenhafte  Ablagerung  des  Fettes  kann  die  Dicke 
dieser  Bindegewebsschichte,  bis  auf  zwei  Zoll  bringen.  In  solchem 
mit  Fett  geschwängerten  Zustande,  wird  das  subcutane  Bindegewebe 
auch  Fetthaut,  Pa?micuZM«  a<ii}>o^iw  genannt  (^v ou  panmiSj  ein  Tuch, 
eine  Hülle). 

Wo  immer  Bindegewebe  in  grösserer  Menge  vorkommt,  kann  Fwttentwick- 
lung  stattfinden,  welche  durch  fettreiche  Nahrung  bei  Kürper-  und  (iemüth.Hnihc 
begünstigt  wird,  und  unter  Umständen  so  überhand  nimmt,  dass  das  Fett  andere 
organische  Gewebe,  besonders  Muskeln,  verdrängt,  sie  tlurch  fettige  irmwandlung 
zum  Schwinden  bringt,  und  jene  üppige  Heleibtheit  erzeugt,  welche  man  bei  den 
Thieren  absichtlich  durch  Mästung  erzielt,  beim  Menschen  als  Krankheit  ansieht. 
—  Bei  den  Mauren  gilt  grosse  Fettleibigkeit  einer  Frau  für  grosse  Schönheit,  und 
bei  den  Kelowi  in  Centralafrika,  muss  eine  tadellose  Odaliske  das  Gewicht  und 
den  Umfang  eines  jungen  Kameeis  besitzen,  welches  denn  auch  durch  einen 
mit  grosser  Beharrlichkeit  durchgeführten  Mästungsprocess  angestrebt  wird  ( IJ 1  e, 
neueste  Entdeckungsreisen).  —  Nur  das  Unterhautbindegewebe  des  männlichen 
Gliedes,  des  Hodensackes,  der  Augenlider,  der  Nase  mid  der  Ohrmuschel,  bleibt 
immer  fettlos. 

Es  muss  befremden,  dass  das  weiche  Fett  an  jenen  Stellen,  welche  starken 
und  anhaltenden  Druck  aushalten,  wie  das  Gesäss  mid  die  Fusssohle,  niclit  zum 
Weichen  gebracht,  oder  au»  seinen  Bläsclien  herausgedrückt  wird.  Die  Stärke 
der  Wand  der  Fettcysten  und  der  sie  umschliessenden  Bindegewebsmaschen,  so 
wie  der  Umstand,  dass  Fett,  in  feuchte  Häute  eingeschlossen,  selbst  bei  hohem 
Drucke  nicht  durch  die  Poren  derselben  entweicht,  erklärt  dieses  Verhalten. 
Die  Armuth  an  Blutgefässen  und  Nerven,  und  die  dadurch  gegebene  geringe  Vita- 
lität des  Fettes,  sind  der  Grund,  wanira  Operationen  im  PannirnbiJ<  adiposus 
wenig  schmerzhaft  sind,  Wunden  desselben  wenig  Tendenz  zur  schnellen  Vereini- 
gung haben,  und  die  Vernarbnng  äusserst  träge  erfolgt  Die  unglücklichen  Re- 
sultate des  Steinschnittes  und  der  Amputationen  bei  fetten  Personen,  sind  allen 
Wundärzten  bekannt,  und  die  Beobachtung  am  Krankenbette  lehrt,  dass  bei  allen 


§.  214.  Aeassere  Nase.  57o 

jyrosseii  Wunden  das  Fett  der  Schnittflächen  früher  durch  Resorption  acliwinden 
mtiss,  bevor  die  Vernarbung  erfolgt.  —  Die  Commnnication  der  Üindegewebs- 
räarae  im  Textur  cellulosrut  9yJ)ciUaiieiis,  erklärt  die  leichte  Verbreitung  von  Luft 
im  Bindegewebe  bei  Emphysemen,  von  Blut-,  Eiter-  und  Jancheergüssen,  und  das 
Zuströmen  des  Wassers  zu  den  tiefstgelegenen  Köqierstellen  bei  Wassersucht. 


B.  Geruchorgan. 

§.  214.  Aeussere  Nase. 

Die  äussere  Nase  (Niisus,  p{;  von  piw,  fliesseii,  und  |j.'jy.TY5p  von 
jjLuxo;,  Schleim),  bildet  das  Vorhaus  des  Geruchorgans,  und  besteht, 
nebst  seiner  unbeweglichen,  durch  die  Nasenbeine  und  die  Stirn- 
fortsätze der  Oberkiefer  gebildeten  (xrundhige,  aus  einem  unpaaren 
und  unbeweglichen,  und  zwei  paarigen,  beweglichen  Knorpeln, 
welche  durch  ihre,  bei  verschiedenen  Slenschen  sehr  verschiedene 
Form,  die  zahllosen  individuellen  V^erschiedenheitcn  des  Nasenvor- 
sprungs,  vom  Stumpfnäschen  bis  zur  Pfundnase,  b(^gründen,  deren 
Werth  für  die  Physiognomik  grösser  sein  mag,  als  für  die  Verrichtun- 
gen dieses  Sinnesorganes.     Alle  Nasenknorpel  sind  Faserknorpel. 

Der  un paare  Nasenscheidewandknorpel,  Septum  carti- 
laffineum  s,  Cartihujo  qaadrangularis,  bildet  den  vorderen  Theil  der 
Nasenscheidewand,  deren  hinterer,  knöcherner,  durch  das  Pflug- 
scharbcin  und  die  senkrechte  Siebbeinplatte  gegeben  ist.  Er  hat 
eine  ungleich  vierseitige  Gestnlt,  und  ist  mit  seinem  hinteren  Winkel 
in  den  zwischen  der  senkrechten  Siebbeinplatte  und  dem  Vomer 
übriggelassenen  einspringenden  Winkel  fest  eingelassen.  Sein  hin- 
terer oberer  Rand  passt  somit  auf  den  unteren  Rand  der  senkrechten 
Siebbeinplatte,  sein  hinterer  unterer  an  den  vorderen  Rand  des 
Vomer.  Sein  vorderer  oberer  Rand  liegt  in  der  Verlängerung  des 
knöchernen  Nasenrückens,  und  sein  vorderer  unterer  ist  frei,  geht 
aber  nicht  bis  zum  unteren  Rande  der  die  beiden  Nasenlöcher  tren- 
nenden, und  blos  durch  das  Integument  gebildeten  Scheidewand 
(Septiim  inemhranaceuin)  herab.  Wenn  man  Daumen  und  Zeigefinger 
einer  Hand  in  beide  Nasenhieher  einführt,  und  das  Sepfum  mem- 
branaceum  nach  rechts  und  links  biegt,  fühlt  man  den  freien  Rand 
des  Scheidewandkn<)rp(?ls  ganz  deutlich. 

Im  Embryo  ist  die  gan/.e  Nasimscheidewand  knori>elig.  Das  Pflnj^fscharbein 
entsteht  zu  beiden  Seiten  des  hinteren  Absclinittes  dieses  Knornels,  und  wird 
somit  aus  zwei  Platten  bestellen,  zwischen  welchen  der  ursprüngliche  Nasen- 
scheidewandknurpel  noch  existirt  Dieser  Knorpel  schwindet  erst  spät  mit  der 
vollständigen  Entwicklung  des  Pflugscharbeins.  So  lange  er  existirt,  findet  sich 
zwischen  dem  oberen  Kande  des  Vomer  und  der  unteren  Fläche  des  Keilbeins  ein 


57 ß  §•  SU.  Aeassero  Nase. 

Luch,  durch  welches  ein  Ast  der  Arteria  pfiart^ivjea  zum  Knüri>el  jjelanj^t,  um  ihm 
die  zu  seinem  Wachsthum  nöthige  Blutzufuhr  zu  sichern.  Der  Nasenscheidewand- 
knorpel  des  Erwachsenen  muss  somit  als  der  nicht  verknöchernde  Rest  der  em- 
bryonischen knorpeligen  Nasenscheidewand  angesehen  werden. 

Die  paarigen  dreieckigen  oder  Scitenwandknorpel 
der  Nase,  Cartilaijines  trianguläres  8,  laterales,  liegen  in  den  ver- 
längerten Ebenen  beider  Nasenbeine.  Sie  stossen  mit  ihren  o])eren 
Rändern  aneinander,  und  verschmelzen  am  Nasenrücken  mit  dem 
Nasenscheide wandknorpel  so  innig,  dass  sie  mit  vollem  Rechte  als 
integrirende  Bestandtheile  desselben  genommen  werden  können. 

Die  paarigen  Nasenflügelknorpel,  Carttkujines  alares  s, 
pinnales,  liegen  in  der  Substanz  der  Nasenflügel,  auf  deren  Form 
sie  Einfluss  nehmen.  Sie  reichen  aber  nicht  bis  zum  seitlichen 
Rande  der  Nasenlöcher  herab,  welcher  blos  durch  das  Integument 
gebildet  wird.  Sie  gehen  bis  zur  Nasenspitze  vor,  biegen  sich  von 
hier  nach  einwärts  um,  werden  schmäler,  und  enden  im  Septum 
membrana^ceum ,  gewöhnlich  mit  einer  massigen  Verdickung.  Sie 
bilden  demnach  die  äussere,  und  den  vorderen  Theil  der  inneren 
Umrandung  der  Nasenlöcher,  welche  sie  oflfen  erhalten.  Mit  di;m 
unteren  Rande  der  dreieckigen  Nasenknorpel,  und  mit  dem  Seiten- 
rande der  Indsura  piriformis  narium  hängen  sie  durch  liandmassc 
zusammen,  in  welcher  häufig  mehrere  kleinere,  rundliehe,  oder 
eckige  Knorpelinseln,  die  Cartilaglnes  sesamoideae,  eingesprengt 
liegen.  Schneidet  man  zwischen  den  beiden  nach  innen  umgeboge- 
nen Theilen  der  Nasenflügelknorpel  senkrecht  ein,  so  kommt  man 
auf  den  vorderen,  unteren,  freien  Rand  des  viereckigen  Nasen- 
scheidewandknorpels. 

Die  äussere  Oberfläche  der  knorpeligen  Nase  wird  von  der 
allgemeinen  Decke  überzogen,  welche  durch  fettloses  Bindegewebe  fest 
an  die  Knorpel  anhängt,  und  nicht  gefaltet  werden  kann,  was  doch 
auf  der  knöchernen  Nase  sehr  leicht  geschieht.  Die  Haut  der  Nase 
ist  reich  an  Talgdrüsen,  deren  grösste  Exemjjlare,  von  1,2  Linien 
Länge,  in  der  Furche  hinter  dem  Nasenflügel  münden.  Die  in  den 
Nasenöffiiungen  sichtbaren  Haare  (Vilrrissae)  sind  theils  iiacli  al)- 
wärts  gegen  die  Oberlippe,  theils  direct  gegen  die  Nasenseheide- 
wand  gerichtet,  und  werden  im  Alter  und  bei  Männern  überhau})t 
länger  als  bei  Weibern  gefunden.  Sie  wachsen  sehr  rasch  nacli, 
wenn  sie  ausgezogen  werden.  Das  Thränen  der  Augen  beim  Aus- 
zupfen derselben  ist  ein  spreclicnder  Beleg  für  die  Sympatliie  der 
Nasenschleimhaut  mit  der  Bindehaut  des  Auges. 

Die  Muskeln,  welche  auf  die  Bewegung  der  Nasenknorpel  Einflrss  nelinu'ii, 
wurden  schon  in  §.  158  ahgehandelt. 

Aeusserst  selten  steht  die  Nase  vollkommen  symmetrisch-median ;  —  eiiu? 
Beobachtung,  welche  von  jedem  Porträtmaler  bestätigt  werden  kann.  Am  öftesten 
weicht  sie  nach  links  ab.  Auch  das   Septttm  iMrium  oaseum  et  cartUajineum  biegt 


§.  215.  Nasenhöhle  und  Nasenschleimhaiit.  577 

sich  nach  der  einen  oder  anderen  Seite,  wo  dann  die,  der  concaven  Fläche  der 
Krümmung  entsprechende  Nasenmnschel,  sich  durch  Grösse  auszeichnet.  —  Sehr 
selten  kommt  ein  angeborenes  Loch,  bis  zur  Grösse  eines  Pfennigs,  im  Scheide- 
wandknorpel vor.  Ich  habe  es  in  meinem  anatomischen  Leben  nur  dreimal  beob- 
achtet. Es  wird  leicht  »ein,  eine  angeborene  Oeffnung  von  einem  vernarbten, 
durchbohrenden,  syphilitischen  Geschwür,  zu  unterscheiden,  da  das  angeborene 
Loch  einen  kreisrunden,  glatten  und  nicht  gezackten  Band  hat,  das  durch  Ulce- 
ration  entstandene  dagegen,  eine  unregelmässige  wulstige  Contonr  zeigt.  — 
Huschke  beschrieb  zwei  neue  Nasenknorpel,  als  einen  halben  Zoll  lange, 
paarige,  knorpelige  Streifen,  welche  den  untersten  Theil  der  knorpeligen  Scheide- 
wand ausmachen,  und  sich  vom  vorderen  Ende  des  Vomer  bis  zur  Spina  neualia 
anterior  erstrecken.    Er  nannte  sie   Vomer  cartHagineits  dexter  et  siimter. 


%.  215.  Nasenhöhle  und  Nasenschleimhaut 

Die  Nasenhöhle  wurde  bereits  in  der  Osteologie  abgehandelt. 
Es  erübrigt  somit  blos  die  anatomische  Betrachtung  der  Nasen- 
schleimhaut. 

Als  Organ  des  Geruchsinnes  functionirt  die  Schleimhaut  der 
Nasenhöhle,  Riechhaut,  Membrana  pituitaria  narium  8,  Schneidert. 
Sie  verdient  letzteren  Namen  mit  vollem  Recht,  da  Victor  Con- 
radin Schneider,  Professor  in  Wittenberg,  zuerst  bewies,  dass 
der  Nasenschleim  nicht  vom  Gehirn  herab,  durch  das  Siebbein  in 
die  Nasenhöhle  träufle,  sondern  ein  Absonderungsproduct  dieser 
Haut  ist  (de  catarrhis,  Witteh.  1660.  lib.  II),  Schneider  hat 
durch  diese  Entdeckung  eine  förmliche  Revolution  in  der  medi- 
cinischen  Welt  hervorgerufen.  —  Die  Nasenschleimhaut  ist  eine  an 
verschiedenen  Stellen  der  Nasenhöhle  verschieden  dicke,  nerven- 
und  gefassreiche ,  aus  Bindegewebsfasern,  mit  eingestreuten  zahl- 
reichen Kernen,  jedoch  ohne  irgend  eine  Beimischung  elastischer 
Fasern  bestehende  Membran,  welche  die  innere  oder  freie  Ober- 
fläche der  die  Nasenhöhle  bildenden  Knochen  überzieht,  an  den 
vorderen  Nasenlöchern  mit  der  Cutis  im  Zusammenhange  steht, 
durch  die  hinteren  Nasenöffnungen  in  die  Schleimhaut  des  Rachens 
übergeht,  und  in  alle  Nebenhöhlen  eindringt,  welche  mit  der  Nasen- 
höhle in  Verbindung  stehen.  Die  in  ihr  eingetragenen  Endigungen 
der  Nervi  olfactorii  vermitteln  die  Geruchsemptindungen,  während 
die  gleichfalls  ihr  angehörenden  Nasalästc  des  Trigeminus  blos  Tast- 
gefühle veranlassen.  Ihre  Dicke,  ihr  Reichthum  an  Drüsen,  Blut- 
gefässen und  Nerven,  ist  nur  in  der  eigentlichen  Nasenhöhle  bedeutend. 
In  den  Nebenhöhlen  verdünnt  sie  sich  auffallend,  und  nimmt  ver- 
gleichungsweise  mehr  das  Ansehen  einer  serösen  Haut  an,  behält 
aber  noch  immer  eine  gewisse,  wenn  auch  unbedeutende  Anzahl 
kleiner  Schleimdrüsen.  Die  Nasenschleimhaut  besitzt  zwei  verschie- 
dene Arten  von  Drüsen.  In  der  unteren  Region  der  Nasenhöhle,  wo 

Hyrtl,  Lehrbaeh  der  Anatomie.  14.  Aufl.  37 


578  §•  215.  Nuenhuhle  nnd  Kascnscbleimhaat. 

Sich  der  Trigeminus  verästelt  (Regio  respiratoria),  finden  sich  acinöse 
Schleimdrüschen;  in  der  oberen  Region,  wo  sich  der  Geruchnerv 
verzweigt  (Regio  olfactoina) ,  treten  lange,  gerade,  oder  an  ihren 
Enden  leicht  gewundene,  tubulöse  Drüsen  auf. 

Die  Nasenscbleimhaut  wird  in  den  oberen  Kegionen  der  Nasenhöhle,  im 
Siebbeinlabyrinth,  so  wie  am  Boden  der  Nasenhöhle  imd  in  den  Nasengängen 
dünner  angetroffen,  als  anf  der  mittleren  und  unteren  Nasenmuschel,  und  auf  der 
Nasenscheidewand.  Am  dicksten  aber  findet  man  die  Nasenschleimhaut  am  unteren 
freien  Rand  der  unteren  Nasenmuschel,  wo  sie  einen  weichen  und  schlotternden 
Wulst  bildet.  —  Die  Dicke  der  Nasenscbleimhaut  verengt  stellenweise  den  Raum 
der  knöchernen  Nasenhöhle  bedeutend.  Es  ist  deshalb  leicht  möglich ,  dass  bei  krank- 
hafter Lockerung  und  Aufschwellung  derselben,  wie  beim  Schnupfen,  die  Wegsam- 
keit  der  Nasenhöhle  für  die  zu  inspirirende    Luft  ganz  und  gar  aufgehoben  wird. 

Die  Nasenschleimhaut  fuhrt  in  der  Regio  olfactoria  Cylinder- 
opithel,  in  der  Regio  respiratoria  Flimmerepithel.  Letzteres  beginnt 
aber  erst  an  der  Indsura  pyriformis  narium.  An  der  inneren  Fläche 
der  paarigen  Nasenknorpel  findet  sich  nur  geschichtetes  Platten- 
epithel. Das  Epithel  der  Nasenhöhle  hat  in  neuester  Zeit  sehr  sorg- 
fUltigo  Untersuchungen  angeregt.  M.  Schnitze  behauptet,  gewisse 
Zollen  dieses  Epithels  mit  den  peripherischen  Enden  der  Geruch- 
nerven in  Zusammenhang  gesehen  zu  haben.  Es  soll  nämlich  das 
Epithel  der  Regio  olfa^ctoria  aus  zwei  Arten  von  Zellen  bestehen. 
Die  eine  Art  sind  gewöhnliche,  palissadenformig  gruppirte  Cylindcr- 
zellon.  Die  zweite  Art  von  Zellen  ist  schlanker,  verschmälert  sich 
gegen  ihr  freies  Ende,  und  läuft  nach  abwärts  in  einen  feinen 
Faden  fort,  der  sich  mit  einer  Primitivfaser  des  Nervus  olfa^- 
torixis  in  Verbindung  setzen  soll,  mit  welcher  er  histologisch  die 
vollkommenste  üebereinstimmung  zeigt.  Diese  zweite  Art  von 
Zellen  würde  demnach  als  das  peripherische  Ende  der  Fasern  des 
Nervus  olfactorius  anzusehen  sein,  wesshalb  Schnitze  sie  mit  dem 
Namen  Riechzellen  belegt.  M.  Schnitze  hat  den  Zusammen- 
hang der  Riechzellen  mit  den  Olfactoriusfasern  nicht  selbst  gesehen, 
sondern  blos  angenommen.  Exner  sah  nun  auch  diesen  Zusammen- 
hang, aber  nicht  durch  directe  Verbindung,  sondern  durch  Ver- 
mittlung einer  Art  von  Geflecht,  in  welches  sich  die  Primitivfasern 
des  Olfactorius  auflösen,  und  aus  welchen  die  fadenförmigen  An- 
hängsel der  Riechzellen  hervorgehen.  Ob  ob  dabei  bleiben  wird? 
Senescunt  rumores. 

Um  das  Gebiet  der  Nasenschleimhaut  als  Ganzes  zu  überschauen,  möge 
man  sich  die  in  §.  116  geschilderten  knöchernen  Wandungen  der  Nasenhöhle  in's 
Gedüchtniss  zurückrufen.  Da  nun  diese  Wandungen  als  bekannt  vorausgesetzt 
werden,  so  ist  über  die  Verbreitung  der  Nasenschleimhaut  nichts  weiter  zu  sagen. 

Die  Venennetze  der  Nasenschleimhaut  sind  sehr  ansehnlich,  besonders  am 
hinteren  Umfang  der  Muscheln.  Die  profusen  Nasenblutungen,  und  die  beim 
fliesseoden  Schnupfen  so  copiOsen  Absonderungsmengen,  werden  hiedurch  ver- 
ttXndHch.  Aueh  Iftsrt  sieh  «ob  dem  Ansehwellen  dieser  Netze  dnrch  Blutanhänfung 


§.  215.  Naseahöhle  und  Nasenscliloimhaat.  579 

erklären,  warum  man  häufig  durch  das  Nasenloch  jener  Seite,  auf  welcher  man 
im  Bette  liegt,  keine  Luft  hat.  Stellenweise,  besonders  in  der  Eegio  reapircUoria, 
so  wie  an  der  Einmflndung,  und  in  der  ganzen  Länge  des  Thränen-Nasenganges, 
nehmen  diese  Venennetze  das  Ansehen  eines  cavemösen  Gewebes  an  (He nie). 

Die  Communicationsöffnungen  der  Nasenhöhle  für  die  Nebenhöhlen  werden 
der  theilweise  über  sie  wegstreifenden  Schleimhaut  wegen,  im  frischen  Zustande 
bedeutend  kleiner  gefunden,  als  am  macerirten,  Schädel.  Besonders  auffallend  ist 
dieses  bei  dem  Eingänge  in  die  Highmorshöhle,  welcher  in  der  Leiche  nur  als 
eine  in  der  Mitte  des  MecUus  narium  medius  befindliche,  eine  Linie  bis  andert- 
halb Linien  weite  Spalte  gesehen  wird,  während  er  am  skeletirten  Kopfe  eine 
weite,  zackige  Oeffnung  bildet.  —  Die  runde  oder  schlitzförmige  Mündung  des 
Thränen-Nasenganges  liegt  im  Meatiis  narium  inferior  in  einer  Bucht,  welche  dem 
Ansätze  des  vorderen  Endes  der  unteren  Nasenmuschel  an  die  Crista  des  Nasen- 
fortsatzes des  Oberkiefers  entspricht.  Ihre  Entfernung  vom  unteren  Rande  des 
äusseren  Nasenloches,  beträgt  circa  neun  Linien. 

Nil  Stenson  C<^  muaculis  et  glandulis,  Amstel.,  1664.  p<ig,  37)  entdeckte 
eine  Commnnication  der  Nasen-  mit  der  Mundschleimhaut,  in  Form  zweier  enger 
häutiger  Gänge,  welche  durch  die  knöchernen  Canales  neuo-palatini,  vom  Boden 
der  Nasenhöhle  zum  Gaumen  verlaufen.  Jacobson  (Annale^  du  mus.  d'hiat.  not. 
Tom.  18)  und  Rosenthal  (Tiedemann  und  Trevirantts,  Zeitschr.  für  Physiol. 
Tom.  JI)  entrissen  diese  Entdeckung  der  Vergessenheit.  Nach  meinen  Beobach- 
tungen verhalten  sich  die  S t e n s o naschen  Kanäle  wie  folgt:  Einen  Zoll  hinter 
der  Spina  nasalis  anterior  liegt  beiderseits  von  der  Crista  luiaalis  inferior  eine 
längliche,  mit  einem  Borstenhaar  zu  sondirende,  geschlitzte  Oeffnung,  welche  in 
einen  liäutigen  Schlauch  geleitet,  der  schräg  nach  vorn  läuft,  sich  durch  knorpel- 
artige Verdickung  seiner  Wand  trichterförmig  verengt,  durch  den  Canalis  naito- 
palatinus  zum  harten  Gaumen  tritt,  und  sich  bald  mit  dem  der  anderen  Seite 
vereinigt,  bald  neben  ihm  auf  einer  Schleimliautpapille  ausmündet,  welche  un- 
mittelbar hinter  den  oberen  Schneidezähnen  in  der  Medianlinie  des  harten 
Gaumens  stellt.  Die  Weite  des  Kanals  ist  sehr  veränderlich,  und  nicht  durch 
seine  ganze  Länge,  welche  ungefähr  fünf  Linien  misst,  gleichbleibend.  —  Der 
Kanal  hat  keine  besondere  physiologische  Bedeutung.  Man  kann  es  als  sicher- 
gestellt hinnehmen,  dass  er  die  auf  ein  Minimum  reducirte  grosse  Communications- 
öffnung  zwischen  der  embryonischen  Nasen-  und  Mundhöhle  ist.  Der  Kanal  wird 
öfters  auch  als  Jacob  so  n^sches  Organ  erwähnt,  welche  Benennung  ihm  aber 
nicht  zukommt,  da  das  von  Jacobson  bei  mehreren  Säugethierordnungen  be- 
schriebene, räthselhafte  Organ,  beim  Menschen  spurlos  fehlt.  Dasselbe  besteht 
aus  einem  paarigen,  am  Boden  der  Nasenhöhle,  neben  der  Scheidewand  ge- 
legenen, langgezogen  bimförmigen,  von  einer  knorpeligen  Kapsel  umschlossenen 
Schleimhantsack,  welcher  sich  mit  feiner  Oeffnung  in  den  Stenson'schen  Gang 
seiner  Seite  öffnet.  Beim  Schafe  mündet  das  Organ  neben  den  Gaumenöffnungen 
dieser  Gänge. 

Befeuchtung  der  Nasenschleimhaut  ist  ein  unerlässliches  Erforderniss  für 
die  Geruchswahmehmung.  Hieraus  erklärt  sich  der  Reiclithum  an  Blutgefässen  und 
Drüsen  in  dieser  Membran.  Nur  ein  krankhaftes  Uebermaass  von  Schleiraabsonde- 
rung  veranlasst  das  den  Thieren  und  Wilden  unbekannte,  ekelerregende  Schneuzen, 
welches  weit  mehr  üble  Gewohnheit,  als  wirkliches  Bedürfniss  ist.  —  Bei  trocke- 
ner Nasenschleimhaut,  >vie  beim  Stocksclmupfen,  geht  der  Geruch  verloren,  und 
viele  Körper  riechen  nur,  wenn  sie  befeuchtet  oder  angehaucht  werden.  Da  die 
Riechstoffe  nur  durch  das  Emathmen  in  die  Nasenhöhle  gebracht  werden,  so 
dient  das  Geruchorgan  zugleich  als  Atrium  respirationis,  und  giebt  uns  warnende 
Kunde  über  mephitische  und  irrespirable  Gasarten.  Es  wäre  insofern  nicht  un- 
passend, die  Nasenhöhle  die  Athmungshöhle   des   Kopfes  au  nennen.  —  Versuche 

37» 


580  §•  816.  Augenlider  and  Augenbrauen. 

haben  es  hinlänglich  constatirt,  dass  die  Schlelmhant  der  Nebenhöhlen  der 
Nasenhöhlen  fSintig  /rmiUdes,  Antrum  Highmori,  etc.),  für  Gerüche  unempfindlich 
ist.  Ich  habe  selbst  bei  einem  Mftdchen,  welches  an  Hydrops  antri  Highmori 
litt,  vier  Tage  nach  gemachter  Function  der  Höhle,  durch  zehn  Tropfen  Acel. 
aronu,  welche  durch  eine  Canüle  in  die  Höhle  eingeträufelt  wurden,  keine  Ge- 
ruchsempfindung  entstehen  gesehen.  De  seh  am  ps  u.  A.  haben  dieselbe  Er- 
fahrung an  der  Stirnhöhle  gemacht.  —  Nur  in  der  Luft  suspendirte  Riechstoffe 
werden  gerochen.  Füllt  man  seine  eigene  Nasenhöhle  bei  horizontaler  Rücken- 
lage mit  Wasser,  welches  mit  Eau  de  Colog^e  versetzt  ist,  so  entsteht  keine 
Geruchsempfindong. 


C.  Sehorgan. 

I.  Schutz-  und  Hilfeapparate. 

§.  216.  Augenlider  und  Augenbrauen. 

Das  Wesentliche  am  Sehorgan  sind  die  beiden  Augäpfel, 
welche  beim  Sehen  wie  Ein  Organ  zusammenwirken.  Sie  werden 
zm*  Aufrechthaltung  ihrer  so  oflmal  zuföllig  von  aussen  bedrohten 
Existenz,  mit  Protections-  und  Hilfsapparaten  umgeben,  welche  sie 
theils  gegen  äussere  mechanische  Beleidigungen  bis  auf  einen  ge- 
wissen Grad  hin  schützen,  theils  ihrer  durch  allzu  grelles  Licht 
bewirkten  üeberreizung  vorbauen:  Augenlider  und  Brauen,  — 
oder  ihre  der  Aussenwelt  zugewendete  durchsichtige  Vorderseite  ab- 
waschen und  reinigen:  Thränenorgan,  —  oder  sie  in  die,  zum 
Fixiren  der  äusseren  Gesichtsobjecte  zweckmässige  Stellung  bringen : 
Augenmuskeln. 

Zum  Abfegen  und  Reinigen  der  Augen  dienen  die  Augen- 
lider, Palpebrae,  welche  ihren  Namen,  nach  Cicero,  von  ihrer 
Bewegung,  palpitare,  führen,  während  der  griechische  Name:  la 
(Siki(f3Lpx,  von  ßXe-o),  sehen  stammt.  Sie  sind  zwei  bewegliche,  durch 
Falten  des  Integuments  gebildete,  imd  durch  einen  eingelagerten 
Knorpel  gestützte  Deckel  oder  Klappen  (i{jL[ji.aTf9jXXa,  ocidi  folia,  bei 
den  Dichtern),  welche  sich  vor  dem  Auge  bis  zum  Schlüsse  der 
Lidspalte  einander  nähern,  und  wieder  von  einander  entfernen.  Sie 
streifen  durch  diese  Bewegung  das  Auge  ab,  und  fegen  dadurch 
zufallige,  mechanische  Impedimenta  visus  von  ihm  weg,  verbreiten 
aber  auch  die  für  den  Glanz  und  die  Durchsichtigkeit  des  Auges 
nothwendige  Feuchtigkeit,  welche  durch  die  Thränendrüse  und  die 
Bindehaut  abgesondert  wird,  gleichmässig  über  dasselbe.  Ihre  will- 
kürliche Bewegung  setzt  das  Sehen  unter  den  Einfluss  des  Willens. 


§.  S16.  Augenlider  and  Aogenbnnen.  581 

Die  zwischen  ihren  freien,  glatten  Rändern  offene  Querspalte,  Fis- 
sura  8.  Rima palpebrarum,  bildet  mit  ihren  beiden  Enden  die  Augen- 
winkel, Canthi,  von  welchen  der  äussere  spitzig  zuläuft,  der 
innere  abgerundet  oder  gebuchtet  erscheint.  Sogenannte  grosse 
Augen  sind  eigentlich  nur  grosse  Augenlidspalten,  durch  welche 
man  einen  grösseren  Theil  der  Augäpfel  übersieht,  und  letztere  des- 
halb für  grösser  hält,  als  sie  bei  kleinen  Lidspalten  erscheinen. 

Der  freie  Rand  der  beiden  Augenlider  hat  eine  gewisse  Breite, 
und  zeigt  deshalb  eine  vordere  scharfe  Kante,  wo  die  Wimper- 
haare stehen,  und  eine  hintere  stumpfere,  mehr  abgerundete,  an 
welcher  die  Oeffnungen  der  Meibom^schen  Drüsen  gesehen  werden. 
Die  Wimperhaare  (Cüia)  sind  kurze,  steife,  im  oberen  Augenlide 
nach  oben,  im  unteren  nach  unten  gekrümmte  Haare^  von  zwei 
Linien  bis  vier  Linien  Länge.  Am  oberen  Augenlid  sind  sie  länger 
als  am  unteren,  und  an  beiden  in  der  Mitte  der  Ränder  länger  als 
gegen  die  Enden  zu.  An  der  Bucht  des  inneren  Augenwinkels 
fehlen  sie.  Ihre  Wurzelbälge  liegen  längs  des  Saumes  der  Lid- 
ränder, und  werden  von  den  der  Lidspalte  nächsten  Bündeln  des 
Musculus  orbicvlaris  palpebrarum  überlagert.  Die  Cilien  unterliegen 
einem  gewissen  Wechsel  durch  Ausfallen  und  Wiedererzeugung, 
und  man  findet  in  dem  Haarbalge  einer  alten  Cilie,  die  junge  schon 
bereit,  die  Stelle  derselben  einzunehmen,  wenn  sie  durch  Ausfallen 
erledigt  sein  wird.  In  die  Wurzelbälge  der  Cilien  entleeren  sich 
kleine  Talgdrüsen,  wie  in  alle  Haarbälge  überhaupt. 

Die  Grundlage  jedes  Augenlids  bildet  ein  zellenarmer  Faser- 
knorpel. Er  heisst  Tarsus,  wahrscheinlich  von  lapjo«;,  in  der  Be- 
deutung als  Blatt.  Der  Tarsusknorpel  ist,  der  vorderen  Aug- 
apfelfläche entsprechend  gewölbt.  Er  verdickt  sich  gegen  den  freien 
Rand  des  Augenlids  hin.  Der  Knorpel  des  oberen  Augenlids  über- 
trifft jenen  des  unteren  an  Breite  und  Steifheit.  Die  Lidknorpel 
werden  an  den  oberen  und  unteren  Margo  orbüalis  durch  starke 
fibröse  Membranen  suspendirt  (Ligamentum  tarsi  superioris  et  infe- 
rioris).  Der  innere  Augenwinkel  wird  überdies  noch  durch  das 
kurze  und  starke  Ligamentum  canthi  internum  an  den  Stirnfortsatz 
des  Oberkiefers,  —  der  äussere  Augenwinkel  durch  das  viel 
schwächere,  aber  breitere  Ligamentum  canthi  extemum  an  die  Augen- 
höhlenfläche des  Stirnfortsatzes  des  Jochbeins  angeheftet.  Auf  der 
vorderen  convexen  Fläche  der  Lidknorpel  liegt,  durch  eine  dünne 
Biiidegewebsschichte  von  ihr  getrennt,  der  Musculus  orbicularis  pal- 
pebrarum (§.  158,  B),  als  eigentlicher  Schliesscr  der  Augenlider.  — 
Das  subcutane  Bindegewebe  der  Augenlider  ist  fettlos,  spärlich, 
und  lax;  die  Haut  selbst  dünn,  und  sehr  leicht  in  eine  Falte  auf- 
zuheben. 


082  §•  81<{>  Augenlider  und  Angenbrancn. 

Bei  d(M*  Ansicht  der  hinteren  concavcn  Fläche  der  Augenlid- 
knorpel, wird  man  die  Meibom'sehen  Drüsen  gewahr,  eine  Art  von 
Talgdrüsen,  beschrieben  von  llenr.  Meibom,  de  vdsis  palpehrarum 
novis,  Hdmatad.  1666,  Diese  Drüsen  waren  jedoch  schon  dem 
CasBeriuB  bekannt,  und  wurden  von  ihm  auch  abgebildet,  im 
Pmit<»ethe8eion,  Veiiet.  1609,  Man  sieht  an  der  hinteren  Kante  des 
freien  liidrandes  (am  oberen  30 — 40,  am  imteren  25 — 35)  feine 
OeflFnungen,  welche  in  dünne,  in  der  Substanz  des  Augenlidknorpels 
eingehigerte ,  und  durch  ihn  gelblich  durchscheinende  Drüsen- 
schläuche von  verschiedener  Länge  fuhren,  auf  welchen  längliche 
Bläschen  (Acini)  in  ziemlicher  Anzahl,  und  zwar  ohne  Stiele  auf- 
sitzen. Drückt  man  den  freien  Rand  eines  ausgeschnittenen  oberen 
Augenlides,  an  welchem  die  Drüsen  grösser  sind  als  am  unteren, 
mit  den  Fingernägeln,  so  presst  man  den  Inhalt  der  Drüsen  als 
einen  feinen,  gelblichen  Talgfaden  hervor.  Dieser  Talg  ist  das 
Sebum  palpehrale  s,  Lema,  welches  im  lebenden  Auge  den  Lidrand 
beölt,  um  das  Ueberfliessen  der  Thränen  zu  verhindern.  Das  Wort  Lema 
stammt  vom  griechischen  Af)|Ji.>;,  Augenbutter,  —  bei  Plinius  gramlae. 

Die  filr  abgeschlossen  gehaltene  Anatomie  der  Augenlider  hat  durch 
II.  Müller  eine  interessante  Bereicherung  erlebt,  indem  von  dem  genannten,  um 
dio  mikroskopische  Anatomie  des  Auges  hoch  verdienten  und  einem  thatenreichen 
l^ohon  so  frilh  entrissenen  Forscher,  an  beiden  Augenlidern  ein  System  organi»icher 
Muskelfasern  entdeckt  wurde,  welche  sich  in  longitudinaler  Richtung  an  die  Lid- 
knt>rpel  inseriren,  und  die  Lidspalte  offen  erhalten.  Eine  massenhafte  Anhäufung 
organij*cher  Muskelfasern  füllt,  nach  Müller,  auch  die  Fwsvra  orhitalls  inferior 
aus,  und  erinnert  an  die  Membrana  m»Jtcnlo-elastica,  welche  bei  Säugethieren  die 
Kurtsore  Wand  der  Orbita  bildet,  und  den  Bulbu»  wieder  vordrängt,  wenn  er 
durch  !*eine  Retractores  in  die  Augenhöhle  zurückgezogen  war.  (Würzburger 
Verhandlungen,  IX.  Bd.)  Beide  diese  neuen  Muskeln  stehen  unter  dem  Einfluss 
des  Sympathicus.  Wird  dieser  am  Halse  eines  Kaninchens  durchschnitten,  und 
sein  oberes  Ende  gereizt,  so  erweitert  sicli  die  Lidspalte,  und  der  Bulbus  drängt 
sich  etwas  aus  der   Orbita  hervor. 

Die  Augenbrauen,  Supercüia  (Jajpue;),  bilden  als  mehr  oder 
weniger  buschige,  nach  oben  convexe  Haarbogen,  die  Circnze 
zwischen  Stirn-  und  Augengegend.  Zwischen  den  inneren  Enden 
beider  Augenbrauen,  liegt  die  haarlose  Glabella,  Gehen  aber  die 
beiden  Augenbrauen  mit  ihren  inneren  Enden  in  einander  über,  so 
fehlt  die  Glabella,  —  nach  Aristoteles  ein  Zeichen  hominis  austert 
et  acerbi  (ouv^^pjc).  —  Die  Augenbrauen  streichen  längs  dem  Manjo 
orhitalis  superior  hin,  und  bestehen  aus  dicken,  kurzen,  schräpj  nach 
aussen  gerichteten  Haaren,  welche  am  letzten  ergrauen.  Sie  be- 
schatten das  Auge,  und  dämmen  den  Stimschweiss  ab.  In  Japan 
ist  es  ein  Vorrecht  verheiratheter  Frauen,  sich  die  Brauen  aus- 
zurupfen, und  die  Zähne  schwarz  zu  beizen.  Die  Aegyptier  rasirten 
ihre    Brauen    ab,   wenn   ihre   Hauskatze    starb.    —   Die    Haare    der 


§.  217.  Coi^junctira.  583 

Augenbrauen  haben,  wie  die  Wimperhaare  der  Augenlider,  nur  ein 
sehr  beschränktes  Wachsthum,  so  dass  ihre  Länge  fast  statio- 
när bleibt. 

Die  äussere  Haut  der  Augenlider  ist,  ihrer  Zartheit  and  ihres  lockeren, 
immer  fettlosen  subcutanen  Bindegewebes  wegen,  sehr  zu  krankhaften  AusdeM- 
nnngen  geneigt,  welche  durch  subcutane  Ergüsse  beim  Rothlauf,  bei  Wau^- 
Huchten,  und  nach  mechanischen  Verletzungen  durch  extravasirtes  Blut  so  be- 
deutend werden  können,  dass  die  Augenlidspalte  dadurch  verschlossen  wird.  Selbst 
bei  sonst  gesunden  Individuen  höheren  Alters  bildet  die  Haut  des  unteren  L]4e8 
zuweilen  einen  mit  seröser  Flüssigkeit  infiltrirten,  bläulich  gefärbten  Beutel,  welcher 
durch  eine  tiefe  Furche  von  der  Wange  abgegrenzt  wird. 

Die  Benennung  der  Schutzapparate  des  Auges  ist  im  Verlauf  der  Zweiten 
eine  ganz  andere  geworden,  als  sie  ursprünglich  war.  So  waren  bei  den  Alten 
CUia  die  Augenlider  (t«  x6Xa),  woraus  sich  der  Name  der  Augenbrauen  als 
SupercUia  erklärt.  Was  wir  jetzt  Cilien  nennen,  hiess  ßX£^ap(8£;.  SupercUium 
war  das  obere  Augenlid.  ^O^pu;  kommt  bei  Homer  als  Braue,  aber 
auch  als  Augenlid  vor.  Nur  der  äussere  Augenwinkel  hiess  xav66(,  der 
innere  aber  £Yxav6{(,  welche  Benennung  durch  Vesal  auf  die  Caruncula  lacry- 
malis,  und  in  der  Neuzeit  auf  eine  fungöse  Wucherung  dieser  Carunkel  über- 
tragen wurde. 


§.  217.  Conjunctiva. 

Die  allgemeine  Decke  schlägt  sich,  einer  gewöhnlich  üblichen 
Ausdrucksweise  zufolge,  von  der  vorderen  Fläche  der  Augenlider 
zur  hinteren  um,  nimmt  daselbst  den  Schleimhautcharakter  an, 
läuft,  die  Tarsusknorpel  überziehend,  bis  in  die  Nähe  des  oberen 
und  unteren  Margo  orhitcdis,  und  biegt  sich  von  hier  neuerdings 
zur  vorderen  Fläche  des  Augapfels  hin,  welcher  sie  sich  anschmiegt. 
Dieser  durch  die  Lidspalte  eingedrungene  Fortsatz  der  Cutis,  heisst 
Bindehaut  (Conjunctiva),  welche,  dem  Gesagten  zufolge,  in  die 
Conjunctiva  palpebrarum  und  Conjunctiva  bvibi  unterschieden  wird. 
Die  Umschlagsstelle  der  Conjunctiva  palpebrae  zur  Conjunctiva  buibi 
nennt  man  Fomix  conjunctivae.  Jedes  Augenlid  hat  also  seinen 
eigenen  Fomix  conjunctivae. 

Die  Conjunctiva  palpebrarum  besitzt  ein  mehrfach  geschichtetes 
Pflasterepithel,  welches  auf  einer  äusserst  dünnen,  structurlosen 
Schichte  aufruht.  Unter  dieser  Schichte  folgt  die  eigentliche  gefass- 
reiche  CWjunctiva.  Sic  hängt  an  die  innere  Fläche  der  Tarsus- 
knorpel so  fest  an,  dass  sie  von  ihr  nicht  aufgehoben  werden  kann, 
und  besitzt,  vom  freien  Rande  des  Lids  bis  zum  Fornix  hin,  eine 
Anzahl  kleinster  Papillen  (Tastwärzchen),  welche  bei  gewissen 
katarrhalischen  Zuständen  der  Bindehaut  schon  mit  freiem  Auge 
bemerkbar  sind,  und  theils  einzeln,  theils  in  Reihen  geordnet  stehen. 
Man  fasst   sie   zusammen   als  Corpus  papilläre  conjunctivae  auf.     Im 


TtOI  §.  217.  Conjanctira. 

Bertnch  der  Fomices  conjunctivae  finden  sich  acinöse  Schlei mdriischen 
von  woloho  in  dem  submucösen  Bindegewebe  eingebettet  sind,  — 
wihlroiohor  im  oberen,  als  im  unteren. 

nie  Conjunctiva  hulhi,  welche  rings  um  die  Cornea  sich  in 
eine  Falte  aufheben  lässt,  verliert  ihren  Gefassreichthum  bis  auf 
weni*n\  von  den  Augenwinkeln  gegen  die  Hornhaut  strebende  Ge- 
fiissbttschel  die  Schleimdrüsen  und  Papillen  schwinden,  und  auf 
der  Cornea  bleibt  nur  das  Epithel  der  Conjunctiva,  und  die  unter 
diesem  befindliche  structurlose  Membran,  als  Bowman's  anterior 
tlastic  lomina,  übrig.  —  Bevor  die  Conjunctiva  hvlhi  die  Cornea  er- 
reicht erhebt  sie  sich  zu  einem  eine  halbe  Linie  bis  eine  Linie 
breiten  flachen  Wall,  den  sogenannten  Annulus  conjunctivae,  welcher 
bei  gewissen  krankhaften  Zuständen  der  Conjunctiva,  sich  besser 
ausprägt,  als  an  gesunden  Augen,  wo  er  kaum  zu  sehen  ist. 

Am  inneren  Augenwinkel  faltet  sich  die  Conjunctiva  zu  einer 
senkrecht  gestellten,  mit  der  Concavität  nach  aussen  gerichteten 
Duplicatur,  der  Plica  semüunaris  8.  Palpebra  tertia,  einer  Erinnerung 
an  die  Nick-  oder  Blinzhaut  der  Thiere,  Membrana  nictitans.  Auf 
ihrer  vorderen  Fläche  liegt,  in  die  Bucht  des  inneren  Augenwinkels 
hineinragend,  ein  pyramidales  Häufchen  von  Talgdrüsen,  —  die 
Camncida  lacrimalis  (Encantids  bei  Vesal).  Das  Secret  derselben 
ist  mit  jenem  der  Meibo mischen  Drüsen  identisch,  und  wird  zu- 
weilen in  solcher  Menge  abgesondert,  dass  es,  die  Nacht  über,  mit 
dem  Schleim  der  Lider  zu  einem  bröcklichen  Klümpchen  verhärtet, 
welches  des  Morgens  mit  dem  Finger  aus  dem  inneren  Augenwinkel 
weggeschafft  wird.  Aus  den  Oeffnungen  der  Talgdrüsen  der  Carun- 
cula,  wachsen  sehr  kurze  und  feine,  immer  blonde  Härchen  hervor, 
welche  nur  mit  der  Lupe  zu  sehen  sind. 

Das  Epithel  der  Conjunctiva  palpebrarum  und  Conjunctiva  bnlbi  besteht  in 
der  Tiefe  aus  einer  Schiebte  Cylinderzellen,  auf  welche  abgeplattete  Zellen  in 
mehrfacher  Lage  folgen. 

Ueber  die  acinösen  Schleimdrüsen  der  Coiyunctiva,  welche  sich  im  sub- 
mucösen Bindegewebe  des  Fomix  conjunctivae  zu  acht  bis  zwanzig  vorfinden, 
handelt  W.  Krause  in  HenWa  und  Pfeuffera  Zeitschrift,  1854.  Geschlossene 
Follikel  wurden  zuerst  von  Bruch  in  der  Conjunctiva  des  unteren  Augenlides 
des  Rindes  beobachtet,  von  Krause  auch  in  der  menschlichen  Conjunctiva  auf- 
gefunden, und  von  Henle  als  Trachomdrüsen  benannt  fKrause,  anat.  Unter- 
suchungen. Hannover,  1861). 

Die  Tast Wärzchen  der  ConjuncÜva  palpebrarum  vermitteln  das  Tast- 
gefülil  der  Lider,  welches  durch  die  kleinsten  Staubtheilchen,  die  zwischen  Auge 
und  Augenlid  gerathen,  so  schmerzvoll  aufgeregt  wird,  und  kranApf hafte  Zu- 
sammenziehungen des  Schliessmuskels  der  Augenlider,  als  Reflexbewegung  mit 
vermehrter  Thränenabsonderung  hervomift  —  Die  Fornices  conjunctivae  scliliessen 
in  der  Regel  die  fremden  Körper  ein,  welche  zufallig,  z.  B.  bei  Schmieden  und 
Steinmetzen  während  ihrer  Arbeit,  in*s  Auge  springen.  Lässt  man  das  Auge  nach 
)^uf-   oder  abwärts   richten,  und  hebt  man   mittelst    der    Cilien    das    untere   oder 


§.  S18.  Thr&nenorgane.  585 

obere  Lid  anf,  um  es  umzustülpen,  und  seine  innere  Fläche  nach  aussen  zu 
kehren,  was  man  am  eigenen  Auge  vor  dem  Spiegel  bald  zu  machen  lernt,  so 
lässt  sich  die  ganze  Ausdehnung  der  Fornices  leicht  übersehen. 

In  älteren  Zeiten  hiess  die  Conjunctiva:  Adnata  oder  InnomineUa  oculi, 
auch  Sexta  oculi  tunica,  extrhuecus  accedena.  Den  Namen  Conjunctiva  führt  sie 
erst  seit  Hall  er. 


§.  218.  Thränenorgane. 

Der  Thränenapparat  besteht  aus  den  Thränendrüsen,  und  aus 
den  complicirten  Ableitungswegen  der  Thränen   in  die  Nasenhöhle. 

Es  finden  sich  in  jeder  Augenhöhle  zwei  Thränendrüsen 
Glandulcte  lacrymaleSy  nach  Isen flamm  Glandvlae  tristitiae.  Beide 
sind  jedoch  kaum  so  scharf  von  einander  abgegrenzt,  dass  man  sie 
nicht  als  Einen  Drüsenkörper  betrachten  könnte.  Die  obere  grössere 
Thränendrüse  (Glandula  innominata  GcUeni  der  Alten)  nimmt  die 
Grube  des  Procesms  zf/gomaticus  des  Stirnbeins  ein,  wo  sie  durch 
ein  kurzes,  aber  breites  fibröses  Bändchen  suspendirt  wird;  —  die 
untere  kleinere  (Glandida  lacrymalis  accessoria  Monroi)  liegt  dicht 
vor  und  unter  ihr.  Beide  bestehen  aus  rundlichen  Drüscnköniern 
(Acini),  welche  durch  Bindegewebe  zu  einem  ziemlich  festen  Kuchen 
zusammengehalten  werden.  Die  dem  Augapfel  zugewendete  Fläche 
der  Thränendrüsen  ist  concav,  die  äussere  convex.  Die  obere 
Thränendiüse  überragt  den  Augenhöhlenrand  gar  nicht;  —  die 
untere  aber  so  wenig,  dass  nach  Abtragung  des  Augenlids  nur  ihr 
vorderer  Rand  gesehen  wird.  Die  nicht  eben  leicht  zu  findenden 
Ausführungsgänge  beider  Thränendrüsen,  zehn  an  Zahl,  ziehen 
schräg  nach  innen  und  abwärts,  durchbohren  über  dem  äusseren 
Augenwinkel  die  Umbeugungsstelle  der  Conjimctiva  des  oberen  Lids 
(Fomix  conjunctivae  superior),  wo  ihre  feinen  OeflFnungen  in  einer 
nach  innen  concaven  Bogenlinie  stehen,  und  ergiessen  ihren  Inhalt 
bei  den  Bewegungen  des  Lids  an  die  vordere  Fläche  des  Bulbus. 
Einer  oder  zwei  von  den  Ausfuhrungsgängen  der  unteren  Thränen- 
drüse, münden  in  den  Fomix  conjunctivae  inferior,  imterhalb  des 
äusseren  Augenwinkels,  wodurch  auch  die  vom  unteren  Augenlide 
bedeckte  Fläche  des  Augapfels  ihre  Befeuchtung  erhält. 

Die  über  die  vordere  Fläche ,  des  Augapfels  durch  die  Be- 
wegungen der  Augenlider  verbreitete  Thränenflüssigkeit,  mischt  sich 
mit  dem  flüssigen  Secret  der  Conjunctiva,  und  wird  bei  jedem 
Schliessen  der  Lidspalte  gegen  den  inneren  Augenwinkel  gedrängt. 
Der  Weg,  welchen  sie  hiebei  nimmt,  soll  nach  veralteten  Vor- 
stellungen ein  Kanal  sein,  welcher  im  Momente  des  Augenschlusses 
zwischen  den  Lidrändern  und  der  vorderen  Fläche  des  Bulbus  ge- 
bildet  wird,    —    der    Thränenbach    der    älteren    Autoren,    RiwA 


586  §.  218.  Thr&nenorgane. 

lacrfjmarum.  Dieser  Kanal  existirt  nicht.  Die  Thränen  werden  viel- 
mehr durch  die  Fomices  conjunctivae,  in  welche  sie  sich  zunächst 
ergiessen,  gegen  den  inneren  Augenwinkel  geleitet.  Die  Fomices 
werden  nämlich  beim  Schliessen  der  Lider  so  gespannt,  dass  die  in 
sie  ergossenen  Thränen  einen  Druck  erleiden.  Die  Lidspalte  wird 
aber  nicht  an  allen  Punkten  ihrer  Länge  zugleich  geschlossen, 
sondern  fortschreitend  vom  äusseren  Augenwinkel  gegen  den  inneren. 
Dadurch  werden  die  Thränen  bestimmt,  gegen  den  inneren  Augen- 
winkel, als  das  punctum  minoris  resütentiae,  zu  strömen.  Es  giebt 
somit  zwei  Thränenbäche,  wie  es  zwei  Fornices  giebt. 

Die  Bucht  des  inneren  Augenwinkels,  welche  die  PUca  semi- 
lunaris  und  Caruncula  lacrymalis  enthält^  heisst  Thränensee,  Locus 
lacnfmarum.  In  ihm  sammeln  sich  die  durch  die  Thränenbäche 
hieher  geleiteten  Thränen.  Nur  wenn  die  Thränen  im  Ueberschusse 
zuströmen^  kann  er  sie  nicht  halten,  und  lässt  sie  über  die  Wange  ab- 
laufen. Bei  gewöhnlichen  Absonderungsmengen  aber,  werden  sie  durch 
die  am  inneren  Ende  der  hinteren  Kante  des  Randes  beider  leider 
liegenden,  kleinen,  etwas  kraterformig  aufgeworfenen  Oeffnungen  — 
Thränenpunkte,  Puncta  lacrymaUa  —  aufgesaugt.  Jedes  Augenlid 
hat  nur  ein  Punctum  lacrifmale.  Das  untere  kann  am  eigenen  Auge 
im  Spiegel  leicht  gesehen  werden,  wenn  man  das  untere  Augenlid 
etwas  mit  dem  Finger  herabdrückt,  und  dadurch  seinen  freien 
Rand,  ein  wenig  vom  Bulbus  abstehen  macht.  Das  untere  ist  zu- 
gleich etwas  grösser  als  das  obere.  Die  Thränenpunkte  tauchen 
sich  während  des  Schliessens  der  Augenlider  in  den  Thränensee 
ein,  und  absorbiren  durch  einen  noch  nicht  genau  erforschten 
Mechanismus  die  Thränenfeuchtigkeit.  Die  Thränenpunkte  geleiten 
in  die  Thränenröhrchen  (Cancdiculi  laa^ymaleSj  Comua  limacum). 
Diese  ziemlich  dickhäutigen,  beim  Durchschnitt  klaffenden,  nicht 
zusammenfallenden,  durch  eine  in  die  Thränenpunkte  eindringende, 
äusserst  zarte  Fortsetzung  der  Conjunctiva  ausgekleideten  Kanälchen, 
zeigen  in  ihrem  Anfang  noch  das  I^umen  der  Thränenpunkte,  er- 
weitern sich  aber  allsogleich  zur  sogenannten  Ampulle,  verengern 
sich  neuerdings,  und  ziehen  in  flachen  Kreisbogen,  deren  Mittel- 
punkt in  der  Caruncula  liegt,  gegen  den  inneren  Augenwinkel,  wo 
sie  in  der  Regel  zu  einem  sehr  kurzen  gemeinschaftlichen  Röhrchen 
verschmelzen,  welches  sich  in  die  äussere  Wand  des  Thränensacks 
einsenkt.  Injection  der  Thränenröhrchen  mit  erstarrender  Masse, 
macht  zuweilen  eine  spirale  Drehung,  immer  aber  ein  ausgebuchtetes 
Ansehen  derselben  sichtbar. 

Die  alten  Anatomen  kannten  nnr  das  untere  Punctum  lacryniaif.  Man 
meinte  damals,  wo  man  die  Function  der  ThrftnendrOse  noch  nicht  kannte,  das» 
der  untere  Thränenpunkt  die  Thränen  an  die  vordere  Flfiche  des  Augapfels  er- 
giesse.      Der    innere    Augenwinkel    hiess    desbAlb    bei    Uesjchius:    T^ct'fi,    die 


§.  S18.  Thränenorgane.  587 

Quelle.     Erst    durch    Nie.    Stenson    (Stenonius)    wurden    die    Thränenwege 
genauer  nntersacht  und  beschrieben,  in  dessen  Olm^^roatianes  anai.  Lugd,  1662, 

Der  Thränensack,  Sacais  lacrjfmalis  8,  Dacryocjfstis,  liegt  in 
der  Fossa  lacrijmalis  der  inneren  Augcnholilcnwand,  wird  in  seinem 
oberen  Drittel  vom  Ligamentum  pcUpebrale  internum  quer  gekreuzt, 
und  an  seiner  äusseren,  dem  Bulbus  zugekehrten  Fläche,  von  einer 
fibrösen  Haut,  als  Fortsetzung  der  Perm^hita,  überzogen.  Andert- 
halb Linien  unter  seinem  oberen  blindsackförmigen  Ende,  münden 
die  Canalieuli  lacrtjmales  ein.  Nach  abwärts  geht  er  in  den  häuti- 
gen Thränennasengang  über,  welcher  kaum  merklich  enger  als 
der  Thränensack  ist,  und,  wie  beim  Geruchorgan  (§.  215)  bemerkt 
wurde,  bald  höher,  bald  tiefer,  an  der  Seitenwand  des  unteren 
Nasenganges,  imter  dem  vorderen  zugespitzten  Ende  der  unteren 
Nasenmuschel ,  ausmündet.  H  a  s  n  c  r  (Prager  Vierteljahrsschrift 
n.  Bd.)  hat  die,  von  Morgagni  ei-wähnte,  halbmondförmige  Schleim- 
hautfalte an  der  Mi'uidung  des  Thränennasenganges,  wieder  in  An- 
regung gebracht.  Die  Klappe  ist  so  gestellt,  dass  sie  sich  durch  die 
beim  Ausathmeu  an  die  Wände  obiger  Bucht  anprallende  Luft,  auf 
diese  Mündung  legen,  die  Thränenwege  luftdicht  von  der  Nasen- 
höhle absperren,  und  es  hiemit  erklären  soll,  warum  man  durch 
heftige  Ausathmensanstrengung  bei  geschlossener  Mund-  und  Nasen- 
öflFnung,  keine  Luft  aus  der  Nasenhöhle  in  die  Thränenwege  treiben 
kann.  Sie  fehlt  jedoch  sehr  oft,  besonders  bei  hoher  Stellung  der 
Ausmündungsöffnung.  Sie  kommt,  wenn  sie  vorhanden  ist,  nur 
dadurch  zu  Stande,  dass  der  Thränennasengang,  bei  tieferer  Aus- 
mündung desselben,  sich  eine  Strecke  weit  an  der  äusseren  Wand 
des  unteren  Nasenganges  nach  abwärts  fortsetzen  muss,  so  dass  er  von 
der  Nasenschleimhaut  eine  innere  häutige  Wand  erhält,  welche  von 
der  angewachsenen  äusseren  Wand  mit  der  Pincette  aufgehoben 
werden  kann,  uiud  in  diesem  Zust^vnde  einer  Klappe  auf  ein 
Haar  gleicht. 

Thränensack  und  Thränennasengang  haben  zusammen  beiläufig  fünf  Viertel 
Zoll  Länge.  —  Ein  vor  dem  Thränensack  gelegener  Sacauf  larrt/niali»  accesaoriiu 
wurde  von  Vlacovich  beobachtet  (Osservazioni  anat.  aitUe  vie  lagrimalL  Padova, 
lS71j,  —  An  der  Grenze  zwischen  Thränensack  und  Thränennasenkanal  erwähnen 
Lecat  und  Malgaigne  einer  niedrigen,  halbmondförmigen,  zuweilen  kreisrunden 
Schleimhautfalte,  lieber  die  in  den  Thränenwegen  vorkommenden,  unbeständigen 
und  wandelbaren  Falten,  und  über  die  Spirale  der  ThrHnenröhrchen,  sieh'  meine 
Corrosionsanatomie  und  deren  Ergebnisse.  Wien,  1872.  fol. 

Der  untere  Thränenpunkt  wird  seiner  grösseren  Weite  wegen  zu  Ein- 
spritzungen dem  oberen  vorgezogen.  —  Dass  bei  alten  Leuten  der  obere  Thränen- 
punkt verwachse,  und  dadurch  Thränenträufeln  entstehe,  glaubt  kein  Anatom.  — 
Die  in  älteren  Kupferwerken  geradlinig  convergent  abgebildeten  Thränenröhrchen, 
veranlassten  den  sonderbaren  Namen  derselben,  als  Schnecken  hörner,  Cornua 
Ihnaciim,  —  Die  das  ganze  System  der  IMiränenwege  auskleidende  Schleimhaut, 
mittelst  welcher  die  Conjunctiva   mit  der   Nasenschleimhaut  in  Verbindung  steht, 


"US^  §.  219.  Augenraaskeln. 

T^rwiittelt  eine  im  gesunden  und  kranken  Znstande  häufig  zu  beobachtende  Sym- 
ivithie  iwischen  diesen  beiden  Schleimhäuten,  z.  B.  das  Uebergehen  der  Augen 
bei  scharfen  GerücJien,  oder  bei  den  Erstlingsversuchen  der  Tabakschnupfer.  — 
In  allen  Thränenwegen  findet  sich  geschichtetes  Cylinderepithel. 

Den  sogenannten  Mitsadus  Homeri  am  Thränensack  (Philadelphia  Journal, 
1*^1.  Nov.>  betrachte  ich  als  einen  Antheil  des  Orbicularu  palpebrarum,  welcher 
an  der  Crista  des  Thränenbeins  und  znm  Theil  auch  an  der  äusseren  Wand  des 
Tkfinensacks  entspringt,  quer  über  den  Thränensack  nach  vom  geht,  und  sich  in 
xw^i  Bündel  theilt,  welche  die  zwei  Thränenröhrchen  einhüllen,  und  in  die  am 
\«sefilidrande  verlaufenden  Fasern  des  Schliessmuskels  der  Augenlider  Übergehen. 
\ndere  Anatomen  lassen  seine  beiden  Bündel  am  inneren  Ende  beider  Lidknorpel 
enden,  welche  er  dieser  Vorstellung  znfolge  anspannt,  und  sonach  als  Temor  tarai 
\mt  und  Würde  erhält 


§.  219.  Augenmuskeln. 

Mit  Uebergehung  des  SchlieBsmuskels  der  Augenlider,  welcher 
bei  den  Gesichtsmuskeln  abgehandelt  wurde,  kommen  hier  nur  jene 
Muskeln  in  Betrachtung,  welche  in  der  Augenhöhle  liegen. 

Es  finden  sich  in  der  Augenhöhle  sieben  Muskeln.  Sechs 
davon  bewegen  den  Bulbus,  —  einer  das  obere  Augenlid.  Sechs 
Muskeln  des  Bulbus  genügen,  um  dem  Auge  die  Möglichkeit  zu 
gewähren,  sich  auf  jeden  Punkt  des  äusseren  Gesichtskreises  zu 
richten.  Je  zwei  gegenüber  liegende  Augenmuskeln  bewegen  das 
Auge  um  eine  Axe.  Solcher  Axen  giebt  es  somit  drei.  Sie  stehen 
senkrecht  aufeinander.  Da,  wie  die  Mechanik  lehrt,  ein  um  drei 
aufeinander  senkrechte  Axen  drehbarer  Körper,  nach  jeder  Richtung 
gedreht  werden  kann,  so  müssen  wir  gestehen,  dass  die  allseitige 
Beweglichkeit  des  Augapfels,  welche  zur  Beherrschung  des  ausge- 
dehntesten Gesichtsfeldes  unerlässlich  wird,  durch  die  einfachsten 
Mittel  erreicht  wurde. 

Hat  man  an  einem  Kopfe,  an  welchem  bereits  die  Schädelhöhle 
geöffnet  und  entleert  wurde,  die  obere  Wand  der  Augenhöhle  durch 
zwei,  gegen  das  Sehloch  convergirende  Schnitte  abgetragen,  so  findet 
sich  unter  der  Periorbita  zunächst: 

Der  Aufheber  des  oberen  Augenlids,  T^vator  pcdpehrae 
supeiHcn^ls,  welcher  von  der  oberen  Peripherie  der  Scheide  des  Seh- 
nerven, dicht  vor  dem  Foramefi  optictim,  entspringt,  und  gerade 
nach  vorn  laufend,  unter  dem  Margo  orbitalis  auperm*,  und  hinter 
dem  Ligamentum  tarsi  stiperioris  aus  der  Augenhöhle  tritt,  um  mit 
einer  platten,  fächerförmig  breiter  werdenden  Sehne,  sich  an  den 
oberen  Rand  des  oberen  Lidknorpels  zu  inseriren. 

Nach  Trennung  des  Aufhebers,  und  sorgfaltiger  Entfernung 
des  die  Augenhöhle  reichlich  ausfüllenden  Fettes,  sieht  man  noch 
fünf  Muskeln,  rings  um  die  Eintrittsstelle  des  Nervus  opticus  in  die 


§.  219.  Augeumaskcln.  589 

Orbita,  von  der  Scheide  des  Sehnerven  entspringen.  Vier  davon 
verlaufen  geradlinig,  aber  divergent  zur  oberen,  unteren,  äusseren, 
und  inneren  Peripherie  des  Augapfels.  Sie  werden  ihrer  Richtung 
wegen  Recti  genannt,  und  wir  zählen  einen  Rectus  inteimiLs,  extemvs, 
superior,  und  inferior.  Sie  haben  alle  vier  die  Richtung  von  Tan- 
genten zur  Augenkugel,  endigen  aber  nicht  an  der  grössten  Peri- 
pherie derselben,  sondern  verlängern  sich  über  dieselbe  hinaus, 
gegen  die  Cornea  hin,  indem  sie  sich  der  Convexität  des  vorderen 
Augapfelsegraents  genau  anschmiegen,  und  sich  zuletzt  mit  dünnen, 
aber  breiten  Sehnen,  an  der  fibrösen  Haut  (Sderotica)  des  Aug- 
apfels, zwei  bis  drei  Linien  entfernt  vom  Rande  der  Cornea  in- 
seriren.  Der  obere  Rectus  ist  der  schwächste;  der  äussere  der 
stärkste.  Letzterer  entspringt,  nicht  wie  die  übrigen  einfach,  son- 
dern mit  zwei  Portionen,  zwischen  welchen  das  dritte  und  sechste 
Nervenpaar,  und  der  Ramus  ndso-ciliaris  des  ersten  Astes  des  fünften 
Paares  hindurchziehen. 

Der  fünfte,  vom  Foramen  opticum  herkommende  Muskel,  ge- 
langt nur  auf  einem  Umwege  zum  Augapfel.  Er  zieht  längs  des 
oberen  Randes  der  inneren  Orbitalwand  nach  vorn,  und  lässt  hierauf 
seine  dünne  Sehne  durch  eine  knorpelige  Rolle  (TrocJilea)  laufen, 
welche  durch  zwei  an  ihren  Rändern  haftende  Bändchen,  an  die 
Fovea  oder  den  Hamulus  trocMearis  des  Stirnbeins  aufgehäugt  ist. 
Jenseits  der  Rolle  ändert  die  Sehne  plötzlich  ihre  Richtung,  geht 
breiter  werdend  nach  aus-  und  rückwärts,  und  tritt  unter  der 
Insertionsstelle  des  oberen  Rectus  an  die  Sclerotica.  Die  schiefe 
Richtung  seiner  Sehne  zum  Augapfel  giebt  ihm  den  Namen  des 
oberen  schiefen  Augenmuskels,  Musculus  ohliquus  supeHor,  sein 
Verhältniss  zur  Rolle  den  des  Rollmuskels,  Musculus  trocldearis> 
und  seine  supponirte  Wirkung  bei  Ocmüthsaffccten  jenen  des  Mus- 
culus paihetieus.  An  der  Stelle,  wo  die  Sehne  des  Ohliquus  superior 
die  Rolle  passirt,  schwächt  ein  kleiner  Schleimbeutel    die  Reibung. 

Der  letzte  Muskel  des  Augapfels,  der  untere  schiefe.  Mm- 
culus  ohliquus  inferior,  entspringt  nicht  hinten  am  Foramen  opticum, 
wie  die  übrigen  Augenmuskeln,  sondern  am  inneren  Ende  des  unte- 
ren Augenhöhleurandes.  Er  geht  unter  der  Endschne  des  Rectus 
inferior  nach  oben  und  hinten  zur  äusseren  Peripherie  des  Bulbus, 
und  inserirt  sich  an  die  Sclerotica,  zwischen  dem  Sehnerveneintritt 
und  der  Sehne  des  Rectus  exteimus. 

Da  die  zwei  Obliqui  »chief  von  vorn  her,  und  die  vier  Recti  gerade  von 
hinten  her  znm  Bulbus  treten,  so  werden  beide  Muskelgruppen  in  einem  anta- 
gonistischen Verhältniss  zu  einander  stehen.  Die  schiefe  Richtung  jedes  Ohliquus 
lässt  sich  nämlich  in  eine  quere  und  gerade  auflösen.  Nur  die  quere  Componente 
macht  die  Obliqni  zu  Drehern  des  Bulbus;  —  die  gerade  Componente  zieht  den 
BoibuB  nach  vom,  wirkt  dem  Zuge  der  Recti  direct  entgegen,  and  man  kann  somit 
sagen:  der  Bulbus  wird  durch  die  Recti  und  Obliqui  äquilibrirt. 


590  §.  SSO.  Allgemolnos  über  den  Augapfel. 

Die  vier  geraden  und  die  beiden  schiefen  Augenmuskeln  drehen  den  Bulbus 
nm  drei  auf  einander  senkrechte  Axen.  Diese  Drehungen  werden  ohne  Ort» Ver- 
änderung des  Bulbus  ausgeführt.  Die  Drehungsaxe  fiir  die  Bewegfung  des  Bulbus 
durch  den  oberen  und  unteren  Kectus,  liegt  (nahezu)  horizontal  von  aussen  nach 
innen,  —  für  den  äusseren  und  inneren  Kectus  senkrecht,  —  für  die  beiden 
schiefen  horizontal  von  vom  nach  hinten.  Alle  drei  Axen  schneiden  sich  in  einem 
Punkte,  welcher  innerhalb  des  Bulbus,  im  Corpus  mtreum  liegt,  und  das  unver- 
rückbare Centnim  aller  Bewegungen  vorstellt.  Von  Aufheben,  Niederziehen, 
Aus-  oder  Einwärtsbewegungen  des  Augapfels  kann  nichts  vorkommen,  da  die 
Recti  in  der  Richtung  der  Tangenten  der  Augenkugel  verlaufen,  und  ihre  Wir- 
kung somit  niur  eine  drehende  ist.  Es  scheint  nicht  zulässlich,  der  gemeinschaft- 
lichen Wirkung  der  vier  geraden  Augenmuskeln  eine  irgendwie  erhebliche 
Retractionsbewegung  des  Bulbus'  zuzuschreiben.  Das  Fett  der  Augenhöhle  hindert 
ja  mechanisch  die  Zurückziehung  des  Augapfels,  welche  durch  die  Erfahrung,  am 
Menschen  wenigstens,  nicht  sichergestellt  ist.  Dagegen  besitzt  das  Auge  vieler 
Säug^thlere  einen  besonderen  lietractor  öulbi,  welcher  hinten  am  Sehlocli  ent- 
springt, den  Sehnerv  trichterflirmig  einschliesst,  und  an  der  hinteren  Peripherie 
des  Bulbus  sich  ansetzt.  —  Durch  Lospräpariren  der  Conjmictlva  scleroticae 
können  die  Insertionsstellen  der  Sehnen  aller  Augenmuskeln  blossgelegt,  ihre 
fleischigen  Bäuche  durch  Haken  hervorgezogen,  und  durchgeschnitten  werden, 
worauf  das  Operationsverfahren  zur  Heihmg  des  auf  Verkürzung  eines  Augen* 
muskels  beruhenden  Schielens  gegründet  ist 

Die  Ffucia  Tejwni  oder  Tunica  vaginalis  hidbi  verdient  noch  kurze  Erwäh- 
nung. Sie  tritt  als  eine  den  Bulbus  umhüllende  Bindegewebsmembran  auf,  welche 
nur  lose  auf  der  Sclerotica  aufliegt,  und  deshalb  eine  Art  Kapsel  bildet,  in 
welcher  sich  der  Bulbus,  wie  ein  Gelenkskopf  in  seiner  Gelenksgnihe,  nach  jeder 
Richtung  drehen  kann.  Sie  entspringt  an  der  Umrandung  der  Orbita,  geht  hinter 
der  Conjunctiva  bis  zum  Homhautrand,  schlägt  sich  von  hier  als  Kapsel  um  den 
Bulbus  herum,  und  endet  am  Eintritt  des  Sehnerven  in  den  Augapfel.  Sie  wird 
von  den  Sehnen  der  Augenmuskeln  durchbohrt,  welche  von  ihr  scheidenartige 
Ueberzüge  erhalten.  Sie  isolirt  gewissermassen  den  Bulbus  von  dem  hinter  ilim 
gelegenen  übrigen  Inhalt  der  Augenhöhle.  (TenoUf  memoires  et  Observation.«»  sur 
Tanatomie,  pag.  200.)  Unvollkommen  war  diese  Membran  schon  vor  Tenon 
bekannt 


XI.  A-Ugapfel. 

§.  220.  Allgemeines  über  den  Augapfel. 

Im  menschlichen  Augapfel  bewundern  wir  ein  nach  den 
optischen  Gesetzen  einer  Cavitra  obscura  gebautes  Sehwerkzeug,  von 
höchster  Vollkommenheit.  Er  hat,  wie  man  sagt,  die  Gestalt  einer 
Kugel,  richtiger  aber  jene  eines  Ellipsoids,  an  dessen  vorderer 
Seite  ein  kleines  Kugelsegment  aufgepflanzt  ist.  Er  bestellt  aus 
concentrisch  in  einander  geschachtelten  Häuten,  welche  einen,  mit 
den  durchsichtigen  Medien  des  Auges  gefüllten  Kaum  umschliessen. 
Diese  Häute  lassen  sich  wie  die  Schalen  einer  Zwiebel  ablösen,  — 
daher  der  lateinische  Name  Btdhm  ocuU,  griechisch   csOaX{jt,f;,  <[uasi 


§.  m.  Scleroiica  nnd  Uornea.  591 

wxb?  8aXa|xo<;,  sedes  vüus.  Bei  den  Dichtern  linden  wir  auch  lumina, 
portae  solis,  und  orbes  luddi,  für  beide  Augen.  Die  Häute,  welche 
die  vordere,  der  Aussenwelt  zugekehrte  Gegend  des  Bulbus  ein- 
nehmen, sind  entweder  durchsichtig  (Coimea),  oder  durchbrochen 
(Irü),   um   dem    Lichte  Zutritt  zu  gestatten. 

Der  Augapfel  hat  seinen  Standort  nicht  genau  in  der  Mitte 
der  Orbita,  sondern  der  inneren  Augenhöhlenwand  etwas  näher  als 
der  äusseren,  welches  wahrscheinlich  durch  die  Tendenz  der  Seh- 
axen  beider  Augäpfel  zu  convergiren,  bedingt  wird.  Sein  vorderer 
Abschnitt  ragt  mehr  weniger  über  die  Ebene  der  Orbitalöffnung 
hervor,  ein  Umstand,  welcher  auf  die  leichtere  oder  schwierigere 
Ausführbarkeit  gewisser  Augenoperationen  Einfluss  hat.  Da  ferner 
die  Ebene  der  Orbitalöffnung  so  gestellt  ist,  dass  ihr  äusserer  Rand 
gegen  den  inneren  nicht  unbedeutend  zurücksteht,  so  muss  die 
äussere  Peripherie  des  Augapfels  weniger  durch  knöcherne  Wand 
geschützt  sein,  als  die  innere,  deren  Zugänglichkeit  überdies  noch 
durch  den  Vorsprung  des  Nasenrückens  beeinträchtigt  wird.  Bei 
Verminderung  des  Fettes  in  der  Augenhöhle,  tritt  der  Bulbus  in  die 
Orbita  etwas  zurück,  die  Augenlider  folgen  ihm  nach,  und  grenzen 
sich  von  den  Orbitalrändern  durch  tiefe  Furchen  ab.  Dadurch  ent- 
steht das  sogenannte  hohle  oder  tiefliegende  Auge,  welches  ein 
nie  fehlender  Begleiter  aller  auszehrenden  Krankheiten  ist. 

Dio  Durchmesser  des  Ellipitoids  des  Augapfels  verhalten  sich  so  zu  ein- 
ander,  dass  der  horizontale  der  grösste,  der  gerade  (von  vorn  nach  hinten 
gehende)  der  kleinste,  der  vertikale  der  mittlere  ist.  Das  Ellipsoid  des  Aug- 
apfels kann  man  also  durch  Umdrehung  einer  Ellipse  um  ihre  kleine  Axe  ent- 
standen denken. 

Alle  organischen  Gewehe  hahen  im  Auge  ihre  Repräsentanten,  und  die  den 
NaturphUosophen  geläufigen  Ausdrücke  über  das  Auge :  Organismus  im  Organismus, 
Microcogmua  in  macrocosnio ,  haben  insofern  einigen  Sinn.  Die  Durchsichtigkeit 
der  Augenmedien  lässt  die  Blicke  des  Arztes  in  das  Innere  dieses  herrlichen  Baues 
dringen,  and  macht  die  verborgensten  Krankheiten  desselben,  insbesondere  imter 
Anwendung  des  Augenspiegels,  der  Beobachtung  zugänglich. 


§.  221.  Sclerotica  und  Cornea. 

Die  weisse  oder  harte  Augenhaut,  Sclerotica  (besser  Sdera, 
von  oxXrjpb<;,  hart),  und  die  durchsichtige  Hornhaut,  Cornea, 
bilden  zusammen  die  äussere  Hautschichte  des  Bulbus.  Sclerotica 
und  Cornea  waren  nie  von  einander  getrennt,  indem  beide  in  den 
ersten  Zeiten  der  Entwicklung  des  Auges  eine  geschlossene,  un- 
durchsichtige Blase  bilden,  von  welcher  sich  der  vordere  Abschnitt 
erst  später  zu  klären  und  aufzuhellen  anfangt,  als  Cortiea  transparens, 
während  alles  Andere,  als  Sclerotica,  undurchsichtig  bleibt,  imd 
deshalb  von  den  Alten  Cornea  opaca  genannt  wurde. 


592  §•  Ml*  Sclerotien  nnd  Cornea. 


a)  Sclerotica. 

Die  Sclerotica,  auch  Albuginea,  hat  keine  optischen  Zwecke 
zu  erfüllen.  Sie  bestimmt  die  Grösse  und  Form  des  Augapfels, 
und  zählt  zu  den  fibrösen  Membranen.  An  ihrer  hinteren  Peri- 
pherie besitzt  sie  eine  kleine  OefFnung,  zum  Eintritte  des  Sehnerven 
in  den  Bulbus,  und  an  ihrer  vorderen,  eine  ungleich  grössere  Oeff- 
nung,  in  welche  die  durchsichtige  Hornhaut  eingepflanzt  ist. 

Die  SehnervenöfFnung  liegt  nicht  im  Mittelpunkt  des  hinteren 
Scleralsegments,  sondern  circa  eine  Linie  einwärts  von  ihm.  Der 
Sehnerv  giebt,  bevor  er  in  den  Bulbus  eintritt,  sein  Neurilemm, 
welches  er  von  der  harten  Hirnhaut  entlehnte,  an  die  Sclerotica 
ab.  Schneidet  man  den  Sehnerv  im  Niveau  der  Sclerotica  quer 
durch,  so  sieht  man  sein  Mark  durch  ein  feines  Fasersieb  in  die 
Höhle  des  Bulbus  vordringen.  Zerstört  man  das  Mark  durch 
Maceration,  so  bleibt  das  feine  Sieb  zurück,  und  gab  Veranlassung, 
in  der  Sehnervenöffnung  der  Sclerotica,  eine  besondere  Lamina 
cnbroaa  anzunehmen,  welche  jedoch,  dem  Gesagten  zufolge,  nur 
die  Ansicht  des  Querschnittes  der  die  einzelnen  Faserbündel  des 
Sehnerven  umhüllenden  Scheiden  sein  kann.  —  Die  Sclerotica 
hängt  mit  der  zunächst  nach  innen  folgenden  Augenhaut  (Choroidea) 
durch  eine  zarte  und  lockere  Bindegewebsschichte  zusammen, 
welche  sternförmige,  dunkelbraune  Pigmentzellen  einschliesst,  und 
Lamina  fusca  heisst. 

Das  Mikroskop  zeig^  in  der  Sclerotica  flache  Bündel  von  Bindegewebs- 
fasern, vielfach  gemengt  mit  elastischen  Fasern.  Die  äusseren  Lagen  der  Bündel 
laufen  nach  der  Richtung  der  Meridiane  der  Augenkugel,  die  inneren  nach  den 
Parallelkreisen  derselben.  Beide  stehen  durch  wechselseitigen  Faseraustausch  in 
Verbindung.  —  Die  Sehnen  der  Augenmuskeln  verweben  ihre  fibrösen  Elemente 
mit  den  Faserzügen  der  Sclerotica  so,  dass  die  Sehnenfasem  der  Recti  in  die 
MeridianfMem  der  Sclerotica  übergehen,  jene  der  Obliqui  dagegen  in  die  Fasern 
der  Parallelkreise.  —  Die  Fasern  der  Sclerotica  gelangen  nicht  alle  bis  zum  Hom- 
hautrande.  Sie  biegen  sich  haufenweise  in  verschiedener  Entfernung  von  diesem 
nach  hinten  um,  wodurch  die  grössere  Dicke  der  hinteren  Partie  der  Sclerotica 
erklärlich  wird.  Die  Dicke  des  vorderen  Abschnittes  der  Sclerotica  hängt  von 
der  Verwebung  der  Augenmuskelsehnen  mit  diesem  Abschnitte  ab.  —  Die  Gefäss- 
armuth  der  Sclerotica  bedingt  ihre  weisse  Farbe.  Selbst  bei  Entzündungen  steigt 
ihre  Färbung  nicht  über  das  Rosenroth,  und  bei  venösen  Stasen  in  der  zweiten 
Augenschichte,  erscheint  sie  bläulichweiss.  Um  den  Eintritt  des  Sehnerven  herum, 
befindet  sich  in  der  Sclerotica  ein  arterieller,  von  den  hinteren  Ciliararterien  gebildeter 
Kranz,  welcher  jedoch  in  der  Regel  nicht  ganz  geschlossen  ist  —  der  Circuhts 
arterioswt  HalhrL  —  Die  Festigkeit  und  geringe  Ausdehnbarkeit  der  Sclerotica 
erklärt  die  wüthenden  Schmerzen,  welche  bei  Entzündungen  der  von  dieser  Membran 
umschlossenen  inneren  Gebilde  des  Auges  vorzukommen  pflegen. 

Bochdalek  hat  im  Auge  des  Menschen,  des  Rindes,  und  des  Kaninchens 
nachgewiesen,  das«  die  Xerm  ciliares,  welche  den  hinteren  Abschnitt  der  Sclero- 
tica durchbohren,    um    zu    den    Häuten    der    zweiten  Augenschichte  zu  gelangen, 


§.  281.  SclerofcicB  nnd  Cornea.  593 

während  ihres  sehr  schiefen  Durchgangs  dnrch  die  Sclerotica,  der  letzteren  feine 
Zweigchen  abgeben. 

Zwischen  der  inneren  Oberfläche  der  Sclerotica  and  der  äusseren  der 
Choroidea,  befindet  sich  ein  Lympliraum  (Perichoroidealraum,  Schwalbe), 
welcher  mit  den  Subarachnoidealräumen  des  Gehirns  (§.  342),  durch  ein,  das 
Foramen  opticum  passirendes  Lymphgefass  in  Verbindung  steht  Der  Pericho- 
roidealraum  soll  auch  durch  Lymphgefässe,  welche  mit  den  Vaaia  vorticons  (§.  223) 
die  Sclerotica  nach  aussen  durchbohren,  mit  dem  Hohlraum  der  OapstUa  Tenani 
(Note  zu  §.  219)  in  Cqpimunicittion  stehen.  Ausführliches  giebt  Schwalbe  im 
Archiv  für  mikrosk.  Anat.  1870.  Zarte  Bindegewebsbündel,  welche  besonders  rück- 
wärts zahlreiche,  aber  vereinzelt  stehende,  schwarzbraune  Pigmentzellen  enthalten, 
durchsetzen  den  Perichoroidealraum,  und  werden  als  Lamma  fuaca  benannt. 


b)  Cornea. 

Die  durchsichtige  Hornhaut,  Cornea,  dient  der  Camera 
obscura  des  Auges  gleichsam  als  Objectivglas.  Sie  bildet  eine  Art 
von  Aufsatz  an  der  Vorderseite  des  Bulbus,  mit  circa  fünf  Linien 
Querdurchmesser  an  der  Basis,  und  einem  kleineren  Krümmungs- 
halbmesser als  der  Bulbus.  Ihr  grösster  Umfang  kann  keine  Kreis- 
linie sein,  sondern  erscheint  vielmehr  bei  vorderer  Ansicht  als  ein 
quergestelltes  Oval,  indem  die  Sclerotica  sich  oben  und  unten  weiter 
über  die  Cornea  vorschiebt,  als  aussen  und  innen.  Bei  hinterer 
Ansicht  aber  erscheint  die  Peripherie  der  Cornea  kreisrund,  weil 
jenes  Vorschieben  der  Sclerotica  über  sie,  nicht  stattfindet.  — 
Galen  bezeichnet  diese  Haut  des  Auges  mit  dem  Namen  xepato- 
etSi^;  yktii'^  (hornähnliche  Schicht,  von  x-epa?.  Hörn).  Das  von  den 
Neueren  für  Hornhautentzündung  gebrauchte  Wort  Ceratitis,  sollte 
also  richtig  Ceratoiditis  lauten,  denn  xspaTiTiq  hiess  bei  den  Griechen 
der  wilde  Mohn. 

Die  Sclerotica  setzt  sich  unmittelbar  in  die  Cornea  fort,  und 
ist  mit  ihr  Eins,  weil  sie,  wie  früher  gesagt,  gleichzeitig  mit  ihr 
entsteht.  Der  sogenannte  Rand  der  Sclerotica,  welcher  die  Cornea 
umfasst,  ist  nur  die  Marke,  von  wo  aus  die  Sclerotica  ihre  histo- 
logischen Eigenschaften  aufgiebt,  um  andere  anzunehmen,  und  zur 
Cornea  zu  werden. 

Im  Inneren  der  Uebergangsstelle  der  Sclerotica  in  die  Cornea 
findet  sich  ein  kreisförmiger  Raum  (Canalis  Schlemmii),  welcher 
einen  Plexus  feinster  Venen  enthält,  und  weit  genug  ist,  um  eine 
Borste  in  ihn  einführen  zu  können. 

Die  Grundsubstanz  der  Hornhaut,  welche,  ihrer  Glätte  und  Klarheit  wegen, 
dem  Auge  seinen  spiegelnden  Glanz  giebt,  besteht  aus  Fasern,  welche  den  Binde- 
gewebsfasern sehr  nahe  stehen,  sich  aber  von  ihnen  dadurch  unterscheiden,  daw 
sie  beim  Kochen  keinen  Leim,  sondern  Chondrin  geben.  Am  Bande  der  Cornea 
gehen  diese  Fasern  in  jene  der  Sclerotica  über.  In  der  Substanz  der  Cornea  selbst 
verbinden  sie  sich  zu  platten  Strängen,  deren  Flächen  den  Flächen  der  Cornea 
Hjrtl,  Lehrbncli  der  Anatomie.  14.  Aufl.  38 


594  §.  m.  SeUrotiea  «od  Conte. 

entsprechen.  Die  Btränge  kreazen  sich  wohl  mannigfaltige  verflechten  sich  aber 
mehr  nach  der  Breite,  als  nach  der  Tiefe,  indem  es  leicht  gelingt,  mehrere 
Lagen  dieser  platten  Faserstränge  als  Blätter  von  der  Cornea  abzuziehen.  — 
Nebst  den  Fasern  enthält  die  Cornea  zwischen  den  Faserbfindeln  eingestreut,  eine 
grosse  Anzahl  spindel-  and  sternförmiger,  kernhaltiger,  den  Bindegewebskörperchen 
ähnlicher  Zellen  (Hornhautkörperchen,  wahre  Zankäpfel  der  Mikroskopiker), 
deren  Aeste  sich  in  die  spaltförmigen  Lücken  der  Fasersabstanz  hineindrängen, 
wohl  aach  anter  einander  netzftSrmig  anastomosiren.  Eine  zweite  Art  von  Horn- 
hautkörperchen besitzt  Contractilität.  Diese  KOrperchen  verändern  nicht  blos  ihre 
Gestalt,  wenn  die  Cornea  gereizt  wird,  sondern  sie  ändern  auch  den  Ort  ihres 
Aufenthaltes,  indem  sie  in  den  Spalten  und  Lücken  der  Fasersabstanz  förmliche 
Wanderangen  ausführen. 

Die  vordere  Fläche  der  Cornea  wird  vom  geschichteten  Pflasterepithel  der 
Conjanctiva,  die  hintere  von  der  structurlosen  Membrana  Descemetii  s,  Demourni 
überzogen.  Unter  dem  Pflasterepithel  der  vorderen  Comeafläche  vrarde  von 
Bowman,  eine  structarlose  Schichte,  als  anterior  elastic  membrane  beschrieben, 
deren  Selbstständigkeit  jedoch  von  Jenen  nicht  anerkannt  wird,  welche  Bow- 
man*s  Membran  blos  fElr  die  vorderste,  sehr  verdichtete  Schicht  der  faserigen 
Grundsnbstanz  der  Cornea  halten.  —  Nach  dem  Tode  fallen  die  oberflächlichen 
Epithelialzellen  der  Hornhaut  einzeln  oder  g^rappenweise  ab  (vielleicht  schon  im 
Sterben,  beim  Brechen  der  Aug^n),  die  Hornhaut  verliert  ihren  Glanz,  und  wird 
matt.  Auch  bei  gewissen  Augenkrankheiten,  wo  die  Cornea  wie  bestäubt  er- 
scheint, fallen  einzelne  Zellen  aus. 

Die  structurlose  Membrana  Descemetii  (Descemet,  an  9ola  len»  crystallina 
ctUaractae  »edes.  Pari»,  1758)  fahrt  ihren  Namen  mit  Unrecht,  da  sie  schon  1729 
von  E.  Duddel  (TreaUae  im  (he  Diseases  of  the  Homy  Coat  of  Ihe  Eye,  Land,) 
beschrieben  wurde.  An  mehrere  Tage  lang  macerii4en,  oder  an  gekochten  Horn- 
häuten von  Nagethieren  lässt  sie  sich  als  continnirliche  Membran  abziehen,  was 
am  Menschenauge  nur  stückweise  möglich  ist.  Das  einschichtige  Pflasterepitliel 
der  Membrana  Descemetii  setzt  sich  in  die  obere  »Schiclite  des  auf  der  vorderen 
Irisfläche  befindlichen  Epithels  fort. 

Blutgefässe  besitzt  die  Cornea  im  gesunden  Zustande  nicht.  Nur  an  ihrem 
äussersten  Saume  gelingt  es,  Schlingen  von  Capillargefassen  zu  ftillen.  Im  ent- 
zündeten Auge  dagegen,  bei  Geschwürsbildung,  und  bei  der  als  Pannus  bekannten 
Krankheit  der  Cornea,  treten  neugebildcte  Gefassc,  selbst  in  bedeutender  Anzahl 
auf,  wie  an  dem,  in  der  anatomischen  Sammlung  des  Josefinums  befindlichen  Präpa- 
rate Römer's  (abgebildet  in  Amman'«  Zeitschrift  V.  21.  Tab.  I.  Fig.  9  und  11). 
Die  Cornea  sehr  kleiner  Embryonen  dagegen  ist  gefässreich.  Diese  embryonischen 
Gefasso  können,  als  seltenste  Ausnahme,  aucli  im  Auge  des  geborenen  Menschen 
persistiren.  Einen  Fall  dieser  Art  habe  icli  besclirieben  (Ein  präcomeales  Ge- 
fössnetz  im  Menschenauge,  im  60.  Bd.  der  Wiener  akad.  Sitzungsberichte). 

Dieser  Gefasslosigkeit  der  Cornea  steht  ihr  überraschender  Nervenreichthum 
gfegenüber.  Die  von  Schlemm  an  Tliieraugen  aufgefundenen  Nerven  der  Cornea, 
stammen  aus  den  Ciliamerven.  Sie  wurden  von  Bochdalek  (Bericht  über  die 
Versammlung  der  Naturforscher  in  Prag,  IH'M)  auch  im  menschlichen  Auge  nach- 
gewiesen. In  der  faserigen  Grundsubstanz  der  Hornhaut  bilden  die  Priraiti\'fasem 
dieser  Nerven  Netze,  welche  bis  an  das  Epithel  heranreichen.  Einzelne,  marklo« 
gewordene  Primitivfasern  des  Netzes,  sollen  selbst  zwischen  die  Zellen  des  Epitliels 
vordringen,  um  daselbst  frei  zu  endigen. 

Eine  am  Kande  <ler  Cornea  im  Greisenaugo  häufig  vorkommende,  und  als 
Greisenbogen  (GerontoxonJ  bezeichnete  Trübung,  beruht  auf  fettiger  Infiltration 
des  Homhautgewebes. 


§.  228.  dioroidea  nnd  Irii.  595 


§.  222.  Choroidea  und  Iris. 

Die  zweite  Augenschichte  bilden  zwei  gefiissreiche  Membranen : 
die  Äderhaut  (Choroidea)  und  die  Regenbogenhaut  (Iris). 
Beide  wurden  vor  Altere  als  Eine  Haut  zusammengefasst,  welche 
Uvea  hiess. 

a)  Choroidea. 

Die  Choroidea  (richtiger  Chorioidea,  von  x^P^°^  ^^^  eiSo;, 
hautartig;  obwohl  sie  bei  den  griechischen  Autoren  durchweg  als 
Xoposi$Ti5<;  xif<«>''  erscheint),  ist  eine  mit  der  Sclerotica  concentrisch 
verlaufende,  sehr  gefUssreiche  Membran,  daher  sie  auch  Vasculosa 
ocidi  heisst.  Es  lassen  sich  an  ihr  drei  Schichten  unterscheiden. 
Die  äussere  ist  eine  lockere  Bindegewebsschichte,  welche  zahlreiche 
verästelte  Pigmentzellen  enthält.  Sie  wurde  schon  bei  der  Sclerotica 
als  Lamina  fusca  erwähnt.  Die  mittlere  Schichte  schliesst  in  ihrer 
fast  homogenen  Grundlage  die  Blutgefässe  der  Choroidea  ein,  und 
ist  die  eigentliche  Geiassschichte  derselben.  Diese  Blutgefässe  bilden 
an  ihrer  inneren  Oberfläche  ein  Capillargefassnetz ,  als  Lamina 
Ruyschii  („in  jjatris  honorem^'  vom  Sohne  Ruysch's  also  genannt). 
An  ihrer  äusseren  Oberfläche  erzeugen  die  grösseren  Venenstämm- 
chen,  durch  ihre  cigenthümliche,  quirlähnliche  Vereinigung  zu  vier 
bis  fünf  Hauptstäramchen,  die  Fewa  vorticosa  Stenonis  (Strudxilvenen). 
Die  innere  oder  dritte  Schichte  der  Choroidea  besteht  blos  aus 
einer  continuirlichen  Lage  sechseckiger  Pigmentzellen.  Sie  heisst 
lapetum  nigrum.  Zwischen  der  zweiten  und  dritten  Schichte  wird 
noch  eine  structurlose,  glashelle  Zwischenlage,  als  Tunica  elastica 
dioroideae,  erwähnt. 

Die  Choroidea  besitzt  an  ihrer  hinteren  Peripherie  eine  Oeflf- 
nung  für  den  Eintritt  des  Sehnervenmarks.  Bevor  sie  den  vorderen 
Rand  der  Sclerotica  erreicht,  geht  sie  in  den  Strahle nkörper. 
Corpus  ciliare  s.  Orbictdus  cüiai*is  über,  welcher  aus  zwei,  einander 
deckenden  Lagen  besteht.  Die  oberflächliche  Lage  bildet  einen 
graulichweissen,  über  eine  Linie  breiten  Ring  —  das  Strahlen- 
band der  älteren  Anatomen  (Ligamentum  ciliare).  Man  weiss  gegen- 
wärtig, dass  dieses  sogenannte  Strahlenband  ein  Muskel  ist:  Mus- 
culus cüiaris,  auch  Tensor  choroideae.  Er  besteht  aus  glatten,  von 
der  inneren  Wand  des  Canalis  Schlemmii  zum  vordersten  Abschnitt 
der  Choroidea  laufenden,  geradlinigen  Muskelfasern,  zwischen 
welchen,  namentlich  in  den  tieferen  Schichten,  Kreisfasern  einge- 
schaltet liegen  sollen.  —  Die  tiefe  Lage  des  Corpus  ciliare  er- 
scheint  als  ein   Kranz   von   siebenzig    bis   achtzig   Falten   (Corona 

38» 


596  §.  ns.  Cboroidea  nnd  Iris. 

cüiaria),  welche  ihre  freien  Ränder  gegen  die  Axe  des  Auges  kehren. 
Das  Wort  „Falten"  drückt  nur  die  Form  aus,  denn  wahre  Falten, 
d.  i.  Duplicaturen  der  Choroidea,  sind  sie  nicht,  da  sie  als  solide 
Wülstchen  oder  Kämme,  sich  nicht  ausgleichen  lassen.  Sie  erinnern, 
als  Ganzes  gesehen,  an  die  Blättchen  einer  CoroUa  radiata.  Jede 
einzelne  Falte  heisst  Ciliar fortsatz,  Processus  cüiaris.  Dieser 
Name,  welcher  von  den  Wimpern  (Cüia)  der  Augenlider  entlehnt 
ist,  wurde  zuerst  von  Th.  Bartholin  gebraucht:  Processus  ciliares 
sunt  tenum  quaedam  flamenta,  referentia  lineas  nigras,  palpebrarum 
ciliis  similes.  Die  vorderen  Enden  der  einzelnen  Ciliarfortsätze 
liegen  hinter  dem  äusseren  Rande  der  Iris.  Der  festonirte  oder 
zackige  Saum,  durch  welchen  dieser  gefaltete  Theil  der  Choroidea 
sich  als  Corpus  ciliare  von  der  übrigen  schlichten  und  ebenen  Cho- 
roidea absetzt,  heisst  Ora  serrata.  —  Das  Tapeium  nigrum  überzieht 
auch,  und  zwar  in  mehrfachen  Zellenlagen,  die  Falten  des  Corpus 
ciliare,  und  die  hintere  Fläche  der  Iris. 

Das  Tapetum  nigrum  dient,  wie  die  Schwärzung  an  der  inneren  Oberfläche 
aller  optischen  Instrumente,  zur  Absorption  jenes  Lichtes,  welches  bereits  die 
Retina  passirte.  Die  Zellen  dieses  Pigments  sind,  wie  die  Stücke  eines  Mosaik- 
bodens, in  der  Fläche  neben  einander  gelagert,  wobei  ilir  dunkler  Inhalt  durch 
weisse,  helle  Begrenznng^linien  umsäumt  erscheint,  welche  Linien  der  Dicke  der 
Zellenwändc  entsprechen.  Sie  enthalten  kleinste,  mikroskopisch  nicht  mehr  mess- 
bare Pig^entmoleküle  und  einen  hellen  Kern,  sammt  Kemkörperchen.  Der  Kern 
wird  aber  von  der  molekularen  Pigmentmasse  so  umlagert,  dass  er  nur  zufällig 
zur  Anschaimng  kommt,  wenn  die  Zelle-  platzt,  und  ihren  Inhalt  entleert.  Selbst 
an  den  pig^entlosen  Augen  der  Albinos  (Kakerlaken)  finden  sich  die  Pigment- 
sellen, aber  ohne  molekularen  gefärbten  Inhalt  Tapetum  und  Tapete  (von  xa;:»);, 
Teppich,  bei  Homer)  kommt  bei  Virgil  (Aen.  XL  3Ü7)  vor,  als  ein  langhaariger 
Wollenstoff,  welcher  als  Fuss-  und  Bettdecke,  auch  als  Wandtapete  benützt  wurde. 

lieber  den  von  Chesterfield  zuerst  erwähnten,  von  Wallace  als  Mun- 
culua  cUiarU  beschriebenen,  und  von  Brücke  als  Tensor  chorioideae  aufgeführten 
Muskel,  sieh*  H.  Müller  und  A,  Iwaiioff,  im  Archiv  für  Ophthalmologie.  Bd.  III. 
und  XV.  —>  H.  Müller  hat  in  der  Choroidea,  und  zwar  in  Begleitung  der  grösseren 
Arterien  verlaufende,  org^anische  Muskelfasern  entdeckt. 


b)  Iris. 

Die  Regenbogenhaut  oder  Blendung  (Iris)  ist  eine  ring- 
förmige, in  ihrer  Mitte  durch  das  Schloch  (Papilla,  %opTt)  durch- 
brochene, sehr  gefössreiche  Membran,  deren  Ebene  senkrecht  auf 
der  Augenaxe  steht.  Sie  schliesst  in  ihrer  bindegewebigen  Grund- 
lage zweierlei  organische  Muskelfasern  ein :  radiäre  und  kreisförmige, 
und  wird  dadurch  zu  einer  eminent  contractilen  Membran.  Sie 
vertritt  im  Auge  die  Stelle  des  in  allen  dioptrischen  Instrumenten 
zur   Abhaltung   der  Kandstrahlen   angebrachten    Diaphragma,   und 


§.  822.  Choroidea  und  Iris.  597 

lässt  durch  die  mit  der  Ab-  und  Zunahme  des  Lichtes  unwillkürlich 
erfolgende  Erweiterung  und  Verengerung  der  Pupille,  gerade  nur 
die  zum  deutlichen  Sehen  nöthige  Lichtmenge  in  den  hinteren 
Raum  des  Auges  fallen.  Sie  hat  vor  sich  die  Cornea,  hinter  sich 
die  Krystalllinse  mit  ihrer  Kapsel.  Zwischen  Cornea  und  Iris  be- 
findet sich  die  vordere  Augenkammer,  zwischen  Iris  und  Linsen- 
kapsel die  hintere.  Beide  enthalten  eine  wasserklare  Flüssigkeit 
(Humor  aqueus).  Die  hintere  Augenkammer  darf  man  sich  jedoch 
nicht  so  vorstellen,  als  stünde  die  Iris  mit  ihrer  ganzen  Breite  von 
der  Linsenkapsel  ab.  Die  Iris  Hegt  vielmehr  mit  ihrem  inneren 
Rande  auf  der  Linsenkapsel  auf,  so  dass  also  zwischen  Iris  und 
Kapsel  der  Linse,  ein  mit  Humor  aqueus  gefüllter  kreisrunder  Raum, 
als  hintere  Augenkammer  existiren  muss.  Dass  ein  solcher  mit  Humor 
aqueus  gefüllter  Raum  wirklich  vorhanden  ist,  sieht  man  an  gcfrornen 
Augen,  an  welchen  man  zwischen  Iris  und  Linsenkapsel  Eisstück- 
chen des  gefrorenen  Humor  aqueus  hervorholen  kann.  Wo  aber  Eis 
ist,  dort  muss  Wasser  gewesen  sein,  und  wo  Wasser  sein  konnte, 
musste  ein  Raum  für  dasselbe  vorhanden  gewesen  sein. 

Der  äussere  Rand  der  Iris,  Margo  ciliaris,  hängt  mit  der 
Membrana  Descemetii  dadurch  zusammen,  dass  diese  Membran  sich 
an  ihrer  äussersten  Peripherie  in  Fasern  splittert,  welche  in  die 
vordere  Fläche  der  Iris  als  sogenanntes  Ligamentum  pectinatum  iridis 
übergehen.  Reisst  man  die  Iris  von  der  Descemc tischen  Haut 
los,  so  bilden  die  zerrissenen  Fasern  am  Rande  der  letzteren  eine 
zackige  Contour,  welche  eben  die  Benennung  Ligamentum  pectinatum 
veranlasst  zu  haben  scheint.  —  Der  innere  Rand  der  Iris,  Margo 
pupillaris,  säumt  die  Pupille  ein,  welche  nicht  genau  der  Mitte  der 
Iris  entspricht,  sondern  etwas  nach  innen  und  unten  (gegen  die 
Nase)  abweicht.  —  Die  vordere  Fläche  der  Iris  wird  von  einem 
Pflasterepithel  bedeckt,  welches  mit  jenem  der  Membrana  Descemetii 
im  Zusammenhang  steht.  Ihre  verschiedene  Färbung  erhält  die 
Iris  durch  eingestreute  Pigmentzellen,  so  wie  durch  freie  Pigment- 
moleküle. Die  hintere  Fläche  der  Iris  überlagert  ein  Stratum 
schwarzen  Pigments,  als  Fortsetzung  des  Tapetum  nigrum.  Die 
griechischen  Autoren  nannten  die  Iris  und  Choroidea  zusammen 
Traubenhaut:  ^a'Y0£i8T^<;  yvibi^t  (von  ^a^,  Weinbeere,  uva),  weil  sie  zu- 
sammen dem  Balge  einer  Weinbeere  mit  ausgerissenem  Stiele  ähnlich 
sind.  Die  Pupille  stellt  das  Loch  vor,  wo  der  Stiel  der  Beere 
ausgerissen  wurde.     So  erklärt  sich  auch  der  Name   Uvea, 

Im  Bindegewebsstroma  der  Iris  findet  sich,  wie  gesagt,  ein 
doppeltes  System  glatter  Muskelfasern  vor,  als  Sphincter  und  Düa- 
tator  pupillae.  Der  Dilatator  wird  nicht  so  allgemein  zugegeben, 
wie  der  Sphincter.  Die  Wirkung  beider  Muskeln  erfolgt  viel  rascher, 
als    es   sonst  bei   glatten   Muskelfasern    zu   geschehen   pflegt.     Der 


598  §.  sn.  Choroidea  nnd  Iris. 

Sphincter  umgiebt  in  Form  eines  schmalen  Ringes  (eine  halbe 
Linie  breit)  den  Pupillarrand  der  Iris.  Der  Dilatator  liegt  auf  der  hin- 
teren Fläche  der  Iris,  unmittelbar  unter  der  Pigmentschichte.  Er 
entspringt  am  Rande  der  Cornea  vom  Ligamentum  pectlyiatum,  und 
besteht  aus  geraden,  hie  und  da  unter  spitzen  Winkeln  anastomo- 
sirenden  Bündehi,  welche  bis  zum  Pupillarrand  ziehen,  wo  sie  sich 
mit  dem  Sphincter  verweben.  Die  Wirkung  der  Kreisfasern  ver- 
engert die  Pupille,  die  geraden  Fasern  erweitern  sie.  Der  Sphincter 
pupillae  wird,  wie  der  Tensor  choroideae,  vom  Nervus  oculomotorius, 
der  Dilatator  dagegen  vom  Sympathicus  innervirt,  denn  Reizung 
dos  Sympathicus  am  Halse,  erzeugt  Erweiterung,  Reizung  des  Oculo- 
motorius aber  Verengerung  der  Pupille. 

Ich  hielt  den  Dilatator  nicht  für  musknlös,  sondern  für  ein  System  elastischer 
Fasern,  indem  es  mir  unwahrscheinlicli  vorkam,  dass  der  Sphincter  sich  durch 
Lichtreiz,  der  Dilatator  durch  Dunkelheit,  also  Mangel  an  Reiz,  zusammenziehe. 
Besteht  aber  der  sogenannte  Dilatator  nicht  aus  muskulösen,  sondern  aus 
elastischen  Fasern,  so  braucht  nur  der  Sphincter  durch  Lichtmangel  zu  erlahmen, 
um  den  elastischen  Fasern  die  Erweiterung  der  Pupille  zu  überlassen.  Dieser 
Ansicht  trat  A.  Kölliker  (Zeitschrift  für  wiss.  Zoologie,  Bd.  I.  G.  Heft)  durch 
ein,  wenigstens  am  Kaninchenauge  sehr  schlagendes  Experiment  entgegen.  Es 
wurde,  nach  vorläufiger  Abtragung  der  Cornea,  der  Pupillarrand  der  Iris,  welcher 
den  Sphincter  enthält,  ausgeschnitten,  und  der  Best  der  Iris  hierauf  durch  einen 
schwachen  Strom  des  Dubois'schen  Apparates  gereizt.  Bei  wiederholten  Ver- 
suchen ergab  sich  jedesmal  eine  Dilatation  der  Pupille.  Der  Dilatator  pupillae 
muss  also  ein  Muskel  sein,  da,  wenn  er  ein  elastisches  Gebilde  wäre,  auf  seine 
Reizung  keine  Bewegung  erfolgen  könnte.  Ist  demnach  (versteht  sich  beim 
Kaninchen)  der  Dilatator  pnpiUae  ein  muskulöses,  und  kein  elastisches  Gebilde, 
so  bleibt  es  unerklärt,  wanira  Einträufeln  von  narkotischen  Lösungen  in  daa 
menschliche  Auge,  die  Pupille  erweitert.  Die  NarcoticA  sollten  ja  beide  Muskeln 
der  Iris  lähmen,  und  dadurch  an  der  Weite  der  Pupille  nichts  ändern.  In  neuerer 
Zeit  haben  Grünhagen  und  Hampeln  den  Kampf  gegen  die  Existenz  eines 
Dilatator  pupillae  mit  guten  Gründen  fortgesetzt. 

Dass  auch  das  Pigment  der  Uvea,  auf  die  Färbung  der  Iris  Einfluss 
nimmt,  zeigt  der  Umstand,  dass  beim  Fehlen  dieses  Pigments,  wie  bei  den 
Albinos,  die  Iris,  ihres  Blutreichthums  wegen,  roth  erscheint.  Bei  Kindern  finden 
wir  sie  immer  lichter  als  bei  Erwachsenen.  Aristoteles  sagte  schon,  dass  alle 
Kinder  mit  blauen  Augen  geboren  werden,  und  erst  .später  braune  oder  schwarze 
bekommen.  —  Da  das  auf  der  hinteren  Fläche  der  Iris  lagernde  Pigment  bei 
den  Bewegungen  der  Iris  leicht  lose  werden  und  abfallen  könnte,  lassen  es 
Einige  von  einem  durchsichtigen,  wasserhellen  Häutchen  bedeckt  sein,  welches 
die  hinterste  Irisschichte  bilden  soll,  und  für  eine  Fortsetzung  der  später  (§.  225) 
als  Memhraiia  limilaus  Pacini  zu  erwähnenden,  structurlosen  Schiclite  der  Netz- 
haut gehalten  wird. 


§.  S28.  QefftMe  und  Nenren  der  Choroidta  und  Iris.  599 


§.  223.  &efösse  und  Nerven  der  Choroidea  und  Iris. 

a)  Arterien. 

Die  Arterien,  welche  die  zweite  Schichte  des  Augapfels  zu 
versorgen  haben,  stammen  aus  drei  verschiedenen  Quellen.  Diese 
Quellen  sind: 

1.  Die  Arteriae  cUiarea  posticae  brevea  (vier  bis  zehn).  Sie 
kommen  aus  der  Arteria  ophthalmica ,  und  treten,  nach  kurzem, 
rankenförmig  geschlängeltem  Verlauf,  in  der  nächsten  Nähe  des 
Sehnerveneintrittes  durch  die  Sclerotica  hindurch  zur  Choroidea, 
an  deren  innerer  Fläche  sie  sich  in  das  als  Ijxmina  Rwjschn  be- 
zeichnete Capillarnetz  (Membrana  chorio-capUlaris  autorum)  auflösen, 
welches  sich  bis  zur  Ora  serrata  erstreckt. 

2.  Die  Arteriae  ciliares  posticae  longae.  Es  giebt  ihrer  nie  mehr 
als  zwei.  Sie  sihd  gleichfalls  stark  geschlängelte  Aeste  der  Arteria 
ophthalmica,  welche,  nachdem  sie  die  Sclerotica  zu  beiden  Seiten 
des  Sehnerveneintrittes  durchbohrten,  zwischen  Sclerotica  und  Cho- 
roidea  geradlinig  nach  vorn  laufen.  Während  dieses  Laufes  liegt 
die  eine  an  der  Schläfeseite,  die  andere  an  der  Nasenseite,  beide 
somit  ziemlich  genau  in  der  horizontalen  Ebene  des  Augapfels. 
Bevor  sie  den  Ciliarmuskel  und  den  äusseren  Rand  der  Iris  er- 
reichen, —  nicht  aber  wie  geglaubt  wird,  in  der  Iris  selbst  — 
spaltet  sich  jede  in  zwei  Aeste,  welche  in  entgegengesetzten  Rich- 
tungen, auf-  und  absteigend,  von  beiden  Seiten  her  mit  einander 
zu  einem  Kranze  zusammenflicsseu :  Circulus  iridis  arter iostis  major, 
welcher  dem  äusseren  Rande  des  Irisringes  entspricht,  und  aus 
welchem  Aestchen  für  den  Ciliarmuskel,  für  die  Processus  ciliares, 
und  zwanzig  bis  dreissig  etwas  geschlängelte  Zweigchen  für  die 
Iris  selbst  entstehen,  welche  nahe  am  Pupillarrande  der  Iris  einen 
zweiten,  aber  kleineren,  und  nicht  immer  geschlossenen  Kranz  (Cir- 
cidus  iridis  arteriosus  minor)  bilden.  Sehr  feine  Zweigchen  gehen 
aus  dem  Circulus  iridis  arteriosus  major  nach  hinten,  zur  Verbindung 
mit  dem,  von  den  Arterias  ciliares  posticae  breves  gebildeten  Capillär- 
gefUssnetz  der  Choroidea,  welches  man  sehr  mit  Unrecht  als  eine 
eigene  Membran  betrachtete,  und  als  Membrana  chorio-capHlaris 
benannte. 

3.  Die  Arterias  ciliares  anticae  (fünf  oder  sechs).  Sie  stammen 
aus  den  Rami  musculares  der  Arteria  ophthcdmica,  Sie  durchbohren 
die  Sclerotica  an  ihrem  vorderen  Segment,  d.  i.  im  Umkreise  der 
Cornea,  und  treten  in  den  Musculus  dliaris  ein,  dem  sie  Zweige 
geben,  worauf  sie  theils  in  den  Circulus  iridis  arteriosus  myor 
einmünden,    theils    mit    den    Aesten    des    Circulus    major    gegen 


600  8*  S^*  G«AsM  «nd  Ncnren  der  Choroidea  und  Iris. 

den  PupiUarrand  der  Iris  ziehen,  um  daselbst  an    der  Bildung    des 
Circulus  iridis  arteriosus  minor  Theil  zu  nehmen. 

b)  Venen. 

Diesen  drei  Bezugsquellen  arteriellen  Blutes  fiir  Choroidea 
und  Iris,  entspricht  nur  Ein  ableitendes  Venensystem.  Dasselbe 
besteht  aus  vier  bis  fünf  Stämmchen,  welche  an  der  Aussenfläche 
der  Choroidea,  durch  den  Zusammenfluss  vieler,  bogenförmig  zu- 
sammenlaufender kleinerer  Venen  gebildet  werden.  Dadurch  ent- 
stehen Ge&ssfiguren,  welche,  um  einen  passenden  Vergleich  zu 
machen,  das  Bild  eben  so  vieler  Springbrunnen  darstellen,  die  ihr 
Wasser  in  Bogen  nach  allen  Seiten  auswerfen.  Diese  Figuren 
wurden  von  ihrem  Entdecker  N.  Stenson  (1669),  Vasa  vorticosa 
genannt.  Die  Vasa  vorticosa  nehmen  das  Blut  aus  der  Choroidea, 
aus  der  Iris  und  aus  dem  Ciliarkörper  auf.  Die  Stämmchen  der 
Vasa  vorticosa  durchbohren  die  Sclerotica  etwas  hinter  ihrer  grössten 
Peripherie,  und  entleeren  silli  in  die   Vena  ophthaimica  cerehrcdis. 

Allerdings  giebt  es  auch  Venae  ciliares  potUcae  bretea  and  Venae  ciliare* 
anUcae,  Aber  die  potUeae  breoe»  f&hren  nur  ein  Minimum  ron  Blut  aus  der 
Choroidea  und  Sclerotica  zurück,  und  sind  deshalb  äusserst  schwach;  während 
die  winzigen  Ciliares  atUicae  nur  aus  dem  Venenplexus  im  Schiern  m'schen  Kanal 
hervorgehen,  welcbftr  sicherer  Massen  sein  venöses  Blut  nicht  aus  der  Iris«  sondern 
nur  ans  dem  Musculus  ciliaris  erhält.  Venae  ciliares  posticae  hw^ae  fehlen  dem- 
nach gänzlich.  —  Es  verdient  noch  erwähnt  zu  werden,  dass  die  Venen  der  Iris, 
auf  ihrem  Wege  zu  den  Vasa  vorticosa,  sich  zuerst  an  den  freien  Rand  der 
Processus  ciliares  halten,  dann  in  parallelen  Zügen  an  der  inneren  Oberfläche  des 
vorderen  Abschnittes  der  Choroidea  nach  hinten  ziehen,  also  nicht  durch  den 
Musculus  ciliaris  treten,  und  somit  auch  keiner  Compression  durch  diesen  Muskel 
ausgesetzt  sind. 

c)  Nerven  der  Iris  und  Choroidea. 

Sie  stammen  als  Nervi  eäiares  überwiegend  aus  dem  Gangliim 
ciliare  (einige  auch  aus  dem  Nervus  naso-ciliaris).  Ihre  Zahl  kann 
bis  auf  sechzehn  steigen.  Sie  durchbohren  die  Sclerotica  an  ihrem 
hinteren  Umfange,  um  zwischen  ihr  und  Choroidea  nach  vorn  zum 
Musculus  ciliaris  zu  ziehen,  auf  welchem  Wege  sie  in  der  äusseren 
Schichte  der  Choroidea  sich  zu  Netzen  verbinden,  welche  an  ihren 
Knotenpunkten  Ganglienzellen  fuhren.  In  den  Ciliarmuskel  ein- 
getreten, lösen  sie  sich  in  ihre  Primitivfasern  auf,  welche  theils  im 
Muskel  bleiben,  theils  in  die  Cornea  und  Iris  übertreten.  In  der 
Iris  theilen  sich  die  Primitivfasern  wiederholt,  werden  marklos,  und 
bilden  zuletzt  geschlossene  Kndnetze.  Sympathische  Nervenfasern 
sollen  gleichfalls  in  der  Bahn  der  Nervi  ciliares  zur  Iris  gelangen, 
und  den  DHatator  pupillae  innerviren,  während  der  Sphincter  unter 
dem  Einfluss  des  Nervus  oculomotorius  steht,  welcher  die  dicke 
Wurzel  des  Ganglion  ciliare  abgiebt.     Da  das  Gangen  cÜiare  auch 


$.  m.  SetinA.  601 

eine  sensitive  Wurzel  aus  dem  Naeo-cäiaris  bezieht,  müssen  die 
iViem  cäiares  auch  die  im  Auge  empfundenen  GefUhle  (Stechen, 
Beissen,  Brennen,  etc.)  vermitteln. 

lieber  die  Nervi  ciliares  bandelt  umständlich  Bochdalek  (Prager  Viertel- 
jabrschrift  1850.  1.  Bd.). 


§.  224.  Retina. 

Die  Netzhaut  ( Retina *),  von  rete,  Netz,  —  Tunica  nervea 
ocidi)  ist  das  Gehirn  des  Auges.  Sie  folgt  auf  die  Choroidea,  wie 
diese  auf  die  Sclerotica.  Sie  umhüllt  zunächst  den  durchsichtigen 
Kern  des  Auges,  und  erstreckt  sich  mit  der  Mehrzahl  ihrer  gleich 
zu  erwähnenden  Schichten,  von  der  Eintrittsstelle  des  Sehnerven 
bis  zu  jener  Stelle,  wo  die  Choroidea  ihre  Processus  ciliares  zu  bilden 
beginnt  (Ora  serrata).  Am  todten  Aufl^  ist  sie  grau.  Im  lebenden 
Zustande,  mit  dem  Augenspiegel  gesehel^  erscheint  sie  röthlich  und 
hell.  Auf  eine  intensiv  rothe  Färbung  der  lebendigen  Retina  des 
Frosches  (den  sogenannten  Sehpurpur)  wurde  kürzlich  durch 
Professor  Boll  in  Rom  aufmerksam  gemacht. 

Der  Sehnerv  ragt,  nachdem  er  die  Sclerotica  und  Choroidea 
durchbohrte,  als  flacher,  in  der  Mitte  etwas  vertiefter  Markhügel, 
Collicidus  nervi  optici^  in  den  Hohlraum  des  Auges  ein  wenig  vor, 
und  entfaltet  sich  hierauf  zur  becherförmigen  Retina.  In  der  Ver- 
tiefung des  Markhügels  taucht  die  in  der  Axe  des  Sehnerven  ver- 
laufende Ernährungsschlagader  der  Retina  (Arteria  centralis  retinae) 
mit  der  begleitenden  Vene  auf.  Die  Unfähigkeit  des  Markhügels 
zur  Vermittlung  von  Gesichtswahrnehiftungen  begründet  seinen 
Namen:  blinder  Fleck  der  Netzhaut  (Mariotte).  Neben  dem 
Markhügel  nach  aussen,  bildet  die  Retina  zwei  querlaufende  Fält- 
ehen, Plicae  centrales,  zwischen  welchen  eine  durchsichtige,  rund- 
liche, und  vertiefte  Stelle  liegt,  welche  das  schwarze  Pigment  der 
Choroidea  durchscheinen  lässt,  und  deshalb  für  ein  Loch  gehalten 
wurde,  Foi^amen  centrale  Soemmerringii  (richtiger  Fovea  centralis).  Es 
geschieht  ohne  Zweifel  auch  öfters,  dass  die  an  dieser  Stelle  sehr 
dünne  Retina,  durch  die»  Behandlung  während  des  Präparirens,  zer- 
reisst,  also  wirklich  ein  Loch  bekommt.  Die  Ränder  der  Plicae 
und  ihre  nächste  Umgebung  sind  mit  einem  gelben,  durch  Wasser 
extrahirbaren  Pigment  gefärbt.  Dieser  Ort  führt  deshalb  den 
Namen :  Macula  lutea.  Der  Colliculus  und  die  Plicae  centrales  kommen 


*)  Die  Retina  ist  keine  neteartig  durchbrochene  Haat  Der  Name  stammt 
vielmehr  daher,  dass  Galen  diese  Haut  tunica  amphibUstroides  nannte,  weU  sie 
sich  so  nni  den  GD^körper  hemmlegt,*  wie  ein  Fischemetz  («(i^fßXiiaTpov)  nm  die  ge- 
fangenen Fische. 


602  §.  M6.  Bau  der  Retina. 

nur  im  Leichenauge  vor,  dessen  welker  Zustand  die  Spannung  der 
Retina  vermindert,  und  Faltungen  derselben  bedingt,  welche  am 
vollen  lebenden  Auge,  wie  dessen  Untersuchung  mit  dem  Augen- 
spiegel lehrt,  nicht  zu  sehen  sind. 

Meinen  Beobaclitnngen  zufolge  (Med.  Jahrb.  Oest,  28.  Bd.  pag.  14)  besitzt 
der  Sehnerv  dreierlei  Arterien:  1.  Die  Vag^alarterie  versorgt  sein  Neurilemm, 
2.  die  Interstitialarterie  liegt  zwischen  dem  leicht  abziehbaren  Neurilemm  und  dem 
Mark  des  Nerven,  3.  die  eigentliche  Centralarterie,  welche  mit  der  zugehörigen 
Vene  im  Potm  optiats  (Axenkanal  des  Sehnerven,  schon  von  Galen  gekannt)  in 
das  Auge  eindringt,  und  beim  geborenen  Menschen  nur  die  Retina,  nicht  aber, 
wie  es  hie  und  da  noch  geäussert  wird,  auch  den  Glaskörper  und  die  Linsen- 
kapsel versieht  Sie  löst  sich  nämlich  in  der  Retina  in  ein  feines  und  nur  sehr 
schwer  durch  Injectlon  darstellbares  GefKssnetz  auf,  welches  niemals  Zweige  in 
den  Glaskörper  abgiebt,  sondern  am  Beginne  der  Zonula  Zinnii  in  ein  kreisför- 
miges, aber  nicht  g^nz  zu  einem  Ring^  abgeschlossenes  Gefass  übergelit  (Circulus 
oenoatu  reUnaJ,  aus  welchem  die  rOcknihrendcn  Venen  auftauchen.  Nur  beim 
Embryo  verlängfert  sich  die  Centralarterie  des  Sehnerven  zur  Arteria  centralis  cor- 
pori»  mlrei,  welche  durch  die  Axe  des  Glaskörpers  bis  zur  hinteren  Wand  der 
Linsenkapsel  gelang^  wo  sie  sich  strahlig  verzweigt  —  Die  Macula  lutea  wurde 
bisher  für  eine  nur  dem  Menschen-  und  Affenauge  zukommende  EigenthümUch- 
keit  gehalten.  H.  MflUer  hat  sie  jedoch  im  Auge  verschiedener  Wirbel thiere 
der  drei  höheren  Classen  aufgefimden.  —  F.  Merkel,  Über  Macula  lutea  und  Ora 
serrata.  Leipzig,  1870. 


§.  225.  Bau  der  Eetma. 

So  gleichartig  die  Retina  dem  unbewaffneten  Auge  zu  sein 
scheint,  so  complicirt  gestaltet  sich  ihr  Bau  unter  dem  Mikroskop. 
Die  Anatomie  hat  zur  Aufklärung  dieses  Baues  ihr  Bestes  gethan. 
Sie  hat  selbst  mehr  geleistet,  als  die  Physiologie  des  Auges  zu 
verwerthen  im  Stande  ist.  Denn  welche  Betheiligung  am  optischen 
Vorgange  des  Sehens  den  einzelnen  Schichten  der  Retina  zukommt, 
ist  noch  nicht  mit  Sicherheit  festgestellt. 

Die  Netzhaut  besteht  aus  mehreren  Schichten,  von  denen  nur 
eine  (die  Faserschicht)  dieselben  mikroskopischen  Elemente  wie 
der  Sehnerv  fuhrt.  Diese  Schichten  sind,  von  aussen  nach  innen 
gezählt:  1.  die  Stabschichte,  2.  die  äussere  und  innere  Körner- 
schichte, 3.  die  Zellenschichte,  4.  die  Faserschichte,  5.  die 
structurlose  Membrana  limitans, 

1.  Die  St  ab  schichte  besitzt  eine  Dicke  von  circa  0,03  Linien, 
und  wird  leicht  gesehen,  wenn  man  ein  frisch  präparirtes  Auge, 
nach  Wegnahme  der  Sclerotica  und  Ohoroidea,  in  reines  Wasser 
legt,  und  ein  wenig  schüttelt.  Sie  löst  sich  hiebei  in  grösseren  oder 
kleineren  Lappen  von  der  äusseren  Fläche  der  Retina  los,  und 
schwebt  in  der  Flüssigkeit.  Unter  dem  Mikroskope  erscheint  sie 
aus  doppelten  Elementen:  Stäbchen  und  Zapfen,  zusammengesetzt. 


§.  M6.  Ban  der  Betina.  603 

Stäbchen  (BadUt)  nennt  man  schmale^  längliche,  cylindrische  oder 
prismatische  Körper,  welche  auf  der  Aussenfläche  der  Retina  wie 
Palissaden  senkrecht  stehen,  und  an  ihrem  inneren  Ende  in  einen 
zarten  Faden  sich  verlängern.  Die  Substanz  der  Stäbchen  ist  homogen. 
Sie  besitzen  matten  Fettglanz  und  einen  solchen  Grad  von  Zartheit 
und  Veränderlichkeit,  dass  sie  schon  durch  blossen  Wasserzusatz 
ihre  Form  und  ihre  sonstigen  Eigenschaften  bis  zur  Unkenntlichkeit 
verlieren.  Die  Zapfen  (Coni)  sind  ebenfalls  Stäbchen,  aber  nicht 
so  hell  wie  diese,  und  an  ihrem  inneren  Ende  durch  Einlagerung 
eines  ansehnlichen  Kernes  bauchig  aufgetrieben,  mit  einer  gegen  die 
nächstfolgende  Retinaschichte  ziehenden  fadenförmigen  Verlängerung. 
Am  äusseren  Ende  der  Stäbchen  beobachtet  man  Querstreifen,  als 
Spuren  der  Uebereinanderlagerung  plattenförmiger  Elemente.  In 
der  Macula  lutea  finden  sich  nur  Zapfen,  —  in  den  entfernteren  Zonen 
der  Retina  dagegen  prävaliren  die  Stäbchen  über  die  Zapfen.  An 
der  Eintrittsstelle  des  Sehnerven  in  die  Retina^  fehlen  Zapfen  und 
Stäbchen,  und  mit  ihnen  die  Empfindlichkeit  der  Retina  gegen  das 
Licht  (blinder  Fleck). 

Von  ihrem  ersten  Entdecker,  dem  Engländer  A.  Jacob  (1819)  führt  die 
Stabschicht  heute  noch  öfters  den  Namen  Jacob*8che  Membran.  Ritter  erwähnt 
eines  Streifens  oder  Fadens  in  der  Axe  der  Stäbchen  (Ritte rasche  Faser).  Sie 
soll  gegen  das  peripherische  Ende  der  Stäbchen  mit  einer  knopfförmigen  An- 
schwellung enden.  Auch  in  den  Zapfen  vermisst  man  diesen  centralen  Axenfaden 
nicht.  W.  Krause  machte  auf  eine  doppelt  contourirte  Querlinie  aufmerksam, 
durch  welche  die  Stäbchen  in  ein  Aussen-  und  Innenglied  getheilt  werden. 

2.  Die  Körnerschichte  oder  Nuclearformation,  besteht 
aus  rundlichen,  im  frischen  Zustande  hellen,  aber  bald  sich  trübenden 
und  ein  granulirtes  Ansehen  gewinnenden  Körnern  von  0,002'"  bis 
0,004'"  Durchmesser,  in  welchen,  durch  Einwirkung  von  Wasser, 
ein  grosser,  etwas  dunkler  Kern  zum  Vorschein  kommt.  In  dem 
hinteren  Abschnitt  der  Retina  bilden  diese  Körner  zwei,  durch 
eine  helle,  gestreifte,  wahrscheinlich  dem  Stützgerüste  der  Retina 
angehörige  Lage  von  einander  getrennte  Schichten,  und  gehen  erst 
gegen  die  Ora  serrata  zu,  in  eine  einfache  Schichte  über.  Die 
Körner  senden,  nach  Art  bipolarer  Ganglienzellen  zwei  Fortsätze 
ab,  —  einen  nach  innen,  den  andern  nach  aussen.  Kölliker  er- 
klärt die  Körper  für  Zellen,  deren  Kerne  die  Zellenmembran  voll- 
kommen ausfüllen. 

3.  Die  Zellenschichte  bildet  eine  0,008'"  bis  0,02'"  dicke 
Lage  runder,  birnförmiger  oder  eckiger  Zellen,  welche  im  ganz 
frischen  Zustande  durchscheinend  sind,  bald  aber  einen  Kern  mit 
Kernkörperchen  erkennen  lassen.  Sie  sind  wahre  Ganglienzellen, 
wie  sie  in  der  grauen  Substanz  des  Gehirns  gefunden  werden. 
BowmaU;    Corti^    und    Kölliker   entdeckten   an   ihnen   drei  bis 


604  S-  ns«  Ban  der  Retina. 

sechs  blasse  Ausläufer  oder  Fortsätze,  welche  sich  wiederholt  theilen, 
und  dadurch  bis  zu  einer  Dünnheit  von  0,0004'"  verjüngen.  Die 
Fortsätze  mehrerer  Zellen  anastomosiren  theils  unter  einander,  theils 
verbinden  sie  sich  mit  den  nach  innen  gerichteten  Fortsätzen  der 
Kömer  der  zweiten  Schichte,  theils  gehen  sie  in  die  Elemente  der 
nächst  folgenden  Faserschicht  ununterbrochen  über. 

4.  Die  Faserschichte  wird  durch  die  Ausbreitung  der  Seh- 
nervenfasem  in  der  Fläche  gegeben.  Diese  Fasern  sind  marklos, 
halten  die  Feinheit  der  zartesten  Gehimfasern,  und  laufen  in  flachen 
Bündeln  gegen  die  Ora  serrata  zu.  Wegen  successiven  Ablenkens 
dieser  Fasern  in  die  nächst  äusseren  Schichten  der  Netzhaut,  muss 
die  Fasepßchichte  nach  vorn  zu  immer  dünner  werden.  —  An  der 
innem  Oberfläche  der  Faserschicht,  befindet  sich  das  Capillargeföss- 
netz  der  Retina,  welches  in  die  übrigen  Schichten  keine  Ausläufer 
entsendet.  Dieses  Capillarnetz  wird  nur  von  der  Arteria  centralis 
retinae  gespeist,  welche  mit  keiner  anderen  Schlagader  im  Augapfel 
irgend  welche  Anastomose  eingeht. 

5.  Die  letzte  Schichte  der  Retina  nach  innen  ist  die  structur- 
lose  Membrana  limitans,  in  welcher  bisher  keine  geformten  Elemente 
entdeckt  wurden.  Sie  soll  sich  über  die  Ora  serrata  hinaus  fort- 
setzen, und,  wie  früher  schon  bemerkt,  die  Ciliarfortsätze,  so  wie  die 
hintere,  schwarz  pigmentirte  Fläche  der  Iris  überziehen.  Sie  muss 
als  Membrana  limitans  inteima  bezeichnet  werden,  wenn  die  zwischen 
Stab-  und  Körnerschichte  von  M.  Schnitze  als  Membrana  limitans 
externa  beschriebene  structurlose  Schichte,  sich  bestätigt. 

Die  charakteristischen  Formelemente  der  ersten  vier  Schichten 
liegen  in  einem  gemeinsamen  Gerüste  feinster,  unmessbarer  Stütz- 
fasern eingetragen,  deren  Bindegewebsnatur  theils  zugestanden, 
theils  bestritten  wird.  Letzteres  wohl  mit  Recht,  da  diese  Fasern 
von  dem  empfindlichsten  Reagens  auf  Bindegewebe  (Salpetersäure 
und  chlorsaures  Kali)  gar  nicht  alterirt  werden.  Die  Fasern  des 
Gerüstes  gehen  in  grosser  Menge  von  der  fünften  Schichte  (Linü- 
tans)  aus,  und  durchsetzen  unter  unzähligen  Begegnungen  und 
Kreuzungen,  die  übrigen  Schichten  bis  zur  Stabschichte  hin,  wo 
sie  in  die  structurlose  Membrana  limitans  externa  übergehen  sollen. 
Sie  mögen  nach  ihrem  Entdecker,  H.  Müller,  Müll  er' sehe  Fasern, 
oder  ihrer  Richtung  wegen  Radiärfasern,  auch  Stützfasern 
nach  Kölliker  genannt  werden. 

lieber  den  Zusammenhang  der  verschiedenen  Schichten  der 
Retina  unter  einander,  lässt  sich  vermuthungsweise  Folgendes  sagen. 
Die  nach  innen  gehenden  Fäden  der  Stäbchen  und  Zapfen  ver- 
binden sich  sehr  wahrscheinlich  mit  den  nach  aussen  gerichteten 
Fortsätzen  der  Körner,  so  zwar,  dass  die  Fäden  der  Stäbchen  mit 
den   Körnern   der  äusseren   Kömcrschichte,   die  Fäden  der  Zapfen 


§.  236.  Kern  d«8  Auges.  Glaskörper.  605 

mit  jenen  der  inneren  Körnerschichte  zusammenhängen.  Die  nach 
innen  gerichteten  Fortsätze  der  Kömer  verbinden  sich  mit  den  nach 
aussen  gerichteten  Fortsätzen  der  Zellen^  während  die  nach  innen 
sehenden  Fortsätze  der  Zellen  ganz  sicher  mit  den  marklosen  Nerven- 
fasern der  Faserschicht  in  Continuität  stehen.  Dieser  Anschauung 
zufolge^  existirt  ein  ununterbrochener  Zusammenhang  zwischen  den 
Retinaschichten  1,  2,  3,  4,  und  wahrscheinlich  sind  die  in  der  Axe 
der  Stäbchen  gefundenen  Streifen  (Ritte r'sche  Fasern)  mit  ihren 
knopffbrmigen  Anschwellungen,  als  die  letzten  Enden  der  Sehnenpta-. 
fasern  anzusehen. 

Am  gelben  Fleck  der  Retina  fehlt  die  Faser-  und  Kömer- 
schicht,  die  Zellenschicht  liegt  unmittelbar  auf  der  Membrana  limi" 
tans  auf,  in  der  Stabschicht  fehlen  die  Stäbchen,  und  werden  nur 
durch  Zapfen  vertreten.  Da  nun  gerade  die  auf  den  gelben  Fleck 
fallenden  Bilder  äusserer  Schobjecte,  am  schärfsten  gesehen  werden, 
so  ergiebt  sich  wohl  von  selbst,  welche  Elemente  der  Netzhaut  die 
optisch  wichtigsten  sind  (Zellen  und  Zapfen). 

Nur  die  Faser-  und  Zellenschichte  der  Netzhaut  enthalten  Blutgefässe;  — 
aUe  übrigen  Strata  dieser  Membran  sind  geflUslos.  —  Ich  habe  gezeigt,  dass  nur 
die  Retina  der  Säugethiere  und  des  Menschen  Blutgefässe  besitzt,  jene  der  Vögel 
Ampliibicn  und  Fische  vollkommen  gefasslos  ist.  lieber  anangisclie  Netzhäute,  in 
den  Sitzungsberichten  der  kais.  Akad.  XLIII.  Bd. 


§.  226.  Kern  des  Auges.  Grlaskörper. 

Der  Kern  des  Auges,  um  welchen  sich  die  im  Vorigen  abge- 
handelten Häute  wie  Schalen  herumlegen,  besteht  aus  zwei  voll- 
kommen durchsichtigen  und  das  Licht  stark  brechenden  Organen. 
Diese  sind:  der  Glaskörper,  Corptm  vitreum,  und  die  Krystall- 
linse,  Lens  crystallina. 

Der  Glaskörper  füllt  die  becherförmige  Höhlung  der  Retina 
aus,  imd  stellt  eine  Kugel  von  structurloser,  wasserklarer,  sulziger 
Masse  dar,  deren  verdichtete  äusserste  Grenzschicht,  welche  hie  und 
da  vereinzelte  Kerne  enthält,  als  Glas  haut,  Hyaloidea  (von  ^Xo^, 
Glas),  benannt  wird,  obwohl  sie  sich  als  Membrana  sid  juris  nicht 
vom  Glaskörper  ablösen  lässt.  Die  Kugel  hat  vom  eine  tellerförmige 
Vertiefung  (Fossa  patellaris  8.  lenticularis),  welche  von  der  Krystall- 
linse  occupirt  wird.  In  der  Gegend  der  Ora  serrata  lasse  ich  die 
Hyaloidea  sich  in  zwei  Blätter  theilen,  von  denen  das  vordere 
(Zonida  Zinnii)  faserigen  Bau  annimmt,  und  zum  Rande  der  Linsen- 
kapsel geht,  um  sie  in  ihrer  Lage  zu  halten,  während  das  hintere 
zur  tellerförmigen  Grube  einnskt.  Da  die  Pfoesaaus  ciliares  sich  in 
^e  Zonula  hineiii«»  mm  ciliaris  die 


f\^  §.  SS6.  Kern  des  Augei.  Glaskörper. 

ZmiuU  faltig  einstülpt,  so  geschieht  es  in  der  Regel,  dass,  wenn 
ttuui  den  Oiliarkörper  vom  Kerne  des  Auges  abzieht,  das  Pigment 
dossolbon  in  den  Falten  der  Zonula  haften  bleibt,  wodurch  ein 
Krani  schwarzer  Strahlen,  um  die  Linse  herum,  zum  Vorschein 
kommt,  der  wohl  zuerst  Corona  cütaris  genannt  wurde,  —  ein  Be- 
griff^ welchen  man  später  auch  auf  die  Summe  der  Falten  des 
Corpus  ciliare  übertrug.  —  Durch  die  Divergenz  beider  Blätter  der 
Hyaloidea,  entsteht  rings  um  den  Rand  der  Linsenkapsel,  ein  ring- 
förmiger Kanal  (Caiialis  PetM),  welcher  ein  kleines  Quantum  seröser 
Flüssigkeit  enthält,  und  durch  Anstich  seiner  vorderen  Wand 
(Zonula),  aufgeblasen  werden  kann,  wobei  sich  die  durch  die  Ein- 
senkung  der  Processus  ciliares  entstandenen  Falten  dieser  vorderen 
Wand  hervorwölben,  und  somit  ein  Kranz  von  Buckeln  entsteht, 
welcher  den  von  Petit  gewählten  Namen  des  Kanals:  cancd 
godronne,  erklärt. 

Was  den  Bau  des  Glaskörpers  anbelangt,  so  Hess  man  ihn 
lange  Zeit  aus  einem  Aggregate  vieler,  unter  einander  nicht  com- 
municirender,  mit  einer  klaren,  eiweissartigen  Flüssigkeit  gefüllter 
Räume  oder  Zellen  bestehen.  Dieser  Glaube  war  durch  die  Wahr- 
nehmung entstanden,  dass  ein  angestochener  Glaskörper  nicht  gänz- 
lich ausläuft.  Brücke  (Müller' s  Archiv,  1843)  glaubte  gefunden 
zu  haben,  dass  sich  im  Glaskörper  von  Schafen  und  Rindern  con- 
centrische,  geschichtete  Membranen  vorHnden,  von  welchen  die 
äussersten  der  Retina,  die  innersten  der  hinteren  Linsenfläche 
näherungsweise  parallel  verlaufen  sollen,  wodurch  die  Schnittfläche 
eines  mit  essigsaurer  Blcioxydlösung  behandelten  Glaskörpers  das 
Ansehen  eines  feingestreiften  Bandachates  erhält.  Das  essigsaure 
Blei  soll  sich  nämlich  beim  Tränken  des  Glaskörpers  mit  der  Auf- 
lösung, auf  den  concentrischen  Membranen  desselben  niederschlagen, 
und  dieselben  sichtbar  machen.  A.  Hannover  beschrieb  hierauf 
(MuUer^s  Archiv.  1845)  im  Menschenauge  häutige  Septa,  welche 
durch  die  Axe  des  Glaskörpers  gehen,  und  seinen  Raum,  wie  die 
Meridianebenen  einer  Kugel,  in  eine  grosse  Anzahl  von  Sectoren 
theilen,  ungeftihr  wie  die  Fächer  an  der  Querschnittfläehe  einer 
Orange.  Diese  Septa  sollen  so  dünn,  und  so  schwach  lichtbrechend 
sein,  dass  sie  durch  chemische  Mittel  (Chromsäure)  sichtbar  ge- 
macht werden  müssen.  Brücke's  Angaben  wurden  durch  Bowman 
widerlegt  (Lectures  on  tlie  Parts  concenied  in  the  Operations  on  the 
Eye.  London,  1849),  indem  er  zeigte,  dass  die  concentrirte  Blcioxyd- 
lösung nicht  nur  von  der  Oberfläche  des  Glaskörpers,  sondern  von 
jeder  beliebigen  Schnittfläche  desselben  aus,  den  Anschein  einer 
Schichtung  im  Glaskörper  erzeugt.  Nach  demselben  Autor  besitzt 
der  Glaskörper  des  Embryo  eine  bindegewebige  Grundlage.  Die 
Haschen    zwischen    den  Fasern    dieses  Bindegewobsstroma  erfüllt 


S.  ni.  Linse.  607 

gallertartiger  Schleim^  welcher  der  Wharton'schen  Sülze  des 
Nabelstranges  gleicht^  und  als  eine  unvollkommene  Entwicklungs- 
stufe des  Bindegewebes  aufgefasst  wird  (Virchow's  Schleimgewebe). 
An  den  Kreuzungspunkten  der  Fasemetze  kommen  Kernbildungen 
vor.  Die  an  der  inneren  Oberfläche  der  Hyaloidea,  auch  im  Auge 
des  Erwachsenen  aufsitzenden  Kerne,  sind  gewiss  nur  Ueberreste 
derselben. 

Da  im  Embryo  eine  in  der  Axe  des  Nermu  opticun  liegende  Arterie,  sich 
durch  den  Glaskörper  durch  bis  zur  Linsenkapsel  erstreckt,  so  moss  die  Hyaloidea 
dieses  Oeföss  scheidenartig  umgeben,  und  einen  Kanal  bilden ,  welcher  Ton 
Cloquet:  CanaiU  hyaloideus  genannt  vrurde,  und  an  die  Einstülpung  erinnert, 
welche  die  Hyaloidea  beim  Vogelauge  durch  das  Maraupium  8,  Pecten  (eine  ge- 
faltete, in  den  Glaskörper  eindringende  Fortsetzung  der  Choroidea)  erleidet.  Der 
trichterförmige  Anfang  dieses  Kanals  ist  die  Area  Marlegiani,  Im  Erwachsenen 
ist  vom  Kanal  und  vom  Martegiani*schen  Trichter  keine  Spur  zu  sehen. 

Der  CanaJi»  PeUH  ist  nach  Schwalbe  von  der  vorderen  Augenkammer 
aus  ii\jicirbar,  indem  die  Insertionsstelle  der  Zonula  Zinnü  am  Bande  der  Linsen- 
kapsel SpaltOffinungen  besitzt,  durch  welche  die  Augenkammer  und  der  Peti tische 
Kanal  mit  einander  in  Communication  stehen  (De  cmiaU  PetiH  et  de  Zonula  ciliari, 
HaiU,  1870). 


§•  227,  Linse. 

In  der  Krystalllinsc  besitzt  das  Auge  sein  stärkstes,  licht- 
brechendes optisches  Medium.  Nur  ihre  äusseren  anatomischen 
Eigenschaften  sind  zur  Genüge  bekannt.  Sie  wird  von  einer  voll- 
kommen durchsichtigen,  structurlosen,  häutigen  und  spröden  Kapsel 
eingeschlossen,  und  liegt  mit  dieser  Umhüllung  in  der  tellerförmigen 
Grube  des  Glaskörpers.  Die  vordere  Wand  der  Kapsel  ist  zweimal 
so  dick  als  die  hintere,  liegt  frei,  und  wird  nur  vom  Pupillarrande  der 
Iris  berührt.  Die  hintere  Kapselwand  verschmilzt  mit  der  Glashaut 
der  tellerförmigen  Grube.  Hicdurch  wird  bewirkt,  dass  die  Linse 
mit  ihrer  Kapsel  nicht  vom  Posten  weichen  kann,  wozu  noch  die 
als  Zonida  Zinnü  früher  angeführte  Lamelle  der  Hyaloidea,  welche 
sich  an  die  grösste  Peripherie  der  Kapsel  ansetzt,  beiträgt.  Die 
Linsonkapscl  hat  keine  Verbindung  irgend  einer  Art  mit  der  Linse, 
welche  in  ihr,  wie  der  Kern  in  der  Schale,  frei  liegt.  Auf  der 
hinteren  Fläche  der  vorderen  Kapselwand  lagert  eine  einfache 
Schichte  heller,  polygonaler,  kernhaltiger  Kpithelialzellen ,  welche 
zur  Entwicklung  der  Linsenfasern  in  innigster  Beziehung  stehen. 
An  der  hinteren  Linsenfläche  fehlen  diese  Zellen. 

Die  Linse  füllt  ihre  Kapsel  nicht  genau  aus.  Der  Rand  der 
Linse  ist  nämlich  nicht  in  dem  Grade  scharf,  dass  er  ganz  genau 
in  den  durch  die  Divergenz  der  vorderen  und  hinteren  Kapselwand 
gebildeten  spitzen  Winkel  einpasste.   £s  muss  somit  in  der  Kapsel 


608  S.  987.  Linse. 

drinnen,  ein  um  den  Rand  der  Linse  herumgehender,  wenn  auch 
noch  80  unbeträchtlicher  Raum  erübrigen.  Dieser  Raum  enthält 
den  wasserklaren  Humor  Morgagiii,  welcher  aus  der  angestochenen 
Kapsel  aufgefangen  werden  kann,  und  meistens  losgerissene  Zellen 
des  Kapselepithels  enthält.  Die  Linse  selbst  hat  eine  vordere, 
elliptische,  und  eine  hintere,  viel  stärker  gekrümmte,  parabolische 
Fläche.  Als  man  die  Flächen  noch  für  sphärisch  gekrümmt  hielt, 
liess  man  den  Halbmesser  der  vorderen  zu  dem  der  hinteren  sich 
wie  6  :  1  verhalten,  was  beiläufig  genügt,  um  über  die  Verschieden- 
heit der  Krümmungen  eine  Vorstellung  zu  bekommen.  Die  Mittel- 
punkte der  vorderen  imd  hinteren  Linsenfläche  heissen  Pole,  — 
der  grösste  Umfang  der  Linse:  Aequator.  —  Quetschen  der  Linse 
zwischen  den  Fingern  belehrt  uns,  dass  die  Dichtigkeit  des  Linsen- 
materials von  der  Peripherie  gegen  das  Centrum  zunimmt.  —  Bei 
alten  Leuten  findet  man  die  Linse,  ohne  Beeinträchtigung  des  Seh- 
vermögens, fast  regelmässig  bernsteingelb.  Undurchsichtigwerden 
der  Linse  bedingt  den  grauen  Staar,  welcher  durch  Entfernung 
der  Linse  geheilt  werden  kann.  Der  schwarze,  unheilbare  Staar 
beruht  auf  Lähmung  der  Netzhaut. 

Das  histologische  Element  der  Linse  bilden  sehr  feine,  seclisseitig-prisma- 
tische,  abgeplattete  Fasern,  an  welchen  zwei  gegenüberliegende  Seiten  doppelt 
so  breit  sind,  als  die  übrigen.  Die  Fasern  der  oberflächlichen  Linsenstrata  lassen 
an  ihren  Riss-  oder  Schnittstellen  einen  albuminösen  zähen  Inhalt  sieh  hervor- 
drängen, and  wurden  deshalb  von  Kölliker  für  Röhren  erklärt.  Sie  legen  sich 
mittelst  zackiger  Ränder  (letzteres  besonders  schön  bei  Fischen)  an  einander,  und 
bilden  dadurch  Blätter,  welche  an  gehärteten  Linsen,  wenn  auch  nicht  gleich- 
förmig um  die  ganze  Linse  herum,  doch  in  Form  von  SchalenHtücken  abgelöst 
werden  können.  Nur  die  äussersten  Schalen  haben  die  Form  der  Linse.  Je  näher 
dem  Centram  der  Linse,  desto  mehr  geht  die  Form  der  Schalen  in  die  kugelige 
über.  Diese  kugeligen  Schalen  liegen  auch  viel  dichter  an  einander,  als  die 
äusseren,  und  bilden  den  harten  Kern  der  Linse. 

Nicht  an  frischen,  wohl  aber  an  etwas  macerirten,  oder  in  Chromsäure  ge- 
härteten Linsen,  sieht  man  an  der  vorderen  und  hinteren  Fläche,  vom  Mittelpunkt 
aus,  drei  Linien  wie  Strahlen  g^gen  die  Peripherie  der  Linse  laufen,  durch  welclie 
drei  Winkel,  jeder  von  120  Grad,  gebildet  werden.  Die  drei  Linien  der  hinteren 
Fläche  correspondiren  nicht  mit  jenen  der  vorderen;  —  je  eine  hintere  Linie  ent- 
spricht vielmehr  (wenn  auch  nicht  immer  ganz  genau)  der  Mitte  des  Abstandes 
je  zweier  vorderer.  Gegen  die  Peripherie  der  Linse  hin  theilen  sich  diese  Linien 
gabelförmig,  wodurch  die  Figur  eines  verzweigten  Sternes  entsteht.  Die  Strahlen 
dieses  Sternes  müssen  etwas  anderes  sein  als  faserige  Linsensubstanz.  Man  ist 
geneigt,  sie  für  die  Kanten  von  structurlosen  Blättern  anzusehen,  welche  die 
Linsensubstanz  durchsetzen,  senkrecht  auf  den  betreffenden  Flächen  der  Linse 
stehen,  und  die  Ausgangs-  und  £ndpunkte  der  Linsenfasem  enthalten. 

Es  ist  unmöglich,  dass  bei  dem  Nichtübereinstimmen  der  vorderen  und 
hinteren  Strahlenzeichnong  der  Linse,  die  Linsenfasem  wie  Meridiane  um  die 
ganze  Linse  herumlaufen  können,  um  Pol  mit  Pol  zu  verbinden.  Die  Fasern 
mÜBsen  vielmehr  kleinere  Curvensysteme  bilden,  deren  Complexe  Linsenwirbel 
genannt   werden.    Man   kann   sich  das  Veriialten  dieser  Fasern    am    besten    auf 


§.  828.  Humor  aqueu*.  Angenkammern.  Besondere  Membranen  des  embryonischen  Auges.      609 

folgende  Weise  versinnlichen.  Ich  nehme  an  jedem  der  drei  Strahlen  an  der 
vorderen  und  hinteren  Linsenperipherie,  einen  polaren  nnd  einen  peripherischen 
Endpunkt  an.  Die  am  Polarpunkt  eines  vorderen  Strahles  entstehende  Faser, 
endet  am  peripherischen  Punkt  des  entsprechenden  hinteren  Strahles,  und  die  vom 
peripherischen  Punkt  eines  vorderen  Strahles  ausgehende  Faser,  endet  am  Pol- 
punkt des  hinteren  Strahles.  Die  Fasern  aber,  welche  von  den  Zwischenpunkten 
der  vorderen  Strahlen,  zwischen  Pol  und  Peripherie,  ausgehen,  enden  um  so 
näher  am  Pol  der  hinteren  Strahlen,  als  sie  näher  am  peripherischen  Punkt  der 
vorderen  entsprungen  waren. 

Die  Linsenfasem  entwickeln  sich  aus  den  Zellen  des  Epithels  an  der 
inneren  Oberfläche  der  vorderen  Kapselwand,  jedoch  nur  aus  jenen,  welche  dem 
Rande  der  Linse  am  nächsten  liegen.  Jede  dieser  Zellen  verlängert  sich  spindel- 
förmig, und  wächst  in  eine  Faser  aus,  welche  sich  an  beide  Flächen  der  Linse 
spangenartig  anschmiegt.  Die  Kerne  der  zu  Fasern  verlängerten  Zellen,  gehören 
alle  der  vorderen  Linsenfläche  an,  und  bilden  die  sogenannte  Kernzone  der 
Linse.  Ueber  die  Entwicklung  der  Linsenfasem  handelt  Becker,  im  9.  Bd.  des 
Archivs  für  Ophthalmologie. 

Die  Lage  der  Linse  im  Auge  kann  keine  constante,  sondern  muss  eine 
veränderliche  sein.  Die  Linse  erzeugt  nämlich  ein  verkehrtes  Bild,  welches  auf 
die  Retina  fallen  muss,  um  gesehen  zu  werden.  Da  nun  das  Bild  von  nahen  und 
fernen  Objecten,  nicht  in  derselben  Entfernung  hinter  der  Linse  liegt,  sondern  bei 
nahen  Gegenständen  weiter  hinter  der  Linse,  bei  fernen  näher  an  der  Linse,  so 
müssen  im  Auge  Veränderungen  geschehen,  welche  die  Linse  der  Retina  nähern 
oder  von  ihr  entfernen,  damit  von  fernen,  wie  von  nahen  Objecten,  das  Bild  jedes- 
mal auf  die  Retina  fallen  könne.  Die  Fähigkeit  des  Auges,  den  Stand  der  Linse 
durch  einen  unbewussten Vorgang  zu  ändern,  heisst  Accommodations vermögen. 
Der  MusadtM  ciliaris,  und  die  Elasticität  der  Zonula,  scheinen  die  wichtigsten 
imd  thätigsten  Vermittler  der  Accommodation  zu  sein,  über  welche  um  so  mehr 
gestritten  wird,  je  weniger  man  von  ihr  weiss.  —  Hat  das  Auge  sein  Accommo- 
dationsvermögen  für  nahe  Gegenstände  verloren,  so  ist  es  weitsichtig,  im  ent- 
gegengesetzten Falle  kurzsichtig. 

Verbindet  man  den  Mittelpunkt  der  Cornea  mit  dem  der  Linse,  und  ver- 
längert diese  Linie,  bis  sie  die  Retina  trifft,  so  hat  man  die  optische  Axe  con- 
stniirt.  In  ihr  lieg^  der  Drehungspunkt  des  Augapfels.  Er  fallt  genau  an  jene 
Stelle,  wo  die  verlängert  gedachte  Axe  des  Sehnerven,  die  optische  Axe  unter 
einem  spitzen  Winkel  schneidet. 


§.  228.  numor  aqueus.  Augenkammern.  Besondere  Membranen 

des  embryonisclien  Auges. 

Der  Raum  zwischen  Cornea  und  Linse  enthält  wässerige 
Feuchtigkeit,  Humor  aqueus.  Die  grössere  Menge  dieser  Feuchtig- 
keit befindet  sich  zwischen  Cornea  und  Iris  in  der  vorderen 
Augenkamraer.  Ein  kleinerer  Antheil  derselben  nimmt  den  Raum 
zwischen  Iris  und  Linse  ein,  welcher  Raum  als  hintere  Augen- 
kammer gilt.  In  neuester  Zeit  bestreitet  man  die  Existenz  dieser 
hinteren  Augenkammer,  indem  ma  he  der  Linsen- 

kapsel  mit   der  Im    ip  '*4e 

Hyrtl,  Lehrbaeh  dtr  Ajt 


610  S-  2S9.  Eintheilnng  des  Oehöroi^nt. 

schon  früher  (§.  222,  h)  gesagt,  was  der  Anatom  von  dieser  Neue- 
rung zu  denken  hat.  Nur  der  Pupillarrand  der  Iris  liegt  auf  der 
Linsenkapsel  auf;  auswärts  vom  Pupillarrande  der  Iris  dagegen, 
zwischen  der  planen  hinteren  Irisfläche  und  der  vorderen  convexen 
Linsenkapselwand,  lässt  sich  ein  mit  Humor  aqaeus  gefülltes  Spatium, 
als  ringförmige  hintere  Augenkammer  nicht  wegläugnen. 

Der  Humor  aqueus  hält  die  Linse  in  gehöriger  Entfernung  von 
der  Cornea.  Wird  er  bei  Augenoperationen  entleert,  so  legt  sich 
die  Iris  und  die  Linse  an  die  Cornea  an,  und  die  Augenkammern 
sind  verschwunden.  Verschiebt  sich  die  Ijinse,  bei  der  Accommo- 
dation  für  nahe  Gegenstände,  nach  vorn,  so  muss  die  Cornea  con- 
vexer  werden,  was  durch  Beobachtung  constatirt  ist.  Kehrt  diese 
Accommodationsform  oft  wieder,  und  wird  sie  lange  Zeit  unterhalten, 
wie  bei  der  Anstrengung  der  Augen  in  gewissen  Gewerben  und  Be- 
schäftigungen, so  kann  die  Convexität  der  Hornhaut  eine  bleibende 
werden,  und  dadurch  erworbene  Kurzsichtigkeit  entstehen. 

Durch  Wachen dorff  ( Commercium  lit,  Noriciim.  1740)  wurde  eine  feine 
gefässreiche  Haut  im  Auge  des  menschlichen  Embryo  bekannt,  welche  die  Pupille 
verschliesst,  und  deshalb  Membrana  pupillarü  heisst  Sie  existirt  nur  bis  zum 
achten  Embryomonat  in  voller  Entwicklung,  und  beginnt  hierauf  zu  schwinden,  indem 
sich  ihre  Gefässe  vom  Centrum  der  Pupille  gegen  die  Peripherie  derselben 
zurückziehen,  und  sie  selbst  so  durchlöchert  wird,  dass,  wenn  man  die  Gefässe 
des  Auges  mit  einer  feinen  gefärbten  Flüssigkeit  injicirt,  einzelne  Gefässchen  in 
der  Ebene  der  Pupille  frei  ausgespannt,  oder  als  Schlingen  flottirend  angetroffen 
werden.  Selbst  in  den  Augen  Neugeborener  lassen  sich  die  Gefässreste  der 
Membrana  pupUlaris,  in  der  Pupille  zuweilen  noch  durch  Injection  nachweisen.  — 
Die  Blutgefässe  der  Pupillarmembran  sind  Verlängerungen  der  Irisgefässe,  welche 
so  lange  die  Membrana  pupiUaria  existirt,  keinen  Circttlus  arteriosus  minor  bilden, 
sondern  sich  bis  gegen  das  Centrum  dieser  Membran  verlängern,  um  daselbst 
schlingenfbrmig  umzulenken.  Sie  hängen  noch  mit  den  Gefässen  einer  anderen 
embryonalen  Haut  des  Auges  zusammen,  welche  von  H unter  zuerst  aufgefunden, 
durch  Müller  und  Henle  der  Vergessenheit  entrissen  und  genauer  untersucht 
wurde.  Diese  ist  die  Membrana  eap^ulo-pupiUaris,  welche  sich  von  der  gprössten 
Peripherie  der  Linsenkapsel,  durch  die  hintere  Augenkammer  zur  Iris  und  Mem- 
brana pupillaris  erstreckt  (H^iU,  de  membrana  pupillari.  Bonnae,  1832). 


D.  Gehörorgan. 

§.  229.  Eintheilimg  des  Gfehörorgans. 

Das  Gehörorgan  ist  unter  allen  Sinneswerkzeugen  am  meisten 
von  der  Vorderfläche  des  Antlitzes  weggerückt,  und  an  die  Seiten- 
gegend des  Schädels  verwiesen.  £a  besteht,  wie  das  Sehorgan, 
1.  aus  einem  wesentlichen  Theile,  dem  Gehörnerv,  welcher  mit 


S.  SSO.  Ohrmniehel.  61 1 

einer  speeüischen  Empfindlichkeit  ausgerüstet  ist,  für  mechanische 
Erschütterungen,  die  er  als  Töne  wahrnimmt,  und  2.  aus  einer 
Menge  accessorischer  Gebilde,  welche  die  Schallwellen  auf- 
nehmen, leiten,  und  verdichten,  oder,  wenn  sie  zu  intensiv  werden, 
dieselben  abschwächen  und  dämpfen.  Nur  ein  kleiner  und  ziemlich 
unwichtiger  Theil  dieses  complicirten  Sinnesorgans  ist  an  der  Aussen- 
Seite  des  Kopfes  als  äusseres  Ohr  sichtbar.  Alles  Uebrige  liegt  in  der. 
knöchernen  Schädelwand,  und  zwar  in  den  Höhlen  des  Schläfebeins 
verborgen.  Man  kann  deshalb  ein  äusseres  und  inneres  Gehör- 
organ unterscheiden.  Das  innere  besteht  selbst  wieder  aus  zwei 
auf  einander  folgenden,  deutlich  geschiedenen  Abtheilungen,  so  dass 
es  zur  leichteren  Uebersicht  des  Ganzen  zweckmässiger  ist,  das 
Gehörorgan  in  eine  äussere  Sphäre  (Ohi-muschel  und  äusserer 
Gehörgang),  eine  mittlere  (Paukenhöhle),  und  eine  innere  (Laby- 
rinth) zu  gliedern.  Die  mittlere  und  innere  Sphäre  sind  der  Be- 
obachtung im  lebenden  Menschen  so  gut  als  unzugänglich.  Auch 
die  anatomische  Untersuchung  derselben  ist  eine  der  schwierigsten 
Aufgaben  der  praktischen  Anatomie.  Obwohl  wir  ihren  Bau  so 
genau  als  jenen  irgend  eines  anderen  Sinneswerkzeuges  kennen,  ist 
dennoch  die  Pathologie  der  Krankheiten  der  inneren  Sphäre  des 
Gehörorgans  ein  ebenso  unbekanntes  Feld,  als  die  Kunst,  sie  zu 
heilen,  bisher  arm  an  Mitteln  und  Erfolgen  war. 


I.  A.eu8öere  Sphäre. 
§•  230.  OhrmusclieL 

Die  Ohrmuschel  (Auris,  o5(;,  gen,  (I)t6<;,  bei  Dichtern  häufig: 
Auricula,  wie  z.  B.  in  der  Impertinenz  des  Persius:  aurictdas  asini 
quis  non  habet  f)  verdankt  ihre  so  charakteristische  Form  einem  sehr 
elastischen  Faserknorpel,  welcher  im  Ganzen  die  Form  eines 
weiten  Trichters  hat.  Der  Trichter  kehrt  seine  Concavität  vom 
Schädel  ab,  seine  Convexität  dem  Schädel  zu.  Sein  äusserster, 
etwas  verdickter,  und  leistenformig  aufgekrempter  Rand  —  die 
Leiste,  Helix  —  entspringt  an  der  concaven  Fläche  des  Knorpels, 
über  dem  Anfang  des  Meatus  aucUtorius  extemas,  als  Spina  s,  Orista 
hdicü.  Verfolgt  man  am  hinteren  Rande  der  Ohrmuschel  die  Ijciste 
des  Ohrknorpels  mit  den  Fingern  nach  abwärts,  so  fühlt  man,  dass 
sie  nicht  in  das  Ohrläppchen  übergeht,  welches  letztere  blos  durch 
die  Haut  gebildet  wird.  Fehlen  der  Leiste  bedingt  jene  unan- 
genehme Ohrform,  welche  hiafiir  ^«*  Bftce,  ab 
unschöne  Seltenheit  oadi  ^ 


6l2  $.  SSO.  Ohnniisckel. 

ist  das  Griechische  Tai;,  d.  i.  das  Gewundene,  die  Schraube,  bei  Ari- 
stoteles das  Schneckengehäuse,  bei  Cicero  Schlingpflanze.  Mit 
der  Leiste  mehr  weniger  parallel,  und  durch  die  schiffförmige 
Grube  von  ihr  getrennt,  verläuft  die  Gegenleiste  (Antthelix), 
welche  über  der  Spina  kdicis  mit  zwei  convergirenden  Schenkeln 
(Crura  furcata)  beginnt.  Vor  dem  Eingange  in  den  äusseren  Ge- 
hörgang, verdickt  sich  der  Ohrknorpel  zum  sogenannten  Bock, 
oder  zur  Ecke,  Tragus,  von  TpatYo?,  Bock.  Die  am  Tragus  sprossen- 
den, steifen  Haare,  hielt  man,  wenn  sie  aus  dem  Ohre  wie  Büschel 
herausstehen,  und  dadurch  an  die  aures  acutae  der  bocksfüssigen 
Satt/ri  mahnen,  flir  ein  Attribut  geiler  Menschen,  und  nannte  sie 
deshalb  Bockshaare,  Hirci  (Hircus  =  Tpifo;),  wodurch  der  Trabis 
zu  seinen,  sonst  nicht  zu  erklärenden  Namen  gekommen  sein  mag. 
Der  Tragus  überragt,  wie  eine  aufstehende  Klappe,  den  Anfang 
des  äusseren  Gehörgangs  von  vom  her,  und  wird  von  der  ihm 
gegenüberstehenden  Gegenecke  (Gegenbock,  Antitragus),  durch 
die  Incufura  intertragica  getrennt.  Die  vertiefteste  Stelle  der  Ohr- 
muschel zieht  sich  als  Concha  trichterförmig  in  den  äusseren  Gehör- 
gang  hinein.  —  Der  Ohrknorpel  besitzt  ein  sehr  fest  adhärirendes 
PericJiofidrium.  Elastisch -fibröse  Bänder,  vom  Jochfortsatz  und 
Warzenfortsatz  entspringend,  befestigen  ihn  in  seiner  Lage,  und 
erlauben  ihm  eine  gewisse  Beweglichkeit.  Der  mit  Wollhaaren  und 
Talgdrüsen  besonders  in  der  Concha  reichlich  ausgestattete  Haut- 
überzug der  Ohrmuschel,  hängt  an  der  concaven  Fläche  des  Knor- 
pels fester,  als  an  der  convexen  an,  und  bildet  unter  der  Inclmra 
intertragica  einen,  mit  fettlosen,  blutgefass-  und  nervenarmcn  Binde- 
gewebe gefüllten  Beutel  —  das  Ohrläppchen,  Lohns  s.  Ijobidus 
auriculae  —  welcher,  wie  die  Ohrzierrathen  der  Wilden  beweisen 
eine  ungeheure  Ausdehnbarkeit  besitzt,  und  beim  Ohrenstecheu 
dem  ersten  Opfer  weiblicher  Eitelkeit,  weder  erheblich  schmerzt 
noch  blutet.  —  Kein  Ohr  eines  Thieres  besitzt  ein  Ohrläppchen 
und  kein  im  Wasser  lebendes  Säugethier  besitzt  eine  Ohrmuschel 
Der  Name  lobtis  stammt  von  Xcßsiv,  abschneiden,  solebant  enim  haue 
partem  turpiter  ßugitiom  ahscindere,  ad  manifestanda  »cetera  (Spige- 
liu8.  lib.  L  cap.  1), 

Der  Ohrknorpel  hat  ausser  den  Muskeln,  welche  ihn  als 
Ganzes  bewegen  (Levator,  Attrahens,  Eetrahens ,  g.  158,  4),  auch 
einige  ihm  eigenthümliche,  auf  Veränderung  seiner  Form  berechnete 
Muskeln,  welche,  da  sie  au  ihm  entspringen  und  endigen,  bei  den 
Gesichtsmuskeln  nicht  berücksichtigt  wurden.  Der  Muscidm  hdicis 
major  entsteht  in  der  Concavität  des  Ohrknorpels,  an  der  Spina 
heltcis,  geht  nach  vor-  und  aufwärts,  und  inseriii;  sich  an  der  IJm- 
beugungsstelle  des  Helix  nach  hinten.  —  Der  Musculus  hdicis  minor 
liegt   auf  dem  Anfange   der  Spina  hdicis;  —   der  Musculus  tragicus 


§.  281.  AAnsserer  GehSri^ng.  613 

auf  der  vorderen  Fläche  des  Tragus;  —  der  Musculus  antitragicus 
geht  vom  unteren  Ende  des  Antihelix  zum  Antitragus;  —  der  Mus- 
culus  trai\8ver8U8  auriculae  besteht  aus  mehreren  blassröth liehen 
Bündeln,  welche  an  der  eonvexen  Seite  des  Ohrknorpels  die  beiden 
Erhabenheiten  verbinden,  welche  der  Concha  und  der  schifFförmigen 
Grube  entsprechen.  Die  praktische  Unwichtigkeit  dieser  Muskeln 
entschuldigt  ihre  kurze  Abfertigung.  —  Die  Ohrmuschel  leistet 
überhaupt  beim  Menschen  weit  weniger  für  die  Aufnahme  von 
Schallstrahlen,  als  bei  Thieren,  welche  ihre  grossen  tütenförmigen 
Ohren,  beliebig  einer  Schallquelle  zuwenden  können.  Verlust  der 
Ohrmuschel  schwächt  deshalb  das  Gehör  nur  sehr  unbedeutend. 
Thiere,  welche  uns  an  Schärfe  des  Gehörs  weit  übertreffen, 
haben  gar  kein  äusseres  Ohr,  wie  die  Vögel.  Ein  Darwinianer 
könnte  die  Ohrmuschel  nur  für  ein  verwendungslos  gewordenes, 
aber  durch  Vererbung  sich  erhaltendes  Gebilde  ansehen. 

Zuweilen  findet  sich  ein  Mnskel  am  Tragus,  welcher  von  Bantorini, 
Mtuciihi9  incwnrae.  mnjoris  aurindae,  von  Theile:  2>i/a/ator  «m<?/ia«  genannt  wird. 
Ich  sah  ihn  vom  vorderen  Umfange  des  äusseren  Oehörganges  entspringen,  von 
wo  er  nach  ab-  und  auswärts  zum  unteren  Rande  des  Tragus  verlief,  welchen  er 
nach  vom  zieht,  und  den  Raum  der  Conclia  dadurch  vergrössert. 

Mir  ist  kein  Beispiel  bekannt,  von  sichergestellter  willkürlicher  Oestaltver- 
änderung  der  Ohrmuschel  durch  das  Spiel  dieser  kleinen  Muskelchen.  Dagegen 
kommt  willkürliches  Bewegen  der  Ohrmuschel  als  Ganzes,  durch  die  in  §.  158 
angeführten  Ohrmuskeln,  welche  am  Schädel  entspringen,  und  an  der  Ohrmuschel 
endigen,  nicht  so  selten  vor.  Haller  führt  (Elem.  phys.  Toni.  V,  pag.  190)  viele 
hieher  gehörige  Fälle  auf,  und  B.  S.  Albin,  ein  berühmter  Anatom  des  vorigen 
Jahrhunderts,  nahm,  wenn  er  über  die  Ohrmuskeln  vortrug,  jedesmal  die  Perücke 
ab,  um  seinen  Schülern  zu  zeigen,  wie  sehr  er  die  Bewegungen  der  Ohrmuschel 
in  seiner  Macht  hatte. 


§.  231.  Aeusserer  öeliörgaiig. 

Der  äussere  Gehörgang  wird  in  den  knorpeligen  und 
knöchernen  abgetheilt.  Der  knorpelige  Gehörgang  geht  aus 
dem  Knorpel  des  äusseren  Ohres  hervor;  —  der  knöcherne  bildet 
einen  integrirenden  Bestandtheil  des  Schläfebeins.  Die  Continuität 
der  unteren  Wand  des  knorpeligen  Gehörgangs  wird  durch  zwei 
bis  drei  Einschnitte  (IncUurae  Santonnianae)  unterbrochen.  Auch 
an  der  hinteren  oberen  Wand  dieses  Ganges  fehlt  die  Knorpel- 
substanz, und  wird  durch  einen  Streifen  fibrösen  Gewebes  vertreten. 
—  Die  Länge  beider  Gänge  zusammen  variirt  von  neun  Linien  bis 
einen  Zoll  und  darüber.  An  der  oberen  Wand  muss  sie  geringer 
sein  als  an  der  unteren,  weil  die  Ebene  des  Trommelfells,  welche 
den  Gang  nach  innen  zu  abscldiessti  nicht  yertical  steht,  sondern 
mit   ihrem   unteren   Rande,  .n 


614  §.931.  Aeas8«r«r  6«hSrgftng. 

welchen  die  obere  Wand  des  äusseren  Gehörganges  mit  dem 
Trommelfell  bildet,  wird  sonach  ein  stumpfer,  jener  zwischen  der 
unteren  Gehörgangswand  und  dem  Trommelfell  ein  spitziger  (45") 
sein.  —  Die  Weite  des  Gehörgangs  bleibt  sich  nicht  an  jedem 
Querschnitte  gleich.  Dass  Anfang  und  Ende  des  Ganges  die 
weitesten  Stellen  desselben  sind,  wird  allgemein  zugegeben.  Die 
engste  Stelle  des  Ganges  aber  gehört  dem  Meatus  cartäagineus  an. 
Sie  liegt  der  äusseren  Mündung  des  Ganges  nahe  genug,  um  ge- 
sehen werden  zu  können.  —  Die  Verlaufsrichtung  des  Ganges  lässt 
sich  nur  schwer  durch  Worte  anschaulich  machen.  Allgemein 
ausgedrückt  bildet  sie  einen  nach  oben,  hinten,  und  innen  gerichteten 
Bogen.  Der  knorpelige  Gang  lässt  sich  durch  Zug  am  Ohre  nach 
rück-  und  aufwärts,  mit  dem  knöchernen  in  eine  gerade  Richtung 
bringen,  was  für  die  ärztliche  Untersuchung  des  äusseren  Ohres 
Wichtigkeit  hat.  Eine  Sammlung  von  Wachsabgüssen  des  äusseren 
Gehörganges  macht  es  mir  anschaulich,  ,wie  wenig  die  anatomischen 
Verhältnisse  desselben  in  verschiedenen  Individuen  sich  gleichen, 
selbst  nicht  einmal  an  beiden  Ohren  desselben  Menschen. 

Eine  Fortsetzung  des  Integuments  kleidet  die  innere  Ober- 
fläche des  äusseren  Gehörgangs  aus.  Sie  verdünnt  sich  um  so 
mehr,  je  mehr  sie  sich  dem  Trommelfelle  nähert,  und  überzieht 
auch,  als  äusserst  dünnes,  nur  aus  kärglichen  Bindegewebsfasern 
bestehendes  Häutchen,  die  äussere  Oberfläche  desselben.  Sie 
besitzt,  so  weit  sie  den  knorpeligen  Gehörgang  auskleidet,  nebst 
wahren  Talgdrüsen,  auch  sehr  zahlreiche  tubulöse,  den  KSchweiss- 
drüsen  gleich  gebaute  Drüschen,  deren  knäuelfiirmig  aufge- 
wundener Schlauch,  sich  in  den  Knorpel  selbst  einbettet.  Diese 
Drüschen  secerniren  den  als  Ohrenschmalz  bekannten,  gelblichen, 
an  der  Luft  zu  Borken  erhärtenden,  bitter  schmeckenden  StoflF 
(Cerumen,  vielleicht  contrahirt  aus  cera  aurium),  und  heissen  des- 
halb Glandulae  ceruminales,  deren  Anzahl  nach  Buch  an  an  über 
tausend  beträgt.  Auch  an  kleinsten  Tastwärzchen  und  Wollhaaren 
fehlt  es  nicht,  welche  letztere  besonders  am  Beginn  des  äusseren 
Gehörganges  dicht  stehen,  und  zuweilen,  wenn  sie  an  Länge,  Dicke, 
und  Steifheit  zunehmen,  die  aus  dem  Ohre  büschelförmig  heraus- 
ragenden  sogenannten  Bockshaare  (Hirci)  darstellen.  Diesen  Haar- 
wuchs im  äusseren  Gehörgang  trifft  keineswegs  der  Vorwurf  eines 
nachtheiligen  Einflusses  auf  die  Schallleitung,  da  wir  selbst  noch 
mehr  Haare  in  den  Gehörgang  bringen  können,  zum  Beispiel  ein 
WoUkügelchen,  ohne  Abnahme  unseres  Hörvermögens  zu  bemerken. 

Die  Verbindung  zwiBchen  dem  knorpeligen  und  knöchernen  Gehörgang^ 
wird  80  bewerkstelligt,  dMs  das  innere  Ende  des  knorpeligen,  das  äussere  Ende 
des  knOohemen  amrahmt,  und  durch  laxes  Bindegewebe  so  mit  ihm  zusammen* 
hlingt,  dass  der  OehOrgang,   wie   ein   Theaterperspectiv  durch  Zug  am  Ohre  sich 


§.  S8S.  Trommelfell.  615 

etwas  verlängern  lässt,  welche  Verlängerung  bis  zum  Aasreissen  des  knorpeligen 
Ohres  getrieben  werden  kann.  —  Durch  die  Incimrae  Santorim  des  knorpeligen 
Gehörganges  kann  ein  Abscess,  welcher  in  der  Ohrendrüsengegend  entstand,  sich 
Bahn  in  den  MetUus  audüorius  brechen,  was  häufig  geschieht.  —  Da  die  Quer- 
schnitte des  Oehörganges  Ellipsen  und  keine  Kreise  geben,  so  wird,  wenn  ein 
runder  Körper,  z.  B.  eine  Erbse,  in  den  Gang  gerathen  ist,  und,  seines  Anschwellens 
wegen,  nicht  mehr  bei  seitlicher  Neig^g  des  Kopfes  von  selbst  herausgelangen 
kann,  noch  etwas  Raum  vorhanden  sein,  um  ein  Instrument  hinter  ihn  zu  schieben, 
und  ihn  damit  herauszubringen. 


§.  232.  Trommelfell. 

Das  Trommel-  oder  Paukenfell,  Trommelhaut  (Membrana 
tympani)  gehört  weder  der  äusseren  noch  inneren  Sphäre  an,  sondern 
liegt  als  Scheidewand  zwischen  beiden.  Da  man  jedoch  wenigstens 
einen  Theil  seiner  oberen  Contour,  bei  geschickter  Behandlung  des 
Ohres  und  richtiger  Stellung  des  Kopfes  gegen  das  Licht,  über- 
sehen kann,  so  schliesse  ich  es  dem  äusseren  Gehörgange  an.  Es 
vermittelt  die  Uebertragung  der  Schallwellen  vom  äusseren  Gehör- 
gange auf  die  Kette  der  Gehörknöchelchen,  und  entspricht  durch 
seine  Spannung  und  Elasticität  vollkommen  dem  akustischen  Be- 
dürfniss,  welches,  um  den  Ueb ergang  von  Luftwellen  auf  feste 
Körper  zu  erleichtem,  der  Intervention  einer  gespannten  Membran 
bedarf.  Ein  am  inneren  Ende  des  knöchernen  Meatus  auditorius 
befindlicher  Falz  (Sulcua  pro  membrana  tympani)  nimmt  die  längs- 
ovale Umrandung  des  Trommelfells  wie  in  einem  Rahmen  auf.  Der 
im  Falz  befestigte  verdickte  Randsaum  des  Trommelfells  (Annulua 
tendinosus)  enthält  theils  einzeln  stehende,  theils  in  Gruppen  ange- 
häufte Knorpelzellen.  Er  sollte  deshalb  richtiger  Annidits  cartilagineus 
heissen.  Die  äussere  Fläche  des  Trommelfells  erscheint  concav,  die 
innere  convex.  Die  tiefste  Stelle  der  äusseren  Concavität,  welche 
dem  Ende  des  durch  die  Trommelhaut  durchscheinenden  Hammer- 
griffes entspricht,  heisst  Umbo.  Nahe  am  oberen  Rande  wird  die 
Trommelhaut  durch  den  Processua  minor  des  Hammers,  welcher 
sich  an  sie  von  innen  her  anstemmt,  etwas  hervorgetrieben. 

Trotz  ihrer  Dünnheit,  besteht  die  Trommelhaut  doch  aus  drei 
darstellbaren  Schichten,  von  welchen  die  äussere  der  Haut  des 
Meatus  audttorius  und  ihrer  Epidermis,  die  innere  der  Schleimhaut 
der  Trommelhöhle  angehört,  die  mittlere  und  zugleich  mächtigste 
aber  eine  aus  bandartigen  Bindegewebsfasern  bestehende,  nicht 
contractile  Membran  ist,  an  welcher  sich  wieder  eine  äussere  radiäre, 
und  eine  innere  Kreisfaserschiohte  unterscheiden  lässt.  Dass  das 
Epithel  der  inneren  Schichte  der  Trommelliaat  flimmert,  witv^ 
Einigen  behauptet. 


616  $>  233.  Tr^auMlkoUe  nio4  OhitromftU 


Die  Ebene  des  Trommelfells  steht  nicht  senkrecht  auf  der 
Axe  des  Gehörgangs,  sondern  streicht  schief  nach  innen  und  unten, 
so  dass,  wenn  mau  sich  beide  Trommelfelle  in  dier>er  Richtung  nach 
einwärts  und  unten  verlängert  denken  würde,  sie  sich  unter  einem 
Winkel  von  130^  schneiden  müssten. 

\)ZB  ftchon  lange  aufgegebene  Foramen  Rivhu  ^A.  Q.  Eicinns,  de  anditii^^ 
ritii«.  Lipsiae,  1717),  wurde  neaester  Zeit  durch  Bochdalek  in  inte^/rttm  resti- 
tairt.  Es  findet  sich  dasselbe  als  ein  einfacher  oder  doppelter  Kanal  vor.  welcher  in 
der  Nähe  des  oberen  Randes  der  inneren  Flüche  des  Paokenfells,  diclit  hinter 
dem  knrzen  Fortsatz  des  Hammers  begannt,  diese  Membran  schräge  nach  ein- 
lud abwärts  durchbohrt,  tmd  im  Umbo,  hinter  dem  HammergTi^.  nach  aa»«en 
mOndet.  Der  Kanal  lässt  sich  mit  einer  dfinnen  Schweinsborste  sondiren  'Pragt'r 
Vierteljahresschrift,  1866.  1.  Bd.).  Die  duikbare  Wisitenschaft  wird  diesen  Fand 
als  CanalU  Bochdalekü  bewahren,  da  er  doch  gewiss  etwas  ganz  anderes  betriäft. 
als  Rivinns  gemeint  hat.  Man  hat  das  Foramen  Ricini  bisher  nur  bei  jenen 
Menschen  zugegeben,  welche,  ohne  eine  Zerreissung  oder  geschwürige  Perforation 
des  Trommelfells  erlitten  zu  haben,  Tabakrauch  aus  den  Ohren  blasen  können. 

Die  Gefässe  und  Nerven  des  Trommelfells  gehören  vorzugsweise  der  äusseren, 
vom  Integument  des  äusseren  Gehörgangs  abgeleiteten  Lamelle  desselben  an,  und 
sind  Fortsetzungen  der  Gefasse  und  Nerven  der  oberen  Wand  des  äusseren  Gehör- 
ganges, welche  sich  auf  die  äussere  Fläche  des  Trommelfells  herabschlagen.  Der 
aus  dem  Ramu»  aurtculctrü  va^  stammende  Nerv  des  Trommelfells,  ist  sensitiver 
Natur,  und  erklärt  uns  die  hohe  Empfindlichkeit  dieser  Haut  gegen  mecbanisfche 
Berührung.  £s  versteht  sich  auch  dadurch,  warum  krankhafte  Processe  in  der 
äusseren  Schichte  des  Trommelfells  meistens  mit  Schmerzen  verbunden  ^ind, 
während  bei  ihrem  Auftreten  in  der  inneren  Schichte,  wie  es  gewöhnlich  bei 
chronischem  Katarrh  der  Trommelhöhle  der  Fall  ist,  die  Kranken  nur  durch  die 
•tetig  zunehmende  Schwerhörigkeit,  nicht  aber  durch  schmerzhafte  Gefühle,  auf 
ihr  Leiden  aufmerksam  gemacht  werden. 


II.  ^Mittlere  Sphäre. 

§.  233.  TrommelhöMe  und  Ohrtrompete. 

Die  Trommel-  oder  Paukenhöhle  CCavum  O/mparnj  befindet 
sich  zwischen  dem  Trommelfell  und  dem  Felsentheile  des  Schläfe- 
beins. Grösstentheils  von  knöchernen  Wandungen  umgrenzt,  und 
nach  aussen  durch  die  Trommelhaut  abgeschlossen,  kann  si<'  mit 
jener  Art  von  Pauke  verglichen  werden,  welche  beim  Dienste  der 
Cybele  gebraucht  wurde,  und  Tj|A7:avcv  hicss,  —  daher  ihr  Name. 
Sic  hängt  durch  die  Eustachi'sche  Ohrtrompete  mit  der  Rachen- 
höhle zusammen,  wird  von  dieser  aus  mit  Luft  gefüllt,  und  enthält 
die  Gehörknöchelchen.  Die  äussere  Wand  der  Trommelhöhle  bildet 
die  Membrana  tympani.  Alle  übrigen  W^ände  sind  knöchern  und 
sehr  uneben.  Ich  unterscheide:  die  hintere  Wand,  w^elche  in  die 
Zellen  der  Pars  mastoidea  des  Schläfebeins  fuhrt,  —  die  obere  ist 


§.  288.  Trommelhöhle  und  Ohrtrompete.  617 

ein  dünnes,  massig  nach  oben  gebauchtes  Knochenblatt,  welches 
unter  dem  Namen  Tegmentum  tympanL  als  eine  Verlängerung  der 
vorderen  oberen  Wand  der  Schläfebeinpyramide  in  der  Knochen- 
lehre beschrieben  wurde,  —  die  untere  Wand  entspricht  der 
unteren  Fläche  der  Pyramide,  —  die  vordere  ist  die  kleinste,  und 
zeigt  die  Paukenmündung  der  Eustachi'schen  Trompete,  und,  über 
dieser,  den  Anfang  des  ITalbkanals  für  den  Paukenfellspanner 
(SemicancUis  tensoris  tympani).  Die  innere  Wand  besitzt  die  zahl- 
reichsten Merkwürdigkeiten,  welche  sind: 

1.  Das  ovale  Fenster  (besser  das  bohnenförmige,  Fenestra 
ovalis  s.  vesiibuU),  zum  Vorhof  des  Labyrinthes  führend.  Es  wird 
durch  die  Fussplatte  des  Steigbügels  verschlossen. 

2.  Unter  dem  ovalen  Fenster  Hegt  das  runde  Fenster  (Fenestra 
rotunda  s.  triquetra)  zur  Schnecke  leitend,  und  durch  ein  feines 
Häutchen  geschlossen,  welches  seit  Scarpa  den  Namen  Membrana 
tympani  secundaria  fiihrt.  Die  Ebene  des  runden  Fensters  bildet  mit 
jener  des  ovalen  fast  einen  rechten  Winkel.  Man  sieht  deshalb  am 
maccrirten  Schläfebein,  durch  den  äusseren  Gehörgang  nur  das  ovale 
Fenster  gut,  das  runde  aber  unvollkommen,  oder  gar  nicht.  Die 
Membrana  tt/mpani  secundaria  besteht,  wie  die  eigentliche  Trommel- 
haut, aus  einer  mittleren  fibrösen  Schichte,  an  welche  sich  aussen 
und  innen  die  häutigen  Ueberzüge  jener  Höhlen  anlegen,  welche 
durch  dieses  Häutchen  von  einander  geschieden  werden. 

3.  Zwischen  beiden  Fenstern  beginnt  ein  unebener  und  rauher 
Knochenwulst  —  das  Vorgebirge,  Pramonimnum,  welches  einen 
grossen  Theil  der  inneren  Paukenhöhlenwand  einnimmt,  die  Lage 
der  Schnecke  im  Felsenbein  verräth,  und  durch  eine  senkrecht  über 
dasselbe  weglaufende  Rinne  (Sidcus  Jacobsonii)  gefurcht  erscheint. 
Der  Anfang  des  Promontorium  überragt  das  runde  Fenster. 

4.  Hinter  der  Fenestra  ovalis  eine  niedrige,  schmächtige  und 
hohle  Erhabenheit  (Eminentia  pyramidalis),  mit  einer  OeflFnung  an 
der  Spitze. 

5.  Uebcr  der  Fenestra  ovalis  die  in  die  Paukenhöhle  vor- 
springende, dünne,  untere  Wand  des  Canalis  Fallopiae,  welcher 
anfangs  nach  hinten,  und  dann  nach  unten  läuft,  und  mit  der  Höhle 
der  Eminentia  pyramidalis  durch  eine  Oeffnung  communicirt. 

6.  Ueber  dem  Promontorium  ein  knöcherner  Halbkanal,  Semi- 
canalis  tensoris  tympani^  welcher  wagrecht  bis  zur  Fenestra  ovalis 
streicht,  und  hier  mit  einem  dünnen,  löfTelförmig  aufgekrümmten 
Knochenblättchen  (Rostrum  cocideare,  von  cochlear,  I^öffel)  endigt. 
Win  slow  vergleicht  den  ganzen  Semicancdis  tensoris  tympani  nicht 
unpassend  mit  dem  Schnabel  einer  Löffelgans.  —  Zuweilen  wird 
dieser  Halbkanal  zu  einen  yolktändigen  l  «rA^ehen. 


618  g.  284.  QfthdrknSehelchen. 

Nebst  diesen  grossen  and  sonder  Mühe  bemerkbaren  Einzelnheiten,  finden 
sich  nocli  kleinere,  für  die  subtilere  Anatomie  der  Kopfnerren  wichtige  Oeffnungen, 
an  den  Wänden  der  Trommelhöhle:  1.  Die  Jacobs on*sche  Furche  führt,  nacli 
oben  verfolgt,  zu  einem  Kanülchen,  welches  unter  dem  Seniicanalut  tensorU  tym- 
pani  zum  Ifiatiu  canalw  Fallopiae  geht.  3.  Nach  unten  verfolgt,  zeigt  diese 
Furche  den  Weg  zur  Paukenmündung  des  in  der  FosatUa  petrosa  beginnenden 
Canalicultui  tt/mpatiictu»  3.  An  der  vorderen  Wand  der  Trommelhöhle  die  Pauken- 
mttndungen  der  zwei,  aus  dem  CantUü  carotiau  kommenden  Canalictdi  earotico- 
IjfinpmiicL  4.  An  der  ftusseren  Wand  und  am  hinteren  Umfange  des  für  die 
Einrahmung  des  Trommelfells  bestimmten  Falzes,  die  Paukenöffnung  des  aus  dem 
unteren  Stücke  des  OaneUü  Fallopiae,  dicht  über  dem  Foramen  stylo-mtutoideum 
entspringenden  Kanftlchens  für  die   Chorda  tt/mpani  (CanaUculfis  chordaej. 

Die  EuBtachi'sche  Ohrtrompete  (Tuba  Eustachü)  ist  ein  in 
der  Paukenhöhle  unter  dem  Semicanalis  tensoris  ta/mpani  mit  einer 
engen  Oeffnung,  Ostitim  ti^panicum,  beginnender,  und,  trichterförmig 
sich  erweiternd,  gegen  die  Rachenhöhle  nach  vorn,  innen  und  unten 
gerichteter  Kanal,  von  circa  anderthalb  Zoll  Länge.  Er  mündet 
an  der  Seiten  wand  des  obersten  Raumes  des  Rachens,  unmittelbar 
hinter  den  Choanen,  mit  einer  länglich  ovalen,  schräge  gestellten, 
an  ihrer  hinteren  Peripherie  aufgewulsteten  Oeffnung,  Oatium pharyn- 
geum,  aus.  Das  Oatium  pharyiigeum  tubae  steht  in  gleichem  Niveau 
mit  dem  hinteren  Ende  des  MecUua  narium  inferior.  Man  kann  des- 
halb von  letzterem  aus,  die  Tuba  mit  Instrumenten  erreichen.  Hinter 
der  Uachenöffnung  der  Tuba  vertieft  sich  die  Rachenwand  zur 
Rosonmilller'schen  Grube.  —  Die  Tuba  besitzt,  wie  der  äussere 
Gohörgang,  einen  knöchernen  und  knorpeligen  Antheil.  Der  knöcherne 
Thoil  der  Trompete,  gehört  dem  Schläfebein  an,  und  liegt  am 
vorderen  Rand  der  Pyramide.  Der  knorpelige  Theil  liegt  in  der 
Verlängerung  des  knöchernen,  bildet  die  RachenöfTnung  der  Tuba, 
und  besteht  aus  einem  rinnenformig  gehöhlten,  elastischen  Faser- 
knorpel, dessen  auf  einander  zugebogene  Ränder  durch  eine  fibröse 
Membran  zu  einem  Kanäle  geschlossen  werden.  Der  knöcherne 
Antheil  der  Tuba  ist  kürzer  als  der  knorpelige.  Wo  beide  anein- 
anderstossen,  hat  der  Tubenkanal  die  geringste  Weite  (circa  eine 
Linie). 

Die  Schleimhaut  der  Eustachischen  Trompete  besitzt  Flimmerepithel ;  ebenso 
die  Paukenhöhle,  mit  Ausnahme  des  Promontorium,  des  Ueberzuges  der  Gehör- 
knöchelchen, und  der  inneren  Oberfläche  der  Trommelhaut,  wo  ich  nur  Pflaster- 
epithel gefunden  habe.  UrhanUchiUch ,  über  das  OtUum  pharyngeum  tuba^,  im 
Archiv  für  Ohrenheilkunde.  10.  Bd. 


§.  234.  Gteliörkiiöclielclieii. 

Die  drei  Gehörknöchelchen  (Ossiada  auditm)   bilden  eine, 
durch  Intervention   von  Gelenken   gegliederte  Kette,   durch  welche 


§.  2S4.  Gehdrknöclielohen.  619 

die  äussere  Wand  der  Trommelhöhle  mit  der  inneren  in  Verbindung 
gebracht,  und  die  Schwingungen  der  Trommelhaut  auf  das  Labyrinth 
fortgepflanzt  werden. 

Ausser  der  Schallleitnng  von  der  Trommelhant  durch  die  Gehörknöchelchen 
zum  Labyrinth,  giebt  es  noch  eine  zweite.  Die  Oscillationen  der  Trommelhaut 
werden  auch  durch  die  Luft  der  Trommelhöhle  auf  die  das  runde  Fenster 
schliessende  Membrana  tympcmi  secundaria,  und  durch  diese  auf  das  Labyrinth 
übertragen.  Es  existirt  sonach  eine  doppelte  Leitung,  durch  Knochen  und  Luft 
der  Trommelhöhle.  Erstere  wirkt,  wie  Mülle r's  Versuche  zeigten,  ungleich  kräf- 
tiger als  letztere.  Pflanzt  man  nämlich  in  ein  Ohr  einen  kleinen  hölzernen  Trichter 
ein,  dessen  Anfangs-  und  Endöffnung  durch  eine  darüber  gebundene  Haut  ver- 
schlossen sind,  so  stellt  dieser  Trichter  ein  Cavum  tt/mpani,  und  die  beiden  Häute 
die  Membrana  tympani  propria  und  secumlaria  vor.  Hält  man  das  andere  Ohr 
zu,  so  hört  das  betricliterte  Ohr  selir  schlecht.  Verbindet  man  aber  die  beiden 
Verschliessungshäute  des  Trichters  durch  ein  Holzstäbchen,  so  wird  der  Trichter 
zu  einer  Imitation  der  Trommelhöhle  mit  den  Gehörknöchelchen.  Die  äussere 
Verschliessungshaut  repräsentirt  das  Trommelfell,  die  innere  die  Fenestra  ovalis, 
das  Holzstäbchen  die  Kette  der  Gehörknöchelchen  und  man  hört  bei  dieser  Modi- 
fication  des  Apparates  viel  schärfer  als  früher. 

Das  erste  und  grösste  Gehörknöchelchen  ist  der  Hammer, 
Malleus,  Er  hat  aber  nicht  die  Gestalt  unseres  Hammers,  sondern 
jene  eines  Schlägels,  mit  welchem  die  Opferthiere  der  Römer  durch 
einen  Schlag  auf  den  Kopf  betäubt  wurden,  bevor  ihnen  der  6W- 
trarim  die  Kehle  durchschnitt.  Dieser  Schlägel  hiess  Mcdleus.  Er 
wird  sofort  in  Kopf,  Hals,  Handhabe,  und  in  zwei  Fortsätze  ein- 
getheilt.  Kopf  heisst  sein  oberes,  dickes,  aufgetriebenes  Ende,  an 
dessen  hinterer  Fläche  eine,  zur  Articulation  mit  dem  nächst- 
anliegenden Ambos  bestimmte,  aus  zwei  unter  einem  vorspringenden 
Winkel  vereinigten  Facetten  bestehende  Gelenkfläche  vorkommt. 
Er  kann  durch  die  Trommelhaut  hindurch  nicht  gesehen  werden, 
da  er  sammt  dem  Halse,  auf  welchem  er  aufsitzt,  in  die  Con- 
cavität  der  oberen  Wand  der  Paukenhöhle  hinaufragt.  Griff  oder 
Handhabe  nennt  man  das  seitlich  zusammengedrückte,  an  der 
Spitze  etwas  abgeflachte  Knochenstielchen  des  Kopfes,  welches, 
unter  Vermittlung  einer  zarten  Lage  von  Knorpelzellen  (Gruber), 
mit  der  Trommelhaut  fest  zusammenhängt.  Dasselbe  ist  nämlich 
zwischen  die  doppelte  Faserlage  der  mittleren  Lamelle  des  Trommel- 
fells hineingewachsen,  während  die  innere  und  äussere  Schichte 
dieser  Haut  darüber  weglaufen.  Der  GriflF  des  Hammers  reicht  bis 
über  die  Mitte  der  Trommelhaut  herab,  und  zieht  diese  so  nach 
innen,  dass  er  ihre  ebene  Spannung  in  eine  nach  aussen  concave 
(Umbo)  verändert.  Fortsätze  finden  sich  zwei:  der  kurze  und  der 
*  lange.  Der  kurze  Fortsatz  richtet  sich  gegen  die  Trommelhaut, 
und  drängt  sie  an  ihrem  oberen  Umfang  konisch  hervor.  Zwischen 
diesem  Fortsatz,  welcher  mit  einer  düns«**  ^«««^Ucliiclite  über- 
zogen  ist^  und  der  TromiadttH^* 


G20  §.  SS4.  Oehdrknöchelchen. 

winzige  Gelenkshöhle.  Der  lange  Fortsatz  (Processus  FoUi  s,  Ravil) 
geht  vom  Halse  nach  vorn,  ist  dünn  und  flach,  und  liegt  bei  Kindern 
lose  in  der  Fissura  Glasen,  verwächst  aber  bei  Erwachsenen  mit 
der  unteren  Wand  derselben,  so  dass  er  abbricht,  wenn  er  mit 
Gewalt  herausgezogen  wird,  und  nur  ein  kurzes  Stück  desselben  am 
Hammer  bleibt,  welches  man  viel  früher  kannte  (seit  Caecilius 
Folius,  nova  aurls  interna  delineatio,  Venet.  164/)),  als  die  flache, 
spateiförmige,  mit  der  Glaserspalte  verwachsene  Fortsetzung  des- 
selben (seit  Jac.  Ravius,  ein  durch  seine  Grobheit  bekannter 
deutscher  Chirurg  und  Professor  der  Anatomie  zu  Leyden,  im 
Appendix  zu  Valentin i,  AmpJutheatrum  zootom.,  Francof.,  1719). 

Der  Ambos  (fncus),  kleiner  als  der  Hammer,  erinnert  an  die 
Gestalt  eines  zweiwurzeligen  Backenzahns,  dessen  Wurzeln  recht- 
winklig divergiren.  Vesalius  nennt  ihn  hicus  (von  incudere,  schmieden), 
aber  auch  Dens  molaris,  s.  molari  similis.  Den  sonderbaren  Namen 
Incus  verdankt  dieser  Knochen  der  Vorstellung,  dass  der  durch  den 
Schall  in  Bewegung  gesetzte  Hammer,  auf  ihn,  wie  auf  einen 
Ambos  aufschlägt.  Sein  Körper  (Krone  des  Zahns)  hat  eine  nach 
vorn  gekehrte,  winkelig  einspringende  Gelenkfläche  (Mahlfläche  des 
Zahns)  für  die  hier  eingreifenden,  giebelartig  vorspringenden  Ge- 
lenkfacetten des  Hammerkopfes.  Seine  beiden  Fortsätze  zerfallen 
in  den  langen,  welcher  mit  dem  Griff  des  Hammers  parallel  nach 
unten  und  innen  gerichtet  ist,  und  in  den  kurzen,  welcher  direct 
nach  hinten  sieht,  und  an  die  hintere  Wand  der  Trommelhöhle 
durch  ein  kurzes  Bändchen  fest  adhärirt,  oder  auch  in  einem 
Grübchen  dieser  Wand  steckt.  Der  lange  Fortsatz  trägt  an  seinem, 
gegen  das  ovale  Fenster  etwas  einwärts  gekrümmten  Ende,  das 
linsenförmige  Beinchen,  Ossicidum  lenticulare  St/lvH,  kein  selbst- 
ständlges  Gehörknöchelchen,  sondern  eine  Apophyse  dieses  Fort- 
satzes. Das  Linsenbeinchen  articulirt  mittelst  einer  schwach  con- 
vexen  Gelenkfläche  mit  dem  Kopf  des  Steigbügels  (Stapesj, 
welcher  seinen  Namen  von  seiner  Gestalt  führt.  Stapes  ist  jedoch 
kein  römisches  Wort,  denn  die  Römer  kannten  die  Steigbügel  nicht. 
Sie  schwangen  sich  aus  freier  Hand,  oder  mittelst  eines  Sch(*mmels 
auf  das  Pferd;  —  Reiche  Hessen  sich  durch  einen  Sklaven  fana- 
holeus)  hinauflieben.  Im  sechsten  Jahrhundert  bedienten  sich  die 
Reiter  zweier  kurzer  Leitern,  welche  beiderseits  am  Sattel  befestigt 
waren  und  Scalae  hiessen  (Mauritius).  Stapes  wurde  erst  im  Mittel- 
alter aus  Stare  und  j)es  gebildet,  als  stapeda  und  stapia,  woraus  stapes 
entstand  (Eustachius,  org,  auditus,  pag,  154).  —  Die  Fussplatte 
des  Steigbügels  verschliesst  das  ovale  Fenster,  in  welchem  sie  aber 
nicht  feststeckt,  sondern  durch  ein  fibröses  Häutchen,  welches  den 
ungemein  kleinen  Zwischenraum  zwischen  dem  Rande  der  Fuss- 
platte und  dem  Rande    des  Fensters  ausfüllt,   beweglich,  gleichsam 


§.  2S4.  Gefaj^rknöchelchen.  621 

schwebend,  eingepflanzt  ist.  Die  beiden  Schenkel  des  Steigbügels, 
von  welchen  der  vordere  mehr,  der  hintere  weniger  gekrümrat  ist, 
vereinigen  sich  am  Köpfchen,  und  lassen  zwischen  sich  einen 
Bchwibbogenartigen  Kaura  frei,  welcher  durch  die  fibröse  Membrana 
propria  stapedis  verschlossen  wird.  —  Der  Steigbügel  und  der  lange 
Fortsatz  des  Ambosses  stehen  zu  einander  im  rechten  Winkel.  Das 
Köpfchen  des  Steigbügels  ist  somit  gegen  die  Trommelhaut  gerichtet, 
und  empfangt  jene  Stössc,  welche  durch  die  Schwingungen  dieser 
Membran  dem  Hammer,  von  diesem  dem  Ambos,  und  von  diesem 
dem  Steigbügel  niitgetheilt  werden,  von  dessen  Fussplatte  sie  in 
das  Labyrinthwasser  übergehen.  —  Das  Gelenk  zwischen  Hammer 
und  Ambos  hat  eine  erst  in  der  neuesten  Zeit  gewürdigte  Anord- 
nung, welche  darin  besteht,  dass  auf  den  Gelenkflächen  des  Hammers 
und  Ambosses  kleine  Hervorragungen  vorkommen,  welche  so  gestellt 
sind,  dass  sie  dem  Hammer  gestatten,  nach  aussen  zu  gehen,  ohne 
den  Ambos  und  Steigbügel  mitzunehmen,  dass  aber  beim  Einwärts- 
drängen des  Hammers,  die  Hervorragungen  im  Gelenk  wie  Sperr- 
zähne ineinandergreifen,  wodurch  Hammer,  Ambos  und  Steigbügel, 
wie  Ein  Ganzes,  die  Bewegung  nach  einwärts  ausführen. 

Die  Geschichte  der  Anatomie  schreibt  die  Entdeckung  des 
Hammers  und  Ambosses,  zu  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  dem 
Berengarius  (^^arpcnsis  in  Bologna,  und  jene  des  Steigbügels 
dem  Phil.  Ingrassias  in  Palermo  zu. 

Drei  Muskeln,  die  kleinsten  im  menschlichen  Körper,  nehmen 
auf  die  Bewegung  einzelner  Gehörknöchelchen  Einfluss.  1.  Der 
Spanner  des  Trommelfelles  (Tensor  ti/mpani)  entspringt  ausser- 
halb der  Trommelhöhle  von  der  2\dja  Eicstachü  und  dem  vorderen 
Winkel  der  Felsenpyramide,  läuft  im  tienücanalis  tensoris  tympani 
nach  innen,  und  schickt  seine  feine  platte  Endsehne  um  das  Rostrum 
coddeare  herum  (wie  der  Musculus  trochlearis  des  Auges  um  den 
Rollenknorpel)  zum  Halse  des  Hammers.  Er  vermehrt  die  Concavität 
des  Trommelfells,  und  spannt  es  dadurch.  —  2.  Der  Erschlaff  er 
des  Trommelfells  (Laxaioi'  tympani),  der  yon  Aqv  Spina  angularis 
des  Keilbeins  entspringt,  und  durch  die  Glaserspalte  zum  langen 
Foilsatz  des  Hammers  geht,  ist  ein  wahrer  Muskel,  —  kein  Band, 
wofür  man  ihn  neuerer  Zeit  ausgiebt.  —  3.  Der  Steigbügel- 
muskel (Musculus  stapedius)  nimmt  die  Höhle  der  Eminentia  pyra- 
midalis ein,  und  schickt  seine  fadenförmige  Sehne,  durch  das 
Löchelchen  an  der  Spitze  der  Pyramide,  zum  Köpfchen  des  Steig- 
bügels. Man  schreibt  ihm  die  Wirkung  zu,  den  Steigbügel  im  ovalen 
Fenster  zu  fixiren.  Alle  Muskeln  der  Gehörknöchelchen  führen 
quergestreifte  Primitivfasern,  erlauben  sich  aber  dabei,  der  Willkür 
durchaus  nicht  zu  gehorchen. 


622  §.  8S5.  Vorhof. 

Den  yon  Casserius  aufgestellten,  und  von  Sömmerring  wieder  zur 
Sprache  gebrachten  LaxcUor  tympani  minor,  habe  ich  nie  gesehen.  Er  soll  vom 
oberen  und  hinteren  Rande  des  Sulcua  pro  membrana  tympani  entstehen,  und 
zwischen  den  Blättern  des  Trommelfells  zum  kleinen  Fortsatz  des  Hammers  ziehen. 
—  Ausführliches  über  die  Gehörknöchelchen  enthalten  meine  Untersuchungen  über 
das  innere  Gehörorgan.  Prag,  1845. 

Die  Schleimhaut  des  Rachens  setzt  sich  durch  die  Tvha  Eugtachii  in  die 
Trommelhöhle  fort,  kleidet  nicht  blos  die  Wände  dieser  Höhle,  und  die  mit  ihr 
communicirenden  CelluUte  maatoideete  aus,  sondern  überzieht  auch  die  Gehörknöchel- 
chen, und  bildet  an  den  Uebergangsstellen  von  den  Wänden  zu  den  Knöchelchen 
Duplicaturen,  welche  als  Haltbänder  der  Ossicula  dienen,  und  worüber  in  den 
Specialschriften  (sieh*  Literatur)  mehr  als  hier  gesagt  wird. 


III.  Innere  Sphäre  oder  Labyrinth. 

§.  235.  Vorhof. 

Das  Labyrinth  besteht,  wie  schon  sein  Name  vermuthen 
lässt,  aus  mehreren  Räumen  und  Gängen  von  sonderbarer  Form, 
welche  alle  unter  einander  in  Verbindung  stehen,  und  in  der  Felsen- 
masße  der  Schläfebeinpyramide  eingeschlossen,  so  schwer  darstellbar 
sind,  dass  die  an  Hilfsmitteln  und  Untersuchungsmethoden  armen 
Anatomen  der  Vorzeit,  sie  mit  dem  Worte  „Labyrinth'^  abfertig- 
ten. Seine  Hauptabtheilungen  sind:  der  Vorhof,  die  drei  Bogen- 
gänge, und  die  Schnecke. 

Der  Vorhof  oder  Vorsaal  ( Vestibidum)  liegt  zwischen  den 
Bogengängen  und  der  Schnecke,  als  deren  Verein igungs-  oder 
Ausgangspunkt  er  angesehen  werden  mag.  Er  grenzt  nach  aussen 
an  das  Cavum  tympam,  nach  innen  an  den  Grund  des  Meatus  audi- 
torius  internus,  nach  vorn  an  die  Schnecke,  nach  hinten  an  die  drei 
Bogengänge,  nach  oben  an  den  Anfang  des  im  inneren  Gehürgang 
entspringenden  Cancdis  FaUopiae;  nach  unten  hat  er  keinen  Nachbar 
von  Wichtigkeit.  Er  besteht  aus  zwei  Abtheilungen  von  ungleichen 
Dimensionen.  Die  vordere,  mehr  sphärische,  wird  als  Recessus  hemi- 
9phaericu8  von  dem  hinteren  länglich  ovalen  Kecessus  hemiellipticus 
unterschieden.  Eine  niedrige  Knochenleiste  der  inneren  Wand  (Crlsta 
veatibidi)  scheidet  beide  von  einander.  Die  Crista  endet  nach  oben 
mit  einer  konischen  Hervorragung  (Pt/ramis  vestibuli),  deren  Spitze 
man  am  macerirten  Felsenbein  durch  die  Fenestra  ovalis,  hinter 
ihrem  oberen  Rande,  sehen  kann.  In  den  Recessus  hemiellipticus 
münden  die  drei  Bogengänge  mit  fünf  Oeffnungen  ein.  Eine  dieser 
OefFnungen  entsteht  durch  die  Verschmelzung  zweier,  liegt  an  der 
inneren  Wand,  ist  etwas  grösser  als  die  übrigen  vier,  und  hat  vor 
sich  die  sehr  feine  VorhofoflFnung  des  Aqimedvctus  vestibidi,  zu 
welcher  eine  ritzförmige  Furche  der  inneren  Wand  den  Weg  zeigt. 


§.  9S6.  Bogeog&nge.  623 

Im  Recesstis  henugphasricus  liegt,  an  der  vorderen  Wand  desselben, 
der  Eingang  zur  Vorhofstreppe  der  Schnecke  —  so  gross  wie  eine 
Bogengangsmündung., 

Ansser  diesen  grösseren  Oeifnungen  finden  sich  an  der  inneren  Wand  des 
Vorhofes  noch  drei  Grappen  feiner  Löcherchen  —  die  sogenannten  Sieb  flecke, 
Maculae  eribrogae  —  welche  in  kurze  Röhrchen  fahren,  die  im  Meatus  audUarius 
intemus  münden,  nnd  die  Fasern  des  Nervus  vestHmU  in  den  Vorsaal  leiten.  Man 
findet  reg^lm&ssig  eine  obere  (an  der  Pyraimia  vestUniU),  eine  mittlere  (etwas 
nnter  dem  Centnim  des  Becetnu  kemisphaericusj,  nnd  eine  untere.  Mit  der  Loupe 
betrachtet,  gleicht  ihre  Ansicht  dem  Querschnitte  eines  spanischen  Rohrs.  Auch 
die  frflher  erwähnte  Fyramia  veatibtdi  ist  ein  System  feiner  paralleler  Knochen- 
kanUlchen,  welche,  wie  die  Maculae  cribrosae,  Fasern  des  Nervus  vesUbuU  in  den 
Vorhof  gelangen  lassen. 

Der  Ausdruck  Veatibulum,  Vorhof,  erklärt  sich  aus  Folgendem.  In  der 
ersten  Zeit  hatten  die  Römer  nur  hölzerne  Häuser.  Diese  bestanden  aus  zwei 
Gemächern.  In  dem  einen  stand  der  Herd  f/oats),  der  Altar  der  Hausgötter 
Cava,  daher:  pro  aris  et  focis),  das  Ehebett  (torusj,  dort  spann  und  webte  die 
Frau,  dort  lebte  die  Familie.  Dieses  Gemach  hatte  keine  Fenster.  Das  Licht 
fiel  durch  eine  OefiEhung  im  Plafond  ein,  durch  welche  auch  der  Rauch  entwich, 
nachdem  er  die  Wände  des  Gemachs  geschwärzt  hatte.  Das  Gemach  hiess  des- 
halb Atrium,  von  ater,  schwarz.  Da  nun  die  alten  Römer  sehr  reinlich  waren, 
legten  sie  die  weisswollene  Toga,  beim  Nachliausekommen,  in  einem  Vorgemach  ab, 
und  betraten  das  Atrium  nur  in  der  Tunica.  Die  Toga  war  aber  das  Haupt- 
kleid, vestü;  somit  hiess  das  Vorgemach:  VestUtulum,  In  späterer  Zeit  ¥nirde 
das  Vestibulum  zum  Vorplatz  oder  zur  Vorhalle  eines  eleganten  Wohnhauses, 
und  in  diesem  Sinne  hat  es  sich  auch  beim  Gehörlabyrinth  Anwendung  zu  ver- 
schaffen gewusst,  als  Vorhof. 


§.  236.  Bogengänge. 

Die  drei  Bogengänge  (Cancdes  sendcirculares)  werden  in  den 
oberen,  hinteren  und  äusseren  eingetheilt.  Sie  sind  so  gestellt, 
dass  ihre  Ebenen  senkrecht  auf  einander  stehen.  Jeder  hat  eine 
Anfangs-  und  eine  Endmündung  im  Recessus  hemiellipticus  des  Vor- 
hofs. Gleich  hinter  der  Anfangsmündung  erweitert  sich  jeder 
Bogengang  zu  einer  ovalen,  einer  Feldflasche  im  EUeinen  ähnlichen 
Höhle,  welche  Ampulla  (ampla  buUa)  genannt  wird.  Indem  die 
Endschenkel  des  oberen  und  hinteren  Bogenganges,  nahe  an  ihrer 
Einmündung  in  den  Vorsaal,  in  eine  sehr  kurze  gemeinschaftliche 
Endröhre  zusammenkommen,  wird  die  Zahl  sämmtlicher  Oeffnungen 
der  Bogengänge,  welche  sechs  sein  sollte,  auf  fünf  vermindert. 

Die  Richtung  des  oberen  Bogenganges  kreuzt  sich  mit  der 
oberen  Kante  des  Felsenbeins;  jene  des  hinteren  streicht  mit  der 
hinteren  Fläche  der  Felsenpyramide  fast  parallel;  die  des  äusseren 
fällt  schief  nach  aussen  imd  unten  ab,  und  bildet,  indem  sie  die 
innere  Wand  der  Trommelhöhle  etwas  hervortreibt^  einen  über  d^m 


624  §.  287.  Schnecke. 

Canalis  FaUopme  befindlichen  Wulöt.  Der  äussere  Bogengang  ist 
der  kürzeste,  der  hintere  der  längste.  Ihre  Querschnitte  geben  Ovale. 
Der  Bogen  ihrer  Krümmung  beträgt,  namentlich  beim  äusseren, 
mehr  als  180". 

Den  Bogengängen  wurde  die  Verwendung  zugeschrieben,  uns  zur  Wahr- 
nehmung der  Richtung  behilfüch  zu  sein,  in  welcher  die  SchaUstrahlen  im  Laby- 
rinth anlangen.  Diese  Ven^-endung  jedoch  kommt  ihnen  sicher  nicht  zu.  Der 
einzige  Anhaltspunkt,  über  die  Richtung  des  Schalles  ein  Urtheil  abzugeben,  liegt 
darin,  dass  wir  es  gewahr  werden,  ob  wir  mit  dem  rechten  oder  linken  Olir  den 
Schall  besser  yemehmen.  Die  Versuche  von  Flourens  über  Trennung  und 
Aosschneidnng  der  Bogengänge  an  Tauben,  welche  in  neuerer  Zeit  durch  Goltz, 
Brown-Sequard  imd  Vulpian  wiederholt  wurden,  haben  zu  der  Annahme 
geführt,  dass  die  Bogengänge  mit  dem  Act  des  Hörens  gar  nicht«  zu  thnn  liaben, 
sondern  das  Gefühl  der  Gleichgewichtslage  des  Körpers  vermitteln  helfen. 


§.  237.  Schnecke. 

Die  Schnecke  (Cochlea)  gleicht,  als  ein  zu  einer  Kegel- 
schraube zwei  einhalbmal  aufgewundener  Gang,  dem  Gehäuse  einer 
Gartenschnecke.  Sie  liegt  vor  dem  Vorhof  und  hinter  dem  earo- 
tischen  Kanal.  Indem  sie  die  Knochen masse  des  Felsenbeins  gegen 
die  Paukenhöhle  vordrängt,  veranlasst  sie  die  Erhebung  des  Promon- 
torium. Das  Promontorium  zeigt  also  die  Lage  der  Schnecke  an. 
Nach  innen  grenzt  sie  an  den  Grund  des  Meatm  auditorlus  inteimus. 
Die  Windungen  der  Schnecke  liegen  nicht  in  einer  Ebene,  denn 
die  zweite  Windung  erhebt  sich  über  die  erste.  Die  dritte  halbe 
Windung  dagegen  wird  von  der  zweiten  so  umschlossen,  dass  nur 
ihr  Dach,  welches  Kuppel  heisst,  über  die  Ebene  der  zweiten 
Windung  etwas  herausragt.  Die  knöcherne  Axe,  um  welche  sich 
die  Windungen  der  Schnecke  drehen,  heisst  für  die  erste  Windung: 
Spindel,  Modiolus,  —  für  die  zweite:  Säulchen,  Colwndlaj  — 
und  für  die  letzte  halbe  Windung:  Spindelblatt,  iMmina  modioll, 
welches  letztere  aber  nicht  freisteht,  sondern  sich  in  die  Zwischen- 
wand der  zweiten  und  letzten  halben  Windung  fortsetzt,  und  des- 
halb auch  als  der  senkrecht  aufgestellte  Endrand  dieser  Zwischen- 
wand angesehen  werden  kann.  Der  Modiolus  muss,  weil  die  erste 
Windung  der  Schnecke  die  grösste  ist,  dicker  als  die  Columelhi 
sein,  und  diese  wieder  dicker  als  die  Lamina  modloli,  —  Die  Axe 
der  Schnecke  liegt  horizontal,  in  der  Richtung  des  Querdurch- 
messers des  Felsenbeins.  Die  breite  Basis  der  Schnecke  niisst 
4  Linien,  —  ihre  Höhe,  von  der  Mitte  der  Basis  bis  zur  Kuppel 
2,4  Linien.  Die  Zwischenwand  der  Windungen  wird  gegen  die 
Kuppel  dünner,  und  richtet  sich  während  der  letzten  Schraubentour 
zugleich   so   auf,   dass   sie   durch   ihre  Einrollung  einen  konischen, 


§.  287.  Schnecke.  625 

einer  nicht  ganz  geschlossenen  Papierdiite  ähnlichen  Raum  umgreift, 
dessen  nach  unten  gerichtete  Spitze  der  Columella  entgegensieht, 
und  dessen  nach  oben  gerichtete  Basis  die  Kuppel  der  Schnecke 
ist.     Dieser  Raum  heisst  Trichter,  Scyphus  Vieussenii. 

Die  Höhle  des  Schneckenganges  wird  durch  das  an  die  Axe 
befestigte,  dünne,  ebenfalls  spiral  gewundene,  knöcherne  Spiral- 
blatt, Landna  spircUts  ossea,  in  zwei  Treppen  getheilt,  von  welchen 
jene,  die  bei  senkrechter  Stellung  der  Schnecke  die  untere  ist, 
durch  das  runde  Fenster  mit  der  Trommelhöhle,  —  die  obere 
aber  mit  dem  Recessus  henusphaericus  des  Vorhofes  coramunicirt.  Die 
untere  heisst  deshalb  SccUa  tympani,  die  obere  SccUa  vestibuli.  In 
der  SccUa  tympani  liegt,  gleich  hinter  der,  das  runde  Fenster  ver- 
schliessenden  Membrana  tympani  secundaria,  die  Anfangsöffnung  des 
Aquaeductus  ad  coctdeam.  Im  Anheftungsrand  der  Lamina  spiraiis 
ossea  ist  ein  enger  Kanal  enthalten  (Canalis  spiraiis  modioli)  j  in 
welchen  vom  Modiolus  aus,  die  Fasern  des  Nervus  aciisiicus  ein- 
treten, um  daselbst,  vor  ihrer  weiteren  terminalen  Verbreitung,  ein 
Geflecht  zu  bilden,  dessen  Maschen  bipolare  Ganglienzellen  ent- 
halten. Das  Geflecht  heisst  Habenula  ganglionaris.  Die  Lamina 
spiraiis  ossea  hört  in  der  letzten  halben  Windung  der  Schnecke  mit 
einem  zugespitzten ,  hakenft^rmig  gekrümmten  Ende  (Hamtdus) 
auf,  welches  in  den  Sct/phus  Vieussenii  hineinsieht.  Da  die  Lamina 
spiraiis  ossea  nur  bis  in  die  Mitte  des  Schneckenganges  hineinreicht, 
so  wird  die  vollkommene  Trennung  beider  Scalae,  durch  die  Lamina 
spiraiis  membranacea  bewerkstelligt,  welche  aus  zwei  Blättern  be- 
steht, die  einen  Kanal  —  die  Scala  media  oder  den  Canalis  Cochleae 
—  zwischen  sich  fassen.  In  diesem  Kanal  allein  sind  die  sehr 
complicirten  Apparate  enthalten,  welche  durch  die  Schallwellen 
unmittelbar  erregt  werden,  und  ihre  Erregung  auf  die  Terminalfasern 
des  Gehörnerven  übertragen.  Die  Lamina  spiraiis  membrana^ea  setzt 
sieh  in  der  Kuppel  der  Schnecke  über  den  Hamulus  hinaus  fort, 
und  umgreift  mit  diesem  eine  Oeffnung  (Helicotrenia ,  von  eXt;, 
Schnecke,  Tpfj^ia,  Loch),  durch  welche  Scala  tympani  und  Scala  vesti- 
huli  unter  einander  in  Verbindung  stehen. 

Der  Modiolus  und  die  Columella  »ind  ein  Syätem  paralleler  Knochen- 
röhrchen,  welche  im  inneren  Gehörgange  mit  feinen,  in  einer  Spirallinie  gelegenen 
Oeffnungen  beginnen  (Tradtut  »pircUia  foraminulenttis).  Das  durch  die  Axe  des 
Modiolus  und  der  Columella  laufende  centrale  Röhrchen,  übertritt  die  übrigen  an 
Stärke,  und  wird  als  CantUia  centraUa  niodioli  besonders  benannt  £s  mündet  an 
dem  Ende  der  Columella  (Spitze  des  Sct/phus  VieusseniiJ,  Alle  übrigen  Röhrchen 
des  Modiolus  und  der  ColumeUa  lenken  in  die  Lamina  spiraUs  ossea  ab,  und 
enden  am  Rande  derselben  in  einer  fortlaufenden  Reihe  feiner  Oeffmmgen,  welche 
Z<ma  perforala  heisst.  Diese  Zona  ptrforiUa  wird  Ton  einem  knorpeligen  Auf- 
sätze des  Bandes  der  Ldmkm  Mglralj»  o$9ea  etwas  überragt  Der  Aufsatz  führt 
seines  Anaci^^  ''"^«^ito.    Von  diesem  Aufsätze  and 

Hyrl»  40 


626  §•  >97.  Schnecke. 

von  dem  Rande  der  Lamina  »piralU  waea  entspringen  die  beiden  Blätter  der 
Laniina  spircUis  membranacea,  am  divergent,  und  deshalb  die  »Scalu  media  zwischen 
sich  einschliessend,  zur  gegenüberliegenden  Wand  des  Schneckenganges  zu  ziehen. 
Das  untere  Blatt  heisst  Membrana  ba*UariSf  das  obere  die  Corti^sche  Membran. 
Auf  dem  unteren  Blatte  finden  sich  jene  zellenartigen  Gebilde,  und  jene  elastischen 
Stäbchen,  deren  Deutung  und  physiologisches  Verständniss  auf  den  noch  un- 
bekannten Beziehungen  derselben  zu  den  letzten  Ausläufern  des  Nerviut  Cochleae 
beruht.  Ich  will  nur  im  Allgemeinen  bemerken,  dass  die  Stäbclien  in  zwei 
Reihen  parallel  nebeneinander  liegen,  und  auf  der  Membraiui  btutUaris  haften.  Die 
einander  correspondirenden  Stäbchen  der  beiden  Reihen  richten  sich  so  gegen- 
einander auf,  dass  sie  einen  First  bilden,  an  welchem  noch  sogenannte  Gelenk- 
stücke  die  Verbindung  der  Stäbehen  beider  Reilien  vermitteln  sollen.  In  dem 
Räume,  welcher  durch  die  giebelartige  Erhebung  der  Stäbchen  gegeneinander 
gegeben  wird,  scheinen  die  Primitivfasern  des  N^rvua  cochleop  ihr  Ende  zu  finden. 
Diese  treten  nämlich,  zwischen  den  Stäbchen  der  zunächst  an  der  Lamiiui  spiralis 
098ea  liegenden  Reihe,  in  den  Giebelraum  der  beiden  Stäbchenreihen  ein.  Ob  und 
wie  aber  ihr  Ende  in  den  hier  befindlichen  Zellen  gegeben  ist,  müssen  spätere 
Untersuchungen  aufklären.  Wie  dem  immer  sei,  so  viel  lässt  sich  jetzt  schon 
einsehen,  dass  die  Anordnung  der  Stäbchen  und  ihr  Verliältniss  zu  den  Fasern 
des  Nervus  Cochleae  so  getroffen  ist,  dass  sie  ilire  durch  die  Schallwellen  gesetzte 
Erschütterung  mit  grösster  Leichtigkeit  auf  die  Nervenfasern  übertragen  können, 
deren  mechanische  Erreg^ing  sofort  zur  Wahrnehmung  der  Töne  führt. 

Mein  ehemaliger  Prosector,  Marchese  Alfonso  Corti,  hat  das  Verdienst, 
eine  sehr  sorgföltige  und  genaue  mikroskopische  Untersuchung  über  den  Bau  der 
Lamina  ttpiraUa  oasea  und  mevihranaceaf  so  wie  der  Nerven  und  Gefasse  derselben 
vorgenommen  zu  haben,  deren  überraschende  und  complicirte  Ergebnisse  in  dem 
bei  der  Literatur  des  Gehörorgans  (§.  240)  angeführten  Werke  niedergelegt 
wurden,  imd  allen  späteren  einsclilägigen  Untersuchungen  zum  Ausgangspunkte 
dienten.  Auf  dieses  Werk,  so  wie  auf  die  später  erschienenen  Abhandlungen  von 
Reissner,  Claudius,  Böttcher,  Deiters,  Kölliker,  Reichert,  Rüdin- 
ger,  Mensen,  Middendorp,  und  die  von  He  nie  gegebene,  erschöpfende  Zu- 
sammenstellung alles  dessen,  was  die  Neuzeit  über  die  Anatomie  des  Labyrinths 
gebracht  hat  (Anat,  2.  ThI.),  verweise  ich  Jene,  welche  mehr  über  diesen  Gegen- 
stand zu  erfahren  wünsdien,  als  in  einem  Lehrbuche  von  der  compendiösen  Form 
des  vorliegenden,  füglich  angeführt  werden  kann,  und  ohne  Abbildungen  auch 
grösstentheils  unverständlich  wäre. 

Das  Labyrinth  darf  nicht  als  ein  im  Felsenbeine  befindlicher,  und  zunächst 
von  dessen  Knochenmasse  umschlossener  Raum  angesehen  werden.  Vestibtdum, 
Canalea  «emicirculares,  und  Cochlea,  besitzen  vielmehr  eine  besondere,  glasartig 
spröde,  feine  Knochenlamelle  als  nächste  Hülse,  welche  ich  als  Lamina  vUrea 
beschrieb,  und  auf  welche  sich  später  die  Knochenmasse  des  Felsenbeins  von 
aussen  ablagert.  An  allen  Schnitten  <ies  Labyrinths  sieht  man  diese  gelblich 
graue  Lamelle  deutlich.  Zwischen  ihr  und  dem  eigentlichen  Felsen>)eleg  lagert 
bei  Kindern  eine  zellig  spongiöse  Knochensubstanz,  welche  das  Präpariren  (Aus- 
schälen des  Labyrinths  aus  seiner  Hülse)  sehr  erleichtert. 

Dass  der  Atjuaeductus  Cochleae  und  Aijuueductiut  oeMllmli  Ueberbleibsel  von 
embryonalen  Bildungsphasen  des  Labyrinths  sind,  gilt  für  ausgemacht-,  da^s  sie 
aber  zugleich  venöse  Gefässe  enthalten,  ha}»e  ich  in  meinen  Untersuchungen  über 
das  Gehörorgan,  Prag,  1845,  §.  122,  bewiesen. 

Vergebliche  Mühe  ist's,  sich  von  dem  Baue  des  Labyrinths  und  den  Ver- 
hältnissen seiner  cinselnen  Abtheilnngen  durch  anatomische  Schriften  und  Ab* 
bildungeiiy  seien  sie  die  umständlichsten  und  genauesten,  einen  Begriff  zu  machen. 


§.  238.  H&ntiges  Labyrinth.  627 

Um  diesen  zu  erhalten,  muss  man  selbst  Hand  anlegen,  und  sich  in  der  tech- 
nischen Bearbeitung  dieses  so  überraschend  schönen  Baues  versuchen.  An  Schläfe- 
knochen von  Kindern  wird  man,  da  die  hier  gegebene  praktische  Beschreibung 
das  Aufsuchen  der  Theile  erleichtert,  zuerst  die  Merkwürdigkeiten  der  Trommel- 
höhle ohne  Schwierigkeiten  auffinden,  und  kann  dann  zur  Präparation  des  Laby- 
rinthes schreiten,  welche,  wenn  sie  noch  so  roh  ausfallt,  doch  eine  gewisse 
Sicherheit  der  Vorstellung  erzengt,  welche  das  blosse  Memoriren  gelesener 
Beschreibungen  nie  geben  kann.  Wer  mein  Handbuch  der  praktischen  Zer- 
gliederungskunst durchblättert,  wird  hoffentlich  mit  der  dort  gegebenen  Instruction 
zufrieden  sein.  Die  unter  Seile r's  Anleitung  von  Papaschy  in  Dresden  ver- 
fertigten kolossalen  Darstellungen  des  Gehörorgans  in  Oyps,  die  Wachsarbeiten 
des  leider  zu  früli  verstorbenen  Künstlers  Heinemann  in  Brannschweig,  jene 
von  Dr.  Auzoux  in  Paris,  die  Darstellungen  von  dem  ehemaligen  akademischen 
Wachsbildner  P.  Zeiller  in  München,  und  von  Professor  Dursy  in  Tübingen, 
kommen  dem  theoretischen  Studium  trefflich  zu  Statten. 


§.  238.  Häutiges  Labyrinth. 

Ein  zartes  Häutchen,  Periosteum  intemum,  mit  einem  einfachen 
Pflasterepithel,  überzieht  die  innere  Oberfläche  des  knöchernen 
Labyrinths.  Es  sondert  an  seiner  freien  glatten  Fläche  eine  seröse 
Flüssigkeit  ab,  welche  die  häutigen  Säckchen  des  Labyrinths  (und  die 
häutigen  Bogengänge)  als  Perilympha  8.  Aqmda  Coturmi  umspült. 
Die  häutigen  Säckchen  liegen  im  Kecessus  hemisphaeHcus  und 
hemidlipticus  des  Vorhofs,  und  werden  als  Saccidus  sphaericus  et  ellip- 
ticus  unterschieden.  Bis  auf  die  jüngste  Zeit  wurden  beide  Säckchen 
für  vollkommen  abgeschlossen  gehalten.  Man  hat  jedoch  in  neuester 
Zeit  eine  Verbindung  zwischen  beiden  aufgefunden  (Waldeyer).  Es 
soll  nämlich  ein  aus  dem  Saccidus  dlipticiLS  hervorgehendes,  sehr  kurzes 
Röhrchen,  sich  mit  einem  ebensolchen  aus  dem  Saccvlus  sphaericus 
zu  einem  einfachen  Schlauche  verbinden,  welcher  in  den  Aquae- 
ductus  vestibidi  eindringt,  und  daselbst  blind  endigt.  Ebenso  soll 
der  Saccidus  sphaericus  mit  dem  Schneckenkanal  eine  unmittelbare 
Verbindung  haben,  durch  den  sogenannten  Canalis  retmiens. 

Die  Gestaltungsmembran  der  häutigen  Vorhofssäckchen  und 
der  häutigen  Bogenröhren,  besteht  aus  drei  Schichten,  wovon  die 
äusserste  die  Charaktere  einer  stellenweise  pigmentirten  Binde- 
gewebshaut,  die  zweite  jene  einer  structurlosen  Membran  besitzt, 
die  dritte,  innerste,  eine  epithelartige  Schichte  cylindrischer  Zellen 
mit  zwischenliegenden  Spindelzellen  darstellt.  Es  ist  bei  Fischen 
sichergestellt,  dass  die  Primitivfasern  des  Gehörnerven  bis  in  diese 
epitheliale  Schichte  der  Säckchen  vordringen.  —  Vom  Saccidus 
ellipticus  gehen  als  dessen  Verlängerungen  die  häutigen  Bogen- 
gänge aus,  welche  die  knöchernen  nicht  ganz  ausfüllen.  Ihr  Bau 
stimmt  mit  jenen»  überein.     An  einem  ihrer 


628  |.  9^'  R&ati|^  Labjrtnth. 

Schenkel  bilden  sie,  entsprechend  den  Ampullen  der  knöchernen 
Bogengänge,  eine  flaschenförmige  Erweiterung  (Ampvllamemhranacea). 
Die  Säckchen  und  die  häutigen  Bogenröhrchen  enthalten  Flüssig- 
keit (Endolymplia).  An  jenen  Stellen  der  Säckchen,  welche  den 
drei  Maculae  cnbrosae,  und  der  Pt/ramis  vestibtdi,  somit  den  Eintritts- 
stellen der  Fasern  des  Nervus  acusticus  in  die  Säckchen  entsprechen, 
bemerkt  man  kreideweisse,  rundliche  Plättchen,  welche  aus  einer 
Menge  mikroskopischer  Krystalle  von  kohlensaurem  Kalk  bestehen, 
die  durch  ein  zähes  Cement  zu  concav-convexen  Scheibchen  zu- 
sammengebacken sind.  —  Zottige  Bildung  an  der  inneren  Fläche 
der  häutigen  Bogengänge,  und  brückenartige  Verbindungen  zwischen 
den  Wänden  des  knöchernen  und  des  häutigen  I^abyrinths,  be- 
schreibt Rüdinger. 

Der  Gehörnerv  theilt  sich  im  Meatua  auditorius  int&imus  in  den 
Nermui  vestibvli  und  Nervus  Cochleae,  Der  Nervus  vestibuli  passirt 
durch  die  Löcherchen  der  drei  Maculae  cribrosae,  und  muss  sich 
somit  in  so  viele  Filamente  auflösen,  als  Löcherchen  existiren. 
Diese  Filamente  betreten  die  Wand  der  Vorhofssäckchen,  und 
jene  der  drei  Ampullen,  ohne  in  die  Höhle  derselben  einzudringen, 
und  sich  in  die  lange  Zeit  angenommene  Pulpa  acustica  aufzulösen. 
Sie  sollen  mit  entgegenkommenden  Ausläufern  der  oben  erwähnten 
spindelförmigen  Zellen  in  der  Wand  der  Vorhofssäckchen  in  Ver- 
bindung treten.    Des  Nervus  Cochleae  wurde  bereits  früher  gedacht. 

Jene  Fäden  des  Nermis  veatihulif  welche  direct  zu  den  AmpuHen  der 
hantigen  CanaUs  »emicircidares  gehen,  drängen  die  äussere  Wand  derselben 
etwas  gegen  ihre  Höhle  hinein,  und  erzeugen  dadurch  äusserlich  eine  Furche, 
und  innerlich  einen  Vorsprung  von  0,2  Linien  Höhe.  So  entsteht  der  Sulcu»  und 
das  Septum  ampidlae  (Steifensand,  MiÜUra  Archiv.  1835).  —  In  den  häuti- 
gen Bogenröhren  selbst  fehlt,  mit  Ausnahme  der  Ampullen,  jede  Spur  von  Nerven, 
obwohl  die  Dicke  der  Röhrenraembran  das  Doppelte  von  der  Haut  der  Säck- 
chen beträgt 

Die  Kalkkrystalle  in  den  auf  der  inneren  Fläche  der  Vorhofssäckchen  auf- 
sitzenden Plättchen,  sind  sechsseitige  Prismen  mit  sechsseitigen  Zuspitzungs- 
pyramiden. Sie  kommen  übrigens  auch  frei  in  der  Endolympha  und  in  dem 
Serum,  welches  die  Schneckenhöhle  ausfüllt,  vor.  Bei  den  Sepien  und  den  nie- 
deren Wirbelthieren  (Fischen),  werden  diene  Scheibchen  sehr  hart  und  R^ross,  und 
bilden  die  sogenannten  Gehörsteine  oder  Otolithen. 

lieber  das  häutige  Labyrinth  handelt  ausführlich  Rüdinger  (Münchner 
akad.  Sitzungsberichte,  1863,  und  Monatsschrift  für  Ohrenlieilkunde,  18C7).  — 
lieber  die  Endigungsweise  des  Hömerven  im  Labyrinth  handelt  M.  Schultzf,  in 
Müllers  Archiv,  1868,  und  Böttcher,  de  ratione,  qua  nervus  Cochleae  terminatur, 
Dorp.,  1856.  —  Für  Fische  und  Amphibien  sieh*  die  Aufsätze  von  E.  Schnitze 
und  R,  Havtniann,  in  Müller^ a  Archiv.   1862. 


§.  S39.  Innerer  Gehörgftng  und  ^aHopischer  Kanal.  629 


§.  239.  Innerer  Gehörgang  und  Tallopischer  Kanal. 

Zwei  Kanäle  des  Felsenbeins,  welche  mit  dem  Gehörorgane 
in  näherer  Beziehung  stehen,  müssen  hier  noch  erwähnt  werden: 
der  innere  Gehörgang,  und  der  Fallopische  Kanal. 

Der  innere  Gehör  gang  beginnt  an  der  hmteren  Fläche  der 
Felsenpyramide,  und  dringt  in  schief  nach  auswärts  gehender  Rich- 
tung so  weit  in  die  Masse  derselben  ein,  dass  er  vom  VesHhvlum 
nur  durch  eine  dünne  Knochenlamelle  getrennt  wird.  Sein  blind- 
sackähnliches  Ende  wird  durch  eine  quervorspringende  Knochen- 
leiste in  eine  obere  und  untere  Grube  getheilt.  Erstere  vertieft 
sich  wieder  zu  zwei  kleineren  Grübchen,  wovon  das  vordere  sich 
zum  Fallopischen  Kanal  verlängert,  das  hintere  aber  mehrere  feine 
OefFnungen  besitzt,  welche  zur  Macula  cribrosa  superioi"  des  Vesti- 
bulum  führen.  Die  imtere  Grube  enthält  den  Tractus  spircJis  fora- 
minidentus,  und  hinter  diesem,  einige  kleinere  OefFnungen,  welche  zur 
Macula  cribrosa  media,  und  eine  grössere,  welche  zur  inferior  ge- 
leitet. —  Der  innere  Gehörgang  enthält  den  Nerxrus  acusticus,  den 
NerviLS  facialis,  die  Arteria  auditiva  interna,  und  dieser  Arterie  ent- 
sprechende sehr  feine  Venen  (He nie). 

Der  Fallopische  Kanal  läuft,  von  seinem  Ursprung  im 
inneren  Gehörgang,  durch  die  Knochenmasse  des  Felsenbeins  an- 
fangs nach  aussen,  dann  über  dem  ovalen  Fenster  nach  hinten, 
und  zuletzt  nach  unten  zum  Foramen  stt^lo-mastoideum.  Er  besteht 
somit  aus  drei,  unter  Winkeln  zusammengestückelten  Abschnitten. 
Die  Winkel  heissen  GenunUa.  Das  erste  Knie  ist  scharf  geknickt, 
fast  rechtwinklig;  das  zweite  erscheint  mehr  als  bogenförmige 
Krümmung.  Am  ersten  Knie  zeigt  der  Fallopische  Kanal  die  an 
der  vorderen  oberen  Fläche  der  Pyramide  bemerkte  SeitenöflFnung 
(Hiatus  8.  Apertura  spuria  canalis  Fall,),  zu  welcher  der  Stdcus 
petrosus  superficialis  hinführt.  Im  Hiatus  mündet  der  in  der  Fosstda 
petrosa  entsprungene,  in  der  Pauke  über  das  Promontorium  nur  als 
Furche  aufsteigende,  und  unter  dem  Semicanalis  tetisoris  tympani 
zum  Fallopischen  Kanäle  führende  Canalicvlus  tympanicus.  Das 
zwischen  dem  ersten  und  zweiten  Knie  befindliche  Stück  des 
Canalis  Fallopiae  liegt  zwischen  Fenestra  ovcdis  und  Canalis  semi- 
drcidaris  extemus,  und  springt  in  die  Paukenhöhle  bauchig  vor. 
Vom  zweiten  Knie  an  steigt  der  Kanal  hinter  der  Eminentia  pyra- 
midalis herab,  mit  deren  Höhle  er  durch  eine  Oeffnung  zusammen- 
hängt. Auch  mit  dem  Canalictdus  mastoideus  hat  dieser  letzte 
Abschnitt  des  Fallopischen  Kanals  eine  Communication.  Bevor  er 
am   Griffelwarze?^  *  ^  kurzen    Canalicvlus 

chordae  su* 


630  §.  240.  Literatur  der  gesaminten  Sinnenlehre. 


§•  240.  Literatur  der  gesammten  Sinnenlehre. 

/.   Tastwgan. 

J.  PurMnje,  coinmeut.  de  exam.  physiol.  organi  visus  et  syste- 
matis  eutanei.  Vratisl.,  1823.  8.  —  Q,  Brescket  et  Roussd  de  Vauzeme, 
,  nouvelles  recherches  sur  la  structure  de  la  peau.  Paris,  1835.  8.  — 
G.  Simon,  Beschreibung  der  uornialen  Haut,  in  dessen:  Haut- 
krankheiten, durch  anat.  Untersuchungen  erläutert.  Berlin,  1848. 
—  Bäretisprung,  Beiträge  zur  Anatomie  und  Pathologie  der  mensch- 
lichen Haut.  1848.  —  lieber  Epidermis,  Refe  Mnljnghii,  Haare, 
Nägel,  findet  man  alles  Wissenswerthe  in  den  Gc weblehren  von 
Herde  und  Kölliker,  und  kleinere  Aufsätze  in  Midieres  Archiv,  von 
Bidder,  G,  Simon,  Kohlrausch,  etc.,  ferner  von  Kölliker,  über  den 
Bau  der  Haarbälge  und  Haare,  in  den  Mittheilungen  der  Zürcher 
Gesellschaft,  1847,  so  wie  von  E,  Reissner,  nonnulla  de  hominis 
mammaliumque  pilis.  Uorpat,  1853.  Sehr  wichtig  für  das  Studium 
des  Nagels  ist  Virchoto:  Zur  normalen  und  patholog.  Anatomie  der 
Nägel,  in  den  Würzb.  Vcrh.  1854.  5.  Bd.  Ueber  die  Epidermis  der 
Hohlhand  handelt  speciell  E.  Oehl,  in  den  Annali  universali  di 
medicina.  1857. 

Eine  umfassende  Zusammenstelhmg  eigener  und  fremder  Be- 
obachtungen über  die  Structur  der  Haut  und  ihrer  Annexa,  ent- 
hält Krauses  Artikel  „Haut"^  in  Wagner*s  Handwörterbuch  der 
Physiologie.  —  Die  an  intcrc^ssanten  Thatsachen  reiche  Entwick- 
lungsgeschichte der  Haut,  gab  Kölliker  im  2.  Bande  der  Zeitschrift 
für  wissenschaftliche  Zoologie.  —  Ueber  die  glatten  Muskelfasern 
der  Haut  siehe:  Eylandt,  de  musculis  organicis  in  cute  humana. 
Dorpat,  1850. 


//.   Geruchorgan, 

Die  besten  Abbildungen  finden  sich  in:  A,  Scarpa,  disqui- 
sitiones  anat.  de  auditu  et  olfactu,  und  dessen  annot.  acad.  lib.  II. 
de  organo  olfactus,  Ticini,  1785,  so  wie  bei  S.  Th,  Sömmerring, 
Abbildungen  der  menschlichen  Organe  des  Geruches,  Frankfurt  a.  M., 
1809,  fol.,  und  Arnold,  Organa  sensuum. 

I)i<j  mikroskopischen  Structurverhältnisse  der  Nasenschleimhaut 
behandeln,  ausser  den  oft  citirten  histologischen  Schriften,  noch 
folgende:  C.  Eckhard,  Beiträge  zur  Anat.  u.  Physiol.  Giesseu,  1.  Bd. 
—  A.  Ecker,   in    der   Zeitschrift    für   wissensch.    Zoologie,    VHI.  — 


§.  240.  Literaiar  der  geummton  Sinnenjehre.  631 

R.  Seeberg,  Disquis.  microsc.  de  textui'a  membranae  pituitariae  nasi. 
Dorpat,  1856.  —  Die  Entdeckung  der  Riechzellen  durch  M.  Schnitze 
haben  die  Monatsberichte  der  Berliner  Akademie,  Nov.  1856,  ge- 
bracht. —  Neuestes:  Hoyer,  über  die  mikroskop.  Verhältnisse  der 
Nasenschleimhaut,  in  Reijchert'a  und  Du  Bois  Reymond's  Archiv,  1860, 
und  L.  Clarke,  über  den  Bau  des  Bulbus  olfactorius  und  der  Ge- 
ruchsschleimhaut (handelt  nur  von  Thieren),  in  der  Zeitschrift  für 
wissensch.  Zoologie.  11.  Bd.  —  M.  Schnitze,  Untersuchungen  über 
den  Bau  der  Nasenschleimhaut.  Halle,  1862.  —  K.  Hoffmann,  Mem- 
brana olfactoria,  etc.  Amsterd.,  1866. 


///.  Sehorgan. 

Da  die  Entdeckungen  über  das  Gewebe  der  Augenhäute  und 
des  Augenkerns  ganz  der  neueren  Anatomie  angehören,  so  ist  die 
ältere  Literatur  so  ziemlich  entbehrlich  geworden,  und  hat  grössten- 
theils  nur  historischen   Werth. 

Ueber  den  ganzen  Augapfel  handeln:  J.  G.  Zinn,  descriptio 
anat.  oculi  humani  icon.  illustr.  Gottingae,  1755.  —  S,  Th,  Söm- 
memng,  Abbildungen  des  menschlichen  Auges.  Frankf.  a.  M.,  1801.  fol. 

—  D.  G.  Sönimerring,  de  ocidorum  hominis  animaliumque  sectione  hori- 
zontali.  Cum  IV  tab.  Gott.,  1818.  fol.  —  F,  Arnold,  anat.  und  physiol. 
Untersuchungen  über  das  Auge  des  Menschen.  Heidelberg,  1832. 
4.,  und  dessen  Tab.  anat.  Fase.  H.  —  2%.  Ruete,  Lehrbuch  der 
Ophthalmologie.  Braunschweig,  1845.  —  S.  Pappenheim,  die  specielle 
Gewebslehre  des  menschlichen  Auges  mit  Rücksicht  auf  Entwick- 
lungsgeschichte und  Augenpraxis.  Berlin,  1842.  —  E.  Brücke,  anat. 
Beschreibung  des  menschlichen  Augapfels.  Berlin,  1847.  Die  Abbil- 
dungen sind  in  der  Darstellung  der  Form  des  Bulbus,  der  Dicke 
der  Membranen,  der  Inscrtionsstellen  der  Augenmuskeln,  der  An- 
heftung der  Iris,  der  Form  der  Ciliarfortsätze  und  der  Linse,  un- 
richtig. —  W.  Bowman,  Lectures  on  the  parts  concemed  in  the 
Operations  of  the  Eye.  London,  1849.  —  A.  Hannover,  das  Auge. 
Leipzig,  1852.  —  In  iconographischer  Hinsicht  bieten  Amold's  Or- 
gana senmum,  das  Beste  für  das  Auge  und  die  übrigen  Sinnesorgane. 

—  Arlfs  horizontaler  Durchschnitt  des  menschlichen  Auges.  Wien, 
1875,  entspricht  vollkommen  dem  Bedürfniss  des  Schülers.  —  Die 
Entwicklungsgeschichte  des  Auges  von  A.  v.  Ammon,  Berlin,  1858, 
enthält  den  Schlüssel  zur  Erklärung  der  angeborenen  Formfehler 
des  Sehorgans. 


G32  §•  S40.  liitemtar  der  (;i»»amiiit«n  Sinnenlehre. 


Augenlider,  Bindehaut,  und  Thränenwerkzeuge. 

H,  Meibom,  de  vasis  palpebrarum  noviö.  Helmstadii,  16G6.  — 
J,  TU.  Kosenmiiller,  partium  externarum  oculi,  inprimi»  organorum 
lacrymalium  deseriptio.  Lipsiae,  1797.  —  Gossdin,  über  die  Aus- 
fÜliruugsgänge  der  Thränendrüse,  im  Archiv  gener.  de  medieine. 
Paris,  1843.  —  H.  Reinhard,  diss.  de  viarum  lacrymalium  in  homine 
ceterisque  animalibus  anatomia  et  physiologia.  Lipsiae,  1840.  — 
R,  Mayer,  über  den  Bau  der  Thränenorgane.  Freiburg,  1859.  — 
Arlt,  über  den  Thränenschlauch ,  im  Archiv  für  Ophthalmologie. 
1 .  Bd.  2.  Abthl.  —  W,  Mam,  über  eigeuthümliche  Drüsen  am  Oor- 
nealrande.  Zeitschrift  für  rat.  Med.  5.  Bd.  —  J.  Aimold,  die  Binde- 
haut der  Hornhaut,  Heidelberg,  1860. 


Hornhaut  und  Sclerotica. 

Bochdalek,  über  die  Nerven  der  Sclerotica,  in  der  Prager 
Vierteljahrsschrift,  1849.  —  Ueber  Lamina  fusca,  Orbiculus  cHia- 
vis,  etc.  in  derselben  Zeitschrift,  1850.  —  Aufsätze  über  die  Nerven 
der  Cornea  von  KöUiker  und  Rahn,  in  den  Mittheilungen  der  Zürcher 
Gesellschaft,  1848  und  1850.  —  Fr.  DonibliUh,  über  den  Bau  der 
Cornea,  in  der  Zeitschrift  für  wissensch.  Medicin,  1855,  und  Fort- 
setzung 1856.  —  W.  Hissj  Beiträge  zur  Histologie  der  Cornea. 
Basel,  1856.  —  A.  Winiher,  zur  Gewebslehre  der  Hornhaut.  Archiv 
für  path.  Anat.  10.  Bd.  —  H.  Holländer,  de  corneae  et  scleroticae 
conjunctione. .  Vratisl.,  1856.  —  Th,  Ixinghans,  über  das  Gewebe  der 
Cornea.  Zeitschrift  für  rat.  Med.  XII.  Bd. 


Choroidea,  Iris  und  Pigment. 

J.  Lenhossek,  diss.  de  iride.  Budae,  1841.  —  J,  Cloquet,  m^m. 
sur  la  membrane  pupillaire  et  sur  la  formation  du  petit  cercle  de 
riris.  Paris,  1818.  —  C.  Krawe  in  Meckd's  Archiv,  1832,  und  in 
MiÜler's  Archiv,  1837,  Jahresbericht.  —  L.  Kohelt,  über  den  Sphincter 
der  Pupille,  in  Froriep'a  Notizen.  1840.  Bd.  XIV.  —  G,  Bruch, 
Untersuchungen  zur  Kenntniss  des  kömigen  Pigments.  Zürich, 
1844.  —  H,  Maller  und  P.  Arlt,  im  Archiv  tiir  Ophthalmologie 
(I.  HL  Bd.)  über  den  Musculus  ciliaris.  —  H.  Müller,  glatte  Mus- 
keln und  Nervengeflechto  der  Choroidea.  Würzb.  Verhandl.  1859. 
—  W,  Krause,  Ganglienzellen  im  Orbiculus  ciliaris,  in  dessen  anat. 
Untersuchungen.  Hannover,  1861.  —  T7i.  Leber,  über  die  Blutgefässe 


S.  S40.  Litarttnr  der  gssanmien  Sinnenlehre.  633 

des  menschlichen  Auges,  in  den  Denkschriften  der  kais.  Akademie. 
24.  Bd.  —  A.  Orünhagen,  Irismuskulatur,  Archiv  für  mikrosk.  Ana- 
tomie. 1873.  —  F.  Merkel,  die  Irismuskulatur.  Berlin,  1873.  — 
J,  Michel,  histol.  Structur  des  Irisstroma.  Erlangen,  1875. 


Netzhaut. 

Die  Literatur  über  den  Bau  der  Netzhaut  wächst  so  massen- 
haft, dass  sie  kaum  mehr  zu  bewältigen  scheint.  Wer  sich  von  ihr 
angezogen  findet,  mag  das  Wichtigste  aus  folgenden  Abhandlungen 
entnehmen:  J,  Bidder,  zur  Anatomie  der  Retina,  in  Müller^s  Archiv. 

1839  und  1841.   —   A,  Hannover,   über  die  Netzhaut,  etc.,   ebenda, 

1840  und  1843.  —  A,  Burow,  über  den  Bau  der  Macula  lutea, 
ebenda,  1840.  —  F,  Pacini,  sulla  testura  intima  della  retina.  Nuovi 
annali  di  Bologna  (enthält  gewaltige  mikroskopische  Beobachtungs- 
fehler, z.  B.  eine  Schichte  grauer  Nervenfasern  und  schlingen- 
förmige  Umbeugungen).  —  H.  Midier,  zur  Histologie  der  Netzhaut. 
Zeitschrift  für  wissensch.  Zoologie.  1851.  Weitere  Mittheilungen 
im  3.  imd  4.  Bande  der  Verhandlungen  der  phys.-med.  Gesellschaft 
zu  Würzburg,  und  im  VIII.  Bande  der  Zeitschrift  fiir  wissensch. 
Zoologie.  —  A,  Corti,  Beitrag  zur  Anatomie  der  Retina.  Midieres 
Archiv.  1850.  —  A,  Hannover,  zur  Anat.  und  Phys.  der  Retina,  in 
der  Zeitschrift  für  wissensch.  Zoologie.  5.  Bd.  1.  Heft,  und  Kölliker, 
in  den  Verhandlungen  der  Würzburger  phys.-med.  Gesellschaft. 
3.  Bd.  —  Ritter,  im  Archiv  für  Ophthalmologie,  Bd.  V.  — 
M,  Schvitzef  de  retinae  structura  penitiori.  Bonnae,  1859,  und  dessen 
Aufsatz:  zur  Kenntniss  des  gelben  Fleckes  und  der  Fovea  centralis 
des  Menschen,  im  Archiv  für  Anat.  und  Physich  1861.  —  W.  Krause, 
Retinastäbchen,  Zeitschrift  für  rat.  Med.  XI.  Bd.  —  C.  Ritter, 
Structur  der  Retina,  nach  Untersuchungen  am  Wallfischauge.  Berlin, 
1864.  —  H  Magnus,  die  Gefasse  der  Netzhaut.  Leipzig,  1873.  — 
Coster,  de  retinae  structura.  BeroL,  1871. 


Glaskörper  und  Linse. 

E.  Brücke,  über  den  inneren  Bau  des  Glaskörpers,  in  Müller's 
Archiv,  1843.  —  Meyer  Ahrens,  Bemerkungen  über  die  Structur  der 
Linse,  in  Midieres  Archiv,  1838.  —  A.  Hannover,  in  Midieres  Archiv, 
1845.  —  W.  Wemeck,  mikroskop.  Untersuchungen  über  die  Wasser- 
haut und  das  Linsensystem^  in  Ainmon's  Zeitschr.,  IV.  und  V.  Bd. 
—    W.  Bowmanf    Observatioiif  <m         '  ^f  the   Vitreous 

Humour,  in  DubL  Qiurk-^ 


634  §.  840.  Litentnr  der  gesammtao  Sinnenlehre. 

concentrischer  Membranen).  —  Virchow,  Notiz  über  den  Glaskörper, 
Archiv  für  pathol.  Anat.  IV.  Bd.,  und  C,  0,  Weber,  über  den  Bau 
des  Glaskörpers,  ebenda,  XVI.  und  XIX.  Bd. 

Ueber  die  Zergliederung  des  Auges  handelt:  A,  K.  Hesselhacli, 
Bericht  von  der  königlich  anatomischen  Anstalt  zu  Würzburg,  mit 
einer  Beschreibung  des  menschlichen  Auges  und  Anleitung  zur 
Zergliederung  desselben,  Würzburg,  1810,  und  mein  Handbuch  der 
prakt.  Sjcrgliederungskunst.  Wien,  1860. 


IV.  Gehörorgan, 

Ueber  das  Gehörorgan  sind  auch  die  älteren  Schriften  von 
Vahalva  (1704),  Cassebohm  (1754),  Vieussejis  (1714)  noch  immer 
brauchbar.  Die  Beschreibungen  der  beiden  ersteren  gehen  selbst  in 
die  Subtilitäten  ein;  nur  sind  die  Abbildungen  roh  und  mangeUiaft. 

Hauptwerke  bleiben  für  alle  Zeit:  A,  Scarpa,  disquisitiones 
anat.  de  auditu  et  olfactu.  Ticin.,  1789,  1792,  fol.,  und  Sommer  ring*  s 
Abbildungen  des  menschlichen  Gehörorgans.  Frankfurt  a.  M.,  180G, 
fol.,  empfehlen  sich  durch  die  Schönheit  und  (Jorrectheit  der  Tafeln. 
—  TTi,  Buchanan,  Physiological  Illustrations  of  the  Organ  of  Hearing. 
London,  1828.  Auszüge  davon  in  MeckeVs  Archiv,  1828. —  G,  Breschet, 
recherches  anat.  et  physiol.  sur  Torgan  de  Fouic,  etc.  Paris,  1836.  4., 
und  J.  Hyrtl,  vergleichende  anat.  Untersuchungen  über  das  innere 
(und  mittlere)  Gehörorgan  des  Menschen  und  der  Säugethicre.  Prag, 
1845,  mit  9  Kupfertafeln,  fol.  —  Rüdinger,  Atlas  des  menschlichen 
Gehörorgans  (photographisch).  München,  1875,  complet.  —  Das 
Lehrbuch  der  Ohrenheilkunde  von  Tröltsch,  5.  Auflage,  enthält 
höchst  schätzenswerthe  anatomische  Schildeiningen. 

Einzelne  Theilc  des  Gehörorgans: 


Aeusseres  Ohr,  Trommelfell,  Paukenhöhle  und  Gehör- 
knöchelchen. 

A,  Hannover,  de  cartilaginibus,  musculis  et  nervis  auris  ext. 
Hafn.,  1839.  4.  (grösstcntheils  vergleichend).  —  Jung,  vom  äusseren 
Ohre,  und  seinen  Muskeln  beim  Menschen,  in  den  Verhandlungen 
der  naturforschenden  Gesellschaft  in  Basel.  1849.  —  H.  L  Shrapnell, 
On  the  Structure  of  the  Membrana  Tympani,  in  Lond.  Med.  Gazette. 
April.  1832.  —  J.  Toynbee,  On  stnicture  of  the  Membrana  Tympani, 
in  den  Phil.  Tranaact.  1851.  P.  I.  —  v.  TrölUch,  Beiträge  zur  Ana- 


§.  S40.    Litentar  der  geMUDinten  Sinnealehre.  635 

tomie  des  Trommelfells,  in  der  Zeitschrift  für  wissensch,  Zoologie. 
9.  Bd.,  und  dessen  Anatomie  des  Ohres,  in  ihrer  Anwendung  auf 
Praxis.  Würzburg,  1861.  —  Oerlach,  Mikroskop.  Studien.  Erlangen, 
1858.  —  F.  Ttedemann,  Varietäten  des  Steigbügels,  in  Meckd's 
Archiv.  5.  Bd.  —  H.  J.  ShrapneU,  On  the  Structure  of  the  Incus. 
Lond.  Med.  Gaz.  June.  1833.  (Sylvisches  Knöchelchen.)  —  F.  W.  Che- 
vallier,  On  the  Ligaments  of  the  Human  Ossicula  Auditus,  in  Med. 
Chir.  Transact.  1825.  —  E,  Hagenbtzch,  disquisitio  circa  musculos 
aui-is  int.  hom.  Basil.,  1833.  —  W.  Grxiher,  der  Paukenknochen  im 
Bull,  de  TAcad.  Imp.  de  St.  P^tersb.  1858.  Tom.  17.  N.  21.  — 
Jos,  Gruber,  anat.  physiol.  Studien  über  das  Trommelfell.  Wien, 
1867.  —  G.  Brunner,  Anat.  und  Histol.  des  mittleren  Ohres.  Leipzig, 
1870.  —  j^.  Rudinger,  Beiträge  zur  Histologie  des  mittleren  Ohres. 
München,  1873.  —  E.  Mach  und  J,  Kessel,  Topographie  und  Mechanik 
des  Mittelohres.  Wiener  akad.  Sitzungsberichte.  1874.  —  Zucker- 
kandlj  Anatomie  der  Tuba  EustacML  Monatsschr.  für  Ohrenheil- 
kunde.  1874. 


Labyrinth. 

D,  Cotunni,  de  aquaeductibus  auris  hum.  Nap.,  1761.  — 
J.  G.  Zinn,  observationes  anat.  de  vasis  subtilioribus  oculi  et  Coch- 
leae auris  int.  Gott.,  1753.  —  Brugnone,  observations  anatomiques 
et  physiologiques  sur  le  labyrinthc  de  Toreille,  in  den  M^moires  de 
Turin,  1805  und  1808.  —  Ribes,  sur  quelques  parties  de  Foreille 
interne,  in  Ma^endie,  Journal  de  physiologie  experimentale. 
Vol.  n.  —  J.  H.  Hg,  anatomische  Beobachtungen  über  den  Bau 
der  Schnecke.  Prag,  1821.  —  Ch,  Fr.  Meckel ,  de  labyrinthi 
auris  contentis.  Argent.,  1777.  —  Reissner,  de  auris  internae  for- 
matione.  Dorpat.,  1851.  —  A.  Corti,  Recherches  sur  Torgane  de 
Touie,  Zeitschrift  für  wissensch.  Zoologie.  IH.  Bd.  —  A,  KöllUcer, 
über  die  letzte  Endigung  des  Nerv^us  cocldeas,  und  die  Function  der 
Schnecke.  Würzburg,  1854.  —  E,  Reissner,  zur  Kenntniss  der 
Schnecke,  in  Millle^'*8  Archiv.  1854.  —  M,  Claudias,  über  den  Bau 
der  häutigen  Spiralleiste,  in  der  Zeitschrift  für  wissensch.  Zoologie. 
Bd.  Vn.  —  A,  Böttclier,  Entwicklung  und  Bau  des  Gehörlabyrinths. 
Dresden,  1869.  —  W.  Middendorpy  het  vliezig  Slakkenhuis.  Gronin- 
gen, 1867.  —  O.  Deiters,  Beiträge  zur  Kenntniss  der  Lam,  spir.,  in 
der  Zeitschrift  für  wissensch.  2k)ologie.  10.  Bd.  1.  Heft.  —  Kölliker, 
der  embryonale  Schneckenkanal.  Würzb.  Verhandl.  1861.  —  Volto- 
Uni,    die   Zerlegung   und    Untersuohunir    <^^  'truans   an   der 

Leiche.  Breslau,  1862,  und 
rinth,  in  Virchow'$  A 


()30  $•  M<>-  Mtontnr  der  gMammten  Binncnlelir^. 

tomie  der  Oehörschnecke.  Berlin,  1864,  und  in  dessen  Archiv,  1871. 
—  V,  Mensen,  zur  Morphologie  der  Schnecke,  Zeitschrift  fi'ir  w-isscn- 
Bchaftliche  Zoologie.  Xlll.  Bd.  —  J.  Gottstmn,  über  den  feineren 
Bau  der  Oehörschnecke.  Bonn,  1871.  —  (\  Hcuse,  vergl.  Morpho- 
logie und  Histologie  des  häutigen  Labyrinths.  Leij>zig,  1878.  — 
C,   Utz,  Histologie  der  häutigen  Bogengänge.  Münclien,  1875. 


FÜNFTES  BUCH. 


Eingeweidelehre  und  Fragmente  aus  der 

Entwicklungsgeschichte. 


A.  Eingeweidelehre. 

§.  241.  Begriff  und  Eintheilung  der  Eingeweidelehre, 

JJie  Eingeweidelehre,  Splanchnologia  (dTwXörfxvov,  Eingeweide), 
im  engeren  Sinne  des  Wortes,  befasst  sich  mit  dem  Studium  jener 
zusammengesetzten  Organe,  durch  welche  der  materielle  Verkehr 
des  Organismus  mit  der  Aussenwelt  unterhalten,  und  jene  Stoffe 
bereitet  werden,  welche  entweder  zur  Erhaltung  des  Individuums, 
oder  zur  Fortpflanzung  seiner  Species  nothwendig  sind.  Jedes  Organ, 
welches  an  der  Ausführung  dieser  Verrichtungen  Antheil  hat,  ist 
ein  Eingeweide  (Viscus).  Da  die  Viscera  im  Inneren  der  Körper- 
höhlen untergebracht  sind,  werden  sie  auch  Intestina  genannt,  von 
inttJLS,  Im  Altdeutschen  bedeutet  Weid  das  Innere,  woher  die 
Worte  Eingeweid  und  Ausweiden  stammen. 

Eine  Gruppe  oder  Folge  von  Eingeweiden,  welche  zur  Reali- 
sirung  eines  gemeinsamen  physiologischen  Zweckes  zusammenwirken, 
bildet  einen  Apparat  oder  ein  System,  dessen  Name  von  der 
Wirkung  genommen  wird,  die  es  hervorbringt.  So  zählen  wir  eia 
Verdauungssystem,  ein  Respirationssystem,  ein  Harn-  und 
Geschlechtssystem.  —  Die  Alten  unterschieden  edle  und  un- 
edle Eingeweide.  Edle  Eingeweide  waren  ihnen  jene,  welche  sie 
von  den  Opferthieren  am  heiligen  Feuer  zu  rösten  und  dann  zu 
verzehren  pflegten.  Aus  ihnen  deuteten  die  Haruspices  den  Willen 
der  Götter.  Sie  waren:  Herz,  Lunge,  Leber,  Milz  und  Niere  (was 
wir  parenchymatöse  Eingeweide  nennen),  und  wurden  allgemein 
als  Exta  bezeichnet;  —  daher  exttspicium.  Unedel  waren  alle 
schlauchartigen  Eingeweide,  welche  nicht  gegessen  wurden,  wie 
Magen,  Darm,  Harnblase  und  Uterus.  Das  Wort  viscera  wurde  für 
edle  und  unedle  Eingeweide  zusammen  gebraucht,  welche  Plinius 
auch  als  Interanea  benannte,  woher  das  französische  entraähs.  Die 
Griechen  nannten  die  Verdauungsorgane  Ivrcpa  (icapa  tb  evrb?  elvat, 
quod  intus  sUa  sint),  welcher  Ausdruck  aber  später  nur  auf  das 


ß40  §•  242.  Begriff  und  Einthoilaiig  des  Verdaaungsorgans. 

Gedärme  bezogen  wurde,  und  sich  in  exenterare,  ausweiden,  in 
Mesmteiium,  Gekröse,  Enteritis,  Gedärmentzündung,  und  Dysen- 
teria,  Ruhr,  erhalten  hat. 


I.  Verdauuiigsorgan. 

§.  242.  Begriff  und  Eintheilung  des  Verdauungsorgans. 

Das  Verdauungsorgan,  Organon  digestionis,  bildet  einen, 
vom  Munde  bis  zum  After,  durch  alle  Leibeshöhlen  verlaufenden 
Schlauch  (Cancdis  digestorius  8.  alimentarius)  mit  veränderlicher 
Weite,  welcher  die  Ausführungsgänge  drüsiger  Nebengebilde  (Organa 
accessoria)  aufiiimmt.  Seine  Verrichtung,  welche  nur  an  seinem 
Anfange  und  Ende  der  Willkür  unterworfen  ist,  zielt  dahin,  aus 
den  genossenen  Nahrungsmitteln  jene  Stoffe  auszuziehen,  welche  im 
Stande  sind,  die  Verluste  zu  ersetzen-,  die  der  Organismus  durch 
Ausscheidung  seiner  verbrauchten  und  zum  Leben  untauglichen 
Materien  fortwährend  erleidet.  Die  Thcilchen,  aus  welchen  der 
thierische  Leib  besteht,  sind  während  des  Lebens  nicht  auf  ein 
ruhiges  Neboneinandersein  angewiesen.  Sie  befinden  sich  vielmehr 
in  einem  fortdauernden  Wechsel,  durch  welchen  die  älteren  aus 
ihren  Verbindungen  treten,  und  neue  an  ihre  Stelle  kommen,  um 
wieder  anderen  Platz  zu  machen.  Dieser  Stoffumtausch,  in  welchem 
ein  Hauptmerkmal  des  thierischen  und  pflanzlichen  Lebens  liegt, 
und  welcher,  wie  man  sagt,  die  Pflanze  im  Thiere  vorstellt,  kann 
nur  dann  eine  Zeit  lang  ohne  Verzehnmg  und  Aufreibung  des 
Organismus  dauern,  wenn  der  Zuwachs  dem  Verluste  gleichartig 
und  proportionirt  ist.  —  Die  Stoffe,  aus  welchen  der  thierische  Leib 
sich  ernährt,  finden  sich,  als  solche  in  der  pflanzlichen  und  thierischen 
Nahrung  vor.  Es  handelt  sich  nur  darum,  sie  aus  dieser  aus- 
zuziehen, und  rein  von  jeder  anderen  Zugabe  darzustellen.  Diesen 
Act  hat  die  Natur  den  Verdauungsorganen  anvertraut.  Er  w4rd 
auf  chemische,  leider  nicht  ganz  genau  bekannte  Weise  durch- 
geführt. Wie  der  Chemiker,  wenn  er  einen  reinen  Stoff  aus  einem 
zusammengesetzten  Körper  darzustellen  hätte,  diesen  in  kleine  Stücke 
zerschneidet  oder  zu  Pulver  zermalmt,  mit  Flüssigkeiten  digerirt, 
mit  Säuren  behandelt,  von  einem  Gefasse  in  ein  anderes  giesst,  um 
neue  Reagentien  anzuwenden,  und  den  Rückstand,  welcher  ihn 
nicht  mehr  interessirt,  wegschüttet,  so  ist  der  Verdauungsact  der 
Form  nach  eine  Reihe  ähnlicher  Verrichtungen,  welche  als  Kauen, 
Einspeicheln,  Schlingen,  Magen-  und  Darmverdauung,  und 
endlich  Kothentleerung  auf  einander  folgen.  Die  ganze  Gruppe 
von  Verdauungswerkzeugen   kann   somit   in   folgende   Abtheilungen 


§.  243.  MnndhAhle.  641 


gebracht  werden:  1.  Mundhöhle,  mit  Zähnen  und  Speicheldrüsen, 
2.  Schlingorgane,  als  Rachen  und  Speiseröhre,  3.  eigentliche 
Verdauungsorgane:  Magen,  Dünn-  und  Dickdarm,  sammt  ihren 
drüsigen  Nebenorganen:  Leber,  Bauchspeicheldrüse,  Milz,  und  end- 
lich 4.  Ausleerungsorgan:  Mastdarm. 


§.  243.  Mundliölile. 

Der  Verdauungskanal  beginnt  mit  einer,  am  unteren  Theile 
des  Kopfes  zwischen  den  Kiefern  liegenden  Höhle  —  Mundhöhle, 
Cavwm  oria  —  in  welcher  die  Speisen  für  die  Magenverdauung  durch 
das  Kauen,  M(t8ticatio,  und  Einspeicheln,  InsalivaHo,  vorbereitet 
werden,  d.  i.  auf  mechanische  Weise  jene  Aenderung  ihrer  Cohäsion 
erleiden,  welche  sie  zum  Verschlungenwerden  tauglich  macht. 

Bei  geschlossenen  Kiefern,  zerfallt  die  Mundhöhle  durch  die 
Zähne  in  eine  vordere  kleinere  ( Vestihulum  oris),  und  in  eine  hintere 
grössere  Abtheilung  oder  die  eigentliche  Mundhöhle.  Beide 
Abtheilungen  stehen  beiderseits  durch  eine  zwischen  dem  letzten 
Backenzahn  und  dem  vorderen  Rande  des  Kronenfortsatzes  des 
Unterkiefers  offen  bleibende  Lücke  in  Verbindung.  Bei  gesenktem 
Unterkiefer  fliessen  beide  Abtheilungen  in  ein  grosses  (^avui^  zu- 
sammen, welches  seitwärts  durch  die  Backen,  oben  durch  den  harten 
Gaumen,  imd  unten  durch  die  vom  Unterkiefer  zum  Zungenbein 
gehende  Muskulatur  begrenzt  wird,  vorn  und  hinten  aber  offen  ist. 
Die  vordere  Oeffnung  ist  die,  von  den  zwei  wagrechten,  gcwulsteten, 
mit  Empfindlichkeit  und  Tast vermögen  begabten  Lippen,  Labia, 
begrenzte  Mundspalte  (Eima  oii^,  oroixa),  an  deren  Saume  das 
äussere  Integument  mit  der  Schleimhaut  des  Verdauungsorgans  in 
Verbindung  tritt.  Beide  Lippen  (ystXea,  von  x^^iv  Xi^ov,  quod  vocem 
effundant),  werden  durch  eine  von  ihrer  inneren  Fläche  senkrecht 
sich  erhebende  Schleimhautfalte  (Frenidum  labii  superloris  et  inferwris) 
an  das  hinter  ihnen  befindliche  Zahnfleisch  geheftet,  und  besitzen, 
wegen  ihrer  nothwendigen  Mitwirkung  beim  Kauen,  Sprechen, 
Saugen,  Blasen,  Pfeifen,  etc.  einen  so  hohen  Grad  von  Beweglich- 
keit, dass  die  Mundspalte  die  verschiedensten  Formen  annehmen 
kann.  In  der  Mitte  der  Oberlippe  befindet  sich  ein,  gegen  die 
Nasen  Scheidewand  sich  erstreckendes  Grübchen,  Phätrum  genannt 
(qula  amoris  illecebra  in  eo  continetur,  nach  Spigelius). 

Der  Schleimhautüberzug  der  Lippen  setzt  sich  auf  die  innere 
Fläche  der  Backen  fort,  wo  er,  dem  zweiten  oberen  Backenzahn 
gegenüber,  in  die  Mündung  des  Ausfuhrungsganges  der  Ohrspeichel- 
drüse eindringt.  Von  den  Backen  und  Lippen  schlägt  er  sich  zur 
vorderen  Fläche  der  Alveolarfortsätze   der  Kiefer  um,   schliesst  als 

nv«i    T.«itfin^  a«r  Aiuitomi«.  14.  Aufl.  41 


642  S*  ^M4.  Weicher  Gaumen,  IHkmiu  fBtueium,  and  Handeln. 

Zahnfleisch  die  Hälse  der  Zähne  ein,  und  gelangt  zwischen 
je  zwei  Zähnen  aus  der  vorderen  Mundhöhle  in  die  hintere.  In 
der  hinteren  Mundhöhle  überzieht  er  den  Boden  und  das  Dach 
derselben:  den  harten  Gaumen.  Vom  Boden  erhebt  er  sich  falten- 
förmigy  um  das  Zungenbändchen  (Frentdum  linguae) ,  welches 
vorzugsweise  aus  elastischen  Fasern  besteht,  zu  überziehen,  und  so 
fort  die  ganze  freie  Oberfläche  dieses  Organs  einzuhüllen.  Rechts 
und  links  vom  Zungenbändchen,  dringt  er  in  die  Mündungen  der 
Ausführungsgänge  der  Unterkiefer-  und  Unterzungen-Speicheldrüse 
ein.  Am  harten  Gaumen  verdickt  er  sich  ansehnlich,  hängt  durch 
sehr  derbes  Bindegewebe  mit  der  Beinhaut  des  knöchernen  Gaumens 
innig  zusammen,  und  bildet,  bevor  er  durch  die  hintere  OeflFnung 
der  Mundhöhle  in  die  Rachenhöhle  übergeht,  eine  vom  hinteren 
Rande  des  harten  Gaumens,  gegen  die  Zungenbasis  herabhängende 
Falte  —  den  weichen  Gaumen,  Pcdatum  molle,  s.  mobäe,  s. 
pendtUum, 

Die  Schleimhaut  der  Mundhöhle  beaitsst,  ausser  den  sie  vorzugsweise  bilden- 
den Bindegewebsfasern,  einen  ziemlichen  Reichthum  an  elastischen  Fasern.  Ihre 
freie  Oberfläche  ist  mit  einem  geschichteten  Pflasterepithel  überzogen.  Die  Zellen 
der  obersten  Schichte  dieses  EpiÜiels,  sind  zu  Plättchen  abgeflacht,  während  die 
tieferen  rundlich  eckig,  und  die  tiefsten  cylindrisch  gestaltet  sind,  und  auf  der 
Schleimhautoberfläche  senkrecht  aufstehen.  Eine  grosse  Anzahl  kleiner,  den  Tast- 
wäBBchen  der  Haut  ähnlicher  Papillen,  ragt  von  der  freien  Fläche  der  Mund- 
schleimhaut in  die  tieferen  Schichten  des  Epithels  hinein.  Nebstdem  besitzt  die 
Mundhühlenschleimhaut  eine  Anzahl  von  Drüsen  (Schleimdrüsen),  welche  man 
allgemein  für  acinös  hält,  wogegen  Einige  ihren  tubulösen  Bau  hervorheben,  mit 
kolbenförmigen  Enden.  Sie  führen  prismatisches  Epithel.  Man  unterscheidet  sie 
nach  dem  Ort  ihres  Vorkommens  als  Glandulae  labiales,  huccales,  palalinae  und 
ling^iales»  Ihre  Grösse  und  Zahl  variirt  an  verschiedenen  Stellen  der  Mund- 
schleimhaut, und  ist  an  der  vorderen  Fläche  des  weichen  Gaumens  am  ansehn- 
lichsten, wo  sie  eine  continuirliche,  anderthalb  Linien  dicke  Drüsenschichte  bilden, 
welche  sich  auch  auf  den  harten  Gaumen,  aber  mit  nach  vom  abnehmender  Dicke 
fortsetzt.  Die  Glandulae  Itrupiale»  lagern  theils  längs  des  Zungenrandes,  theils 
am  hintersten  Bezirk  des  Zungenrückens.  Eine  Gruppe  von  Schleimdrüschen, 
welche  einwärts  vom  hinteren  Backenzahn  lagert,  und  die  Mundschleimhaut  etwas 
hügelig  aufwölbt,  wurde  von  Henle  als  Glandulae  molares  benannt 


§.  244.  Weicher  öaumeii,  Isthmus  faudii/in,  und  Mandeln. 

Der  weiche  Gaumen,  auch  Gaumensegel  genannt,  er- 
scheint zunächst  als  eine  bewegliche  Grenz  wand  zwischen  der 
Mund-  und  Rachenhöhle,  welche  aber  nicht  vertical  herabhängt, 
sondern  schief  nach  hinten  und  unten  gerichtet  ist.  Er  zeigt  uns 
eine  vordere  und  hintere  Fläche,  einen  oberen,  am  hinteren  Rande 
des  harten  Gaumens  befestigten,  und  einen  unteren  freien  Rand, 
welcher  nicht  bis  zur  Zunge  herabreicht,  und  in  seiner  Mitte  einen 


§.  844.  Weicher  OAumen,  üUmvs  fmueium,  und  Mandeln.  643 

stumpf  kegelförmigen  Anhang  trägt,  —  das  Zäpfchen,  Uvtda 
(Diminutiv  von  tiva,  wie  das  griechische  (jtofüAi^  von  ora^f;,  Traube). 
Durch  das  Zäpfchen  wird  der  untere  Rand  des  weichen  Gaumens 
in  zwei  seitliche  bogenförmige  Hälften  getheilt.  Jede  dieser  Hälften 
theilt  sich  wieder  in  zwei,  nach  vor-  und  rückwärts  von  einander 
divergirende  Schenkel,  welche  Gaumenbögen,  Arcus  palatim, 
heissen.  Der  vordere  geht  zum  Seitenrande  der  Zunge  als  Gaumen- 
zungenbogen,  Arcus  pcdcUo-glossus.  Der  hintere  setzt  sich  in  die 
Schleimhaut  der  Rachenhöhle  fort,  als  Gaumenrachenbogen, 
Arcus  palato-pharyngeus.  Jeder  Schenkel  kehrt  seinen  concaven  oder 
freien  Rand,  der  Axe  der  Mundhöhle  zu.  Zwischen  beiden  Schenkeln 
einer  Seite,  bleibt  ein  nach  oben  spitziger,  dreieckiger  Raum  übrig, 
in  welchem  ein  Aggregat  von  Balgdrüsen  liegt  —  die  Mandel, 
TonsiUa  s.  AmygdcUa  (griechischer  Name  für  beide  Mandeln :  dvrtfltöeq, 
daher  Anüaditis,  Halsentzündung).  Die  Mandel  ragt  über  die  inne- 
ren Ränder  der  Gaumenbögen  hervor,  und  kann  doshalb  von  der 
Mundhöhle  her  gesehen  werden.  —  Der  zwischen  dem  unteren  Rande 
des  weichen  Gaumens,  dem  Zungengrunde,  und  den  beiden  Mandeln 
übrig  bleibende  Raum,  ist  die  hintere  OefFnung  der  Mundhöhle, 
welche  zur  Rachenhöhle  führt,  und  deshalb  Racheneingang  oder 
Rachenenge,  auch  Schlund,  von  dem  altdeutschen  schlinden,  d.  i. 
schlingen  (Isthmus  fav^dum),  benannt  wird. 

hthmiis  ist  Landenge,  also  festes  Land.  Eine  Oeffhong,  wie  der  Rachen- 
eingang, soll  aber  nicht  den  Namen  eines  festen  Körpers  filhren.  Deshalb  wäre 
Fretum  ori»  weit  besser,  als  hthmu»  faucium,  denn  Fretum  ist  Meerenge,  auch 
Strömung,  und  passt  gut  für  eine  Oeffhung,  durch  welche  alles  Genossene  geht. 
—  Das  Wort  Fattx  wird  nie  im  Nomhiativus  singularia  gebraucht,  sondern  immer 
im  Plural.  Warum  hat  nun  der  einfache  Schlund,  einen  Namen  im  Plural: 
Fauces  f  In  jedem  römischen  Palais  führten  dunkle  Gänge ,  durch  welche  nur  die 
Sklaven  des  Hauses  verkehrten,  aus  dem  eigentlichen  Wohnzimmer,  Atrium,  in  das 
innere  Peristyl.  Es  waren  ihrer  immer  zwei,  zu  beiden  Seiten  des  TaMinum 
(Gemach,  wo  die  Famüienpapiere,  tabulae,  aufbewahrt  wurden).  Sie  Messen  des- 
halb Fauces,  welche  Benennung  von  Celsus  (Lib.  IV,  cap.  4J  auf  den  einfachen 
menschlichen  Schlund  übertragen  wurde. 

Die  Mandeln  sind  Conglomerate  einer  sehr  veränderlichen 
Anzahl  von  Balgdrüsen  (§.  90).  Diese  Balgdrüsen  sind  aber  sehr 
oft  nur  undeutlich  von  einander  isolirt,  und  verschmelzen  vielmehr 
zu  einer  mehr  weniger  continuirlichen  Schichte  von  lymphoider 
(eonglobirter)  Drüsensubstanz.  Jede  dieser  Balgdiüsen  ist  eine 
mehrfach  ausgebuchtete  und  mit  der  Mundhöhle  durch  eine  relativ 
kleine  OefFnung  communicirende  Tasche.  Sie  ist  an  ihrer  Innen- 
fläche von  einer  Fortsetzung  der  Mundhöhlenschleimhaut  und  ihres 
Epithels  ausgekleidet.  Gewöhnlich  münden  auch  acinöse  Schleim- 
drüsen   in    die    Höhle    der    Tasche,    welche    deshalb    immer   mehr 

weniger   Schleim    enthält.     Die   Wand    der   Balgdrüsen    wird    von 

41» 


644:  §.  845.   Die  Maskeln  des  weichen  Gaumens. 

einem  reticulären,  an  den  Knotenpunkten  kernhaltigen  Binde- 
gewebe gebildet,  in  dessen  Maschen  eine  reiche  Menge  von 
Lyraphkörperchen  lagert.  Eben  die  Gegenwart  dieser  Bälge,  deren 
Verwandtschaft  mit  den  Alveoli  der  Lymphdrüsen  nicht  ver- 
kannt werden  kann,  reiht  die  Mandel  in  die  Sippe  der  sogenannten 
Balgdrüsen. 

Die  dem  Isthmus  faucium  zugewendete  Fläche  der  Mandeln, 
Iftsst  fiinfzehn  bis  zwanzig  OefFnungen  erkennen,  durch  welche 
die  Balgdrüsen  ihren  Inhalt,  während  des  Durchpassirens  des 
Bissens  durch  den  Isthmus  fahren  lassen,  und  diese  enge  Passage 
schlüpfrig  machen.  Diese  OefFnungen  erinnern  an  die  Grübchen 
und  Tüpfeln  auf  der  Schale  eines  Pfirsichkernes  (Amtf()JaIw  perswa) 
—  inds  nomen. 

So  lange  die  zu-  und  abführenden  LymphgefÜsse  der  BHlg^e  in  den  Man- 
deln nicht  nachgewiesen  werden,  fühlen  wir  uns  nicht  berechtigt,  sie  für  peri- 
pherische Lymphdrüsen  zu  halten.  (Man  sehe  hierüber  §.  08).  Ein  unpassen- 
derer Ort  für  Lymphdrüsen  wäre  kaum  zu  finden  gewesen,  als  die  Substanz  der 
dicken  Bälge  eines  Secretionsorgans,  was  doch  die  Mandel  unbezweifelbar  ist, 
da  man  durch  Fingerdruck  ein  Quantum  schleimigen  Stoffes  aus  ihr  heraus- 
pressen kaim,  welchen  die  Mandel  auch  hergiebt,  wenn  sie  dtirch  den  ver- 
schlungenen Bissen  gedrückt  wird,  welcher  eben  dadun'h  eine  schlüpfrige  llin- 
hülhmg  erhält,  wodurch  die  Passage  <lurch  den  engen  hthtmis  faucium  für  ihn 
erleichtert  wird. 

Die  Mandeln  schwellen  bei  Entzündungen  so  bedeutend  an,  dass  sie  den 
Isthmus,  und  selbst  den,  hinter  dem  Istiimus  liegenden  Bezirk  der  Kac.henhölih» 
ausfällen,  und  Erstickung^gefahr  bedingen  (Angina  fawtiliarijtj.  Eine  bleibende 
Vergrössening  derselben  verursacht  beschwerliches  Schlingen,  genirt  di<;  Sprache, 
veranlasst  selbst  Schwerhörigkeit  wegen  der  Nähe  der  Kachenmündung  der  Ohr- 
trompete, und  erfordert  ihre  Ausrottung  mit  dem  Messer.  Hei  alten  Individuen, 
welche  oftmals  an  Entzündungen  der  Mandeln  mit  partieller  Vereiterung  derselben 
gelitten  haben,  findet  man  sie  geschrumpft,  theilweise  oder  vollkommen  geschwnnden, 
und  nur  ihre  Oeffnungen,  als  seichte  Grübchen  ohne  drüsiges  Parenchym,  noeli 
sichtbar. 

Die  älteren  Namen  des  Zäpfchens,  g^irgHlio  und  gart/arean,  erinnern  an 
„gurgeln",  .YOfyapfi^eiv. 

Um  eine  belehrende  Anschauung  vom  hthmiu  faucium  zu  erhalten,  bereite 
man  sich  zwei  senkrechte  Durchschnitte  eines  Schädels.  Der  eine  gehe  senkrecht 
durch  beide  Augenhöhlen  bis  in  die  Mundhöhle,  und  lasse  Unterkiefer  nnd  Zunge 
unberührt.  Man  bekommt  durch  ihn  eine  freie  Ansicht  des  weiclien  Gaumens, 
seiner  Schenkel  und  der  Mandeln,  von  vom  her.  Der  andere,  ebenfalls  senkreclite, 
aber  mit  der  Nasenscheidewand  parallele,  theile  die  Mundhöhle  in  zwei  seitlielie 
Hälften.  Er  giebt  die  Ansicht  des  weichen  Gaumens,  seiner  Bogen,  und  seiner 
Beziehungen  zur  Mund-  und  Rachenhöhle  im  Aufriss. 


§.  245.  Die  Muskeln  des  weichen  Gaumens. 

Der  weiche  Gaumen  wird  durch  Muskehi  bewegt,  welche  ent- 
weder ganz,   oder    nur   mit    ihren  Enden,   zwischen    seinen    beiden 


§.  845.  Die  Maskeln  des  weichen  Oaamene.  645 

Schleimhautblättern  liegen,  ihn  heben,  senken,  oder  in  der  Quere 
spannen,  und  dadurch  die  Weite  und  Gestalt  des  hihmm  faucium 
verändern. 

Die  Mosküln  des  weichen  Gaumens  können  am  besten  nur  von  hintenher 
präparirt  werden.  Man  hat  somit  die  Wirbelsäule  abzutragen,  den  Rachensack  zu 
öffnen,  und  findet  sie  leicht  nach  Entfernung  des  hinteren  Blattes  der  Schleimhaut 
des  weichen  Gaumens  bis  zur  Eustachischen  Trompete  hinauf. 

Nur  Ein  Gaumenmuskel  ist  scheinbar  unpaar,  die  übrigen 
paarig. 

Der  unpaare  Azygo8  umdae  geht  von  der  Spina  palatina  (hin- 
terer Nasenstachel)  zum  Zäpfchen  herab.  Er  besteht  immer  aus 
zwei  ganz  gleichen,  bis  zur  innigsten  Berührung  genäherten  Hälften, 
und  ist  somit  eigentlich  kein  Muscidus  azygos,   d.  h.  ohne   Gespann. 

Der  Levator  veli  palcUini  8.  Petro-salpingchstaphylinus  (von  x^Tpa, 
Felsen,  GaXxiY^,  Trompete,  oTa^üXtJ,  Zäpfchen)  entspringt  vor  dem 
carotischen  Kanal  an  der  unteren  Felsenbeinflächc,  so  wie  auch  von  dem 
Knorpel  der  Eustachischen  Ohrtrompete,  und  verwebt  seine  Fasern 
im  weichen  Gaumen  theils  mit  den  Fasern  des  Azygos,  theils  fliessen 
sie,  in  einem  nach  abwärts  convexen  Bogen,  mit  jenen  des  gleich- 
namigen Muskels  der  anderen  Seite  zusammen. 

Der  Tensor  palati  8.  Circumflexus,  8,  Spheno-8alpingo-8taphy Units, 
liegt  als  ein  platter  und  dünner  Muskel  an  der  äusseren  Seite  des 
vorigen,  zwischen  ihm  und  dem  Urspininge  des  Pterygoidexis  internus. 
Er  entsteht  an  der  Spina  angularis  des  Keilbeins  und  an  der  knorpe- 
ligen Ohrtrompete,  umschlingt  mit  seiner  breiten  Endsehne  den  Haken 
der  inneren  Lamelle  des  Flügelfortsatzes,  und  lässt  die  Fasern 
dieser  Sehne  im  weichen  Gaumen  ausstrahlen,  wo  sie  theils  an  den 
hinteren  Rand  des  harten  Gaumens  sich  inseriren,  theils  mit  jenen 
des  gegenständigen  Tensor  verschmelzend,  eine  Aponeurose  erzeugen, 
welche  als  eigentliche  Grundlage  des  weichen  Gaumens  angesehen 
werden  mag.  Der  Muskel  ist  somit  nicht,  wie  die  übrigen,  gerad- 
linig, sondern  bildet  einen  Winkel,  dessen  Spitze  an  dem  Haken 
des  Flügelfortsatzes  liegt-  (Schleimbeutel). 

Der  Musculus  palato-glossus  und  palafo-pharyngeus  liegen  in  den 
gleichnamigen  Schenkeln  des  weichen  Gaumens  eingeschlossen.  — 
Alle  Gaumenmuskel  sind  kürzer  als  ihre  griechischen  Namen. 

Der  {«ch wache  Palato-glosaus  führt  auch  den  Namen  Constrictor  isthmi  faucium, 
weil  er  unter  der  vorderen  drüsenreichen  Schleimhautplatte  des  weichen  Gaumens, 
in  jenen  der  anderen  Seite  bogenförmig  (nach  oben  convex)  übergeht,  somit  den 
weichen  Gaumen  niederzieht,  und  den  concaven  Rand  des  Arcus  palcUo-gloagus 
nach  einwärts  vorspringen  macht,  wodurch  der  Isthmus  faucium  von  oben  und 
von  den  Seiten  verengert  wird.  —  Der  Palato-pharyiigeus,  bei  weitem  stärker  als 
der  PaUUo-fflossus,  hängt  mit  der  Aponeurose  des  Tensor  palati  zusammen,  auf 
welcher  auch  die  Fasern  der  beiderseitigen  Palato-pharyngei  bogenförmig  in  ein- 
ander  übergreifen.  I»  ^'^igend,   befestigt   er   sich 


646  §.  146.  Z&lme.  Sirnctnr  derselben. 

theils  am  hinteren  Rande  des  Sckildknorpels,  theils  verliert  er  sich  in  der  hinteren 
Pharynxwand,  deren  Längenmuskelfasem  er  vorzugsweise  zu  liefern  scheint.  Ein 
befriedigendes  Präparat  des  Pulato-glossits  und  PaUUo-pharyinjetm  imd  ihrer  Bogen 
im  weichen  Gaumen,  ist  eine  sehr  schwierige  Aufgabe  der  Muskelpräparation. 

LKsst  man  am  Lebenden,  dessen  Hals  untersucht  werden  soll,  bei  geöiTnetem 
Munde  eine  tiefe  Inspiration  machen,  oder  den  Vocal  a  aussprechen,  so  erhebt 
sich  der  weiche  Gaumen,  der  Isthmus  wird  grösser,  und  man  kann  durcli  ihn  hin- 
durch, einen  grossen  Theil  der  hinteren  Rachenwand  übersehen.  Lässt  man 
Schlingbewegungen  machen,  welche  ohnedies  häufig  unwillkürlich  eintreten,  wenn 
man  mit  der  Mundspatel  den  Zungengrund  nach  abwärts  drückt,  so  sieht  man, 
wie  sich  die  concaven  Ränder  der  Gaumenschenkel  gerade  strecken,  und  »ich 
(namentlich  jene  der  vorderen)  so  weit  nähern,  dass  nur  eine  kleine  Spalte 
zwischen  ihnen  frei  bleibt,  welche  durch  das  herabhängende  Zäpfchen  verlegt 
wird.  Durch  diese  Spalte  muss  der  zu  verschlingende  Bissen  durchgepresst  werden. 
Auch  beim  Singen  hoher  Töne,  nimmt  der  Isthmus  die  Gestalt  einer  senkrechten 
Spalte  an. 


§.  246.  Zähne.  Structur  derselben. 

Die  Zähne,  Dentes,  bilden  sammt  den  Kiefern  die  passiven 
Kauwerkzeuge.  Sie  eignen  sich  durcli  ihre  Härte  sowohl,  wie  durch 
ihre  Form,  welche  Meissein,  Keilen,  oder  Stampfen  gleicht,  zu 
mechanischen  Zertrümmerungsmittcln  der  Nahrung.  Grosse  Zähne 
kommen  deshalb  mit  weiten  Mundspalten,  starken  Kiefern,  und 
kräftigen  Beissmuskeln  vor. 

Jeder  Zahn  ragt  mit  einer  nackten  Krone  in  die  Mundhöhle 
frei  hinein.  Auf  die  Krone  folgt  der  vom  Zahnfleisch  umschlossene 
Hals.  Der  in  die  Lücken  des  Alveolarfortsatzes,  wie  der  Nagel 
in  die  Wand  eingetriebene,  konische,  und  mit  einem  Periost  ver- 
sehene Endzapfen  des  Zahnes,  heisst  Wurzel. 

Hals  und  Krone  schliessen  zusammen  eine  Höhle  ein,  welche 
mittelst  eines  feinen,  durch  die  ganze  Länge  der  Wurzel  verlaufen- 
den Kanals,  an  der  Spitze  der  letzteren  ausmündet  (Canalis  radlcis). 
In  dieser  Höhle  liegt  die  Pulpa  dentis  (Zahnkeim),  ein  weicher, 
aus  undeutlich  faserigem,  kernfuhrendem  Bindegewebe  zusammen- 
gesetzter Körper,  zu  welchem  Gelasse  und  Nerven  durch  den 
Wurzelkanal  eindringen.  Eine  mehrfache  Schichte  kernhaltiger  Zellen 
überzieht  die  Oberfläche  des  Zahnkeimes.  Die  Pulpa  ist  ein  Uobor- 
rest  der  embryonischen  Zahnpapille,  welche  das  Modell  darstellte, 
um  welches  sich  die  harte  Masse  des  Zahnkörpers  bildete.  Der 
Nervenreichthum  der  Pulpa  ist  ein  wahrhaft  überraschender.  Kr 
erklärt  die  hohe  Emptindlichkeit  dieses  Organs,  Avelches,  wie  der 
Zahnschmerz  jedem  von  uns  gelehrt  hat,  trotz  seiner  Kleinheit,  den 
Sitz  eines  unerträglichen  Leidens  abgiebt,  für  welches  es  nur  Ein 
radicales  Heilmittel  giebt  —  das  Ausziehen  des  Zahnes. 


S.  M6.  Zilm«.  Siractar  darselben.  647 

Man  unterBcheidet  an  jedem  Zahn  drei  Substanzen: 

1.  Der  Schmelz  oder  das  Email  (Svbstantia  adamantina  s, 
Encauston  dentis).  Er  bildet  die  äussere^  sehr  harte  und  feste  Rinde 
der  Krone,  welche  an  der  Kaufläche  des  Zahnes  am  dicksten  ist, 
sich  gegen  den  Hals  zu  verdünnt,  und  mit  scharf  gezeichnetem 
Rande  plötzlich  aufhört.  Er  deckt  somit  den  freien,  in  die  Mund- 
höhle hineinragenden  Theil  des  Zahnes,  wie  eine  dicht  aufsitzende 
Kappe.  —  Der  Schmelz  repräsentirt  die  härteste  Substanz,  welche 
im  thierischen  Haushalt  erzeugt  wird.  Die  Zahnärzte,  welche  das 
Abfeilen  des  Schmelzes  oft  genug  vorzunehmen  haben,  klagen  darüber, 
dasB  die  besten  englischen  Feilen  in  kurzer  Zeit  sich  an  ihm 
stumpf  reiben.  Er  besteht  aus  prismatischen,  etwas  geschlängelten; 
äusserst  feinen  und  soliden  Fasern  (Schmelzfasern),  welche  der 
Bruchfiäche  der  Krone  Seidenglanz  geben.  Sie  liegen  so  dicht  zu- 
sammen, dass  sich  eine  Zwischensubstanz  nicht  nachweisen  lässt. 
—  Eine  structurlose ,  d.  i.  nicht  gefaserte,  sehr  dünne  Schichte, 
deckt  die  freie  Oberfläche  des  Schmelzes.  Diese  ist  das  sehr  un- 
passend sogenannte  Schmelzoberhäutchen.  —  Der  Schmelz 
verdankt  seine  Härte  denselben  Kalksalzen ,  welche  wir  in  der 
Knochensubstanz  kennen  gelernt  haben  (§.  77).  Das  Verhältniss 
dieser  Salze  zum  organischen  Bestandtheil  des  Schmelzes  ist  aber 
wie  10  :  1,  —  im  ausgewachsenen  Knochen  nur  3  oder  4:7. 

2.  Das  Zahnbein  oder  Dentin  (Ebur  8,  Substantia  propria 
dentis),  bildet  den  Körper  des  Zahnes,  und  umschliesst  zunächst 
die  Zahnhöhle  und  den  Wurzelkanal.  Es  besteht  aus  feinsten  Röhr- 
chen, und  einer,  diese  unter  einander  verbindenden,  structurlosen, 
sehr  harten  Grundmasse  oder  Kittsubstanz.  Diese  Grundmasse  ent- 
hält dieselben  Kalksalze,  welche  den  erdigen  Bestandtheil  der 
Knochen  bilden  (daher  der  Name  Zahnbein).  —  Die  Röhrchen 
des  Zahnbeins  beginnen  mit  offenen  Mündungen  in  der  Zahnhöhle 
und  im  Wurzelkanal.  Sie  sind  sanft  wellenförmig  gebogen  (nach 
Welcker  korkzieherartig  gewunden)  und  gegen  die  Oberfläche  zu 
vielfach  gabelförmig  getheilt.  Ihre  Richtung,  welche  man  lange  als 
radiär  gegen  die  Oberfläche  des  Schmelzes  bezeichnete,  ist  in  der 
That  eine  sehr  verschiedene,  so  dass  es  zu  wahren  Kreuzungen 
derselben  kommt,  und  an  Schlifien  des  Zahnbeins,  eine  Anzahl 
Röhrchen  in  der  Längenansicht,  eine  andere  im  Querschnitt  sich 
präsentirt,  wodurch  mitunter  sehr  regelmässige  Zeichnungen  ge- 
geben werden.  Die  zahlreichen  Aeste  der  Röhrchen  anastomosiren 
theils  noch  im  Zahnbeine  mit  benachbarten,  theils  dringen  sie  in  den 
Schmelz  ein,  wo  sie  blind  endigen  sollen,  oder  sie  münden  in  die 
zwischen  Zahnbein  und  Cement  befindlichen  Interglobularräume  ein, 
von  welchen  später.  Sichergestellt  ist  es,  dass  viele  von  ihnen  in 
die  gleich  zu  erwähnende  Rinde  der  Zahnwurzel  (Cement)  üb^r* 


648  §.246.  Zähne.  Stracinr  derselben. 

treten,  und  sich  mit  den  Aestehen  der  daselbst  befindlichen  Knochen- 
körperchen  verbinden.  Man  dachte  sich,  dass  diese  Röhrchen  des 
Zahnbeins  eine,  zur  Ernährung  des  Zahnes  dienende  Flüssigkeit, 
den  Zahnsaft,  enthalten,  welcher  aus  den  Blutgefässen  der  Zahn- 
pulpa  stammt.  Toraes  zeigte  jedoch,  dass  sie  weiche,  durchsichtige, 
und  sehr  feine  Fasern  einschliessen,  in  welchen  er  Ausläufer  jener 
Zellen  erkannte,  mit  welchen  die  Oberfläche  des  Zahnkeims  über- 
zogen ist  (Odontoblasten).  Zwischen  diesen  Fasern,  und  den 
Röhrchen  des  Zahnbeins,  in  welchen  sie  liegen,  befindet  sich  aller- 
dings ein  Minimum  von  Ernährungsflüssigkeit.  —  Behandlung  des 
Zahnbeins  mit  verdünnter  Salzsäure  löst,  wie  am  Knochen,  die 
erdigen  Bestandtheile  desselben  auf,  und  hinterlässt  einen,  dem 
Knochenknorpel  ähnlichen  Rückstand,  den  Zahnknorpel. 

Da  dem  Gesagten  znfolge  die  Stmctnr  des  Zahnbeins  eine  röluige  ist,  so 
ist  der  Name  Zahnbein  nicht  glücklich  gewählt.  Beine  (Knochen)  besitzen  ja 
keinen  röhrigen  Bau.  —  Jener  Theil  des  Zaimbeines,  welcher  die  Höhle  des 
Zahnes  zunächst  umschliesst,  lässt  uns  nmdliche  Vorspdinge  erkennen,  welche 
den  von  Czermak  entdeckten  Zahnbeinkngeln  angehören.  Die  Zahnbein- 
kugeln stehen  mit  der  Ablagenmg  von  Kalksalzen  in  der  anfanglich  weichen 
Substanz  des  Zahnes  in  nächster  Beziehung.  Diese  Ablagerung  erfolg^  nämlich 
in  Form  rundlicher  Massen,  welche  zwar  immer  mehr  und  mehr  mit  einander  zu- 
sammenflicssen,  aber  dennoch  nicht  so  vollständig,  dass  nicht  unverkalkte  Theile 
der  ursprilnglichen  weichen  Zahnmasse  zwischen  ihnen  zurückblieben,  welche  dann 
beim  Trocknen  des  Zahnes,  durch  Einschrumpfen  schwinden,  so  dass  an  ihrer 
Stelle  Lücken  erscheinen,  welche  Jnterglobularräume  genannt  werden. 

3.  Die  Wurzel  rinde  (Crusta  ostoides  radids),  gewöhnlich 
Cement  genannt,  findet  sich  nur  an  der  Oberfläche  der  Wurzeln 
der  bleibenden  Zähne.  An  den  Milchzähnen  fehlt  sie.  Sie  besitzt, 
nebst  dem  concentrisch-blätterigen  Bau,  auch  die  mikroskopischen 
Elemente  der  Knochen:  die  Müller'schen  Knochenkörperchen, 
jedoch  unregelmässiger  gestaltet,  und  nur  mit  spärlichen  Aestehen. 
Die  Beinhaut  der  Alveoli  der  Kiefer  ist  zugleich  die  Beinhaut  der 
Zahnwurzel  (Periodont tum).  Sie  hängt  an  die  Zahnwurzel  nur  locker 
an,  und  besitzt  einen  grösseren  Reichthum  an  Nerven,  als  irgend 
ein  anderes  Periost  (Kölliker).  —  Als  Grenzlinie  zwischen  Zahn- 
bein und  Wurzelrinde,  wird  an  feinen  Längenschnitten  des  Zahnes 
ein  bei  durchgehendem  Lichte  dunkler  Streifen  gesehen,  in  welchem 
sehr  grosse  Knochenkörperchen  liegen,  deren  Aestehen  sich  mit 
jenen  der  Wurzelrinde  verbinden,  und  ganz  bestimmt  auch  mit 
den  Röhrchen  des  Zahnbeins  comrauniciren.  An  der  Spitze  der 
Zahnwurzel  setzt  sich  die  Rinde  noch  etwas  über  die  Spitze  des 
Zahnbeins  fort,  und  bildet  dadurch  allein  den  Anfang  des  Zahn- 
kanals. 

Ans  der  zahlreichen  Literatur  über  den    Bau   der  Zähne,  hebe  ich  nur  fol- 
gende neuere  Arbeiten  heraus: 


§.  S47.  Formen  der  Z&hne.  649 

Kruckenberg,  Beitrag  zur  Lehre  vom  Röhrensystem  der  Zähne  und  Knochen, 
in  MiiUer's  Archiv.  1849.  —  </.  Czennak,  Zeitschrift  für  wissenschaftliche  Zoologie. 
1850.  —  H,  Welcher,  Zeitschrift  für  rat.  Med.  N.  F.  VIII.  Bd.  —  Tomea  (Zahn- 
fasem)  Phil.  Transact.  1846.  P.  II.  —  Bobin  und  Magüot,  Jonmal  de  physiol. 
1860  und  1861.  Sehr  ausführlich.  —  lieber  Bau  und  Entwicklung  der  Zähne, 
H,  Herz,  im  Archiv  für  pathol.  Anat  37.  Bd.  —  Die  Arbeiten  von  BoU  und  Hohl 
im  Archiv  für  mikrosk.  Anat.  1866  und  1868,  und  jene  von  Pfliiger  und  Miihl- 
riUer  in  der  Vierteljahrsschrift  für  Zahnheilkunde,  1867  und  1868,  —  J.  KoU- 
rtiann,  Entwicklung  der  Milch-  und  Ersatzzähne.  Leipzig,  1869.  —  Waldeyer^a 
Entwicklung  der  Zähne,  Danzig,  1864,  enthält  eine  vollständige  Literatur  über 
Bau  und  Entwicklung  der  Zähne.  —  Hauptwerk  für  vergleichende  Anatomie 
der  Zähne,  ist  die  prachtvolle  Odontographie  von  R,  Owen,  2  Bände.  London, 
1840—1846. 


§.  247.  Formell  der  Zähne. 

Die  Zahl  der  bleibeuden  Zähne  beträgt  zweiunddreissig.  Jeder 
Kiefer  trägt  sechzehn.  Sie  werden  in  die  vier  Schneide-,  zwei 
Eck-,  vier  Backen-  und  sechs  Mahlzähne  eingetheilt. 

Die  vier  Schneidezähne  (Dentes  incisivi,  Tojxe^)  haben  raeissel- 
artig  zugeschärfte  Kronen,  mit  vorderer  convexer  und  hinterer 
concaver  Fläche.  Der  Hals  und  die  einfache  konische  Wurzel  ist 
an  den  Schneidezähnen  des  Unterkiefers  seitlich  comprimirt,  an 
den  Zähnen  des  Oberkiefers  mehr  rundlich.  Die  beiden  inneren 
Schneidezähne  sind  im  Oberkiefer  stärker,  und  haben  breitere 
Kronen  als  die  äusseren.  —  Da  die  Schneidezähne  des  Oberkiefers 
beim  Lachen  sich  entblössen,  hiessen  sie  bei  den  Griechen  feXaafvoi, 
von  YsXao),  lachen.  Bei  Martial  ist  aber  Gda^inus  das  Lach- 
grübchen der  Wange,  welches  auch  als  Umbilicus  Veneris  bei  älteren 
Anatomen  erwähnt  wird. 

Die  zwei  Eckzähne  (Dentes  angulares,  cardni,  cuspidati,  xüvo- 
BovTs;),  auf  jeder  Seite  einer,  haben  konisch  zugespitzte  Kronen, 
und  an  der  hinteren  Seite  der  Krone  zwei  massig  vertiefte  Facetten. 
Ihre  starken,  einfachen,  zapfenftirmigen  Wurzeln,  zeichnen  sich  an 
den  Eckzähnen  des  Oberkiefer»,  welche  Augenzähne  genannt 
werden,  durch  ihre  Länge  au8. 

Die  vier  Backenzähne  (Dentes  buccales),  gewöhnlich  auch 
kleine  oder  vordere  Stockzähne  genannt,  zwei  auf  jeder  Seite, 
haben  etwas  niedrigere  Kronen  als  die  Eckzähne,  und  entweder 
zwei  Wurzeln,  oder  nur  eine  einfache,  seitlich  plattgedrückte,  an 
welcher  eine  longitudinale  Furche  die  Tendenz  zum  Zerfallen  in 
zwei  Wurzeln  andeutet.  Ihre  Mahlflächen  zeigen  einen  äusseren 
und  inneren  stumpfen  Höcker  (Cvspis).  Sie  fuhren  deshalb  auch 
den  Namen  Bicuapidatu 


650  §•  847.  Formen  der  Z&hne. 

Die  sechs  Mahl-  oder  Stockzähne  (Dentes  molares,  jxuXa'.), 
drei  auf  jeder  Seite,  zeichnen  sich  durch  ihre  Grösse  und  durch 
mehrfache  Höcker  auf  ihren  Kauflächen  aus.  Die  Stockzähne  des 
Oberkiefers  haben  in  der  Regel  drei  divergirende  konische  Wurzeln, 
jene  des  Unterkiefers  nur  zwei,  deren  jeder  man  es  wieder  ansieht, 
dass  sie  durch  die  Verwachsung  zweier  konischer  Wurzeln  ent- 
stand. Der  erste  Mahlzahn  ist  der  grösste,  der  zweite  etwas  kleiner 
als  dieser,  aber  grösser  als  der  letzte,  —  ein  Grössenverhältniss, 
welches  bei  den  menschenähnlichsten  Affen  sich  umkehrt,  indem 
die  Mahlzähne,  vom  ersten  zum  dritten,  an  Grösse  zunehmen.  Die 
Kronen  der  Mahlzähne  des  Oberkiefers  besitzen  vier,  jene  des 
Unterkiefers  fünf  Höcker,  und  zwar  entsprechen  drei  dem  äusseren, 
zwei  dem  inneren  Kronenrande.  Der  letzte  Mahlzahn  beider  Kiefer, 
heisst  seines  späten,  erst  im  sechzehnten  bis  fiinfundz wanzigsten 
Lebensjahr  erfolgenden  Durchbruches  wegen:  Weisheitszahn, 
Dens  serotiims  s,  dens  sapientiae.  Hippocratcs  nennt  ihn  aa)fpovr|(7T/|p, 
qtUa  non  erumpit  jmus,  quam  homo  sapientias  studio  idoneus  evaserit. 
Der  Weisheitszahn  hat  eine  kleinere,  gewöhnlich  nur  dreihöckerige 
Krone,  zugleich  kürzere  und  mehr  convergente  Wurzeln.  Seine 
Wurzeln  verschmelzen  nicht  selten  zu  einem  einzigen,  konischen 
Zapfen,  welcher  gerade  oder  gekrümmt,  und  im  Unterkiefer  gegen 
die  Basis  des  Kronenfortsatzes  gerichtet  ist.  —  Es  giebt  Neger- 
schädel, welche  in  beiden  Kiefern  acht  Mahlzähnc  haben.  Diese 
Vermehrung  der  Mahlzähne  kommt  auch  beim  Orang-Utang  nicht 
eben  selten  vor. 

Obwohl  die  Natur  schon  in  den  fdihen  Perioden  der  Entwicklung  des 
Embryo  (Ende  des  zweiten  Monats)  mit  der  Bildung  der  Zähne  beginnt,  so  wird 
sie  doch  so  spät  damit  fertig,  dass  erst  im  sechsten  oder  siebenten  Monate  nach 
der  Geburt,  die  inneren  Schneidezähne  des  Unterkiefers  durchbrechen  können, 
welchen  bald  nachher  jene  des  Oberkiefers  folgen.  Nach  vier  bis  sechs  Wochen 
brechen  die  äusseren  Schneidezähne  de«  Unter-  und  Oberkiefers  hervor.  Nun 
sollten  der  Tour  nach  die  Eckzähne  kommen.  Es  erscheinen  aber  früher,  und 
zwar  am  Beginn  des  zweiten  Lebensjahres,  die  unteren  und  oberen  ersten  Backen- 
zähne, und  erst,  wenn  diese  ihren  Platz  eingenommen  haben,  kommt  der  Eckzahn 
(im  achtzehnten  Monat),  worauf  dann  zuletzt  die  äusseren  Backenzähne  zu  Tage 
treten.  Am  Ende  des  zweiten  Lebensjahres  zählt  das  Kind  zwanzig  Zähne.  Es 
folgen  nun  keine  anderen  nach,  da  der  kindliche  Kiefer  keinen  Raum  für  sie  hat. 
Diese  zwanzig  Zähne  heissen  Milchzähne,  DerUes  ladet  a,  cadtici.  Die  Schneide- 
und  Eck-Milchzähne  sind  kleiner  als  die  bleibenden,  die  Backen -Milchzähne 
dagegen  grösser.  Letztere  ähneln  durch  ihre  breite,  viereckige,  mit  vier  oder 
fünf  Erhabenheiten  besetzte  Krone,  den  bleibenden  Stockzähnen,  mit  welchen  sie 
auch  durch  die  Zahl  ihrer  Wurzeln  übereinstimmen.  —  Die  Milchzähne  bleiben 
bis  Bum  siebenten  oder  achten  I^ebensjahre  stehen,  wo  sie  in  derselben  Ordnung, 
als  sie  geboren  wurden,  ausfallen,  und  den  bleibenden  Zähnen,  welche  zum  Aus- 
bniche  bereit  im  Kiefer  vorliegen,  Platz  machen.  Sind  alle  zwanzig  Milchzähne 
durch  bleibende  ersetzt,  so  folgen  noch  auf  jeder  Seite  drei  Stoekzähne  nach, 
wodurch  die  Zahl  der  bleibenden  Zähne  auf  zweiunddreissig  gebracht  wird.     Die 


§.  M8.  Zahnfleisch.  651 

Zeiten  des  Durchbraches  der  bleibenden  Zäbne  zählen  aber  nicht  nach  Monaten, 
wie  jene  der  Milchzähne,  sondern  nach  Jahren  (Schneidezähne  achtes  Jahr 
Backenzähne  zehntes  Jahr,  Eckzähne  eilftes  Jahr,  zweiter  Mahlzahn  zwölftes  Jahr, 
dritter  zwanzigstes  bis  fünfundzwanzigstes  Jahr,  der  erste  Mahlzahn  aber  schon 
im  achten  Jahr,  gleich  nach  Ausfallen  des  zweiten  Milchbackenzahns).  —  Den 
Durchbrach  der  Milchzähne  begreift  man  als  DentiUo  prima,  —  den  Wechsel  der- 
selben mit  den  bleibenden  Zähnen,  als  DenHUo  secunda. 


§.  248.  ZahnfleiscL 

Zahnfleisch,  Gingiva,  ouXov,  heisst  jene  harte  Partie  der  Mund- 
schleimhaut, welche  die  Hälse  der  Zähne  umgiebt,  und  sie  zuweilen 
so  knapp  umschliesst,  dass  sie  abgelöst  werden  muss,  bevor  der 
Zahn  ausgezogen  werden  kann.  Das  Zahnfleisch  ist  wenig  empfind- 
lich, aber  äusserst  gefassreich,  blutet  deshalb  leicht  beim  Bürsten 
der  Zähne  und  bei  stärkerem  Saugen.  Man  unterscheidet  an  ihm 
eine  vordere  und  eine  hintere  Wand  oder  Platte,  welche  zwischen 
je  zwei  Zähnen  durch  Zwischenspangen  mit  einander  zusammen- 
hängen, und  nach  Verlust  der  Zähne  m  ihrer  ganzen  Länge  mit 
einander  verschmelzen.  —  Das  Zahnfleisch  sorgt  nicht  für  die  Er- 
nährung, sondern  für  die  Befestigung  des  Zahnes.  Lockert  sich  das 
Zahnfleisch  auf,  wie  bei  Speichelfluss  und  Scorbut,  so  wackeln  die 
Zähne.  Das  Zahnfleisch  und  die  Einkeilung  der  Zahnwurzeln  in 
die  Alveolarfortsätze  der  Kiefer  befestiget  jedoch  die  Zähne  nicht 
in  dem  Grade,  dass  ihnen  nicht  ein  Minimum  von  Beweglichkeit 
erübrigte.  Diese  Beweglichkeit  fuhrt  nothwendig  zu  Reibungen 
der  Seitenflächen  je  zweier  Zahnkronen  beim  Kauen.  Daraus  erklären 
sich  denn  auch  die  an  diesen  Seitenflächen  vorkommenden  kleinen 
Abreibungsflächen. 

Bei  Entfernung  von  Zähnen,  welche  ihre  Kronen  fast  ganz  durch  Caries 
verloren  haben,  muss,  weil  die  Zange  nur  am  Halse  des  Zahnes  sicher  fassen  kann, 
das  Zahnfleisch  jedesmal  abgelöst  und  gegen  die  Wurzel  zurückgedrängt  werden. 

An  der  hinteren  Wand  des  Zahnfleisches  erwähnt  Serres  (M4m.  de  la 
Socidt^  d'imulalion.  Toni.  VIII.  pag.  128),  kleine,  hirsenkomgrosse  Dröschen,  welche 
eine  schleimige  Flüssigkeit  absondern.  Diese  Flüssigkeit  soll  den  Zahn  oberfläch- 
lich gleichsam  einölen  (wie  das  Hautsebum  die  Epidermis),  um  ihn  dauerhafter  zu 
machen.  Er  nannte  sie  (jlnndes  dentaires.  Krankhafte  Verändenmg  dieses  Secretes 
soll  den  Zahnstein  bilden,  welcher  nach  Serres  nicht  als  Niederschlag  des 
Speichels  angesehen  werden  kann,  da  seine  chemische  Analyse  mit  jener  der  fixen 
Bestandthcile  des  Speichels  nicht  übereinkommt.  Meckel  hat  diese  Drüschen 
für  kleine  Abscesse  gehalten.  Solche  Drüsen  existiren  nun  im  Zahnfleisch  durch- 
aus nicht,  wohl  aber  kommen  daselbst  rundliche.  Mos  aus  angehäuften  Pflaster- 
zellen bestehende  Körper  vor,  welche  entweder  im  Inneren  des  Zahnfleisches, 
oder  in  gnihigen  Vertiefungen  seiner  Oberfläche  lagern,  und  über  deren  Natur 
sich  eine  bestimmte  Aussage  nicht  machen  lässt  —  Im  Schleime,  welchen  man 
mit  dem  Zahnstocher  zwischen  den  Zähnen  herausholt,  leben,  nebst  ästigen  Faden- 
pilMD,  nnsiUill«^  — »-««-j«»    «i«k  ^ttornd  bewegende  Wesen  thierischer  Nalur 


Od2  S>  S-iS.  Bntwicklong  and  LebenscigeoschafteD  der  Zähne. 

(Vibrio  derUicolaJ.  He  nie  vermnthet,  das8  die  Caries  der  Zähne  mit  der  Wuche- 
rung dieser  Parasiten  in  Verbindung  stehe,  welche  Annahme  dnrch  dsm  Vor- 
kommen ähnlicher  Parasiten  bei  anderen  geschwungen  Processen ,  wie  bei 
Aphthen,  Kopfg^rind,  Sycosis,  zulässlich  erscheint  Man  dl  ist  zu  weit  gegangen, 
wenn  er  den  Zahnstein  für  die  petrificirten  Leiber  abgestorbener  Infusorien  des 
Zahnschleims  hält.  —  Die  chemische  Zusammensetzung  des  Zahnsteins  (phosphor- 
saure  Salze,  Ptyaiin,  Schleim),  und  seine  theilweise  Löslichkeit  in  vegetabilischen 
Säuren  und  Alkohol,  erklärt  es,  wanim  Obstliebhaber  und  Branntweintrinker  ge- 
wöhnlich sehr  weisse  Zähne  haben.  —  Bei  alten  Leuten  wird  der  Zahnstein 
zuweilen  in  so  grosser  Menge  abgelagert,  dass  er  Zähne,  die  sonst  schon  lange 
ausgefallen  wären,  noch  an  ihre  Nachbarn  festhält. 


§.  249.  Entwicklung  und  Lebenseigenschaften  der  Zähne. 

Die  Kiefer  des  Embryo  bilden  am  Schluss  des  zweiten  Monats 
Rinnen,  welche  mit  dem  Epithel  der  Mundhöhle  ausgekleidet  sind. 
Dieses  Epithel  wuchert  zu  einem  Zellenstrang  heran,  welcher  im 
Grunde  der  Rinne  an  Dicke  zunimmt,  gegen  die  Mundliöhle  zu 
aber,  durch  Connivenz  der  Ränder  der  Rinne,  verdünnt  wird.  Da 
sich  aus  diesem  Zellenstrang,  durch  Umwandlung  seiner  Zellen  in 
Fasern,  und  Verkalkung  dieser  Fasern,  der  Schmelz  der  Zähne 
bildet,  heisst  er  der  Schmelzkeim.  Vom  Grund  der  Rinne  wachsen 
Papillen  empor,  welche  gleichfalls  aus  Zellen  bestehen.  Die  ober- 
flächlichen Zellen  der  Papillen  machen  eine  Metamorphose  durch, 
deren  Ergebniss  die  Bildung  des  Zahnbeins  ist,  während  die  tiefen 
Zellen  der  Papille  die  zukünftige  Pulpa  dentis  darstellen.  Durch 
das  Anwachsen  der  Papillen,  welche  Gefösse  und  Nerven  bekommen, 
drängen  sie  sich  in  den  Schmelzkeim  ein.  Da  nun  gleichzeitig  auch 
Scheidewände  zwischen  den  einzelnen  Papillen  emporwachsen, 
welche  sich  gleichfalls  in  den  Schmelzkeim  eindrängen,  und  den- 
selben so  zu  sagen  in  Stücke  zerschneiden,  so  wird  jede  Papille 
ihren  Antheil  von  Schmelzkeim  erhalten,  welcher  auf  der  Papille 
wie  eine  Kappe  aufsitzt.  Mittlerweile  hat  sich  die  Rinne  der  Kiefer, 
durch  Bildung  des  Zahnfleisches,  oben  gänzlich  geschlossen,  die 
Scheidewände  haben  die  Rinne  in  Fächer  abgetheilt,  und  jedes  Fach 
enthält  einen  werdenden  Zahn,  wesshalb  die  Fächer  von  nun  an 
Zahnsäckchen  genannt  werden.  Wie  aus  den  Zellen  des  Schmelz- 
keims die  Fasern  des  Schmelzes  entstanden,  so  entstehen  aus  den 
oberflächlichen  Zellen  der  Papille  die  Röhrchen  des  Zahnbeins,  in- 
dem diese  Zellen  sich  verlängern  und  Fortsätze  austreiben,  welche 
sich  verästeln,  und  um  welche  herum  sich  Knochenerde  in  Röhren- 
form ablagert. 

Die  tiefen  Zellen  der  Papille  entwickeln  sich  zu  Bindegewebe, 
welches  den  Körper  der  Pulpa  dentis  bildet.  Hat  sich  der  Zahn  so 
weit  entwickelt,   dass   seine  Form   schon  zu  erkennen,  namentlich 


§.  249.  Entwicklung  und  LebenBeig«n8ehaft«n  d«r  Zfthne.  653 

auch  seine  Wurzel  (welche  erst  nach  der  Krone  entsteht)  schon 
vorhanden  ist,  so  wird  das  Periost  des  Alveolus,  in  welcher  die 
Wurzel  steckt,  eine  Schichte  wahrer  Knochensubstanz  um  die 
Wurzel  herum  erzeugen,  wie  das  Periost  der  langen  Knochen  sich 
auf  gleiche  Weise  an  der  Bildung  der  secundären  Knochensubstanz 
betheiligt  (§.  85).  Diese  Knochenschicht  ist  das  Cement.  In  Kürze 
also  ausgedrückt,  geht  die  Bildung  des  Zahns  von  drei  Seiten  aus: 
1.  vom  Mundhöhlenepithel  (Email),  2.  von  der  Zahnpapille  (Zahn- 
bein, und  3.  vom  Periost  (Cement). 

Die  Bestimmung  des  Zahnes,  als  passives  Kauorgan  zu  dienen, 
bedingt  seine  physischen  Eigenschaften,  seine  Härte  und  seinen 
geringen  Antheil  an  animalischen  Substanzen,  welcher  im  Email 
ein  Zehntel,  nach  Berzclius  sogar  nicht  einmal  ganz  zwei  Procent 
beträgt.  Der  erdige  Bestandtheil  des  Emails  enthält  an  phosphor- 
saurem Kalk  und  Fluorcalcium  88,50,  an  kohlensaurem  Kalk  8,00, 
und  an  phosphorsaurer  Talkerde  1,50.  Darum  wird  der  Zahn  von 
Säuren  so  leicht  angegriffen.  Der  animalischen  Substanz  liegt  es 
ob,  die  Bindung  der  mineralischen  zu  vermitteln,  weil  nach  Zer- 
störung der  ersteren  durch  Calciniren,  oder  im  lieben  durch  An- 
wendung alkalischer  Zahnpulver,  z.  B.  der  Tabaksasche,  der  Zahn 
auffallend  brüchig  wird,  und  leicht  zerbröckelt. 

Wahr  ist  es,  dass  ein  vollkommen  ausgebildeter  Zahn  nicht 
mehr  an  Grösse  zunimmt,  und  die  Natur  deshalb  gezwungen  ist, 
die  Milchzähne,  welche  nur  für  den  kindlichen  Kiefer  berechnet 
sind,  und  für  den  entwickelten  Beissapparat  zu  klein  gewesen  wären, 
wegzuschaffen,  und  durch  grössere  zu  ersetzen.  Allein  das  Stationär- 
bleiben der  Grösse  eines  Zahnes,  schliesst  einen  inneren  Wechsel 
seines  Stoffes  nicht  aus.  Der  Zahn  kann  ja  erkranken,  und  muss 
deshalb  leben.  Gewiss  dringen  von  der  Zahnhöhle  aus  Nahrungs- 
säfte in  die  Kanälchen  des  Zahnbeines  ein,  und  dienen  dem  Leben 
des  Zahnes.  Dass  dieses  Leben  im  Zahne,  wie  im  Knochen,  fort- 
während wirkt  und  schafft,  beweisen  die  Fälle  von  geheilten  Zahn- 
fracturen  (sehr  lehrreich  jener  im  Breslauer  Museum).  Ich  besitze 
selbst  einen  durch  Callus  geheilten  Bruch  des  Halses  eines  mensch- 
lichen Schneidezahns,  und  den  Schliff  eines  Elephantenzahnes  mit 
geheilter  Fractur.  —  Die  Veränderung  der  Zähne  in  gewissen 
Krankheiten,  z.  B.  das  Aendern  ihrer  Farbe  und  ihr  Durchscheinend- 
werden bei  Lungensüchtigen,  ihr  Brüchigwerden  bei  Typhösen,  so 
wie  das  Schwinden  der  Wurzeln  der  Milchzähne  vor  ihrem  Ausfallen, 
spricht  ebenso  überzeugend  für  das  Dasein  einer  inneren  Metamor- 
phose. Diese  Metamorphose  beschränkt  sich  aber  im  fertigen  Zahn, 
nur  auf  das  Erhalten  des  Bestehenden.  Durch  Abnützung  oder 
durch  Feilen  Verlorenes,  wird  dem  Zahne  nicht  wieder  ersetzt. 
Abgesprungene  Kanten  werden  nicht  reproducirt.  —  Die  Erschütte- 


654  S-  *50.  YarieUten  der  Z&line. 

rung  der  kleinsten  Zahntheilchen^  welche  sich  beim  Beissen  auf  ein 
Sandkorn^  bis  zur  Pvlpa  dentis  fortpflanzt,  lässt  dem  Zahne  (oder 
vielmehr  den  Nerven  seiner  Pulpa)  auch  Gefuhlseindrücke  zu- 
kommen. 

Im  vorgerückten  Alter  fallen  die  Zähne  in  der  Regel  aus. 
Verknöcherung  der  Zahnpulpa,  Obliteration  der  Zahnarterien  und 
der  Kanälchen  des  Zahnbeins,  sind  die  Ursachen  davon.  Im 
Greisenalter  neu  zum  Vorschein  kommende  Zähne  sind  entweder 
wirkliche  Neubildungen,  oder  erklären  sich  auch  einfach  durch  den 
Umstand,  dass,  wenn  beim  Wechseln  der  Zähne,  ein  Zahn,  der 
sich  zwischen  zwei  andere  hineinschieben  soll,  z.  B.  ein  Eckzahn, 
keinen  Platz  findet,  und  auch  nicht  als  Ueberzahn  an  der  vorderen 
oder  hinteren  Wand  des  Alveolus  vorbricht,  er  im  Kiefer  stecken 
bleibt,  und  erst  nach  dem  Ausfallen  eines  seiner  Nebenzähne  zum 
Vorschein  kommt.  Nebst  den  älteren  Berichten  über  eine  Dentitio 
tertia  senilis  von  Diemerbroeck,  Foubert,  Blancard  und 
Palfyn,  bestätigten  auch  neuere  Beobachtungen  (gesammelt  von 
E,  H.  Weher,  in  dessen  Ausgabe  der  Hüdebrandt* sehen  Anat.  4.  Bd.) 
ihr  Vorkommen. 

Das  vorschnelle  Zngnindegehen  der  Zlihnef  welches  seihst  durch  die  ängst- 
lichste Sorgfalt  beim  Reinigen  der  ZHline  nicht  hintangehalten  werden  kann, 
scheint  am  meisten  durch  den  plötzlichen  Temperaturwechsel  bedingt  za  werden, 
welchem  die  Zäline  bei  unserer  Lebensweise  unterliegen.  Man  denke  an  die 
heisscn  Suppen  bei  Winterkälte,  an  das  Wassertrinken  auf  heissen  Kaffee,  an 
den  beliebten  Genuss  von  Gefrornem  und  Eiswasser  im  Sommer,  u.  s.  w.  In 
Obersteyer,  wo  das  heisse  Schmalzkoch  eine  Lieblingsnahrung  der  Landlente 
ist,  findet  man  kaum  eine  Bauemdime  ohne  eingebundenes  Gesicht,  und  unter 
den  Städtern  sind  schöne  Zähne  leider  eine  solche  Seltenheit,  dass,  wenn  man 
deren  zu  sehen  bekommt,  sie  in  der  Regel  falsch  sind.  —  Mein  Vater  hatte  in 
seinem  fünfundachtzigsten  Lebensjahre  noch  fast  alle  Zähne.  Seit  seiner  Kindheit 
pflegte  er  sich  dieselben  mit  Pulvut  fol,  salvicte  und  carh.  tÜiae  zu  reinigen,  und 
schrieb  diesem  diätetischen  Mittel  die  ungewöhnlich  lange  Erhaltung  seiner  Zähne 
zu.  Als  in  meinem  fünfzigsten  Jahre,  alle  meine  Zähne  locker  zu  werden  und 
nach  einander  auszufallen  begannen,  habe  ich  durch  täglich  zweimaligen  Gebrauch 
desselben  Mittels,  ihr  Festwerden  und  ihre  Erhaltung  erzielt  Die  Salvia  verdient 
sonach  das  gerechteste  Lob,  welches  ihr  schon  die  Salernitanische  Schule  im 
Uebermaass  spendete.  Sie  wunderte  sich  sogar: 

^Cur  moriatur  homo,  dum  Salvia  crescil  in  horto.** 


§.  250.  Varietäten  der  Zähne. 

Als  interessante  Varietäten  der  Gestalt  und  Stellung  der  Zähne 
finden  sich: 

1.  Versetzungen  der  Zähne.  Ich  besitze  einen  schönen  Fall, 
wo  beide  Eckzähne,  statt  der  Schneidezähne,  die  Mitte  der  Kiefer 
einnehmen. 


§.261.  Speicheldrüsen.  Aemtsere  VerhiltaiMe  derselben.  655 

2.  Abnorme  Ausbruchsstelle.  Man  findet  Zähne  am 
Gaumen,  am  vorderen  oder  hinteren  Zahnfleisch  als  sogenannte 
Ueb  er  Zähne  zum  Vorschein  kommen.  Ich  habe  einen  Zahn  aus 
der  Nasenhöhle  eines  Cretins  ausgezogen. 

3.  Inversion,  wo  die  Krone  eines  Backenzahns  des  Ober- 
kiefers in  die  Highmorshöhle  sieht.  (Prager  Museum.) 

4.  Verwachsung.  Sie  wurde  an  den  Schneidezähnen  im 
Oberkiefer  mehrmals  gesehen.  Sehr  schöne  Fälle  im  Prager 
Museum. 

5.  Nebenzähne,  als  kleine  Zähnchen  neben  einem  normalen 
vorkommend. 

6.  Emailsprossenzähne,  wo  eine  Druse  oder  Halbkugel  von 
Schmelz  wie  ein  Auge  auf  dem  Halse  eines  Zahnes  aufsitzt,  oder 
sich  zwischen  den  Wurzeln  des  Zahnes  seitwärts  hervordrängt. 

7.  Haken-  und  Knopfzähne,  deren  Wurzeln  umgebogen, 
oder  zu  einem  mehr  weniger  höckerigen  Knopf  aufgetrieben  erscheinen. 
Sie  sind  schwer  auszuziehen,  und  geht  bei  ersteren  das  von  dem 
Wurzelhaken  umfasste  Stück  der  Alveolarscheidewand  mit. 

8.  Verkittung  der  Zähne  durch  Zahnstein,  vvigo  Wein- 
stein. Hieher  sind  die  von  den  Alten  (Plinius,  Pollux,  Plutarch) 
erwähnten  Fälle  zu  zählen,  wo  alle  Zähne  in  einen  einzigen  hufeisen- 
förmigen Zahn  verwachsen  gewesen  sein  sollen,  wie  bei  Pyrrhus, 
Euryptolemus,  Marc.  Cur.  Dentatus. 

9.  Obliteration  der  Zahnhöhle  durch  Verknöcherung  der 
Pulpa,  oder  durch  Deposition  phosphor-  und  harnsaurer  Salze,  wie 
ich  einen  ausgesuchten  Fall  dieser  Art  vor  mir  habe. 

Zahlreiche  Beobachtungen  über  Zahnvarietäten  enthält  Tomes,  Dental  Physio- 
logy  and  Surgery,  London,  1848.  Hieher  gehören  auch:  Thon,  Abweichangen  der 
Kiefer  und  Zähne,  Würzburg,  1841 ;  Gniber't  Abhandlungen  aus  der  menschlichen  und 
vergleichenden  Anatomie.  Petersburg,  1852;  und  Salier,  Med.  Chir.  Transactions, 
T.  XVII.  —  Der  Atlas  zur  Pathologie  der  Zähne,  von  Heider  und  Wedt,  Leipzig, 
1868,  enthält  sehr  merkwürdige  und  seitone  Formanomalien.  —  Die  reichhaltigste 
Sammlung  von  Zahnanomalien,  die  ich  kenne,  besass  Prof.  Heider  in  Wien,  und 
der  Zahnarzt  Desirabode  in  Paris. 


§.  251.  Speicheldrüsen.  Aeussere  Verhältnisse  derselben. 

Zur  Mundhöhle  gehören  die  Speicheldrüsen,  Glandulae 
saiivales.  Sie  bereiten  den  wasserreichen  Speichel,  Saliva  (von 
t6  aiaXov,  Geifer),  welcher,  wenn  er  mit  den  Nahrungsmitteln  durch 
das  Kauen  innig  gemischt  wird,  dieselben  zu  einen  weichen  Teig 
formt,  der  als  Bissen,  Bolus,  leicht  durch  die  Schlingwerkzeuge 
in  die  Magenhöhle  befördert  wird.  Er  löst  zugleich  die  löslichen 
Bestandtheile  der  Nahrung  auf,  und  erregt,  durch  die  Befeuchtung 


656  §•  861*  Speioheldrftsen.  Aenssert  Verh&ltniM«  derselben. 

und   Tränkung   der   Geschmackswärzchen   mit   dieser   Lösung,    die 
Geschmacksempfindungen. 

Es  finden  sich  drei  Paar  Speicheldrüsen,  welche  ihrer  Lage 
nach  in  die  Ohr-,  Unterkiefer-  und  Unterzungendrüsen  ein- 
getheilt  werden. 

Die  Ohrspeicheldrüse,  Glandula  parotis  ('juapa  tw  wti,  neben 
dem  Ohre),  die  grösste  von  aUen,  liegt  vor  und  unter  dem  Ohre, 
in  dem  Winkel,  welcher  zwischen  dem  Aste  des  Unterkiefers,  dem 
Warzenfortsatze,  und  dem  äusseren  Gehörgange  übrig  gelassen  wird. 
Sie  schiebt  sich  von  hier  über  die  äussere  Fläche  des  Masseters, 
bis  zum  unteren  Rande  des  Jochbogens  vor.  Nach  innen  dringt  sie 
bis  zum  Processus  styloideus  ein.  Sie  hat  ein  gelapptes  Ansehen. 
Jeder  Lappen  besteht  aus  Läppchen,  und  diese  aus  traubenförmig 
gruppirten  Acini.  Der  Hauptausführungsgang  der  Drüse,  Ductus 
Stenonianus,  welcher  sich  durch  die  Dicke  seiner  Wand,  und  durch 
die  Enge  seines  Lumens  auszeichnet,  und  deshalb  sich  hart  anfühlt, 
tritt  am  oberen  Drittel  des  vorderen  Randes  der  Drüse  hervor.  Er 
entsteht  durch  successive  Vereinigung  aller  kleineren  Ausführungs- 
gänge der  Drüse,  läuft  mit  dem  Jochbogen  parallel,  und  etwa 
einen  Zoll  unter  ihm,  an  der  Aussenfläche  des  Masseters  nach  vorn, 
senkt  sich  am  vorderen  Rande  desselben  durch  das  Fettlager  der 
Backe  zum  Musculus  buccinator  herab,  welchen  er  durchbohrt,  um 
an  der  inneren  Oberfläche  der  Backe,  dem  zweiten  oberen  Backen- 
zahn gegenüber,  auszumünden.  Oftmals  liegt  vor  der  Parotis  und 
auf  dem  Ihictus  Stenotiianus  noch  eine  kleinere  Nebendrüse  (Parotis 
cuxessoria),  welche  ihren  Ausführungsgang  in  den  Ductus  Steno- 
nianus  münden  lässt.  Rings  um  die  Insertionsstelle  des  Ductus  Steno- 
nianus  lagert  eine  Gruppe  hanfkorngrosser  Schleimdrüsen,  als  Glan- 
dulae buccales,  in  variabler  Menge. 

Die  Parotis  unterliegt  bei  jedem  Oeffnen  de»  Mundes  einem  Dniek,  indem 
der  Raum  zwischen  Unterkieferast  und  Warzenfortsatz  sich  dabei  verkleinert.  Die 
Glandula  aubmaocUlaris  und  »ublinguaiiM  erleiden  diesen  Dnick  ebenfalls,  erstere 
durch  die  Wirkung  des  Musculua  mylo-hyoideiu,  und  letztere  durch  den  Wider- 
stand des  gekauten  Bissens.  Dieser  Druck  befördert  die  Entleerung  ihres  Secrett»» 
während  des  Kauens,  wo  seine  Gegenwart  eben  am  nöthigsten  ist.  —  Galen 
leg^e  den  Namen  Parolis  nur  der  durch  die  Entzündung  dieser  Drüse  bedingten 
Geschwulst  bei,  welche  auch  bei  uns  als  Mumps  oder  Bauern w et zel  bekannt 
ist,  und  nicht  selten  epidemisch  auftritt.  Die  Drüse  selbst  führte  bei  ihm  keinen 
besonderen  Namen,  und  wurde  nur  allgemein  zu  seinen  aB^ve;  OjUiiululae)  gef«tellt. 
£r  kannte  die  absondernde  Thätigkeit  der  acinösen  Drüsen  nicht,  weil  ihre  Aus- 
fÜbrungsgänge  ihm  imbekannt  waren.  80  hielt  er  sie  denn  für  Organe,  welche, 
wie  Schwämme,  überflüssige  Feuchtigkeit  aufzusaugen  haben.  Die  Drüsen  neben 
den  Ohren  hatten  namentlich  das  Gehirn  von  solcher  Feuchtigkeit  zu  befreien, 
und  fllhrten  deshalb  bei  den  lateinischen  Autoren  des  Mittelalters  den  Namen: 
EmwneUjria    oerebri,    bii    aie    Job.    Riolan    zuerst    als    Parotides    benannte. 


§.  i51.  8p«ieheldrüsen.  Aeassere  VerhftHniste  derselben.  657 

• 

(Anthropographia,  Lib.  IV,  cap,  10.)  Die  Griechen  nannten  auch  die  Ohrläppchen 
und  die  Haarlocken  vor  dein  Ohre:  Parotides. 

Die  innere  Fläche  der  Parotis  wird  durch  das  tiefliegende  Blatt  der  Fcucia 
colli,  Ton  der  Vena  jugidaria  interna  und  Carotis  interna  getrennt.  Ihre  äussere 
Fläche  deckt  die  Fascia  parotideo-^nasseterica.  Die  Cai'otis  extei'iia  und  Vena 
facialis  posterior  durchbohren  sie  in  senkrechter  Richtung,  der  Nervus  communicans 
fadei  in  horizontaler  Richtung  von  hinten  nach  vom. 

Der  Däne  Nil  Stenson  (Nicolaus  Stenonius)  beschrieb  den  AusfÜhrungfs- 
gang  der  Parotis  beim  Schafe  in  seiner  Inaugural-Dissertation:  de  glandtUis 
oris,  etc.  Lugd.,  1G67,  Man  kannte  jedoch  den  Gang  schon  früher.  Julius 
Casserius  erwähnt,  anno  1660,  die  Durchbohrung  des  Backenmuskels  durch 
diesen  Gang,  und  Gualtherus  Needham  behauptet,  ihn  schon  1658  entdeckt 
zu  haben  (de  fomiato  foetUf  in  praefatione). 

Die  Unterkiefer-Speicheldrüse  (Glandula  subma^llaris  s, 
angularis),  um  die  Hälfte  kleiner  als  die  Parotis,  und  minder  stark 
gelappt,  liögt  unter  dem  Musculus  mylo-hyoideus,  zwischen  dem  hoch- 
und  tiefliegenden  Blatte  der  Fasda  colli,  in  dem  dreieckigen  Räume, 
welcher  vom  unteren  Rande  des  Unterkiefers  und  den  beiden  Bäuchen 
des  Musculus  hivefiit&r  maxülae  begrenzt  wird.  Der  Ausführungsgang 
derselben,  Ductus  Whartoniarms,  längs  welchem  sich  noch  eine  Reihe 
von  Drüsenläppchen  hinzieht,  geht  über  die  obere  Fläche  des  Mus- 
culus mylo'hyaideus,  zwischen  ihr  und  der  Glandula  subungualis,  nach 
innen  und  vorn,  und  mündet  an  der  stumpfen  Spitze  einer,  zu  beiden 
Seiten  des  Zungenbändchens  befindlichen  Papille,  welche  Caruncula 
subungualis  heisst  (Caruncula,  Diminutiv  von  caro,  ein  Stückchen 
Fleisch).  Die  Arteria  Tnaxillaris  externa  liegt  in  einer  tiefen  Furche 
der  oberen  Fläche  dieser  Drüse.  Die  Acini  dieser  Drüse  sind  nicht 
80  rund,  wie  jene  der  Parotis,  sondern  kolbig,  selbst  fingerförmig 
in  die  Länge  gedehnt.  —  Die  skrophulösen  Geschwülste,  welche  in 
der  Gegend  der  Unterkiefer-Speicheldrüse,  unter  dem  Winkel  des 
Unterkiefers,  häufig  vorkommen,  sitzen  nicht  in  dieser  Drüse  selbst, 
sondern  in  den  l^ymphdrüsen,  welche  neben  der  Glandula  sub- 
maxillaris  lagern.  Diese  Geschwülste  heissen  in  der  Volkssprache 
Mandeln. 

Tliom.  Wharton  gab  dem  Ausflihrungsgang  dieser  Drüse  nur  seinen 
Namen  (Adenographia,  cap.  21.  Lond.  1686);  —  bekannt  war  der  Gang  schon 
lange  frtlher  (veteribus  noUssimus  dtictus,  per  130  annos  a  nuperis  neglectus. 
Haller). 

Die  Unterzungen-Speicheldrüse,  Glandula  subungualis,  ist 
wahrscheinlich  keine  Speicheldrüse,  sondern  eine  Schleimdrüse.  Sie 
ist  kleiner  als  die  vorhergehenden,  und  lagert  auf  der  oberen 
Fläche  des  Musculus  mylo-hyoideus ,  nur  von  der  Schleimhaut  des 
Bodens  der  Mundhöhle  bedeckt,  welche  sie  etwas  hervorwölbt.  Die 
Arteria  subungualis  verlauft  unter  ihr.  Ihre  feinen  Ausführungs- 
gänge,  acht  bis  zwölf  an  der  Zahl,  Ductus  Rivini,  münden  theils 
hinter    der    Caruncula   subungualis    in    die    Mundhöhle    ein,    theils 

Hyrtl,  Lehrbach  der  Anatomie.  U.  Aafl.  42 


658  §.  S51.  9p«iolieldrfl8«D.  AensMre  Verb&ltniBse  denelb«n 

vereinigen  sich  einige  derselben,  seltener  auch  alle,  nach  Art  der 
übrigen  Speicheldrüsen  zu  einem  grösseren  Gange,  Dvctus  Bartho- 
Uni,  welcher  entweder  eine  besondere  Endmündung  auf  der  Carun- 
cula  besitzt,  oder  mit  dem  Ductus   Whartonianus  zusammenfliesst. 

Qairinns  Rivinns,  Professor  in  Leipzig,  in  der  Mitte  des  siebenzehnten 
Jahrhunderts,  war  eigentlich  kein  Anatom,  sah  aber  doch  die  AnsfÜhrungsgänge 
der  UnterzungendrUse  zuerst,  und  erwähnt  ihrer  in  seiner  nicht  anatomischen 
Schrift:  de  dy^peptia,  lAps,  1678.  Genauer  beschrieb  sie  Fr.  A.  Walther,  de 
UnguOf  lÄp9,  1724.  Die  Vereinigung  dieser  Gänge  zu  einem  grösseren,  wurde  von 
Casp.  Bartholinus  gesehen,  und  in  dem  Büchlein:  de  ductu  aalivcdi  hactentu 
tum  descripto.  Hafn.,  1684,  beschrieben. 

Die  specifischen  Verschiedenheiten  der  Secrete  der  drei  Speicheldrüsen 
sind  noch  nicht  genau  bekannt.  Der  Parotidenspeichel  enthält  keinen  Schleim, 
welcher  dagegen  im  Secret  der  Unterzungendrüse  vorkommt.  Bernard  (CmnpteM 
rendua,  1852)  glaubt,  dass  der  Parotidenspeichel  zur  Durchfeuchtung  und  Knetung 
des  Bissens,  jener  der  GlandtUa  auhlinguaUs  zur  schleimigen  Umhüllung  des 
Bissens  für  das  leichtere  Schlingen  desselben,  jener  der  (Uandufa  suhniaxUlarU 
xom  Schmecken  besonders  beitrage. 

Der  Speichel  besteht,  nach  Berzelius,  aus  99  Procent  Wasser  und  ein 
Procent  fester  Stoffe  (Speichelstoff  oder  Ptyalin,  Schleim,  Chlornatrium,  CaseYn). 
Rhodankalium  führt  nur  der  Speichel  der  Parotis.  Der  Speichel  entliält  auch  ab- 
gestossene  Epithelialplättchen  der  Mundschleimhaut,  und  die  schon  von  L  e  e  n  w  e  n- 
h  o  e  k  gekannten,  rundlichen,  den  Lymphkörperchen  gleichenden  S  p  e  i  c  li  e  1  k  (5  r  p  e  r- 
chen,  deren  Protoplasma  von  feinen  Körnern  durchsetzt  wird,  welche  lebhafte 
Molekularbewegfung  zeigen.  Man  meint,  dass  ihre  Erzeugungsstätte  in  den  an 
LjmphkÖrperchen  reichen  Balgdrüsen  der  Zunge  und  der  Mandeln  zu  suchen  sei. 
Wie  aber  die  LjmphkÖrperchen  dieser  Drüsen,  welche  zu  den  geschlossenen 
Balgdrüsen  gehören,  in  die  Mundhöhle  gelangen,  darüber  weiss  Niemand  Rechen- 
schaft zu  geben.  Jedenfalls  ist  und  bleibt  es  eine  sehr  sonderbare  Lebeiis- 
bestimmung  von  LjmphkÖrperchen:  ausgespuckt  zu  werden. 

Die  Verwendung  des  Speichels  ist  eine  doppelte.  Erstens  eine,  welche  er 
schon  in  der  Mundhöhle  leistet  Sie  besteht  in  dem  Durchweichen  der  gekauten 
Nahrungsmittel,  als  nothwendige  Vorbereitung  zum  Schlingen,  und  in  der  Auf- 
lösung leicht  löslicher  Bestandtheile  derselben,  zu  Gunsten  der  Geschmacksempfin- 
dung. Zweitens  bewirkt  der  Speichel  eine  cliemische  Veränderung  im.  gekauten 
Bissen,  durch  Verwandlung  der  Stärke  in  Zucker  und  Dextrin.  Die  Nachtheile, 
welche  durch  häufiges  Ausspucken  dem  Organismus  erwachsen  sollen,  hat  man 
wohl  zu  hoch  angeschlagen.  Den  Fischen  imd  Cetaceen  fehlen  die  Speicheldrüsen. 
—  Da  das  Wasser  des  Speichels  durch  die  beim  Athmen  durch  die  Mundhöhle 
ein-  und  ausstreichende  Luft  fortwährend  als  Dampf  weggeführt  wird,  so  erklärt 
sich  hieraus  die  Bildung  jener  Niederschläge  aus  dem  Speichel,  welche  als  Zahn- 
stein (Tartarus  dentium)  besonders  die  hintere  Fläche  der  unteren  Schneide- 
zähne, wo  der  Speichel  sich  aus  den  Carwiculis  suhlirujuaJihu9  ergiesst,  und  die 
Uälse  aller  Zähne  im  Unterkiefer  inkrustiren,  sich  zwischen  Zahn  und  Zahnfleisch 
eindrängen,  imd  die  Zähne  zwar  entstellen,  aber  gewiss  für  ihre  Dauerhaftigkeit 
eher  nützlich  als  schädlich  sind,  obwohl  dieses  die  Zahnärzte  nicht  zugeben 
mögen.  —  Die  giftigen  Wirkungen,  welche  der  in  den  Magen  oder  in  die  Venen 
eines  lebenden  Thieres  ii\jicirte  Speichel  hervorbringt,  sind  nicht  Wirkungen  des 
Speichels,  sondern  des  narkotischen  Princips  des  Tabaks,  welcher  geraucht  wurde, 
um  die  zum  Versuche  nothwendige  Quantität  Speichel  zu  erhalten.  Ebenso  ist 
die  ansteckende  Kraft  des  Geifers  bei  wuthknmken  Thieren  eine  grundlose  Chimäre. 


§.  252.  Bau  der  Speicheldrüaen.  —  §.  858.  Zung«.  659 

Bruce,  Harries  und  Hertwig,  konnten  durch  Uebertragung  des  Geifers  von 
wuthkranken  Thieren  auf  gesunde,  ja  selbst  durch  Einimpfung  des  Geifers  in  das 
Blut,  niemals  die  Wuthkrankheit  erzeugen. 


§.  252.  Bau  der  Speicheldrüsen. 

Alle  Speicheldrüsen  sind  nach  demselben  Typus  —  dem  der 
zusammengesetzten  acinösen  Drüsen  (§.  90)  —  gebaut.  Der  Haupt- 
ausführungsgang theilt  sich  wiederholt  in  kleinere  Zweige,  deren 
letzte  Enden  mit  länglichen,  traubig  zusammengehäuften  Endbläschen 
(Acini)  in  Verbindung  stehen,  welche  mit  ca^pillaren  Blutgefilssen 
netzartig  umsponnen  werden,  und  in  welchen  die  Bereitung  des 
Speichels  aus  den  Elementen  des  Blutes  vor  sich  geht.  In  der 
Parotis  beträgt  der  Durchmesser  der  Endbläschen  im  injicirten  Zu- 
stand 0,04  Linien,  und  in  der  Glandula  submaxälaris  nur  0,02  Linien. 
—  Die  Speichelgänge  besitzen  eine  bindegewebige  Grundmembran, 
auf  deren  innerer  Fläche  eine  sehr  dünne  structurlose  Schichte  auf- 
liegt. Die  Bindegewebsmembran  nimmt  aber  mit  der  zunehmen- 
den Verfeinerung  der  Gänge  an  Mächtigkeit  dergestalt  ab,  dass 
in  den  feinsten  Ramificationen,  und  in  den  auf  ihnen  aufsitzenden 
Acinusbläschen,  nur  die  structurlose  Schichte  erübrigt.  Auf  dieser 
lagert  in  den  grösseren  Speichelgängen  ein  stattliches  Cylinder- 
epithel;  in  den  kleineren  und  in  den  Acini  dagegen  Pflasterepithel. 
Die  Zellen  des  letzteren  sind  die  eigentlichen  Herde  der  Speichel- 
bereitung. Sie  sind  gross,  rundlich,  und  ragen  so  weit  in  das  Lumen 
der  Acinusbläschen  und  ihrer  Ausführungsgänge  hinein,  dass  sie 
dasselbe  fast  ganz  für  sich  in  Anspruch  nehmen.  —  Die  Wand  des 
Ductus  Whartonianus  enthält  glatte  Muskelfasern  —  jene  des  Ditcttis 
Stenonianus  aber  nicht  (Kölliker). 

Nach  Pflüger  sollen  die  letzten  Verzweigfimgen  der  Speichelgänge,  mit 
äusserst  feinen  Gängen  in  Verkehr  stehen  (Speichelcapillaren),  welche 
zwischen  die  Epithelialzelien  vordringen,  und  sie  ebenso  umspinnen,  wie  die  Leber- 
zellen  von  den  feinsten  Gallen  wegen  umgeben  werden.  Da  sie  mittelst  Injection 
dargestellt  wurden,  halte  ich  sie  für  Extravasatswege,  und  weiter  nichts.  Der- 
selbe Forscher  hat  zugleich  sehr  merkwürdige  Eigenschaften  der  Zellen  des 
Cylinderepithels  in  den  Speichelgängen  namhaft  gemacht,  betreffend  den  Zu- 
sammenhang derselben  mit  den  Primitivfasem  der  die  Speichelgänge  in  grosser 
Menge  begleitenden  Mervenfasern,  worüber  in  Stricker  s  Gewebslehre,  14.  Cap., 
ausführlich  gehandelt  wird. 


§.  253.  Zunge. 

Die  Zunge  (Lingua,  '{Kiougol^  attisch  '{kGivzay  verwandt  mit  den 
beim  Kehlkopf  vorkommenden  Worten  Glottis  und  Epiglottis),  fuhrt 

42» 


660  §.  KS.  Ztinge. 

ihren  deutschen  Namen  von  dem  gothischen  tung,  englisch  tong. 
Sie  ist  ein  von  der  Mundschleimhaut  umkleideter,  sehr  gefass- 
reicher,  weicher,  und  oft  nur  zu  beweglicher  Fleischlappen,  welcher 
am  Boden  der  Mundhöhle  in  der  Höhlung  de^  Unterkieferbogens 
liegt  und  sie  ausfüllt.  Man  unterscheidet  an  ihr  eine  obere  und 
untere  Fläche,  zwei  Seitenränder,  die  Spitze,  den  Körper,  und  die 
Wurzel.  Die  obere  convexe  Fläche  der  Zunge,  welche  bei  ge- 
schlossenem Munde  an  den  harten  Gaumen  anliegt,  ist  bis  zum 
Isthfnus  faucium  hin,  mit  den  Geschmackswärzchen  so  dicht  besäet, 
dass  sie  ein  kurzzottiges,  geschorenem  Sammt  ähnliches  Ansehen 
erhält.  —  Der  hinterste  Theil  der  Zunge,  welcher  sich  vom  hthmus 
faucium  bis  zum  Zungenbeine  hinab  erstreckt,  heisst  Wurzel.  An 
ihr  fehlen  die  Geschmackswärzchen.  Dagegen  finden  sich  hier 
Schleimdrüsen  und  grosse  Balgdrüsen  vor,  letztere  mit  den  Balg- 
drüsen der  Mandeb  baulich  übereinstimmend  (§.  244).  Die  Balg- 
drüsen wölben  die  Schleimhaut  des  Rückens  der  Zungenwurzel 
hügelig  empor,  und  können  an  der  eigenen  Zunge  durch  den  Finger 
als  eben  so  viele  Erhabenheiten  gefühlt  werden. 

Die  untere  Fläche  der  Zunge  ist  viel  kleiner  als  die  obere, 
und  entbehrt  der  Geschmackswärzchen  vollständig.  An  ihr  inserirt 
sich  das  vom  Boden  der  Mundhöhle  als  Schleimhautfalte  sich  er- 
hebende Zungenbändchen  (Frenidum  Unguae),  welches  die  allzu 
grosse  Rückwärtsbewegung  der  Zunge  und  ihr  Umschlagen  nach 
hinten  verhindert.  Der  weiche  Gaumen  schickt  zu  den  Seiten- 
rändern der  2iunge  die  beiden  Arcus  pcdato-glossi  herab.  Die  Wurzel 
der  Zunge  haftet  mittelst  des  Musculus  hyo-glossus  am  Zungenbeine, 
und  steht  auch  mit  dem  Kehldeckel  durch  drei  Uebergangsfalten 
der  Schleimhaut  (ein  mittleres  und  zwei  seitliche  Ligamenta  s,  Fre- 
nula  glosso-epiglottica)  in  Verbindung.  Von  der  Spitze  bis  zum 
Isthmus  faucium  nimmt  die  Zunge  an  Dicke  zu,  vom  Isthmus  bis 
zum  Zungenbein  aber  an  Dicke  bedeutend  ab.  Der  vor  dem  Isthmus 
liegende  Abschnitt  der  Zunge  liegt  horizontal  in  der  Mundhöhle;  — 
der  hinter  dem  Isthmus  befindliche  (Zungenwurzel)  föUt  fast  senk- 
recht gegen  den  Kehldeckel  ab.  Je  mehr  die  Zunge  aus  der  Mund- 
höhle herausgestreckt  wird,  desto  mehr  wird  auch  die  senkrechte 
Richtung  der  Zungenwurzel  in  die  horizontale  einbezogen. 

Die  fleischige  Substanz  der  Zunge  wird  durch  eine,  von  der 
Mitte  des  Zungenbeins  entspringende,  blattförmige  und  dünne,  senk- 
rechte, fibröse  Platte,  welche  von  B landin  CartUage  median  genannt 
wurde,  in  zwei  seitliche  Hälften  getheilt.  Dieser  Faserstreifen,  welchen 
ich,  da  er  keine  knorpelige  Structur  besitzt,  richtiger  Septum 
medianum  Unguae  nenne,  erscheint  nur  in  der  Wurzel  der  Zunge 
gut  entwickelt,  —  gegen  die  Spitze  zu  verschwindet  er. 


f.  S54.  Geschmackiwftrzehen  der  Zunge.  ggl 

Die  von  A.  Nuhn  beschriebene  Zangendrüse  (üeber  eine  bis  jetzt  noch 
nicht  näher  beschriebene  Zungendrtise.  Mannheim,  1846)  wurde  schon  in  Blan- 
din's  traüi  d'anatomie  topographique.  Paris,  1834,  pag.  175,  erwähnt  Sie  gehört 
zu  den  acinösen  Drüsen,  und  liegt  in  der  Spitze  der  Zunge,  zwischen  den  Faser- 
KÜgen  des  Hi/o-  und  Sfylogloesus,  der  unteren  Zungenfläche  näher  als  der  oberen. 
Nach  Grösse  und  Form  ist  sie  bohnenfÖrmig.  Ihre  Ausführungsgänge  münden 
mit  fünf,  in  einer  Längsreihe  liegenden  Ostien,  an  der  unteren  Fläche  der  Zungen- 
spitze, auf  einem  niederen,  gefransten,  schief  nach  rück-  und  auswärts  gerichteten 
Schleimhautsaum  (Crista  fimbriaia).  Unter  den  Thieren  findet  sie  sich  nur  beim 
Orang-Utang.  Man  weiss  nicht,  ob  man  sie  den  Speichel-  oder  den  Schleim- 
drüsen anreihen  soll. 

Der  grosse  Gefässreichthum  und  die  Weichheit  des  Zungenparenchyms, 
erklärt  die  enorme  Anschwellung  der  Zunge  bei  Entzündungen,  und  die  augen- 
blickliche Linderung  der  die  Schwellung  der  Zunge  begleitenden  Erstickungs- 
zufälle, durch  Einschnitte  in  das  Zungenparenchym  (Scarificationen).  Wie  leicht 
eine  aufgeschwollene  Zunge  Athmungsbeschwerden  hervorrufen  kann,  mag  man  an 
sich  selbst  erproben,  wenn  man  mit  dem  Daumen,  unmittelbar  über  dem  Zungen- 
beine, den  Boden  der  Mundhöhle,  und  somit  die  Zunge  nach  oben  und  hinten 
drückt.  Die  Zunge  verlegt  hiebei  den  Isthmus  faiuium,  und  drängt  den  weichen 
Gaumen  gegen  die  Wirbelsäule,  wodurch  der  Luftzutritt  von  der  Mund-  und 
Nasenhöhle  her  aufgehoben  wird.  Beim  Selbsterhängen,  wo  die  Schnur  nicht 
kreisförmig  um  den  Hals  zusammengeschnürt  wird,  sondern  der  Hals  in  einer 
Schlinge  hängt,  welche  hinter  beiden  Winkeln  des  Unterkiefers  in  die  Höhe  steigt, 
erfolgt  der  Erstickungstod  auf  diese  Weise. 


§.  254.  Greschmackswärzclieii  der  Zunge. 

Am  Rücken  der  Zunge,  welcher  durch  eine  nicht  immer  deut- 
liche Längenfissur,  in  zwei  gleiche  Hälften  getheilt  wird,  finden  sich 
drei  Arten  von  Geschmackswärzehen  (Pajnllae  gustatoriae)  \ 

1.  Die  fadenförmigen  Wärzchen,  Papulae  filiformes,  welche 
der  Zunge  ihr  pelziges  Ansehen  geben,  nehmen  in  unzähliger  Menge 
den  Rücken  und  die  Seitenränder  der  Zunge  ein,  und  stehen  in 
parallelen  Reihen,  welche  von  der  Mittellinie  schief  nach  vorn  und 
aussen  gegen  die  Ränder  gerichtet  sind.  Sie  sind  unter  allen  Zungen- 
wärzchen die  feinsten  und  längsten,  und  nehmen  gegen  die  Zungen- 
spitze hin  nicht  an  Zahl,  wohl  aber  an  Länge  ab.  Nicht  alle  von 
ihnen  enthalten  Nerven,  wodurch  ihre  Bedeutung  als  Geschmacks- 
wärzchen verdächtig  wird.  Auch  ihr  dicker  und  verhornter  Epithe- 
lialüberzug,  welcher  aus  dachziegelförmig  übereinander  geschobenen 
Zellen  zusammengesetzt  ist,  stellt  ihre  lebhafte  Betheiligung  an  den 
Geschmacksempfindungen  sehr  in  Zweifel.  Ein  Vergleich  derselben 
mit  den  Homstacheln  auf  der  Katzenzunge,  würde  etwas  für  sich 
haben,  wenn  ihre  Richtung  nicht  nach  vorn  ginge.  Die  Hom- 
stacheln auf  der  Raubthierzunge  sehen  nach  hinten,  ut  fugituram 
ab  ore  praedam  retineant,  wie  Hai  1er  sagt. 


662  §•  'M«  Gr«8chmaok8w&rzcheii  der  Zn&ge. 

Sehr  hüufig  ist  der  Grundstock  einer  fadenförmigen  Warze,  welcher  wie 
bei  allen  GeschmackswHrzchen  ans  längsgefasertem  Bindegewebe  besteht,  an  seiner 
Spitze  in  melirere  kleinere  Wärzchen  wie  zerklüftet.  Aach  zeigt  das  Epithel 
nicht  selten  das  eigenthümliche  Verhalten,  dass  es  von  der  Spitze  der  Warze  aus, 
sich  in  feine,  haarfttrinige  Fortsätze  spaltet,  welche  der  Warze  ein  pinselförmiges 
Ansehen  verleihen.  Dieses  Zerfasern  des  Epithels  wird  besonders  an  weiss  be- 
legen Zungen  beobachtet,  und  darf  nicht  verwechselt  werden  mit  den,  bei  krank- 
haften Zuständen  der  Znngenschleimhaut,  auf  dieser  wuchernden  Fadenpilzen 
(LeptoÜirix  buccalis,  Robin),  welche  sich  zwischen  die  Epitlielialzellen  der  Zimge 
eindrängen,  und  dieselbe  förmlich  umspinnen. 

2.  Die  schwamm-  oder  keulenförmigen  Wärzehen,  Pa- 
pälcte  fungiformes  «.  clavatae,  rinden  sich  in  veränderliclier  Zahl 
zwischen  den  fadenfiirmigen  als  rothe,  knopfformige  oder  pilz- 
ähnliche Höckerchen  hie  und  da,  besonders  an  den  Rändern  der 
Zunge,  eingestreut.  Ihre  Oberfläche  zeigt  sich  unter  dem  Mikro- 
skope selbst  wieder  in  kleinere  Papillen  gespalten.  Sie  sind  sehr 
nervenreich,  und  besitzen,  wie  die  folgenden,  nur  einen  sehr  dünnen 
Epithelialtiberzug,  welcher  ihre  Blutgefässe  durchscheinen  lässt.  Sie 
erscheinen  deshalb  an  der  eigenen  Zunge  vor  dem  Spiegel  roth. 

3.  Die  acht  bis  fünfzehn  wall  förmigen  Wärzchen,  Papulae 
circumvallatae  8,  maximae,  die  nervenreichsten  aller  Zungenwärzchen, 
gehören  nur  dem  hinteren  Bezirk  des  Zungenriickens  an,  welcher 
den  Isthmus  faucium  bilden  hilft.  Sie  sind  in  zwei  Reilien  gestellt, 
welche  nach  hinten  convergiren,  und  sich  zu  einem  V  vereinigen, 
an  dessen  Spitze  gewöhnlich  die  grösste  dieser  Papillen  steht.  Jede 
Wallwarze  besteht  eigentlich  aus  einer  dicken,  seh  warn  mförmigen 
Warze,  welche  von  einem  kreisförmigen  Schleimhautwall,  über 
welchen  sie  etwas  hervorragt,  umzäunt  wird.  Zwischen  Warze  und 
Wall  berindet  sich  ein  Graben,  in  welchen  kleine  Schleimdrüschen 
einmünden.  —  Auch  die  Wallwarzcn  erscheinen,  wie  die  schwamm- 
formigen,  an  ihrer  Oberfläche  mit  secundären,  kleineren  Wärzchen 
besetzt. 

An  oder  hinter  der  Spitze  des  von  den  convergenten  Linien 
der  PapUI<ie  circumvallatae  gebildeten  V,  bemerkt  man  das  blinde 
Loch  (Forameii  coecum),  als  seichte  oder  blindsaekfiirniig  nach  hinten 
sich  verlängernde  Grube,  in  welche  mehrere  der  benachbarten 
Schleimdrüsen  des  Zungenrückens  einmünden. 

Oefters  zieht  sich  das  Foramen  coecum  zu  einem,  bis  an  das  Lirjornentiiui 
ffloMMO-epiglotfiaim  medium  reichenden  Rundgang  aus.  Nacli  Hoclidalek  jnn. 
sollen  sich  vom  hinteren  Drittel  dieses  Hlindganges,  ein  bis  zwei  scliief  nach 
vom  und  aussen  gerichtete,  die  Fasern  der  Musruii  f/enio^/hsjti  durchsetzende 
Nebengänge  abzweigen,  auf  deren  Enden  äusserst  zartwandige,  blinddarmähnliche 
Kanälchen  aufsitzen.  (Archiv  fClr  Anat.  1867.  Tab.  XIX.)  Was  weiters  auf  dieser 
Tafel  abgebildet  erscheint,  ist  ein  wahrlich  ungeheuerliches  Extravasat,  aber  kein 
neues  Organ. 

Der  Bau  der  Geschmackswärzchen  weicht  von  jenem  der  Tastwärzchen 
(§.  206)    nicht   wesentlich    ab.     Bezüglich    der  Nerven  erwähne  ich,    dass  in  den 


g.  854.  Gescbmacktw&rzchen  der  Zunge.  663 

schwammfHrmigen  Zangenwärzchen  bereits,  obwohl  selten,  auch  Tastkörperchen 
aufgefunden  wurden  (Ger lach,  Kölliker).  Wie  die  Nerven  in  den  Papillen 
endigen,  ist  zur  Stande  noch  Gegenstand  von  Controversen.  Axel  Key's  Beob- 
achtungen an  Froschzungen,  und  jene  von  M.  Schnitze,  Schwalbe  und  Lov^n, 
an  menschlichen  Zungen,  machen  es  wahrscheinlich,  dass  die  Axencylinder  der 
Primitivfasern  der  Geschmacksnerven,  mit  gewissen  Epithelialzellen  der  Ge- 
schmackswärzchen zusammenhängen,  und  letztere  somit,  wie  es  früher  von  den 
Rieclmerven  angeführt  wurde  (§.  215),  als  sogenannte  Geschmackszellen, 
peripherische  Endigungsweisen  der  Geschmacksnerven  darstellen.  Die  Geschmacks- 
zellen sind  in  den  sogenannten  Schmeckbechern  enthalten,  —  das  sind  kleine, 
aus  verlängerten  Epithelialzellen  gebildete,  und  in  das  Epithel  der  Papulae 
vallatae  und  der  /unffif&mieg ,  eingebettete  Organe  von  Becherform.  Die  Ge- 
schmackszellen, deren  viele  in  Einem  Becher  Raum  finden,  sind  am  oberen  und 
unteren  Ende  in  Fortsätze  ausgezogen.  Der  obere  Fortsatz  rag^  aus  der  Oeffnung 
des  Bechers  etwas  heraus,  —  der  imtere  soll,  wie  man  annimmt,  mit  einer 
Primitivfaser  des  Geschmacksnerven  in  Continuität  stehen.  Becher  sammt  Inhalt 
heissen  Geschmacksknospen,  über  welche  im  Archiv  für  Mikroskopie  (3.,  4. 
und  6.  Bd.)  ausführlich  gehandelt  wird. 

An  der  Zungenwurzel  bilden  die  Balgdrüsen  (§.  90),  welche  von  den  Alten 
als  Glandulae  lenticularen  liiujuae  bezeichnet  wurden,  ein  fast  continuirliches,  in 
die  Muskelsubstanz  eingreifendes  Drüsenlager.  Jeder  Balgdrüse  entspricht  ein 
flacher  Hügel  auf  der  Oberfläche  der  Zungenwurzel.  Eine  Oeffnung  auf  dem 
Hügel  führt  in  eine  kleine  Höhle  desselben,  in  deren  Wand  die  geschlossenen 
Bälge  mit  ihrem  Inhalt  von  Lymphkörperchen  lagern.  Die  Bälge  sind  jedoch 
keine  constanten  Vorkommnisse,  denn  sie  fehlen  zuweilen.  Auch  giebt  es  Zungen, 
in  welchen  die  Wand  der  Drüsenhöhle  mit  freien,  nicht  in  Bälgen  eingeschlosse- 
nen Lyraphkörperchen  infiltrirt  erscheint.  Böttcher  denkt  selbst  an  einen 
pathologischen  Urspnmg  der  Bälge  (Archiv  für  pathol.  Anat.  18.  Bd.).  —  Nicht 
selten  mündet  eine  solche  Balgdrüse  auf  der  Höhe  einer  Papilla  circumvaüata 
aus.  Die  Balgdrüsen  des  Zungengrundes,  der  Mandeln,  und  die  Drüsen  an  der 
vorderen  Fläche  des  weichen  Gaumens,  bilden  zusammen  einen  Drüsengürtel  um 
den  Isthmus  faudutn  herum,  dessen  Aufgabe  es  ist,  diesen  engen  Weg,  während 
des  Durchganges  des  zu  verschlingenden  Bissens,  gehörig  schlüpfrig  zu  machen. 
—  lieber  die  Zungendrüsen  handelt  Ebner:  Die  acinösen  Drüsen,  und  ihre  Be- 
ziehung zum  Geschmacksorgan.  Graz,  1873. 

Das  geschichtete  Pflasterepithel  der  Zunge,  kleidet  auch  die  Höhle  der 
Balgdrüsen  aus,  und  unterscheidet  sich  nicht  von  jenem  der  übrigen  Mundhöhlen- 
schleimhaut.  Die  oberflächliche  Lage  dieses  Epithels  besteht  aus  grossen,  breiten  und 
flachen  Zellen  (Plattenepithel),  welche  sich  abstossen,  und  wieder  erzeugen.  Bei 
Verbrühungen  und  gewissen  Ausschlagskrankheiten,  fällt  das  ganze  Epithel  der 
Zunge  in  grösseren  Stücken  ab. 

Die  durch  den  Speichel  gelösten  schmeckbaren  Bestandtheile  der  Nahrungs- 
mittel, müssen  sich  durch  das  Epithel  der  Zunge  durchsaugen,  um  auf  die  Nerven 
der  Papillen  wirken  zu  können.  Daher  erklärt  es  sich,  warum  schwer  lösliche 
Substanzen  erst  geschmeckt  werden,  nachdem  sie  längere  Zeit  in  der  Mundhöhle 
verweilten,  ja  erst  nachdem  sie  verschluckt  wurden  (Nachgeschmack).  Trockene 
Stoffe  in  trockener  Mundhöhle  erregen  keinen  Geschmack,  Alles  Unlösliche  ist 
geschmacklos. 


664  §•  S55.  Binnenmnskeln  d«r  Zunge. 

§.  255.  Binneiiiiiiiskelii  der  Zunge. 

Das  Fleisch  der  Zunge  besteht,  nebst  den  sich  mit  einander 
kreuzenden  und  verwebenden  Fasern  des  Musculus  genio-glossus, 
hyo-glossus  und  stylo-glossus  (§.  164),  noch  aus  drei  besonderen 
Muskelschichten,  welche  in  der  Zunge  entspringen,  und  auch  in  ihr 
endigen,  und  auf  die  Veränderung  der  Form  der  Zunge  zunächst 
Einfluss  nehmen.  Nur  das  Nothdürftigste  mag  hier  über  sie  verlauten. 

Die  obere  Längensehichte  liegt  gleich  unter  der  Schleim- 
haut des  Zungenrückens,  und  schiebt  ihre  Bündel  zwischen  die  zur 
Zungenoberfläche  emporstrebenden  strahligen  Bündel  des  Genio- 
glossus  ein.  Die  untere  übertriflPt  an  Stärke  die  obere.  Sie  dehnt 
sich,  zwischen  dem  Musculus  genio-glossus,  und  hyo-glossus,  an  der 
unteren  Fläche  der  Zunge  bis  zur  Spitze  hin.  —  Die  quere  Muskel- 
schichte (Musculus  lingu^alis  transversus),  entspringt  von  den  Seiten- 
flächen des  Septum  linguae,  Ihre  Fasera  laufen  nach  aus-  und  auf- 
wärts; die  inneren  gehen  zum  Rücken  der  Zunge,  die  äusseren  zum 
Zungenrande,  und  schieben  sich,  um  diese  Richtung  einschlagen 
zu  können,  zwischen  den  Längenfasern  des  Genio-glossus  und  H/jo- 
glossus  hindurch.  —  In  der  Zungenspitze  kommen  auch  senkrechte, 
von  der  oberen  zur  unteren  Fläche  ziehende  Muskelbündcl  vor. 
Ehrlich  gestanden,  weiss  man  von  allen,  in  den  Bau  der  Zunge 
eingehenden  Muskeln  nicht,  wie  sie  endigen. 

Der  von  Bochdalek  jon.  beschriebene  nnpaare  Muscttlujt  lingtialiM  inferior 
medittjt,  entspringt  von  einer  knotigen  Anschwellung  am  hinteren  Theile  des  Septum 
linguae,  und  veriKuft,  zwischen  den  hinteren  Partien  der  beiden  Genio-glo^gi,  gerade 
nach  vorn,  um  mit  zugespitztem  Ende  (?)  sich  zwischen  diesen  Muskeln  au 
verlieren. 

Die  Mitwirkung  der  Zunge  beim  Kauen,  Sprechen  und  Schlingen,  ist  hin- 
länglich bekannt.  Zungenlähmung  erschwert  und  stört  diese  Functionen  auf  die 
auffillligste  Weise.  Während  des  Kauens  treibt  die  Zunge  die  halbzerquetschte 
Nahrung  wieder  zwischen  die  Stampfen  der  Zähne  hinein,  bis  Alles  gehörig  zer- 
kleinert ist.  Man  kann  sogar  mit  der  Zunge  jene  Nahrungstheile  hervorholen, 
welche  in  die  Bucht  zwischen  Backen  und  Kiefer  hineingeriethen.  Beim  Sprechen 
vermittelt  sie  die  Bildung  der  Oonaonantea  linguale».  Beim  Schlingen  ist  sie  es, 
welche  den  fertig  gekauten  Bissen,  durch  den  hthmiu  favcium  in  den  Rachen 
drängt.  —  Es  giebt  Menschen,  welche  ihre  Zunge  tmgewöhnlich  weit  hervorstrecken 
können,  jedoch  nie  so  weit,  dass  man  die  Wall  Wärzchen  oder  das  Foramen  coerum 
zur  Ansicht  bekäme.  Ich  kannte  eine  berühmte  Altsängerin,  welche  ihre  eben 
nicht  ungewöhnlich  lange  Nase,  mit  der  Zungenspitze  berühren  konnte.  Thiere 
reinigen  sich  auch  die  Nase  mit  der  Zunge.  —  Dass  ein  zu  kurzes  Zungenbändchen 
bei  Kindern  das  Saugen  beeinträchtige,  scheint  mir  eine  Sage  au»  der  Ammen- 
stube zu  sein,  indem  das  Kind  nicht  durch  Bewegung  der  Zunge,  t^ondern  durch 
Senken  des  ganzen  Mundhöhlenbodens  saug^. 


S.  SM.  BMhen.  665 

§.  256.  Rachen. 

Der  Rachen^  Pharynx  (man  denkt  bei  diesem  Namen  unwill- 
kürlich an  reissende  Thiere),  liegt  hinter  der  Nasen-  imd  Mundhöhle. 
Seine  Gestalt  ist  trichterförmig,  mit  oberer  Basis,  und  unterer,  «ur 
Speiseröhre  sich  verengender  Spitze.  Seine  vordere  Wand  besitzt 
Verkehrsöflfnungen  mit  der  Nasenhöhle  (Choanae),  mit  der  Mund- 
höhle (Isthmus  faucium),  und  mit  dem  Kehlkopf  (Adiius  ad  Inrt/ngem), 
Eine  gewisse  Aehnlichkeit  der  P^orm  lässt  den  Pharynx,  und  »eine 
Fortsetzung  als  Speiseröhre,  mit  dem  Windfang  auf  den  Dampf- 
schiffen, durch  welchen  frische  Luft  in  den  Ileizraum  gebracht 
wird,  vergleichen.  Er  grenzt  nach  oben  an  den  Hchädelgrund, 
nach  hinten  an  die  Halswirbelsäule,  seitwärts  an  die  grossen  Blut- 
gefässe  und  Nerven  des  Halses,  vorn  an  die  Clioanae,  den  lathmu» 
fatudum,  und  den  Kehlkopf.  Das  untere  Ende  des  Ilachens,  welches 
hinter  dem  Kehlkopf  liegt,  und  sich  rasch  zur  8p<;iscröhre  verengert, 
heisst  Schlundkopf.  Bei  Homer  erscheint  ^apu-;?  nicht  blos  in 
der  Bedeutung  „Schlund*^,  sondern  auch  für  „Hals".  Daher  erhielt 
auch  der  Knochen  am  Halse  —  das  Zungenbein  —  bei  den  (tricjchen 
den  Namen:  Phai\yngethron, 

Wird  der  weiche  Gaumen  so  weit  nach  hinten  gedrängt,  dass 
seine  hintere  Fläche  sich  an  die  hintere  Wand  der  Rachen  höhle 
anlegt,  so  wird  diese  Höhle  dadurch  in  zwei  über  einander  gelegene 
Räume  getheilt,  deren  oberer  (Cavum  phar/jugo-nasalej  die  Choanen, 
und  deren  unterer  grösserer  ("Cavum  pharyngo-lartpufeumj  den  hthmus 
faucium  und  den  Eingang  zur  Kehlkopfshöhle  enthält.  Diese  Schei' 
dang  der  Racfaenhöfale  in  zwei  übereinander  befindliche  Räume,  int 
eine  vollständige.  Sie  stellt  sich  bei  jedem  Schlingact^;  ein,  so  wie 
beim  Sprechen  des  Vocales  A^  und  beim  Singen  mit  BruAttönen, 
Angeborene  Spaltung  des  weichen  Gaumens,  oder  Substanzverlust 
durch  Geschwür,  bedingen  näselnde  Sprache,  weil  ein  Theil  der 
beim  Sprechen  ausgeathmeten  Lufu  durch  die  Nasenhöhle  streicht. 

Am  obersten  Theile  der  seitlichen  Rachenwand  liegt  die  Rachen- 
ö>ffiDimir  der  Eostachi'schen  Trompete  ^§.  233»,  unmittelbar  hinter 
dem  iu*.*^Ten  Rande  der  CTioanen.  Die  Oeffnung  ist  fast  oval,  vier 
Linien  lan^,  und  etwa.*  >chri^  von  innen  und  oben  nach  attsnen 
und  Tttter.  ^«rieht^t.  Sie  kann  dunh  eine  an  der  Spitze  gekrümrote 
Soade.  Trel'rh"  drireh  d»^n  uni«er^n  Naäengang  in  die  Ra/;henb^ble 
geleiiei  »ir^i,  l^irhz  '-rr'^ich:  werd^^n.  Ihre  Umrandung  ist  nur  an 
d*T  ir  r-r^r^.  F*-r:;.h'r>  -»Ark  aaiär^wnl^tet.  Die  vorder-^-  Peripherie 
den.^Jt,-*r,  ..^r  .-  v--  t-^tA  -lAtt.  ZTri*4:h<eri  der  Rachen>!rffnung  dfrr  Tnba 
ui*d  i^7  K.r.-er*;^  Pr.Arvnxwacd.  h'M^i  die  Schleimharu  eine  Mtch 
»UüMit  \güfi  orpfrci  ^*Heh:e:e,  otsai'^  ^md  drüjenreiche  Bfxcht.  4ie 
i»'V»'-*i!«  iii^er^h*  *rnh^    «-h-xi  ^^ki  Hauer  erwihnt  , 


666  §.  SM.  Rachen. 

An  der  Wand  des  Rachens  haben  wir  drei  Schichten  zu  unter- 
scheiden. Die  äussere  gehört  einer  Fortsetzung  der  in  §.  160 
erwähnten  Fascia  biicco-pharijngea  an.  Die  mittlere  besteht  aus 
einer  Lage  animalcr  Muskeln,  —  die  innere  ist  Schleimhaut.  Im 
Cavum  pliartjugo-nasale  erscheint  die  Schleimhaut  röther,  und  drüsen- 
reicher, als  im  Cavum  phart/ngo-lart/ngeum.  Sie  besitzt  im  erst- 
genannten Räume  ein  flimmerndes  Epithel,  im  letzteren  ein  mehr- 
fach geschichtetes  Pflasterepithel  wie  die  Schleimhaut  der  Mundhöhle. 
Die  Drüsen  der  Schleimhaut  zerfallen  in  Schleimdrüsen  und  Balg- 
drüseu.  Schleimdrüsen  finden  sich  an  der  hinteren  Wand  des 
Rachens.  Je  weiter  gegen  den  Anfang  der  Speiseröhre  herab,  desto 
spärlicher  werden  sie.  Balgdrüsen,  und  zwar  vereinzelte  und  accu- 
muliii;e,  hat  man  in  dem  obersten  Theile  des  Rachens,  welchen  man 
Fomix  pharyngü  nennt,  angetroffen.  Sie  bilden  einen,  den  Mandeln 
structurverwandten,  bis  drei  Linien  dicken  Drüsengürtel  (Tonsilla 
pharyngea  einiger  Autoren) ,  welcher  hinter  dem  oberen  Rande 
beider  Choanen,  von  einem  Ostium  tubae  Emtachianae  zum  anderen 
hinüberreicht. 

Lutfchka,  der  Schlundkopf  des  Menschen.  Tübingen,  1868.  —  lieber  die 
Drüsenformationen  im  Pharynx  handelt  ebenfalls  Luschka,  im  Archiv  für  raikr. 
Anat.  4.  Bd.  1868. 

Ich  möchte  die  Ka<*Jienhöhle  den  Kreuzweg  der  Respiratioiis-  und  Ver- 
dauungshöhle des  Kopfes  nennen  (annmunuf  deris  et  ntUrinientorum  via,  Hai  1er). 
Die  durch  die  Nase  eingeathmete  Luft,  und  der  zu  verschlingende  Bissen,  gelangen 
durch  den  Rachen  zum  Kehlkopf  und  zur  Speiseröhre.  Da  nun  der  Uebergang 
des  Rachens  in  die  Speiseröhre  hinter  dem  Kehlkopfe  liegt,  so  müssen  sicli  die 
Wege  des  Luftstroms  und  des  Bissens  in  der  Rachenhöhle  kreuzen.  Ist  der  Bissen 
in  den  Rachen  gekommen,  und  wird  dieser  durch  die  Constrlctores  verengert,  so 
könnte  der  dadurch  gedrückte  Bissen  eben  so  gut  gegen  die  Choanen  »ich  er- 
heben, oder  in  den  Kehlkopf  hinabgetrieben  werden,  als  in  die  Speiseröhre  ge- 
langen. Den  Weg  zu  den  Choanen  schliesst  der  weiche  Gaumen  ab,  indem  er 
sich  gegen  die  Wirbelsäule  stellt.  Der  Eintritt  in  den  Kehlkopf  wird  durch  den 
Kehldeckel  versperrt,  welcher,  wenn  der  Kehlkopf  beim  Schlingen  gehoben,  und 
die  Zunge  nach  rückwärt«  geführt  wird,  sich  wie  eine  Fallthüre  über  das  Ostium 
laryngi»  leg^  Es  ist  nicht  richtig,  wenn  gewöhnlich  gesagt  wird,  dass  der  nieder- 
gedrückte Kehldeckel  dem  Bissen  als  Brücke  dient,  über  welche  hinüber  er  in 
den  Schlondkopf,  und  sofort  in  die  Speiseröhre  geschafft  wird.  Denn  der  Kehl- 
deckel kommt  eigentlich  mit  dem  Bissen  in  gar  keine  Berühnmg,  da  er  nicht 
durch  den  Bissen,  sondern  durch  den  Zungengrund,  gegen  welchen  er  beim  Heben 
des  'Kehlkopfes  während  des  Schlingens  angepresst  werden  muss,  niedt^rgedriickt 
wird.  —  Nur  beim  Erbrechen  kann  Festes  oder  Flüssige»  ans  der  Rachenhöhle  in 
die  Nasenhöhle  hinauf  geschleudert  werden,  oder  bei  einem  tiefen  und  hastigen 
Einathmen,  wie  es  dem  Lachen  voranzugehen  pflegt,  aus  der  Mundhöhle  in  den 
Kehlkopf  gerathen. 


§.  257.  BAohenmiukeln.  667 


§.  257.  Rachenmuskeln. 

Wir  unteracheidcn  Hebe-  und  Öehnürmuskeln  des  Uachens. 
Beide  sind  willkürlich  bewegliehe  Muskelgnippen.  Als  Hebemuskel 
wirkt  der  paarige  Sttjlo-phart/ngeus.  Er  entspringt  am  Griffelfortsatz, 
oberhalb  des  Stt/lo-glossus.  Er  zieht,  mit  seinem  Ctespann  convcr- 
girend,  zur  Seite  des  Pharynx  herab,  und  verliert  sich  theils  zwischen 
dem  mittleren  und  oberen  Schnürmuskel,  theils  findet  er  eine  solide 
Insertion  am  oberen  Rande  des  Schildknorpels  (zusammen  mit  dem 
Palato-pharyngms.  §.  245.)  Einen  Azt/gos  phartjnguf,  welcher  von  der 
Basis  des  Hinterhauptbeins  entspringt,  und  seine  strahlig-divergircn- 
den  Fasern  mit  denen  der  beiden  Stylo-fhartfugei  mischt,  habe  ich 
nur  sehr  selten  beobachtet. 

Die  Schnürmuskeln  (Constrictores  phartjngis)  bilden  die  Seiten- 
wände und  die  hintere  Wand  des  Rachens,  i:^aii^on  deren  Median- 
linie (Raphe)  sie  von  beiden  Seiten  her  zusammenstreben.  Man 
zählt  drei  Paare,  als  Constrictor  pliaryngis  superioTj  medius,  und 
infenor,  welche,  von  hinten  her  gesehen,  sich  der  Art  theil weise 
decken,  dass  der  untere  Constrictor  sich  auf  den  mittleren,  und 
dieser  auf  den  oberen  hinaufschiebt.  Alle  knöchernen,  HbHisen  und 
knorpeligen  Gebilde,  welche  zwischen  Schädelbasis  und  Anfang  der 
Luftröhre  gelegen  sind,  dienen  den  Faserbündeln  der  Rachen- 
schnürer  zum  Ursprünge,  und  es  muss  deshalb,  wenn  man  jedem 
Bündel  einen  eigenen  Namen  giebt,  eine  sehr  complicirte  Musku- 
latur herauskommen.  Da  der  obere  Constrictor  im  Allgemeinen  nur 
von  gewissen  Knochenpunkten  an  der  Schädelbasis  entspringt,  der 
mittlere  nur  vom  Zungenbein,  der  untere  nur  vom  Kehlkopf,  so 
wäre  es  nicht  ungereimt,  sie  als  Cephalo-,  Hyo-  und  Larj^ngo-pharyn- 
geu8  anatomisch  zu  taufen. 

Der  CoriMtrictcr  »tjperior  nimmt  die  oberste  Partie  der  hioteren  Racbenwaiul 
ein,  welche  den  Choanen  (rei^fnühemteht.  Er  entspringt  vom  Hammlu*  pLery^cidems 
(al»  Ptert/go-pkartf/if/euM^,  von  d^-m  hinteren  Ende  der  Line^  myUhhyoicUia  fal« 
Mylo-pharipigenjtj,  vom  SeiU'nrande  ^ft  Zunge  <^aU  Gl^xfmo-j^tarynpeu*.,  ond  roo 
einem,  zwischen  Ober-  und  ( rnterkiefer,  hinter  den  Mahlzähnen 
Streifen  der  FoMcia  hwxo-phanju/jfM  (aU  Httrret-pharyn/jtuMj.  —  Die  Wirinin|r 
Muskels  ist  nichts  wenif^f-r  aN  klar,  da  At^t  7A\  verschlingende  BisMiu  nie  ia 
Bereich  kommt,  indem  er,  den  w<fichen  i^Jaumen«  weg^n,  nicht 
gegen  die  Choamri  y;eirifhi'n  w^-rden  kann.  \V#;nn  er,  wie  man  anniminl,  «iüim>i 
des  H4'\\\'infir'M'U-p  di**  UUtUr*'  lUi-Jienwand  hervorwölben  »oll,  um  «e  dem 
Gaumen  nlh^-r  ym  Wm^vu  uui\  lUu  \t\»t\\\%mn  lieid^-r  z.o  erleichtern,  j^  frape 
wodurch  dt-T  I*"  f»-  \U*im  «««t^i lullt  wifdcM  »#,11,  wehher  sich,  hei  einem  M*lc^>eB 
Vorgang,  hinter  »Wr  iii^ku:u^m^\  Mld^n  wum?  >-  Der  »cliwache  ("V 
nuAiuM  koiJiiiit  tiM  /»>o  hun^Uiu  ys,f„  ^f,,„^„  „,^  kleinen  H^.me  de» 
beiiif,  »U  //#/«<./  nwi  t'hoHjhftifhtHif^Hfti».  fi^\ur  oWren  Kai»em  rtwben  » 
hii»t*jreii  IUa^h^i^  i^'U  ^^Ui;    ^u^    unteren   iiM-h  ahwirta,  wJÜiMiMi 


668  §.  258.  Speiseröhre. 

mittleren  horizontal  bleiben.  So  muss  es  denn  zu  einer  oberen  und  unteren 
Spitze  der  beiderseitigen  Muskeln  kommen.  Die  obere  Spitze  schiebt  sich  auf 
den  Constrictor  »uperior  hinauf,  die  untere  wird  von  der  gleich  anzuführenden 
Spitze  der  beiden  Consb*ictore»  inferiores  überdeckt.  —  Der  Constrictor  inferior 
entspringt  vorzugsweise  von  der  äusseren  Fläche  des  Schildknorpels  (Thyreo- 
phart/ngetiij,  und  von  der  Aussenfläche  des  Ringkoorpels  (Crico-pharyngeus).  Auch 
seine  Bündel  kommen  mit  den  entgegengesetzten  in  der  Raphe  zusammen.  Die 
oberen  von  ihnen  schieben  sich,  mit  einer  nach  oben  gerichteten  Spitze,  über  den 
ConstricUtr  mediua  hinauf. 

Der  Weg  des  Bissens  von  den  Lippen  bis  zum  Pharynx,  steht  imter  der 
Aufsicht  und  Obhut  des  freien  Willens.  Hat  aber  der  Bissen  den  Racheneingang 
passirt,  so  hält  ihn  nichts  mehr  auf,  und  er  wird  ohne  Zuthun  des  Willens  in 
den  Magen  geschafft.  Kitzeln  des  Rachens  mit  dem  Finger  oder  einer  Feder,  wohl 
auch  durch  ein  verlängertes  Zäpfchen,  erregt  kein  Erbrechen,  sondern  Schling- 
bewegung; —  Kitzeln  des  Zungengrundes  und  des  weichen  Gaumen?  dagegen 
keine  Schlingbewegung,  sondern  Erbrechen.  Beide  Formen  von  Bewegungen  sind 
somit  Reflexbewegfungen. 

Die  anatomische  Darstellung  des  Pharynx  rauss  von  rückwärts  und  nach 
folgenden  Regeln  vorgenommen  werden:  Man  löst  an  einem  Kopfe  die  Wirbel- 
säule aus  ihrer  Verbindung  Init  dem  Hinterhaupte,  und  entfernt  sie.  Dadurch 
wird  die  hintere  Rachenwand,  welche  an  die  vordere  Fläche  der  Wirbelsäule  durch 
sehr  laxes  Bindegewebe  befestigt  war,  frei.  Man  entfernt  nun  vorsichtig  die 
Reste  der  Faacia  bticco-pharyngeat  und  verfolgt  die  unter  ihr  liegenden  Faser- 
bündel der  Levatores  und  Constrictores  bis  zu  ihren  Ursprüngen,  wodurch  auch 
die  Seitengegenden  des  Pharynx  zur  Ansicht  kommen.  Führt  man  von  unten 
her  durch  die  Speiseröhre  einen  Scalpellgriff'  oder  eine  starke  Sonde  in  die 
Rachenhöhle  ein,  so  kann  man  damit  die  hintere  Rachenwand  aufheben,  und  man 
bekommt  eine  Idee  von  der  Ausdehnung  und  Form  dieses  häutig-muskulösen 
Sackes.  Nun  trennt  man  durch  einen  Längenschnitt  die  eben  präparirte  hintere 
Wand,  und  durch  einen  Querschnitt  ihre  obere  Anheftung  an  der  Schädelbasis, 
legt  die  beiden  dadurch  gebildeten  Lappen  wie  Flügelthüren  aus  einander,  und 
befestigt  sie  durch  Haken,  damit  sie  nicht  wieder  zufallen.  Man  übersieht  nun 
die  vordere  Rachenwand  von  hinten  her,  und  lernt  die  Lage  der  Oeffhungen 
kennen,  welche  in  die  Nasen-,  Mund-  und  Kehlkopfhöhle  führen.  Die  Choanen 
sind  vom  latknuu  faucium  durch  das  Palalum  moUe,  —  der  Isthmus  vom  Kehl- 
kopfeing^ng  durch  die  elastische  Knorpelplatte  des  Kehldeckels  getrennt  Seit- 
wärts und  oben,  sieht  man  hinter  den  Choanen,  die  Rachenmündungen  der 
Eostachi^schen  Trompeten. 


§.  258.  Speiseröhre. 

Der  Rachen  geht  vor  dem  sechsten  Halswirbel  in  die  Speise- 
röhre über,  Oesophagus  (wörtlich  Essenträger,  von  oici),  tragen, 
und  fa^eiv,  essen,  —  bei  Plinius  gtda,  qua  cibtts  atqae  potus  devo- 
rcUur),  Sie  verbindet  den  Rachen  mit  dem  Magen,  und  hat,  ausser 
der  mechanischen  Fortbewegung  des  Verschlungenen,  keine  andere 
Nebenbestimmung  zu  erlullen.  Sie  liegt  hinter  der  Luftröhre,  und 
etwas  links  von  ihr,  geht  durch  die  obere  Brustapertur  in  den  hin- 
teren Mittelfellraum^  kreuzt  sich  mit  der  hinteren  Fläche  des  linken 


S.  »58.  Spdt«r4)tf«.  669 

LuftröhronasteS;  und  legt  sich,  von  der  Theilungsstello  der  Luftröhre 
an,  an  die  rechte  Seite  der  Aorta,  verlässt  hierauf  die  \Virbi^l»UuK», 
kreuzt  sich  neuerdings  mit  der  vorderen  FlUcho  der  Aorta,  um  zum 
links  gelegenen  Foramen  oesophageum  des  Zworchfells  zu  gelangen, 
und  geht  durch  dieses  in  die  Cardia  des  Magens  über.  Sie  be- 
schreibt also,  kurz  gesagt,  eine  langgedehnte  Spirale  um  die  Aorta. 
Eng  an  ihrem  Ursprünge,  erweitert  sie  sich  hierauf  etwas,  und 
nimmt  vom  sechsten  Brustwirbel  angefangen,  an  Weite  wieder  ab. 
Lockeres  Bindegewebe  versieht  die  Speiseröhre  mit  einer 
äusseren  Umhüllungsmembran.  Die  darauf  folgende  Muskelhaut 
besteht  aus  einer  äusseren  longitudinalen  und  inneren  spiralen  oder 
Ringfaserschicht.  Die  Schleimhaut  lässt  im  zusammengezogenen 
Zustande  des  Oesophagus,  Längenfalten  erkennen,  welche  sieh  beim 
Durchgange  des  Bissens  glätten,  um  das  Lumen  des  Kohrs  zu  er- 
weitem. Ihr  Substrat  besteht  aus  Bindegewebs-  und  elaMtisehen 
Fasern,  mit  einer  äusseren  Auflage  von  longitudinalen  organiMchen 
(glatten)  Muskelfasern.  Diese  bilden  eine  mit  dem  Messer  dar- 
stellbare Schichte  der  Schleimhaut,  welche  sich  von  nun  an  durch 
die  ganze  Länge  des  Darmkanals  erhält.  Winzige  Papillen  fehlen 
auf  der  Speiseröhrenschleimhaut  nicht.  Ihre  Schleimdrüsen  gehören 
zu  den  kleineren  Formen,  und  stehen  solitär  oder  gruppirt.  Sie 
reichen  bis  in  das  submucöse  Bindegewebe,  und  die  grösseren  der- 
selben dringen  selbst  in  die  Maschen  der  Längen-  und  Querfanern 
der  Muskelhaut  ein.  Das  Epithel  der  .Speiseröhre  ist  ein  dickes 
geschichtetes  Pflasterepithel.  Bei  Embryonen  (achtzehn  bis  zwei- 
onddreissig  Wochenj  flimmert  da«  Epithel  der  Speis^rröhre  ^Neu- 
mannj. 

Dkr  Miuk«l£Meni  der  Bpeisert^hre  nnd  md  Halcüieilc  derMrlben  '|q^f*ftr<rift, 
MD  Brasttiieile  in  der  Mebrahl  gUtt.  Der  Ueber|^aii|^  der  <iiierye«tretfiteo  HtukmU 
CMeni  in  die  platten  erfolg  nicht  plOtzlieb.  Es  treten  rielmebr  «Mmrt  in  d«r 
Binfffctencfaicbt  g\MtU  Ma*kel£Mem  z«i*rben  den  qoergettreiften  aaf.  und  nätUm^m, 
it  -miiier  die  ü^njtetfßkn  gtgtra  den  lUf»  htnhkommU  de«to  nelür  Ma  Z*bl  m, 
otuMt  >edMii  die  qnerfeftiviften  giazlic^  la  Terditafeo.  —  Die  T</n  mir  twlf- 
dwiaesi  Mm^oaU  hrfmth^  und  /rf«/tM««>fiÄÄ9'fli  ZetSJcLfift  der  Wiener  A4rfste, 
l^»i4.  ftoir^a  xrar  gjjttt  Fa*em.  die  Lab^s  «äcÄ  feit  tkm  BefaMWtmtelrtMiy  Idhiif 
»Msder  ipetvAßn^  iMn  br^rmt^^fy-utmßfiiiMm^  «Äipc=nr  ▼--«  der  ciAiereft  mtcm- 
hruAtm  Wm.«  de«  lizJu^  Brocidn^  de-  /^Sw  i  ieiijyfc*ir»*  ▼«  '^  Uftkeü  W$m4 
de«  M^diMCdiitaM.  f$4vie  &r«isn2nixm  «et  RfaiTinp  ii«r  Läag^fommiuhk  4^  i^pteim- 

«äaeu.  kVyt?j«/A    v^^*j»^a-i*1«.    Falle   iafi*    ä«"  r  W;  i  *mmjipmm^€MM    iia0e  ^»rdk  ^*th 
ri^^ttyfmt,  Aw  ^hyii^t^J\r*  r*w%  miiMSL.  iaä*  icL  int  i-ewÖA.  —  Beön  D>iM^«f 


670  S«  '^*  Uebenicht  der  Lage  des  Verdanangskanals  in  der  Bauchh'^hle. 

Stelle  zusammen,  wo  eben  der  Bissen  sich  befindet,  imd  gleichzeitig  auch  die 
über  dieser  Stelle  befindlichen  Kreismuskeln.  Indem  diese  localen  Zusammon- 
ziehungen  von  Stelle  zu  Stelle  fortschreiten,  erzeugen  sie  eine  von  oben  nach 
unten  ablaufende  Contractionswelle,  welche  den  Bissen  in  den  Magen  schafft 

Als  höchst  seltenes  Vorkommen  verdient  eine  sackartige  Erweiterung  des 
Oesophagus,  dicht  über  dem  Foramen  oesophcigeum  des  Zwerchfells,  erwähnt  zu 
werden.  Sie  wurde  zuerst  von  Arnold  als  Anlntm  cai'diacuvi  beschrieben,  und 
soll  das  am  Menschen  als  Curiosum  rariasimwn  vorkommende  Wiederkäuen 
veranlassen. 


§.  259.  Uebersicht  der  Lage  des  Terdauungskanals  in  der 

Bauchliöhle. 

Der  Verdauungskanal  und  seine  drüsigen  Nebenorgane 
liegen  in  der  vereinigten  Bauch-  und  Beckenhöhle.  Sie  werden  von 
dem  Bauchfelle,  Peritoneum,  umschlossen,  welches  einerseits  als 
Peritoneum  parietale  die  innere  Oberfläche  der  Bauch-  und  Becken- 
wandungen auskleidet,  andererseits  viele  faltenfiirmige  Einstülpungen 
erzeugt,  um  die  einzelnen  Verdauungsorgane  mit  einem  mehr 
weniger  completen  Ueberzuge  zu  versehen.  Die  Summe  dieser 
faltenförmigen  Einstülpungen  des  Bauchfells,  wird  als  Pevitontum 
viscerale  bezeichnet. 

Der  Verdauungskanal,  Canalw  digestorius  s,  aJimentanns ,  be- 
steht aus  drei,  durch  Lage,  Gestalt  und  Structur,  verschiedenen 
Abschnitten.  Der  erste  und  voluminöseste  ist  der  Magen,  -  der 
zweite  das  dünne  (besser  enge)  üedärm,  und  der  dritte:  das 
dicke  (weite)  Oedärm.  Jeder  Abschnitt  wird  von  dem  nächst- 
folgenden durch  eine  Klappe  getrennt.  —  Das  dünne  und  dicke 
Q^därm  bilden  zusammen  den  Darmkanal  oder  Darm  schlauch, 
I\ibvs  8.  Canalis  intestinalis. 

Da  die  Bogensehnen  (ckordae),  so  wie  unsere  Darmsaiten,  an»  dem  Ge- 
därm der  Hausthiere  gedreht  wurden,  hiessen  die  Gedärme  hei  den  (jlrieclien 
auch  yop^ai.  So  wird  der  jetzt  noch  in  der  Mediein  gebräuchliche  Ausdruck 
CkordaptuM  für  Darmverschlingung  (Miserere)  verständlich,  und  da  das  Gedärm 
von  altersher  zum  Wurstmachen  verwendet  w^urde,  hiess  auch  die  Wurst  /opoijua. 
Die  Römer  nannten  in  der  gewöhnlichen  Verkehrssprache  den  Darmkanal,  beson- 
ders das  dünne  Gedärm,  auch  Ictctes,  wahrscheinlich  weil  er  durch  seine  weiss- 
Uche  Farbe  gegen  die  braune  Leber  und  Milz,  und  gegen  das  rothe  Mnskelfleisch 
stark  absticht.  Daher  lacteji  Icueae  für  Abweichen  bei  Plautus,  und  iactibug 
offninUt  canein  praejicere,  den  Hund  zum  Hraten  setzen. 

Der  Magen  liegt  in  der  oberen  Bauchgegend,  und  reicht  in 
beide  Rippenweichen  (Hypochondria) ;  jedoch  weniger  in  die  rechte, 
als  in  die  linke.  Er  setzt  sich  durch  seinen  Ausgang,  den  Pförtner 
(I^lorus),  iu  das  dünne  Gedärm,  Intestinum  tenae,  fort,  au  welchem 


§.  859.  Uebersicht  der  Lage  des  YerdAniuigskAnals  in  der  Banchhdhle.  671 

wieder   drei    Abschnitte   unterschieden   werden:   der  Zwölffinger- 
darm, Leerdarm,  und  Krummdarm. 

Der  Zwölffingerdarm,  Inteiftinum  duodenum,  bildet  dicht  vor 
der  Wirbelsäule  eine,  mit  der  Oonvexität  nach  rechts  gerichtete, 
hufeisenförmige  Krümmung.  Der  darauf  folgende  Leerdarm,  Inte- 
stinum jeju7mm,  geht  ohne  bestimmte  Grenze  in  den  Krummdarm, 
Intestinum  ileum,  über.  Beide  sind  in  zahlreiche  Windungen  gelegt, 
welche  Darmschlingen  (Ansäe  s.  Gyri  intestinales)  heissen,  und 
die  Regio  umhäicalis,  hypogastrica,  beide  Regiones  üiacaey  so  wie  die 
kleine  Beckenhöhle  einnehmen.  Die  Darmschlingen  variiren  in 
Grösse  und  Richtung  sehr  mannigfaltig.  Man  sieht  sie  von  einer 
Seite  zur  anderen,  auch  auf-  oder  abwärts  gerichtet,  niemals  jedoch 
so  gelegen,  dass  die  Concavität  ihrer  Krümmung  nach  der  Bauch- 
wand gerichtet  wäre.  Das  Ende  des  Intestinum  ileum  erhebt  sich 
aus  der  Beckenhöhle  zur  rechten  Darmbeingegend,  und  mündet  in 
den,  auf  der  Fascia  des  Muscuhis  üiacus  dexter  gelegenen  Anfang 
des  dicken  Gedärmes  ein. 

Das  dicke  Gedärm,  Intestinum  crassum,  zerföUt,  wie  das 
dünne,  in  drei  Stücke.  Das  erste  (der  Anfang  des  dicken  Gedärms) 
ist  der  Blinddarm,  Intestinum  coecum^  in  der  rechten  Darmbein- 
gegend. Von  hier  steigt  das  zweite  Stück,  der  Grimmdarm  (Inte- 
stinum  colon),  vor  der  rechten  Niere  in  das  rechte  Hypochondrium 
hinauf,  geht  dann  über  dem  Nabel  quer  in  das  linke  Hypochondrium 
hinüber,  und  von  dort,  vor  der  linken  Niere  abwärts  in  die  Becken- 
höhle, wo  es  sich  mittelst  der  S-förmigen  Ki-ümmung  (Curvatura 
sigmoidea),  welche  auf  dem  linken  Musculus  iliacus  internus  liegt,  in 
das  dritte  Stück  des  dicken  Gedärms,  in  den  Mastdarm  (Inte- 
stinum  rectum)  fortsetzt,  welcher  ganz  und  gar  der  kleinen  Becken- 
höhle angehört,  und  im  After,  anus^  ausmündet.  Das  dicke  Gedärm 
umkreist  somit  das  dünne.  Das  Wort  anus,  welches  auch  altes 
Weib  bedeutet,  erkläit  Spigelius,  a  rugis  anüihus,  von  den 
Runzeln,  welche  der  eingezogene  After  bildet.  Horaz  hat  für 
After:  podex,  mit  dem  Beiwort  turpis  (Epod,  8),  und  Catullus: 
cxdus  (woher  das  italienische  culo).  Das  deutsche  „After"  drückt, 
wie  das  englische  aft  und  after,  den  Begriff  hinten  und  nachher 
aus.  Das  griechische  TrpcoxTC^  (bei  Aristoteles)  lebt  in  der  Medicin 
als  Proctitis,  Afterentzündung,  fort. 

Das  rechte  Hypochondrium  wird  von  der  voluminösen  Leber 
mehr  als  ausgefüllt,  indem  sie  mehr  weniger  über  den  Rand  der 
Rippen  vorragt.  Das  linke  Hypochondrium  enthält  die  Milz.  Die 
Bauchspeicheldrüse  liegt  dicht  hinter  dem  Magen,  quer  vor  der 
Wirbelsäule,  von  dem  concaven  Rande  der  Zwölffingerdarmkrümmung 
bis  zur  Milz  sich  erstreckend. 


672  S*  S^'  ZamnmensetsttDg:  des  yerdaaang:skAnaIs. 

Die  Banchspeicheldrttse  und  der  Zwölffing^erdarm  werden,  ihrer  von  den 
übrigen  Abtheilungen  des  Verdauungskanals  verdeckten  Lage  wegen,  bei  der 
Eröffhnng  der  Baachhöhle  nicht  gesehen.  Alles  Uebrige  tritt  gleich  vor  die  Augen. 

Die  beste  Abbildung  der  Lage  der  Baucheingeweide  gab  Luschka:  lieber 
die  Lage  der  Bauchorgane.  Carlsruhe,  187H.  Folio  mit  5  Tafeln. 


§.  260.  Zusammensetzung  des  Verdauungskanals. 

Der  Verdauungskanal  besitzt  in  seiner  ganzen  Länge  eine  sich 
gleichbleibende  Anzahl  von  Schichten.  Diese  sind,  von  aussen  nach 
inaen  gezählt:  1.  der  Peritonealüberzug,  2.  die  Muskelhaut,  3.  das 
submucöse  Bindegewebe  (Zellhaut),  4.  die  Schleimhaut. 

Der  Peritonealüberzug  fehlt  am  unteren  Endstück  des 
Mastdarms  vollkommen,  und  ist  für  die  zwei  unteren  Drittel  des 
Zwölffingerdarms,  so  wie  für  den  aufsteigenden  und  absteigenden 
Grimmdarm,  kein  vollständiger,  indem  ein  grösserer  oder  kleinerer 
Bezirk  der  hinteren  Fläche  dieser  Darmstücke  vom  Bauchfell  un- 
überzogen bleibt. 

Die  Muskelhaut  besteht  durchwegs  aus  einer  äusseren  lon- 
gitudinalen,  und  inneren  Kreisfaserschicht.  Ihre  mikroskopischen 
Elemente  sind  glatte  (organische)  Muskelfasern,  welche  in  den  ver- 
schiedenen Abtheilungen  des  Darmkanals  immer  mit  denselben 
Eigenschaften,  als  sehr  lange  und  schmale,  einen  verlängerten  stab- 
fbrmigen  Kern  einschliessende  Faserzellen  erscheinen.  Eine  dünne 
Lage  Bindegewebe  heftet  die  Muskelhaut  an  den  Bauchfellüberzug 
des  betreflFenden  Darmstücks.  Dieses  Bindegewebe  heisst  sub peri- 
toneal, oder  subserös. 

Auf  die  Muskelhaut  folgt  die  Zellhaut  des  Darmes,  welche, 
ihres  Verhältnisses  zur  Schleimhaut  wegen,  auch  submucöses 
Bindegewebe  genannt  wird.  Die  Alten  nannten  die  Zellhaut,  ihrer 
weisslichen  Farbe  wegen,  Tunica  nervea.  Meissner  zeigte  vor  nicht 
langer  Zeit,  dass  diese  Benennung  auch  in  unserer  Zeit  nicht  ganz 
unberechtigt  ist,  da  die  Zellhaut  einen  überraschenden  Reichthum 
sympathischer  ganglienhältiger  Nervengeflechte  besitzt. 

Am  meisten  Verschiedenheiten  unterliegt  die  Schleimhaut, 
deren  Attribute  im  Magen,  Dünn-  und  Dickdarm,  andere  werden, 
wie  bei  den  betreflFenden  Orten  gleich  gezeigt  werden  soll.  Es  kann 
hier  nur  im  Allgemeinen  erwähnt  werden,  dass  sich  an  der  Schleim- 
haut des  gesammten  Darmkanals  eine  besondere  Schichte  organischer 
Muskelfasern  unterscheiden  lässt,  welche  Längen-  und  Querrichtung 
verfolgen,  und  zum  Unterschiede  der  früher  erwähnten  Muskelhaut 
des  Verdauungskanals  als  Muskelschicht  der  Schleimhaut  be- 
zeichnet werden.  In  allen  Abtheilungen  des  Verdauungsschlauches 
besteht  die  Schleimhaut  aus  einem  sehr  gelUssreichen  Bindegewebe, 


§.  861.  Magen.  673 

in  dessen  Lücken  die  als  Lymphkörperchen  bezeichneten  Zellen, 
in  variabler  Menge  angetroflfen  werden,  für  welchen  Zustand  der 
Schleimhaut,  His  zuerst  das  Wort  adenoid  gebrauchte.  Andere 
bedienen  sich  des  Ausdruckes  cytogene  Substanz  (von  xuto;  Zelle 
—  also  zellenbildcnd).  —  Ganglienreiche  Nervenplexus  wurden  in 
der  eigentlichen  Schleimhaut,  mehr  aber  im  submucösen  Binde- 
gewebe, von  Meissner,  und  zwischen  der  muskulösen  Längs-  und 
Ringfaserhaut  des  Darmkanals,  als  Plexus  myentericus  von  Auer- 
bach nachgewiesen.  Ob  diese  Plexus  Fasern  in  die  Schleimhaut 
entsenden,  und  wie  diese  Fasern  enden,  ist  unbekannt. 

Alle  Abtheilungen  des  Vcrdauungskanals  besitzen  Cylinder- 
epithel,  unter  welchem  stellenweise  noch  eine  structurlose  Schichte 
zu  erkennen  ist. 

Diese  kurze  Uebenicht  der  Lage  und  Zusammensetzung  des  Verdauungs- 
kanals musste,  um  Wiederholungen  zu  umgehen,  der  speciellen  Beschreibung  aUer 
Einzelheiten  vorausgeschickt  werden.  Die  detaillirte  Beschreibung  des  Verlaufs 
des  Bauchfelles,   bildet  in  §.  278  den  Schluss  der  Verdauungsorgane. 


§.  261.  Magen. 

Der  Magen  (Veiitriculus,  Stomachus,  Gaster)  ist  die  grösste, 
gleich  unter  dem  Zwerchfelle  liegende,  sack-  oder  retorten förmige 
Erweiterung  des  Verdauungskanals,  in  welcher  die  Nahrungsmittel 
am  längsten  verbleiben,  ihre  im  verschlungenen  Bissen  noch  er- 
kennbaren Eigenschaften  verlieren,  und  durch  die  Einwirkung  des 
Magensaftes,  in  einen  homogenen  Brei  umgewandelt  werden  — 
Speisebrei,  Chynms  (x'J|Ji.i;,  überhaupt  ein  Saft).  Die  Störung 
seiner  Verrichtung  ist  eine  fruchtbare,  und  so  lange  die  Menschheit 
nicht  lernt  im  Essen  und  Trinken  Maass  zu  halten,  eine  sehr  ge- 
wöhnliche Ursache  von  Erkrankungen.  Per  quae  mvimus  et  sani 
sumus, per  eadem  etiam  aegrotamus,  sagt  Hippocrates.  —  Ventrkvl'us, 
als  Diminutiv  von  venter,  drückt  eigentlich  nur  eine  kleine  Höhle 
aus,  wie  venter  eine  grosse.  Das  Wort  wird  somit  nicht  blos  auf 
den  Magen  angewendet,  als  kleine  Höhle  in  der  grossen  Bauch- 
höhle, sondern  auf  mehrere  andere  Höhlen,  wie  ventriculi  cordis, 
ventriculi  laryngis,  und  ventHcuU  cerehrL  —  ^TCfxaxo;  (von  cTcixa  Mund, 
und  x£(i),  giessen),  hiess  ursprünglich  die  Speiseröhre,  und  erst 
seit  Aristoteles  auch  der  Magen.  —  raan^p  ist  bei  Homer  bald 
Unterleib,  bald  Magen,  bald  Gebärmutter. 

Der  Magen  nimmt  die  Regio  epigastrica  ein,  und  erstreckt  sich 
in  beide  Hypochondria  hinein.  Er  grenzt  nach  oben  an  das  Zwerch- 
fell, nach  unten  an  das  Querstück  des  Grimmdarms,  nach  hinten 
an  das  Pankreas,  und  nach  links  an  die  Milz.  Seine  vordere  Fläche 

Iljrtl,  Lebibuch  der  Anatomie.  14.  Aufl.  43 


674  §.  S61.  Magen. 

wird  von  der  Leber  so  bedeckt,  dass  nur  der  gleich  zu  erwähnende 
Magengrund,  und  eine  ohngeßihr  einen  Zoll  breite  Zone  längs  des 
unteren  Randes  frei  bleiben.  —  Man  unterscheidet  an  ihm  den 
Eingang,  Cardia*),  und  den  Ausgang  oder  Pförtner,  Piflorua 
(wüXri-cupo^,  janitor,  Thor  Wächter).  Unterhalb  der  Cardia  und 
links  von  ihr,  buchtet  sich  der  Magen,  als  sogenannter  Grund, 
Fundus  ventriculi,  blindsackförmig  gegen  die  Milz  aus.  Vom  Fundus 
gegen  den  Pylorus  verengert  sich  der  Magenkörper  massig,  er- 
weitert sich  aber  vor  dem  Pylorus  gewöhnlich  noch  ein  wenig,  um 
das  sogenannte  Antrum  pt/laiicum  Wülisii  zu  bilden,  welches,  wenn 
es  gut  entwickelt  ist,  durch  eine  am  oberen  und  unteren  Magen- 
bogen bemerkbare  Einschnürung  vom  eigentlichen  Magenkörper  ab- 
gegrenzt wird.  Der  Pylorus  selbst  wird  äusserlich  als  eine  seichte 
Strictur  gesehen,  welche  den  Magen  vom  Anfange  des  Zwölffinger- 
darms trennt.  Er  fühlt  sich  etwas  härter  an,  als  der  eigentliche 
Magen.  —  Die  vordere  und  hintere  Fläche  des  Magens  gehen 
am  oberen  und  unteren  Bogen  in  einander  über.  Der  obere 
Bogen  ist  concav,  und  kleiner  als  der  untere,  convexe.  Man  be- 
zeichnet deshalb  allgemein  den  oberen  Magenbogen  als  Curvatura 
minor,  den  unteren  als  Cui^atura  major.  Die  vordere  und  hintere 
Fläche  werden  im  vollen  Zustande  des  Magens  zur  oberen  und 
unteren,  somit  die  Bogen  zum  vorderen  und  hinteren.  Die  Capacität 
des  Magens  variirt  nach  individuellen  Verhältnissen  zu  sehr,  um 
allgemein  ausgedrückt  werden  zu  können. 

Der  Peritonealüberzug  des  Magens  hängt  mit  denselben  Ueber- 
zügen  benachbai-ter  Organe,  durch  faltenartige  Verlängerungen  zu- 
sammen. Man  unterscheidet  ein  Ligamentum  phrenico  -  gastricum, 
zwischen  Zwerchfell  und  Cardia,  und  ein  Ligamentum  gastro-lienalef 
zwischen  Magen  und  Milz.  Von  der  Pforte  der  Leber  geht  das 
kleine  Netz,  Omentum  minus  s.  hepato-gastricum,  schief  zum  kleinen 
Magenbogen  hin.  Vom  grossen  Magenbogen  hängt  das  grosse  Netz, 
Ometitum  majus  s,  gastro-colicum  s.  Epiploon,  gegen  die  Beckenhöhle 
herab,  deckt,  wie  eine  Schürze,  das  Schlingenconvolut  des  dünnen 
Gedärmes,  schlägt  sich  dann  nach  rück-  und  aufwärts  um,  als 
wollte  es  zum  Magen  zurückkehren,  befestigt  sich  jedoch  schon  früher 


*)  xapöfo,  bei  Homer  xpa${rp  ist  eigentlich  Herz,  bedeutet  aber  auch  die 
unter  dem  Schwertknorpel  befindliche  Magengrube,  deren  schmerzhafte  Affec- 
tionen  deshalb  Cardialgia  imd  Cardiogmu»  benannt  wurden.  Galen  übertrug  das 
Wort  xapofa  auch  auf  den  Eingang  des  Magens,  welchen  man  bisher  nur  als  to 
9T0{iLa  Tou  Yaaipd;  bezeichnete.  Die  Lage  des  Mageneing^ngs  entspricht  nämlich 
der  Herzgrube.  So  werden  Heister's  Worte  verständlich:  o»  ventriculi  cor  eimm 
appellarU  (Oompend.  anoL  Edit.  2.  pag,  59),  —  Die  sonderbarste  Benennung  des 
Magens  fand  ich  in  Alexandri  Benedict i,  Änatotniee,  Venet,,  149S,  Lib.  IL 
cap.  10.  Um  die  Wichtigkeit  des  Magens  im  organischen  Haushalt  auf  recht  ver- 
ständliche Weise  sa  marklren,  nannte  er  ihn  PaUrfamüUu,  —  n*P**^  totum  antmeU 
»olu3  yubernai;  natn  n  aeyreMcat,  vUa  in  aficipiU  etV*. 


§.  268.  Struetnr  des  Magens.  675 

am  querliegenden  Grimradarrae,  wo  es  mit  dem  Bauchfellüberzuge 
dieses  Danustücks  verschmilzt.  Dieser  Anordnung  des  grossen  Netzes 
zufolge,  wird  jener  Theil  desselben,  welcher  zwischen  Magen  und 
Quergrimmdarm  liegt,  nur  zweiblättrig  sein  können,  während  der 
vom  Quergrimmdarm  bis  zum  unteren  freien  Rand  des  grossen 
Netzes  sich  erstreckende  grössere  Abschnitt  desselben  vierblättrig 
sein  muss. 

Das  Wort  Omentum  finden  wir  schon  bei  Celsus,  für  grosses  Netz:  omen- 
tum  urUverga  intestina  contegü.  —  Epiploon  ist  der  griechische  Ansdnick  fttr 
Omentum,  von  iizi  und  izXioi,  fliessen,  auch  schwanken,  weil  das  Netz  frei  beweg- 
lich über  den  Gedärmen  liegt.  Seinen  Fettreichthum  drückt  Aristoteles  durch 
::ijjieXa)8r,?  y iTtüv  aus,  von  jiijieX/j,  Fett.  —  Der  deutsche  Name  Netz  schreibt  sich 
daher,  dass  die  Fettablagerung  in  dieser  Bauchfellfalte,  dem  Laufe  der  Blut- 
gefässe folgt,  und  da  nun  diese  Oefasse  weitmaschige  Netze  bilden,  muss  auch 
die  Fettablagerung  in  Netzform  auftreten,  welche  bei  gemästeten  Thieren  sehr 
zierlich  und  regelmässig  erscheint,  insbesondere  bei  Schafen  und  Kälbern. 

Nur  das  Lujamentum  phrenico-gaatricum  verdient  den  Namen  eines  Haltbandes 
des  Magens.  Die  übrigen,  hier  erwähnten  BauchfcUfalten,  kommen  von  so  be- 
weglichen Eingeweiden  her,  dass  sie  den  Magen  unmöglich  fixiren  können,  und 
er  somit  seine  Richtung  im  vollen  Zustande  ohne  Anstand  ändern  kann.  —  lieber 
die  verschiedenen  Formen  des  AiUvum  pt/Ioricvm  bei  Menschen  und  Säugethieren 
handelt  lieizhu,  in  MiUlei'a  Archiv,  1857. 


§.  262.  Structur  des  Magens. 

Ein  Organ,  dessen  sorgföltigste  Pflege  einziger  Lebenszweck 
so  vieler  Menschen  ist,  verdient  eine  eingehende  anatomische  Unter- 
suchung. 

1.  Der  Bauchfellüberzug  des  Magens  stammt  von  den  beiden 
Blättern  des  kleinen  Netzes.  Dieses  kommt  von  der  Pforte  der 
Leber  her,  und  tritt  an  den  oberen  Bogen  des  Magens,  wo  seine 
beiden  Blätter  auseinander  weichen,  um  die  vordere  und  hintere 
Fläche  des  Magens  zu  überziehen,  und  am  unteren  Magenbogen 
wieder  zusammenkommen,  um  in  das  grosse  Netz  überzugehen. 
An  beiden  Bogen  des  Magens  bleibt  nur  so  viel  Raum  zwischen 
den  Blättern  der  Netze  übrig,  als  die  hier  verlaufenden  Blutgefiisse 
erfordern. 

2.  Di(3  Muskelschichte  des  Magens  erscheint  complicirter  als 
jene  des  GedäruK»»,  indem  zu  den  Längen-  und  Kreisfasern,  noch 
schiefe  Fasern  hinzukommen.  Die  Längenfasorn  mögen  wohl  als 
Fortsetzungen  der  Längenfawjrn  des  Oesophagus  angesehen  werden. 
Sie  liegen  am  kleinen  Magenbogen  dichter  zusammen,  als  am  grossen, 
und  bilden  übcirdies  an  der  vordortsn  und  hint(?ren  Wand  des  Antrum 
pyloricum  je  ein  breites,  zuweil(3n  sehr  scharf  markirtes  Bündel 
(Liyanienta  pfjlori).  Die  nach  einwärtH  auf  die  Längenfasern  folgenden 

48* 


676  §.  MS.  Structnr  des  Magens. 

Kreisfasern,  kreuzen  sich  mit  ersteren  unter  rechten  Winkeln. 
Sie  gehen  ringförmig  um  den  Grund,  den  Körper  und  den  Pylorus 
des  Magens  herum,  stehen  also  senkrecht  auf  der  Längen richtung 
des  Magens.  Das  Bündel  Kreisfasern,  welches  den  Pylorus  um- 
greift, bildet  einen  kleineren  Kreis  als  alle  übrigen,  und  treibt  somit 
eine  faltenartige  Erhebung  der  Schleimhaut  gegen  die  Axe  des 
Pylorus  vor,  wodurch  die  Pförtnerklappe,  VcUmda  pylori ,  ge- 
geben ist. 

ValmUa  kommt  von  Valva,  und  wird  richtig  Valvola  geschrieben.  Die 
Römer  gebrauchten  den  Singnlar  selten,  wohl  aber  Valvae  und  Valvolae,  ersteres 
alfl  Thürflügel,  letzteres  als  Schoten  einer  Hülsenfrucht,  welche  wie  zwei  Klappen 
aufspringen. 

Die  OeflFnung  der  Pförtnerklappe  steht  nicht  immer  in  der 
Mitte  des  Klappenringes,  sondern  nähert  sich  der  Darmwand,  oder 
rückt  gänzlich  an  sie  an,  wodurch  der  Klappenring  C-förmig  wird. 
Das  Bündel  von  Kreismuskelfasern  in  der  Pylorusklappe,  wirkt  als 
Sphincter,  und  verschliesst  während  der  Verdauung  den  Magen - 
ausgang  vollkommen.  An  der  Cardia  findet  sich  kein  besonderer 
Sphincter.  Dagegen  treten  an  derselben  zwei  schiefe  Faserzüge 
auf,  welche  rechts  und  links  von  der  Cardia  zwei  Schleifen  bilden, 
die  von  einer  Fläche  des  Magens  auf  die  andere  so  übergreifen, 
dass  die  an  der  vorderen  und  hinteren  Magenfläche  befindlichen 
Schleifenschenkel,  sich  daselbst  schief  überkreuzen. 

3.  Die  Schleimhaut  wird  durch  ihr  submucöses  Bindegewebe 
so  lose  an  die  Muskelschichte  gebunden,  dass  sie  sich  im  leeren 
und  zusammengezogenen  Zustande  des  Magens  faltenartig  erheben, 
und  Vorsprünge  erzeugen  kann,  welche,  obwohl  vorzugsweise  der 
Längsrichtung  des  Magens  folgend,  doch  auch  durch  quere  Ver- 
bindungsfalten eine  Art  groben  Netzwerks  darstellen.  Ueberdies 
zeigt  die  Magenschleimhaut  unter  der  I^oupe  noch  eine  Unzahl 
kleiner  grubiger  Vertiefungen,  von  runder  oder  polygonaler  Form. 
Jene,  welche  in  der  Nähe  des  Pylorus  liegen,  werden  durch  niedrige, 
am  freien  Rande  gekerbte  Schleimhautleistchen  (die  Plicae  villosae 
einiger  Autoren)  von  einander  abgemarkt.  Am  Grunde  der  Grüb- 
chen, münden  die  das  wirksame  Agens  der  Verdauung  absondern- 
den Pepsin-  oder  Labdrüsen  aus,  so  dass  auf  ein  Grübchen  vier 
bis  sechs  Drüsenmündungen  kommen.  Diese  Drüsen  stehen  übrigens 
Mann  an  Mann  gedrängt,  und  bilden  dadurch  ein  continuirliches 
Drüsenstratum  des  Magens.  Ihre  Menge  ist  so  bedeutend,  dass  auf 
einer  Quadratlinie  Magenoberfläche  drei-  bis  vierhundert  derselben 
münden,  und  die  Gesammtzahl  derselben  von  Sappey  auf  fünf 
Millionen  angeschlagen  wird.  Dieses  ungeheuren  Ueichthums  an 
Drüsen  wegen,  wird  von  dem  eigentlichen  Gewebe  der  Schleimhaut 
des    Magens    nur     sehr    wenig    erübrigen;    —    dasselbe   geht    fast 


{.  86S.  Stroctur  des  Magens.  677 

gänzlich  in  diesem  Drüsenstratum  auf.  Es  wurde  deshalb  die 
Magenschleimhaut  auch  eine  in  die  Fläche  ausgebreitete  Drüse 
genannt. 

Die  Pepsindrüsen  (ii£jfn>>y  verdauen)  gehören  der  Familie /'^•^^"/^ 
der  einfachen  tubulösen  Drüsen  an.  Ihre  Länge  gleicht  so  ziemlich /7/7^<i/Vt/ 
der  Dicke  der  Magenschleimhaut.  Ihre  Weite  wechselt  zwischen  /(?i^v/^(J 
0,01  Linie  und  0,03  Linien.  Ihr  Grund  ragt  in  die  organische 
Muskelschichte  der  Schleimhaut  hinein,  so  dass  er  allenthalben  von 
den  Muskelfasern  umgeben  wird,  welche  denn  auch  durch  ihre 
Zusammenziehung  auf  die  Entleerung  des  Inhaltes  der  Drüsen  Ein- 
fluss  nehmen  werden.  Die  Richtung  der  Pepsindrüsen  steht  senk- 
recht auf  der  freien  Fläche  der  Magenschleimhaut.  Der  aus 
structurloser  Wand  bestehende  Schlauch  einer  Pepsindrüse,  bleibt 
in  der  Regel  einfach  und  ungespalten.  Er  kann  sich  aber,  gegen 
sein  blindes  Ende  zu,  in  zwei  oder  drei,  parallel  neben  einander 
liegende  Zweige  spalten.  Und  so  mag  man  denn,  wenn  es  beliebt, 
einfache  und  zusammengesetzte  Formen  zugeben.  —  Das 
Cylinderepithel  der  Magenschleimhaut  setzt  sich  von  dem  geschich- 
teten Pflasterepithel  des  Oesophagus,  durch  eine  scharf  gezeichnete 
zackige  Grenzlinie  ab.  Es  dringt  in  alle  Pepsindrüsen  eine  Strecke 
weit  ein,  und  vindicirt  sich  ohngefahr  ein  Drittel  oder  Viertel  ihrer 
Länge.  Von  der  Stelle  an,  wo  das  Cylinderepithel  der  Pepsin- 
drüsen aufhört,  enthält  der  Schlauch  der  Drüse  zweierlei  Zellen- 
formationen. Die  eine  ähnelt  noch  den  Cylinderzellen  des  Epithels 
im  Halse  der  Drüse,  und  lagert  gegen  die  Axe  des  Drüsenschlauches 
hin.  Die  andere  aber  hält  sich  an  die  Wand  des  Drüsenschlauches, 
und  besteht  aus  verhältnissmässig  grossen,  rundlichen  Zellen,  mit 
körnigem  Inhalt.  Man  hält  sie  für  die  eigentlichen  Bereitungszellen 
des  Pepsins,  und  nennt  sie  Labzellen,  da  man  sie  in  den  Drüsen 
des  Labmagens  der  Wiederkäuer  zuerst  beobachtete.  Man  hat  diese 
zweite  Zellenformation  mit  dem  Namen  delomorph  belegt,  die 
erste  aber  adelomorph  genannt;  zwei  unglücklich  gewählte  Namen, 
da  nicht  die  Form  ({xop^T^),  sondern  der  Inhalt  der  Zellen  deutlich 
oder  undeutlich  ist.  Diese  beiden  Zellengattungen  füllen  den  Schlauch 
einer  Pepsindrüse  nicht  vollkommen  aus,  sondern  lassen  eine  feinste 
Lichtung  (von  0,002  Linien)  frei.  Nur  das  blinde  Ende  der  Pepsin- 
drüsen wird  von  diesen  Zellen  vollkommen  erfüllt.  Zwischen  den 
Labzellen  f Indien  sich  in  den  Pepsindrüsen  auch  Kerne,  und  eine 
klare  Flüssigkeit  (Labsaft),  welche  während  der  Verdauung  in 
reichlichem  MiiaHse  abgesondert  wird,  den  geformten  Inhalt  der 
Drüsen  mecdmniMch  herausschwemmt,  und  sich  mit  ihm  mischt. 
Das  endliche  Schicksal  der  Labzellen  besteht  im  Bersten  derselben, 
entweder  während  der  Entleerung  der  Drüsen,  oder  nach  derselben. 
Dadurch  wird  ihr  flüssiger  Inhalt  frei,  mischt  sich  mit  dem  Lab  safte, 


678  §•  268.  Danndarm. 

und  bildet  mit  ihm  den  sopjenanntcn  Magensaft  (Succus  gaatricus), 
Filtrirter  Magensaft  aber,  welcher  keine  Labzellen  und  keine  Reste 
derselben  mehr  enthält,  verdaut  so  gut  wie  unfiltrirter.  —  Die  mit 
den  Labzellen  zugleich  entleerten  Epithelialzellen  der  PepsindrUsen, 
gehen  wahrscheinlich  unverwendet  zu  Grunde. 

Ausser  den  PepsindHisen  besitzt  die  Magenschleimhaut  noch  Schleimdrüsen 
an  der  Cardia  und  am  Pylonis.  An  letzterem  Orte  zeichnen  sie  sich  durch  die 
langfirestrockte  Form  ihrer  Schläuche  aus.  —  Man  stösst  auch,  jedoch  niclit  con- 
stant^  hie  und  da  auf  vereinzelte  geschlossene  Follikel,  welche  Glandulae 
lenticularea  genannt  werden,  obwohl  sie  keine  Glandulae  sind.  8ie  stimmen  mit 
den  Follikeln  dos  Darmkanals  vollkommen  überein.  Deshalb  fülire  ich  sie  liier 
blos  namentlich  an. 

Die  BlutgefKsse  der  Magenschleimhaut  zeigen  ein  interessantes  Verhalten 
zu  den  Pepsindrüsen.  Schon  im  8ubmucr>sen  Bindegewebe  zerfallen  die  Arterien 
in  feinste  Zweige,  welche  zwischen  den  Schläuchen  der  Pepsindrüsen  senkrecht 
aufsteigen,  sie  mit  Capillanietzen  umspinnen,  und  zuletzt  in  relativ  weite  Venen 
übergehen,  welche  die  Grübchen  der  Magenschleimhaut  (in  welche  die  Gnippen 
der  Pepsindrüsen  ausmünden)  mit  weiten  Maschen  umzäunen.  Aus  diesen  Masehen 
gehen  noch  stärkere  Venen  hervor,  welche  zwischen  den  Drüsenschläiichen,  ohne 
von  ihnen  noch  weiter  Blut  aufzunehmen,  geradlinig  herabsteigen,  um  in  grössere 
Veneimetxe  des  submucösen  Bindegewebes  einzum(Uiden. 

Die  PepsindrUsen  entleeren  ihren  Inhalt  nur  während  der  Verdauung.  Dass 
die  Anhäufimg  ihn.'s  Inhaltes,  während  des  Nüchternseins,  das  Gefühl  des  llim^ers 
veranlasse,  ist  eine  ganz  willkürliche  Annahme.  Wäre  dieses  der  Fall,  so  müsste 
man  in  der  Früh*,  wo  der  Magen  am  längsten  leer  war,  den  grösston  Hunger 
halH*n.  —  Streift  man  die  innere  Fläche  eines  frischen  Thiermagens  mit  dem 
Messer  ah,  um  da«  Secret  der  Magendrilschen  zu  erhalten,  und  verdümit  man 
dieses  mit  angesäuertem  Wasser  ^Salzsäure),  so  hat  man  sich  künstlichen  Magen- 
saft bereitet,  der  zu  Verdauungsversuchen  extra  ceutncnlinn  venvendet  werden 
kann,  und  in  neuester  Zeit  auch  als  Heilmittel  Anwendung  fand. 

Die  Bewegung  dos  M:»gens,  }[of»ji  j><twM//iVmj»,  welche  durcli  die  abwech- 
selnde Zusamnien/.iehung  seiner  Längen-  und  Kreisfasern  bewerksteüipt  wird,  und 
von  der  Cardia  gegen  den  Pylorus  ^^-urmfÖrmig  fortschreitet,  wirkt  darauf  hin, 
nach  und  nach  jedes  Theilchen  des  Mageninhaltes  mit  der  Schleimhaut  und  ihrem 
Drüsensecret  in  Berührung  zu  bringen,  und,  w^as  bereits  chymiücirt  wurde,  in  das 
Duovlenum  abzustreifen.  Stärkeri-r  Kraftäusserungen  ist  der  menschliche  Magen 
nicht  fähig.  Er  vennag  es  z.  B.  nicht,  weichgekochte  Linsen  zu  zerdriicken, 
welche  unversehrt  mit  dem  Koth  abgehen.  Die  Kraft,  mit  welcher  btim  Er- 
brci'hen  die  Magencontenta  ausgeworfen  werden,  hängt  nicht  von  der  Mnskflhaui 
de»  Magtms,  sondern  hauptsächlich  von  der  Wirkung  der  Bauchpresse  ab.  MtTk- 
würdigt»r  Wci.«k»  schreibt  Celsns  allen  Gelehrten  einen  schifchten  Magen  zu: 
imftfrilUj*  sitotiMt'hi\  *iti*u(A  f.uijriuui  jMrj*  liiern/ormii.  <>.-i;i<"j».y*/^  /•>■<■  rujiidi  liitrar'i.i 
.•h.*:.     Die  Zeiten  und  die  Mägen  haben  sich  sehr  geändert. 


§.  263.  SünndaniL 

rober  die   drei   Abtheilungen   des   Dünndarms    ist   Folgendes 
zu  merken: 


§.8«3.  Danndarm.  679 

1.  Der  Zwölffingerdarm  (Intestinum  duodenum)  besteht  aus 
drei,  mittelst  abgerundeter  Winkel  in  einander  übergehenden  Stücken, 
welche  zusammen  eine  mehr  als  halbkreisförmige  Krümmung  (Huf- 
eisen) um  den  Kopf  des  Pankreas  bilden.  Das  obere  Querstück 
geht  vom  Pylorus  über  den  rechten  Lumbaltheil  des  Zwerchfells 
quer  nach  rechts,  beugt  in  das  rechts  von  der  Wirbelsäule  liegende 
absteigende  Stück  um,  welches  in  das  untere  Querstück 
übergeht,  dessen  nach  links  und  oben  gehende  Richtung,  die  Aorta 
und  Vena  cava  ascendens  kreuzt.  Das  obere  Querstück  besitzt  einen 
fast  vollkommenen  Peritonealüberzug ;  —  das  absteigende  Stück 
nur  an  seiner  vorderen  Fläche;  —  das  untere  Querstück  liegt 
zwischen  beiden  Blättern  des  queren  Grimmdarmgekröses  ein- 
geschlossen. —  Die  Länge  des  Zwölffingerdarms  misst  zwölf  Daumen- 
breiten, woher  sein,  von  Herophilus  zuerst  gebrauchter  Name 
stammt:  Sü>Sexa§axTuXov. 

Treitz  entdeckte  einen  constanten,  dem  Zwölffingerdarm  eigenen  Muskel, 
welchen  er  Musculus  suspensoriu»  duodeni  nannte.  £r  geht  aus  dem  dichten 
Bindegewebe  hervor,  welches  die  Ursprünge  der  Arieria  coeliaca  imd  mesenterica 
superior  uragiebt,  und  verliert  sich  in  dem  longitudinalen  Muskelstratum  des 
Zwölffingerdarms  in  der  Gegend  der  unteren  Krümmung  (Prager  Vierteljalirsschrift, 
18Ö3).     Der  Muskel  wurde  aller  Orten  bestätigt 

2.  und  3,  Der  Leer-  und  Krummdarm  (Intestinum  jejunum 
et  ileum)  bilden  zusammen  ein  circa  fünfzehn  Fuss  langes^  gleich- 
weites Rohr,  welches,  um  in  der  Bauch-  und  Beckenhöhle  Platz  zu 
finden,  sich  in  viele  Schlingen  legen  muss.  Bei  der  Abwesenheit 
einer  scharfen  Grenze  zwischen  Jejunum  und  Ileum,  rechnet  man 
Zweifünftel  der  öesammtlänge  beider  auf  das  Jejunum,  Dreifünftel 
auf  das  Ileum.  —  Das  Schlingenconvolut  des  vereinigten  Leer-  und 
Krummdarms  nimmt  die  mittlere,  die  untere,  und  die  seitlichen 
Gegenden  der  Bauchhöhle  ein,  und  lässt  bei  leerer  Harnblase  seine 
untersten  Schlingen  bis  in  die  kleine  Beckenhöhle  herabhängen. 

Die  Peritoneal-  und  doppelt  geschichtete  Muskelhaut  des 
dünnen  Darmes  zeigen  nichts  Besonderes.  Die  Schleimhaut  besteht 
aus  einer  zunächst  unter  dem  Cylinderepithel  gelegenen,  äusserst 
dünnen,  structurlosen  Membran  (basement  membrane  der  englischen 
Anatomen),  und  unter  dieser  aus  einem  Stratum  feinsten,  ver- 
netzten Bindegewebes,  als  eigentliche  Schleimhaut,  mit  Kernen 
an  den  Knotenpunkten  des  Netzes,  und  allenthalben  in  seinen 
Maschen  zahlreiche  Lymphkörperchen  enthaltend.  An  dieses  Stratum 
schliesst  sich  die  organische  Muskelschicht  der  Schleimhaut  an, 
worauf  das  submucöse  Bindegewebe  folgt. 

Leer-  und  Krummdarm  werden  durch  eine  grosse  Bauchfell- 
falte —  das  Dünndarmgekröse  (Mesenterivm)  — an  der  Wirbel- 
säule   aufgehangen.      Der    altdeutsche    Name    des    Darmes:    das 


680  S*  SM*  Sp«eielle  Betrechtang  der  Dfinndarmschleimhaat. 

Gehenck,  erklärt  sich  hieraus.  Der  Beginn  dieser  FaUe  (Radix 
mesenterü)  haftet  an  der  Lendenwirbelsäule.  Die  Wurzel  der  Falte  lauft 
schief  vom  zweiten  Lendenwirbel  zur  rechten  St/mphi/sis  sacro-üiaca 
herab.  Im  Laufe  gegen  den  Dünndarm  wird  die  Falte  immer  breiter, 
so  dass  sie  einem  Dreiecke  gleicht,  dessen  abgeschnittene  Spitze  der 
Wirbelsäule,  dessen  breite  Basis  dem  Dünndarm  entspricht.  Da  der 
Dünndarm  viele  Schlingen  bildet,  so  muss  sich  das  Mesenterium 
wie  ein  Jabot  (Halskrause)  in  Falten  legen,  und  erhielt  deshalb  den 
Namen  des  Gekröses  (Gekrause).  Je  weiter  die  Dünndarm- 
schlingen von  der  Wirbelsäule  entfernt  liegen,  desto  länger  muss 
der  ihm  zugehörige  Antheil  des  Mesenterium  werden,  und  desto 
freier  geberdet  sich  die  Beweglichkeit  des  Darmes. 

Mesenterium  ist  das  (jLEVEvriptov  des  Aristoteles,  quasi  medium  inter  iiUe- 
tUna  nitch  Spigelins.  Cicero  (de  ntU,  deor.  Lib.  3)  hat  ebenfalls:  medium 
intestinum,  für  Mesenterium.  Man  findet  bei  den  Alten  anch  usvapatov,  welches 
Wort  in  Arieria  und  Vena  mesaraica  (statt  mesenterica)  jetzt  nocli  erhalten  ist. 
Mcvapaiov  kann  sich  aber  nur  auf  das  Gekröse  der  dünnen  Gedärme  beziehen,  da 
apaio;  dünn  bedeutet  Für  das  Dickdarmgekröse  galt  dann  (jlevoxcdXcv,  nach  Galen. 
Wenn  man  die  Gesammtheit  der  Dfinndarmschlingen  mit  den  Ulinden  zu- 
sammenfasst  und  aufhebt,  kann  man  das  Mesenterium  ¥rie  einen  Fächer  oder 
Wedel  hin  imd  her  bewegen.  Es  verstellt  sich  daraus,  das»  der  Dünndarm  mit 
jeder  Aenderung  der  Körperlage  auch  seine  eigene  Lage  ändern  muss.  Die  grösste 
Entfernung  von  der  Wirbelsäule,  imd  somit  die  grösste  Volubilität,  )iat  die  letzte, 
in  das  kleine  Hecken  herabhängende  Schlinge  des  Dünndarmn.  Diese  Darm- 
schlinge wird  deshalb  auch  am  häufigsten  den  Inhalt  eines  Schenkel-  oder  Leisten- 
bruches bilden. 


§.  2G4.  Specielle  Betrachtung  der  Dünndarmschleimhaut. 

Die  Sehleimhaut  des  dünnen  Gedärmes  verdient  eine  ausführ- 
liche Betrachtung.  Ihre  Attribute,  als  Falten,  Zotten,  und  Drüsen, 
sollen  deshalb  einzeln  zur  Sprache  kommen. 

/.   Falten. 

Sie  finden  sich  1.  als  Querfalten,  Valvidae  connireyUes  Ker- 
kringUj  vom  absteigenden  Stücke  des  Zwölffingerdarms  angefangen, 
bis  zum  Blinddarme  hin.  Im  Zwölffingerdärme  stehen  sie  dichter 
an  einander  als  im  Jejunum  und  lleum,  so  dass  bei  der  hängenden 
Lage  derselben,  der  Rand  einer  oberen  Falte  die  Basis  der  nächst 
unteren  deckt,  und  alle  Falten  somit  dachziegelfiirraig  übereinander 
reichen.  Je  weiter  vom  Zwölffingerdarme  entfernt,  desto  niedriger 
werden  die  Falten  und  rücken  zugleich  weiter  auseinander,  so  dass 
sie  sich  im  Krummdarme  nicht  mehr  imbruxUim  decken.  Sie  um- 
kreisen nie  ringförmig  die  ganze  Peripherie  des  Darmrohrs,  sondern 


$.  S64.  Specielle  Beirechtnng  der  Dfinndarmschleimhant.  681 

höchstens  drei  Viertheile  derselben.  Als  reine  Sehleirahautdupli- 
caturen  schliessen  sie  keine  Antheile  der  Muskelhaut  des  Darmes 
in  sich  ein.  Sie  waren,  lange  vor  Theod.  Kerkring,  schon  dem 
Fallopia  und  Vidus  Vidius  bekannt.  —  2.  Eine  Längenfalte, 
eigentlich  ein  kurzer  Längenwulst,  findet  sich  nahe  am  inneren 
Rande  der  hinteren  Wand  des  absteigenden  Stücks  des  Zwölffinger- 
darmes. Sie  kommt  dadurch  zu  Stande,  dass  der  gemeinschaftliche 
Gallengang,  bevor  er  in  dieses  Darmstück  einmündet,  eine  Strecke 
weit  zwischen  Muskel-  und  Schleimhaut  nach  abwärts  läuft,  und 
dadurch  die  letztere  zu  einein  merklichen  Walst  aufwölbt.  Am 
unteren  Ende  dieses  Wulstes  mündet  der  gemeinschaftliche  Gallen- 
gang, und  der  Ausfuhrungsgang  der  Bauchspeicheldrüse  mit  einer 
gemeinschaftlichen  OefFnung  aus.  3.  An  der  Uebergangsstelle  des 
Ileum  in  den  Dickdarm  bildet  die  Schleimhaut  eine  doppellippige 
Klappe,  die  Blinddarmklappe  (Valvula  ileo-coecalis,  auch  Valmda 
Bavhini  8.  Tidpii,  8,  coli*),  welche,  wie  das  Kotherbrechen  beweist, 
den  Rücktritt  der  Fäcalmassen  aus  dem  Dickdarm  in  den  Dünn- 
darm nicht  zu  hindern  vermag.  Sie  enthält  Muskelfasern,  deren 
Richtung  jener  des  freien  Randes  der  beiden  Klappenlippen  ent- 
spricht. Die  Klappe  wird  gewöhnlich  als  Einschiebung  (Invagina- 
tion)  der  Schleimhaut,  Zellhaut,  und  der  Kreismuskelschichte  des 
Dünndarmes  in  die  Höhle  des  Dickdarmes  betrachtet.  Die  Längen- 
muskelschichte  und  der  Bauchfellüberzug  gehen  schlicht  und  un- 
gefaltet über  die  Einfaltungsstelle  der  drei  genannten  Häute  weg, 
so  dass,  wenn  man  einen  Kreisschnitt  um  die  Uebergangsstelle  des 
Dünndarms  in  den  dicken  herumführt,  und  am  Krummdarm  zieht, 
man  die  Klappe  fast  ganz  verschwinden  machen  kann. 

Da  der  Ductiis  choledocluis  und  pancreaticus  durch  ihre  Vereinigung  einen 
sehr  kurzen  gemeinschaftlichen  Gang  bilden,  welcher  weiter  als  jeder  Gang  für 
sich  ist,  hat  Abr.  Vater,  Professor  zu  Wittenberg,  daraus  sein  Diverticulum  ge- 
bildet (De  7U>vo  büia  divertiado,  WiUeh,  1720),  welches  als  Diverticulum  Vateri 
in  allen  Anatomien  fortlebt.  Bei  der  Katze  und  bei  Elepkaa  ist  dieses  Divertikel 
wirklich  ansehnlich.  Sehr  unpassend  wird  auch  eine  kleine  Schleimhautfalte,  über 
der  Ausmündung  der  vereinigten  Gänge,  Diverticulum  Vateri  genannt.  (Rosen- 
müller.) 

An  aufgeblasenen  und  getrockneten  Präparaten  der  Uebergangsstelle  des 
Dünndarms  in  den  Dickdarm,  zeigt  es  sich,  dass  die  zwei  Lippen  der  Blinddarm- 
klappe fast  transversal  liegen,  etwas  gegeneinander  convergiren,  und  dadurch 
einen  querliegenden,  trichterförmigen  Raum  bilden,  dessen  Basis  dem  Ileum,  und 
dessen  lanzetttormige  Oeffnung  dem  Blinddarm  zugewendet  ist  Man  sieht  aber 
auch  zugleich,  das»  die  untere  Lippe  der  Klappe,  durch  die  schief  von  unten 
nach   oben   und   aussen   erfolgende    Insertion   des  Ileum  in  das  Coecum  bedungen 

*)  Da    das     Colon,    als    ein    griechisches    Wort    (xwXov)    im    Genitiv    colonis  .^^'vA^   ^^ 
haben    muss,    soll    überall,    statt   coli,  richtiger    eelonU.  geschrieben  werden.     Es  ist        A^Jfl 
Unart,    coli  zu   sagen.     Bin   auch    nicht   frei  von    ihr,    denn  video  meliora  proboque,       'ij/ ' 
deteriora  «equor,  wie  es  mit  allen  schlechten  Benennangen  in  der  Anatomie  der  Fall^     v%x.o^ 
ist,  und  noch  lange,  wahncheinlioh  für  immeri  dtf  ^  "       *  -*-^  *\fVj%^ 


682  §.  264.  Speoielle  Betrachiuug  der  DünDdarmtohleimhant. 

wird,  —  die  obere  Lippe  dagegen  in  der  That  nur  die  erste  Plica  si^moidea  de» 
Colon  ascendens  darstellt  (§.  268).  Würde  das  Ileum  sich  nicht  in  schiefer,  sondern 
in  querer  Richtung  in  das  Coecum  einpflanzen,  so  würde  sicher  auch  die  untere 
Lippe  der  Klappe  fehlen,  die  obere  aber  fortbestehen. 

Caspar  Banhinus,  Professor  in  Basel,  schreibt  sich  die  Entdeckung 
dieser  Klappe  zu,  1579,  im  Theatrum  anat.  lib,  L  cap,  17.  VidusVidius  und 
Const.  Varolins  aber  kannten  sie  schon,  und  noch  früher  G.  Fallopia, 
welcher  sie  mit  den  Worten  beschreibt:  pUccbe  duae,  ad  tTiserUonem  ilei,  quae  in 
inßeUione  et  repletwne  comprimuntur,  et  regressum  prohibent  (in  der  als  Handschrift 
aufgefundenen  Anatomia  Simiae,  vom  Jahre  1553).  —  Die  Holländer  nennen  die 
Klappe  Valmda  Tulpü,  zu  Ehr*  und  Andenken  des  Nicolaus  van  Tulp,  Arzt 
und  Bürgermeister  zu  Amsterdam,  welcher  durch  sein  energisches  Auftreten,  die 
schmachvolle  Uebergabe  dieser  Stadt  an  die  Franzosen,  arrno  1672,  vereitelte.  Er 
gedenkt  dieser  Klappe  in  seinen  Ohaervatitmea  med,  Amstel,,  164L  Sonst  ist  von 
diesem  muthigen  Bürgermeister  nichts  Anatomisches  bekannt. 

2.    Zotten, 

Von  der  Valvida  pylori  bis  zur  Valvula  coli  sehen  wir  die 
Schleimhaut  des  Dünndarmes  mit  zahllosen^  kleinen,  im  nüchternen 
Zustande  platten,  im  gefüllten  Zustande  mehr  gleichförmig  cylin- 
drischen,  oder  keulenförmigen  Flocken  besetzt,  welche,  wenn  man 
ein  Stück  Schleimhaut  unter  Wasser  bringt,  flottiren,  und  ihr  ein 
feinzottiges  Ansehen  verleihen.  Sie  sind  die  thätigsten  Organe  der 
Absorption  des  aus  dem  Chymus  ausgeschiedenen  nahrhaften  Speisen- 
Extracts,  des  Chylua,  und  werden  Darmzotten,  Villi  intestinales,  ge- 
nannt. Im  oberen  Querstück  des  Duodenum,  scheinen  sie  in  so 
ferne  zu  fehlen,  als  die  Schleimhaut  daselbst  nur  faltenförmige  Auf- 
würfe zeigt,  welche  man  sich  aber  aus  der  Verschmelzung  mehrerer 
Zotten  hervorgegangen  denken  mag.  Im  absteigenden  und  unteren 
Querstücke  des  Duodenum,  so  wie  im  Anfange  des  Jejunum  er- 
scheinen sie  am  breitesten,  nehmen  im  Verlaufe  des  Dünndarmes 
bis  zum  Ende  desselben  an  Höhe  und  Breite  ab,  sind  aber  selbst 
an  der  oberen  Fläche  der  unteren  Lippe  der  Blinddarmklappe  noch 
nicht  ganz  verschwunden.  Nach  Krause's  Schätzung  soll  ihre 
Gesammtmenge  vier  Millionen  betragen.  Man  ist  selbst  so  liberal, 
noch  sechs  Millionen  hinzuzugeben.     Das  macht  dann  zehn. 

Jede  Zotte  ist  eine  wahre  Verlängerung  oder  Erhebung  der 
Dünndarmschleimhaut,  und  besteht  demgemäss  aus  allen  Ingredien- 
zien dieser  Schleimhaut:  Cylinderepithel,  structurlose  Haut,  Binde- 
gewebe, Blutgefässe,  welche  ein  hart  unter  der  structurlosen  Haut 
der  Zotte  liegendes  Capillargefiissnetz  bilden,  glatte  Muskelfasern 
mit  prävalirender  Längenrichtung,  und  endlich  noch  als  das  wich- 
tigste im  Zottenbau,  ein  einfaches  Lymphgeföss,  wenn  die  Zotte 
schmal  ist,  oder  mehrere,  wenn  sie  breit  erscheint.  Einfache  Lymph- 
gefasse   sind,    wie    an    Teich m an n's    Prachtinjectionen    zu    sehen, 


§.  S64.  Speci«lle  Betrftchtang  der  I>ftnndanuehl«im1i*ii(.  683 

keulenförmig,  mehrfache  dagegen  gehen,  gegen  die  Zottenspitze  zu, 
schlingenförmig  in  einander  über.  Ob  diese  Lymphgefasse  in  der 
Zotte  eine  Eigenwand  besitzen  oder  nicht,  ist  Streitsache. 

Zu  einer  gewissen  Zeit  des  fimbryolebens  g^ebt  es  keine  Zotten,  sondern 
nur  lon^tudinale  Fältchen  im  Darmkanal.  Diese  Fälteben  werden  vom  i^ien 
Rande  ans  immer  tiefer  und  tiefer  eingekerbt,  und  zerfallen  dadurch  in  eine  Folge 
von  Zotten. 


3.   D rüseiu 

Der  Dünndarm  ist  reich  an  Drüsen.  Vier  Formen  derselben 
kommen  vor. 

a)  Die  Licborkühn'schcn  Krypten  verhalten  sich  zur  Darm- 
schleimhaut, wie  die  Pepsindrüsen  zur  Magenschleimhaut.  Sie  sind 
wie  diese,  einfache  tubulöse  Drüsen,  und  zwar  die  kleinsten  dieser 
Art,  welche  wir  im  menschlichen  Leibe  kennen.  Sie  gelten  für  die 
Secretionsorgane  des  Darmsaftes,  Siiccus  entericua,  Cylinderepithel 
und  eine  sehr  deutliche  structurlose  Membran,  bekleidet  die  innere 
Obei^fläche  derselben.  Ihre  Mündungen  bilden  um  die  Basen  der 
Darmzotten  herum,  förmliche  Kränze.  Sie  kommen  grösser  und 
zahlreicher  auch  im  Dickdarme  vor. 

b)  Die  Brunn er'schen  oder  Brun naschen  Drüsen.  Sie  sind  ein 
Mittelding  zwischen  acinösen  und  verzweigten  tubulöscn  Drüsen,  und 
bilden  im  Anfangsstücke  des  Duodenum  ein  fast  continuirliches 
Drüsenstratum  in  und  unter  der  Mucosa,  rücken  aber  im  weiteren 
Verlaufe  dieses  Darmstückes  auseinander,  und  verlieren  sich  am 
Ende  desselben  gänzlich.  Ihre  Grösse  schwankt  zwischen  einer 
halben  bis  einer  Linie  Durchmesser.  Ihre  kurzen,  mit  Cylinder- 
epithel ausgekleideten  Ausführungsgänge  durchbohren  die  Schleim- 
haut schief.  Ihr  alkalinisches  Secret  gleicht  jenem  des  Pankreas. 
Je  kleiner  das  Pankreas,  desto  zahlreicher  linden  sich  diese 
Drüsen  vor. 

Brunner  und  Brunn  sind  Eine  Person,  —  jene  des  Entdeckers  dieser 
Driisen  —  eines  ehrlichen  Schweizers,  Namens  Brunn  er,  welcher  diese  Drüsen 
in  seiner  kleinen  Schrift,  de  fjlamlulh  in  duodeno  detectis,  Heidelb,,  1688,  beschrieb. 
Er  wurde  Leibarzt  des  Pfalzp^rafen  zu  Rhein,  welcher  ihn  mit  dem  Prädicate: 
V.  Hammerstein,  in  den  Adelstand  erhob.  Er  hiess,  seit  dieser  Standeserhebung, 
am  Hofe  des  deutschen,  franzönischen  Ton,  Sitte  und  Unsitte  nachäffenden  Duodez- 
fürsten, Chevalier  le  Brun,  und  so  wurden  denn  auch  die  B r u n n e raschen 
Driisen  zu  Brunn'schen  Driisen. 

c)  Die  sogenannten  solitären  geschlossenen  Follikel  sind, 
wie  schon  mehrmals  erwähnt,  keine  Follikel,  da  sie  keine  darstell- 
bare häutige  Wand  besitzen.  Sie  finden  sich  durch  die  ganze 
Darmlänge.  Ihre  Menge,  ihre  Gröase,  weniger  ihre  ovale  Form, 
unterliegen  der  gröBsten  Unbe*  ^ia   ragen   tief  in   das 


684  §.  S64.  Spceielle  Betrachtung  der  DAnndarmschleimhant. 

Bubmucöse  Bindegewebe  hinein.  Jeder  Follikel  bildet  an  der  inneren 
Oberfläche  des  Darmrohres  eine  kleine  Erhebung,  über  welche  das 
Cylinderepithel  des  Darmes  wegzieht.  Auf  solchen  Erhebungen 
fehlen  die  Zotten.  —  Man  Hess  diese  Follikel  bis  auf  die  neuere 
Zeit  von  einer  Membran  gebildet  werden,  welche  ein  Fachwerk 
gefassführenden  Bindegewebes  umschliesst.  In  diesem  Fachwerk 
hausen,  nebst  einer  klaren  Flüssigkeit,  Haufen  zahlreicher,  in  allen 
Eigenschaften  den  Lymphkörperchen  (§.  65)  ebenbürtiger  Gebilde. 
Henle  vei-wirft  aber  mit  Recht  die  Eigenmembran  der  Follikel, 
und  lässt  das  bindegewebige  Fachwerk  derselben  durch  feinste 
Vernetzung  des  Bindegewebstroma  der  Schleimhaut  selbst  entstehen, 
nicht  aber  von  einer  dem  Follikel  eigenen  Wand  ausgehen.  In  den 
Lücken  dieses  Fachwerkes  liegen  die  erwähnten  Haufen  von  Lymph- 
körperchen, wie  denn  auch  solche  Lymphkörperchen  vereinzelt  oder 
zu  mehreren,  im  Bindegewebstroma  der  Darmzotten,  und  der  ge- 
sammten  Dünn-  und  Dickdarmschleimhaut  (in  letzterer  weniger 
zahlreich)  angetroffen  werden,  wie  in  §.  260  bereits  gesagt  wurde. 
Gegen  das  Centrum  des  Follikels,  hin,  kann  das  Balkenwerk  so 
schütter  werden,  dass  ein  grösserer  oder  kleinerer  Theil  des  Cen- 
trums, der  Balken  gänzlich  verlustig  geht.  Die  Follikel  wären  dem- 
nach keine  Follikel,  sondern  wandlose  Depots  von  Lymphkörperchen 
im  Bindegewebstroma  der  Schleimhaut.  Daraus  erklärt  sich  das 
Unregelmässige  und  Gesetzlose  ihres  Vorkommens,  welches  sich  bis 
zum  gänzlichen  Fehlen  derselben  steigert.  In  der  Schleimhaut  von 
Choleraleichen  treten  die  Deposita  von  Lymphkörperchen  in  wahr- 
haft ungeheurer  Menge  auf,  und  erreichen  Hirse-  bis  Hanf  korngrösse. 
d)  die  P  eye  raschen  Drüsengruppen  (Agmina  8.  Lisulae 
Peyerij  Plaques  der  französischen  Anatomen)  sind  nur  Aggregate 
solitärer  Follikel ,  deren  Bau  sich  hier  ganz  auf  dieselbe  Weise 
wiederholt.  Sie  finden  sich  in  der  Regel  nur  im  Ileum,  und  nur  an 
jener  Stelle  desselben,  welche  der  Anheftung  des  Mesenterium  gegen- 
überliegt. Jede  solche  Gruppe,  welche  aus  mehr  als  einhundert 
solitären  Follikeln  bestehen  kann,  wird  von  einem  etwas  aufgewor- 
fenen Schleimhautsaum  umrandet.  Die  zwischen  den  einzelnen 
Follikeln  einer  Gruppe  befindliche  Schleimhaut,  führt  Zotten.  Oft 
sind  diese  Gruppen  zahlreich,  oft  fehlen  sie  gänzlich.  Durch  Ver- 
schmelzung mehrerer  Gruppen  der  Länge  nach,  können  die  Agmina 
Pet/eri  eine  Länge  von  sechs  bis  acht  Zoll  erreichen,  selbst  darüber. 

Die  Pejer'öchen  Drilsengruppen  wurden  von  dem  Schweizer  Arzte,  Con- 
rad Peyer,  zuerst  beschrieben  CExercUatio  de  gland,  intest.  Scaphtts.,  lG77j.  Ihr 
Standort  kann  öfter  schon  bei  äusserer  Besichti^ng  des  Darmes,  einer  leichten 
Wölbung  oder  anderer  Färbung  der  Darmfläche  wegen,  erkannt  werden.  Der  Längen- 
durchmesser einer  Gruppe  streicht  immer  nach  der  Länge  des  Darmes. 

Die  Kuppen  der  nolitären  und  der  aggregirten  Follikel  unterliegen  sehr 
oft,   unter   pathologischen   Bedingungen,    einer   Erosion  von   der  Darmhöble  her, 


|.  tSiS.  üeb«r  die  Frage,  wie  die  Lymphgef&site  in  den  Durmiotten  entspringen.  685 

wodurch  zackige  oder  scharf gerandete  Oeffnnngen  entstehen,  durch  welche  die 
Ljmplikörperchen  der  Follikel  sich  entleeren,  und  leere  Räume  zurückbleibeni 
welche  für  Drüsenhöhlungen  imponiren.  Solche  Höhlungen  sieht  man  in  den 
Leichen  von  Menschen,  welche  an  chronischen  Krankheiten  mit  erschöpfenden 
Diarrhöen  zu  Grunde  gingen,  in  grosser  Menge. 

Nach  air  dem  Gesagten,  erscheint  es  als  nicht  zu  rechtfertigende  Willkür, 
Anhäufungen  von  Ljmphkörperchen  in  dem  Bindegewebstroma  der  Darmschleim- 
haut, welche  bald  gross,  bald  klein,  bald  hier,  bald  da,  bald  einzeln,  bald 
zusammengedrängt,  bald  spärlich,  bald  zahlreich,  bald  gar  nicht  vorhanden  sind, 
mit  dem  Namen  von  Lymphdrüsen  zu  belegen,  welcher  Name  consequent  der 
ganzen  Darmschleimhaut  giegeben  werden  müsste,  da  ihr  Gewebe,  namentlicli  in 
der  Verdauungszeit,  mit  Ljmphkörperchen  über  und  über  angefüllt  erscheint. 


§.  265.  Ueber  die  Frage,  wie  die  Lymphgefasse  in  den 

Darmzotten  entspringen. 

Nath.  Lieberküliii  (1745)  nahm  in  jeder  Zotte  eine  Höhle 
an,  welche  an  der  Spitze  der  Zotte  eine  Oeffnung  besitzen,  und  an 
der  Basis  derselben  mit  einem  Lymphgefiisse  in  Verbindung  stehen 
soll.  Er  nannte  sie  Ampvlla,  „Ramusculus  vasis  lactei  extenditur  in 
ampullulam  «.  vesiculam,  ovo  haud  absimüem,  in  cujus  apice  forand- 
nulum  quoddam  exiguum  microscopio  detegitur,"  Es  würden  somit  die 
Lymphgefiisse  an  den  Zottenspitzen  oflfen  beginnen,  wie  die  Puncta 
lacrymalia  der  Thränenröhrchen.  Die  offenen  Mündungen  wurden 
aber  schon  von  Hewson  bestritten,  und  von  F  oh  mann  bleibend 
widerlegt.  Die  Existenz  der  centralen  Hohle  jedoch,  und  zwar  einer 
Höhle  mit  selbstständiger,  nicht  vom  Zottenparenchym  gebildeter 
Wand,  wurde  nicht  aufgegeben.  Henle  erklärt  sich  für  eine  ein- 
fache, zuweilen  an  der  Zottenspitzc  kolbig  erweiterte  Centralhöhle, 
als  blinden  Ausläufer  eines  in  der  Darmschleirahaut  eingelagerten 
Lymphgefössnetzes.  Kolli k er  lässt  die  Frage  für  den  Menschen 
unentschieden,  behauptet  jedoch  auf  das  Bestimmteste,  da^s  bei 
Thicren  mitten  durch  die  Axe  der  Zotte  ein  einfaches,  mit  einem 
blinden  und  erweiterten  Ende  beginnendes  Lymphgeföss  verläuft. 
Ebenso  Ecker,  Frey,  und  Donders.  —  So  weit  die  Autoritäten. 
Die  DU  minorum  gentium  huldigen  diesen  oder  jenen.  Da  kam 
Teich ni an n's  ausgezeichnete  Arbeit  (Das  Saugadersystem,  Leipzig, 
1861).  Dieselbe  lehrte  die  bisher  für  unmöglich  gehaltenen  Injec- 
tionen  der  Lymphgefiisse  in  den  Zotten  des  Menschen  mit  gefärbten 
Massen.  Teichmann's  Injectionen  haben,  nach  Verschiedenheit 
der  Form  der  Zotten,  theils  ein  einfaches  lymphatisches  Axengefass, 
theils  einfache  Schlingen  mit  auf-  und  absteigendem  Schenkel, 
theils  Schlingen  mit  Queranastomosen ,  theils  communicirende 
Schiingenaggregate  im  Zottenparenchym  nachgewiesen,  mit  einer 
Sicherheit,  welche    nur    die  vollendetste  lujectionstechnik  gewähren 


686     §•  866.  Verhalten  der  Lyinphgef&sse  zu  den  sollt,  n.  aggr.  Follikeln  d.  Darmschleimhaat. 

kann.  Dieser  Technik  mögen  sich  Alle  befleissigen,  welche  sich 
zu  Sprechern  über  ein  so  schwieriges  Argument  der  Histologie  be- 
rufen fühlen. 

Den  eigentlichen  Knotenpunkt  der  Sache,  ob  nämlich  die  Lymphgefasse 
der  Zotten  eigene  Wandungen  besitzen  oder  nicht,  lassen  auch  Teichmann's  Injec- 
tionen  unentschieden,  da  auch  in  Räumen,  welche  keine  eigene  Wandung  haben, 
sich  die  Injectionsmasse  halten,  und  sie  als  Kanäle  (Gefässe)  erscheinen  lassen 
wird,  wenn  nur  die  den  Raum  umgebenden  Gebilde  so  angeordnet  sind,  dass  sie 
diesen  Raum  allseitig  begrenzen.  Ausführlich  handelt  über  diese  Frage  L.  Auer- 
bach, in   FtrcÄotc'»  Archiv.  33.  Bd. 

Nach  Brücke  (Sitzungsberichte  der  kais.  Akademie,  1852  imd  1853)  be- 
sitzen die  Zotten  und  die  Mucosa  des  Darmes  keine  Ljmphgefassc  mit  selbst- 
ständiger Wand,  sondern  nur  Lymphräume  und  Lymphgänge  ohne  Eigen  wand. 
Die  Lymphgefässe  mit  Eigenwand  beg^nen  erst  in  der  Muskelsclüchte  der 
Schleimhaut.  Sie  c^mmuniciren,  durch  offene  Mündungen,  frei  mit  den  wandlosen 
Lymphräumen  der  Mucosa  und  der  Zotten.  Der  zu  absorbirende  Chylus  muss 
also  das  ganze  Gewebe  der  Zotten  tmd  der  Schleimhaut  durchdringen,  bis  ihn 
sein  gutes  Geschick  in  die  offenen  Mäuler  der  bewandeten  Lymphgefässe  führt 
Wie  es  hergeht,  dass  der  Chylus  gerade  in  die  Oeffnungen  der  Lymphgefjisse 
trifft,  und  in  den  allerwärts  mit  einander  communicirenden  Bindegewebs-Inter- 
stitien  der  Schleimhaut,  seine  Irrfahrten  nicht  weiter,  bis  in  die  Steppen  des 
Mesenteriums  ausdehnt,  bleibt  den  Vorstellungen  Jener  überlassen,  welche  sich 
hierüber  welche  bilden  können.  —  Eine  eben  so  wichtige  Rolle,  wie  die  Saug- 
adem,  spielen  die  Venen  der  Zotten  bei  der  Absorjition.  Der  Antheil,  welchen 
sie  hiebei  haben,  ist  durch  Versuche  constatirt.  (Müller«  Physiol.  1.  Bd.,  V.  Cap.) 


§.  266.  Verhalten  der  Lymphgefässe  zu  den  solitaren  und 
aggregirten  Follikeln  der  Darmschleimhaut 

Wenn  man  es  für  einen  anatomischen  Charakter  der  Lymph- 
drüsen erklären  möchte,  dass  sie  weder  zu-  noch  abführende  Lymph- 
gefässe besitzen,  so  könnten  die  solitaren  Follikel  und  die  Pey er- 
sehen Drüsen  des  Darmkanals,  aUerdings  zu  den  Lymphdrüsen 
gestellt  werden.  Diese  Stellung  wurde  ihnen  auch  von  Brücke 
angewiesen.  Den  Inhalt  der  genannten  Drüsen  bilden  ja  Lymph- 
körperchen,  ergo  müssen  sie  Lymphdrüsen  sein.  Wenn  man  aber 
unter  Lymphdrüsen  solche  versteht,  denen  durch  Lymphgefässe 
Lymphe  zugeführt,  und  von  welchen  wieder  durch  Lymphgefässe 
Lymphe  abgeführt  wird,  so  müssen  die  beiden  genannten  Arten 
von  Diiisen  etwas  anderes  als  Lymphdrüsen  sein,  da  sie  bei  der 
gelungensten  und  reichsten  Füllung  der  Lymphgefässe  der  Darm- 
schleimhaut, ganz  und  gar  leer  bleiben,  und  keinen  Zusammenhang 
mit  Lymphgefässen  aufzeigen.  Was  sie  eigentlich  sind,  lässt  sich 
zur  Zeit  nicht  sagen,  und  deshalb  on  se  paie  de  mots,  Henle  sagt 
es  ehrlich  heraus:  „zu  einem  Ausspruch  über  die  physiologische 
Bedeutung  der  conglobirten  Drüsen  (solitäre  und  gruppirte  Follikel) 


|.  865.  Ueber  die  Frage,  wie  die  Ljinphgef&eite  in  den  Durmiotten  entspringen.  685 

wodurch  zackige  oder  scharfgerandete  Oeffnnngen  entstehen,  durch  welche  die 
Ljmphkörperchen  der  Follikel  sich  entleeren,  und  leere  Räume  zurückbleiben, 
welche  für  Drüsenhöhlungen  imponiren.  Solche  Höhlungen  sieht  man  in  den 
Leichen  von  Menschen,  welche  an  chronischen  Krankheiten  mit  erschöpfenden 
Diarrhöen  zu  Grunde  gingen,  in  grosser  Menge. 

Nach  air  dem  Gesagten,  erscheint  es  als  nicht  zu  rechtfertigende  Willkür, 
Anhäufungen  von  Lymphkörperchen  in  dem  Bindegewebstroma  der  Darmschleim- 
haut,  welche  bald  gross,  bald  klein,  bald  hier,  bald  da,  bald  einzeln,  bald 
zusammengedrängt,  bald  spärlich,  bald  zahlreich,  bald  gar  nicht  vorhanden  sind, 
mit  dem  Namen  von  Lymphdrüsen  zu  belegen,  welcher  Name  consequent  der 
ganzen  Darmschleimhaut  gfegeben  werden  müsste,  da  ihr  Gewebe,  namentlich  in 
der  Verdauungszeit,  mit  Ljmphkörperclien  Über  und  über  angefüllt  erscheint. 


§.  265.  Ueber  die  Frage,  wie  die  Lymphgefasse  in  den 

Sarmzotten  entspringen. 

Nath.  Lieb  erkühn  (1745)  nahm  in  jeder  Zotte  eine  Höhle 
an,  welche  an  der  Spitze  der  Zotte  eine  Oeffnung  besitzen,  und  an 
der  Basis  derselben  mit  einem  Lymphgefiisse  in  Verbindung  stehen 
soll.  Er  nannte  sie  Amptdla.  „RamtisculiLS  vdsls  lactei  extenditur  in 
ampullulam  «.  vesiculam,  ovo  haud  ahsimüem,  in  cujus  apice  foranU- 
nvlum  quoddam  exiguum  microscopio  detegitur."  Es  würden  somit  die 
Lymphgefiisse  an  den  Zottenspitzen  oflfen  beginnen,  wie  die  Puncta 
lacrymalia  der  Thränenröhrchen.  Die  oflfenen  Mündungen  wurden 
aber  schon  von  Hewson  bestritten,  und  von  Pohmann  bleibend 
widerlegt.  Die  Existenz  der  centralen  Höhle  jedoch,  und  zwar  einer 
Höhle  mit  selbstständiger,  nicht  vom  Zottenparenchyni  gebildeter 
Wand,  wurde  nicht  aufgegeben.  He  nie  erklärt  sich  für  eine  ein- 
fache, zuweilen  an  der  Zottenspitzc  kolbig  erweiterte  Centralhöhle, 
als  blinden  Ausläufer  eines  in  der  Darnischleimhaut  eingelagerten 
Lymphgefassnetzes.  Kölliker  lüHnt  dir,  Frage  für  den  Menschen 
unentschieden,  behauptet  jedoch  auf  dun  Bestimmteste,  da^s  bei 
Thieren  mitten  durch  die  Axe  der  Zottt«  <;in  einfaches,  mit  einem 
blinden  und  erweiterten  Ende  Ix^ginnendes  Lymphgefiiss  verläuft. 
Ebenso  Ecker,  Frey,  und  Dondern.  —  So  weit  die  Autoritäten. 
Die  Dil  minorum  gentium  huldig(;n  ditmen  oder  jenen.  Da  kam 
Teich  man n's  ausgezeichnete  Arbeit  n>aH  Saugadersystem,  Leipzig, 
1861).  Dieselbe  lehrte  die  bisher  für  unmöglich  gehaltenen  Injec- 
tioneu  der  Lymphgefiisse  in  den  Zotten  des  Menschen  mit  geförbten 
Massen.  Teichmann's  Injectionen  haben,  nach  Verschiedenheit 
der  Form  der  Zotten,  theils  ein  einfaches  lymphatisches  Axengefass, 
theils  einfache  Schlingen  mit  auf-  und  absteigendem  Schenkel, 
theils  Schlingen  mit  Qucranastomosen ,  theils  communicirende 
Schiingenaggregate  im  Zottenparonchym  nachgewiesen,  mit  einer 
Sicherheit;  welche   nur   die  voUendetsto  Iiijectionstechnik  gewähren 


688  §•  267.  Ueber  «las  Cylinderepithel  des  DQnndannB. 

zugekehrt  ist,  fehlen  soll.  Was  Brücke  fehlen  Hess,  sahen  Andere 
als  verdickten,  die  Zellenperipherie  selbst  seitlich  überragenden 
Saum  (bourrdet  der  französischen  Autoren),  und  beschrieben  in  ihm 
eine  mit  der  Längenaxe  der  Zelle  parallele  Streifung,  welche  K Ol- 
li k  er  zuerst  für  Poren  erklärte.  Solche  Streifungen  linden  sich 
aber  auch  an  den  Deckeln  der  Epithelialzellen  in  vielen  anderen 
Schleimhäuten.  Von  Brettaue  r  und  Stein  ach  wurden  diese  Streifen 
nicht  als  Poren,  sondern  als  der  optische  Ausdruck  der  Zusammen- 
setzung jenes  Saumes  aus  prismatischen,  von  einander  isolirbaren 
Stäbchen  gedeutet,  welche  unmittelbar  in  dem  Zelleninhalte  selbst, 
nicht  aber  auf  einer  Wand  der  Zellen,  eingepflanzt  sind.  Im 
nüchternen  Zustande  soll  der  Saum  um  die  Hälfte  breiter  sein,  als 
an  den  durch  Chylusaufnahme  gefüllten  Zellen,  an  w^elchen  auch 
die  Streifung  des  Saumes  nicht  mehr  wahrgenommen  werden  kann. 
E.  Wielen  sah  in  dieser  Straffirung  unvollkommen  entwickelte, 
nicht  zur  Freiheit  gelangte  Flimmerorgane;  Schiff  dagegen  eine 
Art  von  Kauorganen.  Nur  Lambl  erklärte  sie  für  eine  Leichen- 
erscheinung. Traldt  sua  quemque  voluntas.  Virchow  fand  auch  den 
matten  körnigen  Inhalt  der  Epithelialzellen  fein  gestreift,  und 
Donders  versichert,  gefunden  zu  haben,  dass  Reihen  feinster  Fett- 
kömchen,  den  Streifen  des  Zellendeckels  entsprechend,  sich  von 
der  freien  Wand  der  Zelle  gegen  ihre  Basalwand  fortsetzen.  Dass 
diese  Streifen  lineare  Aggregationen  kleinster,  von  der  Zelle  auf- 
genommener Chylusmoleküle  in  wandlosen  Kanälen  sind,  wurde 
blos  vermuthet,  von  Friedreich  aber  mit  Entschiedenheit  be- 
hauptet. Am  weitesten  und  kühnsten  drang  Heiden hain  vor.  Er 
lässt  die  Basen  der  Epithelialzellen  in  fehiste  Fortsätze  auslaufen, 
welche  Aeste  erzeugen,  um  durch  diese  mit  den  im  Bindegeweb- 
stroma  der  Darmzotten  und  der  Schleimhaut  eingestreuten  Zellen 
(Bindegew^ebskörperchen)  in  Verband  zu  treten,  so  dass  ein  fein 
verzweigtes  Kanalsystem  zu  Stande  gebracht  w^ird,  welches  von  den 
Zellendeckeln  der  Epithelialcylinder  bis  in  die  Mucosa  des  Darmes 
reicht,  und  aus  welchem  die  Anfange  der  be wände ten  (.'hylusgefasse 
hervorgehen.  Man  hat  es  auch  versucht  (Letzerich),  zwischen 
den  Epithelialzellen  der  Zotten,  nach  der  Darmhöhle  zu,  offene 
Räume  zu  statuiren,  die  sogenannten  Vacuolen,  welche  mit  dem 
absorbirenden  Kanalsystcme  im  Inneren  der  Zotten  in  Verbindung 
stehen  sollen.  —  Das  Ergebniss  aller  dieser  mikroskopischen  Aus- 
beute lautet  also  kurz:  wir  wissen  nicht,  welche  Wege  der  Herr 
dem  Chvlus  bereitet  hat,  und  wie  er  aus  der  Höhle  des  Darmes  in 
das  centrale  Lymphgefliss  der  Zotte  gelangt.  Dieses  soll  uns  jedoch 
nicht  hindern,  das  Beste  noch  zu  erwarten. 

SoUte  es  einmal  zur  Erkenntniss  der  Wahrheit  kommen,  werden    alle  vor- 
ausgegangenen,  wenn  auch  auf  Irrwege  gerathenen   Bestrebungen,  die  Wahrheit 


(I.  26S.  Dickdarm.  C89 

ZU  finden,  mit  dem  Complimento  dankenswerther  Vorarbeiten,  ad  acta  ge- 
legt sein.  So  wird  das  Grelle  einer  scheinbaren  Geringschätznng,  welche  man 
ans  diesen  meinen  Worten  horansznlesen  Neigung  verspüren  könnte,  etwas  ab- 
geschwächt. 

irntersnchnngen  des  Darmepitliels  bei  einer  grossen  Anzahl  von  Thieren 
verdanken  wir  KiUliker,  im  8.  Bd.  der  Würzburger  Verhandlungen.  Eine  Zu- 
sammenstellung alles  Bekannten  und  neuer  Vermuthungen  gab  £,  Wiel^n,  in  der 
Zeitschrift  für  wissenschaftl.  Med.  XIV.  Bd.  —  \V,  DdnUz,  Archiv  für  Anat 
1864.  —  Letzerich,  in  Virchaw\H  Archiv.  1826.  —  Zarjoarykin,  Verlauf  der  Chylus- 
bahnen.  Petersburg,  1869.  —  Btiicke,  phjsiol.  Vorlesungen,  2.  Auflage,  1.  Bd. 
pag.  312,  seqq. 


§.  268.  Dickdarm. 

Das  Endstück  des  Ileum^  welches  aus  der  kleinen  Becken- 
höhle zur  Fossa  iliaca  dextra  aufsteigt^  inserirt  sich  nicht  in  den 
Anfang  des  dicken  Gedärmes,  sondern  etwas  darüber.  Das  unter 
die  Insertionsstelle  des  lleum  herabragende  Stück  des  Dickdarmes, 
welches  eine  abgerundete,  blinde  Bucht  darstellt,  heisst  Blind- 
darm (Intestinum  coecum,  Tu^Xbv).  Es  verhält  sich,  der  Form  nach, 
zum  Ilcum  so,  wie  der  Fundus  veMricvli  zum  Oesophagus. 

Der  Blinddarm  liegt  auf  der  Fascia  iliaca  dextra.  Ein  vom 
unteren  Ende  seiner  inneren  Gegend  ausgehender,  zwei  bis  drei 
Zoll  langer,  und  in  die  kleine  Beckenhöhle  hinabhängender,  wurm- 
förmiger  Anhang  (Processus  vermiculai'is,  s.  Appendix  vermiformis), 
von  der  Dicke  einer  Federspule,  zeichnet  ihn  vor  dem  übrigen 
Dickdarm  aus.  Auf  den  Blinddarm  folgt  der  Grimmdarm  (Colon, 
xöXov,  bei  Galen),  welcher  als  Colon  ascendens  vor  der  rechten 
Niere  bis  zur  concaven  Fläche  der  Leber  aufsteigt,  dann  unter  der 
Curvatura  major  ventrtjcidi  als  Colon  transversum  quer  nach  links 
geht,  um  am  imteren  Ende  der  Milz,  vor  und  etwas  auswärts  von 
der  linken  Niere,  wieder  als  Colon  descendens  nach  abwärts  zu 
laufen,  und  mittelst  der  Flexura  sigmoidea  s.  S  romanum,  in  den 
Mastdarm  überzugehen.  Dieser  letztere  zieht  nur  bei  Thieren 
ganz  gerade  zum  After  fort.  Daher  sein  Name:  rectum.  Im 
Menschen  bildet  er  zwei  Krümmungen,  von  welchen  di(i  obere,  an 
der  linken  Stpnp/it/sis  sa^cro-iliaca  beginnt  und  der  ('i)ncavität  des 
Kreuzbeins  folgt,  die  untere  kleinere  aber,  sich  von  der  Steissbein- 
spitze  bis  zum  After  (Anus)  mit  vorderer  Convexität  erstreckt.  Die 
obere  Mastdarmkrümmung  übertrifft  die  untere  an  Länge  nahezu 
um  das  Vierfache.  Bei  den  altdeutschen  Anatomen  heisst  der 
Mastdarm:  Schlecht darm,  und  bei  den  Metzgern  hie  und  da 
jetzt  noch  das  Schlecht.  Schlecht  ist  ein  veralteter  Ausdruck  für 
gerade,  und  wir  gebrauchen  ihn  jetzt  noch,  in  der  Redensart: 
schlechtweg,  schlechterdings,  und  schlecht  und  recht. 

Hjrtl,  Lehrbadi  der  Anfttoal«.  l^  44 


690  §.  S69.  Speciellet  Qb«r  die  einielnen  Schichten  des  Dichdams. 

Der  Dickdarm  unterscheidet  sich  durch  seine  Weite,  seine 
Ausdehnbarkeit,  und  seine  ausgebuchtete  Oberfläche,  schon  bei 
äusserem  Anblick,  von  dem  Dünndarm.  Seine  Ausbuclitungen 
fuhren  den  Namen  der  Haustra,  auch  Cdlulae,  daher  Intestinum 
cdlvlatum  für  Dickdarm  bei  den  älteren  Anatomen.  Ilaustrum,  von 
haurio,  ist  Schöpfeimer  am  Wasserrade.  Zwei  und  zwei  Haustra 
sind  durch  eine  Einschnürung  von  einander  getrennt.  Die  Länge 
des  Dickdarms  misst  zwischen  vier  bis  fünf  Fuss. 

Der  Wnrmfortsatz  am  Blinddarm  fehlt  bei  sehr  jangen  Embryonen.  Er 
bildet  sich  aber  niclit  etwa  dnrcli  Hervorwaclisen  aus  dem  Blinddarm,  sondern 
dadnrch,  dass  der  nntere  Abschnitt  des  embryonischen  Blinddarms,  nicht  mehr 
an  Umfang  znnimmt,  während  der  obere  fortfährt  zu  wachsen.  Der  durch  Wachs- 
thum  nicht  zimchmende  Abschnitt  des  Blinddarms  heisst  dann  Wurmfortsatz.  Nur 
zwei  Säagethiere  besitzen  ihn:  der  Orang  und  der  Wo m bat. 


§.  269.  Specielles  über  die  einzelnen  Schichten  des  Dickdarms. 

Einen  vollständigen  Peritonealüberzug  besitzen  in  der 
Regel  nur  das  Coecum  und  dessen  Wurmfortsatz,  das  Colon  trans- 
versum,  und  S  romanum.  An  den  übrigen  Stücken  des  Dickdarms 
bleibt  ein  grösserer  oder  geringerer  Theil  ihrer  hinteren  Fläche 
ohne  Bauchfellüberzug,  und  wird  durch  Bindegewebe  an  die  be- 
nachbarten Stellen  der  Bauch-  oder  Beckenwand  befestigt.  Der 
Mastdarm  verliert  vom  dritten  Kreuzwirbel  an,  wo  er  die  Fascia 
hfjpogcistrica  durchbohrt,  seinen  Bauchfellüberzug  vollkommen. 

Die  Dickdarmstücke  mit  unvollkommenen  ßauchfellübcrzügeu 
können,  dem  Gesagten  zufolge,  keine  Mesenterien,  d.  i.  doppel- 
blätterige Aufhängeßänder  besitzen.  Sie  werden  deshalb  auch  un- 
verschiebbar sein.  Nur  wenn  sich  diese  Darmstücke  bei  Relaxation 
des  Bindegewebes,  welches  ihre  vom  Peritoneum  nicht  überzogene 
Seite  an  die  Bauchwand  heftet,  von  letzterer  entfernen  (was  jedes- 
mal geschehen  muss,  wenn  sie  den  Inhalt  eines  Leisten-  oder 
Schenkelbruches  bilden),  ziehen  sie  das  Peritoneum  als  Falte  nach 
sich,  jedoch  ohne  dass  sich  die  beiden  Blätter  der  Falte  vollständig 
an  einander  legten,  wie  bei  dem  Mesenterium  des  Dünndarms.  Man 
kann  insofern  nur  unrichtig  von  einem  Mesocolon  ascendens  et  desceji- 
detuty  und  Mesorectum  sprechen.  Dagegen  existirt  ein  Afefiocohm 
transversnm,  ein  Mesenterium  curvaturae  sigmouleae,  und  ein  Mesen- 
terium jnutc4issns  ^yermicularisy  unter  denselben  Verhältnissen,  wie  das 
Mesenterium  am  Dünndarm.  —  Am  Colon  und  Rectum  ünden  sich 
noch  kleine,  bouteIf([')rmige,  fettgefüllte  VerlängeiningiMi  ihres  Bauch- 
fellüberzuges, welche  Appendices  eprploiccie  s.  Omentvla  genannt 
werden. 


S.  269.  Speciellet  über  die  einseinen  Schiebten  des  Didcdarms.  691 

Die  Muskelhaut  des  Dickdarms  schiebt  ihre  Längenfasern 
auf  drei  Stränge  zusammen^  welche  Fasdae,  oder  Vittae,  auch 
Taeniae  Vcdsalvae,  oder  Ligamenta  coli  heissen  (bandes  ligamenteu-ses 
bei  Winslow,  Ea^os.  anat  T.  IIL  pag.  147).  Eine  dieser  Taenien 
liegt  längs  der  Anheftungsstelle  des  Omentum  gastro-colicum  am  Colon 
transverimm,  die  zweite  am  Mesenterialrande,  und  die  dritte  ist  frei, 
als  Taenia  nvda,  Sie  werden  deshalb  als  Fascia  omentalis,  mesen- 
terica,  und  libera  unterschieden.  Am  Rectum  werden  diese  Fascien 
so  breit,  dass  sie  aneinanderstossen,  und  dieses  Darmstück  somit 
von  einer  fast  ununterbrochenen  muskulösen  Längsfaserschicht  um- 
geben wird.  Die  longitudinalen  Fasciae  s.  Taeniae  schieben  den 
Schlauch  des  dicken  Darmes  auf  eine  geringere  Länge  zusammen, 
und  verursachen,  unter  Mitwirkung  der  Kreisfasem,  welche  von 
Stelle  zu  Stelle  das  Dickdarmrohr  stärker  einschnüren,  das  bauschige, 
wie  zusammengeschoppte  Ansehen  desselben,  und  somit  auch  die 
Entstehung  der  oben  erwähnten  Ilaustra,  in  welchen  der  Koth 
durch  Aufsaugung  seiner  flüssigen  Bestandtheile  härter  wird,  und 
sich  zu  ballen  anfangt.  Am  Afterende  des  Mastdarmes  bilden  die 
durch  die  ganze  Länge  des  Dickdarms  nur  als  sehr  dünne  Schichte 
vorkommenden,  und  nur  an  den  eingeschnürten  Stellen  zwischen  je 
zwei  Haustra  stärker  entwickelten  Kreisfasern,  einen  dickeren  Muskel- 
ring, den  Sphincter  ani  intei*nu8,  welcher  den  After  hermetisch 
schliesst.  Wenn  dieser  innere  Schliessmuskel  des  Afters  in  seiner 
Wirkung  nachlässt,  kann  er  durch  den  Sphincter  ani  extemus, 
welcher  ein  der  Willkür  gehorchender  Muskel  ist,  auf  eine  gewisse 
Dauer  vertreten  werden. 

Fascia,  Taenia  und  Vitta,  drücken  alle  etwas  bandarti^^  Langes  und 
Schmales  ans,  wie  solches  znm  Umwickeln  des  Kopfes,  der  Glieder,  des  ganzen 
Leibes  der  Neugeborenen,  zum  IMndcn  der  Schuhe,  der  Ilaare,  des  Unterleibes, 
selbst  der  Brüste,  dass  sie  nicht  zu  voll  werden,  gebraucht  wurde,  so  z.  B.  im  Ovid : 

yfAiufuatuni  circa  fwtcia  jyechu  eal**. 

Selbst  der  Bandwurm  heisst  Taenia, 

Die  Schleimhaut  des  dicken  Darmes  zeigt  viele,  in  Ab- 
ständen von  einem  halben  bis  einen  Zoll  auf  einander  folgende, 
halbmondförmige,  durch  die  stärkere  Entwicklung  der  Kreismuskel- 
fasern bedingte  Falten  (PUcas  »igmoideae),  welche  gewöhnlich  von 
einer  Taenia  zur  andern  reichen,  somit  nicht  mehr  als  den  dritten 
Theil  der  Peripherie  des  Darmes  einnehmen,  und  mit  verschiedener 
Höhe  (bis  (rincn  halben  Zoll)  in  die  Darmhöhle  vorragen.  Man  kann 
sie  nicht  mit  den  Valvidis  conniventihns  des  Dünndarmes  vergleichen, 
da  sie  Kreismuskelfasem  in  sich  enthalten,  welche  den  Schleim- 
hautfalten des  dünnen  Qedärmes  abgehen.  Die  letzte  PUca  sigmoi- 
dea  steht  ohngeßlhr  drei  bis  vier  Zoll  über  der  Aftermündung,  an 
der  vorderen  und  zum  Theil  an  der  rechten  Wand  des  Rectum.  — 

44* 


692  i.  t70.  Mntkeln  det  Afton. 

Die  Dickdarmsehleimhaut  besitzt  dieselbe  adenoide  Structur,  wie 
jene  des  Dünndarms,  d.  h.  sie  besteht  aus  einem  bindegewebigen 
Stroma,  in  dessen  Maschen  eine  sehr  variable  Menge  vonLymphkörper- 
chen  angetroffen  wird.  Sie  besitzt  keine  Zotten.  Von  Drüsen  linden 
sich  nur  Lieberküh nasche  und  solitäre  Follikel  vor.  Letztere 
übertreffen  jene  des  Dünndarms  an  Grösse,  und  unterscheiden  sich 
zugleich  dadurch  von  ihnen,  dass  auf  der  Höhe  der  Schleimhaut- 
hügel, welche  der  Lage  der  Follikel  entsprechen,  eine  grubige 
Vertiefung  vorkommt,  welche  von  Böhm  irriger  Weise  für  die 
Ausmündungsöffnung  der  Follikel  genommen  wurde.  —  Die  Lieber- 
kühn'schen  Drüsen  des  Dickdarms  sind  wie  jene  des  Dünndarms 
gebaut.  Sie  stehen  durch  die  ganze  Länge  des  Dickdarms,  auch 
des  Wurmfortsatzes,  sehr  dicht  gedrängt  an  einander,  so  dass  sie 
das  eigentliche  Bindegewebsstroma  der  Schleimhaut  ebenso  ver- 
drängen, wie  es  von  den  Magendrüsen  bemerkt  wurde.  Ihre 
Oeffnungen  geben  unter  dem  Vergrösserungsglase,  der  Dickdarm- 
sehleimhaut ein  siebartig  durchlöchertes  Ansehen.  Jede  Oeffnung 
wird  von  einer  capillaren  Gefassmasche  umkreist. 

Unmittelbar  über  dem  After  bildet  die  Schleimhaut  des  Mast- 
darms sechs  bis  acht  kurze,  longitudinale  Aufwürfe  oder  Wülste 
(Columnde  Morgagni)^  zwischen  welchen  zuweilen  QuerfUltchen  vor- 
kommen. Hiedurch  entstehen  die  als  Sinus  Morgagni  bekannten 
Buchten  im  unteren  Ende  des  Mastdarms.  Fremde  Körper,  z.  B. 
Nadeln,  Fischgräten,  Knochensplitter,  welche  mit  den  Nahrungs- 
mitteln zufallig  verschluckt  wurden,  können,  nachdem  sie  den  langen 
Weg  durch  den  ganzen  Verdauungsschlauch  zurückgelegt  haben,  in 
diesen  Buchten  des  Afters  angehalten  werden,  und  das  Einschreiten 
der  Kunsthilfe  nothwendig  machen.  —  Die  gesammte  Dickdarm- 
sehleimhaut führt  Cylinderepithel,  dessen  Zellen  an  der  der  Darm- 
höhle zugekehrten  Wand,  eine  ähnliche  Straftirung  besitzen,  wie  sie 
an  den  Epithelialzellen  des  Dünndarms  beobachtet  wird.  Nur  die 
unterste  Partie  des  Mastdarms,  welche  die  Columnae  Morgagni  ent- 
hält, besitzt  ein  geschichtetes  Pflasterepithel. 

Eine  an  der  Mündung  des  Processus  vemiicularis  in  den  BUnddarni  vor- 
findliche  Schleimhantfalte,  wurde  auf  ihre  zahlreichen  Varianten  von  Gerlach 
genauer  untersucht.  (Abhandl.  der  Erlanger  phys.  Soc.  II.) 


§.  270.  Muskeln  des  Afters. 

Die  der  Willkür  unterworfenen  Muskeln  des  Afters  sind  der 
äussere  Schliessmuskel,  und  der  paarige  Hebemuskel.  Der 
unwillkürliche  innere  Schliessmuskel  gehört,  wie  schon  gesagt, 
der  Kreisfaserschicht  des  Mastdarms  au. 


$.271.  Ueber  den  SphinHtr  ani  Urtiu».  693 

Der  äusÄcre  Sehliessmuskoi,  Sphtncter  am  ext^mus,  ent- 
springt tendinös  von  der  Steissbeinspitze,  umgreift  mit  zwei  Schenkeln 
die  AfteröfFnung,  und  kann,  wie  einst  Aeolus,  nach  Umständen,  et 
premei'e,  et  laxcts  dare  jussus  Iiabencut,  Vor  dem  After  vereinigen  sich 
beide  Schenkel  zu  einer  kurzen  Sehne,  welche  beim  Manne  sich 
in  die  sehnige  Kaphe  des  Musculus  butho-aivemomis  fortsetzt,  beim 
Weibe  in  den  Constrictor  cun7ii  tibergeht. 

Der  Heber  des  Afters,  Levator  ani,  ein  breiter  und  dünner 
Muskel,  entspringt  an  der  Seitenwand  des  kleinen  Beckens,  von 
der  Spina  ossis  ischü,  vom  Arcus  tendineus  der  Fascia  ht/pogastrica, 
so  wie  auch  von  der  hinteren  Fläche  und  dem  absteigenden  Aste 
des  Schambeins.  Beide  Levatores  convergiren  gegen  den  After 
herab.  Ihr  Verhältniss  zum  Anus  gestaltet  sich  anders  für  die  hin- 
teren, mittleren,  und  vorderen  Bündel  dieses  Muskels.  Die  hinteren 
Bündel,  welche  an  der  ijpina  ischU  entspringen,  treten  nämlich  nicht 
an  den  Anus,  sondern  pflanzen  sich  theils  am  Seitenrande  des  Steiss- 
beins  ein,  wo  sie  mit  dem  Muscidus  cocc/pjeus  verschmelzen,  theils 
vereinigen  sie  sich  vor  der  Steissbeinspitze  aponeurotisch  mit  den 
gleichen  Bündeln  der  entgegengesetzten  Seite.  Die  mittleren 
Bündel,  welche  vom  Arcus  tenddneu^t  ausgehen,  treten  an  den  After, 
und  verweben  sich  mit  dem  Sphincter  ani  exfernus.  Die  vorderen 
Bündel,  welche  vom  Schambein  entspringen,  begeben  sich  als  Leva- 
tor prostatae  zur  Prostata  und  zum  Blasengrund,  bei  Weibern  zur 
Scheide.  Begreiflicherweise  werden  blos  die  mittleren  Bündel  dieses 
Muskels  den  After  einwärtsziehen  (heben). 

lieber  die  Beziehungen  des  T^^evator  ani  zur  Proätata  und  zur  Pars  ineni- 
hvaiMcea  ureihrae  handelt  ausführlich  Luschka  in  der  Zeitschrift  für  rat  Med. 
1858.  Bei  der  Untersuchung  der'Fascien  des  Mittelfleisches  (§.  323,  324),  und 
der  Steissdrüse  (§.  326)  kommen  wir  auf  diesen  Muskel  wieder  zurück. 


§.  271.  lieber  den  Sphincter  ani  tertius. 

Man  war  lange  der  Ansicht,  dass  der  im  unteren  Ende  des 
Mastdarms  sich  anhäufende  Darmkoth,  durch  Druck  auf  die  beiden 
Sphincteren,  das  Bedürfniss  der  Entleerung  veranlasse.  Dass  die 
Kothsäule  nicht  bis  zu  den  beiden  Schliessmuskeln  herabreiche, 
sondern  höher  oben  durch  einen  dritten  Sphincter  am  Herabsteigen 
gehindert  werde,  ist  eine  Thatsache,  von  welcher  die  praktische 
Chirurgie  viel  früher,  als  die  Anatomie  Notiz  genommen  hat.  Wären 
die  beiden  Schliessmuskeln  die  einzigen  Kräfte,  welche  die  Fäces 
zurückhalten,  so  müssto  bei  jeder  Operation,  durch  welche  die 
Sphincteren  zerschnitten  werden  (Operation  der  Mastdarmlistel,  Ex- 
stirpation  des  Anus,  Mastdarm-BlasenBchnitt),  das  Unvermögen  den 


694  S-  272.  Leb«r.  AeuMere  Verb&ltnisse  derselben. 

Stiihlgjuig  znrückzulialten,  sich  einstellen,  was,  laut  Zeugniss  ebirur- 
gisclier  Erfahrung,  nicht  der  Fall  ist.  Untersucht  man  den  Mast- 
darm an  Lebenden  mit  der  Sonde  oder  mit  dem  Finger,  so  findet 
man  in  der  Kegel  den  zunächst  über  den  Sphincteren  befindlichen 
Raum  desselben  leer.  Drei  bis  vier  Zoll  über  dem  Anus  stösst  die 
Sonde  auf  ein  Hinderniss,  und  kann  von  hier  aus  nur  mit  einiger 
Knaft  weiter  geschoben  werden.  Das  Hinderniss  rührt  von  einer 
permanent(in  Zusammenziehung  des  Mastdarms  her.  Diese  kann 
aber  nur  durch  die  stärkere  Wirkung  von  Ringfasern  gegeben  sein, 
und  letztere  verdienen  hier  somit  den  Namen  eines  Sphincter  tertitis, 
Nölaton  hat  ihn  als  Sphincter  am  swperior  in  die  Anatomie  ein- 
geführt. Die  Untersuchung  lehrt,  dass,  wenn  auch  nicht  immer, 
doch  in  vielen  Fällen  die  Ringfasern  des  Mastdarms  an  der  ge- 
nannten Stolle  sich  zu  einem  stärkeren  Bündel  zusammendrängen. 
Ich  habe  nur  einmal  einen  Zusammenhang  dieser  Kreisfasern  mit 
dem  Periost  des  Kreuzbeins  deutlich  erkannt  und  öffentlich  demon- 
strirt;  Velpeau  stvh  ihn  öfters  (Mcdgaigne,  anat.  chir.  pag.  379). 

Dur  Darinkoth  hat  Hich  al»o  nicht  im  unteren  Mastdarmendis  sondern  in 
der  Curvalura  Jtifjmoide<i  anzusammeln,  welche  im  leeren  ZuHtande  an  der  Seite 
des  Mastdarme»  in  die  Heckenliöblc  herabhängt ,  und  sich  durch  ihre  snccesnive 
AufUllung  so  erhebt,  dass  die  Fäces  auf  den  oberen  Schliessmuskel  drücken, 
welcher  nac.h^^iebt.  Nun  Hlcken  die  Fäces  bis  zum  Anus  herab,  und  können 
vermittelst  des  willkürlich  wirkenden  Sphincter  ani  extemtut  eine  Zeitlang  zurflck- 
gehalt4.*n  werden,  wozu  selbst  die  zusammengepressten  Hinterbacken  mitwirken 
müssen,  um  den  Kntleenmgsdrang  zu  über^vinden.  Man  hütet  sich  deshalb,  in 
dieser  kritischen  Lage  grosse  Schritte  zu  machen. 


§.  272.  Leber,  Aeussere  Verhältnisse  derselben. 

Die  Lei) er  (angelsächsisch  l/ffer,  englisch  llver,  Hepar  [f^xapj, 
H,  JvAmr,  t/n/itft  jiwffi  cor,  nach  Sp  ige  lins),  ist  das  grösstc  und 
schw(»rste  Haurheingeweide.  Sie  ist  eine  Drüse,  welche  sich  dadurch 
von  allen  and(M-(»n  Drüsen  unterscheidet,  dass  sie,  ausser  arteriellem 
Blut,  auch  venöses  Blut  durch  eine  eigene  Vene  —  Ptortader  ge- 
nannt —  zugeführt  erhält,  und,  nicht  wie  andere  Drüsen,  ihr  Secret 
jillein  aus  arteriellem  Blute,  sondern  grösstentheils  aus  dem  venösen 
Blute  der  Ptortader  bereitet.  Sie  liegt  im  rechten  Hypochondrium, 
und  erstreckt  sich  durch  die  Eeffio  epigastrica  bis  zum  linken  Hypo- 
chondrium herüber.  Sie  hat  im  Allgemeinen  eine  länglich  vier- 
eckige Gestalt  mit  abgerundeten  Winkeln.  Ihr  vorderer,  unter 
den  Kippen  und  dem  Schwertknorpel  hervorragender  Rand,  ist 
scharf,  und  mit  einem,  das  vordere  Ende  des  Ligamentum  Suspen- 
sorium aufnehmenden  Einschnitte  versehen.  In  Folge  der  durch 
den  Gebrauch  der  Schnürleibcr  bewirkten  Compression,  ragt  dieser 


§.  t72.  Leber.  AeosMre  Yerh&ltnisse  derselben.  695 

Rand  bei  Weibern  mehr  al»  bei  Männern  unter  den  Rändern  der 
Rippen  nach  abwärts  vor.  Er  lässt  sich  aber,  der  Weichheit  des 
gesunden  Leberparenchyms  wegen,  durcli  die  Bauchwand  nicht 
fühlen,  was  nur  dann  der  Fall  ist,  wenn  krankhafte  Härte  oder 
höckerige  Auftreibung  dieses  Randes  vorkommt.  Der  hintere 
stumpfe  Rand  entspricht  der  Uebergangsstelle  der  Pars  lumbalis 
diaphragmatis  in  die  Pars  costalis.  Er  steht  zugleich  höher  als  der 
vordere,  wodurch  die  Lage  der  Leber  nach  vorn  abschüssig  wird. 
Der  rechte  Rand  ist  stumpf  wie  der  hintere.  Der  linke,  scharfe 
und  kurze  Rand,  gegen  welchen  sich  die  Masse  der  Leber  allmälig 
verdünnt,  zieht  sich  in  einen  flachen  abgerundeten  Zipf  aus,  welcher 
vor  der  Cardia  des  Magens  liegt.  Die  obere,  convexe  Fläche  der 
lieber  liegt  an  die  Concavität  des  Zwerchfells  an.  Das  an  sie  be- 
festigte Idgametitum  suspensariuvi  hepatis,  bezeichnet  die  Grenze 
zwischen  dem  rechten,  grösseren,  dickeren,  und  dem  linken, 
kleineren,  und  dünneren  Leberlappen.  Die  untere,  zugleich  nach 
hinten  gerichtete  Fläche,  berührt  das  obere  Ende  der  rechten 
Niere,  und  erhält  zuweilen  von  ihr  einen  seichten  Eindruck.  Sie 
deckt  das  Ende  des  aufsteigenden,  und  den  Anfang  des  queren 
Grimmdarmes,  den  Pylorus,  und  einen  grossen  Theil  der  vorderen 
Magenfläche,  und  zerfällt  durch  drei,  sich  wie  die  Linien  eines  H 
kreuzende  Furchen,  in  vier  Abtheilungen  oder  Lappen.  Die 
Furchen  werden  als  Fossa  longitudinalis  dextra  et  sinistra,  und  Fossa 
transversa  bezeichnet.  Die  letztere  führt  insbesondere  den  Namen 
der  Pforte,  Pot^a  Iwpatis.  Rechts  von  der  Fossa  longitudinalis 
dextra  liegt  der  rechte  Leberlappen,  links  von  der  Fossa  longi- 
tudinalis sinistra  der  linke.  Vor  der  Fossa  transversa  liegt  zwischen 
den  beiden  Fossae  longitiidinales  der  viereckige,  hinter  ihr  der 
SpigeTschc  Leberlappen  (lohus  exiguus,  ab  anatamicis  nondum 
descriptuSy  Spig,  lib.  VIIL  cap,  6),  Der  lobus  Spigelii  ist  mit  einem 
stumpf  kegelförmigen  Höcker,  Tuberculum  papilläre,  und  mit  einem, 
auf  den  rechten  Lebcrlappen  sich  brückenai-tig  hinüberziehenden 
Fortsatz,  dem   Tuberculum  caudatum,  ausgestattet. 

Die  Fossa  transv&i'sa,  oder  Porta  liepatis,  scheidet  die  beiden 
Fossae  longitudinales  in  eine  vordere  und  hintere  Abtheilung.  Die 
rechte  Längenfurche  enthält  in  ihrer  vorderen  Abtheilung  die  Gallen- 
blase, in  ihrer  hinteren  die  Vena  cava  ascendens;  die  linke  Längen- 
furchc  vorn  das  Nabelband  der  Leber,  hinten  den  Ueberrest  des 
Dvxitus  venosus  Arantii,  Die  Pforte  ist  die  Aus-  und  Eintrittsstelle 
der  Gefässe  und  Nerven  der  Leber,  mit  Ausnahme  der  Venae  hepa- 
ticae,  welche  im  hinteren  Abschnitte  der  rechten  Längenfurche  in 
die   Vena  cava  ascendeiis  einmünden. 

Die  Oberfläche  der  Leber  wird  vom  Peritoneum  überzogen, 
welches    sich,    von   zwei   Stellen    de»   Zwerchfells   aus,   gegen    die 


696  6«  ^'*  Leb«r.  Aenssere  VerhAltniue  dervelben. 

Leber  einstülpt,  und  dadurch  zwei  Falten  bildet,  welche  als  Bänder 
der  Leber  beschrieben  werden.  Das  Aufhänge  band  der  Leber, 
Ligamentum  »uspensorium,  geht  von  der  concaven  Zwerchfellfiäche 
und  von  der  vorderen  Bauchwand  (bis  zum  Nabel  herab)  aus,  und 
inserirt  sich  an  der  convexen  Leberttächc,  vom  Einschnitte  des  vor- 
deren Randes  bis  zum  hinteren  Rande  ^  wo  es  mit  dem  oberen 
Blatte  des  Kranz  band  es,  Ligamentum  coronariumy  zusammenfliesst, 
welches,  ebenfalls  vom  Zwerchfell,  und  zwar  vom  hinteren  Theile 
desselben  kommend,  am  hinteren  stumpfen  Leberrandc  sich  ansetzt. 
Die  beiden  Blätter  dieser  Falten  weichen  an  der  Leber  auseinander, 
um  sie,  und  die  in  ihren  Furchen  enthaltenen  Gebilde  zu  umhüllen. 
Das  Nabelband  der  Leber  ist  ein  rundlicher  Bindcgcwebsstrang, 
wird  daher  auch  gewöhnlich  Ligamentum  teres  genannt,  kommt  vom 
Nabel  zum  vorderen  Abschnitt  der  linken  Längenfurche  herauf, 
und  liegt  im  unteren  freien  Rande  des  mit  grossem  Unrecht  so 
genannten  Aufhängebandes  eingeschlossen.  Ich  sage  „mit  Unrecht"^, 
da  das  Ligamentum  suspensmdum,  wegen  des  genauen  Anschliessens 
der  Leber  an  die  untere  Zwerchfellfläche,  gar  nie  in  eine  senkrechte 
Spannung  versetzt  werden  kann,  wie  sie  einem  Auf  hänge  bände  zu- 
kommt. Verfolgt  man  das  Nabelband  durch  die  linke  I^ängenfurche 
nach  rückwärts,  so  überzeugt  man  sich,  dass  es  mit  dem  linken 
Aste  der  Pfortader  verwächst. 

Der  Peritonealüberzug  der  Leber  setzt  sich  auch  zu  anderen 
Baucheingeweiden  fort,  und  zwar:  1.  zum  kleinen  Bogen  des  Magens, 
als  Omentum  minus  «.  hepato-gastricum,  2.  zum  Zwölffingerdärme,  als 
Ligamentum  hepato-duodenale,  3.  zum  oberen  Ende  der  rechten  Niere, 
als  Ugamentum  hepato-renale,  und  4.  zur  rechten  Krümmung  des 
Colon,  als  Ligamentum  hepato-colicum,  (3  und  4  sind  nicht  immer 
deutlich  entwickelt.)  Zwischen  dem  Ligamentum  hepatq-duodenale 
und  dem  Ligamentum  hepato-renale^  welches  zuweilen  durch  ein 
Ligamentum  duodeno-renale  vertreten  wird,  befindet  sich  eine  ovale 
oder  schlitzfiirmige  OefFnung.  Diese  ist  das  Foramen  ]Vinslovii, 
welches  zu  einem,  hinter  dem  Magen  und  dem  Omentum  minus  lie- 
genden Räume  der  Peritonealhöhle  führt,  welcher  in  der  Entwick- 
lungsgeschichte der  Verdauungsorgane  eine  bedeutende  Holle  spielt, 
und  als  Bursa  omentalis  auch  in  der  beschreibenden  Anatomie  einen 
dauernden  Platz  einnimmt,    wie  in  §.  278  ausführlich  gezeigt  wird. 

Der  vordere  Abschnitt  der  linken  Längenfurche  verwandelt  »ich,  durcli 
Connivenz  der  Furchenränder,  häufig  in  einen  Kanal,  in  welchem  da»  ninde  Leber- 
band aufgenommen  wird.  —  Eines  der  seltensten  anatomischen  VorkommniHse, 
welches  jedoch  schon  den  Haruspices  aus  der  Opferanatomie  airt  caput  hfjxUiJt 
caesum  bekannt  war,  ist  die  am  hinteren  Rande  oder  an  der  unteren  Fläche  der 
Leber  anliegende  Nebenleber  fJecur  tuccenturiatum/,  al»  ein  abgesehnfirter,  selbst- 
ständig  gewordener  Antheil  des  Leberparenchyms. 


g.  27S.  PraktiBche  Behuidlang  der  Leber  in  der  Leiehe.  697 

In  alter  Zeit  fi^alt  die  Leber  für  das  edeUte  und  wichtigste  Eingeweide, 
dem  die  Blutbereitnng  obliegt.  Man  dachte  sich  nämlich,  dass  die  Vencte  inesa- 
rnicae,  als  Wurzeln  der  Pfortader,  den  Chylus  aus  dem  Darmkanal  aufsaugen, 
und  in  die  Leber  bringen,  wo  er  in  Blut  umgewandelt  wird,  eine  Ansicht,  welche 
erst  im  siebenxehnten  Jahrhundert,  durch  die  Entdeckung  des  Milchbrustgang^s 
(Jhtcttis  thorcLciciui)  zu  Fall  gebracht  wurde.  Auf  dieser  Vorstellung  lieniht  es 
auch,  dass  man  die  Leber  den  König  der  Eingeweide  nannte  (ßaaiXsu;),  woraus 
CS  verständlich  wird,  warum  jetzt  nocli  jene  Blutader  am  Arme,  aus  welcher  man 
bei  Leberleiden  zur  Ader  Hess,    Vciia  basUica  heisst. 


§.  273.  Praktische  Behandlung  der  Leber  in  der  Leiche, 

Bevor  man  die  Lober  heraiiBuimmt,  um  ihre  untere  Fläche 
mit  deren  Lappen  und  Gruben  zu  studiren,  müssen  die  Gefössver- 
bindungen  derselben  in  der  Leiche  präparirt  werden.  Man  eröffnet 
hiezu  auch  die  Brusthöhle,  und  trägt  von  den  Rippen  so  viel  ab, 
als  nöthig  ist,  um  die  Leber  gegen  die  Lungen  hinaufschlagen  zu 
können,  wodurch  ihre  untere  Fläche  zur  oberen  wird.  Das  Liga- 
nientum  liejHüo-daodencde  sparnit  sich  dabei  strangartig  an,  und  muss, 
da  es  die  GefHsse  enthält,  welche  der  Gallenbereitung  dienen,  zuerst 
untersucht  werden.  Man  schlitzt  es  seiner  Länge  nach  auf,  und 
findet  in  ihm  eingeschlossen  ein  Oetassbündel,  in  welchem  sich 
folgende  Stämme  isolireu  lassen:  L  Die  Arteria  hepatica,  vSie  liegt 
links  und  oben  im  GefassbUndel,  und  kann  leicht  bis  zu  ihrem 
Ursprung  aus  der  Artenu  coeltiica  verfolgt  werden.  Sie  ist  von 
einem  dichten  Nervengeflecht  (Plexus  hepaticus)  allseitig  umgeben. 
2.  Der  g e  m  e  i  n  s  c  h  a f 1 1  i  c  h  e  G  a 1 1  e  n  g a  n  g ,  Ductus  choledochus  (/oXr^, 
Galle,  5£*/0(xai,  aufnehmen),  rechts  und  unten  im  Bündel  gelegen. 
Man  verfolgt  ihn  gegen  die  Leber  zu,  und  sieht  dabei,  dass  er  aus 
der  sehr  spitzwinkeligen  Vereinigung  von  zwei  Gängen  hervorgeht, 
deren  einer  aus  der  Pforte  hervorkommt,  als  Lebergallen  gang, 
Lhictm  hepuHcus,  deren  andere  aus  dem  Halse  der  Gallenblase,  als 
Gallenblasen-Gallengang,  Ditctus  cysticus.  Der  Ductus  chole- 
dochus hat  den  Umfang  eines  Federkiels;  der  Ductus  cißsticus  ist 
etwas  dünner,  i^.  Die  Pfortader,  Vena  portcie,  Sie  führt  der  Leber 
das  zur  Gallensecretion  nöthige  venöse  Blut  zu,  liegt  hinter  der 
Arteria  hepatica  und  dem  (^allengange,  und  hat  beiläufig  die  Stärke 
des  kleinen  Fingers.  Gegen  die  Porta  hepatis  aufsteigend,  theilt 
sie  sich,  wie  die  Arte7ia  hepatica,  in  zwei  Aeste,  für  den  rechten 
und  linken  Leberlappen,  welche  sich  arboris  ad  instar  in  der  Leber 
verästeln.  —  Nun  trennt  man  das  Colon  transvet*8um  von  seinen 
Verbindungen  mit  dem  Magen  und  der  Leber,  und  schlägt  es  nach 
unten.  Dadurch  wird  die  Krümmung  des  Zwölffingerdarmes  und 
der  von  ihr  umschlossene  Kopf  des  Pankreas  zugänglich.  Man 
präP*»^'*  '^-^ti  BauohfellUberzug  dieser  Organe  los,  lüftet  das  obere 


698  $.  S78.  Pnktiieli«  Behuidlnog  der  Leber  in  der  Leiche. 

Querstück  und  den  rechten  Rand  des  absteigenden  Stücks  des 
Zwölffingerdarmes,  um  den  Ductus  ckoledochus  nach  abwärts  ver- 
folgen zu  können,  und  findet,  wie  er  die  hintere  Wand  des  Duo- 
denum schief  nach  unten  und  innen  durchbohrt.  Schneidet  man 
den  Ductus  choledochm  irgendwo  an,  und  fuhrt  durch  ihn  eine  Sonde 
gegen  den  Zwölffingerdarm,  welchen  man  der  Länge  nach  öffnet, 
so  erreicht  man  seine  Ausmündungsstelle  am  inneren  Rande  des 
absteigenden  Stückes  des  Zwölffingerdarmes. 

Präparirt  man  hierauf  den  Kopf  des  Pankreas  mit  der  ihn 
umgreifenden  Curvatur  des  Duodenum  von  der  Wirbelsäule  los,  so 
findet  man  den  Zusammenfiuss  der  Vena  spleiiica,  Vena  mesefUerica, 
und  einiger  Venae  pancreaiuxie,  als  Anfang  des  Pfortaderstammes. 
Die  Pfortader  sammelt  das  venöse  Blut  aus  den  Venen  der  Milz, 
des  Pankreas,  und  des  Verdauungskanals,  und  fuhrt  es  zur  Leber, 
in  welcher  sie  sich,  nach  Art  einer  Ai-terie,  verästelt,  und  zuletzt 
capillar  wird.  Sie  gleicht  somit,  wenn  man  sie  aus  der  Leber  und 
aus  den  £ingeweiden  herausgerissen  denken  möchte,  einem  Baume, 
dessen  Wurzeln  im  Verdauungskanale,  Milz  und  Pankreas  stecken, 
dessen  Zweige  in  das  Leberparcuchym  hineinwachsen,  und  dessen 
Stamm  im  Ligamentum  liepato-duodenale  liegt.  —  Die  Nerven  be- 
gleiten als  Plexus  hepaticus  vorzugsweise  die  Arteria  hepafica.  Die 
Lymphgefasse  folgen  in  grosser  Menge  den  Gelassen,  besonders  der 
Vena  portae.  —  Das  Bindegewebe,  welches  die  genannten  Geiasse 
zu  Einem  Bündel  vereinigt,  und  welches  sich  vom  gewöhnlichen 
Bindegewebe  durchaus  nicht  unterscheidet,  begleitet  die  KamiHca- 
tionen  der  Geiasse  in  das  Lcberparenchym  hinein,  und  wurde  von 
Franc.  Glisson  (Anat.  liepatis.  Ijond,,  1GÖ4,  cap.  2S)  irrthümlich 
fiir  muskulös  gehalten,  weil  es  durch  Imbibition  von  Pfoi*taderblut 
gcröthet  erscheint  wie  Muskelfleisch,  daher  der  noch  immer  gebräuch- 
liche Name:  Capsula  ßlissofuL 

Hat  man  den  Inhalt  des  Ligamentum  hepato-duodemde  auf  die 
geschilderte  Weise  untersucht,  so  schneidet  man  das  ganze  Gefass- 
bündel  entzwei,  und  sieht  hinter  ihm  den  Stamm  der  Vena  cava 
ascendens  zum  hinteren  Leberrande  aufsteigen,  wo  er  sich  in  die 
hintere  Abtheilung  der  rechten  Längenfurche  legt,  und  daselbst  die 
Vetiae  hepaticae  aufnimmt,  welche  somit  nicht  in  der  Pforte  zu 
suchen  sind. 

Nun  wird  das  Ligamentum  Suspensorium  und  coronarium  getrennt, 
und  die  Leber,  sammt  dem  zugehörigen  Stücke  der  Vena  cava  ascen- 
dens herausgenommen,  um  die  Furchen  an  ihrer  unteren  Fläche, 
und  was  in  ihnen  liegt,  darzustellen. 

Die  Fossa  longitudinalis  dextra  enthält  in  ihrem  vorderen  Ab- 
schnitte die  Gallenblase,  und  im  hinteren  die  untere  Hohlvene,  also 
Organe,    welche    im    Erwachsenen    dieselbe    Rolle    spielen,   wie  im 


|.  S74.  OallenblM«.  699 

Embryo.  Die  Fossa  lonffitucUnalis  sinistra  dagegen  beherbergt  im 
Embryo  Venen,  welche  nach  der  Geburt  obliteriren,  und  sich  zu 
BindegewebsBträngen  metamorphosiren,  und  zwar  im  vorderen  Ab- 
schnitt die  Vena  urnbüicalü,  im  hinteren  den  Ductus  venosus  Arantii. 
Das  Nabelbaud  der  lieber,  als  Rest  der  obsolescirten  Vena  umbiU- 
calüf,  kann  leicht  bis  zum  linken  Pfortaderastc  verfolgt  werden,  mit 
welchem  es  verwächst,  und  den  Weg  anzeigt,  welchen  die  embryo- 
nische Nabelvonc  zur  Pfortader  einschlug!  Der  im  hinteren  Ab- 
schnitt der  linken  Längenfurche  enthaltene,  viel  schwächere  Rest 
des  Ductus  venosus  Arantii,  lässt  sich,  wenn  er  nicht  gänzlich  schwand, 
ebenfalls  präpariren,  und  zeigt  uns  dann  die  Richtung  an,  welche 
der  Ductus  im  Embryo  vom  linken  Pfortaderaste,  den  Lobus  Spigdii 
von  rückwärts  umkreisend,  zum  Stamme  der  Cava  ascendens,  oder 
zur  grössten,  sich  in  die  Cava  entleerenden  Lebervene,  genommen 
hatte.  —  Man  schlitzt  noch  zuletzt  die  Vena  cava  inferior  an  der 
von  der  Leber  abgewendeten  Seite  auf,  um  die  an  Zahl  und  Grösse 
verschiedenen  InsertionsöfFnungen  der  Lebervenen  zu  sehen. 

DasB  die  Veim  portae  häufig  Vena  portantm  genannt  wird  (wie  in  dem 
Adaginm  der  praktischen  Aenste:  oeiia  portarum,  porta  malorum),  erklärt  sich  aus 
Uippocrates,  welcher  die  Leberlappen,  zwischen  welchen  die  Pfortader  ein- 
tritt, ::uXa{,  d.  i.  portas  nannte,  und  die  Pfortader:  ^X^ßa,  etci  la?  JcuXa?  fjnaTo;. 


§.  274.  öallenblase. 

Die  Gallenblase,  Vesicula  s,  Cystis  fellea,  s.  Cholecystis  (von 
/OÄT^,  Galle),  liegt  im  vorderen  Segmente  der  Fossa  lonijitudinalis 
dextra.  Da  die  Absonderung  der  Galle  ununterbrochen  von  Statten 
geht,  die  Gegenwart  der  Gallo  im  Darmkanaie  aber  nur  zur  Zeit 
der  Dünndarmverdauung  bencithigt  wird,  so  muss  am  Ausfuhrungs- 
gange der  Leber  ein  Nebenbohälter  (Gallenblase)  angebracht  sein, 
in  welchem  die  (Jalie  bis  zur  Zeit  der  Verdauung  aufbewahrt  wird. 

Die  Gallen])la8e  ist  birnfiirmig,  ragt  mit  ihrem  Grunde  über 
den  vorderen  I^eberrand  etwas  hervor,  und  voi*schmächtigt  sich  nach 
hinten  zum  engen,  etwas  gewundenen  oder  mehrfach  eingeknickten 
Halse,  welcher  in  den  Ductus  cf/aticus  übergeht.  Sie  wird  nur  an 
ihrer  unteren  Flächen  und  am  Grunde  vom  Peritoneum  überzogen; 
ihre  obere  Fläche  hängt  durch  leicht  zerreissliches  Bindegewebe 
an  die  Lebersubstanz  an.  Sie  besteht  aus  einer  äusseren  Bindc- 
gewebshaut,  einer  mittleren  Muskelhaut  mit  Längen-  und  Quer- 
fasern,  und  (iiner  inneren  Schleimhaut  mit  einschichtigem  Cylindcr- 
epithel.  Die  Schleimhaut  erhält  durch  eine  Unzahl  niedriger 
Fältchen,  welche  sich  zu  kleinen  eckigen  Zellen  wie  in  einer  Honig- 
wabe gruppireu,  ein  zierlich  gegittertes  Ansehen   unter  der  Loupe, 


700  S.  875.  Bau  der  Leber. 

und  zeigt  im  Ilalfie,  wie  auch  im  Ductus  ajsticus,  eine  mehr  weniger 
Spiral  an  der  Wand  hinziehende,  mit  seitlichen  Nebenßiltchen  be- 
setzte Falte  (VcdmUa  Heisteri).  Uas  (Jylinderepithel  der  (Tallenblase 
und  der  Gallengänge,  lässt  an  der  freien  Wand  seiner  einzelnen 
Zellen,  denselben  gestrichelten  Saum  erkennen,  wie  er  am  Cylinder- 
epithel  des  Darmkanals  vorkommt. 

Die  in  der  Leber  bereitete,  und  in  der  Galienblaäe  einstweilen  auf  bewabrte 
Galle  (Rüia)  ist  eine  Lösung  von  Kali-  und  Natronsalsen,  deren  eij^entbümliche 
iSäureUf  unter  dem  Namen  der  Glycochol-  imd  Taurochulsäure  bekannt  »ind.  Sie 
enthält  ausserdem  noch  Cbolestearin  und  Lecithin,  und  zwei  Farhstuffe,  einen 
ffeibon  und  braunen.  Der  geU)e  Farbstoff  wird,  wenn  die  Gallo  in  den  Mafien 
p^elangt,  durch  die  Salzi^Hure  des  Magensaftes  höher  oxydirt,  und  nimmt  eine 
grüne  Farbe  an.  Deslialb  ist  die  erbroclicne  Galle  grün.  -  Durch  die  Mischung 
der  Galle  mit  dem  Ohjmus,  wird  die  Ausscheidung  der  nahrhaften  Bestandtbeile 
des  letzteren  auf  noch  unerforschti«  Weise  befordert,  die  Aufsaugimg  der  Fette 
des  Chylus  ermöglicht,  die  faule  Gährung  des  Chymus  verhindert,  und  die  peri- 
staltische  Bewegung  der  Gedärme  bethätigt  Ein  Theil  der  Galle  wird  resorbirt, 
ein'Theil  aber  mit  dem  Darmkoth  ausgeleert.  Sie  ist  somit  kein  blosser  Aus- 
wurfsstoff. Nebst  der  Galle  erzeugt  die  Leber  auch  Zucker,  und  zwar  durch 
einen  gährungsähnlichen  Process,  aus  einem  besonderen  chemischen  IngretÜens 
des  Leberparenchyms,  welches  man  vor  der  Hand  als  glycogene  Substanz 
bezeichnet  Der  Leberzucker  wird  aber  nicht  mit  der  Galle  ausgeführt,  sondern 
g^räth  in  das  Blut  der  Lebervenen. 


§.  275.  Bau  der  Leber. 

Wir  kennen  den  Bau  der  Leber  noch  immer  nicht  8«)  genau, 
dass  wir  auf  die  wichtige  Frage:  wie  beginnen  die  (lallengefassey 
anders^  als  mit  einer  Liste  verschiedenster  Ansichten  antworten 
könnten.  Es  werden  noch  manche  Auflagen  dieses  Buches  kommen 
und  gehen,  bevor  dieser  Satz  weggelassen  werden  kann.  Die  Wissen- 
schaft weiss  viel  über  die  mikroskopischen  Kiemente  der  Leber  zu 
sagen,  aber  noch  lange  nicht  Alles.  Das  Wenigste,  aber  Wichtigste 
von  dem  Vielen,  dränge  ich  in  folgenden  Punkten  zusammen. 

a)  Leberläppchen. 

Kiernan  hat  die  von  Malpighi  aufgestellte  Ansicht,  dass  die 
Leber  ein  Aggregat  gleichartiger  Läppchen  (Acini  8.  Lohidi)  sei, 
auf  dem  Wege  mikroskopischer  Untersuchimg  weiter  ausgeführt.  Da 
wir  unter  Acinus  die  traubeniormig  gruppirten  Endbläschen  der 
Ausfilhrungsgängc  gewisser  Drüsen  verstanden  haben,  so  leuchtet 
ein,  dass  hier  von  Leber-Acini  nicht  in  diesem  Sinne  gesprochen 
wird.  Leber-Acini  sind  keine  Gruppen  von  Endbläschen  der  Oallen- 
gänge,  sondern  Massentheilchen  des  Leberparenchyms.  Um  Begriffs- 
verwirrungen vorzubeugen,  soll  von  mir  fortan  das  Wort  LobtUiis 
statt  Acinus  gebraucht   werden «   —    Man   lässt    die    L eberlob uli   in 


§.  t76.  Bftn  d«r  L«b«r.  701 

eine  Bindegewebshülle  eingeschlossen  sein,  welche  eine  Fortsetzung 
der  mit  den  Blutgefässen  der  Pforte  bis  zum  I^obulus  gelangten 
Capsula  Glissanii  ist.  Diese  Bindegewebshülle  der  I^obuli  lässt  sich 
aber  in  der  Menschenleber  nicht  nachweisen.  E^,  H,  Weh  er  (Müller  s 
Archiv,  1843),  verwarf  sie  zuerst.  Nach  ihm  soll  die  ganze  Leber 
als  ein  einziger  grosser  Acinus  aufgefasst  werden,  in  welchem  die 
Blut-  und  die  Qallcngefasse  capillare  Netze  bilden,  so  das»  die 
Stämmchen  des  einen  Netzes,  die  Maschen  des  anderen  einnehmen. 
Diese  ineinander  steckenden  Blut-  und  Gallengefässnetze  werden 
allerdings  von  bindegewebigen  Fortsetzungen  der  Capsula  Glissotiü, 
welche  mit  den  Gefassen  der  Pforte  in  das  I^eberparenchym 
eindringen,  durchsetzt.  Diese  Fortsetzungen  bilden  jedoch  keine 
isolirenden  Begrenzungshüllen  für  kleinere,  als  Lobuli  zu  bezeich- 
nende Parenchymtheile  der  Leber.  Dennoch  wird  der  Name  „Leber- 
lobuli" noch  beibehalten,  und  versteht  man  darunter  die  kleinen 
Stellen  oder  Inselchen,  welche  an  der  Oberfläche,  und  an  Durch- 
schnitten der  lieber,  durch  ihre  dunklere  Färbung  sich  von  der 
helleren  Zwischensubstanz  bald  mehr  bald  weniger  deutlich  unter- 
scheiden. 

Jene  Anatomen,  welche  den  LobnU  der  Mensclienleber  huldigen,  gehrauchen 
hinsichtlich  ihrer  l$egrenznng  den  Ausdruck:  ^unvollkommen  getrennt**,  seihst 
„zusamnienfliessend^,  so  dass  es  ihnen  mit  der  Vorstellnng  der  Isolirtheit  der 
Lobuli  unmöglich  recht  Kmst  sein  kann.  Dagegen  lässt  sich  der  lobuläre  Bau 
in  der  Leber  des  »Schweins,  des  Octodon,   und  des  Eisbären  nicht  läugneu. 

h)    Vasa  inter-  et  hitralohularia. 

An  Durchschnitten  des  injicirten  Leberparenchyms  sieht  man 
die  Aeste  der  Arteria  hepatica  und  Vena  portae  zwiüchen  den  Lobuli 
verlaufen  und  sich  verzweigen.  Diese  Verzweigungen  werden  des- 
halb Va^a  interlohularia  genannt.  Die  ersten  Würzelchen  der  Leber- 
venen dagegen  stecken  in  der  Axe  der  Lobuli,  und  heissen  Vasa 
intralohvlaria ,  oder  Venae  centrales.  Die  Vasa  inter'  und  intra- 
lobvlaria  stehen  mittelst  eines  Oapillargefässnetzes  in  Verbindung, 
welches  den  Lobulus  durchdringt.  Die  aus  den  Gallongefasschen 
in  den  Lobulis  entspringenden  Ductus  hüiarii,  gesellen  sich  ausser- 
halb der  Lobuli,  den  Vasis  intet'lobularibus  bei.  Das  Verhältniss 
von  Blut-  und  Gallengefässen  wäre  somit  für  jeden  I^obulus  das- 
selbe, wie  es  für  die  ganze  Leber  in  §.  274  geschildert  wurde. 

c)  Leberzellen. 

Die  Leberzellen  sind  die  eigentlichen  Absonderungsstätten  der 
Gallenbestandthoile  (Secretionszellen).  Sie  bilden,  sammt  den  Blut- 
und  Gallengefassen,  die  Substanz  der  Lobuli.  Die  Zellen  eines 
Lobulus  haben  ungleiche  Grösse.  Die  der  Axe  des  Lobulus  näher 
liegenden,  sind  grösser,  als  die  davon  entfernteren.  Ihr  mittlerer 
Durchmesser    beträgt    0,007    Linien.      Die    Leberzellen    füllen    die 


702  §.  >76.  Bftn  d«r  Leber. 

Maschen  des  Capillargefiissnetzes  in  den  Lobuli  aus.  Unregelmässi«^ 
polyedrisch  an  U^estalt^  enthalten  die  Leberzellcn  einen  oder  zwei 
Kerne.  Zwischen  Kern  und  Hülle  der  Zellen  befindet  sich  eine 
zuweilen  mit  Fetttröpfchen  gemischte,  und,  besonders  in  den  Lebern 
von  Gelbsüchtigen,  dunkel  grüngelbe  Flüssigkeit,  welche  zahlreiche 
Körnchen  führt,  —  das  ölycogen,  eine  stickstofffreie,  mit  Jod- 
tinctur  sich  roth  fUrbende,  sich  in  Zucker  umsetzende,  ohne  Rück- 
stand verbrennende  Substanz,  welche  als  solche  auch  in  den 
Muskeln,  und  in  vielen  Organen  des  Embryo  angetroffen  wird. 

d)  Anfänge  der  Qallengefässe. 

Hierüber  herrschen  verschiedene  Ansichten.  Folgende  von 
ihnen  haben  achtbare  Namen  zu  Vertretern. 

1.  Die  Gallengefasse  in  den  Lobuli  bilden  Netze.  Die  Wand 
dieser  Netze  ist  structurlos,  und  wird  aus  den  Wänden  der  linear 
an  einander  gereihten,  und  durch  Resorption  der  Berührungsseiten 
in  einander  geöfiiieten  Leberzellen  gebildet  (Hassall,  E.  H.  Weber). 

2.  Die  structurlose  Wand  der  Gallenge fiisse  im  Lobulus  ist 
eine  Fortsetzung  der  bindegewebigen  Wand  der  Gallengefiisse  ea'tra 
lobtdum,  und  die  Leberzellen  sind  die  Epithelien  der  intralobulären 
Gallengofilsse  (Kruckenberg,  Schröder  van  der  Kolk). 

3.  Die  LeberzcUen  gruppiren  sich  zu  Balken,  in  deren  Inne- 
rem ein  nur  von  diesen  Zellen  begrenzter  Gang  enthalten  ist, 
welcher  die  von  den  Zellen  bereitete  Galle  aufnimmt.  Die  Baiken 
der  Leberzellcn  bilden  ein  Netzwerk,  welches  die  Maschen  des 
capillaren  Blutgefassnetzes  ausfüllt  (Beale,  Eberth). 

4.  Die  Anfange  der  Gallengefasse  in  den  Lobuli  entbehren 
einer  eigenen  Wand,  und  sind  Intercellulargänge  zwischen  den 
Leberzellen  (Henle,  Luschka,  Hering,  und  alle  Neueren).  In 
Hering^s  Arbeit  über  die  Wirbelthierleber  (Sitzungsberichte  der 
Wiener  Akad.  1866  und  1867)  wird  hervorgehoben,  dass  die  Leber- 
zellen die  Maschen  des  Capillargefiissnetzes  der  Lo])uli  so  ausfüllen, 
dass  jede  Leberzelle  zwischen  je  vier  oder  drei  Capillaren  wie 
eingezwängt  liegt,  und  zugleich  mit  «acht  bis  zehn  Nach])arz(^llen  in 
inniger  Flächenberührung  steht.  Theils  zwischen  den  stumpfen 
Kanten  der  zusammenstossenden  Leberzellen,  theils  in  der  lUv 
rührungswand  je  zweier  Zellen,  befinden  sich  die  einer  Ki«;einvand 
entbehrenden  Intercellulargänge ,  als  Auffinge  der  Ciallen^rfasse 
(Gallencapillaren).  Wo  und  wie  die  noch  mit  Wandun«:jen  ver- 
sehenen Gallengänge  zwischen  den  Lobuli,  mit  den  wandlosen  Inter- 
cellulargängen  in  den  Lobuli  in  Verbindung  stehen,  wird  nicht  g(  sagt. 

Die  Wand  der  Htürkeren  GallenpÄnpo  besteht  au«  Schleimhaut,  mit  ein- 
schichtigrein  Cylinderepithel,  nnd  ans  einer,  mit  or^nischen  Muskelfasern  ver- 
sehenen Bindegewebsschicht.  Die  feineren  Gallongang^veraweig^ng>en  lassen  einen 


§.  276.  Die  BandiBpeichcldrAte.  703 

Unterschied  zwischen  Schleim-  and  Bindegewebsmerabran  nicht  mehr  erkennen, 
und  die  Wand  der  feinsten  Aestchen  derselben  soll  nur  epithelialer  Natur  sein. 
In  den  Wänden  aller  GallengSnge  grösseren  Kalibers  finden  sich  kleine  Drüschen 
eingelagert.  Sie  sind  in  der  Gallenblase  und  im  Ducttu  cysUcua  viel  spärlicher, 
als  in  den  Ramificationen  des  Ductus  hepatieus,  Luschka  giebt  ihre  Zahl  in 
der  Gallenblase  nur  auf  sechs  bis  fünfzehn  an.  Sie  haben  entweder  die  Form  rund- 
licher, acinosähnlicher  Drüschen,  oder  blinddarmfbrmlg  verlängerter  Schläuche, 
welche  einzeln,  oder  mehrere,  zu  einem  gemeinschaftlichen  Gang  zusammen- 
tretend, in  den  Gallengang  einmünden.  —  Es  verlautet  in  neuester  Zeit,  dass  die 
Capillargefasse  der  Leberlobuli  von  Lympliräumcn  umgeben  sind,  welche  mit  den 
die  Va9a  irUerlobtdaria  begleitenden  tiefen  Lymphgefassen  der  Leber  in  Zu- 
sammenhang stehen  (Gillavry).  Kisselew  beschreibt  selbst  das  Epithel  dieser 
perivasculären  L3rmphräume. 

Der  Ductus  hepatieus  giebt  schon  vor  seinem  Eintritt  in  das  Leberparen- 
chym  Zweige  ab,  welche  sich  in  der  Ccvpsula  Olissonü  und  im  Bindegewebe  der 
grossen  Leberfurchen  zu  oberflächlichen  Netzen  vereinigen,  deren  Ausläufer  sich 
in  das  Parenohym  der  Leber  einsenken,  und  sich  daselbst  wie  die  parenchjrma- 
tösen  Verzweig^gen  des  Ductus  hepaUcus  verhalten. 

Zwischen  den  beiden  Blättern  des  Ligamentum  cxyronarium  hepalis,  beson- 
ders seines  linken  Flügels,  tauchen  Gallengänge  aus  der  Substanz  der  Leber  auf, 
um  durch  wechselseitige  Anastomosen  Netze  zu  bilden.  Auch  in  den  Furchen 
der  Leber  findet  man  solche  extraparenchymatöse  Gallengefässe.  Sie  werden 
durch  Injection  des  Ductus  hepatieus  sehr  leicht  dargestellt.  Man  nennt  sie  Vasa 
aberrantia.  Bei  Herde  (Anat  2.  Bd.)  findet  der  Leser  alles  Historische  hierüber 
zusammengestellt 


§.  276.  Die  Bauchspeicheldrüse, 

Die  Bauch  Speicheldrüse,  Pancreas,  hält  in  ihrem  Exterieur 
und  in  ihrem  Baue,  den  Typus  der  Speicheldrüsen  ein,  zählt  also 
zu  den  zusammengesetzten  acinüsen  Drüsen,  mit  länglichen  keulen- 
förmig gestalteten  Acini.  Sie  spielt  bei  dem  Verdauungsgeschäfte 
eine  grosse  Rolle,  da  die  Umwandlung  des  Amylum  der  Nahrungs- 
mittel in  Dextrin  und  Traubenzucker,  dem  eiweissreichen  und  alka- 
linischen  Sticcus  pancreaticus  obliegt. 

Das  Pankreas  lagert  hinter  dem  Magen,  vor  der  Pars  lum- 
halis  diaphragmafis  und  der  Aorta  abdominalis,  und  grenzt  mit  seinem 
linken  schmächtigen  Ende  (Cauda)  an  die  Milz,  mit  dem  rechten 
dickeren  (Caput)  an  die  eoncave  Seite  der  Zwölffingerdarmkrümmung. 
Der  irauptausführungsgang  dieser  Drüse,  Ductiis  pancreaticus  s.  Wir- 
sunifianvs,  folgt  ihrer  T^ängenaxe,  und  wird  von  den  Acini  ringsum 
so  umschlossen,  dass  er  nirgends  zu  Tage  liegt.  Die  kleinen  Aus- 
führungsgänge der  einzelnen  Acini  münden  rechtwinklig  in  den 
Hauptgang  (daher  der  ])ei  Cruveilhier  gebrauchte  Ausdruck  mitte' 
pattes,  Tausendfuss).  Der  Ductus  pancrexiticus  verbindet  sich  mit 
dem  Ductus  choledocims,  während  dieser  zwischen  den  Häuten  des 
Duodenum    verläuft.     ^  ^^mnach    eine    gemeinsame 


704  t-  ^«-  D*e  Bmmdktfn€ht]4i*a*. 

Oeffimng  im  Daodenam.  Xur  sehen  sah  ich  zwfi  aparte,  durch  » ii* 
Qaerfaltchen  von  einander  getrennte  Ostia. 

Im  Kopf  de%  Pankreas  zweigt  sieb  roni  JJurttu  panrr^atictt^  nicht  ^1t<rn 
«^n  «tarker  Ht-iUfnatt  ab,  wfirber  die  Aneföbmngsgänife  der  f?rö««<?ren  MehrzaLl 
der  Arini  de«  pMikrea«ko|ffeff  anfnimiDt,  nnd  eine  be<w>nJere  EinroGndnn^  in  den 
ZwOlflSogerdArm  befritzt,  ond  zwar  einen  bis  andertbalh  Zoll  fil>er  der  Mundun? 
de«   iPuHuM  ehfil^ilctkuM,     £r  heilst  DhHu»  Santarmi. 

Als  Neben  Pankreas  lassen  sich  jene  drflsi|^n.  dem  Pankreas  grl^i«*)' 
geliaaten  Massen  bezeichnea,  welche  von  Klob,  Zenker,  nnd  mir.  in  drr 
Ma^nwand  (untere  Conratar),  in  der  Wand  de«  Dünndarms  (oberste  S<'hling** 
des  Jejaniun;,  und  in  dem  Mesenterinro  eines  Dfinndarm-Divertikels  )>eobarhtet 
wnrden.  Bie  besitzen  l>esondere,  in  die  Magen-  oder  Darmboble  einmündend«? 
AnsfiUiningiginge.  Klc6,  Zeitschrift  der  Wiener  Aerzte.  1869:  Zenker,  Archiv 
für  patli.  Anat,  1861;  JI^,  Hitzongsberichie  der  kais.  Akad.,  1866. 

Wenn   man   das   kleine   Netz   vom   oberen   Magenbogen   abtrennt,   nnd  den 
Magen  etwas  herabzieht,  bekommt  man  den  mittleren  Theil  des  Pankreas  zu  Ge- 
sichte,    Um  es  ganz    zu    fibersehen,    moss    anch    das    grosse  Netz  nnd  das  Lipa- 
merUmn  yatlra-Uneale  Tom   grossen   Magenbogen  abgelQst,  nnd  der  Magen.  je(lr»cii 
ohne  Milz,  gegen  den  Thorax  hinaufgeschlagen  werden.  Man  sieht   das  Pankreas«. 
Iiedeckt  vom  hinteren  Blatte  der  Bursa  omerUalU,  qaer  vor  der  Wir)>elȊule  liegen. 
ond  sich  von  der  Milz   bis  in  die  Curvatar  deK  Daodenam  erstrecken.     Prä|»anrt 
man  niui  den  J/iaius  aarUais    des    Zwerchfells,    vor    welcliera    das    Pankreas  vi»r- 
l»eistreicht,    so   sieht  man  aas  ihm  eine  knrze,  aber  starke  unpaarige  Arterie  her- 
vorkommen. Diese  ist  die   Arteria   eoeliaea,   welche   sich,   sobald   sie  zwischen  den 
Hchenkeln    des    liiatas    heraasgetreten ,    in    drei    Aeste    tlieilt:    Artrria    hepaiira, 
ArterUi  coronaria   venirictili   ituperinr  smUtra,   nnd   Arteria  linealijt.     Letztere  zieht 
am  ol>eren  Rande  des  Pankreas  mit  der    Vena  »pletiica,  welche  unter  ilir  liegt,  zur 
Milz.   Am   unteren   Rande   des   Pankreas  tritt   der  zweite  unpaarige  Ai>rtenast 
Artri-ia  nieMeiUerira  superior  —  in  das  Mesenterium  des  Dfinndamix    ein.     Wenien 
nun  einige  von    den    oberflächlich    gelegenen    Acini  des  Pankreas  helint8ain  weg- 
genommen, so  braucht    man    damit    nicht   tief   zu    gehen,  um  den  in  <ler  Axe  der 
Drihf  verlaufenden,  dünnhäutigen,  graiilichweissen    IhtctuM  paiirrfaticti.s  zu  6tulen, 
welchen  man  öfTnet,  eine  8onde  gegen  da«  Dnodenuni  einleitet,  nnd  durch  5»ie  zur 
Einmündung    «les  Ganges    in    das    Ende    des  Ductiu  choledochuH  geführt  wird.   — 
Der    iJuctuM  jmncrecUicim   bestellt   aus    Schleimhaut   mit    Cylinderepithel ,    und    aus 
einer    Hindegewehsschiclit    mit    sehr    spärlichen    organisdien    Muskelfasern.       Das 
Cylinderepithol  wird  in  <len  feineren  Ramificationen  de««  (fange»,  und   in  den  läng- 
lichen keulcnfönnigen  Acini,  so  hoch,  dass  nur  ein  sehr  enges   Lumen  frei  hleiVit. 
Der  Ausfüll rungsgang   des    Pankreas   wurde,    ir»42,  von  Georj^  Wirsung. 
einem  Haier,  in  Papilla  am  Menschen  entdeckt,  nachdem  Moritz  II  offmann  den- 
selben etwas  früher  im  Tnithahn  aufgefunden,  und  dem  Wirsung  g»'zeifrt  hatte. 
1C43  fiel   Wirsung   durch  Mörderhand.     Hoffniann    wurde   Professor   der    Ana- 
tomie  in    Altilorf,    allwo    lange  Jahre  hindurch,    seine   Entdeckung  alljährlich   von 
den  Aerzten  durch  ein  (üastmal  gefeiert  wurde.  Haller,  liUd.  anaf.    T.   I.  p.  4U!. 
Das  Wort   l'ancreajt    (ans    t.olu    und    xpsa;,    d.  i.  Fleiscli,    zusaniuiengeset/.t ) 
wird  uns  erst  verständlich,    wenn    wir   bedenken,   dass   die  Worte  zpfac  und  rtuo, 
von  den  Alten,  nicht  hios  für  Muskelfleisch,  sondern  auch  für  Drüsensub.st'inz  ge- 
braucht wurden;  Panrrt^uM   somit   ein    Ausdnick    ist,    welcher   so  viel   hedeutet,  al:^ 
„ganz    aus    Drüsensubstanz    bestehend".         Dass  aueh  die    tieutscli«'   ana- 
tomische Sprache  unter  „Fleisch"  nicht  immer  das  Muskelfleisch  versteht,  beweist 
das  Wort  „Zahnfleisch*'. 


§.  277.  Mlli.  705 


§.  277.  Milz. 

Nur  gezwungen  schliesst  sich  die  Milz  (vom  angelsächsischen 
rnilt,  —  Iden,  Splm,  das  griechische  oxXt^iv)  den  Verdauungsorganen 
an.     Die   noch   immer   fehlende  Aufklärung   über  ihre  räthselhafte 
Verrichtung,  könnte  allein  entscheiden,  ob   sie  mit  Recht  oder  Un- 
recht  zu   den  Verdauungsorganen   gezählt  wird.     Als  ein  drüsiges, 
ungemein  gef&ssreiches  Gebilde  ohne  Ausführungsgang  (Gefassdrüse, 
Ganglion   vasculosum),    liegt    sie    am    FundiLS   ventriculi,    im    linken 
Hypochondrium.     Sie   ist  von   braun-  oder   violettrother  Farbe,  hat 
die  Grösse  einer  Faust,  die  Gestalt  einer  Kaffeebohne,  ein  Gewicht 
von  vierzehn  bis  achtzehn  Loth,  und  eine  teigige  Consistenz.    Ihre 
äussere,    zugleich    obere,    convexe    Fläche,     schmiegt    sich    der 
Concavität  des  Rippenthcils  des  Zwerchfells  an.  Ihre  innere,  dem 
Magengrunde    zugewendete   Fläche,    wird   durch   einen    auf  einem 
erhabenen    Rücken   angebrachten  Längeneinschnitt  (Hüvs)   in  zwei 
schwach  concave  Facetten  abgetheilt,  von  denen   nur   die   vordere, 
grössere,  an  den  Fundus  ventriculi  anliegt,  die  hintere,  kleinere,  mit 
dem  linken  Lumbaltheil  des  Zwerchfells  in  Contact  steht.   Ihr  vor- 
derer Rand  ist  etwas  schärfer  als  der  hintere,  und  gegen  das  untere 
Ende,  mit  unconstanten    Kerben   eingeschnitten,    deren  eine  so  tief 
werden  kann,  dass  ein  Theil  der  Milz  dadurch  vollkommen,  als  so- 
genannte  Nebenmilz,    Li&ii   succenturiatus ,    von    dem   eigentlichen 
Körper   der   Milz   abgetrennt  wird.     Diese  Form  von  Nebenmilzen 
gehört  jedoch    zu   den    grossen    Seltenheiten.     Häufiger    wird  eine 
kleine  Nebenmilz,  von  der  Grösse  einer  Erbse  oder  kleinen  Kirsche, 
an  der  unteren  Fläche  des  Meaocolon  transversum  angetroffen,  welche 
natürlich    nicht   für   einen    abgeschnürten   und   selbstständig  gewor- 
denen Theil  der  eigentlichen  Milz  angesehen   werden  kann,    da  ein 
solcher    an    der    oberen    Fläche    des    Mesocolon    transversum    liegen 
müsste. 

Der  Peritonealüberzug  der  Milz  stammt  als  Ligamentum  gastro- 
lineale  vom  Magcngrundc,  und  als  Ligamentum  phremco-lineale  vom 
Zwerchfell  her.  Unter  der  Peritonealhaut,  und  untrennbar  mit  ihr 
verwachsen,  folgt  die  Tunica  propria  lienis,  eine  dichte,  aber  nicht 
eben  dicke  Bindegewebshülle,  welche  am  Hilus  in  das  Milzparen- 
chym  eindringt,  und  Scheiden  für  die  daselbst  wechselnden  Blut- 
gefässe bildet.  Sucht  man  sie  von  der  Oberfläche  der  Milz  abzuziehen, 
so  gelingt  dieses  nur  schwer  und  unvollkommen,  indem  eine  Unzahl 
von  verästelten  Fortsätzen  derselben,  welche  elastische  Fasern  und 
sehr  reichliche  glatte  Muskelfasern  enthalten,  in  das  weiche  Mik- 
parenchym  eindringen,  als  Trahecvlae  lienis  (Milzbalken).  Diese 
contractilen   Elemente    in   der   Architektur    der   Milz,    reagiren  auf 

Uyrtl,  Lehrbach  der  Anatomie    U.  Aufl.  ^ 


706  §.  277.  MUs. 

elektrische  Reizung  sehr  auffallend^  und  bedingen  durch  Contraction 
der  Venen,  und  dadurch  gegebene  Austreibung  des  venösen  Blutes, 
eine  rasche  Verkleinerung  der  Milz,  welche  bei  Erschlaffung  der 
Muskelfasern  wieder  schwindet.  Viele  von  diesen  Balken  folgen 
nämlich  den  Venenverzweigungen,  verstärken  und  fixiren  ihre  Wand, 
und  verhindern  ihren  Collapsus,  wenn  die  Milz  durchschnitten  wird. 
Aehnliche  verästelte  Balken  gehen  auch  von  den  die  Blutgefässe  in 
das  Milzparenchym  hinein  begleitenden  Scheiden  ab,  verbinden  sich 
mit  ersteren,  und  erzeugen  auf  diese  Weise  ein  lückenreiches  Fach- 
werk, von  welchem  man  durch  Kneten  und  Auswaschen  einer 
etwas  macerirten  Milz,  eine  gute  Ansicht  erhält.  Die  weiche,  braun- 
rothe  Masse,  welche  die  Lücken  des  Fachwerks  einnimmt,  heisst 
Pulpa  lienis. 

Die  Pulpa  UenU  besteht  ans  einem  feinen  Fasei^erflBte,  welches  den  ander- 
weitigen Elementen  der  Pulpa  als  Stütze  dient,  und  mit  dem  in  den  Lymphdrüsen 
Torfindlichen  Fasemetze  (ReHeulumJ  die  grösste  Uebereinstimmung  besitzt  In 
den  Maschen  des  Fasemetzes  der  Pulpa  lagern  massenhaft  Lymphkörperchen,  in 
allen  Stadien  der  Entwicklung.  Zwischen  diesen  LymphkOrperchen  stosst  man 
auf  grössere  Zellen,  welche  entweder  kömiges  Pigment  (Haematoidin),  oder  wirk- 
liche rothe  Blutkörperchen  enthalten.  Von  letzteren  glaubt  man,  dass  sie  in 
diesen  Zellen  ihrer  endlichen  Auflösung  unterliegen,  und  in  Pigment  zerfallen, 
während  Andere  sie  für  neugebildete  Blutkörperchen  halten,  welche  ihre  Rolle 
noch  nicht  ausgespielt,  sondern  erst  anzutreten  haben.  —  Das  Faserg^rüst  der 
Pulpa  steht  1.  mit  den  Milzbalken  (TrabeculaeJ,  2.  mit  den  Bindegewebsscheiden 
der  Blutgefässe,  und  3.  mit  den  Malpighi*schen  Körperchen  der  Milz  in  directem 
Zusammenhang.  Die  Malpighi*schen  Körperchen,  deren  Zahl  und  Grösse  (ohn- 
gefähr  ein  Sechstel  einer  Linie)  bedeutenden  Variationen  unterliegt,  sitzen  entweder 
einzeln  oder  zu  mehreren,  auf  den  arteriellen  GefUssverzweigungen  der  Milz  aul 
Sie  besitzen  eine  bindegewebige  Hülle,  welche  von  der  Scheide  des  betreffenden 
Oefasses  stammt,  und  welche  im  Innern  des  Körperchens  ein,  dem  Fasergerüste 
der  Pulpa  ähnliches,  nur  etwas  gröberes  Netzwerk  erzeugt,  in  welchem  sich 
Lymphkörperchen  und  dieselben  blutkörperchenh&ltigen  Zellen  vorfinden,  wie  in 
der  Pulpa.  Gewöhnlich  durchdringen  feine  Zweigchen  jener  Arterie,  auf  welcher 
die  Malp  ig  hinsehen  Körperchen  aufsitzen,  das  Innere  derselben.  Die  Mal- 
pighi^schen  Körperchen  stimmen  mit  den  Alveolen  der  Lymphdrüsen  baulich 
ganz  ttberein. 

Die  Aeste  der  Milzarterie  verzweigen  sich,  den  Balken  entlang,  und  inner- 
halb derselben,  in  immer  kleinere  und  kleinere  Zweige.  Nur  eine  Strecke  weit 
halten  diese  Zweige  mit  den  Venen  gleichen  Schritt,  trennen  sich  aber  dann  von 
ihnen,  und  senken  sich  in  das  Faserg^rüste  der  Pulpa  ein,  wo  sie  in  Büschel 
kleinster  Reiserchen  —  die  PenicUU  von  Prochaska  —  zerfallen.  Diese  Reiser- 
chen  nun  sollen  nach  Billroth  in  der  Pulpa  zu  unregelmässig  gestalteten,  viel- 
fältig verschlungenen,  wandlosen  Gängen  werden,  so  dass  ihr  Blut  das  Faser- 
gerüste der  Pulpa  und  die  in  derselben  eingelagerten  Lymphkörperchen  frei 
bespült.  Die  wandlosen  Blutbahnen  werden  dann  wieder  zu  kleinen  Venen, 
welche  in  grössere  übergehen.  Schneidet  man  eine  dieser  gprösseren  Venen  der 
Milz  der  Länge  nadi  auf,  so  zeigt  ihre  innere  OberÜächo  ein  siebartig  durch- 
brochenes, durch  die  zahlreichen  Einmündungen  der  kleineren  Venen  bedingtes 
Ansehen.     Diese  Oetfnung^n  sind  die  StiynuUa  Malpighii, 


§.  978.  Banchfell.  707 

Dieser  SchUdening  zu  Folge,  wftre  die  Milz  architektomsch  einerseits  mit 
den  Lymphdrüsen,  andererseits  mit  den  Schwellgewebeu  verwandt,  —  ein  unselig 
Mittelding  zwischen  beiden,  um  welches  sich  noch  viel  schreibseliges  Gezanke 
drehen  wird.  Die  Aehnlichkeit  mit  Lymphdrüsen  würde  sich  noch  befriedigender 
herausstellen,  wenn  wir  über  das  Verhalten  der  LymphgefUsse  zur  Milzpulpa  besser 
unterrichtet  wären.  Bis  wir  dieses  sein  werden,  müssen  wir  zugestehen,  dass  die 
Milz,  trotz  so  vieler  Mikroskopie,  und  einer  die  Verwirrung  täglich  mehrenden, 
massenhaften  Literatur,  heutzutage  nicht  viel  Besseres  ist,  als  was  sie  zu  Galen*8 
Zeiten  war:  ein  myaterii  plenum  organon.  Es  lässt  sich  somit  auch  zur  Stunde 
nicht  erklären,  warum  bei  den  in  der  Milzpulpa  auf  Bildung  oder  Rückbildung 
der  Blutkörperchen  hinzielenden  Vorgängen,  die  Exstirpation  der  Milz  kein  absolut 
tödtlicher  Eingriff  ist.  —  Eigenthümliche  Endapparate  an  den  grauen  Fasern  der 
Milznerven,  als  elliptische,  kernhaltige  Gebilde,  wurden  von  Seh  weigger- Seidel 
und  W.  Müller  beschrieben. 

Die  eingehendsten  Gewebsuntersuchungen  der  Milz  verdanken  wir  Bülroth 
und  Schweigger- Seidel,  im  Archiv  für  path.  Anat.  Bd.  20  und  23.  Dasselbe  Archiv 
enthält  auch  die  Arbeiten  von  Axel  Key  (22.  Bd.),  von  Süeda  (24.  Bd.),  so  wie 
die  Zeitschrift  für  rat.  Med.  (3.  F.  18.  Bd.)  die  Abhandlungen  von  W.  Müller  und 
Timm.  —  lieber  Lymphgefässe  der  Milz  handelt  Tomaa,  Wiener  Sitzungsberichte, 
1864.  —  Der  kurze,  in  bündigster  Klarheit  geschriebene  Aufsatz  von  W.  Müüer 
(Milz)  in  Stricker*8  histologischem  Handbuch,  schliesst  mit  einem  vollständigen 
Literaturverzeichniss. 


§.  278.  Bauchfell. 

Das  Bauchfell,  Peritoneum,  sollte  richtiger  Pentonaeum  ge- 
schrieben werden,  da  es  aus  dem  Griechischen  stammt :  to  irepiTovatov 
Sipixa,  welcher  Ausdruck  von  x6piTe(va),  d.  i.  umspannen,  abgeleitet 
ist.  Peritoneum  bedeutet  also  die  Umspannungshaut  der  Unter- 
leibseingeweide. Dasselbe  kann  als  ein  zusammenhängendes  Ganzes 
erst  dann  studirt  werden,  wenn  alle  Einzelheiten  der  Lage  und  der 
Verbindungen  der  Verdauungsorgane  bekannt  geworden  sind.  Da 
das  Peritoneum  auch  die  kleine  Beckenhöhle  bis  zu  einer  gewissen 
Tiefe  herab  auskleidet,  tritt  es  zu  den  in  der  Beckenhöhle  ent- 
haltenen Organen  des  Harn-  und  Geschlechtssystems  in  dieselbe 
Beziehung,  wie  zu  den  Verdauungsorganen. 

Das  Bauchfell  ist  die  umfangreichste  und   complicirteste  aller 

serösen  Membranen.     Dasselbe  bildet  also,   wie   alle  serösen  Häute, 

einen   vollkommen   geschlossenen  Sack,    welcher   theils   die   innere 

Oberfläche    der    Bauch-    und    Beckenwandungen    überzieht,     theils 

durch    die    Eingeweide,    welche    sich    in    den   Sack   hineindrängen, 

faltenartig  eingestülpt  wird.     Hierauf  beruht   die  allgemein  übliche 

Eintheilung  des  Bauchfells  in  ein  Peritoneum  parietale  und  viscerale^ 

Nur  im  weiblichen  Geschlechte  ist  das  Peritoneum  kein  vollkommen 

geschlossener  Sack;   sondern   hat   zwei  OeflFnungen:  die  Ostia  abdo- 

minalia  der  Tubae  Fallopia$iae.  Bindegewebs-  und    elastische  Fasern 

bilden  das  Substrat  des  Bauchfells. 

46* 


708  §.  878.  Bauchfell. 

Die  innere  Oberfläche  des  Peritoneum  painetale,  und  die  ihr 
zugekehrte  äussere  des  Peritoneum  vUcerale,  besitzen  Plattenepithei, 
und  sind  glatt,  feucht  und  schlüpfrig.  Beide  Oberflächen  werden 
durch  den  Druck,  welchen  die  Bauchpresse  auf  die  Unterleibs- 
organe ausübt,  in  inniger  Berührung  gehalten.  Es  bleibt  nirgends 
ein  Zwischenraum,  welcher  sich  erst  bildet,  wenn  bei  Bauchwasser- 
süchten oder  Verwundungen,  Wasser  oder  Blut  in  die  Höhle  des 
Peritoneums  ergossen  wird.  Die  Glätte  der  freien  Fläclien  erleichtert 
das  Hin-  und  Hergleiten  der  beweglichen  Eingeweide,  wie  solclies 
mit  ihrer  Füllung  und  Entleerung,  mit  ihrem  peristaltischen  Motus, 
und  ihrer  Verschiebung  bei  den  Athmungsbewegungen  gegeben  ist. 
Die  äussere  Fläche  des  Peritoneum  parietale  hängt  durch  kurzes 
Bindegewebe  (Textus  ceUuloms  subperüonealü  8.  subseroms),  mit  der 
inneren  Obei*fläche  der  Bauch  wand  zusammen,  und  die  innere 
Fläche  des  Peritoneum  viscerale  wird  mit  der  äusseren  Oberfläclie 
der  Eingeweide  auf  dieselbe  Weise  verbunden.  Das  subseröse 
Bindegewebe  des  Peritoneum  parietale  enthält  in  der  unteren  Ab- 
theilung der  Bauchhöhle  mehr  Fett,  als  in  der  oberen.  Einzelne 
Fettklumpen  können,  wenn  sie  in  der  Nähe  des  Leisten-  oder 
Schenkelkanals,  oder  des  Nabelringes,  liegen,  durch  diese  nach 
aussen  dringen,  und  Bruchgeschwülste  vorspiegeln  (Herniae  adiposae), 
welche,  wenn  sie  grösser  werden,  das  Peritoneum  beutelartig  nach 
sich  ziehen,  und  secundär  eine  wahre  Hernie  veranlassen. 

Der  Verlauf  des  Peritoneum  parietale  differirt  in  der  Becken- 
höhle beider  Geschlechter.  Im  Manne  steigt  es  vom  Nabel  herab, 
um  den  Scheitel  und  die  hintere  Wand  der  Harnblase  zu  über- 
ziehen, macht  dann  einen  Sprung  zur  vorderen  Fläche  des  Mast- 
darms, an  welcher  es  wieder  zur  hinteren  Wand  der  Bauchhöhle 
emporzieht.  Zwischen  Harnblase  und  Mastdarm  bildet  das  Peri- 
toneum somit  einen  Blindsack  (Excavatio  vesico-rectalis),  welcher  bei 
leerer  Harnblase  einige  Schlingen  des  Intestinum  ileum  enthält,  und 
an  dessen  Grunde  die  beiden  nach  innen  concaveu  Plicae  semi- 
lunares  Doufßasii  gesehen  werden,  welche  sich  vom  Blasengrunde 
zu  den  beiden  Seiten  des  Mastdarms  hinziehen,  und  stärker  vor- 
springen, wenn  man  den  Blasengrund  nach  vorn  drängt.  Da  die 
beiden  Falten  mit  ihren  vorderen  oder  hinteren  Enden  auch  in 
einander  verfliessen  können,  und  dann  nur  Eine  Falte  mit  hinterer 
oder  vorderer  Concavität  gegeben  ist,  so  liest  man  hie  und  da  die  Plicae 
Douglasü  auch  im  Singular.  —  Beim  Weibe  drängt  sich  der  Uterus 
mit  seinem  Zugehör  (Tuias,  Ovaria,  Ligamenta  rotunda)  zwischen 
Harnblase  und  Mastdarm  von  unten  her  in  die  Excavatio  vesico- 
rectalis  ein,  und  hebt  ihren  Grund  als  Querfalte  auf,  welche  die 
Excavatio    vesico-rectalis    in    zwei    kleinere    theilt,    von    welchen    die 


§.  278.  Bancbfell.  709 

vordere:  Excavatio  vesico-uterina,  die  hintere  (viel  tiefere):  Excavatio 
ute^'o-rectalis  genannt  wird. 

Die  Reste  der  paarigen  Nabelarterien  an  den  Seiten  der  Blase 
(Chordae  umbüicales),  und  der  vom  Blasenscheitel  zum  Nabel  auf- 
steigende Rest  des  ürachus,  erhalten  faltenartige  Ueberzüge  vom 
Bauchfell,  ebenso  die  vom  Poupar  tischen  Bande  zur  hinteren 
Fläche  des  geraden  Bauch muskcls  schräg  aufsteigende  Arteria  und 
Vena  epigastrica  infenor  (Plica  epigastnca).  An  der  äusseren  Seite 
der  PUca  epigastrica  geht,  bei  Embryonen  männlichen  Geschlechts, 
ein  sackförmiger  Fortsatz  des  Bauchfells  (Processus  vaginalis)  durch 
den  Leistenkanal  aus  der  Bauchhöhle  bis  in  den  Grund  des  Hoden- 
sacks hinab,  wo  er  durch  den  Hoden  ebenso  eingestülpt  erscheint, 
wie  der  grosse  Bauchfellsack  durch  die  einzelnen  Baucheingeweide. 
Nach  der  Geburt  verwächst  dieser  sacktormige  Fortsatz,  vom  Leisten- 
kanal an,  gegen  den  Hoden  hinab.  Die  Verwachsung  hört  aber 
etwas  oberhalb  des  Hoden  auf,  und  schreitet  nicht  weiter  nach 
unten  fort.  Der  Hode  muss  somit  beim  Erwachsenen  in  einem 
doppelten  serösen  Beutel  liegen,  dessen  äusseres  Blatt  ihn  nur  ein- 
hüllt, ohne  mit  ihm  zu  verwachsen,  dessen  inneres  dagegen  an  seine 
Oberfläche  angewachsen  ist.  Dieser  seröse  Doppelsack  ist  die  Tunica 
vaginalis  propria  testis.  Auch  bei  weiblichen  Embryonen  sieht  man 
einen  kegelförmigen,  aber  viel  engeren  und  kürzeren  Fortsatz  des 
Peritoneum,  in  den  Leistenkanal  eindringen,  und  daselbst  blind 
endigen.  Er  führt  den  Namen:  Diverticidum  NuckiL  —  Diejenige 
Stelle  des  Bauchfells,  welche  die  Bauchöffnung  des  Leistenkanals 
verdeckt,  und  von  welcher  aus  sich  beim  männUchen  Embryo  der 
Processus  vaginalis  in  den  Hodensack  vordrängte,  führt  im  Erwach- 
senen den  Namen  Fovea  inguinalis  externa,  während  die  an  der 
inneren  Seite  der  Plica  epigastrica  befindliche  (der  äusseren  Oeffnung 
des  Leistenkanals  vis-ä-vis  gelegene)  Vertiefung,  Fovea  inguinalis 
interna  heisst  (§.  173,  174,  175).  Oft  findet  man  das  Anfangsstück 
des  Processus  vaginalis  auch  beim  Erwachsenen  noch  ein  wenig  offen, 
wodurch,  wie  ich  glaube,  die  Disposition  zur  Entstehung  eines 
äusseren  Leistenbruches  gegeben  ist. 

Von  der  vorderen  Bauch  wand  geht  noch  eine  Peritonealein- 
stülpung  aus,  welche  das  Ligamentum  teres  der  Leber  aufnimmt, 
und  längs  des  Diaphragma  weiter  ziehend,  als  Ligamentum  Suspen- 
sorium hepatis  bereits  beschrieben  wurde.  Dieses  Ligament  wird 
zum  serösen  Ueberzug  der  Leber,  dieser  zum  kleinen  Netz  und 
Ligamentum  hepato-duodenale,  diese  beiden  zum  serösen  Ueberzug  des 
Magens  und  des  Duodenum,  und  zuletzt  zum  grossen  Netz,  welches 
an  seinem  unteren,  in  die  Beckenhöhle  herabreichenden  Rande  sich 
umschlägt,  gegen  den  Quergrimmdarm  heraufläuft,  und,  ihn  um- 
fassend, als  Mesocolon  zur  Wirbelsäule  zieht,  wo  seine  beiden  Blätter 


710  8.  S78.  BMohfell. 

neuerdings  auseinander  weichen ,  um  das  Pankreas  aufzunehmen. 
Das  obere  Blatt  des  Mesocolon  wird  dann  zur  hinteren  Wand  der 
hinter  dem  Magen  liegenden  Bursa  omentalis  (Netzbeutel),  zu  welcher 
das  Win slo wasche  Loch  (zwischen  Z^amen^m  ^afo-(2t/oc2enaZe  und 
duodeno-renale)  der  Zugang  ist  (§.  272);  das  untere  Blatt  beugt 
«ich  aber,  vom  unteren  Rande  des  Pankreas,  gleich  wieder  nach 
abwärts,  um  mit  dem  Peritoneum  parietale  der  hinteren  Bauchwand 
zu  verschmelzen. 

Die  Anatomie  der  Gekröse  bedarf  nach  dem,  was  bei  den 
betreffenden  Darmstücken  schon  gesagt  wurde,  keiner  weiteren  Er- 
örterung. Sie  sind  nicht  blos  Faltungen  des  Peritoneums,  sondern 
zugleich  die  Heerstrassen,  auf  welchen  Blutgefässe  und  Nerven  zum 
Darmkanale  gelangen.  Spannt  man  das  Mesenterium  des  Dünndarms 
an,  schneidet  man,  z.  B.  sein  linkes  Blatt  an  der  Wirbelsäule 
durch,  und  reisst  es,  gegen  den  Darm  hin,  von  dem  rechten  Blatte 
los,  so  sieht  man,  wie  die  Wurzel  des  Mesenteriums  die  Aorta 
zwischen  ihre  beiden  Blätter  fasst,  und  wie  die  Arteria  mesenterica 
superior  et  inferior,  so  wie  die  Zweige,  welche  die  Vena  mesenterica 
zusammensetzen,  ferner  die  Nerven  und  Lymphgefasse  des  Darms 
mit  ihren  Drüsen  (Glandulae  mesentericae),  zwischen  den  Blättern 
des  Mesenteriums  eingelagert  sind. 

Ich  weiss  aus  Erfahrung,  wie  schwer  es  dem  Anfänger  wird,  sich  von  einer 
so  complicirten  Membran,  wie  das  Bauchfell  ist,  eine  befriedigende  Vorstellung  zu 
bilden.  Sehr  häufig  wird  an  der  Leiche,  der  hier  geschilderte  Verlauf  des  Bauch- 
fells durch  abnorme  Adhäsionen  entstellt  gefunden,  welche  sich  in  Folge  von 
Bauchfellentzündungen  bildeten,  und  leicht  fUr  normale  Duplicaturen  gehalten 
werden.  Am  zweckmässigsten  ist  es,  das  Peritoneum  an  Kindesleichen  zu  studiren, 
und  selbst  dann  wird  die  Bildung  der  Netze,  und  der  bereits  in  §.  272  erwähnten 
Bursa  omerUaMs,  noch  immer  dem  Schüler  ein  Räthsel  bleiben,  zu  welchem  nur 
die  Entwicklungsgeschichte  des  Darmkanals  den  Schlüssel  giebt. 

Wenn  man  das  Bauchfell  blos  an  Leichen  untersucht,  deren 
Darmkanal  bereits  in  jenen  Verhältnissen  sich  befindet,  welche 
durch's  ganze  Leben  bleibend  verharren,  ist  es  unmöglich,  sich  einen 
BegriflF  davon  zu  machen,  warum  das  grosse  Netz  auf  einem  so 
langen  Umweg  an  das  Colon  transversum  tritt,  und  wie  so  es  zur 
Bildung  einer  Höhle  (Bursa  omentalis)  hinter  dem  Magen  kommt, 
welche  durch  das  Foramen  Winslomi  mit  der  übrigen  Bauchhöhle 
communicirt.  Durch  die  an  Embryonen  vorgenommenen  Unter- 
suchungen Joh.  Müller's  (Ueber  den  Ursprung  der  Netze  beim 
Menschen,  in  Meckel's  Archiv  für  Anat.  und  Phys.  1830)  werden 
diese  Punkte  auf  die  befriedigendste  Weise  erörtert.  Im  vier-  und 
fünfwöchentlichen  Embryo  nämlich  liegt  der  Magen,  als  Erweite- 
rung des  Oesophagus,  noch  nicht  quer,  sondern  senkrecht  vor  der 
Wirbelsäule.  Der  Darm  tritt  vollkommen  geradlinig  vom  Magen  in 
den   Nabelstrang,   wo   er  umbeugt,   um   ebenso   gerade   zum   After 


|.  S78.  Bftnohfell.  711 

herabzasteigen.  Die  grosse  Curvatur  des  Magens  sieht  nach  links^ 
die  kleine  nach  rechts.  An  die  kleine  Curvatur  setzt  sich  das  von 
der  Leber  herabkommende  Omentum  minus  fest.  Ein  Omentum  majus 
fehlt  noch.  Dagegen  inserirt  sich  an  die  linke  grosse  Magencurvatur 
ein  Mesenterium  —  wie  an  den  übrigen  Darmkanal.  Dieses  Magen- 
Mesenterium  (Mesogastrium  MiiUeri)  geht  von  der  Wirbelsäule  aus, 
und  wendet  sich  gleich  nach  seinem  Ursprünge  nach  links,  um  die 
linke  Oirvatura  ventrictdi  zu  erreichen.  Es  bleibt  also  zwischen 
dem  Mesogastrium  und  der  hinteren  Magenwand,  ein  dreieckiger 
Baum  frei,  dessen  Kante  nach  links,  dessen  Basis  nach  rechts  sieht. 
Diese  Basis  ist  ihrer  ganzen  Länge  nach  offen.  Nach  und  nach 
stellt  sich  der  Magen  au^  der  senkrechten  Bichtung  in  die  quere. 
Sein  Pylorus,  welcher  früher  die  tiefstgelegene  Stelle  des  Magens 
war,  steigt  auf;  das  Omsntum  minus  wird  kürzer,  und  die  grosse 
Eingangsöffnung  des  hinter  dem  Magen  befindlichen  leeren  Baumes, 
wird  auf  die  gewöhnlichen  Dimensionen  eines  Foramen  Winslovü 
reducirt.  Das  Mesogastrium  folgt  dieser  Lageveränderung  des  Magens, 
und  stellt  sich  ebenfalls  quer,  buchtet  sich  aber  zugleich  nach  unten 
aus,  und  hängt  als  laxe  Falte  vor  dem  übrigen  Darmkanale  herab. 
—  Die  nach  unten  ausgebogene  Falte  des  Mesogastrium  besteht 
aus  einem  vorderen,  absteigenden,  vom  grossen  Magenbogen  kom- 
menden, und  einem  hinteren,  aufsteigenden,  zur  ursprünglichen 
Entstehungsstelle  des  Mesogastriums  zurücklaufenden  Antheile. 
Letzterer  läuft  über  das  Colon  transversum  zurück  zur  Wirbelsäule, 
und  ist  mit  dem  Mesocolon  transversum,  auf  welchem  es  liegt,  parallel. 
In  diesem  Zustande  bleibt  die  Sache  bei  den  Säugethieren,  wo  das 
Omefitum  majus  mit  dem  Colon  transversum  keine  Verbindung  hat, 
durch  das  ganze  Leben  hindurch.  Im  Menschen  dagegen  verwächst 
der  zurücklaufende  Theil  des  Omentum  majus  mit  der  oberen  Platte 
des  Mesocolon  transversum,  oder  beide  Blätter  des  Omentum  umfassen 
das  Colon  transversum,  und  gehen  somit  in  die  beiden  Blätter  des 
Mesocolon  transversum  über. 

Eine  genane  Zasammenstellung  aUer  hieher  gehörigen  Data,  enthält  Hen- 
necke: Oomment.  de  ßtndionibuB  cmentorum  in  corp.  hum,  GvUmgae,  1836,  — 
Schlaf  man  das  CoUm  transversum  nach  oben  nnd  drän^  man  das  Convolnt  der 
Dünndarmschlingen  nach  rechts  und  unten,  so  gewahrt  man  an  der  Uebergangs- 
stelle  des  Duodenum  in  das  Jejunum  eine  halbmondförmige  Peritonealfalte,  deren 
oberes  Hom  in  die  untere  Platte  des  Mesocolon  transversum  übergeht,  deren  unteres 
Hom  aber  der  erwähnten  Uebergangsstelle  von  Duodenum  und  Jejunum  ent- 
spricht. Sie  mag  Plica  duodeno^ejunalis  heissen,  und  deckt  eine  blinde  Bauch- 
felltasche (Recessus  duodeno^ejunalisj,  deren  Beziehung  zu  einer  seltenen  Bruchform 
(Hemia  retro^rUonealisJ  der  erwähnten  Falte  praktische  Bedeutsamkeit  giebt 
lieber  den  Recessus  üe(hcoecaliSf  eine  zweite  praktisch  zu  verwerthende  Peritoneal- 
tasche,  sieh*  mein  Handbuch  der  topogr.  Anat.  6.  Aufl.  I.  Bd.  §.  161. 


712  ^.VIB.  Begriff  nnd  Eintheilang  des  Respirationsore^ns. 


11.  I^espirationsorgan. 

§.  279.  Begriff  und  Eintheilimg  des  Eespiratioiisorgaiis. 

Die  atmosphärische  Luft  ist  für  die  Erhaltung  des  Lebens 
eben  so  unerlässlich  nothwendig,  wie  für  die  Unterhaltung  eines 
Verbrennungsprocesses.  In  beiden  Fällen  wirkt  sie  durch  ihren 
Oxygengehalt;  das  Azot  hat  dabei  keine  Verwendung.  Das  Oxygen 
der  Atmosphäre  muss  dem  Blute  einverleibt  werden,  und  das  Blut 
giebt  für  diesen  Empfang,  einen  seiner  Bestandtheile  an  die  Luft 
zurück,  dessen  es  sich  so  schnell  als  möglich  zu  entäussern  hat,  da 
sein  längeres  Verbleiben  im  Körper,  mit  der  Fortdauer  des  I^cbens 
sich  nicht  verträgt.  Dieser  giftige  Bestandtheil  des  Blutes  ist  die 
Kohlensäure,  ein  Zersetzungsproduct  des  thierischen  Stoffwechsels. 
Der  Mensch  erstickt  in  kohlensäuregeschwängerter  Luft,  nicht  weil 
er  Kohlensäure  einathmet,  sondern  weil  er  sich  der  Kohlensäure 
seines  Blutes  nicht  mehr  entledigen  kann.  Die  Organe  nun,  welche 
die  atmosphärische  Luft  in  den  Körper  bringen,  die  Wechselwirkung 
des  Oxygens  mit  dem  Blute,  und  die  Ausscheidung  der  Kohlensäure 
aus  letzterem  vermitteln,  sind  die  Respirationsorgan c. 

Hat  die  in  die  Respirationsorgane  eingeführte  Luft,  ihr  Oxygen 
an  das  Blut  abgegeben,  und  dafür  Kohlensäure  empfangen,  so  muss 
sie  wieder  herausgetrieben  werden.  Bewegung  spielt  somit  eine 
Hauptrolle  bei  dem  Respirationsgeschäfte,  und  das  Aus-  und  Ein- 
strömen der  Luft  ist  nur  die  nothwendige  physikalische  Folge  der 
durch  Muskelbewegung  bedingten  Verengerung  oder  Erweiterung 
des  Brustkastens,  und  der  in  ihm  liegenden  Lunge.  In  den  Muskeln 
liegt  also  das  Active  der  Respirationsorgane.  Die  Luft  strömt  beim 
Einathmen  nicht  in  die  Höhle  des  Brustkastens  ein,  sondern  ver- 
breitet sich  in  einem  schwammigen,  expansiblen  Organ,  dessen 
Oberfläche  der  inneren  Oberfläche  des  Thorax  genau  anliegt,  sich 
mit  ihm  vergrössert  und  verkleinert,  und  zugleich  vom  Herzen  jene 
Masse  Blutes  erhält,  welche  die  belebende  Einwirkung  der  Atmo- 
sphäre erfahren  soll.  Dieses  Organ  ist  die  Lunge.  Bevor  die  Luft 
in  die  Lunge  gelangt,  muss  sie  beim  Einathmen  durch  die  Nas(Mi- 
höhle,  den  Rachen,  den  Kehlkopf,  und  die  Luftröhre  passiren,  und 
denselben  Weg  wieder  zurück  nehmen  beim  Ausathmen.  Von  der 
Nasenhöhle  wurde  bereits  in  der  Sinnenlehre  gehandelt.  Wir  be- 
ginnen deshalb  die  Anatomie  der  Athmungsorgane  mit  dem  Kehlkopf. 


g.  SSO.  Kehlkopf.  Knorpelgerüst  desselben.  713 

§.  280.  Kehlkopf.  Knorpelgerüst  desselbeiL 

Mit  dem  Kehlkopf,  Larifnx  (von  Xapul^w,  schreien,  oder 
Xapuvü),  girren),  beginnt  der  Halstheil  des  Respirationsorgans.  Ohn- 
geachtet  seiner  sehr  einfachen  Construction ,  ist  er  dennoch  das 
vollkommenste  musikalische  Instrument,  und  zugleich  leicht  zu 
spielen  fiir  Jedermann.  Akustisch  gesprochen,  gehört  der  Kehlkopf 
zu  den  sogenannten  Zungenpfeifen  mit  doppelter  membranöser 
Zunge  (Stimmbänder);  anatomisch  betrachtet,  stellt  er  ein  aus  be- 
weglichen Knorpeln  zusammengesetztes,  hohles  Gerüste  dar,  welches 
mit  einer  Fortsetzung  der  Rachenschleimhaut  ausgekleidet  wird, 
und  durch  Schwingungen  zweier  an  seiner  inneren  Oberfläche  be- 
festigter elastischer  Bänder  (Stimmbänder),  die  Stimme  erzeugt. 

Er  liegt  zwischen  dem  Zungenbein  und  der  Luftröhre.  Ein 
beweglicher  Vorsprung  in  der  Mitte  der  vorderen  Halsgegend,  welcher 
den  Namen  des  Adamsapfels  (Prominentia  laryngea  8.  Nodus  gut- 
iuris)  fuhrt,  entspricht  seiner  Lage.  Nach  unten  hängt  er  mit  der 
I^uftröhre  zusammen,  seitwärts  grenzt  er  an  die  grossen  Gefösse 
des  Halses.  Den  gewiss  etwas  auffalligen  Namen:  Pomum  Adamij 
erklärt  Spigelius:  dum  pi^otoplastae  nostro,  Adamo,  cum  exterritus 
Dei  omnipotentis  voce,  peccati  9ui  poeniteniia  tangeretur,  de  pomo  illo 
fatali  nonnihü  in  faucibm  adhaesisseL 

Das  Gerüste  des  Kehlkopfes  lässt  sich  in  folgende  Knorpel 
zerlegen. 

a)  Der  Schildknorpel,  Cartüago  thyreoidea  8.  scutiformis 
(Oupeo^-sTSo;,  schildförmig),  besteht  aus  zwei,  unter  einem  mehr 
weniger  rechten  Winkel  nach  vorn  zusammenstossenden,  viereckigen 
Platten,  deren  äussere  Fläche  eine  schief  nach  hinten  und  oben  ge- 
richtete Leiste  zur  Anheftung  des  Mxiscidus  stemo-thyreoideus,  thyreo- 
hyoideus  und  thyreo-pharyngexis  besitzt,  deren  innere  Fläche  durch- 
aus glatt  und  eben  ist.  Der  convexe  obere  Rand  jeder  Platte, 
bildet  mit  dem  der  anderen  Seite,  die  Incisura  thyreoidea  mperior. 
Der  untere  Rand  ist  der  kürzeste,  und  S-förmig  geschweift.  Der 
hintere,  fast  senkrecht  stehende  Rand,  verlängert  sich  nach  oben 
und  unten  in  die  Hörner  des  Schildknorpels:  Comu  mperitts  8,  Ion- 
gum,  et  inferius  8,  breve.  Am  oberen  Rande,  in  der  Nähe  der  Basis 
des  grossen  Hernes,  findet  sich  ausnahmsweise  eine  OeflFnung,  durch 
welche  die  Arteria  laryngea  in  den  Kehlkopf  tritt. 

B-jpso;,  verwandt  mit  0upa  (Thtire),  war  eigentlich  ein  Verschlussmitte! 
der  Thüröffnang,  —  anfangs  eine  Steinplatte,  später  aus  Holz  gezimmert.  Die 
grossen  viereckigen,  hölzernen  Schilder  der  Griechen,  welche  den  ganzen  Mann 
deckten,  glichen  an  Gestalt  den  Thüren,  waren  es  sicher  auch  ursprünglich,  und 
erhielten  also  von  ihnen  ihren  Namen.  Bei  den  Römern  hiessen  diese  grossen 
Schilder  9cuta,  die  kleinen  peltae,  wodurch  der  Schildknorpel  zu  seinem  Namen 
ctxrtUago  scutifarmM  9,  peltalis  kam. 


7 14  1. 180.  KeUkopf.  Knorp«lg«rft0t  desselben. 

h)  Der  Ringknorpel,  Cartüago  cricoidea  (xp{xo;,  Ring,  woraus 
durch  Versetzung  des  p,  xCpxoq,  d.  i.  circus  und  circultis  entstehen), 
liegt  unter  dem  Schildknorpel,  dessen  untere  Hörner  ihn  zwischen 
sich  fassen.  Er  hat  die  Gestalt  eines  horizontal  liegenden  Siegel- 
ringes, dessen  schmaler  Reif  nach  vorn,  dessen  Platte  nach  hinten 
gerichtet  ist.  Seine  äussere  Fläche  besitzt  zu  beiden  Seiten  eine 
kleine  Qelenkfläche,  zur  Articulation  mit  den  unteren  Hörnern  des 
Schildknorpels ;  die  innere  wird  von  der  Kehlkopfschleimhaut  über- 
zogen. Sein  unterer  Rand  verbindet  sich  durch  das  Ligamentum 
crico-tracheaie  mit  dem  ersten  Luftröhrenknorpel.  Der  obere  Rand 
des  hinteren  Halbringes  zeigt  zwei  ovale,  convexe,  schräg  nach  aussen 
und  unten  abfallende  Gelenkflächen,  auf  welchen  die  Bases  der 
Giessbeckenknorpel  articuliren. 

c)  Der  rechte  und  linke  Gicssbecken-  oder  Giesskannen- 
knorpcl,  CartUago  arytaenoidea  {ql^olv^ol^  Giessb ecken,  von  dpu<i), 
schöpfen,  das  gvttumium  der  Römer,  von  gutta),  sind  senkrecht 
stehende,  dreikantige  Pyramiden,  deren  Basis  auf  den  eben  er- 
wähnten Gelenkflächen  des  oberen  Randes  der  Platte  des  Ring- 
knorpels aufsitzt,  und  deren  Spitze  sich  etwas  nach  hinten  neigt. 
Die  Spitzen  beider  Knoi*pel  schliessen  aneinander,  und  fassen  eine 
Rinne  zwischen  sich,  welche,  so  lange  sie  noch  mit  der  Kehlkopf- 
schleimhaut überzogen  ist,  wirklich  dem  Schnabel  einer  Kanne  oder 
eines  Giessbeckens  ähnlich  sieht.  Die  drei  Flächen  der  Pyramide 
eines  Giessbeckenknorpels  stehen  so,  dass  die  innere,  ebene  und 
gerade,  jener  der  anderen  Seite  zugewendet  ist,  die  äussere, 
geschweifte,  nach  vorn  und  aussen,  die  hintere,  concave,  gegen 
die  Wirbelsäule  sieht.  Die  Ränder  werden  somit  ein  vorderer,  ein 
hinterer  äusserer,  und  hinterer  innerer  sein.  Ueber  der  vorderen 
Ecke  der  Basis  befindet  sich  der  Stimmbandfortsatz,  Processus 
vocalis.  Die  äussere  Ecke  verlängert  sich  zum  stärkeren  und  etwas 
nach  hinten  gerichteten  Muskel fortsatz,  Processus  muscularis.  Auf 
der  Spitze  jedes  Giessbeckenknorpels  sitzt,  durch  Bandfasern  mit 
ihr  verbunden,  die  kleine,  pyramidale  Cartüago  Santoriniana  s.  Cor- 
niculum  auf.  —  Alte  Namen:    Cart,  guttumales  s.  cymbalares. 

d)  Der  Kehldeckel,  Epiglottis,  hat  die  geschwungene  Gestalt 
einer  Hundszunge,  wie  sie  dem  keuchenden  Thiere  aus  der  Mund- 
höhle ragt.  Er  stellt  eine  bewegliche,  in  hohem  Grade  elastische 
Klappe  vor,  deren  freier  abgerundeter  Rand  nach  oben  und  hinten, 
deren  dicke,  und  von  fetthaltigem  Bindegewebe  umgebene  Spitze 
nach  unten  und  vom,  gegen  den  Winkel  des  Schildknorpels  gerichtet 
ist,  wo  sie  durch  das  Ligamentum  thyi^eo-epiglotticum  befestigt  wird. 
Die  obere,  gegen  den  Isthmus  faucium  sehende  Fläche  des  Kehl- 
deckels, ist  sattelförmig  gehöhlt,  d.  h.  von  vorn  nach  hinten  concav, 
von  einer  Seite  zur  anderen  convex.  Die  untere  Fläche  verhält  sich 


S.  S81.  Binder  der  Kehlkopfknorpel.  715 

bezüglich  ihrer  Krümmung  verkehrt.  Ihr,  der  Spitze  der  Epiglottis 
zunächst  liegender  Abschnitt,  ragt  als  sogenannter  Epiglottis wulst 
der  Kehlkopfhöhle  zu.  Mundinus  und  Berengarius  nennen  die 
Epiglottis:  Lingua  fishdae,  d.  i.  das  Zünglein  der  Luftröhre. 

Zwischen  den  Blättern  der  als  Ligamenta  epigloUideo-aiytaenoidea  zu  er- 
wähnenden  Schleimhantdaplicataren,  liegen  die  öfters  fehlenden,  stab-  oder  keil- 
förmigen Cartüoffines  Wriabergii,  zuerst  erwähnt  von  dem  Göttinger  Professor 
H.  Aug.  Wrisberg,  in  seinen  Anmerkungen  zu  H alleres  primae  Uneae  physiol. 
4.  Auflage,  1780,  Nr.  83.  —  Dicht  am  äusseren  Rande  der  Giessbeckenknorpel, 
drei  Linien  unter  der  Spitze  derselben,  entdeckte  Luschka  seine  gleichfalls  un- 
constanten  Cartilagines  /tesamoideae  (Zeitschrift  für  rat  Med.  1859,  pag.  271). 
Ueber  die  seltene,  unpaare  Cartilago  interart/taenoidea,  und  andere  interessante 
Vorkommnisse  an  Knorpeln  und  Bändern  des  Kehlkopfes,  handelt  derselbe  Autor, 
im  Archiv  für  Anat.  und  Physiol.  1869. 

Die  Kehlkopfknorpel  sind,  ihrer  mikroskopischen  Structur  nach,  theils 
hyaline  Knorpel,  theils  Faserknorpel.  Der  Schildknorpel,  der  Ringknorpel, 
und  die  Giessbeckenknorpel  sind  hyalin;  der  Kehldeckel,  die  San  torin  loschen 
und  Wrisberg'schen  Knorpel  dagegen  sind  Faserknorpel.  —  An  dem  Winkel, 
unter  welchem  beide  Schildknorpelplatten  zusammenstossen,  ändert  sich  ihre 
Structur  der  Art,  dass  die  Knorpelhöhlen  kleiner  werden  und  dichter  stehen. 
Diese  Aenderung,  welche  sich  durch  grössere  Weichheit  und  mattere  Färbung  des 
Knorpels,  dem  unbewaffneten  Auge  kundgiebt,  veranlasste  die  Annahme  einer 
Lamina  mediana  des  Schildknorpels,  welcher  Name  hingehen  mag,  so  lange  man 
sich  unter  ihm  nicht  einen  \virklichen  Einschub  zwischen  die  Seitenplatten  des 
Schildknorpels  denkt. 

Der  Kehldeckel  verknöchert  nie ;  der  Ring-,  Schild-  und  Giessbeckenknorpel 
aber  häufig  im  vorgerückten  Alter.  Verknöcherte  Schildknorpel  haben  schon  oft 
den  tödtlichen  Schnitt  aufgehalten,  welchen  die  Hand  der  Selbstmörder  auf  den 
Kehlkopf  führte,  in  der  Meinung,  hier  das  lebenswichtigste  Organ  des  Halses  zu 
treffen.  In  der  Erstlingsperiode  meiner  anatomischen  Laufbahn,  nahm  ein  junger 
Mann  aus  Russisch-Polen,  Stunden  bei  mir  über  die  Anatomie  des  Halses.  Ich 
vermuthete,  er  wolle  sich  zum  Sänger  ausbilden.  Kurze  Zeit  nach  Schluss  des 
Cursus,  fand  ich  ihn  mit  durchgeschnittenem  Halse  in  der  Leichenkammer  des 
allgemeinen  Krankenhauses.     Das  ist  Willensstärke  oder  —  Verrücktheit. 


§.  281.  Bänder  der  KeMkopfknorpel. 

Man  kann  sie  in  wahre  Bänder  und  in  Schleimhautbänder 
abtheilen. 

1.  Wahre  Bänder. 

Die  wahren  Bänder  des  Kehlkopfes  dienen  entweder  zur  Ver- 
bindung des  Kehlkopfes  mit  den  darüber  und  darunter  liegenden 
Gebilden  fa,  b),  oder  zur  Vereinigung  einzelner  Knorpel  unter  ein- 
ander (c,  d,  e,  f).  Wir  zählen  folgende: 

a)  Die  Ligamenta  thyreo-hyoidea,  deren  drei  vorkommen,  ein 
medium  und  zwei  lateralia.  Das  medium  ist  breit,  heisst  deshalb 
auch  Membrana  obturatoria  laryngis,  und  füllt  den  Baum  zwischen 
dem    oberen    Schildknorpelrand    und    dem    Zungenbein    aus.     Es 


716  §.281.  R&nder  der  Kehikopfknorpel. 

befestigt  sich  jedoch  keineswegs  an  dem  unteren  Rand  des  Zungen- 
beinkörpers, sondern  am  oberen,  muss  also  an  der  hinteren  Fläche 
des  Zungenbeines  bis  zu  diesem  Rande  emporsteigen.  Da  nun  die 
hintere  Fläche  des  Zungenbeinkörpers  ausgehöhlt  ist,  so  wird  zwischen 
Zungenbein  und  Band  ein  Raum  erübrigen  müssen,  in  welchen  sich 
der  in  §.  164,  A,  erwähnte  Schleimbeutel  (Bursa  mucoaa  subhj^oidea) 
hineinerstreckt.  Die  beiden  Ligamenta  thyreo-hyoidea  lateralia  ver- 
binden die  oberen  Hörner  des  Schildknorpels  mit  den  grossen 
Zungenbeinhömern,  sind  rundlich,  strangförmig,  und  enthalten  ge- 
wöhnlich einen  länglichen  Faserknorpelkern,  als  sogenanntes  Cor- 
pusculum  triticeum.  Fehlt  das  obere  Schildknorpelhorn,  welches  Fehlen 
beiderseitig  oder  nur  auf  einer  Seite  (gewöhnlich  links)  vorkommt, 
so  wird  das  Corpus  triticeum  entsprechend  länger  und  stärker  ge- 
funden. 

b)  Das  Ligamentum  crico-tracheale,  zwischen  dem  unteren  Ring- 
knorpelrande und  dem  oberen  Rande  des  ersten  Luftröhrenknorpcls. 

c)  Die  Ligamenta  crico-tht/reoidea  lateralia,  Sie  sind  Kapsel- 
bänder, welche  die  unteren  Schildknorpelhörner  mit  den  seitlichen 
Gelenkflächen  des  Ringknorpels  verbinden. 

d)  Das  Ligamentum  crico-thyreoideum  medium  s.  conicum,  welches 
vorzugsweise  aus  elastischen  Fasern  besteht,  und  deshalb  die  charak- 
teristische gelbe  Farbe  der  Ligamenta  flava  besitzt.  Es  verbindet 
den  unteren  Schildknorpelrand  mit  dem  oberen  Rande  des  vorderen 
Halbringes  des  Ringknorpels. 

e)  Die  Ligamenta  crvco-aiytaenoidea.  Sie  sind  gleichfalls  Kapsel - 
bänder,  und  dienen  zur  beweglichen  Verbindung  der  Bases  der 
Giessbeckenknorpel  mit  den  am  oberen  Rande  des  hinteren  Halb- 
ringes des  Ringknorpels  befindlichen  Gelenkflächen. 

f)  Die  untere  Spitze  der  Epiglottis  hängt  mit  der  Incisura 
cartilaginis  thyreoideas  superior,  durch  das  starke  Ligamentum  thyreo- 
epiglotticum  zusammen. 

Luschka  beschrieb  unter  dem  Namen  lAgamentum  jugale,  zwei  von  den 
nach  hinten  umgebogenen  Spitzen  der  Carlilaginea  Santorini  entspringende,  nach 
abwärts  gerichtete,  mit  einander  convergirende  Bänder,  welche  zu  einem  einfachen 
medianen  Bandstreifen  verschmelzen,  der  sich  in  der  Mitte  des  oberen  Randes  des 
hinteren  Halbringes  des  Ringknorpels  inserirt.  Er  enthält  zuweilen  einen  Knorpel - 
kern,  als  CartUayo  irüerarytaenoidea. 

2.  Schleimhautbänder. 

Sie  kommen  in  Form  folgender  Falten  vor. 

1.  Während  die  Schleimhaut  der  Zungenwurzel  nach  rück- 
und  abwärts,  auf  die  vordere  Fläche  der  Epiglottis  übergeht,  bildet 
sie  drei  faltenartige  Erhebungen,  welche  lÄgamenta  glosso-epiglottica 
genannt  werden.    Die  mittlere  Falte  übertrifft  die  beiden  seitlichen 


§.282.  Stiiurobänder  ond  Schleimhaut  des  Kehlkopfes.  717 

an  Höhe  und  Stärke.     Sie   schliesst   ein  Bündel   elastischer  Fasern 
ein,  und  wird  auch  Fremdum  epiglottidü  genannt. 

2.  Der  Schleimhautüberzug  des  Kehldeckels  springt  von  den 
Seitenrändern  der  Epiglottis  zur  Spitze  der  Giessbeckenknorpel 
hinüber,  und  erzeugt  dadurch  die  Ligamenta  epiglotttdeo-arytasnoidea 
(kürzer  ary-epiglottica),  welche  einen  Raum  zwischen  sich  frei  lassen 
—  Aditua  laryngis.  In  ihnen  eingeschlossen  finden  sich  die  im  vor- 
ausgegangenen Paragraph  angeführten  stabformigen  Cartilagines 
Wrishergii,  deren  Längenaxe  senkrecht  gegen  den  freien  Rand  dieser 
Schleimhautfalten  gerichtet  ist. 

3.  Von  der  Seite  des  Kehldeckels  zum  Arcus  palato-pharyngeus 
des  weichen  Gaumens,  zieht  sich  sehr  oft  eine  Schleimhautfalte 
hinauf,  welche  unter  spitzigem  Winkel  mit  dem  Arcus  paktto-pharyn- 
geu8  verschmilzt.  F.  Betz  hat  diese  Schleimhautfalte  als  Ligamen- 
tum epiglottico-palatinum  beschrieben  (Archiv  für  physiol.  Heilkunde. 
1849).  Er  nennt  sie  auch,  da  ihr  oberes  Ende  zwischen  dem  vor- 
deren und  hinteren  Gaumenbogen  liegt,  Arcits  palatintis  medivs.  Das 
Band  ist  insofern  nicht  ohne  Interesse,  als  zwischen  ihm  und  dem 
Arcus  palatO'pharyngeus,  eine  Längengrube  liegt  (Fovea  navicularis) , 
in  welcher  fremde  Körper  beim  Verschlingen  stecken  bleiben  können. 

Ich  habe  aaf  das  Yorkommen  einer  Schleimhautfalte  aufmerksam  gemacht, 
welche  auf  der  hinteren,  dem  Bachen  zugekehrten  Wand  des  Schildknorpels  vor- 
kommt, sich  von  der  Basis  des  Giessbeckenknorpels  zum  Ende  des  g^rossen 
Zungenbeinhornes  in  schief  aufsteigender  Richtung  hinaufzieht,  und,  weil  sie  den 
Nermia  laryngeus  »uperior  in  sich  einschliesst,  Plica  nervi  laryngei  von  mir  genannt 
wurde.  Sitzungsberichte  der  kais.  Akad.  1857. 


§.  282.  Stimmbäiider  und  ScMeimhaut  des  Kehlkopfes. 

Die  bisher  beschriebenen  Bänder  des  Kehlkopfes  wirken  nur 
als  solche,  d.  h.  Getrenntes  verbindend.  Die  Stimmbänder  dagegen 
erzeugen  durch  ihre  Schwingungen  die  menschliche  Stimme,  und 
imponiren  uns  in  so  ferne  als  die  wichtigsten  Organe  des  Kehlkopfes, 
welchen  zu  dienen  alle  anderen  geschaflfen  wurden. 

Es  finden  sich  im  Inneren  des  Kehlkopfes  zwei  Paar  Stimm- 
bänder. Sie  liegen  über  einander,  entspringen  vom  Winkel  des 
Schildknorpels,  und  ziehen  horizontal  nach  hinten  zu  den  Giess- 
beckenknorpeln.  Sie  heissen  deshalb  Ligamenta  thyreo-arytaenoidea. 
Das  obere  Bandpaar  inserirt  sich  am  vorderen  Rande  des  Giess- 
beckenknorpels, das  untere  am  Processus  vocalis.  Die  freien  Ränder 
dieser  Bänder  sehen  gegen  die  Axe  des  Kehlkopfes.  Das  obere, 
schwächere  Bandpaar,  springt  weniger,  das  untere  stärker  vor.  Es 
bleibt  somit  zwischen  den  recht-  und  linkseitigen  Bändern  eine 
spaltförmige   Oefl&iung  frei,   welche   für   die   wenig   vorspringenden 


718  S-  MS*  Btimmb&nder  und  Schleimhaut  des  Kehlkopfes. 

oberen  Ligamenta  thyreo-arytaenoidea  grösser,  für  die  breiteren,  und- 
deshalb  stark  vorspringenden  unteren  Ligamenta  thyreo-arytae/tioidea 
enger  sein  muss.  Diese  spaltförmige  Oeflfnung  heisst  für  die  oberen 
Bänder:  falsche  Stimmritze  (Glottis  spwria) ,  für  die  unteren: 
wahre  Stimmritze  (Glottis  vera).  Von  Galen  wurde  die  Stimm- 
ritze zuerst  als  yXwtti«;  benannt,  von  YXörca,  eine  Zunge,  aber  auch 
das  Mundstück  einer  Pfeife,  in  welch'  letzterer  Bedeutung  dieses 
Wort  auf  die  Spalte  des  Kehlkopfes  richtig  angewendet  ist.  Die 
Bänder,  zwischen  welchen  die  Stimmritzen  sich  befinden,  können, 
statt  der  langen,  aus  ihrem  Ursprung  und  Ende  zusammengesetzten 
Namen:  Ldgam^nta  thyreo-arytaenoidea  superiora  et  inferiora,  einfach 
wahre  und  falsche  Stimmritzenbänder  (Ligamenta  glottidis 
verae  et  spuriae)  heissen.  Zwischen  dem  oberen  und  unteren  Stimm- 
ritzenband je  Einer  Seite,  liegt  die  drüsenreiche  Schleimhautbucht 
der   Ventriculi  Morgagni  s.  Sinus  laryngei, 

Experimente  haben  bewiesen,  dass  nur  die  unteren  Stimm- 
ritzenbänder, welche  die  Glottis  vera  zwischen  sich  fassen,  zur  Er- 
zeugung der  Stimme  dienen;  —  sie  heissen  deshalb  vorzugsweise 
Chordae  vocales.  Ihre  Länge  misst  beim  Manne  sechs  bis  sieben 
Linien,  beim  Weibe  vier  bis  fünf  Linien,  ihre  grösste  Breite  über 
eine  Linie.  Liegen  die  Cartüagines  aryta^noideae  mit  ihren  inneren 
Flächen  an  einander,  so  ist  die  Stimmritze  (Glottis  vera)  so  lang, 
wie  die  Ligamenta  glottidis  verae;  weichen  sie  aus  einander,  so  wird 
die  Stimmritze  um  die  Breite  dieser  Knorpel  bis  auf  zehn  und  eine 
halbe  Linie  verlängert. 

Genau  betrachtet,  sind  die  vier  Stimmritzenbänder  nur  ein- 
fache Faltungen  einer,  die  ganze  Kehlkopf  höhle  auskleidenden 
elastischen  Membran,  welche  selbst  wieder  mit  der  Kehlkopfschleim- 
haut im  innigsten  Zusammenhange  steht,  und  sich  stellenweise  mit 
ihr  zu  identificiren  scheint,  wie  gerade  an  den  Stimmritzenbändem. 

Die  Schleimhaut  des  Kehlkopfes  stammt  aus  der  Rachenhöhle, 
und  dringt  durch  den  Aditus  laryngis  in  die  Kehlkopfhöhle  ein. 
Ihr  Reichthum  an  Blutgefässen  steht  anderen  Schleimhäuten  nicht 
unerheblich  nach.  Ihre  Farbe  dunkelt  deshalb  niemals  so  in's  Roth, 
wie  cGe  Schleimhaut  der  Mundhöhle.  Dagegen  kenne  ich  keine 
Schleimhaut,  welche  eines  grösseren  Aufwandes  von  Nervenfasern 
sich  rühmen  könnte.  Flimmerepithel  deckt  sie  von  der  Basis  des 
Kehldeckels  angefangen ,  und  lässt  nur  die  unteren  Stimmritzen, 
bänder  frei,  welche  geschichtetes  Pflasterepithel  führen.  Kleine, 
im  submucösen  Bindegewebe  eingelagerte  acinöse  Schleimdrüschen 
sind  besonders  im  Ventriculus  Morgagni,  am  vorderen  und  hinteren 
Ende  der  Stimmritze,  und  an  der  hinteren  Fläche  der  Epiglottis 
(wo  sie  in  kleinen  Grübchen  des  Knorpels  liegen)  zahlreich  vor- 
handen. Ein  Haufen  derselben   findet   sich  am  Kehlkopfeingang  im 


f. 


§.  S88.  Miukeln  des  KehlkopfM.  719 

Ligamentum  eptglottideo-arytaenaideum,  dicht  vor  den  Spitzen  der 
Cartüaginea  arytaenoideae  eingelagert,  als  sogenannte  Glandulae  ary- 
taenoideae  laterales. 

Die  gfraue  Sprenkelung  des  durch  Räuspern  aasgeworfenen  Kehlkopf- 
schleimes, beruht  nicht,  wie  man  vermeinte,  auf  der  Gegenwart  yon  Pigment, 
sondern  auf  Niederschlfigen  des  mit  der  eingeathmeten  Luft  in  die  Kehlkopf  höhle 
gebrachten  und  dort  deponirten  Rauches  und  Russes,  an  welchem  es  unsere  geheizten 
Stuben  und  die  tragbaren  kleinen  Oefen  der  Tabakraucher  eben  so  wenig  fehlen 
lassen,  als  die  Schornsteine  unserer  Häuser,  und  die  wirbelnden  Schlote  unserer 
Fabriken  und  Locomotiven.  Vom  Nasenschleim  gilt  das  Gleiche,  nur  in  noch 
höherem  Grade. 

Die  VentricvU  Morgagni  sollten  besser  Venirkuli  OcUeni  heissen,  da  Mor- 
gagni selbst  sagt:  Oalenua  heu  caviUUes  princept  mvenit  ei  ventriculos  appd- 
lavü,  Advert,  anat,  pag,  17, 


§.  283.  Muskeln  des  Kehlkopfes. 

Die  Muskeln,  welche  den  Kehlkopf  als  Ganzes  bewegen  — 
heben  und  senken  —  sind  bereits  bei  den  Halsmuskeln  geschildert. 
Die  Muskeln,  welche  die  Stellung  seiner  einzelnen  Knorpel  gegen 
einander  ändern,  spannen  eben  dadurch  die  Stimmritzenbänder  an 
oder  ab.  Da  nun  diese  Bänder  mit  einem  Ende  an  die  Cariäago 
ihyreoidea,  und  mit  dem  anderen  an  die  Cartäago  arytaenoidea  an- 
geheftet sind,  so  werden  die  betreflfenden  Muskeln,  welche  sämmtlich 
paarig  sind,  ihre  Insertionen  nur  an  diesen  Knorpeln  finden  können. 
Am  Kingknorpel  befestigt  sich  keiner  von  ihnen,  wohl  aber  dient 
dieser  Knorpel  vielen  derselben  zum  Ursprung. 

Auf  der  Aussenfläche  der  Peripherie  des  Kehlkopfes  liegen 
folgende  Muskeln: 

a)  Der  Musculus  crico-thyreoideus.  Er  geht  vom  vorderen  Halb- 
ring der  CartUago  cricaidea,  schief  nach  oben  und  aussen  zum 
unteren  Rande  der  Cartäago  ihyreoidea.  Er  neigt  den  Schildknorpel 
nach  vom  herab,  entfernt  seinen  Winkel  von  den  Giessbecken- 
knorpeln,  und  spannt  somit  die  Ligamenta  ghttidis. 

h)  Der  Musculus  crico-arytaenoideus  posticus  entspringt  von  der 
hinteren  Fläche  des  hinteren  Halbringes  der  CartUago  cricoidea,  ist 
breit  und  dreieckig,  und  befestigt  sich,  mit  nach  aussen  und  oben 
convergirenden  Fasern,  am  Processus  muscuLaris  der  Basis  der  Car- 
tUago arytaenoidea.  Dreht  den  Giessbeckenknorpel  so,  dass  sein 
vorderer  Winkel  nach  aussen  gerichtet  wird,  wodurch  die  Stimm- 
ritze sich  erweitert,  und  sich  zugleich,  wegen  Auseinanderweichens 
der  inneren  Flächen  der  Cartäagines  arytaenoideae,  nach  hinten  ver- 
längert. Ein  kleines  und  unconstantes  BUndel  desselben  tritt  zuweilen 


720  $.  i».  MukelD  dM  KeUkopfe». 

an  den  hinteren  Kand  des  unteren  Schildknorpelhorns  als  Musculus 
cerato-cricoideus  (Merkel). 

c)  Der  Musculus  cric(harißtaenoideus  lateralis  entsteht  am  oberen 
Bande  der  Seitentheile  der  CartUago  cricoidea,  wird  von  der  seit- 
lichen Platte  des  Schildknorpels  (welche  abgetragen  werden  muss^ 
um  ihn  zu  sehen)  bedeckt,  läuft  schräg  nach  hinten  und  oben  zuui 
Processus  muscularis  der  CartUago  arytaenoidea,  und  befestigt  sich 
daselbst  vor  der  Insertion  des  Arijtaenoideus  posticus,  dessen  Anta- 
gonisten er  vorstellt. 

d)  Die  Musculi  ari/taenoidei  transversi  und  obliqui  gehen  in 
querer  und  in  schräger  Richtung  von  einer  CartUago  art/taenoidea 
zur  anderen,  deren  hintere  concave  Flächen  sie  einnehmen,  so  dass 
die  obliqui  auf  den  transversis  liegen.  Sie  nähern  die  beiden  Giess- 
beckenknorpel.  Unter  ihnen  liegt  der  von  Luschka  beschriebene, 
paarige,  dreieckige  Musculus  arytaenoideus  redus,  welcher  von  der 
hinteren  concaven  Fläche  des  Giessbeckenknorpels  zur  CartUago 
Santoriniana  aufsteigt.  Die  Arytaenoidei  obliqui  setzen  sich  in  die 
Ligamenta  ary-epiglottica  fort,  und  gelangen  bis  an  die  Seitenränder 
des  Kehldeckels. 

An  der  inneren  Oberfläche  des  Kehlkopfes  liegen: 

a)  Der  Musculus  thyreo-arytaenoideus.  Er  entspringt  an  der 
inneren  Oberfläche  der  CartUago  thyreoidea,  hart  am  Winkel  der- 
selben,  läuft  nach  der  Richtung  des  unteren  Stimmritzenbandes,  und 
mit  diesem  Bande  verwachsen,  nach  hinten,  und  befestigt  sich  am 
Processus  vocalis  und  dem  vorderen  Rande  der  CartUago  an/taenoidea. 
Einzelne  Fasern  desselben  sollen  sich  im  unteren  Stimmritzenbande 
selbst  verlieren. 

Ich  glaube  nicht,  d&ss  er  das  untere  Stimmritzenband,  durch  Zusammen- 
schieben seines  vorderen  und  hinteren  Befestigungspunktes  erschlaffe.  Es  scheint 
vielmehr  seine  Wirkung  dahin  gerichtet  zu  sein,  das  Band  vorspringender  zu 
machen,  und  dadurch  die  Stimmritze  zu  verengem.  Er  kann  jedocli  diese  Wirkung 
nur  dann  äussern,  wenn  der  Schildknorpel  und  der  Giessbeckenknorpel  durch 
andere  Muskeln  fixirt  sind.  Von  beiden  MuaculM  tht/reo-ari/taenoulels  setzen  sich 
Faserbündel  an  die  hintere  Flüche  der  Cartüoffine*  arytaenoideae  fort,  und  fliessen 
mit  den  ArytaciwideU  obliquis  zusammen.  —  Santorini  beschrieb  noch  einen 
Musailus  Uii/reo-an/iaenoideus  superior  im  oberen  Stimmritzenband. 

6)  In  der  Schleimhautfaltc  des  Ligamentum  epiglottideo-aryiaenoi' 
deum  liegt  eine  dünne,  aber  breite  Muskelschichtc  eingetragen,  an 
welcher  sich  zwei  Abtheilungen  unterscheiden  lassen.  Die  eine  der- 
selben entspringt  auswäi-ts  und  oberhalb  des  Thtjreo-art/taenoideus 
am  Schildknorpel,  die  andere  am  Giessbeckenknorpel  oberhalb  der 
Insertion  des  oberen  Stimmritzenbandes.  Beide  befestigen  sich  am 
Seitenrande  der  Epiglottis.  Sie  können  als  lliyreo-epiglotticus  und 
Ary-epiglotticus  benannt  werden. 


§.  284.  Luftröhre  nnd  deren  Aeste.  721 

Die  Varietäten  der  Kehlkopfmuskeln  wurden  von  Tourtual,  Merkel, 
Grub  er,  Turner,  u.  A.  sorgfältig  untersucht,  worüber  Henle  ausführlich  han- 
delt (Anat.  2.  Bd.).  Einen  Musculus  hyo-  und  genio-epiglotUcus  beschreibt 
Luschka,  dessen  Hauptwerk  Über  den  Kehlkopf  (Tübingen,  1871,  mit  10  Tafeln) 
alles  enthält,  was  die  sorgfältigste  anatomische  Untersuchung  dieses  Organs,  in 
allen  Bestandtheilen  desselben  zu  eruiren  vermochte.  Sehr  verdienstlich  ist 
Fürbringer's  Schrift:  Beiträge  zur  Kenntniss  der  Kehlkopfmuskeln.  Jena,  1875. 

Nicht  die  Luft,  sondern  die  unteren  Stimmritzenbänder  erzeugen  primär  im 
Kelilkopfe  den  Schall,  dessen  Höhe  und  Tiefe  als  Ton,  von  der  Länge  und  Span- 
nung der  Stimmritzenbänder,  wohl  auch  von  der  Stärke  des  Anblasens  durch  die 
ansgeathmete  Luft,  abhängt.  —  Der  Kehlkopf  des  Weibes,  dessen  Durchmesser 
beiläufig  nm  ein  Viertel  kürzer  sind,  als  jene  des  männlichen,  hat  ein  höheres 
Tonregister,  als  der  Kehlkopf  des  Mannes.  Ebenso  ist  es  bei  Knaben  vor  dem 
sogenannten  Mutiren,  welches  einige  Zeit  vor  der  Geschlechtsreife  stattfindet.  Um 
zur  Ehre  Gottes  weibliclien  Sopran  mit  männlicher  Stärke  zu  singen,  hat  man  zu 
Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  nocli  —  castrirt.  —  Die  oberen  Stimmritzenbänder 
und  die  knorpeligen  Wände  des  Kehlkopfes,  verstärken  den  Ton  durch  Mit- 
schwingen, und  die  Ventriculi  Golem  durch  Resonanz  ilirer  Luft.  —  Da  die  ans- 
geathmete Luft  durch  die  Bachen-,  Mund-  und  Nasenhöhle  streicht,  so  werden 
diese  Höhlen  den  Timbre  des  Schalles  wesentlich  modificiren.  —  Elasticität, 
Feuchtigkeit,  und  ein  zureichender  Spannungsgrad  der  Stimmbänder,  sind  un- 
erlässliche  Erfordernisse  für  die  Tonbildung;  Abwesenheit  dieser  Bedingungen 
bewirkt  Heiserkeit,  selbst  Stimmlosigkeit  —  Aphonie.  —  Durch  den  verschiedenen 
Tensionsgrad  der  Stimmbänder  lässt  sich  gewöhnlich  eine  Tonfolge  von  zwei 
Octaven  (Brusttöne)  erzielen.  Nie  erreichte  der  Stimmumfang  einer  Sängerin  drei 
Octaven.  Bei  Falsetttönen  schwingen  nur  die  inneren  Ränder  der  Stimmbänder. 
—  Die  Stimmkraft  des  männlichen  Kehlkopfes  äussert  sich  zwar  dröhnender,  aber 
auch  unbeholfener  als  jene  des  weiblichen,  wegen  der  Grösse  der  Knorpel  und  der 
Dicke  der  Bänder.  Der  Bass  hält  darum  volle  Noten,  während  der  Sopran  eine 
Roulade  in  Vienmdsechzigsteln  ausführt  —  Die  Stimmritze  erweitert  sich  auch 
bei  jedem  Einathmen,  und  verengert  sich  beim  Ausathmen.  Beim  Anhalten  des 
Athems  mit  gleichzeitigem  Drängen,  schliesst  sie  sich  vollkommen,  so  wie  beim 
Schlingen,  wo  der  Kehldeckel  zugleich  wie  eine  Fallthüre  auf  den  Aditus  luryngis 
durch  die  Zunge  niedergedrückt,  und  durch  die  Musculi  ary-epiglüttici  nieder- 
gezogen wird.  Man  hat  deshalb  die  letzteren  Muskeln  auch  als  Sphincter  laryngis 
aufgefasst,  was  sie  aber  nicht  sind,  und  ihrer  Schwäche  wegen  auch  nicht  sein 
können. 


§.  284.  Luftröhre  und  deren  Aeste. 

Die  Luftröhre,  Trachea  8.  Aspera  arteria  (xpaxs^a  apriQpfa, 
rauhes  Luft  röhr,  wegen  seiner  quer  geringelten  Oberfläche,  wie 
in  §.  45  erklärt  wurde),  mag  als  eine  Fortsetzung  des  Kehlkopfes 
angesehen  werden,  wie  die  Speiseröhre  als  eine  Fortsetzung  des 
Rachens.  Sie  bildet  ein  elastisch-steifes  Rohr,  dessen  hintere  Wand 
plan,  weich  und  nachgiebig  ist.  Sie  hat  hinter  sich  den  Oesophagus, 
welcher  zugleich  etwas  nach  links  abweicht.  Die  Ausdehnung  des 
Oesophagus  durch  den  verschlungenen  Bissen,  erfordert,  dass  die 
vor  ihm  liegende  hintere  Wand  der  Luftröhre  nachgiebig  sei.    Die 

Hyrtl,  Lehrbuch  der  Anatomie.  14.  Aufl.  4<^ 


722  §•  284.  Luftröhre  und  deren  Aeete. 

Länge  der  Luftröhre  misst  drei  einhalb  bis  vier  einhalb  Zoll. 
An  ihrem  oberen  und  unteren  Ende  ist  sie  etwas  enger,  als  in 
der  Mitte. 

Der  Anfang  der  Luftröhre  entspricht  dem  fünften  Halswirbel. 
Sie  wird  in  ihrer  zum  Thorax  senkrecht  absteigenden  Richtung,  von 
dem  tiefen  Blatte  der  Fascia  colli,  von  der  Schilddrüse,  und  unterhalb 
dieser,  von  den  unteren  Schilddrüsen venen  bedeckt,  und  geht  hinter 
der  Indsura  semilunaris  stenii  beim  Manne  bis  zum  dritten  Brust- 
wirbel, bei  Weibern  bis  zum  vierten  herab.  Hier  theilt  sie  sich 
in  zwei  divergente  Aeste  (Bronchi,  richtiger  Broiichia),  deren  jeder 
Einer  Lunge  angehört.  Der  Bronchus  dexter  ist  kürzer,  weiter,  und 
mehr  quer  gerichtet,  als  der  linke.  Jeder  Bronchus  theilt  sich 
wieder  in  so  viele  Zweige,  als  seine  Lunge  Lappen  hat,  —  der 
rechte  in  drei,  der  linke  in  zwei. 

Anch  die  Luftröhre  hiess  bei  den  Alten  hronchua.  Die  Gescluchte  lehrt 
uns,  d&88  Plato  nur  die  Speisen  durch  den  Oesophagas  gehen  liess,  die  Getränke 
aber  durch  die  Luftröhre  und  ihre  Aeste,  welche  also  von  ihnen  befeuchtet  werden 
(ßp^)^a>),  und  somit  sprachlich  consequent,  aber  physiologisch  ganz  unrichtig,  den 
Namen  6  ßpö^yo^  und  Ta  ßpoY/ia  erhielten.  Der  Luftröhrenschnitt  heisst  heut  zu 
Tage  noch  Bronchotomie,  und  der  dazu  verwendete  Troicart:  Hronchotom. 
Als  der  Platonische  Irrthum  durch  Aristoteles  gestürzt  wurde,  behielt  man  das 
Wort  ßp^f/.o;  eine  Zeitlang  noch  für  die  vordere  Halsgegend  bei,  deren  Kropf- 
geschwulst von  Paulus  Aegineta  als  Bronchocele  erwähnt  wird. 

Die  Luftröhre  benöthigt  eine  gewisse  Steifheit.  Eine  blos 
häutige  Röhre  wäre  der  Gefahr  ausgesetzt,  beim  Kinathnien  durch 
den  Druck  der  äusseren  Luft  coniprimirt  zu  w^erdcn.  Die  erforder- 
liche Steifheit  erhält  sie  durch  eine  Schaar  transversal  in  ihre 
Wand  eingewachsener  Knorpclstreifen,  Cartilagines  tra^heahs,  welche 
zu  den  Hyalinknorpeln  gehören.  Mau  zählt  ihrer  sechzehn  bis 
zwanzig.  Sie  gehen  nicht  um  die  ganze  Peripherie  der  Luftröhre 
herum,  deren  hintere  Wand  blos  häutig  ist.  Sie  sind  also  C-fiirmi*]:. 
Die  Oeffnung  des  (■  sieht  nach  hinten.  Die  C -förmigen  Knorpel 
geben  der  T^uftröhre  ein  unebenes,  geringeltes  Ansehen,  woher  der 
alte  Name  Aspera  nrteria  stammt.  Die  Knorpel  bestimmen  die 
Gestalt  und  Weite  der  Luftröhre  und  ihrer  Aeste,  stossen  aber 
nicht  mit  ihren  oberen  und  unteren  Rändern  an  einander,  sondern 
werden  durch  elastische  Faserbänder  an  einander  gekettet.  Dieser 
Umstand  macht  Verlängerung  und  Verkürzung  der  Luftnilire 
möglich.  Organische  Muskelfasern  verbinden  die  beiden  Enden 
der  C-förmigcn  Knorpel,  deren  Krümmung  sie  durch  ihre  Wirkung 
vermehren,  und  den  Durchmesser  der  Luftröhre  verkleinern.  Schleim- 
haut mit  Flimmerepithel,  und  eine  elastische  Faserhaut,  kleiden  das 
Innere  der  Luftröhre  aus.  Kleinste  acinöse  Schleimdrüschen  finden 
sieh  in  grosser  Menge  an  jenen  Stellen  der  Luftröhrenschleimhaut, 
wo  die  Knorpel  fehlen. 


S.  S85.  Longen.  Ilir  A«nu«rei.  723 

An  den  beiden  Theilungsästen  der  Luftröhre  (Bronchi)  wieder- 
holt sich  der  Bau  der  Luftröhre.  Der  Bronchus  dexter  enthält  sechs 
bis  acht,  der  linke  neun  bis  zwölf  Knorpel. 

Nur  selten  finden  sieh  in  der  hinteren  Wand  der  Trachea  eingesprengt 
Knorpelstückchen,  CartUagines  intercalarea.  Luschka  entdeckte  anch  in  der 
hinteren  Wand  der  Luftröhre  longitudinale  Muskelfasern,  welche  mit  der  Läng^- 
faserschichte  der  Speiseröhre  in  Zusammenhang  stehen.  —  Die  gprössere  Weite 
des  rechten  Bronchus  beding^  einen  stärkeren  Luftstrom  zur  rechten  Lunge.  Des- 
halb werden  fremde  Körper,  welche  in  die  Luftröhre  gelangen,  in  der  Regel  in 
den  rechten  Bronchus  hineingerissen.  Man  weiss  auch  durch  Leichenbefunde  von 
Neugeborenen,  welche  nach  den  ersten  Athemztigen  starben,  dass  die  rechte  Lung^, 
eben  ihres  weiteren  Bronchus  wegen,  frülier  atlimet  als  die  linke. 

Der  Name  Luftröhre  ist  eine  wörtliche  Uebersetzung  des  Ausdruckes: 
spiritaUs  fisttda,  welchen  Lactantius  gebraucht.  Die  LcUmo-barbari  schreiben 
Canna  pulmonum. 


§.  285.  Lungen.  Ihr  Aeusseres. 

Die  Lungen,  Pulmones,  sind  paarige  Organe.  Sie  hiessen  bei 
den  Griechen  TCveu|ji.ov£<;,  von  dem  xveujjia  des  Hippocrates,  d.  i.  die 
durch  das  Athmen  eingezogene  Luft,  oder  der  Lebensgeist  (Wurzel 
Tr/£(i),  athmen,  o\  Tcv^ovre«;,  die  Lebenden,  bei  Sophocles).  Sie  nehmen 
als  zwei  stumpf-kegelförmige,  weiche,  elastische,  und  ungemein 
gefiissreiche  Eingeweide,  die  beiden  Seitenhälften  des  Thoraxraumes 
ein,  und  fassen  das  Herz  zwischen  sich.  Sie  bilden  den  Herd  für 
den  chemischen  Act  der  Respiration,  welcher  das  venöse  Blut  in 
arterielles  umwandelt. 

Ihre  Farbe  ist  nach  Verschiedenheit  des  Alters,  des  Blutreichthums,  und 
der  gesunden  oder  kranken  Verfassung  ihres  Parenchjms,  sehr  different,  und  bietet 
alle  Nuancen  zwischen  Bosenroth  und  Blauschwarz  dar.  Ihr  Gewebe  fühlt  sich 
weich  an,  knistert  beim  Druck,  und  lüsst  beim  Durchschnitt  schaumiges,  mit  Luft- 
bläschen gemengtes  Blut  ausfliessen.  Ihr  absolutes  Gewicht  beträgt,  bei  massiger 
Fttllung  mit  Blut,  beiläufig  zweieinhalb  Pfund,  beim  Weibe  etwas  weniger.  Ihr 
specifisches  Gewicht  wird,  der  im  Parenchjm  enthaltenen  Luft  wegen,  geringer 
als  jenes  des  Wassers  sein.  Lungen,  welche  geathmet  haben,  schwimmen  des- 
halb, als  Ganzes  oder  in  Theile  zerschnitten,  auf  dem  Wasser.  Lungen,  welche 
noch  nicht  geathmet  haben,  also  keine  Luft  enthalten,  wie  jene  von  Embryonen 
oder  todtgeborenen  Kindern,  haben  eine  derbere  Consistenz,  sind  specifisch 
schwerer,  und  sinken  im  Wasser  zu  Boden.  In  einem  gewissen  Stadium  der 
Lungenentzündung  wird  ihr  Gewebe  durch  Exsudate  impermeabel  filr  die  Luft 
Werden  diese  Exsudate  so  fest,  dass  die  kranke  Lunge  das  Ansehen  und  die 
Dichtigkeit  der  Leber  annimmt,  so  heisst  sie  in  diesem  Zustande  hepatisirt 

Jede  Lunge    (Pulmo   dexter  et  sinistei')    stellt   die   Hälfte   eines 

senkrecht  durchschnittenen  Kegels  dar,  dessen    concave   Basis   auf 

dem  convexen  Zwerchfell  aufruht,  dessen  abgerundete  Spitze  in  die 

Apertura  thoracU  superior  hineinragt,  dessen  äussere  convexe  Fläche 

46» 


724  S-  S^>  Langen.  Ihr  Aeusseres. 

an  die  Concavität  der  Seitenwand  des  Thorax  anliegt,  und  dessen 
innere  ausgehöhlte  Fläche,  mit  derselben  Fläche  der  gegenüber 
stehenden  Lunge,  eine  Nische  für  das  Herz  bildet.  —  Die  rechte 
Lunge  ist,  wegen  des  höheren  rechtseitigen  Standes  des  Zwerchfells, 
niedriger,  aber  breiter  als  die  linke,  und  zugleich  etwas  grösser.  — 
Die  Ränder  zerfallen  1.  in  den  unteren  halbkreisförmigen,  welcher 
die  äussere  Fläche  von  der  unteren  scheidet,  2.  in  den  vorderen 
schneidenden,  und  3.  in  den  hinteren  stumpfen.  Die  beiden  letz- 
teren trennen  die  äussere  Fläche  der  Lunge  von  der  inneren.  An 
der  inneren  Fläche  findet  sich,  nahe  am  hinteren  Rande,  und  näher 
dem  oberen  Ende  als  dem  unteren,  ein  Einschnitt,  durch  welchen 
die  Gefösse  der  Lunge  aus-  und  eintreten  (Hilus  s,  Porta  pulmoms). 
Ein  anderer  sehr  tiefer  Einschnitt  zieht  vom  hinteren  stumpfen  Rande 
jeder  Lunge,  schräg  über  die  äussere  Fläche  nach  abwärts,  zum 
vorderen  schneidenden  Rande  derselben.  Er  theilt  sich  an  der 
rechten  Lunge  gabelfbrmig  in  zwei  Schenkel,  bleibt  aber  an  der 
linken  ungetheilt.  Die  linke  Lunge  wird  dadurch  in  zwei,  die  rechte 
in  drei  Lappen  geschnitten  (Lohi  pulmonum),  von  welchen  der  mitt- 
lere der  kleinste  ist. 

Die  das  Athmungsgeschäft  vermittehiden  Oefasse  jeder  Lunge 
treten  nur  am  Hilus  aus  und  ein.  Sie  sind:  1.  der  Bronchus,  2.  die 
Arteria  pulmoticdis,  3.  die  zwei  Venae  pulmonales.  Sie  werden  mit 
den  die  Ernährung  des  Lungenparenchyms  besorgenden  Arteriae  et 
Venae  bronchiales,  und  den  Saugadern  der  Lunge,  durch  Bindegewebe 
zu  einem  Bündel  vereinigt.  Dieses  Bündel  heisst  Lunge nwurzel, 
Radix  8,  Pedunculus  pulmonis,  an  welcher  die  Lunge  hängt,  wie  die 
Frucht  am  Stiele.  Eine  Duplicatur  der  Pleura  erstreckt  sich  von 
der  Lungenwurzel  längs  des  hinteren  Lungenrandes  bis  zum  Zwerch- 
fell herab,  als  Ligamentum  latum  pulmonis. 

Die  Oberfläche  der  Lunge  wird  von  der  Pleura  pulmonalis 
überzogen  (§.  288),  welche  sich  in  die  tiefen  Trennungseinschnitte 
zwischen  den  Lungenlappen  hineinsenkt,  ohne  jedoch  ganz  bis  auf 
ihren  Grund  zu  gelangen.  Sie  hängt  fest  an  die  Lunge  an,  und 
kann  nur  mit  grosser  Vorsicht  streckenweise  abgezogen  werden. 
Die  Oberfläche  der  Lunge  zeigt  sich  ferner  im  frischen  und  ge- 
•sunden  Zustande,  in  kleinere,  eckige,  und  durch  dunklere  Linien 
von  einander  getrennte  Felder  (Insulae  pulmonales)  getheilt.  Die 
dunklen  Linien  sind  die  Begrenzungsfurchen  der  eckigen  Felder. 
Sie  enthalten  in  einem  bindegewebigen  Stroma,  Blut-  und  Lymph- 
gefasse,  so  wie  eine  besonders  im  höheren  Alter  zunehmende  Menge 
körnigen  Pigments,  und  erscheinen  deshalb  dunkel.  Die  eckigen  Felder 
sind  die  Basen  von  pyramidalen  Läppchen  des  Lungengewebes  (Lohuli 
pulmonales),  .deren  jedes  an  seiner  nach  innen  gerichteten  Spitze, 
mit  einem  feinsten  Ast  der  Luftröhrenverzweigung,  so  wie  mit  einer 


§.  f86.  Bau  der  Langen.  725 

Arterie  und  Vene  zusammenhängt.  Jeder  LohuLus  ptdmonalis  stellt 
sonach  eigentlich  „eine  Lunge  im  Kleinen"  dar,  mit  allen^  der 
ganzen  Lunge  zukommenden  anatomischen  Elementen,  wie  im 
nächsten   Paragraphe  gezeigt  wird. 


§.  286.  Bau  der  Lungen. 

Jeder  der  beiden  Bronchien  theilt  sich  in  so  viel  Aeste,  als 
Lappen  an  der  betreffenden  Lunge  vorkommen.  Jeder  Ast  theilt 
sich  wiederholt  und  meist  gabelförmig  in  kleinere  Zweige,  Syringea 
8.  Canales  aenferi.  Sind  die  Zweige  fein  genug  geworden  (etwa 
0,1  Linie  Durchmesser),  so  treten  sie,  wie  oben  bemerkt,  in  die 
Spitzen  der  Lohiili  pulmonales  ein,  theilen  sich  in  diesen  noch  einige- 
mal, und  erweitern  sich  hierauf  trichterförmig  (Infundibula).  Um 
jedes  Infundibulum  schaart  sich  rings  herum  eine  Anzahl  bläschen- 
artiger Ausbuchtungen,  deren  Zahl  nach  der  Grösse  der  Lobuli 
vielfach  variirt  (zwanzig  bis  sechszig).  Diese  Ausbuchtungen  sind 
die  Lungenbläschen  (Cellnlae  s»  Vesiculae  dereae  pulmonum),  oder 
die  Alveoli  der  neueren  Autoren.  Man  möchte  einen  Vergleich  zu- 
lassen zwischen  den  bläschentragenden  Bronchusenden  und  den 
Acini  eines  Drüsenausführungsganges.  Die  auf  der  Seitenwand  der 
Infundibula  aufsitzenden  oder  wandständigen  Lungenbläschen,  können 
nach  Moleschott:  Cdlidae  parietales,  —  die  auf  dem,  gegen  die 
Oberfläche  der  Lunge  gerichteten  breiteren  Ende  der  Infundibula 
befindlichen:  Cellulae  terminales  genannt  werden.  Die  Grösse  und 
Form  dieser  Bläschen  variirt  begreiflicherweise  nach  Verschieden- 
heit ihrer  Füllung  mit  Luft.  Die  Grösse  nimmt  überdies  mit  dem 
fortschreitenden  Alter  zu.  Ihren  Durchmesser  auf  0,06  Linien  bis 
0,2  Linien  anzugeben,  mag  nur  so  beiläufig  richtig  sein.  Bei  krank- 
hafter Ausdehnung  kann  er  bis  zwei  Linien  betragen  (Emphysema 
vesicylare).  Die  Lungenbläschen  der  Infundibula  eines  Lobulus 
communiciren  nicht  mit  jenen  benachbarter  Lobuli.  Wohl  aber 
stehen  sie  unter  einander  in  Höhlencommunication,  indem  die  durch 
die  Verschmelzung  der  Wände  benachbarter  Alveoli  gegebenen  Septa 
hie  und  da  durchbrochen  sind,  nicht  selten  sogar  in  den  Lungen 
alter  Leute  auf  feine  Bälkchen  reducirt  erscheinen.  Hierin  liegt  der 
wesentliche  Unterschied  zwischen  dem  Bau  der  Lunge  und  einer 
acinösen  Drüse.  Bei  letzterer  stehen  die  traubig  aggregirten  End- 
bläschen nie  mit  einander  in  Höhlencommunication. 

Die  Arteria  ptdmonalis,  welche  aus  der  rechten  Herzkammer 
entspringt,  und  venöses  Blut  führt,  folgt  den  Verästlungen  des 
Bjonchus,  und  löst  sich  endlich  in  das  capillare  Netz  der  Vesictdae 
a'ereae  auf,   aus   welchem  die   ersten  Anfange  der  Venae  pulmonales 


726  |.  S86.  Baa  d«r  Langen. 

entspringen.  Während  das  venöse  Blut  durch  dieses  Capillargelass- 
netz  strömt^  tauscht  es  seine  Kohlensäure  gegen  das  Oxygen  der 
in  jedem  Lungenbläschen  vorhandenen  Luft  aus,  wird  arteriell,  und 
kehrt  durch  die  Lungenvenen,  deren  jede  Lunge  zwei  hat,  zur 
linken  Herzvorkammer  zurück. 

Die  Lungenbläschen  werden  in  den  beiden  Langen  von  H  n  s  c  h  k  e  auf  die 
Kleinigkeit  von  1700 — 1800  MiUionen  geschätzt.  Ihre  Flächen,  in  eine  Ebene 
zusammengestellt,  würden  eine  Area  von  2000  Quadratfuss  geben. 

Die  Aeste  und  Zweige  der  Bronchien  verlieren,  je  mehr  sie  sich  im  Paren- 
chym  der  Lunge  durch  Theilung  verjüngen,  ihre  Knor])eIringe  nach  und  nach, 
indem  diese  an  den  grösseren  Bronchialverzweigungen  noch  als  Querstreifen 
vorhanden  sind,  an  den  kleineren  aber  zu  eckigen  oder  rundlichen  Scheibchen 
eingehen,  welche  in  der  Wand  dieser  Luftwege  wie  eingesprengt  liegen,  dann 
aber  in  Bronchialästen  von  0,5  Linien  Durchmesser  spurlos  verschwinden.  —  Die 
ans  einer  äusseren,  knorpclfiihrenden  Faserschichte  und  inneren  Schleimhaut  be- 
stehende, mit  zahlreichen  Schleimdrüschen  ausgestattete  Wand  der  grösseren 
Bronchialverzweig^ngen  geht  in  den  letzten  Verästlungen  derselben,  so  wie  in  den 
Lungenbläschen  selbst,  zu  einer  structurlosen,  mit  elastischen  Fasern  umsponnenen 
Membran  ein.  Die  queren  Muskelfasern,  welche  die  Enden  der  C-f<>rmigen  Knorpel 
der  Luftröhre  und  ihrer  Verzweigungen  mit  einander  verbanden,  entwickeln  »ich 
in  dem  Maasse,  als  die  Knorpel  schwinden,  zu  Kreisfasern,  welche  sich  zwar  bis 
an  die  Lungenbläschen  liin  erhalten,  jedoch  letztere  nicht  mehr  einzeln,  sondern 
Gruppen  derselben  umgeben.  —  Die  Zellen  des  flimmernden  Cylinderepithels  der 
grösseren  Bronchialästo  werden  in  den  feineren  Bronchialramificationen  immer 
niedriger,  nehmen  in  den  feinsten  die  Form  von  Pflasterzellen  an,  und  verlieren 
als  solche  ihre  Flimmerhaare.  In  den  Lungenbläschen  werden  diese  Epithel ial- 
zellen  so  niedrig,  dass  sie  nur  mehr  Plattenform  besitzen.  Wie  verhält  sich  nun 
dieses  Plattenepithel  zum  xespiratorischen  Gefassnetz  der  Lungenbläschen?  Dieses 
Capillargefässnetz  liegt  in  der  structurlosen  Wand  der  Lungenbläschen  derart  ein- 
getragen, dass  seine  Stämmchen  nur  zum  Theil  in  diese  Wand  eingebettet  sind, 
mit  dem  übrigen  Theil  ihrer  Oberfläche  aber  frei  in  die  Höhle  der  Lungen- 
bläschen hineinragen,  ja  selbst  schlingenartig  sich  in  dieselbe  vordrängen.  Während 
nun  einige  Mikrologen  behaupten,  dass  das  Plattenepithel  der  Lungenbläschen 
nur  die  Maschen  des  Capillargeßissnetzes  einnimmt,  die  freie  (»)erfläche  der 
Capillargefässe  aber  nicht  überzieht  ( R  a  i  n  e  y  ,  J.  Arnold),  spreclien  »ich  Andere 
für  eine  continuirliche  Epithelschichte  der  Lungenbläschen  aus,  und  wieder  Andere 
stellen  das  Vorkommen  von  Epithel  gänzlich  in  Abrede  (Schultz,  Gerlach, 
Heule).     Quot  capita,  tot  genlenUae. 

Die  Nerven  der  Lunge  stammen  vom  Vagus  und  Sympathicus,  und  biKien 
um  die  Lungenwurzel  den  PlexM  pulvionaluf,  dessen  Grösse  zum  Vulumen  der 
Lunge  gering  genannt  werden  kann.  Die  Verästlungen  des  Plexiut  puhnonaliji 
folgen  grösstentheils  den  Aesten  der  Bronchien,  verlieren  sich  in  ihnen,  und  be- 
Bit2^n  die  von  Kemak  in  so  vielen  Parenchymen  entdeckten,  von  Schiff  auch 
an  den  feineren  Bronchien  nachgewiesenen  mikroskopischen  Ganj^lien.  Der  Vagus 
scheint  der  Emi)findlichkeit  der  Luftwege  vorzustehen,  der  Sympathicus  ihrer 
organischen  Contractilität  und  ihrer  Emähning.  Die  Empfindlichkeit  der  Lunge 
ist  so  gering,  dass  selbst  weit  ausgedehnte  Zerstörungen  ihres  Parenchyms,  ohne 
intensive  Schmerzen  verlaufen,  und  das  verfallene  Leben  der  Phthisiker  gewöhn- 
lich mit  der  Ruhe  des  Entschlummems  schliesst :  non  moriuntur,  sed  vivere  ce^sanl, 
—  ex9tinguurUur  uH  eüi/ehnium  (Lampendocht),  deficienle  oleo  (P.  Frank). 


S.  W7.  Ein-  und  AuMthmen.  727 

Die  oberfläclilichen  Lymphgefässe  bilden  nnter  der  Pleura  ptämonalü  an- 
sehnliche Netze.  Die  tieflieg^enden  folgen  dem  Zuge  der  Bronchienäste,  und 
passiren  durch  kleine,  linsen-  oder  hanfkomg^osse  Drüsen,  Glandulae  pulmancUea, 
welche  auch  ausserhalb  der  Lungen  die  Wurzel  derselben  umlagern,  und  dann 
Glandulae  bronchiales  heissen.  Letztere  erreichen  zuweilen,  besonders  im  Theilungs- 
winkel  der  Trachea,  eine  stattliche  Grösse.  Ihr  g^au-  und  schwarzgesprenkeltes 
Ansehen,  verdanken  sie  einer  Ablagerung  von  kömigem,  sternförmige  Gruppen 
bildendem  Pigpnent.  Sie  erscheinen  häufig  im  höheren  Alter  zu  Säcken  mit  schmie- 
rigem, schwarzem  Inhalt  metamorphosirt 

Ausser  den  grossen  Luft-  und  ßlutkanälen,  welche  die  Alten  als  Vtua 
publica  piämonum  bezeichneten,  hat  die  Lunge  auch  ein  besonderes,  auf  ihre  Er- 
nährung abzielendes  Gefässsystem  —  Vaga  privata.  Diese  sind  die  Arteriae  et 
Venae  bronchiales,  welche  ebenfalls  die  Eadix  pulmonis  bilden  helfen.  Die  Arteriae 
fjronchitdes  nehmen,  nachdem  sie  die  Wand  der  Bronchialverästlungen  und  der 
grossen  Blutgefässe  mit  Capillargefässen  versorgten,  auch  an  der  Bildung  der 
respiratorischen  Capillargefässnetze  der  Lungenbläschen  entschiedenen  Antheil. 
Isolirte  Injection  der  Arteriae  bronchiales  gsbh  mir  immer  dasselbe  Resultat: 
Füllimg  des  respiratorischen  Capillargefässnetzes  der  Vesiculae  aereae.  Die  den 
Bronchialarterien  entsprechenden  Venae  bronchiales,  entleeren  sich  theils  in  die 
Vena  azygos,  also  in  die  Blutbahn  der  oberen  Hohlvene,  theils  in  die  Venae  pul- 
monales selbst. 

Die  Literatur  über  den  Bau  der  Lunge,  hat  F.  E.  Schulze  vollständig 
zusammengestellt  (Stricke  r^s  Gewebslehre,  Cap.  XX.). 


§.  287.  Ein-  und  Ausathmen. 

Durch  die  Inspirationsmuskeln  wird  der  Thorax  erweitert,  und 
die  Luft  in  die  Lungen  eingezogen.  Die  Lunge  vergrössert  sich 
um  so  viel,  als  die  Erweiterung  des  Thorax  beträgt.  Sie  bleibt 
hiebei  mit  der  inneren  Fläche  der  Brusthöhle  in  genauem  Contact. 
Die  einstnimende  Luft  erzeugt  durch  Reibung  an  den  Theilungs- 
winkeln  der  Bronchialvcrzweigungen ,  und  durch  Ausdehnen  der 
zahllosen  Vesiculae  aereae,  ein  knisterndes  Geräusch,  welches  in 
jenen  Krankheiten,  wo  die  Luftwege  mit  Exsudaten  gefüllt  sind, 
fehlt,  und  deshalb  von  den  Aerzten  als  Hilfsmittel  benutzt  wird, 
die  Wegsamkeit  des  Lungenparenchyms  zu  untersuchen.  —  Das 
Ausathmen  erfolgt  durch  Verkleinerung  des  Thoraxraumes.  Diese 
Verkleinerung  stellt  sich  schon  durch  die  Elasticität  der  Thorax- 
wände imd  der  Lungen  von  selbst  ein,  wenn  die  Inspirationsmuskeln 
zu  wirken  aufhören.  Nur  wenn  das  Ausathmen  forciii;  wird,  wie 
z.  B.  beim  Schreien,  müssen  Muskelkräfte  den  Thoraxraum  ver- 
kleinern helfen.  —  Beim  Ausathmen  wird  nicht  alle  Luft,  welche  in 
den  Lungen  war,  herausgetrieben.  Es  bleibt  ein  Quantum  zurück, 
da  die  Luftwege  sich  nicht  vollends  entleeren.  Die  Leichenlunge 
ist  deshalb  nicht  luftleer. 

Das  elastische  Gewebe  in  der  Lunge  sucht  auch  in  der  Leiche 
noch  das  Lungenvolumen  zu  verkleinern.     Es   kommt  jedoch  nicht 


.i 


728  S-  SS7-  Eifl-  und  Antathmen. 

ZU  dieser  Verkleinerung,  da  die  Lunge  sich  von  der  geschlossenen 
Thoraxwand  nicht  entfernen  kann.  Eine  solche  Entfernung  der 
Lunge  von  der  Thoraxwand,  würde  zwischen  beiden  einen 
leeren  Raum  schaffen.  Wird  aber  die  Thoraxwand  eingeschnitten, 
so  bringt  das  elastische  Element  im  Lungengewebe,  das  Lungen- 
volumen auf  sein  Minimum,  und  einströmende  Ijuft  füllt  das 
zwischen  Lunge  und  Thoraxwand  entstehende  Vacuum  aus. 

Bei  ruhigem  Athmen  beträgt  das  ein-  und  ausgeathmcte  Luft- 
quantum 16 — 20  CubikzoU.  Die  in  den  Lungen  zurückbleibende 
nicht  ausgeathmcte  Luft,  wird  auf  170  CubikzoU  angeschlagen. 
Hutchinson's  Untersuchungen  zeigten,  dass  ein  Mann  von  fünf 
bis  sechs  Schuh  Körperhöhe,  nach  vorausgegangener  tiefer  Inspira- 
tion, 225  CubikzoU  Luft  durch  die  möglichste  Verkleinerung  des 
Thorax  ausathmet.  Dieses  Luftquantum  nennt  man  vitale  Capa- 
cität  der  Lungen.  225  +  170  rrr  395  CubikzoU  wäre  somit  die 
absolute  Luftmenge,  welche  eine  Lunge  enthalten  kann.  Die  vitale 
Capacität  der  Lungen  nimmt  mit  der  Zunahme  der  Körperhöhe  zu, 
nicht  aber  mit  dem  Körpergewichte.  Für  jeden  Zoll  über  die 
früher  angegebene  Körperhöhe,  steigt  die  vitale  Lungencapacität 
um  einen  CubikzoU.  Vom  15. — 35.  Lebensjahre  nimmt  die  vitale 
Capacität  der  Lungen  zu;  vom  35. — 65.  Lebensjahre  nimmt  sie 
jährlich  um  einen  CubikzoU  ab.  Bei  Lungensucht  vermindert  sie 
sich,  nach  dem  Grade  der  Krankheit,  um  10 — 70  Procent. 

Die  ausgeathmcte  Luft  enthält,  statt  des  Oxygens,  welches  sie 
an  das  venöse  Blut  abgegeben,  um  arterielles  daraus  zu  machen,  eine 
entsprechende  Menge  Kohlensäure,  Wasserdampf  und  flüchtige 
thierische  Stoffe  (wie  z.  B.  beim  stinkenden  Athem).  Mit  jeder 
Inspiration,  deren  im  Mittel,  bei  ruhigem  Körper  und  Geist,  sech- 
zehn auf  die  Minute  kommen,  binnen  welcher  Zeit  der  Puls  fünf- 
und  sechzigmal  schlägt,  ändern  die  vorderen  Ränder  der  Lungen 
ihre  Lage,  und  schieben  sich  vor  den  Herzbeutel,  nähern  sich  also, 
umschliessen  das  Herz  vollkommener,  und  dämpfen  seinen  Schlag. 
Die  Seitenflächen  der  Lungen  gleiten  zugleich  an  der  Brustwand 
herab,  und  die  Spitzen  der  Lungenkegel  erheben  sich  hinter  dem 
Scalenns  anticus  etwas  über  den  Rand  der  ersten  Rippe.  VieUeicht 
bedingt  die  an  letzterem  Orte  stattfindende  Reibung,  das  häutige 
Vorkommen  von  Tuberkeln  an  der  Lungenspitze.  Die  hinteren 
Ränder  der  Lungen  bleiben  in  den  Vertiefungen  zwischen  der 
Wirbelsäule  und  den  Rippen,  und  verrücken  sich  niclit. 

'  Man   kann    an    der    Leiche    diese    Bewejjung    der  Liinji^e  durch  Aufhhisen 

nachahmen,  und  sich  überzeugen,  dass  sie  flir  die  Gefährlichkeit  der  HniHtwunden 
und  für  die  aoscultatorische  Untersuchung  der  BniKteinge weide  von  Wichtigkeit  ist. 


S.  288.  BraitfeUe.  729 


§.  288.  Brustfelle. 

Es  finden  sich  in  der  Brusthöhle  drei  seröse,  vollkommen  ge- 
schlossene Säcke.  Zwei  davon  sind  paarig,  und  zur  Umhüllung  der 
rechten  und  linken  Lunge  bestimmt.  Der  dritte  ist  unpaarig,  liegt 
zwischen  den  beiden  paarigen,  und  schliesst  das  Herz  ein.  Die 
paarigen  heissen:  Brustfelle,  Pleurae,  —  der  unpaarige:  Herz- 
beutel, Pericardtum,  dessen  Beschreibung  erst  bei  der  speciellen 
Beschreibung  des  Herzens  an  die  Reihe  kommt.  Das  griechische 
Wort  rXsupa   bedeutet   sowohl   Seite,    als  Rippe,  und  auch  Brustfell. 

Das  Verhältniss  der  Pleurae  zur  Thoraxwand  und  zu  den 
Lungen,  wird  man  sich  auf  folgende  Weise  am  besten  klar  machen. 
Man  denke  sich  jede  Hälfte  der  Brusthöhle,  durch  eine  einfache 
seröse  Blase  eingenommen  (Pleura),  und  die  Lungen  noch  fehlend. 
Jede  Blase  sei  an  die  innere  Oberfläche  der  Rippen  und  ihrer 
Zwischenmuskeln  angewachsen,  als  Pleura  costalis,  Rippenfell,  so 
wie  auch  an  die  obere  Fläche  des  Zwerchfells  als  Pleura  phrenica. 
Beide  Blasen  stehen  mit  ihren  einander  zugewendeten  Seiten  nicht 
in  Berührung.  Es  bleibt  somit  ein  freier  Raum  zwischen  ihnen, 
welcher  sich  vom  Brustbeine  zur  Wirbelsäule  erstrecken  wird.  Dieser 
Raum  heisst  Mittelfellraum,  Cavuni mediastini,  und  seine  durch  die 
Pleurae  gegebenen  Seitenwände  sind  die  Mittel  feile,  Mediastina. 
Das  barbarische  Wort  mediastinum  scheint  aus  mediatentis,  bis  zur 
Mitte,  entstanden  zu  sein;  nach  Spigelius  aber,  quod  per  medium 
stet  Galen  bezeichnete  die  Laminae  media>stini  als  jjjli^v  B'.a^parcwv, 
was  Vesal  mit  memhrana  thoracem  mtersepieiis,  richtig  übersetzt.  In 
dem  Mittelfellraum  lasse  man  nun  beide  Lungen  entstehen  und 
gegen  die  Seiten  des  Thorax  zu  sich  vergrössern,  was  nur  dadurch 
geschehen  kann,  dass  jede  Lunge  das  ihr  zugekehite  Mittelfell,  in 
die  Höhle  der  serösen  Blase  der  Pleura  einstülpt,  und  dadurch  von 
ihr  einen  Ueberzug  erhält,  welcher  sl\s  Pleura pulmonalis  (Lungen- 
fell) von  der  Pleura  costalis  umschlossen  sein  wird.  Die  Stelle, 
wo  das  Mittelfell  in  die  Pleura  pulmonalis  übergeht,  wird  von  der 
Lungenwurzel  eingenommen.  Auch  das  Herz  denke  man  sich,  sammt 
seinem  Beutel,  in  dem  Mittelfellraum  entstehen,  denselben  aber 
nicht  ganz  ausfüllen,  weshalb  denn  vor  und  hinter  ihm  ein  Theil 
dieses  Raumes  frei  bleibt,  und  als  vorderer  und  hinterer  Mittel- 
fcllraura,  Cavum  mediastini  anterius  et  post&i*ius,  bezeichnet  wird 
Hier  muss  bemerkt  werden,  dass  der  vordere  Mittelfellraum  bei 
uneröffnetcm  Thorax  nicht  bestehen  kann,  da  das  Herz  an  die  vor 
dere  Thorax  wand  anliegt.  Nur  am  geöflFneten  Thorax  der  Leiche 
fallt  das  Herz  durch  seine  Schwere  gegen  die  hintere  Thoraxwand 
so  dass,  wenn   man    das   ausgeschnittene   Brustblatt  wieder  auflegt 


730  §.288.  Brustfelle. 

ein  Raum  zwischen  demselben  und  dem  Herzen  enthalten  sein  muss. 
—  Der  Mittelfellraum  kann  vorn  nur  so  lang  sein  als  das  Sternum, 
hinten  wird  er,  wegen  der  nach  hinten  abschüssigen  Lage  des 
Zwerchfells,  so  lang  sein,  als  die  Brustwirbelsäule,  welche  seine 
hintere  Wand  bildet.  Besser  wäre  es,  den  vorderen  und  hinteren 
Mittelfellraum  ganz  aufzugeben,  und  nur  von  Einem  Mittelfellraura 
zu  reden,  welcher  sich  vom  Sternum  bis  zur  Wirbelsäule  erstreckt, 
und  das  Herz,  dessen  grosse  Gefiisse,  die  Thymus,  die  Luftröhre, 
und  alles  Andere  enthält,  was  durch  den  Thorax  auf-  oder  nieder- 
zusteigen hat.  Die  Seitenwände  dieses  Mittelfellraums  werden  durch 
das  rechte  und  linke  Mittelfell  gegeben. 

Wir  erkennen,  dem  Gesagten  zufolge,  in  jeder  Pleura  einen 
serösen  Sack,  welcher  sich  nur  an  Einer  Stelle  einstülpt,  um  Ein 
Eingeweide  (die  Limge)  zu  überziehen,  und  somit  zwei  Ballen 
bildet,  einen  äusseren  und  einen  inneren.  Der  äussere  Ballen  ruht 
unten  auf  dem  Zwerchfell  als  Pleura  phrenica,  und  wird  an  dieses, 
so  wie  an  die  innere  Oberfläche  der  Brustwand  als  Pleura  costalis, 
durch  kurzes  Bindegewebe  angeheftet.  Dieses  subpleurale  Binde- 
gewebe nimmt  gegen  die  Wirbelsäule  hin  an  Mächtigkeit  zu,  gewinnt 
festere  Textur,  und  wird  dadurch  zu  einer  besonderen  Schichte, 
welche  von  mir  als  Analogen  der  Fascia  transversa  abdominis  be- 
trachtet, und  als  Fascia  endoihoracica  beschrieben  wurde. 

Betrachtet  man  die  vorderen  Umbeugungsstellen  der  Pleuras 
costales  zu  den  beiderseitigen  Mittelfell  wänden,  und  letztere  selbst 
etwas  näher,  so  findet  man,  dass  sie  nicht  mit  einander  parallel 
laufen.  Sie  nähern  sich  vielmehr  von  den  Rändern  des  Manubrium 
stemi  nach  abwärts,  kommen  am  Corpus  stemi  zusammen,  um  gegen 
das  untere  Ende  des  Brustbeins  wieder  auseinander  zu  weichen, 
wo  dann  die  linke  Mittelfellwand  hinter  den  äusseren  Enden  der 
linken  Rippenknorpel,  die  rechte  dagegen  hinter  der  Mitte  des 
Sternum,  zuweilen  selbst  am  linken  Rande  desselben  hcrabgeht.  Der 
Mittelfellraum  hat  somit,  wenn  er  von  vorn  her  angesehen  wird, 
die  Form  eines  Stundenglases. 

Bei  Erwachsenen  begegnet  man,  häufig  genug,  Adhäsionen  der  Lunge  an 
der  Thoraxwand  (das  will  sagen:  der  Pleura  pvlmonalis  an  die  Pleura  cotttnliM) 
durch  organisirte  Exsudate  nach  Lungen-  und  Bnistfellentziindungen.  Seit  man 
die  pathologische  Entstehung  dieser  Adhäsionen  kennt,  ist  der  Name  derselben : 
Ligamenta  npuria,  in  der  Anatomie  verschollen. 

Ueber  die  Pleurae  handelt  ausführlich:  mein  Handbuch  der  topogr.  Anat« 
I.  Bd.,  femer  Luschka  im  Archiv  fiir  path.  Anat.  Bd.  XV,  und  Bochdalek:  Ueber 
das  Verhalten  des  Mediastinum,  in  der  Prager  Vierteljahrsschrift,  Bd.  IV.  —  Ueber 
die  Fascia  endothoracica,  und  den  Herzbeutel,  liegt  eine  treffliche  Abhandlung 
von  Luschka  im  XVII.  Bde.  der  Denkschriften  der  kais.  Akad.  vor. 


§.  289.  Nebendrüsen  der  Bespiratiomorgane.  Schilddrüie.  731 


§.  289.  üfebendrüsen  der  Respirationsorgane.  Schilddrüse. 

Mit  dem  Hals-  und  Brusttheil  der  Athmungsorgane  stehen 
zwei  Drüsen  in  näherer  anatomischer  Beziehung,  deren  physio- 
logische Bedeutung  noch  unbekannt  ist:  die  Schilddrüse  und  die 
Thymusdrüse. 

Die  Schilddrüse,  Glandula  thyreoidea,  hat  die  Gestalt  eines 
Hufeisens  oder  Halbmondes,  mit  sehr  stumpfen  Hörnern.  Ihr  Mittel- 
stück, welches  gewöhnlich  weniger  massig  ist,  als  ihre  Seiten- 
lappen, und  deshalb  Isthmus  heisst,  liegt  auf  den  oberen  Luftröhren- 
knorpeln auf,  ihre  paarigen  Seitenlappcn,  Cornua  lateralia,  an  und 
auf  der  CartUago  thyreoldea,  Ihre  vordere  Fläche  wird  von  den 
Muscvlis  stemO'thjreoideis  bedeckt.  Die  hintere  Fläche  der  Seiten- 
lappen berührt  die  Arteiia  carotis  communis,  und  erhält,  wenn  die 
Drüse  sich  zum  Kröpfe  vergrössert,  von  diesem  Gefiiss  einen 
longitudinalen  Eindruck.  Das  sehr  gefilssreiche  Parenchym  dieses 
Organs  (daher  der  ältere  Ausdruck:  Ganglion  vasculosum)  wird  von 
einer  dünnen,  aber  festen  Bindegewebsmembran,  Tunica  propria, 
umschlossen,  welche  Fortsetzungen  in  die  Tiefe  schickt,  um  die 
Masse  der  Drüse  in  grössere  und  kleinere  Läppchen  abzutheilen. 
Die  Trennungsfurchen  der  Lappen  und  Läppchen,  werden  an  der 
Oberfläche  der  Drüse  durch  die  grösseren  Blutgefässe  eingenommen. 
Das  Parenchym  selbst  besteht,  wenn  es  gesund  ist,  aus  einem 
Bindegcwebslager,  mit  einer  zahllosen  Menge  kleiner,  rundlicher, 
vollkommen  geschlossener  Bläschen,  von  verschiedener  Grösse  (0,02 
bis  0,2  Linien),  mit  flüssigem  albuminösem  Inhalt,  und  einer  ein- 
fachen Epithelschicht  aus  cubischen  Zellen.  Bei  zunehmendem 
Alter  treten  in  diesen  Bläschen  Veränderungen  ein,  welche  man 
als  colloide  Metamorphose  bezeichnet.  Der  Inhalt  der  Bläschen 
wird  nämlich  in  eine  gallertartige,  bernsteinfarbige  Masse  um- 
gewandelt, und  die  Bläschen  vergrössern  sich.  Die  Grössenzunahme 
der  Bläschen  kann  so  bedeutend  werden,  dass  das  umhüllende 
Bindegewebe  verdrängt  wird,  und  die  Bläschen  zu  immer  grösseren 
Höhlen  zusammenfliessen,  wodurch  endlich  die  ganze  Drüse  zum 
Cyste nkropf  entartet. 

Die  Schilddrüse  hat  nicht  die  entfernteste  Achnlichkeit  mit  einem  SchUde, 
und  sollte  deshalb  richtiger  Schildknorpeldrüse  genannt  werden,  weil  sie  in 
der  Nachbarschaft  dieses  Knorpels  liegt  Dann  müsste  auch  der  Ausdruck  Glan- 
dula thyreoidea  (schildähnlich)  in  ParcUhyreon  umgeformt  werden  {izxpi  und  Ojpsd;  — 
neben  dem  Schilde).  Aber  den  Anatomen  ist  an  Sprachrichtigkeit  sehr  wenig 
gelegen,  sonst  würden  sie  so  viele  unsinnige  Benennungen  in  ihrer  Wissenschaft 
nicht  so  lange  geduldet  haben. 

Ausführungsgänge,  von  welchen  Schmidtmüller  und  Vater  träumten, 
existiren  weder  im  Erwachsenen  noch  im  Embryo,   wo  sie  Meckel  für  möglich 


732  §.890.  ThymQB. 

hielt.  —  Den  LevcUor  glandulär  thyreoideae,  welcher  vom  Zungenbein  herabkommt, 
and  sich  in  der  Tunica  proprio  der  Drüse  verliert,  kann  man  bei  grossen  Kröpfen 
deutlich  sehen.  —  Vom  Isthmus  geht  häufig  ein  unpaariger  Processus  pyra- 
midalis 8.  Oomu  inedium  aus,  welcher  über  die  linke,  seltener  über  die  rechte 
Schildknorpelplatte  (oder  auch  median)  bis  zu  deren  oberen  Rand,  und  selbst 
darüber  hinaus  sich  erhebt.  Zuweilen  schnürt  sich  der  Processus  pyramidalis  vom 
Körper  der  Schilddriise  vollkommen  ab,  und  wird  dadurch  zur  einfachen  oder 
doppelten  Glaiidtda  thyreoidea  accessoria.  Solche  accessorische  Schilddrüsen 
kleinerer  Art,  finden  sich  auch  zuweilen,  einfach  oder  mehrfach,  im  laxen  Binde- 
gewebe hinter  dem  unteren  Rande  der  Schilddrüse  eingebettet. 

Dass  die  Schilddrüse  mit  dem  Kehlkopfe  in  näherer  phy8iologiacher  Be- 
ziehung steht,  ist  eine  blosse  Vermuthung,  welche  allerdings  durch  die  Nähe  dieser 
beiden  Organe,  und  durch  die  Beobachtung  einen  Schein  von  Berechtigung  erhält, 
dass  in  der  Klasse  der  Vögel,  wo  der  Stimmkehlkopf  in  die  Brusthöhle  an  die 
Theilungsstelle  der  Luftröhre  herabrückt,  auch  die  Schilddrüse  in  den  Thorax 
versetzt  wird.  Da  aber  auch  stimmlose  Amphibien  eine  Scliilddrüse  besitzen,  und 
bei  den  Schlangen,  deren  Kehlkopf  am  Boden  der  Mundhöhle  sich  öffnet,  die 
Schilddrüse  weit  von  diesem  Kehlkopf  entfernt  liegt,  so  fehlt  es  nicht  an  Gründen 
zum  Geständniss,  dass  wir  die  fiinctionelle  Bedeutung  der  Schilddrüse  noch  nicht 
verstehen  gelernt  haben.     Selbst  an  Hypothesen  hat  man  sich  nicht  gewag^. 

Bei  Unterbindungen  der  Carotis,  dem  Speiseröhren-  und  Luftrölirenschnitt, 
sind  die  anatomischen  Verhältnisse  der  Schilddrüse  von  grossem  Belange.  Die  nach 
imten  zimehmende  Vergrösserung  des  Isthmus  der  Drüse  bei  Erwachsenen,  und 
seine  geringe  Höhe  bei  Kindern,  macht,  dass  die  Luftröhre  der  Kinder  dem  Messer 
zur  Tracheotomie  leichter  zugänglich  ist,  während  bei  Erwachsenen  die  Laryngo- 
tomie  häufiger  geübt  wird.  —  Der  Gefässreichthum  der  Drüse  ist  so  bedeutend, 
dass  ihre  Venvundung  bei  Selbstmordversuchen  tödtlich  werden  kann,  ohne  dass 
die  grossen  GefKssstämme  des  Halses  verletzt  wurden.  —  Man  hat  die  Schilddrüse 
durch  Eiterung  (Thyreophyma  acttinm)  zerstört  werden  gesehen,  ohne  nachtheilige 
Folgen  für  Gesundheit  und  Sprache.  Dieses  war  bei  dem  gefeierten  Kliniker 
Peter  Frank  der  Fall,  welcher  sich  rühmen  konnte,  am  Tessin,  an  der  Neva, 
und  an  der  Donau,  den  Jüngern  Aesculaps  seine  jetzt  vergessene  Lehre  gepredigt 
zu  haben. 


§.  290.  Thpius. 

lieber  der  physiologischen  Bestimmung  der  Thymusdrüse 
(Thymus  8.  Lactes,  im  Wiener  Dialekt  Bries  oder  Briescl)  schwebt 
dasselbe  physiologische  Verhängniss,  wie  über  jener  der  Schilddrüse, 
d.  h.  man  weiss  über  ihre  Function  so  viel,  wie  nichts,  obwohl  ihre 
Structur  ebenso  genau  bekannt  ist,  wie  jene  der  Glandula  thjreoidea. 
Sie  existirt  in  ihrer  vollen  Entwicklung  nur  im  Embryo,  luid  im 
frühen  Kindesalter.  Um  die  Zeit  der  Geschlechtsreife  herum,  ist 
sie  entweder  ganz  verschwunden,  oder  auf  einen  unansehnlichen 
Rest  reducirt,  der  sich  auch  durch's  ganze  Leben  erhalten  kann. 
Sie  hat  beim  Neugeborenen  das  körnige  Ansehen  einer  Speichel- 
drüse, und  besteht  aus  zwei  durch  Bindegewebe,  zu  einem  läng- 
lichen platten  Körper  vereinigten,  ungleich  grossen  Seitenlappen, 
weiche  wieder  in  kleinere  Läppchen   zerfallen.     Ihr  unterer  Hand 


§.  890.  Thymas.  733 

ist  concav,  und  seitlich  in  zwei  stumpfe  Hörner  verlängert.  Sie 
liegt  hinter  dem  Manuhrium  stemi,  wo  sie  die  grossen  Gelasse  der 
oberen  Brustapertur  und  theilweise  den  Herzbeutel  bedeckt.  Beim 
Embryo  reicht  sie  bis  zum  Zwerchfell  hinab. 

In  der  Axe  der  beiden  Thymuslappen  findet  sich  eine  Höhle, 
als  Gang,  welcher  zwei  blinde  Enden  hat,  und  verschiedentlich 
geformte  Ausbuchtungen  zeigt.  Den  Inhalt  des  Ganges  und  seiner 
Ausbuchtungen  bildet  eine  eiweissreiche,  milchige,  schwach  sauer 
reagirende,  freie  Kerne  und  Lymphkörperchen  führende  Flüssigkeit. 
Um  Gang  und  Ausbuchtungen  herum  gruppiren  sich  die  Läppchen 
der  Drüse,  welche  selbst  wieder  hohl  sind,  und  durch  schlitzförmige 
OeiFnungen  mit  den  Ausbuchtungen  des  Ganges  im  Verkehr  stehen. 
Jedes  Läppchen  besteht  aus  einem  blutgefassreichcn  Bindegewebe, 
welches  theils  die  Oberfläche  des  Läppchens  überzieht,  theils  im 
Inneren  des  Läppchens  ein  Netzwerk  bildet,  in  dessen  Maschen 
Gruppen  von  Lymphkörperchen  lagern,  wie  in  den  Alveolen  der 
Lymphdrüsen.  —  Die  Hauptstämme  der  Blutgefässe  der  Thymus 
liegen  nicht  auf  ihrer  Oberfläche,  wie  jene  der  Schilddrüse,  sondern 
dringen  in  die  Axe  ein,  wo  sie  sich  an  die  Wand  des  centralen 
Ganges  anlegen,  und  von  hier  aus  ihre  zahlreichen,  feinen  Aeste 
in  die  Läppchen  der  Drüse  entsenden.  —  Das  Vorkommen  eines 
centralen  Ganges  in  den  Lappen  der  Thymus  ist  nicht  constant, 
denn  es  finden  sich  Thymusdrüsen  mit  solidem  Parenchym.  Brücke 
lässt  den  Gang  durch  einen,  im  Inneren  der  Drüse  stattfindenden 
Erweichungs-  und  Schmelzungsprocess  entstehen,  welcher  die  Rück- 
bildung der  Drüse  einleitet,  und  nach  und  nach  die  ganze  Drüse 
aufzehrt.  Das  Vorhandensein  des  Ganges  in  Thymusdrüsen,  welche 
noch  in  der  Blüthe  ihrer  Entwicklung  stehen,  wie  bei  Embryonen 
und  Kindern,  steht  dieser  Annahme  entgegen. 

Ob  durch  Vergrösserang  der  Thymusdrüse,  die  Luftröhre  und  die  grossen 
BlutgefUsse  hinter  dem  Manuhrium  stenii  comprimirt,  und  dadurch  das  sogenannte 
Astknia  thj/miaim  bewirkt  werden  könne,  muss  verneint  werden.  Man  findet  in 
den  Leichen  von  Kindern,  welche  nicht  am  Asthma  starben,  oft  genug  die  Thymus 
den  ganzen  vorderen  Mittelfellraum  einnehmen.  Die  Vorschläge  Allan  ßurns, 
wie  man  sich  zu  benehmen  habe,  um  eine  vergrösserte  Thymus  zu  exstirpiren, 
wird  also  hoffentlich  Niemand  am  Lebenden  in  Ausführung  bringen. 

Da»  Wort  Thymus  wird  in  verschiedenem  Sinne  angewendet.  Butxo?  ist 
Leben  (Oujxbv  a;:o7:vc{u>v,  das  Leben  aushauchend),  dann  Gefühl,  Muth,  und  Wille. 
Bu[jL05  und  Ou{jLov  heisst  auch  der  Quendel  (Thymian).  Von  keinem  dieser  Worte 
kann  die  Thymus  der  Anatomie  abgeleitet  sein.  Bei  Pollux  finde  ich  Oujxo;  fttr 
eine  Fleischgeschwulst  oder  Feigwarze  gebraucht,  deren  lappige  Oberfläche  an 
jene  unserer  Drüse  erinnert.  —  Das  deutsche  Kälbermilch,  ist  wohl  eine 
Uebersetznng  von  dem  Worte  kictes  (Plural  von  lac),  mit  welchem  Asellius  die 
von  ihm  entdeckten  Chylusgefasse,  ihres  milchweissen  Inhaltes  wegen,  belegt 
(De  lactibu»,  a.  lacteis  venis,  Mediolan,,  1627),  Er  sah  diese  milchweissen  GeflUse 
zu  einer  grossen  Drüse  gehen,  welche  in  der  Wurzel  des  Mesenterium  liegt,  und 
Pancreaa  AaeUi,  auch  Z>ac^ 'genannt  wurde.     Die  Aehnlichkeit  der    gelappten 


734  S.  891.  Lage  der  Eingeweide  in  der  BnuthOhle. 

Thymus  mit  dem  Pancrea«  Aselli,  erklärt  den  Namen  der  ersteren:  lade».  Auch 
der  milchige  Saft  in  der  Höhle  der  Drüse,  kann  die  Benennung  lacles  veranlasst 
hahen.  Bei  den  Classikem  kommt  lade»,  als  Benennung  für  Eingeweide  von 
weisslicher  Farbe  vor,  wie  Darm,  Netz,  Gekröse,  welche  von  Schafen  als  lade» 
agninae  gerne  gegessen  wurden. 

Das  altdeutsche  Bries  stammt  ohne  Zweifel  von  Brose,  oder  Bröse  (ein 
Krümmchen),  und  dieses  von  dem  angelsächsischen  bry»an,  zerreiben  (französisch 
bri»er,  und  englisch  to  brui»e).  Das  kleinkörnige,  krümelige  Ansehen  der  Thymus- 
drüse, wird  also  durch  die  Benennung  Bries  ausgedrückt. 


§.  291.  Lage  der  Eingeweide  in  der  Brusthöhle. 

Die  Lage  der  Brusteingeweide  zu  untersuchen,  erfordert  weit 
weniger  Mühe,  als  jene  der  Bauchorgane,  indem  es  sich  im  Thorax 
nur  um  drei  Eingeweide  handelt,  welche  nach  Entfernung  der  vor- 
deren Brustwand  leicht  zu  übersehen  sind.  Zwei  davon  —  die 
Lungen  —  bilden  Kegel  mit  nach  oben  gerichteter  Spitze;  das 
dritte  —  das  Herz  —  einen  Kegel  mit  unterer  Spitze.  Die  seitlichen 
Räume  des  Thorax,  aus  welchen  sich  die  Lungen  herausheben 
lassen,  bedürfen  keiner  besonderen  Präparation.  Der  Mittelfellraum 
dagegen,  in  welchem  das  Herz  und  die  grossen  Gefösse  liegen, 
wird  durch  den  Verkehr  dieser  Gefösse  unter  einander,  und  ihre 
Beziehungen  zu  den  Lungen,  etwas  complicirter.  Man  untersucht 
die  Contenta  des  Mittelfellraumes,  von  vorn  nach  rückwärts,  auf 
folgende  Weise.  Man  trägt  die  vordere  Brustwand,  nicht  wie  ge- 
wöhnlich an  der  Verbindungsstelle  der  Rippen  mit  ihren  Knorpeln 
ab,  sondern  sägt  die  grösste  Convexität,  also  beiläufig  die  Mitte  der 
Rippen  und  der  Clavicula  durch,  wozu  eine  feingezahnte  Säge  ver- 
wendet wird,  da  die  gewöhnlichen  grobgezahnten  Amputationssägen 
mehr  reissen  als  schneiden,  wodurch  die  Schnitte  der  unter  den 
Sägezügen  hin-  und  herschwankenden  Rippen  nicht  rein  und  eben, 
sondern  zackig  werden,  und  zu  den  bei  dieser  Arbeit  häufig  vor- 
kommenden Verletzungen  der  Hände  Anlass  geben.  Man  bedeckt 
den  Schnittrand  der  Thoraxwand  mit  einem  dicken  Leinwandlappen, 
oder  besser  noch  mit  der  abgelösten  Cutis,  welche  man  mit  ein 
Paar  Nadelstichen  befestigen  kann,  um  sich  gegen  die  erwähnten 
Verletzungen  zu  sichern. 

Ist  dieses  geschehen,  so  reinigt  man  den  Herzbeutel  von  dem 
laxen  Bindegewebe,  welches  ihn  bedeckt,  und  überzeugt  sich  von 
seiner  Einschiebung  zwischen  die  beiden  Mittelfelle.  Der  Zwerch- 
fellnerv liegt  an  seiner  Seitenfläche  dicht  an.  Gegen  die  obere 
Brustapertur  hinauf,  wird  das  Bindegewebe  copiöser,  und  schliesst, 
wenn  man  an  einer  Kindesleiche  arbeitet,  die  Thymusdrüse  ein. 
Hinter  diesem  Bindegewebslager  trifft  man,  an  der  rechten  Media- 
stinumwand  anliegend;  die  obere  Hohlvene,  welche  durch  die  beiden 


|.  991.  Lage  der  Eingeweide  in  der  Bmetlifthle.  735 

ungenannten  Venen  (Venae  innomincUae)  zusammengesetzt  wird.  Die 
rechte  ist  kürzer^  und  geht  fast  senkrecht  zur  Hohlvene  herab^  die 
linke  muss  einen  weiteren  Weg  machen^  um  von  links  zur  rechts 
gelegenen  Hohlvene  zu  gelangen,  und  läuft  deshalb  fast  quer  über 
die,  in  der  Medianebene  des  Thorax  auf-  und  absteigenden  Gef&sse 
herüber,  wo  sie  die  unteren  Schilddiüsenvenen  und  wandelbare 
Herzbeutel-  und  Thymusvenen  aufnimmt.  Jede  ungenannte  Vene, 
nach  aussen  verfolgt,  fährt  zu  ihrer  Bildungsstelle  aus  der  Vena 
jugidaris  communis  und  subclavia.  Nun  wird  der  Stamm  der  oberen 
Hohlader  vorsichtig  isolirt,  wobei  man  die  in  seine  hintere  Wand 
sich  einpflanzende  Vena  azygos  gewahr  wird,  welche  im  Cavum 
mediastini  posterius  an  der  rechten  Seite  der  Wirbelsäule  nach  auf- 
wärts zieht,  und  sich  über  den  rechten  Bronchus  nach  vom  krümmt, 
um  zur  Cava  superior  zu  stossen.  —  Hinter  den  genannten  Venen 
liegt  der  Bogen  der  Aorta,  aus  dessen  convexem  Rande  von  rechts 
nach  links  1.  die  Arteria  innominata,  2.  die  Carotis  sinistra,  und 
3.  die  Arteria  subclavia  sinistra  entspringen.  Man  versäume  nicht, 
auf  etwa  vorkommende  Ursprungsvarietäten  dieser  Gefasse  zu  achten. 
—  Hinter  dem  Aortenbogen  stösst  man  auf  die  Luftröhre,  und 
hinter  dieser,  etwas  nach  links,  auf  die  Speiseröhre.  —  Die  Arteria 
innominata  theilt  sich  in  die  Arteria  subclavia  und  Carotis  dextra. 
Man  verfolgt  diese  Gefösse  des  Aortenbogens  so  weit,  als  es  nöthig 
ist,  um  den  Durchgang  der  Subclavia  zwischen  dem  vorderen  und 
mittleren  Scalenus,  und  die  geradlinige  Ascension  der  Carotis  zu 
sehen.  Vor  der  Arteria  subclavia  dextra  sieht  man  den  Vagus,  und 
am  inneren  Rande  des  Sccdenv^  anticus  den  Nervus  phrenicus  in  die 
obere  Brustapertur  eindringen.  Hinter  der  Subclavia  steigt  der  Nervus 
sympaihicus  in  die  Brusthöhle  herab,  und  umfasst  diese  Arterie  mit 
einer  Schlinge  —  Ansa  VieussenU, 

Jetzt  wird  der  Herzbeutel,  der  mit  seiner  Basis  an  das  Centrum 
tendineum  diaphragmatis  angewachsen  ist,  geöffiiet.  Man  gewahrt, 
dass  er,  nebst  dem  Herzen,  einen  Theil  der  grossen  Gefösse  ein- 
schliesst,  welche  vom  oder  zum  Herzen  gehen.  Er  schlägt  sich  an 
diesen  Gefössen  nach  abwärts  um,  um  einen  kleineren  Beutel  zu 
bilden,  welcher  an  die  Oberfläche  des  Herzens  angewachsen  ist. 
Der  Herzbeutel  verhält  sich  somit  zum  Herzen,  wie  die  Pleura  zur 
Lunge,  —  er  ist  ein  seröser  Doppelsack.  Der  äussere  Ballen 
dieses  Doppelsackes,  ist  mit  dem  fibrösen  Herzbeutel  innig  ver- 
wachsen, dessen  Zusammenhang  mit  der  Fasda  endothoracica  von 
Luschka  nachgewiesen  wurde. 

Der  Herzbeutel  wird  nun  von  den  grossen  Gefössen  abgelöst, 
um  diese  isoliren  zu  können.  Man  sieht  die  obere  Hohlader  gerade 
zur  rechten  Herzvorkammer  herabsteigen.  Wird  das  Herz  auf- 
gehoben,  so  bemerkt    man  auch   die  imtere  Hohlader   durch   das 


736  |.  S91.  La^  der  Eingeweide  in  der  Brusthöhle. 

Zwerchfell  zur  selben  Vorkammer  ziehen.  Von  der  Basis  des 
fleischigen  Herzkörpers,  welcher  die  beiden  Herzkammern  enthält, 
findet  man  die  Arteria  pulmonalis  und  die  Aorta  abgehen.  Erstere 
entspringt  aus  der  rechten  Herzkammer,  und  geht  nach  links  und 
oben;  letztere  aus  der  linken  Kammer,  und  läuft  nach  rechts  und 
oben.  Beide  Gefasse  decken  sich  somit  gleich  nach  ihrem  Ur- 
sprünge, so  dass  die  Arteria  pvlmonalts  auf  dem  Anfange  der  Aorta 
liegt.  Man  reinigt  nun  den  Aortenbogen,  und  verfolgt  ihn,  um 
seine  Krümmung  über  den  linken  Bronchus  zu  finden.  —  Am  con- 
caven  Rande  des  Aortenbogens  theilt  sich  die  Arteria  pulmonalis  in 
den  rechten  und  linken  Ast.  Der  rechte  Ast  ist  länger,  geht  hinter 
dem  aufsteigenden  Theile  des  Aortenbogens  und  hinter  der  Cava 
9uperior  zur  rechten  Lungenpforte;  der  linke,  kürzere,  hängt  durch 
das  Aortenband  (obsoleter  Ductus  arteriosus  Botalli  des  Embryo)  mit 
dem  concaven  Rande  des  Arcus  aortae  zusammen  und  geht  vor 
dem  absteigenden  Theile  der  Aorta  zu  seiner  Lungenpfortc,  aus 
welcher  (wie  aus  der  rechten)  zwei  Venen  zur  linken  Ilerzvor- 
kammer  zurücklaufen.  Um  letztere  zu  sehen,  muss  auch  die  hintere 
Wand  des  Herzbeutels  entfernt  werden.  Alle  diese  Arbeiten  er- 
fordern eine  vorläufig  durch  Leetüre  der  betreflFenden  Beschreibun- 
gen erworbene  Kenntniss  des  relativen  Lagenverhältnisses,  und 
können  ohne  einen  Gehilfen,  welcher  durch  Finger  oder  Haken  die 
bereits  isolirten  Gefässe  auseinander  hält,  um  Raum  für  das  Auf- 
finden der  tieferen  zu  schaffen,  kaum  unternommen  werden. 

Hat  man  den  Bronchus,  die  Arteria  und  Vena  pulmonalis,  bis 
zur  Pforte  der  Lunge  dargestellt,  so  kann  man  an  ihnen  die  Lunge, 
wie  an  einem  Griffe,  aus  der  Brusthöhle  heben,  auf  die  andere  Seite 
legen,  und  durch  Klammern  befestigen,  und  sich  dadurch  die  Seiten- 
wand des  hinteren  Mittelfellraums  zugänglich  machen.  Diese  Seiten- 
wand wird  eingeschnitten,  und  gegen  die  Rippen  zu  abgezogen, 
worauf  die  hintere  Wand  des  Bronchus  erscheint,  welche  der  Vagus 
kreuzt,  der  hier  seine  Contingente  zur  Erzeugung  des  Plexus  pul- 
monalis abgiebt.  Wurden  beide  Wände  des  Mediastinum  vor  der 
Wirbelsäule  eingeschnitten  und  weggenommen,  so  zeigt  sich,  wie 
der  Aortenbogen  auf  dem  linken  Bronchus  gleichsam  reitet,  ebenso 
wie  rechts  der  Bogen  der  Vena  azjfgos  über  dem  rechten  Bronchus 
wegschreitet.  Werden  nun  Herz  und  Lungen  ganz  entfernt,  der 
Aortenbogen  aber  gelassen,  so  überblickt  man  die  oben  geschilderte 
Verlaufsweise  des  Oesophagus,  §.  258  (lange  Spiraltour  um  die 
Aorta),  und  den  Inhalt  des  hinteren  Alittelfellraumes:  die  Vena 
azygos  rechts,  die  nur  halb  so  lange  Vena  liemiazfjgos  links  von  der 
Aorta  descendens,  den  fettumhüllten  Ductus  thoracicus  zwischen  Vena 
azygos  und  Aorta.  Verfolgt  man  den  Ductus  thoracicus  nach  aufwärts, 
80   findet  man    ihn   hinter    der   Speiseröhre   nach   links   und   oben 


g.  S92.  Eintheilnng  der  Harn-  nnd  UeschlechUorgane.  737 

gehen,  und  in  die  hintere  Wand  des  Vereinigungswinkels  der  Vena 
jugtdaris  und  suhdavia  sinistra  einmünden.  Beide  Vagi  begleiten,  von 
der  Lungenwurzel  an,  den  Oesophagus;  der  Knotenstrang  des  Sym- 
pathieus  läuft  an  den  Rippenköpfchen  herab,  und  liegt  schon  nicht 
mehr  im  Cavum  medicistini. 

A.  W,  Otto,  von  der  Lage  der  Organe  in  der  Bmsthöhle.  Berlin,  1829.  — 
C.  Ludwig,  icones  cavitatum  thoracis  et  abdominis.  Lips.,  1750.  —  H.  Luschka, 
Bmstorgane  des  Menschen.  Tübingen,  18&7. 


HI.  Harn-  und  Gheschlechtsorg'ane. 

§.  292.  Eintheilung  der  Harn-  und  öesclileclitsorgane. 

Die  Harn- und  Geschlechtswerkzeuge  des  Mannes  (Organa 
uro-genitalia)  stehen  durch  ihre  Entwicklungsgeschichte,  und  durch 
das  Zusammenfliessen  ihrer  Ausführungsgänge  zu  einem,  beiden 
Werkzeugen  gemeinschaftlich  angehörigen,  unpaarigen  Ausmün- 
dungsschlauch (Harnröhre),  in  so  naher  Verwandtschaft,  dass  sie, 
ungeachtet  ihrer  sehr  verschiedenen  Functionen,  als  Einem  ana- 
tomischen Systeme  angehörend  betrachtet  werden.  Diese  Einheit, 
welche  im  männlichen  Geschlechte  vollständiger  hervortritt,  als  im 
weiblichen,  spricht  sich  am  deutlichsten  durch  das  Verhalten  der 
Schleimhaut  aus,  welche  ohne  Unterbrechung,  die  innere  Oberfläche 
der  Harn-  und  der  Geschlechtsorgane,  als  Zweige  desselben  Stammes, 
auskleidet. 

Die  männlichen  und  weiblichen  Hamwerkzeuge  bestehen  aus 
paarigen,  den  Harn  absondernden  Drüsen  mit  deren  Ausführungs- 
gängen (Nieren  und  Harnleiter),  und  aus  einer  unpaarigen 
Sammlungsblase  des  Harns  (Harnblase),  welche  durch  die  Harn- 
röhre an  der  Leibesoberfläche  ausmündet. 

Dieselbe  Eintheilung  lässt  sich  auch  auf  die  Geschlechtswerk- 
zeuge anwenden.  Sie  bestehen  in  beiden  Geschlechtern  1.  aus  einer 
die  Zeugungsstoffe  absondernden  paarigen  Drüse  (Hode  —  Eier- 
stock), 2.  aus  deren  Ausfuhrungsgängen  (Samenleiter  —  Ei- 
leiter), 3.  aus  einer  Sammlungs-  und  Auf  bewahrungsblase,  welche 
im  männlichen  Geschlechte  paarig  (Samenbläschen),  im  weib- 
lichen Geschlechte  unpaar  ist  (Gebärmutter),  und  4.  aus  einem 
Excretionswege ,  welcher  gleichfalls  im  Manne  doppelt  (Aus- 
spritzungskanäle), und  im  Weibe  einfach  erscheint  (Scheide). 


Hyrtl,  Lehrbuch  der  Anatomie.  14.  Aufl.  47 


738  §.  MS.  Nieren  und  Harnleiter. 


A.   Harnwerkzeuge. 

§.  293.  Meren  und  Harnleiter. 

Die  durch  den  Stoffwechsel  gebildeten  stickstoffreichen  Zer- 
setzungsproducte  der  Gewebe  des  menschlichen  Körpers,  werden 
durch  die  Nieren  aus  dem  Blute  ausgeschieden.  Abstrahirt  man  von 
der  sehr  geringen  Stickstoffmenge,  welche  durch  die  Absonderung 
der  äusseren  Haut,  wohl  auch  durch  die  Excremente  des  Darmkanals, 
aus  unserem  Leibe  entfernt  wird,  so  sind  die  Nieren  die  einzigen 
Excretionsorgane,  welche  den  Stickstoff  der  Gewebe  in  Form  eigen- 
thümlicher  Verbindungen,  deren  wichtigste  der  Harnstoff  und  die 
Harnsäure  sind,  aus  der  Sphäre  des  Organismus  hinauszuschaffen 
haben.  Das  Verbleiben  dieser  stickstoffhaltigen  Zersetzungsproducte 
im  menschlichen  Leibe,  ist  mit  dem  Fortbestande  des  Lebens  un- 
verträglich, und  führt  durch  eine  rapid  verlaufende,  unheilbare 
Krankheit  (Uraemta)  zum  Tode. 

Die  Nieren,  Renes,  können  ihren  griechischen  Namen:  vc^^pol, 
nicht,  wie  Spigelius  sagt,  von  vei^eiv  haben,  da  dieses  Wort,  so 
wie  visd),  schneien,  nicht  harnen  bedeutet.  Ihr  deutscher  Name 
ist  von  dem  celtischen  nera  entstanden. 

Die  Nieren  liegen  in  der  Regio  lumbcdü  der  Bauchhöhle,  extra 
cavum  peritonei,  an  der  vorderen  Seite  des  Musculus  quadratus  lum- 
horum.  Sie  grenzen  nach  vom  unmittelbar  an  das  über  sie  weg- 
streichende Bauchfell,  und  mittelst  dieses  an  das  Colon  ascendens 
(rechts),  Colon  descendens  (links),  nach  innen  an  die  Pars  lumbalis 
des  Zwerchfelles,  und  nach  oben  an  die  Nebenniere.  Die  rechte 
Niere  liegt  etwas  tiefer  als  die  linke,  da  sie  durch  die  voluminöse 
Leber  mehr  herabgedrückt  wird.  —  Die  Gestalt  der  Nieren  ist 
bohnenförmig,  der  äussere  Rand  convex,  der  innere  concav,  und 
mit  einem  Einschnitte  (das  Stigma  der  Bohne)  versehen,  welcher 
als  Aus-  und  Eintrittsstelle  der  Nierengefasse  dient,  und  deshalb, 
wie  bei  der  Lunge,  Leber,  und  Milz,  Hüus  s.  Porta  renis,  genannt 
wird.  Ihre  Farbe  ist  rothbraun,  bei  Blutcongestion  dunkler  und 
blauroth;  ihre  Consistenz  bedeutend;  ihre  Länge  fast  das  Doppelte 
der  Breite.  Da  die  Nieren  um  so  flacher  erscheinen,  je  länger  sie 
sind,  so  bleibt  ihr  Volumen  und  ihr  Gewicht  ziemlich  constant. 
Letzteres  beträgt  durchschnittlich  vier  Unzen.  Ein  ziemlich  dickes 
Lager  fettreichen  und  lockeren  Bindegewebes  (Capsula  adiposa)  um- 
giebt  sie,  und  sichert  ihre  Lage,  jedoch  nicht  so  genau,  dass  nicht  in 
Folge  mechanischer  Einwirkungen,  z.  B.  Schnüren  bei  Frauen,  Druck 
von    benachbarten   Geschwülsten,    consecutive    Lageveränderungen 


§.  293.  Nieren  und  Harnleiter.  739 

einer  oder  beider  Nieren  auftreten.  Die  Nieren  können  aber  selbst 
ausnahmsweise,  durch  Lockerung  ihrer  Verbindungen  mit  der  Um- 
gebung, und  durch  Verlängerung  der  Gefilsse,  an  welchen  sie  hängen, 
eine  solche  Verschiebbarkeit  erlangen,  dass  die  praktischen  Aerzte 
sie  als  wandernde  Nieren  zu  bezeichnen  pflegen.  Man  hat  solche 
wandernde  Nieren  vor  der  Wirbelsäule,  am  Promontorium  des 
Kreuzbeines,  in  der  Fossa  üiaca,  in  der  kleinen  Beckenhöhle,  selbst 
zwischen  den  Platten  des  Dünndarmgekröses  angetroflfen.  Es  lässt 
sich  leicht  entscheiden,  ob  eine  abnorme  Nierenlage  angeboren  oder 
erworben  ist,  da  sich  im  letzteren  Falle  der  Ursprung  der  Nieren- 
arterien normal,  im  ersteren  abnorm  verhalten  wird.  —  Angeborene 
Verschmelzung  beider  Nieren  an  ihren  unteren  Enden,  welche  sich 
vor  der  Wirbelsäule  und  der  auf  ihr  liegenden  Aorta  begegnen, 
wird  als  Hufeisenniere  nicht  so  selten  beobachtet. 

Die  äussere  glatte  Oberfläche  der  Nieren,  wird  von  einer  dicht 
anschliessenden  fibrösen  Hülle  (Tunica  propria  s.  Capsula  fihrosa) 
überzogen,  welche  sich  sehr  leicht  abziehen  lässt,  und  am  Hilus  in 
das  Parenchym  der  Nieren  eindringt,  um  auch  jene  Höhle  des 
Nierenkörpers  auszukleiden,  in  welcher  das  später  zu  erwähnende 
Nierenbecken  sammt  den  Stämmen  und  primären  Zweigen  der 
Blutgefässe  lagert.     Diese  Höhle  nennt  Henle:  Sinus  renis. 

Schneidet  man  eine  Niere  ihrer  Länge  nach,  vom  convexen 
gegen  den  concaven  Rand  durch,  so  findet  man,  dass  ihre  Substanz 
keine  gleichförmige  ist.  Man  bemerkt  grauliche,  dreieckige,  mit 
der  Basis  gegen  den  convexen  Rand  gerichtete  Stellen  (Substantia 
medullaris),  und  eine  sie  umgebende  braunrothe  Masse  (Substantia 
corticalis).  Diese  Benennungen,  die  dem  blossen  Ansehen  entnommen 
wurden,  sind  jedoch  veraltet.  Ich  gebrauche  aus  gleich  zu  erörtern- 
den Gründen  für  Substantia  medvllaris  den  Namen  Substantia  tvhvr 
losa,  und  fiir  Substantia  corticalis,  lieber  Substantia  vasculosa  s.  glome- 
ndosa.  Die  dreieckigen  Stellen  an  der  Durchschnittsfläche  der 
Niere  sind  die  Durchschnitte  der  Malpighi'schen  Pyramiden, 
deren  nach  dem  Hilus  gerichtete,  abgerundete  Spitzen  Nieren- 
wärzchen, Papulae  renales,  heissen.  Die  Zahl  der  Pyramiden  in 
einer  Niere  überschreitet  nur  sehr  selten  sechzehn.  Sind  ihrer 
weniger,  so  erscheinen  sie  breiter  und  dicker. 

Die  zwischen  den  M»lpighi*8chen  Pyramiden  eindringenden  Massen  von 
Corticalsabstanz,  heissen  Cohimnae  BerUni.  Nicht  selten  fehlen  zwischen  zwei 
nachbarlichen  Pyramiden  die  entsprechenden  Columnae,  wodurch  es  zur  Ver- 
schmelzung dieser  Pyramiden  kommt,  imd  sogenannte  Zwillingspyramiden 
entstehen,  deren  Wärzchen  doppelt  so  gross  sind,  als  jene  der  einfachen.  Bei 
sehr  vielen  S&ugethieren  fehlen  die  Oolunmae  Bertini  gänzlich,  wodurch  sämmt- 
liehe  Pyramiden  ihre  gegenseitige  Isolinmg  einbüssen,  und  zu  einer  einzigen 
grossen  Pyramide,  mit  einfacher,  breiter  Nierenwarze  verschmelzen. 

47* 


740  S  293.  Nieren  und  Harnleiter. 

Die  Nieren  Neugeborener  sind  an  ihrer  Oberfläche  nicht  glatt,  sondern  mit 
Furchen  gezeichnet,  also  gelappt  (Benea  lobatij.  Jeder  Lappen  entspricht  einer 
Pyramide,  mit  zugehöriger  CorticaLsubstanz.  Bei  vielen  Säugethieren  (Fischotter, 
Bär,  Seehund,  Delphin)  greifen  die  Furchen  so  tief  ein,  dass  die  gesammte  Niere 
in  viele,  völlig  isolirte  Keilstücke  (Benunculi)  zerfällt,  deren  jedes  seine  besondere 
Mark-  und  Rindensnbstanz  besitzt. 

Ich  erwähne  noch,  dass  man  an  den  Pyramiden  auch  kleine,  konische,  in 
die  Rindensubstanz  eindringende,  nicht  immer  deutlich  hervortretende  Fortsätze, 
als  Pyramidenfortsätze  anführt.  Sie  werden  wohl  nur  dadurch  erzeugt,  dass 
die  von  der  Rinde  in  die  Pyramide  übergehenden  Hamkanälchen  und  Blutgefässe, 
sich  schon  früher,  bevor  sie  die  eigentliche  Pyramide  betreten,  zu  kleineren  Bün- 
deln sammeln. 

Der  Bau  der  Nieren,  im  allgemeinen  Umriss  nur  gezeichnet, 
giebt  folgendes  Bild. 

Die  sehr  mächtige  Arteria  renalis  verästelt  sich  nur  in  der 
Sfubstantia  corticalis,  Sie  dringt,  vom  Hilus  aus,  mit  mehreren  Aesten 
zwischen  den  Malpighi'schen  Pyramiden  gegen  die  Oberflüche 
der  Niere  vor.  Sie  spaltet  sich  in  immer  kleiner  und  kleiner  werdende 
Zweigchen,  welche  nie  mit  einander  anastomosiren,  und  bevor  sie 
capillar  werden,  sich  aufknäucln,  und  die  sogenannten  Gefäss- 
knäuel,  Glomeruli  renales  s.  Corptiscula  Malpighii  bilden.  Diese 
Knäuel  werden  von  häutigen  Kapseln  umgeben  (von  Bowman  ent- 
deckt). Während  der  Aufknäuelung  spaltet  sich  die  Arterie  mehrmal, 
geht  aber,  nachdem  sie  durch  die  Vereinigung  ihrer  Spaltungsäste 
wieder  einfach  geworden,  an  derselben  Stelle  aus  dem  Knäuel 
wieder  heraus,  an  welcher  sie  in  ihn  eintrat,  und  löst  sich  nun  erst 
in  capillare  Verzweigungen  auf,  aus  welchen  sich  die  Anfange  der 
Venen  hervorbilden.  Die  Grösse  der  Knäuel  beträgt  zwischen 
0,10  bis  0,06  Linien.  Ihre  Zahl  ist  Legion.  An  wohl  gelungenen 
Injectionspräparaten,  scheint  die  Substantia  corticalis  nur  ein  Aggregat 
derselben  zu  sein,  weshalb  sie  eben  Substantia  glomerviosa  genannt 
wurde.  — 'Die  Hamkanälchen  (Tubuli  uriniferi)  nehmen  ihren 
Anfang  aus  den  Kapseln  der  Malpighi'schen  Körperchen.  Jede 
solche  Kapsel  hat  nämlich  eine  Oefl'nung,  welche  der  Eintrittsstelle 
der  Knäuelarterie  m  die  Kapsel  gegenüber  liegt.  An  dieser  OefFnung 
beginnt  ein  Hamkanälchen.  Die  Hamkanälchen,  deren  es  also  so 
viele  als  Kapseln  giebt,  verlaufen  anfangs  geschlängelt  durch  die 
Corticalsubstanz  als  Tubuli  contorti,  treten  dann  in  die  Pyramiden 
ein,  um  in  ihnen  früher  oder  später  schlingenförmig  umzubeugen 
(Ansäe  Henlei),  und  zur  Corticalsubstanz  zurückzukehren,  in  welcher 
sich  mehrere  derselben,  unter  mannigfaltigen  Krümmungen,  zu 
einem  grösseren  Stämmchen  verbinden.  Diese  Stämmchen  treten 
neuerdings  unter  dem  Namen  der  Tubvli  Bdliniani  s.  recti  in  die 
Pyramiden  ein,  in  welchen  sie  vollkommen  geradlinig,  und  progressiv 
ie  zwei  und  zwei  unter  sehr  spitzigen  Winkeln   zusammenfliessend. 


§.  293.  Nieren  nnd  Harnleiter.  741 

gegen  die  Warze  der  Pyramide  verlaufen.  Die  spitzwinkelige  Ver- 
schmelzung je  zweier  Tuhtdi  Bdliniani  wiederholt  sich  so  oft,  dass 
an  der  Warze  selbst  von  der  sehr  grossen  Anzahl  der  in  die  Pyra- 
mide eingetretenen  Tubuli,  nur  noch  ohngefahr  vierzig,  —  nicht 
vier-  bis  fünfhundert,  wie  die  mit  Zahlen  freigebigen  Schulbücher*) 
sagen,  —  erübrigen,  welche  dann  auch  an  der  Oberfläche  der  Warze 
mit  feinen  OeflFnungen  münden,  deren  Summe  bei  den  alten  Ana- 
tomen den  sonderbaren  Namen  des  Cribrum  benedictum  führt.  Jede 
Malpighi'sche  Pyramide  der  Marksubstanz  ist  somit  nur  ein 
Bündel  von  Tubidi  BdlinianL  Ich  gebrauche  deshalb  den  Namen 
Substantia  tuhxdosa  statt  medullaris.  Durch  die  wiederholte  gabel- 
förmige Verschmelzung  der  Tubuli,  und  die  dadurch  gegebene, 
gegen  die  Warze  fortschreitende  Verminderung  ihrer  Zahl,  wird 
eben  die  Pyramidenform  des  Bündels  gegeben.  Da  nicht  alle  Harn- 
röhrchen einer  Pyramide  in  ein  einziges  zusammenfliessen,  sondern 
circa  40  Oeflfnungcn  an  der  Warze  einer  Pyramide  vorkommen,  so 
muss  das  Röhrchenbündel  einer  Malpighi'schen  Pyramide  aus  eben 
so  vielen  Theilbündeln  (Ptjramides  Ferreinii)  bestehen,  als  Oeflfnun- 
gcn an  der  Warze  vorkommen. 

Die  Pyramiden  enthalten  aber,  ausser  den  Ansäe  Herdei  und 
den  Tvhvli  Beiliniani,  auch  ebenso  zahlreiche  Capillargefasse,  welche 
aus  dem  Capillargclasssysteme  der  Substantia  corticalis  abgehen,  tief 
in  die  Pyramiden  hineindringen,  und  sich  durch  bogenförmige  Ueber- 
gänge  gegen  die  Nierenwarze  zu,  an  Zahl  so  rcduciren,  dass  in  der 
Warze  selbst,  nur  etwa  ebensoviel  Capillargefassschlingen  vor- 
kommen, als  Tubuli  Bdliniani  daselbst  ausmünden.  Diese  Blut- 
getassschlingen  liefern  offenbar  das  Materiale,  aus  welchem  die 
zwischen  ihnen  lagernden  Ansäe  Henlei  und  Tubuli  Beiliniani,  den 
Harn  bereiten,  welcher  aus  den  OeflFnungen  der  Papulae  renales 
ab  träufelt. 

Die  Tubuli  Beiliniani  waren  schon  dem  Eustachins  bekannt,  welcher  sie 
Sulci  und  Canaliculi  nannte.  Laur.  Bellini  erkannte  zuerst  ihre  Verwendung  als 
harnbereitende  Kanäle  (De  atructura  renum.  Flor.,  1662), 

Die  Papulae  renales  werden  von  kurzen  häutigen  Schläuchen 
umfasst,  in  welche  die  Papillen  wie  Pfropfen  hineinragen.  Diese 
Schläuche  sind  die  Nierenkelche  (Calices  renales  minores),  welche 
zu  zwei  oder  drei  in  weitere  Schläuche  übergehen  (Calices  majores), 
durch    deren    Zusammenfluss    endlich    der    grösste    Calix    entsteht 

—  das  Nierenbecken,  Pelvis  renalis.  Das  Nierenbecken  liegt 
hinter    der    Arteria    und    Vena    renalis    im    Hüus    und    Sinus    renis, 

*)  Nach  Huschke   vier-  bi»  fOnfhundert  weitere,  und  eben  so  viel  engere, 

—  wir  wollen  um  eine  Nulle  mehr  oder  weniger  nicht  rechten.  Ich  zähle  an  den 
dicksten  Papillen  nicht  mehr  als  höchstens  vierzig  Oeffnungen  B  e  1 1  i  n  i'scher 
Röhrchen. 


742  S>  298.  Nieren  und  Harnleiter. 

und  geht,  trichterförmig  sich  verengend,  in  den  Harnleiter  über 
(Ureter,  von  cupsstv,  harnen),  welcher  an  der  vorderen  Fläche  des 
Psoas  magnus  herabsteigt,  sich  mit  der  Artsria  und  Vena  Uiaca  com- 
munis am  Eingange  des  kleinen  Beckens  kreuzt,  in  der  Plica  Dou- 
glasä,  mit  dem  entgegengesetzten  Ureter  convergirend,  zur  hinteren 
Wand  der  Harnblase  tritt,  sich  hier  (beim  Manne)  neuerdings  mit 
dem  Vas  deferens  kreuzt,  und  am  Grunde  der  Harnblase,  deren 
Muskel-  und  Schleimhaut  schief  durchbohrt  wird,  in  die  Blasen- 
höhle einmündet.  Der  aus  den  Papulae  renales  hervorquellende 
Harn,  durchströmt  also,  auf  seinem  Wege  zur  Harnblase,  die  kleine- 
ren und  grösseren  Nierenkelche,  das  Nierenbecken,  und  den  Harn- 
leiter. Im  weiblichen  Geschlechte  fassen  beide  Ureteren,  bevor  sie 
zum  Blasengrunde  kommen,  den  Cervix  uteri  zwischen  sich,  woraus 
es  sich  erklärt,  warum  mit  Anschwellung  verbundene  Erkrankungen 
der  Gebärmutter,  ein  mechanisches  Impediment  der  Harnentleerung, 
mit  consecutiver  Erweiterung  der  Ureteren,  und  der  mit  ihnen  zu- 
sammenhängenden übrigen  Hamwege  im  Nierenparenchym  ab- 
geben können. 

Grosse  und  kleine  Nierenkelche,  Nierenbecken  und  Harnleiter,  bestehen 
ans  einer  äusseren  Bindegewebsmembran,  worauf  eine  zweischichtige,  längs-  und 
quergefaserte  organische  Muskelschichte,  und  zuletzt  eine  Schleimhaut  mit  mehr- 
fach geschichtetem  Epithel  folgt,  dessen  oberflächlichste  Schichte  aus  niedrigen 
Cjlinderzellen  besteht,  welche,  ihrer  gegenseitigen  Abplattung  wegen,  auch  für 
Pflasterzellen  ausgegeben  werden  können. 

Meine  Abhandlung :  lieber  das  Nierenbecken  des  Menschen  und  der  Säug^- 
thiere,  im  XXXI.  Bande  der  Denkschriften  der  kais.  Akad.  der  Wissensch.  ent- 
hält bisher  unberücksichtigt  gebliebene,  makroskopische  Verhältnisse  der  Niere, 
insbesondere  der  Hamwege.  —  lieber  die  topographischen  Verhältnisse  der  weib- 
lichen Ureteren  handelt  Luschka,  im  Archiv  für  Gynaecologie.  III.  Bd. 

Unterwirft  man  eine  durch  Arterien  injicirte  Niere  der  Corrosion,  welche 
das  gfanze  Nierenparenchym  zerstört,  und  nur  den  injicirten  Gefässbaum  unver- 
sehrt übrig  lässt,  so  kann  man  mittelst  einer,  zwischen  die  beiden  primären  Spal- 
tungsäste  der  Nierenarterie  eingeführten  geschlossenen  Pincette,  welche  man  federn 
lässt,  den  Gefässbaum  in  zwei  Schalen,  wie  eine  gähnende  Auster,  auseinander 
legen,  eine  dorsale  und  ventrale.  Die  beiden  Schalen  stehen  in  gar  keiner 
Gefäss Verbindung  untereinander,  d.  h.  eine  Arterie  der  dorsalen  Schale,  greift  nie 
in  die  ventrale  Schale  über,  und  umgekehrt.  War  auch  das  Nierenbecken  injicirt, 
so  sieht  man  dieses  zwischen  den  beiden  Schalen  eingeschlossen  liegen.  Da 
das  Gesagte  für  alle  Säugethiemieren  gilt,  machte  ich  aus  ihm  das  Gesetz  der 
natürlichen  Theilbarkeit  der  Niere.  Eine,  den  grössten  Umfang  der  Niere 
umsäumende  Linie,  durch  welche  die  dorsale  und  ventrale  Schale  derselben  von 
einander  abgemarkt  werden,  mag  Nierenäquator  heissen.  Die  Sache  ist  nicht 
Mos  ein  anatomisches  Curiosum,  —  sie  lässt  sich  auch  pathologisch  verwerthen. 
Meine  Corrosionspräparate  über  die  natürliche  Theilbarkeit  der  Niere,  erregten 
auf  den  Weltausstellungen  solches  Aufsehen,  dass  ich  Jahre  lang  beschäftigt 
war,  fremde  anatomische  Museen  damit  zu  versehen. 


{.  S94.  Niheres  über  Einselnheiten  der  Nieroimii»toiiiie.  743 


§.  294.  Näheres  über  Einzelnheiten  der  Merenanatomie. 

1.  Malpighi'sche  Körperchen. 

Sie  gehören,  wie  gesagt,  nur  der  Rindensubstanz  an.  Die  in 
ein  Malpighi'sches  Körperchen  (Gefössknäuel)  eintretende  Arterie 
ist  nicht  capillar.  Sie  löst  sich  erst  nach  ihrem  Austritte  aus  dem 
Knäuel  in  capillare  Aestchen  auf.  In  das  Malpighi'sche  Körperchen 
eingetreten,  theilt  sich  die  Arterie  mehrmal  in  kleinere  Zweigchen, 
welche  sich  wieder  zu  einem  einfachen  austretenden  Stämmchen 
vereinigen.  Das  Zerfallen  einer  Arterie  (gross  oder  klein)  in  Aeste, 
und  das  Wiedervereinigen  der  Aeste  zu  einem  einfachen  Stämmchen, 
nennt  man:  bipolares  Wund  er  netz,  ein  Name,  welcher  schon 
von  Galen  fiir  Geflechte  grösserer  Arterien  an  der  Gehirnbasis 
gewisser  Säugethiere  gebraucht  wurde  (StxToeTSe?  wXijYiJLa).  Die  Mal- 
pighi'schen  Körperchen  sind  also  wahre  Wundemetze,  aber  nicht 
in  der  Fläche  liegend,  sondern  aufgeknäuelt.  —  Das  austretende 
Geföss  eines  Knäuels  hat  ein  kleineres  Kaliber  als  das  eintretende,  — 
ein  Umstand,  welcher  den  Gedanken  anregt,  dass  in  Folge  der  Blut- 
stauung im  Knäuel,  welche  durch  die  Ungleichheit  des  Zufuhrs- 
und Abzugsweges  gegeben  ist,  der  wässerige  Bestandtheil  des  Blutes 
durch  die  Wände  der  Knäuelgefösse  durchgepresst  wird,  das  Blut 
in  den  Knäuelgefassen  somit  an  Quantum  verliert  und  an  Consistenz 
gewinnt,  d.  h.  eingedickt  wird. 

Lndwig  meint,  dass  das  austretende  Gefilss  eines  injicirten  Knäuels  nur 
deshalb  enger  als  das  eintretende  erscheine,  weil  der  Injectionsdruck  stärker  auf 
das  eintretende  als  auf  das  austretende  wirkt.  Ich  kann  er^Hldemd  nur  anführen, 
dass,  wenn  diese  Meinung  berechtigt  wäre,  das  austretende  Gefass  eines  Knäuels 
um  so  enger  erscheinen  müsste,  je  zahlreicher  die  Theilungen  und  Auf  knftuelungen 
des  eintretenden  Qefässes  sind,  und  umgekehrt.  Aber  gerade  bei  beschuppten 
Amphibien,  deren  kleine  Knäuel  nur  wenig  Krümmungen  aufweisen  (wie  bei 
Testudo,  Coluber,  Pseudopus)  ist  der  Dickenunterschied  des  austretenden 
Gefässes  zum  eintretenden  sehr  auffallend,  so  wie  gegentheilig,  bei  nackten  Am- 
phibien, deren  Knäuel  gross  und  sehr  verschlungen  sind,  der  Unterschied  weniger 
in  die  Augen  fällt. 

Weder  grössere,  noch  kleinere  Zweige  der  Arteria  reruUis  treten  je  mit 
einander  in  anastomotische  Verbindung.  Jedem  Aste  der  Nierenarterie  entspricht 
somit  ein,  nur  von  ihm  allein  versoi'gter  Bezirk  der  Rindensubstanz.  Die  Venen 
fügen  sich  dieser  Regel  nicht.  Die  in  den  Coluninae  Bertini  verlaufenden  grösseren 
Stämme  derselben,  bilden  um  die  Malp  ig  hinsehen  Pyramiden  hemm  kranz- 
förmige Anastomosen.  —  Die  in  den  Wänden  des  Nierenbeckens  und  der  Nieren- 
kelche sich  verzweigenden  Arterien,  bilden  keine  Knäuel. 

2.  Capillarge&ssnetze  der  Niere. 

Erst  die  aus  den  Knäueln  herausgetretenen  Arterien  werden 
capillar,  und  bilden  in  der  Rindensubstanz  der  Niere  durch  Ana- 
stomosen Netze^  in  welchen  die  Malpighi'Boken  Knftuei  wie 


744  S*  S^-  MiherM  ftber  Einzelnheiten  der  Nierenanatomie. 

gesprengt  liegen,  und  durch  deren  Maschen  sich  die  in  der  Rinde 
vorfindlichen  Ilarnkanälchen  hindurchwinden.  Aus  diesen  (^apillar- 
gefassnetzen  gehen  lange  und  unverästelte  Zweige  hervor,  welche 
in  die  Malpighi'schen  Pyramiden  eindringen,  zwischen  den  Tubuli 
Belliniam  gegen  die  Papilla  renalis  verlaufen,  und  während  dieses 
Laufes,  oder  erst  am  Ende  desselben  (in  der  Papilla  selbst)  schlingen- 
fiirmig  in  einander  übergehen.  Diese  Schlingen  sind  überaus  zahl- 
reich. Sie  ähneln  an  Zahl  und  Form  den  im  vorhergehenden  Para- 
graphe  erwähnten  Alisas  Ilenlei,  Nur  diese  Aehnlichkeit  habe 
ich  in  meiner  Abhandlung  (Ueber  Injection  der  Wirbelthierniere, 
Sitzungsberichte  der  kais.  Akad.  1863)  erwähnt.  Es  fiel  mir  nicht 
ein,  Henle  eine  Verwechselung  dieser  Gefassschlingen  mit  den  von 
ihm  entdeckten  Schlingen  zuzumuthen,  wie  mich  Jene  beschuldigen, 
welche  meine  Schrift  nur  oberflächlich  oder  gar  nicht  gelesen  haben. 

Die  Venen  des  Nierenparenchyms  ergiessen  sich  in  grössere  Venenstämme, 
welche  die  Basen  der  Nierenpyramiden  kranzartig  umgeben  (Arnvi  venosij.  Die^c 
Arcus  sammeln  das  Blut  aus  der  Cortical-  und  Marksubstanz.  Die  kleinen  Venen 
der  Corticalsubstanz  verbinden  sich  sternförmig  zu  grösseren  Stämmchen.  Die 
sternförmigen  Venen6g^ren,  welche  man  in  ihrer  natürlichen  Blutfüllung  an  der 
Oberfläche  der  Corticalsubstanz  wahrnimmt,  sind  die  sogenannten  SteUuhe  Ver- 
het/enii,  —  Ueber  die  Venen  der  Niere  handelt  ausführlich  Lenhossek,  im  Archiv 
für  path.  Anat  08.  Bd. 

3.  Kapseln  der  Malpighi'schen  Körperchen,  und  Harn- 
kanälchen. 

Die  häutige  Kapsel,  von  welcher  jedes  Malpighi'sche  Körper- 
chen umschlossen  wird,  hat  zwei  OefFnungen,  eine  für  die  ein-  und 
austretenden  Blutgefösse  des  Malpighi'schen  Kcirperchens;  —  eine 
zweite,  der  ersten  gegenüber  stehende,  als  Beginn  des  Ilarnkanälchens. 
Die  Kapsel  besteht  aus  structurloser  oder  undeutlich  gefaserter 
.Wand,  mit  Pflasterepithel.  Sie  umschliesst  das  in  ihr  liegende 
Malpighi'sche  Körperchen  ziemlich  lose.  Ob  die  Ilarnkanälchen 
der  Rindensubstanz  nur  mit  Einer,  oder  mit  mehreren  Knäuelkapseln 
in  Zusammenhang  stehen,^  ist  noch  unentschieden. 

Liegt  der  Malpighi'sche  Gefassknäuel  nackt  in  der  Kapsel,  oder  erhält 
er  einen  Ueberzug  von  ihr?  Es  fehlt  nicht  an  Autoritäten,  welche  in  der  Kaj>sel 
der  Malpighi'schen  Köq>erchen  nur  Eine  Oetfnung,  jene  des  beginnenden  Harn- 
kanälchens  annehmen,  und  sich  das  Verhältniss  der  Kapsel  zum  Kürperehen  so 
vorstellen,  wie  jenes  der  serösen  Häute  zu  den  von  ihnen  umschlossenen  (Organen, 
d.  h.  sie  lassen  die  Kapsel  durch  das  Malpigh  lösche  Krirperchen  eingestülpt 
sein,  und  letzteres  somit  nicht  frei  in  der  Höhle  der  Kapsel  liegen,  sondern  von 
dem  eingestülpten  Antheil  der  Kapselwand  überzogen  werden.  Ich  kann  dieser 
Ansicht  nicht  beipflichten,  weil  sie  eben  nur  eine  Ansicht  ist.  Nicht  die  Kapsel, 
wohl  aber  ihr  Epithel  setzt  sich  auf  die  Oberfläche  des  Malpighi'schen  Körper- 
chens fort.  Es  wäre  der  Ausscheidung  von  Blutserum  aus  den  Malpighi'schen 
Knäueln  in  die  Höhle  der  Kapsel,  wahrlich  nicht  geholfen,  wenn  die  Knäuel,  der 
eben  gerügten  Vorstellung  nach,  ausser  der  Kapsel  lägen.  Die  Kapsel  verwächst 


§.  294.  Niheret  Aber  Einzelnlieiten  der  Nierenanatomie.  745 

vielmehr  an  der  Eintrittsstelle  der  Arterie  des  Malpighi^schen  Körperchens  mit 
dieser  Arterie,  ohne  sich  auf  das  Körperchen  umzustülpen,  welches  somit  frei  in 
der  Höhle  der  Kapsel  liegt. 

4.  Harnkanälchen. 

Vom  Urspnmge  eines  Harnkauälchens  aus  der  Kapsel  des 
Malpighi'schen  Körperchens,  bis  zur  Mündung  desselben  an  der 
Papula  renalis,  lassen  sich  an  ihm  vier  Abtheilungen  unterscheiden. 
1.  der  Tvbvlus  contortua  in  der  Rinde,  2.  die  Aiua  Herdei  in  der 
Malpighi'schen  Pyramide,  3.  das  geschlungene  Verlaufsstück  des 
rückläufigen  Schenkels  der  Ansa  in  der  Rinde,  und  4.  der  gerad- 
linige Tvhvlus  Bdiinianus  in  der  Pyramide.  —  Die  Harnkanälchen 
bestehen,  in  allen  diesen  vier  Kategorien  aus  structurloser  Wand 
und  Epithel.  Das  Epithel  ändert  sich  aber  nach  dem  Kaliber  der 
Kanälchen,  an  den  verschiedenen  Abschnitten  derselben.  So  findet 
sich  in  den,  0,02  Linien  weiten  Tubuli  contorti  ein,  dieselben  fast 
ganz  ausfüllendes  Epithel  aus  Pflasterzellen,  mit  feinkörnigem,  den  Kern 
verdeckendem  Inhalt;  —  in  den  engen  Ansäe  Henlei  (0,008  Linien), 
ein  Epithel  aus  hellen  ovalen  Zellen,  welche  aber  in  dem  auf- 
steigenden, sich  etwas  erweiternden  Schenkel  der  Ansäe,  wieder 
feinkörnigen  Inhalt  führen.  In  den  stärkeren  Tubuli  Bdliniani  findet 
sich  Cylinderepithel,  —  in  den  feineren,  und  in  den  geschlängelten 
Verbindungsge&ssen  derselben  mit  den  Ansäe  Henlei  helles  Pflaster- 
epithel. 

Diese  Structurverschiedenheiten  verschiedener  Abschnitte  der  Harnkanäl- 
chen, lassen  auch  auf  einen  verschiedenen  Antheil  derselben  an  der  Harnbereitung 
schliessen.  Worin  dieser  Antheil  bestehe,  kann  zur  Zeit  Niemand  sagen.  Ebenso 
verschieden  sind  die  pathologischen  Zustände  der  Bell  in  loschen  und  He  nl  ersehen 
Harnkanälchen.  Der  Hamsäure-Infarct  beschränkt  sich  nur  auf  erstere,  —  die 
Incnistation  mit  Kalksalzen  und  die  Fettinfiltration,  nur  auf  letztere. 

5.  Vorgang  der  Harnbereitung. 

Wenn  die  gewundenen  Arterien  eines  Malpighi'schen  Kör- 
perchens, zufolge  des  in  ihnen  gesteigerten  Blutdruckes  den  wässe 
rigen  Blutbestandtheil  (Serum)  durchsickern  lassen,  so  muss  dieser 
von  der  Kapsel,  welche  das  Körperchen  umgiebt,  aufgefangen 
werden,  und  da  die  Kapsel  sich  in  ein  Harnkanälchen  fortsetzt, 
so  wird  er  sofort  in  letzteres  einströmen.  Die  gewundenen  Harn- 
kanälchen sind  aber  in  der  Rindensubstanz  der  Niere  mit  den 
Maschen  der  Capillargefässe  in  innigem  Contact;  und  ebenso  stehen 
auch  die  Fortsetzungen  der  gewundenen  Harnkanälchen  als  Ansäe 
Henlei,  und  die  geradlinigen  Harnkanälchen  (Tabuli  Bdliniani)  in 
der  Substanz  der  Nierenpyramiden,  mit  langgestreckten  Gefilss- 
schlingen,  welche  mit  dem  Capillargefässnetz  der  Rindensubstanz 
zusammenhängen,  in  allseitiger  Berührong.  Dm  CapillargefiUsnets 
der  Rindensubstanz,  und  die  mit  il 


746 


FT  WnHliihciMa  »n  infrsnHittat*. 


in  den  Pyramiden,  führen  aber  eingedicktes  Blut,  weil  sie  jenseits 
der  Oeßlseknäuel  der  RiudenBubatanz  liegen.  Dieses  eingedickte  Blut 
enthält  die  stickstoffreichen ,  zur  Ausscheidung  beBtiinmten  Zer- 
setzungsproducto  der  Gewebe ,  während  die  HarnkanUlchen  blos 
Blutwasser  führen.  Wenn  nun  zwei  chemisch  verschiedene  Flüssig- 
keiten dui'ch  eine  thierischc  Haut  (hier  die  äasserst  dünnen  Wan- 
dungen der  Harnkanälchen  und  der  CapUlargeJUsse)  von  einander 
getrennt  sind,  so  geschieht,  durch  die  trennende  Wand  hindurch, 
ein  wechselseitiger  Austausch  ihrer  Bestandthcile,  in  Folge  dessen 
das  Serum  der  Harnkanälchen,  durch  Aufnahme  der  auszuscheiden- 
den, stiekstoffigen  Bestandthcile  des  Blutes,  unter  welchen  der  Harn- 
stoff und  die  Harnsäure  die  wichtigsten  sind,  zu  Harn  wird. 

Dieies  Wenige  mag  genügen,  um  dem  AnfUn^r  beiläufig  eine  Idoe  vom 
Herg&nge  der  Hsmbereituiig  xn  geben,  and  en  ihm  TerstXndlii^li  zn  machen, 
witnim  die  Nieren,  welcbe  dieser  Darsteünng  zufolge  Reinigungsnrgane  des  Blntoi 
von  nnbrftocliharen,  ja  hJJchst  schldlichen  Auswurf  astoffen  sind,  so  nahe  an  dem 
Ilanptfltamnie  des  Artarions/BtemB  liegen,  to  grosse  Schlagadern  erhalten,  und  eins 
grössere  Mungti  AbsondBrnngsflUaBigkoit  liefern,  als  die  um  so  viel  umfang- 
reichere JLelter. 

Die  Schlingen  der  HamkauNIchen  in  den  Pyramiden  der  Nieren,  wurden 
durch  Henle  entdeckt  (Zur  Anatomie  der  Nieren,  GHtt.,  1862),  Henle  war  aber 
der  Meinung,  daas  »eine  Sulilingun  mit  den  Tu/iuli  Beüiniani  nicht  lusamroen- 
bflngen,  sondern,  wie  ihr  absteigender  Schenkel  aus  dem  Tiihutiu  cotUoriut  einet 
Bowman'sohen  Ka[iscl  hervorgeht,  so  auch  ihr  rückläufiger  Schi'nkel  auf  dieselbe 
Weise  mit  einer  Dowman'scben  Kai>ael  xusanimenhSngt.  Henle  nahm  also  die 
Schlii^on  als  ein  ftir  sich  bestehendes,  besonderes  Kanalsystem  iii  der  Miere, 
welches,  xum  Gegensatz  des  an  der  Nierenwarze  uffenen  Systems  der  TulmU 
BeUiniani,  als  geschlossenes  Kanalsystem  zu  betrachten  sei.  Eine  Unsahl  TOn 
Spedalabhandlimgen  Über  diesen  Gegenstand,  hat  es  nun,  mit  mehr  weniger  Be- 
weiskraft dargelegt,  dnes  d>9  von  Hente  als  nnatomisch  eelbststfindig  aufgefasste 
System  der  narnkanSlchen,  mit  dem  Be  lliiiiani'schen  Kanalsystem  ein  Ca n- 
ünuiim  bildet. 

Der  Harnweg  wurde  durch  Henle's  Entdeckung  nur  um  ein  anselmlicbes 
Einschubstttck  (Schlingen  in  den  Pyramiden)  verlängert,  —  die  oben  gegebene 
Eikliining  der  UamsecretJon  bleibt  demnach  dieselbe.  Interessant  ist,  dass  auch 
Ludwig,  welcher  vor  Uenle,  eine  Detailarbeit  über  die  Anatomie  der  Nieren  im 
Handwörlerlmch  der  Physiologie  lieferte,  und  daselbst  von  „nniShligcn"  Unter- 
suchungen spricht,  die  Schlingen  der  Harngetilsse  in  den  Pyramiden  nicht  gesehen 
hat,  gleichwohl  aber  als  einer  der  ersten  gegen  das  Abgeschloseensein  der  Henle- 
sc^en  Schlingenge  Pisse  anfatand.  Was  von  dieser  Seite  gegen  die  Henle'iobe 
Ansicht  vorgebracht  wurde,  hat  ihr  wenig  Eintrag  getlian.  Schemaäsche  Zeich- 
nungen lassen  sich  ja  auch  erfinden,  und  sind  deshalb  nicht  beweiskrüftig.  Hit 
stirkeren  Waffen  haben  Roth,  Hertz,  Kollmann,  Steudener  und  Schweig- 
ger-Seidel  gestritten.  Denn  es  gab  nnr  Einen  Weg,  die  Frage  zu  schlichton, 
und  dieser  war  die  (^Unng  der  Bowman'schen  Kapseln  vom  Ureter  aas,  bei 
welcher  Füllung  die  Injectiunsmaese  durch  die  Tiiliuli  lieliintani  in  die  Aniae 
Renlei,  von  diesen  in  die  Tubiäi  amtorCi,  und  so  fort  in  die  Kapseln  der  Mal- 
pighi'ichen  Kürperchen  gelrieben  werden  miiaste,  um  die  Cnntinuilit  diese« 
Ungen  Weges  sicbenniatellen.  Dieses  Kunststück  gelang  Schweigger-Seidel 
an  du  Niere  einea  fDnfmooatlicben  Embiyo.  Mir  ist  «i  nicht  gelungen. 


§.  »96.  l^ebennieren.  747 

6.  Intermediäre  Nierensubstanz. 

Ausser  Blut-  und  Harngefössen  besitzt  die  Niere  noch  eine 
eigenthümliche,  zwischen  den  Blut-  und  Harngefässen  eingelagerte, 
und  diese  verbindende,  intermediäre  Substanz.  Blut-  und  Harn- 
gefässe  allein  könnten  dem  Nierenparenchym  nicht  jene  Derbheit 
verleihen,  welche  ihm  thatsächlich  zukommt.  Bowman  nennt  die 
Zwischensubstanz  ein  granulirtes  Blastem,  Toynbee  lässt  sie 
aus  Zellen  bestehen.  Wir  betrachten  sie  als  ein  mehr  weniger  homo- 
genes Bindegewebe,  dessen  fibrillärer  Zerfall  besonders  in  der  Nähe 
der  Gefässwandungen  deutlich  hervortritt.  Organische  Muskelfasern 
wurden  in  ihm,  entlang  den  Blutgefässen,  nachgewiesen.  Blattartige 
Ausbreitungen  dieser  Bindegewebssubstanz  sollen  ferner  lappen- 
förmige  Abtheilungen  des  Nierenparenchyms  umschliessen,  und  um 
sie  herum  förmliche  Kammern  bilden,  welche  mit  den  Saugadem 
in  oflFener  Verbindung  stehen. 


§.  295.  Ifebeimiereii. 

Nebennieren  oder  Obernieren,  Renes  succenturiati,  Glan- 
dvlae  mprareiicdes  8.  Capsvlae  atrabiliariae,  nennt  man  zwei,  dreiseitige, 
flache,  gelbbraune,  drüsige  Organe  ohne  Ausfuhrungsgang,  welche 
mit  einer  concaven  Fläche  am  oberen  Ende  der  Nieren  aufsitzen, 
ohne  mit  ihnen  in  directem  Gefassverkehr  zu  stehen.  Ihre  hintere 
convexe  Fläche  liegt  auf  der  Pars  lumbalis  diaphragmaiis ;  die  vor- 
dere, mehr  geebnete  Fläche  der  rechten  Nebenniere  berührt  die 
Leber,  jene  der  linken  den  Magengrund.  Beide  Flächen  sind  ge- 
furcht. An  der  vorderen  Fläche  findet  sich,  nahe  der  Basis,  ein 
tiefer  Einschnitt,  Haus,  durch  welchen  die  Hauptvene  des  Organs 
und  grössere  Lymphgef&ssstämme  hervortreten.  Die  Arterien  benützen 
wohl  den  Hilus  als  Eintrittspforte,  treten  aber  auch  von  anderen 
Seiten  her  in  die  Drüse  ein. 

Die  Nebenniere  besitzt  eine  fibröse  Umhüllungshaut,  und  inner- 
halb derselben  eine  derbere  Rinden-  und  eine  weichere,  wie 
schwammige  Marksubstanz.  Von  der  Umhüllungshaut  dringen 
Faserzüge  in  die  Rindensubstanz  ein,  um  sie  fächerig  abzutheilen. 
Die  einzelnen  Fächer  erscheinen  bei  mikroskopischer  Untersuchung 
mit  Zellen  gefüllt,  welche  sich  der  Länge  nach  aneinander  reihen. 
Die  mittleren  Zellen  einer  Reihe  verschmelzen  zu  länglichen 
Schläuchen,  während  die  an  den  Endpunkten  einer  Reihe  liegenden 
isolirt  bleiben.  Die  Zellen  beherbergen  nur  einen  Kern;  die  Schläuche 
mehrere  —  bis  zwanzig.  Was  das  für  Zellen  sind,  weiss  man  bis 
jetzt  noch  nicht.  Sie  haben  deshalb  auch  nooh  keinen  Namen  er- 
halten. —  Die  Marksubstanz  beflelit  f»«  weiten 


748  §  296.  HftrnblaM. 

Capillargefiissen  und  lockerem  Bindegewebe,  in  welchem  dreierlei 
Formen  von  Zellen  lagern :  1.  kernführende  Zellen,  von  cylindrischer 
oder  prismatischer  Gestalt,  jenen  in  der  Corticalsubstanz  ähnlich, 
und  eben  so  namenlos  wie  diese.  2.  Wahre  kleine  Ganglienzellen, 
aber  ohne  Aeste,  also  insular.  3.  Wahre  grosse  Ganglienzellen  mit 
verästelten  Fortsätzen.  1.  und  2.  sind  weitaus  zahlreicher  vorhanden 
als  3.  Die  Fortsätze  der  grossen  Ganglienzellen  haben  mehrere 
Autoren  mit  den  Primitivfasern  der  in  der  Nebenniere  sehr  zahl- 
reichen Nervengeflechte  im  Zusammenhang  stehen  gesehen.  Es 
wurde  deshalb  die  Nebenniere  bereits  als  Nervendrüse  classificirt. 
Was  mit  diesem  Worte  gesagt  sein  soll,  wissen  wir  ebensowenig 
als  Jene,  welche  es  erfunden  haben. 

Die  unbekannte  Function  der  Nebennieren  sichert  dieses  Organ  vor  lästigen 
Nachfragen  in  der  •  Heilwissenschaft.  Die  nach  Addison^s  Beobachtungen  bei 
Erkrankung  der  Nebennieren  vorkommende  livide  Färbung  der  Haut,  mag  wohl 
einen  nicht  in  der  Nebenniere  zu  suchenden  Grund  haben.  Wir  haben  beide 
Nebennieren  durch  Krebs  desorganisirt  gesehen,  ohne  livide  Hautfarbe.  Dass  sie 
bei  Acephalen  fehlen,  wurde  durch  Bischoffs  Erfahrungen  widerlegt.  Ange- 
bome  abnorme  Lagenmg  der  Nieren  bedingt  keine  entsprechende  Lageverändenuig 
der  Nebennieren.  —  In  den  Erstlingsperioden  der  Entwicklung  der  Hamwerkzeuge 
sind  die  Nebennieren  selbst  zweimal  grösser,  als  die  Nieren;  im  Erwachsenen 
beträgt  ihr  Gewicht  nur  ein  Viertel  Loth.  —  Wenn  man  die  Nebenniere  zwischen 
den  Fingern  knetet,  und  die  ohnedies  weiche  Marksubstanz  ganz  zerquetscht,  so 
kann  man  die  letztere  durch  einen  Stich  in  die  derbere  Rindensubstanz  als  Brei 
fatra  hilü  der  Alten)  herausdrUcken,  worauf  die  Rindensubstanz  als  leere  Schale 
zurückbleibt.  Dies  veranlasste  die  Benennung  der  Nebenniere,  als  Capsula  atra- 
hüiaria.  Kleine,  hirse-  bis  hanfkomgrosse  Körperchen  in  der  Nähe  des  Hilus 
der  Nebenniere,  und  von  gleicher  Structur  mit  dieser,  sind  wahre  Nebenneben- 
nieren, Benunctdi  »uccenturiati.  Die  Nebennieren  der  Schlangen  haben  eine  Pfort- 
ader, wie  die  Leber. 

£u  stach  ins  entdeckte  diese  Drüsen,  und  beschrieb  sie  in  seinem  Libelbts 
de  renihuSf  Venet,,  1563,  Den  Namen  Renes  siiccenturiati  legte  ihnen  Casscrius 
bei.  Spigelius  wusste  nicht  mehr  von  ihrer  Verrichtung,  als  wir  heut  zu 
Tage  wissen.  Ut  aliquid  dixiase  videatur,  sagt  er  treuherzig,  /actae  hhiü  ad  im- 
plendum  vaaium,  quod  inier  renes  ei  diaphragma  iiüeralat  (De  corp.  hum.  fahr, 
lib,    VIII.  cap,  15). 


§.  296.  Harnblase. 

Die  Harnwerkzeuge  besitzen  in  der  Harnblase,  Vesica  uri- 
naria  8.  Urocfiatis  (von  t6  supsv,  Harn),  einen  häutig  muskulösen 
Behälter,  in  welchem  der  Harn,  welcher  fortwährend  durch  die 
Ureteren  zufliesst,  aufbewahrt  wird,  um  nicht  ununterbrochen  ab- 
zuträufeln. 

Thiere,  deren  Harn   so   reich    an   harnsauren    Salzen  ist,  dass  bei  längerem 
Verweilen  in  einer  Blase,  Sedimentining  derselben  eintreten,  und  Harnsteine  gebildet 


§.  S96.  Harnblase.  749 

werden  müssten,  besitzen    keine   Harnblase,   sondern  die  Ureteren  münden  in  das 
als  Cloake  benannte  untere  Mastdarmende  (Amphibien,  Vögel). 

Die  Harnblase  hat  eine  ovale  Gestalt,  mit  stärkerer  Wölbung 
der  hinteren,  als  der  vorderen  Wand.  Sie  liegt  hinter  der  Sym- 
physis ossium  pubis,  über  deren  oberen  Rand  sie  sich  im  vollen 
Zustande  erhebt,  und  den  Punctionsinstrumenten  zugänglich  wird. 
Nach  hinten  grenzt  sie  an  das  Rectum  beim  Manne,  an  die  Gebär- 
mutter beim  Weibe,  und  besitzt  deshalb  in  letzterem  Geschlechte 
von  vorn  nach  hinten  weniger  Tiefe,  was  aber  durch  ihre  grössere 
Seitenausdehnung  so  reichlich  compensirt  wird,  dass  die  weibliche 
Harnblase  die  männliche  überhaupt  an  Geräumigkeit  übertrifft.  Die 
Weiber  uriniren  aber  nicht  aus  diesem  Gininde  allein  seltener  als 
die  Männer,  sondern  auch  deshalb,  weil  vieles  Trinken  nur  eine 
männliche  Tugend  ist. 

Der  Scheitel  der  Blase  hängt  durch  das  Ligamentum  vesico- 
umbilicale  medium,  welches  der  obsolet  gewordene  embryonische 
Urachus  ist,  mit  dem  Nabel  zusammen.  Verlängerungen  der  Längs- 
muskelfasern der  Blase,  setzen  sich  in  dieses  Band  fort.  —  Auf 
den  Scheitel  folgt  der  Körper  der  Blase,  und  auf  diesen  der 
breiteste  Theil  oder  Grund,  welcher  beim  Manne  auf  dem  Mittel- 
fleische und  einem  Theil  der  vorderen  Mastdarmwand  aufruht,  beim 
Weibe  dagegen  auf  der  vorderen  Wand  der  Mutterscheide.  Die 
Seitenwände  der  Blase  werden  durch  die  Ligamenta  vesico-umbüi- 
calia  lateralia  (obliterirte  Nabelarterien)  mit   dem  Nabel  verbunden. 

Aus  Lnschka*s  Untersuchungen  über  die  Reste  des  embryonischen  Ura- 
chus im  Erwachsenen  (Archiv  fQr  path.  Anat.  Bd.  XXIII),  hat  sich  ergeben,  dass 
der  Urachus  nicht  immer  zu  einem  soliden  Bindegewebsstrang  eingeht,  sondern, 
wenigstens  theilweise,  seinen  ursprünglichen  Charakter  als  Hohlgang  beibehält. 
Es  erstreckt  sich  nämlich  zuweilen  eine  röhrenartige  Verlängerung  der  Blasen- 
schleimhaut in  seiner  Axe  mehr  weniger  weit  gegen  den  Nabel  hinauf.  Diese 
Verlängerung  kann  sich  von  der  Blasenhöhle  abschnüren,  durch  Verwachsung 
ihres  Anfangsstückes  am  Blasenscheitel.  Ihr  Verlauf  gegen  den  Nabel  kann  Win. 
düngen  bilden,  und  durch  grössere  oder  kleinere  Ausbuchtungen  knotig  er- 
scheinen. Die  Ausbuchtungen  können  auch  durch  Abschnürung  zu  selbstständigen 
Cysten  werden. 

Jenen  Theil  des  Blasengprundes ,  von  welchem  die  Harnröhre  abgeht, 
Blasenhals  (Collum  vesicae),  zu  nennen,  ist  wohl  üblich,  aber  unpassend.  Ebenso 
unrichtig  ist  es,  diesem  Blasenhalse  eine  trichterförmige  Gestalt  zuzuschreiben, 
deren  weites  Ende  gegen  die  Blase  sieht,  deren  engeres  Ende  in  die  Harnröhre 
fortläuft.  Keine  anatomische  Autopsie  rechtfertigt  diese  Annahme,  welcher  nur  von 
den  Chirurgen  gehuldigt  wird.  Man  sieht  an  aufgeblasenen  und  getrockneten 
Harnblasen,  die  Harnröhre  immer  nur  mit  einer  scharf  gerandeten,  nicht  trichter- 
förmig gestalteten  Oeffhung  beginnen,  und  wenn  man  den  Terminus  eines  Blasen- 
halses schon  nicht  aufgeben  will,  so  kann  nur  der  erste  Abschnitt  der  Harn- 
röhre, welcher  von  der  Prostata  umwachsen  ist  (Pars  proataUca  urethrae),  mit 
diesem  Namen  bezeichnet  werden. 


750  S*  S96.  HurnblMe. 

Man  unterscheidet  an  der  Blase^  von  aussen  nach  innen  gehend, 
folgende  Schichten: 

1.  Einen  nur  an  ihrem  Scheitel,  an  der  hinteren  und  an  der 
seitlichen  Wandung  vorhandenen  Bauchfellüberzug. 

2.  Eine  aus  Längen-  und  Ringfasern  bestehende  organische 
Muskelhaut,  deren  Längenfasern  als  Detitisor  urinae  benannt  werden, 
und  deren  Kreisfasem  um  die  Blasenöffhung  der  Urethra  herum 
den  SpMncter  vedcae  bilden. 

3.  Ein  submucöses  Bindegewebe,  mit  elastischen  Fasern  reich- 
lich gemischt,  und 

4.  eine  Schleimhaut,  welche  im  leeren  Zustande  unregelmässige 
Falten  bildet,  und  besonders  gegen  den  Blasenhals  hin,  zahlreiche 
kleine  Schleimdrüschen  enthält.  Ein  mehrschichtiges  Epithel,  die 
Mitte  haltend  zwischen  Pflaster-  und  Cylinderepithol,  überzieht  die 
Schleimhaut  der  Harnblase. 

Am  Blasengrunde  münden  die  Ureteren  in  die  Blase  ein,  mit 
spaltförmigen  Oeffnungen,  welche  ohngefilhr  anderthalb  Zoll  von 
einander  entfernt  liegen,  und  mit  dem  Anfange  der  Harnröhre,  die 
Ecken  eines  gleichschenkeligen  Dreieckes  darstellen  (Trigonum 
limtavdvi),  an  welchem  die  Muskulatur  der  Harnblase  stärker  ent- 
wickelt ist,  und  die  einzelnen  Bündel  derselben  dichter  zusammen- 
gedrängt sind,  als  sonst  wo.  Jos.  Lieutaud,  Professor  in  Aix, 
beschrieb  dieses  Gebilde,  welches  schon  lange  vor  ihm  bekannt 
war,  und  den  gesammtcn  Blasengrund,  sehr  ausführlich  in  den 
M4moires  der  Pariser  Akademie,  1753.  —  Die  Schleimhaut  des  Tri- 
gonum, welcher  man  eine  grosse  Empfindlichkeit  zuschreibt,  hängt 
an  der  unterliegenden  Muskelschicht  so  fest  an,  dass  sie  sich  bei 
entleerter  Blase  daselbst  nicht  in  Falten  legt.  Die  gegen  die  Harn- 
röhrenöffnung gerichtete,  etwas  aufgewulstete  und  abgerundete  Spitze 
des  Trigofium  Lieutaudü,  heisst  bei  französischen  Autoren  luette  visi- 
ccUe  (Uvula  vesicae).  An  den  Seitenrändern  des  Trigonum  sieht 
man  gerade  Muskelbündel  vom  hinteren  Rande  der  Voi*steherdrüse 
zur  Einmündung  der  Ureteren  ziehen.  Diese  Muskelbündel  haben 
die  Bestimmung,  auch  bei  voller  Blase  die  Mündungen  der  Ure- 
teren klaffend  zu  erhalten,  und  dadurch  das  Einströmen  neuer  Ab- 
souderungsquantitäten  des  Harns  möglich  zu  machen. 

Ueber  die  Befestii^^bänder  der  Blase  siehe  §.  323. 

In  morphologischer  und  anatomischer  Beziehung  lehrreich  sind  Barkow^s 
Untersuchungen  Aber  die  Harnblase  des  Menschen.  Breslau,  1858,  fol.  mit 
13  Tafeln. 


§.  297.  Praktische  Bemerkongen  ftber  die  HurnbUse.  751 


§.  297.  Praktisclie  Bemerkimgen  über  die  Harnblase. 

Die  Lage  der  Harnblase  genau  zu  kennen,  ist  für  den  Chirur- 
gen von  hoher  Wichtigkeit.  Man  kann  sich  von  ihren  Beziehungen 
zu  den  iibrigen  Beckeneingeweiden  nur  dadurch  eine  richtige  Idee 
bilden,  wenn  man  sie  nicht,  wie  gewöhnlich  in  den  Secirsälen  ge- 
schieht, aus  der  Beckenhöhle  sammt  den  Geschlechtstheilen  heraus- 
nimmt, und  im  aufgeblasenen  Zustande  studirt,  sondern  an  dem 
Becken  einer  Leiche  ein  Ob  innominatam  so  entfernt,  dass  die 
Symphysis  pvbis  ganz  bleibt.  Man  hat  sich  dadurch  die  Beckenhöhle 
seitlich  geöffnet,  und  sieht  die  Harnblase  im  Profil.  —  Ist  die  Blase 
leer,  so  liegt  sie,  klein  und  zusammengezogen,  genau  hinter  der 
Symphysis,  und  ein  Theil  des  Heum  lagert  sich  zwischen  sie  und 
das  Rectum  in  die  ExcavcUio  recto-vesiccdis.  Wird  sie  aufgeblasen, 
so  nimmt  sie  den  Raum  des  kleinen  Beckens  so  sehr  in  Anspruch, 
dass  sie  in  denselben  fest  eingepflanzt  erscheint,  und  die  Schlingen 
des  Ileum  in  die  grosse  Beckenhöhle  hinaufgedrängt  werden.  Man 
bemerkt  zugleich,  dass  sie  nicht  vollkommen  senkrecht  steht,  sondern 
mit  ihrem  Scheitel  etwas  nach  rechts  abweicht,  wegen  linkseitiger 
Lage  des  Mastdarms. 

Von  jener  Stelle  an,  wo  das  Peritoneum  die  hintere  Blasen- 
wand verlässt,  um  stth  foinna  der  Plica  Dougladi  zum  Mastdarm  zu 
treten,  bis  zum  Blasenhals  herab,  erstreckt  sich  der  Fu7idus  vesicae, 
welcher  auf  dem  Rectum  aufliegt,  und  seitwärts  durch  laxes  Binde- 
gewebe mit  den  Samenbläschen  verbunden  ist.  Der  in  den  Mastdarm 
eingeführte  Finger  erreicht  leicht  die  Mitte  des  Blasengnmdes,  und 
kann  ihn  empordrängen.  Die  Exploration  eines  Blasensteines,  und 
die  Möglichkeit  eines  Recto-Vesicalschnittes,  um  ihn  auszuziehen, 
beruhen  auf  diesem  anatomischen  Verhältnisse.  —  Der  Fundus 
vesicae  steht  bei  voller  Blase  tiefer,  als  bei  leerer,  nähert  sich  somit 
der  Ebene  des  Mittelfleisches,  und  es  soll  deshalb,  wenn  ein  Stein- 
schnitt durch  das  Mittelfleisch  ausgeführt  werden  muss,  eine  Injec- 
tion  der  Blase  vorausgeschickt  werden.  —  Der  Scheitel  der  Blase 
ragt  im  gefüllten  Zustande,  besonders  bei  Kindern,  stark  über  die 
Symphyse  hinaus.  Demgemäss  wäre  bei  Kindern  die  Eröffnung 
der  Blase  über  der  Symphysis  (Sectio  hypogastrica),  um  so  mehr 
dem  Perinealschnitte  vorzuziehen,  als  der  Fundus  der  kindlichen 
Blase,  wegen  Enge  des  Beckens,  weit  weniger  entwickelt  ist,  und 
das  Peritoneum  weiter  an  ihm  herabgeht  als  bei  Erwachsenen,  wo- 
durch eine  Verletzung  der  Excavatio  recto-vesicaiis  nur  schwer  ver- 
mieden werden  könnte.  —  Im  weiblichen  Geschlechte  überzieht  das 
Peritoneum  einen  kleineren  Theil  der  hinteren  Blasenfläche  als  beim 
Manne,   indem   es  bald   an  die  vordere  Gebärmutterwand  übertritt. 


752  8.  298.  Harnröhre. 

Drängt  sich  durch  pathologische  Bedingungen  die  Schleimhaut 
aus  dem  Gitter  der  Muskelbündel  beutelähnlich  heraus,  so  entstehen 
die  Dioerticida  vesicae  urinariae,  welche  nie  am  Grunde,  sondern  an 
der  Seite  der  Blase  vorkommen.  Bilden  sich  Harnsteine  in  diesen 
Divertikeln,  was  um  so  leichter  geschehen  kann,  als  die  Diverticula 
einer  Muskelhaut  entbehren,  und  der  in  ihnen  befindliche  Harn  bei 
längerem  Verweilen  daselbst  Niederschläge  ablagert,  so  heissen 
diese  Harnsteine  eingesackt.  Eingesackte  Steine  sind  von  an- 
gewachsenen zu  unterscheiden.  Unter  letzteren  versteht  man 
solche,  welche  entweder  durch  Exsudate  an  die  innere  Oberfläche 
der  Harnblase  geheftet,  oder  durch  Wucherungen  derselben  um- 
schlossen und  festgehalten  werden.  —  Durch  Hypertrophie  der 
Muskelbünde]  der  Blase,  welche  ein  gewöhnlicher  Begleiter  chroni- 
scher Blasenentzündung  ist,  und  in  seltenen  Fällen  bis  zur  Dicke 
eines  halben  Zolles  sich  entwickeln  kann,  entsteht  die  sogenannte 
Vessie  ä  colonnes. 

Grösse  nnd  Capacität  der  Harnblase  variiren  so  sehr,  dass  vienindzwanzig 
Unzen  nur  als  beUänfiges  Maass  ihres  Inhalts  angenommen  werden  können.  Bei 
Harnverhaltungen  kann  sich  die  Blase  bis  zum  Nabel,  und  darfiber  ausdehnen.  — 
Die  Ursache,  warum  die  Ureteren  sich  in  den  Grund  der  Blase,  und  nicht  in  den 
Scheitel  einmünden,  liegt  darin,  dass  in  letzterem  Falle  die  Ureteren  bei  der  Zu- 
sammenziehung der  Blase  eine  Zerrung  hätten  erleiden  müssen,  welche  bei  ihrer 
Einmündung  am  Grunde  der  Blase  gar  nie  vorkommen  kann. 


§.  298.  Harnröhre. 

Die  Harnröhre,  ist  nicht  Urethra,  sondern  Urethra  zu  sprechen, 
da  sie  bei  Aristoteles  oupiiJOpa  heisst,  von  cup^w,  pissen;  —  Celsus 
nennt  sie  Fistula  urinaria.  Sie  stellt  den  Ausführungsgang  der  Harn- 
blase dar.  Im  Manne  dient  sie  zugleich  als  Entleerungsweg  des 
Samens;  —  im  Weibe  gehört  sie  nur  dem  uropoctischen  Systeme 
an.  Die  männliche  und  weibliche  Harnröhre  unterscheiden  sich  in 
so  vielen  Punkten,  dass  beide  eine  besondere  Schilderung  erfordern. 

a)  Männliche  Harnröhre. 

Die  männliche  Harnröhre  stellt  einen  sechs  bis  sieben  Zoll 
langen  Schlauch  dar,  welcher  einen  so  hohen  Grad  von  Ausdehn- 
barkeit besitzt  (bis*auf  vier  Linien  Durchmesser),  dass  er  die  Ein- 
führung der  dicksten  Instrumente  zur  Steinzertrümmerung  gestattet. 
Stellt  man  sich  das  männliche  Glied  in  Erection  vor,  so  beschreibt 
die  Harnröhre,  von  ihrem  Beginne  am  Orißcium  ve»ic(de,  bis  zu  ihrer 
äusseren  Mündung  an  der  Eichel  (Orißcium  cutaneum),  einen  nach 
unten    convexen    Bogen,    dessen    Centrum    in    der   Sehamfugc  liegt. 


§.  298.  Harnröhre.  753 

Denkt  man  sich  nun  das  Glied  in  ErschlaflFong  übergehen,  und 
herabhängen,  so  muss  zu  dieser  Krümmung  noch  eine  zweite,  nach 
oben  convexe,  hinzukommen,  und  zwar  an  jener  Stelle  der  Harn- 
röhre, an  welcher  der  dem  Gliede  angehörige,  und  mit  ihm  be- 
wegliche Theil  der  Harnröhre,  mit  dem  im  Mittelfleische  liegenden, 
und  mannigfach  fixirten  Theile  zusammenstösst.  Die  Verlaufs- 
richtung der  Harnröhre  bei  erschlafftem  Gliede,  ist  somit  S-förmig. 
Die  erste,  d.  h.  die  der  Blase  nächste  Krümmung  des  S,  liegt 
hinter  dem  Schambogen,  als  Curvatura  postpubica,  und  kehrt  ihre 
Concavität  nach  vorn.  Die  zweite  Krümmung  liegt  unter  dem 
Schambogen,  als  Curvatura  mbpvhica,  ist  viel  schärfer  als  die  erste, 
und  nach  unten  concav.  Sie  ist  eigentlich  mehr  eine  Knickung, 
als  eine  Krümmung.  Durch  Aufheben  des  Gliedes  gegen  die 
Bauchwand  kann  diese  zweite  Kiiimmung  der  Harnröhre  aus- 
geglichen werden,  wie  es  bei  der  Einführung  eines  Katheters  in  die 
Harnblase  jedesmal  geschieht. 

Man  bringt  die  ganze  Länge  der  Harnröhre  in  drei  Abschnitte, 
welche  sind:  1.  die  Pars  prostatica  (Blasenhals),  2.  der  hthmua  8. 
Pars  membranacea  (häutiger  Theil  der  Harnröhre,  auch  Harnröhren- 
enge),  3.  die  Pars  cavemosa  (Gliedtheil  der  Harnröhre). 

1.  Die  Pars  prostatica  durchbohrt  bei  Individuen  mittleren 
Alters  die  Vorsteherdrüse  nicht  in  ihrer  Axe,  sondern  in  der  Regel 
der  vorderen  Fläche  näher  als  der  hinteren,  und  liegt  oft  genug  nur 
in  einer  Furche  der  vorderen  Fläche  der  Drüse.  Die  Schleimhaut, 
welche  sie  auskleidet,  bildet  an  ihrer  hinteren  Wand  eine  longi- 
tudinale,  acht  Linien  lange  Falte,  den  sogenannten  Schnepfen- 
kopf (Caput  galUnaginis,  bei  Eustachius  Caput  galUnaceum,  oder 
Colliculus  sendnalis,  seltener  auch  Caruncula  urethras  BavJdni,  Veru 
montanum,  Crista  urethrae).  Das  von  der  Harnblase  abgekehrte 
Ende  der  Falte  intumescirt  zu  einem  rundlichen  Hügel,  welcher 
sich  zum  schmalen  Theile  der  Falte,  wie  der  runde  Kopf  einer 
Schnepfe  (Scolopax  gallinago)  zu  seinem  langen  und  dünnen  Schnabel 
verhält,  —  woher  der  curiose  Name  Caput  galUnaginis  stammt, 
welchen  Regnerus  de  Graaf  {de  virorum  organis,  Lugd.,  1668) 
zuerst  gebrauchte.  Auf  der  Höhe  dieses  rundlichen  Hügels  mündet 
das  schon  von  Morgagni  gekannte,  von  H.  Weber  als  Vmcuia 
prostatica  s.  Sinus  pocularis  bezeichnete  Schleimhautsäckchen  aus, 
welches  einen  in  die  Prostata  mehr  oder  wenig«*  tief  eingelagerten 
Blindsack  von  ohngefahr  zwei  bis  drei  Linien  Länge  darstellt.  Die 
Gestalt  des  Blindsackes  ist  phiolenförmig,  was  der  Name  Sinus 
pocularis  richtig  ausdrückt.  —  Dicht  am  Rande  der  Oeffnung  der 
Vesicula  prostatica  münden  rechts  und  links  die  beiden  Ductus  e/o- 
culat(yrü  in   die   Harnröhre  ein,   und  seitwärts  vom  Schnepfenkopfe 

Ujrtl,  Lehrbuch  der  Atuitomie.  14.  Aofl.  48 


754  §.  S9ft.  HarnrAhre. 

findet  man  die  feinen  und  zahlreichen  Oeffnungen  der  Ausführungs- 
gänge der  Prostata  (§.  305). 

Das  Vera  nwntanum  verdient  eine  kleine  Castigation.  Es  ist  das  un- 
sinnigste Wort  in  der  anatomischen  Sprache.  Veni  ist  ein  Spiess,  Wurf-  aucli 
Bratspiess  bei  Virgil,  wie  man  denn  auch  die  spitzzackige  Siäura  »agitUilU 
des  Schädeldaches,  Sutura  vemcuicUa  nannte,  in  wörtlicher  Uebersetzung  von 
Galen's  oßsX'.a'irj  (von  oßsXo;,  Spiess).  Der  Schnepfenkopf  ist  nun  wahrlich  kein 
Spiess,  und  ein  bergiger  Spiess,  wie  das  numtanum  ausdrtickt,  ist  ein  Ifnding. 
(Trotzdem  findet  sich  das  Veru  mmdanum  AVich  in  Haller's  Elein,  i^hysiol.  T.  VII. 
l.  27,  §,  26), 

2.  Der  Isthmus  urethrae  (Pars  membranacea)  ist  nicht  der  engste, 
aber  der  am  wenigsten  erweiterbare  Theil  der  Harnröhre.  Da  er 
weder  von  der  Prostata  (wie  der  Anfangstheil  der  Hamröhre),  noch 
von  einem  Schwellkörper  (wie  der  Gliedtheil  der  Harnröhre)  um- 
geben wird,  sondern  blos  aus  Schleimhaut,  aus  einer  dünnen  Schichte 
von  organischen  Kreismuskelfasern,  und  aus  einem  umhüllenden 
Bindegewebe  besteht,  wird  er  auch  allgemein  häutiger  Theil  der 
Harnröhre  genannt.  —  Der  Isthmus  urethras  bildet,  zusammt  der 
Pars  prostatica,  die  Ourvatura  postpubica,  deren  Convexität  gegen 
das  Mittelfleisch  sieht,  deren  Concavität  gegen  den  unteren  Rand 
der  Schamfuge  gerichtet  ist,  diesen  aber  nicht  berührt,  sondern  fast 
einen  Zoll  von  ihm  entfernt  bleibt.  —  Das  libröse  Verschlussmittel 
des  Schambogens,  welches  durch  die  später  zu  schildernde  Fascia 
perinei  propria  gegeben  ist,  muss  durch  die  Pars  membranacea  tire- 
thrae  pc^rforirt  werden,  damit  diese  an  die  Wurzel  des  Gliedes  ge- 
langen könne.  Die  Fascia  perinei  propna  heisst  nun,  weil  sie 
gewissermassen  die  Urethra  in  der  Ebene  des  Schambogens  lixirt, 
auch  Ligam£7itum  triangidare  urethrae.  Nach  geschehener  Durch- 
bohrung der,  die  Ebene  des  Schambogens  als  Ligam^itum  triangidare 
ausfüllenden  Fascia  pennei  propria,  wird  der  weitere  Verlauf  der 
Harnröhre  zur: 

3.  Pars  cavemosa  urethrae.  Sie  führt  ihren  Namen  von  dem 
Schwellkörper  (Corpus  caverjiosum  urethrae),  welcher  sie  umgiebt, 
mit  ihr  zur  Wurzel  des  Gliedes  aufsteigt,  und  von  da  an  sich  mit 
ihr  in  den  hängenden  Theil  des  Gliedes  umbiegt,  um  sie  bis  zum 
Orificium  cutaneum  zu  begleiten.  Dieser  Schwellkörper  hat  dieselbe 
Textur,  wie  die  später  zu  erwähnenden  beiden  Schwellkörper  des 
Gliedes  (Corpora  cavemosa  penis).  Jenes  Stück  des  Corpus  caver- 
nosum  urethrae,  welches  mit  der  Harnröhre  bis  zur  Wurzel  des 
Gliedschaftes  aufsteigt,  heisst,  seiner  Dicke  wegen,  Har n röhre n- 
zwiebel,  Bulbus  urethrae.  Das  vom  Bulbus  umfasste  Stück  der 
Harnröhre  zeigt  eine  Ausbuchtung  an  ihrer  unteren  Wand.  In 
dieser  Bucht  münden  die  Ausführungsgänge  der  hinter  dem  Bulbus 
gelegenen  beiden  Glandulae  Cowpert.  In  derselben  Vertiefung  werden 


§.  298.  HArnrfthra.  755 

auch  unter  besonderen  ungünstigen  Verhältnissen  die  Instrumente 
aufgehalten,  welche  in  die  Harnblase  geführt  werden  sollen.  Sucht 
man  sie  trotz  des  Hindernisses  mit  Gewalt  weiterzustossen,  so  können 
sie,  nachdem  sie  die  untere  Wand  der  Harnröhre  im  Bulbus  durch- 
brochen haben,  in  das  benachbarte  Zellgewebe  gelangen,  und  die 
so  gefürchteten  falschen  Wege  in  das  Mittelfleisch  bohren. 

Die  Schleimhaut  der  Pars  cavemosa  ist  im  leeren  Zustande  in 
niedrige  Längenfalten  gelegt,  welche  eben  die  grosse  Erweiterungs- 
fahigkeit  der  Harnröhre  bedingen.  Zwischen  diesen  Falten  finden 
sich  die,  nur  bei  kranker  Harnröhrenschleimhaut  vorkommenden, 
taschenartigen  Vertiefungen  der  Schleimhaut,  Lacunae  Morgagni, 
welche  namentlich  an  der  unteren  Wand  so  tief  werden  können, 
dass  sie  den  Lauf  eingeführter  dünner  Sonden  aufzuhalten  im  Stande 
sind.  Die  kleinen  acinösen  Drüschen  der  Pars  cavemosa  sind  als 
Glandvlae  Littrianae  bekannt.  —  Bevor  die  Harnröhre  an  der  Eichel 
mit  einer,  durch  zwei  seitliche  Lippen  begrenzten,  senkrechten 
Oeffnung  mündet,  senkt  sich  ihre  untere  Wand  zur  schiffförmi- 
gen  Grube  ein  (Fossa  navicularis),  in  welcher  die  ersten  Erscheinun- 
gen   der   syphilitischen   Harnröhrenentzündung    (Tripper)  auftreten. 

Die  Harnröhre  besteht  1.  aus  einer,  an  elastischen  Fasern 
sehr  reichen  Schleimhaut,  mit  winzigen  kegelförmigen  Papillen, 
besonders  an  der  unteren  Wand;  2.  aus  dem  submucösen  Binde- 
gewebe, welches  seines  vernetzten  Baues,  und  seines  Reichthums 
an  Venen  wegen,  einem  cavernösen  Gewebe  ähnlich  sieht;  3.  aus 
einer  Schichte  organischer  Kreis-  und  Längsmuskelfascrn ,  deren 
Mächtigkeit  in  den  verschiedenen  Abschnitten  der  Harnröhre 
wechselt,  und  4.  aus  einer,  die  Harnröhre  mit  ihren  nachbarlichen 
Organen  verbindenden  fettlosen  Bindegewebsschichte.  —  Das  Epithel 
der  Harnröhre  ist  ein  mehrfach  geschichtetes.  Jene,  welche  nicht 
wissen,  ob  sie  das  Epithel  Pflaster-  oder  Cylinderepithel  nennen 
sollen,  weil  die  niedrigen,  und  gegen  einander  abgeplatteten  Cylinder- 
zellen,  auch  für  Pflasterzellen  angesehen  werden  können,  haben 
kluger  Weise  den  Namen:  Uebergangsepithel  erfunden.  Li  der 
Nähe  der  Fossa  navicularis  hat  das  Harnröhrenepithel  den  unver- 
kennbaren Charakter  eines  geschichteten  Pflasterepithels. 

Die  Längen  der  drei  beschriebenen  Abschnitte  der  Harnröhre 
verhalten  sich  beiläuflg  wie  1"  :  1"  :  4"  oder  5".  Die  Pars  pro- 
statica  membranacea  und  das  im  Bulbus  enthaltene  Anfangsstück  der 
Pars  cavemosa,  bilden  zusammen  die  erste  Krümmung  der  Harn- 
röhre (von  der  Blase  aus  gerechnet),  —  die  zweite  Krümmung  ge- 
hört dem  vor  dem  Bulbus  befindlichen  Theile  der  Pars  cavemosa  an. 

Mündet  die  Harnröhre  nicht  an  der  Eichel,  sondern  an  der  unteren  Flfiche 
des  Gliedes  aus,  so  heisst  dieser  BUdnngsfehler  Hjpospadie.  Aasmündung  der 
Harnröhre   auf  der   Bückenfläche   des   Gliedes    (Anaspadie)    kommt   ungleich 

48» 


756  §.  ^8.  Harnröhre. 

seltener,  und  in  der  Kegel  nur  mit  anderen  Bildungsabweichungen  der  Harnorgane 
yergeselUchaftet  vor. 

Das  zur  Besichtigung  der  Lage  der  Harnblase  benützte  Präparat  dient  zu- 
gleich zur  Untersuchung  des  Verlaufes  der  Harnröhre,  welche  eine  genaue  Be- 
kanntschaft mit  den  topographischen  Verhältnissen  des  Mittelfleisches  voraussetzt 
(§.  321 — ä'25),  und  deshalb  hier  schon  dasjenige  nachzusehen  ist,  was  später  über 
die  Anatomie  des  Mittelfleisches  gesagt  wird.  Erst  wenn  man  mit  dem  Verlaufe 
der  Harnröhre  in*s  Klare  gekommen  ist,  wird  sie  herausgenommen,  ihre  Pars 
proftatica  und  memhranacea  von  oben  gespalten,  und  der  Schnitt  bis  zum  Scheitel 
der  Harnblase  verlängert.  Die  aufgeschlitzte  Harnröhre  und  Harnblase  werden 
mit  Nadeln  auf  einer  Unterlage  befestigt,  um  das  CaptU  gallinayinU  mit  der  Mün- 
dung der  Vesicula  pro»talica,  'die  Oeffhungen  der  Ductus  ejacfdcUorü  und  der 
Prostatagänge,  das  Trigonum  Lieutaudü,  und  die  Insertionen  der  Harnleiter  zu 
sehen.  Man  bemerkt  hiebei  zuweilen,  besonders  bei  Greisen,  dass  von  dem  gegen 
die  Harnblase  gerichteten  Ende  des  Caput  gdlUnagmu,  zwei  halbmondförmige, 
niedrige,  symmetrisch  gestellte  Schleimhautfalten  seitwärts  auslaufen,  welche  ihre 
Concavität  nach  vorn  kehren.  Sie  können  ein  Hindemiss  beim  Katheterisircn  ab- 
geben. Ebenso  trifft  es  sich,  dass  bei  abnormer  Vergrösserung  der  Prostata,  ihr 
mittlerer  Lappen,  die  Schleimhaut  des  Blasenhalses  in  die  Höhe  hebt,  imd  einen 
queren  Vorsprung  erzeugt  welcher  von  Amussat  (Becherches  sur  Vurhtre  de 
Vhomme  et  de  la  femtne,  Ärch.  gin.  de  mSd,  tom,  IV,)  als  Valvula  pylorica  vesicae 
beschrieben  wurde. 


h)   Weibliche  Harnröhre. 

Die  weibliche  Harnröhre  ist  nur  anderthalb  Zoll  lang.  Sie 
kann  durch  ihre  Lage  und  Structur  nur  dem  häutigen  Theile  der 
männlichen  Harnröhre  verglichen  werden,  ist  aber  weiter  als  dieser, 
und  lässt  sich  überdies  bis  auf  sechs  Linien  Durchmesser  und  dar- 
über ausdehnen.  Instrumente  sind  deshalb  leicht  in  sie  einzufuhren, 
und  ziemlich  grosse  Blasenstcine  können  mit  dem  Strahle  des  Harns 
(welcher  bei  Weibern  ein  dickerer  ist,  weshalb  auch  das  Harnen 
kürzer  dauert),  oder  durch  die  Zange  herausbefördert  werden.  Sie 
hat  eine  schwach  bogenförmige,  nach  oben  concave,  nach  vorn  und 
unten  abschüssige  Richtung.  Ihre  Befestigung  durch  das  Ligamentum 
trianguläre  urethrae  ist  dieselbe,  wie  beim  Manne.  Während  ihres 
ganzen  Verlaufes  steht  sie  mit  der  vorderen  Wand  der  weiblichen 
Scheide  in  so  inniger  Verbindung,  dass  sie  nur  mit  grosser  Behut- 
samkeit von  ihr  lospräparirt  werden  kann.  Ihre  äussere  Mündung 
liegt  in  der  Tiefe  der  Schamspalte,  dicht  über  dem  Scheidenein- 
gange, und  hat  eine  rundliche  (i estalt  mit  etwas  gewulstetem  Rande, 
welcher  bei  einiger  Hebung  im  Untersuchen  der  äusseren  Genitalien 
des  Weibes,  leicht  zu  fühlen  ist. 

Wie  gross  die  Erweiterungsf&higkeit  der  weiblichen  Harnröhre  ist,  hat 
mir  ein  Fall  bewiesen,  wo  ein  sieben  Linien  Querdurchmesser  haltender  Blasen- 
stein, welchen  ich  aufbewahre,  von  selbst,  ohne  alle  Kunsthilfe  abging,  und  ein 
zweiter,    noch  seltenerer,    und  vielleicht  beispiellos,    wo    ein    Frauenzimmer    mit 


§.  299.  BiDth.  d.  OMeblecbiswerks.  —  §.  800.  Hod«  u.  Neb«nhode.  Sporraa  a.  SpermfttocoöD.      757 

angeborener  completer  Airetia  vof/inae,  durch  die  Harnröhre,  welche  bei  der 
ärztlichen  Untersnchnng  der  Geschlechtstheile  den  Zeigefinger  leicht  in  die  Blasen- 
höhle gelangen  Hess,  oftmals  begattet  wnrde. 


B.  Geschlechtswerkzeuge. 

§.  299.  Eintheilung  der  öeschleclitswerkzeuge. 

Die  Geschlechts-  oder  Zeugungs-Organe,  Organa  sexualia 
5.  genitalia,  bestehen  aus  denselben  Abtheilungen,  wie  die  Harn- 
werkzeuge. Eine  doppelte,  den  ZeugungsstofF  secernirende  Drüse 
mit  ihrem  Ausführungsgange,  ein  Behälter  zur  Aufbewahrung  und 
Reifung  desselben,  und  ein  Ausführungsgang  dieses  Behälters,  sind 
ihre  wesentlichen  Bestandtheile.  Ihre  Bestimmung  zielt  nicht,  wie 
die  aller  übrigen  Eingeweide,  auf  die  Erhaltung  des  Individuums, 
sondern  auf  die  Fortpflanzung  seiner  Art  hin.  Ihre  Eintheilung  in 
äussere,  mittlere,  und  innere,  lässt  sich  nicht  auf  beide  Geschlechter 
anwenden,  da  die  den  inneren  weiblichen  Genitalien  entsprechenden 
männlichen,  ausserhalb  der  Bauchhöhle  liegen.  Besser  ist  die  Ein- 
theilung in  eigentliche  Zeugungs-  und  Begattungsorgane.  Die 
Zeugungsorgane  bereiten  die  Zeugungsstoffe,  die  Begattungsorgane 
vermitteln  die  durch  die  geschlechtliche  Vereinigung  zu  Stande 
kommende  Befruchtung.  Zeugungsorgane  sind  im  männlichen  Ge- 
schlechte: die  Hoden,  die  Samenleiter  und  die  Samenbläschen;  — 
im  Weibe:  die  Eierstöcke,  die  Eileiter,  und  die  Gebärmutter;  Be- 
gattungsorgane im  Manne:  das  Zeugungsglied;  —  im  Weibe:  die 
Scheide  und  die  äusseren  Geschlechtstheile. 


I.  ]VEännliche  G^eschlechteorgane. 

§.  300.  Hode  und  Nebenhode.  Sperma  und  Spermatozoen. 

Die  Hoden,  als  Zeichen  und  Zeugen  der  Mannheit,  heissen 
Testes,  und  als  relativ  kleine  Organe,  auch  Testvcidi;  bei  den  Griechen 
8{$'j|jioi,  d.  i.  Zwillinge,  auch  ol  5px£i?;  —  Poma  amoris  bei  Riolan, 
altdeutsch:  Gailen  und  Geilen  (noch  in  den  Worten  Geilheit 
für  lascivitas,  und  Bibergeil  erhalten).  Sie  sind  als  Secretions- 
organe  des  männlichen  befruchtenden  IZeugungsstoffes,  das  Wesent- 
liche am  männlichen  Generationssystem,  und  bedingen  allein  den 
Geschlechtscharakter  des  Mannes.  Castraten  und  verschnittene 
Thiere    dienen    als    Zeugen,    dass    der  Verlust    dieser    Organe    das 


758  §.  800.  Hode  and  Nebenhode.  Sperma  und  8p«nBfttozo«n. 

Zeugungsvermögen   vernichtet,   und   die  übrigen  Attribute  des  Ge- 
schlechtes nutzlos  werden,  oder  schwinden. 

Die  Hoden  hängen  an  ihren  Samensträngen,  und  liegen  im 
Grunde  des  Hodensackes  so  neben  einander,  dass  der  rechte  meistens 
eine  etwas  höhere  Lage  als  der  linke  einnimmt.  Jeder  Hode  be- 
steht aus  dem  eigentlichen  Hoden  (lestis),  und  dem  Nebenhoden 
(Epididymis  8.  Parastata  varicosa).  Ohne  auf  die  in  den  folgenden 
Paragraphen  zu  betrachtenden  Hüllen  dieser  beiden  Organe  Rück- 
sicht zu  nehmen,  befassen  wir  uns  hier  blos  mit  der  Kenntniss- 
nahme  ihres  Baues. 

a)  Der  Hode  hat  eine  eiförmige,  etwas  flachgedrückte  Gestalt, 
mit  einer  äusseren  und  inneren  Fläche,  einem  vorderen  und  hinteren 
Rande,  einem  oberen  und  unteren  Ende.  Er  liegt  nicht  ganz  senk- 
recht, indem  sein  oberes  Ende  etwas  nach  vorn  und  aussen,  sein 
unteres  nach  hinten  und  innen,  sein  vorderer  Rand  etwas  nach 
unten,  und  sein  hinterer  nach  oben  gewendet  ist. 

b)  Der  Nebenhode  schliesst  sich  als  ein  länglicher,  spangen- 
förmiger  Körper  an  den  hinteren  Rand  des  Hoden  an.  Sein  dickes 
oberes  Ende  heisst  Kopf,  sein  unteres  dünneres  und  in  den  Samen- 
leiter (Vas  deferens)  sich  fortsetzendes  Ende  Schweif. 

Das  weiche  Parenchym  des  Hoden  wird  von  einer  fibrösen 
Haut  umschlossen,  Tunica  alhuginea,  welche  von  ihrer  inneren  Ober- 
fläche eine  Menge  sehr  zarter  bindegewebiger  Scheidewände  (Septula 
testis)  aussendet,  um  den  Hodenraum  in  kleinere  Fächer  abzutheilen. 
Gegen  die  Mitte  des  hinteren  Randes  des  Hoden,  strahlt  ein  ganzes 
Bündel  solcher  Scheidewände  von  einem  niedrigen,  und  sechs  bis 
acht  Linien  langen,  keilförmigen  Fortsatz  der  Albuginea  aus,  welcher 
Corpus  Highmori  s,  Mediastinum  testis  genannt  wird.  Die  Scheide- 
wände theilen  das  Hodenparenchym  in  sehr  viele  Läppchen  (man 
spricht  von  zwei-  bis  vierhundert),  deren  jedes  ein  Convolut  von 
zwei  bis  fiinf  samenabsondernden  Röhrchen,  Tubuli  semintferi,  ent- 
hält. Der  Hode  repräsentirt  somit  jene  Drüsenform,  w^che  ich 
Glandula  tubulosa  composita  genannt  habe  (§.  90).  —  Die  Wand  der 
Tubuli  seminiferi  besteht  aus  einer  structurlosen  Membran,  mit 
bindegewebiger  Umhüllung.  Die  Tubuli  haben  einen  Durchmesser 
von  circa  0,05  Linien,  und  sind  zu  Knäueln  zusammengeballt,  deren 
breitere  Basis  gegen  die  Flächen  des  Hoden,  deren  Spitze  gegen  das 
Corpus  Highmori  sieht.  Ihr  Inneres  fiihrt  Zellen.  Die  der  Wand 
nächst  gelegenen  polygonalen  Zellen  sind  Epithel;  —  die  der  Ge- 
fässaxe  näheren,  rundlichen,  sind  Secretionszellen,  d.  h.  Erzeugungs- 
stätten der  wirksamen  Bestandtheile  des  Samens.  —  Die  aus  einem 
Läppchen  herauskommenden  Samenkanälchen  treten  in  das  Corpus 
Highmori  ein,  und  bilden  daselbst  durch  Anastomosen  mit  den  übrigen, 
das  Rete  Halleri,  aus  welchem  zwölf  bis  neunzehn  geradlinige    und 


§.800.  Hode  nnd  Nebenhodc.  Sperma  nnd  8pennfttozo§n.  759 

stärkere  Ductuli  efferentes  hervorgehen,  welche  die  Albuginea  durch- 
bohren, und  sich  neuerdings  in  zahlreiche  und  dicht  gedrängte  Win- 
dungen legen,  welche  kleine  kegelförmige  Läppchen  bilden.  Diese 
Läppchen  kehren  ihre  Spitze  gegen  den  Hoden,  ihre  Basis  gegen 
den  Kopf  des  Nebenhoden.  Der  Kopf  des  Nebenhoden  ist,  genau 
genommen,  nichts  Anderes,  als  die  Summe  aller  dieser  Läppchen, 
welche,  ihrer  umgekehrt  kegelförmigen  Gestalt  wegen.  Com  vasca- 
lod  HcUleri  genannt  werden.  Durch  den  Zusammenfluss  aller  Cwii 
Hallen  entsteht  ein  einfaches  Samengeföss,  welches  eine  Unzahl 
von  sehr  regelmässigen,  dicht  an  einander  liegenden  Krümmungen 
erzeugt.  Eine,  mit  organischen  Muskelfasern  reichlich  dotirte  Binde- 
gewebshaut  hält  diese  Krümmungen  zusammen,  und  vereinigt  sie 
so  zur  Wesenheit  des  Nebenhoden.  —  Das  einfache,  in  zahllose 
Windungen  und  Krümmungen  verschlungene  Samengefäss  des  Neben- 
hoden, nimmt  gegen  die  Cauda  hin  an  Dicke  zu,  und  geht  mit 
successiver  Abnahme  seiner  Schlängelungen,  am  unteren  Ende  des 
Nebenhoden  in  den  geradlinig  aufsteigenden  Samenleiter  (Vas 
deferens)  über.  Das  Vas  deferens  wird  auch,  seiner  vom  Hoden 
gegen  den  Bauch  gehenden  Richtung  wegen,  zurücklaufendes 
Samengefäss  genannt.  Es  steigt  im  Samenstrange,  in  welchem 
es,  seiner  Härte  wegen,  leicht  gefühlt  werden  kann,  gegen  den 
Leistenkanal  auf,  dringt  durch  diesen  in  die  Bauchhöhle,  biegt  sich, 
die  Arteria  epigastrica  infenar  kreuzend,  zur  hinteren  Wand  der 
Harnblase  herab,  und  läuft  nun,  mit  dem  der  anderen  Seite  con- 
vcrgirend,  zum  Blasengrund,  wo  es  an  der  inneren  Seite  seines 
zugehörigen  Samenbläschens  (§.  304)  anliegt,  und  nachdem  es  den 
Ausführungsgang  des  letzteren  aufgenommen  hat,  als  Ductvs  eja- 
cidatoinus  am  Caput  gallinaginis  der  Pars  prostatica  urethrae,  wie 
früher  gesagt  (§.  298),  ausmündet. 

Selten  sind  beide  Hoden  gleich  gross;  die  Vergrösserung  betrifft 
gewöhnlich  den  linken  Hoden,  welcher  auch  meist  tiefer  hängt  als 
der  rechte.  Würden  beide  Hoden  gleich  hoch  aufgehangen  sein, 
so  wäre  es  besonders  bei  relaxirten  Hodensäcken  unvermeidlich, 
dass  sich  die  Hoden  beim  Sprung  und  Lauf  an  einander  stiessen, 
was  für  so  delicate  Organe  nicht  ganz  gleichgiltig  wäre. 

Partielle  Anschwellungen  des  Nebenhoden,  oder  Cysten  im  Samenstrange, 
haben  die  älteren  Berichte  (Varol,  Borelli,  Graaf)  von  Männern  mit  drei, 
vier,  ja  selbst  fünf  Hoden,  veranlasst.  Fernel  erwähnt  eine  Familie,  deren 
sämmtliche  männliche  Sprossen  drei  Moden  hatten.  Cryptorchiamus  nnd  Moncr- 
ckümiiis,  d.  i.  Verbleiben  beider  oder  eines  Hoden  in  der  Bauchhöhle,  sind  Ent- 
wicklungshemmungen; wahrer  Defect  der  Hoden  (AnorchüviWfJ  wurde  nur  bei 
Missgeburten  gesehen. 

In  den  TubiUi  tternmiferi  des  Hodenparenchymn  finden  sich,  wie  im  Text 
gesagt,  Zellen.  Die  der  Wand  der  Tubuli  zunächst  anliegenden  Zellen,  welche 
als  ein  Epithel  angesprochen  werden  können,  sollen,  nach  Sertoli,  sich  durch 


760  6'  800.  Hode  und  Nebenhode.  Spema  und  SpermatozoSn. 

fadenfönnige  Anslfinfer  netzförmig  nnter  einander  verbinden,  nach  Merkel  aber 
darch  anastomosirende  platte  Fortsätze  ein  vielfach  durchbrochenes  Gerüste  dar- 
stellen, in  dessen  communicirenden  Lücken,  die  eigentlichen  Samenzellen  ent- 
halten sind.  Letztere  sind  die  Erzengungsstätten  der  die  befruchtende  Wirkung 
des  Samens  vermittelnden  Spermatozoon  (§.  304). 

Der    Same    (Spenna,    orspfjia.    Alles,    woraus    etwas    entstellt), 
welcher  bei  der  Begattung   entleert  wird,    stammt   aus  den  Samen - 
bläschen,   wo    er    die   zur   Befruchtung   nothwendige   Reife  erhalten 
hat.     Seine  chemische  Zusammensetzung  ist  bis  jetzt  für  die  Physio- 
logie   der    Zeugung    weit    weniger    belehrend    gewesen ,     als    seine 
scheinbar  lebendigen  Inwohner  —  die  Samenthierchen,  Samen- 
fäden, Spei^nuUozoa,  von  (Jem  Leydner  Studiosus  Ludwig  v.  Ilam- 
men,  1677  entdeckt.     Ueber   ihre    Thiernatur    wurde   seit  Langem 
verneinend  entschieden.  Sie  bedingen  die  Zeugungskraft  des  Sperma, 
welche  mit  ihrem  Fehlen  verloren  geht.  Schon  Prevost  hat  gezeigt, 
dass  der  Froschsame  seine  befruchtende  Eigenschaft  verliert,  wenn 
seine  Spermatozoen    abfiltriii;   werden.     Die    Spermatozoon  bestehen 
aus  einem  dickeren  Kopfende,    und  einem  fadenförmigen   Schwanz. 
Sie   zeigen    keine   Spur  von    innerer   Organisation,    aber   eine    sehr 
lebhafte,    scheinbar   willkürliche    Bewegung.     Die  Anatomie  erklärt 
sie  für  einhaarige   Flimmerzellen,    deren    Protoplasma  aber  um  den 
Kern  herum  geschwunden  ist.  Der  Kern  ist  der  Kopf  des  Sperma- 
tozoon. An  der  Basis  des  als  Schweif  bezeichneten  langen  FHmmer- 
haares    findet   man    öfters   noch   Reste    des  Protoplasmas  anhängen. 
Henle    mass   die   Schnelligkeit    ihrer   Bewegungen,    und    fand    sie 
=   1  Zoll  in  7'/.2  Minuten.     Kölliker  hat  gezeigt  (die  Bildung  der 
Samenfaden  in  Bläschen.   Neuenburg,    1846),    dass   die  Samenfäden 
in  den    Zellen    der   Samenkanälchen    (Samenzellen)   dcis  Hoden  ent- 
stehen.    Jede   Samenzelle    bildet   nur   einen  Samenfaden.   —    Ueber 
die    Spermatozoen     aller     Thierclassen     handelt    La    Vallette,    in 
Stricker's    Histologie,    (.^ap.    XXIV.    —    Ausser   den    Samenfaden 
finden  sich    in    der   entleerten    Samenfiüssigkeit   1.  noch  Elementar- 
körnchen, und  2.  crystallinische  (iebilde  (Rhomboeder  von  phosphor- 
saurem  Kalk),    welche    sich    aber    erst   während  der  Untersuchung 
des  Samens  auf  dem  Objectträger,    durch   Verdunsten    des  Wasser- 
gehaltes, bilden. 

Am  Kopfe  des  Nebenhoden  kommt  häutig  ein  kleines,  ge9tielte^«,  hirne-  bis 
hanfkorngrosses  Bläschen  vor,  welches  klare  Flüssigkeit  mit  Zellen  und  Zellen- 
kemen  enthält,  und  dessen  solider  Stiel  sich  bis  in  das  Bindegewebe  des  Samen - 
:<tranges  verfolgen  lässt.  —  Fast  constant  ist  <nn  zweite?«  bläschenförmiges,  abt*r 
nicht  gestieltes  Gebilde  am  Kopf  des  Nebenhoden,  dessen  Höhle  entweder  für 
sich  abgeschlossen  ist,  oder  mit  dem  Samenkanal  des  Nebenhoden  in  offener 
Verbindung  steht.  Im  letzteren  Falle  enthält  die  Höhle  des  Bläschens  Sperma- 
tozoi*n.  Man  hat  dieses  (iebilde  auch  ohne  Höhlung  angetroffen.  Ohne  Zweifel 
repräsentirt  es  ein  Ueberbleibsel  eines  Kanälchens  des  Wolffschen  Körper« 
(§.  :^29).     Beide    Formen    sind    schon    lange    bekannt,    und    führen    den    Namen: 


|.  800.  Rode  und  Nebenhode.  Sperma  and  Spennfttoso^ii.  761 

HydaU»  Morgttgnif  nicht  die  kleinste  Entdecknng  des  grossen  anatomischen  Lehrers 
in  dem  altbertthmten  Padoa,  im  Yorigen  Jahrhundert,  welcher  in  seinen  Adver- 
tariU  anaiomieia  nns  einen  Schatz  von  neuen  Fanden  in  der  feineren  Anatomie 
hinterlassen  hat  Ausführliches  über  diese  Hydatide,  so  wie  über  andere  Accesso- 
rien  der  Tunica  vaginalis  propriOf  giebt  Luschka  in  Virchow^a  Archiv,  1863, 
unter  dem  Titel:  Die  Appendiculargebilde  des  menschlichen  Hoden.  Nach  FleischTs 
Untersuchungen  (Med.  Centralblatt,  1871)  stellt  die  nngestielte  Morgagni*tohe 
Hydatide,  ein  solides  Körperchen  dar,  dessen  Stroma  ein  zartes,  gefässreiohes, 
kemführendes  Bindegewebe  ist.  Rings  um  die  Basis  dieses  Körperchens  hört  das 
Pflasterepithel  der  die  äussere  Fläche  des  Nebenhoden  überziehenden  Tunica 
vaginalia  propria  mit  einem  scharfen  Rand  auf,  und  wird  zu  Flimraerepithel, 
welches  (wie  am  Ovarium)  schlauchartige  blinde  Fortsätze  in  das  Stroma  absendet. 
Fleischl  adoptirte  deshalb  für  diese  Form  der  Mo rgagn loschen  Hydatide,  den 
Namen:  Ovarium  masculinum. 

Zwischen  dem  Kopf  des  Nebenhoden  und  dem  Vas  deferen»  entdeckte 
Giraldös  (Bulletin  de  la  #Soc.  anal,  1857, pag.  789)  noch  ein  anderes  accessorisches 
Organ.  Es  besteht  aus  einer  TerHnderlichen  Anzahl  platter  weisslicher  Körper,  von 
zwei  bis  drei  Linien  Durchmesser,  deren  jeder  einen  Knäuel  eines,  an  beiden 
Enden  blinden  Kanälchens  darstellt  Girald^s  nannte  seinen  Fund:  Corps  in- 
ncmind  (Parepididymia,  He  nie).  Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  ist  auch  dieses 
Organ  ein  verkümmerter  Ueberrest  des  Wolf  fachen  Körpers. 

An  dem  mit  Quecksilber  injicirten  Samenkanal  des  Nebenhoden,  zeig^  sich 
häufig  ein  AnhängHel  von  gleicher  Stnictur,  und  eben  so  gewunden,  als  Vasculum 
aberrans  Halleri.  Seine  Krümmungen  bilden  entweder  ein  langes,  selbstständiges, 
am  Rande  der  Epididymis  sich  hinziehendes  Läppchen,  oder  es  steigt  nur  wenig 
geschlängelt  im  Samenstrange  auf,  um  blind  zu  endigen.  Letztere  Form  wird  von 
Haller,  Sömmerring,  und  Huschke,  allein  erwähnt.  Wenn  es  am  Neben- 
hoden anliegt,  endigt  ef«  nicht  immer  blind,  sondern  mündet  öfters  in  den  Samen- 
kanal desselben  wieder  ein.  Ein  mit  dem  Ko«  defe.rens  aufsteigendes  und  blind 
endigendes  Vascufum  afterrawf,  erinnert  an  die  auch  an  anderen  Drüsengängen 
zufällig  vorkommenden  Diverticula,  welche  die  Eigenschaften  des  normalen  Aus- 
führungsganges besitzen,  und  deshalb  am  Vas  deferens  sich  durch  Länge  und  ge- 
wundenen Verlauf  auszeichnen  müssen. 

Die  Frage,  wie  die  feinsten  Tubuli  »emimferi  entspringen,  kann  ich  nach 
den  vollkommensten  Injection^n  derselben,  welche  ich  anfertigte,  dahin  beant- 
worten, dass  ihr  Ende  nie  blind  ist,  sondern  immer  mit  den  Enden  zweier  benach- 
barter Samengefässchen  durch  Schlingen  zusammenhängt.  Solche  Endschlingen 
werden  nicht  blos  zwischen  den  Samengeflisschen  Eines  Läppchens,  sondern  auch 
in  angrenzende  Läppchen  hinüber  gebildet. 

Könnte  man  sämmtliche  Tubuli  seniiniferi  herausnelimen,  ihre  zahllosen 
Krümmungen  ausgleichen,  und  sie  in  gerader  Linie  an  einander  stückeln,  so  er- 
hielte man  ein  Samengefäss  von  circa  tOöO  Fuss  (Krause),  nach  Monro  sogar 
von  5208  Fuss  Länge.  Was  an  den  Speicheldrüsen  durch  wiederholte  Spaltungen 
der  Ausführungsgänge  an  Grösse  der  absondernden  Fläche  gewonnen  wurde,  wird 
also  in  den  Hoden  durch  die  Länge  der  Samenwege  erreicht 

Die  Wand  des  Vas  deferens  besteht  aus  einer  inneren  Schleimhaut  mit 
Cylinderepithel,  einer  darauf  folgenden,  relativ  dicken  Schichte  organischer  Längs- 
und Kreismuskelfasem,  und  einer  äusseren  Bindegewebshaut  Im  Nebenhoden 
finden  sich  dieselben  Elemente  in  den  W^andungen  seines  vielfach  gewundenen 
Samenganges,  mit  dem  bemerkenswerthen  Unterschiede,  dass  in  jenem  Theile  des 
Vas  deferens,  welcher  den  Kopf  des  Nebenhoden  bildet,  so  wie  in  den  Ooni 
vasculosi  Halleri,  und  in  den  Thtctuli  efferenles  des  Rete  lesUs  kein  Cylinderepithel, 
sondern  Flimmerepithel  vorkommt,  dessen   Flimmerbeweg^ng  vom    Hoden  gegen 


762  §•  301.  Verh&Uniss  des  Hodon  7.am  PeritoneuiD.  Tunten  vaginalis  proprio  tejilis. 

da»  Vaa  defereiui  f^erirlitet  ist.  —  Je  näher  dan  Vru  deferetiM  den  Samenbläschen 
kommt,  desto  zahlreicher  treten  in  seiner  Schleimhaut  niedere,  sich  zu  eckigen 
Maschen  gnippirende,  faltige  Erhebungen,  und  acinöse  Drüschen  auf.  —  lieber 
den  Bau  der  Samenkanälchen  im  Hoden  handeln  Ebneres  Untersuchungen,  Leip- 
zig, 1871,  und  Merkel   im  Archiv  für  Anat  1871  (Stützzellen). 

Die  Arterien  des  Hoden  sind  die  Arteria  spemuUica  interna,  und  die  Arteria 
vasia  deferenÜ»  Cooperi.  Erstere  stammt  ans  der  Bauchaorta,  letztere  aus  einer 
Arterie  der  Harnblase.  Beide  anastomosiren  mit  einander,  bevor  sie  am  Corpus 
Highmori  die  Albng^ea  durchbohren,  um  Capillarnetze  zu  bilden,  welche  aber 
nicht  jedes  einzelne  Samenkanälchen,  sondern  Gruppen  melirerer  umspinnen.  Die 
Venen  des  Hoden  bilden  im  Samenstrang,  bis  zum  Leistenkanal  hinauf,  ein 
mächtiges  Geflecht  fPleoetu  pampini/ormisj,  dessen  krankhafte  Ausdehnung  die 
Varicocde  erzeugt.  Erst  im  Leistenkanal,  oder  an  der  Bauchöffnung  desselben, 
vereinfacht  sich  dieses  Geflecht  zur  einfachen  oder  doppelten  V'ena  spemiatica 
interna.  Es  darf  nicht  wandern,  dass  die  Arterien  und  Venen  des  Hoden  aus 
den  gössen  Gelassen  der  Bauchhöhle  stammen,  da  der  Hode  sich  nicht  im  Hoden- 
sacke, sondern  in  der  Bauchhöhle  des  Embryo  bildet,  und  somit  seine  Blutgefässe 
aus  den  nächstgelegenen  Stämmen  des  Unterleibes  (Aivrta  und  Vena  cava  aacen- 
dena)  bezieht  —  Die  im  Samenstrang^  aufsteigenden  Ljmphgefässe  des  Hoden 
münden  in  die  Lymphdrüsen  der  Lendengegend.  Sie  passiren  somit  den  Leisten - 
kanal,  während  die  Saugadem  der  Scrotalhaut  und  der  Scheidengebilde  des 
Samenstranges,  sich  zu  den  Leistendrüsen  begeben.  Es  lässt  sich  demnach  aus 
den  Anschwellungen  dieser  oder  jener  Drüsengruppe  entnehmen,  ob  z.  B.  ein 
Krebsgeschwür  am  Hodensack,  schon  in  das  Parenchym  des  Hoden  selbHt  eingreift 
oder  nicht.  Die  Lymphgefasse  des  Hoden,  sollen  nach  Ludwig  und  Tomsa, 
ans  weiten,  zwischen  den  Tiihnli  apermatophori  befindlichen  wandlosen  Lymph- 
ränmen  CLacunae)  hervorgehen,  welchen  Frey  und  His  einen  Epithelialbeleg 
zusprechen,  wie  er  in  den  Lymphgefässen  überhaupt  vorkommt.  —  Die  Nerven 
der  Hoden  entspringen  theils  aus  dem  sympathischen  Plexiut  »peinaatiaia  internuM^ 
welcher  die  Arteria  ftpermaUca  interna  umstrickt,  theils  aus  den  Spinalnerven 
(Lendengeflecht)  als  Nervi  apermntici  extemi.  Erstere  sind  für  das  Parenchym 
des  Hoden  und  Nebenhoden,  letztere  vorzugsweise  fflr  die  Hüllen  de»  Samen- 
stranges bestimmt.  Nach  Letzerich  endigen  die  Axencylinder  der  Primitiv- 
fasern in  der  Wand  der  Samenkanälchen,  und  zwar  zwischen  der  structurlosen 
Membran  und  dem   Epithel,  mit  knopffÖrmigen  Anschwellungen. 


§.  301.  Verhältniss  des  Hoden  zum  Peritoneum.  7\uuca 

vaginalis  propria  testis. 

Wenn  man  auf  die  (lenesis  des  Hoden  zurückblickt,  lernt  man 
die  Bildung  der  besonderen  Scheidenhaut,  Tunica  rafjiuah's 
proprui  testis  verstehen,  welche  zwei  Ballen  bildet,  deren  innerer 
mit  der  äusseren  Oberfläche  der  Albuginea  testis  fest  verwachsen 
ist,  und  deren  äusserer  den  Hoden  nur  lax  umgiebt,  ohne  irgend- 
wo mit  ihm  verwachsen  zu  sein.  Der  Hode  entwickelt  sich  in 
den  Erstlingsperioden  des  Fötuslebens,  in  der  Bauchhöhle,  an  der 
unteren  Fläche  eines  drüsigen  Organs,  welches  zu  beiden  Seiten 
der  Wirbelsäule  liegt,  in  der  Entwicklungsgeschichte  als  Wol  ff  scher 
Körper  bekannt  ist,  und  in  demselben  Maasse  schwindet,  als  Hode 


§.  SOt.  Verh&ItniM  des  Hoden  zam  Peritoneam.  Tnniea  vaginalit  proprio  Utii».  763 

und  Niere  sich  ausbilden.  Das  Bauchfell  bildet,  von  der  Lende 
her,  eine  Einstülpung,  um  den  embryonischen  Hoden  zu  über- 
ziehen, —  das  Mesorchtum  (Seiler).  Das  Vas  deferens  und  die  Blut- 
gefässe senken  sich  in  die  hintere  Wand  des  Hoden  ein,  welche 
nicht  vom  Peritoneum  überzogen  wird,  und  liegen  somit  extra  cavum 
peritonei.  Das  Mesorchium  reicht  bis  zur  Bauchöffnung  des  Leisten- 
kanals als  Falte  herab,  und  schliesst  einen  wahrscheinlich  contractilen 
Strang  ein,  welcher  vom  Hodensack  durch  den  Leistenkanal  in  die 
Bauchhöhle  und  bis  zum  Hoden  hinaufgeht,  mit  welchem  er  ver- 
wächst. Denkt  man  nun,  dass  dieser  Strang  sich  allmälig  verkürzt, 
so  leitet  er  den  Hoden  gegen  den  Leistenkanal,  und,  durch  diesen 
hindurch,  in  den  Hodensack  herab.  Er  heisst  darum  Leitband  des 
Hoden,  Guberyuumlum  Hunteri.  Da  der  Hode  fest  mit  dem  Bauch- 
felle verwachsen  ist,  so  muss  dieses,  als  beutelfiirmige  Ausstülpung 
(Processus  vaginalis  peritonei)  dem  herabsteigenden  Hoden  folgen. 
Es  wird  in  diesem  Stadium  des  Herabsteigens  des  Hoden  möglich 
sein,  von  der  Bauchhöhle  aus  mit  einer  Sonde  in  den  offenen 
Leistenkanal  einzudringen,  da  dieser  von  dem  mit  dem  Hoden 
herausgeschlcppten  beuteiförmigen  Peritonealfortsatz  ausgekleidet 
wird.  Die  Blutgefässe  und  das  Vas  deferens  werden,  da  sie  ursprüng- 
lich extra  cavum  peritonei  lagen,  nicht  in  der  Höhle  dieses  Beutels 
liegen  können.  Nach  der  Geburt  verwächst  er,  von  der  Bauch- 
öffnung des  Leistenkanals  an  gegen  den  Hoden  herab.  Die  Ver- 
wachsung hört  aber  dicht  über  dem  Hoden  auf,  und  dieser  muss 
somit  in  einem  serösen  Doppelsack  Hegen,  dessen  innerer  Ballen 
mit  seiner  Tunica  albuginea  schon  in  der  Bauchhöhle  verwachsen 
war,  dessen  äusserer  Ballen  sich  erst  durch  das  Nachziehen  des 
Peritoneum,  während  des  Descensus  testicvli  durch  den  Leistenkanal^ 
bildete.  Beide  Ballen  kehren  sich  ihre  glatten  Flächen  zu,  und 
fassen  einen  Raum  zwischen  sich,  welcher,  so  lange  der  Pro- 
cessus vaginalis  peritonei  nicht  zugewachsen  und  geschlossen  ist, 
mit  der  Bauchhöhle  communicirt.  In  diesem  Räume,  welcher  nur 
wenig  Tropfen  gelblichen  Serums  enthält,  entwickelt  sich  durch 
Uebermaass  seröser  Absonderung,  der  sogenannte  Wasserbruch 
—  Hydrocele, 

Schlitzt  man  den  äusseren  Ballen  der  Tunica  vaginalia  proprio  auf,  und 
drückt  man  den  Hoden  heraus,  so  sieht  man,  dass  auch  der  Nebenhode  einen, 
wenn  auch  nicht  ganz  vollständigen  Ueberzug  von  dieser  Haut  erhält.  Während 
die  Tunica  vaginalis  propria  vom  Nebenhoden  auf  den  Hoden  übersetzt,  schiebt 
sie  sich  beutelförmig  zwischen  die  Contactflächen  beider  Organe  hinein,  und  er- 
zeugt dadurch  eine  blinde  Bucht,  deren  Eingangsöffnung  nur  dem  mittleren  Theile 
des  Nebenhoden  entspricht.  Die  halbmondförmigen  Ränder  dieser  Oeffhung  bilden 
die  sogenannten  Ligamenta  epididi/miditt.  Die  SteUe  der  Albuginea  Ustui,  wo  die 
Samengefässe  aus-  und  eingehen,  wird,  da  sie  schon  beim  Embiyo  vom  Perito- 
neum unbedeckt  war,  auch  im  Erwachsenen  t««  <*•»  '■  — «-wt!«»  nromia 
nicht  tiberzogen  sein  können.  —  ISiii  Aa«^ 


764  S>  SO'*  SaneDstran^  and  dessen  Hflllen. 

Embryo,  findet  flieh  auch  bei  weiblichen  Embryonen,  indem  das  Peritoneum  hei 
letzteren  gleichfalls  eine  Strecke  weit  sich  in  den  Leistenkanal  als  blind  abge- 
schlossener Fortsatz  längs  des  runden  Mutterbandes  aussackt.  Dieser  Fortsatz  ist 
das  Dioertiailum  Nuchii,  welches  ausnahmsweise  auch  im  erwachsenen  Weibe 
offen  bleiben  kann.  Sollte  der  Processus  vaginalis  periUmei  bei  Embryonen  männ- 
lichen Geschlechts,  nicht  verwachsen,  so  können  sich  Baucheingeweide  in  seine 
Höhle  Yorlagem,  und  den  sogenannten  angeborenen  Leistenbruch  bilden, 
welcher  sich  von  dem  nach  vollendeter  Verwachsung  des  Processus  entstandenen 
sogenannten  erworbenen  Leistenbruch  dadurch  unterscheidet,  dass  er  keinen 
besonderen  Bruchsack  hat,  wenn  man  nicht  den  offenen  Processus  periUmei  selbst 
dafür  ansehen  will,  und  dass  das  vorgefallene  Eingeweide  mit  dem  Hoden  selbst 
in  unmittelbare  Berührung  kommt.  —  Ein  dünner  Bindegewebsfadcn  im  Samen- 
strang ist  Alles,  was  vom  eingegangenen  und  verödeten  Processus  vaginalis  peri- 
Umei im  Erwachsenen  erübrigt  Haller  nannte  ihn  Ruinae  processtis  vaginalis. 
Ich  will  ihn  Ligula  nennen.  Zieht  man  an  ihm,  so  wird  jene  Stelle  des  Peri- 
toneum, welche  die  Bauchöffnung  des  Leistenkanals  deckt,  und  von  welcher  aus 
der  Processus  vaginalis  zuerst  sich  zu  schliessen  begann,  trichterförmig  in  den 
Leistenkanal  hineingezogen. 


§.  302.  Samenstrang  und  dessen  Hüllen. 

Durch  den  Samenstrang,  Punicultis  spermaticus,  wird  der 
Hode  im  Hodensack  suspendirt.  Er  enthält  alles  was  zum  Hoden 
geht  und  vom  Hoden  kommt,  und  stellt  somit  ein  Bündel  von  Ge- 
ßissen  und  Nerven  dar,  welche  durch  lockeres  Bindegewebe  zu- 
sammengehalten werden,  und  überdies  durch  besondere  Scheiden- 
bildungen die  Form  eines  Stranges  annehmen.  Die  Scheide,  welche 
zunächst  die  Elemente  des  Samenstranges  umhüllt,  führt  den  Namen 
der  Tnnica  vaginalis  communis,  da  sie  den  Samenstrang  und  den 
Hoden  gleichmässig  umftlngt.  Wir  betrachten  sie  als  eine  Fort- 
setzung der  Fa^cia  transversa  abdomtnis,  welche  den  durch  den 
Leistenkanal  heraustretenden  Samenstrang  trichterförmig  umschliesst, 
und  daher  auch  Fascia  infundibuUformis  heisst.  Sie  bildet  keine 
Höhle,  d.  h.  ihre  innere  Oberfläche  ist  nicht  frei,  indem  sie  am 
Samenstrange  mit  dem  Bindegewebe  um  die  Gefasse  herum,  am 
Hoden  aber  mit  dem  äusseren  Italien  der  Tunica  vaginalis  propria 
verwächst.  Ihre  äussere  Fläche  wird  von  den  schlingenformigen 
Bündeln  des  vom  inneren  schiefen  und  queren  Bauchmuskel  ab- 
geleiteten Crema^ter  (Hebemuskel  des  Hoden)  bedeckt,  worauf  nach 
aussen  noch  eine  feine,  fibröse  Membran  folgt,  welche  von  den 
Rändern  der  äusseren  Oeffnung  des  Leistenkanals  sich  über  den 
Samenstrang  hin  verlängert,  und  als  Fascia  Cooperi  in  der  chirur- 
gischen Anatomie  bekannt  ist. 

Verfolgt  man  den  Samenstrang  nach  aufwärt«  durch  den  Leistenkanal  in 
die  Bauchhöhle,  ho  tindet  man  ihn,  von  der  Knsseren  Oeffnung  de»  Leistenkanaln 
an,  immer  dttnner  werden.  Er  verliert  Kuerst  die  Fascia  Cooperi  (an  der  äusseren 


§.  303.  Hodentfftck  und  Timiea  tlarto».  765 

Oeffiiung  des  Leiatenkanals),  hierauf  den  Cremaster  (im  Leistenkanal),  dann  die 
Tunica  vagmaUa  communis  (an  der  Banchöffhnng  des  Leistenkanals).  Nach  seinem 
Eintritt  in  die  Bauchhöhle  ist  er  durch  Verlust  seiner  Hüllen,  und  das  Ablenken 
des  VcL»  defertTi»  in  die  Beckenhöhle  hinab,  auf  ein  einfaches,  aus  der  Arteria, 
der  Vena  und  dem  Plexus  »permaUcus  mtemtia  bestehendes  Gefässbündel  reducirt, 
welches  hinter  dem  Bauchfelle  zur  Lendengegend  aufsteigt,  um  jene  grossen 
Blutgefässe  des  Bauches  zu  erreichen  (Aorta  und  Vena  cava  ascendenaj,  aus 
welchen  der  Hode  die  zur  Samenbereitung  nothwendigen  Gefässe  bezieht. 

Der  Samenstrang  besitzt,  ausser  den  zum  Hoden  gelangenden  Arterien 
(SpermaUca  inlema  und  Arteria  vaais  defererUis,  §.  800),  noch  eine  dritte  Schlag- 
ader, welche  blos  für  die  Scheidengebilde  des  Samenstranges  und  Hoden  bestimmt 
ist.  Sie  entspring^  als  Arteria  spermatica  externa  (auch  Arteria  cremaaterica  Cooperi 
genannt),  aus  der  Arteria  epigaatrica  inferior. 

Ein  interessantes  mikroskopisches  Vorkommen  an  der  gemeinschaftlichen 
Scheidenhaut,  bilden  die  von  Bektoriik  aufgefundenen,  kolbenförmigen  Excres- 
cenzen  auf  derselben,  welche  aus  Bindegewebs-  und  elastischen  Fasern  bestehen, 
und  in  Form  und  Bau  den  Pacch ionischen  Granulationen  der  Arachnoidea  ver- 
wandt sind  (Sitzungsberichte  der  kais.  Akad.  23.  Bd.). 


§.  303.  Hodensack  und  Tunica  dartos. 

Hode  und  Saraenstrang  liegen  in  einem,  durch  die  Haut  des 
Mittelfleisehes  und  der  Schamgegend  gebildeten  Beutel  —  dem 
Hodensack,  Scrotum  (Bursa  testium,  Marsupium,  auch  Scortum,  — 
bei  Aristoteles  cc/so;),  an  welchem  eine  mediane  Leiste  (Raphe) 
zwei  nicht  ganz  gleiche  Seitenhälften  unterscheiden  lässt.  Das 
dünne,  durchscheinende,  und  gebräunte  Integument  des  Hodensacks, 
faltet  sich  bei  zusammengezogenem  Scrotum  in  quere  Runzeln. 
Krause  und  kurze  Haare,  so  wie  zahlreiche  Talgdrüsen,  statten  das- 
selbe aus.  Unter  der  Haut,  und  mit  ihr  durch  fettloses  Binde- 
gewebe zusammenhängend,  liegt  die  sogenannte  Fleischhaut  des 
Hodensackes,  Tunica  dartos,  so  genannt,  weil  sie  sich  sehr  leicht 
abziehen  lässt  (ospo),  excorlo).  Sie  besteht  aus  Bündeln  glatter 
Muskelfasern,  deren  vorwaltend  longitudinale  Richtung,  während  ' 
ihrer  Contraction,  eben  die  queren  Runzeln  der  Hodensackhaut 
hervorruft.  Ihrer  röthlichen  Farbe  wegen,  führt  sie  bei  den  Alten 
den  Namen  Tunica  erythroides,  von  epjOpo;,  roth.  Sie  hängt  mit  der 
Fascia  superficialis  abdominis  et  perinei  zusammen.  Eine  der  Raphe 
entsprechende  Scheidewand,  Septum  scroti,  theilt  die  Höhle  der 
Dartos  in  zwei  Fächer,  in  welchen  die  Hoden  und  Samenstränge 
so  lose  eingesenkt  sind,  dass  sie  leicht  aus  den  Fächern  heraus- 
gezogen werden  können. 

Den  Namen  Bursa  und  Bursula  testium  führt  der  Hodensack  seit  Bau  hin 
(Theatrum  anal,  lib,  I.  cap.  17).  Da  die  gegerbten  Hodensäcke  der  Hausthiere 
die  ersten  Geldbeutel  Ufififirtea.  wird  bursa  auch  für  Geldsftckel  (Börse),  und 
s«lbiit   •  «cmtimnUJ,    Wohlthätige  Stiftungen 


766  I*  SOi.  Samenblisehen  und  AnssprilsQngtkanile. 

ZOT  Verpflegung  armer  Stndenten  hiessen  ebenfalls  burtMie,  woraus  Bursche 
(bursarituj  und  Burschenschaft  abssuleiten  ist.  Die  Franzosen  gebrauchen 
fturaa  nur  im  Plural  für  Hodensack:  le9  houraea.  Im  Altdeutschen  hiess  das 
Scrotum:  Gemächt  (von  machen,  t.  e.  erzeugen),  auch  Geschäft,  und 
Gromensack  (in  der  deutschen  Uebersetzung  des  Fabr.  Hildanus)  —  beim 
Hengst:  das  Geschröt,  von  schroten,  d.  1.  castriren. 

Die  Ungleichheit  der  beiden  Hodensackhälften  (indem  die  linke  meistens 
tiefer  herabreicht,  als  die  rechte),  lässt  sich  nicht  leicht  erklären.  Wäre  die 
Compression,  welche  die  Vena  spermaUca  vntema  aimatra  durch  die  CurtxUura 
aigmoidea  recU  erfährt  (Blandin),  der  Grund  einer  grösseren  Turgescenz  und 
somit  grösserer  Schwere  des  linken  Hoden,  so  müsste  bei  allen  Männern  der  linke 
Hode  tiefer  hängen,  als  der  rechte.  Allein  nach  Malgaigne^s  Beobachtungen 
an  65  Individuen,  war  dieses  nur  an  4H  der  Fall. 

Die  Baphe  ist  der  bleibende  Ausdruck  der  ursprünglichen  Bildung  des 
Hodensackes  aus  seitlichen  Hälften.  Kommt  es  nicht  zur  Verwachsung  der  beiden 
Hälften,  bleiben  zugleich  die  Hoden  in  der  Bauchhöhle,  und  ist  das  männliche 
Glied  klein,  so  wird  der  gespaltene  Hodensack  einer  weiblichen  Sohamspalte 
älmlich  sehen,  und  das  betreffende  Individuum  mit  scheinbar  weiblicher  Bildung 
der  äusseren  Genitalien,  dennoch  männlichen  Geschlechtes  sein  (Hermaphrodüis' 
mtia  apuriua). 


§.  304.  Samenbläschen  und  Ausspritzungskanäle. 

Die  Samenbläschen,  Vesicvlae  seminales,  liegen  am  Blasen- 
gründe  hinter  der  Prostata.  Sie  haben  die  Gestalt  von  anderthalb 
Zoll  langen  und  einen  halben  Zoll  breiten,  flachen  und  ovalen 
Blasen  mit  höckeriger  Oberfläche.  Sie  schliessen  aber  keine  einfache, 
sondern  eine  vielfach  gebuchtete  Höhle  ein,  welche  dadurch  zu 
Stande  kommt,  dass  jedes  Samenbläschen  eigentlich  ein  zwei  bis 
drei  Zoll  langer,  häutiger,  mit  kurzen  blinden  Seitenästen  besetzter 
Schlauch  ist,  welcher  nicht  ausgestreckt,  sondern  zusammengebogen 
am  Blasengrunde  liegt,  und  durch  das  ihn  umgebende,  mit  glatten 
Muskelfasern  reichlich  versehene  Bindegewebe,  zur  gewöhnlichen 
Form  eines  Samenbläschens  gebracht  wird.  Entfernt  man  dieses 
Bindegewebe,  so  kann  man  das  Samenbläschen,  bei  einiger  Vorsicht 
und  Geschicklichkeit,  als  Schlauch  entwickeln.  Besitzt  der  Schlauch 
die  oben  angegebene  Länge  nicht,  so  sind  dafür  seine  blinden 
Seitenäste  länger. 

Der  aus  dem  vorderen,  etwas  zugespitzten  Ende  eines  Samen- 
bläschens hervorkommende  Ausführungsgang,  mündet  in  das  Vds 
deferens  ein,  welches  jenseits  dieser  Einmündung :  Ausspritzungs- 
kanal, Ductus  ejaculatorius,  heisst.  Beide  Ductus  ejaculatorii  conver- 
giren  mit  einander.  Sie  gehen  zwischen  der  Prostata  und  der  hin- 
teren Wand  der  Pars  prostcUica  Urethren  zum  Caput  galltnaginis,  wo 
sie  mit  separaten  Oeffnungen,  zu  beiden  Seiten  der  Vesicula  pro- 
»taUca  ausmünden   (§.  298).  —  Samenbläschen   und  Ausspritzungs- 


§.  305.  Vorsteberdrftse.  767 

kanäle  besitzen  im  Wesentlichen  denselben  Bau,  wie  die  Enden  der 
Vcua  deferentia  (§.300),  aber  sie  führen  kein  Cy linder-  sondern 
Pflasterepithel. 

Der  Ductus  ejaculatoritia  ist  viel  dünnwandiger  als  das  Vas  deferen»,  und 
wird  deshalb  von  dem  derben  Gewebe  der  Prostata  leicht  comprimirt.  Diesem 
Umstände,  so  wie  seinem  gegen  die  AusmUndnngsstelle  in  der  Urethra  bis  auf 
0,3  Linien  abnehmenden  Lumen,  mag  es  zugeschrieben  werden,  dass  der  Same 
nicht  fortwährend  abfliesst,  und  erst  durch  stärkere  vis  a  tergo  stossweise  entleert 
wird.  —  Der  Drüsenreichthum  der  Schleimhaut  der  Samenbläschen,  lässt  auf 
reichliche  Absondenmg  schliessen.  Worin  diese  bestehe,  und  welchen  Einfluss 
sie  auf  die  Veredlung  des  Samens  ausübe,  ist  unbekannt  —  Der  Same  der 
Samenblasen  enthält  weit  weniger  Samenthierchen,  als  jener  des  Vcks  deferens, 
J.  Hunter  hielt  die  Samenbläschen  nicht  für  Aufbewahrungsorgane  des  Samens, 
sondern  für  besondere  Secretionswerkzeuge,  deren  Absonderung  vom  Samen  ver- 
schieden ist.  Die  vergleichende  Anatomie  giebt  zur  Lösung  dieser  Frage  keine 
Behelfe  an  die  Hand,  da  die  Samenbläschen  bei  Säugethieren  häufig  fehlen.  Der 
Umstand,  dass  bei  Castraten  die  Samenbläschen  nicht  schwinden,  was  sie  als 
blosse  EeceplaciUa  seminis  wohl  thun  müssten,  scheint  für  ihre  Selbstständigkeit 
als  secretorische  Apparate  zu  sprechen.  Schon  Rufus  Ephesius,  Cap.  XIV., 
sag^:  eunuchi  semen  quidem,  sed  infecunduvi,  ^iciunt.  —  G ruber  (MÜUer^a  Archiv, 
1847)  fand  bei  einem  Castraten  die  Samenbläschen  zwar  verkleinert,  aber  doch 
mit  einem  schleimigen  Fluidum  gefüllt.  Ebenso  Bilharz,  welcher  die  Genitalien 
von  schwarzen  Eunuchen  untersuchte.  Am  auffallendsten  war  bei  letzteren  der 
Schwund  der  Prostata. 

Durch  die  Feststellimg  der  Thatsache,  dass  die  Spermatozoon  nicht  blos 
mit  dem  zu  befruchtenden  Ei  in  Contact  kommen,  sondern  sich  durch  die  Dotter- 
haut des  Eies  durch  eigene  Poren,  welche  Micropylen  genannt  werden,  in 
das  Innere  desselben  einbohren,  wurde  eine  der  wichtigsten  Entdeckungen  in  der 
Geschichte  des  Erzeugens  gemacht.  Newport  hat  das  Eindringen  der  Sperma- 
tozoon in  das  Froschei,  Barry  in  das  Kaninchenei  zuerst  gesehen,  und  täglich 
mehrt  sich  die  Zahl  der  hieher  gehörigen  Beobachtungen.  Das  Eindringen  ge- 
schieht mit  dem  Kopfende  voraus,  unter  bohrender  Bewegung  des  Schwanzendes. 
Was  im  Ei  aus  den  Spermatozoon  wird,  weiss  man  nicht.  —  W.  Bischoff,  Be- 
stätigung des  Eindringens  der  Spermatozoon  in  das  Ei.  Giessen,  1 844,  und  G.  Meiss- 
ner, über  das  Eindringen  der  Samenelemente  in  den  Dotter,  in  der  Zeitschrift  für 
wissenschaftl.  Zoologie.  6.  Bd. 


§.  305.  Vorsteherdrüse. 

Die  Vorsteherdrüse,  Prostata  (von  xpotdTotfxat,  vorstehen,  woher 
xpoora-cr^q,  Vorsteher)  heisst  bei  griechischen  Autoren  auch  Parastata 
adenoides,  von  TrapiTnQjjii,  zur  Seite  stellen.  Der  Beisatz  adenoides^ 
drüsig,  diente  dazu,  den  Unterschied  der  Prostata  von  dem  Neben- 
hoden auszudrücken,  welcher  ParastcUa  drsoides  hiess,  wo  cirsoides 
die  vielfachen  Windungen  des  Samenganges  im  Nebenhoden  aus- 
drückt, von  >t'.pc6^,  d.  i.  cirrhtu,  krauses  gelocktes  Hp*» 

Die  Prostata  hat  eine  herz-  oder  kas 
hinterer  Basis  und  vorderer  Spita^ 


7()8  §.  305.  Vonteherdrfise. 

uinfasst  mehr  weniger  vollständig  den  Anfang  der  Harnröhre  (Pars 
prostatica  urethrae),  grenzt  nach  hinten  und  oben  an  die  Samen- 
bläschen, nach  vorn  an  das  Litjamentum  trianguläre  urethrae,  nach 
unten  an  die  vordere  Mastdarmwand,  durch  welche  sie  mit  dem 
Finger  gefühlt  werden  kann. 

Sie  wird  durch  gewisse,  an  sie  geheftete  Abtheilungen  der 
Fascia  pelvis  (§.  323)  in  ihrer  Lage  erhalten.  Deutliche  Lappen 
kommen  an  der  Prostata  nicht  vor.  Was  man  gewöhnlich  Lohns 
meditis  nennt,  ist  nur  das  zwischen  den  beiden  Ductus  ejacvlatorii 
liegende  Parenchym  der  Drüse,  welches  zuweilen,  besonders  im 
vorgerückten  Alter,  so  anschwillt,  dass  es  die  Schleimhaut  der  Pars 
pi*ostatica  urethras  hügelartig  emporwölbt.  Das  an  Blutgefässen  arme 
Gewebe  der  Drüse  wird  von  einer  unablösbaren,  bindegewebigen 
Hüllungsmembran  umschlossen,  ist  derb  und  compact,  und  äusserst 
reich  an  glatten  Muskelfasern,  welche  theils  eine,  der  Oberfläche  der 
Drüse  parallele  Schichte  bilden,  theils  von  der  Gegend  des  Caput 
galliiiaginis  strahlig  gegen  die  Oberfläche  der  Drüse  ziehen,  und  das 
Drüsenparenchym  in  undeutliche  Läppchen  thcilen.  Die  Ausfiihrungs- 
gäuge  der  Prostata  tragen  aber  keine  aciuösen  Endbläschen,  sondern 
endigen  blindabgerundet,  wie  in  den  tubulösen  Drüsen.  Sie  ver- 
einigen sich  zu  zwoiundzwanzig  bis  zweiunddreissig  grösseren  Gängen, 
welche  die.  hintere  Wand  der  Pais  prostatica  urethrae  durchbohren, 
und  zu  beiden  Seiten  des  Collictilus  seminalis  ausmünden.  Druck 
auf  die  Prostata,  macht  die  Einmündungsstellcn  dieser  Ausiuhrungs- 
gänge  in  die  Harnröhre  durch  Entweichen  des  Secretes  der  Drüse 
sichtbar.  Eine  Summe  vorderer  Bündel  des  Levator  ani  tritt  an 
die  Seitenränder  der  Prostata,  und  wurde  im  §.  270  als  Ijevator 
prostatae  erwähnt. 

Bei  ftltertfn  Individuen  findet  man  öfter»  in  den  ProHtatagängen,  wie  auch 
in  den  Samenbläschen,  kleinere,  gelblich  weittse,  concentrisch  geschichtete  Con- 
cremente,  als  sogenannte  Pros  tataste  ine.  In  der  Prostata  de»  Igels  habe  ich 
sie  in  grosser  Menge,  und  ron  schöner,  rosenrother  Farlie  angetroffen. 

Die  Venicula  proHtaticn  ».  Sinujt  pociilarut  war  als  eint»  kleine,  in  der  Prostata 
gelegene,  und  am  CapiU  fjcUlincnjinia  zwischen  den  Oeffnungen  der  Ihictun  eja- 
culcLtorU  mündende  Blase,  schon  Morgagni  und  Albin  bekannt.  E.  H.  Weber 
(Aimoi,  aiuU.  et  phyti.  Prot.  1.)  hat  ihre  in  der  Entwicklungsgeschichtt^  gegründete 
Bedeutung  als  unpaarige  Geschlechtshöhle  des  Mannes  (dem  weiblichen  Uterus 
analog)  zuerst  hervorgehoben.  Welchen  Grad  von  Ausbildung  sie  annelimen  könne, 
zeig^  der  v<m  mir  beschriebene  Fall  einer  unpaaren  Geschlechtshöhle  im  Manne 
(Oesterr.  med.  Wochenschrift  1841.  Nr.  Aii)^  wo  auch  beide  Ductus  ejactdatorii  in 
sie  einmündeten.  Ausführliches  über  die  Vesictäa  prontatica  giebt  Iluschke^s 
Eingeweidelehre,  pag.  408,  sqq.  und  J.  van  Deen,  in  der  Zeitschrift  für  wissen- 
schaftliche Zoologie.  1.  Bd.  —  F.  Betz,  über  den  Uterus  maaculinus,  in  MülUr*a 
Archiv,  1H50.  Ausgezeichnet  sind  die  von  Prof.  Leuckart  verfassten  Artikel: 
„  Vesiada  protttatica'* ,  in  der  Cyclopaedia  of  AncUonii/  and  Physiolofjy,  so  wie  ,. Zeu- 
gung" in  R.    Waffners  Handwörterbuch  der  Physiologie. 


S.  S06.  Cowper*icbe  DrUsen.  —  §.  807.  M&nnliclies  Glied.  769 


§.  306.  Cowper'sclie  Drüsen. 

Ueber  die  Co w per* sehen  Drüsen  lässt  sich  nur  wenig  sagen. 
Sie  sind  erbsengrosse,  rundliehe,  acinöse  Drüsen,  welche  vor  dem 
Ligamentum  trianguläre  urethrae,  und  hinter  dem  Bvlhus  urethrae  an 
der  unteren  Wand  der  Pars  membranacea  urethrae  liegen,  und  von 
den  Fasern  der  Musculi  transversi  perinei  umgeben  werden.  Ihre 
nach  vom  gerichteten  langen  Ausführungsgängo ,  münden  in  die 
untere  Wand  des  vom  Bulbus  umgebenen  Anfangsstückes  der  Pars 
cavemosa  urethrae  ein.  Ihre  Bestimmung  ist  ebenso  wenig,  als  jene 
der  Prostata  bekannt.  Auch  haben  sie,  ihrer  Kleinheit  wegen,  keine 
besondere  praktische  Wichtigkeit,  welche  aber  der  Prostata  um  so 
mehr  zusteht,  da  ihr  Kranksein,  der  damit  verknüpften  Verengung 
und  VerSchliessung  der  Harnröhre  wegen,  die  drohendsten  Zufalle 
veranlassen  kann. 

Win  slow  nannte  die  Cowper'schen  Driisen:  ÄnUproatatae,  Mery  kannte 
aie  schon  1684;  —  Cowper  beschrieb  sie  nur  ausführlicher  1699.  —  Eine  mitt- 
lere, unpaare  Cowper'sche  Drüse,  welche  von  einigen  Anatomen  erwähnt  wird, 
habe  ich  nie  gesehen. 


§.  307.  Männliches  Glied. 

Das  männliche  Glied,  die  Ruthe,  hcisst  Penis,  von  pen- 
dere  (Synonyma:  Membrum  virile,  Veretrum,  Virga,  Coles,  Verpa,  Phal- 
lus, Fascinus,  Priaj)us,  Nervus  fistularis,  und  Mentula,  welch'  letzteres 
Wort  Adr.  Spigclius  damit  erklärt:  „quod  rigida  hasc  pars,  viro 
mentem  enjriat'^).  Dieses  Organ  vermittelt  die  geschlechtliche  Ver- 
einigung der  männlichen  und  weiblichen  Sexualorgane.  Da  die 
Harnröhre  zugleich  Entlee iningskanal  des  männlichen  Zeugungsstoffes 
ist,  und  dieser  bei  der  geschlechtlichen  Vereinigung,  seiner  Be- 
stimmung gemäss,  tief  in  die  inneren  Genitalien  des  Weibes  gebracht 
werden  miiss,  so  macht  die  Harnröhre  einen  Theil  des  männlichen 
Zeugungsgli('(l(\s  aus.  Für  einen  blossen  Entleerungskanal  des 
Harnes,  würde  eine  einlache  Ausmündung  an  der  Leibesoberfläche 
genügt  haben,  wie  sie  im  weiblichen  Geschlechtc  angetroffen  wird. 
—  Das  Zeuglingsglied  erfiillt,  nebst  Entleerung  des  Samens,  früher 
noch  eine  andere,  auf  die  Steigerung  des  Geschlcchtsgefuhls  im 
weiblichen  Begattungsorgan  gerichtete  Bestimmung,  auf  mechanische 
Weise.  In  dieser  Erregung  der  weiblichen  Begattungsorgane  liegt 
eine  wesentliche  Bedingung  für  die  Aufnahme  des  Samens  in  das 
innere   GeschlechtBorgan.    ^  «^  mtiss  somit    eine 

Einrichtung  besitK^  ^  desselben 

Hyrtl,  UkrbMkir 


770  !•  307.  MOnnlichM  Glied.  • 

mit  gleichzeitiger  Rigidität  (Erection)  raciglich  wird.  Ohne  diese 
würde  es  weder  durch  Druck  noch  Reibung  reizend  wirken  können. 
Das  männliche  Glied  hat  nun  zu  diesem  Zwecke  drei  Schwell- 
körper, Corpora  cavemosa,  zwei  paarige  und  einen  unpaaren. 
Letzterer  gehört  der  Harnröhre  an.  Sie  werden  deshalb  in  die 
zwei  Corpora  cavernosa  penü,  und  das  Corpus  cavemosum  urethrae 
eingetheilt. 

a)  Corpora  cavemosa  penis. 

Die  zwei  Corpora  cavemosa  penis  sind  walzenförmige,  nur  an 
beiden  Enden  sich  etwas  verschmächtigende  Körper  von  schwammiger 
Textur,  welche  sich  durch  Blutstauung  erigii'en  und  steifen,  und  in 
diesem  Zustande  dem  Gliede  hinreichende  Festigkeit  geben,  um  in 
die  Geschlechtstheile  des  Weibes  einzudringen.  Sie  entspringen, 
als  Crura  penis,  an  den  aufsteigenden  Sitzbeinästen,  fassen  hier  den 
Bxdbus  urethrae  zwischen  sich,  steigen  gegen  die  Schamfuge  auf, 
legen  sich  hier  an  einander,  und  verwachsen  zu  einem  äusserlich 
scheinbar  einfachen,  aber  im  Inneren  durch  eine  senkrechte  Scheide- 
wand getheilten  Schaft,  welcher  im  erschlafften  Zustande  an  der 
vorderen  Seite  des  Scrotum  herabhängt.  —  Durch  die  Aneinander- 
lagerung  beider  Schwellkörper  der  Ruthe,  muss  an  der  oberen  und 
unteren  Gegend  des  Gliedes  eine  Furche  entstehen,  wie  zwischen 
den  beiden  Läufen  eines  Doppelgewehrs.  Die  obere  Furche  enthalt 
eine  einfache  Vena  dorscUis  und  zwei  Artetiae  dorsale,  —  die  untere 
grössere  die  Harnröhre  mit  ihrem  Corpus  cavemosum. 

Die  äussere  Oberfläche  jedes  Schwellkörpers  wird  von  einer 
fibrösen,  mit  elastischen  Fasern  reichlich  versehenen  Haut  überzogen 
(Tunica  albuginea) ,  welche  von  der  Vereinigung  beider  Schwell- 
körper an  bis  zur  Eichel,  ein  senkrecht  stehendes  Septum  im  Inne- 
ren des  Penis  bildet.  Dieses  Septum  ist  durch  mehrere  Oeffnungen 
durchbrochen,  so  dass  die  Höhlen  beider  Schwellkörper  mit  ein- 
ander communiciren.  Von  der  inneren  Oberfläche  der  Tunica  albu- 
ginea und  des  Septum,  zweigt  sich  eine  grosse  Anzahl  von  Bälkchen 
als  sogenannte  Traf)eculae  ab.  Die  Bälkchen  bestehen  aus  elastischen 
Fasern,  Bindegewebe,  und  glatten  Muskelfasern.  Sie  verstricken 
sich  zu  einem  Netzwerk,  und  erzeugen  dadurch  ein  System  viel- 
gestaltiger, unter  einander  communicirender  Maschenräume  (Cavernae), 
welche,  in  der  Axe  des  Schwellkörpers  am  grösstcn,  je  näher  der 
Oberfläche  aber,  desto  kleiner  getroffen  werden.  Sic  stehen  mit  den 
zuführenden  Arterien,  und  mit  den  abführenden  Venen  in  unmittel- 
barem Verkehr,  und  werden  somit  auch  von  der  inneren  Cfcfasshaut 
ausgekleidet.  Diese  bluthältigen  Räume  bilden  das  sogenannte 
Schwellnetz  des  Penis. 


Der  Mterielle    üftuptstamm    für  jeden    Schwellkörper   verlftuft,  »Is 
ItrojHnda  itetM,  nahe  aiu  Septum,  und  sendet  innerhalb  der  Balken  des  cayeniOaen 


§.  807.  M&nolielies  Glied.  771 

Gewebes  seine  dendritischen  Verästlnngen  ans,  welche  zuletzt  capillar  werden, 
jedoch  keine  Netze  bilden,  sondern  direct  in  die  Cavcmen  des  Schwellnetzes  ein- 
mflnden.  Man  spriclit  auch  von  directen  Einmündungen  grösserer  Arterienzweig- 
clien  in  die  Cavemen.  —  Ein  sonderbares  Vorkommen  sind  die,  besonders  in  der 
Peniswurzel  gesehenen,  korkzieherartig  gewundenen  Arterienftstchen ,  welche 
J.  Müller  zuerst  als  Vaaa  heUcina  beschrieb,  und  blind  endigen  Hess.  Andere 
läugnetcn  ihr  blindes  Ende,  und  Hessen  sie,  trichterförmig  erweitert,  in  das 
Schwellnetz  einmünden.  Ich  habe  die  Arteriae  hdicinae  mit  blinden,  kolbigen 
Enden,  zwar  nicht  in  den  Schwellkörpem  der  männHchen  Ruthe,  aber  in  anderen 
erectilen  Organen  der  Thiere  unzweifelbar  beobachtet.  (Med.  Jahrb.  Oesterr. 
1838.)  Dass  sie  keine  abgerissenen  und  eingerollten  Arterienästchen  sind,  wie 
Valentin  sie  deutete,  zeigt  ihr  Verhalten  im  Kopfkamme  des  Hahnes,  imd  in 
den  Karunkeln  am  Halse  des  Truthahnes,  wo  ihre  blinden  Endkolben  dicht  unter 
der  Haut  Hegen. 

A.  KöUiker  erklärt  die  Erschlaffung  der  Muskelfasern  im  Haikengewebe 
der  Scliwellkörper,  als  Hauptbedingung  der  Erection.  Durch  diese  Erschlaffung 
werden  die  venösen  Hohlräume  erweitert,  und  fassen  mehr  Blut.  Wird  zugleich 
der  Rückfluss  des  venösen  Blutes  aus  den  Schwellkörpem,  durch  Compression 
des  Hauptstammes  der  Schwellkörpervenen  (am  aufsteigenden  Sitzbeinast  durch 
den  Musculus  transversus  perinei  proßtndiM,  §.  322)  behindert,  so  muss  das 
Schwellen  des  Gliedes  bis  zur  rigiden  Steifheit  zunehmen.  Schon  Günther  hat 
die  Beobachtung  gemacht,  dass,  nach  Trennung  der  Nerven  am  Pferdepenis,  wo- 
durch Lähmung  jener  Muskelfasern  entsteht,  unvollkommene  Steifung  der  Schwell- 
körper eintritt.  —  Iletüe,  Mechanismus  der  Erection  (Zeitschrift  für  rat.  Med. 
3.  R.  28.  Bd.). 

b)  Corpiis  cavemosum  urethrae. 

Ebenso  gebaut,  nur  von  zarterem  Gepräge,  ist  das  einfache 
Corpus  cavemoaum  urethrae.  Es  wird  seiner  ganzen  Länge  nach, 
von  der  Harnröhre  durchbohrt,  stellt  somit  eine  Röhre  dar.  Das 
Schwellgewebe  desselben  liegt  aber  nicht  gleichförmig  um  die  Harn- 
röhre herum  vertheilt.  Am  hinteren  Ende  verdickt  es  sich  kolben- 
fiirmig,  und  bildet  dadurch  die  am  Mittelfleisch  fühlbare  Zwiebel 
der  Harnröhre  (Bulbus  urethrae),  während  die  kegelförmige  Ver- 
dickung seines  vorderen  Endes,  die  Eichel  des  Gliedes  (Glans 
penis,  ßaAavo<;)  erzeugt.  Der  Schwellkörper  der  Harnröhre  hat 
kleinere  Maschenräume,  strotzt  während  der  Erection  nicht  so  be- 
deutend, wie  die  Corpora  caveimosa  penis,  und  bleibt  deshalb  weicher. 
Die  Glans  sitzt  auf  dem  vorderen,  abgerundeten  Ende  der  Schwell- 
körper des  Gliedes  wie  eine  Kappe  auf.  Die  Eichel  hat  eine  stumpf- 
kegelförmige Gestalt.  Ihre  schief  abwärts  gerichtete  Spitze,  Apex 
glaiidis,  wird  durch  den  zweilippigen  Hamröhrenspalt  senkrecht 
geschlitzt.  Ihre  Basis  bildet  einen  wulstigen  Rand,  Corona  glandisy 
hinter  welchem  eine  Furche  als  Collum,  die  Grenze  zwischen  Eichel 
und  Gliedschaft  bezeichnet. 

Nach  Mayer  {Fnmep's  Notisen,  1884,  Nr.  883)  boU  in  der  Eichel  grosser 
Glieder   ein   prismatischer   Knorpel   eiistiren,   welokiT'  ^^  Vorkommen 

sichergestellt   wäre,  eine  entlenito    Aiipl 
thiere  (Affen,   Nager,  reiaMnd»  ? 


772  9.  807.  MAnallehM  Glied. 

ist  jedoch   nichts    Anderes,    als    eine    median   gelegene,    verdickte    Stelle  in  der 
Scheidewand  der  vorderen    Enden    der   Bathenschwellkörper,  ohne  Knorpelzellen. 

Die  Haut  des  männlichen  Gliedes  ist  sehr  verschiebbar,  un- 
behaart, und  ihr  Unterhautzellgewebe  fettlos.  Um  die  Verlängerung 
des  Gliedes  während  der  Erection  zu  gestatten,  bildet  sie  eine  die 
Glans  umgebende  Duplicatur  —  die  Vorhaut,  Pra^putium.  Das 
Wort  Praeputium  erscheint  zuerst  bei  Juvenal  (Sat,  XIV.),  und 
ist  verdorben  aus  zpoTcocOtov,  von  irpb  und  ^ccOtq  s.  iroaOccv  (penU),  somit 
vi  nominis  die  Haut  vom  am  Gliede.  Die  Vorhaut  läuft  nämlich 
vom  Collum  glandis  frei  über  die  Eichel  herab,  schlägt  sich  dann 
nach  innen  um,  und  geht  wieder  zum  Collum  glandis  zurück,  um 
nun  erst  die  Eichel  als  sehr  feiner,  mit  ihrem  schwammigen  Ge- 
webe innig  verwachsener  Ueberzug  einzuhüllen,  welcher  am  Ort- 
fidum  cutaneum  urethrae  in  die  Schleimhaut  der  Harnröhre  übergeht. 
Die  Vorhaut  wird  durch  eine  für  Friction  sehr  empQndliche,  longi- 
tudinale  Falte  —  das  Bändchen,  fVenvIum  praeputit  —  an  die 
Hntere  Fläche  der  Eichel  angeheftet.  —  Die  Fascia  superficialis  des 
Bauches  setzt  sich  unter  der  Haut  des  Gliedes  als  Fasda  penis 
fort,  bis  zur  Corona  glandis,  wo  sie  mit  der  Tunica  aibuginea  der 
Schwellkörper  verschmilzt.  Sie  wird  am  Rücken  der  Wurzel  des 
Gliedes  durch  ein  Bündel  von  Bandfasern  verstärkt,  welches  von 
der  vorderen  Fläche  der  Schamfuge  als  Ligamentum  suspefiisorium 
penis  entspringt. 

Hei  der  Erection  gleicht  sich  die  Hantduplicatur  des  Präputium  nur  znm 
Theil  ans,  und  ihre  beiden  Platten  werden  zur  Deckung  des  verlängerten  Penis 
in  Anspruch  genommen,  wodurch  die  Eichel  mehr  weniger  frei  wird.  Die  innere 
Platte  der  Vorhaut,  so  wie  der  EicheKtberzug,  ähnelt  durch  ihr  Ansehen  einer 
Schleimhaut,  besitzt  wohl  auf  der  Eichel  kleinste,  und  gruppenweise  beisammen- 
stehende Tastwärzchen  in  grosser  Zahl,  aber  keine  Talgdrfisen,  obwohl  solche  in 
allen  Httchem  unter  dem  Namen  der  GlandiUae  Tysanianae  angeführt  werden. 
Diese  Driisen  sollen  in  der  Furche  hinter  der  Corona  ylandia  vorhanden  sein. 
Was  man  jedoch  für  Ty  so  nasche  Driisen  angesehen  hat,  ist  nichts  anderes,  als  eine 
Anzahl  von  papillenähnlichen  Erhebungen  des  Ilautüberzuges  der  Eichelkrone, 
welche,  ihrer  weissgelblichen  Farbe  wegen,  flir  Talgdrüsen  genommen  wurden. 
Das  käsartige,  stark  riechende,  weisse  Sebum  praepuUaU  ist  sonach  kein  Drüsen- 
secret,  sondern  ein  mit  abgestossenen  Epithelialzellen  reichlich  gemengtes  Abson- 
derungsproduct  des  Hautüberzuges  der  Eichel,  besonders  der  Furche  hinter  der 
Corona  ylandü,  und  der  inneren  Platte  der  Vorhaut,  wo  allerdings  einige  un- 
constante  acinöse  Drfischen  mit  fettigem  Inhalt  vorkommen,  welche  aber  öfter 
gänzlich  vemiisst  werden  (He nie).  —  Die  Präputialabsondenmg  ist  in  heissen 
Ländern  copiöser,  als  in  der  gemässigten  Zone.  Die  mit  ihrem  Ranzigwerden 
verbundene  örtliche  Reizung,  bedingte  ohne  Zweifel  den  medicinischen  Ursprung 
der  Beschneidung,  welche  sich  im  Oriente  aus  wohlverstandenen  Gründen  die 
Geltung  eines  volksthümlichen  Gebrauches  erwarb,  in  kalten  Breiten  dagegen 
walirlich  überflüssig  wird.  Bei  den  Hebräern  hatte  die  Beschneidung  überdies, 
und  hat  noch  gegenwärtig,  die  Bedeutung  eines  Zeichens  der  Glaubensweihe : 
„Beschneiden  sollt  ihr  das  Fleisch  eurer  Vorhaut,  zum  Zeichen  des  Bimdes 
„zwischen  mir  und  euch''.  (Moses,  I.  B.  c.  17.) 


S.  SOd.  Aoat.  Q.  phjsiol.  Charakter  der  weibl.  Oeschlechtsorgane.  —  §.  S09.  Eierstdcke.      773 

Der  äusserst  laxe  Zusammenhang  der  Haut  des  Penis  mit  dem  eigentlichen 
Ruthenschafie  erklärt  es,  warum  bei  grossen  Geschwülsten  in  der  Schamgegend, 
so  wie  bei  hohen  Graden  von  örtlicher  oder  allgemeiner  Wassersucht,  das  Glied 
immer  kürzer  und  kürzer  wird,  und  zuletzt  nichts  von  ihm  zu  sehen  bleibt,  als 
die  nabelähnlich  eingezogene  Präputialöflfnnng.  —  Eine  sehr  genaue  Detailunter- 
suchung der  erectilen  Gefössbildungen  in  den  männlichen  und  weiblichen  Geni- 
talien ist  in  G,  L,  KobeWa  Werk  zu  finden:  Die  männlichen  und  weiblichen 
Wollustorgane.  Freiburg,  1844. 


11.  AV^eibliche  Gheschlechtsorgane. 

§.  308.  Anatomischer  und  physiologischer  Charakter  der 

weiblichen  Geschlechtsorgane. 

Die  weiblichen  Geschlechtsorgane  sind  mehr  in  die  Leibes- 
höhle zurückgezogen  als  die  männlichen,  und  bilden  eine  Folge 
von  Schläuchen  oder  Höhlen,  welche  zuletzt  zu  einer  paarigen 
Drüse  —  den  Eierstöcken  —  führen.  Die  Eierstöcke  bestimmen, 
als  keimbereitende  Organe,  den  weiblichen  Geschlechtscharakter. 

Die  männlichen  Genitalien  bestanden  vom  Anfange  bis  zum 
Ende  aus  paarigen  Abtheilungen  (die  unpaarige  Harnröhre  gehörte 
dem  Harn-  und  dem  Zeugungsapparate  gemeinschaftlich  an);  bei 
den  weiblichen  Genitalien  ist  nur  der  Eierstock  und  sein  Aus- 
führungsgang (Tuba)  paarig;  Gebärmutter  und  Scheide  unpaar.  — 
Da  die  weiblichen  Zeugungsorgane  während  des  Begattungsactes 
einen  Theil  der  männlichen  in  sich  aufnehmen,  und  der  befruch- 
tete Keim  sich  in  ihnen  zur  reifen  Frucht  entwickelt,  so  müssen 
die  Durchmesser  ihrer  unpaarigen  Abschnitte  absolut  grösser  als 
die  der  männlichen  sein,  und  in  der  Schwangerschaft  und  dem 
Geburtsacte  noch  bedeutend  vergrössert  werden  können.  —  Der 
Mann  ist  bei  der  Zeugung  nur  im  Momente  der  Begattung  interessirt; 
das  Geschlechtsleben  des  Weibes  dagegen  erhält  durch  das  perio- 
dische Reifen  seiner  Eier  (Menstruation),  und  durch  die  lange 
anhakende  Steigerung  seiner  bildenden  Thätigkeit  in  der  Schwanger- 
schaft, eine  grössere  Bedeutung,  und  greift  in  die  übrigen  Lebens- 
verrichtungen so  vielfach  ein,  dass  Störungen  seiner  Functionen  weit 
häufiger  als  im  männlichen  Geschlechte  zu  krankheiterregenden 
Momenten  werden. 


§.  309.  Eierstöcke. 

Die  Eierstöcke,  Ovaaria,  sind  fUr  das  ireihliQhe  GteiGhieohL 
was  die  Hoden  für  das  männliche  wamiu  J 


774  9*  S09.  Eierat«ek6. 

somit  das  Wesentliche  im  ganzen  Zeugungssystem.  Ihre  Gestalt 
erinnert  an  jene  der  Hoden.  Sie  wurden  deshalb  von  den  Alten 
Testes  mtdiebres  genannt. 

Die  Eierst<)cke  liegen,  nach  der  Ansicht  der  alten  anatomischen 
Schule,  in  einer  Ausbuchtung  des  hinteren  Blattes  des  breiten  Ge- 
bärmutterbandes. Denkt  man  sich  nämlich  die  Excavatio  recto- 
vesicalis  durch  eine,  quer  von  einer  Seite  des  kleinen  Beckens  zur 
anderen  gespannte  Bauehfellfalte,  deren  freier  Rand  nach  oben  sieht, 
in  eine  vordere  und  hintere  Abtheilung  gebracht,  und  stellt  man 
sich  vor,  dass  die  Gebärmutter  mit  ihren  beiden  Trompeten  (Eileiter) 
von  unten  her  in  die  Mitte  dieser  Falte  hineingeschoben  wird,  ohne 
sie  ihrer  ganzen  Breite  nach  auszufüllen,  so  werden  die  zwei  un- 
ausgefüllten  Seitenflügel  derselben,  die  breiten  Mutterbänder  vor- 
stellen. Denkt  man  sich  zugleich  die  Eierstöcke  in  eine  Aussackung 
des  hinteren  Blattes  der  breiten  Mutterbänder  aufgenommen,  so  hat 
man  einen  Begriff  von  ihrer  Lage  und  ihrem  Verhältniss  zum  Peri- 
toneum im  alten  Styl.  Untersucht  man  jedoch  die  Oberfläche  des 
Eierstockes  etwas  genauer,  so  überzeugt  man  sich,  dass  sie  keinen 
wahren  Bauchfellüberzug  besitzt,  indem  das  Peritoneum  rings  um 
den  vorderen  Rand  des  Eierstockes,  mit  einer  scharf  gezeichneten 
weissen  Linie  aufhört,  von  welcher  Linie  an  die  Oberfläche  des 
Eierstockes  nur  einen  aus  Cylinderzellen  bestehenden  Epithelialüber- 
zug  führt,  welcher  vom  Pflasterepithel  des  Bauchfells  sehr  auffallend 
diflferirt.  —  Der  zwischen  Eierstock  und  Tuba  beflndliche  Theil  des 
breiten   Mutterbandes,   heisst   bei   älteren  Autoren  Ala  vespertüionis, 

Altersverschiedenheiten  und  krankhafte  Zustände  haben  auf  die  Lage  der 
EiersÜJcke  Einfluss.  Beim  Embryo  liegen  sie,  so  wie  die  Hoden,  in  der  Lenden- 
gegend. Während  der  Schwangerschaft  erlieben  sie  sich  mit  dem  in  die  Höhe 
aufwachsenden  Uterus,  und  liegen  an  den  Seiten  des  letzteren  an.  Kurz  nach  der 
Geburt  finden  sie  »ich  in  der  Fos/ta  ilinca.  Nicht  selten  sieht  man  einen  der- 
selben an  der  hinteren  Fläche  der  Gebärmutter  anliegen.  Krankhafte  Adhärenzen 
der  Eierstöcke  an  benachbarte  Organe,  bedingen  eine  bleil)ende  Lageveränderung 
derselben. 

Die  Gestalt  der  Eierstöcke  kann  eiförmig  genannt  werden. 
Das  stumpfe  Ende  des  Eies  sieht  nach  aussen,  das  schmächtige 
gegen  die  Gebärmutter,  und  wird  durch  das  Ligamentum  ovarii  pro- 
prium an  letztere  gebunden.  Dieses  Band  hielt  man  vor  Alters  für 
den  Ausführungsgang  des  Eierstockes,  daher  sein  Name:  Vas  eja- 
culatorium  seminis  muliebris.  Erst  Regnerus  de  Graaf,  1672,  er- 
kannte seine  wahre  Natur  als  Band,  und  nannte  es  Ligamentum 
teaticuli  muliebris. 

Man  unterscheidet  an  jedem  Eierstocke  eine  obere  und  untere 
Fläche,  einen  vorderen  und  hinteren  Rand.  Bei  Mädchen,  welche 
noch  nicht  menstruirten,  sind  beide  Flächen  glatt,  —  nach  wieder- 


§.  310.  Bau  der  BienMeke.  Nebeneiantoek.  775 

holter  Menstruation^  rissig  oder  gekerbt.  Unmittelbar  vor  dem  Ein- 
tritte der  ersten  Menstruation  sind  die  Eierstöcke  am  grössten,  und 
zwei  ein  halbes  Loth  schwer.  Im  vorgerückten  Alter  verlieren  sie 
an  Grösse,  ändern  ihre  Gestalt,  werden  flacher,  härter  und  läng- 
licher, und  schwinden  in  hochbejahrten  Frauen  auf  ein  Drittel  ihres 
Volumens. 


§.  310.  Sau  der  Eierstöcke.  ISTebeneierstock. 

Unmittelbar  unter  dem  Cylinderepithel  des  Eierstockes,  liegt 
die  fibröse  Umhüllungshaut  dieses  Organs  (Tunica  propria  8.  aibu- 
ginea).  Am  vorderen  Rande  des  Eierstockes  besitzt  diese  Um- 
hülliingshaut  einen  Schlitz  (Hüm  ovarii),  durch  welchen  die  durch 
ihren  korkzieherartig  gewundenen  Verlauf  ausgezeichneten  Blut- 
gefässe ein-  und  austreten.  Das  Parenchym  des  Eierstockes  besteht 
aus  einem  äusserst  gefassreichen,  organische  Muskelfasern  enthalten- 
den Bindegewebe,  Stroma  ovarii,  in  welchem  eine  sehr  gi*osse 
Anzahl  vollkommen  geschlossener,  mikroskopischer  Bläschen  ein- 
gesenkt liegt.  Henle  giebt  ihre  Menge  in  dem  Eierstocke  eines 
achtzehnjährigen  Mädchens  auf  36,000  an;  Sappey  bei  einem  drei- 
jährigen Kinde  auf  400,000.  Die  grosse  Mehrzahl  derselben  verfällt 
aber  der  Verkümmerung,  und  nur  wenige  reifen  zu  voller  Aus- 
bildung heran.  Nur  die  grossen  und  reifen  Bläschen  verdienen  den 
Namen  der  Graafschen  Follikel,  da  Regnerus  de  Graaf  von 
den  früher  erwähnten  mikroskopischen  Bläschen  keine  Kenntniss 
hatte.  Die  Graafschen  Follikel  werden  von  einer  besonderen  gefass- 
reichen Bindegewebshaut  (Theca  folliculi)  gebildet,  deren  Innenfläche 
mit  einer  structurlosen  Membran  (?)  und  einem  auf  dieser  haftenden, 
mehrschichtigen  Cylinderepithel  ausgekleidet  ist  (Membrana  graniUosa 
der  Autoren).  Sic  enthalten  eine  gerinnbare  Flüssigkeit  (Liquor  folli- 
culi). An  der,  der  Oberfläche  des  Ovariums  zugekehrten  Seite  des 
Graafschen  Follikels  (nach  Anderen  an  der  entgegengesetzten) 
formiren  die  Zellen  des  Epithels  eine  dickere  Scheibe.  Diese  Scheibe 
heisst  Discus  oophorm,  in  dessen  Mitte  das  von  Baer  im  Jahre 
1827  entdeckte  menschliche  Ei  liegt.  Das  mit  freiem  Auge  sicht- 
bare Menschenei  (Ovulum)  ist  ein  rundes  Bläschen  von  nur  0,1  Linie 
Durchmesser.  Es  besteht  aus  Dotterhaut  (Zona  pellucida)  und 
Dotter  (Vitellus).  Der  Dotter  ist  eine  halbflüssige  eiweissartige 
Substanz,  welche  viele,  das  Licht  stark  brechende  Bläschen  (Körn- 
chen) enthält,  und  dadurch  mehr  weniger  undurchsichtig  wird. 
Drückt  man  das  Ei  durch  ein  aufgelegtes  Glasplättchen  flach^  so 
platzt  die  Dotterhaut  mit  einem  scharfrandigen  Riss,  und  die  zähe 
Dotterflüssigkeit  tritt  heraus.     Der  Dotter   enthält  bei  reifen  Eiern, 


776  S*  SlO.  Bau  d«r  EiantAeke.  Nebeneientook. 

das  von  Purkinje  entdeckte,  0,02  Linien  im  Durchmesser  haltende 
Keimbläschen  (Vesicula  germinadva),  welches  mit  einer  unmessbar 
feinen  Hülle  einen  albuminösen  Inhalt  umschliesst.  Das  Keim- 
bläschen lässt  an  sich  einen  weisslichen  Fleck  unterscheiden,  den 
Keim  fleck  (Macula  germinativa),  welcher  an  die  Wand  des  Keim- 
bläschens anliegt.  —  Vergleicht  man  nun  das  Ei  mit  einer  Zelle, 
so  entspricht  die  Dotterhaut  der  Zellenwand,  der  Dotter  dem  Zellen- 
inhalt, das  Keimbläschen  dem  Kern,  und  der  Keimfleck  dem  Kern- 
körperchen.  —  Wenn  das  Ei  von  oben  besehen  wird,  so  bildet  die 
Dotterhaut  einen  kreisförmigen  durchsichtigen  Gürtel  um  den  Dotter. 
Daher  rührt  der  sonst  nicht  zu  verstehende  Name  Zona  pellucida. 
Sie  ist  somit  kein  ringfiirmiges  Gebilde,  wie  der  Name  Zona  ver- 
standen werden  könnte,  sondern  der  optische  Ausdruck  einer  durch- 
sichtigen, dickwandigen  Blase  um  einen  undurchsichtigen  Inhalt 
(Dotter)  herum. 

Der  Discos  oophoi'^us  hat  an  den  Metamorphosen,  welche  das 
befruchtete  Ei  erleidet,  keinen  Antheil.  Er  streift  sich  schon  theil- 
weise  während  des  Austrittes  des  Eies  aus  dem  Graafschen  Follikel, 
und  gänzlich  während  seiner  Fortbewegung  durch  die  Tuba  vom 
Ei  ab. 

Die  Graafschen  Follikel  entwickeln  sich,  nach  Pflügor's  und 
Waldeyer's  Entdeckung,  nicht  aus  dem  bindegewebigen  Stroma 
des  Ovarium,  sondern  als  schlauchartige  Einsenkungen  des  Eierstock- 
epithels, welche  sich  durch  Abschnürung  zu  selbstständigen  Hohl- 
gebilden umwandeln,  als  erste  Anlagen  der  G  raaf  sehen  Follikel. 
Die  Bchlauchartigcn  Einsenkungen  sind  natürlich  mit  dem  Eierstock- 
epithel ausgekleidet.  Einzelne  Zellen  dieses  Epithels  vergrössern 
sich,  während  andere  sich  nicht  vergrössern.  Die  vergrösserten 
Zellen  lösen  sich  ab,  werden  frei,  und  sind  die  zukünftigen  Eier. 
Die  sich  nicht  vergrössernden  Zellen  bilden  die  Membrana  granulosa 
des  Graafschen  Follikels,  und  den  Discos  oophorus  desselben. 

An  dem  Ovarium  eines  gesunden  Mädchens,  welches  während  der  ersten 
Menstruation  eines  zufälligen  Todes  starb,  und  durch  Prof.  Bochdalek*»  Güte 
völlig  frisch,  mir  zur  Untersuchung  zugestellt  wurde,  fand  ich  den  geplatzten 
FolHcidtu  Graafii  filnf  Linien  im  längsten  Durchmesser  haltend,  und  ein  Ei  von 
0,13  Linien  Dnrclimesser  im  Eileiter.  Es  bestand  aus  einer  durchsichtigen  Hülle, 
in  welcher  eine  Dotterkugel  von  0,0*25  Linien  eingeschlossen  war.  Den  Raum 
zwischen  Hülle  und  Dotterhaut  schien  eine  Flüssigkeit  einzunehmen,  da  die 
Dotterkugel  in  der  Dotterhaut  durch  Druck  verschiebbar  war. 

Was  wir  FoUictdi  Graaßi  nennen y  hielt  der  niederländische  Arzt,  Regnerus 
de  Graaf,  für  die  menschlichen  Eier,  benannte  sie  als  Ova,  und  beschrieb  sie 
ausführlicher  in  seiner  Schrift:  de  nmlierum  organis;  Lugd.  1072,  cap.  12,  Der 
eigentliche  Entdecker  der  (rraafschen  Follikel  ist  aber  Nie.  Stenonins  (Spec 
iiiyol,  FloreiiL  lfjb'7,  ptu/.  117),  Er  hielt  sie  für  Eier,  und  nannte  deshalb  das 
Organ,  in  welchem  sie  sich  bilden,  euerst  Ovariuni,  (rraafs  Werk  de  mulierum 
organi»,    erschien    filnf  Jahre    später,    1672,    zu  Leyden.     Die  in  der  praktischen 


§.  810.  Bau  der  EienMeke.  Nebeii«ientoek.  775 

holter  Menstruation,  rissig  oder  gekerbt.  Unmittelbar  vor  dem  Ein- 
tritte der  ersten  Menstruation  sind  die  Eierstöcke  am  grössten,  und 
zwei  ein  halbes  Loth  schwer.  Im  vorgerückten  Alter  verlieren  sie 
an  Grösse,  ändern  ihre  Gestalt,  werden  flacher,  härter  und  läng- 
licher, und  schwinden  in  hochbejahrten  Frauen  auf  ein  Drittel  ihres 
Volumens. 


§.  310.  Sau  der  Eierstöcke.  ISTebeneierstock. 

Unmittelbar  unter  dem  Cy linde repithel  des  Eierstockes,  liegt 
die  fibröse  Umhüllungshaut  dieses  Organs  (Ihnica  propria  8.  albur 
ffinea).  Am  vorderen  Rande  des  Eierstockes  besitzt  diese  Um- 
hüllungshaut einen  Schlitz  (Hüiis  ovarii),  durch  welchen  die  durch 
ihren  korkzieherartig  gewundenen  Verlauf  ausgezeichneten  Blut- 
gefässe ein-  und  austreten.  Das  Parenchym  des  Eierstockes  besteht 
aus  einem  äusserst  ge&ssreichen,  organische  Muskelfasern  enthalten- 
den Bindegewebe,  Stroma  ovarii,  in  welchem  eine  sehr  grosse 
Anzahl  vollkommen  geschlossener,  mikroskopischer  Bläschen  ein- 
gesenkt liegt.  He  nie  gicbt  ihre  Menge  in  dem  Eierstocke  eines 
achtzehnjährigen  Mädchens  auf  36,000  an;  Sappe y  bei  einem  drei- 
jährigen Kinde  auf  400,000.  Die  grosse  Mehrzahl  derselben  verfällt 
aber  der  Verkümmerung,  und  nur  wenige  reifen  zu  voller  Aus- 
bildung heran.  Nur  die  grossen  und  reifen  Bläschen  verdienen  den 
Namen  der  Graafschen  Follikel,  da  Regnerus  de  Graaf  von 
den  früher  erwähnten  mikroskopischen  Bläschen  keine  Kenntniss 
hatte.  Die  Graafschen  Follikel  werden  von  einer  besonderen  gefass- 
reichen  Bindegewebshaut  (Theca  folliculi)  gebildet,  deren  Innenfläche 
mit  einer  structurlosen  Membran  (?)  und  einem  auf  dieser  haftenden, 
mehrschichtigen  Cylinderepithel  ausgekleidet  ist  (Membrana  granulosa 
der  Autoren).  Sic  enthalten  eine  gerinnbare  Flüssigkeit  (Liquor  folli- 
culi). An  der,  der  Oberfläche  des  Ovariuras  zugekehrten  Seite  des 
Graafschen  Follikels  (nach  Anderen  an  der  entgegengesetzten) 
formiren  die  Zellen  des  Epithels  eine  dickere  Scheibe.  Diese  Scheibe 
heisst  Discus  oophorm,  in  dessen  Mitte  das  von  Baer  im  Jahre 
1827  entdeckte  menschliche  Ei  liegt.  Das  mit  freiem  Auge  sicht- 
bare Menschenei  (Ovulum)  ist  ein  rundes  Bläschen  von  nur  0,1  Linie 
Durchmesser.  Es  besteht  aus  Dotterhaut  (Zona  pellucida)  und 
Dotter  (Vitellus).  Der  Dotter  ist  eine  halbflüssige  eiweissartige 
Substanz,  welche  viele,  das  Licht  stark  brechende  Bläschen  (Köm- 
chen) enthält,  und  dadurch  mehr  weniger  undurchsichtig  wird. 
Drückt  man  das  Ei  durch  ein  aufgelegtes  Glasplättchen  flach^  so 
platzt  die  Dotterhaut  mit  einem  scharfrandigen  Riss,  und  die  sstthe 
Dotterflüssigkeit  tritt  heraus.    Der  Dotter  enthält  bei  reifen  * 


778  9*  Sil«  ScbickMle  dos  FoUieulut  Qraafii  und  des  Eies. 

einnimmt^  und,  seiner  gelbröthlichen  Farbe  wegen,  Corpus  luteum 
genannt  wird.  Die  vernarbte  Oeffniing  des  Follikels  heisst  Cicatfix. 
Die  gelbe  Farbe  verdanken  die  Corpora  lutea  dem  llämatoidin, 
welches  in  ihnen  ebenso  abgelagert  wird,  wie  in  allen  Blutextra- 
vasaten.  Da  dieser  Stoff  in  Weingeist  sich  entfärbt,  so  erklärt  sich 
hieraus,  wai*um  die  gelben  Körper,  wenn  sie  in  Spiritus  aufbewahrt 
worden,  ihre  Farbe  verlieren.  Je  grösser  die  Zahl  der  voraus- 
gegangenen Menstruationen,  also  je  älter  das  Individuum,  desto 
narbonreicher  zeigt  sich  die  Oberfläche  der  Eierstöcke.  Bei  einem 
Mädchen,  welches  nach  der  achten  Menstruation  an  Lungenentzün- 
dung starb,  fand  ich  in  jedem  Eierstocke  vier  Narben.  Wurde  das 
Ei,  welches  aus  dem  Graafschen  Follikel  austrat,  befruchtet,  und 
tritt  Schwangerschaft  ein,  so  wird  das  nun  sich  bildende  Corpus 
luteum  viel  grösser  sein,  als  wenn  keine  Schwangerschaft  erfolgte. 
Der  lang  andauernde  Reizungszustand,  welchen  die  fortschreitende 
Entwicklung  eines  befruchteten  Eies  während  der  Schwangerschafts- 
dauer im  weiblichen  Geschlechtsorgan  unterhält,  wird  nämlich  eine 
copiösere  Ausschwitzung  von  plastischen  Stoffen  im  geborstenen 
Graafschen  Follikel  und  eine  reichlichere  Neubildung  veranlassen, 
als  die  nach  wenig  Tagen  wieder  schwindende  Gefassaufreguug  im 
Eierstocke  während  der  Menstruation.  Man  unterscheidet  deshalb 
wahre  und  falsche  Corpora  lutea.  Ein  wahres  Corpus  luteum  er- 
hält sich  durch  die  ganze  Schwangerschaftsdauer;  ein  falsches  ver- 
schwindet schon  nach  sechs  bis  acht  Wochen.  Die  falschen  sind 
immer  klein;  —  die  wahren  können  selbst  grösser  als  der  Eier- 
stock sein. 

Dass  sieh  auch  ausser  der  Menstruationszeit  durch  einen  be- 
fruchtenden Beischlaf  ein  Graaf  scher  Follikel  öffnen,  und  sein  Ei 
entleeren  könne,  ist  eine  Vermuthung,  welche  durch  Bisch  off  s 
Arbeiten  zwar  nicht  als  unmöglich  erscheint,  aber.  Alles  erwogen, 
sehr  unwahrscheinlich  klingt.  —  Da  der  Same  in  der  That  durch 
die  Tuben  bis  auf  den  Eierstock  gelangt,  und  daselbst  seine  be- 
fruchtende Kraft  einige  Zeit  bewahrt,  so  wird  wohl  in  der  Regel 
die  Befruchtung  des  Eichens  unmittelbar  bei  seinem  Austritt  vom 
Eierstock  selbst  stattfinden.  Es  ist  jedoch  nicht  unmöglich,  dass 
ein  bei  der  Menstniation  in  die  Tuba  gelangtes  Ei,  in  ihr  oder 
vielleicht  erst  in  der  Uterushöhle,  durch  den  Samen  einer  bereits 
vorausgegangenen,  oder  nun  erst  stattfindenden  Begattung  be- 
fruchtet wird. 

/  So  weit  wäre  nun  Alles  recht.  Nur  begreift  man  dabei  nicht, 
warum  die  Frauen  nicht  fortwährend  schwanger  sind,  und  aus  dem 
Schwangersein  ihr  I^ebelang  nicht  herauskommen,  da  es  doch  bei 
gesundem  Zustande  des  Eierstockes  nicht  an  der  inneren  Bedingung 


S.  SU.  0«b&nnnttar.  Aeass«re  YerhUtniM«  daraalben.  779 

dazu^  und  ebensowenig  an  der  objectiven  äusseren  Bedingung^  legaler 
oder  illegaler  Weise  fehlt. 

Dass  auch  Mädchen,  welche  noch  nicht  menstruirt  haben,  und 
Frauen,  welche  schon  aufgehört  haben  zu  menstruiren,  schwanger 
geworden  sind,  ist  durch  Beobachtungen  constatirt,  welche  aller- 
dings zu  den  Seltenheiten  gehören.  Es  lässt  sich  daraus  nur 
schliesson,  dass  das  Bersten  eines  Follikels,  und  die  Entleerung 
seines  Eies  auch  stattfinden  könne,  ohne  von  einer  solchen  Gefkss* 
aufrcgung  im  Sexualorgan  begleitet  zu  sein,  welche  zum  Blutabgang 
führt.  Das  Menstrualblut  ist  übrigens  ganz  gewöhnliches  Blut, 
welchem  Schleim  aus  den  Gcschlcchtswegen,  insbesondere  aus  der 
Scheide,  in  grösserer  oder  geringerer  Menge  beigemischt  ist.  Blut- 
flecken in  der  Wäsche  sind  deshalb,  wenn  sie  von  Menstrualblut 
herrühren,  steifer  als  Blutflecken  von  Verwundungen.  Erstere  haben 
auch  einen  lichten  Kand,  weil  sich  der  Schleim  weiter  in  der  I ^ein- 
wand fortsaugt,  als  die  rothen  Blutkörperchen  des  Blutes.  Dieser 
Unterschied  der  Blutflecken  und  Blutspuren  kann  bei  einem  ärzt- 
lichen Gutachten  in  gerichtlichen  Fällen  sehr  gut  verwerthet  werden. 

Ausführliches  über  die  Corpora  lutea  gab  Uia  im  Archiv  für  mikroskopische 
Anat.  I.  Bd. 

Wenn  nun  das  Ovarium  bei  jeder  Menstruation  ein  £i  verliert,  und  dessen 
Graafsche  Hülle  zu  einem  Corptu  luteum  verödet,  so  muss  sein  Vorrath  an  Eiern 
einmal  erschöpft  werden,  und  entwickeln  sich  mittlerweile  keine  neuen  mehr,  so 
erlischt  das  weibliche  Zeugungsvermögvn,  was  durch  das  Schweigen  der  Men- 
struation vor  den  Fünfziger  Jahren  fanni  climactericij  angezeigt  wird. 


§.  312.  öebärmutter.  Aeussere  Verhältnisse  derselben. 

Die  Gebärmutter  heisst  auch  Fruehthälter,  Bärmutter, 
und  Mutter  kurzweg,  Uterm*)  s.  Matrix,  von  (AifiTpa,  daher  ü/e^rä^ 
(Gebärmutterentzündung).  Der  Ausdruck  ücrcepa,  woher  HyUeria  (Mutter- 
krampf) abgeleitet  ist,  stammt  von  üoTspo;,  der  letzte,  indem  der  Ute- 
rus das   unterste  oder  letzte  Eingeweide  im  Leibe  des  Weibes  ist. 

Die  Gebärmutter  lagert  als  ein  unpaariges,  hohles,  und  sehr 
dickwandiges  Organ,  zwischen  Blase  und  Mastdarm.  Sie  brütet,  so 
zu    sagen,    das    empfangene    und    befruchtete    Ei    aus,  dessen  Ent- 


*)  Uteru/i  stammt  von  tUer,  ntrü,  Hchlanch,  da  der  Uterus  bieornia  der 
Hausthiere,  welchen  man  frülier  kannte,  als  den  einfachen  Utems  des  menschlichen 
Weibes,  zwei  lange  häutige  Schläuche  repräsentirt,  besonders  im  geschwängerten 
Zustande.  Matrix,  woher  das  französische  la  ruatrice,  für  Uterua,  finden  wir  suent 
bei  Seneca.  —  Das  deutsche  Wort  Mutter  drückt  etwas  Hohles,  Enthaltendet, 
auch  Entwickelndes  aus,  wie  wir  aus  Perlmutter,  Schraubenmatter,  Esaigmattor, 
und  Muttcrgcstein  (welches  andere  Mineralien  einschliesst)  ersehen.  Gebftrmiitt''* 
aber  ist  wohl  nur  ans  Bärmutter,  d.  L  Tragmatter  entstanden,  Yon  dem  i|lldi 
baeren,  gothisch  hairan,  beide  verwandt  mit  ^ipciv,  d.  L  trugen  (englf^^*' 
noch  in  Bahre  erhalten.    Der  Nfttorphilosoph  Oken  nennt  den  Uti 


780  S*  SIS-  Geb&rmatter.  Aeassere  Verhftlftnisse  denelbAn. 

Wicklung  bis  zur  Reife  des  Embryo  in  ihr  von  Statten  geht.  Sie 
hat  eine  länglich  birnförmige,  von  vorn  nach  hinten  etwas  ab- 
geplattete Gestalt.  Ihre  lange  Axe  steht  nahezu  senkrecht  auf  der 
Conjugata^  mit  geringer  Abweichung  nach  rechts,  wahrscheinlich 
wegen  linkseitiger  Lage  des  Mastdarmes.  Ihr  breiter  und  dicker 
Grund,  Fundus,  liegt  in  der  Ebene  der  oberen  Beckenapertur.  Er 
ist  nach  oben  und  vorn  gerichtet,  während  der  sich  verschmächtigende, 
cylindrische  Hals,  CoUum  s.  Cervixy  nach  unten  und  hinten  sieht. 
Zwischen  Grund  und  Hals  liegt  der  Körper  der  Gebärmutter.  Die 
Insertionsstellen  der  beiden  Eileiter  bilden  die  Grenze  zwischen 
dem  Körper  und  dem  Grunde  der  Gebärmutter.  Eine,  besonders 
bei  jugendlichen  Personen  deutliche  Einschnürung,  bezeichnet  jene 
zwischen  Körper  und  Hals.  Der  unterste  Abschnitt  des  Halses  ragt 
wie  ein  Pfropf  in  die  Mutterscheide  hinein,  welche  sich  rings  um 
ihn  anschliesst,  wie  eine  Calix  renum  um  eine  Nieren warze,  und 
heisst  Scheidentheil  der  Gebärmutter,  Portio  vaginalis  uteri, 
Mntterkegel  unserer  Hebammen.  —  Die  vordere  Fläche  des 
Körpers  der  Gebärmutter  ist  flacher  als  die  hintere,  und  zugleich 
von  oben  nach  unten  etwas  concav,  um  sich  besser  an  die  hintere 
Fläche  der  vollen  Harnblase  anzuschmiegen.  Die  Seitenränder, 
welche  die  vordere  und  hintere  Utemsfläche  von  einander  trennen, 
dienen  den  breiten  Mutterbändem,  Ligamenta  lata,  welche  in  den 
äusseren  serösen  Ueberzug  der  Gebärmutter  übergehen,  zum  Ansatz. 
Die  Grösse  der  Gebärmutter  anzugeben,  ist  eine  missliche  Sache. 
Begreiflicherweise  wird  sie  bei  Jungfrauen  und  Müttern  eine  andere 
sein.  Zwei  Zoll  Länge,  auf  anderthalb  Zoll  Breite  und  ein  Zoll 
Dicke  am  Grunde,  mag  als  beiläufiges  Maass  eines  jungfräulichen 
Uterus  gelten.  Am  meisten  individuelle  Verschiedenheiten  bietet 
die  Portio  vaginalis  uteri  dar.  Ihre  Länge  misst  circa  drei  Linien; 
kann  aber  abnormer  Weise  bis  auf  anderthalb  Zoll  zunehmen 
(Lisfranc). 

Die  runden  Mutterbänder,  Ligamenta  rotunda,  sind  wahre 
Verlängerungen  der  Gebärmuttersubstanz,  welche  von  den  Seiten 
des  Grundes  als  rundliche,  in  der  vorderen  Lamelle  der  breiten 
Mutterbänder  eingeschlossene  Stränge  abgehen,  und  durch  den  Leisten- 
kanal zur  äusseren  Schamgegend  verlaufen,  wo  sie  sich  im  Gewebe 
der  grossen  Schamlippen  verlieren.  Nebst  den  breiten  und  runden 
Mutterbändern  tragen  die  faltenaitigen  Uebergangsstellen  des  Bauch- 
fells von  der  Blase  zum  Uterus  (Ligamenta  vesico-uterina),  und  vom 
Rectum  zum  Uterus  (Ligamenta  recto-uierina)  zur  Sicherung  der 
Lage  der  Gebärmutter  bei,  und  werden  dies  um  so  leichter  thun, 
da  sie  wirkliche  Bandfasern  von  bedeutender  Stärke  einschliessen, 
welche  der  Fascia  hypogastrica  angehören. 


9.  818.  Gebirnntterbdlile.  781 

Für  die  manaelle  Exploration  der  Gebärmutter  zu  praktischen  Zwecken,  ist 
es  nothwendig  zu  wissen,  dass  sie,  durch  ihre  eigene  Schwere,  bei  aufrechter 
Stellung  des  Leibes  tiefer  zu  stehen  kommt,  ja  der  Scheidentheil  so  weit  herab- 
rückt, dass  er  mit  dem  Finger  leicht  erreicht  werden  kann.  Jede  Action  der 
Bauchpresse  treibt  den  Uterus  tiefer  in  die  Beckenhöhle  herab.  —  Nach  voraus- 
gegangenen Geburten  nimmt  der  Uterus  nie  wieder  seine  jungfräulichen  Dimen- 
sionen an,  und  rückt,  wegen  Relaxation  seiner  Befestig^gen,  etwas  tiefer  in  die 
Beckenhöhle  herab,  was  auch  vorübergehend  bei  jeder  Monatreinigung  der  Fall 
ist.  —  Die  Nachbarorgane  der  Gebärmutter,  welche  bei  deren  Vergrösserung  in 
der  Schwangerschaft,  durch  Druck  zu  leiden  haben,  erklären  die  Stuhl-  und  Harn- 
beschwerden, das  schwere  Athmen,  die  Gelbsucht,  das  Anschwellen  der  Füsse,  das 
Einschlafen  derselben,  das  Wölben  und  Hartwerden  des  Unterleibes,  und  die  da- 
durch bedingte  stärkere  Bieg^g  des  Oberleibes  nach  hinten,  mit  Vermehrung  der 
Lendencurvatur  der  Wirbelsäule,  um  die  Schwerpimktslinie  zwischen  den  Beinen 
zu  erhalten.  Man  kennt  es  aus  letzterem  Grunde  einer  Frau  auch  von  rückwärts 
an,  ob  sie  guter  Hoffiiung  ist. 


§.313.  öebärmutterliölile. 

Die  Gebärmutterhöhle  (Cavum  uteri)  muss,  im  Verhältnisse 
zur  Grösse  des  Organs,  klein  genannt  werden.  Ihre  Gestalt  gleicht 
im  Durchschnitte  (bei  Frauen,  welche  noch  nicht  geboren  haben), 
einem  Dreieck  mit  eingebogenen  Seiten.  Die  Basis  des  Dreieckes 
entspricht  dem  Grunde  der  Gebärmutter,  —  die  beiden  Basalwinkel 
enthalten  die  Einmündungen  der  beiden  Eileiter,  —  die  untere 
Spitze  des  Dreieckes  setzt  sich  in  einen,  durch  die  Axe  des  Gebär- 
mutterhalses in  die  Scheide  herabführendeu  Kanal  fort,  Canalü 
cervicis  ut&ii.  Dieser  Kanal  ist  in  der  Mitte  seiner  Länge  weiter 
als  an  seinem  oberen  und  unteren  Ende.  Das  mit  der  Gebärmutter- 
höhle in  Zusammenhang  stehende  obere  Ende  des  Kanals  heisst: 
innerer  Muttermund  (Chificium  uteHnum),  und  das  untere,  in  die 
Scheide  führende:  äusserer  Muttermund  (Orißdum  vaginale). 
Der  äussere  Muttermund  ist  bei  Frauen,  welche  noch  nicht  geboren 
haben,  eine  quere  Spalte,  mit  einer  vorderen  längeren,  und  einer 
hinteren  kürzeren  Lippe  (Lahium  ant&rivs  et  posterius) ;  bei  Weibern 
dagegen,  welche  schon  öfters  geboren  haben,  von  rundlicher  Form. 
—  Die  vordere  und  hintere  Wand  der  Uterushöhle  stehen  in  Con- 
tact,  und  die  Höhle  kann  somit  kein  eigentlicher  Hohlraum  mit  ab- 
stehenden Wänden  sein,  sondei*n  bildet  sich  erst,  wenn  die  zusammen- 
schliessenden  Wände  durch  was  immer  für  einen  Einschub  von 
einander  entfernt  werden. 

Durch  Schwangerschaft  ausgedehnt,  nimmt  der  äussere  Muttermund  nie 
wieder  seine  querspaltige  Gestalt  an,  sondern  wird  rundlich,  klafft  mehr,  und 
seine  Umrandung  erscheint  gekerbt,  durch  Temarbte  Einrisse  an  derselben.  Solche 
Einrisse  ereignen  sich  gMii  f*^  '*'  '***'  aUen  Entgeblrenden,   und  sind  nicht 

gef&hxlich,  vüiftimr^  ^^  der  Regel  auch  der 


782  §.  814.  Ban  d«r  Gebärmatter. 

Fall  ist.  —  Bei  bejahrten  Frauen,  welche  oft  geboren  haben,  kann  die  Portio 
vaginaUft  uteri  ganz  verstreichen,  und  der  Muttermund  steht  dann  am  obersten 
blinden  Ende  der  Scheide.  Das  knorpelharte  Anfühlen  der  Lippen  eines  jung- 
fräulichen Muttermundes  (ähnlich  der  Mundspalte  einer  Schleie,  Cyprintia  tmca), 
hat  XU  der  Benennung  Os  Uncae  (Schleienmaul)  Anlass  gegeben,  welches  zu 
meiner  Schülerzeit  noch  mit  Tinkaknochen  übersetzt,  und  selbst  zu  Os  tineae 
(tinea  ist  Kopfgrind)  corrumpirt  wurde.  Lieutaud  hat  diese  Benennung  zuerst 
in  die  Anatomie  eingeführt,  als  muaeau  de  tanche.  —  Zuweilen  erscheint  die  Portio 
vaginalis  schief  abgestutzt,  welche  Form  Ricord  als  col  tapirdid  bezeichnet 
(Schweinsrüssel,  Hundsschnauze  unserer  gebildeton  Hebammen). 


§.  314.  Bau  der  öebännutter. 

Man  unterscheidet  an  der  Gebärmutter  drei  Schichten. 

Die  äussere  gehört  dem  Bauchfell  an,  welches  von  der  hin- 
teren Blasenfläche  auf  die  vordere  Gebärmutterfläche  gelangt,  den 
Grund  und  die  hintere  Fläche  des  Uterus  überzieht,  und  an  den 
Seiten  wänden  mit  den  breiten  Mutterbändern  zusammen  fliesst. 

Die  innere  ist  eine  Schleimhaut,  welche  sich  in  die  Eileiter 
fortsetzt.  Sie  besitzt,  wie  ich  mit  Sicherheit  behaupten  kann,  bei 
Jungfrauen  Flimmerepithel  bis  beiläufig  in  die  Mitte  des  Canalis 
cervicis  ut&i^i  herab,  wo  geschichtetes  Pflasterepithel  beginnt.  Die 
Verschiedenheit  der  Angaben  über  die  Ausdehnung  des  Flimraer- 
epithels  in  der  Gebärmutterhohle,  lässt  sich  vielleicht  daraus  er- 
klären, dass  das  Alter  und  die  Menstruation,  bei  welcher  das  Epithel 
streckenweise  abgestossen  wird,  auf  diese  Angaben  Einfluss  ge- 
nommen haben.  —  Die  Schleimhaut  der  Gebärmutter  lässt  sich 
nur  mit  der  grössten  Vorsicht  und  nur  streckenweise,  als  continuir- 
liche  Membran  anatomisch  darstellen,  da  sie  mit  der  nächst  an  sie 
grenzenden,  mittleren  Schichte  der  (Gebärmutter,  ohne  Vermittlung 
eines  subraucösen  Bindegewebes,  auf  das  Genaueste  zusammenhängt. 
Im  Cervix  uteri  bildet  sie,  an  der  vorderen  und  hinteren  Wand  des 
Canalis  cervicls,  eine  longitudinale  Falte,  von  welcher  seitwärts 
kleinere  Fältchen  schief  abgehen,  welche  zusammengenommen  dem 
Schafte  einer  Feder  mit  der  Fahne  gleichen,  und  Palmas  plicatae 
8.  Arbor  vitae  8.  Lyra  genannt  werden.  Zwischen  den  Fältchen 
finden  sich  einfache,  schlaucliförmige,  aber  kurze  Buchten,  welche 
man  für  Schleimdrüschcn  hält,  so  wie  auch  zerstreute,  vollkommen 
geschlossene,  über  die  Fältchen  vorragende,  mit  schleimiger  oder 
colloider  Flüssigkeit  gefiillte  Bläschen  (vielleicht  infarcirtc  Schleim- 
drüschcn), welche  Ovula  NabotJu  heissen.  Martin  Naboth,  Pro- 
fessor zu  Leipzig,  ein  sonst  ganz  unbekannter  Mann,  suchte  diesen 
Bläschen,  welche  die  Anatomen  bisher  für  Hydatiden  hielten,  die 
Bedeutung  der  wahren  menschlichen  Eier  zu  vindicircn  (DUs.  de 
8terüitate,   Lip8.   1707,  §,   12.   13).   —    In   der   unteren   Hälfte   des 


§.  914.  Bau  der  Qebännntter.  783 

CanaJU  cet^vicü,  so  wie  auf  der  Gesammtoberfläche  der  Pars  vagi- 
nalis uteri,  besitzt  die  Sehleimhaut  eine  bedeutende  Menge  nerven- 
reicher  Papillen,  und  erhält  dadurch  einen  Grad  von  Empfindlichkeit, 
welcher  den  eigentlichen  Sitz  des  weiblichen  Wollustgefühles  bei 
der  Begattung,  in  dem  Scheidentheil  der  Gebärmutter  annehmen 
lässt.  —  Im  Cavura  uteri  erscheint  die  Schleimhaut  vollkommen 
faltenlos,  und  überaus  reich  an  mikroskopischen,  tubulösen,  un- 
getheilten  oder  ästig  gespaltenen  Drüschen  (Glandulae  utriculares), 
welche  bis  in  die  muskulöse  Gebärrauttcrsubstanz  (mittlere  Schichte 
der  Gebärmutter)  hineinreichen.  Die  Menge  derselben  ist  so  be- 
deutend, dass  das,  was  man  Schleimhaut  des  Uterus  nennt,  eigent- 
lich nur  als  die  Summe  dieser  Drüschen  angesehen  werden  muss. 
Das  flimmernde  Epithel  der  Uterusschleimhaut  kleidet  die  Schläuche 
der  Drüschen  aus.  —  In  der  Periode  der  monatlichen  Reinigung 
lockert  sich  die  Uterusschleimhaut  auf,  wird  drei-  bis  viermal 
dicker,  und  wirft  ihr  Epithel  ab,  welches  alsbald  durch  neue»  er- 
setzt wird.  In  der  Schwangerschaft  schält  sich  die  Schleimhaut 
gänzlich  vom  Uterus  ab,  und  wird  als  Membrana  decidua  sammt 
den  Hüllen  der  Frucht  ausgestosscn.  Schon  während  des  Abschälens 
der  alten  Schleimhaut,  beginnt  die  Bildung  einer  neuen. 

Die  mittlere  Schichte  der  Gebärmutter  bildet  die  eigent- 
liche Gebärmuttersubstanz,  welche,  bei  dem  Missverhältnisse 
des  Volumens  zur  kleinen  Höhle  des  Uterus,  eine  bedeutende  Dicke 
haben  muss,  und  zugleich  ein  so  dichtes  Gewebe  besitzt,  dass,  nach 
dem  Gefühle  zu  urtheilen,  die  Gebärmutter  nächst  der  männlichen 
Prostata,  das  härteste  Eingeweide  ist.  Vielleicht  beruht  eben  hierauf 
die  grosse  Geneigtheit  beider  Organe  zu  jenen  Erkrankungen, 
welche  man  unter  dem  Namen  Verhärtungen  zusammenfasst.  — 
Die  eigentliche  Gebärmuttersubstanz  besteht  vorzugsweise  aus  Bün- 
deln organischer  Muskelfasern,  welche  sich  vielfiiltig  durchkreuzen, 
und  durch  ein  spärliches  homogenes,  oder  schwach  gefasertes,  kern- 
führendes Bindegewebe,  so  innig  mit  einander  verbunden  werden, 
dass  eine  Trennung  derselben  in  einzelne  Schichten  kaum  ausführ- 
bar wird.  Man  kann  an  durchschnittenen  und  gehärteten  Uteri, 
nebst  Längen-  und  Kreisfaserbündeln,  auch  schief  von  einer  Uterus- 
hälfte  auf  die  andere  übersetzende,  und  somit  sich  in  der  Median- 
linie kreuzende  Bündel  unterscheiden.  Die  Kreisfasern  haben  die 
drei  Oeffnungen  des  Uterus  zu  ihren  Mittelpunkten;  die  Längen- 
fasern gehen  schlingenförmig  von  der  vorderen  zur  hinteren  Fläche. 
Bindegewebe,  Blutgefässe,  und  Nervengeflechte,  welche  aus  spinalen 
und  sympathischen  Elementen  bestehen,  lagern  in  den  Zwischen- 
räumen der  Muskelbündel. 

Die  MaskeUehichte  der  Gebinmiller  ist  es,  welofae  sich  an  der  Znni^nie 
der  Wanddicke  eines  sohwangenn  ii^rt.   8i6  hat  ja  die 


784  S.  815.  Eileiter. 

Kraft  aufzubringen,  durch  welche  der  reife  Embryo  aus  seinem  bisherigen  Anf- 
enthalteorte  ausgetrieben  werden  muss.  Die  Dicke  dieser  Muskelschichte  wird  in 
der  Schwangerschaft  durch  Neubildung  von  Muskelfasern  an  Zahl  so  bedeutend 
vermehrt,  dass  die  Zusammenziehungen  der  Gebärmutter  die  g^össten  Geburts- 
hindemisse  zu  überwältigen  vermögen,  und  selbst  Schwangere,  an  denen  der 
Kaiserschnitt  vorbereitet  wurde,  durch  eine  letzte  Wehenanstrengung,  auf  natür- 
lichem Wege  gebaren.  —  Die  organischen  Muskelfasern  der  Gebärmutter  setzen 
sich  in  die  runden  Mutterbänder,  in  das  Ligatnentum  ovarü  proprium,  und  in  die 
Eileiter  fort  Auch  zwischen  den  Blättern  der  breiten  Gebärmutterbänder  hat  man 
Muskelfasern  gefunden,  welche  mit  jenen  der  Gebärmutter  in  Verbindung  stehen. 
—  TJeber  Verbreitung  und  Verlauf  der  Muskelfasern  in  der  nicht  schwangeren 
Gebärmutter,  wurden  von  R.  Kreitzer  in  der  Petersburger  med.  Zeitschr.,  1871, 
umfassende  Untersuchungen  veröffentlicht 

Die  Arterien  der  Gebärmutter  verlaufen  im  schwangeren  und  nicht  schwan- 
geren Zustande  in  kurz  gewundenen  Spiralen.  Die  Venen  sind  mit  der  sie  um- 
gebenden Uterussubstanz  auf  das  Innigste  verwachsen,  und  klaffen  deshalb  an 
der  Schnittfläche  einer  Gebärmutter.  Sie  nehmen  während  der  Schwangerschaft 
in  so  erstaunlicher  Weise  an  Dicke  zu,  dass  sie  sich  beim  Durchschnitte  als  finger- 
grosse  Lücken  zeigen,  welche  man  früher  ftir  Sinus  hielt 

Es  handelt  sich  in  praxi  öfters  dämm,  zu  entscheiden,  ob  eine  tiefere 
Stellung  des  Uterus  im  Becken,  durch  abnorme,  angebome  Kürze  der  Vagina, 
oder  durch  Relaxation  der  Befestigung^mittel  des  Uterus  beding^  ist  Im  ersteren 
Falle  kann  der  Uterus  durch  den  in  die  Vagina  eingeführten  Finger  nicht  empor- 
gedrängt werden,  was  im  letzteren  Falle  leicht  gelingt.  Die  angeborene  Kürze  der 
Vagina  ist  ein  wichtigerer  Formfehler,  als  es  auf  den  ersten  Blick  erscheint  Er 
macht  die  Begattung  schmerzhaft,  und  unterhält  dadurch  einen  chronischen  Bei- 
ztuigszustand  in  der  Gebärmutter,  welcher  zu  bedenklichen  Folgeübeln  führen  kann. 
Cruveilhier  hat  in  einem  solchen  Falle  das  OaUitm  uteri  so  erweitert  gefimden, 
dass  kein  Zweifel  obwalten  konnte,  der  Penis  habe,  durch  sein  Eindringen  bis  in 
die  Höhle  des  Uterus,  diese  Erweiterung  erzeugt.  Eine  andere  Consequenz  der 
abnormen  Künse  der  Scheide  ist  eine  durch  die  Begattung  bedingte,  derartige 
Verlängerung  de»  hinter  der  Par«  vaginalis  uteri  befindlichen  Fornix  vaginae  (le 
vagin  artificiel  bei  französischen  Autoren),  dass  diese  künstlich  entstandene  Scheiden - 
Verlängerung,  die  Länge  der  natürlichen  Scheide  noch  übertrifft 


§.  315.  Eileiter. 

Hinter  den  runden  Mutterbändern  gehen  vom  Fundus  der 
Gebärmutter  die  beiden  Eileiter  oder  Muttertrompeten  ab,  Ovi- 
ductus  8.  Tubae  Fallopianae,  welche  mehr  weniger  geschlängelt,  im 
oberen  freien  Rande  der  breiten  Mutterbänder  liegen.  Ihre  mit  der 
Gebärmutter  zusammenhängende  innere  Hälfte,  zeigt  am  Querschnitt 
nur  ein  äusserst  enges  punktförmiges  Lumen,  und  heisst  deshalb 
Isthmus.  Ihre  äussere  Hälfte  dagegen  erweitert  sich  zur  sogenannten 
AmpuUa.  Während  man  im  Alterthume  das  vom  Eierstock  zum 
Gebärmuttergnmd  gehende  Ligamentum  ovarii  proprium  für  den 
Ausfuhrungsgang  des  Eierstockes  hielt,  und  ihn,  dieser  Idee  ent- 
sprechend,  Ductus  ejaadatarius  femininus  nannte,   zeigte   Fallopia 


§.  915.  Eileiter.  785 

zuerst,  (lass  die  von  ihm  als  Tubae  bezeichneten  Kanäle,  die  wahren 
Ausführungsgänge  des  Eierstockes  sind,  obwohl  sie  mit  dem  Eier- 
stock nicht  continuirlich  zusammenhängen.  Deshalb  fuhren  sie  auch 
seinen  Namen.  Jede  Tuba  bildet  einen,  etwa  vier  Zoll  langen  Kanal, 
welcher  zwar  mit  der  Höhle  der  Gebärmutter  durch  das  sehr  enge 
Ostium  tubae  uterinum  zusammenhängt,  an  seinem  äusseren  Ende 
aber,  welches  vor  und  unter  dem  Ovarium  liegt,  nicht  mit  dem 
Eierstocke  in  Verbindung  steht,  sondern  mit  einer  weit  offenen 
Mündung  (Ostium  tubae  abdominale)  in  den  Bauchfellsack  sich  öffnet. 
Diese  Oeffnung  erscheint  trichterförmig,  als  Infundibulum,  und  ist 
mit  ästigen  Fransen,  Fimbriae  8.  Laciniae,  besetzt.  Lacitiia  stammt 
von  Xaxi<;,  Franse  oder  Fetzen,  woher  lacerare.  Die  Fransen  geben 
dieser  Oeffnung  das  Ansehen,  als  wäre  sie  durch  Abbeissen  oder 
Abreissen  entstanden.  Daher  schreibt  sich  der  bei  den  Alten  ge- 
bräuchliche Name:  Morsus  diaholi.  Der  böse  Feind  hat,  seit  Eva's 
Zeiten,  mehr  mit  der  Weiber-  als  Männerwelt  zu  schaffen  gehabt. 
Der  Schwabenspiegel  (1273)  sagt  deshalb :  Mulier  est  malleus,  per 
quem  diabolus  mollit  et  malleat  Universum  mundum,  —  Die  Benennung 
aber  Morsu^s  diaboli,  ist  aus  der  Botanik  entlehnt.  Eine  Pflanze, 
welche  einst  ihrer  adstringirenden  Wirkung  wegen,  zur  Heilung  von 
Wunden  und  Geschwüren  sehr  stark  im  Gebrauche  war,  führt  den 
Namen  Scabiosa  succisa.  Ihre  ausgefaserte  Wurzel  sieht  wie  ab- 
genagt aus  (Radix  praemorsa),  indem  der  Teufel,  aus  Verdruss  über 
die  guten  Dienste,  welche  diese  Pflanze  der  leidenden  Menschheit 
erwies,  ihr  in  seinem  Ingrimm,  die  Wurzel  abbiss.  So  sagt  das 
Mährchen  der  alten  abergläubischen  Kräutersammler. 

Die  Eileiter  besitzen  drei  Wandschichten:  eine  äussere  Peri- 
tonealhülle,  eine  innere  Schleimhaut  mit  Flimmerepithel,  und  eine 
dazwischen  liegende,  aus  einem  äusseren  longitudinalen,  und  inneren 
kreisförmigen  Stratum  bestehende  Muskelhaut.  Die  aus  reticulärem 
Bindegewebe  aufgebaute  Schleimhaut,  besitzt  nur  in  der  Ampulla 
blinddarmförmige  Drüschen,  und  eben  daselbst  auch  mehrere  faltige 
Erhebungen,  mit  seitlichen  Nebenfalten,  wodurch  die  aufgeschnittene 
Tuba  an  dieser  Stelle  ein  geftlchertes  Ansehen  darbietet.  Das 
Fliraraerepithel  der  Schleimhaut  der  Tuba  setzt  sich,  über  den  Rand 
des  Ostium  abdominale  tubas  hinaus,  auch  auf  die  äussere  Fläche 
der  Fimbrien  fort.  —  Am  Ostium  abdominale  tubae  geht  die  Schleim- 
haut der  Tuba  in  das  seröse  Bauchfell  über,  —  der  einzige  Fall 
des  Uebergangs  einer  Schleimhaut  in  eine  seröse  Haut. 

Nach  Richard^s  Beobachtun^n  (Thhae  inau^rale,  Pari*,  1851)  kommen 
zuweilen  an  den  Tuben,  ausser  den  beiden  endständigen  Oeffhungen,  noch  ge- 
franste Seitenö&iungen  vor.  Sie  wurden  in  dreissig  untersuchten  Fällen  fOnfmal 
gesehen,  und  zwar  entweder  in  der  Nähe  des  OffKiim  abdmiiiiindU,  oder  in  der 
Längenmitte  der  Tuba.    In   einem   FftUe   wir  ^  '*^"* 

kurze  membranöse  Bohre  aoigesogen.    W" 
Hyrtl,  Lehrbneb  der  Anatomie.  14.  Alf 


einiuat  in  lii'r  nnuiittp: 
^troffen.     Audi  amlei 


I    Nilh.'    de."    oigentüchen   OHium  abdami 
nicht  glflcklictii^r. 
dsBa  diu  KranBon  des   Olli 


c  tubue  an- 


n  abdoBXinale 


tuliae  das  Ovarium  in  jenem  Momente  umfasson,  in  welcheoi  durvli  Buralunj;  einns 
Oraarachen  Follikvli,  uin  Ei  &U9  dein  Eierstocke  abgebt.  Et  leuelitel  mir  nicht 
ein,  wie  dit^  Ksrlrn  FrainiicD  sicli  zu  i-iner  «olchen  Um k lamme mng  anacbicken 
tollen.  Es  mangflt  j»  an  freiem  BewegungBB|>ieIr»nm  der  unter  Hem  Druck  der 
Banehprease  stellenden  UnterleiliBbülile.  Man  niilaate  femer  den  Fransen  d«i 
Eileiters  eine  Art  von  Inatinct  ziiaclireilHn,  sicli  gerade  an  jenen  SleUen  dei 
Eieretockea  anzuklamoieni,  wu  elieii  ein  Follikel  kh  beraten  im  Begriffe  Ut.  Ich 
war  nicht  im  Stande,  dnreli  Üalraniairen  der  Eileiter  bei  Tliieren,  eine  Umklan- 
mernng  der  EiersUleke  dnrch  die  Fransen  des  InfondibiUum  hervoraanifen.  Die 
Art  lind  Weise,  wie  der  Ueliertritt  de«  Eies  aiia  dem  Eierstock  in  die  Tnba  be- 
werkstelligt wird,  liegt  also  nucb  im  Dunkel.  Daas  die  rnn  Delille  xncrat 
erwSbntc,  und  von  Henle  als  fimMa  onrica  bexeithnete  Franse,  bei  der  lieber- 
fltlming  des  Eies  in  die  Eileiter  betlieiligt  sein  kann,  will  ich  nicht  in  Abrede 
■teilen.  Dies«  Franse  ist  Ifinger  und  breiter  als  die  flbrigen,  gebt  mit  dem  Kusu^ren 
Endo  des  Eierstocke«  ainii  Vorbindung  ein,  und  faltet  «ich  «ugUii-h  der  Uüi^ 
nach  so.  dass  aie  eine  Kinne  bildet,  llings  welcher  das  El  unter  dem  ElnSuu« 
der  Flimmerliewt'gnng  in   der   Binne,   seinen  Weg   Knm  Trichter  der  Tal>a  Bnden 


mag. 


l&Bst  das  vom  Ovarinm  ausgestosaenu  Ei,  durch  die  Flimmer- 
bewegnng  der  Fimti>-ia  oariea  gleichaam  einfangen,  und  in  das  0*liuiii  tubae  ge- 
leiden.  Die  Beobachtung  Tbiry's  (GUttinger  Naohiichten,  18*12),  das«  sich  Lei 
den  Hatraebieni,  deren  Oviducto  siuli  weit  vom  Eierstock  entfernt  iiffnen,  wSlinnd 
der  Brunnt  fUrmliohe  Straaaen  von  Flimmcrapithel  auf  dem  Peritoneum  entwickeln, 
welelie  gegen  die  Oeffnung  <ler  Oviduule  uonvergiren,  guwührt  dieser  Ansicht  eiiw 
micbtigo  BlUbie.  —  Du  von  der  Tuba  aufgefangene  Ei,  wird  durch  sie  in  den  Uterus 
geleitet,  in  dessen  Höhle  es,  wenn  es  mittlerweile  nicht  befruchtet  wurde,  dnrcb 
Aufsaugung  verschwindet,  aber  weiten-  Ifmbildnngen  erfiihrl,  wenn  es  die  be- 
lebende Einwirkung  des  minnlicben  Samens  erfahr. 

Bevor  Fallopia  den  Eileitern  den  Namen  Tubae  gab,  Messen  aie  Oomua 
uteri  (Galen),  auch  Uealta  temümUi,  Vaaa  itmen  de/eretUia  «.  rjacuUUoria  ovarii, 
indem  man  vor  Altera  die  Ansieht  hegte,  daaa  der  in  den  Eierstöcken  abgesonderte 
weibliche  Same,  durch  die  Tnben  in  die  Gebttrmntter  geleitet  wllrdo,  um  sich 
dort  mit  dem  [nflnnlichen  Samen  üu  mischen,  ans  welcher  Mixtnr  sofort  die  Fmcht 
entstehen  sollte. 


l 


§.  311.1.  Mutterscheide. 

Dio  MuttefBcheidc  oder  Scheide,  Vagina,  v^hmz,  (ganz 
gegen  die  Regel :  proprta  quae  marUms,  im  FranzöBiaehen  als  „h 
Vagi»"  geTisria  mateuUni),  führt  vom  Utcrue  zur  iiasoeren  Hcliam.  Im 
Paarungsacte  nimmt  sie  däu  mStinliche  (ilied  vaginae  ad  inttar 
auf,  —  daher  ihr  Name.  Ihre  LSuge  wird  «uf  vier  Zoll  angegeben. 
Dieses  ist  unrichtig  für  die  Vai/ina  in  silu,  welehe  in  der  Regel 
nur  zwei  und  ein  halb  Zoll  lang  gefunden  wird.  Wo  müsste  bei 
vier  Zoll  Länge  der  Scheide,  der  zwei  Zoll  lange  Uterus  mit  seinem 
Grunde  stehen?  Gewiss  nahe  zwei  Zoll  über  dem  Niveau  der 
oberen  Beckenapertur,  v/na  nicht  der  Fall  ist.  —  Der  Querdurch- 
measer  der  Scheide  beträgt,  bei  gebührlicher  Weite,  nur  einsn  Zoll. 


S.  916.  Mttitoneheide.  787 

Die  Scheide  beginnt  in  der  äusseren  Schamspalte  mit  dem 
senkrecht  elliptischen  Scheideneingang,  Ostium  vcyintxe,  welcher 
der  engste  and  am  wenigsten  nachgiebige  Theil  der  ganzen  Scheide 
ist,  und  bei  der  ersten  Begattung  dem  Eindringen  des  Penis  stärkeren 
Widerstand  leistet^  als  das  Jungfernhäutchen.  Er  steht  noch  über- 
dies unter  dem  Einfluss  eines  der  Willkür  gehorchenden  Muskels, 
des  Scheid  en  seh  nur  ers,  Constrictor  cunni,  von  welchem  später  mehr. 

Die  Scheide  liegt  zwischen  Harnblase  und  Mastdarm  (inter 
fecea  et  urinas  iiascimur,  klagt  der  Kirchenvater),  und  endigt  nach 
oben  mit  dem  Scheidengewolbe,  Fomix,  in  welches  die  Pars 
vaginalis  uteri  als  stumpfer  kegelförmiger  Voi*sprung  hineinragt,  und  das 
Scheidengewölbe  in  ein  vorderes  seichteres,  und  hinteres  tieferes 
trennt.  Die  Axe  der  Scheide  stimmt  mit  der  Axe  des  kleinen  Beckens 
überein,  ist  somit  ein  Segment  einer  Kreislinie,  dessen  Concavität 
nach  vom  sieht.  Dieses  Umstandes  wegen  wird  die  vordere  Wand 
der  Scheide  etwas  kürzer  sein  müssen,  als  die  hintere,  und  das 
Scheidengewölbe  hinter  der  Portio  vaginalis  Vieri  tiefer  erscheinen, 
als  vor  derselben.  —  Die  vordere  und  die  hintere  Wand  der  Scheide 
stehen  im  Leben  nicht  von  einander  ab,  sondern  berühren  sich,  so 
lange  nichts  dazwischen  kommt.  —  Der  Peritonealüberzug  der  hin- 
teren Fläche  des  Uterus  erstreckt  sich  auch  auf  den  obersten  Theil 
der  hinteren  Scheidenwand  herab.  Die  vordere  Wand  der  Scheide 
steht  mit  der  Harnblase  nicht  blos  in  Contact,  sondern  in  Binde- 
gewebsverbindung ,  und  entbehrt  somit  des  Peritonealüberzuges 
gänzlich. 

Die  Wand  der  Scheide  wird  durch  eine  dicke,  mit  einer 
Schichte  organischer  Muskelfasern  umgebene  Bindegewebsmembran, 
welche  mit  elastischen  Fasern  durch  webt  ist,  und  durch  eine 
Schleimhaut  gebildet,  welche  spärliche  Schleimdrüsen,  aber  zahl- 
reiche Papillen,  und  ein  mehrfach  geschichtetes  Pflasterepithel 
besitzt,  dessen  beträchtliche  Dicke  die  Schleim hautpapiUen  fast  voll- 
kommen verdeckt,  und  dessen  massenhaft  sich  abstossende,  und  mit 
krankhaften  Secreten  der  Scheide  sich  mischende  ZeUen,  diesen 
Secreten  eine  weissliche  Farbe  verleihen,  woher  der  Name  weisser 
Flu  SS  (Fluor  albus,  Leucorrhoe)  stammt,  —  eine  Plage  vieler  Frauen, 
auch  mit  reinem  ehelichen  Gewissen.  Durch  Erschlaffung  der 
Schleimhaut  bedingt,  muss  dieser  Fluss,  als  Fluor  benignus,  von  dem 
durch  Ansteckung  hervorgerufenen  Fluor  malignus  wohl  unter- 
schieden werden. 

Die  Schleimhaut  bildet  an  der  vorderen  und  hinteren  Wand 
der  Scheide  ein  System  quer  übereinander  liegender,  gekerbter 
Falten  (Runzeln),  Columna  fUcarwn  anterior  et  posterior,  welche  dicht 
hinter  dem  Ostium  vaginae  extemum  am  entwickeltsten  und,  a|id 
gegen  den  Fomix  hinauf  allmälig 


788  S.  317.  Hymen. 

Durch  häufige  Beg^attung*,  und  nocli  mehr  durch  öftere  Geburten,  werden 
die  Runzeln  der  hinteren  Wand  der  Scheide  geglättet;  die  vorderen  erhalten  sich 
besser.  Ihre  Consistenz  ist  bei  weitem  härter,  als  jene  anderer  Schleimhautfalten. 
Ihre  Empfindlichkeit  steigert  während  der  Begattung  die  Geschlechtslnst  des 
Weibes,  imd  vermehrt,  durch  Reibung  an  der  Olans,  den  Impetua  coeundi  des 
Mannes.  Bei  Jungfrauen  fühlen  sie  sich  fast  knorpelhart  an.  Es  sind  jedoch 
diese  Falten  oder  Runzeln  nicht  als  Schleimhautduplicaturen  aufzufassen.  Ich  sehe 
in  ihnen  vielmehr  nur  Riflfe,  welche  auf  einer  ungefalteten  Schleimhaut,  als  ver- 
dickte und  aufgeworfene  Stellen  derselben  aufsitzen.  Nichtsdestoweniger  behält 
man  den  Namen  der  Falten  oder  Runzeln  bei,  obwohl  der  Ausdruck  CriaUiey 
Kämme,  wie  mir  scheint,  bezeichnender  wäre. 


§.  317.  Hymen. 

Die  Schleimhaut  des  Scheideneingangs  bildet  im  jungfräulichen 
Zustande  y  durch  Faltung  von  unten  auf,  eine  halbmondförmige 
Duplicatur  —  die  Scheidenklappe,  das  Jungfernhäutchen 
(Hymen*),  Membi*ana  mrginttatis,  Claustrum  mrgvnale,  Zona  castifafts, 
Sigülum  et  Custodia  virginitatis,  von  den  Hebammen  auch  Jungfern- 
schlö sslein  und  Jungfernschatz  genannt).  Ihr  oberer  concaver 
Rand  lässt  nur  so  viel  von  der  ScheidenöflFnung  frei,  als  der  Ab- 
fluss  der  monatlichen  Reinigung  erheischt.  Nach  Zerstörung  der- 
selben, bleiben  die  sogenannten  Cai^uiicula^  mifrüfarmesy  als  warzen- 
ähnliche  gekerbte  Reste  der  zerrissenen  Schleimhautlappen  zurück. 
Ein  zerstörter  Hymen  regenerirt  sich  nie: 

„NuUa  reparabilia  arte 
yfLaesa  pudicüia  est;  —  (leperii  iüa  seiiiel*^, 

(Ovid.) 

Die  Form  der  Scheidenklappe  unterliegt,  so  wie  ihre  Festig- 
keit, mancherlei  Verschiedenheiten.  Bei  alten  Jungfern  erreicht  sie 
eine  lederartige  Zähigkeit,  wie  schon  Spigelius  wusste.  Gewöhnlich 
erscheint  sie  halbmondförmig.  Zuweilen  ist  sie  ringförmig  (Hymen 
annulat'is},  und  die  Oeffnung  nicht  in  der  Mitte,  sondern  mehr 
nach  oben  gelegen.  Viel  seltener  hat  sie  mehrere  ( )effnungen  (Hymeit 
cribrifoi*nUs),  Der  Hyvieji  imperfitratus,  welcher  gar  keine  Oeffnung 
hat,  verfallt  dem  chirurgischen  Messer,  um  durch  einen  Einschnitt 
dem  Menstrualblut  Ausgang  zu  verschaffen.  —  Von  Luschka  wurde 
eine,    in    gerichtlich-medicinischer    Hinsicht    wichtige,    bisher   nicht 

*)  Das  griechische  0[jl/jv  bedeutet  überhaupt  jede  Haut  (Bauchfell,  Herz- 
beutel, Trommelfell,  Mittelfell,  n.  s.  w.),  und  unter  Beziehung  auf  das  Schicksal 
der  Jungfemhaat  einer  Braut,  auch  Hochzeitsgesang.  Die  lateinischen  Dichtt^r 
^besonders  Catullns)  besingen  diese  Membran  als  FIm  (cttm  autum  amisä,  jfoUu^o 
corpore  ßorernj.  Ich  erwHhne  dieses,  um  es  verständlich  zu  niHclien,  warum  in  der 
gerichtlichen  Medicin  die  Entjungfenmg  Deßoratio  heisst.  —  Merkwürdig  bleibt  es 
immer,  dass  es  Anatomen  gab,  welche  die  Existenz  eines  Jungfernhäutchens  durch- 
aus leugneten,  wie  Vamlius.  Lanrentius.  und  Pareus.  Vesalius  und  Co- 
lumbu.H  hielten  dasselbe   für   eine   grosse  Seltenheit,    selbst  für  etwas  Krankhaftes. 


§.818.  Aenssere  Scham.  789 

bekannte  Form  des  Hymen,  als  Hymen  ßvibiiatus  beschrieben.  Der 
Rand  der  HymenöflPhung  erscheint  nämlich  wie  durch  tiefe  Kerben 
gelappt  oder  gefranst,  und  erregt  dadurch  den  Gedanken  an  ver- 
suchte oder  vollzogene  mechanische  Sprengung  oder  Zerreissung 
desselben. 

Da»8  ein  fehlender  Hymen  den  Verlust  der  Jnngfrauschaft  nicht  verbürgt, 
ebensowenig  als  ein  vorhandener  ein  untrüglicher  Zeuge  jungfräulicher  Reinheit 
ist,  war  schon  lange  den  Gerichtsärzten  bekannt.  Es  wurden  angeborener  Mangel 
des  HymeUf  und  sniföUige  Zerreissung  desselben  im  zarten  Kindesalter  (durch  Ver- 
wundung, durch  Bohren  mit  dem  Finger  in  der  Scheide  bei  Pruritus  vermmonu) 
beobachtet  Dass  aber  durch  Reiten,  Springen,  oder  einen  Fall  mit  ausgespreizten 
Füssen,  das  PeUladium  virtjinüatia  abhanden  komme,  gehört  nach  Versuchen  mit 
zwei  Cadavem,  welche  ich  1836  anstellte,  zu  den  Unmöglichkeiten.  Auch  an 
Fällen,  wo  der  H3rmen  erst  durch  die  Geburt  zerrissen,  oder  bei  Prostituirten, 
(j^iae  jiuso  corpore  questum  faciurU,  unversehrt  gefunden  wurde,  fehlt  es  nicht.  — 
Einen  Hymen  in  Form  eines  breiten  Querbandes  in  der  Scheidenöffnung,  habe  ich 
einmal  gesehen. 

Die  Festigkeit  des  Hymen  kann  ein  unbesiegbares  Begattung^hindemiss 
abgeben,  und  die  Trennung  desselben  durch  den  Schnitt  nothwendig  machen.  — 
Da  der  Hymen  als  Duplicatur  der  Schleimhaut  aufgefasst  wird,  somit  auch  Blut- 
gefässe enthält,  so  wird  der  mit  der  ersten  Begattung  verbundene  Blutverlust 
bei  vielen  Völkern  als  Zeichen  der  Jungfrauschaft  der  Braut  genommen,  wie  noch 
heutzutage  bei  den  Mauren,  den  Juden  im  Orient,  den  Kirgisen  und  Samojeden. 
Auf  Sierra  Leona  wird,  bei  Fehlen  dieses  Zeichens,  die  Ehe  nichtig  erklärt.  — 
Einhufer,  Wiederkäuer,  Fleischfresser  und  Affen,  haben  ein  Analogon  des  Hymen ; 
die  übrigen  Thiere  nicht.  —  Die  Zerstörung  des  Hymen  bei  der  ersten  Begattung 
giebt  wohl  das  einzige  Beispiel  einer  auf  rein  mechanischem  Wege  bewerkstellig- 
ten, physiologischen  Vernichtung  eines  Organs.  Bei  sehr  verweichlichten  und 
verkommenen  Völkern  des  Alterthums,  war  die  Entjungferung  den  Götzenpriestem, 
im  Mittelalter  auch  dem  Gutsherrn  überlassen  (Jus  primae  noctis),  —  Im  Prager 
Museum  beünden  sich  die  Genitalien  eines  nocli  jungfräulichen  Mädchens  mit 
doppelter  Scheide.  Das  Mädchen  war  noch  nie  menstruirt.  An  beiden  Scheiden- 
eingängen fehlt  der  Hymen,  als  angeborener  Bildungsmangel. 


§.  318.  Aeussere  Schajn. 

Die  Faltenbildung,  welche  in  der  Gebärmutter  als  Palmae 
plicatae,  und  in  der  Scheide  als  Columnae  rugayiim  auftrat,  erhält 
in  der  äusseren  Scham  ihre  grösste  Entwicklung.  Die  weibliche 
Scham,  Pudendum  muliebre,  s,  Vulva,  8.  Cwanus,  besteht  nämlich 
aus  zwei  concentrischen  Faltenringen  —  den  grossen  und  kleinen 
Schamlippen,  zwischen  welchen  eine  senkrechte  Spalte  (Rima 
pvdendiy  Sdasuraj  t/iJ-^v^ol)  liegt,  welche  die  Mündungen  der  Harn- 
röhre und  der  Scheide  enthält. 

Die  grossen  Schamlippen,   Labia  majara,  erstrecken   sich 
vom   Schamhtigel   zum   Mittelfleisch ,    wo  sie   duroli  daf 
labiorum  mit  einander  verbanden   werden*:    1 


790  S.  318.  AeaMf  re  Scham. 

Frenulum,  vertieft  sich  die  Schamspalte  zur  schiffförmigen 
Grube,  Fossa  navicidaris,  einem  Lieblingssitz  der  venerischen  Con- 
dylome. Der  Schamhügel  (Mons  Veneris,  Pubes  crinosa,  bei  alten 
Anatomen,  eleganter  Weise  auch  Hebe,  von  i)ßrj,  Schamhaar,  und 
bei  den  Franzosen  Penil),  ist  nichts  anderes,  als  ein  durch  reich- 
liche Fettablagerung  im  PanniculuB  adiposus  polsterartig  erhobenes 
Integument. 

Die  äussere  Fläche  der  grossen  SchamUppen  besitzt  noch  den  allgemeinen 
Charakter  des  Integnments,  mit  Haarbälgen  und  Talgdrüsen;  die  inneren  Flächen 
beider  Lippen  haben  schon  das  Ansehen  einer  Schleimhaut,  entbehren  aber  der 
Schleimdrüsen^  welche  durch  Glamltdae  »eb<iceae  vertreten  werden.  Die  grossen 
Schamlippen  schliessen  durch  wechselseitige  Berührung  bei  jungffräulichen  Indi- 
viduen die  Schamspalto  genau  zu,  welche  erst  durch  wiederholte  Begattung  oder 
Gebarten  klaffend  wird.  Fettreiches  und  dichtes  Zellgewebe,  vom  Motu  Veneris 
bembkommend,  g^ebt  ihnen  bei  jugendlichen  Personen,  welche  ihre  Geschlechts- 
tbeile  .  geschont  haben,  eine  gewisse  Prallheit,  welche  im  späteren  Frauenalter 
schwindet.  Eine  dieses  Zellgewebe  deckende  contractile  Faserlage,  erinnert  an 
die  Dartos  des  männlichen  Hodensackes. 

Vftlva  bedeutet  bei  Celsus,  dem  einzigen  römischen  Schriftsteller  ttber 
Medicin  aus  der  aettu  aurea,  das  gesammte  weibliche  Genitale,  sofern  es  unpaar 
ist,  also  ohne  Eierstöcke.  Spigelius  leitet  das  Wort  von  valva  ab:  quod 
propter  lonffam  fisMuram,  qua  labia  genUalium  disparantttr,  valvas  aemuUUur,  Bei 
Seneca  wird  auch  Votva  gelesen.  Bei  Horaz  ist  Volva  ein  Leckerbissen  der 
römischen  Feinschmecker,  nämlich  die  gebratene  Bauchwand  eines  säugenden 
.  Mutterschweins,  mitsammt  den  Milchdrüsen.  Hieraus  erklärt  sich,  warum  die 
Vulva  auch  Porcu»  und  Porea  bei  Varro  heisst,  und  vendere  porcum  gleich- 
bedeutend ist  mit  prostituiren. 

Zwischen  den  grossen  Schamlippen,  und  mit  ihnen  parallel, 
finden  sich  die  kleinen,  Labia  minora  8,  Nj/mphae  (ut  enim  Nymphae 
icaturienttbus  aquis  praesunt,  sie  ha^  urinae  rivtUo  praefectae  videntur, 
sagt  Adr.  Spigelius).  Sie  reichen  von  der  Clitoris  bis  zur  Seite 
des  Scheideneinganges  herab,  und  sollen  bei  conservirten  (renitalien 
mit  ihren  freien  gekerbten  Rändern,  nicht  über  die  grossen  Lippen 
hervorragen.  An  der  inneren  Oberfläche  der  kleinen  Schamlippen 
nimmt  die  sie  bildende  Haut  den  Charakter  einer  wahren  Schleim- 
haut mit  FoUiculü  mudparU  an.  Der  zwischen  den  inneren  Flächen 
beider  kleinen  Schamlefzen  befindliche  Kaum,  welcher  sich  von  der 
Clitoris  bis  zum  Scheideneingang  erstreckt,  heisst  in  der  chirur- 
gischen Anatomie  Vestibulum  vaginae.  Diesem  Vcstibulura  gehören 
zwei,  gleich  unter  der  Schleimhaut  gelegene,  dicke  Venengeflechte 
an,  welche  den  erectilen  Schwellkörpern  zwar  scheinbar  ähneln, 
aber  durch  den  Mangel  aller  contractilen  Elemente  sich  anatomisch 
von  ihnen  unterscheiden.  Man  nennt  sie  BuLbi  vesttbtdi  (Wollust- 
organe). Sie  sind  keulenförmig  gestaltet,  mit  vorderem  dünnen, 
an  die  Clitoriswurzel  hinaufreichenden  £nde.  Das  hintere  dickere 
Ende   schiebt  sich   an    den   Seitenrand  des  Scheideneinganges  hin. 


8-  918.  Aeassere  Scham.  791 

Ihr  Bau  befähigt  sie  wohl  zur  Intumescenz  (Schwellung);  aber  nicht 
zur  Erection  (Steifung).  —  Gegen  die  Clitoris  zu,  spaltet  sich  jede 
kleine  Schamlippe  in  zwei  Fältchen,  deren  eines,  mit  demselben 
der  anderen  Seite  verbunden,  sich  als  Frenidum  clitoridis  an  die 
untere  Fläche  der  Glans  ditoridis  inserirt,  deren  anderes  über  die 
Glans  hinaufsteigt,  um  sich  mit  demselben  Fältchen  der  gegen- 
ständigen kleinen  Schamlippc  zu  verbinden,  und  die  Vorhaut  der 
Clitoris  zu  bilden. 

Der  Kitzler  (Clitoris,  y-XsiTop^o),  titülare,  bei  Martial  Venus, 
bei  Juvenal  Tentigo  vulvae),  einem  männlichen  Gliede  en  miniature 
ähnlich,  ist  wie  dieses  gebaut,  aber  viel  kleiner  und  undurchbohrt. 
Nur  bei  zwei  Säugethieren  —  Maulwurf  und  Lemur  —  wird  er 
von  der  Harnröhre  durchbohrt.  Er  besteht,  wie  der  Penis  des 
Mannes,  aus  zwei  Schwellkörpem,  welche  getrennt  von  den  Sitz- 
beinen entspringen,  sich  dann  an  einander  legen,  und  einen,  durch 
Gestalt  und  Lage  dem  Penis  gleichenden,  crectilen  Körper  bilden, 
welcher  eine  Glans,  ein  Präputium,  ein  doppeltes  Frenulum,  Musculi 
ischio-cavemosi,  aber  keine  Harnröhre  besitzt.  Die  weibliche  Harn- 
röhre mündet  vielmehr  dicht  über  dem  Scheideneingang,  zwischen 
den  kleinen  Schamlippen,  mit  einer  rundlichen  und  an  ihrem  hin- 
teren Rande  gewulstetcn  Oeffnung,  um  welche  herum,  so  wie  an 
den  Seiten  des  Scheidencinganges,  schon  acinösc  Schleimdrüschen 
auftreten. 

Am  Scheideneingauge  münden  links  und  rechts  die  Barth'o- 
lin'schen  oder  Tiedemann'schen  Drüsen  aus,  welche  den  Cow- 
pcr'schcn  Drüsen  der  männlichen  Harnröhre  analog  gebaut  sind, 
aber  sie  an  Grösse  etwas  übertreffen.  Ist  ein  Hymen  noch  vor- 
handen, liegen  die  Mündungen  dieser  Drüsen  vor  demselben. 

Man  findet  diese  DHisen  bei  unzüchtigen  Mädchen  und  Frauen  grösser  als 
bei  schamhaften.  Sie  liegen  hinter  dem  Conatrictor  ainni,  und  vor  dem  TranS' 
versfUf  perinei,  im  hinteren  Theile  der  grossen  Schamlippen,  und  können  daselbst 
zuweilen  durch  Druck  zwischen  Daumen  und  Zeigefinger  geffthlt  werden.  Com- 
prirairt  man  auf  diese  Weise  den  hinteren  Theil  der  grossen  Schamlippen,  so  ent- 
leert sich  gewöhnlich  eine  gelbliche,  nicht  specifisch  riechende  Flüssigkeit  aus 
ihrer  Mündung.  Diese  Mündung  liegt  ziemlich  weit  von  der  Drüse  entfernt,  so 
dass  die  Länge  des  Ausführungsganges  sieben  bis  acht  Linien  beträgt.  Schlüpfrig- 
machen des  Scheideneinganges  für  den  Penis,  scheint  die  Bestimmung  dieser 
Secretionsorgane  zu  sein,  denn  sie  nässen  nur  durante  prurüu. 

Die  kleinen  Schamlippen  haben  nur  bei  Frauenzimmern,  bei  welchen  sie 
nicht  über  die  grossen  Lippen  herausragen,  eine  rosenrothe  Schleimhautfarbe. 
Ragen  sie  über  diese  vor,  so  werden  sie  trockener,  härter  und  brauner,  und  bei 
Prostituirten  ehrwürdigen  Alters  zuweilen  so  lang,  dass  sie  wie  laxe,  hahnen- 
kammförmige  Lappen,  einen  Zoll  weit  aus  der  welken  Schamspalte  herabhängen. 
Bei  den  Weibern  der  Hottentotten  und  Buschmänner  erreichen  sie  die  excessive 
Länge  von  sechs  bis  acht  Zoll,  und  sind  als  Schürze  (tahUer)  von  Cuvier  be- 
schrieben worden  (M^m,  du  mus6e  d'kist.  not.  Tom,  IIIJ,  Ihre  bei  einigen  Völ*"*^ 
im  nördlichen  Africa  angeborene,  excessiye  Länge,  erfortot  dl^  ^ 


792  §.  819.  Brüste. 

derselben.  —  Die  Clitoris  wird  in  südlichen  Zonen  grösser,  als  in  den  gemässigten 
und  kalten  Breiten.  Bei  den  Abjssinierinnen,  den  Mandingos  und  Ibbos,  so  wie 
bei  den  Androgynen  und  lasciven  Frauen  überhaupt,  nimmt  ihre  Grösse  bedeutend 
zu,  und  hat  bei  ersteren  selbst  die  Beschneidung  als  volksthümliche  Operation 
sanctionirt.  Als  bei  der  Bekehrung  der  Abjssinier  zum  Christenthume,  die  Mis- 
sionäre die  weibliche  Beschneidung  als  Ueberrest  des  Heidentliums  abstellten, 
machten  die  Männer  Revolution,  welche  nicht  früher  beigelegt  wurde,  als  bis  ein 
von  der  Propaganda  in  Rom  abgesandter  Wundarzt,  die  Nothwendigkeit  des  alten 
Brauches  feststellte.  —  Bei  besonderer  Entwicklung,  wie  .sie  Thom.  Bartho- 
linuB  gesehen  (sechs  Zoll  lang,  und  fingerdick),  kann  diu  Clitoris  die  Stelle  des 
männlichen  Gliedes  vertreten,  und  eine  Anomalie  geschlechtlichen  Umganges  ver- 
anlassen (Anwr  lesbicu»),  wie  die  lascive  Muse  MartiaTs  singt: 

y,IfUer  8€  gemmoa  andenb  commiUere  cimnos, 
„MerUiturque  virum,  prodigioaa   Venus^. 

Solche  Frauenzimmer  hiessen  bei  den  Griechen  Tpißctöe^,  bei  den  Römern 
Frkiricea.     Auch  imsere  Sittenpolizei  und  gerichtliche  Medicin  kennt  sie. 

Die  Barth olin'schen  Drüsen  wurden  zuerst  von  J.  G.  Duverney  in  der 
Kuh  gefunden,  dann  vergessen,  und  erst  durch  Tiedemann  der  Vergessenheit 
entrissen.  (Von  den  Duverney'schen,  Barth olin*schen  oder  Cowper'schen 
Drüsen  des  Weibes.  Heidelberg,  1840).  Die  Mündungen  dieser  Drüsen  am 
Scheideneingang,  waren  schon  dem  Spigelius  bekannt:  noii  aeglujtuda  sunt  dfto 
coeca  foramina,  in  quibus  aeroftis  hunujr  non  parca  qitantUale  prodit,  qui  inarU 
pubem  in  coUu  nutde/(icü. 

§.  319.  Brüste. 

Der  lateinische  Name  der  Brüste,  Mammae,  stammt  von  ixapLpLr^. 
Das  griechische  Wort  [LotT^oi  bedeutet  sowohl  Brüste  als  Brust- 
warzen. Man  liest  auch  \ki1^o\j  woher  Amazo7ies,  Bei  Thieren  spricht 
man  nur  von  Ubera,  Euter,  welcher  Ausdruck  von  dem  griechi- 
schen o56ap  herrührt.  Die  Brüste  sind  der  anatomische  Aus- 
dnick  des  ganz  nach  aussen  gekehrten,  und  für  die  Erhaltung  eines 
fremden  Daseins  wirkenden,  weiblichen  Zeugungslebens.  Sie  sitzen 
bei  den  meisten  Säugethieren  am  Unterleibe,  und  rücken  beim 
Menschen  und  bei  den  Affen  (wo  die  obere  Extremität  am  freicsten 
wird,  und  den  Säugling  trägt),  an  die  seitliche  (legend  der  vorderen 
Brustwand.  Die  erste  Klasse  der  Wirbelthiere  führt  von  dem  aus- 
schliesslichen Besitze  dieser  Organe,  den  Namen  Mammalia.  Leben- 
dig gebärende  Thiere  anderer  Klassen  haben  keine  Brüste. 

Die  Mammae  liegen  auf  dem  grossen  Brustmuskel,  von  der 
dritten  bis  sechsten  Rippe.  Eine  dem  Brustbein  parallele  Furche  — 
der  Busen,  Sintis  —  trennt  sie  von  einander.  Ihre  O estalt  ist 
halbkugelig,  unterliegt  jedoch,  wie  ihre  Grösse  und  ihre  C^onsistenz, 
sehr  vielen  Verschiedenheiten,  welche  durch  physiologische  l^ebens- 
zustände,  durch  Klima,  Nationalität,  Alter,  selbst  durch  die  Tracht 
bestimmt  werden.  —  An  der  höchsten  Wölbung  der  Brüste  ragt 
die  sehr  cmpiindliche,  durch  mechanische  Reize   sich    verlängernde 


§.  319.  Brftfte.  793 

und  steifende  Brustwarze  (Papilla,  6>5ay;)  hervor,  bei  Thieren 
Zitze  (von  titö6c),  welche,  wie  die  Brust  selbst,  nicht  dircct  nach 
vorn,  sondeni  etwas  nach  aussen  sieht.  Sie  ist,  so  wie  der  sie  um- 
gebende Warzenhof  (Areola),  von  bräunlicher  Farbe,  mehr  weniger 
vorstehend,  nicht  gar  selten  auch  in  ein  Grübchen  zurückgezogen. 
Ihre  Oberfläche  sieht  wie  runzelig  aus,  und  ist  reich  an  kleinen 
Tastwärzchen.  Talgdrüsen  münden  zwischen  den  Runzeln  der  Brust- 
warze, und  auf  ihrer  Spitze  öffnen  sich,  wie  gleich  erwähnt  wird, 
die  sechszehn  bis  zwanzig  Ausführungsgänge  der  Brustdrüse.  — 
Nicht  immer  sind  beide  Brustwarzen  an  Dicke  und  Länge  einander 
gleich.  Stillende  Frauen  reichen  ihren  Säuglingen  lieber  und  öfter 
jene  Brust,  welche  die  grössere  Warze  hat. 

Die  Grösse  der  Brust,  ihre  halbkugelige  Form,  und  ihre  weiche 
Consistenz,  hängt  weniger  von  der  Entwicklung  des  eigentlichen 
Drüsengewebes,  als  von  der  Prävalenz  des  fettbeladenen  Umhüllungs- 
Bindegewebes  ab.  Deshalb  sind  es  nicht  immer  grosse  Brüste, 
welche  viel  Milch  geben. 

Die  linke  Brust  ist  gewöhnlich  etwas  grösser  als  die  rechte.  Dieses  scheint 
mir  dadurch  bedingt  zu  sein,  dass  die  Mutter  den  Säugling,  um  den  rechten  Arm 
frei  zu  behalten,  auf  dem  linken  Arme  trägt,  und  deshalb  die  linke  Brust  häufiger 
zum  Stillen  verwendet.  —  Am  männlichen  Thorax  steht  ausnahmsweise  eine 
Brustwarze  höher  als  die  andere.  Ihr  Standort  entspricht  gewöhnlich  dem  Zwischen- 
raum der  vierten  und  ftlnften  Rippe,  nur  selten  der  fünften  und  sechsten,  und 
steigt  zuweilen  in  den  nächst  unteren  Zwischenrippenraum  herab. 

Die  Brustdrüse  kommt  beiden  Geschlechtern  zu.  Die  männlichen  Brüste 
(Mammillae)^  welche  bis  zur  Pubertätszeit  den  Brüsten  der  Mädchen  desselben 
Alters  vollkommen  gleichen,  verkümmern  bei  Erwachsenen,  ohne  jedoch  gänzlich 
zu  schwinden.  Es  gehört  unter  die  seltensten  Curiositäton,  wenn  ihre  Vitalität  sich 
bis  zur  Erzeugfung  wahrer  Milch  steigert.  Dieses  kommt  um  die  Pubertätsperiode 
von  Knaben  vor  (Hexenmilch).  Der  merkwürdigste  und  verbürgteste  Fall  von 
Milchabsonderung  in  männlichen  Brüsten,  wird  von  A.  Humboldt  (Reise  in  die 
Aequinoctialgegenden  des  neuen  Continents,  2.  Bd.  pag.  40)  erzählt,  wo  ein  Mann, 
während  der  Krankheit  seiner  Frau,  sein  Kind  fünf  Monate  lang  stillte.  Ein 
neuerer  Fall  der  Art  wird  von  Häser,  in  dessen  Archiv,  1844,  pag.  272,  be- 
richtet. In  unseren  Schafzüchtereien  kommen  milchende  Böcke  nicht  so  selten 
vor.  —  Vermehrung  der  Warzen  auf  Einer  Brust  (Tiedemann,  Siebold),  Ver- 
mehnmg  der  Brüste  bis  auf  f{inf  (Haller,  Moore,  Percy),  abnorme  Lage  der- 
selben als  Mammae  erraiicae  in  der  Achsel,  auf  dem  Rücken,  am  Schenkel 
(Bartholin,  Siebold,  Robert),  gehören  unter  die  Seltenheiten.  —  Sehr  ge- 
wöhnlich findet  man  bei  Schwangeren  und  Säugenden,  zehn  und  mehr  kleine, 
milchsecernirende  Drüschen  im  Bereiche  des  Warzenhofes,  wo  sie  die  Haut  des- 
selben hügelig  emporwölben,  und  auf  der  Höhe  dieser  Hügel  münden.  Morgagni 
hat  sie  als  Tuberada  areolae  erwähnt,  ohne  ihre  Natur  zu  kennen.  Luschka 
bezeichnet  sie  als  Glandul/ie  lacUferoß  afjerrantes,  —  Vollkommenen  Mangel  der 
Brustwarzen,  und  Ausmündung  der  Milchgänge  in  einer  Grobe  statt  auf  der  Warze, 
hat  Cruveilhier  bei  einer  dreiundfünfögjährigen  Frau  beobachtet. 


794  §.  320.  Bau  der  Brflste. 


§.  320.  Bau  der  Brüste. 

Die  Structur  der  Brust  untersucht  man  am  besten  an  milch- 
hältigen  Brüsten  von  Leichen  schwangerer  oder  stillender  Frauen. 
Nur  an  solchen  Brüsten  zeigt  es  sich  deutlich,  dass  sie  nach  dem 
Typus  einer  acinösen  Drüse  gebaut  sind.  Sic  lassen  sich  aber  nicht 
durch  das  Messer  in  mehrere,  der  Zahl  der  Ausfiihrungsgänge  ent- 
^sprechende  Lappen  zerlegen,  da  die  bindegewebige  Grundlage  des 
Drüsenparenchyms  ein  continuirliches  Gerüste  bildet,  an  welchemi 
sich  keine  Septa,  als  Scheidewände  einzelner  Drüsenlappen  darstellen 
lassen.  Die  sechszehn  bis  zwanzig  baumartig  verzweigten  Aus- 
führungsgänge der  Brustdrüse  (Ductus  lactiferi  8.  galactophori)  con- 
vergiren  gegen  die  Brustwarze,  erweitern  sich  unter  dem  Hof  der 
Warze,  als  Sinus  lactei,  ohne  zu  anastomosiren,  verengern  sich  hier- 
auf, und  steigen  zuletzt  gegen  die  Spitze  der  Warze  auf,  wo  sie, 
zu  zwei  oder  drei,  zwischen  den  Runzeln  der  Warze  mit  feinen 
Oeffnungen  münden.  Ihre  Wand  besteht  aus  Bindegewebe  mit 
elastischen  Fasern,  aber  ohne  organische  Muskelfasern.  An  den 
traubig  gruppirten  Endbläschen  (Acini)  der  Ductus  lactiferi  ver- 
dünnt sich  die  bindegewebige  Wand  sehr  auffallend  und  wird 
structurlos.  Der  Hohlraum  der  Drüsengänge  und  der  Acini  wird  durch 
ein  hohes  Cylinderepithel  bedeutend  verengt.  In  den  Zellen  dieses 
Epithels  (Enchymzellen)  sind  Fetttröpfchen  in  grosser  Menge  ent- 
halten. Die  Fetttröpfchen  werden  durch  Bersten  der  Zellen  frei, 
und  bilden,  als  Milchkörperchen,  den  Hauptbestandtheil  der 
Milch.  Es  werden  aber  auch,  besonders  in  den  Tagen  kurz  vor 
und  nach  der  Geburt,  unversehrte  grössere,  rundliche  Epithelial- 
zellen  mit  ihrem  Inhalt  von  Fetttröpfchen  abgestossen,  und  schwimmen 
frei  in  der  Milch  als  sogenannte  Colostrum  kugeln. 

In  den  Brüsten  von  neugeborenen  Knaben  und  Mädchen  finden 
sich  nur  die  Hauptstämme  der  Milchgänge  vor,  an  welchen,  als 
Andeutung  der  erst  später  hinzukommenden  Verzweigung,  kolben- 
förmige Anhängsel  aufsitzen.  Diese  Verzweigungen,  so  wie  die  auf 
ihnen  aufsitzenden  Acini,  entwickeln  sich  aber  erst  in  bereits  gc- 
schlechtsreifen  Mädchen,  —  bei  Knaben  unterbleibt  diese  Entwick- 
lung, und  selbst  die  Ilauptstämme  der  Milchgänge  schwinden  in 
der  Regel.  —  In  den  climacterischen  Jahren  der  Frauen  beginnt 
der  Schwund  der  Brustdrüsen.  Es  erhält  sich  von  ihnen,  im  hohen 
Alter  der  Frau,  nur  eine  dünne  Bindegewebsscheibe,  in  welcher 
die  ihrer  acinösen  Endbläschen  verlustig  gewordenen,  dünnwandi- 
gen und  collabirten  Milchgänge,  mit  spärlichen  Ausläufern  blind 
endigen. 


$.  820.  Bau  der  Brtst«.  795 

Die  Brustwarze  und  der  Warzenhof  besitzen  g^latte  Muskelfasern.  In  der 
Warze  bilden  sie  ein  Netzwerk  von  Lüngs-  and  Kreisfasem,  durch  dessen  Maschen 
die  DuctU9  UtcUferi  gegen  die  Spitze  der  Warze  aufsteigen.  Die  Kreisfasern  der 
Brustwarze  bedingen  durch  ihre  Zusammenziehung  die  Verlängerung,  und  zugleich 
mit  den  Längsfasem  das  Hartwerden  der  Warze  auf  mechanische  Beize  (Kitzeln, 
Saugen).  Im  Warzenhofe  erscheinen  die  Faserzüge  mehr  concentrisch  geordnet, 
und  nehmen  gegen  die  Papille  hin  an  Stärke  zu.  Die  dunkle  Färbung  der  Brust- 
warze und  ihres  Hofes  rührt  von  Pigmentirung  der  unteren  Schichten  des  Mucui 
Malpighü  her. 

Die  Arterien  der  Brust  stammen  aus  der  Arieria  mammaria  interna  und 
der  Arteria  axillaris.  Die  Venen  übertreffen  die  Arterien  so  sehr  an  Um^Mig, 
dass  ihre  hochliegenden  Zweige  auch  bei  gesunden  Brüsten  durch  das  zarte 
Integfument  als  blaue  Stränge  durchscheinen.  Der  von  H  a  1 1  e  r  und  später  von 
Sebastian  (De  circfUo  venoso  aredae,  Groeningae,  1837 J  beschriebene  Venenkreis 
im  Warzenhofe  ist  an  zwei  Exemplaren,  die  ich  vor  mir  habe,  nicht  geschlossen, 
sondern  umgiebt  nur  zwei  Drittel  der  Brustwarze.  Die  Saugadem  verbinden  sich 
mit  den  Lymphdrüsen  des  vorderen  Mittelfellraums,  und  mit  jenen  der  Achsel- 
höhle. Auch  eine  oder  zwei  an  der  Clavicula  liegende  Lymphdrüsen  nehmen 
Saugadem  aus  der  Brust  auf.  —  Zufolge  einer  von  C.Eckhard  vorgenommenen 
genauen  Untersuchung  der  Nerven  der  Brust  (Beiträge  zur  Anatomie  und  Physio- 
logie. 1.  Heft.  Giessen,  1855)  zerfallen  diese  in  Haut-  und  Drüsennerven.  Die 
Hautnerven  entspringen:  1.  aus  dem  zweiten  bis  sechsten  Nervus  intercostalis,  und 
zwar  aus  jenen  Aesten  derselben,  welche  als  Nervi  cutanei  pectoris  laterales  und 
anteriores  bezeichnet  werden,  und  2.  aus  den  vom  Armnerveng^flecht  abgegebenen 
Nervi  pectorales  anteriores.  Die  eigentlichen  Drüsennerven  sind  Aeste  des  vierten 
bis  sechsten  Nervits  ctUaneus  pectoris  lateralis,  und  jener  sympathischen  Zweige, 
welche  mit  der  Arteria  thoracica  longa  und  mit  den  vorderen  Bami  perforantes 
der  Arteriae  intercostales  in  die  Brustdrüse  gelangen.  Die  Drüsennerven  halten 
sich  an  die  grösseren  DuctiAs  laciiferi,  und  kommen  mit  diesen  bis  in  die  Haut 
der  Areola.  Nicht  alle  Tastwärzchen  der  eigentlichen  Cutis  des  Warzenhofes 
enthalten  Nerven.  Viele  derselben  besitzen  blos  Gefassscblingen.  In  den  nerven- 
haltigen  Papillen  wurden  bald  Tastkörperchen,  bald  Pacini*sche  Körperchen 
aufgefunden. 

Die  Muttermilch,  Lttc,  ist  die  naturgemässcste  Nahrung  des  Neugebore- 
nen bis  zum  Ausbruche  der  Zähne,  und  die  einzige,  welche  nichts  kostet.  Wir 
sehen  in  ihr  eine  Fettemulsion,  welche  aus  Wasser,  Käsestoff,  Fett  (Butter),  Milch- 
zucker, und  einem  geringen  Antheil  mineralischer  Salze  besteht.  Mikroskopisch 
untersucht  zeigt  sie:  1.  die  bereits  im  Text  erwähnten  Milch  körperchen,  von 
0,050  bis  0,005  Linien  Durchmesser.  Sie  sind  Fetttröpfchen,  mit  einer  dünnen 
Hülle  von  Käsestoff,  fliessen  beim  Stehenlassen  der  Milch  zu  grösseren  Kügelchen 
zusammen,  und  bilden  den  Rahm.  2.  Colostrumkugeln  (Donn^),  viel 
grösser,  von  0,01  bis  0,05  Linien  Durchmesser.  Sie  finden  sich  nur  in  der,  durch 
einige  Tage  vor  und  nach  der  Geburt  abgesonderten  Milch  (Colostrum).  Sie  sind 
abgestossene,  von  Milchkörperchen  strotzende  Enchymzellen  der  Ductus  laciiferi 
der  Brust  und  ihrer  Acini.  Es  werden  an  ihnen  amöboide  Bewegungen  wahr- 
genommen, wie  an  den  Lymphkörperchen.  —  Durch  Filtriren  lassen  sich  die 
geformten  Bestandtheile  der  Milch  von  dem  flüssigen  Menstruum  derselben,  Plastna 
lactis,  abscheiden.  Das  Plasma  aber  trennt  sich,  durch  den  Act  des  Gerinnens, 
in  Käsestoff  und  Molkenflfissigkeit  {Serum  lactis),  welche  letztere  aus  Wasser, 
Milchzucker  und  Salzen  besteht  —  Pferde-  und  Eselsmflch  stehen,  in  Hinsicht 
ihrer  chemischen  ZusammeatetKang,  der  menaohHehMi  Ifileli  aa  nldiateii.  Dto 
Kirgisen,  welche   ein  ans  Pferdeniloh  .Imv 


796     §■  321.  Ansdehnnng  nnd  Grenton  des  Mittelfleiscbes.  —  §.  322.  Muskeln  des  Mittelfleiiches. 

Getränk  —  den  Cumis  —  geniettsen,  kennen  die  Lungensucht  nicht.  Man  hat 
darum  neuester  Zeit  die  Bereitung  und  den  Gebrauch  des  Cumis,  auch  bei  uns 
als  Vorbauungs-  und  Palliativmittel  dieser  mörderischen  Krankheit  empfohlen. 


III.  ]SJ:ittelflei8ch. 

§.  321.  Ausdehnung  und  &renzen  des  Mittelfleisches. 

Das  Mittelfleisch  oder  Damm,  Perineum  (7:£p{v£ov  bei  Galen, 
7:£p{vaiov  bei  Hippocrates),  heisst  die  zwischen  After  und  Hoden- 
sack bei  Männern,  zwischen  After  und  hinterem  Winkel  der  Scham- 
spalte bei  Weibern  liegende  Gegend.  Das  weibliche  Perineum  wird 
deshalb  viel  kürzer  sein,  als  das  männliche.  Aeltere  Schriftsteller 
fuhren  es  als  Interfemineum  an,  qtUa  tnter  femina  (alte  Diction  statt 
femora)  jacet.  Man  kann  also  auch  das  männliche  Mittelfleisch  sehr 
wohl  InterfenuneuMy  aber  niemals  Intelfemininum  nennen,  was  gar 
keinen  Sinn  hat.  Das  Wort  Perineum  von  irsptvsw,  um fli essen, 
abzuleiten,  weil  diese  Gegend  stärker  schwitzt  als  andere,  ist  wohl 
etwas  gewagt.  Würde  es  aber  von  zY;p'.;  oder  :n5pa,  Beutel,  stam- 
men, als  Gegend  hinter  dem  Hodensack,  müsste  es  :n;p'va'.cv,  nicht 
aber  '::£p{va'.cv  geschrieben  werden,  wie  es  von  Hippocrates  ge- 
schrieben wird,  und  könnte  nur  das  männliche  Mittelfleisch  be- 
deuten. 

Bei  äusserer  Besichtigung  geht  das  Mittelfleiseh  seitwärts,  ohne 
bestimmte  Grenze,  in  die  innere  Fläche  der  Schenkel  über.  Die 
Verbindungslinie  beider  Sitzknorren  trennt  es  von  der  Aftergegend. 
In  der  Tiefe  bestimmt  der  knöcherne  Schambogen,  von  den  Sitz- 
knorren bis  zur  Schamfuge  hinauf,  seine  Breitenausdehnung. 

Die  hier  folgende  Beschreibung  gilt  nur  vom  männlichen  Peri- 
neum. Ich  gebe  sie  so,  dass  ich  zuerst  die  Muskeln  schildere,  welche 
die  Ebene  des  Schambogens  einnehmen,  und  in  einem  näheren 
Verhältniss  zu  den  bereits  bekannten  Geschlechts-  und  Harnwerk- 
zeugen (Harnröhre  und  Wurzel  des  Gliedes)  stehen,  und  dann  auf 
die  Fascien  übergehe,  welche  den  Ausgang  des  kleinen  Beckens 
verschliessen. 


§.  322.  Muskeln  des  Mittelfleisches. 

a)  Der  paarige  Sitzknorren-Schwellkörpermuskel,  Mu^- 
culus  ischiO'Cavemosus,  Er  liegt  auf  der  unteren  Fläche  der  Wurzel 
des  SchwcUkörpers  des  Gliedes  auf,  entspringt,  wie  dieser,  am 
Siizknorren,    schlägt   sich    um   den  Schwellkörpcr  herum  zu  dessen 


S.  S»2.  Matk«ln  dat  MittolfleitelMt.  797 

Aussenfläche,  und  verliert  sieh  in  der  fibrösen  Hülle  desselben.  Bei 
Weibern  hat  er  dieselbe  Beziehung  zum  Schwellkörper  der  Clitoris. 
Zuweilen  geht  eine  fibröse  Fortsetzung  desselben,  auf  dem  Rücken 
des  Gliedes,  mit  demselben  Muskel  der  anderen  Seite  eine  Ver- 
bindung ein,  wodurch  eine  Schlinge  über  die  Rückengefasse  des 
Gliedes  gebildet  wird.  Die  Schlinge  kann  durch  Compression  der 
Dorsalvene  vielleicht  Einfluss  auf  den  Mechanismus  der  Erection 
nehmen. 

Dieser  Maskel  soU  die  Wurzel  des  Schwellkörpers  gegen  den  Sitzknonren 
drücken,  und  dadurch  den  RüclrBuss  des  venösen  Blutes  hemmen,  —  somit  Erec- 
tion yeranlassen,  weshalb  er  früher  Ereelor  penis  genannt  wurde.  Da  er  will- 
kürlich wirkt,  die  Erection  dagegen  häufig  unwillkürlich  eintritt,  und  mitunter  bei 
dem  besten  Willen  unmöglich  wird,  so  kann  in  der  Compression  der  Wurzel  der 
Schwellkörper  des  Gliedes,  wenn  sie  wirklich  stattfindet,  nicht  die  einzige  Bedin- 
gung der  Erection  liegen. 

Hier  mag  auch  der  von  Santo rini  zuerst  beobachtete  (Tab.  XV.  Fig.  3), 
aber  seither  vergessene,  von  P.  V lacovich  in  Padua  wieder  aufgefundene,  anomale 
MusaduB  ischia-ptUnctis  erwähnt  werden,  dessen  Ursprung  und  Ende  der  Name 
sagt     Ausführliches  über  ihn  entliält    To/.  .V  der  AUi  deW  IstUtUo   Veneto. 

h)  Der  unpaare  Zwiebel-Schwellkörpermuskel,  Musculus 
buJbo'cavemosus,  Er  umfasst  den  Bulbus  urethrae  von  unten.  Nach 
hinten  hängt  er  mit  dem  vorderen  Ende  des  Sphinct&i*  ani  extei*ims 
und  dem  oberflächlichen  Musculus  transversus  perinei  zusammen.  Er 
fehlt,  sammt  dem  Bulbus,  im  weiblichen  (ieschlechte,  und  wird  durch 
den  Cüiistrictor  cunni  ersetzt.  Man  kann  an  ihm  zwei  ganz  symme- 
trische Seitenhälften  unterscheiden,  welche  von  einem  tendinösen 
Längsstreifen  (Kaphe)  an  der  unteren  Fläche  des  Bulbus  entspringen. 
Die  hintersten  seiner  Fasern  inseriren  sich  in  das  Ligamentum 
trianguläre  urethrae,  die  mittleren  und  vorderen  Fasern  gehen  in 
die  fibröse  Haut  der  Schwellkörper  des  Gliedes  über.  Beide  Hälften 
des  Muskels  und  ihre  mediane  Raphc,  bilden  somit  eine  Art  Halfter 
um  den  Bulbus  urethrae,  kfinnen  diesen  durch  Heben  seiner  unteren 
Wand  verengern,  und  wenn  dieses  Heben  zuckend  geschieht,  Harn 
und  Samen  aus  der  Harnröhre  stossweise  hervortreiben.  So  dachte 
man  wenigstens,  und  diese  gedachte  Wirkungsweise  veranlasste  auch 
die  alte  Benennung  Ejaculatw  seminis.  Auch  von  seinen  vordersten 
Fasern  wird  gesagt^  dass  sie  auf  dem  Rücken  des  Gliedes,  über  der 
Veua  dorsalis  penis,  sich  aponeurotisch  verbinden. 

c)  Die  queren  Dammmuskeln,  Mu^sculi  transversi  perinei. 
Der  oberfläehHche  entspringt  vom  aufsteigenden  Sitzbeinaste, 
nahe  am  luber  ischii,  geht  nach  ein-  und  etwas  nach  vorwärts, 
und  verbindet  sich  in  der  Mittellinie  theils  mit  dem  entgegen- 
gesetzten, theils  mit  dem  Bulbthcavemosus,  Sphimder  am  extemua  und 
Levator  ani.     Die  Stelle^  an  welcher  die  ftp^»^  ^'         In,  theils 

fleischig,  theils  sehnig  sich  mit 


798  8-  SM*  MoBkeln  das  Mittelfleisches. 

Autoren  nicht  mit  Unrecht  den  Namen:  Centrum  cameo-tendineiifn 
perinei,  —  Der  tiefe  quere  Dammmuskel  entspringt  über  dem 
vorigea,  aber  weiter  nacli  vorn,  vom  absteigenden  Schambein-  und 
aufsteigenden  Sitzbeinast,  und  liat  dieselbe  Richtung  und  Insertion, 
wie  der  oberflächliche.  Er  lässt  durch  eine  Lücke  zwischen  seinen 
Fasern,  die  Vena  profwida  penis  zur  Vena  pudenda  gelangen,  und 
übt  somit  eine  verengernde  Wirkung  auf  dieses  Gefass  aus,  welche 
unverkennbaren  Antheil  nimmt  an  der  Erection  des  Gliedes. 

d)  Der  Zusammenschnürer  der  Harnröhre,  Mascultis  con- 
itridoT  urethral  (besser  wohl  Compressor  partis  membranaceae  urethrae). 
lieber  diesen  Muskel  weichen  die  Angaben  von  Wilson,  Guthrie, 
und  J.  Müller  bedeutend  ab.  Ich  fasse  ihn  nach  der  einfachen 
Schildeining  von  Santorini  (simplex  gigälum  veri)  so  auf.  Die  hinter 
dem  Ligamentum  trianguläre  urethrae  gelegene  Pars  msmbranacea 
ureihrae  wird  in  ihrer  ganzen  Länge  von  zwei  Muskelbündeln  um- 
geben, welche  vom  absteigenden  Schambeinaste  entspringen,  und 
zwar  in  gleicher  Höhe  mit  der  Durchbohrungsstelle  des  Ligamentum 
trianguläre  urethrae  durch  die  Harnröhre.  Das  obere  dieser  beiden 
Bündel  geht  über,  das  untere  unter  der  Pars  membranacea  urethrae 
bogenförmig  weg,  und  beide  verwachsen  in  der  Medianlinie  mit 
ihren  von  der  anderen  Seite  herüberkommenden  Gegnern,  so  dass 
eine  breite  muskulöse  Zwinge  gegeben  wird,  welche  die  Harnröhre 
zusammenpressen  kann. 

Der  Tran8ver»iu  perinei  pro/undiu  schliesst  sicli  an  das  untere  Bündel  des 
Oompre»9or  urethreie  an,  von  welcliem  er  oft  nicht  zu  trennen  ist.  Die  Gland^dae 
Omoperi  werden  von  den  unteren  Bündebi  de»  Compresscr  urethrae  (und  Trfm»- 
vertua  perinei  profundus)  förmlich  umwachsen. 

Im  weiblichen  Geschlechte  ündet  sieh  am  Scheideneingang  der 
Scheidenschnürcr,  Constrictor  cunni.  Es  ist  nicht  sehr  schwer, 
sich  durch  Präparation  dieses  Muskels  zu  überzeugen,  dass  die 
grössere  Anzahl  seiner  Fasern  dem  Sphincter  ani  extemus  angehört, 
dessen  rechte  Hälfte  zur  linken  Wand  des  Scheideneinganges,  und 
dessen  linke  zur  rechten  Wand  dieser  Oeffnung  übergeht,  um  sich 
an  der  Wurzel  der  Corpora  cavemosa  ditoiidis  zu  inseriren,  wodurch 
Sphincter  ani  extemus  und  Constrictor  cunni  sich  als  Ein  Muskel  von 
der  Gestalt  einer  8  auffassen  lassen,  welche  oben  durch  die  Clitoris 
geschlossen  wird.  Da  der  Sphincter  ani  externus  ein  willkürlicher 
Muskel  ist,  erklärt  es  sich,  dass  die  Weiber  einen  gewissen  Grad 
von  Verengerung  des  Scheideneinganges,  durch  stärkere  Zusammen- 
ziehung des  Afters  erzielen  können. 

Literatur  über  die  Mittclfleischmuskeln:  J.  Wilson,  Description  of  two 
Mnscles  surrounding  the  Membranous  Part  of  the  Uretlira,  in  Lond.  Med.  Surg*. 
Tnuisact.  1809.  Wilson  würdig^  besonders  die  von  der  hinteren  Schamfngen- 
fliehe  cur  Pars  memhranaeea  urethrae  herabkommenden  MuskelbOndel  (W  i  1  s  o  n*scher 


S.  S2S.  Fascien  det  MittolfleiüchM.  Faacia  ptM§.  799 

■ 

Muskel  d«*r  Antoren),  welche,  seiner  Angabe  nach,  eine  Schlinge  um  die  llam- 
rühre  bilden  sollen,  was  allerwärti  in  Abrede  gestellt  wurde.  —  O.  J.  Gtithrie, 
Beschreibung  des  Miuiculut  coniprr^ntor.  Leipzig,  1830.  Nach  SanlorirWa  Ansicht, 
aber  bei  weitem  ausführlicher.  —  C.  Houget,  sur  les  appareils  musculaires  du 
p^rinee.  Gaz.  med.  1855.  Nr.  41.  —  //.  Lujtchka,  über  die  Muskulatur  des  weib- 
lichen Perineum,  in  den  Denkschriften  der  kais.  Akad.  Bd.  XX.  —  Vorzügliche 
Beachtung  verdient  KMrau*rJi,  zur  Anatomie  und  Physiologie  der  Beckenorgane. 
Fol.  Mit  3  Tafeln.  Leipsig,  1864.  Diese  Schrift  reformirt  viele  herkömmliche  An- 
sichten über  Lagerungs-  und  Fonnverhältnisse  der  Beckenorgane,  und  ist  durch- 
aus auf  eigene  Untersuchungen  gegründet. 


§.  323.  Fascien  des  Mittelfleisches.  Fasda  pelvis. 

Die  Fascien  des  MittelfleiHches  sind:  1.  Die  Fascia  perinei 
supefjicialis,  2.  die  Fascia  perinei  propria,  und  3.  die  Fascia  pelvis. 
Keine  dieser  drei  Fascien  gehört  dem  Mittelfleisch  allein  an.  Wir 
werden  von  jeder  derselben  sehen,  dass  sie  sich  in  Nachbarsregionen 
des  Mittelfieisches  fortsetzt.  So  verlängeit  sich  die  Fascia  superficialis 
in  den  1  lodensack  hinein  als  Tunica  dai'tos,  während  die  Fascia 
j)erinei  propria  und  Fascia  pelvis  sich  nacli  hinten  in  die  Aftergegend 
fortsetzen,  und  dadurcli  zu  waliren  Verschlussmitteln  der  ganzen 
unteren  Beckenapertur  (Ausgang  des  kleinen  Beckens)  werden.  Wir 
wollen  die  genannten  drei  Fascien  in  umgekelirter  Ordnung  durch- 
gehen, und  mit  der  letzten,  als  Fascia  j^dvis  beginnen. 

Icli  glaube  dem  leichteren  Verständniss  dieser  Fascie  dadurch 
Vorschub  zu  leisten,  dass  ich  an  ihr  ein  parietales  und  vis- 
cerales Blatt  unterscheide.  Das  parietale  Blatt  entspringt  an  der 
hinteren  Wand  der  Symphysis  ossium  pttbis,  an  der  Crista  ossis  pviis, 
so  wie  an  der  Linea  arciiata  interna  ossis  Hei,  Es  hängt  an  diesen 
Stellen  mit  den  sich  das(*lbst  festsetzenden  Fascien  des  grossen 
Beckens  (Fa^scia  üiaca)  und  der  Bauch  wand  (Fasda  transversa)  zu- 
sammen, steigt  bis  zu  einer  gewissen  Tiefe  in  die  kleine  Becken- 
höhle hinab,  kleidet  sie  aus,  und  überzieht  daselbst  drei  Muskeln, 
welche  an  der  inneren  Wand  des  kleinen  Beckens  angetroffen 
werden:  ObturcUor  internus y  Coccygeus ,  und  Pyriformis.  Auf  dem 
Obturator  inte^mus  erstreckt  sich  das  parietale  Blatt  (hier  Fascia 
obturntoria  genannt)  bis  zu  dessen  unterem  Rande  herab,  und  ver- 
schmilzt daselbst  mit  dem  Processus  faldfoinnis  des  Ligamentum 
tuherosO'Sacrum  (§.  146).  Auf  dem  Coccygeus  und  Pyriformis  erscheint 
es  dünner,  und  befestigt  sich,  einen  halbmondförmigen  Bogen  bil- 
dend, an  die  vordere  Kreuzbeinfläche,  einwärts  von  den  Forandna 
sacralia  antica,  so  wie  am  Steissbein.  Unter  dem  freien,  concaven, 
nach  innen  sehenden  Rande  diätes  Bogens,  treten  die  Vota  gfudami 
und  der  Nervus  iaekiadimi  Baii6^|roB8en  F* 


800  !•  SM*  Aueia  perinei  proprta  tt  »uperßeialit. 

m 

Das  parietale  Blatt  hat  demnach  mit  dem  Verschluss  der 
unteren  Beckenapertur  nichts  zu  schaffen.  Dieser  wird  durch  das 
viscerale  Blatt  der  Fascia  pelvis  auf  folgende  Weise  zu  Stande  ge- 
bracht. Man  denke  sich  vom  parietalen  Blatte  das  viscerale  längs 
einer  Linie  abtreten,  welche  die  Schamfuge  mit  dem  Sitzstachel 
verbindet.  Diese  Abgangsstelle  des  visceralen  Blattes  vom  parietalen 
bildet  einen  weissen  Streifen,  welcher  als  Arcus  tendineiis  bezeichnet 
wird,  und  dem  Levator  ani  (§.  270)  zum  Ursprung  dient.  Vom 
Arcus  tendineus  wendet  sich  das  viscerale  Blatt  der  Beckenaxe  zu, 
und  gelangt  dadurch  an  jene  Organe,  welche  wie  Prostata,  Blase 
und  Rectum,  eine  Fixirung  und  Sicherung  ihrer  Lage  in  der 
unteren  Beckenapertur  benöthigen.  Das  viscerale  Blatt  bildet  also, 
indem  es  diese  Organe  iixirt,  zugleich  das  hauptsächlichste  Ver- 
Bchlussmittel  der  unteren  Becken apertur.  Der  Weg,  welchen  das 
viscerale  Blatt  einschlägt,  um  zu  den  genannten  Organen  zu  gelangen, 
folgt  der  oberen  Fläche  des  Levator  ani.  Da  nun  die  vordersten 
Bündel  dieses  Muskels  an  die  Prostata  treten,  wird  auch  der  vor- 
derste Abschnitt  des  visceralen  Blattes  zu  diesem  Organe  als  Liga- 
mentum puho'prastaticum  medium  et  laterale  gelangen.  Diese  Liga- 
mente bilden,  indem  sie  die  Prostata  umschliessen,  die  äussere 
fibr(>se  Membran  dieser  Drüse.  Sie  tixiren  recht  augenscheinlich  die 
Prostata,  und  durch  sie  auch  die  Harnblase.  Sie  werden  deshalb 
auch  als  Ligamenta  pubo-vesicaUa  erwähnt.  —  Der  mittlere  Ab- 
schnitt des  visceralen  Blattes  dringt  als  Fascia  recto-vesvcfdis  zwischen 
Biasengrund  und  Mastdarm  ein,  um  mit  demselben  Antheil  der 
entgegengesetzten  Beckenseite  zu  verwachsen,  und  dient  somit  vor- 
zugsweise als  Fixirungsmittel  der  vollen  Blase.  —  Der  hintere 
Abschnitt  des  visceralen  Blattes  verliert  sich  als  dünne  l^indegewebs- 
schichte  auf  der  Aussenfläche  des  Mastdarms. 


§.  324.  Fascia  perinei  propria  et  sfiperficialis. 

Die  Fasda  perinei  jrropi^ia  ist  uns  zum  Theile  schon  als  Liga- 
mefitum  tnangidare  urethrae  bekannt.  So  heisst  nämlich  der  vordere 
Abschnitt  derselben,  welcher  den  Schanibogen  ver.sclili(»sst,  und  von 
der  Harnröhre  durchbohrt  wird.  Die  Basis  des  Ligamentum  trian- 
guläre urethrae  entspricht  der  Verbindungslinie  beider  Sitzknorren; 
die  Spitze  dem  unteren  Kande  der  Schamfuge.  Hinter  der  Verbin- 
dungslinie beider  Sitzknorren  nimmt  die  Stärke  der  Fascia  perinei 
propt*ia  plötzlich  ab,  so  dass  sie  nur  mehr  eine  dünne  l^indegewebs- 
membran  darstellt,  welche  die  untere  Fläche  des  Levat&r  ani  so 
überzieht,  wie  das  viscerale  Blatt  der  Fascia  pelvis  die  obere  Fläche 
dieses  Muskels  bekleidet.   —   Man   lässt  allgemein   das  Ligametitum 


§.  »5.  Topographie  des  Mittolfleisehee.  801 

trianguläre  aas  zwei  Blättern  bestehen.  Das  vordere  stärkere  er- 
zeugt, an  der  Durchbruchstelle  der  Urethra,  für  diese  eine  Scheide, 
welche  in  die  Hülle  des  Coiyus  cavemosum  urethral  übergeht.  Das 
hintere  hängt  mit  der  fibrösen  Hülle  der  Prostata  zusammen. 
Zwischen  beiden  Blättern  liegt  der  Compressor  urethrae  (§.  322,  d). 
Die  Fascia  perind  mpei;ficialis  lässt  uns  gleichfalls  zwei  Blätter 
unterscheiden.  Das  oberflächliche  Blatt,  fettreich,  und  deshalb 
von  einiger  Mächtigkeit,  adhärirt  nirgends  an  die  Knochen,  sondern 
verhält  sich  wie  gewöhnliches  subcutanes,  fetthaltiges  Bindegewebe. 
Es  geht  nach  vorn,  unter  Verlust  seines  Fettgehaltes,  in  die  Dartos 
des  Hodensackes  über.  —  Das  tiefe  Blatt  der  Faada  perinei  super^ 
fidalis  hängt  am  hinteren  Rande  des  Ligamentum  trianguläre  urethrae 
und  an  den  Knochen  fest,  welche  den  Schambogen  bilden,  deckt 
als  fettlose  und  dünne  Fascie  den  Ischio-  und  Bulbo-cavemosus,  so 
wie  den  Transv&i'sus  perinei  superficiaiis  zu,  folgt  diesen  Muskeln  zur 
Wurzel  des  Gliedschaftes,  und  verliert  sich  in  die  ebenso  fettlose 
Fascia  penis. 

Wir  haben  nicht  ver^ssen,  dMs  die  beiderseitigen  Levatores  ani,  von  den 
Seitenwänden  des  kleinen  Beckens  gegen  das  untere  Mastdarmende  convergiren 
und  somit  einen  Trichter  bilden,  dessen  concave  Fläche  von  der  Fascia  pdviä, 
dessen  conveze  Fläche  von  der  dünnen  Fortsetzung  des  Ligamentum  trianffulare 
urethrae  (Faada  perinei  propria)  ttberKOgen  wird.  Die  Aussenwand  dieses  Trich- 
ters ist  zugleich  die  innere  Wand  eines  Raumes,  dessen  äussere  Wand  durch  das 
Sitzbein  gegeben  wird.  Dieser  fettgefüllte  Raum  heisst  Cavum  iachio-rectale. 
Seine  hintere  Wand  wird  durch  die  unteren  Fleischbündel  des  GhUacua  magnua 
gebildet.  Nach  vom  zu  verflacht  er  sich,  und  würde  sich  ununterbrochen  in  die 
Furche  zwischen  dem  Bulbua  urethrae  und  der  Wurzel  der  Schwellkörper  des 
Gliedes  fortsetzen,  wenn  nicht  der  Tranaveraua  perinei  auperficialia  ihm  seine  vor- 
dere Grenze  anwiese. 

Im  weiblichen  Geschlechte  verhalten  sich  die  Fascien  des  Mittelfleisclies 
der  Hauptsache  nach,  wie  im  männlichen.  Der  einzige  Unterschied  von  Bedeutung 
liegt  darin,  dass,  während  im  'männlichen  Geschlechte  die  Mittclfleischfascien 
blos  zwei  Oeffnungen,  für  Mastdarm  und  Harnröhre,  frei  zu  lassen  hatten,  im 
Weibe  noch  eine  dritte  (mittlere)  für  den  Durchgang  der  Scheide  hinzukommt. 
Luschka,  die  Faada  pdvia,  Sitzungsberichte  der  kais.  Akad.  1859. 


§.  325.  Topographie  des  Mittelfleisches. 

Die  Präparation  des  Mittelfleisches  ist  eine  der  schwierigsten 
Aufgaben  für  den  Neuling  in  der  praktischen  Zcrgliederungskunst, 
und  wird  wohl  kaum  beim  ersten  Versuch  gelingen,  wenn  nicht 
eine  cxacte  Vorstellung  über  die  localen  Verhältnisse  der  Fascien 
und  Muskeln  das  Messer  fiihren  hilfk. 

Hat  man  die  Haut,  und  das  hochli^ende  Blatt  der  Fatda 
perinei  superfidalia  lospräpmiirti   und  aich  ^^  ^«^  es  aich 

nicht  in  die  Aftergegend  fiirtw 

Hjrtl,  Uhrbnck  dtr  Aaatmto.  i^ 


802  §.  S25.  Topographie  des  Hiifcelfleieches. 

cavemosi,  bulbo-cavemosl,  und  transverd  perinei  superfidcdes  vor  sich. 
Sie  sind  vom  tiefen,  fettlosen  Blatte  der  Faacia  perinei  miperficUdiM 
bedeckt.  Nach  Entfernung  des  Transverms  perinei  superficialis,  gerüth 
man  auf  die  Glandtdae  Cowperi.  —  Der  Isdiio-cavernosus  bildet  die 
äussere,  der  Bulbo-cavemosus  die  innere,  der  Iransversus  perinei 
superficialis  die  hintere  Wand  eines  dreieckigen  Raumes,  in  welcheiu 
Arteria,  Vena,  und  Nervus  perinecdis  superficialis,  nach  vom  gegen 
das  Scrotum  hinziehen.  In  diesem  Dreiecke  (Triangulus  pubo-ure- 
throUis),  wird  auch  beim  Steinschnitt  die  erste  Eröffnung  der  Harn- 
röhre gemacht,  um  das  Steinmesser  auf  der  Furche  der  in  die 
Harnröhre  vorher  eingeführten  Leitungssonde,  bis  in  die  Blase  vor- 
zuschieben. Hat  man  in  die  Harnröhre  der  vorliegenden  Leiche 
einen  Katheter  eingeführt,  was  nie  unterkssen  werden  soll,  so  fiihlt 
man  denselben  durch  den  Bulbus  urethrae  durch,  und  kann  hierauf 
den  Musculus  bulbo-cavemosus  und  den  transversus  perinei  superficialis 
ganz  entfernen,  um  die  Art  und  Weise  kennen  zu  lernen,  wie  der 
Katheter  am  leichtesten  in  die  Blase  gleitet.  Dieses  nützliche  Ex- 
periment kann  überhaupt  nicht  häufig  genug  vorgenommen  werden, 
und  wird  dem  Studirendcn  eine  gewisse  Fertigkeit  in  einer  chirur- 
gischen Manipulation  verleihen,  welche  er  am  Krankenbette  sich 
nicht  so  bald  eigen  machen  dürfte.  Gewöhnlich  stellt  sich  der  Ein- 
führung des  Katheters  dort  ein  kleines  Hinderniss  entgegen,  wo  die 
Pars  membranacea  ureüiras  das  ligainentum  trianguläre  urethrtie  durch- 
bohrt. Vor  diesem  Ligament  liegt  der  Bulbus  urethrae,  in  welchem 
die  untere  Wand  der  Harnröhre  sich  etwas  ausbuchtet.  Ist  der 
Schnabel  des  Katheters  in  diese  Bucht  gerathen,  und  die  untere 
Wand  der  Bucht  stark  vertieft  worden,  was  bei  allzugrossem  Druck 
des  Katheters  nach  abwärts  immer  der  Fall  sein  wird,  so  miiss, 
wenn  man  den  Griff  des  Katheters  senkt,  in  der  Meinung,  seinen 
Schnabel  durch  die  Pars  membranacecC  urethrae  weiter  gleiten  zu 
lassen,  der  Schnabel  sich  vielmehr  am  Ligamentum  trianguläre 
stemmen.  Senkt  man  den  Griff  noch  mehr,  und  mit  Gewalt,  so 
wird  der  Schnabel  das  Ligament  durchbohren,  und  sich  einen 
sogenannten  falschen  Weg  bahnen,  welcher  sicher  nicht  in  die 
Harnblase  fuhrt.  Am  Lebenden  kann  das  Nämliche  geschehen. 
Das  beste  Mittel  diesem  geflihrlichen  Accidens  vorzubeugen,  besteht 
darin,  das  Glied  auf  dem  in  seiner  Harnröhre  steckenden  Katheter, 
so  viel  als  möglich  in  die  Höhe  zu  ziehen.  Dadurch  wird  die 
Urethra  gespaimt,  ihre  untere  ausgebuchtete  Wand  im  Bulbus  ge- 
hoben, und  der  Katheter  gleitet  nicht  selten  von  selbst  durch  seine 
eigene  Schwere  über  diese  gefährliche  Stelle  weg.  Das  anatomische 
Präparat  des  Mittelfleisches  vor  Augen,  wird  sich  jeder  Schüler  die 
Kegeln  des  Kathcterisirens  selber  entwerfen  können,  welche,  wenn 
sie  nur  aus  Büchern  memorirt  werden,  kaum  zu  verstehen  sind. 


S.  325.  Topographie  des  Mittelfleisches.  803 

Räumt  man  nun  das  Fett  aus  dem  Cavum  ischio-rectcde  heraus, 
so  kann  man  gewahren,  wie  die  Fascia  lyerinei  propria  sich  vom 
liinteren  Rande  des  Ligamentum  trianguläre,  als  dünne  Bindegewebs- 
binde  auf  die  untere  Fläclie  des  Levator  ani  fortsetzt,  und  wird 
hierauf  der  Ti^ier  isdiü  abgesägt,  so  sieht  man  den  Zug  der  Fasern 
des  Musculus  levator  ani,  welche  gegen  den  After  herab  convergiren. 
Die  genüge  Spannung  dieses  Muskels  erschwfirt  seine  Darstellung 
bedeutend,  und  es  ist  deshalb  unerlässlich  nothwcndig,  den  Mastdarm 
mit  einem  cylindrisch  zugeschnittenen  Schwämme  massig  anzufüllen, 
und  ein  mit  einem  Faden  versehenes  Querhölzchen  über  dem  Limhus 
ani  in  der  Mastdarmhöhle  zu  tixiren,  damit  man  das  Rectum  nach 
unten  anspannen,  und  dadurch  die  zum  (Jrificium  ani  convcrgirenden 
Muskeln  deutlicher  unterscheiden  kann. 

Wurde  der  ganze  Hodensack  entfernt,  und  nur  das  Glied 
belassen,  so  wird  man,  bei  starkem  Ilcrabscnkcn  des  letzteren,  und 
einiger  Nachhilfe  mit  dem  Scalpell,  jenes  Stückes  des  lÄgamentum 
trianguläre  ansichtig  werden,  welches  zwischen  der  Durchtrittsstelle 
der  Urethra  und  dem  Ligamentum  arcuatum  puhis  liegt,  und  ober- 
halb der  Urethra  durch  die  Rückengefösse  des  männlichen  Gliedes 
perforirt  wird. 

Die  Fascia  pelvis,  die  Ligamenta  puho-prostatica  oder  cesicalia, 
können  nur  von  der  Beckenhöhle  aus  präparirt  werden.  Es  wird 
die  Beckenhöhle,  durch  Abtragung  des  linken  ungenannten  Beins, 
seitwärts  eröflfnet.  Ist  die  Harnblase  mit  Wasser  massig  gefüllt, 
und  vom  rechten  ungenannten  Beine  abgezogen,  so  spannt  sich  das 
Peritoneum,  welches  von  der  Seitenwand  des  kleinen  Beckens  zur 
Harnblase  geht,  und  muss  entfernt  werden,  um  den  Arcus  tendineus 
der  Fascia  i}elms  sehen  zu  können.  Wird  nun  auch  die  Fascia  pdvis 
entfernt,  so  übersieht  man  die  ganze  Ausdehnung  des  Ursprungs  des 
Afterhebers,  von  der  Symphysis  bis  zur  Sinna  isdiii.  Hat  man  den 
Schnitt  nicht  durch  die  Symphysis,  sondern  links  von  ihr  geführt, 
so  überblickt  man  das  relative  Verhältniss  der  Fascia  pelvis  und 
Fascia  perinei  j)ropiia,  und  die  Organe,  welche  zwischen  diesen 
Fascien  eingelagert  sind.  Die  Ligamenta  puho-pi'ostaiica  werden 
sich,  beim  Zurücklegen  der  Blase  gegen  das  Kreuzbein,  anspannen. 
Zwischen  ihnen  und  dem  Jjigamentum  trianguläre  urethrae  liegt  die 
Prostata.  Auch  iinden  sich  daselbst,  mehr  gegen  den  Knochenrand 
des  Schambogens  hin,  die  Arteria  und  Vena  pudenda  communis, 
sammt  dem  gleichnamigen  Nervengeflecht.  —  Oefteres  Wiederholen 
dieser  schwierigen  Zergliederung  wird  nicht  ermangeln,  jenen  Grad 
von  befriedigender  Ortskenntniss  zu  erzeugen,  welcher  unerlässlich 
ist,  um  die  Technik  des  Steiaschnittes,  und  die  PatholoiriA  dAr 
Mastdarmabscesse  und  Mastdarmfistebi  ^ 


804  §.  386.  Die  SteissdrUie. 

Aasftihrliches  enthält  der  2.  Bd.  meiner  topogr.  Anat.  6.  Anfl.  —  Special  > 
Schriften  über  das  Mittelfleisch  sind:  Froriep,  über  die  Lage  der  Eingeweide  im 
Becken.  Weimar,  1816.  —  J.  Houston,  Views  of  tho  Pelvis.  Dublin,  1829.  fol.  — 
A.  Monro,  The  Anatomy  of  the  Pelvis  of  the  Male.  Edinb.,  1825.  fol.  —  C  Denon- 
vüliers,  snr  les  aponeuroses  da  p^rin6e.  Arch.  g^n.  de  m<^d.  1837.  —  Th,  Mortati, 
Sargical  Anatomy  of  the  Perineum.  London,  1838.  —  A.  Betzitu,  über  das  Liga- 
mentum pelvuhprosUUicum,  in  MiUler's  Archiv.  1849. 


§.  326.  Die  Steissdrüse. 

Luschka  entdeckte  bei  der  anatomischen  Untersuchung  der 
Muskeln  des  Mittelfleisches  und  der  Aftergegend,  diese  merkwürdige 
Drüse.  Ich  schalte  sie  deshalb  am  Schlüsse  des  Perineum  ein,  und 
widme  ihr  einen  eigenen  Paragraph,  zu  Ehr'  und  Preis  des  hoch- 
verdienten Mannes,  dessen  Namen  sie  verewigt.  Wer  hätte  geahnt, 
4aBS  die  präparirende  Anatomie  im  menschlichen  Leibe  noch  ein 
neues  Organ  finden  könne.  Um  so  grösser  der  Ruhm  des  ana- 
tomischen Meisters,  welcher  unsere  Wissenschaft  mit  diesem  schönen 
Funde  beschenkte,  und  dessen  Name  noch  lange,  lange  fortleben 
wird,  im  Munde  aller  Anatomen,  welche  Fleiss  und  Gründlichkeit 
der  anatomischen  Arbeit  zu  schätzen  und  zu  bewundern  wissen. 

Ich  möchte  sagen,  anatomische  Entdeckungen  sind  um  so 
grösser,  je  kleiner  das  Gefundene.  Und  klein  ist  diese  Drüse  für- 
wahr, sonst  wäre  sie  nicht  so  lange  ungekannt  geblieben.  Sie  liegt 
unmittelbar  vor  der  Steissbeinspitze,  als  ein  kaum  hanfkorngrosses 
Klümpchen,  mit  hügeliger  Oberfläche.  Man  hat  den  Steissbein- 
ursprung  des  Sphincter  ani  extenuis  abzutragen,  um  auf  ein  fibröses 
Blatt  zu  treff^en,  mittelst  dessen  die  hinter  dem  After  vorbei- 
ziehenden Fasern  der  beiderseitigen  Levatores  ani  unter  einander 
zusammenhängen.  Auf  diesem  fibrösen  Blatte  liegt  die  Steissdrüse 
auf,  und  erhält  durch  eine  kleine  (Jeff^nung  desselben,  Getasse  und 
Nerven,  erstere  aus  der  Arteria  sacralis  media,  letztere  aus  dem 
sympathischen  Ganglion  coccf/geum.  Ein  aus  Bindegewebe  und  orga- 
nischen Muskelfasern  bestehendes  Fasergerüste,  welches  einfache 
und  verästelte  Schläuche  einschliesst ,  bildet  die  Grundlage  des 
winzigen  Organs.  Die  Schläuche  enthalten  Kerne  und  Zellen.  Auf- 
fallend erscheint  der  Keichthum  der  Drüse  an  sympathischen  Nerven- 
faden, welche  mit  kolbenförmigen  Anschwellungen  endigen.  Arnold 
erklärte  sich  gegen  die  Existenz  von  geschlossenen  Schläuchen, 
indem  er  dieselben  von  den  Arterien  aus  injicirt  zu  haben  ver- 
sichert. Die  Schläuche  wären  somit  Blutgeßisse.  Dieses  Umstandes 
und  der  zahlreichen  organischen  Muskelfasern  wegen,  könnte  man 
die  Steissdrüse  als  eine  Art  Caudalherz  ansehen,  wie  ein  solches 
im    Schwänze    des    Aales    vorkommt.      Doch     das     ist    Metapher. 


S.  3S7.  YerindeniDgtn  dM  Eies  im  Eileiter,  etc.  80Ö 

Geziemender  ist  es,  ehrlich  zu  bekennen,  dass  wir  nicht  wissen, 
was  die  Steissdrüse  für  eine  functionelle  Verwendung  hat.  Man  liat 
aus  ihr,  ihres  Nervenreichthums  wegen,  auch  eine  Nervendrüse 
gemacht,  wie  aus  der  Nebenniere  und  dem  Gehirnanhang.  Was 
denkt  man  sich  wohl  bei  solchem  Namen? 

H,  Luschka,  Himanhang  und  Steissdrüse.  Berlin,  1860.  —  W.  Krause,  anat. 
Untersuchungen.  1861.  -  Arnold,  Archiv  für  path.  Anat  32.  Bd.  -—  E,  Serloli, 
über  die  Structar  der  Steissdrüse,  ebend.  42.  Bd. 


B.  Fragmente  aus  der  Entwicklungs- 
geschichte. 

§.  327.  Veränderungen  des  Eies  im  Eileiter  bis  zum  Auftreten 

der  Keimhaut 

Das  hier  zu  Erwähnende  ist  meistens  Beobachtungen  an 
Thieren  entnommen.  Um  erschöpfende  Umständlichkeit  handelt  es 
sich  wohl  nicht,  indem  die  Schüler  diese  Fragmente  ohnedies  ge- 
wöhnlich überschlagen.  Wer  sie  aber  liest,  wird  die  den  Geburts- 
helfer zunächst  intercssirenden  anatomischen  Attribute  eines  zur 
Geburt  reifen  Embryo  und  seiner  Hüllen,  leichter  verstehen  (§.  332 
bis  336). 

Das  reife  und  zum  Austritt  vorbereitete  Ei  des  Eierstockes 
besteht,  wie  früher  gesagt  wurde,  1.  aus  einer  durchsichtigen,  stmc- 
turlosen,  ziemlich  dicken  und  festen  Hülle,  Dotterhaut,  Zona 
pdludda,  2.  aus  dem  Dotter,  Vitdlits,  einer  kugeligen,  zähen,  aus 
körnigen,  ihres  Fettgehaltes  wegen  das  Licht  stark  brechenden 
Elementen  bestehenden  Masse,  3.  aus  dem  Keimbläschen,  Vesicvla 
germinativa,  welches  anfangs  in  der  Mitte  des  Dotters,  später  an 
der  inneren  Wand  der  Dotterhaut  liegt,  in  einer  durchsichtigen 
Hülle  eine  klare,  eiweissartige  Flüssigkeit  enthält,  und  an  seiner 
inneren  Oberfläche  den  Keimfleck  zeigt. 

Hat  sich  das  Ei  vom  Eierstock  getrennt,  so  wird  es  von  den 
offenen  Abdominalenden  der  Muttertrompeten  aufgenommen,  und 
durch  den  Kanal  der  Tuba  in  die  Gebärmutterhöhle  geleitet,  wobei 
die  contractileu  Fasern  der  Tuba  und  die  Flimmerbewegung  ihres 
Epithels  als  bewegende  Kräfte  wirken.  Die  Veränderungen,  welche 
das  befruchtete  Ei  während  dieses  Weges,  welcher  ziemlich  langsam 
zurückgelegt  wird  (bei  Kaninchen  in  drei  bis  vier;  bei  Hunden  in 
acht  bis  vierzehn  Tagen),  sind  im  MeDsohen  ni^^* 
legenheit,  verlässliche  Beobachtungen 


806  §•  327.  Veränderongen  das  Eies  im  Eileiter,  etc. 

des  menschlichen  Eies  im  Eileiter  und  in  der  Gebärmutter  an- 
zustellen,  ereignet  sich  nur  sehr  selten,  indem  das  Weib,  welches  eben 
auf  die  Fortpflanzung  des  Menschengeschlechtes  bedacht  gewesen, 
sich  in  solchen  Gesundheitsumstünden  beflnden  wird,  dass  sein 
ph'itzlicher  Tod  nur  durch  Zufall  oder  Gewalt  erfolgen  kann.  Auch 
sind  die  Beobachtiuigen  über  solche  Fälle,  oder  über  abortive  Eier 
aus  den  ersten  Schwangerschaftsperioden,  so  unbestimmt,  und  80 
wenig  übereinstimmend,  dass  es  nothwendig  wird,  diese  Vorgänge 
am  Thiere  zu  studiren,  und  durch  vorsichtige  Anwendung  der  ge- 
wonnenen Resultate  auf  die  menschliche  Entwicklungsgeschichte, 
eine  liücke  der  anatomischen  Wissenschaft  auszufiillen.  Was  die 
Untersuchung  des  Thiereies  über  diesen  Fragepunkt  lehrte,  lässt 
sich  in  folgenden  Pimkten  formuliren. 

1.  Das  Ei  erscheint  auch  im  Eileiter  von  einem  Reste  des 
Discus  oophorus,  in  welchem  es  im  Eierstocke  eingebettet  war,  um- 
hüllt. Dieser  Rest  stellt  ein  unregelmässiges,  an  mehreren  Stelleu 
wie  eingerissenes  Zellenstmtum  dar,  welches,  während  der  Wan- 
derung des  Eies  durch  den  Eileiter,  allmälig  abgestreift  wird  und 
schwindet,  so  dass  beim  Eintritte  des  Eies  in  den  Uterus  nichts 
mehr  von  ihm  übrig  ist. 

2.  Die  Zona  pellucida  schwillt  auf,  tränkt  sich  durch  Im- 
bibition von  Flüssigkeit,  und  das  Ei  wird  grösser,  indem  sich  an 
die  äussere  Oberfläche  der  Zona  noch  eine  neue  Schichte  Eiweiss 
ablagert. 

3.  Der  Dotter  wird  consistenter,    und   seine   Körnchen  häufen 
sich    so   an,    dass   sie    das   Keimbläschen   vollständig  bergen.     Man 
sieht  es  also  nicht  mehr,  und  viele  Beobachter  glauben  deshalb,   es 
habe  aufgehört  zu  existiren.     Der  Dotter  fliesst   beim  gewaltsamen 
Zersprengen    des   Eies   nicht   mehr   als  körnige  Masse  aus,  sondern 
hält  zusammen.  Es  bildet  sich  eine  Furche  um  ihn  herum,  die  immer 
tiefer  und  tiefer  wird,  und  endlich  den  Dotter  in  zwei  Theile  theilt, 
deren  jeder  einen   hellen  Fleck,    wahrscheinlich    das  gleichfalls  ge- 
theilte   Keimbläschen    enthält.     Eine   zweite  Furche,    senkrecht    auf 
die  erste  entstehend,    theilt  den    doppelten    Dotter    in  vier  kleinere 
kugelige  Massen.     An  jeder  Kugel    wiederholt  sich  diese  l'heilung. 
Die  Zahl  der  immer  kleiner  und  kleiner  werdenden  Kugeln  wächst 
somit  in  geometrischer  Progression.     Jede  Kugel  lässt    noch  immer 
einen    hellen    Kernfleck    unterscheiden.     Man    nennt  diese  Theilunir 
des    Dotters    in    kleinere    und    kleinste    Kugehi,    den  Furchungs- 
process,  und  die  Kugeln  selbst:  Furchungskugeln.    Durch  das 
Zerfallen  des  Dotters  in  kleinere  Kugeln,  welche  noch    immer   von 
der    Zma  pellucida    zusammengehalten    werden ,    verliert    er    seine 
Kugelform,  und  erhält,  um  einen  rohen  Vergleich    zu  machen,   das 
höckerige  Ansehen   einer    Maulbeere.     Die   Furchungskugcdn  haben 


§.SS8.  VarinderaDgeB  des  Eies  im  üterns,  etc.  807 

keine  besondere  Hülle,  und  müssen  daher,  wenn  man  für  sie  den 
Namen  Zellen  beibehält,  als  nackte  Zollen  bezeichnet  werden. 
4.  Während  des  Furchungsprocesses  hat  das  Ei,  durch  Ver- 
grösserung  seiner  Zona  pdlucida,  so  an  Umfang  zugenommen,  dass 
die  Furchungskugeln ,  welche  sich  nicht  so  rasch  vermehren,  als 
die  Grösse  des  Eies  zunimmt,  auseinander  weichen,  sich  an  die 
innere  Oberfläche  der  Zona  als  einfaches  Stratum  von  Zellen  an- 
legen, und  so  eine  mit  der  Zona  concentrische  Blase  bilden,  welche 
als  Keim  blase  oder  Keimhaut  (Blastoderma)  den  hellen  Dotter- 
rest umschliesst.  Nur  an  einer  bestimmten  Stelle  der  Keimhaut  finden 
sich  mehrere  Schichten  von  Zellen.  An  dieser  Stelle  wird  die  Keim- 
haut weiss  und  opak  erscheinen;  —  sie  wird  einen  Fleck  zeigen  — 
und  dieser  Fleck  ist  der  Ausgangspunkt  aller  ferneren  auf  die 
Bildung  eines  Embryo  abzweckenden  Vorgänge,  weshalb  er  Keim- 
hügel, Discus  proligej'USj  genannt  wird  (Teiche  embryonatre  der  Fran- 
zosen). Die  Zellen,  aus  welchen  der  Discos  proligerus  besteht,  sind, 
so  zu  sagen,  die  Bausteine,  aus  welchen  der  spätere  Leib  des  Embryo 
sich  aufbaut.  Sie  werden  deshalb  Embryonalzellen  oder  Bil- 
dungszellen genannt. 

So  YcrhUlt  »icli  der  Hergang  nach  Bischoffs  Beobachtungen  am  Kanin- 
chenei.  Ob  das  menschliche  Ei  analoge  Veränderungen  während  des  Durchgangs 
durch  den  Eileiter  erleide,  ist  bis  jetzt  nur  Sache  des  Vermuthens.  Wie  lange  ea 
im  Eileiter  verweile,  kann  bei  dem  Mangel  aller  hier  einschlagenden  Beobachtun- 
gen nicht  gesagt  werden.  Bisch  off  meint,  dass  es  vor  dem  zwölften  bis  vier- 
zehnten Tage  nicht  in  den  Uterus  gelangen  dürfte.  —  Die  Auffindung  des  Eies 
im  Eileiter  ist  oft  sehr  schwierig,  besonders  dann,  wenn  die  anhängenden  Keste 
des  DiscHs  oophorti«  verschwunden  sind.  Zur  Untersuchung  in  iliesem  Stadium 
empfiehlt  sich  besonders  das  Uundeei,  dessen  dichter,  und  bei  auffallendem  Lichte 
weiss  erscheinender  Dotter,  dasselbe  viel  leichter  auffinden  lässt,  als  das  fast 
durchsichtige  Ei  anderer  Haussäugethiere.  Man  befestigt  den  von  seinem  Peri- 
tonealüberzug  gereinigten,  und  mit  einer  kleinen  Scheere  der  Länge  nach  ge- 
öffneten Eileiter  einer  kürzlich  läufig  gewordenen  und  belegten  Hündin,  auf  einer 
scliwarzen  Wachstafel  mittelst  Nadeln,  und  durchsucht  die  innere  Oberfläche  des- 
selben genau  mit  der  Loupc.  Man  findet  die  Eichen  gewöhnlich  als  weisse,  sehr 
kleine  Pünktchen,  auf  einer  Stelle  des  Eileiters  zusammengehäuft,  kann  sie  mit 
einer  Scalpellspitze  aufheben,  und  mit  einem  Zusatz  von  Speichel  oder  Eiweiss, 
um  das  schnelle  Vertrocknen  so  zarter  Gebilde  zu  verhüten,  unter  das  Mikro- 
skop bringen. 

Ueber  den  Furchungsprocess  handelt  liekhert  in  Müllers  Archiv,  1846. 


§.  328.  Veränderungen  des  Eies  im  Uterus.  Erscheinen 

des  Embryo. 

Auch  hierüber  liegen  moist  nur  Beobachtungen  an  Thier^i« 
vor.  —  Das  während  seines  Ganges  durch  den  EUi«**^  " 
Kaninchenei;  war  am  Ende  des  Bileiters  Tor 


808  8'  9m.  YerlDderuDgen  des  Eies  im  üftanis,  eie. 

EiweiBS  umgeben,    und   sein   Dotter  in  zahlreiche  Furchungskugeln 
zerlegt,  welche  die  Keimhaut  und  den  Keimhügel  bildeten. 

Die  ersten  Veränderungen,  welche  das  Kauinehenei  in  der 
Gebärmutter  erleidet,  betreffen  seine  Zona  pdlucida.  Von  ihrer 
ganzen  äusseren  Oberfläche  nämlich  wuchern  fadenförmige  Fortsätze 
hervor,  welche  in  die  erweiterten  Drüsen  der  Gebärmutterschleim- 
haut  (Glandulae  tUrictdares,  §.  315)  hineinwachsen.  Sic  sind  keine 
bleibenden  Gebilde,  sondern  verschwinden  wieder,  zusammt  der 
Zofia  pellucida  selbst,  deren  Bestand  somit  nur  ein  sehr  kurzer  war. 
Man  nennt  die  von  der  Zona  ausgehenden,  vergänglichen  Zotten: 
primäre,  und  ihren  Complex:  primäres  Chorion.  Für  diese 
vergänglichen  primären  Zotten,  entstehen  später  neue,  aus  der 
ganzen  äusseren  Oberfläche  der  Keimhaut  selbst,  und  diese  sind  die 
secundären,  aus  denen  sich  in  der  Folge  der  Mutterkuchen,  als 
Verbindungsorgan  zwischen  Embryo  und  Mutter,  entwickeh.  Der 
mit  Zotten  besetzte  Theil  der  Keimhaut  heisst  secundäres  oder 
permanentes  Chorion. 

Das  Ei  besteht  somit  nun  aus  zwei  in  einander  eingeschlossenen 
Blasen,  einer  äusseren  (Chorion),  und  einer  inneren  (Keimblase, 
Blattoderma),  An  der  Stelle  der  Keimhaut,  welche  als  Embryonal- 
flecH  im  vorigen  Paragraph  erwähnt  wurde,  trennt  sich  die  Keim- 
blase in  zwei  Blätter.  Beide  Blätter  liegen  dicht  an  einander,  können 
aber  mittelst  Nadeln  von  einander  getrennt  und  untersucht  werden. 
Die  Differenzirung  beider  Blätter  schreitet  rasch,  unter  fortwähren- 
der Proliferirung  der  Zellen  durch  Theilung,  über  den  ganzen 
Umfang  der  Keimblase  fort,  so  dass  endlich  die  ganze  Keimblase 
zweiblättrig  werden  muss.  Beide  Blätter  sind  Aggregate  von  Bil- 
dungszellen, mit  dem  Unterschiede,  dass  die  Zellen  des  äusseren 
Blattes  dichter  an  einander  liegen ,  während  jene  des  inneren 
noch  lose  zusammenhängen,  rundlicher  und  zai*ter  sind,  und  weniger 
granulirt  erscheinen.  Bischoff  nennt,  der  Analogie  mit  der  Keim- 
haut  des  Vogeleies  zufolge,  das  äussere  Blatt  das  seröse  oder  ani- 
malische, das  innere  das  Schleimblatt  oder  das  vegetative.  Baö  r 
hat  diese  Benennungen  zuerst  für  das  Hühnerei  gebraucht,  dessen 
Entwicklung  sich  am  leichtesten  studiren  lässt,  da  man  mittelst 
künstlicher  Bebrütung,  sie  in  allen  Stadien  verfolgen  kann.  Baer 
war  nun  der  Ansicht,  dass  sich  aus  dem  serösen  oder  animalischen 
Blatt,  die  Muskeln,  Knochen,  und  Nerven,  also  die  Organe  des 
animalischen  Lebens  entwickeln,  während  aus  dem  Schleimblatt  die 
Organe  des  vegetativen  Lebens,  die  Eingeweide,  entstehen  sollen. 
Zwischen  den  beiden  Blättern  der  Keimhaut  nahm  er  noch  ein 
intermediäres  Blatt  an,  welches  aber  nicht  über  die  Ränder  des 
gleich  zu  erwähnenden  Fruchthofes  hinauswächst,  also  nicht  zu 
einer   Blase   wird,    wie   die    beiden   anderen    Blätter,    sondern   die 


S.  919.  Weitere  FortochriUe  der  Entwicklung  de«  Emlryo.  809 

Uranlage  des  GefUsssystems  darstellt,  weshalb  er  ihm  den  Namen 
Gefässblatt  gab.  Das  Irrige  dieser  Ansicht  wurde  durch  Reichert 
nachgewiesen,  welcher  feststellte,  dass  aus  dem  äusseren  Blatt  der 
Keimhaut  nur  die  Oberhautgebilde  des  Embryo,  aus  dem  inneren 
nur  das  Epithel  des  Darmrohres  entsteht,  während  alles  üebrige 
aus  einer  zwischen  beiden  Blättern  sich  entwickelnden,  und  durch 
rasche  Proliferation  sich  bedeutend  verdickenden  Zellenschichte 
hervorgeht,  welche  er  als  Membrana  intermedia  sicherstellte. 

Bei  weiterer  Entwicklung  der  Eier,  bis  auf  einen  Längen- 
durchmesser von  vier  Pariser  Linien,  sind  die  Stellen,  wo  sie  im 
Uterus  liegen,  schon  äusserlich  als  Anschwellungen  kennbar,  welche 
zugleich  dünnwandiger  erscheinen,  als  der  übrige  Uterus.  Am 
neunten  Tage  ist  das  Ei  von  der  Uterus  wand,  wie  von  einer  fest 
anliegenden  Kapsel  umschlossen,  welche  nur  die  beiden  Pole  des 
Eies  frei  lässt. 

Der  Keimhügel  selbst  erscheint  in  diesem  Stadium  der  Ent- 
wicklung des  Kanincheneies,  nicht  mehr  rund,  sondern  oval,  und 
zuletzt  birnförmig.  Seine  äusserste  Umrandung  bildet  ein  dunkler 
Saum,  welcher,  der  Analogie  mit  dem  Vogelei  wegen,  dunkler 
Fruchthof,  Area  vasculosa,  genannt  wird,  der  von  ihm  eingeschlos- 
sene lichtere  Theil,  heisst  durchsichtiger  Fruchthof  —  Area 
peUucida,  Der  Unterschied  beider  Fruchthöfe  beruht  auf  der  grösseren 
oder  geringeren  Anhäufung  von  Bildungszellen.  In  der  Axe  des 
durchsichtigen  Fruchthofes  tritt  ein  heller  Streifen  auf,  der  Primitiv- 
streifen, Stria  primitiva,  welcher  sich  bei  genauerer  Betrachtung 
als  eine  Rinne  oder  Furche  herausstellt.  Zu  beiden  Seiten  des 
Primitivstreifens  erheben  sich  ein  paar  längliche  Kämme,  die 
Rückenplatten^  Laminae  dorsales,  welche  sich  über  der  Rinne 
zusammenneigen,  und  einen  Kanal  bilden,  in  welchem  später  das 
Gehirn  und  Rückenmark  sammt  ihren  Hüllen  entstehen.  Nach 
aussen  von  diesen  Kämmen  treten  ein  paar  neue  Längen wülste  auf, 
welche  sich  gegen  die  Höhle  der  Keimblase  zu  entwickeln,  und 
die  erste  Anlage  der  zukünftigen  Rumpfwandungen  des  Embryo 
darstellen.  Sie  werden  Visceral-  oder  Bauchplatten,  Laminae 
ventrales  s.  viscerales,  genannt.  Unter  der  Stria  primitiva  bildet  sich 
die  strangförmige  Chorda  dorsalis,  um  welche  herum  sich  die  Körper 
der  Wirbel  entwickeln. 


§.  329.  Weitere  Fortschritte  der  Entwicklung  des  Embryo. 

Die  bis  jetzt  geschilderten  Vorgänge  der  IKMong  eauM  1^^*^" 
Streifens  (Primitivrinne)^  der  Rücken-  imd  ^ 
Chorda  dorsalii,  gehen  von  Beicher/ 


810  g.  329.  Weitere  Fortschritte  der  Entwicklnng  des  Embryo. 

Die  Rückenplatten  schlicssen  sicli  anfangs  nicht  in  der  ganzen 
Länge  ihrer  convcrgirenden  Ränder;  die  Verwachsung  beginnt  viel- 
mehr zuerst  in  ihrer  Mitte,  und  schreitet  von  hier  aus  gegen  beide 
Enden  vor.  Hat  sich  der  Kanal  für  das  Rückenmark  ganz  ge- 
schlossen, so  erweitert  er  sich  an  seinem  vorderen  Ende  blasenartig^, 
und  bildet  drei  hinter  einander  liegende  Ausbuchtungen.  Die  diese 
Ausbuchtungen  allmälig  füllende  Nervenmasse,  wird  zum  Gehirn. 
Gegen  das  hintere  Ende  schliesst  sich  der  Kanal  erst  später,  und 
bildet,  so  lange  er  offen  bleibt,  eine  lanzettförmige  Spalte  (Sinus 
rlwmhoidalU  des  Vogelembryo).  Sobald  sich  das  Kopfende  dos 
Kanals  als  blasenartige  Erweiterung  zu  erkennen  gicbt,  erhebt  es 
sich  über  die  Ebene  der  Keimhaut,  tritt  aus  ihr  heraus,  und  schnürt 
sich  gleichsam  von  ihr  ab.  Zugleich  krümmt  es  sich  der  Länge 
nach  so,  dass  die  drei  Ausbuchtungen  nicht  mehr  in  einer  geraden, 
sondern  in  einer  gebogenen  Linie  liegen,  deren  höchsten  Punkt  die 
mittlere  Ausbuchtung  einnimmt. 

Hat  sich  der  Embryo  noch  nicht  seiner  ganzen  Länge  nach, 
sondern  blos  mit  seinem  Kopfende  aus  der  Ebene  der  Keimhaut 
emporgehoben,  und  legt  man  ihn,  während  er  noch  mit  der  Keim- 
blase in  Verbindung  ist,  auf  den  Rücken,  so  sieht  man  von  der 
Keimblase  her,  das  Kopfende  nicht,  da  es  unter  der  Keimhaut  liegt, 
und  von  ihr  verdeckt  wird.  Die  Eingangsstelle  von  der  Höhle  der 
Keimblase  in  die  im  Kopfende  enthaltene  Visceralhöhle  wird  nach 
der  von  Wolff  beim  bebrüteten  Hühnchen  gewählten  Bezeichnung: 
Fovea  cardmca,  —  der  das  Kopfende  verdeckende  Theil  der  Keim- 
haut:  Kopf  kappe  genannt. 

Rings  um  den  Embryo  erhebt  sich  das  äussere  Blatt  der  Keim- 
haut  in  eine  Falte,  als  erste  Anlage  des  Amnion.  Diese  Falte 
überwächst  von  allen  Seiten  her  den  Embryo,  so  dass  ihre  Ränder 
über  dem  Rücken  desselben  zusammenstossen ,  wo  sie  sich  auch 
schliessen  (Amnionnabel).  Das  innere  Blatt  dieser  Falt(i  wird,  wenn 
es  bis  zur  Verwachsung  gekommen  ist,  einen  Beutel  oder  Sack 
vorstellen,  dessen  untere  Wand  der  Embryo  selbst  ist.  Beide  Blätter 
der  Falte  liegen  anfangs  dicht  an  einander,  und  uinschliessen  den 
Embi*yo  ziemlich  eng.  Sammelt  sich  in  der  vom  inneren  Blatte  der 
Falte  gebildeten  Blase  Flüssigkeit  an,  so  wird  sie  ausgedehnt,  und 
wächst  zu  einer  grösseren  Blase  an,  welche  Amnion,  Schaf- oder 
Wasserhaut,  und  deren  flüssiger  Inhalt  Schafwasser,  Liquor 
amnii,  genannt  wird. 

Nachdem  sich  das  Amnion  gebildet,  beginnt  auch  der  übrige 
Embryo,  von  welchem  nur  das  Kopfende  bisher  über  die  Ebene 
der  Keimhaut  sich  erhob,  sich  von  der  Keim  haut  zu  erheben.  Es 
wiederholt  sich  zuerst  am  Schwänzende  derselbe  Vorgang,  wie  am 
Kopfende.  Indem    es   sich    erhebt,   das  Schleimblatt  nachzieht,  und 


$.889.  Weitere  Fortsehritte  der  Entwicklung  des  Embryo.  811 

die  Visceralplatten  sich  aufeinander  zuneigen,  entwickelt  sich  eine 
vom  Schicimblatt  ausgekleidete  Höhle  in  ihm,  als  hinteres  Ende  der 
Visceralhöhle.  Das  abgeschnürte  Schwanzende  des  Embryo  wird, 
von  der  Keimblase  aus  gesehen,  ebenfalls  durch  einen  Theil  der 
Keimhaut  verdeckt,  und  dieser  ist  die  Schwanzkappe. 

Zuletzt  kommt  die  Reihe  des  Convergirens  auch  auf  die  mitt- 
leren Theile  der  Visceralplatten.  Ihr  Verschluss,  und  die  dadurch 
bewirkte  Bildung  der  Rumpfhöhle,  erfolgt  aber  viel  langsamer.  Der 
sich  über  die  Fläche  der  Keimhaut  erhebende  Embryo  zieht  das 
mit  seiner  unteren  Fläche  verwachsene  Schleimblatt  nach,  welches 
somit  eine  gegen  die  Höhle  der  Keimblasc  offene  Rinne  (Darm- 
rinne) bilden  muss.  Diese  wird  durch  die,  von  vorn  und  von 
hinten  gegen  die  Mitte  vorschreitende,  allmälige  Schliessung  der 
Visceralplatten,  in  ein  Rohr  umgewandelt,  —  der  einfache  und 
geradlinige  Darmkanal.  Ist  die  Schliessung  der  Visceralplatten 
bis  zur  Mitte  der  Darmrinne  gelangt,  so  geht  die  Verwachsung  bis 
zur  vollkommenen  Abschnürung  weiter.  Es  wird  somit  das  Darm- 
rohr, d.  i.  der  in  der  Rumpfhöhle  des  Embryo  zwischen  den  Vis- 
ceralplatten eingeschlossene,  und  durch  sie  gleichsam  eingeschnürte 
Theil  des  Schleimblattes  der  Keimblase,  mit  dem  ausserhalb  der 
Rumpfhöhle  verbliebenen  Theil  der  Keimblase  durch  eine  Oeffnung 
communicircn.  Die  Oeffnung  heisst:  Darmnabel,  und  der  eivtra 
emhryonem  liegende  Theil  der  Keimblase:  Nabel  blase,  Vesicida 
umbUicalis.  Die  Communicationsstelle  der  Nabelblase  mit  dem  Darm- 
rohr zieht  sich  nach  und  nach  in  einen  Gang  aus,  Nabelblasen- 
oder Dotter  gang,  Ductus  omphalo-enterictts.  Der  kreisförmige  Rand 
der  um  den  Ductus  omphalo-entencus  zusammengezogenen  Visceral- 
platten, ist  der  sogenannte  Hautnabel  oder  eigentliche  Nabel. 
Die  Nabelblase  ist  sehr  gefassreich.  Da  nun  das  in  der  Rumpf  höhle 
des  Embryo  enthaltene  Darmrohr  ebenfalls  ein  Theil  der  Keimblase 
ist,  so  müssen  Blutgefässe  vom  Embryo  zur  Nabelblase  und  um- 
gekehrt verlaufen.  Diese  Blutgefässe  liegen  am  Ductus  omphalo- 
entericus,  und  werden  Vasa  omphalo-mesenterica  genannt.  Sic  bestehen 
aus  einer  Arterie  und  zwei  Venen. 

Nebst  der  Nabelblase  entstellt  um  dieselbe  Zeit  noch  eine  »weite  Blase, 
welche  für  die  Entwicklung  des  Embryo,  und  seine  einzuleitende  Verbindung  mit 
der  Gebärmutter,  von  grösster  Wichtigkeit  ist  Sic  heisst  AUantouty  Harn  haut, 
lieber  ihre  Entstehung  sind  die  Meinungen  getheilt.  Bise  hoff  leitet  die  erste 
Anlage  der  Allantois  von  einer  ans  Bildungszellen  bestehenden,  nicht  hohlen 
Wucherung  der  Visceralplatten  des  Schwanzes  ab.  Diese  Wucherung  ist  sehr 
gcfÄssreich,  indem  die  beiden  EndAste  der  Aorta  (Arteriae  iliacae)  sich  in  ihr  ver- 
zweigen, und  ihre  Venen  sich  eu  zwei  ansehnlichen  Stämmchen  vereinigen,  welche 
zum  Herzen  zurücklaufen.  Hat  sich  die  Allantois,  durch  Verflüssigung  ihrer  inneren 
Zelle nmasse,  in  eine  Blase  umgestaltet,  so  commuxdcirt  sie  allerdings  mit  dea 
Darmende,  und  kann,  der  Form  nach,  als  Ausstfllpung  desselben  grenn^ 
werden.    Die  Allantois   wächst   nach,   tmd  errdeht   wobiir''  **^ 


812  S.  390.  WollTscher  K«rp«r. 

Grösse,  dass  sie  durch  die  zum  Hautnabel  connivirenden  Visceral  platten  in  zwei 
Theile  ^etheilt  wird,  deren  einer  innerhalb,  der  andere  ausserhalb  des  Embryo 
lieget.  Der  innerhalb  des  Embryo  lieg^ende  Theil  der  Blase,  wird  in  seiner  unteren 
Hälfte  zur  Harnblase,  in  seiner  oberen  dagegen  zum  Harnstrang,  Urachits. 
Der  Urachus  ist  hohl,  also  ein  Kanal,  durch  welchen  die  Harnblase  mit  der 
ausserhalb  des  Embryo  befindlichen  Allantois  in  Verbindung  steht.  Der  Harn 
wird  somit  durch  den  Urachus  aus  der  Blase  in  die  Höhle  der  Allantois  geschafTl., 
woraus  der  Name  Urachtt«  sich  ergiebt  (oupov,  Harn,  und  y-w,  giessen).  —  Die 
Arterien  der  Allantois  sind  die  Fortsetzungen  der  beiden  oben  er>vähnten  Aorten- 
äste (Arteriae  üiacciej  und  werden  Nabelarterien  genannt  Die  Venen  vereinigen 
sich  beim  Menschen  zu  einem  Stamm  —  Nabelvene  —  welche  sich  in  die  mittler- 
weile entstandene  Hohlader  ergiesst.  Wir  sehen  nun  durch  die  eigentliclie  Nabel- 
öffnung der  Bumpfwand  folgende  Theile  treten:  1.  den  Diicttu  omphcdo-enterictis, 
mit  den  VasU  omphah-megerUericu,  und  2.  den  Urachus,  mit  den  doppelten  Ar- 
Uriae  umhUicaUt,  und  der  einfachen  Veita  umbUiceUis.  Eine  vom  Amnion  für  diese 
Gef&sse  gebildete  Hülle  heisst  Nabelscheide,  und  geht  an  der  Peripherie  des 
Nabels  in  die  äussere  Haut  des  Embryo  über.  Der  Complex  aller  dieser  Gebilde 
ist  der  Nabelstrang,  Funiculua  umbüicaUa.  —  Der  ausserhalb  des  Embryo 
liegende  grössere  Abschnitt  der  Allantois  wird  dazu  verwendet,  eine  Gefässver- 
bindung  zwischen  dem  Embryo  und  der  Gebärmutter  «inzuleiten,  und  zwar  auf 
folgende  Weise.  Er  wächst  nämlich  so  rasch,  dass  er  die  äussere  Eihaut  (Chorion) 
erreicht,  sich  an  ihre  innere  Fläche  anlegt,  mit  ihr  verwächst,  und  seine  Arterien 
in  sie  eindringen  lässt.  Ist  dieses  geschehen,  so  schwindet  dieser  extra-embryonale 
Abschnitt  der  Allantois  vollständig.  Nur  seine  Blutgefässe  verbleiben.  Seine 
beiden  Arterien,  welche,  wie  gesagt,  Verlängerungen  der  Arteriae  iHac€te  des 
Embryo  sind,  verlängern  sich  bis  in  die,  an  der  Aussenfiäche  des  Eies  aufsitzen- 
den Zotten,  und  beugen  sich  in  diesen  schlingenformig  um,  um  in  Venen  über- 
zugehen, welche  sich  zu  einem  einfachen  Stamm  vereinigen,  als  Vena  umhilicali». 
Gleichzeitig  entwickeln  sich  die  Blutgefässe  an  der  Innenwand  des  ITtenis,  be- 
gegnen jenen  des  Chorion,  und  münden  zwar  nicht  mit  ihnen  zusammen,  gerathen 
jedoch  mit  ihnen  in  eine  so  innige  Beziehung,  dass  ein  Austausch  der  Bestand - 
theile  beider  Blutsorten  diu'ch  Diffusion  möglich  wird.  Diese  Verbindung  der 
Gefässsysteme  des  Uterus  und  des  Embryo  bilden  den  Mutterkuchen, /'/^icertto, 
dessen  genauere  Untersuchung  im  §.  836  folgt. 

Der  zuerst  von  Galen  gebrauchte  Name  AUantoiM  (aXXavroei^r];)  stammt 
von  oXXa;,  gen.  otXXivro;,  eine  Wurst.  Diese  sackförmige  Haut  ist  nämlich  bei 
Schafen  und  Kälbern  so  gross  und  geräumig,  dass  man  sie  mit  gehacktem  Fleisch 
zu  füllen,  also  zum  Wurstmachen  zu  verwenden  pflegt;  daher  aXxavrorioiog  bei 
Diog.  Laertius  ein  Wurstmacher,  und  aXAavTonrjjAr,;  bei  Aristophanes  ein 
Wursthändler.  So  wird  nun  auch  die  Benennung  Menihrana  farnminalis  ver- 
ständlich, welche  ihr  von  Vesal  gegeben  wurde.  Farcimen,  von  faj'cirr,  füllen, 
ist  eine  Wurst 


§.  330.  WolfPscher  Körper. 

Unter  den  hier  gegebenen  Fragmenten  der  Entwicklungs- 
geschichte, mag  auch  dem  Wolffschen  Körper  ein  Platz  gegönnt 
sein.  Er  verdient  ihn  schon  wegen  seiner  Beziehungen  zur  Ent- 
wicklung der  Genitalien.  Der  Wolffsche  Körper  ist  ein  paariges 
Organ  y    welches    die    ganze    Bauchhöhle    sehr  junger    Embryonen 


§.  830.  Wolff*8cher  Kftrper.  813 

einnimmt;  und  steht  in  jener  Periode  des  embryonalen  Lebens  im 
grössten  Flor,  in  welcher  von  Harn-  und  Geschlechtsorganen  noch 
nichts  zu  sehen  ist.  Der  Wolffsche  Körper  ist  eine  tubulöse  Drüse, 
welche,  so  lange  noch  keine  Nieren  gebildet  sind,  mit  der  Aus- 
scheidung der  stickstoffhaltigen  Zersetzungsproducte  des  embryo- 
nischen Stoffwechsels  betraut  ist,  daher  sein  Name:  Primordial- 
niere.  Die  quer  liegenden  Kanälchen  der  Primordialnieren  endigen 
an  ihrem  inneren  Ende  blind,  an  ihrem  äusseren  Ende  aber  gehen 
sie  in  einen  Ausfuhrungsgang  über,  welcher  in  das  untere  Ende  der 
Allantois  einmündet.  Am  inneren  Rande  des  Wolf f sehen  Körpers 
entsteht  ein  Organ,  welches  zum  Hoden-  oder  Eierstock  wird.  Aus- 
wäi*ts  von  diesem  Organe  zieht  sich  der  Müller'sche  Faden  an 
der  unteren  Fläche  des  Wolf f sehen  Körpers  hin.  Er  ist  hohl, 
also  eigentlich  ein  Gang,  endigt  vorn  blind  und  mündet  hinten 
zwischen  den  Insertionen  der  Wolffschen  Ausfuhrungsgänge  in 
die  Allantois  ein.  Wird  das  am  inneren  Rande  des  Wolffschen 
Körpers  sich  bildende  Organ  zu  einem  Hoden,  so  schwindet  der 
Müller' sehe  Faden  der  Art,  dass  nur  sein  hinteres,  in  die  Allan- 
tois einmündendes  Ende  pcrennirt,  welches  dann  mit  demselben 
Ende  des  anderen  Müller'schen  Fadens  zu  einem  Säckchen  zu- 
sammenfliesst  —  die  in  §.  298  erwähnte  Vesicula  prostatica.  Die 
Samenkanälchen  des  neu  entstandenen  Hoden  münden  in  die  Quer- 
kanäle des  Wolffschen  Körpers  ein.  Was  von  letzteren  diesseits 
dieser  Einmündung  liegt,  schwindet,  während  das  jenseits  der  Ein- 
mündung liegende,  mit  dem  Ausfuhrungsgang  des  Wolffschen 
Körpers  zusammenhängende  Stück  derselben,  sich  zu  den  Com 
vasculosi  Hcdlen  (§.  300)  umwandelt,  und  der  Ausführungsgang 
selbst  zum  Nebenhoden  wird.  Von  den  vordersten  Querkanälchen 
des  Wolffschen  Körpers  kann  eines  oder  das  andere  als  eine  Form 
der  Morgagni'schen  Hydatide  (§.  301)  perenniren;  —  während 
eines  der  hintersten  sich  zum  Vascidum  aberrans  (§.  300)  umbildet. 
Ob  auch  die  Parepididymis  (§.  300)  als  ein  Residuum  des  Wolff- 
schen Körpers  zu  nehmen  sei,  ist  nicht  bewiesen,  aber  sehr  wahr- 
scheinlich. 

Wird  aber  das  anfangs  indifferente  Organ  am  inneren  Rande 
des  Wolffschen  Körpers  zu  einem  Eierstocke,  so  schwindet  der 
MüUer'sche  Faden  nicht,  wohl  aber  der  Wolffsche  Ausführungs- 
gang. Der  Müller'sche  Faden  öffnet  sich  an  seinem  vorderen 
Ende  und  wird  zur  Tuba  Fallopiae.  Die  hinteren  Enden  beider 
verschmelzen  zu  einem  unpaaren  Schlauch,  welcher  sich  in  Uterus 
und  Vagina  sondert.  Einige  Querkanälchen  des  Wolffschen  Körpers 
können  (wie  im  männlichen  GescUechte)  perenniren,  und  bilden 
sodann  den  im  §.  309  erwähnten  Nebeneierato^lr 


814  §.  SSI.  Menschliche  fiier  aus  dem  eraUn  Schwangerschaflsmonate. 

Ich  will  nicht  so  unbescheiden  sein,  den  Autorc^n  i'ilier  Entwicklungs- 
geschichte länger  in's  Handwerk  zu  pfnschen,  und  verweise  den  Wissbegierigen 
auf  die  einschlägigen,  schon  öfters  citirten  Sclirlften. 


§.  331.  MenscUiche  Eier  aus  dem  ersten  Schwangerschafts- 

monate.  Membranae  deciduae. 

Der  Vergleich  sehr  junger  menschlicher  Eier  mit  den  in  den 
vorausgegangenen  Paragraphen  behandelten  Säugethiereicrn  zeigt, 
bis  auf  minder  wesentliche  DiflFerenzen,  eine  grosse  Uebereinstimmung. 
Nach  Thomson's  Beobachtungen  eines  zwölf  bis  vierzehn  Tage 
alten  menschlichen  Eies,  hatte  dieses  einen  Durchmesser  von  fünf 
Zehntel  Zoll.  Sein  Chorion  war  mit  Zotten  besetzt.  In  diesem 
befand  sich  eine  zweite  Blase,  welche  die  Höhle  des  Chorion  nicht 
ganz  ausfüllte,  und  auf  welcher  der  Embryo  dicht  auflag.  Die 
Seitentheile  des  Embryo  gingen  ohne  Erhebung  in  diese  Blase  über. 
Sie  war  also  die  Keimblase.  Von  Amnion  und  AUantois  war  nichts 
zu  sehen. 

In  einem  von  R.  Wagner  untersuchten  Ei  von  tiinf  Linien 
Durchmesser,  war  bereits  das  Darmrohr  gebildet,  und  hing  durch 
einen  kurzen  Kanal,  Ductus  omplialo-entericus,  mit  der  Nabel  blase 
zusammen.  AUantois  und  Amnion  waren  gleichfalls  schon  entwickelt. 
Das  Alter  dieses  Eies  betrug  drei  Wochen.  Ein  dritter  Fall,  von 
Müller  beschrieben,  stimmt  mit  diesem  genau  überein,  und  ebenso 
ein  vierter,  von  Coste,  welcher  auf  zwanzig  Tage  geschätzt  war. 
Diese  wenigen  Data  genügen,  um  aus  der  Uebereinstimmung  der 
ersten  embryonalen  Anlagen,  auf  eine  gleiche  Entwicklungs weise  zu 
schliessen. 

In  den  sogenannten  hinfälligen  Häuten,  Membranae  deciduae, 
liegt  ein  wichtiges  Unterscheidungsmerkmal  des  menschlichen  Eies 
vom  Säugethierei.  Die  Membrana^  decidtiae  sind  Eihülleii,  welche 
nur  im  Menschen  (wahrscheinlich  auch  bei  den  Affen)  vorkommen. 
Ihre  Entstehung  geht  aber  nicht  vom  Ei  aus,  wie  die  des  Amnion 
und  Chorion,  sondern  von  der  Gebärmutter.  Es  ist  hinlänglich  oon- 
statirt,  dass,  bevor  noch  das  menschliche  Ei  in  die  (Jebärmutter 
gelangt,  an  der  inneren  Oberfläche  der  letzteren  eine  Haut  entwickelt 
wird,  welche  gegenwärtig  von  allen  Anatomen  als  die  hypertrophirte 
Uterusschleimhaut  selbst  anerkannt  wird.  Sie  wurde  von  Hunter 
zuerst  untersucht  und  beschrieben,  und  fuhrt,  weil  sie  während  der 
Dauer  der  Schwangerschaft  eine  vollständige  Rückbildung  erleidet, 
den  Namen:  Membrana  decidua  Hunteri,  Sie  ist  weich,  weisslich, 
und  einem  plastischen  Exsudate  ähnlich,  wie  es  bei  Entzündungen 
gebildet  wird.  Ihre  Dicke  beträgt^  in  ihrem  höchsten  Entwicklungsäor, 


§.  SSL  Menfchlicho  Eier  aus  dem  eriten  Sehwangersehftftemonate.  815 

bis  drei  Linieu.  Als  aufgelockerte  Uterinalschleimliaut  besitzt  die 
Decidua  vergrössorte  und  verlängerte  Glaiididas  utricidares  in 
grösster  Anzahl,  deren  erweiterte  Mündungen  das  siebförmige  An- 
sehen der  freien  Fläche  der  Decidua  bedingen.  Kommt  nun  das 
Ei  durch  die  Tuba  in  den  Uterus,  so  soll  es  den,  das  Ostium 
uterinum  verschliessenden  Theil  der  Decidua  vor  sich  her  drängen, 
und  von  ihm  umwachsen  werden.  So  entsteht  die  Membrana  decidua 
reflexa,  durch  welche  das  Ei,  bevor  es  noch  mit  der  Gebärmutter- 
wand  in  Contact  geräth,  gleichsam  wie  in  einer  Schwebe  aufgehan- 
gen wird. 

Man  darf  sich  aber  die  Einstülpung  der  Decidua  Hunteri  zur 
Decidua  reflexa,  nicht  als  ein  gewaltsames  mechanisches  Vordrängen 
der  ersteren  vorstellen,  wozu  das  kleine  Ei  wohl  schwerlich  genug 
Gewicht  haben  wird.  Es  ist  im  Gegenthcil  sehr  wahrscheinlich,  dass 
das  Orißcium  uterinum  der  Tuba,  durch  die  Decidua  gar  nicht  ver- 
schlossen wird,  und  das  Ei  somit  frei  in  die  Gebärmutterhöhle 
schlüpft,  worauf  es  von  einem  aus  der  Uterusschleimhaut  sich  rings 
um  das  Ei  erhebenden  Wall  umschlossen,  und  gänzlich  von  ihm* 
umwachsen  wird.  Die  Einstülpungstheorie  hat  jedoch  hierin  einigen 
Halt,  dass  der  Mutterkuchen  in  der  Regel  auf  oder  nahe  an  einem 
Orificium  uterinum  tubae  sitzt,  was  nicht  so  gewöhnlich  vorkommen 
könnte,  wenn  das  Ei  frei  in  die  Uterushöhle  gelangte,  und  somit 
eine  tiefere  Anheftungsstolle  erhalten  müsstc.  Genau  genommen, 
ist  die  Sache  mehr  ein  Wortstreit,  als  eine  wirkliche  Ansichtsver- 
schiedenheit, denn  es  wird  sehr  schwer  sein,  zu  beobachten,  ob  ein 
so  kleines  Körperchen,  wie  das  Ei  um  diese  Zeit,  bei  seinem  An- 
langen in  der  Uterushöhle  die  aufgelockerte,  und  die  TubenöfFnung 
überragende  Schleimhaut  vor  sich  herdrängt,  oder  von  der  ge- 
wulsteten  Schleimhaut  umwachsen  wird.  Es  kommt,  scheint  mir, 
beides  so  ziemlich  auf  dasselbe  hinaus. 

Die  Bildung  einer  Decidua  lässt  sich  nicht  blos  auf  den  Fall  einer  ge- 
schehenen Befnichtung  des  Eies  zurUckftUiren.  Ich  fand  in  zwei  Uteri  von 
Mädchen,  welche  während  der  Reinigung  eines  plötzlichen  Todes  starben,  und 
deren  eine  ein  vollkommen  tadelloses  Hymen  bcsass,  die  Uterinalschleimhaut  ver- 
dickt, aufgelockert,  ihre  Drüsenschläuche  verlängert  und  erweitert,  —  kurz  einer 
beginnenden  Decidua  älmlich.  Man  darf  somit  annehmen,  dass  die  mit  jeder 
Menstruation  eintretende  Vitalitätssteigerung  des  Utenis,  die  Entwicklung  einer 
hinfälligen  Haut  involvirt,  welciie  theils  durch  Aufsaugung,  theils  durch  Abstossung 
wieder  schwindet,  wenn  nicht  der,  durch  eine  stattgefundene  Befruchtung  gegebene 
Impuls,  eine  weitere  Ausbildung  derselben  einleitet  Dass  das  Ei  selbst  auf  die 
Entstehimg  der  Decidua  vera  keinen  Einfluss  nimmt,  beweist  die  durch  zahlreiche 
Erfahrungen  bestätigte  Wahrheit,  dass  auch  in  Fällen,  wo  das  befruchtete  Ei  gar 
nicht  in  die  Uterushöhle  gelangt,  sondern  in  der  Tuba  oder  selbst  in  der  Bauch- 
höhle seine  Schwangerschaftsstadien  durchmacht  (OravidiUu  exira-tUennaJ^  dennoch 
die  Decidua  vera  sich,  wie  bei  normaler  Schwangersduift»  entwickelt 


816  §.  Stt.  MtBtchliche  Bier  ans  dem  iweiten  Schwangertchaftsraonate. 

§.  332.  Menschliche  Eier  aus  dem  zweiten  Schwangerschafts- 

monate. 

Ueber  menschliche  Eier  aus  dem  zweiten  Schwangerschafts- 
monate sind  die  Beobachtungen  ziemlich  zahlreich.  Ein  im  Anfange 
des  zweiten  Monats  durch  Missfall  (Aborttis)  abgegangenes  Ei,  hat 
acht  bis  zwölf  Linien  Durchmesser.  Es  ist  von  der  Decidua  reflexa 
umhüllt.  Die  Decidua  vera  erscheint  an  ihrer  äusseren  Fläche  rauh 
und  zottig;  an  ihrer  inneren  glatt  und  glänzend.  Den  Kaum  zwischen 
Deddtui  reflexa  und  vera  nimmt  geronnenes  Blut  ein,  wodurch  das 
ganze  Ei  meistens  für  einen  Blutklumpen  gehalten,  und  statt  in 
anatomische  Hände,  in  den  Abort  gelangt.  Das  Ei  ist  mit  Zotten 
oder  Flocken  besetzt,  welche  durch  die  Decidua  reflexa  hindurch- 
wachsen. Die  Zotten  stehen  an  jener  Stelle  des  Chorion,  wo  sich 
später  die  Placenta  entwickelt,  besonders  dicht,  und  sind  mit  seit- 
lichen Aestchen  besetzt,  wodurch  sie  das  Ausehen  von  kleinen 
Bäumchen  erhalten.  Der  Embryo  selbst  ist  zwei  bis  drei  Linien 
lang.  Die  Allantois  existirt  nicht  mehr.  Dagegen  findet  sich  ein 
aus  dem  Nabel  des  Embryo  kommender,  und  zu  jener  Stelle  des 
Chorion  verlaufender  Strang,  wo  die  Zotten  bereits  die  Baumfomi 
angenommen  haben.  Dieser  Strang  enthält,  nebst  dem  Nabclb las- 
chen und  dessen  Ductus  omphcUo-entericus,  auch  die  Nabelgefässe : 
zwei  Arteriae  und  eine  Vevia  umbilicalis.  Die  Arterien  senken  ihre 
Zweige  in  die  baumförmigen  Zotten  des  Chorion  ein,  an  deren 
Enden  sie  schlingenförmig  in  Venen  umbeugen.  Der  Stiel,  an 
welchem  das  Nabelbläschen  hängt,  ist  länger  als  bei  irgend  einem 
Säugethiere,  obliterirt  aber  schon  um  diese  Zeit  vollkommen,  so 
dass  das  Bläschen  zur  weiteren  Entwicklung  des  Darmkanals 
keinen  Bezug  haben  kann.  Dasselbe  rückt  sofort  vom  Nabel  weg, 
und  entfernt  sich  so  weit  von  ihm,  dass  es  in  den  Raum  zu  liegen 
kommt,  wo  das  peripherische  Amnion  sich  zur  Nabebcheide  ein- 
stülpt. Zwischen  Chorion  und  Amnion  befindet  sich  ein  noch  immer 
ansehnlicher  Zwischenraum,  mit  einer  gallertähnlichcn  Flüssigkeit 
gefüllt  (Magma  reticuU,  Velpeau). 

Das  frühzeitige  Schwinden  der  AUantois  ist  eine  dem  menschlichen  Ei 
eigrenthümliche  Erscheinung.  Die  Allantois  hat  die  Bestimmung,  die  NabelgefRsse 
des  Embryo  in  das  Chorion  zu  leiten,  in  dessen  Zotten  sie  ihre  letzte  VerÄstlnng 
haben.  Da  nun  im  menschlichen  Ei  nur  jene  Zotten  Gef&sse  erhalten,  welche  der 
Insertionsstelle  der  Placenta  entsprechen,  so  braucht  die  Allantois  niclit  weiter  ru 
wachsen,  als  bis  sie  diese  Stelle  des  Chorion  erreicht.  Sind  ihre  GefKsse  t*inraal 
in  die  Zotten  eingetreten,  so  hat  sie  ihre  Rolle  ausgespielt,  und  ihre  Rück- 
bildung beginnt. 


|.  8S8.  Zur  Geburt  reifet  Ei.  Schafhavt.  —  §.  S34.  Frachtwaner.  817 

§.  333.  Zur  Geburt  reifes  Ei.   Schafhaut. 

Die  Schafhaut  (Amnion)  des  reifen  Eies,  umschliesst  zu- 
nächst den  Embryo,  und  stellt  die  innere  Eihaut  desselben  dar. 
Gefäss-  und  nervenlos,  bildet  sie  eine  weite  Blase,  welche  das  Aus- 
sehen einer  serösen  Membran  besitzt,  und  mit  einer  trüben,  dick- 
lichen Flüssigkeit  —  dem  Frucht-,  Geburts-  oder  Schafwasser, 
Liquor  amnii  —  gefüllt  ist.  Ihre  innere  Oberfläche  ist  glatt,  ihre 
äussere  liegt  entweder  am  Chorion  an,  und  verklebt  so  lose  mit 
ihm,  dass  sie  leicht  abgezogen  werden  kann,  oder  wird  von  ihm 
durch  eine  dem  Liquor  amnii  ähnliche,  grössere  oder  geringere 
Flüssigkeitsmenge  getrennt,  welche  falsches  Fruchtwasser, 
Liqtior  amnii  spurium,  heisst.  Dass  das  Amnion  aus  kernhaltigen 
Zellen  besteht,  lässt  sich  nur  bei  jungen  Eiern  erkennen.  Um  die 
Zeit  der  Geburt,  ist  seine  Zusammensetzung  aus  Zellen  nicht  mehr 
deutlich.  Ein  sehr  schönes  Pflasterepithel  lagert  an  seiner  inneren 
Oberfläche. 

Man  liest  Amnion  nnd  Amnios,  to  ajjivfov  ist  eigentlich  die  Schale,  mit 
welcher  das  Blut  der  Opferthiere  aufgefangen  wurde,  und  nach  Pollux  die  frag- 
liche Eihaut.  "AfjLvio^  =  a^jivd;  ist  Schaf,  und  «(jlveTo^,  was  vom  Schafe  kommt, 
also  auch  hei  Empedocles  die  Schafhaut.  Spigelius  meint  (de  form,  foet. 
eap.  6)^  dass  die  älteren  Anatomen,  welche  ihre  Untersuchungen  über  den  Fötus, 
nur  an  trächtigen  Schafen  anstellen  konnten,  den  Schaffbtus  in  seiner  Totalität, 
durch  diese  durchsichtige  Haut  hindurch  wahrgenommen  haben,  und  ihr  deshalb 
den  Namen  Amnios ,  Schafhaut,  beilegen,  welcher  auch  in  der  menschlichen 
Anatomie  sich  das  Bürgerrecht  erwarb. 

Der  Nabelstrang,  welcher  den  Embryo  mit  den  ausserhalb  des  Amnion 
liegenden  Mutterkuchen  verbindet,  durchbohrt  nicht  das  Amnion.  Es  stülpt  sich 
letzteres  vielmehr  um  den  Nabelstrang  herum  ein,  bildet  eine  Scheide  für  ihn, 
gelangt  an  ihm  zum  Nabel  des  Embryo,  und  verschmilzt  daselbst  mit  den 
Banchdecken. 


§.  334.  Fruchtwasser, 

Die  Menge  des  Frucht-  oder  Schafwassers^  Liquor  amnii, 
ist  in  verschiedenen  Schwangerschaftsstadien,  und  um  die  Geburts- 
zeit, bei  verschiedenen  Frauen  sehr  ungleich.  Seine  Quantität  nimmt 
bis  zur  Mitte  des  Fruchtlebens  zu,  und  gegen  die  Geburt  wieder 
ab,  wo  es  im  Mittel  ein  Pfund  beträgt.  Ebenso  variirt  seine  Zu- 
sammensetzung, und  die  bisher  vorgenommenen  chemischen  Analysen 
stimmen  deshalb  nicht  überein.  Man  findet  es  bei  sehr  jungen  Em- 
biyonen  wasserhell.  Später  wird  es  gelblich,  schmeckt  salzig,  und 
hat  den  thierischen  Geruch  vieler  organischer  Flüssigkeiten.  Es 
enthält  im  vierten  Monate  97,  im  sechsten  aber  99  Procent  W««^»« 
das  übrige  sind  Salzspuren  und  Eiweiss.  Der  geringe  £i^ 

Hyrtl,  Lehrbuch  der  Anfttoml«.  li.  Aufl. 


818  §.  985.  Oefftsshaat. 

macht  es  unwahrschemlicli,  dass,  wenn  das  Fruchtwasser  vom  Em- 
bryo verschluckt  wird,  es  als  Nähr ungsstoflF  verbraucht  werden  könne. 

Die  Verwendung  des  Fruchtwassers  liegt  auf  der  Hand.  Seine 
Gegenwart  schützt  den  Embryo  vor  den  Gefahren  mechanischer 
Beleidigungen,  welche  bei  der  Zartheit  und  Vulnerabilität  der  Frucht, 
ihre  normgemässe  Entwicklung  leicht  beeinträchtigen  könnten. 
Nimmt  die  Menge  des  Fruchtwassers  ab,  wie  es  in  den  letzten 
Schwangerschaftsmonaten  Regel  ist,  so  werden  die  Bewegungen  der 
Frucht  fiir  die  Mutter  lästig  und  schmerzhaft.  —  Der  im  Fi-ueht- 
wasscr  flottirende  Nabelstrang  weicht  den  Bewegungen  des  Embryo 
aus,  und  kann  somit  weder  gedrückt,  noch  gczerrt  werden,  wo- 
durch die  Ab-  und  Zufuhr  des  Fruchtblutes  gesichert  wird.  — 
Allzufrüher  Abgang  des  Fruchtwassers  bedingt  Abortus.  Das  Ein- 
dringen der  Amnionblase  in  den  Muttermund  am  Beginn  der  Ge- 
burt, und  der  Dinick,  welchen  diese  Blase,  bei  den  als  Wehen 
auftretenden  Zusammenziehungen  der  Gebärmutter,  auf  den  Mutter- 
mund ausübt  (das  sogenannte  Einstellen  der  Blase),  erweitert  gleich- 
förmig den  engsten  Theil  der  Geburtswege,  und  befeuchtet  ihn 
sammt  der  Scheide  beim  Platzen  der  Blase.  Sind  die  Fruchtwässer 
abgelaufen,  und  die  Geburtswege  trocken  und  heiss  geworden,  so 
wird  die  Geburt  mit  namhaften  Schwierigkeiten  zu  kämpfen  haben. 

Es  kommt  als  grosse  Seltenheit  vor,  dass  der  praevia  capttt 
zu  gebärende  Embryo,  das  Amnion  nicht,  wie  das  Chorion  durch- 
reisst,  sondern  der  Kopf  des  Kindes,  eine  förmliche  Mütze  von  dem 
im  Kreise  gesprungenen  Amnion,  mit  sich  auf  die  Welt  bringt.  So 
geborene  Kinder  hält  der  Volksglaube  für  Glückskinder  (ttfe  coiffee 
der  Franzosen).  Ein  Sohn  des  Caracalla,  welcher  mit  einer  solchen 
Mütze  auf  dem  Kopfe  geboren  wurde,  erhielt  davon  den  Beinamen : 
Diadunxeno8, 

§.  335.  aefasshaut 

Die  Gefässhaut  des  reifen  Embryo,  (Jhorion,  umschliesst  das 
Amnion,  und  heisst  deshalb  auch  äussere  Eihaut.  Der  Name 
Chorion,  wurde  von  Aristoteles  der  Gefässhaut  des  Eies  beigelegt. 
Er  stammt  von  /sptcv,  welches  überhaupt  eine  Haut  bedeutet, 
und  in  diesem  Sinne  auch  als  corium  in  der  lateinischen  Sprache 
sich  einbürgerte.  Kernhaltige  Zellen  mit  granulirtem  Inhalt,  bilden 
ihre  Wesenheit.  Den  Namen  einer  Gefässhaut,  erhielt  sie  nur  wegen 
ihrer  Beziehung  zur  Placenta.  —  ¥jS  wurde  bereits  erwähnt,  dass 
das  Chorion  bei  sehr  jungen  Eiern  an  seiner  ganzen  äusseren  Fläche 
zottig  ist,  während  seine  innere  Fläche  glatt  erscheint.  Man  kann 
diesen  Unterschied  immerhin  durch  die  Ausdrücke  Chorion  fun- 
go9um  s.frondosum,  und  Choriwi  Uteve  s.  glabrum  bezeichnen,  vorauis* 


§.  8S6.  Mattorkachen.  819 

gesetzt,  dass  man  darunter  keine  besonderen  Häute,  sondern  nur 
Flächen  Einer  Haut  versteht.  Mit  dem  fortschreitenden  Wachsthume 
des  Eies,  und  der  damit  verbundenen  Ausdehnung  des  Chorion, 
werden  die  Zotten  an  der  unteren  Gegend  des  Chorion  spärlicher, 
häufen  sich  dagegen  in  der  oberen  Peripherie,  und  besonders  an  der, 
der  zukünftigen  Placentarinsertion  zugekehrten  Stelle  mehr  und  mehr 
an.  Dieses  soll  aber  nicht  als  ein  Wandern  der  Zotten  ausgelegt 
werden,  sondern  ergiebt  sich  als  Folge  einer  numerischen  Zunahme 
der  Zottenbildung  an  der  oberen  Gegend,  während  die  Zotten  an 
der  unteren  Peripherie  des  Chorion,  schon  der  zunehmenden  Aus- 
dehnung dieser  Haut  wegen,  weiter  aus  einander  rücken,  durch 
Druck  atrophisch  werden,  und  beim  reifen  Ei  in  so  grossen  Ab- 
ständen stehen,  und  zugleich  so  verkümmert  sind,  dass  man  diesen 
Abschnitt  des  Chorion  immerhin  zottenlos  nennen  kann.  Die  dicht- 
gedrängten, baumförmigen  und  gefasshältigen  Zotten  an  der  oberen 
Peripherie  des  Chorion,  bilden  den  Körper  des  Mutterkuchens 
—  Placefita. 

Die  zerstreuten,  verkümmerten  Zotten  des  Chorion  eines  reifen  Eies,  haben 
ein  ganz  anderes  Ansehen  als  die  wahren  Placentarzotten.  Sie  sind  fadenförmig, 
gehen  mit  breiterer  Basis  vom  Chorion  ab,  und  senken  sich  mit  ihren  zugespitzten 
Enden  in  die  Decidua  ein,  mit  welcher  sie  oft  so  innig  zusammenhängen,  dass 
die  Trennung  beider  Häute  Schwierigkeiten  macht  Sie  enthalten  keine  Gefässe; 
nur  die  der  Placenta  näher  stehenden,  bekommen  zuweilen  Aestchen  aus  den 
Nabeigefassen. 


§.  336.  Mutterkuchen. 

Der  Mutterkuchen,  Placenta,  vermittelt  als  ein  äusserst  ge- 
fiissreiehes  (Jrgan,  den  Blutverkehr  zwischen  Mutter  und  Frucht. 
In  ihm  erfahrt  das  Blut  des  Embryo  jene  Veränderung,  durch 
welche  es  zur  Ernährung  desselben  befähigt  wird.  Bevor  der 
Mutterkuchen  durch  Fallopia  den  Namen  Placenta  erhielt  (von 
7:Äay.oi>^,  im  Genitiv  TrXaxoOvTOj;,  ein  platter,  aus  Honig  und  Mehl  be- 
reiteter Kuchen,  bei  Horaz,  Ep.  I.  10,  11),  hiess  er  Hepar  ute- 
rinum,  da  man  ihm  ganz  richtig  das  Geschäft  der  Blutbereitung 
für  den  Embryo  zuschrieb,  welches  Geschäft  man  damals,  auch 
unrichtiger  Weise  der  Leber  des  Erwachsenen  zumuthete.  Er  hat 
die  Gestalt  eines  länglich-runden,  convex-concaven  Kuchens,  dessen 
grösster  Durchmesser  fünf  bis  acht  Zoll,  und  dessen  Gewicht  ein  bis 
zwei  und  ein  halb  Pfund  beträgt.  Seine  convexe  oder  äussere  Fläche 
sitzt  an  der  inneren  Oberfläche  des  Fundvs  uteri  fest^  jedoch  nicht 
in  dessen  Mitte,  sondern  gegen  das  eine  oder  andere  Orifici»m  v^^ 
rinum  tubae.  Das  Amnion  überzieht  seine  i|iiij9Vf 
Fläche^  in  welche  sich  der  Nabektraag  nichit  j 


820  §.  836.  Mnttorkuchen. 

excentrisch  und  in  schräger  Richtung  einpflanzt.  Seine  weiche, 
schwammige  Masse  ist  sehr  reich  an  Blutgefässen,  welche,  indem 
sie  theils  dem  Embryo,  theils  dem  Uterus  angehören,  nach  alther- 
kömmlicher Vorstellung  die  £intheilung  des  Mutterkuchens  in  einen 
Gebärmutter-  und  einen  Fötaltheil  (Pars  placentae  uterina  et 
foetalis)  veranlassten. 

A)  Fötaltheil  des  Mutterkuchens.  Es  wurde  früher  er- 
wähnt, dass  die  ganze  Aussenfläche  des  Ohorion,  anfänglich  mit 
Zotten  besetzt  erscheint,  und  dass  diese  später  sich  an  jener  Stelle 
des  Chorion  anhäufen  und  stärker  entwickeln,  wo  das  Ei  sich  mit 
der  Gebärmutter  in  GefKss Verbindung  setzen  soll.  Die  Zotten  wachsen 
an  dieser  Stelle  zu  kleinen  Bäumchen  an,  und  gruppiren  sich  zu  dicht 
gedrängten  Büscheln,  welche  selbst  wieder  grössere,  an  der  Aussen- 
fläche einer  vollkommen  ausgetragenen  Placenta  noch  erkennbare 
Lappen  oder  Inseln,  Cott/ledones,  bilden.  Die  Gefässe  des  Nabel - 
Stranges  theilen  sich  an  der  inneren  Fläche  der  Placenta  in  Aeste 
und  Zweige,  welche  in  diese  Lappen  eindringen,  und  sich  durch 
wiederholte  Theilung  in  kleinere  Gefasse  auflösen,  welche  zu  den 
Zotten  gehen.  Das  in  die  Zotte  eindringende  arterielle  Gefasschen, 
folgt  allen  Aesten  und  Reiserchen  der  Zotte,  macht  also  so  viele 
Schlingen  oder  Schleifen,  als  die  Zotte  Aeste  hat,  und  geht  zuletzt 
in  die  Vene  der  Zotte  über,  welche,  durch  allmälige  Vereinigung 
mit  allen  übrigen  Zottenvenen,  die  Vena  umbilicalis  zusammensetzt. 
Es  muss  also  das  durch  die  beiden  Arteriae  umbüicales  in  die  Pla- 
centa foetalis  geführte  Blut,  durch  die  Vena  umbilicalis  wieder  zum 
Embryo  zurückfliessen;  —  es  gelangt,  wegen  vollkommenen  Ab- 
geschlossenseins der  Gefössschlingen  in  den  Zotten,  nicht  in  die 
Gefasse  der  Gebärmutter,  und  die  Placenta  verhält  sich  in  dieser 
Hinsicht  wie  jedes  andere  innere  Organ  des  Embryo. 

Da  noch  keine  Nerven  in  der  Placenta  entdeckt  wurden,  so  lle^t  in  der 
durch  Kolli ker  experimentell  constatirten  Contractu ität  der  Placontargefäase,  ein 
wichtiges  Moment  fUr  die  Beantwortung  der  Frage,  ob  die  Contractilität  vom 
Nervensystem  abhängig  ist  oder  nicht 

B)  Gebärmutterthcil  des  Mutterkuchens.  Man  stellt 
sich  die  Theilnahme  des  Uterus  an  der  Placentabildung  auf  folgende 
Weise  vor.  Die  zur  Placenta  sich  zusammendrängenden  Zotten  des 
Chorion,  wachsen  in  die  gleichfalls  vergrösserten  Glandulae  utri- 
cvJares  der  Decidua  hinein.  Zugleich  entwickelt  sich  ein  kolossales 
Blutgefiissnetz  in  der  Decidua,  dessen  Artenen  in  sehr  weite,  und, 
wie  man  sagt,  wandlose,  d.  h.  nur  von  den  Resten  der  Decidua 
gebildete  Venen  übergehen.  In  dieses  GefUssnetz  sind  die  Zotten 
der  Placenta  embrt/onica  so  eingetaucht,  dass  sie  vom  Blute  der 
Mutter  bespült  werden,  und  somit  ein  gegenseitiger  Austausch  der 
beiderseitigen  Blutströme  durch  Diffusion  und  Filtration    eingeleitet 


9.  S87.  NabelBtraoff.  821 

werden  kann.  —  Man  kann  sich  die  Wechselwirkung  zwischen  dem 
Blute  des  Embryo  und  der  Mutter  so  vorstellen,  wie  jene  in  den 
Lungen  zwischen  dem  venösen  Blute  und  der  atmosphärischen  Luft, 
nur  handelt  es  sich  in  der  Placenta  nicht  blos  um  den  Uebertritt 
gasförmiger  StoflFe,  sondern  auch  wirklicher  Nahrungsbestandtheile 
aus  dem  Mutterblut  in  das  Blut  der  Frucht.  Es  klingt  deshalb 
immer  nur  figürlich,  die  Placenta  einen  Pidmo  uterwus  zu  nennen. 
Der  normale  Geburtsact  geht  gewöhnlich  in  der  Weise  vor 
sich,  dass  die  in  Folge  der  Contractionen  des  Uterus  blasenförmig 
durch  den  Muttermund  herausgedrängten  Eihäute  platzen  (Springen 
der  Blase),  das  Fruchtwasser  abfliesst,  und  hierauf  der  Embryo 
praevio  capite  ausgetrieben  wird.  Die  Eihäute  mit  dem  Mutterkuchen 
folgen  durch  eine  erneuerte  Contraction  des  Uterus,  in  einer  län- 
geren oder  kürzeren  Pause  nach,  imd  werden  deshalb  von  den  Ge- 
burtshelfern Nachgeburt,  Secundinae,  genannt. 

Die  Stnictar  der  Placenta  uterina  dürfte  noch  weitere  Arbeit  yeranlassen. 
Seit  Jahren  wurde  in  dieser  Richtung  nichts  mehr  unternommen.  Der  Punkt,  auf 
welchen  es  am  meisten  ankommt,  ist  die  Nichtcommunication  des  embryonischen 
und  mütterlichen  Gefässsystems.  Dieser  ist  wohl  vollkommen  sichergestellt.  — 
Insertionsanomalien  der  Placenta  können,  ssur  Zeit  der  Geburt,  für  Mutter  und 
Kind  sehr  gefahrUch  werden.  Sitzt  die  Placenta  auf  dem  Muttermunde  auf,  als 
sogenannte  Placenta  praevia,  so  muss  bei  der  Erweiterung  desselben  im  Beginne 
der  Geburt,  die  Placenta  theilweise  aus  ihrer  Verbindung  mit  dem  Uterus  ge- 
waltsam gerissen  werden,  und  eine  Blutung  entstehen,  welcher  nur  durch  Be- 
schleunigung der  Geburt  mittelst  künstlicher  Lösung  der  Placenta,  Einhalt  gethan 
werden  kann. 

Mein  Werk:  die  Blutgefässe  der  menschlichen  Nachgeburt  in 
normalen  und  abnormen  Verhältnissen.  Fol.  mit  XX  Taf.  Wien,  1870, 
enthält  Alles,  was  eine  genaue  und  sorgfaltige  Untersuchung  an  den  Gefässen 
der  Placenta  und  des  Nabelstranges  eruiren  konnte. 


§.  337.  Nabelstrang. 

Nabelstrang  oder  Nabelschnur,  Fanieulus  umbüicalü,  heisst 
im  reifen  Embryo  ein  nahezu  fingerdickes  Bündel  von  Blutgefilssen, 
durch  welches  der  Embryo  mit  dem  Mutterkuchen  in  Verbindung  steht. 
Seine  Länge  stimmt  gewöhnlich  mit  jener  des  reifen  Embryo  über- 
ein, und  beträgt  somit  im  Mittel  achtzehn  Zoll;  jedoch  sind  Aus- 
nahmen dieser  Regel  nicht  ungewöhnlich.  Man  hat  an  ausgetragenen 
Leibesfrüchten  Nabelstränge  von  zwei  ein  halb  Zoll  Länge  gesehen 
(Guillemot),  und  in  meiner  Sammlung  befindet  sich  einer,  von 
zweiundsechzig  Zoll  Länge. 

Die  erste  Entstehung  des  Nabelstranges  fällt,  zugleich  mit  der  Bildung  des 
Nabels,  in  jene  Periode,  wo  sich  der  Embryo  von  der  Keimblaae  absasohnfiren 
begann,  und  die  aus  dem  Unterleibe  des  Embryo  heratuwaehsende  Allantoiiai  p**^ 
ihrer  doppelten  Arterie  und  einfachen  Vene,  bis  an  die  innere  Fliehe  im ' 


822  S.  897.  Nab«l8tnng. 

g^elangte.     Die    AlUntois    vergeht,    aber   ihre    Blutgefässe    persistiren    bis  an  das 
Ende  der  Schwangerschaft  als  Nabelgefüsse. 

Der  Nabelstrang  besteht  aus  folgenden  Ingredienzien : 

a)  Zwei  Nabelarterien.  Sie  sind  Fortsetzungen  der  beiden 
Arteriae  hypogastncae  des  Embryo.  Selten  fehlt  eine  derselben.  Sie 
streben  von  den  Seiten  der  Harnblase,  welchen  sie  anliegen,  dem 
Nabel  zu,  wo  sich  die  Vena  umbilicalis  zu  ihnen  gesellt.  In  der 
Regel  an  Volumen  gleich,  treten  sie  durch  den  Nabel  in  den  Nabel- 
straug  ein,  in  welchem  sie,  in  linksgedrehten  Schraubentouren,  zur 
Placenta  verlaufen,  um  dort  mit  ihren  letzten  Verzweigungen  die 
Schlingen  in  den  Zotten  zu  bilden.  An  der  Eintrittsstelle  in  die 
Placenta  communiciren  sie  durch  einen  starken  Verbindungszweig. 
Sie  bleiben  während  ihres  ganzen  Verlaufes  im  Nabelstrang  unver- 
ästelt,  und  besitzen  (mit  Ausnahme  ihres  Bauchsttickes)  keine  V(isa 
vasorum,  keine  elastischen  Fasern,  sondern  nur  organische  Muskel- 
fasern in  ihrer  Wand,  und  keine  bindegewebige  Adventitia,  Die 
Umwandlung  des  Bauchstückes  der  Nabelarterien  nach  der  Geburt 
in  die  Ligamenta  vesico-umbilicalia  laieralia,  ist  bereits  bekannt.  Da 
das  gesammte  arterielle  Ocfasssystem  des  Embryo  kein  rein  arte- 
rielles, sondern  gemischtes  Blut  fuhrt,  werden  auch  die  Nabelarterien 
nur  gemischtes  Blut  dem  Mutterkuchen  zuführen. 

Unter  zweihundert  injicirten  Placenten,  welche  ich  besitze,  befinden  sich 
nur  sechs,  deren  Nabelarterien  an  der  Insertionsstelle  des  Nabclstranges  nicht 
miteinander  anastomosiren.  Bei  den  übrigen  finde  ich  die  Art  der  Anastomose 
sehr  verschieden.  —  Stellenweise  Aufknäuelungen  der  Arter%€Ut  ninbilicales,  be- 
dingen die  unter  dem  Namen  „falsche  Knoten"  bekannten  localen  Intumescen- 
zen  des  Nabelstranges.  Knoten  des  Nabelstranges,  welche  ganz  auf  dieselbe  Weise 
entstehen,  wie  beim  Knüpfen  eines  Fadens,  heissen  wahre.  »Sie  kommen  nur  an 
langen  Nabel  strängen  vor. 

h)  Eine  Nabclvene.  Sie  ist  voluminöser,  aber  gewöhnlich 
weniger  gewunden  als  die  Arterien,  und  nicht  ganz  klappenlos.  Die 
Spiraltouren  der  Nabelarterien  umwinden  sie  (vom  Embryo  aus- 
gehend) entweder  von  rechts  nach  links,  oder  (der  seltenere  Fall) 
von  links  nach  rechts.  Neugebauer  fand  unter  1(50  Nabelsträngen 
114  links  gewundene,  39  rechts  gewundene,  und  7  mit  parallelem 
Gefössverlauf.  —  Innerhalb  des  Embryo  verlässt  die  Nabelvene  die 
Arteriae  umbüicales,  und  geht  vom  Nabel  zum  vorderen  Abschnitt 
der  Fossa  lonffitudinaiis  sinistra  der  Leber  hinauf.  Während  dieses 
Laufes  ist  sie  im  unteren  Rande  des  Ligamentum  sm2)eJisorium  ein- 
geschlossen. Am  linken  Ende  der  Querfurche  der  Leber  angelangt, 
theilt  sie  sich  in  zwei  Zweige,  deren  kürzerer  in  den  linken  Ast 
der  Pfortader  einmündet,  während  der  längere  durch  den  hinteren 
Abschnitt  der  linken  Längenfurche,  als  Ductus  venosus  Arantii,  zum 
Stamme  der  unteren  Hohlvene  oder  zu  einer  Lebervene   tritt.     Oft 


S.  8S7.  Vabelstrang.  823 

hat  es  den  Anschein,  dass  der  Ductus  vmosus  ArantU,  nicht  aus  der 
Nabelvene,  sondern  aus  dem  linken  Pfortaderaste  hervorgeht,  in 
welchen  sich  die  Nabelvene  ergiesst.  Der  Xlmwandlung  des  Bauch- 
stückes der  Nabelvone  in  das  runde  Leberband,  wurde  bereits  mehr- 
fach gedacht.  —  Immer  giebt  die ,  Nabelvene,  während  sie  durch 
den  vorderen  Abschnitt  der  Fossa  lonffitudiiwlis  sinistra  der  Leber 
verläuft,  Aeste  in  das  Leberparenchym  ab.  Von  der  Abgangsstelle 
dieser  Aeste  bis  zur  Einmündung  in  den  linken  Pfortaderast,  ver- 
wächst die  Vena  umbäicalis  nach  der  Geburt  nicht.  Dieses  oflFen 
bleibende,  kurze  Stück  verliert  nur  an  Kaliber,  und  erscheint  somit 
als  ein  Zweig  des  linken  Pfortaderastes,  in  welchem  das  Blut  von  der 
Pfortader  wegströmen  muss,  während  es,  so  lange  die  ganze 
Nabel vene  offen  war,  der  Pfortader  zuströmte,  —  der  einzige 
Fall  von  Aenderung  der  Stromrichtung  in  einem  und  demselben 
Blutgefäss. 

Da  die  Blutgefässe  des  Nabebtranges  keine  Vtua  vasorum  besitzen,  mnss 
das  gemischte  Blnt  der  Arteriae  umbiUcaleM,  und  das  arterielle  Blut  der  Nabel- 
vene, für  die  Ernährung  des  Nabelstranges  sorgen.  Der  Mangel  der  Vota  vcuonwi 
erklärt  es  nun  auch,  warum,  wenn  nach  der  Geburt  kein  Blut  mehr  durch  die 
Vasa  umbüicalia  strömt,  der  am  Neugeborenen  zurückbleibende  Theil  der  durch- 
schnittenen Nabelschnur  (vier  Zoll  lang),  gänzlich  und  sehr  schnell  abstirbt, 
während  die  intraabdominalen  Stücke  der  Nabelgefässe,  welche  Veua  voacrum  be- 
sitzen, nicht  absterben,  sondern  sich  nur  innerhalb  der  sie  einschliessenden  Peri- 
tonealscheide  zurückziehen,  und  zu  soliden  Strängen  umgebildet  werden. 

c)  Die  Wharton'öchc  Sülze.  So  heisst  jene  Masse  gallertigen 
Bindegewebes,  welche  die  Blutgeßisse  des  Nabelstranges  umgiebt 
und  zusammenhält.  Locale  Anhäufungen  von  Wh arton'scher  Sülze 
passiren  ebenfalls  als  falsche  Knoten. 

d)  Die  Scheide  des  Nabelstranges.  Sie  wird  durch  die  Ein- 
stülpung des  Amnion  gebildet,  und  geht  an  der  Peripherie  des 
Nabels  in  das  Integument  des  Embryo  über.* 

Wenn  man  einen  Nabelstrang  entzwei  zu  reissen  versucht, 
wird  man  sich  wundem,  dass  dieses  Entzweireissen  an  einem  Bündel 
von  drei  Blutgefässen  mit  weicher,  sulziger  Umgebung,  so  äusserst 
schwer  gelingt.  Es  gehört  wirklich  grosser  Kraftaufwand  dazu. 
Die  Ursache  dieser  Widerstandskraft  des  Nabelstranges  gegen  Deh- 
nung und  Riss,  liegt  in  der  Gegenwart  mehrerer  Schnüre  von  dicht- 
gefasertem  Bindegewebe,  welche,  wenn  man  ihrer  einmal  an  der 
Querschnittfläche  des  Nabelstranges  ansichtig  geworden ,  mittelst 
Spaltung  der  Scheide  des  Stranges,  sich  in  längeren  Strecken  ana- 
tomisch darstellen,  oder  auf  rohere  Weise  von  den  Ge&ssen  los- 
reissen  lassen.  Ich  habe  sie  als  Chordae  fvmcvli  umbüicalü  beschrieben. 

Das  Vorkommen  von  Nerven  im  Nabelitniig  h»t  Schott  (die  Controvw 
über  die  Nerven  des  NabelstnngeB,  Frankfurt,  1886)  aieheigettellt    Sl«  sl» 
aus  den  Lebergeflechten  (für  die  UmbiUc»lveiie),  and  mm  dem 


824  i.  887.  Nabelitruig. 

(för  die  Umbilicftlarterien).  Valentin  hat  sie  im  Nabelstrang^,  drei  bis  vier  Zoll 
weit  vom  Nabel,  mikroskopisch  nachgewiesen.  Was  wir  von  ihnen  noch  zu  wissen 
brauchen,  wären  die  Antworten  auf  zwei  Fragen:  wie  weit  erstrecken  sie  sich? 
und  was  wird  zuletzt  aus  ihnen?  —  Lymphgefllsse  des  Nabelstranges  wurden 
zuerst  Ton  Fohmann  Injicirt  (Tiedemann  und  JVeviranti»,  Zeitschrift  IV.  pag.  276). 
Wie  bei  so  vielen  F oh mann*schen  ^Präparaten,  von  welchen  ich  Einsicht  ge- 
nommen, bleibt  ei  auch  hier  unentschieden,  ob  die  Bäume,  welche  im  Nabel- 
strang mit  Quecksilber  gefüllt  wurden,  Lymphgefässe,  oder,  was  viel  wahrscheinlicher 
ist,  wandlose  Lacunen  zwischen  den  faserigen  Elementen  der  W  bar  tonischen 
Sülze  sind. 

Excedirende  Länge  des  Nabelstranges  veranlasst  verschiedene 
Uebelstände.     Diese  sind: 

a)  Umschlingung  desselben  um  die  Körpertheile  des  Embryo 
(HalS;  Schulter  y  Gliedmassen).  Ist  die  Umschlingung  mit  Ein- 
schnürung verbunden^  so  kann  es  bis  zur  sogenannten  spontanen 
Amputation  der  Gliedmassen,  selbst  zur  Strangulation  des  Embryo 
kommen. 

b)  Wahre  Knoten^  wie  beim  Knüpfen  eines  Fadens.  Die 
Bewegungen  des  Embryo,  welcher  sich  in  seinem  langen  Nabel- 
strange verwickelt,  bedingen  die  Umschlingungen;  —  das  Durch- 
schlüpfen des  Embryo  aber  durch  eine  gedrehte  Schlinge  des  Nabel- 
stranges, die  Knoten.  Beide  Fälle  können  ohne  Nachtheil  für  das 
Leben  des  Embryo  vorkommen.  Wird  aber  die  Umschlingung  zur 
Umschnürung,  oder  wird  ein  wahrer  Knoten  fest  geschürzt,  so 
werden  beide  für  das  Leben  des  betreflFenden  Körperthciles,  oder 
des  ganzen  Embryo  höchst  gefährlich. 

c)  Vorfälle.  Sie  entstehen,  wenn  beim  Sprengen  der  Amnion- 
blase  im  Anfange  der  Geburt,  das  abströmende  Fruchtwasser  den 
Nabelstrang  mit  sich  herausschwemmt. 

Wenn  sich  der  Nabelstrang  nicht  direct  in  die  Placenta,  son- 
dern in  die  Eihäute  einpflanzt,  und  von  hier  aus  seine  Blutgef&sse 
vereinzelt  an  die  Placenta  herantreten,  heisst  diese  Anomalie:  In- 
sertio  velamentosa.  —  Ich  besitze  mehrere  Placenten,  deren  Nabel- 
stränge zur  Hälfte  linksgewundene,  zur  Hälfte  rechtsgewundene 
Nabeigefasse  zeigen.  Beide  Abschnitte  trennt  ein  Zwischenstück  von 
drei  bis  fünf  Zoll  Länge,  in  welchem  die  Nabelgefässe  parallel 
neben  einander  liegen.  An  einer  anderen  Placenta  meiner  Samm- 
lung findet  sich  ein  Nabelstrang,  dessen  Arterien,  jede  für  sich,  die 
eine  eine  rechtsgewundene,  die  andere  eine  linksgewundene  enge 
Spirale  beschreiben,  zwischen  welchen  eine  vollkommen  geradlinige 
Nabelvene  liegt. 

L,  Ä,  Neugebauer,  Morphologie  des  menschlichen  Nabelstrang^s.  Breslau, 
1858.  —  Ueber  die  Rückbildung^  der  NabelgcHisse  handelt:  Ch,  Hobin,  in  den 
M6ni.  de  TAcad.  de  m^d.  1860.  —  K.  KöHer,  die  feinere  Structur  der  menach- 
lichen  Nabelschnur.  Wttnbnrg,  1868. 


8.  S88.  Veriadaningeii  der  Oebirmatter  in  der  Sohwaogencliaft.  825 

AuafUhrliches  über  alle  in  diesem  Paragraph  nur  flüchtig  berührten  Einzel- 
heiten des  Nabelstranges,  enthält  mein,  im  vorigen  Paragraph  citirtes  Hauptwerk, 
über  die  Blutgefässe  der  menschlichen  Nachgeburt.  —  Ueber  die  von  mir  an  den 
Arteriia  umbüicalUms  aufgefundenen  BuUn,  welche  man,  pretentiöser  Weise, 
Placentarherzen  nennen  könnte,  handelt  mein  Aufsatz:  Die  Bulbi  der  Placentar- 
Arterien,  im  XXX.  Bd.  der  Denkschriften  der  kais.  Akad. 


§.  338.  Teränderungen  der  Gebärmutter  in  der 

Schwangerschaft. 

Die  Gebärmutter  nimmt  während  der  Schwangerschaft  an 
Grösse  und  Gewicht  in  auffallender  Weise  zu.  Sie  wird  also  nicht 
blos  passiv  ausgedehnt.  Nach  MeckeTs,  an  zwölf  Gebärmüttern, 
nach  regelmässig  erfolgter  Niederkunft  vorgenommenen  Wägungen, 
betrug  das  Gewicht  derselben  zwischen  zwei  und  drei  Pfund.  Die 
Zunahme  der  Dicke  ihrer  Wandungen  erfolgt  vorzugsweise  durch 
Massenzunahme  der  Muskelschichte,  und  durch  Ei^weiterung  des  ge- 
sammten  venösen  Gefasssystems  des  Uterus.  Die  Arterien  sind  bei 
diesem  Vorgange  weit  weniger  interessirt.  Das  Anwachsen  der 
Wanddicke  hört  aber  in  den  letzten  Schwangerschaftsmonaten  auf, 
so  dass  das  femer  noch  zunehmende  Grössen  wach  sth  um  des  Uterus 
nur  auf  Kosten  der  Dicke  seiner  Wände  zu  Stande  gebracht  wird. 
Diese  Verdünnung  der  Uteruswand  tritt  namentlich  in  der  nächsten 
Umgebung  des  Muttermundes  so  deutlich  hervor,  dass  der  Rand 
dieser  OefFnung  nur  zwei  Linien  Dicke  besitzt,  und  deshalb  Einrisse 
des  Muttermundes,  namentlich  bei  Erstgebärenden,  fast  regelmässig 
vorkommen. 

In  den  ersten  beiden  Monaten  der  Schwangerschaft  sinkt  die 
vergrösserte,  und  dadurch  schwer  gewordene  Gebärmutter,  tiefer 
in  das  kleine  Becken  herab.  Ihr  Muttermund  lässt  sich  mit  dem 
Finger  leichter  erreichen.  Vom  dritten  Monate  an,  wo  sich  die 
Placenta  bildet,  hat  der  Uterus  im  kleinen  Becken  nicht  mehr 
Raum  genug.  Er  erhebt  sich  aus  dem  kleinen  Becken,  und  seine 
Vaginalportion  steht  höher.  Der  Grund  des  Uterus  lässt  sich  im 
vierten  Monate  etwas  über  dem  Schambogen  fühlen.  Im  fünften 
Monate  steht  er  zwischen  Schamfuge  und  Nabel,  im  sechsten  in 
gleicher  Höhe  mit  dem  Nabel,  im  siebenten  über  demselben,  im 
achten  und  neunten  erreicht  er  die  Herzgrube,  und  im  zehnten 
(Mondmonat)  steht  er  wieder  etwas  tiefer.  Die  Bauchdecken  wölben 
sich  kugelig  hervor,  die  Nabelgrube  verflacht  sich,  die  Vaginal- 
portion wird  allmählich  zur  Vergrösserung  des  Uterus,  der  CanalU 
cermds  zur  Vergrösserung  der  Uterushöhle  verwendet.  Am  Mutter- 
mund verstreicht  die  vordere  und  hintere  Lefize,  er  wird  nuMcL- 
öffnet  sich  vom  ftinften  Monat  angefangen,  uBd  wird  in  letvter  i 


826  §•  SS9.  Lage  des  Bmbiyo  in  der  C^ebinnntter. 

80  weit,  dass  man  durch  ihn  mit  dem  Finger  die    gespannte   Blase 
der  Eihäute  fühlt. 

Die  Vergrösserung  der  Gebärmutter  kann  nur  dadurch  vor 
sich  gehen^  dass  die  Nachbarsorgane^  weiche  sie  beschränken  könnten, 
aus  ihrer  Lage  weichen,  wodurch  das  topographische  Verhältniss 
der  Baucheingeweide  einige  Störungen  erfahrt.  Die  Gedärme  sind 
zur  Seite  gedrängt,  die  Rippenweichen  werden  deshalb  voller,  der 
Uterus  liegt  an  der  vorderen  Bauchwand  dicht  an,  und  kann  leicht 
gefühlt  werden.  Der  Druck  auf  die  Eingeweide  erzeugt  Störungen 
der  Verdauung,  auf  den  Mastdarm  Stuhlverstopfung,  auf  die  Gallen- 
gefilsso  Gelbsucht,  auf  die  Harnblase  Unregelmässigkeiten  in  der 
Urinentlecrung ,  auf  die  Venen  des  Beckens  Varicositäten  der 
Saphena  interna,  auf  die  Lymphdrüsen  ebendaselbst  Oedem  der 
Füsse,  —  Zufalle,  welche  sich  mindern,  wenn  bei  längerer  Rückenlage 
der  Frau,  der  Druck  der  Gebärmutter  auf  andere  Gebilde  gerichtet 
wird.  —  Die  Bewegung  des  Zwerchfells  wird  ebenfalls  beeinträch- 
tigt; Gehen,  Laufen,  Stiegensteigen,  wird  häufig  nicht  gut  vertragen; 
der  Gang  ist  wackelnd,  mit  stark  gestrecktem  Rücken,  um  die 
Schwerpunktslinie  des  nach  vorn  belasteten  Leibes,  noch  zwischen 
den  Fusssohlen  durchgehen  zu  machen.  —  Hat  der  Utei-us  durch 
die  Geburt  sich  seiner  Bürde  entledigt,  so  verkleinert  er  sich  so 
rasch,  dass  er  schon  in  der  ersten  Woche  nach  der  Entbindung, 
auf  seine  früheren  Durchmesser  zurückgeführt  erscheint. 

Merkwürdig  ist  es,  dass,  während  der  Schwangerschaft,  nicht  blos  die 
Venen  der  Gebärmutter,  sondern  auch  jene  benachbarter  Organe  (Scheide,  Harn- 
blase,  breite  Mntterbänder)  an  Weite  zunehmen,  und  luiter  den  Gebärmutterv'enen 
jene  des  Gnmdes  »ich  viel  mehr  erweitern,  als  jene  dos  Halses.  —  Die  Nerven 
des  Uterus  gewinnen  erwiesener  Weise  in  der  Schwangerrtchaft  an  Stärke,  und  es 
sind  vorzugsweise  die  grauen  Fasern,  welche  durch  ihre  Vermehnuig  die  Dicken- 
zunahme  der  Uterinalnerven  bedingen.  Man  überzeugt  sich  durch  Auscultation 
des  Unterleibes  einer  Schwangeren,  dass  der  Embryonalkreislauf  einen  schnelleren 
Rhythmus  hat,  als  aus  dem  Puls  der  Mutter  zu  schliessen  wäre. 


§.  339.  Lage  des  Embryo  in  der  ftebämiutter. 

Der  Embryo  liegt,  in,  der  weitaus  grösseren  Mehrzahl  der 
Fälle,  so  in  der  Gebärmutterhöhle,  dass  der  Kopf  nach  abwärts, 
und  der  Rücken  nach  vorn  gekehrt  ist.  Es  scheint  der  Häufigkeit 
dieser  Lagerung  ein  rein  mechanisches  Verhältniss  zu  Grunde  zu 
liegen.  Der  Kopf,  als  der  schwerste  Körpertheil,  sinkt  nach  unten, 
und  der  stark  gekrümmte  Rücken  legt  sich  an  die  vordere  Uterus- 
wand,  weil  diese,  der  Nachgiebigkeit  der  Bauchdecken  wegen,  weiter 
ausgebaucht  ist,  als  die  hintere,  welche  durch  die  nach  vom  convexe 
Lendenwirbelsäule  in  ihrer  Ausdehnung  beschränkt  wird.  Da  zugleich 


S.  8S0.  L«^  dM  Embryo  in  der  Oebftrmiitter.  827 

der  Kopf  des  Embryo  gegen  die  Brust  geneigt  ist,  so  wird  das 
Hinterhaupt  —  nicht  die  Stirn  oder  das  Gesieht  —  auf  dem  Mutter- 
munde stehen.  Man  fühlt  deshalb  beim  Touchiren  vor  der  Geburt, 
die  kleine  Fontanelle  (Hinterhaupt-Fontanelle)  im  Muttermunde. 
Der  gerade  Durchmesser  des  Kopfes  kann  aber  nicht  mit  dem  geraden 
Beckendurchmesser  (Conjugata)  übereinstimmen,  da  letzterer  nicht 
die  hiezu  gehörige  Länge  besitzt.  Der  Kopf  muss  also  derart  schief 
stehen,  dass  sein  langer  Durchmesser,  in  der  Richtung  eines  schiefen 
Durchmessers  des  Beckeneinganges  liegt,  was  durch  die  Richtung 
der  leicht  zu  fühlenden  Pfeilnaht  ausgomittelt  wird. 

Wir  wissen  nicht  zu  sagen,  warum  die  schiefe  Stellung  des 
Kopfes  meistens  (unter  vier  Fällen  dreimal)  mit  dem  linken  schiefen 
Durchmesser  des  Beckeneinganges  übereinstimmt,  d.  h.  das  Hinter- 
haupt der  Fnicht  gegen  die  linke  Schenkelpfanne,  das  G  esicht  gegen 
die  rechte  Stjmplifjsis  sacro-Uiaca  gerichtet  ist.  Nach  Schweig- 
häuser soll  der  Gioind  davon  in  der  grösseren  Länge  dieses  schiefen 
Beckendurchmessers  liegen. 

Während  des  Durchganges  durch  das  Becken,  muss  sich  die 
Richtung  des  Kopfes  ändern,  so  dass  der  längste  Durchmesser  des- 
selben in  den  längsten  Durchmesser  des  Beckens  fallt.  Der  längste 
Durchmesser  liegt  aber  für  die  obere  Beckenapertur  schief,  für  die 
Beckenhöhle  und  die  untere  Beckenapertur  gerade.  Der  Kindskopf 
wird  somit  eine  Drehung  auszuführen  haben,  um  seinen  längsten 
Durchmesser  in  den  längsten  Durchmesser  der  Beckenhöhle  und 
ihres  Ausganges  zu  bringen. 

Die  Gesichtslage  der  Frucht  gestaltet  sich  für  die  Geburt  weit 
weniger  günstig  als  die  Hinterhauptslage,  da  wegen  des  zum  Nacken 
zurückgebogenen  Hinterhauptes,  nebst  dem  senkrechten  Durch- 
messer des  Kopfes  zugleich  der  Hals  in  das  Becken  tritt.  Die 
Häufigkeit  der  Gesichtslagc  verhält  sich  zu  jener  der  Hinterhaupts- 
lage  nach  (Jarus  wie  1  :  92.  —  Die  Steisslage  bringt  für  die  Geburt 
den  Nachtheil  mit  sich,  dass  der  am  schwersten  zu  gebärende  Theil 
der  Frucht  —  der  Kopf  —  zuletzt  hervortritt,  wozu  die  durch 
frühere  Anstrengungen  erschöpften  Wehen,  häufig  nicht  mehr  aus- 
reichen, und  deshalb  die  Geburt  durch  Kunsthilfe  vollendet 
werden  muss. 

Geht  bei  Steisslage  des  Kindes,  die  Nabelschnur  zwischen  den 
Füssen  desselben  durch,  und  wird  sie  nicht  gelöst,  so  wird  der  auf 
ihr  reitende  Embryo,  bei  seinem  Vorrücken  sie  so  zerren  und  com- 
primiren,  dass  Unterbrechung  des  Kreislaufes  eintritt,  welche  um 
so  gcßihrlichere  Folgen  für  das  Leben  des  Kindes  haben  wird,  ab 
der  noch  in  der  Gebärmutter  verweilende  Kopf  nicht  athmen  kann, 
um  das  Vonstattengehen  des  Kreislaufes  durch  die  Lungen  ei 
zuleiten. 


828  §.  S40.  Litontar  der  Einffeweidelahre. 

Unter  den  übrigen  abnormen  Fruchtiagen,  zählt  die  Fusslage 
wohl  zu  den  häufigeren.  Sie  wird  minder  gefährlich  sein,  wenn 
beide  Füsse,  als  wenn  nur  einer  zur  Geburt  vorliegt,  in  welchem 
Falle  die  Kunsthilfe  noth wendig  intervoniren  muss,  um  den  soge- 
nannten Partus  agrippinus  zu  vollziehen,  dessen  Namen  Plinius 
erklärt  (Not.  hist  VII,  8) :  in  pedes  procedere  nascentem  contra  naturam 
est,  quo  argumento  eos  appellavere  Agrippas,  ut  aegre partos.  Krause 
(kritisch-etymolog.  Lex.  pag.  39)  leitet  den  Ausdruck  von  or^pia, 
nnca,  irfpiiTJza^  wilde  Stute,  ab,  weil  die  griechischen  Nomaden  so 
viel  Gelegenheit  hatten,  das  Werfen  der  Stuten  zu  beobachten,  und 
dabei  zwei  Füsse  vorauskommen  sahen. 

AnatomiBch-physiolog^sche    Urtheile    über    die    verschiedenen    Fruchtiagen, 
enthält,  Burdaeh's  Physiologie,  8.  Bd.  §.  486. 


§.  340.  Literatur  der  Eingeweidelehre. 

/.   Verdauungsorgan. 

Die  Literatur  des  Verdauungsorgans  besteht,  mit  Ausnahme 
der  ausführlichen  anatomischen  Handbücher,  grösstentheils  nur  in 
Specialabhandlungen  über  die  einzelnen  Abschnitte  dieses  Systems. 
So  weit  es  sich  dabei  über  Structurverhältnissc  handelt,  sind  nur 
die  neueren  Arbeiten  brauchbar.  Sie  wurden  in  den  betreflfenden 
Paragraphen  bereits  angeführt. 

Kopf-,  Hals-  und  Brusttheil  des  Verdauungsorgans. 

E,  H,  Weber,  über  den  Bau  der  Parotis  des  Menschen.  In 
Meckd's  Archiv.  1827.  —  C  H.  Dzondi,  die  Functionen  des  weichen 
Gaumens.  Halle,  1831.  —  F.  H,  Bidder,  neue  Beobachtungen  über 
die  Bewegimgen  des  weichen  Gaumens.  Dorpat,  1838.  —  Sebastian, 
recherches  anat.  physiol.,  etc.  sur  les  glandes  labiales.  Groning., 
1842.  —  C,  Th,  lourtual,  neue  Untersuchungen  über  den  Bau  des 
menschlichen  Schlund-  und  Kehlkopfes.  Leipzig,  1846. —  R,  Froriep, 
de  lingua  anatomica  quaedam  et  semiotica.  Bon.,  1828.  —  Mayer, 
neue  Untersuchungen,  etc.  Bonn,  1842.  —  Fleischmann,  de  novis 
sub  lingua  bursis  mucosis.  Norimb.,  1841.  —  H,  Saclis,  observationes 
de  linguae  structura  penitiori.  Vratisl. ,  1857.  —  G.  Flckard,  zur 
Anat.  der  Zungendrüsen  und  Tonsillen,  im  Arch.  für  path.  Anat. 
1859.  —  H.  SddiUer,  de  glandulis  salivalibus.  Vratisl.,  1865.  — 
Luschka,  der  Schlundkopf  des  Menschen.  Tüb.,  1868. 


§.  MO.    Litontnr  der  Eiiigeweid«l«kre.  829 

Magen  und  Darmkanal. 

L.  Bischoffy  über  den  Bau  der  Magenschleimhaut,  in  MÜUer's 
Archiv.  1838.  —  A,  Wasmann,  diss.  de  digestione  nonnulla.  BeroL, 
1839.  —  T.  Schwann,  über  das  Wesen  des  Verdauungsprocesses. 
Miüler's  Archiv.  1836.  —  A.  Retzivs,  Bemerkungen  über  das  Antrum 
pylori,  in  MiUler's  Archiv.  1857.  —  H.  Luschka,  das  Antrum  car- 
diacum  des  menschlichen  Magens,  im  Archiv  für  path.  Anat.  1857. 

—  J.  C.  Peyer,  exercitatio  anat.  de  gland.  intestin.    Scaphus.   1677. 

—  J.  C.  Brunner,  novarum  glandularum  intestinaliura  descriptio; 
in  den  Miscell.  acad.  nat.  curios,  Dec.  II.  1686.  —  J.  N.  Lieber- 
kühn,  diss.  anat.  physiol.  de  fabrica  et  actione  villorum  intest.  I^ugd. 
Bat.,  1745.  —  L.  Böhm,  de  glandularum  intestinalium  structura  peni- 
tiori.  BeroL,  1835.  —  J.  Goldschmid  Nanninga,  de  processu  vermi- 
formi.  Qroning.,  1840.  —  M,  J.  Weh&i*,  über  die  Valvula  coli,  im 
Organ  für  die  gesammte  Heilkunde.  1843.  2.  Bd.  —  PA.  Middd- 
dorpf,  de  glandulis  Brunnianis.  1846.  —  E.  Brücke,  über  den  Bau 
der  Peyer'schen  Drüsen,  in  den  Denkschriften  der  kais.  Akad. 
n.  Bd.  1850.  —  Derselbe,  über  das  Muskelsystem  der  Magen-  und 
Darmschleimhaut,    in   den   Sitzungsberichten  der  kais.  Akad.  1851. 

—  R.  Heidenhain,  Beitrag  zur  Anat.  der  Peyer'schen  Drüsen,  in 
Midieres  Archiv.  1859.  —  C,  Friedreich,  Einiges  über  die  Structur 
der  Cylinder-  und  Flimmerepithelien,  im  Archiv  für  path.  Anat. 
1859.  —  Dönitz,   über   die   Schleimhaut    des  Dai*mes.  Berlin,  1864. 

—  W,  His,  Untersuchungen  über  den  Bau  der  Peycr'schen  Drüsen, 
und  der  Darmschleimhaut.  Leipzig,  1861.  —  Schwalbe,  Drüsen  der 
Darmwandungen,  im  Archiv  für  mikrosk.  Anat.  8.  Bd.  —  H,  Frey, 
die  Lymphwege  der  Peyer'schen  Drüsen,  in  Virchow's  Archiv.  1863. 

—  H.  Baur,  die  Falten  des  Mastdarms.  Giessen,  1861. 

Bauchfell  und  dessen  Duplicaturen. 

F,  M.  Langenbeck,  comment.  de  structura  peritonei,  etc.  Gotting., 
1817.  —  C.  J.  Baur,  anatomische  Abhandlung  über  das  Bauchfell. 
Stuttgart,  1838.  —  C.  H.  Mejfer,  anatomische  Beschreibung  des 
Bauchfells.  Berlin,  1839.  —  J.  MüUer,  über  den  Ursprung  der  Netze 
und  ihr  Verhältniss   zum   Peritonealsack,   in  Meckd's  Archiv.  1830. 

—  H.  C,  Hennecke,  comm.  de  ftmctionibus  omentorum.  Gott,  1836. 

—  H,  Meyer,  über  das  Vorkommen  eines  Processus  peritonei  vagi- 
nalis beim  weiblichen  Fötus,  in  Müllers  Archiv.  1845.  —  J.  Cldand, 
The  mechaniame  of  the  Gubernaculum  testis.  Edinb.,  1856.  — 
W,  Treitz,  Hernia  retroperitonealis.  Pragae,  1856. 

Ueber  den  Situs  viscertmi  handeln  alle  chirurgischen  Anatomien 
ausführlich,  und  eine  sehr  getreue  bildliche  DarBtellung  deaaelben 
gab  Ortatti,  Abbildungen  der  Eingeweide  der  Schädel-,  Ifourt- 


830  §•  340.  Literatur  der  EinsreweideUhr«. 

Bauchhöhle  des  menschliehen  Körpers  in  süu  naturali.  Mainz,  1838. 
fol.  Hieher  gehört  auch :  Engel,  einige  Bemerkungen  über  I^age Ver- 
hältnisse der  Baucheingeweide.  Wien.  med.  Wochenschr.,  Nr.30 — 41, 
und  E.  Hoffmamiy  die  Lage  der  Eingeweide,  etc.  I^eipzig,  1863.  Letz- 
teres Werk  für  Aerzte  und  Studirende  gleich  empfehlenswerth. 

Leber,  Pankreas  und  Milz. 

F.  Kiemcm,  Anatomy  and  Physiology  of  the  Liver,  in  Philos. 
Transact.  1833.  P.  11.  —  E,  H.  Weher,  über  den  Bau  der  Leber, 
in  Midler's  Archiv.  1843.  —  A,  Krvkenberg,  Untersuchungen  über 
den  feineren   Bau   der   menschlichen  Leber.  Midieres  Archiv.  1843. 

—  L.  J.  Backer,  de  structura  subtiliori  hepatis.  Traj.  ad.  Rh.,  1845. 

—  A,  R^dus,  über  den    Bau   der  Leber,   in  Mililers  Archiv.  1849. 

—  R.  Wagner,  Handwörterbuch  der  Physiol.  Art.  Leber,  von  Pro- 
fessor TheUe,  —  M,  Rosenberg,  de  recentioribuB  structurae  hepatis 
indagationibus,  Vratisl.,  1853.  —  L.  S,  Beale,  On  some  points  in 
the  Anat.  of  the  Liver.  London,  1855.  —  Mac  Gülavry,  Wiener 
Sitzungsber.  1864.  —  Brücke,  ebenda.  1865.  —  G,  Asp,  zur  Anat.  der 
Leber,  in  den  Berichten  der  königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften 
in  Leipzig.  1873.  —  M,  Deutsch,  Anat.  der  Gallenblase.  Berlin, 
1875.  —  J.  G,  Wirmng,  ligura  ductus  cujusdam  cum  multiplicibus 
suis  ramulis  noviter  in  pancreate  observati.  Patav.,  1643.  —  F»  TXede- 
mann,  über  die  Verschiedenheiten  des  Ausführungsganges  der  Bauch- 
speicheldrüse, in  MeckeVs  Archiv.  IV.  —  Veimeuü,  Gaz.  med.  1851. 
V.  25.  —  Bemard,  M^m.  sur  le  pancröas.  Paris,  1856.  —  J,  Ijatschen- 
berger,  über  den  Bau  des  Pancreas,  mit  Tafel.  —  M.  Malpighi,  de 
liene,  in  ejusdem  exercitat.    de   viscenim    structura.     Bonon.,  1664. 

—  J.  Müller,  über  die  Structur  der  eigenthümlichen  Körperchen 
in  der  Milz  einiger  pflanzenfressender  Säugethiere,  im  Archiv  für 
Anatomie  und  Physiologie.  1834.  —  C.  G.  Giesker,  anat.  physiol. 
Untersuchungen  über  die  Milz  des  Menschen.  Zürich,  1835.  — 
Gray,  On  the  Structure  and   Use   of  the  Spleen.  London,  1854.  — 

—  Bülroth,  im  XX.  und  XXHI.  Bde.  des  Archivs  für  patholog. 
Anat.,  und  Schweigger' Seidel,  ebenda.  Letzterer,  disquisitiones  de 
liene.  Halis,  1861.  —  Basler,  über  Milzgefösse.  Würzburg,  1863.  — 
W.  Müller,  über  den  feineren  Bau  der  Milz.  Leipzig,  1865. 

n.  ReqnrcUionsorgane. 
Kehlkopf. 

J.  D,  Santorini,   de   larynge,   in    ejus    obs.  anat.  Venet.,  1724. 

—  J.  B,  Morgagni,  adversaria  anat.  Lugd.  Bat.,  1723.  adv.  I.  — 
S.  Th.  Sömmerring,  Abbildungen  des  menschlichen  Geschmack-  und 
Sprachorgans.     Frankfurt  a.  M.,    1806.   —    C   27*.   Tourtual,   neue 


§.  S40.  Literatur  der  Eiofl^weidelebre.  831 

Untersuchungen,  etc.  liCipzig,  1846.  —  H,  Rheiner,  Beiträge  zur 
Histologie  des  Kehlkopfes.  Würzburg,  1852.  —  C  L,  Merkd,  Anat. 
und  Physiol.  des  menschl.  Stimm-  und  Sprachorgans.  Leipzig,  1857, 
reich  an  anatomischen  Details.  —  HcUbertsma,  Mededeelingen  der 
königl.  Akad.  XI.  3.  —  Düse,  Beitrag  zur  Anat.  des  Kehlkopfes. 
Jena,  1875.  —  Hauptwerk  über  den  Kehlkopf  von  Luschka,  Tüb., 
1871,  mit  10  Tafeln. 

Luftröhre,  Lungen  und  Pleura. 

J.  Mohsdiott,  de  Malpighianis  pulmonum  vesiculis,  Heidelberg, 
1845,  und  in  den  Holländischen  Beiträgen  zu  den  anat.  physio- 
logischen Wissenschaften.  1.  Bd.  —  Wate/ra,  The  Anatomy  of  the 
Human  Lung.  Ijondon,  1860.  —  Rossignol,  Recherches  sur  la  struc- 
ture  du  poumon  de  Thomme,  etc.  Bruxelles,  1846.  —  A.  Adriani, 
de  subtiliori  pulmonum  structura.  Trajecti  ad  Rh.,  1847.  —  Le  Fort, 
Recherches  sur  Tanatomie  du  poumon.  Paris,  1859.  —  E,  Schultz, 
disquisitiones  de  structura  canalium  aeriferorum.  Dorpat,  1850.  — 
Beichler,   Beitrag  zur    Histologie   des   Lungengewebes.    Gott.,   1861. 

—  A.  Zenker,  Beiträge  zur  normalen  und  path.  Anat.  der  Lunge. 
Dresden,  1862.  —  J,  N,  Becde,  A  treatise  on  the  Physiol.  Anat.  of 
the  Lungs.  London,  1862.  —  Köttner,  über  das  Lungenepithel.  Archiv 
für  path.  Anat.  66.  Bd. 

Schilddrüse  und  Thymus. 

A,  F.  Bopp  (und  Rapp),  über  die  Schilddrüse.  Tübing.,  1840. 

—  S,  C\  Lucae,  anat.  Untersuchungen  der  Thymus  im  Menschen 
und  in  Thieren.  Frankfurt  a.  M.,  1811,  1812.  —  A.  Cooper,  Ana- 
tomy of  the  Thymus  Gland.  London,  1832.  —  F,  C,  Haugsted, 
thymi  in  hom.  et  per  seriem  animalium  descriptio  anatom.  physiol. 
Hafn.,  1822.  —  J.  Simon,  Physiological  Essay  on  the  Thymus 
Gland.  London,  1845.  —  A.  Ecker,  in  der  Zeitscjirift  für  rat.  Med. 
VI.  Bd.,  und  Th.  Frerichs,  über  Gallert-  und  Colloidgeschwülste. 
Gott.,  1847.  —  Ferner  der  Artikel:  Blutgefössdrüsen,  in  R.  Wag- 
ner's  Handwörterbuch.  —  C.  Rokitansky,  zur  Anatomie  des  Kropfes. 
Denkschriften  der  kais.  Akad.  1.  Bd.  —  F.  Giinsburg,  Notiz  über 
die  geschichteten  Körper  der  Thymus.  Zeitschrift  für  klin.  Med. 
1857.  —  His,  Zeitschrift  für  wissensch.  Zoologie.  10.  Bd. 

///.  Hamwerkzeuge, 
Nieren. 

Aeltere  Schriften,  nur  von  historischem  Werth: 
L.  Bellini,    exercitationes   anat.    de    structura   et    usu   renum. 
Florent.,    1662.   —  M.  Malpighi,  de  renibus^  in  ejusdem  Exeroitat. 


f.Mt. 

de  Tiscemiii  nmctom.  Bonoiu«  1666.  —  A.  SdkmwJ/nuk^,  disB.  de 
stmcluni  renniD.  Argent..  1782.  —  Ch.  Ca^a^  Observation s  d*aiuit. 
mieroacopiqae  sur  le  rein  de  nuimniiferes.  Paris.  1S39.  v  Nimmt 
Verbindttngen  der  Ilamkanalchen  mit  den  CapUlar^etsUsen  An.) 

Xeuere  Arbeiten: 

B^Acman,  in  Lond.  Edinb.  and  Dublin  Phil«>s.  Mairaz.  184^.  — 
J.  Gtrlaehf  Beiträge  zur  Structurlehre  der  Xierc.  MiilUr'*  Archiv. 
l>54ij.  (Lässt  mehrere  Malpighi'sche  Kapseln  auf  Einem  Harn* 
kanalehen  aufsitzen.)  —  F,  Bidder,  über  die  Malpighi'schen  Körper 
der  Xiere.  Ebendas.  pag.  508.  seqq.,  und  dessen  vergleichend-ana- 
tomische Untersuchungen  über  die  männlichen  Oresehleehts-  und 
Hamwerkzeuge  der  nackten  Amphibien.  Dorpat,  1840.  t  Lässt  die 
Malpighi*schen  Korperchen  nicht  in  der  Hohle  der  Kapsel,  son- 
dern ausserhalb  derselben  liegen,  und  dieselbe  mehr  weniger  ein- 
stülpen.) —  C  Ludwig,  Nieren,  in  Waijner's  Handwörterbuch.  — 
r.  Patruban,  Beitrage  zur  Anatomie  der  menschlichen  Xiere,  in  der 
Prager  Vierteljahrsschrift,  Bd.  XV.  (sah  in  der  Schlangenniere  nrei 
Hamkanälchen  aus  Einer  Kapsel  entspringen).  —  r.  Cams,  über 
die  Malpighi'schen  Körper  der  Xiere,  im  2.  Bde.  der  Zeitschr.  für 
wissenschaftl.  Zoologie.  (Der  Knäuel  liegt  entweder  in  einer  er- 
weiterten Stelle  eines  Hamkanälchens  [Triton],  oder  in  dem  blinden, 
angeschwollenen  Ende  desselben  [die  übrigen  Thiere],  und  wird  von 
einer  einfachen  Schichte  Pflasterepithel  überzogen.)  —  Hessiing, 
Histologische  Beitrage  zur  Lehre  von  der  Harnseeretion.  Jena, 
1851.  —  J,  Mariauen,  über  das  Verhältniss  der  Malpighi' sehen 
Körperchen  zu  den  Hamkanälchen ,  in  den  Verhandlungen  der 
Petersburger  Akademie.  1851.  —  W.  Busch,  Beitrag  zur  Histologie 
der  Xieren,  in  Müller's  Archiv.  1855.  —  R.  Mrchotc,  über  die  Cir- 
culationsverhältnisse  in  den  Xieren,  im  Archiv  iiir  pathologische 
Anatomie.  1857.  «—  Af.  Schmidt,  de  renum  structura  questiones. 
Gott.,  1860.  —  Wenn  nach  so  zahlreichen  Vorarbeiten  Henle  (zur 
Anatomie  der  Xiere,  1862)  noch  ein  ganz  neues  Element  im  Baue 
der  Xiere  —  die  iiitrapyramidalcn  Schlingen  der  Hamkanälchen 
auffinden  konnte,  wirft  dieses  ein  eigenthümliches  Streiflicht  auf 
die  relative  Genauigkeit  der  vorhergegangenen  l-utersuchung:en. 
Folgende  Schriften  befassen  sich  ausschliesslich  mit  der  überraschen- 
den Entdeckung  Henlt's:  A.  Colhenj,  im  ( Vntralblatt  der  medicinischen 
Wissenschaften.  1863.  S.  48  u.  49.  —  Ludtcig  und  Zaican/kin,  zur 
Anatomie    der    Xiere,    in     den    Wiener    Sitzungsberichten.      18G4. 

—  3/.  Kotty  Drüsensubstanz  der  Xiere.  Bern,  1864.  —  E.  Bidder, 
Beiträge  zur  Lehre  von  den  Functionen   der  Xieren.     Mitau,   1863. 

—  J.  Kollmann,  Zeitschrift  för  wissenschaftliche  Zoologie.  1864.  — 
iSdiweiggtr-iSeidel,   die   Xieren   des    Menschen   und    der   Säugethiere 


8.SiO.  LItwaiar  d«r  Biiif«w«id«lt)ir«.  833 

Halle,  1865.  —  Th.  Stein,  Ham-  und  Blutwege  der  Niere.  Würzb., 
1865.  —  Axel  Key^  Om  Circulations  förh&llandena  i  Njurarne.  Stock- 
holm, 1865.  —  G.  Jurid,  Bau  und  Verrichtung  der  Blase  und  Harn- 
röhre. Wiener  medicinische  Jahrbücher.  IV.  —  Ueber  Injection 
der  Wirbelthier-Niere  und  deren  Resultate  handelt  mein  Aufsatz  in 
den  Sitzungsberichten  der  kais.  Akad.  1863. 

Nebennieren. 

H.  B.  Bergmann,  diss.  de  glandulis  supraren.  Gott.,  1839.  — 
Schwager-Bardeleben,  diss.  observ.  microsc.  de  glandulis  ductu  ex- 
cretorio  carentibus.  Berol.,  1842.  —  A.  Ecker,  der  feinere  Bau  der 
Nebennieren.  Braunschweig,  1846.  (Auf  gründliche,  vergleichend- 
anatomische Untersuchungen  basirtes  Hauptwerk.)  —  B.  Werner, 
de  capsulis  suprarenalibus.  Dorpat,  1857.  —  Herde,  über  das  Ge- 
webe der  Nebennieren,  Zeitschrift  für  rat.  Med.  3.  R.  24.  Bd.  — 
J.  Arnold,  in  FtrcÄou?'»  Archiv.  35.  Bd. 

Harnblase  und  Harnröhre. 

Ch.  Bell,  Treatise  on  the  Urethra,  Vesica  urinaria,  Prostata 
and  Rectum.  London,  1820.  —  J.  Wilson,  Lectures  on  the  Structure 
and  the  Physiology  of  the  male  Urinary  and  Genital  Organs. 
London,  1821.  —  J.  Houston,  Views  of  the  Pelvis,  etc.  Dublin, 
1829.  —  G,  J,  Guthrie,  On  the  Anatomy  and  Diseases  of  the 
Neck  of  the  Bladder,  and  the  Urethra.  London,  1834.  —  C.  Sap- 
pey,  sur  la  conformation  et  la  structure  de  Furfetre  de  Thomme. 
Paris,  1854. 

Die  chirurgisch-anatomischen  Schriften  von  Leroy  d'Etoües, 
Amussat,  Civiale,  Cazenave,  widmen  diesem  in  operativer  Beziehung 
höchst  wichtigen  Capitel  besondere  Aufmerksamkeit.  Ebenso  die 
für  die  topographische  Anatomie  aller  Beckenorgane  sehr  lehrreiche 
Schrift  von  0.  KoMrauech:  Zur  Anatomie  und  Physiologie  der  Becken 
Organe.  Leipzig,  1854. 

IV.  Männliche  Geschlechtsorgane* 
Hoden. 

R.  de  Grraaf,  de  virorum  organis  generationi  inservientibus. 
Lugd.  Bat.,  1668.  —  A.  Halter,  Observationes  de  vasis  seminalibus. 
Gottingae,  1746.  —  A.  Cooper,  Observations  on  the  Structure  and 
Diseases  of  the  Testis.  London,  1830.  Deutsch,  Weimar,  1832.  — 
K  A.  LauA,  m^  ^  in  Mämoires  de  la 

Hyrtl,  UUk  68 


834  i  S40.  Literatur  der  Bingvweideielire. 

Bociätö  de  rhistoirc  naturell  de  Strasbourg.  Tom.  I.  livr.  2.  — 
C.  Krause,  in  MüUer's  Archiv.  1837.  —  H.  lAischka,  die  Appen- 
diculargebilde  des  Hoden,  im  Archiv  fbr  pathologische  Anatomie. 
Bd.  6.  Heft  3.  —  L,  Fick,  über  das  Vas  deferens,  in  MüUer's  Archiv, 
1856.  —  Ueber  die  Lymphwege  des  Hodens  handelt  Ludwig  und 
Tamsa,  im  46.  Bde.  der  Sitzungsberichte  der  kais.  Akademie.  — 
Neumann,  über  Spermatozoiden.  Archiv  für  mikroskopische  Ana- 
tomie. 11.  Bd. 

Samenbläschen,  Prostata  und  Cowper'sche  Drüsen. 

J,  Hunter,  Observations  on  the  Glandes  between  the  Rectum 
and  Bladder,  etc.,  in  dessen  Observations  on  Certain  Parts  of  the 
Animal  Oeconomy.  London,  1786.  —  E,  Home,  On  the  Discovery 
of  a  Middle  Lobe  of  the  Prostata.  Philos.  Transactions.  1806.  — 
W.  CowpeTy  glandularum  quarundam  nuper  detectarum  descriptio,  etc. 
London,  1702.  —  A.  Haase,  de  glandulis  Cowperi  mucosis.  Lips., 
1803.  — '  E.  H.  Weber,  über  das  Rudiment  eines  Uterus  bei  männ- 
Kchen  Säugethieren,  über  den  Bau  der  Prostata,  etc.  1846.  — 
R.  Leuckart,  das  Weber'schc  Organ  und  seine  Metamorphosen,  in 
der  illustrirtcn  medicinischcn  Zeitung.  1852.  —  Fr,  Wül,  über  die 
Secretion  des  thierischen  Samens.  Erlangen,  1849.  —  Langerhans, 
accessorische  Drüsen  der  Geschlechtsorgane.  Archiv  für  pathologische 
Anatomie.  61.  Bd. 

Penis. 

F,  Jtedemann,  über  den  scliwammigen  Körper  der  Ruthe,  etc., 
Meckel*8  Archiv.  2.  Bd.  —  A,  Moreschi,  comment.  de  urethrac  cor- 
poris glandisque  structura.  Mediol.,  1817.  —  J,  C.  Matjer,  über  die 
Structur  des  Penis.  Fro^iep'e  Notizen.  1834.  N.  883.  —  B,  Panizza, 
osservazioni  anthropo-zootomico-tisiolog.  Pavia,  1836.  —  «/.  Müller, 
in  dessen  Archiv,  1835.  Krause,  ebenda.  1837.  Valentin,  1838.  Erdl, 
1841.  (Ueber  die  Vasa  helicina.)  —  G,  L,  Kabelt,  über  die  männ- 
lichen und  weiblichen  Wollustorgane.  Freiburg,  1844.  —  Kölliker, 
über  das  Verhalten  der  cavernösen  Körper,  in  den  Würzburger 
Verhandlungen.  1851. 


V,    Weibliche  Geschlechtsorgane, 
Eierstöcke. 

R.   de    Graaf,   de   mulierum   organis.     Lugd.   Bat.,   1672.   — 
F.  Autenrieth,    über    die  eigentliche   Lage  der  inneren  weiblichen 


§.  S40.  Literatur  der  Eingeweidelekre.  835 

Geschlechtstheile^  in  ReiVs  Archiv.  VII.  Bd.  —  C.  Negrier,  recherches 
anatomiques  et  physiologlques  sur  les  ovaires.  Paris,  1840.  — 
G.  C.  Kohdt,  der  Nebeneierstock  des  Weibes,  etc.  Heidelberg,  1847. 

—  W,  Steinlein,  über  die  Entwicklung  der  Graafschen  Follikel.  In 
den  Mittheilungen  der  Züricher  naturforschenden  Gesellschaft.  1847. 

—  Ueber  Structur  der  Eierstöcke  handelt  Pßüger's  Monographie. 
Leipzig,  1863,  und  Waldeyer,  Eierstock  und  Ei.  Leipzig,  1870.  Die 
gesammte,  sehr  reiche,  neuere  Literatur,  findet  sich  im  25.  Capitel 
der  Gewebslehre  von  Stricker,  —  Kopf,  Beziehung  des  Ovarium 
zum  Peritoneum.  Berlin,  1872. 

Gebärmutter. 

C.  G.  Jörg,  über  das  Gebärorgan  des  Menschen.  Leipzig, 
1808.  —  G.  Kasper,  de  structura  fibrosa  uteri  non  gravidi.  Vratisl., 
1840.  —  ParTdnje,  in  FVoriep'e  Notizen.  N.  459.  —  Bischoff,  über 
die  Glandulae  utriculares  des  Uterus  und  ihren  Antheil  an  der 
Bildung  der  Decidua.  Miüler's  Archiv.  1846.  —  Ch.  Robin,  mömoire 
pour  servir  a  Thistoire  anatomique  de  la  membrane  muqueuse 
utörine,  de  la  caduque,  et  des  oeufs  de  Naboth.  Archives  gön^rales. 
1848.  —  A,  KöUiker,  Zeitschrift  fiir  wissenschaftliche  Zoologie.  I. 
(glatte  Muskelfasern).  —  V.  Schwartz,  de  decursu  musculorum  uteri 
et  vaginae.  Dorpat,  1850.  —  M.  Küian,  die  Nerven  des  Uterus,  in 
Henle's  und  Pfeuffer's  Zeitschrift.  X.  Bd.  —  J.  Lott,  Anatomie  und 
Physiologie  des  Cervix  uteri.  1872.  —  Hagemann,  über  die  Uterus- 
höhle. Archiv  für  Gynäkologie.  V.  2.  —  Ed.  Mariin,  Lage  und 
Gestalt  der  Gebärmutter.  Zeitschrift  für  Geburtshilfe.  1.  Bd.  — 
Blacher,  Bau  der  menschlichen  EihüUen,  im  Archiv  für  Gynä- 
kologie. 10.  Bd. 

Aeussere  Scham  und  Brüste. 

A.  Vater,  de  hymene.  Gott.,  1742.  —  B.  Oslander,  Abhand- 
lung über  die  Scheidenklappe,  in  dessen  Denkwürdigkeiten  für 
Geburtshilfe.  2.  Bd.  —  C  Devüliers,  nouvelles  recherches  sur  la 
membrane  hymen  et  les  caroncules  hym^nales.  Paris,  1840.  — 
Mandt,  zur  Anatomie  der  weiblichen  Scheide,  in  Henle^s  und  Pfeuf- 
fers  Zeitschrift.  VII.  Bd.  —  G.  L,  Roheit,  die  männlichen  imd 
weiblichen  Wollustorgane.  Freiburg,  1844.  —  J.  G,  Klees,  über  die 
weiblichen  Brüste.  Frankfurt  a.  M.,  1795.  —  A.  Cooper,  On  the 
Anatomy  of  the  Breast.  London,  1839.  —  Fetzer,  Dissertation  über 
die  weiblichen  Brüste.  Würzburg,  1840.  —  Ueber  die  männliche 
Brustdrüse  handelt  Grüber,  in  den  M^moires  de  TAcad^mie  de 
St.  Pötersbourg,  VII.  S^rie,  T.  X.,  und  Luschka,  in  Midler's  Archiv. 
1852.  —  Langer  untersuchte  in  den  Denkschriften  der  hais.  Akad. 

63* 


836  §•  MO.  Literatur  der  Eingeweidelthre. 

in.  Bd.   die   histologischen   Schicksale   der   Brustdrüse  in  den  ver- 
schiedenen Lebensepochen. 

Ueber  die  Metamorphose  des  Eies  und  die  Veränderungen  der 
weiblichen  Geschlechtstheile  in  der  Schwangerschaft  handeln  die 
in  der  allgemeinen  Literatur  (§.  16)  angeführten  Schriften  über 
Entwicklungsgeschichte.  Ueber  die  Uebereinstimmungen  im  Baue 
der  Harn-  und  Geschlechtsworkzcuge  der  Wirbelthiere :  H.  Meckel, 
zur  Morphologie  der  Harn-  und  Geschlechtswerkzeuge  der  Wirbel- 
thiere. Halle,  1848,  und  R.  Leuckart,  in  dem  Artikel  „Zeugung" 
im  Handwörterbuch  der  Physiologie. 


SECHSTES  BUCH. 


Gehirn-  und  Nervenlehre. 


A.  Centraler  Theil  des  animalen  Nerven- 
systems.*) 

Ghehirn  und  [Rtickenraark. 

§.  341.  Hüllen  des  ßeliinis  und  Bückenmarks.  Dura  mater. 

Das  Gehirn  und  Rückenmark  besitzen^  innerhalb  der  sie  um- 
schliessenden  knöchernen  Hirnschale^  noch  drei  häutige  Hüllen^ 
welche  als  Vdamenta  cerebri  et  medtdlae  spinalü  zusammengefasst 
werden. 

Die  harte  oder  fibröse  Hirnhaut^  Dura  mcUer,  Meninx 
ßbrosciy  stellt  die  äusserste  Hülle  des  Gehirns  und  Kückenmarks  dar. 
Spigelius  erklärt  in  Einfalt  die  Benennung  mater,  welche  die 
Hirnhäute  führen^  mit  den  Worten:  qaia  mater  na  quadam  cura, 
cerebri  incolumitati  protpiciunt,  continendo  älud,  integrumque  praestando. 
Die  harte  Hirnhaut  ist,  wie  die  fibrösen  Häute  überhaupt,  binde- 
gewebiger Natur,  mit  geringer  Zugabe  elastischer  Elemente.  Dicker 
und  häi*ter,  als  die  übrigen  Hirnhüllen,  bildet  sie  einen  geschlossenen 
Sack,  welcher  an  die  innere  Oberfläche  der  Schädelhöhle  dicht 
anliegt,  und  für  die  Schädelknochen  zugleich  die  Stelle  einer  inneren 
Beinhaut  vertritt.  Die  Dura  mater  dringt  in  alle  Oeffnungen  ein, 
durch  welche  die  Nerven  des  Gehirns  und  Rückenmarks  austreten, 
und  umhüllt  dieselben  scheidenartig  als  Neurilemm.  Zieht  man  sie 
von  den  Schädelknochen  ab,  so  findet  man  ihre  äussere  Oberfläche 
rauh,  indem  von  ihr  aus  zahlreiche  Blutgefässe  und  faserige  Fort- 
sätze in  die  Diploe  der  Schädelknochen  eindringen,  welche  Fortsätze 
beim   Ablösen  der   harten  Hirnhaut,   wozu   bei  jungen   Individuen 


*)  Ueber  Histologie  des  Nerrensystems  mögen  §.  G7 — 74  durchgelesen  werden. 
Ueber  die  Präparfttion  des  Nerrensystems  findet  man  alles  Nothwendige  im  fünften 
Buche  meines  Handbuches  d«r  praktfaehm  Zergliederangskunst. 


840  §.  84L  HftUMi  dM  0«]ünM  and  BAckttBAiki.  i>Mr« 

eine  gewisse  Gewalt  gehört,  zerrissen  werden  müssen.  Ihre  innere 
Oberfläche  dagegen  ist  glatt  und  glänzend^  und  besitzt  eine  einfache 
Lage  von  Pflasterepithel,  welche  man  bis  auf  die  neueste  Zeit  für 
die  äussere  Lamelle  der  Arachnoidea  hielt.  —  Man  nimmt  an  der 
Dura  maier  zwei  Schichten  an,  welche  zwar  durch  das  Messer  nicht 
isolirt  darstellbar  sind,  aber  an  gewissen  Stellen  von  selbst  auseinander- 
weichen, wodurch  es  zur  Bildung  von  Hohlräumen  kommt,  welche, 
da  sie  das  Venenblut  des  Gehirns  sammeln,  bevor  es  in  die  Abzugs- 
kanäle der  Schädelhöhle  einströmt,  Blutleiter  (Sinus  durae  mcUris) 
genannt  werden.  —  Man  unterscheidet  einen  Gehirn-  und  Rücken- 
markstheil  der  hai*ten  Hirnhaut. 

Ä)  Der  Gehirntheil  der  harten  Hirnhaut  hängt  in  der  Richtung 
der  Suturen,  und  der  an  der  inneren  Oberfläche  der  Hirnschale 
vorspringenden  Leisten  und  Kanten  (Crista  frontalis,  oberer  Winkel 
der  Felscnpyramide ,  hinterer  Rand  der  schwertförmigen  Keilbein- 
flügel, kreuzförmige  Erhabenheiten  des  Hinterhauptbeins,  etc.),  so 
wie  an  den  Rändern  aller  Löcher  der  Hirnschale,  ziemlich  fest  mit 
den  Knochen  zusammen.  Er  ist  bei  weitem  reicher  an  Blutgefässen^ 
als  der  Rückenmarkstheil  der  harten  Hirnhaut.  Die  Blutgefässe 
halten  sich  an  die  äussere  Oberfläche  der  Dura  mater  cerebri,  in 
jener  Richtung,  welche  durch  die  Stdd  arteriosihvenosi  an  der  inneren 
Schädelknochentafel  vorgezeichnet  wird. 

Der    Gehirntheil    der   harten    Hirnhaut    erzeugt    einen    senk- 
rechten  und   einen    queren,    in   die  Schädelhöhle  vorspringenden 
Fortsatz,  deren  Richtungen   sich   somit  kreuzen,   und  deshalb  zu- 
sammengenommen Processus  crudatus  durae  mattns   genannt  werden. 
Auf  der  Protuherantia  occipüalis  interna   stossen  die  Schenkel  dieses 
Kreuzes  zusammen.  Jeder  derselben  führt  einen  besonderen  Namen. 
a)  Der  Processus  fatciformis   major,    Sichel   des   grossen    Ge- 
hirns, schaltet    sich    senkrecht  zwischen  die  Halbkugeln  des 
grossen  Gehirns  ein.  Sein  oberer,  convexer,    befestigter  Rand, 
entspricht   der   Mittellinie    des   Schädeldaches,  von  der  Protu- 
herantia occipüalis  interna   angefangen    bis   zur  Crista  gaUi  des 
Siebbeins.     Sein  unterer  concaver  und  scharfer  Rand  ist  frei, 
und  gegen  die  obere  Fläche  des,  beide  Halbkugeln  des  Gehirns 
verbindenden    Corpus   callosum    gerichtet,    ohne  jedoch    diese 
Fläche  zu  berühren.  —   Da  man   sich   die  Himsichel   durch 
Faltung   (Einstülpung)  der  inneren   Lamelle   der  harten  Hirn- 
haut entstanden  denkt,  so  muss  am   oberen  Befestigungsrande 
derselben  eine  Höhle  —  sichelförmiger   Blutleiter,    Sinus 
falciformis   major  —  existiren.     Eine  im   unteren    Rande   der 
Sichel    verlaufende,    nicht    constante    Vene,    wird    von    vielen 
Anatomen   als    Sinus  falciformis   minor  bezeichnet.     Ich    finde 
die  Hirnsichel  sehr  häufig,  selbst  an  jugendlichen  Individuen,  i» 


|.  Sil.  HUUn  dM  6«kinii  «ad  BtckeiiBarks.  Jhtra  «Mtor.  841 


der  Nähe  ihres  unteren  Randes  siebartig  durchbrochen.  —  Die 
Krümmung^  und  die  von  hinten  nach  vom  abnehmende 
Breite  dieses  Fortsatzes  der  harten  Hirnhaut^  ist  der  Grund 
seiner  Benennung  als  Hirn  sie  hei. 

b)  Der  bei  weitem  weniger  vorspringende  Procesms  faldformis 
minor,  Sichel  des  kleinen  Gehirns,  schaltet,  sich  von 
hinten  her  zwischen  die  Halbkugeln  des  kleinen  Gehirns  ein, 
und  erstreckt  sich,  von  der  ProtuberanHa  occipitcUis  interna  an, 
bis  zum  hinteren  Umfange  des  Foramen  ocdpitale  magnum 
herab,  wo  er  in  der  Regel  gabelförmig  gespalten  endet.  Er 
ist  in  allen  Dimensionen  viel  kleiner  als  die  grosse  Hirnsichel, 
und  schliesst  auch,  wie  diese,  einen  kleineren,  aber  nicht  immer 
vorfindlichen  Sinus  in  sich  ein. 

c)  Das  Tentorium  cerehdli,  Zelt  des  kleinen  Gehirns,  bildet 
den  Querschenkel  des  Processus  crudatus.  Er  schiebt  sich 
zwischen  die  Hinterlappen  des  grossen  und  die  Halbkugeln 
des  kleinen  Gehirns  ein,  um  letztere  ebenso  gegen  die  Last 
der  ersteren  zu  schützen,  als  die  grosse  Hirnsichel  den  nach- 
theiligen Druck  beseitigt,  welchen,  bei  Seitenlage  des  Schädels, 
eine  Hemisphäre  des  grossen  Gehirns  auf  die  andere  ausüben 
müsste.  —  Um  dem  Zelte  mehr  Tragkraft  zu  geben,  befestigt 
sich  sein  vorderer  Rand  an  die  oberen  Kanten  beider  Pyra- 
miden der  Schläfeknochen,  und  an  die  Processus  dinoidei  der 
Sattellehne.  Hinter  der  Sattellehne  ist  die  Mitte  des  vorderen 
2feltrandes  wie  ein  gothisches  Thor  mit  nach  hinten  und  oben 
gerichteter  Spitze  ausgeschnitten,  wodurch  eine  Oeffnung  ent- 
steht (Indsura  tentorii  s.  Foramen  Pa^cchioni),  welche  von  dem 
Vierhügel  und  der  Varolsbrücke  des  grossen  Gehirns  aus- 
gefüllt wird. 

Die  Ebene  des  Gezeltes  ist  aber  nicht  plan.  Die  Mitte 
der  oberen  Fläche  wird  durch  die  mit  ihr  zusammenhängende 
Sichel  des  grossen  Gehirns  so  in  die  Höhe  gezogen  und  ge- 
spannt (tendo,  spannen,  daher  tentorium),  dass  zwei  seitliche 
Abdachungen  entstehen,  wie  bei  einem  Zelt  (le  dos  ddne, 
Eselsrücken,  bei  alten  französischen  Anatomen).  Durch 
diese  Verbindung  zwischen  Zelt  ,'und  Sichel,  erhalten  beide 
den  erforderlichen  Grad  von  Straffheit,  welcher  augenblicklich 
in  beiden  Gebilden  nachlässt,  wenn  eines  derselben  durch- 
geschnitten wird.  —  Tentorium  hiess  übrigens  nur  ein  auf 
Stricken  gespanntes  Zelt;  —  auf  Stangen  hiess  es  Tabemaculum. 

Diesen  Fortsätzen  der  harten  Hirnhaut  kann  man  noch  einen  vierten  hinzu- 
fügen, welcher  über  die  Sattelgprube  des  K^ilbeinkörpers  horizontal  wegstreicht, 
und  in  seiner  Mitte  durchbrochen  ist,  um  den  Stiel  der  in  der  Sattelgmbe  liegen- 
den Hypophysi»  cereM  durchgehen  m  laitwi.  E»  mag  dieaer  Fortsatz  den  Namen 


842*  f.  Sil.  HftllM  dM  (Hhfnit  und  RftekanaiArl».  Dura  mmUr. 

OpereiUum  teüae  turdeae,  Satteldecke  (von  openo,  bedecken),  führen.  Die 
Sattelgrabe,  mit  dem  daranfliegenden,  in  der  Mitte  perforirten  Deckel,  Hast  uns 
an  einen  Nachtstahl  denken,  woraus  sich  der  bei  Uteren,  massiven  Anatomen 
zu  findende  Ausdruck  8eüa  pertuaa  und  SeXia  famtUarit  erklärt,  welcher  auch  bei 
den  Classikem  vorkommt 

Das  fMerige  Gewebe,  mittebt  dessen  die  harte  Himhaut  an  den  Qrund 
des  Tfirkensattels  adhärirt,  dringt  an  den  Sch&deln  von  Neugeborenen  und  von 
Kindern  in  den  ersten  Lebensmonaten,  eine  Strecke  weit  in  den  Keilbeinkörper 
als  zapfenförmiger  Fortsatz  ein,  welcher  zuweilen  hohl  gefunden  wird  (CanaUa 
crcmio-pharyngeusj.  Dieser  Fortsatz  durchsetzte  in  hundert  Fällen  zehn  Mal  die 
ganze  Höhe  des  Keilbeinkörpers,  und  hing  mit  der  Beinhaut  an  der  unteren,  dem 
Rachen  zugekehrten  Fläche  des  Keilbeinkörpers  zusammen.  lieber  die  Entstehung 
und  Bedeutung  dieses  Fortsatzes,  so  wie  über  seine  Beziehungen  zu  gewissen 
angeborenen  Himbrüchen  siehe  Th.  Lamert,  in  der  Petersburger  med.  Zeitschr. 
14.  Bd.  1868. 

B)  Der  Kückenmarkstheil  der  harten  Hirnhaut.  Dadurch 
alle  Löcher  der  Hirnschale  scheidenförmige  Fortsätze  der  harten 
Himhaut  austreten,  so  muss  durch  das  grösste  Schädelloch  (Foramen 
oedpäale  magnum)  die  ansehnlichste  Verlängerung  dieser  Himhaut 
in  den  Rückgratkanal  gelangen,  als  Hülle  für  das  Rückenmark. 
Indem  aber  der  Rückgratkanal  bereits  mit  einem  eigenen  Periost 
versehen  ist,  so  verliert  der  Rückenmarkstheil  der  harten  Hirnhaut 
seine  Verwendung  als  Beinhaut,  welche  er  in  der  Schädelhöhle  hatte. 
Er  erstreckt  sich  in  Form  eines  langgestreckten  Sackes,  durch  den 
ganzen  Rückgratkanal,  füllt  ihn  aber  nicht  so  genau  aus,  wie  dieses 
in  der  Schädelhöhle  geschah,  indem  zwischen  ihm  und  der  Wand 
des  Wirbelkanals  ein,  durch  starke  Venengeflechte  (Plexus  venosi 
spiiudes)  eingenommener  Raum  übrig  bleibt.  Er  endigt  als  Blindsack 
am  Hiatus  sdcro-coccygeus.  An  jenen  Stellen,  wo  die  Beweglichkeit 
der  Wirbelsäule  gross  ist,  ist  auch  der  Sack  der  Dura  mater  spinalis 
weit,  wie  am  Halse  und  an  der  Inende;  im  Bruststück  der  Columna 
vertebralis  dagegen  liegt  er  knapper  an  die  Medtdla  spinalis  an. 
Seine  innere  Oberfläche  ist  mit  einem  einfachen  Pflasterepithelium 
überzogen,  welches  sich  von  der  Arachnoidea  auf  sie  fortsetzt.  Von 
dieser  inneren  Fläche  gehen  zwanzig  bis  dreiundzwanzig  paarige, 
zackenähnliche  Fortsätze  nach  innen  zur  Seitenfläche  der  Medtdla 
spinalis.  Diese  Zacken  sind  sämmtlich  dreieckig,  mit  Ausnahme  der 
untersten,  fadenförmigen.  Sie  kehren  ihre  Spitze  nach  aussen,  und 
ihre  mit  der  Pia  mater  des  Rückenmarks  verschmolzene  Basis  nach 
innen.  Sie  sind  als  eben  so  viele  Befestigungs-  oder  Suspensions- 
mittel des  Rückenmarks  zu  nehmen,  und  bilden,  als  Qanzes  be- 
trachtet, das  gezahnte  Band,  Ligamentum  denticuiatum,  des  Rücken- 
marks. —  Jeder  Rückenmarksnerv  erhält  von  der  Dura  mater 
spinalis  eine  Scheide,  welche  ihn  durch  das  entsprechende  Foram,en 
intervertebrale  geleitet,  und  im  weiteren  Verlaufe  zu  dessen  Neuri- 
lemma  wird. 


§.  S4S.  Arachnoidea.  843 

Die  drei  Aeste  des  Nervus  trigetninus,  und  der  Vagus,  versorgen  die  harte 
Hirnhaut  mit  animalen  Neryen£Mem.  Auch  vom  Sympathicus  erh&lt  sie  Zweige, 
worüber  Luschka  (die  Nerven  des  menschlichen  Wirbelkanals,  Ttlbingen,  1850, 
und  desselben:  Nerven  der  harten  Hirnhaut,  Tübingen,  18&0),  und  Büdinger 
(über  die  Verbreitung  des  Sjmpathicus,  München,  1868)  ausführlich  handeln. 

Verknöcherungen  kommen  an  der  harten  Hirnhaut,  besonders  in  der  Nähe 
der  Sichel,  oder  auf  dieser,  nicht  selten  vor.  Sie  gehören  eigentlich  der  inneren 
Oberfläche  der  harten  Hirnhaut  an,  und  hängen  mit  ihr  nur  lose  zusammen.  Vor 
dem  dreissigsten  Lebensjahre  treten  sie  nicht  auf.  Ihre  Grösse  variirt  von  dem 
Umfange  einer  Linse,  bis  zu  jenem  eines  Kreuzers,  und  darüber.  In  ihrer  Mitte 
sind  sie  am  dicksten,  und  schärfen  sich  gegen  den  Rand  zu.  Sie  besitzen  wahre 
Knochentextur. 


§.  342.  Araclmoidea. 

Die  Spinnw ebenhaut ^  Arachnoidea  s.  Mentnx  serosa  {oLpT/;iTiy 
Spinne)^  wurde  seit  Bichat  allgemein  als  ein  seröser  Doppelsack 
aufgefasst,  dessen  äusserer  Ballen  fest  mit  der  inneren  Oberfläche 
der  Dura  mater,  dessen  innerer  mit  der  äusseren  Oberfläche  des 
Gehirns  und  Rückenmarks  lose  zusammenhängen  soll.  Man  unter- 
schied deshalb  eine  Arachnoidea  meningea,  und  eine  Arachnoidea 
cerebrospinalis.  Der  Zusammenhang  beider  sollte  dadurch  zu  Stande 
kommen,  dass  jeder  vom  Gehirn  und  Rückenmark  abgehende  Nerv, 
eine  Scheide  vom  inneren  Ballen  erhält,  welche,  bevor  der  Nerv 
durch  die  harte  Hirnhaut  austritt,  in  den  äusseren  Ballen  übergeht. 
Kölliker  hat  jedoch  gezeigt,  dass  die  Arachnoidea  nur  aus  einem 
einfachen  Ballen  —  der  Arachnoidea  cerebrospinalis  der  Autoren  — 
besteht,  und  dass  die  angenommene  Arachnoidea  meningea  weiter 
nichts,  als  das  Pflasterepithel  der  harten  Hirnhaut  ist.  Die  Arach- 
noidea schlägt  sich  also  nicht  auf  die  innere  Fläche  der  harten 
Hirnhaut  um.  Es  lässt  sich  auch  durch  das  Scalpell  nachweisen, 
dass  jene  scheidenartigen  Fortsätze  derselben,  welche  die  Gehirn^ 
nerven  intra  cranium  begleiten,  an  den  betreffenden  Austrittslöchern 
dieser  Nerven  blind  endigen.  —  An  der  Oberfläche  des  Gehirns 
sinkt  die  Arachnoidea  nicht  in  die  Vertiefungen  zwischen  den  Hirn- 
windungen ein,  sondern  geht  brückenförmig  über  sie  weg.  Ebenso 
setzt  sie  über  die  Einschnitte  und  Spalten  an  der  Gehirnbasis 
hinüber,  deckt  als  gerade  gespanntes  Fell  die  zwischen  der  Varols- 
brücke  und  der  Sehnervendurchkreuzung  befindlichen,  vom  Circulus 
Wülisii  umschlossenen  Gebilde  der  Gehirnbasis,  und  überbrückt 
somit  gewisse  Räume,  welche  man  als  Cavum  subarachnoideale  zu- 
sammenfasst.  Diese  Räume  werden  durch  Bindegewebsbündel  in 
verschiedener  Richtung  durchsetzt,  und  enthalten  eine  veränderliche 
Menge  Serum  (Idquo}'  eerebro-ipinaUBj.  —  Mit  der  Auskleidung  der 


844  S*  34S«  Arachnoidea. 

Gehirnkammern    hat    die   Arachnoidea    keinen    nachweisbaren    Zu- 
sammenhang. 

Die  äussere  Oberfläche  der  Arachnoidea  ist,  so  wie  die  ihr  zugekehrte 
innere  Fläche  der  Dura  maUr,  mit  seröser  Feuchtigkeit  bethant.  Krankhafte  Ver- 
mehrung dieser  Serosität  bedingt  den  Hydrocephahu  menhu/eiis  s.  exlernus,  zum 
Unterschiede  des  Hydrocephcdiis  venlricHlorum  a.  internus. 

Durch  das  grosse  Hinterhauptloch  heraustretend ,  wird  die 
Arachnoidea  cerebralts  zur  Arachnoidea  spinalü.  Diese  umschliesst 
das  Rückenmark  lange  nicht  so  knapp  wie  das  Gehirn,  sondern  als 
verhältnissmässig  weite  Umhüllung.  Da  sie  weder  an  die  Dura  noch 
Pia  mater  sich  anschliesst,  sondern  frei  zwischen  ihnen  sich  ein- 
schiebt^ muss  sie  auch  zwei  freie  Flächen  haben,  von  welchen  aber 
nur  die  äussere  Pflasterepithel  führt.  Sie  erzeugt  für  jeden  Rücken- 
marksnerv eine  anfangs  weite,  dann  sich  verschmächtigende,  und 
im  betreffenden  Foramen  intervertebrale ,  als  Blindsack  endigende 
Scheide.  —  Rückenmark  und  Rückenmarks-Nervenwurzeln  werden 
von  dem  serösen  Inhalt  der  Arachnoidea  spinalis  (Liquor  cerebro- 
spinalis) umspült^  —  eine  Einrichtung,  welche  zunächst  den  Vortheil 
bringt,  dass  Stösse  und  Erschütterungen  des  Rückgrats,  sich  durch 
Vertheilung  auf  eine  so  ansehnliche  Flüssigkeitsschichte,  bedeutend 
abschwächen  müssen,  bevor  sie  auf  das  Rückenmark  übertragen 
werden.  —  Von  der  Medianlinie  der  hinteren  Rückenmarksfläche 
(Sulcus  longitudinaiis  posterior)  geht  ein  Septum  zur  inneren  Ober- 
fläche des  Arachnoidealsackes,  welches  in  der  Halsgegend  undurch- 
bohrt,  weiter  unten  durchbrochen,  ja  selbst  auf  eine  Succession 
breiter  Fäden  reducirt  gesehen  wird.  —  Der  Arachnoidealsack  des 
Rückenmarks  ist  an  seiner  Abgangsstelle  von  der  Arachnoidea  cerebri 
am  weitesten. 

Wenn  man  an  einer  frischen  Leiche  den  hinteren  Hogen  des  Atlas  aus- 
bricht, und  die  Dura  mater  durch  einen  Kreuzschnitt  ai)altet,  sieht  man  die 
Arachnoidea,  als  ein  dünnes  flottirendes  Iläutchen,  von  der  Sohädelhöhle  in  die 
Rückgratshöhle  übergehen.  Wurde  auch  die  Ilinterhauptschuppe  ausgesägt,  so 
lässt  sich  dieses  Häutchen,  nach  aufwärts  bis  auf  die  liemisphären  des  kleinen 
Gehirns  verfolgen.  Unter  diesem  Blatte  der  Arachnoidea  befindet  «ich  das  grösste 
Catum  »uharachiwideale.  —  Die  Subarachnuidealräume  des  Gehirns  und  Rücken- 
marks verkehren  durch  das  grosse  llinterhauptloch  mit  einander,  und  der  in  ihnen 
angesammelte  Lu^iior  cerehro-npinalift,  kann  zwischen  beiden  Organen  zu-  und  ab- 
strömen. Wird  nämlicli  der  Hlutgehalt  des  Gehirns  vermehrt,  wie  es  bei  jeder 
Ausatlimung  geschieht,  und  das  Gehirnvolumen  dadurch  vergrössert,  so  muss  der 
Liquor  rerehro-spinalia  aus  der  Schätlelhöhle  in  die  Rückgratiihöhle  ablaufen. 
Letztere  ist  ganz  geeignet,  ein  plun  dieses  Liquors  aufzunehmen,  da  sie  nicht  wie 
die  Schädelhöhle  aus  starren,  durcliaus  knJW^hernen  Wänden  besteht,  sondern  in 
den  Interstitien  je  zweier  Wirbelbogen  durch  elastische,  nachgiebige  Membranen 
abgeschlossen  wird.  Nimmt  der  Blutgehalt,  und  somit  das  Volumen  des  Gehirns 
während  der  Inspiration  wieder  ab,  so  geht  der  Lu/uor  reref/ro-ftphuUis  wieder  in 
die  Schädelhöhle  zurOck,  von  welcher  er  so  zn  sagen  zurückgesaugt  wird.    Diese 


§.  848.  Pia  nater.  845 

Stetig  wechselnde  Ebbe  und  Fluth  der  serösen  Flüssigkeit  in  den  Subarachnoideal- 
rftumen,  lässt  sich  durch  ein  in  die  Schädeldecke  eines  lebenden  Thieres  ein- 
geschraubtes, mit  Wasser  gefülltes,  graduirtes  Glasrohr,  zur  Anschauung  bringen, 
wenn  es  überhaupt  nothwendig  erscheinen  sollte,  an  und  ftir  sich  klare  Thatsachen 
durch  grausame  Experimente  zu  erhUrten.  Das  Heben  und  Sinken  der  Stirn- 
fontanelle an  Kindsköpfen  liefert  den  besten  und  harmlosesten  Beweis  für  die 
Bewegung  des  Gehirns  und  des  Liquor  cerebro-spincdia. 

Zu  beiden  Seiten  der  grossen  Sichel,  seltener  an  der  Basis  des  Gehirns, 
linden  sich  auf  der  Arachnoidea  cerehralis  die  sogenannten  Otandidae  Pacchioni 
CA.  Pacchioni,  diss.  phys.  anat.  de  dura  meninge.  Romae,  1721).  Sie  zeigen  sich 
als  weissliche  oder  gelbgraue,  rundliche  oder  plattgedrückte,  einzeln  stehende  oder 
zu  Gruppen  aggregirte  Granulationen,  welche  auf  einer  milcliig  getrübten  Stelle 
der  Arachnoidea  aufsitzen.  Ihre  Entwicklung  kann  unter  Umständen  so  zunehmen, 
dass  sie  die  harte  Hirnhaut  durchbohren,  und  an  der  inneren  Fläche  der  Schädel- 
knochen entsprechende  Vertiefimgen  erzeugen.  Aus  diesem  Grunde  hat  man  sie 
lange  Zeit  als  der  harten  Hirnhaut  angehörige  Gebilde  betrachtet.  Bei  Menschen, 
welche  an  habituellem  Kopfschmerz  leiden,  und  bei  Säufern,  welche  am  Delirium 
tremens  zu  Grunde  gingen,  werden  sie  besonders  gross  gefunden.  Bei  Kindern 
habe  ich  sie  nie  angetroffen.  Die  mikroskopische  Untersuchung  schliesst  sie  aus 
der  Klasse  der  Drüsen  aus,  und  reiht  sie  unter  die  organisirten  Producte  krank- 
hafter Ausschwitzungen.  —  Luschka  erklärt  die  Pacchioni'schen  Drüsen, 
ihres  Vorkommens  an  bestimmten  Orten,  und  ihres  mit  der  Arachnoidea  überein- 
stimmenden Baues  wegen,  für  normale  Gebilde,  welche  er  mit  den  zottenartigen 
Verlängerungen  anderer  serösen  Häute  auf  dieselbe  Stufe  stellt  (MüUer's  Archiv. 
1852).  Ich  stimme  dieser  Ansicht  nicht  bei,  da  das  öfters  vorkommende  Hinein- 
wuchem  der  PacchionTschen  Granulationen  in  die  Sinus  durae  maJtris,  dem 
Verhalten  eines  normalen  Gebildes  widerspricht. 

Bochdalek  hat  zahlreiche  Nervenfasern  beschrieben,  welche  von  der 
Wurzel  des  dritten,  fünften,  sechsten,  neunten  und  eilften  Hirnnervenpaares,  und 
vom  Oliven-  und  Pyramidenstrang  des  verlängerten  Markes  zur  Arachnoidea 
treten.  (Prager  Vierteljahrsschrift.  1849.  2.  Bd.)  Ebenso  Luschka,  weicherauch 
Theilungen  der  Primitivfaseru  beobachtete.  Kölliker  erklärt  dagegen  diese 
Funde  von  Nervenfasern  sämmtlich  für  Bindegewebe. 

Neue  Aufschlüsse  über  das  Verhalten  der  Arachnoidea  zu  den  Himven- 
trikeln,  g^ben  Key  und  Relzius,  im  Nordisk  medicinskt  arkiv.  VI.  Auszug  im  ana- 
tomischen Jahresbericht.  3.  Bd.  pag.  197. 


§.  343.  JFVa  mater. 

Die  weiche  Hirnhaut,  Pia  mater  s.  Meninx  vascidosa,  um- 
hüllt genau  die  Oberfläche  des  Gehirns  und  Rückenmarks,  accommo- 
dirt  sich  allen  Unebenheiten  derselben,  und  schiebt  sich  mit  zahl- 
reichen Faltungen  in  alle  Furchen  der  Gehirnrinde  ein.  Sie  ist  eine 
dünne  Bindcgewebsmembran,  und  überreich  an  Blutgefässen,  welche 
sie  theils  aus  dem  Gehirn  empfängt  (Venen),  theils  in  dasselbe 
entsendet  (Arterien).  Dieser  GefUssverbindungen  wegen,  hängt  sie 
innig  mit  der  Oberfläche  des  Gehirns  zusammen,  und  lässt  sich  nur 
mit  Gewalt,  durch  welche  alle  GeffLssverbindungen  abgerissen  werden 
müssen,  in  grösseren  Partien  abziehen.    Am  Rückenmark  adhli" 


846  §.  MS.  Pia  mattr. 

öie  noch  viel  fester,  ist  bedeutend  ärmer  an  Grefassen,  und  uni- 
schnüii;  es  so  knapp,  dass  das  Mark  an  seiner  Querschnittfläche 
nicht  plan  ansteht,  sondern  sich  convex  hervordrängt.  Zu  beiden 
Seiten  des  Rückenmarks  hängt  sie  mit  den  Basen  der  dreieckigen 
Zacken  des  Ligamentum  denüculatum  zusammen.  —  Vom  unteren 
Ende  des  Rückenmarks  an,  welches  in  gleicher  Höhe  mit  dem 
ersten  oder  zweiten  Inenden wirbel  liegt,  setzt  sich  die  Pia  mater 
als  sogenannter  £nd faden,  FUum  terminale,  bis  zum  unteren  Ende 
des  im  Kreuzbeinkanal  befindlichen  Blindsackes  der  Dura  mater 
foii;.  Das  Füum  terminale  enthält  Blutgefässe  und  das  letzte  Paar 
der  Rtickenmarksnei'ven  (Nervi  coccygei).  Hall  er  hatte  somit  seine 
Benennung  dieses  Fadens,  als  Nervus  impar,  nicht  so  unpassend 
gewählt.  Der  Ccntralkanal  des  Rückenmarks  setzt  sich  in  das 
Füum  terminale  fort.  Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  das  Filum 
tei'minale,  eine  Arachnoidealscheide  besitzt. 

Die  Pia  mater  gelangt  durch  den  Querschlitz  des  grossen  Ge- 
hirns in  die  mittlere  Gehirnkammer,  und  bildet  daselbst  die  Tela 
choroidea  supeiior,  von  welcher  seitliche  Verlängerungen,  als  Plexus 
choraidei  laterales^  in  die  seitlichen  Gehirnkammern  abgehen.  Ebenso 
schiebt  sie  sich  zwischen  dem  Unterwurm  und  dem  verlängerten 
Mark  als  Tela  choroidea  inferior  ein,  und  erzeugt  dadurch  die  hin- 
tere, blos  häutige  Wand  der  vierten  Gehirnkammer.  Der  sonstige 
Ueberzug  der  Wände  der  Gehirnkammern  (Ependi/ma,  besser  En- 
dymn),  ist  aber  kein  Erzeugniss  der  Pia  mater,  sondern  nur  eine 
einfache  I^age  von  P]pithelialzellen,  welche  an  gewissen  Bezirken 
der  Wände  flimmern.  Einige  sprechen  noch  von  einem  feinsten 
structurlosen  Häutchen,  unter  dem  Epithel. 

Luschka  läsdt  das  Vorkommen  von  Flimmerepiihel  in  den  Uimhöhleii 
nur  für  Embryonen  und  für  die  ersten  Lebensjahre  des  Kindes  gelten.  Ger  lach 
hat  jedoch  nachgewiesen,  dass  wenigstens  im  Aqu<ieduclu9  St/lvii,  das  flimmernde 
Epithel  perennirt  (Mikroskopische  Studien,  Erlangen,  1858,  pag.  27).  Er  beschrieb 
auch  fadenförmige  Fortsätze  der  einzelnen  Flimmerzellen,  welche  in  die  Wand 
des  Aquaediidtut  S^loü  eindringen,  und  mit  den  diese  Wand  zunächst  bildenden 
Zellen  der  grauen  Substanz  eine  Verbindung  eingehen  sollen.  —  Purkinje  hat 
organische,  Bochdalek  animale  Nervenfasern  in  der  Pia  nuUer  beschrieben. 

In  einigen  Gehirnen  enthalten  die  Adergeflechte  (besonders  die  seitlichen) 
kleine  kaum  durch  das  Gesicht,  aber  besser  durch  das  Gefühl  wie  Sandkörner 
zu  imterscheidende ,  krystallinisehe ,  ninde  oder  höckerige  Concremente  von 
phosphorsaurem  und  kohlensaurem  Kalk,  welche  mit  dem  später  zu  ervir'ähnenden 
Himsand  an  der  Zirbeldrüse,  denselben  Ilrspning  und  gleiche  Beschaffenheit  haben. 

Zorn  Verständniss  der  sonderbaren  Benennungen,  welche  die  drei  Hirn- 
häute führen,  diene  folgende  geschichtliche  Bemerkung.  Das  Wort  [XT^vi^i,  welches 
überhaupt  Haut  bedeutet,  wurde  zuerst  von  Aristoteles  auf  die  Gehirnhäute 
angewendet,  welchen  es  auch  ausschliesslich  verblieb.  Galen,  welcher  nur  die 
harte  und  die  weiche  Hirnhaut  kannte,  nannte  entere  oxXrjpov  xa\  3:a)^6tav,  d.  i., 
arÜaiin  et  crattam,  letstere  Xenr^v,  d.  i.  tenuetn,  Galen^s  griechische  Schriften 
worden  meni   dorch  jüdische  Aente   in    das  Syrisch- Aramäische  übersetzt,    nnd 


S.  344.  Einthtilmng  des  Oehiras.  847 

später  aus  dieser  Sprache  in*s  Arabische.  Nur  Honain  Ben  Isaak  über- 
setzte im  neunten  Jahrhundert  den  griechischen  Text  des  Galen,  unmittelbar 
in*s  Arabische.  Durch  beide  Uebersetzungen  wurde,  nach  dem  Geiste  dieser 
Sprachen,  der  griechische  Urtext  nicht  wenig  entstellt.  Die  Mönche  Unteritaliens, 
welche  die  Heilkunde  betrieben,  und  während  der  Occupation  Sidliens  durch  die 
Sarazenen,  so  wie  durch  den  Besuch  der  von  den  ersten  Chalifen  gegründeten 
gelehrten  und  medicinischen  Schulen  su  Bagdad  und  Bassora,  mit  dem  Arabischen 
▼ertraut  wurden,  übersetzten  den  arabischen  Galen  in*8  Lateinische  (im  eilften 
Jahrhundert).  Dieses  Latein  war  aber  ein  wahrhaft  fürcliterliches,  und  ist  noch 
jetzt  als  MOnchslatein  verschrieen,  obwohl  dasselbe  bis  zu  Anfang  des  sechzehnten 
Jahrhunderts  die  Sprache  der  medicinischen  Gelehrten  nnd  Professoren  war, 
welche  im  Mittelalter  zumeist  dem  geistlichen  Stande  angehörten,  wie  denn  auch 
die  ältesten  Universitäten  geistliclie  Institute  waren,  und  deshalb  selbst  die 
Disputationen  und  Promotionen  der  Doctoren  nur  in  den  Kirchen  vorgenommen 
wurden.  Kein  Wunder  also,  dass  jene  Mönche  das  arabische  Wort,  welches 
Umschliessendes,  Umhüllendes,  und  Erzeugendes  bedeutet,  durcli  mater  aus- 
drückten. Wenn  nun  auch  eine  dttra  nuUer  hingehen  mag,  so  kann  die  Ver- 
anlassung, zart  und  weich  durch  pitu  auszudrücken,  nur  im  Gehirne  der 
frommen  Mönche  gesucht  werden,  welche  in  ihrem  religiösen  Eifer  sich  auch 
mehrerer  anderen  Wortentstellungen  schuldig  machten,  z.  B.  die  Arteriae  apo- 
plecÜcae  (Carotiden)  in  Arieriae  apostolicae  umwandelten.  —  Die  Arachwidea 
cerebri  kannten  die  Griechen  und  Römer  gar  nicht.  Sie  wurde  erst  von  Con- 
stantius  Varolius  in  Bologna,  1573,  entdeckt.  Dagegen  nannten  sie  die  Netz- 
haut des  Auges  Arachnoidea,  weil  das  strahlige  Ansehen  der  Zonttla  Zinmi 
welche  sie  für  einen  Theil  der  Netzhaut  hielten,  an  die  Radiärfaden  des  Netzes 
einer  Kreuzspinne  (oLpiyyr^)  erinnert. 


§.  344.  Eintheilung  des  (xeMms. 

Das  Centraiorgan  des  animalen  Nervensystems  besteht  aus 
dem  Gehirn,  Encephalon  (von  ev-xs^aXT^,  was  im  Kopfe  ist),  und 
dem  Rückenmark  (MeduUa  spinalis).  Das  Gehirn  ist  die  in  der 
Schädelhöhle  eingeschlossene  Hauptmasse  des  Nervensystems.  Das 
Rückenmark  dagegen  erscheint  als  strangförmige  Verlängerung  des 
Gehirns  in  den  Rückgratkanal  hinab.  Das  Geh  im  hat  einen  weit 
complicirteren  Bau  als  das  Rückenmark,  mit  welchem  es  gleich- 
zeitig entsteht,  und  deshalb  nicht  als  ein  Anwuchs,  oder,  wie  man 
zu  sagen  pflegte,  als  die  Blüthe  des  Rückenmarks  genommen  werden 
kann.  —  Der  Hauptsache  nach  ist  das  Gehirn  symmetrisch  gebaut, 
d.  h.  es  besteht  aus  paarigen  Hälften,  und  selbst  seine  unpaaren 
medianen  Organe,  sind  durch  einen  mittleren  Längenschnitt  in 
gleiche  Hälften'  zu  theilen.  Allein  die  Einzelnheiten  der  Seitenhälften 
sind  nicht  durchwegs  congi'uent,  sondern  variiren  mehr  weniger  in 
Grösse  und  Gestalt. 

Bie   wenigen    Worte,    welche   Fantoni    vor   hondertfliiifiB 
Jahren  über  das  Gehirn  gesprochen:    obicura   Uffctßnray  ßkmm 


848  §.  844.  Eintheilnnf  dM  QtYkimB, 

morbi,  fuiictiones  obscurismaae,  können  auch  heute  als  Einleitung  fUr 
jede  Anatomie^  Physiologie  und  Pathologie  des  Gehirns  dienen. 

Die  Anatomie  des  Gehirns  beschäftigt  sich  theils  mit  der 
Beschreibung  der  Form,  theils  mit  der  Erschliessung  des  inneren 
Baues.  Die  Anatomie  der  Form  darf  man  wohl  für  vollendet  an- 
nehmen, da  man  an  keinem  anderen  Organe  des  menschlichen 
Körpers  jedes,  auch  noch  so  unscheinbare  äussere  Merkmal,  mit 
solcher  redseligen  Umständlichkeit  beschrieb,  als  eben  am  Gehirn. 
Die  Anatomie  des  inneren  Baues  des  Gehirns  ist  dagegen,  und 
bleibt  wahrscheinlich  fiir  immerdar,  ein  mit  sieben  Siegeln  ver- 
schlossenes, und  überdies  noch  in  Hieroglyphen  geschriebenes  Buch. 
Und  was  die  Functionenlehre  des  Gehirns  anbelangt,  beugen  die 
arrogantesten  Physiologen  demüthig  ihr  Haupt,  und  bekennen,  dass 
sie  von  der  menschlichen  Seele  nicht  mehr  wissen,  als  dass  sie 
keine  Flügel  hat.  Keine  mechanische  oder  chemische  Ansicht  über 
die  Hirnthätigkeit  kann  und  wird  es  uns  erklären,  wie  und  wodurch 
den  Factoren  dieser  Thätigkeit  (Ganglienzellen  der  grauen  Sub- 
stanz) Bewusstsein  innewohnen  kann.  Da  aber  über  Dinge, 
welche  man  nicht  versteht,  von  jeher  die  Meinungskämpfe  am 
bittersten  waren,  erklärt  es  sich,  warum  der  Streit  über  die  mensch- 
liche Seele  einen  so  gehässigen  Charakter  angenommen  hat.  Der 
Materialismus  hat  sich  zwar  bemüht,  zu  beweisen,  dass  das  un- 
bekannte Seelenwesen  nur  die  Summe  der  materiellen  Vorgänge  im 
Gehimorganismus  sei.  Diese  materiellen  Vorgänge  aber  erfolgen 
in  allen  Organen  mit  unbezweifelbarer  Nothwendigkeit,  und  laufen 
in  einer  bestimmten  Reihe  ab,  an  welcher  die  Organe  selbst  nichts 
ändeiii  können.  Dasselbe  müsste  also  auch  im  Gehirn  der  Fall 
sein.  Ist  die  Seele  nur  eine  Erscheinungsform  des  materiellen 
Himlebens,  so  ist  sie  auch  in  dieselben  Fesseln  der  Nothwendigkeit 
gelegt,  wie  dieses.  Selbstbestimmung,  Spontaneität,  Freiheit,  und 
was  wir  sonst  noch  der  Seele  zuzumuthen  gewohnt  sind,  fällt  alles 
hinweg,  und  es  muss  mit  der  neuen  Lehre,  auch  eine  neue  Welt- 
ordnung geschaffen  werden,  welche  sicher  keine  moralische  sein 
wird.  Doch  damit  hat  es  noch  keine  Eile.  Denn  die  materiellen 
Vorgänge  im  Gehirn,  können  nur  als  Bewegung  aufgefasst  werden, 
als  Stoffwechsel,  Atomengruppirung ,  oder  Schwingung.  Nun  muss 
aber  auch  der  Materialismus  zugeben  dass  kein  Ding  aus  sich 
selbst  in  Bewegung  gerathen  kann.  Er  hat  also  noch  zu  suchen 
und  zu  finden,  von  wo  der  erste  Anstoss  zu  diesen  Bewegungen 
ausgeht,  und  wie  sofort  der  materielle  Vorgang,  in  das  geistige 
Wesen  der  Gedankenwelt  umgesetzt  wird.  Mit  der  Behauptung, 
dass  dieser  Umsatz  stattfindet,  wurde  er  nicht  zugleich  bewiesen 
und  verstanden,  und  das  erste  Glied  der  materialistischen  Qe- 
dankenkette,  ist  somit  die  bypothetiscbe  Annahme  ihrer  Richtigkeit. 


§.  Sit.  Eintheilung  de«  Gehirns.  ^49 

Die  Psychologie  aber  fiir  ein  Capitel  der  Hirnanatomie  zu  erklären, 
konnte  nur  ein  Franzose  wagen  (Broussais). 

Das  Gehirn  wird  in  das  grosse  und  kleine  (Cerebrum  et 
Cerebellum)  eingetheilt.  An  jedem  derselben  werden  zwei  paarige 
seitliche  Hälften,  als  Halbkugeln  oder  Hemisphären,  und 
ein  unpaares  Mittelgebiet  unterschieden.  —  Die  Fortsetzung 
des  Kückenmarks,  welche  durch  das  Foramen  occipüale  magnum  in 
die  Schädelhöhlc  aufsteigt,  und  sich  an  das  Gehirn  anschliesst, 
wird  als  verlängertes  Mark  (Medvlla  ohlongata)  noch  zum  Ge- 
hirne gerechnet.  —  Das  grosse  Gehirn  verhält  sich  zum  kleinen 
wie  8:1.  Das  Gewicht  beider  zusammen  beträgt  im  Mittel  drei 
Pfund.  Das  weibliche  ist  um  eine  bis  zwei  Unzen  leichter  (ahdt 
tnnidia  dicto). 

Die  Hemisphären  des  grossen  Gehirns  sind  bei  der  Ansicht 
von  oben  her,  ihrer  ganzen  Länge  nach,  durch  eine  tiefe,  mediane 
Spalte  getrennt,  in  welche  sich  der  grosse  Sichelfortsatz  der  harten 
Hirnhaut  hineinsenkt.  Vorn  und  hinten  dringt  diese  Spalte  von  der 
oberen  bis  zur  unteren  Fläche  des  Grosshirns  durch,  so  dass  die 
vorderen  und  hinteren  I^appen  beider  Halbkugeln  auch  bei  unterer 
Ansicht  von  einander  getrennt  erscheinen.  In  der  Mitte  dagegen 
erreicht  der  Spalt  nur  eine  gewisse  Tiefe,  indem  das  sogenannte 
Mittelgebiet  des  grossen  Gehirns  nicht  durchschnitten  wird.  Am 
kleinen  Gehirn  fehlt  dieser  Spalt,  und  wird  nur  durch  einen  Einbug 
seines  hinteren  Randes,  in  welchen  sich  der  kleine  Sichelfortsatz 
der  harten  Hirnhaut  einschiebt,  unvollkommen  repräsentirt.  Dagegen 
hat  die  untere  Fläche  des  kleinen  Gehirns  einen  longitudinalen  tiefen 
Eindruck  (Vcdlecula),  in  welchen  das  verlängerte  Mark  zu  liegen 
kommt.  Bei  oberer  Ansicht  werden  somit  die  Halbkugeln  des  kleinen 
Gehirns,  in  der  Mittellinie  ununterbrochen  in  einander  übergehen, 
und  das  verlängerte  Mark  bedecken. 

Man  unterscheidet  an  den  Hemisphären  des  grossen  Gehirns 
drei,  an  jenen  des  kleinen  Gehirns  nur  zwei  Flächen.  Für  die 
Halbkugeln  des  grossen  Gehirns  giebt  es  eine  untere,  äussere 
(obere),  und  innere  Fläche.  Die  untere  Fläche  wird  durch  eine, 
dem  schwertförmigen  Keilbeinflügel  entsprechende  tiefe  Furche 
(Fossa  Si/lvii)  in  einen  vorderen  kleinen,  und  hinteren  grösseren 
Lappen  geschnitten.  Der  vordere  prominente  Abschnitt  des  hinteren 
grösseren  Lappens,  welcher  in  der  mittleren  Schädelgrube  liegt, 
und  zunächst  an  die  Fossa  Sylvii  grenzt,  wird  auch  als  unterer 
Lappen  bezeichnet,  so  dass  also  jede  Hemisphäre,  bei  unterer  An- 
sicht drei  Lappen  gewahren  lässt,  von  welchen  der  vordere  und 
der  untere  auf  der  Schädelbasis,  der  hintere  aber  auf  dem  Zelte 
des  kleinen  Gehirns  lagert.  —  Die  äussere  convexe  Fläche  der 
Hemisphären,    liegt    an    der   Schädelwand    an.     Sie    geht,    in    der 

Hyrtl,  Lehrbach  der  Anatomie.  14.  Anfl.  54 


850 


Richtung  der  Pfeiiiiftht,  in  die  innere,  ebene  und  senkrechte 
Fläche  über,  welche  derselben  FlSche  der  anderen  Hemisphäre  zu- 
gekehrt ist,  und  sie  borühreu  würde,  wenn  der  grosse  Sichelfortsutz 
nicht  dAzwiBchen  träte.  Bei  Mangel  der  Sichel,  iu  Folge  angeborener 
[lemmungsbildung  des  Gehirns,  verschmelzen  auch  beide  Hemi- 
sphären zu  Einer  Sphäre. 

Für  die  Hemiaphären  des  kleinen  Gehirns  giebt  es  nur  eine 
obere  und  untere  Fläche,  welche  beide  convex  aind,  und  durch 
einen  abgerundeten  Rand  in  einander  übergehen.  Die  obere  Fläche 
berührt  das  Zelt,  die  untere  liegt  in  den  unteren  Gruben  des  Hinter- 
hHaptbeins. 

Alle  Flächen  der  Hemisphären  dea  grossen  und  kleinen  Ge- 
hirns, aind  mit  den  sogenannten  Windungen  (Gyri  a.  Anfrachu 
».  Intentinula  cerebii)  besetzt.  Die  Gehirnwindungen,  in  welchen 
Willisius  den  Sitz  des  Gedächtnisses  atatuirte,  präaentiren  sich 
uns  am  grosaen  Gehiru  als  darmähnlich  verschlungene,  am  kleinen 
Gehirn  als  mehr  parallel  und  einfach  bogeufiirmig  gekrümmte  graue 
Wülste.  Hie  bestehen  oberflächlich  aus  grauer  Rindensubstanz 
(Sitbstantüi  cinerea  s.  corttcalü),  im  Inneren  aus  weisser  Masse  (Sub- 
slantia  medvUaris).  Die  graue  Rindenaubstanz  der  Gyri  läast  zu- 
nächst an  der  Marksubstanz,  also  in  ihrer  tiefsten  Schichte,  eine 
eigenthümliche,  ia's  Rothbraune  spielende  Farbennuance  erkennen, 
wodurch  man  sich  berechtigt  hielt,  sie  als  Siihstantia  ferrugiitea  bo- 
aondcrs  zu  benennen,  —  Die  Gyri  werden  durch  mehr  weniger 
tief  penetrirende  Furchen  fSida)  von  einander  getrennt,  in  welche 
Falten  der  weichen  Hirnhaut  eindringen.  Die  Gyri  und  Sulci 
aind,  wenigstens  am  grossen  Gehiru,  nicht  symmetrisch  in  beiden 
Halbkugeln.  Dass  Unsymmetrie  und  Vermehrung  der  Gyri,  so  wie 
bedeutendere  Tiefe  der  Zwischenfurchen,  bei  geistvollen  Menschen 
vorkommen,  mag  seine  Richtigkeit  haben,  wurde  jedoch  von  mir 
und  Anderen  auch  im  höchsten  Grade  des  Blödsinns  (CretüÖBmut) 
gefunden. 

Wenn  man  sich  vorutcllt,  dMs  die  embryonischen  Goliimblasen  rftseher  »o- 
wacIiBen,  ala  die  aie  iimscIilicasendoD  Hülkn,  »o  mtlssen  Faltnngen  der  Blsien 
eotatehen,  luid  dieie  eind  das  Bedingcniie  der  Gehirn vrin düngen.  Anfangs  treten 
nnr  wenige  solcher  Faltnageo  aln  Furchen  auf.  Sie  heiasen  die  primAren,  und 
unterscheiden  sich  von  den  später  entelchonden  seciindHrcn  Furchen,  durch 
ibrp  Tiefe,  welche  sie  durch  du  ganEe  Lehen  liindurch  beiliehalten.  üo  lisst 
sich  X.  B.  eine  besonders  tiefe,  die  Mitlo  der  Hemisphären  whief  nach  auBien 
nnd  anlen  schneidende  Furche,  «Is  Centralfnrche  durch  alle  Altorsperioden 
hindurch  erkennen.  Zwischen  dan  Fnrchen  liegen  Ak  Geh  im  Windungen  (Oyri). 
li&II  hat  die  Gehirnwindungen  als  Gchirnurgane  aufgefaHst  Abgeeeheu  dsTon, 
dass  es  ganx  unstatthaft  ist,  ein  umsch riebe nes,  mehr  oder  minder  schürferei  Her- 
vilrtreli-n  der  OherflHche  eines  Organs,  selbst  nieder  ein  Organ  üu  nennen,  indem 
dann,  um  ein  Heispiel  7,n  geben,  die  Lappen  der  Leber,  und  die  fTGcker  der* 
•elben,  wieder  »U  besondere  Leberoqc&ne  betrachtet  werden  mUsiten,  werden  <&e 


§.  345.  GiosBeü  Gehirn.  8öl 

Gal rächen  Organe  des  Gehirns  schon  dadurch  eine  Chimäre,  dass  sie  von  ihrem 
Entdecker  nur  an  die  obere  Fläche  der  Hemisphären  gewiesen  wurden,  während 
doch  an  der  inneren  und  unteren  Fläche  derselben,  gleichfalls  Gehirnwindungen, 
und  zwar  in  gleichem  Entwicklungsgrade,  vorkommen,  welche  jedoch  von  Gall 
gänzlich  ausser  Acht  gelassen  wurden,  da  sie  sich  nicht  abgreifen  lassen. 

Einzelne  Windungen,  und  Gruppen  von  Windungen,  mit  besonderen  Namen 
zu  unterscheiden,  mag  für  die  Zukunft  der  Gehirnanatomie  von  Nutzen  sein.  Weit- 
läufig hierüber  liess  sich  Valentin  aus  f Si'mwierrin^'' 8 'S ervenlehrej  pag.  170,  seqq.). 
lieber  die  Hirnwindungen  des  Menschen  handeln  Th.  Bisch  off  und  A.  Ecker 
in  besonderen  Schriften. 

Die  Eintheilung  des  Gehirns  in  das  grosse  und  kleine,  fusst  auf  dem 
äusseren  Habitus  des  Gehirns.  Die  auf  die  Entwicklung  des  Gehirns  basirte 
Eintheilung  in  Vorder-,  Mittel-  und  Hinter h im,  klingt  allerdings  wissen- 
schaftlicher, ist  aber  minder  praktisch.  Streng  genommen  kann  man  unter  Mittel- 
gehim  (MesencephcUon)  nur  das  Corpus  quadrigeminum,  welches  sich  aus  der 
mittleren  embryonalen  Himblase  entwickelt,  verstehen,  und  würde  dadurch  einem, 
der  Grösse  nach  sehr  untergeordneten  Gebilde,  die  Bedeutung  einer  Haupt- 
abtheilung anweisen. 

Es  soll  in  den  folgenden  Paragraphen  die  Anatomie  des  Gehirns  auf  jene 
Weise  geschildert  werden,  wie  sie  sich  bei  der  Zergliederung  von  oben  und  von 
unten  her  erg^ebt,  ohne  Rücksicht  auf  den  inneren  Zusammenhang  der  einzelnen 
Gehimorgane,  welcher  uns  ohnedem  nur  wenig  bekannt  ist.  Ein  kurzer  Ueber- 
blick  der  Verbindung  der  Einzelheiten  zum  Ganzen,  bildet  den  Inhalt  des  §.  351. 


§.  345.  Grosses  &eliirii. 

Um  die  Auffindung  der  hier  zu  erwähnenden  Gebilde  zu  er- 
leichtern, wii'd  die  Beschreibung  derselben  mit  der  Zergliederungs- 
raethode  verbunden. 

Wurde  die  Schädelhöhle  durch  einen  Kreisschnitt  geöffnet, 
welcher  zwischen  den  Arcus  superciliares  und  Titiera  froiitalia  be- 
ginnt, und  dicht  über  der  Pivtuberanüa  occipitalis  externa  endet,  und 
das  Schädeldach  abgetragen,  was  zuweilen  bei  festeren  Adhäsionen 
der  harten  Hirnhaut  an  die  Schädelknochen  einige  Gewalt  erfordert, 
so  untersucht  man  vorerst  die  häutigen  Hüllen  des  Gehirns,  so 
weit  dieses  von  oben  her  möglich  ist.  Die  harte  Hirnhaut  wird 
durch  zwei  zu  beiden  Seiten  des  grossen  Sichelfortsatzes  laufende 
Schnitte  gespalten.  Von  der  Mitte  dieser  Schnitte  wird  beiderseits 
einer  gegen  die  Schläfe  herab  geführt,  wodurch  vier  Lappen  der 
harten  Hirnhaut  gebildet  werden,  welche  man  herabschlägt.  Die 
Anheftung  des  grossen  Sichelfortsatzes  vom  an  der  Crista  galli 
wird  durchschnitten,  und  der  ganze  Fortsatz  nach  hinten  zurück- 
geschlagen. Die  von  der  Oberfläche  des  Gehirns  in  den  oberen 
Sichelblutleiter  eindringenden  Venen  müssen  mit  der  Scheere  ge- 
trennt werden,  um  dieses  Zurückschlagen  vornehmen  zu  können. 
Man  überblickt  nun  die  äussere  Oberfläche  beider  Hemisphären, 
und    legt   durch   vorsichtiges    Abziehen   der   Arachnoidea   und    Pia 

64* 


ftfi2 


nut(er  dir  Wiudniigeii  blosB.  Man  «i^lit  beide  Hemisphären  etwa» 
von  einander  ab,  um  die  Tiefe  des  longitudiualen  Zwisclieitflpaltes 
zu  prüfen,  und  dadurch  zu  erfahren,  wie  weit  man  die  Ilemiaphäi-en 
dureh  HorizontalBchnittc  mit  einem  breiten  und  liitigen  Meseer  ab- 
tragen darf,  ura  die  Seiten  kam  raern  nicht  zu  eröffnen.  Ist  man  durt'h 
diese  Selinitte  bia  zur  oberen  Fläche  des  Balkens  eingedrungen,  so 
bemerkt  man,  dass  der  Balken  (Corpus  calloaum  s.  Commüsara 
maxima  s.  Trabs  cerehri)  ein  Bindungsmittel  zwischen  der  rechten 
und  linken  Homisphäre  abgiebt.  Die  beiden  Seitenränder  desselben 
strahlen  nämlich  in  die  Markmasue  der  beiden  Hemisphären  aus, 
welche,  in  gleieher  Höhe  mit  dem  Balken,  die  grüsato  Aiisdehnimg 
erreicht,  und  die  Decke  der  Seitenkammern,  als  Tegmentum  venlri- 
ctdonem  s.  Centrum  semiovah  Vieussenü,  darstellt.  Raymond  Vieas- 
sens,  Professor  lu  Montpellier,  nahm  in  diesem  seinen  Gehirn- 
centrum,  den  Sitz  des  Denkvermögens  an  (Nmirogn^liia  um'veraalis. 
Lyim,  1685). 

An  der  oberen  Flüche  des  Balkens  zeigt  sieh  eine,  zwischen 
8wci  Längenerhabenheiten  (Striae  longibidinale»  Lnncmi)  von  vorn 
nach  rückwärts  verlaufende  Furche  (Raphe  mpenor  corporia  callosi), 
welclie  durch  ein  System  querer  Streifen  (Striae,  unrichtig  Chordae 
transversales  Wülim),  rechtwinkelig  gekreuzt  wird.  Ich  finde  mich 
veranlasst,  hier  die  historische  Berichtigung  einzureihen,  dass 
Willis  nicht  die  erwähnten  queren  Streifen  des  Balkens,  sondern 
die  in  der  Höhle  des  Sitau  falciformts  major  vorkommenden  Ver- 
bin du  ngsbälkchen  seiner  rechten  und  linken  Wand,  Ckordae  fraru- 
VBJ-sales  nannte.  —  An  der  unteren,  bei  dieser  Behandlung  nicht 
sichtbaren  Balkenfläche,  verläuft  die  Raphe  inferior.  Die  Striae  tratu- 
vm'sales  Willisii  sind  hier  viel  schärfer  markirt,  als  an  der  oberen 
Fläche  des  Balkens.  Der  vordere  Rand  des  Balkens  biegt  sich 
nach  ab-  und  rückwärts  bis  zur  Basis  dos  (iehirns  herab ,  wo  er 
den  grauen  Hügel,  Diher  cinereum,  erreicht.  Der  durch  den 
Umbug  des  vorderen  Balkenrandes  gebildete  Winkel,  heiset  das 
Balkeuknie,  Genu  corporis  callosi.  Der  hintere,  verdickte  Rand 
des  Balkens  ist  die  Balkeuwulst,  Splenium  corporis  calloai. 

Bnllconknio  und  BalkpinrnlBt  worden  am  bi>Bten  geai-hen,  wenn  man  den 
Balken  vertical  dnrch  die  Baplie  ditrchsrh neidet,  vtm  an  dem  Gehirne,  welchei  inr 
llnlermiuhung  vorliegt,  und  an  tvelcLem  mligtiuhet  viele  Or^ne  gsna  erhalten 
werden  sollen,  nicht  gemacht  werden  kann.  Man  riehl  an  dienern  Durohschnitto 
ungleich,  duaa  d^r  Balken  kein  planes,  sondern  ein  mit  oberer  convexer  FUcfae 
von  vom  nach  hinten  g^ekriimmtea  Gebilde  int. 

Corpii*  callofuvi  ut  die  wnrtliche  UeboraetKung  den  Oalen'achen  nloEiS^t 
iTiüiia,  »chwielenar liger  K'lrper,  von  rWoi,  Wulst  Der  Ausdruck  Com- 
mittura  mojhaa,  »lammt  von  eommiUo,  zuBammenCügen,  weil  der  Balken  beide 
HemiaphSren  de>  grouen  Gehirn«  verbindet.     Trab»  ist  das  denlMbe  Balken. 


§.  S45.  OroBSM  Gebiru.  853 

Wo  die  Seitenränder  des  Balkens  in  die  Hemisphären  über- 
gehen, wird  durch  einen  verticalen  Schnitt  die  Seitenkamraer  (Ventri- 
culm  lateralis)  geöffnet,  und  von  ihrer  Decke  so  viel  abgenommen, 
bis  man  ihre  ganze  Ausdehnung  übersieht.  Jede  Seitenkammer 
schickt  von  ihrem  mittleren  Raum  (Cdla  media)  drei  bogenförmig 
gekrümmte,  sich  nach  verschiedenen  Richtungen  in  die  Markmasse 
einbohrende  Fortsätze  oder  Hörn  er  aus,  und  heisst  deshalb  auch 
Ventriculus  tricornia.  Das  Vorderhorn  kehrt  seine  Concavität  nach 
aussen,  das  Hinterhorn  nach  innen,  und  das  bis  an  die  Basis  des 
Gehirns  sich  hinabkrümmende  lange  Unterhorn  nach  vorn.  Um 
die  den  Sehnervenhügel  umgreifende,  nach  vorn  und  unten  ge- 
richtete Krümmung  des  Unterhorns  zu  sehen,  muss  ein  grosser  Theil 
der  Seitenmasse  der  Hemisphäre  durch  einen  senkrecht  geführten 
Schnitt  abgetragen  werden. 

Man  findet  im  Vorderhorn  der  Seitenkammer: 

a)  den  Streifen hügel,  Corpus  striatum,  dessen  freie  birn- 
förmige  Oberfläche  mit  ihrem  dicken  kolbigen  Ende  nach  vorn  und 
innen,  mit  ihrem  zugespitzten  Ende  (Schweif)  nach  rück-  und  aus- 
wärts gerichtet  ist.  Er  besteht  vorzugsweise  aus  grauer  Masse,  welche 
seine  freie  Fläche  ganz  einnimmt,  und  im  Inneren  desselben,  mit 
der  weissen,  abwechselnde  Schichten  bildet  —  nach  Art  der  Platten- 
paarc  einer  Volt  ansehen  Säule.  Nicht  der  Hügel  ist  gestreift,  son- 
dern sein  Durchschnitt  erscheint  so. 

Schneidet  man  die  Markmasse  der  Hemisphäre,  welche  an  der  äusseren 
Seite  des  Streifenhtigels  liegt,  schief  nach  aus-  und  abwärts  durch,  so  findet  man 
in  ihr  den  Linsenkern,  Xucletu  lenUfomiis,  als  einen  ringsum  von  weisser 
Marksubstanz  umschlossenen,  flachen,  biconvexen  Klumpen  grauer  Masse,  dessen 
Flächen  nahezu  senkrecht  stehen.  Vor  und  unter  dem  Linsenkern  liegt  der 
Mandelkern,  Nucleus  amygddUu,  ein  kleineres,  ebenfalls  vollkommen  von  Mark - 
Substanz  eingeschlossenes  graues  Lager,  und  nach  aussen  vom  Linsenkem,  eine 
fast  lothrecht  stehende  graue  Schicht,  die  Vormauer,  ClaiMtrum  9.  Nucletu 
taeniaefomiis.  Die  weisse  Markmasse,  welche  den  Linsenkem  vom  Streifenhügel 
trennt,  heisst  die  innere  Hülse,  Capsula  interna,  jene  zwischen  Linsenkern  und 
Claustrum,  äussere  Hülse,  Capsula  externa.  Die  weisse  Masse  der  Capsula 
interna  wird  durch  zahlreiche  gpraue  Blätter  durchsetzt,  welche  vom  Corpus  striatum 
zum  Nucleus  lentifomUs  ziehen.  Die  grau-  und  weissgestreifte  Zeichnung,  welche 
der  Durchschnitt  zeigt,  verschaffte  eben  dem  Streifenhügel  seinen  Namen. 

b)  den  Seh  hügel,  Thalamus  opticus  (gleichsam  die  Behausung 
des  N&rvus  opticus,  denn  OaXa[JLO(;  ist  bei  den  Griechen  überhaupt 
Wohnung,  bei  den  Römern  auch  Ehebett).  Er  liegt  hinter  dem 
Streifenhügel,  dessen  Schweif  sich  an  seiner  äusseren  Peripherie 
hinzieht,  und  scheint  bei  dieser  Ansicht,  wo  die  mittlere  Hirnkammer 
noch  nicht  geöflfnet  ist,  kleiner  als  der  Streifenhügel  zu  sein. 

Seine  volle  Ansicht  gewinnt  man  erst  nach  Eröffnung  der  dritten  Kammer, 
und   des   Unterhorns  der  Seitenkammer,  welches  ihn   umgreift.     Seine  Farbe  ist 


854  §.  345.  Grosses  Gehirn. 

(mit  Ausnahme  seiner  inneren  grauen  Fläche)  markweiss.  Im  Inneren  enthält  er 
drei  graue  Kerne:  einen  äusseren,  inneren  und  oberen.  —  Zwischen  ihm  und  dem 
Streifenhügel  zeigt  sich: 

c)  der  Hornstreifen,  Stria  comea,  welcher,  von  einer  anliegen- 
den Vene  (Vena  terminalü)  begleitet,  als  ein  graugelblicher  Streifen, 
die  Grenze  zwischen  Streifen-  und  Sehhügel  bildet.  Der  Hornstreif 
ist  nur  der  freie  Rand  einer  von  unten  nach  aufwärts,  zwischen 
Seh-  und  Streifenhügel  eingelagerten,  vom  Pedunculus  cerebii  aus- 
strahlenden Markplatte,  —  der  Taenia  semidrcularis. 

Im  Hinterhome  finden  sich: 

1.  der  Vogelsporn  oder  kleine  Seepferdefuss,  Calcar  avis 
8.  Pes  hippocampi  minor.  Er  bildet  eine,  an  der  inneren  Wand 
des  Hinterhorns  hinziehende  Erhabenheit.  Die  obere  Wand  des 
Hinterhorns  fiihrt,  ihrer  gestreiften  Zeichnung  wegen,  den  Namen 
der  Tapete; 

2.  die  seitliche  Erhabenheit,  Eminentia  collateralis  Meckdii, 
deren  Namen  von  ihrer  Nachbarschaft  an  dem  gleich  zu  erwähnenden 
grossen  Seepferdefuss  herrührt,  an  dessen  äusserer  Seite  sie  in  das 
Unterhom  hinabläuft.  Sie  beginnt  schon  im  Hinterhorn  mit  einem 
dreieckigen  Wulste,  welcher  an  der  unteren  Wand  des  Hinterhorns 
hervorragt. 

Im  Unterhorne  wird  gesehen: 

a)  der  grosse  Seepferdefuss  oder  das  Ammonshorn,  Pes 
hippocampi  major  8,  Comii  Ammonis,  Er  fiihrt  seinen  erstcren  Namen, 
seit  Arantius,  von  einer  Formähnlichkeit  seines  unteren  Endes 
mit  den  Pfoten  eines  fabelhaften  Thieres,  dessen  pferdeähnlicher 
Leib  mit  einem  Fischschwanz,  und  mit  Schwimmfüssen  versehen 
abgebildet  wurde  (Seepferd,  Hippocampus).  Dieses  l^hier  wird  als 
Wasserthier  öfter  an  monumentalen  Brunnen  angebracht,  wie  z.  B. 
an  jenem  herrlichen  Monolith  in  Salzburg,  und  an  Bernini^s  Spring- 
brunnen auf  der  Piazza  Navona  in  Rom.  Sein  zweiter  Name  schreibt 
sich  von  jenen  Petrefacten  vorweltlicher  Conchylien  her,  welche, 
ihrer  Krümmung  wegen,  Comua  Ammoni8  genannt  wurden.  'Er  um- 
greift als  ein  nach  aussen,  vorn,  und  unten  gekrümmter  Wulst,  den 
Sehhügel,  durchmisst  die  ganze  Länge  des  Unterhorns  bis  zu  dessen 
unterem  Ende,  wo  er  mit  drei  bis  vier  gerundeten  Höckern,  den 
Klauen  (Digitatione8)  endigt.  Genauer  untersucht,  weist  sich  der 
grosse  Seepferdefuss  als  eine  Einstülpung  der  Substanz  des  Unter- 
lappens aus,  und  entspricht  somit  einem,  in  gleicher  Richtung  mit 
ihm,  an  der  Oberfläche  dieses  Lappens  hinziehenden  Sulcus. 

An  dem  concaven  Rande  des  Seepferdefusses  verläuft,  als 
Fortsetzung  der  hinteren  Schenkel  des  weiter  unten  zu  beschreiben- 
den Gewölbes: 


§.  345.  QroBseB  Qehirn.  855 

ß)  der  Saum,  Fimbrta,  als  ein  dünnes,  sichelförmig  gekrümmtes 
Markblatt,  welches,  nach  unten  zu,  sich  in  die  gekräuselte  graue 
Leiste,  Fascia  dentata,  fortsetzt. 

Nach  genommener  Einsicht  dieser  in  die  Hörner  der  Seiten- 
kammer hineinragenden  Vorsprünge,  schreitet  man  zur  Eröffnung 
der  unpaaren  dritten  Kammer,  Ventriculua  tertivs,  welche  vom 
Balken  und  dem  unter  ihm  liegenden  Gewölbe  bedeckt  wird. 

Hebt  man  den  Balken  in  die  Höhe,  so  findet  man  zwischen 
seiner  vorderen  Hälfte,  und  dem  unter  ihm  gelegenen  Gewölbe, 
senkrecht  gestellt:  die  durchsichtige  Scheidewand,  Saturn 
pelluddum.  Sie  bildet  eine  verticale  Wand  zwischen  den  beiden 
Vorderhömem  der  Seitenkammern,  und  besteht  aus  zwei  Lamellen, 
zwischen  welchen  ein  schmaler,  vollkommen  geschlossener,  nur  im 
Embryo  mit  der  mittleren  Kammer  communicirender  Zwischenraum 
sich  befindet.  Dieser  Zwischenraum  ist  der  Ventricidus  septi  pdlu- 
cidi.  Er  wird  von  Einigen  auch  Duncan's  Höhle  genannt,  welcher 
Name  aber  nicht  von  dem  schottischen  König  Duncan,  sondern 
von  einem  Arzte  in  Montpellier,  Daniel  Duncan,  herrührt,  dessen 
kleine  Schrift:  Easplication  nouvelle,  etc.  Paris,  1678,  eine  neue  Art, 
das  Gehirn  zu  zergliedern,  enthielt.  —  Die  hintere  Hälfte  des 
Balkens  liegt  unmittelbar  auf  dem  Gewölbe  auf.  Hier  fehlt  somit 
das  Septum  pdlucidum.  —  Man  gelangt  am  besten  zur  Ansicht  des 
Septum  pelluddum  und  seiner  Kammer,  wenn  man  den  Balken  etwas 
vor  seiner  Mitte  quer  durchschneidet,  und  die  vordere  Hälfte  des- 
selben mit  den  Fingern  oder  mittelst  zwei  Pincetten  in  die  Höhe 
hebt,  um  sie  nach  vorn  umzuschlagen,  was  aber  nur  an  zähen  und 
frischen  Gehirnen  nach  Wunsch  gelingt. 

Das  Gewölbe,  Fomix  tricuspidalis,  liegt  in  der  Furche,  welche 
zwischen  den  sich  an  einander  lehnenden  Sehnervenhügeln  nach 
oben  übrig  bleibt.  Dasselbe  geht  nach  vorn  und  hinten  in  zwei 
Schenkel  über.  Die  vorderen  Schenkel  heissen  Säulen  des 
Gewölbes,  Columnae  fcyt'nicis.  Sie  hängen  mit  den  beiden  Blättern 
des  Septum  pdlucidum  zusammen,  senken  sich  bogenförmig  vor  den 
Sehhügeln  in  die  Tiefe,  und  steigen  zuletzt  geradlinig  zu  den  beiden 
Markhügeln  (Coipara  mammillaria,  §.  346)  der  Hirnbasis  herab. 
Sic  liegen  auf  den  Sehhügeln  nur  lose  auf,  ohne  mit  ihnen  zu  ver- 
schmelzen. Es  existirt  also  eine  Zwischen^paltc,  welche  sich  nach 
vorn,  unmittelbar  hinter  den  Columnae  fornicis,  zu  einem  Loche  er- 
weitert —  Foranien  Monroi,  —  durch  welches  das  bei  der  Pia  mater 
erwähnte  mittlere  Adorgeflecht  (Tela  choroidea  superior),  eine  Fort- 
setzung in  die  Seitenkammer  gelangen  lässt.  Die  absteigenden  vorderen 
Gewölbschenkel  bilden  die  dritte  Seite  eines  dreieckigen  Raumes, 
dessen  beide  andere  Seiten  durch  das  Balkenknie  gegeben  sind. 
Dieser  dreieckige  Raum  wird  durch  das  Septum  pdlucidum  ausgefüllt. 


856 


Nach  hiiiteu  spaltet  sich  das  Gewölbe  in  die  beiden  hinteren 
Schenkel  (Crura  posteriora),  zwischen  welchen  ein  einspringender 
Winkel  mit  vorderer  Spitze  frei  bleibt.  In  diesem  Winkel  wird  man, 
bei  der  Ansicht  von  unten  her,  ein  dreieckiges  Stück  der  anteren 
quergeBtreiften  Balkenfläche  zu  Gesichte  bekommen.  Die  Streifen 
ähneln  den  in  einem  dreieckigen  Rahmen  ausgeepnnnten  Saiten  einer 
Harfe,  oder  den  parallel  aufgeworfenen  Rändern  der  Blätter  eines 
viel  gelesenen  Buches  (^ehrenhalber  Psalra-  oder  Gebetbuch),  wes- 
halb im  ersten  Sinne  der  Name:  Leier,  Lijra  Davidis,  und  im  zweiton 
Sinne  der  Name:  Psaltermm,  für  sie  nicht  unpassend  gewählt  wurde. 
—  Jeder  hintere  Gewölbschenkel  geht  in  die  Fimbria  des  Seepferde- 
fuBses  über. 

M^iXTifpiov,  ist  eig'entlich  ein  Saite ninstnmient,  CitLer.  Das  zmn  SutHtiapiel 
^aungene  beilige  Lied  (Psalm),  hieas  TiXpx,  woher  Ssmmlimg;  dieecr  Lieder: 
Pialleriun,  ein  Pulter  oder  Gebetbuch.  —  Der  Name  fonttx  wurde  mient  von 
Willi«  gebranclit,  Et  bedealet  Gewölbe  oder  Scli wibbogen,  aber  anoh 
eine  vemifeno,  stinkende  Hoble,  nia  Aufenthalt  der  gemeiiwte"  öffentlichen  Dirnen 
falent  /omix  bei  Horaz  and  Juvenal),  daher /araicatio,  die  Hurerei. 

Schneidet  man  nun  den  Fomix  in  seiner  Mitte  quer  durch, 
und  schlägt  man  seine  beiden  Hälften  nach  vor-  und  rückwärts 
zurück,  so  hat  man  die  dritte  Kanimer  noch  nicht  geöffnet.  Sie 
wird  vielmehr  noch  durch  eine  sehr  getassreiche  Membran  zugedeckt, 
welche,  als  Fortsetzung  der  Pia  mater,  unter  dem  Balkenwulst  und 
über  dem  Vierhügel  zur  dritten  Hirnkaramer  gelangt,  und  sich 
nach  vorn  bis  zu  den  Säulen  des  Fornix  erstreckt.  Sie  hcisst  Tda 
ckoToidm  mperior.  Sic  enthält  Verzweigungen  der  Artsria  profunda 
cerebri,  und  führt  in  ihrer  Mitte  zwei  grössere  Venenstärame,  welche 
unter  dem  Balkenwulste  zur  unpaaren  Vnna  cerebri  magna  zusammen- 
treten. Die  Tda  ckoroidea  superior  zeigt  zwei  strangartige  Ver- 
dickungen von  rother  Farbe  und  köi'nigem  Ansehen.  Diese  werden 
durch  Verknäuelungen  der  Gelasse  der  Tela  erzeugt,  und  heiesen 
Plesrus  clioToidei.  Anfangs  liegen  beide,  als  Plexus  chorotdeua  mediua, 
dicht  an  einander,  lenken  aber  hierauf,  als  Plexus  clioroidei  laterale», 
durch  die  Foramina  Monroi  in  die  Seitenkammem  ab,  wo  sie  sieb 
längs  des  Aramonshomes  bis  in  den  Grund  des  Unterhornes  ver- 
folgen lassen. 

Flexal,  das  Geflochtene,  ist  das  Parllcip  von  pleclo,  flechten,  kein  Sub- 
etantiT.  —  Die  Adergeflecht«  heisien  bei  Galen  fitpoKä^  j0.i-j^a,i:ii,  weil  er  aie 
mit  dem  Charion  den  Eies  rergliuh.  —  TeUt,  teile  der  FranKoaen,  aUunint  von 
lexo,  weben,  griechisch  veraltet  Tcxitv. 

LöBt  man  nun  die  Tda  choroideu  von  der  convexen  Sehhügei- 
tläche  vorsichtig  los,  und  zieht  man  hierauf  beide  Sehhügel,  welche 
in  der  Leiche  mit  ihren  inneren,  fast  ebenen  Flächen  an  einander 
schliessen,  von  einander   ah    so   überblickt   man  die  dritte  Gehint- 


§.  S46.  Orosses  Oehirn.  857 

kammer.  Man  kann  an  ihr  sechs  Wände  unterscheiden.  Die 
obere  war  durch  die  Tela  dioroidea  superim*  gebildet,  —  die  beiden 
seitlichen  sind  durch  die  inneren  planen  Sehhügelflächen  gegeben, 
—  die  untere  entspricht  der  Mitte  der  Hirnbasis,  —  die  vordere 
wird  durch  die  vorderen  absteigenden  Schenkel  des  Gewölbes 
(Säulen,  Columnae),  die  hintere  durch  den  sich  zwischen  beide 
Sehhügel  hineinschiebenden  Vierhügel  (Corpm  quadrigeminum)  dar- 
gestellt. —  Die  beiden  Seitenwände  der  dritten  Kammer  stehen 
durch  drei  Querstränge  (Comimssurae)  in  Verbindung.  Die  Commis- 
mra  anterior  liegt  an  der  vorderen  Wand,  vor  den  absteigenden 
Schenkeln  des  Fornix,  und  kommt  zu  Gesicht,  wenn  man  diese 
Schenkel  auseinander  drängt.  Die  Comnmsura  posterior  liegt  an  der 
hinteren  Wand,  vor  dem  Vierhügel.  Beide  Commissuren  sind  mark- 
weiss  und  rund.  Unter  der  Commissitra  anterior  vertieft  sich  der 
Boden  der  dritten  Kammer  zum  weiten  T vichteve ingang^  Adittis 
ad  infundibidum,  und  unter  der  Commisaura  poatemor  befindet  sich 
die  kleine  dreieckige  Eingangsöfl'nung  in  die  Sylvi'sche  Wasser- 
leitung (AditU8  ad  aquasductum  Sylvii),  welche  unter  dem  Vier- 
hügel zur  vierten  Hirnkammer  führt.  —  Die  breite  und  weiche 
Commissura  media  8,  mollis  ist  grau  und  weich.  Sie  fehlt  zuweilen, 
und  stellt  nur  eine  locale  Verschmelzung  des  grauen  Beleges  dar, 
mit  welchem  die  inneren  Flächen  beider  Sehhügel  überzogen  sind. 

Der  Vierhügel  würde  besser  Corpus  bigeminum  als  quadri- 
geminum genannt  werden,  da  letzterer  Ausdruck  acht  Hügel  be- 
deutet. Er  ist  ein  unpaarer,  durch  eine  Kreuzfurche  in  vier  Hügel 
getheilter,  weisser  Höcker,  welcher  zwischen  der  dritten  und  vierten 
Hirnkammer  steht,  und  unter  welchem  die  Sylvi'sche  Wasserleitung 
eine  Verbindung  dieser  beiden  Kammern  unterhält.  Sein  vorderes 
Hügelpaar  ist  grösser,  und  steht  höher;  das  hintere  ist  kleiner  und 
niedriger,  ein  Verhältniss,  welches  sich  bei  allen  pflanzenfressenden 
Thieren  findet.  VesaHus  nannte  das  vordere  Paar  die  Hinterbacken 
(Nates),  das  hintere  die  Hoden  (Testes)  des  Gehirns. 

Bei  seitlicher  Ansicht  des  Vierhtigels  bemerkt  man,  dass  beide  Hügelpaare 
seitwärts  in  zwei  walzig-mndliche  Erhabenheiten  übergehen,  welche  als  Brachia 
corporis  quadrigemini,  nnd  zwar  als  vorderes  und  hinteres  unterschieden 
werden.  Das  vordere  hängt  mit  einer,  am  hinteren  Ende  des  Tkedamus  opticus 
gelegenen,  und  von  ihm  überragen  Anschwellung  (vorderer  Kniehöcker,  Corpus 
geniculalum  anlicwn  s.  extemumj  zusammen,  und  geht  ganz  und  gar  in  den  Seh- 
hügel  über.  Das  hintere  Brachium  corporis  quadrigemini  geht  eine  Verbindung 
mit  dem  zwischen  beiden  Brachiis  lagernden  Corpus  geniculatum  posticum  s.  inter- 
num  ein,  und  gelangt  hierauf  tbeils  zum  Sehhügel,  theils  zur  Haube. 

Auf  dem  vorderen  Hügelpaare  ruht  die  sogenannte  Zirbel- 
drüse, Glandula  pinealis  s,  Conarium,  obscöner  Weise  auch  Penis 
cerebri  genannt.     In   ihr   suchte   Cartesius   den  Sitz  der  Seele,  — 


S58 


fnnd  ihn  aber  nicht,  Sie  besteht  überwiegend  aus  grauer  Substanz, 
mit  spärlicben  markweissen  Streifen  im  Inneren.  Sie  ist,  so  wie 
(He  obere  Fläche  des  Vierhügels,  auf  welcher  sie  liegt,  von  der 
Tela  choroidm  mperiov  bedeckt,  an  deren  unterer  Fläclie  sie  so  fest 
adhSrJrt,  dass  sie  an  ihr  hilngcn  bleibt,  wenn  man  die  'IVla  vnra 
Vierhügel  lüftet, 

Dip  Gestalt  dor  Zirliotdriis*  Blinelt  einem  koiii»«]ieii  Tit[iiieiiiui|ifen,  rail 
liintiTcr  fipltKC.  Tanne  isl  Pinut,  und  i'iniu  zrnJtFo  ist  Zirhe]1i»aai  (Zirm  in 
T}-Tol).  Dnher  der  Name  Kirhel  und  Qlmuluta  pinoili*.  Canarium  ist  aber 
kein  InteiniicheB  Wnrt,  nondem  die  von  den  Ijtlino-liar/inri  stammende  Uebei^ 
■etxung;  des  Oftlen'adien  xaiia^isv,  flir  Zirbeldriljte,  Diminativ  von  x'7;vn;,  Kegel, 
dessen  GceUlt  die  Zirbeldrllse  hat. 

Die  ZirbeldrAse  hingt  niuht  mit  dem  Vierlilt^l,  wolil  alter  mit  der  hinteren 
Conimisanr  diireh  weisse  F»denbUndi?l  lusaimnen.     Von  ihrem  vorderen   abgerun- 
deten Ende,   laufen   zwei   weisse   BHndehen,   Zirhelstiele   ans  —  die  PetltmaOi 
nttiarii,  —   welehe  «ieh  an  die  SfliliUgei  anschmiegen,  daselbat  als  TWniae  medu^ 
\artt  die  Orenze  der  inneren  nnd  oberen  FlKehe  derselben   beieiciinen,   nnd  nach 
vor-  und  abwHrts  bis  in  die  vorderen   GetrHlbsehenkel   xn  verfolgen   sind.  —  Zu- 
weilen entliHlt   die  Zirbel    eine    kleine  Hnhie,    welche    zwisnlien  den  Anheftunga- 
■teilen  der  ZirbeUtiele  mflndel.  —  Theiln  in  der  Masie    der  Zirbel,  theiU  in  d 
sie  KiiiiXuliBt  nnigebenden   Ttia  fkmvidra  ttipeivyr,  Sndel  mui,  jedacli  nie  vor  d< 
aeehsldn    Lebensjahre,   einFache   oder  dnisig  RUBatiimengebackene,    ans   phoiiphi 
sanrem  nnd  kohIeni<anreni  Kalk  nebst  Kieselerde   bestehende   kryefallinisube  C« 
oremento  (Aexnniltu  glandtdar.  jihtudit),   von   der  Orilss«   eines  Band-  oder  Mohn- 
komn,    auch    darllber.     Sie    wurden    von  SDininerring    entdeckt    (de  lapälu  ml 
prope  erf  intra  ^1.  pliiealeM  tUü.  ilof/iinl,,,  tlsßj.    Man  hat  sie  anch  in  den  Adei 
geflechten   der  Heitonkammem   gefunden.   —   Wollte   man   schon   einen  Theil  dei 
Gehirns  als    VWcq  rerebri  bezeichnen,   wie  es   den   alten   Anatomen  gefällig  ww 
*o  wHre   die    Ittnglii-Ii    elliptische  S|.alte,    welche    dicht   vor    der  Zirbel  xwiscLun 
beiden  ZirbeUtielen  lii'gt,  am  nieisloii  daau  geeignet.    Die  .Sehncn'cnliügcl  iteUeo 
gewissermaasen  diK  inj  eoiltim  celjtfti-andma  aufgestellte n  oder  angexogenen  Schenkel 
dar,  lim  diese  Vniva  fflr  dfln  Pmü  ftrehri  (Zirbel)  xngKnglich  xa  machen. 

Der  Vierhügel  hat  über  sich  den  Balkenwulst.  Herde  berühren 
»ich  nicht,  sondern  lassen  eine  OefTnung  zwischen  sich,  den  Quer- 
schlitz des  grossen  Oehirns,  durch  welchen  die  Ha  mater  als  Tda 
choroidea  superüa;  zur  mittk-reu  Kammer  gelangt,  ücr  Qucrachlitz 
setzt  sich  zu  beiden  Seiten  in  eine  Spalte  fort,  welche,  dem  Pes 
hippocampi  major  folgend,  bis  an  den  Grand  des  Unterhorna  hinab- 
reicht, 80  dasB  also  das  Unterhorn  in  seiner  ganzen  Länge  von  der 
Ilirnoberfläche  her  zugängig  ist,  und  factisch  eine  Fortsetzung  der 
Pin  mater  zur  Verstärkung  des  Plexus  choroldeus  lateralia  ein- 
dringen lässt. 

dass  auch  eilte  rOliroiiartige  Verlüiigeriing  der  Araclinoidea, 
in  die  dritte  Kammer  eingehe,  um  zum  Eperuli/ma  venlrt- 
Der  Querschnitt  dieser  VerlSngening,  erhielt  auch  den 
ati.  Alle  Anatomen  der  Gegenwart  stimmen  darin  flberein, 
dau  dies«  Vorstellung  Bicbat'*  unhaltbar  geworden. 


§.  346.  Grosses  Gehirn  tod  unten  nntersncht.  859 

Im  Verfolge  dieser  Zergliedemng  wnrde  vom  kleinen  Qelnrn  keine  Er- 
wähnung gethan,  da  es  unter  dem  Tentorium  verborgen  liegt,  und  die  Hinterlappen 
des  grossen  Gehirns  noch  nicht  abgetragen  wurden. 

Da  sich  die  ganze  Hirnanatomie  nicht  an  einem  Hirne  durchmachen  lässt, 
so  kommt  es  nun  darauf  an,  sich  zu  entscheiden,  ob  man  mit  der  eben  geendeten 
Untersuchung  des  grossen  Gehirns  von  oben  her,  auch  jene  des  kleinen  verbinden 
will,  in  welchem  Falle  die  Hinterhauptschnppe,  die  Hinterlappen  des  grossen  Ge- 
hirns, und  das  Tentorium  cerebefU  abzutragen  wären,  oder  ob  man  das  grosse  und 
kleine  Gehirn  zugleich  aus  der  Schädelhöhle  herausnehmen,  und  die  Organe  der 
Gehimbasis  vornehmen  will.  Letzteres  ist  jedenfalls  gerathener.  Die  Untersuchung 
des  kleinen  Gehirns  von  unten  her,  soll  mit  jener  des  verlängerten  Markes  ver- 
bunden werden,  und  bleibt  dem  §.  347  vorbehalten. 


§.  346.  örosses  öehirn  von  unten  untersucht 

Wurde  das  Tentorium  vom  oberen  Rande  der  Felsenbein- 
pyramiden abgetrennt,  die  Ursprünge  der  Gehirnnerven  an  der 
Hirnbasis,  die  Carotis  interna,  und  das  verlängerte  Mark  sammt  den 
Wirbelarterien  im  grossen  Ilinterhauptloche  durchgeschnitten,  so 
lässt  sich  das  Gehirn  mit  der  seine  Basis  umgreifenden  Hand,  aus 
der  Schädelhöhle  herausnehmen  oder  herausstürzen.  Jede  Geföss- 
oder  Nervenverbindung  zwischen  Gehirn  und  Schädel  muss  richtig 
durchgeschnitten  sein,  damit  bei  der  Herausnahme  des  Gehirns, 
nichts  mehr  von  selbst  entzwei  zu  reissen  habe,  wodurch  die  Rein- 
heit der  Basalansicht  gefährdet  werden  könnte. 

Man  übersieht  nun,  nachdem  auch  hier  die  Arachnoidea  und 
Pia  mater  vorsichtig  weggeschaflFt  wurden,  die  untere  Fläche  (Basis) 
des  grossen  Gehirns,  mit  Ausnahme  der  Hinterlappen,  welche  durch 
das  kleine  Gehirn  verdeckt  werden,  ferner  die  untere  Fläche  des 
kleinen  Gehirns,  der  Varolsbrücke,  und  des  verlängerten  Marks. 

Im  Mittelgebiete  dieser  Ansicht  lagern,  von  vorn  nach  hinten 
gezählt,  folgende  Gebilde  : 

a)  Die  vordere  durchlöcherte  Lamelle,  Svhstantia  perfo- 
rata  anterior,  Sie  liegt  vor  der  Sehnervenkreuzüng  (b),  ist  mark- 
wciss,  und  zerfallt  in  eine  mittlere  und  zwei  seitliche  perforirte 
Stellen,  welche  letztere  sich  gegen  den  Anfang  der  Sylvi'schen 
Gruben  hinziehen.  Die  mittlere  Stelle  ist  nur  wenig  durchlöchert, 
und  wird  erst  gesehen,  wenn  man  die  Sehnervenkreuzung,  welche 
sie  überlagert,  nach  hinten  umlegt. 

Die  Löcher  der  Stibstantia  per/orata  anterior  sind  eben  so  viele  Durch- 
gangspunkte von  Blutgefässen,  weshalb  sie  am  besten  während  des  Abstreifens 
der  weichen  Hirnhaut,  bevor  noch  die  Gefasse  gerissen  sind,  gesehen  werden. 
Vor  den  Seitentheilen  der  SubstarUia  per/orata  anterior  liegt  an  der  unteren  Fläche 
jedes  Vorderlappens  eine  dreiseitig  pyramidale,  graue  Erhabenheit  (CarunctUa 
mammillaris  «.  Trigonuni  olfactoriumj,  welche  sich  nach  vom  in  den  Nervus  ol/ac' 
Uniua  fortaatst. 


oOO  §.  84i{.  OroKReM  Gehirn  von  unten  antersncht. 

h)  Die  Sehnerve  nkreuz im g,  Chiasma  8.  Decusaatio  nervorum 
opHcortim.  Sie  ähnelt  einem  griechischen  X  (Chi,  woher  der  Name 
Chiasma),  und  hängt  vorn  mit  der  mittleren  perforirten  Stelle,  hinten 
mit  dem  grauen  Hügel  zusammen.  Die  in  das  Chiasma  eintretenden 
Stücke  der  Sehnerven,  welche  den  Pedunculus  cerebri  von  aussen 
nach  innen  umgürten,  heissen,  ihrer  Plattheit  wegen,  Tractus  optici. 
Man  sieht  sie  erst,  wenn  man  die  stumpfe  Spitze  des  Unterlappens 
vom  Pedunculu^  cHrehri  etwas  abzieht.  Die  aus  dem  (Miiasma  aus- 
tretenden runden  Stücke  der  Sehnerven,  sind  die  eigentlichen 
Nerri  optid, 

Kh  ist  noch  immer  nicht  mit  Bestimmtheit  entschieden,  oh  sich  alle  Fasern 
heider  Sehnerven  im  Chiasma  kreuzen,  oder  nur  die  inneren,  so  dass  jeder  AVruw* 
optirujt  Fasern  vom  rechten  und  linken  TniHtu  optictu  enthalten  würde.  —  Han- 
nover erwfthnt  am  v«>rderen  und  Iiinteren  Rande  des  Chiasma  hogenft^rmig^e,  von 
einer  Seite  aur  andern  laufende  Fasern,  als  Oommusurfi  armcUtt  atU^rior  et  po9U> 
t^n  Die  Fasern  tler  Owmmiwmivi  anterior  verbinden,  ohne  zum  Gehirn  zu  gelangen, 
die  beiden  .NVrei  ojUiri  mit  einander;  —  die  Fasern  der  Cmnmuntura  posterior  ver- 
binden die  beiden  Trartuä  ojttiri,  ohne  in  die  eigentlichen  Sehnerven  überzugeben.  — 
Hei  einigen  Knorpelfischen  (Myxinoiden^  kreuzen  sich  die  Sehnerven  gar  nicht. 
Bei  den  Kochen,  Haifischen  und  Sttiren,  stehen  sie  durch  eine  Querbinde  in  Zn- 
Munmenhang.  Bei  den  Knochenfischen  ist  die  Kreuzung  eine  vollkommene,  —  ein 
Sehnerv  gt»ht  über  den  andern  hinüber,  oder  schiebt  sich  ^lurch  eine  S|>alte  des- 
selben durch,  wie  beim  Hftring. 

c)  Der  jjraue  Hügel  mit  dem  Trichter,  Tuber  cintreum  cum 
infnudibulo.  Er  liegt  hinter  dem  Chiasma,  und  bildet  einen  Theil 
des  Hodens  der  mittleren  Hirnkammer,  ist  weich,  grau  von  Farbe, 
und  verlüngt^rt  sich  zu  einem  kegelförmigen,  nach  vorn  und  unten 
gerichteteu  Zapfen.  Dieser  Zapfen  ist,  wie  der  graue  Hügel  selbst, 
hohl,  und  heisst  deshalb  Trichter,  LtfundibiJum.  Seine  Höhle  ist 
eine  Fortsetzung  der  Höhle  des  Ventncnlus  tertius,  welche  sich 
unter  der  Commufsunt  anterior  der  beiden  Sehnervenhügel,  als  Aditu^ 
ad  infundibulum  in  den  Trichter  hinab  verlängert.  Die  Höhle  er- 
streckt sieh  jedoch  nicht  bis  in  die  Spitze  des  Trichters,  welche 
solide  ist,  und  sich  mit  der  Hifpophifsis  cerebri  verbindet.  Die  Alten 
meinten,  dass  die  Excremente  des  Gehirns,  aus  der  dritten  Kammer« 
durch  das  InfuHiUbHlHm,  in  die  Nasenhöhle  geschaHt  werden. 

IHe  vorder«'  Wand  de<  grauen  Hügels  und  de«  Trichters  hängt  innig'  oüt 
dem  hinteren  Rande  de«  Chiasma  rasammen.  ^e  ist  zugleich  so  sart  und  dünn, 
dass  sie  scb^ui  bei  der  Herausnahme  eines  nicht  ganz  frischen  C^hims  zemeUst. 
Man  zeichnet  <ie  wohl  auch  mit  einem  besonderen  Namen,  al*  Laoünn  rii^rrn 
trrvuHnii*  aus*     Wanim,  wird  die  Folge  lehren. 


d}  IVr  Hirnanhang,  H^poph'tsi*  certbri  i  von  /:::  und  ^ 
unten  wachsend.  Er  heisst  auch  GlattdtJa  pituitaria  eenehri  #. 
CtJatortHm  jl  ^^fiiM.  lauter  Xameu,  welche  die  Vorstellung  aiu^ 
drücken,    welche   die   Ahen  über  die  Function  dieses  rathseDuiteii 


3.  348.   (tlUMI  üthini   Vi 


SRI 


Hiniorgaiis  li.itl<iii.  »Sie  gUubten  nämlicli.  Aans  der  iliniiinhiing  liiu^ 
Drüse  sei,  welche  Sclileim  absondert,  der  durch  die  Nasenliöhlf^ 
oiitleeit  wird.  —  Der  Hirnauhang  Hegt  im  T iirke.n Mattel ,  welchen 
CT  ganz  aiiHfuUt.  Da  die  harte  Hirnbaut,  als  'Jperculum  sellae  tur- 
cicae,  über  den  Sattel  hillübergespannt  ist,  und  nur  eine  vcrhsltniss- 
mäasig  kleine  Oeffnuiig  hat,  durch  welche  das  Infundibulum  sich 
mit  dem  Hirnauhang  vorbinden  kann,  so  mnsa,  wenn  man  den 
Kirnanhang  sammt  dem  Gehirne  herausnehmen  will,  die  harte 
Hirnhaut  durch  einen,  rings  um  die  Sattelgi-ube  laufenden  Einschnitt 
getrennt,  und  ein  scheibenförmiges  Stück  derselben  mit  der  Hypo- 
physia  herausgehoben  werden. 

Hei  genauer  Ilnteraticliiing  fiadet  tunn  an  dem  Uirnanhnfif;  einen  vurderen 
bintaren  l>»ppen.  Der  vordere  (fröBsere  Lappen,  von  rKthlicher  Farbe, 
enthält  entaubieden  weder  Nerrenfasem  noch  CianglienEclIen,  «indem  besteht  an* 
einem  ^fSureic.Len  Bindegewebe,  in  welcliem  eine  Menge  voll  kommen  gescldoMener 
BlSsuhen  van  0,03  bis  0,U9  Millimeter  lagern,  wulehe  in  einer  stratturluBen  Halle 
einen  feinktlmigen  Inbalt  mit  kemartigen  Gebilden,  niid  ipürliclien,  vollkommen 
iggebildeten  Zelten  fUbren.  lattreB^ant  i»t  es  in  dieeer  Beziehung,  dasa  die 
BlÜHchen  dieses  Lappens,  itie  die  Blitrahen  der  SchUddrUae  beim  Kröpfe,  »ich 
bn  höheren  Alter  gewöhnlich  vergröiaem,  nnd  mit  einer  Masae  füllen,  welche  die 
patliulagiauhe  Anatomie  mit  dem  Namen  Colloid  bezeichneL  Der  Idntere,  kleinere 
granliclio  Lappen,  enthält  in  einer  feinkSmigen,  kemfllhrendcn  RnuidaitbsUlu, 
wahre  Nervenfasern,  welche  ihm  vom  Gehirn  »na  dnrch  den  Trichter  zngefllhrt 
werden. 


werden  auch  Woiberbrüate,  Globuli  medulläre»  und  BtUbi  fornida 
genannt  (letzteres  wegen  ihrer  Verbindung  mit  den  vorderen  Schenkeln 
des  Gewölbes).  Sie  sind  zwei  weisse,  halbkugelige,  orbaengrosse, 
dicht  neben  einander  liegende  Markkörper,  zwischen  den  Pedtinculit 
cereiiri,  und  hinter  dem  grauen  Hügel. 

f)  Die  hintere,  graue,  durchlöcherte  Lamelle,  Sub- 
utantia  perforata  pobtei'tor,  ist  dreieckig,  da  sie  den  durch  die 
Divergenz  der  Pedunculi  cerebri  entstehenden  Winkel  ausfüllt.  Ihr 
vorderer  Kand  gehl  in  die  hintere  Wand  des  Tuiei-  cinereitm  und 
dea  Trichters  über;  ihre  hintere  Spitze  stiisat  an  die  Varolsbrlieke. 

g)  Die  Schenkel  des  grossen  Gehirns,  Pbdimciäi  s.  Crura, 
8.  Caudex  cere/>ct,  kommen  divergent  aus  der  Varolsbrücke  hervor, 
und  stellen  längsgefaeertc  weisse  Markbündel  dar,  welche  sich  von 
unten  her  in  die  Hemisphären  einsenken,  und,  als  directe  Fort- 
setzungen des  verlängerten  Markes,  dieses  mit  jenen  in  Verbindung 
bringen.  Schneidet  mau  einen  Gehirnachenkel  senkrecht  auf  seine 
Lüngenaxe  durch,  so  findet  man,  daea  er  aus  einem  unteren,  breiten 
und  flachen,  und  einem  obrrf.m,  »tiirkeron  Bündel  von  Markliisern 
besteht,  awischeu  welchen  eine  S 

•«tantiu  nigra  peduncui 


^^^8ub«tat 


■ 


862  §.  347.  Anatomie  des  kleinen  Gehirns  von  unten.  VarolsbrAcke.  Verl.  Hark. 

bündel  des  Himschenkels^  welches  eiue  flache  Kinne  für  das  obere 
bildet^  heisst  Pedunculus  8.  Caudex,  das  obere  fuhrt  den  Namen  der 
Haube,   Tegmentum  caudicis. 

Caudex  ist  synonym  mit  Codex,  Beide  bedeuten  Stamm,  Baumstamm, 
und  da  aus  letzterem  die  Holztafeln  geschnitten  wurden,  welche,  mit  Wachs  über- 
zogen, zum  Schreiben  mit  dem  Stylua  dienten,  hiess  eine  Summe  solcher  Tafeln, 
also  ein  Buch,  auch  Codex,  welches  Wort  jetzt  nur  noch  für  alte  Handschriften 
übUch  ist 

Die  Gyn  an  der  unteren  Fläche  des  grossen  Gehirns  sind  in  der  Regel 
durch  seichtere  Furchen  getrennt,  als  jene  der  oberen  Fläche.  Jener  Gyrus, 
welcher  den  Tradu»  opUcu»  bedeckt,  und  gelüftet  werden  muss,  um  diesen  za 
sehen,  heisst,  seiner  Beziehung  zum  Fes  hippocampi  major  wegen,  Gyrtu  hippo- 
campi  $,  Subieulum  comu  ÄmmoniM,  Sein  vorderes  Ende  krümmt  sich  hinter  dem 
Seitentheile  der  LanUna  perforata  anterior  nach  innen  und  hinten,  und  bildet  den 
Haken,  Ganglion  uncmatum.  Seine  hintere  Fortsetzung  umgreift  als  Gyru* 
fomicatw  die  Backenwulst  nach  oben,  und  zieht  an  der  inneren  Fläche  der  Hemi- 
sphäre des  Grosshims  dicht  über  dem  Seitenrande  des  Balkens  nach  vom. 

In  der  Fogsa  St/lvü  liegt  die  Insel,  eine  Gruppe  von  sechs  bis  acht  mit 
einander  zusammenfliessenden  Gehirnwindungen.  Die  Insel  wird  von  einigen 
überhängenden  Gyri  des  unteren  Lappens  der  Hemisphäre  (dem  sogenannten 
Klappdeckel,  Operculum)  so  verdeckt,  dass  sie  erst  nach  Abtrag^g  dieser  Gyri 
in  ihrem  ganzen  Umfange  gesehen  werden  kann.  Schneidet  man  sie  schief  nach 
innen  und  oben  durch,  so  bemerkt  man,  dass  ihre  Basis  nach  dem  Linsenkem 
gerichtet  ist. 

Sommerrmg,  de  basi  encephali,  etc.  Gott.,  1778.  4.  —  Ejusdem  tabula 
baseos  encephali.  Francof.,  1799.  —  «/.  Engel,  über  den  Gehimauhang  und  den 
Trichter.  Wien,  1839. 


§.  347.  Anatomie  des  kleinen  öehirns  von  unten.  Varolsbrücke. 

Verlängertes  MarL 

Bei  der  vorausgegangenen  Behandlung  der  unteren  Fläche  des 
grossen  Gehirns,  blieb  das  kleine  Gehirn  unbeachtet.  Die  Detail- 
untersuchung desselben  folgt  nun  in  diesem  Paragraph.  Man  be- 
merkt zuerst,  dass  die  beiden  Halbkugeln  des  kleinen  Gehirns 
durch  eine  Querbrücke  mit  einander  verbunden  sind.  Diese  Quer- 
brücke ist  der  Pons  Varoli.  Hinter  dem  Pons  Varoli  sieht  man  die 
MeduUa  oblongcUa,  welche  als  ein  unpaarer  Markzapfen  sich  zwischen 
beide  Halbkugeln  einlagert. 

Die  Varolsbrücke,  Hirnknoten,  Pons  Varoli,  «.  Nodus 
cerebri,  s.  Protuberantia  hagilarU  nach  Willis,  ruht  theils  auf  der 
Par8  basUarü  des  Hinterhauptbeins ,  theils  auf  der  Lehne  des 
Türkensattels,  und  besitzt  eine  untere,  zugleich  vordere,  und  eine 
obere,  zugleich  hintere  Fläche,  einen  vorderen  Rand,  aus  welchem 
die  Schenkel  des  Grosshims  divergent  hervortreten,  und  einen 
hinteren,    an    die    Medulla    oblongata    stossenden    Rand.     An    ihrer 


%.  347.  Anatomie  des  kleinen  Geliirns  von  anteu.  Varolsbrtcke.  Verl.  Mark.  863 

unteren  Fläche  findet  sieh  ein  seichter  Längeneindruck,  Stdcua 
hasüaris,  ein  Abdruck  der  hier  verlaufenden  unpaaren  Arteria  hasi- 
laris.  Ihre  Seitentheile  setzen  sich  mit  den  beiden  Halbkugehi  des 
kleinen  Gehirns  durch  die  sogenannten  Brücke uarme^  Processus 
cerehdli  ad  pontem,  in  Verbindung.  —  Ueber  dem  Pons  liegt  der 
Vierhügel,  und  zwischen  beiden  der  Agiuzeductus  SylviL  Da  ein 
Theil  der  Stränge  der  Medvlla  ohlongata  sich  durch  die  Brücke 
durchschiebt,  um  in  die  Grosshirnschenkel  überzugehen,  so  wird 
man  im  Pons  Quer-  und  Längenfasern  antreffen  müssen,  von  welchen 
oberflächlich  nur  die  Querfasern  zu  sehen  sind.  Der  horizontale 
Durchschnitt  der  Brücke  zeigt,  dass  zwischen  den  weissen  Fasern 
derselben,  stellenweise  graue  Substanz  eingelagert  ist.  Const.  Varo- 
lius,  Professor  in  Bologna,  beschrieb  diesen  Hirn  theil  schon  1578, 
mit  viel  Genauigkeit  (de  nervis  optids,  pag.  191), 

Das  verlängerte  Mark,  Medtdla  ohlongata  s.  Btdbus  medidlae 
spinalis,  ist  ein  weisser  Markzapfen,  welcher  durch  das  Forameii 
occipUale  magnum  in  das  Kückenmark  übergeht.  In  seiner  Mitte 
verläuft  der  Suicus  longüudinalis  anterior,  zu  dessen  beiden  Seiten 
die  Pyramiden,  und  auswärts  von  diesen  die  Oliven  gesehen 
werden.  Den  Pyramiden  und  Oliven  entsprechen  strangförmige 
Abtheilungen  im  Inneren  der  Marksubstanz  der  Medulla  ohlongata, 
als  Pyramidenstränge  und  Olivenstränge.  Neben  den  Oliven 
bemerkt  man  die  sträng  förmigen  Körper  (Corpoi'a  restiformia), 
welche  von  der  Medtdla  ohlongata  zu  den  Hemisphären  des  kleinen 
Gehirns  treten,  und  weil  sie  sich  in  diese  so  einsenken,  wie  die 
Pedunculi  cerehri  in  die  Halbkugeln  des  grossen  Gehirns,  auch 
PedxmcuU  cerehdli,  Schenkel  des  kleinen  Gehirns,  genannt 
werden.  Sucht  man  durch  Auseinanderziehen  der  beiden  Pyra- 
miden, eine  tiefere  Einsicht  in  den  Suicus  longitudinalis  anterior  zu 
gewinnen,  so  erblickt  man  gekreuzte  Bündel  von  einer  Pyramide 
zur  anderen  gehen  (Decussatio  pyramidum).  Schneidet  man  die  Olive 
ein,  so  sieht  man  in  ihr  einen  weissen,  mit  einer  dünnen,  grauen, 
zackig  ein-  und  ausgebogenen  Lamelle  umgebenen  Markkern  — 
den  Nucleits  s.  Corpus  dentatum  olivae. 

Um  auch  die  obere  Fläche  der  Medulla  ohlongata  zu  Gesicht 
zu  bekommen,  genügt  es  nicht,  sie  einfach  umzubeugen;  man  würde 
dadurch  nur  das  hintere  Ende  der  Schreibfeder,  d.  h.  den  in 
den  Stdcus  longitudinalis  posterior  sich  fortsetzenden  hinteren  Winkel 
der  Rautengrube  sehen.  Es  ist  vielmehr  nothwendig,  vor  der  Hand 
von  der  Medulla  ohlongata  abzustehen,  und  die  untere  Fläche  des 
kleinen  Gehirns  zu  untersuchen.  Um  diese  Fläche  ganz  zu  über- 
sehen,  exstirpirt  man  die  Medulla  ohlongata  durch  Trennung  der 
C  *  vom  Ponis  Vardi,  worauf  man  die 


H(i4  l  MT.  AnilDinla  ««  klulDMi  »■h<rt»  vgn  nun.  TKreXliTach!.  TtrI.  Mtit, 

unkrt:    Fiftcho   des   kleinen   Gehirna    ia    ihrer   ganzen    Ansdehnuug 

vor  sich  hat. 

Mftn  tindet  nnn  beide  HemiBphären  des  kleinen  Gehirns  zwar 

mit  einander  in  Verbindung  Btehend,  aber  durch  eine  tiefe,  mittlere 
I  Furche,  in  welcher  die  Medulla  oblongata  lag,  von  einander  getrennt. 

I  Diese  Furche  ist  das  Thal,  Vullecula  Reilii.    Sic  endet  nach  hinten 

I  in   der  Incieura   margtnalüs  posterio};    einem   IJmbug   zwischen    den 

hinteren  convexen  Rändern  beider  Hemisphilren  dea  kleinen  Gebims. 

I  Beide  Kleinhim-HemisphMren  xeig^ii  an  ihrer  tintcren  flfiche  vier  Lappen, 

deren  jeder  ans  mebrereii,  parallelen,  aber  Rclimalen  Oyri  Ueatelit: 
I  1.  Den  iiinteren  Unterlappen,    Labut   inferior   ptuteriin'  :  tewiitmtaria, 

den  binteren  Kand  der  unteren  Fläche  entlang. 
^^^  2.  Den  koi  I  färmi^en  Lappen,  Lobim  ciinei/ormiii.  Er  era  treckt  sich  Tfrn 

^^^L  aagsen  und  Tom  nach  liinlen  nnd  innen  xnm  Thals,  und   nimmt  auf  diegem  Zuge 

^^^H  an  Breite  ab,  wodurch  er  keilfHrmi^  wird. 

^^^1  3.  Die  Mandel,  Toniilla,  liegt  an  der  inneren  Heile  des  varigfn,  lanSohat 

^^^1  am  Tbale,  und  ragt  unter  allen  Lappen  am  meialen  nach  unten  hervor, 

^^^H  Die  Furchen,  welche  diese  dri<i  Lappen  von  einander  trennen,  sind  mit  dem 

^^^P  liinteron  Rande  der  Hemisphlire  laut  parallel,  nnd  erscheinen  bedeutend  tiefer  als 

^^^  jene,  welche  die  einzelnen  Gyri  Eines  Lappena  von  einander  scheiden. 

'  4.  Die  Flocke,    Flotcuha  «.  Loliulia,    ist   ein   loses   Büschel    kleiner    nnd 

kuraer  Qjti,  welches  auf  dem   Proasiiu  ctrehcUi  ivl  ponttm  liigt.  Und  sich  In  den 
I  markweiaaen  Stiel,  Feituncalut  Jloccali,  fortsetst,  welcher  sich  his  lum  Unterwnnu 

ala  hinteres  Marknegel  verfolgen  IKmL 

Der,  nach  Herauunahme  des  verlängerten  Markes,  im  Thale 
sichtbare  mittlere  Bezirk  des  kleinen  Gehirna,  heisst  Untcrwarm, 
Vermis  infenoi:  Er  besteht  aus  vielen  schmalen,  parallel  hinter 
einander  liegenden,  queren  Gyri,  welche  wieder  in  vier  grössere 
Gruppen  zusanunengefaset  werden. 

Diese  sind,  von  rUck-  nach  vorwärts  ge/ählt; 

a)  Die  KlapponwnUt.  oder  die  kurze  Commlsaur  (Keil),  weil  ihre 
Qfri  jene  der  hinteren  I/nterlappen  verbinden. 

ti)  Die  Wtirmpyraniide,   eine    ans    stark    nach    hinten    gebogenen  trän«- 
I  verealen  fJyri  bestehende  CoramisBUr,  welche  die  Lobi  timei/ormai  verbindet. 

c)  Das  ZXpfchen  (Uvula  ctreheUij.  Diese  passende  Benennung  führt  jener 
Abschnitt  des  Unturwurmea,  welcber  zwischen  den  Mandeln  KU  liegen  kommt. 

d)  Das  Knötchen  ('.VkIm/iu  Malacamij  hcgrenxt  aU  kleiner,  rundlicher 
KCrper,  mit  nchwach  angedeuteter  LAppchenahtbeilnng,  den  Unterwnrm  nach  vom, 
und  hfingt  rechts  und  links  durch  eine  xarle,  durchscheinende,  halbmondfttnni^ 
Markfalte  (die  beiden  hinteren  Marksegel,  Vela  ctrebd-U  potttrioFa  :  TariaiJ 
mit  den  Flocken  stielen  Kusamnien.  Jedes  hintere  Marksegel  kehrt  seinen  freien 
concBven  Kand  scliief  nach  vom  nnd  unten,  bildet  also  eine  Art  Tasche,  in 
welche  man  mit  dem  Scalpeltheft  vingvlion,  und  das  Segel  aufheben  kann,  nm 
es  deutlicher  xn  sehen.     Thnt   man    es    nicht,    su    hat  man   oft  Mühe,    die  Segel, 

■  ihrer   Diirelisiahtigkeit   und   ihres   Ankleben«  an  die   Nachbarwand   wegen,   wahr- 

^^^H  Knnebmen. 


Man  bemerkt  bei  dieser  Ansicht  noch  die  beiden  Bindearme 
des  kleinen  Gehirns,  Procaasas  eenhdli  ad  corput  quaängeminum. 


§.  M%.  Anatomie  des  kloinen  Gehirns  von  oben.  Vierte  Gehimkammer.  865 

Sie  erstrecken  sich  —  auf  jeder  Seite  einer  —  von  den  Kleinhirn- 
Hemisphären  scheinbar  nur  zum  hinteren  Paar  des  Vierhügels^  setzen 
sich  jedoch  unter  dem  Vierhügel  in  die  Haube  fort.  Ihr  Austritts- 
punkt aus  dem  kleinen  Gehirn  liegt  vor  und  über  der  Eintrittsstelle 
des  Peduncidus  cerehdli,  Sie  convergiren  gegen  den  Vierhügel  zu, 
und  fassen  ein  dünnes  ^  graulich  durchscheinendes  Markblättchen 
zwischen  sich,  welches  graue  Qehirnklappe,  vorderes  Mark- 
segel, VcUvtda  cerebdli  8,  Vdum  medulläre  anterius  genannt  wird. 
Die  graue  Gehirnklappe  grenzt  vorn  an  das  hintere  Vierhügelpaar, 
und  hängt  rückwärts  mit  dem  Vordertheile  des  Unterwurmes  zu- 
sammen. 

Zieht  man  beide  Mandeln  von  einander,  so  bemerkt  man,  dass 
das  Thal  des  kleinen  Gehirns  sich  rechts  und  links  in  eine  blinde 
Bucht,  die  sogenannten  Nester,  fortsetzt.  Diese  liegen  zwischen 
dem  Marklager  des  kleinen  Gehirns  und  der  oberen  Fläche  der 
Mandel.  An  ihrer  oberen  Wand  haftet  das  hintere  Marksegel  mit 
seinem  convexen  Rande. 

Es  lässt  sich  leicht  verstehen,  dass  zwischen  der  Medulla 
ohlongata  und  dem  Unterwurme  ein  freier  Raum  übrig  bleiben 
muss,  in  welchen  man  von  hinten  her,  durch  eine,  zwischen  dem 
hinteren  Rande  des  Wurmes  und  der  Medvlla  ohlongata  befindliche, 
und  nur  durch  die  darüber  wegziehende  Arachnoidea  verdeckte 
Oeffnung  eindringen  kann.  Diese  Oeflfnung  ist  der  Qu  er  schlitz 
des  kleinen  Gehirns.  Der  freie  Raum  selbst,  ist  die  vierte 
Gehirnkammer.  Ihre  obere  Wand  wird  durch  den  Unter  wurm 
und  die  graue  Gehirnklappe,  ihre  Seitenwände  durch  die  Mandeln, 
ihre  untere  Wand  durch  die  Rautengrube  der  Medvlla  ohlongata 
dargestellt.  Ihre  paarigen  seitlichen  Ausbuchtungen  sind  die  bereits 
erwähnten  Nester. 


§.  348.  Anatomie  des  kleinen  Geliirns  von  oben.  Vierte 

öeliirnkammer.*) 

Die  beiden  Hemisphären  des  kleinen  Gehirns  hängen  an  ihrer 
oberen    Fläche   in    der   Mittellinie    durch    den    massig  aufgewölbten 

*)  Zur  Vornahme  dieser  Untersuchung  soll  ein  frisches  Gehirn  verwendet 
werden.  Nur  im  Nothfalle  könnte  jenes,  an  welchem  das  kleine  Gehirn  von  unten 
auf  studirt  wurde,  benutzt  werden,  wobei  das  abgeschnittene  verlängerte  Mark  mit 
einem  dünnen  Holzspan  der  Länge  nach  durchstochen,  und  in  der  Varolsbrilcke 
wieder  befestigt  werden  müsste.  Instructiver  ist  es,  an  einem  zweiten  Schädel  die 
Decke  desselben  sammt  den  Hirnhäuten  abzutragen,  hierauf  durch  zwei  im  Foranien 
occipUaU  niagnum  convergirende  Schnitte  die  Hinterhauptschuppe  herauszusagen,  und 
die  Hinterlappen  des  grossen  Gehirns  senkrecht  abzutragen,  um  das  Tentorium  frei 
zu  machen  und  zu  entfernen.  Man  kann,  um  grösseren  Spielraum  zu  gewinnen,  noch 
die  hinteren  Bogen  des  Atlas  und  Epistropheus  ausbrechen,  wodurch  der  Uebergang 

Hyrtl,  Lehrbuch  der  Anatomie.  14.  Aufl.  ^^ 


866  8.  848.  Anatomie  des  kleinen  Oehirns  von  oben.  Vierte  Oehirnkammer. 

Oberwurm,  Vermis  superior,  zusammen,  indem  die  Gyri,  meist 
ohne  Unterbrechung,  von  einer  Hemisphäre  in  die  andere  übergehen. 
Der  Ober  wurm  ist  also  das  schmale  Verbindungsglied  der  beiden 
Hemisphären  des  kleinen  Gehirns.  Der  dem  vorderen  und  hinteren 
Ende  des  Oberwurms  entsprechende  Einbug,  heisst  Incisura  margi- 
nalis  antei*ior  et  po8terio7\ 

Die  obere  Fläche  beider  Kleinhirn-Hemisphären  wird  von  der 
unteren  durch  einen  tiefen,  an  der  äussersten  Umrandung  des  kleinen 
Gehirns  herumlaufenden  Einschnitt,  Sulcus  magntis  horizontcJis,  ge- 
schieden. 

Man  unterscheidet  an  der  oberen  Fläche  jeder  Hemisphäre  nur  zwei,  durch 
eine  tiefe,  nach  hinten  convexe  Furche  getrennte  Lappen:  aj  den  vorderen  oder 
ungleich  vierseitigen  Lappen,  Lobus  superior  anterior  8.  quadrangularü, 
und  bj  den  hinteren  oder  halbmondförmigen  Lappen,  Lohus  superior 
posterior  s.  semilunaris. 

Der  Oberwurm  besteht  aus  einer  Colonne  querer  und  parallel 
hinter  einander  folgender  Gyri,  welche  zusammengenommen  einen 
erhabenen,  beide  Hemisphären  vereinigenden  Rücken  darstellen, 
dessen  quere  Furehung  allerdings  mit  dem  geringelten  Leibe  einer 
Raupe  Aehnlichkeit  hat,  wodurch  der  sonderbare  Name  des  Wurmes 
(Vermis  homhfdnus)  entstand. 

Vemiis  ist  bei  Galen:  £;ii9uai;  ax'oXsxocioyJ;,  von  ixwArj^,' »Spul-,  Seiden- 
und  Regenwurm. 

Die  Summe  der  Gyri  des  Oberwurms  wird  durch  tiefe  Furchen,  wie  es  am 
Unterwurme  der  Fall  war,  in  drei  Abtheihmgen  gebracht.  Diese  sind,  von  vor- 
nach  rfickwärts  gezählt,  folgende: 

a)  Das  Cent ra Häppchen,  Lobulus  centralis^  eine  Folge  von  acht  bis 
zehn  Gyri,  welche  in  die  vordersten  Gyri  der  vorderen  Lappen  der  Hemisphären 
übergehen. 

h)  Der  Borg,  MoiUicultts,  dessen  höchste  Stelle  (Jacnmen  (Wipfel),  und 
die  darauf  folgende,  schief  nach  hinten  und  unten  abfallende  Neige  Dec/ive  (Ab- 
hang) genannt  wird.  Er  ist  die  grösste  Abtheilung  des  0}»erwunnes,  und  ver- 
bindet die  hinteren  Gyri  der  vorderen   Lappen. 

c)  Das  Wipfelblatt,  Foluim  caaiminis,  besser  Conuiivt/tura  loftoruni  senii- 
lunarium,  liegt  als  einfache,  kurze  und  quere  Commissur,  zwischen  den  inneren 
Enden  der  JA)bi  senUhtnare«,  «licht  fiber  dem  Anfange  des  IJnterwurmes,  in  der 
Incistira  niaryinalifi  posterior. 

Biegt  man  das  Centralläppchen  mit  dem  »Scalpellhefte  zurück,  »o  sieht  man 
beide  Bindearme  des  kleinen  Gehirns  zum  Vierhiigel  aufsteigen,  und  zwischen 
ihnen  die  graue  (lehimklapiie  ausgespannt,  welche  aber  nicht,  wie  bei  der  unteren 
Ansicht,  eben  un<l  glatt,  sondern  mit  fünf  sehr  kleinen  und  flachen,  grauen  und  quer- 
gestelltenWülstchen  besetzt  ist.  Diese  bilden  zusammengenommen  ein  zungenfßrmige», 
nach  vom  abgerundetes  graues  Blatt  —  die  Zunge,    JAngiäa.     Die  Zunge  hängt 

des  verlängerten  Markes  in  das  Kückenmark  zur  Ansicht  gelangt.  Diese  Behand- 
lungsweise  gewährt  den  grossen  Vortheil,  die  Theile  in  ihrer  natürlichen  Lage  tiber- 
blicken zu  lassen,  und  die  Stellung  des  Gehinistammes  in  situ  beurtheilen  zu  lernen, 
was  am  herausgenommenen  Gehirne,  welches  auf  einer  Horizontalebene  liegt,  nicht 
zu  erreichen  ist.  Man  bedient  sich  jedoch  meistens  eines  herausgenommenen  Ge- 
hirns, weil  an  ihm  die  Arbeit  leichter. 


(.  848.  Anatomie  des  kleinen  (Gehirne  von  oben.  Vierte  OehirnknmiMr.  867 

nach  hinten  mit  dem  Centralläppchen  zusammen.  Sie  bedeckt  nicht  die  i^anze 
graue  Klappe.  Ein  kleines  Stück  derselben  bleibt  vom  von  ihr  unbedeckt,  und 
zu  diesem  sieht  man  von  der  mittleren  Furche  des  hinteren  Vierhügelpaares  das 
kurze  Frenulum  veli  tneduUarU  heruntersteigen.  —  Zieht  man  den  Lobus  tuperior 
anterior  stärker  vom  Vierhügel  ab,  um  den  Bindearm  frei  zu  bekommen,  so  sieht 
man,  hinter  dem  hinteren  Brachium  corporis  quadrigemku,  noch  die  Schleife, 
Letnniscus,  neben  dem  vorderen  Ende  des  Bindearmes. 

Wird  der  Wurm  vei-tical  durchgeschnitten,  so  übersieht  man 
an  seiner  Schnittfläche  sein  weisses  Mark.  Dasselbe  giebt  sieben 
bis  acht  Aeste  ab,  welche  in  die  Abtheilungen  des  Ober-  und  Unter- 
wurms eindringen,  und  mit  ihren  Nebenästen,  welche  sämmtlich 
mit  grauer  Rindensubstanz  eingefasst  werden,  den  Lebensbaum 
des  Wurms,  Arbor  vitae  veiinis,  bilden.  Aehnlich  findet  man  das 
Marklager  der  Kleinhirn-Hemisphären  bei  jedem  Durchschnitte  mit 
allseitig  herauswachsenden,  grauumsäumten  Markästen  und  Zweigen 
besetzt,  als  Arbor  vitae  cerebdli. 

Die  alten  Botaniker  nannten  die  Thuja  ocddentaUt,  weil  sie  immer  grünt, 
Arhov  vitae.  Die  Aehnlichkeit,  welche  die  Ansicht  der  eben  erwähnten  Durch- 
schnittsflächen des  Wurmes  und  des  kleinen  Gehirns,  mit  den  zackigen  Blättern 
dieses  Baumes  hat,  veranlasste  die  Benennung:  Lebensbaum. 

Nun  exstirpirt  man  die  durch  den  Vcrticalsehnitt  schon  ge- 
trennten Hälften  des  Wurms,  um  eine  freiere  Einsicht  in  die  vierte 
Hirnkammer  zu  eröffnen,  und  die  obere  (hintere)  Fläche  des  ver- 
längerten Markes  blosszulegen ,  welche  den  Boden  der  vierten 
Kammer  bildet.  Man  bemerkt  nun,  dass  die  beiden  hinteren  Stränge 
des  Riiekonmarks,  zwischen  welchen  der  Siilcus  longitudinalis  poste- 
rior liegt,  nach  vorn  divergiren,  um  als  Coipoiu  resttformifi  zum 
kleinen  (iehirn  zu  treten.  Durch  diese  Divergenz  entsteht  zwischen 
ihnen  ein  nach  hinten  spitziger  Winkel ,  welcher  in  den  Sulcus 
longitadimüh  posterior  übergeht.  Setzt  man  an  diesen  Winkel  jenen 
an,  welcher  durch  die  aus  dem  kleinen  Gehirn  zum  hinteren  Vier- 
hügelpaar convergent  aufsteigenden  Bindearme  gebildet  wird,  so 
erhält  man  eine  Raute  mit  einem  vorderen  und  hinteren  Winkel, 
und  zwei  Seitenwinkeln.  Dieses  ist  die  Rautengrube,  Fovea  rhom- 
hoidea,  —  der  Boden  der  vierten  Hirnkammer.  Ihre  Grundfläche 
erscheint  grau,  als  Lamina  cinerea  fossae  rhomboideas.  Die  Lamina 
cinerea  ist  eine  Fortsetzung  der  grauen  Kernsubstanz  des  Rücken- 
marks, und  wird  durch  eine,  vom  vorderen  zum  hinteren  Winkel 
der  Rautengrube  herablaufende  Medianfurehe,  in  zwei  Seitenhälften 
getheilt. 

An  der  Stelle,  an  welcher  die  Corpora  restiformia  auseinander  zu  weichen 
heginnen,  macht  sich  an  ihnen  eine  Furche  kenntUch,  durch  welche  vom  inneren 
Kande  der  Corpora  restiformia,  ein  schmaler  Streifen  als  zarter  Strang,  Funi- 
cuhu  gracUis,  abgemarkt  wird.  Derselbe  schwillt  dicht  am  hinteren  Winkel  der 
Rautengrube  zur  sogenumten  Keale  uk  CClava).    Der  nach  Abzug  des  larten 

65» 


868  (.  M8.  Aufttomie  des  kleinen  Gehirns  r6n  oben.  Vierte  Gehirnkaintner. 

Stranges  bleibende  ansehnliche  Rest  des  Corpus  restifomie,  heisst  Keilstrang, 
Funiculfu  cuneeUtu.  Wo  die  Ckfrpora  reatiformia  in  das  kleine  Gehirn  eintreten, 
enthalten  sie  einen  grauen  Kern,  Tuberculum  dnereum.  —  Zu  beiden  Seiten  der 
Medianfurche  der  Rautengmbe  wölben  sich  die  runden  Stränge,  FunicuU  tereie*, 
etwas  vor,  welche  im  hinteren  Theile  der  Rautengrube  durch  zwei  zungenähnlich 
gestaltete  Blätter  grauer  Substanz  (Älae  cinereaej  verdeckt  werden.  —  Weisse 
Querfasern  in  der  Lamina  cinerea  der  Rautengrube  werden  als  Chordae  ttcusUcfte 
fflr  die  Wurzeln  der  Hömerven  gehalten,  und  ein  Paar  feine  Markstreifen,  welche 
sich  längs  den  Keulen  der  zarten  Stränge,  an  die  Corpora  rejitifomUa  anscliliessen, 
heissen  Riemchen,   Ttieniae  fossae  rhomboideae. 

Der  zwischen  den  divergirenden  Corpora  restifoinnia  ein- 
geschlossene hintere  Winkel  der  Rautengrube,  hat  eine  augenfällige 
Aehnlichkeit  mit  dem  Ausschnitte  einer  Feder,  deren  Spalt  durch 
den  Sidcua  longitudinalis  posterior  vorgestellt  wird ,  und  fuhrt  des- 
halb den  schon  von  Herophilus  gebrauchten  Namen  der  Schreib- 
feder, Calamus  acriptorius*).  Der  vordere  Winkel  der  Rautengrube, 
welcher  erst  nach  Entfernung  der  grauen  Gehirnklappe  zu  Gesichte 
kommt,  hängt  durch  den  Aquaeductus  Sylvii,  dessen  Endöffnung  bei 
den  Alten  auch  Anus  cerebri  hiess,  mit  der  dritten  Kammer  zusammen. 
Die  Seitenwinkel  buchten  sich,  wie  gesagt,  zu  den  Nestern 
(Kecessus  laterales)  aus,  welche  unvollkommene  Wiederholungen  der 
Seitenkammern  des  grossen  Gehirns  sind.  Der  graue  Beleg  nimmt 
hier  (dicht  am  Austritte  der  Bindearme),  als  Locus  caeruleiis ,  eine 
auffUUige  dunkle  Färbung  an. 

Der  zwischen  dem  Unterwurm  und  der  Rautengrube  befindliche 
Raum  stellt  mm  die  vierte  Hirnkammer  dar.  Sie  wurde  von  den 
alten  Anatomen,  welche  sämmtliehe  Nerven  in  ihr  entstehen  liessen, 
Veiitriculus  nobUis  genannt.  Und  in  der  That  verdient  sie  auch 
heute  noch  diesen  Namen,  da  wir  sehen  werden,  das»  acht  Ilirn- 
nerven,  entweder  ganz  oder  zum  Theil,  aus  grauen  Kernen  ihrer 
Basis  (Rautengrube)  entspringen. 

So  wie  die  dritte  Hirnkammer  nach  oben  nicht  zunächst  durch  Mark,  son- 
dern durch  eine  Fortsetzung  der  Pia  maler,  als  Tela  choroidea  superior,  begrenzt 
wurde,  so  wird  auch  der  Raum  der  vierten  Hirnkammer  nach  hinten  nicht  durch 
Markwand,  sondern  durch  die  Pia  mater,  als  Tela  choroidea  inferior,  zum  Ah- 
schluss  gebracht  Durch  ihre  Verbindung  mit  den  Riemchen  (aiu  hinteren  Winkel 
der  Rautengmbe),  mit  den  Flockenstielen,  und  mit  den  hinteren  Marksegeln,  wird 
die  Tda  choroidea  inferior,  wie  in  einem  Rahmen  6xirt.  In  dieser  häutigen  Ver- 
schlusswand soll  nach  Magen  die  eine  Oeflfnung  existiren,  durch  welche  der 
vierte  Ventrikel  mit  dem  über  ihm  b<*findlichen  Subarachnoidealraum  verkehrt. 
Die  Tela  choroidea  inferior  bildet  in  der  vierten  Himkanuner  den  ]>aarigen,  an 
die  Auskleidungshaut  der  Kammer  ad!iHrent4Mi  Pfextut  chontideuM  rentriculi  ifunrfi, 
welcher  sich  mit  zwei  Flügeln  längn  den  Flockenstielen  hin  erHtreokt,  mit  d«Mn 
Adergeflecht  der  dritten  Kammer  aber  nicht  zusammenhängt. 


*)    "Omp    'HpociAo;    £uca^ev    avayXu^>5    xsXijiou,      Ilerophihm     cwiii    exritum 
calaini  camparatnff  Oalennii,  de  nfuit,  odminiMtr,  L.  IX.  cap,  4, 


§.  349.  Embryohirn.  869 


Wird  eine  Hemisphäre  des  kleinen  Gehirns  quer  durch- 
geschnitten, so  sieht  man  in  ihrem  mit  Aesten  und  Zweigen  be- 
setzten weissen  Marklager,  nach  vorn  und  innen  den  gezackten 
Körper,  Nudem  dentatus,  Corpus  rhomboideum  s.  ciliare,  als  einen 
weissen,  mit  einem  grauen  zackigen  Saume  eingehegten  Kern  der 
Hemisphäre. 


§.  349.  Embryoliirn. 

In  den  ersten  Entwicklungsstadien  besteht  das  Embryohirn 
aus  drei  hinter  einander  liegenden,  und  unter  sich  communicirenden, 
häutigen  Blasen,  deren  dritte  mit  dem  gleichfalls  häutigen  Rücken- 
marksrohr zusammenhängt.  Die  häutige  Wand  der  Blasen  ist  die 
zukünftige  Ka  mater.  Man  nennt  die  drei  Blasen:  Vorder-,  Mittel- 
und  Hinterhirn.  Sie  sind  mit  gallertigem  Fluidum  gefüllt.  Auf  dem 
Boden  der  hinteren  und  mittleren  Blase,  und  an  den  Seiten  der 
vorderen  entstehen  Ablagerungen  festerer  Nervensubstanz,  welche 
sich  allmälig  längs  der  Wände  der  Blasen  nach  oben  ausdehnen. 
Die  hintere  Blase  bildet  das  Substrat  der  Entwicklung  des  kleinen 
(lehirns;  aus  der  mittleren  Blase  wird  der  Vierhügel;  aus  der  vor- 
deren entwickeln  sich  zunächst  nur  die  beiden  Sehhügel.  Die 
durch  Nervensubstanz  nicht  ausgefüllten  Höhlenreste  der  Blasen 
sind,  für  die  hintere  Blase:  die  vierte  Hirnkammer,  für  die  mittlere: 
der  Aquaeductus  Sjjlvii,  für  die  vordere:  die  dritte  Gehirnkammer. 
Da  an  der  vorderen  Blase  die  Ablagerung  von  Nervensubstanz 
nicht  auch  die  obere  Wand  der  Blase  in  Anspruch  nimmt,  erklärt  es 
sich,  warum  die  dritte  Gehirnkammer  auch  im  fertigen  Gehirn,  oben 
nur  durch  den  als  lela  choroidea  superior  erwähnten  Antheil  der  Pia 
mater  abgeschlossen  erscheint. 

Die  Hemisphären  des  grossen  Gehirns  entstehen  als  Aus- 
buchtungen der  vorderen  Blase.  Es  wuchern  nämlich  aus  der  unteren 
Wand  dieser  Blase,  zwei  in  der  Mitte  miteinander  verlöthete  Bläs- 
chen hervor,  welche  an  ihrer  oberen  Fläche  eine  Furche  zeigen, 
welche  mit  der  spaltförmigen  Höhle  der  dritten  Gehirnkammer  zu- 
sammenhängt. Dieses  Doppelbläschen,  an  dessen  Grunde  sich  die 
Corpora  striata  entwickeln,  imd  dessen  mittlere  Verlöthung  dem 
zukünftigen  Corpus  adlosum  entspricht,  wächst  sehr  rasch  nach 
oben,  und  dann  nach  hinten  an,  so  dass  es  die  drei  primären  Blasen 
gänzlich  von  oben  her  überlagert.  Die  beiden  Furchen  des  Doppel- 
bläschens kommen  durch  dieses  Umschlagen  des  Bläschens  an  seine 
untere  Fläche  zu  liegen,  und  stellen,  unter  zunehmender  Vertiefung 
und  Ausweitung  ihres  Grundes,  die  e»***  ^  *  *  '"  Seitenkammem 
des  grossen  Gehirns  dar,    J  "  "depde 


870  §.  850.  Rftdcenmirlc. 

Einfaltung  scheidet  die  sich  eben  entwickelnden  beiden  Grosshim- 
Hemisphären  immer  mehr  von  einander  ab.  Das  rasche  Anwachsen 
der,  den  beiden  Grosshirn  -  Hemisphären  zu  Grunde  liegenden 
Doppelblase  im  engen  Räume  der  Schädelhöhle,  bedingt  nothwendig 
Faltungen  ihrer  Oberfläche,  welchen  die  Gyri  ihre  Entstehung 
verdanken. 

An  der  hinteren  Hirnblase  müssen  zwei  Theile  unterschieden 
werden.  In  dem  vorderen  Theile  wölbt  sich  die  Nervensubstanz 
oben  vollständig  zusammen,  und  bildet  dadurch  die  erste  Anlage 
des  kleinen  Gehirns,  während  die  untere  Wand  sich  zur  Varols- 
brücke  entwickelt.  In  dem  hinteren  Theile  dagegen  wuchert  die 
Nervensubstanz  nur  auf  dem  Boden  desselben,  es  entsteht  kein 
Gewölbtheil,  und  die  Höhle  des  Hinterhirns  ist  somit  nach  oben 
und  hinten  offen,  als  Kautengrube. 


§.  350.  Mckenmark. 

Der  in  der  Rückgratshöhle  eingeschlossene,  platt-cylindrische 
Abschnitt  des  centralen  Nervensystems,  heisst  Rückenmark,  3/e- 
didla  spincUis  ([/.ueXö?  ^oc/ivq^  bei  Galen,  [/.usXo^  vwnaCo;  bei  Hippo- 
c  rat  es,  von  v(i)TO?,  Rücken,  woher  phthisis  notias,  Rückcnmarks- 
darre  bei  älteren  Nosologen).  Dasselbe  verhält  sich,  dem  Scheine 
nach,  zum  knöchernen  Rückgrat,  wie  das  Mark  zu  den  lang- 
röhrigen  Knochen.  Dieser  rohe  Vergleich  veranlasste  seinen  Namen. 
Es  geht  ohne  scharfe  Grenze  nach  oben  in  die  Medvlla  ohlo7igata 
über,  und  endigt  unten  schon  am  ersten  oder  am  zweiten  l-«enden- 
wirbel  mit  einer  stumpf  kegelförmigen  Spitze  (Conus  terminalis), 
von  welcher  das  Füum  terminäh  (§.  343)  sich  bis  zum  Ende  des 
Sackes  der  harten  Rückenmarkhaut  erstreckt. 

Mit  jeder  Beugung  des  Rückgrats  rückt  der  Con^is  medullär^  etwas  hciher. 
Ein  durch  das  Ligamentum  intervertebrale  zwischen  letzten  Brust-  und  ersten 
Lendenwirbel  eingestossenes  Scalpell,  trifft  den  Conus  medttUaris  nicht  mehr,  wenn 
der  Rücken  der  Leiche  gebogen  war.  Aus  diesem  Gnmde  wird  auch  bei  Buckligen 
das  Rückenmark  höher  als  sonst,  nämlich  schon  am  letzten  Rückenwirbel,  enden. 
—  Das  Rückenmark  bildet  keinen  gleichförmig  dicken  Strang;  denn  am  Halse 
imd  gegen  sein  unteres  Ende  zu,  erscheint  es  dicker  als  in  der  Mitte  Heines 
Brustsegments.  An  beiden  genannten  Orten  (Hals-  und  Lendenanschwellung') 
treten  die  stärksten  Nerven  des  Rückenmarks  ab.  Es  kann  überhaupt  als  Regel 
gelten,  dass  die  Dicke  des  Rückenmarks  im  geraden  Verhältniss  mit  der  Dicke 
der  stellenweise  abzugebenden  Nerren  zunimmt  Die  vergleichende  Anatomie 
liefert  die  triftigsten  Belege  dafür.  8o  erscheint  bei  jenen  Fischen,  deren  Brust- 
flossen sich  zu  mächtigen  Schwingen  entwickeln,  wie  bei  den  fliegenden  Fischen, 
jener  Theil  des  Rückenmarks,  welcher  die  Nerven  zu  den  Flossen  entsendet,  un- 
verhältnissmässig  dick.  Bei  den  Fröschen  ist  jene  Anschwellung  des  Rückenmarks, 
aus  welcher  die   Nerven   für   die  hinteren,   muskelstarken  Extremitäten  entstehen, 


§.  350.  Rftckenmark.  871 

ungleich  grösser,  als  die  vordere  Anschwellung,  welche  den  Nerven  der  vorderen 
schwächeren  Extremitäten  ihre  Entstehung  giebt.  Bei  den  Schildkröten,  deren 
Rumpfherven,  wegen  des  unbeweglichen  Rückenschildes,  sehr  mangelhaft  ent- 
wickelt sind,  bildet  das  Rückenmark  am  Ursprung  der  Nerven  der  vorderen  und 
hinteren  Extremitäten  zwei  ansehnliche,  nur  durch  einen  relativ  dünnen  Strang 
mit  einander  verbundene  Intumescenzen. 

Das  Kückenmark  besteht  aus  zwei  halbcylindrischen  Seiten- 
hälften, mit  äusserer  mark  weisser  Rinde  und  innerem  grauen 
Kern.  Beide  Seitenhälften  liegen  ihrer  ganzen  Länge  nach  so  dicht 
an  einander,  dass  sie  nur  Einen  Cylinder  zu  bilden  scheinen,  an 
welchem  jedoch  die  Gegenwart  eines  vorderen  und  hinteren 
Sulcus  longttudincdis,  den  Begriff  der  Paarung  seitlicher  Hälften  auf- 
recht erhält.  Der  seichte  Sulcus  longäudinalis  posterior  ist  nur  am 
Ilalssegment  des  Kückenmarks,  und  gegen  den  Conus  termincUis  zu, 
deutlich  ausgesprochen:  der  tiefere  anterior  erstreckt  sich  aber  durch 
die  ganze  Länge  des  Kückenmarks.  Beide  Sulci  nehmen  falten- 
förmige  Fortsätze  der  Pia  mater  auf. 

Man  spricht  auch  von  zwei  Stäci  laterale*,  einem  anterior  und  posterior, 
an  der  Seitenfläche  des  Rückenmarks.  Wenn  man  unter  StUci  laterale»  die  Ur- 
spnmgslinien  der  vorderen  und  hinteren  Wurzeln  der  Rückenmarksnerven  versteht, 
mögen  sie  hingehen.  Wahre  Furchen,  mit  faltenförmiger  Verlängerung  der  Pia 
niater  in  sie,  sind  sie  aber  nicht. 

Die  grauen  Kernstränge  beider  Seitenhälften  des  Rückenmarks 
werden  durch  eine  mittlere  graue  Commissur  unter  einander 
verkoppelt.  Unmittelbar  vor  dieser  greift  auch  eine  Verbindung  der 
Marksubstanz  beider  Seitenhälften  durch  die  vordere  weisse 
(Kommissur  Platz,  welche  dem  Grunde  des  Suiciis  longitudinalis 
anterior  entspricht.  Zwischen  beiden  Commissuren  befindet  sich  der, 
an  dünnen  Querschnitten  leicht  erkennbare,  sehr  feine,  mit  Flimmer- 
epithel ausgekleidete  Central kanal  des  Rückenmarks. 

Gegen  die  Spitze  des  Conua  termmalvt  verschwindet  die  graue  Commissur, 
wodurch  das  Ende  des  Centralkanals  mit  der  hinteren  Längenfurche  zusammen- 
fliesst,  somit  an  der  hinteren  Seite  der  Conusspitze  eine  spaltf^rmige  Oeffnnng 
sich  herstellt,  welche,  ihrer  nach  aussen  etwas  umgelegten  Seitenränder  wegen, 
Simu  rhomboidal i»  benannt  wird. 

Querschnitte  des  Rückenmarks  in  verschiedenen  Höhen  geführt, 
belehren  über  das  räumliche  Verhältniss  der  weissen  Rinden-  und 
grauen  Kernmasse.  Das  Bild  gestaltet  sich  aber  anders,  je  nach 
der  Höhe,  in  welcher  das  Rückenmark  durchschnitten  wurde.  Im 
Allgemeinen  lässt  sich  sagen,  dass  jeder  Seitcntheil  des  grauen 
Kerns  die  Gestalt  einer  nach  aussen  concaven,  nach  innen  convexcu 
Platte  hat.  Die  convexen  Flächen  beider  Platten  hängen  durch  die 
mittlere  graue  Commissur  zusammen,  und  gewähren  somit  im  Quer- 
durchschnitt die  Gestalt  eines  J{,  Die  beiden  hinteren  Hörner  dieser 
Figur  sind  länger  und  dünner,  um  dii  po&tmor 


872  §.  SM.  Rftckennark. 

gerichtet,  welchen  sie  fast  erreichen.  Die  vorderen  Hörner  sind 
kürzer  und  dicker,  und  sehen  gegen  den  Sulcus  lateralis  anterior. 
Die  hinteren  Hörner  verdanken  ihre  grössere  Länge  einer  Auf- 
lagerung von  gelblicher,  gelatinöser,  zellenführender,  aber  ihrem 
Wesen  nach  nicht  näher  bekannter  Substanz  (Suistantia  gelatinoaa, 
Rolando),  welche  auch  die  nächste  Umgebung  des  Central- 
kanals  bildet. 

Der  Vergleich  vieler,  in  verschiedenen  Höhen  des  Rückenmarks  gelegter 
Querdorchschnitte  lehrt  femer,  dass  die  weisse  Masse  stetig  von  unten  nach  oben 
an  Mächtigkeit  gewinnt,  die  graue  Masse  dagegen  durch  ihr  stellenweises  An- 
wachsen, die  stellenweisen  Verdickungen  des  Rückenmarks  (Hals-  und  Lenden- 
anschwellung) bedingt. 

Die  weisse  Rindensubstanz  des  Rückenmarks  besteht  nur  aus  Nervenfasern, 
mit  theils  longitudinalem,  theils  transversalem  Verlauf.  Die  longitudinalen  Faser- 
züge erzeugen  die  gleich  näher  zu  betrachtenden  Rückenmarksstränge;  die 
transversalen  dagegen  sammeln  sich  zu  den  Wurzeln  der  Rückenmarks- 
nerven. —  Der  graue  Kern  des  Rückenmarks  besteht,  nebst  grauen  Nerven- 
fasern, vorzugsweise  aus  multipolaren,  granulirten  Ganglienzellen,  mit  verästelten 
Fortsätzen,  von  welchen  es  feststeht,  dass  sie  theils  in  die  Fasern  der  Rückenmarks- 
nerven,  theils  in  die  Fasern  der  Rückenmarksstränge  übergehen,  tlieils  aber  zur 
Verbindung  der  Zellen  unter  einander  verwendet  werden.  Der  Zusammenhang 
der  Wurzeln  der  Rückenmarksnerven  mit  den  Rückenmarkssträngen  ist  somit  kein 
directer,  sondern  ein  durch  die  Zellen  des  grauen  Kernes  vermittelter.  Dieses 
wurde  wenigstens  für  die  vorderen  Wurzeln  der  Rückenmarksnerven  mit  Bestimmt- 
heit erkannt.  —  Die  Frage,  ob  jede  vordere  Nervenwurzelfaser  mit  einer  Faser 
der  vorderen  Rückenmarksstränge  correspondirt,  muss  verneinend  beantwortet 
werden,  denn  genaue  und  übereinstimmende  Zählungen  haben  nachgewiesen,  dass 
die  Menge  der  Fasern  im  Halssegment  der  Rückenmarksstränge  dreimal  kleiner 
ist,  als  die  Summe  der  Fasern  der  vorderen  Nerven  wurzeln.  Die  Fasern  der 
vorderen  Wurzeln  der  Rückenmarksnerven  mussten  also  durch  die  Zellen  der 
grauen  Substanz  gnippenweise  zusammengefasst ,  und  die  Verbindimg  dieser 
Gruppen  mit  dem  Gehirne,  gemeinschaftlichen  Leitungswegen  übertragen  worden 
sein.  —  Wir  wissen  femer  mit  Bestimmtheit,  dass  die  Fasern  der  vorderen  moto- 
rischen Wurzeln  der  Rückenmarksnerven,  aus  den  Ganglienzellen  der  vorderen 
Homer  des  grauen  Kernes,  die  Fasern  der  hinteren  sensitiven  Wurzeln  der 
Rückenmarksnerven  dagegen,  aus  den  Ganglienzellen  der  hinteren  Homer  ihren 
Ursprung  ableiten.  Beide  Arten  von  Ganglienzellen  sind  in  ihrem  Habitus  sehr 
verschieden.  Die  Ganglienzellen  der  vorderen  Homer  sind  gross,  unregelmässig 
an  Gestalt,  mit  zahlreichen  Fortsätzen,  und  einem  Kern  (ohne  Kemkörperchen), 
welcher  sich  durch  Karmin  viel  stärker  färbt  als  der  Zelleninhalt,  während  die 
Zellen  der  hinteren  Homer  kleiner  sind,  zugleich  auch  mndlicher,  und  einen  Kern 
enthalten,  welcher  durch  Karmin  sich  viel  weniger  färbt  als  der  Zelleninhalt. 

Man  hat  es  erst  in  neuester  Zeit  erkannt,  dass  auch  das  Bindegewebe  ein 
berücksichtigenswerthes  Constituens  des  Rückenmarks  abg^ebt.  Bindegewebige 
Fortsätze  der  Pia  maier  nämlich,  welche  in  das  Innere  der  Rückenmarksmasse 
eingehen,  bilden  eine  Art  von  Gerüste,  für  die  Einlagemng  der  faserigen  und 
zelligen  Elemente  des  Rückenmarks.  In  der  grauen  Substanz  des  Rückenmarks 
wurde  dieses  Gerüste  mit  Sicherheit  constatirt,  ja  man  ist  selbst  geneigt,  die  Siib- 
»tanUa  gdatmoaa  ganz  und  gar  für  hyalines  Bindegewebe  anzusehen. 


§.  S51.  Einiges  fiber  Stnxetnr  des  Oebirns  und  Rflekenmarks.  873 

Durcli  die  Riclitung  der  Sulci  wird  die  Oberfläclic  des  Rücken- 
marks in  sechs  longitudinale  markweisse  Stränge  getheilt.  Diese  sind: 

a)  Die  beiden  vorderen  Stränge,  rechts  und  links  vom 
Sidcus  longüuJmalia  anterior.  Ihre  innersten  und  zugleich  tiefsten 
Fasern  kreuzen  sieh  im  Grunde  des  Sulcus  longitudinalü  anterior, 
wodurch  die  früher  erwähnte  vordere,  weisse  Commissur  des 
Rückenmarks  entsteht. 

h)  Die  beiden  Seitenstränge,  zwischen  den  Ursprüngen  der 
vorderen  und  hinteren  Wurzeln  der  Rückenmarksnerven. 

c)  Die  beiden  hinteren  Stränge,  zu  beiden  Seiten  des 
Sulcus  longitudinalis  posterior» 

Die  Zahl  dieser  Stränge  wird  gegen  den  ersten  oder  zweiten  Halswirbel 
hinauf,  durch  einige  neue,  zwischen  ilinen  auftauchende  Strangbildungen  vermehrt. 
So  schieben  sich  zwischen  beiden  vorderen  Strängen  die  beiden  Pyramide n» 
stränge  ein,  welche  im  Aufsteigen  breiter  werden,  und  in  die  beiden  Pyramiden 
der  Medidia  oblongata  übergehen.  Im  Atlasring  kreuzen  sich  die  inneren  Faser- 
bündel der  Pyramidenstränge  im  Sulnu  hnigitudirudi»  aiüerior  (Decusaalio  jpyro- 
niidumj.  Zwischen  den  beiden  hinteren  Strängen  tritt  zunächst  am  Sulcus  longi- 
tudincUin  podlerior  ein  neues  Strangpaar  auf  —  die  zarten  Stränge,  und  der 
noch  übrige  Rest  der  hinteren  Stränge,  führt  von  nun  an  den  Namen  der  Keil- 
stränge. Die  zarten  und  die  Keilstränge  bilden  das  Corpus  rfistifornip  der  be- 
treffenden Kleinliirn-TIemisphäre. 


§.  351.  Einiges  über  Structur  des  Gehirns  und  Rückenmarks, 

Was  in  den  vorausgegangenen  Paragraphen  gesagt  wurde,  be- 
trifft nur  die  Lage,  Gestalt,  und  die  Art  des  Nebeneinanderseins 
der  einzelnen  Gehirnorgane.  Ihr  innerer  Zusammenhang  unter  sich 
und  mit  dem  Rückenmark,  ist  der  Gegenstand  einer  besonderen 
Untersuchung  eigens  hiezu  vorbereiteter  und  in  Chromsäure  ge- 
härteter Gehirne.  Die  schönsten  und  lehrreichsten  Gehirnpräparate 
dieser  Art,  hat  Professor  Betz  in  Kiew,  nach  einer  von  ihm  er- 
fundenen Methode  bereitet.  Ich  habe  Gelegenheit  gehabt,  sie  auf 
der  Wiener  Weltausstellung  zu  bewundern. 

Die  Ergebnisse  der  Untersuchung  gehärteter  Hirnschnitte  sind 
jedoch  noch  nicht  so  weit  gediehen,  um  Anspruch  auf  Vollkommen- 
heit machen  zu  können,  und  es  dürfte,  wenn  es  je  geschehen  sollte, 
einer  späten  Zukunft  vorbehalten  sein,  diese  Lücke  der  anatomischen 
Wissenschaft  auszufüllen. 

Die  bisherigen  Versuche,  den  Gehirnorganismus  unter  einem 
einheitlichen  Gesichtspunkte  aufzufassen,  waren  auf  Verfolgung  der 
Markfasern  vom  Rückenmark  zum  Gehirn,  und  ihre  Beziehungen 
zu   der   grauen    Substanz   gerichtet.     Einen   gedrängten  Ueberblick 


874  S*  ^1*  Einiges  fib«r  Stnietur  dos  Gehirns  and  Uücksnmarks. 

dessen,    was    man    bereits    in    dieser    Richtung    gewonnen,    enthält 
folgende  Schilderung. 

1.  Die  graue  Substanz  des  Gehirns  und  Kückenmarks  enthält 
bei  weitem  mehr  Ganglienzellen  als  Nervenfasern,  und  erzeugt  des- 
halb für  sich  allein  keine  gefaserten  Bündel  oder  Stränge.  Sie  setzt 
sich  vom  Kückenmark,  dessen  grauen  Kern  sie  bildet,  längs  des 
Bodens  der  vierten  und  dritten  Kammer  durch  den  grauen  Hügel 
bis  in  den  Trichter  fort.  Andererseits  erscheint  sie  theils  als  con- 
tinuirliche  Belegungsraasse  der  Windungen  des  grossen  und  kleinen 
Gehirns,  theils  in  Form  von  selbstständigen,  grösseren  oder  kleineren 
Klumpen  grauer  Masse,  welche  theils  Markfasern  des  Gehirns  und 
des  Kückenmarkes  zugeführt  erhalten,  theils  auch  neue  Faserzüge 
aus  sich  entstehen  lassen,  welche  sich  an  dem  Aufbau  des  Gehirn- 
organismus  und  an  der  Erzeugung  der  Wurzeln  der  Gehirn-  und 
Kückenmarksnerven  betheiligen.  Solche  selbstständige  graue  Massen 
im  Grosshim  und  im  verlängerten  Marke  sind:  die  grauen  Kerne 
der  Oliven,  der  Hemisphären  des  kleinen  Gehirns,  der  Vier-,  Sch- 
und Streifenhügel,  die  graue  Einschaltungsraasse  der  Varolsbrücke, 
das  Tubercidum  dnereum  der  Corpora  restiformia,  die  grauen  Ur- 
sprungskerne mehrerer  Hirnnerven  im  Boden  der  vierten  Gehirn- 
kammer, der  Linsenkern,  die  Vormauer,  die  Mandel  des  grossen 
Gehirns,  u.  a.  m. 

2.  Die  drei  weissen  paarigen  Stränge  des  Rückenmarks  gehen 
in  die  drei  Stränge  der  MediUla  ohlongata  über,  welche  früher  als 
Pyramidenstränge,  Olivenstränge,  nnA  Coiyora  restiformia  angeführt 
wurden.  Der  Uebergang  vollzieht  sich  aber  mit  einer  bemerkens- 
wcrthen  IJmordnung  der  Fasern,  so  zwar,  das»  die  Seitenstränge 
des  Kückenmarks  in  die  Pyramiden,  die  vorderen  Stränge  in  die 
Oliven,  und  die  hinteren  in  die  Onpora  restifonnia  sich  umwandeln. 
Die  Pyramiden  verlängern  sich  sodann  in  die  Pedimcidi  cerehri, 
die  Oliven  gehen  in  die  Vierhügel  über,  und  die  Coiyora  resti- 
fonnia streben,  als  Pedunculi  cerehel/i,  dem  kleinen  Gehirn  zu. 
Genauer  betrachtet,  ereignet  sich  hiebei  Folgendes.  Nicht  die  Ge- 
sammtheit  der  Fasern  der  hinteren  Kückenmarksstränge  geht  in 
die  Coi'pora  restiformia  über.  Ein  Theil  dieser  Fasern  begiebt  sich 
auch  zur  Haube.  Der  Seiten  st  rang  zerlegt  sich  in  drei  Bündel. 
Das  hintere  hilft  das  Corjms  restiforme  erzeugen;  das  mittlere  wird 
zum  runden  Strang  der  Kautengrube,  welcher  zugleich  mit  den 
Crara  cerebelli  ad  corpora  quadrigemina,  die  (irundlage  der  Haube 
bildet;  —  das  vordere  wird  zur  Pyramide.  Da  nun  der  vordere 
Kückenmarksstrang  zur  Olive  wird,  und  diese  zum  Vierhügel  geht, 
welcher  hinter  und  über  dem  Fedunculus  cerehri  und  der  Haube 
liegt,  so  müssen  die  vorderen  Kückenmarksstränge  in  ihrem  Auf- 
steigen zum  Vierhügel  den  runden  Strang   und  die  Pyramide  ihrer 


§.  S51.  Einiges  üb«r  Stnictnr  Am  Gehirni  und  Rückenmarks.  875 

Seite  schliiigeiiförmig  umfassen^  wodurch  die  Schleife^   LemmscuSj 
gegeben  ist. 

3.  Die  soeben  angeführten  Faserzüge  bilden  den  Stamm  des 
grossen  und  kleinen  GebinuL  Er  besteht  für  das  Grosshirn  aus 
Peduncidtis  cerebri  und  Haube,  ftkr  das  Kleinhirn  aus  dem  Peduneulua 
cerebdlu  Die  grauen  Massen,  in  weldie  sich  der  Hirnstamm  ein- 
senkt, wei-den  als  Stammganglien  bezeichnet.  Sie  sind  bereits  in 
1.  dieses  Paragraphen  genannt. 

4.  Aus  den  Stammganglien  gehen  wieder  massenhafte  Faser- 
züge hervor,  welche,  anfangs  in  dickere  Bündel  zusammengefasst, 
dann  in  verschiedener  Richtung  auseinanderstrahlend,  zur  Rinde 
des  Gross-  und  Kleinhirns  aufsteigen,  und  Stabkranz,  Corona 
radiata,  benannt  werden.  Die  Fasern  der  Corona  radiata  stehen 
mit  Aesten  der  Ganglienzellen  der  Rindensubstanz  in  Zusammenhang. 

5.  Die  Radiationen  des  Stabkranzes  werden  aber  zugleich 
durch  Faserzüge  durchsetzt  und  umfasst,  welche  theils  die  Hemi- 
sphären unter  einander,  theils  das  Kleinhirn  mit  dem  Grosshim, 
theils  einzelne  Stammganglien  gegenseitig  verbinden.  Sie  heissen: 
Coramissuren.  Die  Commissuren  zwischen  den  Hemisphären  des 
Grosshirns  sind:  Das  Corpus  callosum  und  die  Commissura  anterim* 
et  posterior  der  dritten  Kammer.  Die  Commissuren  der  Kleinhim- 
hemisphären  sind:  Der  Pons  Varoli  und  der  Wurm,  —  die  Commis- 
suren zwischen  Gross-  und  Kleinhirn  sind:  die  Ci*ura  cerebdli  ad 
Corpora  quadrigemma,  —  zwischen  Vierhtigel,  Haube  und  Sehhügel: 
das  BracMum  anticum  und  posticum  des  Vierhügels.  Das  Braddum 
anticum  verbindet  den  Vierhügel  mit  dem  Sehhügel,  das  posticum 
mit  der  Haube.  —  Die  Cinira  cerebelll  ad  corpora  quadrigerruna  zeigen 
noch  die  auffallende  Einrichtung,  dass  sie  sich  nicht  ganz  an  die 
runden  Stränge  anschliessen,  sondern  ein  unteres  Bündel  derselben 
sich  unter  den  runden  Strängen  mit  dem  der  anderen  Seite  im 
Bogen  vereinigt,  wodurch  die  sogenannte  hufeisenförmige  Com- 
missur  entsteht.  Aus  dieser  treten  dann  die  vom  rechten  Crus 
cerebdli  stammenden  Fasern  zur  linken  Haube,  und  umgekehrt,  so 
dass  die  hufeisenfiirmige  (^ommissur  eigentlich  eine  Kreuzung  der 
unteren  Bündel  der  Crura  cerebdli  darstellt.  —  Stabkranz,  (Kommis- 
suren und  Rindenwindungen  (Gyri)  werden  als  Hirnmantel  dem 
Hirnstamme  (3.)  gegenüber  gestellt. 

6.  Von  der  grössten  (^mraissur  —  dem  Balken  —  lassen  sich 
Faserzüge  weit  in  das  Marklager  der  Grosshirnhemisphären  ver- 
folgen. So  z.  B.  werden  jene,  welche  als  Strahlungen  des  Splenium 
corporis  callosi  beiderseits  in  die  Hinterlappen  der  Hemisphären  ein- 
treten, ihrer  gegen  einander  gerichteten  concaven  Krümmungsseiten 
wegen,  hintere  Zange  (Forceps  posterior)  genannt.  Ein  anderer 
Theil  der  ßalkenstrahluug,   we'  '       hinteren   and 


876  §.  SA2.  Entet  Pur. 

unteren  Hornes  der  Seitenkaramer  bilden  hilft,  ist  die  Tapete,  und 
die  seitlichen  Ausstrahlungen  des  Balkenknics  in  die  Vorderlappen 
des  Grosshirns  werden,  eines  ähnlichen  Verhaltens  wegen,  wie  wir 
es  an  den  Strahlungen  des  Splenium  erwähnt  haben,  als  vordere 
Zange  (Forcepa  anterior)  aufgeführt. 

7.  Die  äussere  Oberfläche  der  Qyri  und  die  innere  Oberfläche 
der  Wände  der  Ilirnkammern  wird  mit  einer  äusserst  dünnen  Lage 
weissgelblicher  Substanz  überzogen,  welche  an  der  Oberfläche  des 
Gehirns  die  graue  Rindensubstanz  durchscheinen  lässt,  und  deshalb 
sich  lange  der  Beobachtung  entzog.  In  den  Kammern  bildet  diese 
Lage  Faltungen,  welche  wie  Streifen  oder  Schnüre  aussehen,  und 
als  sogenanntes  Chordensystem  der  Gegenstand  einer  ausfuhrlichen 
Untersuchung  wurden,  deren  sich  grösstentheils  auf  den  Fundort 
derselben  beziehende  Resultate  in  Bergmannes  Untersuchungen 
über  die  innere  Organisation  des  Gehirns,  Hannover,  1831,  nieder- 
gelegt wurden.  Die  Wandelbarkeit  dieser  Chorden,  ihr  wahrschein- 
lich durch  den  Collapsus  des  Gehirns  im  Cadaver  mitunter  bedingter 
Ursprung,  und  der  durch  sie  in  die  Gehirnanatomie  eingeführte 
Wust  von  neuen  Namen,  lässt  sie  hier  füglich  übergehen. 

Dieses  Wenige  mag  dem  Anfänger  genfigen,  der  gewöhnlich  schon  mit  der 
Nomenclatnr  der  Himtheile  sich  zufrieden  g^ebt.  WiH  er  in  einem  so  dunklen, 
aber  anregnngsvollen  Gebiet  sich  weiter  umsehen,  als  der  enge  Horizont  eines 
Schulbuches  gestattet,  findet  er  in  den  in  der  Literatur  angegebenen  Werken, 
Stoff  genug  für  die  Befriedig^ing  seiner  Wissbeg^erde. 


B,  Peripherischer  Theil  des  animalen 

Nervensystems. 

Nerven. 
1.    (t  0  li  i  r  n  n  e  r  V  e  n. 

§.  352.  Erstes  Paar. 

Da8  erste  Paar  der  zwölf  Uehirnnervcn*),  ist  der  Riech-  oder 
Geruchsnerv,  Nervus  olfactorius.    Er  entspringt  am  inneren  Ende 

*)  Auf  hartmäuligem  Pegasus  wurden  von  mir  folgende  lateinische  Gedächt- 
nissverse über  die  Succession  der  zwölf  Gehirnnerven  geschmiedet! 

Nervonira  capitis  ducit  olfactorius  agmen, 
Succedit  f6r»i«7w,  oc»i/o#que  moveiif,  peUienaqu*". 
Trifidtis,  abducena,  facialis,  arusticiis,  inde 
Gtossophari/ngeiis,  deincwp»  uayus  atque  reatrreiu, 
Bis  seni  ut  fiant,  hypoylosso  clauditur  agmen. 


S.  952.  Entes  Paar.  877 

der  Fo88a  Sylvii  aus  der  Ca^'uncula  mammülaris  8,  Triganum  olfac- 
torium,  als  ein  anfangs  breiter,  aus  drei  eonvergenten  Wurzelsträngen 
(deren  mittlerer  grau  ist)  gebildeter,  dann  sieh  dreikantig  ver- 
schmälemder  Streifen  (Tractti8  olfactoriu8).  Der  reelle  Ursprung 
seiner  Wurzeln  im  Gehirn  wird  im  Streifenhügel  und  in  der  vor- 
deren Commissur  angenommen. 

Ich  unterscheide  hier,  wie  bei  allen  übrigen  Himnerven,  einen  schein- 
baren, und  einen  wirklichen  Ursprung.  Der  scheinbare  ist  durch  den  Ort  ge- 
geben, wo  ein  Himnerve  sich  von  der  Oberfläche  eines  bestimmten  Himtheiles 
abzweigt  Der  wirkliche  oder  reelle  Ursprung  ist  für  alle  Gehimnerven  nur  theil- 
weise  bekannt.  Ich  sage  theilweise,  da  man  allerdings  die  Himnerven  eine 
Strecke  weit  in  das  Gehirn  hinein,  bis  zu  gewissen  grauen  Herden  desselben  ver- 
folgte, ohne  jedoch  sicher  zu  sein,  dass  der  betreffende  Nerve  sich  nicht  auch 
weiter  fort  zu  anderen  Ursprungsherden  verfolgen  Hesse. 

Der  Riechnerv  verläuft  in  einer  Furche  der  unteren  Fläche 
des  Vorderlappens^  mit  dem  der  anderen  Seite  etwas  convergirend 
nach  vorn,  und  schwillt  auf  der  Lamina  cribrosa  des  Siebbeins  zu 
einem  länglich  runden,  flachen,  grauen  Kolben  (Riechkolben, 
Bulbus  olffictorivs)  an.  Von  der  unteren  Fläche  dieses  Kolbens  gehen 
zwei  Reihen  dünner  und  weicher  Faden  ab,  welche,  mit  scheiden- 
artigen Fortsätzen  der  harten  Hirnhaut  umhüllt,  durch  die  Löcher 
der  Lamina  cribrosa  in  die  Nasenhöhle  treten.  Hier  bilden  sie  durch 
Spaltung  und  Vereinigung  Netze,  welche  an  der  Nasenscheidewand 
und  an  der  inneren  Fläche  der  beiden  Siebbeinmuscheln  sich  nach 
abwärts  erstrecken,  und  pinselartig  gruppirte,  kurze  Fädchen  in 
die  Nasenschleimhaut  schicken.  Diese  sollen  in  die  von  M.  Schnitze 
entdeckten,  zwischen  den  Epithelialzellen  eingeschalteten  Riech- 
zellen (§.  215)  so  übergehen,  wie  die  Fasern  dos  Opttcwt  in  die 
Stäbe  der  Netzhaut.  Am  mittleren  Theile  der  Nasenscheidewand 
langen  die  Netze  des  Riechnerven  fast  bis  auf  den  Boden  der 
Nasenhöhle  herunter,  am  Siebbeinlabyrinth  dagegen  nur  bis  zum 
unteren  Rande  der  mittleren  Nasenmuschel.  Bis  zur  unteren  Nasen- 
niuschel  reicht  kein  Olfactoriusast  herab.  —  An  der  Bildung  der 
Netze  des  Nei*vu8  olfactorius  haben  die  Nasenäste  des  fünften  Paares 
keinen  Antheil. 

Der  Tractm  olfactorius  ist  eine  wirkliche  Fortsetzung  der  Mark- 
substanz des  Gehirns,  und  besteht  aus  denselben  marklosen  Fasern, 
wie  diese.  Ebenso  gleichen  die  Oanglienzellen  des  Riechkolbens, 
jenen  der  grauen  Hirnsubstauz.  Es  liesse  sich  somit  der  Tracius 
olfactorius  und  sein  Bulbus,  eigentlich  als  ein  vorgeschobener  Posten 
des  Gehirns,  nicht  als  ein  Nerv  ansehen.  Die  Bedeutung  wahrer 
Nerven  kommt  erst  den  Nasenästen  des  Riechkolbens  zu,  welche 
aber  ausschliesslich  aus  grauen  (gelatinösen)  Fasern  zusammen- 
gesetzt sind. 


878  §.  358.  Zweites  Paar. 

Man  sieht  den  Tracttu  ol/aclorius,  ohne  alle  Präparation,  ait  der  unteren 
Fläche  der  Vorderlappen  des  Grosshims  frei  verlaufen.  Die  schwer  zu  pr&parirenden 
Verzweigungen  des  Nervus  olfactariiu  in  der  Nasenschleimhaut,  lassen  sich  am 
oberen  Theile  der  senkrechten  Nasenscheidewand  am  besten  darstellen.*) 

An  den  Durchschnitten  in  Weingeist  gehärteter  Riechkolben  trifft  man  sehr 
häufig  eine  kleine  Höhle  an,  als  Ueberrest  der  embryonalen  röhrenförmigen  Bil- 
dung des  Riechnerven,  als  Ausstülpung  der  vorderen  Gehimblase.  Bei  vielen 
Säugethieren  kommt  sie  regelmässig  vor. 

Der  Nervus  olfactorins  gilt  für  den  einzigen  Vermittler  der  Geruchsempfin- 
dungen. Die  Nasenäste  des  fünften  Paares  sind  für  Gerüche  unempfänglich,  und 
erregen,  als  Tastnerven,  nur  besondere  Arten  von  TastgefUhlen,  wie  Jucken,  Kitzel, 
Beissen,  Stechen,  u.  s.  w. ,  welche  allerdings  die  Intensität  der  Geruchswalir- 
nehmungen  deutlicher  zum  Bewusst^ein  bringen,  aber  von  den  specifischen  Gemclis- 
eindrücken  wohl  zu  unterscheiden  sind.  —  Zerstörung  des  Nervus  dfactoriuSf 
Atrophie,  Compression  durch  naheliegende  Geschwülste,  vernichtet  diMi  Geruchs- 
sinn, während  die  Nasenschleimhaut  für  Reize  anderer  Art  noch  empfindlich 
bleibt.  Magendie^s  Angaben,  dass  die  Nasenäste  des  fünften  Paares,  nach 
Durchschneidung  des  Olfactorius  bei  Hunden  und  Kaninchen,  noch  den  Geruch 
vermitteln,  lassen  sich  gründlich  widerlegen.  Wenn  die  Thiere,  deren  Riechnerven 
durchgeschnitten  wurden,  auf  Ammoniakdämpfe  durch  Schnauben  und  Niessen 
reag^rten,  so  wirkten  diese  Dämpfe  gewiss  nicht  als  Riechstoffe,  sondern  als 
chemische  Reize,  für  welche  die  Nasenäste  des  fünften  Paares  eben  so  gut 
empfänglich  sind,  wie  die  Tastnerven  der  Haut,  welche  auf  Einreibung  von  Ae^z- 
ammoniak,  durch  prickelnde  und  stechende  Gefühle  reagiren.  Solche  Gefühle,  in 
der  Nase  erregt,  führen  nothwendig  zur  Reflexbewegung  des  Niessens.  —  Mir  ist 
ein  Fall  bekannt,  wo  eine  Exostose  der  Crista  galli,  den  Geruch  in  der  rechten 
Nasenhöhle  verlieren  machte. 

Die  Physiologie  des  Geruchsinnes  hat  noch  viel  Dunkles,  wozu  die  so  gut 
als  unbekannte  Natur  der  Riechstoffe  das  Ihrige  beiträgt.  Wenn  der  in  §.  215 
erwähnte  Zusammenhang  der  Riechzellen  mit  den  Primitivfasern  des  Nervus 
ol/actorius,  nicht  blos  Annahme,  sondern  Thatsache  wäre,  so  würde  sich  das 
Geruchsorgan  in  der  beispiellosen  Lage  befinden,  dass  seine  Nerven  frei  an  der 
Luft  endigen,  imd  somit  durch  die  Riechstofi'e  direct  afficirt  werden  können. 

Sehr  genaue  Zusammenstellungen  aller  Ansichten  über  den  centralen  Ur- 
sprung des  Riechnerven  enthält  PresacWs  Dissertation:  Sur  un  cas  d^absence  du 
nerf  olfactif.  Paris,  1837.  Ueber  die  periphere  Endigung  des  Riechnerven  siehe 
K  Oehl,  sulla  terminazione  apparente  del  nervo  olfattorio.  Milano,  1857.  —  Nach 
Meynert  steht  die  vordere  Commissur  der  dritten  Hirnkammer,  in  derselben  Be- 
ziehung zu  den  beiden  Riechnerven,  wie  das  Chiasma  zu  den  Sehnerven.  Es  sollen 
Kreuzungen  stattfinden. 


§.  353.  Zweites  Paar. 

Das  zweite  Paar,  der  Sehnerv,  Nervtis  opticus,  Porus  opticus, 
wie  ihn  Galen  nannte,  entspringt  aus  dem  Thalamm  opticus,  dem 
Corpus  quadrigeminum  und  geniculatum  extemum,  schlingt  sich  als  ein 
platter,   bandartiger   und   weicher   Streif  (Tractus  opticus)   um    den 


*)  Als  Hauptregel  für  die  Präparation    aller  Kopfnerven  gelte:    den  Verlauf 
derselben  bereits  gründlich   zu   kennen.     Alles   Technische   dazu    enthält  das  fUnfte 
Buch  meiner  praktischen  Zergliederungskimst. 


$  353.  ZwvitM  Vu^.  879 

Hirnschenkel  von  aussen  nach  unten  und  innen  herum^  und  nähert 
sich  dem  der  anderen  Seite  so  sehr,  dass  beide  vor  dem  grauen 
Hügel  zusammenstossen,  und  durch  Decussation  ihrer  Fäden  die 
sogenannte  Sehnerve nkreuzung,  Chiasma,  bilden.  Von  dieser 
aus  werden  beide  Sehnerven  als  rundliche  und  harte  Stränge  diver- 
gent, treten  durch  das  entsprechende  Foramen  opticum  des  Keilbeins 
in  die  Augenhöhle,  und  gelangen  durch  das  Fettlager,  welches  den 
pyramidalen  Raum  zwischen  den  geraden  Augenmuskeln  ausfüllt, 
zum  Bulbus,  dessen  Sclerotica  und  Choroidea  sie  durchbohren,  um 
sich  zur  Faserschicht  der  Netzhaut  zu  entfalten.  Das  durch  die 
Augenhöhle  ziehende  Stück  des  Nerven  ist  etwas  nach  aussen  ge- 
krümmt, und  besitzt  unter  allen  Nerven  das  dickste  Neurilemm, 
welches  von  der  harten  Hirnhaut  stammt,  und  in  die  Sclerotica 
übergeht. 

Herkömmlichen  Ansichten  nach,  Hess  man  im  Chiasma  nur  die  inneren 
Fasern  beider  Sehnerven  sich  durchkreuzen.  Biesiadecki  dagegen  steUte  ihre 
vollständige  Kreuzung  fest.  (Sitzungsberichte  der  kals.  Akad.  1860,  N.  21.)  —  Am 
vorderen  Rande  des  Chiasma,  sollen  bogenförmige  Verbindungen  der  Fasern  beider 
Sehnerven,  imd  am  hinteren  Rande  des  Chiasma  ebensolche  Verbindungen  beider 
Tractua  opUci  vorkommen  (Majo,  Hannover). 

Der  Sehnerv  enthält  in  seiner  Axe,  die  Arteria  centralis  retinae,  welche, 
nahe  am  Foranien  opUcuMy  in  ihn  eindringt,  und  mit  ihm  zur  Netzhaut  geht  Man 
könnte  also  insofeme  den  Sehnerv  hohl  sein  lassen,  um  den  Gale naschen  Aus- 
druck: Portu  opticus  zu  retten.  Aber  an  dieses  Hohlsein  hat  Galen  sicher 
nicht  gedacht. 

Der  Sehnerv  reagirt,  als  specifischer  Sinnesnerv,  nur  durch  Licht-  und  Farben- 
empfindung auf  Reize  aller  Art,  welche  ihn  treffen.  Er  ist  kein  Leiter  für 
Empfindungen  anderer  Art.  Bewegungen  veranlasst  er,  wie  der  Riechnerv,  nur 
auf  dem  Wege  der  Reflexion,  in  Theilen,  zu  welchen  er  selbst  nicht  geht. 

J,  Müller,  vergleichende  Physiologie  des  Gesichtssinnes.  Leipzig,  1826.  — 
W.  Stein^  diss.  de  thalamo  optico  et  origine  nervi  optici,  etc.  Hafn.,  1834.  — 
Nicolucci,  sul  chiasma  dei  nervi  ottici  (Filiatre,  Sebezio,  1846,  pag.  321).  —  B.  Beck, 
über  die  Verbindungen  des  Sehnerven  mit  dem  Augen-  und  Nasenknoten.  Heidelb., 
1847.  —  J,  Wagner,  über  den  Ursprung  der  Sehnervenfasern.  Dorpat,  1862.  — 
J,  Hirschberg,  zur  Sehnervenkrenznng,  in    Virchow^s  Archiv,  66.  Bd. 

Die  guten  Wiener  werden  sich  freuen,  dass  schon  im  Jahre  1676,  in  Wien,  wo 
\nt^  zu  dieser  Zeit  kein  einziges  anatomisches  Opus  gedruckt  wurde,  ein  Werk, 
in  Folio,  über  den  Sehnerv,  von  Zacharias  Traber  veröffentlicht  wurde, 
welches,  anno  1690,  eine  zweite  Auflage  erlebte.  Der  dünne  Foliant  enthält  aber 
leider  nichts,  was  nicht  schon  in  Const.  Varolius',  de  nervis  opt.,  Patav.,  1573, 
zu  finden  ist.  Der  erste  Wiener  Anatom,  welcher  gegen  Ende  des  siebenzehnten 
Jahrhunderts,  in  den  Ephemeridibus  naturae  curiosorum,  Ann,  I,  et  IL,  etwas  von 
sich  hören  Hess,  war  Laurentius  Wolfstriegel.  Er  gab  daselbst  Einiges  über 
die  Anatomie  des  Löwen  und  des  Tigers,  über  das  Keilbein,  über  Herzpolypen, 
und    über  einen  an  einem  Kinde  beobachteten  verwachsenen  After. 


880  §.  S&4.  Drittes,  viertes  und  sechstes  Paar. 


§•  354.  Drittes,  viertes  und  sechstes  Paar. 

Diese  drei  Paare  versorgen  die  in  der  Augenhöhle  befindlichen 

Bewegungsorgane   des   Augapfels   und    des   oberen   Augenlids,    wie 

auch    einige    Binnenmuskeln    des    Auges.     Ich    behandle    sie,     der 

Gleichheit  ihrer  Bestimmung  wegen,  unter  Einem.  Das  vierte  Paar 

•      innervirt  von  den  sieben  Muskeln   in   der  Orbita  nur  den  Musculus 

iA^^-*A<.*-*or^j|j^^^^  ß^uyp^plop^  dag  sechste  nur  den  Musculus  ofttiateiu;  das    dritte 

Paar  sendet  seine  Aeste  zu  den  übrigen  fünf  Muskeln  in  der  Augen- 
höhle, zum   Tensor  choroideae  und  Sphincter  pupillae. 

Das  dritte  Paar,  der  gemeinschaftliche  Augenmuskel- 
nerv, Nervus  oculomotorius,  löst  sich  vom  inneren  Rande  des  Pedun- 
cul'US  cerebri  ab,  dicht  vor  der  Varolsbrücke.  Seine  Fasern  ent- 
springen aus  einem  grauen  Nucleus  im  Boden  des  Aquaeductus 
Sylvii.  Der  Stamm  des  Nerven  verlīfk  anfangs  zwischen  der 
Arteria  cerebri  profunda  und  Arteria  cerebelli  superior,  schief  nach 
vorn  und  aussen,  und  lagert  sich  in  die  obere  (äussere)  Wand  des 
Sinus  cavernosus  ein,  wo  er  sich  mit  den  die  Carotis  interna  um- 
spinnenden sympathischen  Geflechten  durch  ein  bis  zwei  Fädchen 
verbindet.  Longet  lässt  ihn  daselbst  auch  eine  Anastomose  mit 
dem  ersten  Aste  des  Trigeminus  eingehen.  Hierauf  betritt  er,  nach- 
dem er  sich  in  zwei  Aeste  getheilt,  durch  die  Fissura  orbitalis  supe- 
rior  die  Augenhöhle,  und  lässt  an  der  äusseren  Seite  des  Nervus 
opticus  seine  beiden  Aeste  nach  oben  und  unten  divergiren.  Der 
Ramus  superior  ist  kleiner,  und  versieht  blos  den  Musculus  levator 
palpebrae  sujyerioiis  und  den  Rectus  superior;  der  grössere  Ramus 
inferior  zerföllt  in  drei  Zwuige,  welche  den  Rectus  internus,  Rectus 
inferior,  und  Obliquus  inferior  versorgen.  Der  Zweig  zum  Obliquus 
inferior  muss  unter  allen  der  längste  sein,  weil  der  Muskel,  welchem 
er  bestimmt  ist,  nicht  wie  die  anderen,  hinten  am  Foramen  opticum, 
sondern  am  unteren  Kande  der  vorderen  AugenhöhlenöfFnung  ent- 
springt. Dieser  längste  Zweig  des  Oculomotorius  giebt  die  kurze 
oder  dicke  Wurzel  des  Ciliarknotens  ab  (Radix  brevis  ».  motoria 
ganglii  ciliaiis),  deren  Fasern  in  den  Bahnen  der  ^em  ciliares  zu 
den  organischen  Binuenmuskcln  des  Auges  (Tensor  choroideae  und 
Sphincter  pupillae)  gelangen. 

Das  vierte  Paar,  der  Roll  nerv,  Nervus  trochleaiis  s,  patheticus, 
ist  d<T  dünnste  Hirnnerv.  Er  hat  unter  allen  Gehirnnerven,  seines 
weit  nach  hinten  fallenden  Ursprunges  wegen,  den  längsten  Verlauf 
in  der  Schädelhöhle.  Seine  Fasern  stammen  aus  zwei  grauen  Kernen 
am  Boden  der  vierten  Cichirnkammcr.  Sie  laufen  bogenförmig  zur 
grauen  Gehirnklappc  hinauf,  wo  man  sie  von  beiden  Seiten  her 
sich  kreuzen  Hess,   was   aber  ganz   gewiss   nicht   der  Fall   ist.     Er 


§.  854.  Drittes,  viertet  und  sechstes  Pur.  881 

schlägt  sich  hierauf  um  den  Processus  cerebdli  ad  corpora  quadH- 
gemina,  und  um  den  Pedunculus  cerebri,  nach  vorn  und  innen  herum, 
liegt  dicht  unter  dem  freien  Rande  des  Gezeltes,  durchbohrt  die 
harte  Hirnhaut  hinter  dem  Processus  clinoideus  posterior,  geht  hier 
mit  dem  ersten  Aste  des  fünften  Paares  eine  Verbindung  ein,  und 
entsendet  einige  feine  Fädchen  in  das  Zelt  des  kleinen  Gehirns 
(Bidder).  Er  tritt  dann  durch  die  Fissura  orhitalU  superior  in  die 
Augenhöhle,  wo  er  über  die  am  Foramen  opticum  entspringenden 
Augenmuskeln  weg  nach  innen  ablenkt,  um  sich  einzig  und  allein 
im  Musculus  ohliquus  superior  zu  verlieren.  Zuweilen  giebt  er  zur 
Thränendmse  einen  Ast.  Meinen  Erfahrungen  nach  kommt  dieser 
Thränendrüsenast  nur  dann  vor,  wenn  die  Verbindung  des  Troch- 
learis  mit  dem  ersten  Aste  des  Trigeminus  fehlt,  oder  schwach  ist. 

Das  sechste  Paar,  der  äussere  Augenmuskelnerv,  Nervus 
ahducens,  entwickelt  seine  Fasern  aus  einen  am  Boden  der  Rauten- 
grube dicht  an  der  Medianfurche  liegenden  grauen  Kern,  aus  welchem 
auch  die  vordere  Wurzel  des  siebenten  Paares  sich  hervorbildet. 
Er  zieht  nach  vorn  zur  hinteren  Wand  des  Sinus  cavernosus,  welche 
er  durchbohrt.  Im  Sinus  cavernosus  liegt  er  an  der  äusseren  Seite 
der  Carotis  cerebralis.  Beide  erhalten  Ueberzüge  von  der  Aus- 
kleidungsmembran des  Sinus.  Wo  er  auf  der  Carotis  aufliegt,  er- 
scheint er  etwas  breiter,  und  nimmt  zwei  Fäden  vom  Plexus  caroticus 
des  Sympathicus  auf.  Hat  er  den  Sinus  cavernosus  verlassen,  so 
geht  er  durch  die  Fissura  orbitalis  superior  in  die  Augenhöhle,  durch- 
bohrt den  Ursprung  des  Rectus  extemus,  und  verliert  sich  nur  in 
diesem  Muskel. 

Die  grauen,  in  der  Basis  der  yierten  Gehimkammer  eingesprengten  Kerne, 
aus  welchen  die  drei  hier  beschriebenen  motorischen  Nerven  des  Auges  ent- 
springen, bestehen  aus  Ganglienzellen,  welche  durch  ihre  Grösse,  ihre  zahlreichen 
Aeste,  und  ihre  unregelmässige  Gestalt,  vollkommen  mit  jenen  Ganglienzellen 
übereinstimmen,  welche  die  vorderen  Homer  des  grauen  Kernes  des  Rücken- 
marks bilden. 

Die  drei  Nerven   der  Augenmuskeln   sind  vorzugsweise   motorischer  Natur. 
Auf  Reizung  ihrer  Ursprünge   folgt  keine   Schmerzäusserung,  welche  erst  eintritt, 
wenn  diese  Nerven  an  entlegeneren  Punkten,  jenseits   ihrer  Anastomosen  mit  den 
sensitiven  Aesten  des  fUnften  Paares,  gereizt  werden.  —  Die  fünf  Muskeln,  welche 
vom  Nervus  octUomotorius   versorgt   werden,    haben    ausgesprochene    Tendenz    zur 
Mitbewegung,    d.  h.    sie    wirken    immer    in    beiden  Augen  zugleich.  —  Die  Ver- 
engenmg  der  Pupille  hängt  von  den  motorischen  Fäden    ab,    welche    der  XerviM 
oadwnotoriwt  zum    Ganglion  ciliare  schickt,   und  welche  in   der  Bahn   der    Nervi 
ciliares    zum    Sphincter   pupiÜM    und    zum    Musculua    eiliaris    (Temor    choroideae) 
treten.  Deshalb  hat  Durch  schneidang  oder  Lähmung  des  Oculomotorius,  Erweite- 
rung der  Pupille  zur  Folge.  Richtet  man  das  Auge   nach  innen  and  oben  (darch 
den  vom  unteren  Zweige  des  Nervu»  oeuUmOtoHnu  hmiMr^'^—    ■^- 
inferiar),  so  verengert  sieh  die  Pupille.  — •'Di^ 
steht  unter  dem  Einfliias  dee  B^WKfS^ 
Hyrtl,  Uhrbnek  d«r  AaatMÜ«.  14.  A 


882  9.  355.  Fünftes  Paar.  Erster  Ast  desselben. 

Oruveilbier  bat  gezeigt,  dass  die  aufl  dem  Trochlearis  in  das  Zelt  des 
kleinen  Oehirns  abtretenden  Nervenfaden,  Aeste  des  Bamug  jyrimu»  trUjentini  sind, 
welcbe  sieb  an  den  Trocblearis  nnr  anlegen,  um  ihn  alsbald  als  Zeltnerven  ivieder 
zu  verlassen.  —  Die  sympatbiscben  Fäden,  welcbe  im  Simi^  cavernojtiut  an  den 
Abducens  treten,  bilden  in  der  Regel  ein  oder  zwei  grössere,  graue  Stämnicben. 
welche  man  früher  für  Aeste  des  Abducens  und  zugleich  für  die  Hanptwurzeln 
des  Sympatbicus  gehalten  hat 


§.  355.  Fünftes  Paar.  Erster  Ast  desselben. 

Das  fünfte  Paar,  der  dreiget heilte  Nerv,  Nervm  trigeniinu^, 
übertrifft  alle  anderen  Hirnnerven  an  Stärke.  Er  entspringt,  wie 
ein  Klickenmarksnerv,  mit  zwei  getrennten  Wurzeln.  Die  hintere, 
stärkere,  aus  nahe  hundert  Fadenbündeln  bestehende  Wurzel  taucht 
aus  einer  Furche  der  vorderen  Fläche  des  Cnis  cerehdU  ad  pontem 
auf.  Sie  ist  sensitiv.  Ihre  Fasern  lassen  sich  bis  in  die  hinteren 
Stränge  des  Rückenmarks  verfolgen.  Die  vordere,  viel  schwächere 
Wurzel  wird  von  der  hinteren  bedeckt,  stammt  aus  einem  grauen 
Nucleus,  welcher  im  vorderen  Theile  des  Bodens  der  vierten  Ge- 
hirnkammer liegt.  Sie  tritt  zwischen  den  vorderen  Querfasern  des 
Pon8  Varoli  hervor.  Sie  ist  rein  motorisch.  Beide  Wurzeln  legen 
sich,  ohne  zu  verschmelzen,  an  einander,  werden  durch  die  von 
der  Spitze  des  Felsenbeins  zur  Sattellehne  ausgespannte  Fortsetzung 
des  Gezeltrandes  überbrückt,  und  gelangen  in  einen  von  der  Dura 
mater  gebildeten,  und  über  dem  inneren  Ende  der  oberen  Fläche 
der  Felsenpyramide  gelegenen  Hohlraum  (Cavum  Meckeln).  In 
diesem  Räume  bildet  die  hintere  Wurzel,  durch  Spaltung  und  Ver- 
strickung ihrer  Faserbündel,  ein  Geflecht,  dessen  Zwischenräume 
Ganglienzellen  einnehmen,  so  dass  ein  wahrer  halbmondförmiger 
Knoten  —  Ganglion  Gasseri  «.  semilunare  —  entsteht,  an  dessen 
Bildung  die  vordere  Wurzel  keinen  evidenten  Antheil  hat. 

Aus  dem  nach  vorn,  unten  und  aussen  gekehrten  convexen 
Rande  des  Ganglion  Gasseri,  treten  die  drei  bandartig  flachen  Aeste 
des  Quintus  hervor,  welche,  ihrer  Verästlungsbezirke  wegen,  JRamus 
ophthalmiats,  Ramus  swpra-  und  inframaa^iUaris  genannt  werden. 

Der  erste  Ast  des  Quintus,  Itamus  Ophthal micuSy  ist  sensitiv, 
und  der  schwächste  von  den  dreien.  Er  läuft,  anfangs  in  die  obere 
äussere  Wand  des  Sintis  cavernosus  eingewachsen,  nach  vom,  nimmt 
Fäden  aus  dem  die  Carotis  interna  umgebenden ,  sympathischen 
NervcBgeflechte  auf,  anastomosirt  mit  dem  Xerrus  troddearis,  und 
sendet  den  feinen  Nervus  recurrens  Arnoldi  nach  rückwärts  zum 
Tmitorium  cerebelli.  Dann  geht  er  durch  die  Fissura  orhitalis  superior 
in  die  Augenhöhle,  wo  seine,  schon  vor  dem  Eintritte  in  diese  Höhle 


$.  866.  FftaftM  Paw.  Enter  Ast  deM«lb«n.  883 

sich  isolirenden  drei  Zweige,  zu  ihren  verschiedenen  Territorien  aus 
einander  treten.     Diese  Zweige  sind: 

a)  Der  Thränennerv,  Nervus  lacrymalü.  Er  geht  am  oberen 
Rande  des  Recttts  extemus  zur  Thränendrüse ,  verbindet  sich  ge- 
wöhnlich durch  einen  Nebenast  mit  dem  Jochwangennerv,  versorgt 
die  Glandula  lacrymcMs,  die  Conjunctiva,  und  die  Haut  in  der  Um- 
gebung des  äusseren  Augenwinkels. 

£r  ist  der  Secretionsnerv  der  Thränendrüse.  Da  nun  aUe  bekannten 
Secretionsnerven  motorischer  Art  sind,  der  Bamua  primus  trigemini  aber,  als  Er- 
zeuger des  Nervus  lacrymalia,  sensitiy  ist,  so  kann  der  Nervus  lacrymaUa  nur 
durch  die  Anastomose,  welche  der  erste  Ast  des  Quintus  mit  dem  motorischen  Nervus 
trochUaris  eingeht,  motorische  Fasern  zugeführt  erhalten.  Daraus  erklärt  es  sich 
auch,  warum  der  Nervus  trocJdearis  nur  dann  einen  Ast  zur  Thränendrüse  schickt, 
wenn  die  Anastomose  des  ersten  Quintnsastes  mit  dem  Trochlearis  fehlt  oder 
schwach  ist  (§.  354). 

h)  Der  Stirnnerv,  N&nms  frontalis.  Er  liegt  gleich  unter 
dem  Dache  der  Orbita,  und  theilt  sich,  halbwegs  zwischen  Foramen 
opticum  und  Margo  supraorhüaHs,  in  zwei  Aeste: 

a)  Der  Nervus  suprairochlearis,  läuft  über  den  Musculus  trochlearis  nach 
innen  und  vom,  geht  mit  dem  Nervus  infratrochlearis  eine  Verbindung  ein,  und 
verlässt  über  der  Rolle  die  Augenhöhle,  um  die  Haut  des  oberen  Augenlids  und 
die  Stime  zu  versehen. 

ß)  Der  Nervus  supraarbUalis,  die  unmittelbare  Fortsetzung  des  Nervus  fron- 
talis, begiebt  sich,  gewöhnlich  in  zwei  Zweige  getheilt,  durch  die  Incisura  supra- 
orbitalis  zur  Stime,  um  in  der  Haut  derselben  bis  zum  Scheitel  hinauf  sich 
zu  verbreiten.  Das  obere  Augenlid  und  dessen  Bindehaut,  erhält  von  ihm  seine 
Nervi  palpebrales  superiores.  Der  Nervus  supraorbUalis  soll  noch  Überdies  in  der 
Incisura  supraorbitalis  einen  feinsten  Zweig  zur  Auskleidungsmembran  des  Sinus 
frontalis  senden.  Die  sensitiven  Bindehautzweigehen  dieses  Nerven  (so  wie  jene 
des  Nervus  naso-dliaris  und  infraorbitalis)  lösen  das,  durch  Reizung  des  Auges 
hervorzurufende  Blinzen  der  Augenlider,  als  Reüexbeweg^g  ans. 

Ist  die  Incisura  supracrbitalis  zu  unbedeutend,  um  den  Nervus  supreutrbi- 
talis  aufnehmen  zu  können,  so  geht  nur  ein  Zweig  des  Nerven  durch  die  Incisur, 
—  der  andere  Zweig  aber  schwingt  sich  einfach  um  das  innere  Ende  des  Margo 
supracrbitalis  zur  Stirn  empor.  Ist  ein  Foramen  supraorbitale  statt  der  Incisur 
vorhanden,  so  tritt  der  Nerv  nicht  durch  das  Loch,  sondern  Über  den  Margo 
supraorbiUUis  weg  zur  Stirn.  So  sehe  ich  es  wenigstens  an  den  Präparaten  dieses 
Nerven,  welche  ich  verglichen  habe. 

c)  Der  Nasen-Augennerv,  Nervus  naso-dliaris,  liegt  anfangs 
neben  der  Arteria  ophthcUmica  an  der  äusseren  Seite  des  Sehnerven, 
also  tiefer  als  die  beiden  vorhergegangenen  Zweige  a  und  b,  tritt 
mit  dem  Abducens  durch  den  gespaltenen  Ursprung  des  Musculus 
rectus  extemus  hindurch,  giebt  hierauf  die  lange  Wurzel  des  Ciliar- 
knotens  ab  (Radix  longa  s.  sensitiva  ganglii  cüiaris,  §.  360),  schlägt 
sich  über  den  Nervus  opticus  nach  innen,  schickt  hier  nodh  einen  bis 
zwei  Ciliamerven  ab^  and  theilt  sich  zwischen  ObUquus  superior  und 
Rectus  intemMS  in  den  N0 


— * 


884  §.  856.  Zweiter  Ast  des  fünften  Paares. 

a)  Der  Nervus  ethmoidaU»  drin^  darcli  das  Foramen  ethmaidcUe  a/nteriu» 
in  die  Schftdelhöhle,  und  von  da  gleich  wieder  darch  das  vorderste  Loch  der 
Lamina  cribroaa  in  die  Nasenhöhle.  Hier  giebt  er  einen  liamits  »epU  narium  zum 
vorderen  unteren  Abschnitt  der  senkrechten  Nasenscheidewand,  lagert  sich  sodann 
in  einer  Furche  an  der  inneren  Fläche  des  Nasenbeins  ein,  entsendet  daselbst 
sswei  bis  drei  Fäden  ssum  vorderen  Bezirk  der  äusseren  Nasenhöhlenwand,  and 
gelangt  schliesslicli  zwischen  dem  Nasenbein  und  der  Cartüago  triang^darU  nasi 
zur  Haut  der  äusseren  Nase.  Die  in  der  Schleimhaut  der  Nasenhöhle  verbleiben- 
den Zweige  dieses  Nerven^  und  die  Nasalästc  des  Ganglion  »pheno-palalinum 
(§.  361)  erzeugen  gleichfalls  Reflexbewegung,  und  zwar  jene  des  Niessens. 

Luschka  entdeckte  einen  sehr  feinen  und  constanten  Ast  des  Nervus  naso- 
cÜiaris,  welcher  durch  das  Foramen  ethmoidale  posterius  in  die  Schädelhöhle,  and 
von  da  unter  dem  vorderen  Rande  der  oberen  Fläche  des  Keilbeinkörpers  in  den 
Sinus  sphenoidaUs  nnd  in  eine  hintere  Siebbeinzelle  gelangt,  wo  er  sich  in  der 
Schleimhaut  dieser  Cavitäten  auflöst.  Luschka  nannte  diesen  Nerven:  Nervus 
spheno-ethmoidalis  (Miüler*s  Archiv.  1857).  Er  hat  die  Feuerprobe  des  Mikroskops 
bestanden. 

ß)  Der  Nervus  infratrochlearis  geht  an  der  inneren  Augenhöhlenwand,  mit 
dem  Nervus  supratrochlearis  anastomosirend,  zur  Rolle.  Er  verlässt,  unter  dieser 
hervorkommend,  die  Augenhöhle  über  dem  Ligamentum  palpebrale  intemum,  and 
verliert  sich  in  der  Haut  der  Nasenwurzel,  im  oberen  Augenlid,  und  in  der  61a- 
bella.  Thränensack,  Tbränenkarunkel,  Bindehaut,  werden  von  ihm  noch  vor  seinem 
Anstritte  aus  der  Orbita  versehen. 


§.  356.  Zweiter  Ast  des  fünften  Paares. 

Der  zweite  Ast  des  Quintus,  Ramus  gupramcixiUaris ,  sensitiv 
wie  der  erste,  verlässt  die  Sehädelhöhlc  durch  das  Foramen  rotun- 
dum  des  Keilbeins,  durchzieht  die  Flügel-Gauraengrubc  in  der 
Richtung  zur  FUsura  orhitalis  inferior,  und  entlässt  während  dieses 
Laufes  folgende  Aeste: 

a)  Den  Nervus  zt/gomaticus  s.  subcutanem  malae,  Jochwangen- 
nerv. Dünn  und  weich,  tritt  er  durch  die  Fissura  orhitalis  inferior 
in  die  Augenhöhle,  und  theilt  sich  alsbald  in  zwei  Zweige,  welche 
als  Ramus  temporalis  und  molaris  unterschieden  werden. 

Der  Ramus  temporalis  anastomosirt  mit  dem  Thränennerv,  zieht  an  der 
äusseren  Wand  der  Orbita  nach  vom,  um  durch  einen  Kanal  des  Jochbeins 
(Canalis  zggotnaUcus  temporalis)  in  die  Schläfegrube  überzutreten,  in  welcher  er 
sich  nach  vor-  und  aufwärts  richtet,  um  am  vorderen  Rande  des  Schläfemuskels, 
einen  Zoll  über  dem  .Jochbogen,  die  Fascia  temporalis  zu  durchbrechen,  und  in 
der  Haut  der  Schläfe  sich  zu  verbreiten.  Der  Hamus  malaris,  näher  an  dem 
Boden  der  Augenhöhle  nach  vom  ziehend,  gelang^  durch  den  Canalis  zygomaticus 
facialis  zur  Haut  der  Wangengegend. 

b)  Den  Nervus  alveolaris  superior,  oberer  hinterer  Zahn- 
nerv. Er  zieht  am  Tvher  maxillare  herab,  und  theilt  sich  in  zwei 
Zweige.  Der  erste  durchbohrt  den  Ursprung  der  oberen  Portion 
des    Buccinator,    und    geht    zur    Mundhöhlenschleimhaut   und   zum 


S.  356.  Zweiter  Ast  des  fQnften  PaarM.  885 

Zahnfleisch  des  Oberkiefers.  Der  zweite  tritt  durch  ein  Foramen 
maocälare  mperius  in  den  oberen  Alveolarkanal  ein,  als  Nermis  den- 
talis  mperior  posterior,  läuft  zwischen  den  beiden  Platten  der  Qe- 
sichtswand  des  Oberkiefers  bogenförmig  nach  vorn,  um  theils  die 
Schleimhaut  der  Highmorshöhle  und  die  Pulpa  der  Mahlzähne  zu 
versorgen,  theils  mit  dem  gleich  anzuführenden,  vom  Nervus  infra- 
orbitalis  entstehenden  Nertms  dentalis  superioi'  anterior  schlingenförmig 
sich  zu  verbinden. 

c)  Die  Nervi  pterygo-palatini  s,  spheno-palatini,  K ei Igaum cn- 
ner ven,  zwei  kurze  Nerven,  welche  zu  dem  in  der  Tiefe  der  Fossa 
pterygO'palatina  gelegenen  Flügel-Gaumenknoten  (Ganglion  pterygo- 
s,  sphenO'palatinum,  §.  361)  treten. 

d)  Den  Nervus  infraorbitalis.  Er  ist  die  eigentliche  Fortsetzung 
des  zweiten  Quintusastes.  Er  gelangt  durch  den  Cancdis  infraorbitalis 
zum  Antlitz,  und  zerföhrt  daselbst,  bedeckt  vom  Levator  lahii  supe- 
rioris,  in  eine  Menge  strahlig  divergirender  Aeste,  die  häufig  mit 
einander  und  mit  den  Endästen  des  Communicans  faciei  anastomo- 
siren,  und  dadurch  den  sogenannten  kleinen  Gänsefuss  bilden  (Pes 
anserinus  minor).  Die  Haut  und  die  Bindehaut  des  unteren  Augen- 
lids, der  Wange,  der  Nase,  und  der  Oberlippe  wird  von  seinen 
Zweigen  versorgt.  Während  des  Laufes  durch  den  Canalis  infra- 
orbitalis giebt  er  den  Nervus  dentalis  superior  anterior  ab,  welcher 
zwischen  den  Platten  der  Gesichtswand  des  Oberkiefers,  und  später 
in  einer  Furche  an  der  inneren,  die  High  morshöhle  begrenzenden 
Fläche  des  Knochens  herabsteigt,  und  mit  dem  Nervus  dentalis  supe- 
i-ior  posterior  (b)  eine  Schlinge  (Ansa  supram^iAcillaris)  bildet,  welche 
sich  in  einem  nach  unten  convexen  Bogen  längs  des  Bodens  der 
Highmorshöhle,  vom  Eckzahn  bis  zum  Weisheitszahn  erstreckt. 
Die  aus  dem  convexen  Rande  der  Schlinge  hervorgehenden  Aestcheu 
bilden  den  Plexus  dentalis.  Dieser  Plexus  durchzieht  die  kleinen 
Kanälchen  des  Processus  alveolaris  des  Oberkiefers,  schickt  seine 
grösseren  Zweige  zu  den  Wurzelkanälen  der  Mahl-  und  Backen- 
zähne, seine  feineren  Zweigchen  aber  in  die  schwammige  Knochen- 
masse zwischen  den  S^ahnwurzeln,  von  welcher  sie  in  das  Zahn- 
fleisch übertreten. 

Einen  halben  Zoll  über  der  Wurzel  rle«  Aiig^enzalinii  bilden  einige  vom 
Xerviis  derUalia  superior  anterior  abgegebene  Zweigeken,  durch  Anastomose  mit 
einem  Faden  des  Nervus  nasalis  posterior  ineditts,  welcher  die  seitliche  Nasenwand 
nach  aussen  durchbohrt,  einen  platten,  eine  Linie  breit«;n  und  rundlichen  Knoten, 
Ganglion  BochdaUkii  s,  supramaxiUare  (oft  nur  ein  Geflecht),  welcher  in  einer 
kleinen  Höhle  der  vorderen  Wand  der  Ilighinorshohle  eingeschlossen  ist  Dieses 
Ganglion  steht  auch  mit  den  Zweigchen  dtti^  I'lextts  denlalis  in  Verbindnog. 
Aestchen  des  Ganglion  durchdringen  die  schwammige  Knocbensubstanz  des  Pro- 
cessus alveolaris  des  Oberidefen,  und  venorgwa  mit  ihren  letzten  Aoslliifeni  dit 
Schleimhaut  des  Bodens  der  NMenhöble,  die  Hehneidexiline,  den  Eckzalin,  dm 


886  S-  951.  Dritter  Art  des  ftaften  Pseree. 

Zftbnfleisch,  and  die  vorderste  Partie  des  harten  Gaumens,  wo  sie  mit  den  hieher 
gelangten  Aesten  der  Nervi  tuueUe»  und  des  Nervus  ntuo-paUUinus  anastomosiren. 
Zuweilen  tritt  zwischen  dem  Nervus  denlalis  superior  anterior  and  posterior 
noch  ein  medius  auf,  welcher  sich  gleichfalls  an  der  Bildung  des  Plexus  detUalis 
beiheiligt  —  Aach  der  zweite  Ast  des  Quintas  sendet  noch  in  der  Schädelhöhle 
einen  Ramus  recurrens  zur  harten  Hirnhaut,  welcher  den  Stamm,  oder  den  vorderen 
Ast  der  Ärieria  meningea  media  begleitet.  Ebenso  der  dritte  Ast  des  Qointas. 
(F.  Arnold,  über  die  Nerven  der  harten  Hirnhaut,  in  der  Zeitschrift  der  Gesell- 
schaft der  Wiener  Aerzte,  1861.) 


§.  357.  Dritter  Ast  des  fünften  Paares. 

Der  dritte  Ast  des  Quintus,  Ramus  inframaxiUaris,  wird 
durch  eine  Summe  von  Fasern,  welche  aus  dem  Ganglioti  Gassen 
stammen,  und  durch  die  ganze  vordere  motorische  Wurzel  des 
Quintus,  welche  an  der  inneren  Seite  des  Ganglion  tangirend  vor- 
beiziehty  zusammengesetzt.  Beide  mischen  sich  alsbald  zu  einem 
kurzen,  platten,  grobgeflochtenen  Nervenstamm.  Dieser  tritt  durch 
das  Foramen  ovale  des  Keilbeins  aus  der  Schädelhöhle  heraus,  sendet 
einen  von  Luschka  als  Nervus  spinosus  beschriebenen  Ast  durch 
das  Foramen  spinosum  des  Keilbeins  zur  mittleren  harten  Hirnhaut- 
arterie, und  theilt  sich,  gleich  unter  seinem  Austrittsloche,  in  zwei 
Gruppen  von  Zweigen. 

I.  Die  schwächere  dieser  beiden  Gruppen,  der  Lage  nach  die 
äussere,  enthält  die  grössere  Summe  der  Fäden  der  motorischen 
Wurzel  des  Quintus,  und  erzeugt  deshalb  vorzugsweise  nur  moto- 
rische Aeste  fiir  die  Muskulatur  des  Unterkiefers  (mit  Ausnahme 
des  Biventer)  und  für  den    Tensor    veli  palatinü     Diese  Aeste  sind: 

o)  Der  Nervus  massetericus.  Er  dringt  durch  die  Incisura  semi' 
lunaris  zwischen  Kronen-  und  Gelenkfortsatz  des  Unterkiefers 
von  innen  her  in  den  Musculus  masseter  ein.  Zweigchen  zum 
Kiefergelenk. 

b)  Die  Nervi  temporales  profundi,  ein  vorderer  und  hinterer, 
krümmen  sich  an  der  Schläfenfläche  des  grossen  Keilbeinflügcls  zum 
Musculus  temporalis  empor,  an  dessen  Innenfläche  sie  eintreten. 

Der  vordere  stärkere  ist  nicht  selten  ein  Ableger  des  Nervus  hucdnaiorius 
(daher  die  von  Pftlett»  gebrauchte  Benennung  für  beide  al«  Nervus  crotaphitico- 
buccinalorius),  und  der  hintere,  schwächere,  ein  Zweig  des  Nervus  jnasseterictt^. 

c)  Der  Nervus  bucdnaiorius  zieht  zwischen  Schläfen-  und 
äusserem  Flügelmuskel,  oder  letzteren  durchbohrend,  zum  Musctdus 
hucdnator  herab.  Er  lässt  unstreitig  Fasern  in  diesem  Muskel  zu- 
rück, giebt  auch  zu  einigen  Muskeln  der  Mundöffhung  Zweige,  ver- 
liert sich  aber  vorzugsweise  in  der  Schleimhaut  der  Backe. 


g.  S57.  Dritter  Ast  dM  fftoften  Putm.  887 

d)  und  e)  Der  Nervus  pterygoideus  internus  et  extemus,  für  die 
gleichnamigen  Muskeln  des  Unterkiefers.  Der  internus  und  ein  für 
den  Tensor  veli  palaiint  bestimmter  Zweig  desselben,  durchbohrt  das 
GanfjUon  oticum  (§.  362). 

Der  extemits  ist  oft  ein  Ast  des  Nervus  buccinatoriits,  und  zuweilen  auch 
doppelt.  Der  interntis  entspringt  in  der  Regel  aus  der  inneren  Fläche  des  noch 
luigetheilten  dritten  Quintnsastes,  dicht  luiter  dem  Foramen  ovale. 

II.  Die  zweite,  stärkere  (truppe  von  Zweigen  des  dritten  Astes, 
der  Lage  nach  die  innere,  wird  vorwaltend  durch  die  sensitiven, 
aus  dem  Ganglion  Gasseri  kommenden  Fäden  gebildet,  und  besteht 
aus  folgenden  drei  Nerven: 

a)  Der  oberflächliche  Schläfenerv,  Nervus  temporalis 
superficialis  s,  auriculo-temporalis ,  umfasst  mit  seinen  beiden  Ur- 
sprungswurzeln die  mittlere  Arterie  der  harten  Hirnhaut,  und 
schwingt  sich  hinter  dem  Gelenkfortsatz  des  Unterkiefers,  und  von 
den  Acini  der  Parotis  umgeben,  zur  Schläfegegend  auf,  wo  er  in 
zwei  Endäste  zerfiillt,  deren  hinterer  den  Attrahens  auriculae,  die 
Haut  der  concaven  Fläche  der  Ohrmuschel,  und  theilweise  auch 
jene  des  äusseren  Gehörganges  (vordere  Wand)  versorgt,  während 
der  vordere  dicht  hinter  der  Arteria  tempoi'olis  superficialis  liegt, 
und  sich  als  Hautnerv  in  der  Schläfegegend  ausbreitet. 

Während  der  oberflächliche  Schläfem?rv  von  der  Parotis  umschlossen  wird, 
theilt  er  dieser  Drüse  Fädehen  mit,  deren  Einfluss  auf  die  Speichelsecretion  durch 
Versuche  sichergestellt  ist.  Kr  anastomosirt  daselbst  auch  mit  den  Oesichtsästen 
de»  Coinmumcaiut  faviei  durch  zwei  Zweige,  welche  aber  nicht  bei  ihm  bleiben, 
sondern  als  Secretionsnerven  sich  in  der  Parotis  auflösen.  Ein  Zweigchen  seines 
hinteren  Astes  (Nervus  memhranae  tyinpani)  dringt  an  der  oberen  Wand  des  Gehör- 
ganges bis  zum  Trommelfell  vor. 

b)  Der  .  Z  u  n  g  e  n  n  e  r  v ,  Nervus  lingualls ,  nimmt  bald  unter 
seinem  Ursprünge  die  Chorda  tijmpani  (§.  363)  unter  einem  spitzigen 
Winkel  auf,  und  geht  mit  ihr  vereinigt,  zwischen  dem  Unterkieferast 
und  dem  inneren  Seitenbande  des  Kiefergelenkes,  anfangs  an  der 
äusseren  Seite  des  Musculus  sff/lo-glossus,  dann  an  jener  des  kyo- 
glosifus  bogenftirmig  nach  vorn  und  unten.  Er  versorgt  den  Arcus 
palato-glossus,  die  Schleimhaut  des  Bodens  der  Mundhöhle,  und 
schickt,  während  er  über  die  Glandula  suhma^illaris  weggeht,  ein 
bis  zwei  Zweigchen  zum  Ganglion  suhmaxillare  und  zur  Glandula 
suhlingualis,  VjY  anastomosirt  mit  den  Aesten  des  Zungenfleisch- 
nerven,  und  spaltet  sich  in  acht  bis  zehn  eigentliche  Zungen- 
nerven, welche  zwischen  Hyoglossus  und  Genio-glossus  in  das  Fleisch 
der  Zunge  eindringen,  dasselbe  von  unten  nach  oben  durchsetzen, 
und  sich  in  den  Papillen  der  Zunge,  mit  Ausnahme  der  vallata^e, 
und  auch  vieler  jiI|/V.  'onentachieden, 


8  88  §.  35B.  Physiologisches  über  das  f&nfte  Nerrenpaar. 

ob  der  Nervus  lingualia   mehr   als  Tastnerv,    oder  als  Geschmacks- 
nerv der  Zunge  angesehen  werden  muss. 

Remak  entdeckte  an  den  feineren  Ramificationen  des  Nervus  linguaUs 
zahlreiche  kleine  Ganglien.  An  den  stärkeren  Aesten  dieses  Nerven  finden  sie 
sich  beim  Menschen  nicht,  wohl  aber  beim  Schafe  und  beim  Kalbe.  (MüUer's 
Archiv.   1852.) 

c)  Der  eigentliche  Unterkiefernerv,  Nervus  mandibularis, 
liegt  hinter  dem  Nervus  lingualis,  mit  welchem  er  durch  einen  oder 
zwei  Fäden  zusammenhängt,  steigt  an  der  äusseren  Seite  des  Mus- 
culus pterygoideus  internus  zur  inneren  OefFnung  des  Uuterkiefer- 
kanals  herab,  und  theilt  sich  hier  in  drei  theils  motorische,  theils 
sensitive  Aeste: 

a)  Nervus  mylo-hyoideua,  welcher  in  dem  Sulcus  mylo-hyoideua  des  Unter- 
kiefers nach  vom  zieht,  und  sich  im  Musculus  mylo-hyoideus,  und  im  vorderen 
Bauche  des  Biventer  maxiUae  verliert. 

ß)  Nervus  alveolaris  inferior^  welcher  mit  dem  gleich  zu  erwähnenden  Nervus 
mentalis  in  den  Unterkieferkanal  einzieht,  und  sich  in  diesem  zu  einem  Geflechte 
auflöst,  welches  die  Arteria  alveolaris  inferior  umstrickt,  durch  jeden  Zahnwurzel- 
kanal einen  Aussendling  zur  Pulpa  dentis  gelangen  lässt,  und  die  schwammige 
Substanz  des  Zahnlückenrandes  des  Unterkiefers,  so  wie  das  Zahnfleisch  desselben 
mit  seinen  letzten  Zweigchen  versorgt. 

Y)  Der  Nervus  mentalis  trägt  zur  Bildung  des  Geflechtes  im  Unterkiefer- 
kanal bei,  durch  Abzweigung  feiner  Fädchen,  deren  Verlust  ihn  jedoch  nicht  sehr 
schwächt.  Er  kommt  vielmehr  als  ein  noch  ganz  ansehnlicher  Nervenstamm,  durch 
die  vordere  oder  Kinnöffnung  des  Kanals  heraus,  um,  bedeckt  vom  Depressov 
angtdi  oris,  in  einen  Fächer  von  Zweigen  zu  zerfallen,  welche  die  Haut,  »Schleim- 
haut, und  Muskulatur  der  Unterlippe  und  des  Kinns  versorgen,  und  mit  dem 
Nervus  subaitaneus  niaxillae  inferioris  vom   Conimunicafis  faciei  anastoraosiren. 


§.  358.  Physiologisches  über  das  fünfte  Nervenpaar. 

Durch  Vivisectioncn  und  durch  pathologische  Erfalirungeu  kam 
man  zur  üeberzeugung,  dass  die  hintere  Wurzel  des  Quintus  sen- 
sitiv, die  vordere  motorisch  ist,  —  ein  Verhältniss,  welches  bei  allen 
Rüekenmarksnerven  wiederkehrt.  Das  Ganglion  Gassen  entspricht, 
wenn  auch  nicht  durch  seine  Lage,  doch  gewiss  durch  seine  Structur, 
den  Intervertebralganglien  der  Rüekenmarksnerven.  Reizung  der 
vorderen  Wurzel,  welche  an  der  Bildung  des  Ganglion  GasseH  keinen 
erwiesenen  Antheil  hat,  erregt  bei  Vivisectioncn  Beissbewegungen 
des  Kiefers  und  Klappern  der  Zähne,  —  an  der  hinteren  Wurzel 
dagegen  die  heftigsten  Schmerzäusserungcn. 

Nach  der  Trennung  der  hinteren  Wurzel  des  Quintus,  oder  Aufhebung  ihrer 
Leitung  durch  patliolog^sche  Momente,  verlieren  die  Haut  der  Stirn  und  Schläfe, 
die  Conjunctiva,  die  Nasen-  und  Mundschleimhaut,  die  Lippen  und  die  Zunge 
ihre  Empfindung,  während  durch  Trennung  der  vorderen  Wunsel  Lähmung  der 
Kiefermuskeln  eintritt  Die  Vernichtung  der  Empfindung  in  den  genannten  Flächen 


§.  358.  Physiologisches  über  das  fOinfte  Nenrenpaar.*  889 

wird  es  nie  zu  Reflexbewegungen  kommen  lassen,  welche  sonst  auf  die  Reizung 
derselben  zu  erfolgen  pflegen.  Die  Augenlider  schliessen  sich  nicht  mehr,  wenn 
die  Conjunctiva  mechanisch  gereizt  wird;  auf  Kitzeln  in  der  Nase  entsteht  weder 
Schnauben  noch  Niessen;  die  Zunge  fühlt  den  Contact  der  Nahrungsmittel  nioht, 
obwohl  sie,  wegen  Unverletztheit  des  Xermts  glosao-pharyngeuSf  noch  für  gewisse 
Geschmackseindrücke  erregbar  bleibt.  Ein  Thier,  welchem  die  sensitiven  Quintus- 
wurzeln  an  beiden  Seiten  durchgeschnitten  wurden,  überlebt  diese  Operation  längere 
Zeit,  und  benimmt  sich,  da  es  an  dem  g^össten  Theile  seines  Kopfes  keine 
Empfindung  hat,  so,  als  wenn  der  Kopf  nicht  mehr  zu  seinem  Rumpfe  gehörte. 
—  Findet  am  Menschen  die  Lähmung  der  sensitiven  Wurzel  nur  auf  einer  Seite 
statt,  so  wird  auch  die  Empfindungslosigkeit  (Anästhesie)  nur  eine  halbseitige  sein 
können.  Ein  Glas  an  die  Lippen,  oder  ein  Löfl'el  in  den  Mund  gebracht,  werden 
nur  auf  der  einen  Seite  empfunden  werden,  und  den  Eindruck  hervorbringen,  als 
wären  sie  gebrochen.  Kommt  der  Bissen  beim  Kauen  auf  die  gelähmte  Seite  der 
Mundhöhle,  so  meint  der  Kranke,  dass  er  ihm  aus  dem  Munde  gefallen  sei.  Er 
fühlt  es  nicht,  wenn  er  sich  in  die  Zunge  beisst,  und  dieser  Unempfindlichkeit 
wegen  erleidet  die  Zunge  beim  Kauen  die  grössten  mechanischen  Unbilden,  welche 
zu  hartnäckigen  Geschwüren  führen  können. 

Die  Gesichtszweige  des  zweiten  und  dritten  Quintusastes  sind  vorzugs- 
weise der  Sitz  der  als  Fothergill'scher  Gesichtsschmerz  bekannten  Neuralgie. 
Der  erste  Ast  unterliegt  dieser  furchtbaren  Krankheit  weit  seltener.  Vielleicht 
liegt  die  Ursache  darin,  dass  die  sensitiven  Zweige  des  zweiten  und  dritten 
Astes,  durch  mehr  weniger  lange  und  enge  Knochenkanäle  ziehen,  in  welchen  es 
durch  krankhafte  Veranlassungen  der  verschiedensten  Art  weit  leichter  zu  einem 
Missverhältnisse  zwischen  Kanal  und  Inhalt  kommen  kann,  als  an  den  Ge- 
sichtszweigen des  ersten  Astes,  deren  Verlauf  durch  keine  Knochenkanäle  vor- 
geschrieben ist. 

Auf  Resection  des  Quintus  stellen  sich  auffallende  Ernährungsstörungen 
ein,  welche  sich  durch  Entzündung  und  Schwellung  der  Conjunctiva,  vermehrte 
Schleimabsonderung,  Füllung  der  vorderen  und  hinteren  Augenkammer  mit  Ex- 
sudat, Mattwerden  imd  Erosionen  der  Hornhaut,  acute  Erweichung  derselben  und  der 
übrigen  Augenhäute,  welche  zum  Bersten  des  Bulbus  führt,  so  wie  auch  durch  Schorf- 
bildnng  an  Nase,  Kinn,  Zunge,  und  Wange,  aussprechen.  Man  hat  diesen  Complex 
von  Erscheinungen,  als  nenro-paralytische  Entzündung  benannt  Sie  er- 
klären sich  durch  die  Trennung  der  dem  Quintus  beigemischten  sympathischen 
Fasern  aus  dem  Plexus  caroticwt.  In  neuester  Zeit  läugnet  man  den  Einfluss  der 
Trennung  der  sympathischen  Fasern  im  Quintus  auf  diese  Erscheinungen.  Man 
hält  sie  vielmehr  für  die  Folge  des  Reizes  äusserer  Schädlichkeiten,  welche  nicht 
mehr  abgehalten  werden  können,  da  die  Schleimhaut  der  Conjunctiva,  der  Nasen- 
und  Mundhöhle,  durch  die  Resection  des  Quintus,  ihre  Empfindlichkeit  verlor, 
und  somit  nicht  mehr,  durch  Hervomifung  von  Reflexbewegungen,  auf  die  Ab- 
haltung und  Entfernung  dieser  reizenden  Schädlichkeiten  einwirken  kann. 

Longe t  erhebt  den  Nervus  Ungualis  zum  Geschmacksnerv.  Auch  mir 
scheint  Panizza's  Ansicht,  nach  welcher  dieser  Nerv  keine  specifische  Geschmacks- 
empfindung erregen,  sondern  nur  der  Tastnerv  der  Zunge  sein  soll,  um  so  mehr 
zweifelhaft,  als  chirurgische  Erfahrungen  die  Theilnahme  des  Nervus  Um/ualis  am 
Geschmackssinne  bestätigen.  Lisfranc  sali  nach  Exstirpation  eines  Unterkiefer- 
stückes, mit  welchem  zugleich  ein  Stück  des  Nervus  Ungualis  herausgenommen 
wurde,  den  Geschmack  auf  der  entsprechenden  Zungenhälfte  verschwinden.  Ich 
kann  überhaupt  die  Berechtig^ung  nicht  einsehen,  einen  specifischen  (xeschmacks- 
nerven  in  der  Zunge  zu  statnireo,  d*  nuui  doreh  sehr  einfache  Versuche  an  sich 
selbst  die  Ueberzengoo'  »nen  Nerven  aller  den 


890  $•  S^'  (Haglien  am  fünften  Paure.  OangUon  Ooittri. 

Isthmus  fauchtm  umgebenden  Schleimhatitpartien,  zur  Vermittlnng  von  Gescbmacks- 
empfindangen  concurriren,  und  man  den  Geschmack  eines  auf  die  Zunge  gelegten 
Körpers  um  so  deutlicher  wahrnimmt,  je  allseitiger  er  mit  den  Wänden  der  Mund- 
höhle beim  Kauen  in  Contact  gebracht  wird,  und  je  leichter  er  im  Speichel  lös- 
lich ist.  (Sieh'  §.  365.) 

Von  den*  älteren  Schriften  über  das  fünfte  Paar  verdienen  genannt*  za 
werden:  J.  F,  Meckel,  de  quinto  pare  nervorum.  Gotting.,  1748.  Ein  noch  immer 
classisches  Werk.  —  i?.  B.  Hirsch,  dlsqnisitio  anat.  paris  quinti.  Vindob.,  1705. 
—  Specielle  Beschreibungen  einzelner  Quintusäste  gaben:  J.  B.  Paletia,  de  nervis 
crotaphitico  et  buccinatorio.  Mediol.,  1784.  —  J,  G.  Haase,  de  nervo  maxlUari 
superiore.  Lips.,  1793.  —  G,  Schumacfier,  ttber  die  Nerven  der  Kiefer  und  des 
Zahnfleisches.  Bern,  1839.  —  J.  A,  Hein,  über  die  Nerven  des  Gaumensegels,  in 
Müller* s  Archiv.  1844.  —  V,  Bochdalek,  neue  Untersuchungen  der  Nerven  des 
Ober-  und  Unterkiefers,  in  den  medicin.  Jahrbüchern  Oesterr.  1836.  XIX.  Bd. 
Derselbe,  Über  die  Nerven  des  harten  Gaumens,  ebendaselbst,  1842.  1.  Heft.  — 
Luschka,  die  Nerven  der  harten  Hirnhaut.  Tübingen,  1860,  und  MiiUer's 
Archiv.  1853. 


§.  359.  öanglien  am  fünften  Paare.  Ganglion  Gasseri. 

Die  mit  dem  Quintus  in  Verbindung  stehenden  Ganglien  gö- 
hören  nicht  ihm  allein,  sondern  zugleich  dem  Sympathicus  an,  da 
sich  in  jedes  derselben  sympathische  Nervenfäden  verfolgen  lassen. 
Sie  können  jedoch  hier  am  passendsten  ihre  Erledigung  finden,  weil 
die  Betheiligung  des  fünften  Paares  an  ihrer  Bildung,  jene  des 
Sympathicus  in  sehr  auffallender  Weise  tiberwiegt. 

Das  erste  imd  zugleich  grösste  Ganglion  am  Quintus  ist  das 
Ganglion  aemilunare  Gassen,  Seine  Lage  und  (i estalt  ist  aus 
§.  355  bekannt.  Es  hat  nicht  die  ovale  Form  gewöhnlicher  (ian- 
glien,  sondern  ist  halbmondförmig.  Nur  die  hintere  sensitive 
Wurzel  des  fünften  Nervenpaares  tritt  in  den  concaven  Rand  des 
Ganglion  ein,  während  aus  dem  convexen  die  drei  Zweige  dieses 
Paares  abgehen. 

Seine  plattgedrückte  Gestalt  wird  durch  den  iiltoren  Namen:  Taenia 
nervosa  Hrdleri  ausgedrückt.  Hai  1er  zählte  seine  Taenia  nervosa  nicht  unter  die 
Ganglien.  Ein  Wiener  Anatom,  Raymund  Balthasar  Hirsch,  wies  ihr  erst 
in  seiner  Disquisilio  paris  quinti,  Vimloö.,  I7oT},  pa/j.  ti,  diese  Stellung  zu,  und 
nannte  sie,  seinem  stmst  nioht  bekannten  Lehrer  Joli.  Laur.  Gasser  zu  Ehren, 
Gmujlion  Gasseri.  Die  untere  innere  Fläche  des  Gaw/lion  Gasseri  nimmt  aus  den 
sympathischen  Nervengeflechten,  welche  die  Carotis  interna  im  Sinus  cavernosus 
umspinnen,  Verbindungsfaden  auf.  Sein  mikroskopischer  Hau  stimmt  mit  jenem 
der  Intervertcbralganglicn  überein,  §.  .STO. 


S.  860.  OangUan  eiiian.  891 


§.  360.  Ganglion  ciliare. 

Das  Ganglion  ciliare  ist  ein  rundlich  viereckiges  Knötchen 
von  einer  Linie  Durchmesser,  liegt  im  hintersten  Theile  der  Augen- 
höhle zwischen  Eectus  extemus  und  Nervus  opticus,  nimmt  an  seinem 
hinteren  Rande  drei  Wurzeln  auf,  und  giebt  am  vorderen  Rande 
eine  Anzahl  Aeste,  die  sogenannten  Ciliarnerven,  ab. 

a)  Wurzeln  des  Ciliarknotens  sind: 

a)  Die  Radix  brevis  8.  motoria  vom  NervtAS  oculomotorius,  ^^f^^^^  ^/^^^ 
ß)  Die  Radix  longa  8.  sensitiva  vom  Nermis  na^o-ciliaris,         /jo!*-»*'*^ 
y)  Die   Radix  sympathica   (trophica,   Romberg).     Aus  dem 
Plexus  caroticus  im  Sinus  cavernosus  entsprungen,  geht  sie 
durch  die   Fissura   orbitalis  superior  zum   Ganglion  ciliare 
selbst,  oder  zu  dessen  Radix  longa. 

Diese  ausnahmslos  vorkommenden  Wurzeln  werden  zuweilen  durch  andere 
vermehrt.  Solche  sind :  1 .  Die  von  mir  heschriebene  Badix  mferior  longa  a.  recur- 
rens, aus  dem  Xerüus  naao-ciliaris  jenseits  des  Sehnerven,  oder  aus  einem  freien  « 
Ciiiarnerven  stammend.  Sie  läuft  unter  dem  Nervus  opUcua  zum  Ciliargangllon 
zurück,  und  bildet  mit  dem  über  ihm  liegenden  Stücke  des  Nervus  naso-ciUaris 
einen  Nervenring,  durch  welchen  der  Nervus  opticus  durchgesteckt  ist.  Häufig 
geht  sie  nicht  direct  zum  Knoten,  sondern  zu  einem  Nenms  ciUariSf  an  welchem 
aie  zum  Ganglion  ciliare  zurückläuft.  (Sieh'  meine  Berichtigungen  über  das  Ciliar- 
system  des  menschlichen  Auges,  in  den  medic.  Jahrbüchern  Oesterr.  28.  Bd.)  Ihr 
Vorkommen  erklärt  hinlänglich  das  von  mehreren  Autoren  beobachtete  Fehlen  der 
Radix  longa,  da  beide,  als  Zweige  desselben  Nerven,  einander  vertreten  können. 
—  2.  Eine  Wurzel  aus  dem  Nervus  lacrimalis ,  welche  sich  zur  Radix  longa  be- 
gicbt  (Schlemm,  Observ.  neurol.  Berol.,  1834.  pag.  18).  —  3.  Eine  vom  Ganglion 
spheno-peUatinum  durch  die  Fissura  orbitalis  inferior  heraufkommende  Wurzel 
(Tiedemann),'  welche  ich  jedoch,  auf  mikroskopische  Untersuchung  ihrer  Fasern 
gestützt,  für  eine  fibröse  Trabecula  halte,  was  von  Beck  auch  für  die  vom  Gan- 
glion spheno-palatinum  zum  Stamme  des  Sehnerven  entsandte  Anastomose  bestätigt 
wurde.  —  Der  von  Otto  gesehene  Fall,  wo  die  Radix  longa  (und  der  Nervus 
naso-ciliarisj  ans  dem  Nervus  abdticens  entsteht,  ist  eine  der  seltsamsten  Ano- 
malien, lieber  diese  Anomalien  enthält  Weitläufiges  Müller's  Archiv,  1840,  und 
Scitzer,  Bericht  von  einigen  nicht  häufig  vorkommenden  Variationen  der  Augen- 
nerven, Kopenhagen,  1845,  so  wie  Beck,  über  die  Verbindung  des  Sehnerven  mit 
dem  Augen-  und  Nasenknoten,  Heidelberg,  1847.  —  M,  Reichart,  Ganglion  ophthal- 
micum.  München,   1876. 

b)  Aestc  des  Ciliarknotens. 

Sie  heissen  Ciliar  nerven,  und  gehen  zehn  bis  sechzehn  an 
Zahl,  aus  dem  oberen  und  unteren  Ende  des  vorderen  Randes  des 
Ganglion  in  zwei  Bündeln  hervor.  Das  schwächere  Bündel  geht 
zwischen  dem  Nervus  opticus  und  dem  Rectus  extermis,  das  stärkere 
zwischen  Nervus  opticus  und  Rectus  inferior  zur  hinteren  Peripherie 
des  Bulbus^   dessen  S<  *    ''^e  durchbohren,   um   zwischen   ihr 

und  Chorn"  ri$  (Tensor  choroideae) 


892  $.  961.  Oamgliom  tpheno-palatmum. 

zu  ziehen,  in  welchem  sie  sich  zu  einem  Geflechte  verbinden. 
Aus  diesem  Geflechte  entspringen:  1.  die  eigentlichen  Irisnerven, 
2.  die  Nerven  des  Musculus  cäiaris,  und  3.  die  Hornhautnerven 
(Bochdalek). 

Der  Ciliarknoten  wurde  von  dem  durch  seine  zahlreichen  kleinen  Schriften 
bekannten,  sehr  gelehrten  Leipziger  Professor,  Polycarp  Gottl.  Schacher,  in 
einem  Büchlein  zuerst  erwähnt,  welches  über  den  grauen  Staar  handelt:  Düp.  de 
ccUaracta.  Lip».,  1705. 

Einer  der  inneren  Ciliarnerven  wird  nach  Hirzel  zur  Bildung  des  die 
ArUria  ophthalmica  umstrickenden  sympathischen  Geflechtes  einbezogen,  ans 
welchem  ein  sehr  feiner  Faden  mit  der  Arieria  centralis  retinae  in  den  Xervus 
opticus  eindringen,  und  sofort  zur  Retina  gelangen  soll.  Dieser  von  vielen  Seiten 
angefeindete  Faden  kann  auch  aus  dem  Ganglion  ciliare  stammen.  Die  mikro- 
skopische Untersuchung  desselben  wies  mir  aber  in  ihm  nur  Bindegewebe  und 
Blutgefässe,  aber  keine  Nervenelemente  nach.-  —  Da  auch  aus  dem  Nervus  naso- 
ciliaris  freie  Ciliarnerven  entstehen  (einer  bis  zwei),  welche  wie  die  aus  dem  Gan- 
glion entsprungenen  Ciliarnerven  verlaufen,  so  nennt  man  erstere  Nervi  ciliares 
Umgif  letztere  breces.  Ein  longus  und  ein  brevis  vereinigen  sich  zu  einem  gemein- 
schaftlichen, unter  dem  Sehnerven  verlaufenden  Stämmchen.  —  Beck  sah  vom 
Ganglion  ciliare  feine  Aestchen  zum  Eectus  inferior  treten.  Sie  waren  gewiss  nur 
Fortsetzungen  der  Fasern  der  Radix  brevis  s.  tnotoria. 


§.  361.  Ganglion  spheno-palatinum. 

Der  Keilgaumen-  oder  Flügelgauraenknoten,  Ganglion 
sphenO'  «.  pterygo-palaünum,  s,  Meckelii,  s.  rhinicum  (piv,  Nase)  liegt, 
von  reichlichem  Fett  umhüllt,  in  der  Tiefe  der  Fossa  pterygo-pala- 
iina,  hart  am  Foramen  spheno-palatinum.  Er  ist  zwei  bis  drei  Mal 
grösser,  als  das  Ganglion  ciliare,  aber  bedeutend  weicher,  und  nicht 
so  scharf  begrenzt.  Er  hängt  mit  dem  zweiten  Aste  des  fünften 
Paares  durch  zwei  kurze  Fäden,  Nervi  pterygo-  s,  spheno-palatini 
zusammen,  welche  die  Radix  sensitiva  des  Ganglion  darstellen.  Sein 
nach  hinten  gerichtetes,  sich  zuspitzendes  Ende  wird  vorzugsweise 
aus  grauer  Gauglienmasse  gebildet,  während  sein  vorderer  breiter 
Theil,  in  welchem  die  Nervi  pterygo-palatini  eintreten,  nur  Spuren 
grauer  Substanz  zeigt.  Die  Aeste,  welche  von  ihm  abgesendet 
werden,  sind: 

a)  Ramuli  oi-bitales,  fein  und  zart,  dringen  durch  die  untere 
Augengrubenspaltc  in  die  Orbita,  und  verlieren  sich  in  der  Peri- 
orbita. Man  hat  Reiserchen  derselben  bis  in  das  Neurilemma  nervi 
optici  verfolgt  (Arnold,  Louget). 

Hie  her  gehören  auch  zwei  Nervi  tqiheno-ethnwldales,  deren  EnUlecknng  wir 
Luschka  verdanken.  Beide  gehen  durch  die  Fis nur a  orbital is  inferior  zur  inneren 
Augenhühlenwand.  Der  eine  gelangt  durch  das  Foramen  eth»u>Ula(c  posticumy  der 
andere  durch  die  Naht  zwischen  Papierplatte  des  Siebbeines  und  Keilbeinköriiers 
zu  den  hintersten  Siebbeinzellen  und  zum  Sinus  sphenoidalis. 


§.361.  QanfUon  »phimo-paioiinum.  893 

b)  Der  Nervus  Vidianus,  unrichtig  ViduaniLs.  Er  liegt  in  der 
nach  hinten  gedachten  Verlängerung  des  Ganglion.  Man  hat  ihn 
lange  für  einen  einfachen  Nerven  gehalten.  Er  zeigt  sich  jedoch 
bei  näherer  Untersuchung  aus  grauen  und  weissen  Fasern  zusammen- 
gesetzt, welche,  jede  Art  für  sich,  zwei  dicht  über  einander  liegende 
Bündel  bilden.  Beide  Bündel  laufen  durch  den  Vidiankanal  von 
vor-  nach  mckwärts,  und  trennen  sich  am  hinteren  Ende  des  Kanals 
von  einander.  Das  graue  oder  untere  Bündel  geht  zu  dem,  die 
Carotis  cerebralts  vor  ihrem  Eintritt  in  den  Canalis  caroticus  um- 
strickenden sympathischen  Geflecht,  oder  kommt  richtiger  von 
diesem  Geflechte  zum  Ganglion  splieno-palatinum  hinauf.  Es  wird 
als  Nervus  petrosus  profundtis  benannt.  Das  weisse  oder  obere 
Bündel  ist  der  Net^tms  petrosvs  superficialis  major.  Er  durchbohrt 
die  Faserkorpelmasse,  welche  die  Lücke  zwischen  Felsenbeinspitze, 
und  Körper  des  Keilbeins  ausfüllt  (Fihrocartilago  basilaris),  gelangt 
dadurch  in  die  Schädelhöhle,  wo  er  sich  in  die  Furche  der  oberen 
Fläche  des  Felsenbeins  legt,  und  durch  sie  zum  Hiatus  canalis  Fol- 
lopiae  geführt  wird,  um  sich  mit  dem  Knie  des  Communicans  facisi 
zu  verbinden.  So  lautet  die  gewöhnliche  anatomische  Beschreibung. 
Nach  unserem  Dafürhalten  dagegen  besteht  der  Nervus  petrosus 
superficialis  major  theils  aus  Fasern,  welche  vom  Ganglion  spheno- 
palatinum  zum  Communicans  ziehen,  um  diesem  motorischen  Nerv 
sensitive  Fasern  zuzuführen,  theils  aus  solchen,  welche  umgekehrt 
vom  Communicans  zum  Ganglion  spheno-palatinum  herüberkommen, 
und  es  ermöglichen,  dass  die  weiter  unten  zu  erwähnenden  (f) 
Nervi  palatini  descendentes  auch  gewisse  Gaumenmuskeln  versorgen 
können.  Die  Verbindung  zwischen  Ganglion  spheno-palatinum  und 
Communicans  ist  also  eine  Anastomosis  mutua  (§.  363).  —  Dieser 
Anschauung  zufolge  wäre  der  Nervus  Vidianus  nicht  so  sehr  ein 
Ast,  als  vielmehr  eine  Wurzel  des  Ganglion  splieno-palatinum,  und 
zwar  die  vereinigte  motorische  (grössere  Menge  der  Fasern  des 
oberen  weissen  Bündels)  und  trophische  oder  sympathische  (unteres 
graues  Bündel). 

c)  Die  Rami  pharyngei  sind  an  Zahl ,  Stärke  und  Ursprung 
nicht  immer  gleich.  Oft  ist  nur  einer  vorhanden,  welcher  von  dem 
unteren  grauen  Bündel  des  Nervus   Vidianus  abgeht. 

Sie  begeben  sich  in  einer  Furche  der  unteren  Fläche  des  Keilbeinköq)er8, 
welche  durch  den  Keilbeinfortsatz  des  Gaumenbeins  zu  einem  Kanal  geschlossen 
wird,  nach  hinten  zur  Schleimhaut  der  obersten  Rachenpartie.  —  Der  erwähnte 
Kanal  an  der  unteren  Fläche  des  Keilbeinkörpers  heisst  bei  den  Autoren:  Caiuilis 
pterygo-palaUmia,  Ich  verwerfe  diese  Benennung,  da  sie  bereits  an  den  Canaiis 
pcUatmus  descendena  vergaben  ist,  und  gebrauche  statt  ihrer  den  richtigen  Ausdruck: 
öaneUU  8pkeno-palatinu$. 

d)  Die  zwei  bis  ^«  ^'  narium  ziehen  durch  das 
Forcmm  iphe»^  '^nen   und  zur 


894  |.  Ml.  Omntßwm 

Nasenscheidewand.  Einer  von  ihnen  ist  durch  Grösse  und  Länge 
ausgezeichnet.  Er  heisst  Nervus  naso-pakUinus  Scarpae,  Er  geht 
längs  der  Nasenscheidewand  nach  vom  und  unten  zum  Canalis 
ntuo-pcdaünusy  in  welchem  er  sich  mit  dem  der  anderen  Seite  ver- 
bindet, und  durch  welchen  er  zur  vorderen  Partie  des  harten 
Gaumens,  so  wie  zum  Zahnfleisch  der  Schneidezähne  gelangt.  So 
heisst  es  allgemein  bei  den  deutschen  Anatomen.  Scarpa  erwähnt 
aber  ausdrücklich,  dass  die  beiden  Nervi  naso-pcJ-atini  nicht  durch 
den  Canalis  naso-palatinus,  sondern  durch  besondere  Kanälchen  in 
der  Sutur  der  beiderseitigen  Processus  palcUim  zum  harten  Gaumen 
gelangen.  Beide  Kanälchen  liegen  nicht  neben,  sondern  hinter  ein- 
ander. Der  linke  Nerv  geht  durch  das  vordere,  der  rechte  durch 
das  hintere  Kanälchen.  (Annöt  anat.  1785.  lib.  IL  cap,  5.) 

Cloquet  hat  an  der  angenommenen  VerbindongssteUe    beider  Nemi  tuuo- 

pdUUini  im   Canalia  ruuo-paiaUnus,  ein  Ganglion  beschrieben,  welches  er  Oanglion 

naso-ptUaUnum  nannte.     Dieses  Oanglion  existirt  nicht.     Cloquet  wnrde  dadurch 

getinscht,  dass  er  die  verdickte  und   etwas   härtliche   Wand  des  hantigen  Duettu 

ntuo-palaünus,  für  ein  Oanglion  ansah. 

Der  Nervus  naso-palatmus  Scarpae  war  schon  Siteren  Anatomen  bekannt. 
Scarpa  erwähnt  selbst,  dass,  als  seine  Abhandlung  dmckfertig  war,  er  eine  von 
Cotugno,  viemndzwanzig  Jahre  früher  angefertigte  Tafel  zur  Hand  bekam, 
welche  den  Verlauf  dieses  Nerven  darstellte.  John  Hnnter  hatte  ebenfalls  den 
Nervus  ruuo-palatinus  schon  1704  abgebildet,  bediente  sich  der  Abbildung  bei 
seinen  Demonstrationen,  und  zeigte  sie  1782  dem  in  London  anwesenden  Scarpa, 
welcher  somit  kein  anderes  Verdienst  hat,  als  der  Entdeckung  Anderer  seinen 
Namen  hinterlassen  zu  haben. 

■ 

e)  Die  Nervi  nasales  posteriwes,  nach  Arnold  vier  bis  fünf  an 
Zahl,  sind  vorzugsweise  für  den  hinteren  Bezirk  der  äusseren  Wand 
der  Nasenhöhle  bestimmt.  Man  theilt  sie  in  die  oberen  (zwei  bis 
drei),  den  mittleren,  und  unteren  ein.  Der  mittlere  bildet  die 
oben  (§.  356,  d)  erwähnte  Verbindung  mit  dem  Ganglion  des 
Plexus  dentalis  superior.  Die  oberen  gelangen  durch  das  Foramen 
splieno-palatinum  in  die  Nasenhöhle.  Der  mittlere  und  untere  be- 
gleiten die  gleich  zu  erwähnenden  Nervi  palatini  descendentes,  und 
zweigen  sich  während  ihres  absteigenden  Verlaufes  durch  den 
Canalis  palatinus  anteriory  zur  mittleren  und  unteren  Nasenmuschel 
von  ihm  ab. 

f)  Die  Nervi  palatini  descendentes,  drei  an  Zahl,  steigen  durch 
den  in  drei  Arme  getheilten  Canalis  palatinus  descendens  zum 
Gaumen  herab.  Durch  die  Foramina  palatina  postica  aus  den  ge- 
nannten Kanälen  hervorkommend,  versorgen  sie  die  Schleimhaut 
des  weichen  und  harten  Gaumens,  und  den  Levator  palati  und  Azygos 
uvulae.  Der  stärkste  von  den  dreien  ist  der  Nervus  palathms  anterior. 
Er  verbreitet  sich  in  der    Schleimhaut  des  harten  Gaumens  bis  zu 


$.  862.  Ganglion  »upramamülarff  oMciin,  ef  nthmaaMare.  895 

den  Schneidezähnen  hin,  wo  er  mit  dem  Nervus  naso-pcdatinus  Scarpae 
anastomosirt. 

Da  der  zweite  Quintnsast  sensitiv  ist,  so  können  die  von  den  Nervi  pala- 
Uni  descenderUes  zu  gewissen  Gaomenmuskeln  abgesandten  Zweige,  nur  durch  eine 
Aneutomoifw  recepHonis  von  einem  motorischen  Himnerv  erborgt  sein.  Dieser  ffim- 
nerv  ist,  wie  früher  gesagt,  der  Communicans,  welcher  in  der  Bahn  des  Nervus 
petrosus  superficialia  major  dem  Ganglion  spheno-palcUinutn  motorische  Elemente 
zuschickt.  —  Die  Ne7*vi  sepli  narium  und  nasales  posteriores  sind  wirkliche  Ver- 
längerungen der  aus  dem  zweiten  Aste  des  Quintus  stammenden  sensitiven  Wurzeln 
des  Ganglion  spheno-palatinum  (Nervi  spheno-palalini).  —  Versucht  man,  die  Wurzeln 
unseres  Ganglion  mit  jenen  des  Ganglion  ciliare  in  eine  Parallele  zu  stellen,  so 
wären  die  Nervi  spheno-palaUni  die  sensitiven  Wurzeln  desselben,  der  im  oberen 
weissen  Büschel  des  Nervus  Vidianus  enthaltene  Faserantheil  des  Communicans 
die  motorische,  und  der  graue  Nervus  petrosus  profundus  die  sympathische  oder 
trophische  Wurzel  des   Ganglion  spheno-palatinum. 


§.  362.   Ganglion  supramnocillarey  oticurrij  et  suhmaxillare. 

1.  Das  Ganglion  supramaxiUare  wurde  sclion  (§.  356,  d)  be- 
schrieben. Zuweilen  findet  sich  noch  ein  hinteres  im  Plexus  dentalis 
superiar,  und  Bochdalek  hat  noch  kleinere  Ganglien  abgebildet, 
welche  in  die,  die  Zwischenwände  der  Zahnzellen  durchziehenden 
Nervengeflechte  eingesenkt  sind.  Oefters  hat  das  Ganglion  nur  das 
Ansehen  eines  feingenetzten  Plexus,  wie  an  einem  von  Bochdalek 
dem  Wiener  anatomischen  Museum  geschenkten,  überaus  schönen 
Präparate  zu  sehen  ist.  Arnold  bestreitet  mit  scharfen  WaflFen  die 
Existenz  dieses  Ganglion,  und  erklärt  es  für  ein  Geflecht,  ohne 
Beimischung  von  Ganglienzellen  (Handbuch  der  Anatomie.  2.  Bd. 
pag.  892). 

2.  Der  Ohrknoten,  Ganglion  oHcum  s.  Amoldi,  eine  der 
schönsten  Entdeckungen  der  neueren  Neurotomie,  liegt  knapp  unter 
dem  Foi^amen  ovale,  an  der  inneren  Seite  des  dritten  Quintusastes, 
mit  welchem  er  durch  kurze  Fädchen  (Radix  brevis,  Arnold)  zu- 
sammenhängt. Er  ist  länglich-oval,  zwei  Linien  lang,  sehr  platt, 
gelblich-grau,  und  von  weicher  Consistenz.  Er  wird  vom  Nervus 
ptertjgoideus  internus,  und  von  jenem  Aste  desselben  durchbohrt, 
welcher  zum  Tensor  palati  moUis  geht.  Beide  lassen  Fäden  im 
Ganglion,  welche  als  dessen  motorische  Wurzel  gelten  können, 
während  die  Radix  brevis,  aus  dem  Stamme  des  Ramus  tertius  quinti, 
die  sensitive,  und  der  gleich  unten  in  e)  erwähnte  Faden,  die  Radix 
trophica  s.  sympathica  repräsentiren.  Es  mag  diese  Aniioht  tfeswnngen 
erscheinen,  —  aber  angreifbar  «■' 

widerlegbar« 


896  §•  S6S.  Oanglion  »upramaMiüare,  otieum  et  tubmazillare. 

Die  Constanten  Aeste  des  Ganglion  otlcum  sind: 
a)  Der    Nervus    ad    tensorum    tympanl.     Er    gelangt    über   der 
knöchernen  Ohrtrompete  zum  Spannmuskel  des  Trommelfells. 

h)  Der  Nervus  petrosus  superficialis  minor  geht  durch  ein  eigenes 
Kanälchen  des  grossen  Keilbeinflügels,  hart  am  Foramen  spinosum 
in  die  Schädelhöhle,  und  in  Gesellschaft  des  Nervus  petrosus  super- 
ficialis  major  zum  Knie  des  Pallopi'schen  Kanals,  wo  er  sich  in  zwei 
Zweigchen  theilt,  deren  eines  sich  zum  Nervus  communicans  fabelet 
gesellt  (am  Ganglion  geniculi),  deren  zweites,  unter  dem  Semicanalis 
tensoris  tt^mpani,  in  die  Paukenhöhle  herabsteigt,  um  sich  mit  dem 
Nervus  Jacobsonii  (§.  365)  zu  verbinden.  Nach  anderer  Ansicht  geht 
der  Nervus  petrosus  supeificialis  minor,  nicht  vom  Ganglion  otieum 
zum  Communicans,  sondern  umgekehrt,  führt  also  diesem  Ganglion 
motorische  Fasern  zu,  welche  durch  die  Verbindungszweige  des 
Ganglion  zum  Nervus  auriculo-temporalis  (d)  geleitet  werden ,  und 
von  diesem  Nerv  in  die  Parotis  als  Secretionsnerven  übertreten. 

c)  Ein  Verstärkungszweig  zum  Nervus  ad  tensorem  veli  paJatini 
(§.  357,  I.  d,  e). 

d)  Verbindungszweige  zum  Nervus  auriculo-temporalis. 

e)  Ein  Faden  zu  den  sympathischen  Nervengeflechten,  welche 
die  vor  dem  Ganglion  aufsteigende  Arteria  meningea  media  um- 
stricken. Wir  fassen  ihn  richtiger  als  von  diesen  sympathischen 
Geflechten  zum  Ganglion  otieum  gehend,  und  somit  als  dessen 
Radix  trophica  auf. 

Mehr  weniger  nicht  ganz  sichergestellte  Verbindungsfäden  des  Ganglion 
otieum  zu  anderen  Nerven  sind:  a)  zur  Chorda  tt/mpani,  ß)  zum  Nervtts  petrostis 
pro/undiUy  y)  zum   Ganglion  Gaaaeri,  durch  den   Canaliculus   aphenoidaJis   extemu». 

Die  Beziehung  des  Ganglion  otieum  zum  Mttsculus  tensor  tympani,  und  die 
von  dem  Entdecker  des  Knotens  ausgesprochene  Ansicht,  dass  der  Nervus  ad 
tensorem  tympani  durch  Reflex,  Contractionen  dieses  Muskels,  und  dadurch  ver- 
mehrte Spannung  des  Trommelfells  bedingt,  wodurch  die  Grösse  seiner  Excur- 
sionen  bei  intensiven  Schallschwingungen  verringert  werden  soll,  veranlasste  die 
Benennung  „Ohrknoton".  —  R.  Wagner,  über  einige  neuere  Entdeckungen 
(Ganglion  oticuvij,  in  Ueuaingers  Zeitschrift.  Bd.  3.  —  F.  Schlemm,  in  Froriep^s 
Notizen.   1831.  Nr.  G60.  —  J.  Müller,  über  den  Ohrknoten,  in  MeckeVa  Archiv.  1832. 

3.  Das  Ganglion  suhmaxillare  Meckelii  s.  linguale,  hat  öfters 
nur  die  Form  eines  unansehnlichen  Plexus  gangliiformisj  und  fehlt 
auch  zuweilen  gänzlich.  Ks  Hegt  nahe  am  Stamme  des  Nervus  lin- 
gualis,  oherhalb  der  Glandula  submaxillaris .  Obwohl  kleiner  als 
das  Ganglion  ciliare,  verhält  es  sich  doch,  hinsichtlich  seiner  Wurzeln, 
jenem  analog,  indem  es  1.  von  den  sensitiven  Fasern  des  Nervus 
lingiuüis,  2.  von  den  motorischen  der  Chorda  tympaiii,  und  3.  von 
den  die  Arteria  maxillaris  externa  umspinnenden  sympathischen  Ge- 
flechten seine  Wurzeln  bezieht.  Die  Aeste  des  Knotens  gehören 
theils  den  Verzweigungen  des  Ductus  Whartonianus  an,  theils  gesellen 


§.  868.  Siebentes  Paar.  897 

I 

sie  sieh  zum  Nervus  lingualia,  um  mit  diesem  zur  Zunge  zu  gehen. 
Der  copiöse  Speichelzufluss  auf  Reizung  der  Mundschleimhaut 
durch  scharfe  oder  gewürzte  Speisen,  lässt  sich  als  Reflexwirkung 
ansehen,  durch  welche  der  chemische  Reiz  diluirt  werden  soll,  und 
das  Ganglion  steht  somit  zum  Geschmacksiim  in  demselben  Bezüge, 
wie  das  Ganglion  ciliare  und  oHcum  zu  ihren  betreffenden  Sinnes- 
werkzeugen. 

lieber  einzelne  Ganglien  an  den  Aesten  des  Qaintus  handelt  Arnold*» 
Schrift:  über  den  Ohrknoten.  Heidelberg,  1828.  —  Bochdalek,  das  Oanglion  aupnt' 
maxülare,  in  den  Oesterr.  med.  Jahrb.  19.  Bd.  —  Ferd.  Muck,  de  ganglio  Ophthal- 
mico.  Landish.,  1816.  —  M,  Reichart,  Ganglion  ophthalmicum.  München,  1876.  — 
G.  WtUzer,  de  gangliorum  fabrica  atque  usu.  Berol.,  1817.  —  J,  F.  Meckel,  de 
ganglio  secundi  rami  quinti  paris,  in  Ludwig,  Scriptores  neuroL  minores,  Tom.  IV, 
und  dessen  vortreflfliches  Werk,  de  qninto  pare  nervorum,  Gott,  1748.  —  F.  Ar- 
nold, der  Kopftheil  des  veget.  Nervensystems.  Heidclb.,  1831.  —  L.  Hirzel,  diss. 
sistens  nexum  nervi  sympatli.  cum  nervis  corebralibus.  Heidelbergensis,  1824.  — 
F.  Tiedemann,  über  den  Antheil  des  sympathiachen  Nerven  an  den  Verrichtungen 
der  Sinne.  —  J.  O.  Varrenirapp,  de  parte  cephalica  nervi  sympathici.  Francof., 
1H3*2.  —  Benz,  de  Anastomosi  Jacobsonii  et  Ganglio  Amoldi.  Hafniae,  1833.  — 
H.  Hom,  gangliorum  capitis  glandulas  omantium  expositio.  Wirceb.,  1840.  — 
Valentin  in  MüUer^a  Archiv.  1840.  —  Gros,  description  nouvelle  du  Ganglion 
spheno-palatin.  Gaz.  möd.  de  Paris,  1848.  Nr.  12.  24.  (Die  neue  Beschreibung 
enthält  aber  nur  Altes.) 


§.  363.  Siebentes  Paar. 

Das  siebente  Paar,  der  Antlitznerv,  Nervus  communicans 
faciei  8,  facialis,  tritt  am  hinteren  Rande  des  Po7is  Varoli,  auswärts 
der  Oliven,  vom  Stamme  des  verlängerten  Markes  ab.  Von  seinen 
beiden  Wurzeln  entspringt  die  vordere,  grössere,  aus  demselben 
grauen  Kern  am  Boden  der  vierten  Himkammer,  aus  welchem  der 
Abducens  entsprang.  Die  hintere  kleinere  Wurzel,  besitzt  einen 
eigenen  Ursprungskern,  ebenfalls  am  Boden  der  vierten  Kammer, 
zu  beiden  Seiten  der  Medianfurche.  Diese  Wurzel  führt  einen  be- 
sonderen Namen,  als  Portio  intermedia  Wrishergii.  Der  Name  ent- 
stand in  jener  Zeit,  in  welcher  man  den  Nervus  facialis  und  Nervus 
acusticvs  als  siebentes  Paar  zusammen fasste ,  und  die  hintere 
Wurzel  des  Facialis,  so  lange  sie  sich  nicht  mit  der  vorderen  ver- 
einigt hatte,  als  einen  besonderen  Antheil  dieses  siebenten  Paares 
auffasste,  welcher,  seiner  Lage  zwischen  vorderer  Wurzel  und 
Acusticus  wegen,  Portio  intermedia  dieses  Paares  genannt  wurde. 
Beide  Wurzeln  legen  sich  in  eine  Rinne  des  Nervus  acusticus, 
scheinen  mit  diesem  nur  Einen  Nerven  auszumachen,  und  worden 
auch  früher  als  Portio  dAura^  —  der  Nermm  aamüeu^ 
Portio  moüis  paris  septimi  benannt,  bis  Sörnm« 

Hyrtl,  Lelirbiieh  dtr  Anatomit.  14.  Ast. 


898  §.  863.  Siebentes  Paar. 

fiir  selbstständigc  Gehimnerven  erklärte.  Im  inneren  Gehörgange 
anastomosirt  die  Portio  Wrisherg^U  durch  ein  feines  Reiserchen  mit 
dem  Nervus  cumsticus,  und  verschmilzt  dann  mit  der  vorderen  Wurzel. 
Am  Grunde  des  Gehörganges  trennt  sich  der  Communicans  vom 
Aeusticus,  betritt  den  Caiialia  Fallopiae,  und  schwillt  am  Knie  des- 
selben, nur  mit  einem  Theil  seiner  Fasern,  zum  Ganglion  gefiictdi  8. 
IntumescenHa  ganglüformis  an.  Dieses  Ganglion  verbindet  sich  mit 
dem  Nervus  petrosus  superficialis  major,  mit  einem  Theil  des  minor, 
und  erhält  constanten  Zuzug  von  dem  sympathischen  Geflecht  um 
die  Arteria  meningea  media  herum.  Vom  Geniculum  an,  schlägt  der 
Communicans,  über  der  Fenestra  ovalis  der  Trommelhöhle,  die  Rich- 
tung nach  hinten  ein,  und  krümmt  sich  dann  im  Bogen  hinter  der 
Eemmentia  pyramidalis  zum  GriflFelwarzenloch  herab.  In  diesem  letzten 
Abschnitt  seines  Verlaufes  im  Felsenbein,  verbindet  er  sich  durch 
zwei  Fäden  mit  dem  Ramus  auricidaris  nervi  vagi, 

lieber  die  Anastomosen  des  Acusticus  mit  dem  Communicans  bandelt  weit- 
läufig Arnold,  und  besonders  Beck  (sieh'  Literatur  dieses  Paragraphen).  — 
Bald  hinter  dem  Geniculum,  sendet  der  Communicans  zwei  Aeste  ab.  Beide  ver- 
laufen in  der  Scheide  des  Communicans  noch  eine  Strecke  weit.  Vis-ä.-vi8  der 
EmirwnUa  pyramidalü  der  Trommelhöhle,  trennt  sich  der  kleinere  derselben  von 
ihm,  und  geht  zum  Musculus  stapedius.  Ueber  dem  Foramen  »ti/lo-inastoideum  ver- 
lässt  ihn  auch  der  zweite,  und  geht  als  Chorda  tympani  durch  den  Canaliculut 
chordae  in  die  Trommelhöhle,  schiebt  sich  zwischen  Manubriwn  mallei  und  Crus 
longum  incudia  durch,  verlÄsst  die  Trommelhöhle  durch  die  Glaserspalte,  und  biegt 
sich  zum  Nervus  lingualis  herab,  in  dessen  Scheide  er  weiter  zieht,  um  theils  bei 
ihm  zu  bleiben,  theils  als  motorische  Wurzel  in  das  Ganglion  submaxVlare  über- 
zusetzen. Der  Einfluss,  welchen  der  Communicans,  durch  die  Chorda  iyiupani, 
auf  die  Speichelsecretion  in  der  Glandula  snhmaxUlaris  nimmt,  ist  durch  Versuche 
sichergestellt. 

Durch  die,  im  Nervus  petrosus  superficialis  major,  vom  Communicans  zum 
Ganfflion  spheno-palatinum  wandernden  Fasern,  wird  es  erklärlich,  dass  das  Gan- 
glion spheno-palatinum,  welches  dem  sensitiven  Ramus  secundus  quinU  pari»  an- 
gehört, in  der  Hahn  der  Nervi  palalini  descendetUes  auch  motorische  Aeste  zu  ge- 
wissen Muskeln  des  Gaumens  (Levator  palati,  und  Azygo»  uvulaej  entsenden  kann^ 
wodurch  bei  einseitiger  Lähmung  des  Facialis,  das  Zäpfchen  eine  Abweichung 
nach  der  gesunden  Kopfseite  zeigt  (nicht  constant). 

Nach  seinem  Austritte  aus  dem  Foramen  stt/lo-mastoideum  zweigen 
sich  von  ihm  folgende  drei  Aeste  ab: 

1.  Der  Nervus  auriculans  posterior  profundus,  welcher  mit  dem 
Ramus  auricularis  nerm  vagiy  und  mit  den  von  den  oberen  Hals- 
nerven stammenden  Nervus  auriculans  magnus  und  occlpitalis  minor 
anastomosirt,  den  Retraliens  auriculae  sammt  dem  Muscidus  occipitdlis 
betheilt,  und  in  dem  Hautüberzug  der  convexen  F'läche  der  Ohr- 
muschel, 80  wie  in  der  Hinterhauptshaut,  sich  verliert. 

2.  Der  Nervus  stf/Io-htfoideus  und  digastricus  posterior  für  die 
gleichnamigen  Muskehi.  Er  giebt  einen  Verbindungszweig  zum 
Nervus  glosso-pharijngeus. 


§.  368.  SieUntet  Paar.  899 

3.  Die  Rami  ancLstomatid  zum  Ramus  auricvlo-temporalis  des 
dritten  Quintusastes.  Es  sind  ihrer  gewöhnlich  zwei,  welche  die 
Arteria  temporcUü  umfassen,  und  eigentlich  sensitive  Fasern  des 
Quintus  in  die  motorische  Bahn  des  Communicans  hinüberleiten. 

Um  zu  den  Antlitzmuskeln  zu  kommen,  durchbohrt  nun  der 
Communicans,  in  einen  oberen  und  unteren  Ast  gespalten,  die  Parotis. 
Beide  Aeste  sollen  nach  Arnold,  den  Acini  dieser  Drüse  feinste 
Zweige  mittheilen,  welche  von  den  Physiologen  als  Secretionsnerven 
beansprucht  werden.  Sie  lösen  sich  sodann,  noch  in  der  Substanz 
der  Parotis,  in  acht  bis  zehn  Aeste  auf,  welche  durch  bogenförmige 
oder  spitzige,  auf  dem  Masseter  aufliegende  Anastomosen  ein  Netz- 
geflecht, den  grossen  Gänse fuss,  Pes  aiiaerinus  major,  bilden. 
Dieser  Name  wurde  dem  Geflechte  durch  Winslow  zuerst  bei- 
gelegt, par-ce-quU  ressemhle  ä  une  patte  d*oye  (Exposition  anat.  Pains, 
1732.   Traite  des  nerfs,  n.  9L) 

a)  Rami  temporo-froiitales,  zwei  bis  drei  über  dem  Jochbogen 
aufsteigende  Aeste,  welche  mit  dem  Nervus  auricvlo-temporalis,  den 
Nervis  temporalibus  profundis,  dem  Stirn-  und  Thränennerven  ana- 
stomosiren,  und  sich  in  dem  Attrahens  und  Levator  auriculaSj  Fron- 
talis, dem  Orbicnlaris  palpehrarum,  und  Corrugator  supercüii,  auflösen. 

h)  Rami  zj/gomatici,  welche  parallel   mit   der  Arteria  transversa 

faciei  zur  Jochbeingegend   ziehen,    um   mit  dem  Nervus  zygomaticus 

malae,    lacrfjmali^,    und    infraorbitalis   sich    zu    verbinden,    und    den 

Musculus  zt/gomcUicus,   orbicularis,    levator   labii  superioris  et  cUas  nasi 

zu  versehen. 

c)  Rami  buccales,  welche  mit  dem  Nervus  infraorbitalis  und 
buccinatonus  des  fünften  Nervenpaares  Verbindungen  eingehen,  und 
die  Muskeln  der  Oberlippe  und  der  Nase  betheilen. 

d)  Rami  subcutanei  maxiUae  inferioris,  zwei  mit  dem  Nervus 
bu^xinatorius  und  mentalis  des  fünften  Paares  anastomosirende  Aeste, 
für  die  Muskeln  der  Unterlippe. 

e)  Nervus  svbcutaneus  colli  superior,  welcher  sich  mit  dem  Nervus 
subcutaneus  colli  medius,  und  auricularis  magnus  aus  dem  Plexus 
cet^icalis  verbindet,  und  das  Platysma  myoides  innervirt. 

Die  Anastomosen  des  Communicana  faciei  mit  anderen  Gesichtsnerven  sind 
nicht  blos  auf  seine  ^össeren  Zweige  beschränkt  Anch  die  zartesten  Ramificationen 
seiner  Aeste  and  Acstchen  bilden  unter  einander,  und  mit  den  Veräatlungen  des 
Quintus,  schlingenförmige  Verbindungen,  welche  theils  die  Muskeln  des  Antlitzes, 
oder  einzelne  Bündel  derselben,  theils  die  grösseren  Blutgefässe  des  Gesichtes, 
insbesondere  die  Vena  facialia  anterior  umgreifen,  und  sSmmtlich  so  liegen,  dass 
die  convexe  Seite  der  Schlingen  der  Medianlinie  des  Gesichtes  zugekehrt  ist 

Der  Communicang  faciei  ist  ein  rein  motorischer  Nerv.  Die  sensiblen  Fftden, 
welche  er  enthalt,  werden  ihm  durch  die  Anastomosen  mit  dem  Quintus  und  Vago* 
zugeführt.  Seine  Durchschneidung  im  Thiere,  oder  seine  Unthfttigkeit  durch  patho- 
logische Bedingungen  im  Menschen,  erzengt  Lähmung  aämmtlicher  Antlilnniiikttlii 

67  • 


900  §.  964.  Achtes  Ptar. 

—  Prosopoplegie.  Nur  die  Kaamnskcln,  welche  vom  dritten  Aste  des  Qaintns 
iimervirt  werden,  stellen  ihre  Bewegungen  nicht  ein.  —  Da  das  Spiel  der  Ge- 
sichtsmuskeln  der  Physiognomie  einen  veränderlichen  Ausdmck  verleiht,  so  wird 
der  Communicans  auch  als  mimischer  Nerv  des  Gesichtes  aufgeführt;  and  da 
die  Muskeln  der  Nase  und  Mnndspalte  bei  leidenschaftlicher  Aufregung  in  con- 
vulsivische  Itewegungen  gcrathen,  und  bei  den  verschiedenen  Formen  von  Athmung«- 
beschwerden,  in  angestrengteste  Thätigkeit  versetzt  werden,  führt  er,  seit  Ch.  Bell, 
den  physiologisch  nicht  ganz  zu  rechtfertigenden  Namen:  Athmnngsnerv  des 
Gesichtes.  Dass  jedoch  diese  Benennung  nicht  einzig  und  allein  auf  einem 
geistreichen  Irrthnm  beruht,  können  die  unordentlichen,  passiven,  nicht  mehr  durch 
den  Willen  zu  regulirenden  Bewegungen  der  Nasenflügel,  der  Backen  und  Lippen, 
bei  Gesichtslähmungen,  Apoplexien,  und  im  Todeskampf  beweisen,  wo  sie  wie 
schlaffe  Lappen  durch  den  aus-  und  einströmenden  Luftzug  mechanisch  hin  und 
her  getrieben  werden.  —  Die  in  einzelnen  Fällen  von  Lähmung  des  Facialis  vor- 
kommende Beizbarkeit  gegen  laute  Töne,  erklärt  sich  vielleicht  aus  der  Lähmung 
des  vom  Facialis  versorgten  3fusculu8  atapediu»,  zufolge  welcher  der  Steig'büg^el 
im  ovalen  Fenster  schlottert 

«/.  F.  Meckel,  von  einer  ungewöhnlichen  Erweiterung  des  Herzens  und  den 
Spannadem  (alter  Name  für  Nerven)  des  Angesichtes.  Berlin,  1775.  —  Z>.  ^.  Esch- 
richt,  de  fhnctionibus  septimi  et  quinti  paris.  Hafn.,  1825.  —  G.  Morganti,  ana- 
tomia  del  ganglio  genicolato,  in  den  Annali  dl  Omodei.  1845.  —  B.  Beck,  anat. 
Untersuchungen  über  das  siebente    und   neunte  Gehimnervenpaar.  Heidelb.,   1847. 

—  Zf.  Calori,  sulla  corda  del  timpano.  Mem.  della  Accad.  di  Bologna.  T.  IV. 


§.  364.  Achtes  Paar. 

Das  achte  Paar,  der  Gehörnerv,  Nervus  acusHcus,  entspringt 
nach  Stieda,  aus  zwei  grauen  Kernen,  deren  einer  am  Boden  der 
Rautengrube,  der  andere  im  Corpus  restiforme  liegt.  Die  Ursprungs- 
fasern vereinigen  sich  zu  jenen  markweissen  Querbündeln,  welche 
am  Boden  der  vierten  Kammer  als  Chordae  acusttcae  angeführt 
wurden.  Ich  sah  diese  Chordae  bei  Taubstummen  fehlen.  Seine 
Ursprungsfasern  sammeln  sich  zu  einem  weichen,  von  der  Arach- 
noidea  locker  umhüllten  Stamm,  welcher  zwischen  der  Flocke  und 
dem  Brückenarm  nach  aussen  tritt,  mit  einer  Furche  zur  Aufnahme 
des  Communicans  versehen  ist,  und  mit  ihm  in  den  Meatiis  audi- 
torius  intetmus  eintritt,  wo  seine  Spaltung  in  den  Schnecken-  und 
Vorhofsnerven  stattfindet. 

Der  stärkere  Schneckennerv,  Xervus  cocfileae,  wendet  sich  zum  TractuM 
/orammulenlu»,  drelit  seine  Fasern  etwas  schraubenH)rmig  zusammen,  und  schickt 
sie  durch  die  Löcherchen  des  Tractus  zur  Lamiiui  npiraiü,  wo  sie  nach  Corti 
ein  dichtes  Geflecht  bilden,  in  welchem  bipolare  Ganglienzellen  vorkommen.  Wahr- 
scheinlich treten  die  Primitivfasem  des  Schneckennerven  durch  diese  Ganglien- 
zellen hindurch,  und  werden  jenseits  derselben  neuerdings  zu  einem  Geflechte 
vereinigt,  dessen  austretende  Fasern  zur  LamiiM  sinrali»  memhranacea  gelangen, 
um  mit  den  im  Canala  Cochleae  enthaltenen  terminalen  Endapparaten  in  Ver- 
bindung zu  treten  (§.  237).  Endschlingen  existiren  ganz  gewiss  niclit.  —  Bevor 
der  Schneckennerv    cum    Tradu*  foraminuleiüut   gelangt,    giebt    er    den    Nervut 


S.  865.  Ntnntes  Pmt.  901 

aaccuU  hemitpkaerici  ab,  welcher  durch  die  Mcunda  cribrota  des  Beceaaiis  aphaericut, 
in  den  Vorhof  und  som  ninden  Sftckchen  geht.  —  Der  schwächere  Vorhofs- 
nerv,  Nervus  vestibuU,  liegt  hinter  dem  vorigen.  Er  zerfällt  in  vier  Aeste,  von 
welchen  der  stärkste  zum  Sacctdtts  eUipUcua,  die  drei  übrigen  zu  den  Ampullen 
der  drei  Canales  aemidrculare»,  durch  die  betreffenden  Maculae  cribroeae  gelangen. 
Das  eigentliche  Ende  der  Primitivfasern  des  Vorhofsnerven  ist  unbekannt.  —  Die 
Verbindungszweige  des  Acusticus  mit  dem  Communicana  faciei  sind  ein  oberer 
und  unterer  (Arnold,  Swan).  Ersterer  kommt  aus  der  Portio  Wriabergii,  letz- 
terer aus  dem  Ganglion  geniculi,  —  Die  ganze  Masse  des  Gehörnerven  am  Grunde 
des  Meahia  audiloriua  irUemua,  welche  sich  durch  grauröthliche  Färbung  von  dem 
Stücke  desselben  extra  meatum  unterscheidet,  enthält  bipolare  Ganglienkugeln, 
welche  Corti  auch  an  den  Verästlungen  des  Vorhofsnerven  beobachtete.  — 
Delmaa,  recherches  sur  les  nerfis  de  Toreille.  Paris,  1834.  —  Ä.  Böttcher,  observ. 
microsc.  de  ratione,  qua  nervus  Cochleae  mammalium  terminatur.  Dorpat,  1856. 


§.  365.  Ifeiiiites  PaÄT. 

Die  Anatomen  sind  unter  sieh  nicht  einige  ob  sie  das  neunte 
Paar,  den  Zuhgenschlundkopfnerv,  Nerom  glosso-pharyngeus,  i\xT 
einen  gemischten  Nerv,  oder  für  einen  sensitiven  halten  sollen.  Die 
Anhänger  der  sensitiven  Natur  dieses  Nerven,  berufen  sich  auf  das 
Vorkommen  eines  Ganglion  (Ganglion  petrosum)  an  ihm,  und  Gan- 
glien kommen  nur  sensitiven  Nerven  zu.  Die  Vertheidiger  der  ge- 
mischten Qualität  des  Glosso-pharyngeus ,  stützen  sich  auf  einen 
gewichtigeren  Grund,  auf  das  factische  Vorhandensein  von  Muskel- 
ästen dieses  Nerven.  Ich  schliesse  mich  den  letzteren  an.  —  Der 
Glo88o-pharyngeu8  entspringt  aus  einem  grauen  Kern  des  verlängerten 
Markes,  welcher  vor  dem  Kern  des  Vagus  liegt,  und  oft  nur  eine 
Verlängening  desselben  ist.  Vor  der  Flocke  des  kleinen  Gehirns 
zieht  er  zum  oberen  Umfange  des  Foramen  juguLare,  wird  hier  von 
einer  besonderen  Scheide  der  Dura  mater  umgeben,  und  durch  sie 
von  dem  dicht  hinter  ihm  liegenden  Vagus,  als  dessen  Bestand- 
theil  er  lange  Zeit  galt,  getrennt.  Im  Foramen  jugulare  bilden  seine 
hinteren  Fasern  einen  kleinen,  nicht  constanten  Knoten  —  das 
Ganglion  jugulare,  an  welchem  sich  die  vorderen  Fasern  des  Nerven- 
stammes nicht  betheiligen.  Dieses  Ganglion  erhält  vom  ersten  Hals- 
ganglion des  Sympathicus  einen  Verbindungszweig.  Nach  dem 
Austritte  aus  dem  Loche  schwillt  der  Nerv  zu  einem  zweiten, 
grösseren  und  constanten  Knoten  an,  —  das  von  Andersch  ent- 
deckte Ganglion  petrosum,  —  welches  sich  in  die  Fosmla  petrosa 
des  Felsenbeins  einbettet,  und  mit  dem  Ganglion  cemicale  primum 
des  Sympathicus,  so  wie  mit  dem  Ramus  auricularis  vagi  durch  eine, 
hinter  dem  Bulbus   der  Vena  jugtUaris  nach   aussen   laufende  Ana- 


902  §.  S65.  Nenntcs  Puar. 

Der  wichtigfste  Ast  des  Ganglion  petro9um  ist  der  Nenms  Jacobsonii.  Dieser 
geht  durch  ein  Kanälchen  der  unteren  Felsenbeinfläche,  welches  zwischen  Fo9»a 
jugularis  und  Anfang  des  Canalis  caroUcus  beginnt,  nach  aufwärts  in  die  Panken- 
höhle,  wo  er  in  einer  Rinne  des  Promontorium  liegt  Hier  sendet  er  ein  AeMtchen 
zur  Tuba  Eitstachii,  ein  zweites  zur  Schleimhaut  der  Paukenhöhle  und  erhält  von 
den  carotischen  Geflechten  zwei  feine  Nervi  carotico-tt^npanici.  Er  verbindet  picli 
zuletzt,  nachdem  er  unter  dem  Setnicanalis  tensoria  tympani  zur  oberen  Pauken- 
höhlenwand, und  durch  ein  Löchelchen  derselben  auf  die  vordere  obere  Fläche 
des  Felsenbeins  kam,  mit  jenem  Antheile  des  Nervus  pelroaua  superficialis  niirtor, 
welcher  nicht  an  das   Ganglion  geniculi  tritt. 

Am  Halse  legt  sich  der  Zungenschlundkopfnerv  zwischen  die 
Carotis  interna  und  externa,  steigt  an  der  inneren  Seite  des  Musculus 
8tyl(hpharyngeu8  herab,  und  erzeugt: 

a)  Verbindungszweige  für  den  Vagus. 

b)  Verbindungszweige  für  die  carotischen  Geflechte. 

c)  Einen  Verbindungszweig  für  den  Ramus  digastricus  und 
styl(hhyoideus  des  Communicans  faciei.  Auch  dieser  Zweig  ist  als  vom 
Communicans  kommend,  nicht  zu  ihm  gehend,  zu  nehmen. 

d)  Einen  Muskelzweig  für  den  Muscidus  stylo-pliaryngeus. 

Man  hat  durch  Reizungsversuche  des  Glosso-pkaryngeus  an  Thieren,  auch 
Contractionen  im  Levalor  palati  moUis,  im  Azygos  uvulae,  und  im  Oonstrictor 
pharyngis  medius  eintreten  gesehen.  Die  anatomische  Präparation  hat  aber  directe 
Zweige  des  Glosso^aryngeus  zu  diesen  Muskeln  noch  nicht  dargestellt,  wohl  aber 
solche  vom  Vagus  kommend  nachgewiesen.  Es  ist  möglich,  dass  die  fraglichen 
Muskelzweige  des  Ghsso^hargngeus ,  durch  die  Verbindungszweige  zwischen 
Glosso-pfiari/ngeus  und  Vagus  (aj,  in  den  letzteren  gelangen,  und  durch  ihn  den 
genannten  Muskeln  zugeführt  werden. 

e)  Drei  oder  vier  Rami  pharyngei  für  den  oberen  und  mitt- 
leren Rachenschnürer. 

Die  Fortsetzung  seines  Stammes  geht  zur  Zunge,  als  Rumus 
lingualis.  Er  erreicht  unter  der  Tonsilla  den  Seiten rand  der  Zungen- 
wurzel, versieht  die  Schleimhaut  des  Arcus  glosso-palatimis^  der 
Tonsilla,  des  Kehldeckels  (vordere  Seite),  und  der  Zungen wurzel, 
und  verliert  sich  zuletzt  in  den  Papillis  vallatis.  Seine  Aeste  in  der 
Zungensubstanz  besitzen  nach  Remak  zahlreiche  mikroskopische 
Ganglien.  Bis  zur  Spitze  der  Zunge  reicht  kein  Zweig  des  Glosso- 
pharyngeus,  obwohl  es  von  Hirschfeld  angegeben  wird. 

Es  liegt  die  Frage  vor,  ol)  der  GloHso-pharynj^eus  von  aeinem  Ursprung  an 
ein  gemischter  Nerv  ist,  oder  es  erst  durch  die  Aufnahme  von  Fasern  anderer 
Hirnnerven  wird.  Wie  üheralU  wo  Vivi.sectionen  sich  der  Entscheidung  einer  Frage 
in  der  Functionenlehre  der  Nerven  hemächtigen,  stellen  sicli  auch  hier  zwei  feind- 
liche Gnippen  gegenüber.  Arnold  und  Joh.  Müller  erklärten  den  Glosdo- 
pharyngeus  für  einen  gemischten  Nerv;  J.  Keid,  Longet,  Valentin,  für  einen 
rein  sensitiven,  da  alle  Fasern  des  Glosso-pharyngeus  in  das  Ganglitm  petrosum 
eingehen,  und  Ganglien  sich  nur  an  sensitiven  Ner\'en  vorfinden.  Die  motorischen 
'  Aeste,  welche  er  zu  den  Rachenmuskeln  sendet,  können  ihm  durch  die  Anastomoa« 


§.  366.  Zehntes  Pmt.  903 

mit  dem  Commonicans  and  Vagos  (welcher  sie  vom  Recurrens    WÜlisH  empfängt) 
prociirirt  worden  sein. 

Nach  Panizza  (Ricerche  sperimentali  aopra  i  nervi,  Pavia,  t834)  wäre  der 
Glo880-pharyngeu8  der  wahre  Geschraacksnerv  der  Zange.  Die  Versache  von  Joh. 
Mü  Her  nnd  Longet,  sprechen  aber  dem  Ramus  linguafU  vom  Quintns  specifische 
Geschmacksenergien,  und  dem  Glosso-pharyngeus  nur  Tastempfindungen  zu.  Aach 
Volkmann's  Erfahrungen  lauten  gegen  Panizza^s  Behauptung,  welche  in 
neuerer  Zeit  durch  Stanniu»  wieder  eine  Stütze  erhielt.  Stannius  glaubt  auf 
dem  Wege  des  Experimentes  Panizza^s  Ansicht  bestätigt  zu  haben.  £r  fand, 
dass  junge  Katzen,  denen  beide  Ncrüi  glosso-pharyrujei  durchschnitten  wurden, 
Milch,  welche  mit  schwefelsaurem  Chinin  bitter  gemacht  wurde,  so  gierig,  wie 
gewöhnliche  süsse  Milch  verzehrten.  Der  Glos80-]>haryngeus  wäre  demnach  der 
Geschmacksnerv  für  Bitteres.  (Wohl  gemerkt,  man  gab  den  Thieren  keine  süsse 
Milch  zugleich  neben  der  bitteren.  Nur  wenn  dieses  geschehen  wäre,  hätte  das 
Experiment  einigen  Sinn.  Was  aber  das  gequälte  Thier  empfindet,  wenn  es 
Chininmilch  trinkt,  hat  es  noch  Keinem  geklagt.)  Biffi  und  Morgan ti  fanden, 
dass  die  Durchschneidung  des  Glosso-pharjngens  nur  die  Geschmacksempfindung  am 
hinteren  Theile  der  Zunge  aufhebt,  dass  sie  aber  an  der  Zungenspitze  verbleibt. 
(Su  H  nervi  della  lingua.  Annali  di  Omodei.  1840. J  Müller,  dem  ich  vollkommen 
beistimme,  hält  auch  die  Gauraenäste  des  Quintus  für  GeHchmackserregung  empfang- 
lich. Die  usurpirte  Würde  des  Glosso-pharyngeu»  als  specifischer  Geschmacksnerv 
ist  also  noch  sehr  in  Frage  gestellt.  Die  pathologischen  Data,  welche  zur  Lösung 
dieser  Frage  herbeigezogen  werden  könnten,  sind  zu  wenig  übereinstimmend,  um 
Schlüsse  darauf  zu  basiren. 

Das  Gamjlion  jugtünre  des  Glosso-pharyngeus  wurde  von  einem  Wiener 
Anatomen,  Ehrenritter  (Salzburger  med.  chir.  Zeitung.  1790.  4.  Bd.  pag.  320), 
zuerst  beobachtet.  Die  Präparat«  verfertigte  er  selbst  für  das  Wiener  anatomische 
Museum,  wo  sie  zur  Zeit  meines  Prosectorats  noch  vorhanden  waren.  Es  wurde 
aber  diese  schöne  Entdeckung  von  den  Zeitgenossen  nicht  beachtet,  und  erst 
durch  Joh.  Müller  der  Vergessenheit  entrissen  (Medicinische  Vereinszeitung. 
Beriin,  1833). 

IT,  F,  Kilian,  anat.  Untersuchungen  über  das  neunte  Nervenpaar.  Pesth, 
1822.  —  C.  Vogt,  über  die  Function  des  Nervfi«  ImgtMfis  und  glmMo-pharynfjewt. 
Miiilcr^8  Archiv.  1840.  —  John  Reid  in  Todd^a  Cyclopaedia  of  Anatomy  and 
Physiology.  Vol.  II.  —  B.  Reck,  lib.  cit.  —  O,  Jacof),  Verbreitung  des  Nei'vua 
glostto-phargnt/eua  in  Schlundkoi»f  und  Zunge.  München,  1873.  —  Das  (ranfflion 
petroanm  wurde  von  C.  S.  Andersch  (De  nervis  hnm.  corp,  aluiuWua,  V,  I. 
pag.  6)  zuerst  beschrieben. 


§.  366.  Zehntes  Paar. 

Das  zehnte  Paar,  der  herumschweifende  oder  Lungen- 
Magen  nerv,  Nervus  vagus  s,  pneumo-ijcistricus,  ist  der  einzige  Gehirn- 
nerv, dessen  Trennung  auf  beiden  Seiten  eines  lebenden  Thieres, 
Tod  zur  nothwendigen  Folge  hat.  Seine  Betheiligung  an  den  zum 
Leben  unentbehrlichen  Functionen  der  Athmungs-  und  Verdauungs- 
organe, bedingt  seine  relative  Wichtigkeit  —  '  •  '^nauM 
erhielt  er  schon  von  Fallopia,  ^ 


904  §•  366.  Zehnte«  Paar. 

organo  ad  alia  multa,  weshalb  er  auch  bei  Vesling  (Syntagma  ancU, 
Patav.,  1641)  Nervus  ambulatorius  heisst. 

Er  tritt  mit  zehn  bis  fünfzehn  Wurzelstämmchen  in  der  Furche 
hinter  der  Olive  vom  verlängerten  Marke  ab.  Arnold  verfolgte 
seine  Wurzeln  bis  in  den  grauen  Kern  der  Corpora  reatiformia, 
Stilling  bis  in  den  sogenannten  Vaguskern  des  hinteren  Winkels 
der  Rautengrube. 

Der  Vagus  geht  mit  dem  Nervus  glosso-pliart/ngeus  und  recur- 
rens WllUsii  durch  das  Foramen  jugulare  aus  der  Schädelhöhle 
heraus.  Durch  eine  besondere  Brücke  der  harten  Hirnhaut  wird 
er  wohl  von  ersterem,  nicht  aber  von  letzterem  getrennt.  Sein 
weit  verbreiteter  Verästlungsplan  macht,  zur  leichteren  Uebersicht 
desselben,  die  Eintheilung  in  einen  Hals-,  Brust-  und  Bauehtheil 
nothwendig.  Noch  bevor  er  die  Schädelhöhle  verlässt,  sendet  er 
einen  feinen  Ramus  recurrens  zur  harten  Hirnhaut  der  hinteren 
Schädelgrube  (Arnold,  Zeitschrift  der  Gesellschaft  der  Wiener 
Aerzte,  1862). 

A)  HalstheiL 

Der  Halstheil  bildet  schon  im  Foramen  jugulare  einen  kleinen 
rundlichen  Knoten,  an  welchem,  wie  es  den  Anschein  hat,  alle  Fäden 
des  Vagus  Theil  nehmen,  und  welcher  von  seiner  I^age  Ganglion 
jugulare  heisst.  Er  hängt  constant  mit  dem  Ganglion  c^srvicale 
primum  des  Sympathicus  durch  eine  graue  Anastomose  zusammen. 
Sein  Bau  stimmt  mit  jenem  der  Spinalganglien  überein,  d.  h.  die 
Fasern  des  Vagus  treten  zwischen  den  Ganglienzellen  durch,  und 
werden  durch  neue,  aus  den  meist  unipolaren  Ganglienzellen  ent- 
springende Fasern  vermehrt.  Unterhalb  des  Foramen  jugulare 
schwillt  der  Vagus  durch  Aufnahme  von  Verbindungsästen  von 
benachbarten  Nerven  des  Halses  (Recurrens  Willisii,  Ht/poglossu^, 
und  den  zwei  ersten  Spinalnerven)  zu  dem  ungeföhr  einen  halben 
Zoll  langen,  und  zwei  Linien  dicken,  Knotenge  flechte  an,  Plexus 
nodosus  s,  gangliiformis  Meckelil ,  welches  Ganglienzellen  enthält. 
Unter  dem  Knotengeflecht  wird  der  Vagus  wieder  dünner,  und  läuft 
zwischen  Carotis  communis  und  Jugulare  interna  zur  oberen  Brust- 
apertur herab.  Die  Zweige,  welche  er  giebt  und  erhält,  sind  folgende : 

a)  Ramus  auricidaris  vagi.  Dieser  von  Arnold  zuerst  im 
Menschen  aufgefundene  Ast  des  Vagus,  entspringt  aus  dem  Ganglion 
jugulare,  oder  dicht  unter  ihm  aus  dem  Vagusstamme.  Er  verstärkt 
sich  durch  einen  Verbindungszweig  vom  Ganglion  petrosum,  geht  in 
der  Fossa  Jugularis  des  Schläfebeins  um  die  hintere  Peripherie  des 
Bulbus  der  Drosselader  herum,  tritt  durch  eine  besondere  Üeffnung 
in  der  hinteren  Wand  dieser  Fossa  in  das  Endstück  des  Falle  pirschen 


(.  866.  Zehntes  Piar.  90Ö 

Kanals,  kreuzt  sich  daselbst  mit  dem  Communicans,  und  verbindet 
sich  mit  ihm  durch  zwei  Fäden,  dringt  dann  durch  den  Cancdictdtts 
mastoideus  hinter  dem  äusseren  Ohre  hervor,  und  zerfallt  in  zwei 
Zweige,  deren  einer  mit  dem  Nervus  auricularis  profundus  vom  Com- 
municans  sich  verbindet,  deren  anderer  sich  in  der  Auskleidungshaut 
der  hinteren  Wand  des  Meatus  auditorius  extemus  verliert. 

Näheres  über  ihn  gab  £.  Zucke rkandel,  in  den  Sitzungsberichten  der 
kais.  Akad.  1870.  * 

b)  Ein  Verbindungsast  vom  Nervus  recurrens  Wülisü  und,  wie 
es  heisst,  auch  vom  Hypoglossus.  Durch  sie  erhält  der  Vagus, 
welcher  vorzugsweise  als  sensitiver  Nerv  entspringt,  motorische  Fasern 
zugeführt,  die  er  später  wieder  theils  zum  Glosso-pharyngeus  sendet, 
theils  als  liami  pharyngd  und  laryngei  von  sich  entlässt,  wodurch 
die  Stelle  des  Vagus,  welche  zwischen  Aufnahme  und  Abgabe  dieser 
motorischen  Fäden  liegt,  dicker  sein  muss,  und  zugleich  einem  Ge- 
flechte ähnlich  wird,  was  der  oben  angeführte  Name  Plexus  nodosus 
ausdrückt. 

c)  Verbindungsäste  zum  Ganglion  cerviccde  primum  des  Sym- 
pathicus,  und  zum  Plexus  nervorum  cerviccUium,  Sie  kommen  aus 
dem  Plexus  nodosus,  so  wie  d)  und  e). 

d)  Nervus  pharyngeus  superior  et  inferior.  Zwei  aus  dem  oberen 
Theile  des  Plexus  nodosus  entspringende,  zwischen  Carotis  externa 
und  interna  zur  Seitengegend  des  Pharynx  laufende  Äestc,  welche 
sich  mit  den  Ramis  pharyngeis  des  Glosso-pharyngeus  und  des  oberen 
Halsganglion  des  Sympathicus,  zu  einem  die  Arteria  phart/ngea  a^cen- 
dens  umgebenden  Geflecht  (Plexus  pharyngeus)  verbinden,  dessen 
Aeste  die  Muskeln  und  die  Schleimhaut  des  Rachens  versorgen. 

Arnold  erwähnt,  dass  der  Nervus  phart/ngemt  inferior,  auch  Fäden  in  den 
Levator  pcUati  moUia  und  Azygos  uvulae  gelangen  lässt.  Der  Ast  zum  Levator 
palati  wurde  durch  Wolfert  (De  nervo  musctdi  levatori»  pcUali,  BeroL,  1855) 
bestätigt.  Wahrscheinlich  sind  diese  Fäden  vom  Glosso-phaiyngeus  in  den  Vagus 
übergegangen  (§.  365,  a), 

e)  Nervics  laryngetis  superior.  Er  tritt  aus  dem  unteren  Ende 
des  Knotengeflechtes  hervor,  geht  an  der  inneren  Seite  der  Carotis 
int&ma  zum  Kehlkopf  herab,  und  theilt  sich  in  einen  Ramus  extemus 
und  internus.  Der  extenvus  sendet  zuweilen  einen  Verstärkungsfaden 
zum  Nervus  cardiacus  longus  des  ersten  sympathischen  Halsganglion, 
und  endet  im  Musculus  constrictor  pharyngis  inferior  und  crico-thyreoi- 
deus.  Der  internus,  welcher  complicirter  ist,  folgt  anfangs  der  Ar- 
teria  thyreoidea  supein,or,  und  später  dem  als  Arteria  laryngea  be- 
kannten Zweige  derselben,  tritt  mit  diesem  durch  die  Membram^ 
hyo'thyreoidea   in   das   Innere   des   Kehlkopfes ,    un^    " 

hintere  Fläche  des  Kehldeckels  (die  TordeMi 


906  §.  866.  Zehntes  Paar. 

pharyngeus  verpflegt)  und  die  Sehleimhaut  des  Kehlkopfes  bis  zur 
Stimmritze  herab. 

Der  Ramu8  iiUeniua  anastomosirt  regelmässig  durch  einen  zwischen  Schild- 
und  Ringknorpel  herabziehenden  Faden  mit  dem  Nervus  lart/ngeus  recttrreiu,  so 
wie,  obwohl  unconstant,  mit  dem  Bamtts  extermis,  durch  einen  feinen  Zwei^, 
welcher  durch  ein  unconstantes  Loch  in  der  Nähe  des  oberen  Schildknorpelrandea 
geht.  —  Dass  der  Ramivt  internus  während  seines  Verlaufes  von  der  Durch- 
bohrungsstelle der  Membrana  hyo-thtp'eoidea  bis  zur  Basis  der  Carliloffo  ari/taenoidea 
die  Schleimhaut  des  Kehlkopfes  als  Falte  atifhebt  (Vlica  nervi  laripujei),  wurde 
schon  bei  der  Beschreibung  des  Kehlkopfes  erwähnt,  §.  *281.  —  Der  Ramtis  in- 
ternus des  Nervus  laryngeus  superior  ist  vorzugsweise  sensitiver  Natur.  Auch  jene 
Aeste  desselben,  welche  in  die  Verengerer  der  Stimmritze  eintreten  (Arytnenoideus 
ohliquus  und  transversus),  bleiben  nicht  in  ihnen,  sondern  durchbohren  sie,  um  in 
der  Schleimhaut  zu  endigen.  So  behauptet  man  wenigstens.  Dagegen  sind  moto- 
rische Zweige  zu  den  im  Ligamentum  epiglottideo-arytaenoideum  eingeschlossenen 
Muskelfasern  (als   Thyreo-  und  Ary-epiylotticus  in  §.  283  erwähnt)  sichergestellt. 

f)  Ein  constanter  Verbindungsfaden  zum  Kamus  descendena 
hypoglosd,  und  mehrere  unconstante,  zum  Plexus  caroticus  internus. 
Der  erstere  scheint  es  zu  sein,  welcher  den  Ramm  cardiaciis  des 
Hypoglossus  bildet  (§.  369). 

g)  Zwei  bis  sechs  Rami  cardiaci  8,  Nervi  molles,  welche  theil- 
weise  auch  erst  aus  dem  Bruststück  des  Vagus  austreten,  die  Rami 
carduici  der  Halsganglien  des  Öympathicus  verstärken,  oder  direct 
zum  Plexus  cardiacus  herablaufen. 


B)  Brusttheil, 

In  der  oberen  Brustapertur  liegt  der  Vagus,  hinter  der  Vena 
anont/ma.  Hierauf  geht  der  rechte  Vagus  vor  der  Arteria  suhdama 
dextra,  der  linke  vor  dem  absteigenden  Stück  des  Aortenbogens 
herab.  Jeder  tritt  dann  an  die  hintere  Wand  des  Bronchus  seiner 
Seite,  an  welche  er  durch  kurzes  Bindegewebe  angeheftet  wird. 
Unter  dem  Bronchus  legt  sicli  den-  rechte  Vagus  an  die  hintere, 
der  linke  an  die  vordere  Seite  des  Oesophagus  (als  Chordae  oeso- 
phageas  der  Alten).  Beide  verbinden  sich  zum  Plexus  oesapliageus. 
Die  Aeste  des  Brusttheils  sind: 

aj  Der  vorzugsweise  motorische  Nervus  laryngeus  recurrens. 
Der  rechte  ist  kürzer,  da  er  sich  schon  in  der  oberen  Brustapertur 
um  die  Arteria  subclavia  dextra  nach  hinten  und  oben  herumschlägt; 
der  linke  umgreift  in  derselben  Richtung  tiefer  unten  den  Aorten- 
bogen. Beide  Recurrentes  laufen  in  den  Furchen  zwischen  Luft- 
und  Speiseröhre  zum  Kehlkopf  hinauf  und  erzeugen:  Verbindungs- 
äste zu  den  Rami  cardiaci  des  Ganglion  cervicale  inftrius  und  medium 
des  Sympathicus,  feine  Aestchen  zum  Herzbeutel  (nach  Luschka  nur 
vom  rechten  Recurrens),  so  wie  auch  für  Trachea  und  Oesophagus. 


|.  366.  Zehntel  Paar.  907 

Nach  Absendung  dieser  Zweige  dnrchbohrt  der  Recurrens  den  unteren 
Corulrktor  pharyngis  hinter  dem  unteren  Home  der  Cartilago  Üii/reoidea,  und  zer- 
fällt in  einen  Ramtia  extemus  et  irUemua.  Der  extemfts  versorg^  den  Thyreo- 
art/taenoidewt  und  Crico-arytaeiioideiis  luteralia;  der  intenitu  anastomosirt  mit  dem 
Bamua  hüemus  des  Laryntjetu  tmperhr,  und  verliert  sich  im  Muacitltu  cnco-ary- 
taeiioideua  poaUciu,  arytaenoidetu  obliqnua  und  tranaverftia,  so  wie  in  der  Schleim- 
haut des  Kehlkopfes  unterhalb  der  Stimmritze.  Alte  Namen:  Palyitdromua  und 
Nervus  rev€r«ivtts. 

h)  Die  Nervi  bronchiales  anteriores  et  posteriores.  Die  anteriores 
verketten  sich  mit  Antheilen  der  Nei-vi  cardiaci  des  Sympathicus  zu 
einem  Geflechte,  welches  an  der  vorderen  Wand  des  Bronchus,  als 
Plexus  lyronchialis  anterior  zur  Lunge  geht.  Die  posteriores  sind 
stärker  als  die  anteriores,  und  verweben  sich  mit  diesen  und  den 
später  anzurührenden  Zweigen  der  oberen  Brustganglien  des  Sym- 
pathicus zum  Plexus  bronchialis  posterior,  welcher  die  Ramificatiouen 
des  Bronchus  im  Lungenparenchym  begleitet. 

Sind  die  Plexus  bronchiales  einmal  in  das  Lungengewebe  eingegangen,  so 
heissen  sie  Plexus  pulmonales.  Merkwürdig  ist,  dass  die  Nervi  bronchiales  poste- 
riores beider  Seiten  sich  so  mit  einander  verketten,  dass  jeder  Plexus  bronchialis, 
und  dessen  Fortsetzung  als  Plexus  pulnumalis,  Elemente  beider  Vagi  enthält.  Die 
Plexus  pulmonales  lösen  sich  in  der  Schleimhaut  und  in  den  contractilen  Bestand- 
theilen  der  Bronchialverzweigungen  auf,  sind  also  gemischter  Natur.  Dass  der 
motorische  Antheil  derselben  aus  dem  Recurrens  Wülisii  stammt,  lässt  sich  aller- 
dings vcrmuthen. 

c)  Der  Plexus  oesopliageus,  durch  Spaltung  und  Verstrickung 
des  linken  und  rechten  Vagus  entstanden,  läuft  an  der  vorderen 
und  hinteren  Wand  der  Speiseröhre  herab,  und  besorgt  Schleimhaut 
und  Muskelhaut  der  Speiseröhre. 

C)  BauchtheiL 

Der  Bauchtheil  des  Vagus  besteht  nur  in  den  Fortsetzungen  des 
Plexus  oesopliageus,  welcher  sich  in  den,  an  der  vorderen  und  hinteren 
Wand  des  Magens  unter  der  Bauchfellhaut  befindlichen  Plexus 
gastricus  anterior  et  posterior  auflöst.  Der  Plexus  gastriais  anterior 
sendet  zwischen  den  Blättern  des  kleinen  Netzes  Strahlungen  zum 
Plexus  hepaticus;  der  Plexus  gastricus  posterior  aber  ein  nicht  unan- 
sehnliches Strahlenbündel  zum  Plexus  coeliacus,  zuweilen  auch  Fasern 
zur  Milz,  zum  Pankreas,  selbst  zum  Dünndarm,  und  zur  Niere. 

F,  G.  Theile,  de  musculis  nervisque  laryngeis.  Jenae.  1825.  —  A.  Solin- 
ville,  anat.  disquisitio  et  descriptio  nervi  pneumogastrici.  Turici,  1838.  —  E.  Traube, 
Beiträge  zur  experim.  Pathologie.  Berlin,  1846. —  Schiß,  die  Ursache  der  Lungen- 
veränderung nach  Durchschneidung  der  Vagi,  in  Griesinyer's  Sechswochenschrift, 
7.  und  8.  Heft.  —  E.  Wolff,  de  fiinctionibus  nervi  vagi.  Berlin,  1856.  —  Luschka, 
Nerven  des  menschl.  Stimmorgans,  in  der  Prager  Vierteljahressohiift,  1869. 


908  §•  8^>  Pli7>iologiiohea  übtr  den  Vagus. 


§.367.  Physiologisches  über  den  Vagus. 

Die  von  Arnold  zuerst  ausgesprochene  Ansicht,  dass  der 
Vagus,  seinem  Wurzelverhalte  nach,  ein  rein  sensitiver  Nerv  sei, 
und  dass  er  seine  motorischen  Aeste  nur  der  Anastomose  mit  dem 
Recurrens  Wülim  zu  verdanken  habe,  welcher  sich  zu  ihm,  Tvie  die 
vordere,  ganglienlose  Wurzel  des  Quintus  zur  hinteren  verhält, 
wurde  von  Scarpa,  Bischoff,  Valentin,  durch  Versuche  am 
lebenden  Thiere,  und  durch  comparativ  anatomische  Erfahrungen 
in  Schutz  genommen.  Nach  Müller's  und  Volkmann's  Versiehe- 
rungen dagegen,  soll  der  Vagus  ursprünglich  schon,  wenigstens  bei 
Thiereu,  motorische  Elemente  einschliessen,  welche  an  dem  Ganglion 
jugulare  nur  vorbeigehen,  ohne  an  seiner  Bildung  zu  participiren. 
Ich  schliesse  mich  der  Ansicht  über  die  gemischte  Natur  der  Ur- 
sprungsfasern des  Vagus  an,  da  die  motorischen,  oder  doch  theil- 
weise  motorischen  Aeste  des  Vagus :  Rami  pharyngei,  laryngeus  superior 
et  inferior,  Plexus  pulmonalis,  oesophageus  und  gastrjums  zu  zahlreich 
sind,  um  allein  von  der  verhältnissmässig  schwachen  Anastomose 
mit  dem  Recurrens   Wülisii  abgeleitet  werden  zu  können. 

Die   sensitiven   Verästlangen   des   Vag^s   lösen    folgende  Keflexbeweg'un^n 

•  ans:  1.  Erbrechen,  durch  Reizung  der  Gauraenbögen,    oder    der    oberen   Partie 

der    hinteren    Pharynxwand,     wobei     auch    Glosso-pharyngcusfasern    interveuiren. 

2.  Schlingen,  durch  mechanische  Reizung  der  unteren  Partie  der  hinteren 
Rachenwand.  3.  Schluchzen  (SingultitsJ,  durch  Erregung  der  Magengeflecht«, 
z.  B.  bei  vielen  Menschen  durch  einen  kalten  Schluck.  4.  Krampfhafter  Ver- 
schluss der  Stimmritze,  durch  Reizung  des  Adütia  ad  larf/iujevi  und  der 
oberen  Fläche  der  Stimmbänder,  ö.  Husten,  durch  jeden  Reiz  der  Kehlkopf- 
schleimhaut unter  den  Stimmbändern.  6.  Hemmung  der  Respirations- 
bewegung bis  zum  Stillstand,  welchen  man  an  Thieren  durch  Trennung  des 
Vagus,  und  Reizung  seines  zum  Gehirn  gehenden  Stückes,  also  sicher  nur  durch 
Reflex,  henrormfen  kann. 

Die  sensitiven  Qualitäten  des  Vagus  äussern  sich  in  Hunger  und  Durst, 
Sättigungsgefühl,  Athemnoth,  Beklemmung,  Schmerz,  etc.  Trennung  des  Vagus 
am  Halse  auf  beiden  Seiten  (Über  dem  Ursprung  des  Nervus  lari/iujetis  ftujyeriorj 
ist  absolut  tödtlich.  Die  Erscheinungen,  die  man  hiebe!  beobachtet,  erklären  die 
physiologischen  Thätigkeiten  der  einzelnen  Vag^isäste.  Sie  sind :  1 .  Unempfindlich- 
keit  der  Kehlkopf-,  der  Luftröhren-,  und  der  Speiseröhrenschleimliaut,  und  deshalb 
Schweigpen  aller  Reflexbewegungen,  z.  B.  Husten,  Würgen,  Schlingen.  '1.  Heisere, 
matte  Stimme,  oder  complete  Aphonie,  wegen  Erschlaffung  der  Stimmritzenbänder. 

3.  Athemnoth,  bei  jüngeren  Thieren  bis  zur  Erstickung.  Da  der  vom  Xervn^ 
lari/ngeu8  recurrens  innervirte  Crico-aryttienoideus  posticua  die  Stimmritze  erweitert, 
(eine  Bewegung,  die  mit  jedem  Einathmen  eintritt),  so  wird  die  Durchschneidung 
beider  Recurrentes,  oder  beider  Vag^  über  dem  Ursprung  der  Recurrentes,  diese 
Erweiterung  aufheben.  Der  Luftstrom,  welcher  durch  den  Inspirationsact  in  den 
Kehlkopf  eindringt,  kann  dann  die  Bänder  der  Stimmritze,  besonders  wenn  diese 
schmal  ist,  wie  bei  allen  jungen  Thieren,  aneinander  drücken,  und  Erstickungstod 
verursachen,  welcher  bei  alten  Thieren,  deren  Stimmritice  weiter  ist,  nicht  so  leicht 


§.  868.  Eilft68  Paar.  909 

eintreten  wird.  4.  Hyperämie,  Apoplexie  der  Lungen,  und  seröse  Infiltration, 
welche  dadarch  entstehen  soll,  dass,  der  Lähmung  der  Glottis  wegen,  Speichel 
und  Schleim  vom  Pharynx  in  die  Luftwege  gelangt,  und  der  aufgehobenen  Reflex- 
bewegung wegen  nicht  mehr  ausgehustet  werden  kann.  5.  Lähmung  der  Speise- 
röhre; daher  Unvermögen  zu  schlingen,  indem  das  Verschlungene  auf  halbem 
Wege  stecken  bleibt,  und  durch  Erbrechen  wieder  ausgeworfen  wird,  um,  neuer- 
dings verschlungen,  wiederholt  dasselbe  Schicksal  zu  haben,  woraus  sich  die 
scheinbar  grosse  Gefrässigkeit  der  operirten  Thiere  erklärt  6.  Träge  Bewegung 
des  Magens,  und  dadurch  bedingte  unvollkommene  Dnrchtränkung  der  Nahrungs- 
mittel mit  Magensaft,  dessen  Absonderung  durch  die  Trennung  des  Vag^  nicht 
sistirt  wird  7.  Den  Einfluss  des  Vagus  auf  die  Herzthätigkeit  hat  man  als  einen 
hemmenden  oder  regulatorischen  bezeichnen  zu  müssen  geglaubt.  Reizung 
des  Vagus  soll  die  Zahl  der  Herzschläge  vermindern,  und  selbst  Stillstand  des 
Herzens  bewirken.  He  nie  hat  an  der  Leiche  eines  geköpften  Mörders,  fünfzehn 
Minuten  nach  dem  tödtlichen  Streiche,  mittelst  Durchführung  eines  Stromes  des 
Rotationsapparates  durch  den  linken  Vagus,  das  Herzatrium,  welches  sechzig  bis 
siebenzig  Contractionen  in  der  Minute  zeigte,  plötzlich  im  Expansionszustande  stille 
stehen  gemacht.  Stromleitung  durch  den  Sympathicus  rief  die  Bewegung  des 
Atrium  wieder  hervor.  Der  Vagus  scheint  sonach  eine  Hemmungswirkung  auf  die 
llerzbewegung,  welche  primär  vom  Sympathicus  angeregt  wird,  zu  äussern.  Man 
ist  aber  sehr  früh  aus  diesen  schönen  Träumen  erwacht,  als  man  vernahm,  dass 
nur  intensive  Reizung  des  Vagus  die  Zahl  der  Herzschläge  vermindert, 
schwache  Reizung  desselben  aber  das  Gegentheil  bewirkt.  —  Eine  bethätigende 
Einwirkung  auf  die  Bewegung  des  Dickdarms  wurde  dem  Vagus  auf  Grundlage 
sehr  zweifelhafter  Vivisectionsresultate  zugesprochen. 


§.  368.  Eilftes  Paar. 

Das  eilfte  Paar,  der  Beinerv,  Nervus  recurrens  s.  accessortu^ 
Willisü,  dessen  motorische  oder  gemischte  Natur  durch  die  contra- 
dictorisch  lautenden  Vivisectionsresultate  nichts  weniger  als  sicher- 
gestellt wurde,  hat  einen  sehr  veränderlichen,  und  selbst  auf  beiden 
Seiten  nicht  immer  symmetrischen  Ursprung.  Er  entspringt  vom 
Seitenstrange  des  Halsrückenmarks,  und  unterscheidet  sich  dadurch 
von  allen  anderen,  aus  dem  Rückenmark  hervortretenden  Nerven, 
welche  mit  doppelten  Wurzeln  aus  dem  Sulcics  lateralis  anterior  et 
posterior  auftauchen.  Seine  längste  Wurzel  kann  bis  zum  siebenten 
Halsnerven  herabreichen,  oder  schon  zwischen  dem  dritten  und 
vierten  entspringen.  Während  sie  zum  Foramen  occipitis  magnum 
aufsteigt,  zieht  sie  neun  bis  zehn  neue  Wurzelßlden  an  sich,  und 
wird  dadurch  zum  Hauptstamm  unseres  Nerven,  welcher  zwischen 
den  vorderen  und  hinteren  Wurzeln  der  betreffenden  Halsnerven 
(und  hinter  dem  Ligamentum  denticukUum)  zum  grossen  Hinterhaupt- 
loch gelangt,  und  durch  dasselbe  die  Schädelhöhle  betritt.  Hier 
nimmt  er  vom  Corpus  restiforme  seine  letzte  Ursprungswurzel  auf^ 
und  schliesst  sich  sofort  an  den  Vagus  an^  woher  sein  Name  stai* 
Accessorius  ad  par  v(tgum.    Mit  dem  Vagus  krttmmt 


910  $.368.  Eilftes  Paar. 

aussen  zum  Foramen  jugtdare  hin,  in  welchem  er  hinter  dem  Gan- 
glion jugulare  vagl  herabsteigt,  und  sich  zugleich  in  zwei  Portionen 
theilt.  Die  vordere  schwächere  Portion  verbindet  sich  einfach 
oder  mehrfach  mit  dem  Ganglion  jugtdare  vagi,  und  geht  in  den 
Vagus  und  dessen  Plexus  nodosua  über.  Sie  ist  es,  welche  in  den 
motorischen  Bahnen  des  Nervus  pharyngeus,  und  laryngetis  superior 
et  inferior,  wieder  aus  dem  Vagus  hervorkommt.  Die  hintere 
zieht  hinter  der  Vena  ju,gulari8  interna  nach  aussen,  durchbohrt  den 
Kopfnicker,  theilt  ihm  Zweige  mit,  und  bildet  mit  Aesten  der 
oberen  Halsnerven  ein  Geflecht,  welches  sich  nur  im  Musculus 
cueuUaris  ramificirt.  —  Der  Grund  des  sonderbaren,  vom  Rücken- 
mark zum  Vagus  hinauf  strebenden  Verlaufes  des  Recurrens,  scheint 
mir  der  zu  sein,  dass  der  Vagus,  welcher  gleich  nach  seinem  Aus- 
tritte aus  dem  Foramen  jugulare  mehr  motorische  Aeste  abzugeben 
hat,  als  er  kraft  seines  Ursprungs  besitzt,  einen  guten  Theil  der- 
selben schon  in  der  Schädelhöhle  durch  den  Accessorius  zugeführt 
erhalte. 

An  die  hintere  Wurzel  des  ersten  Halsnerven  liegt  der  Accessorius  Willisii 
fest  an,  und  nimmt  anch  nicht  selten  diese  Wurzel  gänzlich  in  seine  eigene  Scheide 
auf,  nm  sie  erst  weiter  oben  wieder  von  sich  abgehen  zu  lassen.  —  Der  Acces- 
sorius Willisii  g^lt  allgemein  ftir  die  motorische  Wurzel  des  Vagus.  Die  von  mir 
constatirte  Thatsache  des  Vorkommens  halbseitiger  Ganglien  am  Accessorius,  in 
welche  ein  Theil  seiner  Fasern  Übergeht,  lässt  sich  mit  der  rein  motorischen 
Natur  des  Nerven  nicht  wohl  vereinbaren.  Oanglien  kommen  nur  an  sensitiven 
oder  gemischten  Hirnnerven  vor,  nie  an  motorischen.  Es  sind  diese  Ganglien 
nicht  zu  verwechseln  mit  jenem,  welches  an  der  Verbindung  des  Accessorius  mit 
der  hinteren  Wurzel  des  ersten  Halsnerveu  vorkommt,  und  eigentlich  das  GangUon 
irUervertehrale  dieses  Nerven  ist.  Die  halbseitigen  Knoten  des  Accessorius  liegen 
über  jener  Verbindungsstelle,  neben  dem  Eintritte  der  Arteria  vertehralis  in  die 
Schädelhöhlc.  Sie  finden  sich  auch  in  jenen  Fällen,  wo  der  Accessorius  keinen 
Faseraustausch  mit  dem  ersten  Halsnerven  eingeht.  Sehr  wichtig  für  die  theil- 
weisc  sensitive  Natur  des  Accessorius  ist  der  von  Müller  (Archiv,  1834,  pag.  12 
und  1837,  pag.  279)  beobachtete  Fall,  wo  der  Accessorius  allein  die  hintere  sen- 
sitive Wurzel  des  ersten  Cervicalnerven  erzeugte.  Auch  Kemak  hat  ein  Knöt- 
chen am  Accessorius  im  Foramen  jmfulare  gesehen.  —  Da  nach  Trennung  des 
Nervus  accessorius  die  respiratorischen  Bewegungen  des  Cucullaris  und  Stemo- 
cleidoraastoideus  aufhören  (Ch.  Bell),  führt  er  auch  den  Namen  Nervus  respi- 
rcUorius  colli  exlemus  superior.  —  Thom.  Willis,  Professor  in  Oxford,  hat  diesen 
Nerv    zuerst  als   selbstständigcn  Hirnnerv  erkannt  (Cerehri  anatome.  Loiid.,   t664). 

J,  F,  Lofßsleiiif  diss.  de  nervo  s])inali  ad  par  vagum  accessorio.  Argent., 
17Ü0.  —  A.  Scarpa,  comment.  de  nervo  spinali  ad  octavum  cerebri  accessorio, 
in  actis  acad.  med.  chir.  Vindob.  Tom.  I.  17S8.  —  W.  Th.  Bischoff,  comment  de 
nervi  accessorii  Willisii  anatomia  et  physiologia.  Darmst.,  1832.  —  C.  B.  Bendz, 
tractatus  de  conn«xu  inter  nervum  vagum  et  accesaorium.  Hafn.,   1836. 


g.  869.  Zwölftes  Paar.  911 


§.  3G9-  Zwölftes  Paar. 

Das  zwölfte  Paar,  der  motorische  Zungen  fleischnerv,  Nervus 
hyj>oglo88U8  8.  motorixia  linguae,  8,  loquens,  tritt  zwischen  Olive  und 
Pyramide  vom  verlängerten  Mark  ab.  Ein  grauer  Kern  unter  dem 
Boden  des  Calamus  scnptorius,  am  hinteren  Winkel  der  Rauten- 
grube, giebt  ihm  seinen  Ursprung.  Der  Kern  heisst  deshalb  Hypo- 
glossuskern.  Die  Wurzelfiiden,  welche  hinter  der  Wirbelarterie 
zum  Foramen  condyloideum  anteriu8  quer  nach  aussen  ziehen,  und 
zuweilen  sich  durch  einen  Faden  von  der  hinteren  Wurzel  des 
ersten  Cervicalnerven  verstärken,  sammeln  sich  entweder  zu  einem 
einfachen,  oder  doppelten  Stamm,  welcher  durch  das  Foramen 
condyloideum  anterius  den  Schädel  verlässt.  Am  Halse  umgreift  er, 
im  Trigonum  cervicale  8upenu8,  die  Carotis  und  Jugularis  interna,  mit 
einem  vom  hinteren  Bauche  des  Biventer  maxillae  bedeckten,  nach 
vorn  und  innen  gerichteten  Bogen,  welcher  bis  zum  Zungenbein- 
horn  herabreicht,  dann  sich  an  dem  Musculus  hyo-glossus  nach  auf- 
wärts schwingt,  um  unter  den  hinteren  Rand  des  Mylo-hyoideus  zu 
gerathen,  wo  seine  Endäste  den  Genio-,  Hyo-  und  Stylo-glossvs,  so 
wie  den   GenlO'Iiyoideus  versehen. 

Der  Name  Hypoglossus  wurde  diesem  Nerven  zuerst  von  Win  slow  g^egeben 
(Anat.  Abhandl.  Deutsch,  Bert,  1738,  8.  Bd.  pag.  212).  Motoriiu  linffuae  wurde 
er  von  Heister  genannt,  im   Compendium  anat.  edU.  2,  pag.  135. 

Bach  und  Arnold  erwähnen  einer  bogenförmigen  Anastomose  zwischen 
dem  rechten  und  linken  Hy^pogloastut  im  Fleische  des  Genio-hyoideus,  oder  zwischen 
diesem  und  Oenio-glossus.  Ich  nenne  diese  Anastomose  (welche  nicht  constant  ist) 
die  Ansa  auprahyoidea  hypogloaai.  Da  die  Fäden  der  Ansa  suprahyoidea  von 
einem  Nypoglossus  zum  anderen  hinüberbiegen,  um  an  letzterem  nicht  centrifngal, 
sondern  centripetal  zu  verlaufen,  geben  sie  ein  gutes  Beispiel  der  von  mir  als 
„Nerven  ohne  Ende"  beschriebenen  Nervenfasern  ab  (§.  71).  Ausführlicher 
hierüber  handelt  mein  betreffender  Aufsatz  in  den  Sitzungsberichten  der  kais. 
Akad.  1865. 

Gleich  nach  seinem  Freiwerden  unter  dem  Foramen  condyloi- 
deum anteriuSy  geht  er  mit  dem  Ganglion  cermcale  primum  des  Sym- 
pathicuS;  mit  dem  Plexus  nodosus  des  Vagus,  und  mit  den  ersten 
beiden  Cervicabierven  Verbindungen  ein,  erhält  auch  constant  einen 
Faden  von  einem  Uamus  pharyngeus  vagi  (Luschka),  und  schickt 
etwas  tiefer  seinen  Ramus  cervicalis  descendens  ab.  Dieser  steigt  auf 
der  Scheide  der  grossen  Halsgefasse  herab,  und  verbindet  sich  mit 
Aesten  des  zweiten  und  dritten  Cervicalnerven  zur  Halsnerve n- 
schlinge,  Ansa  hypoglossi,  aus  welcher  die  Herabzieher  des  Zungen- 
beins und  Kehlkopfes  mit  Zweigen  versorgt  werden.  Sehr  gewöhnlich 
geht  auch  ein  längs  der  Carotis  communis  zum  Herznervengefleciht 
verlaufender  Ramus  cardiacus  aus  der  Ansa  hypoglossi  ab,  P 


912  §.  S70.  Allgemeiner  Charakter  der  Rflckenmarksnerren. 

am  Halse^  bis  zu  welcher  die  Alisa  hypogload  herabreicht,  unterliegt 
zahlreichen  Verschiedenheiten. 

Sehr  selten,  und  bisher  nur  ron  Mayer  beobachtet  (Neue  Verhandl.  der 
Leop.  Oarol.  Akad.  Bd.  XVI),  tritt  eine  mit  einem  Knötchen  versehene  hintere 
Wurzel  des  Hypoglossus  auf,  welche  bei  mehreren  Säugethieren  normal  zu  sein 
scheint.  —  lieber  die  motorische  Wirkung  dieses  Nerven  herrscht  kein  Bedenken. 
Seine  Durchschneidung  an  Thieren,  und  seine  Lähmung  beim  Menschen  erzeugt 
jedesmal  Zungenifthmung  (Glossopleg^e)^  ohne  Beeinträchtigung  des  Geschmacks 
und  der  allgemeinen  Sensibilität  der  Zimge.  Die  für  den  Omo-  und  Stemo-hyoi- 
deus,  so  wie  flir  den  Stemo-thyreoideus  und  Thyreo-hyoideus  aus  der  Ansa  hypo- 
glossi  entspringenden  Filamente,  scheinen  dem  Hypoglossus  nicht  ah  origine  eigen 
zu  sein,  sondern  ihm  durch  die  Anastomosen  mit  den  Cervicalnerven  eingestreut 
zu  werden,  da  Volk  mann  durch  Reizung  des  Ursprungs  des  Hypoglossus  nie 
Bewegfung  dieser  Muskeln  erzielen  konnte,  wohl  aber  durch  Reizung  der  Cervical- 
nerven.—  Die  von  Luschka  aufgefundenen  sensitiven  Zweige  des  Hypoglossus, 
welche  als  Knochennerven  des  Hinterhauptbeins,  und  als  Venennerven  des  Sintu 
occipücUia  und  der  Vena  jugvlaria  interna  bezeichnet  werden,  stammen  sonder 
Zweifel  aus  Fasern  des  Vagus  (oder  rückläufigen  Fäden  des  Nervus  lingfialUJ, 
welche  dem  Hypoglossus  auf  anastomotischem  Wege  einverleibt  wurden.  Luschka, 
über  die  Nervenzweige,  welche  durch  das  Foramen  condyloideum  anticum  in  die 
Schädelhöhle  eintreten,  in  der  Zeitschrift  für  rat.  Med.   1863. 

Man  kann,  dem  Ursprünge  nach,  die  Wurzelfäden  des  Hypoglossus  mit 
den  vorderen  Wurzeln  der  Rückenmarksnerven  vergleichen.  Da  nun  der  Hypo- 
glossus nach  der  früher  citirten  Beobachtung  Mayer*s,  auch  eine  hintere  Wurzel 
mit  einem  Knötchen  besitzen  kann,  so  bildet  dieser  Nerv  den  schönsten  Ueber- 
gang  der  Hirn-  zu  den  Rückenmarksnerven,  und  erscheint,  den  comparativen  Beob- 
achtungen von  Weber  und  Bisch  off  zufolge  eher  in  die  Kategorie  der  Nervi  spina- 
les, als  der  Nervi  cerebrales  gehörig,  ebenso  wie  der  Accessorius,  dessen  Wurzeln  sich 
gewiss  nur  aus  losgerissenen  Antheilen  der  Cervicalnerven  innerhalb  des  Rückenmarks 
construiren.     Bei  den  Fischen  ist  der  Hypoglossus  entschieden  ein  Spinalnerv. 

C,  E.  Bachj  annot  anat  de  nervis  hypoglosso  et  laryngeis.  Turici,  1835. 
—  Holl,  über  die  Anastomosen  des  Hypoglossus,  in  der  Zeitschrift  für  Anat.  und 
Entwicklungsgeschichte.  2.  Bd. 


II.  Rückenmarksnerve n. 

§.  370.  Allgemeiner  Charakter  der  Rückeninarksiierveii, 

Die  Rückenmarks-  oder  Spinalnerven,  deren  eiuund- 
dreissig  Paare  vorkommen,  sind  bis  auf  untergeordnete  Kleinig- 
keiten, nach  Verlauf  und  Vertheilung  symmetrisch  angeordnet.  Nur 
einmal  hat  Schlemm  zweiunddreissig  Paare  gefunden,  indem  statt 
eines  Steissbeinnerven,  deren  zwei  vorhanden  waren. 

Die  Rückenmarksnerven  werden  in  acht  Halsnerven,  zwölf 
Brustnerven,  fünf  Lendennerven,  fünf  Kreuzbeinnerven,  und  einen 
Steissbeinnerven  eingetheilt.  Jeder  Spinalnerv  entspringt  mit  einer 
vorderen  und  hinteren  Wurzel.  Die  hintere  übertrifft,  mit  Aus- 
nahme   der   zwei   oberen  llalsnerven,    die  vordere   an  Stärke.     Die 


§.  870.  Allgemeiner  Charakter  der  Bückenmarkenenren.  913 

Wurzeln  bestehen  aus  mehreren  platten  Faserbündeln,  welche  am 
vorderen  und  hinteren  Rande  des  Seitenstranges  des  Rückenmarks 
auftauchen,  von  der  Arachnoidea  nur  lose  umfasst  werden,  gegen 
das  betreffende  Foramen  intervertehrale,  durch  welches  sie  aus  dem 
Rückgratskanal  heraustreten,  convergiren,  und  nach  ihrem  Austritte 
zu  kurzen,  rundlichen  Stämmen  verschmelzen.  Die  hintere  Wurzel 
schwillt  im  Foramsn  intervertehrale  zu  einem  Knoten  an  (Ganglion 
intervertehrale),  an  dessen  vorderer  Fläche  die  vordere  Wurzel  blos 
anliegt,  ohne  Fäden  zur  Bildung  desselben  beizusteuern.  Die  vor- 
dere, ganglienlose  Wurzel  ist  rein  motorisch,  die  hintere  sensitiv. 
Die  Fasern  der  hinteren  Wurzel  gehen  zwischen  den  Ganglienzellen 
der  Knoten  durch,  ohne  mit  ihnen  sich  zu  verbinden.  Aus  den 
Fortsätzen  der  Ganglienzellen  entstehen  aber  neue  Nervenfasern, 
welche  sich  zu  den  durchgehenden  hinzugesellen,  und  somit  die 
Summe  der  austretenden  Fasern  eines  Ganglion  grösser  als  jene 
der  eintretenden  ist. 

Haben  sich  beide  Wurzeln  jenseits  des  Ganglion  zu  einem 
kurzen  Stamme  vereinigt,  so  zerföllt  dieser  Stamm  alsogleich  in 
einen  vorderen  und  hinteren  Zweig.  Jeder  dieser  Zweige  enthält 
Fasern  der  vorderen  und  hinteren  Wurzel,  und  wird  somit  gemischten 
Charakters  sein.  Der  vordere  Zweig  ist,  mit  Ausnahme  der  zwei 
oberen  Halsnerven,  stärker  als  der  hintere,  steht  durch  einen  oder 
zwei  Fäden  mit  dem  nächsten  Ganglion  des  Sympathicus  in  Zu- 
sammenhang, anastomosirt  durch  einfache  oder  mehrfache  Ver- 
bindungszweige mit  dem  zunächst  über  und  unter  ihm  liegenden 
vorderen  Spinalnervenzweig,  und  bildet  mit  diesen  Schlingen 
( Ansäe)*) j  welche  an  den  Hals-,  Lenden-,  Kreuz-  und  Steissbein- 
nerven  sehr  constant  vorkommen,  an  den  Brustnerven  dagegen 
unbeständig  sind.  Die  Summe  dieser  Schlingen  an  einem  bestimmten 
Segmente  der  Wirbelsäule,  wird  als  Plexus  bezeichnet,  und  es  wird 
somit  ein  Plexus  cervicalis,  lumbalis  und  sacralis  existiren.  Der  hin- 
tere Zweig  geht  zwischen  den  Querfortsätzen  der  Wirbel  (am 
Kreuzbein  durch  die  Foramina  sacralia  posteriora)  nach  hinten, 
anastomosirt  weit  unregelmässiger  mit  seinem  oberen  und  unteren 
Nachbar,  und  verliert  sich  in  den  Muskeln  und  der  Haut  des 
Nackens  und  Rückens.  Die  von  den  hinteren  Zweigen  der  Rücken- 
marksnerven versorgten  Muskeln  sind  nur  die  langen  Wirbel- 
säulenmuskeln. Die  breiten :  Oucullaris,  Latissimus  dorsi,  Rhomboideus, 
Levator  scapulae,  und  Serratus  posticus  superior,  erhalten  ihre  moto- 
rischen Aeste  aus  dem  Plexus  der  vorderen  Zweige  der  Halsnerven. 
—  Die  Plexus   der   vorderen  Aeste    der   Rückenmarksneryen   sind 


*)  Die  zwei  ersten  Schlingen  Mn  Habe  And  aehr  ergiebi|fe  Fon^^wte 

Nervenfasern  ohne  £nde.  §.  71. 

Ujrtl,  Lehrbach  der  Anatomie.  14.  Aufl. 


914  §.  870.  All^emeiuer  Charakter  der  RflckeDmarkantnren 

darauf  berechnet,    den  aus    ihnen    hervorgehenden    peripherischen 
Zweigen,  Fasern  aus  verschiedenen  Rückenraarksnerven  zuzuRlhrenu 

Da  das  Rückenmark  nur  bis  zum  ersten  oder  zweiten  Lenden- 
wirbel herabreicht,  wo  es  als  Markkegel  aufhört,  so  werden  nur 
die  Wurzeln  der  Hals-  und  Brustnerven  nach  kurzem  Verlaufe, 
(welcher  für  die  Halsnerven  quer,  für  die  Brustnerven  aber  schief 
abwärts  gerichtet  ist)  ihre  Faramina  intervertebralia  erreichen.  Die 
Nervi  lumbales,  sacrcdes,  und  coccygei  dagegen,  deren  Austrittslöcher 
sich  immer  mehr  vom  Ende  des  Rückenmarks  (Conus  termincdts) 
entfernen,  müssen  einen  entsprechend  langen  Verlauf  im  Rück- 
gratkanal nach  abwärts  nehmen,  um  an  ihre  Austrittslöcher  zu 
gelangen.  So  geschieht  es,  dass  vom  ersten  oder  zweiten  Lenden- 
wirbel an,  der  Rest  des  Rückgratkanals  nur  von  den  nach  abwärts 
strebenden  Lenden-  und  Kreuznerven  eingenommen  wird,  welche, 
ihres  parallelen  und  wellenförmigen  Verlaufes  wegen  schon  von 
dem  französischen  Anatomen  Andrö  Du  Laurens  (genannt  Lau- 
rentius),  mit  einem  Pferdeschweif  (cavda  equina)  verglichen 
wurden,  welche  Benennung  ihnen  fortan  geblieben.  Seine  Worte 
lauten:  Medulla,  quum  ad  dorsi  finem  pervenit,  tota  in  funiculos, 
caudam  equinam  referentes,  aisumitur.  Hist,  corp,  1mm,  Parisiis^  1600, 
lib.  X,  cap,  XIL  Ich  finde  jedoch  die  Cauda  eqidna  schon  im  Talmud 
erwähnt  (Günzburger,  medicina  ex  Talmudicis  illustrata,  pa>g,  10). 
—  Indem  ferner  das  Rückenmark  sich  am  Conus  terminalis  zuspitzt, 
müssen  nothwendig  die  vorderen  und  hinteren  Wurzeln  der  Steiss- 
beinnerven  so  nahe  an  einander  liegen,  dass  sie  scheinbar  zu  einem 
einstämmigen  Ursprung  verschmelzen. 

Die  harte  Hirnhaut  schliesst  sich  nicht  in  gleicher  Höhe  mit  dem  C(mu9 
teitninalia  der  Medulla  aphudU  ab,  sondern  erstreckt  sich  als  Blindsack  bis  zum 
Ende  des  Canalia  aacralia  herab.  Die  Nervi  lumbcUes,  aacrales,  und  coccygei,  werden 
deshalb  eine  läng^ere  Strecke  im  Sacke  der  harten  Hirnhaut  verlaufen,  als  die 
übrigen  Spinalnen'en.  —  Die  Ganglia  intervertebralia  der  Hals-,  Brust-  und 
Lendennerven  liegen  in  ihren  Zwischenwirbellöchem;  jene  der  Kreuznerven  aber 
noch  im  Wirbelkanale,  ausserhalb  der  harten  Hirnhaut;  das  Knötchen  der  Nervi 
coccygei  sogar  nocli  innerhalb  derselben.  —  Die  Stärke  der  Nervi  spinale«  richtet 
sich  nach  der  Menge  der  Organe,  welche  sie  versorgen.  Die  unteren  Cervical- 
nerven,  welche  die  oberen  Extremitäten  versorgen,  und  die  Nervi  »acrale«,  welche 
die  unteren  versehen,  werden  deshalb  dicker  und  markiger  als  die  oberen  Hals- 
nerven, die  Brust-  und  Lendennerven  sein.  Die  Nervi  »acrales  sind  absolut  die 
kräftigsten,  die  Nervi  tkoracici  viel  schwächer,  und  der  Nermu  coccygeua  der 
schwächste.  —  An  den  hinteren  Wurzeln  der  Rückenmarksnerven  ausnahmsweise 
vorkommende  kleine  Knötchen  sind  von  mir  als  Ganglia  aberranUa  beschrieben 
worden. 

Ueber  das  Verhältniss  der  Fasern  der  sensitiven  und  moto- 
rischen Wurzel  eines  Rückenmarksnerven  zur  weissen  und  grauen 
Masse  des  Rückenmarks  lehrt  das  Mikroskop: 


§.  871.  Die  vier  oberen  Helsnerren.  915 

1.  Die  Fasern  der  vorderen,  motorischen  Wurzeln  durchbrechen 
die  longitudinalen  Fasern  der  weissen  Rückenmarkstränge  in  querer 
Richtung,  und  treten  in  die  vorderen  Hörner  der  grauen  Substanz. 
In  diesen  verfolgen  sie  einen  zweifachen  Verlauf:  a)  Die  inneren 
Fasern  der  motorischen  Wurzel  gehen  mit  den  grossen  Ganglien- 
zellen der  Vorderhörner  der  grauen  Rückenmarksubstanz  eine  Ver- 
bindung ein,  und  setzen  sich  jenseits  dieser  Zellen  in  jene  longi- 
tudinalen Fasern  der  Vorderstränge  fort,  welche  sich  an  der 
sogenannten  weissen  Commissur  mit  den  entgegengesetzten  kreuzen. 
Der  rechte  Vorderstrang  z.  B.  wird  somit  einen  Theil  der  Fasern 
der  linken  motorischen  Nervenwurzeln  aufnehmen,  und  umgekehrt. 
b)  Die  äusseren  Fasern  der  motorischen  Wurzeln  dagegen  setzen 
sich,  ohne  Ki-euzung,  in  die  longitudinalen  Fasern  der  vorderen 
Bündel  der  Seitenstränge  fort. 

2.  Die  Fasern  der  hinteren  sensitiven  Wurzeln  treten  in  die 
graue  Substanz  der  hinteren  Hörner,  und  krümmen  sich  daselbst 
bogenförmig  nach  aufwärts,  um  sich  in  die  longitudinalen  Fasern 
der  Hinterstränge  und  der  hinteren  Bündel  der  Seitenstränge  fort- 
zusetzen. Ob  sie  mit  den  kleinen  runden  Ganglienzellen  der  Hinter- 
hörner  der  grauen  Rückenmarksubstanz  sich  verbinden,  oder  blos 
zwischen  ihnen  durchgehen,  ist  nicht  eruirt. 

Das  Gesagte  enthAlt  nicht  viel,  aber  doch  Alles,  was  man  gegenwärtig  über 
den  realen  Urspmng  der  vorderen  und  hinteren  Wurzeln  der  Rflckenmarksnerven 
mit  Gewissheit  sagen  kann.  Die  mikroskopische  Anatomie  des  Rückenmarks  bat 
wohl  zu  schematischen  Darstellungen  der  Nervenursprünge,  aber  keineswegs  zu 
definitiv  festgestellten  Lehrsätzen  über  diesen   hochwichtigen   Gegenstand  geführt. 


§.  371.  Die  vier  oberen  lalsnerven. 

Von  den  acht  Halsnerven  tritt  der  erste  zwischen  Hinter- 
hauptbein und  Atlas,  durch  die  hinter  der  Massa  IcUeralü  des  Atlas 
befindliche  Incisur  am  oberen  Rande  des  Bogens  dieses  Wirbels 
hervor.  Er  heisst  deshalb  Nervus  suboccipäalis.  Der  achte  verlässt 
durch  das  Foramen  interverfebrcUe  zwischen  dem  siebenten  Halswirbel 
und  ersten  Brustwirbel  den  Rückgratkanal. 

Jeder  Halsnerv  spaltet  sich  alsogleich  in  einen  vorderen  und 
hinteren  Zweig.  Die  vorderen  Zweige,  von  welchen  der  erste  zwischen 
Rectus  capitis  anticus  minor  und  lateralis,  die  sieben  übrigen  zwischen 
dem  vorderen  und  hinteren  Intei-transversarius  nach  vom  treten, 
bilden  vor  oder  zwischen  den  Fascikeln  des  Scalenus  medius  und 
LevcUor  scapiUae  durch  ihre  Verbindangsschlingen  unter  sich,  usid 
mit  dem  vorderen  Zweige  des  ersten  Bnutnerven,  ein  Q^ 
welches   für  die  vier  oberen  Halaj^erven  Pkxu»  emfm 


916  §.371.  Die  vier  obtreo  Halsnerren. 

vier  unteren  aber  Plexus  brackialis  heisst.  Die  hinteren  Zweige  der 
Halsnei^ven  richten  sich,  mit  Ausnahme  der  beiden  ersten,  welche 
gleich  näher  geschildert  werden  sollen,  nach  den  im  vorhergehenden 
Paragraphe  erwähnten  allgemeinen  Regeln. 

Der  hintere  Zweig  des  ersten  Halsnerven  geht  zu  dem  drei- 
eckigen Raum,  welcher  vom  Rectus  capitis  posticus  major,  Obliquus 
swperior  et  inferior  begrenzt  wird,  und  versorgt,  nebst  den  hinteren 
geraden  und  schiefen  Kopfmuskeln,  auch  den  Biventer  cervicis  und 
Complexus.  Er  wird  Nervus  infra^ccipitalis  genannt.  —  Der  hintere 
Zweig  des  zweiten  Halsnerven  giebt  Zweige  zu  den  Nackenmuskeln, 
mit  Ausnahme  des  Cucullaris,  und  steigt,  nachdem  er  letzteren 
durchbohrte,  mit  der  Arteria  occipitalis  zum  Hinterhaupt  empor,  wo 
er  sich  bis  zum  Scheitel  hinauf  als  Nervus  occipitalis  magnus  in  der 
Haut  verästelt. 

Der  durch  die  vorderen  Zweige  der  vier  oberen  Halsnerven 
gebildete  Pleocus  cervicalis,  giebt  folgende  zahlreiche  theils  motorische, 
theils  gemischte  Aeste  ab: 

1.  Verbindungsnerven  zum  Ganglion  cerviccUe  primum  des  Sym- 
pathicus,  drei  bis  vier  an  Zahl. 

Sie  bestehen,  wie  die  Verbindang'sßiden  aller  übrigen  Rückenmarksnerven 
mit  den  entsprechenden  sympathischen  Ganglien,  aas  einer  doppelten  Gruppe  von 
Fasern.  Die  eine  Gruppe  geht  von  den  Spinalnerven  zum  Ganglion  des  Sympathicas 
und  ist  weiss.  Die  andere  (graue)  zieht  umgekehrt  vom  Ganglion  des  Sjmpathicus 
zu  den  Spinalnerven,  und  längs  diesen  rückläufig  zum  betreffenden  Ganglion 
intervertebraie. 

2.  Verbindungsnerven  zum  Plexus  nodosus  nervi  vagi,  zum 
Stamme  des  Nei*vus  hypoglossus,  und  zu  seinem  Ramus  descendens. 
Letztere  stammen  aus  dem  zweiten  und  dritten  Halsnerven,  und 
bilden  mit  dem  Ramus  descendens  hypoglossi  die  Halsschlinge  dieses 
Nerven. 

3.  Verbindungsnerven  zu  jenem  Antheil  des  Recurrens  Wülisii, 
welcher  den  Sternocleidomastoideus  und  Cucullaris  versieht. 

Sie  gehen  ans  dem  dritten  und  vierten  Cervicalnerv  hervor,  und  bilden  mit 
dem  Recurrens  ein  Geflecht,  welches  sich  unter  dem  vorderen  oberen  Rand  des 
Cucullaris  eine  Strecke  weit  hinzieht,  bis  es  in  die  untere  Fläche  dieses  Muskels 
eindringt,  und  sich  in  demselben  verliert. 

4.  Muskeläste  für  die  Scaleni,  den  Longus  colli,  Rectus  capitis 
anticus  major  und  minor,  und  Levatar  scapiUae. 

5.  Den  Nervus  occipitalis  minor,  welcher  am  hinteren  Rande 
des  Insertionsendes  des  Sternocleidomastoideus  zum  Hinterhaupte 
emporsteigt.  Er  verbindet  sich  mit  dem  Nervus  occipitalis  major 
und  auriculaiis  profundus,  und  versorgt  die  Haut,  so  wie  den  Mtu- 
culus  occipitalis.  Er  besteht  vorzugsweise  aus  Fasern  des  dritten 
Nervus  cervicalis.  * 


S.  871.  Die  Tier  oberen  Halsnerren.  917 

6.  Den  Nervus  auriculaiis  niagnus.  Dieser  construirt  sich,  wie 
der  Ocdpttalis  minoi',  vorwaltend  aus  den  Fasern  des  dritten  Nervus 
cervicalis.  Er  tritt  etwas  über  der  Mitte  des  hinteren  Randes  des 
Kopfnickers  aus  der  Tiefe  hervor,  geht  über  die  äussere  Seite 
dieses  Muskels  bogenförmig  nach  vorn  und  oben  zur  Parotis,  wo  er 
in  einen  Kamus  auricularis  und  mastoideus  zerföllt. 

Der  Ranuis  auriailavM  anastumosirt  mit  dem  Aui-icularia  pro/undu»  vom 
CommnnicanH,  und  versorgt  die  convexe  FlHche  der  Ohrmuschel  (so  wie  einen 
Theil  der  concaven,  durch  ein  perforirendes  Zweigchen).  Der  Ramtts  maaUndeua 
gehört  der  Haut  hinter  dem  Ohre  an,  zuweilen  auch  dem  Muaculu»  occipitalit, 

7.  Den  Nervus  subcutaneus  colli.  Er  wird  aus  Antheilen  des 
zweiten,  besonders  aber  des  dritten  Halsnerven  construirt,  dessen 
eigentliche  Fortsetzung  er  ist.  Er  umgreift  etwas  tiefer  als  der 
Auricularis  magnus  den  Kopfnicker  von  hinten  nach  vorn,  und  theilt 
sich  in  zwei  Zweige:  Nervus  svbeutaneus  colli  medium  und  inferior. 
Der  erste  zieht  längs  der  Vena  jugularis  externa  empor,  und  ana- 
stomosirt  mit  dem  Nervus  subcutaneus  colli  superior  vom  Commuuicans. 
Beide  sind  für  das  Platysma,  und  die  vordere  und  seitliche  H  ais- 
haut bestimmt. 

8.  Die  Nervi  supraclavicularis.  Sie  stammen  aus  dem  Nervus 
cervicalis  quartus.  Man  findet  deren  meistens  drei  bis  vier,  welche 
am  hinteren  Rande  des  Kopfnickers  zum  Schlüsselbein  herablaufen, 
dasselbe  überschreitön,  und  sieh  in  der  Haut  der  vorderen  Brust- 
und  Schultergegend  verbreiten. 

9.  Den  Nervus  jthrenicus,  Z w  e  r c  h  f e  1 1  s n  e  r v ,  welcher  in  der 
Regel  aus  der  vierten  Schlinge  des  Pleusus  cervicalis  stammt,  vor 
dem  Scalenus  anticus  schräg  nach  innen  zur  oberen  Brustapertur 
geht,  und  auf  diesem  Wege  durch  wandelbare  Anastomosen  mit 
dem  Plexus  brachialis,  Ganglion  cervicale  medium  et  infimum,  verbunden 
wird.  An  der  äusseren  Seite  der  Arteria  mammaria  interna  (zwischen 
Vena  anoiypna  und  Arteria  subclavia)  gelangt  er  in  den  Thorax,  wo 
er  zwischen  Pericardium  und  Pleura  zum  Zwerchfelle  herabsteigt, 
und  sich  in  der  Pars  costalis,  so  wie  mittelst  durchbohrender  Zweige 
auch  in  der  Pars  lumbcdis  dieses  Muskels  verästelt. 

Seine  Endäste  verbinden  sich  mit  dem  Zwerchfellgeflecht  des  Sympathicos, 
und  bilden  in  der  Sul)stanz  des  Zwerchfells  den  Plexus  phreniciu,  in  welchem  ein 
grösseres,  hinter  dem  Foramen  pro  veiia  caca  liegendes,  und  mehrere  kleinere 
Ganglien  vorkommen.  —  Luschka  hat  in  seiner  Monographie  des  Phrenicus 
Tübingen,  1853,  Aeste  des  Phrenicus  zur  Thymus,  zur  Pleura,  zur  Vena  etwa 
ascetidens,  zum  Peritoneum,  so  wie  Verbindungen  des  Plexu»  phremetu  mit  dem' 
PlextM  »oluri»,  hepaiiau,  und  auprarenalii  nachgewiesen. 

Ueber  einzelne   Halsnerven  bandeln:  J,  B^mg^  luamunm  oer 
tome,  in  Ludwig,  scriptores  nenrol.  Tom.  I.  —  Th*  A§dk$  d* 


918      §.  372.  Die  Tier  nnt.  HalsneiYen.  —  §•  373.  Par§  »upraelavieulari»  des  Annnervengeflecbts. 

med.  spin.  Gott.,  1750.  —  G.  F.  Peipers,  tertii  et  quarti  nervomm  cervicalium 
descriptio.  Halae,  1798.  —  W,  Volkmcmriy  über  die  motorischen  Wirkungen  der 
Halsnerven.  Müllers  Archiv.  1840. 


§.  372.  Die  vier  unteren  Halsnerven. 

Die  vier  unteren  Halsnerven  sind  den  vier  oberen  an  Stärke 
weit  überlegen^  da  sie,  ausser  den  langen  Rückgratsmuskeln,  auch 
jene  zu  innerviren  haben,  welche  das  Schulterblatt,  den  Oberarm, 
den  Vorderarm  und  die  Hand  bewegen,  und  überdies  noch  sich 
in  der  Haut  der  Brust,  des  Rückens  und  der  ganzen  oberen  Extre- 
mität ausbreiten. 

Die  hinteren  Zweige  der  vier  unteren  Halsnervcn  verhalten 
sich,  hinsichtlich  ihrer  Verästlung,  wie  jene  der  vier  oberen  Hals- 
nerven. Sie  versorgen  die  tiefen  Muskeln  und  die  Haut  des  Nackens. 
Die  Hautäste  durchbohren  den  Splenius  capitis  und  Ciumllaris,  ohne 
ihnen  Zweige  zu  geben. 

Die  vorderen  Zweige  der  vier  unteren  Halsnerven  bilden, 
nachdem  sie  zwischen  dem  vorderen  und  mittleren  Scalenus  oberhalb 
der  Arteria  snhdama  in  die  Fossa  supraclamcularis  gekommen  sind, 
und  der  vordere  Zweig  des  ersten  Brustnerven  sich  zu  ihnen  ge- 
sellte, das  Armnervenge fl echt,  Plexus  brachialis.  Dieses  Geflecht 
wird,  da  es  unter  dem  Schlüsselbein  sich  in  die  Achselhöhle  fortsetzt, 
auch  Plexus  subclavius  genannt.  Man  unterscheidet  an  ihm  einen 
kleineren,  über  dem  Schlüsselbeine  gelegenen,  und  einen  grösseren, 
unter  dem  Schlüsselbeine  befindlichen  Antheil.  Alle  an  der  Bildung 
des  Armnervengeflechtes  theilnehmenden  Nerven,  senden  Verbin- 
dungsäste entweder  zum  Stamm  des  Sympathicus,  oder  zum  mittleren 
und  unteren  Halsganglion;  der  erste  Brustnerv  zum  ersten  Brust- 
ganglion. 


§.  373.  Pars  supraclavicularis  des  Arninervengeflechts. 

Sie  liegt  am  Grunde  der  Fossa  supraclavicularis,  und  wird  vom 
Platysma  mtjoides,  dem  hohen  und  tiefen  Blatte  der  Fascia  colli,  und 
der  Clavicularportion  des  Kopfnickers  bedeckt.  Sie  hat,  genau  ge- 
nommen, keineswegs  das  Ansehen  eines  Plexus,  welches  erst  ihrer 
Fortsetzung:  der  Pars  infraclavicularis,  in  vollem  Maasse  zukommt. 
Aus  ihr  entspringen,  nebst  Zweigen  für  die  Scaleni  und  den  Longus 
colli  folgende,  nur  für  die  Schultermuskeln  bestimmte  Zweige: 

a)  Die  Nervi  thoracici  anteriores  et  postenores.  Die  zwei  ante^dores 
gehen  unter  der  Clavicula  zum  Musculus  subclavius,  pectorcUis  major^ 


§.  874.  Part  in/raelaviculari*  des  Arronervengeflechts.  919 

minor,  zur  Schlüsselbeinportion  des  ddtoides,  und  zur  Haut  der 
oberen  Gegend  der  weiblichen  Brustdrüse  (Eckhart).  Die  zwei 
bis  drei  postsfiores  durchbohren,  nach  hinten  gehend,  den  Scalenus 
medim,  und  suchen  den  Musculus  levcUor  scapulae,  rhomhoideus,  und 
serratus  posfictis  9iiperi(yr  auf.  Einer  von  ihnen  imponirt  durch  Grösse 
und  Tiänge.  Es  ist  der  Nenms  thorcicicus  longus,  für  den  Serratus 
anticus  major. 

Man  kann  die  zwei  Xervi  thor<icici  anterioref,  als  extemu»  und  iiUemita 
unterscheiden.  Der  extemiu  geht  über  die  Arteria  giibclama  schief  nach  innen 
und  unten  zum  grossen  Brustmuskel.  Der  inUrnua  drangt  sich  zwischen  Arteria 
und  Vena  subclavia  durch»  und  geräth  unter  den  kleinen  Brustmuskel.  Beide 
sind  durch  eine  Schlinge  mit  einander  verbunden,  welche  die  innere  Peripherie 
der  Arteria  subclavia  umgreift. 

b)  Der  Nervus  siiprcLScapidaris.  Er  zieht  mit  der  Arteria  trans- 
versa scaptdas  nach  aussen  und  hinten  zum  Ausschnitt  des  oberen 
Schulterblattrandes,  durch  diesen  zur  Fossa  supraspinata,  und  von 
dieser  zur  infraspinata.  Er  gehört  dem  Musculus  supra-  et  infra- 
spinatus,  und  dem  Teres  minor  an,  und  sendet  auch  einen  Zweig 
zur  Kapsel  des  Schultergelenkes. 

c)  Die  drei  N&rvi  subscaptdares  zum  Muskel  desselben  Namens, 
zum  Laiissimus  dorsi  und  Teres  major. 

Die  Nervi  thoracici  anteriores  und  die  Nervi  subscapularea  gehen  gewöhn- 
lich tiefer  als  die  übrigen  hier  genannten  aus  dem  Plexus  ab,  weshalb  sie  von 
einigen  Autoren  (Sharpey)  schon  zu  den  Zweigen  der  Pars  infr<iclaviciUari$  des 
Armgeflechtes  gerechnet  werden. 


§.  374.  Pars  infraclavicularis  des  Arnmervengeflechts. 

Sie  gattert  mit  drei  gröberen  Nervenbündeln  die  Achselschlag- 
ader ein,  und  heisst  deshalb  auch  Plexus  axillaris.  Aus  ihr  tritt  eine 
Phalanx  von  sieben  Aesten  hervor: 

a)  Nertnis  aitaneus  brachii  internus.  Er  stammt  aus  dem  achten 
Halsnerven  und  dem  ersten  Brustnerven,  geht  hinter  der  Achselvene 
herab,  verbindet  sich  in  der  Regel  mit  einem  Aste  des  zweiten 
Brustnerven  (Nervus  inteixosto-humeralis) ,  welcher  ihn  auch  mehr 
weniger  vollständig  vertreten  kann,  durchbohrt  die  Fascia  brachii 
in  der  Mitte  der  inneren  Oberarmseite,  und  verliert  sich  als  Haut- 
nerv bis  zum  Ellbogengelenk  herab. 

b)  Nervus  cutaneus  brachii  medius.    Er  entspringt  vorzugsweise 
aus   dem   ersten  Brustnerven,   liegt   in   der   Achsel   an   der  inneren 
Seite  der  Vena  axillaris,  und   weiter  unten  an  derselben  Seite  der 
Vena  basäica,  mit  welcher  er  die  Fascia  brachii  durchbohrty   w<»^ 
er  sich  in   den   Ramiu  cutaneus  palvMris  and  tilnarit  d 


920  S-  SV^-  ^A**'  infraclavieulari*  des  Annnervengeileohts. 

Kreuzen  die  Vena  mediana  hasüica  im  Ellbogenbug.  Sie  gehen  öfter 
unter  als  über  derselben  weg.  Der  Cutanetis  palmaiis  kommt  in  der 
Mittellinie  des  Vorderarmes  bis  zur  Handwurzel  herab;  der  Cutaneus 
idnaris  begleitet  die  Vena  basilica,  und  anastomosirt  über  dem  Carpus 
mit  dem  Handrückenast  des  Nervus  ulnaris.  Endverästlung  beider 
in  der  Haut  der  inneren  und  hinteren  Seite  des  Vorderarms. 

■ 

Die  Theilnngsstelle  des  CSUanetis  brachii  mediiut  in  den  Ramtut  palmaris 
und  ukiaris  föllt  bald  höher,  bald  tiefer.  Liegt  »ie  nahe  an  der  Achsel,  so  kreuzt 
sich  nur  der  Ramus  cutaneiu  pcdmaris  im  Ellbogenbug  mit  der  Vena  mediana 
bariUca,  und  der  Ramus  cutanetM  ulnarut  lenkt  schon  über  dem  Condylw*  iiitemtis 
humeri  von  seinem  Genossen  so  weit  nach  innen  ab,  dass  seine  Endverästlungen 
weit  mehr  der  hinteren  als  der  inneren  Seite  des  Vorderarms  angehören.  —  Viele 
Autoren  beschreiben  unseren  Cutaneus  medius  als  internus,  und  unseren  internus 
als  Cutaneus  internus  minor.  So  wurde  die  Sache  auch  von  Wrisberg  genommen, 
welcher  den   Cutaneus  internus  minor  zuerst  unter  diesem  Namen  aufführte. 

c)  Nervus  cutaneus  brachii  extemus  s,  my^sctdo-ciUaneus,  Da  der 
Name:  Nervus  musculo-cutaneus,  auch  für  alle  übrigen  Zweige  des 
Acbselgeflechtes  passt,  indem  sie  sich  in  Muskehi  und  Haut  auf- 
lösen^ so  könnte  er  für  den  Cutaneus  extemus  durch  den  passen- 
deren: Nei'vus  perforans  Casserü  ersetzt  werden,  weil  dieser  Nerv 
den  Musculus  coraco-brachiaiis  durchbohrt.  Er  ist  stärker,  als  die 
beiden  anderen  Cutanei,  und  ist  gewöhnlich  an  seinem  Beginn  mit 
dem  Nervus  medianv^  verschmolzen.  Er  durchbohrt  den  Musculus 
coraco-brachiaiis  schief  von  innen  und  oben  nach  aussen  und  unten, 
und  schiebt  sich  zwischen  Biceps  und  BrachiaJis  internus  durch,  um 
in  den  Sulcus  bidpitalis  externus  zu  gelangen,  in  welchem  er  gegen 
den  Ellbogen  herabzieht.  Hier  durchbohrt  er  die  Fascia  bracJiii 
zwischen  Biceps  und  Ursprung  des  Sujnnator  longus,  und  folgt,  meist 
in  zwei  Zweige  gespalten,  der  Vena  cej)haUca  bis  zum  Handrücken, 
wo  er  mit  dem  Handrückenast  des  Nervus  radialis  anastomosirt. 
Noch  während  seines  Verlaufes  am  Oberarm  giebt  er  dem  Coraco- 
brachialisj  Biceps  und  Brachialis  internus  motorische  Zweige.  Erst 
am  Vorderarm  wird  er  ein  reiner  Hautnerv  für  die  Radialseite 
desselben. 

Ein  feiner  Zweig  dieses  Nerven  tritt  an  die  Arteria  profunda  brachii,  und 
umstrickt  sie  mit  einem  Geflechte,  aus  welchem  ein  Aestchen  mit  der  Arteria 
nutriens  brachii  in  die  Markhöhle  des  Oberarmbeins  eindringt.  —  Sehr  selten 
durchbohrt  der  Nervus  aUaneus  externus  nicht  blos  den  Coj'aco-brachialis,  sondern 
auch  den  Brachialis  iTüernus.  Es  liegt  dann  ein  Theil  dieses  Muskels  vor  ihm, 
ein  Theil  hinter  ihm.  Der  vordere  steht  immer  dem  hinteren  an  Stärke  nach. 
Eine  Reihe  von  mir  aufgestellter  Präparate  macht  es  anschaulich,  wie  das  vor 
dem  Nerven  liegende  Fleisch  des  Brachialis  internus ,  sich  so  von  dem  hinteren 
absondert,  dass  es  sich  gänzlich  von  ihm  emancipirt,  und  als  dritter  Kopf  des 
ßiceps  sich  an  die  Sehne  dieses  Muskels  ansetzt.  —  Oefters  sendet  der  Cutaneus 
extemus,  und  zwar  nur  wenn  er  stärker  als  gewöhnlich  ist,  dem  Nervus  medianus 
einen  Verstärk nngszweig  zu.     Dieser    löst   sich    vor  oder  nach  der  Dnrchbohrung 


\ 


§.  374.  PoT»  it^raelaviculari*  des  Annnerrenfreflechto.  921 

des  Coraco-brachialis  von  ihm  ab,  oder  entspringt  auch  von  ihm,  während  er  im 
Fleische  des  genannten  Maskeis  steckt.  In  diesem  Falle  durchbricht  der  Ver- 
stärkungsast  zum  Medianus  das  Fleisch  des  Coraco-brachialis  direct  nach  vom,  so 
dass  der  genannte  Muskel  von  zwei  Nerven  (Stamm  des  Xerviuf  pev/orans  und 
Verstärkungsast  zum  Medianns)  durchbohrt  wird. 

d)  Xervvs  axillaris  8,  drcumßexns.  Er  Hegt  hinter  der  Arteria 
axillaris,  und  umgreift  mit  der  Arteina  circumßexa  posterior  den 
Oberarmknoehen,  unter  dem  Caput  humeri.  Hart  an  seinem  Ur- 
sprung sendet  er  einen  Zweig  zur  hinteren  Wand  der  Schulter- 
gelenkkapsel, giebt  einen  erhebliehen  Hautast  zur  hinteren  Gegend 
der  Schulter  und  des  Oberarms,  Muskelzweige  zum  Teres  minor, 
und  endigt  im  Fleisch  des  Deltamuskels. 

e)  Nei^iis  medianus,  Mittelarmnerv.  Sein  Ursprung  aus  dem 
Achselnervengeflecht  ist  zweiwurzelig.  Beide  Wurzeln  fassen  die 
Arteria  axillaris  zwischen  sich.  Er  setzt  sich  aus  allen  das  Achsel- 
geflecht bildenden  Nerven,  vorzugsweise  aus  den  zwei  Bündeln  des 
Geflechtes,  welche  an  der  inneren  und  äusseren  Seite  der  Artsria 
axillaris  liegen,  zusammen.  Im  Suicus  bicipitalis  internus  herab- 
laufend, hält  er  sich  an  die  vordere  Seite  der  Arteria  brachialis, 
geht  aber  oberhalb  des  Ellbogens  über  die  Arterie  weg  an  ihre 
innere  Seite,  wird  in  der  Plica  cubiti  vom  iMcertus  fihrosus  der 
Bicepssehne  bedeckt,  durchbohrt  den  Pronator  teres,  und  tritt  unter 
dem  Radialis  internus  in  die  Medianlinie  des  Vorderarms  ein.  Hier 
treflfen  wir  ihn  zwischen  Radialis  internus  und  hochliegendem  Finger- 
beuger. Er  geht  dann  mit  den  Sehnen  des  letzten  unter  dem 
Ligamentum  carpi  transversum  zur  Hohlhand,  wo  er  sich  in  vier 
Nervi  digitorum  volares  spaltet.     Der  erste  ist  nur  für  einige  kleine 

v/^Jtfuskeln  (Abductor  brevis,  Opponens,  hochliegender  Kopf  des  Flexor 
vrevis)  und  für  die  Haut  der  Radialseite  des  Daumens,  die  folgenden 
drei  für  die  drei  ersten  Musculi  lumbricales  und  für  die  Haut  von 
je  zwei  einander  zusehenden  Seiten  des  Daumens  und  der  drei 
nächsten  Finger  bestimmt.  Der  letzte  von  ihnen  nimmt  die  gleich 
zu  erwähnende  Anastomose  vom  Hohlhandast  des  Nervus  ulnaris  auf. 
Am  Oberarm  erzeugt  er  keine  Aeste,  da  der  Coraco-brachialis, 
Biceps,  und  Brachialis  internus  bereits  vom  Cutaneus  extemus  ver- 
sorgt wurden.  Am  Vorderarm  dagegen  lösen  sich  von  ihm  folgende 
Zweige  ab: 

a)  Muskeläste  Air  alle  Muskeln  an  der  Beugeseite  des  Vorderarms,  mit 
Ausnahme  des  Uhiaris  internus.  Der  zum  Pronator  terea  gehende  Ast  giebt  einen 
Zweig  zur  Kapsel  des  EUbogengelenks  (Rüdinger). 

ß)  Einen  nicht  constanten  Verbindungsast  für  den  Nervus  cutaneus  extemus 
und  Nervus  ulnaris.  Ueber  den  letzteren  handelt  ausführlich  Grober,  im  Archiy 
für  Anat  und  Physiol.  1870. 

Y)  Den  Nervus  interosseus  internus,  welcher  auf  dem  Liffomeniwn  h 
zwischen  Flexor  digitorum,  profundus  und  Fleaoor  poUieU  hmfm,  beiden  A« 
tretend,  zum  Pronator  quadraiui  htmhMhi,  in  wdohMi  «r 


922  §.  374    Pttrs  infraelavietUari»  des  A  rmnervenpeflcchtJi. 

8)  Einen  Nervus  cutaneus  antibrachii  palniarU^  welcher  nnter  der  Mitte  de» 
Vorderarmes  die  Ftucim  anHfjrtxchii  perforirt,  um  in  der  Richtung  der  Sehne  de« 
Palntaria  hm/u»  als  Haatnerv  zur  Hohlhand  zu  verlaufen. 

f)  Nei^vm  idnaris,  Ellbogen  nerv.  Er  construirt  sich  aus  allen 
Nerven  des  Plexus  hrachialis,  vorzugsweise  aus  dem  achten  Halsnerven 
und  ersten  Brustnerven,  Hegt  anfangs  an  der  inneren  und  hinteren 
Seite  der  Arteria  und  Vena  axillariSj  durchbohrt  das  Ligamentum 
intermusculare  intemum  von  vorn  nach  hinten,  um  sich  in  die  Furche 
zwischen  Condylus  internus  humeri  und  Olekranon  einzulagern,  durch- 
bricht hierauf  den  Ursprung  des  Ulnaris  internus,  nimmt  zwischen 
diesem  Muskel  und  dem  tiefen  Fingerbeuger  Stellung  ein,  theilt 
beiden  Aeste  mit,  und  zieht  mit  der  Arteria  ulnaris,  an  deren 
innerer  Seite  er  liegt,  zum  Carpus.  Auf  diesem  Wege  versorgt  er 
auch  durch  einen  die  Fascia  antibrachii  perforirendon  Hautast  die 
innere  Seite  des  Vorderarms,  so  wie  mehrere  feine  Aeste  desselben 
in  die  hintere  Wand  der  Kapsel  des  Ellbogengelenks  gelangen 
(Rüdinger).  Eine  Verbindung  mit  dem  Medianus  ist  nicht  constant. 
6  ruber  sah  den  Nervus  ulnaris  vor  dem  Condylus  humeri  internus 
gelagert,  —  vielleicht  ein  Verrenkungsfall,  wie  deren  einige  in 
neuester  Zeit  bei  Turnern  vorkamen. 

Ueber  dem  Carpus  spaltet  er  sich  in  den  Rücken-  und 
Hohlhandast. 

a)  Der  schwächere  Rückenast  erreicht  zwischen  der  Sehne  des 
Ulnaris  internus  und  dem  unteren  Ende  der  Ulna  die  Dorsal- 
seite der  Hand,  wo  er  die  Fascia  durchbohrt,  die  Haut  mit 
unbeständigen  Zweigen  versieht,  und  sich  gewöhnlich  in  fünf 
subcutane  Nervi  digitorum  dorsales  theilt,  welche  an  die  beiden 
Seiten  des  kleinen  und  des  Ringfingers,  und  an  die  Ulnarseite 
des  Mittelfingers  treten,  sich  aber  nicht  in  der  ganzen  Länge 
dieser  Finger,  sondern  nur  längs  der  Phalanx  prima  derselben 
verzweigen.  —  Eine  Anastomose  dieses  Astes  mit  dem  Rücken- 
ast des  Nervus  radialis  scheint  nicht  constant  zu  sein. 

Sehr  oft  finden  sich  nur  drei  Zweige  des  Kiickenastes  des  Nervus  ulnaH» 
vor:  und  zwar  für  beide  Seiten  des  kleinen  Fingers,  und  die  Ulnarseite  des  Ring- 
fingers. Was  er  unversorgt  lässt,  bringt  der  zum  Handrücken  gehende  Ast  des 
Nervus  radialis  ein. 

ß)  Der  stärkere  Hohlhan dast  geht  am  Os  pisiforme  über  dem 
lÄgamentum  carpi  transversum,  und  unter  dem  Palmaris  brevis 
zur  Vola  manus,  wo  er  in  einen  oberflächlichen  und  tiefen 
Zweig  gespalten  wird.  Ersterer  sendet  drei  Aeste  zu  jenen 
Fingern,  welche  vom  Nei^us  medianus  nicht  verschen  wurden 
(beide  Seiten  des  kleinen  Fingers,  und  Ulnarseite  des  Ring- 
fingers), und  anastomosirt  mit  dem  vierten  Ramus  volaris  des 
Medianus.   Der  tiefe  Zweig  senkt  sich  zwischen  den  Ursprüngen 


§.  374.  Part  i^fraelavirulari»  de$  Armnenrengeilechts.  923 

des  Abductor  uiid  Flexor  digiti  minimi  in  die  Tiefe  der  Hohl- 
hand;  und  versorgt,  der  Richtung  des  Arc^  volarü  profundus 
folgend,  die  Muskulatur  des  kleinen  Fingers,  die  Musculi  inter- 
ossei,  den  vierten  Lumbricalis,  den  Adductor  pollids  und  den 
tiefen  Kopf  des  Flexor  pollids  brevis,  also  alle  jene  kurzen 
Muskeln  der  Finger,  welche  vom  Nervus  medianus  nicht  inner- 
virt  wurden. 

An  den  HauptKsten  des  Nervus  medianus  und  vlnaris  in  der  Hohlhand  und 
an  den  Fingern,  finden  sich  die  in  §.  70  als  Pacini*sche  Körperchen  beschriebe- 
nen terminalen  Nervenkörperchen. 

g)  Nervus  radialis,  Armspindel-  oder  Speichennerv.  Er 
übertrifft  alle  vorhergehenden  Zweige  des  Achselnervengeflechtcs  an 
Stärke,  sammelt  seine  Fäden  aus  den  drei  unteren  Halsnerven,  und 
liegt  anfangs  hinter  der  Arteria  axillaris.  Er  geht  zwischen  dem 
mittleren  und  kurzen  Kopfe  des  Triceps,  begleitet  von  der  Arteria 
profunda  hrachiiy  um  die  hintere  Seite  des  Oberarmknochens  herum 
nach  aussen  (daher  the  spiral  nerve  der  Engländer),  um  sich  zwischen 
den  ßrachialis  internus  und  dem  Ursprünge  des  Supinator  longus 
einzulagern.  Auf  diesem  Laufe  gicbt  er  dem  Triceps,  Brachialis 
internus,  Supinator  longus,  und  Radialis  extemus  longus  Zweige.  Der 
Zweig,  welcher  dem  kurzen  Kopfe  des  Triceps  gehört,  sendet  einen 
Ast  im  Geleite  der  Arteria  collateralis  vlnaris  superior  zur  Kapsel 
des  Ellbogengelenks  herab.  Auch  Hautäste  entlässt  er,  und  zwar 
den  einen,  bevor  er  in  die  Spalte  zwischen  mittleren  und  kurzen 
Kopf  des  Triceps  eindringt,  zur  inneren  Oberannseite,  und  einen 
zweiten  nach  vollendetem  Durchgang  durch  den  Triceps,  zur  Haut 
der  Streckseite  des  Ober-  und  Unterarms.  Vor  dem  Condylus  humeri 
extemus  theilt  sich  der  Stamm  des  Nermis  radialis  in  zwei  Zweige. 

a)  Der  tiefliegende  Zweig  durchbohrt  den  Supinator  brevis, 
gelangt  dadurch  an  die  äussere  Seite  des  Vorderarms,  und 
verliert  sich  als  Muskelnerv  in  sämmtlichen  hier  vorhandenen 
Muskeln,  mit  Ausnahme  des  Supinator  longus  und  Radialis 
extemus  longus.  Sein  längster  und  tiefst  gelegener  Ast  ist  der 
Nervus  interosseus  extemus,  welcher,  von  der  gleichnamigen 
Arterie  begleitet,  bis  zur  Kapsel  des  Handgelenks  herab  ver- 
folgt werden  kann,  in  welcher  er  schliesslich  sich  verliert. 

ß)  Der  hochliegcnde  Zweig  ist  schwächer  als  der  tiefe.  Er 
legt  sich  an  die  äussere  Seite  der  Arteria  radialis,  mit  welcher 
er  zwischen  Supinator  longus  und  Radialis  internus  zur  Hand 
weiter  zieht.  Im  unteren  Drittel  des  Vorderarms  lenkt  er, 
zwischen  der  Sehne  des  Supinator  longus  und  der  Armspindel, 
auf  die  Dorsalseite  des  Carpus  ab,  erhält  hier  den  Namen 
eines  Handrückenastes  des  Nervus  radialis,  und  theilt  sich 


924  S-  S75.  Brnstnerren. 

in  zwei  Aeste,  von  welchen  der  schwächere  mit  den  End- 
zweigen des  Nervus  cutaneus  extemtis  anastomosirt,  und  als 
Rückennerv  an  der  Radialseite  des  Daumens  sich  verliert. 
Der  stärkere  versorgt  die  übrigen  Finger,  welche  vom  ITand- 
rückenast  des  Nei^us  tdnaris  unbetheilt  blieben.  —  Die  Rücken- 
nerven der  Hand  und  der  Finger  besitzen  keine  Pacini'schen 
Körper  chen. 

A,  Murray f  nervorum  cervicalium  cum  plexa  brach,  descriptio.  Upsal., 
1794.  -  F.  Kriujer,  dias.  de  nervo  phrenico.  Lips.,  1758.  —  H,  Kronenbertj, 
plexuum  nervonim  structura  et  virtutes.  Berol.,  1836.  —  J,  J.  KliiU,  de  nervis 
brachii,  in  Ludwiff,  scriptores  neurol.  T.  III.  —  CamiM,  sur  la  distribution  de 
nerfs  dans  la  main.  Arch.  gin,  de  ra^d.  1845.  —  N.  Rüdinger,  die  Gelenknerven 
Erlang.,  1857.  —  lieber  den  Ramus  coUcUeraUa  ubiarU  des  Radialnerven  iiandelt 
W.  Kratufe,  im  Arch.  für  Anat.  1868.  —  H.  Frey,  die  Gefassnerven  des  Armes. 
Arch.  für  Anat.  und  Physiol.  1874.  —  Clement- Lucas,  Plexus  brachialis,  in  Gtu/'s 
Hosp.  Reports.  3.  Ser.  Vol.  20. 


§.  375.  Brustnerven. 

Die  zwölf  Brustnerven,  Nervi  thoracici,  bieten  einfachere 
und  leichter  zu  übersehende  Verzweigungsweisen  dar  als  die  Hals- 
nerven. Der  erste  Brustnerv  tritt  durch  das  Foramen  intervertebrale 
zwischen  dem  ersten  und  zweiten  Brustwirbel,  der  zwölfte  zwischen 
dem  letzten  Brustwirbel  und  ersten  Lendenwirbel  hervor. 

Der  erste  Brustnerv  ist  der  stärkste  von  allen;  die  folgenden 
nehmen  bis  zum  neunten  an  Stärke  ab,  und  gewinnen  vom  neunten 
bis  zum  zwölften  neuerdings  an  Dicke.  Der  auf  das  Ganglion  inter- 
vertebrale folgende  Stamm  jedes  Brustnerven  ist  kurz,  und  theilt 
sich  schon  am  Hervortritt  aus  dem  Foramen  interv&tiebrale  in  einen 
stärkeren  vorderen,  und  schwächeren  hinteren  Ast.  Die  Verbindungs- 
filden  zum  nächstliegenden  Ganglion  des  Sympathicus  sind  an  den 
zwei  bis  drei  oberen  und  unteren  Brustnerven  häutig  doppelt. 

Die  hinteren  Aeste  der  Brustnerven  begeben  sich  zwischen 
dem  inneren  und  äusseren  Rippenhalsband  nach  hinten,  und  zerfallen 
regelmässig  in  einen  inneren  und  äusseren  Zweig. 

Der  innere  liegt  am  entsprechenden  Wirbeldome,  und  versieht  die  tiefen 
Muskeln  des  Rückens.  Zweige  desselben  durchbohren  die  Ursprünge  der  Serrati 
postici,  Rliomhoidei,  des  CnadlarU  und  Latumimus  dorni,  um  nich  in  der  Haut  des 
Rückens  zu  verlieren.  Der  äussere  dringt  zwischen  dem  Loiifjutttiinns  dorH  und 
Sacro-lumhalis  durch,  versorgt  diese  und  die  Jjevatorett  costarum,  und  sendet  dünne 
Zweige  zur  Haut  des  Rückens  bis  zur  Darmbeincrista  herab.  Sie  durchbohren  den 
Lati»»im^ts  dorai,   CuctdUirig,  und  SerreUus  iwstiai^  inferior. 

Die  vorderen  Aeste  der  zwölf ''Brustnerven  suchen  vor  dem 
inneren  Rippenhaisbande  ihre  entsprechenden  Zwischenrippenräume 
auf;  —  der  letzte  den  unteren  Rand  der  zwölften  Rippe.  Sie  liegen 


$.  876.  Brnttnerren,  925 

im  Sulcus  costae  unterhalb  der  Arteria  intercostalis,  zwischen  den 
inneren  und  äusseren  Zwischenrippenmuskeln,  und  werden  allgemein 
als  Zwischenrippennerven,  Nervi  intercostales,  bezeichnet.  Sie 
verbinden  sich  nicht  wie  die  übrigen  Rückenmarksnerven  durch 
auf-  und  absteigende  Schlingen  zu  Plexus.  Nur  die  drei  bis  vier 
oberen  Intercostalnerveu  schicken  einander  zuweilen  Verbindungs- 
föden  zu.  —  Beiläufig  in  der  Längenmitte  des  unteren  Kippen- 
randes giebt  jeder  Zwischenrippennerv  einen  Nervus  cutaneus  pectoris 
lateralis  ab. 

Die  sechs  oberen  Nervi  cutanei  pectoris  laterales  durchbohren 
den  Intercostcdis  extemus  und  Serratus  antums  major,  um  sich  in 
vordere  und  hintere  Zweige  zu  spalten,  welche  als  Nervi  cutanei 
laterales  pectoris  anteriores  und  posteriores  unterschieden  werden. 
Die  anteriores  umgreifen  den  Aussenrand  des  Pectoraiis  major,  streben 
dem  Brustbein  zu,  und  versorgen  die  Haut  der  Brustdrüse  und  die 
Drüse  selbst;  die  posteriores  umgreifen  den  äusseren  Rand  des 
Latissimus  dorsi,  um  zur  Haut  des  Rückens  zu  kommen. 

Nach  Abgabe  der  Nervi  cutanei  pectoris  laterales  verfolgen  die 
vorderen  Aeste  der  sechs  oberen  Brustnerven  ihren  weiteren  Lauf 
durch  die  Intercostalräume,  versehen  die  Musculi  intercostales  und 
den  Triangulai*is  sterni,  und  gehen,  am  Rande  des  Brustbeins  an- 
gelangt, durch  den  Pectoralis  m^jor  hindurch  als  Nervi  cutanei  pec- 
toris anteriores  zur  Haut  der  vorderen  Brustgegend. 

Der  vordere  Ast  des  ersten  und  zweiten  Brustneryen  weicht  von  dieser 
Hegel  ab.  Der  vordere  Ast  des  ersten,  welcher,  wie  früher  gesagt,  ganz  in  das 
Achselnervengeflecht  einbezogen  wird,  erzeuget  gewöhnlich  keinen  Nervus  cutaneus 
pectoris  lalercUis.  Der  vordere  Zweig  des  zweiten  giebt  zwar  einen  solchen  ab, 
lässt  ihn  aber  nicht  (wie  die  folgenden  vier)  zur  Haut  des  Thorax  gelangen,  son- 
dem  sendet  ihn  dem  Nerxms  cutaneus  brachii  internus  (aus  dem  Achselnerven- 
geflecht) als  Verstärkung  zu.  Dieser  Nervus  cutaneus  lateralis  des  zweiten  Brust- 
nerven wird  durch  einen  besonderen  Namen  vor  den  übrigen  ausgezeichnet.  Er 
heisst  Nervus  intercosto-humeralis. 

Die  sechs  unteren  Nervi  cutanei  pectoris  laterales  durchbohren 
den  zuständigen  Intercostalis  extemus  und  Obliquus  abdominis  extemus 
(dessen  Ursprung  den  sechs  unteren  Rippen  angehört),  und  theilen 
sich,  wie  es  die  sechs  oberen  gethan,  in  vordere  und  hintere  Zweige. 
Die  vorderen  streben  im  subcutanen  Bindegewebe  der  vorderen 
Bauchwand  gegen  den  Rectus  abdominis  hin,  die  hinteren  um- 
greifen den  Latissimus,  um  zur  Rückenhaut  zu  kommen.  Sie  werden 
demzufolge  als  Nervi  cutanei  laterales  abdominis  anteriores  et  poste- 
riores benannt  werden  können. 

Jeder  der  sechs  unteren  Zwischenrippennerven  setzt  sich,  nach- 
dem er  sein  Spatium  intercostale  durchmessen,  in  die  vordere 
Bauch  wand  fort,  liegt  daselbst  zwischen  Obliquus  internus  und 
transversus,  sucht  die  Scheide  des  Rectus  auf;  und  durchbohrt  diese^ 


926  §•  876.  LendennerreB. 

um  in  das  Fleisch  des  Kectus  einzudringen,  und  seinen  letzten  Rest 
nahe  an  der  weissen  Bauchlinie  in  das  Integument  des  Unterleibes 
als  Nervus  cutcmeus  ahdominis  anterior  (deren  es  somit  sechs  geben 
muss)  übertreten  zu  lassen. 

Der  vordere  Ast  des  letzten  Bmstnerven  fÜ^  sich  dieser  Norm  insofeme 
nicht,  als  er,  begreiflicher  Weise,  in  keinem  Spatium  intercostale  verlaufen,  sofort 
auch  nicht  zwischen  MuscuUa  irUercostalibus  gelagfert  sein  kann,  wenn  nicht  eine 
dreizehnte  Rippe  vorhanden  ist.  £r  gehört  also  ganz  nnd  gar  der  Banchwand, 
nicht  der  Bmstwand  an,  und  wurde  deshalb  von  einigen  Autoren  nicht  mehr  zu 
den  Brustnerven  gezählt.  Er  zieht  über  die  Insertion  des  QtmdraUu  lumbortini 
an  der  letzten  Rippe  nach  aussen,  und  muss  die  Ursprungsaponeurose  des  Trans- 
versus  durchbohren,  um  zwischen  Transversus  und  Ohliqwis  internus  zu  kommen, 
wo  seine  Genossen  zu  finden  sind.  Sein  Ramtu  cutaneus  lateralis  wird  die  beiden 
Obliqui  durchbohren  müssen,  und  theilt  sich  nicht  in  einen  vorderen  und  hinteren 
Zweig,  sondern  steigt  einfach  über  die  Crista  ossis  ilei  bis  in  die  Gegend  des 
grossen  Trochanters  herab. 

C,  O,  Bauer,  de  nervis  anterioris  superficiei  trunci  hum.  Tub.,  1818.  — 
Ä.  Murray,  descriptio  nervorum  dorsalium,  lumbalium  et  sacralium,  cum  plexa 
ischiadico.  Upsal.,  1796. 


§.  376.  Lendennerveii. 

Die  fünf  Lendennerven  ( Nervi  lumbales)^  welche  sich  nicht 
blos  wie  die  Brustnerven  in  den  Rumpfwänden,  sondern  auch  in 
den  Gesehlechtstheilen,  und  in  der  mit  den  kräftigsten  Muskeln 
ausgestatteten  unteren  Extremität  verzweigen,  werden  eben  dadurch 
ungleich  wichtiger,  als  die  Brustnerven.  Der  erste  von  ihnen  tritt 
durch  das  Foramen  intervertebrale  zwischen  dem  ersten  und  zweiten 
Lendenwirbel,  der  letzte  zwischen  dem  letzten  Lendenwirbel  und 
dem  Kreuzbein  hervor.  Sie  nehmen  von  oben  nach  unten  an  Stärke 
zu.  Ihre  hinteren  Aeste  sind  im  Verhältnisse  zu  den  vorderen 
schwach,  und  verlieren  sich,  wie  die  hinteren  Aeste  der  Brustnerven, 
in  äussere  und  innere  Zweige  gespalten,  in  den  Wirbelsäulenmuskeln 
und  in  der  Haut  der  Lenden-  und  Gesässgegend.  Die  ungleich 
mächtigeren  vorderen  Aeste,  hängen  jeder  mit  dem  entsprechenden 
Ganglion  lumbale  des  Sympathicus  zusammen,  und  vereinigen  sich 
durch  ab-  und  aufsteigende  Schlingen  zum  Plexus  lumbalis,  welcher 
theils  hinter  dem  Psoas  magnus  liegt,  theils  zwischen  den  Bündeln 
dieses  Muskels  steckt. 

Der  fünfte  Lendennerv  participirt  nicht  an  der  Bildung  dieses  Geflechtes, 
sondern  geht,  als  Nervus  lumho-sacralis,  in  den  Plexus  sacralis  fin.  Dagegen  hän^ 
der  letzte  Brustnerv  sehr  oft  durch  einen  alisteigenden  Zweig  seines  vorderen 
Astes,  mit  dem  ObertheU  des  Plexus  lumbalis  zusammen.  Man  könnte  diese  häufig 
zu  sehende  Verbindung^schlinge,  Nervus  dorso-lurtibcUis  nennen. 

Der  Plexus  lumbalis  erzeugt,  nebst  unbeständigen  Zweigen  für 
den  Psoas  major,   minor,    und    Quadratus  lumborum,  folgende  Aeste: 


§.  S76.  LMtdennerrtD  927 

1.  Den  Hüft -Beckennerv,  Nenms  äeo-hypogastricus.  Dieser 
gemischte  Nerv  versorgt  den  Traiisvertsus  abdominis,  Obliguus  iiitemug, 
80  wie  die  Haut  der  Regio  hypogastrtca,  und  theilweise  auch  jene 
des  Gesässes.     Er  stammt  vom  ersten  Nervus  lumbaUs. 

£r  durchbohrt  (obwohl  nicht  immer)  den  Pmxu  major,  streift  über  den 
Quadratu»  lumbarum  weg,  zur  Innenfläche  des  Transver^u»  cMommi«  dicht  über 
der  Orista  oaaia  üei,  tritt  hier  dnrch  den  Transversns  hindurch,  und  theilt  sich 
zwischen  ihm  und  dem  Obliqwu  inlemus  in  zwei  Endzweige.  Der  erste,  Samti» 
iliacfu  zu  nennen,  dringt  über  der  Crista  ilei,  durch  beide  Obliqui,  um  in  der 
Haut  der  äusseren  Gesässpartie  sich  zu  verlieren.  Der  zweite,  Ramu»  hypogtutricut, 
geht  anfangs  zwischen  Transvcrsns  und  Ohliquus  intemus,  dann  zwischen  OhUquus 
internus  und  extemit»,  bis  über  den  Canalia  ingumafis  nach  vorn  und  innen,  wo  er 
entweder  die  Aponeurose  des  Obliquits  extemua  durchbricht,  oder  durch  den 
Leistenschlitz  derselben,  zur  Haut  der  Regio  hypogastrica  abdominia  gelangt.  Er 
anastomosirt  gewöhnlich,  aber  an  wandelbaren  Stellen,  mit  dem  vorderen  Aste  des 
letzten  Intercostalnerven,  und  mit  dem  zweiten  Aste  des  Plexus  lumbalie.  —  Es 
lässt  sich  nicht  verkennen,  dass  der  Bamua  iliacus  des  Ueo-hypogtutricua  den  Rami» 
cutarma  leUertäibus  der  Brustnerven,  —  der  Ramus  hypogcutricus  dagegen  den 
Ramia  cutaneis  anterioribu»  morphologisch  entspricht. 

2.  Den  Hüft -Leistennerv,  Nervus  ileo-inguinalis.  Er  ist 
sensitiv,  und  hat  mit  dem  früheren  gleichen  Ursprung,  wird  auch 
zuweilen  von  ihm  abgegeben.  Er  steigt,  nachdem  er  den  Psoas 
major  in  der  Richtung  nach  aussen  durchbohrte,  auf  der  Fascia 
des  lliactis  internus  zum  Po upar tischen  Bande  herab,  über  welchem 
er  den  Musculus  transversus  durchbricht  (weiter  nach  vorn,  als  es 
sein  Vorgänger  gethan  hat),  um  in  den  Leistenkanal  einzudringen^ 
und,  nachdem  er  ihn  durchlaufen,  bei  beiden  Geschlechtern  in  der 
Haut  der  Schamfugengegend,  und  bei  Männern  noch  in  der  Haut 
des  Gliedes  und  des  Hodensackes,  bei  Weibern  in  der  Haut  der 
grossen  Schamlippen  zu  endigen  (Nervi  scrotales  et  labiales  anteriores). 

1.  und  *1,  compensiren  sich  in  so  fem,  als,  wenn  der  Ileo-inguinaiis  so 
schwach  gefunden  wird,  dass  er  den  Leistenkanal  gar  nicht  erreicht,  der  Reo- 
hgpogastricus  aushilft,   und  einen  Ast  zur  Haut  der  äusseren  GenitaUen  entsendet. 

3.  Den  Scham -Schenkelnerv,  Nervus  genito-crurcUis.  Er 
entsteht  aus  dem  zweiten  Lendennerv,  ist  theils  motorisch,  theils 
sensitiv,  und  durchbohrt  den  Psoas  major,  auf  dessen  vorderer  Fläche 
er  herabsteigt.  Er  theilt  sich  bald  höher  bald  tiefer  in  zwei  Zweige: 
den  Nervus  spermaticus  extemus  (a)  und  den  Nervus  lumbo-inguinalis  (ß), 
welche  auch  gesondert  aus  dem  Plexus  Ivmbalis  entspringen  können, 
und  vielen  Spielarten  in  Stärke  und  Verlauf  unterliegen. 

a)  Der  Nervus  spemuUiais  extemus  (auch  Nervus  pudendus  extemus)  folgt 
so  ziemlich  dem  Zuge  der  Ärteria  Uiaca  externa,  ver  welcher  er  herabsteigt.  Er 
sendet  ein  Aestchen  längs  der  Vena  cruralia  an  die  Haut  der  inneren  oberen 
Gegend  des  Oberschenkels,  durchbohrt  die  hintere  Wand  des  Leistenkanals,  ge- 
sellt sich  zum  Samenstrang,  versorgt  den  Cremaster  und  die  Dartos,  und  nimmt 
selbst  an  der  Bildung  des  Plexu»  apertnaäcus  im  Hoden  und  Nebenhoden  Theil. 


928  §.  876.  Lendennenren. 

Und  80  hätten  denn  die  Lenden  wirklich  einen  Einfluss  auf  das  Erzeii^ngsgeschäft» 
nnd  die  Worte  der  Schrift  „der  Herr  wird  deine  Lenden  se^en*'  haben  ^aach 
anatomischen  Sinn.  Das  lateinische  Wort  elumbü  bezeichnet  Zeugungfsunfähigkeit. 
—  Beim  Weibe  folgt  der  Xervus  spermaticits  externus  dem  runden  Mutterbande 
zum  Schamhügel,  und  zur  grossen  Schamlefze. 

ß)  Der  NervitH  lumbo-iiiguinalis  geht  vor  dem  Psoas  herab,  um  unter  dem 
P Ott parf  sehen  Bande,  an  die  Haut  des  Oberschenkels  unterhalb  der  Leistenbeuge 
zu  gelangen.  Er  ist  im  Manne  ansehnlicher  als  im  Weibe,  nnd  kreuzt  sich  in 
beiden  Geschlechtern  mit  der  Arieria  drcumflexa  üei. 

4.  Den  vorderen  äusseren  Hautnerv  des  Oberschenkels, 
Nervus  cutaneus  femoris  anterior  externus.  Er  entspringt  aus  der 
Schlinge  zwischen  dem  zweiten  luid  dritten  Lendennerven,  und 
zieht  auf  dem  Musculus  iliacus  intemu^s  zum  Poupart'schen  Bande 
herab,  wo  er  dicht  unter  dem  oberen  Darmbeinstachel,  die  Ver- 
bindungsstelle der  Fascia  lata  mit  dem  genannten  Bande  durch- 
bricht, über  den  Ursprung  des  Sartorius  sich  nach  aussen  wendet, 
und  an  der  äusseren  Seite  des  Oberschenkels,  vor  dem  Vastus 
extenmsy  als  Hautnerv  bis  zum  Knie  herab  sich  verästelt. 

5.  Den  Verstopfungsnerv,  besser  Hüftlochnerv,  Nervus 
obturatorius  s.  cruralis  internus.  Er  wird  aus  Fasern  des  zweiten, 
dritten  und  vierten  Lendennerven  zusammengesetzt,  und  steigt  hinter 
dem  Psoas  major  in  das  kleine  Becken  herab,  an  dessen  Eingang 
er  sich  mit  der  Arteria  und  Vena  iliaca  communis  kreuzt,  hinter 
welchen  er  lagert.  An  der  Seiten  wand  der  kleinen  Becken  höhle 
hält  er  sich  an  die  Arteria  ohturatoria,  welche  unter  ihm  liegt,  und 
findet  durch  den  Canalis  obturatorius  seinen  Austritt  aus  dem  Becken, 
worauf  er  sich  in  einen  vorderen  und  hinteren  Ast  theilt.  Der 
hintere  durchbricht  die  oberen  Bündel  des  Ohturator  externus,  giebt 
einen  Zweig  zum  Hüftgelenk,  und  verliert  sich  als  motorischer  Nerv 
im  Musculus  ohturator  externus  und  addux^tov  magnus.  Der  vordere 
stärkere,  versorgt  den  Gracüis,  Addv>ctor  loiigus  und  hrevis,  durch- 
bohrt zuletzt  die  Fascia  lata,  und  verbindet  sich  entweder  mit  dem 
inneren  Hautnerven  des  Oberschenkels,  oder  verliert  sich,  selbststündig 
bleibend,  an  der  inneren  Seite  des  Oberschenkels  bis  zum  Knie- 
gelenk herab. 

Es  möge  hier  eines,  von  dem  Wiener  Anatomen  Adam  Schmidt  zuerst 
erwähnten  (Comm.  de  nervi«  lumbal.  §.  40),  seither  aber  vergessenen  Nervus 
obturatorius  accessorius,  gedacht  sein.  Entsprungen  aus  dem  Anfangsstiick  des 
eigentlichen  Nervus  obturatoriiis^  läuft  er  unter  dem  inneren  Rande  des  Psoas  zum 
horizontalen  Schambeinast,  kreuzt  diesen,  tritt  hinter  den  Pcctineus,  bildet  mit 
dem  aus  dem  Foramien  ohturatorium  hervorgekommenen  Nervus  obturatoriuM  eine 
Schlinge,  und  sendet  überdies  dem  Pectineus,  dem  Adducior  brevis  und  dem 
Hüftgelenk  Zweige  zu.  Schmidt  fand  ihn  unter  siebenzig  Extremitäten  acht 
bis  neun  Mal,  —  Prosector  Pokorny,  welcher  ihn  aufhierksam  untersuchte,  nur 
zwei  Mal.  —  Von  dem  für  den  Addudor  magnus  bestimmten  Muskelzweige  des 
Nervus  obturatorius,  sah  ich   öfters  einen  Faden  abgehen,  welcher  den  genannten 


§.  376.  Lendennenren.  929 

Muskel  nach  hinten  durchbohrt,  in  die  Kniekehle  gelang  auf  der  Ärteria  popUtea 
weiter  herab  zieht,  am  darch  das  lAgaanentum  popUteum  zur  Kapsel  des  Knie- 
gelenks zu  treten. 

6.  Den  Schenkelnerv,  Nervus  cruralü  8.  femoralis.    Er  ent- 
wickelt sich  aus   der    ersten    bis   dritten  Lendenschlinge,  und  über- 
trifft an  Stärke  die  übrigen  Zweige  des  Plexus  lumhalis.  Anfanglich 
hinter  dem  Psoas  major  gelegen,  lagert  er  sich  weiter  unten  zwischen 
Psoas  und  Eiacus  internus,  welchen  er  Aeste  giebt,  und  gelangt  mit 
ihnen    durch    die    Lacuna   muscularis   aus    dem   Becken    zum    Ober- 
schenkel, wo  er  sich  in  der  Fossa  üeo-pectinea  in  Haut-  und  Muskel- 
äste theilt.     Beide  variiren  an  Zahl  und  Verlaufsweise. 
Die  Hautäste  sind: 
a)  Der    Nervus    cutaneus  femoris    Tnedius    oder    Nervus   perforans, 
welcher    gewöhnlich    den    Sartorius    und    die    Fascia    lata    im 
oberen   Drittel    des   Oberschenkels   durchbohrt,    und  häufig  in 
zwei  Zweige    gespalten,    in    der    Mitte    der   Vorderfläche    des 
Oberschenkels  subcutan  herabsteigt. 
h)  Der    Nervus    cutaneus  femoris    internus    oder    Nervus   sapkenus 
minor,  zieht  in  kurzer  Strecke   an    der  Scheide  der  Schenkei- 
gefasse herab,  durchbohrt  die  Fascia  lata  etwas  über  der  Mitte 
des  Oberschenkels,  verbindet  sich  gewöhnlich  mit  dem  vorderen 
Aste  des  Nervus  ohturatoriv^,  welcher  ihn  auch  ganz  vertreten 
kann,  und  entsendet  seine  Zweige  zur  Haut  der  inneren  Seite 
des  Oberschenkels. 
c)  Der  Nervus  saphenus  major  folgt  der  Scheide    der  Arteria  und 
Vena  cruralisj    über   deren   vordere  Peripherie  er  schräg  nach 
innen  herabsteigt,  bis  zur  Durchbohrung  der  Sehne  des  Adductor 
magnus  durch  die  genannten  Geiiisse.  Von  hier  verlässt  er  die 
Scheide   der   Schenkelgefiisse ,    und   wendet   sich   zur   inneren 
Seite  des  Kniegelenks,  dessen  Kapsel    er  mit  einem  Aestchen 
versorgt.     Hinter   der  Sehne  des  Sartorius   durchbohrt  er  die 
breite  Schenkelbinde,  und  steigt  mit  der   Vena  saphena  interna 
zum    Fusse   herab.     Auf  diesem  Laufe    giebt   er   den   NervtbS 
cutaneus   surae   internus  zur   inneren    Gegend    der  Wade,   tritt 
vor  dem  inneren  Knöchel  zum  inneren  Fussrand,  versorgt  die 
Haut  daselbst,  und  verbindet  sich  regelmässig  mit  dem  Nervus 
cutaneus  pedis  dorsalis  internus,  aus  dem  Nervus  pero7iaeus  super- 
fidalis  (§.  377). 

So  lange  er  am  Oberschenkel  verweilt,  schickt  er  zwei  Zweige  ab,  deren 
einer  beiläufig  in  der  Mitte  des  Oberschenkels,  deren  anderer  am  Condylus  internus 
durch  die  Fascia  lata  zur  Haut  tritt  —  Ich  habe  es  oft  gesehen,  dass  der  Nervus 
saphenus  major,  zugleich  mit  der  Ärteria  und  Vena  cruraÜs,  durch  den  Schlitz 
der  Adductorensehne  in  die  Kniekehle  eingeht,  gleich  darauf  aber  diese  Sehne 
wieder  nach  vom  zu  durchbohrt,  um  in  die  Furche  zwischen  Veutus  internus  und 
Adductor  magntts  Kurttctorakelire** 
H  7  r  1 1 ,  Ukrbneh  d«r  Anatr  '^ 


930  §•  377.  Kreasnerren  und  SteiMnenren. 

Selten  endet  der  Nervus  sttphenus  major  schon  in  der  Höhe  des  Kniej^elenks. 
Seine  Unterschenkelzweige  kommen  dann  aus  dem  Nerous  tiltiaUa  antictis. 

Die  Nervi  ciUaitei  aus  dem  Cruralis  und  Obturatorian  variiren  übrigens  so 
sehr  in  ihren  Verbreitungen  und  Verbindungen,  dass  die  Beschreibungen  derselben 
unter  der  Feder  verschiedener  Autoren  sich  sehr  verschieden  gestalten.  Ich  habe 
mich  an  das  häufigere  Vorkommen  gehalten. 

Die  Muskelästc,  sechs  bis  acht  an  der  Zahl,  gehören  den 
Muskeln  an  der  vorderen  Peripherie  des  Oberschenkels,  mit  Aus- 
nahme der  Adductoren  und  des  Gracilis,  welche  vom  Nervus  obtu- 
raiorius  betheilt  wurden.  Der  längste  derselben  geht  auf  der  Vagina 
vasorum  cruralium  zum  Vaatus  internus  herunter,  und  schickt  auch 
einen  Ast  zur  Kapsel  des  Kniegelenks.  Einen  ähnlichen  Kapselnerven 
erzeugt  auch  der  Muskelast  zum   Vastas  extemus. 

Ausser  den  Haut-  und  Muskelästen  erzeugt  der  Nervus  cruraliSf  gleich  nach 
seinem  Hervortritt  unter  dem  Poupart^schen  Bande,  noch  einen  bis  zwei  Zweigte 
zur  ArUria  cruralis,  Sie  lassen  sich  weithin  an  den  Aesten  der  Cruralis  verfolgen. 
Von  ihnen  gelangt  auch  ein  Aestchen  mit  der  Arteria  nulriUa  femoris  in  die  Mark- 
höhle des  Knochens. 

J.  A,  Schmidt,  comment.  de  nervis  lumbalibus  eorumque  plexu.  Vindob., 
1794.  —  L.  Fischer,  descriptio  anat.  nervorum  lumbalium,  sacralium,  et  extremi- 
tatum  inf.  Lips.,  1791.  —  A\  Stix,  descriptio  anat.  nervi  cruralis  et  obturatorii. 
Jenae,  1782.  —  C.  BosenmüUer,  nervi  obturatorii  monographia.  Lips.,  1814.  — 
Oöring,  de  nervis  vasa  adeuntibus.  Jenae,  1834.  —  B.  Beck,  über  einige  in  den 
Knochen  verlaufende  Nerven.  Freiburg,  184r>.  —  RUdinyer,  Gelenknerven.  Er- 
langen, 1867. 


§.  377.  Kreuznerven  und  Steissnerven. 

Die  fünf  Kreuznerven,  Nervi  sacrales,  sind  die  stärksten^  — 
der  einfache  Steissnerv,  Nervus  cocci/gev^y  der  schwächste  unter 
allen  Rückenmarksnerven.  Die  Kreuznerven  nehmen  von  oben  nach 
unten  schnell  an  Dicke  ab.  Ihre  Ganglia  intervertebralia  liegen 
noch  im  Rückgratskanal,  wo  auch  ihre  Theilung  in  vordere  und 
hintere  Aeste  stattfindet,  welche  durch  verschiedene  OefFnungen 
diesen  Kanal  verlassen.  Die  schwachen  hinteren  Aeste  des  ersten 
bis  vierten  Kreuznerven  treten  nämlich  durch  die  Foramina  sacralta 
postica,  jene  des  fünften  Kreuznerven  und  des  Steissnerven  durch 
den  Hiatus  sacro-cocci^geus  nach  rückwärts  aus.  Sie  verbinden  sich 
durch  zarte,  auf-  und  absteigende,  einfache  oder  mehrfache  Ana- 
stomosen, zum  schmalen  und  unansehnlichen  Plexus  sacralis  poste- 
rior, aus  welchem  die  den  Ursprung  des  Glutaeus  magnus  durch- 
bohrenden Hautnerven  der  Kreuz-  und  Steissgegend  entspringen. 
Die  ungleich  stärkeren  vorderen  Aeste  der  Kreuznerven  gehen 
durch  die  Foramina  sacralia  anteriora,  der  fünfte  durch  das  Foravnen 
sacro'coccygeuin   nach   vorn    in    die    kleine  Beckenhöhle,    und  bilden 


§.  377.  Kreniner?«!!  und  Steitanerren.  931 

durch  auf-  und  absteigende  Verbindungszweige  unter  sieh,  und  mit 
dem  vorderen  Aste  des  Nervus  coccygeus,  den  Plexus  sacro-coccygem, 
welcher  zwischen  den  Bündeln  des  Musculus  pyrifornds  und  coccygeus 
durchdringt,  mit  den  vier  Oanglüs  sacrcdibus  und  dem  Ganglion 
coccygeum  des  Sympathicus  zusammenhängt,  und  den  grössten  Theil 
des  vierten  und  den  ganzen  fünften  Nervus  lumbalis  in  sich  auf- 
nimmt. Er  theilt  sich  in  drei  untergeordnete  Plexus,  welche  von 
oben  nach  unten  als  Plexus  ischiadicus,  pudendalis,  und  coccygeus  auf 
einander  folgen. 

A)  Der  Plexus  ischiadicus,  Hüftgeflecht. 

Er  liegt  vor  dem  Musculus  pi/rlformis,  und  hinter  der  Arteria 
hypogastrica.  Seine  Richtung  geht  schräg  von  der  vorderen  Kreuz- 
beinfläche gegen  das  Foramen  ischiadicum  majus  hin.  Er  besteht 
aus  dem,  dem  Plexus  sacro-coccygeus  einverleibten  Antheile  der 
Nervi  lumbales,  und  den  zwei  oberen  Ansäe  sacrales.  Innerhalb 
des  Beckens  erzeugt  er  nur  zwei  unbedeutende  Muskelzweige  für 
den  Pyriformis  und  Obturator  internus.  Seine  Verzweigungen  extra 
pelvim  sind: 

a)  Der  obere  Gesässnerv,  Nervus  glutaeus  superior.  Er  geht 
in  Begleitung  der  gleichnamigen  Blutgefässe  am  oberen  Rande  des 
Muscvlvs  pyriformis,  durch  das  Foramen  ischiadicum  majus  zum  Ge- 
sässe, wo  er  sich  in  dem  Musculus  glutaeus  msdiusy  minimus,  und 
Tensor  fasdae  verliert. 

h)  Der  untere  Gesässnerv,  Nervus  glutaeus  inferior,  geht 
unter  dem  Musculus  pyriformis  mit  der  Arteria  ischiadica  durch  das 
grosse  Hüftloch  zum  Musculus  glutaeus  magnus. 

c)  Der  hintere  Hautnerv  des  Oberschenkels,  Nervus 
cutaneus  femoris  posterior,  welcher  ebenfalls  unter  dem  Muscidus 
pyriformis  zum  Gesäss  tritt,  mit  dem  Nervus  perinealis  und  glutaeus 
inferior  anastomosirt,  und  seine  Endzweige  theils  über  den  unteren 
Rand  des  Musculus  glutaeus  magnus  zur  Haut  der  Hinterbacke 
hinaufschickt,  theils  selbe  an  der  hinteren  Seite  des  Oberschenkels 
herabgleiten  lässt. 

d)  Der  Hüftnerv,  Nervus  ischiadicus,  ist  die  eigentliche  Fort- 
setzung des  Plexus  ischiadicus,  und  zugleich  der  stärkste  Nerv  des 
menschhchen  Körpers.  Seine  Breite  verhält  sich  zu  seiner  Dicke 
wie  5  :  2  Linien.  Er  geht  wie  b)  und  c)  unter  dem  Musculus  pyri- 
formis, durch  das  grosse  Hüftloch  zum  Gesäss,  und  steigt  über  die 
von  ihm  versorgten  Auswärtsroller  des  Schenkels  (Oemdli,  Obtu- 
rator internus,  Quadratus  femoris),  zwischen  Trochanter  major  und 
Tuberositas  ossis  isckü  zur  hinteren  Seite  des  Oberschenkels  herab. 
Hier  bedecken  ilm  die  vom  Sitsknorren  ^  ''en  Beuger  des 


932  §•  877.  Erenznenren  und  StaiasnerTen. 

Unterschenkels  so  lange^  bis  er,  ihrer  Divergenz  wegen,  zwischen 
ihnen  Platz  nehmen  kann,  wo  er  dann  höher  oder  tiefer  sich  in 
zwei  Zweige  theilt,  welche  in  der  Kniekehle  den  Namen  Nervus 
poplüeu8  extemus  und  internus  fuhren,  und  in  ihrem  weiteren  Ver- 
laufe als  Wadenbein-  und  Schienbeinnerv  unterschieden  werden. 
a)  Der  Wadenbein  nerv,  Nervus  peranaeus  (oder  peroneus),  zieht 
sich  am  inneren  Rande  der  Sehne  des  Biceps  femoris  zum  Köpfchen  des 
Wadenbeins  hin,  theilt  der  Kapsel  des  Kniegelenks  ein  Paar  feinster 
Aestchen  mit,  und  giebt  zwei  Ilautnerven  ab,  welche  als  Nervus 
cutaneus  surae  extemus  et  medius  (der  internus  war  ein  Ast  des 
Nervus  saphenus  major)  die  Fascia  poplitsa  durchbohren,  und  in  der 
Haut  der  Wade  bis  zur  Achillessehne  herab  sich  verbreiten.  Hinter 
dem  Köpfchen  des  Wadenbeins  theilt  sich  der  Nervus  peronaeus  in 
einen  oberflächlichen  und  tiefliegenden  Ast,  welche  den  Hals 
des  Wadenbeins  umgehen,  und  so  an  die  vordere  Seite  des  Unter- 
schenkels gelangen. 

1.  Der  oberflächliche  Ast,  Nerviu  peronaeus  superfidalU,  lieg^  anfan^ 
tief,  zwischen  dem  Fleisch  der  Peronaei  und  des  Extensor  digüorum  pedü  Imuftu, 
welchen  er  Zweige  giebt.  Erst  unter  der  Mitte  des  Unterschenkels  durchbricht 
er  die  Faacia  crurig,  und  theilt  sich  bald  darauf  in  zwei  Zweige,  welche  über  die 
vordere  Seite  des  Sprunggelenks  zum  Fussrücken  herablaufen,  wo  sie  als  Nervus 
cutaneus  pedis  dorscUw  medius  et  internus  bezeichnet  werden.  Der  medius  verbindet 
sich  mit  dem  aus  dem  Schienbeinnerven  entsprungenen  Nervus  suraliSf  —  der 
intemus  mit  dem  Ende  des  Nervus  saphenus  major^  und  einem  Endaste  des  Nervus 
peranaeus  profomdus.  Beide  senden  Zweige  zur  Haut  des  Fussrücken»,  und  bilden 
zuletzt  durch  gabelförmige  Spaltungen,  sieben  Zehenrückennerven,  welciie 
die  innere  Seite  der  grossen  Zehe,  die  äussere  der  zweiten,  beide  Seiten  der 
dritten  und  vierten,  und  die  innere  Seite  der  fünften  Zehe  versorgen,  jedoch  für 
alle  nicht  über  die  Phalanx  prima  hinaus. 

2.  Der  tiefliegende  Ast,  Nervus peronaetts  profundus,  lagert  sich  auf  die 
vordere  Fläche  des  Zwischenknochenbandes,  wo  er  »ich  zur  Arteria  Uhialis  anticn 
gesellt,  an  deren  äusserer  Seite  er  liegt.  Er  wird  deshalb  auch  Nervus  tifßiali* 
anticus  genannt.  Er  betheilt  alle  an  der  vorderen  Seite  des  Unterschenkels  ge- 
legenen Muskeln  mit  Zweigen.  Im  weiteren  Verlaufe  nach  abwärts  kreuzt  er  die 
Arteria  tibialis  anticn^  und  legt  sich  an  ihre  innere  Seite,  wo  er  anfangs  zwischen 
Extensor  dufitoritm  lontjuft  und  Tihialis  anticus  ^  weiter  unten  zwischen  Exteiisor 
lonffus  haUucis  und  TibiaHs  aiUicus  zum  Sprunggelenk  herabzieht.  Hier  geht  er 
durch  das  mittlere  Fach  des  Ligamentum  cruciatum  zum  Fussrücken.  wo  er  in 
zwei  Endäste  zerfällt,  den  äusseren  und  inneren.  Der  äussere  ist  Hir  den 
Extewtor  digitorum  f/revis  bestimmt;  der  innen*  verbindet  sich  mit  dem  aus  dem 
Nervus  peranaeus  superficialis  stammenden  Nervus  cutaneus  jßfdis  dorsalis  internus, 
und  versorgt  mit  zwei  Zweigen  die  einander  zugekehrten  Seiten  der  grossen  nnd 
der  zweiten  Zehe,  welch«*  vom  Nervus  peranams  superficialis  nicht  berücksich- 
tigt wurden. 

Es  hätten  nun  beide  Seiten  der  ftinf  Zehen  —  nur  die  äussere  Seite  der 
kleinen  Zehe  nicht  —  ihre  inneren  und  äusseren  Rückennerven  erhalten. 
Letztere  wird  nicht  vom  Nervus  peranaeus,  sondern  von  einem  Aste  des  Nervus 
libialis,  dessen  Beschreibiuig  folg^  mit  einem  äusseren  Rücken-Zehennerven 
rersorgt. 


S.  t77.  Kreunenren  und  Bteittnerren.  933 

Was  ist  richtiger,  percnaeua  oder  peroneuaf  nepowj  ist  Wadenbein,  somit 
izzpo^nioi,  was  zum  Wadenbein  gehört,  wie  der  fragliche  Nerv,  nepovaio;  in's 
Latein  übertragen,  gibt  aber  peronaeiu,  nicht  peroneti»,  es  sei  denn,  dass  man 
nichts  dagegen  hat,  einem  griechischen  Substantiv,  durch  den  allerdings  guten 
lateinischen  Ausgang  in  eus,  in  ein  Adjectiv  zu  verwandeln,  wo  dann  aber  nicht 
peroneus,  sondern  peronhu  gesprochen  werden  muss,  wie  z.  B.  in  plumbeua  und 
auretu, 

ß)  Der  Schien  bei  11  nerv,  Nervus  tibialis,  steigt  in  der  Mittel- 
linie der  Bossa  poplitea  unmittelbar  unter  der  Fascia  poplitea  herab. 
Seine  Verlaufsrichtung  kann  bei  mageren  Individuen  bei  gestrecktem 
Knie  nicht  nur  leicht  gefühlt,  sondern  auch  gesehen  werden.  Da 
er  der  hinteren  Seite  des  Unterschenkels  angehört,  wird  er  auch 
Nervus  tibialis  posticus  genannt,  zum  Unterschiede  vom  anticus, 
welcher  der  tiefliegende  Ast  des  Nervus  peronaeus  war.  Er  dringt, 
nachdem  er  kleine  Zweige  in  die  hintere  Wand  der  Kniegclenk- 
kapsel  abgab,  zwischen  den  beiden  Köpfen  des  Gastrocnemius  auf 
den  oberen  Rand  des  Soleus  ein,  und  geht  unter  diesem  zur  tiefen 
Schicht  der  Wadenmuskulatur,  wo  er  mit  der  Arteria  tibialis  postica, 
hinter  dem  Musculus  tibialis  posticus  nach  abwärts  läuft,  um  unter 
dem  inneren  Knöchel  bogenförmig  zum  Plattfuss  zu  gelangen.  Im 
Plattfuss  theilt  er  sich  unter  dem  Sustentaculum  cervids  taii  in  d§n 
Ramus  plantaris  externus  et  internus. 

In  der  Kniekehle  erzeugt  er: 

1.  Den  Nervtut  suralis  s.  communicana  surae.  Dieser  zieht  in  der  Furche 
zwischen  beiden  Köpfen  des  Gastrocnemius  herab,  durchbohrt  das  hochliegende 
Blatt  der  Fascia  surcu:,  gesellt  sich  zur  Vena  saphena  posterior  s,  minor  an  der 
äusseren  Seite  der  Achillessehne,  und  verbindet  sich  mit  dem  Nervus  ctUaneus 
surae  extemits  vom  Nervus  peronaeus  —  daher  der  Name:  Communicans  surae. 
Unter  dem  äusseren  Knöchel  auf  den  Fussriicken  Übergehend,  nimmt  er  hier  den 
Namen  Nervus  culanetts  pedis  dorsalis  externus  an  (der  medius  und  internus  waren 
Erzeugnisse  des  Nervus  peronaeus  superficialis),  anastomosirt  mit  dem  meditis,  und 
endigt,  als  letzter  Zehenrückennerv,  an  der  äusseren  Seite  der  kleinen  Zehe. 

*2.  Den  einfach  entspringenden,  aber  bald  in  zwei  Zweige  zerfallenden 
Ramus  gastrocnemius,  dann  den  starken  Ramus  ad  soleum,  und  einen  schwächeren 
Ramus  ad  popliteum. 

Der  Zweig,  welcher  zum  Musculus  popliteus  geht,  sendet  einen  langen  Ast 
ab,  welcher  auf  der  hinteren  Fläche  des  Zwischenknochenbandes  eine  kurze  Strecke 
weit  herabläuft,  dann  zwischen  die  Fasern  dieses  Bandes  eintritt,  am  unteren 
Ende  desselben  wieder  frei  wird,  imd  sich  in  der  Bandmasse  zwischen  den  unteren 
Enden  des  Schien-  und  Wadenbeins  verliert.  Er  wurde  von  Halbertsma  als 
Zwischenknochennerv  des  Unterschenkels  zuerst  beschrieben. 

Während  seines  Verlaufes  in  der  tiefen  Schichte  der  Waden- 
muskeln giebt  er  ab: 

1.  Zweige  zu  den  tiefliegenden  Muskeln  der  Wade,  und  einen  Faden  zur 
Arteria  nutritia  des  Schienbeins. 

2.  Drei  oder  vier  Hautnerven  für  die  Umgebun];  der  Knöchel  und  den 
hinteren  Theil  der  Sohle. 


934  §•  377.  Krensnerrcn  und  Bteissnerven. 

In    der   Sohle    verhalten   sich    die   beiden  Endäste  des  Nervus 
tibialis  posticus  folgendermassen: 

1.  Der  Nervus  pinntarM  internus  tritt  zwischen  dem  Abdtictor  hcUluds  nnd 
Flexor  digilorum  brevis  nach  vorn,  versieht  diese  Muskeln,  so  wie  den  ersten  and 
zweiten  Lnmbricalis,  und  löst  sich  durch  wiederholte  Theilung  in  sieben  Nervi 
digitales  plantares  auf,  welche  die  Fascia  plantaris  durchbohren,  nnd  an  beiden 
Seiten  der  drei  ersten  Zehen  und  an  der  inneren  Seite  der  vierten  sich  verlieren. 
Er  hat  somit  dasselbe  Verhältniss  zu  den  Zehen,  wie  der  Nervus  niedianus  zu  den 
Fingern. 

2.  Der  Nervus  plantaris  extemus  entspricht  durch  seine  Verästlung  ganz 
genau  dem  Nervus  ulfiaris.  Er  liegt  zwischen  Flexor  brevis  digilorum  und  Portio 
quadrata  Sglüii,  nnd  theilt  sich  in  einen  hoch-  und  tiefliegenden  Zweig.  Der 
hochliegende  giebt  dem  dritten  und  vierten  Lumbricalis  Aestchen,  und  zerfallt  in 
drei  Nervi  digitales  plantares  für  beide  Seiten  der  kleinen  Zehe  und  die  äussere 
Seite  der  vierten.  Jener  für  die  äussere  Seite  der  vierten  Zehe  verbindet  sich 
durch  eine  Bogenanastomose  mit  dem  vom  Nervus  plantaris  internus  abgegebenen 
Hautnerven  der  inneren  Seite  derselben  Zehe.  Der  tiefliegende  Zweig  begleitet  den 
Arcus  plantaris  profundus,  und  verliert  sich  in  den  bis  jetzt  noch  unversorgt  ge- 
bliebenen kleinen  Muskeln  der  Sohle,  wie  auch  in  den  inneren  und  äusseren 
Zwischenknochenmuskeln.  —  Die  Zehenäste  der  beiden  Nervi  plantares  geben 
auch  Zweigchen  für  die  Dorsalfläche  der  zweiten  und  dritten  Zehenglieder  ab.  — 
An  den  Hautästen  des  Plantaris  extemus  imd  mtemus  finden  sich  Pacini*sche 
Körperchen  (§.  70). 

J.  H.  Jordens,  descriptio  nervi  ischiadici.  Erlangae,  1788.  —  F.  Schlemm, 
observ.  neurol.  18H4,  handelt  über  die  Ganglien  der  Kreuz-  und  Steissnerven.  — 
J,  Halbertsma,  über  einen  in  der  Membrana  interossea  des  Unterschenkels  ver- 
laufenden Nerven,  in  Milüers  Archiv.   1847. 


B)  Der  Plexus  pudendalis,  Schamgeflecht. 

Er  ist  nur  ein  unterer  Anhang  des  Plexus  ischiadicus,  verstärkt 
durch  einige  Zuzüge  des  vierten  und  fünften  Nervus  sacralis,  während 
die  grössere  Menge  der  Fasern  dieser  beiden  Nerven  in  die  dem 
Sympathicus  angehörigen  Plexus  h/pogastrid  übergeht.  Er  liegt  am 
unteren  Rande  des  Musculus  pyriformis,  und  löst  sich  in  zwei  kleinere 
geflechtartige  Nervenzüge  auf,  welche  sind: 

a)  Der  mittlere  und  untere  Mastdarmnerv,  Nervus 
haemorrhoidalis  medius  et  inferior.  Beide  zerfallen,  nachdem  sie  mit 
dem  Beckengeflechte  des  Sympathicus  zahlreiche  Verbindungen 
eingegangen  haben,  in  Zweige,  welche  den  T^vator  ani,  den  Fundus 
vesicae  uiinarlae  (bei  Weibern  auch  die  Vagina),  den  Sphincter  ani 
extemus  et  internus,  und  die  Haut  der  Aftergegend  versehen. 

h)  Der  Schamnerv,  Nei^us  pudendus.  Er  geht  mit  der  Ar- 
teria  pudenda  communis  durch  das  grosse  ITüftloch  aus  der  Becken- 
höhlc  heraus,  und  durch  das  kleine  wieder  in  sie  zurück,  steigt  mit 
ihr  an  der  inneren  Fläche  des  aufsteigenden  Sitzbcinastes  empor, 
und  theilt  sich  in  zwei  Zweige,  welche  sind: 


g.  378.  Ral8tli«il  des  Sympatbicu.  935 

a)  Der  Mittelfleisch  nerv,  Nenma  perinealis,  zieht  mit  der 
Arteria  perinei  nach  vorn  zum  Mittelileisch,  und  schickt  seine 
obei'flächlichen  Aeste  zur  Haut  des  Dammes,  seine  tieferen  zu 
den  Musculi  transverd  perinei,  hvlbo-cavernosus,  »phincter  ani 
extemus  (vorderer  Theil  desselben),  und  zuletzt  zur  hinteren 
Wand  des  Hodensackes  (Nervi  scrotales  postenores);  im 
weiblichen  Geschlechte  zu  den  grossen  und  kleinen  Scham- 
lippen, und  zum  Vorhof  der  Scheide  (Nei'üi  labiales  posteriores). 

ß)  Der  Ruthennerv,  Nervus  penis  dorsalis,  steigt  zwischen  dem 
Musculus  bulbo-  et  ischio-cavemosus,  letzterem  einen  Zweig  mit- 
theilend, bis  unter  die  Schamfuge  hinauf,  legt  sich  mit  der 
Arteria  penis  darsalis,  an  deren  äusserer  Seite  er  verläuft, 
in  die  Furche  am  Rücken  des  Gliedes,  sendet  mehrere  Rami 
cavemosi  in  das  Parenchym  der  Schwcllkörper,  welche  die 
Plexus  cavemosi  verstärken,  theilt  der  Haut  des  Gliedes  und 
der  Vorhaut  Aeste  mit,  und  verliert  sich  endlich  in  der  Haut 
der  Glans  und  im  vorderen  Ende  der  Harnröhre.  Beim  Weibe 
ist  er  ungleich  schwächer,  und  für  die  Clitoris  und  das  obere 
Ende  der  kleinen  Schamlippen  bestimmt. 

C)  Der  Plexus  coccygeus,  Steissgeflecht. 

Er  verdient  kaum  diesen  Namen,  da  er  nur  aus  Einer 
Schlinge  zwischen  dem  fünften  Kreuz-  und  dem  einfachen  Steiss- 
beinnerven  besteht.  Er  liegt  vor  dem  Musculus  coccygevs,  und  sendet 
vier  bis  fünf  feine  Zweige  zum  Ursprünge  des  Sphincter  ani  ex- 
temus, zu  den  hinteren  Bündeln  des  Levator  ani,  und  zur  Haut  der 
Aftergegend. 


C.  Vegetatives  Nervensystem. 

§.  378.  Halstheil  des  Sympathicus. 

Das  vegetative  Nervensystem,  Nervus  sympathicus,  beherrscht 
die  Bewegungserscheinungen  im  Herzen  und  im  gesammten  Geföss- 
system.  Die  Physiologen  nennen  es  deshalb  das  vaso-mo to- 
rische Nervensystem.  Der  Sympathicus  hat  auch  auf  die  Er- 
nährungsvorgänge einen,  wenn  auch  nicht  ausschliesslichen,  doch 
durch  physiologische  Versuche  hinlänglich  sichergestellten  Einiluss. 
Was  der  Sympathicus  leistet,  leistet  er  unwillkürlich,  d.  h.  ohne 
unserem  Bewusstsein  davon  Kunde  zu  geben. 

Der  Sympathicus  besteht: 

1.  Aus   zwei  längs   der   '*"*  ''^'  '^Uäule,   voin 

Atlas   bis   zum   Ste  ^^^ 


•J, 


936  S*  S79*  Halstheil  des  Sympatbicus. 

an  gewissen  Stellen  durch  Ganglien  unterbrochen  werden,  und 
deshalb  Knotenstränge,  auch  Grenzstränge  des  Sympathicus 
heissen. 

-  Der  Bau  der  Ganglien  des  Sympathicus  unterscheidet  sich  von  jenem  der 
Ganglien  der  Rückenmarksnerven  dadurch,  dass  erstere  mehr  multipolare  Gan- 
glienzellen enthalten,  als  letztere.  Jedes  dieser  Ganglien  steht  mit  dem  vorderen 
Zweig  des  entsprechenden  Rückenmarksnerven  durch  einen  Hamus  communicaru 
in  Verbindung.  Die  Rami  caiamtinicantes  bestehen  aus  doppelten  Faserzügen, 
welche  theils  von  den  Rückenmarkanerven  zu  den  Ganglien,  theils  von  den  Gan- 
glien zu  den  Rückenmarksnerven  ziehen.  Die  von  den  Rückenmarkanerven  zu  den 
Ganglien  des  Sympathicus  kommenden  Faserzüge,  schlagen  in  diesen  eine  doppelte 
Richtung  ein:  nach  oben  und  unten.  Diese  auf-  und  absteigenden  Fasern  gehen, 
höher  oder  tiefer,  in  jene  peripherischen  Aeste  des  Knotenstranges  über,  welche 
die  Geflechte  für  die  verschiedenen  Eingeweide  bilden. 

2.  Aus  einer  Anzahl  von  Geflechten,  mit  und  ohne  eingestreute 
Ganglien,  welche  aus  den  Knotensträngen  entspringen,  und  längs 
der  in  ihrer  Nachbarschaft  verlaufenden  Arterienstärame  zu  den 
verschiedensten  Organen  gelangen. 

Man  theilt  jeden  Knotenstrang  in  einen  Hals-,  Brust-,  Lenden- 
und  Kreuzbeintheil  ein. 

Der  Halstheil  des  Knotenstranges,  Pars  cervicalis  n,  sympathid, 
besitzt  drei  Ganglien,   Ganglta  cervicalia, 

A)  Das  obere  Halsganglion,  das  grösste  von  allen,  hat  in 
der  Regel  eine  länglich  ovale,  am  oberen  und  unteren  Ende  zu- 
gespitzte Gestalt,  ist  meistens  etwas  platt  gedrückt,  und  variirt  in 
Grösse  und  Configuration  so  häutig,  dass  es  die  mannigfaltigsten 
Formen,  von  der  spindelförmigen  bis  zur  eckig-verzogenen  An- 
schwellung, annehmen  kann.  Seine  Länge  steht  zwischen  acht  bis 
sechzehn  Linien,  seine  Breite  zwischen  zwei  bis  drei  Linien,  seine 
Dicke  beträgt  etwa  anderthalb  Linien.  Es  liegt  auf  dem  Musculus 
rectus  capitis  anttcus  major,  vor  den  Querfortsätzen  des  zweiten  bis 
dritten  oder  vierten  Halswirbels  hinter  der  Carotin  intei^ia,  und 
hinter  dem  Nervus  vagus  und  hypoglossus ,  an  deren  Scheiden  es 
mehr  weniger  innig  adhärirt.  Die  Aeste,  die  es  aufnimmt  oder 
abgiebt,  halten,  von  oben  nach  unten,  folgende   Ordnung  ein: 

a)  Gcfassäste  zur  Carotis  interna,  um  welche  herum  sie  den  Pleoms  caro- 
tictts  intenm«  bilden.  Ihre  Zahl  steigt  nie  über  zwei.  Sie  sind  in  der  Regel  an- 
fänglich zu  einem  einfachen  Stamme  verschmolzen  (Nervint  carotiais),  welcher 
in  der  Verlängerung  des  oberen  sjützen  Endes  des  ersten  Halsganglion  lieget. 
Seine  Spaltung  und  Verkettung  zum  Plexus  caroticus  findet  erst  im  carotischen 
Kanäle  statt. 

b)  Verbindungszweige  zum  Neroiis  hypoyloaajis ,  Gaiujlion  jinjulare  und 
Plexus  nodosits  des  Vagus,  zum  Gatv/lion  jugulnre  und  petrosum  des  Nervus  f/los^o- 
pharyTigeiu. 

c)  Verbindungszweige  mit  den  vorderen  Aesten  der  drei  oder  vier  oberen 
Halsnerven.     Sie  gehen  vom  äusseren  Rande  des  Knotens  ab. 


§.  878.  Halstbeil  des  »Tspfttliiciis.  937 

d)  Zwei  bis  acht  zarte  Nervi  moUes,  welche  an  der  CctroHt  irUema  bis  snr 
Theilungsfltelle  der  CaroUa  communis  herabsteigen,  um  in  den  Plexus  earoUeue 
extemus  überzogehen. 

e)  Zwei  bis  vier  Rami  pharyngeo-laryngei.  Sie  lösen  sich  von  der  inneren 
Peripherie  des  Knotens  ab,  und  helfen  mit  den  Rami»  pharyngeis  des  Glosso- 
pharyng^ns  und  Vagus  den  Plexfts  pharyngeus  bilden.  Einer  von  ihnen  geht  eine 
Verbindung  mit  dem  äusseren  Aste  des  Laryngeus  superior  ein. 

f)  Der  Xerous  cardiacus  superior  9,  laugu»,  langer  Herznerv,  welcher 
vom  unteren  Ende  des  Knotens  entspringt,  und  an  der  inneren  Seite  des  Stammes 
des  Sjrmpathicus  zum  Herznervengefiechte  herabsteigt.  Zuweilen  leitet  er  mit  den 
Herzästen  des  Vagus  Verbindungen  ein.  Er  entspringt  mitunter  nicht  aus  dem 
Knoten,  sondern  auch  aus  dem  Stamme  des  Sympathicus,  verbindet  sich  unstät 
mit  Reiserchen  der  Nervi  laryngei,  der  Anaa  cervicali»  hypogloasi,  des  Nervus 
phrenicus,  und  der  beiden  anderen  Halsknoten  des  Sympathicus,  erscheint  an 
variablen  Stellen  knötchenartig  verdickt,  und  ist  auf  beiden  Seiten  nicht  ganz 
gleichmässig  angeordnet;  denn  der  rechte  geht  an  der  Arteria  innaminata  zum 
tiefliegenden  Herznervengeflecht,  der  linke  an  der  Carotis  sirUstra  zum  hoch- 
liegenden. 

g)  Der  Verbindungpsstrang  zum  zweiten  Halsknoten  geht,  als  die  Fortsetzung 
des  unteren  Knotenendes,  auf  dem  Musculus  rectus  capitis  anticus  major  bis  zur 
Arteria  thgreoidea  inferior  herab.  Er  liegt  an  der  inneren  und  hinteren  Seite  des 
Vagus  und  der  Carotis  communis,  und  theilt  sich  ausnahmsweise,  bevor  er  sich  in 
das  mittlere  Halsganglion  einsenkt,  in  zwei  Zweige,  welche  die  Arteria  thyreoidea 
inferior  zwischen  sich  nehmen. 

B)  Das  mittlere  Halsganglion,  fehlt  häufig,  ist  viel  kleiner 
als  das  obere,  und  liegt  an  der  inneren  Seite  der  Arteria  thyreoidea 
inferior,  wo  diese  ihre  aufsteigende  Richtung  in  eine  quere,  nach 
innen  gehende  verändert.  Es  schliesst  Verbindungen  mit  dem  fünften 
und  sechsten  Halsnerven,  sendet  graue  Fäden  zum  Plexus  thyreoideus 
inferior,  und  giebt  den  Nervus  cardiacus  medius,  mittleren  Herz- 
nerven, ab,  welcher  rechts  hinter  der  Arteria  anonyma,  links  hinter 
der  Arteina  subclavia,  zum  Herznervengeflecht  gelangt. 

C)  Das  untere  Halsganglion  liegt  vor  dem  Processus  trans- 
versus  des  siebenten  Halswirbels,  am  Ursprung  der  Arteiia  vertebralis 
aus  der  Arteria  subclavia.  Es  ist  gross,  und  von  unregelmässig 
eckiger  Gestalt.  Häufig  verschmilzt  es  mit  dem  ersten  Brustknoten 
des  Sympathicus.  Es  erhält  constante  Verbindungszweige  von  dem 
siebenten  und  achten  Halsnerven,  und  ersten  Brustnerven.  Ein  Ver- 
bindungsfaden zum  ersten  Brustknoten  umgreift  die  Arteria  sub- 
clavia als  Ansa  Vieussenii,  Da  das  untere  Halsganglion  mit  der 
Arteria  subclavia  in  so  innige  Berührung  kommt,  so  versendet  es 
seine  Aeste  an  alle  aus  diesem  Gcfasse  entspringenden  Zweige. 
Sein  wichtigster  Ast  ist  der  Nervus  cardiacus  inferior  s.  parvus  zum 
Herznervengeflecht,  welcher  sich  häutig  (besonders  gern  auf  der 
linken  Seite)  mit  dem  Nervus  cardiacus  medius  zu  Einem  Stamme 
vereinigt.     Dieser  heisst  dann  Nervus  cardiacus  erassus  s.  magnus. 

Das  fUr  die  Ganglien  des  Bnut-,  Bauch-  undBeekiniÜ 
aufgestellte  Gesetz,  daas  jedem    Forttmm 


938  f.  VI9.  Bmtthtll  dM  STnpftthient. 

Rflekenmftrkiinervenf  ein  if^nnpathiAcher  Knoten  entspricht,  ist  fSr  den  Halstheü, 
wo  aaf  acht  Ualsnerven  nur  drei  Gan^^lien  kommen,  nicht  anwendbar.  Die 
CHttin^keit  des  OesetKes  wird  nur  dadurch  einigermassen  aufrecht  erhalten,  dass 
das  r)here  Ilalsganglion  als  eine  Verschmelzung  von  vier,  das  mittlere  und  untere 
als  eine  Verschmelzung  von  zwei  sympathischen  Oangliia  cerviccUibus  betrachtet 
werden  kann. 

Zuweiten  werden  zwischen  den  drei  constanten  Halsknoten  noch  Zwischen- 
knötchen  eingeschoben  (QarujUa  intermedia  s,  intercalariaj,  welche  durch  das  Zer- 
fallen eines  der  drei  normalen  Halsknoten  entstehen,  und  ein  Annäherungsversuch 
cur  Vermehnmg  der  Ganglien  auf  die  den  acht  Halsnerven  entsprechende  Zahl 
sind.  Die  am  ersten  Hatsknoten  öfters  vorkommenden  Einschnürungen,  und  die 
dadurch  bedingte  tuberöse  Form  desselben,  haben  dieselbe  Bedeutung.  Da  der 
vordere  Ast  jedes  Rttckenmarksnerven  mit  dem  correspondirenden  Ganglion  des 
Bympathicus  eine  Verbindung  eingeht,  so  muss  der  erste  Halsknoten,  welcher 
aus  der  Verschmelzung  von  vier  Halsganglien  hervorgegangen  zu  sein  scheint, 
mit  den  vier  oberen  Nervi»  cervicalibus,  der  mittlere  mit  dem  fünften  und  sechsten, 
und  der  untere  mit  dem  siebenten  und  achten  Net*vwi  cervicalis  anastomosiren. 
Hind  Onnffiia  iiUennedia  vorhanden,  so  verbinden  sie  sich  jedesmal  mit  dem  ihnen 
nächst  gelegenen  Nerviia  cervicaiis,  wodurch  auf  die  normalen  Halsganglien 
weniger  Anastomosen  mit  den  Rückenmarksnerven  kommen  werden. 

«/.  C  y Albaner ^  descriptio  anat  nervorum  cardiacorum.  Francof.,  1772.  — 
//.  i4.  Wriitberff,  de  nervis  arterias  venasque  comitantibus,  in  Comment.  GotL, 
1800.  —  A,  Scarpa,  tab.  neurol.  Ticini,  1794. 


§.  379.  Brusttheil  des  Sympathicus. 

Der  Brusttheil  des  Sympathicus,  Pars  thoracica  n,  8 f^mpathid, 
liegt  vor  den  Rippenköpfen,  und  besteht  aus  eilf  Ganglien  (Ganglia 
thonmcn),  welche  vom  ersten  bis  zum  sechsten  an  Grösse  ab-,  dann 
bis  »um  eilften  wieder  zunehmen,  eine  flache,  spindelförmige  Gestalt 
haben,  und  durch  einfache,  oder  (besonders  an  den  oberen  Knoten) 
doppelte  Verbindungsstränge  unter  sich  und  mit  den  betreffenden 
AVn*iV»  intftrostaUhm  zusammenhangen. 

l>«s  or>to  Hni9t(rangflion  zeichnet  sich  durch  seine  Gri^sse  vor  den  übrif^eii 
aus.  Seiner  auffallend  eokifjen  Gestalt  wegen  erhielt  dasselbe  den  Namen:  Gon- 
tfikm  .«fWM/MiH.  Die  j^ranxe  («anglionkette  des  Hmststranges  wird  von  der  Pleura 
cotttnli*  betleckt,  und  liegt  somit  ausserhalb  des  hinteren  Mittel  feil  räum  ?.  Vom 
letzten  Hnistknoten  wendet  sieh  der  Stamm  des  Sympathicus,  nachdem  er  d^n 
Äusserten  Schenkel  des  Lendentheils  des  Zwerchfells  durchbrochen,  oder  zwischen 
dem  Äusseren  und  mittleren  Si*henkel  desselben  durchgegangen  ist,  etwas  luick 
einwÄrt*,  und  nJihert  sich  mit  seinem  Lendentheile  der  Mittellinie  der  Wirbel- 
säule witnler  ^^wie  am  Halstheile^,  wtnlurch  der  Rnisttheil  des  Sympathicus  al* 
eine  nach  aussen  gt»riohtete   Ausbeugimg  des  ganzen  Svmpathicusst ränge s  erscheint. 

Aus  den  tunf  bis  sechs  obertMi  Brustganglien  entstehen:  1.  peri- 
pherische Strahlungt'»n,  welche  die  in  der  Brusthöhle  vorkommenden 
lioflochto  (  /Yätmjs  ♦lorftriw,  hnmchinJis^  |>f*/im>na/Mt,  i>r,«'>»>^'7.7^nj* , 
stJirken:  2,  aus  dem  ersten  Brustknoten  ein  Xt-mts  r/irc/iVirw^  ii 
weicher  entweder  selbst^tändig,   oder   dem  Xenrus  cardiacus  ir^erior 


§.  880.  Lendenllieil  und  Kmubeiiith«il  des  SjmpatUeu.  939 

einverleibt,  zum  Herznervengeflecht  zieht.  —  Die  unteren  Brust- 
knoten  schicken  ihre  peripherischen  Zweige,  unter  dem  Namen  der 
Nervi  splanchnid,  nicht  zu  den  Geflechten  der  Brusthöhle,  sondern 
zu  jenen  der  Bauchhöhle. 

Es  finden  sich  in  der  Regel  zwei  Nervi  aplanchnici  vor.  Beide  sind,  ab- 
weichend von  der  grauen  Farbe  und  weichen  Consistenz  des  Sjmpathicusstranges, 
weiss  und  hart.  Sie  werden  schon  aus  diesem  Grunde  allein,  nicht  als  eigent- 
liche Erzeugpüsse  des  Sympathicus,  sondern  als  Fortsetzungen  jener  Eami  com- 
munkarUeg  anzusehen  sein,  welche  die  aus  dem  Rückenmark  stammenden  Nervi 
thoracici,  den  Bnistganglien  des  Sympathicus  zusenden.  Wie  sich  dieses  verh&lt, 
darüber  handelt  ausführlich  Rüdinger,  über  die  Rückenmarksnerven  der  Bauch- 
eingeweide. München,  1866.  —  Der  Nervua  »planchnicut  major  bezieht  seine 
Fasern  aus  dem  sechsten  bis  neunten  Brustknoten,  sehr  oft  auch  noch  höher. 
Sein  Stamm  geht  auf  den  Wirbelkörpem  nach  ein-  und  abwärts,  läuft  vor  den 
Viuis  intercoataUbua  im  hinteren  MittelfeUraume  herab,  dringt  zwischen  dem  mitt- 
leren und  inneren  Schenkel  der  Pars  lumbaU»  diaphragmaUa  (selten  durch  den 
Hiatus  aortictu)  in  die  Bauchhöhle,  und  verliert  sich  im  PUxua  coeUacua.  Der 
Nervus  splanchnicus  minor  sammelt  seine  Elemente  aus  dem  zehnten  und  eilften 
Brustknoten,  verläuft  wie  der  major,  oder  durchbohrt  den  mittleren  Zwerchfell- 
schenkel, und  senkt  sich  mit  einem  kleineren  Faserbündel  in  den  Plexus  coeliacus^ 
mit  einem  stärkeren  als  Nervus  renalis  posterior  s,  superior  in  das  Nierennerven- 
geflecht  ein. 

Nach  Ludwig  (Scriptores  neuroL  min,  Vol,  HL  pag.  10)  und  Wrisberg 
(Comment.  Vol,  L  pag.  261)  existirt  in  seltenen  Fällen  auch  ein  Nervus  splanch- 
nicus supremus.  Er  soll  aus  den  oberen  Brustganglien  und  aus  dem  Plexus  car- 
diacus  entspringen,  im  hinteren  MittelfeUraum  nach  abwärts  laufen,  und  ent- 
weder in  die  Plexus  oesophagei  des  Vagpis,  oder  in  den  Nervus  splanchnicus  major, 
oder  in  das  Ganglion  coeliacum  übergehen.  —  Das  Ganglion  thoracicum  pHmum 
geht  zuweilen  mit  dem  secundum  eine  mehr  weniger  complete  Verschmelzung 
ein.  —  H,  Retxius,  über  den  Zusammenhang  der  Pars  thoracica  nervi  st/mpathici 
mit  den  Wurzeln  der  Spinalnerven,  in  MeckeTs  Archiv.  1832.  —  J,  J.  Huber, 
de  nervo  intercost,  etc.  Gott,  1744. 


§.  380.  Lendentheil  und  Kreuzbeintheil  des  Sympathicus. 

Der  Lenden-Kreuzbeintheil  des  Sympathicus,  Pars  lumbo- 
sacralis  nervi  sympathici,  besteht  aus  fünf,  zuweilen  nur  aus  vier 
Lendenknoten  (Ganglia  lumbcdia),  und  eben  so  vielen  Kreuzbein- 
knoten (Ganglia  sacrcdia). 

Die  Lendenknoten  liegen  rechts  hinter  der  Vena  cava,  links 
hinter  und  neben  der  Aorta  abdominalis,  am  inneren  Rande  des 
Psoas  major,  sind  kleiner  als  die  Brustknoten,  und  hängen  mit  den 
Nervis  lumbalihus  durch  lange  Verbindungsßlden  zusammen,  welche 
die  Ursprünge  des  Psoas  major  durchbohren.  Sie  schicken  peri- 
pherische Strahlungen  zu  den  Geflechten  in  der  Bauchhöhle :  Plexus 
renalis,  spermaticus,  aorticus  und  hfpogastrieus  iuperiar,  der  erste 
und   zweite   Lendenknoten  aiuuuüimsweui* 


940  S-  9Sl.  Oefleehte  des  STnpatliieat. 

terteus  superior.  Nach  Arnold  verbinden  sich  die  rechten  und 
linken  Lendenknoten  durch  quer  über  die  vordere  Fläche  der 
Wirbelsäule  ziehende  Fäden. 

Die  Kreuzbeinknoten  nehmen  nach  unten  an  Grösse  zu- 
sehends ab,  und  bilden  eine  am  inneren  Umfange  der  Foramina 
sacralia  herablaufende  Reihe,  welche  mit  jener  der  anderen  Seite 
nach  unten  convergirt,  bis  beide  am  Steissbcin  in  einen  unpaaren 
kleinen  Knoten,  das  Ganglion  coccygeum  impar  8,  Walthert  (nicht 
Walteri),  übergehen.  Die  Krcuzbeinknoteu  senden,  nebst  den  Ver- 
bindungszweigen zu  den  Nervis  sdcralibiLS ,  und  den  nicht  immer 
evidenten  Communicationsfiiden  der  rechten  und  linken  Ganglien- 
reihe, noch  Zweigchen  zum  Plexus  hypogastricus  inferior,  —  der 
Steissbeinknoten  auch  zum  Plexus  coccygeus,  und  zum  bindegewebigen 
Stroma  der  Steissdrüse  (Luschka).  Der  Inhalt  dieser  Drüse  ist, 
neben  seinen  bläschenförmigen  Hohlgebilden,  so  reichlich  mit 
Nervenelementen  versehen,  dass  die  Steissdrüse,  mit  dem  Him- 
anhang  und  der  Nebenniere,  zu  einer  eigenen  Drüsengruppe  — 
den  Nervendrüsen  —  vereinigt  wurde.  Was  dieses  Wort  eigent- 
lich sagen  soll,  wissen  nur  Jene,  welche  es  erfunden  haben. 

Oefters  fehlt  das  Ganglion  coca/ffeum,  und  wird  durch  eine  plexusarti^e 
oder  einfach  schlingenförmige  Verbindung  der  unteren  Enden  beider  Knotensträng« 
des  Sjmpathicus  (Anaa  aacrtUiaJ  ersetzt,  wie  es  schon  Willis  und  Vieussens 
beschrieben  haben.  J.  Georg  Walther  gab  der  erste  eine  gute  Abbildung  dieses 
Knötchens,  in  seinen  TabitUte  nervorum  thorac,  et  abdomin.  BeroL,  1783.  Tab.  L 
Fig.  2.  —  J.  Theoph.  Walter,  Professor  in  Berlin,  nach  welchem  das  Gan- 
glion coccygeum  von  Einigen,  und  selbst  von  mir  in  den  früheren  Auflagen  dieses 
Buches,  in  Folge  eines  übersehenen  Druckfehlers,  als  Ganglion  Walteri  benannt 
wird,  hat  nur  über  trockene  Knochen,  (nie  aber  über  Ganglien)  geschrieben 
(Berlin,  1763). 

Die  Verbindungsfaden  zu  den  Rückenmarksnerven  sind  am  Lenden-Kreuz- 
beiiitheil  des  Sjmpathicus  häufig  doppelt,  und  treten  nicht  immer  von  den 
Knoten,  sondern  auch  vom  Stamme  des  Sympathicus  ab.  Verschmelzung  einzelner 
Ganglien  kommt  nicht  selten  vor.  —  Am  Kreuzbeintheile  liegen  die  Ganglia 
sacrcdia  dicht  an  den  Stämmen  der.  durch  die  Foramina  sacralia  anteriora  hervor- 
kommenden Kreuznerven  an.  Die  Verbindungsfaden  zwischen  beiden  werden  des- 
halb sehr  kurz  ausfallen. 


§.  381.  (leflechte  des  Sympathicus. 

Die  am  Hals-,  Brust-  und  Bauchtheil  des  sympathischen 
Nervenstranges  beschriebenen  Knoten,  welche  deshalb  auch  Strang- 
knoten des  Sympathicus  genannt  werden,  senden,  wie  schon  im 
Vorausgegangenen  gesagt  wurde,  Strahlungen  zu  den  die  grossen 
Gefasse  umstrickenden  Plexus.  Dass  an  der  Bildung  dieser  Plexus 
auch  die  Gehirn-  und  Rückenmarksnerven,  welche  ihre  Contingente 
dem   Sympathicus    zusenden,    entschiedenen    Antheil   haben,   wurde 


S.  382.  Kopfii^Mlit«  dM  SympathioM.  941 

gleichfalls  schon  erwähnt.  Die  in  den  Plexus  eingeschalteten  kleinen 
Knoten,  sind  ebenfalls  als  untergeordnete  Centra  anzusehen,  in 
welchen  neue  Nervenfasern  cutstehen,  die  sich  den  von  den  Strang- 
knoten herbeikommenden  Fasern  associiren. 

Die  BUdnng  neaer  Nervenfasern  in  den  Knoten  der  Geflechte,  ist  um  so 
nothwendiger,  als  die  peripherischen  Verftstlnngen  der  Plexus  zu  zahlreich  sind, 
um  sich  nur  auf  die  Wurzeln  des  Sjrmpathicus  aus  den  Rückenmarksnerven,  oder 
auf  die  Strahlungen  der  Strangknoten  zu  den  Ganglien  der  Geflechte  reduciren 
zu  lassen.  Es  muss  in  dieser  Beziehung  jedes  Ganglion  sich  wie  ein  untergeordnetes 
Gehirn  verhalten,  welches  neue  Nervenelemonte  entwickelt,  und  den  von  anderen 
Entwicklungsstellen  abstammenden  beiordnet. 

Die  vom  ersten  Halsknoten  entspringenden,  mit  der  Carotis  interna  in  die 
Schädelhöhle  eindringenden  grauen  Nerven,  so  wie  deren  weitere  Ramificationen 
und  Verbindungen  mit  den  Ganglien  der  Gehimnerven,  werden  auch  als  Kopf- 
theil  des  Sympathicus  zusammengefasst.  Da  jedoch  der  Hals-,  Brust-  und 
Lenden-Kreuztheil  des  Sympathicus  eine  gewisse  Uebereinstimmung  in  der  Lage- 
rung, Verbindung,  und  Verästlung  ihrer  Ganglien  darbieten,  welche  für  den 
Kopftheil  schwieriger  nachzuweisen  ist,  so  glaubte  ich  dem  Bedürfnisse  des  An- 
fängers besser  zu  entsprechen,  wenn  ich  die  den  Kopftheil  des  Sympathicus  bilden- 
den Strahlungen  dieses  Nerven  in  die  Kategorie  der  Geflechte  stelle. 


§.  382.  Kopfgeflechte  des  Sympathicus. 

Sie  sind  der  Plexus  caroticus  extemus  et  internus, 

1.  Plexus  caroticus  interuus» 

Das  obere  spitzige  Ende  des  ersten  Halsknotens  verlängert 
sich,  wie  früher  gesagt,  in  einen  ziemlich  ansehnlichen,  grauen, 
etwas  platten  Strang,  welcher  mit  der  Carotis  interna  in  den  Canalis 
caroticus  eindringt,  und  sich  im  Kanal  in  zwei  Aeste  theilt,  welche 
durch  fortgesetzte  Theilung  und  wiederholte  Vereinigung  ein  Ge- 
flecht um  diese  Schlagader  bilden  (Plexus  caroticus  internus).  Dieses 
Geflecht,  welches  die  Carotis  fortan  begleitet,  wird  im  Sinus  caver- 
nosus, durch  welchen  die  Carotis  interna  passirt,  Plexus  cavernosus 
genannt.  Die  Fäden  des  Plexus  cavernosus  lassen  sich,  über  die 
Theilung  der  Carotis  interna  hinaus,  bis  zur  Arteria  fossae  Sylvii, 
corporis  cailosi  und  ophthalmica  verfolgen,  wo  sie,  ihrer  Feinheit 
wegen,  aufhören  ein  Gegenstand  anatomischer  Präparation  zu  sein. 
Im  Plexus  cavernosus  findet  sich  nicht  ganz  selten,  an  der  äusseren 
Seite  der  Carotis,  ein  sternförmiges  Knötchen,  welches  Ganglion 
cavemosum  s.  caroticum  genannt  wird.  Dasselbe  wird  aber  meistens 
durch  ein  engmaschiges  Geflecht  ersetzt. 

Aus  dem  Plexus  caroticus  internus  treten,  der  Ordnung  nach 
von  unten  nach  oben  gezählt,  folgende  Aeste  hervor: 

a)  Die    Nervi   earoHohiympamei,   swei   an   ZaIü,    ein  euperior  und  inferior, 
beide  sehr  dünn.  Der  inferior  geht  dimh  ain  T-'^         «n  bi  der  hinteren  Wand 


942  §•  882.  Kopfg«fl«chte  des  Sympathiena. 

des  Oanidis  carotkua;  der  auperior  geht  an  der  inneren  Mündung  des  CanaU» 
caroUctu  durch  ein  zwischen  diesem  und  der  Pars  onsea  tubae  Etuitachü  aus- 
gegrabenes Kanälchen  in  die  Paukenhöhle  zum  Nervus  Jacobsimii.  Der  superiar 
wird  auch  von  älteren  und  neueren  Anatobien  Nervus  pelrosus  pro/u»du9 
minor  genannt. 

b)  Ein  Verbindungsast  zum  Oanglion  apheno-jKdatinum,  Et  wurde  bei  der 
Beschreibung  dieses  Knotens  als  Nervus  petroaus  profundus  bereits  abgehandelt. 
Benennt  man  den  Nervus  caroUco-iympemicus  superior  als  Nervus  pelrosus  profundus 
minorf  so  muss  bj  als  major  bezeichnet  werden. 

Aus  dem  Flexas  caveniosua  entspringen: 

a)  Feine  Verbindungsfäden  zum  Ganglion  Oasseri,  zum  Oculomotorius  und 
liamus  primus  trigeminiy  welche  die  äussere  Wand  des  Sintis  cavernosus  durch- 
<.    bohren,  um  zu  diesen  Nerven  zu  gelangen. 

bJ  Zwei  Fäden  zum  Nervus  abducens,  wo  er  die  Carotis  interna  im  Sinus 
cavernosus  kreuzt.  Einer  von  ihnen  ist  besonders  stark,  und  galt  früher,  als  man 
den  Sympathicus  mit  zwei  Wurzeln  aus  den  Gehimnerven  ableitete,  als  eine  der- 
selben.    Die  andere  war  der  Nervus  petrosus  profundus, 

c)  Die  Radix  sympathica  des  Ciliarknotens,  bereits  erwähnt,  §.  .360. 

dj  Etwas  zweifelhafte  Verbindungszweige  zum  nervenfUhrenden,  hinteren 
Theile  des  Gehimanhangs. 

ej  Gefässnerven  für  die  aus  der  Carotis  interna  entsprungene  Arteria  oph- 
thalmica,  welche  mit  haarfeinen  Zweigen  des  Nervus  naso-ciliaris,  und  einiger 
Nervi  ciliares ,  den*  Plexus  ophthcUmicus  zusammensetzen,  aus  welchem,  wie 
allgemein  angenommen  wird,  ein  winziges  Fädchen  (welches  auch  aus  dem  Gan- 
glion ciliare  stammen  kann),  mit  der  Arteria  centralis  retinae  in  den  Sehnerven 
eintreten  soll.  Es  ist  jedoch  weder  durch  anatomische  Darlegung,  noch  durch 
mikroskopische  Untersuchung  bewiesen,  dass  ein  solches  Fädchen  überhaupt 
existirt.  Man  g^ebt  sich  leicht  der  Annahme  hin,  dass  ein  die  Arteria  Ophthal- 
mica  umstrickendes  Geflecht,  jedem  Ast  und  Aestchen  derselben,  somit  auch 
der  Arteria  centralis,  einen  Faden  mitgeben  muss. 

Mit  Hilfe  des  Mikroskops  lassen  sich  selbst  an  den  kleineren,  mit  Kreosot 
behandelten  Verzweigungen  der  Arteria  carotis  interna  sympathische  Nervenfaden 
erkennen.  Ich  besitze  ein  Präparat,  an  welchem  der  die  Arteria  corporis  callosi 
begleitende  Zug  sympathischer  Fasern,  mit  mikroskopischen  Knötchen  eingesprengt 
erscheint,  und  ein  an  der  Anastomose  beider  Balkenartcrien  qucriaufender  Faden, 
die  recht-  und  linkseitigen  Geflechte  in  Verbindung  bringt. 

2.  Plexus  caroticus  extemus. 

Dieses  Geflecht  kommt  durch  die  Verkettung  der  vom  ersten 
Halsknoten  des  Sympathicus  entsprungenen  Nervi  molles  zu  Stande, 
welche  theils  an  der  Carotis  interna  bis  zur  Theilungsstelle  der 
communis  herabsteigen,  theils  direet  zwischen  der  Carotis  interna  und 
externa  zur  letzteren  gelangen. 

An  der  inneren  Fläche  des  Stammes  der  Carotis  communis,  unmittelbar 
vor  seiner  Theilung,  liegt  das  von  den  älteren  Anatomen  also  benannte  Ganglion 
intercaroticum,  welches  neuester  Zeit,  der  schlauchartigen  Hohlgebilde  wegen, 
welche  sein  bindegewebiges  Stroma  einschliesst,  und  welche  mit  denselben  Ge- 
bilden in  der  Steissdrüse,  und  in  der  Hypophysis  cerebri  übereinstimmen,  von 
Luschka  als  Glandula  carotica  bezeichnet  wurde.  Näheres  hierüber  enthält: 
8.  Mayer,  über  das  Ganglion  intercaroticum,  Tübingen,  1865,  und  Heppncr,  im 
Archiv  für  path.  Anat.  46.  Bd. 


$.  388.  HalHrefleckt«  des  STspathieni.  943 

Ist  die  Succ«8sion  der  Zweige  der  CaroUa  externa  bekannt  (§.  395),  so 
bedürfen  die  Strahlungen  des  Plexus  caroUcus  extemus  nur  nomineller  Erwähnung. 
Sie  sind:  der  Plexus  Uiifreoideus  superior,  linguaUs,  maxillarü  extemua,  pharyn- 
geus^  occipUalis,  aurictdaria  posterior,  niaxUlaris  internus,  und  temporaHs.  —  In 
einigen  dieser  Geflechte  kommen  wandelbare  Knötchen  (Schaltknoten,  Ganglia 
intercalariaj  vor,  welche,  nach  der  Gegend,  wo  sie  liegen,  oder  dem  Organe, 
welchem  sie  angehören,  verschiedene  Namen  erhalten:  Ganglion  pharyngeum 
(Mayer)  —  temporale  (Faesebeck).  —  Treffen  die  carotischen  Geflechte 
während  ihres  Verlaufes  an  den  gleichnamigen  Kopfschlagadem  auf  Ganglien, 
welche  den  Gehimnerven  angehören  (irangUon  submaxillare,  oticum,  etc.),  so  ver- 
binden sie  sich  mit  ihnen  durch  Fäden,  so  dass  jedes  Kopfganglion  auf  diese 
Weise  mit  dem  Sympatlücus  mittelbar  verbrüdert  wird.  —  Unter  den  älteren 
Nervenpräparaten  der  Prager  Sammlung  (von  Prof.  Bochdalek  und  Prosector 
Grub  er)  finden  sich  zwei  schöne  Fälle  von  Schaltknoten,  der  eine  am  Ur- 
sprünge der  Arteria  laryngea,  der  zweite  an  jenem  der  Arteria  maxillaris  interna, 
—  Siehe  ferner  H,  Hom,  reperta  quaedam  circa  nervi  Sympathie,  anatomiam. 
Wirceb.,  1840. 


§.  383.  Halsgeflechte  des  Sympathicus. 

Die  Halsgeflechte  umgeben  die  in  den  Weichtheilen  des 
Halses  sich  verzweigenden  Arterien.  Nebst  dem  Plexus  jpharyn- 
geus  und  thyreoideus  superior,  welche  aus  dem  Plexus  carotkus  ex- 
temus  und  somit  aus  dem  Ganglion  ceruiccde  primum  stammten^ 
gehören  hieher: 

aj  Der  schwache  Plexus  laryngeus,  theils  durch  eine  Fortsetzung  des 
Plexus  thyreoideus  superior,  theils  durch  Zweige  der  Laryngealäste  des  Vagus 
gebildet. 

bj  Der  Plexus  thyreoideus  inferior,  durch  Aeste  des  mittleren  und  unteren 
Halsknotens  zusammengesetzt.  Wandelbare  Knötchen  (von  Andersch  zuerst  be- 
obachtet) kommen  nicht  selten  in  ihm  vor. 

c)  Der  viel  stärkere  Plexus  vertebralis  dringt  mit  der  Arteria  vertebraUs 
in  den  Wirbelschlagaderkanal  ein.  Er  bildet  sich  ans  aufsteigenden  Aesten  des 
letzten  Hals-  und  ersten  Brustknotens.  Die  zahlreichen  und  starken  Anastomosen, 
welche  er  mit  den  vier  bis  sechs  unteren  Halsnerven  eingeht,  lassen  ihn  haupt- 
sächlich als  eine  Nervenbahn  betrachten,  durch  welche  Spinalnervenfasem  dem 
Brusttheil  des  Sympathicus  zugeführt  werden. 

Die  Stärke  des  Plexus  vertebraUs,  seine  regelmässige  Verbindung  mit  den 
Halsnerven,  und  der  Umstand,  dass  bei  gewissen  Thieren  der  freie  Halstheil  des 
Sympathicus  fehlt,  während  der  Plexus  vertebralis  in  namhafter  Entwicklung  vor- 
handen ist,  haben  es  veranlasst,  dass  mehrere  Anatomen  ihn  als  tiefen  Hals- 
theil des  Sympathicus  bezeichnen. 


944  §.  384.  Bni8ftg«flechte.  —  $.  385.  Bauch-  und  Beckengeflechte  des  Sympfttbicns. 


§.  384.  Brustgeflechte  des  Sympathicus. 

Die  Brustgeflechte  gehören  theils  dem  Gefässsystem  als  Plexus 
cardiacus  und  aorticus,  theils  den  Lungen  und  der  Speiseröhre  als 
Plexus  pulmonal^is  und  oesophagetis  an. 

Das  Herznerven^eflecht,  Plexus  cardiacus,  erstreckt  sich  vom  oberen  Rande 
des  Aortenbogens  bis  zur  Basis  des  Herzens  herab,  und  wird  aus  dem  Nerous 
cardiacus  superior,  itiedius  et  inferior,  so  wie  aus  den  Rami  cardiaci  des  Vagus, 
Hypoglossus,  und  des  ersten  Brustknotens  gebildet  Es  umgiebt  das  aufsteigende 
Stück  des  Aortenbogens  und  den  Stamm  der  Arteria  pulmmialis.  Der  schwächere 
Antheil  des  Geflechtes,  welcher  am  concaven  Rande  des  Aortenbogens  und  vor 
der  rechten  Arteria  pulnwnalis  liegt,  wird  als  oberflächliches  Herznerven- 
geflecht,  von  dem  hinter  dem  Aortenbogen  (zwischen  diesem  und  der  Luftröhren- 
theilung)  gelegenen  stärkeren,  tiefliegenden  unterschieden.  Das  hochliegende 
Herznervengeflecht  enthält  Über  der  Theilungsstelle  der  Arteria  pubtionalis,  ein 
einfaches  oder  doppeltes  Ganglion.  In  letzterem  Falle  ist  das  rechte  bedeutend 
grösser  als  das  linke,  was  mit  dem  Vorkommen  der  Arteria  innaminata  auf 
der  rechten  Seite  zusammenzuhängen  scheint.  Ist  nur  ein  einfaches  Ganglion 
vorhanden,  so  wird  es  gewöhnlich  Ganylion  cardiacum  Wrisbergii  s.  magnum 
genannt,  da  ausnahmsweise  auch  kleinere  nebenbei  vorkommen.  —  Das  Herz- 
nervengeflecht sendet  Zweige  an  die  primitiven  Aeste  des  Aortenbogens,  an 
die  rechte  und  linke  Arteria  pulmonalis,  die  Hohl-  und  Lungenvenen,  und 
schickt  mit  den  Arteriis  coranariis  des  Herzens  Verlängerungen  in  das  Herzfleisch 
als  Plexus  coratiaritts  cordis  anterior  et  posterior,  welche,  nach  Remakes  Ent- 
deckung, zahlreiche  kleine,  fast  mikroskopische  Knötchen  enthalten.  —  Diese 
Ganglien,  welche  man  am  schönsten,  ohne  alle  Präparation,  in  der  durch- 
sichtigen Scheidewand  der  Vorkammern  eines  Frosch-  oder  Salamanderherzcns 
beobachten  kann,  sind  als  eben  so  viele  motorische  Centra  für  die  Herzbewegung 
anzusehen,  und  erklären  es,  warum  ein  ausgeschnittenes  Herz  noch  lange  fort 
pulsiren  kann. 

Der  Plexus  aorticus  geht  theils  aus  dem  cardiacus,  theils  aus  den 
Strahlungen  der  obersten  Hrustknoten  hervor,  und  begleitet  die  Aorta  bis  in  die 
Bauchhöhle. 

Der  Plexus  oe^ophageus  und  pulmotuUis  gehören  vorzugsweise  dem  Brust- 
theile  des  Vagus  an,  und  erhalten  nur  wenige  sympathische  Fäden  aus  den  Herz- 
und  Aortengeflechten,  und  den  oberen  Brustganglien. 


§.  385.  Bauch-  und  Beckengeflechte  des  Sympathicus. 

Die  sympathischen  Geflechte  der  Bauch-  und  Beckenhöhle 
halten  sich  an  den  Stamm  und  an  die  Verzweigungen  der  Bauch- 
aorta. Der  Antheil  des  Vagus  an  der  Bildung  dieser  Geflechte  ist 
nur  tiir  den  Plexus  coeliacus  evident.  Sie  sind  im  Allgemeinen  sehr 
dicht  genetzt  und  schliessen  zahlreiche  Ganglien  ein.  Man  unter- 
scheidet folgende: 


§.  385.  Baneh-  and  B«ckengeflechto  des  Sjmpatiiiew.  945 

1.  Plexus  codicums.  Er  ist  das  grösstc  und  reichste  Geflecht 
des  Sympathicus,  und  wird  durch  beide  Nervi  splanchfiid ,  durch 
die  Fortsetzung  des  Plexus  aorticus  thoraciais,  einen  kleinen  An- 
theil  des  Plexus  gastricus  posterior  (vom  Vagus),  und  von  Fäden 
der  zwei  oberen  Lendenknoten  des  Sympathicus  gebildet.  Er 
Hegt  auf  der  vorderen  Aorten  wand,  dicht  unter  und  vor  dem 
Hiatus  aorticus,  und  umgiebt  die  Arteria  coeliaca,  ist  somit  unpaar. 
Seine  strahlig  divergircnden  Zweige  rechtfertigen  die  ältere  Be- 
nennung: Plexus  solaris,  Sonnengeflecht.  Unter  den  gangliösen 
Anschwellungen,  die  er  enthält,  zeichnen  sich  zwei  Anhäufungen 
von  Ganglienmassc  aus,  welche  eine  halbmondfiirmigc  Gestalt  be- 
sitzen, ihre  Concavitäten  einander  zukehren,  und  wohl  auch  durch 
Verschmelzung  ihrer  Ilörner,  die  Hufeisen-  oder  selbst  Ringgestalt 
annehmen.  Sie  heissen,  wenn  sie  getrennt  bleiben,  Ganglia  coeliaca, 
semilunaria,  abdominalia  maxima,  —  wenn  sie  aber  zu  einer  Masse 
verschmelzen,  Ganglion  solare,  Cerebrum  abdominale  s,  Centrum  ner- 
vosum   Wülissii. 

Der  Plexus  coeliacus  sendet  folgende  Strahlungen  ab: 

a)  den  nnpaarig^en  Plexus  diaphragmatictu,  welcher  mit  den  Arteriis  phreniciä 
infertoribiu  zum  Zwerchfell  geht, 

ß)  den  Plexus  corcnariua  ventricuU  superior,  welcher  mit  der  Arteria  conh 
naria  verUriculi  ainistra  ziim  kleinen  Magenhogen  hinzieht, 

f)  den  Plexus  hepaHcus,  welcher,  die  Arteria  hepaUca  nmgehend,  zur  Leber 
nnd  deren  Zngehör  tritt,  zum  Pankreas  und  Duodenum  Zweige  giebt,  und  zur 
unteren  Kranzschlagader  des  Magens  den  Plexus  coronarius  verUriculi  inferior 
ausschickt, 

B)  den  Plexus  lienalis,  für  die  Milz  und  den  Fundus  veniricuH, 

t)  den  Plexus  suprarenalis,  dessen  Fasern  ein  histologisches  Constituens  der 
Marksubstanz  der  Nebenniere  bilden. 

2.  Plexus  mesentericus  superior.  Er  ist  unpaar,  und  theils 
eine  Fortsetzung  des  Plexus  coeliacus,  theils  des  Plexus  aorticus 
abdominalis,  enthält  weit  weniger  und  kleinere  Knötchen  als  der 
Hexus  coeliacus,  und  verbreitet  sich  mit  der  Arteria  mesenterica  supe- 
rior, an  deren  Verlauf  er  gebunden  ist,  am  Dünndarm  und  Dick- 
darm, mit  Ausnahme  des  Rectum  und  Colon  descendens. 

3.  Plexus  renales,  Sie  sind  paarig,  ganglienarm,  aus  Contin- 
genten  des  Plexus  mesefitericus  superior  und  aorticus,  so  wie  des 
Nervus  splandmicus  minor  aus  dem  Brusttheile  des  Sympathicus  zu- 
sammengesetzt, umspinnen  die  Arteria  renalis,  und  schicken  einen 
Antheil  zum  Plexus  suprarenalis,  welcher  mit  dem  Plexus  phrenicus 
und  coeliacus  anastomosirt. 

4.  Plexus  spermaiicL  Sie  begleiten  die  Arteria  spermaiica  in- 
terna  auf   ihrem  Li  '  Hoden    (zum  Eierstock  bei 


946  §•  S85.  Bauch-  und  Bcckens^eflechte  des  Sympathicoi. 

Weibern),  entspringen  aus  dem  Plexus  aorticus  und  renalis,  und 
erhalten  auch  Fäden  vom  Nervus  spermaticiis  extemus,  aus  dem 
Nervus  genito-crurcdis  des  Plexus  lumbalis, 

5.  Plexus  mesentericus  inferior.  Unpaar,  versieht  das  Colon  de- 
scendens  und  das  Rectum,  letzteres  mit  den  Nervig  haemorrlioidalibus 
superioribv^s.  Der  Nervus  haemorrhoidalis  medius  und  inferior  wurden 
vom  Plexus  pudendalis  der  Nerm  sacrales  abgegeben. 

6.  Plexus  aorticus  abdominalis.  Er  zieht  mit  weiten  Maschen 
und  Schlingen  an  der  Bauchaorta  herab,  hängt  mit  allen  voraus- 
gegangenen Geflechten  zusammen,  bezieht  seine  Elemente  vorzugs- 
weise aus  den  Gangliis  lumbalibus  des  Sympathicus,  und  geht  in 
den  Plexus  hypogastincus  superior  über,  welcher  auf  der  Gabel  der 
Aorten th eilung  aufliegt,  imd  die  Vasa  iliaca  communia  mit  seinen 
Fortsetzungen  begleitet.  In  der  kleinen  Beckenhöhle  zerfällt  er  in 
die  beiden 

7.  Plexus  hypogastrici  inferiores,  welche  an  den  Seiten  des 
Mastdarms  liegen,  durch  sehr  unbedeutende  Fäden  der  Ganglia 
sacralia,  wohl  aber  durch  ansehnliche  Ableger  des  Plexus  pudendalis 
des  vierten  und  fünften  Kreuznerven  verstärkt  werden,  grössere 
und  kleinere  Knötchen  in  variabler  Menge  enthalten,  und  sich  in 
folgende  untergeordnete  Geflechte  auflösen. 

a)  Plexus  tUerintu.  Er  lie^t  zwinchen  den  Blättern  des  Ligamentum  laium. 
uteri.  Die  in  das  Gewebe  des  Utenis  selbst  eindringenden  Fortsetzungen  dieses 
Geflechtes,  führen  zahlreiche  kleine  Ganglien.  Dieoe  sind  eben  so  viele  Be- 
wegnngscentra  des  Uteni»,  und  machen  es  verstMndlich,  dass  Frauen  im  bewusst- 
losen  Znstande,  ja  selbst  als  Leichen,  geboren  haben.  Der  letzte  Fall  dieser 
Art  ereignete  sich  in  Spanien,  während  des  letzten  Bürgerkrieges,  wo  eine 
schwangere  Frau,  von  den  Carlisten  gehängt,  vier  Stunden  nach  ihrem  Tode  am 
Galgen  gebar! 

ß)  Plexus  vesicalis  zur  Harnblase,  Samenbläschen,  Vas  de/efens  and  ProsUUa 
(im  Weibe  zur  Vagina,  als  Plexus  vesico-vayincUis), 

Y)  Plexus  cavernosus.  Er  ist  eine  Fortsetzung  des  Plexus  vesicalis,  durch- 
bohrt mit  der  Arteria  pudenda  communis  das  Ligamentum  trianguläre  urethrae, 
und  gelangt  dadurch  an  die  Wurzel  des  Penis;  hier  theilt  er  sich  in  Zweige, 
von  welchen  die  meisten  in  die  Wurzel  der  8chwellköq)er  eindringen,  während 
die  übrigen  ein  auf  dem  Rücken  des  Penis  fortlaufendes  Geflecht  bilden,  welches 
mit  dem  Nervus  penis  dorsalis  anastomosirt,  und  in  seine  letzten  Filamente  sich 
auflösend,  vor  der  Mitte  des  Penis  ebenfalls  die  Faserhaut  der  Schwellkörper 
durchbohrt,  um  im  Parenchym  derselben  unterzugehen.  —  Im  Weibe  ist  dieses 
Geflecht  viel  schwächer  und  für  die  Clitoris  bestimmt.  Es  erscheint  hier  nur  als 
Anhang  des  Plexus  vesico-vaginalis. 

Es  leuchtet  von  selbst  ein,  dass,  wenn  man  alle  Geflechte  ausführlich 
schildern  wollte,  welche  zu  den  verschiedenen  Organen  der  Körperhöhlen  aus- 
laufen, die  engen  Grenzen  eines  Lehrbuches  bald  überschritten  sein  würden. 
Dieses  ist  hier  weder  th  unlieb,  noch  überhaupt  nöthig.  Auch  häufen  sich  die 
Varietäten    so    sehr,    dass    durch    ihre    Zusammenstellung    wahrscheinlich     mehr 


§.  886.  Literatur  de«  geiammten  NenreniTsteme.  947 

Verwimmg  als  Licht  in  den  Geg^enstand  g^ebracht  würde.  Der  Umstand,  dass 
die  Geflechte  grösstentheils  den  Schlagfaderverzweig^ngcn  folgen ,  giebt  dem 
Schdler  ein  leichtes  Mittel  an  die  Hand,  die  Quellen  anzugeben,  ans  welchen  die 
Organe  ilire  sympathisclien  Geflechte  ableiten. 

Ch,  Theoph,  Litdwig ,  de  plexihos  nervomm  abdominalinm.  Lipsiae,  1772. 
—  A,  Wrisberg,  de  nenris  yiscemm  abdominis,  in  Commentat.  Vol.  II.  — 
J,  G,  Walter,  tabnlae  nervomm  thoracis  et  abdominis.  Berolinnm,  1784.  fol. 
-  Tiedeniarm,  tabnlae  nervorum  uteri.  Heidelbergae,  1822.  fol.  —  J.  MiUler, 
über  die  organischen  Nerven  der  Geschleclitsorgane,  etc.  Berlin,  1836.  —  A.  Oötz, 
neurologiae  partium  genitalium  masculinarum  prodromns.  Erlangae,  1823. —  Beck 
und  Lee,  On  the  Nerves  of  the  Uterus.  Philosopliical  Transactions.  Vol.  41 
und  42.  —  Th.  Kih-ne?-,  de  nervis  uteri.  Vratisl.,  1863.  —  R  Retnak,  über  ein 
solbstständiges  Darmnervensystem.  Berlin,  1847. 


§.  386.  Literatur  des  gesammten  Uervensystems. 

Die  neueste  Literatur  über  die  einzelnen  Nerven  ist  in  den 
betreffenden  Paragraphen  der  Nervenlehre  angegeben. 

Gesammte  beschreibende  Nervenlehre. 

C.  Fried,  Ludwig,  sammelte  unter  dem  Titel:  Scriptores  neuro- 
logici  minores,  IV.  Vol.  Lipsiae,  1791 — 1795,  die  besten  Mono- 
graphien einzelner  Gehirn-  und  Rückenmarksnerven.  —  M.  J.  Lan- 
genheck,  Nervenlehre.  Göttingen,  1831.  Mit  Hinweisung  auf  dessen 
Icones  neurologicae.  Fase.  I — III.  —  J,  Q^ain  and  W.  E.  Wilson, 
The  Nerves,  including  the  Brain  and  Spinal  Marrow,  and  Organs 
of  Sense.  London,  1837.  —  J.  B.  F.  Froment,  trait^  d'anatomie 
humaine.  Nevrologie.  Tom.  I.  et  II.  Paris,  1846.  (Compilatorisch.) 
—  L.  Hirschfeld  und  B,  Leveille,  Nevrologie.  Paris.  Giebt  Be- 
schreibungen und  Abbildungen  des  Nervensystems  und  der  Sinnes- 
organe, mit  Angabe  der  Präparationsmethode.  —  Der  Icon  ner- 
vorum von  R,  Froriep,  Weimar,  1850,  enthält  auf  Einer  Tafel  das 
gesammte  Nervensystem  dargestellt.  —  Eine  vollständige  Zusammen- 
stellung älterer  und  neuerer  Literatur  bis  zum  Jahre  1841,  findet 
sich  in  Sömmemng's  Hirn-  und  Nervenlehre,  umgearbeitet  von 
G,  Valentin. 

Gehirn-  und  Rückenmark. 

F.  J,  Gall  et  G.  Spurzheim,  recherches  sur  le  Systeme  ner- 
veux  en  gön^ral  et  sur  celoi  du  cerveau  en  particulier.  Paris, 
1809—1819.  4  Vol.  100  planches.  fol.  —  K.  F.  Burdadi,  yom 
Bau    und    vom    Leben    des    Qe^' 


948  §•  S86.  Literatur  des  geMininten  Nerven  Systems. 

S.  Th,  Sömmerring ,  de  basi  encephali  et  originibus  nervorum. 
Gottingae,  1778.  —  Ejusdera,  quatuor  hominis  adulti  enceplialum 
describentes  tabulas  commentario  illustravit  E,  d' Alton,  Berolinum, 
1830.  —  J,  C,  Wenzel,  de  penitiori  structura  cerebri  et  niedulla 
spinalis.  Tubingae,  1816.  —  F,  Arnold,  Tabulae  anatomicae.  Fase.  I. 
Icones  cerebri  et  meduUa  spinalis.  Turici,  1838.  —  F,  Tiedemann, 
das  Hirn  des  Negers  mit  dem  des  Europäers  und  Orang-Utangs 
verglichen.  Heidelberg,  1837.  —  B,  Stüling,  über  die  Medidia  obl^jn- 
gata.  Erlangen,  1853.  —  Desselben  Untersuchungen  über  Bau  und 
Verrichtungen  des  Gehirns,  I.  Jena,  1846.  —  A.  Förgy  Beiträge 
zur  Kenntniss  vom  inneren  Baue  des  menschlichen  Gehirns.  Stutt- 
gart, 1844.  —  R,  B,  Todd,  The  Descriptive  and  Physiological  Ana- 
tomy  of  the  Brain,  Spinal  Cord,  etc.  London,  1845.  —  J.  L.  Clarke, 
Philosophical  Transactions.  1851,  1853.  (Mikroskopische  Unter- 
suchungen.) —  E,  Stephaniy  Beiträge  zur  Histologie  der  Hirnrinde. 
Dorpat,  1860.  —  Freiherr  v.  Bibra,  vergleichende  Untcrsucliungen 
über  das  Gehirn  des  Menschen.  Mannheim,  1853.  —  v.  Lenhoasek, 
neuere  Untersuchungen  über  den  feineren  Bau  des  centralen  Nerven- 
systems, in  den  Denkschriften  der  kais.  Akademie.  10.  Bd.  — 
P,  Gratiolet,  memoire  sur  les  plis  cerebraux  de  Thomme  et  des 
primates.  Paris,  1854.  Avec  13  planches.  —  E,  Huschke,  Schädel, 
Gehirn  und  Seele  des  Menschen.  Jena,  1855.  Mit  8  Tafeln.  — 
H,  Luschka,  die  Adergeflechte  des  menschlichen  Gehirns.  Berlin, 
1855.  Mit  4  Tafeln.  —  F.  Bidder  und  C,  Kupffer,  Untersuchungen 
über  die  Textur  des  Rückenmarks,  etc.  Leipzig,  1847.  —  B.  Stil- 
ling,  neue  Untersuchungen  über  den  Bau  dos  Kückenmarks,  5  Lie- 
ferungen. Cassel,  1858,  in  welchen  die  gesammte  übrige  Literatur 
dieses  so  hochwichtigen  und  zugleich  so  schwierigen  Gebietes  an- 
gegeben ist.  —  Fr.  Goll,  in  den  Denkschriften  der  medicin isch- 
chirurgischen Gesellschaft  zu  Zürich,  1860.  —  N.  Jacuhavifsch, 
über  die  feinere  Structur  des  Gehirns  und  Kückenmarks.  Breslau, 
1857.  —  C.  B,  Keicliert,  Bau  des  menschlichen  Gehirns,  etc.  Leip- 
zig, 1860  — 1861.  —  C,  Frommann,  Untersuchungen  über  das 
Rückenmark.  Jena,  1864.  —  0,  Deiters,  Untersuchungen  über 
Gehirn  und  Rückenmark.  Braunschweig,  1865.  —  W,  Twmer,  the 
Convolutions  of  the  Cerebrum.  Edinburg,  1866.  —  Th,  Bischoff, 
die  Hirnwindungen  des  Menschen.  Mit  7  Tafeln.  München,  1868. 
—  L,  Fick,  Phantom  des  Menschenhirns.  Marburg.  4.  Auflage.  — 
/?.  Stüling,  über  den  Bau  des  kleinen  Gehirns,  mit  25  Tafeln,  Cassel, 
1878.  —  Ueber  die  Entwicklungsgeschichte  des  Gehirns  handelt 
(ausser  den  in  der  allgemeinen  Literatur  angeführten  Entwieklungs- 
schriften)  das  noch  immer  classische  Werk:  2\  Tiedemann,  Anatomie 
des  Gehirns  im  Fötus  des  Menschen.  1816. 


§.  386.  Literatur  des  geMiniDt«n  Nenrensystenu.  949 

Hirnnerven. 

F,  Arnold,  icones  nervorum  capitis.  Heidelberg,  1834.  Neue 
Auflage.  1860.  Das  beste  und  vollständigste  Kupferwerk,  da  es 
durchaus  nach  eigenen  Untersuchungen  des  Verfassers  ausgeführt 
wurde.  —  Bidder,  neurologische  Beobachtungen.  Dorpat,  1836.  — 
G.  F.  Faesebeck,  die  Nerven  des  menschlichen  Kopfes.  Braun- 
schweig. 2.  Auflage.  1848.  Mit  6  Tafeln.  —  Rildinger,  Photo- 
graphischer  Atlas  des  peripherischen  Nervensystems.  2.  Auflage. 
Stuttgart,  1872.  —  Desselben  Anatomie  der  Hirn-  und  Rücken- 
marksnerven, mit  Tafel.  München,  1868—1872.  —  PA.  E.  Bischoff, 
mikroskopische  Analyse  der  Kopfnerven.  München,  1865.  — 
W.  Krause,  Neurologie  der  oberen  Extremitäten.  Leipzig,  1865.  — 
Polle,  die  Nervenverbreitung  in  den  weiblichen  Genitalien.  Göttin- 
gen, 1865.  —  Krause,  Nerven  Varietäten  beim  Menschen.  Leip- 
zig, 1868. 

Die  Literatur  der  Bückenmarksnerven  ist  in  den  betreffenden  Paragraphen 
enthalten. 


Sympathicus. 

C.  G.  Wutzer,  de  corporis  hum.  gangliorum  fabrica  atque  usu. 
Berol.,  1817.  —  F.  Arnold,  Kopfthcil  des  vegct.  Nervensystems. 
Ileidelb.,  1830.  —  A,  Scarpa,  de  nervorum  gangliis  et  plexibus,  in 
ejusdem  Annot.  anatom.  Lib.  H.  —  J,  F.  Lobstein,  comment.  de 
nervi  sympathctici  hum.  fabrica,  usu  et  morbis.  Paris,  1834.  — 
Th,  Krause,  Synopsis  icone  illustrata  nervorum  systematis  gangliosi 
in  ciipitc  hominis.  Hanno vcrae,  1839.  —  C.  W.  Wutz&i%  über  die 
Verbindung  der  Intcrvcrtebralganglien  und  des  Rückenmarks  mit 
dem  vegetativen  Nervensystem,  in  Midier  s  Archiv.  1842.  —  Bidder 
und  Volkmann,  die  Selbstständigkeit  des  sympathischen  Nerven- 
systems, durch  anatom.  Untersuchungen  nachgewiesen.  Leipzig,  1842. 
—  C.  A,  Pieschel,  de  parte  ccphalica  nervi  sympathici.  Lipsiae, 
1844  (vom  Pferde).  —  Reich  an  physiologisch  wichtigen  anatomischen 
Thatsachen  über  das  Verhalten  des  Sympathicus  zu  den  Wänden 
des  Wirbelkanals  imd  der  Schädelhöhle,  so  wie  zu  den  Häuten  des 
Hirns  und  Rückenmarks,  ist  N,  Rüdinger's  ausgezeichnete  Arbeit: 
lieber  die  Verbreitung  des  Sympathicus,  etc.  München,  1863.  — 
Der  Kopfthcil  des  Sympathicus  wurde  einer  neuen  gründlichen 
Untersuchung  unterzogen  von  A.  Kaubet*:  TIeber  den  sympathischen 
Grenzstrang  des  menschlichen  Kopfes.  München,  1872. 

Ung^eachtet  des  Umfang^s  der  neiirolog^uchon  Literatur,  und  der  danken«- 
werthen  Bereicherungen,  welche  der  Fleis»  der  Zergliederer  diesem  Zweige  der 
anatomischen  Wissenschaft  zuwege  brachte,  ist  die  PhTsiologie  des  Nenrei^ysteir 


950  |.  SM.  Litentur  des  gMammten  NenrenfystCBS. 

noch  lange  nicht  zu  jenem  Grade  von  Bestinmitheit  gelangt,  dessen  sich  andere 
Capitel  der  Physiologie  erfreuen,  imd  welchen  wir  gerade  bei  diesem  System  so 
ungern  vermissen.  Erst  in  neuerer  Zeit  hat  sich  durch  J.  Müller,  eine  Physio- 
logie der  Nervenwirkungen  zu  bilden  begonnen,  und  man  hat  die  Kunst  erlernt, 
die  Lösung  der  Räthsel  des  Nervenlebens  durch  das  Experiment  anzustreben. 
Leider  haben  die  Experimente  am  lebenden  Thiere  nur  zu  oft  zu  contradicto- 
rischen  Resultaten  geftihrt.  Wo  auf  so  verschiedenen  Wegen  dem  Einen  Ziele 
nachgestrebt  wird,  kann  es  an  Verschiedenheiten  der  Auslegimgen  und  Ansichten 
nicht  fehlen,  um  so  mehr,  als  man  nicht  sieht,  was  die  operirten  Thiere  fühlen. 
Der  schwächste  Theil  des  Ganzen  ist  die  mikroskopische  Gehirn-  imd  Rücken- 
marksanatomie, und  so  lange  die  Sammlungs-  und  Vereinig^ngsweise  der  Nerven 
in  den  Centralorganen  nicht  besser  bekannt  sein  wird,  als  gegenwärtig,  werden 
die  Hypothesen  nicht  so  leicht  von  ihrem  Throne  zu  stossen  sein. 


SIEBENTES  BUCH. 


Gef&sslehre. 


A.  Herz.*) 

§.  387.  AUgemeine  Beschreibimg  des  Herzens. 

Die  Gefä sslehre,  Ängiologia  (örfY^^ov,  Gefass),  umfasst  die 
specielle  Beschreibung  der  vierHauptabtheilungen  des  Gefasssy stems : 
Herz,  Arterien,  Venen  und  Lymphgefösse. 

Das  Herz,  Cor  (von  xsap,  contrahirt  x^p,  auch  xap3(a,  woher 
Carditis)  ist  das  Centralorgan  des  Gefasssystems.  Es  stellt  einen 
hohlen,  halbkegelförmigen,  muskulösen  Körper  dar,  welcher  in  der 
Brusthöhle,  dicht  hinter  dem  Brustbein,  und  zwischen  den  concaven 
Flächen  beider  Lungen  liegt.  Man  kann  im  Allgemeinen  sagen, 
dass  die  Lage  des  Herzens,  der  Vereinigungsstelle  des  oberen 
Drittels  der  Körperlänge  mit  dem  mittleren  entspricht,  somit  die 
Organe  der  oberen  Körperhälfte  unter  einem  unmittelbareren  Einfluss 
des  Herzens  stehen,  als  jene  der  unteren. 

Der  Herzkegel  kehrt  seine  Basis  nach  oben,  seine  Spitze 
(Apex  8,  Mucro)  nach  links  und  unten,  und  besitzt  eine  vordere 
(obere)  convexe,  und  eine  hintere  (untere)  plane  Fläche,  nebst  zwei 
Seitenrändern.  An  der  vorderen  Fläche  zieht  eine  Furche  herab, 
welche  nicht  über  die  Spitze  weg,  sondern  etwas  rechts  von  ihr, 
zur  hinteren  Fläche  sich  umbiegt,  und  an  ihr  bis  zur  Basis  zurück- 
läuft —  die  Längen  furche  des  Herzens,  SiUcus  longittidincUis.  Sie 
theilt  äusserlich  das  Herz  in  eine  rechte  und  linke  Hälfte,  und  ent- 
spricht der  in  der  Höhle  des  Herzens  angebrachten  longitudinalen 
Scheidewand.  Sie  wird  durch  die  Ring-  oder  Querfurche  (Sidcua 
circularis  8.  coroncUü)  rechtwinkelig  geschnitten.  Diese  Querfurche 
zeigt  sich  aber  nur  an  der  hinteren  Herzfläche  besonders  ausgeprägt, 
an  der  vorderen  dagegen  wird  sie  durch  die  Ursprünge  der  Arteria 
aorta  und  pulmoncdis  verdeckt. 

*)  Die  §.  46—69  des   ersten  Baches   (Gewalis 
gelesen  werden,  beyor  man  an  das  Studium  der  •»• 


9<>4  S*  ^7*  Allgemeine  Beschreibong  des  flertene. 

Die  absolute  Grösse  des  Herzens  stimmt  gewöhnlich  mit  der  Grösse  der 
Faust  überein.  Sein  Gewicht  beträgt  im  Mittel  zwanzig  Loth,  seine  g^sste  L&ngpe 
verhält  sich  zur  grössten  Breite  wie  5  :  4.  Im  weiblichen  Geschlechte  nehmen  Ge- 
wicht und  Grösse  beiläufig  um  ein  Sechstheil  ab.  —  Kein  Organ  bietet  übrigens 
so  auffallende  Schwankungen  seiner  Grösse  und  seines  Gewichtes  dar,  wie  das 
Herz.  Die  auf  krankhafter  Verdickung  der  Herzwand  beruhende  Herzhyper- 
trophie vermehrt  seine  Grösse  und  sein  Gewicht  so  bedeutend,  dass  die  für 
diese  Abnormität  von  französischen  Anatomen  gebrauchte  Benennung,  als  cceur  de 
bceuf,  entschuldigbar  wird.  Die  Deutschen  wählten  für  geringere  Grade  dieses 
Leidens,  welche  bei  sitzender  Lebensweise  sich  einzustellen  pflegen,  den  minder 
bedenklichen  Namen:  cor  lüeratorum. 

Das  Wort  Herz  aber  ist  dem  griechischen  ^lop  verwandt  (häufig  bei 
Homer),  aus  welchem  durch  Versetzung  des  p  das  angelsäclisische  heori,  das 
gothische  hairto,  das  englische  heart,  und  das  deutsche  Herz  abzuleiten  ist. 

Die  Lage  des  Herzens  ist  eine  schiefe,  indem  sein  langer 
Durchmesser  mit  dem  verticalen  Brustdurchmesser  einen  Winkel 
von  circa  fünfzig  Grad  bildet.  Ersterer  wird  von  letzterem  nicht 
in  seiner  Mitte,  sondern  einen  Zoll  über  derselben  geschnitten,  wo- 
durch ein  grösserer  Theil  des  Herzens  der  linken,  ein  kleinerer  der 
rechten  Thoraxhälfte  angehört.  Bei  den  Säugethieren,  und  im  frühen 
Embryoleben  des  Menschen,  ist  die  Herzlage  eine  verticale. 

Die  Basis  des  Herzens  lieg^  hinter  dem  Corpm  stemi,  in  gleicher  Höhe 
mit  dem  sechsten  Bnistwirbel,  oder  dem  Zwischenräume  des  vierten  imd  fünften 
rechten  Rippenknoqicls,  die  Spitze  hinter  den  vorderen  Enden  der  sechsten  und 
siebenten  linken  Rippe.  Die  Richtung  des  langen  Durchmessers  des  Herzens 
geht  somit  schief  von  rechts,  oben,  und  hinten,  nach  links,  unten,  und  vom. 
Zwischen  der  Basis  des  Herzens  und  der  Wirbelsäule,  liegen  die  Content«  des 
hinteren  Mittelfellraumes. 

Die  Herzhöhle  wird  durch  eine,  dem  Stdcm  longiUidinalis  ent- 
sprechende Scheidewand,  in  eine  rechte  und  linke  Hälfte  abgetheilt. 
Jede  dieser  Hälften  besteht  aus  einer  Kammer,  Ventriculu^,  und 
einer  Vorkammer  oder  Vorhof,  Atrium.  Jede  Vorkammer  besitzt 
ein  nach  vorn  und  innen  gekrümmtes  Anhängsel,  das  Herzohr,  Auri- 
cida  cordis.  Die  Basis  der  linken  Auricula  wird  von  der  zugehörigen 
Vorkammer  durch  eine  halsartige  Einschnürung  sehr  scharf  ab- 
gemarkt, während  an  der  rechten  Auricula  eine  solche  Einschnürung 
fehlt.  —  Der  Sulcm  circularts  bestimmt  äusserlich  die  Grenze 
zwischen  Vorkammern  und  Kammern.  Beide  Vorkammern  werden 
durch  das  Septtim  atriorum,  beide  Kammern  durch  das  Septum  uew- 
tricidorum  von  einander  geschieden.  Die  Kammern  haben  bedeutend 
fleischigere  Wandungen  als  die  Vorkammeni,  weshalb  man  früher 
die  Kammern  als  muskulöses,  die  Vorkammern  als  häutiges 
Herz  unterschied  (Cor  muscidosum,  Cor  membranaceum) . 

Bei  den  französischen  Autoren  wird  das  Wort  Auricula  foreilleUe)  nicht  für 
unser  Herzohr,  sondern  für  die  ganze  Vorkammer  gebraucht.  Ebenso  bei  den 
Engländern  das  Wort  auricle. 


§.  887.  Allgemein»  BeeclireibQDg  de«  Henens.  955 

Jede  Kammer  zeigt ^  der  Kegelform  des  Herzens  wegen,  im 
verticalen  Durchschnitt  eine  dreieckige  Gestalt,  mit  oberer  Basis 
und  unterer  Spitze.  —  Die  rechte  Kammer  ist  dünnwandiger  als 
die  linke,  die  Höhlen  beider  sind  aber  einander  und  jenen  der 
Vorkammern  gleich,  wenn  nicht  krankhafte  Differenzen  obwalten. 
Die  innere  Oberfläche  der  Kammern  ist,  so  wie  jene  der  Vor- 
kammern und  Herzohren,  nicht  glatt  und  eben.  Denn  die  Muskel- 
bündel, welche  die  Herzwand  zusammensetzen  helfen,  springen 
gegen  die  Höhle  des  Herzens  mehr  weniger  vor,  i*agen  auch  frei 
in  sie  hinein,  so  dass  sie  mit  einer  Sonde  umgangen  und  aufgehoben 
werden  können,  oder  laufen,  wie  es  in  den  Herzohren,  und  in  der 
Nähe  der  Spitzen  der  Kammern  zu  beobachten  ist,  quer  von  einer 
Wand  zur  anderen.  Sie  heissen  in  den  Kammern,  wo  sie  die  ver- 
schiedensten Richtungen  zeigen,  Fleischbalken  des  Herzens,  Tra- 
becidae  cameae.  In  den  Vorkammern  dagegen,  wo  ihre  Richtung 
eine  mehr  parallele  wird,  wie  bei  den  Zähnen  eines  Kammes, 
pecten,  führen  sie  den  Namen:  Kammmuskeln,  Musculi  peciinati. 
—  (Trabectda  ist  das  Diminutiv  von  traba,  griechisch  TpawQ§,  ein 
Balken  oder  Stamm.) 

In  die  Vorkammern  münden  die  grossen  Venenstämme  ein, 
und  zwar  die  beiden  Hohlvenen  und  die  Herzvene  in  die  rechte, 
die  vier  Lungenvenen  in  die  linke.  Aus  jeder  Vorkammer  fuhi*t 
eine  geräumige  Oeffnung,  das  Ostium  cUrio-ventriculare,  8.  Ostium 
venosum  ventriculi,  in  die  entsprechende  Kammer,  und  aus  der 
Kammer  eine  ähnliche  OcflFnung  (Ostium  arte^iosum  ventriculi),  in 
die  aus  ihr  entspringende  Arterie.  Das  Ostium  arteriosum  der  rechten 
Kammer  i\ihrt  in  die  Lungenschlagader,  jenes  der  linken  in  die 
Aorta.  Beide  Ostia  einer  Kammer  befinden  sich  an  der  nach  oben 
gekehrten  Basis  derselben. 

Am  Ostium  arteriosum  und  venosum  jeder  Kammer  ist  ein 
Klappenapparat  angebracht,  welcher  zum  Mechanismus  der  Herz- 
thätigkeit  in  der  innigsten  Beziehung  steht,  und  dessen  sinnreiche 
Einrichtung  an  jene  der  Pumpenventile  erinnert.  Der  Bau  der 
Klappen  an  den  venösen  Ostien  lässt  sich  so  auffassen.  Die  innere 
Auskleidungshaut  der  Herzhöhlen  heisst  Endocardium,  Das  Endo- 
cardium  geht  am  Rande  des  Ostium  venosum  nicht  einfach  aus  der 
Vorkammer  in  die  Kammer  über,  sondern  stülpt  sich  im  ganzen 
Umfang  dieses  Ostiums  in  die  Höhle  der  Kammer  ein,  und  erzeugt 
dadurch  eine  Falte  in  Gestalt  einer  kurzen  Röhre,  welche  zwischen 
ihren  beiden  Blättern  eine  blattförmige  Verlängerung  jenes  fibrösen 
Ringes  enthält,  welcher  das  Ostium  venosum  der  Kammer  umgiebt, 
und  im  nächsten  Paragraphen  als  Ännulus  ßbro-cartHagiMUs  erwähnt 
wird.  Diese  nach  abwärts  in  die  Kammer  hineinragende  EiiiAtiilDaiut 
des   EndocardiumS;    denke    num    sich    «Qf 


956  8*  ^7*  Allgemoin«  Besohreibang  des  Henens. 

zugeschnitten^  welche  Zipfe  Klappen  (ValrnUae  cUrio-ventrictdares) 
genannt  werden.  Das  Ostium  venomm  der  rechten  Kammer  besitzt 
drei,  jenes  der  linken  Kammer  nur  zwei  solche  Klappenzipfe.  Man 
bezeichnet  deshalb  die  ersteren  als  VcUvula  tricuspidalia  8.  triglodds 
(von  Y^^X^^5  Spitze,  Winkel),  die  letzteren  als  VcdvtUa  bicuspidalis  s. 
müralis.  An  den  freien  Rand  und  an  die  der  inneren  Oberfläche 
der  Kammern  zusehenden  Flächen  der  Klappen,  setzen  sich  ein- 
fache, oder  mehrfach  gespaltene  sehnige  Fäden  (Chordae  tertdineae) 
fest,  welche  grösstenthcils  von  zapfenförmigcn,  derben,  aus  der 
Kammerwand  hervorragenden  Muskelbündeln  ausgehen.  Diese  Muskel- 
bündel  heissen  Musculi  papälarea,  Warzenmuskcln.  Die  weisse 
Farbe  der  Chordae  tendineae  verleitete  Aristoteles,  sie  für  Nerven 
zu  halten,  und  die  von  Galen  widerlegte  Ansicht  zu  hegen,  dass 
alle  Nerven  aus  dem  Herzen  entspringen.  In  den  Orificiis  arteriosis 
der  Kammern  faltet  sich  das  Endocardium  ebenfalls,  um  in  jedem 
derselben  drei  halbmondförmige  Klappen  (Valwlde  semüimares 
8.  8igmoideae)  zu  bilden,  welche  so  gestellt  sind,  dass  sie  mit  ihren 
freien  concaven  Rändern^  von  der  Kammer  weg,  gegen  den  weiteren 
Verlauf  der  am  Ostium  ai^te^iosum  entspringenden  Arterie  gerichtet 
sind,  ihren  befestigten  convexen  Rand  aber  in  der  Peripherie  des 
Ostium  artenosum  einpflanzen.  In  der  Mitte  des  freien  Randes  jeder 
halbmondförmigen  Klappe,  findet  sich  eine  Verdickung  als  Nodulus 
Arantii  8,  Morgagni,  welche  in  den  Semilunarklappen  der  Aorta 
immer  stärker,  als  in  jenen  der  Arteria  pidmonalis  entwickelt  ist. 

Anch  am  freien  Rande  der  Atrio-Ventricnlarklappen  kommen  solche  Knöt- 
chen vor,  welche  von  Albini  besclirieben  wurden  (Wochenblatt  der  Zeitschrift 
der  Wiener  Aerzte,  1856,  Nr.  26).  Dieselben  waren  jedoch  schon  älteren  Anatomen 
bekannt,  und  Cruveilhier  erwähnt  ihrer  ausdrücklich  mit  den  Worten:  la 
circoiifdrence  libre  de  la  valvule,  priaentc  queUjwfois  de  pelits  iwdulea,  TraiU  d^ana- 
taniie  descriptive,  3,  edit,  Tom,  IL  pag,  626, 

Der  Mechanismus  der  Herzklappen  lässt  sicli  leicht  verstehen.  Da  die  Herz- 
kammern in  einem  ununterbrochenen  Wechsel  von  Ausdehnung  imd  Zusaminen- 
ziehiuig  begriffen  sind,  und  dadurch  das  Blut  bald  aus  den  Vorkammern  in  »ich 
aufnehmen,  bald  in  die  Arterien  hinaustreiben,  so  müssen  die  Klappen  so  an- 
gebracht sein,  dass  sie  dem  Eintritte  des  Blutes  durch  das  Orificium  venosum,  und 
dem  Austritte  durch  das  Orificium  arteriosum^  kein  Hiiiderniss  entgegenstellen.  Ya 
sind  deshalb  die  freien  Rander  der  Vcdvulu  trictiapidcdis  und  mitrcdi»  gegen  die 
Höhle  der  Kammer  gekehrt,  jene  der  Valvulae  aeiuilunares  aber  von  ihr  abgewendet. 
Dehnen  sich  die  Kammern  aus,  so  strömt  das  Blut  durch  die  geöffnete  Schleusse 
der  Valvula  tricuspidaliti  und  mitralis  ungeliindert  in  «ie  ein.  Folgt  im  nächsten 
Moment  die  Zusammenziehung  der  Kammer,  so  würde  das  Blut  theilweise  den 
Weg  wieder  zurücknehmen,  auf  welchem  es  in  die  Kammer  gelangte.  Um  dieses 
zu  verhüten,  stellen  sich  die  Zipfe  der  Valvula  tricimpidalis  und  milralis  so,  dass 
sie  das  Ostium  cUrio-veiUriculare  schliessen  und  das  Blut  somit  durch  die  andere 
Oefl&iimg  der  Kammer  (Ostium  nrteriosumj  in  die  betreffende  Sclilagader  getrieben 
wird.  Die  Valvulae  semünnaren  sind,  wälirend  die  Kammer  sich  zusammenzieht, 
und    das    Blut    in    die    Arterie    treibt,    geöffnet.     Hört   die  Zusammcnziebung  der 


§.  388.  Bau  der  Herzwand.  957 

Kammer  auf,  so  sncht  die  Elasticität  der  Arterie  einen  Theil  des  Blutes  wieder 
in  die  Kammer  zurückzutreiben.  Dieses  Zuriickstanen  des  Blutes  scliliesst  die 
Vahulae  aeniUwiareSf  inid  versperrt  der  einmal  aus  dem  Herzen  getriebenen  Blut- 
säule, den  Rücktritt  in  dasselbe.  Das  Klappenspiel  des  Herzens  wiederholt  somit 
die  bekannte  Ventilation  einer  Druck-  und  Saugpumpe. 


§.  388.  Bau  der  Herzwand. 

Man  unterscheidet  am  Herzen  einen  äusseren  und  inneren 
häutigen  Ueberzug,  und  eine  zwischen  beiden  liegende  Muskel- 
schicht, welche  an  den  Kammern  bedeutend  stärker  als  an  den 
Vorkammern,  und  an  der  linken  Kammer  stärker  als  an  der 
rechten  ist. 

Der  äussere  häutige  Ueberzug  des  Herzens,  gehört  dem  Herz- 
beutel an  (Pericardium,  §.  391),  dessen  inneren  oder  eingestülpten 
Ballen  er  darstellt.  Dünn,  glatt,  und  sehr  reich  an  elastischen  Fasern, 
hängt  er  durch  kurzes  Bindegewebe,  welches  in  den  Sulcis  ge- 
wöhnlich mehr  weniger  Fett  enthält,  so  fest  mit  der  Muskelschichte 
zusammen,  dass  er  nur  schwer,  und  nie  als  Ganzes  abgelöst  werden 
kann.  Stellenweise  Verdickung  dieses  Bindegewebes  durch  plastische 
Exsudate,  erzeugt  die  sogenannten  Sehnenflecke  des  Herzens.  — 
Die  innere  Auskleidung  der  Herzhöhlen  (Endocardium)  ist  eine 
dünne,  mit  einschichtigem  Pflasterepithel  versehene,  vorzugsweise 
aus  elastischen  Fasern  bestehende  Membran,  welche  durch  Faltung 
die  Klappen  bildet,  und  alle  Hervorragungen  an  der  inneren  Ober- 
fläche der  Kammern  und  Vorkammern  (Trabeculae  cameae,  Mmculi 
papilläres,  und  Chordae  tendineae)  mit  Ueberzügen  versieht. 

Die  groben  Muskelbüudel  der  Kammern  und  Vorkammern 
beider  Hälften  des  Herzens  sind;  wie  überhaupt  alle  Muskeln,  aus 
kleineren  Fleischbündeln  zusammengesetzt.  Diese  Bündel  gehen 
von  einem  fibrösen  Gewebe  aus,  welches  als  vollständiger  oder  un- 
vollständiger Ring  jedes  OsHum  venomm  umgiebt.  Der  Ring  heisst 
Anindus  ßbro-carülagineus,  obwohl  er  nur  faserige  Structur  besitzt. 
Er  bildet  auch  durch  eine  blattförmige  Fortsetzung  die  Grundlage 
der  Valvtda  tricuspidalis  und  mürcdis,  und  giebt  diesen  Klappen 
jenen  Grad  von  Festigkeit,  welchen  sie  als  einfache  Duplicaturcn 
des  dünnen  Endocardium  nicht  besitzen  könnten.  Auch  die  Ostia 
arteriosa  der  Kammern  werden  von  ähnlichen,  aber  schwächeren 
Faserringen  umgeben,  deren  blattförmige  Verlängerungen  die  Grund- 
lage der  Valv^ulae  semilunares  bilden. 

Die  zwischen  Peri-  und  Endocardium  eingeschaltete  Muskel- 
schichte —  das   sogenannte  Herzfleisch  —  besteht^   obwohl  das 
Herz  zu  den  unwillkürlichen  Muskeln  zählt^  ans  qaergestreif' 
Muskelfasern,  welche  sonst  nur  in  den  der  WiDkilr 


958  S*S88.  Ban  der  Henwand. 

animalischen  oder  Skeletmiiskeln  angetroffen  werden.  Die  quer- 
gestreiften Muskelfasern  des  Herzens,  unterscheiden  sich  aber  von 
jenen  der  Skeletrauskeln  erstens  dadurch,  dass  sie  dünner  sind,  und 
netzartig  untereinander  zusammenhängen,  und  zweitens  durch  ihre 
Kerne,  welche  nicht  wie  bei  den  Primitivfasern  der  Skeletmuskcln, 
unmittelbar  unter  ihrem  Sarcolemma,  sondern  im  Inneren  ihrer 
contractilen  Substanz  liegen.  —  An  den  Vorkammern  gehören  die 
oberflächlichen  Muskelbündel  beiden  zugleich  an,  d.  h.  sie  gehen 
um  beide  herum.  Die  tiefer  gelegenen  entspringen  und  endigen  an 
den  Annulis  fibro^cartüagineis,  und  umgreifen  schlcifenai*tig  nur  Eine 
Vorkammer.  An  den  Einmündungsstellen  der  Körpervenen,  der 
Kranzvene  des  Herzens,  und  der  Lungenvenen  in  die  betreffenden 
Vorkammern,  so  wie  an  dem  embryonischen  Foramen  ovale  im 
Septum  atriorum,  nehmen  die  Muskelbündcl  die  Gestalt  von  Kreis- 
muskeln an.  —  Die  Muskelfasern  der  Vorkammer  setzen  sich  auch 
auf  die  grossen  Venenstämmc  fort,  welche  in  die  Vorkammer  ein- 
münden. Sie  erstrecken  sich  an  den  llohlvenen  bis  zur  Stelle,  wo 
der  Herzbeutel  sich  auf  dieselbe  umschlägt,  —  an  der  Lungenvene 
bis  zu  ihren  primären  Zweigen.  —  Au  den  Kammern  wird  die 
Anordnung  der  Muskelbündel  eine  viel  complicirtcre.  Sie  ist,  offen 
gestanden,  nicht  ganz  genau  bekannt.  Die  oberflächliche  Fleischlage 
besteht  aus  Bündeln,  welche  schief  über  beide  Kammern  weglaufen, 
und  nachdem  sie  die  Spitze  des  Herzens  umschlungen  haben  (wo- 
durch der  sogenannte  Herzwirbel  gebildet  wird),  in  die  tiefste 
Fleischlage  der  Kammerwand  übergehen,  welche  durch  die  Musculi 
papilläres  in  Beziehung  zum  Klappenapparat  steht.  Sie  beschreiben 
also  im  Ganzen  Achtertouren.  Die  folgenden  Faserlagen  verhalten 
sich  ähnlich.  Jede  rollt  sich  am  Herzwirbel  ein,  um  in  die  tieferen 
Schichten  der  Kammerwand,  oder  in  das  Septum  ventriculorum  zu 
gelangen.  Eine  Anzahl  von  ihnen  endet  auch  in  den  Musculi  papil- 
läres. Li  der  Nähe  der  Herzbasis  kommen  auch  breite  Ringe  von 
Kreisfasern  vor,  welche  nur  Einer  Kammer  angehören,  und  zwisclien 
der,  den  beiden  Kammern  gemeinschaftlichen  oberflächlichen  und 
tiefen  Fleischlage,  eingeschaltet  liegen. 

Die  fibrösen  Ringe  um  die  Ostia  vetiosa  werden,  ihrer  Beziehungen  zu  den 
Muskelbündeln  des  Herzens  wegen,  auch  als  Tendiiies  cordis,  oder,  ihrer  Festig- 
keit wegen,  als  Circuli  caUosi  HaUeri  bei  älteren  Schriftstellern  1)enannt.  —  lieber 
die  ilrmti^t  fihro-cartilaginei  an  beiden  Osticn  der  Kammern,  und  ihre  Beziehung 
zu  den  Klappen,  handelt  ausfülirlich :  L.  Jotteph,  im  Archiv  ftir  pathologische 
Anat.  14.  Bd. 

Die  besten  Arbeiten  Über  die  Muskulatur  des  Herzens  stammen  von 
C.  Ijudwig  (Henle's  und  Pfeuffer'a  Zeitschrift,  VII.  Bd.),  und  von  J,  R  PeUigrew 
(Phil.  Transactions). 

Zwischen  den  Muskel1)Ünde]n  des  Herzfleisches  findet  sich  nur  spärliches 
Bindegewebe.      Es    erklärt     sich    daraus     die    auffallende    Härte    des    gesanden 


|.  889.  Speeielle  BMchreibnng  der  einxelnen  Abtheiliingen  dM  Herzens.  959 

Herzfleisches.  —  Die  sich  kreuzenden,  relativ  spärlicheren  Mnskelbündel  der  Vor- 
hOfe,  lassen  Maschen  zwischen  sich  frei,  in  welchen  das  Peri-  und  Endocardium 
mit  einander  in  Berttlirung  kommt. 

Mein  ehemalig^er  Schüler,  Prof.  Hauschka,  fand,  dass  im  obersten  Bezirke 
der  Kammerscheidewand,  an  einer  g^enau  umschriebenen  Stelle,  dicht  unter  dem 
Winkel,  welchen  die  rechte  und  linke  ValvuJa  seimüunari»  der  Aortenwurzcl  bilden, 
die  Muskelfasern  fehlen,  und  die  Endocardien  beider  Ventrikel  zu  einer  dünnen, 
durchscheinenden,  häutigfen  Platte  verschmelzen,  welche  den  schwächsten  Theil 
der  Kammerscheidewand  bildet.  Unter  pathologisclien  Bedingimgen  kann  es  selbst 
zum  Durchbruch  dieser  dünnen  Stelle  kommen.  Die  durchscheinende  muskelfreie 
Stelle  wurde  als  ein  constantes  Vorkommen  erklärt,  da  sie  sich  an  dreihundert 
untersuchten  Herzen,  mit  geringen  Variationen  ihrer  Grösse,  vorfand.  (Wiener 
medicinische  Wochenschrift,  1855,  Nr.  9.)  Historisches  und  Pathologisches  hier- 
über giebt  Remhartf  im  Archiv  für  path.  Anat.  1857,  und   Virchow,  ebenda,  1868. 


§.  389.  Speeielle  Beschreibung  der  einzelnen  Abtheilungen 

des  Herzens. 

1.  Rechte  Vorkammer,  Atrium  dextrum. 

Da  man  sieh  die  rechte  Vorkammer  als  durch  den  Zusammen- 
fluss  beider  Hohlvenen  gebildet  dachte,  wurde  sie  auch  Sintis  vena- 
rum  cavarum  genannt.  Sie  liegt,  wegen  der  linkseitigen  Axendrehung 
des  Herzens,  mehr  nach  vom,  als  die  linke,  und  hat  —  das  rechte 
Herzohr  abgerechnet  —  im  ausgedehnten  Zustande  die  öestalt  eines 
irregulären  Würfels  mit  abgerundeten  Rändern.  Die  rechte  oder 
äussere  Wand  des  Würfels  ist  die  kleinste.  Die  linke  oder  innere 
Wand  gehört  dem  Septum  atriorum  an.  Sie  zeigt  an  ihrer  hinteren 
Hälfte  eine  eiförmige  Grube,  Fossa  ovalisj  in  welcher  die  Endo- 
cardien beider  Vorhöfe,  wegen  Fehlens  der  Muskelschichte,  in  Be- 
rührung kommen.  Der  Boden  der  Fossa  ovalia  ist  somit  blos  mem- 
branös.  Ein  fleischiger  Wulst ,  Ldmbus  foraminis  ovalis  «.  IstJimus 
Vietissenii,  umgiebt  die  Fossa  ovalis,  jedoch  nur  an  ihrer  vorderen 
Peripherie.  Er  wird  nur  von  der  rechten  Vorkammer  aus  gut 
gesehen. 

Sehr  oft  bemerkt  man  an  der  rechten  Seite  des  Septum,  unter  dem  freien, 
nach  hinten  sehenden  concaven  Bande  des  Limbus,  eine  Art  von  Tasche  oder 
Grube,  aus  welcher  eine  Sonde  in  den  linken  Vorhof  hinübergfeführt  werden  kann. 
In  diesem  Falle  findet  man  auch  an  der  linken  Seite  des  Septum  einen  mit  seiner 
Concavität  nach  vom  sehenden  Halbringf,  als  vorderen  Rand  des  membranösen 
Bodens  der  Fosga  avaiü.  Wir  haben  also  dann  in  der  Fo89a  ovali»  zwei  einander 
mit  ihren  Concavitäten  entgegen  stehende  Bogen,  deren  vorderer,  fleischig^er,  der 
Limfma  Vieusgenii  ist,  deren  hinterer,  membranöser,  dem  Boden  der  Fossa  an- 
gehört. Beide  Bogenconcavitäten  sind  so  übereinander  geschoben,  dass  sich  ihre 
Ränder  decken,  welche  nun  g^nz  oder  nur  theilweise  mit  einander  verwachsen. 
Verwachsen  sie  nur  theilweise,  so  wird  die  oben  erw&hnte  Communication  zwischen 
rechter  und  linker  Vorkammer  gegeben  sein.  Das  EmbiyY^ens  giebt  uns  hierüber 
näheren    Aufschluss.    Denn   beim  Embryo   ist   die    Fo99a  ovalia   in  ihrer  ganzen 


960  S*  8^'  Specielle  BMehreiban;  der  einzelnen  Abtheilangen  doB  Heneni. 

Grösse  ein  offenes  Loch,  und  heisst  Foramen  ovcUe  (Trau  de  Botal  der  Franzosen). 
Der  Verschluss  dieses  Loches  wird  durch  das  Hervorwachsen  einer  halbmond- 
förmig^en  Falte  am  hinteren  Rande  des  Loches  erzielt,  welche  Falte  sich  immer 
mehr  und  mehr  vorschiebt,  bis  sie  den  vorderen  Umfang  des  Loches  erreicht, 
and  sich  daselbst  an  die  linke  Seite  des  Linibtu  Vieu8»etm  schieberartig  anlegt, 
nm  mit  ihm  vollständig,  oder  mit  Zurückbleiben  einer  Spalte  zu  verwachsen. 
Perennirt  eine  solche  Spalte  auch  im  geborenen  Menschen,  so  unterhält  sie  eine 
offene,  wenn  auch  sehr  enge  Verbindung  zwischen  beiden  Vorkammern.  Sie  wird 
aber  dennoch  das  Blut  nicht  aus  einer  Vorkammer  in  die  andere  strömen  lassen, 
weil  die  Über  einander  geschobenen  Ränder  der  Spalte,  durch  den  in  beiden  Vor- 
höfen gleichen  Blutdruck  aneinandergedrückt  erhalten  werden. 

An  der  hinteren  Wand  der  rechten  Vorkammer  pflanzt  sich 
die  Vena  cava  inferior  ein.  Von  der  vorderen  erhebt  sich  die 
Auricula  dextra,  welche  sich  als  pyramidale,  vielfach  eingekerbte 
Verlängerung  der  Vorkammer,  vor  der  Wurzel  der  Aorta  nach 
links  heriiberlegt.  In  der  oberen  Wand  mündet  die  Vena  cava 
auperior.  Die  untere  enthält  das  in  die  rechte  Kammer  führende 
Oatium  venosum.  An  der  inneren  Oberfläche  der  rechten  Vorkammer, 
besonders  an  ihrer  vorderen  Wand,  sind  die  Muscvli  pectinaU  sehr 
markirt. 

Man  findet  in  der  rechten  Vorkammer  noch: 

a)  Die   Valvtda  Thebesii, 

Da  die  rechte  Vorkammer  alles  Voncnblut  des  Leibes  zu  sammeln  hat,  so 
muss  die  Kranzvenc  des  Herzens,  welche  sich  weder  fnit  der  oberen  noch  mit 
der  unteren  Hohlvene  verbindet,  sich  isolirt  in  diese  Vorkammer  entleeren.  Die 
Einmündung^stelle  der  Kranzvene  in  die  reclite  Vorkammer,  liegt  an  der  Zu- 
sammenkunft der  inneren  und  hinteren  Wand.  Sie  wird  durcli  eine  halbmond- 
förmige, sehr  oft  gefensterte  Klappe,  Valvula  Thebesii,  deren  concaver  Rand 
gegen  die  Scheidewand  beider  Vorkammern  gerichtet  ist,  gewöhnlich  nur  theil- 
weise  bedeckt.  Kleinere  Herzvenen  entleeren  sich  ebenfalls  durch  besondere, 
an  Zahl  variirende  Oeffnungen  (Foramina  Thebesii)  in  die  rechte  Vorkammer, 
worüber  Bochdalek  juiu  im  Archiv  für  Anat.,  1868,  ausführlich  handelt.  Die  Val- 
vtda  Thebesii  führt  ihren  Namen  von  dem  schlesischen  Arzte,  Ad.  Chr.  Thebe- 
sius,  welcher  sie  in  seiner  Inauguralsclirift,  de  circulo  aafiguinis  in  corde^  Lttgd», 
1708,  sehr  gut  beschrieb,  olme  zu  wissen,  dass  die  Klappe  schon  von  En  stach  ins, 
de  veiia  sine  pari,  in  Opusc,  anat.  VeneL,  156,'),  erwähnt  und  auch  abgebildet 
wurde,  Tab.  8,  Fig.  6,  und  Tab.  16,  Fig.  1. 

h)  Die   Valvula  EvstachiL 

Sie  findet  sich  nur  im  Embryo  in  voller  Entwicklung  vor,  wo  ihre  Wirk- 
samkeit während  des  Offenseins  des  Foramen  ovale,  besonders  in  Anspruch 
genommen  wird.  Reste  derselben  bei  Erwachsenen,  sind  ohne  functionelle  Wichtig- 
keit. Ihre  Gestalt  ist  sichelfl)rmig,  ihr  freier  Rand  nach  innen  und  oben  ge- 
richtet, ilir  Befestigungsrand  erstreckt  sich  vom  recliten  Umfange  der  unteren 
Hohlvenenmündung  zum  vorderen  Schenkel  des  Isthmus  Vieussenii  empor.  Ihre 
Verwendung  im  Embryo  scheint  darin  zu  bestehen,  dass  sie,  nach  Art  eines 
Wehres,  den  Blutstrom  der  unteren  Cava  gegen  das  Foramen  ovale  hinlenkt.  Sie 
schliesst  deutliche  Muskelfasern  ein.  Im  Erwachsenen  trifft  man  nur  einen  Beat 
dieser  Klappe,  welcher  überdies  noch  durchlöchert  sein  kann. 


§.  888.  Spaeiell»  BMcbreibnng  dtr  eiaMlnra  Abth«nung«ii  dM  Heneni.  961 

c)  Das  Hiherculum  Loveii,. 

Dasselbe  wird  als  ein,  hinter  der  Faota  ovdUt,  zwischen  den  Oeffiinngen  beider 
Hohlvenen,  mehr  weniger  vorsprin^nder  Wnlst  angegeben.  Im  Embryo  dient 
dieser  Vorsprang  dazu,  die  Blutströme  beider  Cavae  sm  verhindern,  sich  scheitel- 
recht sm  treffen,  zugleich  aber  auch  den  Strom  der  Caoa  mperior  zum  Ostium 
(UruhverUriculare  dextrum  zu  dirigiren,  wie  die  Valwda  Eustachü  den  Strom  der 
Cava  inferior  zum  Faramen  ovale  leitet.  Da  nun  der  Strom  der  Caoa  tuiperior 
blos  venOses  Blut  führt,  jener  der  Cava  inferior  aber  durch  den  Duc^ut  venoaua 
Arantn  auch  arterielles  Blut  aus  der  Nabelvene  erhlUt,  so  wird  im  Embryo  vor- 
waltend venöses  Blut  durch  das  OsUum  atrio^ventriculare  dextrum  in  die  rechte 
Kammer,  von  dieser  in  die  Arteria  pulmonalia,  und  sofort  durch  den  Dudtut 
BotaUi  in  die  Aorta  thoracica  descendens  gelangen,  welche  die  untere  Körperhälfte 
versieht,  w&hrend  das  gemischte  Blut  der  unteren  Hohlader,  direct  durch  das 
Foramen  owUe  in  die  linke  Vorkammer,  aus  dieser  in  die  linke  Kammer,  und 
somit  in  den  Aortenbogen  gelangt,  dessen  drei  Cardinalftste  es  in  die  obere 
Körperhälfte  vertheilen.  Aus  diesem  Verhältnisse  soll  sich  der  raschere  Wachs- 
thum  der  oberen  Körperhälfte  des  Embryo  gegen  die  untere  ergeben.  —  Das 
Tuberculum  wurde  von  Richard  Lower  zuerst  an  Thierherzen  entdeckt,  und 
im  Tractatus  de  corde,  London,  1669,  pag,  34,  beschrieben.  Im  Herzen  des  ent- 
wickelten Menschen  scheint  es  mir  so  unerheblich,  dass  es  füglich  unerwähnt 
bleiben  könnte.  Nach  He  nie  verdankt  das  Tuberculum  seine  Existenz  einer 
Ablagerung  von  Fett  zwischen  den  beiden  Schichten  der  Muskulatur  des  Atrium, 
deren  innere  durch  dieses  Fett  gegen  das  Atrium  vorgewölbt  wird.  Halle r 
verwirft  es  gänzlich,  und  viele  Neuere  mit  ihm. 

2.  Linke  Vorkammer^  Atriwn  dnUtrum. 

Die  linke  Vorkammer  wird  auch  Sinus  venarum  pulmcnaUum 
genannt^  und  hat  im  Ganzen  dieselbe  cubische  Gestalt;  wie  die 
rechte.  Die  obere  Wand  nimmt  die  vier  Lungenvenen  auf;  an  der 
linken  Wand  erhebt  sich  die  Auricula  sinistray  welche  an  ihrer 
Basis  tie^  eingeschnüii;  ist^  und  sich  an  die  Wurzel  der  Lungen- 
arterie legt.  Musculi  pecHnati  springen  an  der  inneren  Wand  dieses 
Vorhofes  nicht  vor. 

3.  Rechte  Kammer^  Ventrictdus  dexter, 

Sie  zeigt,  wie  die  linke,  im  verticalen  Durchschnitt  eine  drei- 
eckige Gestalt,  mit  unterer  Spitze  und  oberer  Basis.  Schneidet  man 
das  Herz  quer  durch,  so  erscheint  der  Durchschnitt  der  rechten 
Kammer  als  Halbmond.  Die  concave  Seite  des  Halbmonds  gehört 
dem  Septwm  ventriculorum  an,  welches  nicht  plan,  sondern  gegen 
die  rechte  Kammer  zu  convex  ausgebogen  ist.  Das  Ostium  venosum 
und  arteriosum  liegen  an  der  Basis  der  Kammer.  Sie  berühren 
sich  nicht,  wie  im  linken  Ventrikel,  sondern  sind  durch  ein  circa 
fünf  Linien  breites  Interstitium  von  einander  getrennt.  Die  am 
Umfange  des  Ostiwm  venosum  haftende  Valwda  tricuspidalis ,  ragt 
mit  ihren  drei  Zipfen,  von  welchen  der  vordere  der  grösdte  ist, 
weit  in  die  Kammerhöhle  herab.  Nicht  alle  Chardae  tendineae  der 
Valmda  trieuspiddlis  gehen  aus  Papillarmuskeln  hervor.    Es  finden 

Hjrtl,  Lskrbuoli  dsr  Aiuktomi«.  U.  Aufl.  ^\ 


962  §.  889.  Spezielle  Beschreibung?  der  einzelnen  Abtheilnngen  des  Herzens. 

sich  immer  einige  in  der  rechten  Kammer,  welche  aus  der  Fläche 
des  Septum  veniricvloi^m  auftauchen.  —  Das  Ostium   arteriosum  der 

rechten   Kammer   befindet   sich    am    linken    Winkel    der  Kammer- 

« 

basis,  neben  und  vor  dem  Ostium  venosum.  Zwischen  beiden  hängt 
der  innere  Zipf  der  Valvula  tricuspidalis  herab.  Man  nennt  jenen 
Winkel  der  Kammer,  welcher  mittelst  des  Ostium  arteriosum  in  die 
Lungenschlagader  führt,  Conus  arteriosus,  oder  Infwidibidum. 

Der  Stand  der  PapiUarmnskeln  entspricht  nicht  den  Spitzen  der  Klappen, 
sondern  der  Spitze  des  zwischen  zwei  Klappen  befindlichen  Winkeleinschnittes. 
Dadurch  wird  es  möglich,  dass  ein  Papillarmuskel  seine  Chordae  tendineete  zu 
den  einander  zugekehrten  Rändern  zweier  Klappenzipfe  schickt,  somit,  nebst  der 
Spannung  der  Klappen,  auch  auf  ihren  festeren  Zusammenschluss  einwirkt.  Jene 
Chordae  bendvneae,  welche  nicht  an  den  Rand  der  Klappen,  sondern  an  die  der 
Wand  des  Ventrikels  zusehende  Fläche  derselben  treten,  spalten  sich  an  ihrer 
Insertionsstelle  dichotomisch  oder  mehrfach,  und  die  Spaltnngsästchen  mehrerer 
Chordae  verbinden  sich  zu  einem  Netzwerk,  welches  die  Stärke  und  Widerstands- 
kraft der  Klappen  bedeutend  vermehrt,  und  ihre  Ausbauchung  gegen  die  Vor- 
kammer während  der  Znsammenziehung  der  Kammer  verhindert. 

Die  drei  Valvtdae  aeniilwMreg  am  Ursprung  der  Arteria  ptdnumatUf  werden 
in  eine  vordere,  rechte,  und  linke,  eingetheilt.  Sie  sind  breiter  als  der 
Halbmesser  des  Offtinm  arterionum,  und  müssen  deshalb,  wenn  sie  während  der 
Diastole  der  Kammer  zuklappen,  durch  Flächencontact  ihrer  Ränder,  die  Oeffhang 
um  so  verlässlicher  schliessen.  Jede  Valvula  j*einüunarU  stellt  eine  gewöhnliche 
Wandtasche  (wie  sie  an  Kutschenschlägen  angebracht  werden)  von  massiger  Tiefe 
vor.  Die  Ränder  dieser  Taschen  pressen  sich  im  gefüllten  Zustande  gegenseitig 
aneinander,  so  dass  durch  das  Einstellen  der  drei  Klappen,  die  Gestalt  eines  @ 
entsteht.  Sehr  selten  werden  die  Valvtdae  semilunarrs  der  Arlerla  imlmmialh  auf 
zwei  vermindert,  oder  auf  vier  vermehrt  (Wiener  Museum).  Die  Noduli  Armitii  der 
Arteria  jjuhionalM  sind  oft  Mehr  klein,  fehlen  aber  nie  gänzlich. 

4.  Linke  Kammer,    Ventnculus  sinister. 

Die  Wand  der  linken  Kammer  ist  beim  Erwaclisenen  mehr 
als  dopj)elt  so  stark,  als  jene  der  rechton,  ihr  Lumen  am  Quer- 
schnitte des  Herzens  jedoch  kein  Halbmond,  sondern  ein  Kreis. 
Das  Ostium  veiwsuvi  und  arteriosum  liegen,  wie  in  der  rechten 
Kammer,  an  der  Basis  derselben,  und  sind  so  nahe  aneinander 
gerückt,  dass  sie  sich  berühren.  Die  Valvtda  viitrcdi^  am  Ostium 
venosum  (quam  mitrae  episcopcdi  non  inej)te  contxderis,  Vesal.)  ist  so 
gestellt,  dass  ihre  zwei  Zipfe  in  einen  vorderen  und  hinteren  ein- 
getheilt werden  können.  Die  freien  Ränder,  und  die  der  Kammer 
zugekehrten  Flächen  der  Klappenzipfe,  sind  immer  mit  den  Cliordae 
tendineete  zweier  Papillarmuskel n  in  Verbindung,  welche  an  der 
vorderen  und  hinteren  Kammerwand,  nicht  auf  dem  Septum  auf- 
sitzen. Die  Valwlae  mitrales  enthalten,  so  wie  die  tiicuspiduUsy 
quergestreifte  Muskelfasern,  jedoch  nur  an  ihrer  Basis,  nicht  an 
ihrer  Spitze.  —  Die  Valvtdae  semilunares  des  Ostium  arteriosum 
stehen  so,  dass  man  eine  rechte,  linke,  und  hintere,  unter- 
scheidet.    Bei    ihrem    Schluss    bilden   sie  also  die  Gestalt  eines  @. 


§.  390.  MfchuDisrnuK  der  Herzpampe.  963 

Sie  sind,  so  wie  die  V^alviJ'a  mUralis,  dicker  als  die  Klappen  in 
der  rechten  Kammer.  Voji  den  ansehnlichen  Nodvlis  Arantii,  welche 
die  Mitte  jedes  freien  Klappenraudes  einnehmen,  sieht  man  zuweilen 
bogenförmig  geschwungene  Fasern  zu  den  zwei  Endpunkten  des 
freien  Klappenrandes  hinlaufen.  Diese  bilden  dann  die  sogenannten 
Lunulae  valvularum,  deren  natürlich  nm*  zwei  an  einer  Klappe  vor- 
kommen können.  Obwohl  die  freien  Ränder  der  Valvulae  semilunares 
gar  nicht  selten  durchlöchert  erscheinen,  beirrt  dieses  Vorkommen 
den  Verschluss  des  Ostium  arieriosum  gar  nicht,  da  ja  die  Semi- 
lunarklappen  sich,  während  ihres  Zusammenschlusses,  wie  früher 
erwähnt,  mit  einer  breiteren  Randzone  aneinanderlegen. 

Glückliche  Injectionen  haben  in  allen  Klappen  des  Herzens 
das  Vorkommen  feinster  und  sehr  spärlicher  BlutgefUsse  nach- 
gewiesen. —  Wie  sich  die  Valvulne  semüunares  zu  den  Ursprungs- 
öftnungen   der  Kranzschlagadern    verhalten,   wird   in  §.  393  gesagt. 

Der  Schüler  thut  am  besten,  wenn  er,  um  die  genannten  Ge^nstände  in 
der  Leiche  zxi  besichtigen,  das  Herz  in  seinen  Verbindungen  mit  den  grossen 
Gcfössen  lässt,  und  die  Anatomie  des  Herzens  zugleich  mit  der  Topographie  der 
lirusteingeweide  studirt.  Die  häufig  angewendeten  Richtung«-  und  Lagerungs- 
bestimmungen (rechts,  links,  vorn,  hinten)  sind,  wenn  das  exstirpirte  Herz  zum 
Studium  benützt  wird,  nicht  so  anschaulich,  als  wenn  Alles  in  natürUcher  Lage 
verbleibt.  Man  öffnet  den  Herzbeutel,  trägt  ihn  an  seiner  Umstülpungsstelle  zu 
den  grossen  Gefössen  ab,  um  Raum  zu  gewinnen,  und  folgt  in  der  Zergliede- 
rung des  Her/ens  dem  Wege,  welchen  das  Blut  durch  das  Herz  nimmt,  d.  h. 
man  beginnt  mit  der  rechten  Vorkammer,  und  endet  mit  der  linken  Kammer. 
Dil*  Schnitte  werden  an  den  Vorkammern  an  ihrer  vorderen  Wand  gemacht,  und 
gegen  die  Spitze  der  Kammern  am  rechten  und  linken  Rande  des  Herzens  hinab- 
geführt. Eine  richtige  Ansicht  der  bei  der  Topographie  der  Brusteingeweide  er- 
örterten Verhältnisse  der  grossen  Gefasse,  ist  der  beste  Führer  bei  der  Zer- 
gliederung des  Herzens.  Besondere  praktische  Regeln  giebt  das  dritte  Capitel 
meines  Handbuches  der  praktischen  Zergliederung^kunst.  Wien,  1860. 


§.  390.  Mechanismus  der  Herzpumpe. 

Die  Vorkammern  und  Kammern  des  Herzens  nehmen  während 
ihrer  Erweiterung  (Diastole)  Blut  auf,  und  treiben  es  während  ihrer 
Zusammen  Ziehung  (Systole)  wieder  aus.  Die  Erweiterung  ist  ein 
passiver,  die  Zusammenziehung  ein  activer  Zustand  des  Heinzens. 
Dass  die  Erweiterung  des  Herzens  kein  activer  Zustand  sei,  lässt 
sich  schon  daraus  entnehmen^  dass  am  Herzen  kein  einziges  Muskel- 
bündel existirt,  welches  durch  seine  Zusammenziehung  die  Herz- 
höhlen vergrössern  könnte.  Man  kami  aber  nicht  in  Abrede  stellen, 
dass  das  nach  vollendeter  Systole  in  die  Diastole  zurückkehrende 
Herz,  wie  jeder  andere  erschlaffende  Muskel,  eine  Verlängerung 
aller   seiner   Muskelbündel   erleidet^   welche   Verlängerung  auf  die 


964  §•  390.  MeehaniBiniis  der  Henpamp«. 

Vergrösserung  der  Herzräume  nicht  ohne  Einfluss  sein  kann,  und 
somit  die  Saugwirkung  des  Herzens  nicht  gänzlich  aufgegeben  zu 
werden  braucht. 

Während  der  Diastole  der  Kammern,  welche  mit  der  Systole 
der  Vorkammern  auf  dasselbe  Zeitmoment  fällt,  füllen  sich  die 
Kammerräume  mit  Blut,  welches  durch  die  nächst  folgende  Systole 
der  Kammern  in  die  Lungenarterie  und  in  die  Aorta  getrieben  wird, 
und  die  elastischen  Wände  dieser  Gefasse  ausdehnt.  Das  rechte 
Herz  nimmt  nur  Venenblut  auf,  welches  ihm  die  beiden  Hohladern 
zufuhren,  und  treibt  es  durch  die  Lungenarterie  zur  Lunge,  wo  es 
oxydirt  wird,  und,  arteriell  geworden,  durch  die  vier  Lungenvenen 
zur  linken  Vorkammer  und  Kammer  gelangt,  um  sofort  in  die 
Aorta,  und  durch  sie  in  alle  Theile  des  Körpers  getrieben  zu 
werden.  Das  rechte  Herz  kann  insofern  auch  Cor  venosum  oder 
pulmonale,  das  linke  Cor  arteriosum  8,  aortkum  genannt  werden.  Der 
Mensch  hat  also  eigentlich  zwei  Herzen,  welche  aber  nur  Ein  Ein- 
geweide bilden,  weil  sie  sich  aus  Einem  embryonalen  Blutschlauche 
entwickeln.  Da  nun  das  Blut  auf  dem  Wege  vom  rechten  Herzen 
zum  linken,  die  Lunge  passiren  muss,  so  könnte  man  sagen,  dass 
die  Lungenfunction  zwischen  die  Function  des  rechten  und  linken 
Herzens  eingeschaltet  ist.  Der  Umstand,  dass  wenigstens  die  Kreis- 
muskelfasern beider  Kammern  nicht  in  einander  übergehen,  sondern 
jeder  einzelnen  Kammer  besonders  angehören,  beurkundet  zum 
Theil  die  fuuctionelle  Unabhängigkeit  beider  Herzhälften,  deren 
anatomische  Trennung  durch  den  schwachen  Einschnitt  an  der 
Spitze  des  Herzens  angedeutet  wird. 

Bei  pflanzenfressenden  Walfischen  dringt  dieser  Einschnitt  tief  in  das  Septum 
veiUriculorum  ein,  wodurch  am  Herzen  ein  Spalt  entsteht,  welcher  die  rechte  und 
linke  Kammer  von  einander  trennt.  An  einem  männlichen  At^ncephalus  der  Prager 
Sammlung,  ist  ebenfalls  das  Herz  bis  zur  Basis  der  Kammern  gespalten.  Von 
vollkommener  Spaltung  oder  Halbirung  des  Herzens  kennt  die  Anatomie  nur 
Einen  Fall  von  Meckel  (de  duplicitate  monstrosa.  pag.  53). 

Die  Systole  beider  Vorkammern  ist  synchronisch ,  wie  jene 
der  beiden  Kammern.  Auf  die  Systole  der  Vorkammern  folgt  jene 
der  Kammern  nach  einem  kaum  messbaren  Intervall  nach.  Die 
Vorkammersystole  verhält  sich  zur  Kammersystole,  wie  in  der  Musik 
die  Vorschlagnote  zur  Haltnote.  Auf  die  Kammersystole  folgt  nach 
einem  längeren  Intei'valle  die  nächste  Vorkammersystole,  und  der 
Wechsel  der  Bewegimg  geht  überhaupt  so  vor  sich,  dass  jede  Höhle 
sich  beim  erwachsenen,  gesunden  Menschen  in  Einer  Minute  sechzig 
bis  achtzig  Mal  zusammenzieht  und  erweitert.  —  Die  Vorkammern 
werden,  da  die  Einmündungsstellen  der  Hohl  venen  durch  keineKlappen 
geschützt  sind,  während  ihrer  Systole  einen  kleinen  Theil  des  auf- 
genommenen   Blutes    in    die   Venen    zurückwerfen;    die    Kammern 


§.  390.  MeehaDiBmaB  der  Herapnmpe.  965 

dagegen  alles  Blut,  was  sie  enthalten,  bis  auf  den  letzten  Tropfen  in 
die  Schlagadern  treiben,  da  die  Ostia  venosa  während  der  Systole, 
durch  den  Klappenschluss,  den  Rücktritt  des  Blutes  in  die  Vor- 
kammer verweigern.  Nur  wenn  dieser  Klappenschluss  durch  krank- 
hafte Momente  unvollständig  wird,  wie  es  häufig  bei  Insufficienz 
der  Vcdvtda  tricuspidalü  in  der  rechten  Kammer  der  Fall  ist,  wird 
Kammerblut  in  die  Vorkammer,  und  von  der  Vorkammer  in 
die  Hohlvenen  zurückgeworfen,  so  dass  auch  diese  Venen  syn- 
chronisch  mit  der  Kammersystole  pulsiren,  und  der  Puls,  bei  hohen 
Graden  der  Klappenerkrankung,  sich  selbst  über  das  ganze  Hohl- 
venensystem,  bis  auf  die  Venen  des  Hand-  und  Fussrückens,  er- 
strecken kann. 

Damit  die  Etappen  am  Ostium  venosum  der  Kammer,  während 
der  Kammersystole  nicht  in  die  Vorkammer  umschlagen,  sind  sie 
durch  die  Chordae  tendineae  an  die  Musculi  papilläres  befestigt.  Da 
sich  aber  das  Herz  während  der  Systole  verkürzt,  und  die  Chordae 
tendinme  dadurch  so  weit  erschlafft  würden,  dass  trotz  ihrer  Gegen- 
wart, die  Etappen  in  die  Vorkammer  zurückgeworfen  werden 
könnten,  so  sind  die  Chordae  an  die  Papillarmuskeln  geheftet, 
welche,  während  das  Herz  sich  von  unten  nach  oben  verkürzt,  sich 
von  oben  nach  unten  zusammenziehen,  und  dadurch  jenen  Spannungs- 
grad der  Chordae  bedingen,  welcher  erforderlich  ist,  um  die  Etappen 
nicht  überschlagen  zu  lassien. 

Während  der  Ventricnlarsjstole  sind  die  Chordae,  wie  die  Leinen  vom 
Wind  geschwellter  Segel,  straff  ang^ezog^en;  ihre  Insertionspnnkte  an  den  Klappen 
werden  somit  festgestellt  sein,  and  nnr  jene  Stficke  der  Klappe,  welche  zwischen 
den  netzförmig  verstrickten  Anheftungen  der  Chordae  sich  befinden,  werden  sich 
durch  den  Druck  der  Blutmasse  der  Kammern,  etwas  in  die  Vorkammern  aus- 
bauchen. Wie  nothwendig  der  genaue  Verschluss  der  Ostia  der  Kammern  fUr 
die  Erhaltung  der  Gesundheit  und  des  Lebens  ist,  beweist  die  sogenannte  Insuffi- 
cienz der  Klappen,  welche  lange,  qualvolle,  und  unheilbare  Leiden  mit  sich  bringt. 

Ist  das  Blut  der  Kammern  durch  die  Systole  in  die  Arterien 
getrieben,  und  folgt  die  Diastole,  so  föngt  sich  die,  durch  die 
elastische  Contraction  der  Arterien  gegen  die  Kammern  zurück- 
gestaute Blutsäule,  in  den  Taschenventilen  der  Ostia  arteriosa, 
schliesst  diese,  und  wird  durch  sie  so  lange  aufgehalten,  bis  die 
nächste  Systole  eine  neue  Welle  in  die  Arterien  treibt,  durch  deren 
Impuls  die  ganze  Blutsäule  in  den  Arterien  weiter  geschoben  wird. 
Der  Stoss  der  neu  ankommenden  Blutwelle,  welcher  sich  durch 
den  ganzen  Inhalt  des  Arteriensystems  fortpflanzt,  bedingt  eine 
Erweiterung  der  elastischen  Arterie,  welche  als  Pulsschlag  gefühlt 
wird.  Der  Puls  ist  somit  ein  Ausdruck  der  Propulsivkraft  des 
Herzens.  Er  wird  deshalb  in  Organen,  deren  Distanzunterschied 
vom  Herzen  ein  bedeutender  ist,  nicht  vollkommen   isochronisch 


966  §.  990.  HechaniBmas  dor  Herzpumpe. 

sein.  Man  tuhle  mit  der  einen  Hand  den  Puls  der  Art&iia  ttbtalis 
postica  am  inneren  Knöchel,  und  mit  der  anderen  jenen  der  Ar- 
tena  inaadllains  exteima  am  Unterkiefer,  um  sich  von  der  Retardation 
des  Pulses  an  weit  entlegenen  Körpertheilen  zu  überzeugen. 

Jede  Kammersystole  erzeugt  eine  Erschütterung  des  Thorax,  welche  man 
als  sogenannten  Herzschlag  sieht  und  fühlt.  Die  exacte  Physiologie  hat  mehrere 
Erklärungen  dieses  Phänomenn,  aher  keine  einzige  genügende,  gegeben.  Man  nahm 
bisher  an,  dasn  die  Her/spitze  sich  während  der  Systole  hebt,  und  zwischen  der 
fünften  und  sechsten  linken  Rippe  an  die  Brustwand  anschlägt.  Die  Ursachen 
dieses  Hebens  »lichte  man  Üieils  im  Muskelbau  des  Herzens  selbst,  theils  in 
einem  mouvenrnnt  de  hasctde,  welches  die  sich  abwechselnd  erweiternden  und  ver- 
engernden Herzräume,  durch  Verrückiing  ihres  Schwerpunktes  bedingen.  Beide 
Erklänuigsarten  genügen  nicht  G  u  t  b  r  o  t  und  Skoda  haben  den  physikalischen 
Grundsatz  des  hydrostatischen  Druckes  auf  die  Erklärmig  des  Herzschlages  an- 
gewendet (Siehe  Jos.  ITeiiie,  über  die  Mechanik  der  Herzbeweg^ng,  in  Henle'a 
und  Pfettffer^g  Zeitschrift.  1.  Bd.)  —  Eine  andere  Erklärung  des  Herzschlages 
wurde  von  Ki wisch  versucht  (Prager  Vicrteljahrsschrift,  1846),  indem  er  auf 
den  von  allen  früheren  Theorien  übersehenen  Umstand  aufmerksam  machte,  daaa 
das  Herz  an  die  Thoraxwand  nie  anschlagen  könne,  weil  es  nie  von  ihr  sich  ent- 
fernt, sondern  während  der  Systole  imd  Diastole  immer  mit  seiner  vorderen 
Fläche  an  der  inneren  Oberfläche  der  Tlioraxwand  genau  anliegt,  etwa'w^ie  der 
volle  und  'teere  Magen  immer  in  Contact  mit  der  Bauchwand  ist.  Würde  das  Herz 
sich  von  d^r  Tlioraxwand  entfernen,  so  müsste  ein  leerer  Raum  entstehen,  welcher 
in  geschlossenen  Körperhöhlen  niemals  vorkommen  kann.  Der  Impuls,  welchen 
die  Thoraxwand  voijgi^em  sich  contraliirenden  Herzen  erhält,  ist  nach  Kiwi  seh 
nur  durch  das  momentane  Schwellen  der  Muskelsubstanz  des  Herzens,  während 
seiner  Systole,  bedinget.  Allein  hierauf  lässt  sich  entgegnen,  dass  dieses  Schwellen 
der  Muskel  Substanz  kein  Dickerwerden  des  Herzens  bedingt,  da  es  bekannt  ist, 
dass  das  Herz  während  der  Systole  nach  allen  Durchmessern  kleiner  wird.  Viel- 
leicht hat  das  wälirend  der  Systole  stattfindende  Strecken  des  Aortenbogens,  und 
das  dadurch  bedingte  Angedrängtwerden  des  Herzens  an  die  Tlioraxwand  einiges 
Gewicht  bei  der  Erkläning  dieser  noch  immer  nicht  genügend  enträthselten  Er- 
scheinung. —  Komi tz er  löste  das  verwickelte  Problem  des  Herzschlages  auf 
folgende  einfache  Weise.  Der  aufsteigende  Theil  der  Aorta  und  die  Lungen- 
schlagader sind  so  umeinander  gewunden,  dass  sie  einen  halben  Schraubengang 
einer  link«  gedrehten  Spirale  bilden.  Am  unteren  Ende  dieser  Spirale  hängt  das 
freibewegliche  Herz.  Die  Verlängenmg  der  Spirale,  welche  während  des  Ein- 
dringens der  Blutwellc  in  die  Aorta  und  Pulmonalarterie,  nach  unten  zu  erfolgt, 
bedingt  eine  entsprechende  Rotations-  und  llebelhewegung  des  Herzens,  durch 
welche  dasselbe  an  die  Hriistwand  angedrängt  wird,  und  ihr  jene  Erscliüttening 
mittheilt,  welche  als  Herzschlag  wahrgenommen  wird.  F.  KoniUza;  in  den  Denk- 
schriften der  kais.  Akad.  15.  Bd. 

Den  Klappenmechanismus  una  das  Tiiherculum  Loveri  behandelt  A,  Itelzius, 
in  Müller^ 8  Archiv,  1843  und  1865.  —  Ueber  das  Foramen  ovale  schrieb  Hruch 
im  14.  Bd.  der  Schriften    der    Senkciiht'Vfjarheii   Gesellschaft.  Die  Stnictur  des 

Endocardium  und  der  Klappen  des  Herzens  schildert  Lu-tchka,  im  Archiv  für 
pathol.  Anat  18ö'i,  so  wie  im  Archiv  für  physiol.  Heilkunde  1856,  und  die  Blut- 
gefässe der  Klappen,  in  den  Sitzungsberichten  der  kais.  Akad.  1869.  —  Ueber 
den  angeborenen  Defect  der  Herzscheidewand  handelt  Rokiiaiiaky  in  einer  Special- 
schrift. Wien,  1875. 


§.  S91.  Hersl>eiit«1.  967 


§.  391.  Herzbeutel. 

Das  Herz  wird  von  einem  häutigen  Beutel  umschlossen,  welcher 
Pericardium  heisst  (zepi  Ty;v  /.apciav,  um  das  Herz).  Aeltere  Be- 
nennungen sind:  Capsula  cordis  bei  Harvey,  bei  Hippoerates 
TÖ  y.s'jXs6v,  L  e.  vagina  cordis.  Er  liegt  zwischen  den  beiden  Pleura- 
säcken, und  ist  mit  ihnen,  so  weit  er  sie  berührt,  innig  verwachsen. 
Der  Herzbeutel  hat  wohl  im  Allgemeinen  die  Gestalt  des  Herzens, 
ist  somit  kegelfiirmig,  kehrt  aber  seine  Basis  nach  unten,  wo  sie 
mit  dem  Centrum  tendineum  des  Zwerchfells  fest  verwächst,  und 
seine  stumpfe  Spitze  nach  oben.  Er  besteht  aus  einem  äusseren, 
fibrösen,  und  einem  inneren,  serösen  Blatte.  Beide  Blätter  sind 
untrennbar  mit  einander  verschmolzen.  Das  fibröse  Blatt  wird 
vorzugsweise  von  der  Fasclu  endothoi'acica  (§.  169)  gebildet,  und 
hängt  besonders  am  vorderen  Rande  des  Centrum  tendineum  dia- 
phragmatis  fest  an.  Dasselbe  ist  durch  zwei  von  Luschka  ent- 
deckte Bänder  (Ligam&iitmn  steimo-cardiacum  superius  et  inferius)  an 
die  Hinterflächc  des  Sternum  geheftet,  wodurch  der  Druck  des 
Herzens  auf  das  Zwerchfell  vermindert  wird.  Es  geht  oben  in  die 
äussere  Haut  der  grossen  Arterien  über,  welche  aus  dem  Herzen 
entspringen  (Artiiria  pulmonalis  aus  der  rechten,  Aorta  aus  der 
linken  Herzkammer).  Der  Ort,  wo  dieses  geschieht,  ist  für  die 
vordere  Wand  des  Herzbeutels  die  vordere  Fläche  des  Aorten- 
bogens, und  für  die  hintere  Wand  die  Theihmgsstelle  der  Arteria 
pidmonalis.  Die  vordere  Herzbeutel  wand  reicht  also  höher  hinauf 
als  die  hintere.  Das  seröse  Blatt  geht  nicht  in  die  äussere  Haut 
der  grossen  Arterien  über,  sondern  stülpt  sich  an  ihnen  nach  ein- 
und  abwärts,  gleitet  an  ihnen  zum  Herzen  herab,  und  überzieht 
dessen  äussere  Oberfläche.  Das  seröse  Blatt  des  Herzbeutels  ver- 
hält sich  somit  zum  Herzen,  wie  die  Pleura  zu  der  Lunge.  Das- 
selbe besteht  sonach  aus  einem  parietalen,  und  aus  einem  visceralen 
(umgeschlagenen)  Blatt,  welches  letztere  nicht  blos  das  Herz,  sondern 
auch  die  grossen  Blutgefässe,  welche  zum  Herzen  oder  vom  Herzen 
kommen,  eine  Strecke  weit  überzieht.  Aorta  und  Pulmonalschlag- 
ader,  welche  Blut  vom  Herzen  wegführen,  erhalten  zusammen  einen 
gemeinschaftlichen  scheidenartigen  äUeberzug  vom  umgeschlagenen 
Blatt  des  Pericardium,  so  dass  man  beide  Gotasse  mit  dem  Finger 
umgreifen  kann.  Jedes  der  übrigen  grossen  Ge&sse,  welche  Blut 
zum  Herzen  führen  (Hohlvenen  und  Lungen venen),  erhält  nur  einen 
unvollständigen  Ueberzug,  und  kann  somit  nicht  mit  dem  Finger 
umgriffen  werden.  Beide  Blätter  des  serösen  Herzbeutels  sind  an 
ihren  einander  zugekehrten  freien  Flächen,  mit  einem  einschichtigen 
Pflasterepithel  überkleidet. 


968  8*  SM>  Aorta,  Arttria  pulmomali§,  und  Duthu  BotaUi. 

Da  das  Herz  seinen  Beutel  nicht  vollkommen  ausfttllt,  so  wird  der  disponible 
Baum  von  einem  serösen  Fluidum,  Liquor  pericardii,  eingenommen,  dessen  Menge 
von  einer  halben  Drachme  bis  eine  halbe  Unze  beträgt 


•  B.   Arterien. 

§.  392.  Aßftdkj  Arteria  pulmonaiis^  und  Dtictus  Botalli. 

Die  Aorta  ((i6{pü),  erheben,  i.  e.  pulsiren)  repräsentirt  den 
Hauptstamm  des  gesammten  Arteriensystems ,  durch  welches  alle 
Organe  des  Leibes  das  Blut,  als  die  Bedingung  ihres  Lebens  und 
ihrer  Thätigkeit  zugeführt  erhalten,  wie  das  alte  Testament  sagt: 
anima  carrda  in  aanguine  est  (Levit.  XVU,  14).  Aus  dem  linken 
Ventrikel  des  Herzens  entsprungen,  zeigt  sie,  dicht  über  dem  Ostiwni 
arteriosum,  eine  Anschwellung  (Bulhua  aortae),  welche  aus  drei,  den 
Valmdis  aemüunaribus  entsprechenden,  flachen  Ausbuchtungen  (Sinus 
Vaisedvae)  gebildet  wird.  A.  M.  Valsalva,  Professor  in  Bologna, 
gedenkt  zuerst  dieser  Sinus,  in  seinen  Dissertationes  posthumae, 
Venet.,  1740. 

Der  BvHms  aortae  wird  von  der  Wurzel  der  Arteria  pulmo- 
nalis,  welche  eine  ähnliche  Anschwellung  bildet,  bedeckt.  Die  Aorta 
steigt  anfangs  hinter  der  Wurzel  der  Lungenschlagader  nach  rechts 
und  oben  auf,  als  Aorta  ascendeiis,  und  krümmt  sich  dann  bogen- 
förmig über  den  linken  Bronchus  nach  links  und  hinten,  zum 
hinteren  Cavum  mediastini,  als  Arcus  aortae,  um  dann  als  abstei- 
gende Aoita  (Aorta  descendena),  an  der  linken  Seite  der  Brust- 
wirbelsäule  gegen  das  Zwerchfell  herabzusteigen,  durch  dessen 
Hiatus  aoriicus  sie  in  die  Bauchhöhle  als  Aorta  abdominalis  eintritt. 
Sie  steigt  in  der  Bauchhöhle  nur  bis  zum  vierten  Lendenwirbel 
herab,  wo  sie  gabelförmig  in  die  beiden  Arterias  üia^cae  communes 
zei*fallt.  Man  kann  somit  die  Brustaorta,  quoad  formam,  mit  einem 
Heberrohre  vergleichen,  dessen  kurzer  Schenkel  Aorta  ascendena, 
dessen  Bug  Arcus  aortas,  und  dessen  längerer  Schenkel  Aorta 
descendens  heisst. 

Die  Arteria  pidmonalis  entspringt  an  der  Basis  der  rechten 
Herzkammer,  und  zwar  aus  jenem  Theile  derselben,  welcher  früher 
als  Conus  arteriosus  bezeichnet  wurde.  Ihr  Verlauf  und  ihre  Ver- 
zweigung ist  bereits  in  §.  291  geschildert,  auf  welchen  hier  ver- 
wiesen wird.  Der  Vorwurf,  welcher  mir  von  achtbarer  Seite  gemacht 
wurde,  die  Arteria  piUmonalis  in  diesem  Lehrbuche  übergangen  zu 
haben,  ist  somit  ein  unverdienter.  Die  gedrängte  Kürze  des  Buches 


S.  383.  PrimitiTe  Aette  Am  Aortenbogtos.  969 

erlaubt  mir  nicht^  mit  Wiederholungen  bereits  gesagter  Dinge  seine 
Seiten  zu  füllen. 

Der  DuduB  arterumu  Botaüi,  durch  welchen  beim  Embryo  der  linke  Ast 
der  Pnlmonalarterie  mit  dem  concaven  Bande  des  Aortenbog^ens  (richtiger  mit 
dem  Beginn  der  absteigenden  Aorta)  commnnicirt,  geht  beim  geborenen  Menschen 
zu  einem  Bande  ein,  welches  als  LigamerUum  aortae  magnum  perennirt.  Was  ist 
nun  der  Ductus  BotaUif  Die  aus  der  rechten  Herzkamnier  entsprungene  Arteria 
pulmonalu  des  Embryo,  existirt  schon,  bevor  es  noch  Lungen  g^ebt.  Sie  senkt 
sich  um  diese  Zeit,  in  die  absteigende  Aorta  ein.  Der  Embryo  hat  also  eigentlich 
zwei  Aorten,  —  eine  rechte  und  linke,  welche  sich  zur  absteigenden  Aorta  ver- 
einigen. Treten  nun,  mit  der  Entwicklung  der  beiden  Lungen,  aus  der  rechten 
Aorta  Aeste  zu  diesen  Lungen  hervor,  so  wird  das  zwischen  der  Abgangsstelle 
dieser  Lungenäste,  und  der  Einmündung  in  die  absteigende  Aorta  befindliche 
GefKssstOck,  det  Ductus  BotaiH  Bein,  —  Der  Scliliessungsprocess  des  Bota Hinsehen 
Ganges  erfolgt  in  der  Art,  dass,  vom  dritten  Tage  nach  der  Geburt  an,  in  der 
Mitte  des  Ganges,  durch  Wucherung  der  Epithelialzellen,  und  Fibrinablagerung 
zwischen  denselben,  eine  Verengerung  eintritt,  welche  gegen  die  Arteria  pulmonalia 
zu  vorschreitet,  während  gegen  die  Aorta  zu,  eine  trichterförmige  Stelle  des 
Ganges  offen  bleibt.  Vom  vierzehnten  Tage  an  verkürzt  sich  der  unwegsam  ge- 
wordene Gang,  wodurch  an  den  einander  zugekehrten  Wandungen  der  Aorta  und 
Lungenschlagader,  konische  Grübchen  entstehen  müssen,  welche  erst  später  ver- 
streichen. Der  gänzliche  Verschluss  des  Ganges  tritt  erst  im  Beginn  des  zweiten 
Lebensmonates  ein,  und  geht  dem  Verschluss  des  Foramen  ovale  voraus.  —  Im 
Ductus  BotalU  prävaliren,  wie  in  den  Nabelarterien,  die  muskulösen  Elemente 
über  die  elastischen.  Walkoff,  Zeitschrift  für  rat.  Med.  36.  Bd.  —  Der  Entdecker 
dieses  Ganges  war  kein  geringerer  Mann,  als  der  Leibarzt  Wilhelms  I.  von 
Oranien,  Namens  Leonardo  Botal,  aus  Asti  in  Piemont,  und  Schüler  des 
Fallopia.     Man  soll  deshalb  richtig  Ductus  Botali  schreiben  und  sprechen. 


§.  393.  Primitive  Aeste  des  Aortenbogens. 

I.  Aus  der  Aorta  ascendens,  welche  noch  im  Cavum  perkarcUi 
liegt,  entspringen  nur  die  beiden  Kranzarterien  des  Herzens  — 
eine  rechte  und  linke.  Da  das  Herz  ein  Theil  des  Gefasssystems 
ist,  so  können  die  Kranzarterien  immerhin  als  riesige  Vcisa  vasorum 
angesehen  werden. 

a)  Die  rechte  Kranzarterie,  Arteria  coronaria  dextra  8,  poste- 
rior, läuft  im  Stdcus  ciradaris  der  vorderen  Herzfläche  gegen 
den  rechten  Herzrand,  und  um  diesen  herum  zur  hinteren 
platten  Fläche  des  Herzens,  wo  ihre  Fortsetzung  im  Sulcus 
longitudinalia  posterior  bis  zur  Herzspitze  herabgelangt.  Sie 
versorgt  vorzugsweise  die  Wände  des  Atiium  dextrum  und  des 
Ventriculiis  dexter,  zum  Theil  auch  jene  des  sinister. 

ß)  Die  linke  Kranzarterie,  Arteria  coronaria  sinistra  s.  ante- 
rior, ist  in  der  Regel  etwas  schwächer  als  die  rechte.  Sie 
geht    im  Sidais   drcidaris   um    den    linken    Herzrand   herum, 


970  §.  393.  Primitive  Aeste  des  Aortenbogens. 

seudet  anfangs  in  der  vorderen  Längenfurehe  einen  Ast  bis 
zur  Herzspitze  herab,  welcher  mit  dem  Ende  der  Ai'tena  coro- 
naria  dextra  anastomosirt  (jedoch  nur  durch  Capillargelasse), 
und  verliert  sich  selbst  an  der  hinteren  platten  Fläche  des 
Herzens,  wo  man  sie  ira  Sidcus  drcidarU  mit  der  dextra  ana- 
stomosircn  lässt,  was  jedoch  gleichfalls  nur  für  Capillar-Ana- 
stomosen  gilt.  Ausser  den  von  der  Coronaria  dextra  nicht  ver- 
sorgten Wandungen  der  linken  Kammer  und  Vorkammer, 
erhält  auch  das  Septum  ventriculorum  seine  Arterien  aus  der 
Coronaria  sinistra, 

lieber  die  Blutgefässe  in  den  Ualbmondklappen  bandelt  Luschka,  In  den 
Sitzungsbericbten  der  kais.  Akademie,  18ö9.  —  Es  sind  Fälle  verzeichnet,  wu  nur 
Eine  Coronaria  cordis  vorhanden  gewesen  sein  soll  (Harrison).  Diese  Anomalie 
wäre  als  Thierähnlichkeit  interessant,  indem  bei  Elephas  auch  nur  Eine  ArUria 
coronaria  vorkommen  soll.  Ich  bezweifle  dieses.  —  Die  Kranzschlagadern  des 
Herzens  sind  imter  allen  Arterien  des  mensclilichen  Körpers  am  meisten  den  Ver- 
knöchenmgen  unterworfen. 

Beide  Kranzarterien -ITrsprünge  werden  während  der  Systole  der  linken 
Kammer  durch  die  Halbmondklappcn  in  der  Aortenwurzel  nicht  verschlossen.  Oft 
stehen  diese  UrsprangsöfTnungen  so  hoch,  dass  die  Ränder  der  Halbmondklappen 
nicht  bis  an  sie  hinaufreichen.  Aber  auch  wenn  sie  tiefer  stehen,  können  sie 
durch  die  Ifalbmondklappen  nicht  versclilossen  werden,  da  diese  Klappen  nie  an 
die  Wand  der  Aorta  angedrückt  werden.  Indem  nämlich  die  Aorta  während  der 
Kammersystole  durch  das  einströmende  Blut  ausgedehnt  wird,  werden  die  VoZ- 
vnlae  nemilnnares  so  gespannt,  dass  das  zwisclien  ihnen  befindliche  Aortenlumen, 
die  Gestalt  eines  Dreieckes  annimmt,  wie  sich  an  jedem  Injectionspräparat  der 
Aorta  oder  der  Pulmonalis  demonntriren  länst.  Werden  aber  die  UrsprungsÖflfnungen 
der  Kranzarterien  durch  die  Valvulae  MemUunnres  nicht  verschlossen,  so  muss  der 
Puls  der  Kranzarterien  mit  jenem  der  übrigen  Arterien  des  menschlichen  Körpers 
isochron  sein,  wie  es  laut  übereinstimmender  Beobachtungen  am  lebenden  Thiere 
wirklich  der  Fall  ist. 

lieber  das  Verhältniss  der  Ursprünge  der  Kranzarterien  zu  den  Halbmond- 
klappen handelt  ausführlich  ein  von  mir  geschriebener  Artikel,  im  Decemberhefl 
der  Sitzungsberichte  der  kais.  Akademie,  Jahrgang  1851,  so  wie  meine  Schrift: 
lieber  die  Selbststeuenmg  des  Herzens.  Wien,  1855.  Als  Nachtrag  hiezu  siehe 
mein  Handbuch  der  topographischen  Anatomie,  ^,  Auflage,  §.  CXXXIV.  —  Be- 
stätigungen meiner  Angaben  lieferten:  Endemnnn,  Beitrag  zur  Mechanik  des  Kreis- 
laufes des  Her/ens,  Marburg,  1856,  —  Rüdintjer,  Beitrag  zur  Mechanik  der  Aorten- 
und  Herzklappen,  Erlangen,  1867,  —  Mieraxca,  Deutsche  Klinik,  1859,  Nr.  19,  u.  v.  a. 
—  Küdinger  verwirklichte  selbst  den  originellen  Einfall,  die  Stellung  der  Val- 
vulae  seniilfnmren  während  der  Systole  und  Diastole  der  Kammern  sichtbar  zu 
machen,  auf  die  gelungenste  Weise.  Wie  man,  auch  nur  bei  Erwägung  des 
einzigen  Factums,  das»  der  Stumpf  einer  durchschnittenen  Coronaria,  synchronisch 
mit  dem  Puls  aller  anderen  Arterien  spritzt,  noch  gegen  die  Richtigkeit  meiner 
Behauptung  Einwendungen  machen  kann,  begreife  ich  nicht.  Prof.  Brücke 
suchte  zwar  das  mit  der  Herzsystole  synchronische  Pulsiren  der  Coronar-Arterien 
dadurch  zu  erklären,  dass  er  sagte:  „weil  das  Herz  während  seiner  Zusammen- 
.jziehung  auf  die  tiefliegenden  arteriellen  Ramificationen  seiner  muskulösen  Wand 
.,einen  Druck  ausübt,  müsse  das  Blut  in  den  hochliegenden  Stämmen  der  Coronar- 


S.  893.  Primitivo  Aoste  dos  AortonbogenB.  97 1 

„Arterien  gestaut  nnd  dadurch  ihr  mit  der  Herzaystule  gleichzeitiger  Puls  be- 
^dingt  werden'^  Ich  gebe  jedoch  zu  bedenken,  dass,  wenn  die  Stämme  der 
Coronar- Arterien  »ich,  dieses  angenommenen  Druckes  wegen,  während  der  Systole 
des  Herzens  erweitern,  und  dasselbe  auch  während  der  elastischen  Contraction 
der  Aorta,  welche  mit  der  Diastole  des  Herzens  zusammenfällt,  geschieht  (wie 
meine  Oeg^ier  gleichfalls  behaupten),  die  Coronar-Arterien  aus  der  Erweiterung 
gar  nie  herauskommen,  und  somit  auch  gar  nicht  pulsiren  könnten.  Was 
in  dieser  nun  schon  tädios  gewordenen  Sache  noch  zu  sagen  war,  habe  ich  in 
meiner  topographischen  Anatomie,  und  hat  G.  Ceradini  in  seiner  Abhandlung: 
//  niecariMnio  delle  valvole  aemiluruwi,  Milaiw,  iHll,  deutsch  Leipzig,  1872,  gesagt. 
So  wird  denn  endlich  einmal  Ruhe  werden!  Ks  ist  aber  nicht  Ruhe  geworden. 
Brücke  hat  über  den  Verschluss  der  Coronar-Arterien  durch  die  Halbmond- 
klappen, neuerdings  acht  Seiten  geschrieben  (Phjsiol.  Vorlesungen,  pag.  177  bis 
185).  Das  ist  Hühnermilch;  —  ich  kann's  nicht  anders  nennen.  Man  empfängt 
den  Eindruck,  dass  der  Schreiber  jener  Seiten  selbst  nicht  glaubt,  was  er  vor- 
bringt    Aber  der  Schein  musste  auch  um  solchen  Preis  gerettet  werden. 

II.  Der  eigentliche  Arcus  aoHae  gicbt  an  seinem  oberen  oder 
convexen  Rande  drei  Getassen  den  Ursprung:  der  Artef*ia  anonyma, 
Arteria  carotis  und  suhdavui  sinistra, 

a)  Die  Arteria  anonyma  steigt  schräg  vor  der  Luftröhre  und 
hinter  der  Vena  anonynui  sinistra  nach  rechts  und  oben, 
spähet  sich  hinter  der  Articulatio  sternodacicularis  in  die  Ar- 
teria subclavia  und  Carotis  dextra,  und  wird  deshalb  auch 
Truncus  hrachio-cephalicm  genannt.  Die  Arteria  subclavia  dextra 
krümmt  sich,  nachdem  sie  durch  die  obere  Brustapertur  ge- 
treten, zwischen  Scalenus  anticus  und  medius  über  die  erste 
Rippe  zur  Achselhöhle,  und  gesellt  sich  somit  dem  durch  die 
vier  unteren  llalsnerven  und  den  ersten  Brustnerven  gebildeten 
Plexus  brachialis  bei,  so  zwar,  dass  sie  vor  dem  letztgenannten 
Nerven  zu  liegen  kommt.  —  Die  Carotis  dextra  geht,  ohne 
Zweige  abzugeben,  bis  zum  oberen  Rande  des  Schildknorpels 
am  Halse  hinauf,  wo  sie  in  die  rechte  Carotis  externa  und  tV 
tema  zerfällt. 

ß)  Die  Carotis  sinistra  ist  um  die  Länge  der  Arteria  innominata 
länger  als  die  rechte.  Sie  liegt  auch  etwas  tiefer,  wegen 
schräger  Richtung  des  Aortenbogens  von  vorn  nach  links 
und  hinten,  imd  steigt  mehr  geradlinig  am  Halse  hinauf  als 
die  rechte. 

y)  Die  Arteria  subclavia  sinistra  wird  gh^ichfalls  länger  sein  und 
tiefer  liegen,  als  die  dextra,  stimmt  jedoch  in  allem  Uebrigen 
mit  der  dextra  überein. 

Hl.  Die  AoHa  descendens  gicbt  in  der  Brusthöhle  meistens 
paarige,  und,  mit  Ausnahme  der  Zwischenripponarterien ,  nur 
schwache    Aeste    ab,    während    sie   in    der   Bauchhöhle   auch   sehr 


972  §.  894.  Yarietitoa  der  ans  dem  Aortenbogen  entopringonden  8clilag»d«ni. 

ansehnliche  unpaarige  Aeste  erzeugt,  welche  in  den  späteren  Para- 
graphen nach  der  Beschreibung  der  Kopf-  und  Armpulsadem  ab- 
gehandelt werden. 


§.  394.  Yarietaten  der  aus  dem  Aortenbogen  entspringenden 

Schlagadern. 

Nicht  immer  ist  das  Verhältniss  der  aus  dem  Aortenbogen 
entspringenden  Arterien  das  geschilderte.  Es  kommen  zahlreiche 
Anomalien  vor,  welche  theils  ihrer  praktischen  Bedeutsamkeit,  theils 
ihrer  Uebereinstimmung  mit  thierischen  Bildungen  wegen,  von 
Interesse  sind.  Diese  Abweichungen  lassen  sich  auf  drei  Typen 
reduciren:  Vermindeining,  Vermehrung,  und  normale  Zahl  mit  ab- 
normer Verästlung  der  Aortenäste. 

a)  Verminderung. 

Sie  erscheint  in  drei  Formen: 

a)  Zwei  Artericbe  anonymae,  deren  jede  in  eine  Carotis  communis 
und  Subclavia  zerföllt,  wie  bei  den  Fledermäusen  und  einigen 
Insectivoren.     Dieser  Fall  ist  sehr  selten. 

ß)  Die  Arteria  carotis  sinistra  ist  sehr  oft  ein  Zweig  der  Anonyma, 
welche  somit  in  drei  Aeste  zerfallt.  (Einige  AflFen,  reissendc 
Thiere,  Beutler  und  Nager.) 

y)  Alle  Aeste  des  Aortenbogens  sind  in  einen  Stamm  verschmolzen 
(vordere  Aorta),  welcher  erst  später  sich  in  die  gewöhnlichen 
drei  Aortenäste  theilt.  Dieser  Fall,  welcher  bisher  nur  einmal 
von  Klinz  (Abhdl.  der  Josephin.  Akad.  Wien,  1787,  1.  Bd.), 
und  ein  zweites  Mal  von  mir,  in  einem  Embryo  mit  Synoph- 
thalmie,  beobachtet  wurde,  lindet  sich  als  Regel  bei  den  Ein- 
hufern und  Wiederkäuern,  deren  Aorta,  ohne  einen  Bogen  zu 
bilden,  sich  in  eine  vordere  und  hintere  theilt. 

b)  Vermehrung. 

Sie  begreift  folgende  Spielarten: 
a)  Die  Arteria  vertebralis  sinistra  entspringt  zuweilen,  wie  beim 
Seehund,  zwischen  Carotis  und  Subclavia  sinistra.  Da  die  Ar- 
teria  vertebralis  sinistra  aus  der  Subclavia  sehr  nahe  am  Ur- 
sprung dieses  Oefasses  aus  dem  Aortenbogen  entsteht,  so  wird 
es  eben  die  Vertebralis  sinistra  sein,  deren  Ursprung  vor  allen 
übrigen  Aesten  der  Subclavia  auf  den  Aortenbogen  übertragen 
werden  kann. 


§.  SM.  Yariettten  der  aas  dem  Aortenbogfen  entspringenden  Schlagadern.  973 

ß)  Eine  überzählige  unpaare  Schilddrüsenarterie  (Arteria  ikyreoidea 
ima  8.  Neuhaueri)  entspringt  zwischen  Anonyma  und  Carotis 
sinistra,  und  steigt  auf  dem  vorderen  Umfange  der  Trachea 
zur  Schilddrüse  empor.  (Bei  der  Tracheotomie  zu  berücksich- 
tigen.) Sie  kommt  mit  und  ohne  Mangel  einer  der  beiden 
normalen  unteren  Schilddrüsenarterien  vor,  und  ist  im  ersteren 
Falle  stärker. 
y)  Eine  Arteria  mammaiia  interna  oder  thymica  entspringt  von 
der  vorderen  Wand  des  Aortenbogens.  Ich  besitze  einen  in 
seiner  Art  einzigen  Fall  vom  Ursprung  der  Coronaria  ventri- 
coli  einiatra  superior  aus  dem  Aortenbogen  (beschrieben  im 
Not.  Hist,  Review,  1862,  Juli), 
3)  Fehlen  der  Anonyma,  und  dadurch  bedingter  isolirter  Ursprung 
der  Subclavia  und  Carotis  dextra  aus  dem  Aortenbogen  (Wal- 
fischbildung). 

Im  Falle  8)  können  auch  Versetzungen  Platz  greifen,  worunter 
jene  die  merkwürdigste  ist,  wo  die  Subclavia  dextra  hinter  der 
Subclavia  sinistra  entspringt,  und,  um  zur  rechten  Seite  zu  gelangen, 
zwischen  Luft-  und  Speiseröhre,  oder  Speiseröhre  und  Wirbelsäule, 
nach  rechts  hinüberläuft.  Dass  durch  diesen  anomalen  Verlauf  der 
rechten  Subclavia,  Compression  der  Speiseröhre,  und  dadurch  die 
sogenannte  Dysphagia  lusoria  entstünde,  scheint  mir  nur  bei  aneu- 
rysmatischer  Ausdehnung  des  Gefasses  möglich.  Dass  aber  diese 
Abweichung  ohne  Dysphagie  bestehen  kann,  wurde  durch  zahl- 
reiche Beobachtungen  constatirt.  —  Ich  halte  es  für  ausgemacht, 
dass  die  Versetzung  des  Ursprungs  der  Subclavia  dextra  hinter  jenen 
der  sinistra,  in  Folge  der  durch  sie  gegebenen  Abschwächung  des 
Kreislaufes  in  der  rechten  Extremität,  den  Gebrauchsvorzug  der 
linken  bedingt.  Hiermit  wäre  die  Causa  anatomica  der  bisher  un- 
erklärt gebliebenen  Linkhändigkeit  aufgefunden. 

Die  so  eben  ang^efübrten  Abweichungen  setzen  eine  Vermehrung  auf  vier 
Stamme.  Vermehrung  auf  fünf  oder  sechs,  ist  äusserst  selten,  und  entsteht  durch 
Zerfallen  der  Anonyma,  mit  gleichzeitiger  Isolirung  beider  Arteriae  vertebralet 
(Tiedemann).  —  Da  die  Theilungsstelle  der  Carotis  eommunia  so  hoch  am  Halse 
liegt,  so  werden  es  nur  die  Aeste  der  Arteria  »ubclavia  sein,  welche  eine  Vermehrung 
der  Bogenäste  der  Aorta  bedingen.  Nur  in  einem  von  Malacarne  beobachteten 
Falle  entsprangen  die  Carotis  externa  und  itUema  beider  Seiten  symmetrisch  aus  den 
beiden  Schenkeln  eines  gespaltenen  Aortenbogens,  welche  sich  erst  an  der  Wirbel- 
säule zur  einfachen  Aorta  vereinigten.  (Ringförmiger  Aortentypus  bei  Amphibien.) 

c)  Normale  Zahl  mit  abnormer  Verästlung. 

Sie  äussert  sich: 

a)  Als  Verschmelzung  beider  Carotiden  zu  einer  Anonjrma,  welche 
zwischen  Subclavia  dextra  und  sinistra  entspringt,  wie  beiElephas. 


974  '  $.  395.  Verästlang  der  Carotis  externa. 

ß)  Alö  Einbeziehung  der  Carotis  dnütra  in  den  Stamm  der  Ano- 
nyma^  mit  gleichzeitigem  isoKrtem  Ursprung  der  VertebrcUts 
ainiatra,  oder  einer  Mamniaria  inteinui. 

Nebst  dietien  Ursiirungsahwcichiuig^en,  kann  der  ganze  Bog«n  der  Aorta 
eine  abnorme  Richtung  nehmen,  und  sicli,  wie  es  in  der  Klaase  der  Vögel  norm- 
gemäss  vorkommt,  über  den  rechten,  statt  über  den  linken  Bronchus  krümmen, 
um  entweder  an  der  rechten  Seite  der  Wirbelsäule  zu  bleiben  (wie  bei  Ver- 
setzung der  Eingeweide),  oder  noch  in  der  Hrusthöhle  sich  zur  linken  Seite  hin- 
über zu  begeben. 


§.  395.  Verästlimg  der  Carotis  externa.. 

Der  Name  Carotis  stammt  nicht  von  xapa  oder  xopt;,  Kopf, 
sondern  von  xapO(;,  mit  welchem  Ausdruck  die  ältesten  griechischen 
Aerzte  jene  Form  von  Sopor  bezeichneten,  welclie  in  Folge  schwerer 
Kopfverletzungen  vorkommt,  und  mit  sehr  schwacher  und  lang- 
samer Pulsation  der  grossen  Halsarterien  einhergeht.  Bei  Vesalius 
heisst  die  Carotis  deshalb  Arteria  soporifera,  bei  anderen  alten 
Autoren  auch  apoplectica  oder  lethargica,  selten  Arteria  sonmi. 

Die  Carotis  communis  durchläuft,  während  ihres  Aufsteigens 
am  Halse,  ein  Gebiet,  welches  durch  die  Aeste  der  Arteria  subclavia 
(§.  398)  mit  Blut  versorgt  wird.  Aus  diesem  Grunde  erzeugt  sie 
daselbst  keine  Zweige.  Erst  in  gleicher  Höhe  mit  dem  oberen 
Schildknorpelrande,  theilt  sie  sich  in  die  Carotis  externa  und  interna. 
Eine  tiefere  Thcilung  gehört  zu  den  Seltenheiten. 

üie  äussere  Kopf  Schlagader,  Carotis  eootsma  s,  faciafis^ 
versorgt  die  Weich th eile  des  Kopfes,  mit  Ausschluss  des  (iehirns, 
des  Sehorgans  und  der  Stirne.  Sie  liegt  im  Trigonum  cervical^  su]>eriu8, 
vor  und  einwärts  von  der  Carotis  interna.  Sie  wird  vom  Pla^i/sma 
myoides,  dem  hochliegenden  Blatte  der  Fascia  colli,  und  der  Vena 
facialis  communis  bedeckt,  steigt  anfangs  zwischen  dem  hinteren 
Bauche  des  Biventer  maxillae  und  dem  Musculus  stylo-glossus,  später 
durch  die  Substanz  der  Parotis  empor,  und  theilt  sich,  hinter  dem 
Halse  des  Gelenkfortsatzes  des  Unterkiefers,  in  ihre  beiden  Knd- 
äste:  die  oberflächliche  Schläfe-,  und  innere  Kieferarterie. 
Auf  diesem  Laufe  cntsprosst  ihr  ein  Strauss  mehrerer  Aeste  (le 
büuquet  de  liiolan  bei  älteren  französischen  Anatomen),  welche  sich 
füglich  in  drei  Gruppen  unterabtheilen  lassen,  je  nachdem  sie  aus 
der  vorderen,  inneren,  oder  hinteren  Peripherie  der  Carotis 
hervortreten. 

A)  Erste  Gruppe  von  Aesten  aus  der  vorderen  Peripherie  der 
Carotis. 

1.  Die  obere  Schilddrüsenarterie,  Arteria  thyreoidea  supe^ 
rior,     Sie  entspringt  dicht   au    der  Wurzel  der  Carotis  externa,  und 


§.  SKt.  Verwtlnng  der  Carotin  externa.  975 

gellt,  vom  oberen  Bauche  des  Musculus  omo-hfoideus  bedeckt,  bogen- 
förmig zum  oberen  Rande  der  Schilddrüse  herab.  Sie  erzeugt  auf 
diesem  Wege  gewöhnlich  die  Arteria  lar/jngea,  welche  die  Memlrrana 
hßO'thyreoidea  durchbohrt,  um  sich  im  Inneren  des  Kehlkopfes  zu 
verästeln.  Hierauf  schickt  sie  Muskeläste  zum  omo-,  stemo-,  Üiyreo- 
hifoideus,  und  sternchtht/reoideus,  und  verliert  sich  zuletzt,  nachdem 
ihre  Endzweige  eine  Strecke  weit  an  der  vorderen  Fläche  der 
Schilddiüse  geschlängelt  herabliefen,  im  Parenchj'm  derselben. 

Nicht  g^anz  selten  hat  es  den  Anschein,  als  ob  die  Arteria  thtfreoidea  Mupe- 
riov  aus  dem  Stamme  der  Carotis  conimHniSf  dicht  vor  ihrer  Theilung  in  die 
externa  und  irUenia,  entstfinde.  —  Ein  das  Ligamentum  crico-thyreoideitm  durcli- 
bohrender  Zweig  der  Arteria  Üiyreoidea  »uperiar,  verdient,  nicht  seiner  Grösse, 
sondern  seines  constanten  Vorkommens  wegen,  angeführt  zu  werden.  —  Ausnahms- 
weise ist  die  Arteria  laripigea  ein  selbstständiger  Zweig  der  Carotis  extemaf  und 
zwar  der  zweite. 

2.  Die  Zungenarterie,  -4rterta  ZimjuoZm,  entspringt  in  gleicher 
Höhe  mit  dem  Coimu  magiium  des  Zungenbeins,  und  dringt  dicht 
über  dem  grossen  Zungenbfeinhorn  und  bedeckt  vom  Musculus 
htßoglossus  nach  innen  und  oben  in  das  Zungenfleisch  ein.  Ihre 
Aeste  sind: 

a)  Der  liamus  hi/otdeuSy  welcher  längs  des  oberen  Zungenbein- 
randes mit  dem  der  anderen  Seite  anastomosirt.  Fehlt  zu- 
weilen, und  ist,  wenn  er  vorkommt,  meistens  von  unerheblicher 
Stärke.  Haller  sagt  von  ihm:  Ramus  perjyetuus  quidem,  rtMgni' 
tudine  vero  diversus, 

ß)  Die  schwache  Arteria  dorsalis  Ungucte  zur  Schleimhaut  der 
Zungen  Wurzel.  Sehr  oft  verbindet  sich  ein  Zweig  derselben 
mit  einem  Zweige  der  gegenseitigen  Dorsalis  linguae  zu  einer 
unpaaren  oberflächlichen  Schlagader,  welche  in  der  Median- 
linie des  Zungenrückens  gegen  die  Zungenspitze  verläuft.  Ich 
habe  sie  als  Arteria  azf/gos  linguae  beschrieben.  Sie  ist  immer 
sehr  schwach. 

7)  Die  Arteria  sublinguales,  welche  zwischen  Muscidus  mylo-hyoideus 
und  Glandula  subungualis  verläuft,  und  den  Boden  der  Mund- 
höhle ernährt. 

c)  Die  Arteria  ranina  s,  profunda  lingual,  als  Foi*tsetzung  des 
Stammes  der  Arteina  lingiudis.  Sie  dringt  neben  dem  Zungen- 
bändchen  von  unten  her  in  die  Zunge  ein,  und  geht  an  der 
Zungenspitze  nicht  bogenförmig  in  die  der  anderen  Seite  über, 
sondern  anastomosirt  mit  ihr  nur  durch  Capillaräste.  Mikro- 
skopische Injectionen  durch  Eine  Arteria  ranina  gemacht^  füllen 
nie  die  Gefasse  der  anderen  Zungenhälfte.  Krause  föhrt 
eine,    über    der    Insertion   des   Zungenbändchens   befindliche. 


976  §.  995.  Yer&atliiDgr  der  CanÜM  externa. 

schwache   Anastomose    zwischen    den    beiderseitigen    Arteriae 
raninae  an. 

Wir  beobachteten  mehrmals  eine  Ärteria  lingualia,  welche  am  unteren  Bande 
des  vorderen  Bauches  des  Biventer  maasiUae  bis  in  die  Kühe  des  Kinns  verlief, 
dort  den  Mylo-hycideua  durchbohrte,  und  mit  derselben  Arterie  der  andern  Seite, 
welche  denselben  Verlauf  nahm,  zwischen  den  beiden  QenithhyMei,  in  den  ChnUy- 
gloasua  eindrang.  —  Zwischen  dem  Ursprünge  der  Arteria  thyreoidea  »uperiar  und 
linguaUa  entsteht  öfter  noch  aus  der  Carotü  eoßtema  ein  ansehnlicher  Ramus  mus- 
ctdaris  pro  stemocleidomeutoideo,  welcher  am  vorderen  Rande  des  genannten  Muskels 
eine  Strecke  weit  herabsteigt,  bevor  er  sich  in  ilin  einsenkt.  Oft  ist  er  nur  ein 
Zweig  der  oberen  Schilddrüsenarterie.  Im  hiesigen  Museum  befindet  sich  ein  Fall, 
wo  dieser  Ramua  atemodeidonuutoideua  mit  einem  ähnlichen  aus  der  Äuricularis 
posterior,  welcher  gleichfalls  am  vorderen  Bande  des  Kopfnickers  herabl&nft,  im 
starken  Bogen  anastomosirt. 

3.  Die  äussere  Kieferarterie,  Artetia  maxälaris  externa, 
ist  so  stark  wie  die  lingualis,  mit  welcher  sie  zuweilen  aus  einem 
kurzen  gemeinschaftlichen  Stamme  entspringt.  Sie  zieht  in  einer 
Furche  der  Unterkieferspeicheldrüse  nach  vorn,  krümmt  sich  am 
vorderen  Rande  der  Kiefcrinsertion  des  Masseter  zum  Antlitz 
hinauf,  und  verläuft  in  starken  Schlangenkrümmungen  gegen  den 
Mundwinkel,  dann  zur  Seite  der  Nase,  um  als  Arteria  angularis 
unter  dem  inneren  Augenwinkel  mit  dem  Ramua  dorsalü  nasi  der 
Arteria  ophthalnUca  zu  anastomosiren.  Ihre  bedeutenderen  Neben- 
äste sind: 

a)  Die  Arteria  »nbmefitcdis,  Sie  versorgt  den  vorderen  Bauch  des 
Bivcnter,  den  Mylo-hyoideus ,  die  Glandula  mbinrutxülaris  und 
ihre  Nachbarschaft,  und  biegt  sich  zum  Kinn  hinauf,  wo  sie 
mit  den  von  anderen  Stämmen  hier  anlangenden  Schlagadern 
(Arteria  mentalis,  coronaria  lahii  inferioris  und  mbme^italia  der 
anderen  Seite)  in  Haut  und  Muskeln  sich  verliert. 

ß)  Die  Arteria  palatina  ascendens  s.  pharifngo^alatina,  steigt  an 
der  Seiten  wand  des  Pharynx  in  die  Höhe,  und  versorgt  den 
inneren  Flügelrauskel,  den  weichen  Gaumen,  und  die  Schleim- 
haut des  Rachens  in  der  Gegend  der  Rachenmündung  der 
Tuba  Ev^stacldi,  Ihr  stärkster  Zweig  aber  gehört  der  Mandel 
als  Artei*ia  tonsillaris, 

y)  Muskeläste  zu  den  Kaumuskeln  und  Antlitzmuskeln  um  die 
Mundspalte  herum,  worunter  die  AHeria  cwonaria  lahii  supe- 
rioris  et  inferioris  besonders  bemerkenswerth  sind.  Beide  ver- 
laufen im  wulstigen  Theile  der  Lippe,  der  Schleimhaut  näher 
als  dem  Integument,  anastomosiren  im  Bogen  mit  ihren  gleich- 
namigen Gegnern,  und  bilden  dadurch  einen  Kranz  um  die 
Mundöffhimg,  welcher  jedoch  zuweilen  nicht  vollständig  ist. 
Aus  dem  oberen  Bogen  dieses  Kranzes  entspringt  die  unwichtige 
Arteria  septi  mobäis  nasi. 


§.  895.  Ter&stlaDg  der  CaroU*  externa.  977 

Stülpt  man  die  eigene  Oberlippe  vor  dem  Spiegel  um,  so  kann  man  den 
Puls  der  Arteria  coronaria  in  der  Nähe  des  Mundwinkels  sehr  deutlich  sehen.  Die 
übrigen  Muskeläste,  deren  Grösse,  Zahl  und  Ursprung  sehr  differirt  (Rami  huccalea, 
masaeterici,  etc.)  anastomosiren  vielfach  mit  der  Arteria  infraorbilalig,  transversa 
faciei,  buccinatoria,  etc.,  wodurch  es  möglich  wird,  dass  im  Verkümmerungsfalle 
der  einen  der  genannten  Schlagadern,  eine  andere  für  sie  solidarisch  einsteht. 
Selbst  von  der  anderen  Gesichtshälfte  kann  ein  aushelfender  Zweig  herüberkommen. 
—  An  einem  Präparate  der  hiesigen  Sammlung  kommt  die  Arteria  angularis  aus 
der  Transversa  faciei,  indem  die  Maxillaris  externa  als  Coronaria  labii  infe- 
rioris  endet 

B)  Zweite  Gruppe  von  Aesten,  aus  der  inneren  Peripherie  der 
Carotis  externa, 

Sie  bestellt  nur  aus  der 

4.  aufsteigenden  Rachenarterie,  Arteria  pharyngea  ascen- 
dens.  Diese  entspringt  entweder  in  gleicher  Höhe  mit  der  Arteria 
lingualisj  oder  tiefer  als  diese,  steigt  an  der  Seitenwand  des  Pharynx 
empor,  und  verliert  sich  gewöhnlich  in  der  hinteren  Rachenwand 
mit  zwei  Zweigen. 

Oft  entlässt  sie  einen,  zum  Foramen  jugtdare  aufsteigenden  Ast,  welcher 
die  hier  austretenden  Nerven  mit  Zweigen  versorgt,  und  hierauf  selbst  in  die 
Schädelhöhle  eindringt,  um  als  accessorische  Arteria  meningea  zu  enden.  —  Die 
Arteria  palatina  ascendens,  welche  in  der  Regel  ein  Ast  der  Maxillaris  externa 
ist,  entspringt  gleichfalls  nicht  selten  aus  der  Pharyngea  ascendens,  —  Es  ereignet 
sich  öfter,  dass  die  Arteria  pharyngea  ascendens  von  der  Carotis  interna  abgegeben 
wird.  Dasselbe  g^t  auch  für  die  gleich  folgende  Arteria  ocdpitalis,  —  Ich  habe 
zwei  Fälle  vor  mir,  in  welchen  das  Ende  der  Pharyngea  ascendens  mit  der  Carotis 
interna  durch  den  Canalis  caroticus  in  die  Schädelhöhle  eindringt,  und  sich  in 
jener  Partie  der  harten  Hirnhaut  verästelt,  welche  die  Sella  turcica  umgiebt,  und 
den  Sinus  cavernosus  einschliesst. 

C)  Dritte  Gruppe,  aus  der  hinteren  Peripherie  der  Carotis 
externa : 

5.  Die  Hinterhauptarterie,  Arteria  ocdpitalis,  entspringt 
etwas  über  der  Arteria  maxillaris  externa,  wird  vom  hinteren  Bauche 
des  Biventer  maxillae  bedeckt,  und  geht  unter  der  Insertion  des 
Kopfnickers  am  Warzenfortsatz  zum  Hinterhaupt,  wo  sie  vom  MtLS- 
cultts  trachelo-mastoideus  und  Splenius  capitis  bedeckt  wird,  und 
zwischen  letztcrem  Muskel  und  dem  Cucullaris,  an  die  Oberfläche 
tritt,  um,  in  zwei  Endäste  gespalten,  bis  zum  Scheitel  hinauf  sich 
zu  verästeln.  Sie  giebt  nur  zwei  besonders  benannte  Zweige  ab: 

a)  Die  Arteria  niaatoidea  durch  das  Foramen  mastoideum  zur  harten 

Hirnhaut. 
ß)  Die  absteigende   Nackenarteric,    Arteria   cervicalis  descen- 

dens,  zwischen  Splenius  und  Complexus  nach  abwärts  zu  den 

Nackenmuskeln. 

Wir  sahen  mehrmals    den   vorderen    Endast   der  Arteria  ocdpitaUs    an  der 
Sutura  mastoidea   in    die    Diplol!    eindringen,    and   nach  kurzem  Verlauf  daselbst, 
Hyrtl,  Lehrbuch  der  Anatomie.  U.  Aufl.  ^^ 


978  §.  S96.  End&ste  der  Oaroth  externa. 

wieder  zur  Oberfläche  zurückkehren.  —  Immer  läset  die  Ärteria  nuutoidea, 
während  sie  durch  das  Foramen  tnastoideum  hindurchzieht,  einen  Ast  in  die  Diplo€ 
abgehen.  (Hyrtl,  über  den  Bamua  diplcetku»  der  Arteria  occipUcUis,  in  der  österr. 
Zeitschrift  für  prakt.  Heilkunde,  1859,  Nr.  29.) 

6.  Die  hintere  Ohrarterie,  Arteria  auricidarü  posterior, 
welche  am  vorderen  Rande  des  Processus  mastoideus  aufsteigt,  und 
die  feine  Arteria  stylo-mastotdea  durch  das  Griflfelwarzenloch  in  den 
F all 0 pirschen  Kanal  absendet.  Hinter  dem  Ohre  theilt  sie  sich 
in  zwei  Zweige,  deren  vorderer  die  Ohrmuschel,  deren  hinterer 
die  Weichtheile  hinter  dem  Ohre  ernährt,  und  zuletzt  mit  den 
Nebenästen  der  Arteria  occipitalis  und  temporalis  superficialis  ana- 
stomosirt. 

Die  Ärteria  gtylxHntutoidea  gelang^  aus  dem  Fallo pirschen  Kanal  durch 
den  Canalicultu  chordae  tympam  in  die  Paukenhöhle,  um  die  Schleimhaut  der 
hinteren  Abtheilung  derselben,  so  wie  der  CeUtdae  mattoideae  und  die  Membrana 
tympani  (mit  einem  hinter  dem  Manubrium  maUei  herablaufenden  Zweigchen)  zu 
versorgen.  Sie  geht  in  seltenen  Fällen,  deren  ich  zwei  besitze,  nicht  durch  das 
Griffelwarzenloch,  sondern  durch  eine  eigene  Oeffnung  der  unteren  Paukenhöhlen- 
wand in  das  Cavum  tympani,  steigt  über  das  Promontorium,  wo  sie  in  einem 
knöchernen  Kanal  oder  Halbkanal  lagert,  zum  Stapes  empor,  läuft  zwischen  den 
Schenkeln  desselben  durch,  und  begiebt  sich  durch  eine  Oeffnung  der  oberen 
Wand  der  Paukenhöhle  zur  harten  Hirnhaut.  —  Ich  finde  einen  constanten  tief- 
liegenden Ast  der  Auricularia  posterior,  durch  die  ganze  Länge  der  Indtura 
mastoidea  verlaufen. 


§.  396.  Endäste  der  Carotis  externa. 

Nachdem  die  Carotis  externa  durch  die  Substanz  der  Parotis 
hindurchgetreten,  und  diese  Drüse  mit  Zweigen  versah,  spaltet  sie 
sich,  hinter  dem  Halse  des  Gelenkkopfes  des  Unterkiefers,  in  ihre 
beiden  Endäste.     Diese  sind: 

1.  Die  oberflächliche  Schläfenarterie,  Arteria  temporalis 
superficialis,  Sie  steigt  über  die  Wurzel  des  Jochfortsatzes  zur 
Schläfegegend  auf,  liegt  auf  der  Fascia  temporalis,  und  zerfallt  in 
zwei  Zweige,  den  vorderen  und  hinteren.  Der  vordere  bildet 
einen  Bogen  nach  vorn  und  oben,  versorgt  mit  seinen  Aesten  die 
Haut  der  Schläfe  und  Stirngegend,  und  anastomosirt  mit  den  Zweigen 
der  Arteria  frontalis.  Der  hintere,  schwächere,  steigt  zum  Scheitel 
empor,  um  gleichfalls  an  der  Bildung  der  Blutgefassnetze  der  Kopf- 
schwarte Anthcil  zu  nehmen.  Bei  bejahrten  Individuen  sieht  man 
den  geschlängelten  Verlauf  der  Arteria  temporalis  durch  die  Haut- 
bedeckung hindurch.  Vom  Stamme  der  Arteria  temporalis  zweigen 
sich  folgende  Aeste  ab: 
a)  Die  Arteria  transversa  facieL  Sie  entspringt  sehr  häufig,  noch 
während   die   Carotis    externa    in    der    Parotis    steckt,    und  geht 


§.  396.  End&s(e  der  Caroii»  externa,  979 

über  dem  Ductiis  Stenonianus  quer  bis  in  die  Gegend  des 
Foramen  infraorhitale.  Sie  giebt  Aeste  zur  Parotis,  zum  Kau* 
und  Backenmuskel,  zum  Orbicularis  pcUpebrarum,  Zygomaticus 
und  Levator  anguli  oris,  und  anastomosirt  mit  der  Arteria 
infraorbitalis,  mit  den  Muskelästen  der  Arteria  maxülaris  ex- 
terna, und  mit  der  von  der  Arteria  maxillaris  interna  stammen- 
den Arteria  buccinatwia.  Sie  ist  zuweilen  doppelt,  zuweilen 
sehr  schwach,  kann  aber  so  stark  werden,  dass  sie  die  fehlen- 
den Gesichtsverästlungen  der  Arteria  maxillaris  externa  ersetzt. 

ß)  Die  viel  schwächere  Arteria  temporalis  media  durchbohrt  die 
Fascia  temporaiis,  um  sich  im  Fleische  des  Musculus  temporcUis 
aufzulösen. 

y)  Zwei  bis  drei  unwichtige  Arterias  auricuLares  anteriores  infe- 
riores, und  die  Arteria  auricidaris  anterior  superior  zum  äusseren 
Gehörgang  und  zur  Ohrmuschel. 

B)  Die  Arteria  zygomaticO'Orbitalis  entspringt  über  dem  Jochbogen, 
und  geht  schief  über  die  Fascia  temporaiis  nach  vorn  und  oben 
gegen  den  Margo  supraorbitalis,  wo  sie  mit  der  Stirn-,  Thränen- 
und  vorderen  Schläfenarterie  anastomosirt. 

2.  Die  innere  Kieferarterie,  Arteria  maxiUaris  interna.  Da 
sie  zu  allen  Höhlen  des  Kopfes  Aeste  sendet,  werden  ihre  Ver- 
ästlungen überhaupt  tiefer  liegen  und  schwerer  präparirbar  sein, 
als  die  übrigen  Schlagadern  des  Gesichtes.  Um  den  Stammbaum 
ihrer  Verzweigung  leichter  zu  überblicken,  soll  der  Lauf  der  Arterie 
in  drei  Abschnitte  gebracht  werden.  Der  erste  liegt  an  der  inneren 
Seite  des  Processus  condyloideus  des  Unterkiefers,  der  zweite  auf  der 
äusseren  Fläche  des  Pterygoideus  extemus  (oder  zwischen  den  beiden 
Ursprungsköpfen  dieses  Muskels),  der  dritte  in  der  Fossa  pterygo- 
palatina. 

A)  Aus  dem  ersten  Abschnitte  treten  folgende  Aeste  ab: 

a)  Die  Arteria  auricularis  profunda  zum  äusseren  Gehörgang. 

b)  Die  AHeria  tympanica  durch  die  Fissura  Olaseri   zur  Schl*^" 
haut  der  vorderen  Abtheilung  der  Trommelhöhle. 

c)  Die  Arteria  cHveolaris  inferior  geht,  bedeckt  vom  inneren  j?*®^" 
bände    des    Unterkiefergelenkes,    zur    inneren    Oeflfnun    ^^^ 
Unterkieferkanals   herab,    durchläuft   diesen   Kanal,  gi<**  ^^^ 
Wurzeln  der  Zähne  haarfeine  Ramxdi  dentales,  tritt  du^^  ^^^ 
Kinnloch  hervor,  und  anastomosirt  durch  ihre  Endzw^ig®  ™^* 
der  Arteria  coronaria  labii  infenoris  und  submentalis.  '^or  ihrem 
Eintritte  in  den  Unterkieferkanal  entsendet  sie  die   ^   Svlcus 
mylo-hyoideus    verlaufende    Arteria    mylo-hyoidea    z\^    gleich- 
namigen Muskel. 

6?* 


980  §.  S96.  End&ct«  der  Carotis  externa, 

B)  Aus  dem  zweiten  Abschnitte  entstehen: 
OL)  Die  mittlere  Arterie  der  harten  Hirnhaut,  Arteria 
mentngea  media  «.  spinosa.  Oft  genug  entspringt  sie  noch  aus 
dem  ersten  Abschnitte  der  Maxillaris  interna,  und  zwar  vor 
der  Arteria  alveolarin  inferior,  Sie  steigt  an  der  inneren  Fläche 
des  Musculus  pterygoideus  extemus  zum  Foramen  sptnosuni  auf, 
und  betritt  durch  dieses  Loch  die  Schädelliöhle,  mto  sie  in 
einen  vorderen  grösseren,  und  hinteren  kleineren  Ast  zer- 
fallt, welche  in  den  GefUssfurchen  des  grossen  Keilbeinflügels, 
der  Schuppe  des  Schläfebeins  und  des  Scheitelbeins,  sich 
baumförmig  verzweigen,  und  die  Dura  mater,  wie  auch  die  Diploe 
des  Schädelgewölbes  versorgen.  —  Zuweilen  existirt  noch  eine 
accessorische  Arteria  meningea  media  ^  als  Ast  der  eben  be- 
schriebenen. Sie  betritt  hinter  dem  Kamus  teiiius  paris  quinti 
durch  das  Foramen  ovale  die  Schädelhöhle,  wo  sie  sich  im 
Ganglion  Gasseri  und  in  der  diesen  Knoten  umgebenden  Partie 
der  harten  Hirnhaut  auflöst. 

Gleich  nach  ihrem  Eintritte  in  die  Schjidelh()hle,  sendet  sie  die  Arteria 
p^roaa  in  der  Furche  der  oberen  Fläche  der  Felgenpyramide  zur  Apertura  »puria 
canalis  Fallopiae.  Diese  kleine  und  somit  l>edentimg^lose  Arterie  theilt  »ich  in 
zwei  Zwei^chen,  deren  eines  in  die  Trommellii>hle  gelang^,  den  Tensor  tt/tnpam 
und  die  Schleimhaut  der  mittleren  Partie  des  Cavum  ti/mpani  ernährt,  während 
das  andere  den  Nervu/t  facialijf  im  Fall  opi'schen  Kanal  begleitet,  und  sich  mit 
der  Arteria  atylo-mantoidea  verbindet.  —  Im  hiesigen  Museum  befinden  »ich  zwei 
Injectionspräparate  der  Arteria  meningea  metlia  von  Kindesleichen,  an  welchen 
starke  Aeste  dieser  Arterie  durch  die  ötirnfontanelle,  und  durch  die  Sutum  seu/it- 
talis  in  die  weichen  Schädeldecken  übergehen.  Als  ein  constantes  Vorkommen 
erwähne  ich  noch  der  feinen  Rami  per/oranteM  dieser  Arterie,  welche  die  Schädel- 
knochen und  ihre  Nähte  durchsetzen,  um  sich  in  den  weichen  Auflag'en  der 
Hirnschale  zu  verlieren  (Hyrtl,  über  die  liavii  perforaiüen  der  vieningea  media,  in 
der  österr.  Zeitschrift  für  prakt.  Heilkunde,  1859,  Nr.  9).  —  Ich  habe  die  Arteria 
rymalis  mehrmal  aus  dem  vorderen  AsU'  der  Meniw/ea  media  entstehen   g'esehen. 

i)  Muskeläste,    welche    sich    mit    dem    vom    dritten     Aste    des 
Quintus  entsprungenen   Muskelnerv^en  vergesellschaften. 

Wir  zählen:  einen  f(ir  den  Masseter  als  liamua  mamtelericw*^  welcher  durch 
^\Inci9ura  Hemilunarvt  des  Unterkieferastes  zu  seinem  Bestimmungsorte  g'elangt; 
^JJ^  für  den  Huccinator  als  liamiis  huccinaloritut,  zwischen  Unterkiefera«t  und 
Mu^litft  hnrciiuUor  zum  Antlitz  gehend,  wo  seine  Aeste  mit  den  Zweigten  der 
Arte^  infraorbital ijty  traiutverMa  faciei,  und  Arteria  inaxUlarin  externa  anastonio- 
8»ren\niehrere  kleine  Zweige  für  die  beiden  Flügel muskel  als  liami  pterytjoidei ; 
so  wA  für  den  Schläfemuskel  die  b«*iden  Arteriac  temporale«  profundaey  eine 
a»*/«r«H^nnd  poitterior.  Die  vordere  schickt  durch  den  Canalis  zyyomatictu  teinpo- 
ratis  eii^n  Ast  in  die  Augenhöhle,  welcher  mit  der  Arteria  lacrymalis  anastomosirt, 

C)  6lus  dem  dritten  Abschnitte  gehen  hervor: 
«)  Die  Art^ria  alveolaris  superior,  deren  Zweige  durch  die  Tjöcher 
an  dkr  luberosifas  maanllae  superioris  zu    den  hinteren  Zähnen 
und  äir  Schleimhaut  der  Highmorshöhle  gelangen. 


§.  897.  TerftstluDg  der  Conti*  inUma.  981 

ß)  Die  Arteria  infraorhitalis.  Sie  verläuft  durch  den  Kanal;  der 
ihr  den  Namen  gegeben,  schickt  Zweigchen  in  die  Augen- 
höhle •  zur  Periorbita,  zum  Rectus  und  Obliquus  inferior,  abwärts 
laufende  Aestchen  zur  Schleimhaut  der  Highmorshöhle  und 
zu  den  vorderen  Zähnen,  zertheilt  sich  nach  ihrem  Austritte 
in  die  Muskeln,  welche  den  Raum  zwischen  Margo  infraorhi- 
talis  und  Oberlippe  einnehmen,  und  anastomosirt  in  zweiter 
und  dritter  Instanz  mit  den  übrigen  Antlitzarterien. 

y)  Die  Arteria  pcdatina  descendens  8,  pterygo-palatina.  Sie  giebt 
zuerst  die  Arteria  Vidiana  ab,  welche  mit  dem  Nerven  dieses 
Namens  durch  den  Canalis  Vidiamis  zur  oberen  Partie  des  ^ 
Pharynx  zieht,  wo  sie  mit  der  Arteria  pharyngea  ascendens  ana- 
stomosirt. Dann  steigt  sie,  in  drei  Aestc  gespalten,  durch  die 
Canales  pcdatini  descendetites  herab,  versieht  den  weichen 
Gaumen  und  die  Mandeln,  und  schickt  ihren  längsten  und 
stärksten  Ast  (Arteria  palatina  anterior),  den  harten  Gaumen 
entlang,  bis  zum  Zahnfleisch  der  Schneidezähne.  Ein  feiner 
Ast  derselben  dringt  durch  den  Canalis  naso-pcUatimis  zum 
Boden  der  Nasenhöhle. 

B)  Die  Arte}na  spheno-palatina  8.  nasalis  posterior.  Sie  kommt  durch 
das  Foramen  spheno-palatinum  in  die  Nasenhöhle,  deren  hintere 
Schleimhautpartie  sie  versorgt.  Ein  Ast  derselben  läuft  am 
Septum  narium  herab,  und  anastomosirt  mit  der  Arteria  pala- 
tina anterior,  und  der  Arteria  septi,  —  einem  Aste  der  Coro- 
naria  lahii  sujyerioris. 

Der  Stammbaum  der  Arteria  jnaxillaris  interna  behauptet  insofern  eine  ge- 
wisse Selbstständigkeit,  als  nicht  leicht  einer  seiner  Zweige  von  einer  anderen 
Kopfschlagader  entspringt,  oder  er  selbst  einen  Ast  abgiebt,  der  nicht  unter  den 
angeführten  steht.  Die  Abweichungen  in  Zahl  und  Ursprung  der  ihm  angehörigen 
Aeste  haben,  ihrer  tiefen  Lage  und  Unzugänglichkeit  wegen,  kein  besonderes 
chirurgisches  Interesse.  Mein  Museum  besitzt  den  höchst  merkwürdigen  Fall,  wo 
eine  fehlende  MaxUlaris  interna  durch  eine  colossale  Entwicklung  der  Ärteria 
palatina  Mcendens  ersetzt  wird  (beschrieben  in  der  österr.  Zeitschr.  für  prakt.  Heil- 
kunde, 1859,  Nr.  30). 

F,  Schlemm,  de  arteriarum,  praesertim  faciei  anastomosibus.  Berol.,  1821.  — 
Ejusdem,  arterianim  capitis  superficialium  icon  nova.  Berol.,  1830.  fol.  —  Eine 
Reihe  vortreflTIicher  Präparate  über  die  Verästlungen  der  Carotis  externa  und  ihrer 
zahlreichen  Varianten,  wird  im  Wiener  anatomischen  Museum  aufbewahrt 


§.  397.  Verästlung  der  Carotis  interna. 

Die  Carotis  interna  s.  cerebralis  liegt  anfangs  an  der  äusseren 
Seite  der  Carotis  externa,  macht  dann,  hinter  ihr  weg,  eine  Krüm- 
mung nach  innen  und  oben,  und  wird  von  ihr  durch  den  Musculus 
stylo-glossus  und  stylo-pharyngeus  getrennt.    Bevor  sie  in  den  CanaliA 


982  §.  897.  Yerftttlnng  der  Caroti*  inUrma. 

caroticus  eindringt,  bildet  sie  noch  eine  zweite  Krümmung,  deren 
Convexität  nach  innen  sieht.  Ihr  Verlauf  ea^ra  canedem  caroticum 
ist  somit  umgekehrt  S-förmig  gekrümmt.  Diese  Kiiimmungen  sieht 
man  im  injicirten  Zustande  des  Gefasses  besonders  ausgesprochen. 
Im  Canalia  caroticus  des  Felsenbeins  tritt  eine  dritte,  und  im  Sinus 
cavernosus,  welchen  die  Carotis  interna  durchsetzt,  noch  eine  vierte 
Krümmung  hinzu.  Die  letzte  übertrifft  an  Schärfe  die  drei  voraus- 
gegangenen. —  Im  Canalis  caroticus  sendet  die  Carotis  interna  ein 
feines  Aestchen  zur  Schleimhaut  der  Trommelhöhle  (Ramtdus  carotico- 
tympanicus),  und  im  Sinus  cavernosus  erzeugt  sie  mehrere  kleine 
Zweige  für  das  Ganglion  Gasseri,  die  Hypophysis  cerebri,  und  die 
um  den  Türkensattel  herum  befindliche  Partie  der  harten  Hirnhaut. 
Ihr  Hauptast  aber  ist  die  Arteria  ophthalmica.  Diese,  die  Contenta 
der  Augenhöhle  und  die  Stirngegend  versorgende  Schlagader,  ent- 
springt aus  dem  convexen  Rande  der  letzten  Krümmung  der  Carotis 
interna,  bevor  dieses  Gefiiss  an  die  Gehirnbasis"  tritt.  Sie  gelangt 
mit  dem  Nervus  opticus,  an  dessen  äusserer  unterer  Seite  sie  liegt, 
durch  das  Foramen  opticum  in  die  Augenhöhle,  schlägt  sich  hierauf 
über  den  Sehnerven  nach  innen,  geht  unter  dem  Muscidtis  ohliquus 
superior  an  der  inneren  Orbitalwand  nach  vorn,  und  zerfallt  unter 
der  Rolle  in  die  Arteria  fr&iitalis  und  dorsalis  nasi.  Auf  dieser 
Wanderung  erzeugt  sie  folgende  Zweige: 

1.  Die  sehr  feine  Arteria  centralis  retinae,  welche  in  der  Axe  des 
Sehnerven  zur  Netzhaut  verläuft. 

2.  Die  Arteria  lacrymalis,  Sie  zieht  an  der  äusseren  Orbital  wand 
nach  vorn  zur  Thränendrüse. 

Sie  g^ebt  eine  oder  zwei  hintere  Ciliararterien  ab,  sendet  Zweige  in  den 
Canalia  zygomatiau  facialis  und  temporalig^  versorgt  die  Thränendrfise,  und  theilt 
sich  am  äusseren  Augenwinkel  in  eine  Ärteria  palpebralis  externa  superior  et  in- 
ferior, —  Nicht  selten  schickt  sie  durch  die  Fissura  orhitalis  superior  einen  Itamus 
recurrens  zur  Schädelhöhle,  welcher  sich  in  der  harten  Hirnhaut  ramificirt,  oder 
mit  dem  vorderen  Aste  der  Arteria  meningea  media  anastomosirt. 

3.  Muskeläste  für  den  Bewegungsapparat  des  Bulbus.  Ihre  Zweig- 
chen verlängern  sich  theils  über  die  Insertionsstelle  der  Muskeln 
hinaus  bis  in  die  Conjunctiva  hulhi  hinein,  theils  durchbohren 
sie  den  vorderen  Abschnitt  der  Sclerotica,  um  zur  Iris  und 
zum  Musculus  cUiaris  (Tensor  choroideae)  zu  gehen. 

4.  Die  Arteriae  ciliares  posticas  longae  et  breves.  Es  linden  sich 
immer  nur  zwei  longae,  und  mehrere  breves.  Sie  durchbohren 
die  Sclerotica  um  die  Eintrittsstelle  des  Sehnerven  herum.  Die 
longae  verlaufen  (als  äussere  und  innere)  zwischen  Choroidea 
und  Sclerotica  an  der  Schläfen-  und  Nasenseite  des  Augapfels 
nach   vom^   zum    Musculus  cüiaris   und    zur   Iris.     Die  breves 


§.  397.  Ver&stliing  der  CiroTi«  inUma.  988 

verästeln    sich   nur   in    der  Choroidea    (§.  223   lässt  sich  über 
diese  Arterien  ausführlicli  aus). 

Eine  Arteria  ciliarü  postica  tonga  durchbohrt,  wie  ich  öfters  sah,  das  Gan- 
glion ciliare.  —  Jene,  welche  sechzehn  Arteriae  ciliares  posticae  ftrevfs  anftihren, 
haben  nie  injicirte  Geßisse  dieser  Art  gesehen  und  gezählt,  tind  Hessen  sich  durch 
die  Meinung  irreführen,  dass  die  Zahl  der  Arterien  jener  der  Neroi  ciliares  gleichen 
müsse.  Diese  kann  allerdings  bis  auf  sechzehn  anwachsen. 

5.  Die  Arteria  supraorhitalU  gebt  über  dem  Levator  palpebrae 
8upe)ioris  durch  das  F(yramen  mpraorhitale,  oder  eine  gleich- 
namige Incisur,  zur  Stirne. 

6.  Die  Arteria  ethmoidalis  anterior  et  poat&r^ior.  Die  anterior  geht 
durch  das  gleichnamige  Loch  in  die  Schädelhöhle,  giebt  hier 
die  unbedeutende  Art4iria  meningea  anterior  ab,  dringt  mit 
dem  Nervus  ethmoidalis  des  ersten  Trigeminus-Astes  durch  das 
vorderste  Loch  der  Siebplatte  in  die  Nasenhöhle,  und  ver- 
schiedet ihre-  Zweige  zu  den  vorderen  Siebbeinzellen,  zur 
Schleimhaut  des  Sinnet  frontalis  und  der  vorderen  Abtheilung 
der  Nasenhöhle.  Die  posterior  ist  viel  kleiner,  und  geht  durch 
das  Foranwn  ethmaidale  posterius  direct  und  ohne  Umweg  zu 
den  hinteren  Siebbeinzellen. 

7.  Die  Arteria  palpehralis  interna  superior  et  inferior,  welche  am 
inneren  Augenwinkel  unter  der  Holle  entspringen,  den  Saccus 
lacrifmalisy  die  Caruncuhi,  und  die  Conjunctiva  palpebrarum  mit 
feinen  Zweigen  betheilen,  dann  in  die  betreffende  Palpebra 
eindringen,  und  zwischen  dem  Tarsusknorpel  und  dem  Sphinc- 
ter,  höchstens  eine  Linie  vom  freien  Lidrand  entfernt,  nach 
aussen  laufen,  um  den  von  der  Arteria  lacri^malia  abgegebenen 
Arteriis  pidpebralibus  externis  zu  begegnen,  und  mit  ihnen 
direct  zu  anastomosiren,  wodurch  der  sogenannte  Arcus  tarseu» 
superior  et  inferior  zu  Stande  kommt. 

8.  Die  Arteria  frontalis  schlägt  sich  um  das  innere  'Ende  des 
Margo  supraarbitalis  zur  Stirn  empor,  wo  sie  mit  allen  hier 
ankommenden  Arterien  (Arteria  temporalü  anterior,  zygomaiiott 
arbitalis,  supraorbitalis)  anastomosirt. 

9.  Die   Arteria  dorsalis  nasi  durchbohrt,    über  dem   lAgammn^ 
palpebrale  internum,  den  Muscidus  orbieularis,  und  anaatom* 
neben   dem   Nasenrücken   herabsteigend,   mit  dem  Sn« 
Artef'ia  maxillaris  externa  (Angularis),   oder  mit  einem 
rückenast  derselben. 

Cruveilhier  citirt  einen  von  Prof.  Dubrenil  in  Moii^IU«rlMob 
Fall,  in  welchem  die  Arteria  ophthalmica   nicht   ans    der  ChreÜK 
ans  der  Metüngea  rnedia  entsprang,  und  nicht  doroh  das  Foramm 
durch  die  Fissura  orbilalis  sttperior  in  die  AugenhOUfi  gslaagto«    DlS 
ffefUhrtc   Beobachtung   des  Ursprungs  der   ArteH»  laerfmnUt  •»  i 


984  S*  S98.  Verftttlmig  der  Schlütselbeinarterie. 

Aste  der  Meningea  media  (§.  396.  B,  a)  kann  als  ein  Vorspiel  dieser  merkwürdigen 
Anomalie  angesehen  werden. 

Nach  Abgabe  der  Arteria  ophthalmica  treten,  aus  dem  concaven 
Rande  der  letzten  Carotiskrümmung,  noch  zwei  Arterien  hervor, 
deren  eine,  als  Arteria  communicans  posterior,  neben  dem  Infundi- 
bulum  nach  rückwärts  läuft,  um  mit  der  aus  der  Arteria  basüaris 
entstandenen  Profunda  c&i*ehri  zu  anastomosiren,  und  den  Circidus 
Wülim  (§.  398)  schliesscn  zu  helfen,  während  die  andere  als 
Arteria  choroidea,  längs  des  Tractus  opticus  zum  Adergeflecht  der 
Seitenkammer  sich  begiebt.  —  Zuletzt  zerföUt  die  Carotis  interna  in 
ihre  beiden  Endäste,  welche  sind: 

a)  Die  Arteria  corporis  callosi.  Sic  convergirt,  in  vorwärts 
strebender  Richtung,  mit  jener  der  anderen  Seite,  verbindet  sich 
mit  ihr  durch  einen  Querast  (Arteria  communicans  anterior)  j  und 
steigt  vor  dem  Balkenknie  zur  oberen  Fläche  des  Corpus  callosum 
hinauf,  liegt  aber  nicht  in  der  Längenfurche  derselben,  sondern  an 
der  inneren  Seite  der  Hemisphären,  in  deren  Windungen  sie  ihre 
Zweige  versendet. 

b)  Die  Arteria  fossae  Sylvii  folgt  dieser  Grube,  und  schickt 
ihre  Zweige  zum  vorderen  und  hinteren  Gehirnlappen,  zwischen 
welchen  eben  die  Sylvi'sche  Furche  liegt. 

Alle  Verzweigungen  der  Carotis  interna  in  der  Scbädeliiöhle,  haben  auf- 
fallend schwächere  Wandungen,  als  gleich  starke  Arterien  anderer  Körpergegen- 
den. Sie  werden  nie  von  Venen  begleitet,  welche  andere  Wege  einschlagen,  als 
die  Arterien.  Es  lässt  sich  speciell  von  der  Carotv*  interna  sagen,  dass  sie  viel 
Blut  zum  Gehirn,  aber  wenig  in  dasselbe  ftlhre.  Nur  die  graue  Substanz  des 
Gehirns,  welche  die  Rinde  aller  Gyn  bildet,  ist  im  hohen  Grade  gefassreich,  die 
weisse  oder  Marksubstanz  dagegen  sehr  gefässarm. 

Die  Endäste  der  Carotis  interna  sind  reich  an  Varietäten.  Oft  stammt  die 
rechte  und  linke  Arteria  corporis  callosi  aus  Einer  Carotis,  wo  dann  die  Arteria 
communicans  anterior  fehlt.  Die  Arteria  communicans  posterior  fehlt  zuweilen  auf 
Einer  Seite,  und  variirt  an  Grösse  sehr  auffallend.  Ich  sah  selbst  die  Arteria 
fossae  Si/lvii  auf  der  linken  Seite  nicht  als  Ast  der  Carotis  interna,  sondern  der 
Arteria  profunda  cerebri.  Das  Gegentheil  dieser  letzteren  Abnormität  wird  da- 
durch gegeben,  wenn  sich  eine  starke  Arteria  communicans  posterior  unmittelbar 
in  die  Arteria  profunda  cerebri  verlängert,  welche  mit  der  Arteria  basilaris  (§.  398) 
gar  nicht,  oder  nur  durch  einen  dünnen  Zweig  zusammenhängt. 

Für  descriptive  und  chirurgische  Anatomie  der  inneren  und  äusseren 
Carotis  wichtig  ist:  John  Wyeth,  The  Surgical  Anatomy  of  the  Carotid  Arteries. 
New-York,  1876. 


§.  398.  Terästlung  der  Sclilüsselbeiiiarterie. 

Die  Schlüsöclbeinarterie,  Arteria  subclavia,  führt  in  den 
Handbüchern  diesen  Namen  nur  von  ihrem  Ursprünge  bis  zur 
Austrittsstelle   aus   dem  Zwischenspalt  des    vorderen    und  mittleren 


S.  Sd8.  Yerftstlnng  der  8chlfl>aelb«inarterie.  985 

Scalenus.  Diese  Grenzbestimmung  der  Arteria  subclavia  steht  mit 
dem  Namen  des  Gefösses  im  Widerspruche,  indem  das  Stück  der 
Arterie,  welches  vom  Ursprung  bis  zum  Austritt  zwischen  den  Sca- 
leni  reicht,  mit  dem  Schlüsselbein  in  gar  keine  Beziehung  tritt. 
Richtiger  ist  es,  das  Geföss,  von  seinem  Ursprung  bis  unter  das 
Schlüsselbein  hinab.  Subclavia  zu  nennen.  Die  rechte  ist  gewöhnlich 
etwas  stärker,  und  um  die  ganze  Länge  des  Truncus  anonymus 
kürzer  als  die  linke.  Der  Verlauf  beider  bildet  einen  nach  unten 
concaven  Bogen  über  die  erste  Rippe  weg.  Dieser  Bogen  ist  für 
die  linke  Subclavia  schärfer  gekrümmt  als  für  die  rechte. 

Kommt  über  der  ersten  Brustrippe  noch  eine  sogenannte  Halsrippe  (Note 
zu  §.  121)  vor,  so  krümmt  sich  die  Schlüsselbeinarterie  über  diese,  mid  nicht 
über  die  erste  Brustrippe  weg;.  Dieses  ist  jedoch  nur  dann  der  Fall,  wenn  die 
Länge  der  Halsrippe  nicht  unter  zwei  Zoll  beträgt.  Ist  sie  kürzer,  so  reicht  sie 
nicht  so  weit  nach  vorn,  um  auf  den  Verlauf  der  Schlüsselbeinarterie  einen  ab- 
lenkenden Einfluss  nehmen  zu  können. 

Die  Schlüsselbeinarterie  erzeugt  fünf  Aeste.  Vier  davon  ent- 
springen aus  ihr,  bevor  sie  in  den  Zwischenraum  des  vorderen  und 
mittleren  Scalenus  eingeht;  der  fünfte  zwischen  diesen  Muskeln, 
oder  jenseits  derselben.     Diese  fünf  Aeste  sind: 

a)  Die  Wirbelarterie,  Arteria  vertebralis.  Als  der  stärkste 
von  den  fünf  Acsten  der  Arteria  subclavia,  läuft  sie  eine  kurze 
Strecke  am  äusseren  Rande  des  Museidus  longus  colli  herauf,  und 
begiebt  sich  durch  das  Loch  im  Querfortsatz  des  sechsten  Hals- 
wirbels (nur  sehr  selten  schon  des  siebenten)  in  den  Schlagader- 
kanal der  Halswirbelquerfortsätze ,  in  welchem  sie  emporsteigt. 
Wegen  stärkerer  Entwicklung  der  Massae  laterales  des  Atlas,  kann 
aber  die  Richtung  der  Arteria  certebralis,  vom  zweiten  Halswirbel 
an,  keine  senkrecht  aufsteigende  sein.  Sie  muss  nämlich  vom  Quer- 
fortsatz des  Epistropheus  zu  jenem  des  Atlas  nach  aussen  ablenken, 
um  dann,  nachdem  sie  ihn  passirte,  sich  hinter  dem  oberen  Gelenk- 
fortsatz des  Atlas  nach  einwärts  zum  grossen  Hintcrhauptloch  zu 
wenden.  Hier  durchbohrt  sie  die  Membrana  obturatoria  posterior  und 
die  harte  Hirnhaut,  und  umgreift  die  Mednlla  oblongata  so,  dass  sie 
an  der  unteren  Fläche  derselben,  mit  jener  der  anderen  Seite  con- 
vcrgiren,  und  schliesslich  sich  mit  ihr  am  hinteren  Rande  des  Pons 
Varoli  zur  unpaarcn  Arteria  basilaris  vereinigen  kann. 

Von  ihrem  Ursprünge  bis  zum  Eintritte  in  die  Schädelhöhle  entsprossen 
der  Arteria  vertehralia  folgende  schwächliche  Zweige: 

a)  Ravii  mtisculares,  für  die  an  den  Wirbelquerfortöätzen  entspringenden 
Muskeln. 

ß)  Bami  spinales,  welche  durch  die  Faramina  inlervertebralia  in  den  Kück- 
gratkanal  eindringen,  die  Dura  nuUer  spinaUs,  die  Wirbel,  so  wie  den  Band- 
apparat im  Inneren  der  Wirbelsliile  enihreiiy  und  dM  BOokenmaric  selbst  mit 


986  S«  998,  Terftstlang  dor  SehlftMelbeinarterie. 

Torderen  und  hinteren  Aestchen  umgpreifen,  welche  mit  der  vorderen  und  hinteren 
Bückenmarksarteiie,  so  wie  mit  den  nächst  oberen  und  unteren  Hamis  tpmaUbtu 
derselben  Seite  anastomosiren. 

Y)  Die    Arteria   meningea   posterior,    welche  zwischen    Atlas    und    Foramen 
occipitale  entspringt,  mit  dem  Stamme  der  Arteria  vertebralia  in  die  Schädelhöhle 
gelang^,  und  ihr  schwaches    Geäste   in   der   harten  Hirnhaut  der  unteren  Gruben 
des  Hinterhauptbeins  ausbreitet 

Nach  dem  Eintritte  der  Wirbelarterie  in  die  Schädclhöhle, 
bis  zur  Vereinigung  beider  Wirbelarterien  zur  Arteria  bcusüaris,  giebt 
jede  ab: 

a)  Eine  vordere  und  hintere  Bückenmarksarterie,  Arteria  »pinalit 
anterior  et  posterior.  Die  vordere  verbindet  sich  mit  jener  der  anderen  Seite  zu 
einem  einfachen  Stämmchen,  welches  längs  des  StUcus  Umgitttdinalia  anterior  der 
MedtiUa  spinalis  etwas  geschlängelt  herabläuft,  und  mit  den  Bamia  spinalibus, 
welche  die  Arteria  vertebralia,  die  Intercoatalea,  die  Lumbales  und  Sacrales  durch 
die  Foramina  intervertebralia  dem  Rückenmark  zusenden,  einfache  oder  insel- 
fÖrmige  Anastomosen  bildet.  Die  hintere  fliesst  mit  der  anderseitigen  nicht  zu 
Einem  Stämmchen  zusammen,  anastomosirt  aber  wohl  durch  vermittelnde  Bogen 
mit  ihr  und  den  liamis  spinalibus. 

ß)  Die  Arteria  cerebeUi  inferior  posterior,  zu  dem  hinteren  Abschnitt  der 
unteren  Gegend  des  kleinen  Gehirns.  Sie  giebt  Aeste  zum  Untorwurm,  und  zum 
Plexus  choroideus  des    Ventriculus  quartus, 

Y)  Die  Arteria  cerebeUi  inferior  anterior,  zum  vorderen  Abschnitt  der  unteren 
Kleinhimgegend,  und  zur  Flocke. 

Die  aus  der  Vereinigung  beider  Arteri<ie  vertebrales  hervor- 
gegangene Arteria  hasilaris  geht  in  der  Längenfurcho  des  Pwi8 
Varoli  nach  auf-  und  vorwärts,  bis  sie  jenseits  des  Pons  in  die 
beiden  tiefen  Gehirnarterien,  Arteria  profunda  cerebn  dextra  et 
ginistra,  zerfallt.  Aus  der  Arteria  basüaris  selbst  entspringen: 

a)  Die  Arteria  auditiva  interna,  welche  in  den  inneren  Gehörgang  eintritt, 
und  ihre  Zweigchen  durch  die  grösseren  Löcher  der  Maculae  cribrosae,  und  des 
Tractus  spiralis,  zu  den  häutigen  Bläschen  des  Vorhofs,  und  zur  X*amtna 
spiralis  schickt. 

ß)  Die  Arieria  cerebeUi  stiperior.  Diese  geht  am  vorderen  Rande  des  Pons 
nach  aussen,  und  neben  dem  Corpus  quadrigeniinum  zur  oberen  Fläche  des  kleinen 
Gehirns. 

Am  vorderen  Rande  der  Varolsbrücke  theilt  sich  die  Arteria 
hasilains  stark  gespreizt  in  die  beiden  Arteriae  profundae  cerehri. 
Diese  nehmen  die  Artenae  communicantes  posteriores  von  den  inneren 
Carotiden  auf,  schlagen  sich  um  die  Pedimculi  cerehri  nach  rück- 
und  aufwärts,  schicken  Aeste  durch  den  Querschlitz  zum  Plexus 
choroideus  medius,  und  verbreiten  ihre  Endzweige  an  den  hinteren 
Lappen  des  grossen  Gehirns. 

Durch  die  Verbindung  beider  ^Werme  communicantes  posteriores 
mit  den  als  Arteriae  profundae  cerehri  bezeichneten  Spaltungsästen 
der    unpaaren    Arteria    basüaris,    wird    die  Carotis  interna    mit    der 


§.  888.  Yer&stliing  der  SehlfiMelbeinarterie.  987 

Arteria  vertelrcdis  in  eine  fiir  die  gleichmässige  Blutvertheilung  im 
Gehirn  höchst  wichtige  Anastomose  gebracht,  welche  als  Circidus 
arteriostis  Wülisii  bezeichnet  wird.  Der  Circvlua  WtUidi  ist,  genau 
genommen,  kein  Kreis,  sondern  ein  Polygon  (und  zwar  ein  Heptagon). 
Er  schliesst  das  Chiasma,  das  Tuber  cineretim  mit  dem  Trichter,  und 
die  Corpora  mammillaria  ein,  und  entspricht  somit,  der  Lage  nach, 
der  Sella  turcica. 

Eine  bisher  nicht  beobachtete  abnorme  Urspmngsweise  der  Wirbelarterie 
sahen  wir  kürzlich  an  einer  Kindesleiche.  Die  Arteria  verUhralia  dextra  entsprang 
nämlich  hinter  der  Subclavia  siniatra,  und  lief  in  schiefer  Richtung  hinter  der 
Speiseröhre  und  vor  der  Wirbelsäule  nach  rechts  hinüber  zum  Foramen  trans- 
veraarium  des  sechsten  Halswirbels.  Sie  hatte  somit  denselben  anomalen  Ursprung 
und  Verlauf,  welchen  man  bisher  nur  von  der  Subclavia  dextra  kannte. 

Die  Wirbelarterie  betritt  nicht  selten  erst  am  fünften  oder  vierten  Wirbel 
den  Schlagaderkanal.  Sie  kommt  auch  doppelt,  selbst  dreifach  vor,  in  welchem 
Falle  ihre  Wurzeln  nicht  in  dasselbe  Qnerfortsatzloch  eintreten.  Immer  vereinigen 
sich  die  vervielfältigten  Wirbelarterien  im  Querfortsatzkanal  zu  einem  einfachen 
Stamm.  —  Die  Basilararterie  bildet  in  seltenen  Fällen  durch  Spaltung  und  Wieder- 
vereinigung ihres  Stammes  Inseln,  wodurch  ihre  Verwandtschaft  mit  den  Ärteriit 
apinalibtu  sich  kundgiebt  —  J.  Davy  (Edinb,  Med.  and  Surg,  Joum.  1838)  er- 
wähnt in  der  Basilararterie  eine  senkrechte  Scheidewand,  als  Trennung^spur 
zwischen  den  verschmolzenen  Wirbelarterien,  und  Uebergang  zur  Juxtaposition. 
—  Weber  sah  die  Basilararterie  durch  ein  Loch  in  der  Satteilehne  gehen.  — 
Ueber  Abnormitäfen  der  Wirbel-  und  Basilararterie,  handelt  mein  Aufsatz  in  den 
med.  Jahrb.  Oesterr.  1842.  Juli,  und  A,  F.  Walter,  de  vasis  vertebralibus.  Lips., 
1730.  —  A.  Barbiert,  Monographia  dell*  arteria  vertebrale.  Milano,  1868. 

b)  Die  innere  Brustarterie,  Arteria  mammaria  interna*  Sie 
entspringt  von  der  unteren  Peripherie  der  Arteria  subclavia,  gegenüber 
der  Arteria  vertebralis,  und  läuft  zur  hinteren  Fläche  der  vorderen 
Brustwand,  wo  sie  hinter  den  Rippenknorpeln,  und  neben  dem  Seiten- 
rande des  Brustbeins  gegen  das  Zwerchfell  herabsteigt.  Während 
dieses  Laufes  erzeugt  sie,  nebst  den  unbedeutenden  Arteriae  media- 
stinicae,  thymicae,  und  der  einfachen  oder  doppelten  bronckialis  ante- 
rior, noch  folgende  Aeste: 

a)  Die  Arteria  pericardiaco-phrenica,  welche  mit  dem  Nermu  phreniau  an 
der  Seitenwand  des  Herzbeutels  zum  Zwerchfelle  gelangt. 

ß)  Die  Arteriae  intercostales  anteriores,  zwei  fllr  jeden  der  sechs  oberen 
Intercostalräume,  eine  obere  stärkere,  und  untere  viel  schwächere,  welche  auch 
oft  mittelst  eines  kurzen  gemeinschaftlichen  Stämmchens  entstehen,  und  mit  den 
eigentlichen  oder  hinteren  Zwischenrippenschlagadern  anastomosiren,  welche  ihnen 
entgegenkommen.  Sie  schicken  gleich  nach  ihrem  Ursprünge  Rami  perforantea 
zur  Haut  und  den  Muskeln  der  vorderen  Thoraxwand.  Im  weiblichen  Geschlechte 
sind  die  Bami  per/orantes  des  zweiten  bis  fünften  Intercostalraumes  stärker  als 
die  übrigen,  da  sie  ansehnliche  Aeste  (Arteriae  mammariae  extemaej  zur  Brust- 
drüse abzugeben  haben.  —  Oefters  entspringt  von  der  Mamimana  intema,  noch 
bevor  sie  den  ersten  Bippenlmorpel  erreiehti  «tu  atM^u**»^  a«*  wcdeher  alt 
ArUria  coitalü  nUertnedia  an  der  inneno  01 


988  S*  398.  Yoriftlnng  der  Schlflatelbeinarterie. 

schief  nach   aus-  und   abwärts    gehender   Richtnng,    über  mehr  wenig'er    Rippen 
hinabstreicht. 

Zwischen  dem  sechsten  Rippenknorpel  und  dem  Procesmu 
xiphoideus  stemi  spaltet  sich  die  Mammaria  interna  in  die  Arteria 
epigastrica  superior  und  mu^fculo-phrenica. 

Die  Arteria  niu^ndo-phrenica  zieht  sicli  längs  des  Urspronges  der  Pars 
contalU  diaphragmatls  schief  nach  aussen  und  unten  an  der  Seitenwand  des  Thorax 
hin,  und  giebt  die  Arteruie  ifUercostales  anteriores  für  die  fünf  imteren  Zwischen- 
rippenräume ab.  —  Die  Arteria  epigastrica  superior  dringt  zwischen  dem  siebenten 
Rippenknorpel  und  dem  Schwertfortsatz,  selten  durch  ein  Loch  des  letzteren,  in 
die  Scheide  des  geraden  Bauch muskels,  wo  sie  auf  der  hinteren  Fläche  des  ge- 
nannten Muskels,  gegen  den  Nabel  herabzieht,  ihre  Aeste  theils  in  dem  Fleische 
des  Rectus  lässt,  theils  als  perforirend  zur  Haut  der  Begio  epigastrica  schickt,  und 
allenthalben  mit  der  Arteria  epigastrica  inferior  (aus  der  Arteria  cruralisj  und  den 
übrigen  Bauchmuskelarterien  anastomosirt. 

Ich  sah  die  Epigastrica  superior  öfters  mit  der  entgegengesetzten  durch 
einen  hinter  dem  Schwertfortsatz  vorbeilaufenden  Verbindungsast  anastomosiren. 
Cruveilhier  sah  diesen  Verbindungsast  vor  dem  Schwertknorpel  vorbeiziehen. 
Feine  Aestchen  der  MuscuUhphrenica  laufen  im  Ligamentum  Suspensorium  hepatis 
zur  Leber.  —  Die  Arteria  mammaria  interna  entspring^  abnormer  Weise  aus  der 
Anonyma,  dem  Aortenbogen,  dem  Truncus  thi/reo-cervicalis,  und  wird  auf  beiden 
Seiten  oder  nur  auf  einer  doppelt.  Einen  höchst  merkwürdigen  Fall  und  einzig 
in  seiner  Art  besitze  ich,  wo  die  Arteria  mammaria  dextra  im  vierten  Zwischen- 
rippenraum aus  dem  Thorax  heraustritt,  den  fünften  Rippenknorpel  umgreift,  und 
sich  unter  diesem  Knorpel  wieder  in  den  Thorax  zurückbeg^ebt. 

c)  Die  Schilddrüsenarterie ,  Arteria  thyreoidea  inferior^ 
welche,  weil  sie  Zweige  zu  gewissen  Nackenmuskeln  gibt,  auch 
Trnncics  tht/reo-cervicalis  genannt  wird.  Sie  steht  der  Arteina  verte- 
hralis  nur  wenig  an  Stärke  nach.  Am  inneren  Kande  des  Scalenus 
andern  steigt  sie  bis  zum  fünften  Halswirbel  empor,  krümmt  sich 
hinter  den  grossen  llalsgefössen  nach  innen  und  oben,  versieht  die 
Luft-  und  Speiseröhre  mit  kleinen  Zweigen,  und  gelangt  mit  zwei 
Endästen  an  den  unteren  Rand  und  an  die  hintere  Fläche  der 
Schilddrüse,  wo  diese  Aeste  weder  mit  den  Zweigen  der  Thyreoidea 
superior,  noch  mit  jenen  der  entgegengesetzten  Thyreoidea  tnferiar 
anastomosiren,  obwohl  ein  allgemeiner  Usus  dicendi  es  so  haben  will. 
Ein  J^amus  laryngeus  findet  unter  dem  Constrictor  pharyngis  inferior 
seinen  Weg  zur  hinteren  Kehlkopfwand.  Er  anastomosirt  mit  der 
Arteria  laryngea  aus  der  Thyreoidea  superior.  —  Muskeläste  dieser 
Arterie  sind: 

1.  Die  aufsteigende  Nackenarterie,  Arteria  cervicalis  ascenden*.  Sie 
zieht  auf  den  Muskeln  vor  den  Wirbelquerfortsätzen  empor,  versorgt  dieselben,  und 
anastomosirt  mit  den  Muskelästen  der  Arterin  vertebralis,  cervicalis  descendetut,  und 
cervicalis  pro/umla, 

*2.  Die  oberflÄchliche  Nackenarterie,  Arterin  cervicalis  superßcitUi*, 
Sie  entspringt  fast  immer  aus  der  Arteria  cervicalis  ascemlens,  läuft  parallel  mit 
dem    Schlüsselbein    nach    aus-    und    rückwärts    durch  die  B^ossa  supradaviculari». 


§.  399.  Ver&stlnDg  der  Acluelarterie.  989 

wird  hier  nur  durch  das  Platysma  und  das  hocbliegende  lUatt  der  Fcuida  cervicalv» 
bedeckt,  und  verbirgt  sich  dann  unter  dem  Miutaäus  cuctiUaris^  in  welchem  sie 
sich,  so  wie  in  den  beiden  Splenüs  und  Wiomboideut,  auflöst. 

3.  Die  quere  Schulterblattarterie,  Arteria  Iranaversa  scapulae,  Sie 
verläuft  hinter  dem  Schlüsselbein  quer  nach  aussen,  sendet  den  Ramus  cun-omiafU 
zur  Schulterhöhe,  geht  durch  die  Incisura  acapulae,  oder  über  das  Deckband  der- 
selben, zur  oberen  Gräteng^be,  und  hinter  dem  Collum  scaptdae  zur  unteren 
Gräteng^be  herab,  und  verliert  sich  in  den  Muskeln,  welche  diese  Gruben 
innehaben. 

d)  Die  Rippen-Nackcnschlagader^  Truncus  costo-cerviccUts. 
Ein  kurzer  Stamm,  welcher  hinter  dem  ScaUnvs  anticua  aus  der 
Subclavia  entsteht,  und  sich  in  folgende  zwei  Zweige  theilt: 

1.  Die  obere  Zwischenrippenarterie,  Arteria  inJtercostalis  suprema, 
Sie  geht  vor  dem  Halse  der  ersten  und  zweiten  Rippe  herab,  und  sendet  die 
Arteriae  irüercostales  für  den  ersten  und  zweiten  Zwischenrippenraum  ab. 

2.  Die  tiefe  Nackenarterie,  Arteria  cervicalis  profunda,  welche  zwischen 
dem  Querfortsatz  des  siebenten  Halswirbels  und  der  ersten  Rippe  nach  hinten, 
und  in  den  tiefen  Nackenmuskeln  nach  aufwärts  läuft,  um  in  den  Nackenmnskeln 
sich  zu  ramificiren. 

e)  Die  quere  Halsarterie,  Arteria  transversa  coUi,  Sie  ent- 
springt als  ein  stattliches  Gcföss,  entweder  zwischen  den  Scaleni, 
oder  jenseits  derselben.  Letzteres  kommt  häufiger  vor.  Sie  durch- 
bohrt den  Plexus  bra^chiaiis  von  vorn  nach  hinten,  und  zieht,  tief- 
gelegen, durch  die  Fossa  supra-davicularis  nach  aussen,  um  den 
oberen  Rand  der  Scapula  zu  erreichen,  an  dessen  innerem  Ende 
sie  einen  Ast  zum  Musadus  cucidlaris,  deltoideus,  levator  scaptdae, 
und  zum  Akromion  aussendet,  und  hierauf  als  Arteria  dorsalis 
scapulae  endet,  welche  den  inneren  Rand  des  Schulterblattes  ent- 
lang, zwischen  dem  Rhomboideus  und  Serratus  anticus  major  ver- 
schwindet. 


§.  399.  VeräsÜung  der  Achselarterie. 

Die  Arteria  axillaris  ist  die  Fortsetzung  der  Arteria  subclavia. 
Vom  Schlüsselbein  bis  zum  unteren  Rande  der  vorderen  Wand  der 
Achselhöhle  herab,  fiihi-t  sie  diesen  Namen. 

Die  Achselarterie  begleitet  das  Achselnervengeflecht,  an  welches 
sie  sich  bei  ihrem  Austritte  aus  der  Scalenusspalte  anschliesst,  und 
wird  von  den  drei  Hauptbündeln  desselben  umgeben.  Sie  hat  über 
sich  das  Schlüsselbein  und  den  Musculus  subdavius,  vor  sich  und 
etwas  nach  innen  die  Vena  axülaiis.  Vom  Oberarmkopf  wird  sie 
durch  den  Musadus  subscapvlaris  getrennt.  Die  Vena  cephalica  geht 
vor  ihr  weg  zur  Achselvene.  Nach  innen  wird  sie  nur  von  der 
Haut  und  der  Fascie  der  Achselhöhle   bedeckt,  und   kann  deshalb 


990  S*  ^^'  Verftitlvng  der  Armarterie. 

leicht  gefühlt  und  gegen   den   Knochen   angedrückt   werden.     Die 
beiden  Wurzeln  des  Nervus  medianus  umgreifen  sie  gabelförmig. 

Nebst  kleinen  Zweigchen  zu  den  Lymphdrüsen  der  Achsel, 
treibt  sie  folgende  Aeste  aus: 

a)  Die  Arteria  thoracica  suprema,  dringt  zwischen  PectorcUis 
major  und  minor  ein. 

b)  Die  Ärteria  acromialis  entspringt  neben  der  vorigen,  oder 
häufiger  mit  ihr  vereinigt  als  Thoracico-acromialis.  Sie  geht  vor  der 
Anheftuug  des  PectorcUis  minor  am  Rabenschnabelfortsatz  nach 
aussen  und  oben,  verbirgt  sich  unter  dem  Clavicularursprung  des 
Deltamuskels,  schlägt  die  Richtung  gegen  das  Akromion  ein,  giebt 
der  Kapsel  des  Schultergelenks  Zweigchen,  und  sendet  mehrere 
Rami  acromiales  zur  oberen  Fläche  der  Schulterhöhe,  welche  mit 
den  Verästlungen  des  Ramus  acromialis  der  Arteria  transversa  scaptdae 
das  Bete  acromiale  bilden. 

c)  Die  Arteria  thoracica  longa  läuft  an  der  seitlichen  Brust- 
wand auf  dem  Serratus  anticvs  major  mit  dem  Nervus  thoracicus 
longus  herab,  verliert  sich  grösstentheils  im  Muscvltis  serraius  anticus 
major,  und  mit  zwei  bis  drei  Zweigen  in  der  Mamma. 

d)  Die  Arterias  subscapulares.  Sie  kommen  in  variabler  Menge 
und  Stärke  vor.  Ihre  Bestimmung  drückt  ihr  Name  aus.  Gewöhnlich 
sehe  ich  zwei  bis  drei  obere  kleinere,  und  eine  untere  grössere. 

Letztere  theilt  sich  in  zwei  Aeste:  a)  Bamua  thorcusico-doraaUa,  welcher 
parallel  mit  dem  äusseren  Schulterblattrande  herabsteigt,  und  sich  in  den  unteren 
Zacken  des  SerrcUus  anticus  major  und  den  Rippenursprüngen  des  LaUasimus  dorn 
yerliert.  ß)  Arteria  drcumflexa  »capulae.  Diese  schlägt  sich,  zwischen  Muacuiui 
tuhacapularia  und  Teres  major,  um  den  äusseren  Band  der  Scapula,  und  geht  zu 
den  Muskeln  in  der  Foaaa  mfraspinata. 

e)  Die  Arteria  drcumflexa  humeri  anterior,  welche  vor  dem 
CoUvm  chirurgicum  humsri,  und 

f)  die  weit  stärkere  Arteria  drcumflexa  posterior,  welche  hinter 
demselben  dicht  am  Knochen  verläuft,  das  Schultergelenk  und  die 
darüber  wegziehenden  Muskeln  versieht,  und  mit  der  drcumflexa 
anterior  anastomosirt. 


§.  400.  Verästlung  der  Armarterie. 

Ist  die  Arteria  axillaris  am  unteren  Rande  des  Pectoralis  major 
aus  der  Achselhöhle  hervorgetreten,  so  heisst  sie  Armarterie, 
Arteria  hracMalis,  und  verläuft  im  Svlcus  hidpitalis  internus  gegen 
den  Ellbogen  weiter.  Sie  wird  von  zwei  Venen  begleitet.  Im  oberen 
Drittel  des  Oberarmes  hat  sie  den  Nervus  medianus  an  ihrer  vor- 
deren, den  Nei'vus  ulnaiis  an  ihrer  inneren  Seite.    Im  Herabsteigen 


§.  400.  VerftüilaDg  der  Armarterie.  991 

gegen  den  Ellbogenbug  entfernt  sich  der  Mediannerv  etwas  von 
ihr  nach  innen  zu^  was  der  Nervus  vlnaris  schon  höher  oben  thun 
muss^  da  er  zur  hinteren  Seite  des  Ellbogens  zu  gehen  hat.  In 
der  ganzen  Länge  des  Suhus  bicipitalü  wird  sie  nur  durch  Haut 
und  Fascie  bedeckt;  im  Ellbogenbug  dagegen  versteckt  sie  sich 
unter  dem  Lacertus  ßbrosus,  welchen  die  Sehne  des  Biceps  zur 
Vagina  antibrachü  sendet.  —  Ausser  einigen  kleineren,  an  un- 
bestimmten Stellen  entspringenden  Muskelästen,  erzeugt  sie  folgende 
Zweige: 

a)  Die  Arteria  profunda  hrachii,  Sie  entspringt  in  gleicher 
Höhe  mit  dem  unteren  Rande  der  Sehne  des  Terea  major j  geht  mit 
dem  Nervus  radialis  durch  die  Spalte  zwischen  dem  mittleren  und 
kurzen  Kopf  des  Triceps  zur  äusseren  Seite  des  Oberarmknochens, 
giebt  dem  Triceps  Zweige,  aus  deren  einem  die  Arteria  nutritia 
humeri  entspringt,  und  verläuft  sodann  hinter  dem  Ligamentum  inter- 
muscvlare  extemum  als  Arteria  coUateralis  radialis  herunter  zum 
Ellbogen,  wo  sie  gewöhnlich  in  einen  vorderen  und  hinteren  End- 
zweig zerfallt. 

Der  vordere  durchbohrt  das  Ligamentum  hUermusculare  e^eiemum  von  hinten 
nach  vom,  und  anastomosirt  mit  dem  Ramua  recurrens  der  Radialarterie,  der 
hintere  mit  der  gleich  zu  erwähnenden  CoüatereUia  tUnaria  inferior. 

h)  Die  Arteria  coUateralis  ulnaris  superior  entspringt  nahe  unter 
der  Arteria  profunda  hrachii,  und  folgt  dann  dem  Nervus  vlnaris, 

Sie  giebt  dem  Musculus  brachieUis  internus  und  triceps  Zweige,  und  ana- 
stomosirt in  der  Furche  zwischen  Chndylus  humeri  internus  und  Olekranon,  mit 
dem  Bamus  recurrens  poeterior  der  Ulnararterie. 

c)  Die  Arteria  colUUercdis  ulnaris  inferior  entsteht  in  geringer 
Höhe  über  dem  Condylus  internus,  gegen  welchen  sie  ihre  Richtung 
einschlägt. 

Sie  versorgt  die  von  diesem  Condjlus  entspringenden  Muskeln,  besonders 
die  oberflächlichen  derselben,  anastomosirt  mit  dem  Ramus  recurrens  anterior  der 
Ulnararterie,  und  umgreift  dann  den  inneren  Band  des  Oberarmknochens,  um  an 
der  hinteren  Fläche  desselben  mit  einem  Endzweige  der  Profunda  hrachii  über 
der  Fossa  supratrocJUearis  posterior  zusammenzufliessen.  Dieses  Umstandes  wegen 
heisst  sie  bei  den  englischen  Anatomen:  Arteria  anastomotica. 

Die  sub  a),  h)  und  c)  angeführten  Arterien  unterliegen,  hinsichtlich  ihres 
Ursprunges,  mancherlei  Varianten.  Morphologisch  bedeutsam  ist  eine  seltene 
Variation^  wo  a),  h)  und  c)  aus  einem  kurzen  gemeinschaftlichen  Stamme  hervor- 
treten, welcher  überdies  noch  die  Circumflexae  humeri  und  die  Circumflexa 
scapulae  erzeugt.  Dieser  gemeinschaftliche  Stamm  erscheint  dann  fast  ebenso 
stark  wie  die  Arteria  brachialis  selbst,  welche,  da  ihr  so  zu  sagen  alle  für  den 
Oberarm  abzugebenden  Aeste  durch  jenen  Stamm  abgenommen  wurden,  unver- 
zweigt  zum  Ellbogen  herabsteigt.  Dieses  Verhältniss  ist  aber  an  der  unteren 
Extremität  zur  Segel  erhoben,  da  alle  fUr  den  Oberschenkel  bestinmiten  Zweige  der 
Arteria  cruralis  aus  Einem  Mutterstamme  (Arteria  profunda  femoris,  §.  410)  her- 
vorgehen. 


992  %-4(n.  Vcr&stlang  der  Vorderarmarterien. 

Im  Ellbogen  liegt  die  Arteria  hracMalü  auf  dem  unteren  Ende 
des  Musculus  bracliialis  internus,  an  der  inneren  Seite  der  Sehne 
des  Biceps,  und  theilt  sieh  in  der  Höhe  des  Processus  coronoideus 
vlnae  in  die  beiden  Schlagadern  des  Vorderarms:  die  Armspindel- 
und  Ellbogenarterie. 

Kommt  am  Oberarmbein  ein  Processus  supracondylotdeus  vor 
(§.  137)^  so  liegt  die  Arteria  brachiaiis  mit  dem  Nervus  mecUanus 
hinter  ihm,  auf  welches  Vorkommen  der  Operateur,  bei  Unter- 
bindungen der  Arteria  brachiaiis  am  unteren  Ende  des  Oberarms, 
Acht  zu  nehmen  hat. 

Nenn  bis  zehn  Linien  über  Ihrer  Theilnng,  sendet  die  Arteria  bmehialig 
von  ihrem  inneren  Rande  eine  kleine,  aber  constante  Schlagader  ab,  welche  unter 
dem  LiicerUu  fibrosus  der  Bicepssehne,  zu  der  am  Condylua  internus  hunteri  ent- 
springenden Muskolmasse  zieht,  und  den  Nervu«  mediantu  hiebe!  kreuzt.  Grube r 
beschrieb  sie  als  Arteria  plicae  cubiti  superficiali»,  Sie  ist  darum  interessant,  weil 
sie,  bei  starker  Entwicklung,  entweder  eine  Arteria  mediana  superficicUis,  oder 
Arteria  idnaris  superficial Ut,  darstellt.  —  lieber  die  Varietäten  der  ang-e führten 
Aeste  der  Arteria  hrachialia  handelt  A.  Haller,  dissert.  de  arteria  brachial!. 
Gott.,  1745. 


§.  401.  Verästiung  der  Vorderarmarterien. 

Die  Armspindel-  und  die  Ellbogenarterie  verbleiben  im 
weiteren  Verlaufe  an  der  inneren  Seite  des  Vorderarms.  In  der 
Hohlhand  verbinden  sie  sich  zum  hoch-  und  tiefliegenden  Arcus 
volaris,  aus  welchem  die  Weichtheile  der  Hohlhand  versehen  werden, 
und  die  Fingerarterien  entstehen.  Die  Ellbogenarterie  giebt  bald 
nach  ihrem  Ursprünge  die  Zwischenknochenarterie  ab. 

A)  Die  Armspindelarterie,  Arteria  radialis,  liegt  in  der 
oberen  Hälfte  des  Vorderarms  zwischen  Supinator  longus  und  Pro- 
nator* teres,  in  der  unteren  aber  zwischen  Supinator  longus  und  Flexor 
carpi  radialis.  An  ihrer  äusseren  Seite  befindet  sich  der  Nervus 
radialis  superficialis.  Gegen  die  Handwurzel  zu,  wendet  sie  sich 
zwischen  dem  Processus  stt/loideus  radii  und  dem  Os  scaphx>ideum 
auf  den  Rücken  der  Hand,  wo  die  Sehnen  des  Abductor  pollids 
longiis  und  Extensoi*  brevis  über  sie  wegziehen,  und  dringt  zwischen 
den  Basen  der  Ossa  metacarpi  des  Daumens  und  des  Zeigefingers  in 
die  Hohlhand  ein,  um  mit  dem  tiefen  Hohlhandast  der  Ellbogen arterie 
den  tiefen  Hohlhandbogen,  Arcus  volaris  profundus,  zu  bilden. 
Sie  giebt,  von  ihrem  Ursprünge  bis  zum  Ucbcrtritt  auf  den  Hand- 
rücken, folgende  Aeste  ab: 

a)  Den  Eamus  recurrens  radialis.  Er  läuft  zwischen  SupincUor 
longus  und  brevis  zum  Condylus  humeri  extemus  zurück,  und  anastomo- 
sirt  sofort   mit   dem    vorderen  Endast   der  Arteria  profunda  hrctcktL 


S.  401.  Yer&stlang  der  Vordenimiarterien.  993 

b)  Kamt  muscidares.  Sie  gehören  den  Muskeln,  zwischen 
welchen  der  Stamm  der  Arterta  radialis  hinzieht.  Einer  derselben 
erzeugt  die  Arteria  nutritia  radii. 

c)  Den  Ramus  volaris  superficialis,  dessen  Kaliber  und  Ursprung 
vielen  Schwankungen  unterliegt.  Gewöhnlich  entsteht  er  in  der 
Höhe  der  Insertion  des  SupincUor  longtis,  und  geht,  über  dem  queren 
Handwurzelband,  zu  den  Muskeln  des  Daumenballens,  in  welchen 
er  sich  entweder  gänzlich  verliert,  oder  mit  einer  über  diese 
Muskeln  weglaufenden  Fortsetzung,  den  Arcus  volaris  svblvmis  (§.  402) 
bilden  hilft.  In  letzterem  Falle  wird  er  zuweilen  so  stark,  dass  man 
ihn  auf  dem  Daumenballen  pulsiren  sehen  und  fühlen  kann. 

Auf  dem  Handrücken  entstehen  aus  der  Arteria  radialis: 
a)  Ein  Ramus  carpi  dorsalis.  Er  verzweigt  sich  auf  der  Rücken- 
seite der  Handwurzel,  und  bildet  mit  den  Endverzweigungen 
der  Interossea  externa  das  Rete  carpi  dorsale, 
ß)  Die  Artetia  interossea  dorsalis  prima,  Sie  löst  sich  in  drei 
Zweige  auf:  für  beide  Seiten  des  Daumens  und  die  Radial- 
seite des  Zeigefingers. 

In  die  Hohlhand  eingetreten,  giebt  die  Arteria  radialis,  bevor 
sie  mit  dem  tiefliegenden  Hohlhandast  der  Arteria  vlnaris  zum 
Arcus  volaris  profundus  (§.  402)  bogenförmig  zusammenfliesst,  die 
Arteria  digitalis  communis  volaris  prima  ab.  Diese  verläuft  unter  der 
Sehne  des  Flexor  poüicis  longus,  am  Os  metacarpi  pollicis  bis  zu 
dessen  Capitulum,  und  theilt  sich,  nachdem  sie  die  Arteria  volaris 
indids  radialis  abgegeben,  in  die  Arteria  volaris  pollicis  radialis 
et  vlnaris.* 

Varietäten  schUdert  eingehend   W.    Q ruber:  Zar  Anat.  der  Ärteria  radialig, 
im  Archiv  fUr  Anat  und  Phys.  1864. 

B)  Die  Ellbogenarterie,  Arteria  vlnaris,  begiebt  sich  unter 
der  ersten  und  zweiten  Schichte  der  vom  Condylus  humeri  internus 
entspringenden  Muskeln  zur  Ulna,  wo  sie  zwischen  Vlnaris  internus 
und  den  Fingerbeugem  zur  Handwurzel  herabsteigt.  Auf  diesem 
Wege  hat  sie  den  Nervus  vlnaris  an  ihrer  inneren  Seite.  Ueber  dem 
queren  Handwurzelband  zieht  sie,  am  Os  pisiforme  vorbei,  zur  Hohl- 
hand, wo  sie  sich  in  den  oberflächlichen  und  tiefliegenden 
Endast  spaltet.  Der  oberflächliche  Ast  bildet  mit  dem  gleichen  Ast 
der  Arteria  radialis  den  hochliegenden,  der  tiefliegende  Ast  aber 
mit  dem  Ende  der  Arteria  radialis  den  tiefliegenden  Hohlhand- 
bogen.  Bis  zu  ihrer  Spaltung  erzeugt  sie: 

a)  Zwei  Raml  recurrentes  ulnares,  einen  anterior  und  posterior. 

Der  anterior  zieht  in   der   Furche   zwischen   Pronator  teres  und  BrachialU 

intemut  zum  inneren  Condylus  humeri  hinauf,   wo   er   mit  der  CoUatercdis  ulnaria 

inferior   anastomosirt     Der  posterior,    stärker   als    der  anterior,   geht  hinter  dem 

Oondylui  nUemue  humeri  auf  die    CMlaterali»  ulnaris  euperior  zu,  mit  welcher  er 

Hjrtl,  L«krbBck  d«r  Aniktomi«.  14.  Attfl.  63 


994  S-  402.  Die  beiden  Hoblhitndbogon. 

zusammenmündet.  Durch  die  erwähnten  mehrfachen  Anastomosen  der  üami 
coUaUralea  der  Armarterie  mit  den  Ramis  recurrenHlnu  der  Vorderarmarterien 
kommt  um  das  Ellhogengelenk  herum  ein  weitmaschiges  Netz  zu  Stande  —  das 
EeU  cuhiU. 

ß)  Rami  mtLsadares  zu  ihrem  Muskelgeleite,    deren   einer  die  Ar- 
teria nutritia  tUnae  erzeugt. 

7)  Die  Arteria  interossea  antibrouJm  communis,  welche  gleich  nach 
ihrem  Abgange  in  die  Interossea  externa  et  interna  zerfUllt. 

Die  externa  (auch  perforaru*  auperiorj  durchbohrt  die  Membrana  interotsea, 
sendet  hierauf  einen  Ranws  recttrren»  zur  hinteren  Gegend  des  Ellbogens  hinauf, 
bleibt  aber  nicht  auf  der  Aussenfläcbe  des  Zwischenknochenbandes,  sondern  er- 
hebt sich  von  ihr,  indem  der  Mnscuhu  abductor  und  exlenaor  paUicü  longiu  sich 
unter  sie  einschieben,  theilt  allen  Aussenmuskeln  des  Vorderarms  Aeste  mit,  und 
erschöpft  sich  dadurch  so  sehr,  dass  am  Carpus  nur  ein  unbedeutendes  Gef&ss 
übrig  bleibt,  w^elches  mit  dem  Hamus  carpi  dortcUi»  der  Radialarterie  das  Hele 
carpi  dortale  erzeugen  hilft.  —  Die  interna  geht  mit  dem  Nervtu  interoaseu* 
mtemus  dicht  am  Zwischenknochenbande  bis  zum  oberen  Rande  des  Pronator 
quadratu»  herab,  giebt  den  tieferen  Muskeln  des  Vorderarms  Zweige,  verbirgt  sich 
unter  dem  Pronator  quadrahiSf  und  geht,  nachdem  sie  einen  Ast  zum  Bete  carpi 
volare  abgegeben,  durch  das  Liyamientum  interosteum  zur  Aussenseite  des  Vorder- 
arms, wo  sie  im  Rete  caipi  dar9{Ue  untergeht.  Dieses  Endstück  der  Arteria  inter- 
ossea heisst  perforaiut  inferior, 

3)  Den  Ramus   dm^salis,    welcher   zur    Erzeugung  des    Rete   carpi 
dorsale  vei'wendet  wird. 


§.  402.  Die  beiden  Hohlliaiidbogeii. 

Der  0 b  e  r  f  1  ä  e  h  1  i  c h  e  H  o h  1  h  an d  b o g e  n ,  Arcxts  volaris  sublimis, 
dessen  Oonvexität  gegen  die  Finger  gerichtet  ist,  liegt  zwischen  der 
Aponeurosis  palmaris  und  den  Beugesehnen  der  Finger,  einen  halben 
Zoll  vom  Ligamentum  carpi  traiisversum  entfernt.  Er  entsteht  durch 
die  Anastomose  der  oberflächlichen  llohlhandäste  der  Ulnar-  und 
Aadialarterie,  von  welchen  der  crstere  viel  stärker  als  der  letztere 
zu  sein  pflegt,  weshalb  sich  der  Bogen  ^^^en  die  Radialseite  ver- 
jüngt. Nur  in  jenen  Ausnahmsfallen,  wo  der  oberflächliche  Hohl- 
handast der  Radialarterie  stark  entwickelt  ist,  muss  auch  der  Arcus 
volaris  superficialis  ein  durchaus  gleichweiter  Gefassbogen  sein.  Aus 
seiner  convexen  Seite  entspringen,  nebst  übergehenswerthen  Zweig- 
chen tur  die  Haut  und  die  kleinen  Muskeln  der  Hohlhand,  drei 
Arteiiae  digitales  volares  communes,  die  zweite,  dritte  und  vierte, 
welche  zwischen  den  Scheiden  der  Beugesehnen  gegen  die  Finger 
laufen,  wobei  jede  sich  gabelförmig  in  zwei  Zweige  theilt  (Artei*iae 
digitales  wolares propriae),  welche  an  den  einander  zugekehrten  Flächen 


§.  402.  Die  beiden  Hohlhandbogen.  995 

je  zweier  Finger  bis  zu  deren  Spitze  verlaufen.  Die  beiden  Arteriae 
volares  propricte  Eines  Fingers  anastomosiren  durch  wandelbare 
Querbögen  oberhalb  der  Fingergelenke,  und  gehen  an  der  Tast- 
fläche des  dritten  Gliedes  bogenförmig  in  einander  über. 

Die  erste  Arteria  digüalia  communis  volarU  entstand,  wie  in  §.  401,  A,  an- 
gegeben warde,  aas  der  yom  Handrücken  in  die  Hohlhand  eingetretenen  Arteria 
radialis.  Sie  versorgte  die  Radialseite  des  Daumens,  nnd  die  einander  zugekehrten 
Seiten  des  Daumens  und  Zeigefingers.  Die  grosse  Abductionsfähigkeit  des  Daumens 
scheint  es  zu  verlangen,  dass  seine  Arterien  nicht  aus  dem  Arcus  volaris  sublimis, 
wie  jene  der  übrigen  Finger  entspringen.  Die  Ulnarseite  des  kleinen  Fingers 
erhAlt  ihre  Schlagader  aus  dem  tiefliegenden  Hohlhandaste  der  Arteria  tänaris. 
Es  bleiben  somit  die  einander  zugewendeten  Seiten  der  vier  Finger  übrig,  welche 
aus  dem  Arcfts  volaris  sublimis  ihre  filutzufuhr  zu  erhalten  haben,  nnd  für  diesen 
Zweck  genügen  die  oben  genannten  drei  Arteriae  digitales  communes  volares  des 
oberflächlichen  Hohlhandbogens. 

Der  tiefliegende  ^ohlhsLudho gen,  Arcus  volaris  profundus, 
ist  schwächer  und  weniger  convex,  als  der  sublimis,  liegt  auf  den 
Bases  ossium  metacarpi,  und  gehört  mehr  der  Arteria  radialis  als  der 
ulnaris  an.  Er  sendet  nur  drei  Arteriae  interosseae  volares  ab^  welche 
den  Interstitiis  interosseis  der  vier  Finger  entsprechen^  und  die  Rami 
interossei  perforantes  zum  Handrücken  schicken^  wo  sie  in  das  Rete 
carpi  dorsale  übergehen. 

Das  lieU  carpi  dorsale  g^ebt  die  zweite,  dritte  und  vierte  Arteria  interossea 
dorsalis  ab,  da  die  erste  aus  dem  Handrückenstück  der  Arteria  radialis  entsprang. 
Die  erste  Interossea  externa  (§.  401.  A.  ß)  theilte  sich  in  drei  dorsale  Finger- 
zweige. Jede  der  übrigen  drei  Interosseae  extemae  theilt  sich,  zwischen  je  zwei 
Fingern,  in  zwei  Arteriae  digitales  dorsales,  welche  viel  schwächer  als  die  volares 
sind,  und  nur  bis  zum  zweiten  Fingergliede  sich  erstrecken. 

Die  Enden  der  Arteriae  interosseae  volares  anastomosiren  gewöhnlich  mit 
der  Spaltung^stelle  der  Arteriae  digitales  volares  communes  in  die  Digitales  propriae, 
Ist  eine  Arteria  digitalis  communis  schwach,  so  wird  die  mit  ihr  anastomosirende 
interossea  volaris  um  so  stärker,  was  am  Zeige-  und  Mittelfinger  gewöhnlich  der 
Fall  ist. 

Der  hoch-  und  tiefliegende  Hohlhandbogen  sind  ohne  Zweifel  in  der  Ab- 
sicht geschaffen  worden,  dass  bei  Compression  des  hochliegenden  fiogens  während 
des  Anfassens  und  Festhaltens  harter  Gegenstände,  der  tiefliegende  die  Circulation 
in  den  Weichtheilen  der  Hand  übernehme.  Der  tiefliegende  Hohlhandbogen  kann 
bei  dem  genannten  Gebrauche  der  Hand  nicht  comprimirt  werden,  da  alle  Sehnen, 
welche  die  Finger  zum  Faustschluss  beugen,  sich  während  dieser  Verwendung 
von  den  Metacarpnsknochen,  auf  deren  Basis  der  tiefe  Hohlhandbogen  liegt,  etwas 
erheben.  —  Doppeltwerden  des  Arcus  volaris  superficialis  ist  im  Wiener  Museum 
mehrfach  vertreten. 


es» 


996  §•  ^8-  Wichtige  Abnormit&ten  d«i  Ursprangs  der  Vorderannarterien. 


§.  403.  Wichtige  Abnonnitaten  des  Ursprungs  der  Vorderarm- 

arterien. 

Sie  verdienen  ihrer  chirurgischen  Bedeutsamkeit  wegen,  eine 
besondere  Schilderung. 

Jede  der  drei  Vorderarmarterien  kann  ausnahmsweise  höher 
als  im  Ellbogen^  also  schon  am  Oberarm^  selbst  in  der  Achselhöhle, 
ihren  Ursprung  nehmen.  Am  häufigsten  betrifi^t  der  hohe  Ursprung 
die  Artef^ia  radialis,  und  zwar  meist  im  oberen  Drittel  des  Ober- 
arms, —  sehr  selten  schon  in  der  Achselhöhle. 

Unter  vierundzwanzig  Fällen  von  hohem  Ursprung  der  Vorderannftrterien, 
die  ich  aufgezeichnet  habe,  betreffen  achtzehn  die  Arteria  radiaiia.  Diese  An- 
ordnung wurde  sogar,  nach  einer  Bemerkung  von  Wo  1  ff  (Ob^.  nied.  chir,  pac/,  64j, 
von  Biddloo  für  die  regelmässige  gehalten.  Da  man  in  den  anatomischen 
Museen  die  Fälle  von  hohem  Ursprung  der  Vorderarmarterien  aufzubewahren 
pflegt,  so  kann  es  wohl  kommen,  dass  man  mehr  abnorme  als  normale  Specimina 
daselbst  antrifft.     Biddloo^s  Irrthum  wäre  somit  erklärlich. 

Die  hoch  entsprungene  Arteria  radialis  liegt  an  der  inneren 
Seite  der  Arteria  brachiaJis,  geht  aber  bald  über  sie  weg  zu  ihrer 
äusseren.  Sie  bleibt  eine  Strecke  weit  unter  der  Fasda  brachii,  wird 
erst  im  weiteren  Verlaufe  subcutan,  geht  über  den  Lacertus  fibrosus 
der  Bicepssehne  weg,  kreuzt  sich  mit  den  Hautvenen  des  EUbogen- 
buges^  und  kann  deshalb  bei  Aderlässen  verletzt  werden.  Ihre 
oberflächliche  Lage  ist  der  Grund,  warum  sie  die  Arteria  recurrens 
radialis  in  der  Regel  nicht  abgiebt.  Diese  entsteht  vielmehr  aus  der 
Arteria  vlnaris,  oder  seltener  aus  der  Arterixi  interossea. 

Als  Uebergang  zum  hohen  Ursprung  der  Arteria  radialis  kann 
jener  Fall  angesehen  werden,  wo  aus  der  Arteria  brachicUis  ein 
überzähliger  Ast,  von  Hall  er  Vas  aberrans  genannt,  entspringt, 
welcher  entweder  weiter  unten  wieder  in  die  Brachialis  einmündet^ 
oder  mit  ihr  nur  durch  einen  Verbindungszweig  anastomosii*t,  und 
dann  zur  Arteria  radialis  wird. 

Ist  die  Arteria  ulnaris  das  hoch  entspringende  Geföss,  so  fallt 
ihr  Ursprung  meistens  noch  in  das  Gebiet  der  Achselhöhle.  Ich 
besitze  nur  einen  Fall  (rechter  Arm  eines  Kindes),  wo  sie  aus  der 
Arteria  profunda  brachii  entspringt.  Die  hoch  entstandene  Arteria 
vlnaris  geht  in  der  Regel  über  die  vom  Condylus  internus  humeri 
entspringende  Muskelmasse  weg,  und  lagert  sich  erst  unterhalb  dieser 
in  die  Furche  zwischen  Ulnaris  internus  und  Flexor  digitorum  sublimis, 
Sie  giebt  nie  die  Arteria  interossea  ab.  —  Der  hohe  Ursprung  der 
Arteria  interossea  ist  viel  seltener  als  jener  der  Arteria  radialis  und 
tUnaris. 


{.  404.  lesie  der  »biteigenden  BrustMrta.  997 

Aüch  die  zuweilen  vorkommende  Vervielfliltigung  der  Vorder&rmarterien 
gehört  hieher.  Sie  erscheint  entweder  als  Daplicität  einer  normalen  Schlagader,  wie 
ich  an  der  Ärteria  radialw  sah,  welche  schon  auf  dem  Supinator  brevia  sich  in 
zwei  Aeste  theilte,  die  sich  als  Raiaua  volaria  und  doraoLut  im  weiteren  Verlaufe 
herausstellten,  oder  es  kommt  zu  den  reg^ären  drei  Vorderarmarterien  eine 
Schlagader  hinzu,  welche  aus  Aet  Arteria  vrUeroasea  oder  ulnari»  entspring^  und 
an  dem  Nervus  medianiu  zum  Carpus  herabläuft,  wo  sie  über  oder  unter  dem 
Ligamentum  tremsveratim  carpi  in  den  Arcwt  volaria  aublimia  übergeht.  Man  kann 
sie  immerhin  Arteria  mediana  nennen,  obwohl  sie  nicht  immer  an  den  Nervua 
mediantta  gebunden  ist  In  Fällen,  wo  die  Arteria  radialia  ungewöhnlich  schwach 
ist,  und  nicht  bis  zur  Hand  gelangt,  sah  ich  die  Arteria  mediana  oberhalb 
des  Carpus  rechtwinklig  zur  Speiche  ablenken,  und  als  Arteria  radialis  weiter 
verlaufen. 

Der  Nervua  medianua  wird  regelmässig  von  einer  feinen  Arterie  begleitet, 
welche  ein  Ast  der  Ulnaris  oder  Interossea  ist.  Die  früher  als  Arteria  mediana 
angeführte  Anomalie,  lässt  sich  sonach  als  ein  höherer  Entwicklungsgrad  eines 
normal  vorkommenden  Gefösses  auffassen.  Grub  er  nennt  dieses  Gefäss:  Arteria 
mediana  profunda,  da  seine  im  §.  400  erwähnte  Arteria  plicae  cubüi,  bei  ab- 
normer Entwicklung,  die  Arteria  mediana  super/icialia  darstellt.  —  Es  muss 
noch  erwähnt  werden,  dass  auch  der  Ursprung  der  Arteria  mediana  höher  rücken, 
und  auf  die  firachialis,  selbst  auf  die  Axillaris  fallen  kann. 

Der  hohe  Ursprung  und  der  oberflächliche  Verlauf  der  Vorderarmarterien 
scheinen  das  Bestreben  auszudrücken,  die  Arterien  der  oberen  Extremität  den 
Venen  zu  verähnlichen,  indem  die  hoch  entspiiingene  Arteria  rtidialia  der  Vena 
cephalica,  und  die  hoch  entsprungene  Arteria  uinaria  der  baaiUca  entspricht.  Bei 
gewissen  Operationen  in  der  Verlaufssphäre  dieser  GefKsse,  soll  der  Chirurg  von 
dem  möglichen  Vorhandensein  dieser  Anomalien  wohl  unterrichtet  sein. 

C,  G.  Ludwig,  de  variantibus  arteriae  brachialis  ramis.  Lips.,  1767.  — 
F.  Tiedemann,  über  die  hohe  Theilung  der  Armschlagader,  im  6.  Bande  der 
Münchner  Denkschriften,  und  dessen  Suplementa  ad  tabulaa  arteriarum.  1846.  — 
J.  F.  Meckel,  im  2.  Bande  des  deutschen  Archivs  für  Physiologie.  —  H.  Meyer, 
über  die  Arteria  mediana  antibrachU  und  die  Arteria  artictilaria  m^iana  cubiti, 
in  HenU'a  und  Pfeuffer'a  Zeitschrift.  7.  Bd.  2.  Heft  —  Langer,  Varietät  der  Ar- 
teria  brachialia,  in  der  Zeitschrift  der  Wiener  Aerzte.  1851.  Mai.  —  A.  Baader, 
Varietäten  der  Armarterien.  Bern,  1866.  —  Zahlreiche  Beobachtungen  über  Varie- 
täten der  Brachialis  und  ihrer  Aeste  verdanken  wir  Oruber,  Sie  sind  theils  im 
Archiv  für  Anatomie,  theils  in  der  Österr.  Zeitschrift  fUr  praktische  Heilkunde 
enthalten.  —  Sehr  reich  an  Beobachtungen  ist  die  Abhandlung  von  C.  Qiacommi: 
Della  prematura  divisione  dell*  arteria  del  bracdo.  Torino,  1874.  Con  5  tavole. 


§.  404.  Aeste  der  absteigenden  Brustaorta. 

Die  Aorta  thoracica  descendens  giebt  viele,  aber  meist  kleine 
Schlagadern  ab,  und  behält  deshalb  in  ihrem  Laufe  so  ziemlich 
gleiches  Kaliber.  Ihre  Aeste  sind  theils  für  die  Organe  im  hinteren 
Mittelfellraume,  theils  für  die  Brustwand  bestimmt.  Diese  Aeste  sind: 

a)  Die  zwei  Arteiiae  bronchiales  posteriores.  Sie  treten  zur 
hinteren  Wand  der  Luftröhrenäste,  und  begleiten  sie  durch  das 
Lungenparenchym.  Da  die  Aorta  auf  der  linken  Seite  liegt,  so  wird 


998  I*  *M.  A«*t«  der  ftb«toifeo4«n  BnutaorU. 

die  Arteria  broncfdalü  dextra  häufig  nicht  aus  ihr,  sondern  aus    der 
dritten  oder  vierten  Arteria  intercostalis  dextra  entstehen. 

Die  sehr  wandelbaren  Bronehialu  anteriore»  entstehen,  wie  im  §.  398,  b) 
Migeftihrt  wurde,  ans  der  Mammaria  intema.  Schon  Hall  er  hatte  es  g^ekannt, 
dass  die  Ärteriae  brcnchiaU»  im  Lungenparenchym  kein  abgeschlossenes,  f&r  sich 
bestehendes  nntritives  GefHsssjstem  der  Lunge  bilden,  sondern  mit  den  Ver- 
zweigungen der  Arteria  piUmonaU»  in  anastomotiscbe  Verbindung  treten.  Ich  ertialte 
durch  isolirte  Injection  der  Ärteriae  bronchiale*^  das  respiratorische  Gefissnetz  der 
VetieuUu  aXreat  eben  so  gefüllt,  als  wenn  die  Injection  durch  die  Arieria  jpmbno- 
nali»  gemacht  worden  wäre.  —  Es  kommt  vor,  dass  beide  hintere  Bronchial- 
arterien aus  einem  nnpaaren  Stämmchen  entstehen. 

h)  Zwei  bis  vier  Ärteriae  oesophzgeae.  Ein  Zweig  der  letzten 
geht  mit  dem  Oesophagus  durch  das  Zwerchfell^  und  anastomosirt 
mit  einem  entgegenkommenden  Aste  der  Arteria  coronaria  ventri- 
eidi  sinistra. 

c)  Einige  feine  Zweige  (Ärteriae  mediaetinicae)  zu  der  Pleura 
des  hinteren  Mittelfellraumes,  b)  und  c)  geben  dünne  Reiserchen 
zur   hinteren   Herzbeutelwand,   als   Ärteriae  pericardiacae  posteriores. 

d)  Die  Arteriös  intercostales  (posteriores).  Da  die  Arteria  sub- 
clavia durch  den  Trunctis  costo-cervicalis  bereits  die  beiden  oberen 
Spatia  intercostalia  versorgte,  so  werden  für  die  Aorta  nur  die  neun 
folgenden  Zwischenrippenräume  übrig  bleiben.  Da  man  aber  die  am 
unteren  Rande  der  letzten  Rippe  verlaufende  Arterie,  obwohl  gegen 
alle  Sprachrichtigkeit,  noch  als  intercostal  bezeichnet,  so  wird  die 
Aorta  zehn  Paare  Ärteriae  intercostales  abgeben.  Die  linken  werden, 
wegen  Hnkseitiger  Lage  der  Aorta,  kürzer  als  die  rechten  sein. 

Am  Beginn  des  Zwischenrippenraumes  theilt  sich  jede  Arteria 
intercostalis  in  einen  Ramm  dorsalis  und  Ramus  intercostalis.  Der 
Ramus  dorsalis  geht  zwischen  je  zwei  Querfortsätzen  zur  Rücken- 
muskulatur, und  schickt  durch  das  Foramen  intervertebrale  einen  Ast 
zur  Medvlla  spinalis  und  deren  Häuten.  Dieser  Ast  verhält  sich 
wie  die  Rami  spinales  der  Arteria  vertebralis.  Der  Ramus  intercostalis 
läuft  gegen  den  unteren  Rand  der  nächst  oberen  Rippe,  und  im 
Sulcus  costae  nach  vorn  gegen  das  Brustbein.  Er  sendet  zum  oberen 
Rande  der  nächst  unteren  Rippe  einen  schwachen  Ramus  supra- 
costalis.  Dieser  und  der  eigentliche  Ramus  intercostalis  anastomosiren 
mit  den  Aiieriae  intercostales  anteriores  von  der  Mammaria  interna, 
—  Die  Artenae  intercostales  versorgen  nicht  blos  die  beiden  Zwischen- 
rippenmuskeln, sondern  auch  den  Pectoralis,  Serratus  anticus  major, 
und  die  Costalursprünge  der  Bauchmuskeln.  Beim  Weibe  gehen  aus 
der  dritten  bis  sechsten  Artena  intercostalis  stärkere  Aeste  für  die 
Brustdrüse  hervor. 

Die  Ursprünge  je  zweier  Ärteriae  intercoataUa  rücken  an  der  hinteren  Peri- 
pherie der  Aorta  um  so  näher  zusammen,  je  tiefer  sie  stehen.  —  Abweichungen 
greifen  insofern  Platz,  als  mehrere  Ärteriae  intercrnttUee  (zwei  bis  drei)  aus  einem 


S.  405.  Unpaaro  Aeite  der  BanchaorU.  999 

gemeinschaftlichen  Stamme  entspringen  können,  welcher,  wie  die  Arieria  intercoatalU 
suprema,  vor  den  Rippenköpfcheii  herabsteigt,  und  in  den  betreffenden  Jntercostal- 
räamen  einen  Ast  zurücklässt.  Auch  ist  es  nicht  ungewöhnlich,  dass  eine  starke 
Arteria  intercoatalis,  nachdem  sie  schon  eine  Strecke  im  Rippensulcus  verlief,  sich 
über  die  nächst  untere,  oder  Über  zwei  folgende  Kippen  schräg  herabsenkt.  — 
Die  letzte  Arteria  intercoatalis  könnte  besser  costo-lunihalis  genannt  werden.  Es 
wäre  richtiger,  sie,  weil  sie  unter  dem  Rippenurspmnge  des  Zwerchfells  verläuft, 
den  Aesten  der  Bauchaorta  als  Arteria  lumbali*  pritna  zuzuzählen.  —  So  lange 
eine  Zwischenrippenarterie  im  hinteren  Theile  des  Sulcus  cottalis  eingebettet  lieg^ 
ist  sie  durch  dessen  längeres  Labium  extemum  vor  Verwundung  hinlänglich  ge- 
sichert. Nach  vorn  zu,  wo  der  Sulcus  verstreicht,  wird  ihr  Kaliber  so  klein, 
dass  ihre  Verletzung  unmöglich  ernste  Gefahr  bringen  kann.  Es  fehlt  noch  viel 
zu  sehr  an  authentischen  Beobachtungen  über  wirkliche  Verletzungen  dieser  Ge- 
fässe^  und  die  vorgeschlagenen  sinnreichen  Methoden,  ihnen  zu  begegnen,  dürften 
weniger  am  Lebenden  bewährt,  als  am  Cadaver  versucht  worden  sein.  —  Die 
oberen  Arteriae  irUercostales  aus  der  Aorta,  entspringen  häufig  tiefer  als  der  Inter- 
costalraum  liegt,  zu  welchem  sie  gehen,  und  sind  dann  Arteinae  recurrentes.  Die 
mittleren  haben  einen  rechtwinkeligen  Ursprung^  und  die  untersten  einen  etwas 
spitzwinkeligen.  Diese  Regel,  welche  besonders  bei  Thieren  mit  vielen  Rippen 
in  die  Augen  fallt,  erleidet  beim  Menschen  zahlreiche  Ausnahmen.  —  lieber  die 
Verästlung  der  Rami  spinales  im  Rückgratskanal  siehe  N.  Rüdinger,  über  die 
Verbreitung  des  Sympathicus.  München,  1863. 


§.  405.  "Unpaare  Aeste  der  Bauchaorta. 

Von  der  Aorta  abdominalis  haben  wir,  auf  der  kurzen  Strecke 
vom  zwölften  Brustwirbel  bis  zum  vierten  Lendenwirbel,  eine  reiche 
Phalanx  unpaariger  und  paariger  Aeste  zu  schildern.  Die  drei 
unpaarigen  entspringen  aus  der  vorderen  Peripherie  der  AoiiÄ,  und 
sind  für  die  Verdauungsorgane,  —  die  übrigen,  seitwärts  abtretenden, 
für  die  paarigen  Harn-  und  Gcschlechtswerkzeuge  und  für  die  Bauch- 
wand bestimmt. 

Die  unpaarigen  Aeste  der  Bauchaorta  sind: 

a)  Die  kurze  Baucharterie,  Arteria  coeliaca.  Sie  führt  seit 
Riolan  diesen  Namen,  welcher  von  ifj  xoiXia,  Bauchhöhle,  stammt, 
deren  wichtigste  Eingeweide  sie  versorgt.  Dieser,  einen  halben  bis 
einen  Zoll  lange,  starke,  von  den  Nervenstämmon  des  Plexus  coeliacus 
dicht  umstrickte  Gefassstamm,  entspringt  aus  der  Aorta,  während 
diese  noch  zwischen  den  Schenkeln  des  Zwerchfells  liegt,  tritt  über 
den  oberen  Rand  des  Pankreas  weg  nach  vorn  und  etwas  nach 
links,  und  giebt  gleich  nach  seinem  Ursprung  die  beiden  unteren 
Zwerchfellarterien,  Arteriae  phrefiicae,  ab,  welche  auch  zu  einem 
kurzen  Stämmchen  verschmolzen  sein  können.  Die  Arteriae  phrenicae 
verästeln  sich,  nachdem  sie  Zweige  zur  Nebenniere  abgegeben,  in 
der  Pars  lumbalis  und  costalis  diaphragnuitis,  und  anastomosiren  da- 
selbst mit  einander,  so  wie  mit  den  Arteriae  intercostales  und  muscido' 
phrenicae. 


X 


.* 


1000  I.  «s.  ü 

Der  Stamm  der  Arteria  coeliaca  zerßült,  wie  Haller  sich  sob- 
drUckt:  tripodis  ad  instar,  in  drei  divergirende  Zweige: 

1.  ÄTteria  coronaria  ventricvli  superior  tinütra,  linke  obere 
Mageakranzarterie.  Sie  läuf\  in  der  kleinen  Curratur  des  Magens 
von  links  nach  rechts,  und  sendet  an  dessen  vordere  und  hintere 
Fläche  ihre  Zweige  aus,  welche  mit  der  Arteria  coronaria  tuperior 
dextra,  den  Arleriis  coronarO»  inferiorihus,  and  den  Vatis  hrevihus  der 
MUzarterie  sehr  zahlreich  anastomosiren. 

3.  Arteria  heptUica,  Leberarterie.  Sie  dringt  zwischen  die 
Blätter  des  Idgameiitum  hepato-duadencUe  ein,  wo  sie  an  der  linken 
Seite  der  Vetia  portae  liegt.  Sie  schickt  zum  kleinen  Magenbogen 
die  mit  der  Arteria  coronaria  sinistra  anastomosirende  Coronaria 
niperior  dexfra,  deren  erster  Nebenzweig  als  Arteria  pylorica  zum 
Pförtner  geht.  —  Ira  Ligamentum  hepato-duodenale  zerfällt  die  Ar- 
teria hepatica  in  einen  auf-  und  absteigenden  Ast  von  gleicher 
Stärke. 

Der  aufsteigende  ist  der  eigentlich  fUr  die  Leber  bestimmte 
Ge&ssaat,  Arteria  hepaUca  proprio.' T^r  divergirt  in  der  Leberpforte 
t^  in  zwei  Zweige.     Der  stärkere  Romas  dexter  giebt  der  Gallenblase 

die  kleine  Arteria  cyslica. 

Der  absteigende  Ast  findet  im  Magen  und  ZwölfUngerdarm 
seine  Auflösung,  und  heisst  deshalb  Arteria  gastro-duodenalis.  Kr 
geht  hinter  dem  oberen  Querstück  des  Zwölffingerdarms  herab,  und 
theilt  sich  ebenfalls  in  zwei  Zweige: 

,  ^  aa)  die    Ärlavi    pancrtatico-diiodfnalU ,    vrflvbe    am    conCST«n    Bande    Ati 

^^    J^   J  Duodenum  mit  einem  ihr  entgegenkomineiiden  Ast  der  Maaiterica  tuperior,  welcher 

Inferior  dextra,  welche 


Arteria  dnodenalit  inferior  heiast,  im  Boj^n  »naBtomoHirt.      Dieser  Bogen  venorft 
das  Duodenum  und  den  Kopf  des  Pankreas. 


^    ^      {  an  der   grossen    Magencurvatur   zwischen    den    Blättern    des    grossen  Netzes  von 


recliCs  nach  links  läuft,  dem  Magen  aufsteigende,  dem  Netze  absteigende  Aeale 
siuchickt,  tud  mit  der  Arttria  gailio-epiptoica  linitira  aus  der  Milzarterie  zn- 
samm  enmllndet. 

3.  Arteria   splenica,   Milzarterie   —   der   stärkste   Zweig  der 

^^     coeliaca.    Er  zieht  am  oberen  Rande  des  Pankreas  nach  links,  giebt 

ihm  Zweige,    und    betritt,    zwischen   den   Blättern    des   Ligamentum 

gastro-lienale  eingesehloBsen,  den   Hilug  lienis.     Er  erzeugt,   bevor  er 

in  die  Milz  eingeht: 

aa)  Die  Arteria  ffogiro-epip/oica  a.  coronaria  verUriciiH  inferior  a\i\itlra.t  welche 
der  deOra  entgegenläuft,  um  in   sie  eininmtlnden. 

bh)  Die  Va»a  brrvm  ».  Arl^riae  gaitricat  brtve»,  vier  bis  sechs,  welche  zum 
Fandnt  venlricuit  treten,  und  eigentlich  nur  auf  den  Stapim  der  Milzarterie  über- 
setzte MagenSste  der  Arieria  ffoitro-epiploica  tiiiislra  darstellen. 

Die    Gaetro-^ploica  dextra  et  ainistra  bilden  am  grossen  Magen- 
bogen durch  ihre  wechselseitige  Zusammenkunft  den  Arcus  arteriosut 


1.409.  Dupuis  Ahm  im  Bkulimorta.  1001 

^         ventriadi  inferior,  »o  wie  die  beiden  Coronariae  lupmorea  am  kleinen 
Magenbogen  den  Arcus  arterionu  guperior. 

b)  Die  obere  Darm-   oder  Gekrösearterie,   Arteria   mesen- 

Urica   i.   mesaraica  superior.     Sie   ist   ctwaa  stärker  als  die  codiaca, 

dicht  unter  welcher  sie  entspringt.    Hinter  dem  Pankreas  und  dem 

unteren  Queratück  des  Duodenum  geht  sie  zur  Wurzel  des  Gekröses, 

y  in  welchem    sie   einen,   mit   seiner  Oonvexität   nach  links  sehenden 

,  1  Bogen  besehreibt.  Die  Ernährung  des  unteren  QucrstUcks  des  Duo- 

sä  denura,  das  ganze  Jejunum,  Ileum,  Coecum,  und  das  Colon  mcendetu 

\    ^el  tranaveraum,  fallt  ihr   anheim.     Ihre  Aeste,   ungefähr  zwanzig  an 

tO  Zahl,  lassen  sich  in  zwei   Gruppen   eintheilen.     Die  eine  entspringt 

Jl  ,J  aus  der  convexen,  die  andere    aus   der  coiicaven  Seite  des  Bogens. 

,5  •*  Aus  der  convexen  Seite  des  Bogens  treten  hervor: 

j\J       a)  Die   Arteria   duodenali»  inferior   zum   unteren   Querstück    des 

j    V  Zwölftingerdarms  und  zum  Kopf  des  Pankreas. 

\    5       ß)  Die  Arteriae  j^unales  et  Üeae,  vierzehn  bis  sechzehn    an  Zahl. 

|!    l  Sie    verlaufen    zwischen    den    Blättern    des  Gekröses    zu   den 

.y  5  DarmstUcken,  deren  Namen  sie  tragen.     Jede  derselben  theilt 

^*^.,  sich  auf  diesem  Wege  in  zwei  Zweige,  welche  mit  den  Zweigen 

^  der   nächsten    bogcnfbrmig   anastomosiren.     Aus  diesen  Bogen 

i  ^  entspringen    kleinere    Aeste,    welche    abermals    zu    kleineren 

>  Bogen  sich  verbinden,  und  aus  diesen  ti-eten  neuerdings  bogen- 

yi  «förmig   anastomosiren  de   Geftlsse   hervor,   so  dass  drei  Bogen- 

^       NW  kategorien   auf  einander   folgen,   welche   an   den  längeren  Ar- 

y  j     *A   V  teriae   Üeae   noch   um   eine   oder   zwei   Bogenreihen    vermehrt 

>t    \  y    t  werden   können.   Es   zieht   sich   also   durch   das  ganze  Dünn- 

^   Sv   ^  darmgekröse    ein     aus    übereinandel-    aufgethürmten     Gef^as- 

NA^^arkaden   construirtes    Netz    hin,    aus   welchem   endlich   viele 

S    S  2  ,a     kurze   Ranuäi  inietlinalea   entspringen ,    welche   das   Darmrohr 

•i    fcW^      umgreifen,  und  seine  Häute  mit  ihren  Reisern  versorgen. 

I  V^.  J      Auf^  der  concaven  Seite  des  Bogens  der  oberen  Gekrösarterie 

<    s  fi4spriri<;eii  viel  weniger  Zweige.  Diese  sind: 

y^V   jl-  I^'ß  Arteria  üeo-colica.     Sie   zieht   nach   rechts   und  unten  zur 
^       ^      Einmündungsetelle    des   Dünndarmes   in   den   Dickdarm,   und 
'  j       theilt  sich  in  zwei  Zweige.  Der  untere  anastomosirt  mit  dem 
^    \  *       Ende  des  Stammes  der  Arteria  mesenterica  tupertor,  der  obere 
'  -,  *l      mit  der  Art^a  colica  dextra. 
^2.  Die  Arteria  colica  dextra  zum  Colon  ascendetis,  und 
5  ^  { 3.  Die  Arteria   colica   media   zum    Colon   transversum.     2.   und   3. 
fcj   ^f       gehen  aus  einem  gemeinschaftlichen  Wurzelgefass  hervor. 

^,        .,  ].,  -2.  und  3.  bilden    untereinandeT   ühDÜche    Bogen    wie    die   Arterien  des 

r  ^  l  DUandariDB,  »lier  grQsser,  nnd  nicht  ao  oft  sich  wiederholend.  Am  »ufeteigenden 
4     f  ^imd  qaeren  Colon  Endet  mui  Öfter  nnr  eine  ein&tehe  Bo(renr«ihe.  An  den  Winkeln, 

j^^w^^nreh   welche   du    mnfateig'ende    Colon    in   du    qnere,    nnd     du    qnere    in    dM 


1002  9-  406.  Paarige  Aeste  der  Banchaorta. 

absteigende  übergeht,  kommt  noch  eine  zweite,  selbst  eine  dritte  Bogenreihe  hinzu. 
—  Die  nur  im  frühesten  Embryoleben  vorfindliche  Ärteria  omphcUa-tnegaraica  zur 
Veaicula  umbUicali9f  ist  ein  Ast  der  Meaenterica  guperior.  Bei  allen  blindgebomen 
Säugethieren  findet  sie  sich  noch  um  und  nach  der  Geburtszeit,  bis  zum  Nabel 
offen  und  wegkam.  Ich  habe  sie  auch  im  geborenen  Menschen  vorhanden  und 
wegsam  gefunden.  Sie  verlor  sich  im  geraden  Bauchmuskel.  Das  betreffende 
Präparat  —  ein  Unicum  —  wurde  von  mir  in  der  Osterr.  Zeitschrift  für  prakt. 
Heilkunde,  1859,  Nr.  10,  beschrieben. 

c)  Die  untere  Darm-  oder  Gekrösarterie,  Arteria  mesen- 
terica  inferior,  entspringt  ungefähr  einen  Zoll  über  der  Theilungs- 
stelle  der  Aorta  in  ihre  beiden  Hauptäste  (Arteriae  iliacae  communes). 
Sie  spaltet  sich  alsogleich  in  zwei  Zweige,  deren  einer  als  Colica 
sinistra  zum  Colon  descendens,  der  andere,  als  Arteria  haemorrhoidalis 
superior,  zur  Oiirvatura  sigmoidea  und  zum  Mastdarm  geht.  Die 
Zweige  dieser  Aeste  zeigen  dieselben  bogenförmigen  Anastomosen- 
reihen,  wie  sie  bei  der  Mesenterica  superior  angegeben  wurden. 

Den  Beinamen  haemorrhoidales,  führten  ursprünglich  nur  die  Venen  des 
Mastdarms,  und  besonders  jene,  welche  bis  zum  After  herabreichen.  Da  aus  ihnen 
das  Blnt  kommt,  welches  sich  beim  sogenannten  Hämorrhoidalfluss  ergiesst  (alp-a, 
Blut,  ^/ü>,  fliessen),  mag  diese  Benennung  hingehen.  Die  Arterien  des  Mastdarmes, 
welche  sich  an  dieser  Blutung  nicht  betheiligen,  erhielten  erst  später  den  Namen 
haemorrhoidales,  nur  den  Venen  zu  liebe,  welche  sie  begleiten. 


§.  406.  Paarige  Aeste  der  Bauchaorta, 

a)  Die  Nebennierenarterien,  Arteriöse  suprarenales,  ge wöh n- 
lich  zwei  Paare,  nicht  erheblich. 

b)  Die  Nierenarterien,  Arterias  renales  (emulgentes  bei  Be- 
rengarius  Carpensis),  entspringen  einen  Zoll  unter  der  Arteria 
mesenterica  superior,  die  linke  unter  einem  rechten,  die  rechte,  wegen 
tieferer  Lage  der  rechten  Niere,  unter  einem  mehr  spitzigen  Winkel. 
Sic  geben  einen  stärkeren  Ast  zum  Nierenfett  (Arteria  capsidaris), 
und  kleine  Zweige  zum  Nierenbecken  und  zum  Harnleiter. 

lieber  bisher  unbeachtet  gebliebene  Verhältnisse  der  Nierenarterie,  über  ihre 
Bami  perforanten  und  recurrentea,  so  wie  über  die  Rami  niUrientes  für  das  Nieren- 
becken, giebt  Näheres  meine  Abhandlung:  Das  Nierenbecken  des  Menschen  und 
der  Säugethiere,  im  XXXI.  Bd.  der  Denkschriften  der  kais.  AkaiL 

c)  Die  inneren  Samenarterien,  Arteriös  spermaticae  intei-nae. 
Nur  die  linke  entspringt  unter  einem  sehr  spitzigen  Winkel  aus  der 
Aorta,  nahe  an  der  linken  Nierenschlagader,  die  rechte  dagegen 
gewöhnlich  aus  der  rechten  Arteria  renalis.  Beide  laufen  in  Be- 
gleitung der  gleichnamigen  Venen  neben  den  Harnleitern  gegen  das 
Becken  herab,  gehen  beim  Manne  vor  den  Vasis  iliasis  zum  Leisten- 
kanal, werden  in  den  Samenstrang  aufgenommen,  und  erreichen 
mit    vielen    rankenförmigen    Krümmungen    den    Hoden,    in    dessen 


§.  4(Mt.  VsLATigc  Aesto  der  Banchaorta.  1003 

Parenchym  sie  untergehen.  Beim  Weibe  dringen  sie  vom  Seiten- 
rande des  Beckeneingangs  in  die  breiten  Mutterbänder  ein,  und  be- 
geben sich  zum  Eierstock,  wo  sie  aber  nicht  endigen,  sondern  sich 
bis  zum  Seitenrande  der  Gebärmutter  erstrecken,  und  mit  der  Ar- 
teria  uterina  anastomosiren.  In  beiden  Oeschlechtern  geben  sie  feine 
Reiser  zum  Harnleiter,  zum  subserösen  Bindegewebe  des  Bauchfells, 
und  zu  den  Lymphdrüsen  der  Lenden.  Sehr  oft  sind  sie  auf  beiden 
Seiten  doppelt,  eine  obere  stärkere,  und  drei  bis  fünf  Linien  tiefer, 
eine  untere  schwächere.  Die  Arterias  spermaticae,  und  ihre  be- 
gleitenden Venen,  fuhren,  in  Ansehung  der  hochwichtigen  Secretion, 
welcher  sie  zu  dienen  haben,  bei  älteren  Anatomen  den  Namen  Va^a 
praeparantia,  was  doch  im  Grunde  alle  Secretionsgefösse  sind. 

d)  Die  Lendenarterien,  Arteriae  lumbales.  Es  finden  sich 
nur  vier  Paare  derselben.  Sie  entspringen,  wie  die  unteren  Arteriae 
intercostales,  aus  der  hinteren  Peripherie  der  Aorta,  und  gehen  hinter 
den  Schenkeln  des  Zwerchfells,  und  hinter  dem  Psoas  major,  nach 
aussen  zu  den  Zwischenräumen  je  zweier  Processus  transversi  (Pro- 
cessus costarii)  der  Lendenwirbel.  Jede  Lendenarterie  theilt  sich  in 
zwei  Zweige: 

«)  Der  Ramus  posterior  entspricht  dem  üamus  dorsalis  einer  Zwischen- 
rippenarterie, sendet  einen  Ramua  apinalU  durch  das  Foramen  intervertebrcde  zara 
Rückenmark  und  dessen  Hüllen,  und  löst  sich  in  den  Rückenmuskeln  auf. 

ß)  Der  BamiM  anterior  wiederholt  typisch  den  Ramwt  intercoatali»  einer 
Zwischenrippenarterie.  Er  durchbricht  den  Qwidratun  lumborum,  und  gehört  den 
breiten  Bauchmuskeln.  Alle  Hami  anteriores  Einer  Seite  anastomosiren  unter 
einander,  der  erste  überdies  noch  mit  der  Intercostalis  uUiTna,  der  letzte  mit  der 
Arteria  üeo-lumhftlis  aus  der  Hypogastrica,  und  der  Circtimßexa  ilei  aus  der 
Cruralis. 

Wird  die  unter  der  letzten  Rippe  verlaufende  Arterie  nicht  als  Intercostalis 
ultima  (Sömmerring),  sondern  als  Arteria  lumhalis  prima  gezählt  (Hai  1er), 
»o  müssen  fünf  Lendenschlagaderpaare  angenommen  werden,  welche  aber  nicht 
mit  den  fünf  Lendenwirbeln  übereinstimmen,  da  die  Arteria  lumhalis  prima  dem 
letzten  Brustwirbel  entspricht. 

Die  Aorta  abdominalis  nimmt,  durch  die  Abgabe  so  vieler  und 
grosser  Aeste,  an  Volumen  bedeutend  ab,  und  theilt  sich  vor  dem 
vieiiien  Lendenwirbel  in  die  beiden  Arterias  iliacae  communes,  welche 
gabelförmig  unter  einem  spitzen  Winkel  (65  Grad  beim  Manne, 
75  Grad  beim  Weibe,  wegen  grösserer  Amplitudo  pelvis)  divergiren. 
Sie  gehen  zur  Seite  des  ftlnften  Lendenwirbels,  einwärts  vom  Psoas 
major,  gegen  die  Si^mphysis  sacro-iliaca  herab,  werden  vom  Ureter 
gekreuzt,  und  geben  gar  keine  nennenswerthen  Aeste  ab.  Sie 
können,  wegen  der  Lagerung  der  Aorta  auf  der  linken  Seite  der 
Wirbelsäule,  nicht  gleich  lang  sein.  Die  rechte  muss  etwas  länger 
sein  als  die  linke.  In  gleicher  Höhe  mit  der  Knorpelscheibe  zwischen 


1004  §.  407.  VerftstlQDg  der  B«ck«iiart«rie. 

dem  letzten  Lendenwirbel  und  dem  Kreuzbein^  theilt  sich  jede  Ar- 
teria  üiaca  communis  in  die  Arteria  hypogastrica  und  Arteria  crurcdis. 
Die  zwischen  beiden  Arteriae  iliacae  communes  liegende  Arteria 
sacralis  media  kann  eigentlich  als  die  Fortsetzung  der  Aorta  abdomi- 
nalis angesehen  werden,  in  deren  verlängerter  Richtung  sie  bis  zum 
Steissbein  herabkommt. 

Die  geringe  Entwicklung  der  Vertebrae  coccygeae  des  Menschen  bedingt  die 
Kleinheit  der  Arteria  »acrcUü  media.  Bei  ThiereD  mit  langem  Schweif,  ist  die 
Bedeutung  der  Arteria  sacralis  media  als  Fortsetzung  der  Bauchaorta  nicht  zu 
verkennen,  und  die  beiden  Arteriae  iliacae  communes  treten  in  die  untergeordnete 
Stellung  seitlicher  Aortenäste.  —  Die  Arteria  sacralis  media  giebt,  während  ihres 
Laufes  über  die  vordere  Fläche  des  fünften  Lendenwirbels,  sehr  oft  rechts  und 
links  einen  Ast  ab,  welcher  sich  wie  eine  Arteria  lumboHs  verhält,  einen  RatMis 
spinalis  durch  das  letzte  Foramen  intervertebrale  lumbale  zum  Rückenmark  sendet, 
und  mit  einem  vorderen  und  hinteren  Aste  endet.  Ersterer  zertheilt  sich  im  Psoas 
und  Iliacus  internus,  letzterer  in  den  Rückenmuskeln.  Im  Herabsteigen  g^ebt  die 
Arteria  sacralis  media  den  Weichtheilen  an  der  vorderen  Kreuzbeinfläche  an- 
bedeutende Aestchen,  und,  der  vierten  Vertebra  sacraUs  gegenüber,  einen  etwas 
stärkeren  Zweig  zum  Mastdarm. 

Die  häufig  zu  beobachtenden  Varietäten  der  Aortenäste  haben  wenig  prak- 
tische Bedeutsamkeit,  da  in  der  Bauchhöhle,  an  jenen  Stellen,  wo  diese  Blut- 
gefässe verlaufen,  nicht  operirt  wird.  Ich  will  nur  einige  derselben  anführen.  Die 
Coeliaca  zerfällt  nicht  in  drei  Aeste  (Tripus  HaUeri),  sondern  in  zwei,  indem  die 
Arteria  cartmaria  sinistra  ein  Zweig  der  Lienalis  oder  Hepatica  wird.  —  Die 
Coeliaca  und  Mesenterica  superior  gehen  aus  einem  kurzen  IVuncus  communis  her- 
vor, wie  bei  den  Batrachiem.  —  Die  Arteria  hepatica  ist  ein  selbstständig  ge- 
wordener Ast  der  Aorta.  Der  Bamus  dexter  derselben  wird  von  der  Arteria 
mesenterica  superior  abgegeben  (kommt  oft  vor).  —  Die  Arteria  splenica  wird 
doppelt;  die  Arteria  mesenterica  inferior  entspringt  aus  der  Arteria  Viaea  communis 
sinistra  (Petsche),  oder  fehlt  gänzlich,  indem  die  obere  Gekrösarterie  sie  ersetzt 
(Fleisch mann).  —  Die  Nierenarterien  werden  doppelt  bis  fünffach  (Prager 
Museum).  Bei  tiefer  Lage  einer  Niere  entspringt  die  Arteria  renalis  aus  der  //ioca 
communis,  hypogastrica,  selbst  aus  der  sacralis  media  (Hyrtl,  über  ein  wahres  Ren 
tertius,  österr.  med.  Wochenschrift,  1841).  Beide  Nierenarterien  können  aus  einem 
Truncus  communis  hervorgehen  (Portal).  —  Die  Arteria  iliaca  communis  dextra 
fehlt  (Cruveilhier),  indem  Hypogastrica  und  Cruralis  ohne  Truncus  communis 
entspringen  (Säugethiertypus).  Die  Sacralis  media  ist  ein  Zweig  der  Iliaca  com- 
munis dextra.  —  Einen  starken  anautomotischen  Ast  zwischen  Renalis  und  Riaca 
communis  dextra  beobachtete  ich  an  einem  Neugeborenen,  und  eine  Mesenterica 
media  für  das  Colon  transversum  und  descendens  an  einem  Erwachsenen.  An  einem 
Aöncephalus  mit  angeborener  Bauchdeckenspalte,  war  die  Arteria  hepatica  ein 
Zweig  der  Brustaorta.  An  einem  Foetus  mit  Ectropium  vesicae  urinariae,  entsprang 
eine  starke  Arteria  vesicalis  aus  der  Iliaca  communis  dextra. 


§.  407.  Verästlung  der  Beckenarterie. 

Die  Beckenarterie,  Arteria  hypogastrica  s.  iliaca  interna,  ist 
beim  Erwachsenen  schwächer,  beim  Embryo  aber,  wo  sie  durch 
die  Arteria   umbilicalis   auch  den  Placentarkreislauf  treibt,    stärker, 


S.  407.  Yerftatlnng  der  Backenartarie.  1005 

als  die  Arteria  crurcdü,  Sie  steigt  bei  Erwachsenen  vor  der  Si/m- 
physis  9acr0'üiaca  in  das  kleine  Becken  herab.  Im  neugeborenen 
Menschen  dagegen  krümmt  sie  sich  schon  im  Niveau  der  oberen 
Beckenapertur^  in  einem  nach  unten  convexen  Bogen  zur  Seiten- 
gegend der  in  die  Bauchhöhle  hinaufragenden  Harnblase  hin,  und 
erhebt  sich  von  da  als  Arteria  umbüicalis  zum  Nabel.  Alle  Aeste 
der  embryonischen  Arteria  hypogastrica  (selbst  die  Arteria  cruralis) 
entspringen  aus  dem  convexen  Rande  dieses  Bogens.  Beim  Er- 
wachsenen kann  man  diese  Aeste  in  hintere  und  vordere  ein- 
theilen,  nach  Verschiedenheit  der  Richtung,  welche  sie  einschlagen. 
Beide  Arten  von  Aesten  versorgen  die  Eingeweide  des  Beckens, 
das  Gesäss,  und  die  äusseren  Geschlechtstheile. 

A)  Hintere  Aeste: 

a)  Die  Arteria  ileo-lumbalis,  Hüft-Lendenarterie.  Sie  geht 
wie  eine  Arteria  lumbalis,  hinter  dem  Psoa^  major,  nach  oben  und 
aussen,  und  theilt  sich  in  einen  Ramus  iliacus  für  den  Musculus 
iliacus,  und  in  einen  aufsteigenden  Ramus  lumbaiis,  welcher  sich  im 
Psoas  und  den  Lendenmuskeln  verästelt.  Der  Ramus  iliacus  ana- 
stomosirt  mit  der  Arteria  drcumßexa  Hei,  und  der  Ramus  lumbaiis 
mit  der  letzten  Arteria  lumbaiis,  Ersterer  ernährt  durch  einen  Ramus 
nutriens  das  Darmbein. 

b)  Die  Arteriae  sacrales  laterales,  seitliche  Kreuzbein- 
arterien. Es  finden  sich  deren  eine  obere  grössere,  und  untere 
kleinere,  welche  vor  den  Nervis  sacrcdibus  nach  innen  und  unten 
laufen,  mit  der  Arteria  sacralis  media  anastomosiren,  und  dem  Mus- 
culus pyriformis,  Levator  ani,  und  Coccygeus  Aeste  abgeben.  Stärkere 
Zweige  derselben  dringen  durch  die  Foramina  sacraUa  anteriora  zur 
Cauda  equina,  und  ihre  Verlängerungen  gelangen  durch  die  hinteren 
Kreuzbeinlöcher  zu  den  Kreuzbeinursprüngen  der  langen  Rücken- 
muskeln. 

c)  Die  Arteria  glutaea  superior,  obere  Gesässarterie.  Sie 
ist  der  stärkste  Ast  der  Hypogastrica,  und  geht  über  dem  Musculus 
pyriformis,  den  oberen  Rand  der  Incisura  ischiadica  major  umgreifend, 
aus  der  Beckenhöhle  zum  Gesäss,  wo  sie  von  dem  Musculus  glutaeus 
magnus  und  medius  bedeckt  wird.  Sie  spaltet  sich  hier  in  zwei 
Zweige,  deren  einer  zwischen  Glutaeus  magnus  und  medius  fast  in 
horizontaler    Richtung   nach    vorn    verläuft,    während    der    andere, 

stärkere,  zwischen  Glutaeus  medius  und  minimvs  eindringt. 

« 

Beide  theilen  sich  neaerdlngs  in  vier  bis  sechs  Aeste  für  die  Gesässmofl- 
keln.  Die  oberen  Aeste  werden  mit  der  letzten  Lendenarterie,  die  hinteren  mit 
den  hinteren  Zweigen  der  Krenzbeinarterien,  die  vorderen  und  unteren  mit  der 
Arteria  iichiadica,  drcmr^kxa  ilei,  und  den  beiden  Cfircun\/kxae  femorii  anastomo- 
firen.  —  aj  und  bj  sind  in  der  Begel  Aerte  von  ej. 


1006  §.  407.  Veristlnng  der  Beckenarterie. 

B)  Vordere  Aeste: 

a)  Die  Arteria  dbturatoria,  Verstop fungs-  oder  Hüftbein- 
locharterie. Ihre  oft  vorkommenden  Ursprungs  Varietäten  geben 
dieser  Arterie  ein  besonderes  Interesse.  Entspringt  sie  y  was  als 
Regel  angesehen  werden  kann^  aus  der  Hypogastrica^  so  zieht  sie 
unterhalb  des  Nervus  obturatoritis,  an  der  Seitenwand  des  kleinen 
Beckens  nach  vorn,  verlässt  das  Becken  durch  den  Canalis  obtura- 
torius,  und  theilt  sich  am  oberen  Rande  des  Obturator  esctemus  in 
einen  Ramus  anterior  et  posterior.  Der  Ramus  anterior  schaltet  sieh 
zwischen  Adductor  femoris  brevis  und  longus  ein,  verästelt  sich  in 
ihnen,  so  wie  in  dem  Pectineus  und  Gracilis,  und  anastomosirt  mit 
der  Arteria  drcumßexa  femoris  interna.  Der  Ramus  posterior  sendet 
einen  Nebenzweig  (Artei'^ia  acetahvli)  durch  die  Incisura  (icetabuli 
zum  runden  Bande  des  Caput  femoris,  geht  zwischen  Obturator 
extemus  und  Quadratur  femoris  nach  aussen,  und  löst  sich  in  Muskel- 
zweige für  die  Auswärtsroller  auf,  deren  einige  mit  den  Aesten  der 
Arteria  drcumßexa  externa  anastomosiren. 

Im  Becken  g^ebt  die  Arteria  obluratoria  dem  Iliacu»  intemua,  Obturator 
internus  and  Levator  ani  kleine  Reiser,  und  sendet  vor  ihrem  Austritte  den 
schwachen  Ramus  anastmiwticus  pubicus  zur  hinteren  Schamfugenfläche,  ^wo  er  mit 
dem  Ramus  anastomoiicus  pubicus  der  Arieria  epigastrica  (§.  409),  eine  Ver- 
bindung eingeht. 

Die  noch  in  das  Bereich  der  hinteren  Beckenwand  faUenden  Ursprungs- 
varietäten  der  Arteria  obturaloina  sind  ohne  praktische  Wichtigkeit  Dagegen  ver- 
dient der  in  operativer  Hinsicht  wichtige  Verse tzungsfaU  des  Ursprunges  der 
Obturatoria  auf  die  Schenkelarterie,  besondere  Aufmerksamkeit.  Entspring;!  nJim- 
lich  die  Arteria  oftturatoria  aus  der  Cruralis  unter  dem  Poupar tischen  Hände, 
so  fliesst  ihr  Urspnmg  gewJihnlich  mit  dem  der  Arteria  epif/astrica  inferior  xu- 
saramen,  so  das»  beide  Gefasse  einen  kurzen  Truncus  communis  haben.  Sie 
schlägt  sich  dann  über  die  Vena  cruralis  weg,  luid  geht  an  der  hinteren  Flüche 
des  Litjamenlum  GimftcmcUi  und  des  Ramfts  horizatUalis  ossis  pubis,  zum  Canalis 
otAuratorius  herab.  Ist  ein  8chenkelbmch  vorhanden,  so  muss  sie  sich  um  seinen 
Hals  herumschlingen,  und  kann  bei  der  Operation  desselben  im  Fall  einer  Ein- 
klemmung, bei  jeder  iiichtung  des  Erweiterungsschnittes,  nur  bei  der  nach  onten 
gehenden  nicht,  verletzt  werden.  Nach  den  verschiedenen  Nuancen,  welche 
dieser  abnorme  Ursprung  der  Arteria  obturatoria  darbieten  kann,  nach  Ver- 
schiedenheit der  Länge  des  TruncitM  communis  y  und  dem  dadurch  bedingen 
Lagerungsverhältnins  der  Obturatoria,  wird  sie  einen  grr»sseren  oder  kleineren 
Theil  des  Schenkelbruchhalses  umfassen.  Jedenfalls  ist  das  An-  oder  Durch- 
schneiden des  Gefösses  ein  Zufall,  welcher  die  <  )peration  auf  gefahrdrohende  Weise 
complicirt,  und  mit  aller  Vorsicht  vermieden  werden  soll.  Da  man  von  dem  Vor- 
handensein der  Anomalie,  von  der  Art  und  dem  Grade  derselben,  in  vorhinein 
sich  niclit  unterricliten  kann,  so  dürfte  vom  anatomischen  Standjtimkte  ans,  die 
Hebung  der  Einklemmung  des  Sclienkelbniches  durch  Incision  des  LiganxerUuni 
pubicum  Cooperi  nach  unten  (nach  Verpi Hat's  Methode)  das  sicherste  sein.  Bei 
jeder  anderen  Erweiterungsrichtung  wären  wiederholte,  seichte  Einschnitte,  einem 
einzigen  tieferen  vorzuziehen.  Trotz  der  Häufigkeit  dieses  abnormen  Ursprun|^c» 
der  Arteria  o/duratoria,  sind  Verletzungen  derselben  beim  Brucbschnitte  doch 
seltene  Vorkommnisse.    —   Nach  J.  Cloquet's,  an   *J60  Leichen  vorgenommenen 


§.  407.  Ver&stlang  der  Beckenarterie.  1007 

Erhebung^en  dieses  Geg^enstandes,    stellt    sich    das  Verhältniss    des    normalen  und 
abnormen  Ursprungs  der  Arteria  obturatoria  wie  3  :  1  dar. 


Normaler  Ursprung 

160 

87  Männer 
73  Weiber 

Aus  der  Arteria  epigtutrica  auf 

21  Männer 

beiden  Seiten 

6G 

86  Weiber 

Aus  der  Arteria  epigagtrica  auf 

15  Männer 

einer  Seite 

28 

13  Weiber 

Aus  der  Arteria  cruralis 

6 

2  Männer 
4  Weiber 

250 
Diese  Häufigkeit  des  anormalen  Ursprungs  erklärt  sich  aus  dem,  was 
später  in  §.  409  über  die  Anastomosen  der  Arteria  epigtutrica  inferior  mit  der 
(Muratoria  angeführt  wird.  —  Viel  seltener  ereignet  es  sich,  dass  eine  aus  der 
Hypogastrica  stammende  schwache  Arteria  Muratoria,  mit  einer  aus  der  Arteria 
epigastrica  entsprungenen,  sich  vor  dem  Eintritte  in  den  Canalia  obturatorius  ver- 
bindet. Lauth  war  der  Meinung,  dass  diese  Entstehung  der  Obturatoria  aus 
zwei  Wurzeln,  beim  Embryo  Kegel  sei.  Je  nachdem  nun  die  eine  oder  die  andere 
Wurzel  im  weiteren  Verlaufe  der  Entwicklung  eingeht,  wird  die  Obturatoria  ein- 
fach aus  der  Hypogastrica  oder  aus  der  Cruralis  entspringen. 

b)  Die  Arteria  glutaea  inferior  s.  ischiadUca,  untere  Gesas s- 
arterie^  g^ht  unter  dem  MtMctUtM  pt^riformis  mit  dem  Nervus  ischia- 
(Heus  aus  der  Beckenhöhle  heraus.  Sie  ist  bei  weitem  schwächer 
als  die  Glutaea  superior,  und  hat  ihre  Verästlungssphäre  in  den 
Auswärtsrollem,  und  den  vom  Sitzknorren  entspringenden  Beugern 
des  Unterschenkels. 

Ihre  Aeste  anastomosiren  mit  denen  der  Olutaea  superior,  Obturatoria,  und 
den  beiden  Circumßeoßae  femori».  Ein  langer  und  feiner  Ast  derselben  lässt  sich 
weit  im  Nervus  ischiadicus  verfolgen.  Er  wird  von  einigen  Autoren  als  Arteria 
come»  nervi  ischiadici  benannt. 

c)  Die  Arteriae  vesicales,  Harnblasenarterien.  Gewöhnlich 
finden  sich  zwei,  eine  mperior  und  inferior» 

Die  »uperior,  welche  öfters  doppelt  wird,  verästelt  sich  an  der  hinteren 
Wand  und  an  dem  Scheitel  der  Harnblase,  bis  in  den  Urachns  hinauf.  Die  in- 
ferior geht  zum  Blasengrund,  betheilt  die  Vesiciäae  aeniinales  und  die  Prostata, 
beim  Weibe  auch  die  Mutterscheide  (Arteria  vesico-vaginalisj.  Im  männlichen 
Oeschlechte  giebt  sie  die  Arteria  vaain  deferentia  zum  zurücklaufenden  Samen - 
gefäss,  welche  an  diesem  bis  in  den  Leistenkanal,  ja  selbst  bis  zum  Nebenhoden 
gelangt,  und  mit  den  Nebenästen  der  Arteria  /tpermatica  interna  anastomosirt. 
Diese  Anastomosen  sind  der  Grund,  warum  von  der  Unterbindung  der  Arteria 
npermatica  interna,  welche  man  unternahm,  um  Entartungen  und  Geschwülste  des 
Hodens  ohne  Exstirpation,  durch  Emährungsmangel  zum  Schwinden  zu  bringen, 
kein  Erfolg  zu  erwarten  steht. 

d)  Die  Arteria  uterina.  Gebärmutterarterie.  Sie  wird  von 
Einigen  als  die  Fortsetzung  der  Arteria  hypogastrica  angesehen,  ent- 
springt aber  öfters  aus  der  Pudenda  communis.  Sie  begiebt  sich  zum 
Collum  uteri,  und  steigt  am  Seitenrande  desselben  und  des  Körpers 
der  Gebäi*mutter  nach  aufwärts  bis  zum  Fundus.     Ihr  gewundener 


1008  §.  407.  Yerästlnng  der  Beckenarterie. 

Verlauf,  welcher  auch  in  der  letzten  Schwangerschaftsperiode  nicht 
verschwindet,  ja  selbst  noch  schärfer  hervortritt  als  im  nicht- 
schwangeren Zustande,  zeichnet  sie  vor  den  übrigen  Aesten  der 
Arteria  hypogastrica  aus.  Sie  giebt  dem  Fornix  vaginde  und  der  Pan 
vaginalis  uteri  Zweigchen,  versorgt  die  Gebärmuttersubstanz^  und 
anastomosirt  mit  der  zum  Uterus  gelangenden  Fortsetzung  der  Ar- 
teria  »permatica  interna  (§.  406.  c). 

Ein  Ast  derselben  g^eht  mit  dem  I/igamentum  uteri  rotunduni  in  den  Leisten- 
kanal, nnd  verbindet  sich  daselbst  mit  einem  Zweige  der  Arteria  epigaatriea  m- 
ferior.  Da  diese  letztere  mit  der  Arteria  epigcutrica  auperior  aoa  der  Mammaria 
interna  anastomosirt,  und  die  Mammaria  interna  perforirende  Zweige  in  die  weib- 
liche Brust  absendet,  so  suchte  man  in  der  mittelbaren  Verbindung  der  Ärteria 
uterina  mit  der  mammaria  den  Grund  der  Sympathie  zwischen  Uterus  und  Mammae. 

Nach  M.  J.  Weber  geht  yon  der  Arteria  uterina,  bevor  sie  noch  den 
Fundus  uteri  erreicht,  ein  Ast  zwischen  den  Blättern  des  lAgamentuni  latnan  nach 
aussen,  welcher  Zweige  zur  Tuba  sendet,  und  mit  dem  Ligamentum,  ovay-w  com 
Eierstock  gelangt,  welchen  er  allein  versorgen  soll.  Die  weibliche  Arteria  •ftr- 
matica  interna  wäre  somit  bei  der  Ernährung  des  Eierstocks  nicht  betheiligt.  Ich 
habe  an  Kindesleichen,  deren  feine  Injectionen,  anderer  Zwecke  wegen,  von  mir 
häufig  vorgenommen  werden,  die  Sache  nachuntersucht,  und  jedesmal  eine  starke 
anastomotische  Verbindung  der  Arteria  apermatioa  interna  mit  dem  "EientockMsU 
der  Uterina  gefunden.  Das  Ovarium  wird  somit  wohl  von  beiden  Arterien  sein 
Blut  erhalten.  —  Merkwürdig  bleibt  es  immer,  dass  der  Uterus  von  zwei  Seiten 
her  (Arteria  uterina  und  »peittuUica  interna)  sein  Blut  bezieht.  Vielleicht  erklärt 
sich  hieraus,  warum  die  Volumvergrösserung  des  Uterus  in  der  ersten  H&lfte  der 
Schwangerschaft  nur  den  Köqier  betrifft,  und  erst  gegen  das  Ende  der  Gravidität 
auch  den  Gebärmutterhals  in  Anspruch  nimmt. 

e)  Die  Arteria pvdenda  communis,  gemeinschaftliche  Scham- 
arterie. Sie  geht,  wie  die  Arteria  glutaea  inferior,  durch  das  Foramen 
ischiadicum  majus,  am  unteren  Rande  des  Musculus  piriformis  aus 
der  Beckenhöhle  heraus,  und  durch  das  Foramen  iscMadicum  mi$ms 
wieder  dahin  zurück,  umgreift  somit  die  hintere  Fläche  des  Liga- 
mentum spinoso-sacrum,  oder  die  Spina  ossis  ischU  selbst.  An  der 
inneren  Fläche  des  Sitzbeines  steigt  sie  eine  Strecke  weit  herab, 
krümmt  sich  aber  bald  nach  vor-  und  aufwärts,  steigt  in  der  Rinne 
zwischen  dem  Processus  faldformis  des  Ligamentum  tuberoso-sacrum 
und  dem  aufsteigenden  Sitzbeinast,  gegen  den  Schambogen  empor, 
und  theilt  sich  unter  diesem,  bevor  sie  das  Ligamentum  triangtdare 
ureihrae  durchbohrt,  in  die  Arteria  profunda  und  dorscdis  penis 
(s,  ditoridis), 

Ihre  Aeste  sind  folgende: 

1.  Die  Arteria  haemorrhoidcdis  media,  mittlere  Mastdarm- 
arterie. 

Ihr  Ursprung  fällt  noch  vor  den  Austritt  der  Arteria  pudenda  aiia  der 
Beckenhöhle.  Sie  giebt  dem  Blasengmnde,  der  Prostata,  der  Scheide  NebenSste, 
imd  verzweigt  sich  vorzugsweise  in  der  vorderen  Wand  des  vom  Peritoneom  pjfiht 


S.  407.  YerSaUnng  der  Beekeaarterie.  1009 

mehr  amkleideten  Mastdarmendes,  wo  sie  mit  der  HaemorrkoidalU  superior  et  in- 
ferior  anastomosirt 

2.  Zwei  bis  drei  Arteriae  huemorrhoidales  inferiores,  untere 
Mastdarmarterien. 

Sie  entspringen  gleich  am  Wiedereintritt  der  Pndenda  in  die  BeckenhQhle, 
gehen  schief  nach  innen  und  onten  durch  das  Oatmm  ischio-rtdale  m  den  Schliess- 
mnskeln  und  zur  Haut  des  Afters.  Die  vorderste  von  ihnen  ist  heim  Seitenstein- 
schnitt  der  Verletzung  ausgesetzt,  wenn  der  erste  Hautschnitt  zu  weit  nach  hinten 
verlängert  wird.  Man  schont  dieses  Gefäss  g^z  sicher,  wenn  man  den  Haut- 
schnitt in  der  Mitte  des  Ahstandes  des  Tuber  iichii  vom  After  enden  lässt. 

3.  Die  Arteria  perinei,  Dammarterie. 

Sie  durchbohrt  die  Ftucia  perinei  proprio,  wodurch  sie  oberflächlich  wird, 
geht  über  dem  Musculus  traruverttu  perinei  superficialis  (selten  zwischen  superficialis 
und  profundus)  nach  vom,  und  verliert  sich  mit  mehreren  Zweigen  an  der 
hinteren  Seite  des  Hodensacks  (Arteriae  scrotales  posteriores),  bei  Weibern  am 
hinteren  Theile  der  grossen  Schamlippen  (Arteriae  labiales  posteriores).  Sie  giebt 
zu  den  Muskeln  des  Mittelfleisches,  namentlich  dem  Ischio-  und  Bulbo-cavemosus, 
Aeste.  —  Sie  erzeugt,  während  sie  den  Transversus  perinei  kreuzt,  die  Arteria 
trtmsversa  perinei,  welche  die  Gegend  zwischen  After  und  Bulbus  urethral  mit 
ihren  Zweigen  versorgt  Beim  Seitensteinschnitt  ist  diese  Arterie  der  Verletzung 
ausgesetzt,  wenn  der  Schnitt  zu  weit  vom  am  Mittelfleisch  beginnt  Sie  kann  auch 
ein  selbstständiger  Ast  der  Pudenda  communis  sein. 

4.  Die  Artefia  bvlbo-urethralis,  welche  den  Bvlhus  urethrae,  und 
die  von  ihm  umschlossene  Urethraportion,  so  wie  die  Co wper* sehen 
Drüsen  mit  Zweigen  versieht. 

5.  Die  Arteria  profunda  penis  (s.  ditoridis)  anastomosirt  immer 
mit  derselben  Arterie  der  anderen  Seite,  und  dringt,  von  innen  her, 
in  die  Wurzel  des  Schwellkörpers  ihrer  Seite  ein. 

Eine  für  das  Gelingen  des  Steinschnittes  höchst  gefährliche  Abweichung 
der  Arteria  pudenda  communis  ist  jene,  wo  das  Gefäss  in  seinem  ganzen  Verlaufe 
in  der  Beckenhöhle  bleibt,  und  längs  der  Seite  des  Blasengrundes  und  der  Vor- 
steherdrüse, oder  diese  Drüse  durchbohrend,  zum  Gliede  aufsteigt  (Bums,  Tiede- 
mann,  Shaw).  Letzterem  starb  ein  Operirter  unter  den  Händen  durch  Ver- 
blutung. (Magaz.  der  ausländ.  Lit  d.  Heilkunde.  Bd.  XI.) 

6.  Die  Arteria  dorsalis  penis  s.  ditoridis  legt  sich  in  die  Furche 
am  Rücken  des  Penis,  und  nimmt  mit  jener  der  anderen  Seite  die 
einfache  Rtickenvene  des  Gliedes  zwischen  sich.  Sie  versorgt  die 
Glans  penis,  und  anastomosirt  durch  penetrirende  Zweige  mit  den 
Ramificationen  der  Arteria  profunda  penis. 

Man  hat  sie  zuweilen  aus  der  Arteria  obturatoria,  nach  ihrem  Austritte  aus 
dem  Becken,  entspringen  gesehen.  Ich  habe  einen  Fall  vor  mir,  wo  sie  aus  der 
Arteria  pudenda  externa,  einem  Aste  der  Arteria  crurtdis,  entsteht  —  Friedkwsky 
lieferte  interessante  Beiträge  zur  Angiologie  der  männlichen  Geschlechtsorgane, 
mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Entstehung  gewisser  Anomalien  (Wiener 
akad.  Sitzungsberichte.  1868). 
Hyrtl,  Lehrbnek  dtr  Anatomi«.  14.  Atta.  64 


1010  §.  408.  VtrUuf  d«r  SckeBkelurterie. 

7.  Im  Embryoleben  verlängeii;  sich  die  Arterta  hypogcutriea 
zur  Umbiliealarterie,  welche  alle  übrigen  Aeste  der  Hypogastrica 
an  Stärke  übertrifft,  und  an  der  Seite  der  Harnblase  zui*  vorderen 
Bauch  wand  aufsteigt,  an  welcher  sie  zum  Nabel,  durch  diesen  in 
den  Nabelstrang,  und  sofort  zur  Placenta  gelangt. 

Nach  der  Geburt  obliteriren  die  Nabelarterien  vom  Nabel  akugettuigen  bis 
zur  Ursprungsstellc  des  ersten  Collatenüastes  der  Hjpog^astrica  im  Becken  fAr- 
teria  vesicalis  »uperiar),  und  werden  zu  bandähnlichen  Strängen,  Chordae  umbät- 
caUs  s,  Ligamenta  vesico-umbüicalia  UUeriUia,  welche  entweder  bis  sum  Nabel 
reichen,  oder ,  in  Folge  der  mit  der  Verwachsung  zugleich  auftretenden  Retraction 
der  Nabelarterien,  sich  nicht  bis  zum  Nabel  verfolgen  lassen.  Schreitet  die  Obll- 
teration  einer  Nabelarterie  nicht  so  weit  vor,  oder  gedeiht  sie  nicht  bis  znm  roll- 
kommenen  Verstreichen  des  Lumen,  so  wird  ein  Stück,  oder  die  ganze  Arieria 
unibUicalia  bis  zum  Nabel  wegsam  bleiben,  und  sich  an  der  Ernährung'  eines  Be- 
zirkes der  vorderen  Bauchwand  betheiligen  können,  —  gewiss  ein  sehr  seltener 
Fall.  Ich  habe  denselben  an  der  Leiche  eines  anderthalbjährigen  Kindes  an- 
getroffen. Er  betraf  nur  die  rechte  Arteria  umbilicatu,  welche  bis  einen  Zoll 
vom  Nabel  für  die  Injectionsmasse  wegsam  blieb.  Die  rechte  Arteria  epiytutrica 
inferior  war  selir  schwach.  —  Es  ist  eigentlich  unrichtig,  die  Arteria  utu,biiicaU» 
des  Embryo  eine  Fortsetzung  der  Arteria  hypogastrica  zu  nennen.  Sie  ist  in  der 
That  vielmehr  eine  unmittelbare  Verlängerung  der  Arteria  iliaca  canimurU»,  und 
steht  zu  der  Arteria  cntralis  und  hypogastrica  in  dem  Verhältniss  des  Stammes 
zu  seinen  Aesten.  Erst  gegen  die  Zeit  der  Geburt  gewinnt  es,  wegen  stärkeren 
Anwachsens  der  Arteria  cruralia  und  der  Beckenzweige  der  Hypogastrica  den 
Anschein,  als  sei  die  Umbilicalis  eine  Fortsetzung  der  Hypogastrica.  —  Sehr 
selten  fehlt  der  Stamm  der  Hypogastrica,  und  die  Aeste  desselben  entspringen  ein- 
zeln, jeder  für  sich,  aus  der  Iliaca  externa  (Zeitschr.  für  rat  Med.  31.  Bd.).  Bei 
sehr  jungen  Embryonen  habe  ich  es  immer  so  gefunden. 


§.408.  Terlauf  der  Schenkelarterie. 

Die  Schenkelarterie,  Arteria  cruralis,  ist  der  äussere,  und 
zugleich  längere  Theilungsast  der  Arteria  iliaca  communis.  Sie  geht 
an  der  inneren  Seite  des  Psoa^  major,  von  welchem  sie  durch  die 
Fa^cia  iliaca  getrennt  wird,  zur  Lacuna  vasorum  cruralium  herab, 
hat  die  Vena  cruralis  nach  innen  neben  sich,  und  gelangt  unter 
dem  Poupar tischen  Bande  zur  vorderen  Gegend  des  Oberschenkels. 
Eine,  durch  eine  Zwischenwand  getheilte  Bindegewebsscheide,  Vagina 
vasorum  cruralium,  umschliesst  sie  und  die  Vena  cruralis,  Sie  zieht 
anfangs  durch  die  Fossa  lleo-pectinea,  und  später  in  der  Furche 
zwischen  Vastus  internus  und  den  Sehnen  der  Adductoren,  bedeckt 
vom  Sartor ius,  am  Schenkel  herab,  legt  sich  unter  der  Mitte  des 
Oberschenkels  vor  die  Vena  cruralis,  durchbohrt  die  Sehne  des 
grossen  Zuziehers  dicht  am  Schenkelknochen,  und  gelangt  dadurch 
in  die  Kniekehle,  in  welcher  sie  anfangs  auf  der  hinteren  Fläche  des 
unteren  Endes  des  Schenkelbeins,  später  auf  der  Kniegelenkkapsel 
aufliegt,   dann   über  den   Musculus  popliteus  wegstreif):^   unter  dem 


§.  409.  Aeeto  des  Baachstftckn  der  Sckenkelarterie.  101 1 

oberen  Rand  des  Soleus  in  die  tiefe  Schichte  der  Muskeln  an  der 
hinteren  Seite  des  Unterschenkels  eintritt,  und  sich  gleich  nach  diesem 
Eintritt  in  die  vordere  und  hintere  Schienbeinarterie  theilt. 
Die  Länge  des  von  der  Schenkelarterie  durchmessenen  Laufes 
erheischt  es,  drei  Stationen  desselben  zu  unterscheiden,  deren  erste 
sich  vom  Ursprung  des  Gefässes  bis  zum  Austritt  unter  dem  Pou- 
part'schen  Bande  erstreckt,  deren  zweite  vom  Poupart'schen 
Bande  bis  zur  Durchbohrung  der  Sehne  des  grossen  Zuziehers,  und 
deren  dritte  vom  Eintritt  in  die  Kniekehle  bis  zur  Theilung  in  die 
vordere  und  hintere  Schienbeinai-terie  reicht.  Die  auf  diese  Weise 
fest  bestimmten  Verlaufsstücke  der  Schenkelarterie  sind :  das  Bauch- 
stück, Schenkelstück,  und  Kniekehlenstück. 


§.  409.  Aeste  des  Bauchstückes  der  Schenkelarterie. 

Das  Bauchstück  der  Schenkelarterie  wird  gewöhnlich  Arteria 
iliaca  externa  genannt.  Man  kennt  nur  zwei  bedeutende  Aeste  des- 
selben, welche  einander  fast  gegenüber  von  der  inneren  und  äusseren 
Peripherie  des  Ge&sses,  in  gleicher  Höhe  mit  dem  Ligamentum 
Poupartii  entspringen,  weshalb  sie  auch  von  Einigen  den  Aesten  der 
eigentlichen  Schenkelarterie  zugezählt  werden.   Sie  sind: 

a)  Die  Arteria  epigastrica  inferior^  untere  Bauch decken- 
arterie.  Sie  entspringt  nicht  immer  in  gleicher  Höhe  mit  dem 
Ligamentum  Powpartii,  sondern  auch  etwas  tiefer,  selten  höher.  Sie 
geht  anfangs  nach  innen,  biegt  sich  dann  nach  oben,  und  erzeugt 
somit  eine  Krümmung  mit  oberer  Concavität,  welche  einwärts  von 
der  Bauchöffnung  des  Leistenkanals  liegt,  und  sich  mit  dem  Va^ 
defereris  (bei  Weibern  mit  dem  Ligamentum  uteri  rotundum)  kreuzt. 
Da  ihre  fernere  Verlaufsrichtung  nicht  vertical  nach  oben,  sondern 
zugleich  schief  nach  innen  geht,  so  erreicht  sie  bald  den  äusseren 
Rand  des  Rectus  abdominis,  und  steigt  auf  dessen  hinterer  Fläche 
bis  über  den  Nabel  empor,  wo  sie  der  aus  der  Arteria  mammaria 
hervorgegangenen  Arteria  epigastrica  superior  begegnet  und  mit  ihr 
anastomosirt.     Ihre  Zweige  sind: 

a)  Der  Ramus  anaatomoUcua  pubicug.  Er  ist  unbedeutend,  entspring  dort, 
wo  der  Stamm  der  Epig^astrica  die  aufsteigende  Richtung  annimmt,  und  läuft  ein- 
wärts zur  Schamfuge,  hinter  welcher  er  mit  demselben  Aste  der  anderen  Seite 
und  mit  dem  Ramus  aruutomoUctu  pubictu  der  Arteria  obluratoria  seiner  Seite, 
eine  Verbindung  schliesst  —  Es  leuchtet  ein,  dass  diese  Anastomose  zwischen 
den  Ramig  pubicig  der  Epigastrica  und  Obturatoria,  die  Bedingung  und  somit  auch 
die  Erklärung  in  sich  enthält,  warum  der  Ursprung  der  Obturatoria  so  oft  auf 
die  Epigastrica  übertragen  erscheint. 

ß)  Die  Arteria  tpermatka  externa  dringt  in  den  Oanalit  inguinaU»  durch 
dessen  hintere  Wand  ein,  und  gleitet  ao   der  vorderen  Fläche  des  Samenstran^ea 


1012  §.410.  Aeite  der  eigeBÜiehen  Schenktlarteri«. 

bis  zum  Hoden  herab.  Sie  vertheilt  sich  jedoch  nicht  im  Hodenparenchjm, 
sondern  in  den  Scheidenhftnten  und  dem  Cremaster,  wird  deshalb  »ach  Arteria 
crenuuterica  genannt.  Im  weiblichen  Geschleohte  ist  sie  ganz  unbedeutend^  and 
nnr  für  das  Ligamentum  uteri  rotwndum  bestimmt.  Eine  Anastomose  derselben  mit 
einem  Aste  der  Arteria  uterina,  welcher  gleichfalls  mit  dem  lAgamentw/n  uteri 
rotuTkdum  in  den  Leistenkanal  eindringt,  wurde  früher  (§.  407,  B,  d)  erwähnt. 

Y)  Viele  Rami  mtuculares  für  den  Rectns  und  die  seitlichen  breiten  Bauch- 
muskeln. Sie  anastomosiren  in  letzter  Instanz  mit  den  Lombalarterien  und  den 
Zweigen  der  Arteria  circun\flexa  ilH, 

b)  Die  Arteria  drcumflexa  üei,  umschlungene  Darmbein- 
arterie.  Sie  läuft  unter  der  Vereinigungsstelle  der  Fascia  tUaca 
mit  dem  hinteren  Rande  des  Poupart'schen  Bandes  nach  aus-  und 
aufwärts  gegen  die  Spina  anterior  superior  des  Darmbeins^  und  zieht 
längs  der  inneren  Lefze  der  Crüta  ossis  üei  nach  hinten.  Sie  giebt 
den  vom  Darmbeinkamm  entspringenden  Muskeln  Aeste^  und  ana- 
stomosirt  durch  diese  mit  den  Zweigen  der  Arterixi  Ueo-lumbcdis  und 
epigastrica  inferior.  —  Oefters  kommt  noch  eine  Arteria  drcumflexa 
ilei  superficialis  vor,  welche  dem  Poupar tischen  Bande  folgt,  und 
sich  als  Hautast  ramificirt. 


§.  410.  Aeste  der  eigenüichen  Schenkelarterie. 

Das  Schenkelstück  bildet  die  eigentliche  Schenkel- 
arterie, Arteria  cruralis  8.  femoralie.  Diese  reicht  von  der  Austritts- 
stelle unter  dem  Po upar tischen  Bande  bis  zum  Durchgange  durch 
die  Sehne  des  grossen  Zuziehers.  Während  ihres  Laufes  durch  die 
Fossa  ileO'pectinea  erzeugt  sie  folgende  Aeste: 

\,  Ramtdi  inguinales,  für  die  Lymphdrüsen  und  die  Haut  der 
Leistengegend. 

2.  Arteria  epigastrica  superficialis  s.  abdominalis  subcutanea 
Halleri,  Sie  durchbohrt  das  obere  Hörn  des  Processus  falciformis 
der  Fossa  ovalis,  steigt  vor  dem  Poupar tischen  Bande  zur  Regio 
hßpogastrica  hinauf,  und  verästelt  sich  in  der  Haut,  bis  zum  Nabel 
hinauf. 

3.  Arteriae  pudendae  extemae,  äussere  Schamarterien.  Ge- 
wöhnlich finden  sich  zwei,  welche  über  die  Vena  cruralis  weg,  quer 
nach  innen  den  äusseren  Genitalien  zustreben. 

Die  obere  tritt  durch  die  Fovea  ovalis  der  Fascia  lata  hervor,  und  steigt 
schief  nach  innen  and  oben  zur  Schamgegend  hinan,  wobei  sie  sich  mit  dem 
Samenstrange  kreuzt.  Die  untere  geht  über  den  Musculus  pectineus  quer  nach 
innen,  wird  von  der  Portio  pectinea  feuciae  Uttae  bedeckt,  und  durchbohrt  diese 
schliesslich,  um  zu  den  äusseren  Genitalien  zu  kommen,  in  welchen  sich  beide 
Fudendae  extemae  als  Hautarterien  des  Hodensacks  oder  der  grossen  Schamlippen 
(Arteriae  scrotales  s,  labiales  anteriores)  auflösen. 


$.410.  A«tta  der  eigentlieheii  Sohenkelart«rie.  1013 

4.  Arteria  profunda  femoria,  tiefliegende  Schenkelarterie. 
Nachdem  sich,  wie  überall;  die  Kleinen  vorgedrängt  haben,  folgt 
zuletzt  der  stärkste  Ast  der  Arteria  crurcdia  nach.  Im  Grunde  ge- 
nommen haben  wir  in  der  Profunda  femoria  die  eigentliche  Arterie 
des  Oberschenkels  vor  uns,  da  sie  alle  seine  Muskeln  ernährt, 
während  die  Fortsetzung  der  Arteria  cruralis,  welche  weiter  keine 
nennenswerthen  Zweige  an  die  Muskeln  des  Oberschenkels  abgiebt, 
die  Blutzufuhr  zum  Unterschenkel  leistet.  Die  Profundafemoris  ent- 
springt einen  bis  anderthalb  Zoll  unter  dem  Poupart'schen  Bande. 
Man  trifft  sie  gewöhnlich  so  stark  an  Kaliber,  dass  sie  der  Fort- 
setzung der  Arteria  cruralis  wenig  nachgiebt.  Ihrem  Namen  zufolge 
geht  sie  vor  dem  Pectineus  in  die  Tiefe  zu  den  inneren  Schenkel- 
muskcln.  Ihre  durch  Abgabe  starker  Muskeläste  sehr  geschwächte 
Fortsetzung,  durchbohrt  zuletzt  den  Adductor  magmia,  nicht  weit 
über  dem  Durchbruche  der  Arteria  cruralis  durch  denselben  Muskel. 
Die  Aeste,  welche  sie  erzeugt,  lassen  sich  als  umschlungene  und 
durchbohrende  rubriciren. 

o)  Umschlungene  Aeste,  Arteriae  drcumßexae  femoris,  Sie 
entspringen  in  der  Regel  aus  dem  Anfangsstück  der  Profunda 
femoris,  und  zerfallen  in  eine  innere  und  äussere. 

a)  Die  Arteria  circttmflexa  femoru  interna  8.  poaterior  tritt  unter  der  In- 
sertion des  vereinigten  Psoas  und  lUacos  am  kleinen  Trochanter  nach  hinten, 
giebt  den  an  der  inneren  Seite  des  Oberschenkels  gelegenen  Muskeln  und  der 
Capsula  femoris  Zweige,  und  zerföUt  in  einen  auf-  und  absteigenden  Endast. 
Der  aufsteigende  sucht  zwischen  dem  Quadr<Utu femori»  und  OUureUor  extemua 
die  Foasa  trochanterica  auf,  und  anastomosirt  mit  der  Ärteria  glutaea  inferior  und 
drcumßexa  externa.  Der  absteigende  Endast  gehört  den  langen  Muskeln  an 
der  hinteren  Seite  des  Oberschenkels. 

ß)  Die  Ärteria  dreumfi/exa  femori»  eoUertia  «.  anterior  übertrifft  die  interna 
an  Stärke.  Sie  geht  unter  dem  Eectua  femoris  nach  aussen,  schickt  den  an  der 
vorderen  und  äusseren  Seite  des  Oberschenkels  gelegenen  Muskeln  zahlreiche  auf- 
und  absteigende  Aeste  zu,  deren  einer  unter  dem  Vaatus  extemut  bis  zum  Knie 
herabreicht  (Ramus  musctUo-articularisJ,  durchbohrt  hierauf  den  Vastua  extemu» 
hart  unter  dem  grossen  Trochanter,  und  gelangt  so  in  die  hintere  Gegend  des 
Oberschenkels,  wo  ihre  Endäste  mit  der  Circumßexa  interna  und  den  Gesässarterien 
anastomosiren. 

Die  häufigen  Variationen  der  Lage  der  Profunda  zum  Stamme  der  Cruralis 
(aussen,  hinten,  oder  innen  von  letzterer),  so  wie  die  damit  zusammenhängenden 
Ursprungsabweichungen  der  beiden  Circumflexae,  hat  Srb  zum  Gegenstände  einer 
sehr  fleissigen  Detailuntersuchung  gemacht,  deren  Resultate  in  der  Oesterr.  Zeit: 
Schrift  für  prakt.  Heilkunde,  1860,  Nr.  1  und  3,  niedergelegt  wurden. 

b)  Durchbohrende  Aeste,  Arteriae perforantes,  heissen  jene 
Muskelzweige  der  Profunda  femoris,  welche,  um  zur  Muskulatur 
an  der  hinteren  Seite  des  Oberschenkels  zu  gerathen,  die  Insertioii 
der  Adduetorensehnen  am  Oberschenkelknochen  durchbohren.  Sie 
machen  es  also   ebenso   wie  der  Hauptstamm  der  Arteria  cruraUs, 


1014  §.411.  Aesto  der  Kniekehlenarteri«. 

welcher  auch  eine  Arteria  perforans  wird,  indem  er  die  Sehne  des 
Addvctor  magnua  durchbohrt^  um  in  die  Kniekehle  zu  kommen.  Die 
Arteriös  perforantes  geben  zu  dieser  Durchbohrung  gleichsam  das 
Vorbild.  Man  zählt  gewöhnlich  drei  Arteriae  perforantes. 

Die  Perforcma  prima  geht  unter  dem  kleinen  Trochanter  nach  rückw&rts, 
und  theilt  sich  in  einen  auf-  und  absteigenden  Ast  Der  aufsteigende 
versorgt  Antheile  des  Qlutaetu  magnus  und  den  Qiiadratu»  fenioria,  und  anastomo- 
sirt  mit  der  Arteria  glutaea  inferior,  und  der  Circumßexa  femoris  interna.  Der 
absteigende  giebt  Aeste  zu  den  Beugern  des  Unterschenkels,  dem  Adductor 
magntis,  dem  Schenkelknochen  (die  Arteria  ntUi^ia  superiorj,  und  anastomosirt 
mit  der  Perforana  »ecunda.  —  Die  Perforana  secunda  und  tertia  durchbohren  tiefer 
unten  die  Sehne  des  Adductor  magnus.  Die  tertia  sendet  die  Arteria  nutritia  in- 
ferior des  Schenkelknochens  ab.  Das  durch  so  zahlreiche  Astbildung  bedeutend 
abgeschwächte  Ende  der  Profunda,  durchbohrt  gleichfalls  die  Sehne  des  grossen 
Adductor,  um  theils  mit  der  Perforana  tertia,  theils  mit  der  Circumßexa  genu  »uperior 
interna  aus  der  Po))litea  zu  anastomosiren.  Man  kann  somit  füglich  noch  eine 
Perforana  quarta  zählen. 

5.  Einige  unerhebliche  Rami  musadares, 

6.  Arteria  superficialis  genu  s.  anastomotica  magna,  oberfläch- 
liche Kniegelenkarterie.  Sie  entspringt  vor  dem  Durch tritte 
der  Arteria  centralis  durch  die  Sehne  des  Addttctor  magnus,  und 
muss  somit  die  Astfolge  der  Arteria  cruralis  schliessen. 

Vor  der  Sehne  des  Addtictor  m<ignus^  bedeckt  vom  Sartorius,  geht  sie  auf 
den  Oondgltt»  intemtia  femori»  zu.  Ihre  daselbst  vorkommende  Anastomose  mit  der 
Arteria  circttvißexa  auperior  interna  aus  der  Poplitea  verschaffte  ihr  den  Namen 
Anastomotica  magna.  Sie  löst  sich  im  Rete  articulare  genu  auf,  unter  welchem 
Namen  wir  ein  auf  den  Gelenkenden  des  Schenkel-  und  Schienbeins  anfliegendes, 
weitmaschiges  Arteriennetz  zu  verstehen  haben,  an  dessen  Bildung  auch  der 
Ramus  musculo-articularis  dfer  Circumßexa  femori«  externa,  die  Perforana  quarta, 
die  Circumflexae  genu  aus  der  Poplitea,  so  wie  der  Ramua  reairrena  tibialia  an- 
terior et  poaterior  Antiieil  nehmen. 


§.  411.  Aeste  der  KniekeMenarterie. 

Das  Knicke hlens tu ck  der  Schenkelarterie,  Arteria  poplitea, 
wird  unrichtig  poplitaea  geschrieben,  weil  das  lateinische  Wort 
PopleSj  kein  Adjectiv  mit  dem  griechischen  Ausgang  in  aia  geben 
kann.  Es  liegt  am  Grunde  der  Kniekehle,  und  reicht  bis  zur 
Spaltung  in  die  beiden  Schienbeinarterien  herab.  Die  Arteria 
Poplitea  erzeugt  Muskel-  und  Gelenkarterien.  Erstere  versorgen 
die  Muskeln,  welche  die  Kniekehle  begrenzen.  Unter  ihnen  zeichnen 
sich  die  aus  einem  kurzen  gemeinschaftlichen  Stamme  hervor- 
gehenden Arteriae  gastrocnemias  aus.  Die  Gelenkarterien  umgreifen 
bogenförmig  die  Gelenkenden  der  im-Kniegelenk  zusammenstossenden 
Knochen,  und  concurriren  zur  Bildung  des  Rete  articulare  genu.  Man 
zählt  zwei  obere,  zwei  untere,  und  eine  mittlere  Kniegelenkarterie. 


§.  41S.  Anomalien  der  Schenkelarterie  and  ihrer  Ae3te.  101 5 

a)  Die  beiden  Arteriae  articulares  a.  drctm^flexae  genu  auperiorea  werden  als 
grössere  externa,  und  kleinere  interna  unterschieden. 

bj  Diu  beiden  Arteriae  artictdarea  s.  circumßexae  genu  inferiores  verhalten 
sich,  der  Stärke  nach,  verkehrt  wie  die  auperiores.  Die  äussere  folg-t  dem  Rande 
des  äusseren  Zwischenknorpels  des  Kniegelenks,  die  innere  umgreift  den  Condylua 
Uhia^  internus  nach  vorn. 

cj  Die  Arteria  articulationis  genu  media  a.  azggoa  ist  oft  ein  Ast  der  Arteria 
articnlaris  auperior  externa.  Sie  durchbohrt  das  Ligamentum  popliteum  und  die 
hintere  Kapsel  wand,  und  verliert  sich  in  den  Kreuzbändern  und  den  als  falsche 
Bänder  bekannten  Falten  der  Sjnovialmembran  des  Kniegelenks. 


§.  412-  Anomalien  der  Schenkelarterie  und  ihrer  Aeste. 

Abweichungen  der  Schenkelarterie  kommen   viel  seltener  vor, 
als  jene  der  Arteria  brachialis» 

Chirurgische  Wichtigkeit  beansprucht  jener  Fall  (Froriep'a  Notizen.  Bd,  34. 
pag.  45),  wo  die  Arteria  cruralia  als  Profunda  femoria  endigte.  Dagegen  kam  ein 
starker  Ast  der  Arteria  hypoga^atrica  mit  dem  Nervua  iachiadicua  in  die  Kniekehle 
hinab,  wo  er  die  Arteria  poplitea  vertrat  Da  in  der  Regel  die  Arteria  glutaea 
inferior  dem  Nervua  iachiadicua  einen  langen  und  feinen  Begleitnngszweig  (Arteria 
Cornea)  mitgiebt,  so  sehe  ich  in  diesem  Falle  nur  eine  stärkere  Entwicklung  der 
Arteria  comea.  —  Im  Mns^e  Clamar  zu  Paris  wird  ein  Präparat  von  M  a  n  e  c  auf- 
bewahrt, an  welchem  die  Arteria  cruralia  nur  die  Dicke  einer  Arteria  radiaXia 
besitzt,  und  in  den  Muskeln  an  der  vorderen  Seite  des  Hüftgelenks  endigt.  Auch 
in  diesem  Fall  war  es  die  Arteria  glutaea  inferior ,  welche  »ich  längs  des  Nervua 
iachiadiaia  in  die  Poplitea  fortsetzte.  —  Ein  überzähliger  Ast  der  Arteria  cruralia 
begleitet  die  Vena  aaphena  major  bis  zum  Sprunggelenk  herab.  Er  wurde  bisher 
nur  einmal  gesehen.  (Zagoraky,  M6m.  de  TAcad.  de  St.  P^tersbourg,  1 809).  —  Die 
Arteria  profunda  fenuiria  entspringt  in  seltenen  Fällen  in  gleicher  Höhe  mit  dem 
P  o u p a r tischen  Baude,  selbst  über  demselben  (Otto,  Tiedemann).  Dieser  hohe 
Ursprung  kommt  nach  Tiedemann  häufiger  bei  Weibern  von  kleiner  Statur  als 
bei  Männern  vor.  Portal  sah  den  hohen  Ahguig  der  Profuxtda  femoria  mit  hoher 
Theilnng  der  Arteria  hrachialia  vergesellschaftet.  (Anal,  m4d.  T.  IIL  pag,  289,)  — 
Einen  schönen  Fall  von  hohem  Ursprung  der  Profunda  giebt  Zaaijer  (Nederl. 
Tijdachriß,  1865),  —  Prosector  Dr.  Friedlowsky  beschrieb  in  der  allg.  Wiener 
med.  Zeitung,  1867,  Nr.  13,  einen  Fall,  wo  die  Profunda  die  Schenkel-  und  die 
Saphenvenc  nach  innen  umschlang,  bevor  sie  in  die  Tiefe  eindrang.  —  Höchst 
selten  gehen  die  Zweige  der  Profunda,  einzeln  und  isolirt  aus  dem  Stamme  der 
Cmralis  hervor,  wo  dann  natürlich  die  Profunda  fehlt.  Zuweilen  entspringt  eine 
oder  die  andere  Circumflexa  femoria  nicht  aus  der  Profunda,  sondern  aus  der 
Cruralis. 

Die  Theilnngsstelle  der  Poplitea  in  die  vordere  und  hintere  Schienbeinarterie 
rückt  nie  so  hoch  an  den  Schenkel  hinauf,  wie  es  jene  der  Arteria  brachialia 
so  häufig  am  Arme  zu  thun  pflegt.  Für  die  vordere  Schienbeinarterie  lässt  sich 
der  Grund  leicht  einsehen.  Sie  müsste  über  die  Streckseite  des  Kniees  weglaufen, 
was  gegen  die  allgemeinen  Gesetze  des  Schlagaderverlaufes  wäre.  Ich  kenne  nur 
einen  nicht  hinlänglich  verbürgten  Fall,  wo  die  rechte  Arteria  cruralia,  angeblich 
dicht  unter  dem  Poup arischen  Bande,  in  die  beiden  Schienbeinarterien  zerfiel. 
Sandifori,  Observ.  anat  path,  lob.  IV.  pag.  d7.  —  Z^iiüUn  der  Schenkelarterie 


! 


1016  S-  ^^S*  Yerftstlaog  der  Arterien  des  UnteTsekenkeli. 

unter  dem  Ursprnnge  der  Profond»,  in  iwei  Zwei^,  welche  sp&ter  wieder  zu 
einem  einfachen  Stamme  conflniren,  wurde  yon  Ch.  Bell  (Med.  u.  Phys.  Journal, 
Vol.  LVI.)  beschrieben. 


§.  413.  Verästiung  der  Arterien  des  TTntersclienkels. 

Die  Arteria  poplitea  theilt  sich,  nachdem  sie  den  Musculus 
popliteus  überschritten,  und  sich  unter  den  oberen  Rand  des  Soleus 
begeben  hat,  in  die  vordere  und  hintere  Schienbeinarterie. 

a)  Vordere  Schienbeinarterie,  Arteria  labialis  antica,  Sie 
tritt  durch  den  oberen,  vom  Ligamentum  interoaseum  nicht  ver- 
schlossenen Winkel  des  Spatium  interosseum  an  die  Vorderfläche  des 
Zwischenknochenbandes,  wo  sie  mit  dem  Nervus  tibialis  anticus 
zwischen  Musculus  tibialis  anticus  und  Extensor  digitorum  communis 
longuSj  weiter  unten  zwischen  Tibialis  anticus  und  Extensor  haüucis, 
zum  Sprunggelenk  herabgleitet.  Etwas  über  dem  Sprunggelenk  ver- 
lässt  sie  das  Zwischenknochenband,  und  liegt  auf  der  äusseren 
Fläche  des  Schienbeins  auf.  Am  Sprunggelenk  zieht  sie  durch  das 
mittlere  Fach  des  Ringbandes  zum  Fussrücken,  wo  sie  Arteria  dor- 
scdis  pedis  heisst,  oder  im  barbarischen  Style  pediaea,  da  ein  latei- 
nisches Wort  nicht  mit  einem  griechischen  Ausgang  verunglimpft 
werden  soll  (latino  capiti  cervicem  graecam)»  Die  Arteria  dorsalis 
pedis  lagert  zwischen  den  Sehnen  des  Extensor  haüucis  longus  und 
brevis,  schlägt  die  Richtung  gegen  das  erste  Interstitium  intermeta- 
tarseum  ein,  und  biegt  sich  am  Beginn  desselben  in  den  Plattfuss 
hinab,  um  mit  der  Arteria  plantaris  externa,  einem  Endaste  der 
Arteria  tibialis  postica,  im  starken  Bogen  zu  anastomosiren.  —  Aus 
dem  Verlaufe  der  Tibialis  antica  auf  dem  Fussrücken,  und  dem 
Eindringen  derselben  in  den  Plattfuss  durch  das  erste  Interstitium 
intermetatarseum,  ergiebt  sich  die  Uebereinstimmung  derselben  mit 
der  Arteria  radialis  des  Vorderarms. 

Von  ihrem  Ursprünge  bis  zum  Fussrücken  sendet  sie  folgende 
minder  bedeut^me  Aeste  ab : 

a)  Zwei  rücklaufende  Schienbeinarterien,  Arteritie  recurrentes  Ubiales, 
zum  Rete  articularfi  genu;  eine  vor,  die  andere  nach  g^eschehenem  Durchgang  zur 
vorderen  Seite  des  Zwischenknochenbandes.  —  ß)  Zehn  bis  zwanzig  namenlose 
Muskeläste  von  geringem  Kaliber  für  die  Muskeln  an  der  vorderen  Seite  des 
Unterschenkels.  —  y)  Zwei  vordere  Knöchelarterien,  Arteriae  nuUleolarea 
anteriores,  eine  äussere  stärkere,  und  innere  schwächere.  Beide  umgreifen  die 
Malleoli,  in  deren  Periost  sie  eingewachsen  sind.  Sie  bilden  mit  den  hinteren 
Knöchelarterien  und  den  Fnsswurzelschlagadern,  die  Retia  maUeolaria, 

Am  Fussrücken  giebt  die  Arteria  tibialis  antica,  welche  hier 
Dorsalis  pedis  heisst,  ausser  einigen  unwichtigen  Zweigen  zum  inneren 
Fussrand,  die  Arteria  tarsea  und  metatarsea  ab. 


§.  418.  YerfeUnng  der  Artarien  des  Unterschenlcels.  1017 

Die  Arteria  tarsea  entspringt  am  Collum  oder  CaptU  tcUi,  lenkt 
unter  dem  Extensor  dtgüorum  communis  brevis  zum  äusseren  Fuss- 
rand  ab^  verbindet  sich  nach  hinten  mit  der  Arteria  moUleolaris 
anterior  externa,  und  nach  vorn  mit  der  Arteria  metatarsea.  —  Die 
Arteria  metatarsea  zweigt  sich  am  Rücken  des  Oa  acaphoideum,  oder 
auf  dem  ersten  Keilbein  von  der  Arteria  dorscUis  pedis  ab,  oder  besitzt 
einen  kurzen  Trunctts  communis  mit  der  Arteria  tarsea.  Diese  Ur- 
sprungsvarianten werden  ihre  Verlaufsrichtung  am  Fussrücken  sehr 
beeinflussen,  und  deshalb  herrscht  wenig  Uebereinstimmung  in  den 
Sagen  über  sie.  Am  äusseren  Fussrand  fliesst  sie  mit  der  Arteria 
tarsea  bogenförmig  zusammen,  als  Arcus  pedis  dorsaiis. 

Aus  der  Arteria  metatarsea  entspringen,  bevor  sie  mit  der  Tarsea  den  Arcu9 
pedis  dorsaUa  schliesst:  1.  drei  Arteriae  interosaeae  dorsales,  welche  im  zweiten, 
dritten  und  vierten  Interstitium  der  Metatarsnsknochen  nach  vom  lanfen,  und  sich 
in  zwei  Zweige  theilen,  welche  als  Arteriae  digitales  pedis  dorsales  die  einander 
zugekehrten  Seiten  der  zweiten,  dritten,  vierten  und  fünften  Zehe  bis  zur  ersten 
Artictdatio  interphalangea  hin  versehen,  und  2.  eine  Arteria  digitalis  dorsaiis  externa 
für  die  äussere  Seite  der  kleinen  Zehe.  Das  erste  Interstitium  interosseum  erhält 
seine  Arteria  inlerossea  dorsaiis  aus  dem  Stamme  der  Arteria  dorsaiis  pedis,  bevor 
sie  in  die  Planta  eindringt.  Sie  versorgt  nicht  nur  die  zugewendeten  Seiten  der 
ersten  und  zweiten  Zehe,  sondern  auch  die  innere  Seite  der  ersten,  theilt  sich 
also  in  drei  Arteriae  digitales  dorsales,  während  die  übrigen  Arteriae  mterosseae 
dorsales  nur  in  zwei  Zweige  gabeln. 

Nach  Abgabe  dieser  Aeste  dringt  die  Arteria  dorsaiis  pedis, 
wie  schon  gesagt,  zwischen  den  Bases  des  ersten  und  zweiten  Meta- 
tarsusknochens  in  die  Planta,  wo  sie  sich  mit  der  Arteria  plantaris 
externa  zum  tiefen  Plattfussbogen  verbindet,  von  welchem  später. 

b)  Hintere  Schienbeinarterie,  Arteria  tibicdis postica ;  wohl 
der  Stärke,  nicht  aber  der  Richtung  nach,  ist  sie  die  eigentliche 
Fortsetzung  der  Arteria  poplitea.  Sie  läuft  mit  dem  Nervus  tibialis 
posticus,  welcher  an  ihrer  äusseren  Seite  liegt,  im  tiefen  Stratum 
der  Wadenmuskeln  auf  dem  Muscvlus  tibialis  posticus  und  Flexor 
digitorum  longus  zum  Sprunggelenk  herab.  Hinter  dem  Malleolus 
internus  wird  sie  nur  durch  die  Haut  und  die  Fasda  suras  bedeckt. 
Unterhalb  des  MaUeolus  internus  krümmt  sie  sich  an  der  inneren 
Fläche  des  Calcaneus  in  die  Planta  hinab,  und  zerfällt  unter  dem 
Ursprung  des  Abductor  hallucis  in  zwei  Endäste  —  Arteria  plantaris 
externa  et  interna,  Ihr  stattlichster  Zweig  ist  die  Wadenbein- 
arterie, Arteria  peronaea  (unrichtig  peronea,  weil  aus  dem  grie- 
chischen xepsvY),  nur  ein  Adjectiv  in  aia  gebildet  werden  kann). 

Diese  entspringt  einen  bis  zwei  Zoll  unter  dem  Ursprünge  der 
Arteria  tibialis  postica,  und  läuft  anfangs  mit  ihr  fast  parallel,  und 
nur  durch  den  Nervus  tibialis  posticus  von  ihr  getrennt,  an  der 
hinteren  Seite  des  Wadenbeins  herab.  Hier  begegnet  sie  dem  FleiBche 
des  Flexor  JuMuds  longus.  In  diesem^  oder  awischen  ihm  imd  je> 


1018  §.  4t4.  Artarien  des  PlattfiiBses. 

des  Tibicdis  posticus,  wandert  sie  weiter,  giebt  allen  Muskeln  der 
tiefen  Wadenschicht  Zweige,  auch  eine  Arteria  nutriens  zur  Fibula, 
und  theilt  sich,  oberhalb  des  äusseren  Knöchels,  in  die  Arteria 
peranaea  anterior  et  posterior. 

Die  anterior  darchbohrt  das  lAgamentum  irUerotteum,  wird  daher  auch 
Peronaea  perforaru  g^enannt,  und  hilft  mit  ihren  Aestchen  das  Bete  maUeolare 
extemum  bilden.  Die  posterior  geht  hinter  dem  Malleoltu  extemua  zur  äusseren 
Seite  des  Calcaneus  herab,  wo  sie  ebenfalls  dem  Bete  maUeolare  extemum  Zweig- 
chen mittheilt,  und  sich  in  den  Weichtheilen  am  äusseren  Fussrand  auflöst. 

Die  übrigen  Aeste  der  Tibicdis  postica  sind : 

a)  Die  Arteina  nutritia  tibiae.  Sie  ist  die  grösste  aller  ernährenden 
Arterien.  Man  kann  deshalb  sagen,  dass  das  Schienbein  mehr 
von  der  Markhöhle  aus,  als  vom  äusseren  Periost  ernährt 
wird,  und  versteht  es  zugleich,  warum  gerade  das  Schienbein, 
mehr  als  andere  Röhrenknochen,  von  Osteitis  centralis  be- 
fallen wird. 

ß)  Rami,  muscvlares,  zehn  bis  fünfzehn. 

Y)  Ein  nicht  ganz  constanter  Ramus  anastomoticus  zur  Arteria 
peronaea. 

Der  Bamtis  ancistomoHcua  entspringt  einen  bis  anderthalb  Zoll  über  dem 
inneren  Knöchel  aus  der  Tibialis  postica,  und  geht  niemals  über,  sondern  immer 
unter  den  Sehnen  der  tiefen  Wadenmuskeln  quer  zur  Arteria  peronaea  herüber. 
Richtiger  sollte  man  sagen,  dass  der  Ramus  anastomotictts  von  der  Peronaea  zur 
Tibialis  postica  herüber  kommt,  als  umgekehrt;  denn  die  Uebersicht  einer 
Reihe  von  Injectionspräparaten,  welche  mir  hierüber  vorliegt,  zeigt  es  augen- 
scheinlich, dass  die  Tibialis  postica  unterhalb  eines  stärkeren  Itamus  anastomoticus 
dicker  wird,  während  sie  doch  dünner  werden  müsste,  wenn  dieser  Ramus  von 
ihr  abgegeben  würde.  —  Hinter  dem  Sprunggelenk  folgt  öfters  noch  ein  zweiter, 
viel  schwächerer  Ramus  anastomoticus,  welcher  aber  nicht  unter,  sondern  immer 
über  den  Sehnen  der  tiefen  Wadenmuskeln  wegläuft. 

S)  Die  Arterias  mcUleolares  posteriores,  eine  externa  und  interna, 
welche  mit  den  anterioribus  die  Retia  malleolaria  bilden. 

e)  Rami  calcanei  intemi,  welche  die  Haut  der  Ferse,  die  Tarsal- 
gelenke,  und  die  Ursprünge  der  kleinen  Muskeln  des  Platt- 
fusses  mit  Blut  versehen,  und  mit  den  Verzweigungen  der 
Arteria  peronaea  posterior  das  Rete  calcanei  netzen  helfen. 


§.  414.  Arterien  des  Plattfusses. 

Wir  treffen  im  Plattfusse  die  zwei  Endäste  der  Arteria  tibialis 
postica  an,  welche  wir  als  Arteria  plantaris  interna  und  externa  unter- 
schieden haben. 

Die  Arteria  plantaris  interna  ist  bei  weitem  schwächer  als  die 
externa,    und    lagert    zwischen    dem    Abductor  poUicis    und    Flexor 


§.  414.  Arterien  dee  PlattftisBet.  1019 

communis  digitorum  brevis.  Es  gehen  aus  ihr  Rami  superficiales  und 
profundi  ab,  welche  die  Haut  und  die  Muskulatur  am  inneren  Rande 
des  Plattfusses  versorgen.  Sie  verlängert  sich  öfters  in  die  Arteria 
dorsalis  interna  der  grossen  Zehe. 

Die  Arteria  plantaris  externa  geht  über  dem  Flexor  brevis  digi- 
torum nach  aussen  gegen  die  Basis  metcUarsi  qmnti,  und  lagert  sich 
zwischen  Flexor  hrevis  digiti  minimi  und  Caro  quadrata»  Sie  erzeugt 
kleine  Zweige  für  die  Haut  und  Muskeln  des  äusseren  Fussrandes, 
und  sendet  zur  äusseren  Seite  der  kleinen  Zehe  die  Arteria  digi- 
talis  plantaris  externa.  Hierauf  krümmt  sie  sich  von  der  Basis  des 
fünften  Mittelfussknochens  weg  bogenförmig  in  der  Tiefe  der  Fuss- 
sohle  nach  innen,  um  mit  der  Arteria  dorsalis  pedis,  welche  im 
ersten  Interstiiium  interosseum  in  den  Plattfuss  eintrat,  zu  anastomo- 
siren,  wodurch  der  Arcus  plantaris  zu  Stande  kommt.  Dieser  liegt 
auf  den  Bases  der  Metatarsusknochen,  und  giebt  vier  Arteriae  inter- 
osseae  plantares  ab,  welche,  wie  am  Dorsum  pedis,  von  innen  nach 
aussen  abgezählt  werden.  Sie  senden  perforirendo  Aeste  zwischen 
den  Bases  ossium  mstatarsi  nach  aufwärts  zum  Fussrücken,  wo  sie 
mit  den  Arteriae  interosseae  dorsales  anastomosiren. 

Jede  Arteria  irUerosaea  plantaris  entspricht  einem  InUrsHtium  interosseum, 
und  theilt  sich  an  dessen  vorderem  Ende  gabelförmig^  in  zwei  Arteriae  digitales 
pedis  plantares,  welche  für  die  einander  zugewandten  Seiten  je  zweier  Zehen  be- 
stimmt sind.  Die  Arteria  interossea  plantaris  prima  wird  sich  in  drei  Zweige  zer- 
spalten müssen,  damit  auch  die  innere  Seite  der  grossen  Zehe  eine  Arteria  digi- 
talis  plantaris  interna  erhalte.  Dass  es  im  Plattfuss  vier  Interosseae  plantares,  in 
der  Hohlhand  aber  nur  drei  Interosseae  volares  giebt,  erklärt  sich  wohl  aus  der 
Unbeweglichkeit  des  Metatarsus  der  grossen  Zehe,  in  Vergleich  zur  Beweglich- 
keit hIcs  Metacarpus  des  Daumens.  —  Das  übrige  Verhalten  der  Zehenarterien 
weicht  von  dem  Vorbilde  der  Fingerschlagadern  nicht  ab. 

Es  ergiebt  sich  aus  der  vergleichenden  Betrachtung  der  Ar- 
terien des  Unterschenkels  mit  jenen  des  Vorderarms,  dass  die 
Arteria  tibialis  postica  die  Arteria  tdnaris  der  oberen  Extremität,  und 
die  Peronaea  die  Interossea  repräsentirt.  —  Warum  am  Plattfuss 
nur  ein  einfacher,  und  zwar  nur  ein  tiefliegender  arterieller  Gefass- ; 
bogen  vorkommt,  während  in  der  Hohlhand  noch  ein  hochliegender  ; 
hinzukommt,  Hesse  sich  auf  folgende  Weise  erklären.  Die  Con-  j 
cavität  des  Plattfusses  wird  weder  beim  Gehen,  noch  beim  Stehen, 
in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  durch  Druck  in  Anspruch  genommen, 
während  die  Hohlhand,  beim  Umfassen  runder  Körper  in  ihrer 
ganzen  Fläche,  und  somit  auch  der  Arcu^  volaris  sublimis  in  seiner 
ganzen  Länge  gedrückt  wird  (§.  402),  wobei  der  Arcu^  volaris  pro- 
fundus die  Blutzufuhr  zur  Mittelhand  und  zu  den  Fingern  leistet. 
Der  Plattfuss  hat  also  an  Einem  Arcus  hinlänglich  genug,  und  wird 
dieser  Arcus,  weil  er  factisch  ein  tiefliegender  ist^  gar  nie  einer 
CompreQsion  aus^setzt  sein  können. 


1020  §.  416.  Variet&ten  der  Arterien  des  Uotertehenkele. 


§.  415.  Varietäten  der  Arterien  des  TTntersclienkels. 

Der  Ursprung  der  Arteria  tibialis  antica  rückt  zuweilen  etwas 
höher  an  die  Poplitea  hinauf,  aber  nie  über  die  Durchbohrungs- 
stelle der  Sehne  des  Adductor  magnus.  Ein  tieferes  Herabrücken  der 
Theilungsstelle  der  Arteria  poplüea  in  die  Tibialis  antica  und  postica 
ist  nie  beobachtet  worden. 

Die  Stärke  der  Tibialis  antica  steht  mit  jener  der  Tibtalia 
postica  im  verkehrten  Verhältnisse.  Sie  wird  somit  den  Arcus  plan- 
taris entweder  allein,  oder  gar  nicht  bilden  können.  Sie  fehlt  auch 
mehr  weniger  vollkommen,  und  wird  durch  den  vorderen  £nda8t 
der  Arteria  peronaea  (Peronasa  perforans)  vertreten. 

Dieselben  Spielarten  bietet  auch  die  Arteria  tibialis  postica  dar. 
In  Fällen,  wo  sie  sehr  schwach  ist,  hilft  ihr  der  Ramtis  anastamo- 
ticus  von  der  Peronaea  aus,  um  die  zu  den  Plattfussverästlungen 
nöthige  Stärke  zu  gewinnen.  Fehlt  sie,  so  wird  sie  durch  die  Arteria 
peronaea  ersetzt,  welche  sich  in  der  Gegend  des  Sprunggelenks  gegen 
den  inneren  Knöchel  wendet,  um  in  die  beiden  Arteriae  plantares 
überzugehen.  —  Ein  im  Sinus  tarsi  enthaltener  starker  Verbindungs- 
zweig zwischen  der  Arteria  tarsea  und  der  Tibialis  postica  wurde 
von  mir  beobachtet. 

Die  Varietäten    der  Arteria  peronaea   betreflFen    ihre  hohe  oder 
tiefe  Theilung,  und  ihre  Stärke.  Fehlen  der  Arteria  peronaea  ist  viel 
seltener,  als  jenes  der   Tibialis  postica.     Im   Breslauer  Museum  wird 
ein  solcher  Fall  aufbewahrt.  —  Wenn  man  ein    injicirtes  Arterien- 
präparat des   Unterschenkels    aufmerksam   betrachtet,   fallt    es  auf, 
dass  nicht  die  stärkere  Arteria  tibialis  postica^  sondern  die  schwächere 
Arteria  peronaea  in    der  verlängerten    Richtung   der  Arteria  poplüea 
liegt.    Die  Peronaea  muss  somit  als  die  eigentliche  Fortsetzung  der 
Poplitea    angesehen    werden,    woraus    sich    denn    auch    ihr    höchst 
seltenes    Fehlen,    und    ihre    Substitution    für    die   fehlende    Tibialis 
postica   von    selbst   ergiebt.  —  Wir   besitzen  drei  Fälle,  in  welchen 
die  Peronaea   kein  Ast   der   Tibialis  postica,    sondern  der  antica  ist. 
Sie  entspringt  aus  letzterer,  vor  ihrem  Durchtritt  durch  den  oberen 
Winkel  des  Spatium  interosseum, 

lieber  Varietäten  der  Unterschenkelscblag-adern  handelt  ausführlich  meine 
Schrift:  lieber  normale  und  abnorme  Verhältnisse  der  Schlagadern  des  Unter- 
schenkels. Wien,  1864,  mit  10  Tafeln. 


f.  416.  ZaMummeosetinag  der  oberen  HohlTeoe.  1021 


C.   Venen. 

§.  416.  Allgemeine  ScMlderuiig  der  Zusammensetzung  der 

oberen  HoMvene. 

Während  das  Arterienblut  durch  einen  einzigen  Hauptstamm 
aus  dem  Herzen  ausgetrieben  wird,  kehrt  das  Venenblut  durch 
zwei  Hauptstämme  zum  Herzen  zurück.  Diese  sind  die  obere  und 
untere  Hohlvene,  Vena  cava  aupemor  und  inferior.  Das  Venen- 
blut aller  Organe  des  menschlichen  Körpers  strömt  der  einen  oder 
anderen  dieser  beiden  Venen  zu.  Alles,  was  über  dem  Zwerchfell 
liegt,  gehört  der  oberen,  was  unter  dem  Zwerchfell  liegt,  der  unteren 
Hohlvene  an.  Nur  das  Venenblut  der  Herzwand  gelangt,  mittelst 
der  im  Sulcus  circularia  des  Herzens  liegenden  Kranz vene  (Vena 
coronaria  cordis)  direct  in  die  rechte  Vorkammer. 

Da  doch  aUe  Venen  hohl  sind,  beg^reift  der  Schüler  nicht,  wamm  man 
blos  den  oberen  und  unteren  Hauptstamm  des  Venensystems,  Hohlader,  Vena 
Cava  nennt  Aufklärung  hierüber  g^ebt  das  Alterthum.  Nach  Rufus  Ephesins 
nannten  die  Alten  jede  g^rosse  Vene:  xoiXia,  d.  i.  Höhle  (für  Blut),  welche  Be- 
nennung von  Praxagoras  nur  für  die  obere  und  untere  Hohlader  beibehalten 
wurde,  als  i^  xoCXy]  ^X^«]»,  lateinisch  Vena  c<»va,  Aristoteles  gebraucht  auch  die 
Benennung:  (jtEYotXY]  f^i^,  Vena  magna,  und  Galen:  [le^flaxri  fX^^,  Vena  niaxima, 
jedoch  nur  für  die  untere  Hohlader. 

Würden  die  Venen  mit  den  Arterien  überall  gleichen  Schritt 
halten,  so  brauchte  man  nur  den  Stammbaum  des  arteriellen  Qe- 
fasssystems  umzukehren,  seine  Aeste  zu  Wurzeln  zu  machen,  und 
die  Beschreibung  der  Venen  wäre  hiemit  abgethan.  Allein  .die 
Venen  haben  stellenweise  andere  Verlaufs-  und  Verästlungsnormen, 
als  die  Arterien.  Diese  DiflFerenzen  müssen  hervorgehoben  werden, 
während,  wo  die  Venen  mit  den  Arterien  übereinstimmen,  alles 
Detail,  unter  Berufung  auf  die  bereits  bekannten  Verhältnisse  der 
Arterien,  übergangen  werden  kann. 

Die  obere  Hohlvene,  Vena  cava  superior,  ist  der  obere 
Hauptstamm  des  venösen  Systems,  welcher  in  der  Brusthöhle,  rechts 
von  der  aufsteigenden  Aoi-ta  liegt,  und,  vor  den  Gefässen  der  rechten 
Lungenwurzel  herabsteigend,  in  die  rechte  Herzvorkammer  ein- 
mündet. Der  obere,  hinter  dem  ersten  und  zweiten  Rippenknorpel 
liegende  Theil  des  Gefässes,  wird  von  der  Thymus,  oder  deren 
Bindegewebsresten,  bedeckt;  der  untere  ist  im  Herzbeutel  ein- 
geschlossen, dessen  inneres  umgeschlagenes  Blatt  ihn  nur  unvoll- 
kommen, d.  h.  nur  an  seiner  vorder^*  '^'^ 
überzieht. 


1022  §.  416.  ZaBammensekznng  der  oberen  HohlTene. 

Die  Vetia  cava  superior  wird  hinter  dem  ersten  Rippenknorpel 
durch  den  Zusammenfluss  zweier  Venen  gebildet.  Sie  heissen  Venae 
innominatae  s.  anonymae.  Während  die  Cava  superior  zum  rechten 
Atrium  des  Herzens  herabsteigt,  nimmt  sie  an  ihrer  hinteren  Wand 
auch  die  unpaare  Blutader  des  Brustkastens  (Vetia  azygos)  auf. 

Die  Vena^  innominatae  führen  das  Blut  vom  Kopf,  Hals,  und 
von  den  oberen  Extremitäten,  —  die  V&na  azygos  aus  den  Wänden 
des  Thorax  zurück. 

Jede  der  beiden  Vefiiae  innominatae  wird  durch  den  Zusammen- 
fluss zweier  Venen  gebildet:  1.  Vena  jugvXaris  communis,  2.  Vena 
svhdavia.  Diese  Venen  vereinigen  sich  hinter  der  Artundatio  stemo- 
davicidaris.  Die  Vena  anonyma  dextra  steigt  vor  der  Arteria  ano- 
nyma  senkrecht  herab,  und  ist  kürzer  als  die  sinistra,  welche  fast  hori- 
zontal hinter  dem  Manvhrium  stemi,  und  vor  den  grossen  Aesten 
des  Aortenbogens,  nach  rechts  hinübergeht.  Bald  nach  Vereinigung 
der  drei  genannten  Venen,  nimmt  die  rechte  und  die  linke  Vena 
anonyme  noch  1.  die  Venae  vertebrcUes  (die  linke  Anonyma  auch  die 
Vena  ihyreoidea  ima),  2.  einige  Venen  des  Brustkastens  (Venae  mam- 
mariae  intemae  et  intercostales  superiores),  und  3.  die  aus  dem  vor- 
deren Mittelfellraume  aufsteigenden  kleinen  Venae  thymicae,  peri- 
cardiacae,  phreiiicae  superiores,  und  mediastinicae  anteriores  auf. 

Die  Vena  juguiaris  interna  erstreckt  sich,  von  der  Bildungs- 
stätte der  Vena  anonyma,  bis  in  das  Foramen  jugtdare  hinauf.  Sie 
bildet,  entsprechend  dem  Zwischenräume  der  beiden  Ursprungs- 
köpfe des  Kopfnickers,  eine  besonders  auf  der  rechten  Seite  an- 
sehnliche Erweiterung  (Bulbus  venae  juguiaris  inferior),  liegt  an  der 
äusseren  Seite  der  Carotis  communis,  und  nimmt,  in  gleicher  Höhe 
mit  der  Theilungsstelle  der  Carotis  communis,  die  Vena  faciaiis  com- 
muniSj  sehr  oft  auch  die  Vena  ihyreoidea  superior  und  Vena  laryn- 
gea  auf. 

Alle  bisher  angeführten,  in  das  System  der  oberen  Hohlvene  einmündenden 
Blutadern  sind  klappenlos,  mit  Ausnahme  der  Vena  jugulurix  communis,  welche 
unterhalb  des  Bulbus,  eine  einfache  oder  doppelte  Klappe  besitzt,  deren  Varie- 
täten Gruber  (Abhandlungen  aus  der  med.  chir.  Anatomie.  Berlin,  1847,  pag.  31) 
beschrieb.  Das  Anschwellen  und  Abfallen  des  Bulbtts  inferior  der  Vena  jugularia 
communis  bei  angestrengter  Respiration  lässt  sich  bei  mageren  Individuen  sehr 
deutlich  beobachten.  —  Ueber  die  sackartige  Erweiterung  (Sinus)  und  die  Klappen 
der  Kranzvene  des  Herzens,  so  wie  über  Duplicität  der  oberen  Hohlvene,  handelt 
W.  Gruber  in  den  M^moires  de  TAcad^mie  de  St.  Petersbourg.  VII.  S6rie, 
Tome  VII.  N.  2.  —  Selten  kommen,  wegen  fehlender  Vereinigung  der  Venae 
anom/mae,  zwei  obere  Hohlvenen,  und  deshalb  keine  eigentlichen  Anonymtu  vor. 
Die  linke  Hohlvene  krümmt  sich  in  diesem  Falle  um  die  hintere  Wand  der 
linken  Herzvorkammer  zur  unteren  Wand  der  rechten,  in  welche  sie,  zugleich 
mit  der  Vena  coronaria  cordis  einmündet.  Die  hieher  gehörigen  Beobachtungen 
sind  bei  Otto  (Patholog.  Anat.  pag.  347)  und  E.  H.  Weber  fHildebrancWs  Anat. 
3.  Bd.  pag.  261)  gesammelt. 


§.417.  Inner«  DrosMlvene  und  Blntleiter  der  harten  Hirnhant.  1023 

Es  folgt  in  den  nächsten  Paragraphen  die  Beschreibung  der  wichtigeren 
Zweige  der  Venae  anom/mae  von  den  entlegeneren  angefangen,  also  dem  Blat- 
laufe  entsprechend. 

§.  417.  Innere  Drosselvene  und  Blutleiter  der  harten 

Hirnhaut. 

Die  innere  Drosselvene,  Vena  jugvlarU  interna^  fuhrt  das 
Blut  aus  dem  Gehirn,  aus  den  häutigen  Hüllen  desselben,  so  wie 
aus  der  Diploe  der  Schädelknochen  zum  Herzen  zurück.  Sie  tritt 
aus  dem  Foramen  jugtUare  hervor,  in  welchem  sie  eine  der  Fosaa 
jugtUaris  entsprechende  Anschwellung  (Bidbiu  venae  jugularü  aup»- 
rior)  bildet.  Während  sie  an  der  Seitenwand  des  Pharynx  bis  zu 
ihrer  Vereinigung  mit  der  Vena  facialis  communis  herabsteigt, 
sammelt  sie  die  aus  dem  Plexus  venosus  pharyngeus  stammenden 
Venae  pharyngeal,  und  öfters  eine  unansehnliche  Vena  lingualis.  Kurz 
bevor  sie  sich  mit  der  Vena  subclavia  zur  Anonyma  vereinigt,  nimmt 
sie  die  Vena  jugvlaris  externa  auf.  Das  kurze  Stück  des  Ge&sses, 
welches  zwischen  dieser  Aufnahme  der  Vena  jugvlaris  externa,  und 
seiner  Verbindung  mit  der  Vena  subclavia  Hegt,  nenne  ich  Vena 
jugularis  communis.  Viele  Autoren  verstehen  unter  Vena  jugvlaris 
communis  unsere  interna,  Ergiesst  sich  aber  die  Vena  jugularis  ex- 
terna nicht  in  die  interna,  sondern  in  die  Vena  subclavia,  so  giebt 
es  wirklich  keine  Vena  jugularis  communis,  wenn  man  nicht  die 
Jugularis  interna  als  solche  gelten  lässt.  Im  Foram^^i  jugvlare  hängt 
die  Vena  jugularis  interna  mit  dem  queren  Blutleiter  der  harten 
Hirnhaut,  und  durch  diesen  mit  allen  übrigen  Blutleitern  zusammen. 

Blutleiter  (Sinus  durae  matris)  sind  Hohlräume  zwischen  den 
beiden  Blättern  der  harten  Hirnhaut.  Sie  führen  Venenblut,  und 
werden  an  ihrer  inneren  Oberfläche  mit  einer  Fortsetzung  der  inneren 
Haut  der  Drosselvene  ausgekleidet,  in  welch'  letztere  sie  alle  über- 
gehen. Die  Blutleiter  haben,  wie  die  Venen  der  harten  Hirnhaut, 
keine  Etappen. 

Die  Sache  lässt  sich  aach  so  ausdrücken,  dass  die  Drosselvene,  nachdem 
sie  in  die  Schädelhöhle  eingetreten,  ihre  äussere  und  mittlere  Haut  verliert,  nur 
die  innere  behält,  und  der  Abgang  der  ersteren  durch  die  Lamellen  der  harten 
Hirnhaut  ersetzt  wird.  Da  nun  diese  Lamellen  starr  sind,  und  selbst  von  den 
Schädelknochen  gestützt  werden,  können  die  Sinns  weder  eine  namhafte  Erwei- 
terung durch  Blutüberfüllung  erleiden,  noch  beim  Querschnitt  coUabiren.  Streng 
genommen,  besitzen  alle  Venen  der  harten  Hirnhaut,  nicht  blos  die  Sinus  der- 
selben, diesen  anatomischen  Charakter.  Die  Venen  der  harten  Hirnhaut  sind  dem- 
nach eben&Us  Sinus.  Man  unterscheidet  jedoch  beide  dadurch  von  einander, 
dass  die  eigentlichen  Sinus  der  harten  Hirnhaut  beim  Durchschnitt  nicht  zu- 
sammenfiftUen,  die  Venen  dagegen  collabiren.  Beachtet  man  diesen  Unterschied 
nicht,  80  ist  die  Yerwechflliing  Ton  Biniu  und  Venen  der  harten  Hirnhaut  sehr 
leicht,  und  yUiU.jJksiUitmi  1^1  "'*"-  -      ^-t  von  anderen  als  Vene  ge- 

nommen wild  * 


1024  $.  417.  Innere  Droeselrene  und  Blotleiter  der  hüten  Himhnut. 

Sinua  drückt  sehr  viele  Dinge  »as,  vom  Sehlnpfvrinkel  bis  Kum  Meer- 
baten; am  ftUerletsten  aber  einen  Blntleiter.  Bei  den  Römern  war  Sinau,  der 
vor  der  BniBt  zur  linken  Schalter  gehende  Faltenwarf  der  Toga:  Sitnan  ex  toga 
fticere^  Livius.  Mit  dem  Begaff  „Höhlung"  wurde  8mus  von  Vesal  and 
Realdus  Columbus  auf  die  BlaÜeiter  der  harten  Hirnhaat  angewendet,  dem 
Galen  zu  Ehren,  welcher  sie  ttJ;  r^oL-ftlA^  pi7)v(YY0(  xoiXfa;  nannte  (d.  L  eavüaU» 
durae  matrUJ. 

Die  Blutleiter  sind  theils  paarig,  theils  iinpaar. 

1.  Ein  ansehnlicher  unpaarer  Sinus  Hegt  vor  der  JProtttberantia 
occipitalis  interna,  zwischen  den  Blättern  des  Tentorium  cerebellL  Da 
er  mit  den  anderen  Blutleitem  direct  oder  indirect  zusammenhängt, 
wird  er  Confluens  sinuum  s.  Torcvlar  Herophäi  genannt,  obgleich 
man  nicht  bestimmt  weiss,  was  eigentlich  Herophilus  unter  tor- 
cular  (wörtliche  Uebersetzung  des  bei  Galen  zu  lesenden  Wortes 
Xy)v6?,  ein  Weinkeller)  verstanden  hat.*) 

2.  Der  quere  Blutleiter,  Sinus  transversus.  Er  ist  paarig, 
geht  also  beiderseits  vom  Torcular  hervor,  läuft  am  hinteren  Rande 
des  Tentorium  quer  nach  aussen,  und  krümmt  sich  über  den 
Warzenwinkel  des  Scheitelbeins,  die  Pars  mastoidea  des  Schlftfe- 
beins,  und  die  Pars  condyloidea  des  Hinterhauptbeins,  in  den  für 
ihn  bereit  gehaltenen  Furchen,  zum  Foramen  jugulare  herab,  wo  er 
in  den  BtUbus  superior  venae  jugularis  übergeht.  Zwei  Emissaria  San 
toiini  führen  aus  ihm  zu  den  äusseren  Schädelvenen.  Das  eine 
geht  durch  das  Foramen  mastoideum,  das  andere  durch  das  jForamen 
condyloideum  posterius.  Je  kleiner  das  Foramen  jugulare,  desto  grösser 
sind  diese  Emissaria. 

3.  Der  obere  Sichelblutleiter,  Sinus  faldformis  major  #. 
longitvdinalis  superior.  Er  liegt  im  oberen  Rande  des  Sichelfortsatzes 
der  harten  Hirnhaut,  erweitert  sich  von  vor  nach  rückwärts,  hängt 
im  Foramen  coecum  mit  den  Venen  der  Nasenhöhle  zusammen,  und 
geht  nach  hinten  und  unten  in  den  Confiuens  sinuum  über.  Fibröse 
Bälkchen  ziehen  im  Inneren  desselben  von  einer  Seitenwand  zur 
andern.  Emissaria  Santoinni  treten  von  ihm  durch  die  Foramina 
parietalia  zu  den  äusseren  Schädel venen. 

Sehr  oft  mUndet  der  Sinus  falcifomiis  major  nicht  in  den  Conflaens,  son- 
dern geht  unmittelbar  in  den  rechten  Sinus  trantveraua  über.  Hieraus  erklärt  sich 
sodann  die  auffallende  Weite  des  rechten  Foramen  jugulare. 


*)  GalenuSf  de  usu  partium,  lib.  IX.  cap.  6,  sagft:  Ooihmie*  m  vertiee 
meningis  duplicaturae,  quae  »anguineni  deducunt  in  loaim  quemdam  vacuutn,  qu4Msi 
cistemam,  quem  aane,  ob  id  ipsum,  Herophilus  torcular  seiet  nominare.  Ich  ^lÄabe 
diese  Worte  am  richtigsten  auf  den  Confluens  sinuum  beziehen  zu  müssen.  Oof^kten», 
Con/hentes,  und  Confluges,  sind  bei  Livius  und  Tacitus  die  Zasammenmflndiiii|^n 
Bweier  Flüsse,  an  welchen  die  römischen  Heere  ihre  Lager  aufzuschlag^en  pflegten. 
Noch  heisst  die  Stadt  an  der  Einmündung  der  Mosel  in  den  Rhein:  Coblens,  d.L 
doch  Oof^luens.  Nicht  weniger  als  drei  Ortschaften  in  Frankreich,  and  eine  Stndt 
im  Herzogthum  Savoyen,  führen  heute  noch  aus  demselben  Grande  den  Jft 
Conflans. 


S.  417.  Inn«re  DrosMlTene  und  Blatleitor  der  barien  Hirnkavt.  1025 

4.  Der  untere  Sichelblutleiter,  Sintis  faldformia  minor  8. 
inferior,  verläuft  im  unteren  scharfen  Rande  der  Sichel,  und  geht 
in  den  folgenden  über. 

5.  Der  gerade  Blutleiter,  Sinua  rectus  s.  perpendictdaris, 
liegt  in  der  Uebergangsstelle  der  Hirnsichel  in  das  Zelt  des  kleinen 
Gehirns,  und  entleert  sich,  schräg  nach  hinten  absteigend,  in  den 
Confluens  sinuum,  —  3.,  4.  und  5.  sind  unpaar. 

6.  Der  paarige  Zellblut leiter,  Sinus  cavernosus,  liegt  an 
der  Seite  der  Sella  turcica  und  fuhrt  seinen  Namen  von  den  fibrösen, 
ein  zelliges  Fachwerk  bildenden  Bälkchen,  welche  seinen  Hohlraum 
durchsetzen.  Er  schliesst  die  Carotis  interna  nebst  ihrem  sym- 
pathischen Geflecht,  so  wie  den  NervxM  ahducens  ein.  Längs  des 
hinteren  Randes  des  kleinen  Keilbeinflügels  zieht  sich  eine  Ver- 
längerung desselben  als  Sinus  alas  parvae  hin. 

Beide  Zellblutleiter  hängen  durch  zwei  Verbindungskanäle  zu- 
sammen, welche  vor  und  hinter  der  Hypophysis  cerebri  die  Sella 
turcica  umgreifen.  Sie  sind  bogenförmig  gekrümmt,  kehren  einander 
ihre  Concavitäten  zu,  und  werden  zusammen  als  Sinus  drcxdaris 
Ridlei  erwähnt;  —  genauer  beschrieben,  nicht  aber  entdeckt,  von 
dem  Engländer  H.  Ridley,  Anatomy  of  the  brain,  1695,  pag,  43. 

Nach  Rektor zik's  Entdeckung  erstreckt  sich  eine  Fortsetzung  des  Skma 
cavemonu  durch  den  Cancdis  carodctu  nach  abwärts,  und  verbindet  sich  ausser- 
halb des  Schädels  mit  den  in  der  Gefilssscheide  der  Carotis  verlaufenden  Venen 
(Sitzungsberichte  der  kais.  Akad.  1858).  —  Nach  den  Untersuchungen  von  Eng- 
lisch findet  sich  eine  constante  Verbindung  des  Sinus  cavemonu  mit  dem  gleich 
zu  erwähnenden  Sinus  petrosus  inferior  ausserhalb  des  Schädels  (Sitzungsberichte 
der  kais.  Akad.  1863). 

7.  Der  obere  Felsenblutleiter,  Sinus  petrosus  superior,  ent- 
springt aus  dem  Sinus  cavernosus,  und  zieht  am  oberen  Rande  der 
Felsenbeinpyramide  zum  Eintritte  des  Sinus  transversus  in  die  Fossa 
sigmoidea  des  Schläfebeins. 

8.  Der  untere  Felsenblutleiter,  Sinus  petrosus  inferior^ 
liegt  zwischen  dem  Clivus  und  der  Pyramide,  und  geht  aus  dem 
Sinus  cavernosus  zum  Bulbus  venae  ju^gvlaris,  häufiger  aber  zur  Vena 
jugtUaris  interna  unterhalb  des  Foramen  jugulare.  —  7.  und  8.  sind 
ebenfalls  paarig. 

Ein  die  Sutura  petnmhsquamosa  entlang  laufender  Sinus,  verbindet  die 
durch  das  Faramen  spinosum  passirenden  Venae  meningeae  mediae  mit  dem  Sinus 
transversus.  Von  ihm  gelangt,  durch  das  im  §.101,  Note  6,  erwähnte  anomale 
Foramen  jugulare  spurium  (Luschka),  ein  Emissarium  zur  Vena  jugularis 
externa, 

9.  Der  Hinterhauptblutleiter,  Sinus  occipitalisj  besteht 
eigentlich  atui  mehrfachen,  das  grosse  Hinterhauptloch  umgebenden, 
und  vielfach  uiter  eir««^«^  »ninioirenden  Venenkanälen    der 


1026  S*  418*  Venen,  welche  sich  in  die  8inu$  dura»  wuUrü  entleeren.  t 

Er  hftt  für  das  Hinterhauptloch  dieselbe  Bedeutang,  wie  die  im  §.  341,  bj, 
und  in  der  Notiz  zu  §.  420  erwähnten  Plexus  venon  spinale»  für  den  Rück^rati- 
kanal,  und  communicirt  vielfältig  mit  den  beiden  Sinua  petroai  inferiore;  so  wie 
auch  mit  der  Einmündungsstelle  des  Smus  transveraus  in  den  Confluens,  durch 
zwei  im  Processus  falcifarmis  minor  aufsteigende  Yerbindongswege. 


§.  418.  Tenen,  welche  sich  in  die  Sinics  durae  matris 

entleeren. 

Die  Blutleiter  der  harten  Hirnhaut  sammebi  das  Blut  a)  aus 
den  Venen  des  Gehirns,  h)  aus  den  Hirnhäuten,  c)  aus  der  Diploe 
der  Schädelknoehen,  und  d)  theilweise  aus  den  Organen  des  Ge- 
sichtes, des  Geruches,  und  des  Gehörs. 

a)  Die  Gehirnvenen,  Venae  cerebrales,  tauchen  theils  zwischen 
den  Windungen  des  Gehirns  auf,  theils  treten  sie  durch  die  natür- 
lichen Zugänge  der  G^hirnkammern  an  die  Oberfläche. 

Sie  lassen  sich  folgendermassen  übersichtlich  zusammenstellen : 

a)  Die  Venae  cerehraies  superiores  beider  Hemisph&ren  entleeren  sich  in  den 
Sinus  UmgitudindUs  superior,  dessen  Seitenwand  sie  in  schief  nach  vom  gehender 
Rlehtong  durchbohren. 

ß)  Die  Vena  cerebri  magna  s.  Golem,  welche  ihre  WunEeln  in  der  Tda 
ckoroidea  superior  sammelt,  und  durch  den  Querschlitz  zum  Sinus  perpendicularis 
geht.  Die  ansehnlichste  Wurzel  der  Vena  cerebri  magna  ist  die,  längs  der  Stria 
Cornea  hinziehende  Vena  temiinaUs.  —  Bevor  die  Vena  magna  sich  in  den  SinMS 
perpendicularis  entleert,  nimmt  sie  die  von  den  Organen  der  Gehimbasis  ent- 
springende, und  sich  um  den  Pedunculus  cerebri  nach  oben  schlagende  Vena  basi- 
laria  Roaenthalii  auf.  f Rosenthal,  de  intimis  cerebri  venis,  im  12.  Bande  der  Acta 
acad.  Leop.  Carol.) 

Y)  Die  Venae  cerebrales  inferiores,  von  der  imteren  Fläche  des  gfrossen 
Gehirnes  abgehend,  entleeren  sich  in  die  nächsten  Sinuse,  —  die  vorderen  in  den 
Sinus  cavernosus,  die  mittleren  in  den  Sinns  petrosus  superior,  die  hinteren  in  den 
tSintis  transversus.  Aus  dem  Chiasraa,  Ttil^er  cinereum,  dem  Gehimanliang,  dem 
Trichter,  und  der  Snfjslanlia  perforata  media,  gehen  kleine  Venen  zum  Sittus  circu- 
laris  Ridlei.  Die  grösste  Vena  cerebralis  inferior  ist  die  Vena  fossae  S^lviL  Sie 
geht  zum  Zellblutleiter,  oder  zum  Sinus  alae  parvae. 

8)  Die  Venae  cerebelli  superiores  entleeren  sich  in  den  Sinus  perpendicu- 
laris, und 

e)  die  Venae  cerebelli  inferiores  kommen  vom  Pens  Varoli,  der  AieduUa 
oblongata^  und  der  imteren  Fläche  des  kleinen  Gehirns,  und  ergiessen  sich  in  den 
Sinus  petrosus  inferior,  transversus,  und  ocdpitalis. 

h)  Die  Hirnhautvenen,  Venae  meningeae,  werden  sich  in  die 
ihnen  zunächst  liegenden  Blutleiter  entleeren.  Die  immer  doppelte 
Vena  meningea  media  ergiesst  sich  theils  in  den  Sinus  cavemamu, 
theils  verlässt  sie  die  Schädelhöhle  durch  das  Foramen  tpinotum 
(auch  ovale),  um  sich  in  den  Plexus  maxiUaris  internus  zu  entleeren. 


S.  418.  Ven«B,  welche  tieh  in  die  Simu»  dwra%  mntri*  entlMren.  1027 

c)  Die  Venen  der  Diploe  stellen  weite,  blos  aus  der  inneren 
Venenhaut  gebildete,  die  Diploe  in  verschiedenen  Richtungen  durch- 
ziehende Kanäle  dar.  Sie  entleeren  sich  theils  in  die  Sinus  durae 
matrü,  theils  in  die  äusseren  Schädel venen.  Breschct,  dem  die 
Wissenschaft  ihre  genauere  Kenntniss  verdankt,  unterscheidet: 

a)  Eine  Vena  diploeUca  frcnlalü,  welche  im  Stirnbein  sich  verzweig  and 
ihren  Stamm  durch  ein  Löchelchen  an  der  IncUura  sisprcufrbiUUü  zur  gleich- 
genannten Vene  treten  lässt. 

ß)  Eine  Vena  diploetica  temporalia  anterior  et  posterior.  Die  anterior  mündet 
durch  eine  Oeffnung  in  der  äusseren  Flilche  des  grossen  Keilbeinflügels  in  die 
Vena  temporali»  profunda,  oder  sie  entleert  sich  in  den  SinuB  alae  parvae.  Die 
posterior  gehört  dem  Scheitelbein  an.  Sie  mündet  am  Ängulus  mastoideus  in  den 
Sinus  transversus,  oder  in  eine  äussere  Schädelvene. 

Y)  Eine  Vena  diploetica  ocdpitalis,  welche  in  der  Gegend  der  Linea  semi- 
circularis  inferior  in  die  Hinterhauptvene,  oder  nach  imaen  in  den  Sinus  ocdpitalis 
übergeht. 

Ausführliches  giebt  G,  Breschet,  im  13.  Bande  der  Acta  acad.  Leop. 
Carol.  —  In  der  Wurzel  des  Jochfortsatzes  kommt  ein  anomales  Foramen  vor, 
welches  an  einem  Kopfe  unserer  Sammlung  fast  drei  Linien  Durchmesser  hat  Es 
führt  in  die  DiploS  des  Schläfebeins,  und  communicirt  durch  einen  schräg  auf- 
steigenden Kanal  mit  dem  Sitlcus  nieningeus  der  Schuppe.  Dasselbe  lässt  eine 
Vena  diploiUica  zur  Vena  facialis  posterior  austreten.  Bei  vielen  Säugethieren 
existirt  es  als  Norm,  und  wird  von  den  Zootomen  als  MeeUus  temporalis  be- 
zeichnet —  Die  Venen  der  Gruppen  aj,  b)  und  c)  besitzen  in  ihren  Wandungen 
keine  contractilen  Elemente. 

d)  Von  den  Venen  der  Sinnesorgane  sind  die  Veiiae  audi- 
tivae  intemae,  welche  durch  den  Meatus  auditoriaa  internus  zum 
Sinus  transversus,  oder  petrosus  inferior  gehen,  und  die  durch  den 
Aquaeductus  vestämli  aus  dem  Gehörlabyrinth  in  eine  Vene  der 
harten  Hiimhaut  sich  entleerende  Vena  vestihtäi,  so  wie  auch  die 
durch  die  Hssura  petroso-squamosa  aus  der  Trommelhöhle  hervor- 
kommende Vena  tympanica,  welche  gleichfalls  sich  in  eine  Vene 
der  harten  Hirnhaut  ergiesst,  sehr  unbedeutend.  Die  in  den  Anfang 
des  Sinus  longitudinalis  superior  an  der  Crista  galli  sich  ergiessenden 
Venae  nasales,  sind  wo  möglich  noch  unansehnlicher;  —  nach  Theile 
nur  bei  Kindern  nachweisbar. 

Die  Vena  ophihalmica  dagegen  ist  ein  stattliches  Gefass,  und 
stimmt  mit  den  Verästlungen  der  Arteria  ophthalmica  im  Wesent- 
lichen überein.  Sie  beginnt  am  inneren  Augenwinkel,  wo  sie  mit 
der  vorderen  Gesichtsvene  anastomosirt,  und  mit  den  Venen  des 
oberen  und  unteren  Augenlides  Verkehr  unterhält,  zieht  an  der 
inneren  Augenhöhlenwand  nach  hinten,  geht  aber  nicht  durch  das 
Foramen  opticum,  sondern  durch  die  Fissura  orbitalis  superior  in  die 
Schädelhöhle,  und  entleert  sich  in  den  Sinus  cavernosus. 

Die  Venen,  welche  durch  die  Vena  ophthalmica  zuAammenge&sst  werden,  sind: 
a)  Die   Vena  ßrmUaUs.    Sie  geht  nach  meinen  Beobachtungen  eben  so  oft 
in  die   Vena  fodaUs  atderier  tfb«r,  «li  In  die   Vena  ophthalmiea. 

6ö» 


1028  i-  *!>'  ÜamtludAfllicIU  Ouleklivna. 

ß)  Die    Vena  laeci  laeri/malit. 

•()  Die   Veime  munaitan»  di>r  Augenmiitkelii. 

3)  Die  Venae  dliaret.  Ea  sind  ihrer  vier  oder  fünf.  Sie  gehen  >na  dei 
venDaen  Vota  vortkota  >n  der  AuBsuntliiclic  der  Chomidek  hervor  (g.  2113),  nnr 
dambbohren  die  Sclerotica  hinter  ihrem  griJasten  Umfang,  nm  »Icli  entweder  i: 
HmkelTenen,  oder  (die  innere  in  iler  Re^l)  in  den  Bluuin  der  Vena  ophthaimif 
ctrtbraiü  ra  entleeren. 

i)  Die    Vena  glaniiiilae  lactymalit. 

C)  Die    rejio  ernli-alit  rrtiiute. 

7|)  Die  l'ena  t^lhalmira  in/rrior.  8ie  wird  dureli  einige  untere  Aogen 
miukelvencn,  1 — 2  Ciliarvenen,  und  eintn  VerbindungsEweig  mit  der  Vena  iy\fra 
orbäati»  gebildet,  und  entleert  «icli  entweder  in  die  Aogenvene,  ndur  auch  Beibat 
aULndig  in  den  Siniu  caventotiu. 

J.  G.  H'aUJier,  de  venia  ucali.  Reroi-,  17T8.  —  Eine  aehr  acbXtxenBwerthi 
Arbeit  Über  die  Orbitalvenen,  und  ihren  Zaaammenhang  mit  den  oberflXchllchei 
Venen  dea  Kopfea,  verdanken  wir  Herrn  E.  Setemann  (Archiv  für  Ankt.  am 
Phyriol.  1869). 


%.  419.  Gemeinschaftliche  Gesichtsvene. 

Die  gemeinschaftliche  Gesichtsvcne,  Vena  facialü  com 
mimi$,  bildet  einen,  einen  halben  bia  einen  Zoll  langen  Stamm 
welcher,  von  Heiner  Entleerung» stelle  in  die  Vena  jugularis  intenu 
angefangen,  durch  das  Trigowim  cervicah  »uperiug  acliiäge  nscli 
oben  gegen  den  Angulua  maxiUae  infei-iim»  verläuft.  Auf  dieseir 
Woge  nimmt  sie  die  Vena  tlir/reoidea  miperior  auf,  wenn  diese  sict 
nicht  in  die  Vena  juifuUiris  interna  entioert,  zuweilen  auch  die  X'enat 
plutri/mjeae  und  die  Zmigenvenc.  In  die  Vetia  fhi/reoidea  gupertor  ent- 
leert sich  gewölinlich  die  Vena  lar'/ngea.  —  Unter  dem  Ängultu 
moicillae  wird  die  Vena  facialis  comminu'«  durch  den  Zui^amnienfluss 
der  vorderen  und  hinteren  Gesiehtsvene  gebildet. 

Ea  kommt  aller  oft  genug  vor,  dasH  die  Untere  Geaichtavene  nicht  in  die 
Vena /acialii  fomiaiinii  fllH'rgolit,  aondeni  in  die  Vena  j'iiyu/on»  f-xt^ma.  Viele 
ScIinfLiteller  stAtiiiren  diexeK  Vorkommen  selli^'t  aU  Norm. 

AuBfllhrliclien  lllier  die  Venen  de»  Ki'hlkopfea  giebt  Liuchka,  im  Archiv 
für  Anat.  niid  l'hyaiol.  1KR9. 

A)  Die  vordere  Oesiehtavenc,  Vena  fticlaU»  anterior,  ent- 
spricht der  Arteria  maxiüarlK  enterna.  Hegt  jedoeli  etwas  hinter  ihr, 
und  verläuft  nicht  so  gesehlängelt  wie  diene.  Sie  beginnt  an  der  Seite 
der  Nasenwurzel  als  Vena  niufidarU,  anastoinusirt  daselbst  mit  der 
Vena  ophthalmica,  nimmt  sehr  oft  die  Vnna  frontolt»  auf,  und  geht, 
in  das  Fettlager  des  Antlitzes  eingehüllt,  gegen  den  Anguht*  maaxllae 
herab.     Es  entleeren  sieli  in  dieselbe: 

a)  Dil"  l>no  supraorhUali».  wi-lche  in  der  Hiehtuug  dea  COrmgaUtr  inip«r- 
eitii  verianfeiid,  die    l>n<ir  palpeliraln  mperüiren  aufnimmt. 


§.  419.  Gemeinschaftliche  GesichtsTene.  1029 

h)  Die    Venae  naaales  dorsales  and   laterales.  Eine  der  letzteren  hängt  mit 
den  Venen  der  Nasenschleimhaat  durch  Yerbindongsäste  zusammen. 
cj  Die   Venae  paipebrales  inferiores,  zwei  bis  drei. 

d)  Die    Venae  labiales  superiores  et  inferiores, 

e)  Die   Venae  mtuctdares  huccales  und  nuusetericae, 

f)  Die    Vena  submentaUs. 

g)  Die  Vena  palatma,  welche  aus  dem  weichen  Gaumen  und  der  Mandel 
ihre  Zweig-e  bezieht,  und 

h)  Die  Vena  ranina,  von  der  unteren  Fläche  der  Zunge,  dicht  am  Frenulum 
herabkommend. 

Sehr  constant  ist  eine  Verbindung  der  Vena  facialis  anterior,  oder  eines 
ihrer  Zweige,  mit  den  Geflechten  der  inneren  Eliefervene.  Es  lieg^  nämlich  am 
hinteren  Umfange  des  Oberkiefers,  unter  der  Fissura  orbitalis  inferior,  ein  mäch- 
tiger Plexus  venosus,  welcher  durch  die  Vena  infraorbitaUsj  nasalis  posterior,  und 
alveolaris  superior  gebildet  wird,  mit  der  Vena  ophthalmica  inferior  und  dem 
Plexus  ptert/goideus  der  inneren  Kiefervene  zusammenhängt,  und  einen  oder 
mehrere  Rami  anastomotici  nach  rom  zur  Vena  facialis  anterior  sendet  Die  Ana- 
stomose der  Arteria  maxillaris  externa  mit  dem  Ramus  bucdnatorius  der  Maxillaris 
interna,  entspricht  dieser  Venen  Verbindung.  Da  durch  diese  Venenanastomose  das 
Blut  zum  Theil  aus  der  Vena  ophthalmica  inferior  in  die  oberflächlichen  Gesichts- 
venen  abfliessen  kann,  so  wurde  die  Vena  ophthalmica  inferior  auch  Vena  ophthal- 
mica facialis  benannt. 

B)  Die  hintere  Gesichtsvene,  Vena  fadalia  posterior,  ent- 
spricht den  Verästlungen  der  Arteria  temporalut  und  maxillaris  interna, 
Sie  wird  über  der  Wurzel  des  Jochfortsatzes  durch  den  Zusammen- 
fluss  der  Vena  temporalis  superficialis  und  media  gebildet,  und  zieht 
in  der  Substanz  der  Parotis  zum  Angvlus  m^ucillae  herab,  wo  sie  sich 
meist  in  zwei  Zweige  spaltet,  deren  einer  sich  mit  der  Vena  facialis 
anterior  verbindet,  während  der  andere  in  die  Venajugularis  externa 
übergeht.     Sie  nimmt  auf: 

aj  Die  Vena  temporalis  superficialis.  Diese  lieg^  auf  der  Fasda  temporalis, 
und  ist,  wie  die  Ärteria  temporalis,  in  zwei  Zweige  gespalten.  Der  vordere 
anastomosirt  mit  der  Stimvene,  der  hintere  mit  der  Hinterhauptveno. 

b)  Die  Vena  temporalis  media  liegt  unter  der  Fascia  temporalis,  kommt 
aus  den  Venennetzen  der  Stime,  und  geht  oberhalb  des  Arcus  zt/gomaticus  nach 
rückwärts,  durchbohrt  endlich  die  Fascia  temporalis,  und  verbindet  sich  mit 
aJ  zum  eigentlichen  Anfang  der  Vena  facialis  posterior.  —  Ich  habe  diese  Vene, 
welche  der  gleichnamigen  Arterie,  und  zugleich  der  Arteria  zygomatico-orbitalis 
entspricht,  nie  einfach,  sondern  immer  als  Plexus  gesehen^  welcher  mit  den  tiefen 
Temporalvenen,  und  durch  perforirende  Aeste  mit  den  subcutanen  Venengeflechten 
des  Antlitzes  in  Verbindung  steht 

c)  Die    Venae  auriculares  anteriores,  worunter  eine  profunda. 

d)  Die  Venae  transversae  faciei,  welche  vor  und  hinter  dem  Masseter  mit 
den  Geflechten  der  inneren  Kiefervene  Verbindungen  haben. 

ej  Die    Venae  parotideae. 

f)  Die    Ve:na  maanllaris  interna.     Sie  ist  kurz,   meistens   doppelt,  und  ent- 
wickelt sich  aus  einem   reichen  Venengeflecht,  welches  die  Tiefe  der  Fossa  tem- 
paraÜs  antfilllt,  nod  t^*^       '    ^'^  -"«  ^Mtiden  Flttgelmuskeln  hineinschiebt  Dieses 
.  Geflacht  —  *  lattea  der  Artfna  maapillarii 


1030  S-  i>0.  0b«rflftoliliok6  und  ti«f6  HüsTtnen. 

mterna  analogen  Venen,  and  steht  anf  die  oben  angegebene  Weise   mit  den  Ver- 
zweigungen der   Vena  fcusidU»  anterior  in  Rapport. 

Da  nun,  wie  aus  dem  gegebenen  Schema  erhellt,  die  vordere  nnd  hintere 
Gesichtsvene  keine  Venen  aufnehmen,  welche  der  Arteria  occipUaUs  nnd  auricularia 
potterior  entsprechen,  so  mtlssen  diese  einen  besonderen  Venenstamm  bilden. 
Dieser  ist  die  im  folgenden  Paragraphen  zu  schildernde  Vena  jugtUaria  eoctema.  An 
mehreren  gut  injicirten  Köpfen  finde  ich  von  der  Vena  facialis  posterior  einen 
starken  Ramus  anastomoticus,  unter  dem  Ohre  weg,  zu  den  Venennetzen  des  Hinter- 
hauptes verlaufen«  Zuweilen  wird  das  Stromgebiet  der  Vena  jugtdaris  eoßtema 
bedeutend  dadurch  vergrössert,  dass,  nebst  der  Vena  facialis  posterior,  auch  die 
(mterior  ganz  oder  theilweise  in  sie  übergeht 


§.  420.  Oberflächliche  und  tiefe  Halsvenen. 

Die  oberflächlichen  Halsvenen  (Drosselvenen)  liegen 
zwar  unter  dem  Platysma  myoides,  sind  aber  dennoch  am  Lebenden 
schon  bei  massiger  Stauung  des  Blutes  in  ihnen,  durch  die  Haut 
abzusehen. 

a)  Die  äussere  Drosselvene,   Vena  jugularis  externa,  entsteht 

aus   oberflächlichen  Zweigen    der   Venae   occipitales    und   auriculares 

posteriores,  und  erhält  durch  das  Emissarium  des  Warzenloches  auch 

Blut  aus  dem  Si7ius  traiisversns.     In  der  Regel   hängt   sie  auch  mit 

der  hinteren  Gesichtsvene  zusammen.  Sie  steigt  senkrecht  über  den 

Kopfnicker  herab,  nimmt  einen  oder  zwei   Zweige  auf,  welche  den 

tiefen  Verästlungen   der  Arteria    occipitalis   und   auriculams  posterior 

entsprechen,  und  vom  Nacken  an  sie  heran  treten  (Jugularis  externa 

posterior),  und  geht  in  der  Fossa  supraclavicvlaris,  unter  dem  hinteren 

Rande    des    StemodMo-m^Lstoideus,   in   die   Tiefe   zum    Stamme   der 

Vena  jugulaiis  interna  oder  der  Vena  subclavia.  Zuweilen  entleert  sie 

sich  in  den  Vereinigungswinkel  der  Vena  subclavia  und  Vena  jugularis 

interna. 

Rathke  zeigte,  dass  im  frühesten  Fötalleben,  der  aus  dem  Sinus  transversus 
ableitende  Venenstamm  nicht  durch  das  Foramen  lacenim  der  Schädelbasis,  son- 
dern durch  eine  zwischen  dem  äusseren  Gehörgang  und  dem  Kiefergelenk  befind- 
liche Oeflfnung  hervorkommt.  Dieser  ableitende  Venenstamm  kann  somit  nicht  die 
später  entstehende  Vena  jurfularis  iiüerna  sein,  sondern  ist  vielmehr  die  Vena 
jugularis  externa.  Bei  manchen  Säugern  (Kalb,  Hund)  bleibt  diese  Einrichtung 
durch  das  ganze  Leben,  und  selbst  beim  Menschen  erhält  sich  eine  Erinnerung 
an  diese  primitive  ableitende  Blutbahn,  in  dem  Emissarium,  welches  durch  das  in 
der  Note  6  zu  §.  101  angeführte  Foramen  jugularis  spurium  unter  der  Wurzel  des 
Jochfortsatzes,  aus  dem  Sinus  petroso-squamosus  hervortritt. 

b)  Die  vordere  Drosselvene,  Vena  jugularis  anterior.  Sie 
ist  ein  durch  den  Zusammenfluss  mehrerer  oberflächlichen  Venen 
der  Unterkinngegend  gebildeter  Stamm,  welcher  mit  dem  Strom- 
gebiet der  Vena  ju^gularis  interna  und  facialis  anterior  Verbindungen 
eingeht,  und,  vom  Zungenbein  angefangen,  am  vorderen  Rande  des 


§.  480.  Oberflichliche  nad  tief«  HftltTeB«n.  1031 

Kopfnickers  zur  foBsa  jugtUaris  herabsteigt,  wo  er  gewöhnlieh  mit 
dem  der  anderen  Seite  durch  ein  Bogengefäss  (Arcus  venosus  jugvli) 
anastomosirt,  hierauf  in  horizontaler  Richtung  unter  dem  Ursprung 
des  Kopfnickers  nach  aussen  ablenkt,  und  sich  entweder  mit  der 
Vena  jugtUaris  interna  verbindet,  oder  auch  in  das  Ende  der  Vena 
jugtdaris  externa  einmündet. 

Sie  variirt  so  hSafig,  dMs  ihre  Beschreibnng  eigentlich  in  einer  Auf- 
zählung von  vielen  Spielarten  besteht,  deren  untergeordnete  Wiehtigkeit  sie  hier 
übergehen  lässt. 

c)  Die  mittlere  Drosselvene,  Vena  mediana  colli,  entspringt 
wie  die  Jugidaris  anterior,  und  steigt  in  der  Medianlinie  des  Halses 
zur  Fossa  jugularis  herab,  wo  sie  entweder  in  den  die  beiden  Venae 
jugulares  extemae  anteriores  verbindenden  Arcus  venosus  j^g^h  oder, 
und  zwar  häufiger^  in  eine  Jugularis  anterior,  selbst  in  die  interna, 
einmündet.  Sie  fehlt  oft,  und  erscheint,  wenn  sie  vorkommt,  um  so 
stärker,  je  schwächer  die  Vena  jugularis  anterior  gefunden  wird. 
Fehlt  letztere,  so  leistet  eine  stärkere  Mediana  colli  für  diesen  Ab- 
gang genügenden  Ersatz. 

Ueber  die  oberflächlichen  Halsvenen  handelt  Luschka:  Das  Foramen  jugu- 
lare  »purium,  etc.,  in  der  Zeitschrift  fttr  rat.  Med.  1859,  so  wie  dessen  Abhand- 
lung: Die  Venen  des  menschlichen  Halses,  in  den  Denkschriften  der  kais.  Akad. 
20.  Band. 

Als  tiefe  Halsvenen  bezeichnet  man  alle  unter  dem  hoch- 
liegenden Blatte  der  Fascia  colli  gelegenen  Blutadern.  Da  die  Vena 
pharyngea,  lingualis  und  thyreoidea  superior  bereits  erwähnt  wurden, 
so  erübrigen  nur  noch  die  Vena  vertebralis  und  Vena  thyreoidea 
inferior. 

1.  Die  Wirbelvene,  Vena  vertebralis,  liegt  mit  der  Arteria 
vertebralis  im  Kanal  der  Querfortsätze  der  Halswirbel,  und  sammelt 
das  Blut  aus  dem  Wirbelkanal,  und  den  tiefen  Nacken venen.  Sie 
ergiesst  sich  in  die   Vena  anonyma,  oder  in  die  Vena  subclavia. 

Die  Wirbelvene  verhält  sich  zu  den  Venen  der  Wirbelsäule  auf  gleiche 
Art,  wie  die  VerMe  intercoHcUe»,  lumbales^  und  sacrales  laterctUs,  Es  finden  sich 
nämlich  in  der  ganzen  Länge  der  Wirbelsäule  reiche  Venennetze  —  Plexus  spinales 
—  welche  als  äussere  auf  den  Wirbelbogen  aufliegen,  und  als  innere  im 
Wirbelkanal,  zwischen  den  Knochen  und  der  harten  Hirnhaut,  eingeschaltet  sind. 
Die  inneren  zerfallen  wieder  in  vordere  und  hintere,  welche  durch  Ver- 
bindungsgeflechte zusammenhängen,  so  dass  um  den  Sack  der  harten  Hirnhaut 
hemm,  eben  so  viele  ringförmige  Venenanastomosen  (CirceUi  venosij,  als  Wirbel 
vorkommen.  Der  in  §.  417  erwähnte  Sinus  occipitalis  ist,  dieser  Darstellung  zu- 
folge, die  erste,  oberste  ringförmige  Anastomose  der  vorderen  und  hinteren  Plexus 
spinales  mtemi.  Die  Plexus  spinales  inUmi  nehmen  die  starken,  aber  dünnhäutigen 
Venen  der  Wirbelkörp«r,  4m  BtekeimiMkM,  «ad  aeiner  Hlitte  auf,  hängen  durch 
dio  Forwmiinm  ißrienmiiAraMm  m)!  4«9,  li|iiMt—  Wifbalf «m*  nuMnoMn,  und  ent- 
leeren eiehi  mb  Halte  f*  "^  ^^tereo  Aetle 


1032  §.  4SI*  VeDsn  dar  oberen  Extremität. 

der  Intercostalvenen,  an  den  Lenden  in  die  Venae  lumbale$,  in  der  kleinen  Becken- 
böhle  in  die   Venae  scusralea  laterales, 

O,  Breschel,  essai  sur  les  veines  da  rachis.  Paris,  1819.  4. 

2.  Die  untere  Schilddrüsenvene,  Vena  thyreoidea  inferior. 
Sie  entspringt  aus  dem  Isthmus  und  den  Seitenlappen  der  Schild- 
drüse, und  nimmt  auch  aus  dem  Pharynx  und  Larynx  Zweige  auf. 
Während  sie  vor  der  Luftröhre  zur  oberen  Brustapertur  herabsteigt, 
bildet  sie,  mit  demselben  Gefass  der  anderen  Seite,  den  Plexus 
thyreoideus  imus,  welcher  sich  durch  einen  kurzen  einfachen  Stamm 
(Vena  thyreoidea  impar)  in  die  Vena  anonyma  sinistra  entleert. 

Der  Verlauf  der  Vena  thyreoidea  inferior  entspricht,  dem  eben  Gesagten 
zufolge,  nicht  dem  Verlaufe  der  Arteria  thyreoidea  inferior,  wohl  aber  der  Arteria 
thyreoidea  ima  Neubaueri,  §.  394,  b. 


§.  421.  Tenen  der  oberen  Extremität 

In  der  Schlüsselbeinvene,  Vena  subclavia,  ist  der  Haupt- 
stamm für  die  Venen  des  Arms  und  der  Schulter  gegeben.  Sie 
liegt  vor  dem  Scalenvs  anticus,  und  hinter  dem  Ursprung  des  Kopf- 
nickers. Sie  kreuzt  die  erste  Rippe.  Als  unmittelbare  Fortsetzung 
der  Vena  axillaris  hat  sie  keinen  festgestellten  Anfang,  weshalb  das 
obere  Stück  der  Achselvene  häufig  noch  als  Vena  subclavia  benannt 
wird.     Sie  nimmt  folgende  klappenreiche  Zweige  auf: 

A)  Die  tiefliegenden  Venen  des  Arms,  Vena^  profunda^ 
brachiu  Sie  halten  sich  genau  an  den  Verlauf  der  Af'teria  braxJiialis 
und  ihrer  Zweige.  Sie  beginnen  in  der  Hohlhand  als  Venae  digi- 
tales volares,  welche  in  einen  hoch-  und  tiefliegenden  Arcus  venosus 
übergehen.  Aus  diesen  entwickeln  sich  die  doppelten  Venae  radiales 
und  vlnares.  Die  Vena^  tdnares  nehmen  die  doppelten  Venae  inter- 
osseae  auf.  In  der  Ellbogenbeuge  fliessen  die  Venae  radiales  und 
ulnares  zu  den  beiden  Venis  bra^hialibus  (einer  externa  und  interna) 
zusammen,  welche  die  Arteria  brachialis  zwischen  sich  fassen.  Die 
Vena  brachialis  interna  ist  stärker  als  die  externa,  und  nimmt  ober- 
halb der  Mitte  des  Oberarms  die  Vena  ba^ilica  auf.  Die  Aeste, 
welche  sich  in  beide  Venas  brachiales  entleeren,  folgen  in  derselben 
Ordnung,  wie  die  Zweige,  welche  die  Arteria  brachialis  abgab. 

Gegen  die  Achselhöhle  zu  vereinigen  sich  die  beiden  Venas 
brachiales,  welche  in  ihrem  ganzen  Laufe  durch  Queranastomosen 
in  Verbindung  stehen,  zur  einfachen  Vena  axillaris,  welche  am 
inneren  und  vorderen  Umfange  der  Arteria  axillaris  aufsteigt,  und 
unter  dem  Schlüsselbein,  nachdem  sie  die  Vena  cephalica  aufge- 
nommen hat,  in  die  Vena  subclavia  übergeht. 


§.  4SI.  Venen  der  oberen  Bxtrem|t&t.  1033 

Selten  wird  auch  die  Vena  aaaüari»  nnd  aubcUMiia  doppelt  gefimden.  Ich 
sah  in  einem  solchen  Falle,  von  den  beiden  Venia  subclavia  eine  vor,  die  andere 
hinter  dem  Scalentis  anticua  zur  oberen  Brustapertur  gelangen. 

B)  Die  hochliegenden  oder  Hautvenen  des  Arms,  Vencie 
gubcutaneae  brachii,  sind  chirurgisch  wichtiger  als  die  tiefen,  unter- 
liegen aber  weit  mehr  Spielarten  in  ihrem  Verlaufe,  als  letztere. 
Sie  liegen  zwischen  Haut  und  Fascia,  im  Panniculits  adipomis,  welcher 
sie  bei  fettleibigen  Personen  (wo  die  Hautvenen  überdies  sehr  dünn 
zu  sein  pflegen)  einhüllt,  und  nur  dort,  wo  er  schwach  ist,  wie  am 
Handrücken,  durch  die  Haut  durchscheinen  lässt.  Sie  anastomo- 
siren  schon  in  ihren  gröberen  Ramificationen  häufig  mit  einander, 
und  höchst  constant  auch  mit  den  tiefliegenden  Armvenen.  Sie 
beginnen  aus  einem  Venennetze  des  Handrückens,  Rete  venosum 
manus  dorsale,  in  welches  sich  die  geflechtartigen  Venae  digitorum 
dorsales  entleeren.  Man  unterscheidet  folgende  Hautvenen  des  Arms. 

a)  Vena  cephalica.  Ihr  Name  rührt  daher,  dass  aus  ihr  nur  bei 
Kopfleiden,  von  den  alten  Aerzten  zur  Ader  gelassen  wurde  (Spi- 
gelius,  L.  5.  cap.  7).  Sie  sammelt  ihre  Wurzeln  vorzugsweise  aus 
der  Gegend  des  Daumenrückens,  krümmt  sich  um  den  Radialrand 
des  Vorderarms  zu  dessen  innerer  Seite,  und  steigt  über  den  Ellbogen 
in  den  Sulcus  bicipitalis  extermis  hinauf,  um  zwischen  PectorcbUs 
major  und  Deltoides,  in  die  Fossa  infraclavicularis  zu  gelangen,  wo 
sie  sich  in  die  Tiefe  senkt,  um  in  die   Vena  axillaris   einzumünden. 

Nicht  ganz  selten  trifft  es  sich,  dass  sie   über  das  Schlüsselbein   zur  Fosaa 
9upraclavicularis  anfsteigt,  wo  sie  sich  in  die    Vena  subclavia  entleert. 

b)  Vena  basüica,  Sie  folgt  nicht  genau  dem  Ulnarrand  des 
Vorderarms.  Gewöhnlich  finden  wir  sie  in  zwei  Zweige  getheilt,  — 
einen  an  der  Aussenseite,  den  anderen  an  der  Innenseite  des  Vorder- 
arms. Ersterer  führt  in  specie  den  Namen  Vena  salvaiella,  oder 
salvadella,  welcher  aus  dem  arabischen  Worte  Almadel  gebildet 
wurde.  Mehr  weniger  tief  unter  dem  Ellbogenbug,  verbinden  sich 
beide  Zweige  der  Basilica  zu  einem  einfachen  Stamm,  welcher  im 
Sulcus  bicipitalis  internus  aufsteigt,  und  beiläufig  in  der  Mitte  des 
Oberarms  die  Fascia  brachii  durchbohrt,  um  sich  in  die  Vena  bra- 
chialis  interna  zu  ergiessen. 

Der  Name  Vena  haailica  wurde  von  den  lateinischen  Uebersetzem  des  A  vi- 
ce nna  in  die  anatomische  Sprache  eingeführt.  Damals  herrschenden  Ansichten 
znfolge,  Hess  man  aus  der  Basilica  des  rechten  Armes  bei  Leberleiden,  aus  der 
Basilica  des  linken  Armes  bei  Milzleiden  zur  Ader.  Erstere  wurde  deshalb  auch 
Vena  jecoraria,  letztere  Vena  lienaria  genannt.  Aus  der  Vena  »alvateUa  des 
linken  Armes,  wurde  nur  bei  Melancholischen  Blut  gelassen.  —  Da  die  Araber 
sicher  nicht  Latein  verstanden,  kann  das  Wort  Salvaiella  ganz  gewiss  nicht  von 
»alvare  abgeleitet  worden  sein,  wie  das  DicUonnaire  de  m4d,  angiebt 

c)  Vena  mediana,  Sie  erscheint  unter  doppelter  Form:  1.  als 
Yerbindu^«««  Rasilka  im  Ellbogenbug,  welcher 


\ 


1034  f.  4».  TeMB  dtt  Brastkuteu. 

schräge  über  den  Lacertus  ßbrosus  der  Bicepssehne  hinübergeht, 
oder  2.  als  lange  mediane  Hautvene  der  inneren  Vorderarmseite, 
weiche  sich  etwas  unter  der  Plica  cubüi  in  zwei  Zweige  theilt,  deren 
einer  als  Vena  mediema  cepheUica  in  die  Vena  c^fthaKca,  deren  anderer 
als  Vena  mediana  baeUica  in  die  Vena  baeilica  mündet.  Die  erste 
Form  tritt  in  jenen  Fällen  auf,  wo  die  Vena  cephalica  nahe  an  der 
Medianlinie  der  inneren  Vorderarmseite  verläuft. 

Die  Verta  mediana  banliea  übertrifft  an  Kaliber  die  Vena  mediana  cepha^ 
liea,  und  wird  deshalb  yorzugsweise  fftr  die  Aderl&Me  gewählt,  obwohl  ihre 
Kreaznng  mit  den  beiden  Zweigen  des  Nervtu  cuUmeua  braehU  mediua,  ihre  £r- 
öffirang  mit  der  Lanzette  oder  dem  Schnäpper  gefährlicher  macht,  als  jene  der 
Vena  m/ediana  cephaiica.  Da  jedoch  diese  Nerven  hänfiger  unter  als  fiber  der 
Vena  mediana  banUca  weglaufen,  so  lässt  sich  ihre  Verletzung  bei  einer  kunst- 
gerecht gemachten  Venaesection,  wo  nur  die  obere  Wand  der  Vene  eröffnet  wird, 
wohl  rermeiden. 

Die  Vena  mediana,  mag  sie  in  der  ersten  oder  zweiten  Form 
auftreten^  steht  regelmässig  in  der  Hica  cubid  mit  einer  tiefen  Vena 
radialis  oder  brachialis  durch  einen  starken  Ramus  anaetomoticus  in 
Commonication.  Er  ist  es^  durch  welchen^  wenn  die  tiefliegenden 
Venen  bei  Muskelbewegung  gedrückt  werden,  ihr  Blut  in  die  hoch- 
liegenden Venen  des  Armes  abgeleitet  wird.  Deshalb  lässt  sich  der 
schwach  gewordene  Strom  des  Blutes  bei  einem  Aderlasse,  durch 
Fingerbewegung  wieder  anfachen. 

SpecieU    aber   die  Venen    der   oberen    Extremität  handelt  das  Prachtwerk 
Barkow*8  mit  Tafeln  und  Holzschnitten.  Breslau,  1868. 


§.  422.  Yenen  des  Brustkastens. 

Nebst  den  sich  in  die  Venas  anonymae  entleerenden  Venae 
mammariae  intemae,  thymicae,  pericardiacae,  und  intercostales  mpremae, 
existirt  für  die  Venen  der  Thoraxwände  ein  eigenes  Sammelsystem, 
die  unpaare  Blutader,  Vena  azygos,  Sie  wird  in  der  Bauchhöhle 
auf  der  rechten  Seite  der  Wirbelsäule,  aus  Wurzeln  construirt, 
welche  aus  den  Venis  lumbaltbus  stammen.  Zwischen  dem  inneren 
und  mittleren  Zwerchfellschenkel  gelangt  sie  in  die  Brusthöhle,  liegt 
im  hinteren  Mediastinum  an  der  rechten  Seite  des  Ductus  thoracicusy 
steigt  bis  zum  dritten  Brustwirbel  empor,  und  krümmt  sich  von 
hier  an  über  den  rechten  Bronchus  nach  vorn,  um  in  die  hintere 
Wand  der  Vena  cava  descendens  einzumünden.  Sie  nimmt  das  Blut 
auf,  welches  der  Luftröhre,  Speiseröhre  und  den  Brustwänden  durch 
die  Aeste  der  Aorta  thoracica  zugeführt  wurde.  Auf  der  linken  Seite 
entspricht  ihr  die  halb  unpaare  Vene,  Vena  hemiazygos,  welche 
\         wie  die  Azygos  entsteht  und  verläuft,  aber  nur  bis  zum  siebenten 


\ 


$.  4S8.  unter«  HoUT«ne.  1036 

oder  achten  Brustwirbel  aufsteigt,  dann  aber  hinter  der  Aorta  nach 
rechts  geht,  um  sich  mit  der  Azygos  zu  verbinden.  Da,  dieses 
frühen  Ablenkens  wegen,  die  oberen  VerMe  intercostaiUs  sinistrae  sich 
nicht  in  die  Hemiazygos  direct  entleeren  können,  so  vereinigen  sie 
sich  gewöhnlich  zu  einem  gemeinschaftlichen  Stamm  (Vena  hemi- 
azygo8  superior  oder  Vena  intercostalts  communis  ainieh'a),  welcher 
vor  den  Köpfen  der  linken  oberen  Rippen  herabsteigt,  um  in  die 
eigentliche  Hemiazygos,  vor  ihrem  Uebertritte  nach  rechts,  ein- 
zumünden. Die  Hemiazygos  superior  hat  aber  auch  eine  obere  Ein- 
mündung in  die  Vena  anonyma  sinistra.  Dadurch  erscheint  sie  uns 
als  eine  grosse  Anastomose  zwischen  dieser  Vene  und  der  Hemi- 
azygos. Durch  die  Rückenäste  der  Venae  intercostales  und  lum- 
bales, verkehrt  das  System  der  Azygos  auch  mit  den  venösen 
Geflechten  des  Rückgrats.  —  Die  linke  Vena  renalis  giebt  oft  eine 
Wurzel  für  die  Hemiazygos  ab. 

Zuweilen  lenkt  die  HemiaEjgoB  nicht  nftcb  rechts  ab,  sondern  bleibt  »iif 
ihrer  Seite,  und  steigt  bis  zur  linken  Vena  anonyraa  auf,  in  welche  sie  sich  er- 
giesst.  Sie  verdient  in  diesem  Falle  ihren  Namen  (halbnnpaare  Vene)  nicht,  und 
könnte  füglich  Äzygot  »inistra  benannt  werden.  —  Abnormitäten  im  Unprange 
und  Verlaufe  der  Vena  azygos  und  hemiazyyot  sind  etwas  sehr  Gewöhnliches.  Man 
hat  sie  aus  der  Vena  Uiaca  communU  oder  ihren  Aesten  entspringen,  und  alle 
Lendenvenen  sammeln  gesehen,  so  dass  ihr  also  das  ganze  Gebiet  der  Rumpfvenen 
des  Bauches  zufiel.  Sehr  selten  steigt  der  Stamm  der  Azygos  bis  zur  ersten 
Rippe  empor,  und  kriimmt  sich  Über  die  Spitze  des  rechten  Lungenflügels  (welche 
tiefgefurcht  erscheint)  zum  Stamme  der  Cava  »ttperior.  Sommer  ring  sah  die 
Vena  (usygoa  sich  in  die  Cava  inferior  innerhalb  des  Herzbeutels  entleeren.  — 
Die  Verbindung  der  Azygos  mit  den  Aesten  der  Ca^a  inferior  macht  es  möglich, 
dass  bei  Compression  oder  Obliteration  des  Stammes  der  unteren  Hohlvene,  das 
Blut  desselben  mittelst  der  Azygos  in  die  obere  Hohlvene  geschafft  werden  kann. 
Ja  es  kann  das  System  der  Azygos  selbst  für  den  angeborenen  Mangel  der  Cana 
mferior  als  Ersatz  einstehen.  Variet&ten  findet  man  bei  E,  H,  Weher,  Meckel, 
Tkeile,  und  C,  Q,  Stark,  comment  anat  physiol.  de  venae  azygos  natura,  vi  et 
munere.  Lips.,  1835.  —  lieber  die  Klappen  und  Varietäten  der  Azygos  handelt 
Gruber,  im  Archiv  für  Anat.   1866. 

Da  Wirbelsäule  und  Rumpfwände  im  Embryo  früher  gebildet  werden,  als 
die  Brust-  und  Bauchorgane,  muss  auch  das  System  der  Azygos  und  Hemiazygos 
der  Entstehung  der  oberen  und  unteren  Hohlvene  vorangehen. 


§.  423.  Untere  HoMvene. 

Die  untere  Hohlvene,  Vena  cava  inferior,  wird  hinter  und 
etwas  unter  der  Theilungsstelle  der  Aorta  abdominalis,  auf  der  rechten 
Seite    des    fünften   Lendenwirbels   durch    den    Zusammenäuss    der 

rechten   und  link«»  ff-^^ li)  (Vma  Uiaca  communis)  gebildet. 

Von  hier  '  "    ^deawirbelfttaU 


1088  S*  ^^  Venen  dee  Beckens. 

fuhrt,  im  unteren  Rande  des  Aufhängebandes  der  Leber  zur  Fassa 
longüvdinalü  ainistra  gelangt,  und  sich  in  zwei  Zweige  theilt,  deren 
einer  sich  mit  dem  linken  Aste  der  Pfortader  verbindet,  während 
der  andere,  als  Ductus  venosus  Arantii,  zur  grössten  Lebervene,  oder 
unmittelbar  zur  Cava  ascendefis  tritt. 

Nach  Bnrow  (MüUer'a  Archiv,  1838)  empfUngt  die  Nabel vene,  beror  ne 
in  die  Leber  eintritt,  eine  feine  Vene,  welche  mit  symmetrischen  Wurseki  aas 
den  beiderseitigen  Venae  epigaatricae  in/eriarea  hervorgeht,  and  überdies  noch 
einen,  ans  den  Venen  der  Harnblase  entspringenden,  und  Hag«  des  UrachBs 
aufsteigenden  Ast  aufnimmt.  Die  Burow*sche  Vene  war  aber  schon  Haller 
bekannt. 

Die  Anomalien  der  unteren  Hohlvene  betreffen  mehr  ihre  Aeste  als  ihren 
Stamm.  Die  von  Stark,  Otto,  Gurlt,  und  mir  beschriebenen  Fälle,  constatiren 
das  mögliche  Fehlen  der  Cava  inferior,  wo  nur  der  Stamm  der  Lebervene  dweh 
das  Zwerchfell  zum  Herzen  ging,  alle  übrigen  sonst  zur  Cava  i/afericr  tretenden 
Venen  aber,  von  dem  ungemein  entwickelten  System  der  Azygos  aufg-enommen 
wurden.  —  Versetzung  der  Cava  inferior  auf  die  linke  Seite  der  Wirbelsäule 
(ohne  gleichzeitige  Versetzung  der  Eingeweide)  beobachtete  Harrison  (Sur^, 
AruU,  of  the  Arteries.  Vd.  2.  pag,  22).  —  Die  Venae  Uiacae  eommuneM  kOnnen 
sich  auch  erst  höher  oben,  als  am  fünften  Lenden¥rirbel,  zur  Oay»a  inferior  ver- 
einigen (Pohl).  Ich  habe  sie  beide  parallel  aufsteigen,  und  jede  derselben 
eine  Nierenvene  aufnehmen  gesehen.  Einmündung  der  Chna  inferior  in  den  linken 
Vorhof  (King,  Lemaire)  bedingt  Cjanose.  —  lieber  den  Bau  des  im  Hersbeutel 
eingeschlossenen  oberen  Endstücks  der  Cava  inferior,  handelt  Luschka,  im  Archiv 
für  Anat  und  Phys.  1860. 


§.  424.  Yenen  des  Beckens. 

Als  gemeinschaftliches  Sammelgeföss  der  Venen  des   Beckens 
und  der    unteren  Extremität,    dient   die  Hüft-   oder  Beckenvene 
Vena  äiaca  communis.  Sie  wird  vor  der  Symphysis  sacro-üiaca  durch 
die   Vena  hypogastrica  s.  äiaca  interna,    und    durch  die    Veiia  cruralis 
s.  üiaca  externa  zusammengesetzt. 

Die  Vena  hypogastrica  kommt  aus  der  kleinen  Beckenhöhle 
herauf,  wo  sie  durch  den  Zusammenfluss  der  doppelten,  den  Aesten 
der  Arteria  hypogastrica  analogen,  grösstentheils  klappenlosen  Venen 
gebildet  wird.  Die  doppelten  Venae  ghitaeae  superiores  et  inferwreSy 
ileO'lumbaUs  und  obturatoriae,  begleiten  die  gleichnamigen  Arterien. 
Die  Venae  sacrales  laterales  bilden  mit  den  mittleren  Kreuzbeinvenen 
den  Plexus  sacralis  anterior,  welcher  sich  vorzugsweise  in  die  Vena 
üidca  communis  sinistra,  theilweise  aber  auch  in  die  Vena  hypogastrica 
entleert,  oder  auch  in  die   Vena  lumbalis  ascendens  übergeht 

Die  Venen  des  Mastdarms,  der  Harnblase  und  der  Geschlecht»- 
theile,  bilden  Geflechte,  welche  durch  zahlreiche  Anasti 
einander  in  Verbindung  stehen.     Diese  Geflechte  ' 


hAniASAwk 


S.  4S5.  Yenea  der  nntoren  Extremit&t  1039 

a)  Der  Plexus  htnemarrhoidalü,  Mastdarmgeflecht.  Er  hängt 
durch  die  Vena  haemorrhoidcUis  interna  mit  dem  Pfortadersystem 
zusammen. 

b)  Der  Plexus  vesiccdis,  Harnblasengeflecht,  umgiebt  den 
Grund  der  Harnblase,  und  steht  mit  dem  Plexus  haemarrhoidalis 
und  pudendcUis  in  Verbindung. 

c)  Der  Plexus  pudendalis,  Schamgeflecht,  umgiebt  bei 
Männern  die  Prostata,  empfangt  sein  Blut  aus  dieser,  so  wie  aus 
den  SamenbläBchen,  und  nimmt  die  Venae  profwndo/s  penis,  welche 
aus  den  Venengeflechten  der  Schwellkörper  abstammen,  imd  die 
grosse  Vena  dorsalis  penis  auf.  Letztere  entsteht  hinter  der  Corona 
glandis  aus  zwei  die  Eichelbasis  umgreifenden  Venen,  zieht  zwischen 
den  beiden  Arterien  penis  dorsales  gegen  die  Wurzel  der  Ruthe, 
durchbohrt  das  Ligamentum  trianguläre  urethrae,  und  theilt  sich  in 
zwei  Zweige,  welche  oberhalb  der  Seitenlappen  der  Prostata  in  den 
Plexus  pudendalis  übergehen. 

Beim  Weibe  wird  der  Plexus  pudendalis  minder  mächtig,  und 
heisst:  Pl^cus  utero^aginalis.  Er  umstrickt  die  Wände  der  Vagina, 
und  dehnt  sich  an  den  Seiten  der  Gebäi*mutter,  längs  der  Anheftung 
des  breiten  Mutterbandes,  bis  zum  Fiindus  uteri  aus.  Er  anastomosirt 
mit  allen  übrigen  Venengeflechten  der  Beckenhöhle,  und  entleert 
sich  durch  die  kurzen,  aber  starken  Venae  uterinae,  in  die  Vena 
kypogastrica. 

Eine  eingehende  Untersnchong  über  die  venösen  Plexus  im  männlichen 
Becken,  verdAnken  wir  Lenhoss^k.  (Das  venöse  Convolat  der  Beckenhöhle; 
Wien,  1871.)  —  Im  Inneren  der  den  Plextu  pudendaUa  zusammensetzenden  Venen, 
findet  sich  eine  ähnliche  Balkenbildnng,  wie  sie  in  den  Schwellkörpem  des  Gliedes 
vorkommt     Die  Balken  sind  reich  an  organischen  Muskelfasern. 


§.  425.  Venen  der  unteren  Extremität 

Sie  bilden  den  Hauptstamm  der  Vena  cruralis  s.  iliaca  externa, 
welcher,  so  wie  die  Schenkelarterie,  in  ein  Bauch-,  Schenkel-  und 
Kniekehlenstück  eingetheilt  wird.  Vom  Poupart' sehen  Bande  ab- 
wärts, sind  Stamm  undAeste  der  Schenkelvene  mitKlappen  versehen. 

Da  die  Bildangsstelle  der  Vena  cava  inferior  von  der  Theilnngsstelle  der 
Aorta  nach  rechts  abweicht,  beide  Venae  iliacae  extemae  aber  unter  dem  Ponpart- 
schen  Bande  an  der  inneren  Seite  ihrer  Arterien  liegen,  so  mnss  die  rechte  Vena 
iliaca  externa  hinter  der  Arteria  iliaca  externa  vorbeilaofen,  während  die  Unke 
immer  an  der  inneren  Seite  ihrer  Arterie  bleibt. 

Die  Schenkelvene   bleibt   in   der  Regel   einfach,  bis  unter  die 

mkehlei  wo  sie  durch  die  tiefliegenden  Venen  des  Unterschenkels 

>6tst  wird.     Es   kommen  jedoch   ganz  constant,    neben 

kelvene,  wie  auch  der  Vena  popUtea,  noch 


1036  §.  488.  Untere  HohWeiie. 

zum  hinteren  stampfen  Leberrande  empor,  lagert  sich  in  dessen 
Sulcus  pro  Vena  cava,  und  dringt  durch  das  Faramen  pro  vena  cava 
des  Zwerchfells  in  den  Herzbeutel,  wo  sie  sich  in  die  hintere  Wand 
der  rechten  Herzvorkammer  einsenkt.  Sie  ist  wie  die  beiden  Venae 
äiacae  communes  klappenlos. 

Jede  Vena  üiaca  communis  entsteht  durch  den  Zusammenfluss 
einer  Vena  cruralts  und  hypogastrica. 

Da  die  Theiltingsstelle  der  Aorta  abdomvnedia,  der  Bildongss teile  der  Vena 
cava  inferior  nicht  genau  entspricht,  sondern  letztere  etwas  tiefer  fällt,  und  zu- 
gleich etwas  auf  die  rechte  Seite  der  Wirbelsäule  rückt,  so  wird  sich  die  Gabel 
der  Arteriae  iliacae  communes  zu  jener  der  Venae  üiacae  communes  verhalten,  wie 
ein  umgekehrtes  und  zugleich  verschobenes  W.  Die  linke  Vena  üiaca  communis 
wird  begreiflicher  Weise  länger  als  die  rechte  sein  müssen,  da  sie  über  die 
Mittellinie  des  fünften  Lendenwirbels  weg,  nach  rechts  zu  ziehen  hat.  Sie  wird 
deshalb  die  doppelte  Vena  sacraUs  media^  welche  in  der  Medianlinie  der  vorderen 
Kreuzbeinfläche  heraufsteigt,  aufnehmen. 

Im  Laufe  durch  die  Bauchhöhle  sammelt  die  Cava  inferior 
folgende  Aeste  auf: 

a)  Die  Lendenvenen,  Venae  lumbales,  folgen  dem  Vorbilde 
der  Lendenailerien.  Sie  hängen  unter  einander  durch  auf-  und 
absteigende  Anastomosen  zusammen.  Dieses  giebt  den  sogenannten 
Plexus  venosus  lumbalis.  Die  oberen  oder  alle  Lendenvenen  setzen 
sehr  oft  durch  kurze  Ableger  einen  hinter  dem  Psoas  major  gerad- 
linig aufsteigenden  Stamm  zusammen,  welcher  als  Vena  lumbalis 
ascendens  von  den  übrigen  Lendenvenen  unterschieden  wird,  und 
nach  oben  rechts  in  die  Azygos,  links  in  die  Hemiazygos  fortläuft. 

b)  Die  inneren  Samenvenen,  Venae  spermaticae  interna^, 
entwickeln  sich  aus  dem  ansehnlichen  Venengeflecht  im  Samen- 
strang (Plexus  pampiniformis,  von  pampinus,  Weinranke),  welches 
sich  vom  Hoden  bis  in  den  Leistenkanal  erstreckt,  dort  sich  zu 
zwei,  und  an  der  Bauchöffnung  des  Leistenkanals  zu  einem  ein- 
fachen Blutgefilss  reducirt.  Dieses  ergiesst  sich ,  rechterseits  als 
Regel,  in  den  Stamm  der  Cava  inferior,  linkerseits  aber  sehr  oft  in 
die  Vena  renalis  sinistra.  Sind  auf  beiden  Seiten  zwei  Venae  spei*- 
maticae  internae  vorhanden,  so  entleert  sich  die  eine  gewöhnlich  in 
die   Vena  renalis,  die  andere  in  die  Cava  infeHor. 

Nach  U.  Brinton  findet  sich  nur  an  der  Ginmündungsstelle  der  rechten 
Vena  spemiatica  in  die  Cava  inferior  eine  Klappe.  Stauung  des  Blutes  in  der 
Cava  inferior,  wird  somit  nur  auf  den  Blutlauf  in  der  linken  Vena  spermeUica 
hemmend  einwirken.  Hieraus  erklärt  sich  einfach  und  ungezwungen  die  Häufigkeit 
der  Varicocele  (krankhafte  Ausdehnung  der  Venen  des  Samenstranges)  auf  der 
linken  Seite  (Amer.  Jouma/.  of  the  Med,  Sciences^  1866,  Juli),  —  Der  Plexus  pam- 
piniformis des  Eierstockes  erscheint  nicht  so  entwickelt,  wie  jener  des  Hodens, 
und  deshalb  steht  auch  die  Vena  spermatica  des  Weibes  hinter  jener  des  Mannes 
an  Stärke  zortlck.     Sie  ist  klappenlos. 


§.  428.  Untere  HohlTene.  1037 

c)  Die  Nierenvenen,  Venae  renales  8,  emvlgentes,  tauchen  aus 
dem  Hütts  renalis  auf.  Die  rechte  steigt  etwas  schräge  auf,  um  an 
den  Stamm  der  Cava  zu  kommen;  die  linke  geht  in  der  Regel 
quer  über  die  Aorta  herüber,  und  mündet  höher  als  die  rechte  in 
die  Cava  ein. 

Den  Namen  Venae  emulgerUe*  führten  die  Nierenvenen  während  jener  langen 
Zeit,  in  welcher  man  den  Kreislauf  des  Blutes  nicht  kannte,  und  sich  vorsteUte, 
dass  die  Nierenvenen  Blut  den  Nieren  zuführen,  welche  aas  diesem  Blute 
aUes  Wässerige  extrahiren  (emülgent),  um  den  Harn  daraas  zu  bereiten,  wie  es 
bei  Spigelius  klar  und  deutlich  zu  lesen:  quidquid  aeroii  e»t  in  ^anguine,  per 
heu  venas  renea  emuigere  et  ad  ae  trahere  videntur.  Es  ist  deshalb  nicht  richtig, 
auch  die  Nierenarterien  Arteriae  emtUgentea  zu  nennen,  wie  es  häufig  noch  ge- 
schieht, obwohl  sie  mit  dieser  alten  Vorstellung  über  Hambereitung  gar  nichts 
zu  schaffen  haben. 

Durch  Vervielfältigung  können  die  Nierenvenen  bis  auf  fünf  anwachsen. 
Ist  die  linke  Nierenvene  doppelt,  so  geht  häufig  die  eine  vor,  die  andere  hinter 
der  Aorta  vorbei  nach  rechts.  Selbst  die  einfache  Nierenvene  der  linken  Seite 
wird  ziemlich  oft  hinter  der  Aorta  verlaufend  gesehen.  Die  häufigen  Hyperämien 
der  linken  Niere  sollen  hierin  begründet  sein.     (Ch.  Bell.) 

d)  Die  Nebennierenvenen,   Venae  suprarenales, 

Sie  sind  im  Verhältniss  zur  Grösse  der  Nebenniere  sehr  entwickelt.  Die 
linke  geht  in  der  Regel  zur  linken  Nieren vene. 

e)  Die  Lebervenen,  Venae  hepaticae,  entleeren  sich  in  die 
Cava  inferior,  während  diese  am  hinteren  Rande  der  Leber,  in  der 
Fossa  pro  vena  cava,  zum  Zwerchfell  aufsteigt. 

Oeffnet  man  die  Cava  an  dieser  SteUe,  so  kann  man  zwei  bis  drei  grössere, 
und  mehrere  kleinere  Insertionslumina  der  Lebervenen  zählen.  Sehr  selten  münden 
die  zu  einem  gemeinschaftlichen  Stamm  vereinigten  Lebervenen  in  das  Äirium 
cordis  dextrum. 

f)  Die  Zwerchfellvenen,  Venae  diaphragmaticae  s. phrenicae, 
quas  nominasse  suffidt. 

Aus  der  Folge  der  von  a)  bis  f)  angeführten  Venen  ergiebt 
sich,  dass  die  untere  Hohlvene  alles  Blut,  welches  durch  die 
paarigen  und  unpaarigen  Aeste  der  Bauchaorta  den  Wänden  und 
den  Eingeweiden  der  Bauchhöhle  zugeschickt  wurde,  zum  Herzen 
zurückführt.  Nur  findet  der  Umstand  statt,  dass  die  den  un- 
paaren  Aesten:  Arteria  coeliaca,  mesenterica  superiar  et  inferior  ent- 
sprechenden Venen,  nicht  direct  zur  Hohlvene  treten,  sondern  sich 
zum  Pfortaderstamme  (§.  426)  vereinigen,  welcher  sich  in  der  Leber 
nach  Art  einer  Arterie  ramificirt,  und  ein  Capillargefasssystem 
bildet,  aus  welchem  sich  die  Wurzeln  der  Lebervenen  hervorbilden. 
Die  Lebervenen  bringen  somit  nicht  blos  Leberblut,  sondern  auch 
Magen-,  Milz-  und  Darmblut  zur  (xwa 

Im  Embryo  nimmt  die  * 
auf,  welche  aus  dem  Mq 


1088  §•  AM-  ▼«n«n  des  B«ek«n8. 

führt,  im  unteren  Rande  des  Aufhängebandes  der  Leber  zur  Fossa 
longüudinalü  ainistra  gelangt,  und  sich  in  zwei  Zweige  tfaeilt,  deren 
einer  sich  mit  dem  linken  Aste  der  Pfortader  verbindet,  während 
der  andere,  als  Ductus  venosus  Araniü,  zur  grössten  Lebervene,  oder 
unmittelbar  zur  Cava  ascend&na  tritt. 

Nach  Bnrow  (MüUer'a  Archiv,  1838)  empf&ngt  die  Nabel  vene,  bevor  tie 
in  die  Leber  eintritt,  eine  feine  Vene,  welche  mit  symmetriBchen  Worseln  mib 
den  beiderseitigen  Venae  epigcutricae  inferiorea  hervorgeht,  und  überdies  noeh 
einen,  ans  den  Venen  der  Harnblase  entspringenden,  und  llng«  des  Uradnu 
aufsteigenden  Ast  aufnimmt.  Die  Büro  wasche  Vene  war  aber  schon  Haller 
bekannt. 

Die  Anomalien  der  unteren  Hohlvene  betreffen  mehr  ihre   Aeste  als  ihren 
Stamm.    Die  von  Stark,  Otto,  Gurlt,  und  mir  beschriebenen  Fälle,  constatiren 
das  mögliche  Fehlen  der  Cava  inferior,  wo  nur  der  Stamm  der  Lebervene  durch 
das  Zwerchfell  zum  Herzen  ging,  alle   übrigen  sonst  zur  Cava  imferior  tretendem 
Venen  aber,  von   dem    ungemein   entwickelten  System    der  Azygoa  aofg'enommen 
wurden.  —  Versetzung    der    Cava   inferior   auf  die   linke   Seite  der  WirbelsXule 
(ohne  gleichzeitige  Versetzung    der    Eingeweide)    beobachtete    Harriso n     (Stay, 
Änat.  of  the   Arieries.    Vd,  2.  paff.   22).   —   Die   Venae  üiacae   eomniuneM   können 
sich  auch  erst  höher  oben,   als   am  fünften  Lendenwirbel,  zur  Cava  inferior  ver- 
einigen   (Pohl).     Ich    habe    sie    beide    parallel   aufsteigen,    und   jede  derselben 
eine  Nierenvene  aufnehmen  gesehen.  Einmündung  der  Cava  inferior  in   den  linken 
Vorhof  (King,  Lemaire)  bedingt  Cyanose.  —  lieber  den  Bau  des  im  Hersbeutel 
eingeschlossenen  oberen  Endstücks  der  Cava  inferior,  handelt  Luschka,  im  Archiv 
für  Anat  und  Phys.  1860. 


§.  424.  Yenen  des  Beckens. 

Als  gemeinschaftliches  Sammelgefäss  der  Venen  des  Beckens 
und  der  unteren  Extremität,  dient  die  Hüft-  oder  Becken vene, 
Vena  äiaca  communis.  Sie  wird  vor  der  Symphysis  sacro-iliaca  durch 
die  Vena  hypogastrica  s.  üiaca  interna,  und  durch  die  Vena  cruralis 
s.  üiaca  externa  zusammengesetzt. 

Die  Vena  hypogastrica  kommt  aus  der  kleinen  Beckenhöhle 
herauf,  wo  sie  durch  den  Zusammenfluss  der  doppelten,  den  Aesten 
der  Arteria  hypogastrica  analogen,  grösstentheils  klappenlosen  Venen 
gebildet  wird.  Die  doppelten  Venae  glvtaeas  superiores  et  inferiores, 
üeo-lumbales  und  obturatoriae,  begleiten  die  gleichnamigen  Arterien. 
Die  Venae  sacrales  laterales  bilden  mit  den  mittleren  Kreuzbeinvenen 
den  Plexus  sacrcdis  anterior,  welcher  sich  vorzugsweise  in  die  Vena 
äiaca  communis  sinistra,  theilweise  aber  auch  in  die  Vena  hypogaetrica 
entleert,  oder  auch  in  die   Vena  lumbalis  ascendefis  übergeht. 

Die  Venen  des  Mastdarms,  der  Harnblase  und  der  Geschlechts- 
theile,  bilden  Geflechte,  welche  durch  zahlreiche  Anastomosen  unter 
einander  in  Verbindung  stehen.     Diese  Geflechte  sind: 


S.  4S5.  Yenen  der  oDtoren  Extremit&t  1039 

a)  Der  Plexus  JiaemorrhoidaUa,  Mastdarmgeflecht.  Er  hängt 
durch  die  VeTia  haemorrhoidcUis  interna  mit  dem  Pfortadersystem 
zusammen. 

b)  Der  Plexus  vesvcalis,  Harnblasengeflecht,  umgiebt  den 
Grund  der  Harnblase,  und  steht  mit  dem  Plexus  haemarrhoidcdis 
und  pudendcUis  in  Verbindung. 

c)  Der  Plexus  pudendalis,  Schamgeflecht,  umgiebt  bei 
Männern  die  Prostata,  empfangt  sein  Blut  aus  dieser,  so  wie  aus 
den  Samenbläschen,  und  nimmt  die  Venae  profunda^  penis,  welche 
aus  den  Venengeflechten  der  Schwellkörper  abstammen,  und  die 
grosse  Vena  darsalis  penis  auf.  Letztere  entsteht  hinter  der  Corona 
glandis  aus  zwei  die  Eichelbasis  umgreifenden  Venen,  zieht  zwischen 
den  beiden  Arteriae  penis  dorsales  gegen  die  Wurzel  der  Ruthe, 
durchbohrt  das  Ligamentum  trianguläre  urethrae,  und  theilt  sich  in 
zwei  Zweige,  welche  oberhalb  der  Seitenlappen  der  Prostata  in  den 
Plexus  pudendalis  übergehen. 

Beim  Weibe  wird  der  Plexus  pudendalis  minder  mächtig,  und 
heisst:  Pleicus  utero^aginalis.  Er  umstrickt  die  Wände  der  Vagina, 
und  dehnt  sich  an  den  Seiten  der  Gebärmutter,  längs  der  Anheftung 
des  breiten  Mutterbandes,  bis  zum  Fundtis  uteri  aus.  Er  anastomosirt 
mit  allen  übrigen  Venengeflechten  der  Beckenhöhle^  und  entleert 
sich  durch  die  kurzen,  aber  starken  Venae  uterinae,  in  die  Vena 
hfpogastrica. 

Eine  eingehende  Untersuchung  über  die  venösen  Plexus  im  männlichen 
Becken,  verdanken  wir  Lenhoss^k.  (Das  venöse  Convolut  der  Beckenhöhle; 
Wien,  1871.)  —  Im  Inneren  der  den  Plexut  pudewUUi»  zusammensetzenden  Venen, 
findet  sich  eine  ähnliche  Balkenbildung,  wie  sie  in  den  Schwellkörpem  des  Gliedes 
vorkommt     Die  Balken  sind  reich  an  organischen  Muskelfasern. 


§.  425.  Venen  der  unteren  Extremität 

Sie  bilden  den  Hauptstamm  der  Vena  cruralis  s.  üiaca  externa, 
welcher,  so  wie  die  Schenkelarterie,  in  ein  Bauch-,  Schenkel-  und 
Kniekehlenstück  eingetheilt  wird.  Vom  Poupart'schen  Bande  ab- 
wärts, sind  Stamm  und  Aeste  der  Schenkelvene  mit  Klappen  versehen. 

Da  die  Bildnngsstelle  der  Vena  cava  inferior  von  der  Theilungsstelle  der 
Aorta  nach  rechts  abweicht,  beide  Venae  iliacae  extemae  aber  unter  dem  Poupart- 
schen  Bande  an  der  inneren  Seite  ihrer  Arterien  liegen,  so  muss  die  rechte  Vena 
iliaca  externa  hinter  der  Arteria  iliaca  externa  vorbeilaufen,  während  die  linke 
immer  an  der  inneren  Seite  ihrer  Arterie  bleibt. 

Die  Schenkelvene  bleibt  in  der  Regel  einfach,  bis  unter  die 
Kniekehle,  wo  sie  durch  die  tiefliegenden  Venen  des  Unterschenkels 
zusammengesetzt  wi  "^  «anz  constant,   neben 

dem  Stamme  d  iUa,  noch 


1088  §.  4M.  Yaii«!!  des  B«ek«n8. 

fiihrt,  im  unteren  Rande  des  Aufhängebandes  der  Leber  zur  Foaaa 
longitudinalis  ainistra  gelangt^  und  sich  in  zwei  Zweige  theilt,  deren 
einer  sich  mit  dem  linken  Aste  der  Pfortader  verbindet,  während 
der  andere,  als  Ductus  venosus  ArarUii,  zur  grössten  Lebervene,  oder 
unmittelbar  zur  Cava  aseendefis  tritt. 

Nach  Bnrow  (MüUer'a  Archiv,  1838)  empfängt  die  Nabelvene,  bevor  sie 
in  die  Leber  eintritt,  eine  feine  Vene,  welche  mit  symmetrischen  Wurzeln  ans 
den  beiderseitigen  Venae  eptgtutricae  inferiores  hervorgeht,  und  überdies  noch 
einen,  aus  den  Venen  der  Harnblase  entspringenden,  und  Ungs  des  Urachns 
aufsteigenden  Ast  aufnimmt.  Die  Burow*sche  Vene  war  aber  schon  Haller 
bekannt. 

Die  Anomalien  der  unteren  Hohlvene  betreffen  mehr  ihre  Aeste  als  ihren 
Stamm.  Die  von  Stark,  Otto,  Gurlt,  und  mir  beschriebenen  Fälle,  constatiren 
das  mögliche  Fehlen  der  Cava  inferior,  wo  nur  der  Stamm  der  Lebervene  durch 
das  Zwerchfell  zum  Herzen  ging,  alle  übrigen  sonst  zur  Cava  inferior  tretenden 
Venen  aber,  von  dem  ungemein  entwickelten  System  der  Azygos  aufgenommen 
wurden.  —  Versetzung  der  Cava  inferior  auf  die  linke  Seite  der  Wirbelsäule 
(ohne  gleichzeitige  Versetzung  der  Eingeweide)  beobachtete  Harri  so  n  (Swy, 
AneU.  of  the  Ärteries.  Vol,  2.  pag,  22),  —  Die  Venae  üiacae  commune*  können 
sich  auch  erst  höher  oben,  als  am  fünften  Lendenwirbel,  zur  Cava  inferior  ver- 
einigen (Pohl).  Ich  habe  sie  beide  parallel  aufsteigen,  und  jede  derselben 
eine  Nierenvene  aufnehmen  gesehen.  Einmündung  der  Ciiva  inferior  in  den  linken 
Vorhof  (King,  Lemaire)  bedingt  Cyanose.  —  lieber  den  Bau  des  im  Herzbeutel 
eingeschlossenen  oberen  Endstücks  der  Cava  inferior,  handelt  Luachka,  im  Archiv 
für  Anat  und  Phys.  1860. 


§.  424.  Yenen  des  Beckens. 

Als  gemeinschaftliches  Sammelgeföss  der  Venen  des  Beckens 
und  der  unteren  Extremität^  dient  die  Hüft-  oder  Beckenvene, 
Vena  üiaca  communis.  Sie  wird  vor  der  Symphysis  sacro-iliaca  durch 
die  Vena  hypogastrica  s,  üiaca  interna,  und  durch  die  Vena  cruralis 
s.  üiaca  externa  zusammengesetzt. 

Die  Vena  hypogastrica  kommt  aus  der  kleinen  Beckenhöhle 
herauf,  wo  sie  durch  den  Zusammenfluss  der  doppelten,  den  Aesten 
der  Arteria  hypogastrica  analogen,  grösstentheils  klappenlosen  Yenen 
gebildet  wird.  Die  doppelten  Venae  glvtaeae  superiores  et  inferiores, 
üeo-lumbdUs  und  obturatoriae,  begleiten  die  gleichnamigen  Arterien. 
Die  Venae  sacrcUes  laterales  bilden  mit  den  mittleren  Kreuzbeinvenen 
den  Plexus  sacralis  anterior,  welcher  sich  vorzugsweise  in  die  Vena 
äiaea  commvnis  sinistra,  theilweise  aber  auch  in  die  Vena  hypogastrica 
entleert,  oder  auch  in  die   Vena  lumbcUis  a^cendens  übergeht. 

Die  Venen  des  Mastdarms,  der  Harnblase  und  der  Qeschlechts- 
thcile,  bilden  Geflechte,  welche  durch  zahlreiche  Anastomosen  unter 
einander  in  Verbindung  stehen.     Diese  Geflechte  sind: 


§.  4S6.  Pfortad«r.  1041 

rerrichten,  wie  die  Tischler  und  Sclilosner.  —  Der  Name  Saphena  ist  nicht,  wie 
man  glauht,  griechischen,  sondern  arabischen  Ursprungs.  Kein  griechischer  Autor 
kennt  dieses  Wort.  Avicenna  war  es,  welcher  diese  Vene  zuerst  Safina  nannte 
(im  Vulgär- Arabischen  Safena).  Man  soll  also  correct  Safina  schreiben  und  Safina 
sprechen.  Da  die  Saphenrene  von  der  Gegend  des  inneren  Knöchels  (a^upov), 
heraufkommt,  hiess  sie  bei  den  griechischen  Aerzten:  Sphyritei,  bei  Celsus: 
Vena  ad  maleolum, 

h)  Die  kleine  Rosenvene,  Vena  saphena  minor  s,  posterior^ 
geht  vom  äusseren  Fussrande  aus.  Sie  steigt  hinter  dem  äusseren 
Knöchel,  anfangs  neben  der  Achillessehne,  und,  wo  diese  aufhört^ 
zwischen  den  beiden  Köpfen  des  Gastrocnemius,  zur  Kniekehle 
hinauf,  durchbohrt  die  Fascia  poplitea,  und  entleert  sich  in  die  Vena 
Poplitea. 

Die  Vena  saphena  major  und  mvnor  anastomosiren  mehrfach  mit  den  inner- 
lialb  der  Fascie  der  unteren  Extremität  gelegenen  Venia  profundis  durch  per- 
forirende  Zweige.  —  Die  Varietäten  der  Saphena  minor  sind  nicht  selten,  aber 
unerheblich.  Merkwürdig  ist  ihr  in  der  Kniekehle  stattfindendes  Zerfallen  in  zwei 
Zweige,  deren  einer  zur  Vena  poplitea  geht,  deren  anderer  am  Nervus  isehiadiau 
nach  aufwärts  läuft,  um  in  die  Vena  glutaea  inferior  einsumünden.  —  Die  Vena 
popUlea  besitzt,  bei  älteren  Individuen,  eine  so  mächtige  Adventitia,  dass  sie,  wie 
eine  Arterie,  quer  durchschnitten  nicht  zusammenfällt.  —  lieber  die  Venen  der 
unteren  Extremität  findet  sich  reiclies  Detail  in  C.  Otaeommiy  osservazloni  anat 
Torino,  J873. 

§.  426.  Pfortader. 

Die  Pfortader,  Vena  portae,  wurzelt  in  den  Verdauungs- 
organen, aus  welchen  sie  das  durch  die  drei  unpaaren  Aeste  der 
Bauchaorta  zugefiihrte  Blut  aufsammelt,  um  es  in  die  Leber  zu  leiten. 
Die  den  Truncus  venae  portae  bildenden  Venen  des  Verdauungsorgans, 
mögen  dessen  Wurzeln,  seine  Aeste  im  Leberparenchym  dessen 
Verzweigung  heissen.  Beide  sind  klappenlos.  Nur  in  der  Pfortader 
der  Nagethiere,  habe  ich  eine  sehr  schöne,  drei  bis  acht  Umgänge 
bildende  Spiralklappe  vorgefunden. 

Die  Wurzeln  der  Pfortader  entsprechen  nicht  genau  den 
Verhältnissen  der  Arterien,  d.  h.  sie  treten  auf  andere  Weise  zu 
grösseren  Venen  zusammen,  als  die  Arterien  sich  verästeln.  .Sie  sind: 

a)  Die  Vena  gastrica  superior,  Sie  läuft  in  der  Curvatura  ven- 
triadi  minor  von  links  nach  rechts  zum  Pfortaderstamm,  imd  nimmt 
das  Blut  aus  dem  oberen  Bezirk  der  Magenwände,  von  der  Cardia 
bis  zum  Pylorus,   und   vom   oberen  Querstück   des   Duodenum  auf. 

h)  Die  Vena  m^enterica  magna  s,  superior  liegt  in  der  Wurzel 
des  Gekröses,  an  der  rechten  Seite  der  Arteria  mesenterica  superior, 
Sie  correspondirt  mit  den  Aesten  der  oberen  Gekrösarterie,  und  des 
Ramus  pancreatico-duodenaiis  der  Ärteria  hepatica. 

In  den  «ralep   — ^*—  ^■■»«■»ftten  erhält  die   Vena  mesenUrica 

magna  mp^  '^■**-  welche  bei  blind- 

felM»raf*  "^^ 


1042  i-  «M-  PttrUdn. 

c)  Die  Vena  meaenferica  inferior,  der  gleichnamigen  Arterie 
zngehörend,  entteert  eich  nur  Belten  in  die  superior,  gewöhnlich  aber 
in  die  Vena  eplenica.  Ihr  grösster  Zweig  ist  die  vom  Mastdarm  her- 
aufkommende Vena  haemon-hotdalis  interna,  welche  viel  mehr  Blut 
aus  den  venösen  Geflechten  des  Mastdarms  ableitet,  als  die  dem 
System  der  Beckenvene,  also  der  Cava  inferior  Angehörigen  Venae 
haemorrhoidaleg  extemae,  Blutungen  aus  den  HämorrhoidalveneD 
bringen  häufig  gewissen  Unterleibskrankheiten  einige  Erleichtemng, 
und  verdienten  sich  dadurch  den  Namen:  Goldadern.  „Venae 
„haemorrhoidales,  quae  in  ano  et  recto  intesHno  adsunt,  statia  tempori- 
„bua  »ponte  aperiuntar,  et  sangtUnis  craasioris  evacuatione,  samtati 
„mvltum  conducunt",  sagt  C  Bartholinus. 

d)  Die  Vena  apUnica  liegt  am  oberen  Rande  des  Pankreas, 
and  stimmt  in  ihrer  Zusammensetzung  mit  der  Astfolge  der  Arteria 
^pleitica  überein. 

Die  Vena  metenierica  magna  und  eplenica  vereinigen  sich  nun 
hinter  dem  Eopfe  des  Pankreas,  zum  einfachen  Truncut  venae  portae, 
welcher  erst  etwas  später  die  Vena  gattrica,  und  kurz  vor  seiner 
Theilung  in  der  Leberpforte,  die  Gallenblasenvene  aufnimmt. 

Die  Verzweigungen  des  JVwnciM  venae  portae  in  der  Leber 
gehen  aus  einem  rechten  und  linken  primären  Spaltungsaste  deBsefben 
hervor,  und  bilden  mit  den  Endzweigehen  der  Arteria  hepatica,  das 
Capillar System  der  Leberläppchen. 

Unter  aocesioriaohen  Pfortadern  beschreibt  S&ppe7  fOnf  Gmppen 
von  kleinen  Venenittinnicben,  welche  in  den  znr  Leber  tretenden  Bknchfell&lten 
eiogeechloMeo  sind,  und  sich  theila  in  die  primSren'  Spaltungsineige  der  Pfort- 
ader  erg^eisen,  theils  »her  BelbstetSndig  in  das  Leberp&ienchj'in  eingehen.  Letztere 
exisüren  sicliei  nicht  kU  lelbstsMndige  kleine  Pfartadersj'ateme,  da  sie  vom  Stammfl 
der  Pfortader  aus  injicirbar  sind.  Erstere  waren  zum  Theil  schon  vor  Sappey 
bekannt.  Die  irichtigsten  von  ilinen  sind  nnn  jene,  welche  aus  den  Venen  der 
vorderen  Bauchwand  stammen,  die  obliterirte  Nabelvene  (rundes  Leberband)  be- 
gleiten, und  sieh  in  den  linken  Pfortaderaat  entleeren.  Sie  erklären  uns,  wamm 
bei  StHning  des  Kreislaufes  im  Pfortade rsystem,  nie  sie  bei  Cirrheta  hepatU 
vorkommt,  das  Pfortaderblut,  durch  Erweiterung  der  das  runde  Leberband  be- 
gleitenden Venen,  in  die  ßaucbdeckenvenen  abstrftmt,  welche  dadnrdi  einen 
solchen  Orad  von  Ausdehnung,  zugleich  mit  rankenfBrmiger  KrUmmnng  erleiden, 
dau  sie  durch  die  Haut  des  Unterleibes  hindurch,  als  ein  mSchtiges  und  ver- 
schlungenes Geflecht  wahrgenommen  werden,  dessen  Form  durch  die  treffende  Be- 
zeichnung „Caput  Btediitat'  ausgedruckt  wird. 

Meni^re  (Ärchio  gin.  de  viid.  Aoril,  1826.  pag.38lj  berichtet  Über  einen 
fingerdicken  Commnnicationsann  zwischen  der  Veno  iliaca  dexira  und  dem  Pfort- 
aderstamm, welcher  hinter  der  Linea  allia  emporstieg.  Serres  (Ardiiv  gia.  de 
«idd.  Dicetii'-re,  1823)  beschrieb  einen  Hlmlichen  Befund.  Man  kann  es  als  sicher 
betrachten,  dass  diese  beiden  Fälle,  nur  eine  Auedebnang  der  von  der  Baachwand 
kommenden,  und  längs  des  ninden  Leberhand  es  zur  Pforlader  ziehenden  Sapp  ey- 
e  Wiedereröffnung  und  Anadehnung  der  verwacbsenen 


§.  487.  HanpUtamni  des  Lympligef&ssiystanit.  1043 

Das  Pfortadersystem  behauptet  keine  vollkommene  Unabhängigkeit  von  den 
Verzweigungen  der  unteren  Hohlader.  Nebst  den  älteren  Beobachtungen  liegen 
hierüber  die  von  Betzius  (Tiedemann  und  Treviranu»,  Zeitschr.  für  PhysioL  Bd.  6) 
gemachten  Erfahrungen  über  constante  Anastomosen  der  Venae  meaentericae  mit 
den  Aesten  der  unteren  Hohlvene  vor,  welche  von  mir  (Oesterr.  medic.  Jahr- 
bücher, 1838)  bestätigt  und  erweitert  wurden.  Ich  besitze  ein  Präparat,  wo  die 
hinteren  Scheiden-  und  G^bärmuttergeflechte  von  der  Vena  meaerUerica  aus  ixgidrt 
wurden,  und  ein  zweites,  wo  die  Vena  colica  awnistra  eine  Hamleitervene  auf- 
nimmt. —  Man  hat  als  g^össte  Seltenheit  den  Stamm  der  Pfortader  nicht  zur 
Leber,  sondern  zur  Cava  inferior ,  oder  zur  Azt/go§  (Abernethj,  Lawrence )i 
oder  zum  Atrium  cordis  dextrum  (Mende)  treten  gesehen.  —  Herhold  fand  bei 
einer  Missgeburt  alle  Zweige  der  fehlenden  Cana  inferior  zur  Pfortader  gehen.  — 
Ueber  accessorische  Pfortadem  handelt  C  Sappey,  in  der  Gaz.  m^d.  de  Paris, 
1859,  und  in  dessen  Trait^  d*anat.  descript  T.  III.  pag.  291. 


D.  Lymphgefasse  oder  Saugadern. 

§.  427.  Eauptstamm  des  Lympligefässsysteiiis. 

Der  Hauptstamm  des  Lymphgef&sssystems  ist  der  Milch- 
brustgang,  Ihicttis  thoradcus  8.  Pecqmtianvs ,  ein  Kanal  von  circa 
zwei  Linien  Durchmesser.  Sein  Entdecker  im  menschlichen  Leibe 
war  aber  nicht  der  Franzose  Pecquet  (welcher  ihn  an  Thieren 
zuerst  sah),  sondern  der  Schwede  Olaus  Rudbeck,  welcher  ihn 
selbst  der  Königin  Christina  zu  demonstriren  die  Ehre  hatte  (1650). 
Er  entsteht  an  der  vorderen  Fläche  des  zweiten  oder  dritten  Lenden- 
wirbels, hinter  der  Aorta,  und  etwas  rechts  von  ihr,  aus  der  Ver- 
einigung dreier  kurzen  und  weiten  LymphgefUssstämme  (Radices  ductus 
tharadd).  Der  rechte  und  linke  entwickeln  sich  als  Trunci  lym- 
phatid  lumbales  aus  den  beiden  drüsenreichen  Plexus  lumbales, 
welche  die  Lymphgefösse  des  Beckens,  der  unteren  Extremitäten, 
der  Geschlechtsorgane,  und  eines  grossen  Theils  der  Bauchwand  auf- 
nehmen. Der  mittlere  wird,  als  Truncus  lymphaticus  intestiiialis,  in 
der  Wurzel  des  Gekröses  durch  den  Confluxus  der  Chylusgefösse  des 
Verdauungskanals  erzeugt.  Dieser  mittlere  Stamm,  und  zuweilen 
noch  der  Anfang  des  Ihictus  tharacicus,  zeigen  gewöhnlich  eine  be- 
sonders im  injicirten  Zustande  sehr  ansehnliche,  oblonge  Anschwel- 
lung —  Cistema  chyli,  s,  Receptaculum  chyli,  s,  Saccus  lacteus.  —  Die 
Benennung  Cistema  ist  nicht  gut  gewählt.  Die  Cisternen  der  Römer 
sammelten  das  Wasser  von  den  Dächern  der  Häuser  auf,  während 
Wasserbehälter,  welche  durch  natürlichen  Quellenzufluss  gespeist 
wurden,  putei  hieasen,  welcher  Name  also  fUr  das  fragliche  Reser- 
voir passender  wäre. 

Der  Hüchbrnstgang  gdamt. 
hinteren  MiUdfefliMuai  flU 


1044  i.  488-  Saa^ern  des  Kopfes  und  Halses. 

Fett  eingehüllt^  zwischen  Aorta  und  Veyxa  azygos,  steigt  bis  zum 
vierten  Brustwirbel  empor,  wendet  sich  nun  hinter  der  Speiseröhre 
nach  links,  und  geht,  auf  dem  linken  langen  Halsmuskel  bis  zum 
sechsten  Halswirbel  hinauf,  biegt  sich  hier  bogenförmig  nach  aussen 
imd  vorn,  und  mündet  in  den  Bildungswinkel  der  Vena  innondnata 
ainistra.  Er  nimmt  auf  diesem  Wege  die  Saugadem  der  ganzen 
linken,  und  des  unteren  Theiles  der  rechten  Brusthälfte,  desgleichen 
der  linken  Hals-  und  Kopf hälfte,  und  überdies  noch  jene  der  linken 
oberen  Extremität  auf. 

Die  Saugadern   der  rechten    und  linken  Bmsthälfte,  und  ihrer  Eingeweide 

entleeren    sich    in    ihn    an    verschiedenen  SteUen,    ohne    einen  gemeinschaftlichen 

Stamm  zn  bilden ;  —  jene  des  Halses  und  Kopfes  senken  sich  mittelst  des  Truncu* 

jugtdaria  tinister,  und  jene  der  oberen  Extremität   mittelst  des  Truncu»  »ubclavius 

siiwier  in  ihn  ein. 

Die  Saugadern  des  oberen  Theiles  der  rechten  Binisthälfte, 
der  rechten  Hals-  und  Kopf  hälfte,  so  wie  der  rechten  oberen  Ex- 
tremität, verbinden  sich  zu  einem,  nur  zweidrittel  Zoll  langen 
Hauptstamm  (Ductus  thoracicus  dexter  8.  minor),  welcher  seine  Lymphe 
in  den  Bildungswinkel  der  rechten    Vena  anonyma  ergiesst. 

Warum  der  Ductus  thoracicut,  von  seinem  Ursprung  bis  zu  seiner  Ein- 
mündung, einen  so  grossen  Umweg  macht,  erklärt  sich  folgendermassen.  Das 
Bauchstück  des  Ductus  thoracicus  steht  unter  dem  Drucke  der  Bauchpresse,  welcher 
grösser  als  der  Respirationsdruck  ist,  unter  welchem  dieser  Gang  in  der  Brust- 
höhle steht  Beide  Arten  von  Druck  fehlen  am  Halse.  Der  Inhalt  des  Ductus 
thoracicus  wird  also  gegen  jene  SteUe  strömen,  welche  am  wenigsten  gedrückt 
wird,  und  die  Ueberführung  des  Chjlus  in  das  Blut,  wird  somit  erst  am  Halse 
den  zweckmässigsten  Ort  dazu  finden.  —  Beide  Ductus  thoracici  sind  mit  zahl- 
reichen Klappenpaaren  versehen,  welche  im  oberen  Theil'e  des  Ductus  thoracicus 
major  niedriger  werden,  und  weiter  auseinanderstehen,  als  im  luiteren.  —  Es  ist 
nichts  Ungewöhnliches,  dass  der  Ductus  thoracicus  major  Inseln,  oder  selbst  in  seinen 
Stamm  eingeschobene  Geflechte  bildet.  Sandifort,  Walter,  Sömmerring  und 
Otto  sahen  ihn,  seiner  ganzen  Länge  nach,  in  zwei  Aeste  getheilt,  welche  sich 
erst  vor  der  Einsonkung  in  die  Anonyma  vereinigten.  Cruikshank  fand  ihn 
sogar  dreifach.  Er  kann  sich  auch  in  die  Vevia  azygos  münden  (Albin,  Wutzer), 
oder  in  die  rechte  Anonyma  (Fleischmann).  Alle  diese  Abnormitäten  haben 
wenig  praktischen  Werth,  da  der  Ductus  tlioracicus  nur  an  seiner  Insertionsstelle 
in  den  Bildnngswinkel  der  linken  Vena  anonyma,  in  das  Bereich  chirurgischer 
Operationen  fallen  könnte. 

§.  428.  Saugadern  des  Kopfes  und  Halses. 

Die  Saugadern  des  Kopfes  und  Halses  lassen  sich  in  ver- 
schiedene Bezirke  eintheilen^  deren  jeder  seine  bestimmten  Sammel- 
di-üsen  hat.  Diese  Drüsen  liegen  in  Gruppen  zu  zwei  bis  sechs^ 
und  darüber,  entweder  oberflächlich  oder  tief.  Die  aus  ihnen  her- 
vorkommenden Vasa  efferentia  gehen  als  Vasa  inferentia  zu  den 
nächst  unteren  Drüsen,  und  zuletzt  in  den,  in  der  Fossa  supraclavi- 
cularü  eingetragenen  Plexus  jugviaris   über,    dessen   meist  einfaches 


§.  428.  Sangadem  des  Kopfes  und  Heises.  1045 

Föw  efferens,  als  Truncus  jugularia,  zum  Ductus  ihoracums  der  betreffen- 
den Seite  tritt.     Die  leicht  aufzufindenden  Drüsengruppen  sind: 

a)  Die  Glandulae  aurictUares  anteriores  et  posteriores. 

Erstere  (zwei  bis  drei)  liegen  auf  der  Parotis,  vor  dem  MeaUts  auditorius 
extemus,  letztere  (drei  bis  vier)  hinter  dem  Ohre  auf  der  Insertion  des  Kopf- 
nickers. Sie  nehmen  die  Sangadem  von  den  äusseren  Weichtheilen  des  Schädels  auf. 

b)  Die  Glandulae  faddles  profunda^.  Sechs  bis  acht  an  Zahl, 
liegen  sie  in  der  Fossa  spheno-maxUlaris,  und  an  der  Seitenwand  des 
Schlundkopfes. 

Sie  sammeln  die  LjmphgefUsse  aus  der  Augenhöhle,  Nasenhöhle,  dem 
Schlundkopfe,  der  Keil-Oberkiefergrube,  und  erhalten  nach  Arnold  noch  einen 
Antheil  der  Saugadern  des  Gehirns,  welche  durch  das  Foramen  »pinosum  und 
oüdU  aus  der  Schädelhöhle  kommen. 

c)  Die  Glanduläre  submaonllares.  Man  sieht  und  fühlt  sie  ziem- 
lich zahlreich  bei  scrophulösen  Individuen  längs  des  unteren  Randes 
des  Unterkiefers  lagern,  wo  sie  vom  hochliegenden  Blatte  der  Fascia 
colli  bedeckt  werden. 

Die  Sangadern,  welche  ihnen  zuströmen,  kommen  zum  Theil  im  Gefolge 
der  Vena  fctdalit  anterior ,  zum  Theil  vor  dieser  Vene  über  den  Unterkiefer  herab, 
und  entwickeln  sich  aus  allen  Weichtheilen  des  Antlitzes.  Die  Saugadem  des 
Bodens  der  Mundhöhle  und  der  Zunge  treten  von  innen  her  in  diese  Drüsen  ein. 

d)  Die  Glandulae  cervicales  superficiales,  welche  am  oberen 
Seitentheile  des  Halses  vor  und  auf  dem  Kopfnicker  liegen. 

Sie  nehmen  oberflächliche  vordere  und  hintere  Halssaugadem  auf,  welche 
gewöhnlich  schon  andere  Lymphdrüsen  durchwanderten.  £s  finden  sich  nämlich 
sehr  gewöhnlich  in  der  Mitte  des  Halses  vor  den  Musculi  stemo-ht/oidei,  seltener 
auch  auf  dem  Musculus  cucuUaris  im  Nacken,  kleine  Sammeldrttsen  fUr  die  ober- 
flächlichen Saugadem  des  Halses. 

Die  austretenden  Geßlsse  der  genannten  Drüsengruppen  ent- 
leeren sich  in: 

e)  die  Glandtdae  jugvlares  superiores  im  Trigonum  cervicale 
superius.  Sie  sind  die  ersten  Vereinigungsdrüsen  für  die  durch 
das  Foramen  jugulare  austretenden  Lymphgefässe  des  Grehirns,  und 
sammeln  auch  vom  Schlundkopf^  der  Zunge^  dem  Kehlkopfe  und 
der  Schilddrüse  Zweige  auf. 

Die  Existenz  der  LymphgefiUse  im  Gehirn  (nicht  in  der  harten  Hirnhaut) 
wurde  von  Arnold  durch  Iiyection  nachgewiesen.  In  der  Pia  maier  unterscheidet 
er  drei  auf  einander  gelagerte  Lymphgefässnetie.  Sie  folgen  dem  Zuge  der  Venen 
zwischen  den  Gyri.  Die  Saugadem  der  Kammern  des  Gehirna  veremigen  doh  wx 
einem,   der  Vena  magna   Oaleni  folgenden   Hiuiptituiiv*       ^ 
Saugadem  des  Hims,  in   dessen  Bemeikiiiiff^   * 
Bttckenmiurks.  Zfirich,  1888.  —  DI«  lam 
worden  von  mir  meist  miefat  i 
Heükmide,  1860. 


1046  §•  iS9.  Sangadern  der  oberen  Eztremitikt  nnd  der  Bmttwand. 

Die  Vasa  efferentia  von  d)  und  e)  ziehen  längs  der  Vena  jugu- 
laris  interna  herab,  und  begeben  sich  in: 

f)  die  Glandulae  jugtdares  inferiores  8.  avpraclaviculares.  Sie 
lagern  im  laxen  Bindegewebe  der  Fossa  supradavicularis,  und  nehmen 
somit  alle  bisher  angeführten  Kopf-  und  Halssaugadern,  und  nebstbei 
jene  der  Schilddrüse,  des  Kehl-  und  Schlundkopfes,  der  tiefen  Hals- 
muskeln, und  die  mit  den  Vertebralgefassen  aus  dem  hinteren  Theile 
der  Schädelhöhle  und  dem  Canalis  spinalis  hervorkommenden  Saug- 
adern auf.  Da  die  Zahl  dieser  Drüsen  sehr  bedeutend  ist  (fünf- 
zehn bis  zwanzig),  und  die  sie  unter  einander  verbindenden  Va^a 
in-  et  efferentia  sich  netzartig  verstricken,  so  entsteht  dadurch  der 
früher  genannte  Plexus  jugtUaris,  welcher,  wenn  man  die  Glandvias 
jugulares  superiores  noch  zu  ihm  zählt,  sich  längs  der  grossen  Blut- 
gefässe des  Halses  bis  unter  das  Drosseladerloch  ausdehnt. 


§.  429.  Saugadern  der  oberen  Extremität  und  der  Brustwand. 

Die  Lymphgefässe  der  oberen  Extremität,  der  zugehörigen 
Brustwand  und  Schulter,  haben  ihren  Sammelplatz  in  dem  Plexus 
lymphaticus  axillaris,  welcher  acht  bis  zwöf  Glandulae  axilläres,  auch 
alares  genannt,  einschliesst.  Der  Plexus  axillaris  hängt  mit  dem 
Plexus  jugularis  durch  Anastomosen  zusammen,  und  vereinigt  seine 
dicken  kurzen  Vasa  efferentia  zu  einem  einfachen  Truncus  lympha- 
ticus subclavius,  welcher  in  den  Milchbrustgang  seiner  Seite  inosculirt. 
Die  Glandulae  axillares  liegen  in  dem  lockeren  Umhüllungsgewebe 
der  grossen  Blutgefässe  der  Achsel.  Es  finden  sich  jedoch  auch 
einzelne  am  unteren  Rande  des  grossen  Brustmuskels,  und  in  dem 
Spalt  zwischen  Pectoralis  major  und  Deltoides. 

a)  Lymphgefässe  des  Armes.  Sie  verlaufen  theils  extra^ 
theils  intra  fasciam,  und  werden  deshalb,  wie  die  Venen,  in  hoch- 
liegende und  tiefliegende  abgetheilt. 

a)  Die  hochliegenden  stammen  theils  von  der  Volar-,  theils  von 
der  Dorsalseite  der  Finger.  Erstere  steigen  an  der  Innenseite 
des  Vorderarms,  letztere  anfangs  an  der  Aussenseite,  dann 
aber  über  den  Ulnarraud  des  Vorderarms  umbiegend,  eben- 
falls an  dessen  innerer  Fläche  zum  EUbogenbug  empor.  Hier 
treten  einige  durch  eine  bis  zwei  Lymphdrüsen  (Glandulae 
cubitales),  welche  vor  dem  Condylus  internus  an  der  Vena  basi- 
lica  liegen ;  alle  aber  streben  zur  Achselhöhle  hin,  um  sich  in 
die  Glandulae  axillares  einzusenken.  Mehrere  von  ihnen  ge- 
langen auf  demselben  Wege,  wie  die  Vena  cephalica,  zur 
Achselhöhle. 


§.  430.  Sangadern  der  Bnutköhle.  1047 

ß)  Die  tiefliegenden  anastomosiren  nur  am  Carpus  und  in  der 
Plica  cvMti  mit  den  hochliegenden^  und  folgen  genau  der 
Richtung  der  tiefliegenden  Armvenen.  Sie  sind  —  so  viel 
das  Ansehen  der  Injectionspräparate  lehrt  —  weit  weniger 
zahlreich  als  die  oberflächlichen,  passiren  aber  zwei  bis  fiinf 
Glandidcte  cuhitcdes  profundae  und  eine  bis  zwei  GlanduUie  hror 
chiales  profundae. 

h)  Lymphgefädse  der  Brustwand.  Ihr  Bezirk  erstreckt 
sich  vom  Schlüsselbein  bis  zum  Nabel  herab.  Sie  bilden  zwei 
Gruppen : 

a)  Die  oberflächlichen  treten  theils  durch  den  Spalt  zwischen 
Ddtoides  und  Pectoralis  major,  in  welchem  das  erste  vor- 
geschobene Drüsenbündel  des  Plexus  axillaris  liegt,  in  die 
Tiefe,  theils  laufen  sie  den  unteren  Rand  des  Pectoralis  major 
entlang,  wo  ebenfalls  vereinzelte  Drüsen  vorkommen,  zur 
Achselhöhle.  Die  von  der  Regio  epigastrica  heraufkommenden 
Lymphgefksse  passiren  gewöhnlich  eine  kleine,  zwischen  Nabel 
und  Herzgrube  gelegene  OlandtUa  epigastrica. 
ß)  Die  tiefliegenden  folgen  den  Vasis  thoradeis,  und  nehmen 
die  Saugadern  der  Mamma,  und,  durch  Anastomose  mit  den 
Vasis  lymphaticis  intercostalibus ,  Verbindungszweige  mit  den 
inneren  Brustsaugadern  auf. 

c)  Lymphgefässe  der  Schulter.  Sie  gehören  der  Nacken-, 
Rücken-  und  Lendengegend  an.  Die  hochliegenden  schwingen  sich 
um  den  Rand  des  breiten  Rückenmuskels  herum;  die  tiefen  halten 
sich  an  den  Verlauf  der  Schulteräste  der  Arteria  axillaris. 


%.  430.  Saugadern  der  Brusthöhle. 

Die  Lymphgefksse  der  Brusthöhle  lassen  sich  übersichtlich  in 
vier  Rubriken  ordnen:  die  Zwischenrippensaugadern,  die 
Mittelfell-,  die  inneren  Brust-,  und  die  Lungensaugadern. 

a)  Die  Zwischenrippensaugadern  verlaufen  mit  den  Va^ 
intercostalibus.  Sie  entwickeln  sich  aus  der  seitlichen  Brust-  und 
Bauchwand,  dem  Zwerchfelle,  der  Pleura,  den  Rückenmuskeln,  und 
der  Wirbelsäule,  durchsetzen  die  Glandulae  intercostales ,  deren 
sechzehn  bis  zwanzig  in  der  Nähe  der  Rippenköpfchen  auf  jeder 
Seite  vorkommen,  und  stehen  mit  den  folgenden  in  Zusammenhang. 

h)  Die  Mittel fellsaugadern  entspringen  aus  der  hinteren 
Herzbeutelwand,  dem  Oesophagus,  und  den  Wänden  des  hinteren 
Mediastinum,  passiren  acht  bis  zwölf  Glandulae  mediastini  posteriores, 
und  entleeren  sich  rechts  in  den  Ductus  thoracicus,  links  dagegen 
in  die  Okmdulae  bronchiales. 


1048  §•  Ml«  Sangadern  der  unteren  Extremitäten  and  dee  Beckens. 

c)  Die  inneren  Brustsaugadern  entsprechen  den  Vasi»  mam- 
marüs  intemis,  Sie  entstehen  in  der  Regio  epigastrica  aus  der  Bauch- 
wand,  nehmen  die  im  Ligamentum  Suspensorium  hepatis  aufsteigenden 
oberflächlichen  Lebersaugadern  auf,  durchlaufen  sechs  bis  acht 
Glandulae  stemales,  und  hängen  mit  den!  hinter  dem  Stern  um  ge- 
legenen Lymphdrüsen  des  vorderen  Mittelfellraumes  zusammen. 
Diese,  zehn  bis  vierzehn  an  Zahl,  liegen  theils  auf  dem  Herzbeutel, 
theils  auf  den  grossen  Gefässen  extra  pericardium,  und  nehmten  die 
Saugadem  des  Pericardium,  der  Thymus,  und  die  an  der  Aorta 
und  Arteria  pulmorudis  aufsteigenden  Saugadern  des  Herzens  auf. 
Die  inneren  Brustsaugadern  bilden  durch  ihre  Verkettungen  den 
paarigen  Plexus  mammarius  internus,  welcher  mittelst  des  Truncus 
mamma,rius  in  der  oberen  Brustapertur  in  den  rechten  und  linken 
Ductus  thoracicus  einmündet. 

d)  Die  Lungensaugadern  zerfallen  in  oberflächliche  und 
tiefe,  welche  an  der  Lungenwurzel  sich  vereinigen,  die  Glandidae 
bronchiales  durchsetzen,  und  links  in  den  Ductus  thoracicvs  gehen, 
rechts  aber  mit  den  hinteren  Mittelfellsaugadern,  den  Truncus  brancho- 
msdiastinüms  bilden,  welcher  in  den  rechten  kleinen  Brustgang  ein- 
mündet. 

Die  Oiandulae  bronchialesj  deren  einige  schon  im  Lungenparenchym  vor- 
kommen,  haben  im  kindlichen  Alter  das  Aussehen  gewöhnlicher  Lymphdrüsen, 
werden  aber  bei  Erwachsenen  —  unabhängig  von  Alter,  Krankheit  oder  Lebens- 
art —  grau,  selbst  schwarz  pigmentirt.  Ihre  Zahl  beläuft  sich  beiderseits  auf 
zwanzig  bis  dreissig.  Sie  sind  sehr  häufig  Sitz  von  tuberculöser  Infiltration,  und 
werden  bei  alten  Leuten  oft  im  Zustande  vollkommener  Verkalkung  (nicht  Ver- 
knöcherung) angetroffen. 


§.  431.  Saugadem  der  unteren  Extremitäten  und  des  Beckens. 

Das  Stelldichein  aller  Lymphgefösse  einer  unteren  Extremität 
sind  die  Leistendrüsen  —  Glandulae  inguinales  —  in  der  JFossa 
üeO'pectinea,  Diese  Drüsen  zerfallen  in  hochliegende  und  tief- 
liegende, welche  durch  den  Processus  falciformis  der  Fascta  lata 
getrennt  sind,  aber  durch  zahlreiche  Verbindungsgänge  zum  Pleocus 
inguinalis  vereinigt  werden.  Die  oberflächlichen  Leistendrüsen 
erstrecken  sich  in  variabler  Anzahl  vom  Ligamentum  Poupartii  bis 
zur  Fovea  ovalis  herab,  wo  sie  die  Vena  saphena  magna  umgeben. 
Die  tiefen  liegen  auf  den  Schenkelgefässen  bis  zum  Septum  cru- 
rede  hinauf.  Die  letzte  derselben,  auch  die  grösste,  führt  Rosen- 
müller^s  Namen. 

Die  Lymphgefösse,  welche  die  Leistendrüsen  aufsuchen,  sind : 
a)  Die  Lymphgefesse  des  Schenkels.  Sie  verlaufen  theils  ausser- 
halb, theils  innerhalb  der  Fascia  lata,  —  also  hoch-  oder  tiefliegend. 


S.  439.  SMffadern  der  BftnchhöUe.  1049 

1.  Die  hochliegenden  kommen  theils  vom  Fossrttcken,  theils  von  der 
Fusasohle  herauf.  Entere  folgen  dem  Laufe  der  Vena  saphena  major,  sind  sehr 
zahlreich,  und  vergesellschaften  sich  mit  einer  Partie  der  aus  der  Sohle  kommen- 
den, und  über  den  Condyltu  itUemus  femoria  zur  inneren  Seite  des  Oberschenkels 
aufsteigenden  Saugadem,  um  endlich  in  die  hochliegenden  Leistendrüsen  über- 
zugehen. Letztere  ziehen  unter  der  Haut  der  Wade  dahin,  und  theilen  sich  in 
zwei  Züge,  deren  einer  sich  in  die  tiefen  ölandulae  poplUeae  entleert,  während 
der  andere  den  eben  angegebenen  Verlauf  zu  den  Leistendrüsen  einschlägt. 

2.  Die  tiefliegenden  verlassen  die  BlutgefKssbahn  nicht,  und  werden,  wie 
diese,  eing^theilt  ^d  benannt.  Iii  der  Kniekehle  dringen  sie  durch  eine  bis  vier 
Glandulae  poplüeae  pro/undae, 

h)  Die  Lymphgefässe  der  Regio  hypogastrica  des  Unterleibes 
steigen  schief  über  das  Ligamentum  Poupartii  zu  den  obersten  Leisten- 
drüsen herab. 

c)  Die  Lymphgefilsse  der  äusseren  Genitalien. 

Sie  sind  es,  welche  den  Ansteckungsstoff  von  den  Geschlechtstheilen  auf 
die  Leistendrüsen  verschleppen,  und  dadurch  die  primären  Bubonen  (Leisten- 
benlen)  veranlassen.  Die  Lymphgefässe  des  Penis  (oder  der  Clitoris)  treten  zuerst 
in  das  Fettlager  des  Man*  Veneris,  und  beugen  von  hier  zu  den  oberflächlichen 
Leistendrüsen  um.  Jene  des  Hodensackes  und  der  grossen  Schamlippen  g^hen  mit 
den    Vans  pudendis  extemia  quer  nach  aussen  zu  denselben  Drüsen. 

Die  ausführenden  Saugaderstämme  der  Leistendrüsen,  deren 
einige  schon  die  Dicke  einer  Rabenfeder  erreichen,  begeben  sich 
mit  den  Vasis  cruralibus  durch  die  Ixicuna  vasorum  crtiralium  in  die 
Beckenhöhle.  Einige  derselben  durchbohren  auch  das  Septum  crurcde, 
und  krümmen  sich  über  den  horizontalen  Schambeinast  in  die 
kleine  BeckenhöUe  hinab.  Die  an  den  grossen  Blutgefässen  hin- 
ziehenden  Saugadern  nehmen  die  benachbarten  Saugadern  von  der 
vorderen  und  den  Seitenwänden  der  Bauchhöhle  auf,  durchwandern 
mehrere  Lymphdrüsen,  und  bilden  durch  ihre  Vei-kettung  den 
Plexus  iliacus  extemvs,  welcher  gegen  die  Lendengegend  hinzieht, 
und  sich  in  die  Glandulae  lumbales  inferiores  entleert.  Der  Plexu» 
iliacus  externus  nimmt  während  dieses  Laufes  den  Plexus  hypogastricus 
und  sacralis  msdius  auf. 

Der  Pleosu»  ht/pogcutricu»  erstreckt  sich  an  den  Verästlungen  der  Ärteria 
hypogcutrica  hin,  und  bezieht  seine  contribuirenden  Saugadem  aus  allen  jenen 
Theilen,  zu  welchen  die  Arteria  hypogastrica  ihre  Zweige  versandte.  —  Der 
Plexus  sacraUa  mediu»  dehnt  sich  vom  Promontorium  zum  Mastdarmende  herab, 
und  nimmt  seine  Saugadem  aus  der  hinteren  Beckenwand,  dem  Oanalis  sacraUs, 
und  dem  Mastdarme  auf. 


§.  432.  Saugadem  der  Bauchhöhle. 

Es  wurde  oben  bemer)' '  ~  ^horadeus  durch  den 

Zosammenfluc»  drei'  ^  (der 


1050  S-  ^S-  Sangadeni  der  Banehhdhle. 

beiden  Trunci  lymphatici  lumbales,  und  des  einfachen  Truncus  lym- 
phaticus  intestinalia)  gebildet  werde.  Diese  Lymphstämme  sind  nun 
die  Vcisa  efferentia  von  eben  so  vielen  drtisenreichen  Lymphgefkss- 
geflechten^  welche  als  paariger  Fkxm  lumbcdis,  und  einfacher  Plexus 
coeliacus  s.  mesentericus  beschrieben  werden. 

a)  Der  paarige  Plexus  lumbcUis  nimmt  die  Lymphgefösse  jener 
Organe  auf,  welche  von  den  paarigen  Aortenästen  Blut  erhielten. 
Beide  liegen,  wie  ihr  Name  sagt,  vor  dem  Quadratus  lumbarum  und 
Psoas  major,  und  auf  der  Lendenwirbelsäule,  hängen  durch  Ver- 
bindungskanäle, welche  über  und  unter  der  Aorta  weglaufen,  zu- 
sammen, und  schliessen  zwanzig  bis  dreissig  Glandulae  lumbales  ein, 
welche  in  superiores  et  infei^iores  zerfallen.  Jeder  Plexus  lumbalis 
nimmt  den  Plexus  iliacus  extemus,  und  durch  diesen  den  Plexus 
hypogastricus  und  sacralis  msdius  auf,  und  versammelt  noch  überdies 
folgende  schwächere  Lymphgefösszüge : 

1.  Die  Samensaugadern,  welche  vom  Hoden  und  seinen 
Hüllen,  oder  von  dem  Eierstocke  abstammen,  und  mit  den 
Vasis  spermatids  ifitemis  zur  Lendengegend  gelangen.  Im  weib- 
lichen Qeschlechte  nehmen  sie  noch  die  Saugadem  des  Fundus 
uteri  und  der  Tuia  Failopiana  auf. 

2.  Die  Nieren-  und  Nebennierensaugadern. 

3.  Die  Lendensaugadern  von  der  seitlichen  Bauch  wand. 

4.  Auf  der  linken  Seite  die  Saugadern  der  Flexura  sigmoidea  und 
des  Rectum, 

b)  Der  unpaare  Plexus  coeliacus  ist  von  den  beiden  Plexus  lum- 
bales nicht  scharf  getrennt.  Er  umgiebt  die  Aorta  und  die  beiden 
ersten  unpaaren  Aeste  derselben,  so  wie  die  Pfortader,  erstreckt  sich 
bis  hinter  den  Kopf  des  Pankreas,  und  hat  ungefähr  sechzehn  bis 
zwanzig  Lymphdrüsen,  Glandulae  codiacae,  eingeschaltet,  welche 
von  folgenden  Organen  Lymphgefösse  aufnehmen. 

a)  Vom  Magen. 

Die  Lymphg^fäftfte  des  Magens  bilden  drei  Geflechte,  in  welchen  kleine 
Drüftchen  vorkommen :  1.  daa  linke,  welches  vom  Fundus  verUriculi  zum  Milz- 
geflechte geht;  2.  das  obere,  welches  in  der  Cfurvatura  verUriculi  minor  liegt, 
zwischen  den  Blättern  des  kleinen  Netzes  nach  rechts  sich  erstreckt,  und  meistens 
mit  dem  Lebergeflechte  sich  verbindet;  3.  das  untere,  an  der  Curvatura  major 
befindliche,  holt  seine  Saugadern  aus  dem  Magen  und  dem  grossen  Netze,  und 
geht  hinter  dem  Pylorus  in  die  oberen  Glandulae  coeliacae  ein. 

ß)  Vom  Dünndarm. 

Die  Saugadem  des  Dünndarms  heissen  vorzugsweise  Milch-  oder  Chylus- 
gefässe,  Vasa  lactea  s.  chyliferaf  weil  sie  während  der  Dünndarmverdauung 
durch  den  absorbirten  Chylus  das  Ansehen  bekommen,  als  wären  sie  mit  Milch 
injicirt     Sie  verlaufen  zwischen  den  Platten  des  Gekröses,  und  durchsetzen  eine 


§.  488.  Litentvr  des  geiammten  GeflMsysteiDt.  1051 

dreifache  Reihe  yon  zahlreichen  Drüsen  —  Glandulae  meaaraicae.  Die  erste, 
dem  Darme  nächste  Reihe,  enthält  nur  kleine,  und  ziemlich  weit  von  einander 
abstehende  Gekrösdrüsen ;  die  der  zweiten  Reihe  werden  grösser,  und  rücken 
näher  zusammen;  die  der  dritten  liegen  schon  in  der  Wurzel  des  Gekröses,  am 
Stamme  der  Arteria  meaenterica  »iiperior.  Die  Veua  efferenUa  der  ersten  und  zweiten 
Reihe  werden  also  Va»a  inferentia  der  zweiten  und  dritten  Reihe  sein.  Die  Vasa 
efferentia  der  dritten  werden  theils  Vaaa  inferentia  für  die  Glandulae  coeliacae^ 
theils  gehen  sie,  ohne  Zwischenkunft  einer  Drüse,  in  den  Truncua  lymphatictu 
intestinaliSf  und  somit  in  den  Anfang  des  Ductut  thoracicus  über. 

Y)  Vom  Dickdarm. 

Die  Saugadem  des  Dickdarms  verhalten  sich  ähnlich  jenen  des  Dünndarms, 
nur  sind  die  Drüsen,  durch  welche  sie  verlaufen,  kleiner,  weniger  zahlreich,  und 
nur  in  eine  bis  zwei  Reihen  gestellt  Da  sich  die  Saugadem  der  Flexura  ngmoidea 
und  des  Mastdarms  zum  linken  Plexue  lumhaUs  begeben,  so  werden  nur  jene  der 
übrigen  Dickdarmabtheilungen  zum  Plexus  coeUacu»,  oder  zur  dritten  Reihe  der 
Glandulae  metaraicae  gelangen. 

B)  Von  der  Milz-  und  Bauchspeicheldrüse. 

Die  Lymphgefässe  dieser  Organe  folgen  dem  Zuge  der  Vena  splenica  von 
links  nach  rechts,  und  entleeren  sich  in  die  oberen  Glandulae  coeliacae, 

e)  Von  der  Leber. 

Die  Saugadern  der  Leber  zerfallen,  wie  bei  allen  parenchymatösen  Organen, 
in  oberflächliche  und  tiefe.  Die  tiefen  treten  aus  der  Porta  hervor,  durch- 
laufen mehrere  Glandulae  hepattcae,  verbinden  sich  mit  dem  oberen  Magengeflecht, 
und  treten  mit  ihm  in  die  Glandulae  cadiacae  ein.  Die  oberflächlichen  ver- 
halten sich  an  der  concaven  Fläche  der  Leber  anders,  als  an  der  convexen.  An 
der  convexen  Fläche  treten  sie,  nachdem  sie  sehr  reiche  Netze  bildeten,  in  das 
Ligamentupi  guspensarium  hepatia  ein,  gelangen  dadurch  zum  Zwerchfell,  und 
hinter  dem  Sehwertknorpel  zu  den  Plexibu*  mammanis.  Allein  nicht  alle  Saug- 
adem der  convexen  Leberfläche  nehmen  diesen  Verlauf.  Viele  vom  linken  Leber- 
lappen verbinden  sich  vielmehr,  nachdem  sie  durch  den  linken  Flügel  des  Liga- 
mentum alare  hepatis  nach  links  verliefen,  mit  dem  oberen  Magen-  oder 
Milzgeflechte.  Einige  Saugadem  des  rechten  Lappens  durchbohren  am  hinteren 
Leberrande  das  Zwerchfell,  und  suchen  die  Glandulae  mediaatinicae  posteriores  auf, 
so  dass  die  Leberlymphe  die  verschiedensten  und  ganz  divergente  Abzugsbahnen 
einschlägt.  Die  oberflächlichen  Saugadem  der  unteren  concaven  Leberfläche  g^hen 
sämmtlich  zur  Pforte,  verbinden  sich  mit  den  tiefen,  und  finden  mit  ihnen  den 
Weg  zu  den  Glandulae  coeliacae. 


§.  433.  Literatur  des  gesammten  &efösssysteiiis. 

Vollständige  Beschreibungen  des  ganzen  Ge&sssystems  ent- 
halten die  zweiten  Auflagen  von  Sömmerring's  und  Hüdebrandt's 
Anatomien,  und  die  Gefösslehren  von  C.  A.  Mayer,  F.  A.  Walter, 
und  M.  Langenheck.  Die  besten  Abbildungen  finden  sich  in  den 
Werken  von  Langenbeck,  TXedemann,  Quudn,   Wüeon,  und  Bierkoveki 


1052  §.  488.  Literatur  det  gM»inint«n  6«flU..78t«iDB. 

(Abbildungen  der  Puls-,  Blut-  und  Saugadern.  Berlin,  1825.  fol.). 
Die  Leichtigkeit,  mit  welcher  Präparate  injicirter  Gefässe  an  jeder 
gut  eingerichteten  anatomischen  Anstalt  zu  haben  sind,  macht  das 
Studium  der  Gefösslehre  an  Tafeln  überflüssig. 

Herz. 

R,  Lower,  tractatus  de  corde.  Edit.  sept.  Lugd.  Bat.,  1740. 
(Tuberctdum  Loveri).  —  A,  C.  Thebemis,  diss.  de  circulo  sanguinis 
in  corde.  Lugd.  Bat.,  1708.  (Valmda  Thebestu)  —  R,  Vteussens, 
trait^  de  la  structure  du  coeur.  Toulouse,  1715.  (Isthmus  Vieussenü.) 
—  J.  B.  Morgagni,  adversaria  anat.  Patav.,  1706 — 1719.  Adv.  1.  2. 
(Nodtdi  Morgagni,)  —  J.  Reid  und  H.  Searle  „Heart^  in  Todd's 
Cyclopädia.  Voll.  11.  —  J.  Müller,  in  der  medicinischen  Vereins- 
zeitung. 1834.  (Dimensionen  und  Capacität  des  Herzens.)  — 
R.  Wagiier's  Handwörterbuch  der  Physiologie  (Herz).  —  C.  Ludicig, 
über  Bau  und  Bewegungen  der  Herzventrikel,  in  Henles  unf  Pfeuf- 
fer's  Zeitschrift.  VH.  Bd.  —  Luschka,  das  Endocardium,  etc.,  in 
Virchow's  Archiv.  IV.  —  Reinhard,  zur  Kenntniss  der  dünnen  Stelle 
in  der  Herzscheidewand  in  Virchow*s  Archiv.  XIL  —  Luschka,  der 
Herzbeutel  und  die  Fascia  endothoracica,  in  den  Denkschriften  der 
kais.  Akad.  16.  Bd.  —  C  Binich,  Schriften  der  Senkenberg'schen 
Gesellschaft.  1857.  —  C,  Langer,  Zeitschrift  der  Gesellschaft  der 
Wiener  Aezte.  1857.  (Foi^amen  ovale). 

Arterien. 

Hallers    Icones    anatomicae.     Gottingae,    1743,    können    noch 
immer   als    Muster   graphischer   Genauigkeit   dienen.    —    F.     Ttede- 
mann^s  tabulae  arteriarum.  Carlsruhe,  1822,   und  der  Nachtrag    von 
1846,  sind  der  Varietäten  wegen  wichtig.  —  R.  Harrison,    Surgical 
Anatomy  of  the  Arteries.  Dublin,  1839.  4.  edit.    Enthält  viele  gute 
praktische  Bemerkungen.  —  R.  FroHep,  chirurgische  Anatomie  der 
Ligaturstellen.  Weimar,  1830.  —  Ä.   Quain,  the  Anatomy  and  Ope- 
rative  Surgery    of  the   Arteries.     London,    1838.     Plates  in  fol.  — 
N,  Pirogoff,    chirurgische    Anatomie    der    Arterienstämme    und    der 
Fascien,    mit  40   lithographirten    Tafeln    in   fol.     Dorpat,    1838.  — 
Durch  Correctheit  ausgezeichnet,    ist   Ä.  Froriep's   Icon   arteriarum, 
Weimar,    1850,   auf  Einer   Tafel   das  gesammte    Arteriensystem    in 
das   Skelet   eingetragen,    in    Lebensgrösse    dargestellt.    —    Barkotv, 
die  Blutgefässe,   insbesondere   die    Arterien  des  Menschen,  in  ihren 
minder  bekannten   Verzweigungen.     Fol.    mit   43  Tafeln.     Breslau, 
1866.  Derselbe:  die  angiol.  Sammlung  des  anat.  Museums  zu  Breslau. 
Breslau,  1869,  mit  zahlreichen  Abbildungen. 


§.  488.  Literatur  des  fesaauiten  Gefisaeyttenis.  1053 


Varietäten  der  Arterien. 

Nebst   den   pathologischen    Anatomien   von  Meckd,    Otto,  Cru- 
veähier,  gehört  vorzugsweise  hieher: 

R.  Quain,  on  the  Arteries  of  the  Human  Body,  etc.  London, 
1844.  —  F.  Tiedemann,  Supplementa  ad  tabulas  arteriarum.  Heidel- 
berg, 1846.  —  Herberg,  über  die  Ein-  und  Austrittspunkte  der 
Blutgefässe  an  der  Schädeloberfläche,  in  Wcdiher  und  Ammon's 
Journal.  IV.  Bd.  —  R,  Siebold,  über  den  anomalen  Ursprung  und 
Verlauf  der  in  chirurgischer  Beziehung  wichtigen  Schlagader- 
stämme. Würzburg,  1837.  —  Schiobig,  observationes  de  varia  ar- 
te riae  obturatoriae  'origine  et  dccursu.  Lipsiae,  1844.  —  Patruban, 
üefiissanomalien.  Prager  Vierteljahresschrift.  17.  Bd.  (Aortenbogen 
über  den  rechten  Bronchus  gehend.  Vas  aberrans  aus  der  Arteria 
brackicdis.  Hoher  Ursprung  der  Ulnaris.)  —  Demarquay,  sur  les 
anomalies  de  Tartere  sousclaviere.  Comptes  rendus.  Tom.  27.  Nr.  5. 
—  Struthers,  On  a  Peculiarity  of  the  Humerus  and  Humeral  Artery. 
Monthly  Journal.  New  Series.  XXVIU.  —  W.  Gruber,  Abhand- 
lungen aus  der  menschlichen  und  vergleichenden  Anatomie.  Peters- 
burg, 1852.  (Schätzbare  Angaben  über  numerische  Verhältnisse 
der  Varietäten.)  —  H,  Mayer,  über  die  Transposition  der  aus 
dem  Herzen  hervortretenden  grossen  Arterienstämme  ^  in  Virchow's 
Archiv.  XII.  —  Schwegel,  Prager  Viertcljahresschrift.  1859.  — 
J,  Htjrtl,  Oesterreichische  Zeitschrift  fiir  praktische  Heilkunde. 
1859,  Nr.  29,  seqq.  (Arteria  palatina  ascendenSj  vertebralis,  occipitalis, 
lingualis  und  thyreoidea.)  —  Hyrtl,  über  normale  und  abnormale 
Verhältnisse  der  Schlagadern  des  Unterschenkels.  Wien,  1864,  mit 
10  Tafeln.  —  Eine  reiche  Zusammenstellung  aller  bisher  bekannt 
gewordenen  Varietäten  der  Arterien,  lieferte  Krause,  im  3.  Bande 
von  Herders  anatomischen  Handbuch.  —  Viel  Interessantes  über 
diesen  Gegenstand  findet  sich  in  dem  Werke  von  Giov.  Zoja:  H 
gabinetto  di  anatomia  normale  della  Universitk  di  Pavia.  Angio- 
logia.  Pavia,  1876,  und  in  W,  Gruber's  Abhandlungen  im  66.,  67. 
und  68.  Bande  des  Archivs  fiir  pathologische  Anatomie,  welche 
auch  Venenanomalien  betreflfen. 


Venen. 

lieber   das    gesammte   Venensystem   existirt   nur   Ein    Haupt- 
werk: 

G.  Breschet,  recherches  anat.  physiol.  et  pathol.  aar  le  Systeme 
veineux.  Paris,  1829.  fol. 


1054  §•  4S8.  Litantar  des  gMammten  GefäsMystems. 

Ueber  die  Siniis  durae  matris  handelt  Morgagni ,  in  dessen 
Adversariis  anatomicis.  VI,  und  Vicq-d/Azyr,  recherches  sur  la  struc- 
ture  du  cerveau,  in  den  M^moires  de  racad(5mie  des  sciences.  1781 
und  1783.  lieber  die  Emissaria  siehe:  D,  Santorini,  observ.  anat. 
cap.  in.,  und  J.  Theoph,  Walter,  de  emissariis  Santorini.  Franeof. 
ad  Viadr.,  1757.  Hieher  gehört  auch:  Englisch,  über  eine  con8ta:iite 
Verbindung  des  Sinus  cavernosus  mit  dem  petrosus  inferior  ausser- 
halb des  Schädels  (Sitzungsberichte  der  kais.  Akademie.  1863). 
Ueber  Venenanomalien  handelt  Krause  a.  a.  O.  und  C  H.  Hallett, 
General  Remarks  on  Anomalies  of  Venous  System.  Med.  Times, 
Nov.  Nr.  423.  —  Braune  und  Triünnger,  die  Venen  der  menschl. 
Hand.  Leipzig,  1873.  —  Chahbert,  les  veines  de  la  face  et  du  cou. 
Paris,  1876.  —  Für  die  Entwicklungsgeschichte  interessant  ist 
J.  MarshalVs  Abhandlung:  On  the  Development  of  the  great  an- 
terior Veins  in  Man  and  Mammalia,  in  den  Phil.  Transactions, 
1850.  Part.  I. 


Pfortader. 

A.  F,  Weither,  de  vena  portae  exercitationes  anatomicae. 
Lipsiae,  1739 — 1740.  —  A,  Murray ,  delineatio  sciagraphica  venae 
portae.  Upsal.,  1796.  —  K.  Höhnlein,  descriptio  anatomica  syste- 
matis  venae  portae  in  homine  et  quibusdam  animalibus.  Mogunt., 
1808,  fol.  —  Retzius,  in   Tiedemann's  und   Tremranus*  Zeitschr.  1833. 

Lymphgefässe. 

C  A,  Asellius,  de  lactibus  s.  lacteis  venis,  etc.  Mediol.,  1627. 
—  «7.  Pecquet,  experimenta  nova  anatomica,  quibus  incognitum  hac- 
tenus  chyli  receptaculum  et  vasa  lactea  deteguntur.  Paris,  1651.  — 
A.  Monro  et  J,  F.  Meckel,  opuscula  anatomica  de  vasis  lymphaticis. 
Lipsiae,  1760.  —  Will.  Hewsony  experimental  inquiries,  etc.  P.  H. 
London,  1774.  —  W.  Cruikshank,  the  Anatomy  of  the  absorbing 
Vessels,  deutsch  von  C.  F.  Ludwig,  Leipzig,  1793.  —  P.  Mascagni, 
prodromo  sul  systema  dei  vasi  limfatici.  Siena,  1784.  Ausgabe  von 
Fr.  Antommarchi,  Firenze,  1819.  fol.  mit  20  Tafeln.  —  E,  A.  Lauth, 
sur  les  vaisseaux  lymphatiques.  Strasbourg,  1824.  —  F.  Fohmann, 
m^moires  sur  les  vaisseaux  lymphatiques  de  la  peau,  etc.  Li^ge, 
1833.  —  G.  Breschet,  le  systfeme  lymphatique,  consid^r^  sous  le 
rapport  anat.,  physiol.  et  pathol.  Paris,  1836. 

Ueber  einzelne  Abtheilungen  des  Lymphgefasssystems  handelt: 

A,  Hallerj  resp.  Bussmann,  observationes  de  ductu  thoracico. 
Gottingae,  1741.  —   B.  S.  Albin,   tabula   vasis    chyliferi  cum    vena 


$.  4SS.  Literatur  daa  geflammten  GefiisBystema.  1055 

azyga.  L.  B.,  1757.  —  F.  J.  Hunaidd,  observations  sur  les  vaisseaux 
lymphatiques  dans  le  poumon  de  rhomme,  in  M^moires  de  Facad. 
de  Paris.  1734.  —  J,  G,  Haase,  de  vasis  cutis  et  intestinorum  ab- 
sorbentibus,  etc.  Lipsiae^  1786.  —  S,  Th.  Sömmfrrtng,  de  trunco 
vertebrali  vasorum  absorbentium ;  in  Comment.  soc.  reg.  Gottingae. 
Vol.  XIII.  —  Patruban,  Einmündung  eines  Lymphaderstammes  in 
die  Vena  anonyma  drmtra,  Midler's  Archiv.  1845.  —  Svitzer,  Beob- 
achtung einer  Theilung  des  Ductus  thoradcus.  ibid.  pag.  21.  — 
Nuhn,  Verbindung  von  Saugadern  mit  Venen.  Müller's  Archiv.  1848. 
—  Jarjavay,  sur  les  vaisseaux  lymphatiques  du  poumon.  Archives 
gen^r.  de  medecin.  Tom.  XIII.  —  Dubois,  des  ganglions  lympha- 
tiques des  membres  sup^rieures.  Paris,  1853.  —  Die  schon  früher 
citirten  Schriften  von  Teichmann,  Hü,  Frey,  Recklingshausen,  Ludimg, 
Tomsa  und  Schwalbe,  so  wie  mein  Aufsatz  über  die  Injection  der 
Lymphcapillaren  in  der  Österreich.  Zeitschrift  für  praktische  Heil- 
kunde 1860. 

Eine  Reihe  von  Versuchen  über  die  bewegende  Kraft  der 
Lymphe,  enthält  der  Aufsatz  von  F,  Noll:  über  den  Lymphstrom 
imd  die  wesentlichen  Bestandtheile  der  Lymphdrüsen,  in  Henle's 
und  Ffeuffer's  Zeitschrift.  9.  Bd.  Ebenso  Schwanda,  über  die  Quan- 
tität der  in  bestimmten  Zeiten  abgesonderten  Lymphe,  in  dem  amt- 
lichen Berichte  über  die  32.  Versammlung  deutscher  Aerzte  und 
Naturforscher.  Wien,  1858. 


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