■^;:^90>^
m,-^
^SENTEö
The New Yor
\
of Medicine
Digitized by the Internet Archive
in 2010 with funding from
Open Knowledge Commons and Harvard Medical School
http://www.archive.org/details/lehrbuchdergeric1881kraf
LEHRBUCH
der
Gerichtlichen Psychopathologie
MIT BERÜCKSICHTIGUNG DERI
SESETZGEBUNa W ÖSTERREICH, DEUTSCEAND UND FRANKREICH
Dr. R. von KRAFFT-EBING,
0. ö. Professor an der k. k. Universität Graz, Mitglied der societe medico-psychologique und der
soci^te de medecine legale in Paris, der societe de medecine in Gent, der societe de medecine mentale de Belgique
der societä freniatrica italiana etc.
Zweite nmgearbeitete Auflage.
-j^far'«^«™'^-'- ■'^~^-'-'
K. 4pMi^i3i
STUTTGART.
VERLAG VON FERDINAND ENKE.
1881.
Alle Rechte vorbehalten.
Druck von Gebrüder Kröner in Stuttgart.
Vorwort zur ersten Auflage.
JJie wohlwollende Aufnahme, welcher sich des Verf. „Grund-
züge der Criminalpsychologie" und „zweifelhafte Geisteszustände vor
dem Civilrichter" zu erfreuen hatten, gab ihm den Muth, der Auf-
forderung des Herrn Verlegers, unter Zugrundlegung dieser beiden
kleineren Arbeiten ein vollständiges Lehrbuch der gerichtlichen
Psychopathologie zu schreiben, Folge zu leisten.
Die in mehreren grossen Culturstaaten bereits stattgefundene
oder doch im Entwurf vorgezeichnete Aenderung der bezüglichen
Gesetzgebung liess ein derartiges Unternehmen zeitgemäss erscheinen
und veranlasste in der Ausarbeitung zur Bedachtnahme auf den
österreichischen Strafgesetzentwurf, sowie den Entwurf einer deutschen
Civilprocessordnung,
Dem praktischen Zweck des auf das Bedürfniss des Gerichts-
arztes, Eichters, Staatsanwalts- und Vertheidigers Rücksicht nehmen-
den Buches gemäss war möglichste Kürze und Klarheit der Dar-
stellung, Fernhaltung von jeglicher Spekulation und Theorie, Ver-
meidung von unnöthigen Citaten und Literaturangaben geboten.
Dagegen schien es zweckdienlich, durch zahlreiche ausgewählte Krank-
heitsfälle und Gutachten, an die sich eine Angabe der bezüglichen
Casuistik schloss, den Text zu erläutern und dem Praktiker die
Beurtheilung analoger Fälle zu erleichtern. Der Verf. hofft, dass
dadurch die Brauchbarkeit des Buches erhöht werde und dasselbe
auch auf den Universitäten, wo das Studium der gerichtlichen Psycho-
pathologie, trotz seiner Wichtigkeit für Gesellschaft und Rechtspflege,
nur ganz vereinzelt gepflegt wird, Eingang finde.
IV Vorwort zur ersten Auflage.
Statt des bisher üblichen Ausdrucks ^forensische Psychologie*
wählte der Verf. zum Titel die Bezeichnung „forensische Psycho-
pathologie". Er wollte damit den veränderten Standpunkt der Wissen-
schaft bezeichnen, die nicht mehr in blosser und einseitiger psycho-
logischer Analyse aufgeht, sondern durch Verwerthung aller auffind-
baren Erscheinungen eines krankhaften Hirnzustands der Lösung der
ihr gestellten Aufgaben zustrebt.
Die Trennung des umfänglichen Stoffs in seine Haupttheile
geschah am natürlichsten nach den Beziehungen, in welchen er sich
zu den drei Hauptzweigen der Rechtspflege ordnete. Die Auseinander-
haltung von Geisteskrankheiten und Zuständen krankhafter Bewusst-
losigkeit entsprach ebenfalls der Fassung der neuesten Criminal-
gesetzgebung.
Obwohl nicht in's Gebiet der Pathologie gehörig, erschien es
doch geboten, die Zustände der Kindheit und Unmündigkeit wegen
ihrer Beziehungen zur Zurechnungsfähigkeitsfrage und ihrer prakti-
schen Wichtigkeit in die Reihe der zu behandelnden Gegenstände
aufzunehmen.
Wichtigen, heutzutage nicht mehr zu vernachlässigenden klini-
schen und besonders anthropologischen Anschauungen trägt die Unter-
scheidung des chronischen Irreseins in „Geisteskrankheiten" und „psy-
chische Entartungszustände" Rechnung. Ist auch die wissenschaftliche
Auffassung dieser letzteren noch nicht vollkommen geklärt, so kann
diese Sonderstellung doch nur nützlich sein, indem sie Gesetzgebung
und Rechtsprechung auffordert, die Repräsentanten dieser ohne Zweifel
pathologischen Gruppe zu studiren, ihre Stellung zum Gesetz und
ihre Verantwortlichkeit gegenüber diesem zu präcisiren.
Feldhof bei Graz, im November 1875.
Der Verfasser.
Vorwort zur zweiten Auflage.
Die übereinstimmend günstige Kritik sowie der unerwartet rasche
Absatz der ersten Auflage lassen den Verf. hoffen, dass auch die vor-
liegende zweite Auflage Erfolg haben und zur weiteren Verallgemeine-
rung einer social so wichtigen Wissenschaft beitragen wird. Die Winke
der Hr. Kritiker wurden dankbar benützt, die inzwischen gemachten
Fortschritte der Psychiatrie gewissenhaft verwerthet, den Aenderungen
der Gesetzgebung wurde Rechnung getragen. Die neue Auflage
darf als eine in den wichtigsten Theilen völlig umgearbeitete be-
zeichnet werden. Die Grundeintheilung des Buches wurde beibe-
halten, aber eine bessere übersichtlichere Anordnung des Stoffes und
eine vertieftere klinische Darstellung sowie schärfere Diagnostik an-
gestrebt. Durch jeweilige Vorausstellung der Literatur und der
bezüglichen Gesetzgebung sowie einer klinischen Uebersicht des be-
treffenden Gegenstands suchte der Verf. die Brauchbarkeit des Buches
zu vermehren, die Orientirung in demselben zu erleichtern und dessen
speciellen forensischen Inhalt noch mehr hervorzuheben.
Die Casuistik ist etwas vermindert, aber sorgfältig gesichtet und
durch die hervorragendsten Fälle aus der ganzen neueren Literatur
bereichert. In der Verweisung auf die Casuistik wurde nur auf
Brauchbares Rücksicht genommen, jedoch innerhalb dieser Gränze
die möglichste Vollständigkeit angestrebt. Dem Entgegenkommen
der Verlagsbuchhandlung ist es zu danken, dass durch Anwendung
VI Vorwort zur zweiten Autlage.
kleineren Drucks an geeigneten Stellen der erheblich vermehrte Inhalt
der zweiten Auflage den Raum der ersten nicht wesentlich über-
schritten hat.
Möge das Buch auch in seiner neuen Gestalt eine freundliche
Aufnahme finden und seine Erweiterung und Umarbeitung als Ver-
besserung beurtheilt werden.
Graz, 5. Februar 1881.
Der Verfasser.
Inhalt.
Seite
Einleitung und Geschichte 1—9
Entwicklungsstufen des Strafrechts (2). Die gerichtl. psychol. An-
schauungen der italienischen Juristen im XVI. Jahrhundert (4).
Zacchias (4). Neugestaltung des Strafrechts auf psychol. Grundlage (6).
Fortschritt der gerichtl, Psychologie zur Psychopathologie (7). Ihre
Bedeutung für die Strafrechtspflege (7). Nothwendigkeit des Stu-
diums für Mediciner und Juristen (8).
Buch I. Die Beziehuiigen zum Criminalrecht.
A. Allgemeiner und formeller Theil.
Cap. I. Das Princip der forensischen Psj^chologie. — Willensfreiheit . 9 — 13
Naturwissenschaftliche (10) und moralstatistische (11) Bedenken
gegen die Annahme einer absoluten Willensfreiheit.
Cap. IL Zurechnung und Zurechnungsfähigkeit 13 — 17
Cap. III. Die Zurechnungsfähigkeit im concreten Fall. Allgemeine recht-
liche Grundsätze 17 — 20
Cap. IV. Stellung und Aufgabe des ärztlichen Technikers im Criminal-
forum 20—28
Stellung und Aufgabe (22). Subjektive (23) und objektive Erforder-
nisse. Genügende Zeit der Beobachtung (28). Passender Ort (24).
Studium der Akten (24). Persönliche Exploration des Angeklagten (25).
Das Gutachten (26). Dieses nicht bindend für den Richter (27).
Cap. V. Der ärztliche Nachweis geistiger Krankheit 28 — 40
Nothwendigkeit einer streng klinischen Methode (28). Geisteskrank-
heiten sind Hirnkrankheiten mit vorwaltenden psychischen Phäno-
menen (29). Diese Hirnkrankheiten äussern sich nicht bloss in
psychischen Symptomen (29). Wichtigkeit einer Berücksichtigung
ihrer Ursachen, Erblichkeit (30). Sonstige Ursachen (30). Unter-
scheidende Merkmale eines Gemüthsaffekts von Jbeginnender Gemüths-
VIII Inhalt.
, Seite
krankheit (31). Verlauf des Irreseins (32). Körperliche Sym-
ptome (32). Specielle Diagnose der Geisteskrankheit (33). Trüg-
lichkeit der Symptome (33). Nothwendigkeit ihrer synthetischen
und individualisirenden Verwerthung (34). Der äussere Ausdruck
der Krankheit (34). Conversation mit dem Exploranden (35). All-
gemeine Regeln für eine solche (35). Dissimulirende Irre (35).
Werth des Studiums der Schriften zweifelhaft Kranker (36). Be-
deutung der Aenderung des Charakters für die allgemeine Diagnose
des Irreseins (38). Wahnideen (39). Hallucinationen (40).
Cap. VI. Die Simulation des Irreseins 40 — 48
Motive, Schwierigkeit der Simulation. Fehler des Simulanten. Nach-
weis der Simulation schliesst Geisteskrankheit nicht aus. Beob. 1.
Simulation von transitorischem Irresein (44). Beob, 2. Simulation
von allgemeiner Verwirrtheit, später von epilept. Anfällen (46).
Beob. 3. Simulation chron. Irreseins (47). Vorgeschütztes Irre-
sein (48).
B. Specieller und klinischer Theil.
Cap, VII. Das Alter der strafrechtlichen Unreife 49 — 60
Kindliches Alter (51). Beob. 4. Ein kindlicher Verbrecher (52).
Beob. 5. Ein kindlicher Verbrecher (52). Kritisches Alter der
strafrechtlichen Reife. Unterscheidungsvermögen (53), Pubertäts-
entwicklung (55). Beob. 6. Mord zweier Kinder durch eine 12^2-
j ährige Dienstmagd bei mangelndem Unterscheidungsvermögen (56).
Beob, 7. Eine 14jährige, in der Pubertätsentwicklung befindliche
Brandstifterin (56). Verlangsamte geistig-körperliche Entwicklung.
Bedeutung als eines Milderungsgrunds (59). Beob. 8. Geistig und
körperlich zurückgebliebener 19j ähriger Attentäter (59).
Cap. VIII. Psychische Entwicklungshemmungen 60 — 78
Ursachen (61). Klinische Uebersicht. Psychische Symptome (62).
Physische (64), forensische Beurtheilung (65). Strafbare Handlungen
Blödsinniger (68). Beob. 9. Ein blödsinniger Menschenfresser (68).
Beob. 10. Blödsinniger Brandstifter (69). Strafbare Handlungen
Schwachsinniger (69). Beob. 11. Schwachsinniger Brandstifter (70),
Beob. 12. Der Knabenmörder Carlino Grandi (71). Beob. 13.
Mord, begangen von einem hochgradig Schwachsinnigen über An-
stiften eines Vollsinnigen (73).
Anhang : Die Taubstummheit 78— 81
Beob. 14. Diebstahl eines ohne Unterricht aufgewachsenen Ts. (80).
Beob. 15. Brandstiftung durch einen unterrichteten Ts. (80).
Cap. IX. Die Geisteskrankheiten 81
Die Formen des Irreseins ■ 88
1. Die Melancholie 83—109
Klin, Uebersicht (84), Ursachen der Gefährlichkeit Melancholischer
(86). Angst und Raptus (87). Gewaltthaten aus schmerzlichem
Fühlen (90). Beob. 16, Indirekter Selbstmord (91). Beob. 17.
Aehnlicher Fall (91). Beob. 18. Mord des Kindes aus schmerzlichen
Gefühlen (92). Beob. 19. Brandstiftung (93). Heimwehkranke
Inhalt. IX
Seite
Melancholiker (95). Beob. 20. Brandstiftung aus Heimweh (95).
Gewaltthaten aus Zwangsvorstellungen (96). Beob. 21. Mord eines
Mädchens (97), Beob. 22. Mord (98). Mechanismus und gerichts-
ärztliche Beurtheilung (99). Gewaltthaten aus Affekten der Angst
(100). Beob. 23. Mordversuch im Angstanfall eines Melancholischen
(102). Beob. 24. Tödtung des Kinds im Raptus mel. (102). , Ge-
waltthaten aus Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen (103).
Beob. 25. Mord der eigenen Kinder aus Liebe (105). Beob. 26.
Puerperalmelancholie. Mord der Kinder (106). Beob. 27. Mord
der Ehefrau in Verfolgungsdelir (107).
2. Die Manie 109—116
Klinische Uebersicht der maniakalischen Exaltation (109), der Tob-
sucht (113). Rechtsverletzungen Seitens Maniakalischer (113).
Beob. 28. Kurpfuscherei. Chron. Manie mit Grössenwahn (114).
Beob. 29. Gatten- und Kindsmord. Tobsucht (115).
Anhang: Das periodische Irresein 117 — 124
Vorkommen. Diagnostik (118). Dipsomanie (119). Beob. 30.
Diebstahl. Mania periodica (120). Beob. 31. Brandstiftung in
Mania periodica (121). Beob. 32. Dipsomania menstrualis perio-
. dica (122). Lucida intervalla (123).
3. Wahnsinn (primäre Verrücktheit) 124 — 153
Allgemeine Bedeutung und Diagnostik dieser Zustände.
Verfolgungswahnsinn 126
Klin. Uebersicht (126). Forensische Bedeutung und Gemeingefähr-
lichkeit solcher Kranker (128). Zeichen beginnender Gefährlich-
keit (128). Mordthaten solcher Kranker (128). Beob. 33. Mord.
Verfolgungswahnsinn (129). Beob. 34. Mord. Verfolgungswahn-
sinn (131). Beob. 35. Dreifacher Mord. Verurtheilung zu lebens-
länglichem Kerker (132). Beob. 36. Verfolgungswahnsinn. Mord-
versuch im Angstanfall (132). Beob. 37. Verfolgungswahn sinn.
Mordversuch an einem Prediger (133). Beob. 38. Mordversuch
in Folge von Hallucinationen bei Verfolgungswahnsinn (133).
Hypochondrischer Verfolgungswahn (134). Beob. 39. Hypochondr.
Verfolgungswahn. Gattenmord (134). Beob. 40. Aehnlicher Fall.
Mord der Tante (135).
Querulanten- oder Processkrämerwahnsinn 136
Beob. 41. Querulantenwahnsinn. Misshandlungen (138). Beob. 42.
Zweifelhafter Fall von Querulantenwahnsinn (140). Beob. 43.
Hypochondrische Verrücktheit. Wahn, vom Arzt falsch behandelt
zu sein. Mordversuch auf diesen (144).
Religiöser Wahnsinn 145
Klinische Uebersicht. Strafbare Handlungen (146). Diagnose des
religiösen Wahnsinns (146). Beob. 44. Mord des eigenen Kindes,
um Gott ein Opfer darzubringen (147).
Erotischer Wahnsinn 151
Beob. 45. Erotischer Wahnsinn. Erpressungsversuch (152).
4. Erworbene geistige Schwächezustände 153 — 169
Geistige Schwächezustände nach Melancholie und Manie .... 154
: Inhalt.
Seite
Beob. 46. Aus Melancholie hervorgegangene Geistesschwäche.
Mord (155). Beob. 47. Schwachsinn nach acuter Psychose. Todt-
schlag (156).
Geistige Schwächezustände nach Trauma capitis 158
Beob. 48. Schwachsinn nach Kopfverletzung. • Tödtung ina Affekt
(159).
Dementia senilis 160
Beob. 49. Moral. Verkümmerung auf Grund einer Dementia senilis.
Mord der Tochter (161). Beob. 50. Unzüchtige Handlungen gegen
einen Knaben (162).
Dementia paralytica 163
Klinische Uebersicht. Diagnostische Schwierigkeiten (163). Pro-
dromalstadium des Leidens (164). Stadium der deliranten Auf-
regung (165), der Dementia (166). Remissionen (167). Beob. 51.
Brandstiftung (167). Beob. 52. Mord der Ehefrau (169).
. Das alkoholische Irresein 169 — 186
Klinische Uebersicht (170). Diagnostik des Alkohol, chron. (173).
Strafbare Handlungen (173). Beob. 53. Trunkfällige Entartung
der Sitten und des Temperaments. Verletzung der Ehefrau im
Rausch und Affekt (174). Beob. 54. Alkohol, chron. Wahn ehe-
licher Untreue. Mord der Ehefrau (175). Beob. 55. Alkohol,
chron. Mordversuch am Vater (176).
Trunkfällige Sinnestäuschung 177
Beob. 56. Tödtung der Ehefrau aus trunkfälliger Sinnestäuschung
(178).
Delirium tremens 179
Klinische Uebersicht. Beob. 57. Delirium tremens. Tödtung der
Ehefrau (180).
Delirium der Abstinenz bei Morpliiumsucht 181
Beob. 58. Opiophagie. Diebstahl, um das unentbehrliche Opium
zu erlangen (182).
Alkoholpsychosen 182
Beob. 59. Alkohol, chron. Verfolgungswahnsinn. Ermordung
einer Frau und eines Kindes (183). Beob. 60. Alkohol. Verfol-
gungswahn. Mordversuch (184). Beob. 61. Alkohol. Verfolgungs- i
wahn. Mord in hallucin, ängstlicher Erregung (185).
. Das epileptische Irresein 186—213
Psychische Degeneration der Epileptischen und elementare psychische
Störungen ^ 188
Diagnostik der Epilepsie (189). Nächtliche Anfälle (190). Zurech-
nungsfähigkeit der Epileptischen (192). Beob. 62. Mordversuch
eines Epileptikers (193). Beob. 63. Todtschlag im Affekt (193).
Beob. 64. Böswillige Verleumdung (194).
Transitorische Anfälle psychischer Störung bei Epileptischen . . . 194
Allgemeine Gesichtspunkte. Klinische Uebersicht. -
Stuporzustände , 197
Beob. 65. Mord eines Mädchens. Verletzung von Personen im
Stupor epilept. (197).
Inlialt. XI
Seite
Dämmerzustände mit impulsiven Akten ■ . . . 198
Beob. 66. Impulsiver Mord im Anfall epileptischer Bewusstlosig-
keit (198).
Dämmerzustände mit Angst (petit mal) 199
Beob. 67. Petit mal, Mord mehrerer Personen (200). Beob. 68.
Epilept. Dämmerzustände mit Angst (200).
Dämmerzustände mit hallucinatorischem Delir (grand mal) . . . 201
Beob. 69. Tödtung der Eltern in halluc. epilept. Delir (202).
Beob. 70. Schreckhaftes halluc. epilept. Delir mit episodischem
Himmelsdelir. Mord der Gattin und 4 anderer Personen (203).
Dämmer-(Traum-)Zustände, ähnlich denen des Nachtwandeins . . 205
Beob. 71. Epilept. Traumzustände. Desertion (206). Beob. 72.
Dämmer- und Traumzustände mit Angst. Gefährliche' Drohun-
gen (208).
Diagnostik der transitorischen Irreseinszustände Epileptischer . . 209
Epileptische Psychosen als protrahirte epilept. Delirien .... 210
Beob. 73. Fall von protrahirtem epilept. Dämmerzustand mit
Delir (211).
7. Das hysterische Irresein 218—232
Der hysterische Charakter 213
Klinische Uebersicht der elementaren psychischen Störungen
(213). Forensische Bedeutung (214). Znrechnungsfähigkeit Hy-
sterischer (214). Beob. 74. Hysterismus. Fälschliche Denuncia-
tionen und Betrug (216). Beob. 75. Hereditärer Hysterismus.
Vergiftungen ohne Motiv (217). Beob. 76. Aehnlicher Fall (218).
Beob. 77. Geisterspuk, ausgehend von einem hysteropathischen
Mädchen in der Pubertät (218).
Transitorisches Irresein Hysterischer 220
Beob. 78. Acutes hysterisches Delirium. Schwere Verletzung
der Mutter (221). Beob. 79. Ecstatische hysterische Zustände
mit religiösem Delir. Anklage wegen Betrug (222). Beob. 80'.'
Hysterische Traumzustände mit erotischen Delirien. Fälschliche
Anklage wegen Nothzucht (225).
Chronische Geistesstörung Hysterischer 226
Beob. 81. Erotischer Wahnsinn. Fälschl. Denunciationen (227).
Degenerative Formen (folie raisonnante etc.) hysterischen Irrsinns 228
Beob. 82. Moralisches Irresein auf hysterischer Grundlage (229).
Beob. 83. Betrügereien und Schwindeleien einer hysterischen
degenerativen Persönlichkeit. Pathol. Affekte und Gefängniss-
irresein (229).
Cap. X. Die psychischen Entartungen 232 — 263
Allgemeine Vorbemerkungen. Klinische Uebersicht (233). Funk-
tionelle Degenerationszeichen (234). Anomalien des Geschlechts-
triebs (234). Anatomische Entartungszeichen (236). Psychische
Entartungsphänomene (237). Geisteskrankheit auf degenerativer
Grundlage (238). Forensische Bedeutung dieser Entartungs-
zustände (239).
XII Inhalt.
Seite
1. Das moralische Irresein 241
Allgemeine Bemerkungen. Klinische Uebersicht (242). Diagnose
(245). Rechtliche Verantwortlichkeit moralischer Idioten (246).
Beob. 84. Moralisches Irresein. Mord. Fall Lemaire (247).
Beob. 85. Moralisches Irresein (249). Beob. 86. Moralisches
Irresein. Perverser Geschlechtstrieb. Mord aus krankhafter
Wollust (250). Beob. 87. Defekt geschlechtlicher und socialer
Empfindungen. Castrirungsversuch an einem Knaben (252).
Beob. 88. Mord des Vaters. Irrthümlich geltend gemachtes
moralisches Irresein (253).
2. Das impulsive Irresein 254
Klinische Darstellung. Diagnose. Beob. 89. Impulsives Irresein.
Brandstiftung (257). Beob. 90. Impulsiver Nothzuchtsversuch
(259). Beob. 91. Impulsive Stehlsucht eines Onanisten, motivirt
durch Perversion des Geschlechtstriebs (260). Beob. 92. Krank-
haft impulsive unsittliche Handlungen (261). Beob. 98. Im-
pulsiver Mord (262). Beob. 94. Zeitweise Impulse zur Leichen-
schändung (263).
Cap. XI. Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit 263 — 306
Allgemeine Gesichtspunkte. Verhalten der Erinnerung (265).
1. Abnorme Zustände des Schlaf- und Traumlebens 266
a. Schlaftrunkenheit 266
Beob. 95. Tödtung des Kindes (267). Beob. 96. Tödtung des
Vaters (268).
b. Schlafwandeln 268
Beob. 97. Somnambulismus. Intendirter Mord (270). *
2. Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit durch acute Circulations-
störung im Gehirn 271
a. Mania transitoria 271
Klinische Uebersicht (271). Simulation (272). Beob. 98. Mania
transitoria (273). Beob. 99. Mania transitoria (273). Beob. 100.
Mania transitoria nach der Entbindung (273).
b. Raptus melancholicus 274
Klinische Uebersicht (274). Forensische Bedeutung (274). Beob.
101. Tödtung eines Kinds durch seine Amme im Raptus melan-
cholicus (275).
3. Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit unter dem Einfluss toxischer
Substanzen 276
a. Rausch und bewusstloser Rausch 276
Beob. 102. Mord im Stadium eines bewusstlosen Rausches (279).
b. Die pathologischen Alkoholzustände 281
Bedingungen und Zeichen solcher (281). Diagnostische An-
haltspunkte (283). Klinische Bilder (285). Alkoholepilepsie
(285). Beob. 103. Mord der eigenen Kinder in hallucinatorischer
Sinnesverwirrung zur Zeit eines alkoholeijileptischen Schwindel-
anfalls (285). Acutes Alkoholdelir (287). Beob. 104. Verletzung
der Mutter in solchem (287). Mania transitoria a potu (288).
Inhalt. XIII
Seite
Beob. 105. Mania ebriosa. Tödtung (288). Beob. 106. Mania
ebriosa. Brandstiftung (289).
c. Acutes Irresein durch Vergiftung 289
4. Delirium febrile, inanitionis und Delirium nei'vosum 291
Beob. 107. Mordversuch und Selbstverstümmelung im Inter-
mittensdelir (293). Beob. 108. Mord der Ehefrau im Typhus-
delir (294). Beob. 109. Tödtung des Kinds im Delirium acutum
(294). Beob. 110. Kindsmord im Delirium eines Puerperal-
fiebers (295).
5. Die Affektzustände 296
a. Der physiologische Affekt 296
Beob. 111. Vierfacher Kindermord im Affekt eines vv^ahrschein-
lich Gemüthskranken (299).
b. Der pathologische Affekt 300
Es handelt sich nicht mehr um Affekt, sondern um Irresein.
Pathogenese (300). Entstehungsbedingungen (301). Beob. 112.
Durch Intensität und Dauer ausgezeichneter pathologischer Affekt-
zustand (302). Beob. 113. Pathologischer Affekt. Angriffe auf
einen Vorgesetzten (303). Beob. 114. Pathologischer Affekt.
Tödtung des Kindes (305).
Anhang.
Cap. XII. Verbrechen und Vergehen an Geisteskranken 307 — 316
Beischlaf an Willenlosen, Bewusstlosen und Geisteskranken . . . 307
Beob. 115. Beischlaf mit einer Schvs^achsinnigen (309). Beob.
116. Beischlaf mit einer Nymphomanischen (311).
Beischlaf nach Versetzung in einen wehr-, willen- oder bewusstlosen
Zustand 312
Beob. 117. Angeblich gewaltsame Entjungferung im willen-
losen, durch Rausch verursachten Zustand (313). Beob. 118.
Verbrechen der Schändung im hypnotischen Schlafzustand (314).
Cap. XIII. Fälschliche Beschuldigungen von Seiten Geisteskranker . 316 — 320
Selbstbeschuldigungen 316
Beob. 119. Ein an Typhus Erkrankter delirirt im Sinn der
Anklage (316). Beob. 120. Analoger Fall (317). Beob. 121.
Fälschliche Selbstanschuldigung einer Geisteskranken (317).
Anschuldigungen Anderer - 318
Cap. XIV. Versetzung in Geisteskrankheit 320 — 327
Gesetzliche Bestimmungen und Interpretationen (321). Irresein
durch mechanischen Insult. Diagnostische Anhaltspunkte (322).
Irresein durch psychischen Shok (323) und diagnostische Ge-
sichtspunkte. Beob. 122. Gelstiger Schwächezustand durch
materielle Läsion in Folge von Trauma capitis (324). Beob. 123.
Geistesstörung als angebliche Folge einer Züchtigung (324).
Beob. 124. Geistesstörung in Folge einer Misshandlung (325).
Beob. 125. Geisteskrankheit nach Nothzucht (325).
Aphasie als Folge von Trauma capitis 326
Beob. 126. Traumatische amnestische Aphasie (326).
XIV Inhalt.
Seite
Cap. XV. Haftfähigkeit mit Bezug auf die psychische Gesundheit . 327—329
Beob. 127. Zweifelhafte Haftfähigkeit (329).
Buch IL Die Beziehungen zum Civilrecht.
A. Allgemeiner Theil.
Cap. I. Die Dispositionsfähigkeit 330 — 344
Bedingungen derselben (331). Rechte (332). Umstände, welche
die bürgerliche Verfügungsfreiheit beschränken oder aufheben
(332). Gesetzliche Bestimmungen (333). Mängel derselben (334).
Gemüthskranke (335). Wahnsinn (336). Geistesschwäche (336).
Taubstumme (336). Aphasische (337). Lucida intervalla (339).
Beob. 128. Gestörte Hirnentwicklung durch apoplectischen Insult.
Fragliche, aber vorhandene Dispositionsfähigkeit (340). Beob.
129. Epileptischer Schwachsinn. Beantragte Blödsinnigkeits-
erklärung (340). Beob. 130. Taubstummheit. Fragliche Dis-
positionsfähigkeit (341). Beob. 131. Schwachsinn. Aphasie (343).
Cap. II. Das Entmündigungsverfahren 344 — 351
1. Das deutsche Entmündigungsverfahren 344
2. Das österreichische Entmündigungsverfahren 346
3. Das Interdictionsverfahren nach französischem Recht 346
Der ärztliche Sachverständige im Entmündigungsverfahren . . . 347
Rückblick auf das Entmündigungsverfahren in den verschiedenen
Ländern und Desiderata 349
Cap. III. Die Aufhebung der Curatel 352—355
B. Specieller Theil.
Cap. IV. Streitige Dispositionsfähigkeit nicht Entmündigter .... 355 — 360
Beob. 132. Zweifelhafte Validität eines Kaufvertrags. Melan-
cholie (358). Beob. 133. Analoger Fall. Manie (358). Beob. 134.
Angeborener Schwachsinn. Streitige Dispositionsfähigkeit (359).
Beob. 135. Zweifelh. Dispositionsfähigkeit eines Sterbenden (359).
Cap. V. Psychopathische Zustände in Bezug auf Ehefähigkeit und
Ehescheidung 361 — 365
Beob. 136. Zweifelhafter Geisteszustand einer hirnkranken Frau,
die eine Ehe eingehen will (363). Beob. 137. Fragliche Gültig-
keit einer in extremis geschlossenen Ehe (364). Beob. 138.
Trauung im Prodromalstadium eines Anfalls epileptischer tran-
sitorischer Geistesstörung (364).
Cap. VI. Schadenersatzpflicht Geisteskranker 365 — 366
Cap. VII. Zeugnissfähigkeit in psychopathischen Zuständen .... 366—369
Beob. 139. Zeugnissfähigkeit eines Schwachsinnigen (369).
Cap. VIII. Testirfähigkeit 369-390
Gesetzliche Bestimmungen 370
Die vom Gesetz geforderten geistigen Fähigkeiten zur Errichtung
eines Testaments 372
Psychische Störungen, welche die Testirfähigkeit während ihrer
Dauer aufheben 373
Inhalt. XV
Seite
Pathologische Zustände Sterbender (374). Beob, 140. Fieber-
delirium. Zweifelhafte Testiriahigkeit (375). Chronische heerd-
artige Hirnkrankheiten (375). Beob. 141. Apoplectischer Schwach-
sinn. Zweifelhafte Testirfähigkeit (376). Beob. 142. In krankh.
Geisteszustand nach einer Apoplexie errichtetes Testament (377).
Aphasie (377). Geisteskrankheit (378). Beob. 143. Melancholie
als Vorstadium einer Manie. Fehlende Testirfähigkeit (379).
Beob. 144. Melancholie mit freien Zwischenräumen. Fragliche
Validität eines Testaments (381). Beob. 145. Verfolgungswahn-
sinn, Nullität des Testaments (382). Beob. 146. Dementia
paralytica. Angefochtenes Testament (382). Beob. 147. Alters-
blödsinn. Ungültigkeitserklärung des Testaments (383). Beob. 148.
Analoger Fall (384). Beob. 149. Verfolgungswahn auf Grund
seniler Dementia. Fragliche Testirfähigkeit (384).
Anhaltspunkte für die Beurtheilung des Geisteszustands des Testators 386
Beob. 150. Wegen bizarren Inhalts angefochtenes Testament.
Keine Geistesstörung (389).
Anhang."
Die Beziehungen zum Verwaltungs- und Polizeirecht.
Irrengesetzgebung 391 — 400
Bestimmungen über Aufnahme in and Entlassung aus Irrenanstalten 392
Die staatliche Beaufsichtigung der Irrenanstalten 395
Concession zur Errichtung von Privatasylen 396
Zwangsweise Verbringung in Irrenanstalten. Gemeingefährlichkeit 396
Die staatliche Fürsorge und Beaufsichtigung der ausserhalb der
Anstalten befindlichen Irren 398
Einleitung und Geschichte.
Literatur. Morel, traite de la medecine legale des alienes. Paris 1866. Beer,
Vierteljalirschrift für Psychiatrie, 1868 Nr. 1, 1869 Nr. 3 u. 4. Semelaigne,
Journal de medecine mentale, v. Holtzendorff, Einleitung in das Strafreclit.
Berner, Lehrbuch des deutschen Strafrechtes, 7. Aufl. Livi, Frenologia
forense, Milano 1863 — 68.
Eine Geschichte der gerichtlichen Psychopathologie kann nur
an der Hand der Entwicklungsgeschichte der Psychiatrie uad der
Rechtswissenschaft versucht werden. Insofern sie von einem fort-
schreitenden Erkenntnissprocess der Menschheit Zeugniss gibt, der
die edelsten Güter und höchsten Probleme menschlicher Existenz
betrijfft, ist sie ein ebenso lehrreicher als wichtiger Theil der Cultur-
geschichte überhaupt. Leider kann sie nur in Fragmenten geliefert
werden. Durch Jahrtausende finsterer Barbarei und blinder Ver-
kennung krankhafter Naturerscheinungen führt ihr Weg zu den ge-
läuterten Stufen heutiger Erkenntniss; das allmälige Hervordämmern
von Wahrheit, Wissenschaft und Humanität aus Unwissenheit, Aber-
glaube und Fanatismus verkündet sie, während sie uns an die trau-
rigsten Verirrungen des Menschengeistes in Gestalt von Scheiter-
haufen, Folter und Hexenprocessen erinnert.
Die Geschichte einer Wissenschaft wird sie erst von dem
Zeitpunkt an, wo die Psychiatrie im Stand war, eine wissenschaft-
liche Diagnose zu stellen, den Irren vom Verbrecher und Behexten
zu unterscheiden vermochte und wo die Rechtswissenschaft an Stelle
der objektiven Schuldfrage und der Bemessung der Schuld nach
Massgabe des materiellen Schadens das subjektive Moment der wider-
rechtlichen und freien Willensbethätigung setzte.
V. Krafft-Ebing, gerichtl. Psychopathologie. 2. Auflage. 1
2 Einleitung und Geschichte.
Dieser Erkenntnisshöhe erfreut sich die Culturentwicklung erst
seit relativ kurzer Zeit. Die gerichtliche Psychopathologie ist eine
junge Wissenschaft, aber ihre Resultate sind bedeutungsvoll für die
Fortentwicklung der Cultur und des Rechts. Sie gestatten schon
heute Ausblicke auf den Fortschritt der Rechtswissenschaft, die ohne
Psychopathologie nicht mehr bestehen kann.
Die Geschichte des Rechts und der Beurtheilung der Verletzer desselben
lässt 4 Entwicklungsstufen erkennen, die in der Rechtsgeschichte jedes Volkes
zum Ausdruck kommen:
1. In der ältesten Zeit nimmt der Verletzte selbst das Recht der Bestrafung
für sich in Anspruch. Die Strafe ist reine Privatrache.
2. Später ist es die beleidigte Gottheit, die eine Sühne verlangt. Die Strafe
hat den Zweck einer Versöhnung der Gottheit, deren Zorn abgewendet
werden soll.
3. Die Genossenschaft oder Gesellschaft fühlt sich in ihrer Sicherheit bedroht
und versichert sich des Verbrechers, um ihn unschädlich zu machen.
4. Der Staat erkennt in der Handlung des Verbrechers eine Verletzung der
öffentlichen Ordnung, des Rechts- und Sittlichkeitsgefühls der Gesammt-
heit und sucht das verletzte Recht wieder herzustellen, dem verletzten
Rechts- und Sittlichkeitsgefühl Genugthuung zu verschaffen, indem er
eine gerechte Vergeltung übt.
Ueber die 3 ersten Culturstufen der Rechtsentwicklung und Rechtsanschauung
können wir kurz hinweggehen. Nur die äusserliche Seite des Verbrechens wird
hier berücksichigt. Auf den Willen des Verbrechers kommt es gar nicht an.
Die Höhe des materiellen Schadens oder die Furcht eines auf niedriger Cultur-
stufe stehenden Volkes vor dem göttlichen Zorn sind massgebend für das Aus-
mass der Strafe. Die Strafen sind demgemäss theils übertrieben hart, theils roh
(talion) und auf die Wiederherstellung der verletzten Privat- (compositio) oder
Gesellschafts-Interessen (fredum, Wette) zielend.
Auf solcher Stufe stehen das mosaische Recht, die Rechtsprechung der
alten Griechen, der Römer bis zur Zeit der Imperatoren, sowie das alte ger-
manische Recht.
Doch finden sich schon im mosaischen Recht Anfänge einer Unterscheidung
von Absichtlichkeit, Fahrlässigkeit und Zufall in der Verübung strafbarer Hand-
lungen, und auch im altrömischen Recht macht sich die subjektive Seite der
Zurechnung des Verbrechens geltend, insoferne nur das dolose Verbrechen als
criminell betrachtet wird, jede andere Verletzung der Gesetze, bei der keine
Absicht vorhanden ist, rein als casuelle That erscheint. Bestimmter leitender
Grundsätze entbehrt indessen das altrömische Recht ; seine Abgränzung von dem
Civilrecht ist nicht durchgeführt, ja es liegt vielfach in der Willkür des Beschä-
digten, ob ein an ihm begangenes Verbrechen als reines Privatdelikt oder als
Auflehnung gegen die öffentliche Ordnung verfolgt werden soll.
Einer verhältnissmässig hohen Ausbildung dagegen erfreute sich bei den
Römern die Civilgesetzgebung. Wir treffen hier schon genaue Bestimmungen in
Betreff der Verfügungsfreiheit Derjenigen, welche sich im Zustand der incapacitas
und imbecillitas befanden. Es scheint, dass die Forschungen eines Aretaeus,
Einleitung und Geschichte. 3
Galenus, Coelius Aurelianus über das Wesen der Geisteskrankheiten nicht fruchtlos
für die römischen Juristen blieben. Der Verlust der Vernunft zog die Ernennung
von Curatoren nach sich. Ob übrigens Aerzte bei der Ermittlung des Geistes-
zustandes intervenirten, ist fraglich.
Das römische Gesetz nahm lucida intervalla an und erkannte bürgerliche
Handlungen, die in solchem Zustand vorgenommen wurden, als rechtsgültig.
Justinian verfügte sogar, dass während der lue. intervalla (intervalla perfectissima)
die Curatel zwar suspendirt, aber der Curator als solcher bestehen bleiben solle
damit nicht bei jedem Rückfall die Ernennung eines solchen wieder nöthig werde.
Mit der fortschreitenden Cultürentwicklung dfer Menschheit entrang sich
das Strafrecht dem niedrigen Standpunkt, den es als Privat- oder Gesellschafts-
rache oder als Sühne der beleidigten Gottheit mit Hintansetzung aller innerlicher
Momente des Verbrechens eingenommen hatte, und erhob sich zur Stufe eines
wirklichen Rechts, das nicht mehr die Grösse des materiellen Schadens allein
sondern auch das subjektive Moment der widerrechtlichen Willensbethätigung
zum Massstab für die Bestrafung des Verbrechens machte , die Strafe als eine
Forderung der Sittlichkeit im Interesse einer verletzten öffentlichen Ordnung
auffasste xmd die Bemessung und Vollstreckung nicht mehr dem Gefühl und
Ei-messen der in ihren Interessen verletzten Parthei oder Volksmenge, sondern
dem unpartheiischen Urtheil eines Vertreters des öffentlichen Rechts zuerkannte.
Der Träger dieser sittlichen Idee ist das auf Innerlichkeit dringende
Christenthum und sein nach ethischer Ausbildung und sittlicher Veredlung
ringendes Streben setzt an die Stelle einer gehaltlosen Vermögensstrafe auf
Besserung hinzielende Busse. Damit ändert sich nicht bloss der Charakter der
Strafe, sondern auch Strafmittel und Strafzweck, wenn auch als Nebenzweck die
dem Bruch göttlicher Vorschriften gebührende Genugthuung mitunterlauft.
Die Kirche übernimmt von nun an das Amt des Richters (canonisches
Recht) und verwaltet es, bis der Staat zum Culturstaat imd Träger des geistigen
Fortschrittes wird und.j ihr das Strafamt entwindend, der Kirche nur mehr eine
disciplinare Gewalt einräumt.
Während so das Christenthum einen mächtigen Hebel der Cultur und
Sittlichkeit einsetzt, vereiteln Aberglauben und von der Kirche genährte Vor-
urtheile vielfach die Sicherheit der Rechtsprechung. Auch die Rohheit des Zeit-
alters lässt den eigentlichen Besserungszweck der Strafe noch nicht aufkommen
und profanirt durch auf falsche psychologische Anschauungen gegründete Ab-
schreckungszwecke die Würde der Rechtsprechung, indem sie grausame Strafen
über den Schuldigen verhängt.
Es fehlt auch noch an der nöthigen Aufklärung, der feinern Kenntniss
der psychischen Zustände, der Entwicklung der Naturwissenschaften. Es ist die
Zeit der Tortur und der Hexenprocesse , und das bedeutende Gesetzbuch des
16. Jahrhunderts, die Carolina, sanktionirt durch barbarische Strafen die aus
Aberglauben, Unwissenheit "und Rohheit hervorgehenden Anschauungen, wenn es
auch die subjektive Seite der Zurechnung nicht vernachlässigt.
So ist der Fortschritt ein langsamer, indessen macht sich die zunehmende
Civilisation in der Milderung der Strafen bemerklich und auch die Rechtswissen-
schaft nimmt immer mehr auf den Innern Zustand des Verbrechers, das subjektive
Moment der Zurechnung Rücksicht. Bahnbrechend in dieser Richtung wirken
die Naturrechtslehrer des 17. Jahrhunderts (Grotius, Hobbes, Pufendorf) und die
4 Einleitung und Geschichte.
Bemühungen eines Thomasius, den Anschauungen jener auf dem Gebiet des
Strafrechts Eingang zu verschaffen.
Einen entschiedenen Fortschritt, der auch den Gesetzgebungen der andern
Länder zugute kommen sollte, bekunden die Anschauungen der italienischen
Juristen des 16. Jahrhunderts. Sie enthalten die Anfänge des Einflusses ärztlicher
Beobachtung und Erforschung der Zustände des krankhaften Seelenlebens, ja die
Zuziehung der Aerzte zur Aufklärung des Thatbestandes wird nun seit der Ein-
führung der Carolina (1532) in Deutschland und in Rom mit der Constituirung
der Ruota romana üblich.
Eine eingehende Kenntniss der subjektiven Bedingungen der Zurechnung,
sowie des Wesens der Geisteskrankheiten verrathen schon die Grundsätze der
italienischen Juristen des 16. Jahrhunderts. Das Kind war straflos (infantem
innocentia tuetur), das Kind bis zu 10 V« Jahren galt als „infantiae proximus und
non doli capax" (Farinacius question. XCVIII. Nr. 8).
Bis zum 12. — 14. Jahre galt die Präsumption des fehlenden Unterscheidungs-
vermögens, die jedoch durch die Regel: „malitia supplet aetatem" eingeschränkt
war, und auch der Unmündige konnte gestraft werden, „si proximus pubertati
Sit et ob id intelligat se delinquere".
Die Unmündigen konnten in Criminalfällen nicht Zeugen sein und ihre
Strafbarkeit fand in dem Alter einen Milderungsgrund bis zum 25. Jahre, dem
Alter der Grossj ährigkeit. Aber auch das Greisenalter gab einen solchen vor
dem Gesetz ab, wie aus folgenden Sätzen hervorgeht :
„Ignoscitur his, qui aetate defecti sunt." — „Senectus est velut alia pueritia"
(de poen. temperand. XIII. p. 20). — „Senes sunt diminuti sensu et intellectu,
ita quod repuerascere incipient" (Farinac. Quest. XIII. Nr. 25).
Die Zurechnungsfähigkeit des Geisteskranken war ausgeschlossen: „furiosus
satis ipso furore punitur", ein Satz, der schon in den römischen Rechts quellen
enthalten ist.
Bestanden darüber Zweifel, ob ein Verbrechen zur Zeit der Geistesstörung
oder ausserhalb derselben begangen wurde, so galt der Satz: „si dubitatur quo
tempore deliquerit, an tempore furoris, an tempore sanae mentis, in dubio et
potius quod deliquerit tempore furoris."
Auch die Affekte wurden schon als mildernde Umstände erkannt: „non
excusant in totum sed tan tum faciunt ut mitius delinquens puniatur."
Ferner: „quidquid in calore iracundiae vel fit vel dicitur, non prius ratum
est quam si perseverantia apparuit, Judicium animi fuisse."
Auch auf die Ursache des Affektes kam es an: „simplex iracundiae calor
non excusat, nisi justa causa praecedat".
Der erste, welcher es versuchte, die medicinisch-psychologischen Erfahrungen
als wissenschaftliches Ganzes zu behandeln, ist Paulus Zachias (vgl. Beer, Viertel-
jahrschr. f. Psychiatrie, II. H. 3 u. 4, p. 371), Leibarzt des Papstes und Consulent
der Ruota romana. Das Verdienst, Material für die Entwicklung der gerichtlich
psychologischen Wissenschaft gesammelt zu haben, gebührt Fortunatus Fidelis
(de relation. medicorum libri IV, Panorm. 1602). In seinen Quaestiones medico-
legales (Rom. 1621—50) legt Zachias den Grundstein zum Gebäude der gericht-
lichen Ps5'-chologie. In seinen Quaestiones lib. II, lit. 1 handelt er „de dementia
et rationis laesione et morbis Omnibus qui rationem laedunt". Dementia ist ihm
der Collektivbegriff für alle Zustände, in welchen der Geist irrt oder sich schwach
Einleitung und Geschichte. 5
äussert. Es ergeben sich hier dreierlei Richtungen gestörter Geistesthätigkeit :
a) die Energie ist vermindert — fatuitas (Blödsinn, Geistessciiwäche, Stumpfsinn).
b) pervers — delirium (phrenitis ), c) gänzlich verloren — Insania (völliger Ver-
lust der Geisteskräfte).
In Bezug auf die Entvi^icklung dieser Krankheitszustände werden primäre
(idiopathische) und secundäre (sympathische) Geistesstörungen unterschieden, nach
dem Verlauf continuirliche und zeitweilige (remittirende und periodische).
Wahrhaft überi'aschend sind aber die feinen diagnostischen Bemerkungen,
die der grosse Arzt des 16. Jahrhunderts im Capitel „de signis sanae mentis"
niedergelegt hat.
Die Zeichen einer Geistesstörung sind nach Z. unendlich mannigfaltig. Sie
sind aus den Handlungen (wozu auch die motorischen Störungen gerechnet
werden) und aus den Reden vielfach zu entnehmen. Indessen können die Reden
solcher Kranker ganz vernünftig sein („ratiocinantur ut caeteri sanae mentis
homines"), wo man dann die Handlungen derselben vorzugsweise berück-
sichtigen muss („porro apertius dementia significatur ex civilibus actibus").
Z. kennt schon Geisteskranke mit partiellem Delirium („plures circa tantum
unam rem insaniunt") und macht auf die forensische Wichtigkeit dieser Erschei-
nung aufmerksam.
Er weiss, dass viele Kranke ihres Erinnerungsvermögens nicht ermangeln
(„justa rerum memoria pollent").
Die Reden und Handlungen werden nach ihm mehr von den Juristen zur
Diagnose benutzt, während die Aerzte mehr die Gemüthsatfekte, die Physiognomie,
den körperlichen Habitus und gewisse äussere Zeichen für die Diagnosis ver-
werthen. Es findet sich also schon bei Z. der Anfang einer anthropologischen,
physikalischen und klinischen Diagnostik. Auch die Ursachen lehrt er beachten,
spricht aber hier noch von Verzauberung und Hexeneinfluss.
Während so der wissenschaftliche Boden für den Aufbau der gerichtlichen
Psychologie gewonnen wird, sind andere Bestrebungen, den Aberglauben dei-
Masse zu zerstören und die Geisteskranken als Hirnkranke, nicht als vom Teufel
Besessene und Verzauberte zu erkennen, von höchster Bedeutung.
Das war eine schwere Aufgabe, denn die Kirche, zum Theil auf Grund
neutestamentlicher Anschauungen, vertrat die Ansicht, dass es sich um Hexerei
und Teufelswerk handle, die Naturwissenschaft war auf zu tiefer Stufe, um die
Phänomene des krankhaften Seelenlebens begründen zu könne'n, zudem bewegte
sich das Delirium der Kranken vorwiegend im abergläubischen Wahn jener
finsteren Jahrhunderte — • klagten sie sich doch selbst nächtlicher Zusammenkünfte
mit dem Teufel, der Cohabitation mit Incuben und Succuben, des Vampyrismus
etc. an !
Aufklärend wirkten schon im 1.5. Jahrhundert Savonarola (Practica de
aegritudinibus a capite usque ad pedes. Pavia 1486). Anton Guarneriiis: Opus
praeclarum ad praxin medicam. Lugdun. 1534. Porta (de humana physio-
gnomia).
Sie sind die Vorläufer Wier's, der in seinem denkwürdigen Werk „de
praestigiis daemonum" 1-517 den Beweis lieferte, dass die Hexen grösstentheils
nur Wahnsinnige und Hysterische seien, und Kaiser und Reich bat, das unschul-
dige Blut dieser vermeintlichen Hexen zu schonen.
Bis tief in das 18. Jahrhundert hinein befindet sich indessen das Strafrecht
6 ■ Einleitung und Geschichte.
noch ohne feste leitende Grundsätze, sind Strafprocess und Strafmittel noch unter
der Barbarei mittelalterlicher Institutionen (Folter). Auch die medlcinisch-
psychologischen Wissenschaften sind noch nicht soweit vorgeschritten, um Grund
legend für die Neubegründung der Rechtswissenschaft wirken zu können, ja nur
ihr Recht geltend machen zu können, in Fragen zweifelhafter Geistesintegrität
gehört zu werden. Diese Berechtigung nachzuweisen bemüht sich J. Z. Platner
in seinem „programma quo ostenditur medicos de insanis et furiosis audiendos
esse". 1740. Sein Sohn Ernst Platner fasst die bisherigen Resultate der Wissen-
schaft in seinen Quaest. medico-forenses zusammen.
Auch die Rechtswissenschaft fühlt endlich das Bedürfniss einer Verinner-
lichung und einer Begründung ihres Wirkens auf philosophischen Grundsätzen
(Strafrechtsphilosophie). Einen gewaltigen Impuls nach der humanen Seite geben
die Bestrebungen eines Beccaria, Filangieri, Voltaire u. A., deren Ziel die Zur-
geltungbringung der allgemeinen Menschenreclite, die Gleichheit vor dem Gesetz,
die Abschaffung der Leibeigenschaft, die Aufstellung liumaner Strafzwecke (Besse-
rung anstatt einer abgeschmackten Abschreckungstheorie), die Humanisirung des
Strafverfahrens (Abschaffung der Tortur) und der Strafmittel ist.
Die humanen Bestrebungen eines Beccaria finden Anerkennung nicht nur
bei der Wissenschaft, sondern auch bei den Gewalthabern. Ein Friedrich der
Grosse verbannt die Tortur aus seinen Staaten, ein Kaiser Josef II. die Todes-
strafe ; allenthalben fallen die entwürdigenden Fesseln der Leibeigenschaft.
Eine Neugestaltung des Strafrechts auf wissenschaftlichen, zum Theil der
Kant'schen Philosophie entlehnten Principien (Theorie des psychologischen
Zwangs) versucht Feuerbach, dessen Grundsätze in einer Reihe von das gemeine
Recht (CCC) immer mehr verdrängenden Particulargesetzgebungen Eingang finden.
Mit der Begründung des Strafrechts auf psychologischer Grundlage ist
auch der medicinischen Psychologie ein mächtiger Impuls zur Geltendmachung
ihrer Erfahrungen und Erweiterung ihrer Kenntnisse gegeben, während die fast
gleichzeitige Reform des Irrenwesens durch Errichtung von Irrenhäusern (St. Lukes
in London, Bonifacio in Florenz), durch Entfernung der Ketten (Pinel), durch
Chiarugi's Werk über Irrenheilkunde (della pazzia in genere ed in ispecie. Firenze
1793) eine mächtige Förderung erfährt.
Der zu Anfang des Jahrhunderts noch unvollkommene Ausbau der medi-
cinischen Psychologie und Psychiatrie führt anfangs zu unbefriedigenden Resultaten
und einseitig philosophischer spekulativer Betrachtungsweise.
Die Unklarheit, in welcher man sich über das Wesen der Seelenkrankheiten
befindet, führt sogar zu Competenzstreitigkeiten (Kant), ob der philosophischen
oder medicinischen Fakultät die Beurtheilung geistig unfreier Zustände zukomme,
und das mühsam für die medicinische errungene Recht wird noch bis in die
30er Jahre dieses Jahrhunderts (Regnault, das Urtheil der Aerzte, übers, von
Bourel, Cöln 1830) bestritten.
Die in der Annahme isolirter Seelenvermögen befangene, grösstentheils
spekulative Psychologie leistet manclien Irrthümern (Monomanien, partieller Wahn-
sinn) Vorschub, der bon sens der Laien und Juristen, welche Störungen der In-
telligenz als Kriterien der geistig unfreien Zustände fordern, erschwert die Geltend-
machung abnormer Seelenzustände, die nicht mit Delirium einhergehen, in foro.
Aufklärend wirken die von Herbart begründete, von Drobisch, Domrich,
Waitz, Wundt u. A. weiterentwickelte empirische Psychologie, die die Solidarität
Bedeutung- der gerichtl. Psychopathologie. 7
der Seelenkräfte erweist und die Monomanien ad absurdum führt, die klinische
Psychiatrie, indem sie ein reiches Material von Erfahrungen in foro zur Ver-
fügung stellte und die Erkenntniss verschaffte, dass die Objekte psychiatrisch-
forensischer Beurtheilung krankhafte Hirnzustände sind, deren Diagnose mit
Aufbietung aller klinischen und anthropologischen Hilfsmittel der modernen
Naturwissenschaft angestrebt werden muss, statt in einer blossen psychologischen,
oft aus der Laienpsychologie des Alltagslebens geschöpften und unhaltbare meta-
physische Kriterien verwerthenden Analyse aufzugehen.
Die frühere gerichtliche „Psychologie" ist zur Psychopathologie
geworden. Dieser veränderte Standpunkt gibt ihr Anspruch darauf,
bei der Abfassung des Gesetzbuchs wie auch bei der Klarlegung
eines concreten zweifelhaften Geisteszustandes gehört zu werden. Die
immer häufigere Inanspruchnahme der Aerzte in foro bezüglich zweifel-
hafter Geisteszustände, die grössere Werthschätzung ihrer Gutachten,
falls sie wirklich den Anforderungen der fortgeschrittenen Wissen-
schaft entsprechen, sind erfreuliche Beweise einer Anerkennung der
• noch jungen Disciplin.
Aber nicht bloss als Leuchte in den vielfach so dunklen Fragen
nach der Zurechnungsfähigkeit des Einzelnen hat die gerichtliche
Psychopathologie eine Bedeutung — viel wichtiger ist sie als Er-
kenntnissquelle für den Fortschritt der Rechtswissenschaft überhaupt,
deren Neugestaltung aus metaphysischen Anschauungen und starrem
Formalismus in der naturwissenschaftlichen anthropologischen Auf-
fassungsweise der geistigen Vorgänge des Menschen, wie sie die
gerichtliche Psychopathologie vertritt, werthvoUe Bausteine findet.
In Ländern (Deutschland, Oesterreich, Italien), wo die Gesetz-
gebung bereits reformirt ist oder ihrer Verbesserung in Kürze ent-
gegensieht, sind Fortschritt der Gesetzgebung und Sicherheit der
Rechtsprechung zum nicht geringen Theil das Verdienst der Psycho-
pathologie, die als Naturwissenschaft vorauseilte und den Fortschritt
anbahnte. In Ländern mit nicht fortgeschrittener Gesetzgebung, z. B.
England, macht sich die Kluft zwischen stehengebliebener Gesetzgebung
und fortgeschrittener Wissenschaft in täglich peinlicher werdender
Weise fühlbar und gefährdet die Sicherheit der Rechtsprechung in
bedauerlichem Masse.
Als in nicht ferner Zeit anzuhoffende Fortschritte unserer
Wissenschaft sind die Klärung gewisser Zustände, die sich äusserlich
wie blosse moralische Verkommenheit anfühlen, in Wirklichkeit aber
krankhafte sind, die Verwerthung neuerer Forschungen über die Erb-
lichkeit psychischer Gebrechen, über den Einfluss gewisser verborgener
Nervenkrankheiten (Epilepsie, Hysterie) auf das Zustandekommen
8 Bedeutung der gei'ichtl. Psychopathologie.
unfreier Geisteszustände zu verzeichnen. Unzählige Unglückliche,
die der heutige beschränkte richterliche Standpunkt und die öffentliche
Meinung noch als Verbrecher und lasterhafte Menschen auffassen,
wird eine spätere Zeit in ihrer wahren Natur erkennen und an ihnen
Vieles, was Wissenschaft und Rechtspflege verschuldet haben, gut zu
machen haben. In diesem Sinn ist das Werk Morel's, des tiefsten
Kenners dieser Zustände, zu verstehen: „je ne mets pas un instant en
doute que les lois, qui r^glent la pdnalite chez tous les peuples civi-
lisds ne soient destindes un jour ä, subir des modifications, dont Thon-
neur reviendra aux m^decins qui auront appris a mieux faire con-
naitre les nombreuses modifications, que l'her^dite imprime ä l'organi-
sation. (Traitd des malad, mental, p. 544.) Ohne Zweifel wird das
anthropologische Studium des Verbrechers seine Früchte tragen und
zur Gewinnung festerer Grundlagen für die Frage der Zurechnungs-
fähigkeit überhaupt, wie auch der Art und Weise des Strafvollzugs
beitragen. Die Zeit wird kommen, wo unsre Anschauungen von heute
über gewisse Verbrecher und die Strafe in ihrer ethischen und recht-
lichen Begründung, besonders da wo sie als Todesstrafe erscheint,
unhaltbar werden, wo der erstere nur noch als gemeingefährlicher
Unglücklicher dasteht, die letztere aber ebenso monströs und unbe-
greiflich ist, wie wir heutzutage an Hexenwahn und Folter vergan-
gener Jahrhunderte mit Beschämung zurückdenken. Eine wichtige
Forderung, die schon heute die gerichtliche Psychopathologie an
den Staat zu stellen berechtigt erscheint, ist die einer Verall-
gemeinerung und Verbreitung ihrer Erfahrungen. Solange Juristen
nicht wissen, wie geistig abnorme Zustände sich kundgeben, solange
sie mit den Vorurtheilen des Laien an concreto Fälle herantreten
und nicht wissen, was sie fragen sollen, solange unwissende Aerzte
unpassend gestellte Fragen entscheiden sollen, von deren Beantwor-
tung doch oft genug Freiheit, Ehre, Leben der Betheiligten abhängt
— so lange bleibt die forensische Psychopathologie troz ihrer socialen
Bedeutung und erreichten Entwicklungshöhe eine todte Wissenschaft,
deren Resultate für das Gemeinwohl verloren gehen.
Diese Unkenntniss, Unsicherheit und Unwissenheit im Gerichts-
saal in Fragen zweifelhafter Geistesgesundheit wird nur schwinden,
wenn auf den Universitäten für das obligatorische Studium dieses
Wissensgebiets vorgesorgt wird, aber nicht bloss für künftige Gerichts-
ärzte, sondern auch für Rechtsgelehrte. Dies geschieht vorläufig
wenigstens in — Russland.
Buch I.
Die Beziehungen zum Criminalrecht.
A. Allgemeiner und formeller Theil.
Cap. I. Das Princip der forensischen Psychologie. —
Willensfreiheit.
Literatur. Die Lehrbücher von Bern er, Schütze, Oppenhoff f. Spielmann,
Diagnostik der Geisteslirankheiten. 1855. v. Rönne, die criminalistische
Zurechnungsfähigkeit. Berlin 1870. Wagner, die Gesetzmässigkeit in den
scheinbar willkürl. menschl. Handlungen v. Standpunkt der Statistik. Ham-
burg 1864. Drobisch, die moral. Statistik und die menschl. Willensfreiheit.
1867. Oettingen, die Moralstatistik. 2. Aufl. 1874. Frese, Friedreich's Blätter.
1873. Benedict, zur Psychophysik der Moral. Wiebeke, AUg. Zeitschr. für
Psych. 23. H. 4. Witlacil, Wien. med. Presse. IX. 23. Göring, krit. Unter-
suchung über d. menschl. Freiheit und Zurechnungsfähigkeit. 1876. Hoppe,
die Zurechnungsfähigkeit. 1877.
Die Grundlage des heutigen nicht mehr bloss den äusseren Erfolg
zur Feststellung der Strafbarkeit und Strafhöhe verwerthenden Straf-
rechtes ist das Axiom der Freiheit des menschlichen Willens. „Wo
das Vermögen frei zu handeln aufgehoben ist, da findet keine Ver-
bindlichkeit aus den Gesetzen statt."
Bevor die praktischen Consequenzen dieses Princips der mensch-
lichen Willensfreiheit gezogen werden, erscheint es geboten in Kürze
sich über ihr wirkliches Vorhandensein und in welchem Umfang dies
zugegeben werden kann, zu verständigen. Eine solche Verständigung
thut noth bei der Divergenz der Standpunkte, welche Philosoph, Jurist
und Naturforscher dem Axiom der menschlichen Willensfreiheit gegen-
über einnehmen.
10 Cap. I. Das Princip der forens. Psychologie.
Während Theologie und Philosophie die menschliche Willens-
freiheit aus dogmatischen, teleologischen und metaphysischen Gründen
statuiren, die Jurisprudenz, deren Grundvoraussetzung sie bildet, sie
als gegeben annimmt, weil sonst ein Rechtsstaat nicht denkbar wäre,
ist es allein die Naturwissenschaft, für die es kein Dogma, kein
apriorisches Raisonnement, keine Autorität, kein Utilitätsprincip, son-
dern nur eine Beobachtung gibt, welche die Frage offen lässt und
sie auf dem Wege jener zu lösen sucht.
Leider ist die menschliche Willensfreiheit keine Eigenschaft der
Materie, sondern nur das Resultat des Zusammenwirkens einer Reihe
von funktionellen Thätigkeiten jener, deren Zusammenhang und Wesen
keineswegs klar zu Tage liegt, auch nicht Gegenstand sinnlicher
Beobachtung ist, sondern nur indirekt sich erschliessen lässt.
Gleichwohl kann es keinem Zweifel unterliegen, dass nur die
Lösung der Frage auf naturwissenschaftlichem Wege Aussicht auf
Erfolg und Berechtigung hat.
Während die metaphysischen Wissenschaften in der Annahme
einer selbständigen Seele sich gefallen und höchstens anerkennen, dass
diese Seele zeitlich an ein körperliches Organ gebunden ist, sich
desselben gleichsam- als ihres Werkzeugs bediene, geht die natur-
wissenschaftliche Betrachtung der der sogenannten Seele zugeschrie-
benen Funktionen des Menschen von der thatsächlich jeden Augenblick
sich kundgebenden Abhängigkeit dieser Funktion vom Körper und
dessen Zuständen aus und weist diese Seelen Vorgänge einem be-
stimmten Organ des Körpers dem Gehirn als Funktionen zu, Ist die
naturwissenschaftliche Anschauung die richtige, so kann kein Zweifel
darüber bestehen, dass die engsten Beziehungen zwischen Organ und
Funktion obwalten müssen.
Diese Annahme findet ihre hundertfältige Stütze in der natur-
wissenschaftlichen Beobachtung der geistigen Vorgänge des Menschen,
im physiologischen und pathologischen Zustand — überall im socialen
Verkehr wie am Krankenbett und am Secirtisch stossen wir auf That-
sachen, die eine direkte Abhängigkeit der geistigen Vorgänge von
den Entwicklungs-, Ernährungs- und Funktionsverhältnissen nicht nur
des Gehirns, sondern des gesammten Körpers erweisen.
Als das Organ der psychischen Thätigkeiten im engeren Sinn
weist die Physiologie die Rindenschicht des Grosshirns nach. Die
Feinheit dieses Organs spottet jeglicher Beschreibung. Unzählige
Fasern und Zellen bildet die Werkstätte der geistigen Verrichtungen,
vermitteln den Verkehr mit den entferntesten Provinzen, sämmtlichen
Willensfreiheit. Ergebnisse der Moralstatistik. H
Organen des Körpers , erfahren aus der Aussenwelt Eindrücke, ver-
arbeiten sie, senden wieder Innervationen und Impulse an die Pro-
vinzen, In diesem Organ sammeln sich aber auch alle Eindrücke
aus dem Körper, bald bloss zu dunklen Empfindungen, bald zu deut-
lichen Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühlen, Affekten sich um-
gestaltend.
Diesem Organ kommt die Mannigfaltigkeit der psychischen
Processe zu, deren Resultat die sogenannte menschliche Freiheit ist.
Aus der Feinheit der Elemente dieses Organs, aus den zahllosen
Fäden, die es mit allen andern Organen verknüpfen, begreift sich
ohne Weiteres die Schwierigkeit der Leistung, wie sie der Begriff
der Zurechnungsfähigkeit enthält, und die Häufigkeit einer Störung
dieser Leistung.
Die Ergebnisse der Naturwissenschaften werden wesentlich ge-
stützt durch eine erst in der Neuzeit cultivirte sociale , nämlich die
Moralstatistik, die jene Lehre vom freien Willen, die den Menschen
so schmeichelhaft ist, bedenklich reducirt, wenn nicht gar ganz ver-
nichtet.
Aus den statistischen Untersuchungen eines Quetelet, aus den
Arbeiten von Wagner, Drobisch, Oettingen u. A, ergibt sich die
bemerkenswerthe Thatsache , dass die scheinbar ganz willkürlichen
Han(Jlungen, wie z, B. Selbstmord, Heirathen, Verbrechen, in an-
nähernd gleichen Quoten alljährlich wiederkehren und statistisch so
gering variiren, dass z. B. die Zahl der Selbstmorde, Heirathen, Ver-
brechen, ja selbst gewisser Kategorieen von Verbrechen für das künftige
Jahr annähernd genau vorausbestimmt werden kann.
Wie lässt sich diese Gesetzmässigkeit der scheinbar willkür-
lichen Handlungen mit der freien Willensbestimmung in Einklang
bringen, wie annehmen, dass diese noch zur Geltung komme, wo
thatsächlich und statistisch nachweisbar scheinbar ganz freie Hand-
lungen in bestimmten Procentsätzen alljährlich sich wiederholen, aber
auch mit gewissen gesellschaftlichen und äusseren, dem freien Wollen
des Einzelnen entzogenen Bedingungen zu- oder abnehmen.
Damit erscheint das Einzelindividuum als ein Sklave seiner
Verhältnisse, wesentlich dreier Faktoren: seiner ursprünglichen orga-
nischen Anlage, seiner Erziehung, seiner äusseren Verhältnisse und
Lebensschicksale. Nur auf Faktor 2 und 3 hat es Einfluss, und zwar
einen sehr bedingten, der erste ist seiner Willkür entzogen, dieser
ist aber gerade der wichtigste. Der Wille des Einzelnen erscheint
nur insofern als eine Potenz und zur Geltung kommend, als er im
12 " Cap. I. Willensfreiheit.
Stande ist, gewisse gesellschaftliche Bedingungen, sei es nach der
guten oder schlimmen Seite hin, zu beeinflussen und umzugestalten,
an der Erziehung der Massen theilzunehmen und die Principien der
allgemeinen Sittlichkeit zur eigenen Erziehung zu verwerthen. Nach
der sittlichen Seite hin vermag dies das Individuum durch Einfluss-
nahme auf die Verbesserung der Gresetzgebung, der ethischen und
intellektuellen Ausbildung seiner Mitmenschen, durch sein eigenes
sittliches Beispiel in Wort und That, als Haupt der Familie, als
Lehrer der Jugend u. s. w. , nach der unsittlichen Seite hin durch
schlechtes Beispiel, Verführung, Hingabe an Laster, Prostitution u. s. w.
Die eminente Bedeutung einer die Gesetze der Vererbung be-
rücksichtigenden Wahl in der ehelichen Verbindung, einer den Ge-
setzen der Natur conformen Lebensführung und einer den Forderungen
der Sittlichkeit entsprechenden Selbsterziehung und Einflussnahme auf
die Erziehung Anderer ergibt sich deutlich aus diesen Thatsachen.
Mehr als den Mangel einer absoluten Willensfreiheit beweisen
indessen diese Zahlen der Moralstatistik nicht, indem sie uns den be-
dingenden Einfluss von gewissen constanten anthropologischen, klima-
tischen und socialen Faktoren auf die Zahl unserer scheinbar freien
Handlungen zeigen.
Trotz sich gleichbleibender übriger Verhältnisse erfahren diese
Zahlen doch auch wieder Veränderungen und werden durc^ Be-
dingungen abgeändert, die zum Theil wenigstens als der Ausdruck
eines freien Wollens betrachtet werden müssen. So geschieht es,
dass durch Aenderungen im Cultur- und sonstigen socialen Leben, die
doch offenbar von einem überlegten Wollen der Gesammtheit aus-
gehen, z. B. durch Veränderungen der Gesetzgebung, Verbesserungen
der Sittlichkeit etc. auch die Zahlen der Moralstatistik abgeändert
werden.
Wir können diese Erscheinung dann als den Ausdruck eines
gewissen Quantums freien Willens der Gesammtheit und als die
Resultante des Zuwachses an individuellem freiem Willen betrachten,
insofern als durch Besserung der Erziehung, der allgemeinen Sittlich-
keit u. s. w. auch die ethischen Motive des Individuums gegenüber
den organischen Antrieben und schädlichen äusseren gesellschaftlichen
Einflüssen gewinnen und erstarken und so der Einzelne einen Zuwachs
an sittlichem Wollen bekommt.
Immer wird dieses „freie" Einzelnwollen nur ein relatives und,
abgesehen von der körperlichen Organisation des Einzelnen, wesentlich
abhängig sein von der Stufe der sittlichen Entwicklung, die der Staat
Cap. II. Zurechnung und Zurechnungstahigkeit. 13
erreicht hat, dem das Individuum angehört, und von demjenigen Mass
von Erziehung, gutem Beispiel etc., dessen dasselbe theilhaftig ge-
macht worden ist.
Bei dem verschiedenen Grad der Culturhöhe und ethischen Ent-
wicklungsstufe der Völker und dem individuell verschiedenen Grad,
in welchem der Einzelne vermöge seiner Anlage und Erziehung die
Früchte dieser Cultur assimilirt hat, werden sich unendlich verschiedene
Gradstufen eines freien Wollens ergeben. Dass dieses immerhin be-
achtenswerthe individuelle Mass sittlicher Freiheit sich je zur Höhe
einer absoluten erhebe, ist für den, welcher die Abhängigkeit des
Seelenlebens von körperlichen organischen und äusseren gesellschaft-
lichen Bedingungen zu würdigen weiss, kaum glaublich, wenn auch
ein Ideal für den Einzelnen wie die gesammte Gesellschaft. Aber
die Gesammtheit als Rechtsstaat macht auch gar keine Anforderungen
an das individuelle Wollen als ein absolut freies, sie begnügt sich
mit der Forderung eines relativ freien, auf die Verpflichtung des
Individuums bis zu einem gewissen von der Gesellschaft als Norm
festgehaltenen Grade dem Andrängen der organischen egoistischen,
die Interessen und Rechtssphäre der Andern verletzenden Regungen
zu Gunsten abstrakter, vernünftiger, dem Sitten- und Staatsgesetz
entsprechender Grundsätze erfolgreichen Widerstand entgegenzusetzen.
Auf diesem Vermögen beruht die bürgerliche Selbstbestimmungs-
fähigkeit, die wieder die Voraussetzung der Zurechnungsfähigkeit, der
rechtlichen . Verantwortlichkeit und damit die anthropologisch-psjcho'-
logische Grundlage des gesammten Rechtsstaats bildet.
Cap. II. Zurechnung und Zurechnungsfähigkeit.
Den Zustand , in dem sich Jemand befindet , der fähig ist,
zwischen Begehung und Unterlassung einer strafrechtlich als Ver-
brechen oder Vergehen bezeichneten Handlung zu wählen, sich für
dieselbe zu bestimmen, nennt die Strafrechtswissenschaft den der
Zurechnungsfähigkeit.
Das Urtheil, dass Jemand in solcher psychischer Verfassung eine
strafbare Handlung begangen hat, derselben schuldig sei, dass sie ihm
zurechenbar sei, ist die Zurechnung.
Als die Bedingungen der Zurechnung ergeben sich: 1. ein
objektiver Thatbestand, eine rechtswidrige That (der blosse Wille
oder Gedanke ist nicht strafbar); 2. ein subjektiver — die That
14 Cap. IL Zurechnung und Zurechnungsfähigkeit.
muss a) gewollt, auf den Willen eines Thäters beziehbar sein
(blosses zufälliges Zusammentreffen von Thaterfolg und Thäter be-
gründen keine Strafbarkeit), b) in dem Wollen des Thäters muss
die Möglichkeit eines Nichtwollens der That zugleich enthalten ge-
wesen sein (Wahlfähigkeit).
Die Voraussetzungen eines solchen (freien) Wollens als Bedingung
der Zurechnungsfähigkeit sind :
a) Das Unterscheidungsvermögen (libertas judicii), d. h. die Fähig-
keit eines Individuums die Beschaffenheit, Verhältnisse und
Folgen seiner Handlung zu erkennen. Dasselbe involvirt die
Erkenntniss von der Nützlichkeit und Nothwendigkeit einer ge-
setzlichen und staatlichen Ordnung des menschlichen Zusammen-
lebens, die Kenntniss der Bedeutung der Gesetze für diesen
Zweck, die Folgen ihrer Uebertretung für die eigene Person
und Gesellschaft.
ß) Die Möglichkeit, sich für Ausführung oder Unterlassung einer
That auf Grund dieser Motive zu entscheiden (libertas consilii).
Die libertas judicii setzt einen gewissen Grad von Erfahrung,
intellektueller Ausbildung und Bildungsfähigkeit, die libertas
consilii eine ungehinderte Ideenassociation und eine ungetrübte
Besonnenheit zur jeweiligen und sofortigen Geltendmachung jener
vom Unterscheidungsvermögen gelieferten Motive voraus. Wo
diese psychologischen Bedingungen erfüllt sind , da besteht
psychologische Zurechnungsfähigkeit. Sie fällt zusammen mit
der juristischen, bildet ihre Voraussetzung.
lieber die criminalistische Zurechnungsfähigkeit hinaus reicht die moralische.
Sie ist gegeben, sobald ein Individuum im Stand ist, nicht bloss aus
logischen, von der Intelligenz gelieferten Motiven des Nützlichen und Schäd-
lichen, des Erlaubten und Verbotenen eine Handlung zu begehen oder zu unter-
lassen, sondern diese Fähigkeit durch ihm zu Gebote; stehende Motive der Sitt-
lichkeit besitzt.
In der Regel werden beim Culturmenschen nicht bloss logische , sondern
auch ethische Motive im Bewusstsein vorhanden sein und den Erfolg bestimmen.
Streng genommen setzt die juristische Zurechnung nur eine volle Einsicht in die
strafrechtliche Verantwortlichkeit voraus, indessen wird im Culturstaat und beim
Culturmenschen ein Fehlen aller ethischen Motive praktisch und erfahrungsgemäss
gleichbedeutend sein mit einem pathologischen Geisteszustand (sogen, moralisches
Irresein) oder einer verkümmerten Erziehung und insofern eine Berücksichtigung
(mildernde Umstände) verdienen.
Jedenfalls ist die moralische Zurechnungsfähigkeit eine höhere Stufe der
juristischen und setzt auch eine höhere Culturstufe des Individuums voraus.
Dass, der sie Bietende (wie dies eine logische Forderung wäre) nicht höher
Cap. II. Zurechnung und Zurechnungsfähigkeit. 15
bestraft wird, als der im blossen Besitz der juristischen Befindliche, ergibt sich
aus der einfachen Thatsache, dass das Strafgesetz praktisch auf Principien der
Zweckmässigkeit und Nützlichkeit gebaut ist und vom Staatsbürger nicht höhere
ethische, sondern bloss intellektuelle Reife fordert, nur ein Erkenntnissvermögen,
das zur Höhe eines Strafbarkeitsbewusstseins sich erhebt.
Ebendesshalb ist das Gebiet der strafrechtlichen Zurechnung auch ein
enger begränztes als das der moralischen, die vor dem Forum des Gewissens,
der Religion und der Familie nicht bloss Geschehenes, das vom Richter gar^
nicht oder nur auf Antrag bedroht ist, sondern auch Gewolltes und Gedachtes
verurtheilt.
Die Wichtigkeit des Gegenstandes macht eine nähere Unter-
suchung der Bedingungen und der Entwicklung der Zurechnungs-
fähigkeit als Zustandes erforderlich:
Sowohl das Strafbarkeitsbewusstsein als die Fähigkeit, sich auf
Grund der von demselben geltend gemachten Motive für die Begehung
oder Unterlassung der Handlung zu bestimmen, benöthigen als Vor-
bedingung eine gewisse geistige Reife und Entwicklungshöhe.
Die Erreichung derselben ist nur möglich auf Grund einer in-
dividuellen Entwicklungsfähigkeit und einer dem Individuum zu Theil
werdenden Erziehung.
Die erstere setzt ein von Geburt aus normales Gehirn , sowie
die Abwesenheit von die Entwicklung desselben störenden Bedingungen
voraus.
Die Entwicklung des Seelenlebens ist eine stufen-, nicht sprung-
weise. Sie geht Hand in Hand mit der fortschreitenden Ausbildung
des Grosshirns, namentlich seiner Oberfläche.
Die auf Sinneseindrücke und sinnhche Regungen des kleinen
Kindes erfolgenden Thätigkeitsäusserungen stellen noch kein Wollen
dar, so wenig als die triebartigen des Thieres.
Erst dadurch, dass sich aus den einwirkenden Empfindungs-
eindrücken durch Verschmelzung gleichartiger und Differenzirung un-
gleichartiger allmälig sinnliche Vorstellungen bilden, die sich von
der sinnlichen Quelle immer mehr los machen, zu allgemeinen Vor-
stellungen, Begriffen, Urtheilen und Schlüssen verarbeiten, entwickeln
sich die Elemente eines intellektuellen Lebens.
An die Stelle blosser Sinnesempfindungen treten Vorstellungen.
Das Bewusstsein der körperlichen Einheit, wie es durch Gefühls-
Tastempfindungen und Organgefühle geschaffen wird, führt zu einer
Vereinigung derselben innerhalb dieses Bewusstseins der körperlichen
Einheit, zu einem „Ich", dass sich nun der Aussenwelt und jeder
neu aus dieser hereintretenden Sinneserregung gegenüberstellt. Diese
15 Cap. II. Zurechnung und Zurechnungsfälligkeit.
Abgräbfeung des Ich von der Aussenwelt (seine DifFerenzirung in ein
Selbst- und ein Weltbewusstsein) ist anfangs noch eine unvollkom-
mene, das Kind betrachtet sich noch als ein Objekt und spricht vor-
erst von sich in der dritten Person. Sein Eintreten in die Phase des
Selbstbewusstseins bezeichnet der Moment, wo es von sich in der
ersten spricht.
Mit der Ausbildung von Vorstellungen haben sich auch dem
Bewusstsein die Anschauungen des Erfolgs früherer Bewegungen ein-
verleibt, während gleichzeitig der zu complicirten Muskelleistungen
befähigende Coordinationsapparat durch Uebung an Leistungsfähigkeit
gewonnen hat.
Insoferne die im Bewusstsein auftretenden Vorstellungen sich
mit Bewegungsanschauungen verbinden, ist eine höhere Stufe in der
psychomotorischen Seite des Seelenlebens erreicht, als sie das Kind
in den ersten Lebensmonaten darbot, dem bloss sinnliche Empfin-
dungen und Gefühle den Impuls zu seinem triebartigen Bewegen bisher
verliehen.
Das Kind besitzt nun die Möglichkeit eines WoUens, insoferne
dasselbe ein bewusstes Begehren mit unbedingter Erreichbarkeit ist
und mit den ersten Erfolgen ist auch wirklich ein Wollen gegeben.
Aber dieses Wollen ist noch lange kein freies, es ist höchstens
ein zwangsmässiges. Das Kind kann nur nach einer Richtung han-
deln, nämlich im Sinn der dem Handeln den Impuls gebenden Vor-
stellung.
Allmälig erweitert sich der Vorstellungskreis, das Kind macht
Erfahrungen, manche Handlungen machen ihm Schmerz oder andere
üble Folgen, es lernt an der Hand des Unterrichts und des Beispiels
verschiedene Arten von Wollen und deren Motive kennen, es erwirbt
sich allgemeine Begriffe von der Nützlichkeit, Erlaubtheit concreter
Willensbestrebungen.
Auf dieser Stufe der geistigen Entwicklung schlagen die in den
Vorstellungen enthaltenen Motive nicht mehr unmittelbar in Bewe-
gungen, Handlungen um, es kommt zu einer Mehrheit von Motiven
und damit zur Möglichkeit eines Nichtwollens — durch hemmende
contrastirende , controlirende Vorstellungen. Das Auftreten dieser
Gegenvorstellungen vermittelt die Ideenassociation ; durch sie ist die
Möglichkeit einer Wahl, d. h. einer vernünftigen Prüfung und Werth-
schätzung der verschiedenen möglichen Arten von Wollen je nach
der Nützlichkeit, Erlaubtheit ihrer Motive mit Bevorzugung des am
meisten gebilligten gegeben.
Cap. III. Die Zureclinungsfähigkeit im concreten Fall. 17
Je nach dem Reichthum und der Klarheit dieser in allgemeinen
intellektuellen, rechtlichen und ethischen Vorstellungen wurzelnden
Motive, je nach der Leichtigkeit, mit der jene im Bewusstsein an-
geregt werden, ergeben sich unendlich viele Abstufungen eines sich
selbst bestimmenden Wollens, deren Höhe von der originären Anlage,
nicht minder aber von der durch Erziehung vermittelten Uebung in
ihrer Geltendmachung abhängt.
Die Rechtswissenschaft hat kein praktisches Interesse an einer
feineren Abstufung jener verschiedenen Arten von Wollen, sie be-
schränkt sich auf diejenige Höhe desselben, wo eine Mehrheit von
Motiven, die sich auf die Nützlichkeit, Strafbarkeit etc. einer inten-
dirten Handlung beziehen, dem Individuum zu Gebot steht und es
befähigt, zwischen Begehung und Unterlassung auf Grund jener Motive
zu wählen.
In den Gesetzbüchern der verschiedenen Nationen ist ein be-
stimmter Alterstermin festgesetzt, von welchem an diese Reife der
geistigen Entwicklung vom Individuum vermuthet wird.
Cap. III. Die Zurechnungsfähigkeit im concreten Tall. —
Allgemeine rechtliche Grundsätze.
Literatur. Löifler, deutsche Klinik. 1869. Nr. 41. Meyer, Archiv f. Psychiatrie.
II. H. 2. Gutachten der Berlin, med. psj^chol. Gesellschaft ebenda H. 2.
Jessen, über Zurechnungsfähigkeit. Kiel 1870. Frese, Allg. Zeitschr. f. Psych.
1870. H. 1 u. 2. V. Rönne, die criminalist. Zurechnungsf. Berlin 1870. Neu-
mann, psychol. Reflexionen etc. Oppeln 1870. Ambrosoli, Archiv, italiano per
le malatie nervös. 1870. Januar. Livi, Rivista sperimentale. 1877. Januar.
Miraglia, sulla procedura nei giudizii etc. Napoli 1870. Mittermaier, Fried-
reich's Blätter. 1866. 1. 4. 5. 1867. 1. 3. Brierre, Joui-n. of mental science.
1869. October.
Gesetzl. Bestimmungen. Deutsche St.-P.-O. §. 203: Vorläufige Einstellung
des Verfahrens kann beschlossen werden, wenn dem weiteren Verfahren
Abwesenheit des Angeschuldigten oder der Umstand entgegen steht, dass
derselbe nach der That in Geisteskrankheit verfallen ist.
§. 485 : An schwangeren oder geisteskranken Personen darf ein Todes-
urtheil nicht vollstreckt werden.
§. 487 : Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ist aufzuschieben , wenn
der Verurtheilte in Geisteskrankheit verfällt.
§. 493 : Ist der Verurtheilte nach Beginn der Strafvollstreckung wegen
Krankheit in eine von der Strafanstalt getrennte Krankenanstalt gebracht
worden, so ist die Dauer des Aufenthalts in der Krankenanstalt in die
Strafzeit einzurechnen.
V. Krafft-Ebiug, gerichtl. P.sycliopatliologie. 2. Auflage. 2
\Q Cap. III. Die Ziirechnungsfähigkeit im concreten Fall.
Oesterr. St.-P.-O. §. 398: Wenn der zum Tode oder zu einer Freiheits-
strafe Verurth eilte zur Zeit, wo das Straturth.eil in Vollzug gesetzt werden
soll, geisteskrank oder körperlich schwer krank ist, hat die Vollziehung so
lange zu unterbleiben, bis dieser Zustand aufgehört hat.
Der Gesetzgeber vermuthet die Zurechnungsfähigkeit von einem
gegebenen Lebensabschnitt an, aber diese Vermuthung involvirt nicht
eine Präsumption für den concreten Fall. Die Frage der Zurechnungs-
fähigkeit in diesem ist eine conditio sine qua non der Schuldfrage
überhaupt, der wesentliche Bestandtheil des subjektiven Thatbestandes.
Das Urtheil, dass Jemand schuldig sei, enthält implicite den Ausspruch
der Z.fähigkeit, wesshalb auch im schwurgerichtlichen Verfahren, falls
die Geschwornen an der Willensfreiheit des Thäters zweifeln, von
ihnen die richterlicherseits gestellte Frage, ob der Thäter schuldig
sei, einfach zu verneinen ist. Selbst wenn eine solche specielle Frage
nicht gestellt wäre, sind sie berechtigt, die Schuldfrage zu ver-
neinen, wenn nach ihrer Ueberzeugung die Z.fähigkeit als Grund-
lage und Voraussetzung aller Schuld fehlen sollte. Die Beurtheilung
der Z.fähigkeit als ein integrirender Bestandtheil des Thatbestandes
kann selbstverständlich nur den Geschworenen oder dem Richter
zufallen.
Da die Frage der Z.fähigkeit eine concrete und Theilfrage des
Thatbestandes, somit offene ist, eine Präsumption nicht zulässig sich
erweist, kann vom Angeklagten nicht verlangt werden, dass er seine
Unzurechnungsfähigkeit beweise, ebensowenig billigerweise sein eigener
oder seines Rechtsbeistandes Antrag auf Stellung der Frage nach der
Z.fähigkeit abgewiesen werden.
Es ist dies eine Forderung der Humanität und Gerechtigkeit,
wenn sich auch nicht verkennen lässt, dass dieses beliebte Auskunfts-
mittel zuweilen missbräuchlich von der Vertheidigung in verzweifelten
Fällen angewendet wird. Die Zulässigkeit dieser Fragestellung von
dem subjektiven Ermessen des Gerichtshofes, die sich auf allenfalls in
der Voruntersuchung oder Hauptverhandlung hervorgetretene Indicien
gründet, abhängen zu lassen, ist ungerecht und gefährlich. Die Er-
fahrung lehrt, dass nur zu häufig unfreie Geisteszustände auf Grund
leichtsinniger Voreingenommenheit oder Unwissenheit der Richter über-
sehen werden. Es ist jedenfalls besser, dass eine Gerichtsverhandlung
in die Länge gezogen, als dass ein Unschuldiger bestraft werde. Es
wird Sache des Gerichtshofs sein, eine vorgeschützte Geistesunfreiheit
auf Grund ungenügender oder fälschlicher Annahmen zurückzuweisen,
nicht aber vom Standpunkte einer bequemen, aber höchst unsicheren
Allgemeine rechtliche Grundsätze. Verhandlungstahigkeit. \Q
Präsumption der Z.fähigkeit der Vertheidigung die Stellung der Frage
überhaupt zu versagen.
Die Formulirung derselben , ob N, N. z. B. in krankhafter
Störung der Geistesthätigkeit oder in Bewusstlosigkeit zur Zeit der
That sich befunden habe^ ist natürlich Sache des Gerichtshofs.
Der Mangel der freien Willensbestimmung zur Zeit der straf-
baren Handlung hebt die Zurechnung auf und bildet einen Straf-
ausschliessungsgrund. Dieser Mangel muss erwiesen und vom Richter
erkannt sein. Blosse Indicien, so lange sie nicht eine richterliche
Ueberzeugung herbeiführen^ genügen nicht zur Freisprechung, jedoch
dürfte es aber dann geboten sein, die Schlussverhandlung zu vertagen
um damit Zeit zur ferneren Beobachtung des Angeklagten zu ge-
winnen. Hat der Untersuchungsrichter sich die Ueberzeugung ver-
schafft, dass der Angeschuldete zur Zeit seiner That im Zustand
aufgehobener Willensfreiheit sich befunden habe, so ist er befugt,
die Untersuchung wegen mangelnder Z.fähigkeit einzustellen. Der
Betreffende ist dann kein Objekt der Strafrechtspflege mehr, wohl
aber kann polizeilich die Frage erhoben werden, ob er aus Gründen
der Gemeingefährlichkeit Gegenstand öffentlicher Fürsorge sein muss.
Sehr häufig geschieht es jedoch, dass erst dann, wenn die Vorunter-
suchung geschlossen und der Verweisungsbeschluss erfolgt ist, sich
Zweifel über die Z.fähigkeit des nunmehr Angeklagten erheben. Da
die Anklage einmal erhoben ist, muss nach formellen rechtlichen
Anschauungen der Rechtsfall zum Austrag kommen. Zu der Frage
nach der Z.fähigkeit zur Zeit der strafbaren That kommt nun die
weitere, ob der gegenwärtige Geisteszustand des Angeklagten derart
sei, dass mit ihm verhandelt werden könne.
Eine Verhandlungsfähigkeit in psychischer Beziehung kann nur
Demjenigen zugesprochen werden, der sich vertheidigen kann. Eine
solche Fähigkeit setzt nothwendig das Bewusstsein der Handlung,
ihrer Strafbarkeit, die Kenntniss der Rechtsmittel und Rechtswohl-
thaten voraus und dürfte nur in den seltensten Fällen Jemand zuzu-
erkennen sein, der sich noch unter der Fortwirkung von Bedingungen
befindet, die zur Zeit seiner That ihm die Freiheit der Willens-
bestimmung raubten.
Wird die Frage der Verhandlungsfähigkeit, die natürlich nur
auf Grund einer technischen Untersuchung beantwortet werden kann,
verneint oder verfällt der Angeklagte erst während der Verhandlung
in einen Zustand geistiger Unfreiheit, so wird jene vertagt und der
Kranke in einer Irrenanstalt bis zu seiner Herstellung internirt.
20 Cap. IV. Stellung und Aufgabe -des
Häufig genug sind die subjektiven Momente des Thatbestandes
so beschafi'en, dass zwar die Voraussetzungen der Z.fähigkeit nicht
gerade fehlen, aber doch äussere gesellschaftliche (fehlende oder
schlechte Erziehung) . oder innere (organische) Bedingungen obwalten,
welche die freie Selbstbestimmung beeinträchtigten und damit die
Schuld minderten. Unter den organischen können es angeborene oder
erworbene psychische Schwächezustände , in erblicher Anlage be-
gründete Anomalien des Charakters u. s. w. sein, die das Gewicht
unsittlicher Antriebe vermehrten, die Widerstandskraft schwächten,
ungewöhnlich starke Afi'ekte und Leidenschaften provocirten, die Klar-
heit und Besonnenheit der Beurtheilung trübten.
Die frühere Gesetzgebung suchte solchen zahlreichen Fällen
durch die Lehre einer verminderten Zurechnung gerecht zu werden,
die neuere durch die logischer gedachte Annahme von mildernden
Umständen, die nur leider das deutsche Strafgesetz nicht bei allen
Vergehen und Verbrechen (Mord!) zulässt.
Cap. IV. Stellung und Aufgabe des ärztlichen Technikers
im Criminalforum.
Literatur. Henke, Abhandl. II. p. 273. Friedreich, Lehrb. d. gerichtl. Psychol.
3. Aufl. p. 64. Schlager, Oesterr. Zeitschr. f. prakt. Heilkde. 1867. Nr. 12—14.
Flemming, Psychosen, p. 437. Mittermaier, Friedreich's Blätter. 1873. H. 3.
Griesinger, Archiv f. Psychiatrie. 1869. I. Liman, ebenda. 1868. I. Eastwood
Journal of mental science. 1869. April. Mundy, Oesterr. Zeitschr. f. prakt.
Heilkde. 1868. Nr. 4—21. Zippe, Wiener med. Presse. 1873. Nr. 51. 52.
Livi, Rivista sperimentale. 1875. Carrara, ebenda. 1875. Verga, i medici
alienisti e i corti d'assise, Milano 1873.
Gesetzl. Bestimmungen. Deutsche St.-P.-O. §. 73: Die Auswahl der zuzu-
ziehenden Sachverständigen und die Bestimmung ihrer Anzahl erfolgt durch
den Richter.
§. 74: (Ablehnung der Sachverständigen.) Das Ablehnungsrecht steht
der Staatsanwaltschaft, dem Privatkläger und dem Beschuldigten zu. Der
Ablehnungsgrund ist glaubhaft zu ntiachen.
§. 78 : Der Richter hat , soweit ihm dies erforderlich erscheint , die
Thätigkeit der Sachverständigen zu leiten.
§. 80 : Dem Sachverständigen kann auf sein Verlangen zur Vorbereitung
des Gutachtens durch Vernehmung von Zeugen oder des Beschuldigten weitere
Aufklärung verschafft werden.
Zu demselben Zwecke kann ihm gestattet werden,, die Akten einzusehen,
der Vernehmung von Zeugen oder des Beschuldigten beizuwohnen und an
dieselben unmittelbare Fragen zu stellen.
ärztlichen Technikers im Criminalforum. 21
§. 81 : Zur Vorbereitung eines Gutaclitens über den Geisteszustand des
Angeschuldigten kann das Gericht auf Antrag eines Sachverständigen nach
Anhörung des Vertheidigers anordnen, dass der Angeschuldigte in eine öffent-
liche Irrenanstalt gebracht und dort beobachtet werde. Dem Angeschuldigten,
welcher einen Vertheidiger nicht hat, ist ein solcher zu bestellen. Gegen
den Beschluss findet sofortige Beschwerde statt. Dieselbe hat aufschiebende
Wirkung. Die Verwahrung in der Anstalt darf die Dauer von sechs Wochen
nicht übersteigen.
§. 82: Im Vorverfahren hängt es von der Anordnung des Richters ab,
ob die Sachverständigen ihr Gutachten schriftlicli oder mündlich zu erstatten
haben.
§. 83: Der Richter kann eine neue Begutachtung durch dieselben oder
durch andere Sachverständige anordnen, wenn er das Gutachten für unge-
nügend erachtet. Der Richter kann die Begutachtung durch einen anderen
Sachverständigen anordnen, wenn ein Sachverständiger nach Erstattung des
Gutachtens mit Erfolg abgelehnt ist. In wichtigen Fällen kann das Gutachten
einer Fachbehörde eingeholt werden.
§. 238 : (Kreuzverhör.) Die Vernehniung der von der Staatsanwaltschaft
und dem Angeklagten benannten Zeugen und Sachverständigen ist der Staats-
anwaltschaft und dem Vertheidiger auf deren übereinstimmenden Antrag von
dem Vorsitzenden zu überlassen. Bei den von der Staatsanwaltschaft be-
nannten Zeugen und Sachverständigen hat diese, bei den von dem Angeklagten
benannten der Vertheidiger in erster Reihe das Recht zur Vernehmung.
Der Vorsitzende hat auch nach dieser Vernehmung die ihm zur weiteren
Aufklärung der Sache erforderlich scheinenden Fragen an die Zeugen imd
Sachverständigen zu richten.
(Nach §. 220 kann der Vorsitzende des Gerichts auch von Amtswegen
die Ladung von Zeugen und Sachverständigen anordnen, dann ist aber das
Kreuzverhör nicht gestattet. Die Vernehmung dieser Zeugen und Sachver-
ständigen steht nur dem Vorsitzenden zu. Auch wo ein Vertheidiger nicht-
auftritt, ist das Kreuzverhör ausgeschlossen.)
§. 239: Der Vorsitzende hat den beisitzenden Richtern auf Verlangen
zu gestatten, Fragen an die Zeugen und Sachverständigen zu stellen.
Dasselbe hat der Vorsitzende der Staatsanwaltschaft dem Angeklagten
und dem Vertheidiger, sowie den Geschworenen und Schöffen zu gestatten.
Oesterr. St.-P.-O. §. 134: Bestehen Zweifel darüber, ob der Beschuldigte
den Gebrauch seiner Vernunft besitze oder ob er an einer Geistesstörung leide,
wodurch die Zurechnungsfähigkeit desselben aufgehoben sein könnte, so ist die
Untersuchung des Geistes- und Gemüthszustands des Beschuldigten jederzeit
durch zwei Aerzte zu veranlassen. Dieselben haben über das Ergebniss ihrer
Beobachtungen Bericht zu erstatten, alle für die Beurtheilung des Geistes- und
Gemüthszustands des Beschuldigten einflussreichen Thatsachen zusammenzu-
stellen, sie nach ihrer Bedeutung sowohl einzeln als im Zusammenhang zu
prüfen, und falls sie eine Geistesstörung als vorhanden betrachten, die Natur
der Krankheit, die Art und den Grad derselben zu bestimmen und sich so-
wohl nach den Akten als nach ihrer eigenen Beobachtung über den Einlluss
auszusprechen, welchen die Krankheit auf die Vorstellungen, Triebe und
Handlungen des Beschuldigten geäussert habe und noch äussere und ob und
22 Cap. IV. Stellung und Aufgabe des
in welchem Masse dieser getrübte Geisteszustand zur Zeit der begangenen
Tkat bestanden liabe.
§. 119: Die Wahl der Sachverständigen steht dem Untersuchungsrichter
zu. Sind solche für ein bestimmtes Fach bei dem Gericht bleibend angestellt,
so soll er andere nur dann zuziehen, wenn Gefahr am Verzuge haftet oder
wenn jene durch besondere Verhältnisse abgehalten sind, oder in dem ein-
zelnen Falle als bedenklich erscheinen.
§. 123: ..... Die Sachverständigen können verlangen, dass ihnen
aus den Akten oder durch Vernehmung von Zeugen jene Aufklärungen über
bestimmt von ihnen zu bezeichnende Punkte gegeben werden, welche sie füi-
das abzugebende Gutachten für erforderlich erachten. Wenn den Sachver-
ständigen zur Abgabe eines gründlichen Gutachtens die Einsicht der Unter-
suchungsakten unerlässlich erscheint, können ihnen, soweit nicht besondere
Bedenken dagegen obwalten, auch die Akten selbst mitgetheilt werden.
§. 126: Ergeben sich solche Widersprüche oder Mängel in Bezug auf
das Gutachten oder zeigt sich, dass es Schlüsse enthält, welche aus den
angegebenen Vordersätzen nicht folgerichtig gezogen sind, und lassen sich
die Bedenken nicht durch eine nochmalige Verständigung der Sachverstän-
digen beseitigen, so ist das Gutachten eines anderen oder mehrerer anderen
Sachverständigen einzuholen.
Sind die Sachverständigen Aerzte oder Chemiker, so kann in solchen
Fällen das Gutachten einer medicinischen Fakultät der im Reichsrath ver-
tretenen Länder eingeholt werden. Dasselbe geschieht, wenn die Rathskammer
die Einholung eines Fakultätsgutachtens wegen der Wichtigkeit oder Schwie-
rigkeit des Falls nöthig findet.
In einer Reihe von Fällen, wo die Zurechnung auf Grund äusse-
rer Bedingungen (physische Gewalt, Drohung, Nothstand) entfällt
oder die Schuld durch mildernde Umstände (fehlende oder schlechte
Erziehung, jugendliches Alter) gemindert wird, benützt der Richter
der Thatfrage das Gewicht dieser psychologischen Momente für die
Bestimmung von Schuld und Strafe.
In den äusserst häufigen Fällen dagegen, wo die freie Willens-
bestimmung durch innere organische Momente in Frage gestellt er-
scheint, bedarf er zur Ermittlung des subjektiven Thatbestandes der
Mitwirkung des ärztlichen Technikers. Die Erkenntniss, dass diese
inneren organischen Momente gleichbedeutend sind mit krankhaften
Zuständen des Gehirns, fordert logischerweise diese Intervention des
ärztlichen Sachverständigen.
Recht und Pflicht der Medicin in solchen Fragen zweifelhafter
geistiger Gesundheit ihr Votum abzugeben ist von der heutigen Ge-
setzgebung anerkannt und geregelt.
Der ärztliche Sachverständige ist bei der Erfüllung dieser Auf-
gabe weder Zeuge noch Gehilfe des Richters. Er ist nicht Zeuge,
ärztlichen Technikers im Criminalforum. 23
da er nicht bloss Sinneswahrnehmungen berichtet, sondern aus einer
Reihe solcher Thatsachen wissenschaftliche Schlüsse zieht und den
Richter über die Bedeutung jener belehrt. Er ist nicht Gehilfe des
Richters, da er weder die Schuld noch die Strafe der Angeklagten
mit zu ermessen hat.
Nicht Zurechnungsfäh igkeit noch Willensfreiheit,
sondern die Feststellung der Geistesgesundheit oder
Krankheit durch eine wissenschaftliche Untersuchung ist
seine Aufgabe.
Als subjektives Erforderniss für eine befriedigende Expertise er-
gibt sich die eigentlich selbstverständliche aber in praxi keineswegs
immer erfüllte Forderung einer gründlichen psychiatrischen Bildung
des Experten. Dank der bedauerlichen Vernachlässigung des psychia-
trischen Studiums auf Universitäten besitzt diese Ausbildung nicht
jeder Gerichtsarzt. Nur das längere Studium der Psychiatrie in der
Irrenanstalt oder psychiatrischen Klinik vermag sie zu verschaffen.
Theoretisches Studium reicht bei einer so eminent praktischen und
auf Beobachtung gegründeten Wissenschaft wie sie die gerichtliche
Psychopathologie darstellt, nicht aus.
Als objektive Erfordernisse ergeben sich genügende Zeit, passen-
der Ort und ausreichende Mittel für die Beobachtung des zweifelhaften
Geisteszustands. Die Forderung ausreichender Zeit ist durch die
meist erforderliche Umfänglichkeit der Vorerhebungen über die Per-
son des Exploranden, die in der Regel in ganz ungenügender Weise
auf dessen Leumund und etwaige Vorbestrafungen sich beschränken
und die anthropologische Seite der Persönlichkeit unerörtert Hessen,
motivirt ; nicht minder durch die Häufigkeit zeitweiser Latenz des
Irreseins, durch periodische Wiederkehr von Anfällen, durch die
Möglichkeit von Simulation, Dissimulation etc. Es können Monate erfor-
derlich sein, bis der Experte im Stande ist, ein entscheidendes Gut-
achten abzugeben. Nur selten und bei gut charakterisirten Formen
von Irrsein wird ein solches prima vista möglich werden.
Ein einsichtsvoller Richter wird diese im Gegenstand der Unter-
suchung begründeten Schwierigkeiten begreifen, den Techniker nicht
drängen, einer weiteren Beobachtungszeit und eventuellen Ueber-
führung des zu Beobachtenden in ein geeignetes Lokal (Irrenanstalt,
Krankenhaus) sich nicht widersetzen. Ganz zu missbilligen ist die
Berufung des Sachverständigen erst im Lauf der Hauptverhandlung
und die Forderung, dass er sein Gutachten erst im Termin, ohne
Keuntniss der Lebensgeschichte und Vorakten abgebe.
24 Cap. IV. Stellung und Aufgabe des
Aerzte, die auf ein solches Verlangen eingehen, handeln unvor-
sichtig. Es ist jedenfalls ehrenvoller in solchem Falle sein Parere
in suspenso zu lassen und fernere Beobachtung und Vertagung ver-
langen als durch ein Apercu glänzen zu wollen. Der Fall Chorinsky
liefert hiefür ein warnendes Beispiel.
Nicht minder wichtig erscheint ein passender Ort für die Beob-
achtung. In schwierigeren Fällen (Simulation, Dissimulation, Er-
mittlung epileptischer Anfälle u. s. w.) wo eine unausgesetzte Beob-
achtung und zwar durch Geübte erforderlich ist, wird die Abgabe
in ein Spital oder in eine Irrenanstalt nicht zu umgehen sein. Die
deutsche St.-P.-O. (§. 81) hat diese letztere vorgesehen. Ob aber
für alle Fälle die gesetzlich zulässige Beobachtungsfrist von 6 Wochen
ausreicht, muss die Erfahrung lehren.
Die Hilfsmittel zur Beurtheilung des Geisteszustandes ergeben
sich aus dem Studium der Akten und der direkten Explo-
ration des Beschuldigten.'
Die heutige Gesetzgebung sorgt dafür, dass der Richter dem
Experten in seiner oft so schwierigen Aufgabe thunlich Vorschub
leiste, ihm Zweck und Anlass der Untersuchung mittheile, ihm alles
bisherige Aktenmaterial zur Verfügung stelle, dasselbe über Antrag
und Bedarf des Sachverständigen durch neue Zeugeneinvernehmungen
und Thatbestandsuntersuchungen ergänze und jenem, so oft und so
lange er es für nöthig hält, den uneingeschränkten Verkehr mit dem
Exploranden gestatte.
Bei verwickeiteren Fällen ist es nöthig, dass der Experte sich
einen Auszug aus den Akten bezüglich der für seine Zwecke belang-
reichen Thatsachen und Daten anfertige und sofort den Untersuchungs-
richter um wünschenswerthe oder nothwendige Ergänzungen der Vita
anteacta und Species facti ersuche.
Wie Schlager hervorhob, sind in dem Aktenmaterial die Anzeige-
dokumente von grossem Werth, insofern sie vorzüglich über das un-
mittelbare Verhalten nach der That und die näheren Umstände dieser
Auskunft geben. Der Zeitpunkt der begangenen That ist sorgfältig
zu ermitteln, damit angeblich vor oder nach derselben beobachtete
Erscheinungen und Umstände zeitlich festgestellt werden können.
Nicht minder wichtig können etwaige Schriftstücke, Briefe,
Tagebücher aus der Zeit der That, sowie die Besichtigung etwa be-
nutzter Werkzeuge werden. Von Bedeutung ist ferner das That-
bestandsprotokoll, der die Umstände der Ergreifung enthaltende Ein-
lieferungsrapport, der erste Befundbericht des Gefängnissarztes, das
ärztlichen Technikers im Criminalforum. 25
Protokoll über die erste Vernehmung des Gefangenen und die Ver-
gleichung mit seinen späteren Angaben, der Bericht des Gefangen-
wärters, die Akten über Vorleben und etwaige Vorbestrafungen, das
Benehmen bei den Verhören und Confrontationen, wie es das Geberden-
protokoll enthält. Von erhöhter Wichtigkeit sind diese Momente bei
fraglicher transitorischer Geistesstörung, wo noch die genaueste zeit-
liche Feststellung der einzelnen Thatsachen, sowie das Verhalten der
Erinnerung des Thäters zu berücksichtigen sind. Die Angaben der
Zeugen, soweit sie nicht sinnlich beobachtete Thatsachen berichten,
sondern ein Urtheil über den Geisteszustand fällen, sind mit Vor-
sicht aufzunehmen, da sie als Laien geistig abnorme Zustände oft
verkennen oder übersehen. Mehr Werth haben positive Zeugenaus-
sagen, aber auch hier ist Vorsicht nöthig, da die Zeugen, zumal Ver-
wandte, beim Ausgang des Processes interessirt sein können. Auch
das Leumundszeugniss ist mit Vorsicht aufzunehmen, insofern psycho-
pathische Erscheinungen nur zu leicht vom ethischen Standpunkt aus
aufgefasst und falsch beurtheilt werden.
Im Vorleben sind "besonders Erziehung, frühere Gesundheits-
und Lebensverhältnisse, etwa früher erlittene Anfälle von Nerven-
oder Geisteskrankheit, etwa früher verhängte Curatel zu beachten.
Von grösster Bedeutung ist die persönliche Exploration des
Beschuldigten. Wo sie fehlt (Fakultätsgutachten), ist nur selten ein
sicheres Gutachten möglich.
Am leichtesten und sichersten ist die Beobachtung in der Irren-
anstalt, wo mehrere Aerzte und erfahrene Wärter zu Gebot stehen.
Ist der Ort der Beobachtung das Gefängniss, so sind die (freilich
nicht immer verlässlichen) Angaben der Mitgefangenen sowie die
Wahrnehmungen des (allerdings meist befangenen und Simulation ver-
muthenden) Gefangenenaufsehers zu verwerthen. Empfehlenswerth
ist der Vorschlag Schlager's zu Gefangenenaufsehern in grösseren Ge-
fängnissen erprobte frühere Irrenwärter zu bestellen.
In allen Stadien des Strafverfahrens kann die Aufgabe den
zweifelhaften oder zweifelhaft gewordenen Geisteszustand eines An-
geschuldigten resp. Angeklagten zu untersuchen an den Sachverstän-
digen herantreten. Mag die Berufung von irgend welcher Seite aus-
gehen, nie vergesse der Arzt, dass er vollkommen unpartheiischer
Vertreter einer Wissenschaft und bei der Schuldfrage und dem Aus-
gang des Falles ganz unbetheiligt ist.
In Oesterreich (St.-P.-O. §. 222. 225) kann in der Hauptver-
handlung der Vertheidiger nur solche Sachverständige vorführen, die
26 Cap. IV, Stellung und Aufgabe des
der Gerichtshof zulässt, während in Frankreich, England, Deutsch-
land (St.-P.-O. §. 218. 219) Ankläger wie Vertheidiger so viel Sach-
verständige ihrer Wahl vorladen können als ihnen beliebt.
Am schwierigsten ist die Stellung des Sachverständigen in der
Hauptverhandlung, wo er in freier mündlicher Darstellung sein Gut-
achten abgeben und das Kreuzverhör des Staatsanwalts, Vertheidigers,
Präsidenten, der Richter und Geschworenen über sich ergehen lassen
muss (Deutsch. St.-P.-O. §. 238. 239. Oesterr. St.-P.-O. §. 249. 315)
zudem, wenn erst im Termin berufen (Deutsch. St.-P.-O. §. 243.
Oesterr. St.-P.-O. §. 220. 254), kaum Zeit findet sich über die Per-
sönlichkeit des Exploranden und seine Vorgeschichte nur nothdürftig
zu Orientiren. In solchen Fällen zeigt sich die Kenntniss und Er-
fahrung des tüchtigen Gerichtsarztes in hellem Licht und erprobt
sich seine Tüchtigkeit. Er sei besonders vorsichtig in der Beant-
wortung von Suggestivfragen, mit welchen der Sta;atsanwalt zuweilen
den Experten zu fangen und zu verblüffen sucht. Es wird dann Sache
eines einsichtsvollen Präsidenten sein, von seinem Recht (Deutsch.
St.-P.-O. .§. 240, Oesterr. St.-P.-O. §. 249), ungeeignete oder nicht
zur Sache gehörige Fragen zurückzuweisen, Gebrauch zu machen.
Das Resultat seiner Beobachtungen und die Deutung seines Be-
funds hat der Sachverständige in Form eines Gutachtens klarzu-
legen und zusammenzufassen. In der Voruntersuchung hängt es vom
Ermessen des Richters ab, ob die Form desselben die schriftliche oder
mündliche sein soll, in der Hauptverhandlung sind nur mündliche
Gutachten zulässig. Bei der Complicirtheit geistig abnormer Zustände
ist es im Interesse der Uebersichtlichkeit der für das Gutachten belang-
reichen Thatsachen noth wendig, eine Zusammenstellung derselben in
Form einer Krankengeschichte oder mündlichen Relation dem eigent-
lichen Gutachten vorauszuschicken. Diese Zusammenstellung muss
enthalten :
1. Die sorgfältige Erhebung des gesammten geistigen und körper-
lichen Vorlebens.
2. Die Darlegung des geistigen und körperlichen Zustands zur
Zeit der That und nach derselben.
Den Tenor des eigentlichen Gutachtens hat die Begründung
des etwa vorgefundenen anomalen Zustands als eines krankhaften
zu bilden.
In der Regel ist jener durch eine bestimmte richterliche Fragestel-
lung vorgezeichnet. Es ist wünschenswerth, dass der Richter die Fragen
thunlichst in gemeinverständlicher und an naturwissenschaftliche Be-
ärztliclien Technikers im Criminali'orum. 27
griffe sich anlehnender Sprache stelle, juristische Termini möglichst
vermeide und dadurch von vorneherein Uebergriffen in fremdes Ge-
biet; Streitigkeiten und Missverständnissen vorbeuge.
Andrerseits ist es auch Pflicht des Sachverständigen, dass seine
Darlegungen und Schlussfolgerungen in klarer, präciser und gemein-
verständlicher Sprache stattfinden. Es muss ihm freistehen auf eine
unzweckmässige Fragestellung aufmerksam zu machen und eine wün-
schenswerthe Verbesserung derselben zu verlangen. Nach etwas Ande-
rem als nach Geistesgesundheit oder Krankheit sollte richterlicherseits
nicht gefragt werden, denn weder der metaphysische Begriff der
Willensfreiheit noch der juristische der Zurechnungsfähigkeit gehört
in die Domäne der Medicin. Nie sollte nach einer bestimmten Form
psychischer Störung gefragt werden, denn diese Formen sind nur
conventioneile und decken niemals vollkommen die Fülle der Krank-
heitsbilder. Das Gutachten kann positiv, zweifelhaft oder negativ
lauten. Zweifel oder Unmöglichkeit einer Entscheidung müssen offen
bekannt werden. Das ist Gewissenssache. Oft genug werden sich
Uebergangszustände zwischen Gesundheit und ausgesprochener Krank-
heit ergeben, in welchen die legalen Bedingungen der Zurechnungs-
fähigkeit zwar nicht gänzlich mangeln, aber durch die Persönlichkeit
belastende organische Momente in ihrer Geltendmachung beeinträch-
tigt sind. Es ist Aufgabe des Experten, die Bedeutung dieser Momente
dem Richter klar zu machen und ihre organische Begründung nach-
zuweisen.
Das Gutachten kann und darf für den Richter nicht bindend
sein. Seinen wissenschaftlichen Werth kann er freilich nicht beur-
theilen, wohl aber die Richtigkeit seiner Prämissen, die Logik seiner
Sehlussfolgerungen. Sind die dem Gutachten zu Grunde gelegten
Annahmen unrichtig, lückenhaft, die Beweise aus den Akten mangel-
haft benutzt, die gezogenen Schlüsse unberechtigt, vielleicht gar ein-
ander widersprechend oder unbestimmt, ist der Fall ein besonders
wichtiger, schwieriger, so ist der Richter berechtigt, ja selbst ver-
pflichtet, falls eine Aufklärung von den gegenwärtigen Experten nicht
zu erlangen ist, sich an andere zu wenden (Oesterr. St.-P.-O. §. 125.
126). Der gleiche Fall ist gegeben, wenn die ersten Sachverständigen
verschiedener Meinung sind und Separatgutachten vorliegen. Ge-
wöhnlich wendet sich dann der Richter um Aufklärung an eine andere
Medicinalinstanz (Medicinalcollegium der Provinz in Preussen, medic.
Facultät der Universität in Oesterreich.)
In hohem Grade bedauerlich ist es, wenn der Richter, statt bei
28 Cap. V. Der ärztliche Nachweis geistiger Krankheit.
allen ihm gesetzlich zu Gebot stehenden Medieinalinstanzen Gutachten
einzuholen, nach eigener Anschauung den zweifelhaften Geisteszustand
beurtheilt.
Cap. V. Der ärztliche Nachweis geistiger Krankheit.
Literatur. Tyler, Americ. Journal of insanity. 1865. Oct. v. Kraift, zur allg.
Diagnostik der Seelenstörungen in foro. Deutsche Zeitschr. f. Staatsarznei-
kunde. XXVII. Nr. 1. Rüssel Reynolds British med. Journ. 1872. Juni 22
u. 29. Casper-Liman, Handb. d. ger. Med. 6. Aufl. Bio!. Theil. §. 99. Neu-
mann, der Arzt u. die Blödsinnigkeitserklärung.
Die frühere forensische „Psychologie'' hat sich ihre Aufgabe
unnöthig erschwert, indem sie ausschliesslich die psychischen Phäno-
mene des Irreseins ins Auge fasste und nach nichts weniger als
mustergültiger psychologischer Analyse statt Synthese aus ihnen die
Diagnose des Geisteszustands zu machen sich bemühte. Sie brachte
sich damit in Misskredit, schuf Krankheitsformen ohne klinische Be-
rechtigung, partielle Geistesstörungen und andere Ungeheuerlichkeiten,
zog einseitig die That und ihre Umstände in Erwägung, statt jene
nur als einen einzelnen Akt, als eine isolirte Entäusserurig eines- frag-
lichen psychisch krankhaften Zustands aufzufassen und leistete damit
der Irrlehre der sog. Monomanien Vorschub. Sie erwog die Zurech-
nungsfähigkeit an dem Vorhandensein oder Fehlen gewisser trüge-
rischer psychologischer Momente des Alltagslebens (Motive, Reue,
Prämeditation, List u. s. w.) oder beschränkte den Begriff der Geistes-
störung auf das Verhandensein von Wahnideen und Sinnestäuschungen.
Die moderne forensische Psychopathologie dringt auf eine synthe-
tische , das ganze Individuum in seinen leiblichen wie geistigen Be-
ziehungen, seiner Vorgeschichte wie gegenwärtigen Existenz erfassen-
den Beurtheilungsweise und verwerthet bei dieser strengwissenschaft-
lichen klinischen Leistung eine Reihe wichtiger cerebral-pathologischer,
klinisch-psychiatrischer und anthropologischer Gesichtspunkte, ja selbst
Anfänge einer physikalischen Diagnostik. Für die ärztliche Diagnose
zweifelhafter Geisteszustände hat in erster Linie zu gelten, dass die
Geisteskrankheiten Gehirnerkrankungen sind und sich von anderweitigen
nur dadurch unterscheiden, dass hier die geistigen Funktionen vor-
zugsweise in Mitleidenschaft versetzt sind.
Allerdings sind die psychischen Phänomene die ausschlaggeben-
den, für die Beurtheilung des subjektiven Thatbestands zur Zeit einer
Bedeutung der ursächlichen Momente. 29
strafbaren Handlung entscheidenden; aber sie sind nicht die einzigen
Symptome gestörter Funktion im Krankheitsbild. Sie sind, für sich
selbst betrachtet, weder in allen Fällen ausreichend noch zuverlässig,
um die vorläufige Diagnose einer Hirnkrankheit zu sichern und desshalb
nothwendig durch anderweitige Zeichen einer solchen zu ergänzen.
Es kann sogar räthlich erscheinen, von der specielleren Diagnose
„Geisteskrankheit" und den für eine solche sprechenden (zweifelhaften)
psychischen Symptomen vorerst abzusehen und die Frage allgemein
nach dem Bestehen einer angeborenen oder erworbenen Gehirn-Nerven-
krankheit zu stellen. Finden sich dann daneben psychopathische
Symptome, so wird die Vermuthung, dass sie im Zusammenhang mit
jener stehen, nahezu zur Gewissheit. Die Expertise muss somit zu
einer neuropathologischen, die Beurtheilungsweise zu einer klinischen,
die forensische „Psychologie" zu einer Psychopathologie vertieft und
erweitert werden.
Auf diesem vorgeschrittenen wissenschaftlichen Standpunkt wird
der Gerichtsarzt ein geschätzter Beistand des Richters sein und seine
Competenz nie mehr bestritten werden.
In der Lösung seiner concreten Aufgabe — Ermittlung einer
etwa bestehenden Hirnkrankheit — hat der Experte zunächst der That-
sache eingedenk zu sein, dass Geisteskrankheit als eine Krankheit
des Gehirns wie jede andere Krankheit Ursachen, Verlauf, Symptome-
verbindungen aufweist, niemals auf ein einzelnes Symptom beschränkt
sein kann. Es muss vor Allem der Ursache einer fraglichen Geistes-
störung nachgeforscht werden. Geisteskrankheit ist an und für sich
eine ungewöhnliche Erscheinung. Sie muss genügend motivirt sein,
sei es durch eine mächtig wirkende Disposition, sei es durch besondere
Intensität oder Häufung zufälliger Ursachen. Je früher und patho-
genetisch klarer sich die Symptome an die Ursache anschliessen, um
so grösser ist deren Bedeutung.
In ätiologischer Beziehung ist nicht nur die Kenntniss der
früheren Lebensgeschichte, sondern auch die der Abstammung des
zu explorirenden Individuums nöthig. Vielfach ist die geistige Krank-
heit nur das Endresultat aller früheren Entwicklungs- und Lebens-
verhältnisse eines Menschen. Die Geisteskrankheit ist nicht nur eine
Krankheit des Gehirns, sondern auch zugleich eine solche der Person.
Die ganze frühere Persönlichkeit muss studirt werden. Neben Er-
ziehung und Lebensschicksalen ist es ganz besonders das anthropo-
logische Moment der ererbten oder angeborenen psychischen Consti-
tution, das nicht bloss bestimmend für die Artung der Individualität,
30 Cap. V. Der ärztliche Nachweis geistiger Krankheit,
sondern auch vielfach für die Entwicklung einer geistigen Krankheit
ist und für die Beurtheilung geistiger Besonderheiten als krankhafter
oder noch physiologischer grosse Bedeutung hat.
Nirgends zeigt sich jedenfalls die Thatsache der Vererbung von
Krankheiten und Krankheitsdispositionen so bedeutsam als auf dem
Gebiet der Geisteskrankheiten.
Aber nicht bloss Geisteskrankheit im engeren Sinn setzt eine
Disposition zu gleichnamiger Erkrankung bei den Nachkommen, son-
dern auch schwere Nervenkrankheiten (Hysterie, Epilepsie, Hypo-
chondrie) Trunksucht, überhaupt Alles was die Constitution der
Erzeuger schwächt, kann die Nachkommenschaft schon im Keime
schädigen und zu Candidaten des Irrsinns machen.
Die Disposition kann eine latente bleiben, sie kann sich aber
auch in mannigfachen Funktionsanomalien des centralen Nervensystems
früh schon kundgeben.
Hier sind Abnormitäten des Charakters, des Geschlechtstriebs,
Convulsionen, neuropathische Zustände bis zu ausgesprochenen Nerven-
krankheiten, pathologische Affekte und Intoleranz für Alkohol wichtige
Zeichen einer constitutionellen Schwäche, einer Belastung des centralen
Nervensystems. Nie darf der Arzt die Frage der Erblichkeit ausser
Acht lassen. Sie kann ihm die werthvollsten Fingerzeige liefern.
Aber aus der Thatsache, dass Vater oder Mutter neuropathisch oder
gar irrsinnig waren, folgt an und für sich nichts für die Frage des
Irrsinns beim Nachkommen, sofern nicht Belastungserscheinungen oder
geradezu angeborenes Irrsein sich erweisen lassen und die Krankheit
überhaupt durch anderweitige Thatsachen erwiesen ist.
Auch ohne hereditäre Einflüsse kann eine neuropathische Consti-
tution oder auch wirkliche Krankheit im Lauf des Lebens erworben
werden. Dies kann u. A. geschehen durch entzündliche Affektionen
des Gehirns in frühem Lebensalter (Convulsionen), Kopfverletzungen,
unmässige Lebensweise, schwere schwächende körperliche Krankheiten,
Onanie, heftige Gemüthsbewegungen, Gefängnisshaft u. s. w.
Allen derartigen ursächlichen Momenten muss die Erforschung
der Vita anteacta gerecht werden. Selbst anscheinend unbedeutende
Thatsachen der Lebensgeschichte können belangreich werden, z. B,
Convulsionen in der Kindheit insofern sie spätere epilepsieartige Er-
scheinungen in das rechte Licht stellen können. Ganz besonders
häufig kommen Psychosen in der Zeit der Pubertätsentwicklung, der
Menstruation, der Schwangerschaft, der Entbindung, des Klimacterium
und des höheren Greisenalters vor.
Physiologische und pathologische Gemüthsdepression. 31
An und für sich wird dadurch nichts bewiesen, aber eine ge-
steigerte Vorsicht der Untersuchung ist in solchen Lebensphasen nöthig
und an und für sich zweifelhafte psychopathische Erscheinungen
gewinnen in denselben eine gewisse Bedeutung.
Der Werth der ätiologischen Erschliessung des Falls wird nur
dadurch scheinbar geschmälert, dass zuweilen keine Ursache auffindbar
ist oder dass eine vorausgegangene psychisch deprimirende Ursache
es zweifelhaft erscheinen lässt, ob die gefolgte psychische Aenderung
die noch physiologische Reaktion auf jene oder bereits ein patho-
logischer Zustand ist.
Da wo keine veranlassende Ursache auffindbar ist, besteht immer
eine mächtige Disposition oder gar eine angeborene Krankheit. Hier
verbreitet dann gerade die Anamnese in ihrer anthropologischen und
klinisch- ätiologischen Forschungsrichtung Licht, indem sie das zweifel-
hafte Krankheitsbild als die Höheentwicklung einer meist erblich be-
lasteten, von Kindsbeinen auf defekten, abnorm angelegten Persönlich-
keit (Imbecillität , moral. L^resein, originäre Verrücktheit) nachweist
und in der Regel neben funktionellen auch anatomische Degenerations-
zeichen auffindet (s. u. psychische Entartungen).
Schwierig ist immer die Beurtheilung , ob eine vorhandene psychische
Depression als die natürliche Reaktion auf eine deprimirende Ursache oder schon
als krankhafter Zustand aufzufassen ist. Die schmei'zliche noch physiologische
Verstimmung und die beginnende krankhafte können ganz die gleiche Signatur
haben. Entscheidend werden hier der Verlauf, die genaue Kenntniss der ge-
wohnten Reaktionsweise des Individuums und die minutiöse Beachtung der
Detailsymptome sein.
Ist die deprimirende Ursache eine geringfügige, die Depression eine un-
gewöhnlich intensive und lange, nimmt die Verstimmung mit der Zeit zu statt ab,
dauert sie gar fort, nachdem die Veranlassung der Verstimmung beseitigt ist,
so wächst die Vermuthung eines pathologischen Gemüthszustands. Das schmerz-
liche Fühlen des Gesunden ist zudem noch angenehmen Eindrücken zugänglich,
während die krankhafte schmerzliche Verstimmung selbst sonst angenehme Ein-
drücke schmerzlich appercipirt und nur noch Intensitätswechsel kennt.
Es kommt zudem zu spontanen Steigerungen der Verstimmung, zu Affekten
der Furcht, Sorge aus inneren psychischen und organischen Vorgängen, während
jene beim Geistesgesunden im Allgemeinen niir äusserlich motivirt sich finden.
Der krankhaft Verstimmte hat ferner nicht selten geradezu ein Bewusstsein der
über ihn hereinbrechenden Krankheit; er bietet Störungen in seinen sensorischen
Funktionen (Kopfweh, Schwindel, Gefühle von Hemmung der Gedanken, Druck
im Kopf), sowie Präcordialbeklemmung, Hyperästhesien und Neuralgien. Auch
die Processe der Ernährung leiden bei ihm viel mehr, das Körpergewicht sinkt
bedeutender und rascher als beim physiologisch Verstimmten.
32 Cap. V. Der ärztliche Nachweis geistiger Krankheit.
Von grosser Bedeutung ist das Studium des Verlaufs einer
fraglichen Greisteskrankheit. Auch das Irresein als eine Krankheit
des Gehirns hat seine empirisch festgestellten Verlaufstypen. Es gibt
psychische Krankheitszustände mit typischem Ablauf der einzelnen
Zustandsformen (vesania typica) mit cyclischer Ablösung derselben
(circuläres Irresein) und periodischer Wiederkehr der einzelnen Krank-
heitsanfälle (periodische Melancholie, Manie) in annähernd gleichen
Zeiträumen.
Ganz besonders wichtig ist das zeitliche Gebundensein solcher
Anfälle an die periodische Wiederkehr somatischer Vorgänge (Menses).
Aber auch der gesammte Krankheitsprocess, soweit er sich im Detail
der Symptome äussert, ist ein empirisch gesetzmässiger. Je deutlicher
die Einzelsymptome inneren Zusammenhang und gesetzmässige Be-
gründung aufweisen , je deutlicher die Exacerbationen und Remissio-
nen ganzer Symptomenreihen mit Tageszeiten oder körperlichen Vor-
gängen zusammenfallen, um so sicherer wird der Schluss, dass der
Zustand ein krankhafter ist.
Das Irresein als eine Krankheit eines Körperorgans geht auch
mit körperlichen Funktionsstörungen einher. Sie sind sehr
werthvoll, da sie nicht wie die psychischen absichtlich vorgetäuscht
werden können. Die genaueste Untersuchung der vegetativen Punk-
tionen muss neben der psychischen Beobachtung stattfinden. Ganz
besonders wichtige somatische Symptome sind Störungen der Ernährung
(Körper wägung), des Schlafs, der Verdauungs- und Darmfunktion, der
Sekretionen, krankhafte Abweichungen der Eigenwärme von der Norm.
Sie beweisen wenigstens, dass das Individuum überhaupt krank ist,
haben einen positiven Werth jedoch nur in den Anfangsstadien des
Irreseins. In den Endstadien desselben können sie völlig ausgeglichen
sein und hat ihr Fehlen dann keine Bedeutung.
Insofern das Gehirn auch motorische, sensible, vasomotorische
Funktionen besitzt und die dem Irresein zu Grunde liegenden Hirn-
veränderungen auch die Innervationsgebiete dieser Funktionen vielfach
treffen, sind Störungen der Sensibilität und Motilität häufige Begleiter
psychopathischer Zustände. Sie bahnen die speciellere Diagnose einer
Hirnkrankheit an, ja können sogar auf das Vorhandensein ganz be-
stimmter Formen von Hirnkrankheit mit psychischen Symptomen einen
Schluss zu einer Zeit gestatten, wo diese letzteren noch gar nicht
deutlich als krankhafte erkennbar sind. Dahin gehören neben Puls-
anomalien (Tardität, Hinneigung zudikroten und monokroten Pulsformen)
Anästhesien, Hyperästhesien und Neuralgien, Lähmungen motorischer
Schwierigkeiten. Mangel specifischer Symptome. 3B
Hirnnerven, namentlich Anomalien der Irisinnervation (Pupillenver-
änderungen) Sprachstörungen, ferner Krämpfe, Lähmungen, aphasische
Symptome u. s. w.
Ist durch diese vorausgehenden Anhaltspunkte die allgemeine
Diagnose einer Krankheit und speciell einer Hirnkrankheit gesichert,
so bleibt die Prüfung der vorhandenen psychischen Phänomene auf
das Bestehen einer Geisteskrankheit, ihrer Art und ihres Umfangs
übrig. So leicht und sicher die Diagnose, ob Jemand psychisch krank
-sei, in vielen Fällen sogar vom Laien, der sie freilich nicht begründen
kann, gemacht wird, so gibt es doch wieder zahlreiche Fälle, die das
ganze Wissen und Können des Sachverständigen in Anspruch nehmen
und sofort und bestimmt gar nicht entschieden werden können.
Der Grund liegt wesentlich darin, dass die Geistesstörung keine
specifischen Symptome aufweist, die vorhandenen vieldeutig sind und
nur in richtiger Zusammenfassung und Interpretation eine Verwerthung
gestatten.
Das Irresein bietet keine specifischen Symptome, denn hier wie
bei jeder anderen Krankheit handelt es sich nur um abnorme Be-
dingungen der Lebensvorgänge, nicht um total geänderte Funktionen.
Nicht die geänderte Funktion als solche, sondern nur die Zurück-
führung dieser auf geänderte Bedingungen kann über das Krankhafte
des Vorgangs entscheiden. Der Unterschied im geistigen Mechanis-
mus des Gesunden und des Kranken ist wesentlich der, dass beim
Ersteren die geistigen Vorgänge im Allgemeinen im Zusammenhang
und Einklang mit Eindrücken und realen Vorgängen der Aussenwelt
stehen, beim Geisteskranken dagegen aus inneren organischen krank-
haften Bedingungen entstehen. Sie sind der Ausdruck spontaner sub-
jektiver Vorgänge im Bewusstsein und in der Aussenwelt nicht oder
nicht genügend motivirt.
Es ist also nicht der Inhalt, sondern die Entstehung und Motivi-
rung der psychischen Vorgänge entscheidend. Es gibt keine psychische
Anomalie beim Geisteskranken, die nicht gelegentlich einmal inner-
halb der Breite psychischer Gesundheit vorkäme.
Die Uebergänge geistiger Gesundheit in Krankheit sind noch
weniger scharf als auf somatischem Gebiete, wo doch exakte physi-
kalische Hilfsmittel zur Diagnose verfügbar sind, eine Norm psychi-
scher Gesundheit ist nur als Ideal denkbar, kein Individuum dem
andern vollkommen gleich und zudem sind nicht nur Affekte, Leiden-
schaften, Abweichungen vom Fühlen, Vorstellen und Streben der
Mehrheit der anderen Menschen, sondern sogar Verstandesirrthümer
V. Krafft-Ebing, gericlitl. Psychopathologie. 2. Auflage. 3
34 Cap. V. Der ärztliche Nachweis geistiger Störung.
und Sinnestäuschungen noch innerhalb der Breite des physiologischen
Lebens möglich und, wenn auch als elementare psychische Störungen
vielfach zweifellos, dennoch mit dem Fortbestand geistiger Klarheit
und freier Selbstbestimmung vereinbar. Die aus der Natur des Ge-
genstands sich ergebenden Schwierigkeiten werden oft noch da-
durch erhöht, dass die Entwicklung der fraglichen psychischen Störung,
überhaupt das ganze Vorleben unbekannt bleibt oder dass jene ganz
unmerklich aus habituellen Charakteranomalien, aus Leidenschaften,
lasterhafter unsittlicher Lebensführung sich entwickelt hat, dass Ver-
dacht auf absichtliche Vortäuschung oder Vorenthaltung von Symptomen
Seitens des Exploranden sich ergibt.
Eine Krankheit ist immer ein complicirter Vorgang, der nie
durch ein einziges Symptom gedeckt wird. Dies gilt auch für das
Irresein. Die Auffassung des Krankheitsbilds wird immer eine syn-
thetische sein müssen. Nur im Zusammenhalt und gesetzmässigen
Zusammenhang der Symptome, bei richtiger Combination und Inter-
pretation der disparaten Erscheinungen, bei eingehendem Studium
ihrer Aufeinanderfolge und gegenseitigen Verknüpfung gewinnt das
Einzelsymptom Bedeutung. Ein analytisches Herausgreifen desselben,
und wäre es selbst eine Wahnidee, kann nie zum Ziel führen. Noch
weniger ist dies möglich bei Stimmungsanomalien, Affekten, unsitt-
lichen Trieben, verbrecherischen Handlungen, die nur im Zusammen-
halt mit anderen Symptomen und mit der historischeu und gegenwär-
tigen Persönlichkeit verwerthbar sind.
Das Irresein als eine Krankheit der Person nöthigt zudem zu
einer individuellen Beurtheilung der concreten Phänomene. Si duo
dicunt idem non est idem.
Auch hier ist die Kenntniss der Individualität unerlässlich. Das
Irresein als eine krankhafte Lebensäusserung macht eine persönliche
Exploration des fraglichen Kranken erforderlich. Sonst entgehen der
Diagnose überaus wichtige direkte Beurtheilungsmomente (physiog-
nomischer Ausdruck, Haltung, Stimme als äusseres Spiegelbild der
inneren krankhaften psychischen Vorgänge) die als Aenderungen des
Blicks, der Miene, Geberden und Gesammthaltung des Körpers dem
erfahrenen Beobachter, schon bei der ersten Begegnung selbst zu einer
annähernden Diagnose einer bestimmten Form von Geistesstörung
verhelfen können, insofern jedem psychopathischen Zustand eine eigene
Form und 'ein besonderer Modus der gesammten Bewegungs weise
zukommt.
Auch die Art und Weise wie der fragliche Kranke sich kleidet.
Exploration. Dissimulation. ' 35
wohnt, beschäftigt, kann sehr wichtig sein und die Aufmerksamkeit
auf bisher verborgen gehaltene Wahnideen (Verfolgungs-, religiöser
Wahn) lenken. Wo immer möglich besuche man den Exploranden
in seiner Wohnung bezw, Zelle und lasse sich denselben nicht vor-
führen. Je weniger die ganze Exploration den Charakter eines Ver-
hörs hat, je mehr sie einer unbefangenen Conversation gleichkommt,
um so eher wird der Sachverständige Erfolg haben.
Der Schwerpunkt für die psychische Diagnose liegt in der Conver-
sation mit dem fraglichen Kranken. Man muss aber nicht bloss wissen
was man fragen, sondern auch wie man die Unterredung leiten soll.
Das Objekt der Untersuchung ist ein wechselndes menschliches Be-
wusstsein, das von der Art und Weise des exploratorischen Vorgehens
und Fragens gewaltig beeinflusst wird. Man beginne das Gespräch
mit gleichgültigen Dingen, wähle Befinden, Beruf, frühere Lebens-
schicksale des Exploranden als Ausgangspunkt, zeige sich theinahms-
voll. Man erfährt so des fraglichen Kranken Lebensansichten, Wünsche,
Pläne, Stimmung, Intelligenz, Strebungen. Man lenkt das Gespräch
auf Herkunft, Familie, sociale, politische, religiöse Fragen und achtet
genau darauf, ob sich geänderte Beziehungen in einer dieser Rich-
tungen ergeben, die vielleicht den Schlüssel zu einer Wahnvorstel-
lung bieten. Es ist Regel, dass Geisteskranke, sobald man ihren
Wahn berührt, denselben preisgeben.
Diese Regel hat jedoch Ausnahmen. Es gibt Kranke (Melan-
cholische, Verrückte), die ihre Wahnideen zu verbergen, ihre Störung
zu dissimuliren wissen. Um so wichtiger ist es dann, Haltung und
Benehmen, Handlungen und Unterlassungen des verdächtigen Kranken
zu Studiren und daraus indirekt das Bestehen krankhafter Vorstel-
lungen zu erschliessen.
Auch die genaue Beachtung des Verlaufs der Krankheit in
somatischer und psychischer Richtung ist wichtig, insofern sie wenig-
stens die Gewissheit gibt, dass die noch vor einiger Zeit unzweifel-
haft dagewesene Krankheit somatisch und psychisch nicht ausge-
glichen ist, der Explorand den früheren krankhaften Phänomenen seines
Bewusstseins nicht anerkennend gegenüber steht und rückhaltlos von
ihnen spricht, sondern nur aus zielbewusster Absicht (Wiedererlang-
ung seiner Freiheit) und äusserlich beruhigt sich zu beherrschen ge-
lernt hat.
Fragen und Antworten des Colloquiums sind, womöglich mit
Hilfe der Stenographie, genau zu protokolliren. Nur dadurch wird
ein treuer Status praesens des vorliegenden Krankheitsbilds akten-
36 Cap. V. Der" ärztliche Nachweis geistiger Störung.
massig gewonnen, was für ein etwaiges Superarbitrium vom grössten
Werth ist.
Während der Unterredung hat man Zeit, Blick, Miene, Geber-
den, Haltung des zu Untersuchenden zu studiren. Daran wird sich
die genaue Untersuchung der gesammten körperlichen Organe und
Funktionen mit besonderer Rücksicht auf etwaige Störungen der Mo-
tilität und Sensibilität, auf Degenerationszeichen und Schädelmessung
anzuschliessen haben.
Es gibt Fälle, wo die psychische Exploration mit grossen Schwierig-
keiten verknüpft ist, insofern es sich um Individuen handelt, die an
Sprach- oder Gehörfehlern leiden, um Personen, die so verlegen sind,
dass sie geistesschwach erscheinen. Blosse Dummheit durch Er-
ziehungsmangel ist nicht mit organisch bedingter Geistesschwäche,
die bloss erschwerte Entäusserung des geistigen Besitzes (Aphasie)
nicht mit Besitzlosigkeit zu verwechseln.
Endlich gibt es Kranke (apathisch Blödsinnige, Melancholische,
Verrückte) die allem Eindringen gegenüber ein hartnäckiges Still-
schweigen beobachten. Dann hat es freilich mit dem CoUoquium sein
Bewenden. Ist diese Stummheit an und für sich schon bezeichnend,
so wird in solchen Ausnahmsfällen die Aufzeichnung des ganzen Ge-
bahrens (Geberdenprotokoll) ausreichen um im Zusammenhang mit
der Anamnese den Fall seiner Klärung zuzuführen. Eine treffliche
Anleitung zur Exploration zweifelhafter Geisteszustände hat Neumann
(op. cit. p. 45) gegeben.
Ein wichtiger Behelf für die exploratorische Aufgabe ist das
Studium der Schriften i) der Kranken. Im Allgemeinen lässt sich be-
haupten, dass jeder Hauptform von Geistesstörung bestimmte Eigenthüm-
lichkeiten der Schreib- und Ausdrucksweise zukommen und dass sich
der Kranke in seinen Schriften, wo er sich unbeobachtet fühlt und
mehr gehen lässt, mehr verräth als im mündlichen Verkehr. Dies
gilt namentlich für Kranke, die allem Eindringen ein hartnäckiges,
meist durch Wahn und imperative Stimmen befohlenes Stillschweigen
entgegensetzen. Man erstaunt oft, wie Kranke, die sonst ganz ver-
nünftig sprechen, im intimen schriftlichen Verkehr mit sich und An-
deren den grössten Unsinn produciren. Eine im Inhalt vernünftige
Schrift schliesst aber ebensowenig Irresein aus als vernünftiges Reden.
^) Marce, Annal. d'hyg. publ. 1864, April. Güntz, Der Geisteskranke in
seinen Schriften, 1861. Bacon, the Lancet, 1869. II. 4. Jvili. Raggi, gli scritti
dei pazzi. Bologna 1874. Tardieu, la folie. Paris 1872.
Schriften Geisteskranker, ihr diagnostischer Werth. 37
Die Schriften Geisteskranker können inhaltlich zur Ermittlung ver-
borgen gehaltener Wahnideen, stylistisch zur Kennzeichnung ihrer
Geistesfähigkeiten überhaupt, in ihrer äusseren Ausstattung zur Beur-
theilung ihres Bewusstseiuszustands, graphisch zur Ermittlung feinerer
Störungen der Coordination wesentlich beitragen. Am wenigsten
schreiben Blödsinnige. Der kindliche Satzbau, die Unbehilflichkeit
und Unklarheit der Diktion bekunden die hochgradige Geistesschwäche.
Da das Schreiben überhaupt grössere Klarheit der Gedanken erfordert
als das Sprechen^ so ist die Schrift ein besonders feines Reagens für
psychische Schwächezustände (Güntz). Auch der Melancholische schreibt
wenig. Seine geistige Unlust und Hemmung hindert ihn daran. Die
Monotonie des Vorstellens spiegelt sich in der beständigen Wieder-
holung derselben Klagen, Befürchtungen, Selbstbeschuldigungen ab.
Die Schrift ist nicht aus einem Gusse. Man sieht es ihr an, dass
der Kranke nur stossweise seine Hemmungen überwand und absatz-
weise seine Gedanken zum Ausdruck zu bringen vermochte. Nicht
selten sind die Buchstaben mit zitternder Hand ausgeführt.
Der Maniacus schreibt viel, mit fester Hand, in grossen Zügen
und mit rasch hingeworfener Schrift. Sie ist ein treues Bild seines
beschleunigten Vorstellens, dem vielfach die Hand nicht nachzukommen
vermag, so dass Worte ausgelassen werden, Sätze unvollendet bleiben.
Steigert sich die Vorstellungsflucht, so wird die Schrift zu einem kaum
mehr entzifferbaren Chaos von Worten und Satzbruchstücken, die wirr
in einander fliessen. In seiner Schreibsucht schreibt der Kranke kreuz
und quer, kümmert sich nicht um die Qualität des Materials, das ihm
zu Gebot steht.
Besonders viel schreibeil Verrückte, namentlich Querulanten,
Erotomanen. In graphischer Hinsicht sind vielfach Aenderungen der
Handschrift, barokke Verzierungen, Schnörkel, Unterstreichungen von
Worten und Silben bemerkenswerth.
Die Diktion kann tadellos sein oder bombastisch, bizarr, je nach
Art der Wahnideen und Zustand des Bewusstseins. Die grössten Bi-
zarrerieen können sich hier finden. So erzählt Mar9^ von einem Ver-
rückten, der einen besonderen Werth auf die Zahl 3 legte und beim
Schreiben jeden Buchstaben 3mal setzte.
Inhaltlich sind die Schriftstücke Verrückter von grossem Werth,
da sie oft Wahnideen enthüllen, die in der Conversation sorgfältig
verborgen gehalten wurden.
Bei manchen Kranken wird das Scriptum ganz unverständlich,
durch Gebrauch von Worten der Schriftsprache in anderem Sinn, durch
38 Gap. V. Der ärztliclie Nachweis geistiger Störung.
Silben Verstellung oder Anhängen von bedeutungslosen Silben oder auch
Ersetzung der Schriftzeichen durch hieroglyphische, symbolische. Es
kann hier zur Neubildung von Worten kommen, ja sogar bis zur Neu-
schaffung eines Sprachidioms.
Besondere Eigenthümlichkeiten haben die Schriften der zur
Paralysegruppe gehörigen Kranken. Die hier bestehende Coordinations-
störung findet ihren graphischen Ausdruck in undeutlicher, schüler-
hafter, zickzackartiger, zitteriger, Haar- und Grundstriche nicht mehr
auseinanderhaltender Handschrift.
Häufig besteht Paragraphie und Agraphie, so dass falsche oder
unvollständige oder fehlerhaft geschriebene Worte zu Tage kommen
oder auch Worte ganz ausfallen. Die Amnesie kann so bedeutend sein,
dass der Kranke kaum geschriebene Worte oder ganze Zeilen mehr-
mals wiederholt.
Die grosse Bewusstseinsstörung hindert ein Gewahrwerden dieser
Lapsus. Sie lässt auch im Verlauf des Schreibens den Kranken
oft den eigentlichen Zweck desselben vergessen, so dass er in dem-
selben Schreiben sich gleichzeitig an mehrere Personen wendet. Aus
gleichem Grund kommt es vor, dass er aus einem danebenliegenden
Schriftstück oder Buch ganze Sätze einfliessen lässt, gleichzeitig in
mehreren Sprachen schreibt, den Brief unbeendigt übergibt, Adresse,
Datum, Unterschrift vergisst.
Auch die äussere Ausstattung des Schreibens, dessen Papier viel-
leicht aus dem Kehricht gezogen, über und über mit Tinte befleckt
ist, deutet oft in bezeichnender Weise auf die grosse Bewusstseins-
störung dieser Kranken.
Unter den Symptomen, die für die allgemeine Diagnose des Irre-
seins ganz besonders von Bedeutung erscheinen, sind noch zu erwähnen:
Die Umänderung der Persönlichkeit (Charakter) in eine neue
krankhafte, das Vorhandensein von Wahnideen und von Sinnestäusch-
ungen. Auf die zwei letzteren pflegt sich die Diagnostik des Laien
zu beschränken.
a) Charakterveränderung: Der dem Irresein zu Grunde
liegende Krankheitsvorgang bedingt Aenderungen des früheren Charak-
ters, d. h. der früheren Gewohnheiten, Neigungen, Bestrebungen, An-
schauungen — die Persönlichkeit wird eine andere. Dieses Symptom
ist ein um so werthvolleres, als es ein frühes, in der Regel dem Deli-
rium der Vorstellungen und Handlungen lange vorausgehendes ist.
Diese pathologische Charakterveränderung, die bis zu einer völ-
ligen Umkehrung der früheren Anschauungen und Strebungen sich er-
Wahnideen. Kennzeichen solcher. 39
strecken kann, wird um so bedeutsamer, wenn das sie kund gebende
Individuum unter Dispositionen sich befindet oder Einwirkungen aus-
gesetzt war, die erwiesenermassen wichtige Ursachen für Geisteskrank-
heit sind.
b) Wahnideen. Ein häufiges aber keineswegs untrügliches
Zeichen von Irresein bietet der Nachweis von Wahnvorstellungen. Es
v/äre indessen ein grosser Irrthum, Geisteskrankheit nur da anzuerken-
nen, wo jene nachgewiesen sind. Der Kranke kann sich ja in einem
(affektartigen) Anfangsstadium befinden, in welchem Wahnideen noch
gar nicht vorhanden sind, er kann eine Form des Irreseins bieten, in
welcher Wahnideen gar nicht gebildet werden. Zudem vermag der
Kranke seine Wahnideen zu verhehlen und sind solche, wenn auch
überhaupt vorhanden, nicht dauernd im Bewusstsein gegenwärtig. Aber
selbst dann, wenn eine irrige Idee constatirt ist, bedarf dieselbe noch
einer eingehenden Prüfung, um den Werthcharakter einer Wahnidee
zu erhalten. Auch der Geistesgesunde kann horrende Verstandesirr-
thümer produciren und darin sogar den Irren übertreffen, während
umgekehrt der Wahn eines Irren nicht immer eine objektive Unmög-
lichkeit zu enthalten braucht (Wahn ehelicher Untreue, Vergiftungswahn).
Nicht der Inhalt ist hier entscheidend, sondern die Entstehungs-
weise der fraglichen Wahnidee, ihr Verhalten zum historischen und
gegenwärtigen Bewusstsein des Betreffenden.
Sie ist diagnostisch werthlos, so lange ihre Entstehungs weise
nicht ermittelt, ihre Interpretation nicht ■ gemacht ist.
Zur Verwerthung einer fraglichen Wahnidee ist Folgendes ent-
scheidend :
a) Der Irrthum des Geistesgesunden beruht auf einem Fehler
der logischen Schlussbildung oder auf einer aus Unwissenheit, Unacht-
samkeit oder aus Befangenheit durch einen Affekt oder Aberglauben
entstandenen falschen Prämisse. Der Wahn eines Geisteskranken ist
das Produkt einer Gehirnerkrankung. Er ist Folge einer Sinnes-
täuschung oder Erklärungsversuch einer krankhaften Stimmung oder
Primordialdelir. Er lässt sich auf einen solchen Ursprung zurück-
führen, steht somit mit anderweitigen, elementaren, psychischen Störungen
(Affekte, krankhafte Stimmungen, Sensationen etc.) in Beziehung, er
hat eine Pathogenese, eine gesetzmässige Entwicklung, ist somit
nichts Zufälliges.
/j) Er steht vielfach mit den früheren gesunden Anschauungen,
der früheren Denkweise und Erfahrung in grellem Widerspruch. (Ein
Physiker, der fliegen zu können, ein Mathematiker, der die Quadratur
40 Cap. VI. Die Simulation des Irreseins.
des Cirkels erfunden zu haben, ein Chemiker, der die Kunst Gold zu
machen zu besitzen vermeint.)
y) Der Wahn des Geisteskranken hat immer eine Beziehung
zum Subjekt, Ein Geistesgesunder kann aus Dummheit, Furcht etc.
an die Existenz von Hexen glauben, er ist damit nicht irrsinnig. Ein
Geisteskranker glaubt nach Umständen auch an Hexen, aber nur
weil er sie sieht, hört, an sich fühlt.
ö) Eben dadurch, dass der Wahn des Irren Theilerscheinung"
eines pathologischen Vorgangs ist, vermögen auch Logik und Kaisonne-
ment nichts gegen ihn. Er steht und fällt mit der ursächlichen Krank-
heit. Man kann dem Kranken ebensowenig seinen Wahn wegdisputiren
als seine Krankheit mit Reden kuriren. Der Gesunde dagegen wird
seinen Irrthum einsehen und corrigiren, sobald er ad absurdum ge-
führt ist.
c) Auch die Hallucinationen, die zudem bei anderweitigen Hirn-
Nervenkrankheiten, bei Fiebern und Intoxicationen vorkommen, sind
an und für sich nicht entscheidend für Irresein, Sie beweisen schlecht-
hin nur das Bestehen eines krankhaften Hirnzustandes. Ihre Bedeu-
tung als Theilerscheinung einer Psychose ergibt sich nur aus dem
Nachweis einer solchen.
Dann erst erscheinen die Hallucinationen in ihrem rechten Lichte,
insofern sie mit anderweitigen elementaren Störungen (Verstimmungen,
Angstzufällen etc.) in Connex stehen, vom getrübten Bewusstsein
nicht mehr corrigirt werden, Einfluss auf das Handeln gewinnen.
Verdacht auf Geisteskrankheit wird sich indessen immer ergeben
müssen, wenn Hallucinationen vorhanden sind, namentlich wenn sie sich
in mehreren Sinnesgebieten finden.
Cap. VI. Die Simulation des Irreseins.
Literatur. Jacobi, Reiner Stockliausen. Stahmann, Casper's Vierteljahrsschr. VI.
Laurent, „etude sur la Simulation de la folie", 1866. v. Krafft, Friedreicli's
Blätter. 1871, Chipley, Journal of mental science. 1866, April. Nicholson,
ebenda. 1870, Januar. Pelman, Irrenfreund. 1874. Nr. 10.
Die im vorausgehenden Capitel aufgestellten allgemeinen Ge-
sichtspunkte dürften zur Gewinnung der allgemeinen Diagnose „Geistes-
krankheit" genügen. Insofern aber die psychischen Symtome des
Irreseins absichtlich vorgetäuscht werden können, verlangt der vor-
sichtige Richter vom Arzt noch den speciellen Nachweis, dass sie
echt d. h. nicht simulirt sind.
Die Simitlation des Irreseins. 41
Die Erfahrung lehrt, dass Simulation von Geistesstörung selten
ist und noch seltener einem wirklich Sachverständigen gegenüber Er-
folg hat.
Meist sind es Angeschuldigte, die zu diesem verzweifelten Mittel
greifen, um sich der Schande, der drohenden Strafe zu entziehen,
seltener bilden der Wunsch der Wehrpflicht zu entgehen, eine lästige
Ehe zu lösen, eingegangene Verbindlichkeiten nicht erfüllen zu müssen,
Motive zur Simulation. Jedenfalls sind es, bei der natürlichen Scheu,
die das Publikum vor Geisteskranken und Irrenanstalten hat, nur ganz
mächtige Beweggründe, die einen Geistesgesunden zur Simulation
treiben, ja es gibt erfahrene Irrenärzte ^), die geradezu behaupten, dass
Simulation nur bei mehr oder weniger schon wirklich Geistesgestörten
vorkomme. Diese Annahme ist insofern richtig, als Simulation eine ganz
gewöhnliche Erscheinung bei Hysterischen ist, zweifellos Irrsinnige zu
ihrer Störung zuweilen Symptome hinzu simuliren oder bestehende
übertreiben, und notorische Simulanten häufig genug erblich defekte,
belastete Individuen sind.
Daraus ergibt sich vorweg die Regel, mit der Vermuthung der
Simulation nicht leichtsinnig zu sein und wenn eine Präsumption über-
haupt zulässig wäre, eher an wirkliche Krankheit denn an Simulation
zu denken, endlich die Forderung, die exploratorische Aufgabe erst
mit der vollen Ueberzeugung, dass Krankheit nicht nachweisbar sei,
nicht aber mit dem blossen Nachweis der Simulation als beendet
anzusehen.
Bezüglich der Chancen für den Simulanten ist zu berücksichtigen,
dass Irresein eine Krankheit ist, die wie jede andere ihre Ursachen,
ihre empirisch wahre gesetzmässige Entwicklung, ihren Verlauf, logischen
Zusammenhang der Symptome hat und als eine Gehirnkrankheit nicht
auf psychische Phänomene ausschliesslich beschränkt ist.
Hier haben die somatischen Symptome gestörter, durch Gewichts-
abnahme sich dokumentirender Ernährung, die motorischen Störungen,
Pulsanomalien, Störungen der vegetativen Processe, des Schlafes, Speichel-
fluss u. s. w. ihre ganz besondere Bedeutung, nicht minder der Ver-
lauf, in sofern er ein typischer sein kann und Beziehungen zwischen
Exacerbation und Remission der psychischen Symptome mit somatischen
Vorgängen (Menses etc.) sich allenfalls erweisen lassen. Auch verdient
Beachtung, dass jedes psychische Krankheitsbild auch seine äussere
Facies hat und beide im Einklang stehen müssen.
^) Jessen, Allg. Zeitschr. f. Psych. XVI. H. 1.
42 Cap. VI. Die Simulation des Irreseins.
Aber abgesehen von all diesen somatischen, der Willenssphäre
fast gänzlich entzogenen Zeichen, stösst auch die Hervorbringung der
psychischen auf die grössten Hindernisse. Man muss sich in die Lage
des Simulanten denken, um die Schwierigkeit seiner Aufgabe würdigen
zu können. Er gleicht dem Schauspieler; aber während dieser seine
Rolle zugetheilt bekommt, sie mit Müsse studirt und memorirt, muss
der Simulant Dichter und Schauspieler zugleich, ja noch mehr — er
muss beständig Improvisator sein. Er befindet sich fortdauernd in
Aktion, wenn er unausgesetzt beobachtet wird, während der Schau-
spieler zeitweise von der Bühne abtreten und ausruhen kann. Zudem
hat der Simulant nicht ein Parterre von Laien, sondern von Sachver-
ständigen vor sich, die ihm scharf auf die Rolle passen und durch kein
Theaterbeiwerk von ihrer kritischen Aufgabe abgezogen werden. Trotz
all dieser Vortheile dem Simulanten gegenüber, ermüdet der Schau-
spieler schon nach wenigen Stunden. So' begreift sich die Thatsache,
dass Simulanten durch die geistige Anstrengung, die sie sich auferlegen
müssen, wirklich geisteskrank werden können. Aber der Simulant
hat ausserdem den Nachtheil, dass er Laie ist und, wie die meisten
Romanschriftsteller und Bühnendichter, nur Carricaturen des wirklichen
Wahnsinns creirt. Er greift die am meisten drastischen Züge des
L'reseins heraus und outrirt sie in jämmerlicher Weise. Da er bei seiner
Unkenntniss der Originale meint, in Unsinnreden, Umhertoben oder
stumpfsinnigem Gebahren liege das Entscheidende des L-reseins, gefällt
er sich in Darstellungen von vagem Delir mit möglichst barockem
gegensätzlichem Inhalt, affenartigem Umherspringen und Herumtollen
oder stupidem Vorsichhinstieren.
Er wird theatralisch und ostensibel in seinem Delirium, seinem
Wahnsinn fehlt die Methode, sein stumpfsinniges Gebahren wird von
Miene und Haltung Lügen gestraft. Versucht er den Melancholischen
zu spielen, so scheitert er an der Unmöglichkeit der Vortäuschung
der tiefen, schmerzlichen Verstimmung, der psychischen Anästhesie.
Auch stehen ihm die somatischen Symptome dieses Leidens und seine
Exacerbationen und Remissionen nicht zu Gebote.
Versucht er den Tobsüchtigen zu copiren, so erlahmt bald sein
W^ille an der Durchführung des Bewegungsdrangs, der beim wirklich
Tobsüchtigen spontan auf Grund innerer Reize, ohne alle Mühe und
Willensintention abläuft. Der Simulant muss sich Ruhe gönnen und
so tobfer nur so lange als er sich beobachtet glaubt. In seinem Toben
zeigt sich immer noch eine gewisse Umsicht und Rücksicht. Er schont
z. B. seine eigenen Kleider und zerstört nur fremdes Eigenthum.
Die Simulation des Irreseins. 43
A^nch die consequente Durchführung der Rolle des Verrückten
ist einer aufmerksamen Beobachtung gegenüber , die bald die Maske
lüftet und der wahren Persönlichkeit in's Gesicht schaut, unmöglich.
Der Simulant meint, er müsse hier Alles auf den Kopf stellen,
er kennt keine Gesetze der Logik und Ideenassociation mehr, während
doch gerade bei diesen Zuständen, wenn sie primäre sind, der logische
Mechanismus erhalten ist, wenn secundäre, der Nachweis früherer
logischer Beziehungen in vorausgehenden affektiven Stadien sich er-
geben muss.
So heuchelt der Simulant gern eine falsche Apperception, verräth
aber zugleich in seiner möglichst unsinnigen Antwort, dass er die
Pointe der Frage wohl erkannt hat.
Die Simulation des Blödsinns, der Stupidität scheitert an der
Schwierigkeit völlige Affektlosigkeit zu heucheln und ihr mimischen
Ausdruck zu verleihen. Der Simulant kann einen lauernden Zug in
seiner Miene nicht unterdrücken und verräth ab und zu durch Hand-
lungen und Geberden, dass er' der Vorgänge in der Aussenwelt wohl
bewusst ist und ihnen beobachtend gegenübersteht.
Die Exploration eines fraglichen Simulanten setzt vor der anderer
zweifelhafter Geisteszustände Nichts voraus als genügend lange und
unausgesetzte Beobachtung, wozu eine Irrenanstalt der geeignetste
Ort sein dürfte.
Das Bewusstsein des Arztes, dass er einfach Sachverständiger
ist, wird ihm die nöthige Objektivität und Ruhe gegenüber der Hals-
starrigkeit und Frechheit eines fraglichen Simulanten geben.
Der synthetische Weg der Beobachtung ist der einzig richtige.
Nicht Einzelsymptome, sondern die Würdigung der ganzen Persön-
lichkeit, Dicht Präsumption, sondern vorurtheilslose Auffassung der
gesammten Thatsachen müssen die Diagnose herbeiführen.
Gelingt der Nachweis, dass das Bild der fraglichen Krankheit
einem der geläufigen der Classification entspricht, so erweist sich das-
selbe als ein empirisch wahres — ; durchaus nicht darf jedoch aus der
Nichtübereinstimmung desselben mit den Schulbildern des Lehrbuchs
der umgekehrte Schluss gezogen werden. Alle unsere Eintheilungen
sind dogmatisch und bei der individuellen Mannigfaltigkeit dieser Krank-
heiten der Person niemals erschöpfend. Gibt es doch degenerative
Krankheitsbilder, namentlich auf hereditärer Grundlage, denen gerade
das Proteusartige, in's psychologische Classificationsschema nicht ein-
reihbare Individuelle des Krankheitsbilds ein anthropologisch-klinisch
bedeutsames Merkmal aufdrückt, und sind doch gerade häufig Ver-
44 Cap. VI. Die Simulation des Irreseins.
brecher, bei denen man sich der Simulation zu versehen hat, belastete,
degenerative psychische Existenzen.
Die älteren Lehrbücher enthielten eine Reihe von Kunstgriffen (Chloro-
formirung, Ekelkuren, Douchen, Electricität , Einsperrung zu tobenden und ekel-
haften Kranken, fingirte lebensgefährliche Angriffe, Feuerlärm etc.), die dazu
dienen sollten, dem Simulanten seine Rolle zu verleiden, ihn zu entlarven. Sie
sind theils unsicher, theils inhuman und gefährlich, jedenfalls ein Armuths-
zeugniss für das Wissen und Können eines Arztes, der ihrer bedarf. Ein guter
Kunstgriff kann es sein gegen die Umgebung ina Beisein des Simulanten die
harmlose Bemerkung fallen zu lassen, der Betreffende dürfte wohl krank sein,
aber am Krankheitsbild fehlten die und die Symptome. Nicht selten geht der
Simulant dann in die gestellte Falle, adoptirt sie und verräth sie damit als vsdll-
kürlich erzeugte (Jacobi — Fall Reiner Stockhausen; Jessen — Fall Ramke).
Beob. 1. Simulation von transitorischem Irresein. Eine junge
Wittwe simulirte aus Habsucht eine an ilir begangene Nothzucht und gefolgte
Geistesstörung. Sie spielte ihre Rolle mit solchem Erfolg, dass ihr Opfer, einer
der reichsten und angesehensten Kaufleute in S. einen Monat im Gefängniss
schmachtete. Die Detail des denkwürdigen Falles sind folgende:
Am 2.3. Nov. 187 . war Wittwe E. angeblich nach einem an ihr verübten
unsittlichen Attentat irrsinnig geworden. Sie schrie, warf Alles durcheinander,
riss sich die Haare aus, zerriss ihre Kleider und delirirte. ,,Du bist es! du Räuber,
schlechter Kerl! Gehe, ich will nicht ! Du meinst Niemand sehe uns, Wollüstling!
aber Gott sieht uns! Zieh deine Hosen an, bedecke deine schimpfliche Nacktheit,
elender Kerl! Ah, du willst nicht die Thür öffnen — nun ich habe noch genug Kraft
um mich deiner zu erwehren. Ich will nicht dein Geld! Mein Mann möge
kommen, ich werde ihm Alles sagen, zu lange schon verfolgst du mich."
Um 6 Uhr ins Irrenhaus gebracht, delirirte und tobte sie noch in dieser
Weise fort, wurde nach einer Stunde ruhig und geordnet, ass, schlief die Nacht
über und bot am folgenden Morgen nichts Pathologisches mehr. Das Ganze hatte
den Anschein einer Mania transitoria nach einer heftigen Gemüthsbewegung.
Die E. war zwar nicht zu Psychosen disponirt, aber sie lebte in drückenden küm-
merlichen Verhältnissen. Auffällig war zunächst und gegen Man. transit. sprechend
der zusammenhängende, logische Charakter der deliranten Aeusserungen, anstatt
der Verworrenheit und wilden Ideenflucht wie sie sonst bei Man. transit. beob-
achtet wird.
Die E. hatte verschiedene Hautabschürfungen und Contusionen, die jedoch
mehrere Tage alt waren. Eine Untersuchung ihrer Genitalien verweigerte sie
bis zum 27. Diese ergab nichts Wesentliches, obwohl die E. heftige Schmerzen
in den Geschlechtstheilen zu haben behauptete. Mit den detaillirtesten Angaben
beschuldigte sie einen angesehenen Kaufmann, bei dem sie arbeitete, dass er ein
unsittliches Attentat an ihr begangen habe. Die Art der gefundenen Abschür-
fungen machte den Eindruck, als ob die E. sie sich selbst zugefügt hätte. Der
Arzt äusserte seinen bezüglichen Verdacht. Die E. war davon betroffen und am
folgenden Morgen bot sie einen neuen Anfall von Geistesstörung. Die E. war
die 4 Tage über in einer Abtheilung von Tobsüchtigen verpflegt und beobachtet
worden. Ihr diesmaliger Anfall war eine Copie dessen, was sie bei anderen
Kranken gesehen hatte, nicht eine Wiederholung ihres ersten Anfalls! Sie
Beob. 1. Simulation von Iransitorischem Irresein. 45
schwatzte verworren, sprang, sang, tanzte. Aber ihre sclieinbare Ideenflucht
bestand bloss in der sinnlosen Aneinanderreihung von Worten, ihre Agitation
entsprach dem nicht und bestand in einer Reihe ungeordneter, zusammenhangs-
loser Bewegungsakte. Sie wurde bald erschöpft, musste sich Ruhe gönnen und
zeigte sich nur dann „manisch", wenn sie sich beobachtet wusste. Mitten in
ihrer Erregung gab sie zudem genau Acht auf das, was der Arzt sagte und an-
ordnete. Auch die gewöhnlichen somatischen Störungen fanden sich in diesem
Anfall angeblicher Manie nicht vor, der 3 Tage und 2 Nächte dauerte, bis die
E. endlich erschöpft einschlief, um nach 15 Stunden geordnet zu erwachen. Als
man nun der E. sagte, dass man sie durchschaue, simulirte sie eine vage Nerven-
krankheit, mit Ohnmächten, Herausfallen aus dem Bett etc., bewusstlosem Liegen-
bleiben, bis man sie liegen Hess, worauf sie dann selbst ins warme Bett zurück-
kroch. Nun simulirte sie Hustenanfälle mit Blutspeien, aber als die Quelle der
Blutung wurde Reibung der Zunge an einem cariösen Zahn nachgewiesen. ■
Die E. hatte früher als eine rechtliche Frau gegolten, ihre Pflichten als
Gattin imd Mutter gut erfüllt, in der Fabrik des reichen Kaufmanns, den sie so
schwer beschuldigte , Verdienst gefunden. Schon früher hatte sie den Kaufmann
verdächtigt, dass er sie mit Anträgen verfolge und dadurch sich Sympathien und
Geldunterstützungen Seitens wohlwollender Familien verschafft. Die E. war
mittlerweile Wittwe geworden. Im Oktober erhielten die Freunde der E. anonyme
Briefe, worin ihr Lebenswandel verdächtigt wiirde. Im Zusammenhalt mit ihren
früheren Klagen, hielt man diese Briefe vom Kaufmann hejrührend, der ihr die
Freunde abwendig machen, die E. ins Elend stürzen wolle, um dann leichter
zum Ziel zu gelangen. Man bewies ihr noch mehr Sympathie und unterstützte
sie noch reichlicher.
Am 21. November Abends kam die E. klagend zu ihren Freunden und
jammerte, dass ihr der Kaufmann Gewalt angethan habe. Die Sache wnrde ruch-
bar. Das Weitere ist dem Leser bekannt.
Auffällig war zunächst, dass E. in dem gefährlichen Hause . geblieben war,
während sie doch anderwärts leicht Verdienst gefunden hätte, dass sie sich beeilt
hatte, jeweils die ihr angethanen Beleidigungen bekannt zu machen, dass der
gerichtsärztliche Befund ihrer Verletzungen weder der Zeit noch der Art nach
ihren Angaben entsprachen, dass die Attentatsscene mit Rücksicht auf Ort
und Umstände nicht möglich und die E. eine unschöne decrepide Person von
32 Jajiren war.
Der Ruf der E. war besser gewesen als ihre frühere Aufführung an fremdem
Ort. Sie war eine coquette Dirne gewesen, hatte im Ruf einer Ehebrecherin ge-
standen und einer Heuchlerin. So hatte sie einen Geistlichen mit angeblichen
Heiligenvisionen angeführt und sonstigen Schwindel getrieben, ihren Mann be-
stohlen und Andere in Verdacht gebracht, schliesslich sogar einen an ihr be-
gangenen Mordversuch fingirt, sich dadurch unmöglich gemacht und mit einem
Liebhaber in der Welt herumgetrieben. Ihre Schwindeleien da und dort hatte
sie immer nur gemacht, um sich interessant zu machen, Geldunterstützungen zu
erhalten. . Deshalb hatte sie auch den Nothzuchtversuch und den Anfall von
Geistesstörung simulirt. Das sorgfältige Gutachten wirft die Frage auf, ob dieses
Simuliren und Heucheln seine Begründung nicht in einem Zustande von Hysterie
finde. Die E. ist indessen weder erblich belastet noch je hysterisch gewesen.
Ihre Anfälle in der Beobachtungszeit waren e:anz bestimmt simulirt. Die E. hat
46 Cäp. VI. Die Simulation des Irreseins.
nur geschwindelt und simulirt wenn sie in Notli war, Geld brauchte. Sie war
nie wirklich irrsinnig und ist für ihre Handlungen in vollem Umfang verant-
wortlich zu erachten. (Dr. Marandon, Annal. med. psycho! Sept. 1879.)
Beob. 2. Simulation von allgemeiner Verwirrtheit, später von
epileptischen Anfällen. Delbes, 30 J., wurde zur Beobachtung nach der
Irrenanstalt gesandt und in den ersten 8 Tagen in der Isolirzelle beobachtet..
Er schwatzte sinnlos , meist von militärischen Dingen , der Zustand ähnelte
einer chronischen Manie im Uebergang zum Blödsinn, obwohl derselbe erst seit
kurzer Zeit datirte. Er ass anfänglich nicht, dann auf Nöthigung. Auf die Frage
nach seinem Alter erwiederte er: „ja mein General, ich will das Pferd tränken".
Diesen Aiisspruch machte er zögernd, wie unsicher. Somatische Störungen fanden
sich keine vor. Er schlief gut. Nur wenn er sich beobachtet wusste, schwatzte
er, sonst war er ruhig. In seiner scheinbar stumpfen Miene war der Ausdruck
der Spannung nicht zu verkennen.
Man versetzte ihn in die Abtheilung der Aufgeregten und that dergleichen
als ob man an seine Krankheit glaube oder wenigstens ihn nicht beachte.
D. stüdirte die Mitpatienten, er copirte sie, machte ihre lebhaften Gestikulationen
nach, blieb Nachts wach und schwatzte so laut, dass es der Wärter hören musste.
Schliesslich wurde ihm seine Rolle beschwerlich. Während er fortfuhr in Gegen-
wart der Aerzte sinnlos zu schwatzen, vergass er sich soweit mit dem Wärter
ganz vernünftig zu plaudern. Nach etwa Monatsfrist wurde ihm bedeutet, man
durchschaue ihn und wenn er bis morgen nicht vernünftig sei, so werde man
Zwangsmittel anwenden. Am anderen Morgen war er ruhig imd geordnet. Er
sprach mit den Aerzten, behauptete sie zum erstenmal zu sehen, nicht zu wdssen,
wie er daher gekommen. War diese Amnesie möglich, hatte D. nicht einfach
seine Taktik geändert? Verf. hält mit Recht Amnesie für möglich, aber diese
behauptete umfasste ein Jahr, während die angebliche Krankheit erst seit
4 Monaten datirte. Aber abgesehen von Allem andern erwies sich diese Amnesie
als eine erlogene, da D., wie oben erwähnt, dem Wärter die genauesten Details
über diese amnestische Periode seines Lebens mitgetheilt hatte. D. spielte längere
Zeit in Kreuzverhören ganz gut die Rolle des Amnestischen, endlich gelang es
ihn zu ermüden, zu verwirren und durch eine unbedachte Aeusserung, er wisse,
dass er der Fälschung öffentlicher Schriften bezüchtigt sei (dieses Factum fiel in
die amnestische Zeit!) zu entlarven. Am folgenden Tag versuchte er seinen
Lapsua zu bemänteln, man theilte ihm mit, dass seine Simulation erkannt sei
und seine Verurtheilung bevorstehe. Er war verblüfft, in einer ungekünstelten
Erregung. Eine Stunde später fand man ihn auf dem Boden liegend, die Daumen
eingeschlagen, Schaum vor dem Mund, die Kiefer zusammengepresst. Gesichts-
farbe indess normal, Pupillen auf Lichtreiz reagirend, Respiration ruhig. Als
man nach Wasser rief, um es ihm ins Gesicht zu spritzen, drehte er sich nach
der Wand. Am andern Morgen fing er wieder an sinnlos zu schwatzen. Als
man ihn fragte, wie es ihm gehe, sagte er: „heute Nacht habe ich meinen
Sergeant gesehen, er sagte mir, dass ich erschossen werden soll und ich habe
doch nichts begangen". Weder mimisch noch affektiv bot sich für diese „Hallu-
cination" ein stützendes Merkmal.
Der gewissenhafte Beobachter setzte das Studium objectiv fort und ver-
schaffte sich Kenntniss über den Anfang des der Simulation verdächtigen Zustands.
D. hatte schon am 2. Tage begonnen immer weniger zu essen, bis er ohnmächtig
Beob. 2. Simulation von Verwirrtheit, epileptischen Anfällen. 47
wurde. Dann begann das sinnlose Schwatzen. Wiederholt waren auch nervöse
Krisen ähnlich hysterischen Anfällen beobachtet worden, die der eifahrene Arzt
für nicht simulirte hielt.
Die Wechselfälschungen, die D. im Mai bis Juni 1874 begangen hatte und
die im Betrag von über 4000 Frcs. den Gegenstand der Anklage bildeten, waren
mit grossem Raffinement ausgeführt worden. Schon 1867 war er wegen Zech-
prellerei kriegsgerichtlich verurtheilt worden, 1873 wegen Betrugs.
In den Verhören wegen seines letzten Verbrechens hatte er mit grosser
Schlauheit sich benommen. Sein incohärentes Schwatzen trat erst auf als er merkte,
dass seine Sache verloren sei und er einige Jahre Freiheitsstrafe zu gewärtigen habe.
In D.'s Familie sind keine Fälle von Irresein oder Nervenkrankheit vorge-
kommen, er war immer gesund bis auf nervöse Krisen, wenn er eine heftige
Gemüthsbewegung erfuhr, auch kann nicht geleugnet werden, dass er eine neuro-
pathische Constitution hat.
Die Anwendung der Zwangsmittel, um den Simulanten zur Aufgebung und
zum Eingeständniss seiner Simulation zu bewegen, verschmähte der ehrenwerthe
Experte als inhuman, unsicher und gefährlich. Ueber Auftrag des Dr. D., Ober-
arzt des Asyls, wurde dem Simulanten eine 24stündige Frist gegeben und mit
der Douche gedroht, falls er seine Simulation nicht aufgebe. Die Frist verstrich,
D. wurde gedoucht, bat um Gnade, gestand seine Simulation und war mit einem
Mal umgewandelt. Er bekannte sein Verbrechen und suchte es nur damit zu
beschönigen, dass er den Plan dazu in einer jener Zeiten von geistiger Schwäche,
die seinen nervösen Krisen zu folgen pflegten, gefasst habe. Die folgende Beob-
achtung, die freilich durch eine Entweichung des D. gestört wurde, ergab keine
Zeichen eines psychopathischen Zustands. Auch für Epilepsie Hess sich kein
Anhaltspunkt gewinnen, sodass D. gewiss mit Fug und Recht seine Strafe erlitt.
(Dr. Marandon, Annal. med. psychol. Januar 1877.)
Beob. 3. Simulirtes Irresein. A., 28 J., Gärtner, wiederholt wegen
Diebstahl und Betrug verurtheilt, hatte schon 9mal erfolgreich Geistesstörung
simulirt und in Irrenanstalten reichlich Gelegenheit zum Studium wirklicher
Kranker gefunden. Anlässlich eines neuen Diebstahls verurtheilt, war er sofort
wieder in seine frühere Rolle gefallen und der Irrenanstalt zur Beobachtung
zugeführt worden. Somatisch ist er nicht krank. Wenn allein, scheint er auf-
geregt und delirirt von einer Frau, die ihn verfolge. Wenn man ihn besucht,
wächst die Unruhe und macht er ganz sinnlose Geschichten. Mehrmals hat er
seine Kleider zerrissen, aber immer nur an den Nähten. Auf Fragen gibt er
recht unsinnige Antworten, aus denen aber ein Verständniss der Frage klar
hervorgeht. Sein Gebahren ändert sich, je nachdem er sich beobachtet oder
nicht beobachtet glaubt. Der Zustand nähert sich dem Bild einer Manie mit
Verfolgungswahn. Als der Arzt ihm erklärt, er durchschaue ihn und er
riskire nur wirklich geisteskrank zu werden, ist er wie umgewandelt und bekennt
offen seinen Betrug. Trotzdem simulirt er im Termine wieder. Er scheint zu
halluciniren, heuchelt Amnesie für Alles, zerreisst plötzlich seinen Anzug, schreit
„verurtheilt mich nur" und spektakelt so, dass er weggeführt werden muss. Beim
Abführen singt er die Marseillaise. • Dieser Simulationsversuch war denn doch
zu plump. Er wird verurtheilt. In der Strafhaft simulirt er wieder in der Hoff-
nung, in ein Asyl zu kommen, wo er leichter entweichen kann. Er täuscht auch
wirklich den Gefängnissarzt, aber statt in ein fremdes Asyl zu kommen, wie er
48 Cap. VI. Vorgeschütztes Irresein.
gehofft hatte, bringt man ihn wieder zu Dr. Billod, wo er sofort zum zweiten
Mal entlarvt wird. (Annales med. psycho!., Juli 1868.)
Weitere Fälle: Simulirter Blödsinn: Friedreich's Blätter. 1865. H. 5.
Livi, Archiv, italiano. 1872. Juli. Bucknill u. Tuke, Lehrb. p. 374, 375. Bonnet,
Ann. med. psycho! 1866. Nov. Fischer, Friedreich's Blätter. 1877. H. 3.
Simulirte allgem. Verwirrtheit : Annal. med. psychol. 1864. Mai. 1875. März.
Manieartige Aufregung: Lombroso, Archiv, italiano. 1867. Nov. Zippe,
Psychiatr. Centralbl. 1875. 1 u. 2.
Simulation neben gleichzeitiger Psychose : Laehr, Arch. f. Psych. I. Ingels,
Bulletin de la societe de medecine de Gand. 1868. (Ein Irrer, der, um in einer
Irrenanstalt Versorgung zu finden, zu seiner Krankheit noch eine Psychose simulirt
hatte.) Stark, Friedreich's Blätter. 1875. H. 2. (Angebliche Amnesie für das
Verbrechen bei zweifelloser Geistesstörung.) v. Krafft, Lehrb. d. Psychiatrie. III.
Fall 109. (Circuläres Irresein, daneben Simulation von Blödsinn.)
An die Fälle simulirter Geistesstörung reihen sich solche wo
Irresein vorgeschützt wird, frühere Anfälle angeblicher Seelen-
störung oder Beeinträchtigung der psychischen Funktionen durch eine
Kopfverletzung, einen apoplectischen oder epileptischen Anfall etc.,
für die Zeit eines begangenen Verbrechens, eines eingegangenen Ver-
trags, dessen Erfüllung lästig ist, geltend gemacht werden. In foro
gilt natürlich der Satz „onus probandi incumbit alleganti", aber für
den Experten kann es äusserst schwierig sein, zu ermitteln, wie weit
die subjektiven Beschwerden begründet, zeitlich und ursächlich auf
ein allegirtes Moment (z. B. bei Klagen auf Schadenersatz nach Körper-
verletzung) zurückführbar sind. Strenge Objektivität ist hier erfor-
derlich. Die Angaben der Angehörigen und des fraglichen Kranken
sind hier mit grosser Vorsicht zu verwerthen.
Dahin gehörige Fälle: Deutsche Zeitschr. f. Staatsarzneikunde. 1859,
p. 167, von den Verwandten' vorgeschützte Geistesstörung, um den Angehörigen
der Consci-iption zu entziehen.
Annal. med. psychol. 1866, März. Ein junger Mensch verletzt im Affekt
seinen Vater. Die Verwandten schützen Seelenstörung A^or, um den Thäter der
Strafe zu entziehen.
Moos, Archiv d. Augenheilkde. 1869, Bd. I, Zwei Ohrenkranke, wegen
Meineids vor Gericht, schützen zeitweise Geistesstörung, bedingt durch ihr Ohren-
leiden, vor.
Buchner, Friedreich's Blätter 1869, H. 5. Livi u. Tamburini, Rivista speri-
mentale 1875, fascic. 4 u. 5. (Die Expertise macht moralisches Irresein geltend,
bleibt aber den wissenschaftlichen Beweis schuldig.) Meyer, Allgem. Zeitschr. f.
Psych. 1867, H. 3 (von der Vertheidigung behauptete Nymphomanie u. Dementia).
Schuhmacher, Deutsche Zeitschr. f. Staatsarzneikde. 1868. Derselbe, Friedreich's
Blätter 1871, H. 1.
Casper-Liman, Handb. 6. Aufl. Fall 277, 278, 280 (vorgeschütztes Schwan-
gerschaftsgelüste), 281 (dito), 283 (Diebstahl, vorgeschützte Zerstreutheit).
Cap. VII. Das Alter der strafrechtlichen Unreife. 49
B. Specieller und klinischer Theil.
Die Aufgabe der gerichtlichen Psychopathologie besteht in der
Ermittlung des Einflusses organisch bedingter Störungen des geistigen
Lebens auf die zur Höhe des vom Gesetzgeber geforderten freien
Wollens nothwendigen psychischen Vorgänge und im concreten Fall
in dem Nachweis, dass diese Bedingungen eines (relativen) freien
Wollens durch eine Hirnerkrankung (Geistesstörung) fehlen oder nur
noch mangelhaft vorhanden sind.
Die organischen Momente, aus welchen eine Unfähigkeit oder
Unvollkommenheit der Selbstbestimmung sich ergibt, lassen sich über-
sichtlich zusammenfassen als
1. Noch nicht erlangte Reife der körperlichen und geistigen Ent-
wicklung eines zur Erreichung jener Reife befähigten Indi-
viduums (Alter der strafrechtlichen Unreife — Kindheit und
Unmündigkeit).
2. Hemmungen der Entwicklung, welche das Gehirn vor erreichter
Ausbildung getroffen haben (Idiotie, angeborener Schwachsinn).
3. Krankheitsvorgänge, welche nach erfolgter Entwicklung des
Gehirns die psychischen Funktionen selbständig und in mehr
chronischer Weise in Störung versetzt haben. (Geisteskrank-
heiten.)
4. Degenerative, meist erbliche Einflüsse, welche bei wenig oder
nur formell geschädigten intellektuellen Funktionen vorzugs-
weise in Anomalien der affektiven und ethischen Leistungen
(Charakter) sowie des Trieblebens sich kundgeben. (Psychische
Degenerationszustände.)
5. Transitorische, meist symptomatische Störungen der psychischen
Funktionen. (Zustände krankhafter „Bewusstlosigkeit".)
Cap. VII. Das Alter der strafrechtlichen Unreife.
(Kindheit und Unmündigkeit.)
Literatur. Mittermaier, Friedreich's Blätter 1864, H. 5, 1865, H. 3. Legrand du
Saulle, Gaz. des hopitaux 1867, Nr. 115, 118. Derselbe, Annal. d'hygiene
publ. 1868, Oct. De Snieth, über moralische u. intellektuelle Abnormitäten
bei den Kindern. Presse medicale 1869, Nr. 43.
V. Krafft-Ebing, gericiitl. Psychopathologie. 2. Auflage. 4
50 Cap. VII. Das Alter der strafrechtlichen Unreife.
Gesetzl. Bestimmungen. Deutsches St.-G.-B. §. 55: Wer bei Begehung einer
Handlung das zwölfte Lebensjahr nicht vollendet hat, kann wegen derselben
nicht strafrechtlich vei'folgt werden.
§. 56: Ein Angeschuldigter, welcher zu einer Zeit, als er das zwölfte,
aber nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatte, eine strafbare Hand-
lung begangen hat, ist freizusprechen, wenn er bei Begehung derselben die
zur Erkenntniss ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht nicht besass.
In dem ürtheil ist zu bestimmen, ob der Angeschuldigte seiner Familie
überwiesen oder in eine Erziehungs- oder Besserungsanstalt gebracht werden
soll. In der Anstalt ist er so lange zu behalten, als die der Aiistalt vor-
gesetzte Verwaltungsbehörde solches für erforderlich erachtet, jedoch nicht
über das vollendete zwanzigste Lebensjahr.
§. 57: Wenn ein Angeschuldigter, welcher zu einer Zeit, als er das
zwölfte, aber nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatte, eine strafbare
Handlung begangen hat, bei Begehung derselben die zur Erkenntniss ihrer
Strafbarkeit erforderliche Einsicht besass, so kommen gegeai ihn folgende
(mildere) Bestimmungen zur Anwendung:
Die Freiheitsstrafe ist in besonderen, zur Verbüssung von Strafen jugend-
licher Personen bestimmten Anstalten oder Räumen zu vollziehen.
Oesterr. St.-G.-B. §. 2: Die Handlung oder Unterlassung wird nicht als
Verbrechen zugerechnet, wenn d) der Thäter noch das vierzehnte Jahr nicht
zurückgelegt hatte.
§. 237: Die strafbaren Handlungen, die von Kindern bis zum vollendeten
zehnten Jahr begangen werden, sind bloss der häuslichen Züchtigung zu
überlassen, aber von dem angehenden elften bis vierzehnten Jahr werden
Handlungen, die nur wegen Unmündigkeit des Thäters nicht als Verbrechen
zugerechnet werden, als Uebertretungen bestraft.
§. 269: Unmündige (zehntes bis vierzehntes Jahr) können auf zweifache
Art schuldig werden: a) durch strafbare Handlungen, welche nach ihrer
Eigenschaft Verbrechen wären, aber wenn sie Unmündige begehen (§. 237),
nur als Uebertretungen bestraft werden; b) durch solche strafbare Hand-
lungen, welche an sich nur Vergehen oder Uebertretungen sind.
§. 270: Die von Unmündigen begangenen strafbaren Handlungen der
ersten Art sind mit Verschliessung an einem abgesonderten Verwahrungsorte,
je nach Beschaffenheit der Umstände, von 1 Tag bis 6 Monaten zu bestrafen.
Diese Strafe kann nach §. 253 verschärft werden.
§. 271 (Verschärfung der Strafe): Die Umstände, auf welche bei Be-
stimmung der Strafzeit und der Verschärfung Rücksicht zu nehmen ist, sind
a) die Grösse und Eigenschaft der strafbaren Handlung; b) das Alter des
Schuldigen, je nachdem dasselbe sich mehr der Mündigkeit nähert; c) seine
Gemüthsart — nach der sowohl aus der gegenwärtigen Handlung als aus
dem vorhergehenden Betragen sich äussernden Bosheit oder Unverbesser-
lichkeit. '
§. 272: Mit dieser Bestrafung der Unmündigen ist nebst einer ihren
Kräften angemessenen Arbeit stets ein zweckmässiger Unterricht des Seel-
sorgers oder Katecheten zu verbinden.
§. 273: Die von Unmündigen begangenen strafbaren Handlungen der
Kindliclies Alter. 51
zweiten Art (welche das Gesetz nur als Vergehen und Uebertretungen be-
zeichnet) sind insgemein der häuslichen Züchtigung zu überlassen.
Oesterr. St.-G.-Entw. §. 60 — 63 (wesentlich conform dem Deutsch. St.-G.-B.
§. 55—58).
Code penal frangais Art. 66: Ist der Angeklagte noch nicht 16 Jahre
alt und wird entschieden, dass er ohne Unterscheidungsvermögen gehandelt
habe, so wird er freigesprochen, jedoch, je nach Umständen, seinen Eltern
zurückgegeben oder in eine Besserungsanstalt gebracht, um dort erzogen und
soviel Jahre als das Urtheil bestimmt, in Haft gehalten zu werden, jedoch
unter keinen Umständen über das zurückgelegte 20. Jahr hinaus.
(Ein Gesetz vom 5. August 1850 modificirt im Interesse der Rettung
sittlich verkommener jugendlicher Individuen diese Bestimmung dahin, dass
zweierlei Anstalten angeordnet werden — colonies penitentiaires für zu
6 Monaten bis 2 Jahren Verurtheilte , sowie für wegen Mangel des Unter-
scheidungsvermögens Freigesprochene, aber in ein Correctionshaus Verwiesene
und — colonies correctionelles für schwerer gravirte jugendliche Verbrecher.)
Code penal Art. 67 — 69 (mildere Strafe und besondere Strafvollzugs-
bestimmungen bei jugendlichen Verbrechern, welchen Unterscheidungsver-
mögen zuerkannt wurde, ähnlich den Bestimmungen des §. 57 des Deutschen
St.-G.-B.).
In den Strafgesetzgebimgen der verschiedensten Länder hat sich
früh das Bedürfniss geltend gemacht, einen Alterstermin festzusetzen,
von welchem an erst eine strafrechtliche Verfolgung zulässig ist. Die
Motive liegen "auf der Hand. Das Rechtsbewusstsein eines Kindes
ist noch nicht soweit entwickelt, um ein Verständniss für die sociale
und ethische Bedeutung von strafbarer Handlung und Strafe auf-
kommen zu lassen. Beide stehen für dasselbe fast ausschliesslich in
einem einfachen Causalitätsverhältniss. Das Kind besitzt nicht die
Besonnenheit und Ueberlegungsfähigkeit des Erwachsenen, es kennt
nicht die Tragweite seiner Handlungen oder denkt nicht an die mög-
lichen Folgen derselben. Das Vermögen der Reflexion fehlt gänzlich
oder diese ist eine dürftige , weil der Motive nur wenige sind : das
Handeln findet auf Grund unmittelbarer sinnlicher Impulse statt. Auch
das ethische Bewusstsein ist ein unklares, unsicheres. Es besteht in
lückenhaften moralischen Urtheilen der Umgebung, die das Kind sich
mnemonisch, unterstützt durch häusliche Zucht und Unterweisung an-
geeignet hat, deren tieferen Sinn es aber noch nicht versteht. Die
Geltendmachung dieser Reproduktionen geschieht nicht in Form klarer
Urtheile über die Sittlichkeit oder Unsittlichkeit einer intendirten
Handlung, sondern als eine halbbewusste Eingebung eines erst in der
Entwicklung begriffenen Gewissens.
Da wo kein Alterstermin der beginnenden strafrechtlichen Verantwortlich-
keit festgesetzt ist (Frajpikreich), ergeben sich beklagenswerthe Missstände in der
52 Cap. VII. Das Alter der strafreclitliclien Unreife.
Rechtsprechung. Es ereignet sich dann die Monstrosität, dass von der öffentlichen
Meinung als total unreif bezeichnete Kinder von 6 — 10 Jahren vor Gericht gestellt
werden müssen und durch das Zusammensein mit älteren depravirten Verbrechern
während der Dauer der Voruntersuchung sittlich verdox'ben werden oder im besten
Fall, da ja doch vernünftigerweise an eine Verurtheilung nicht gedacht werden
kann, die ganze Verhandlung zu einer leeren, Richter und Greschworene nur be-
lästigenden Formalität wird.
Unter allen Umständen aber bleibt es gefährlich, die Frage, ob ein kind-
liches Individuum vor Gericht gestellt werden soll, dem Ermessen und der Dis-
cretion des Staatsanwalts anheim zu geben und, falls dieser sich dafür entscheidet,
Richtern und Geschworenen, die nur zu leicht sich von dem alten und verkehrten
Satz „malitia supplet aetatem" leiten lassen, das Schicksal des kindlichen -Ver-
brechers anheim zu geben.
Die Wichtigkeit der Normirung einer Altersgränze ergibt sich
aus der Häufigkeit, mit welcher jugendliche Individuen die Strafgesetze
übertreten. So betrug beispielsweise 1862 die Zahl der wegen Ver-
brechen in Frankreich angeklagten unter 16 Jahre alten Individuen 44,
die Zahl der wegen Vergehen angeklagten 5952, in Preussen die
Gesammtzahl der Angeklagten unter 16 Jahre jährlich 5085 bis 9225.
Je nach Klima, Race, Culturzustand der Bevölkerung hat der
Gesetzgeber bei den verschiedenen Nationen den Zeitpunkt der straf-
gerichtlichen Verfolgbarkeit bald früher bald später festgesetzt.
Beob. 4. Ein kindlicher Verbrecher. Scheller, ein armer Junge
von 10 Jahren im Elsass, hatte einen von ihm geliebten Kameraden, der als
Sohn vermöglicher Eltern immer schöne Kleider besass. Seh. hatte den Wunsch,
auch solche Kleider zu besitzen. Eines Tags lockte er seinen Kameraden in den
Wald, erschlug ihn dort, zog die Kleider des Ermordeten an und ging damit in
das Dorf zurück, nachdem er seine eigenen schlechten Kleider am Orte des Ver-
brechens zurückgelassen hatte (!). Begreiflich wurde der Thäter sofort entdeckt.
Er wurde vor Gericht gestellt. Die Geschworenen nahmen an, dass er mit Dis-
cernement gehandelt habe, und erkannten ihn schuldig, jedoch mit Annahme
mildernder Umstände ; Verurtheilung zu 10 Jahren Zuchthaus. (Mittermaier,
Friedreich's Bl. 1865. V.)
Beob. 5. Ein kindlicher Verbrecher. Ein Junge von 12 J. stiess
einem 14jährigen Kameraden ein Messer in die Brust. Der Getroffene erlag seiner
Verletzung. Die beiden Kinder waren immer freundlich mit einander gewesen,
hatten sich aber vielfach geneckt. Aus einer solchen Neckerei war ein Streit
entstanden. Der ältere Knabe hatte den jüngeren zu Boden geworfen; dieser
erhob sich, zog sein Messer und stiess es dem anderen in die Brust. Der Ver-
theidiger machte geltend, dass der Angeklagte die Folgen nicht vorhergesehen,
sie auch nicht gewollt habe.
Freisprechung wegen mangelnden Unterscheidungsvermögens. (Le Droit,
3. Mai 1862.)
Alter der fraglichen strafrechtl. Reife. Unterscheidiingsvermögen. 53
In richtiger Würdigung der successive aber nicht plötzlich ein-
tretenden strafrechtlichen Reife haben die neueren Gesetzgebungen
eine Altersperiode der zweifelhaften Zurechnungsfähigkeit festgesetzt,
die eine intermediäre Stufe zwischen der fehlenden Zurechnungs-
fähigkeit des Kindes und der vollen des Erwachsenen bildet. Die
Frage nach -der criminellen Verantwortlichkeit ist hier eine offene und
eine Präsumption für und wider unzulässig. Der Staat hält sich für
verpflichtet einzuschreiten , denn das Rechtsbewusstsein ist schon er-
wacht und damit das kritische Alter der strafrechtlichen Reife ein-
getreten, aber der Fall muss als ein concreter beurtheilt werden, denn
jene ist noch eine unvollkommene und fragliche.
Als das Kriterium der Zurechnungsfähigkeit in diesem kritischen
Alter gilt gesetzlich das Unterscheidungsvermögen (Discernement).
In Deutschland reicht dieses Alter der zweifelhaften strafrecht-
lichen Reife bis zum zurückgelegten 18., in Frankreich bis zum
16, Jahr.
Der Schwerpunkt der gerichtlichen Beurtheilung jugendlicher
Verbrecher liegt also in dem „Unterscheidungsvermögen". Dem Geist
und Wortlaut der Gesetzgebung nach kann es nur als das Bewusst-
sein von der Bedeutung der strafbaren That in ihren rechtlichen
Wirkungen, das zugleich die Kenntniss ihrer möglichen Folgen in
sich begriff, interpretirt werden. (Besitz der „erforderlichen Einsicht
zur Erkenntuiss der Strafbarkeit der bezüglichen That".) Die Ent-
scheidung der Frage nach dem U. vermögen des jugendlichen Thäters
ist eine sehr schwierige. Sie kann immer nur mit Bezug auf den
concreten Fall gestellt werden. Nur der Richter der Thatfrage ist
competent zu ihrer Lösung, nicht der Experte, dessen Gutachten sich
nur auf die anthropologische Untersuchung der individuellen Ent-
wicklungshöhe in psychischer und somatischer Hinsicht mit besondrer
Rücksicht auf etwaige organisch bedingte Störungen der Entwick-
lung beziehen kann und die Tragweite solcher Störungen klarzu-
legen hat.
Diese Leistung kann eine sehr werthvolle zur Klärung des
Thatbestands sein. Wie das Studium bezüglicher Gerichtsverhand-
lungen lehrt, ist die Lösung der Vorfrage nach dem vorhandenen oder
fehlenden U.vermögen vielfach eine unbefriedigende. Ein solches wird
nur zu häufig aus einzelnen Kundgebungen der Intelligenz, aus isolirten
moralischen oder intellektuellen Urtheilen, aus einer gewissen Schlauheit
oder Bosheit (malitia supplet aetatem!) einseitig erschlossen. Das
Zeugniss des Lehrers , welches erhoben wird , berücksichtigt nur die
54 Cap. MI. Das Alter der strafrechtlichen Unreife.
intellektuelle Begabung und die Fortschritte im Lernen, das des Geist-
lichen die eingelernten Katechismus- und MoralbegrifFe ; der Arzt begnügt
sich mit einer flüchtigen Untersuchung der Intelligenz und der Körper-
entwicklung, der Richter urtheilt vorzugsweise nach dem Satz „malitia
supplet aetatem" oder nimmt ein inquisitorisch und durch Suggestiv-
fragen ermitteltes oder hineinexaminirtes Schuldbewusstsein für ein
schon zur Zeit der That dagewesenes und wirklich bestehendes, während
vielfach solchen halbkindischen jungen Leuten erst nach der That,
wenn sie den angerichteten Schaden überschauen, die Folgen jener
empfinden, durch die Angehörigen, die Untersuchungsbeamten, den
Geistlichen etc. auf ihr Unrecht aufmerksam gemacht worden sind,
die Bedeutung ihrer strafbaren Handlung klar wird. Es ist zudem
nicht zu übersehen, dass die abstrakte Kenntniss des Sitten- und Straf-
gesetzes noch nicht die Fähigkeit involvirt, den eigenen concreten Fall
unter diese allgemeinen Gesichtspunkte zu subsumiren. Dieses Wissen
von Gut und Bös, Recht und Unrecht ist, ähnlich wie beim Schwach-
sinnigen, ein ziemlich oberflächliches, anerzogenes, intellektuell noch
nicht abgeklärtes, das sich zudem mehr oder weniger instinctiv geltend
macht. Urtheil und Erfahrung sind noch dürftig, die Reflexion eine
oberflächliche, im Aff'ekt, gänzlich darniederliegende.
Es wird für die Klärung der Thatfrage viel mehr darauf an-
kommen, in welcher Umgebung der jugendliche Verbrecher bisher
lebte, ob die socialen Verhältnisse derart waren, dass er ein Rechts-
bewusstsein bekommen konnte oder musste, ob sich dieses in seinem
Vorleben in früheren Urtheilen und Handlupgen wirklich bethätigt hat.
Es wird hiebei auch viel auf die QuaHtät der verübten straf-
baren Handlung ankommen. Ein Diebstahl wird früh als Unrecht
erkannt, nicht aber die widerrechtliche Aneignung einer gefundenen
Sache oder das Unrecht einer Münz- oder Urkundenfälschung, nicht die
MögHchkeit, dass bei einer Brandstiftung Menschenleben zu Grunde
gehen, der Brand durch besondere Umstände weitere Dimensionen
als der Thäter beabsichtigte, annehmen konnte. Diese Erkenntniss
der voraussichtlichen Folgen wird immer eine unvollkommene sein,
wenn auch das allgemeine Wissen von Recht und Unrecht nichts zu
wünschen übrig lässt. Das nachgewiesene Fehlen des U. Vermögens
führt nothwendig zu einer Freisprechung, weil die eine der Grund-
bedingungen der Zurechnungsfähigkeit fehlt. Der Nachweis seines
Vorhandenseins verbürgt aber noch nicht die Zurechnungsfähigkeit,
deren zweite Grundbedingung die libertas consilii ist. Ist die erste
Grundbedingung durch Bejahung der Vorfrage nach dem U. vermögen
U.vermögen beweist noch nicht Zurechnungsfähigkeit. 55
entschieden, so muss die Frage nach dem Vorhandensein der zweiten
gestellt, die Zurechnungsfähigkeit, richtiger die Selbstbestimmungs-
föhigkeit, entschieden werden. Unterscheidungsvermögen und Zu-
rechnungsfahigkeit sind ja sich nicht deckende Begriffe.
In einem concreten Fall, in welchem der jugendliche Angeklagte
von den Geschworenen wegen erwiesenen U. Vermögens schuldig ge-
sprochen war, der Vertheidiger aber eine Zusatzfrage nach dem Dasein
der Z.fähigkeit verlangt hatte, aber zurückgewiesen worden wai', ver-
nichtete das preussische Obertribunal das Urtheil mit den Motiven,
dass mit der Bejahung des Urtheils nur der aus dem jugendlichen
Alter zu entnehmende Zweifel beseitigt sei, dabei immer aber noch
Zweifel an der Z.fähigkeit, wie sie beim Erwachsenen zulässig seien,
bestehen könnten. Diese Anschauung entspricht einfach den allge-
meinen Principien der Zurechnungsfähigkeitslehre. Es ist gerade bei
jugendlichen Individuen häufig denkbar , dass trotz U.vermögen die
Z.fähigkeit fehlt, einfach weil ein genügend erstarkter, auf rechtliche
sociale ethische Anschauungen sich stützender Wille noch nicht vor-
handen ist.
Einsicht in die Strafbarkeit und Folgen einer unerlaubten Hand-
lung garantirt noch nicht die sofortige Geltendmachung und das Ueber-
gewicht der aus jener Einsicht geschöpften Gegenmotive.
Das psychologische Studium des Unmündigen zeigt im Gegen-
theil ein grosses Gewicht der sinnlichen Antriebe, einen noch wenig
geübten und gekräftigten Mechanismus der Selbstbestimmung, wobei
die rechtlichen und moralischen Urtheile nur mehr lose haften, noch
nicht in Fleisch und Blut übergegangene Bestandtheile des Ich sind.
Trägt doch diesen Thatsachen die Gesetzgebung Rechnung, in-
dem sie den jugendlichen Verbrecher, selbst wenn er U.vermögen be-
sitzt, milder straft als den Erwachsenen ! Warum sollte das gesetzlich
anerkannte Minus nicht auch auf Null sinken können?
Es ist ein Vorzug des deutschen Str.-Ges.-B., dass es den Zeit-
punkt der zweifelhaften Fähigkeit bis zum 18. Lebensjahr hinaus-
gerückt hat. Gerade in diesen Lebensabschnitt fällt die geschlechtliche
Evolution, die Pubertätsentwicklung, deren schwerwiegender Einfluss
auf die Integrität der psychischen Funktionen von jedem Anthro-
pologen und Psychiater anerkannt ist. Geht schon die normal sich
vollziehende geschlechtliche Entwicklung mit Aenderungen der Gefühls-
lage, einer totalen Umgestaltung des ganzen Wesens mit sehnsüchtig-
weichen, hypochondrischen, weltschmerzlichen Stimmungen, mit Nei-
gung zu Romantik und Phantasterei vielfach einher, so macht sich
56 Cap. VII. Das Alter der strafrechtlichen Unreife.
dieser Einfluss noch mehr geltend, wenn diese Entwicklung gestört
ist, wenn sie zu geschlechtlichen Verirrungen (Onanie) führt, wenn
auf Grund einer erblichen Anlage, die sich vorzugsweise in dieser
Lebenszeit geltend macht, psychische Störungen (melancholische Ver-
stimmungen, Heimweh mit Sinnestäuschungen, Präcordialangst etc.)
oder Nervenkrankheiten (Epilepsie, Hysterie, Veitstanz) auftreten.
Krankhafte Affekte führen dann leicht zu Brandstiftung, der haltlose
Zustand des in's Schwanken gerathenen, noch nicht consolidirten Ich
führt zu einer Reihe kindisch muthwilliger unbesonnener mitunter ge-
fährlicher Streiche, deren Häufigkeit jener Lebenszeit die Bezeichnung
der „Flegeljahre" verschafft hat.
Beob. 6. Mord zweier Kinder durch eine 12V2Jälirige Dienst-
magd. Mangelndes Unterscheidungsvermögen. 0., Dienstbote, hat am
20. August das 20monatliche und am 19. September das 4jährige Kind ihrer
Dienstherrschaft mittelst Taschentuchs erstickt. Sie ist das Kind eines in schlech-
tem Ruf stehenden Trunkenbolds, wuchs ohne Erziehung auf. Sie ist gut ent-
wickelt für ihr Alter, wenn auch noch nicht menstruirt. Sie kam früh in Dienst
zu fremden Leuten, lernte von einem Knaben die Masturbation, die sie häufig
und auch mit dem ältesten der ihr anvertrauten Kinder praktizirte. Man behielt
sie nie lange im Dienst, ihre letzte Herrschaft war mit ihr zufrieden gewesen.
Sie hatte sich auf ein Jahr verdingt, aber der Dienst reute sie bald. Sie hatte
viel Schererei mit den Kindern und musste doch ihr Jahr aushalten. Da kam
ihr der Gedanke, sich der Kinder zu entledigen. Die Idee des Garottirens kam
ihr plötzlich, als sie sah, wie ein Jäger einem Rebhuhn die Gurgel zudrückte,
der Gedanke, sich eines Schnupftuchs zu bedienen, als ein Seiltänzer gelegentlich
einer Vorstellung spassweise sagte, das sei ein gutes Mittel, die kleinen Kinder
am Schreien zu hindern. Der Gedanke an Sünde oder Verbrechen kam ihr nicht
in den Sinn, obwohl sie beim ersten Mord 3 Tage bis zur ungestörten Ausführung
ihres Projekts warten musste. Aach nach der That empfand sie keine Gewissens-
regung, So fasste sie den Gedanken, sich des zweiten Kinds zu entledigen ; nur
wartete sie mit der Ausführung 3 Wochen, um nicht so leicht in Verdacht zu
gerathen. Der zweite Mord war etwas schwieriger, da das Kind sich wehrte. Den
Eltern gegenüber behauptete sie, das Kind sei beim Spielen plötzlich todt um-
gefallen. Der Arzt Hess sich diesmal nicht düpiren. Sie wurde arretirt, empfand
keine Gewissensbisse, nur war es ihr unangenehm, im Gefängniss zu sitzen.
Der Experte findet wenig entwickelte Intelligenz und gänzlich fehlenden
moralischen Sinn, jedenfalls hat weder eine Gewissensregung noch der Gedanke
an Strafe dem Impuls zu tödten irgend eine Opposition geleistet. Jedenfalls sei
ihre Zurechnungsfähigkeit eine sehr beschränkte. Die Jury erklärte die 0. für
schuldig, jedoch habe sie ohne Unterscheidungsvermögen gehandelt, wesshalb sie
bis zu ihrer Grossjährigkeit internirt wurde. (Mordret, Annal. med. psycho!
1878. Nov.)
Beob. 7. Eine 14jährige neuropathische in der Pubertätsentwick-
lung befindliche Brandstifterin. Am 5. Dec. zeigte die 14 J. alte Glorieux
ihrer Herrin ein Büschel Stroh, das sie angebrannt in der Scheune gefunden haben
Beob. 7. Eine 14jährige Brandstifterin. 57
\^llte und als jene dem Vorfall keine sonderliche Beachtung schenkte, gerieth
die G. ins Weinen und sagte: „es scheint fast als meine man, ich hätte Feuer
anlegen wollen und das ist doch ein grosses Verbrechen." Am 6. Abends brannte
das Gehöfte. Die G. raffte ihre Sachen zusammen, ging fort und kam erst am
folgenden Morgen wieder, weinend und sagend, dass sie sich krank fühle. An-
fangs läugnete sie, später gestand sie ihre That mit der Motivirung, dass ihr die
Arbeit zu schwer war, sie sich immer krank fühlte und kein anderes Mittel
wusste, um heim zu den Eltern zu kommen. Die G. war erst seit 14 Tagen in
diesem Dienst. Vorher hatte sie einige Monate in einem anderen gedient, aber
wegen Kränklichkeit nicht bleiben können.
Die G. ist im Alter der Pubertät. 8 Tage vor der That hatte sie zum
erstenmal die Menses bekommen, die seither nicht mehr wiedergekehrt sind.
Sie ist jeit Jahren kränklich (Erbrechen, Kopfschmerzen), litt an Convulsioöen
im 7. Jahr. Damals litt sie an Typhus, der einen neuropathischen kränklichen
Zustand hinterliess. Einige Monate vor der Brandstiftung hatte sie einen heftigen
Schrecken. Einer erblichen Disposition ist sie nicht unterworfen. Geistig ist sie
zurückgeblieben und auf noch kindlicher Stufe. Sie weiss abstrakt, dass Brand-
stiften ein schweres Verbrechen ist, aber einer Nutzanwendung auf den eigenen
concreten Fall war sie nicht fähig. Sie will es nicht mehr thun. Man solle sie
doch heim lassen ! Sie gestand erst und treuherzig , als man ihr versprochen
hatte, dass ihr nichts geschehen werde.
Das Gutachten erweist zunächst, dass hier keine Geisteskrankheit oder
Geistesschwäche vorliegt, sondern eine retardirte geistige Entwicklung, die die
G. noch auf kindlicher Stufe erscheinen lasse. Schwere Arbeit, Kränklichkeit
machten ihr den Dienst bei fremden Leuten unerträglich. Sie hatte nur eine
Sehnsucht, heimzukommen. Kindlich und furchtsam, wie sie war, getraute sie
sich nicht, ohne Grund fortzulaufen. Sie hoffte immer auf einen glücklichen
Zufall, der ihr das Verlassen des Dienstes ermögliche. Eines Tags schoss ihr der
Gedanke durch den Kopf, diesen Zufall selbst herbeizuführen. Sie kämpfte gegen
diesen Gedanken, er wurde immer mächtiger. „Es trieb mich Feuer zu legen."
Das erstemal löschte sie noch selbst, endlich konnte sie nicht mehr Widerstand
leisten. Sie dachte dabei nur ans Fortkommen, nicht an die möglichen Folgen
der Handlung. Oft weinte sie im Gefängniss, „ja wenn ich an all das gedacht
hätte, würde ich es nicht gethan haben".
Mit Recht betont der Experte bezüglich der Schuldfrage das Alter, die
zurückgebliebene geistige Entwicklung, das Heimweh, die Vorgänge der Pubertät
mit ihren Rückwirkungen aufs psychische Leben, doppelt bedeutsam hier, wo es
sich um ein kränkliches neuropathisches Individuum handelte, die zwingende
organische Macht einer durch lebhafte Unlustgefühle (Nostalgie) und einen neuro-
pathischen hysteriformen Zustand unterhaltenen verbrecherischen Idee. Ein solcher
Zustand machte die G. imfähig, aus freiem Willen zu handeln und moralisch
unverantwortlich für die begangene That. Der Urtheilsspruch ist nicht mitgetheilt.
(Schrevens, Bulletin de la societe de medecine mentale de Belgique. 3. fascic.
Nr. 15.)
Weitere Fälle: Casper, klin. Novellen, p. 153—56. Casper, Vierteljahrs-
schrift, XIII. p. 123. Jessen, Brandstiftungen, p. 63, 68, 70, 78, 86, 88, 94, 100,
105, 120, 123. Schaible, Deutsche Zeitschr. f. Staatsarzneikde. 1865, H. 1 (Brand-
stiftung). Derselbe, ebenda 1867 (Diebstahl). Hitzig's Annalen, 1847. Sept. (Ver-
58 Cap. VII, Das Alter der strafrechtlichen Unreife.
suchter Gattenmord durch die löjähr. Ehefrau aus Abneigung gegen den Coitus).
Casper-Liman , Handb. Fall 289 (ein junger Schwindler). Buchner, Friedreich's
Blätter. 1868. Nr. 4 (Diebstahl). Goeze, Vierteljahrs sehr. f. ger. Med. 1874. Nr. 1
(Brandstiftung). Kaunold, Bair. ärzt. Intelligenzbl. XXI. 4 (Nothzucht).
Mit der Erreichung eines bestimmten Alterstermins setzt der
Gesetzgeber die strafrechtliche Reife beim Individuum voraus und
es entfallen desshalb alle Voruntersuchungen über vorhandenes oder
fehlendes U. vermögen. Es kann hier nur noch die Frage der Z.fähig-
keit gestellt werden.
Die Bestimmung einer solchen Altersgränze ist nothwendig, aber
es wird Niemand einfallen zu glauben^ dass mit der Erreichung eines
willkürlich vom Gesetz angenommenen Termins auch die Bedingungen
der Z.fähigkeit nun sofort eingetreten sind. Immer wird eine milde
Gesetzgebung und ein Richter, der nicht handwerksmässig seinen
Beruf erfüllt j diesem Umstand Rechnung tragen und in dem jugend-
lichen Alter, auch wenn es den Zeitpunkt der unentschiedenen straf-
rechtlichen Reife überschritten hat, einen Milderungsgrund der Strafe
erkennen.
Da nach Forschungen der menschlichen Entwicklungsgeschichte
das menschliche Gehirn erst mit vollendetem 21. Jahr seine volle
Entwicklungshöhe erreicht hat und die psychische Leistungs-, resp.
die Zurechnungsfähigkeit von der Entwicklungsstufe des psychischen
Organs abhängt, so dürfte das Alter bis zum zurückgelegten 21. Jahr
als Milderungsgrund geltend zu machen sein. Es ist dabei nicht zu
übersehen, dass der Zeitpunkt der eintretenden bügerlichen Selbst-
ständigkeit und Verfügungsfreiheit von den meisten Civilgesetzgebungen
erst nach zurückgelegtem 21. Lebensjahr angenommen wird.
Die Annahme verschiedener Alterstermine für die eintretende
criminelle und civile Reife hat von Seite mancher Schriftsteller Tadel
erfahren, indessen kann es keinem Zweifel unterliegen, dass das auf
die Kenntniss des Straf- und Sittengesetzes sich gründende Vermögen
und die durch Festigung des Charakters erworbene Widerstands-
fähigkeit gegen die Macht sinnlicher egoistischer Antriebe früher
vorausgesetzt werden darf, als diejenige Reife der Lebenserfahrung
und Besonnenheit, welche zur bürgerlichen Selbstständigkeit nöthig ist.
Von einzelnen Gesetzgebungen, z. B. der österreichischen, wird ausdrück-
lich das jugendliche Alter als Milderungsgrund erwähnt. So betrachtet §. 46 des
österr. St.-G.-B. den Umstand , dass der Thäter in einem Alter unter 20 Jahren
(oder schwach an Verstand war oder in seiner Erziehung sehr vernachlässigt
wurde), als Milderungsgrund und mindert dadurch die Nachtheile, welche durch
Annahme eines äusserst frühen Termins der vollen Z.fähigkeit (14. J.) sich ergeben.
Beob. 8. Vei'spätete Entwicklung. 59
Es ist endlich nicht zu übersehen, dass der vom Gesetzgeber
fixirte Zeitpunkt der eingetretenen strafrechtlichen Reife sich auf die
Abstraktion vom geistigen und körperlichen Entwicklungsgang einer
Mehrzahl von dem betreffenden Volk angehörigen Individualitäten
gründet. Die ungeheure Mehrzahl hat sie thatsächlich im angenom-
menen Lebensalter erreicht, aber von dieser Norm gibt es viele Aus-
nahmen. Wie die körperliche Entwicklung z. B. die Menstruation bei
dem einen Individuum später eintritt als bei dem andern, so geht es-
auch bei der psychischen Entwicklung. Auch ohne, dass gerade eines
jener zahlreichen, im folgenden Abschnitt zu erwähnenden patho-
logischen Momente die Hirnentwicklung sistirte oder ihr eine patho-
logische Richtung gab , kann es vorkommen , dass sie einfach eine
retardirte ist und man 20jährige Menschen trifft, die kaum die sittliche
Reife und intellektuelle Leistungsfähigkeit eines 15jährigen besitzen,
namentlich dann, wenn zu der durch körperliche Krankheit, schlechte
Ernährung oder anderweitige, in der individuellen Constitution be-
gründete Momente bedingten retardirten Entwicklung noch der Ein-
fluss einer mangelhaften oder gänzlich verwahrlosten Erziehung kommt.
Diese Umstände fordern gebührende Beachtung, denn nur für Den-
jenigen kann die Strafe gerecht und von Werth sein, der ihre sociale
und sittliche Bedeutung zu würdigen weiss — andernfalls wird sie zur
Grausamkeit oder wenigstens zum starren Formalismus.
Beob. 8. Ein in seiner geistigen und körperlichen Entwick-
lung zurückgebliebener Attentäter. Ein 19 Jahre alter SchloHsergeselle
hatte zweimal einen Kieselstein in den Wagen des Königs geworfen, um ihn zu
tödten. Ein drittes Mal hatte er gegen diesen Antrieb angekämpft, um seiner
Familie den Schmerz zu ersparen, dass er ein Mörder werde, sich desshalb auch
mit Cyankali versehen und schliesslich, um sich vor sich selbst zu schützen,
selbst vor Gericht sich wegen des beabsichtigten Königsmords denuncirt. Motiv
seiner That war, dass er auf drei Bittgesuche um Unterstützung wegen seiner
traurigen Lage keinen Bescheid vom König erhalten habe und dadurch erbittert
worden sei.
Sein Benehmen war scheu, läppisch. Bei Vorhalt über die Schwere seines
Verbrechens und die Möglichkeit schwerer Folgen blieb er verhältnissmässig
stumpf und gleichgültig. Obwohl ihm Unterscheidungsvermögen nach seiner
ganzen Handlungsweise nicht abzusprechen war, ergab sich doch aus ebenderselben
sein geistiger Standpunkt. Dieser entsprach dem eines etwa 13jährigen Knaben.
Damit stimmte überein die Unzweckmässigkeit der angewandten Mittel, die That
angesichts der Schlosswache, die Unfähigkeit einer besonnenen, verständigen
Ueberlegung der Folgen. Aber auch in der körperlichen Entwicklung war Inculpat
zurückgeblieben und zeigte etwa den Habitus eines ISJährigen. Das Gutachten
erklärte ihn desshalb geistig und körperlich so beschaffen, dass er zu den Un-
mündigen im Sinne des Strafrechts gehörig, resp. als unvermögend, die Folgen
50 Cap. VIII. Psychische Entwicklungshemmungen.
seiner Handlungen zu überlegen, zu erachten sei. (Casper, klinische Novellen,
Fall 2.)
Weitere Fälle: Friedreich's Blätter. 1867. H. 2. Casper, klin. Novellen,
Fall 3 u. 4. Richter, jugendl. Brandstifter, p. 28.
Cap. VIII. Psychische Entwicklungshemmungen.
<t
Literatur. Georget, discussion med. -legale sur la folie, p. 140. Ray, treatise,
p. 278. Krauss, der Cretin vor Gericht. Tübingen 1853. Guy, principles of
forensic med., p. 246. Spielmann, Diagnostik, p. 284. Rösch, deutsche Zeit-
schrift f. Staatsarzneikunde, 1855, p. 340. Friedreich's Blätter 1858, p. 47.
Auzouy, Annales med.-psychoL, 1863, p. 46. Morselli u. Tamburini, Rivista
sperimentale, 1875.
Von den eigentlichen Geisteskrankheiten hebt sich eine Gruppe
psychischer Infirmitäten ab, die wesentlich dadurch charakterisirt ist,
dass 1) das geistige Leben in toto aber vorwiegend in seinen in-
tellektuellen Funktionen sich defekt zeigt ; 2) dass diese Schädigung
vor erfolgter Entwicklungsreife des Gehirns eintrat und folgerichtig
die geistige Entwicklung auf der Stufe, welche sie damals einnahm,
stehen blieb oder sich nur noch um ein Geringes weiterbewegte;
3) dass mit dieser psychischen Entwicklungshemmung häufig auch
körperliche Zeichen gestörter Entwicklung einhergehen, die zum Theil
auf eine mit den psychischen Funktionsstörungen gemeinsame ana-
tomische Störung oder selbst Ursache beziehbar sind.
Wir begreifen unter der Gruppe der psychischen Entwicklungs-
hemmungen die Idiotie mit ihren unzähligen Mittelstufen von dem
angeborenen completen Blödsinn, der Imbecillität als Zwischenstufe,
bis zu jenen der Stufe der Vollsinnigen sich nähernden Zuständen
des Schwachsinns. Als Unterabtheilung der Idiotie sind gewisse
Fälle von ab ovo begründeter Nullität oder Insufficienz der psychi-
schen Leistungsfähigkeit zu bezeichnen, bei welchen den psychischen
Störungen eine körperliche Degeneration parallel geht. Solche Zu-
stände werden Cretinismus genannt. Sie bilden somit eine Art der
Idiotie. Diese bezeichnet die Gattung. Als eine besondere ätiolo-
gische Varietät des Cretinismus ist der alpine (Alpen, Himalaja, Cor-
dilleren) zu betrachten, der seine Entstehung besonderen tellurischen
Schädlichkeiten verdanken dürfte.
Anhangsweise gehören hieher gewisse praktisch und vielfach
klinisch, wenn auch nicht anatomisch und ätiologisch der Idiotie nahe-
stehende Zustände, in welchen auf Grund angeborener oder früh ent-
Ursaclieii der psychischen Entwicklungshemmungen. Q\
standener Taubheit die Sprachentwicklung fehlte und damit das geistige
Leben verkümmerte (Taubstummheit).
Die Ursachen dieser psychischen Entwicklungshemmungen können a) schon
während des Fötallebens, b) während der Geburt, c) in den Entwicklungsjahren
zur Geltung gekommen sein.
Die der ersten Gruppe angehörigen Ursachen bestehen in degenerativen
Faktoren, die den Zeugenden eigen thümlich waren und auf den Keim übertragen
wurden. Sie äussern sich in Missbilduugen des Gehirns resp. des Schädels, die
wieder in abnorm früher Verschliessung der Schädelnähte und dadurch gehemmter
Entwicklung des Gehirns bestehen, oder in selbstständigen Entwicklungshem-
mungen dieses Organs oder einzelner Theile desselben. Als hereditär degenerative
Momente von Seiten der Erzeuger hat die Statistik Epilepsie, Hirnkrankheiten,
namentlich Irresein, Taubstummheit, fortgesetztes Heirathen in der Blutsverwandt-
schaft, Trunksucht, Berauschung, grosse geistige und körperliche Erschöpfung,
sowie constitutionelle Syphilis zur Zeit der Zeugung ermittelt. Zu diesen schon
das Eileben treffenden Schädlichkeiten sind ferner gewisse tellurische zu rechnen,
die den alpinen und endemischen Cretinismus erzeugen, endlich hohe Grade von
Anämie, Alkoholexcesse, Schrecken, Kummer, Erschütterungen des mütterlichen
Organismus während der Schwangerschaft.
Zu den Ursachen, die während der Geburt zur Einwirkung gelangen, ge-
hören Beschädigungen des Schädels durch zu enges Becken, forcirten Zangen-
geburten. Meist wird die Idiotie aber erst nach der Geburt herbeigeführt durch
Kopfverletzungen, schlechte Hygieine , Rhachitis , Schlafen des Kinds am heissen
Ofen, Einschläferung durch Opiate, Branntwein, durch acute schwere Erkrankungen,
die Hirncomplicationen setzen, namentlich durch acute Exantheme, endlich durch
Epilepsie und durch irgendwie entstandene und frühzeitig getriebene Onanie.
Unzweifelhaft ist auch, dass Hemmung und Rückgang der psychischen Entwick-
lung auf Grund von erblich degenerativer Prädisposition noch im vorgeschrittenen
Kindesalter eintreten kann und dass namentlich die Pubertätszeit für solche Ge-
schöpfe verhängnissvoll werden kann, insofern ohne alle Veranlassung eine acute
Hirnerkrankung ausbricht, auf die dauernder Schwachsinn oder Blödsinn als
Folgezustand bleibt.
Die Veränderungen des Gehirns bestehen bei Idiotie einfach in abnormer
Kleinheit bei sonstiger proportionaler Ausbildung (^Miniaturhirn) oder in grösster
Einfachheit und Armuth der Windungen (Stehenbleiben auf niederer Entwick-
lungsstufe) trotz ziemlich gutem Volumen, oder in partiellen Verkümmerungen,
Defekten einzelner Hirntheile auf Grund vorzeitiger Nahtverschliessungen des
Schädels oder lokalisirter Entzündungs-, Erweichungsheerde im Gehirn etc., end-
lich in Hydrocephalus ext. oder internus (Wasserkopf) als Residuum entzündlicher
Vorgänge an den Hirnhäuten oder dem Ependym der Hirnhöhlen.
Die Anomalien des Schädels sind oft durch vorzeitige Nahtverschliessungen
bedingt (secundär durch Zurückbleiben des ganzen Gehirns oder einzelner Theile
im Wachsthum oder primär in Folge entzündlicher Ernährungsstörungen an den
Nähten). Nicht selten bleiben jedoch die Nähte offen und erfolgt die Wachs-
thumshemmung ganzer Schädelknochen durch ungenügende Ernährung seitens
früh obliterirender Gefässe. In beiden Fällen kommt es zu Schädelverkleinerungen
und Verbildungen.
(32 Cap. VIII. Psychische Entwicklungshemmungen.
Durch die in Störungen der Hirn- und Schädelentwicklung be-
gründete Verkümmerung der psychischen Entwicklung bieten diese
psychischen Insufficienzen ein bedeutendes praktisches Interesse für
das Forum. Mögen sie auch einzeln mit einander verglichen ein
Plus oder Minus von psychischer Leistungsfähigkeit darbieten, so
erreichen sie doch nie die eines normalen oder Durchschnittsmenschen.
Ihre criminelle Verantwortlichkeit ist damit in Frage gestellt. Bei
der grossen individuellen Verschiedenheit der psychischen Defekte
kann die forensische Beurtheilung derselben gegenüber der Frage der
Zurechnungsfähigkeit nur eine concrete, individuelle sein. Die Er-
kennung nnd forensische Beurtheilung der Insufficienz ist eine leichte
da, wo sie einen Idioten zum Träger hat, sie wird eine sehr schwierige
da, wo sich die psychische Leistung dem Niveau des Vollsinnigen nähert,
ohne aber dieses zu erreichen.
Eine genauere Abstufung dieser Insufficienzen, wie sie vielfach
nach der Entwicklung des Sprachvermögens versucht wurde, ist für
forensische Zwecke bedeutungslos. Es genügt hier zwei Hauptkate-
gorien aufzustellen, die der Blödsinnigen und die der Schwach-
sinnigen. Der entscheidende Unterschied beruht darin, dass bei
ersteren die Bildung übersinnlicher Vorstellungen (Begriffe, Urtheile)
mangelt, bei letzteren zwar möglich wird, aber weder den Reichthum
noch die Klarheit wie bei Vollsinnigen erreicht. Dies zeigt sich auch
in der Sprache des Schwachsinnigen, die arm und fragmentarisch sich
erweist, sobald es sich um Uebersinnliches handelt.
Klinische Betrachtung der psychischen Entwicklungshemmungen, a) Psychische
Symptome: Auf der tiefsten Stufe des Blödsinns fehlen die geistigen Pro-
cesse fast vollständig. Die Aufnahme von Sinneseindrücken beschränkt sich auf
die Objekte, an welchen der Nahrungstrieb befriedigt wird und nur das sinnliche
Bedürfniss der Befriedigung des Hungers veranlasst solche tiefstehende Organi-
sationen zu einem triebartigen Bewegen, dem der bewusste Zweck fehlt. Der
Geschlechtstrieb fehlt noch oder ist nur in Anfängen vorhanden. Auf einer
weiteren Stufe zeigt er sich zwar entwickelt, aber die Art seiner Befriedigung
erinnert an die der Thiere und zuweilen beobachtet man hier ein zeitweiliges
brunstartiges- Hervortreten desselben. Die Befriedigung des Nahrungstriebs bildet
noch immer den Miltelpunkt aller psychischen Vorgänge. Statt eines bewussten,
mit einem vorgestellten Zweck verbundenen Strebens besteht ein blosser Be-
wegungsdrang, der nur durch äussere Anregung oder ein starkes sinnliches Be-
dürfniss zur Entäusserung kommt und den höchstens Dressur und gewohnheits-
mässige Uebung zu mechanischen Leistungen befähigen. Der Blödsinnige verharrt
in träger Ruhe, da es ihm an Motiven zum Bewegen fehlt.
Auf der tiefsten Stufe dieses Zustands, wo überhaupt gar keine sinnlichen
Vorstellungen zu Stand kommen, beschränkt sich die motorische Seite des Hirn-
lebens auf reine Reflexbewegungen und automatische Akte, zu denen höchstens
Klinische Betrachtung. (53
noch ein gewisser Bewegungsdrang und ein Bedürfniss nach Nahrung sich ge-
sellen, wobei aber der Blödsinnige nicht einmal wie das Thier im Stande ist,
sich seine Nahrung auszusuchen und ohne Wahl alle Gegenstände, deren er
habhaft wird, in den Mund steckt. Solche niedrige Organisationen sind absolut
hülflos wie das neugeborene Kind. Sie würden einfach verhungern, wenn sie
nicht Gegenstand der Fürsorge würden. Der Mangel geistiger Regungen verleiht
auch dem höher stehenden Blödsinnigen in seiner ganzen Haltung ein charakte-
ristisches Gepräge des Schlaffen und Energielosen, das zum Theil auch dadurch
zu. Stande kommt, dass die Streckmuskeln geringer innervirt sind als beim Voll-
sinnigen. Auch ohne dass gerade Paralysen und Muskelinsufficienzen bestünden,
haben Gang und Haltung desshalb etwas Plumpes, Täppisches, Haltloses,
Hülfloses.
So verschiedenartig die Stufen des Blödsinns auch sein mögen, so besteht
die trennende Schranke vom Schwachsinn doch immer darin, dass die lücken-
haften spärlichen Vorstellungen sich nicht vom sinnlichen Element losmachen,
nicht zur Bildung abstrakter begrifflicher Elemente, zur Bildung von Begriffen
und Urtheilen verwerthet werden können.
Aber auch die Reproduktion etwa gebildeter Vorstellungen ist unvoll-
kommen, grossentheils nur auf äussere Anregung oder ein sich erhebendes sinn-
liches Bedürfniss erfolgend. Die ganze Vorstellungsreihe läuft dabei rein mecha-
nisch ab, wie sie ursprünglich gebildet wurde. Gemüthlicher Regiingen ist der
vollkommen Blödsinnige nicht fähig: Mitgefühl, sociale Gefühle sind ihm versagt,
nicht einmal das Bedürfniss eines socialen Lebens ist ihm gegeben, er geniesst
nur dessen Wohlthaten ohne alles ethische Verständniss für dessen Bedeutung.
Nur nach einer Richtung ist eine Reaktion möglich, nämlich wenn sein dürftiges
Ich eine Beeinträchtigung erfährt. Er reagirt darauf mit heftigen Affekten des
Zorns, die geradezu überwältigend sind und in einer weit über das Ziel hinaus-
gehenden brutalen Weise entäussert werden.
Sie haben durchweg das Gepräge von Wuthparoxysmen, in welchen das
Bewusstsein völlig schwindet und deren sich das Individuum hinterher gar nicht
erinnert. Zuweilen kommt es auch zu spontanen, ja selbst periodischen Wuth-
und Tobausbrüchen unter dem Einfluss fluxionärer Hyperämie des Gehirns.
Auch bei dem Schwachsinnigen ergeben sich erhebliche Insufficienzen
der psychischen Leistungen. Schon die Sinnesthätigkeit weist Defekte auf, inso-
fern die Aufnahme der Sinneseindrücke eine langsamere ist und viele Sinnes-
eindrücke ihm entgehen. Nothwendig ergibt sich daraus ein geringerer Reich-
thum an Vorstellungen , zumal da auch die sinnlich aufgenommenen nicht so
vollkommen verwerthet werden wie beim Vollsinnigen, indem Association und
Reprodiiktion träger und lückenhaft ablaufen.
Die Bildung übersinnlicher Begriffe und Urtheile leidet damit Noth und
das Urtheil in übersinnlichen Dingen ist einseitig, unklar und durch fremde
Autorität stark beeinflusst. Der Schwachsinnige ist leichtgläubig, abergläubisch,
wird leicht düpirt, hat keine eigene Meinung, sondern stützt sich auf die Anderer.
Das innere Wesen, die feineren Beziehungen der Dinge entgehen ihm und ebenso
unfähig ist er, wenn er einmal die Pointe der Sache erfasst hat, sie mit dem
richtigen Wort zu bezeichnen. Sein Sprachschatz ist immer ai-m, sobald es sich
um übersinnliche Dinge handelt, während er in der ihm adäquaten sinnlichen
Sphäre sich genügend auszudrücken vermag. Der dem Vollsinnigen innewohnende
(54 Cap. VIII. Psychische Entwicklungshemmungen.
Drang, Grund und .Wesen der Dinge und der mit ihnen geschehenden Verände-
rungen zu erforschen, fehlt ihm fast gänzlich ; er nimmt die Dinge wie sie sind
oder zeigt höchstens eine Art stupider Neugierde.
Ein höheres geistiges Interesse, ein zielvolles Streben ist ihm fremd. In
der Befriedigung der gewöhnlichen materiellen Bedürfnisse geht sein ganzes
Dasein auf; er hat keine Zeit, noch weniger Lust, sich mit etwas Abstraktem zu
beschäftigen, das ihn langweilt und ihn unverhältnissmässige Anstrengung kostet.
Dieselbe Unzulänglichkeit wie auf intellektuellem, zeigt sich auf ethischem Gebiet.
Der Schwachsinnige ist nothwendig Egoist, er überschätzt vielfach seine Person
und Leistungen, weil ihm der Massstab zur eigenen Beurtheilung fehlt. Damit
fordert er aber den Spott der Vollsinnigen heraus und macht sich zur Zielscheibe
ihres Witzes, wie dies meist im socialen Verkehr des Schwachsinnigen der Fall ist.
Das Wohl und Wehe der Mitmenschen berührt ihn nicht ; nur Beeinträch-
tigung der eigenen, zudem leicht überschätzten Persönlichkeit, erzeugt stürmische
Affekte , die dann oft die Gränze der Norm überschreiten. Seine freudigen
Affekte gehen dann wohl in tolle Ausgelassenheit über, seine depressiven in Wuth
oder Verwirrung, die namentlich leicht aus dem Affekt der Furcht erfolgt und in
kopfloses Entsetzen ausartet.
Der Schwachsinnige kann ein brauchbares Glied der Gesellschaft sein,
insofern er eine eingelernte gewohnte Beschäftigung gut, ja wenn sie eine rein
mechanische ist, noch besser als ein Vollsinniger verrichtet, eben Aveil er seine
Aufmerksamkeit ihr ganz zuwendet und durch Nichts abgelenkt wird, aber diese
Leistung verrichtet er maschinenmässig, ohne im Stande zu sein, sie abzuändern,
etwas Neues zu combiniren und zu produciren.
Er hat keine eigenen und neuen Ideen, sondern zehrt von dem dürftigen
Vorrath von Kenntnissen und Erfahrungen, die er mühsam erworben hat. Noth-
wendig fehlt ihm damit Spontaneität und Aktivität, das plan- und zielvolle
Streben des Vollsinnigen. Ein geringfügiges Hinderniss genügt, um ihn ausser
Fassung zu bringen, indem er es nicht zu überwältigen vermag und bei seiner
UnSelbstständigkeit bedarf es oft eines blossen Abrathens, um den Erfolg seiner
Willensbestrebungen zu vereiteln und diesen ein anderes Ziel zu geben. Wegen
dieser Leichtbestimmbarkeit sind Schwachsinnige auch durch Drohung, Ein-
schüchterung, Autorität Anderer zu schweren Verbrechen zu bewegen und werden
nicht selten gefügige Werkzeuge in der Hand perverser Verbrechernaturen.
Höhere ästhetische moralische ürtheile und Begriffe sind kaum vorhanden. An
ihre Stelle treten bloss mnemonisch erworbene und automatisch rejjroducirte
moralische Ürtheile Anderer ; fast alle ästhetischen, religiösen, rechtlichen Begriffe
sind somit nur Gedächtnissleistungen und Schulreminiscenzen. Immerhin kann
das Rechts- und Pflichtgefühl ziemlich gut entwickelt sein, nie ist es aber so
tief auf ethische, im Charakter festwurzelnde Gefühle und Anschauungen gebaut,
wie beim Vollsinnigen. Es besteht vielmehr in einer halbbewussten Regung und
Eingebung eines sittliche Ürtheile Anderer verwerthenden Gewissens. Desshalb
ist auch die Reue über eine etwa begangene rechtswidrige Handlung eine ober-
flächliche.
b) Physische: Neben diesen Störungen der psychischen Funktionen finden
sich in zahlreichen Fällen aus der gleichen anatomischen Ursache gesetzte Funk-
tionsstörungen im Bereich der Motilität, der Sensibilität, der Sinnesorgane, end-
lich Schädelanomalien und anderweitige lokale Degenerationszeichen.
Physische Abnormitäten. 65
Im Gebiet der höheren Sinne kommen Amblyopie, Schwerhörigkeit, un-
vollkommenes Geruchs- und Geschmacksvermögen bei Blöd- und Schwachsinnigen
vor. Auch die Hautsensibilität kann abgestumpft sein bis zur Anästhesie.
Häufig besteht Schielen, seltener durch Krampf als durch Lähmung der Augen-
muskeln. Im Gebiet der Sprachmuskeln findet sich häufig Stottern. Mannigfache
central bedingte motorische Störungen werden an den Extremitäten beobachtet.
So Krämpfe, bald partiell und auf Zehen, Arme oder Beine beschränkt,
bald allgemein und veitstanzartig. Häufig sind auch epileptiforme Zustände. Sie
können eine zweifache Bedeutung haben. Entweder sind sie der psychischen'
Infirmität coordinirte Symptome und durch die gleiche anatomische Ursache be-
dingt, oder die Epilepsie ist das primäre Uebel und hat die Idiotie herbeigeführt.
Von Contracturen finden sich spastischer Klumpfuss, Caput obstipum.
Mcht selten sind paralytische Zustände. Es gibt tiefstehende Idioten, die nicht
gehen können, andere haben Schwierigkeit, beim Stehen und Gehen das Gleich-
gewicht zu erhalten. Dabei finden sich Anomalien der Muskelinnervation, partielle
Lähmungen, Muskelatrophien, Coordinationsstörungen.
Die sexuellen Funktionen zeigen bei den Idioten vielfach bemerkenswerthe
Anomalien. Sie fehlen gänzlich bei den Idioten höchsten Grades, die Genitalien
sind dann häufig klein und verkümmert, die Menstruation tritt spät oder gar nie
ein, es besteht Impotenz resp. Sterilität. Auch bei höherstehenden Idioten sind
die sexuellen Triebe in der Regel vermindert, selten nur gesteigert. Sie können
dann brunstartig eintreten und mit wahrer Bestialität befriedigt werden. In
solchen Fällen kommt dann auch wohl Onanie vor.
Auf central bedingte trophische Anomalien sind der nicht seltene Zwerg-
wuchs, die dicke fleischige Zunge, die wulstigen Lippen, die schlechten, bald
absterbenden Zähne, die Hypertrophie der Schilddrüse und des Unterhautzell-
und Fettgewebes, wie sie in der Regel sich bei der endemischen Form vorfinden,
zu heziehen.
Die forensische Untersuchimg solcher Fälle von Blöd- und
Schwachsinn hat die psychischen Infirmitäten, die Störungen in der
Funktion motorischer, sensibler und sensorieller Apparate, sowie die
mannigfachen Degenerationszeichen gebührend zu beachten und zu
verwerthen. Nicht unerheblich für- den Gerichtsarzt ist auch die
Untersuchung des Baues des Schädels und etwaiger Anomalien, na-
mentlich der abnormen Kleinheit oder Grösse desselben.
Was die semiotische Bedeutung der verschiedenen SchädeldilFor-
mitäten betrifft, so bezeichnen macrocephale und microcephale Schädel
immer angeborene Blöd- und Schwachsinnszustände. Partielle Diffor-
mitäten des Schädels, namentlich wenn eine Compensation eintrat,
sind mit geistiger Integrität verträglich, dürften aber immer eine
Disposition zu Hirnerkrankung andeuten.
Betreffen sie aber den Stirnschädel, so besteht in der Regel
Geistesschwäche, weil der vordere Theil des Gehirns vorzugsweise
den intellektuellen Funktionen dient und compensatorische Ausbiegungen
Krafft-Ebing, gerichtl. Psychopathologie. 2. Auflage. 5
66 Cap. VIII. Psychische Entwicklungshemmungen.
an andern Theilen des Schädels wirkungslos bleiben. Die Stirn er-
scheint dann flach, nieder (fliehend) oder im queren Durchmesser
verkümmert. Dieser hemmende Einfluss auf die Entwicklung des
Stirnhirns tritt namentlich da ein, wo die Stirn-, die Kronen-, die
Pfeilnaht (Leptocephalie) sich zu früh schliessen.
Unter den Schädelanomalien an der Basis verdient die vorzei-
tige Verknöcherung der Synchondrose zwischen Keil- und Grundbein
alle Beachtung. Sie charakterisirt sich durch eine stärkere Biegung
des Schädelgrunds nach oben, einen kleineren Vereinigungswinkel
zwischen Keil- und Grundbein, steileren Clivus, flachere und mehr
quere Stellung der Felsenbeine, Schmalbleiben der grossen Keilbein-
flügel, Verengerung der mittleren Schädelgrube. Dadurch wird eine
hemmende Wirkung auf das Wachsthum von Vorder- und Mittelhirn
ausgeübt. Die gleichzeitig vorhandenen Anomalien des Gesichtsschädels
(aufgeworfene Nase durch Vorschiebung des Nasenrückens bei tief
eingedrückter Nasenwurzel), weit abstehende Augen bei breiter aber
wenig tiefer Augenhöhle (Glotzaugen), vorgeschobene Jochbeine und
Kiefer (Prognathie) erleichtern die Diagnose. Diese Schädelanomalie
kommt vorzugsweise aber nicht ausschliesslich der alpinen Form des
Cretinismus zu.
Bei der Beurtheilung der psychischen Phänomene ist als Grund-
regel zu beachten, dass man synthetisch und nicht analytisch verfahre
und nicht aus einer Leistung, die vielleicht besonders hervortritt, die
Gesammtleistungsfähigkeit beurtheile. Gerade bei originär Blöd- und
Schwachsinnigen kommt zuweilen eine auffallende, freilich nur einseitige,
instinktive, halbbewusste, den Trieben der Thiere vergleichbare Be-
fähigung zu gewissen artistischen Leistungen vor, die umsomehr in
Erstaunen setzt, je mehr das gesammte übrige psychische Leben ver-
kümmert ist. Dahin gehören hervorragende Begabung für Mechanik,
Zeichnen, Musik, ungewöhnliches Wort- und Zahlen gedächtniss etc.
Es scheint, dass solche einseitige Begabungen nie bei der accidentellen,
sondern nur bei der durch hereditär degenerative Momente entstan-
denen Idiotie sich vorfinden. i
Solche einseitige Leistungen bei Sterilität für alle übrigen werden
zuweilen von ,, Sachverständigen" über Gebühr gewürdigt, während
der Laie, der nach der Gesammterscheinung und Gesammtleistung
der Persönlichkeit sich sein Urtheil zu bilden pflegt, die Dürftigkeit
der psychischen Leistung richtig herausfindet. Wie bei der Beur-
theilung der Zurechnungsfähigkeit jugendlicher Verbrecher wird auf
das Kriterium des Unterscheidungsvermögens zu grosser und einseitiger
Unterscheidiuigsvermögen Scliwachsinniger. (37
Werth auch bei dem Schwachsinnigen gelegt. Wie dort muss auch
hier daran erinnert werden, dass Unterscheidungsvermögen und Zu-
rechnungsfähigkeit nicht einander deckende Begriffe sind. Aber das
Unterscheidungsvermögen des Schwachsinnigen ist zudem nothwendig
ein ganz anderes als das des Vollsinnigen. Jedenfalls muss es ganz
concret aufgefasst werden.
Der wesentliche Unterschied liegt hier darin, dass der Schwach-
sinnige seine moralischen Urtheile und rechtlichen Begriffe nicht aus
einem selbsterworbenen Charakter herausschöpft, nicht aus einem sitt-
lichen und iutellectuellen Erkenntnissprocess besitzt, den er selbständig
durchgemacht hat, sondern dass er nur die moralischen Begriffe und
rechtlichen Urtheile Anderer verwerthet, abstrakte Katechismus- und
Moralbegriffe, die er mühsam seinem Gedächtniss einverleibt hat.
Ein solches abstraktes Strafbarkeitsbewusstsein involvirt zwar ein
allgemeines Wissen, was gut und böse ist, nicht aber die Fähigkeit,
dieses Wissen auf den eigenen concreten Fall anzuwenden, um des
Gruten willen sich frei für das Gute zu bestimmen. Bei Manchen sind
auch statt der ethischen Begriffe „gut" und „böse" nur die niederen
egoistischen der Nützlichkeit und Schädlichkeit entwickelt. Legt man
solchen Geschöpfen die abstrakte Frage vor, ob diese oder jene
Handlung Sünde resp, Verbrechen sei, so bekommt man oft eine
ganz befriedigende Antwort von einem Menschen, der vollkommen
ausser Stand ist, von diesen abstrakten Begriffen eine Anwendung
auf den eigenen Fall, auf eigene Bewusstseinszustände zu machen.
Dann genügen die erborgten Begriffe nicht mehr.
In dieser Richtung wird unendlich oft die Verantwortlichkeit
Schwachsinniger überschätzt. So wenig als im intellektuellen Leben
solcher Menschen eine harmonisch sich vollziehende, vielleicht die
eines Vollsinnigen übertreffende Einzelleistung das Urtheil über die
Gesammtleistungsfähigkeit präoccupiren darf, ebensowenig sollte bei
der Beurtheilung des moralischen Ichs und der Höhe des Strafbar-
keitsbewusstseins durch ein isolirtes abstraktes, aber richtiges mora-
lisches Urtheil der Begutachter sich täuschen lassen. Zu einem freien
vernunftgemässen Handeln gehören höhere Fähigkeiten, selbständig
gebildete und tief in's Bewusstsein eingelebte rechtliche und ethische
Begriffe und Urtheile — statt dieser finden sich bei Schwachsinnigen
vielfach nur Fragmente einer unvollkommenen Schulbildung, Gedächt-
nissrudera halbverstandener Katechismusbegriffe.
Um zur Klarheit über die geistige Stufe eines vermuthlich
Schwachsinnigen zu kommen, sind wiederholte Untersuchungen und
ßg Cap. VIII. Psychische Entwicklungshemmungen.
eingebende Erhebungen über das gesammte Vorleben nöthig. Das
Urtheil der Laien, beim eigentlichen Geisteskranken ein sehr trüge-
risches; hat hier einen gewissen Werth, da es auf die Gesammtpersön-
lichkeit gebaut und somit synthetisch gewonnen ist. Zuweilen ergibt
sich die Insufficienz geistig Schwacher erst dann, wenn sie aus ihrem
gewohnten Lebenskreis herausgetreten und in irgend eine Ausnahms-
stellung gerathen sind. Blosses Conversiren mit dem Exploranden
genügt nicht zur Beurtheilung, Fähigkeit zur Conversation verbürgt
noch nicht geistige Leistungsfähigkeit, sondern setzt nur Besitz einer
Summe von Vorstellungen und das Vermögen der Ideenassociation
voraus. Bei der Exploration kommt es nicht bloss auf den Inhalt der
Antwort, sondern auf die Geläufigkeit des Antwortens, auf die Art
der Beantwortung der gestellten Frage an.
Von Bedeutung ist vielfach der Umstand, wie oft man fragen
und wie oft man die Frage anders formuliren muss, bis sie verstanden
wird. Es ist Eigenthümlichkeit vieler Schwachsinniger, dass sie zuerst
die Frage wiederholen, ehe sie antworten, oder, wie um die Meinung
Anderer zuerst einzuholen, die Umgebung fragend ansehen. Jeden-
falls ergibt sich aus der Art des Antwortens ein werth vollerer Ein-
blick in die Anspruchsfähigkeit und damit auch in den Umfang der
Leistungsfähigkeit des psychischen Mechanismus, als aus dem Inhalt
der Antwort. Auch muss man sich hüten, die Frage so zu formu-
liren, dass die Antwort darin schon vorbereitet ist, allenfalls bloss
mit ^ja" oder „nein" gegeben zu werden braucht.
Was die criminellen Handlungen der Blödsinnigen betrifft, so
sind sie durch Affekte vermittelt, in denen sie Todtschlag, Körper-
verletzungen und andere zerstörende Gewaltakte begehen, oder durch
heftige sinnliche Begehren (Nahrungstrieb, Geschlechtstrieb), die eben-
sowohl durch eine quantitative Steigerung der natürlichen Triebe,
als durch den Mangel aller sittlichen, ästhetischen, contrastirenden
Vorstellungen unwiderstehlich werden, oder es kommt zu gefährlichen
Handlungen, z. B. Brandstiftung, für die jedes Bewusstsein der Be-
deutung und Gefährlichkeit fehlt, und die nicht selten rein imitatorisch,
wie bei Kindern hervorgerufen sind. Planmässiger, von Combination
und Ueberlegung zeugender Handlungen ist der Blödsinnige nicht
fähig. Die Zurechnungsfähigkeit ist aufgehoben, schon einfach aus
dem Grund, weil übersinnliche Begriffe, Urtheile ästhetischen, mora-
lischen, rechtlichen Inhalts hier nicht möglich sind.
Beob. 9. Ein blö dsinniger Mens chenfresser. J. F., 40 J., geistes-
blöd von Kindheit auf, auch körperlich sehr verkümmert, wurde im Dorfe als
Beob. 10. Ein blödsinniger Brandstifter. 69
Tagewäcliter verwendet. Dabei trug er öfters den zweijährigen Sohn seiner
Schwester lierum. Am 12. Oktober 1853 kam er mit dem Kind nicht vom Feld
heim. Man suchte ihn und fand ihn endlich im Gebüsch. Er hatte dem Kind
Kehle und Schlund durchgebissen, alle Weichtheile abgenagt und das herab-
strömende Blut getrunken, die Haut von der Brust, dem Unterleib und den Armen
herabgezogen, die Fett- und Fleisch theile abgebissen und verzehrt. Als Motiv
der That gab er an, er habe Fleisch essen wollen, um gross zu werden. Von
einem Bewusstsein der Bedeutung seiner That fand sich keine Spur. (Casper's
Vierteljahrsschr. VIII. p. 163.)
Beob. 10. Ein blödsinniger Brandstifter. K, 22 J., uneheliches
Kind, zeigte sich in der Schule bildungsunfähig, lernte nicht lesen, noch schreiben
und rechnen. Er war nur zum Viehhüten brauchbar, wurde von der Umgebung
seines Blödsinns wegen stets geneckt und vielfach geschlagen, was ihn erbitterte
und rachsüchtig machte. Eines Nachts träumte ihm, er lege Feuer an. Dies fiel
ihm am Morgen ein und er schritt sofort zur That. Nach derselben war er ganz
unbefangen. Als das Feuer ausbrach, lief er von unbestimmter Furcht ergriifen
in's nächste Dorf und erzählte dort vom ausgebrochenen Feuer. Er bekannte
seine That ganz unbefangen, ohne Furcht vor Strafe, schien überhaupt der Strafe
wegen Brandstiftung ganz unkundig zu sein.
Er hatte einen ungewöhnlich schmalen Kopf, einen stieren, dummen, stets
gleichsam fragenden Blick, eine schlaife, unbeholfene Haltung, schwache Behaarung
und kleine, aber ausgebildete Genitalien. Den rechten Schenkel zog er etwas
nach. Er besass Gedächtniss und einige Urtheilsfähigkeit, konnte über gewöhn-
liche Verhältnisse Auskunft geben, aber die mit „warum" anfangenden Fragen
kaum beantworten. Häufig sperrte er den Mund auf und zupfte gedankenlos am
Stuhle. (Heinroth, Gutachten p. 6.)
Bei dem Schwachsinnigen wird die Fähigkeit zur Verletzung
strafrechtHcher Bestimmungen eine ausgedehntere, jedoch ist derselbe
nur in den selteneren Fällen der intellektuelle Urheber einer straf-
baren Handlung, wie dies aus seinem defekten psychischen Mechanis-
mus, seinem Mangel an Initiative und Combinationsvermögen sich
a priori folgern lässt. Häufig sehen wir ihn aber als gefügiges Werk-
zeug im Dienst eines Vollsinnigen, der ihn beschwatzt und den Plan
concipirt hat. Wenn der Schwachsinnige von selbst handelnd auftritt,
so geschieht dies nur aus einem Aifekt oder einer Begierde. Dann
kommt es leicht zu Brandstiftung, Todtschlag, Sittlichkeitsverbrechen.
Nicht alle Schwachsinnigen können als unzurechnungsfähig be-
zeichnet werden. In dem Mass, als ihr Rechtsbewusstsein entwickelt
und ein wenn auch dürftiger Charakter vorhanden ist, sind sie einer
rechtlichen Verantwortlichkeit fähig, wobei aber nicht zu vergessen
ist, dass die sittlichen und rechtlichen Gefühle gering entwickelt, die
Ueberschauung der That und ihrer möglichen Folgen beschränkt ist,
vielfach auch die sinnlichen Antriebe im Missverhältniss zu den schwa-
chen sittlichen Gegenmotiven stehen. Zudem sind die Associationen,
70 Gap. VIII. Psychische Entwicklungshemmungen.
überhaupt der ganze Vorstellungsablauf träge und die Gegenmotive
treten verlangsamt und verspätet ein, so dass das Ich leicht vom An-
trieb überrumpelt und zur That gedrängt wird, bevor jene Zeit haben,
sich Geltung zu verschaffen.
Wenn wir im Allgemeinen beim Schwachsinnigen eine vermin-
derte rechtliche Verantwortlichkeit annehmen können, so dürfte diese
auf ein Minimum, wenn nicht auf Null sinken, sobald auf dem Boden
des Schwachsinns sich ein Affekt entwickelt. Die schwachen sittlichen
Correktive treten in solchem Fall gar nicht oder zu spät ein.
Nicht zu übersehen ist, dass nicht selten auf dem Boden des
Schwachsinns Geisteskrankheiten (Melancholie, Manie u. s. w.) vor-
kommen, die ihrerseits wieder zu verbrecherischen Handlungen An-
lass geben können.
Beob. 11. Ein schwachsinniger Brandstifter. Im Mai 1868 brannte
Nachts die von einer gewissen P. mit ihrem Kind bewohnte Bauernhütte ab.
Die Bewohner retteten sich mit Mühe. Im Sommer 1871 gestand der Bauernsohn
Temel einigen Bekannten aus freien Stücken , er habe damals den Brand an die
seinem Gehöft benachbarte Hütte gelegt, weil der Liebhaber der P. ihn immer
bestohlen und der P. das Gestohlene zugetragen habe. Er habe jenen oft darüber
zur Rede gestellt, aber immer nur Prügel davon getragen.
T. , 32 J. , ledig, wurde verhaftet und gestand unumwunden seine That.
Er sei eben schwach im Verstand und habe sich nicht zu helfen gewusst. Ein
Bettler habe ihm diesen Rath gegeben und gesagt: „Dreimal anzünden macht
nichts, erst das 7. Mal wird's eine Sund'". Wenn er unrecht gehandelt habe, so
sei eben der Bettler schuld. Er sei bereit, den Schaden zu vergüten. . Dass die
P. mit ihrem Kind in den Flammen umkommen könne, habe er nicht bedacht,
noch beabsichtigt. Er habe nur die Hütte wegen der Zuträgereien weghaben
wollen. Nach dem Anzünden sei er heimgelaufen und habe die Nacht gut ge-
schlafen. Er habe nur desshalb sich als Thäter bekannt, weil er merkte, dass
der W.-Bauer ihn im Verdacht desswegen habe, und dem könne es nur ein Wahr-
sager verrathen haben. Die Zeugenaussagen constatiren, dass T. von Kindheit
auf schwachsinnig war, in der Schule sich bildungsunfähig zeigte und kein
Mädchen desshalb zum Heirathen bekommen konnte. Auch zum Viehhandel und
Wirthschaftsbetrieb erwies er sich unfähig, wesshalb seine Verwandten ihn in
der Besorgung seines kleinen Anwesens unterstützen mussten.
Den Gerichtsbeamten macht er den Eindruck eines Geistesschwachen, der
nicht zu beurtheilen vermag, was recht und unrecht sei. In den Verhören sitzt
er theilnahmlos und mit den Händen spielend da.
Die Beobachtung in der Irrenanstalt ergibt Folgendes : T. ist von kleinem
Wuchs, die Sprache schwerfällig, die Gesichtszüge ausdruckslos. Er ist schwer-
hörig. Die Stimmung ist indifferent, das Gedächtniss schwach, die Apperception
und Reproduktion träge, der geistige Horizont ein eng begränzter und auf die
Sphäre der materiellen Lebensbedürfnisse beschränkt. Er nimmt die Schwäche
seiner geistigen Thätigkeit selbst wahr, er sei schwach im Kopf, könne nicht
Beob. 12. Der Knabenmörder Carlino Grandi. 71
recht auffassen, und bei der Wirthschaft hätten ihm immer der Bruder und die
andern Leute helfen müssen.
Gutachten: Inculpat leidet seit seiner frühesten Jugend an einem höheren
Grad von Schwachsinn. Die Insufficienz seiner geistigen Vermögen zeigt sich
in allen Lebensaltern und Lebenslagen. Schon in der Schule erweist er sich als
blöde und entwicklungsunfähig, später kann man ihm nicht einmal ein kleines
Anwesen allein anvertrauen. Die öffentliche Meinung bezeichnet ihn als einen
Simpel und kein Mädchen ist zu bewegen, ihn zu heirathen. Nur der Einfach-
heit seiner Lebensbeziehungen verdankt er es, dass er nicht schon längst gericht-
lich für blödsinnig erklärt und unter Curatel gesetzt wurde. Für seine geistige
Schwäche bezeichnend ist ferner der Umstand, dass er seine Interessen gegen-
über dem angeblichen Dieb nicht wahrzunehmen weiss. Dessen Prügel machen
ihn furchtsam und verschliessen ihm den Mund. Die Hilfe der Justiz kennt
er nicht. Selbst unfähig, um einen Plan zur Entledigung von einer lästigen
Nachbarschaft auszudenken , ist er ganz geeignet , einen von einem Andern ge-
machten zu acceptiren. Die naive Offenheit, mit der er That und Umstände der-
selben bekennt, die Ueberzeugung von der Richtigkeit der foppenden Erklärung
des Bettlers, dass erst das 7. Mal Brandstiftung eine Sünde sei, das Fehlen aller
Einsicht und Reue in der Folge, die naive Anschauung, er könne durch Bezahlung
des Schadens die ganze Sache abthun, sind hinlängliche Beweise für den völligen
Mangel ethischer und rechtlicher Begriffe. Nicht minder beweisen sein Nicht-
darandenken, dass er Menschenleben durch seine That gefährdete, ferner die ein-
fältige Art, wie er selbst sich verrieth, den Mangel aller Voraussicht und Ueber-
legung. Das Krankheitsbild wird vervollständigt durch sein Benehmen vor Ge-
richt und in der Irrenanstalt, durch seine Apathie, Indifferenz, sein kindisches
Benehmen, seine Physiognomie, Haltung, seine Gedächtniss- und Auffassungs-
schwäche, seinen Mangel an jeglicher Aktivität und Spontaneität.
Explorat besass weder das Vermögen, die Beschaffenheit, Verhältnisse,
rechtliche und sittliche Bedeutung der von ihm begangenen That einzusehen,
noch war er bei seinem intellektuellen und ethischen Defekt befähigt, sich für
Begehung oder Unterlassung seiner That aus Gründen der Sittlichkeit zu ent-
scheiden. Die Möglichkeit einer Wahl war damit ausgeschlossen. Er hatte keine
Widerstandskraft, der ihm gebotenen Versuchung zu widerstehen, er sah aber
auch mit seinen geistig blöden Augen keinen anderen Ausweg aus seiner unbe-
quemen Lage, als den, welchen er betreten hat. (Eigene Beobachtung.)
Beob. 12. . Der Knabenmörder Carlino Grandi. In der Zeit von
1873 — 75 verschwanden in der Gemeinde V. spurlos 4 kleine Knaben. Man glaubte
die Kinder geraubt, welchen Verdacht ein gewisser Carlino Grandi zu bestärken
wusste. Eines Tags verschwand ein fünfter Knabe. Man hörte sein Hilfegeschrei
aus G.'s Wohnung, sprengte die verschlossene Thüre, fand den Knaben blutend,
geschunden. G. behauptete , der Knabe habe sich im Fallen verletzt. Dieser
erzählte, G. habe ihn in seine Wohnung gelockt, die Thüre verschlossen, ihn in
eine Grube gesteckt, mit Erde bedeckt. Da habe er um Hilfe geschrieen und
sich gewehrt. Man durchwühlte den Boden und fand die Cadaver der 4 ver-
missten Knaben. Sie waren nicht verletzt, offenbar lebendig eingegraben worden.
G. liess sich in aller Gemüthsruhe verhaften.
G. , geboren 1851 stammt aus einer Familie, die sowohl auf Vaters- als
Mutterseite dem Trünke ergeben war. Sein Vater war psychopathisch, excen-
72 Cap. VIII. Psychisclie Entwicklungshemmungen.
irisch, seine Mutter halb cretinös, neuropathisch, eine Schwester, von ihm, Idiotin,
starb mit 7 Jahren.
G. war imbecill, entwickelte sich langsam, brachte es nothdürftig zum
Lesen und Schreiben, lernte das Anstreichen, hielt sich aber für einen Künstler.
Sein Benehmen war läppisch, kindisch, im Zorn war er masslos , biss sogar ein-
mal dem Bruder in den Finger. Seine Lieblingsbeschäftigung war Müssiggang,
Lesen und Schreiben. Er bildete sich viel auf seine schriftlichen Arbeiten ein,
namentlich die Romanze seines Lebens, die er selbst verfasst und mit Vignetten
geziert hatte, ein Muster von Schwachsinn, Unsinn und Selbstüberschätzung. Er
hielt sich für einen grossen Philosophen und Dichter. Man trug seiner Imbecillität
und Schrullenhaftigkeit in der Familie Rechnung und hatte so mit ihm ein leid-
liches Auskommen. Ausser Hause spielte er am liebsten in kindischer Weise
mit Knaben. Den Erwachsenen war er theils ein Gegenstand der Belustigung
und des Spotts , theils des Mitleids. Da er bei seiner körperlichen Missgestalt
und seinem kindischen Wesen sich überall lächerlich machte und doch sich für
einen grossen Philosophen und Dichter hielt, blieb er tiefgekränkt meist zu
Hause. Seine Stimmung wechselte beständig zwischen Ausgelassenheit und
schlechter Laune, er beklagte sich häufig über Kopfweh und war oft schlaflos,
dabei grosse Reizbarkeit. Epileptische Zufälle wurden nie bemerkt, 1875 vorüber-
gehender psychischer Aufregungszustand. G. war eifrig in religiösen Hebungen,
aber der ethische Kern der Religion war ihm unfassbar. Wein hatte er nie ge-
trunken, auch nie sich mit Weibern abgegeben.
Er ist von Zwergwuchs , 24 J. alt, schwächlich , von blasser Farbe. Mit
Ausnahme von etwas Wollhaar am Kinn, ist er am ganzen Körper haarlos.
Schädel brachy-rhombocephal , Kopfumfang 54 cm, Kinnladen enorm entwickelt.
Gesicht von cretinösem Habitus, Strabismus, Scoliose, Becken verschoben, linkes
Bein länger als rechtes, dieses beim Gehen nachschleifend, dabei Pes varus und
überzählige Zehe am linken Fuss. Phimosis, die Genitalorgane auf der Ent-
wicklungsstufe eines 12jährigen Knaben.
Die Zeugen theilen mit, dass, als G.'s Verbrechen entdeckt wurde, er ganz
gleichmüthig blieb und als man die 4 Leichen ausgrub, ein Liedchen trällerte.
Als er von den Gensdarmen eskortirt wurde, war er lustig und guter Dinge,
Hess jene und den König hochleben. Im Gefängniss benahm er sich, wie wenn
er auf seine That stolz sein könnte. Im Verhör läugnete er anfangs, beschul-
digte die Nachbarn, dass sie heimlich die Knaben eingegraben hätten, verrieth
sich aber gleichzeitig als Thäter und gab seinem Hass gegen die Jungen, die ihn
immer verspottet hatten, Ausdruck. Als man ihm drohte, bekannte er die Wahr-
heit und motivirte seine grauenvollen Thaten mit kleinen Bosheiten, die ihm seine
Opfer angethan hätten. Er hoffte, es werde ihm nicht den Kopf kosten, er habe
Angst vor dem Tod, Verurtheilung zu Zwangsarbeit sei ihm schon recht, er
könne ohnehin nicht heim, da man ihn daheim umbringen würde.
Er gedachte noch mehr Jungen umzubringen, um vor ihren Verspottungen
und Bosheiten Ruhe zu bekommen. Er fand dies ganz in der Ordnung und
lächelte verschmitzt dazu. Kindische Selbstüberschätzung , grosse Freude , dass
ganz Italien von ihm spreche, dass die Gensdarmen ihn wie im Triumph hieher-
gebracht und vor der Volkswuth beschützt hatten. Die Aufmerksamkeit, welche
ihm im Gefängniss zu Theil wurde, war ihm schmeichelhaft. Den Gefängniss-
wärtern machte er den Eindruck eines Kindskopfs und nicht eines schrecklichen
Beob. 13. Schwachsinn. Mord, über Anstiften eines Vollsinnigen. 73
Mörders, dem Gefängnissdirektor den eines entarteten und unzurechnungsfähigen
Menschen. Einmal im Verlauf seines Gefängnissaufenthalts wurde ein mehr-
tägiger, ängstlicher Erregungszustand mit Persecutionsdelir beobachtet. Von
moralischem Sinn, Reue, Gemüthsbewegung fand sich nie eine Spur. Er fand,
die 4 Jungen, die nun im Paradies seien, hätten es besser als er.
Im Gef ängniss , im 25. Jahr stellte sich unter psychischer Verstimmung
die Pubertät ein. Sein Kopf, seine Schamtheile bedeckten sich mit Haaren, die
Genitalien entwickelten sich.
Am 18. Dec. 1876 wurde G. vor die Geschworenen gestellt. Es that ihm
leid, dass er als Hauptperson in diesem Drama mit zerrissenen Stiefeln erscheinen
musste. Er betrat wie ein Held den Saal und grüsste herablassend. In die
Einzelheiten des Processes kann hier nicht eingegangen werden. G. war der alte
läppische, kindische, verkehrte, schwachsinnige, moralisch defekte Mensch, wie er
sich in der Haft erwiesen hatte. Trotz übereinstimmender Gutachten von 3 der
bedeutendsten italienischen Irrenärzte, die in G. einen der schwersten Fälle von
psychischer Entartung nachwiesen, erfolgte G.'s Verurtheilung zu 20 Jahren Kerker,
in Uebereinstimmung mit der öffentlichen Meinung, die durch die Unerhörtheit
des Verbrechens gegen G. voreingenommen war und den Thatsachen wissen-
schaftlicher Forschung nicht folgen konnte. So endete dieser denkwürdige Ge-
richtsfall, dessen Detail im Original nachgelesen zu werden verdient. (Bini, Livi
II. Morselli, Rivista sperimentale 1877.)
Beob. 13. Mord, begangen durch einen hochgradig Schwach-
sinnigen über Ans tiften eines Vollsinnigen. Am 16. April 1878 trug
der Bauer J. seinem 9jährigen Ziehsohn Heinrich auf, Heu vom Heuboden durch
das Futterlocli in die Tenne herabzuwerfen. Als J. nach etwa einer halben
Stunde heimkam, fragte er seinen Sohn Georg und den 16j. Dienstbuben Valentin,
die in der Nähe der Tenne mit Strohschneiden beschäftigt waren, wo der Heinrich
sei. Diese sagten, sie wüssten es nicht. Um 9 Uhr früh kam Georg zum Vater
auf den Acker und theilte ihm mit, der Heinrich sei in die Tenne hinabgefallen
und todt.
Diese Angabe bestätigte sich. Die Höhe des Futterlochs über dem Tennen-
boden betrug 2,6 m. Das Sektionsprotokoll berichtet von Blutüberfüllung des
Gehirns und Rückenmarks, blutigen Ergüssen im Rückenmarkskanal und zwischen
den Hirnhäuten und nimmt an, dass der Tod durch stumpfe Gewalt (Absturz
auf den Tennenboden mit dem Kopf voran) an Gehirnlähmung erfolgt sei.
Am 22. April erstattete die Mutter des Verunglückten die Anzeige, ihr
Sohn sei nicht verunglückt, sondern von Georg J. zuerst gewürgt und dann in
die Tenne hinabgeworfen worden. Sie habe dies von der Schwester des Dienst-
buben Valentin, der Augenzeuge gewesen sei, erfahren.
Am 24. übergibt der Vater seinen des Mords geständigen Sohn dem
Untersuchungsrichter. Der sofort verhörte G. erscheint dem Untersuchungsrichter
schwachsinnig und vermag nur in schwer verständlicher lallender Sprache Fol-
gendes anzugeben : Ich war seit heurigena Jahr dem Heinrich feind, weil er mich
immer geärgert imd mir Geld und andere Sachen entwendet hat.
Am 10. April kam mir plötzlich der Gedanke, ihn umzubringen. Am 15.
sagte ich zu Valentin, der dem H. noch mehr feind war: „morgen werde ich den
H. auf den Futterboden hinaufführen und dann umbringen". Der V. meinte:
74 Cap. VIII. Psychische Entwicklungshemmungen.
„ja, ja, hast schon recht." Schon seit März liatte icli den Gedanken, den H. ein-
mal mit dem Hosenriemen zu erwürgen.
Am 16. früh 8V2 Uhr hiess ich den H. auf den Futterboden hinaufsteigen.
Ich und V. kamen nach, dieser blieb auf der obersten Leitersprosse stehen und
schaute zu. Ich warf dem H. den Hosenriemen um den Hals und zog fest zu.
Der H. fiel um. Eine Zeit lang würgte ich ihn, bis ich glaubte, er sei hin. Der
V. meinte : „lass ihn liegen". Ich that dies. Wir gingen hinab , der V. aufs
Feld, ich zum Vater. Als der fragte, wo der H. sei, sagte ich: „ich weiss nicht".
Darauf ging ich wieder auf den Futterboden und sah, dass der H. noch den
Kopf bewegte. Da hab ich ihn mit dem Riemen noch eine Weile gewürgt, ihn
dann zum Futterloch gezogen und, den Kopf voraus, in die Tenne hinabgestürzt.
Ich stieg dann hinab, und als ich sah, dass der H. sich noch immer rührte, habe
ich ihm den Kopf 3mal auf den Boden aufgeschlagen. Dann war der H. hin.
Meinen Riemen löste ich dann vom Hals ab.
Der am 25. einvernommene Valentin will am 15., als G. ihm sein Vor-
haben mittheilte, ihm gesagt haben, das sei eine grosse Sünde. G. habe darauf
Nichts erwiedert. Die Umstände des Mords schildert V. ganz wie G., mit dem
Bemerken, G. habe zu ihm gesagt: „wenn du etwas gesehen hast, was ich gethan
und einem Menschen etwas davon sagst, so erschlage ich dich".
Eine Grosstante des G. mütterlicherseits war blödsinnig, seine Schwester
ist schwachsinnig. Er soll bis zu seinem 10. Jahre sich normal entwickelt haben
und gesund gewesen sein. Von da an wurde er schwerhörig, fing an undeutlich
zu sprechen und wurde schwach und blöd im Kopf. Er war sehr vergesslich,
jedoch sparsam, verwendbar zur Arbeit. Er lachte oft still vor sich hin, schlief
wohl auch bei der Mahlzeit ein. Besondere Bosheit und Rachsucht war nicht
an ihm zu bemerken. Als er vor 2 Jahren vom Vater wegen Misshandlung eines
Buben gezüchtigt wurde, widersetzte er sich und griff dem Vater nach dem
Halse. Im Uebrigen finden die Zeugen den G. mit einer gewissen Schwäche im
Kopf behaftet, halbdumm, bei der Arbeit nicht extra übel, aber auch nicht be-
sonders anstellig. Er redete und la,chte oft mit sich, that auch sehr viel beten.
Beim Gottesdienst benahm er sich anständig.
Einstimmig sind die Zeugen darüber, dass sowohl G. als V. dem H. feind
waren und ihn oft misshandelten.
Der Staatsanwalt findet, dass G. in seinem beschränkten Ideenkreise ganz
entsprechende Antworten gibt. Gedrucktes ziemlich gut liest, bei längerem Ver-
kehr in stets verständlicher und verständiger Weise antwortete, leidlich zählt,
Geldsorten kennt, sich an frühere Ereignisse erinnert, über die Wirthschafts-
verhältnisse seiner Eltern und die Geistesfähigkeit seiner Schwester ganz zutreffende
Antworten gibt.
Georg J. erscheint in den Explorationen vom 24., 27., 30. Septbr. als ein
mittelgrosser, etwa 22j. Mensch von plumpem, schwerfälligem Gang. Die Haltung
des Körpers ist eine vorgeneigte. Die Bewegungen verrathen eine auffällige Un-
beholfenheit und Ungeschicklichkeit. Die Miene und ganze Haltung entsprechen
der eines Blödsinnigen. Der Schädel ist insofern abnorm, als der Gesichtsschädel
bedeutend in der Entwicklung hinter dem Hirnschädel zurücksteht. Dieser übertrifft
den Umfang des Durchschnittsschädels (55 cm) um 2 cm. Der Längsdurchmesser
beträgt 19,5 cm, indem das Hinterhauptbein eine ungewöhnliche Vorbauchung
zeigt. Die Entwicklung des Stirn- und Schädelbeins entspricht dem Durchschnitts-
Beob. 13. Schwachsinn. Mord über Anstiften eines Vollsinnigen. 75
mass. Der linke schräge Schädeldurchmesser ist 1 cm kürzer als der gleich-
namige rechte. Die Ohren sind klein, das rechte um 3 mm kürzer als das linke,
dieses nach oben sicli zuspitzend. Die Hände sind auffallend kurz und klein, die
Haut trocken, rauh, rissig, hypertrophisch, namentlich am Rücken und den Streck-
seiten der Unterextremitäten. Die Genitalien sind gut entwickelt. An Oberlippe
und Kinn ündet sich kaum eine Spur von Wollhaar, die Wangen sind vollkommen
glatt. Die Schilddrüse etwas vergrössert. Die vegetativen Organe ohne Befund.
Die Sprache ist schlecht artikulirt, kaum verständlich, mit Nasengaumentimbre,
aber auch die Auffassung ist eine sehr erschwerte, so dass nur bei den aller-
concretesten Fragen und in concretester Form Verständniss erfolgt; da zudem
die Satzbildung eine durchaus auf kindlicher Stufe stehende, vorzugsweise in
Particip und Inünitiv sich bewegende ist, wird der geistige Verkehr mit J. ein
sehr mühsamer.
Man erfährt von ihm, dass er gleich seiner Schwester mehrere Jahre in
die Schule ging, aber wie diese nicht viel profitirte. Er vermag seinen Namen
zu unterschreiben, bei Leseversuchen einige Buchstaben und Silben zusammen-
zubringen, nicht aber Zahlen abzulesen. Addiren und Subtrahiren ist ihm nicht
geläufig. Die gewöhnlichen Geldsorten kennt er nothdürftig, nicht aber Brief-
marken und Stempel, auf denen ihm der Kopf eines Mannes übrigens auffällt.
Ein Buch bezeichnet er als solches, einen Wandkalender als „Papier".
Eine Uhr kennt er und liest die Stunde ab, vermag aber über Zeitrechnung,
Eintheilung des Tages keinen Bescheid zu geben, wohl aber sagt er die Wochen-
tage und Monate auf, wenn man ihm den Anfang vorsagt. Ostern feiert man
für die Auferstehung ; was dies bedeutet, weiss er nicht, ebenso wenig was Weih-
nachten ist. An Pfingsten feiert man den hl. Geist. Er findet, dass dieser ihm
noch keinen Verstand gebracht habe. Er sei ein Tschepperl wie seine Schwester
Kuna. Von einem Kaiser, einer rechtlichen Ordnung, einem Vaterland hat er
keine Idee, wie überhaupt ihm die übersinnliche Welt der Begriffe zu fehlen
scheint.
Auch seine ethische Sphäre erscheint höchst unvollkommen. Es gibt
einen Gott im Himmel, einen Teufel in der Hölle, der ist grob. Die Menschen
kommen in den Himmel, wenn sie beten. Er hofft durch fleissiges Beten auch
in den Himmel zu kommen. In die Hölle kommt man wegen der Sünden. Was
dies ist, weiss er nicht, auch die 10 Gebote sind ihm unbekannte Dinge. Wenn
man stirbt, so ist man todt und wird eingegraben. Er hat auch den H. eingraben
helfen (grinst gemüthlich bei dieser Bemerkung). Gott hat einen Sohn gehabt.
Auf vieles Fragen kommt er auf dessen Namen. Warum und wie er gestorben,
ist ihm unerfindlich. Das Vaterunser plappert G. mechanisch und nicht fehlerlos
herunter, wenn man ihm den Anfang dieses Gebets vorsagt.
Er weiss, dass er nun im Gerichtshaus, weil er dem Buben den Hals
„abgewürgt" hat. Der Andere sei aber mehr dem Buben feind gewesen und der
Vater habe ihn auch nicht mögen. Er weiss die Thatsachen des Mords und der
Verhaftung zu combiniren, sie stehen für ihn in causalem Zusammenhang, aber
auf ein ethisch-rechtliches Be-wusstsein seiner grauenvollen That wird vergebens
inquirirt. Er sieht jetzt ein, dass das nicht recht war, denn er ist dafür ein-
gesperrt worden. Seine Zukunft macht ihm keine Sorge, sein einziger Kummer
ist, dass er im Gerichtshaus keine Jause bekommt. Wie ein kleines Kind, das
den kategorischen Imperativ in flagranti an sich erfahren hat, verspricht er, so
yg Cap. VIII. Psychische Entwicklungshemmungen.
was nimmer zu thun. Als man ihm Angst macht, er werde jetzt am Ende auch
abgewürgt, bittet er mit kindisch weinerlicher Geberde, man möge ihn bald
aussi" lassen. Wenn man ihm über seine That Vorwürfe macht, so meint er,
die Anderen, namentlich der Valentin, seien noch mehr „harb" auf den H. ge-
wesen, als er, der Vater habe ihn auch nicht gemocht, der Kleine habe ihm die
Nudeln weggefressen und anderen Schabernack angethan, nicht gefolgt, bei der
Arbeit ihn gestört. Er sei ein armer Bub gewesen und nun im Himmel, wo er
selbst auch noch hinzukommen hoffe, wenn er fleissig bete. Er habe auch noch
geholfen ihn auf den Friedhof bringen und eingraben. Das entscheidende Argu-
ment aber, das schon 6. den Mitgefangenen mitgetheilt hat und das er, nachdem
sein Vertrauen gewonnen ist, mit der unbefangensten Miene und naiver Dumm-
heit in stereotyper Weise vorbringt, ist die Mittheilung, dass der Valentin ihn
zum Mord des Heinrich direkt aufgefordert hat. Er habe keine Schuld daran,
er sei nicht so gescheidt dazu. Der Andere habe gesagt, er solle den H. nur
abwürgen, es sei keine Sünde, die Andern thäten ja auch Leute abwürgen, habe
der V. gemeint. Es sei dem H. dann leichter, weil er doch ein armer Bub sei.
V. habe ihm wiederholt, mindestens 3mal, angesagt, er solle den H. mit einem
Riemen, Strick oder Tuche abwürgen, ihn auch aufmerksam gemacht, dass man
den H. durch das Futterloch in die Tenne hinabstürzen könne. An diese Rath-
schläge des V. habe er sich dann bei der Ausführung der That erinnert. Selber
wäre es ihm nie so eingefallen. Er hätte den H. nicht umgebracht, wenn es der
V. nicht „geschafft" hätte. V. habe ihm gedroht, wenn er den H. nicht umbringe,
werde er ihn (Georg) selbst erschlagen. Der V. sei viel mehr dem H. feind
gewesen als er. Er selbst habe den H. wohl auch nicht gerne gehabt, da dieser
ihm Schuhfetzen vertragen, Sachen versteckt. Kampeln weggenommen und mit dem
Wetzstein das Strohmesser stumpf gemacht habe, aber der H. habe ihm auch die
Hosen geflickt und da habe er den Schabernack sich von ihm gefallen lassen.
Der V. habe ihm arg zugesetzt, er müsse den H. umbringen und als er
keine Lust hatte, am Tage vor dem Mord den Krampen genommen und gedroht,
er werde ihn damit erschlagen.
Noch am Morgen der That habe der V. ihm keine Ruhe gelassen, er solle
endlich den H. abwürgen und ihm genau angesagt, wie er Alles auszuführen habe.
Als er noch unentschlossen auf den Heuboden zum H. gekommen sei, habe dieser
einen Krampen nach ihm geworfen. Dies habe ihn verdrossen und da habe er
ihn bald darauf abgewürgt.
Der V. habe bei dem Mord zugeschaut. Als die Sache geschehen, habe
der V. gemeint, dem H. wäre jetzt leichter. Der V. habe ihm dann verboten,
von der Sache etwas zu sagen. Als er den H. todt daliegen sah, habe er sich
geschreckt und gefürchtet, der H. könne noch einmal aufstehen und ihn dann selbst
anpacken. Es sei ihm bei diesem Gedanken um und umgegangen und im Leib
kalt geworden. Der H. sei ganz blau an Hals und Kopf gewesen.
Der intelligente Mithäftling G.'s berichtet, dass G. wenig schlafe, viel vor
sich „hinsimulire", vor sich hin spreche und lache, sich wie ein kleines Kind ver-
spiele. Er kratze viel seine Haut, die räudig sei, helfe etwas bei Cartonagearbeit,
sei aber kaum brauchbar, schrecklich unbeholfen, wie wenn er gefroren wäre.
Sein Verbrechen erzählte er mit der grössten Unbefangenheit und völliger Un-
kenntniss der ethischen rechtlichen Bedeutung seiner That, die er nur begangen
habe, weil der V. ihn dazu genöthigt habe.
Beob. 13. Schwachsinn. Mord über Anstiften eines Vollsinnigen. 77
Grutachten. Die in den Akten niedergelegten anamnestisclien Daten
ergeben, dass Georg J. im 10. Lebensjahr gleichzeitig mit dem Eintritt eines
Gehörleidens einen Rückgang seiner angeblich bis dahin normalen geistigen
Entwicklung erfuhr, der ihm bei der Umgebung die Bezeichnung eines Halb-
dummen, eines sog. „Zapfen" eintrug. Die Gehörstörung des G. hinderte nicht
in dem Masse den geistigen Verkehr, dass auf Rechnung derselben der geistige
Rückgang gesetzt werden könnte. Es handelt sich offenbar um eine Entwicklungs-
hemmung gewisser Theile des Gehirns, wie sie bei veranlagten Individuen nicht
selten eintritt. Diese Störung der Entwicklung findet auch körperlich ihren
Ausdruck in dem abnormen Schädel, der Verkümmerung der Hände und Ohren,
endlich in dem völligen Mangel an Barthaaren bei dem geschlechtlich sonst ent-
wickelten, schon 22 Jahre alten Menschen.
Der ganze äussere Habitus des J., sein plumper, schwerfälliger Gang, die
Unbeholfenheit der Bewegungen, die vorgeneigte Körperhaltung entsprechen dem
klassischen Bild des geistig Tiefstehenden.
Die Sprache ist lallend, der Satzbau kindlich, das Verständniss für gestellte
Fragen ein sehr geringes. Man kann die Frage kaum sinnlich und concret genug
stellen, um Verständniss zu erzielen.
Der geistige Inhalt ist ein sehr dürftiger, selbst wenn es hier und da
gelingt, denselben in Fluss zu bringen. Begriffe fehlen gänzlich. J. kann noth-
dürftig lesen, d. h. Silben zu Worten zusammenlesen, aber es fehlt ihm das
Verständniss für den Sinn des Gelesenen. Seine Rechenkunst beschränkt sich
auf die nicht fehlerlose Addition einfacher Zahlen. Der Begriff der Zeit und
der Zahl ist ihm höchst unklar, wohl aber vermag er mechanisch aus seinem
Gedächtniss Wochentage und Monate bei einiger Nachhilfe der Reihe nach auf-
zusagen. Politische rechtliche Begriffe fehlen ihm gänzlich, seine ethische Sphäre
ist ganz verkümmert, sein religiöser Standpunkt der eines etwa 5jährigen Kindes.
Ein Bewusstsein der Strafbarkeit seiner That ist nicht zu ermitteln, geschweige
das ihrer ethischen Bedeutung. Erst aus ihren unangenehmen Folgen erkennt
er, dass er gefehlt hat, aber sie erscheint ihm in seinem fehlenden ethischen und
verkümmerten intellektuellen Bewusstsein einfach als ein dummer Streich,
Georg J. ist ein geistig in der Entwicklung zurückgebliebener Mensch,
unfähig, die ethisch rechtliche Bedeutung seiner Handlungen zu erkennen und
ihre Folgen vorauszusehen.
Dass J. zu mechanischer Geistesthätigkeit, Erinnerung, Mittheilung erlebter
Thatsachen, Ablesen von Worten, Besorgung aufgetragener Hausai'beit fähig ist,
kann nicht als Gegenbeweis seines defekten geistigen Mechanismus geltend gemacht
werden.
In grellem Contrast mit seiner Imbecillität steht die Raffmirtheit der That,
zu der bei der Passivität des J. zudem ein genügendes Motiv fehlt. Geistig so
defekte Menschen gelangen zum Mord kaum je anders als unter dem Einfluss
eines mächtigen Affekts. Sie handeln dann unmittelbar und mit brutaler Rück-
sichtslosigkeit. Der Widerspruch löst sich, wenn wir die von J. in der unbe-
fangensten Weise imd in 3 Explorationen stereotyp gemachten Angaben über
Anlass xmd Umstände der Mordthat als wahrheitsgemässe anerkennen. J. erscheint
dann nur als ein Werkzeug in der Hand eines Vollsinnigen, der der intellektuelle
Urheber des Mordes war.
Die Lösung des Räthsels ist die criminal-psj'-chologisch entsprechende.
78 Anhang: Die Taubstummheit.
Auch die Erklärung, wie der letzte Impuls zur That eintrat, erscheint
nicht schwer.
J. empfand offenbar nur Animosität gegen den ermordeten Knaben, weil
er ilim Nudeln wegass und ihm Schabernack zufügte. Dafür erwies dieser sich
ihm durch zeitweises Hosenflicken wieder nützlich. Nie hätten jene Motive bei
dem torpiden, jedenfalls nicht rachsüchtigen Wesen des J. genügt, um ihn zur
Verübung einer so monströsen That zu treiben.
Aufstachelung und Plangebung von Seiten eines Dritten wirkten vor-
bereitend, aber sie genügen noch nicht, um den indolenten J. zum Mörder zu
machen. Er lässt sich Zeit dazu, „werde ihn schon einmal gelegentlich abwürgen".
Da wirft der muthwillige Heinrich den Krampen nach ihm und diese Be-
leidigung genügt, um den imbecillen J. in die nöthige Affektwärme zur Ausführung
der That zu bringen.
Es besteht noch ein Widerspruch zwischen den Aussagen des J. im Verhör
vor dem Untersuchungsrichter und denen in den Explorationsterminen. Er löst
sich unter der Annahme, dass J. zur Zeit jenes Verhörs noch unter dem mora-
lischen Einfluss und der Inspiration jenes Vollsinnigen stand, der ihn verführte,
ferner dass jene Aussagen nicht wörtlich, sondern in der Interpretation und
Stilisirung des inquirirenden Richters in den Akten niedergelegt sind. (Eigene
Beobachtung, Allgem. Zeitschr. f. Psych. Bd. 36.)
Weitere Fälle: Casper Liman, Handb. 6. Aufl. Fall 295 (Diebstahl),
296 (Meineid). Combe, Annal. med. psychol. 1866 (Unzuchtsvergehen). Henke's
Zeitschr. 23. Ergänz.-Bd. (Unzucht). Deutsche Zeitschr. f. Staatsarzneikde. 1864,
H. 1. 1865, H. 2 (Verführung eines Kinds z\i Blutschande). Friedreich's Blätter,
1859, H. 4 (Ermordung der untreuen Geliebten). Americ. Journal of insanity.
1867, April (Tödtung des Bruders).
Brandstiftungen. Siehe Faber, Deutsche Zeitschr. f. Staatsarzneikde. 1870.
Grabacher, Psychiatr. Centralbl. 1871. Girotto im Archivio italiano. 1872, Juli.
Emminghaus, Vierteljahrsschr. f. ger. Med. 1874, H. 1. Stahl, Irrenfreund. 1871,
Nr. 11. Vierteljahrsschr. f. ger. Med. 1874, H. 1. Krauss ebenda. 1877, H. 1.
Arndt ebenda. H. 1. Kelp, Allgem. Zeitschr. f. Psych. 1877, H. 5. Sury-Bienz
(melanchol. Verstimmung), Corr.-Blatt f, Schweizer Aerzte. 1877, Nr. 19. Bonnet,
Annal. med. psychol. 1877, Nov.
S. fei-ner Palmerini, Rivista sperim. 1877, fascic. 3 u. 4 (Fälschung). Rein-
hard, Vierteljahrsschr. f. ger. Med. 1878, H. 2 (Kindsmord). Dali Armi, Fried-
reich's Blätter. 1872, H. 3 (Kindsmord). Santlus ebenda. 1874, H. 1 (Erm.ordung
der Ehefrau). Sizaret, Annal. med. psychol. 1875, Juli (Diebstahl).
Anhang: Die Taubstummheit.
Literatur. Fodere, traite de med. legale. 1813. I, p. 232. Schnitzer, die Lehre
von der Zurechnung. 1848. Cap. 18. Klose in Liebenhaar's Magazin. 1844.
Bd. 2. Hoffbauer, die Psychologie etc. 2. Aufl. §. 163. Marc, die Geistes-
krankheiten, übers, von Ideler. I, p. 309, II, p. 585. Friedreich, ger. Psychol.
3. Aufl. p. 330. Krügelstein, Henke's Zeitschr. XXIX, 1. Deutsch, die Rechte
der Taubstummen. Berlin 1853. Casper-Liman, Handb. §. 149 — 151. Lunier,
Annal. d'hyg. publ. 1879, Mai.
Die Taubstummheit. 79
Gesetzl. Bestimmungen. Deutsch. St.-G.-B. §. 58: Ein Taubtsummer, welcher
die zur Erkenntniss der Strafbarkeit einer von ihm begangenen Handlung
erforderliche Einsicht nicht besass, ist freizusprechen.
Einer besonderen Berücksichtigung und milden Behandlung durch
den Criminalrichter haben sich von jeher die Taubstummen zu er-
freuen gehabt. Die Humanität und fortschreitende Wissenschaft haben
zwar gegenüber den Taubstummen Grosses geleistet und viele derselben
mittelst mühsamer Zeichen- und Schriftsprache zu brauchbaren Mit-
gliedern der Gesellschaft herangebildet, nie aber wird es dem besten
Unterricht gelingen, den Taubstummen zur geistigen Höhe der Voll-
sinnigen zu erheben und ihm das zu ersetzen, was dem geistigen
Leben dieser Unglücklichen durch den Mangel des bequemen Aus-
tauschs des eigenen Bewusstseinsinhalts mit dem andrer Menschen
abgeht. Im günstigsten Fall muss durch das Fehlen des vermittelnden
und belebenden Elements der Sprache die Schärfe und der Umfang
der Begriffe nothleiden. Die Voraussetzung der Zurechnungsfähig-
keit bei einem angeschuldigten Taubstummen ist jedenfalls unstatt-
haft, eine Exploratio mentalis unerlässlich. Von der durch Unter-
richt erlangten Ausbildung muss die Entscheidung abhängen, aber
selbst im günstigsten Fall muss die Taubstummheit als solche einen
gewichtigen Milderungsgrund abgeben. Von der Verantwortlichkeit
eines ohne Unterricht aufgewachsenen oder ohne Erfolg eines solchen,
theilhaftig Gewesenen kann keine Kede sein, ein solcher ist rechtlich
dem Blödsinnigen gleich zu achten. Wenn §. 58 des Deutsch. St.-G.-B.
die Zurechnungsfähigkeit des T. von der vorhandenen Erkenntniss
der Strafbarkeit der begangenen That abhängig macht, so sind dieselben
Bedenken wie beim Unmündigen (s. o.) auch hier geltend zu machen.
Ein T. kann Unterscheidungsvermögen besessen haben und doch
unzurechnungsfähig sein. Bekannt ist das Misstrauen der T. wie
überhaupt schwerhöriger Leute gegen die Umgebung. Wie bei
Schwachsinnigen sind hier die Affekte leicht überwältigend und die
Gränze der Norm überschreitend.
Zu der Schwierigkeit, den Geisteszustand des T. zu beurtheilen,
kommt bei ihm die, genügendes Material für die Beurtheilung aus
dem Verkehr mit ihm zu gewinnen. Unerlässlich ist hier die Inter-
vention eines Taubstummenlehrers, selbst da, wo der Gebrauch der
Schriftsprache möglich ist. Jener kann übrigens selbstverständlich
nur als Dolmetsch und nicht als Experte benutzt werden. Die Ver-
werthung der Zeichensprache ist eine unsichere, trügliche.
Wie der Schwachsinnige begeht der T. nur im Affekt oder
gQ Anhang: Die Taubstummheit.
auf Grund eines starken sinnlichen Begehrens strafbare Handlungen.
(Brandstiftungen aus Rache, Todtschlag oder Körperverletzung im
Affekt.)
Eine zuweilen dem Arzt in foro gestellte Aufgabe ist die, zu
ermitteln, ob T. wirklich besteht und nicht simulirt ist. Wie bei
der Simulation von Geisteskrankheit, macht sich der T. Simulirende
durch Uebertreibung verdächtig.
Ein wirklich T. (Casper-Liman, op. cit. p. 412) percipirt die
Erschütterung des Bodens, die man hinter ihm etwa durch Aufstampfen
hervorbringt, während ein Simulant davon nichts zu empfinden be-
hauptet. Ebensowenig will dieser die Schwingungen einer zwischen
die Zähne genommenen Stimmgabel empfinden. Ueberraschungen des
Verdächtigen, Beobachtung, wie er aus einem Rausch oder einer
Chloroformnarkose zu sich kommt, Versetzung in Affekte, können zur
Entlarvung beitragen. Beachtung verdient auch, dass Simulanten
unorthographisch schreiben, wie sie eben die Sprache gehört haben,
während unterrichtete T. streng orthographisch schreiben.
Beob. 14. Taubstummheit. Fehlende Ausbildung. Diebstahl.
Der taubstumm geborene 32jährige E. entwendete einem Schmiedgesellen ein
Portemonnaie, das diesem aus dem Sack gefallen war, während er im Wirthshaus
schlief. Der Fall kam vor Gericht. Nach dem Gesetz muss sich in solchen Fällen
der Richter dem Angeklagten durch zwei glaubwürdige, dem Angeklagten bekannte
Personen, oder durch einen Taubstmnmenlehrer verständlich machen. Der Richter
wählte ersteren Modus. Die zwei Personen waren der Meinung, sie verstünden den
Taubstummen. Der Richter erkannte auf Zurechnungsfähigkeit ; indessen erhoben
sich Zweifel und es wurde ein Taubstummenlehrer requirirt. Dieser ermittelte
durch Zeichen bei dem Angeklagten, dass er unausgebildet war. Dass er Stehlen
für Unrecht halte, war nicht zu ermitteln. Er schien keinen Begriff von Eigen-
thum zu haben. Er wusste nur aus Erfahrung, dass das Uni-echt war, wofür er
Prügel erhielt. Der Staatsanwalt beantragte Freisprechung. (Casper, Viertel-
jahrsschr. XXI. p. 239.)
Beob. 15. Taubstummheit. Genossener Unterricht. Brand-
stiftung. Franke, 24V2Jährig, taubstumm geboren, wurde vom 8. bis 14. Jahre
in einem Taubstummeninstitut unterrichtet, lernte lesen, schreiben, erwarb sich
Religionsbegriffe. Vom 14. bis 24. Jahr diente er als Knecht. Sein Vater be-
handelte ihn hart, schlug ihn zuweilen. Eines Tages gab es zwischen Beiden
Streit, F. gab dem Vater eine Ohrfeige, schlug die Schwester, zeigte sich sehr
aufgeregt, nahm einige Zündhölzer vom Schrank, lief in den Hof, kehrte aber
gleich wieder zurück. Kurz nach seiner Rückkehr brannte es auf dem Boden
des Pferdestalls. Während des Brandes klatschte er in die Hände und rief:
„gut, gut". Verhaftet, gestand er sogleich. Der Gerichtsarzt erklärte ihn für
zurechnungsfähig, aber weil er taubstumm sei und als solcher gar keinen Begriff
von einem Brand und seinen Folgen habe, in gemindertem Grade. Ein Ober-
gutachten fand F. seit dem 14. Jahre nicht mehr geistig fortgeschritten, auf dem
Cap. IX. Die Geisteskrankheiten. 81
Standpunkt eines 14jährigen Knaben, der den Vater durch den Brand nur etwas
erschrecken wollte und dem nur eine beschränkte Zurechnungsfähigkeit zuzu-
erkennen sei. (Casper, Vierteljahrsschr. XXII, p. 136.)
Weitere Fälle: (Mord:) Marc-Ideler I, p. 316 u. 322. (Todtschlag:)
Jendritzka, AUg. Zeitschr. f. Psych. 14, p. 558. Casper-Liman, Handb. 6. Aufl.
Fall 300. Liman, zweifelhafte Geisteszustände, Fall 48. Marc-Ideler I, p. 327.
Beck, elements of med. jurisprud. p. 521 (Kindsmord).
(Körperverletzung:) Henke's Zeitschr. 1832, p. 321. Goltdammer's Archiv
I, p. 612. (Diebstahl:) Hitzig's Annal. I, p. 392, II, 353, III, 167. 332. Henke's
Zeitschr. 28. Ergänz.-H. p. 86. Friedr. Bl. 1868, H. 1.
(Brandstiftung aus Rache:) Santlus, deutsche Zeitschr. f. Staatsarzneikde.
1867. Friedr. BL 1870, H. 1.
Cap. IX. Die Geisteskrankheiten.
Literatur. Friedreich, Handbuch d. ger. Psychologie. 1853. Griesinger, Patho-
logie u. Therapie d. psych. Krankheiten. Spielmann, Diagnostik d. Geistes-
krankheiten. 1855. Liman, zweifelhafte Geisteszustände vor Gericht. 1869.
Legrand du SauUe, la folie devant les tribunaux. 1864. Mittermaier, Fried-
reich's Blätter. 1863—67. Tardieu, etude med. legale sur la folie. 1872.
Maudsley, die Zurechnungsfähigkeit d. Geisteskranken. 1875. Blandford, die
Seelenstörungen u. ihre Behandlung, a. d. Engl, übers, v. Kornfeld. Berlin 1878.
Oesetzl. Bestimmungen. Deutsches St.-G.-B. §. 51: Eine strafbare Handlung
ist nicht vorhanden, wenn der Thäter zur Zeit der Begehung der Handlung
sich in einem Zustand von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der
Geistesthätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung auf-
gehoben war.
Oesterr. St.-G.-B. §. 2: Daher wird die Handlung oder Unterlassung
nicht als Verbrechen zugerechnet: a) wenn der Thäter des Gebrauches der
Vernunft ganz beraubt ist; b) wenn die That bei abwechselnder Sinnes-
verrückung zu der Zeit, da die Verriickung dauerte, oder c) in einer ohne
Absicht auf das Verbrechen zugezogenen vollen Berauschung oder in einer
anderen Sinnesverwirrung, in welcher der Thäter sich seiner Handlung nicht
bewusst war, begangen worden.
Oesterr. St.-G.-Entw. §. 56: Eine Handlung ist nicht strafbar, wenn
derjenige, der sie begangen hat, zu dieser Zeit sich in einem Zustand von
Bewusstlosigkeit oder krankhafter Hemmung oder Störung der Geistesfähig-
keit befand, welcher es ihm unmöglich machte, seinen AVillen frei zu be-
stimmen oder das Strafbare seiner Handlung einzusehen.
Code penal frangais §. 64 : II n'y a ni crime ni delit lorsque le prevenu
etait en etat de demence (Geisteskrankheit) au temps de l'action.
Dem Geist und Wortlaut der neueren Gesetzgebung nach ist
der Geisteskranke unzurechnungsfähig, er steht ausserhalb des Straf-
gesetzes. Theoretisch und praktisch erwächst der ger. Psychopatho-
Krafft-Ebing, gericMl. Psychopathologie. 2. Auflage. 6
82 Cap. IX. Die Geisteskrankheiten.
logie die Aufgabe zu untersuchen: was ist Geisteskrankheit? welche
sind ihre Kennzeichen? aus welchen Gründen ist die freie Willens-
bestimmung beim Geisteskranken aufgehoben? Wesen und wissen-
schaftlicher Nachweis der Geistesstörung wurden in Cap. V erörtert.
Die Aufhebung der Willensfreiheit ergibt sich daraus, dass
a) aus der Hirnerkrankung heraus gesetzte, somit organisch be-
dingte spontane Affekte, leidenschaftliche Stimmungen, Triebe^
Strebungen, Wahnideen und Sinnestäuschungen Motive von
Handlungen werden, welche Motive, wie alle organisch bedingten
Nöthigungen, mit krankhafter Intensität sich geltend machen;
b) dass den irgendwie entstandenen, das Handeln herbeiführenden
Motiven keine sittlichen, ästhetischen, rechtlichen Gegenmotive
entgegengesetzt werden können, da diese entweder
«) durch die Hirnkrankheit gleich anderen höheren psychi-
schen Leistungen gänzlich verloren gegangen sind (psychi-
sche Schwächezustände) oder
ß) durch in Folge der Erkrankung entstandene Störungen der
Ideenassociation nicht in's Bewusstsein eintreten können
(Melancholie, Manie);
c) indem durch Wahnideen und Sinnestäuschungen das Selbst- und
Weltbewusstsein gefälscht ist. Diese Störung kann soweit gehen,
dass die ganze frühere Persönlichkeit in eine neue krankhafte
umgewandelt ist (Wahnsinn, Verrücktheit), so dass die Hand-
lung von einer ganz anderen psychischen Persönlichkeit als
der früheren des Thäters aus gesetzt wird. Die juristische
Persönlichkeit ist dieselbe geblieben, die psychologische eine
andere geworden.
Die Aufhebung der Z.fähigkeit bei wirklich Geisteskranken ist
durch die Gesetzgebung anerkannt und eine berechtigte Forderung
der Erfahrung.
Gleichwohl hat es Juristen und selbst Aerzte gegeben, die sich
dagegen sträubten, alle Geisteskranken als ausser dem Gesetz stehend
anzuerkennen, und sich darauf beriefen, dass auch bei Irren Rechts-
und Pflichtbewusstsein vorkomme und dass ja die disciplinären Erfolge
in den Irrenanstalten bewiesen, dass Geisteskranke sich unter Um-
ständen beherrschen können.
In der Theorie müssen wir allerdings zugestehen, dass es Geistes-
kranke gibt, welche in einem gewissen Grad fähig sind, zwischen der
Begehung oder Unterlassung einer Handlung zu wählen und man
erfährt nicht selten von Genesenen, dass sie allerdings Manches, was
Die Formen des Irreseins. 1. Die Melancholie. 33
sie gethan, hätten unterlassen können, aber in der Praxis werden wir
nie im Stand sein, das individuelle Mass von Freiheit des Handelns,
das einem Irren etwa noch geblieben ist, zu taxiren und ihn dafür
in dessen Umfang verantwortlich zu erklären.
So bleibt nichts übrig als zu generalisiren, in mitius zu urthei-
len, und dem alten Satz beizupflichten: „furiosus satis ipso furore
punitur.*
Was aber die Möglichkeit einer Dressur und disciplinärer Er-
folge betrifft, so beruhen sie rein auf Causalität und keineswegs auf
Ethik. Der Betreffende hat einfach gelernt einzusehen, dass wenn
er dies oder das thut, er Unangenehmes zu gewärtigen hat. Eine
solche Dressur kann man auch dem Kind, ja selbst dem Thier bei-
bringen, wo doch Niemand daran denken wird, daraus eine Zu-
rechnungsfähigkeit abzuleiten.
Aus den erwähnten falschen Anschauungen ging auch der
unheilvolle Satz hervor, dass nur dann eine aus einem Wahn resul-
tirende That straflos sein solle, wenn die That, im Fall der Wahn
Wirklichkeit wäre, gesetzlich erlaubt sein würde. Nach dieser Theorie
wäre z. B. ein an Verfolgungswahn Leidender straflos, wenn er in
vermeintlicher Nothwehr einen Menschen, der ihm scheinbar nach
dem Leben strebt, ermordet, nicht aber wenn er, bloss um dessen
Chicanen los zu werden, ihn tödtet.
Ein solches falsches Raisonnement beruht auf der Verwechselung
der moralischen Z.fähigkeit mit der juristischen. Der Criminaljustiz
kann es ganz gleichgültig sein, ob eine aus einer Wahnidee erfolgende
That moralisch, resp. gesetzlich zu rechtfertigen wäre, sobald nur
nachgewiesen ist, dass ihr Motiv eine Wahnidee und diese Symptom
einer Geisteskrankheit war.
Aus allem Bisherigen dürfte sich mit voller Gewissheit ergeben,
dass der Geisteskranke unter allen Umständen ausserhalb des Ge-
setzes steht.
Die rormen des Irreseins.
1. Die Melancholie.
Literatur, v. Krafft, Beiträge zur Erkennung und richtigen forensischen Be-
urtheilung krankhafter Gemüthszustände. Erlangen 1867. Kaatzer, der
indirecte Selbstmord, Dissert. Marburg 1872. v. Krafft, Mord der eigenen
Kinder, Friedreich's Blätter. 1870, H. 3. Spielmann, Diagnostik der Geistes-
krankheiten, p. 398.
34 * Cap. IX. Die Melancholie.
Klinische Uebersicht: Die Grunderscheinungen des melancholischen
Irreseins bilden eine äusserlich nicht oder nicht genügend motivirte schmerzliche
Verstimmung, ein herabgesetztes Selbstgefühl und eine allgemeine Erschwerung
im Ablauf der psychischen Bewegungsvorgänge bis zur zeitweisen Hemmung
derselben.
Diese schmerzliche Verstimmung, als Ausdruck einer Hirnerkrankung, macht
sich als psychisches Wehsein, Missmuth, trübe Laune, Niedergeschlagenheit geltend.
Sie ist eine allgemeine, lässt keine angenehmen Gefühle mehr zu, reagirt auf
sonst freudige Eindrücke nur noch schmerzlich oder höchstens wehmüthig.
Die Aussenwelt erscheint dem Kranken im Spiegel seines veränderten
Selbstbewusstseins trüb, schmerzlich (psych. Dysästhesie) und mit zunehmender
Hemmung, wodurch die Sinneswahrnehmungen gar nicht mehr von Gefühlen der
Unlust oder Lust betont werden (psych. Anästhesie), verändert, farblos, freudlos,
liebeleer, hoffnungslos, bis. zum Bewusstsein, dass nur noch eine Schein- und
Schattenwelt übrig geblieben sei.
Aber auch die inneren geistigen Vorgänge werden nicht mehr durch
ethische, ästhetische, sociale Gefühle betont. Der Kranke hat keine Liebe mehr
zu seiner Familie, keine Lust mehr zum Beruf, keine Freude und Erleichterung
mehr von der Religion. Er fühlt sich gemüthlos, stumpf, aller Attribute früherer
menschlicher Würde verlustig, er beginnt zu zweifeln, ob er noch ein Mensch,
im Besitz der göttlichen Gnade und noch zu existiren berechtigt sei. Auch in
seinem Vor Stellungsleben empfindet der Kranke Hemmungserscheinungen. Sein
Denken ist erschwert, verlangsamt bis zum zeitweisen Stillstand der Gedanken.
Diese Hemmung wird ihm in peinlicher Weise als Verdummung, geistige Oede,
erschwerte Erinnerungs- und Leistungsfähigkeit bewüsst. Der Inhalt der spärlich
fliessenden Gedanken ist ein schmerzlicher, nur widrige Erlebnisse, trostlose Re-
flexionen über die gegenwärtige Lage und bange Sorgen bezüglich der zukünftigen
werden bewusst und festgehalten.
Leicht gewinnen spontan oder durch Sinneswahrnehmungen hervorgerufene
schmerzliche Gedanken eine solche Uebermacht, dass sie mit krankhafter Inten-
sität und Dauer im Bewusstsein verharren, trotz aller Bemühungen des Kranken
durch andere Gedanken nicht verdrängbar sind. Der Kranke fühlt die Ueber-
wältigung durch solche ihm aufgedrungene Gedankenkreise (Zwangsvorstellungen)
in peinlichster Weise und erschrickt beim Gedanken, dass er, machtlos ihnen
hingegeben, sie nur durch Folgegebung im Sinne der befreienden That wird
bannen können.
Solche formale Störungen im Vorstellungsmechanismus sind oft die ein-
zigen auf dem Gebiet des intellektuellen Lebens. Auch auf der motorischen
Seite der geistigen Vorgänge besteht eine für den Kranken peinliche Hem-
mung. Die erschwerte geistige Bewegung im Vorstellungsgebiet, die Unlust-
gefühle, welche sich an jeden Vorgang knüpfen, der Ausfall von geistigen Inter-
essen, welche zu einem Handeln treiben könnten, machen den Kranken passiv,
energielos. Das Bewusstsein mangelnder Leistungsfähigkeit, geistiger Ohnmacht
und üeberwältigung durch eine gleichsam eingedrungene fremde Macht ver-
nichten den letzten Rest von Selbstvertrauen, lassen ein Begehren nicht mehr
erreichbar erscheinen und auf ein Streben verzichten. Der Kranke wird träge,
lässig in der Erfüllung seiner Berufsgeschäfte und Pflichten, gegen die er eine
bezeichnende Gleichgültigkeit entwickelt; er verweilt lange im Bett, zieht sich
Klinische Uebersicht. 85
Yon der Aussenwelt zurück und fällt einem düsteren Brüten anheim. Zu diesen
psychischen Missgefühlen gesellen sich körperliche Missempfindungen. Die Kranken
fühlen sich matt, abgeschlagen, unbehaglich, wie gelähmt (geänderte Gemein-,
namentlich Muskelgefühle), sie leiden vielfach an Schmerzen in einzelnen Nerven-
bahnen, ihr Körpergewicht und Turgor vitalis sinken, sie sehen viel älter aus,
als sie wirklich sind, Verdauungs- und Darmfunktionen liegen darnieder.
Die Herabsetzung der gesammten vitalen Energie und des Selbstgefühls
findet ihren klassischen Ausdruck in der zusammengesunkenen Haltung, der leisen
Rede, den zögernden Bewegungen, der Schlaffheit und Schwäche der Muskulatur
solcher Kranker.
Dazu fehlt dem Kranken die Wohlthat des Schlafs, der gänzlich ausbleibt
oder durch schreckhafte Träume gestört ist und nicht die Erquickung und
Stäi-kung verschaift, wie sie der Schlaf des Gesunden mit sich bringt.
Die motorische Gebundenheit und gesunkene Willensenergie kann sich vor-
übergehend bis zur völligen Hemmung steigern. Der Kranke, obwohl sein Innen-
leben der Schauplatz der peinlichsten Affekte und Vorstellungen ist, vermag nicht
mehr in einer erleichternden und lösenden That der quälenden inneren Spannung
Luft zu machen. Die Mattigkeit der Vorstellungen, ihr contrastirender Inhalt,
die mit jedem psychischen Entäusserungsversuch verbundene Steigerung der
schmerzlichen Selbstempfindung hindern ihn daran.
Ein solcher Zustand einfacher Melancholia sine delirio findet sich
äusserst häufig als einleitendes Stadium des Irreseins, als intercurrirende Störung
bei erblich Belasteten, bei Epileptischen, Hysterischen, im Verlaufe der Pubertäts-
entwicklung, ferner beim Heimwehkranken und Hypochonder. Leider wird nur
zu häufig das Krankhafte desselben übersehen, da die Störung im äusseren Bild
vollständig dem schmerzlichen Affekt des Gesunden gleicht und der Kranke , im
Bewusstsein seines Leidens, wenigstens die äussere Ruhe und Besonnenheit zu
wahren im Stande ist. Das düstere Wesen dieser Kranken, ihre Reizbarkeit, ihre
unmotivirten Verstimmungen und Aenderungen der gewohnten Denk- und Em-
pfindungsweise werden als Eigensinn, Launenhaftigkeit, Bosheit angesehen, und
gewöhnlich finden sich scheinbare äussere Veranlassungen, die dafür herhalten
müssen, oder vom Kranken selbst vorgeschützte Gründe, um die angeblichen
Launen , das Sichgehenlassen , die Faulheit und Vernachlässigung gewohnter
Pflichten und Rücksichten zu motiviren. So geht es oft Monate lang fort, bis
eine Steigerung des Leidens und Complicationen mit Sinnestäuschungen und
Wahnideen oder eine schreckliche Gewaltthat der Umgebung die Augen über das
Pathologische des Zustands öffnen.
Eine ganz chronische, wohl als constitutionelle zu bezeichnende Verstim-
mung (melancholische folie raisonnante) findet sich vorwiegend bei weiblichen
Individuen. Erbliche Belastung dürfte die prädisponirende Ursache sein, Uterus-
affektionen, namentlich Infarkte und Lageveränderungen erweisen sich als ein
wichtiges Gelegenheitsmoment. Bei erheblicher Belastung scheint das Leiden
auch ohne Dazwischenkunft einer accidentellen Ursache sich entwickeln zu können.
Es tritt dann schon vor der Pubertät oder mit dieser auf und bleibt dann
Constitutionen.
Von Aerzten, die nicht Specialisten sind, wird diese Krankheit, die sich
übrigens auch aus Hysterie entwickeln und mit hysterischen Symptomen einher-
gehen kann, mit der Hysterie gewöhnlich zusammengeworfen und in ihrer eigent-
3(3 Cap. IX. Die Melancholie.
liehen Bedeutung verkannt. Im socialen Leben wird sie in der Regel bloss vom
ethischen Standpunkt aus beurtheilt und als übler Charakter und Launenhaftigkeit
missdeutet. Von Falret ist sie in ihren Hauptzügen als „Hypochondrie morale
avec conscience de son etat" beschrieben.
Klinisch findet sich eine habituelle üble Laune, ein stehender depressiver
Affekt, der sich in Reizbai'keit, Unzufriedenheit, Zank- und Schmähsucht, Neigung
zu übler Behandlung der Umgebung kundgibt. Das Vorstellen derartiger Patienten,
die häufig genug für boshafte zänkische Weiber, eifersüchtige Gattinnen, herzlose
grausame Mütter (misopedie, Boileau de Castelnau) gehalten werden, ist beständig in
den Zwang des schmerzlichen Fühlens gebannt. Es besteht bei ihnen ein beständiger
schmerzlicher Reproduktionszwang , ihre ps}'^chische Dys- und Anästhesie liefert
ihnen nur widrige Eindrücke aus der Aussenwelt. Sie sehen nur die Schatten-
seiten des Lebens, Alles schwarz und trübe, bekommen von Allem nur widrige
Eindrücke und die geringsten widrigen Ereignisse verschlimmern ihren Zustand
bedeutend. Sie sind abulisch, muthlos, imlustig, unfähig zu andauernder Arbeit
und intellektueller Leistung, unglücklich, verzweifelt bis zu Taed. vitae, beständig
unter dem Schwergewicht ihrer krankhaften Gefühle, widrigen Aesthesen und
einem fortwährenden schmerzlichen Reproduktionszwang hingegeben. Häufig
sind hier auch Zwangsvorstellungen. Die krankhafte Natur des scheinbar bloss
üblen Charakters beweist der exacerbirende und remittirende Verlauf, das jedes-
mal stärkere Hervortreten der Symptome zur Zeit der Menstruation, die Klage
der Krankeii in freieren Zeiten, dass sie wider besseres Wissen und Wollen sich
so negirend verhalten, Anderen Böses thun, schaden müssen. Dazu kommt das
allerdings seltene, aber in Affekten zu beobachtende Vorkommen von Angst-
zufällen und Persekutionsdelir, endlich das integrirende Mitgehen neuropathischer
Symptomencomplexe (Stat. nervosus, Spinalirritation, Hysterismus) mit den Paro-
xysmen scheinbarer böser Laune und Gereiztheit. Nicht selten leiden solche
Kranke beständig unter der Furcht, irrsinnig zu werden.
Wäre der Melancholische immer passiv und gehemmt, so würde
das Interesse, welches die Strafjustiz an ihm zu nehmen hätte, ein
sehr geringfügiges sein und höchstens sein Geisteszustand gegenüber
strafbaren Unterlassungen, die er sich als Beamter u. s. w. zu Schulden
kommen Hesse und die als Faulheit und Nachlässigkeit verkannt
würden, in Betracht kommen (vgl. Spangenberg, neues Archiv des
Criminalrechts IV. St. 4. p. 327). Erfahrungsgemäss erscheint in-
dessen der Melancholische häufig als der Vollbringer sehr schwerer
Gewaltthaten und in einer Bewegungsunruhe, die dem ungebundenen
Bewegungsdrang des Tobsüchtigen kaum etwas nachgibt. Damit
gewinnt die Melancholie eine eminente Bedeutung in foro.
Diese Aktivität des Melancholischen ist eine Reaktionserscheinung
auf qualvolle und den Kranken bis zur Verzweiflung treibende Be-
wusstseinsvorgänge, wobei der durch diese hervorgerufene mächtige
Affekt temporär wenigstens die inneren Hemmungen zu überwinden
vermag.
Gewalttliaten Melancholischer. Raptus melanchol. 87
Der Anlass zu solchen affektartigen Erschütterungen und Re-
aktionen des Kranken kann durch peinliche Eindrücke oder schmerz-
liche Erinnerungen mit daraus erfolgenden Ueberraschungs- und Er-
wartungsaffekten, ferner durch körperliche Missgefühle (Neuralgien etc.)
oder psychische (Gefühl trostloser psychischer Anästhesie, Gedanken-
hemmung, Zwangsvorstellungen, Willenlosigkeit, Ueberwältigungs-
gefühle durch die Krankheit) gegeben sein.
Dazu kommen als wichtige Handlungsmotive und Complicationen
des bisher geschilderten Bildes einer Mel. sine delirio Angstempfin-
dungen (Präcordialangst) bis zu qualvoller Affekthöhe, ferner Sinnes-
täuschungen und Wahnvorstellungen (Mel. cum delirio, mel. Wahnsinn).
Mitten aus der tiefsten Passivität und trostlosesten Willenshemmung heraus
kann die psychomotorische Sphäre des Kranken durch auftretende Angstempfin-
dungen entfesselt werden (raptus mel.).
Von tief eingreifender Bedeutung ist dieser Zuwachs an peinlichem Be-
wusstseinsinhalt durch die Angstgefühle für das Vonstattengehen der übrigen
psychischen Fanktionen. Die ohnehin depressive Stimmung steigert sich acut zu
einer verzweiflungsvollen, die sich auch mimisch und gestikulatorisch als Affekt
der Verzweiflung kundgibt. Nicht minder leidet die Apperception der Vorgänge
in der Aussenwelt unter diesem qualvollen Bewusstseinszustand. Es kommt zu
completer psychischer Anästhesie, zu einer qualvollen Leere und Oede im Be-
wTisstsein, einfach weil gegenüber diesem gewaltigen inneren Erregungszustand
die äusseren Reize nicht mehr zur Geltung gelangen können. Dieser Zustand führt
nicht selten temporär selbst zu einer vollkommenen Aufhebung der Apperception
und zur unklaren Vorstellung der allgemeinen und eigenen Nichtexistenz resp.
Vernichtung. Eine nothwendige Rückwirkung ist eine Störung im Ablauf der
Vorstellungen, indem derselbe momentan ganz sistirt ist und nur noch die qual-
volle unbestimmte Vorstellung der Angst den Inhalt des Bewusstseins ausmacht,
oder indem ein wirres Durcheinanderwogen peinlicher unbeherrsch- und nicht
mehr associirbarer Vorstellungen das Vorstellungsfeld füllt. Nie fehlen bedeu-
tende Rückwirkungen auf die motorische Sphäre. In den niederen Graden der
Präcordialangst treiben sich die Kranken ruhelos und zwecklos umher (melan-
cholia errabunda) und suchen durch eine Reihe zweckloser, zum Theil zerstören-
der Handlungen eine Lösung der psychischen Spannung ganz instinktartig zu
«rstreben. Je mächtiger und plötzlicher die Präcordialangst das Bewusstsein
überfällt, desto stürmischer, gewaltiger, zwangsmässiger werden diese psycho-
m.otorischen Entladungen. Es kommt dann mit fortschreitender Trübun'g des
Bewusstseins zu allen möglichen zerstörenden Handlungen, zu Mord, Selbstmord,
Brandstiftung, zu wuthartiger Zerstörung alles dessen, was dem Kranken in den
Weg kommt, zu Handlungen, denen kein deutlich bewusstes Motiv mehr ent-
spricht, die nur noch der dunkle instinktartige Drang motivirt, durch irgend
einen motorischen Akt (Bergmann's Kranke, die sich die Augen ausriss) eine
Lösung dieses qualvollen psychischen Spannungszustands anzustreben. Schon in
den niederen Graden des Angstanfalls haben diese erleichternden Thaten das
Gepräge des Zwangsmässigen , Triebartigen, und in dem Mass, als das Bewiisst-
38 Cap. IX. Die Melancholie.
sein sich trübte und sie unter der Schwelle hemmender bewusster Vorstellungen
hindurchgingen, erscheinen sie als wahre psychische Reflexakte. In den höchsten
Graden handelt es sich um eine Art psychischer Convulsionen, vergleichbar
jenen mächtigen motorischen Entladungen, die ein reflectorisch ausgelöster epi-
leptischer Anfall darstellt. Nie fehlt nach solchem raptusartigem Wüthen eine
bedeutende Erleichterung des Bewusstseins , die selbst bis zu einer Intermission
der Angst gehen kann und einfach in der gelungenen Lösung eines unerträglich
gewordenen Spannungszustandes ihre Erklärung findet. Mit diesen psychischen
Symptomen des Angstanfalls gehen regelmässig bemerkenswerthe Störungen der
Circulation und Respiration einher. Meist ist die Herzaktion beschleunigt, un-
regelmässig, der Puls klein, celer, die Haut kühl, blass, im Zustand capillärer
Anämie. Häufig besteht Herzklopfen nebst eigenthümlichen Sensationen in der
Herzgegend, die mit Gefühlen, als ob das Herz durchstochen, abgedreht oder
zusammengepresst würde, verglichen werden. Die Respiration ist gewöhnlich
gehemmt, der Thorax verharrt längere Zeit in Bxspirationsstellung, die Athmung
ist eine oberflächliche frequente. Nicht selten ist auch ein globusartiges Gefühl
von Zusammenschnürung im Halse und eine eigenthümliche Unsicherheit der
Stimme bis zum Versagen derselben. Die Sekretionen sind während des Angst-
anfalls unterdrückt; gegen Ende desselben tritt oft eine so reichliche Schweiss-
sekretion ein, dass der Kranke im Schweiss wie gebadet erscheint.
Das melancholische Irresein complicirt sich im Verlauf häufig mit Wahn-
ideen und Sinnestäuschungen. In der Regel entstehen die ersteren auf psycho-
logischem Wege als (falscher) Erklärungsversuch der krankhaften Bewusstseins-
vorgänge (Stimmungsanomalien , Affekte , namentlich Angst , Hemmungen im
Vorstellen und Streben u. s. w.), seltener aus Sinnestäuschungen. Desshalb lässt
sich die auf psychologischem Wege entstandene Wahnidee meist auf die zu
Grunde liegende elementare psychische Störung zurückführen.
So führt die tief veränderte Selbstempfindung des Kranken, die wieder
auf das Bewusstsein der Hemmung der Gefühle, Vorstellungen und Strebungen
sich gründet und ihren klinischen Ausdruck in Niedergeschlagenheit, Mangel an
Selbstvertrauen findet, zum Wahn, ruinirt, ein Bettler zu sein, verhungern zu
müssen. Die psychische Dysästhesie spiegelt die Aussenwelt in feindlichem Licht
und täuscht Verfolgungen und drohende Gefahren vor. Das Gefühl der Hemmung
und Ueberwältigung führt bei geistig beschränkten Individuen zum Wahn, finsteren
Mächten anheimgefallen, verhext, verzaubert zu sein. Die psychische Anästhesie,
die gar keine humanen Gefühle und ethische Regungen mehr zulässt, erzeugt den
Wahn, der Attribute der menschlichen Würde verlustig, in ein Thier verwandelt,
zu sein, und insofern sie auf religiösem Gebiet als mangelnder Trost im Gebet,
Zerfallensein mit der Religion empfunden wird, kommt es leicht zum Wahn, von
Gott Verstössen, der ewigen Seligkeit verlustig, vom Teufel besessen zu sein.
In den höchsten Graden der psychischen Anästhesie, da wo auch Sinnes-
wahrnehmungen keine Betonung mehr erfahren, erscheint die Aussenwelt nur
noch als eine Schein- und Schattenwelt und erweckt trübe Wahnideen allgemeinen
und individuellen Untergangs.
Ganz besonders wichtige Quellen für Wahnideen sind die Präcordial-
angst und überhaupt ängstliche Erwai'tungsaffekte. Sie führen zum Wahn, dass
eine Gefahr wirklich drohe. Diese kann individuell wieder in imaginärer Ver-
folgung, drohendem Tod, Vermögensverlust objekfövirt werden. Dabei kommt
Walmideen bei Melancholischen. «^ 89
der Kranke auf Grundlage seines tief herabgesetzten Selbstgefühls leicht zum
Wahn, ein Sünder, Verbrecher zu sein, dem eine solche Busse gebühre. Zur
weiteren Motivirung muss dann eine frühere wirklich begangene Gesetzesüber-
tretung herhalten oder eine harmlose, gar nicht gesetzwidrige frühere Handlung
oder Unterlassung erscheint dem hyperästhetischen Gewissen als eine solche.
Auch krankhafte Empfindungen im Bereich der sensiblen Nerven (Paralgien.
Anästhesien, Neuralgien), wie auch Anomalien der Geschmacks-, Geruchs-
empfindung etc. — können auf dem Wege der allegorischen Umdeutung zu Wahn-
ideen werden. Bewegt sich das schmerzliche Fühlen und Vorstellen vorwiegend
auf dem Gebiet gestörter Gemeingefühlsempfindung, so gewinnt das Krankheits-
bild ein hypochondrisches Gepräge.
Der Inhalt der melancholischen Wahnideen ist ein äusserst mannigfacher,
der alle Varietäten menschlichen Kummers, Sorgens und Fürchtens in sich begreift.
Da er immer aus dem individuellen Bewusstseinsinhalt geschöpft wird, ist es
natürlich, dass er, je nach individuellem Reichthum des Seelenlebens, nach Ge-
schlecht, Stand, Bildung, Zeit, Alter unendlich variirt, wenn auch gewisse stehende
Sorgen und Befürchtungen der Menschen dem Delirium unzähliger Melancho-
lischer aller Völker und Zeiten übereinstimmende Züge und Inhalt aufdrücken
(Griesinger).
Der gemeinsame Charakter aller melancholischen Delirien ist der des
Leidens und im Gegensatz zu ähnlichen in der primären Verrücktheit mit Per-
secutionsdelir, des durch eigene Schuld motivirten.
Auch die Sinnestäuschungen sind eine ergiebige Quelle für Wahnideen.
Sie können in allen Sinnesgebieten auftreten, den Kranken in eine ganz imaginäre
Welt versetzen.
Wie die Vorstellungen in der Mel. einen feindlichen, schmerzlichen Inhalt
haben, ist auch der der Hallucinationen ein schreckhafter, beängstigender.
Der in ängstlichem Erwartungsaffekt schmachtende Kranke hört Stimmen,
die ihm drohendes Unheil, Tod, Einsperrung, Verdammniss verkünden. Die
Aussenwelt erscheint ihm feindlich, ganz bedeutungslose Worte oder Geräusche
wandeln sich ihm in Drohungen, Beschimpfungen, Spott, Hohngelächter um.
Ebenso schreckhaft sind die Visionen derartiger Kranker. Sie sehen sich
von Gespenstern, Teufeln umgeben, sehen den Henker, der sie erwartet, Mörder,
die sie bedrohen. Geschmackstäuschungen erzeugen den Wahn, dass im Essen Gift
oder dass es verunreinigt sei — Geruchstäuschungen rufen den Glauben hervor,
von Leichen umgeben zu sein, sich im Schwefelpfuhl der Hölle zu befinden;
neuralgisch-paralgische Sensationen führen zum Wahn, gemartert, von bösen
Geistern heimgesucht zu werden.
Besonders intensiv und gehäuft treten die Sinnestäuschungen in Affekten
auf, namentlich in ängstlichen Erwartungsaffekten.
Wir haben die elementaren Störungen ^ aus denen sich das
Krankheitsbild der Melancholie zusammensetzt, dargelegt. Es bleibt
uns übrig, die sich aus ihnen ergebenden Handlungen und deren
Mechanismus zu besprechen. Die Gewaltthaten des Melancholischen
entstehen :
90 • Cap. IX. Die Melancholie. Gewalttliaten
1. aus schmerzlichen Gefühlen und aus Zwangsvorstellungen,
2. aus Affekten der Angst (Präcordialangst),
3. aus Wahnideen und Sinnestäuschuno'en.
Gewaltt baten aus schmerzlichem Fühlen.
Rein auf Grund seines schmerzlichen FühlenSj ohne zu deliriren,
ohne auffällige Störung seiner Besonnenheit, kann der Melancholische
zu den schwersten Gewaltthaten hingerissen werden. Die Gefühle
psychischer Djsästhesie , die Welt und Leben schlecht, unerträglich
erscheinen lassen, die peinlichen Affekte der Langeweile, die Hem-
mung des Vorstellens, die ängstlichen Erwartungsaffekte ungewisser,
aber jedenfalls schrecklicher Zukunft, das quälende Bewusstsein des
nicht mehr Könnens, Leistens, Wollens, das entsetzliche Gefühl, sich
des krankhaften Zustands nicht mehr entschlagen zu können, sind
es, die sie vorbereiten.
Die unmittelbare Veranlassung bildet gewöhnlich ein Verzweif-
lungs- oder TJeberraschungsaffekt.
Eine häufige und psychologisch naheliegende Gewaltthat solcher
Melancholischen ist der Selbstmord. Die Mehrzahl der Selbst-
mörder besteht aus Melancholischen. Die von den neueren Gesetz-
gebungen anerkannte Straflosigkeit des Selbstmordversuchs hebt das
forensische Interesse an dieser Art von Gewaltthaten auf.
Anders ist es mit den Fällen, wo der Melancholische zwar an
ausgesprochenem Taedium vitae leidet, aber aus irgend einem Motiv
den Zweck der Lebensvernichtung durch eine strafbare Handlung zu
erreichen sucht (indirekter Selbstmord). Meist ist es Feigheit oder
die den Melancholischen eigenthümliche Abulie, oder es sind religiöse
Skrupel, die den direkten Selbstmord, nach welchem keine Busse und
Aussöhnung mit Gott mehr möglich ist, perhorresciren lassen. So
kommt es denn vor, dass Melancholische Andere ermorden, todes-
würdige Verbrechen begehen oder solcher fälschlich vor Gericht sich
anklagen, um durch das Schaffet ihren Zweck zu erreichen, oder auch
dass sie eine dritte Person dingen, die sie aus der Welt schaffen soll.
Die gleiche psychologische Begründung haben Verbrechen, die nur
begangen werden, um in's Zuchthaus zu kommen, nach dem der
Kranke sich in seinem schmerzlichen Fühlen sehnt. In ähnlicher
Weise wie zum Selbstmord kann der Melancholische zu anderen gegen
Personen oder Objekte gerichteten zerstörenden Handlungen getrieben
werden. So kommt es vor, dass der Melancholische im entsetzlichen
aus schmerzlichem Fühlen. Beob. 16 und 17. 91
Bewusstsein des nicht mehr Könnens und Wollens sich selbst mit
Aufbietung- seiner letzten Kräfte die Probe zu liefern versucht, ob er
denn wirklich nichts mehr vollbringen kann und diese mit der Zer-
störung seines Mobiliars oder der Inbrandsteckung seines Hauses ab-
legt, ebenso leicht kann er im qualvollen Gefühl seiner Langeweile,
seiner Todesbangigkeit, des grässlichen Stillstands seiner Gedanken
um jeden Preis eine Aenderung seiner Lage erstreben und diese
Spannung durch eine Gewaltthat gegen einen Andern zu lösen
versuchen,
Beob. 16. Indirekter Selbstmord. Am 15. Sept. 1851 näherte sich
in einem Theater Lyons ein Mensch von 20 Jahren einer jungen Frau, die neben
ihrem Mann sass, stach ihr ein Messer in die Brust, so dass sie todt auf dem
Platz blieb, und wandte sich dann ruhig an den Mann mit den Worten: „Sie
haben mir nichts zu Leid gethan, auch Ihre Frau nicht. Ich kenne Sie nicht."
Im Verhör erklärte er des Lebens überdrüssig zu sein und gemordet zu haben,
um hingerichtet zu werden. Er habe es vorgezogen, durch's Schaffet zu sterben,
wodurch ihm Zeit bleibe, sich mit Gott auszusöhnen. Er war seit geraumer Zeit
melancholisch und hatte hin und her gesonnen, wie er sein Leben verlieren
könne. Zuerst hatte er gedacht Soldat zu werden und an einem Officier sich
so zu vergreifen, dass er erschossen werde; dann einen Priester am Altar zu
ermorden, da dieser ja im Zustand der Gnade vor Gott sei; später gedachte er
ein Attentat auf den Präsidenten der Republik zu machen. Als er in's Theater
kam, lenkte sich seine Aufmerksamkeit zuerst auf ein junges Mädchen, aber es
war ihm nicht so bequem als die Frau, welche ihm zum Opfer fiel. Der Kranke
war erblich zum Irresein disponirt. Sieben Blutsverwandte hatten sich schon
um's Leben gebracht. (Gaz. des tribunaux 1851.)
Beob. 17. Mord des Grossvaters durch einen moralisch und
intellektuell Schwachsinnigen im Zustand einer in der Pubertät
aufgetretenen Melancholie. Am 7. Februar fand man den Vater Bartlie-
lemy todt mit zertrümmertem Schädel in der Küche liegend. Eine mit Blut und
Gehirnfetzen befleckte Hacke fand man unter einem Bett versteckt. Aus einem
Schrank fehlte eine Summe Geldes. Der Schrank war mit einem Schlüssel ge-
öffnet worden, den B. immer bei sich trug und den ihm der Mörder wieder in
die Tasche gesteckt hatte. Am Tage nach dem Mord bekannte sich der Enkel
des B. aus freien Stücken zur That.
S., der Mörder, ist von Geburt auf schwachsinnig, aber bisher harmlos,
selbst gutmüthig gewesen. Er war ein scheuer, die Einsamkeit liebender Mensch.
Vergebens hatte man sich bemüht, ihn ein Handwerk erlernen zu lassen.
Seit Oktober fand man ihn verändert, melancholisch verstimmt, schweigsam,
abulisch. Kurze Zeit darauf hatte er sich mit Benzin zu vergiften versucht, weil er
zu nichts auf der Welt nutz sei, den Leuten zur Last falle. Es kommt zu neuen Selbst-
mordversuchen. Er klagt über Kopfweh, wird errabund. Am Tage des Mords
ist er noch düsterer und in sich gekehrter als sonst. Im Verhör gibt er an, der
Gedanke, den Grossvater zu ermorden, sei ihm ganz plötzlich, 3 — 4 Tage vor
demselben, gekommen und habe keinen Widerstand im Bewusstsein gefunden.
92 Cap. IX. Die Melancholie. Gewalttliaten
Er habe nur geschwankt, ob er den Grossvater oder andere Personen umbringen
solle. Der Umstand, dass jener allein daheim war, habe die Entscheidung herbei-
geführt. Die Einzelheiten der That erzählte er mit voller Treue des Gedächt-
nisses. Er schlug auf den Alten mit einer Hacke, die im Zimmer war, los, bis
er todt war. Eine Regung des Mitleids empfand er dabei nicht. Erst als der
Ahne todt Avar, kam ihm die Idee, ihn zu bestehlen. Er nahm ihm den Schlüssel
aus der Tasche, holte sich etwa 400 Francs, steckte dem Todten wieder den
Schlüssel zu, wusch sich die Hände und ging fort.
Er trieb sich dann in Schenken herum, übernachtete in einer solchen.
Vorübergehend kam ihm der Gedanke zu fliehen. Er Hess ihn fallen und stellte
sich den Gerichten. In den Verhören vorübergehend einmal Reue, sonst gemüth-
liche Indifferenz gegenüber der schrecklichen That. Im Gefängniss von Melan-
cholie wenig mehr zu bemerken, dagegen das Bild eines Schwachsinnigen. Die
folgende Beobachtung in der Irrenanstalt ergibt: S. ist 19 J. alt, noch völlig
bartlos, die Haut ist zart wie bei Frauen, die Miene kindlich. Psj^chisch ausge-
sprochener Schwachsinn. Läppisches Läugnen einer Erinnerung an die That, über-
haupt an sein früheres Leben. Als man ihm mit der Douche droht, gibt er seine
Schweigsamkeit und Erinnerungslosigkeit, zu der ihm zwei Mitgefangene den Rath
gegeben hatten, auf, wird gesprächig, willig, theilt mit, er habe den Grossvater
umgebracht, um guillotinirt zu werden, da er durch eigene Hand nicht zu sterben
vermochte. Ein weiteres Motiv hatte er nicht. Er bleibt gemüthlich stumpf,
gleichgültig. Der ermordete prossvater sowie S.'s Vater sind psychisch abnorme
Charaktere und der letztere ist durch Trunk irrsinnig geworden. Auch der
Grossvater bot die Zeichen des Alkohol, chronicus.
Die Expertise betrachtet S. als einen erblich belasteten, ethisch und intel-
lektuell defekten Menschen, Wie so häufig bei solchen Wesen bringen die
Pubertätsvorgänge Irrsinn hervor. Der Beweis des Irreseins wird klinisch und
in feiner Würdigung der Thatumstände erbracht. Es handelte sich um einen
ethisch und intellektuell originär defekten Melancholischen. (Die That wird als
eine impulsive aufgefasst. Jedenfalls ist sie wie die vorausgehenden Selbstmord-
versuche durch unerträgliche Unlustgefühle bedingt. Dass sie keinen Gegensatz
im Bewusstsein fand und so grausam zu Stande kam, erklärt sich zum Theil
aus der psychischen Anästhesie des Melancholischen, zum Theil aus der originären
moralischen Defektuosität des S.) Er Avurde einer Irrenanstalt zur Versorgung
übergeben. (Annal. med. psychol. 1878, Mai.)
Analoge Fälle s. Casper, Lehrb. Fall 157. Zeitschr. f. Staatsarzneikde.
1859, p. 127. Henke's Zeitschr. 1837, H. 4. Brierre, Annal. med. psychol. 1851,
p. 626. Ebers, Zurechnung. 1866. Fall 4. Marc-Ideler, II, p. 135. Bottex, Ann.
d'hygiene. 1834, p. 242. Hitzig's Annalen, Aug. 1852. Taylor, med. jurisprud..,
p. 863. Ideler, Lehrbuch, p. 78. Despine, psychologie naturelle, t. II, p. 580,,
582, 583. Kaatzer, Dissertation, Marburg 1872.
Beob. 18. Melancholie. Mord des Kindes aus schmerzlichen
Gefühlen. Am frühen Morgen des 13. Oktober war die Feldwebelfrau W. mit
ihrem vor 4 Wochen geborenen Kind auf kurze Zeit allein. Als die Wärterin
zur Wöchnerin zurückkehrte , fand sie diese auf dem Leib liegend, das Gesicht
in die Kissen vergraben , das Kind unter ihr todt und blau. Die Mutter drehte
sich um und wie aus tiefem Schlaf erwachend, sagte sie : „Jetzt haben wir einen
schönen Engel im Himmel." Sie blieb dann ruhig im Bett. Die gerufene Gerichts-
aus schmerzlichem Fühlen. Beob. 19. 93
commission constatirte den Tod des Kinds durch Zuschnüren des Halses. Die
unglückliche Mutter erklärte weinerlich : „Ich muss es sagen, ich habe mein Kind
umgebracht, ich habe nicht anders gekonnt. Ich weiss nicht, wie mir seit drei
Wochen ist, ich habe nirgends Ruhe und diese unerträgliche Aufregung und
Unruhe ist so weit gestiegen, dass ich schon dreimal versuchte, mir das Leben
zu nehmen. Da dieses Vorhaben nicht gelang, habe ich geglaubt, ein solches
an meinem Kind ausführen zu müssen. Der Gedanke kam mir plötzlich, als ich
es an die Brust legte. Ich band ihm ein Tuch um den Hals und versuchte zwei-
mal es zuzuziehen, liess aber jedesmal nach, weil das Kind heftig schrie und ich
Mitleid mit ihm bekam. Endlich habe ich noch einmal heftig zugezogen und da
muss das Kind gestorben sein. Ich bereue weder die Handlung, noch habe ich
Mitleid mit dem Kind. Meine Verwandten sind mir ganz gleichgültig, überhaupt
Alles, ich habe gar kein Mitgefühl mehr."
In der nächsten Zeit melancholische Depression mit grosser Abulie und
Taedium vitae.
Frau W. stammt von gesunden Eltern, vier Brüder starben an Hirnleiden.
Von jeher zeigte sie ein schmerzliches, in sich gekehrtes Wesen. Im ersten
Wochenbett war sie in ähnlicher Weise gestört gewesen wie jetzt. Am 12. Sept.
hatte sie ohne Beschwerde zum drittenmal geboren. Schon nach wenigen Tagen
traurig und klagend, dass derselbe Zustand wie im ersten Wochenbett wieder-
kehre und sie fühle, dass sie nicht mehr leben könne. Wiederholt fand man
Messer und Stricke bei ihr und nur die grösste Wachsamkeit konnte Selbstmord-
versuche verhindern. Sie besorgte still und gedrückt ihre Hausgeschäfte, sorgte
sich um ihr und ihrer Kinder Auskommen, obwohl die Verhältnisse gute waren.
Die Abreise ihres Mannes am Tag vor der That machte sie untröstlich.
Die körperliche Untersuchung ergab Spitzentuberculose der Lungen und
Zeichen, die auf ein tuberculöses Hirnleiden schliessen Hessen. Patientin klagte
über Schwindel, Gefühle von Schmerz und Druck im Hinterkopf. Mit Exacerba-
tion des Hinterhauptschmerzes trat häufig Würgen und Erbrechen ein. Mit Zu-
nahme des Kopfschmerzes behauptete sie, jeweils von verkehrten Gedanken,
Angst und der Idee, verloren zu sein, zu Grunde zu gehen, geplagt zu werden.
Im Uebrigen Bild einer Melancholie sine delirio mit ausgesprochener psychischer
Anästhesie und Abulie. Im Februar schwankender Gang, zunehmende Parese der
Unterextremitäten, Somnolenz, Vergesslichkeit ; am 28. Febr. Tod im Sopor. Die
Sektion ergab multiple Tuberkeln im Kleinhirn. (Eigene Beobachtung.)
Beob. 19. Melancholie. Brandstiftung. Mord. In der Nacht auf
den 11. Oktober brannte die Scheune der Wittwe G. und gleichzeitig wurde die
13jährige Enkelin der G. durch einen Pistolenschuss tödtlich verletzt. Als Urheber
beider Unglücksfälle bekannte sich Posthalter G. mit dem Motiv, dass er sich
wegen eines unheilbaren Krankheitszustandes höchst unglücklich und lebens-
überdrüssig fühle und den Entschluss gefasst habe, erst die geliebte Mchte, dann
noch eine andere Person und dann sich selber zu tödten.
G. ist 32 J. alt, von infantilen Krankheiten etc. ist nichts in Erfahrung zu
bringen. Er sei begabt gewesen, aber schon als Kind still, verschlossen, nicht
lebhaft, leicht gekränkt. Auf der Universität führte er ein ausschweifendes Leben,
fühlte sich aber dabei nie glücklich. 1858 als Einjährigfreiwilliger zog er sich
eine syphilitische Affektion zu, wurde angeblich geheilt, hielt sich aber für nicht
geheilt und suchte über wilden Zerstreuungen das Unglück eines vermeintlich
94 Gap. IX. Die Melancholie. Gewalttliaten
zerstörten Lebens zu vergessen. Er wurde über der Meinung, unheilbar zu sein,
trübsinnig, vernachlässigte seine Studien, konnte schliesslich das Examen nicht
naachen, wurde Postmeister, war pünktlich, sorgsam, aber sonderbar, oft trüb-
sinnig, scheu, misstrauisch, zog schliesslich zur Mutter, wo er zurückgezogen
lebte, oft seinen Angehörigen über sein vermeintlich verfehltes Leben klagte und
Selbstmord andeutete. Er wurde immer misstrauischer, meinte, Jedermann habe
von seiner (syphilitischen) Krankheit Kenntniss, meide und verachte ihn desshalb.
Er litt oft an Kopfschmerz, Schwindel, Herzklopfen, Beängstigungen, schlaflosen
Nächten, ohne objektiv, ausser Verstopfung, etwas zu bieten. Er trug sich mit
dem Gedanken, bald sterben zu müssen, hatte oft heftige Angstanfälle und machte
(1870) immer mehr den Eindruck eines Gemüthskranken. Man bestimmte ihn zu
einer Kur in Kissingen. Er war dort aufgeregt, ängstlich, wankelmüthig , ver-
muthete, von den Aerzten nur i\ach K. geschickt zu sein, damit es schneller mit
ihm zu Ende gehe. Er wähnte sich als wahnsinnig erkannt und beobachtet,
mied desshalb die Menschen. Sein Zustand besserte sich nicht, ebensowenig in
einem Seebad, er drängte nach Hause, „um doch in heimathlicher Erde sein
Grab zu finden". Schon längst fürchtete man Selbstmord.
Am Tag der That hatte ihn das Ausbleiben der geliebten Nichte vom
gewohnten Besuch, sowie die Trunkenheit zweier Postillone verdrossen. Er
gerieth darüber in Verzweiflung, fasste den Entschluss zur That, bereitete Alles
vor, ging noch in's Wirthshaus , schenkte einem Bekannten einen Lieblingshund,
ging heim, steckte die Scheune in Brand, ging dann in's Haus, traf seine Nichte,
sagte zu ihr: „sieh einmal, so geht es mir, jetzt kann ich nicht mehr länger
leben." Dann hiess er das Kind niederknieen und für ihn beten. Als es zum
Beten sich niederliess, schoss er den Revolver gegen dessen Kopf ab. Er schloss
sich dann in sein Zimmer ein. Sich selbst tödten konnte er nicht mehr, weil
ihm, von tiefem Mitleid für das Kind erfasst, die Kraft dazu fehlte und sein
Entschluss durch die gehörten Worte „sie lebt noch" gelähmt wurde.
Schon als die Scheune zu brennen anfing, hatte ihn Reue angewandelt,
aber da man ihm immer Inconsequenz vorgeworfen, war sein Entschluss unum-
stösslich.
G. sieht älter aus, als er ist. Er ist gut genähi't, ohne Degenerationszeichen,
Spuren von Syphilis oder einer andern Krankheit sind nicht nachweisbar. Sein
Gesicht drückt stumpfe Resignation und Schwermuth aus. Er klagt Kopfweh,
Schwindel, präcordiale Beängstigungen, schmerzhaftes Ziehen im Rücken, Perverse
Empfindungen in Beinen und Armen spiegeln ihm das Gefühl von Lähmung vor.
Er bestätigt das bereits Mitgetheilte. Sein Verhältniss zur Nichte ergab sich als
ein unbestimmtes Gefühl der Liebe zu einem Kind, das ihm einst mehr werden,
ihm ein verlorenes Glück wiederbringen könnte. Jedoch mischte sich zu GefüUen
der Eifersucht vielfach der Gedanke, dass diese Träume von Glück doch nie wahr
werden könnten. Er sei früher zu. feig zum Selbstmord gewesen. Der Entschluss,
die Nichte zu tödten etc., sei eigentlich diesem Schwächegefühl entsprungen. Er
habe sich durch diese Tödtung in eine Zwangslage versetzen wollen, in welcher
ihm nur der Selbstmord übrig blieb. Daneben stand das Motiv, die Nichte und
ihren Vater aus Liebe zu tödten und sie damit allen Mühen imd Sorgen des
Lebens zu entziehen.
Die Grossmutter und Mutter des G. haben an Melancholie gelitten, auch
seine Schwester scheint psychisch nicht intakt.
ans schmerzlichem Fühlen. Heimwehkranke. 95
Das Gutachten erweist eine aus Hypochondrie hervorgegangene Melancholie,
bei welcher erbliche Belastung und ausschweifende Lebensweise die Ursachen
abgaben.
G. wurde unzurechnungsfähig erklärt, kam in eine Irrenanstalt, war
172 Jahre dort, kam dann zu seinem Bruder in Versorgung, wurde eines Tags
neuerdings von Beängstigungen befallen und suchte selbst um Wiederaufnahme
in die Anstalt nach, in der er noch lebt. (Pincus, Vierteljahrsschr. f. ger. Med.
Nr. XXX. H. 1.
Zu der Gruppe der an psychischer Depression Leidenden gehören
auch die Heimwehkranken. Das Heimweh (Nostalgie) ist ein Zustand
melancholischer Verstimmung^ der von einer einfachen Gemüths-
depression zu den ausgebildetsten Formen der Melancholie fortschreiten
kann. Die psychischen Ursachen sind hier die unbehagliche Um-
gebung und Verhältnisse, die Verlassenheit, in denen sich der Heim-
wehkranke gegenüber seiner Lage in der Heimath fühlt und die ihn
zu einer schmerzlichen Reflexion über seine Lage drängen. Dazu
kommt die aus dieser Reflexion entstandene, nicht befriedigte Sehn-
sucht heimzukommen und vielfach auch die Pubertätsperiode mit ihren
mannigfachen schädlichen Einflüssen auf das Gemüth. Das Vorstellen
der Heimwehkranken bewegt sich unter dem Zwang des schmerz-
lichen Fühlens nur im engen Gedankenkreise heimathlicher Verhält-
nisse. Im Verlauf kommt es durch den Zwang des schmerzlichen
Fühlens an und für sich oder durch Sinnestäuschungen (Visionen der
Heimath, Stimmen rufender Angehöriger), durch Angstzufälle oder
Zwangsvorstellungen leicht zu Brandstiftung, als dem nächstliegenden
und leichtesten Mittel, die Heimath wieder zu erreichen oder sich
quälender Bewusstseinszustände zu entäussern.
Aus solchen Fällen, kritiklos zusammengeworfen mit Affekthand-
lungen kindischer unentwickelter Menschen, die aus Rache und Zorn,
ohne deutliches Bewusstsein der Bedeutung der Handlung und ihrer
Folgen anzündeten^ hat eine ältere unwissenschaftliche Anschauung
eine eigene Species von Monomanien — die Pyromanie gemacht, die
nun der Geschichte angehört.
Beob. 20. Brandstiftung|aus Heimweh: Julie Krebs, 14 Jahre, Kinds-
mädchen, von jeher skrophulös, schwächlich, mit Kopfschmerz, Nervenreizbarkeit
und Kopfcongestionen behaftet, mittelmässig begabt, von gutem Charakter, war
am 7. Januar 1842 zu einem Bauern in Dienst gekommen. Sie hatte sich schwer
von Hause getrennt, war zwar gut bei ihrem Dienstherrn gehalten, wurde aber
öfters zurechtgewiesen und empfand es schwei', dass sie viel allein sein, nament-
lich allein schlafen musste. Sie wurde ängstlich, äusserte Heimweh, weinte viel
und verlor den Appetit. Am 11. steigerte sich ihre Verstimmung durch einen
erhaltenen Verweis und [die vergebliche Erwartung ihrer Mutter, deren Stimme
96 Cap. IX. Die Melancholie. Gewaltthaten
sie schon zu hören glaubte. Da kam ihr um Mittag die Idee, Feuer anzulegen,
die sie um 3 Uhr ohne weitere Motivirung und Reflexion ausführte. Sie ging
dann wieder an die Arbeit, half retten, als es brannte, erschien ruhig, leugnete
eine Entstehungsursache des Brandes zu kennen und wurde nach Hause entlassen,
wo sie krank ankam, Kopf- und Gliederschmerz klagte und einige Tage zu Bett
lag. Am 18. Februar bekannte sie ihre Schuld, sie habe es aus Heimweh ge-
than, wolle es nie wieder thun. Im Gefängniss Anämie, Kopfschmerz, Ohren-
sausen, einmal auch eine schreckhafte Vision. Die Menstruation fehlte noch. Die
Aerzte erklärten die Brandstiftung für eine kindische Handlung und durch einen
krankhaften Affekt (Heimweh) unter Mitwirkung von Kränklichkeit und Nerven-
reizbarkeit hervorgebracht. Freisprechung. (Richter, jugendl. Brandstifter p. 69.)
Analoge Fälle von Brandstiftung: Aus einfacher schmerzlicher Ver-
stimmung: Richter, jugendl. Brandstifter, Fall 5, 6, 9 ; Hitzig, Annalen 1830,
H. 13; Zangerl, österr. med. Jahrb. 1834, Bd. 15. Pfaff's Mittheilungen 1833,
2. Jahrg. H. 3.
Aus Angstgefühlen: Klein's Annalen, Bd. 12, p. 53, Bd. 13, p. 103; Henke,
Abhandl. III, p. 211. Meckel, Beiträge I, p. 106.
Aus Zwangsvorstellungen: Henke, Zeitschr. 1836, Bd. 31, p. 119; 1837,
24. Ergänz.-Bd. p. 55. Richter, op. cit. Fall 2, 12. Brefeld, üb. Maturität, 1842,
p. 105—125. Meckel, op. cit. H. 1, p. 53.
. Gewaltthaten aus Zwangsvorstellungen.
Eine weitere Möglichkeit für das Zustandekommen von Gewalt-
thaten in der Melancholie bieten die sogenannten Zwangsvorstellun-
gen, d. h. mit krankhafter Intensität und Dauer im Bewusstsein fixirte
Vorstellungen. Dem schmerzlichen Fühlen der Kranken entsprechend
ist deren Inhalt immer ein widriger, peinlicher. Nicht selten sind
sie durch ein äusseres erschütterndes Ereigniss (Gegenwart bei einem
Unglücksfall, Brand, Mord, Selbstmord oder Zeitungslektüre von einem
solchen) hervorgerufen, häufiger sind sie spontane, den Inhalt des
schmerzlichen Fühlens objektivirende, mit einem Ueberraschungsaffekt
bewusst gewordene Schöpfungen der kranken Hirnrinde, zuweilen
auch durch eine schmerzliche Empfindung (Neuralgie) geweckte, mit
ihr associirte und durch sie im Bewusstsein fixirte Vorstellungen.
Obwohl der Kranke ihren krankhaften Inhalt klar erkennt, ver-
mag er sich doch ihrem peinlichen Einfluss nicht zu entziehen, noch
weniger sie zu verdrängen. Damit ist aber die Gefahr gegeben, dass
sie zu Motiven eiues Handelns werden, sich trotz allem Protest und
schwerem Kampfe des Ich einen Uebergang in ein Handeln erzwingen,
sei es weil das Gegengewicht contrastirender Vorstellungen sich nicht
mehr zu behaupten vermag, sei es weil das mit jeder Stagnation des
Vorstellungprocesses verbundene Gefühl unerträglicher psychischer
Beob. 21. Melancholie mit Zwangsvorstellungen. Mord. 97
Belästigung so fürchterlich wird, dass gegenüber dieser peinlichen
Klemme und Spannung im Bewusstsein die verabscheute That und
ihre Folgen als das geringere Uebel und einzige Mittel erscheinen,
um von diesem trostlosen Zustand, dessen Beseitigung durch er-
zwungene Associationen nicht mehr möglich ist, um jeden Preis be-
freit zu werden. Solche Kranken befinden sich in einem wahren
psychischen Nothstand und wie schrecklich ihr Seelenkampf sein
muss, beweisen die Fälle wo sie sich um's Leben brachten oder
verstümmelten, um der Zwangsvorstellung zum Mord geliebter An-
gehöriger etc. nicht erliegen zu müssen.
Die Thatsache, dass es Zwangsvorstellungen bei melancholisch
Verstimmten gibt, erklärt uns die Erscheinung, warum Selbstmorde
und Verbrechen zuweilen epidemisch auftreten und der Mechanismus
ihrer Ausführung dann für alle Wiederholungen der gleiche ist.
Unzweifelhaft ist die Vollziehung öffentlicher Hinrichtungen,
Veröffentlichung von grauenhaften Verbrechen und Selbstmorden für
zahlreiche in der Gesellschaft sich bewegende nervenkranke und
melancholisch verstimmte Menschen eine ernstliche Gefahr und nicht
selten die Veranlassung zum Entstehen von Zwangsvorstellungen.
(Vgl. einen Aufsatz des Verf. über formale Störungen des Vorstellens, Viertel-
jahrsschr. f. ger. Med. 1870, Jan.)
Beob. 21. Melancholie mit Zwangsvorstellungen. Mord eines Mäd-
chens. Am 12. Juni 1874 tödtete ein gewisser Thouviot ein ihm unbekanntes
zwanzigjähriges Mädchen in einer Restauration. In seinem Notizbuch findet man
folgende Einzeichnung : „Schon lange quält mich der Gedanke, ein Verbrechen
zu begehen; ich wollte von Niemand gekannt sein und dass Niemand sich um
mich kümmere. Ich bin der grösste Heuchler, den die Erde trägt, zu nichts auf
der Welt gut. Alles fragt mich, warum ich getödtet habe? Ganz einfacli, um
aus der Lage herauszukommen, in der ich mich befinde."
Th. ist 23 Jahre alt. Er bekennt seine That ohne Umschweife. Er habe
24 Stunden mit dem Gedanken gekämpft einen Mord zu begehen. Er ist ein un-
eheliches Kind, seine Ascendenzverhältnisse sind nicht zu ermitteln. Bis zur Puber-
tät scheint er Nichts Auffallendes geboten zu haben. Von da an unstäte Lebens-
weise, beständiger Berufswechsel, überall unbehaglich und unzufrieden. Zeitweise
verstimmt und von der Zwangsvorstellung geplagt einen Mord zu begehen, so
zuerst an der Magd des Hauses, später an seiner Mutter. Er entzieht sich der
Gefahr, diesen Antrieben zu unterliegen, jeweils durch die Flucht. In der Haft
ist Th. ruhig, abgespannt, sorglos.
Er bleibt bei der Angabe, dass der Mord die Befriedigung eines Gedankens
war, der ihn seit langer Zeit verfolgt habe und verlangt von den Richtern nur
das Eine, dass er enthauptet werde. Einmal macht er einen Selbstmordversuch
durch Erhängen. Die Insinuation, dass er geisteskrank sei, weist er unwillig zu-
rück. Aus seinem Vorleben ist bloss zu ermitteln, dass er wiedei'holt an Schwindel
V. Krafft-Ebing, gericlitl. Psychopathologie. 2. Auflage. 7
98 Cap. IX. Die Melancliolie.
und Verlust des Bewusstseins gelitten habe; sonstige Anhaltspunkte die auf Epi-
lepsie scliliessen Hessen, sind nicht zu gewinnen. Die Begutachter erklären den
Mord als im unzurechnungsfähigen Zustand unter dem Einfluss eines impulsiven
Deliriums (monomanie instinctive) begangen. Richtig ist wohl die Deutung im
Sinne einer Zwangsvorstellung bei einem melancholisch Deprimirten. Th. wurde
einer Irrenanstalt übergeben. (Archiv, general. de medecine 1875 Januar.)
Beob. 22. Zwangs Vorstellung e ines Melancholischen. Mord.
C. Sleight, 32 Jahre, Lehrer eines Taubstummeninstituts, das von taubstummen
Eheleuten geleitet wurde, ist des Mords seiner Herrin angeklagt. Noch am Abend
vor dem Mord hatte er Stunde gegeben. Am Morgen der That, um 572, verliess
der Ehemann das Haus — um 7 Uhr erschien S. auf der Polizei mit der Anzeige,
daheim liege eine Frau ermordet. Befragt wer der Mörder sei, deutete er auf
seine verwundete Hand und bekannte sich als Mörder. Bisher ruhig und gelassen,
wurde er plötzlich wüthend und packte die Beamten an, so dass man sich seiner
versichern musste. Im Hause fand man die Frau auf dem Hausflur mit abge-
schnittenem Halse, ohne Spuren von Gegenwehr oder Nothzucht. S. hatte sich
bisher eines tadellosen Lebenswandels erfreut. Seit einigen Wochen war er düster
einsilbig geworden, hatte Schlaflosigkeit und Kopfweh geklagt, so dass ein Arzt
einen Anfall von Geistesstörung befürchtete. Zwei Tage vor dem Mord fühlte
er sich noch übler, war ängstlich deprimirt, sprach von schrecklichen Versuchun-
gen, schrecklichen Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, und Gedanken-
verwirrung. Drei Blutsverwandte väterlicherseits waren geisteskrank, ein Bruder
Selbstmörder. S. war im Gefängniss gleichgültig gegen sein Schicksal, rieb sich
beständig den Kopf, klagte ein Gefühl wie wenn ein eisernes Band drum gelegt
sei. Er war in beständiger Unruhe, oft incohärent und abspringend in seinem
Gedankengang. Die einzelnen Thatumstände erzählte er ohne alle Gemüthsbewe-
gung bis in's kleinste Detail:
„Ich schlief seit Wochen schlecht, fühlte mich unglücklich, einsam, bekam
heftige geschlechtliche Neigung zur Ermordeten, bekämpfte sie mühsam, fühlte
endlich, dass ich unterliegen werde. Die Nacht vor dem Mord konnte ich nicht
schlafen, sah eine Menge schwarzer Teufelchen um mich herumtanzen und sagen :
du bist ruinirt, hast kein Geld, kannst nicht heirathen, tödte dich! Ich hatte
das Rasirmesser, kämpfte schrecklich, kniete nieder, betete zu Gott — es wurde
besser, aber ich konnte nicht schlafen. Als der Mann Morgens fortging, kam
der Gedanke über mich, die Frau hat dich ruinirt, tödte sie ! Ich kämpfte wie-
der schrecklich gegen diesen Antrieb, ging endlich mit dem Rasirmesser in ihr
Zimmer. Sie schlief, ich umschlang, küsste sie, fühlte wie gern ich sie habe
und dass ich sie umbringen müsse. Ein Junge, der an der Hausthür läutete,
störte mich. Ich fertigte ihn ab, kehrte zur Frau zurück, umschlang sie noch-
mals und schnitt ihr den Hals ab. Nun fühlte ich mich erleichtert, ging in mein
Zimmer, wusch die Hände und wechselte die blutige Wäsche. Da kam mir der
Gedanke, dass ich etwas Schreckliches angestellt, und ich ging zur Polizei. Ich
weiss jetzt was ich Schlimmes gethan, aber im Augenblick der That konnte ich
nicht anders. Ich muss verrückt gewesen sein." Von nun an weigerte er sich
aber entschieden verrückt zu sein, obwohl ihm sein Vertheidiger nahe legte wie
nützlich es für ihn sei, noch für verrückt zu gelten. Er wurde auf Grund von
Geistesstörung freigesprochen. (Journal of mental science, October 1871.)
Gewaltthateii aus Verstimmung oder Zwangsvorstellungen. 99
Analoge Fälle s. Henke, Abhandl. V, p. 268, 281. Marc. Ideler I. p. 61,
IL p. 48, 65, 66, 67. Annales med. psychol. 1853, p. 151, 1862, p. 41. Klein's
Annalen II. p. 77. (Ein melancholischer Vater mordet seine Kinder, nachdem
er vergebens Gott gebeten , ihn von solch schrecklichen Gedanken zu befreien.)
Journal of mental science 1872 April (Mord der Frau).
Was den Mechanismus des Handelns bei den durch schmerzliche
Verstimmung oder durch Zwangsvorstellungen motivirten Gewaltthaten
betrifft, so ist nicht zu verkennen, dass er viel Gemeinsames und Be-
zeichnendes aufzuweisen hat. Ausser da wo ein zufällig hinzutretender
heftiger Affekt im Augenblick der That die Besonnenheit trübt, er-
folgt die Handlung mit bemerkenswerther Kaltblütigkeit und richtiger
Wahl der Mittel. Nie verfolgt der Thäter egoistische Zwecke. Mit
der geschehenen That ist ja der Zweck erreicht, der nie direkt auf
dieselbe gerichtet ist, sondern die für ihn nur das Mittel bildet. Nie
fehlt die psychische Entlastung, um deren willen ja in der Regel
gehandelt wird, diese kann sogar bis zu einer temporären Intermission
der Melancholie reichen. Auch die volle Einsicht in die Bedeutung
der That und ihrer Folgen ist nun vorhanden und viele derartige Un-
glückliche überliefern sich selbst der Justiz.
Die gerichtsärztliche Expertise darf nicht in der Beurtheilung
von Handlung und Motiv aufgehen oder sich davon beirren lassen,
wenn nach der That, die eine quasi kritische Bedeutung hatte, Zei-
chen von Irresein fehlen. Der Zustand vor der That ist es, der
wesentlich den Ausgangspunkt der Expertise bilden muss, nur darf
sich diese nicht auf allgemeine psychologische Momente und Leu-
mundsfragen beschränken. Auch die kleinsten Umstände aus der
Lebensgeschichte, die nebst Anlage und etwaiger Erblichkeit nach
allen somatischen, ethischen und intellektuellen Richtungen hin sorg-
fältig zu ermitteln ist, müssen beachtet werden. Wichtig ist immer
eine der That vorausgegangene Aenderung des ganzen Wesens, wenn
z. B. der früher religiös Indifferente oder Nüchterne nun (im Gefühl
seiner Gemüthsbeklemmung und Herzensangst) ein eifriger Kirchen-
besucher geworden ist oder sich dem Trunk ergeben hat, wenn ge-
wisse Neigungen und Gewohnheiten aufgegeben wurden, Gleichgültig-
keit, Trägheit, Vernachlässigung sonst beobachteter Rücksichten und
Pflichten, Mangel an Selbstvertrauen, Befürchtungen für die Zukunft,
Reizbarkeit, Weinerlichkeit, Aufsuchen der Einsamkeit bemerkt wur-
den, wenn der Explorand sich mit Selbstmordgedanken trug, Selbst-
mordversuche machte, unruhiges triebartiges Umherlaufen zeigte, vage
Andeutungen von einem bevorstehenden Unglücke machte, Klagen
100 Cap. IX. Die Melancholie.
über Unfähigkeit zu denken und arbeiten fallen Hess, an Kopfweh,
Schlaflosigkeit, Angstgefühlen, Gefühlen von Hemmung der Gedanken,
von Druck oder Leere im Epigastrium litt.
Da wo eine Zwangsvorstellung Motiv einer Gewaltthat wird,
geht dieser immer ein mächtiges Ringen und Kämpfen mit dem bösen
Antrieb voraus. Nicht selten mied der Kranke sein Opfer, warnte
es, suchte sich selbst der Mittel zur That zu berauben. Zudem ent-
behrt die That aller äusseren Motive, ist den Interessen, dem ganzen
sonstigen rechtlichen religiösen ethischen Bewusstsein geradezu ent-
gegengesetzt. Nie wird die Reue fehlen, da ja das intellektive und
ethische Bewusstsein intakt ist imd mit der Realisirung der nicht
verbrecherischen, sondern einen psychologischen Selbsterhaltungs-
zweck erfüllenden That wieder zur vollen Geltung kommt.
lieber die Aufhebung der Bedingungen der Zurechnungsfähig-
keit durch derartige rein im Rahmen einer Melancholia sine delirio
sich bewegende Irreseinszustände kann kein Zweifel obwalten. Das
Strafbarkeitsbewusstsein ist zwar virtuell vorhanden, aber im Augen-
blick der That verdunkelt und machtlos gegenüber der Gewalt des
schmerzlichen Fühlens. Die Besonnenheit und freie Wahl sind auf-
gehoben durch ein krankhaftes Fühlen, das einen adäquaten krank-
haften Bewusstseinsinhalt schafft, jegliche contrastirende Vorstellung
fernhält, die objektive Welt im Spiegel der krankhaften Verstimmung
verfälscht darstellt.
Die That ist nichts Anderes als Reflex psychischer Dys- und
Anästhesie, überwältigender Affekte, zwingender Vorstellungen. Ihre
Motive sind somit krankhafte nicht verbrecherische, spontane nicht
gewählte, der Kranke steht unter einem psychologischen Zwang, den
er nicht überwinden kann, sein Handeln ist ein zwangsmässiges nicht
willkürliches. Könnte er anders empfinden und vorstellen, so würde
er auch anders wollen und handeln.
Gewaltthaten aus Affekten der Angst.
Auch das Handeln im Angstanfall hat einen eigenthümlichen
aus der Art der Störung nothwendig sich ergebenden Mechanismus,
dessen Beachtung gegenüber andern pathologischen Zuständen oder
Simulationsversuchen von Werth ist. So wenig als dem psychisch
Deprimirten, wenn er durch sein schmerzliches Fühlen an und für sich
zur Aktion getrieben wird, ist es dem Melancholischen im Angstan-
fall um die Erreichung eines objektiven Zwecks zu thun, sondern
, Gewalttliaten ans Affekten der Angst. '[Ql
einzig und allein um die Beseitigung eines psychischen Zustands, der
furchtbar j unerträglich geworden ist und mit einem anderen, gleich-
viel um welchen Preis vertauscht werden muss.
Der Kranke fühlt gleichsam instinktiv, dass er die Lösung des
qualvollen inneren Spannungszustands nur durch ein äusseres Ereigniss
finden kann, und bei seinem qualvollen Bewusstseinszustand vermag
er diese Lösung nur in einer schaudervollen That zu finden. Zu-
weilen wird seinem Handeln die bestimmte Richtung durch schreck-
hafte Sinnestäuschungen, namentlich durch feindliche Verkennung der
Umgebung und imperative Gehörshallucinationen oder auch durch auf
der Höhe des Afiekts sich einstellende Delirien gegeben.
Nahe und keiner weiteren Deutung bedürftig ist Selbstmord
als Mittel dem unerträglich gewordenen Bewusstseinszustand zu ent-
gehen, ebenso nahe liegt aber die Vorstellung durch irgend eine
eklatante Unthat, und bestünde sie selbst im Mord der liebsten An-
gehörigen, eine Aenderung der Situation herbeizuführen. Die hier
bestehende psychische Anästhesie erleichtert das Handeln gegen Andere,
die gleichzeitig vorhandene Analgesie das Zustandekommen des Selbst-
mords.
Aus der affektartigen Trübung des Bewusstseins erklärt sich die
Thatsache, dass das Handeln nie ein planvolles zweckmässiges, sondern
ein blindes gleichsam convulsivisches ist ; aus der grässlichen, keinen
Gegensatz im Bewusstsein verstattenden Gefühlslage ergibt sich noth-
wendig der Eklat, die über jedes vernünftige Ziel hinausgehende Rück-
sichtslosigkeit und Grausamkeit des Handelns solcher Unglücklicher.
Der Selbstmord wird z. B. in der fürchterlichsten Weise durch
Einrennen des Kopfs, Hinausspringen zum Fenster ausgeführt, obwohl
weniger schreckliche und zuverlässigere Mittel dem Kranken zu Ge-
bot standen, oder der Kranke begnügt sich nicht mit dem einfachen
Mord des Opfers, sondern verstümmelt es in der gräulichsten Weise.
Ort, Mittel, Zeugen sind gleichgiltig bei der Ausführung, der Gegen-
stand, an dem gehandelt wird, ist ein zufälliger.
Unmittelbar nach gelungener That empfindet der Kranke die
instinktiv angestrebte Erleichterung. Wie wenig es den Kranken um
die That als solche in derartigen Fällen zu thun war, beweisen Fälle
von Brandstiftung aus Angstanfall, wo die Thäter beim Löschen dann
die eifrigsten waren, ohne den Hintergedanken, den Verdacht dadurch
von sich abzuwälzen.
War die Gewaltthat eine leicht gutzumachende, so fühlt sich
der Kranke erleichtert, befreit, beruhigt, bis ein neuer Anfall ihn aus
102 ' Cap. IX. Die Melancholie.
seiner Gleichgewichtslage wirft; war sie eine schwere, so erfolgt je
nach Umständen Reue, Selbstmord oder Selbstanzeige.
In Fällen wo der Angstanfall nicht momentan seinen Höhepunkt
erreichte, ist es vorgekommen, dass der Kranke die Umgebung vor
sich warnte, sich ausser Stand gefährlich zu werden zu setzen suchte,
ja selbst kategorisch seine Unschädlichmachung im Gefängniss oder
Irrenhaus verlangte.
Wo die Angst aber plötzlich mit aller Macht das Bewusstsein
überfällt, erfolgt ein blindes, grösstentheils bewusstloses Wüthen.
Die Diagnose ergibt sich aus dem Vorausgehenden, namentlich
aus der Beachtung des melancholischen Gesammtzustands und des
eigenthümlichen Mechanismus des Handelns.
Beob. 23. Mordversuch im Angstanfall eines Melancholischen.
K., Maschinenheizer, beklagt sich seit zwei Jahren über oft plötzlich und grund-
los ihn befallende Anfälle von trauriger Verstimmung. Vor 15 Jahren war er
vorübergehend trübsinnig, nachdem ein Nachbar ihm die Treue seiner zärtlich
geliebten Frau verdächtig gemacht hatte. Obwohl er diesen Verleumdungen
keinen Glauben schenkte, konnte er doch den Gedanken daran nie los werden.
Seine Geschäfte besorgte er musterhaft, aber sein Arbeitslokal war ungesund,
seine Umgebung unbehaglich und nur aus Anhänglichkeit an seinen Herrn blieb
er auf seinem Posten.
Vor zwei Tagen, nach der Kirche, fühlte er sich unwohl, appetitlos. Nach-
mittags wurde ihm besser. Er ging in ein Nachbardorf, machte ein Spielchen,
trank eine halbe Flasche Wein. Sein Unwohlsein kehrt wieder, er ist wie be-
rauscht, ein Freund bringt ihn nach Hause. Als seine Frau heim kommt, wird
er plötzlich sehr aufgeregt, zertrümmert Mobiliar, stürzt sich auf seine Frau um
sie zu erdrosseln, diese entflieht.
Um Mitternacht findet sich K. entkleidet und wieder ganz bei Sinnen im
Bett. Er wundert sich, dass seine Frau nicht da ist; als sie Morgens kommt,
erfährt er zu seinem Entsetzen, was vorgefallen ist. Er erinnert sich nur noch
des Moments, wo er in einem Anfall ihm unerklärlicher Verwirrung anfing Mo-
biliar zu zerstören. Er geht zum Arzt, erzählt Alles genau mit dem bezeichnen-
den Beisatz: „wäre meine Frau nicht glücklich entkommen, so wäre ich jetzt
ein Verbrecher." Die Untersuchung ergab ausser massiger psychischer Depres-
sion imd schlechtem Schlaf nichts Abnormes. (Chatelain, Annales med. psychol.
Juillet 1871.)
Beob. 24. Melancholie. Tödtung des Kinds im rajitus melancho-
licus. Frau H., 33 V2 Jahre alt, ohne erbliche Anlage zu Nervenkrankheiten,
von stillem, leutscheuem empfindsamem Wesen von Jugend auf, indess gute Ehe-
frau und Mutter, erkrankte im dritten Wochenbett nach dem 6. Sept. 1872 (Kopf-
weh, Schwindel, Schlaflosigkeit, Schwarzwerden vor den Augen, Selbstvorwürfe,
dass sie ihr Kind schlecht abwarte, Meinung die Leute sprächen über sie, dass
sie im Kopf schwach sei, Glauben sie werde behorcht, Zerstreutheit, so dass sie
die Sachen nicht finden konnte). Am 28., dem Tag vor der That, fühlt sie sich
Gewaltthaten aus Wahnvoi-stelliingeii. \(y^
schwach, äussert : „heute muss ich mich zu Tod rasen, die Wöchner müssen sich
alle zu Tod rasen, die nicht recht im Kopf sind." Angst, Schweiss, Klagen, sie
habe sich an den Kindern versündigt, sie nicht recht abgewartet.
Am Morgen des 29. lief sie in grosser Verstörung von Hause fort, äusserte
zu Jemand, der ihr begegnete: „vergib mir meine Sünd\ lass' mich in Ruh',"
bat eine Frau um Verzeihung, da sie ihr etwas entwendet habe. Sie machte
den Leuten den Eindruck einer Geistesgestörten, kehrte endlich heim. Der Mann
lief fort, um den Doktor zu holen. Als er zurückkam, hörte er die 8jährige
Tochter schreien: „die Mutter hat mich gestochen." Das Kind hat acht Wunden,
eine hat das Herz verletzt. Nach V2 Stunde ist es todt. Die Frau lag bewusst-
los mit stierem Blick auf dem Boden, das blutige Brodmesser neben ihr, an
ihrem Hals und an der rechten Hand einige Hautritze.
Der Arzt fand sie blass, regungslos mit kleinem langsamem Puls. Momentan
kam sie zu sich, fragte: „was gibts denn?" und als der Mann ihr mitgetheilt
was geschehen, sagte sie: „ach du lieber Gott!" Darauf lag sie wieder stumm
und besinnungslos da. In den folgenden Tagen im Spital keine Aenderung.
Apathisches Wesen, selbst als ihr das Begräbniss der Tochter gemeldet wird.
Sie behauptet von allem Vorgefallenen nichts zu wissen. Wiederholt Selbstan-
klagen, z. B. sie habe Pflaumen genommen, man möge ihr vergeben.
-Nach drei Wochen Wiederkehr des Bewusstseins , Schwinden der stumpf-
sinnig schmerzlichen Apathie. Aufrichtiger Schmerz über das Unglück, das sie an-
gerichtet. Rasche Genesung. Rückkehr zum Mann.
In der Reconvalescenz erzählt sie, dass sie in einer der ersten Nächte des
Aufenthalts im Krankenhause den lieben Gott vom Himmel herabsteigen gesehen
habe, die heilige Dreifaltigkeit mit Jesu; ein andres Mal sei ihre Tochter aus
einem Schatten zu ihr herabgekommen, ein drittes Mal habe sie den Gesang ge-
hört, unter dem man das Kind begraben, ein viertes Mal deutlich unter ihrem
Fenster das Rufen der Leute, „dass man das Luder (sie selbst) auf den Mist
schmeissen solle".
Das Gutachten erweist das Bestehen der Melancholie vor, während und
nach der That, die offenbar in einem raptus melancholicus erfolgte, worauf auch
die Amnesie für dieselbe und die grosse Zahl der Wunden der Getödteten hin-
weisen. Die Staatsanwaltschaft Hess die Anklage auf Grund des Gutachtens
fallen. (Viertel] ahresschr. f. gerichtl. Med. N. F. XIX. H. 2.)
Analoge Fälle: Spielmann, Diagnostik, p. 414, 417: Heixke, Zeitschr.
1834, 20. Ergänzgs.-Heft (Brandstiftung). Friedreich, Magazin f. Seelenkunde, H. 1,
p. 4L Ideler, Gutachten d. wissenschaftl. Deputation 1854, p. 115. Pölchau,
gerichtärztl. Gutachten. Riga 1868, Fall 46. Mildner, Correspondenzbl. f. Psy-
chiatrie, 1857 Nr. 17. Brunner Friedreich's Blätter 1877. 11.4,5,6. Journal of mental
Science 1872 April (Tödtung der Ehefrau im rapt. mel. Verurtheilung zum Tod).
Gewaltthaten aus Wahnvorstellungen und Sinnes-
täuschungen.
Sie sind keine seltene Veranlassung crimineller Handlungen bei
Melancholischen. Aus dem beängstigenden Inhalt jener erklärt sich
die Thatsache, dass sie durchweg einen der eigenen oder fremden
104 Cap. IX. Die Melancholie.
Existenz unheilvollen Charakter haben. Selbstmord, um imaginären
Qualen und Verfolgungen zu entgehen, wahnhafte Verbrechen zu
sühnen, die Welt von einem Scheusal, einem Thier, für das sich der
Kranke hält, zu befreien, mit der eigenen Existenz ein Ende zu
machen, da ja die Welt schon zu Grunde gegangen sei, oder auch
auf Grund von imperativen Stimmen etc. ist hier nicht selten.
Nicht minder kommt es zu Gewaltthaten gegen die Umgebung,
die feindlich verkannt, für verhext, verzaubert gehalten wird. Eine
wichtige criminelle Kategorie von hieher gehörigen Fällen bilden die
Mörder der eigenen Kinder — aus Liebe. Es sind durchweg von
Noth und Schicksalsschlägen tiefgebeugte, in Noth und Armuth ver-
zweifelnde Eltern, die, melancholisch geworden, im Gefühl ihrer
psychischen Dysästhesie und Leistungsunfähigkeit nur noch ein Leben
voller Noth und Elend, ja selbst sicheren Hungertod voraussehen,
oder denen die Welt durch die Brille ihres krankhaften Pessimismus
gesehen in den düstersten Farben voller Sünde und Verworfenheit
erscheint.
Sie können und wollen diese Lebenslast nicht mehr ertragen und
beschliessen ihren eigenen anticipirten Untergang, aber ihr liebendes
Elternherz kann sich nicht entschliessen, ihr Liebstes in dieser hoffnungs-,
freude- und liebeleeren Welt dem vermeintlich sicheren Untergang
allein entgegengehen zu lassen. So ermorden sie zuerst ihre Kinder
und legen dann Hand an sich. Häufig missglückt ihr Selbstmord
oder sie ziehen es vor aus oben (s. indirekter Selbstmord) angedeu-
teten Motiven durch Henkershand mit ihren im Tod vorausgegan-
genen Kindern wieder vereinigt zu werden und werden dann Gegen-
stand menschlicher Beurtheilung und irdischen Richterspruchs, der
leider schon vielfach ungerecht ausgefallen ist, indem man für Aifekt
und Unsittlichkeit hielt, was doch nur aus psychischer Dys- und
Anästhesie und Abulie hervorgegangener Wahn war.
Der Mechanismus des Handelns bei Gewaltthaten aus Wahn
oder Sinnestäuschung schliesst äussere Besonnenheit, Prämeditation
und Planmässigkeit nicht aus, so lange kein Affektzustand compli-
cirend hinzutrat. Das Verhalten nach der That ist abhängig davon,
ob die Wahnvorstellung eine desultorische (momentaner Erklärungs-
versuch der Verstimmung, Ueberraschungsaffekt, Sinnestäuschung)
oder stabile ist. Im ersten Fall wird das Verhalten nach der That
gleich dem in den vorausgehenden Gruppen sein, volle Erkenntniss
des Unrechts und Reue sich einstellen, im letzten Fall der Thäter
einsichtslos und gleichgiltig bleiben. Bei jeder That aus Wahn-
Beob. 25. Mord der eigenen Kinder aus Liebe. 105
Vorstellung ist der Thäter unfrei, weil der Wahn ein pathologischer,
die Prämisse eine falsche war, die Trübung des Bewusstseins eine
Correktur unmöglich machte.
Beob. 25. Mord der eigenen Kinder — aus Liebe. Am 13. Juni
Morgens 8 Uhr ging der verheirathete Maurer G. von der Arbeit heim, trank
unterwegs für 2 Kreuzer Cognac wegen Leibschmerzen und erschien allen Be-
gegnenden in seinem Benehmen geordnet, verständig, ruhig. Zu Hause schickte
er seine zwei ältesten Kinder mit einem Auftrage fort zum Grossvater und führte
nun von seinen jüngsten drei Kindern eines nach dem andern auf die Obertenne
des Hauses, wo er sie mit einem Garnklöppel erschlug. Er legte die drei Leichen
nebeneinander auf den Boden und kehrte dann, heftigen Leibschmerz klagend
imd weinend, in die Küche zurück. Gegen seinen Vater und andere Personen,
die um diese Zeit in's Haus kamen, machte er unverständliche Anspielungen auf
seine schreckliche That, zu den heimkehrenden Kindern sagte er: „wie wird es
uns ergehen?" Er ging nun auf's Gericht und bat, nach abgelegtem Geständniss,
dass man ihn umbringen möge. Da er sah, dass man ihm nicht sofort willfahre,
wurde er sehr aufgeregt, sclirie, er müsse sterben und versuchte sich mit einem
Rasirmesser zu entleiben. Er war nocli einige Zeit sehr aufgeregt, sprach nicht
ganz zusammenhängend, kam aber bald zu sich und wurde in seinen Aeusserungen
ganz verständig. Er beweinte den Tod seiner Kinder, begriff nicht, wie er seinen
geliebten Kindern das Leid thun konnte, es sei ihm Alles wie ein Traum, aber
er sei nicht zu rechtfertigen. Für manche Umstände nach der That war seine
Erinnerung eine nur summarische. Im Gefängniss Freisein von psychischer
Störung, aufrichtige Reue, zeitweise Wiederkehr der Kolikschmerzen.
In der Familie des G. lässt sich keine erbliche Anlage zu Irresein nach-
weisen. Normale körperliche Entwicklung, verwahrloste Erziehung, früh Hang
zum Stehlen. Seit seiner Verheirathung vor 10 Jahren trieb er mit den Ver-
wandten seiner Frau auch Schmuggel. Wegen Verdachtes auf Diebstahl wurde er
vor Jahren, ohne davon zu wissen, unter polizeiliche Aufsicht gestellt. Gute Ehe,
gutes Einkommen, braver Familienvater, der Weib und Kinder wahrhaft liebte.
Etwa 10 Monate vor seiner That verlor er seinen Dienst, weil ein Verdacht des
Diebstahls auf ihm lastete. Zugleich erfuhr er, dass er seit Jahren unter polizei-
licher Aufsicht stand. Tiefe Gemüthsbewegung darüber, die sich steigerte, als er
erfolglos sich um Wjederanstellung verwandte und wegen Wachebeleidigung eine
Arreststrafe erstehen musste.
Nach der Entlassung aus dem Gefängniss war sein Lebensmuth gebrochen.
Er suchte zwar nach Arbeit, aber nichts gelang ihm mehr, sein Benehmen war
von da an tief geändert. Er war düster, einsilbig, leutscheu, klagte Schlaflosig-
keit, Lebensüberdruss, äusserte oft, er hätte sich schon umgebracht, wenn ilm
nicht Frau und Kinder dauerten. Er glaubte sich entehrt, gebrandmarkt durch
Verdacht und Polizeiaufsicht, die auf ihm lasteten, glaubte sich mittellos, war
bekümmert über seine misslichen Vermögensverhältnisse, obwohl seine Aktiva
die Passiva um mehrere hundert Gulden überstiegen. Dazu kamen häufige und
immer mehr sich steigernde Kolikschmerzen , die ihn zum Aufsuchen des Bettes
nöthigten, wobei er über Zittern, Gliederschwäche, Schlaflosigkeit, Gefühle von
Stechen und Drehen im Kopf klagte. Er weinte viel, magerte ab, litt an Ver-
stopfung. Er äusserte Lebensüberdruss und scheint auch bald nach der Dienst-
106 Cap. IX. Die Melancholie.
entlassung einen Selbstmordversuch gemacht zu haben. Dazu gesellte sich die
Sorge um die Familie. Wenn er sich umbringe, dachte er, werde die Frau,
welche zudem schwanger war, die Kinder nicht ernähren können, diese würden
Bettler, verachtet und unter Polizeiaufsicht gestellt wie er, ein elendes verachtetes
Leben führen. Hieran knüpfte sich der Gedanke, die jüngsten Kinder um ihrer
und der Frau willen vor seinem Selbstmord umzubringen. Nach seiner Angabe
sei dieser Gedanke nie recht klar und bestimmt in's Bewusstsein getreten, er habe
denselben jeweils als seiner väterlichen Liebe unmöglich, zurückgedrängt. Selbst
am Tage der blutigen That habe er Morgens, als er zur Arbeit ging, nicht diesen
Gedanken gehabt und hätte ein solches Verbrechen nie für möglich gehalten.
Körperlich fanden sich keine bemerkenswerthen Störungen. Seine Reue
war eine aufrichtige, die ermordeten Kinder sah er oft Nachts im Traum. Das
Gutachten erkannte die Geistesstörung an, nicht aber dife völlige Aufhebung der
Zurechnungsfähigkeit, da ausser anderen Gründen die vorhergangene Lebensweise
die Krankheit zum Theil herbeigeführt habe, G. gegen seine Mordgedanken und
körperlichen Beschwerden nicht Hilfe und Schutz gesucht habe (!). Der Gerichtshof
erkannte die Zurechnungsfähigkeit als aufgehoben, worauf G. in die Irrenanstalt
kam. Dort war er im Allgemeinen frei von Geistesstörung, zeigte jedoch bei zeitweisen
Kolikanfällen mit Diarrhoe jeweils Verstimmung. Nach 4 Jahren trat eine vorüber-
gehende hochgradige Melancholie mit taedium vitae, Angstgefühlen, beängstigen-
den Visionen der gemordeten Kinder auf; er drängte fort, wolle sie sehen, auf
dem Kirchhof ausgraben, müsse die andern auch umbringen. Diese Erkrankung
war eine vorübergehende. Als G. weitere 6 Jahre in gutem psychischen Zustand
verblieb, gewährte man seinen Wunsch, ihn nach Amerika auswandern zu lassen.
(Eigene Beobachtung.)
Beob. 26. P u e r p e r alm e 1 an cli o 1 i e. Mord der Kinder. Am
26. Januar 6 Uhr früh erschien Frau E. bei der Gensdarmerie und machte fol-
gende Selbstanzeige: Gestern Nachmittag ging ich in Geschäften mit meinen
2 Kindei-n aus. Ich kaufte ihnen Kuchen, da sie Hunger hatten, ging dann mit
ihnen längs dem Kanal spazieren. Schon lange plagte mich der Gedanke, sie zu
ertränken. Ich gedachte ihn endlich auszuführen, wartete noch, bis es dunkler
war, warf die Kinder in's Wasser, ging fort, hörte schreien, ging zurück, traf den
älteren meiner Knaben im Begriff, das Ufer zu gewinnen und weinend, dass ihm
, sein Kuchen fortgeschwommen sei. Ich stiess ihn in's Wasser zurück und er ging
unter. Da ich ohne die Kinder nicht zum Mann heim wollte, brachte ich die
Nacht auf den Feldern zu und da bin ich nun, um mich einsperren zu lassen
und die Strafe zu erleiden, die mir gebührt. Der Brigadier Hess sich von der
Frau in ihr Haus führen, wo der Mann in tödtlicher Angst sie erwartete. Sie
bekannte kaltblütig ihre That, ebenso mit allen Details am Thatort und bot mit
ihrer kalten Ruhe einen schneidenden Gegensatz zu ihrem von Verzweiflung
erfüllten Gatten. Dieselbe Gleichgültigkeit, als man die Leiche des älteren Knaben
auffand. Als Motiv gab die unglückliche Mutter an, sie habe die Kinder dem
Unglück, dem sie selbst verfallen, entziehen wollen und gedacht, sie seien glück-
licher im Himmel. Sie hatte schon längst den Gedanken gehegt, sie in's Wasser
zu werfen und dem Mann und den Verwandten diesen Vorsatz geäussert.
Frau E. ist 37 J. alt, von nervösem Temperament, blass, abgemagert. Sie
leidet an Kopfschmerzen, die Schmerzempfmdlichkeit der Hautdecken ist herab-
gesetzt. Sie ist schlaflos, die sonst unregelmässige Menstruation ist seit der
Beob. 27. Mord der Ehefrau. Melancholie mit Verfolgungsdelirium. 107
letzten Entbindung vor 2V'2 Monaten nicht wiedergekehrt. Sie macht ganz lucid
und präcise Angaben über ihr Vorleben. Der Gedanke, die Kinder zu tödten,
sei im vorigen Jahr, im 6. — 7. Monat ihrer Schwangerschaft, aufgetreten. Sie
war damals deprimirt, arbeitsunlustig. Das Wochenbett ging gut vorüber. Da
sie dem Beruf nachgehen musste, konnte sie das Kind nicht stillen. Sie fühlte
sich in der Folge matt, schlief wenig, war von der Idee, ihre Kinder umzubringen,
geplagt, verstimmt, niedergeschlagen, unaufgelegt zur Arbeit, wähnte sich von
aller Welt beobachtet. Sie hatte früher die Kinder sehr geliebt. Als sie sie in's
Wasser warf, w'ar sie ganz gefühllos. Sie glaubte sie im Himmel gut versorgt
und von dem Schicksal bewahrt, so unglücklich zu werden wie ihre Mutter,
d. h. so gefühllos. Sie wünscht nun hingerichtet zu werden. Ihre psychische
Anästhesie besteht unverändert fort.
Sowohl in der Familie des Vaters als der Mutter finden sich zahlreiche
Fälle von Geistesstörung. Frau E. war eine brave, sparsame Mutter und Gattin.
Sie hat in 6 Jahren 5mal geboren. Sie plagte sich ab und nährte sich schlecht.
Seit der 4. Schwangerschaft bot sie Erscheinungen melancholischer Depression.
Ende der 5. Schwangerschaft nach einer Gemüthsbewegung deutliche Melancholie.
Fat. trägt sich mit Selbstmordgedanken, zeigt tiefe Depression und Abulie, ver-
nachlässigt ihr Hauswesen, kommt körperlich sehr herunter, klagt Kopfweh, isst
wenig, schlaft fast gar nicht mehr, klagt, dass sie unglücklich sei, ihr Schicksal
verdiene. Ihr Benehmen gegen den Mann war ein ganz verändertes.
Das Gutachten weist klar die physischen und psj^chischen Symptome einer
Melancholie nach, die in den letzten Monaten der 5. Gravidität auf Grund
erschöpfender Einflüsse (gehäufte Geburten, schlechte Ernährung, Ueberanstren-
gung etc.) bei einer erblich Disponirten sich entwickelte und nach der Entbindung
steigerte. Die That ist die direkte Folge einer tiefen Störung des Gefühls (psy-
chische Anästhesie) und melancholischer Wahnideen. Keine Verurtheilung. Ver-
setzung in eine Irrenanstalt. (Ann. med. psychol. 1878, Januar.)
Analoge Fälle: S. meinen Aufsatz: der Mord der eigenen Kinder,
Friedreich's Blätter 1870. Ferner: Burkart, Vierteljahr sschr. f. gerichtl. Med.
Nr. XXIV, p. 2.
Beob. 27. Mord der Ehefrau. Melancholie mit Verfolgungs-
delirium. Am Morgen des 1. Juli 1871 kamen ein Mann und eine Frau an's
Gestade des Montepulcianersees und mietheten eine Barke zur Ueberfahrt. Der
Mann hatte keine Schuhe an und einen verstörten Blick. Die Frau war schmerz-
lich bewegt und sagte beim Einsteigen : „Das ist das erste und letzte Mal für
mich." Ein Fischermädchen führte das düstere schweigsame Paar über den See.
Plötzlich springt der Mann auf, sucht die Frau in's Wasser zu werfen. Diese
klammert sich an ihn, beide stürzen über Bord. Das Mädchen will Hülfe leisten,
der Mann stösst die Barke von sich, macht sich von der Frau los, diese versinkt.
Darauf nöthigt er das erschreckte Mädchen, ihn wieder aufzunehmen.
Man hat den Vorfall am Ufer bemerkt, verschiedene Schiifer nähern sich
dem Boot. Da springt der Fremde in's Wasser und erreicht schwimmend das
Land. Man verhaftet ihn, er zieht ein Crucifix heraus, küsst es und sagt: „Seht,
welch ein Mensch ich bin und was ich trage." Er empfiehlt sich und sein
Leben, das man ihm nehmen wolle, der Gnade Gottes. Dass er seine Frau in's
Wasser geworfen, leugnet er, das sei ein Unglücksfall. Er habe sie sehr geliebt,
sei erst kurz verheirathet. Im Gefängniss sprach er nicht oder nur unverständliche
108 Cap. IX. Die Melancholie.
Worte, hielt immer das Crucifix in der Hand, bat, dass ihm nichts Böses ge-
schehe, er sei verfolgt von einem schrecklichen Geschick. Im Verhör am 3. Juli
macht er den Eindruck eines Simulanten — er erinnert sich nur an nicht gra-
virende Umstände, schreibt statt seines Namens unleserliche Worte. Am 22. Juli
schmerzliche Resignation. „Man sagt, ich hätte meine liebe Frau umgebracht.
Nach einem solchen Verbrechen kann ich nicht mehr leben. Möge Gott mir das
Leben nehmen!"
Am 25. ganz geordnet, vernünftige Antworten. Von seinem Verbrechen
vs^eiss er nichts, kennt es nur vom Hörensagen. Erst seit 5 Tagen sei er wieder
ganz bei sich; er zeigt aufrichtigen Schmerz, überlässt dem Tribunal seine Be-
strafung.
In der Folge heftiger Kopfschmerz, Schlaflosigkeit, ängstliche Erwartungs-
affekte, Vei'langen nach einem Geistlichen, da er bald um's Leben gebracht werde.
Am 4. Sept. Aufnahme in der Irrenanstalt.
Virgilio Biagiotti ist 38 Jahre alt, Koch, hat den besten Leumund, soll
aber beschränkt und abergläubisch sein.
Im December 1870 beständiger Kopfschmerz nach Ueberanstrengung am
Feuerherd. Die Umgebung fand ihn geistig verändert, düster, schweigsam,
zerstreut.
Im Frühjahr 1871 ängstliche Erwartungsaffekte, Taedium vitae, Klagen,
dass ihm das Hirn schwinde, Zunahme der Kopfschmerzen. Statt früherer reli-
giöser Indifferenz nun religiöser Schwärmer.
Am 7. Juni hatte er geheirathet, vorübergehend geäussert, seine Braut
verzaubere ihn. Bis zum 28. Juni bestes Einvernehmen. Allen Zeugen machte
er während dieser Zeit den Eindruck eines Geistesgesunden.
Am 29. Morgens Kopfschmerz. Er geht zum Pfarrer, bittet ihn, Messe zu
lesen für ihn und seine Sterbestunde, kehrt heim, aufgeregt, angstvoll, verwirrt.
Er verlässt das Haus, irrt herum, verlangt da und dort Rasirmesser, um sich
umzubringen, Soldaten suchten nach ihm, um ihn nach Rom zu schleppen und
hinzurichten. Um 2 Uhr Nachts klopft er einen Freund heraus, um ihm das
letzte Lebewohl zu sagen.
Am Morgen des 30. fanden ihn Frau und Verwandte auf der Landstrasse.
Er liess sich zur Heimkehr bereden, übernachtete mit der Frau in einem Dorf,
entwich Morgens ohne Schuhe, wurde von der Frau eingeholt und nach dem See
begleitet, wo das Mitgetheilte sich ereignete. B. will nicht für geisteskrank gelten,
noch je es gewesen sein. Seine That kennt er nur aus Mittheilungen Anderer.
Er ist schlaflos, seufzt viel, fragt oft, ob jetzt die Soldaten kommen und mit
ihm fertig machen.
Gutachten : Patient hat einen kleinen Schädel , ist beschränkt und aber-
gläubisch. Als Koch setzte er sich thermischen Schädlichkeiten aus, bekam
Kopfweh, Schwindel, Congestionen, fühlte sich unwohl, wurde düster, schweig-
sam. Der Zustand ging in Melancholie über mit ängstlichen Erwartungsaffekten,
Verfolgungsdelirium, Taedium vitae. Der Mord fand wahrscheinlich unter dem
Einfluss eines hallucinatorischen Deliriums statt, jedenfalls sind vor und nach der
That Zeichen einer idiopathischen Geistesstörung nachzuweisen. Freisprechung.
(Livi im Archivio italiano per le malatie nervöse. 1872.)
Die Manie. 109
2. Die Manie.
Litei'atur. Spielmann, Diagnostik, p. 441. Santlus, die tobsüchtigen Zustände
beim Menschen und ihr Verhalten zur Imputation. Friedreich's Blätter
1874, H. 6.
Klinische Uebersicht: Als die Grundlage der maniakalischen Krank-
heitszustände ergeben sich affektive Veränderungen, die sich als psychische Lust,
gesteigertes psj^chisches Wohlsein dem Bewusstsein kundgeben und, ausser durch
ihre subjektive und damit krankhafte Begründung, zunächst qualitativ und klinisch
sich nicht von analogen Zuständen, wie sie der expansive Affekt des Gesunden
oder die beginnende Alkoholintoxication (Stadium der Weinwarmheit) darstellen,
unterscheiden lassen.
Diese heitere (maniakalische) Verstimmung gibt sich klinisch als Steigerung
des Selbstgefühls, heitere Laune, Lustigkeit bis zur Ausgelassenheit zu erkennen.
Diese Veränderung im Bew^usstsein bedingt noth\^'endig eine geänderte
Apperception der Aussenv^'elt. Statt des düsteren Grau, in vs^elchem sie dem
Melancholischen auf Grund seiner psychischen Dysästhesie erscheint, kommt sie
dem Maniakalischen sinnlich wärmer, farbenprächtiger und interessanter vor.
Er sucht sie desshalb auf, geht gern in Gesellschaft, auf Reisen, ganz entgegen
dem Melancholischen, der sie negirt, verabscheut. In dieser geänderten Apper-
ception liegt ein mächtiger Zuwachs an psychischem Lustgefühl, der noch durch
geänderte Gemeingefühle gesteigerten körperlichen Wohlseins, erhöhter Kraft und
psychischer Leistungsfähigkeit verstärkt wird. Damit fehlt die Möglichkeit einer
Selbsterkenntniss des Zustands als eines krankhaften.
Ein weiterer Grundzug der Störung ist der abnorm erleichterte Ablauf der
psychischen Vorgänge, mögen sie nun Vorgänge der Reproduktion, der Asso-
ciation und Combination oder der Umsetzung der Vorstellungen in motorische
Leistungen betreffen.
Durch die erleichterte Reproduktion aus dem Schatz des Gedächtnisses,
durch die erleichterte Apperception der Aussenwelt, den beschleunigten Ablauf
der Vorstellungen besitzt der Kranke einen grösseren Gedankenvorrath, grössere
Beredtsamkeit, rascheres Auffassen der Beziehungen, vielfach Witz und Ironie.
Die Erleichterung im Ablauf der psychischen Processe erhöht das Gefühl geistigen
Behagens und steigert das Selbstvertrauen des Kranken, der ja jeden Augen-
blick Beweise eines potenzirten Könnens erhält. Er wird dadurch kühn, unter-
nehmungslustig.
Die Fülle von Vorstellungen, die ein Handeln anregen, das erleichterte
Uebergehen des Vorstellungsreizes in einen Bewegungsimpuls, das gesteigerte
Selbstgefühl, die Unmöglichkeit, bei dem beschleunigten Vorstellungs.ablauf und
dem durch Lustgefühle verfälschten Bewusstsein contrastirende , hemmende Vor-
stellungen geltend zu machen, sind die Bedingungen für ein krankhaft gesteigertes
Handeln. Dieses gibt sich zunächst in Unstetigkeit, Begehrlichkeit, Thatendrang
kund. Die Kranken wechseln beständig Ort und Beschäftigung, schreiben viel,
sind immer auf Visiten und Reisen, voller Hast und Unruhe, lustig, aufgeräumt,
zu Excessen aller Art aufgelegt.
Neben dieser allgemeinen Steigerung der psychischen Leistungen findet
110 Cap. IX. Die Manie.
sich eine ungewöhnliche Erregbarkeit für sinnliche und gemüthliche Reize. Daraus
erklärt sich die Ueberschwänglichkeit solcher Kranker und die Leichtigkeit, mit
welcher sie in Gemüthsbewegungen gerathen. Während sie einerseits in ihren
Lustaffekten sich nicht zu beherrschen vermögen, ihre Freundschaft und Sympathie
keine Gränzen kennt, genügt umgekehrt ein leichtes Hinderniss, ein einfacher
Widerspruch, um sie in Zorn zu versetzen, wobei aber noth wendig bei dem
raschen Wechsel und Ausgleich ihrer psychischen Erregungen etwa entstandene
zornige Affekte und leidenschaftliche Stimmungen äusserst rasch wieder verfliegen.
Ziemlich constant ist bei solchen Kranken auch eine Störung des Schlafs.
Sie schlafen wenig, der Schlaf ist vielfach unterbrochen, sie stehen Nachts auf,
entwickeln eine auffallende Geschäftigkeit, treiben sich im Hause oder auf der
Strasse herum. Vielfach findet sich eine jedenfalls cerebral bedingte Erhöhung
des Geschlechtstriebs, die zu sonst dem Kranken vielleicht ganz fremden Zwei-
deutigkeiten, Obscönitäten, selbst geschlechtlichen Excessen führt. Mit der krank-
haften Steigerung der psychischen Processe geht dann auch wohl ein gesteigertes
Bedürfniss nach Genussmitteln und Nervenreizen einher, das im Aufsuchen von
Spirituosen, starkem Kaffee, gewürzten Speisen, Rauchen starker Cigarren be-
friedigt wird.
Bemerkenswerthe Aenderungen zeigt auch das willkürliche Muskelsystem.
Der sogenannte Muskeltonus erscheint unter dem Einfluss der cerebralen Erregung
gesteigert, die Haltung ist eine strammere. Auch die Sicherheit und Promptheit
der Bewegungen ist eine grössere als im normalen Zustand. Der Muskelapparat
spricht leichter und schneller auf den psj^chischen Impuls an.
Das im Vorstehenden skizzirte Krankheitsbild bezeichnet die
Psychiatrie mit dem Namen der maniakalischen Exaltation.
Seine genaue Würdigung ist forensisch von grossem Werth, da einer-
seits bei dem Fehlen von "Wahnideen und Sinnestäuschungen und bei
der scheinbar gesteigerten Leistungsfähigkeit des psychischen Apparats
es dem Laien schwer fällt, den Zustand als einen krankhaften zu er-
kennen, andrerseits zahlreiche Rechtsverletzungen in demselben mög-
lich sind, für die eine criminelle Verantwortlichkeit nicht angenommen
werden kann.
Solche maniakalische Exaltationszustände verlaufen theils als
selbstständige Form der Manie, theils bilden sie das Initialstadium
der vollendeten Tobsucht oder der Paralyse, theils finden sie sich
intercurrent im Symptomen compl ex der Hysterie.
Von grossem Interesse sind die Fälle, wo sich im Verlauf der
maniakaUschen Exaltation triebartige .Impulse in Form von Stehl-,
von Sammelsucht oder Wanderdrang hinzugesellen.
In dem Masse als die übrigen Krankheitserscheinungen wenig
entwickelt sind oder der Kranke im Stande ist, seine unüberlegten
unmotivirten Handlungen mit Vernunftgründen zu bemänteln (folie
räisonannte), erscheint der Zustand dem Laien vielfach als ein noch
Maniakalische Exaltation. Diagnostische Zeichen. \W
physiologischer, er hält den Kranken bloss für muthwillig, aufgeregt,
ausgelassen oder angetrunken.
Es ist indessen nicht schwer, durch diese Maske hindurch den
Zustand als einen krankhaften unfreien zu erkennen.
Was in denselben zunächst auffällt, ist die Unmotivirtheit der
Stimmungen, die Leichtigkeit, mit der diese wechseln und sich zur
Höhe von Affekten erheben.
Im Ablauf der Vorstellungen überrascht die Unmotivirtheit der
Associationen, die Verknüpfung ganz disparater Vorstellungen, der
abspringende Gedankengang, die Neigung zu Alliterationen, ja selbst
zum Sprechen in Versen, nicht minder die Unerschöpflichkeit des
Redestroms.
Besonders auffallend ist aber die Störung der Besonnenheit,
die sich in der Nonchalance und Dreistigkeit des Auftretens, dem
Hinaussetzen über die gewöhnlichen Regeln des Anstands und der
Sitte bis zur Obscönität und cynischen Frechheit, der Grobheit, An-
massung und Unverträglichkeit im socialen Verkehr wesentlich
kundgibt.
Auch die Handlungen dieser Kranken bieten manches Patho-
logische. Sie sind unmotivirt, übereilt, werden mit einer bezeich-
nenden Hast und Unruhe ausgeführt. Sie erscheinen damit unüber-
legt, vielfach triebartig. Dem Kranken ist es gar nicht um den Er-
folg seiner Handlung zu thun, er verfolgt nicht naheliegende Vor-
theile, die er aus seiner Unternehmung ziehen könnte, ja vielfach
kommt er nicht zur Vollendung, er beginnt vorher etwas Anderes, oft
ganz Heterogenes.
So werden die Kranken bei ihrem krankhaft gesteigerten Wissen
und Leisten auffällig und anstössig durch die Gewalt ihrer Gefühle,
Leidenschaften, Triebe und durch die Verkehrtheit ihrer Handlungen.
Noch deutlicher wird das Pathologische der Erscheinung, wenn
sie mit dem früheren Menschen verglichen wird, namentlich wenn
dieser ein sonst bedächtiger, bescheidener, sittsamer ruhiger Mensch
war und alle Veranlassungen für eine solche auffällige Charakter-
umwandlung fehlen.
Nicht selten ergibt sich auch aus der Anamnese ein melancho-
lisches Vorstadium, der Kranke leidet an Schlaflosigkeit, seine Un-
ruhe zeigt spontane Remissionen und Exacerbationen, seine Strebungen
und Handlungen sind seinen früheren Gewohnheiten ganz entgegen-
gesetzt. Bei soli;hen Kranken ist es eben vorwiegend das Handeln,
welches die Störung verräth, jedoch gibt die einzelne Handlung
112 Gap. IX. Die Manie.
keinen Anhaltspunkt für das Verständniss des Falls, wohl aber die
Beurtheilung des gesammten Strebens und seine Vergleichung mit der
früheren gewohnten Anschauungs- und Handlungsweise.
Ein solcher Zustand von massiger, aber ausgesprochener maniakalischer
Exaltation findet sich nicht selten in ganz chronischer Weise, selbst von jahre-
langer Dauer und wird, da der Kranke nicht delirirt, einer gewissen äusseren
Besonnenheit nicht verlustig ist, vielfach Proben einer bedeutenden Leistungs-
fähigkeit ablegt, seine übereilten Handlungen trefflich zu motiviren vv'eiss (folie
raisonnante), nur zu häufig fälschlich als physiologischer beurtheilt. Das
gesteigerte Selbstgefühl solcher Kranken äussert sich in einem herrischen Benehmen
gegen Untergebene, in Zudringlichkeit und Vertraulichkeit gegen Höherstehende,
ihre geschlechtliche Erregung gibt sich kund in sexuellen Excessen, Obscönitäten,
Frechheiten gegen ehrbare Frauen, ihr exaltirtes Vorstellen und Streben in
Thatendrang, Begehrlichkeit mit stets vs^echselndem Objekt, Aber es ist diesen
Kranken keineswegs um die Befriedigung ihres Begehrens zu thun, sie verfolgen
keinen ernstlichen Zweck, sind nicht bestrebt, ihr scheinbares Ziel zu ei'reichen,
sie halten bei keiner Beschäftigung aus, die Thätigkeit ist bei ihnen eine krank-
hafte, nur Mittel zum Zweck und selbst die Erfüllung ihrer Begierden stellt sie
nicht zufrieden. Hir krankhafter Stimmungswechsel zeigt sich in grundlosen
Zu- und Abneigungen, bald sind sie Feuer und Flamme für eine Person oder
Idee, bald kalt und abstossend. Ihre Reizbarkeit zeigt sich in der Unfähigkeit,
Widerspruch zu ertragen, in ihrer Leichtverletzlichkeit. Während sie selbst sich
Alles erlauben, können sie von Anderen nichts ertragen. Sie streiten, lärmen,
spötteln, necken, finden rasch die Fehler Anderer, entwickeln bei der Exaltation
ihres Vorstellens beissenden Witz und Spott, gefallen sich darin, Händel zu
stiften, die Leute gegen einander aufzuhetzen, Intriguen anzuzetteln, böswillige
Gerüchte auszustreuen.
Die Störung ihrer Besonnenheit verräth sich darin, dass sie dabei gar
nicht bemerken, wie sie überall anstossen, sich und Andere compromittiren, die
gewöhnlichsten Regeln der Klugheit, der Sitte, des Anstands verletzen.
*
Trotzdem, dass die äussere Besonnenheit und die intellektuelle
Leistungsfähigkeit der von maniakalischer Exaltation befallenen Kranken
erhalten scheint, muss ihre Zurechnungsfähigkeit als aufgehoben bezeich-
net werden. Die Freiheit der Willensbestimmung ist vernichtet theils
dadurch, dass die natürlichen Triebe und sinnlichen Regungen eine
pathologische Stärke erreicht haben, theils dadurch, dass der Vor-
stellungsprocess zu beschleunigt abläuft, als dass ein ruhiges Besinnen
und Ueberlegen vor dem Handeln noch möglich wäre, womit dieses
einen zwangsmässigen Charakter erhält, selbst wenn es deutlich
motivirt und vollbewusst zu Stande kommt.
Endlich ist nicht zu übersehen, dass bei solchen Kranken, gleich-
wie im analogen Zustand der Berauschung, eine eigenthümliche Stö-
rung der Besonnenheit besteht, vermöge welcher die ganze Summe
Die TobsLiclit. Rechtswidrige Handlungen Maniakalischer. 113
der sittlichen ästhetischen corrigirenden Vorstellungen temporär ganz
fehlt, gar nicht zum Bewusstsein kommt.
Eine einfache Steigerung der maniakalischen Exaltation zur Höhe der
Krankheit stellt die Tobsucht dar. Die Beschleunigung der psychischen Processe
ist hier bis zur Ungebundenheit gediehen. Das Ich hat alle Direktive verloren.
Die enorme Erhöhung der gemüthlichen Erregbarkeit gibt sich hier in einem
grossen Wechsel der Stimmung kund. Tolle Lustigkeit und maniakalischer Jubel
wechseln mit Phasen zorniger Erregung und schmerzlichen Jammerns, Singen,
Pfeifen und Schreien mit Heulen und schmerzlicher Zerknirschung.
Die hochgesteigerte Beschleunigung des Vorstellungsablaufs führt zu Ge-
dankendrang, Ideenjagd, und da keine Einzelvorstellung mehr festgehalten werden
kann, zu Verworrenheit. In der Regel kommt es auf der Höhe der Krankheit
auch zu Wahnideen und Sinnestäuschungen, Jene sind vorwiegend Grössen-
delirien. Bei zorniger Stimmungslage können aber auch Verfolgungsdelirien
(namentlich dämonomanische) sich finden.
An die Stelle von deutlich bewussten und geplanten, wenn auch übereilten
unfreien Handlungen treten Bewegungsakte, die zwar noch den Charakter von
gewollten Handlungen an ,sich tragen, aber nicht mehr durch die Aussenwelt
oder mit einem Bedürfnisse motivirt, sondern sich selbst Zweck sind, nicht mehr
durch deutlich bewusste Vorstellungen ausgelöst sind, sondern durch innere Reize
vermittelt, somit automatisch, triebartig erscheinen. Auf der Höhe der Krankheit
steigert sich dieser Bewegungsdrang bis zum Zerstörungsdrang. Daneben können
noch durch Lust- oder Zornaffekte motivirte Handlungen (psychische Reflexakte)
und durch Delirien und Sinnestäuschungen vermittelte vorhanden sein.
Die Gesammtheit dieser Störungen im Fühlen, Vorstellen und Streben
bildet den Zustand der Tobsucht. Sie entwickelt sich in allmäliger Steigerung
aus der maniakalischen Exaltation oder auch in acuter primärer Weise. Bei dem
ausgesprochenen Krankheitsbild bietet sie kaum einen Gegenstand des Zweifels
für die gerichtliche Medicin.
Rechtsverletzungen durch Maniakaiische können auf mehrfache
Weise zu Stande kommen.
Zunächst ist es die Steigerung der natürlichen Triebe, nament-
lich des Greschlechtstriebs, welche sie veranlasst. So lange die mania-
kaiische Exaltation ihre Höhe noch nicht erreicht hat, kommt es bloss
zu unmoralischer Lebensweise, sexuellen Excessen, Besuch von Bor-
dellen, Anknüpfung sinnloser Liebesabenteuer. Erreicht die Tobsucht
ihre Höhe, so zeigt sich der krankhaft gesteigerte Trieb aller Rück-
sicht auf Scham und Sitte ledig (Nymphomanie, Satyriasis) und äussert
sich schamlos in Masturbation, unzüchtigen Angriffen auf das andere
Geschlecht etc., wodurch die öffentliche Sittlichkeit schwer compro-
mittirt und Nothzuchts- und Unzuchtsverbrechen bedingt werden. In
analoger Weise kommen durch organische Nöthigung (Hunger , Ge-
lüste) motivirte Diebstähle vor,
li V. Kr afft-Ebing, gerichtl. Psychoimthologie. 2. Auflage. o
114 Cap. IX. Die Manie.
Eine zweite Quelle von Collisionen mit dem Strafgesetz ergibt
sich aus der Reizbarkeit und dem gesteigerten Selbstgefühl der
Kranken. Sie ertragen keinen Widerspruch, keine Hemmung ihrer
ausschweifenden Plane, reagiren darauf in brüsker brutaler Weise
und die nothwendige Folge sind Ehrenkränkungen, Duelle, Körper-
verletzungen, Beleidigung und Misshandlungen öffentlicher Organe,
Auflehnung gegen die Gesetze.
Eine weitere wichtige Quelle von strafbaren Handlungen sind
die triebartigen Impulse der Kranken, In den niederen Graden der
Krankheit äussern sie sich als scheinbar rein muthwillige Verletzun-
gen von fremdem Eigenthum oder von Personen, in Form von vaga-
bundirendem Umhertreiben, Hang zum Stehlen, Alkoholexcesse zu be-
gehen. Auf der Höhe der Krankheit richtet sich der Zerstörungs-
drang gegen Alles was ihm in den Weg kommt und es ist dann
psychologisch völlig gleichgiltig, ob er sich gegen werthlose Objekte
kehrt oder in Brandstiftung entäussert wird oder zur Beschädigung
von Personen führt.
Eine vierte Quelle für gesetzwidrige Handlungen bieten endhch
die Wahnideen und Sinnestäuschungen solcher Kranker.
Beob. 28. Kur'pfuschere'i. Chronisclie Manie mit Grössenwahn-
ideen. Anfang Juli 1872 erschien der 46jährige concessionirte Bader H. aus
der bayrischen Rheinpfalz in mehreren Dörfern des Elsass, um dort zu praktiziren.
Er gab sich für einen reisenden Doktor aus, zeigte Zeugnisse von Patienten als
Legitimation vor oder erklärte sie auch für überflüssig, da er ja selbst den andern
Doktoren Stunde gebe. Am 8. Juli unternahm er an einem kranken Bauern, der
an Caries des Oberschenkels litt, eine Operation, in Folge deren, zum Theil durch
schlechte Nachbehandlung, der Kranke an Pj^ämie starb.
Am 15. Juli wurde H. verhaftet. Er gab seine Personalien richtig an,
erklärte sich aber für einen Wundarzt. Wenn der kranke Bauer das Wundfieber
bekommen habe, so könne er nichts dafür. H. hatte sich seit der Operation in
verschiedenen Dörfern als reisender Doktor ausgegeben, am 14. Abends durch sein
excessives Benehmen so sehr Anstoss erregt, dass er arretirt werden musste.
Dem verhaftenden Gensdarmen schien er wahnsinnig zu sein, so etwas „von
Säuferwahnsinn". Er gab sich diesem gegenüber bald für einen Doktor, bald für
einen Professor aus. Am 16. Juli wurde H. nach Strassburg überführt. Sein
Leumund ist kein guter. Er war seit Jahren dem Trunk so ergeben, dass sich
seine Familie von ihm trennte, trieb sich vacirend herum, war wiederholt wegen
Kurpfuscherei und am 31. Juli 1871 wegen Diebstahls bestraft worden. Der
Oberaufseher des Strafhauses findet, dass H. damals gerade so gewesen sei wie
jetzt, ein auffallendes, unstetes Benehmen und ein übertriebenes Selbstgefühl
gezeigt habe. In den Verhören gab er sich für einen Wundarzt aus, der vom
König selbst nach J. geschickt sei. Er gebe dort Stunden in Anatomie und
Pathologie, sei der '"gesuchteste Doktor weit und breit. Er führe für 3C0O fl.
Beob. 29. Tobsuclit. Gatten- und Kindsmord. 115
ärztliche Instrumente mit sich (in Wirklichkeit nur Messer, Lanzette und etwas
zahnärztlichen Apparat), sei im Stande, als Professor seine Stelle auszufüllen.
Er habe schon viele Leute, die von anderen Aerzten aufgegeben waren, vom
Tod gerettet. Als Belege für seine hohe Befähigung übergab er zu Gerichtshanden
einige Zeugnisse von Bauern, die bescheinigten, dass er ihnen glücklich Zähne
gezogen habe.
H. ist von kräftiger, gedrungener Gestalt, Schädelbildung normal, vege-
tative Processe ungestört. Die direkte Untersuchung ergibt deutliche Zeichen
krankhafter Störung der Geistesthätigkeit. Sein Selbstgefühl ist krankhaft ge-
steigert, worauf schon die Selbstgefälligkeit und der Aplomb, mit dem er auftritt,
hinweisen.
Auch der Vorstellungsprocess hat eine krankhafte Steigerung erfahren. Er
spricht mit grossem Wortschwall, kommt gar nicht zu Ende, sein Gedankengang
ist dabei auffallend abspringend. Daneben zeigen sich Grössenwahnideen. Er
behauptet. Lateinisch wie Deutsch zu sprechen, seine Verwandten sind von hohem
Adel, er ist enorm geschickt, gesucht von den vornehmsten Leuten, bereitet die
jungen Doktoren auf's Examen vor, gibt Bücher über Zahnheilkunde heraus,
schreibt Recepte, die 2 Thaler kosten, hält Consultationen mit den berühmtesten
Chirurgen ; er singe auch sehr schön, könne allein ein Concert geben, auch säen,
jagen, vorreiten im Regiment, wenn er nur einmal seine Kenntnisse „austoben"
könnte. Er fühle sich äusserst wohl, sehe so gut, dass er den Leuten die Därme
aus dem Leib heraussehen könne.
In diesen Rodomontaden bewegt sich sein Vorstellen, er ist unerschöpf-
lich in der Schilderung seiner Leistungen, und wenn ihm eine Renommage recht
gelungen ist, lacht er vergnügt vor sich hin und zwinkert mit den Augen.
Im Gebiet des Strebens fällt zunächst eine gewisse triebartige Unruhe auf,
die ihn verhindert, auch nur einen Augenblick in einer angenommenen Stellung
zu verharren. Dabei beständiges Mienenspiel und Gestikuliren mit den Händen.
Ausserdem Tremor der Finger, Zunge, Beben der Gesichtsmuskeln.
Aus der gegen ihn gerichteten Untersuchung macht er sich nichts, das sei
nur Verleumdung und Lappalie. Inculpat leidet an einem empirisch wahren Bild
psychischer Störung — an Manie mit Grössenwahnideen. An eine Simulation
kann nicht gedacht werden. Der Beweis einer krankhaften Störung der Geistes-
thätigkeit ist damit erbracht. Freisprechung. Irrenhaus. (Eigene Beobachtung.)
Beob. 29. Gatten- und Kindsmord. Tobsucht. V., 29 J., stammt von
einer geisteskranken Mutter. Ein Bruder war geisteskrank, 3 Geschwister starben
in zartem Alter an Krämpfen. Gesichts- und Zungenhälften ungleichmässig ent-
wickelt. Er bot von jeher ein schwaches höchst reizbares Nervensystem, zitterte
leicht nach schwächenden oder erregenden Einflüssen. In der psychischen Sphäre
fiel früh schon ein eigenthümliches auffallendes Verhalten auf, er war bald
exaltirt, erregt, geschwätzig, zu Excessen und Sonderbarkeiten geneigt — bald
spleenartig verstimmt, argwöhnisch, denunciationssüchtig, arbeitsunlustig, unfähig.
Er war Comptoirist, heirathete eine weit ältere Frau, lebte in guter Ehe,
wurde Vater. Er wurde allgemein wegen seiner älteren, angeblich hässlichen
Frau geneckt, man verspottete ihn öffentlich an Fastnacht, indem'^man eine alte
Drossel und einen jungen Falken darstellte. Er bemerkte auch, dass man über-
all, wo er erschien, über ihn witzelte, wesshalb er sich von der Gesellschaft zu-
rückzog.
116 Cap. IX. Die Manie.
Am 7. Juli Abends fanden Gespräche zwischen V. und einem CoUegen
über Kinder und Vaterschaft statt, die ihn tief erregten. Es war auch von einer
anonymen Mittheilung die Rede, er sei nicht der Vater seines Kindes. V. schlief
die folgende Nacht nicht. Am 8. und 9. war er geistig erregt, arbeitsunfähig,
führte verwirrte Reden. Am 9. ging er bis 12 Uhr Nachts auf und ab, kam um
2 Uhr Morgens im blossen Hemd herunter zu den Hausleuten und erklärte, er habe
Frau und Kind ermordet. Die erstere fand man erwürgt, das Kind mit durch-
schnittenem Hals , V. hatte selbst an Hals und Handgelenken oberflächliche
Schnitte. Er war ganz verwirrt, faselte von Lichtbildern, Electricität, Fastnacht-
gedichten, die auf ihn gemünzt seien, der Kopf sei ihm ganz verdreht, man habe
ihm die ganze Nacht Schattenbilder vorgemacht, gesagt „Hund beiss" etc. Dieser
Zustand geistiger Verwirrtheit mit vagen Delirien, Hallucinationen , melancholi-
schen und maniakalischen elementaren Störungen, verkehrten Handlungen — ein
proteusartiges Krankheitsbild, das den Verdacht auf Simulation nahe legte, dauerte
bis Dec. Pat. wurde ruhig, besinnlich, er litt noch viele Monate an schlechtem
Schlaf, nervösem Zittern, es kam ihm öfters noch vor, es seien Leute im Zimmer,
hatte bei geschlossenen Augen leicht Flimmern, Funkensehen, Schwindel und
Schwanken, ermüdete rasch köi'perlich und geistig. Allmälig gewann er sein
relatives d. h. früheres psychisches Gleichgewicht wieder, war zu seinen gewohnten
Geschäften wieder fähig. Die ganze Krankheit erschien ihm in der Erinnerung
wie ein wüster Traum.
Das treffliche Gutachten erweist die hereditäre Belastung, die sich in dem
psychisch anomalen Vorleben genugsam kund gibt. Bei derartigen Individuen
mit ohnehin labilem Gleichgewicht genügen geringfügige Veranlassungen, um sie
in eine vollständige und ausgebildete Geisteskrankheit zu stürzen. Veranlassungen
waren Missverhältnisse in der Ehe, bezügliche Neckereien etc. V. verfiel unter
diesen ursächlichen Momenten unter den gewöhnlichen Erscheinungen (mangeln-
der Schlaf, Bevvegungsunruhe etc.) in einen genuinen Anfall von tobsüchtiger
Erregung mit Sinnestäuschungen, mit Aufhebung des vernünftigen Selbstbewusst-
seins und der Selbstbestimmung, in welcher Krankheit er die That verübte.
Diese Krankheit dauerte 6 Monate, sie löste sich in empirisch wahrer Weise mit
Zunahme der Ernähi-ung, des Körpergewichts. Ob V. gegenwärtig ganz genesen
ist, ist schwer zu sagen. Er war früher nicht ganz normal. Er hat jedenfalls
seine frühere relative psychische Gesundheit wieder erlangt. (Dr. Koster Irren-
freund 1875, Nr. 7.)
Weitere Fälle: Casper-Liman Handb. Fall 293 (Tobsucht, Majestäts-
beleidigungen). Henke's Zeitschr. 1828, H. 2 (acute Tobsucht. Excesse). Zippe,
Wien. med. Wochenschr. 1879. Nr. 33 — 36 (chronische Manie. Verbrechen der
gefährl. Drohung). Livi, Archiv, italian. 1866, H. 2 (Mordversuch eines Schwach-
sinnigen in maniakal. Aufregung). Valsuani Archiv, ital. 1867, Juni (Diebstahl).
Combes, Annal. med. psychol. 1867, Sept. (Mord der Ehefrau im Beginn eines
Anfalls A^on recidivirender Manie).
Anhang: Das periodische Irresein. 117
Anhang: Das periodische Irresein.
Literatur. Flemming, Ps3'chosen, p. 262. Spielmann, Diagnostik, p. 325. Ueber
Kleptomanie in period. Aeusserungsweise s. Damerow, AUg. Zeitschrift f.
Psychiatr. I, p. 445. Guislain, die Geisteskrankheiten, übers, von Laehr, p. 83.
Girard, Ann. med. ps3^chol. Bd. VI. Bucknill u. Tuke p. 224. Kirn, die period.
Psychosen. 1878. v. Krafft, Lehrb. d. Psychiatrie II, p. 121. — Ueber Dipso-
manie: Bucknill u. Tuke, Lehrb., p. 236. Brühl-Cramer, Trunksucht, Berlin
1819. Erdmann, Beiträge z. Kenntniss d. Innern v. Russland, 1823, p. 155.
Henke, Abhandlungen, Bd. IV, p. 296. Henke's Zeitschr. 1831, H. 3. Liman,
Vierteljahrsschr. f. ger. Med. 1865, H. 1. Lykken, Schmidt's Jahrb. 1879, 1.
Die bisher abgehandelten Formen der Melancholie und der Manie
können periodisch d. h. in annähernd denselben Zeitintervallen wieder-
kehren. Am häufigsten ist das maniakalische, sehr selten das melan-
cholische periodische Irresein. Eine eigene und nicht so seltene Va-
rietät stellt eine in regelmässigem alterirendem Wechsel beider For-
men sich abspielende psychische Störung dar (circuläres Irresein).
Die Dauer der einfachen sowie der cyclischen Anfälle des perio-
dischen Irreseins beträgt Wochen bis Monate. Das Krankheitsbild
der periodisch sich äussernden Manie (und Melancholie) unterscheidet
sich nicht wesentlich von dem gewöhnlichen ^ nur beschränkt es sich
in der Regel auf das einer blossen maniakalischen Exaltation (oder
Melancholie sine delirio). Die Stimmung ist verwiegend eine reiz-
bare. Das Vorherrschen von affektiven Störungen, die meist nur
formal geschädigte Intelligenz, die unsittlichen Impulse aus krank-
kafter organischer Nöthigung bei erhaltener Lucidität und Fähigkeit
jene zu dementiren und zu entschuldigen, wenn auch nicht zu unter-
lassen, geben solchen Zuständen den Anstrich der sog. folie raisonnante
und lassen sie in den Augen des Laien nur zu leicht als bloss un-
moralische, nicht als krankhafte erscheinen, zumal da vielfach die Grund-
züge der Krankheitsform nur angedeutet und die unsittlichen Impulse
in den Vordergrund gerückt sind. Bei ihren organischen Nöthigungen
zu unerlaubten Handlungen, ihrer Leicht verletzlichkeit , Händel-,
Schmähsucht, ihrer Neigung zu Intrigue, Spott, Persiflage, kommen
solche Kranke zudem häufig mit dem Strafgesetz in Conflikt. Wird dann
die Grundstörung übersehen, werden die (krankhaft) gesteigerten oder
perversen Triebe und unsittlichen Neigungen zum Gegenstand einer
ausschliesslichen und analytischen Beurtheilung gemacht und die
formelle Logik und verständige Redeweise trotz unvernünftigem
Handeln ausschliesslich berücksichtigt, so liegt die Gefahr einer irr-
118 Cap. IX. Periodisches Irresein. Diagnostische
thümlichen Auffassung des krankhaften Zustands als eines bloss un-
sittlichen nahe. Für die klinisch-forensische Diagnose ergeben sich
hier als wichtige Anhaltspunkte :
Bei den fraglichen Kranken lassen sich erbliche Anlage, Schädel-
missbildungen oder frühere Schädelverletzungen nachweisen.
Die Anamnese ergibt, dass die vermeintlich bloss unsittlichen
Impulse und Handlungen wiederholt in annähernd denselben Zeitinter-
vallen, unter ganz denselben Umständen und in derselben Ausführungs-
weise stattgefunden haben.
Sie erweist ihr Aufgetretensein zugleich mit anderweitigen psy-
chischen (lleizbarkeit, Unstätigkeit, Geschwätzigkeit etc.) und soma-
tischen (Schlaflosigkeit, Congestionen, Salivation etc.) auffälligen Er-
scheinungen und ihr Gebundensein an periodisch wiederkehrende so-
matische Vorgänge (z. B. Menstruation).
Der Status praesens des Inhaftirten ergibt Symptome eines ma-
nischen oder melancholischen Zustands, die, wenn auch zeitweise kaum
angedeutet, gelegentlich bei Affekten und Alkoholexcessen deutlicher
zu Tage treten.
Da bei diesen periodischen Störungen somatische Symptome
integrirende Erscheinungen des Krankheitsbilds zu sein pflegen, ist
auch auf solche zu achten. So kann die Beobachtung gastrische Stö-
rungen, Fluxion zum Gehirn, neuralgische Beschwerden, Anomalien
der Pupille, Nystagmus, partielle Faciallähmungen, zeitweisen Speichel-
fluss, fortschreitende Abnahme des Körpergewichts ergeben.
Das fragliche Krankheitsbild zeigt Schwankungen in seiner In-
tensität und ist eines Tags wie abgeschnitten. Jetzt, im intervallären
Zustand zeigen sich aber Symptome von Belastung oder überhaupt einer
dauernd fortbestehenden Störung der Gehirnfunktionen in Form von
abnormer Gemüthsreizbarkeit, mehr weniger deutlich ausgesprochenem
Schwachsinn, zeitweisen Fluxionen zum Gehirn, Intoleranz für Alkohol etc.
In diesem intervallären Zustand erscheint der fragliche Kranke
mimisch und psychisch als eine ganz andere Persönlichkeit wie er
sie im Paroxysmus darbot. Bei genügender Zeit der Beobachtung
lässt sich etwa ein neuer Anfall beobachten und constatiren, dass
dessen Symptome und Verlauf bis in das kleinste Detail das treue
Abbild des vorausgehenden sind. Damit ist die Diagnose der Geistes-
krankheit und speciell der periodischen gesichert.
Aber auch die incriminirten Handlungen dieser Kranken dürfen
zur Beweisführung herangezogen werden, jedoch darf dies nur im
Zusammenhang mit der Gesammtheit der Symptome geschehen.
Merkmale desselben. Dipsomanie. 119
Als besonders wichtige Handlungen bezw, Theilerscheinungen
des Krankheitszustands ergeben sich periodisch wiederkehrender Drang
zum Stehlen, Brandstiften, Saufen, zu Nothzucht und Unzucht, Vaga-
bundiren.
Diese Handlungen haben durchaus das Gepräge des Zwangs-
mässigen, durch innere Nöthigung erfolgenden.
Das Individuum ist sich eines Motivs vielfach gar nicht klar
bewusst, sein Thun steht meist in grellem Widerspruch mit seinen
Lebensgewohnheiten in der intervallären Zeit.
So ergibt eine genaue Beobachtung beim Kleptomanischen, dass
es dem Kranken vielfach nicht sowohl um den Besitz und die Ver-
werthung des Objekts, als vielmehr um die Befriedigung eines krank-
haften Drangs zu thun ist. So kommt es vor, dass er oft werth-
lose, für ihn ganz unbrauchbare Dinge, ja zuweilen sich selbst
bestiehlt, dass er das Gestohlene nicht benutzt, öffentlich und rück-
sichtslos stiehlt, sodass die Ertappung der That auf dem Fuss folgen
muss. Die Störung der Besonnenheit ergibt sich auch vielfach aus
dem Umstand, dass der Kranke gar nicht versucht, das Gestohlene
zu verbergen, den Verdacht von sich abzulenken.
Solche kleptomanische Antriebe werden vorzugsweise im Beginn
und in der Periode des Abklingens periodisch maniakalischer Erregungs-
zustände beobachtet.
Ebenso fremdartig und pathologisch erscheint der krankhafte
Trieb zum Saufen, die Dipsomanie oder Poljdipsia ebriosa.
Es handelt sich hier um zeitweise , meist streng periodisch auftretende
zwangsmässige Gelüste nach Alkoholexcessen bei Menschen, die in der intervallären
Zeit den Alkoholgenuss gründlich verschmähen. In der Regel lässt sich erbliche
Belastung, namentlich Alkoholismus in der Ascendenz nachweisen. Das Trieb-
artige, Zwangsmässige des Bedürfnisses ergibt sich aus der abscheulichen Gier,
mit welcher es befriedigt wird. Es ist solchen Dipsomanen dann gar nicht um
die Qualität, sondern nur um die Quantität zu thun. Mit einer unglaublichen
Hast und Gier bemächtigen sie sich des berauschenden Getränks, und wäre es
selbst der ordinärste Fusel im unsaubersten Gefäss. Sie schreien und toben bis
ihr Gelüste befriedigt wird. Ist der Paroxysmus dann vorbei, so kommen solche
Unglückliche mit einem wahren Ekel vor sich selbst und dem Branntwein wie-
der zu sich. Sperrt man sie im Beginn des Paroxysmus ein und befriedigt nicht
ihre Gier, so verläuft der Anfall als Tobsucht.
Die Dauer dieser noch wenig erforschten Krankheitszustände beträgt Tage
bis Wochen, die Wiederkehr der Anfälle erfolgt nach Wochen bis Monaten.
Schlaflosigkeit, psychische Unlust, Bewegungsunruhe leiten den Anfall ein, dessen
Symptome in anhaltender Schlaflosigkeit, Erscheinungen von Intoxication , die
aber auffallend gering sind und auf eine ungewöhnliche Toleranz für Alkohol
im Anfall selbst hindeuten, und in maniakalischer Aufregung bestehen.
][20 Gap. IX. Periodisches Irresein. Beob. 30.
Ein Stadium der Apathie, tiefer geistiger und körperlicher Erschöpfung
vermittelt den Uebergang in den interparoxysmellen Zustand.
Beob. 30. Diebstahl. Mania periodica. Ackerknecht Frye, 44
Jahre, hat einen Vater und eine Schwester, die psychopathisch waren, eine Ver-
wandte der Mutter soll geisteskrank gewesen sein. Mit 26 Jahren Typhus abdom.
Seitdem geistig angeblich verändert. Im Alter von 30—35 Jahren häufig Alkohol-
excesse. In dieser Zeit auch Verlust eines Erbschaftsprocesses. Im Mai 1865
Entwendung eines Radbeschlags und einer Wachstuchtischdecke. 1867 planloses
Umherziehen, nutzloses Vergeuden der Ersparnisse, Unstetigkeit. Zunahme dieses
unsteten Wesens im Winter 1867/68; dabei vager Verfolgungswahn, verkehrte
Handlungen (Entwendung von fremdem Eigenthum, Fällen von Bäumen, Ver-
setzen von Grenzsteinen, Zerstören von Gegenständen, Störung der öffentlichen
Ruhe etc.). Versetzung in die Irrenanstalt im März 1868. Genesen entlassen
am 4. Juli.
Anfangs 1873 Wiederkehr der alten Unstetigkeit: Unruhe, Arbeitsscheu,
Vagabundiren, Betteln, Belästigung des Publikums. Anfang März Entwendung
zweier Stücke Leinwand von einer Bleiche, Ende Mai Viktualiendiebstahl mittelst
Einbruchs. Verhaftung. Geständniss.'
Dem Untersuchungsrichter erscheint Frye etwas geistesschwach; seinen
Leinwanddiebstahl entschuldigt er mit der nichtigen Ausflucht, der Besitzer sei
ihm 16 Thaler schuldig gewesen. Der Arbeitgeber des Frye fand ihn geistes-
krank seit 18. April. Im Arreste Tobsucht, Versetzung in die Irrenanstalt. Ge-
nesen entlassen am 30. September. Der Genesene bestreitet seine Zurechnungs-
fähigkeit zur Zeit der Diebstähle, behauptet keine Erinnerung für die Zeit seiner
Krankheit zu haben (!) und widerruft sein Geständniss vom 3. Juni.
Gutachten: Frye war zur Zeit seiner Diebstähle, d. h. seit Anfang März
schon geisteskrank.
Gründe: Frye ist erblich disponirt, 1868 unzweifelhaft, 1867 und 1865
höchst wahrscheinlich schon geisteskrank gewesen.
Bei der Aufnahme im August 1873 war er unstät, ideenflüchtig, schlaflos,
ruhelos, einsichtslos, in seiner Besonnenheit gestört. Es handelt sich bei ihm
offenbar um Anfälle eines periodischen Irrsinns. Es ist dieser Krankheitsform
eigen, dass die einzelnen Anfälle bis in's Detail einander gleichen.
Die ärztlichen Berichte vom Jahre 1868 und 1873, obwohl von verschie-
denen Beobachtern, stimmen fast wörtlich über die Detailsymptome der Anfälle
des Frye überein. Sie äussern sich in Arbeitsscheu, Unstetigkeit, Schlaflosigkeit,
Vagabundiren, Eigenthumsbeschädigung. Mit Steigerung des krankhaften Zu-
standes tritt Ideenflucht, Stehltrieb, Zerstörungssucht und Neigung zu Thätlich-
keiten auf. Im Hintergrunde ist die Idee des Verfolgt-, Beeinträchtigtwerdens,
wie so häufig bei solchen Kranken.
Die Anfangssymptome dieses mit krankhaften Trieben beginnenden Leidens
werden von Laien in der Regel als moralische Verkehrtheit gedeutet. Offenbar
war dies auch bei Frye der Fall. Sein Diebstahl, Anfangs März, muss bereits
als ein Symptom der Geisteskrankheit, die sich später mehr und mehr ent-
wickelte, aufgefasst werden.
Frye ist ja ausserhalb seiner Anfälle ein ordentlicher Mensch und tüch-
tiger Arbeiter. Seine Amnesie ist erfahrungsgemäss glaubhaft (?) und ein wei-
terer Beweis für seine krankhafte Geistesstörung während deren Dauer. Frye
Beob. 31. Mania periodica. Brandstiftung. 121
wird voraussichtlich noch mehr Anfälle erleiden und ist desshalb rechtzeitig
wieder einer Anstalt zu übergeben.
Am 21. April 1874 kehrte Frye freiwillig in diese zurück, nachdem er
seit 4 — 6 Wochen verändert war, an Kopfschmerz, Schlaflosigkeit, Arbeitsscheu
gelitten und Neigung zum Vagabundiren gezeigt hatte. Ein eigentlicher mania-
kalischer Zustand ist bis jetzt noch nicht eingetreten. Frye wurde freigesprochen.
(Koster Irrenfreund 1874, Nr. 12.)
Beob. 31. Mania periodica. Brandstiftung. Am Ostersonntag den
16. April 1876 um 4 Uhr Nachmittags, während in der ebenerdigen Schankstube
viele Gäste waren, kam die Wirthin Margarethe Primster aus ihrer Wohnung im
ersten Stock in die Wirthsstube herab und sagte lachend, es brenne droben.
Dann lief sie vor das Haus und sah lachend und schreiend dem Brand zu. Sie
wurde bald darauf verhaftet. Im Gefängniss war sie schlaflos, unstet, ge-
schwätzig, lachte viel vor sich hin. Im ersten Verhör vom 29. April fiel sie
durch ihre Heiterkeit, ihr lebhaftes Mienenspiel und unstetes Wesen, ihren ab-
springenden Ideengang auf. Sie behauptete, an dem Brand unschuldig zu sein,
derselbe sei dadurch entstanden, dass ihr Mann, als er sich eine Pfeife anzündete,
brennende Streichhölzer in eine Ecke, in welcher Stroh lag, achtlos geworfen habe.
Der Untersuchung constatirtei indessen, dass sie selbst den Brand verursacht
hatte. Die Umstände ihrer That ist sie sich augenscheinlich nicht mehr bewusst.
Ein Motiv zu dieser Brandstiftung suchte man vergebens. Benehmen der Thäterin
und Thatumstände Hessen eine gerichtsärztliche Untersuchung ihres Geistes-
zustands nothw endig erscheinen. Die P. ist 59 J. alt, mittelgross, von schlaffer
Muskulatur, welker Haut. Der Schädel bietet ausser einer schmalen niederen .
Stirn keine Besonderheiten. Pupillen eng, träge reagirend. Gesicht geröthet.
Miene belebt, lebhaftes Mienenspiel, rasche Bewegungen bei sichtlicher Bewegungs-
unruhe. Die vegetativen Organe bieten keine Abnormitäten.
Die P. hat als Kind an Convulsionen gelitten, später Ruhr und eine
schwere Lungenentzündung durchgemacht. Die Menstruation dauerte vom 16. — 48.
Jahr. Sie hat 7 Mal geboren. Seit dem Ausbleiben der Menses leidet sie häufig
an Schwindel, Kopfschmerz, Herzklopfen, Einschlafen der Füsse, schweren und
und. ängstlichen Träumen. Angeblich wegen ihres Kopfschmerzes ergab sie sich
in den letzten Jahren dem Uebergenuss von Spirituosen. Früher arbeitsam und
vernünftig, soll sie in den letzten Jahren oft berauscht gewesen sein und eine
Aenderung ihres Wesens geboten haben. Sie wirthschaftete schlecht, so dass die
Familie verschuldet wurde. Vor einem Jahr überheizte sie einmal den Ofen
und steckte Teller in's Feuer. Seit 3 Jahren hält sie die Umgebung für nicht
richtig im Kopf. Nach Pausen von 4 — 5 Wochen, in welchen sie ruhig ist, meist
im Bett liegt, wenig spricht, sich die Hände reibt und mit allerlei kindischen
Spielereien die Zeit vertreibt, wird sie aufgeregt, unstet, schlaflos, vagabundirt
herum, ergibt sich Alkoholexcessen, schimpft und schreit im Dorfe herum, ist in
ihrer Stimmung äusserst wechselnd, launenhaft, unverträglich, äusserst reizbai",
zornmüthig und boshaft. Solche Zustände dauern 4—6 Wochen, worauf sie
wieder ruhig und still wird. Seit etwa einem Jahr haben ihre Geistesfähigkeiten
sichtlich abgenommen, auch ist sie äusserst reizbar geworden, so dass man ihr
nichts recht machen kann.
In einem derartigen Aufregungszustand befand sich die P. wieder seit
Anfang April.
122 Cap. IX. Periodiselies Irresein.
Bei der Exploration am 5. Mai ist sie sehr gesprächig, voll heiterer Ein-
fälle, äusserst abspringend in ihrem Ideengang. Sie lacht viel, bewegt sich mit
Vorliebe auf dem sexuellen Gebiete, glossirt die körperliche Untersuchung mit
erotisch gefärbten Reden, thut dabei hold verschämt. Ihre Auffassung der Lage
ist eine optimistische. „Zu essen haben wir, lustig sind wir, Laus' haben wir
keine." Sie habe es ihr Lebtag nicht so gut gehabt wie hier (Spital). Der
Aufenthalt hier, der ihr sehr komisch vorkommt, gebührt ihr nach ihrer Meinung,
denn sie sei ja „damisch" im Kopf Bezüglich des Brandes bleibt sie bei ihrer
Behauptung, ihr Mann habe durch unvorsichtiges Wegwerfen von Zündhölzchen
in's Stroh denselben verursacht.
Die P. schlaft wenig, treibt sich Nachts viel ausser Bett herum. Sie macht
sich beständig zu thun, hält aber bei keiner Arbeit aus, nestelt fast fortwährend
an ihren Kleidern herum, macht sich mit ihren Haaren zu schaffen, mischt sich
in die Gespräche der anderen Kranken, ist sehr redselig, spricht mit Vorliebe
von sexuellen Verhältnissen in sehr derben Ausdrücken. Sie zeigt deutliche
Spuren erotischer Erregung, entblösst sich gern vor den Aerzten. Ab und zu
bricht sie in ein äusserlich ganz unmotivirtes Lachen aus. Die vegetativen Pro-
cesse sind ganz ungestört, ebensowenig sind motorische Störungen während der
mehrwöchentlichen Beobachtungszeit zu constatiren.
Am 30. Juni hörte der maniakalische Zustand, in welchem Pat. eingeliefert
worden war, plötzlich auf Die P. erschien in der Folge ruhig, geordnet, jedoch
leicht erregbar. Am 2. August stellte sich ein dem vorausgehenden Anfall typisch
c^ngruenter ein und dauerte bis zum 15. September. In der Folge kehrten
solche Anfälle in Zwischenräumen von 1 Monat regelmässig wieder und dauerten
jeweils 20—35 Tage. Der Beweis einer Mania periodica zur Zeit der incriminirten
That wurde erbracht und Pat. zur dauernden Versorgung einer Irrenanstalt zuge-
wiesen. (Eigene Beobachtung.)
Beob. 32. Dipsomania menstrualis periodica. Frau Mateschko,
Lehrersfrau, 47 J., Mutter von 4 Kindern, die sämmtlich neuropathisch und jäh-
zornig sind, stammt von einem trunksüchtigen Vater und einer jähzornigen, reiz-
baren Mutter. 2 Schwestern sind im Irrenhause. Pat. war von Kindheit auf
sehr zornmüthig, reizbar, wurde irrsinnig zur Zeit ^der Pubertät im 15. Jahre
und genas nach 8 Monaten. Seit dieser Zeit kam es zu periodischem Irresein
in Form von Dipsomanie, das Anfangs nur in Pausen von 7« Jahr, später viertel-
jährlich, seit 17 Jahren zur Zeit der Menses sich einstellte. Im 17. Jahr hatten
sich vorübergehend Ohnmachtanfälle, jedoch ohne alle krampfhaften Erscheinungen
gezeigt. Die Dauer der dipsomanischen Anfälle betrug 4—12 Tage. Sie traten
meist prämenstrual ein, seltener postmenstrual. Im ersten Fall fanden sie ge-
wöhnlich mit dem Eintritt des menstrualen Blutflusses ihren Abschluss. Die
ersten Zeichen des nahenden Anfalls waren heftige Congestionen zum Kopf Pat.
wurde dann hochgradig reizbar, zornig, brutal, entwickelte einen vorzugsweise
in unangenehmen Reproduktionen sich bewegenden Gedankendrang, unwider-
stehlichen Drang zum Saufen, wurde unhaltbar, schlaflos, im Bewusstsein tief
gestört, stürzte gierig, was sie nur von alkoholischen Getränken bekommen konnte,
hinunter, tobte, schäumte vor Wuth, wälzte sich am Boden wenn man sie an
der Befriedigung dieses Drangs zu hindern versuchte. Es soll dann vorgekommen
sein, dass sie sogar zur Petroleumsflasche griff. Wenn sie einige Tage fortge-
trunken hatte, stellten sich dann Visionen ein (Männer mit Messern, schreckhafte
I
Liicida intervalla. 123
Fratzen etc., so dass Pat. in heftige Angst gerieth und zitterte). Die Lösung
des Anfalls war immer eine plötzliche. Pat. bekam Erbrechen, verfiel in tiefen
Schlaf und erwachte aus diesem lucid , mit nur ganz summarischer Erinnerung
für die Anfallserlebnisse. Sie bedurfte dann noch einiger Tage, um sich von
den Folgen des Anfalls und der Alkoholintoxication zu erholen.
Intervallär war sie hochgradig reizbar, zeigte grossen Stimmungswechsel,
perhorrescirte den Genuss von Spirituosen. In den letzten Jahren, wo nur selten
ein Menstrualtermin ohne dipsomanischen Anfall vorübergegangen war, hatten
sich mit dadurch bedingter Häufung der Alkoholexcesse immer deutlicher die
somatischen und psj^chischen Erscheinungen des Alkohol, chron. (speciell intel-
lectuelle und ethische Defekte, chronischer Magencatarrh, Vomitus matutinus)
eingestellt. (Eigene Beobachtung.)
Weitere Fälle: Tamburini, Rivista sperim. 1876, fascic. 1 u. 2 (perio-
dische Manie. Geflügeldiebstahl in krankhaftem Hungergefühl mit Verzehren des
rohen Fleisches). Kelp, Viertel] ahrschr. f. ger. Med. XVH. H. 1 (Mel. periodica.
Diebstähle). Liman, zweifelh. Geisteszustände, Fall 38 (Diebstähle im man. Stadium
einer Folie circulaire).
Die Zeiträume beim (periodisch) Irrsinnigen, während welcher
die Symptome der dem Irresein zu Grunde liegenden Hirnstörungen
latent sind, ohne dass der Krankheitsprocess ausgeglichen ist, pflegt
man lucida intervalla ^) zu nennen. Sie sind von dem Reeidiv zu
unterscheiden, bei welchem der wiederholte Krankheitsanfall als durch-
aus neue Krankheitsinvasion erscheint und von der Remission, wo
nur eine Abnahme der In- und Extensität der übrigens in jedem Zeit-
abschnitt des Krankh ei ts Verlaufs deutlich wahrnehmbaren Symptome
einer psychischen Krankheit vorhanden ist.
Solche lucida intervalla kommen thatsächlich vor, aber sie
sind selten. Oberflächliche Beobachtung verwechselt leicht blosse
Remissionen mit ihnen. Am reinsten sind sie in der intervallären
Zeit des periodischen Irreseins, möglich in den affektiven Formen
des Irreseins überhaupt und im Wahnsinn.
Ihre Bedeutung wird wesentlich reducirt durch die Thatsache,
dass die Krankheit hier nur äusserlich schweigt, innerlich aber fort-
besteht, dass es schwierig, ja oft unmöglich ist, das lucidum inter-
vallum zeitlich von den letzten bemerkbaren und den ersten wieder-
auftretenden Symptomen der Krankheit abzugränzen, dass der lucide
Zustand nicht selten nur ein vermeintlicher ist , weil der Kranke
Krankheitssymptome absichtlich verbirgt, dissimulirt.
0 Marc, Geisteskrankheiten, übers, von Ideler, IL p. 361. Flemming,
Psychosen p. 262. Legrand du Saulle, la folie devant les tribun, 1864. v. Krafft,
Friedreich's Blätter 1871.
]^24 Cap, IX. Wahnsinn. Primäre Verrücktheit.
Der Schein der Geistesgesundheit verbürgt noch nicht die wirk-
liche. Selbst bei den periodischen Fällen, wo man noch am ehesten
von lucidum intervallum in der intervallären Zeit sprechen könnte, zeigt
eine aufmerksame tägliche Beobachtung, dass schon nach wenigen
Anfällen tiefere Veränderungen der Hirnthätigkeit , Gemüthsreizbar-
keit, grundlose Verstimmungen, dauernde Veränderungen des Cha-
rakters in pejus mit dann und wann auftretenden schlimmen Nei-
gungen und Trieben, Gedächtnissschwäche, Schwachsinn, Intoleranz
für Spirituosen etc., die Regel sind.
Auf Grund dieser Thatsachen ist es nicht wohl möglich, lucida
intervalla im Criminalforum zur Geltung zu bringen. Die neueren
Strafgesetzgebungen erwähnen derselben auch nicht und fordern nur
den Beweis der Geistesgesundheit als Grundlage der Schuldigsprechung.
Ein im lucidum intervallum befindlicher Irrer ist ebenso wenig geistes-
gesund als der Wechselfieberkranke, der gerade kein Fieber, als der
Epileptiker, der gerade keinen Anfall hat, körperlich gesund betrachtet
werden können. Es ist unmöglich, zu bestimmen, ob auf eine im
„lucidum intervallum" begangenen That nicht psychopathische Momente
aus der Zeit des letzten Krankheitsanfalls, oder Prodrome des folgen-
den, Einfluss übten. Es ist mit den Erfahrungen und Grundsätzen der
gerichtlichen Psychopathologie nicht vereinbar, dass Jemand, der kurz
vor und nach einer That erwiesenermassen seelengestört war, und
dessen neulicher Krankheitsanfall nicht als Recidive sich deutlich er-
weisen lässt, frei gehandelt und somit die criminelle Verantwortung
für seine That zu tragen habe. Wo sich die subjektive Schuldfrage
nicht zweifellos feststellen lässt, sollte Milde walten und auf Strafe
verzichtet werden.
3. Wahnsinn (primäre Verrücktheit).
Literatur. Spielmann, Diagnostik p. 460. Legrand, dn Saulle, le delire des
persecutions. Paris 187L
Vom forensischen und auch vom klinischen Standpunkt aus
besteht die Signatur des „Wahnsinns" darin, dass hier primär, d. h.
ohne vorausgehende und der Wahnbildung wesentlich zu Grund
liegende Gemüthsbewegungen , wie in der Melancholie und Manie,
Wahnideen (und Sinnestäuschungen) sich entwickeln, die zudem grosse
Beständigkeit und Neigung zu systematischer Verknüpfung zeigen, im
Verlauf zu ganz geänderten Beziehungen der Persönlichkeit zur Aussen-
welt, ja selbst zur Umänderung der psychischen Person in eine ganz
Allgemeine diagnostische Gesichtspunkte. 125
andere wahnhafte führen. Der Standpunkt, von dem aus derartige
Kranke die Aussenwelt beurtheilen , ist ein ver-rückter , sie sind
wahn- sinnig.
Damit ergeben sich mannigfache Collisionen mit Gesetz und
Gesellschaft und forensische Beziehungen.
Die forensische Bedeutung solcher Fälle von Wahnsinn wird
aber noch dadurch gesteigert, dass die Wahnideen nicht immer gerade-
zu das Gepräge solcher an sich tragen, im Gegentheil die Möglichkeit
einer realen Begründung (z. B. Verfolgungswahn, Wahn ehelicher
Untreue) enthalten, dass diese Kranken ihre Wahnideen gegebenenfalls
geschickt zu verbergen wissen, dass ihre äussere Besonnenheit meist
erhalten, ihr Vermögen, logisch zu schliessen und zu urtheilen, im
Allgemeinen vorhanden ist. Da zudem heftige Gemüthsaufregungen
nicht oder nur gelegentlich sich einstellen , ist die Erkennung und
richtige Beurtheilung des abnormen Geisteszustands nach Umständen
eine sehr schwierige und liegt die Gefahr nahe, dass solche tief ge-
störte Kranke gar nicht als solche erkannt oder als mit einer Schrulle
oder „fixen Idee" behaftet erklärt oder ihre aus Wahnideen resultiren-
den verkehrten und strafbaren Handlungen als solche des Affekts, der
Leidenschaft, des Fanatismus, der Immoralität falsch beurtheilt werden.
Die wissenschaftliche Diagnose hat von dem Einzelsymptom
Wahn vorläufig abzusehen und den Gesammtzustand zu ermitteln.
Diagnostisch wichtig ist:
1. dass diese Wahnsinnigen oder Verrückten meist von Kinds-
beinen auf zur Krankheit disponirte Individuen sind, und dass mannig-
fache Belastungszeichen funktionell wie anatomisch nachweisbar zu
sein pflegen. Diese Belastungserscheinungen äussern sich neurotisch
in Zuständen von Neurasthenie, hypochondrischen, hysterischen, epi-
leptischen Symptomen, Neigung zu Delirien und Hallucinationen bei
geringfügigen somatischen Anlässen (Fieber, vegetative Erkrankun-
gen etc.), in vasomotorischen und geschlechtlichen Funktionsanomalien.
Psychisch und charakterologisch fallen Anomalien der Stimmung, des
Temperaments (abnorme Gemüthsreizbarkeit), Verschrobenheit der Ge-
fühle, der Anschauungen, der Logik, der Handlungsweise auf und
vielfach entwickelt sich die eigentliche Krankheit unvermerkt aus der
Besonderheit einer originär abnormen charakterologischen Veran-
lagung (Verfolgungswahn aus misstrauischer, religiöser Wahnsinn aus
bigotter Charakterrichtung etc.). Somatisch erscheinen Anomalien in
der Entwicklung des Schädels wichtig. Viele dieser verschrobenen
Menschen weisen zugleich verschobene (rhombocephale) Köpfe auf.
126 C^P- IX. Wahnsinn. Verfolgungswahnsinn.
2. Die krankhafte Anlage ist naeist eine erblich bedingte durch
Trunksucht, Hysterie, Epilepsie, Verschrobenheit des Charakters bis
zu ausgesprochenem Irrsinn der Erzeuger. Seltener ist die Prädis-
position durch eine infantile Gehirnkrankheit, eine Kopfverletzung,
Typhus, Onanie eine erworbene.
3. Als wichtige Gelegenheitsursachen zum Ausbruch der Krank-
heit ergeben sich physiologische Lebensphasen (Pubertät, Klimacterium)
oder organische Momente wie Uterinleiden, acute und chronische Krank-
heiten, onanistische Excesse.
4. Die Wahnideen und Sinnestäuschungen sind nicht die ersten
' Symptome der Krankheit. Es geht ihnen ein Monate bis Jahre
dauerndes Incubationsstadium der Ahnungen, Vermuthungen, Illusio-
nen vorher. Das Höhestadium der Krankheit stellen Wahnideen und
Sinnestäuschungen dar, die dann häufig die Triebfedern zu strafbaren
Handlungen werden. Da jene nicht corrigirt werden können, im
Gegentheil zu einer totalen Aenderung der Persönlichkeit und ihrer
Beziehungen zur Aussenwelt führen, ist hier nothwendig die Zu-
rechnungsfähigkeit aufgehoben, denn die etwaigen strafbaren Hand-
lungen gehen von einem neuen krankhaften, der alten Persönlichkeit
ganz fremden Ich aus und können somit jener nicht mehr zugerechnet
werden. Je nach dem Inhalt der Wahnideen ergeben sich auf diesem
Krankheitsgebiet verschiedene Wahnsinnszustände.
a. Der Verfolgungswahn sinn.
Klinische Ueber sieht: Den Kern dieser forensisch wichtigsten, weil
häufigsten und die Gesellschaft am meisten bedrohenden Form des Wahnsinns
stellt der Wahn einer Bedrohung an Leib, Leben, Ehre oder Besitzthum durch
offene oder geheime Feinde dar. Charakterologisch handelt es sich meist um stille,
leutscheue, verschlossene, leicht verletzbare, reizbare, misstrauische Persönlichkeiten.
Das Incubationsstadium ist ein bis zu Jahren dauerndes, jedoch kommen auch
acut sich entwickelnde Fälle vor. Im ersteren Fall gehen Monate bis Jahre die
Symptome einer hysterischen, hypochondrischen Neurose oder einer Neurasthenia
spinalis in Folge onanistischer Excesse vorher, nicht selten auch die körperlichen
Beschwerden eines Uterinleidens, des Klimacterium oder eines chron. Magencatarrhs.
Die Umgebung kommt dem Kranken anders und verdächtig vor. Er fühlt sich
beobachtet, zurückgesetzt, man will ihm nicht wohl, weicht ihm aus. Später be-
merkt er, dass man auf ihn deutet, über ihn spöttelt, auf ihn in der Predigt,
in der Zeitung stichelt. Der Kranke wird noch scheuer, reizbarer, misstrauischer
als er von jeher war, er zieht sich von der Aussenwelt zurück, stellt wohl auch
gelegentlich Personen seiner Umgebung über ihr liebloses feindliches Benehmen
zur Rede. Eine zufällige Störung des somatischen Befindens (fieberhafte Krank-
heit, schlaflose Nächte, Steigerung uterinaler oder gastrischer Beschwerden etc.)
führt nach längerer oder kürzerer Zeit auf die Höhe der Krankheit. Es treten
Verfolgungswahnsinn. Klinische Uebersicht. 127
Hallucinationen auf. Der Kranke hört Stimmen, die ihn an Ehre und Leben be-
drohen, geheime Plänen wahnhafter Verfolger enthüllen. Die paralgischen und
neuralgischen Sensationen auf Grund klimacterischer, uterinaler, gastrointestinaler
Befindensstörungen oder hysterischer, hypochondrischer und durch Onanie bedingter
neurasthenischer Zustände werden im Sinn der Verfolgung empfunden. Es sind
Insekten, Schlangen auf der Haut, Thiere im Leib. Die Verfolger zerstören die
Gesundheit mit giftigen Gasen, Pulvern, geheimnissvollen Maschinen (Electricität,
Sympathie, Magnetismus etc.), sie eskamotiren Organe, treiben geschlechtlichen
Unfug (Coitushallucinationen, Attentate auf die Leibesfrucht), Masturbation, treiben
den Samen ab (Pollutionen), Luft in die Harnröhre, stechen, ziehen an den Geni-
talien, saugen das Rückenmark aus, verflüssigen das Hirn etc. Das Essen schmeckt
nach Arsenik, Koth, Urin, alles riecht nach Fäulniss, verbrannten Kleidern. Man
sucht den Kranken mit giftigen Dünsten zu betäuben (Kopfdruck bei Magencatarrh
und Neurasthenie), hemmt ihm das Denken, macht ihm Schwindel, sucht ihn um
den Verstand zu bringen, um sich seiner im Irrenhaus entledigen zu können.
Endlich setzen sich auch die bewussten Gedanken in Hullucinationen um
— die Feinde errathen die Gedanken, spioniren sie aus.
Ueberraschend schnell entwickelt sich, wesentlich unterstüzt durch Stimmen,
ein systematischer Verfolgungswahn. Je nach politischer Anschauung und socialer
Stellung erkennt sich der Kranke als das Opfer einer Bande von Jesuiten, Social-
demokraten, Freimaurern u. s. w. oder er ist verfolgt von der Polizei, von
diesem oder jenem Nebenbuhler, Nachbar, Hausgenossen. Der Kranke erschrickt
heftig, um seine Besonnenheit ist es geschehen. Die harmlosesten Vorgänge in
der Aussenwelt, Reden und Handlungen der Umgebung, selbst physiologische
Sensationen des eigenen Körpers werden im Sinn des Wahns gedeutet. Es gibt
schliesslich keine ungefärbte Wahrnehmung mehr für den Kranken. Einbildungen
Illusionen, Hallucinationen, Wahnideen fälschen die Vorgänge. Um die Ruhe und
Besonnenheit des Kranken ist es geschehen. Als natürliche, so zu sagen physiolo-
gische Reaktion auf die krankhaften feindlichen Wahrnehmungen entstehen affekt-
artige Zustände der Bestürzung, Angst, Verzweiflung. Zuweilen erscheinen daneben
spontane Zustände heftiger Präcordialangst. Remissionen und selbst Intermissionen
des Leidens sind in allen Phasen desselben möglich. Mit der Zeit gewöhnt sich
der Leidende an seinen qualvollen Zustand, indem die Hallucinationen seltener
werden, die Affekte nachlassen, die Wahnideen verblassen. Es entwickelt sich
ein psychischer Schwächezustand, der aber nie bis zu wirklichem Blödsinn vor-
schreitet und die Fähigkeit zu urtheilen und zu schliessen, sowie die artistischen
gewerblichen Fähigkeiten leidlich unversehrt lässt.
Bevor dieses terminale Toleranzstadium eintritt, kommt es nicht seilen
zur Entwicklung einer weiteren Reihe von Wahnvorstellungen im Sinn des
Grössenwahns — - die bisher unterdrückten verfolgten Kranken werden Fürsten.
Weltregierer, Propheten, göttliche Personen. Mit dem bisherigen Verfolgungs-
wahn wird nun eine logische Beziehung gefunden. Der Kranke weiss nim, warum
seine Feinde ein Interesse daran hatten, ihn, das in frühster Jugend geraubte
Fürstenkind zu schädigen, oder er fasst alle bisherigen Verfolgungen als ein
Stadium der Prüfung auf, das er durchmachen musste, um zum Erlöser, zu einem
zweiten Messias zu werden.
Die beiden Wahngruppen lösen sich ab, gehen nebeneinander \:t'i\ bis auch
hier endlich ein terminales Schwächestadium eintritt.
128 Cap. IX. Verfolgungswalmsinn. Gefährlichkeit dieser Kranken.
Die forensische Bedeutung dieser Fälle von Verfolgungswalm-
sinn ist eine eminente. Sie ergibt sich daraus^ dass dem Kranken
die Aussenwelt feindlich gegenübersteht, dass er in irgend einer Weise
einmal feindlich gegen sie auftritt und sich dabei in der Stellung des
in seinen Existenzbedingungen und edelsten Gütern bedrohten, zu
vermeintlicher Nothwehr Berechtigten fühlt. Dadurch werden diese
Kranken gemeingefährlich. Es ist von Wichtigkeit, zu wissen, in
welchen Stadien ihres Leidens diese Gefährlichkeit besonders gross ist.
Im Anfang verhalten sich diese Wahnsinnigen immer passiv,
defensiv gegenüber der wahnhaft ungestalteten Aussenwelt. Sie
meiden sie, verschliessen Fenster und Thüren, verstopfen die Schlüssel-
löcher, wechseln beständig die Wohnung. Sie kochen sich nach Um-
ständen selbst die Nahrung oder leben nur noch von rohen Eiern u. dgl.,
versehen sich mit Gegengiften, flüchten in ferne Länder, nehmen andere
Namen an, um sich vor ihren Verfolgern zu schützen.
Mit der ünerträglichkeit des immer peinlicher werdenden Zu-
stands treten sie mit der Zeit aus ihrer passiven Stelle heraus, aber
bevor sie zur Selbsthülfe schreiten, geben sie gewöhnlich Nothsignale
und Allarmzeichen des drohenden Sturmes, die leider nur zu häufig
unbeachtet bleiben.
Sie drohen ihren vermeintlichen Verfolgern, klagen vor Gericht
gegen den Nachbar, die Gattin, den und jenen Bekannten, Beamten,
von denen sie sich verfolgt wähnen , rufen wohl auch die Gerichte
um Schutz an. Nun ist es hohe Zeit, den Kranken unschädlich zu
machen. Würden der Arzt, Gerichtsbeamte oder Polizist, au die
sich der Kranke im Gefühl seiner Lebensbedrohung um Hülfe und
Schutz wendete, etwas von Psychiatrie verstehen und den Kranken
statt ihn mit einem Recept oder einem bedauernden Achselzucken zu
entlassen, sofort der Behörde zur Internirung in einer Irrenanstalt
anzeigen, so würde gar manche Unthat seitens solcher Unglücklicher
vermeidbar sein. So sieht sich der Kranke schliesslich auf einen Akt
der Selbsthilfe angewiesen und in den Stand der Nothwehr versetzt.
In diesem Stadium kann eine vermeintlich verdächtige Miene,
Geste, ein Zischeln, Hüsteln, ein miss verstandenes Wort dem Kranken
einen Verfolger kennzeichnen und ihm eine drohende Lebensgefahr
signalisiren. Nicht minder kann eine paralgische Sensation , eine
Geschmacks- oder Geruchstäuschung, eine gehörte Stimme das Leben
der Umgebung in Gefahr bringen.
Die Mordthaten dieser Kranken tragen das Gepräge einer ver-
meintlich berechtigten Nothwehr an sich. Die Kranken morden nie
Gewaltthaten solcher Kranken. Beob. 33. 129
heimlich; am hellen Tage vielmehr, vor Zeugen schlachten sie ihre
Opfer ab. Sie verhehlen nicht ihre Motive, freuen und rühmen sich
ihrer gelungenen That. Bemerkenswerth ist die Planmässigkeit und
Kücksichtslosigkeit , wie sie nur das Bewusstsein vermeintlich be-
rechtigter Selbsthilfe motiviren kann.
Jene Planmässigkeit wird nur da vermisst, wo der Kranke aus
einem Angstanfall heraus oder durch plötzlich aufgetretene Hallu-
cinationen zur Gewaltthat hingerissen wird. Zuweilen geschieht es
auch, dass solche Kranke auf eine ganz gleichgiltige Person ein
Attentat machen, irgend eine gesetzwidrige Handlung begehen — nur
um Gelegenheit zu bekommen vor den Assisen nachzuweisen wie
schändlich sie verfolgt und dabei von den Behörden im Stich gelassen
waren. Zuweilen schreiten sie auch zum Selbstmord, um der uner-
träglichen Verfolgungsqual ein Ende zu machen.
Dadurch dass diese Wahnsinnsform sich latent und ganz allmälig
zu entwickeln pflegt, das Delirium meist ein partielles ist, leicht
dissimulirt wird, dass die äussere Besonnenheit lange erhalten bleibt, die
Motive einer strafbaren That vielfach den Charakter der Leidenschaft,
Eifersucht, des Hasses, der Rache an sich tragen, die Wahnideen
nicht gerade objektive Unmöglichkeiten enthalten, kann die Erken-
nung der schweren Krankheit und ihres Umfangs Schwierigkeiten
bieten. Die Berücksichtigung der Eingangs angegebenen anthropo-
logischen und klinischen Merkmale, des Verlaufs, der Nachweis von
Hallucinationen werden bei genügender Zeit zur Beobachtung den
Fall in das rechte Licht stellen.
Beob. 33. Mord. Verfolgungswalinsinn. Am 2. April 1873 sali
der mit einigen Kameraden aus der Schenke kommende Taglöhner L. einen ge-
wissen T. des Weges daher kommen. Er entriss einem andern die Flinte, raffte
Steine zusammen, eilte auf T. los mit den Worten „kennst du mich?" Als T.
verneinte, sagte er: „Ich bin L. den du in R. geschlagen und da um Gerechtig-
keit zu üben". Er schoss den T. nieder, lud ruhig wieder seine Flinte und ver-
schwand. 1870 war L. von T. misshandelt worden, aber seither nicht mehr mit
ihm zusammengetroffen. Einen Monat vor der That hatte er seine Absicht ge-
äussert, wenn er den T. irgendwo treffe, ihn zu tödten. Am 4. April wurde L.
verhaftet. Er stellte seine That als einen Akt der Nothwehr hin, machte zudem
Betrunkenheit (nicht erwiesen) und eine Kopfschwäche, an der er seit der ihm
widerfahrenen Misshandlung leide, zur Entschuldigung geltend. L. ist 30 J. alt,
aus einer wegen Raufsucht gefürchteten Familie. Seine Grossmutter war irrsinnig.
Er galt als ein reizbarer, heftiger, gewaltthätiger- Mensch, war wiederholt wegen
Diebstahl und Körperverletzung eingesperrt gewesen. Er litt häufig an Schwindel-
• anfallen mit Kopfschmerzen, war dem Trunk etwas ergeben.
Nach dem Steinwurf an den Kopf, den ihm T. 1870 zugefügt hatte, war
V. Krafft-Ebing, gerichtl, Psychopathologie. 2. Auflage. . 9
1^0 Cap. IX. Verfolgungswahnsinn.
er noch reizbarer geworden und ertrug den Wein nicht mehr. 1871 wurde er tob-
süchtig, brachte 4 Monate im Spital zu, aus dem er zwar nicht genesen aber ruhig
und unschädlich entlassen wurde. Er machte nicht den Eindruck eines Genesenen,
sah unheimlich drein, klagte über Verfolgungen durch Hexen, die er Nachts zu
sehen und zu fühlen behauptete. Man fürchtete sich vor ihm. In der Haft war er
oft aufgeregt, ängstlich, klagte über Hexen und Gespenster, die ihn verfolgten,
über Kopfweh, war oft schlaflos, führte Selbstgespräche, war sehr reizbar und
oft ganz verkehrt. In den Verhören entschuldigt er seine That mit Trunkenheit
und erklärt die Zeugen für Hexenmeister. 2 erste Gutachten erklären L. nicht
für irrsinnig. Nun wird ein Facultätsgutachten eingeholt. L. ist mittelgross, der
Schädel zeigt die Form der Kephalonie (61 cm Circumf.) und ist rhombisch
verschoben.
Am r. Seitenwandbein eine vom Steinwurf herrührende verschiebbare
Hautnarbe. L. vermeidet jeden Druck an dieser Stelle, wischt und kratzt häufig
dort. Der r. Mundfacialis ist paretisch. Sonst finden sich keine körperlichen
Anomalien. L. schläft wenig, klagt über permanenten Kopfschmerz auf der r.
Schädelhälfte. Er ist misstrauisch, hält sich abseits, antwortet unwirsch, wird
oft plötzlich zornig erregt, wobei eine fluxionäre Röthe sein Gesicht überzieht.
Er klagt dann, dass jeder ihm Feind sei, ihn aus der Welt schaffen möchte. Er
habe keinen Augenblick Ruhe. Er habe doch nichts begangen. Man solle ihn
lieber aufhängen oder kreuzigen als so martern. Nachts kämen Hunderte um
ihn zu tödten. Auch von Hexen sei er verfolgt. Wenn sie erscheinen, spüre er
ungeheure Schmerzen im Kopf, denn sie schlügen ihn mit der Hand auf Kopf
und Schultern, zögen ihn an den Haaren, wovon er dann so schreckliche Schmerzen
(an der Stelle des Trauma) bekomme. Wegen dieses Schmerzes greife er so oft
nach dem Kopf und er habe sich auch die Haare so kurz schneiden lassen, da-
mit ihn die Hexen daran nicht ziehen könnten. Schon nach wenig Tagen be-
zieht er auch den explorirenden Arzt in seinen Wahnkreis , bekreuzigt sich vor
ihm, hält ihn vom Teufel geschickt und weigert weitere Auskunft. Sonst ist er
reizbar, misstrauisch, wischt beständig an seinem Kopf, schläft wenig, geräth zeit-
weise in heftigen Zorn, und schreit nach einem Gewehr, um seine Verfolger zu
erschiessen. Von seiner That behauptet er nichts zu wissen, jedoch geht aus
einzelnen Andeutungen hervor, dass er ebenfalls die Person des Ermordeten in
den Kreis seiner Wahnideen einbezog.
Das Gutachten weist nach, dass ein Zustand krankhafter Geistesstörung
(Verfolgungswahnsinn) im Anschluss an eine Kopfverletzung seit 1871 bestand
und der „tobsüchtige" Aufregungszustand 1871 nur eine Episode im Verlauf
einer chronischen und continuirlich fortbestehenden Geisteskrankheit war. Das
empirisch wahre Krankheitsbild lässt darüber keinen Zweifel zu. Bedeutungsvoll
ist, dass Wahnideen (Gerissenwerden an den Haaren von Hexen) auf krank-
hafte Gefühle (Kopfschmerz) zurückgeführt werden, die zudem ihre Lokalisirung
an der Stelle der thatsächlich erlittenen Kopfverletzung finden. Eine in den
Akten sich findende Aeusserung des L., er habe den T. tödten müssen, um nicht
das eigene Leben zu verlieren, deutet darauf hin, dass L. sich auch von T. verfolgt
und behext wähnte und somit die That, wenn auch aus Rache, so doch einer
Rache aus pathologischen Motiven (Wahnideen) begangen hat. Keine Verurthei-
lung. (Eigene Beobachtung.)
Beob. 34. Mord. Verfolgungswahnsinn. 131
Beob. 34. Mord. Verfolgungswahnsinn. Am 11. August 1874,
Morgens wurde der allgemein geachtete Apotheker Z. in Lodi durch einen Stich
mittelst einer Schusterahle in die linke Schläfe verwundet, verlor sofort das Be-
wusstsein und starb nach 12 Stunden.
Ein gew. Dossena, 66 J. alt, hatte sich wiederholt geäussert, dass man ihn
verfolge und dass Z. das Haupt einer Bande sei, die ihm mit Gift nach dem
Leben, und der Gesundheit strebe und dass Z. dieses Gift vertheile. D. wurde
verhaftet und als Thäter erkannt.
Aus der Untersuchung ergab sich, dass D. mit 40 J. an einer Leber- und
Herzaffektion gelitten, mit 56 J. einen Anfall von Hirncongestion mit Angstzu-
ständen gehabt und in den der That vorausgehenden Monaten unter Steigerung
seiner Leber- und Herzafifektion Ruhelosigkeit gezeigt und Angst geäussert hatte,
dass man ihn vergiften wolle.
D. wurde zu lebenslänglichem Kerker verurtheilt. In der dem
Urtheilsspruch folgenden Nacht schlug er einem Mitgefangenen mit einem Stein
ein Loch in den Schädel, weil er sich von ihm verfolgt wähnte. Dies gab Grund
zu einer neuerlichen Expertise. Diese, sorgfältig angestellt, ergab folgendes
Resultat.
D. war vor seiner Krankheit ein unbescholtener Mann. Z. hatte ihm nie
etwas zu Leid gethan, mit Geduld ihm jeweils auseinandergesetzt, wenn D. ihn
mit Vorwürfen wegen angeblicher Verfolgung überhäufte, dass er nichts gegen
ihn habe. D. ist erblich disponirt. Ein Vetter und 3 Basen mütterlicherseits
sind Idioten oder schwachsinnig, ein Onkel mütterlicherseits blödsinnig mit An-
fällen von Irresein, eine Tante väterlicherseits blödsinnig, ein weiterer Bluts-
verwandter sowie ein Bruder waren wiederholt irrsinnig. D. selbst war von
Kindsbeinen auf verschroben, eigenthümlich, oft hypochondrisch verstimmt. Mit
56 J. machte er einen mehrmonatlichen Anfall von Melancholie durch, von dem
er sich nicht völlig erholte. Er blieb sonderbar, reizbar, ängstlich, arbeitsunlustig,
litt an Verdauungsbeschwerden, asthmatischen Anfällen. Seitdem ihm der Apo-
theker Z. gesagt hatte, dass er an diesem Uebel möglicherweise bald sterben
könne, hegte er Misstrauen gegen diesen, das sich unvermerkt zum Wahn steigerte,
dass dieser ihm mit Gift nach dem Leben strebe. Seine Beschwerden hielt er
für die Folgen von Vergiftungsversuchen. Er hatte wiederholt Z. ermahnt, davon
abzulassen, später ihm und Andren, die er für dessen Complicen hielt, mit
Schlimmem gedroht, daneben beständig Aerzte berathen, medicinirt um das Gift
unwirksam zu machen, in gleicher Absicht die verkehrtesten Proceduren mit sich
vorgenommen und der gesammten Umgebung das grösste Misstrauen entgegen-
gebracht.
Ueberall wähnte er schliesslich Feinde und Complicen des Apothekers.
In einer Nacht war er ins Spital gelaufen voll Angst, verlangte man solle ihm
eine Wunde verbinden, die ihm zugefügt worden sei. Der Spitalarzt fand keine
Spur einer Verletzung. Kurz vor der That hatte D. wiederholt über Vergiftung
geklagt und sich so verkehrt benommen, dass die Angehörigen seine Aufnahme
in ein Spital verlangten, was aber der herbeigerufene Arzt für unnöthig erklärte.
Freiwillig wollte D. nicht ins Spital, da er alle Aerzte des Landes für Complicen
des Apothekers hielt und im Spital seinen sicheren Tod voraussah.
Am Morgen der That hatte er sich sehr unwohl gefühlt und gemeint, der
Tod durch Vergiftung stehe ihm unmittelbar bevor. Auch im Gefängniss Fort-
]^32 Cap. IX. Verfolgungswalinsinn. Beob. 36.
datier des Vergiftungswahns. Das Gift wird ihm an die Kleider gethan, auf die
Haut in alle Oeffnungen des Körpers applicirt, in das Essen gestreut. Seine
nervösen und Digestionsbeschwerden, seine Schlaflosigkeit sind die Symptome dieser
Vergiftung. Die Epikrise erweist die übersehene, seit vielen Jahren bestehende
Geisteskrankheit und die Unzurechnungsfähigkeit des D. zur Zeit seiner That.
(Biffi, Archivio italiano 1876.)
Beob. 35. Hallucinat. Verfolgungswahnsinn. 3f acher Mord.'
Verurtheilung zu lebenslänglichem Kerker. Am 24. Okt. verliess
ein gew. Berger, mit einer Doppelflinte bewaffnet, sein Haus, schoss die des Weges
daher kommenden R. u. B. todt, lud wieder, erschoss den C. vor seiner Haus-
thüre und verwundete schwer einen V. Ein Motiv zu dieser That la;g nicht vor.
R. war dem Mörder ganz unbekannt. Die Mehrzahl der Zeugen wussten nichts
von einer Geistesstörung des B., andere machten ganz vage Angaben, aus denen
sich nichts Palpables über sein Vorleben entnehmen Hess. Die Untersuchung er-
gab, dass B. seit einiger Zeit schlecht schlief, confusen Lärm hörte, sich von
bösen Geistern bedroht wähnte, glaubte er sei verzaubert, in der Gewalt der
Spiritisten, und sich bemühte herauszubringen wer seine vermeintlichen Verfolger
seien. Er glaubte in der Folge, jedermann kenne seine Situation, sah sich von
allen Seiten am Leben bedroht und deutete harmlose Gesten oder Bemerkungen
an der Umgebung in diesem Sinn. Am Morgen der That wähnte er sein Haus
umzingelt von seinen Feinden, verliess es voller Angst und schoss auf seine ver-
meintlichen Feinde. Er meinte sie wollten ihn umbringen, und da wollte er
ihnen zuvorkommen. Die Expertise ergab das Bestehen eines hallucinatorischen
Verfolgungswahnsinns. Nach seiner That hatte B. einen Selbstmordversuch ge-
macht. Trotz des übereinstimmenden Gutachtens von 5 Aerzten wurde B. zum
Tod verurtheilt, jedoch zu lebenslänglichem Gefängniss begnadigt. (Marchant,
Annal. med. psychol. 1875, November.)
Beob. 36. Verfolgungswahnsinn. Mordversuch im Angstanfall.
Am 13. Juni erschien der 26 J. alte, von Bordeaux zugereiste H. in einem Hofe in
Angers, sprang über die Mauer in den Hof eines anderen Hauses und schoss auf
die ihm nacheilenden, ihn für einen Dieb haltenden Bewohner einen Revolver ab.
Er liess sich ruhig verhaften, erklärte, in der Furcht, man wolle ihn tödten, ge-
schossen zu haben, um die Polizei zu Hilfe zu rufen. Er sei schon seit längerer
Zeit verfolgt, er habe sich in den Hof geflüchtet. Im Gefängniss Furcht vor
Vergiftung imd Weigerung der Nahrung.
H. ist erblich veranlagt zu Irresein, in der Kindheit mehrere Kopfver-
letzungen. Der Vater gab ihm viel Wein zu trinken. Er war geistesbeschränkt
von Kindsbeinen auf, unfähig zu einem geordneten Beruf, wechselte denselben be-
ständig. Seit 1869 Charakteränderung, grosse Impressionabilität, Misstrauen gegen
die Umgebung, dass sie ihn aus der Welt schaffen wolle. Ein Metallknopf, den
er im Essen fand. Fleisch, das ihm unnatürlich vorkam, der unheimliche Blick
eines Nachbars verstärken seinen Verdacht. Er kauft sich einen Revolver. In
einem Brief vom 10. Juni 1870 an die Mutter wähnt er sich am Leben bedroht,
nimmt von ihr Abschied, versieht sich des Schlimmsten von seinem Zimmer-
nachbar. Er wagt sich nicht unter den Schutz der Polizei zu stellen, denn diese
würde ihn, da er keine Beweise beibringen könne, für verrückt halten. Er habe
unerträgliche Magenschmerzen, weil man ihm immer Gift beibringe.
Beob. 37. 38. Weitere Fälle. 133
Am 11. Juni entfernte er sich heimlich aus B., besuchte einen Freund in
P., genoss aber dort nichts, entfernte sich ohne Abschied, reiste nach Angers,
machte den Mitreisenden den Eindruck eines Irrsinnigen, wähnte unterwegs in
einem Tunnel beschossen worden zu sein, irrte in A. in universellem Verfolgungs-
wahn herum und flüchtete endlich, in der Angst, es verfolge ihn Jemand, in den
Hof. Die folgende Beobachtung ergab das Bild einer primären Verrücktheit mit
Persecutionsdelir im Aufregungsstadium. Der Nachweis der That als Ausfluss
von Wahnideen eines Geistesgestörten war nicht schwer. H. wurde nicht ver-
urtheilt. (Combes, Annal. med. psych. 1876, November.)
Beob. 37. Verfolgungswahnsinn. Mordversuch an einem
Prediger. Die C. ist 48 J. alt, ohne erbliche Anlage, fast taub. 1855 wurde
sie wegen Diebstahl zu 5j ähriger Freiheitsstrafe verurtheilt. Nach Verbüssung
dieser Strafe trieb sie sich in Paris herum.
Sie wähnte, die Pfarrer verkündeten von der Kanzel herab, dass sie ge-
stohlen habe, überall gab man ihr dies durch bezügliche Pantomimen zu ver-
stehen, man sprach davon, dass sie eine Diebin sei. Namentlich war es der
Pfarrer von Montmartre, auf den sie dann in der Kirche den Revolver abfeuerte,
der ihr diese üble Nachrede gemacht hatte. Sie hatte ihn vorher gewarnt, sich
an die Gesandtschaft und die Polizei gewandt, um Hilfe gegen diese unablässigen
Verfolgungen zu finden. Als Alles nichts half, schritt sie zum Aeussersten. Sie
wollte aber den Pfarrer nur verwunden , um vor die Assisen zu kommen und
der Welt zeigen zu können, wie man sie misshandelte. Keine Reue. Nachweis,
dass Pat. an allgemeinem Verfolgungswahn mit Illusionen zur Zeit des Attentats
litt und noch leidet. Freisprechung. (Blanche u. Motet, Annal. med. psychol.
1872, März.)
Beob. 38. Mordversuch in Folge von Hallu cinatione n und
Verfolgungswahn. A., Maurerpolier, 38 J., von Kindheit auf still, sonderbar,
Masturbant, erkrankte in seinem 31. Jahr an Verfolgungswahn. Er glaubte sich
von Frauenzimmern verfolgt, bezog Inserate in der Zeitung auf sich, hegte Ver-
giftungswahn, wähnte, fliegendes Gift von den Freimaurern und der Magie be-
kommen zu haben. Er litt ab und zu an Gesichts- und Gehörshallucinationen,
Hirncongestionen, sprach verwirrt, benahm sich sonderbar, klagte Herzensangst
und Kopfschmerz. Eines Tags schoss er auf offener Strasse vor Zeugen auf einen
Bauunternehmer, von dem er sich verfolgt und um seinen wohlverdienten Lohn
betrogen wähnte. Unmittelbares Motiv der That war die Hallucination : „Ich
verlange ein Opfer, ein Opfer sollst du bringen." Nach der That Erleichterung,
Aufhören der Hallucinationen. Keine Reue. A. stellte sich selbst den Gerichten.
Keine Verurtheilung. (Bernay, Irrenfreund. 1877. Nr. 7.)
Weitere Fälle: Casper-Liman, Handb. Fall 255 (Mordversuch an einem
Unbekannten, der für einen Spion gehalten wurde). Henke's Abhandl. II. p. 356
(masturbat. Verfolgungswahn. Mord des Verfolgers, um Ruhe zu bekommen).
Morel, traite des mal. ment. p. 420 (Vergiftungswahn. Brandstiftung, um vor die
Assisen zu kommen). Annal. d'hygiene 1867, Oct. (Mord der Geschwister aus
Vergiftungswahn). Annal. med. psychol. 1877, März (Mord). Zippe, Wien. med.
Wochenschr. 1877, Nr. 45—50 (Mord der Kinder, um sie ihnen vermeintlich
drohenden Verfolgungen zu entziehen). Frese, Friedr. Bl. 1878, H. 3 u. 4 (Mord-
und Brandstiftungsversuch). Lasegue, Arch. gen. de med. 1878, Jan. (Mord der
134 Cap. IX. Verfolgungswahnsinn.
Mutter). Mordret, Annal. med. psycliol. 1878, März (Mord einer Verwandten).
Rivista sperim. 1878 (schwere Verletzung eines Kameraden). Livi u. Tamburini
ebenda 1876 (Mord der Frau aus Wahn ehelicher Untreue). Devergie, med. legale,
3. edit., p. 714 (Vergiftungswahn. Mordversuch). Casper, Vierteljahrsschr. XXI.
p. 1 (neuralg. Verfolgungswahn. Tödtung einer vermeintlichen Hexe). Lafitte,
Ann. med. psych. 1866, Mai (Vergiftungswahn. Mordversuch). Teilleux ebenda
Sept. (Brandstiftung).' Bonnet ebenda 1867, Jan. (Verfolgungswahn. Inbrand-
steckung zweier Häuser, auf denen ein böser Zauber ruht). Buchner, Friedr. Bl.
1870, H. 1 (Verfolgungs- und Grössenwahn. Hausfriedensbruch), v. Krafft ebenda
1872, H. 5 (Mordversuch). Journal of mental science. 1872, Juli (Mord eines
Unbekannten, um vor Gericht zu kommen). Biffi, Archiv, ital. 1872, Mai (Mord
der Schwiegertochter). Hofmann, Friedr. Bl. 1875, H. 3 (Mord der Frau).
Eine eigene Varietät des (hypochondrischen) Verfolgungswahnsinns
stellen Fälle dar, in welchen der durch excessiven Geschlechtsgenuss
neurasthenisch und hypochondrisch gewordene Kranke die im Bereich
seiner Genitalorgane empfundenen Schmerzen und seine gestörten
Gemeingefühle überhaupt dem seiner Meinung nach unreinen und
für seine Gesundheit verderblichen Beischlaf beimisst, sich durch den
geschlechtlichen Umgang vergiftet, behext, verzaubert wähnt und sich
an der Ehefrau oder Gehebten blutig rächt. Es dürfte sich hier
immer um durch Masturbation erkrankte und zugleich schwachsinnige
Individuen handeln.
Beob. 39. Hypochondr. Verfolgungswahnsinn. Gatte nmord.
Benedetto Galimbato, der Thäter, ist 23 Jahre alt, seit zwei Monaten verheirathet.
Keine Erblichkeit. Von jeher verschlossener, geistesbeschränkter Mensch, Keine
Ausschweifungen oder schwere Krankheiten im Vorleben. Heirath aus gegenseitiger
Neigung. Schon wenige Tage nach der Hochzeit zeigten sich die Ehegatten ver-
stimmt. G. überhäufte seine Frau mit Vorwürfen, wurde eifersüchtig und feindlich
gegen sie, behaujjtete, sie sei nicht mehr Jungfrau gewesen, als er sie heirathete.
Er klagte Unwohlsein, behauptete, seine Frau habe ihn zu Grunde gerichtet, sei
eine Hexe, habe ihn schon vor der Hochzeit behext, die Hochzeit sei nur eine
Hexencomödie gewesen, die Frau habe ihm seine Mannheit genommen, seine
ganze Familie verhext. Er wurde mager, blass, übelaussehend, düster, einsilbig,
verzweifelte an seinem Seelenheil. Am 20. Januar 1874 hörte man in der Woh-
nung der Eheleute Geschrei und ein Getöse wie von Axtschlägen. Gleich darauf
verliess G. ganz verstört seine Wohnung und rannte fort in die Felder. Im Hause
fand man die Frau todt in einer Blutlache, gräulich durch Axthiebe verstümmelt,
die Axt neben dem Leichnam. Des andern Tags wurde G. im Hause eines Ver-
wandten aufgegriffen. Er war in grosser nervöser Erregung, der Blick stier, das
Gesicht entstellt. Er hielt sein Blut für faul, seinen Körper ruinirt durch seine
Frau. Sie habe ihn verhext, ihn seiner Genitalien beraubt, seine Familie durch
Zauberei umgebracht. Desshalb habe er sie getödtet. Sie habe ihm seinen
eigenen Tod voraus verkündet, er habe schon das Messer in Bereitschaft gesehen,
mit dem sie ihn habe umbringen wollen , an seinen Genitalien habe er Schmerz
empfunden, die sie ihm durch Zauberei zugefügt. Als man ihm die blutige Axt
Beob. 40. Mord. Hypochondrischer Wahnsinn. 135
vorzeigte, gerieth er in grosse Aufregung und sagte: „Mit dieser wird man mir
das Haupt abhauen, ich bin bereit." Auf diese Ei-regung folgte ein Zustand von
Prostration, in dem er zu Antworten nicht mehr zu bringen war. Fortdauer der
Wahnideen, dass er das Leben verliere. Grosser körperlicher Verfall, Verstopfung,
Schlaflosigkeit.
Das Gutachten erklärt G. für einen von Kindsbeinen auf verschlossenen,
beschränkten Menschen, der bald nach der Hochzeit psychisch erkrankte. (Melan-
cholie mit Wahnvorstellungen der Verfolgung und Hallucinationen.) Seine That
ist das direkte Resultat dieser krankhaften psychischen Vorgänge. (Livi, Arch.
ital. Juli 1874.)
Beob. 40. Mord. Hypochondrischer Wahnsinn. Am 2. Juni
betrat eine Juliane H. mit dem Neffen der Rosine Seh. deren Zimmer und fand
die enthauptete Leiche der Seh. in ihrem Blute. Josef Seh., der Neffe, meinte,
das gehe sie nichts an 5 der Tochter der Hausfrau, welche ihn fragte, was er
gethan, gab er zur Antwort: „sie war eine Hexe." Als man ihn arretirte, war
er beschäftigt, sich mit einem Hautlappen, der als die Nase der Ermordeten
agnoscirt wurde, Nase und Mund zu reiben. Der Mord war mit einem kurzen
Beil an der schlafenden R. verübt worden. Spuren von Gegenwehr fehlten. Der
Körper war gräulich verstümmelt. Neben der Leiche fand sich ein zollhoch mit
Blut gefülltes Halbglas, von welchem Blut Seh. getrunken hatte.
In einer Schublade hatte der Mörder einen Zettel hinterlegt mit folgenden
Worten : „liebe Leute, bitte um verzeihen denn die Rosi habe mich verfolch die
ganze Zeit, des wissen sie Andies ich 3 Professione in der Liebe."
Der 24jährige Inculpat ist der uneheliche Sohn einer schwachsinnigen
Frau, die an einem Sprachfehler litt und diesen auch auf den Inquisiten und
eines seiner Geschwister vererbte. Inculpat war geistig schwach, brachte es in
der Schule nur zu leidlichem Schreiben, kam nach dem Tod der Mutter in die
Pflege der Tante (der Ermordeten), die ihn verzärtelte, ihm Wein bis zur Trunken-
heit gestattete, ihn in demselben Bett mit Bettgeherinnen schlafen liess, wo er
schon mit 10 J. zu Unzucht und Coitus verleitet wurde, später ihn in ihr eigenes
Bett zu sich nahm und wahrscheinlich schon früh mit ihm Unzucht trieb. Sein
Vormund hatte ihn bei 4 Schustern nach einander unterzubringen versucht, von
denen ihn aber 3 schon nach 8 Tagen wegen Bettnässen, Gespensterfurcht und
Unfähigkeit fortschickten.
Seit einem Vierteljahr zeigte sich Seh. gegen seine Bettgenossin verändert.
Er consultirte im November 1874 einen Arzt wegen lästiger Empfindungen im
Kopf und eingebildeter Krankheiten der Geschlechtsorgane, gestand Onanie und
Unzucht mit der Tante zu und bat den Arzt um eine Anstellung, damit er dieser
verhassten Person los werde.
In der Folge misshandelte und verwundete er die Tante, behauptete, der
Geschlechtsumgang mit ihr sei ihm zuwider, sie sei eine Hexe, stinke, habe es
ihm angethan, dass er kein anderes Frauenzimmer bekomme. Er erbreche immer,
wenn er mit ihr za thun habe, ihre Hände seien roth, die seinigen weiss. Auch
behauptete er, ein Scharfrichter, der ihm ein Planetenbuch gegeben, habe ihn
verhext mit Krankheiten, ihm'übrigens gerathen, ein Ei in seinem Urin zu sieden
und es dann in einem Ameisenhaufen zu vergraben.
Im Verhör bekennt der kurzgewachsene, mit niedriger Stirn und einem
Sprachfehler behaftete Inquisit, dass er den Mord um 9 Uhr verübt habe. Der
136 Clap. IX. Verfolgiingswahnsinn.
Gedanke daran sei ihm gleich nach dem Morgengebet gekommen und da habe
er gedacht, er komme von Gott und die Sache werde auch mit Gott ausgehen.
Er. brachte sie um, weil sie eine Hexe mit pechschwarzen Haaren sei, weil ihm
der Rotz nicht mehr von der Nase abfliessen wollte und man ohne Rotz keine
Vernunft habe. Desshalb habe er sich zur Abhilfe ihre Nase auflegen wollen.
Sie habe ihm dadurch das Glied schlaff gemacht und ihm dadurch das höchste
Glück, die Liebe, genommen. War sie nicht, so wäre er — Kaiser.
Gutachten. Inquisit ist erblich zu Hirnabnormitäten disponirt, von
Hause aus schwachsinnig. Dazu kommt der Einfluss früh getriebener Unzucht
und der Alkoholexcesse. Seine That entspringt nicht aus blosser Rache, sondern
aus hypochondrischen Gefühlen und daraus entstandenen Wahnideen der Ver-
folgung. Sie geht allerdings aus Motiven des Hasses hervor, aber diese sind
pathologische, in Wahnideen begründete. Sie ist die That eines Verrückten, der
nach direktem krankhaftem Antrieb durch seine Wahnideen handelte, daher im
Sinn des Gesetzes zur Zeit der That seiner Vernunft gänzlich beraubt war.
(Meynert, psychiatr. Centralbl. 1875, Nr. 7.)
Eine forensisch wichtige Unterform des Verfolgungswahnsinns
ist der Querulanten- oder Processkrämerwahnsinn.
Er unterscheidet sich nur insofern von der Grundform, als recht-
liche und nicht vitale Interessen in der Meinung des Kranken gefährdet
sind, wirkliche Begebenheiten und nicht eingebildete den Ausgangs-
punkt des Deliriums bilden und der Kranke früh schon in der aktiven
Stelle des Angreifers, nicht in der des Angegriffenen erscheint. Nicht
selten treten jedoch in diesem Querulantenirresein auch die gewöhn-
lichen Delirien des Verfolgungswahns episodisch auf, zuweilen nimmt
es selbst seinen Ausgang in diesen.
Klinische üeber sieht: Die dem Querulantenirresein anheimfallenden
Leute sind durchweg belastete und meist erblich veranlagte, mit somatischen
(Schädelanomalien) Degenerationszeichen und früh und constant sich zeigenden
psychischen Anomalien und Defekten behaftete Menschen. Der grellste und.
wichtigste Defekt ist eine ethische Verkümmerung, die sie trotz allem „Reclits-
bewusstsein" nie zu einer tieferen sittlichen Auffassung des Rechts gelangen lässt.
Dieses erscheint ihnen in seiner formalen Verwerthung nur als Mittel, als legale
Waffe zur Erreichung egoistischer Zwecke.
Aus dem gleichen ethischen Defekt ergibt sich früh ein massloser Egois-
mus, der die Rechtssphäre Anderer missachtet, die eigene beständig vorzuschieben
geneigt ist und auf eine wirkliche oder vermeintliche Verletzung der eigenen
Interessensphäre in heftigster Weise reagirt.
Die Candidaten dieser Störungsform fallen schon früh durch ihren Eigen-
sinn, Jähzorn, ihre brutale Rechthaberei und masslose Selbstüberschätzung auf
und gerathen durch diese schlimmen Charaktereigeftschaften fortwährend mit der
Umgebung in Conflikt. Meist ist auch die intellektuelle Anlage unter dem
Durchschnittsmittel. Aber auch da, wo einzelne geistige Fähigkeiten bestechend
hervortreten, fehlt nicht eine auffällig verschrobene, trotz scheinbarer Schärfe
Querulantenwahnsinii. 137
der Schlüsse bedenkliche Lapsus verrathende Logik, die nur zu leicht in Rabulisterei
ausartet. Häufig ist auch die Reproduktionstreue mangelhaft und gibt die That-
sachen entstellt im Bewusstsein wieder.
Unzählige derartige Individuen verbleiben auf dieser Stufe einer originären
Charakteranomalie und sind eine Geisel für ihre Mitmenschen als Rabulisten und
Processer. Bei vielen besteht eine förmliche Processlust.
Die Gelegenheitsursache zur wirklichen Krankheit bildet auf dieser Grund-
lage irgend ein Rechtsstreit, in welchem solche Processer unterlegen sind, oder
auch die blosse Versagung vermeintlich berechtigter, in Wirklichkeit aber unver-
schämter Ansprüche. Nicht aus lebhaftem Rechtsgefühl, wie man vielfach annahm,
sondern aus vermöge ihrer ethischen und intellektuellen Verkümmerung fehlen-
dem LTnrechtsgefühl gerathen solche Menschen über die vermeintliche Kränkung
in eine leidenschaftliche gereizte Stimmung, verlieren rasch die Besonnenheit,
haben nur noch ein Ziel, die Wiederherstellung ihrer vermeintlich gekränkten
Rechte. Hinter dieser Aufgab« bleiben Beruf, Familienpflichten und Wohlstand
des Hauses zurück.
Nach einiger Zeit verlassen sie den Schmollwinkel, in den sie sich, brütend
über ihre Niederlage und zerfallen mit der Welt, zurückgezogen hatten. Ver-
trauend in ihrem krankhaften Selbstgefühl auf die eigene Kraft, und ohne Ver-
trauen zu den Advokaten bei ihrem krankhaften Misstrauen, haben sie sich
inzwischen selbst die Kenntniss des Gesetzes und der Rechtsmittel angeeignet.
Ausgerüstet mit diesen Waffen, beschreiten sie nun die Bahn • des Processens, ver-
fassen Klageschriften, recurriren in allen Instanzen.
Noch ist ein gewisser Rest von Besonnenheit vorhanden, noch wird die
leidenschaftliche Erregung einigermassen beherrscht, die Sprache im Zaum gehalten.
Mit fortgesetzter Erfolglosigkeit ihrer Bemühungen und den damit verbundenen
Demüthigungen werden sie immer verbissener, einsichtsloser, des letzten Restes
ihrer Besonnenheit verlustig. Was bisher noch als Leidenschaft einer psj^chologi-
sirenden Betrachtung gegenüber passiren konnte, wird immer mehr zur deutlichen
psychischen Krankheit, die keine Einsicht, keine Rücksicht und Vernunft mehr
kennt. Statt zu erkennen, dass ihre Sache erfolglos, weil sie eine ungerechte
war, suchen sie in ihrem Misstrauen die Ursache ihres Misserfolgs in der Partei-
lichkeit, Bestechlichkeit der Richter, und in harmlosen Begebnissen finden sie
Beweise für diese immer mehr sich befestigende LTeberzeugung. Nun fallen die
letzten Rücksichten für diese Kranken. Ihre immer voluminöser werdenden
Rekurse, Eingaben, Denunciationen strotzen von Invektiven und Amtsehrenbeleidi-
gungen und nöthigen zu gerichtlicher Massregelung, die den leidenschaftlichen
Zustand der Kranken verschlimmert.
Sie fühlen sich nun als Märtyrer und Betrogene, der ganze Rechtshandel
war nur eine der Justiz unwürdige Komödie. Mit wahnsinnig consequenter Hals-
starrigkeit, mit rabulistischer Logik und unverschämter Frechheit bestreiten dann
solche Menschen nicht bloss die Gerechtigkeit, sondern die Rechtskraft der
gegen sie erflossenen Urtheile. Sie weigern Geldstrafe, Entschädigung, Steuer,
vergreifen sich an den Executoren, erklären die Richter bis hinauf zu den
höchsten Beamten des Staats für Diebe, Schurken, Meineidige. Sie fühlen sich
im Kriegszustand gegenüber dem elenden Recht und seinen schlechten Vertretern,
als Vorkämpfer für Recht und Sittlichkeit, als Märtyrer gegenüber der brutalen
Gewalt. — Sie werfen sich nicht selten zu Beschützern und Winkeladvokaten für
138 Cap. IX. Querulantenwahnsinn.
andere „Unterdrückte" auf, wie jener von Buchner (Friedreich's Bl. 1870, p. 263)
begutachtete Querulant, der mit einigen Gleichgesinnten einen „Verein der Unter-
di'ückten", d. h. zum Schutz Derer, die vor Gericht Unrecht bekamen, gründete
und die Constituirung dieses Vereins dem König notificirte.
Lange werden gewöhnlich solche Kranke von den Laien ver-
kannt und gemassregelt, denn trotz aller Einsichtslosigkeit für das
Thörichte und Unziemliche ihrer Handlungsweise besitzen sie eine
bemerkenswerthe Dialektik und Rechtskenntniss , sind sie treffliche
Sachverwalter ihrer leider nur wahnsinnigen Sache. Da sie, kaum
bestraft, dasselbe Vergehen, meist Amtsehrenbeleidigung, sich wieder
zu Schulden kommen lassen, erscheinen sie als verstockte Bösewichter,
bei denen Erschwerungs- und Strafschärfungsgründe vorliegen, während
ihr consequentes unbeugsames Verhalten doch nur die natürliche noth-
wendige Folge ihrer Krankheit ist.
So greift die für solche Kranke nöthige und heilsame Massregel
der Entmündigung und Internirung in einer Irrenanstalt leider erst
Platz, nachdem sie Hab und Gut verprocesst, endlos die Gerichte be-
helligt, die öffentliche Ordnung gestört, die Achtung vor dem Gesetz
untergraben, ihre Angehörigen (wie so häutig) mit ihrem Wahn an-
gesteckt, ja selbst blutig sich an ihren Feinden gerächt haben.
Es mag vielfach schwer sein, den beginnenden W^ahnsinn von
Leidenschaft zu unterscheiden. Die andauernde und tiefgehende
affektvolle Erregung, die originär anomale Persönlichkeit, Schädel-
anomalien etc. werden mindestens zu Zweifeln an der Geistesintegrität
berechtigen.
Die Verbissenheit, Rücksichtslosigkeit in Wort und That, die
mangelnde Reproduktionstreue für Thatsachen , die alogischen Ge-
dankensprünge, die krankhafte Rechthaberei, Rabulisterei und Wort-
klauberei, der Zwang und die Hast, welche sich in dem ganzen Ge-
bahren dieser Unglücklichen kundgeben, der zunehmende Untergang
der Besonnenheit, die Einsichtslosigkeit für das positiv Schädliche
ihrer Handlungsweise, die wahnsinnige Unbeugsamkeit, das krankhaft
gesteigerte Selbstgefühl, die Schreibsucht mit charakteristischer Wort-
verdrehung, Anstreichung und Fettschrift von Kraftstellen, endlich
ausgebreitete Verfolgungsdelirien und selbst Hallucinationen werden
die Diagnose im Verlauf sicherstellen.
Beob. 41. Querulantenwahnsinn. Misshandlungen. Am 21. Nov.
1878 auf offener Strasse prügelte der Angeklagte Müller den Fürsprech Klein
durch und ging dann gelassen seiner Wege. Verhaftet bezeichnete er den K.
als den Urheber seines finanziellen Ruins. Desswegen und um andre Leute vor ihm
Beob. 41. Querulantenwahnsinn. Misshandlungen. 139
zu schützen (!) habe er den K. unschädlich machen, jedoch nicht tödten wollen.
Erst unterwegs habe er den Gedanken gefasst und sich mit einem Prügel ver-
sehen. Die innere Unklarheit der Motive, die zweckwidrige Wahl der Mittel,
die Gleichgültigkeit, ja selbst Befriedigung nach der That mussten Zweifel über
die Geistesintegrität des M. erwecken.
M. war ein fleissiger, nüchterner, etwas selbstbewusster Mann gewesen, der
es zu . einigem Wohlstand gebracht hatte. 1874 erlitt M. durch Unredlichkeit
eines Geschäftsmanns eine Beleidigung seines Rechtsgefühls und eine finanzielle
Schädigung. K. war als Notar bei dem bezüglichen Rechtsgeschäft betheiligt ge-
wesen. M. war tief gekränkt, vermuthete sofort in dem für ihn ungünstigen
Ausgang des Rechtshandels ein Complot, in das er auch K. einbezog und betrat
den Weg der Klage wegen betrügerischer Absicht. Das Gericht verneinte diese
und wies M. mit seinen Ansprüchen auf den Civilrechtsweg. M. erkannte sofort,
dass auch das Gericht mit seinen Feinden im Einverständniss war. M. wurde ver-
schlossen, unfreundlich, heftig, grob gegen Frau und Kind, magerte ab und hatte
nur noch ein Ziel, sein Recht zu bekommen, das er mit leidenschaftlicher Er-
regung festhielt und worüber er seinen Beruf als Bäcker vernachlässigte. Wenn
auch M. thatsächlich in seinen Rechten gekränkt war, so erkannte er von nun
an in entschieden falscher Auffassung in allen weiteren Consequenzen der Affaire
nur Verrath und Betrug, war einem Ausgleich unzugänglich und erkannte in
dem mehrfach in der Folge engagirten' K. seinen schlimmsten Feind. M. hatte
nur noch ein Ziel, seine Feinde an den Pranger zu stellen. Er stürzte sich in
endlose Processe, zweifelte an der Fälligkeit und Ehrlichkeit seiner Rechtsbei-
stände und schob den Ruin seines Geschäfts und seinen Misserfolg vor Gericht
seinen Feinden in die Schuhe. Er drohte ihnen, wurde desshalb bestraft
(1877), dadurch aber nur noch verbissener und nachdem er nirgends Recht be-
kommen konnte und Drohbriefe an die höchsten Justizbehörden wirkungslos ge-
wesen waren, weil nach seiner Meinung auch diese im Complot mit seinen Fein-
den standen , machte er gefährliche Drohungen „Recht oder Blut", die ihm eine
4 monatliche Correktionsstrafe eintrugen. Er ertrug sie gelassen, aber verschlossen
und schweigsamer als sonst. Nun war nach seiner Meinung auch seine Ehre
dahin und er hatte nur noch einen Wunsch, sich an seinem vermeintlichen Todt-
feind K. zu rächen.
In der Beobachtungszeit war M. äusserlich ruhig und geordnet, solange nicht
seine Rechtssache berührt wurde. Dann wurde er heftig, liess durchblicken,
dass man es hier nur darauf abgesehen habe, ihn auch noch geisteskrank zu
machen, entwickelte ganz verschrobene Rechtsanschauungen, behauptete Fäl-
schungen der Protokolle und Unterschriften und stellte die einzelnen Momente
seines Rechtshandels ganz falsch dar. Nach wie vor hielt er an der Gerechtigkeit
seiner Sache und der Erlaubtheit seiner Handlung gegen K. als eines Aktes
der Selbsthülfe unerschütterlich fest.
M. zeigt unsymmetrische Körperhälften insofern die linke viel geringer
entwickelt und auch weniger leistungsfähig ist. Da die rechte Schädelhälfte nur
_ 26,5, die linke 29 cm Umfang hat, darf die halbseitige Verkümmerung auf eine
Verkümmerung der r. Gehirnhälfte (Wachsthumshemmung) bezogen werden.
Diese Anomalie deutet auf eine Prädisposition zu Hirnkrankheiten und ist ätio-
logisch bedeutsam. Ob Heredität im Spiele, ist zweifelhaft, da M. unehelich ge-
boren wurde, sein Vater unbekannt ist. Seine Mutter wird als verkommen ge-
140 Cap. IX. Querulantenwalmsinn.
schildert, ein Stiefbruder stottert und ist trunksüchtig. Von jeher galt M. für
starrsinnig und hochfahrend.
Die Conclusionen des Gutachtens sind folgende : 1. M. ist sicher organisch,
wahrscheinlich auch erblich belastet. 2. M. leidet schon seit Jahren an sog.
Querulantenwahnsinn, einer speciellen Form des Verfolgungswähnsinns. 3. die
incriminirte That ist nur als eine Aeusserung des besagten Zustands aufzufasseii.
4. M. war zur Zeit der That durch seine Krankheit der freien Willensbestimmung
beraubt. (Burkhardt, Vierteljahrsschr. f. ger. Med. N. F. XXXI, H. 2.)
Beob. 42. Zweifelhafter Geisteszustand (Querulantenwahnsinn)
eines suspendirten Postbeamten. L. 32 J., suspendirter Postbeamter, aus
einer Familie, in welcher Irrsinn vorgekommen ist, als Kind an Convulsionen
leidend, originär verschroben, einseitig talentirt, im Grossen und Ganzen aber
schwach begabt, reizbar, sehr von sich eingenommen, wurde nach bewegtem
Vorleben als Student, Soldat, Schreiber und Journalist, als welcher er „bei seiner
scharfen Feder und conservativen Richtung die sogenannten Liberalen oft tüchtig
zerzaust haben will" durch Protection Postbeamter (1874), wobei er bald durch
Unverträglichkeit Anstoss erregte. Er mischte sich überall unberufener Weise in
den Dienst, ärgerte und denuncirte andere Beamte, passte ihnen auf den Dienst,
beging eine Taktlosigkeit nach der anderen, verrieth eine masslose Selbstüber-
schätzung, während er doch in seiner eigenen Dienstführung unverlässlich und
unbeholfen war. Schon nach wenigen Monaten erhält er wegen anmassenden
Benehmens gegen das Publikum eine dienstliche Rüge. Er geräth in grosse Er-
regung, bringt zu seiner Rechtfertigung eine Masse von Insolenzen des Publikums
zur Anzeige, die sich als Fiktionen und Uebertreibungen erweisen und versichert,
dass er nur das Ansehen der k. k. Post gewahrt hätte. Seine Collegen seien
Feiglinge, die sich Alles gefallen Hessen. Neue Rügen, die er sich durch takt-
loses Benehmen gegen Mitbeamte und Publikum zugezogen, steigern seine leiden-
schaftliche Erregung. Er querulirt um AnnuUirung dieser Verweise , stellt sich
(Anfang 1875) als den gekränkten Gemassregelten hin, spricht von Demorali-
sirung des Beamtenstands, Parteilichkeit der Vorgesetzten, sieht sich verdächtigt
im Amt, während er sich doch nur das beste Zeugniss geben kann. Er glaubt
sich im Stand der Notliwelir, müsse in Jedermann einen Denuncianten erblicken
und klagt, dass dies Gefühl physisch und moralisch aufreibend auf ihn wirke.
Neiie Anmassungen gegen Beamte und Publikum ziehen ihm neue Verweise zu.
Zunehmende Aufgeregtheit, Leidenschaftlichkeit, Selbstüberschätzung, feindliche
Entstellung der Thatsachen lassen den Amtsvorgesetzten schon Ende 1874 an
seiner Geistesgesundheit zweifeln. Immer deutlicher tritt L. aus der Rolle des
vermeintlich Angegriffenen heraus und übernimmt die aktive Rolle des Angreifers.
Er kehrt in den Anfang 1875 gegen ihn abgeführten Disciplinaruntersuchungen
den Spiess um und droht mit Ehrenbeleidigungsklagen gegen die betr. Beamten,
die doch er beleidigt hat, verdächtigt die Ehre und Berufstreue seiner Vorge-
setzten, denuncirt grundlos Untergebene, gefällt sich in offenbar provocirten
Reibereien mit ihnen, bläht geringfügige Vorgänge gleich zu Ehrenbeleidigungen
auf und droht mit Landesgericht und Staatsanwalt. Seine Sprache wird immer
massloser, verletzender, leidenschaftlicher. Ueberall erblickt er nur eine Krän-
kung seiner Rechte, aber er fühlt sich Mann genug, um einer solchen feigen Be-
amtenclique die Larve vom Gesicht zu reissen. In endloser Breite häuft er grund-
I
Beob. 42. Zweifelhafter Geisteszustand eines Querulanten. 141
lose Beschuldigungen gegen ihm angeblich feindlich gesinnte Beamte, droht mit
Straf- und Schwurgericht als Herstellungsmittel seiner verletzten Ehre, macht
einen Wortwechsel im Dienste zu einem Verbrechen der öffentlichen Gewalt-
thätigkeit, erstattet Anzeige bei Gericht und beim Ministerium. Die anmassende
weitschweifige Sprache in diesem Bericht, die behäbige Breite des Styls mit all-
gemeinen Betrachtungen über Menschenrechte, Ehre, pikanten angeblichen Beleg-
fakten und Beispielen der Corruption des Beamtenthums lassen (April 1875)
kaum mehr zweifeln, dass L. bereits wahnsinnig ist.
Seine Rekurse beim Ministerium haben keinen Erfolg. L. wird Ende April
nach P. versetzt. Auch seine gerichtlichen Klagen gegen Beamte endigen mit
der Freisprechung der grundlos Angeklagten. Grollend, mit der Welt zerfallen,
tritt L. seine Stelle in P. an. Schon im August 1875 ist sein Vorstand genöthigt,
über neue Unverträglichkeiten des L. im Amte, sowie über seine dienstliche Unzu-
verlässigkeit höheren Orts Klage zu führen. Er erklärt den Postmanipulations-
dienst für eine geistlose Arbeit, prahlt mit seinen vornehmen Connexionen und
Verwandtschaften, und dass das Ministerium ihn in Bälde zum Conceptfache
avanciren lassen werde. Es sei traurig, dass er mit solchen Strohköpfen dienen
müsse.
Daneben verlangt er in prätentiöser Weise Erleichterungen vom Dienste,
beruft sich auf ein geringfügiges äusseres Augenleiden, das ihn dazu nöthige,
spricht von seiner Opferlust als Beamter, während seine Vorgesetzten finden,
dass er den Dienst vernachlässigt und allerlei Allotria treibt.
Wegen seiner Hetzereien und Ungebührliclikeiten im Dienste interpellirt,
dreht er die Worte herum, schleudert die Anklage gegen die Anderen zurück
und häuft wieder neue Invektiven.
War schon L. durch sein gehässiges Benehmen im Dienste in P. eine an-
stössige Persönlichkeit geworden, so führten 2 Scandale, die er am 15. u. 16. Sept.
1875 im Amte provocirte , dazu , ihn unmöglich zu machen und nöthigten seine
Behörde, ihn vom Amte zu suspendiren.
Am 15. Sept. drohte nämlich L. in einem wegen geringfügiger Ursachen
provocirten Wortwechsel seinem Vorstande, er werde im Wiederholungsfalle ihn
und die Postdirektion in Criminaluntersuchung verwickeln, die Betrügereien und
Diebereien der Beamten zur Kenntniss des Ministeriums bringen.
Am 16. Sept. stiess er neue Drohungen aus, nannte alle Postbeamten
Diebe,- — er habe mehr Verstand im Kopfe, als alle Anderen, man werde noch
vor ihm zittern.
Das am 24. Sept. erhobene Gutachten des Bezirksarztes schildert L. als
einen Menschen von grosser Selbstüberschätzung, der den Minister als einen ver-
trauten Freund hinstellt, sich seiner schriftstellerischen Leistungen rühmt, sich
seinen Mitbeamten weit überlegen dünkt, allein die wahren Begriffe von Ehre
und Muth zu haben glaubt. Das Gutachten erwähnt seiner Schreibwuth, seiner
unsittlichen Impulse und kommt zum Schlüsse, dass bei L. ein psychischer
Exaltationszustand von pathologischem Charakter vorhanden sei.
In seinem langathmigen Rekurse an das hohe Handelsministerium ist L.
wieder der Beleidigte, der den Sachverhalt ganz entstellt und leidenschaftlich
schildert. Als einziger Beleg, dass er berechtigt sei, die Beamten des Postamtes
in P. Diebe zu nennen, kommt er auf eine längst abgethane Angelegenheit zurück,
]^42 Cap. IX. Querulantenwahnsinn.
nämlich, dass ein dort bediensteter Beamter vor Jahren einmal von einer Wein-
traubensendung genascht hat.
Im weiteren Verlaufe seines Rekurses verliert er sich in endloses, gar
nicht zur Sache gehöriges Detail, berichtet eine Menge angeblich von ihm ent-
deckte Unzukömmlichkeiten und ehrenrührige Handlungen von Beamten im
Dienste, die sich aber als krankhafte Fiktionen oder Uebertreibungen ausweisen,
und entblödet sich sogar nicht, Familienverhältnisse und Privatklatsch in Bezug
auf die denuncirten Beamten zu erwähnen. Den Schluss seines Rekurses bilden
feuilletonistische Betrachtungen über Bureaukratie und Beamtenmisere. Er hofft,
dass ein Messiasminister zur Abstellung dieser Misere erstehe, fürchtet aber, dass,
bis sein Rekurs bis zum Minister gelange, alles Gravirende für Andere daraus
weggewaschen, und er nur noch als Raisonneur und Sünder dastehen werde.
Bemerkenswerth ist seine Aeusserung, dass er durch alle diese Händel und
Invektiven sich nervös angegriffen fühle und zu seinen Arbeiten dreimal so lange
als früher brauche.
Anfang Oktober 1875 ging der suspendirte L. in das Postbureau, den Hut
auf dem Kopfe und legte 2 Briefe auf den Tisch. Der über ein solches unan-
ständiges Benehmen indignirte manipulirende Beamte sagte zu L. bloss : „im
Vorhause befindet sich der Briefkasten" ; darauf provocirte L. einen Scandal,
warf mit „frecher Kerl" und ■ „Zuchthaus" um sich und verliess endlich das
Amtslokal.
L. zog sich in der Folge nach K. zurück. Eine kolossale Correspondenz
mit allen möglichen Standespersonen füllte seine ganze Thätigkeit aus. Er gesteht
selbst zu, weit über 30 Briefe täglich geschrieben zu haben, natürlich sämmtlich
voll Klagen über Parteilichkeit der Gerichte, ungerechtfertigte Disciplinarmass-
regelung, Invektiven gegen Beamte und Denunciationen.
Es scheint, dass L. in letzter Zeit vor seiner Umgebung sich nicht sicher
genug fühlte. Er gab z. B. die Briefe nicht in die gewöhnlichen Postsammei-
kästen, sondern wai'tete die Ambulanz ab, um seine Schreiben noch ohne post-
amtliche Revision im letzten Augenblicke wegzuschicken. In seiner letzten
Wohnung soll er um eine doppelte Thüre und dazwischen einen Strohsack
petitionirt haben, damit er nicht die Gespräche der Anderen höre.
Vom Stadtrathe am 9. Januar 1876 in's Spital zur Feststellung seines
Geisteszustandes gesendet, legte er bei der Sicherheitsbehörde sogleich Protest
gegen diese Freiheitsberaubung ein und beschäftigte sich in den folgenden
Tagen ausschliesslich mit der Abfassung von Briefen, Beschwerden, Eingaben.
Mit beissender Schärfe und gewandter Logik versteht er es, das, was um ihn
vorgeht, zu kritisiren, ironisiren, mit Stichelreden gegen Aerzte und Wartpersonal
vorzugehen, mit seinerzeitigen gerichtlichen Schritten zu drohen.
Sein Benehmen ist vornehm herablassend, selbstgefällig, seine Miene süffisant.
Er prahlt mit seinen Connexionen und vornehmen Verwandtschaften, mit seinen
literarischen Leistungen, von denen er kleine Proben mittheilt. Kommt er auf
seine Rechtshändel zu sprechen, und er lenkt mit krankhaftem Zwange immer
wieder die Conversation darauf hin, so geräth er in nur mühsam verhaltene Auf-
regung, wirft mit endlosem Redeschwall, mit Gesetzesparagraphen, Strafakten,
Untersuchungen etc. um sich und stellt sich als einen Märtyrer hin, der aber
eines Tages seine Feinde zu Schanden machen und der Welt Dinge erzählen wird,
die ungeheure Sensation machen werden.
Beob. 42. Zweifelhafter Geisteszustand eines Querulanten. 143
L. besitzt wahrhaft pathologisclie Begabung und Drang zum Dispntiren
und ist, selbst wenn es gelingt, ihn durch die Thatsachen zu widerlegen, vor
lauter Sophistik, Dialektik und Rabulisterei unversehens doch im Rechte und der
gekränkte Ehrenmann.
Die am 15. Januar erfolgte Transferirung in die Irrenanstalt machte einen
mächtigen Eindruck auf ihn.
Er sieht ein, dass er einen zu dicken Schädel gehabt habe, dass man nicht
gegen den Strom schwimmen könne, er gibt sogar zu, dass er leidenschaftlich,
nervös aufgeregt gewesen sei, aber insgeheim ist er von der Gerechtigkeit seiner
Sache unwandelbar überzeugt.
Schon nach wenigen Tagen übernimmt er auch in der Irrenanstalt die
Stelle des Querulanten und Denuncianten, verdächtigt Wärter, passt ihnen auf
den Dienst, nöthigt zu disciplinarer Untersuchung gegen sie, die, gerade so wie
früher, ein negatives Resultat für die Verklagten ergibt.
L. ist ein schlanker, in der Ernährung etwas herabgekommener Mann.
Der Blick stechend, die Gesichtszüge unsympathisch, lauernd und Hochmuth
deutlich verrathend. Im Oberkiefer finden sich als von Kindheit auf bestehende
Abnormität nur 2 Schneidezähne.
Im üebrigen ist der Körper wohlgebildet; nur besteht convergirendes Schielen,
dessen Entstehung unaufgeklärt ist. Die vegetativen Funktionen sind ungestört.
Gutachten. Herr L. leidet an einer empirisch wahren, unter dem Namen
des Processkrämer- oder Querulanten- Wahnsinns wissenschaftlich bekannten Form
von Geistesstörung.
Schon bald nach seinem Eintritte in das Postfach gerieth der originär
verschrobene L. in Conflikte mit den Thatsachen und mit der Umgebung. Er ist
unverträglich, arrogant, reizbar, rechthaberisch, streitsüchtig, tritt bald als
Denunciant auf, obwohl er am wenigsten bei seiner eigenen Lässigkeit und
geringen Brauchbarkeit im Dienste Grund hat, sich bemerklich zu machen.
Disciplinarisch gemassregelt, wähnt er sich verfolgt, das Opfer einer Intrigue,
aber bald darauf erscheint er in der Rolle des Angreifers, der, aller Besonnenheit
verlustig, durch die Brille seiner Leidenschaft gesehene Kleinigkeiten zu Ver-
brechen stempelt, querulirt, denuncirt, intriguirt, processirt, in wahnsinniger
Selbstüberschätzung sich allein im Rechte glaubt, die Anderen für Diebe und
Strohköpfe erklärt, die grössten Scandale provocirt, bis seinem wahnsinnigen,
alles rechtlichen Grundes baaren, das eigene Lebensglück zerstörenden Treiben
endlich ein Ziel gesetzt wird.
L. ist ein für die öffentliche Ordnung, ja möglicher Weise die öffentliche
Sicherheit gefährlicher Kranker.
Bei der langen Dauer des Leidens, der progressiven Entwicklung desselben
und dem Umstände, dass es in präexistirenden Charakteranomalien allein seine
Entstehung findet, muss die Hoffnung auf eine völlige Wiederherstellung des
unglücklichen Kranken als eine geringe bezeichnet werden.
Die ihm zur Last gelegten Disciplinarvergehen, welche seine Suspendirung
vom Amte zur Folge hatten, sind der Ausfluss seiner bedauernswerthen, mindestens
seit 1874 nachweisbaren Geisteskrankheit.
Die Behörde sah sich auf Grund dieses Gutachtens veranlasst, die Sus-
pension des Kranken vom Amte zurückzunehmen und denselben wegen Krankheit
zu quiesciren. (Eigene Beobachtung, Irrenfreund 1876.)
J44 Cap. IX. Querulantenwahnsinn. Beob. 43.
Weitere Fälle: s. des Verf. Aufsatz über Querulantenwahnsinn in Allg.
Zeitschr. f. Psychiatrie, 35. Bd. (vollständige Casuistik bis 1876). Ferner Anes-
hänsel, Aerztl. Mittheilungen aus Baden. XXXII. 21. Beckmann, Erlenmeyer's
Centralblatt 1880, Beil. 1. Sponholz ebenda 1880, Nr. 13.
Eine dieser Gruppe von Kranken nahestehende bilden wahn-
sinnige Hypochonder, die sich in irgend einer Krankheit vom Arzt
falsch behandelt, bleibend in ihrer Gresundheit geschädigt glauben und
nun gegen ihre Aerzte Processe auf Schadenersatz anstrengen, ja
"wohl gar an Denen, von welchen sie sich in ihrer Gesundheit zu
Grunde gerichtet wähnen, sich thätlich vergreifen, wenn ihre Be-
schwerden und Klagen vor Gericht erfolglos waren.
Beob. 43. Hypochondrische Verrücktheit. Wahn, vom Ar zt
falsch behandelt zu sein. Mordversuch auf diesen. Der 44jährige
Kutscher Bourgeois ist angeklagt, am 18. Januar einen Mordversuch auf Dr. Bleynie
gemacht zu haben, weil dieser ihn vor Jahren falsch behandelt habe. Er gibt
selbst Folgendes zu Protokoll:
„Vor 16 Jahren habe ich eine Kälte in den Eingeweiden empfunden.
Diese hätte in 8 Tagen geheilt werden können. Ich wandte mich an Dr. F.
Dieser setzte ein Vesicator, das brachte aber meine Organe nur noch mehr in
Unordnung und zog sie ganz zusammen. Ich wandte mich an Dr. B., der mir
warme Bäder anrieth. Sie halfen nichts. Nun verordnete er Flussbäder. Diese
verschlimmerten die Kälte in meinem Innern auf entsetzliche Weise. Ich con-
sultirte andere Aerzte, aber es war nicht mehr zu helfen. Ich war ruinirt, die
Eingeweide nicht mehr an der rechten Stelle, ich musste mein Geschäft aufgeben."
Seine Angehörigen und Arbeitgeber deponiren, dass er seit 16 Jahren
Hypochonder ist, einen gränzenlosen Hass gegen die Aerzte hat, von denen er
sich ruinirt glaubt. In einer Schrift, die man von ihm geschrieben bei ihm fand,
kommt folgende Stelle vor: „Arme Kranke, vertraut Euch nicht den Aerzten an.
Sie sind Unwissende und Mörder, welche tödten können, wie es ihnen gutdünkt.
Wenn Ihr ihnen sagt, dass sie sich geirrt haben, so lachen sie Euch in's Gesicht
und behandeln Euch als Wahnsinnige. Zehn Jahre Galeeren würden zu ihrer
Bestrafung nicht hinreichen."
Gegen Dr. B. wandte sich besonders sein Hass, da er ihm vor 12 Jahren
Flussbäder gegen sein Kältegefühl veroi'dnet habe. Vor 10 Jahren schon machte
er ihm bittere Vorwürfe auf der Strasse. Vor 3 Jahren kaufte er ein Dolch-
messer mit der offenen Absicht, den Arzt zu tödten.
Sechs Wochen vor der That kaufte er Pistolen, weil er sie für dienlicher
hielt. Er bereitete sich kaltblütig auf seine, nach seiner Meinung verdienstliche
That vor.
In seinen Papieren findet sich die Stelle : „Es ist ein Wunder des Himmels,
dass ich noch nicht von der Hand der Aerzte gestorben bin — ich war dazu
bestimmt, ihre Verbrechen aufzudecken und zu bestrafen."
Er schoss nach Dr. B. auf offener Strasse, gestand verhaftet sein Motiv
ganz offen, nur bedauernd, dass seine That nicht gelungen sei, die er übrigens
mit besserem Erfolg zu wiederholen hoffe.
Der religiöse Wahnsinn. 145
Im Gefängniss war er ganz besonnen und geordnet, nur sprach er besonders
gern von seinen Krankheiten. Er ist mager, bleich, seine Züge haben das Gepräge
eines körperlichen Leidens, der Schlaf ist unruhig, er ist wählerisch in den Speisen,
weist manche als seiner Gesundheit unzuträglich zurück. In seinen Reden und
Gewohnheiten bemerkt man nichts Unverständiges. B. wurde für irrsinnig erklärt.
(Marc, die Geisteskrankheiten, übers, von Ideler, IL p. 9.)
Aehnlicher Fall: Lorent, Allg. Zeitschr. f. Psych. XXXIIL H. 5 u. 6.
b. Der religiöse Wahnsinn.
Klinische Ueber sieht: Auch diese Form des Wahnsinns pflegt sich
aus einer von Kindsbeinen auf verschrobenen Charakterrichtung, in der ein Zug
von träumerischem Wesen bis zu ausgesprochenem Mj^sticismus und Bigotterie
früh auffällt, zu entwickeln. Die geistige Begabung ist gewöhnlich eine geringe,
der wahre ethische Kern der Religion kommt solchen Individualitäten über der
glänzenden Aussenseite des Cultus derselben nicht zum Bewusstsein und ihr alo-
gischer Sinn klaubt am Buchstaben und Wort der Bibel und göttlichen Offen-
barung herum, statt ihre tiefere Bedeutung zu erfassen. Die centrale Sinnessphäre
ist abnorm erregbar und führt leicht zu Hallucinationen. Früh und oft abnorm
stark erwacht die geschlechtliche Sphäre und führt häufig zu Masturbation.
Hysterische, epileptische und hypochondrische Neurose ist bei solchen Candidaten
der religiösen Verrücktheit nicht selten und zuweilen entwickelt sich der Wahn-
sinn aus gehäuften hysterisch-ecstatischen Zuständen oder bei Epileptikern aus
den religiösen Delirien solcher Kranken. In anderen Fällen wird der Grund zu
dem Krankheitsbild in der Pubertätszeit gelegentlich religiöser Exaltationszustände,
die mit Hallucinationen einhergehen und sich bis zur Ecstase steigern können,
gelegt.
Der Krankheitsausbruch ist selten ein plötzlicher, meist geht ein Monate
bis Jahre dauerndes Incubationsstadium vorher, in welchem neben hysterischen
oder hypochondrischen Symptomen, Erscheinungen von Neurasthenia spinalis
u. a. somatischen Folgen der Masturbation die innere Concentration, Zerstreutheit,
Vernachlässigung der Berufspflichten, Bibelstudium und Vertiefung in religiöse
Schriften auffallen. Zeiten bussfertiger Zerknirschung wechseln mit solchen
ahnungsvoller Hoffnung, Gehobenheit und erotischer Erregung (Schwärmen für
einzelne Geistliche, Heilige u. s? w.). Schwächende Momente (weitgetriebene
Bussen, Askese, Masturbation, acute Krankheiten) neben Erregung von Gemüth
und Phantasie durch mystische Lektüre, fulminante Predigten und allzueifrige
Hingebung an religiöse Hebungen (besonders Missionen) führen zu einem psy-
chischen Aufregungszustand mit sublimen Gefühlen der Gehobenheit bis zur
Ecstase, mit himmlischen Visionen, zu denen sich bald prophezeiende verheissende
Stimmen gesellen. Bei Weibern finden sich gleichzeitig Gefühle sexueller Erregung
bis zu Coitusgefühlen und solchen der Verklärung.
Die Führung im weiteren Krankheitsverlauf übernehmen Hallucinationen,
und ecstatische Zustände, die unter dem Einfluss von Askese, Masturbation jeweils
besonders lebhaft auftreten. Ueberraschend schnell bilden sich bei der meist
originär verschrobenen Persönlichkeit Wahnideen (Prophet, Messias, Mutter Gottes)
und geht der lezte Rest von Besonnenheit verloren. Etwaige Zweifel erscheinen
als Anfechtung des Teufels und werden siegreich überwunden.
V. Krafft-Ebing, gerichtl. Psychopathologie. 2. Auflage. 10
146 Cap. IX. Religiöser Wahnsinn. Forensische Bedeutung.
Jedoch kommen im Verlauf episodisch Zeiten der tiefsten Zerknirschung^
des Zweifels an der Würdigkeit zum göttlichen Beruf, des Bedürfnisses der
Läuterung und Busse, bis zu dämonomanischen Anfechtungen vor, in welchen
die Kranken fasten , sich Stillschweigen auferlegen und Askese bis zur Selbst-
verstümmelung treiben. Auch bei dem relig. Wahnsinn lässt sich ein Stadium
der Passivität unterscheiden, in welchem die Kranken sich einfach receptiv ihren
Gefühlsmetamorphosen und Hallucinationen gegenüber verhalten und ein Stadium
der Aktivität, in welchem der fertige Wahn sich geltend zu machen sucht, sei es
in der harmlosen Rolle des Weltreformators und Erlösers, sei es in der bedenk-
lichen des wahnsinnigen Fanatikers. Mit der Zeit lassen die Hallucinationen
und ecstatischen Gefühlsdurchströmungen nach, die Affekte verlieren sich, die
Wahnideen verblassen und existiren nur noch als Phrase für den zum ruhigen
Bewohner irgend einer Irrenanstalt gewordenen Kranken.
Die forensische Bedeutung des religiösen Wahnsinns ist heut-
zutage glückhcherweise eine geringere als in vergangenen Jahr-
hunderten, wo er häufiger, sogar epidemisch vorkam und zu den
traurigsten Verirrungen und schrecklichsten Gewaltthaten führte.
Gefährlich sind solche Kranke auf der Höhe ihrer Krankheit
Anderen durch Handlungen des Fanatismus , die durch von Gott
empfangene Befehle oder missverstandene verrückte Auslegung von
Bibelstellen motivirt sind.
Ein gewöhnliches Vorkommen sind Misshandlungen von Geist-
lichen, Störung des Gottesdienstes, Tempelschändung und Bilder-
stürmerei, indem solche Kranke die Priester für Baalspriester und
Irrlehrer, die Kirchen für Götzentempel erachten.
Nicht selten ist der Mord geliebter Personen, um sie der Freuden
des Paradieses theilhaftig zu machen, ein Gott wohlgefälHges Opfer
im Sinne Abrahams darzubringen, sie von vermeintlich begangenen
Sünden abzuhalten und für das ewige Leben zu retten.
Auch durch Verweigerung des Gehorsams, der Eidespflicht gegen-
über der weltlichen Obrigkeit, durch Aufregung und Ansteckungs-
gefahr einer bigotten, rehgiös erregten Bevölkerung durch Schrift
und Wort können derartige Wahnsinnige forensische und sociale Be-
deutung bekommen. Gefährhch dem eigenen Leben werden solche
Kranke durch Fasten, durch aus eigenem Antrieb oder auf göttlichen
Befehl unternommene Selbstverstümmelungen bis zur Kreuzigung.
Die diagnostische Frage wird sich in foro darum drehen , ob
blosse Leidenschaft (Fanatismus) oder Wahnsinn vorliegt.
Die synthetische Erfassung des concreten Falls, welcher die
That nur als eine Einzelerscheinung, eventuell als ein Symptom eines
psychopathischen Zustands erscheint, die Würdigung der Gesammt-
Beob. 44. Religiöser Wahnsinn. Mord des eigenen Kindes. 147
persönlichkeit in anamnestischer charakterologischer und kHnischer
Hinsicht, des Entwickhmgsgangs und Verlaufs der fraglichen Krank-
heit, der hegleitenden neurotischen, somatischen und Belastungszeichen,
der vielfach vorhandenen Anomalien der geschlechtlichen Sphäre werden
zunächst eine Basis für die Beurtheilung schaffen, auf welcher der
Nachweis von Hallucinationen , ecstaseartigen Zuständen, epilepti-
formen u. a. Krampferscheinungön, endlich der Nachweis von wesent-
lich auf Hallucinationen gegründeten Wahnideen, ihre Unerschütterlich-
keit, die alogische Interpretation von Stellen der Bibel, die rück-
sichtslose offene weil im Namen Gottes erfolgende Handlungsweise
den concreten Fall ins richtige Licht stellen werden.
Beob. 44. Religiöser Wahnsinn. Mord des eigenen Kindes,
um Gott ein Opfer darzubringen. F. stammt angeblich aus gesunder
Familie. Er galt als sehr eigenwillig und eingebildet, litt wiederholt an Dysen-
terie, machte den amerikanischen Krieg mit, wurde später Schuster, lej-nte 1871
seine spätere Frau kennen, strengte sich sehr an um ein Heim gründen zu können,
heirathete endlich 1875 mit 25 J., litt 1876 an Diphtheritis, kaufte sich dann ein
kleines Besitzthum in einem Dorfe, wurde Briefbote und schloss sich der Metho-
distengemeinde an. 1876 erlitt er einen Anfall von Sonnenstich, an dessen Folgen,
namentlich Kopfschmerz, er noch 1877 zu leiden hatte. Er war von geringer
Bildung aber ein braver Mensch und liebte seine Familie sehr. Im Anschluss
an eine gehörte Predigt und eine Zeitungslektüre im Februar 1878 zeigte er eine
tiefgehende Sinnesänderung, vertiefte sich in religiöse Betrachtungen, wollte sich
mit seinen Feinden aussöhnen und ein neues Leben beginnen, „ein Leben der
Demuth und Ergebenheit nach dem Worte und Geist Gottes". Er fühlte bald,
dass Gott ihn zu einer besonderen Mission bestimmt habe und dass er dai'über
Familie und Beruf aufgeben solle. Gott fragte ihn, ob er seine Familie verläug-
nen wolle um das Evangelium zu predigen, er wolle ihn dafür- erleuchten, dass
er die Satzungen der Bibel verstehe und belehren. Schon als Knabe von 14 Jah-
ren will F. Gottes Stimme vernommen und seither sich immer in Gottes Schutz
gefühlt haben. Im Sommer 1878 liess er an sich die Wassertaufe durch Ver-
treter der Adventistensecte vollziehen. Um diese Zeit hatte er beim Einschlum-
mern eine Vision. Eine schwere schwarze Wolke legte sich auf ihn, er hörte
verständliche und unverständliche Stimmen, wurde ^/4 Meilen weg zum Hause
seiner Schwiegermutter versetzt, fühlte einen furchtbaren Wirbelwind mit Ge-
räiisch von Hagel und Donner, sodass das naheliegende Haus seines Schwagers
weggefegt wurde. Er lag während dieser Vision im Gebet und war ausserordent-
lich aufgeregt. Er wurde nun Führer der Adventistengemeinde , die ihn wegen
seiner Vision dazu auserwählt erkannte.
Im December 1878 forderte Gott von ihm, jeden Umgang mit seiner Frau
zu unterlassen. Er fügte sich diesem Gebot. Während solcher Zusammenkünfte
mit Gott hatte er immer ein unbeschreibliches Gefühl, als wenn etwas aus seinen
Fingern ausströme, ein drückendes Gefühl in der Herzgegend und einen eigen-
thümlichen, bis 15 Minuten währenden Bewusstseinszustand, in welchem aber
nicht Bewusstlosigkeit bestand. 9 Wochen vor dem Mord befahl ihm Gott, dass
148 Cap. IX. Religiöser Wahnsinn.
er sein Weib nicht mehr fleischlicli berühre. Die Eheleute fügten sich dem
göttlichen Willen. Zu jener Zeit hatte er bei einem Gottesdienst eine unbezähm-
bare Anwandlung zu schreien. Er schloss daraus, dass ihn Gott auffordere,
seiner Familie gänzlich zu entsagen, fortzugehen und zu predigen.
Er wurde nun reizbar, unduldsam, selbst gegen seine Kinder, die er .sonst
sehr liebte. 3 Wochen vor dem Mord, als er gerade einen Mittagsschlaf halten
wollte, hatte er wieder eine Vision — eine Wolke senkte sich auf ihn, Kopf
und Brust brannten, eine Windsbraut kam daher gerauscht und er hörte das
Rollen des Donners. Er sah sich im Nachtgewand m.it einer leuchtenden Kerze
in einem Zimmer. Eine Stimme sagte „Jesus ist hier". Es war ihm, als wenn
er von Glas wäre, d. h. er fühlte eine eigene Gefühllosigkeit.
10 Tage später, nach einer Kränkung durch den Schwager, der ihm mit
Erschiessen drohte, kam über ihn ein ungemein peinliches Gefühl. Es war ihm
als ob Gott im Hause gegenwärtig sei und ihn auffordere, ihm irgend ein grosses
Opfer darzubringen. Er ass nun nur noch etwas Brod und Zwieback, trank nur
Wasser, schlief sehr wenig und athmete schwer im Schlafe.
Er fühlte sich während dieser Zeit auserwählt von Gott ein grosses Werk
zu verrichten, etwa wie Christus. Er grübelte beständig über den Willen Gottes
nach und was die Visionen zu bedeuten hatten, auch war er in grosser Angst
über die Drohung des Schwagers ihn zu erschiessen.
Vier Tage vor dem Mord verhiess er einem schwindsüchtigen Mädchen
Genesung, wenn es Vertrauen zu ihm habe und einem kranken Adventisten sagte
er, es sei ihm geoffenbart, dass er genesen werde.
Drei Tage vor dem Mord fasste er die Ueberzeugung, dass er nach Gottes
Willen fortgehen und predigen solle, nur wusste er nicht wohin, Tags dai'auf
las seine Frau in einer Adventistenzeitung über das Opfer Abrahams und fragte
ihn, ob er im Stand wäre, ein so grosses Opfer darzubringen, wenn es Gott von
ihm verlangen würde. Er war zuerst ei'schüttert , fand dann die Sache albern,
musste aber am folgenden Tag doch darüber nachgrübeln. Endlich kam ihm die
Ueberzeugung, dass irgend ein Opfer von ihm gefordert werde, nur wusste er
nicht ob sein Weib oder eines seiner Kinder.
In den letzten 6 Wochen hatte der Hausarzt an F. eine ungewöhnliche
Aufgeregtheit, religiöse Erregtheit, Abgeneigtheit und Unfähigkeit zum Beruf,
dabei ein schweigsames, mürrisches Wesen wahrgenommen. F. war auffällig ge-
altert während dieser Zeit. Einige seiner Freunde fürchteten schon damals den
Ausbruch von Wahnsinn. Am 30. April Abends war F. mit seiner Frau bei
einem Adventistenmeeting und hielt dort einen fliessenden Vortrag. Bei der
Heimkehr fand ein Wetterleuchten statt und Mann und Frau fanden den Himmel
auffallend roth. Ueberdies war eine schwarze Wolke im Begriff den Mond zu
bedecken. F. erkannte dies als ein göttliches Zeichen. Morgens zwischen 1 und
2 Uhr erwachte F. mit den gewöhnlichen Gefühlen, wie er sie bei Offenbarungen
hatte. Es war ihm wie wenn Gott ihn auf die Probe stellen wollte wie Abra-
ham, als er ihn beauftragte, sein geliebtes Kind zu opfern. Seine Frau suchte
ihm diesen Unsinn auszureden. Er ging in's Nebenzimmer, schliff ein grosses
Messer und wollte dann gleich an's Werk. Er ging jedoch noch einmal in das
Zimmer zur Frau, diese rieth ihm ab, aber F. meinte, Gott wende alles an um
seinen Glauben zu erproben. Die Frau sagte endlich: „Gehe und Gott sei mit
dir." Dass F. wirklich Ernst mache, glaubte sie nicht.
Beob. 44. Opferung des eigenen Kindes. 149
„Ein Augenblick des Todeskampfes und dann ewiger immerwährender
Friede", sagte dann F. zu sich und erkannte, als er im Nachtgewand, seinen Kopf
mit beiden Händen haltend dastand, sich in derselben Position, in welcher er
sich visionär vor 3 Wochen gesehen hatte. Nun war ihm die Deutung klar. Er
stand nun noch eine Weile mit erhobenen Armen da, um Gott Zeit zu geben,
seinen Willen kund zu thun, sank dann auf das Bett hin, sprang wieder auf und
durchstach seinem Töchterchen das Herz, das nur noch sagen konnte „oh Vater"
und dann verschied. Es gewährte F. Befriedigung, dass das Kind keine Schmerzen
litt, worum er Gott gebeten hatte.
F. legte sich dann ruhig in's Bett zu seinem todten Kinde und fühlte eine
grosse Erleichterung. Auf die Vorwürfe der Frau antwortete er: „ich gelobte es
dem Allerhöchsten, hoffte aber, dass er meine Hand aufhalten würde." Er hatte
die Wassertaufe empfangen und der heilige Geist war über ihn gekommen, nun
hoffte er, dass er noch der Feuertaufe theilhaftig werde. Eine bald nach der
That folgende Offenbarung, dass das Kind am dritten Tage auferstehen werde,
tröstete ilm und er schlief bald darauf ruhig ein. Zwei Adventisten, die am andern
Morgen kamen, erschraken über das Opfer, glaubten aber an die Auferstehung (!~).
F. besorgte am Morgen noch seinen Briefträgerdienst, schrieb dann eine Ein-
ladung an die Bewohner, sie möchten einer wichtigen Mittheilung wegen in sein
Haus kommen. Es kamen etwa 20 Personen. F. sprach von seinen Visionen,
zeigte dann zum Entsetzen der Fremden das todte Kind und verhiess dessen Auf-
erstehung binnen 3 Tagen. Ein neuerliches Wetterleuchten am Abend des Tages
' nach dem Mord bestätigte dem F. die Gottgefälligkeit seiner That. Der verhaften-
den Gerichtscommission erzählte F. am folgenden Tage ganz ruhig Motiv und
Umstände der That. Seine Frau sass harmlos dabei und glaubte immer noch
an die Auferstehung des Kindes (!). Auf dem Wege nach dem Gefängniss, das
auch Frau F. betreten musste, sang F. religiöse Hymnen und suchte die Leute
für seine Mission als Evangelist zu begeistern. Die Adventisten glaubten zum
Theil immer noch an die Auferstehung des Kindes, ebenso seine Mutter; als dies
aber nicht zutraf, erkannte diese sofort, dass ihr Mann das geliebte Kind in
einem Anfall von Irrsinn hingemordet habe. F. allein kam nicht aus der Fassung.
Er meinte das Wort „Tag" sei eben im Sinne der hl. Schrift zu nehmen-, die
Länge solcher (Schöpfungs-) Tage könne er aber nicht bestimmen. Sein Wahn-
sinn trat immer schärfer zu Tage. Er fühlte sich niemals so glücklich und fried-
voll wie seit dem Mord, er glaubte sich nahe bei Jerusalem und den Aposteln,
wähnte, dass in ihm Daniel, Michael, Cyrus, Christus, namentlich aber Jakob
vertreten seien. Die 2300 Tage, welche im Buch Daniel als Termin des Aufer-
stehens Michaels erwähnt seien, würden die Zeit seines Mordes beenden.
Bald darauf, im Gefängniss, hatte er eine dritte grosse Vision — die dritte
Taufe mit Feuer — als eine Belohnung seines Glaubens. Es kam über ihn eine
enoi'me Kälte, es war ihm, wie wenn er mitten in einem Wasserfall und Alles
Feuer in seinem Körper sei. Er war durch mehrere Tage geblendet und wäh-
rend dieser Zeit war sein Leben mit Offenbarungen und „kleineren" Visionen
erfüllt, u. A. dass die Thüren seines Gefängnisses am 2L Mai unter bedeutsamen
Himmelserscheinungen geöffnet würden, dass seine auferstandene Tochter in einer
Wolke von Licht erscheinen und ihm das Reich Gottes verkünden werde.
Die Zeugen berichten, dass F. bis zu seiner Convertirung vor 2 Jahren
ein braver, nicht auffälliger Mann war, seitdem sein Geschäft vernachlässigte.
150 Cap. IX. Religiöser Wahnsinn.
immer mehr religiöser Schwärmerei sich hingab und in der letzten Zeit ganz
umgewandelt und in Gedanken verloren war. Der Gefangenwärter bestätigt, dass F.
vielfach Hallucinationen hat, u. A. üble Gerüche empfand und darin die Gegenwart
böser Geister erkannte. Als einmal der Wind ein Fenster heftig rüttelte, meinte
er, das sei ein Zeichen, dass er ein Eckstein sei. Der Hausarzt theilte mit, dass
in den letzten Monaten vor dem Mord ihm F. vielfach von seinen Visionen er-
zählt und sich mit dem Erzengel Michael identificirt habe, als welcher er einen
Kampf mit dem Satan zu bestehen habe. Im Gefängniss verhielt sich F. ruhig,
geordnet. Von der Rechtmässigkeit seiner Handlung war er fest überzeugt, wenn
er auch mit Wehmuth und Schmerz des Verlustes der geliebten Tochter gedachte.
Ebenso hielt er an seiner religiösen Mission und Bedeutung fest. Sein Gedächt-
niss und sein logisches Vermögen zeigten keine Defekte. Auch somatische Stö-
rungen wurden keine bemerkt. F. äusserte wiederholt, dass wenn Gott neue
Opfer von ihm verlangen würde, er dazu bereit wäre. Er machte sich keine
Sorge wegen der Zukunft, war gern bereit im Gefängniss auszuharren, solange
man es wünsche, er sei in Gottes Hand. Weil das Gefängniss am Cap liegt und
das Cap oft der rechte Arm des Staates genannt werde, sei seine Einkerkerung
schon in der Bibel besprochen, denn es heisst darin: „Gott wird seinen rechten
Arm ausstrecken gleich einem Schwimmer" (!). Dieser Satz beziehe sich auf
den grossen Schwimmkünstler Boy ton und beweise zugleich dadurch, dass die
Gegenwart die Zeit der Erfüllung der hl. Schrift sei ! In ähnlicher Weise
bezog er die harmlosesten Umstände und Vorgänge seines Gefängnisslebens in
originär verrückter alogischer Weise auf die Bibel. Von August 1879 an ver-
loren sich die Hallucinationen und der Verkehr mit Gott, aber seine Wahnideen
bestanden unerschütterlich fort. Er behauptete, er und seine Frau ständen allein
auf der Spitze des Berges Zion. Vorübergehend meinte er, sein Kind unter dem
Einfluss des Teufels getödtet zu haben, zweifelte an dessen Auferstehung und
sagte, dass sein Leben den Kampf darstelle, der im Himmel zwischen St. Michael
und dem Satan fortwährend herrsche. Sämmtliche Aerzte sprachen sich für
Wahnsinn aus. Dr. F. fand als Ursache erbliche Anlage (?), religiöse Aufregung,
Sonnenstich, Ueberanstrengung im Kampf um's Dasein, einsame Lebensweise etc.
und constatirte das Fortbestehen von Wahnideen. So hält sich F. für die dritte
Person der Dreieinigkeit, zu ewigem Leben berufen, für einen zweiten Messias,
der die Welt gerettet hat. Viele Stellen der Bibel haben direkt Bezug auf ihn.
Zuerst hielt er sich für einen Evangelisten, dann für einen der grossen Propheten,
zuletzt für die dritte Person in der hl. Dreifaltigkeit. Gott hatte ihn nach seiner
Ansicht als ein Werkzeug gebraucht und die Opferung seines Kindes hatte den
Zweck, eine neue Erlösung und Seligmachung der Menschheit zu bewirken. Bei
Christi Versöhnungsopfer' war die Seligmachung nicht einbegriffen und darum
die Opferung seines Kindes nothwendig.
Gegen die Insinuation, dass er irrsinnig sei, protestirte er mit aller Ent-
schiedenheit. Wenn dies der Fall wäre, dann müsste die Bibel aufhören.
Er wurde gleichwohl einer Irrenanstalt übergeben.
Frau F., ebenfalls 30 J. alt, stammt aus einer mit Irrsinn behafteten Fa-
milie und hatte im 18. Jahre Anfälle von Convulsionen. Wie die meisten an-
deren verblendeten Adventisten kam sie, als am dritten Tage das gemordete Kind
nicht auferstand, zur Vernunft und blieb so einen Monat lang. Dann erkrankte
sie unter dem Einfluss der Kerkerhaft, ihrer Gemüthsbewegungen und der fort-
Erotischer Wahnsinn. 151
dauernden Einflüsse ihres verrückten Mannes selbst. Eines Tags gerieth sie eben-
falls in einen visionären Zustand, in welchem sie die Taufe durch den hl. Geist
empfing, in einem Lichtmeer sich befand und erfuhr, dass ihr Kind in drei
prophetischen Tagen, d. h. Tagen von unbestimmter Länge, auferstehen werde.
Im Wesentlichen waren die Visionen und Wahnideen denen des Mannes nach-
gebildet. Frau F. wurde nicht bestraft und im Oktober ihrer Haft entlassen.
Sie bot noch in der Folge Symptome von religiösem Wahnsinn. Die übrigen
18 Adventisten nahmen bis auf drei, deren Geisteszustand dem Verf. zweifelhaft
blieb, bald nach dem Morde Vernunft an und erwiesen sich als blosse Fanatiker,
nicht aber als Irrsinnige. (Folsom, Journal of mental science, Juli 1880.)
Weitere Fälle: Calmeil, la Folie IL p. 252 (Ein Kranker, der seinen
Bruder in Gegenwart der Familie in Nachahmung des Opfers Abrahams das Haupt
abschlägt und dann begeistert ruft: „der Wille des himml. Vaters ist erfüllt"). Ann.
med. psycho! 1868, Mai (Opferung eines Kindes durch seinen Vater). Marc-Ideler
IL p. 160 (Ein religiös Wahnsinniger veranlasst einen bigotten abergläubischen
Ehemann, ihm die Frau auf göttlichen Befehl abzutreten, damit er mit ihr ge-
schlechtlich verkehre). Maschka, Vierteljahrsch. f. ger. Med. N. F. ZXXI. H. 2.
(Religionsstörung). Schwab, Memorabilien 1874. H. 6. v. Krafft, Friedreich's Bl.
1865. H, 2 (Tempelschändung). Reich, Deutsche Zeitschr. f. Staatsarzneikunde
XXIX. H. 1 (Mordversuch an der Ehefrau). Hitzig's Annalen 1847 (Mord der
Tochter aus religiös. Fanatismus), v. Krafft, Friedr. Bl. 1869. H. 3 (Misshand-
lung des Ortsgeistlichen), v. Krafft, Lehrb. d. Psychiatrie. Bd. III. p. 87, 88, 89.
Livi, Rivista sperim. 1876 Jan. (Mord der Geliebten).
c. Der erotische Wahnsinn.
Der Kern dieses Wahnsinns ist der Wahn, von einer Person
des anderen Geschlechts, die regelmässig einer höheren (xesellschafts-
klasse angehört, ausgezeichnet und gellebt zu sein. Die Liebe zu
dieser Person ist eine romanhafte überschwängliche aber platonische
und erinnert an die Liebeleien der fahrenden Ritter und Minstrels
vergangener Zeiten, Eine weichlich sentimentale Gefühlsrichtung, ein
träumerisch schlaffes energieloses Wesen gibt sich früh bei solchen
Individuen zu erkennen. Ein lebhafter, auf natürliche Befriedigung
gerichteter Geschlechtstrieb fehlt meist. Bei dem linkischen scheuen
Wesen dieser Charaktere gegenüber dem anderen Geschlecht werden
direkte Annäherungen und Liebeswerbungen vermieden, meist jedoch
von den Pubertätsjahren an einem Ideal gehuldigt. In Träumen und
Träumereien spinnt sich der Liebesroman. Häufig findet sich Mastur-
bation. Nicht selten bestehen Erscheinungen einer hysterischen oder
hypochondrischen Neurose.
Eines Tags erblicken solche Menschen in einer gesellschaftlich
höher stehenden Person des anderen Geschlechts die Verkörperung
ihres Ideals. Harmlose Gesten dieser Person sind für sie Aufmunte-
152 Cap. IX. Erotischer Wahnsinn,
rungen sich ihr zu nähern, Inserate in der Zeitung beziehen sie auf sich.
Man spricht im Hause und auf der Strasse von der Angelegenheit,
Es kommt zu einem hallucinatorischen Rapport mit der geliebten
Person, die Stimmen verkünden eine bevorstehende Standeserhöhung
wodurch der bisher besteheude gesellschaftliche Unterschied ausge-
glichen wird. Endlich macht der Kranke seine Liebeserklärung. Die
Zurückweisung seiner Werbung ist ein Akt der Intrigue. Er hat
mächtige Feinde. Es kommt zu reaktivem Verfolgungsdelir. Der
Kranke macht sich unmöglich in der Gesellschaft, indem er gegen
die Familie der geliebten Person zudringlich wird, Hausfriedensbruch
begeht, Entschädigung für die verweigerte Ehe verlangt, mit der
Presse, den Gerichten droht, endlich wirklich Scandale provocirt, die
seine Internirung in einer Irrenanstalt nöthig machen.
Beob. 45. Erotische Verrücktheit. Erpr essungs v er such. Am
18. Okt. 1874 denuncirte Graf B. einen früheren Hauslehrer Bacher, dass er seine
Frau mit Liebesbriefen verfolge und in letzter Zeit sogar ihr gedroht habe, wenn
sie nicht ihm eine grössere Summe Geldes zukommen lasse, werde er sie öffent-
lich compromittiren. Bacher gibt die incriminirte Handlung zu und motivirt sie
damit, dass die Dame ihm ihre Liebe geschenkt, er ihr seine amtliche Stellung
geopfert habe und nun erwerbslos sei.
Bacher ist 25 J. alt. Seine Schwester ist ps3^chopathisch. Er selbst er-
krankte im 14. Jahr an Scharlach mit Hirncomplication. Er wurde in Folge
dieser Erkrankung schwerhörig, bot eine Aenderung seines Charakters, insofern
er ein träumerisches verschlossenes Wesen zeigte. 1872 und 1873 hatte er als Haus-
lehrer im Dienst des Grafen gestanden, dann ein öffentliches Amt erhalten, in
welchem er zur Zufriedenheit bis zum Sommer 1874 diente. Da fing er an seinen
Beruf zu vernachlässigen, den Tag über vor dem Hause der Gräfin zu promeniren
oder im Caffehause vis ä vis zu sitzen. Aus einem freundlichen Gruss, aus harm-
losen Vorkommnissen folgerte der in seiner Logik bedenklich geschwächte B.
dass die Dame in ihn verliebt sei. Er verfolgte sie nun mit Liebesbriefen und
bezog Inserate in den Zeitungen auf sich, sie als günstige Antworten der Gräfin
deutend. Er fand Grund Inserate für sich zu deuten, weil sie zufällig die Haus-
nummer des Hauses der Gräfin hatten, ferner weil eines mit einer Hand in auf-
rechter Stellung versehen war und gleich nach der Lektüre er die Dame, als
sie, das Haus verlassend, ihre Handschuhe anzog, eine ähnliche Handstellung
einnehmen sah. Seine Briefe an die Dame waren decent, aber überschwänglich
gehalten. Er warf ihr Treulosigkeit vor, machte geltend, dass er ihretwegen
seine Stellung (thatsächlich) niedergelegt habe, drohte mit Selbstmord etc.
An seinem Wahn und Liebesroman hielt er unerschütterlich fest, obwohl
er keine Beweise der Gunst der Gräfin geltend zu machen wusste. Ausser einem
schwärmerischen Gesichtsausdruck und einer vornehmen reservirten Haltung bot
der Kranke äusserlich nichts Auffälliges. Degenerationszeichen, körperliche
Störungen waren nicht nachzuweisen. Er kam in die Irrenanstalt, wurde nach
einiger Zeit von der Familie nach Hause genommen, trieb sich beschäftigungs-
Erworbene geistige Schwächezustände. , 153
los herum, kehrte dann wieder nach dem Wohnsitz der Gräfin zurück, schrieb neuer-
lich Liebes- und Drohbriefe, die seine abermalige Aufnahme in der Irrenanstalt
nöthig machten. (Eigene Beobachtung.)
4. Erworbene geistige Schwächezustände.
Literatur. Spielmann, Diagnostik, p. 462. Griesinger, Pathologie der psych.
Krankheiten, p. 322.
Gegenüber den angeborenen oder durch Stehenbleiben der Hirn-
entwicklung in Folge schädigender Einflüsse in frühem Alter ent-
standenen geistigen Schwächezuständen sind solche hervorzuheben,
die ein vollentwickeltes Gehirn getroffen haben. Die Geisteskrank-
heiten sind durch diffuse Erkrankungen der Grosshirnrinde bedingt.
Erscheinungen dauernder geistiger Schwäche bei einem Gehirn^ das
vollentwickelt war und bisher normal funktionirte, deuten auf tiefere
anatomische Veränderungen des psychischen Organs (Atrophie).
Durch die verschiedensten Vorgänge können diffuse atrophirende
Veränderungen der Hirnrinde hervorgebracht werden.
Nicht selten gleichen sich die Ernährungsstörungen, die melan-
cholischen und maniakalischen Krankheitsbildern zu Grunde lagen, nicht
aus und führen zu geweblicher Entartung. Es ergeben sich dann
Zustände geistiger Schwäche bis zu völliger Verblödung mit Residuen
der primären Krankheitszustände, aus welchen sie hervorgingen. (Se-
cundäre Verrücktheit, Verwirrtheit, Schwachsinn, Blödsinn.)
In anderen Fällen ist der geistige Schwächezustand die Folge
einer spontan oder durch Insolation, Kopfverletzung etc. entstandenen
Meningitis und Encephalitis. Auch heerdartige Erkrankungen (Apo-
plexie, Atherose der Arterien mit encephalitischen Erweichungsheer-
den, Geschwülste etc.) des Gehirns können Geistesschwäche (Atrophie)
bedingen, insofern sie multipel auftreten (Sklerose, capilläre Apople-
xien) oder durch Druck, Reizung, durch secundäre Gefässdegeneration,
Circulations- und Ernährungsstörungen der Hirnrinde herbeiführen.
Das Krankheitsbild ist in solchen Fällen im Grossen und Ganzen
das eines progressiven Blödsinns mit Lähmungserscheinungen und durch
zeitweise Reizvorgänge und Circulationsstörungen bedingten psychi-
schen Aufregungszuständen. An solche Fälle reihen sich andere, in
welchen schleichende Entzündungsprocesse in grösserer Ausdehnung
die Hirnhäute und Hirnrinde afficiren und in dieser Schwund herbei-
führen (Dementia paralytica und verwandte Zustände).
154 Cap. IX. Schwächezustände nach Melancholie und Manie.
a. Geistige Schwächezustände nach Melancholie
und Manie.
Häufiger als es bei oberflächlicher Untersuchung den Anschein hat, bleiben
Zustände verminderter psychischer Leistungsfähigkeit nach scheinbar zu völliger
Heilung gelangten Fällen psychischer Erkrankung zurück. Wenn auch dem
Laien kaum bemerkbar und nur dem feingeübten Beobachter oder Dem auffallend,
welcher den Kranken von früher her kannte, sind diese individuell unendlich
variirenden Zustände geistiger Ihsufficienz keineswegs bedeutungslos für die Be-
urtheilung der Zurechnungsfähigkeit. Eine zu irgend einer früheren Lebenszeit
überstandene Hirn- oder Geisteskrankheit sollte bei einem Angeschuldigten eine
ernste Mahnung zur Erforschung seines Geisteszustands sein, wenn auch der
alte Satz: „Semel furiosus semper praesumitur furiosus" nicht die Gültigkeit
eines Dogma in foro beanspruchen darf. •
Es gibt Fälle, wo sich diese psychische Schwäche nur in einer gewissen
Verlangsamung und Schwerfälligkeit der psychischen Leistungen bei übrigens
unversehrtem Umfang und formalem Ablauf kundgibt. Der anscheinend vollkommen
Genesene ist aber doch nicht mehr ganz so leistungsfähig, wie vor der Krank-
heit, er ist nicht mehr der frühere geschickte Arbeiter und spekulative gewandte
Geschäftsmann, obwohl er sich ganz gut in früheren socialen und geschäftlichen
Kreisen zu bewegen vermag. Bei Anderen fehlt es an der früheren gewohnten
Initiative und Energie, sie lassen die Ereignisse an sich herankommen, durch
fremdes Urtheil sich mehr als früher bestimmen, durch Unvorhergesehenes sich
an der Verfolgung ihrer Ziele beirren, ihr Urtheil ist weniger klar und präcis,
ihre Ausdauer und Energie vermindert. Vielfach zeigt auch die ethische Seite
der Persönlichkeit, der Charakter Schwächen, wenn auch der Umfang der intel-
lektuellen Leistungen keine nennenswerthe Einbusse erfahren hat.
Die Empfindungsweise ist gegen früher dann verändert und stumpfer, die
Beziehungen zur Welt und dem früher Hoch- und Werthgehaltenen matter, die
ethischen Gefühle und ästhetischen Urtheile haben nicht mehr die frühere be-
stimmende Kraft und Wärme und damit ist das Gewicht sittlicher Motive ver-
mindert, was der Bekämpfung eines unsittlichen oder criminellen Antriebs gegen-
über wohl zu beachten ist.
Was endlich der Mehrzahl dieser psychischen Schwächezustände gemeinsam
ist, ist die Leichtigkeit, mit der Affekte provocirt werden, die Eeizbarkeit und
Verletzlichkeit der Gefühle.
Von einer solchen leisen, oft nur durch Vergleichung der jetzigen mit der
früheren bekannten Persönlichkeit erkennbaren Abschwächung der psychischen
Gesammtleistungsfähigkeit bis zu den extremen Graden des Blödsinns finden sich
unzählige Mittelstufen, charakterisirt durch mehr oder weniger grosse Ideenarmuth,
Trägheit des Vorstellens, Lückenhaftigkeit des Gedächtnisses, Energielosigkeit
des Strebens bis zur Willenlosigkeit.
Diese Zustände haben im Allgemeinen grössere Bedeutung für
das Civilforum; wo die bürgerliche Verfügungsfreiheit dieser psychischen
Invaliden oft angefochten wird, aber auch die Zurechnungsfähigkeit
Beob. 46. Geistesschwäche, aus Melancholie entstanden. Mord. 155
solcher Individuen kommt dann vmd wann in Frage, insofern sie bei
ihrer Reizbarkeit und der Schwäche ihrer intellektuellen und sittlichen
Energien auf Beleidigungen brüsk reagiren und schwere Gewaltthaten
begehen, bei ihrer Lenkbarkeit und psychischen Schwäche sich von
perversen Naturen zu Unterschlagungen, Diebstählen gebrauchen lassen,
bei ihrer Gedächtnissschwäche falsche Eide ablegen, bei ihrem krank-
haft gesteigerten oder durch sittliche Motive nicht gehemmten Ge-
schlechtstrieb Unzuchtsverbrechen oder Verletzungen des öffentlichen
Anstands sich zu Schulden kommen lassen oder auf Grund der Resi-
duen früherer Wahnideen, intercurrent noch auftretender tobsüchtiger
Erregung oder melancholischer Verstimmung mit Angstzufällen, Ge-
waltthaten begehen.
Eine Hauptsache ist auch hier, dass man nicht aus einzelnen
erhaltenen Leistungen und Urtheilen sich zu voreiligen diagnostischen
Schlüssen auf die Integrität der Gesammtpersönlichkeit verleiten lasse.
Im concreten Fall sind die Combinations-, Aktions- und Re-
produktionsfähigkeit, die Schärfe des Urtheils, der Begriffe, die
Schnelligkeit oder Langsamkeit des Gedankenablaufs, die Art des
Strebens, der Stand der Gemüthserregbarkeit, nicht minder aber die
ethischen Anschauungen und ästhetischen Urtheile, die zuweilen vor-
wiegend afficirt sind, zu prüfen. Eine allgemeine Formel für die
Beurtheilung der Zurechnungsfähigkeit lässt sich hier nicht geben,
jeder Fall muss als ein individueller concreter beurtheilt und aus der
Summe der intellektuellen und ethischen Leistungen, sowie aus dem
Stand der Gemüthserregbarkeit das Urtheil über die individuelle Ge-
sammtleistungsfähigkeit und Verantwortlichkeit gebildet werden.
Bei den Zuständen secundärer Verrücktheit und Verblödung wird
die Diagnose keinen Schwierigkeiten begegnen. Die nachweisbare
Entwicklung dieser Zustände aus melancholischen oder maniakalischen,
Residuen solcher in Form von Wahnideen, Hallucinationen, zeitweisen
Erregungszuständen, Augstanfällen , die sonstige Affektlosigkeit und
gemüthliche Abgestorbenheit solcher Kranken , ihre intellektuelle
Schwäche und Zerfahrenheit, die Zeichen einer mehr weniger deutlichen
Senescenz, die verwitterte Miene etc. werden zu beachten sein.
Beob. 46. Aus Melancholie hervorgegangene Geistesschwäche.
Mord. Am 12. Sept. 1878 schoss Bunet von seiner Hausthür aus den Nachbar
Bourdin todt und setzte sich dann ruhig zum Frühstück. Eine Stunde später
als er gerade wieder zur Arbeit wollte, wurde er verhaftet, gestand seine That
mit dem Bemerken, der Nachbar sei ein Dieb gewesen. Im Verhör, einige
Stunden später, wiederholte er sein Geständniss. Er hatte seit 8 Tagen schon
156 Cap. IX. Schwächezustände nach Melancholie und Manie.
daran gedacht, den B. umzubringen, weil dieser ihm immer Trauben im Weinberg
gestohlen habe. Am Vortag hatte er sich eine Flinte und Munition gekauft. Da
B. keine rechte Reue zeigte, sich sonderbar benahm und schon 2 mal im Irren-
hause gewesen war, wurde eine Expertise angeordnet.
B., 70 J., von geistlosem Blick und schlaffer Haltung, war vor 25 Jahren
nach einem Streit und Process irrsinnig geworden, einige Zeit im Irrenhaus
gewesen, hatte seitdem ein einsames Leben geführt, sich und seine Wohnung
vernachlässigt, die Leute gemieden, Miethe und Steuern nicht mehr gezahlt; er
hatte oft geschrieen, dass man es in der Nachbarschaft hörte, behauptet, sein
Schwager stehle ihm Holz, hatte zuweilen seine Nachbarn bedroht und geschlagen,
so dass sich Jedermann vor ihm fürchtete.
In der Beobachtung zeigt er sich wortkarg, geistig und gemüthlich stumpf,
verweigert eine Zeitlang das Essen, weil er des Lebens müde sei. Er glaubt
sich im Recht, den Bourdin erschossen zu haben, weil er ein Dieb sei und man
ihm gesagt habe, auf Diebe dürfe man schiessen. B. habe ihm um 10 frcs.
Trauben gestohlen und da habe er ein Gewehr um 24 frcs. gekauft; den B. zu
verklagen, hätte doch nichts genutzt. Als man ihm sagte, ein Schuss mit Salz,
um B. bloss zu schrecken, wäre genug gewesen, horcht er auf und meint: „Ja,
das wäre vernünftiger gewesen." Seine Reue über die That gründet sich nur
darauf, dass er jetzt im Gefängniss sitzt. Der Bedeutung seiner That ist er sich
nicht bewusst.
Das Gutachten erweist eine aus Melancholie vor 25 Jahren hervorgegangene
Geistesschwäche mit der fixen Vorstellung, dass man ihn in seinem Besitz schä-
digen wolle, die Unzurechnungsfähigkeit und Gemeirigefährlichkeit des Exploraten.
(Annal. med. psychol. 1879, Mai.)
Beob. 47. Schwachsinn nach acuter Psychose. Todtschlag im
Affekt. Am 7. März 1866 schlug die ledige 30jährige Christine N. ihre 63jährige
Mutter mit einem Beil dermassen auf den Schädel, dass dieser splitterte und die
Getroffene nach 14 Stunden starb. Die That fand nicht vor Zeugen statt. Ch.
hatte schon seit langer Zeit mit der Mutter, die als eine grämliche, reizbare Frau
bekannt war, in Hader gelebt. In den letzten Tagen war es zu lebhaften Auf-
tritten zwischen Beiden gekommen. Nach der Aussage der Tochter hatte die
Mutter sie geschimpft; da sei auch sie in's Schimpfen gerathen, habe das auf
dem Ofen liegende Beil ergriffen und es der Mutter auf den Kopf geschlagen.
Gleich nach der That war Ch. zur Nachbarin gegangen und hatte dieser gesagt;
„Jetzt ist sie hin ; ich habe sie todtgeschlagen. Warum hat sie mich nicht in Ruhe
gelassen."
Die Ch. hatte dabei ganz rothe Wangen und war in grosser Aufregung.
Die Nachbarin fand die Erschlagene in ihrem Blut, das Beil neben ihr. Ch.
erschien bald darauf, machte Toilette und wischte das Blut vom Fussboden weg,
ohne sich um die Mutter zu kümmern. Verhaftet erzählte sie unbefangen alle
näheren Umstände der That, die sie in den beständigen Quälereien Seitens der
Mutter vollkommen motivirt fand. Diese habe nie als Mutter an ihr gehandelt,
und um endlich Ruhe vor ihr zu bekommen, habe sie dieselbe erschlagen. Von
einem Bewusstsein der moralischen und rechtlichen Bedeutung der That, von
Reue fand sich, so wenig als in der Folge, keine Spur.
Ch. stammt von einem Trunkenbold und einer nervösen, reizbaren, wunder-
lichen Mutter, deren Schwester irrsinnig war. Eine Verwandte mütterlicherseits
Beob. 47. Scliwachsiiin nach acuter Psychose. Todtschlag. 157
starb epileptisch. Die intellektuelle und ethische Ausbildung war eine düi-ftige;
früh schon zeigten sich Egoismus und ein stilles verschlossenes Wesen. Die
Pubertätszeit verlief ohne Störung. Im 19. Jahr wanderte die Ch. mit ihrer Familie
nach Amerika aus, taglöhnerte dort, litt an chlorotischen Beschwerden, erkrankte
1858 an einer Metritis acuta, zu der sich nach 3 Tagen die Erscheinungen eines
Delir. acutum gesellten, das einen 6wöchentlichen Aufenthalt in einer Irrenanstalt
nöthig machte. Seitdem unregelmässige profuse Menses, chlorotische und nervöse
Beschwerden, zunehmende Reizbarkeit; dumpfes Hinbrüten, verschlossenes stilles
Wesen, hj'pochondrische Verstimmungen, Abnahme der Intelligenz, zeitweises
Gefühl von Verwirrung im Kopf.
1858 kehrte sie mit der Familie nach Deutschland zurück, und da Ch. das
Leben bei der händelsüchtigen Mutter und dem trunksüchtigen Vater nicht zu-
sagte, ging sie in Dienste, aus denen sie erst Weihnachten 1865 in's elterliche
Haus zurückkehrte.
Ihre Dienstgeber berichten einstimmig über ihr störrisches, in sich gekehrtes
Wesen, ihren Eigensinn, ihre grosse Reizbarkeit, über zeitweise Congestionen
und Zustände von Verwirrung, in denen sie confuse Reden führte und Geräthe
zerbrach. Wegen zunehmender dienstlicher Unbrauchbarkeit musste sie beständig
den Dienst wechseln, bis sie zuletzt kein Unterkommen mehr fand und heim-
kehrte. Das Zusammenleben mit der zanksüchtigen Mutter musste zur Katastrophe
führen, die von jener auch vorausgeahnt worden war. Ein heftiger Wortwechsel
hatte dazu geführt. Die Tochter, durch die Aeusserung der Mutter, sie sei ein
schlechtes Mensch, in höchsten Affekt versetzt, hatte, von einem unbestimmten
Gefühl der Rache getrieben, das Beil ergriffen und zugeschlagen. Sie sei bei
sich gewesen, habe aber nicht gedacht, dass sie die Mutter erschlagen könne,
auch das nicht beabsichtigt. Dass es so abgelaufen, sei nicht ihre Schuld, die
Mutter hätte sie in Ruhe lassen sollen. Im Augenblick der That sei ihr so heiss
und wirr im Kopf gewesen. Die Beobachtung in der Irrenanstalt ergab das
Bild einer Schwachsinnigen. Sie lebte in sich abgeschlossen, kümmerte sich
nicht um die Umgebung, liebte die Ruhe, musste zu Allem geheissen werden,
worauf sie das Aufgetragene maschinenartig abwickelte. Die Denkprocesse voll-
ziehen sich langsam, mühsam, ihre ethischen und rechtlichen Begriffe reduciren
sich auf einige Katechismusreminiscenzen und Lesefrüchte aus Jugendschriften.
Abstrakt ist ihr geläufig, dass es Sünde, einen Menschen umzubringen, aber eine
Anwendung davon auf eigene Verhältnisse zu machen nicht möglich. Die Mutter
habe eben schlecht an ihr gehandelt, hätte sie in Ruhe lassen sollen. Eine
wirkliche Reue besteht nicht. Sociale Gefühle finden sich nicht vor. Die Kranke
klagt in stereotj'-per Weise über vage neuralgische Beschwerden, die offenbar in
grosser Anämie und einem Uterusinfarkt ihre Quelle finden und in hypochon-
drischer Weise krankhaft überschätzt werden. Nichtbeachtung ihrer täglichen
Referate über den Gesundheitszustand rief heftige Zornesausbrüche hervor, aber
auch ganz spontan stellten sich zeitweise bedenkliche Affekte ein. Eine con-
gestive Röthe des Kopfs, unheimliches Blitzen der sonst matten Augen, barsche
Sprache, geräuschvolles Auftreten und Umhergehen verriethen ihren Ausbruch;
weitergehend kam es zu Verwirrung der Vorstellungen und zu Verkennung der
Personen und einmal konnte nur rechtzeitige Isolirung der Patientin die Um-
gebung vor Thätlichkeiten schützen. Solche pathologische Affektzustände gingen
meist rasch vorüber und die Kranke klagte dann selbst über Hitze und Ver-
]^58 ' Cap. IX. Scliwäcliezustäncle nach Trauma capitis.
wirrung im Kopf, Zustände, die sie seit ilirer Erkranltung im Jahr 1858 häufig
empfunden habe.
Ein gerichtsärztliches Gutachten kam zum Schluss: „Cli, ist kein Kretin,
nur im mittleren Grad blödsinnig, in einem Grad, welcher das Bewusstsein der
Strafbarkeit der Handlung und die Willkür nicht ausschliesst, vielmehr die Zu-
rechnungsfähigkeit nur vermindert. Höclist wahrscheinlich befand sich dieselbe
— stehend auf dieser Stufe der Bildung des Gemüths — im Moment der That
im Zustand des heftigsten Affekts, in Folge dessen die Willkür fehlte; möglicli
ist, dass sie die Tliat im Zustand vorübergehender gänzlicher Verwirrung der
Sinne und des Verstandes, also mit mangelnder Willkü-r verübte."
Ein allen somatischen und psychischen Details der Persönlichkeit Rechnung
tragendes und synthetisch sie verwerthendes Obergutachten erwies, dass Ch. seit
einem 1858 sie befallen habenden acuten Irresein an einem consecutiven psy-
chischen Schwächezustand (grosse Gemüthsreizbarkeit, Aenderung des Charakters,
Abnahme der Intelligenz, Verkümmerung des moralischen Ichs, an dessen Stelle
ein krankhafter Egoismus trat, hypochondrische Verstimmungen) litt, in dessen
Verlauf zeitweise heftige affektvolle Aufregungszustände mit ausgesprochenen
Kopfcongestionen, Hitze und Gefühl von Verwirrung im Kopf sich einstellten.
In die Zeit eines solchen Affektzustands fiel die That. Ch. ist in einem solchen
Grad geisteskrank, dass das Bewusstsein der Strafbarkeit der von ihr begangenen
Handlung als gänzlich oder beinahe gänzlich fehlend angenommen werden muss.
Freisprechung. Irrenanstalt. (Eigene Beobachtung.)
Weitere Fälle: Vierteljahrsschr. f. ger. u. öffentl. Med. 1867, H. 5. Henke,
Zeitschr. 1883, 19. Ergänz.-H. p. 93 (Blödsinn nach Melancholie. Tödtung der
Mutter). Yellowlees, Journal of mental science, Januar 1877 (Mord. Secundäre
Geistesschwäche nach Melancholie). Bulard, Annal. med. psych. 1873, November
(allgem. Verwirrtheit nach hysteromaniakalischen Anfällen. Mord des Ehemanns).
Foville ebenda 1866, Januar (Blödsinn nach Tobsucht. Diebstahl), v. Krafft,
Vierteljahrsschr. f. ger. Med. 1867, H. 1 (Blödsinn nach Melancholie. Todtschlag
der Mutter im rapt. mel.). Knecht ebenda 1868, H. 2 (secundäre Geistesschwäche.
Brandstiftung. 5 Jahre Zuchthaus). Giraud, Annal. med. psychol. 1878, Juli
(secundäre allgem. Verwirrtheit. Mordversuch).
b. Geistige Schwächezustände nach Trauma capitis^).
Von nicht geringer Bedeutung sind geistige Schwächezustände
nach Kopfverletzungen und Hirnerschütterungen.
Sie können die direkte Folge von in Folge des Trauma entstandenen ge-
weblichen Veränderungen (Meningitis, Encephalitis) oder die allmälige, bedingt
durch beständig sich wiederholende Fluxionen des in seinem Gefässtonus tief
erschütterten Gehirns sein, oder bedingt sein durch Epilepsie, die das Trauma
hervorgerufen hat.
1) Literatur: S. v. Krafft, über die durch Gehirnerschütterung hervorge-
rufenen psych. Krankheiten. Erl. 1868. Brower, Chicago med. Journal 1879, p. 609.
Beob. 48. Schwachsinn nach Kopfverletzung. Todtschlag. 159
Die geistige Schwäche kann sich von einer kaum merkbaren bis zu völligem
Blödsinn erstrecken. Nicht selten sind die ethischen Funktionen vorwiegend be-
einträchtigt und Umwandlung des Charakters in pejus, unsittliche Neigungen und
Antriebe dann die vorwiegenden Krankheitserscheinungen. Eine sehr häufige
Nuance dieser Schwächeziistände post trauma capitis ist eine grosse gemüthliche
Reizbarkeit, die zu heftigen Zornaffekten Anlass gibt. Bei der so häufigen Herab-
setzung des Gefässtonus sind fluxionäre Hirnzustände auf gemüthliche und Alkohol-
reize leicht möglich und geben zu pathologischen Affekten und Alkoholzuständen
(s. u. krankhafte Bewusstlosigkeit) Anlass.
Eine anamnestiscli nachgewiesene und eventuell am Schädel be-
merkliche Kopfverletzung ist bei einem Angeklagten nicht zu unter-
schätzen^ aber nur dann von Bedeutung , wenn Folgeerscheinungen
(Lähmungen^ Sinnesstörungen, epileptische Symptome, Kopfweh, Ge-
neigtheit zu Fluxionen, Alkoholintoleranz) nachweisbar sind. Finden
sich dann daneben psychische Symptome (Aenderung des Charakters,
gemüthliche Reizbarkeit, intellektuelle und ethische Defekte), so wird
ihre Beziehung auf das Trauma kaum mehr einem Zweifel begegnen.
Wie häufig evidente Symptome von Geistesschwäche nach Kopfver-
letzungen in foro übersehen werden, lehrt die Casuistik.
Beob. 48. Schwachsinn nach Kopfverletzung. Tödtung im
Affekt. Am 12. Sept. erschoss der 31 Jahre alte verheirathete Taglöhner L.
seinen Nachbar und Vetter H. und stellte sich nach der That sofort den Gerichten.
Um 11 Uhr war L. vor's Haus gegangen, um Wasser zu holen. Die Frau des H.
rief ihrem Mann zu „schau doch was der Narr wieder lacht!" Es entspinnt sich
ein Wortwechsel und eine kleine Balgerei; endlich trennen sich Beide. H. fährt
fort L. zu verhöhnen, dieser greift nach einer Pistole, H. sagt spöttisch „da schiess"
und stellt sieh vor seine Hausthüre. L. drückt ab und H. fällt tödtlich getroffen zu
Boden. Der Mörder eilt heftig erschrocken zum Ortsvorsteher und zeigte den
Vorfall an, den er aufrichtig bereut.
Die H.'s waren schlimme Nachbarn, hatten L. beständig geneckt, während
dieser den besten Leumund hatte.
L.'s auffallendes Wesen im Verhör, sein eigenthümlich stierer Blick waren
dem Untersuchungsrichter auffällig und veranlassten ihn eine gerichtsärztliche
Expertise zu verordnen. L. war bis zu seinem 21. Lebensjahr ein ruhiger, ver-
ständiger, solider Mensch. Damals wurde er schwer am Kopfe verletzt und er-
holte sich erst nach langem Krankenlager. Von da an war er nicht mehr der
Alte. Bald schaute er wie tiefsinnig vor sich hin, bald war er auffallend heiter,
hatte oft einen gerötheten Kopf, war sehr reizbar und geschwätzig. Seine Reiz-
barkeit steigerte sich mit den Jahren, er misshandelte Weib und Kinder um ge-
ringfügiger Dinge willen, stierte oft vor sich hin, wurde gedankenlos; ergab sich
kindischen Spielereien, so dass er in der Gemeinde nur den Beinamen der „Narr"
bekam. Auch im Gefängniss benahm sich L. kindisch; in den Verhören stierer
Blick, Geistesschwäche, Incohärenz, blödes unmotivirtes Lachen. Er beharrte
bei der kindischen Entschuldigung, dass er nur geschossen, weil H. es ihn ge-
IQQ Cap. IX. Dementia senilis.
heissen habe, und dass er nicht gedacht, die Pistole könne losgehen. Seine Reue
erwies sich als eine oberflächliche, eine rechte Einsicht in die volle Bedeutung der
That fehlte. Die Aussicht auf Strafe Hess ihn gleichgültig. Spuren einer Schädel-
verletzung fanden sich keine vor. Das Gutachten machte geltend, dass L. nach
einer Kopfverletzung schwachsinnig und sehr reizbar geworden, in einem Zustand
des Affekts, bei fehlender Freiheit der Willensbestimmung die That vollbracht
habe, worauf er für straflos erklärt und einer Irrenanstalt übergeben wurde.
(Eigene Beobachtung.)
Weitere Fälle: Gaulke, Casper Vierteljahrsschr. XXIV, p. 319 (Mord
der Frau. Verkannte traumatische, durch die Sektion nachgewiesene Hirnaffektion
mit psych. Störung). Friedreich's Bl. 1855, p. 76 (Traumatische Psychose.
Nothzucht und Mord. Hinrichtung).
c. Dementia senilis^).
Der allgemeine körperliche Involutionsprocess im höheren Alter
betrifft auch das Gehirn und ätidert Charakter und geistige Leistungs-
fähigkeit. Der Greis wird bedachter in Ansichten und Urtheilen,
er lebt vorwiegend in der Vergangenheit , hat weniger Interesse für
die Fragen der Gegenwart und der Zukunft, denkt langsamer, er-
innert sich schwerer an Thatsachen der Jüngstvergangenheit, Sein
Ideenkreis wird ein eingeschränkter, sein Wille ist nicht mehr so fest,
vielmehr leichter bestimmbar. Unvermerkt kann diese senile Charakter-
änderung in einen geistigen Schwächezustand übergehen, der bis zu
tiefer Demenz vorschreitet. Ungenügende Ernährung des Gehirns
durch Atherose der Arterien und Fettherz führen in solchen Fällen
einen Schwund desselben herbei, dessen klinischer Ausdruck eben der
Nachlass der geistigen Kräfte ist. Heerdartige Erkrankungen in Form
von apoplektischen und Erweichungsheerden compliciren häufig den
Process der Atrophie und bedingen Lähmungen und aphasische Er-
scheinungen.
Klinische Uebersicht. Die Dementia senilis entwickelt sich meist
unvermerkt aus der senilen Charakteränderung. Egoismus, Geiz, Misstrauen, Lapsus
judicii et memoriae werden immer deutlicher. Schwindel-, Schlag-, epileptiforme
Anfälle treten nicht selten auf und hinterlassen ausgesprochene intellektuelle
Defekte. Häufig zeigt sich schon längere Zeit, bevor sie manifest werden, ein
auffälliger Nachlass der ethischen Gefühle und sittlichen Correktive. Mit dem
Fortschritt des Leidens stellt sich schwere Gedächtnissstörung, die namentlich die
Ereignisse der Jüngstvergangenheit aus der Erinnerung verwischt und eine die
Kategorien von Zeit und Raum gleichmässig umfassende tiefere Bewusstseins-
störung ein. Die Ki'anken finden sich auf der Strasse, im eigenen Hause nicht
^) Literatur: Legrand du SauUe, Annal. d'hygiene 1868, Oct.
Dementia senilis. Beob. 49. 161
mehr zurecht, finden ihre Sachen nicht mehr und wähnen sich bestohlen, während
sie leicht an fremdem Eigenthum sich vergreifen. In diesem Bild eines geistigen
Verfalls können melancholische und maniakalische Zustandsbilder, sowie Verl'olgungs-
delirium auftreten. Die melancholischen sind durch heftige Angst , die raptus-
artige destruktive Akte vermittelt und durch nihilistische Wahnideen ausgezeichnet.
Die manischen Erregungszustände bieten alle Nuancen von manischer Exaltation
bis zu. schwerer Tobsucht. Die erstere ist häufig von Erotismus begleitet und
führt leicht zu Unzuchtsvergehen. Das Verfolgungsdelir ist ein episodisches,
abruptes, fragmentares. Neben ganz ungeheuerlichen schwachsinnigen Ideen von
Abschlachtung, Untergang der Welt, finden sich Delirien des Bestohlenseins , der
Vergiftung. In reaktiven Angstzuständen sind Selbstmordversuche und aggressive
Akte gegen die feindlich verkannte Umgebung nicht selten. Namentlich Nachts
belebt sich das Delirium durch Hallucinationen. Die Kranken wehren sich gegen
vermeintliche Diebe und Mörder. Der Ausgang des Leidens sind Zustände voll-
ständiger Verblödung.
Nicht selten kommen solche Kranke vor Gericht. Am häufigsten
sind Unzuchtvergehen, namentlich an kleinen Kindern, motivirt durch
geschlechtliche Erregmig bei gesunkener ethischer und intellektueller
Widerstandsfähigkeit. Es ist wünschenswerth, dass überall, wo solche
unzüchtige Handlungen von Greisen begangen werden, eine gerichts-
ärztliche Untersuchung des Geisteszustands verfügt werde, da jenen
fast immer ein maniakalisches Exaltationsstadium als Einleitung einer
Dementia senilis oder ein vorgeschrittener Zustand von Demenz mit
Erloschensein der ethischen und rechtlichen Gefühle zu Grund liegt.
Die melancholischen Zustände können zum Mord der Angehö-
rigen führen, mit dem Motiv, um sie dem Hungertod, der allgemeinen
Vernichtung u. s. w. zu entziehen.
Verfolgungsdelir und Angstanfälle bedingen Attentate auf die
feindlich verkannte Umgebung, grundlose Denunciationen bei Gericht etc.
Die forensische Diagnose wird die Symptome eines organischen
Hirnleidens (Lähmungen, Aphasie etc.) neben den psychischen einer
Charakterveränderung (Reizbarkeit, Misstrauen, ethische Defekte), der
geistigen Schwäche (Gedächtnissschwäche namentlich für die Jüngst-
vergangenheit, rasche geistige Ermüdung, Verwirrung, Bewusstseins-
störung. Verkennung der Personen etc.), sowie etwaige Delirien und
Sinnestäuschungen zu verwerthen haben.
Beob. 49. Moralische Verkümmerung auf Grundlage einer
Dementia senilis. Mord der Tocliter. Im März 1861 erschien vor
dem Tribunal zu Gi'enoble ein Greis von 67 Jahren, angeklagt des Mordes seiner
Tochter.
Bis vor wenig Jahren war sein Benehmen tadellos gewesen , er hatte als
ein Muster von Sittlichkeit, Religiosität und als braver Familienvater gegolten.
V. Kraf ft-Ebing, gerichtl. Psychopathologie. 2. Auflage. 11
\Q2 Cap. IX. Erworbene geistige Schwächezustände.
Allmälig hatte sein Charakter eine tiefe, unerklärliche Umwandlung er-
fahren. Aus dem züchtigen ehrbaren Mann war ein Geck und Wollüstling ge-
worden, bei dem man vergebens eine Spur von Schamgefühl suchen mochte.
Eine Ursache für diese Umwandlung Hess sich nicht finden, wenn es nicht senile
Involution seines Gehirns war, die zuweilen eine solche moralische Umwandlung
hervorbringt. Das Leben des Reynaud in den letzten Jahren war eine Kette
von sexuellen Excessen; er hielt sich eine Maitresse, unterhielt aber ausserdem
geschlechtliche Beziehungen mit einer jungen Frau von 26 Jahren. Die Briefe,
die er an diese schrieb, waren voll der excentrischsten Dinge, er machte ihr die
unzüchtigsten Propositionen, er drückte sich darin mit einer Leidenschaft und
sinnlichen Begierde aus, wie sie kaum bei einem jungen Manne denkbar ist.
Wie sehr gesteigert sein Geschlechtstrieb war, beweisen 20 junge Weiber,
mit denen er während der letzten Jahre geschlechtlichen Umgang pflog. Das
Verbrechen, das ihn vor die Assisen brachte, bestand darin, dass er seine Toch-
ter, als er sie mit ihrem Liebhaber zusammen traf, ermordete — nicht aus sitt-
licher Entrüstung — sondern aus Eifersucht. Er feuerte auf deren Liebhaber
einen Schuss ab, der diesen im Rücken traf im Augenblicke, als er durch's Fen-
ster entweichen wollte, dann erdolchte er seine Tochter. Als deren Liebhaber
entsetzt der Geliebten zu Hilfe eilte, traf er sie im Todeskampf. Während er
bei der Sterbenden ein Gebet verrichtete, weidete sich der Mörder an dem An-
blick des geöffneten Busens seiner Tochter und sagte: „sie war doch ein schönes
Weib, eine schöne Maitresse."
Reynaud liess sich ganz kaltblütig verhaften, zeigte in der Folge keine
Einsicht, keine Reue für seine schändliche That. Mit wollüstigem Behagen und
faunenhaftem Lächeln sass er auf der Anklagebank, auf der er mit der grössten
Gelassenheit seine Verurtheilung zu lebenslänglichem Kerker vernahm. (Despine,
psychol. naturelle, tom. IL p. 598.)
Beob. 50. Unzüchtige Handlungen gegen einen Knaben. Am
29. März 1862 näherte sich ein Herr von TSV-' Jahren im Jardin des plantes in
Paris einem 13jährigen Knaben, der Eidechsen betrachtete und griff ihm nach
den Geschlechtstheilen mit den Worten: „ei was für eine nette Eidechse." Der
Knabe entfernte sich, aber der Alte verfolgte ihn und versuchte wiederholt ein
Manöver. Da er wegen ähnlicher Unsittlichkeiten schon lange verdächtig und
polizeilich überwacht war, erfolgte seine Verhaftung in flagranti.
H. ist körperlich gesund, aber seine geistigen Fähigkeiten haben abge-
nommen. Er spricht zuweilen abschweifend, incohärent, ohne indessen zu deliriren.
Sein Gedächtniss hat sehr gelitten, doch war er bisher im Stand, seine bürger-
lichen Rechte und Pflichten wahrzunehmen. Von seinem Vergehen behauptet
er nichts zu wissen und beruft sich auf seine tadellose Vergangenheit. Die Ex-
pertise schloss auf einen beginnenden Altersblödsinn, der die Zurechnungsfähig-
keit beschränkt habe. H. wurde nicht verurtheilt. (Legrand du Saulle, la folie p. 530.)
Weitere Fälle: Legrand du Saulle, la folie p. 533 (Erotomanie). Livi,
Archiv, italian. 1878, H. 1 (Sittlichkeitsvergehen). Motet, Annal. d'hyg. publ. 1878
Jan. (Nothzucht und Blutschande), v. Krafft, Friedreich's Blätter 1878 (fragliche
Amtsuntreue eines Steuerbeamten).
Dementia paralytica. Ißß
d. Dementia paralytica^).
Unstreitig von grösster Bedeutung auf dem Gebiet der erwor-
benen geistigen Schwächezustände ist für das Forum die sog. chronische
Gehirnerweichung der Irren. Sie ist es durch die Häufigkeit ihres
Vorkommens und der Conflikte mit dem Strafgesetz, zu denen sie
führt. Ueberdies wird sie in ihren Anfangsstadien nur zu häufig
nicht erkannt und werden dadurch ungerechte Verurtheilungen her-
beigeführt.
Klinische Uebersicht: Die Dem. paralytica stellt eine chronische
Hirnkrankheit von progressivem Verlauf und durchschnittlich -Sjähriger Dauer dar.
Sie endet in der Regel tödtlich und bietet post mortem den Befund einer diffusen
chron. Entzündung der Meningen und der Hirnrinde. Sie zeigt 2 Hauptsymptom-
reihen — psychische und motorische. Psychisch findet sich das Bild einer fort-
schreitenden Dementia mit wandelbaren Zustandsbildern der Melancholie, namentlich
der hypochondrischen, der Manie, des Grössendeliriums. Die naotorischen Störungen
sind allgemeine, intensiv und extensiv sehr wechselnde, coordinatorische, progres-
sive bis zu schliesslicher vollständiger Coordinationslähmung. Sie äussern sich
vorwiegend im Gebiet der Sprache und der lokomotorischen Leistungen. Episodisch
finden sich Paresen einzelner motorischer Nerven und Muskelgruppen, apoplek-
tische und epileptiforme Anfälle.
Das Leiden beginnt mit einem Prodromalstadium von monate- bis jahre-
langer Dauer, das durch Symptome geistiger Schwäche, beginnender Charakter-
änderung, gelegentliche Muskelinsufficienzen , Schwindel-, apoplektische Anfälle,
Congestiverscheinungen, aphasische Symptome gekennzeichnet ist. Daran reiht
sich eine maniakalische Exaltation, die in Tobsucht mit Grössenwahn übergeht
(klassische Form)^ oder die Krankheit setzt aus dem Prodromalstadium heraus
mit einem hypochondrisch melanchol. Zustandsbild ein. Das Leiden kann auch
als einfache Dementia ohne complicirende Zustandsbilder (höchstens mit episo-
dischen Tobanfällen) verlaufen. Im Endstadium besteht tiefe Dementia mit Ver-
lust der Sprache (theils Aphasie, theils Coordinationslähmung) der Gebrauchs-
fähigkeit der Extremitäten (Ataxie, Verlust der Bewegungsanschauungen) und
Marasmus. In jedem Stadium sind tiefe Remissionen von wochen- bis jahrelanger
Dauer möglich.
Von forensischer Bedeutung wegen diagnostischer Schwierig-
keiten sind das Prodromalstadium, das der manischen Exaltation und
die Fälle von einfach dementer Paralyse.
^) Literatur: Legrand du SauUe, etude med. legale sur la paral. gen.
Gaz. des hopit. 1866, Nr. 124-130. S. f. Friedreich's Bl. 1867, H. 2. Simon,
Gehirnerweichung der Irren 1871. v. Krafft, Friedr. Blätter 1866, H. 2 (Remis-
sionen der Paralyse). Maudsley, Stehlen als Symptom der Paralyse, the Lancet
1875, Nov. Mendel, d. progr. Paralyse. Berlin 1880.
\Q4: Csi]). IX. Erworbene geistige Scliwächezustände.
Die Prodromalperiode kann mehrere Jahre dauern und sich auf
eine ganz allmälig platzgreifende Aenderung der Sitten und Nei-
gungen, des gesammten Charakters beschränken. Vielfach betriflft
diese Aenderung vorwiegend die ethische Seite, insofern die früher
geläufigen und massgebenden Begriffe von Anstand und Sitte sich
lockern und selbst gänzlich verloren gehen. Das Thun und Treiben des
Kranken erscheint dann dem Laien einfach als ein unmoralisches.
Die Kranken vernachlässigen ihre Geschäfte und ihr Aeusseres, treiben
sich in Schenken und Bordellen herum, erlauben sich Eingriffe in
fremdes Eigenthum, gerathen in Raufhändel, begehen Verletzungen
des öffenthchen Anstandes, Ehebruch, oder kommen wegen Betrug,
Urkundenfälschung, betrügerischem Bankerott in Untersuchung.
Die Beurtheilung des Kranken in diesem Stadium kann schwie-
rig sein. Für den Kundigen ist diese unmotivirte stetig vorschrei-
tende und scharf ausgesprochene Umänderung des ganzen Wesens
und Charakters jedenfalls schon ein Fingerzeig für das Pathologische
des Zustands. Zu der scheinbaren Immoralität, ungewöhnlichen Ge-
müthsreizbarkeit und Unstätigkeit gesellen sich aber vielfach jetzt
schon Zeichen getrübter Besonnenheit und Einbusse an intellektueller
Leistungsfähigkeit. Dem Kranken fehlt die Einsicht in sein ver-
kehrtes Gebahren, er fühlt nicht, wie er sich, seine Ehre, seine Fa-
milie und Geschäftsinteressen compromittirt, er zeigt eine gewisse
Schwäche und Lahmheit des Gedankengangs, Vergesslichkeit, seine
Arbeit kostet ihn grössere Mühe und Zeitaufwand. Der früher so
umsichtige Geschäftsmann hat sich in eine gewagte Spekulation ein-
gelassen, die Kräfte und Credit weit überstieg, Ehre und Existenz
bedenklich gefährdete. Der Börsenmann Hess wiederholt schon den
Kastenschlüssel stecken, hat in seinem Hauptbuch erhebliche Posten
gar nicht gebucht, andere falsch addirt, formell unrichtige Wechsel
ausgestellt, Coupons einzulösen vergessen. Der Offizier ist salop in
seiner Erscheinung geworden, unpünktlich im Dienste, der Beamte
verschläft die Bureaustunden, verlegt wichtige Aktenstücke oder wirft
sie gar in den Papierkorb.
Das sind Alles nur Lappalien, wie der Kranke selbst meint,
aber dem Kundigen sind sie bedenkliche Zeichen einer hereinbre-
chenden Bewusstseinsstörung und Abnahme des Gedächtnisses.
Auch die Einsicht in die Bücher und Schriften liefert in diesem
Stadium oft schon beachtenswerthe Spuren getrübter geistiger Klar-
heit, Besonnenheit und Aufmerksamkeit in Form von Datum- und
Rechnungsfehlern, fehlender oder unrichtiger Interpunktion, verges-
Dementia paralytica. 165
senen Worten oder Buchstaben, Abweichungen von der geraden Linie,
Unsauberkeiten des Papiers,
Nicht selten zeigen sich jetzt schon ab und zu Congestionen,
Schwindelanfälle, leichte Störungen der Sprache, Ungleichheit der
Pupillen, temporäre Facialislähmung, aphasische Symptome.
Während diese Aenderungen des ganzen Wesens und Charakters
immer mehr sich entwickeln, die psychische Schwäche immer greif-
barer wird, kommt es häufig zu einer intercurrenten maniakalischen
Exaltation, in welcher jetzt schon ab und zu desultorische Grössen-
wahndeliren auftreten können.
Die Erscheinungen psychischer Schwäche werden durch diese
Periode gesteigerter Hirnthätigkeit maskirt, der Kranke erscheint
aktiver, leistungsfähiger als in gesunden Tagen, er zeigt Witz, Scharf-
sinn, Unternehmungsgeist trotz schwer gestörter Besonnenheit.
Die Anamnese, die trotz der blendenden temporär gesteigerten
Aktivität und Leistungsfähigkeit sich kundgebenden Erscheinungen
von Gedächtnissschwäche, getrübter Besonnenheit, Willensschwäche,
grösserer Bestimmbarkeit und Reizbarkeit, das Studium der schrift-
lichen Aufzeichnungen, zeitweise Kopfcongestionen, Ohnmächten,
apoplektische Anfälle, Zucken und Beben der Lippen, Sprachstörung,
ungleiche Pupillen, Paresen und Anästhesien sichern die Diagnose.
Um so sorgfältiger muss die Anamnese eruirt werden, als solche
Kranke, wenn im Gefängniss internirt, durch die Isolirung, durch
schmale Kost und mangelnde Gelegenheit zu Excessen aller Art bald
eine grosse Zahl ihrer Krankheitserscheinungen verlieren und ihre
augenblickliche Beobachtung wenig Positives ergibt.
Mannigfache Conflikte mit dem Strafgesetz führt der in dieser
Periode der Krankheit fast regelmässig als Theilerscheinung der mania-
kalischen Erregung sich findende Hang zu Alkohol- und sexuellen
Excessen, sowie zur Wegnahme fremden Eigenthums mit sich. Die
geschlechtliche Erregung führt zu Familienscandalen, groben Ver-
letzungen der Sittlichkeit, verliebten Abenteuern, Verführungen, Duellen;
das Wirthshausleben bei durch die Krankheit schon gesetzter abnor-
mer Gemüthsreizbarkeit und Intoleranz für Alkohol zu Prügeleien,
Injurien, Körperverletzungen, Auflehnung gegen die Sicherheitsbehörde
und empfindlichen Geld- und Freiheitsstrafen, die über den vermeint-
lichen Trunkenbold verhängt werden.
Endlich bricht das Delirium aus und verwandelt mit einem Male
die Ahnungen der Umgebung in schreckliche Gewissheit. Der Zu-
stand ist nun kein zweifelhafter mehr, aber es dauert oft noch lange.
166 Cap. IX. Erworbene geistige Scliwächezustände.
bis der Kranke unschädlich gemacht wird und bei seinem schranken-
los gesteigerten Wollen und Können bedarf er nur kurzer Zeit, um
sich und die Seinigen finanziell zu ruiniren. In diese Periode der
Krankheit fallen die sinnlosen Spekulationen, Masseneinkäufe und
Greschenke. Ungescheut eignen sich die Kranken nun auch fremden
Besitz an, da sie Alles in ihrem Grössen wahn für ihr Eigenthum
halten.
Die vorgeschrittene psychische Schwäche, Bewusstseinsstörung
und Gedächtnissschwäche, der Grössen wahn, die Ueberstürzung des
Vorstellens und Strebens, der abspringende Gedankengang, die schrift-
lichen Leistungen, in denen Bewusstseinsstörung, Wahnideen, formale
Störung im Vorstelluugsablauf und beginnende Unsicherheit der Hände
sich deutlich manifestiren, lassen den Fall nicht mehr als zweifelhaft
erscheinen.
In dem Stadium der Dementia werden die Kranken durch ihre
hochgradige Bewusstseinsstörung gefährlich. Sie wissen nicht mehr
Mein und Dein, Zeit und Ort auseinander zu halten, dringen in fremde
Wohnungen in der Meinung, es sei die eigene und tragen daraus
Gegenstände fort, ernten auf fremdem Feld, richten in zweckloser
Geschäftigkeit Schaden an, verschulden Feuersbrünste, indem sie in
der Meinung, es sei der Heerd oder Ofen, wo sie nur gerade sind,
Feuer anzünden oder achtlos brennende Gegenstände verstreuen.
Aeusserst häufig in diesem Stadium ist Diebstahl, meist ungenirte
Wegnahme von oft ganz werthlosen Gegenständen und zwar in einer
so plumpen, rücksichtslosen Weise, dass die Entdeckung auf dem
Fusse folgt.
Die Gedächtnissschwäche solcher Kranken ist dabei eine bezeich-
nende. Schon wenige Augenblicke nach der That im Besitz des ge-
stohlenen Gegenstands ertappt, wissen sie oft gar nicht mehr, wie
sie dazu gekommen sind und leugnen als scheinbar ganz verschmitzte
Spitzbuben, einfach weil sie nichts mehr davon wissen. Man muss
solche Kranke bezüglich ihres Stehlens in den Asylen beobachten.
Nichts ist vor ihnen sicher und jeden Abend leert der Wärter aus
ihren Taschen eine Menge oft werthloser und ganz verschiedenartiger
Gegenstände. Reste von Grössenwahn, Schwäche des Urtheils und
Sinnestäuschungen, die den Gegenständen einen imaginären hohen
Werth beilegen, Verlorengegangensein aller Begriife von Mein und
Dein, von Recht und Sitte motiviren diese Diebstähle.
Die Begutachtung derartiger weitgediehener Fälle ist nicht
schwierig. Die enorme Bewusstseinsstörung, Gedächtniss- und Ur-
Dementia paraiytica. IQ'J
tlieilsschwäche; Gleichgültigkeit und Einsichtslosigkeit, die unverkenn-
baren Zeichen eines schweren Hirnleidens, wie sie sich in Miene,
Sprache, Haltung, Gang kundgeben, sichern die Diagnose.
Die erwähnten Eigenthümlichkeiten des Bewusstseinszustands
geben dem Mechanismus des Handelns solcher Kranker zudem ein
ganz besonderes Gepräge. Ihre Handlungen werden mit einer be-
merkenswerthen Plumpheit, Rücksichtslosigkeit^ Brutahtät, Ungeschick-
lichkeit und Planlosigkeit in Scene gesetzt ^).
Auffallend häufig im Verlauf dieser schweren todtbringenden
Krankheit sind Remissionen bis zu monate-, selbst jahrelanger Dauer,
die so bedeutend sein können, dass der Unerfahrene an Herstellung
glaubt, der Kranke seinen Beruf wieder aufzunehmen vermag. Nie
sind sie aber wirkliche Intermissionen. Zeichen psychischer Schwäche,
leichte Bestimmbarkeit, Reizbarkeit, Charakteranomalien, mangel-
hafte Krankheitseinsicht, Schwindel- und Congestivanfälle in selbst
den ausgesprochensten Fällen von Remission weisen darauf hin, dass
die Krankheit nur vermindert, aber nicht gehoben ist.
Beob. 51. Brandstiftung. Dementia paraiytica. Gh., Sprachlehrer,
56 Jahre, hat in Bache et Venere viel excedirt. Im Juli 1864 starb seine Mai-
tresse. Bald darauf zeigte er eine totale Aenderung seines Wesens. Er vernach-
lässigte seinen Beruf, trieb sich planlos in der Umgebung der Stadt umher, leb-
haft gestikulirend und Selbstgespräche führend. Alte Freunde grüsste er auf
der Strasse nicht mehr, im Wirthshaus war er oft incohärent in seinen Reden,
vergesslich. Mit seinen schriftlichen Arbeiten kam er nicht mehr recht zu Streich,
immermehr bot sein Aeusseres das Bild geistiger und körperlicher Verkomnaen-
heit. Anfangs Oktober wurde er mehrfach auf der Strasse mit heraushängendem
Penis betroffen, er hielt mehrfach Frauenzimmer auf der Strasse an und wollte
sie brünstig umarmen.
0 Ein Kranker meiner Beobachtung drang in ein fremdes Haus ein, zog
sich aus und wollte sich zur Tochter des Hauses ins Bett legen. Nicht selten
sind Erscheinen in nacktem Zustand, Entblössungen der Genitalien, Onanie auf
offener Strasse. (Fälle bei Tardieu, sur les attentats aux moeurs 1878. Mendel,
die progr. Paralyse der Irren 1880, p. 123. Legrand du SauUe, la folie p. 519.)
Ein Kranker, den Magnan citirt, wollte ein Fass Wein vor dem Gewölbe eines
Weinhändlers sich aneignen und ersuchte 2 J'olizeimänner, ihm beim Wegrollen
behilflich zu sein, was diese auch bona fide thaten. Ein Kranker meiner Beob-
achtung trieb am hellen Tag eine fremde Kuh von der Weide nach der benach-
barten Stadt, um sie zu veräussern.
Darde, du delire des actes dans la paral. gen., Paris 1874, erzählt (Beob. 22)
den Fall eines Kranken, der einen Hass gegen den Spitalchirurgen hatte und
mit Stock und Dolch bewaffnet ganz gemüthlich 2 Sicherheitswachmänner nach
der Adresse des Arztes fragte, weil er ihn umbringen wolle !
'[QQ Cap. IX. Erworbene geistige Schwäche. Dementia paralj^tica.
Am 15. Oktober drang Pulverdampf aus seinem Zimmer. Man öffnete und
traf ihn mit einer Pistole in der Hand, halbverbranntes Pulver auf dem Tisch.
Der Polizei erklärte Ch., er habe sich gegen eingedrungene Räuber wehren wollen.
Die Hausleute hielten sein Gebahren für Bosheit, weil sie ihn wegen verschie-
dener Ungehörigkeiten zur Rede gestellt hatten. Ch. urinirte nämlich im Hause,
wo es ihm passte und hatte die Schublade einer Mahagonikommode, die auf dem
Gange stand, zur Befriedigung seiner Bedürfnisse ausersehen. Als man ihn dar-
über zur Rede stellte, wurde er gewaltthätig, prügelte die Hausfrau. In's Ge-
fängniss gebracht, verunreinigte er Boden und Wände. Im Verhör leugnete er
Verunreinigungen und Gewaltthaten. Das Gutachten des Gerichtsarztes vom
16. Oktober spricht sich dahin aus:
„Seine Antworten waren verständig und liessen erkennen, dass Gedächt-
niss, Erinnerung und Ueberlegung ungetrübt waren. Er sprach vollkommen ruhig
und zusammenhängend, erzählte den Hergang, suchte die Vorkommnisse als un-
bedeutend, die Entzündung des Pulvers als Ziifall hinzustellen. Soviel ich aus
dieser Unterredung mit dem persönlich mir völlig unbekannten Mann entnehmen
konnte , war er gestern Abend weder seelengestört noch betrunken , sondern
scheint von sehr heftigem, leidenschaftlichem Temperament zu sein und in Zorn
und Aufregung die Handlungen begangen zu haben."
Ch. wird der Haft entlassen. Am 23. Nachts wirft er dem Hausherrn
Fensterscheiben ein. Am 26. geht er in ein fremdes Haus, wird angehalten und
behauptet, er müsse Kisten auf seinen Speicher tragen. Am 28. zündet er im
Gasthaus .einen Teppich an und lacht dazu. Den Gästen kam er verrückt vor,
da er Rock, Weste und Halstuch ausgezogen hatte und seinem Nebenmann sans
gene auf den Rücken spuckte. Am 29. brannte ein Haus nahe der Stadt ab.
Ch. war kurz vorher mit brennender Cigarre vorbeispaziert und hatte wahr-
scheinlich diese in den daneben befindlichen Heuschober geworfen. In der Nähe
des Brandes verhaftet und befragt was er hier treibe, erklärte er Maulwürfe
fangen zu wollen. Vor dem Untersuchungsrichter versuchte er seine Cigarre
wieder in Brand zu stecken.
Ch. blieb bis zum 7. Januar in Haft. Er war körperlich wohl, klagte nur
zeitweise über Leere im Kopf und Druck im Hinterkopf. Gefrässig und unrein-
lich war er in hohem Grade. Er fühlte sich ganz behaglich, empfand keine Lange-
weile, lebte in den Tag hinein ohne Sorge um Vergangenheit und Zukunft. In
ihren Pareres vom 22. November und 3. December erklärten sich die Gerichts-
ärzte ausser Stand, ein Gutachten über seinen Geisteszustand abzugeben. Anfang
Januar fing Ch. an mit Koth zu schmieren, unzusammenhängend zu sprechen,
Geräthschaften zu demoliren. Zur Rede gestellt leugnete er, offenbar aus Ge-
dächtnissschwäche. Sein Bewusstsein war so gestört, dass er seine Stiefel suchte
und meinte sie seien gestohlen, obwohl er sie anhatte.
Bei der Aufnahme in der Irrenanstalt am 7. Januar bot Ch. das Bild einer
vorgeschrittenen Paralyse. Ungleiche Pupillen, häsitirende Sprache, bebende Lippen,
schwankender Gang, unsichere Schriftzüge. Incontinentia urinae et alvi. Ge-
frässigkeit. Unreinlichkeit. Enorme Bewusstseinsstörung und Gedächtnissschwäche,
grosse Reizbarkeit wnd brutale Gewaltthätigkeit.
Das Gutachten erwies die schon seit Monaten bestehende Geistesstörung
(Dem. paralyt.) und die Ch. zur Last gelegte Brandstiftung als die Folge einer
mit dieser Krankheit verbundenen derartigen Störung des Bewusstseins , dass er
Das alkoholische Irresein. \QCf
ausser Stande war, sich seiner Handlungen, geschweige deren Bedeutung, Folgen
und Strafbarkeit bewusst zu sein. (Eigene Beobachtung.)
Beob. 52. Mord der Ehefrau. Dementia paralj'tica. Am 13. Mai
war der 46jährige Handwerlier X. voller Freude zu den Nachbarn gegangen und
hatte ihnen mitgetheilt, dass seine Frau plötzlich gestorben sei. Da man kurz
vorher im Hause Lärm gehört und X. oft geäussert liatte, sich seiner Frau ent-
ledigen zu wollen, so gingen die Nachbarn in's Haus und fanden die Leiche
nackt mit deutlichen Zeichen der Erdrosselung. Der X. leugnete Anfangs, meinte
es handle sich um einen unglücklichen Zufall, bekannte aber endlich sein Ver-
brechen, das er als unüberlegt und im Affekt begangen darstellte.
Von jeher nervös und reizbar, war X. durch Alkoholexcesse seit einigen
Jahren so brutal und gereizt geworden, dass Jedermann ihn fürchtete. Seine
Frau hatte ihn schon lange für irrsinnig gehalten. Im Verhör Grössenwahn, der
offenbar schon lange bestanden hatte. Er wollte sein Geschäft in's Ungeheuere
vergrössern und seiner Frau, da sie für ihn zu gering sei und ihm selbst nach
dem Leben gestrebt liabe, sich entledigen. Dieses Vorhaben hatte er wiederholt
rückhaltslos geäussert. Er konnte nicht begreifen, dass man wegen ihrer Tödtung
so viel Aufhebens mache. Bezeichnend war die Gleichgültigkeit und Sorglosigkeit
des Mörders. In der folgenden Beobachtung Grössenwahn (hält sicli vorüber-
gehend für Gott) , grosse psychische Schwäche , Hallucinationen , Sprachstörung.
Die Sachverständigen erbrachten den Beweis, dass X. im Zustand von
Geistesstörung (Dem. paralj^t.) den Mord begangen habe. (Annales med. psychol.
Sept. 1875.)
Weitere Fälle: Brandstiftung: Annal. med. psj'chol. Sept. 1871.
Diebstähle: Casper, Lehrb., herausgeg. v. Liman , Fall 285, 286. Journal
of mental science, January 1873. Sander, über Stehlsucht d. Geisteskranken, be-
sonders in der paralj^t. Form. Casper, Vierteljahrschr. XXIV. (mit Angabe der
bezügl. Literatur). Brierre in: Annales d'iij^giene, 1860 Octob. Burman, Journ.
of mental science, 1873, Jan. 1874, Jul3^
Mord: Ebers, die Zurechnung. Glogau 1860, Fall 8. Lotze, Archiv f.
Psych. VII. H. 2.
Mordversuch : Annal. med. psychol. Mai 1873.
Sittlichkeitsvergehen: Westplial, Archiv f. Psj'ch. VII. p. 622. Liman,
zweifelh. -Geisteszustände, p. 190. Legrand, la folie, p. 519.
Bigamie: Petrucci, Ann. med. psycho!. 1875, Mai.
Fahrlässige Vergiftung: Diberg, Archiv f. ger. Med. in Russland 1869, H. 4.
5. Das alkoliolisclie Irresein.
(Alkoholismus chronicus. Trunkfällige Sinnestäuschung. Delirium tremens.
Alkoholpsychosen.)
Literatur. Henke's Abhandl. IV. p. 299 (ältere Literatur). Legrand du Saulle,
Ann. med. psychol. 1861, Juli und la folie devant les tribunaux. Paris 1864, p. 253.
Foville, Ann. d'hyg. publ. XLIII. April 1875. Roussel, l'ivresse publique. Gaz.
des höpit. 1871, 69—75. Schweizer Correspondenzbl. 1872. 21. Baer, der Al-
koholismus. Berlin 1878. Pelman, im neuen Reich 1878 L Foville, l'Union
med. 1873, 136, 137. Magnan, de l'alcoolisme. Paris 1874. Delirium tremens:
170 ■ Cap. IX. Das alkoliolisclie Irresein.
Goeden, Dissertat. Berlin 1825. Martini, Bemerkungen über Säuferwahnsinn.
Bremen 1828. Rose, Pitha u. Billroth's Chirurgie I. H. 2. Graft" u. Stegmayer,
einige Worte zur Beurtheil. des Säuferwahnsinns. Wiesbaden 1844. Alkohol-
psychosen: Dagonet, traite des mal. ment. 1876 p. 521. v. Krafft, Lehrb. d.
Psychiatrie II. p. 173. Nasse, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie 34. H. 3.
Die schwersten Schädigungen erfährt das centrale Nervensystem
durch fortgesetzten Alkoholmissbrauch. Die Folgen zeigen sich nicht
bloss bei dem diesem Laster Ergebenen, sondern meist auch bei seinen
Nachkommen. Die Statistik belehrt uns über die geringe Lebensfähig-
keit und die grosse Disposition der Descendenz von Säufern zu Nerven-
krankheiten, namentlich zur Idiotie, Epilepsie und Geisteskrankheiten.
Der hereditär belastende Einfluss der Alkoholausschweifungen ist ein
eminenter. Auf dem Boden solcher belastender Einflüsse (Epilepsie,
Schwachsinn, neuropathische Constitution) findet sich wieder, zum Theil
durch böses Beispiel, vorwiegend aber aus Reizbedürfniss für die schwa-
chen Nerven, Neigung zum Missbrauch des Alkohol (periodisch als
Dipsomanie oder dauernd) und das belastete Gehirn reagirt darauf
in Form der schwersten psychischen Entartungszustände (Blödsinn,
moralisches Irresein mit impulsiven Akten).
Die Bedeutung des Alkoholmissbrauchs für das Forum und die
Gesellschaft ergibt sich aus der statistischen Tbatsache, dass in Deutsch-
land z. B. etwa 50*^/0, aller Verbrechen unter dem Einfluss der Alkohol-
excesse zu Stande kommen, etwa 28*^/0 der Aufnahmen in Irrenhäusern
durch das Laster des Trunks verschuldet sind, der wirthschaftliche
Ruin unzähliger Familien dadurch bedingt ist.
Klinische Uebersicht: Der Grundcharakter der psychischen Stö-
rungen, welche sich aus dem fortgesetzten Missbrauch alkoholischer Getränke
ergeben, ist der psychischer Schwäche und fortschreitenden Zerfalls der höheren
ethischen und intellektuellen Funktionen. Ab und zu kann es im Verlauf dieses
chronischen psychischen Degenerationsvorgangs, wohl auf Grund vorübergehender
Circulations- und Ernährungsstörungen, zu acuter und stürmischer Betlieiligung
der psychischen Funktionen in elementarer oder complicirter Form kommen ; wo-
bei es sich jedoch nur um intercurrente oder exacerbirende Phasen dieses Grund-
vorgangs handeln dürfte.
Als die anatomischen Substrate dieser Degeneration der höchstorganisirten
Nervencentren finden sich chronisch-entzündliche Veränderungen an den Meningen
und atrophirende Processe der Rindenschicht des Grosshirns.
Als Folgen oder Complicationen : vielfach Hyperostose des Schädeldachs,
massenhafte Wucherung Pacchioni'scher Granulationen, Hydrocephalus externus
und internus, Pachj^meningitis interna haemorrhagica. Dazu gesellen sich die
deletären Wirkungen des Alkohol in Gestalt von chronischem Magencatarrh,
Leber- und Nierenentartung, Herzhypertrophie und Arteriosklerose. Als klinischer
Gesammtausdruck dieser Degenerationsvorgänge finden sich eine Reihe von psy-
Alkoholisches Irresein. Klinische Uebersicht. 171
chischen, motorischen, sensiblen, sensoriellen und vegetativen Funktionsstörungen,
deren Gesammtbild sich nach dem Vorgang von Magnus Huss als Alkoholis-
mus chronicus oder Trunksucht bezeichnen lässt.
Die ersten Symptome der Folgen des Lasters in der psychischen Sphäre
pflegen sich in der Sphäre der ethischen Leistungen, in einer fortschreitenden
Abnahme der ethischen Gefühle und sittlichen Correktive kundzugeben. Der
Säufer verräth bedenkliche Zeichen von laxerer Anschauung in Beziehung auf
Ehre, Sitte, Anstand. Die sittlichen Conflikte, in die er durch sein Laster ver-
setzt wird, der Ruin seines Geschäfts und seiner Familie, die Verachtung, die er
von seinen Mitbürgern erfährt, berühren ihn nicht mehr peinlich. Es vi^ird ein
unerträglicher Egoist im Verkehr mit der Familie und Gesellschaft, cynisch, an-
massend, brutal. Mit der Zeit entwickelt sich ein Zustand wahrer moral insanit}'.
Schon Clarus hat solche Zustände sittlicher Verkommenheit auf degenera-
tiver alkoholischer Grundlage als „trunkfällige Entartung der Sitten und des
Temperaments" (inhumanitas ebriosa) beschrieben.
Ein weiterer Grundzug im Verlauf dieser psychischen Degeneration ist
eine Störung der affektiven Funktionen, eine auffallende Gemüthsreizbarkeit, die
zu wenig motivirten und über alles physiologische Mass hinausgehenden Affekten
des Zornes führt (ferocitas ebriosa). Häufig sind auch im Verlauf temporäre Zu-
stände tiefer geistiger Verstimmung, krankhaften Missmuths (morositas ebriosa)
namentlich des Morgens nach dem Erwachen. Sie disponiren zu Affekten und
führen nicht selten zu Selbstmord.
Mit dem Fortschritt dieser Störungen in der ethischen und affektiven Sphäre
stellen sich regelmässig und früh solche in der des Willens und der Intelli-
genz ein.
Die Willensschwäche zeigt sich in der Energielosigkeit in der Durchfüh-
rung von Entschlüssen und Erfüllung von Pflichten. Am bemerkenswerthesten
ist sie gegenüber dem anfangs so oft gefassten Entschluss, dem unheilvollen
Laster zu entsagen. Kein Gewohnheitssäufer ist im Stand, diesen Vorsatz zur
That zu machen, selbst zu einer Zeit, wo er noch Intelligenz genug besitzt, um
einzusehen, an welchem Abgrund er sich befindet. Im besten Fall verlangen
diese Unglücklichen ihre Internirung, sogar die Aufnahme in eine Irrenanstalt
in der beschämenden Selbsterkenntniss, dass sie zu einer Selbstführung nicht
mehr fähig sind.
Die Abnahme im Umfang der intellektuellen Leistungsfähigkeit verräth
sich in Schwäche des Gedächtnisses, Stumpfheit der Apperception , Ideenarmuth.
Immer mehr kommt es zu ausgesprochenem Schwachsinn. Der endliche Ausgang
des Leidens ist ein Zustand tiefer psychischer Schwäche, blödsinniger Indifferenz,
Apathie und Gemüthsstumpfheit.
Ein häufiges und frühes Symptom in diesem intellektuellen und ethischen
Degenerationsvorgang ist bei in geschlechtlichen Beziehungen stehenden Alkoho-
listen der Eifersuchtswahn (Wahn ehelicher Untreue). Er erklärt sich zum Theil
aus der abnehmenden geschlechtlichen Potenz des Säufers, zum Theil daraus,
dass die Ehefrau oder Geliebte dem Verkehr mit dem brutalen , reizbaren , ge-
waltthätigen Trunkenbold thunlichst aus dem Wege geht und der geistig und
sittlich geschwächte Säufer daraus Gründe zu Misstrauen schöpft. Gelegentlich
zorniger Affekte und Alkoholexcesse können Illusionen und Hallucinatiouen auf-
treten und dem Wahn Nahrung geben.
]^72 Cap. IX. Das alkoholische Irresein.
Die Motivirung des Wahns ist eine schwachsinnige. Die Kranken be-
haupten, dass ihre Frau mit anderen Männern verliebte Blicke wechsle, sich
vor ihnen entblösse, ungebührlich lange von Hause fortbleibe, Essen imd Geld
dem angeblichen Liebhaber zutrage. Sie entdecken in der Wäsche der Frau
verdächtige, auf geschlechtlichen Verkehr hindeutende Merkmale.
Früh gesellen sich sensorische und sensorielle Störiingen zum Krankheits-
bild. Sie bestehen in Kopfweh , Wüstsein im Kopf, unruhigem , A^on schreck-
haften Träumen gestörtem Schlaf, Schwindel, Hyperästhesien der Sinnesorgane,
subjektiven Sinnesempfindungen (Brausen, Klingen, Phantasmen etc.), die besonders
häufig vor dem Einschlafen sich einstellen und den Schlaf hintanhalten. Auch
zu Hallucinationen (Sehen A^on Menschen und Thieren, Hören von Stimmen)
namentlich Visionen, besteht eine bedeutende Disposition im Alkoholismus chronic.
Sie haben vorwiegend einen beängstigenden schreckhaften Charakter.
Die sensiblen Störungen bestehen in Parästhesien und eigenthümlichen
Formicationsgefühlen unter der Haut der (unteren) Extremitäten , die selbst bis
zu den Knieen herauf anästhetisch werden kann. Diese Gefühle werden immer
intensiver und anhaltender, verbreiten sich auf Rumpf und Arme, verbinden
sich mit Tremor der unteren Extremitäten, ja selbst des ganzen Körpers, mit
Zuckungen und tonischen Krämpfen in Füssen und Waden, die namentlich vor
dem Einschlafen auftreten.
Zu den frühesten Sj^mptomen gehören die motorischen. Sie äussern sich
als Tremor der Hände und Zunge, fibrilläre Zuckungen der Zungenmuskulatur.
AUmälig kommt es zu wirklicher Muskelschwäche. Die Hände werden kraftlos,
unsicher, die Kniee sinken ein, der Gang Avird schlotternd; schliesslich kommt
es zu wirklichen Paresen. Späte und nicht constante Symptome im Verlauf des
Leidens sind Accommodationsstörungen , Amblyopie, epileptische Krämpfe. Die
letzteren treten namentlich nach Alkoholexcessen auf.
Ein frühes Symptom ist auch die zunehmende Intoleranz des Gehirns gegen
Alkohol. Es kommt zu pathologischen Alkoholzuständen (s. u.), hallucinatorischem
Delirium und Convulsionen (ivresse convulsive) schon nach relativ geringen
Alkoholexcessen.
S5^mptome schwerer Schädigung der vegetativen Processe vervollständigen
das Krankheitsbild. Die Haut der Säufer bietet die Zeichen der Anämie neben
capillären Ectasien und venösen Stasen ; sie ist welk, missfarbig, die Augen sind
halonirt, die Lider ödematös, die Pupillen meist erweitert, der Blick ausdruckslos,
die Gesichtszüge schlaff. Dazu gesellen sich die Symptome gestörter Verdauung,
beginnender Leber- und Merenentartung.
Der Alkoholismus chron. ist keine Leidenschaft, sondern eine
Hirnkrankheit, die sich durch eine Fülle klinischer Kennzeichen und
durch anatomische Befunde als solche dokumentirt.
Die Zurechnungsfähigkeit des Trunksüchtigen wird damit frag-
lich. Eine allgemeine Bestimmung ist nicht möglich, denn die Wir-
kungen der Alkoholausschweifung sind, je nach Constitution, Art (Amyl-
oder Aethylalkohol), Menge und Zeitdauer des Uebergenusses ver-
schieden. Der Geisteszustand des Säufers bezüglich der Zurechnungs-
Zurechnungsfähigkeitsfrage bei Alkoholismus chronicus. 173
frage wird immer suspekt erklärt, aber das Mass seiner Verantwort-
lichkeit aus dem concreten Befund ermittelt werden müssen.
Es wäre schlimm, wenn man in einem so abscheulichen Laster,
wie es die Alkoholausschweifung darstellt, einen Freibrief für Ver-
brecher erkennen wollte, aber da, wo das Laster zur wirklichen Hirn-
krankheit geführt hat, muss mit dieser Thatsache gerechnet werden.
Der Nachweis der Hirnkrankheit wird sich in erster Linie auf
die somatischen Symptome des Alk. chron. zu stützen haben. Finden
sich daneben Charakterveränderungen und ethische Defekte, so wird
ihre Zurückführung auf eine den somatischen Störungen gemeinsame
Ursache gerechtfertigt sein. Bei noch nicht weitgediehenen Fällen
von Alk. chron. kann der Nachweis jener Schwierigkeiten bieten, da
sie mit der Entziehung des Alkohol in der Gefäuguisshaft rasch zu-
rückzutreten pflegen.
Bei vorgeschrittener psychischer Alkoholentartung sind die Be-
dingungen der Zurechnungsfähigkeit aufgehoben. Im Beginn des
Krankheitszustands werden sich mildernde Umstände geltend machen
lassen, namentlich da, wo eine strafbare Handlung in einem Alkohol-
excess oder Affekt des sittlich, intellektuell und vasomotorisch ge-
schwächten Säufers begangen wurde. Unter allen Umständen erscheint
der Trunkfällige als ein gemeingefährliches Individuum. Er gehört
in eine polizeiliche Verwahranstalt, ein Arbeitshaus oder Säuferasyl.
Es ist zu bedauern, dass die Detention meist zu spät eintritt oder zu
kurz stattfindet. Der Alkohol, chron. ist in seinen früheren Stadien
ein heilbarer Zustand, aber eine monate- bis jahrelange Entziehung-
berauschender Getränke ist dazu im günstigsten Fall erforderlich.
Die Irrenanstalten sollten zu solchem Zweck nicht missbraucht werden.
Die gesetzliche Regelung einer Versorgung der gemeingefährlichen
Trinker harrt vorläufig noch ihrer Erledigung.
Die Gefährlichkeit der Trunksüchtigen und die Möglichkeit straf-
barer Handlungen ergibt sich aus ihrem sittlichen und intellektuellen
Schwachsinn, der unsittliche egoistische Gelüste und zudem vielfach
abnorm heftige Affekte nicht mehr zu beherrschen vermag. Diebstahl,
Unterschlagung, Meineid, Unzucht, Brutalitäten, Körperverletzungen^
Todtschlag an Familienangehörigen und Fremden, Auflehnungen gegen
das Gesetz, Misshandlung der Organe desselben, sind die gewöhnlichsten
Vergehen und Verbrechen, wegen deren sich Säufer zu verantworten
haben.
Weitere Möglichkeiten für Rechtsverletzungen ergeben sich aus
Hallucinationen, Illusionen, welche die Aussenwelt feindlich verkennen
174 Cap. IX. Das alkoholische Irresein.
lassen, aus episodischen Verfolgungsdelirien, AngstanfälleU; impulsiven
Akten (Mord, Brandstiftung) und Eifersuchtswahn.
Mord der vermeintlich ehebrecherischen Gattin, ihres angeblichen
Zuhälters sind dann gewöhnliche Vorkommnisse. Die That trägt den
Charakter der Rachsucht, der Leidenschaft. Ihr Motiv enthält zu-
dem nicht eine Unmöglichkeit und wird oft recht plausibel gemacht.
Beob. 53. Alkoholismiis chronicus mit besonders hervortreten-
der Entartung der Sitten und des Temperaments. (Inhumanitas
und Ferocitas ebriosa.) Verletzung der Ehefrau im Zustand des
Rausches und Affekts. Hilz, 50 J., Grundbesitzer, stammt von Eltern, die
dem Trunk ergeben waren. Von 13 Geschwistern leben nur noch 2 ! Sie sind
jähzornige, brutale, dem Trunk ergebene Menschen.
Fat. war seit der Jugend potator strenuus. Schon 1871, als er eine keines
guten Rufes sich erfreuende Frau nahm, war er ethisch und intellektuell defekt. In
den letzten Jahren hatte er sich immer mehr dem Schnapsgenuss ergeben. Von
da an nahmen seine geistigen und körperlichen Kräfte rapid ab. Fat. verkam
ethisch immer mehr, führte die unfläthigsten Redensarten, nannte sein Weib vor
Anderen eine H . . ., griff ihr unter die Röcke, lud Andere ein, seine Frau zu
gebrauchen, da Libido sexualis und Potenz immer mehr bei ihm abnähmen.
Die Dienstboten behandelte er brutal, misshandelte sie sogar.
Er vernachlässigte sein Geschäft, trieb sich in Wirthshäusern herum, war
fast nie mehr ganz nüchtern, trank sogar Nachts beim Erwachen Slivovic, so
dass er Morgens vor Trunkenheit kaum stehen konnte. Es fiel ihm selbst auf,
dass sein Gedächtniss, namentlich für Erlebnisse der Jüngstvergangenheit gelitten
hatte und er den Alkohol immer weniger ertrug.
Fat. wurde immer brutaler, reizbarer, aufgeregter. Wenn er angetrunken
war, hatte er den Drang, Alles zusammenzuhauen. Seine Rauschzustände be-
kamen immer mehr pathologisches Gepräge. Er schrie, schimpfte, weinte durch-
einander, sprach ganz sinnlos, zerschlug was ihm in die Hände gerieth, bedrohte
die Umgebung sogar mit Messer und Revolver, so dass sich Jedermann vor ihm
fürchtete.
Seit einigen Jahren traten beim Einschlafen und Nachts, wenn er erwachte,
auch sensorische und sensorielle Störungen auf. Das Bett tanzte mit ihm, er sah
dunkle Gestalten durch die Luft reiten und fahren , sah Vögel , Mäuse , Ratten,
Hunde und Katzen im Zimmer herumfliegen. Dabei empfand er Rauschen, Sausen,
Summen in den Ohren, hörte wüstes Geschrei und hatte Mühe, zu erkennen, dass
Alles nur Täuschung sei. Der Schlaf war schlecht; wenn er erwachte, war er
meist in Schweiss gebadet.
Beim Aufstehen hatte er so heftigen Schwindel, dass er sich halten musste,
Kopfschmerzen, Erbrechen zähen Schleimes, allgemeines Zittern, so dass er den
Löffel nicht zum Mund führen konnte. Auf erneuten Schnapsgenuss wurde ihm
dann besser und verlor sich das Zittern.
Am 29. December 1874 hatte er tagüber viel Schnaps getrunken, erschien
zornig, aufgeregt, betrunken. Nachmittags heimgekehrt, verlangte er von der
Frau saure Milch. Als sie solche nicht gleich zur Hand hatte, gerieth er in
heftigen Zorn, schoss mit dem Revolver zweimal in die Wand und als die Frau
Beob. 54. Alkohol, chron. Wahn ehelicher Untreiie. Mord. 175
ihn zu begütigen versuchte, dieser in den Leib. Als die Frau zusammenlirach,
kam er etwas zu sich, erschrack, wollte sich dann aufhängen.
Seiner That erinnerte er sich in der Folge nur ganz traumhaft. Er wollte
offenbar seine Frau nur erschrecken, nicht tödten.
H. erscheint in der Untersuchungshaft als ein ethisch und intellektuell tief
geschädigter Mensch. Er macht sich keine Sorgen wegen der Zukunft, empfindet
keine Reue wegen der That. Die Miene ist moros, stumpf, die weiss belegte
Zunge zittert, die Haut ist welk, schmutzig gelblich, die Muskulatur schlaff, das
Gesicht geröthet, die Capillaren erweitert, die Augen halonirt, das linke Facialis-
gebiet ist weniger innervirt als das rechte. Die Hände und unteren Extremitäten
bieten leichten Tremor. Die Sensibilität zeigt keine Störung.
Der Puls ist rar, klein, tard, die Herztöne sind dumpf, der Herzumfang
etwas vergrössert, die Leber ragt unter dem Rippenbogen hervor. Der Appetit
ist schlecht, der Stuhl träge. Fat. klagt über eingenommenen Kopf, Schwindel,
Kopfweh, Rauschen, Sausen in den Ohren, namentlich des Morgens. Catarrh.
bronch. chronic. Schlaf schlecht, durch häufiges Aufschrecken und ängstliche
Träume gestört.
Der unfreiwillige Verzicht auf Alkoholica in der Haft und später in der
Irrenanstalt hatten einen bessernden Einfluss auf die tief geschädigten Organe,
aber Fat. blieb ethisch und intellektuell geschwächt, einer Selbstführung un-
fähig. Versuche, ihm etwas freiere Hand zu gewähren, führten jeweils zu neuen
Excessen.
Ein Beweis für die sittliche Verkommenheit des Fat. ergibt sich daraus,
dass er, als einmal seine Frau ihn besuchte und mit ihm spazieren ging, den
Coitus im Graben der sehr frequenten Landstrasse von ihr begehrte und an
dem Ort und der Gegenwart des Wärters nichts Anstössiges fand ! (Eigene
Beobachtung.)
Beob. 54. Alkohol, chron. Wahn ehelicher Untreue. Mord der
Ehefrau. Tomscheid, 36 J., Schlosser, seit 9 Jahren verheirathet, Vater von
2 Kindern, deren eines an Convulsionen starb, ist erblich zu Hirnkrankheiten
nicht veranlagt. Er war gesund bis auf T}'phus mit Fneumonie 1864. Schon
seit den Jugendjahren war T. dem Trunk ergeben. Die Ehe war schlecht, früh
äusserte er schon Wahn ehelicher Untreue auf nichtige Verdachtgründe hin und
misshandelte öfters seine unschuldige Frau. Schon 1868 war er wegen einer
Rauferei mit Gefängniss bestraft worden. Aus dem gleichen Grund zog er sich
1876 eine Gefängnissstrafe zu. In den letzten Jahren hatte er sich immer mass-
loser dem Trunk ergeben, sein Geschäft vernachlässigt, die Frau misshandelt,
zunehmende Gereiztheit und Brutalität und immer deutlicher auch die somatischen
Symptome eines Alkohol, chron. geboten. Ende November 1876 gerieth er in
einen Wortwechsel mit der Frau wegen der schon längst von ihr beabsichtigten
Ehescheidung. Er kam in Wuth, misshandelte die Frau lebensgefährlich, wurde
verhaftet und wusste von dieser offenbar in einem affektartigen psychischen
Ausnahmezustand begangenen That nicht das Mindeste. Im Gefängniss gerieth
er, angeblich aus Kummer, dass die Frau ihren Ehescheidungsprocess betrieb,
neuerdings in einen Affektzustand, in welchem er sich eine Stichwunde im 6. linken
Intercostalraum beibrachte. Auch dafür besass er mir eine höchst summarische
Erinnerung. Sein Geisteszustand erschien nun fraglich. Die Untersuchung ergab
176 Cap. IX. Das alkoholische Irresein.
intellektuelle und ethische Schwäche, extreme Gemüthsreizbarkeit, unerschütter-
lichen Wahn ehelicher Untreue, Tremor, unruhigen Schlaf, häufiges ängstliches
Aufschrecken, Kopfschmerz, chronischen Magencatarrh.
Das gerichtsärztliche Gutachten erwies die somatischen und psychischen
Symptome eines Alkohol, chron. und einen psychischen Ausnahmezustand zur
Zeit der That. T. wurde nicht verurtheilt.
Schon am 6. December 1879 hatte er sich wieder vor Gericht zu ver-
antworten, da er neuerdings im Affekt seine Frau gefährlich bedroht hatte. Er
bezeichnet als die alleinige Ursache des ehelichen Unfriedens seine Frau. Sie
sei eine Xantippe. An Sonn- und Feiertagen sei es gar nicht mit ihr auszuhalten
(er war an solchen Tagen immer schwer betrunken). Sie habe ihm nie die
eheliche Treue gehalten, schon ihrem ersten Mann die Treue gebrochen und ihn
früh in's Grab gebracht. Aus Kummer über das Betragen seiner Frau habe er
sich dem Trunk ergeben. Positive Beweise für ihre Untreue vermag er nicht
beizubringen, er müsse es aber aus ihrem (angeblich) riesigen Geldverbrauch
und ihrem ungebührlich langen Ausbleiben, wenn sie Commissionen mache,
schliessen. Sie habe ein sehr freies Benehmen gegen Männer, liebäugle mit ihnen,
wenn sie in's Haus kommen.
Seine 47jährige Frau ist eine decrepide, abgehärmte, in bestem Rufe stehende
Person. T. kam nun in die Irrenanstalt. Seine Frau Hess sich beschwatzen, ihn
nach einiger Zeit wieder nach Hause zu nehmen. Einige Monate hielt sich T.
ordentlich. Dann fing er wieder an zu trinken, die Frau zu misshandeln. Eines
Tags zertrümmerte er ihr im Zorn den Schädel und versuchte sich durch Auf-
schlitzen des Bauchs zu entleiben. Er wurde gerettet und kam nun zu dauern-
der Versorgung in die Irrenanstalt.
Sein ethisches Bewusstsein war sehr geschwächt, seine Reue eine höchst
oberflächliche. Er entschuldigte seine schreckliche That mit der vermeintlichen
ehelichen Untreue und den unablässigen Zänkereien seiner Frau. (Eigene Be-
obachtung.)
Beob. 55. Alkohol, chron. Mordversuch a m V a t e r. Am 23. März
1877 Abends 10 V2 kehrte L. ins elterliche Haus zurück. Er war nicht betrunken,
rannte die Thüre des väterlichen Schlafzimmers ein, versetzte dem Vater 3 Messer-
stiche, wandte sich dann zum Bett der Mutter, die entsetzt geflohen war und stiess
wiederholt und ganz wüthend das Messer in dasselbe. L. wurde sofort verhaftet,
bekannte seine That mit dem Motiv, dass er über den Vater erzürnt gewesen sei.
L. ist ledig und wohnte bei den Eltern. Er war in der Jugend nie krank
gewesen, hatte nie etwas Auffälliges geboten, war mit 20 J. Soldat geworden,
hatte den 1870er Krieg mitgefnacht, war wegen Trunksucht oft bestraft imd 1875
mit schlechtem Zeugniss heimgeschickt worden.
Er fauUenzte daheim, betrank sich, gerieth desshalb mit den ehrenwerthen
Eltern in Streit, als sie ihm kein Geld mehr zum Trinken geben wollten. Seit-
dem grollte er dem Vater, drohte ihm, namentlich seitdem ihm dieser einen dem
Solin gehörigen Schuldscliein fürsorglich verwahrt hatte. L. galt seit längerer
Zeit in der Gemeinde als niclit geistig gesund, hatte oft ganz verkehrte Streiche
gemacht, war Nächtelang zwecklos herumgeschweift, war sehr reizbaj- bis zu
Thätlichkeiten geworden, so dass ihn Freunde und Bekannte schliesslich mieden.
Wiederholt hatte er öffentlich seinem Vater mit dem Tod p-edroht.
Truiiklallige Sinnestäuschung. 177
L. ist mittelgross, die Stirn schmal, llieliend. Der Blick ausdruckslos.
Vegetative Störungen bestehen nicht. Er spricht wenig, ist theilnalimslos, ruhig,
zeigt keine Reue über seine That. Er ist reizbar, kurz angebunden, gemüthlich
stumpf, geistig geschwächt. Man solle ihn lieber köpfen, wenn man wolle , als
hier gefangen halten. Die Insinuation geisteskrank zu sein weist er mit Zorn
zurück. Die Schwere seiner That begreift er nicht. Der Vater habe ihn eben
gereizt, ihm Geld vorenthalten, das ihm gehörte. Es war nicht möglich, an sein
moralisches Gefühl zu appelliren. Isie fragte er nach den Eltern.
Das Gutachten betont die Gefühllosigkeit des L., fasst seine Idee, dass der
Vater ihm Geld schulde, als Wahnidee (richtiger Schwachsinn) auf und führt
mit Recht diese Störungen auf Trunksucht zurück. Das Verbrechen ist kein
pränleditirtes , es erklärt sich aus der brutalen Reizbarkeit des Trunksüchtigen.
Solche Impulse sind nicht selten bei solchen Individuen. L. ist irrsinnig, unzu-
rechnungsfähig und gemeingefährlich. L. wurde in einer Irrenanstalt internirt.
Sein Zustand änderte sich nicht. (Annal. med. psj^chol. 1879 März.)
Weitere Fälle: Liman, zweifelh. Geisteszustände Fall 32 (Fälschung),
33 (Majestätsbeleidigung). Sisteray, Ann. med. psj^chol. 1876 Januar (Bedrohung
eines Beamten und Diebstahl). Ebenda 1872 Sept. (Zechprellereien). Dauby, ebenda
1875 Jan. (Mord des Sohnes). Kramer, Friedreich's Bl. 1868, H. 3 (Mord, Hin-
richtung). Legrand du Saulle, etude med. legale sur les epil. Beöb. 38 (gefährl.
Drohungen). Casper-Liman, Handb. 6. Aufl. Fall 266 u. 267 (Diebstahl), Fall 268
(fahrlässiger Bankerott). Kelp, AUg. Zeitschr. f. Psychiatrie 35, H. 2 (Haus-
friedensbruch, räuberische Erpressung). Lagardelle, Ann. med. psych. 1877 Sept.
(Doppelmord). Delacour, ebenda 1878 Juli (Verwundung des Vaters). Gewalt-
thaten aus Eifersuchts wahn: Cohen v. Baren, Zeitschr. für Psj^chiatrie I, p. 604
(Mordversuch an der Frau). Casper-Liman, Fall 254 (Mord des vermeintl. Neben-
buhlers). Deutsche Zeitschr. für Staatsarzneikunde 1861 (Mord und Selbstmord-
versuch). Schäfer, Zeitschr. für Psych. 35, p. 629. v. Krafft, Lehrb. d. Psychiatrie
III. Beob. 130 (Mord des vermeintl. Nebenbuhlers). Liman, zweifelh. Geisteszu-
stände Fall 35 (Körperverletzung der Ehefrau).
Die Bedeutung des Alk. chron. für's Forum wird dadurch noch
erhöht, dass intercurrent nicht selten hallucinatorische Delirien und
Psychosen sich einstellen.
a) Tr unkfällige Sinnestäuschung (sensuum fallacia ebriosa).
Die Thatsache, dass der Trunkfällige sehr zu Hallucinationen
(besonders des Gesichtsinns) disponirt ist^ wurde bei der Schilderung
des Krankheitshilds des Alk. chron. hervorgehoben. In der Regel
sind diese Hailuc. flüchtig, auf ein Sinnesgebiet beschränkt und werden
als solche erkannt. Es kann unter dem Einfluss schwächender Mo-
mente, hoher Temperatur, gehäufter Alkoholexcesse geschehen, dass
solche Hailuc. gehäuft, in mehreren Sinnen auftreten, mit Angst und
Trübung des Bewusstseins einhergehen und einen Stunden bis Tage
V. Kraf ft-Eb ing, gerichtl. Psychopathologie. 2. Auflage. 12
178 Cap. IX. Das alkoholische Irresein. Beob. 56.
dauernden deliranten Zustand bilden. Aus dem schreckhaften Inhalt
der Visionen und Stimmen, heftigen reaktiven Angstzuständen und
feindlicher Verkennung der Aussenwelt ergeben sich nach Umständen
schwere Gewaltthaten.
Beob. 56. Trunkfällige Sinnestäuschung'. Tödtung der Ehefrau.
Samsa, 36 J. alt, gleich wie seine Frau nnassloser Wein- und Schnapspotator, litt
seit Jahren an schlechtem Schlaf, wüstem Kopf, Zittern, Erbrechen, Kopfschmerz,
Schwindel Morgens beim Erwachen. Er war immer brutaler, reizbarer geworden,
hatte seine Frau oft m.isshandelt, ihr sogar mit Umbringen gedroht.
Vom 1. — 8. December soll das Ehepaar circa 12 Maas Schnaps zusammen
consumirt haben und fast immer betrunken gewesen sein. Vom 8. — 16. December
hatte S. an Delirium tremens gelitten (er hatte heftige Angst, sah Processionen
A'on Menschen, Räuber, Heilige, Engel, Christus, Thiere, hörte Musik).
Vom 16. December bis 4. Januar war S. zwar frei von Hallucinationen,
aber er fühlte sich schwach, zitterig, unfähig zur Arbeit, hatte Nebel vor den
Augen, schlief schlecht, träumte schwer von Räubern, die zum Fenster einsteigen
wollten, fühlte sich schwindlig, betäubt im Kopf, war appetitlos, litt an Ohren-
sausen.
Am 4. Januar brachte er seinen Sohn zu 2 Stunden entfernten VexAvandten.^
trank dort gegen 1 Liter Wein, auf dem Heimweg nocli etwa 2 — 3 Viertelliter.
Als er aus dem Wirthshaus kam, stand ihm der Kopf im Feuer, er wusste niclit
mehr, wo er war, sah sich von einer Menge Pferde, Ochsen, Mädchen umwogt,
rannte in schrecklicher Angst davon und kam erst nach mehreren Stunden erschöpft
nach Hause. Er war etwas besinnliclier, sprach noch mit seiner Frau, trank noch
etwas Wein und ging schlafen. üSTach einiger Zeit fuhr S. über einem Geräusch
von zusammenschreienden Menschenstimmen auf, er sah das Fenster mit Räubern,
die ilire Flinten auf ihn gerichtet hatten, erfüllt, dann senkte sich ein Nebel vor
seine Augen.
In schrecklicher Angst sprang er vom Bett herunter, nahm sein geladenes
Gewehr, vor Angst mehr todt als lebendig. Nun trübte sich sein Bewusstsein
noch mehr, er weiss nur noch, dass er eine schwache Detonation hörte, dann im
Fenster 2 röthlich gelbe Engel sah und als er auf die Erscheinung zuging, seine
Frau im Blut liegend fand. Darauf riss er die Thür in die Mägdekammer auf
und rief um Hilfe, die Frau habe sich erschossen. Die Mägde hatten noch einen
Wortwechsel vernommen, dann war es still geworden. Nach einer Weile hörten
sie 8 dumpfe Schläge, dann die Rede der Frau: „Jesus, Victor, was machst Du,
bist Du wieder verrückt geworden?" Darauf krachte der Schuss. Die Frau war
durch den Kopf geschossen und lebte nur noch wenige Minuten.
S. war in der Meinung, die Frau habe sich selbst erschossen. Er weh-
klagte, lief unstet umher, machte auf die Umgebung einen pathologischen Eindruck.
Man besorgte, dass er sich ein Leid anthue. Die um V/2 Uhr früh angekommenen
Gensdarmen fanden ihn besinnlicher, etwas ängstlich. Im Verhör behauptete er,
sein Weib habe sich erschossen. Auffällig war sein unbefangenes, indifferentes
Benelimen.
S. ist von fahler Hautfarbe, die Venen des Gesichts ei'weitert, die Augen
halonirt, die Lider ödematös, das Gesicht gedunsen, Gang unsicher, Hände zitternd,
I
Delirium tremens. 179
Schlaf unriilng, von lebhaften Träumen gestört. Objektiv findet sich leichte
Milz- und Leberschwellung und Magencatarrh. S. klagt über Wüstsein, Kopfweh,
Ohrensausen, Schwindel. Er hatte oft Präcordialbangigkeit, hörte Nachts Leier-
kastenmusik, sprach viel mit sich, zuckte auch oft zusammen.
LTnter Tags war er schweigsam, in Gedanken versunken, apathisch , zeigte
weder Reue noch sonst eine Gemüthsbewegung. Schwäche des Gedächtnisses,
überhaupt geistige Schwäche bestand unverkennbar. Anfangs behauptete S.
noch, seine Frau habe sich erschossen, er hatte nur eine ganz summarische
Erinnerung an die Erlebnisse der Unglücksnacht. Ende Februar fühlte er sich
wohler, erinnerte sich nun seiner hallucinatorischen Erlebnisse, fing an, am
Selbstmord der Frau zu zweifeln und zu vermuthen, dass er sie in seiner Angst
und trunkfälligen Sinnesverwirrung getödtet habe. Allmälig kam er zur vollen
Klarheit der Situation und bot auch ausser leichter Abschwächung der Intelligenz,
monocrotem tardem Puls, leichtem Tremor der Hände, unruhigem Schlaf nichts
Pathologisches mehr. Seine, subjektiven Beschwerden beschränkten sich auf
Ohrensausen imd Gedächtnissschwäche, auch ertrug er selbst kleine Quantitäten
Wein nicht, es wurde ihm dann gleich „kurios" im Kopf. (Eigene Beobachtung.)
Weitere Fälle: Henke, Zeitschr. 8. Ergänz.-H. p. 157. Zeitschr. f. Psy-
chiatrie, VI. p. 8L Friedreich, Lehrb. d. ger. Psychol. 1835, p. 843. Erlenmeyer,
Correspondenzbl. f. Psych. 1859, 9. 10. Bonnet, Ann. med. psychol. 1867, Sept.
u. 1868, Mai (Mord des eigenen Kindes), v. Krafft, Lehrb. d. Psych. III. Beob. 137.
Cohn, Vierteljahrsschr. f. ger. Med. N. F. XXVI. H. 1 (Mord zweier Kinder).
b. Delirium tremens.
Klinische Ueber sieht: In Folge entbehrten oder auch gehäuftei^
Alkoholgenusses, durch zufällige körperliche, namentlich mit Fieber, Schmerzen,
Schlaflosigkeit verbundejie Krankheiten oder Verletzungen verfällt der geschwächte
Säufer nicht selten einem mit Schlaflosigkeit und allgemeinem Zittern einher-
gehenden deliranten Zustand, in welchem das Bewusstsein getrübt ist. Den Kern
des Deliriums bilden Hallucinationen, vorwiegend des Gesichts. Sie haben einen
wesentlich schreckhaften Inhalt und drehen sich vielfach um Thiervisionen : der
Kranke sieht sich von Massen von Thieren umgeben, die oft auf ihn einstürmen.^
nach ihm schnappen, beissen. Daneben finden sich fratzenhafte, spukartige Ge-
stalten. Diese Visionen steigern sich in der Dunkelheit, beim Verschluss der-
Augen. Im Verlauf des Deliriums können auch Stimmen schreckhaften, feind-
lichen oder obscönen Inhalts neben einfachen Akusmen vorkommen. Die hyper-
ästhetischen und paralgischen Beschwerden des Alkohol, chron. sind in diesem
Inanitionsdelir meist gesteigert und erwecken im getrübten Bewusstsein des
Kranken oft die illusorische Wahrnehmung von Schlangen, Würmern auf der-
Haut ; zufällige Verletzungen werden leicht als Thierbisse, Mordattentate verkannt..
Nicht selten ist auch Vergiftungswahn auf Grund eines Magen- und Mundcatarrhs.
Die Hallucinationen sind es wesentlich, welche den Kranken in beständige Agi-
tation versetzen, ihn sogar nicht selten in einen elementaren Verfolgungswahn
mit feindlicher Verkennung der Umgebung verfallen lassen. Die Dauer des Del.
tremens beträgt durchschnittlich 3—8 Tage, jedoch kommen auch den Krankheits-
zustand protrahirende Relapse vor. Uebergänge in chronische Geistesstörung -
werden beobachtet. Die Genesung vom Del. tremens stellt sich unter reichlichen>,
Schlaf aus einem Stadium körperlicher und psychischer Prostration ein.
180 Cap. IX. Das alkoholische Irresein. Beob. 57.
Nicht selten und aus dem Vorausgehenden begreiflich ist das
Vorkommen von Gewaltthaten, deren nächste Ursachen Hallucinationen^
Illusionen, Verfolgungsdelirien, Angstzustände sein können. In seiner
Todesangst kann der Kranke auch Selbstmordversuche machen oder
in Fluchtversuchen sein Leben sonstwie in Gefahr bringen.
Beob. 57. Delirium tremens. T ö d tung de r E lief r au. Am 4. Juli
1865 Mittags tödtete der 43jährige Fleischhaueriiieister K. seine Ehefrau durch
Durchschneiden des Halses mit einem Messer. Seit 15 Jahren dem Alkohol-
übergenuss ergeben, hatten sich bei ihm die Folgen seit geraumer Zeit in charak-
teristischen Verdauungsstörungen, Tremor und zeitweisen Sinnestäuschungen
(Hören von Stimmen, Sehen kleiner Thierchen) bemerkbar gemacht.
Seit 8 — 14 Tagen vor der Katastrophe litt K. unter den Vorboten eines
Delir. tremens (Fluxionen zum Gehirn, Präcordialangst, Schlaflosigkeit, Kopf-
schmerz, Sehen schwarzer Männer, zeitweise Besinnungslosigkeit, Scliwäche,
Zittern, Unruhe, Geschwätzigkeit). Am Morgen der That stellten sich unter
Fortdauer dieser Prodromi massenhafte schreckhafte Visionen (Todtenköpfe,
Würmer, blutige Zähne etc.) und Delirium ein. Er meinte, er müsse ein Kalb
holen, ging in die obere Etage, um Geld zu sich zu stecken. Seine Frau ging
ihm nach. Plötzlich hörte man einen Schrei und fand Frau K. mit durch-
schnittenem Hals auf dem Boden. K. kam herunter und sagte: „Mit mir ist was
vorgegangen, das unglückliche Messer lag da, ich muss fort." — „Was habe ich
getlian, mit mir ist's aus." — „Lasst mich gehen, greift mich nicht an." —
„Schwester, ich bin unglücklich, was wollen aber die vielen (herbeigeeilten) Leute
— welcher Teufel hat mich geblendet — meine gute Caroline — wer hätte ge-
dacht, dass ich die todtmachen sollte?" Er habe gar nicht gedacht, er hätte ein
Messer bei sich, habe gemeint, er habe nur den Wetzstahl, und habe seine Frau
kitzeln wollen, als er aber Blut gesehen, habe er gedacht, „du bist nun einmal
ein Mörder." Diese Remission nach der That hielt nur kurze Zeit an, er faselte
dann wieder von anderen Sachen, z. B.: „Ei, das ist ein fettes Kalb."
Im darauffolgenden Verhör behauptet er, er sei mit seiner Frau in Streit
gerathen, habe ihr gedroht, sie zu erstechen. Da sei ihm das Messer aus der
Hand und auf die Frau gefallen.
Später' gibt er zu, ihr damit in die I^ehle geschnitten zu haben.
Er sei schwermüthig, habe seit 4 Tagen nicht geschlafen; wenn er sich
ärgere, steige ihm das Blut in den Kopf, und dann wisse er niclit, was er thue.
Im Gefängniss Schlaflosigkeit und Delirium mit Remissionen bis zum 8. Juli.
Darauf kritischer Schlaf mit profusen Schweissen, aus dem er frei von Delir
erwachte.
Im Verhör vom 15. Juli ergab es sich, dass Pat. von allem in der Zeit
vom 3. — 9. Juli Vorgefallenen nichts wusste, namentlich nichts von seinen Aussagen
in den Verhören, Er wundert sich, wie man ihn in seinem schlimmen Zustand
habe verhören können. Man hätte ja sehen müssen, dass er nicht bei sich ge-
wesen sei. Seine That kennt er nur aus den Mittheilungen der Umgebung.
Das Gutachten erweist den Alkoholismus clironicus, das Delir. tremens zur
Zeit der That. Die anscheinende Lucidität des Kranken, in welcher er die ihn
gravirenden Aussagen machte, hing mit Remissionen des Delir zusammen, es
Delirium tremens- der Morphiumsucht. 181
waren keine Intermissionen, denn die Krankheit, namentlich die Delirien, lassen
sich in diesen Zuständen als deutlich fortbestehend nachweisen, zudem fehlt die
Erinnerung für diese Zeitperiode!
Die Remissionen erklären sich aus den starken Eindrücken der Aussenwelt
(Anblick der im Blut daliegenden Frau, Versetzung in's Gefängniss, Confrontation
mit der Leiche etc.)- Die Krankheit entschied sich in empirisch wahrer Weise
erst durch einen kritischen Schlaf. K. hat seine Frau unter dem alleinigen
Einlluss des Säuferwahnsinns getödtet. Die Tödtung ist ohne Bewiisstsein verübt
worden, die Fähigkeit der Selbstbestimmung war dabei nicht vorhanden. K. wurde
nicht verurtheilt. Das Unglück, das ihn betroffen, machte ihn zu einem nüchternen
Menschen. (Leopold, Vierteljahrsschr. f. ger. Med. N. F. XXIIL Oct. 1875.)
Weitere Fälle: de Ranse, Gaz. de Paris 1868. 4. (Mord). Buchner,
Lehrb. d. ger. Med. 2. Aufl. p. 168 (Brandstiftung). Liman, zweifelh. Geistes-
zustände, Fall 34 (Körperverletzung). Ebers, die Zurechnung, Fall 17.
Im Anschluss an das Inanitionsdelir der Trunksucht, das nicht selten durch
Entziehimg des gewohnten Genuss- und Reizmittels zum Ausbruch gelangt, möge
der Thatsache gedacht werden, dass auch bei der sog. Morphiumsucht und zwar
regelmässig nach der Entziehung des gewohnten und zum Bedürfniss für den
Organismus gewordenen Alkaloids psychische Störungen (Depression, Angst etc.)
auftreten, die sich bis zum Delirium steigern können. Man hat passend diesen
Zustand Delirium tremens der Morphiumsucht genannt. Nach Levinstein bricht
dieses Delir 6 — 12 Stunden nach Entziehung des Morphium aus. Die Kranken
werden unruhig, unstet, bis zum Toben. Daran reiht sich ein hallucinatorisches
Delir (Visionen von Vögeln, Stimmenhören, Gefühl, im Wasser zu sitzen etc.),
oft auch hypochondrische Ideen, todt zu sein. Zunehmender Tremor, Nystagmus,
Muskelzuckungen, andauernde Schlaflosigkeit und Aufgeregtheit sind regelmässige
weitere Symptome dieses bis 48 Std. dauernden und durch neuerliche Morphium-
injektion sofort schwindenden Zustands.
Die forensische Beurtheilung eines solchen Delirs wird die gleiche
wie die des Delir. tremens alkohol. sein müssen. Aber auch da^ wo
es nicht zu ausgesprochenem Delir kommt, ist zu berücksichtigen,
dass der des habituellen Genusses beraubte Morphiophage sich in
einem psychischen Ausnahm szustand befindet und kein Wille, keine
sittlichen Erwägungen über die Entbehrung des für die Innervation
unentbehrlich gewordenen Genussmittels hinaushelfen. Die Erlangung
desselben ist das einzige Streben solcher Individuen und wir haben
gebildete Kranke gesehen, die in ihrem psychischen Ausnahmszustand
zu dem Schlimmsten fähig waren, um sich in den Besitz von Mor-
phium zu setzen.
Die Zurechnungsfrage soll hier nicht gestellt, aber die That-
sache muss betont werden, dass es solche psychische Ausnahmszu-
stände auf Grund von Entbehrung des gewohnten Morphium gibt,
die solche Individuen in einem wahren Nothstand erscheinen lassen.
182 Cap. IX. Das alkoholische Irresein. Alkoholpsychosen.
Die criminelle Beurtheilung eines Diebstahls^ eines Todtschlags, wenn
sie das Mittel zum Zweck wären, müsste mit dieser Thatsache rech-
nen und eingedenk sein, dass es sich hier nicht um Leidenschaft,
sondern um organisch bedingten krankhaften Zwang handelt, dem zu
widerstehen eine sittlich gebrochene Widerstandskraft nicht auszu-
reichen vermöchte.
Literatur. Levinstein, die Morphiumsucht, 2. Aufl. 1880.
Beob. 58. 0 p i o p h a g i e. Diebstahl, um das unentbehrliche
Opium sich zu verschaffen. D., Büglerin, 31 J., erblich nicht veranlagt,
hatte mit 7 J. vorübergehend nervöse Zufälle. 1866 begann sie einen kleinen
Leinwandliandel. Sie ergab sich Ausschweifungen, prosperirte nicht mit ihrem
Geschäft, fing gelegentlich eines Cholerineanfalls an, Laudanum zu trinken, brachte
es 1871 auf 45 grammes täglich, konnte das Gift nicht mehr missen, verkaufte,
was sie nur hatte, um Laudanum zu bekommen und gab dafür jährlich bis
1200 Frcs. aus. 1872 bot sie das Bild einer chronischen Opiumvergiftung (äusserste
Muskelschwäche, Abmagerung, Marasmus, Rückgang der intellektuellen und ethi-
schen Funktionen) und unwiderstehliches Bedürfniss nach Laudanum, das sie liter-
weise kaufte. Eine ärztliche Behandlung brachte Besserung. Sie konnte wieder im
Magazin arbeiten. Seit März 1872 gerieth sie wieder in ihre Leidenschaft, Opium
zu essen. Am 1. Mai stahl sie Spitzen, verkaufte sie um 140 Frcs. und kaufte Opium.
Sie kam in Untersuchung, bekam kein Opium mehr. Im Juni fanden sich keine
Vergiftungserscheinungen mehr vor, aber der moralische Sinn fehlte A^öllig. Sie
fand es sonderbar, dass man von ihrem Diebstahl so \ie\ Aufhebens mache.
Sie hatte nicht genug Geld, um das unentbehrliche Opium zu kaufen, desshalb
hatte sie gestohlen.
Das Gutachten betonte das unwiderstehliche Bedürfniss des Genussmittels,
den Verlust des moralischen Sinns unter dem Einfluss der chronischen Opium-
vergiftung und empfahl die Annahme mildernder Umstände. Keine Verurtheilung.
(Lunier, Annal. med. psychol. September, p. 236.)
c-. A 1 k 0 h 0 1 p s 3^ c h 0 s e n.
Auf dem Boden des Alkoh. chron. können' jederzeit geschlossene
psychische Krankheitsbilder auftreten, die sich als Melancholie, Manie,
paralytische Geistesstörung und Verfolgungswahnsinu charakterisiren
und, neben den klinischen Erscheinungen des Grundzustands, in Sym-
ptomengruppirung und Verlauf Eigenthümlichkeiteu darbieten. Die
Melancholie auf Grundlage eines Alk. chron. ist eine acute Präcor-
dialmelancholie mit erheblicher Bewusstseinsstörung, hochgradiger
Angst und massenhaften Sinnestäuschungen (schreckhafte Visionen und
anklagende Stimmen, vielfach sexuell beschuldigenden Inhalts). Als
Reaktion auf Hallucinationen und Angst sind schwere Gewaltakte
gegen die Umgebung und das eigene Leben möglich.
Alkoholiolpsychosen. Verfolgungswahn. X83
Die maniakalischen Zustände sind schwere Tobsüchten^ in denen
Brandstiftung, Eigenthumsbeschädigung und Lebensbedrohung leicht
vorkommt. Die Fälle von Verfolgungswahnsinn der Trinker sind
ausgezeichnet durch Gesichtshallucinationen vorwiegend schreckhaften
Inhalts neben indifferenten phantastischen Gestalten und Thiervisionen,
ferner durch Gehörshallucinationen obscönen, sexuell anklagenden In-
halts und äusserst häufig sich findenden Wahn geschlechtlicher Un-
treue. Daneben besteht nicht selten Vergiftungs- und universeller
Verfolgungswahn. Heftige reaktive Angstzustände kommen hier be-
sonders häufig vor. Im Verlauf werden nicht selten Grössendelirien,
namentlich religiösen Inhalts (Christuswahn) beobachtet. Der Aus-
bruch der Krankheit ist gegenüber den anderen Formen des Ver-
folgungswahnsinns ein acuter, der Verlauf ein subacuter oder chroni-
scher. Gewaltthaten gegenüber der feindlich appercipirten Aussen-
welt auf Grund von Hallucinationen, Illusionen, Angstanfällen sind hier
häufig. Nicht selten sind auch blutige Handlungen der Rache für
vermeintliche eheliche Untreue.
Beob. 59. Alkohol, chroii. Ermordung einer Frau und eines
Kindes im Verfolgungs Wahnsinn. Am 6. Juni Morgens 9 Uhr erschlug
der 42jährige verheirathete Bauer B. die mit ihrem kleinen Kind allein zu Haiise
gebliebene Frau des Hausherrn, indem er sie mit einer Axt zu Boden hieb und
mit steigender Wuth seine Hiebe fortsetzte, nachdem beide schon todt waren.
Er sagte nach begangener That: „Da liegt der Strolch, sie ist mir schon lange
nachgeschlichen, als Katze, als Hund, als Schwein — nun hab' ich aber den Satan
todtgeschlagen — sie ist mir nicht als Mensch vorgekommen, sondern wie eine
schwarze Katze." Er hatte in guten Beziehungen mit der Ermordeten gelebt
und das erschlagene Kind sehr gern gehabt. Nach der That war B. unbefangen.
Vor Gericht erklärte er, ein Gott wohlgefälliges Wei-k gethan, nämlich den Satan
todtgeschlagen zu haben, der ihn schon lange verfolgt habe. B. stammt aus einer
Familie, in der Irresein wiederholt vorgekommen ist. Seine Erziehung ward ver-
nachlässigt; früh zeigte er Hang zu Mysticismus und Aberglauben. Vom 19. bis
•22. Jahr litt er an epilepsieartigen Zufällen. Kurze Zeit, nachdem er eine zweite,
aber unglückliche Ehe eingegangen hatte, trafen ihn Schicksalsschläge, auch
ergab er sich dem Branntwein. Von da an änderte sich sein Wesen. Er wurde
mürrisch, verschlossen, arbeitsscheu, reizbar, streitsüchtig. Etwa ein Jahr vor
seiner blutigen That wurde er aufgeregt, irrte umher, wähnte sich von Frei-
denkern, bösen Geistern, dem Satan in Gestalt einer Katze, eines Hunds oder
Schweins verfolgt. Dieser Zustand steigerte sich immer mehr bis zum 1. Juni.
Er glaubte sich allenthalben vom Satan bedroht, der mit kohlschwarzem Gesicht
auf vier Füssen an ihn heranschleiche. Er lief in heftiger Aufregung mit einer
Axt in den Bergen herum und bedrohte mit wildrollenden Augen die ihm
Nahenden.
Am 5. Juni kehrte er Abends nach Hause zurück, brachte die Nacht mit
lautem Beten zu, rief Gott um Hilfe an gegen den Satan, hielt Schatten an der
134 Cap. IX. Das alkoholisclie Irresein. Beob. 60.
Wand für den Bösen und besprengte sie mit Weihwasser. Am Morgen des 6. sah
er überall den Satan auf sich zukommen, selbst in Gestalt seiner Angehörigen,
er wehrte sich wie ein Verzweifelter, schrie beständig : „Weiche von mir, Satan",
so dass die Hausgenossen entsetzt flohen bis auf die Hausfrau mit ihrem Kind,
die ein Opfer seiner Sinnesverwirrung wurden. B. erzählt, wie er am Abend
vorher ganz deutlich bemerkte, dass sich der Satan in dem erschlagenen Kind
aufgehalten habe. Er habe dies daran erkannt, dass das vorher roth und weisse
Gesicht des Kindes plötzlich ganz schwarz geworden sei. Die Nacht über
brachte er in heftiger Angst und dämonischen Visionen zu. Am andern Morgen
habe er Frau und Kind auf dem Hausflur getroffen, da sei er jener nachgeeilt
und habe gerufen: „Du bist der Satan." „Ich erwischte sie dann," fuhr B. fort,
„und schlug sie mit der Hacke zu Boden. Ich wusste freilich, dass es die Frau
des Hausherrn mit ihrem Kind war, aber ich wusste auch, dass beide der Satan
waren, denn Kind und Frau waren Abends vorher ganz schwarz geworden. Ich
hätte den Satan nicht todtschlagen können, ohne Frau und Kind zu tödten, da
er ja in ihnen steckte. Meine That reut mich nicht, denn ich habe Diener des
Satans erschlagen."
Im Gefängniss nächtliche Visionen. Seine That sieht er als ein Gott
wohlgefälliges Werk an. Seine Rede ist wohlgeordnet, mit Ausnahme der wahn-
sinnigen Prämisse, logisch und richtig, er beweist scharf und consequent aus der
Bibel. Nur wenn man seinen Wahn berührt, wird er aufgeregt. Freisprechung.
Im Irrenhaus anfangs noch Sonnenvisionen, die er als Zeichen göttlicher Gnade
auffasst, später üebergang in Blödsinn. Pat. erlag nach Jahren einer Pneumonie.
Die Section ergab Pachymeningitis int. haemorrh. und chronische Trübung-
und Verdickung der Pia mater. (Eigene Beobachtung.)
Beob. 60. Alkohol. Verfolgungswahn. Mordversuch. Am
19. Oktober 1877 Abends 7^2 Uhr wurde auf den Geistlichen J. von L., als ei'
nach seiner Wohnung ging, von einem Manne ge^gchossen, der dann entfloh.
Der Verdacht des J. lenkte sich sofort auf einen gewissen F., der ihn wiederholt
mit Drohbriefen wegen angeblichen Ehebruchs mit seiner Frau verfolgt hatte.
F. wurde wenige Stunden später verhaftet und gestand sein Verbrechen mit der
Motivirung, dass J. unerlaubte Beziehungen mit seiner Frau gehabt, ihn habe
vergiften und ihm nicht eine verlangte Entschädigung von 10,000 Frcs. habe
zahlen wollen.
F. ist 88 J. alt. Die Eltern waren gesund, ein Bruder starb irrsinnig.
F. war ein tüchtiger Arbeiter, aber dem Trunk ergeben. Als er sich vor 5 Jahren
zum zweiten Mal verheirathete, glaubte der Geistliche desshalb der jetzigen Frau
des F. von der Ehe mit ihm abrathen zu müssen. Einige Jahre lebte F. mit
seiner Frau in gutem Einvernehmen. Auf Grund ganz harmloser Vorkommnisse
fasste F. Verdacht gegen seine Frau. Er verlegte sich aufs Horchen, bekam aus
missverstandenen Gesprächen seiner Frau mit ihrer Mutter Bestätigung für seinen
Verdacht. Von Ostei-n 1875 an fühlte F. sich leidend, litt an Verschleimung,
Kolikschmerzen (chron. Magendarmcatarrh durch Alkoholexcesse). Nun schmeckte
er Benzin in der Chocolade, entdeckte Mücken und Spinnen in der Suppe. Aus
einer harmlosen Rede der Frau entnahm er endlich, dass der vermeintliche Ehe-
brecher der Pfarrer sei. Nun kommen Gehörhallucinationen bestätigenden Inhalts.
Er hört auch sagen, er sei eifersüchtig. Im Mai schleicht er sich eines Abend&
ans Fenster der Sakristei und sieht seine Frau bei dem Pfarrer auf einem Teppich
Alkohol. Verfolgungswahn. Beob. (31. 135
liegen. Später sieht er, wie die Schwiegermutter seiner Frau Gift zusteckt und
hört sie sagen: „Thu das in seine Suppe, dann ist Alles gut. Er wird. Leibweh
bekommen, einschlafen und nicht mehr aufwachen. Der Herr Pfarrer hat gesagt,
dass er dich nach einem Jahre wieder verheirathen Avird." Am folgenden Tag
hört F. die Frauen sich berathen, wieviel Gift er im Essen bekommen solle.
Täglich findet er nun im Essen Arsenik. Er hat heftige Leibschmerzen, erbricht
häufig, die Chocolade ist auffällig gezuckert, überall findet er Aveisses Pulver
verstreut. Als er einmal etwas von seiner Suppe auf's Feuer giesst, entsteht ein
Gestank von faulen Eiern. Er isst nun auswärts, bringt nur die Nächte daheim
zu. Da hört er die Frauen sich berathen, wie sie ihn Nachts erdolchen wollen.
Nun verlässt er dauernd seine Frau. SjDäter merkt er, dass sie sich Jedem hin-
gibt. Er verlangt vom Pfarrer als der Ursache seines LTnglücks 10,000 frcs.
Schadenersatz, droht ihm wiederholt, aber erfolglos. Er fühlt, dass er nur die
Wahl zwischen Selbstmord und einem Verbrechen hat. In seinem Hass gegen
den Pfarrer wählt er das letztere, obwohl er weiss, dass er in's Gefängniss
kommt.
F. hatte nie geistige Getränke gut ertragen. Seit dem Tode der ersten
Frau war er Gewohnheitstrinker geworden. Seit Jahren fand man ihn sonderbar,
geistig geschwächt. Die Beobachtung ergab Zeichen von Schwachsinn und Ge-
dächtnissschwäche. Das Gutachten erweist das Bestehen eines Verfolgungswahns
(auf alkoholischer Grundlage) und die Gemeingefährlichkeit des Kranken. Keine
Verurtheilung. Abgabe in eine Irrenanstalt. (Broc, Ann. med. psychol. 1880, Mai.)
Beob. 61. Alkohol. Verfolgungswahn. Mord in hallucin. ängst-
licher Erregung. Ein gewisser P. ist angeklagt, in der Nacht vom 10. Mai 1866
ein Mädchen in einem Bordell zu Colmar ermordet und ein anderes schwer ver-
wundet zu haben.
P., 35 J. alt, war Taglöhner, dann Soldat, ist erblich zu Geistesstörung dis-
ponirt, abergläubisch, früh dem Trunk ergeben, sowie Ausschweifungen. Im Rausch
zeigte er immer grosse Zornmüthigkeit, hatte bereits 1859, als man ihm in einem
Bordell keinen Wein geben wollte, seinen Säbel gezogen und war dann mit der
Waffe in der Hand wie rasend auf der Strasse umhergerannt. Die folgenden Jahre
brachte er in Kriegszügen in Afrika zu. Sittlich und intellektuell verkommen
kehrte er im April 1866 nach Frankreich zurück. Er hatte 1300 frcs. bei sich.
Er begann von da an zu halluciniren, hörte den Pfarrer und seine Hauswirthin
sich über sein schlechtes Leben unterhalten und von ihm Geld zu Seelenmessen
begehren. Später hörte er eine Frau, eine Epileptische, die er für eine Zauberin
hielt. Nachts kamen eine Menge drohender Gestalten an sein Bett,
die mit Ermordung drohten, Geld begehrten. Er merkt, dass man ihn vergiften
will, schmeckte Gift im Essen. Sein Verfolgungswahn kehrt sich gegen seine
Hauswirthin. Er wird ganz die Beute von Hallucinationen und Zauberspuk,
gegen den er bei einem Arzte Hilfe sucht. Er merkt, dass auch die Medicin
nicht helfen kann, entflieht nach Colmar, aber auch dort verfolgt ihn der böse
Zauber. Ein allgemeines hallucinatorisches Delir befällt ihn, er geräth in ein
Bordell. Nachts wollen ihn 2 Freudenmädchen bestehlen. Er geräth in unbe-
schreibliche Wuth, zieht sein Messer, bringt 80 Messerstiche bei, entrinnt auf die
Strasse ohne Bewusstsein, dass er die Mädchen erstochen hat. Er weiss nur
noch, dass sie plötzlich eine ganz veränderte Gestalt angenommen haben.
186 Cap. IX. Das epileptische Irresein.
Confrontirt mit seinen Opfern erkennt er sie wieder. Im Gefängniss Fort-
dauer der Hallucinationen. Verbringung in's Irrenhaus. P. starb Anfang 1872
in diesem. Der Wahn der Vei'folgung und Bezauberung bestand bis zu seinem
Tod fort. (Dagonet, Ann. med. psychol. Mai 1866.)
Weitere Fälle: Palmerini, Rivista sperimentale 1878, p. 710 (Mord).
Vierteljahrsschr. f. ger. Med. XXIX. H. 2 (Diebstähle), v. Kraflft, Vierteljahrsschr.
f. ger. Med. 1869, Juli (Ermordung der Ehefrau). Schäfer, Zeitschr. f. Psych. 35,
p. 219 (Misshandlung der Frau), p. 222 (Tödtung des Schwiegervaters). Sisteraj^,
Ann. med. psychol. 1876, Jan. (Diebstahl, Bedrohung eines Beamten). Morselli u.
Angelucci, Rivista sper. 1880, p. 101 (Mord der Ehefrau aus Wahn ehel. Untreue
als Theilerscheinung von Verfolgungswahn). Grazianetti ebenda 1880, p. 161 (ver-
suchter Gattenmord. Verfolgungswahn. Wahn ehel. Untreue bei einem Säufer).
6. Das epileptische Irresein.
Literatur. Delasiauve, die Epil., deutsch v. Theile 1855. Russel-Reynolds , d.
Epil., deusch v. Beigel 1865. Falret, de l'etat mental des epilept., Paris 1861.
Griesinger, Archiv f. Psychiatrie, I. Annal. med. psychol. 1873, Januar, März,
Mai. Sander , Berlin, klin. Wochenschrift, 1873, Nr. 42. Echeverria, Americ.
Journ. of insanity 1873 April. Legrand du Saulle, etude med. legale sur les
epil. Paris 1877.
Eine hervorragende Bedeutung für die forensische Praxis ge-
winnt die Epilepsie theils dadurch, dass sie häufig ihren Ausgang
in schwere psychische Degenerationszustände nimmt, theils desshalb,
weil die verschiedenartigsten Symptomencomplexe psychischer Störung
in den Verlauf der epileptischen Neurose complicirend und stellver-
tretend eintreten können.
Die Wichtigkeit einer Beachtung des Stands der psychischen
Funktionen bei Epileptischen hat schon Zacchias hervorgehoben und
seit ihm haben unzählige Forscher, theils vom forensischen, theils
vom klinischen Standpunkt aus, die psychischen Störungen, die sich
bei Epilepsie finden können, zum Gegenstand ihres Studiums gemacht.
So mannigfach und schwer übersehbar wie die klinischen Bilder,
unter welchen sich die Neurose abspielt, sind auch ihre psychischen
Complikationen, Transformationen und Aequivalente. Wie es schwer
erscheint, gewisse Formen des epileptischen Anfalls von der einfachen
Ohnmacht abzugränzen, so ist es misslich, die epileptische Natur
gewisser psychischer Veränderungen von ähnlichen nicht psychischen
Symptomencomplesen zu unterscheiden. Unsere gegenwärtige Er-
kenntniss von den mannigfachen Variationen und Erscheinungsweisen
der epileptischen Neuro-psychose ist eine unbefriedigende, und manches
psychische Krankheitsbild erscheint uns unverständlich, weil seine
neurotische Begründung klinisch noch nicht klar zu Tage liegt.
üebersicht der psj'chischen Störungen Epileptischer. 187
Es lassen sich bei der Betrachtung der psychischen Verände-
rungen, welche Epileptiker bieten können, wesentlich 3 Gruppen von
Erscheinungen unterscheiden:
1) Die allgemeine und dauernde Veränderung der Persönlichkeit
(intellektuell und charakterologisch), zu welcher die Epilepsie
führen kann. Sie bildet den Rahmen, die Basis des ganzen
Krankheitsbilds.
2) Elementare psychische und sensorielle Störungen, die vor und
nach epileptischen Anfällen, aber auch in der intervallären Zeit
sich vorfinden und im Allgemeinen einen flüchtigen Charakter
haben.
3) Transitorische Symptomencomplexe psychischer Störung, die im
Anschluss an convulsive Anfälle, oder auch stellvertretend für
solche da und dort im Krankheitsverlauf auftreten.
Der Inbegriff der ersteren Gruppe von Erscheinungen lässt sich
als psychische Degeneration der Epileptiker bezeichnen, die acuten
psychopathischen Anfälle in diesem chronischen degenerativen Verlauf
wurden früher als „Mania epileptica" zusammengefasst, obwohl diese
Zustände gar nichts mit der Manie zu thun haben und diese Mania
epileptica nur als ein Sammelname für klinisch sehr differente acute
Anfälle psychischer Störung betrachtet werden kann.
Den Inbegriff aller bei Epilepsie vorkommenden chronischen und
acuten, elementaren und complicirten psychischen Störungen bezeichnen
wir als epileptisches Irresein.
Ueber die Häufigkeit desselben gibt uns die Statistik Auskunft.
Rüssel Reynolds, der neueste und gründlichste Monograph der Epilepsie
fand nur 38% seiner Kranken gänzlich frei von Seelenstörung, die
übrigen zeigten psychische Abnormitäten.
Inwieweit diese Minorität wirklich als dauernd und gänzlich
psychisch intakt betrachtet werden darf, muss dahingestellt bleiben.
Nur eine unermüdliche Beobachtung könnte diese Frage entscheiden.
Die bekannten historischen Beispiele von geistig intakten Epileptikern
(Cäsar, Mohamed, Napoleon) sind nicht stichhaltig, ihre Biographie
theils unvollständig, theils Manches enthaltend was darauf deutet,
dass diese Männer nicht bloss convulsive Erscheinungen des Leidens
hatten. Mit Recht macht Sander darauf aufmerksam (Berhn. klin.
Wochenschr. 1873, Nr. 42), dass in der Praxis und im geselligen
Verkehr Epileptiker vorkommen, bei denen die Intelligenz fast ganz
oder ganz intakt erscheinen, den geschäftlichen und geselligen An-
sprüchen vollständig genügt, ja sogar eine gewisse Beliebtheit er-
Xgg Cap. IX. Das epileptische Irresein.
langt werden kann, aber bei näherem Eingehen die inneren Leiden
der Familie, die selbstquälerischen hypochondrischen Vorstellungen
des Kranken selbst, die grundlos wechselnde Stimmung, die Reiz-
barkeit, die Unfähigkeit sich in gegebene Verhältnisse loyal zu schicken^
die Hartnäckigkeit im Festhalten eigener Ideen und Absichten etc.
kurz psychische Charaktereigenschaften , die jedenfalls in innigem
Zusammenhang mit der Neurose stehen, zu Tage treten.
Unzweifelhaft sind es, wie schon Esquirol, Morel und Foville
gefunden haben, gerade die leichtern, in blosser Vertigo mit fehlen-
den oder nur partiellen Convulsionen bestehenden Anfälle (petit mal),^
die der Geistesintegrität mehr Gefahr bringen als die gewöhnlichen
convulsiven.
a) Die psychische Degeneration der Epileptiker und ihre
elementaren psychischen Störungen.
Klinische Uebersicht: Die prägnantesten Zeichen der psychischen
Degeneration sind:
a) Eine fortschreitende Abnahme der intellektuellen Leistungsfähigkeit, die
in leichteren Fällen als blosse Vergesslichkeit, erschwerte Urtheils- und Begriffs-
bildung, lückenhafte Apperception der Aussenwelt sich kund gibt, aber auch durch
alle Stufen des Schwachsinns bis zu völligem Blödsinn sich erstrecken kann.
Zuweilen betrifft diese psychische Degeneration zunächst und vorzugsweise
die ethische Seite des Individuums, seinen Charakter, bei wenig gestörter Intel-
ligenz. Es kommt zu Zuständen wahrer moral insanity, zu Erlöschen der ethi-
schen und ästhetischen Gefühle, zu Brutalität, Grausamkeit, unsittlicher verbreche-
rischer Lebensführung. Zuweilen treten die unsittlichen verbrecherischen Antriebe
sogar periodisch auf mit ganz impulsivem Charakter.
b) Eine ungewöhnlich grosse und sich immer mehr steigernde Gemüthsreiz-
barkeit. Sie vermittelt das Zustandekommen heftiger und überwältigender Affekte.
c) Ein grundloser Stimmungswechsel, ein Alterniren von psychischer De-
pression und Exaltation, wobei jedoch die Zeiten der ersteren weitaus über-
wiegend und als üble Laune, Verdriesslichkeit oder auch als auffallende Gleich-
gültigkeit, Kälte gegen die Umgebung, Misstrauen gegen diese zum Ausdruck
kommen. Neben dieser Morosität findet sich nicht selten ein Zug von Bigotterie
und muckerischer Demuth, die in eigenartiger Verquickung mit der ersteren
Charakternüance auftritt. In einer PLeihe von Fällen gehen mit dieser psychischen
Entartung auch Zeichen eines körperlichen Verfalls einher.
Die Gesichtszüge bekommen einen eigenthümlich stumpfen, blöden Aus-
druck, das subcutane Fettgewebe hypertrophirt und macht die Züge grob, sinnlich,
die Lippen wulstig. Es kann zu Muskellähmungen, die in der Regel einen hemi-
plegischen Charakter haben und gerne mit Contrakturen sich compliciren, ferner
zu Facialislähmungen, Glossoplegie und Aphasie kommen.
Daneben kommen als weitere somatische Symptome der Neurose Kopfweh,
Alkoholintolei'anz, zeitweise Muskelspannungen und Muskelzuckungen, Tremor,
Psychische Entartung und elementare psychische Störungen. 189
Nystagmus, Facialisparesen, auffälliger Wechsel der Gesichtsfarbe, plötzliche starke
Schweisse etc. zur Beobachtung.
Die elementaren psychischen und sensoriellen Störungen treten als Vor-
läufer oder den convulsiven Anfall abschliessende Erscheinungen auf, oder finden
sich in der intervallären Zeit.
a) Die dem Anfall vorausgehenden haben vielfach die Bedeutung einer
Aura und wiederholen sich dann in ganz tj'^pischer Weise vor jedem folgenden.
Dahin gehören schreckhafte Hallucinationen des Gesichts und Gehörs, subjektive
Sinnesempfindungen wie Brausen in den Ohren, Photopsien und Chromopsien
(rother Flammenschein), Präcordialbangigkeit, rauschartige Verwirrung und Um-
neblung des Bewusstseins, tiefe geistige Verstimmung bis zu melancholischer
Depression, extreme Steigerung der habituellen Gemüthsreizbarkeit und Gedächt-
nissschwäche.
b) Als psychische Störungen im unmittelbaren Anschluss an einen con-
vulsiven Anfall finden sich ps^^chische Prostration mit grosser Verworrenheit,
Unfähigkeit zu denken, tiefer Störung der Apperception, stuporartige Zu-
stände, die von einer halben Stunde bis zu Tagen dauern können. Dabei kann
grosse gemüthliche Depression mit excessiver Gemüthsreizbarkeit und Taedium
vitae bestehen. Nicht selten sind Kopfweh, schreckhafte Sinnestäuschungen, die
wohl die hier nicht seltenen Antriebe zu Mord und Selbstmord erklären.
Im Anschluss an einen epileptischen Anfall können auch kleptomanische
Antriebe vorkommen.
c) Als intervalläre elementare Störungen lassen sich zunächst Stunden- bis
Tageweise bestehende Zustände von psj^chischer Depression , übler Laune , Ver-
driesslichkeit und Zornmüthigkeit bezeichnen. Damit können sich Zwangsvor-
stellungen peinlichen Inhalts, schreckhafte Hallucinationen, Präcordialangst und
ganz abruptes transitorisches Verfolgungsdelirium auf Grund feindlicher Apper-
ception der Umgebung verbinden, aber auch als ganz isolirte Phänomene ab und
zu mitten in scheinbarer psychischer Gesundheit auftreten. Gefährliche Angriffe
auf die Umgebung sind die nicht seltene Folge solcher plötzlicher feindlicher
Apperceptionen, Präcordialangstgefühle und Zwangsvorstellungen.
Die Wichtigkeit der Berücksiclitigung der epileptischen Neurose
vor Gericht ergibt sich ohne Weiteres aus den theils elementaren
Störungen, theils tiefen und dauernden Veränderungen der geistigen
Persönlichkeit.
Von grösster Bedeutung ist zunächst der Nachweis der Epilepsie
als Nervenkrankheit. Nur dadurch wird die Beurtheilung ethischer
und intellektueller Ausfallserscheinungen und elementarer Störungen
eine sichere weil klinisch begründete.
Die Diagnose der Epilepsie beruht in erster Linie auf anfallsweise auf-
tretenden neurotischeii Symptomen (vasomotorische, motorische, psjrchische), aber
die Intensität, Extensität und Combination der Symptome zu einem Symptomen-
complex ist eine höchst verschiedenartige. Als Stellvertreter des klassischen
epilept. Insults, wie ihn schon Hippokrates gekannt und beschrieben hat, erkannte
die heutige Wissenschaft momentanen Verlust oder auch blosse Trübung des Be-
190 Cap. IX. Das epileptische Irresein. Diagnose.
wusstseins mit Erblassen des Gesichts (Absence) oder zugleich mit umschriebenen
Miiskelkrämpfen (Vertigo) oder mit automatischen traumhaft impulsiven Hand-
lungen an. Ja selbst eigenthümliche Schwindel- und Schläfanfälle sowie Schweiss-
paroxysmen in Verbindung mit motorischen, vasomotorischen Erscheinungen (vgl.
d. Verf. Lehrb. d. Psychiatrie IL p. 99) werden als Aequivalente eines klassischen
epileptischen Anfalls immer glaubhafter. Bedenkt man dazu die Schwierigkeit
nächtliche Anfälle A'on Epilepsie, zumal wenn sie bloss vertiginöse sind, nachzu-
weisen, ferner die thatsächliche Möglichkeit, dass paroxystische Symptome der
Neurose Monate bis Jahre fehlen können, so begreift sich, wie misslich die Ent-
scheidung ist, ob Jemand epileptisch sei oder nicht. Und dennoch kann von
dieser in foro viel abhängen.
Die ärztliche Expertise wird
1. darnach zu forschen haben, ob die fragliche Epilepsie ätio-
logisch begründet ist (hereditäre Belastung, Missbildungen des
Schädels, Kopfverletzungen, Onanie) und welche ihre veranlassenden
Ursachen gewesen sind (Schrecken etc.)?
2. Es muss der Nachweis, dass epileptische oder epilepsieähnliche
Insulte irgend einmal früher vorhanden waren, erbracht werden. Je
mehr solche irgendwie geartete Insulte sich dem Bild der klassischen
oder vertiginösen E. nähern, Trübung des Bewusstseins, vasomotorische
(Gefässkrampf) und motorische krampfhafte Erscheinungen vorhanden
waren, Aurasymptome sie einleiteten, postepileptische ihnen folgten,
desto mehr gewinnt der Verdacht auf E. Begründung.
Ganz besonders wichtig sind noch der anamnestische Nachweis
von Convulsionen in der Kindheit, Anfällen von nächtlichem Auf-
schrecken und Somnambulismus, da sie erfahrungsgemäss häufige Vor-
läufer der epileptischen Neurose sind.
Es muss ferner die Möglichkeit nächtlicher Anfälle von E. er-
wogen werden.
Verdächtige Zeichen nächtlicher E. sind zeitweises Bettnässen,
Ecchymosen in der Haut des Gesichts und der Sklera, Herausfallen
aus dem Bett, Verletzungen der Zunge, Kopfschmerz, Verworrenheit
des Denkens, Mattigkeit und Morosität beim Erwachen.
3. Der Experte muss sich vergewissern, dass ein seiner Beob-
achtung zugänglicher Insult auch wirklich ein epileptischer und nicht
bloss simulirter ist.
Vor allem muss er sich hüten aus der Nichtcongruenz dieses
Insults mit dem klassischen Anfall ohne Weiteres auf Simulation zu
schliessen. Die E. ist ein Proteus. Es gibt kein Schema, das auf
alle Kundgebungen der Neurose passte. Der epileptische Insult, wie
immer er geartet sei, ist kein Symptom, sondern ein Symptomen-
Diagnose. Gewaltthaten Epileptischer. 191
complex; trotz aller etwaigen Vielgestaltigkeit des Auftretens, ist der
Vorgang jedoch ein gesetzmässiger. Da Simulanten gewöhnlich nur
die klassischen Anfälle der E. kennen, handelt es sich in praxi meist
nur um die Frage der Echtheit dieser. Weder das brüske Nieder-
stürzen noch der gellende initiale Schrei sind dafür entscheidend. Viel
wichtiger sind die Leichenblässe des Gesichts im Beginn des Anfalls,
das Vorausgehen eines tonischen Krampfstadiums dem klonischen, der
Arteriospasmus (Krampfpuls) in jenem, der volle Puls in diesem, das Vor-
wiegen der Krampferscheinungen auf einer Körperhälfte, das stossweise
Eintreten der klonischen Krämpfe in immer kürzeren Intervallen.
Dazu kommt das Durchgehen des Krampfanfalls durch ein
Soporstadium mit reaktionslosen erweiterten Pupillen, mit Unerregbarkeit
der Sinnesthätigkeit und Sensibilität selbst durch die stärksten Reize,
aufgehobenen Reflexen und einer eigenthümlichen (vgl. Voisin, Annal.
d'h Jg. 1868, p. 344) durch sonstige heftige körperliche Anstrengung
nicht hervorzubringenden Pulskurve.
4. Die E. ist eine allgemeine und dauernde Nervenkrankheit.
Sie lässt nicht bloss in Form von Anfällen, sondern auch intervallär
Spuren ihres Bestehens erkennen. Als solche sind die Aenderungen
des Charakters, die intellektuellen und ethischen Ausfallserscheinungen,
die neurotischen, somatischen, sensoriellen und elementaren psychischen
Störungen anzuerkennen. Die Häufung solcher gibt jedenfalls in ihrer
Bedeutung sonst zweifelhaften Anfallssjmptomen diagnostisch eine er-
höhte Bedeutung wie andererseits jene obenerwähnten Symptome (man
denke an ethische Verkümmerung, unsittliche Impulse, abnorme Ge-
müthsreizbarkeit !) in dem Masse gewinnen, als sie in zeitlichen Zu-
sammenhang mit anfallartigen Erscheinungen gebracht werden können.
Die Erfahrung lehrt, dass Epilepsie nicht nur am Krankenbett,
sondern auch in foro häufig übersehen oder verkannt wird. Ueberaus
häufig kommen Epileptiker vor die Schranken des Gerichts. Ihre
Reizbarkeit vermittelt krankhafte Affekte, in denen schwere Gewalt-
akte möghch sind, ihre geschwächte sittliche und intellektuelle Wider-
standsfähigkeit beraubt sie der Möglichkeit affektartige Erregungen,,
sowie egoistische und unsittliche Impulse zu beherrschen. Ihr&
Gedächtnissschwäche lässt ihre Zeugenschaft bedenklich erscheinen
und kann zu falschem Zeugniss, Meineid führen.
Auf Grund elementarer Störungen (Hallucinationen, Verfolgungs-
delir, Zwangsvorstellungen, Angst u. s. w.), sowie im Zusammenhang
mit prä- und postepileptischen Zuständen von Verwirrung, Verstimmung
sind schwere Gewaltthaten möglich.
192 Cap. IX. Das epileptische Irresein. Zureclmungsfähigkeitsfrage.
Die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit der Epileptiker kann
nur ganz concret beantwortet werden.
Die Thatsache, dass zuweilen Epileptiker für ihre ganze Lebens-
dauer von psychischen Störungen verschont bleiben, lässt in der
Epilepsie an und für sich keinen Entschuldigungsgrund für strafbare
Handlungen erkennen ; der statistische Erweis, dass solche Fälle eben
doch nur Ausnahmsfälle sind, und die Mehrzahl der Epileptiker tem-
porär oder dauernd psychisch krank ist, rechtfertigt die Forderung,
dass überall wo ein Epileptiker vor Gericht steht, die Frage der
Zurechnungsfähigkeit von Gerichtswegen gestellt werden muss.
Während die Aufhebung der Zurechnungsfähigkeit bei vor-
geschrittenen Zuständen epileptischer Degeneration keinem Zweifel
begegnen kann, ergeben sich die grössten Schwierigkeiten für die
Beurtheilung da, wo das Individuum geistig intakt scheint, wenigstens
zur Zeit der Untersuchung, gleichwohl aber die Umstände einer von
ihm begangenen That (Sinnlosigkeit, Grausamkeit, getrübte Erinne-
rung) Bedenken hervorrufen. Die Epilepsie ist allerdings an und für
sich kein Aufhebungsgrund der Zurechnungsfähigkeit, aber bei der
Flüchtigkeit und Häufigkeit psychopathischer Erscheinungen, bei der
immer vorhandenen Möglichkeit, dass eine strafbare Handlung im
Zusammenhang mit einem unbeobachteten epileptischen Anfall (man
denke an vertiginöse und nächtliche!) stattfand, vielleicht in eine Zeit
fiel, wo psychische Umdämmerung unvermerkt in klares Bewusstsein
überging, hat der Richter allen Grund, vorsichtig in der Beurtheilung,
und mild in der Bemessung der Schuld zu sein. Die Nichtbeachtung
der Epilepsie in foro verschuldet zahlreiche Justizmorde. Man erkundige
sich in Strafanstalten nach der Häufigkeit epileptischer Insassen!
Der Grundsatz des Zacchias , die Handlungen der Epileptiker
falls sie 3 Tage vor oder nach einem Anfall stattfanden, straflos zu
lassen, ist gut gemeint, aber nicht praktisch. Auch hier lässt sich
nicht generalisiren. Der Eine ist schon eine halbe Stunde nach dem
Anfall wieder seiner Sinne mächtig, der Andere erst nach Tagen.
Wohl aber sollte der Grundsatz in foro gelten, dass Epilepsie
an und für sich ein Milderungsgrund für ein Verbrechen sei und
der alte Satz : „in dubio pro reo" hier volle Geltung finden müsste.
Die Wohl that mildernder Umstände, welche die fortgeschrittene Ge-
setzgebung gewährt, ist gerade hier besonders werthvoll, wo die
ärztliche Wissenschaft oft die volle Bedeutung einer das ganze Nerven-
system beherrschenden Neurose geltend machen muss und doch viel-
fach ausser Stande ist, weiter in der Beurtheilung des Falls zu gehen.
Beob. 62. Epilepsie. Mordversuch. 193
Beob. 62. Mordversuch. Epilepsie. F., 22 J., Bauer, erblich zu
Psychosen disponirt, vv^ar bis zur That, ausgenommen epil. Krämpfe beim Tod
des Vaters, gesund an Geist und Körper, sittsam und im besten Ruf gewesen.
Am 10. August Mordversuch an einer von ihm geschwängerten Magd. Ein Motiv
lag nicht vor. F. hatte die Magd gern gehabt und zu heirathen beabsichtigt.
Am Tage vorher hatte ihm seine Schwester heftige Vorwürfe darüber gemacht,
dass er sich mit d%r Magd vergangen. Im Gefängniss bietet F. bis zum 26. August
nichts Abnormes. Am genannten Tag epil. Anfälle bis zu 2 Stunden Dauer.
Darauf Unruhe, Präcord ialangst. Am 9. Tage mehrstündiger Anfall von psychi-
scher Störung mit tonischen Krämpfen und folgender Amnesie. In der Irren-
anstalt entwickelt sich ein melanchol. Krankheitsbild. Aus den Verhören geht
hervor, dass sich F. seit den Vorwürfen der Schwester wie von Sinnen fühlte,
er sei so aufgeregt gewesen, habe nicht gewusst was er that. Nach der That
hatte er aufrichtige Reue gezeigt. Das 1. Gutachten betont die erbliche Disposition,
die Epilepsie und die bei diesem Leiden häufigen transitorischen Geistesstörungen
und kommt zum Schluss, dass die Zurechnungsfähigkeit des F. zur Zeit seiner
That nicht erweisbar sei. Das 2. Gutachten nimmt an, dass erbliche Anlage,
Epilepsie, habituell auffallendes, stilles, wortkarges Wesen und endliche Geistes-
störung mit einander in engem Zusammenhang stehen und F. wohl zur Zeit seiner
That im Beginn einer Geistesstörung sich befand. Auch die That selbst — ihre
Unmotivirtheit , Plötzlichkeit, die eigenthümliche Verwirrung zur Zeit derselben,
die unklare Erinnerung für ihre Umstände spricht für epilept. Geistesstörung.
Annahme, dass F. damals bereits unter dem Einfluss einer Krankheit stand, die
geeignet war, plötzliche Antriebe zu gewaltthätigen Handlungen zu erzeugen,
den Geist zu verwirren, die Ueberlegung aufzuheben und somit die freie Willens-
bestimmung auszuschliessen. (Irrenfreund 1870, Nr. 11.)
Beob. 63. Todtschlag im Affekt. Krankhafte durch Epi-
lepsie bedingte Gemüthsreizbarkeit. Am 4. April nach Mittag tödtete
der Kohlen arbeiter D. seinen Gefährten M. im Wortwechsel und stellte sich dann
selbst den Gerichten. Kurz vorher hatte D. erfahren, M. habe ihn bei den Kameraden
beschuldigt, dass er die gemeinsame Trinkkanne zum Uriniren benützt habe. M.
gerieth in heftigen Zorn, setzte sich nicht zum gemeinsamen Mahl, ging aufgeregt
und wuthentbrannt im Speisezimmer auf und ab, rief den M., der des Wegs kam,
herein, hielt ihm seine Aussage vor und gab ihm, als dieser dabei verblieb, 2
Messerstiche, die den sofortigen Tod zur Folge hatten. In den Verhören gibt
D. diesen Sachverhalt zu, zugleich aber an, dass M. ihn schon früher geneckt
habe und ihm bei dem Wortwechsel mit drohender Geberde auf den Leib ge-
rückt sei. Im Termin behauptet er, die That in vorübergehender Geistesstörung
begangen zu haben, an welcher er seit seiner Soldatenzeit öfter leide.
D., 48 J. alt, Venetianer, stammt aus belasteter Familie, litt schon als Knabe
an epileptischen Anfällen mit darauf nicht selten folgendem Stupor, hatte 1873
gelegentlich ein'er Verhaftung ein auffälliges Benehmen gezeigt und in seinem
Pass die Bemerkung stehen gehabt, dass er an Convulsionen leide. Er galt als
hochgradig gemüthsreizbar und soll in seinen Affekten wie ein Irrsinniger aus-
gesehen haben. In der 2 monatlichen Untersuchungshaft benahm sich D. ruhig
und geordnet, litt aber öfter an Anfällen von heftigem Kopfschmerz und war
dann auffällig gedrückt und .schweigsam. Das Gutachten weist nach, dass D.
an Epilepsie seit dem 10 Jahr litt und wahrscheinlich nqch leidet, wenigstens
■V. Krafft-Ebing, gerichtl. Psychopathologie. 2. Auflage. 13
]^94 ^^P- ^^- Epileptisclies Irresein.
erinnern das unbewusste Uriniren in die Trinkkanne (Vertigo?) und die eigen-
thümlichen Anfälle von Kopfschmerz in der Haft ganz an Zustände, die als Ver-
treter krampfhafter Znfälle bei Epileptischen beobachtet werden. Auch die krank-
hafte Gemüthsreizbarkeit des D. ist eine Charakteranomalie, die bei Epileptikern
ganz gewöhnlich ist und mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Rechnung einer vor-
handen gewesenen oder noch fortbestehenden E. zu setzen ist. Jedenfalls waren
bei Begehung der incriminirten Affekthandlung pathologische, i. e. organische
Momente im Spiel, welche die Widerstandsfähigkeit gegen den Drang, sich Genug-
thuung für eine angethane Beleidigung zu verschaffen, erheblich verminderten,
wenn nicht gänzlich aufhoben. (Eigene Beobachtung.)
Beob. 64. Böswillige Verläumdung. Epilepsie. Zweifel-
hafte Zurechnungsfähigkeit. Die 0. 31 J. alt, ist der böswilligen Ver-
läumdung des X. angeklagt. Dieser hatte mit ihr im Concubinat gelebt, sie dann
verlassen und dadurch ihre Eifersucht und Rachsucht erregt. Sie hatte ihn als an-
geblichen Mitschuldigen einer Mordthat auf schlaue Weise bei der Behörde denuncirt.
Als sie nun verhaftet war, erhoben sich Zweifel über ihre Zurechnungsfähigkeit.
Die 0. bot bei der Exploration geistig und körperlich nichts Bemerkenswerthes,
machte aber geltend, dass sie von frühester Jugend auf epileptisch sei. Diese
Angabe bestätigte sich, sowie auch, dass ihr Ideengang oft abspringend war und
ihr Verhalten ein so ungeordnetes, dass man sie allgemein als närrisch bezeich-
nete. Sie trieb schamlos Prostitution, war oft grundlos heftig, reizbar, in ihren
Affekten masslos.
Das Gutachten führt aus, dass bei E. sich häufig tiefgehende Aenderungen
des Charakters finden, grosse Leidenschaftlichkeit, überwältigende Affekte, grund-
lose Verstimmung, rachsüchtige Launen. Alle diese Züge sind bei der 0. vor-
handen. Ist sie trotzdem zurechnungsfähig? Trotz ihrer Schlauheit bei Aus-
führung der Denunciation ist ein Einfluss der E. auf Geisteszustand und Ver-
brechen der 0. nicht zu verkennen. Ihre sittliche Widerstandskraft gegen den Drang,
in eifersüchtiger Rache den früheren Geliebten ins Unglück zu bringen, war durch
die Krankheit wesentlich beeinträchtigt. Wie weit dies der Fall war, lässt sich
nicht präcisiren. Die] 0. ist nicht als geisteskrank zu betrachten, jedoch dürfte
dieses patholog. Moment ihr richterlich zu gut kommen. Keine Verurtheilung:
(Li vi, Archiv, italiano 1871.)
Weitere Fälle: Vogt, Friedreich's BL 1870 (Mord des Kindes im Affekt
der Verzweiflung einer schwachsinnigen Epileptischen). Delasiauve, op. cit. p. 487
(Diebstahl). Rupprecht, Vierteljahrsschr. für ger. Med. N. F. V, H. 1 (Diebstahl,
Irrthum, aus Beschränktheit oder epil. Lücke der Intelligenz?). Liman, zweifelh.
Geisteszustände, Fall 10 (epil. Schwachsinn, Diebstahl), Fall 11 (Schwachsinn,
Betrug), 12 (Betrug, Diebstähle). Casper-Liman, Handb. Fall 252 (Schwachsinn,
Urkundenfälschung). Arndt, Vierteljahrsschr. f. ger. Med. 1872 Oct. (epil. Schwach-
sinn, Taschendiebstahl). Snell, Zeitschr. f. Psychiatrie, XXXVI. H, 4 (Brudermord).
b. Die transitorischen Anfälle psychischer Störung bei Epileptischen.
Literatur: v, Krafft, transit. Störungen d. Selbstbewusstseins 1868 p. 51 (ältere
Literatur). Trousseau, med. Klinik, übers, v. Culmann 1867, IL 1. Lief. p. 41.
V. Krafft, Zeitschr. f Psychiatrie 1867, November. Annal. med. psychol. 1873,
Transitorische Anfälle psychischer Störung'. 195
Januar, März, Mai. Leidesdorl', Wien. med. Jalirbücher 1875, H. 28. Samt,
Archiv für Psych. V. H. 2, VI. H. 1. Annal. d'hyg. publ. 1877, Oct. Eche-
verria, americ. Journ. of insanity 1873, April. Legrand du Saulle, Annal.
d'iiygiene 1875, April. Weiss, Wien. med. Wochenschr. 1876, 17. 18. Gari-
mond, Ann. med. psychol. 1878, H. 1 u. 2. v. Krafft, epileptoide Traum-
zustände, Zeitschr. f. Psych. 1876 und Friedreich's Blätter 1877, H. 2 u. 5,
Legrand du Saulle, etude med. legale, p. 84. Toselli, Archivio italiano per
le malat. nervös. 1879, März.
Zu den wichtigsten Complicationen der Epilepsie gehören transi-
torische Anfälle geistiger Störung. Sie sind häufig, flüchtig , nach
Umständen schwer nachzuweisen, bringen vielfach das Leben der
Umgebung in Gefahr und haben deshalb eminente Wichtigkeit für
das Forum. Es ist kein Zweifel, dass nicht selten solche Zustände
verkannt werden und daraus ungerechte Verurtheilungen erfolgen.
Trousseau, einer der competentesten, weil erfahrensten Autoren,
steht nicht an zu erklären (op. cit. p. 22) : „Man kann annehmen,
fast ohne Gefahr sich zu täuschen, dass wenn ein Individuum plötzlich,
ohne vorherige Geistesstörung, ohne bis dahin ein Zeichen von Geistes-
krankheit von sich gegeben zu haben, auch ohne leidenschaftlichen
Antrieb und ohne durch Alkohol oder sonst eine das Nervensystem
heftig erregende Substanz vergiftet zu sein, einen Mord begeht, dieses
Individuum epileptisch ist, dass es entweder einen grossen Anfall,
oder was häufig vorkommt, einen blossen comitialen Schwindel hatte.
Die neuere Zeit hat bedeutende Fortschritte in der Erkenntniss
dieser Zustände gemacht, aber es lässt sich mit Grund vermuthen,
dass ihre Erscheinungsformen noch nicht erschöpfend gekannt sind
und dass viele Fälle von peracutem Irresein, namentlich Mania transi-
toria, Eaptus melancholicus, periodisch wiederkehrendes Irresein in
kurz dauernden Anfällen, zahlreiche Zustände von Somnambulismus,
auf epileptischer Grundlage stehen. Beim heutigen Stand unsres
Wissens ist es jedenfalls geboten an der Thatsache festzuhalten, dass
transitorische Irreseinszustände einen symptomatischen Charakter haben
und in erster Linie die Forschung nach dem Bestehen einer epilep-
tischen Neurose, die keineswegs immer offen zu Tage liegt, zu richten.
In der Regel erscheinen die transitorischen Irreseinszustände
der E. als Folgezustände, seltener als Vorläufer epileptischer, irgend-
wie gearteter Insulte, binnen Stunden oder Tagen, namentlich da wo
solche nach längerer Pause gehäuft wiedergekehrt sind. In solchen
Fällen ist dann der Zusammenhang mit der epileptischen Neurose ein
greifbarer. Nicht so selten treten aber die vertiginösen oder klassi-
schen Insulte der E. mit dem Eintreten jener psychischen, die sich
19(5 Cap. IX. Epileptisches Irresein.
dann als psychische Aequivalente auffassen lassen, zurück, werden von
ihnen gleichsam verdrängt. Die psychischen Anfälle erscheinen dann
als freistehende (Epilepsia larvata oder psych. Epilepsie). Da Jahre,
selbst Jahrzehnte lang, die gewöhnlichen somatischen Kundgebungen
der Neurose schweigen können, gewinnen die Anfälle psychischer
Störung das Gepräge selbstständiger. Der Zusammenhang mit der
epileptischen Neurose lässt sich dann nur aus dem anamnestischen
Nachweis früher dagewesener epileptischer Insulte und aus der Gleich-
artigkeit der psychischen Anfälle mit den bei zweifellos Epileptischen
beobachteten und specifische Merkmale bietenden herstellen.
Ob es Fälle von E. gibt, die blos in Form psychischer Anfälle
sich äussern, muss eine offene Frage bleiben. Beim gegenwärtigen
Stand unseres Wissens ist die Forderung, dass irgendwie geartete
somatische Insulte zu irgend einer Lebenszeit nachweisbar sind, für
die Diagnose „Epilepsie" eine unerlässliche. Es mag seltene Fälle
geben, in welchen psychische Anfälle den somatischen jahrelang voraus-
gehen, in der Mehrzahl wird ein Fehler der Beobachtung vorliegen,
insofern solche (man denke an vertiginöse !) der Ermittlung entgingen.
Die klinischen Erscheinungsbilder des transitorischen Irreseins
auf epilept. Grundlage sind mindestens ebenso mannigfaltig als die
somatischen Anfallssymptome. Gemeinsam ist ihnen nur und im Zu-
sammenhalt mit den somatischen die Trübung bis zur Aufhebung
des Selbstbewusstseins, die Störung des Bewusstseins. Dieser Thatsache
entspricht eine forensisch höchst wichtige Lückenhaftigkeit bis zur
Aufhebung der Erinnerung.
Immer wird diese summarisch, lückenhaft bis zum gänzlichen
Fehlen sich herausstellen. Es gibt Fälle, wo die Erinnerung un-
mittelbar nach dem Anfall vorhanden ist, aber dann verloren geht
(Samt). Es scheinen dies Fälle zu sein, in welchen dem psychopathi-
schen Zustand bald ein epileptischer Insult nachfolgt. Ein solcher
kann zweifelsohne die Erinnerung total verwischen.
Die Formen der Bewusstseinsstörung als Grundlage der transito-
rischen epileptischen Irrsinnszustände können Stupor-, Dämmer-Traum-
Mustände (ähnlich denen des Schlafwandelns) sein. Auf dieser Basis
finden sich Delirien, Sinnestäuschungen, Angstzüstände , impulsive
Akte u. a. elementare psychische Störungen als Complicationen. Durch
die verschiedenartige Combination dieser ergeben sich klinisch differente
Krankheitsbilder , von denen einige durch die eigenthümliche und
typische Symptomengruppirung charakteristisch sind. Die Mannig-
faltigkeit der Erscheinungsformen wird noch dadurch gesteigert, dass
Transitorische psychische Störungen. Stupor. 197
sich mehrere Krankheitsbilder combiniren oder in einander übergehen
können.
Klinische Uebersicht: Als die wichtigsten und häufigsten Formen des
transitorischen Irreseins Epileptischer ergeben sich :
a) Stupor zustände von Stunden- bis Tagedauer in Verbindung mit
Angst, schreckhaften Sinnestäuschungen, Delirien (Verfolgung etc.).
Dadurch ist die Möglichkeit von strafbaren Handlungen gegeben. Diese
Stuporzustände werden kaum je als freistehende beobachtet. Sie finden sich
meist im Anschluss an einen epileptischen (klassischen) Insult oder in der
Zwischenzeit solcher, wahrscheinlich als Shoksymptome oder in vasomotorischer
Entstehungsweise. Die Erinnerung für die Anfallszeit fehlt gänzlich oder ist
eine summarische.
Beob. 65. Mord eines Mädchens. Verletzung mehrerer Per-
sonen. Stupor epilepticus. Höwe, 29 J., Knecht, litt seit dem 6. Jahr an
häufigen Anfällen von Epilepsie mit gewöhnlich folgendem, bis zu mehreren
Tagen dauerndem Stupor. Wenn er dann wieder zu sich kam, hatte er keine
Erinnerung für die Krankheitszeit, klagte Schwindel, Kopfweh und war moros.
Seine epilept. Anfälle traten fast regelmässig in Pausen von 3 Wochen auf. Sie
begannen mit einer von der Magengegend aufsteigenden Aura. Nicht selten war
er schon mehrere Tage vor seinen Anfällen verstimmt, gedrückt.
Am 16. Juli hatte H. wiederholt die Aura verspürt. Abends war ein Anfall
aufgetreten, dem in der Nacht auf den 17. mehrere gefolgt sein mögen, wenig-
stens war am 17. sein Gesicht verletzt. Am 17. traten noch mehrere epil. Insulte
auf. Vom 18. an ist H. Stupores, liegt und steht herum, appercipirt gar nicht,
gibt nur vereinzelte einsilbige Antworten und nimmt keine Nahrung zu sich.
Am 19. Nachmittags erscheint er auf dem Hof, wo ein Mädchen und ein Knabe
mit Holzmachen beschäftigt sind. Der Knabe fragt theilnehmend, ob er essen
wolle. H. hebt die Hand, um nach dem Knaben zu schlagen. Dieser entflieht.
H. geht dem Mädchen, das über eine Hecke zu entrinnen versucht, nach, schlägt
ihm mit der Faust auf den Kopf, bis es niedersinkt. Auf die Angstrufe des
Knaben eilen die Nachbarn herbei und sehen, wie er das zu seinen Füssen zap-
pelnde Mädchen anstarrt. Auf ihren Ruf: „Mein Gott, Joachim, was machst du
da?" holt er sich ein auf der Diele liegendes Beil, gibt dem Kind mehrere
Schläge damit auf den Kopf, wendet sich dann, gegen die entsetzten fliehenden
Zuschauer, holt eine Frau ein und haut ihr auf die Finger, bis sie ohnmächtig-
niedersinkt, versetzt dann einem Hund, der ihm entgegen kommt, mehrere Beil-
hiebe, hebt dann das Hemd vor einem Taglöhner, den er gewahr wird, auf und zeigt
ihm mit den Worten: „sieh da" den Hintern. Dann steht er einige Zeit auf der
Strasse und geht dann nach dem gegenüberliegenden Schäferhaus, versucht dessen
Thür einzuhauen, haut dann nach einem Mann, verfolgt ihn, holt ihn ein, versetzt
ihm im Handgemenge noch einen leichten Hieb, wird endlich überwältigt und
gebunden. Darauf liegt er einige Zeit ganz stille (stuporös) da, zeigt dann einen
vorübergehenden wuthzornigen Aufregungszustand, der wieder in Stupor über-
geht. Dieser stuporöse Zustand dauerte bis zum 22., an welchem Tage er erstaunt
zu sich kam, weinend fragte, warum er gebunden und angekettet sei. Er hatte
absolut keine Erinnerung von den Ereignissen der letzten Tage, fühlte sich noch
198 Cap, IX. Epileptisches Irresein. Dämmerzustände
schwach und matt. Die Verletzungen des erschlagenen Mädchens bestanden in
einem Schädelbruch, mehreren Contusionen und 5 Hiebwunden des Gesichts.
Bis zur That hatte H. als ein gutmüthiger, fleissiger Mensch gegolten.
Genau 3 Wochen nach jener trat neuerdings ein epilept. Insult und in einem
weiteren am 20. September der Tod ein. (Jahn, Henke's Zeitschr. 1837, 4. Heft.)
Weitere Fälle: Samt op. cit. Beob. 11 u. 12.
ß) Zustände tiefer geistiger Umdämmerung bis zum Verlust
des Bewusstseins (analog der Vertigo epil.) mit impulsiven Akten (als
Analoga der partiellen Muskelkrämpfe bei Vertigo).
Sie sind von der grössten Wichtigkeit, da sie ganz transitorisch sind, in
der Regel nur Minuten dauern, jedoch kommen auch protrahirte Anfälle vor.
Die tiefe Störung des Bewusstseins beim Kranken entgeht der Umgebung leicht
bei der kurzen Dauer dieser Anfälle. Da solche Zustände vielfach Begleiter der
nur vertiginösen Epilepsie sind, ist die forensische Beurtheilung keine leichte. ,
Die complete Amnesie, die typische Wiederkehr derselben Akte, die traumhaft
vollzogen werden und der sonstigen Persönlichkeit des Kranken ganz entgegen-
gesetzt sind, geben zunächst Anhaltspunkte für die Expertise. In der Regel
stehen diese Anfälle mit solchen von Vertigo in Beziehung. Die impulsiven Akte
können in Diebstählen, brutaler Gewaltthätigkeit, Beschimpfungen, Brandstiftung,
Unzuchtvergehen, Mord, Selbstmord bestehen.
Beob. 66. Impulsiver Mord im Anfall epileptischer Bewusst-
1-osigkeit im Zusammenhang mit Vertigo epil. Felix Fraiche bot vom
5.-7. Lebensjahr sonderbare impulsive Akte, z. B. Zerstören der ihm besonders
theuren Spielsachen, Geniessen von Speise, nur wenn man ihm die Hände hielt.
Er litt häufig an Zahnweh, hatte mit 13 Jahren kaum den Habitus eines 8jährigen
Knaben, entwickelte sich aber dann rapid. Wenig begabt, von furchtsamem, in
sich gekehrtem Wesen, indessen gelehrig und wissensbedürftig. Er war sehr
reizbar, schrie oft Nachts auf, urinirte zeitweise in's Bett, litt ab und zu an
Athembeklemmungen, und konnte nur schlafen, wenn Licht im Zimmer brannte.
Fr. ist von extremer Hässlichkeit. Sein Schädel ist difform, die Stirn
niedrig, doppelseitiges convergirendes Schielen, Amblyopie auf dem linken, Myopie
auf dem rechten Auge. Linke Pupille erweitert, Stumpfnase, angeborene Läh-
mung der Ober-, breite, hj^pertrophische Unterlippe, vorgeschobener Oberkiefer mit
3 enormen Schneidezähnen, rechtsseitige geringere Entwicklung des Gesichts-
schädels und sonstigen Skeletts, Verwachsung der Finger der linken Hand bis
zur Hälfte der 2. Phalanx sind die hauptsächlichsten Schönheitsfehler dieses
degenerirten Individuums. Er litt oft an Anfällen von Kopfweh; ab und zu
Schwindelanfälle, ascendirende heisse Aura, Absencen, in welchen er ohne Be-
wusstsein handelte, nächtliches Funken- und Flammensehen, verworrenes Geräusch,
Glockenläuten, Aufschrecken und periodenweises Bettnässen, Herausfallen aus
dem Bett, blutiger Speichel auf dem Kopfkissen. Intelligenz kaum unter dem
Niveau der Durchschnittsmenschen. Niemand ahnte, dass Fr. an Vertigo bei Tag
und an epilept. Insulten bei Nacht litt.
Am 11. März 1877, während Fr. Schulaufgaben machte, verliess er plötzlich
die Arbeit, holte einen Dolch im Zimmer seines Vaters und tödtete das 19jährige
Dienstmädchen mit einem Stich zwischen die Schultern, ohne ein Wort zu sagen.
mit impulsiven Akten. Dämmerzustände mit Angst. 199
Gleich kam er wie aus einem Traum zu sich, gedachte sich zuerst zum Fenster
hinauszustürzen, brachte sich aber statt dessen eine Dolchwunde bei. Der eilend
herbeigeholte Arzt findet ihn stupid, unfähig, ein Motiv für seine That zu finden.
Die Ermordete war vor 9 Jahren in's Haus gekommen, mit Fr, aufgewachsen.
Sie hatten im besten Einvernehmen gelebt. Fr. war erst nach seiner impulsiven
That aus seiner Vertigo wieder zu sich gekommen. Er weiss kein Motiv für
seine absurde bewusstlose That. Er starrt sie an wie etwas Fremdes, ihm nicht
Zugehöriges. Verf. erweist, dass dieser impulsive Akt einem Epileptiker zukam.
Fr. wurde nicht verurtheilt. (Legrand du Saulle, Ann. med. psychol. 1877, Sept.)
Weitere Fälle: Trousseau op. cit. p. 25 (ganz impulsiver Angriff auf
die Wärterin im Schlaf). Ebenda (Schwindelanfälle einer Dame, in welchen sie
in Theater, Kirche, auf der Strasse etc. plötzlich die gröbsten Schmähungen und
unkeuschsten Worte ausstösst ohne Bewusstsein und ohne Erinnerung).
Diebstähle : Liman, zweifelh. Geisteszustände, Fall 5. Devergie, med. legale,
3. edit. I. p. 691.
Brandstiftung: Friedreich's Blätter 1856, H. 3, p. 87. Bonnefous, Annal.
med. pEji-chol. 1867, Juni.
Gewaltthaten und Mord : Trousseau op. cit. p. 25. Liman, zweifelh. Geistes-
zustände, Fall 7. Tamburini, Rivista sperim. 1876, fascic. 5 u. 6. Legrand du
Saulle, etude med. legale (Mord mit 63 Messerstichen !).
Unzüchtige Handlungen : Liman, zweifelh. Geisteszustände, Fall 6 (ötfent-
liche Onanie). Westphal, Archiv f. Psych. VI. H. 3 (Entblössung der Genitalien
a,uf offener Strasse). Auzouy, Ann. med. psj^ch. 1874, Nov. (Unzucht mit Kindern).
Pürkhauer, Friedreich's Blätter 1879, H. 5 (analoger Fall).
Selbstmordversuche : Castro, Rivista sperim. 1877. Dickson, Brit. med.
Journ. 1867, Nov.
•,') Dämmerzustände mit Angst („petit mal'')-
Auf dämmerhafter Bewusstseinsstufe findet sich hier eine schmerzliche
Depression, die als tiefes geistiges Weh bis zu dämonomanischer Allegorisirung
«mpfunden wird und mit Angst, Verwirrung der Gedanken einhergeht. Unter
dem Einfluss dieser ängstlichen Umdämmerung und Beklommenheit wird der
Kranke unstet, treibt sich j^lanlos umher. Er gleicht dem von Präcordialangst
gefolterten Melancholischen, nur mit dem Unterschied, dass die Störung- des Be-
wusstseins und die tiefe geistige Verworrenheit dem epileptischen Angstzustand
ein eigenthümliches Gepräge verleihen. Vorübergehend kann dieser sich bis zur
Höhe eines raptus melancholicus erheben. Jedenfalls ist bei den Fällen von frei-
stehendem rapt. mel. immer zunächst an eine epileptische Grundlage zu denken.
Entprechend der tiefen Trübung des Bewusstseins im Anfall ist die Erinnerung
nur eine summarische, für die Exacerbationen kann sogar ein Erinnerungsdefekt
bestehen.
Auf Grund der Angst sowie feindlicher Verkennung der Um-
gebung sind Gewaltakte gegen diese oder auch gegen die eigene
Persönlichkeit möglich. Sie tragen das Gepräge psychischer Reflex-
akte wie beim Melancholischen oder haben den Charakter impulsiver
Handlungen. Brutale Gewalt und Rücksichtslosigkeit zeichnen diese
200 C^P- ^^- Epileptisches Irresein.
destruirenden Akte aus. Nicht selten erscheinen diese Anfälle als
freistehende. Sie sind nach den Erfahrungen Falret's, mit denen die
meinigen übereinstimmen, häufiger bei vertiginöser E, als convulsiver
oder es treten wenigstens klassische epil. Insulte nur ganz ver-
einzelt auf.
Beob. 67. Petit mal. Morcrmehrerer Personen. Micliot, 42 J. alt,
Handarbeiter, stammt von einem Vater, der einer Apoplexie erlag. Ein Bruder
ist epileptisch-irre. M. hat als Kind an Convulsionen gelitten, bis zum 13. Jahre
zeitweise in's Bett gepisst. Mit dem 20. Jahr (1852) Anfall von Vertigo epil.
(wurde dabei blass im Gesicht), der sich zur Zeit des Vollmonds jeweils bis 1864
Aviederholte. M. war ein braver Soldat, sehr solid, heirathete, lebte in guter Ehe.
1864, nach einem. Schrecken, erster Anfall von klassischer Epilepsie. Von
1866—73, neben periodischen vertiginösen Anfällen und zeitweisem nächtlichem
Bettnässen, etwa 3—4 genuine epilept. Anfälle jährlich. 1873, einige Stunden
nach einem solchen, empfindet M. plötzliche schreckliche Antriebe zu schlagen,
zu beissen, oder sich auf Jemand zu stürzen. Er hat noch so viel Besonnenheit,
seine Frau, die sich theilnehmend ihm näherte, zu entfernen. Es gesellt sich
heftige Angst zu diesen Antrieben. M. schläft indessen ein und fühlt sich beim
Erwachen wieder wohl.
Am 18. April 1875 ist M. den ganzen Tag traurig, niedergeschlagen, ver-
stimmt. Abends epilept. convulsivischer Anfall, darauf schlaflose, unruhige Nacht
voll schrecklicher Phantasien und Flammen und Blitzen vor den Augen.
Am 19. Morgens planloses dämmerhaftes Fortlaufen vom Hause. Bei der
Rückkehr schindet ' er seine Katze, verwundet eine Frau. Seine Nachbarn wollen
ihn davon abhalten, er reisst sich los, diese fliehen entsetzt, er hackt seine Frau
sammt dem Bett, auf dem sie lag, in Stücke, rennt 10 Kilometer weit fort nach
Orleans, schlägt unterwegs einer Bettlerin den Kopf ab, sticht einen Priester
zusammen, ermordet einen Mann, verwundet dessen Frau, zerschmettert einem
9jährigen Knaben den Schädel und sticht ein Individuum todt. Am 20. April
bei der Ankunft in Orleans ist das Delirium vorüber, aber das Bewusstsein noch
nicht aufgehellt. Von der Katastrophe im eigenen Hause hat er keine, von dem
unterwegs Geschehenen nur eine summarische Erinnerung. Am 29. zwei schwere
epileptische Insulte. (Legrand du Saulle, Ann. med. psychol. 1877, Sept.)
Beob. 68. Epileptische Dämmerzustände mit Angst (petit mal).
Schmid, Commis, 29 J., stammt von einer neuropathischen , mit Convulsionen
behafteten Mutter und litt sel"bst bis zum 5. Jahre an Convulsionen. Von da bis
zum 9. Jahre wurden Zustände von Schlafwandeln beobachtet. In der Folge
war Pat. sehr nervös, reizbar, schreckhaft. Vom 16. Jahr an Anfälle von heftigem
Kopfschmerz, habituelle Verstimmung, moroses Wesen, grosse Gemüthsreizbarkeit.
Im 18. Jahr motivloser Selbstmordversuch mittelst Zündhölzern. Bis zum 25. Jahr
öfters Anfälle von unmotivirter Angst und Beklemmung, in welchen er umherirrte
und im Bewusstsein erheblich gestört war. Diese Anfälle (petit mal) dauerten
einige Stunden. Mehrmals jährlich litt Pat. auch an Schwindelanfällen mit
Schwarzwerden vor den Augen imd Trübung des Bewusstseins (Vertigo) ; Pat.
■wurde Geschäftsmann, verband sich 1875 mit einem Anderen. Das Geschäft ging
Dämmerzustände mit hallucinatorischem Delirium. 201
schlecht, sein Compagnon war unredlich. Seit Anfang- April 1876 schlechter
Schlaf, Kopfweh, schreckhafte Träume, Schwierigkeit, beim Erwachen Traum von
Wirklichkeit zu unterscheiden, gedrückte Stimmung bis zu Taed. vitae.
In der Nacht auf den 6. Mai 1876 träumte er, dass sein unredlicher Com-
pagnon vor ihm stehe und ihn bedrohe. Er erwachte, war in ganz unbesinn-
lichem Zustand, suchte nach einer Waffe, um seinen Schlaf kameraden, da er ihn
in der Verwirrung mit dem Traumbild identificirte, zu tödten. Unter seinem
erfolglosen Suchen nach einer Waffe kam er zu sich und erkannte, in welcher
Gefahr er sich befunden hatte, einen ganz unschuldigen Menschen zii tödten.
Er war am 6. früh in gedrückter Stimmung, ging Nachmittags, um sich zu zer-
streuen, in den Stadtpark spazieren.
Plötzlich wurde ihm schwindlig, schwarz vor den Augen, eine entsetzliche
Angst überfiel ihn. Es war ihm, wie wenn die Leute auf ihn eindrängen, ihn ver-
folgten. Von namenloser Angst getrieben, rannte er davon, ohne zu wissen wohin.
Auf dieser Flucht sah er die Umgebung nur noch in unbestimmten Umrissen.
Wie lange er umherrannte, weiss er nicht anzugeben. Endlich brach er
athemlos zusammen und bat einen herzugekommenen Polizisten um Schutz. Bei
der sofortigen Aufnahme im Spital erschien er ängstlich, verstört, im Bewusstsein
augenscheinlich gestört. Abends wurde er lucid und frei von Angst. Grosser
Schädel (58 Cf.). An der linken Seite der Zungenspitze eine Narbe. Eigentliche
epileptische Insulte stellte Pat. in Abrede. Da die folgende Beobachtung ausser
einer gewissen Gedrücktheit nichts Erhebliches ergab, wurde dem Verlangen des
Pat. nach Entlassung Folge gegeben. (Eigene Beobachtung.)
Weitere Fälle: Marc-Ideler, IL p. 379 (Mord). Gaz. des tribun. 1857.
21. Aug. (Verletzung von 7 Personen). Samt op. cit. Beob. 1 (Suicidiumversuch).
V. Krafft, Zeitschr. f. Psych. 1867, H. 4 (Wäschediebstahl).
§) Dämmerzustände mit hallucinatorischem Delir („grand mal").
Sie stellen eine Weiterentwicklung des petit mal dar, insofern episodisch
bei diesem Hallucinationen und eine noch tiefere Trübung des Bewusstseins auf-
treten. Die Uebergänge zwischen den Formen des petit und grand mal sind
jedenfalls fliessende. Das grand mal ist ein brüsk auftretendes furibundes hallu-
cinatorisches Delirium bei tiefer Störung des Bewusstseins. Das Delirium ist
vorwiegend ein schreckhaftes , bewegt sich wesentlich in entsetzlichen Visionen
von Blut, Feuer, Teufeln, Mördern, Gespensterspuck. Die Kranken hören Kano-
naden, Füsiladen, Brausen, Stöhnen, sehen sich von Hexen, Teufeln, Bewaffneten,
wilden Thieren umwogt, zum Schaffet geführt, Abgründe vor ihren Füssen etc.
Als Reaktion auf diesen schrecklichen Bewusstseinsinhalt kommt es zu ver-
zweifelter Gegenwehr, zu wuthzornigen Erregungszuständen, in welchen der
tobende, unnahbare Kranke um sich haut, beisst, sticht und damit der Aussen-
welt, die gar nicht oder im Sinne des Deliriums feindlich appercij^irt wird, höchst
gefährlich ist.
Bemerkenswerth ist gegenüber ähnlichen Zuständen krankhafter Bewusst-
losigkeit (Mania transitoria etc.) dass der Kranke trotz seiner tiefen geistigen
Verworrenheit einen gewissen Zusammenhang in seinen deliranten Aeusserungen
vielfach bietet, sowie einigermassen combinirter, anscheinend planmässiger Hand-
lungen fähig erscheint. Nicht selten treten in diesem Delirium Episoden von
Stupor sowie auch von religiösem Primordialdelir auf und geben dem ohnehin
202 C!ap. IX. Epileptisches Irresein.
durch Verworrenheit und Bewusstseinsstörung auffälligen deliranten Zustand ein
ganz besonderes, speciell auf Epilepsie hinweisendes Gepräge.
Eine erst in neuerer Zeit genauer erkannte Varietät des hallucinatorischen
Delirs Epileptischer ist ein religiöses, vorwiegend expansives, in welchem sich die
Kranken im Paradies wähnen, mit Gott in Verkehr zu stehen vermeinen, von
Gott zur Stelle eines Propheten, Messias etc. erhoben zu sein wähnen, in himmli-
schen Freuden schwelgen und vorübergehend sich dem Zustand einer Ecstase
nähern können. Mitten in dieser „Gottnomenklatur" kann episodisch ein schreck-
haftes Delir auftreten — die Pforten der Hölle öffnen sich, ein Gottesgericht er-
geht über den Kranken, der Teufel will sich seiner bemächtigen etc., jedoch geht
der Kranke aus solchen Episoden , die sich mehrfach im Verlauf eines Anfalls
wiederholen können, immer wieder als eine gottbegnadete Persönlichkeit hervor.
Während die Zustände von petit mal meist nur bis zu einigen Stunden
dauern, kann das grand mal mehrere Tage zum Ablauf erfordern.
Die Lösung des Anfalls erfolgt durch einen Zustand von Stupor oder
psychischer Umdämmerung d. h. die Trübung des Bewusstseins überdauert das
Delirium. Die Rückerinnerung ist eine getrübte , summarische. In zahlreichen
Fällen besteht sogar vollständiger Erinnerungsdefekt, namentlich dann wenn ein
epileptischer Insult bald auf das Delir folgt. Die Zustände des grand mal finden
sich vorwiegend bei convulsiver E. und. zwar meist als Vorläufer, seltener im
Anschluss an klassische Insulte, namentlich serienweises Auftreten solcher.
Die schwersten Gewalttliaten kommen in der persecutorischen
Varietät des grand mal vor, aber auch im religiösen Delir bestehen
Gefahren für die Umgebimg, insofern diese als unheilig verkannt und
bedroht oder auf göttlichen Befehl durch Tödtung ebenfalls der
Freuden des Paradieses theilhaftig gemacht wird.
Beob. 69. Tödtung der Eltern in hallucinator ischem epi-
leptischem Delirium. Th. Piednoir, 26 Jahre, Winzer, von Kindheit an
epileptisch, schwachsinnig, krankhaft misstrauisch gegen seine Angehörigen, die
ihn liebevoll behandelten, öfters aufgeregt, mit folgendem Stupor, Anfällen unter-
worfen, in denen er planlos und in seinem Bewusstsein tief gestört umherirrte,
häufig hallucinirend , trieb sich am Abend des 22. April 1870 pfeifend auf dem
Hofe seiner Eltern umher, sprach von Gott und der heiligen Jungfrau, die des
Nachts ihn besuchten und mit ihm sprächen. Offenbar befand er sich wieder
im Beginn einer seiner Paroxysmen. Um 7V2 Uhr legten sich die Eltern zu
Bett. Um Mitternacht erscheint P. nothdürftig bekleidet, in aufgeregtem Zu-
stand im Hause seines Pathen, zerschlägt ein Fenster, geht dann ins Haus seines
Schwagers, sagt diesem, er sei voll Wuth, habe heute Nacht stark geai-beitet.
Man führt ihn nach Hause und findet dort die Leichen seiner Eltern mit schreck-
lich durch Stockschläge zertrümmerten Köpfen. P. erklärt seine Eltern aus freien
Stücken mit einem Stock, den er als eine Waffe bezeichnet, ermordet zu haben;
es habe ihn viel Arbeit gekostet. Er sei der Erbe alles Unglücks, wisse Alles.
— Im Gefängniss erschien er ruhig, apathisch, wie im Stupor. Seine Erinnerung
an die That ist nur eine summarische, eines Motivs ist er sich nicht bewusst,
es habe so geschehen müssen, ein Andrer hätte ebenso gehandelt wie er, er
habe sich zur That getrieben gefühlt. Es sei ein grosses Unglück was er ange-
Beob. 70. Mord in hallucinatoriscliem epileptischem Delir. 203
richtet, er bereue es tief, aber es sei so seine Bestimmung gewesen. In der
Nacht auf den 28. träten mehrere epileptische Anfälle ein, in deren einem P.
ein Messer verlangte. Die Erinnerung an diese Anfälle fehlte.
Das Gutachten führte aus, dass P. an epileptischem Irresein leide und in
einem Anfall von impulsivem Delirium seine schreckliche That begangen habe.
Etwa einen Monat nach seiner Verbringung in die Irrenanstalt starb er in einem
epileptischen Anfall. (Annal. med. psycho! Mai 1871.)
Beob. 70. Mord der Gattin und vier anderer Personen.
Schreckhaftes hallucinatorisches epilept. Delir mit episodi-
schem H i m m e 1 s d e 1 i r. Am 28. April tödtete der 41 J. alte Bauer Pionzo
in wenigen Minuten seine Frau, eine andere Frau und deren 3 Kinder. Keine
Erblichkeit, keine erhebliehen Krankheiten. Keine Ausschweifungen, gute jEhe
seit 10 Jahren. Vor 8 Jahren psychischer Aufregungszustand unter Congestionen,
der auf Aderlass verschwand. In der Folge zeitweise Anfälle von Schwindel mit
Gedankenverwirrung. Am 26. April erschrack P. über eine todte Katze der die
Augen heraushingen. Er konnte sich über diesen Vorfall nicht beruhigen, er-
blickte darin ein böses Omen, konnte die folgende Nacht nicht schlafen. Am 27.
war er schreckhaft, legte sich früher als gewöhnlich zu Bett, erschrack über den
Nachbar Canis, der mit einem Dreizack ihn besuchte, meinte dieser hege Furcht
oder Misstrauen, weil er bewaffnet kam. Er schlief wenig, träumte C. habe ihm
Bücher (die er gar nicht besass) mitgenommen, ging am 27. zu 0. und verlangte
diese Bücher, indem er Schlaflosigkeit und Kopfweh klagte. Er sah seinen Irr-
thum ein, ging wieder zu Bett. Der Kopf wurde ihm schwer, die Gedanken
confus, er versuchte zu arbeiten, da er nicht schlafen konnte. Um 8^2 Uhr ging
er mit der Sichel aufs Feld. Dort bemerkte ihn das Weib des C, wie er weinte
und auf die Knie niedersank. Erschreckt fragte sie ihn was er habe. Er wolle
fort von seinem Weib. Inzwischen war seine Frau herbeigekommen. Die beiden
suchten ihn zu trösten, Er erschien ihnen irrsinnig, weigerte ärztliche Hilfe in
der Meinung, man werde ihm schaden, ihn umbringen. Als man mit Bitten , er
möge sich ärztlich behandeln lassen, in ihn drang, wurde er zornig, bedrohte
die C. so dass diese floh, bald darauf aber mit 3 anderen Frauen zurückkehrte.
P. meinte, sie führten Böses im Schild, jagte sie davon. Es kamen B. und seine
Frau, luden die Frau des P. ein, mit ihnen CaflFe zu trinken. P. wollte es nicht
leiden, da man seine Frau vergiften wolle. Diese folgte der Einladung B's. P.
ging nun zur Wittwe Ca. Er war ganz entstellt, verlangte eine Sichel, erhielt
sie. Er ging fort. Unterwegs schreckte er sich über ein Weib, über eine Blut-
lache. Seine Gedanken verwirrten sich immer mehr — es kam ihm vor, die Be-
sitzer der umliegenden Felder seien todt, ohne Erben, er selbst nun Besitzer. Zu
Hause traf er seine Frau, die vor Schreck am Boden kauerte. Er hielt sie für
vergiftet, leidend, schleppte sie fort. Sie sagte „du bringst mich um". „Nein,
Marie, ich bin dir gut". P. der ganz entstellt war, packte die Frau und trug sie
aufs Feld, dort lag ein grosser Stein. „Der Besitzer ist doch so eifrig im Weg-
schaffen der Steine; wie kommt dieser grosse Stein daher? Es hat ihn Jemand
daher gebracht, damit ich Böses damit anstelle". Sofort nahm er den Stein und
schlug seiner Frau den Schädel ein. Da sie schrie, stopfte er ihr den Mund mit
Erde voll. B. u. C. eilten herbei. Er rief ihnen entgegen „Ihr wollt mich aus-
spioniren, weil ich mein Weib getödtet, ich will Euch aber vertreiben". Die Beiden
204 Cap. IX. Epileptisches Irresein.
suchten ihn zu bei'uhigen. Auf ihre Frage, warum er blutige Hände habe, sagte
er „mein Weib hat mich gebissen, aber ich werde sie getödtet haben," Da er
ruhiger wurde, Hessen ihn die Beiden laufen. P. rannte ins Haus des B., wo er
dessen Weib und 3 Kindern mit einer Feuerzange den Schädel zerschmetterte,
dann in der Meinung, er fliege gen Himmel, 6 Meter hoch vom Dach herunter
sprang. Man fesselte ihn. Er sah ganz verstört aus, war nicht bei sich. Die
Nacht auf den 29, war er schlaflos und musste bewacht werden, da er Wuth-
anfälle hatte. Am 29. früh war er noch verworren und wurde beim Verhör auf-
geregt, so dass man dieses aufgeben musste. Er will die B, getödtet haben, weil
er eine Stimme hörte „bring sie um, nehm ihr das Blut, esse ihr Fleisch. Ich
steckte Stücke des Gehirns in die Tasche , einen Knochen und Zahn in den Mund
(thatsächlich) und da ich eine Stimme hörte, ich werde jetzt mit allen Getödteten
ins Paradies eingehen, sprang ich vom Dach herunter". Am 30. fand ihn der
Arzt im Gefängniss congestiv, traurig, niedergeschlagen. Er erzählte die Details
der That, war tief erschüttert. Er habe sich seit einigen Tagen unwohl, schwer
und schwindlig im Kopf gefühlt und eine Stimme gehört „thue das und du wirst
gerettet werden". Diese Stimme habe ihn zu seiner schrecklichen That getrieben.
Um 1 Uhr Nachmittags stertoröses Athmen, Schaum vor dem Mund, einige Zuckun-
gen, worauf P. mit blassem Gesicht, zusammengekniffenen Lippen, aufgerissenen
Augen und reaktionslos dalag. Abends 10 Uhr und am 1. Mai mehrmals Wieder-
kehr solcher bis ^2 Stunde dauernder Anfälle, die der Arzt als epileptische
erkannte. In der Zwischenzeit war er bei sich. Bei der Ueberstellung ins Irren-
haus am 24. Mai ruhig, lucid, geordnet. Am 29, wird er düster, verstört, ängst-
lich, klagt Unwohlsein, Gedankenverwirrung, Kopfweh. Auf Laxans Erleichterung^
Am 80, Abends tief verstört, leicht stuporös, ängstlich, feindliche Apperceptionen,
confuse schreckhafte Stimmen. In der Nacht auf den 31. schlaflos , Todesangst,
starr vor Schrecken. Am 31. ganz verworren, will nicht essen, Gesicht heftig
geröthet. Plötzlich wankt er auf 2 Wärter zu — er wird starr, Bewusstsein
halberloschen , Gesicht bleich, Trachealrasseln, keuchender Athem. Abgang von
Urin. Bis zum 2. Juni eine ganze Serie von unvollständigen theils klonischen
theils tonischen epileptischen Anfällen. In der Folge wieder lucid.
P. ist leicht micro-brachycephal (Circumferenz 53 Cm.) und geistig etvva&
beschränkt. Er hat häufig gastrische Beschwerden, die dann jeweils mit Gemüths-
verstimmung einhergehen. Den epil. Insulten geht jeweils ein mehrtägiger Zu-
stand von Gedrücktheit, moralischer und intellektueller Prostration, Verworrenheit,
ängstlicher peinlicher Unruhe mit taed. vitae, schreckhaften imperativen Halluci-
nationen vorher.
Im Anfall ist sein Bewusstsein nicht aufgehoben, nur getrübt. Eine schreck-
liche innere Angst bildet dann den Inhalt desselben. Er appercipirt feindlich,
sucht sich vermeintlichen Qualen und dem unerträglichen Leben durch Selbstmord
zu entziehen.
Nach dem Anfall ist er erschöpft, leicht stuporös verwirrt, traurig darüber,
dass er noch am Leben. Die epil. Anfälle sind incomplete (petit mal) mit vor-
herrschender Affektion der psychischen Sphäre. Die Mordthaten fanden im Zu-
stand eines acuten epileptischen Delirs, das als Aura der folgenden Krampfan-
fälle aufgefasst werden kann, statt.
P. befand sich zur Zeit seiner That in einem krankhaften ängstlichen Zu-
stand, in welchem er delirirte, überall Feinde, Verfolgung sah, von Allem schreck-
Dämmer(Traum-)zustände mit complicirten Handlungen. 205
hafte Eindrücke bekam. P. folgte einem krankhaften Impuls als er seine Schreckens-
thaten beging. Er ist gemeingefährlich und bedarf der Aufnahme in einer Irren-
anstalt. Keine Verurth eilung. (Toselli und Zavattero, Rivisto sperimentale.)
Weitere Fälle: Journal le Droit 1867, 20. Juni (Mordversuch an der
Frau). Annal. med. psych. 1867, Nov. (Mord der Frau und Brandstiftung). Falret,
de Tetat mental des epil. p. 33 (Mord). Legrand du Saulle, etude, Beob. 10 (Mord-
versuch). Ebers, Zurechnung, p. 129 (Tödtung). Bergonzoli, Rivista sperim. 1876,
März (Verwundung). Passauer, Vierteljahrsclir. f. ger. Med. XXVI. H. 2 (gefährl.
Bedrohung). Hecker, deutsch, med. Wochenschr. 1876 Nr. 23 (Bedrohung), v. Krafft,
' Lehrb. der Psych. III. Beob. 78, 79, 87.
e) Dämmerzustände mit traumhaften, aber c o o r d i n i r t e n
Handlungen, analog denen des Schlafwandeins, als Folge von
Delirien und Zwangsvorstellungen.
Es handelt sich um Zustände transitorischer Geistesstörung auf epileptischer
Grundlage, in welchen, ähnlich wie bei dem Nachtwandler, das Bewusstsein auf
traumhafter Stufe ist und combinirte, anscheinend planmässige Handlungen mög-
lich sind. Die Veranlassungen zu diesen Handlungen sind lebhafte innere Vor-
stellungen, die bei dem wechselnden Zustand des Bewusstseins bald die Bedeutung
von Delirien bald die blosser Zwangsvorstellungen haben. Die Phantasiethätig-
keit dieser Kranken ist mächtig erregt und spiegelt ihnen ganze Romane vor, in
welchen sie die hervorragende Rolle spielen. Die Apperception der Aussenwelt
ist eine traumhafte und verfälscht im Sinne der den Kranken gerade beherrschen-
den Ideen. Diese sind vorwiegend expansive, der Kranke kommt sich als eine
ausgezeichnete Persönlichkeit, als ein Fürst, Gesandter, Held und dgl. vor, jedoch
sind episodisch auch schreckhafte Delirien möglich und in seltenen Fällen können
sie ausschliesslich vorhanden sein.
Solche Traumzustände dauern Stunden, Tage, selbst Wochen. Die Delirien
können vorübergehend cessiren — der Kranke dämmert dann ziellos umher: mit
ihrem Wiederauftreten nimmt der Kranke seine wahnhafte Rolle wieder auf und
zeigt ein scheinbar bewusstes combinirtes Handeln.
Episodisch können Zustände von petit und von grand mal, Stupor, impul-
sive Akte complicirend auftreten; die Störung des Bewusstseins zeigt Intensitäts-
wechsel in der Continuität des Krankheitsanfalls von relativer Lucidität bis zur
tiefen traumhaften Verworrenheit. Dem entsprechend ist die Erinnerung für die
einzelnen Zeitabschnitte eine summarische bis defekte, immer aber getrübte.
Die Anfälle leiten sich mit Umdämmerung des Bewusstseins ein und in
der Regel überdauert eine solche noch den eigentlichen deliranten Zustand, so
dass eine scharfe zeitliche Abgränzung jener von der unvermerkt verloren gehen-
den und wieder eintretenden Lucidität kaum möglich ist.
Die Kranken sind im Anfall wenig auffällig, ausser durch ihren starren
wie verglasten Blick, ihren dämmerhaften mimischen Ausdruck. Sie erscheinen
zerstreut, angetrunken. Auffallend häufig leiten auraartiger Kopfschmerz, Schwindel,
schwere Träume den Anfall ein. Zuweilen werden auch Hallucinationen beobachtet.
Psychische Prostration, Abgeschlagenheit, Benommenheit des Sensoriums, Kopf-
schmerz, Morosität sind gewöhnliche Folgeerscheinungen des Anfalls und deuten
nebst dem traumartigen Handeln, den Erinnerungsdefekten, dem typisch con-
gruenten Bild der Anfälle, den episodischen Erscheinungen von Stupor etc. auf die
206 Gap. IX. Epileptisches Irresein.
epileptische Natur des Zustands hin. Intervallär linden sich nebst den gewöhn-
lichen Symptomen der epil. Neurose zeitweise Verstimmungen, Zwangsvorstel-
lungen, Aengstlichkeit bei ganz bedeutungslosen Handlungen, Kopfschmerz,
Schwindel, Kopfdruck, Schwäche, Muskelspannungen, Zuckungen, vasomotorische
Störungen, besonders aber Nystagmus, der in der Mehrzahl der Fälle dauernd
oder wenigstens anfallsweise beobachtet wird. Die epileptische Neurose ist fast
immer hereditär bedingt und sind Convulsionen in der Kindheit nachweisbar
selten ist sie traumatisch entstanden. Klassische epileptische Insulte sind selten
häufiger Vertigo, am häufigsten blosse Angst- und Ohnmachtanfälle.
Die bis jetzt beobachteten Handlungen dieses traumhaften epi-
leptischen Dämmerzustands sind Vagabundiren (motivloses Herum-
dämmern)^ Desertion überhaupt, grundloses Weglaufen aus dem Dienste,
Diebstähle, Schwindeleien, Majestätsbeleidigungen, Mord.
Beob. 71. Epileptische Traumzustände. Desertion. Theodor B.,
Soldat seit 1867, wurde den 29. Januar 1871 der Desertion verdächtig in Landau
verhaftet. Er hatte sich angeblich seit Spätherbst in der Gegend herumgetrieben,
bald als Kundschafter, bald als Baron S. Premierlieutenant, bald als Vertreter
eines erkrankten Feldgensdarmen und durch Schwindeleien sich den Unterhalt
verschafft. Schon vom 15. — 22. August 1870 war er von der Compagnie weg-
geblieben, in Untersuchungsarrest gekommen. Am 23. August hatte er auf dem
Weitermarsch über seine Füsse geklagt und war verschwunden. Er behauptet
dann krank bei einem Bauern gelegen, sein Regiment gesucht zu haben, als er
es nicht fand, Ende October nach Landau zurückgekehrt zu sein und aus Furcht
vor Strafe weitere Schritte zur Auffindung seiner Truppe unterlassen zu haben.
Dass sein zweckloses Umherirren in so ernster Zeit den preussischen Soldaten in
Misskredit bringen könne, sei ihm nicht zum Bewusstsein gekommen. Seine
Schwindeleien gibt er grösstentheils zu. Auf Widersprüche in den Verhören
aufmerksam gemacht, entschuldigt er sich, dass seine Aussagen in Landau in
einer seiner schwachen Stunden gemacht seien, die ihn zuweilen überkommen
und in denen er nicht wisse was er thue. Seit dem 12. Jahre bis vor 2 Jahren
habe er zeitweise solche „bewusstlose Zufälle" gehabt und vermutlie, dass er
auch in Landau beim Verhöre an einem solchen litt, da er sich gar nicht
mehr besinnen könne, was er dort ausgesagt.
An Desertion bei seinem zwecklosen Umherlaufen habe er keineswegs ge-
dacht — es sei nur Folge seiner „Lodderei" gewesen, dass er sich nicht längst
gemeldet.
Die Zurechnungsfähigkeit des B. erschien fraglich. Schon 1868 wurde sie,
als B. desertirte und in Folge dessen mit 8 Monaten Festung bestraft wurde, in
Zweifel gezogen, in einem Gutachten verneint, in einem Obergutachten bejaht.
B. stammt von gesunden Eltern. Nervenkrankheiten sind in seiner Fa-
milie nicht vorgekommen. Als Kind von 10 Wochen zweimal 24 Stunden lang
Krämpfe. Normale Entwicklung, gute Erziehung. 1863 Erlernung der Landwirth-
schaft bei einem Gutsbesitzer. Strenge Behandlung, Kopfschläge und angedrohte
Strafe veranlassten ihn zur Rückkehr in"s Elternhaus, wo er bei der Ankunft
Frost, Kopfschmerz, Gliederzittern klagte, bettlägerig wurde, in der Folge sehr
abgespannt und theilnahmslos war, dem Hausarzte den Eindruck eines Gemüths-
Beob. 71. Epileptische Traumzustände. Desertion. 207
kranken machte. Er soll damals an Ohrensausen und zeitweiser Bewusstlosig-
keit gelitten haben. Genesen, wurde er Wirthschaftsschreiber, entfernte sich
öfters grundlos vom Dienste, trieb sich vagabundirend herum und machte der
Umgebung vielfach den Eindruck eines zeitweise gedächtnissschwachen, irrsinnigen
Menschen. Wegen seines unmotivirten Fortlaufens entlassen, kam er auf ein
anderes Gut, wurde aber dort unordentlich in seinen Leistungen und klagte öfters
über Blutandrang zum Kopfe. Im Herbste 1867 wurde er Soldat. Anfangs sehr
befriedigend, beging er in der Folge allerlei Verkehrtheiten, Ungeschicklichkeiten.
So kam er bei Zurechtweisungen ans dem Concept, bei Schiessversuchen riss
er beim Abdrücken beide Augen auf und verzog das Gesicht, so dass ein schlechter
Schuss die Folge war. Sein Vorgesetzter schloss aus diesem zwangsmässigen,
uncorrigirbaren Benehmen auf momentane Geistesabwesenheit. Auffällig war
seine Furcht, wenn es zum Schwimmunterricht ging. Beim Exerciren sprang er
einmal aus dem Glied ohne Veranlassung. Ende Juli 1868 klagt er in einem
Briefe an den Vater, dass er wieder seine alte Krankheit (Kopfweh, Zittern,
Frieren etc.) spüre und am liebsten in's Lazareth ginge. Am 13. August 1868
verschwindet er beim Gang nach der Schwimmschule, kommt am 19. Aug. zurück,
behauptet er sei zu Fuss nach seiner 14 Meilen entfernten Heimat bis an die
Wohnung seines Vaters gegangen, dann aber ohne einzutreten wieder umge-
kehrt (!). Er wisse nicht warum er fortgelaufen, es müsse seine alte Kopfkrank-
heit Schuld sein, die sich 8 Tage vor der Desertion durch Schwindelanfälle wieder
angekündigt. Als er auf dem Wege nach der Schwimmschule gewesen, habe
ihn wieder ein solcher Schwindel befallen, so dass er selbst nicht wisse, wie er
von G. fortgekommen. Das damals erhobene Gutachten constatirte diese tempo-
rären Zustände von Bewusstseinsstörung als wirkliche und charakterisirte sie
als epileptoide. Das Obergutachten erkannte in B. nur einen leichtsinnigen
Menschen. B. gestand aiich, dass er nur aus Furcht vor dem Schwimmen da-
vongelaufen und damals bei voller Besinnung gewesen sei.
B. ist 24 Jahre alt, kräftig, Druck auf einzelne Halswirbel schmerzhaft,
Gesichtsausdruck verstört, ängstlich, das Gesicht leicht erröthend. Die Pupillen
auffallend weit, auf Lichtreiz träge reagirend. Die Extremitäten zeigen leichten
Tremor, B. will öfters nach Geh- und Schreibanstrengungen Waden- und Schreibe-
krampf gehabt haben, auch häufig an Kopfweh und unruhigem Schlaf leiden.
Ein gewisser Grad von geistiger Schwäche ist unverkennbar. Ueber seine Deser-
tionen macht er immer dieselbe Angabe. Wie er so etwas habe thun können,
wisse er selbst nicht; er sei öfters nicht richtig im Kopfe und könne keinen
ordentlichen Gedanken fassen. Darin beständen seine „bewiisstlosen Zustände".
Er könne sie nicht genauer beschreiben; zuweilen habe er auch ganz kurz dauernde
Anfälle solcher Bewusstlosigkeit, wo er dann in der Rede stecken bleibe. Auch
sein Gedächtniss habe in den letzten Jahren immer mehr gelitten. Er sei über-
haupt nicht mehr so wie früher. Er wisse selbst nicht, was mit ihm sei. Wenn
Jemand scharf mit ihm spreche, gerathe er so in Angst und Unruhe, bekomme
dann das Zittex'n sehr stark und es breche Schweiss am ganzen Körper aus.
Auch könne er dann gar nicht widerstehen und lasse sich zu Allem überreden.
Diese Angaben des B. machen den Eindruck der Wahrheit.
Das Gutachten resümirt die früheren Lebens- und Gesundheitszustände
und kommt zum Schlüsse, dass hier ein empirisch wahres Krankheitsbild — ein
epileptoides Leiden — vorliegt, ein Leiden, bei dem nicht ausgesprochene epi-
208 ^^P- I-^- Epileptisches Irresein.
leptische Anfälle auftreten, sondern statt solcher vorübergehende, kürzere oder
längere Schwindel- oder auch Traumzustände, plötzliche Angstanfälle etc. Nach
Oriesinger haben von solchen Zuständen Befallene als Kinder oft Krämpfe mit
Verlust des Bewusstseins gehabt oder einmal eine Kopfverletzung erlitten. Sie
bieten in der intervallären Zeit gewöhnlich eine allgemeine Abspannung, Ver-
stimmung, Aengstlichkeit, Befangenheit. Die Aengstlichkeit kann sich bei ein-
zelnen Kranken regelmässig bei gewissen Handlungen, die an und für sich gleich-
gültig sind (Schreiben, Essen etc.), steigern. Auch werden motorische Symptome
(leichte Zuckungen in den Händen, um den Mund, den Bulbus, Nackenstarrheit)
und andere wahrscheinlich nervöse (Kälte der Füsse, plötzliche Röthe des Ge-
sichtes, schnell ausbrechender starker Schweiss) hier nicht selten beobachtet.
Diese Erscheinungen finden sich sammt und sonders am Inculpaten ; sie würden,
auch wenn er nicht darüber klagte, bewusstlose Zustände vermuthen lassen. B.
leidet an einer Gehirnkrankheit, die mit periodisch auftretenden Anfällen von
Bewusstlosigkeit resp. mit traumhaften Zuständen verbunden, sich auch in der
Zwischenzeit durch gewisse sensorielle und psj^chomotorische Sj^mptome äussert,
in Folge deren der Kranke als unzurechnungsfähig zu betrachten ist. (Hecker,
Vierteljahrsschr. f gerichtl. Med. N. F. XX. H. 1.)
Beob. 72. E p i 1 e p t i s c h e D ä m m e r - und T r a u m z u s t ä n d e m i t
Angst. Gefährliche Drohungen. Neuner, 29 J., Taglöhner, litt als Kind
an Convulsionen, bekam mit 6. J. einen Steinwurf auf die Stirne ohne ei-kenn-
bare Folgen ausser mehrstündiger Bewusstlosigkeit, war erwachsen etwas Trinker,
hatte 1871 eine acute cerebrale Affektion überstanden und seit 1872 epileptische
Anfälle geboten , die in Pausen von mehreren Monaten , aber dann gehäuft auf-
traten. Er war sehr reizbar geworden, intolerant gegen Alkohol und intellektuell
geschwächt. In den letzten Jahren zeigten sich wiederholt postepilept. Dämmer-
zustände, in welchen er sich irre ging. Meist ging als Aura den Anfällen die
Vision einer phantastischen rothen Gestalt voraus. Seit 4 Monaten hatte Pat.
keinen Anfall convulsiver Epilepsie mehr gehabt, dagegen vor 1 Monat einen
Dämmerzustand, in welchem er mitten in der Nacht zu seinem Erstaunen vor
dem 1 Stunde entfernten Haus seiner Mutter zu sich kam. Er wusste kein Motiv
für diese nächtliche Wanderung, er fand sich bloss mit Hose und Hemd bekleidet,
vermisste seine sonstigen Kleider und ging beschämt nach Hause. In den letzten
3 Wochen hatten sich fast täglich nach dem Mittagessen , namentlich wenn er
die Speisen heiss genoss, Dämmerzustände von mehrstündiger Dauer einge-
stellt, in welchen er von ängstlicher Unruhe getrieben umherschweifte, einmal
auch in Streit mit den Leuten in einem entfernten Dorfe gerieth.
Am 12. Nov. 1879 wurde ihm beim Mittagessen Tinwohl, sonderbar be-
klommen. Er hatte wieder die Vision des rothen Phantasma, es grauste ihm,
trieb ihn fort, verfolgt von dem Gespenst. Er löste ein Billet, fuhr auf der
Eisenbahn nach einer benachbarten Station. Unterwegs sah er beständig rothen
Flammenschein, meinte es brenne, er sei von Feuer umgeben, war ganz verwirrt.
Er erinnert sich noch, dass er in P. ausstieg. Von da an liat er nur eine
höchst defekte Erinnerung. Es kam ihm vor, der Bürgermeister habe 4000 fl.,
die für ihn deponirt seien. Er ging zu diesem ihm ganz fremden Mann, fordei'te
das Geld und drohte mit Erschiessen, wenn er es nicht bekomme. Er wurde ver-
haftet, von 2 Männern zur Bahn gebracht und nach Graz gefülirt. Unterwegs
Transitorisches Irresein Epileptischer. Diagnose. 209
war er ängstlich, wollte entspringen, zerhieb ein Fenster. Bei der Aufnahme
Abends auf der Klinik war er im Bewusstsein schwer gestört, dämmerhaft, hatte
den Sack voll Zündhölzchen, äusserte, er habe schon angezündet (ßeminiscenz
der Flammenvision), es müsse noch einmal brennen, damit es doch einen Jux
und etwas zu sehen gebe. Pat. schläft bald ein, schläft die Nacht über fest und
erwacht am 13. Morgens zu seinem Erstaunen im Spital. Vom Beginn der Fahrt
nach Graz bis dato besteht ein völliger Erinnerungsdefekt.
Am 15. Nov. trat nochmals ein mehrstündiger Zustand von Bewusstseins-
störung ein, in welchem er wieder von seinen 4000 fl. faselte und aus dem er
mit ganz summarischer Erinnerung zu sich kam. In der folgenden mehrmonat-
lichen Beobachtung wurden keine irgendwie gearteten epilept. Symptome an N.
mehr bemerkt. (Eigene Beobachtung.)
Weitere Fälle: Motivloses ümhervagabundiren : Legrand, etude medico-
legale p. 110 (unbewusste zwecldose Reise von Frankreich nach Bombay!) p. 131.
Despine, psychol. naturelle II, p. 143. v. Krafft, Lehrb. d. Psychiatrie III, Beob. 84.
Desertion: Heller, Vierteljahrsschr. für gerichtl. Med. 1876. Majestätsbeleidigung:
V. Krafft, Lehrbuch d. Psych. III, Beob. 85. Verleitung zum Raubmord: Flechner,
österr. Zeitschr. f. prakt. Heilkde. XVII, 24. Diebstähle, Schwindeleien: Flechner,
Psychiatr. Centralblatt 1874, 10, 11. Mord (Fall Holtzap fei) : Archiv f. Psychiatrie
V, p. 235, 307, 311; VI, 862. Casper-Liman, Handb. p. 609.
Von grösster forensischer Bedeutung ist die Erkennung der ge-
schilderten transitorischen Irreseinszustände als epileptischer. Dadurch
gewinnt die Diagnose derselben eine breite klinische Grundlage und
erscheinen sie nicht als zweifelhafte oder zufällige Erkrankungen.
Die Diagnose dieser Zustände fusst :
1. auf ihrem jähen Ausbruch und Niedergang, mit mehr weniger
deutlich nachweisbaren und den sonstigen paroxystischen Kundgebun-
gen der epileptischen Neurose gleichen Vorläufern und Nachzüglern.
2. Auf der Combination der Symptome in eigenthümlicher für
Epilepsie sprechender Weise. (Bewusstseinsstörung, traumartige Ver-
worrenheit bei scheinbarer Lucidität^ delirantes Gepräge des ganzen
Anfalls mit schreckhaften Hallucinationen und Delirien , namentlich
persecutorischen untermischt mit religiösen, episodisch Angst, Stupor.)
3. Die Erinnerung für die Ereignisse der Anfallszeit ist getrübt,
summarisch bis defekt.
4. Die Handlungen sind, wenn auch combinirt und anscheinend
planmässig, doch traumhaft und vielfach impulsiv. Sie wiederholen
sich in typischer Weise, indem sie Theilerscheinungen gleichgearteter
Anfälle und jeweils durch dieselben inneren Ursachen hervorgerufen
sind. Je tiefer die Störung des Bewusstseins, je wirrer das Vor-
stellen — um so unmotivirter, planloser erscheinen sie, und bei dem vor-
wiegend, schreckhaften Charakter der Delirien und Sinnestäuschungen,
bei der feindlichen Aperception der Aussenwelt stellen sie vielfach Aua-
V. Kraff t-Ebing, gerichtl. Psychopathologie. 2. Auflage. 14
210
Cap. IX. Das epileptische Irresein.
bräche blinder Wuth dar, die in quasi convulsivischer Aeusserungs-
weise nicht in der Vernichtung ihr Ziel findet, sondern fortfährt zu
zerstören, bis endlich die convulsivische Bewegung zur Ruhe gelangt ist.
Es ist bezeichnend für diese Thaten des petit und grand mal, dass die
Opfer dieser Kranken nicht blos getödtet, sondern vielfach gräulich
verstümmelt werden, Dutzende von Messerstichen, Zertrümmerungen
des Schädels bis zur Unkenntlichkeit constatirt werden. Solche Hand-
lungen würden die grösste Brutalität, wahre Thaten des Cannibalis-
mus darstellen, wenn sie bewusst ausgeführt würden. Sie stehen
damit in vollem Gegensatz zu der Gefühls- und Handlungsweise im
intervallären Zustand. Es sollte als Grundsatz in foro gelten, dass
überall wo schreckliche, urplötzliche, motivlose, ohne Berücksichtigung
der Umstände, Mittel, etwaiger Zeugen, gleichsam instinctiv ausge-
führte Gewalttbaten vorliegen, zunächst an Epilepsie • gedacht würde.
Diese Vermuthung gewinnt an Berechtigung, wenn der Thäter am
Thatorte in einem tiefen geistigen Dämmerzustand oder im Stupor
betroffen wurde.
5. Es lassen sich anamnestisch früher vorhandengewesene gleich-
artige Anfälle nachweisen. Aus der Häufung dieser Kriterien wird
sich die epileptische Natur eines Falles von transitorischem Irresein
mit hoher Wahrscheinlichkeit ergeben und der Expertise den Weg^
weiterer klinischer Forschung gewiesen. Jene Wahrscheinlichkeit
wird zur Gewissheit insofern der Nachweis irgendwie gearteter epil.
Anfälle im früheren Leben gelingt. Unterstützend für die Diagnose
erscheinen endlich die intervallären psychischen und somatischen Zeichen
der epileptischen Neurose, die Züge des epileptischen Charakters und
epil. psychischer Degeneration,
Im Anschluss an die geschilderten transitorischen Irreseinszustände der E.
muss der Thatsache gedacht werden, dass auch Anfälle von mehrere Wochen
bis Monate dauerndem Irresein bei E. vorkommen, die sich durch tiefe Störung des
Bewusstseins, grosse Verworrenheit, durch das delirante Gepräge»des Krankheits-
bilds, episodische Dämmer- imd Stuporzustände, höchst summarische bis defekte
Erinnerung für die Vorgänge der Krankheit, plötzlichen Ausbruch und Lösung
durch ein Dämmer- oder Stuporstadium hindurch von einer gewöhnlichen Psychose
genugsam unterscheiden. Eine genauere Betrachtung lehrt diese Zustände als
mehrmals sich wiederholende und in einander fliessende, zugleich protrahirteAn-
fälle des bereits geschilderten transitorischen Irreseins erkennen. Es finden sich
in dieser Auffassung Fälle von Stupoi", petit, grand mal und religiösem Delir vor.
Dabei braucht die Wiederholung der Zustandsform nicht die gleiche zu sein,
eine andere kann an ihre Stelle treten.
Damit entstehen bunte und nur im Zusammenhang verständliche Combi-
nationen verschiedener epileptischer Symptomenreihen und Zustandsbilder.
Beob. 73. Protraliirte epilept. Dämmerzustände mit Delirien. 211
Beob. 78. Traumatische Epilepsie. Melancholie. (Wahrschein-
licher Mord des Sohnes.) Dann wiederholte protrahirte epilep-
tische Dämmerzustände mit Delirien. Am 9. Okt. 1877 kam der 36 J.
alte Landmann G. schwerverwundet durch einen Schuss am Kopf in's Spital und
machte folgende Angaben: „Ich hatte ein Söhnchen. Es war auf einem Auge
erblindet. Da es mich dauerte, habe ich es am 11. Juli in meinem Ziehbrunnen
ertränkt. Seitdem kann ich es vor Unruhe und Gewissensbissen nicht aushalten.
Endlich habe ich mich heute mit einer. Pistole zu entleiben gesucht."
G. erschien gedrückt, bot sonst nichts Auffälliges. Die schwere Schuss-
verletzung war schon Anfang November in voller Heilung begriffen — da zeigten
sich Anfang November Symptome von Geistesstörung. G. drängte fort, heim, hörte
Stimmen, die ihn nach Hause riefen , wollte durchs Fenster gehen , sprach und
handelte ganz verwirrt. Am 16. Nov. wurde er desshalb ins Irrenhaus zu wei-
terer Beobachtung abgegeben.
G. ist nicht belastet, entwickelte sich normal, lebte solid und gesund
heirathete mit 25 J., lebte in guter Ehe und guten Verhältnissen, zeugte 2 Söhne,
die er zärtlich liebte.
1872 gerieth er in Streit mit einem Verwandten, erhielt von diesem eine
schwere Contusion am Kopf, war mehrere Tage bewusstlos und mehrere Wochen
arbeitsunfähig, hatte damals auch Convulsionen.
Im Frühjahr 1877 verlor der 4jährige jüngere Sohn, der Liebling des Vaters,
ein Auge. G. war untröstlich, bot Alles auf das Auge zu retten. Umsonst. Er
wurde traurig, niedergeschlagen, lässig bei der Arbeit, magerte sehr ab, der An-
blick des entstellten Sohnes war ihm entsetzlich.;
Am 11. Juli kam G. heim, fand den Sohn nicht vor, wurde besorgt, er
könne in den Ziehbrunnen gestürzt sein, rief die Nachbarn herbei, durchsuchte
den Brunnen. Als der Leichnam gefunden wurde, sagte er: „ich bin ein vernich-
teter Mann" und blieb dann stumm und niedergeschlagen. Gericht und öffent-
liche Meinung constatirten einen Unglücksfall. G. wurde immer deutlicher
melancholisch, schlief, ass nur mehr wenig, trug sich mit Selbstmordgedanken,
wollte sich auf die Eisenbahnschienen legen. Eines Tags gestand er dem Knecht,
er habe den Sohn im Brunnen ertränkt.
In der Irrenanstalt kam G. stumm und verstimmt an. Am andern Tag
fragte er, ob seine Verletzungen noch geheilt werden könnten. Er bat um Ver-
setzung in eine ruhige Abtheilung des Hauses, war dankbar für die ärztlichen
Bemühungen und bot bis auf ein einsilbiges gedrücktes Wesen nichts Besonderes.
Am 26. November fing er an zu halluciniren (hörte Musik) und zu deliriren.
Er meinte, seine Frau sei im Frühjahr gestorben, er habe keine Kinder. Er
wusste von Allem, was geschehen war, nichts mehr, auch nicht, wie er herge-
kommen war. Er hörte Nachts Musik, sah viele Pferde umherrennen, glaubte
sich in einem Wirthshaus, verlangte man solle ihn fortlassen, sonst bringe er
sich um. Einen Verwandten, der zum Besuch kam, erkannte er nicht. Er war
im Bewusstsein tief gestört, dämmerte herum , hielt sich abseits von der Gesell-
schaft und schien in Gedanken versunken. Am 4. Dec. hörte er Nachts, er sei
ein Sohn des Teufels, einen andern Tag wollte er Soldat werden, ein 6. Weib
zu den 5, die er schon besessen habe, heirathen.
Am 14. Dec. klärt sich etwas sein Bewusstsein. Er erinnert sich seiner
früheren Lebensumstände, seiner Kinder, weiss aber noch nicht Zeit und Ort,
212 Cap. IX. Das epileptische Irresein.
weiss nichts vom Vorgefallenen. Als man ihn an die Erblindung seines Sohnes
erinnert, meint er, man wolle ihn foppen, noch mehr wundert er sich, als
man seinen Selbstmordversuch erwähnt. Es zeigt sich, dass er von allen Erleb-
nissen seit April nichts weiss. Als man ihm den Tod des Sohnes und sein Ge-
ständniss mittheilt, geräth er in aufrichtige Bewegung und hält eine solche That
begangen zu haben für unmöglich. Am 18. Dec. erkennt er den wieder zum
Besuch gekommenen Verwandten, ist aber theilnahmslos, fragt nicht, wie es zu
Hause gehe. Als ihm der Verwandte alles Geschehene mittheilt, ist er bestüi-zt,
nachdenklich.
Am 3. Januar 1878 Exacerbation des Zustands — gedunsenes Gesicht,
freq^uenter Puls, erhöhte Temperatur. Pat. schlaft wenig, behauptet, er müsse
binnen 3 Tagen sterben, wenn er nicht durch das Fenster springe und in's Paradies
gelange.
Am 22. Januar erinnert er sich wieder, dass sein Sohn ein Auge verlor
und. äussert tiefen Schmerz darüber. Bruchstückweise kommt ihm nun die Er-
innerung an das, was seit dem Unglücksfall geschehen ist, wie ihm oft Alles wie
ein Traum vorkam, bis ihm der Anblick des Sohnes die traurige Wirklichkeit
zeigte, wie sich seiner die Idee bemächtigte, es sei besser, der Knabe wäre gestorben,
wie er an Selbstmord und an gemeinsamen Tod mit dena geliebten Kind dachte.
Im Februar und März wurde G. geistig klar und erholte sich körperlich.
Vom 14. April an wurde ein neuer Anfall von Irresein bei ihm beobachtet.
G. wurde ruhelos, zerstreut, blieb zu Bett, klagte Kopfschmerz. Am 16. Morgens
9^'2 sprang er auf, nahm seine Kleider unter den Arm und wollte durch's Fenster.
Als man ihn daran hinderte, hieb er um sich, suchte die Leute zu beissen und
als man sich seiner versichert hatte, sagte er: „Wenn Der nicht gewesen wäre,
hätte ich einen guten Tag gehabt." Auf dem Weg nach dem Isolirzimmer meinte
er, man wolle ihn umbringen und verlangte, man solle ihn heimlassen. Sein Ge-
sicht war ganz entstellt. Den Rest des Tages und die folgende Nacht sang er
Volks- und Kirchenlieder. Am Morgen des 17. fieberte er etwas. Am 19. kam
er wieder zum Bewusstsein, suchte sich erstaunt zurecht zu finden. Am 21. war
er noch blass, dämmerhaft, in Prostration. Er erzählte, dass er am 16. heftiges
Kopfweh spürte, Nachts nicht schlief, ganz confus im Kopfe wurde, Stimmen
hörte, er solle heimgehen. Von allem Folgenden hatte er keine Erinnerung.
Dieser Anfall soll ganz ähnlich wie der im November beobachtete gewesen sein.
G. machte die wichtige Mittheilung, er habe vor 3 Jahren nach einer Gemüths-
bewegung einen ohnmachtartigen Anfall gehabt, der nach ähnlichem Anlass ein
Jahr darauf sich wiederholt habe.
G. zeigt einen gewöhnlichen Schädelbau, er bietet vegetativ nichts Besondres,
sein Sehvermögen ist geschwächt und bei Fixation kleiner Gegenstände stellt
sich Nystagmus ein.
Gutachten: Von Anfang November bis 14. Dec. war G. in einem stupor-
artigen Zustand mit Delirien. Von da an bis Ende Januar ist G. in einem
Dämmerzustand mit Remissionen. In diesem Zustand hat er Amnesie für Alles,
was vom Frühjahr 1877 bis dato vorgefallen ist.
Der Anfall Mitte April ist nach Verf. ein epileptoider. Dafür spricht die Gleich-
artigkeit desselben mit dem im Nov. beobachteten, seine plötzliche Entstehung
und Lösung, das delirante Gepräge desselben, die schwere Bewusstseinsstöi-ung,
die grosse Gereiztheit, die Amnesie u. s. w.
Cap. IX. Das hysterische Irresein. 213
Die Ohnmachtant'älle vor Jahren waren epileptische Insulte, die Epilepsie
wohl die Folge des Trauma capitis von 1872.
G. litt an protrahirten Anfällen epilept. traumat. Irreseins.
Hat G. seinen Sohn umgebracht? Verf. zweifelt nicht daran, dass G.
wirklich den Sohn getödtet hat und nicht, wie es so häufig bei Melancholischen
vorkommt, einen blossen Unglücksfall benutzte um sich eines Verbrechen zu
beschuldigen.
Wie war der Geisteszustand zur Zeit der That? Diesen näher zu bezeich-
nen, \\agt Verf. nicht, aber er hält ihn mit Recht für einen krankhaften, unzu-
rechnungsfähigen, wahrscheinlich melancholischen. G. wurde nioht verurtheilt.
(Toselli, Rivista sperim. 5. Jahrgang, fascic. 1 u. 2.)
Weitere Fälle s. Samt, op. cit. Beob. 7 u. 8.
7. Das hysterisclie Irresein,
Literatur. Forlani, Tisterismo nei suoi rapporti colla follia e colla responsabi-
lita. Vienna 1869. Legrand du Saulle, Lancette francaise 1860, XXXIL 145.
Idem, la folie devant les tribun. 1864, p. 323. Despine, psycholog. natu-
relle, 1868, tom. 11, p. 145. Falret , discussion sur la folie raisonn. Annales
med. psychol. 1866, Mai. Brosius, Irresein der Hysterischen, Irrenfreund
1866. Guibot u. Morel, l'union med. 1865. Wunderlich, Pathologie 1854,
p. 1490. Morel, traite de la med. legale des alienes 1866. v. Krafft, Zurechgsf.
d. Hysterischen, Friedreich's Bl. 1872, H. 1. Jolly, Ziemssen's Handb. XII,
p. 461.
Aehnlich wie bei der epileptischen finden sich auch bei der
hysterischen Neurose vielfach psychische Störungen. Diese können
auf elementare psychische Anomalien beschränkt sein (hysterischer
Charakter) oder in Form acuter episodischer Anfälle von Irresein oder
auch als chronische Geistesstörung das Krankheitsbild der hysterischen
Neurose compliciren.
Damit gewinnt diese nicht nur Bedeutung für Familie und Haus-
arzt, sondern auch für das Forum.
a. Der hysterische Charakter.
Klinische Uebersicht: Elementare Störungen der psychischen Funk-
tionen fehlen in keinem Falle von H. Ihre Gesammtheit lässt sich als hysterischer
Charakter bezeichnen.
Seine Grunderscheinungen sind das labile Gleichgewicht der psychischen
Funktionen, die enorm leichte Anspruchsfähigkeit und ungewöhnlich intensive
ileaktion des psychischen Mechanismus und der rasche Wechsel der Erregungen
(reizbare Schwäche). Im Vordergrund stehen die Anomalien des Gemüthslebens.
Die Kranken sind durch innere und äussere psychische Reize enorm afficirbar.
Auf der Höhe des Leidens bewegt sich das Fühlen nicht mehr in Stimmungen
214 Cap. IX. Das hysterische Irresein.
sondern nur noch in Affekten (psych. Hyperästhesie). Da die psychischen Vor-
gänge vorwiegend mit Unlustgefühlen betont sind, sind Stimmungen und Affekte
vorherrschend depressive, aber bei dem raschen Wechsel des Vorstellens und der
hohen Gemüthserregbarkeit ist die Stimmung keine stabile, ein bunter WeclTsel
der Gefühle, Affekte, oft in ganz jähem Umschlag vom Weinen zum Lachen viel-
mehr Regel. Indem sich aus den lebhaft betonten Vorstellungen Begehrungen
entwickeln und diese bestäiidig wechseln , erscheinen die Kranken launenhaft,
wechselnd in ihren Zu- und Abneigungen gegen Personen und Objekte. Die
Begehrungen können sehr heftig sein (Gelüste) gleichwie die Verabscheuungen.
Insofern perverse Gefühlsbetonungen möglich sind, ergeben sich Idiosjmcrasien.
Bei dem Ueberwiegen schmerzlicher psychischer Eindrücke und der Massenhaftig-
keit schmerzlicher Empfindungen fühlen sich derartige Kranke schwer leidend.
Sie werden damit Egoisten , unempfindlich gegen die Leiden Anderer. Besorgt
um das eigene Wohl und Wehe werden sie stumpf in ihren socialen und ethi-
schen Gefühlen , gleichgültig gegen ihre Pflichten , gegen das Wohl der Ange-
hörigen. Mit dem erkaltenden Interesse der Aussenwelt für ihre unablässigen
Klagen kommen diese Kranken dazu ihre Leiden zu übertreiben , zu simuliren,.
sich um jeden Preis interessant zu machen (Nadelnverschlucken, Stigmatisation,
Selbstbeschädigungen, fmgirte Attentate etc.), wobei ihre krankhaft gesteigerte
Phantasie gute Dienste leistet und ihre geschwächte Sittlichkeit vor keinem Be-
trug und keiner Lüge zurückschreckt. Am heftigsten werden die Affekte solcher
Kranker erregt, wenn sie damit nicht reussiren, sich verlassen und nicht be-
achtet sehen. Ihre Bosheit und Rachsucht kennt dann keine Gränzen. Als ele-
mentare Störungen im Vorstellen findet sich ein bald beschleunigter , bald ver-
langsamter, mitunter auch abspringender Ideengang. Die gemüthliche und
intellektuelle Impressionabilität der Kranken führt leicht Zwangsvorstellungen
herbei. Eine geschwächte Reproduktionstreue in Verbindung mit gesteigerter
Phantasie fälscht die Erinnerung und lässt die Kranken in der Rolle von Lügnern
erscheinen. Gelegentlich, namentlich zur Zeit der Menses und auf der Höhe von
Affekten, können Primordialdelirien der Verfolgung auftauchen.
Die krankhaft gesteigerte Phantasiethätigkeit lässt die Vorstellungen so
lebhaft auftreten, dass ihre Unterscheidung von wirklichen Erlebnissen kaum
mehr möglich wird. Nicht selten kommt es episodisch sogar zu Hallucinationen
(meist des Gesichtssinns und vorwiegend schreckhaften Inhalts) und Illusionen,
namentlich im Gebiet der cutanen Empfindung (Schlangen, Käfer im Bett, auf
der Haut) als falsche Interpretation wirklicher Sensationen.
Vielfach ist auch die geschlechtliche Sphäre krankhaft afficirt. Am häufig-
sten ist die geschlechtliche Empfindung gesteigert bis zu Wollustempfindungen
(selbst Coitushallucinationen — Incuben, Succuben des Mittelalters) und entäussert
sich in den sonderbarsten Handlungen (Nacktgehen, Sucht sich mit zweifelhaften
Cosmeticis, selbst Urin zu salben). Zu Zeiten kann wieder Frigidität überhaupt
bestehen oder nur als Idiosyncrasie gegen den Mann oder Geliebten ; nicht selten
finden sich auch temporär perverse sexuelle Gefühle mit entsprechenden Antrieben
oder äquivalenten Erscheinungen religiöser [Exaltation. Die wohl immer be-
theiligte vasomotorische Sphäre gibt zu Präcordialangst und Angstzufällen viel-
fach Anlass. Das Gebiet des (freien) Wollens erscheint endlich durch die sitt-
liche und Willensschwäche, durch die Flüchtigkeit und Oberflächlichkeit des
Vorstellens, durch die formal und inhaltlich geänderte Empfindungsweise, durch
Der hysterische Charakter. Rechtsverletzungen. 215
2i Wangsvorstellungen jedenfalls eingeschränkt und die Kranke ist vielfach nur
mehr der Spielball ihrer Launen, Gelüste, Impulse, Einbildungen. So kann es
geschehen, dass die wichtigsten Pflichten vernachlässigt, die heiligsten Gefühle
verletzt werden und den absurdesten Einfällen und Motiven Folge gegeben wird.
Interessiren diese elementaren psychischen Störungen zunächst
auch nur Familie und Hausarzt, so sind es gleichwohl vielfach nur
einfache Steigerungen derselben bei fortschreitender Willensschwäche
und Nachlass der Zugkraft sittlicher Motive und Correktive, die zu
strafbaren Handlungen hindrängen.
So führen krankhafte Verstimmung, Egoismus und Reizbarkeit
leicht zu Ehrenkränkungen, Verläumdungen, gerichtlichen Denun-
ciationen ; die grundlose Antipathie gegen gewisse Personen erzeugt
leidenschaftliche Stimmungen gegen diese, die die Triebfedern ver-
brecherischer Handlungen werden können; so können sich die natür-
lichen Gefühle der Mutterliebe in krankhafte Abneigung gegen die
Kinder (misopddie, s. Boileau, Annal. med. psych. 1861. p. 553)
verwandeln und zu Brutalität und zu bestialischer Grausamkeit führen ;
die übergrosse Einbildungskraft und mangelhafte Reproduktionstreue
gibt Veranlassung zu falschen gerichtlichen Angaben und falschem
Zeugniss; der Drang, sich interessant zu machen, die krankhafte Lust,
Aufsehen zu erregen, führt zu Betrügereien, Intriguen, Simulation.
Auf abnorme sexuelle Gefühle sich gründende Eifersucht und Arg-
wohn gegen den Ehemann erzeugen nicht selten Skandalprocesse,
Ehescheidungsklagen etc. , oder gegen Dritte Anklagen wegen un-
züchtiger Handlungen; aus Zwangsvorstellungen, perversen Gelüsten,
die wieder aus abnormen Gemeingefühlsempfindungen entstehen kön-
nen, ergeben sich Diebereien und Unterschlagungen. Wohl die Mehr-
zahl aller Fälle von wirklich krankhaftem Schwangerschaftsgelüste
gehört hieher.
Eine wichtige Ursache für rechtswidrige Handlungen Hyste-
rischer ist endlich ihre krankhaft gesteigerte Gemüthsreizbarkeit. Sie
vermittelt Affekte, die durch Dauer und Verlauf vielfach einen durch-
aus pathologischen Charakter annehmen, sich mehr dem Bild einer
Tobsucht als eines gewöhnlichen Affekts nähern.
Ehrenkränkung, Majestätsbeleidigung, Widersetzlichkeit gegen
die Obrigkeit sind dann leicht möglich.
Die Zurechnungsfähigkeitsfrage Hysterischer ist eine der schwie-
rigsten im concreten Fall und nur concret entscheidbar. Während
die Zurechnungsfähigkeit einer einfach Hysterischen und die Unzu-
rechnungsfähigkeit einer hysterisch Seelengestörten keinem Zweifel
216 Cap. IX. Das hj^sterische Irresein.
unterliegt, ergeben sich zwischen diesen Polen der Krankheit mit
der Häufung elementarer psychischer Störungen eine Unzahl von
Mittelzuständen psychischen Gesund- und Krankseins mit krankhaften
Stimmungen und Affekten, perversen und doch aus der Krankheit
hervorgegangenen Trieben bei gleichzeitig energielosem und durch
mannigfache formale und inhaltliche Störungen der Vorstell ungs-
processe gestörtem Wollen. Es zeigen sich Bizarrerien und Excen-
tricitäten, die bald als blosse Launen sich kundgeben, bald zur
Verletzung der Rechtssphäre Anderer führen können, eigenthümliche
Störungen und veränderte Reaktionen der gesammten Denk- und
Empfindungsweise bis zur Immoralität und Gemüthlosigkeit , kurz
eine Summe von anomalen psychischen Zuständen, die äusserlich
zwar durchaus als Leidenschaften, moralische Gebrechen, unsittliche
Neigungen sich darstellen, innerlich aber mehr oder weniger nur der
Reflex krankhafter Stimmungen und Strebungen sind und deswegen
nicht unbedingt als zurechenbar sich hinstellen lassen. Zu all dem
kommt noch als Grundzug der hysterischen Neurose die Neigung, zu
übertreiben, zu lügen und simuliren, wodurch die Herstellung des
Thatbestands äusserst erschwert und der Experte nur zu leicht irre-
geleitet wird.
So wenig als blosse Verstimmungen , Launen , Gelüste hyste-
rischer Weiber einen Entschuldigungsgrund für strafbare Handlungen an
und für sich abgeben können, kann jedoch die organische Begründung
ihrer sittlichen und Willensschwäche, ihrer krankhaft gesteigerten
Triebe und ihrer vielfach perversen Impulse , ihrer krankhaften Ge-
müthsreizbarkeit ignorirt werden. Die Aufstellung eines Systeme
mildernder Umstände in der neueren Strafgesetzgebung ist eine Wohl- .
that gegenüber solchen Zwitterzuständen zwischen psychischer Gesund-
heit und Krankheit,, und es dürfte Fälle geben, wo die Schuld sich
bis auf ein Minimum vermindert.
Beob. 74. H y s t e r i s m u s. Fälschliche D e n u n c i a t i o n e n und
Betrug. Ein junges Mädchen, nervös, h}'^sterisch , sah sich von seinem Lieb-
haber verlassen. Sie fasste einen tödtlichen Hass gegen ihn. Eines Morgens
fand man in einem Weinberg eine grosse Zahl Weinstöcke abgeschnitten. Die
M. beschwor, dass ihr früherer Geliebter und dessen Bruder die Thäter seien,
sie habe sie bei der AusführuHg der That gesehen. Die beiden wurden trotz
ihrer Unbescholtenheit verurtheilt. Ein Jahr darauf rannte die M. mit blutender
Brust und schrecklichem Geschrei in"s Dorf. Sie hatte Verletzungen an Brust,
Hals, Schultern, klagte den Onkel der beiden Verurtheilten an, dass er sie habe
ermorden wollen. Dieser wurde zu 5 Jahren Freiheitsstrafe verurtheilt. Einige
Zeit darauf führte sie mit einem andren Oheim der Beiden dieselbe Comödie
Beob. 75. H^^sterismns. Vergiftungen ohne Motiv. 217
auf, allein dieser konnte sein Alibi erweisen. Nicht lange nachher kam die
Mutter der M. in den Stall und fand den Kühen die Eater abgeschnitten. Wieder
beschuldigte die M. den früheren Geliebten und dessen Bruder als Thäter. ebenso
als Anstifter eines bald darauf entstandenen Brandes. Schliesslich debutirte sie
als Wundermädchen. Eines Tages fand man auf ihrem Kopfkissen eine kunst-
reiche Blumenkrone mit den Worten „corona martyr M, J." Die Krone hatte ihr
angeblich ein Engel gebracht. Man wallfahrtete zu der vermeintlichen Märtyrin.
Die M. machte ein gutes Geschäft dabei. Endlich merkten die Leute den
Schwindel. Sie musste die Gegend verlassen . nahm Dienste , kam in Unter-
suchung wegen Diebstahl, heirathete, machte, als der Mann starb, ein falsches
Testament und kam in's Correktionshaus. (Legrand, la folie devant les tribun.
p. 336.)
Beob. 75. Heredität. Hysterismus. Vergiftungen ohne Motiv.
Christiane Edmunds ist angeklagt des Mords eines 6jährigen Jungen, der unter
Erscheinungen von Strychninvergiftung starb, nach Genuss von Chokoladedrops,
am 12. Juni. Die Anklage ermittelte, dass die E. zwischen März und Juni sicli
bedeutende Mengen Strychnin unter falschen Namen verschafft, Ende Mai
sich aus dem Conditorladen , in dem die vergiftete Waare gekauft worden war,
Chokoladedrops hatte holen lassen. Sie hatte das Paket geöffnet, die Drops
zurückgeschickt, angeblich, weil sie zu gross seien. Diese waren vom Verkäufer
zurückgenommen worden. Der Knabe hatte davon später gekauft bekommen.
Es wurde ermittelt, dass die E. in anderen Läden das gleiche Manöver ausgeführt
und wiederholt Confekt Kindern ausgetheilt hatte, die dann unter Symptomen einer
Strychninvergiftung erkrankten. Wiederholt hatte sie den allgemein geachteten
Conditor denuncirt, dass sie oder ihre Freunde auf Confekt, das sie bei ihm ge-
nommen , sich imwohl gefühlt hätten und auf eine chemisch-polizeiliche Unter-
suchung gedrungen. Ebenso hatte sie nach, dem Tode des Kindes wiederholt
dem Vater desselben anonyme Briefe zugesandt, er möge gegen den Chokolade-
verkäufer eine gerichtliche Untersuchung anhängig machen. Als wahrscheinliches
Motiv ergab sich Folgendes; Sie hatte die Bekanntschaft eines verheiratheten
Arztes gemacht und Zuneigung zu ihm gefasst. Im September 1870 gab sie
dessen Fraii vergiftete Chokolade. in Folge deren die Frau erkrankte und die
Edmunds in schlimmen Verdacht gerieth. Es scheint, als habe sie durch syste-
matische Verdächtigungen des Verkäufers sich von dem auf ihr selbst lastenden
Verdacht befreien wollen.
Der Vater der E. starb an Dementia paralytica, ein Bruder derselben starb
epileptisch blödsinnig, eine Schwester war hysterisch und versuchte Selbstmord.
Der Vater der Mutter der E. starb in einem apoplektischen Anfall, blöd-
sinnig und gelähmt. Eine Nichte der Mutter war geistesschwach. Die Ange-
klagte erlitt 1853 einen Anfall von Lähmung, wahrscheinlich hysterischer, blieb
einige Jahre hysterisch , welche Krankheit auch in der letzten Zeit noch ab und
zu sich zeigte. Als Kind war sie Nachtwandlerin. Seit ihrer Bekanntschaft mit
dem Doktor war eine grosse Aenderung in ihrem Wesen bemerkt worden. Sie
war sehr erregt und leidend in Folge der ihr gewordenen Beschuldigung.
Die E. ist 43 Jahre alt , von bisher unbescholtenem Lebenswandel. Nach
den Angaben der Mutter soll sie ganz ihrem Vater nachgeartet sein. Dem Ge-
fängnissgeistlichen machte sie einen krankhaften Eindruck. Ihr Blick war un-
2.18 Cap. IX. Das hysterische In-esein.
gewöhnlich, vage. Aus Weinen ging sie oft unmotivirt in Lachen über. Sprach
man von ihrer That, so fing sie oft an laut zu lachen. Sie zeigte kein Ver-
ständniss für die Schwere derselben. Denselben Eindruck machte sie auf die
Aerzte. Sie erschien ihnen absolut gemütlüos. Dass einen Menschen upizu-
bringen Verbrechen sei, war ihr nur formell bewusst. Sie wollte lieber verur-
theilt als für geisteskrank erklärt werden. Von den Aerzten wurde sie als Fall
von hereditärer moral insanity erklärt. Intellektuelles Irresein , speciell Wahn-
ideen fanden sich keine vor. Der Gerichtshof verneinte die Frage, ob die An-
geklagte Recht von Unrecht habe unterscheiden können. Die Jurj' sprach sie
schuldig und sie wurde zum Tod verurtheilt. Die Verkündigung des (Jrtheils
hörte sie mit stoischer Ruhe ah. Die nach altem Brauch an zum Tod verur-
theilte Verbrecherinnen gestellte Frage „ob sie schwanger sei" beantwortete sie
mit „Ja". Die Untersuchung ergab das Gegentheil.
Die wissenschaftliche Epikrise betont, dass es sich hier um keinen ge-
wöhnlichen Fall von Geistesstörung handle, wohl aber um ein erblich durch-
seuchtes Individuum, das zugleich nervenkrank war, keinen moralischen Sinn
besass und Straf- und Sittengesetz nur formell zu würdigen wusste. Es ist wahr-
scheinlich, dass ihre letzten Vergiftungsversuche nur durch eine abnorme Lust,
mit Gift zu spielen, motivirt waren. Die oberste Justizbehörde vollzog indessen
doch nicht das Todesurtheil, sondern sandte diesen Fall von „verbrecherischem
Wahnsinn" in's Verbrecherasyl von Broadmoor. (Journal of mental science,
1872, April.)
Beob. 76. Hereditärer Hysterismus. Vergiftungen ohne Motiv.
Eine gewisse Jeanneret, Krankenwärterin in der französischen Schweiz, ist neun
Giftmorde angeklagt, die sie an ihr anvertrauten Patienten mittelst Atropin aus-
geführt hat. Als Motiv gibt sie an, sie habe bloss medicinische Experimente
anstellen und die Leiden der Kranken lindern wollen (!). Sie bleibt kalt beim
Todeskampf ihrer Opfer, sagt mit Befriedigung deren Ende voraus zu einer Zeit,
wo ein solches Niemand noch ahnt und erwarten kann. Auch nach der Ver-
haftung bleibt sie ruhig und gleichgültig, läugnet nicht, macht sich gar nichtö
aus der furchtbaren Anklage. Ihre monströsen Verbrechen sind ganz unmotivirt,
ja ihrem Interesse oft ganz widerstrebend. Die J. war von jeher sonderbar in
Charakter und Gebahren, unmotivirtem Wechsel der Stimmung unterworfen, sie
glaubte sich mit allerlei Krankheiten behaftet und war hochgradig hysterisch.
In ihrer Familie waren zahlreiche geisteskranke Blutsverwandte. Eine Expertise
wurde nicht angestellt, die Angeklagte verurtheilt. (Chatelain, Annai. med.
psych., Mars 1869.)
Die beiden vorausgehenden Fälle haben viel Uebereinstimmendes. Sie.
erinnern an die berüchtigte Marquise de Brinvillers, Zwanziger, Gesche Gottfried,
die Dutzende von Menschen aus blossem Gelüste mit Giftmischerei um's Leben
brachten. Solche Fälle sind psychologische Räthsel. Man ist versucht , hier
pathologische Begründung solch monströser Gelüste anzunehmen, nicht aber einen
eigenen krankhaften Vergiftungsinstinkt, um dessen Erfindung sich ein älterer
Schriftsteller (Harless) ein zweifelhaftes Verdienst erworben hat.
Beob. 77. Geisterspuk ausgehend von einem hysteropathischeii
Mädchen in der Pubertät. Am 29. Nov. 1876 erstattete die Gensdarmerie
Beob. 77. Geisterspuk, durch eine Hysterische verursacht. 219
Anzeige, dass im Hause des Bauern Kapper Geistererscheinungen vorkämen, wegen
deren das Publikum in wachsender Aufregung sei. Dieser Spuk dauerte mit
Unterbrechungen bereits seit dem 2-3. Nov. Am Abend dieses Tags waren Marie,
die 12jährige Tochter des Bauern, und die 18jährige Magd, welche seit Jahren
im Stallgebäude schliefen, Nachts in's Wohnhaus gelaufen und hatten behauptet,
es geistere bei ihnen und sei vor Kratzen und Schlagen an ihrem Bett nicht
auszuhalten. Da der Spuk fortdauerte, so mussten die beiden Mädchen aus-
quartirt werden. Am 27. flogen sogar Rüben und ein Korb in der Luft herum
und wurde die Marie davon getroffen. Am 28., als der bestürzte Bauer mit seiner
Tochter zum Pfarrer ging, flogen auf dem Hin- und Herweg Steine, Schnee und
Erde in der Luft herum und als sie in den Stall heimkamen, gab es wieder
einen Rübenregen. Solange der herbeigeholte Pfarrer anwesend war, war Alles
ruhig, kaum war er aber fort, so flog ein Tragkorb gegen die Marie, die neben
ihrem Vater stand. Zeitweise kam es der Magd , die mit der Marie im Bett
zusammenschlief, vor, als ob sie Jemand aus dem Bett zu werfen versuche, auch
in den Arm kneipe. Auffällig war ihr auch, dass immer nur an der Seite des
Bettes das Kratzen und Klopfen vernehmbar war, an welcher die Marie lag.
Die M. kam nun in den Pfarrhof. Dort und auch daheim fiel, solange sie
beim Pfarrer war, nichts Auffälliges vor, ausser dass einmal ein Stein durch das
Fenster in die Stube flog. Kaum war die M. wieder daheim , so ging der Spuk
von Neuem los. Nun flogen sogar Kürbisse herum. Am 7. Decbr. früh fand
man die Schuhe der weiblichen Hausgenossen mit geschnittenen Rüben und
Menschenkoth angefüllt. Am 8. früh waren die Schuhe mit gekochten Bohnen
gefüllt. Auf eines der Mädchen konnte kein Verdacht fallen, da sie unter Obhut
des Bauern und seiner Familie im Zimmer schliefen und ein nächtliches Auf-
stehen nicht bemerkt worden war. Vom 8. — 11. flogen Semmeln in der Luft
herum. Der Spuk war am ärgsten, wenn Neugierige herbeiströmten. Solange
die Gensdarmerie im Hause anwesend war, fiel nie etwas vor. Die M. fürchtete
sich sehr wegen dieser Spukgeschichte. Zu Zeiten riss es ihr gar den Löffel
aus der Hand und schnellte ihr die Arme nach oben. Von unsichtbarer Macht
ging das Licht aus und die Anwesenden wurden dann mit Wasser begossen oder
auch mit Milch und Asche. Der Bauer, ein abergläubischer beschi'änkter Mensch,
kam immer mehr zur Ueberzeugung , der Geist seines verstorbenen Schwieger-
vaters habe ihm diesen Spuk angethan. Der Geistliche Hess den Exorcismus
los, aber darauf wurde die Sache noch äi-ger.
Die Marie sagte meist den Spuk vorher: „jetzt kommt's, jetzt geistert es
wieder". Endlich ertappte der Lehrer die M. beim Werfen eines Küchenmessers,
Zündholzschächtelchens und wie sie von aussen Steine und Holzstücke an die
Thür warf.
Damit war der Spuk erklärt und beendigt. Die M. kam nun in gerichts-
ärztliche Beobachtung.
Sie ist ein geistig und körperlich über ihr Alter hinaus entwickeltes,
intelligent aussehendes, auffallend zartes Mädchen von feinem Teint und neuro-
pathischem Ausdruck der Augen. Der asymmetrische Schädel, die mangelhafte
Entwicklung der zudem gerieften Zähne, der Bau des Thorax deuten auf Rhachitis
infantilis.
Seit dem 26. November leidet die M. an klonischen und Streckkrämpfen,
Wein- und Lachkrämpfen, Kopfweh, ziehenden Schmerzen im Kreuz und in den
220 Cap. IX. Das hysterische Irresein.
Füssen. Sie wurde zeitweise betroffen, wie sie starr dastand, blass war und stier
vor sich hinblickte. Constant und mit der unbefangensten Miene läugnete sie
jegliches Wissen von dem Zustandekommen der Geistererscheinungen.
Die Marie ist die Urheberin des Geisterspuks. Sie hat ihn aus krank-
hafter Lust Aufsehen zu erregen in Scene gesetzt. Dieser Drang steht mit einer
gleichzeitig aufgetretenen Hysterie in Verbindung, die wohl durch Vorgänge der
sich vorbereitenden Menstruation vermittelt ist (Pubertätsneurose). ISfach mehr-
wöchentlicher Beobachtung, in welcher die letzten Spuren des Hysterismus
schwanden, wurde Pat. entlassen. (Eigene Beobachtung.)
Weitere Fälle: Liman, zweifelh. Geisteszustände p. 141 (Widersetzlich-
keit gegen Beamte. Majestätsbeleidigung). Buchner, Friedr. Bl. 1867, H. 5
(Verbalinjurien und Körperverletzungen im Affekt begangen). Legrand, la folie
p. 336 (Simulation von Körperverletzung, um sich interessant zu machen). Fälle
von vorgegebenem Attentat auf die Geschlechtsehre s. Annal. d'hyg. publ. 1. serie
tom. IV, 3. Serie tom. XXII, f. d. Fall La Ronciere. Diebstähle aus Zwangs-
vorstellungen, krankhaftem Gelüste s. Casper, klin. Novellen p. 254 (Fall Malvina
Torström), Casper-Liman, Handb. Fall 279. v. Krafft, die Gelüste der Schwangeren.
Friedr. Bl. 1867, H. 1. Fälle von Stigmatisation: Brück, deutsch. Klinik 1875, 1—3.
Bourneville, Science et miracle. Louise Lateau, Paris 1875. Impulsive Akte:
Morel, traite des mal. mentales p. 676.
b. Transitorische Symptom encompl exe psychischer
Stör ungbei Hysterischen.
In ähnlicher Weise wie bei Epileptischen kommen auch bei Hysterischen
episodisch Zustände Stunden bis Tage dauernder psychischer Störung vor. Sie
haben ein delirantes Gepräge und das Delirium hat meist einen erotischen oder
religiösen Kern. Tonische, klonische hysterische Krampfzustände oder auch
kataleptiforme Erscheinungen begleiten gewöhnlich das psychopathische Bild,
wechseln auch wohl mit Delirien ab. In der Regel steht dieses transitorische
Irresein mit h5^sterischen Krampfanfällen in Zusammenhang, seltener erscheint es
als freistehender psychischer Anfall. Gemüthsbewegungen , der Vorgang der
Menstruation sind gewöhnlich die veranlassenden Ursachen. Als Prodromi werden
Globus, Myodynien, krampfhafte Erscheinungen, grosse Reizbarkeit und Gereizt-
heit, Kopfweh, Angst beobachtet.
Das Bewusstsein ist im Anfall getrübt bis zur Aufhebung desselben. Daraus
öi-geben sich entsprechende Erinnerungsdefekte. Als Formen des transit. Irreseins
Hysterischer finden sich pathologische Affekte, raptus mel. , Mania transitoria,
peracute Manie mit erotischen und religiösen Primordialdelirien, moriaartige Er-
regungszustände bei schwer gestörtem Bewusstsein mit kleptomanischen Impulsen,
Ano'Stzustände mit episodischen Sinnestäuschungen schreckhaften Inhalts (ähnlich
dem petit mal), Zustände von schreckhaftem hallucinatorischem Delir, vielfach
mit dämonomanischem Kern, mit episodischen hysteroepileptischen Krämpfen,
traumhafter Stufe des Bewiisstseins und entsprechendem Erinnerungsdefekt (analog
dem grand mal); endlich ecstatische Zustände mit religiösem Delir und Himmels-
visionen und Anfälle von Somnambulismus.
Im Anschluss an diese Anfälle werden Erscheinimgen psychischer Pro-
stration, LTrina spastica beobachtet.
Transitorisches Irresein Hysterischer. 221
Die forensische Bedeutung dieser Zustände ist keine so grosse
wie bei denen der Epileptischen, da sie im allgemeinen seltener sind,
das Bewusstsein weniger tief gestört und der Inhalt der Hallucina-
tionen und Delirien seltener ein schreckhafter ist.
Indessen finden sich in der Literatur Fälle verzeichnet wo solche
delirante Zustände zu schweren Gewaltthaten (Mord, Körperverletzung,
Brandstiftung) führten. Die erotischen Delirien können zu fälschlicher
Beschuldigung der verübten Nothzucht und Skandalprocessen Anlass
geben, die manischen Zustände zu Diebstahl ; die ecstatischen Zustände,
insofern sie mit Predigen, Weissagen etc. einhergehen, können die Volks-
menge aufregen und die Sicherheitsbehörde zum Einschreiten nöthigen.
Die forensische Beurtheilung solcher Zustände wird in erster
Linie den Nachweis der hysterischen Neurose zu liefern, früher vor-
handengewesene Anfälle auszumitteln haben. Für die Beurtheilung
des Geisteszustands zur Zeit der That werden der traumhafte unbe-
wusste Charakter der Handlungen, die getrübte oder fehlende Erinne-
rung, die hysterischen Prodromi und Folgeerscheinungen des Paroxys-
mus, die complicirenden klonischen, tonischen, kataleptischen oder
chorea-magnaartigen Symptome zu verwerthen sein.
Beachtung- verdient, dass ähnlich wie bei Epilepsie die hysterischen Delirien
und Aequivalente sich protrahiren und wiederholt recidiviren können. Es ent-
stehen dann Wochen bis Monate dauernde delirante Zustände (hallucinatorisches
schreckhaftes oder auch religiöses Delir, Mischungen beider, Angstzustände mit
episodischem Verfolgungsdelir etc.) mit Remissionen bis Intermissionen.
Beob. 78. Hysterismus. Acutes Delirium. Schwere Verletzung
der Mutter. Am 23. August Morgens 9 Uhr stürzte sich Frau B. auf dem
Corridor auf ihre Mutter und brachte ihr zwei schwere Verletzungen am Kopf
mittelst einer Haue bei. Eine Hausgenossin kam herzu und entwaffnete die
Tochter. Während jene um Hilfe forteilte, schlug die B. von Neuem auf die
Mutter mit einem Zinntopf los. Die herbeigeeilten Nachbarn fanden die B. mit
entstellten Gesichtszügen, stieren Augen, unartikulirte Schreie ausstossend. Sie
wollte sich nochmals auf die Mutter stürzen.
Im unmittelbaren Verhör antwortete sie ganz verworren, im Gefängniss
glich sie anfangs einer Trunkenen. Am folgenden Morgen behauptet sie, von
allem Vorgefallenen nichts zu wissen. Sie spricht noch allerlei Ungereimtes, u. a.
von Vergiftung, so dass ihr Geisteszustand dem Richter selbst auffällig ist.
Frau B. ist 35 Jahre alt, von nervösem Temperament, schwächlicher Con-
stitution, sehr anämisch und bietet alle physischen und psychischen Zeichen von
constitutioneller Anämie und Status nervosus (kleiner, langsamer Puls, Appetit-
losigkeit, Cardialgie, Verstopfung, Beengungsgefühle, Leucorrhöe, unregelmässige
Menses, cutane Hyperästhesie, Schlaflosigkeit). Ihre Angaben sind präcis, Intelligenz
frei, Gedächtniss unsicher. Von jeher nervenleidend. Im Gefängniss melu'ere An-
fälle von Asthma, die die Versetzung in eine Krankenabtheilnng nöthig machen.
222 Csl]). IX. Das hysterische Irresein,
Das Gedächtniss ist vom 22. Abends an aufgehoben. Sie erinnert sich
nur, dass sie in der Nacht auf den 23. schlaflos war, aufgeregt, gequält von
schreckhaften Gedanken, verworrenen Visionen. Sie ^eiss nicht genau anzugeben,
wann ihr das Bewusstsein wiedergekehrt ist, sie meint nur, es sei ihr vorge-
kommen, als ob sie sich einen Moment mit Blut bedeckt sah.
Seit sie im Gefängniss, kommt es ihr vor, wie schon öfters, dass sie
spricht und handelt, ohne zu wissen, was sie sagt und thut ; sie hat schreckhafte
Visionen, die sie nur mit Mühe als solche erkennt. Sie bedauert aufrichtig ihre
Handlung, Aveiss sie sich nicht zu erklären. Die Mutter war oft roh gegen sie,
aber nie habe sie den Gedanken gehegt, derselben etwas zu Leid zu thun.
Eine Mutterschwester ist geisteskrank, eine andere leidet an hysterischer
Paralyse. Die Mutter ist eine sonderbare Frau, maltraitirte die Tochter viel und
ohne Grund, doch betrug sich die Tochter immer gut gegen sie.
Der Hausarzt der B. deponirt, dass er sie schon im letzten Winter in
einem psychopathischen Zustand gesehen hat — sie war in grosser ängstlicher
Aufregung, wähnte sich von Feinden verfolgt, am Leben bedroht. Man sah sie
wiederholt traurig, in sich versunken. Sie hielt Fenster und Thüren sorgfältig
verschlossen, weil sie wähnte, man wolle ihr etwas zu Leid thun.
Am Abend vor der That hatte die B. mit der Mutter eigen Streit gehabt
und war tief gekränkt heimgegangen. Die Nacht scheint schlaflos und in Auf-
regung zugebracht worden zu sein. Um 8^/4 Morgens, kurz vor der That, trat
die B. verstört und aufgeregt bei einer Nachbarin ein, klagte sich krank, mit
Kopfweh geplagt, sie habe seit gestern Morgen weder gegessen noch getrunken,
sie müsse sterben, wenn nicht, so werde die Mutter sie vergiften, wie sie es mit
vier Kindern und dem Mann gethan. Die B. machte bei diesen Aeusserungen
den Eindruck einer Irren. Gleich nach ihrem Weggang kam es zur Katastrophe
mit der Mutter.
Das Gutachten weist sachgemäss den Zusammenhang der That mit einem
psychopathischen Zustand (hysterisches Delirium, „manie" hysterique) nach, der
als etwa 48 Stunden währende acute Steigerung einer auf Erblichkeit, nervöser
Constitution und constitutioneller Anämie beruhenden chronischen hysterischen
Psychose anerkannt werden muss. Diese äussert sich ausser den sensiblen Stö-
rungen in Aenderung des Charakters, psychischer Depression, Hallucinationen
und Illusionen schreckhaften Inhalts und vagen Wahnideen der Verfolgung.
Auch der ganze Mechanismus der That trägt das Gepräge des Unfreien, Unbe-
wussten an sich und lässt den Gedanken an Simulation nicht aufkommen. Die
vorhandene Amnesie wurde in ihrer semiotischen Bedeutung nicht verwerthet.
Die B. wurde freigesprochen und in die Irrenanstalt versetzt. (Ann. med. psych.
März 1874.)
Beob. 79. Hysterismus. Ecstatische Zustände mit religiösem
Delirium. Simulation. Anklage wegen Betrug. Die 0., 15 Jahre alt,
Bauerntochter, von gesunden Eltern gezeugt, ist des Betrugs angeklagt, da sie
als gottbegnadete, irdischer Nahrimg entbehrende Seherin sich gerirte und dadurch
die Bevölkerung anlockte und ausbeutete. 0., schon als Kind schreckhaft, zu
Krämpfen der Luftwege geneigt, litt von Ostern 1872 an an theils klonischen,
theils tonischen Krämpfen mit Verlust des Bewusstseins, zu denen sich seit
November 1873 ecstatisch-visionäre Zustände folgender Art gesellten. Sie streift
mit der rechten Hand das neben ihr hängende Muttergottesbikl, klopft an dasselbe,
Beob. 79. Hysterismiis. Ecstatische Zustände mit relig. Deiiriiim. 223
streckt beide Arme nach dem hinter ihr hängenden Crucifix, öffnet die Augen,
kniet im Bette nieder und ahmt nun pantomimisch die Bewegungen des messe-
lesenden Priesters nach, bis die himmlisclie Speisung kommt. Sie hebt dann
Hände und Augen zum Muttergottesbild, führt dann die Hände zum Munde, worauf
sie das Kauen von Speise und das Schlucken von Getränk täuschend nachahmt.
Nachdem sie der Mutter Gottes ihren Dank bezeugt hat, legt sie sich nieder,
wird dann von Convulsionen befallen, nach deren Aufhören sie ruhig daliegt
und nur pantomimisch mit der Umgebung verkehrt. Da die Angehörigen der
abergläubischen Bevölkerung gegenüber behaupteten, die 0. enthalte sich aller
irdischen Speise, so wurde die Sache als Wunder proklamirt, und die Leute
strömten nun schaarenweise herbei, um das Mirakel zu sehen und der Gott-
begnadeten Geld- und Viktualienspenden darzubringen. Ein von der Behörde
abverlangtes gerichtsärztliches Gutachten erklärte die 0. für bleichsüchtig und
mit Krämpfen behaftet, alle übrigen Erscheinungen für simulirte und durch
Eitelkeit oder Gewinnsucht der Angehörigen motivirte.
Am 17. Januar 1874 erschien eine Gerichtscommission in dem Hause des
Wunderkinds, um den Sachverhalt zu erforschen. Sie fand das Mädchen in einem
Bett, an dessen Kopfende aus Bildern, Kränzen, Schleifen eine Art von Altar
errichtet war. Sie 0. lag in ein weisses Hemd gekleidet da, das Kopfkissen
ist mit Zierrathen bestickt, die Wände mit Heiligenbildern, Kränzen, Schleifen,
Crucifixen behangen.
Um das Bett sind die Angehörigen versammelt. Der Vater fragt, ob die
„Verrichtung" beginnen könne : das Mädchen nickt mit dem Kopfe. Nun werden
Kerzen angezündet und die Gläubigen eingelassen. Nach einer Weile schlug die
0. die Augen zum Marienbild auf und machte das Kreuzeszeichen. Dann drehte
sie sich auf die Seite, öffnete den Mund, Avie um Speise zu empfangen und fing
nun an, pantomimisch zu kauen, trinken und schlucken. Dann lag sie längere
Zeit wieder ruhig mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Plötzlich schlug
sie die Augen nach dem Marienbild auf, kniete nieder, segnete die Umgebung.
Auf ein gegebenes Zeichen löste der Vater das Tuch ihr vom Kopf und setzte
ihr eine schwarze Haube auf. Nun erfolgte während einer Stunde etwa das
pantomimische Messelesen, darauf kam es zu Convulsionen. Sie streckte sich,
verdrehte die Augen, der Oberleib wurde geschüttelt, schnellte auf und nieder,
die Hände reckten sich krampfhaft, die Daumen zogen sich ein, ein leichtes
Frösteln überlief den Körper, Brust und Bauch hoben und senkten sich wellen-
förmig. Zwischendurch traten Pausen auf, in welchen die 0. aufsass und den
Segen gab. Nach 20 Minuten lag sie wieder ruhig da, verkehrte nur pantomimisch
mit der Umgebung, nahm aber wahr, was um sie vorging. Sie wurde von der
Commission unausgesetzt bewacht. Die Möglichkeit einer Speisezufuhr war
während 6 Tagen ausgeschlossen. Die bis dahin ziemlich gut genährte 0. kam
in der Ernährung herunter, die Eigenwärme sank, der Puls wurde schwächer.
Wiederholt fanden sich Koth und Urin im Bett.
Die ecstatisch visionären und convulsiven Anfälle wiederholten sich genau
wie am ersten Tage. Am 20. fing 0. an, auf Fragen zu antworten. Sie läugnete
den Genuss von irdischer Speise, erklärte am 25. December von der Mutter Gottes
den Auftrag erhalten zu haben, den Brunnen vor dem Haus zu weihen, was sie
auch wirklich gethan hat. Sie behauptete, die Jungfrau Maria erscheine ihr täglich
und habe ihr das Sprechen und Essen verboten.
224 ^*P- ^^- ^^^ hysterisclie Irresein.
Die 0. ist von einnelimendem Aeussern, noch nicht menstruirt. Zeugen
iiaben Brod, Aepfel wiederholt im Bett des Mädchens vorgefunden. Von den
2 Aerzten der Commission spricht sich Dr. M. für religiösen Wahnsinn, entstanden
aus Hysterismus, aus. Die Enthaltung von Nahrung seit dem 1. Oktober 1873
sei simulirt und durch krankhafte Eitelkeit motivirt. Dr. F. hält ausserdem das
Messelesen für willkürlich gemacht und schliesst dies aus einer Pbeihe von Um-
ständen. Anfang März 1874 traten bei der 0. zum erstenmal die Regeln ein.
Sofort verloren sich Krämpfe und Messelesen und hörte sie damit auf, für die
Menge ein Anziehungspunkt zu sein. Von allem, was zwischen dem 30. Sep-
tember 1873 und dem Charfreitag 1874 mit ihr vorgegangen war, behauptete
sie gar keine Erinnerung zu besitzen. Gerichtlich wurde noch constatirt, dass
der lljähi'ige Bruder der 0. während dieser Zeit sie mit Brod und Wasser
heimlich versorgt hatte. Sie hatte ihm aufgetragen , Niemand davon etwas
zu sagen.
Gutachten : 0., ein Mädchen, das sowohl durch seine äussere, ungewöhnlich
zarte Erscheinung, als auch durch die von früher Jugend an bestehende Schreck-
haftigkeit und durch Krämpfe im Bereich der Respirationsorgane eine nervöse
Constitution von Geburt an verräth, erkrankt in der Entwicklungsperiode an
Krämpfen, die sich immer mehr ausbreiten, ein polymorphes Gepräge annehmen
und nach ihrem ganzen Verhalten als hysterische zu bezeichnen sind. Im Ver-
lauf gesellt sich zu ihnen, während ihrer Dauer, Verlust des Bewusstseins und
schliesslich kommt es zu Hallucinationen, religiösen Wahnvorstellungen, die das
Handeln beeinflussen und zu ecstatisch visionären Zuständen. Mit dem erst-
maligen Eintritt der Menstruation schwinden diese Störungen. Das Krankheitsbild
ist ein empirisch wahres, als Pubertätsneurose zu bezeichnendes. Diese beginnt
als Hysterie, nähert sich in der Folge dem Bild einer Hysteroepilepsie, dann den
einer Chorea magna und geht schliesslich in Geistesstörung mit Hallucinationen
und Delirien über. J. 0. ist, so lange sie unter dem Einfluss dieser stand, also
vom 8. Oktober 1873 bis 17. März 1874, im Sinne des §. 2 lit. a des österr.
St.-G.-B. als des Gebrauchs der Vernunft ganz beraubt zu bezeichnen. Trotzdem
sind eine Reihe von Erscheinungen im Krankheitsverlauf offenbar simulirte.
Dahin gehört die behauptete Enthaltung von Speise, die willkürliche Hinzuthat
von allerlei Ceremonien in den Anfällen, das Messelesen, das Fat. zudem an
Sonntagen länger und feierlicher machte als an Werktagen, endlich die höchst
unwahrscheinliche Amnesie für die ganze Zeitdauer der Krankheit, die erfahrungs-
gemäss sonst nur für die ecstasisch visionären und krampfhaften Zufälle mangelt.
Diese Bedenken können aber den gegebenen Schluss auf Geisteslvrankheit nicht
erschüttern. Diese und Simulation sind nicht Gegensätze, können zusammen vor-
kommen. Mit dem positiven Nachweis geistiger Krankheit wird die gleichzeitig-
erwiesene Simulation gegenstandslos. Es ist eine häufige, ja als zum Krankheits-
bild gehörige Erscheinung bei hysterisch Irren zu betrachten, dass eine anfangs
bewusste und halbgewollte, schliesslich aber zwangsmässige Neigung zum Ueber-
treiben und Simuliren auftritt. Einen mächtigen Impuls musste dieser Hang bei
der 0. durch das Benehmen der Umgebung bekommen, die schon im Beginn des
religiösen Delirium die Krankheit vom Standpunkt des Wunders auffasste, und
in ihrem beschränkten abergläubischen Sinn mit der Kranken eine Art Cultus
trieb. (Eigene Beobachtung.)
Beob. 80. Hyster. erot. Delirien. Denunciation wegen Nothzucht. 225
Beob. 80. Hysterismus. Traumzustände mit erotischen Delirien.
Fälschliche Denunciation wegen Nothzucht. Ein 15j ähriges Mädchen,
Merlac, beschuldigte 2 Geistliche, sie genothzüchtigt zu haben. Sie will am
12. Mai 1868, an welchem Tage sie mit ihrer 8 Jahre älteren Cousine N. ein
Kloster besuchte, einen Priester Henry dort getroffen haben, der die Rolle eines
Almoseniers spielte und einige Indecenzen sich gegen eine Schwester und ihre
Cousine erlaubt habe. Als sie am anderen Tag wieder mit der Cousine in's
Kloster ging, sei sie in ein Zimmer gebracht worden, wo sie Henry fand, während
■die Cousine verschwand. H. machte ihr Liebeserklärungen, die sie enti'üstet
zurückwies. H. sprang dann durch's Fenster.
Am anderen Tag Abends 10 Uhr führte man sie wieder in's Kloster, ver-
liess sie dort, worauf die Pförtnerin sie in's Zimmer des H. führte. Dieser ist
toll vor Liebe, setzt ihr zweimal eine Pistole vor die Stirn, als sie seinen Wünschen
sich nicht fügen will, jedoch das Pistol versagt.
Nach einigen Tagen wird sie wieder in's Kloster gebracht, dort eingesperrt
während 48 Stunden und in dieser Zeit vom Abbe genothzüchtigt. Bei diesem
Verbrechen leisten mehrere Klosterschwestern dem Abbe Beistand.
Einige Tage später führt die Cousine sie zum Beichtvater. Dieser hält
ihr eine furchtbare Standrede wegen ihres Fehltrittes, droht ihr mit Gott, der sie
Verstössen werde, da sie nun schwanger sei, bezeichnet ihr aber dann das Kloster
als ihre Retraite, wo sie an Henry's Seite Königin sein könne, wo man alle Ver-
gnügungen haben könne, selbst solche, die man im gewöhnlichen Leben nicht
kenne, wo sie ihre Sinne befriedigen könne, wie sie wolle, mit ihren Geliebten
wechseln, mit Leichtigkeit abortiren könne.
Ein halbes Jahr später, gelegentlich eines neuen Besuches bei der Cousine,
macht Henrj^ neue Attentate auf sie. Später denuncirt sie sogar einen Abbe
Videl, dass er sie schon ein Jahr früher als Henry geschändet habe. Auffallender-
weise sind die den beiden Geistlichen in den Mund gelegten Liebeserklärungen
■die gleichen.
Hire Memoiren sind überaus widerspruchsvoll, phantastisch, romanhaft,
schmutzig, wollüstig, wie wenn sie aus Romanen geschöpft wären, deren that-
sächlich das Mädchen viele gelesen hat, während ihre Schilderungen andererseits
wieder von Mangel an wirklichen Erlebnissen in sexuellen Dingen zeugen.
Nach 1 72 Jahren entdeckte sie sich ihrer Mutter. Der Vater wird klagbar.
Es wird eine Untersuchung eröffnet, aber die Klage zurückgewiesen, da sich die
Angaben als erdichtet herausstellen.
Das Mädchen wurde nun wegen falscher Denunciationen in Anklagestand
versetzt.
Die Merlac ist hereditär zu Psychosen veranlagt. Der Vater war psycho-
pathisch, vergiftete sich nach der Zurückweisung seiner Denunciation; in seiner
Familie finden sich Schwachsinnige und Epileptiker.
Das Mädchen befand sich in der Pubertätszeit, war damals geistig und
körperlich nicht normal (Hysterismus), wollte sich in kindischer Ueberspanntheit
mit seinen Denunciationen interessant machen, ohne zu bedenken, was es that. Sie
war von Haus aus körperlich und geistig eigenthümlich constituirt. Sie bot auf-
fallende Abstumpfung des moralischen Gefühls und erotische Neigungen zusammen-
hängend mit schwieriger, unregelmässiger und schmerzhafter Pubertätsentwicklung.
V. Krafft-Ebing, gerichtl. Psychopathologie. 2. Auflage. 15
226 Cap. IX. Das hysterische Irresein.
Es ist wahrscheinlich, dass sie in Anfällen eines traumartigen Zustandes all das^
Denuncirte zusammenphantasirt hat.
Ihre Genitalien waren so beschaffen, dass von einer Immissio penis nicht
die Rede gewesen sein konnte.
Der Verf. hält sie für vermindert' zurechnungsfähig. (Cavalier, Montpellier
medical 1873, Juli — December.)
Weitere Fälle: Briquet op. cit. p. 412 (Somnambulismus). Morel, traite
de la med. legale p. 149, 152 (Ecstase und ecstat. Delir). Morel, traite des mal.
mental, p. 675 (Brandstiftung in hysterodämonoman. Delir). Pelman, Irrenfreund
1872, Nr. 1 (Tödtung, Brandstiftung in hallucinator. Delir). Ann. med. psychol.
1871, Januar (Hysteroepileptische Deliiäen. Brandstiftung, wahrscheinlich in einem
solchen Anfall). AUg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 3, H. 2 (Hysterismus. Delirium.
Fälschliche Anklagen). Lindsaj^, Edinb. med. Journ. 1865, Nov. (Mania transit.
einer Hysterischen nach einer Gemüthsbewegung). S. ferner v. Krafft, Lehrb. d.
Psychiatrie, IIL Beob. 90-95.
c. Chronische Geistesstörung bei Hysterischen.
Sie ist eine nicht seltene Erscheinung im Verlauf der hysterischen Neurose,
die intercurrent und gutartig (Melancholie, Manie) oder als Ausgangszustand des
Nervenleidens auftreten kann. In diesen lezteren Fällen handelt es sich immer
um belastete Persönlichkeiten. Die Hysterie stellt nur ein Stadium einer fort-
schreitenden Entartung des centralen Nervensystems dar. Sie erscheint dann
gewöhnlich schon zur Pubertätszeit, nimmt immer schlimmere Formen und Trans-
formationen, namentlich in Hysteroepilepsie an und geht unvermerkt in finale
Geistesstörung über. Die Formen dieses hysterischen Irreseins sind Verfolgungs-,
erotischer und religiöser Wahnsinn, sowie Zustände fortschreitender Entartung
der Persönlichkeit in sittlicher und intellektueller Beziehung, mit vorherrschendem
Irrefühlen und Irrehandeln, das zudem vielfach impulsiv erscheint (folie rai-
sonnante, moral insanity). Die Zustände von Verfolgungswahnsinn auf hysterischer
Grundlage bieten vielfach Verwerthung von krankhaften Sensationen im Sinne
physikalischer Verfolgung und namentlich erotisches Verfolgungsdelir auf Grund
entsprechender Hallucinationen und Sensationen. Anklagen gegen die Umgebung,
selbst gegen Aerzte wegen wahnhafter Attentate auf die Geschlechtsehre, nächtlicher
Schändung (analog den Incuben und Succuben vergangener Jahrhunderte), Wahn
geschlechtlicher Untreue des Mannes oder Geliebten mit Racheakten, Ehescheidungs-
klagen, Skandalprocessen sind nicht seltene Folgen des Wahnsinns.
Gelegentlich kommen auch Fälle von hysterodämonomanischer Verrücktheit
(früher häufig in Klöstern) mit entsprechender Lokalisation der bösen Geister durch
Uterin- Globus- u. a. Sensationen und convulsiver Reaktion vor. Sie gehen mit Drang
zum Fluchen, Gotteslästern einher und können Religionsstörung herbeiführen.
Die Erotomanie auf hysterischer Grundlage gibt zu Verletzung des öfi'ent-
lichen Anstands, zu Prostitution, Hausfriedensbruch etc. Anlass. Der religiöse Wahn-
sinn auf hysterischer Grundlage spielt eine Rolle in der Geschichte der Klöster,
wird vielfach von einer bigotten, fanatischen oder gewinnsüchtigen Umgebung zu
religiösen und Erwerbszwecken ausgebeutet und führt zu Untersuchungen wegen
Betrugs, da neben wirklicher Krankheit häufig eine gute Dosis Simulation vorhanden
ist. Dass solche „Stigmatisirte" auch heutzutage nicht selten sind, ist bekannt.
Chronische hysterische Geistesstörung. Folie raisonnante. 227
Beob. 81. Er otischer Wahnsinn. Fälschliclie Denunciationen.
Fräulein H., 38 Jahre, beschuldigte ihren ehrbaren alten Vater, dass er in ihr
von innen verschlossenes Zimmer den Unterpräfekt v. L. eingelassen und dass
dieser sie und ihre Schwester gemissbraucht habe. Sie behauptete, von ihm seit
2 Jaliren schwanger zu sein.
Abgewiesen mit ihrer Klage, lauerte sie ihrem imaginären Verführer be-
waffnet auf. Man brachte sie in eine Irrenanstalt, die sie gebessert nach einiger
Zeit verliess. Sie kam in die Hände eines Advokaten, der sie für gesund hielt
und eine Klage gegen den Vater und den Arzt der Irrenanstalt wegen wider-
rechtlicher Freiheitsberaubung anstrengte. Der Beweis ihrer Geistesstörung wurde
erbracht, die Klage abgewiesen. (Legrand du Saulle, la folie p. 337.)
Weitere Fälle: Morel, traite des mal. mental, p. 687 (erot. Wahnsinn.
Anklage wegen vermeintlicher Schwängerung). Brierre, folie raisonnante p. 51
(Denunciation wegen angeblicher unsittlicher Attentate). Casper-Liman, Handb.
Fall 274 (Eifersucht und Wahn ehelicher Untreue. Mordversuch am Mann).
Forlanie, op. cit. Fall 16 (ähnl. Fall. Mordversuch am Mann). Ebenda Fall 15
(fälschliche Selbstbeschuldigung ein Kind geboren und umgebracht zu haben).
Legrand du Saulle, la folie p. 336 (Hj^steroerotomanie. Diebstahl). Bulard, Annal.
med. psychol. 1873 (Mord des Ehemanns). Fischer, Friedreich's Blätter 1877,
H. 1 u. 2 (Mord der Schwägerin). Kirn, ebenda 1872 H. 2 (Brandstiftung aus
krankhafter Rachsucht). Motet, Ann. med. psychol. 1871 Nov. (impulsive Dieb-
stähle).
Unter den hysterischen Irreseinszuständen degenerativen Ge-
präges verdient noch ganz besondere Beachtung ein nach dem Vor-
gang von Falret und Brierre de Boismont als folie raisonnante zu
bezeichnendes Krankheitsbild.
Die dieser Störung Anheimgefallenen machen social und ethisch durchaus
den Eindruck böser, lügenhafter, schmähsüchtiger Weiber, ohne es wirklich zu
sein. Die nähere Beobachtung solcher, von Familie, Publikum, Gerichtsbehörden
meist falsch beurtheilter Personen ergibt die psychopathischen Grundzüge der
Hysterischen, aber potenzirt und outrirt. Es besteht hier ein durchaus krank-
haftes, in den Extremen beständig sich bewegendes Gefühlsleben-, wir vermissen
nicht die Reizbarkeit und Leidenschaftlichkeit, die dem Hysterismus eigen ist,
die Schmähsucht, Lügenhaftigkeit, Verstellungskunst, den krankhaften Egoismus,
die Launenhaftigkeit, grundlose Antipathien, Sympathien, Bizarrerien — aber, und
diess ist das Wesentliche bei solchen Fällen — die Kranken sprechen ganz ver-
nünftig, wissen ihre Zunge trefflich zu gebrauchen , ihre verkehrten Handlungen
prächtig zu entschuldigen, durch gewandte Dialektik ihre sittlichen Defekte, per-
versen Gefühle und krankhaften Willensimpulse zu bemänteln, so dass es enorm
schwer hält, in foro und der öffentlichen Meinung gegenüber den Beweis ihrer
Unzurechnungsfähigkeit zu liefern.
Solche Kranke sind eine heillose sociale Plage und auch in den Irren-
anstalten wird man nicht leicht mit ihnen fertig.
Eine genaue sachverständige und lange genug fortgesetzte Beobachtung
ergibt aber bei all diesen Individuen nicht zu verkennende Merkmale geistiger
und die sittliche Freiheit aufhebender Störung.
228 Cap. IX. Das hysterische Irresein.
Unter der Form von Launen zeigt sich ein deutlich markirter, ganz un-
motivirter, beständiger Gefiihlswechsel; wir finden krankhafte, bisweilen periodisch
erhöhte Reizbarkeit, pathologische Affekte, krankhaft gesteigerte und vielfach
unwiderstehliche Triebe, namentlich in der Geschlechtssphäre, die zu schamloser
Prostitution, Onanie, zuweilen auch zu ganz verkehrtem Gebahren, wie Anlegen
von Männerkleidern, Neigung, nackt im Zimmer herumzulaufen, Urin za trinken,
sich damit zu salben, führen können. Das Vorstellen solcher Kranker ergibt,
wenn auch von eigentlicher Wahnidee frei, den charakteristischen abspringenden
Ideengang Hysterischer, krankhaftes Fixirtsein ganz bizarrer unvermittelter Vor-
stellungskreise, die einen zwingenden Einfluss auf das Handeln gewinnen können
und in unüberlegten bizarren Handlungen, absurden Einfällen, sonderbaren Ge-
lüsten ihre Entäusserung finden.
Dabei erscheinen die ganze frühere Anschauungsweise, die Neigungen,
Gewohnheiten, Strebungen solcher Individuen im grellen Contrast mit der früheren
gesunden Persönlichkeit, die nicht durch einige Wahnvorstellungen bloss ver-
fälscht, sondern in toto umgewandelt, entartet ist.
Das ganze Wollen und Streben solcher Kranker erscheint schliesslich als
ein triebartiges, unfreies, impulsives, aller Reflexion, alles sittlichen Haltes baares,
indem nur im Sinn der momentan das Bewusstsein beherrschenden Gefühle und
Antriebe gehandelt werden kann. Dadurch werden theils einfach verkehrte,
theils unmoralische, selbst verbrecherische Handlungen hervorgerufen.
Wenn bei irgend einem Menschen sich die Reaktion auf ge-
wisse Ereignisse nicht voraussagen lässt, so sind es zunächst solche
hysterische raisonnirende Weiber, die ganz dem Spiel ihrer jeweiligen
Einbildungen, Einfälle, Gelüste preisgegeben sind und die sittliche
Freiheit vollständig verloren haben. Eine gute Dosis Verstellungs-
kunst, ein fast instinctiver Hang zur Simulation, oft willkürlich, meist
aber zwangsmässig, ist eine gewöhnliche Zugabe zu einem solchen
Zerrbild psychischer Existenz, wodurch die forensische, an und für
sich schwierige Beurtheilung noch erheblich erschwert wird.
Dieberei, Betrügerei, Schwindelei, Ehrabschneiden, Vagabondage
sind die Hauptzüge des socialen Lebens solcher Personen. Die Mehr-
zahl dieser Kranken bleibt draussen in der grossen Welt, wo sie gute
Klienten für Advokaten, Plagegeister für die Familie und eine un-
ablässige Belästigung für Polizei und Richter sind, in deren Händen
sie sofort Krämpfe bekommen und den ganzen hysteropathischen
Apparat spielen lassen, um wieder loszukommen.
Kommen sie in Irrenanstalten, so leisten sie das Unmögliche
an Zank, Händelsucht, Rechthaberei und Begehrlichkeit. Aus solchen
entsprungen oder entlassen, strengen sie sofort Processe wegen wider-
rechtlicher Freiheitsberaubung an und finden natürlich Advokaten, die
sich düpiren lassen, und ein skandalsüchtiges Publikum, die sich ihrer
Sache annehmen.
Beob. 82. Moral insanity auf hyster. Grundlage. Beob. 83. 229
Dass die chronischen Irreseinszustände Hysterischer die Zu-
rechnungsfähigkeit ausschliessen, bedarf keines Beweises. Bezüglich
der Erkennung solcher krankhafter Zustände ergeben sich Schwierig-
keiten , die namentlich dem geschilderten raisonnirenden Krankheits-
bild gegenüber gross sind. Eine sorgfältige Beachtung der hiebei
angeführten diagnostischen Kriterien, eine genügend lange Beobach-
tung und namentlich eine durchaus zusammenfassende Untersuchungs-
methode wird hier vor Irrthum bewahren, insofern sie die Gesammt-
persönlichkeit, nicht die einzelnen Akte, die ganz das Gepräge
unsittlicher, freigewollter an sich tragen können, beurtheilt.
Aber auch durch fortgesetzte Simulation und böswillige will-
kürliche Hinzumischung von Krankheitssymptomen darf das Urtheil
nicht beirrt, die Ruhe des Beobachters nicht gestört werden. Ver-
gessen wir nicht, dass Simulation Wahnsinn nicht ausschliesst, dass
manchen psychischen Störungen, und zu ihnen gehört vorzugsweise
der Hysterismus , die Neigung zu absichtlicher Selbststeigerung der
Symptome eigenthümlich ist.
Beob. 82. Moral insanity auf hyster. Grundlage. Ein junges
Mädchen, war um die Pubertätszeit hysterisch geworden und hatte einen auf-
fallenden Hang zum Stehlen gezeigt. Man brachte sie in ein Kloster, wo sich
die Erscheinungen der Krankheit steigerten. Sie wurde streitsüchtig, eigensinnig,
eitel, lügenhaft, schrieb anonyme compromittirende Briefe, denuncirte einen Geist-
lichen, dass er sie genothzüchtigt habe. In die Familie zurückgekehrt, las sie
nur Romane, sprach unpassende Dinge und benahm sich anstössig auf der Strasse.
Man verheirathete sie. Zwei Jahre ging es gut. Nach dem zweiten Wochenbett
ling sie an Schnaps zu trinken. Mann und Dienstboten zu prügeln, mit Freuden-
mädchen sich herumzutreiben. Es kam zur Trennung der Ehegatten. Man pro-
jectirte eine Versorgung in einer Irrenanstalt, als sie plötzlich mit einem Commis
voyageur verschwand. Sie lebte dann im Concubinat, kam wegen eines Mord-
versuchs ins Gefängniss, ergab sich endlich der Prostitution und endigte in einem
Spital für Syphilitische ihr Dasein im Alter von 27 Jahren. (Legrand du Saulle,
la Folie p. 336.)
Beob. 88. Betrügereien und Schwindeleien seitens einer hyste-
risch-degenerativen, moralisch defekten Persönlichkeit. Patholo-
gische Affekte und Gefängnissirresein. Die 27jährige, ledige wegen
Diebstahl in Untersuchungshaft befindliche Bauerntochter Pigl bot eines Tages
Symptome von Melancholie und wurde zur Beobachtung ihres Geisteszustands
dem Krankenhaus übergeben. Ihr Vater ist ein Säufer, ein brutaler, jähzorniger
Mensch, der oft in psychischen Ausnahmezuständen sich befinden soll. Ein Kind
ist an Convulsionen zu Grunde gegangen. Die P. entwickelte sich physisch gut,
menstruirte im 16. J. ohne Beschwerden, hatte seit 1875 ein Liebesverhältniss,
das ihr angeblich viel Aerger und Kummer brachte. Im September 1877 hatte
sie geboren. Seit einem profusen Blutverlust im Wochenbett soll sie neuropathisch
230 ^^P- I-^- ^^^ hysterische Irresein.
geworden sein und über Schwäche im Kopf geklagt haben. Thatsächlich handelte
es sich um im Puerperium aufgetretenen Hysterismus mit gelegentlichen Krampf-
anfällen. Die P. ist seit langer Zeit gerichtsbekannt. Wie aus den über sie vor-
liegenden Akten hervorgeht, fiel sie schon in frühem Alter durch Lügenhaftigkeit,
Vagabundiren, Prostitution, Betrügereien und Diebstähle auf, that nirgends gut
und kam schon 1867 mit 16 J. wegen Diebstahl in Untersuchung. Sie war damals
in einem Dienst. Eines Tags kamen ihrem Herrn 16 fl. weg unter Umständen,
die den Verdacht auf die P. lenken mussten. [Sie allein hatte Zugang zu dem
Geld gehabt, nach dem Verschwinden desselben grossen Aufwand gemacht, Ge-
lage im Wirthshaus veranstaltet etc. Als der Herr sie öffentlich des Diebstahls
beschuldigte, klagte sie ihn wegen Ehrenbeleidigung, behauptete das Geld von
einem Offizier, dem sie sich gefällig erwiesen hätte, bekommen zu haben. Die
Untersuchung erwies aber ihre j Schuld , sie gestand ^schliesslich und wurde
6 Wochen eingesperrt.
Am 16. Juli 1871 neue Bestrafung, weil sie ihre frühere Dienstherrin, von
der sie wegen unsittlichem Lebenswandel entlassen werden musste, öffentlich
Männerhure schimpfte und das infame Gerücht aussprengte, deren Mann habe mit
ihr ein unsittliches Verhältniss gehabt.
Am 26. Juli 1871 Diebstahl auf dem Jahrmarkt. 4 Wochen Gefängniss.
Am 24. Mai 1873 machte der Droschkenkutscher H. Anzeige, er sei be-
stohlen worden. Am frühen Morgen war ein junges Frauenzimmer gekommen
und hatte ihn zu einer Herrschaft auf den folgenden Tag bestellt. Abends kam
die Person wieder, um einen Ring zu suchen, den sie angeblich verloren hatte.
Der Kutscher half ihr suchen. Plötzlich verschwand sie und zugleich ent-
deckte Jener den Abgang seiner Brieftasche mit 155 fl. Die Polizei forschte die
P. unter dem Pseudonym „Amalie Huber" noch Abends in einem Gasthaus aus,
wo sie mit einem Unbekannten zechte. Man fand bei ihr noch 119 fl. vor. Sie
beharrte bei ihrem falschen Namen, log einen ganzen Roman über ihre Person
zusammen und suchte den Richter auf falsche Spur zu bringen. Der Fremde
war ihr Geliebter, ein unbescholtener Mann, der von ihrem Vorleben nichts wusste
und dem sie fremde Personen als ihre Eltern bezeichnet und sich selbst als eine
wohlhabende Bauerntochter dargestellt hatte. Das Leumundszeugniss bezeichnet
die P. als eine lüderliche sittenlose Person, die es nirgends lang in einem Dienst
aushalte, herumvagire, der Prostitution ergeben sei, betrüge, stehle. Auch
ihre Eltern sind genöthigt ihr dies Zeugniss auszustellen, mit dem Bemerken, dass
sie die Tochter, da sie nicht mehr gut that, 1870 aus dem Hause entfernen mussten.
Nach Verbüssung einer 7monatlichen Gefängnissstrafe wurde die P. bereits am
6. Mai 1874 wieder arretirt. Sie hiess damals Gebauer und erschien eines Be-
trugs schuldig.
Am 4. Mai 1874 war sie nämlich bei einem Bauern unter falschem Namen
erschienen, hatte Müdigkeit angegeben, um Erlaubniss sich auszuruhen gebeten.
Sie fragte den Bauern über seine Geschäftsverbindungen aus, erfuhr, dass er mit
einem gewissen R. in Beziehungen stehe. Am 5. Mai erschien sie bei diesem
mit einem Brief, der sie als Stieftochter des Bauern legitimirte und um einen
Vorschuss von 40 fl. ersuchte. Der Bauer sei krank, R. möge mit der Tochter
zu ihm fahren, das Geld bringen und gleich ein Fass Wein abholen, oder wenn
er nicht gleich kommen könne, das Geld dem Mädchen übergeben.
Die P. machte ihre Sache so schlau, dass der R. anstandslos ihr das
Beob. 83. Hysterisch-degenerative Geistesstörung. 231
Geld gab. Nachmittags kamen ihm Bedenken, er fuhr zum Bauer und so kam
der Betrug sofort heraus. Man eruirte die P. und fand bei ihr noch 24 fl. vor.
Sie erzählte wieder einen ganzen Roman, behauptete, sie sei das Werkzeug ihres
Geliebten gewesen, dieser habe den Brief concipirt, sie ihn nur abgeschrieben,
aber Alles war wieder Lug und Trug. Zugleich erfuhr man, dass die P. auf
ähnliche Weise schon im März einen Geistlichen um 20 fl. beschwindelt hatte.
Neue Verurtheilung.
Am 18. Oct. 1877 kamen der H. Bettstücke im Werth von 30 fl. ablianden.
Durch Zufall kam heraus, dass Idie P. die Diebin war. Erst am 18. Jan. 1878
wurde sie endlich unter dem Namen „Juliane Schütz" eruirt und verhaftet. In
der letzten Zeit hatte sie noch verschiedene Diebstähle und Schwindeleien ver-
übt. Als sie arretirt wurde, gerieth sie in einen pathologischen zornigen Affekt,
zerriss ihr Kleid, zerstörte Geräthe , fiel dann in einen hysterischen tonischen
Krampfzustand, aus dem sie mit Amnesie für Alles Vorgefallene zu sich kam.
Im Verhör leugnete sie theils, theils beschönigte sie ihre Diebstähle.
Am 19. Febr. 1878 liess sie sich zum Verhör melden und erklärte: „ich
sehe nicht ein, warum ich mich allein soll strafen lassen, es soll alle treffen, die
bei der Geschichte betheiligt sind." Sie beschuldigte nun ihren früheren Ge-
liebten, dass er den Diebstahl begangen habe und sie nur die Hehlerin gewesen
sei. Dieser, ein bestens beleumundeter Mensch, der schon längst mit Verachtung
sich von der P. abgewendet und dadurch ihre Rache sich zugezogen hatte, konnte
sein Alibi beweisen. 3 Tage nach der Confrontation mit dem früheren Geliebten
wurde die P. schlaflos, ängstlich verstört, faselte davon, dass Jener eingesperrt
sei, man möge ihn herauslassen, er sei unschuldig, sie höre ihn immer singen.
Am 26. Febr. 1878 wurde die P. zur Beobachtung ihres Zustands dem Spital
übergeben. Sie war ängstlich, verworren, klagte über Präcordialangst, ascendirende
Sensationen zum Kopf. Sie hörte Stimmen, sie komme nicht mehr aus dem Ge-
fängniss, sah den Teufel und hörte von ihm, dass sie nun in seiner Gewalt sei.
Sie sah immer in der Phantasie die Gerichtsherrn um den Tisch, mit den Lichtern
und dem Crucifix drauf, fürchtete jeden Augenblick, das Eintreten der Richter.
Namentlich Nachts ist Pat. sehr ängstlich, voll ängstlicher Erwartungsaffekte. Es
lässt sie nicht im Bett, sie fürchtet sich allein zu sein.
Am 12. März Nachts hysterische Streckkrämpfe als Vorläufer der Menses,
die unter heftiger Congestion, einer Temperatur von 40" und heftiger psychischer
Aufregung verlaufen. Bis Anfang April klingt diese „Gefängnissmelancholie"
ab, aber es stellt sich heraus, dass die P. inzwischen in schlauer Weise die
Patienten um Geld und Werthsachen bestohlen, auch mit den Wärtern im Hause
und den Sträflingen des nahen Stockhauses kokettirt hat. Zur Rede gestellt,
leugnet sie Alles. Die vermissten Gegenstände werden bei ihr gefunden. Sie
geräth in einen pathologischen Affektzustand — singt, schreit, schimpft auf die
Wärterinnen, von denen sie sich denuncirt wähnt, droht ihnen mit dem Tod,
stosst sich den Kopf an die Wand, weigert Nahrung, tobt bis zur Erschöpfung,
wird nach 24 Stunden auf eine Morphiuminjektion ruhig, schläft ein und erwacht
mit völliger Amnesie für alles Vorgefallene. Sie verspricht alles Mögliche, aber
nach wenigen Tagen schon begeht sie Hausdiebstähle, wird höchst aufgei-egt als
man sie zur Rede stellt, geräth von neuem in einen pathologischen Affekt. In
der Folge zeigen sich noch ab und zu Präcordialangst, nächtliche schreckhafte
Phantasmen. Pat. erweist sich als eine jeden moralischen Halts baare, lügenhafte,
232 C!ap. X. Die psycMsclien Entartungen.
intriguante, unverträgliche, rohe, reizbare Person, als eine wahre Crux des Kranken-
hauses. Trotz aller Verschlagenheit ist sie geistig beschränkt, einsichtslos für
ihren Lebenswandel und die Selbstschädigung ihrer Interessen. Der Stirnschädel
ist schlecht entwickelt, der Schädel neigt der Form des Cranium progeneum zu,
sein horizontaler Umfang beträgt nur 52 Ctm. die r. Gesichtshälfte ist um 1 Ctm.
schmäler als die linke.
Das Gutachten erwies die wohl erbliche und in Anomalien des Schädels
sich auch anatomisch kundgebende degenerative Persönlichkeit der Explorandin,
ihre ethische und intellektuelle Verkümmerung mit daraus nothwendig sich er-
gebender unmoralischer Lebensführung, ihren seit einem Puerperium datirenden
Hysterismus. Bei dergestalt kranken und belasteten Individuen sind pathologische
Affekte nicht selten und sie reagiren, wenn in Haft befindlich, im Sinn von
Psychopathien, wie dies thatsächlich bei der P. der Fall war. Die P. wurde dies-
mal nicht bestraft. Kaum war sie entlassen, so beging sie neuerlich Diebstahl
und Schwindeleien. (Eigene Beobachtung.)
Analoge Fälle: Casper-Liman, Handb. p. 544 (Fall Kaiserling) p. 547
(Fall Glaser). Liman, zweifelh. Geisteszustände p. 151 (Fall Schneider Winkler).
Cap. X. Die psychischen Entartungen.
Literatur: Morel, traite des degenerescences de l'espece humaine, 1857; traite
des maladies mentales, 1860 ; traite de la medecine legale des alienes, 1866.
De l'heredite morbide progressive, 1867. v. Krafft, die Erblichkeit d. Seelen-
störungen f. d. forensische Praxis, Friedreich's Blätter 1868. Legrand du
Saulle, die erbliche Geistesstörung, übers, v. Stark, 1874. Hagen, Chorinsky,
eine ger. psychol. Untersuchung, Erlangen 1872. Griesinger, Archiv f. Psych.
I. p. 636 („organische Belastung")- Despine, psychologie naturelle, Marseille
1868. Legrand du Saulle, des signes physiques de la folie raisonnante. Ann.
med. psychol. 1878. Brierre, la folie raisonnante, Paris 1867. Thomson, die
hereditäre Natur des Verbrechens, Journal of mental science 1870 (AUg. deutsche
Strafrechtszeitg. 1870 Heft 5). Derselbe: Die Psychologie der Verbrecher,
Journ. of ment. science 1870 October. Pelman, die Zurechnungsfähigkeit der
Geisteskranken. Zeitschrift im neuen Reich IL 1874. Nicholson PsychopathoL
d. Verbrecher, Journ. of ment. science 1873 Juli — October.
So verschiedenartig auch der Begriff der Geisteskrankheit auf-
gefasst wird, so kommt ihm doch im Allgemeinen die Auffassung zu^
dass es sich hier um erworbene Erkrankungen des entwickelten
Gehirns handelt, wobei Störungen der psychischen Funktionen im
Vordergrund stehen, der Krankheitszustand sich zeitlich von der bis-
herigen gesunden Lebensperiode abhebt, ein Decursus der Krankheits-
erscheinungen, nicht selten in streng gesetzmässiger Weise, sich be-
obachten lässt und Sinnestäuschungen und Wahnideen, wenn nicht
regelmässig und integrirend, so doch in der Mehrzahl der Fälle im
Verlauf der Krankheit auftreten. Gegenüber diesen „Geisteskrank-
Klinische Uebersicht. 233
heiten" stehen zweifellos psychopathische Zustände, die in der Regel
schon in den ersten Lebensjahren sich verrathen, in originären krank-
haften, meist erblichen Veranlagungen wurzeln, mit fortschreitendem
Alter sich weiterentwickeln wie bei psychisch normal Organisirten die
geistige Gesundheit, jedoch die intellektuelle Seite des Seelenlebens
höchstens im Sinn eines massigen Schwachsinns oder formaler Störun-
gen des Vorstellens schädigen, nie oder nur selten und episodisch zu
Delirien und Hallucinationen führen, dagegen aber den innersten Kern
der psychischen Persönlichkeit afficiren, in Form von charakterologi-
schen Abnormitäten, von krankhaften Erscheinungen der Gefühls-,
Denk- und Handlungsweise, des Trieblebens sich kundgeben. Auf
diese Individuen passt der Ausspruch des Zacchias „non sentiunt, non
agunt, non ratiocinantur ut caeteri sanae mentis homines."
Insofern derartige Menschen von der Art der Mehrzahl ab-
weichen und zwar meist hereditär und ab ovo, zudem ihre Art in
ethischer und socialer Hinsicht eine inferiore ist und vielfach auch
körperlich Abweichungen vom Bildungstypus des Menschen vorkom-
men, lassen sich solche Zustände als (psychische) Entartungen den
eigentlichen Geisteskrankheiten zur Seite stellen.
Der Ausdruck „Entartung" kann aber nur in funktioneller speciell
charakterologischer Hinsicht gebraucht werden. Die anatomische Be-
gründung dieser Zustände (Missbildungen des Gehirns und Schädels,
Abweichungen vom Bildungstypus der Hirnwindungen etc.) ist nur
vereinzelt nachweisbar und auf allgemeine Gesetze zur Zeit weder
anthropologisch noch morphologisch zurückführbar.
Solche Zustände stehen den eigentlichen Geisteskrankheiten als
psychische Missbildungen gegenüber wie dieser Unterschied zwischen
Misswachs und körperlicher Krankheit besteht. Sie nöthigen zu einer
gesonderten Betrachtung nicht nur klinisch, sondern auch forensisch.
Klinische Uebersicht: Die klinische Erscheinungsweise dieser Zu-
stände ist eine überaus mannigfaltige. Nur eine synthetische Betrachtungsweise
mit Verwerthung nicht bloss psychologischer, sondern auch wesentlich anthropo-
logischer, allgemein cerebralpathologischer und klinisch psychologischer Thatsachen
kann jener gerecht werden. Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass bei solchen
krankhaft organisirten Existenzen das centrale Nervensystem der locus minoris
ist, abnorm anspruchsfähig und erschöpfbar erscheint, und dass die cerebralen
Vorgänge mit Einschluss der psychischen theils mit krankhafter Stärke, theils in
verkümmerter oder perverser Weise zu Tage treten.
In ätiologischer Hinsicht ist geltend zu machen, dass solche Existenzen
meist von geisteskranken, nervenkranken, charakterologisch abnormen oder trunk-
süchtigen Erzeugern abstammen, oder dass in frühen Lebensjahren schwere Hirn-
processe (meningeale Hyperämien und encephalitische Processe, spontan entstan-
234 C!ap. X. Die psychischen Entartungen. ■
den oder gelegentlich acuter Infektionskrankheiten aufgetreten), oder traumatische
Schädlichkeiten oder Onanie störend in die Entwicklung des hereditär disponirten
oder auch nicht belasteten Gehirns eingriffen. Gegenüber den gewöhnlichen
Insufficienzen (Imbecillität, Idiotismus) besteht hier nur der Unterschied, dass
mehr die Charakterentwicklung, die ethische Seite und das Triebleben afficirt
wurden, während die intellektuelle Seite leidlich entwickelt sein kann.
Im Gebiet der vitalen Funktionen überhaupt äussert sich die organische
Belastung in grosser Mortalität in den ersten Lebensjahren, überhaupt geringerer
mittlerer Lebensdauer, in grosser Morbilität, namentlich in Bezug auf das Eintreten
von Convulsionen in der Kindheit u. a. Nervenkrankheiten, in Neigung zu
Skrophulose und Tuberculose, in verfrühter oder verspäteter geistiger und körper-
licher Entwicklung.
Dass das Gehirn der locus minoris ist, ergibt sich aus der leichten Mit-
affektion desselben in Form von Delirien, Hallucinationen, Sopor, Somnolenz,
fluxionären Zuständen etc. gelegentlich acuter körperlicher Krankheiten, sowie
aus dem Auftreten von schweren Neurosen zur Zeit von^und im Zusammenhang
mit physiologischen Lebensphasen (Pubertät, Puerperium, Klimacterium) mit
constitutionellem Gepräge und progressiver Entwicklung zu immer schwereren
Formen. Solche Gehirne reagiren ungewöhnlich intensiv auf Alkohol und die
vielfach angeborene funktionelle Schwäche der nervösen ['Centren schafft eine
Inclination zu dem Reiz- und Genussmittel, das der Alkobol darstellt. Daraus
ergeben sich einestheils pathologische Alkoholzustände , andrerseits entwickeln
sich unter dem deletären Einfluss dieses Giftes und auf dem Boden der organischen
Belastung die schwersten Formen funktioneller Entartung. (Vgl. p. 170 Alkohol,
chron.)
Als funktionelle Degenerationszeichen sind neben der Alkohol-
intoleranz vielfach epileptoide Zustände, grimassirende, zuckende Bewegungen der
Gesichtsmuskeln, Contracturen und sonstige Innervationsungleichheiten der Muskeln,
namentlich im Facialisgebiet, ferner Nystagmus, Strabismus, Stottern, neuro-
pathischer Ausdruck des Auges zu erwähnen.
Ganz besonders häufig ergeben sicli'^ auch anomale Funktionen in der
S exualsphäre.
Sie bestehen theils darin: 1. dass der Geschlechtstrieb überhaupt fehlt,
womit dann in der Regel ein Defekt ethischer socialer Gefühle verbunden sein
dürfte, 2. dass der Geschlechtstrieb abnorm stark, zeitweise sogar brunstartig
in die Erscheinung tritt und noch dazu ganz impulsiv befriedigt wird, 3. dass-
er abnorm früh, vor eingetretener Entwicklung der Geschlechtsdrüsen sich ein-
stellt und in Masturbation Befriedigung findet, 4. dass er pervers auftritt, d. h.
in der Art seiner Befriedigung nicht auf die Erhaltung der Gattung gerichtet ist,
ja sogar einer naturgemässen Befriedigung instinktiv widerstrebt wird.
Diese letztere Anomalie ist die wichtigste. Sie gliedert sich wieder in
2 Gruppen, je nachdem geschlechtliche Neigung zwar zu Personen des anderen
Geschlechtes besteht, aber die Art der Befi'iedigung des Triebs pervers ist oder
indem instinktiver Abscheu vor 'Vermischung mit Personen des anderen Geschlechts
vorhanden ist, dafür aber geschlechtliche Neigung zu Personen desselben Ge-
schlechts besteht („conträre Sexualempfindung," Westphal) mit Antrieb zur Be-
friedigung des Geschlechtstriebs an solchen.
In den Fällen ersterer Ordnung kann der Drang zu perverser Befriedigung
Anomaler Geschlechtstrieb als funktionelles Entartungszeichen. 235
des meist auch krankhaft gesteigerten Geschlechtstriebs zu den schwersten Ver-
brechen führen, insofern die geschlechtliche Erregung mit dem erzwungenen oder
gestatteten Beischlaf nicht Befriedigung und Abschluss erfährt, sondern erst in der
Tödtung und Verstümmelung des Opfers der Lüste, wozu als potenzirte Wollust
noch das Geniessen von Theilen der Leiche oder wenigstens das wollüstige
Wühlen in ihren Eingeweiden (vv'ohl durch angenehme damit verbundene Geruchs-
empfindungen motivirt) befriedigt wird.
Die Schilderungen derartiger Entarteten aus der Zeit ihrer perversen Hand-
lungen deuten auf eine wahrhaft brunstartige psychische Erregung und auf eine
ganz impulsive Handlungsweise. In psychologisch analoger Weise sind Fälle zu
deuten, in welcher der erregte Geschlechtstrieb darin Befriedigung empfand, dass
auf offener Strasse am hellen Tage junge Damen verfolgt wurden und der Krankte
in seiner geschlechtlichen Brunst vor ihnen seine Genitalien entblösste., sie an
sich herandrängte und mit seinem Urin besudelte. In einem anderen ähnlichen
Fall aus der neueren Literatur begnügte sich der Betreffende mit dem Stehlen von
— Taschentüchern.
Als eine sonderbare Idiosyncrasie in Bezug auf die perverse Befriedigung
des Geschlechtstriebs sind gewisse pathologische Fälle von Leichenschändung
hier anzureihen.
Die Fälle zweiter Ordnung von „angeborener Verkehrung der Geschlechts-
empfindung" kommen sowohl bei Weibern (gewisse pathologische Fälle von Amor
lesbicus) als Männern vor.
Es besteht hier geradezu Ekel vor geschlechtlichem Umgang mit dem
anderen Geschlecht, obwohl der geschlechtliche Typus vollkommen differenzirt
und die Entwicklung der Genitalien eine normale ist.
In der Regel entsprechen Charakter, Denk- und Gefühlsweise dem Geschlechte,
welchem sich der Betreffende angehörig fühlt.
Die geschlechtlichen Empfindungen treten meist in abnorm frühem Lebens-
alter auf, beherrschen mit pathologischer 'Stäi-ke das psychische Sein; zugleich
bestehen Symptome „reizbarer Schwäche" in der Geschlechtssphäre (wollüstige
Empfindungen bis zu magnetischen Strömungen bei blosser Gegenwart der geliebten
Person, Pollutionen etc.). Die geschlechtliche Empfindung bleibt eine rein
platonische oder findet ihre Befriedigung in gegenseitiger Onanie oder in mastur-
batorischer Reizung der geliebten Person. Nur ganz ausnahmsweise findet sich
Päderastie.
Dass auch bei solchen Individuen mit perverser Geschlechtsempfindung
analog solchen mit normaler die Art der Befriedigung des Triebs eine perverse
werden kann, insofern der geschlechtlich Erregte bis zum Mord seines Opfers
gelangt, lehrt der denkwürdige von Liman bekanntgemachte Fall Zastrow (Casper's
Handb. p. 509), in welchem der päderastisch gemissbrauchte Knabe gebissen
wurde, den After geschlitzt bekam, an der Vorhaut verstümmelt und schliesslich
strangulirt wurde ').
^) Es fragt sich, ob die onanistischen Manipulationen der mit conträrer
Sexualempfindung Behafteten unter die §§. 129 des Österreich. Strafgesetzbuchs,
§. 190 d. österr. Strafgesetzentw. u. §. 175 des deutschen Strafges. sabsumirbar
sind, wo von „widernatürlicher Unzucht zwischen Personen desselben Geschlechts
und mit Thieren" die Rede ist. Unter widernatürl. Unzucht verstand der Gesetz-
236 Cap. X. Die psychischen Entartungen.
In einer grossen Zahl der Fälle psychischer Entartung finden
sich auch anatomische^) Degenerationszeichen vor und geben einen
weiteren Beweis dafür, dass schon in den ersten Zeiten der Ent-
wicklung schädigende Einflüsse sich geltend machten. Dass dies in
die körperliche Organisation tiefeingreifende Vorgänge sein müssen,
beweisen eben diese sinnfälligen Abweichungen vom Bildungstvpus
der Art.
Als derartige Degenerationszeichen sind anzusprechen: gewisse
Anomalien der Schädelbildung (Mikro- , Makro-, Rhombocephalie,
Cranium progeneum) Disproportion zwischen Hirn- und Gesichts-
schädel, ungleiche Entwicklung der Gesichtshälften, fehlerhafte Stel-
lung , abnorme Grösse oder Kleinheit der Ohren , unvollkommene
Differenzirung derselben von der Gesichtshaut, rudimentäre Entwick-
lung einzelner Theile des Ohrs, Misswachs der Zähne, falsche Stellung
derselben, Ausbleiben der 2. Dentition, abnorm grosser oder kleiner
Mund, Hasenscharte, Wolfsrachen, vorstehendes Os incisivum, zu
steiler schmaler oder zu flacher breiter oder einseitig abgeflachter
Gaumen, limböse Gaumennaht; Retinitis pigmentosa, Coloboma iridis,
Albinismus, Klumpfuss, Klumphand, ungleiche Hände, abnorm kleiner
Penis, Phimosis bei übrigens nicht hypertrophischer Vorhaut, Epi-,
Hypospadie, Anorchidie, Mikro- und Monorchidie, Hermaphroditismus,
Entwicklungsanomalien der weiblichen Genitalien, fehlende oder ab-
norme Behaarung am Körper, Bartwuchs bei Weibern etc.
Die Entartimgsphänomene in der psychischen Sphäre sind äusserst
mannigfach und individuell sehr verschieden.
geber die in der Regel nichts weniger als pathologische Päderastie. Die conträre
Sexualempfindiing und mutuelle Onanie kannte er nicht. Sie sollte straflos sein,
sobald sie portis clausis und unter Erwachsenen vorkommt. Unter allen Um-
ständen müsste solchen Unglücklichen die angeborene und entschieden pathologische
Geschlechtsempfindung zu Gute gehalten werden. Auch die Päderastie, welche
in Oesterreich mit 1 — 5j ährigem Kerker, in Deutschland und nach dem österr.
Strafgesetzen tw. nur mit Gefängniss bestraft wird, kann eine pathologische Er-
scheinung sein. Jedenfalls muss die gegenwärtige wissenschaftliche Erkenntniss
solcher Geschlechtsverirrungen bei der Häufigkeit ihrer pathologischen Begrün-
dung eine forensische Expertise im gegebenen Fall fordern.
Literatur: s. Casper, Vierteljahrsschr. I, 1852. Casper, klin. Novellen,
p. 36. D. Schriften des Ulrichs. Leipzig 1864—80. Westphal, Archiv f. Psych.
II, p. 73. Siehe f. ebenda I, p. 651, III, p. 225, V, p. 564, VI, p. 484, p. 620.
V. Krafft ebenda VII. Stark, Zeitschr. f. Psych. XXXI. Mayer, Friedr. Blätter
1875, p. 41. Hofmann, Lehrb. d. ger. Med., 2. Aufl. p. 164.
0 Vgl. Legrand du SauUe, Ann. med. psychol. 1878, Mai.
Psj'chische elementare Anomalien. 237
Im Gemüthsleben fällt zunächst die Reizbarkeit, das erleichterte
Auftreten von Affekten bis zu pathologischer Höhe (Sinnesverwirrung)
auf^ aber daneben besteht vielfach eine nicht minder auffällige
Gemüthsstumpfheit, da wo höhere geistige Interessen, sittliche Gefühle
und Pflichten im Spiele sind. Bei einer ganzen Gruppe dieser Defekt-
menschen ist der völlige Mangel oder wenigstens die Unerregbarkeit
ethischer Gefühle eine tief einschneidende Gemüthsanomalie.
Bei vielen derartigen Individuen zeigt sich ein fortwährender
Wechsel zwischen Stimmungsanomalien im Sinn einer grundlosen
Exaltation und Depression. Eine indifferente affektfreie Stimmungs-
lage ist nicht möglich.
In den Exaltationsphasen zeigt sich dann ein unstäter Thätigkeits-
drang mit sonderbaren , mitunter selbst bedenklichen Gelüsten und
Impulsen.
In den depressiven Phasen leidet der Betreffende an peinlicher
Unentschlossenheit , Handlungsunfähigkeit , an Zwangsvorstellungen,
namentlich zu Selbstmord.
Auf dem Gebiet des Vorstellens findet sich Unfähigkeit zu
einem anhaltenden intensiven, scharfen, logischen Denken und vielfach
eine bemerkenswerthe Schwäche in der Reproduktionstreue der Vor-
stellungen. Auch der Ideengang ist oft ein auffällig abspringender,
unvermittelter, unbegreiflicher.
Nicht selten finden sich Zwangsvorstellungen und desultorische
anticipirte Primordialdelirien im Sinn einer primären Verrücktheit.
Auch in der Willenssphäre besteht reizbare Schwäche — ; Schwäche
und Inconsequenz des Wollens. Bei vielen, namentlich bei erblich
mit einer solchen abnormen psychischen Constitution Belasteten er-
scheinen impulsive Akte, ja manchmal fühlen sich diese Menschen
sogar in bestimmten Zeitintervallen getrieben, dieselben verkehrten,
excentrischen, ja selbst unsittlichen Handlungen zu wiederholen, ohne
dass sie sich eines Motivs hinterher bewusst wären. Jedenfalls spielt
die unbewusste Sphäre des geistigen Lebens bei ihnen eine grössere
Rolle als beim normalen Menschen. Ihre Zwangsvorstellungen, impul-
siven Akte und sonderbaren Gedankenverbindungen erweisen dies und
mit Recht hat Morel solche „Hereditarier" als „instinktive" Menschen
bezeichnet. Zuweilen lassen sich diese impulsiven Akte auf affekt-
artige Stimmungen, Idiosyncrasien, Zwangsvorstellungen zurückführen.
Meist bleiben sie aber dem Beurtheiler ebenso unverständlich als dem
Handelnden. Es finden sich eben hier, wie Maudsley a. a. O. sehr
richtig bemerkt, Eigenthümlichkeiten im Denken, Fühlen und Handeln,
238 Cap. X. Die psychischen Entartungen.
die bei der ungeheueren Mehrzahl der übrigen Menschen nicht vor-
kommen und die den ihnen Unterworfenen, wenn auch nicht irre im
landläufigen Sinn des Worts, so doch abnorm erscheinen lassen. Seine
Gedankenverbindungen sind ungewöhnlich, er bringt die Dinge in
sonderbare ungewöhnliche Beziehungen, seine Gefühle sind abweichend
von denen anderer Leute und indem er auf Einflüsse reagirt, die
Andere nicht afficiren würden, vollbringt er ab und zu sonderbare,
anscheinend ganz zwecklose Handlungen,
Im Gebiet der höheren geistigen Leistungen fällt das Un-
harmonische der Gesammtheit derselben auf. Geringe Intelligenz
neben einseitig hervorragender Begabung bis zur partiellen Genialität,
Willens- und Charakterschwäche, die sich in Mangel eines sittlichen
Halts, Unfähigkeit zu einer geordneten Lebensführung, in widerstands-
loser Hingabe an unsittliche Neigungen kundgibt, dabei Verschroben-
heit und Einseitigkeit gewisser Gedanken- und Gefiihlsrichtungen, die
solche Menschen barokk, überspannt, leidenschaftlich, in der Rolle
von Sonderlingen , Misanthropen , Narren erscheinen lässt , endlich
capriciöse Zu- und Abneigungen, Einseitigkeit gewisser Begabungen
und Willensrichtungen bei Stumpfheit und Interesselosigkeit für viel
näher liegende sociale Fragen und Pflichten, unruhiges, unstätes, trieb-
artiges, launenhaftes Wesen, zielloses Handeln bilden die häufigsten
und hervorstechendsten Züge der abnormen Persönlichkeit. Es fehlt
ihr eben der sittliche Halt, ein seiner Ziele bewusstes Streben, die
Tiefe des Empfindens und Denkens und damit die Fähigkeit einer
Selbstführung und eines Erfolgs im Ringen nach einer Lebensstellung.
Häufig gibt sich die allgemeine Verschrobenheit auch in Abgeschmackt-
heiten des Benehmens, der Kleidung äusserlich kund.
Die Geneigtheit derartiger Individuen temporär oder dauernd
in wirkliche Geisteskrankheit zu verfallen, ist eine grosse. Häufig
geht dann die verschrobene Anlage unvermerkt in jene über, indem
die Einseitigkeit oder Schwäche der Intelligenz, die Verschrobenheit
der Gefühle und Bestrebungen , die Leidenschaften und Charakter-
abnormitäten den fruchtbaren Boden für ein an sich geringfügiges
psychisches, ursächliches Moment abgeben, oder die Geistesstörung
entwickelt sich organisch aus dem Zwischenglied einer constitutionellen
Neurose (Hysterie, Hypochondrie etc.) heraus. Ganz besonders be-
steht die Gefahr der Erkrankung in physiologischen Lebensphasen,
namentlich der Pubertätszeit. Auch auf Freiheitsberaubung reagiren
solche Entartete vielfach im Sinn einer Psychose.
Die Formen dieses Irreseins auf degenerativer Grundlage nähern
Krankheitsbilder. 239
sich denen des unbelasteten Gehirns, aber es sind Zerr- und Misch-
bilder dieser^ insofern in buntem anscheinend gesetzlosem Wechsel
Symptomenreihen und Zustandsbilder der verschiedenen Formen der
Psychosen sie zusammensetzen. Häufig ist eine periodische Wieder-
kehr von Symptomenreihen oder Zustandsbildern zu bemerken.
Wahnideen sind bei diesen degenerativen Zuständen nicht häufig
und wo sie vorkommen, ihrer Entstehungsweise nach vorwiegend
Primordialdelirien. Die Verschrobenheit der ursprünglichen Anlage
gibt sich dann vielfach in einer bemerkenswerthen Absurdität, Un-
vermitteltheit und Monstrosität dieser Wahnideen zu erkennen. Vor-
wiegend im Krankheitsbild sind dagegen das Delirium der Gefühle
und Handlungen bei relativ intakter d. h. nur formal gestörter (folie
morale, folie lucide) oder dürftig entwickelter Intelligenz (Schwach-
sinn mit impulsiven Akten); das Krankheitsbild bekommt damit einen
eigenthümlichen raisonnirenden Anstrich (folie raisonnante), die logi-
schen Processe scheinen intakt.
Das Delirium der Handlungen hat einen impulsiven instinktiven
Charakter und zeichnet sich durch einen auffällig unsittlichen Inhalt
der Tendenzen aus.
In dem ganzen Krankheitsbild überrascht endlich das unver-
mittelte Nebeneinander von Lucidität und Verkehrtheit, ein gewisser
Rest von Beurtheilungsfähigkeit für das Verkehrte, Krankhafte, trotz
aller Unfähigkeit den Impulsen Einhalt zu gebieten, endlich das
Erhaltensein oder Hervortreten von gewissen artistischen und intel-
lektuellen Leistungen inmitten der tiefen und allgemeinen Störung
des Geisteslebens.
So erscheint die Krankheit als ein Zerrbild der psychischen
Persönlichkeit.
Die forensische Bedeutung dieser Zustände ist eine grosse. Leider
ist ihre ärztliche Erforschung, Dank vorwiegend psychologischer Unter-
suchungsweise, noch nicht zu einer wünschenswerthen Klarheit ge-
diehen. Vor den Schranken des Gerichts macht sich diese Unsicher-
heit in peinlicher Weise fühlbar. Zur Schwierigkeit der ärztlichen
Beurtheilung des Anomalen solcher Zustände, die eine zusammen-
fassende Kenntniss des ganzen Vorlebens, aller früheren Entwicklungs-
und Lebenszustände voraussetzt, kommt die Verlegenheit der Laien,
welche zwar das Anomale der ganzen Persönlichkeit und ihrer Hand-
lungen herausfühlen, aber an ihr das nicht finden, was ihr „gesunder
Menschenverstand" als unerlässlich zur Annahme von Irresein fordert^
während doch andererseits jene Persönlichkeit alle Attribute in sich
240 C^P- -^- -^^^ psychisclien Entartungen.
vereinigt; die zur Charakteristik eines unsittlicl^en leidenschaftlichen
Charakters gehören.
Die Formel für die Beurtheilung der Zurechnungsfähigkeit sol-
cher psychisch Entarteten muss noch gefunden werden. Wo die
Entartung temporär oder dauernd in wirkliches Irresein übergegangen
ist^ wird die Aufhebung der Zurechnungsfähigkeit keinem Zweifel
begegnen und nur Gefahr bestehen, dass aus dem luciden und pro-
teusartigen Krankheitsbild der nichtsachverständige „Sachverständige*
Simulation herausdiagnosticirt.
Da wo bloss elementare psychische Funktionsanomalien oder
eine allgemeine Verschrobenheit der psychischen Processe ohne wirk-
liches Irresein sich finden, wird die Annahme mildernder Umstände
im weitgehendsten und vom Gesetzgeber gestatteten Sinn das Rich-
tige sein. Dem Gerichtsarzt wird dabei die schwierige und verant-
wortliche Aufgabe zufallen, nachzuweisen, in wieweit die impulsiven
Antriebe , unsittlichen perversen Gelüste , leidenschaftlichen Stim-
mungen, affektvollen Erregungen solcher Menschen mit krankhafter
Stärke und organisch bedingter Nöthigung sich geltend machen und
somit dem freien Wollen entzogene Bedingungen geschaffen sind, die
bei der Mehrzahl der übrigen Menschen sich nicht vorfinden. Billiger-
weise dürfte im Zweifelfall die Präsumption der Krankheit zu gelten
haben und der Nachweis, dass die strafbare That dennoch aus Leiden-
schaft, Immoralität, überhaupt freien Motiven hervorgegangen sei,
erst zu liefern sein. Es ist nicht zu vergessen, dass degenerative
Constitution und wirkliches degeneratives Irresein ohne scharfe Gränze
in einander übergehen und sicherlich mit genauerer Erkenntniss dieser
eigenartigen Zustände diese Gränze zu Gunsten des wirklichen Irre-
seins sich immer mehr erweitern wird.
Bestimmte klinische Bilder innerhalb des Rahmens dieser indi-
viduellen Entartungszustände aufzustellen, erscheint kaum thunlich.
Vom Standpunkt einer psychologischen Betrachtungsweise aus sind
sie nicht klassificirbar. Der Schlüssel zu ihrem Verständniss liegt
wesentlich in ihren anthropologischen (Heredität) und neurotisch-
klinischen Beziehungen. Als Aeusserungsweisen der psychischen Ent-
artungszustände lassen sich übersichtlich ein Gemüths- und ein Hand-
lungsirresein anführen, ohne dass jedoch damit eigene Formen jener
aufgestellt werden sollen.
Das moralische Irresein. . 241
1. Das moralisclie Irresein.
Literatur. Grolimann, Nasses Zeitsclir. 1819, p. 162. Heinrich, Allg. Zeitschrift
f. Psychiatr. I, p. 338. Prichard, treatise on insanity. Prichard, on the diffe-
rent l'ornis of insanity, 1842. Morel, traite des degenerescences, 1857. Brierre,
les fous criminels de l'A-ngleterre, 1869. Solbrig, Verbrechen und Wahnsinn,
1867. Griesinger, Viertelj ahrschr. f. ger. u. öffentl. Med. N. F. VI. Nr. 2.
Despine, etude sur les facultes intellectuelles et morales, 1868. Krafft, Die
Lehre v. moral. Wahnsinn; Friedreich's Blätter 1871. Derselbe, Verbrechen
u. Wahnsinn, Allg. deutsche Strafrechtszeitg. 1872. Stoltz, Zeitschr. f. Psy-
chiatrie 33. H. 5 u. 6. Livi, Rivista sperimentale 1876, fascic. 5 u. 6. Tamassia
ebenda, 1877, p. 550. Gauster, Wien. med. Klinik III. Jahrg. Nr. 4. Mendel,
Deutsche Zeitschr. f. prakt. Med. 1876, Nr. 52. Maudsley, Deutsche Klinik
1873, 2 — 3. Wahlberg, Der Fall Hackler in „gesammelte kleinere Schriften",
Wien 1877. Bannister, Chicago Journ. 1877, Oct. Palmerini, Bonfigli, Rivista
sperim. 1877, fasc.*3 u. 4. Reimer, Deutsche med. Wochenschr. IV. 18 — 19.
Eine besonders grell zu Tage tretende psychische Degenerations-
weise stellen Zustände dar, in welchen das Individuum, obwohl die
Segnungen der Civilisation und Erziehung ihm zu Theil wurden,
dennoch nicht jener einen integrirenden Bestandtheil des Cultur-
menschen bildenden Fähigkeit theilhaftig wird, ethische (mit Inbegrijßf
religiöser ästhetischer) Vorstellungen zu erwerben, zur Bildung morali-
scher Urtheile und Begriffe zu verknüpfen und als Motive und Gegen-
motive des Handelns zu verwerthen.
Ein Gehirn, dem diese auf der gegenwärtigen Entwicklungsstufe
civilisirter Menschen integrirende Fähigkeit abgeht, erweist sich als
ein ab ovo inferior angelegtes, defektives, funktionell degeneratives,
und diese Anschauung gewinnt eine mächtige Stütze darin, dass alle
Bemühungen der Erziehung, wie sie Familie, Religion und Schule an-
strengen, gleichwie die trüben Erfahrungen, die ein so organisirtes
Individuum im späteren Leben macht, sein ethisches Fühlen und Ver-
halten in keiner Weise günstig zu beeinflussen vermögen.
Die Ursache ist eben eine organische und für diese angeborenen
Defektzustände in meist hereditären Bedingungen zu suchen, unter
welchen Irresein, Trunksucht, Epilepsie der Erzeuger die hauptsächlich-
sten sind.
Gegenüber diesen angeborenen Fällen von moralischer Idiotie als Analoga
der intellektuellen Idiotie auf psychisch degenerativer Grundlage haben wir als
Prodromi oder Begleiterscheinungen schwerer Gehirnprocesse (Dementia jjaralytica,
senilis, Alkoholismus chronicus, epileptisches und hysterisches Irresein) oder als
Folgezustände schwerer Gehirninsulte (Kopfverletzungen , Apoplexie) Fälle er-
V. Kr af ft-Eblng. gericbtl. Psychopathologie. 2. Auflage. 16
242 Cap. X. Die psychischen Entartungen.
worbener Verkümmerung des moralischen Sinns erkannt, die nach Umständen;
schon bestanden, bevor intellektuelle Defekte und greifbare Zeichen von Irresein
überhaupt sich einstellten. Dass der ethische Defekt früher im klinischen Bild
auftrat, erklärt sich aus der Thatsache, dass die ethischen Leistungen die höchsten
sind, die feinste Organisation des Gehirns voraussetzen und bei Entartungsvorgängen
im psychischen Organ zunächst und besonders tief nothleiden.
Das moralische Irresein ist keine eigene Form von Geistes-
krankheit, sondern ein eigenthümlicher Entartungsvorgang auf psy-
chischem Gebiet, der den innersten Kern der Individualität, ihre ge-
müthlichen, ethischen, moralischen Beziehungen trifft. Da er den
formalen Ablauf des Vorstellens, die Bildung intellectuell gewonnener
Urtheile des Nützlichen und Schädlichen fast unversehrt lässt, er-
möglicht er ein logisches Urtheilen und Schliessen, das dem Un-
kundigen den Defekt aller moralischen Urtheile und ethischen Gefühle
verhüllt und den moralischen Idioten zwar klinisch wenn auch nicht
ethisch, in der Stelle des unmoralischen, selbst verbrecherischen Menschen
erscheinen lässt.
Klinische Uebersicht: Wie Stolz (op. cit.) nachweist, hat schon Regio-
montanus 1513 die Idee ausgesprochen, dass es boshafte unsittliche Menschen
gebe, die ihre Bosheit nicht aus sich selbst hätten und die trotzdem von den
Rechtsgelehrten gehängt würden. Was der Naturforscher des 16. Jahrhunderts
dem Einfl-uss der Gestirne (Geborensein im Zeichen der Venus) zuschrieb, sucht
eine fortgeschrittene Zeit aus abnormen Organisationsverhältnissen des Menschen
zu erklären.
In Deutschland dürfte Grohmann (1819) der Erste gewesen sein, der eine
ethische Entartung aus organischer Ursache erkannte und sie als angeborene
moralische Insanie, moralischen Blödsinn bezeichnete. Einen ersten Versuch
klinischer Darstellung und Umgränzung des Krankheitsbildes machte. Prichard
(1842). Die ätiologische Bedeutung des krankhaften Zustands als eines degene-
rativen, vorwiegend hereditären, lehrte Morel kennen. Die klinischen Forschungen
eines Brierre, Falret, Solbrig u. A. haben dem moralischen Irresein die allgemeine
ärztliche Anerkennung verschaift.
Versuchen wir es, die klinischen Merkmale dieses eigenthümlichen Ent-
artungszustandes zu skizziren, so tritt als grellste Erscheinung und für ihn die
Signatur abgebend, eine mehr oder weniger vollkommene moralische Insensibilität,
ein Fehlen der moralischen Urtheile und ethischen Begriffe zu Tage, an deren
Stelle die rein aus logischen Processen hervorgehenden Urtheile des Nützlichen
und Schädlichen treten. Allerdings können die Gebote des Sittengesetzes ein-
gelernt und memnonisch reproducirbar sein, aber wenn sie je in's Bewusstsein
eintreten, so bleiben sie von Gefühlen, geschweige Affekten unbetont und damit
starre, todte Vorstellungsmassen, nutzloser Ballast für das Bewusstsein des Defekt-
menschen, der daraus keine Motive oder Gegenmotive für sein Thim und Lassen
zu zielien weiss.
Dieser „sittlichen Farbenblindheit", diesem „Irresein der altruistischen Ge-
Das moralische Irresein. 243
fühle" (Schule) erscheint die ganze Cultur, die ganze sittliche und staatliche
Ordnung nur als eine hemmende Schranke für das egoistische Fühlen und
Streben, das nothwendig zur Negation der Rechtssphäre Anderer und zu Ein-
griffen in diese führen muss.
Interesselos für alles Edle und Schöne, stumpf für alle Regungen des
Herzens, befremden diese unglücklichen Defektmenschen früh schon durch Mangel
an Kindes- und Verwandtenliebe, Fehlen aller socialen geselligen Triebe, Herzens-
kälte, Gleichgültigkeit gegen das Wohl und Wehe ihrer nächsten Angehörigen,
durch Interesselosigkeit für alle Fragen des socialen Lebens. Natürlich fehlt
auch jegliche Empfänglichkeit für sittliche Werthschätzung oder Missbilligung
Seitens Anderer, jegliche Gewissensregung und Reue. Die Sitte verstehen sie
nicht, das Gesetz hat für sie nur die Bedeutung einer polizeilichen Vorschrift
und das schwerste Verbrechen erscheint ihnen von ihrem eigenartigen inferioren
Standpunkt aus nicht anders als einem ethisch vollsinnigen Menschen die einfache
Uebertretung einer polizeilichen Verordnung. Gerathen sie in Conflikt mit dem
Einzelnen oder der Gesellschaft, so treten an Stelle der einfachen Herzenskälte
und Negation Hass, Neid, Rachsucht und bei ihrer sittlichen Idiotie kennt dann
ihre Brutalität und Rücksichtslosigkeit keine Schranken.
Dieser ethische Defekt macht solche inferior Organisirte unfähig, auf die
Dauer in der Gesellschaft sich zu halten und zu Kandidaten des Arbeits-, Zucht-
oder Irrenhauses, welche Aufbewahrungsorte sie endlich erreichen, nachdem sie
als Kinder bei ihrer Faulheit, Lügenhaftigkeit, Gemeinheit, der Schrecken der
Eltern und Lehrer, als junge Leute bei ihrem Hang zur Vagabondage, Ver-
schwendung, Excessen, Diebstählen die Schande der Familien, die Plage der
Gemeinden und Behörden gewesen waren, um endlich die Crux der Irrenanstalten
und die Unverbesserlichen der Strafhäuser zu werden.
Neben dem Mangel ethischer altruistischer Gefühle und dem nothwendig
sich ergebenden Egoismus findet sich als formale affektive Störung eine grosse
Gemüthsreizbarkeit, die in Verbindung mit dem Mangel sittlicher Gefühle zu
den grössten Brutalitäten und Grausamkeiten hinreisst und sogar pathologische
Affekte begünstigt.
Auf intellektuellem Gebiet erscheint der Kranke für Den, welcher formell
logisches Denken, Besonnenheit, planmässiges Handeln als entscheidend ansieht,
unversehrt. Auch das Fehlen von Wahnideen und Sinnestäuschungen im Krank-
heitsbild hat schon Prichard hervorgehoben. Trotzdem, ja selbst trotz aller
Schlauheit und Energie, wenn es sich um die Verwirklichung ihrer unsittlichen
Bestrebungen handelt, sind solche Entartete doch intellektuell schwach, unproduktiv,
zu einem wirklichen Lebensberuf, zu einer geordneten Thätigkeit unfähig, von
mangelhafter Bildungsfähigkeit, einseitig, verschroben in ihrem Ideengang, von
sehr beschränktem Urtheil. Nie fehlt bei diesen ethisch Verkümmerten zugleich
der intellektuelle Defekt. Viele sind sogar geradezu Schwachsinnige. Sie sind
nicht bloss einsichtslos für das Unsittliche, sondern auch für das positiv Verkehrte,
ihren eigenen Interessen Schädliche ihres Thuns und Lassens ; sie überraschen,
trotz aller Beweise von instinktiver Schlauheit, durch gleichzeitiges Ausser-
achtlassen der gewöhnlichsten Regeln der Klugheit bei ihren verbrecherischen
Handlungen.
Im formaler Beziehung ist auf dem Gebiet des Vorstellens, neben der Un-
fähigkeit der Bildung von ethischen Vorstellungen und der Verknüpfung derselben
244 Cap. X. Die psychischen Entartungen.
zu moralischen Urtheilen und Begriffen, die mangelhafte Reproduktionstreue der
Vorstellungen hervorzuheben.
Auf der Seite des Strebens zeigt sich der ethische und intellektuelle Defekt
in der vollkommenen Unfähigkeit zu einer Selbstführung und Selbstcontrole.
Im Allgemeinen zeichnen sich diese Entarteten durch ihre geistige Schlaffheit
und Trägheit aus, die nur da überwunden wird, wo es sich um Befriedigung
ihrer unsittlichen verbrecherischen Gelüste handelt. Sie sind geborene Müssig-
gänger und sittliche Schwächlinge. Vagabundiren, Betteln, Stehlen sind Lieblings-
beschäftigungen, Arbeit ist ein Gräuel.
Ist schon das „freie" Handeln zu einem zwar willkürlichen, aber durch
Fehlen oder Unerregbarkeit sittlicher Vorstellungen sittlich unfreien herabgesunken
und erscheinen dem sittlich blinden Auge des Kranken die höchsten Gebote des
Sitten- und Rechtsgesetzes nur als überflüssige, unverstandene polizeiliche Vor-
schriften, so kommt dazu, dass vielfach direkte, aus der Hirnerkrankung heraus-
gesetzte, spontane, organische Antriebe zu theils einfach bizarren, theils unsitt-
lichen und verbrecherischen Handlungen erfolgen.
Sie haben dann weitere psychisch degenerative Charakterzüge, den des
ImpulsiA^en und nicht selten den periodischer Wiederkehr (Vagabundiren, Stehlen,
alkoholische und sexuelle Excesse). Soweit natürliche Triebe dem Handeln hier
zu Grund liegen, können jene zudem einen perversen Charakter an sich tragen.
Dies gilt namentlich bezüglich des Geschlechtstriebs, dessen Perversionen grossen-
theils auf dem Boden des moralischen Irreseins vorkommen.
Da es sich hier um individuelle Entartungszustände handelt, sind die
klinischen Erscheinungsformen äusserst mannigfache und entziehen sich einer
näheren Differenzirung.
Je nach der Intensität der Störung lassen sich Zustände von moralischem
Schwach- und Blödsinn, analog den Zuständen von intellektuellem Schwach- und
Blödsinn unterscheiden.
Praktisch lässt sich ein Unterschied zwischen passiven apathischen und
aktiven reizbaren „moral insanity" Individuen aufstellen.
Das moralische Irresein ist, wenn angeboren, meist eine stationäre Infirmität.
Zuweilen ist es progressiv, wesentlich durch die Vorgänge der Pubertät, durch
Uterinleiden, sexuelle und alkoholische Excesse.
Die angeborenen Fälle zeigen sich sehr disponirt auf gelegentliche Schäd-
lichkeiten im Sinn einer Psychopathie zu reagiren. Namentlich Freiheitsberaubung
genügt, um intercurrent wirkliches Irresein hervorzurufen.
Neben pathologischen Affekten und Alkoholzuständen werden als Com-
plikationen bei moral insanity nicht selten periodische Psychosen beobachtet,
auch Fälle von primärer Verrücktheit habe ich hier vorgefunden.
Die Unterscheidung des moralisch irrsinnigen Scheinverbrechers
von dem im äusseren Bild ganz gleichen Gewohnheitsverbrecher aus
defekter Erziehung und willkürlicher Hingabe an das Laster ist heut-
zutage eine Grundbedingung für die Strafrechtspflege; die sonst den
Begriff der Schuld und Strafe aufgeben und nur noch den Stand-
punkt der Gemeingefährlichkeit aufrecht erhalten könnte.
Die forensische Diagnose dieser Zustände hat die Aufgabe, die
Das moralische Irresein. 245
psychischen Anomalien auf eine angeborene defektive Hirnorganisation
zurückzuführen. Die Untersuchung ist hier eine streng khnische und
ist es zweckmässig, vorerst die specielle Diagnose bei Seite zu lassen
und die allgemeine des Bestehens einer cerebralen Abnormität über-
haupt zu geben.
Für das moralische Irresein sind entscheidend:
1. Die Abstammung von irrsinnigen, trunksüchtigen, epileptischen
Erzeugern.
2. Der Nachweis der den psychischen Degenerationszuständen
im Allgemeinen zukommenden anatomischen und funktionellen De-
generationszeichen mit besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse
des Geschlechtslebens, als der für die Entwicklung des moralischen
Sinnes wichtigsten organischen Grundlage.
3. Der Nachweis von vasomotorischen (Alkoholintoleranz) und
motorischen (Contracturen, Paresen etc. als Residuen cerebraler meist
infantiler Affektionen, epileptische Symptome) Funktionsstörungen.
Ist auf diese Criterien die allgemeine Diagnose eines Cerebral-
leidens gegründet, so hat die specielle zunächst das abnorm frühe
Auftreten der ethischen Verkümmerung geltend zu machen, zu einer
Lebenszeit, in welcher von einem Einfluss bösen Beispiels nicht die
Rede sein konnte und vielfach geradezu bei positiv guten Erziehungs-
bestrebungen. Das organische Bedingtsein der moralischen Schwäche
wird durch die absolute Incorrigibilität des Entarteten eine weitere
Stütze erhalten.
Dazu kommt der Nachweis intellectueller Schwäche bis zum aus-
gesprochenen Schwachsinn, der krankhaften Gemüthsreizbarkeit bis
zur Höhe wuthzorniger jedenfalls pathologischer Affekte, der mangel-
haften Reproduktionstreue des Vorstellens, des grundlosen Wechsels
zwischen Exaltation und Depression, des impulsiven perversen, d. h.
auf Perversion der natürlichen Triebe, Instinkte, Gefühle beruhenden,
vielfach selbst periodisch sich äussernden Charakters der Handlungs-
weise. Dazu kommt die Häufigkeit, mit welcher solche Individuen
cerebrale Zufälle bekommen, die Leichtigkeit, mit welcher sie in Irre-
sein verfallen, eine cerebrale Disposition, die sich auch bei ihrer Nach-
kommenschaft bemerklich macht. Besonders leicht werden solche
Individuen irre, wenn .sie in Gefangenschaft gerathen. Ihr Irresein
hat dann meist das proteiforme Gepräge des auf Grundlage psy-
chischer Degeneration sich entwickelnden und bringt sie leicht in den
Verdacht der Simulation.
Ist auf Grund dieser anthropologischen und klinischen Zeichen
246 Cap. X. Die psychischen Entartungen. .
die Diagnose einer Hirnerkrankung bezw. psychischen Entartung her-
gestellt und die Abhängigkeit der scheinbar rein sittlichen Anomalie
von jener nachgewiesen^ so mögen auch die allgemein psychologischen
Momente der Unwiderstehlichkeit, der Absurdität, der gegen das eigene
Wohl gerichteten Triebe, die Spontaneität und Plötzlichkeit, mit der
sie auftreten, ihre Perversität und Monstrosität, die Unvorsichtigkeit,
Rücksichtslosigkeit, Grausamkeit, mit der sie befriedigt, der Cynismus,
mit dem sie zur Schau getragen und eingestanden werden, die Gleich-
gültigkeit, Kaltblütigkeit, Reuelosigkeit solcher Menschen Beachtung
finden, nur darf nicht vergessen werden, dass sie auch mehr oder
weniger beim Gewohnheitsverbrecher vorkommen und sammt und
sonders nur als Ergänzung der oben angeführten anthropologischen
und klinischen Momente von Werth sein können. Durch den Nach-
weis dieser werden aber auch alle die landläufigen Kriterien der Zu-
rechnungsfähigkeit in foro — unsittliche Lebensführung, schlechter
Leumund, äussere Besonnenheit und kluge Wahl der Mittel, ver-
brecherische Motive der That, Mangel von Sinnesdelirien und Wahn-
ideen u. a. Gemeinplätze, in denen die Ignoranz der Laien sicher
zu sein glaubt, hinfällig.
Am allerwenigsten kann aber ein böser Leumund belastend
für die Schuld des Angeklagten sein, im Gegentheil, ein exemplarisch
und von Kindesbeinen auf schlechter Leumund muss geradezu die
Aufmerksamkeit darauf lenken, ob nicht organische, dem freien Wollen
entzogene Dispositionen und Motive das Individuum unablässig nach
der schlimmen Seite hinübertreiben, und was die unsittlichen Motive
betrifi't, so finden sie sich auch bei Geisteskranken und verlieren ihre
ganze Bedeutung, sobald das primum movens der unsittlichen Impulse
auf eine Hirnabnormität zurückgeführt wird.
Die Frage nach der rechtlichen Verantwortlichkeit solcher de-
generativer Individuen muss beim gegenwärtigen Standpunkt der
Strafgesetzgebungen als eine offene bezeichnet werden. Möge sie
vom Juristen generell und im concreten Fall gelöst werden! Der
Gerichtsarzt hat seine Aufgabe gelöst, wenn er im gegebenen Fall
die organische Grundlage der scheinbar rein ethischen Depravation
nachgewiesen, ihren Umfang festgestellt und das Zwangsmässige des
scheinbar willkürlichen Gebahrens solcher Individuen dargelegt hat.
Ein Strafbark ei tsbewusstsein ist solchen Menschen im
Allgemeinen nicht abzusprechen, aber es beschränkt sich auf eine
einfache Kenntniss des Rechts ohne alles ethische Verständniss und
ihr Unterscheidungsvermögen reducirt sich auf die Geltendmachung
Das moralische Irresein. Beob. 84. 247
der egoistischen Motive der Nützliclikeit oder Schädlichkeit einer in-
tendirten Handlung. Damit erscheint solchen Menschen in ihrem
defekten ethischen und rechtlichen Bewusstsein Recht und Gesetz nur
als einfache polizeiliche Verordnung.
Viel bedeutsamer ist aber die Insufficienz derselben gegenüber
der zweiten Grundbedingung der Zurechnungsfähigkeit , der freien
Willensbestimmung.
Jene Correctur und Beschränkung der sinnlichen egoistischen
Impulse durch sittliche ^ integrirende Bestandtheile des Charakters
bildende Corrective, wie sie der ethisch Vollsinnige übt, ist hier un-
möglich, aber nicht wie beim Verbrecher dadurch, dass das Gewicht
dieser sittlichen Corrective durch mangelnde Ausbildung oder positiv
schlechte Erziehung, trotz guter Naturanlage, zu schwach sich erwies
oder dass die egoistischen Antriebe durch afFektvolle leidenschaftliche
Stimmungen potenzirt waren, sondern weil eine abnorme Hirnorgani-
sation die Ausbildung jener Corrective unmöglich machte oder eine
Hirnerkrankung sie untergehen liess, während gleichzeitig durch eine
solche die sinnlichen Antriebe pathologisch gesteigert und entartet
sind. Damit entfällt die Möglichkeit eines sittlich freien Wollens,
einer Freiheit der Wahl, an deren Stelle ein Zwangswollen tritt, das
nur noch im Sinn der perversen Gelüste und egoistischen Antriebe
sich entäussern kann.
Solche Entartete haben kein Recht und keine Fähigkeit, in der
bürgerlichen Gesellschaft zu existiren, sie sind in hohem Grad ge-
meingefährlich, sie sind es auf Lebensdauer, denn gegenüber ihrer
organischen Störung erweist sich die ärztliche Kunst machtlos. Man
halte sie hinter Schloss und Riegel auf Lebenszeit, aber man brandmarke
sie nicht als Verbrecher, sie sind Unglückliche, die Mitleid verdienen.
Beob. 84. Moralisches Irresein. Mord. Lemaire, 19 Jahre, blond,
von nicht unangenehmem Aeussern, jedoch mit Strabismus und Klumpfuss be-
haftet, die sich auf in der Kindheit gehabte Convulsionen zurückführen lassen,
hatte schon von frühester Jugend auf die schlimmsten Neigungen, Faulheit und
Insolenz gezeigt, sich allen Ausschweifungen u. a. auch der Onanie ergeben.
Vergebens suchte man bei ihm moralisches Gefühl — seine Eltern hasste er und
sprach offen aus, dass er lieber allein Besitzer ihres kleinen Vermögens wäre.
Schon oft hatte er seinen Vater, der ihn gut behandelte, am Leben bedroht, so
dass dieser sich des Schlimmsten von seinem unnatürlichen Sohn zu versehen
hatte. Als die Mutter 1865 starb, sagte Lemaire nur: „gut, so gibts eine
weniger zu füttern". Der Vater wollte sich wieder verheirathen mit einer Frau
B., die mit ihrer 17jährigen Tochter im gleichen Hause wohnte. Der Sohn miss-
billigte dieses Vorhaben. Zwei Tage vor der Hochzeit ermordete er Frau B,
und sagte kaltblütig der herbeigeeilten Tochter: „gut, dass ich mich gerächt
248 Cap. X. Die psychischen Entartungen.
habe, nur schade, dass.ich nicht die drei Andern (seinen Vater, Tochter der
Frau B. und ein Lehrmädchen) habe umbringen können. Uebrigens bin ich
weder ein Narr, noch betrunken und habe den Tod verdient." Das Verbrechen
gestand er kaltblütig — er habe es beschlossen, sobald sein Vater das Heiraths-
projekt ihm mittheilte. Er rühmte sich seiner That und bedauerte nur, die
Andern verschont zu haben. Nach der Ermordung vs^ollte er sich mit deren
Geld aus dem Staub machen und lustig leben. Ehe er ins Gefängniss geführt
wurde, schrieb er noch an einen gewissen G. ein Entschuldigungsschreiben, dass
er einer Einladung nicht Folge leisten könne. In den Verhören gab sich seine
moralische Insensibilität in schrecklicher Weise kund. Er gestand offen seine
Laster und schlimmen Neigungen und rühmte sich derselben mit unglaublichem
Cynismus. Seinen Vater umzubringen war ihm geradesoviel, als einem Andern
eine Fliege. Bezeichnend ist seine Aeusserung, die er dem Richter that: „wenn
Sie mich leben lassen, um spazieren zu gehen, ist mir's recht, wenn ich aber
arbeiten muss, will ich lieber sterben." Ein Zeuge sagt aus, dass L. nach dem
Mord seine blutigen Hände lachend zeigte, mit den Worten: „da habe ich Hand-
schuhe, um zur Hochzeit meines Vaters zu gehen." Ein andrer Zeuge ver-
sichert , dass L. nichts lieber that als grosse Criminalprocesse zu lesen , dass
er immer nur Mordpläne im Kopf hatte und ihm freimüthig mittheilte, er müsse
vier Personen umbringen. Der Staatsanwalt hielt die Klage aufrecht und konnte
keine Spur von Seelenstörung finden. L. sei eine monströse Erscheinung, aber
seine ganze Lebensführung sei eine durchaus logische. Mit einer aus der grössten
Perversität geschöpften Energie habe er seine That vollbracht, aber immerhin
im vollen Besitz seines freien Willens ; seine intellektuellen Funktionen seien in-
takt. Der Staatsanwalt trägt auf Todesstrafe an. L. übernimmt selbst seine
Vertheidigung , entschuldigt sich mit den abscheulichsten Verläumdungen seines
Vaters iind erklärt schliesslich, er sei nicht verrückt. Die Todesstrafe be-
kümmert ihn nicht, er zieht sie dem Gefängniss vor. Er sei nicht gewohnt zu
arbeiten — wenn man ihn im Bagno arbeiten mache, lasse er sich lieber ver-
hungern. Sein Vertheidiger plädirt für Wahnsinn , vermag ihn aber nicht zu
begründen, es handle sich um einen sonderbaren Fall, um ein Mj^sterium. Ein
Gutachten eines ärztlichen Technikers wurde nicht eingeholt.
Sein Todesurtheil begrüsste L. mit Freuden^ von Cassation, von Begnadi-
gung wollte er nichts wissen. Er schlief ruhig, ass mit Appetit und war ganz
munter. Seine gute Laune verliess ihn nicht bei der Toilette und der Hinrich-
tung. Die Section, ausgeführt von Dr. Marchai de Calvi, ergab folgenden Befund:
Ausser einer von der kaukasischen Race durchaus abweichenden, inferioren und
dem Typus der mongolischen sich nähernden Schädelbildung sind sämmtliche
Schädelnähte bereits verknöchert. Die Schädelhöhle , namentlich im vordem
Theil enorm klein und enge. Das Gehirn mit Inbegriff der Pia wiegt nur
1183 gramm, also 217 weniger als das Durchschnittsgewicht. Die Pia mit der
Corticalis fest verwachsen (Spuren von Meningitis), das Stirnhirn atrophisch, allem
Anschein nach (angeborene) Hemmungsbildung. Wir brauchen diesem Fall von
Justizmord Nichts hinzuzufügen. Die organische Ursache der scheinbaren ethi-
schen Depravation liegt hier zu klar zu Tage — Hemmungsbildung des Schädel-
wachsthums und damit des Gehirns, Meningitis in der Kindheit mit Convulsionen
und zurückbleibendem Strabismus und Klumpfuss als somatische , moralische
Verkümmerung und ethische Entartung als psychische Merkmale einer anomalen
Das moralische Irresein. Beob. 85. 249
Hirnorganisation. Was will da noch, gegenüber dem Gewicht solcher Thatsachen,
ein formell logisches Denken , Urtheilen und Schliessen heissen ! Eine ärztliche
Untersuchung des Stands der intellektuellen Funktionen wurde übrigens nicht an-
gestellt. Eine nähere Darstellung des merkwürdigen Falles s. Journal le Droit
du 25. u. 26. Fevrier 1867; le Siecle du 26. Fevrier 1867. Despine op. cit. tom.
IL p. 603. Delasiauve, Journal de medec. mentale 1867 Nr. 5.
Beob. 85. Moralisches Irresein. Am 15. Mai 1840 stahl die 17jährige,
übelbeleumundete, schlechterzogene, unehelich geborene Josefa S. von A. dem
Bürger K. einen Vorrath von Victualien im Werth von 2 fl. 24 kr. Sie hatte
das Gestohlene im elterlichen Hause hinter dem Backofen verborgen. Sie ge-
stand, gab das erstemal Rache, das zweitemal Mangel an Lebensmitteln als
Motiv an und wurde wegen ersten kleinen Diebstahls zu Btägiger Freiheitsstrafe
verurtheilt. Sie ist eine lügenhafte, faule, unwissende, unmoralische, dem Trunk
und der Lüderlichkeit ergebene Weibsperson, war nie an einen regelmässigen
Schulunterricht zu gewöhnen. Die folgenden Lebensjahre brachte sie mit Strassen-
bettel, Landstreicherei, Prostitution und betrügerischem Hausirhandel zu, so dass
sie im Jahre 1844 dreimal in die Hände der Polizei wegen Landstreicherei fiel
und bestraft wurde. 1850—54 war sie mehrfach in Untersuchung wegen zweck-
losen Umherziehens, wegen muthwilliger. Beschädigung von Gemeindeeigenthum,
wegen Beschädigung von Privaten und kleiner Hausdiebstähle.
Als sie einmal 1854 wieder wegen zwecklosen Umhertreibens verhaftet
wurde, fing sie masslos auf die Behörde zu schimpfen an und wurde wegen Be-
leidigung öffentlicher Diener mit 14tägigem Gefängniss betraft. Trotz all dieser
Massregeln blieb sie incorrigibel, arbeitsscheu, allen Fehlern ergeben, einsichtslos
für ihre Vergehen. So verweigerte sie 1854 die Unterschrift in den Verhören
„weil sie unschuldig leide." Das ganze weitere Leben war eine fortlaufende
Kette von Wiedersetzlichkeiten gegen die Behörden, von Untersuchungen wegen
Bettel, Diebstahl und Vagabundiren, bis schliesslich Ende 1854 ihre Verurthei-
lung zu einer Kreisgefängnissstrafe von 4 Monaten, geschärft durch 21 Tage
Hungerkost und 14 Tage Dunkelarrest erfolgte. Sie verweigerte die Unterschrift,
zeigte sich gereizt, klagte über Vergewaltigung und verlangte vor ein anderes
Gericht, um dort abgeurtheilt zu werden. Ins Gefängniss abgeführt, wurde sie
aufgeregt und drohend, schrie und schimpfte in massloser Weise gegen die Be-
hörden, nannte sie Teufel, zerstörte die Geräthschaften ihrer Zelle und machte
einen Selbstmordversuch durch Erdrosseln, der aber noch vereitelt wurde. Sie
bekam nun die Zwangsjacke an, zerriss sie aber nach 2 Tagen und machte so-
fort einen neuen Selbstmordversuch. AUmälig Hessen diese unzweideutigen Er-
scheinungen tobsüchtiger Erregung nach , so dass sie Anfang December ins
Kreisgefängniss verbracht werden konnte. Der Bericht des Gefängnissarztes vom
16. December über ihre dortige Führung lautet folgendermassen :
„J. S. beträgt sich seit ihrer Einlieferung so auffallend störrisch, ungehor-
sam und ordnungswidrig, ist so allen Ermahnungen unzugänglich, dass sie schon
in dieser Beziehung ganz unpassend in einer Strafanstalt ist, die nur unter der
Aufsicht ■ von Frauen steht. Nun gerieth sie aber schon zum 4. Mal ohne ge-
gründete Veranlassung in den Zustand höchster Leidenschaft und Wuth, wobei
sie auf Verletzung anderer Sträflinge und der Aufseherin es absah, so dass man
sie in die Zwangsjacke stecken musste. Dabei stösst sie die abscheulichsten
250 Cap. X. Die psycMschen Entartungen.
Flüche und Verwünscliungen aus. Sie stört alle Ordnung und Ruhe; allein
gelassen kann sie nicht werden, da sie schon Selbstmordversuche gemacht hat.
Die ganze Erscheinung der S. spricht für beginnende Geistesstörung, für ein
Vorläuferstadium der Tollheit."
Am 6. Januar 1855 wurde sie in die Irrenanstalt verbracht. Pat. ist von
untersetzter Gestalt, skoliotischer Kopfbildung, schielt mit dem linken Auge und
leidet an doppelseitigem Nj^stagmus. Rückenwirbelsäule etwas k5rphotisch. In
ihrem Reden und Aeussern geordnet, geräth sie sehr leicht in heftigen Affekt,
wenn man ihre früheren Händel mit Polizei und Gerichten berührt. Sie fängt
dann an masslos zu fluchen und zu schelten und geräth leicht in völlige Ver-
wirrung. Ebenso geschieht es, wenn ihre vielfachen und oft ausschweifenden
Begehren nicht sofort erfüllt werden. Sie kommt dann in Wuth, zerstört Alles,
was ihr in die Hände fällt, wird gewaltthätig gegen die Umgebung, macht auch
wohl Selbstmordversuche. Oft suchte sie auch durch Simulation von Krankheiten
verschiedener Art die Befriedigung ihrer Begehren zu erreichen, oder auch durch
Schlauheit und List sich unerlaubter Weise in den Besitz der gewünschten Gegen-
stände zu setzen. Bei aller List und gewandter Redeweise ist doch eine grosse
geistige Beschränktheit nicht zu verkennen. Obwohl eigentliche Wahnvorstel-
lungen nie geäussert werden, hält sie sich doch beständig für ein Opfer der
Justiz und mit Unrecht gemassregelt. Ihre Selbstempfindung ist entschieden
krankhaft verändert, ihr Selbstgefühl gesteigert. Sie ist beständig voll zum Theil
massloser Ansprüche, bestäxidig unzufz'ieden und Erfüllung ihrer Begehren steigert
nur ihre Begehrlichkeit. Der Zustand blieb sich gleich. Eine psychische Be-
handlung erwies sich fruchtlos. Als nach einer schlau ausgeführten Entweichung
Patientin wieder eingeliefert war, wurde sie in die Irrenpflegeanstalt verbracht,
in der sie allmälig ruhiger und geordneter wurde. Als man endlich ihrem
Drängen entlassen zu werden 1863 nachgab , fing sie bald wieder ihre alte
Lebensweise an. 1866 kam sie wieder in Untersuchung, weil sie aus einem
Beichtstuhl dem Geistlichen ein Paar Schuhe entwendet hatte. (Eigene Beob-
achtung.)
Beob. 86. Moralisches Irresein. Perverser Geschlechtstrieb.
Morde aus krankhafter Wollust. Vincenz Verzeni geb. 1849, seit dem
11. Januar 1872 in Haft, ist angeklagt 1. der versuchten Erdrosselung seiner
Muhme Marianne, als dieselbe vor vier Jahren krank zu Bett lag. 2. Des gleichen
Verbrechens an der 27jährigen Ehefrau Arsuffi; 3. der versuchten Erdrosselung
der Ehefrau Gala, indem er ihr die Kehle zudrückte, während er auf ihrem Leib
kniete; 4. ausserdem verdächtig folgender Mordthaten: «
Im December begab sich die 14jährige Johanna Motha Morgens zwischen
7 und 8 Uhr auf ein benachbartes Dorf. Da sie bis zum 10. nicht zurück war,
ging ihr Dienstherr aus um sie zu suchen und fand ihren Leichnam in der Nähe
des Dorfes an einem Feldweg, durch eine Unzahl Wunden gräulich verstümmelt.
Die Gedärme und Genitalien waren aus dem geöffneten Leib herausgerissen und
fanden sich in der Nähe. Die Nacktheit der Leiche, Erosionen an deren Schen-
keln Hessen ein unsittliches Attentat vermuthen, der mit Erde gefüllte Mund
deutete auf Erstickung. In der Nähe der Leiche unter einem Strohhaufen fanden
sich ein abgerissenes Stück der rechten Wade und Kleidungsstücke vor. Der
Thäter blieb unermittelt.
Das moralische Irresein. Beob. 86. Perverser Geschlechtstrieb. 251
Am 29. August 1871 früh Morgens ging die 28jährige Ehefrau Frigeni
aufs Feld. -Da sie um 8 Uhr nicht zurück war, ging ihr Mann fort, sie zu holen.
Er fand sie als Leiche , nackt auf dem Feld , mit einer von Erdrosselung her-
rührenden Strangrinne am Hals , mit zahlreichen Verletzungen , aufgeschlitztem
Bauch und heraushängenden Därmen.
Am 29. August Mittags als Maria Previtali, 19 Jahre alt, übers Feld ging,
w^urde sie von ihrem Vetter Verzeni verfolgt, in ein Getreidefeld geschleppt,
zu Boden geworfen und am Halse gewürgt. Als er sie einen Moment losliess,
um zu spähen ob Niemand in der Nähe sei, erhob sich das Mädchen und er-
reichte durch sein flehentliches Bitten , dass V. es laufen liess , nachdem er ihm
während einiger Zeit noch die Hände zusammengepresst hatte.
V. wurde vor Gericht gestellt. Er ist 22 Jahre alt, sein Schädel über
mittelgross, aber asymmetrisch. Das rechte Stirnbein ist schmäler und niederer
als das linke, der Stirnhöcker rechts wenig entwickelt, das rechte Ohr kleiner
als das linke (um 1 Centim. in der Höhe und 3 in der Breite): beide Ohren
ermangeln der unteren Hälfte des Helix, die rechte Schläfenarterie etwas athero-
matös. Stiernacken, enorme Entwickelung des os zygomat. und des Unterkiefers,
Penis sehr entwickelt, Frenulum fehlend ; leichter Strabismus alternans divergens
(Insufficienz der mm. recti interni und Mj^opie). Lombroso schliesst aus diesen
Degenerationszeichen auf eine angeborene Bildungshemmung des rechten Stirn-
lappens. Wie es scheint ist Verzeni ein Hereditarier — 2 Onkel sind Cretins, ein
3. Microcephal, bartlos, ein Hode fehlend, der andere atrophisch. Der Vater
bietet Spuren von pellagröser Entartung und hatte einen Anfall von Hypochon-
dria pellagrosa. Ein Vetter litt an Hyperaemia cerebri, ein anderer ist Gewohn-
heitsdieb.
Verzeni's Familie ist bigott, von schmutzigem Geiz. Er selbst zeigt ge-
wöhnliche Intelligenz, weiss sich gut zu vertheidigen , sucht sein Alibi zu be-
w^eisen, Andere zu A^erdächtigen. In seiner Vergangenheit Nichts, das auf Geistes-
krankheit deutet; sein Charakter übrigens auffällig, er ist schweigsam, liebt die
Einsamkeit. Im Gefängniss cynisch, Masturbant, sucht sich um jeden Preis den
Anblick von Weibern zu verschaffen.
Unter Heranziehung einschlägiger Fälle in der Literatur, die ein hervor-
ragendes anthropologisches oder ethnologisches Interesse bieten, fasst Lombroso
die Thaten des Angeklagten als Aeusserung einer krankhaften Wollust auf, mit
welcher sich zuweilen homicide Impulse verbinden und spricht sich für eine ver-
minderte Zurechnungsfähigkeit V.'s aus. In der That gestand endlich V. seine
Thaten und deren Motive ein. Ihre Begehung habe ihm ein unbeschreiblich
angenehmes (wollüstiges) Gefühl verschafft , ,das von Erection und Samen-
ergiessung begleitet war. Schon wenn er seine Opfer am Halse kaum berührt
hatte, stellten sich sexuelle Empfindungen ein. Es sei ihm ganz gleich in Bezug
auf diese Empfindungen gewesen, ob die Frauen alt, jung, hässlicli oder schön
waren. Gewöhnlich habe schon das einfache Drosseln derselben ihn befriedigt
und dann habe er seine Opfer am Leben gelassen — in den erwähnten 2 Fällen
habe die geschlechtliche Befriedigung gezögert einzutreten und da habe er zu-
gedrückt bis seine Opfer todt waren. Seine Befriedigung bei diesen Garottirungen
sei grösser gewesen als wenn er onanirte. Die Hautabschürfungen an den Schen-
keln der Motta seien durch seine Zähne entstanden, als er ihr mit grossem Genuss
das Blut aussaugte. Ein Wadenstück derselben habe er ausgesogen und dann
252 Cap. X. Die psychischen Entartungen. Beob. 87.
mitgenommen, um es daheim zu rösten, es indessen unterwegs unter einem Stroh-
haufen verborgen, aus Furcht, dass seine Mutter hinter seine Streiche komme.
Aiich die Kleider und Eingeweide habe er ein Stückweit mitgenommen, weil es
ihm einen Genuss gewährte sie zu beriechen und zu betasten. Die Stärke, die er
in diesen Momenten höchster Wollust besessen , sei enorm gewesen. Ein Narr
sei er nie gewesen; bei der Ausführung seiner Thaten habe er gar nichts mehr
um sich gesehen (offenbar durch höchste sexuelle Erregung aufgehobene Apper-
ception und instinktives Handeln). Nachher sei es ihm immer sehr behaglich
gewesen, ein Gefühl grosser Befriedigung; Gewissensbisse habe er nie gehabt.
Nie sei es ihm in den Sinn gekommen die Geschlechtstheile der von ihm ge-
marterten Frauen zu berühren oder sie zu stupriren, es habe ihm genügt sie zu
erdrosseln und ihr Blut zu saugen. In der That scheinen diese Angaben dieses
modernen Vampyrs auf Wahrheit zu beruhen. Normale geschlechtliche Antriebe
scheinen ihm fremd geblieben zu sein — 2 Geliebte, die er hatte, begnügte er
sich zu beschauen — es ist ihm selbst auffällig, dass er keine Gelüste ihnen
gegenüber hatte, sie zu drosseln oder ihnen die Hände zu pressen, aber freilich
habe er mit ihnen nicht denselben Genuss gehabt, wie mit seinen Opfern. Von
moralischem Sinne, Reue ii. dgl. fand sich keine Spur.
Verzeni sagte selbst, es dürfe gut sein, wenn man ihn eingesperrt lasse,
denn in der Freiheit könne er seinem Gelüste keinen Widerstand leisten. V.
wurde zu lebenslänglichem Kerker verurtheilt. (Lombroso: Verzeni e Agnoletti
Roma 1873.)
Beob. 87. Defekt geschlechtlicher und socialer Empfindungen
als Theilerscheinungen eines psychischen Degenerationszustands.
Castrirungsversuch an einem Knaben. E., 30 J., vacirender Weber-
geselle, wurde betreten, als er einem Knaben, den er in den Wald gelockt hatte,
das Scrotum wegschneiden wollte. Er motivirte dies Verfahren damit, dass er
hineinschneiden wollte, auf dass die Erde sich nicht vermehre •, er habe in seiner
Jugend oft zu gleichem Zweck in seine Geschlechtstheile hineingeschnitten, sei
aber vor Schmerz nie zum Ziel gelangt. An Scrotum und Penis fanden sich
wirklich zahlreiche Schnittnarben als Residuen früherer Selbstentmannungs-
versuche.
E.'s Stammbaum ist nicht zu ermitteln. Von Kindheit auf war E. geistig
abnorm, hinbrütend, nie lustig, sehr reizbar, jähzornig, grüblerisch, schwachsinnig.
Er hasste die Weiber, liebte die Einsamkeit, beging ab und zu ganz abnorme
Streiche. In den letzten Jahren hatte sich sein Hass gegen Frauenzimmer ge-
steigert, namentlich gegen Schwangere, durch die nur Elend in die Welt komme.
Er hasste auch die Kinder, verfluchte seinen Erzeuger, hegte communistische
Ideen, schimpfte über die Reichen und die Geistlichen, über den Herrgott, der
ihn so arm habe auf die Welt kommen lassen. Er meinte, es sei besser, die
noch vorhandenen Kinder zu castriren, als neue auf die Welt zu setzen, die doch
nur zu Armuth und Elend verurtheilt wären. Er habe es immer so gehalten,
habe sich selbst im 15. Jahr zu castriren versucht, um nicht zum Unglück und
zur Vermehrung der Menschheit beizutragen. Er hasse das weibliche Geschlecht,
weil es diesem Zweck diene. Nur zweimal in seinem Leben habe er sich von
Weibern manustupriren lassen, sonst nie mit ihnen zu thun gehabt. Geschlecht-
liche Regungen habe er nur dann und wann, aber nie zur naturgemässen Be-
Das moralische Irresein. — Beob. 88. Kein moralisches Irresein. 253
friedigung derselben. Wenn die Natur sich nicht selbst helfe, so helfe er gelegent-
lich durch Onanie nach.
E. ist ein starker, muskulöser Mann. Die Bildung der Genitalien lässt
nichts Abnormes erkennen. Er ist von finsterem, trotzigem, reizbarem Wesen.
Sociale Gefühle sind ihm vollständig fremd. Der Schlaf ist mangelhaft. Häufig
wird Kopfschmerz geklagt.
■ Das Gutachten betont, dass E. ein ab ovo pathologisches Individuum, ein
abnormer Charakter von Kindsbeinen auf war, der seiner Umgebung früh schon
den Eindruck eines geisteszerrütteten Menschen machte. Als greifbare Zeichen
dieser pathologischen Erscheinung ergeben sich neben Schwachsinn, intellektueller
Verschrobenheit, gemüthlicher Reizbarkeit, ein anthropologischer Defekt — ge-
schlechtlicher Empfindungen bis zu instinktiver Abneigung gegen das andei'e
Geschlecht. Aus diesem Mangel des Geschlechtsgefühls als organischer Grundlage
der ethischen Entwicklung ist E. unfähig zur Bildung socialer Gefühle und erfährt
seine ganze Anschauungsweise und Gedankenrichtung jene Verschrobenheit und
Unsittlichkeit, die in allen socialen, ethischen und religiösen Beziehungen bei
ihm so grell und widerlich zu Tage tritt und endlich seine unsinnige und ver-
brecherische Handlung herbeiführt.
E. ist kein einfacher Misanthrop, der auf Grund widriger Lebensschicksale
mit Gott und der Welt zerfallen ist und Schopenhauer's Nirwana als ultima
ratio anerkennend, die ganze Menschheit auf den Aussterbeetat setzen möchte,
sondern ein pathologisches Individuum, dem ein anthropologischer Grundzug
menschlicher Artung und Gesittung versagt ist, der demgemäss originär nicht
anders denken und fühlen kann und dessen Ausspruch : „Verflucht sei, der mich
gezeugt hat!" einen schauerlich ernsthaften Hintergrund erhält.
Die Zurechnungsfähigkeit dieses Defektmenschen zu bestimmen, möge der
Richter versuchen. Bei der Unheilbarkeit solcher originär anomaler, degenerativer,
psychischer Zustände und der erwiesenen Gemeingefährlichkeit des Angeklagten
dürfte seine dauernde Internirung in einer Humanitätsanstalt sich empfehlen.
Keine Verurtheihmg. Versetzung in eine Irrenpflegeanstalt. (Eigene Beobachtung^)
Beob. 88. Mord des Vaters. Irrthümlich geltend gemachtes
moralisches Irresein. Im April 1875 wurde vor dem Schwurgericht zu
Reggio 3 Söhnen, die ihren Vater ermordet hatten, der Process gemacht. Man
hatte den Vater mit fürchterlich durch Steinschläge zertrümmertem Schädel auf-
gefunden. Der Hergang war dunkel. Giro, der 20jährige Sohn, bekannte sich
allein als Mörder, Primo und Ferdinando leugneten, verwickelten sich in Wider-
sprüche. Alle wurden ^um Tod verurtheilt und zu lebenslänglicher Freiheits-
strafe begnadigt. Bigi , der Vater war ein brutaler, reizbarer, gewaltthätiger
Mensch, der im Verdacht stand selbst seinen Vater ermordet zu haben, mehrfach
das Gesetz verletzt und wiederholt die Seinigen am Leben bedroht hatte, so dass
diese genöthigt waren die Gensdarmen zu Hilfe zu rufen. Bigi war offenbar
geistesgestört und zwar seit einem Anfall von Irresein, den er 1846 im Irren-
hause überstanden hatte. Giro schlief nach der Untliat ruhig, erzählte des andren
Morgens ganz gleichgültig, dass der Vater hin sei und dies ihm schon längst
hätte passiren sollen. In den Verhören blieb C. kalt, cynisch, reue- und gemüthlos
selbst, als ihm und den Brüdern das Todesurtheil verkündet wurde. Der Ver-
theidiger stellte die Frage der Zurechnungsfähigkeit.
254 Cap. X. Die psychischen Entartungen.
In seinem Vorleben findet sich nichts Pathologisches. Er war ein fleissiger,
intelligenter , geistig und körperlich in keiner Weise abnormer Mensch , dem
Niemand eine solche Unthat zugetrau.t hätte.
Die Expertise stellt die Möglichkeit einer bis dahin latenten, bei der
Ausführung des Verbrechens belangreich (?) gewesenen erblichen Prädisposi-
tion zum Irresein auf, findet indessen Giro in keiner Weise geisteskrank im
gewöhnlichen Sinn des Worts. Aber Giro bietet eine krankhafte (?) Verkehrung
des moralischen Sinns — er leidet an moralischem Irresein (!) für dessen Be-
stehen aber Verf. nichts als Beleg zu bringen weiss als erbliche Anlage, schlechtes
moralisches Beispiel des entarteten Vaters , Grässlichkeit der That und absolute
Gemüthlosigkeit des Thäters (!), der sogar zu seiner Verurtheilung lacht. Das
Gutachten plaidirt für eine verminderte Zurechnungsfähigkeit. Die Stützen und
Folgerungen des Gutachtens sind nicht annehmbar. Irresein in der Ascendenz,
Fehlen des moralischen Sinns und monströse Thatumstände sind keine Beweise
für moralisches Irresein, das sich durch eine Reihe scharf ausgesprochener psycho-
pathischer und neurotischer klinischer Merkmale kundgibt, immer mit intellek-
tuellem Schwachsinn vergesellschaftet ist, und da wo es als erblicher Degenera-
tionszustand sich findet, von frühster Jugend an sich bemerklich macht, nicht
bis zum 20. Jahr latent bleibt und dann erst in einer verbrecherischen That
seine Existenz verräth. (Rivista sperimentale.)
Weitere Fälle: Kuby, Friedreich's Blätter 1876, H. 2, 3, 4, (Gewohn-
heitsverbrecher. Vermuthetes aber ausgeschlossenes moral. Irresein). Gramer
ebenda 1876, H. 2. 3. (moral. Irresein. Misshandlung mit Körperverletzung.
Annahme mildernder Umstände). De Smeth, Journal de Bruxelles 1871, Juli
(Diebstahl). Lentz, Bullet, de la societe de med. mentale de Belgique 1875, Nr. 5.
Ziliotto, Rivista sperim. 1878, Fase. 1. (strafbare Drohungen). Kitching, Journ.
of mental science 1867 , Juli (Mord des Kameraden). Journal of ment. science
1868, Januar (Schändung und Mord eines kleinen Mädchens). Muschka, Prager
Vierteljahrschr. 1866, H. 1 (Mord und Anthropophagie.)
2. Das impulsive Irresein.
Literatur. Prichard, on the different forms of insanity, 1842, p. 87 (instinctive
madness). Mc Intosh, Journ. of psychol. med., Jan. 1863, p. 103; ibid., Okt..
1848 (impulsive insanity). Finkeinburg, Gibt es Willensstörungen, welche
unabhängig sind von Störungen der Intelligenz? Neuwied 1863.
Eine forensisch äusserst wichtige Aeusserungsweise psychischer
Degenerationszustände ist das Auftreten von Handlungen, deren Mo-
tive nicht deutlich bewusste Vorstellungen sind, deren Mechanismus
nicht nach dem Schema der Reflexion über verschiedene Möglich-
keiten von Wollen mit Abwägung der Motive und Entscheidung für
das am meisten gebilligte ablauft, sondern bei denen die zur Hand-
lung treibende Vorstellung, noch ehe sie zur vollen Klarheit über die
Schwelle des Bewusstseins emporgehoben ist, schon in eine Hand-
Das impulsive Irresein. 255
lung sich umsetzt oder sich überhaupt nie zur vollen Klarheit im
Bewusstsein erhebt. Die Handlung erscheint damit dem Handeln-
den wie dem Beobachter unmotivirt und darum unverständlich, die
Art ihrer Ausführung trägt den Charakter des Zwangsmässigen, Im-
pulsiven, Instinctiven an sich, sie wirkt überraschend auf den Han-
delnden selbst.
Sie erscheint als eine organische Nöthigung aus dem unbewuss-
ten Geistesleben heraus, vergleichbar einer Convulsion auf psycho-
motorischem Gebiete,
Ein solches Handeln steht den Handlimgen des Affekts am näch-
sten und entbehrt auch häufig nicht einer affektiven Grundlage. Es
deutet mindestens auf eine abnorme Erregbarkeit (Convulsibilität) des
psychomotorischen Apparats hin, insofern hier eine Vorstellung quasi
in statu nascenti genügt, um mit Ausschaltung der Willens- und Be-
wusstseinssphäre unmittelbar in eine Aktion sich umzusetzen. Eine
solche Erscheinung in den höchstorganisirten Centren des Gehirns er-
scheint als eine niederere Leistung eines zu höherer Funktion befähig-
ten Mechanismus und erweckt die Vermuthung einer degenerativen
Begründung. Thatsächlich finden sich diese impulsiven Akte fast
ausschliesslich bei erblicher psychischer Entartung, namentlich da wo
sie im Gewand einer hysterischen oder epileptischen Neurose auftritt,
seltener auf dem Boden einer durch Trunk, Onanie und sonstige
schwere Hirninsulte erworbenen.
Die zur Handlung treibenden psychischen Kräfte sind lebhafte
organische Gefühle, namentlich geschlechtliche, die zugleich in perverser
Form sich geltend machen können; oder es sind affektvolle Stimm-
ungen (Verstimmung, Heimweh) nicht selten getragen und verstärkt
durch gestörte Gemeingefühle, Neuralgien etc. Im Moment der
That kann die sonst dunkel bleibende treibende Vorstellung sich zur
Zwangsvorstellung oder zur imperativen Hallucination (Vision von Blut,
Flammenschein bei Epileptikern) erheben und das Handeln bestimmen.
In anderen Fällen ruft der organische Drang (ein sinnliches Gefühl)
eine ererbte oder erworbene Triebrichtung (Stehlsucht, Trunksucht etc).
wach und drängt zu ihrer Befriedigung (Schule). Bemerkenswerth ist
der nöthigende weil organische Zwang des impulsiven Antriebs, der wie
ein dunkles Verhängniss empfunden wird sowie die vasomotorischen
und sensiblen Begleiterscheinungen (neuralgische Empfindungen,
pressende Gefühle in der Herzgegend, heftige Angst) die in dem
Masse sich steigern, als die Befriedigung des Drangs eine Verzöge-
rung erfährt.
256 Cap. X. Die psychischen Entartungen.
Die concreten impulsiven Antriebe können auf Mord- oder Selbst-
mord, Brandstiftung, Diebstahl, geschlechtliche Befriedigung ge-
richtet sein.
Die Vollziehung des Akts bedingt ein Gefühl der Erleichterung.
Erst nach einiger Zeit tritt klare Erkenntniss der Situation,
Reflexion und eventuell Reue ein.
Die Thatsache, dass es impulsive, nach Umständen ganz ver-
kehrte, mit dem gewöhnlichen individuellen Fühlen und Denken ganz
contrastirende Handlungen gibt, ohne dass gleichzeitig intellektuelles
Irresein im Sinn von Wahnideen bestünde, ist schon längst bekannt.
Zusammengeworfen mit aus psychischer Dys- und Anästhesie Me-
lancholischer, aus Zwangsvorstellungen psychisch und nervös kran-
ker Individuen, aus pathologisch gesteigerten oder nicht mehr einer
Hemmung zugänglichen Trieben Maniakalischer entstandenen ver-
kehrten Handlungen bei gleichzeitig nur formal, nicht aber inhalt-
lich gestörter Intelligenz, hat diese Thatsache ihren Ausdruck in der
Lehre von einer mania sine delirio (Pinel), monomanie instinctive
(Esquirol), moral insanity (Prichard), folie d'action (Brierre), instinc-
tiven Manie (Finkeinburg), Monomanie (französische Psychiatrie), Pa-
radoxie des Willens (Knop) gefunden.
Die heutige Wissenschaft verlangt klinische Analyse und Son-
derung von Erscheinungen, die nur in der Thatsache übereinkommen,
dass ein Delirium der Handlungen bei ungestörter Intelligenz im ge-
wöhnlichen Sinne des Worts besteht.
Für die Rechtspflege ist es von grösster Bedeutung, Garantien
dagegen zu besitzen, dass nicht die Lehre vom impulsiven Irresein
das Feld gewinne, das früher die berüchtigten Monomanien einnahmen,
und nicht eine Wafle in den Händen unredlicher Vertheidiger werde.
Dies ist nicht zu besorgen, sobald das, was oben über die psy-
chischen Degenerationszustände angeführt wurde, berücksichtigt und
das Individuum zum Gegenstand einer anthropologischen und klini-
schen Expertise gemacht wird. Dann stehen wir nicht mehr auf dem
Boden der Monomanie, wo die That selbst zum Ausgangspunkt der
Untersuchung gemacht und aus ihrer Monstrosität, Unmotivirtheit
und wie die beliebten Gemeinplätze alle heissen mögen , das Urtheil
über die Zurechnungsfähigkeit gewonnen wurde — im Gegentheil,
wir sehen vorerst ab von der That, deren Mechanismus uns nur In-
dicien für eine specielle Richtung unsrer Untersuchung liefert und
erst wenn diese uns aufgeklärt hat, gewinnen wir in der Eigenthüm-
lichkeit der Handlungsweise die Gegenprobe für die Richtigkeit einer
i
Beob. 89. Impulsives Irresein. Brandstiftung. 257
induktiv begonnenen und deduktiv abschliessenden Kette von Schluss-
folgerungen.
Der impulsive Akt als solcher hat nur die Bedeutung eines
Einzelsjmptoms, das die Vermuthung eines degenerativen psychischen
Zustands hervorruft. In dem Nachweis eines solchen liegt der Schwer-
punkt der klinisch- forensischen Expertise. Erst mit jenem Nachweis
kann und darf die Justiz von einer Handiungsconvulsion Notiz nehmen.
Dann werden allerdings der Mechanismus solcher Impulse, ihre
begleitenden somatischen Vorgänge, ihre etwa periodisch sich äussernde
Wiederkehr, die Perversion der zum Handeln treibenden organischen
Gefühle, weitere wichtige Stützen für die Beurtheilung abgeben.
Beob. 89. Impulsives Irresein. Brandstiftung. Am 28. Juli 1872
Morgens 1 Uhr brannte eine Wagenremise auf dem Schloss H. nieder. Die Ur-
sache des Brands blieb unbekannt. Der im Schlosse wohnende Forstadjunkt S.
vermisste einen Theil seiner Garderobe, so dass der Verdacht rege wurde, es
liege das Verbrechen einer Brandstiftung und eines Diebstahls vor. Bei einer
_gerichtlichen Haussuchung am 31. Juli fanden sich die abhanden gekommenen
Kleider des S. in einer Sophaschublade in _ dessen Wohnung vor. S. versicherte
eidlich, von deren Verbleib nichts gewusst zu haben. Am 12. August bekannte
er sich aus freien Stücken als Brandleger.
S. ist 22 Jahre alt, von guter Familie, sein Vorleben tadellos. Mit tiefer
Reue entledigte er sich seines Geständnisses.
„Ich war am 27. Juli Abends in heiterer Gesellschaft, in der sich auch
meine Braut befand, trank Wein und Bier. Es wurde mir unwohl, ich musste
mich erbrechen. Ich war tiefsinnig und in gedrückter Stimmung schon seit ge-
raumer Zeit, ohne dass ich einen Grund dafür anzugeben wüsste. Um 12^ji Uhr
trennte sich die Gesellschaft. Ich war vom Weingenuss wohl etwas eingenom-
men, aber nicht berauscht. Als ich heimkam und mich der Wagenremise näherte,
kam mir plötzlich der Gedanke: zünd' an und nehme dir das Leben. Von dem
Momente an war ich ganz ausser Gefühl, besass jedoch die Besinnung. Mit
Zündhölzern und Papier, die ich im Sack hatte, vollführte ich die That, eilte
dann in meine Wohnung, benässte mich mit Petroleum, nahm eine gefüllte
Petroleumflasche in die Hand und war im Begriff, auf den Heuboden zu steigen
und im Feuer mein Leben zu endigen. Auf der Leiter verliessen mich die
Kräfte, ich stürzte zu Boden und blieb einen Moment wie ohnmächtig liegen.
Nachdem ich mich erholt, ging ich auf mein Zimmer, entkleidete mich, ging zu
Bett, war aber derart ergriffen, dass ich am ganzen Leib zitterte. Jetzt erwachte
ich vollkommen, erkannte die Grösse meiner That, das Unglück, in das ich mich
stürzte. Angst, Reue, Schmerz bemächtigten sich meiner, ich wusste mir nicht
zu helfen. Nach wenigen Minuten hörte ich Feuerruf, rannte davon, nur mit
Hose und Hemd bekleidet, in's benachbarte Dorf, wo ich die FeuerweKr vom
Brand verständigte. Von da eilte ich auf die Brandstätte, half eine Zeitlang
löschen, bekam jedoch plötzlich Angst, dass ich verrathen werde, und beseitigte
einen Theil meiner Kleider, um vorgeben zu können, sie seien mir während des
Brandes gestohlen worden, und so den Verdacht von mir ablenken zu können.
V. Krafft-Ebing, gerichtl. Psychopathologie. 2. Auflage. 17
258 Cap. X. Die psj^chischen Entartungen.
Diese Angabe hielt ich auch vor Gericht aufrecht und erhärtete sie eidlich. Ich
war bei der Einvernahme so bestürzt und ganz weg, hätte schon damals meinen
Fehltritt eingestanden, schämte mich aber, wesshalb ich lügenhafte Angaben in
meiner Zwangslage beschwor. In der Folge peinigten mich Gewissensbisse, ich
verschob die Selbstanzeige von Tag zu Tag, nahm keine Nahrung zu mir, wurde
ganz verwirrt, bis ich meinen Entschluss am 12. August ausführte. Ich weiss
selbst nicht, wie mir so etwas (Brandstiftung) auf einmal in den Sinn gekommen
ist. Ich war eben über die schlechte Behandlung meines Vaters, bei dem ich
verläumdet wurde, gemtithskrank und lebensüberdrüssig geworden, wusste keinen
andern Ausweg, als mir das Leben zu nehmen, versuchte es wiederholt, bekam aber
im entscheidenden Augenblick jeweils die Besinnung wieder und stand davon
ab. Diese gedrückte Gemüthsstimmung veranlasste mich zur Brandlegung und
zwar, um mir das Leben zu nehmen."
Inculpat ist mittelgross, von normaler Schädelbildung. Das Auge hat
einen eigenthümlich matten Glanz, der Blick verräth eine gewisse Unsicherheit
und schaut träumerisch in's Weite. Beim Sprechen zeigt sich eine geringere
Innervation des rechten Mundwinkels.
Vatersvater starb irrsinnig, die Mutter an einer Gehirnentzündung.
S. war von Kindheit auf schwächlich, nervös, überspannt, eingebildet,
jähzornig. Mit 12 Jahren wurde er häufig ohnmächtig. Mit 11 Jahren bat er
einmal die Mutter, die Sterbeglocke, läuten zu lassen imd den Geistlichen zu
rufen, da er nun sterben müsse. Gute Begabung in der Schule, tadellose Dienst-
führung, später aber zerstreutes Wesen. Anfang 1872 Liebesverhältniss. Der
Vater verweigerte in brüsker Weise die Einwilligung zur Heirath. Darüber war
S. tief gekränkt. Seit Juni 1872 schmerzliche Verstimmung. S. wurde düster,
reizbar, meinte, man habe ihn zu Hause verläumdet. Scherze der Bekannten, wann
er denn heirathe, verstimmten ihn noch mehr. Mitte Juni Anwandlungen sich
umzubringen. Seine Braut fand ihn in letzter Zeit verschlossener als je, sein
Vorgesetzter auffallend zerstreut, oft ganz sinn- und gedächtnisslos. In der
Abendgesellschaft am 27. Juni erschien er still und schweigsam wie gewöhnlich..
Sonst bot sein Benehmen nichts Auffallendes. Von dem Brand an bis zum Ge-
ständniss scheint er von quälenden Gewissensbissen gefoltert gewesen zu sein.
Er meldete sich krank, blieb im Zimmer, ass fast gar nichts. In der lOmonat-
lichen Untersuchungshaft keine Symptome von psychischer Störung.
Ein erstes Gutachten erklärte die That in einer ohne Absicht auf das
Verbrechen erfolgten Berauschung begangen, ein Obergutachten nahm zur Zeit
der That Melancholie und Verfolgungswahn an. S. wurde freigesprochen und
zur Beobachtung, ob er genesen, in die Irrenanstalt verbracht. In der mehr-
wöchentlichen Beobachtung wurde psychische Gesundheit constatirt, aber der
Eindruck eines originär eigenthümlichen Menschen gewonnen. Ein träumerisches,
schlaffes, energieloses Wesen fehlte zu keiner Zeit. Ein Verdacht auf Onanie
wurde durch S.'s Eingeständniss bestätigt. Eine tiefer gehende Reue bestand
für die That offenbar nicht. Sie erschien ihm wie etwas Fremdes, nicht aus
seinem eigenen Ich hervorgegangen. Er müsse verrückt gewesen sein damals,
denn sonst könne er nicht begreifen, wie er dazu gekommen. Als der Gedanke
„zünd' an" ihn gepackt, habe er sofort und blindlings gehandelt — erst hinter-
her sei es ihm gekommen, was er gethan.
Die Epikrise erweist eine Melancholia sine delirio vor und zur Zeit der
Beob. 90. Impulsiver Nothzuchtsversuch. 259
That, die gleichsam kritische Bedeutung dieser, den physiologischen Affekt-
zustand hinterher und zur Zeit der Eidesleistung. Die That selbst war weder
durch eine imperative Hallucination, noch einen Raptus melancholicus, noch eine
Zwangsvorstellung ausgelöst. Es war eine impulsive Handlung, wie sie bei Here-
ditariern vorkommen kann. Ein solcher war offenbar S. — darauf deuten das
Irresein des Grossvaters, die Hirnerkrankung der Mutter, die Ohnmächten, Todes-
gedanken, grundlosen Stimmungswechsel des Knaben, die vielleicht als lokales
Degenerationszeichen aufzufassende Ungleichheit der Facialisinnervation, die in
späteren Jahren auffallende Zerstreutheit, sein stilles, verschlossenes Wesen.
(Eigene Beobachtung. Vierteljahrsschr, f. ger. Med. N. F. XX.)
Beob. 90. Impulsiver Nothzuchtsversuch. Am 4. Juli 1874 ver-
liess ein von Triest nach Wien reisender Mann von etwa 45 J. in B. den Zug,
ging nach dem benachbarten Dorfe R. und machte dort an einem 70 Jahr alten,
allein in einem Hause befindlichen Weib einen Nothzuchtsversuch. Sofort arretirt,
gab er an, er habe die Wasenmeisterei aufsuchen wollen, um seinen aufgeregten
Geschlechtstrieb an einer Hündin zu befriedigen. Er leugnet nicht seine Hand-
lung, entschuldigt sie mit Krankheit. Er leide oft an solchen Geschlechtsauf-
regungen. Die Hitze und die schüttelnde Bewegung des Waggons bei der langen
Eisenbahnfahrt hätten ihn verwirrt und krank gemacht. Scham und Reue waren
nicht an ihm zu bemerken. Sein Benehmen war offen, die Miene heiter, die
Augen geröthet, glänzend, der Kopf heiss, der Puls voll, weich, über 100 Schläge.
Die Angaben des Delinquenten sind präcise aber hastig, der Blick unsicher mit
dem unverkennbaren Ausdruck der Lüsternheit. Dem herbeigerufenen Gerichts-
arzt macht er einen pathologischen Eindruck, wie Jemand, der an beginnendem
Säuferwahnsinn leidet.
Ingenieur C. ist verheirathet, Vater eines Kindes. Die Gesundheitsver-
liältnisse seiner Eltern sind ihm ganz unbekannt. Als Kind war er schwächlich,
neuropathisch. Mit 5 J. erlitt er eine schwere Kopfverletzung, von der eine
schmerzhafte Impression herdatirt. In der Jugend öfter Anfälle von „Ohnmacht".
Vom 7. Jahr an zeigte er eine schwärmerische Liebe zu Männern; vom 14. J. an
Onanie. Mit 17 J. erster geschlechtlicher Umgang mit Frauen. Damit verloren
sich sofort die früheren Erscheinungen conträrer Sexual empfindung. Vom 15. J.
an Hämorrhoidalleiden mit Plethora abdominalis. Wenn er nicht gerade Blutab-
gang aus den Hämorrhoiden hatte, wusste er sich vor geschlechtlicher Erregung
kaum zu helfen. Häufig wurde er dann indecent und zu unzüchtigen Handlungen
hingerissen. Wenn man ihn dann zur Thür hinauswarf, war es ihm ganz recht,
denn er bedurfte nach seiner Meinung einer solchen Correktur und Unterstützung
gegenüber seinem übermächtigen ihm selbst lästigen Trieb. 1861 Heirath. Fiel
seiner Frau lästig durch seine grossen Bedüi-fnisse. 1864—1867 Anfälle recidiviren-
der Manie mit heftiger geschlechtlicher Erregung. In der Folge blieb C. von
solchen Anfällen verschont, litt aber sehr unter der Uebermacht seiner geschlecht-
lichen Bedürfnisse. Wenn er nur kurze Zeit von der Frau entfernt war, so kam
über ihn eine solche Brunst, dass ihm Weib oder Thier ganz gleich zu deren
Stillung erschien.
Vom Oktober 1873 an musste er aus dienstlichen Rücksichten fern von
der Frau leben. Er half sich anfangs durch Masturbation, von Ostern 1874 ab
brauchte er Weiber und Hündinnen. Von Mitte Juni bis 7. Juli hatte er keine
260 Cap. X. Die psychisclien Entartungen.
Gelegenheit zu gesclilechtliclier Befriedigung gehabt. Er fühlte sich aufgeregt,
abgespannt, schlief die letzten Nächte nicht, hatte ein Gefühl, wie wenn er irre
würde. Da nahm er Urlaub , um zur Frattjmach Wien zu reisen. Unterwegs in
B. konnte er es vor geschlechtlicher Aufregung l^d Blutwallung nicht mehr aus-
halten. Da verliess er das Coupe — Alles tanzte vor seinen Augen, er sei ganz
verwirrt geworden, habe nicht gewusst, wohin er gehe; es sei ihm momentan
der Gedanke gekommen, sich in's Wasser zu stürzen, es sei ihm wie ein Nebel
vor den Augen gewesen. Da habe er ein Weib erblickt, seinen Penis entblösst
und es zu umarmen versucht. Das Weib schrie jedoch um Hilfe und so wurde
er arretirt.
Nach dem Attentat wurde ihm plötzlich klar, was er gethan. Er bekannte
offen seine That, deren er sich in allen Details erinnerte, die ihm aber als etwas
Krankhaftes erscheint. Er habe nichts dafür gekonnt.
C. litt noch einige Tage an Kopfweh, Congestionen , war ab und zu auf-
geregt, unruhig, schlief schlecht. Er ist geistesklar, aber ein originär eigenartiger
Mensch, von schlaffem, energielosem Wesen. Der Gesichtsausdruck hat etwas
faunartig Lüsternes und Verschrobenes. Der Schädel ist im Stirntheil schmal
und etwas fliehend. Pat. leidet an Hämorrhoiden. Die Genitalien bieten nichts
Abnormes. (Eigene Beobachtung.)
Beob. 91. Impulsive Stehlsucht eines Onanisten, motivirt
durch Perversion des Geschlechtstriebs. Ein bisher unbescholtener
32 J. alter lediger Bäckergehilfe wurde ertappt, als er einer Dame ein Taschen-
tuch stahl. Er gestand mit aufrichtiger Reue, dass er bereits 80 — 90 derartige
Sacktücher entwendet hatte. Er hatte es nur auf solche abgesehen und zwar
ausschliesslich bei jüngeren und ihm zusagenden Frauenzimmern.
Inculpat bietet in seiner äusseren Erscheinung nichts Auffälliges. Er
kleidet sich sehr gewählt, bietet ein eigenthümliches, theils ängstlich depressives,
theils unmännlich devotes Wesen und Benehmen, das sich oft bis zu einem
larmoyanten Ton und Thränen steigerte. Auch eine unverkennbare Unbehilflich-
keit, Schwäche in der Auffassung, Trägheit in der Orientirung und Reflexion gibt
er zu erkennen. Eine seiner Schwestern ist epileptisch. Er lebt in guten Ver-
hältnissen, war nie schwer krank, entwickelte sich gut. In der Mittheilung seiner
Lebensgeschichte zeigt er Gedächtnissschwäche, Unklarheit, auch das Rechnen
fällt ihm schwer, obwohl er früher gut gelernt hatte und auffasste. Sein ängst-
liches, unsicheres Wesen machte den' Verdacht auf Onanie rege. Inculpat ge-
stand, dass er seit dem 19. Jahr diesem Laster in excessiver Weise ergeben war.
Seit einigen Jahren hatte er in Folge seines Lasters an Abgeschlagenheit,
Mattigkeit, Zittern der Beine, Rückenschmerzen, Unlust zur Arbeit gelitten. Oefters
kam auch eine traurig-ängstliche Verstimmung über ihn, in welcher er die Leute
mied. Vor den Folgen geschlechtlichen .Verkehrs mit Frauenzimmern hatte er
übertriebene abenteuerliche Vorstellungen und konnte sich nicht dazu entschliessen.
In letzter Zeit hatte er jedoch an Verehlichung gedacht.
Mit tiefer Reue und in' schwachsinniger Weise gestand nun X., dass er vor
^2 Jahr im Menschengedränge beim Anblick eines jungen hübschen Mädchens sich
heftig geschlechtlich erregt fühlte, sich an dasselbe drängen musste und den Drang
empfand, durch Wegnahme des Taschentuchs sich für eine ausgiebigere Befriedigung
seiner geschlechtlichen Erregung zu entschädigen.
Beob. 92. Krankhafte unsittliche impulsive Handlungen. 261
In der Folge wurde er, sobald er ein ihm zusagendes Frauenzimmer ge-
wahr wurde, unter liel'tiger geschlechtlicher Erregung, Herzklopfen, Erektion und
Impetus coeundi vom Drang erfasst,^ sich an die betreffende Person zu drängen
und ihr — faute de mieux — da^ Taschentuch zu entwenden. Obwohl ihn keinen
Moment das Bewusstsein seiner strafbaren Handlung verliess, konnte er seinem
Drange nicht Widerstand leisten. Dabei fühlte er Angst, die theils durch den
zwangsmässigen geschlechtlichen Trieb, theils durch die Furcht vor Entdeckung
bedingt war.
Das Gutachten macht mit Recht den angeborenen Schwachsinn, den zer-
i'üttenden Einfluss der Onanie geltend und führt das abnorme Gelüste auf einen
perversen Geschlechtstrieb zurück , wobei ein interessanter und physiologisch
auch gekannter Connex zwischen Geruchs- und Geschlechtssinn bestehe. Die ün-
widerstehlichkeit des krankhaften Triebes wurde anerkannt. X. wurde nicht
bestraft. (Zippe, Wiener med. Wochenschrift 1879. Nr. 23.)
Vgl. die interessante, offenbar hierher gehörige Beob. von Passow in Viertel-
jahrsschr. f. ger. u. öffentl. Med. 1879, I. (Zwangsmässiges Stehlen von Frauen-
wäsche, deren Anlegen wollüstige Empfindungen verursachte). Ferner den älteren
Fall von Nichols, americ. Journ. of insanity 1850, in welchem ein Hereditarier im
Haus und auf der Strasse zeitweise vom Drang erfasst wurde, Frauenschuhe zu
stehlen oder zu rauben.
Beob. 92. Hereditäre psychische Degeneration. Krankhafte
unsittliche impulsive Handlungen. Stud. med. A. in Greifswald war
angeklagt, im Monat December 1871 wiederholt jungen Mädchen aus anständigen
Familien auf offener Strasse seine aus den Beinkleidern heraushängenden, völlig
entblössten Geschlechtstheile, die er bis dahin mit den Paletotschössen verdeckt
hatte, gezeigt zu haben. In einzelnen Fällen hatte er sodann die fliehenden
jungen Damen verfolgt und wenn er sie erreicht und an sich herangedrängt
hatte, mit seinem Urin beschmutzt. Dies geschah zuweilen am hellen Tage. Nie
hatte er dabei ein Wort gesprochen.
A. ist 23 Jahre alt, kräftig von Körper, sauber im Anzug, decent in
seinen Manieren. Andeutung von Cranium progeneum. Chronische Pneumonie
der rechten Lungenspitze. Emphysem. Puls 60, in der Erregung nur 70 — 80
Schläge. Genitalien normal. Klagen über zeitweise Verdauungsstörungen, Hart-
leibigkeit, Schwindel, excessive Erregung des Geschlechtstriebs, die schon früh
zu Onanie führte, nie aber, auch in der Folge nicht, auf naturgemässe Befrie-
digung desselben gerichtet war. Klagen über zeitweise melancholische Verstim-
mung, selbstquälerische Gedanken und perverse Antriebe, zu denen er selbst
kein Motiv finden könne, z. B. zum Lachen bei ernsten Veranlassungen, sein
Geld in's Wasser zu werfen, im strömenden Regen umherzulaufen.
Der Vater des Inculpaten ist von nervösem Temperament, die Mutter ner-
vösem Kopfweh unterworfen. Ein Bruder litt an epileptischen Krämpfen.
Inculpat zeigte von Jugend auf nervöses Temperament, war zu Krämpfen
und Ohnmächten geneigt, gerieth in Zustände von momentaner Erstarrung, wenn
er hart getadelt wurde. 1869 studirte er Medicin in Berlin. 1870 machte er
als Lazarethgehilfe den Ki'ieg mit. Seine Briefe aus dieser Zeit verrathen eine
auffallende Schlaffheit und Weichheit. Bei der Rückkehr nach Hause im Früh-
jahr 1871 fällt seine Gemüthsreizbarkeit der Umgebung auf. In der Folge häufig
262 Ca-P- X- Die psychischen Entartungen. Beob. 93.
Klagen über körperliche Beschwerden; Unannehmlichkeiten wegen eines Liebes-
verhältnisses.
Im November 1871 lebte er in Greifs wald eifrig mit seinen Studien be-
schäftigt. Er galt als solider Mensch, dem^ Niemand etwas Unanständiges zu-
traute. In Briefen an seine Eltern aus jener Zeit finden sich Klagen über „Weh
im Kopfe und Bangigkeit bei Alleinsein".
In der Haft ist er meist ruhig, gelassen, zu Zeiten auch wie in sich ver-
loren. Er gesteht oifen seine Schuld, schiebt seine Handlungen auf Rechnung
von in letzter Zeit excessiven und peinigenden geschlechtlichen Erregungen.
Seiner unzüchtigen Handlungen sei er sich wohl bewusst gewesen und habe sich
ihrer hinterher geschämt. Eine geschlechtliche Befriedigung habe er bei ihrer
Begehung weiters nicht empfunden. Den Gedanken an eine Bestrafung, an den
Ruin seiner Lebensstellung durch sein Benehmen scheint er nicht recht zu fas-
sen; er betrachtet sich als eine Art Märtyrer, der einer bösen Macht zum Opfer
gefallen, und ergeht sich in elegischen sentimentalen Betrachtungen über seine
Lage. Er ist ein „instinktiver Gemüthsmensch".
Gutachten: Inculpat ist eine neuro-(psycho)pathische Natur. Der Anreiz
zu den incriminirten Handlungen ging 'aus pathologischen Bedingungen hervor,
die sittliche Widerstandsfähigkeit war aufgehoben (?). Die incriminirten Hand-
lungen sind sonach aufzufassen als Resultat eines krankhaften Geisteszustandes,
durch welchen die freie Willensbestimmung aufgehoben war (?). (Arndt, Viertel-
jahrsschr. f. ger. Med. N. F. XVII. H. 1.)
Beob. 93. Psychische Degeneration. Mord. Eines Nachmittags ging
ein Commis vor einigen Jahren in England vor die Stadt spazieren. Er traf am
Weg einige kleine Mädchen spielend an. Eines derselben, ein nettes Kind von
8 — 9 Jahren, lockte er in einen Hopfengarten an der Landstrasse, die andern
beschenkte er mit Halfpennystücken. Nach einer Weile kommt er allein zurück
und geht heim in sein Bureau, wo er einen Eintrag in sein Tagebuch macht.
Man vermisst das Kind, sucht und findet es getödtet, in Stücke zet-fetzt, schreck-
lich verstümmelt; manche Theile , darunter die Geschlechtstheile, konnten nicht
aufgefunden werden, womit der Verdacht auf Stupration sich aufdrängen musste.
Der Commis wird verhaftet , man findet in seinem Tagebuch die Notiz :
küled to-day a young girl, it was fine and hot.
Ein solch monströses Verbrechen musste natürlich sofort den Verdacht
auf Geistesstörung rege machen.
Der Bericht fährt wörtlich fort : Es war ein instinktives Verbrechen —
der impulsive Charakter desselben, die Brutalität und Ruhe dabei, die monströse
Verstümmelung des Opfers, die völlige Gleichmüthigkeit nach der That und bei
der Vernehmung deuteten auf eine krankhafte Organisation, congenitale Ab-
normitäten.
Und in der That fand sich, dass ein naher Verwandter seines Vaters an
Manie mit Mordtrieben litt und sein Vater einen Anfall acuter Manie gehabt
'hatte. Er selbst war ein eigenthümlicher Mensch, hatte sonderbare Eigenschaf-
ten, war oft ohne allen Grund zum Weinen aufgelegt und hatte oft beaufsichtigt
werden müssen, weil man befürchtete, er werde sich einen Tod anthun. Offen-
bar gehörte Alton der noch wenig aufgeklärten Klasse der hereditären abnormen
Constitutionen an, wahrscheinlich veranlasste eine geschlechtliche Regung ihn.
Cap. XL Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit. 263
das Kind wegzulocken, wahrscheinlich befriedigte er an ihm seine Lüste und
ging der sexuelle Impuls in einen verwandten über, den Impuls zum Mord, dem.
aber die einfache Tödtung nicht genügte. Der Unglückliche fand keine Gnade
vor der menschlichen Gerechtigkeit. (Journal of mental science, Januar 1868.)
Beob. 94. Psychische Degeneration auf erblicher Grundlage.
Zeitweise Impulse zur Leichenschändung. Sergeant Bertrand ist ein
Mensch von zartem Körperbau, aber von auffallendem Charakter, von Kindheit
auf verschlossen und mit Hang zur Einsamkeit behaftet.
Im 25. J., bis zu welcher Zeit er sich untadelhaft benommen hatte, schlich er
sich geheimnissvoll wie ein Dieb auf die Kirchhöfe von Paris. Er grub dort die
Särge von weiblichen Leichen aus, brach sie auf, riss die Leichen heraus, be-
friedigte an ihnen seinen Geschlechtstrieb und verstümmelte sie dann in der
schrecklichsten Weise. Bald öffnete er ihnen den Leib, bald machte er grosse
Einschnitte in die Schenkel oder andere Körpertheile , indem er sich dazu eines
Messers bediente, das er stets bei sich trug. Diesen schrecklichen Handlungen
überliess er sich mitten unter Gefahren. Man lauerte ihm auf und erwischte,
ihn endlich. Es ergab sich, dass B. schon Jahre lang an psychischer Depression
litt, seelengestörte Verwandte hatte, der Onanie ergeben war. Der GManke an
Leichenverstümmlung war ihm plötzlich gekommen, als er einmal auf einem
Kirchhof eine Leiche einscharren sah. Aus seinen und den Aussagen der Zeugen
geht hervor, dass er von Zeit zu Zeit ein unwiderstehliches Gelüste habe, die
Gräber zu öffnen und die Leichen zu verstümmeln. Es wurde nachgewiesen,
dass dieser Drang ihn periodisch, etwa alle 14 Tage überfiel und von heftigen
Kopfschmerzen angekündigt wurde. Das Gefühl, das er beim Stupriren und
Zerstückeln der weiblichen Leichen gehabt, könne er nicht beschreiben, er sei
unwiderstehlich hingerissen worden und habe die That wiederholen müssen,
wenn es ihn selbst das Leben gekostet hätte. Im Anfang war sein Trieb nur
auf Befriedigung der Geschlechtslust gerichtet gewesen, erst später war der Trieb
zum Verstümmeln hinzugetreten. Die Gerichtsärzte nahmen Monomanie an. Das
Kriegsgericht verurtheilte ihn zu Ij ährigem Kerker. (Lunier, Annal. med. psychol.
1849, p. 351.)
Weitere Fälle: Morel, Annal. d'hygiene publ. 1869, Juli (Mord u. Brand-
stiftung). Falret ebenda, Juli. Tebaldi, Archiv, italian. 1873, Juli (Mord). Annal.
med. psychol. 1879, Januar (Brandstiftung). Liman, Vierteljahrsschr. f. ger. Med.
N. F. XXXIII. I. (Diebstähle, hyster. degeneratives Irresein).
Cap. XL Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit.
Literatur: v. Krafft, die transitorischen Störungen des Selbstbewusstseins.
Erlangen 1868. Schwartzer, die Bewusstlosigkeitszustände. Tübingen 1878.
Derselbe, die transitor. Tobsucht. Wien 1880.
Gesetzl. Bestimmungen: Deutsches St.-G.-B. §. 51.
Oesterr. St.-G.-B. §. 2 lit c.
Oesterr. St.-G.-Entw. §. 56.
204 Cap. XL Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit.
Es gibt eine Reihe von Störungen des Seelenlebens, die durch die
Flüchtigkeit ihrer Symptome, welche vorweg auf eine symptomatische
Begründung derselben hinweist, ferner durch die für die Dauer der
Störung bestehende tiefe Trübung des Bewusslseins bis zur Aufhebung
desselben und die damit zusammenhängende Unklarheit bis zum völligen
Fehlen der Erinnerung für die Erlebnisse des irren Zustands , sich
von den gewöhnlichen, mehr selbständig und chronisch und mit Er-
haltung des Bewusstseins verlaufenden psychischen Erkrankungen unter-
scheiden. Dieser Sonderstellung ist die neuere Gesetzgebung gerecht
geworden, indem sie diese Zustände nach dem auffälligsten Symptom,
nämlich der Störung des Bewusstseins, als Bewusstlosigkeitszustände
besonders namhaft macht und als den Geisteskrankheiten gleichwerthige
Aufhebungsgründe der Zurechnungsfähigkeit hinstellt.
Der rechtlich psychologische Begriff der Bewusstlosigkeit ist
nicht identisch mit dem des gewöhnlichen Sprachgebrauchs , der
darunter Zustände von völligem Schwinden des Bewusstseins der
Aussenwelt (z. B. Ohnmacht) und eingestelltem Verkehr mit dieser
versteht. Jener forensische Begriff der Bewusstlosigkeit schliesst die
Möglichkeit einer traumartigen psychischen Fortexistenz nicht aus,
in welcher das Individuum zwar seiner Sinne und seines Verstand»
nicht mächtig, gleichwohl aber durch Traumbilder, Hallucinationen
und Delirien im Stand ist, mit der Aussenwelt zu verkehren, criminelle
Handlungen zu begehen.
Diese Akte können zwar das Gepräge von gewollten an sich
tragen, aber sie sind nicht die Handlungen eines überlegenden frei-
wollenden Wesens, sondern die Produkte innerer krankhafter, der
Erkenntniss und dem Wollen des Individuums entzogener Vorgänge,
die demnach diesem nicht auf Rechnung gesetzt, ihm nicht zugerechnet
werden können.
Dass sie nicht mit (Selbst-) Bewusstsein vollbracht wurden, be-
weist der Umstand, dass der Thäter hinterher von ihnen gar nichts
weiss oder im besten Fall sich ihrer wie der Erlebnisse eines Traums
erinnert.
Die Häufigkeit solcher abnormer Zustände, die Schwere der in
ihnen zu Stande kommenden strafbaren Handlungen gibt ihnen eine
grosse Bedeutung für das Forum. Dazu kommt ihre Flüchtigkeit,
welche die Ermittlung des subjektiven Thatbestands zur Zeit der
strafbaren Handlung erschwert. Um so wichtiger ist die Erforschung
der somatischen Grundlagen, auf welchen der bewusstlose Zustand sich
entwickelt hat. Damit wird die früher vielfach einseitig psychologische
Allgemeine Gesichtspunkte. 265
Beurtheilungsweise dieser Zustände zur klinischen und ein sicherer
Boden für das Forum gewonnen. Als solche somatische Bedingungen
finden sich die Vorgänge des Schlafens und Träumens , Neurosen
(Epilepsie und Hysterie) u. a. Hirnkrankheiten, Zustände gestörter
Hirnernährung durch Fieber und Intoxication, Vorgänge der Menstrua-
tion^ des Puerperiums.
Vom psychologischen Standpunkt aus ist das sicherste Kriterium
das Verhalten der Erinnerung als einer der besten Beweise für ein
bewusstloses Handeln. Aus Dauer und Grad der Erinnerungsstörung
lässt sich Zeitraum und Grad des bewusstlosen Zustands annähernd
ermessen , ja selbst eine Vermuthung für eine ganz bestimmte Art
krankhafter Bewusstlosigkeit gewinnen.
Die Erinnerung kann ganz fehlen (Amnesie) oder nur eine
fragmentare sein oder sich auf den Inhalt der deliranten Vorgänge
beschränken. Sie kann im luciden Zustand fehlen, aber im neuer-
lichen Anfall vorhanden sein (doppeltes Bewusstsein), Sie kann endlich
unmittelbar nach dem Anfall bestehen (manche Fälle von epileptischer
und alkoholischer Bewusstlosigkeit), aber dann rasch und dauernd
verschwinden.
Die fehlende Erinnerung als ein subjektives Symptom bedarf
der Feuerprobe des Kreuzverhörs, um in foro Anerkennung zu finden.
Ihr behauptetes Fehlen ist ein ganz gewöhnlicher Kniff der Simulanten,
aber auch die Klippe, an welcher sie nothwendig scheitern, da sie
nicht wissen, wo sie ihre Erinnerung aufhören und wieder beginnen
lassen sollen, geringfügige Umstände aus der angeblich amnestischen
Zeit wissen, gravirender sich nicht erinnern und damit nothwendig
sich verrathen.-
Die concreten Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit lassen sich
nach den ihnen zu Grund liegenden somatischen Vorgängen unter-
scheiden in a) abnorme Zustände des Schlaf- und Traumlebens
(Schlaftrunkenheit und Schlafwandeln), b) Zustände vasomotorisch
bedingter acuter Circulationsstörung im Gehirn mit psychischen Sym-
ptomen (a. Mania transitoria durch fluxionäre Hyperämie der Hirn-
rinde ; ß. Raptus melancholicus bedingt wahrscheinlich durch plötz-
liche Gehirnanämie in Folge Gefässkrampfs). c) Intoxikationszustände
(«. durch Alkohol, ß. durch anderweitige toxische Stofi"e). d) Zu-
stände von Fieber- und Inanitionsdelir. e) Zustände von sog. patho-
logischem Affekt (pathologisch durch originäre oder erworbene krank-
hafte Hirnzustände).
Daran reihen sich die acuten meist deliranten Bewusstlosigkeits-
266 C!ap. XL Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit.
zustände auf Grund einer epileptischen oder hysterischen Neurose^
deren Darstellung bereits (p. 194 und 220) gegeben wurde , da sie
nur selten als freistehende d. h. ohne greifbaren Zusammenhang
mit der ursächlichen Nervenkrankheit vorkommende Anfälle sich
finden.
1. Abnorme Zustände des ScMaf- nnd Traumlebens.
a. Die Schlaftrunkenheit.
Literatur: Krügelstein, Henke's Zeitschr. Band 65, p. 183, 455. Band 6Q^ p. 316.
Jessen, empir. PsychoL p. 514, 622. Casper-Liman , Handb. 6. Aufl. p. 696.
Der Zustand der Schlaftrunkenheit ergibt sich daraus, dass die
mit dem Erwachen gewöhnlich verbundene sofortige Wiederkehr
von Selbstbewusstsein und Besinnung verzögert wird, so dass aus
dem Traumleben mit herüber genommene Vorstellungen oder Sinnes-
täuschungen oder falsche Apperceptionen aus der noch nicht zum
Bewusstsein gekommenen realen Welt einen Zustand der Sinnesver-
wirrung herbeiführen, den man passend dem der Trunkenheit gleich-
gesetzt hat.
Da aber in solchem Zustand motorische Reaktionen auf falsche
Apperceptionen, subjektive Sinnesbilder und traumhafte Vorstellungen
möglich sind, kann es geschehen, dass Gewaltthaten von solchen
Schlaftrunkenen an der traumartig verkannten Umgebung begangen
werden.
So hat man Fälle beobachtet, wo Leute von einem beängsti-
genden Traum erweckt , in vermeintlicher Nothwehr . gegen wahn-
hafte Diebe und Mörder, ihre nebenan schlafenden Angehörigen oder
Personen, die sie aus tiefem Schlafe erweckten, feindlich verkennend,
tödteten.
Die Schlaftrunkenheit als solche ist ein ganz transitorischer,
nur wenige Minuten dauernder Zustand. Zuweilen verzögern aus
einwirkenden Sinnesreizen entstandene neue Sinnesdelirien das Ein-
treten der Besonnenheit und unterhalten die hieraus entstehende
Sinnesverwirrung.
Die Erinnerung für die Erlebnisse des schlaftrunkenen Zustands
ist immer nur eine summarische, die wirklichen Ereignisse projiciren
sich dem wiedergekehrten Bewusstsein, wie wenn sie geträumt wären.
Prädispositionen für die Entstehung von Schlaftrunkenheit schaffen
alle Umstände, welche den Schlaf besonders tief machen — die ersten
Schlaftrunkenheit. 267
Stunden des Schlafs , jugendliches Alter , Zeiten , in denen schon
physiologisch der Schlaf ein besonders tiefer ist, ferner grosse körper-
liche und geistige Ermattung durch Strapazen, lange Entbehrung des
Schlafs, vorausgegangener Genuss von geistigeil Getränken, reichliche
Mahlzeit, heisse Schlafstube. Es gibt endlich Constitutionen, die
einen ungewöhnlich tiefen Schlaf haben, Familien, in denen mehrere
Glieder zur Schlaftrunkenheit disponirt sind. Veranlassende Ursachen
sind böse, schwere Träume, die den Schlafenden aufschrecken —
das nächtliche Aufschrecken der Kinder, bei denen ja die Träume
besonders lebhaft sind, gehört hieher — oder plötzliches Erweckt-
werden durch Dritte.
Für die Ermittlung, ob wirklich Schlaftrunkenheit zur Zeit einer
incriminirten Handlung bestand, ist es wichtig, zu erforschen, ob
beim Individuum oder anderen Familiengliedern ähnliche Zustände
vorgekommen sind, wie sein Schlaf und Erwachen gewöhnlich waren,
welche sonstige prädisponirende oder gelegentliche Momente zusam-
menwirkten, um den Schlaf besonders tief zu machen, welche äussere
oder innere Ursachen den Schlaf unterbrachen, ob die That wirklich
in die Zeit des gewöhnlichen Schlafes fiel, wie lange dieser schon
gedauert hatte, wie lange der angeblich schlaftrunkene Zustand
dauerte, ob nicht zeitlich zwischen That und Erwachen Reden und
Handlungen fielen, die auf wiedergekehrtes Bewusstsein und Apper-
ception schliessen lassen.
Es ist selbstverständlich, dass die That zeitlich unmittelbar in
den Moment des Erwachens oder Erwecktwerdens fallen muss, dass
sie keine prämeditirte sein, nur den Charakter einer unbewussten,
zufälligen an sich tragen kann.
Wichtig ist endlich die genaue Prüfung, wie sich das wieder-
gekehrte Selbstbewusstsein und die Erinnerung zur That verhalten,
welchen Zeitabschnitt und welche Punkte diese umfasst. Bei wirk-
licher Schlaftrunkenheit kann die Erinnerung nur eine summarische
sein und nur den subjektiven Inhalt des Traumbewusstseins , nicht
aber den objektiven Sachverhalt in sich begreifen. Für den Richter
werden die Vita anteacta, Leumund, fehlende Causa facinoris und das
Benehmen nach der That weitere Indicien liefern.
Beob. 95. Schlaftrunkenheit. Tödtung des Kindes. Ein Con-
stabler hörte aus einem Hause mitten in der Nacht den Angstruf: „rettet meine
Kinder!" Er drang in's Haus und traf eine Mutter im Nachtkleid, in grösster
Aufregung und Verwirrung. Alles im Zimmer war in wirrem Durcheinander.
Zwei kleine Kinder fanden sich in eine Ecke gekauert vor. Die Frau rief be-
268 Cap. XL Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit.
ständig: „wo ist mein Säugling? Haben sie ihn aufgefangen? Ich muss ihn zum
Fenster hinausgeworfen haben." Die Unglückliche hatte ihr Kind durch eine
Fensterscheibe auf die Strasse hinausgeworfen, ohne das Fenster zu erolTnen.
Sie hatte geträumt, ihre kleinen Jungen riefen ihr zu, das Haus stehe in Flammen
und in der erfolgten schlaftrunkenen Sinnesverwirrung hatte sie ihr Kind, um
es vor dem Flammentod zu retten, durch's Fenster geworfen. (Bucknill u. Tuke,
Lehrbuch, 1862, p. 213.)
Beob. 96. Schlaftrunkenheit. Tödtung des Vaters. Gutsbesitzer B.,
ein junger, vollsaftiger, zu Blutwallungen geneigter, reizbarer Mann, der im
Schlaf lebhaft träumte, galt in seiner Familie als zur Schlaftrunkenheit geneigt.
Da er isolirt wohnte und mit Grund Einbruch befürchtete , hatte er immer
Gewehr und Säbel an seinem Bett. Eines Morgens kommt sein Bruder, um ihn
zur Jagd abzuholen. B. liegt noch im Halbschlaf, springt mit geschwungenem
Säbel auf den Eingetretenen, der ihn aber packt, beim Namen ruft, worauf B.
sofort zur Besinnung kommt. Einige Zeit darauf tritt sein Vater unter ähnlichen
Verhältnissen Frühmorgens in die Stube und wird von dem schlaftrunkenen
Sohn erschossen. (Schilling, Casper Vierteljahrschr. XII.)
Weitere Fälle: Succow, Henke's Zeitschr. 1851 (Tödtung des Vaters).
Oesterr. Zeitschr. f. prakt. Heilkunde 1855, p. 46 (Tödtung eines Kameraden).
Büchner, Henke's Zeitschr. Bd. X (Insubordination). Wien. med. Presse 1871
(Tödtung). Wildberg's Jahrb. der ges. Staatsarzneikde II, p. 32 (Tödtung der
Ehefrau). Meister, Urtheile und Gutachten. Frankfurt 1808 (Fall Schidmaizig.
Tödtung der Ehefi;au).
b. Das Schlafwandeln.
Literatur: Hoffbauer, die Psychologie, Halle 1808, p. 157, 221. Krügelstein,
Henke's Zeitschr. 1843, H. 4. Legrand du Saulle, la folie, p. 275. Jessen,
empir. Psychol. p. 570—633.
Der Zustand des Bewusstseins gleicht hier dem des Träumen-
den, der Unterschied von diesem beruht darin, dass der Uebergang
der Traumbilder und Traumvorstellungen in motorische Akte nicht
gehindert ist. Je nachdem jene mehr oder weniger geordnet und
einfache Reproduktionen gewohnter Vorstellungsgruppen des wachen
Lebens sind oder mangelhaft associirt und verworren, ist der Schlaf-
wandler zur Vornahme zweckmässiger Handlungen, zur Fortsetzung
und Besorgung von Geschäften des wachen Lebens fähig, oder er
dämmert planlos umher. Dieser Handlungen ist sich das Individuum
nicht bewusst, sie sind rein automatische Akte. Die Sinnesapper-
ception ist gänzlich aufgehoben oder auf die dem Inhalt des Traum-
bewusstseins entsprechenden Objekte eingeschränkt. Die Erinnerung
für die Traumerlebnisse und natürlich für alles wirklich Geschehene
fehlt ganz im wachen Zustand oder wirkliche Begebenheiten meint der
Das Schlafwandeln. 269
Schlafwandler nur geträumt zu haben. Zuweilen ist die Erinnerung
an das in früheren Anfällen Geschehene auf die Zeit der jeweiligen
Anfälle beschränkt, ein eigenthümlicher Zustand von Doppelleben und
Doppelbewusstsein.
Das Schlafwandeln ist eine Nervenkrankheit, wahrscheinlich
nur Theilerscheinung anderer Neurosen (Epilepsie , Hysterie, Status
nervosus). Es findet sich vorwiegend im jugendlichen Alter, nament-
lich zur Zeit der Pubertätsentwicklung, dauert oft Jahre lang. Die
Anfälle kehren zuweilen täglich und zu bestimmten Stunden wieder.
Immer werden sie von Schlaf eingeleitet. Leichte Convulsionen oder
kataleptische Muskelstarre gehen ihnen zuweilen vorher. Der Anfall
geht in einen Zustand von gewöhnlichem Schlaf wieder zurück oder,
wenn er durch äussere oder innere Anregung unterbrochen wird,
durch ein kürzeres oder längeres Stadium schlaftrunkenartiger Ver-
worrenheit in den wachen Zustand über.
Die Constatirung der Krankheit bietet in der Regel keine
Schwierigkeiten, da sie eine chronische Neurose ist, anderweitige
Zeichen einer solchen , Prädispbsitionen zu Nervenkrankheiten sich
etwa vorfinden, weitere Anfälle sich beobachten lassen.
Dass eine criminelle That wirklich in einem solchen Anfall
begangen wurde, muss aus einer Reihe von Umständen erschlossen
werden. Von Werth kann es bei typischen Anfällen sein, ob die
That in die gewöhnliche Zeit derselben fiel. Das Zustandekommen
einer zweckmässig combinirten That schliesst das Schlafwandeln nicht
aus. Bezüglich der That selbst und ihrer näheren Umstände können
sich wichtige Anhaltspunkte ergeben, insofern zur Ausführung dem
wachen Leben unmögliche Mittel und Wege (Ueberklettern von
Dächern etc.) eingeschlagen wurden.
Auch hier ist die genaue Ermittlung, wie sich die Erinnerung
verhält, von grosser Bedeutung.
Nie hat der Nachtwandler die Erinnerung für Das, was in die
Zeit seines Anfalls fiel, als Erlebtes, höchstens als Geträumtes, in
der Regel fehlt alle Erinnerung wie im tiefen Schlafe. Jedenfalls ist
es unmöglich, dass er sich an ein Faktum erinnere, das in die Zeit
seines Anfalls fällt, während er zeitlich vor- oder nachher stattge-
fundener Begebenheiten sich gar nicht erinnert oder sie nur geträumt
zu haben vorgibt.
Im Anfall selbst ist gegenüber möglicher Simulation zu be-
achten, dass die Sinnesapperception aufgehoben ist oder sich auf
Das beschränkt, M^as mit den Traumvorstellungen im Zusammenhang
270 Cap. XI. Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit.
steht. Nachtwandler sind nicht leicht zu erwecken, am leichtesten
noch durch Rufen ihres Namens. Beachtenswerth ist der starre, wie
amaurotische Ausdruck des Auges.
Beob. 97. Somnambulismus. Intendirter Mord. Ein Mönch von
düsterem Wesen und als Schlafwandler bekannt, begab sich eines Abends in
das Zimmer seines Priors, der zufällig noch nicht im Bett lag, sondern am
Arbeitstische sass. Der Mönch hatte ein Messer in der Hand, die Augen offen
und ging geraden Wegs auf das Bett des Pi'iors los , ohne diesen und das
brennende Licht im Zimmer zu bemerken. Er tastete nach dessen Körper. im
Bett, stach dreimal das Messer in dasselbe und kehrte mit befriedigter Miene
in seine Zelle zurück, deren Thüre er zumachte. Am andern Morgen erzählte
er dem entsetzten Prior, dass er geträumt habe, dieser habe seine Mutter ge-
tödtet und deren blutiger Schatten sei ihm erschienen, um ihn zur Rache aufzu-
fordern. Er habe sich aufgerafft und den Prior erdolcht. Bald darauf sei er,
in Schweiss gebadet, in seinem Bett erwacht und habe Gott gedankt, dass es
nur ein schrecklicher Traum gewesen sei. Der Mönch war entsetzt, als ihm der
Prior erzählte, was vorgefallen war. (Legrand, la folie p.
Weitere Fälle: Maass, prakt. Seelenheilkde., 1847, p. 301. (Ein Schuster-
geselle, seit langer Zeit von Eifersucht geplagt, steigt schlafwandelnd über's Dach
zu seiner Geliebten, erdolcht sie und kehrt wieder in's Bett zurück).
Union medicale, 16. Dec. 1861. (Ein Nachtwandler in Neapel erdolcht
seine Frau auf Grund einer Traumvorstellung, dass sie ihm untreu sei.)
Mesnet, etude sur le somnamb. 1860. (Selbstmordversuche einer Frau
in ihren Anfällen von Somnambulismus.)
Dornblüth (Henke, Zeitschr. 32. Jahrg. 2, p. 145). Eine Nachtwandlerin,
die zugleich an einer epileptiformen Neurose litt, entwendet und verbirgt in
ihren Anfällen Gegenstände und zeigt völlige Amnesie für das während derselben
Geschehene.
Klose, System der gerichtl. Physik p. 177, Ein Prediger, der wegen
Schwängerung eines Mädchens seines Amtes entsetzt werden sollte, wird freige-
sprochen, als er nachweist, dass er Nachtwandler sei und wahrscheinlich macht,
dass er den verbotenen Umgang in solchem Zustand (?) gepflogen habe.
Macario, Annal. med. psycho! 1847, p. 47. Fall eines Mädchens, das
im somnambulen Zustand geschlechtlich missbraucht wurde. Es hatte nur in
den Anfällen Bewusstsein vom erduldeten Beischlaf, nicht aber in der interval-
lären freien Zeit.
Friedreich's Blätter 1856, H. 5, analoger Fall.
Fahner, System d. ger. Arzneikde. I, p. 47. Ein Mensch schützte Nacht-
wandeln vor , um sich der Strafe eines Mordes zu entziehen ; weiterer Fall von
Simulation s. Ray, treatise on insanity p. 399.
Mania transitoria. 271
2. Zustände von krankhafter Bewusstlosigkeit durch acute Circulationsstörung
im Gehirn (Vasoparese oder Gefässkrampf).
a. Mania transitoria.
Literatur: v. Krafft, transitor. Störungen d. Selbstbewusstseins 1868, p. 76.
Derselbe, Irrenfreund 1871, 12. Schwartzer, d. transitor. Tobsucht.
Eine seltene aber forensisch höchst wichtige Form krankhafter
Bewusstlosigkeit, bei welcher für die ganze Dauer des Anfalls das
SelbstbewusstseiD völlig erloschen ist und demgemäss auch jegliche
Erinnerung fehlt, stellt die sog. Mania transitoria dar.
Sie setzt mitten aus völliger körperlicher und geistiger Gesund-
heit ein, dauert durchschnittlich einige Stunden und löst sich mit
einem kritischen Schlaf, aus welchem der Erkrankte ganz lucid, wenn
auch noch für einige Stunden im Sensorium benommen, matt und
erschöpft zu sich kommt.
Klinische Uebersicht: Der Anfall verlauft als furibunde Tobsucht
(furor transitorius) oder als acutes Delir mit hochgradiger Verworrenheit und
massenhaften Sinnesdelirien vorwiegend schreckhaften Inhalts.
Heftige Kopfcongestionen , Schwindel, Vergehen der Sinne, Betäubungs-
gefühl, bis zu apoplektischem Umstürzen, Gereiztheit, Empfindlichkeit gegen Licht
und Geräusch werden als Druck- und Reizerscheinungen beginnender Fluxion
des Gehirns vielfach beobachtet. Zeichen heftiger Hirncongestion sind fast regel-
mässige Begleiter des Anfalls, so dass die Annahme gerechtfertigt ist, es handle
sich hier um ein symptomatisches Delirium und Reizerscheinungen der psychi-
schen Centren in Folge einer intensiven aber rasch sich ausgleichenden fluxionären
Hyperämie.
Dieser Annahme entspricht auch die Aetiologie, denn als prädisponirende
Momente finden sich meist solche, die eine Neigung zu fluxionärer Hyperämie
des Gehirns setzen : plethorische Constitutionen , Menschen , die durch Ueber-
anstrengung, Alkoholexcesse , Wochenbetten ihr Gehirn reizbarer und weniger
widerstandsfähig gemacht haben, während als occasionelle Momente' ebenfalls
fluxionsbefördernde Einflüsse auf's Gehirn in Form heftiger plötzlicher Gemüths-
affekte, Alkoholgenuss, Einwirkung grosser Hitze, Kohlendunst in erster Linie
stehen.
Eine auffallende Disposition geben Männer in jugendlichem Alter kund,
namentlich Soldaten.
Auch bei Gebärenden während der dritten und vierten Geburtsperiode,
bei Neuentbundenen gleich nach der Ausstossung des Kindes finden sich zu-
weilen solche Anfälle, die sich aus heftiger Hirncongestion durch die während
des Gebärakts allgemein gesteigerte Gefässerregung, die gleichzeitig gehinderte
Circulation in Folge der gehemmten Inspiration und durch die hochgradige-
Spannung des gesammten Muskelapparats erklären dürften.
272 Cap. XI. Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit.
Der eigentliche Anfall setzt plötzlich ei^. Mit einem Schlag ist das Selbst-
bewusstsein erloschen, der Kranke in einem tiefen deliranten Traumzustand.
Der Inhalt des Deliriums, so weit er aus dem Gebahren, den Mienen und Reden
erschlossen werden kann, ist vorwiegend ein schreckhafter, jedoch kommen auch
Krankheitsbilder vor, bei denen eine ausgesprochen maniakalische Stimmungs-
lage, Ideenflucht, Bewegungsdrang vorhanden sind. In der Regel ist der Nieder-
gang des Paroxysmus und seine Ablösung durch tiefen Schlaf ebenso jäh als
sein Ausbruch. Zuweilen kommt es zu Recrudescenzen und dadurch kann sich
die Dauer auf Tageslänge erstrecken.
Ein solcher Anfall von M. trans. zeigt sich meist ganz isolirt, in der Regel
nur einmal im Leben.
Schwere Gewaltthaten sind in diesem Zustand nichts Seltenes.
Forensisch besteht die Hauptschwierigkeit darin, nachzuweisen, dass
ein solcher Zustand wirklich zur Zeit der That vorhanden war , was
bei der Flüchtigkeit des Krankheitsbilds zuweilen nicht leicht ist.
Für die Beurtheilung sind wir auf Krankheitsdispositionen und
occasionelle Momente, That und Mechanismus derselben, Ermittlung
der Amnesie und ihrer Dauer angewiesen.
Es kann hier wichtig werden , etwaige Disposition zu Kopf-
congestion zu constatiren, etwaige frühere Anfälle, etwaige Symptome
beginnender Hirncongestion vor dem Ausbruch des Paroxysmus zu
ermitteln, ferner ob Umstände der That vorausgingen (Hitze, Alkohol-
genuss, Affekte), die zum Ausbruch eines solchen erfahrungsgemäss
Veranlassung geben können.
Die völlige Aufhebung des Selbstbewusstseins schliesst jedes
planmässige besonnene Handeln aus. Es handelt sich um Gewalt-
thaten, die ohne Rücksicht auf Zeit, Ort, Mittel, ohne Motiv, ge-
räuschvoll, wuthartig in Scene gesetzt werden. Zuweilen trifft man
den Thäter noch schlafend am Schauplatz seiner That. Von höch-
stem Werth ist die nie fehlende Amnesie für die ganze Zeitdauer
des Anfalls, deren Vorhandensein und Umfang sich im Verhör leicht
ermitteln lässt. Diese Amnesie bedingt auch eine bezeichnende Un-
befangenheit des Thäters, der seine That mit aller Ruhe leugnet, ein-
fach weil er sich keiner Schuld bewusst ist, ebendesshalb auch nicht
entflieht, keine Versuche zur Verwischung der Spuren seiner That
macht.
Eine Simulation des Anfalls, sofern er sich vor Zeugen abspielte,
ist nicht möglich. Vorschützung von M. trans. (vgl. den lehrreichen
Fall bei Schwartzer, op. cit. p. 168) für die Zeit einer strafbaren
That scheitert an dem Umstand, dass das Handeln bei M. trans.
ein bewusstloses, delirantes, planloses ist und der Betreffende nicht
Mania transitoria. 273
weiss wo er seine Erinnerung aufhören und wieder anfangen lassen
soll, während bei wirklicher M. trans. der ganze Zeitabschnitt des
Anfalls eine scharf sich abhebende Lücke in der Continuität des
geistigen Daseins darstellt.
Beob. 98. Mania transitoria. D., Kanonier, 28 J. alt, früher gesund,
ohne erbliche Anlage, ein robuster pastöser Mann, hatte am 20. Juli, ehe er in
den Krieg zog, eine starke Gemüthsbewegung beim Abschied von seiner Familie
gehabt und bei grosser Hitze sieben Glas Bier getrunken. Er legt sich wohl zu
Bett, schläft ruhig bis Morgens 4 Uhr, fängt dann plötzlich an zu toben. Alles
zu zertrümmern, sich zu schlagen und zu beissen. Er führte ganz incohärente
Reden, sein Kopf war glühend heiss und rolh. Es gelang, ihn zu bändigen. Um
7 Uhr früh liess das Delirium und die motorische Erregung nach, der über 100
gesteigerte Puls ging auf 60 herab, die Röthe des Gesichts wich einer auffallen-
den Blässe. Das Bewusstsein kehrte wieder , Patient fiel in einen tiefen drei
Stunden währenden Schlaf, aus dem er ohne jegliche Erinnerung an's Vor-
gefallene und geistig ganz wiederhergestellt erwachte. Patient, der nie dem
Trunk ergeben oder epileptisch gewesen war, klagte in den folgenden zwei
Tagen noch etwas Kopfweh und Schwindel , blieb in der Folge ganz gesund.
(Eigene Beobachtung.)
Beob. 99. Mania transitoria. K, 20 Jahre, Soldat, etwas dem Trunk
ergeben, ohne erbliche Anlage oder epileptische Zufälle, hatte 1866 auf einem
Marsch eine Insolation erlitten, auf die ein dreiwöchentliches Fieber mit Delirium
gefolgt war. 1867 in der Erntezeit neuer Anfall von Insolation, der aber nach
8 Tagen ohne Folgen vorüber war.
Am 3. August 1870 hatte N. bei grosser Hitze exercirt und mehrere Gläser
Bier rasch hintereinander getrunken. Nachmittags 2 Uhr, auf dem Exercierplatz,
klagte er plötzlich Schwindel, Kopfweh, es sei ihm schwarz vor den Augen und
tanze Alles um ihn. Nun erlosch das Bewusstsein und folgte ein Tobsuchtanfall,
der in einem überstürzenden Gedankendrang mit zusammenhanglosem Voci-
feriren, Deliriren, Toben und .Umsichschlagen sich wesentlich äusserte. Wieder-
holt tauchte die Hallucination eines schwarzen Phantasma auf, vor dem sich
Patient fürchtete.
Das Gesicht war roth, heiss, die Augen injicirt, die Carotiden voll, ge-
spannt, der Puls über 100. Um 6 Uhr trat Erschöpfung und Ruhe ein. Patient
kam zu sich, wunderte sich, gefesselt und im Lazareth zu sein, zeigte völlige
Amnesie für's Vorgefallene, schlief ein und erwachte am 4. Morgens geistig völlig
klar und körperlich gesund. In der folgenden 14tägigen Beobachtungszeit konnte
keine Störung des Befindens mehr constatirt werden. (Eigene Beobachtung.)
Beob. 100. Mania transitoria nach der Entbindung. Frau N.,
24 J. alt, früher gesund, regelmässig menstruirt, seit I72 Jahren verheirathet,
hatte eine normale Schwangerschaft und Geburt überstanden , nur traten nach
Ausstossung der Placenta sehr schmerzhafte Nachwehen ein. Kaum hatte der
Arzt sie verlassen, als er zurückgerufen werden musste, da Frau N. plötzlich
rasend geworden war. Sie kannte Niemand, wähnte sich von Mördern und
Dieben bedroht und wehrte sich verzweifelt. Der Uterus war fest zusammen-
V. Kraf f t-Ebing, gericlitl. Psychopathologie. 2. Auflage. 18
274 Cap. XL Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit.
gezogen, der Puls normal, ein Congestivzustand nicht nachweisbar. Die Kranke
wurde auf krampfstillende Mittel bald ruhig, schlief unter profusen Schweissen
einige Stunden lang fest und erwachte dann ganz gesund und ohne Erinnerung
an's Vorgefallene. (Henke, Zeitschr. 1828, H. 3, p. 108.)
Weitere Fälle: Schwartzer, op. cit, Fall 1 — 13, u. p. 142 (puerperaler
Fall). Casper-Liman , Hdb. Fall 246 (Gewaltausbrüche gegen die Umgebung).
Gaz. des tribun. 1839, Febr. (Tödtung des Bruders, lebensgefährl. Verletzung der
Eltern), v. Krafft, Lehrb. d. Psychiatrie III, Beob. 36, 87.
b. Raptus melancholicus.
Literatur: Bonnet, folie transitoire homicide. Ann. med. psychol, 1862 April.
Erlenmeyer, über Melancholia transitoria, Corr.-Blatt f. Psych. 1859, 8. 9.
V. Krafft, transitor. Störungen d. Selbstbewusstseins , p. 91. Schwartzer,
transit. Tobsucht, p. 75.
Es gibt seltene Fälle von heftiger präcordialer Angstempfindung
bei Geistesgesunden, speciell nicht Melancholischen, die plötzlich über-
fällt, das Selbstbewusstsein trübt bis zur temporären Aufhebung
desselben und stürmische Handlungsreflexe hervorruft.
Eine somatische, speciell neurotische Grundlage ist für solche Anfälle
transitorischer Angst wohl immer vorauszusetzen und in der Mehrzahl der Fälle
auch nachweisbar. Sie ist, wie alle transitorischen Irreseinszustände eine sympto-
matische Erscheinung. Raptus mel. findet sich nicht selten bei durch Masturbation
erschöpftem Nervensj^stem (Neurasthenie), beim Alkoholismus chronicus, Hysterie,
Epilepsie, Hypochondrie. Er kann in ursächlichem Zusammenhang mit Blut-
verlusten (Puerperium), überhaupt Anämie stehen, ferner mit Herzklappenfehlern,
Fettherz, Magen erkrankung, Störungen der Menstruation (Menstruatio suppressa).
Gereiztheit, Gedrücktheit, Kopfschmerz, Schwindel, Herzklopfen können dem
Anfall als Prodromi vorangehen. Der eigentliche Anfall erreicht fast momentan
seine Höhe, nur selten vermochten die Kranken Äoch die Umgebung vor sich
zu warnen.
Eine sinnenverwirrende Angst mit Trübung bis zum Erlöschen des Selbst-
bewusstseins und mit schreckhaften Delirien und Sinnestäuschungen sind psychisch,
entsetztes blasses Gesicht, kleiner äusserst frequenter Puls mit eng contrahirter
Arterie (Gefässkrampf), beschleunigte oberflächliche Respiration sind somatisch
die Hauptsymptome des Zustands. Nach Minuten bis zu einer halben Stunde
schwinden Angst und Gefässkrampf. Der Kranke kommt zu sich wie aus einem
schweren Traum, athmet erleichtert auf und besitzt für alles Vorgefallene gar
keine oder nur eine sehr lückenhafte Erinnerung.
Die forensische Bedeutung dieses Zustands ergibt sich daraus,
dass, als reiner psychischer Reflex auf die entsetzliche Angst oder
veranlasst durch Sinnestäuschungen und Delirien, bewusstlose Gewalt-
akte (Selbstmord, Mord, Brandstiftung) bis zu ganz impulsivem blin-
dem Wüthen und Toben vorkommen.
Raptus melancholicus. 275
Das Handeln ist ein zielloses, quasi convulsivisches, rücksichts-
loses. Die Bewusstseinsstörung lässt die Wahl passender Mittel nicht
zu. Der Selbstmord wird z. B. durch Hinausstürzen zum Fenster,
Einrennen des Kopfes an der Wand versucht. Ein Mord ist ein ganz
zufälliger. Es handelt sich psychologisch nicht um die Ausführung
einer bestimmten destruirenden Handlung, sondern um die zwangs-
mässige Lösung eines entsetzlichen Gemüthszustands, mag das Objekt
nun ein Menschenleben oder Mobiliar sein. Das schreckliche Fühlen,
die psychische Anästhesie und aufgehobene Schmerzempfindlichkeit
bedingen ein rücksichtsloses, über alles Ziel hinausschiessendes wuth-
artiges Handeln. Nie fehlt die lösende gleichsam kritische Wirkung
einer Gewaltthat.
Das zwangsmässige organisch bedingte Handeln, die Störung
des Bewusstseins, durch welche eine Erkenntniss der That, ihrer Be-
deutung, Folgen ausgeschlossen ist, vernichten die Bedingungen der
Zurechnungsfähigkeit.
Die forensische Beurtheilung hat die somatischen Grundbedingun-
gen des nur als Symptom aufzufassenden Rapt. mel. zu erforschen.
Besondere Aufmerksamkeit ist dem etwaigen Vorhandensein
larvirter Neurosen, namentlich der Epilepsie und gewissen occasio-
nellen Bedingungen (suppressio mensium, GemüthsafFekte etc.) zu
schenken. Nicht selten lassen sich auch frühere Anfälle nachweisen.
Endlich ist die sich für die Anfallsdauer findende Amnesie zu ver-
werthen, die das Benehmen nach der That zu einem unbefangenen
macht. Eine erfolgreiche Simulation eines solchen Raptus ist bei
der Prägnanz des Krankheitsbildes und der integrirenden Mitbethei-
ligung körperlicher Funktionen nicht denkbar.
Beob. 101. Tödtung eines Kinds durch seine Amme im Angst-
anfall. Marie W., verheirathet , hatte sich als Amme nach der Stadt vei-dingt.
Sie liebte ihr Pflegekind sehr, stand mit Jedermann in guten Beziehungen bis
sie einen kleinen Hausdiebstahl beging. Ihr Herr drohte mit gerichtlicher Ver-
folgung am andern Tage, falls sie nicht ein Geständniss ablege. Des Abends
starrte sie vor sich hin und sagte: „morgen werde ich nicht mehr da sein."
Nachts hörte man vom Hof her Rufen und Schreien. Man fand Amme und
Kind in einem tiefen Ziehbrunnen und zog sie mit Mühe heraus. Das Kind
war todt.
Die Amme gab Folgendes zu Protokoll: „Die Angst vor der bevorstehenden
Strafe hatte mich sehr unruhig und bekümmert gemacht, ängstlich legte ich
mich Abends 10 Uhr zu Bett. Ich schlief unruhig, glaubte mich vom Herrn
gerufen, ging mit dem Kind auf dem Arme hinaus ohne zu wissen wohin. Ich
weiss nicht was weiter mit mir geschehen ist. Est als ich mit dem Kind im
Brunnen lag, brachte mich das kalte Wasser zur Besinnung. Nun schrie ich,
276 Cap. XL Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit.
bis Hilfe kam. Ich habe das Kind sehr geliebt, weiss mir nicht zu erklären,
wie ich dazu kam, mich mit dem Kind in den Brunnen zu stürzen. Der Teufel
muss mich dazu getrieben haben."
Das gerichtsärztliche Gutachten verneinte die Unzurechnungsfähigkeit, ein
obergerichtsärztliches erwies, dass hier ein unfreier Zustand vorlag und die That
unter dem Einfluss von Gehörshallucinationen (?) begangen wurde. Freisprechung.
(Hitzig's Annalen, 1848, Sept.)
Weitere Fälle: Henke, Zeitschr. 1834, 20. Ergänzgsh. (Brandstiftung),
ebenda 1840, H. 1 (ein Vater zersplittert seinem Sohn den Schädel). Mende
ebenda, 1821 (Selbstmord). Chätelain, Ann. med. psych. 1871, Juli (Mordversuch
an der Frau). Westphal, Charite-Annal. III, 1878 (Tödtung des Kinds durch
die Mutter zur Zeit der Menses). Schwartzer, op. cit., p. 92. Rupprecht, Viertel-
jahrschrift f. ger. Med. XIX, H. 2 (vermuthete aber ausgeschlossene Simulation).
3. Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit unter dem Einfluss toxischer
Substanzen.
a. Rausch und bewusstloser Rausch.
Literatur: Henke, Abhandl. I u. II, p. 378, IV, p. 271. Legrand du SauUe,
la folie p. 253 — 74. Casper-Liman , Handb. p, 671. Ritter, Friedreich's
Blätter 1869, H. 4. Delasiauve, Ann. med. psychol. 1867, März. v. Krafft,
Allgem. deutsch. Strafrechtsztg. 1872. Maschka, Vierteljahrschr. f. ger. Med.
1868, H. 1.
Gesetz 1. Bestimmungen: Oesterr. Strafgesetzen tw. §.452. Wer im Zustand einer
die Zurechnung ausschliessenden vollen Trunkenheit (§. 56) eine Handlung
verübt, welche das Gesetz mit einer Verbrecherstrafe bedroht, ist mit Haft
zu bestrafen.
Ueberaus häufig wird von der Vertheidigung als die Schuld
mindernd oder aufhebend geltend gemacht, dass eine strafbare Hand-
lung in die Zeit einer Berauschung fiel. Thatsächlich ist der Zustand
des Berauschten ein abnormer und ganz dazu angethan nach Um-
ständen die rechtliche Verantwortlichkeit zu beschränken oder selbst
aufzuheben. Nirgends in der gerichtlichen Psychopathologie zeigt
sich jedoch so sehr das Bedürfniss einer individualisirenden Beurthei-
lung als in der Frage nach der Zurechnungsfähigkeit des Berauschten,
denn die Entscheidung derselben ist ganz abhängig vom Zustand des
Berauschten zur Zeit seiner That und dieser wieder die Resultante
theils constitutioneller, theils accidenteller Ursachen, unter denen Art
und Menge des genossenen Getränks, die Umstände, unter denen es
genossen wurde, eine hervorragende Rolle spielen.
Man hat sich vielfach bemüht, Stadien im Verlauf des Rausches aufzu-
stellen (Weinwarmheit , Trunkenheit, Besoffenheit) und nach solchen die recht-
Rausch und bewusstloser Rausch. 277
liehe Verantwortlichkeit zu bemessen, allein der Zustand erträgt nicht eine solche
generalisirende Eintheilung in Stadien, diese gehen unvermerkt in einander über
und constitutionelle und zufällige Momente machen vielfach den Ablauf der
Erscheinungen des Rausches zu einem irregulären.
Auch die Vorschläge und Bestimmungen gegenüber der Zurechnung Be-
rauschter auf legislativem Gebiet boten vielfache Unklarheiten und Inconsequenzen.
Während die Einen rein vom psychologischen und klinischen Standpunkt
den Rausch als eine artificielle Seelenstörung ansehend, für volle Aufhebung
der Zurechnungsfähigkeit plaidirten und damit einem der abscheulichsten Laster
einen Freibrief für alle möglichen Rechtsverletzungen ausstellten, höchstens von
einer polizeilichen Bestrafung des Berauschtgewesenen oder einer temporären
Freiheitsberaubung wegen Gemeingefährlichkeit etwas wissen wollten, fehlte es
nicht an Anderen (Hoffbauer), die als Vertreter des moralischen Standpunkts im
Rausch keinen Aufhebungsgrund der Zurechnungsfähigkeit erkennen konnten,
selbst wenn Vernunft und sittliche Freiheit im Augenblick der That fehlen. Als
Motive machten diese Moralisten geltend, dass sonst jeder andere moralische
Fehler (Wollust, Zornmüthigkeit etc.) ebenso entschuldigt werden müsse und es
bald keine Strafe mehr geben könne.
Zwischen diesen extremen Ansichten, bewegte sich die Gesetzgebung. Dem
thatsächliclien Vorhandensein eines unfreien Zustands Rechnung tragend, ver-
setzte sie den Rausch unter die Reihe der die Zurechnungsfähigkeit ausschliessen-
den Momente , aber nur dann , wenn er eine solche Höhe erreichte , dass die
„Vernunft" aufgehoben war. In manchen Gesetzbüchern fand sich noch zudem
die lächerliche Bestimmung, dass diese den Gebrauch der Vernunft ausschliessende
Phase des Rausches nur dann Straflosigkeit begründe, wenn Jemand sich nicht
absichtlich betrunken habe, um in diesem Zustand ein prämeditirtes Verbrechen
zu begehen, als ob es psychologisch möglich Aväre, dass Jemand in solchem Zu-
stand etwas ausführen oder nur sich auf etwas besinnen könne , das er in
nüchternem Zustand prämeditirt hat.
Allen übrigen „nicht zur Aufhebung des Vernunftgebrauchs gediehenen
Rauschzuständen" wurde bloss die Wohlthat mildernder Umstände oder einer
verminderten Zurechnungsfähigkeit zuerkannt , wobei als erschwerend oder
mildernd in Erwägung gezogen wurde , ob Jemand die ungewöhnlich starke
Wirkung berauscliender Getränke auf seine Individualität oder seine Gemein-
gefährliclikeit im Rausch kannte, oder nicht sich derselben bewusst war, allen-
falls die Qualität des berauschenden Getränks nicht kannte, oder gleichzeitig unter
dem Einfluss eines vielleicht zudem unverschuldeten Affektes stand, der die
Wirkung des Getränks erhöhte u. s. w.
Die neuere Gesetzgebung hat mit dem früheren metaphysischen
Begriff „Vernunft" gebrochen und an Stelle dieses zweideutigen Aus-
drucks ein psychologisches und klinisches Kennzeichen gesetzt — die
Bewusstlosigkeit. Daraus, dass sie keine besonderen Bestimmungen
über die Zurechnungsfähigkeit der Trunkenen gab, folgt, dass die ein-
fachen Rauschzustände, in denen das Bewusstsein nicht erloschen ist
(Bewusstlosigkeit = Aufhebung des Selbstbewusstseins), an und für
sich die Zurechnungsfähigkeit nicht aufheben, nur als Milderungsgründe
278 Cap. XI. Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit.
der Strafe gelten können und dass die Aufhebung der Zurechnungs-
fähigkeit bei Berauschten auf die Fälle einzuschränken ist, in welchen
das Selbstbewusstsein zur Zeit der That erloschen war.
Es ergeben sich damit forensisch zwei verschiedene Zustände
des Rauschs, diejenige, in welcher das Bewusstsein der Aussenwelt
und der eigenen Persönlichkeit noch erhalten, höchstens getrübt ist,
und diejenige, in welcher dieses Bewusstsein aufgehoben ist. Wenn
auch hier Uebergänge angenommen werden müssen, so besteht ein
ziemlich genaues Unterscheidungszeichen für beide Zustände im Stand
der Erinnerung, die für jene des blossen Angetrunkenseins eine intakte,
mindestens summarische, für den Zustand der vollen Berauschung
eine in Bezug auf gewisse Zeitabschnitte oder die ganze Periode
total fehlende ist.
Wo immer eine strafbare That in den Zeitpunkt einer Berau-
schung fiel, für den in der Folge Amnesie besteht, dürfte, sobald
diese Amnesie als wirklich vorhanden constatirt ist, daraus zu fol-
gern sein, dass der Zeitraum, welchen sie umfasst, ein Zustand der
^Bewusstlosigkeit" war.
Zur Ermittlung des subjektiven Thatbestands in Fällen ein-
facher Berauschung wird selten die Mitwirkung des ärztlichen Tech-
nikers requirirt. Gewöhnlich entscheidet der Richter allein über die
Zurechnungsfähigkeit der Trunkenen auf Grund der Zeugenaussagen,
wobei die Quantität und Qualität des genossenen Getränks, die That-
umstände und allgemeine psychologische Kriterien vorzugsweise ver-
werthet werden. Im Sinn der neueren Gesetzgebung spielt die Er-
mittlung einer vorhanden gewesenen Bewusstlosigkeit zur Zeit der
That eine entsprechende Rolle. Der Zeitpunkt derselben ist genau
festzustellen, die Bewusstlosigkeit aus den Thatumständen , nament-
lich dem Verhalten nach der That, der Unbefangenheit des Thäters
zu ermitteln. Leider wird vielfach richterlicherseits der Begriff der
Bewusstlosigkeit im gewöhnlichen Sprachgebrauch, nicht im rechtlich
psychologischen genommen und die Bewusstlosigkeit des (sinnlos)
Betrunkenen desswegen nicht anerkannt, weil der Betreffende mit der
Aussenwelt noch verkehrte, zusammenhängend sprach und handelte,
obwohl ein solches Verhalten durchaus nicht die Möglichkeit aus-
schliesst, dass Jemand gleichzeitig des Selbstbewusstseins beraubt
war, resp. nicht wusste, was er that.
Ein solcher Zustand der Bewusstlosigkeit schliesst endlich eine
theilweise momentane Aufhellung des Bewusstseins, die eine temporäre
Beantwortung gestellter Fragen, ein zweckmässiges Gebahren gestattet.
Rausch und bewusstloser Rausch. Beob. 102. 279
nicht aus. Es kommt zuweilen vor, dass bewusstlos Betrunkene un-
mittelbar nach der Gewaltthat, im Moment der Verhaftung, des Ver-
lassens der heissen Atmosphäre der Trinkstube , zwar Namen und
Alter richtig angeben, eine momentan richtige Apperception besitzen,
hinterher aber von dem ganzen Zwischenfall nichts wissen. Solche
Thatsachen werden dann leicht im Beweisverfahren einseitig für die
Anschauung verwerthet, dass der Betrunkene nicht sinnlos betrunken,
bewusstlos gewesen sein könne, obwohl doch der Mangel der Er-
innerung dafür spricht.
In phänomenaler Hinsicht äussert sich die Alkoholwirkung im Anfang
gewöhnlich in Form einer durch chemische und fluxionäre Vorgänge vermittelten
Steigerung der psychischen Funktionen. Erinnerung, Vorstellungsablauf und
Willensbestrebungen sind erleichtert. Der Schweigsame wird schwatzhaft, der
Ruhige gestikulirend. Ein erhöhtes Selbstgefühl führt zu Dreistigkeit, keckem
Auftreten, die Stimmung wird eine lustige, ein grösseres Bedürfniss nach Muskel-
bewegung, ein wahrer Bewegungsdrang gibt sich in Singen, Schreien, Lachen,
Tanzen, muthwilligen und vielfach zwecklosen Handlungen kund. Noch sind
die Regeln des Anstands dem Bewusstsein geläufig, der Betreffende erkennt selbst
seinen Zustand, ist sich seiner Handlungen bewusst, übt noch eine gewisse Selbst-
beherrschung.
Unvermerkt aber ei'löschen mit fortschreitender Alkoholwirkung eine ganze
Reihe ästhetischer Vorstellungen, moralischer Urtheile, die hemmend und contro-
lirend sonst zu Gebot stehen. In diesem Stadium lässt sich der Betrunkene
völlig gehen, gibt seine Charakterfehler und ihm anvertraute Geheimnisse preis
— in vino veritas — setzt sich über Sitte und Anstand hinweg, wird cynisch,
brutal, rechthaberisch und gewaltthätig, und da er das Bewusstsein seines Zu-
stands verloren hat, nimmt er es sehr übel, wenn man ihn für betrunken er-
klärt. Endlich geht dieser Zustand von Umdämmerung des Bewusstseins in
Verlust desselben über, die Sinne schwinden, es kommt zu Illusionen und Hallu-
cinationen, zu Verworrenheit und ein Zustand tiefen blödsinnigen Stupors mit
lallender Sprache, taumelnden unsicheren Bewegungen, beschliesst .die wider-
liche Scene.
Muthwillige Beschädigungen von Personen und fremdem Eigen-
thum, Verletzungen des öffentlichen Anstands bis zu Unzuchtsver-
brechen, Ehrenkränkungen, Majestätsbeleidigungen, Todtschlag etc.,
sind häufige Rechtsverletzungen von Seiten Berauschter.
Beob. 102. Mord im Stadium eines bewusstlosen Rausches. M. ein
42j ähriger, bisher unbescholtener Maurer, hatte seine Frau, die mit ihm in Un-
frieden lebte , ohne vorangegangenen Streit durch Zerschmetterung des Kopfs
mittelst Beil und mehrerer Beilhiebe in den Rücken getödtet und sich dann
selbst zur Inhaftnahme gestellt. Er behauptete in Bewusstlosigkeit die That voll-
bracht zu haben.
M. hatte bisher als geistesgesund und besonnen gegolten. Spuren einer
280 C!ap. XL Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit.
körperlichen Erkrankung fanden sich nicht vor. Ausser einer Lungenentzündung
vor 6 Jahren war er nie krank gewesen. Er galt als ein fleissiger, intelligenter,
sparsamer Mann. In den letzten Jahren hatte er viel Kummer über seine Frau
gehabt, die Schulden machte, ihn schlecht behandelte, prügelte, ihm die eheliche
Pflicht verweigerte, sich von ihm scheiden lassen wollte. Aus Desperation hatte
er oft zur Flasche gegriffen, doch war er kein habitueller Trinker. Trotz der
schlechten Behandlung, die ihm seine Frau widerfahren liess, hegte er doch
keinen Groll gegen sie und wollte zu einer Ehescheidung sich nicht herbeilassen.
Einige Tage vor der Tödtung hatte die Frau wieder mit ihm Streit gehabt
und die Eheleute hatten in Folge dessen kein Wort mehr mit einander ge-
sprochen. Am Morgen des Tags, an welchem er sie erschlug, hatte er wieder
einen Aerger über sie gehabt, unter Tags viel Schnaps getrunken, auch einmal
vor sich hingesagt „ich komme nicht drüber weg". Bei der Heimkehr von der
Arbeit war M. betrunken und nicht mehr ganz sicher auf den Füssen. Er schimpfte
auf seine Frau und eine anwesende Näherin, nannte die erstere, als sie heimkam,
eine alte Vettel, ging aufgeregt in der Stube auf und ab, schlug plötzlich mit
der Faust auf den Tisch, dass der Cylinder einer daraufstehenden Lampe zerbrach
und als die Frau ruhig sagte : „In dieser Woche ist es schon der zweite Cylinder"
misshandelte er seinen Sohn, bis die Grossmutter den weinenden Knaben ent-
fernte. Die Mutter sagte bloss: „0 Gott! er wird mir noch den Knaben zu
Schanden schlagen." Sie verliess die Stube, M. ging aufgeregt noch eine Weile
auf und ab. Kurze Zeit nachher hörte man aus der Nebenstube einen Schrei
und gleich darauf kam M. heraus, warf die Thüre in's Schloss, zog den Schlüssel
ab und entfernte sich. Man sprengte die Thür und traf die Frau sterbend. Das
Beil lag blutig an den innej-en Thürstock gelehnt.
Während man noch die Todte umstand, kam M. in blossen Strümpfen und
mit einem Strick in der Hand herein. Er war ziemlich aufgeregt und als man
ihm sagte, seine Frau habe noch eine Viertelstunde gelebt, entgegnete er: „Arme
Minna, da dauerst Du mich, da hast Du gewiss noch recht ausstehen müssen,
ich dachte. Du wärest gleich todt!" Auf Vorhalt des Gemeindevorstehers er-
wiederte er: „8 Jahre war's gut gegangen, die letzten 8 Jahre wollte es aber
nicht mehr gehen; ich konnte nicht anders."
Ueber seinen Verbleib nach der That gibt er an, er sei fortgelaufen, habe
nicht gewusst wohin , auch sei er zweimal in's Wasser gefallen , dadurch er-
nüchtert worden und zur Besinnung gekommen. Es war mir, als müsse ich zu
Hause etwas Unrechtes begangen haben , und ich lief desshalb in's Haus zurück,
um zu sehen, was geschehen war.
Als er die Frau todt in ihrem Blut sah, sei ihm klar geworden „das bist
du gewesen". Auf dem Weg nach dem Gefängniss, den er fahrend zurücklegte,
schlief er längere Zeit.
Eine erbliche Anlage zu Hirnkrankheiten war nicht zu constatiren; er hatte
gewöhnlich massig getrunken, weil er den Schnaps nicht vertragen konnte.
Das Gutachten führte aus, dass Affekte und Trunkenheit zusammenwirkten,
um einen an Bewusstlosigkeit gränzenden Zustand zur Zeit der That zu erzeugen,
womit auch die constatirte Amnesie für diese und das Verhalten unmittelbar
nachher im Einklang stand. Der Angeklagte wurde des Todtschlags unter mil-
dernden Umständen für schuldig erkannt und zu 5 Jahren Gefängniss verurtheilt,
da der Gerichtshof annahm, M. habe sich zur Zeit der That in einem Zustand
Zustände pathologischer Alkoholreaktion. 281
befunden, welcher, ohne die Fähigkeit zur Selbstbestimmung gänzlich auszu-
schliessen, an einen bewusstlosen Zustand angränzte. (Vierteljahrschr. f. gerichtl.
Med. N. F. XVI. H. 2.)
Weitere Fälle: Friedreich' s Bl. 1858, p. 58 (Widersetzlichkeit gegen die
Wache). Maschka, Vierteljahrschr. f. ger. Med. 1868, H. 1 (Mord), s. ebenda 1869,
Juli (Mord). Deutsche Zeitschr. f. Staatsarzneikde, XXIX, H. 1 (Brandstiftung).
b. Zustände pathologischer A 1 k o h o 1 r e a k t i o n.
Literatur: v. Krafft, deutsche Zeitschr. f. Staatarzneikunde 1869 H. 2. Schwartzer,
transitor. Tobsucht.
Mit der Betrachtung der einfachen, bis zur Bewusstlosigkeit
allenfalls gesteigerten Rauschzustände ist die Frage der Zurechnungs-
fähigkeit des Berauschten noch nicht erledigt. Die Erfahrung lehrt,
dass durch eigenthümliche constitutionelle, oder durch ein Zusammen-
wirken besonderer accidenteller Bedingungen, Alkoholexcesse Intoxi-
cationszustände herbeiführen können, die nicht dem Schema eines
gewöhnlichen Rausches entsprechen , sondern sich in Wesen und
Verlauf als Anfälle von acutem, tobsüchtigem Irresein kundgeben.
Man hat solche Fälle als Mania ebriorum acutissima (m. ebriosa,
M. a potu) generalisirend bezeichnet, da ein maniakalischer Symptomen-
complex bis zu Ausbrüchen tobsüchtiger Wuth und triebartigen Zer-
störungsdranges vorzugsweise das Krankheitsbild ausmacht.
Eine solche pathologische Reaktionsweise auf Alkohol ist meist
durch besondere constitutionelle prädisponirende Ursachen bedingt.
Sie kommen wesentlich darin überein, dass sie die Widerstandskraft
gegen die fluxionsbefördernde Wirkung des Alkohol verringern, und,
wohl durch gestörte Innervation der vasomotorischen Centren, zu
fluxionären Hyperämien im Gebiet der den psychischen Funktionen
dienenden Theile des Grosshirns Anlass geben.
Vielfach ist diese Intoleranz gegen Alkohol Zeichen einer erb-
lichen Disposition zu Hirnkrankheiten. Ihre Träger bieten neben
anderweitigen Idiosynkrasien oder Bizarrerien früh die Zeichen eines
äusserst reizbaren Gefässsystems. Sie sind von leicht erregbarem
Temperament, zu Affekten geneigt, die ungewöhnliche Heftigkeit er-
reichen, leiden vielfach an Kopfweh, Schwindel, Nasenbluten, senso-
riellen Hyperästhesien und bekommen sofort Hirncongestionen durch
calorische Schädlichkeiten.
In ihrer Ascendenz und sonstigen Blutsverwandtschaft findet man
Hirnkrankheiten, Epilepsie, Geistesstörung, Trunksucht, Todesfälle an
Apoplexia cruenta und serosa.
282 Cap. XI. Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit.
Nicht selten ist diese pathologische Reaktionsweise des Gehirns
gegen Alkohol eine erworbene. Besonders wichtig sind hier Kopf-
verletzungen und Hirnerschütterungen, abgelaufene Entzündungen
des Gehirns und seiner Häute, idiopathische psychische Krankheiten
und Typhus, nach denen oft eine bemerkenswerthe Intoleranz für
Alkohol zurückbleibt und Alkoholexcesse Zufälle transitorischer Geistes-
störung hervorbringen.
Diese abnorme Reaktion auf Alkohol kann endlich ein frühes
und wichtiges Symptom momentan noch latenter Hirnkrankheiten
sein, und gewinnt damit eine wichtige semiotische Bedeutung für die
allgemeine Pathologie der Hirnkrankheiten.
So beobachtet man sie schon in frühen Stadien des Alkoholis-
mus chronicus, in der Prodromalperiode der Dementia paralytica und
anderen idiopathischen Hirnkrankheiten, namentlich auch bei Epilep-
tischen, bei denen Alkoholexcesse im Allgemeinen schlecht ertragen
werden und leicht neue convulsive Anfälle oder auch wuthartige
Paroxysmen hervorrufen.
Aber auch ohne solche Prädisposition kann der gleiche Effekt
eintreten, wenn mit einer Berauschung Schädlichkeiten zusammen-
treffen, die die fluxionäre Wirkung des Alkohol cumuliren oder be-
fördern.
Dahin gehören in erster Linie heftige, plötzlich einwirkende
Affekte, zu denen der Trunkene ohnedies disponirt ist, körperliche
Anstrengung durch Tanz etc., sexuelle Aufregung, Trinken bei nüch-
ternem Magen, hohe äussere Temperatur (dumpfe, heisse Trinkstube),
Sonnenhitze, Beimischung narkotisirender Stoffe zum Getränk (ätherische
Oele, Absynth), gleichzeitiges Rauchen starker Cigarren.
Ganz besonders sind es Affekte, in Verbindung mit Alkohol-
excessen, die hier in Betracht kommen. Es ist dabei nicht zu über-
sehen, dass zwischen der Einwirkung beider ein längerer Zeitabschnitt
massiger, durch den Alkohol erzeugter Hirncongestion liegen kann,
in dem sich der Betreffende noch ganz vernünftig benimmt, bis plötz-
lich durch das Plus eines einwirkenden Affekts ein ganz unfreier
Zustand herbeigeführt wird. Man muss sich dann hüten, bloss auf
Rechnung des Affekts zu setzen, was gemischte Wirkung desselben
und des Alkohol war. Solche Fälle von combinirter Wirkung von
Rausch und Affekt sind in der Praxis äusserst häufig.
Gegenüber solchen pathologischen Alkoholreaktionszuständen wäre
die Heranziehung des ärztlichen Technikers in foro dringend erforder-
lich, denn in der Regel handelt es sich um die ausschlaggebende Beur-
Pathologische Alkoholreaktion. Kriterien. 283
theilung constitutioneller pathologischer Momente, für die dem Juristen
Verständniss und Competenz abgeht, andererseits wäre es auch
wünschenswerth, wenn die richterliche Fragestellung nicht den hier
unpassenden und verwirrenden Begriff der Bewusstlosigkeit wählte,
sondern die Frage auf das Vorhandengewesensein eines Zustands
von krankhafter Störung der Geistesthätigkeit stellte, denn thatsäch-
lich handelt es sich hier nicht um gewöhnlichen Rausch, sondern um
acutes Irresein.
Für die Ermittelung des subjektiven Thatbestands dürften fol-
gende Merkmale zu berücksichtigen sein:
1) Menge des genossenen Getränks und Wirkung stehen in keinem
Verhältniss, weil innere organische oder accidentelle Bedingungen
eingriffen und die Wirkung beeinflussten.
2) Wie quantitativ ein Missverhältniss besteht, so zeigt sich diess
auch in der zeitlichen Verknüpfung von Ursache und Wirkung.
Die acute Psychose bildet häufig nicht das Höhestadium einer
Berauschung, folgt vielfach nicht dem gewöhnlichen Stadien-
und Instanzenzug, sondern tritt primär, plötzlich, gleich im Be-
ginne des (relativen) Alkoholexcesses auf, oder auch es liegt
zwischen Alkoholgenuss und Ausbruch der Psychose ein bis
mehrere Stunden dauerndes Stadium latenter Hirncongestion
und Intoxication, so dass jene erst durch ein gelegenheitliches
cumulatives Moment (Affekt) nachwirkend zum Ausbruch kommt,
3) Auch qualitativ unterscheiden sich solche Zustände vom ge-
wöhnlichen Rausch. Es kommt zu einem mehr oder weniger
zusammenhängenden Delirium, zu einer durch Hallucinationen
und Illusionen tief gestörten Apperception der Aussen weit, zu
einer völligen und dauernden Aufhebung des Selbstbewusstseins,
zu maniakalischen Ausbrüchen, denen nicht ein Gewolltes, Vor-
gestelltes zu Grund liegt, sondern die, ganz wie bei der ge-
wöhnlichen Tobsucht, einen spontanen, durchaus triebartigen
Charakter haben, sich bis zur Höhe von Wuthanfällen und zu
masslosem Zerstörungsdrang steigern können.
4) Dazu gesellen sich Erscheinungen lebhafter Fluxion zum Gehirn,
klopfende, gespannte Carotiden, jagender, voller Puls, heisser,
gerötheter Kopf, injicirte, glänzende Augen.
5) Die Bewegungen sind nicht die ataktischen, taumelnden der
Betrunkenen, sondern unter dem Einfluss der cerebralen (mania-
kalischen) Irritation werden die Bewegungen kraftvoll, ener-
gisch, die Muskeln ausserordentlicher Kraftleistungen fähig.
284 Cap. XL Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit.
Zuweilen stellt sich als Zeichen einer bedeutenden Hirnreizung
auch Zähneknirschen ein.
6) Es besteht Amnesie für die ganze Zeitdauer der acuten Psy-
chose.
Es sollte als Regel gelten, dass überall da, wo für die Zeit-
dauer eines „Rausches" Amnesie besteht, und eine strafbare That in
diesen Zeitabschnitt fiel, eine gerichtsärztliche Untersuchung des
Angeklagten stattzufinden hätte. Für die Expertise entfallen dabei
folgende Gesichtspunkte:
1) Wie verhält sich das Vorleben des Angeklagten, wie seine Ab-
stammung mit Bezug auf Hirnkrankheiten in der Blutsverwandt-
schaft ? Haben auf sein Gehirn Verletzungen oder Krankheiten
eingewirkt? Ist er epileptisch, Gewohnheitssäufer, oder mit
Zeichen einer anderweitigen chronischen Neurose behaftet? Litt
er an Congestionen, Schwindel, Kopfweh? Wie verhielt er sich
in Affekten? Wie war seine Reaktion gegen Alkohol in ver-
schiedenen Lebensabschnitten? Findet sich dabei ein Unter-
schied zwischen Sonst und Jetzt? Hatten seine Alkoholexcesse
auch früher schon einen pathologischen Charakter?
2) Welche Symptome gingen der fraglichen Alkoholpsychose als
Prodrome voraus? (Congestionen, sensorielle Hyperästhesien,
Kopfschmerz, Schwindel, epileptische Anfälle?)
3) Welche waren Quantität und Qualität (Kohlensäure, Fuselöl,
Absynth) des genossenen Getränks?
4) Lassen sich zur Zeit der Berauschung oder nachher zur Wir-
kung gelangte accidentelle Momente ermitteln, die einen cumu-
lativen Einfluss auf die Alkoholwirkung haben konnten?
5) In welchen Zeitabschnitt der Berauschung fällt der Ausbruch
der fraglichen Psychose?
6) Welche waren ihre Symptome mit besonderer Berücksichtigung
des Verhaltens der Muskelkraft, der Circulation, der sensoriellen
und psychischen Funktionen? (Etwaige Delirien, Hallucinationen^ i
maniakalische, triebartige Erscheinungen.)
7) Wie verhält sich die Erinnerung für die Zeitdauer der frag-
lichen Psychose? Wie weit, zeitlich und qualitativ ist jene
aufgehoben? Wie war das Verhalten des Inculpaten nach der
That, insoferne durch das unbefangene Gebahren nach derselben
sich ein Anhaltspunkt dafür ergeben kann, dass er sich des
Vorgefallenen gar nicht bewusst war?
Pathologische Alkoholreaktion. Alkoholepilepsie. 285
Die klinischen Bilder des aus Alkoholgenuss unter Einwirkung
prädisponirender oder cumulativer Ursachen sich entwickelnden acuten
Irreseins sind mannigfach und einer DifFerenzirung bedürftig.
Es kommen vor: Zustände von epileptischem Delirium, von acutem
hallucinatorischem Delirium und Mania transitoria. Die Epilepsie
kann dabei Symptom des Alkohol, chron. sein oder es handelt sich
um nicht durch Trunk entstandene Epilepsie, deren Anfälle nur durch
gelegentliches und von solchen Kranken meist schlecht ertragenes
Trinken hervorgerufen sind.
a) Die deliranten Zustände der durch Alkoholmissbrauch epileptisch
Gewordenen treten meist postepileptisch, nach serienartig gehäuften
Anfällen auf. Meist sind diese durch einen Alkoholexcess hervor-
gerufen. Die Symptome einfacher Berauschung können in das Bild
des epilept. Delirs übergehen. Dieses kann sich mit denen eines
Delir. tremens compliciren. Alle Varietäten des gewöhnlichen epilepti-
schen Deliriums können auch beim Alkoholepileptiker vorkommen,
vorwiegend aber die Form des grand mal mit den schrecklichsten
Visionen, namenloser Angst und reaktivem Wüthen und Toben.
Dadurch ist das Leben der Umgebung sehr gefährdet.
Beob. 103. Alkoholepilepsie. Mord der eigenen Kinder in
liallucinatorischer Sinnesverwirrung zur Zeit eines epilep-
tischen Schwindelanfalls. Am Morgen des 17. Mai 1867 tödtete der
Gärtner Z., 49 J. alt, Wittwer nnd Vater von 6 Kindern, 2 derselben, verletzte 2
andere schwer, die 2 letzten leicht, so dass diese sich durch die Flucht retten
konnten. Z. hatte seine Kinder zu Bett liegen geheissen, und als sie schliefen,
sprang er mit wild rollendem Blick und in grösster Schnelligkeit an den Betten
herum, links und rechts Axthiebe austheilend. Die 2 entsprungenen Kinder
holten Hilfe herbei. Z. Hess sich widerstandslos verhaften und sagte blos: Habt
ihr noch keinen Mörder gesehen? Hier ist einer, nehmt ihn! Sein Blick war
stier, er erschien sehr aufgeregt, sprach Nichts auf dem Weg zum Gefängniss,
gestand seine That offen ein, zeigte mit seinen Kindern confrontirt aufrichtige
Reue mit der Versicherung: „er habe nicht die Absicht gehabt sie zu tödten, es sei
nur so plötzlich an ihn gekommen." Seine Mutter litt an epilepsieartigen Krämpfen.
Er lebte in gutem Leumund, guten Verhältnissen, liebte seine Kinder aufrichtig.
Seit Jahren war er dem Branntwein ergeben und bot physisch und psychisch
Symptome von chronischem Alkoholismus. Vor 3 Jahren stürzte er in angetrunkenem
Zustand kopfüber in einen tiefen Brunnen; von da an Beklemmung und Schwindel
im Kopf, wenn er trank, später auch im nüchternen Zustand vertigoartige Zu-
fälle (Vergehen der Sinne und krampfartige Zuckungen der Extremitäten). Wieder-
holt hatte er die Idee geäussert, dass man ihn für einen Dieb halte, zu Grunde
richten wolle und dgl. Am 9. u. 10. Mai hatte er sich betrunken, am 10. war
er besinnungslos umgefallen.
Am 15. Mai betrank er sich völlig, am 16., dem Tag vor der blutigen That,
war er zitterig, wüst im Kopf, unruhig und sang geistliche Lieder.
286 Cap. XL Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit.
Abends kam ihm zum erstenmal der Gedanke, die Kinder zu ermorden,
motivirt durch die Vorstellung, dass es denselben doch eigentlich schlecht gehe, da
er nichts besitze, dass sie sich das Leben hindurch quälen müssten, desshalb
verachtet würden, und es besser für sie sei, wenn sie nicht lebten.
Die Nacht hindurch schlief er dann ruhig. Morgens sagte er den heim-
kommenden Söhnen: „Nun da, legt Euch nieder — entweder schlage ich Euch
mit der Axt todt, oder ich erhänge mich." Als sie nun schliefen, da habe er
sich entschlossen sie zu tödten.
Plötzlich sei da das Fenster aufgefahren, es sei gewesen, wie wenn ein
Schuss durch das Zimmer gehe, ein eigenthümlicher Geruch, wie nach Majoran
habe sich darin verbreitet — er habe sich niederlegen müssen.
Die Gedanken seien ihm entschwunden — er wisse nur noch wie er die
Axt genommen und darauf losgehauen:
Erst als die Leute in die Stube drangen, sei ihm die volle Besinnung wie-
der gekommen — er habe gedacht: „Ach Gott, was habe ich gethan." Während
der viermonatlichen Untersuchungshaft keine Zeichen geistiger Störung, ruhiges,
arbeitsames Verhalten, aufrichtige Reue.
Gutachten: Schon der grelle Widerspruch der That mit dem ganzen bis-
herigen Fühlen und Denken, das Fehlen egoistischer Motive etc. gibt eine Präsump-
tion für eine dagewesene temporäre Geistesstörung ab. Die wissenschaftliche Unter-
suchung bestätigt diese Annahme. Z's Angaben tragen den Stempel der Wahrheit
an sich; sie deuten auf intensive subjektive Sinneserregungen zur Zeit der That,
Hallucinationen mehrerer Sinne mit traumartiger Umneblung des Bewusstseins
und raschem Wechsel grosser allgemeiner Depression und Aufregung — ein
Zustand, in welchem die Vorstellungen des gesunden Lebens, nach denen wir
sonst unsere Handlungen bestimmen, geschwunden oder machtlos sind, und die
in ihm auftretenden Antriebe zu Gewaltthaten den Charakter des Unfreiwilligen
und Unwiderstehlichen bekommen. Z. hat unzweifelhaft in einer vorübergehenden
Verwirrung der Sinne und des Verstandes seine That begangen.
Auf welchem Hirnzustand beruhte aber jene? Z. litt an chronischem Al-
koholismus ; aber ausserdem zeigten sich bei ihm vertigoartige epileptische Zu-
fälle, wie auch seine Mutter an Epilepsie litt. Gerade die plötzlichen Hallucina-
tionen, das Schwinden der Gedanken, Vergehen der Sinne, der plötzliche Antrieb
zu Gewaltthaten, wie sie bei Z. sich finden, sind bei Epileptikern häufig, so dass
es wahrscheinlich wird, man habe es hier mit einem Epileptiker und mit einem
Anfall epileptischen Schwindels, dem ein Wuthanfall folgte, zu thun. Auch die
vagen Vorstellungen von Verfolgung und Beeinträchtigung, wurzelnd auf dem
Boden krankhafter Angst und Unruhe, Lebensüberdruss etc., an denen Z. schon
lange vor der That litt, sind bei Epileptikern nicht ungewöhnliche interparoxys-
male Erscheinungen. Nicht minder sprechen die Umstände der That selbst —
das nicht ganz geschwundene Bewusstsein der Aussenwelt, das lebhafte Gefühl
der That selbst, die nicht ganz fehlende, nur unklare, und von einem gewissen
Punkt an unvollständige Erinnerung, die dem Anfall folgende Periode körper-
lichen und geistigen Torpors, die auch in der Folge beobachteten leichten epilep-
tischen Zufälle — für die Annahme, dass Z. zur Zeit der That in einem geistes-
gestörten Zustand, nämlich einer unter dem Einfluss der chronischen Alkohol-
vergiftung und zunächst eines epileptischen Schwindelanfalls entstandenen, mit
Hallucinationen verbundenen, vorübergehenden Verwirrung der Sinne und des
Alkoholisches acutes hallucinatorisches Delirium. 287
Verstandes sich befunden hat. (Griesinger, Vierteljahrschr. f. ger. Med. N. F.
VIII, H. 2.)
Weitere Fälle: v. Krafft, Lehrb. d. Psychiatrie III, Beob. 149, 150, 151.
Ebers, Zurechnung, Glogau 1860 Fall 15 (Mord im postepilept. Delir) Fall 16.
Legrand du Saulle, etude med. legale sur les epil. p. 131, 184 (Mordversuch).
Livi, Rivista sperimentale 1877 (Impulsiver Mord des Bruders im Dämmerzustand).
ß) Acutes hallucinatorisches Delirium mit völliger Bewusstlosigkeit
und consekutiver Amnesie, findet sich nur bei dem Alkoholübergenuss
habituell Ergebenen und im Anschluss an gehäufte Excesse. Es macht
den Eindruck eines toxischen Deliriums. Seine Prodromi sind die
Symptome eines Rauschs, in dessen Verlauf plötzlich das Bewusstsein
erlischt, schreckhafte Delirien und Sinnestäuschungen auftreten. Als
Reaktion auf diese schrecklichen inneren Vorgänge sind schwere
Gewaltthaten möglich. Das Delirium kann bis zu mehreren Tagen
andauern. Mit einem gewöhnlichen bezw. bewusstlosen Rausch ist
keine Verwechslung möglich. Vom Zustand einer trunkfälligen Sinnes-
täuschung unterscheiden es die längere Dauer und gänzliche Bewusst-
losigkeit, von einer Mania transitoria a potu lassen es die längere
Incubation und Dauer sowie der fehlende , jedoch bei M. trans.
kritische Schlaf unterscheiden.
Beob. 104. Alkoholdelir. Verletzung der Mutter. Legendre,
27 J. alt, Kellner, bevs^ohnte mit seiner Mutter, einer herrschsüchtigen, jähzornigen
Frau, eine Schenke. Seit Jahren dem Trunk ergeben, war er in letzter Zeit
sonderbar, unzugänglich, reizbar geworden. In den ersten Tagen des Mai hatte
er beständig getrunken, dabei Unwohlsein, Kopfweh, Schlaflosigkeit geklagt.
Seine Freunde fanden ihn verändert, verwirrt. Am 5. Mai war er so unwohl,
dass man den Arzt holte. Er klagte Stechen, Klopfen im Kopf, Gedankenver-
wirrung, trieb sich unstät herum, misshandelte einen Nachbar, malträtirte mit
der Mistgabel ein Pferd und als die Mutter ihn beruhigen wollte , wandte er
sich wie wüthend gegen sie und verletzte sie lebensgefährlich. Er eilte dann
in den Stall, wo er mit Mühe gebändigt wurde. Der Arzt fand ihn heftig er-
regt, verworren, hallucinirend , mit allen Zeichen heftiger Hirncongestion und
liess ihm zur Ader. Am folgenden Tag war seine Besinnung wiedergekehrt, er
war ruhig, ohne Ahnung vom Vorgefallenen und voll Reue als er erfuhr was
er gethan hatte.
Das Gutachten schloss auf einen Zustand von Alkoholdelirium zur Zeit
der That, das aber die Verantwortlichkeit blos mindere. Die Geschworenen waren
einsichtsvoll genug, L. freizusprechen. (Annales medico-psychol. Mai 1871.)
Weitere Fälle: Toulmouche, Annal. d'hygiene 1854 Juli (Tödtung der
Ehefrau). Bonnet, Annal. med. psychol. 1874, H. 5 (Misshandlung 2er Frauen).
Kompert, Vierteljahrschr. f. ger. Med. XXVI, H. 1 (Tödtung). v. Gellhorn, Zeitschr.
f. Psych. 37, p. 44 (schwere Verletzung). Lagardelle, Ann. med. psych. 1877 Sept.
(vorgeschütztes Alkoholdelir mit Amnesie). Ebenda 1880 p. 228 (Mord. Todes-
urtheil).
288 Cap. XI. Zustände krankh. Bewusstlosigkeit. Mania ebriosa.
y) Die Mania transitoria a potu s. ebriosa setzt als Bedingungen,
ein in seinem Gefässtonus durch erlittenes Trauma, Lues, Epilepsie,
Alkoh. chron. u. a. überstandene oder in Ausbildung begriffene Hirn-
krankheiten geschwächtes Gehirn voraus oder die gefässlähmende
Wirkung des Alkohol gleichzeitig cumulirende Momente (Affekte,
calorische Schädlichkeiten etc.). Bei mächtiger Disposition können
mittlere Dosen von Spirituosen Getränken genügen, um einen Anfall
transitorischen Irreseins hervorzubringen, der als wuthzornige manische
Erregung oder als hallucinatorisches Delirium mit manischen Elementen
(Ideenflucht, psychomotorische Reizerscheinungen) ablauft.
Das Erscheinungsbild der Mania a potu differirt nicht wesent-
lich von der gewöhnlichen transitor. Manie , höchstens dass wie
Schwartzer (op. cit. p. 124) richtig bemerkte, Intelligenz, Vorstellungs-
ablauf, Gedankenmittheilung und Apperception hier nicht so tief ge-
stört erscheinen. Gleichwohl besteht aber völlige Amnesie für die
Ereignisse des krankhaften Zustands.
Die im Obigen angegebenen allgemeinen Kriterien werden diese
Form des peracuten Irreseins leicht von einem einfachen (bewusst-
losen) Rausch unterscheiden lassen.
Das Wesentliche ist neben der Feststellung der klinischen Er-
scheinungen (Bewusstlosigkeit, Amnesie, Delirium, Ideenflucht, psycho-
motorische Reizerscheinungen, speciell triebartiges impulsives Handeln,
heftige Fluxion zum Gehirn) die ätiologische Begründung der pathol.
Alkoholreaktion.
Beob. 105. Man. ebriosa. Tödtung. S., Corporal, bisher ein solider,
ruhiger, stiller Mensch, war mit vier Soldaten zur Visitation der Wirthshäuser
commandirt worden. In einem derselben wurde ihm Grog und Rum aufgewartet.
Es erhebt sich ein Wortwechsel und Streit unter den Gästen. S. fordert seine
Mannschaft auf, sich ruhig zu verhalten und geht in's Nebenzimmer , um den
Streit zu schlichten. Ueber seinen Bemühungen die Streitenden zu trennen, ge-
räth er selbst in solche Aufregung, dass er um sich schlägt und stösst. Der
Gastwirth will ihn beruhigen, nun ruft er aber seine Soldaten, stösst und sticht
um sich wie wüthend, ersticht einen Arbeiter, verwundet einen Anderen und
wird mit Mühe von seinen Soldaten gebändigt. Verhaftet und entwaffnet wird
er blass und lässt sich ruhig auf die Wache führen. Dort schläft er einige
Stunden ruhig und erwacht dann ganz besonnen aber mit völliger Amnesie für
den zwischen dem Ereigniss des Handgemengs und der Verhaftung liegenden
Zeitabschnitt.
Die vom Vertheidiger geltend gemachte transitorische Geistesstörung wurde
nicht anerkannt, die Behauptung des Inculpaten, dass er sich an nichts erinnern
könne, für eine Ausflucht gehalten und er von der Göttinger Juristenfakultät zu
.5j ähriger Festungsstrafe verurtheilt. (Zeitschr. f. Civil- und Criminalrechtspflege
in Hannover, I. p, 34 — 64.)
Acutes Irresein durch Vergiftung. 289
Beob. 106. Mania eb riosa. Br andsfi f tung. L., 39 J., früher Soldat,
später Gastwirth, lebte in unglücklicher Ehe. Eines Nachts ging die Frau mit
ihrem Liebhaber durch. L. war am folgenden Morgen darüber sehr betrübt und
erregt, vermochte tagüber vor Zorn über die erlittene Schmach weder zu essen
noch zu trinken, bediente unausgesetzt die wegen eines Jahrmarkts sehr zahlreichen
Gäste und setzte sich Abends 9 Uhr, von der Tagesarbeit ermüdet, an den Tisch.
Mit den Worten „das war heute ein verfluchter Tag" trank er rasch ein Glas
Rothwein aus, und ging dann ohne ein Wort zu sprechen in's Neben zimmer,
wobei er die Thüre ziemlich heftig zuschlug. Wenige Minuten darauf bemerkte
man Gepolter, Geprassel, Brandgeruch und Rauch. Man öffnete die Thüre und fand
das Bettgewand des L. in Flammen und L. beschäftigt', Gewehrpatronen in dieses Feuer
zu werfen. Auf die Frage was er treibe, gab L. mit wildrollenden Augen und Donner-
stimme die Antwort: „Packt euch sogleich zum Teufel, oder ich schiesse euch alle
nieder wie tolle Hunde." Da er nach einem auf dem Tisch liegenden Revolver griff
und seine Drohung wiederholte, eilte man zum Gemeindevorsteher, der mit genügen-
der Mannschaft sich zu L. begab. Das Feuer hatte inzwischen sich verbreitet. Mitten
in Feuer und Rauch stand L. schrecklich fluchend. Er schoss auf die Eindringen-
den den Revolver ab, wurde glücklich niedergeworfen, leistete jedoch noch 20
Minuten 7 stai'ken Männern wüthenden und verzweifelten Widerstand, bis es
gelang ihn zu binden und in Arrest zu bringen. Unterwegs schmähte er in lo-
gischer und consequenter Rede aber unaufhaltsamem Redestrom seine Angreifer,
fluchte und brüllte im Arrest noch 3 Stunden lang fort, schlief dann gegen Mitter-
nacht ein, kam aus tiefem Schlaf nach 16 Stunden lucid zu sich. Seine Erinnerung
reichte nur bis zu dem Augenblick, als er nach Genuss des Glases Rothweins in
sein Wohnzimmer gegangen war. L. blieb gesund. Er Avar nicht erblich veran-
lagt, hatte, ohne Gewohnheitstrinker zu sein, früher Spirituosen gut vei'tragen,
war früher bis auf Wechselfieber vor Jahren immer gesund gewesen, so dass
als Ursachen des Anfalls nur der Aerger, die körperliche Anstrengung während des
Tags, der rasche Genuss eines Glases Wein bei nüchternem Magen angenommen,
werden konnten. (Schwartzer, transitor. Tobsucht p. 180.)
Weitere Fälle: Friedreich's Bl. 1853, H. 6. Schwartzer, op. cit. p. 132,
136. Choulant, Gutachten p. 122. Annal. med. psychol. 1844, p. 231 (Körper-
verletzungen). Rittmann, Blätter f. Staatsarzneikunde 1867, Nr. 4. Casper, Beitr.
z. med. Statistik 1825, p. 62.
c. A c XI t e s Irresein d u r c li Vergiftung.
Literatur: v. KraiTt, transitor. Störungen etc., p. 40. Emminghaus, allgem.
Psj'chopath., p. 360, Marc, übers, v. Ideler, IL, p. 481.
Im Anschluss an die pathologischen Zustände , welche der
Alkohol hervorbringt, ist der Thatsache zu gedenken, dass Störungen
der Geistesfunktionen vorübergehender Natur die nicht seltene Folge
vergiftender Substanzen aus der Classe der Narcotica und Aetherea
sind. In diesem Zustand der Vergiftung, der in vagen Hallucinatio-
nen und Delirien, tobsüchtiger Erregung bis zu Wuthanfällen, Zu-
v. Krafft-Ebing, gerichtl, Psj'chopatliologie. 2. .Uiflage. 19
290 Gap. XI. Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit.
Ständen heftiger präcordialer Oppression mit Angstanfällen bestehen
kann; sind rechtswidrige Handlungen möglich ^ deren Nichtzurechen-
barkeit keiner weiteren Beweisführung bedarf. Von den Stoffen, die
hier in Betracht kommen, sind Hyoscyamus, Schierling, Datura Stram-
monium, Belladonna, giftige Schwämme zu erwähnen, insofern unab-
sichtliche Vergiftungen durch dieselben zu Stand kommen.
Nicht minder verdienen Beachtung gewisse aetherische Oele,
z. B. der Absynth, dessen Verbrauch namentlich in Frankreich be-
denklich überhand genommen hat, und dessen übermässiger Genuss
eigenthümliche Zustände vorübergehender Geistesverwirrung ver-
schuldet, die oft mit Delirien des Verfolgtwerdens einhergehen und
den Berauschten aggressiv machen (vgl. Motet considdration sur
l'alcoolisme et plus particuli^rement des effets toxiques produits par
l'absynthe. Paris 1859. Legrand du. Saulle, la folie p. 540).
Toxische Delirien kommen auch beim Missbrauch von Opium und Haschisch
vor, ferner bei Bleivergiftung. Wunderlich (Pathol. 1859 p. 1513) beschreibt als
„transitorische Bleimanie" Zustände, in welchen die Kranken schreien, toben,
wüthen, alles zerstören was ihnen unter die Hände kommt, Angriffe auf Personen
machen. Dabei oft Zähneknirschen, schreckhafte Hallucinationen, convulsivische
und epileptiforme Anfälle. Diese Zustände von „Bleimanie" dauern Stunden bis
Tage, lösen sich durch Schlaf, aus dem der Kranke matt, ohne alle Erinnerung
an's Vorgefallene zu sich kommt. Als Prodromi finden sich zuweilen unruhiger
Schlaf mit schweren Träumen, Diplopie, Schwindel, Wüstheit des Kopfs, Kopf-
weh, melancholische Verstimmung, mit oder ohne gleichzeitige Symptome der
Bleivergiftung.
Auch der zur Anästhesirung benützte Aether und das Chloro-
form verdienen Erwähnung, insofern vor dem Stadium der vollen
Narcose Delirium auftreten kann , das zwar meist nur ein schwatz-
haftes heiteres Reproduciren von Vorstellungen ist, zuweilen aber auch
den Charakter einer wuthartigen Aufregung annimmt, in welcher der
Chloroformirte aggressiv wird.
Fälle: Brierre, des halluc. p. 206. (Furibundes Delir nach vers\ichtem
Selbstmord mit Datura), wuthzornige Erregung nach Chloroformirung s. Fi'iedreich's
Blätter 1855, H. 5, Bouisson, Journ. med. de Montpellier 1847, August, Güntnei-,
Seelenleben d. Menschen, 1868, p. 173, acute Geistesstörung durch Vergiftung
mit Schwämmen, s. Oesterr. Zeitschr. f. prakt. Heilkde. 1856 Nr. 33 u. Moniteur
vom 13. Febr. 1868. Fälle v. Bleitollheit, s. Bartens Zeitschr. f. Psych. 37, p. 10
u. Class, Würtemb. med. Correspondenzbl. 1852, Nr. 51.
J
Delirium febrile, inanitionis und Delirium nervosura. _ 291
4. Delirium febrile, inanitionis und Delirium nervosum.
Literatur: Weber, med. chirurg. transactions XLVIII, p. 135 (Schmidts Jahrb.
1867, Bd. 133). Brosius, Irrenfreund, 1867, H. 5. Brierre, des halluc.
3. edit. p. 229. Siebenhaar, encyclop. Hdb., Art. Fieberwahnsinn. Kräpelin,
Archiv f. Psychiatrie XI, H. 1.
Eine nicht seltene Erscheinung im Verlauf körperlicher Krank-
heiten ist eine Mitaffektion der psychischen Funktionen in Form von
Störungen des Bewusstseins (Somnolenz , Sopor), der Apperception
(Illusionen), der centralen Sinnesempfindung (Hallucinationen) und
des Vorstellens (formale Störungen, Beschleunigung des Vorstellungs-
ablaufs, Störungen der Association, Verworrenheit, Störungen des
Inhalts — Delirien).
Diese symptomatische oder sympathische Erregung der Hirnrinde
beschränkt sich auf elementare Störungen der psychischen Funktionen,
namentlich auf die Erzeugung von subjektiven Sinneswahrnehmungen
und formalen Störungen des Vorstellungsprocesses, oder es kommt zu
allgemeiner und complicirter Betheiligung derselben, wobei sich die
erzeugten Krankheitsbilder von einer selbständigen Psychose indessen
ausser ihrer Flüchtigkeit durch die grosse Incohärenz, das Ueber-
wiegen von Hallucinationen unterscheiden und mehr das Gepräge
einer hallucinatorischen Verworrenheit an sich tragen. Bei der regel-
losen Reizung des Vorstellungsorgans durch inadäquate Reize, dem
Darniederliegen der höheren Processe der Aufmerksamkeit und Re-
flexion, die das überreich gebotene Material zu ordnen vermöchte,
kommt es nicht leicht zum Bild eines systematisirten Wahnsinns mit
abnormen Gemüthsstimmungen, festen Wahnvorstellungen und totaler
Umwandlung der Persönlichkeit.
In der Regel wird Delirium im Verlauf schwerer fieberhafter
Krankheiten , namentlich den sogenannten Infectionskrankheiten
(Masern, Scharlach, Blattern, Rose, Wechselfieber, Typhus) beobachtet.
Es findet sich besonders in zwei Stadien des Krankheitsver-
laufs, auf der Höhe der Krankheit und in der Reconvalescenz. Dem
Delirium der Acme liegen off'enbar tiefere Störungen der Blutmischung
und fluxionäre Vorgänge, erzeugt durch Krankheitsgift und Fieber-
hitze zu Grund. In manchen Fällen trat Delir schon vor dem Fieber
auf (Incubationsstadium). Bei dem Delirium der Reconvalescenten,
das auch vielfach dem bei Inanitions- und Erschöpfungszuständen
beobachteten entspricht, dürfte eine ungenügende Hirnernährung
(Anämie) das ursächliche Moment bilden. Ein solches Collapsdelirium
findet sich nicht selten nach Pneumonie, Intermittens, Typhus, Rheu-
292 Clap. Xr. Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit.
matismus articul. acut, und Cholera. Es dreht sich um Hallucina-
tionen und Delirien indifferenten oder ängstlichen Inhalts, als Reak-
tion auf dieselben finden sich Angstzufälle und ängstliche Unruhe,
zuweilen werden auch leicht maniakalische Erregungszustände mit
Verworrenheit beobachtet.
Das Delirium auf der Höhe acuter Krankheiten hat vielfach
einen mussitirenden Charakter, kann aber auch als ängstliche Auf-
regung mit entsprechenden Hallucinationen und Verfolgungsideen oder
als furibundes Delirium erscheinen.
Besondere Beachtung verdient das Wechselfieber, bei welchem
nicht nur auf der Höhe der Fieberanfälle, mit heftiger Steigerung
des Fiebers und der Gehirncongestion, furibunde Delirien auftreten
können , sondern auch gleich von Anfang an statt eines Fieber-
paroxysmus ein durch massenhafte Hallucinationen schreckhaften In-
halts und heftige Angst ausgezeichnetes Delirium sich vorfinden kann,
in welchem schwere Gewaltthaten möglich sind. Diese larvirte Form
des Wechselfiebers findet sich in der Regel nur bei durchseuchten
Individuen, an Orten wo Malaria endemisch herrscht. Sie kann auch
substituirend für Fieberanfälle auftreten und dann fieberlos sein. Die
Dauer beträgt mehrere Stunden. Die Bewusstseinsstörung ist tief
und die Erinnerung meist fehlend.
Nicht selten findet sich aber auch Delirium bei Krankheiten
mit niederer Temperaturkurve, oder auch bei fieberlosen Krankheits-
zuständen, wenn das Individuum auf Grund einer neuropathischen
Constitution ein krankhaft erregbares Gehirn besitzt. So können
Neuralgien, anhaltende Schlaflosigkeit, schmerzhafte Verletzungen
zum Ausbruch von Delirium Anlass geben. Dahin gehört wohl das
Delirium traumaticum s. nervosum (Dupuytren).
Wunderlich (Pathol. II. Abthl. 1. p. 1320) beschreibt dieses Delirium
folgendermassen :
Die ersten Spuren zeigen sich schon am Tage der Verletzung oder Opera-
tion, zuweilen am folgenden, selten am dritten. Der Kranke wird aufgeregt,
hastig in seinen Bewegungen, schwatzhaft, auffallend in Blick und Benehmen.
Nach einer schlaflosen oder durch Träume unruhigen Nacht werden die Ideen
verwirrt, die Augen glänzend, das Gresicht geröthet. Die Unruhe nimmt zu, der
Kranke empfindet keine Schmerzen mehr, fängt an zu toben, za schreien, zu
singen, den Verband abzureissen. Der Puls ist dabei ruhig, kein Fieber vor-
handen. Zuweilen tritt die „Tobsucht" auch plötzlich ohne Vorboten ein. Meist
erfolgt Genesung. Nach einigen Tagen langer tiefer Schlaf, aus dem der Kranke
ohne Erinnerung mit klarem Bewusstsein erwacht. Zuweilen kommt es zu
Recidiven. Endet die Krankheit tödtlich, so geschieht dies meist am 3.-5. Tag
in Erschöpfung.
Delirium. Beob. 107. Mordversuch im Intermittensdelir. 293
Auch durch übermässigen Wehenschmerz während der Geburt können bei
körperlich geschwächten neuropathischen Frauen psychische Ausnahmezustände
(wuthzornige Aufregungszustände und delirante) hervorgerufen werden. Insofern
sie zuweilen die Geburt überdauern, kann das Leben des Neugeborenen Seitens
der Mutter in Gefahr kommen.
Fälle: Jörg, Zurechnungsf. d. Schwängern u. Gebärenden, p. 324. Schwörer,
Thatbestand d. Kindsmords, p. 18. Friedreich, ger. Psychol., p. 697. Esquirol,
mal. ment. I, p. 231. Mar§e, de la folie des femmes enceintes, Paris 1858, p. 184.
Der Zustand des Delirium kann zu "schweren Gewaltthaten
führen. Rechtlich gleich zu achten ist dasselbe den Traum- und
Intoxicationszuständen ^ mit denen sich auch im Krankheitsbild viel
Uebereinstimmendes zeigt. Dass eine criminelle That im Zustand
dos Delirium begangen wurde, muss aus allgemeinen psychologischen
Kriterien, den Thatumständen und den Krankheitsumständen, welche
die Existenz einer Störung des Allgemeinbefindens mit Trübung der
psychischen Funktionen zur Zeit der Handlung ergeben, erschlossen
werden. Es dürfte gerathen sein, überall wo Jemand während einer
Krankheit, namentlich einer fieberhaften, und in der Reconvalescenz
einer solchen eine Gewaltthat begangen hat, die Möglichkeit, dass
sie durch ein Delirium motivirt war, zu berücksichtigen. Ganz be-
sonders gilt dies für Zeiten und Orte, wo gerade epidemische Krank-
heiten herrschen oder Malaria endemisch ist. Erfahrungsgemäss
können selbst nach längerem Zurücktreten der Intermittensanfälle
larvirte Intermittensdelirien als scheinbar freistehende psychische acute
Erkrankung vorkommen.
Beob. 107. Mordversuch und Selbstverstümmelung im Inter-
mittensdelirium. G. Bombardier, 30 Jahre, seit 1863 an Wechselfieber lei-
dend, das 6 Tage vor dem zu erwähnenden Delirium recidivirte, ging am
6. April 1864 in eine Badestube um zu baden and hielt sich in dem heissen Raum
1^2 Stunden auf. Noch im Bade fühlte er das Nahen eines Fieberanfalls und kam
müde und in vollem Hitzestadium in sein Dorf zurück, wo er im Hause seiner
Geliebten diese mit ihrer gelähmten Mutter allein antraf. Er sank bald in einen
bewusstlosen Zustand, aus dem er nach etwa einer halben Stunde zu sich kam
und zu seiner Verwunderung Alles im Zimmer zertrümmert und durcheinander-
geworfen fand. Er fühlte einen Schmerz in der Gegend der Schamtheile imd
entdeckte, dass sein Hodensack abgeschnitten war, auch die gelähmte Alte lag
verwundet da.
Seine Geliebte gab an, dass er schon beim Eintritt in die Stube ihr auf-
fallend verändert vorkam, bald in den Verschlag, bald an die Ofenbank rannte,
vor ein Heiligenbild kniete, Kopf und Hände auf den Boden schlug und ein
Messer begehrte, um Alle umzubringen. Das entsetzte Mädchen flieht um Hilfe
zu holen: G. bemächtigt sich eines Messers und will die Alte umbringen. Diese
tleht um Gnade. Er ruft „schreie nicht Alte, ich werde dich nicht umbringen,
294 Cap. XL Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit.
das wäre eine Sünde, aber ich werde mich selbst tödten". Er schneidet sich
den Hodensack ab, legt sich hin und wird so nach einer halben Stunde ge-
funden. Der bald darauf erschienene Arzt findet an G. keine Spur psychischer
Störung, auch bleibt er in der Folge, trotz wiederholter Intermittensanfälle, frei
von Delirium, ist aber öfters leichten Kopfcongestionen unterworfen. An den Vor-
fall weiss er sich nicht zu erinnern. Er war früher immer gesund gewesen,
hatte massig gelebt; ein Bruder ist schwachsinnig. (Erhardt, Allgem. Zeitschr.
f. Psychiatr. XXIII.)
Weitere Fälle von Intermittensdelir : Focke, Zeitschr. f. Psych. H. 5,
p. 376. Horn's Archiv 1813, Jan., Febr. Meyer, Henke's Zeitschr. 1834, H. 2, (Mord).
Walliser, Schmidt's Jahrb. Bd. 180, Nr. 110, (Brandstiftung). Nockher, med.
Vereinsztg. 1845, Nr. 32. Schwartzer, transitor. Tobsucht, Fall 14.
Beob. 108. Mord der Ehefrau im Typhusdelirium. B. 47 Jahre,
schwächlich, Taglöhner, geistesbeschränkt, seit 25 Jahren verheirathet in guter
Ehe lebend, erkrankte nebst seinem Weib und anderen Hausgenossen um den
26. April an Typhus und legte sich mit seiner Frau zu Bett. Am 3. Mai fing B. an
zu deliriren. Am 4. Morgens, in Gegenwart von 3 Kindern, erschlug B. sein
Weib mit einer neben dem Bett befindlichen Axt, indem er ihr 7 schwere Wunden
an Gesicht und Hals beibrachte. Die Zeugen, welche B. gleich nach der That
sahen, nahmen an ihm einen geistig und körperlich krankhaften Zustand wahr.
Auch in der folgenden 6wöchentlichen ärztlichen Beobachtung wurde typhöses
Fieber mit zeitweiligem Delirium constatirt.
Nachweis von Delirium während der That. Freisprechung. (Maschka,
Gutachten, 1858, p. 239.)
Weitere Fälle: Maschka, Gutachten, 1858, p. 271 (Brandstiftung im
Typhusdelir). Zippe, Zeitschr. f. Psych. 34. H. 2 (Mord im Delir vor der Blattern-
eriiption). Bloch, ärztl. Mittheilungen aus Baden 1872. 4, 5 (Selbstmord im
Blatternfieberdelir).
Beob. 109. Tödtung des Kinds im Delirium acutum. Frau Tiefen-
brunn, 35 J., eine bisher unbescholtene, etwas bigotte Frau war in den letzten
Jahren mit ihrer Familie in schlechte Verhältnisse gerathen. Vor 4 Monaten
hatte sfe zum 4. Mal ohne besondere Zufälle entbunden. Sie erholte sich bei
schlechter Kost und schwerer Arbeit nicht recht, fühlte sich matt, war blutarm,
abgemagert. Die Menstruation war seither nicht wiedergekehrt. Wegen Anämie
hatte sie das Kind nicht stillen können. Nach einem Streit mit dem Gemeinde-
vorsteher, an den sie sich vergebens um Unterstützung wandte, wurde sie am
23. Juni gereizt, streitsüchtig, im Bewusstsein gestört. Sie sah öfters starr nach
einem Fleck, faltete die Hände und wiederholte endlos die Worte : „0 du schöner,
0 du lieber Himmel, wie schön bist du!" In der Nacht auf den 24. schlief sie
wenig, delirirte vom Himmel, Aussöhnung mit dem Bürgermeister. Am 24. früh
war ihr so sonderbar ängstlich. Das Kind veränderte fortwährend Gestalt und
Grösse, erschien ihr in dunkelblauer Farbe. An diesem Tag erschien sie Vor-
mittags um Almosen bittend im Pfarrhof, das Kind auf dem Arm. Verstört und
zitternd erschien sie dort. Plötzlich sah sie sich von schrecklichen Gestalten
umwogt. Die Besinnung schwand ihr. Sie hörte noch den Caplan sagen:
„Schmeisst es nur her." Da warf sie das Kind über die Treppe hinunter. Das
Delirium. Beob. 110. Kindsmord im Puerperalfieberdelir. 295
Kind war auf der Stelle todt. Es wurde ihr schwarz vor den Augen, viele Leute
stürmten auf sie ein. Sie besitzt keine Erinnerung für die nächsten 2 Tage und
für die folgende Krankheitszeit nur eine summarische. Nachdem sie ihr Kind weg-
geworfen, war sie in einen rapt. mel.-artigen Zustand gerathen, hatte den Geistlichen
zu würgen versucht. Schreiend und tobend wurde sie endlich gebunden in's Spital
gebracht und da der Zustand andauerte, am 25. früh auf die psychiatr. Klinik.
Pat. ist bei der Aufnahme im Bewusstsein tief gestört, ängstlich, feindlich apper-
cipirend. Puls 125. Temp. 39,0. Zähneknirschen, tetanische Streckungen, Schnauz-
krampf, Zuckungen der Gesichtsmuskeln, trocknende Lippen lassen die Diagnose
auf Delirium acutum stellen.
Der Verlauf rechtfertigt diese Diagnose.
Unter heftigem Fieber (39 — 41,6) und einer Pulsfrequenz von 120—160
bestehen heftige motorische Reizerscheinungen (Nackenstarre, Bohren mit dem
Kopf in den Kissen, Grimassiren, zwangsmässiges Stossen und Schlagen mit den
Extremitäten), schreckhafte Delirien von Tod, Vergiftung mit entsprechenden
Visionen und hochgradiger Angst, bei schwerer Bewusstseinsstörung mit nur
stundenweisen Remissionen bis zum 8. Juli fort. Von da an Klärung des Be-
wusstseins, Nachlass der psychischen Erregungsphänomene und motorischen
Reizerscheinungen unter Rückgang der Temperatur auf 37,6 und des Pulses auf
88 Schläge. Pat. ist noch sehr erschöpft, ruhebedürftig. Ab und zu Sorge, dass
ihr etwas geschehe wegen des Kindes, von dessen Schicksal sie doch eine dunkle
Ahnung hat.
Auf eine gerichtsärztliche Exploration am 21. Juli stellt sich eine Recidive
ein, die bis Anfang August dauert. Pat. erinnert sich nun gar nicht naehr ihrer
That, zeigt vollständige Amnesie vom 24. Juni bis zum August.
Am 4. Oktober wird Pat. genesen entlassen. Auf Grund des Nachweises
einer schweren fieberhaften Erkrankung mit Delirien (Delir. acutum) zur Zeit
der That verzichtete die Staatsanwaltschaft auf eine strafgerichtliche Verfolgung.
(Eigene Beobachtung.)
Beob. 110. Kindsmord im Delirium eines Puerperalfiebers.
Die 25jährige ledige Taglöhnerin N., ohne erbliche Anlage zu Nervenkrankheiten,
mit 15 Jahren menstruirt, während der Menses jeweils mit Kopfschmerzen behaftet
ungewöhnlich reizbar von Gemüth, wurde im 25. Jahre schwanger. Sie ver-
heimlichte ihren Zustand nicht, traf Voi-bereitungen zum Empfang des Kindes.
Am 25. Mai gebar sie an einem Ort, wo gerade Puerperalfieber herrschte. Die
Geburt war schwer. Acht Tage nach derselben stellten sich Kopfschmerz, Appetit-
verlust, Nachlass der Milchsekretion, Durst und Eingenommenheit des Kopfes
ein. Am 6. Juni Nachmittags fand man sie noch ruhig, aber mit geröthetem
Gesicht. Am 7. früh hörte man sie singen, schreien, am Fenster trommeln und
heftig im Zimmer auf und abgehen. Um 7 Uhr kam sie den Eintretenden mit
rollenden Augen und geröthetem Gesicht entgegen und sagte: „Ich habe nein
Kind umgebracht." Gleich darauf fuhr sie wieder fort zu singen und umherzu-
gehen. Das Kind lag erdrosselt mit gebrochenem Schädel am Bett. Die Aerzte
fanden die N. im Zustand „maniakalischer" Erregung mit bedeutender Fluxion
zum Gehirn. Sie schrie, sang, gestikulirte lebhaft mit den Händen, war ganz
verworren und beantwortete Fragen nur theilwei.se. Die Zunge trocken. Puls 130.
Haut heiss. Schmerz, Spannung, später Fluktuation im Unterleib. In der folgenden
296 Cap. XL Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit.
Zeit fieberhafte Peritonitis. Vom 13. Juni an Besserung. Von allem Vorgefallenen
bis zum Eintritt in's Spital hatte Pat. keine Erinnerung. Nachweis eines Deliriums
im Verlauf eines Puerperalfiebers zur Zeit der That. (Pichler, Lehrb. d. ger.
Med. p. 189.)
5. Die AffektzB stände.
Literatur: Friedreich Lehrb. d. ger. Psychol. p. 817 (ältere Literatur). Henke's,
Abhandl. II, p. 309, 340, 371. V. p. 214. Hoffbauer, die Psychologie etc.
§. 209. Casper-Liman , Handb. p. 707. y. Krafft, transitor. Störungen etc.
p. 99. Schwartzer, transit. Tobsucht p. 114
Gesetzl. Bestimmungen: Deutsch. St.-G.-B. §. 53, 54, 213, 217, 224.
Oesterr. St.-G.-B. §. 2. lit. g.
Oesterr. St.-G.-Entw. §. 59 alin 3.
a. Der physiologische Affekt.
Die Affekte sind Zustände, die der Breite des physiologischen
Lebens angehören, wenn auch es sich nicht bestreiten lässt, dass
in jedem tiefer gehenden Affekt erhebliche körperliche und geistige
Funktionsstörungen zu Tage treten und die Besonnenheit momentan
eine bedeutende Trübung erfahren kann. Erfahrungsgemäss kann
unter physiologischen Bedingungen in einem gewissen Lebensalter und
bei entsprechender Erziehung eine Correktur und Beherrschung der
vom Affekt getragenen Vorstellungen und Strebungen geleistet werden.
Die Rechtspflege darf desshalb die Handlungen des Affekts, die so
häufig zu schweren Rechtsverletzungen führen, nicht ungestraft lassen.
Aber der Zustand des Affekts ist nun einmal eine vorüber-
gehende Störung im psychischen Mechanismus, ein Zustand, in wel-
chem die psychische Widerstandsfähigkeit, soweit sie durch rechtliche
und ethische Vorstellungen bedingt wird, eine Schwelle tiefer liegt.
Individualität, Umstände, Veranlassung des Affekts, bilden eine
Reihe von die subjektive Schuldfrage wesentlich beeinflussenden, für
den Erfolg wichtigen, und bei verschiedenen Individuen keineswegs
gleichwerthigen Momenten.
Temperament, Charakter, Erziehung, somit Umstände, für die
der Betreffende in keiner Weise verantwortlich gemacht werden kann,
üben einen mächtigen Einflüss darauf, wie der Affekt verläuft.
Die Rechtspflege ist dieser Thatsache vollkommen gerecht ge-
worden, indem sie die strafbaren Affekthandlungen scharf zu sondern
bemüht ist von den im äusseren Erfolg zwar gleichen, aber im Zu-
Die Affektziistände. Phj'siologischer AlTekt. 297
stand psychischer Ruhe und Gleichgewichts beschlossenen und aus-
geführten, und die ersteren ganz anders qualificirt und viel milder
beurtheilt. Nur hat die Justiz hier nicht zu übersehen , dass Affekt
und Ueberlegung nicht schroffe Gegensätze sind, und weder der
Affekt die Ueberlegung, noch diese den Affekt ausschliesst.
Zu warnen ist auch davor, dass aus einer gewissen Dauer des
Affekts bis es zur That kam, nicht irrig gefolgert wird, dem Affekt
hätte widerstanden werden können.
Eine solche Anschauung vergisst, dass bei leidenschaftlichen
Naturen der Affekt sich in sich selbst steigern , bei sittlich und
intellectuell Hochstehenden derselbe lange bekämpft werden kann,
bis ein geringfügiges Accidens, irgend eine Gelegenheitsursache den
letzten Rest der Besonnenheit und Selbstbeherrschung vernichtet und
den Affekt in einer Handlung explodiren macht.
Ebensowenig kann der Leumund entscheidend in die Wagschaale
fallen. Mag auch ein gutes Vorleben zu Gunsten des Angeklagten
sprechen und dafür zeugen, dass er eben dem zwingenden Einfluss
mächtiger afficirender Vorstellungen erlegen ist („des Todtschlags im
Affekt sind selbst die edelsten Gemüther fähig", Feuerbach), so kann
doch nicht ein vorher leidenschaftlicher, jähzorniger Charakter be-
lastend erklärt werden^ so lange nicht entschieden ist, ob er seine
Begründung in verantwortlicher selbstverschuldeter Rohheit oder in
unverschuldeter fehlerhafter Erziehung, oder Naturanlage durch un-
günstige, organische Bedingungen fand.
Der Gesetzgeber geht noch weiter, indem er gewisse Hand-
lungen eines unverschuldeten Affekts geradezu straflos erklärt. Dahin
gehört die Ueberschreitung der Grenzen der Vertheidigung aus Be-
stürzung , Furcht , Schrecken bei Nothwehr , und , in Frankreich
wenigstens, die Tödtung, welche der beleidigte Ehegatte an der ehe-
brecherischen Frau und deren Verführer, wenn er sie in flagranti
ereilt, verübt.
Affektzustände, die hier namentlich in Betracht kommen und
der Milde des Richters empfohlen werden müssen , sind die Affekt-
handlungen aus unglücklicher Liebe (Tödtung der Geliebten mit
Selbstmordversuch) und Eifersucht (Tödtung aus verschmähter und
getäuschter Liebe), aus Noth und Verzweiflung (Tödtung der Ange-
hörigen im vermeintlich hoffnungslosen Kampf ums Dasein).
Ein solcher affektvoller psychischer Ausnahmezustand, dem auch
das humane Strafgesetz unserer Zeit gerecht geworden ist, findet sich
häufig bei unehlich Gebärenden, wo Scham über die verlorene Ge-
298 Cap. XI. Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit.
schlechtsehre , Sorge um die Zukunft , Schrecken bei den Zeichen
herannahender Geburt, hilflose Niederkunft, Verlassensein vom Ge-
liebten, Verstossensein von der Familie, lieblose Behandlung der Um-
gebung, materielle Noth und Verzweiflung so häufig zusammenwirken
und Conflikte im Bewusstsein hervorrufen, die nicht jedes Weib, am
wenigsten in einem Moment, wo das Nervensystem durch die Schmerzen
der Geburt erschöpft und irritirt ist, nach der sittlichen Seite hin
lösen kann und die vielfach ihren tragischen Ausgang in der Tödtung
des Kindes, als der Quelle all des Jammers finden.
Die Beurtheilung dieser Kategorien von Fällen kommt meist
dem Richter allein zu , da sie eine vorwiegend psychologische ist.
Zudem sind einzelne derselben speciell von der Gesetzgebung vor-
gesehen (§. 53. 213 Deutsch. Str.-G.-B.) und besonders qualificirt
(§. 217).
Der Richter wird auch die anthropologische Seite der Persönlich-
keit zu würdigen und einer oiüginären oder erworbenen Anomalie
des Charakters (Excentricität, Gemüthsreizbarkeit, geistige Beschränkt-
heit bis zu Schwachsinn) Rechnung zu tragen haben.
Hieher gehörige Fälle von strafbaren Handlungen aus physiologischem
Affekt : aus Liebe oder Eifersucht: Casper-Liman , Fall 221, 222. Marc-
Ideler I, p. 58, 101 II, p. 131. Legrand du Saulle, la folie p. 495. Casper, Viertel-
jahrschr. 1854 p. 337. Goltdammers Archiv III, 2. p. 420. Demme, Annalen
X. p. 333. Temme, Archiv VI, p. 250, 256, 257 s. f. d. denkwürdigen Fall (eines
Richters, der seine Frau um ihr die Qualen des Todeskampfs abzukürzen, er-
schiesst) in Friedreich's Bl. 1879 H. 5 u. 6. Mord der Kinder aus Not h,
Verzweiflung: v. Krafft, Friedreich's Blätter 1870 H. 3. Casper, Viertel-
jahrschr. XXII, p. 170. Henke, Zeitschr. 1823 H. 3. Hitzig's Annalen XIV. H. 2.
Kindsmord: Maschka, Gutachten 1853 p. 237 (geistesbeschränkte Person, die
im Affekt der Angst und Verzweiflung ihr neugeborenes Kind mordet.)
Der Richter muss endlich der Möglichkeit eingedenk sein, dass
ausser Belastung, Excentricität, Schwachsinn u. a. psychopathischen
Momenten, ein erleichtertes Auftreten von Affekten Symptom einer
beginnenden Geisteskrankheit sein kann. Da thatsächlich das Irresein
in der Regel mit gemüthlichen Störungen (Aenderungen der Gemüths-
erregbarkeit, spontane und krankhaft intensive, weil organisch bedingte
Affekte) beginnt, ist hier die grösste Vorsicht nöthig, damit nicht
eine beginnende Geistesstörung übersehen werde. (Anhaltspunkte zur
Unterscheidung von Affekt und Gemüthskrankheif s. p. 31.) Wie
überall auf biologischem Gebiet ist der Uebergang vom physiologi-
schen zum pathologischen kein schroffer.
Beob. 111. Vierfacher Kindermord im Affekt. 299
Beob. 111. Vierfacher Kindermord im Affekt (eines wahrschein-
lich Gemüthskranken). G., 34 J., verheirathet seit 1871, Vater von 4 Kindern,
im Alter von 1—5 Jaliren, früher Schneider, seit 1877 Metzger, kam am Morgen
des 6. März gegen 6 Uhr zu seinem Bruder, mit der Erklärung: „Jakob, ich habe
meine Kinder ermordet und meine Frau ist auch todt." Bei der gerichtlichen
Umschau fand man in der sonst reinlichen, geordneten Haushaltung die Frau
erhängt und G.'s Kinder erschlagen oder erdrosselt. Auch an G.'s Hals fand sich
eine Strangrinne. Der Befund bei der Frau machte freiwilligen Selbstmord wahr-
scheinlich. G. hatte nie Spuren eines abnormen Geisteszustands geboten. Seine
Mutter war hochgradig hysterisch und in ihrer Familie waren schwere Verbrechen
und Geistesstörungen vorgekommen. Seine Schulzeugnisse lauten gut, sein Vor-
leben war tadellos ; in letzter Zeit war er pecuniär in schlechten Verhältnissen,
zudem durch eine Bürgschaft und die Fürsorge für seine taubstumme Schwester
gedrückt, aber verzweifelt war seine Lage keineswegs. Am 5. hatte er sich
wieder über die Schwester geärgert, auch die Bürgschaft fiel ihm ein, da habe
er sich lebenssatt gefühlt und seine Frau gefragt, ob sie mit ihm sterben wolle.
Dieser war es recht. Sie einigten sich, dass sie auch die Kinder mitnehmen
wollten. Die Angelegenheit wurde ruhig besprochen. Bedenken der Frau, dass
es eine Sünde sei, beschwichtigt, alle Vorbereitungen zum Tod getroffen. G. will
vom Entschluss bis zur Ausführung keine hemmenden A'^orstellungen des Unrechts
etc. gehabt haben. Erst am Tag vor der That erschien er den Zeugen traurig,
etwas verstört. Abends 10 Uhr hatte er einen Brief an den Arzt in die Brief-
lade geworfen, in welchem stand: „Lieber Herr R., kommen Sie, wenn Sie diese
traurigen Zeilen gelesen, sofort zu mir, aber gleich mit einigen Herren vom Ge-
richt, Sie werden mich und meine Familie todt antreffen."- Er ging dann heim,
bereitete Alles vor, ging mit seiner Frau zu Bett, stand um 12 Uhr auf und er-
drosselte langsam 2 seiner Kinder im Schlaf. Müde von dem langen Zuziehen
der Schnur, griff er beim 3. Kind zum Haubeil. Als er Blut sah, griff er wieder
zur Schlinge, mit der er auch das 4. Kind tödtete. Dann richteten sich die
Eltern zum Tod, legten sich die Schlingen um, gaben sich die Hand, beugten die
Kniee und sagten: Gott sei uns armen Sündern gnädig. Von da bis Morgens,
wo er zu sich kam , weiss er nichts von sich. G. hatte seine Kinder lieb ge-
habt. Er war kein Trinker, guter Familienvater.
Der Gedanke zur grässlichen That kam plötzlich und fand ferner keinen
Gegensatz im Bewusstsein. Seine Liebe zu den Kindern zog ihn zu jener hin.
Anhaltspunkte für einen geistig abnormen Zustand zur Zeit der That und nach
derselben ergaben sich in keiner Weise. Die Aerzte sprachen sich dahin aus,
dass G. sich damals in einem Affekt der Verzweiflung befunden habe und weisen
darauf hin, dass der Affekt die Ueberlegung nicht ausschliesse.
Auffällig ist die Thatsache, dass G. auch in der folgenden Zeit, ohne
„geisteskrank" zu sein, nie Reue über seine That empfand. Erst nach. 14 Tagen
kam ihm Reue. Bis dahin hatte er nur an Selbstmord gedacht, um mit den
Seinigen wieder vereinigt zu werden.
Körperlich findet sich an G. nichts Bemerkenswerthes. Von ärztlicher
Seite wird die Häufigkeit von Irresein in der Familie des G. hervorgehoben,
dass aus solcher belasteter Familie hervorgegangene Affekte leichter über-
wältigend wirken. Die That sei ein erweiterter Selbstmord. Die Thatsache der
Ueberlegung mache dabei nichts aus. Ein Affekt könne auch Tage lang dauern.
300 Cap. XL Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit.
Ein abnormer Charakter muss G. doch gewesen sein, denn als man einmal Be-
denken äusserte, ob er mit der Metzgerei reüssire, meinte er, er würde lieber
seine ganze Familie ermorden und sich auch, ehe er wieder zur Schneiderei zu-
rückkehre. Er war auch ein verschlossener ernster Charakter. Allgemeines Be-
dauern, dass das Gesetz keine verminderte Zurechnungsfähigkeit mehr kennt.
Verurtheilung zum Tod, der Gnade des Königs empfohlen und wirklich zu lebens-
länglichem Zuchthaus (!) begnadigt. (Burkart, Vierteljahrschrift f. ger. Med.
N. F. XXIX, H. 2.)
b. Der pathologische Affekt (Sinnesverwirrung).
Es gibt durch eine Gemüthsbewegung hervorgerufene Seelen-
zuständc; bei welchen gegenüber einem gewöhnlichen Affekt die
Dauer und Intensität der Gemüthserschütterung zunächst auffällig
erscheint und dem psychischen Ausnahmezustand das Gepräge eines
pathologischen verleiht. Eine genauere Untersuchung in solchen
Fällen lehrt, dass es sich hier strenggenommen nicht mehr um Affekt^
sondern um transitorisches Irresein handelt , zu welchem der Affekt-
vorgang nur den Anstoss gab. Es sind fast ausschliesslich depressive
Affekte oder die sog. gemischten des Zorns, welche eine solche tief-
greifende Wirkung haben, während die expansiven sich rasch aus-
gleichen und nicht zum Verlust des Selbstbewusstseins führen. Nicht
ohne Berechtigung hat man deshalb von einem „Wahnsinn der Zorn-
trunkenheit" (Casper) gesprochen. Umfassender dürfte die Bezeich-
nung „pathologische Affektzustände" sein, da auch Schrecken u. a.
depressive Affekte einen psychischen Ausnahmezustand herbeiführen
können. Das Schwergewicht muss aber darauf gelegt werden, dass
es sich, sowenig als beim pathologischen Alkoholzustand um Rausch,
hier um Affekt, sondern um transitorisches Irresein handelt. Damit
entzieht sich der Zustand der Domaine des Richters und dessen psy-
chologischer Beurtheilung. Er wird Gegenstand klinisch - anthropo-
logischer Expertise des Arztes.
Die Entstehungsweise der sog. pathologischen Affekte muss in
der tiefgreifenden Wirkung des Affektvorgangs auf das vasomotorische
Nervensystem gesucht werden. Offenbar werden dadurch (Gefäss-
krampf, Gefässlähmung) geänderte und entschieden pathologische
Circulationsbedingungen im Gehirn geschaffen, die freilich durch einen
Affekt hervorgerufen, aber dann selbständig geworden und einer raschen
Ausgleichung nicht fähig, ihren klinischen Ausdruck in einer transi-
torischen Geistesstörung finden.
Daraus erklärt sich die abnorme Intensität und Dauer des an-
Der pathologische Affekt. 301
scheinenden Affekts, der nur die veranlassende Ursache eines aus ihm
hervorgegangenen Irreseins war.
Diese abnorm intensive und dauernde hyperämisirende (Gefäss-
lähmung) oder anämisirende (Gefässkrampf) Wirkung eines AfFektvor-
gangs muss auf präexistirenden funktionellen Veränderungen im Central-
organ beruhen und auf solche zurückführbar sein. Es kann sich um eine
Herabsetzung der psychischen Widerstandsfähigkeit (abnorme Gemüths-
reizbarkeit) gegen die afficirende Vorstellung handeln und dadurch
■secundär die den Aflfektvorgang begleitende somatische Betheiligung
(Vasomotorius) zeitlich und intensiv abnorm ausfallen , es kann auch
das vasomotorische Centrum abnorm erregbar oder erschöpfbar und
direkt vom Affektshok ungewöhnlich stark afficirt werden. Diese
funktionelle Aenderung in der Erregbarkeit psychischer und vasomo-
torischer Centren muss klinisch-forensisch sich wieder auf krankhafte
Veranlagung oder wirkliche Erkrankung bezw. Schwächung der
nervösen Centralorgane begründen lassen. Thatsächlich finden sich
überall wo darnach geforscht wird, bei pathologischen Affektzuständen
angeborene oder erworbene funktionelle Schwächezustände des Gehirns
bezüglich des gemüthlichen und vasomotorischen Tonus. Es handelt
sich hier um analoge Bedingungen wie bei den pathol. Alkohol-
zuständen (vgl p. 281.)
Die angeborene und deshalb dauernde Widerstandsunfähigkeit
ist Theilerscheinung einer organischen meist hereditären Belastung
(s. psych. Degenerationszustände p. 237), seltener Folgeerscheinung
einer die Entwicklung des Gehirns in jungen Jahren beeinträchtigen-
den und psychische Defekterscheinungen (Idiotie, Schwachsinn) hinter-
lassenden Schädlichkeit (acute schwere Krankheiten, Masturbation,
Convulsionen, Trauma capitis etc.).
Die erworbene Schwäche gegen Affekte ist eine dauernde oder
vorübergehende.
Im ersten Fall ist sie Residuum schwerer Insulte des erwachsenen
Gehirns durch Kopfverletzung, Insolation, Apoplexie, Meningitis,
Geisteskrankheit, Typhus etc. oder Symptom bestehender vielleicht
noch wenig ausgesprochener oder latenter Krankheitszustände des
centralen Nervensystems (Alkoholismus chronicus , Lues cerebralis.
Dementia paralytica, Epilepsie, Hysterie etc.).
Vorübergehend kann eine funktionelle Schwäche des Central-
organs gegeben sein durch chronische Krankheiten, die Schlaf, Er-
nährung, Blutbildung beeinträchtigten, durch fortgesetzte psychische
Reize (Affekte, Leidenschaften, Sorge, Kummer, intellectuelle Ueber-
302 Cap. XL Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit.
anstrengiing) durch den schwächenden Einfluss von Blutverkisten, de&
Stillens^ den erfahr ungsgemäss den Tonus der Nervencentren herab-
setzenden Einfluss des Menstruationsvorgangs.
Endlich kann ein Affektvorgang zu transitorischem Irresein den
Anstoss geben, insofern gleichzeitig cumulirende und den vasomotori-
schen Tonus herabsetzende Einflüsse (hohe äussere Temperatur, Alkohol-
excesse) wirksam waren. Auch das klinische Bild solcher pathologi-
scher Aff"ektzustände entspricht nicht dem des Affekts, sondern viel-
mehr dem des Irreseins.
Es kann sich als stuporartige Hemmung des Vorstellens und
Umneblung des Bewusstseins oder als traumartig verworrenes wirres
Durcheinanderjagen der Vorstellungen bei tief gestörter Apperception
(Sinnesverwirrung), als hallucinatorisches Delirium mit illusorischer
Verkennung der Aussenwelt oder als wuthzornige Erregung (ira furor
brevis !) darstellen und damit dem Bild der Mania transitoria nähern.
Dieser Höhe- der AfFektwirkung entspricht ein weiteres klinisches
Erkennungszeichen — die tiefe Beeinträchtigung des Selbstbewusst-
seins bis zur Aufhebung desselben und die daraus sich nothwendig
ergebende getrübte, lückenhafte bis aufgehobene Erinnerung.
Die Constatirung der obigen aetiologischen und klinischen That-
sachen wird die Grundlage sein müssen, auf der sich das ärztliche
Gutachten aufbaut. Unterstützend für die ärztliche Beurtheilung wird
dann die nachträgliche Heranziehung der Handlungsweise des Thäters
sein, deren Planlosigkeit und Rücksichtslosigkeit eine tiefere Störung
des Seelenlebens mindestens wahrscheinlich macht. Die Zurechnungs-
fähigkeit für die Handlungen des pathologischen Affekts, als eines
Zustands krankhafter Bewusstlosigkeit ist gänzlich ausgeschlossen.
Beob. 112. Durch Intensität (Am.nesie) und Dauer ausge-
zeichneter pathologischer Affektzustand. Kobyl, 24 J., Schreiber,
stammt von einem Vater, der als eigenthümlicher, jähzorniger, eigensinniger,
zeitweise sehr erregter Mann galt. Dessen Vater litt an Alkoholismus chron. Der
Bruder der Mutter des Vaters war irre und endete durch Selbstmord. 2 Geschwister
des K. starben unter Convulsionen. Er selbst litt im 1. Lebensjahr längere Zeit
an solchen, entwickelte sich geistig und körperlich ungemein rasch, war von jeher
ein aufgeregter, reizbarer, leidenschaftlicher, selbstbewusster , eigenthümlicher
Mensch von excentrischen Anschauungen. Nie waren bei ihm auf Epilepsie deutende
Erscheinungen beobachtet worden. Er ging 1869 zum Militär, avancirte, gerieth
in schlechte Gesellschaft, veruntreute 1875 einen Geldbetrag, wurde mit Kerker
und Degradation bestraft, fand in der Folge keine befriedigende Existenz, lebte
kümmerlich, wurde immer reizbarer, verbissener, verschlossener. 1878, im Früh-
jahr verliebte er sich in ein Mädchen, das ihm auch Avancen machte. Am
17. Mai heftige Gemüthsbewegung, da er merkte, dass die Geliebte einen andern
Beob. 113. Pathologischer Ati'ekt. Strafbare Handlungen. 303
vorzog. Am 19. Mai, nach schlaflosen Nächten und qualvoller Eifersucht hatte
er eine Zusammenkunft mit dem Mädchen, das neue Versicherungen seiner Treue
gab. ,,Ich nahm ihre Schwüre nicht mehr für bare Münze. Ehrlos, ohne Existenz
und unglücklich, vi'ie ich war, dachte ich an Selbstmord". Heimgekehrt war K.
sehr aufgeregt, schmetterte einen Stuhl auf den Boden, stierte ganz verstört vor
sich hin.
•Seit dem 20. ging er immer vor dem Hause des Mädchens auf und ab.
Am 23. schrieb er einen Abschiedsbrief, worin er seinen Selbstmord andeutete.
Am 24. wird K. von der Polizei in"s Spital gebracht. Er ist fieberlos, ganz ver-
stört, im Bewusstsein schwer gestört, inexplorabel, spricht nur abgerissene Sätze
„wenn ich einen Rasirer hätte — ich kann so nicht gehen — sie wartet schon,
ich muss ihr ein Sträusschen bringen".
Pat. ist gut genährt, ohne Degenerationszeichen, vegetativ ohne Befund,
blass, Pupillen sehr weit, Zunge leicht zitternd. Nach schlafloser Nacht ist Pat.
am 25. etwas weniger benommen, weiss aber noch nicht wo er ist und drängt
brüsk fort.
Am 27. wird- er plötzlich ganz lucid. Die Erinnerung fehlt vollständig.
Er weiss nur, dass er am 24. ganz verstört vor dem Hause des Mädchens auf
und abging. Den ihm vorgelegten Abschiedsbrief erkennt er als von ihm ge-
schrieben an, aber er weiss nichts von dessen Existenz, noch wie er dazu kam.
Da Pat. bis zum 5. Juni nichts Auffälliges bot, wurde er entlassen. Schon am
8. Juni wurde er wieder aufgenommen, da er brutal gegen seine Mutter sich be-
nommen hatte und einen Revolver anschaffen wollte, um sich und das Mädchen
zu erschiessen. Der diesmalige Affekt steigerte sich nicht bis zum Verlust des
Selbstbewusstseins, aber K. blieb verbissen, verschlossen, gerieth bei geringfügigem
Anlass in bedenklichen Zornaft'ekt und vermochte sich nicht zu beherrschen. Bei
seiner Unverträglichkeit und Verletzlichkeit war nur schwer mit ihm auszu-
kommen. Eine Behandlung mit subcutanen Morphiuminjektionen, tonisirendes
Regime und Vermeidung aller Anlässe zur Aufregung, brachte erst nach Monaten
die frühere relative psychische Gleichgewichtslage wieder. (Eigene Beobachtung.)
Beob. 113. Pathologischer Affekt. Angriffe auf einen Vor-
gesetzten. Lieutenant N., 23 Jahr alt, wurde wegen wörtlicher Beleidigung
und thätlichen Angriffs eines Vorgesetzten zur Strafe der Dienstentlassung
und ISjähriger Festungshaft verurtheilt. Während der Untersuchung hatten sich
Zweifel über die Integrität seiner Geisteskräfte erhoben. Zwei Aerzte stellten
die That als Ausfluss eines vorübergehenden Wahnsinns hin; da aber das Gut-
achten derselben nicht genügend motivirt erschien, wurde das Medicinalcollegium
zur Begutachtung aufgefordert, das die That als in leidenschaftlichem Gemüths-
affekt begangen hinstellte. Darauf erfolgte die erwähnte Verurtheilung. Das
Generalauditorium verlangte aber ein Gutachten in dritter Instanz von der wissen-
schaftlichen Deputation, das im Folgenden auszugsweise mitgetheilt werden soll.
Geschichtserzählung: Am Sylvesterabend 186 . . war in einem Separatzimmer
einer Restauration eine Gesellschaft Damen und Herren vom Civil und Militär
zusammen, als um 10 Uhr N. die Thüre öffnete und, den Hut auf dem Kopf be-
haltend, nach 1 — 2 Minuten dauernder Anstierung der Gesellschaft sich wieder
entfernte. Die Gesellschaft war darüber sehr betroffen. Hauptmann S. geht
hinaus und macht N. auf das Unziemliche seines Benehmens aufmerksam. Dieser
304 Cap. XI. Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit.
entgegnet in aufgebrachtem Tone, das Gesagte sei ihm gleichgültig und S. ein
ganz gewöhnlicher Mensch. Ein Herr von K. kommt hinzu , hält dem N. eben-
falls sein Benehmen vor und fragt, ob er denn nicht gesehen, dass Offiziere im
Zimmer waren. N. erklärt keine bemerkt zu haben und geht die Treppe hinunter,
wieder hinauf,- schickt einen Kellner ins Zimmer mit der Aufforderung S. möge heraus-
kommen. Auf wiederholte Weigerung desselben geht er im Paletot und die Mütze
auf dem Kopfe in's Zimmer zu S. und sagt ihm mit fester Stimmer: ich habe Dich
zweimal auffordern lassen herauszukommen, Du bist nicht gekommen; ich er-
kläre Dich für einen gemeinen Schweinhund und fordere Dich hiermit auf Leben
und Tod. S. erwidert: Du weisst ja was Du weiter zu thun hast. N. darauf:
Ah, Du bist feige ; ich erkläre dich noch einmal für einen nichtswürdigen Schwein-
hund, wie kein zweiter auf Gottes Erdboden geht. S. erklärt ihn für verrückt
und schickt einen Offizier nach dem Arzt. N. will fort, wird aber zurückgehalten.
Plötzlich springt er auf S. zu, kratzt, schlägt, beisst ihn, bis er in eine Sophaecke
gedrückt wird. Hier beruhigt er sich, trinkt zwei Flaschen Selterswasser, raucht
eine Cigarre und wünscht dann nach Hause zu gehen. Um 11 V2 Uhr kommt
der Arzt, versucht vergebens N. nach dem Lazareth zu bringen. N. ist immer
noch aufgeregt, mit funkelnden Augen, geröthetem Gesicht, 130 Pulsschlägen. Er
behauptet vom Augenblick an, wo er den Kellner in's Zimmer schickte, bis da,
wo er sich im Sopha befand, nichts von allen Vorfällen zu wissen. In's Lazareth
wollte er nicht gehen, er sei nicht verrückt.
N. geht ruhig mit einem Hauptmann X. nach seiner Wohnung, schläft an-
geblich die Nacht über ruhig, klagt Morgens Kopfweh und behauptet von einem
thätlichen Angriff auf S. nichts zu wissen. N. war seit mehreren Jahren mit S.
befreundet gewesen, demselben aber durch excentrisches Benehmen und exaltirte
Verehrung für dessen Frau unangenehm geworden. Er hatte sich wiederholt
aufgeregt und eigenthümlich gezeigt, gebeten S. möge ihn nicht Verstössen, sonst
werde er wahnsinnig. Er war oft sehr verstimmt über die Differenzen mit S.,
fühlte sich krank und fing an zu trinken. Als S. ihm endlich den Besuch seines
Hauses verbot, benahm er sich kindisch, weinte und war ganz haltlos. Die folgen-
den zwei Monate hörte sein Verkehr mit S. auf, nachdem dieser gedroht hatte,
er werde sich an den Obersten des Regiments wenden, was N. in banger Spannung
fortwährend erhielt. N. hatte sich am Tage des Angrifi's unwohl gefühlt und
gewaltsam zu zerstreuen versucht, nicht getrunken und auch Dienstgeschäfte ganz
geordnet besorgt. Doch fiel, als er Abends in der Restauration speiste, ver-
schiedenen Offizieren sein aufgei:egtes, ungewöhnliches, unheimliches Wesen auf.
Er erfuhr dort, dass S. im obern Zimmer in Gesellschaft sei und ging in der
Absicht hinauf, es entweder zur Versöhnung oder zum völligen Bruch mit S.
kommen zu lassen. Als er die Thüre öff'nete, habe er gesehen, dass die Gelegen-,
heit zu einer Unterredung nicht günstig sei und sich desshalb wieder entfernt,
des Folgenden erinnert er sich dann nur summarisch, des Angrifi's auf S. gar
nicht. Die Zeugen des Auftritts schildern N. in höchster Aufregung, mit ge-
röthetem Gesicht und rollenden Augen. Auf verschiedene derselben machte er
den Eindruck nicht recht bei .sich zu sein, worauf auch eine Reihe von Aeusse-
rungen N.'s während dem Auftritt hindeuten. N. hatte seinen Vater früh verloren,
ist von der Mutter und Schwester verzogen worden. Eine Halbschwester N.'s
leidet an unheilbarem Wahnsinn. Grosse Eitelkeit, Reizbarkeit, etwas Auf-
geregtes und Exaltirtes in seiner äusseren Erscheinung wurden von jeher an ihm
Beob. 115. Pathologischer Affekt. Kindestödtung. 305
bemerkt, und Hessen ihn allen Bekannten als sonderbaren Menschen erscheinen.
In seiner Dienstführung war er sehr tüchtig. Habituell litt er an Kopfcongestion
und hatte in neuerer Zeit wieder über Blutwallungen zum Kopf geklagt; oft
habe er mitten im Gespräch früher an den Kopf gegritfen und gesagt: wie ist mir,
wie wird mir, wie war das doch, wobei er nicht wusste was er soeben gesprochen
hatte. Auch ein Gefühl eines Ei'griffenseins von Geist und Gemüth hatte er wieder-
holt zur Zeit vor der That ; er äusserte sich : ich glaube, der Verstand fängt an mir
stille zu stehen. Um seine Gemüthsbewegung zu übertäuben , scheint er auch
einige Zeit lang übermässig Spirituosen genossen zu haben. Vom 1. Januar bis
Ende Februar klagte er täglich dem Arzt über Kopfweh und Schlaflosigkeit.
Gutachten: 1. N. ist höchst wahrscheinlich erblich zu Psychosen disponirt.
Nachweis, dass die erbliche Anlage nicht zum Ausbruch zu kommen braucht,
sondern sich nur in einer gewissen psychischen Erregbarkeit, Bizarrerie des Cha-
rakters und Wesens äussern kann, was bei ihm der Fall war. 2. Die geschilderte
Temperaments- und Charakterbeschaffenheit disponirte N. in hohem Grade zu
leidenschaftlichen Ausbrüchen. Die Disposition zu Congestionen, die jahrelangen
Affekte, veranlasst durch leidenschaftliche Liebe, verletzte Eitelkeit, erlittene
Zurückweisung und Gei-ingschätzung , die zeitweisen Excesse in Spirituosen sind
die Hirnfunktion erregende Momente und Verhältnisse, die erfahrungsgemäss
das Gemüth aufregen, die Besonnenheit trüben und die Willenskraft schwächen.
3. Aehnliche Auftritte wie die incriminirende That kamen bei ihm schon öfter
vor, zuletzt als S. ihn aus seinem Hause fortwies. Auch damals konnte er sich
an vieles Vorgefallene nicht erinnern. 4. die That ist nicht bloss Ergebniss
eines momentanen Affektes. N. selbst gesteht, dass es seit Monaten in ihm gegen
S. gährte; seine That ist aber auch nicht prämeditirt; es scheint, dass er eine
Versöhnung mit S. wollte, und bei den ersten Worten desselben von seiner Leiden-
schaft fortgerissen wurde. Sein Verhalten am Tage der That, unmittelbar vor
und nach derselben spricht auch nicht für Geisteskrankheit. Auch an Mania
transitoria und sogenannte Amentia occulta lässt sich nicht denken. N. befand
sich schon lange in einem Zustande heftiger Gemüthsaufregung, der nach Ent-
ladung drängte und unter Rückwirkung körperlicher Krankheitszustände ihn hie
und da der Gränze genähert haben mag, wo Selbstbeherrschung und Besonnen-
heit unmöglich werden. An einen krankhaften Seelenzustand im Sinne des Wahn-
und Blödsinnes des Gesetzbuchs lässt sich nicht denken, doch ist N. eine Natur,
die unter der unglücklichen Belastung der sub 1 und 2 genannten Momente zu
leidenschaftlichen Ausbrüchen viel disponirter ist als gewöhnliche Menschen. Es
gibt gegenwärtig noch keine wissenschaftliche Kategorien für solche eigenthüm-
liche Zustände, die mehr in Dispositionen als ausgeprägten Formen bestehen;
immerhin tässt sich aber sagen, dass in den leidenschaftlichen Handlungen solcher
Menschen viel Instinktives ist, d. h., dass bei den Stimmungen und Affekten, die
sie zu Handlungen treiben, organische, ihrem freien Willen entzogene Momente
mehr oder weniger hineinspielen, die b,ei der grossen Mehrzahl der Menschen
nicht vorhanden sind. (Griesinger, Vierteljahrschr. f. ger. u. öffl. Med., N. F. VI.,
H. 2 p. 269.)
Beob. 114. Pathologischer Affekt. Tödtung des Kindes. Am
24. Februar 1863, Morgens 9 Uhr, traf man die 35 Jahre alte, verehelichte L. bis
an die Brust im Flusse stehend; vor sich hatte sie ihr Töchterlein in ein Tuch
V. Krafft-Ebing, gerichtl. P.sychopathologle. 2. Auflage. 20
306 Cap. XL Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit,
gebunden, das laut schrie. Auf den Zuruf sie solle sich retten, hörte man von
ihr nur die Worte: „Mein Kerl, mein Kerl;" sie rührte sich nicht von der Stelle.
Als man sie holen vs^oUte, rief sie: „Lasst mich umkommen, mein Kerl und
Schv?iegervater setzen mir zu viel zu, ich bin gezwungen mir das Leben zu
nehmen, meine Noth ist gross." Als man die Frau aus dem Wasser gezogen,
bat sie, man möge ihr das Kind abnehmen. Das Kind war todt, ertrunken. Die
L. schien jetzt erst zur Besinnung zu kommen und bejammerte ihr armes Kind.
Rohe Misshandlung von Seiten des Mannes und des Schwiegervaters, beide
Trunkenbolde, hatten sie zum verzweifelten Entschluss gebracht, sich und das
Kind zu ertränken. In dieser Absicht war sie von Hause fort. Wie sie aus dem
Wasser gekommen und gerettet worden, davon hatte sie keine Erinnerung. Es
vrarde constatirt, dass ihr der Mann vor 9 Monaten eine Kopfverletzung zugefügt
hatte. Seitdem hatte sie oft über Kopfschmerz geklagt und wurde oft in sich
gekehrt und mit stierem Blick dasitzend gefunden. Sonst bot die Anamnese
nichts Pathologisches. Ihr Verhalten in der Folge war resignirt, fast apathisch,
die Reue nur eine ganz oberflächliche.
Das Gutachten lautete dahin, dass Inculpatin den Entschluss zur That
ohne Zweifel in einem geistesgesunden Zustand, wiewohl in einem hohen Grad
des Affekts gefasst, jedoch das Verbrechen nicht mit freier Willensbestimmung
ausgeführt habe. „Ganz erfüllt von ihrer trostlosen Lage, die ihr endlich imer-
träglich geworden, aus der sie nirgends Rettung sieht, greift sie verzweiflungsvoll
zum letzten Mittel ihre und ihres Kindes Leiden zu enden, aber zu sehr ver-
sunken in den einen Gedanken, an ihr Unglück, gebricht ihr die Kraft zur
schnellen Ausführung ihres Entschlusses und bereits vor Kälte erstarrt, tödtet
sie unwissend durch diese Zögerung das Kind." Die Geschworenen verneinten
die Schuldfrage. (Löwenhardt, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med., N. F. XIX., H. 2.)
Weitere Fälle von pathol. Affektzustand: Bei (erblicher)
Belastung: Irrenfreund 1870. 9 (Mordversuch an der Geliebten). Tarchini
Bonfanti, Archiv, italian. 1867, Nov. (Mordversuch). Bouguet u. Combes, Annal.
med. psych. 1866, März (Tödtung des Schwiegervaters). Henke's Zeitschr. 1829,
11. Ergänz.-H. (Körperverletzung).
Bei Hirnkranken und Geschwächten: Casper-Liman, Fall 247
(Tj^phus. Seitdem Alkoholintoleranz. Tödtung). Löwenhardt, Vierteljahrsschr.
f. ger. Med. N. F. XIX. H. 2 (Hirnkrankheit nach Kopfverletzung. Tödtung des
Kinds). Zippe, Wien. med. Wochenschr. 1878, Nr. 51 (Reconvalescent v. Insolation.
Todtschlag).
Bei Epileptischen: Bonfigli, Rivista sperim. 1878, p. 470 (Tödtung).
Henke's Zeitschr. 1840, H. 2 (Bedroliimg der Umgebung).
Bei Hysterischen: Buchner, Friedreich's Blätter 1867, H. 1 (tobsucht-
artige Affektausbrüche).
Bei Angetrunkenen und Trunksüchtigen: Friedreich's Central-
archiv, VI, H. 2 (Todtschlag). Henke, Abhandl. II, p. 371 u. 382 (analoger Fall).
Casper-Liman, Fall 272 u. 273. Bonnet, Annal. med. psychol. 1879, (.Tödtung
der Stieftochter). Delacour ebenda 1877, Mai (Blisshandlung der Eltern). Lorent,
Zeitschr. f. Psych. 29. H. 6 (Tödtung eines Kameraden). Brierre, Annal. med.
psychol. 1866, Juli (Tödtung, Verwundung mehrerer Personen). Ettmüller,
Vierteljahrsschr. f. ger. Med. XVI, H. 2 (Tödtung der Ehefrau).
Cap. XII. Verbrechen und Vergehen an Geisteskranken. 307
Anhang.
Cap. XII. Verbrechen und Vergehen an Geisteskranken.
1. Beisctlaf an Willenlosen, Bewusstlosen und Creisteskranken.
Literatur: Tardieu, etude. med. legale sur les attentats aux moeurs, 7. edit.
1878, p. 88. Hofmann, Lehrb. d. ger. Med. p. 166. • v. Krafft, allg. deutsche
Strafrechtsztg. 1877, 11. Friedreich's Blätter 1873, H. 2.
Gesetzl. Bestimmungen: Deutsches St.-G.-B. §. 176, 2. Mit Zuchthaus bis zu
10 Jahren wird bestraft, wer eine in einem willenlosen oder bewusstlosen
Zustand befindliche oder eine geisteskranke Frauensperson zum ausserehe-
lichen Beischlaf missbraucht. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt
Gefängnissstrafe nicht unter 6 Monaten ein. Verfolgung nur auf Antrag.
Oesterr. St.-G.-B. §. 127. Per an einer Frauensperson, die sich ohne
Zuthun des Thäters in einem Zustand der Wehr- oder Bewusstlosigkeit be-
findet, oder die noch nicht das 14. Lebensjahr zurückgelegt hat, unternommene
aussereheliche Beischlaf ist als Nothzucht anzusehen und nach §. 126 (schwerer
Kerker zwischen 5 und 10 Jahren) zu bestrafen.
§. 128. Wer einen Knaben oder ein Mädchen unter 14 Jahren oder
eine im Zustand der Wehr- oder Bewusstlosigkeit befindliche Person zur
Befriedigung seiner Lüste auf eine andere als die im §. 127 bezeichnete
Weise geschlechtlich •missbraucht, begeht, wenn diese Handlung nicht das
im §. 129 Lit. b bezeichnete Verbrechen (Unzucht wider die Natur) bildet,
das Verbrechen der Schändung und soll mit schwerem Kerker von 1—5 Jahren,
bei sehr erschwerenden Umständen bis zu 10, und wenn eine der im §. 126
erwähnten Folgen eintritt, bis zu 20 Jahren bestraft werden.
Oesterr. St.-G.-Entw. §. 191. Mit Zuchthau« bis zu 5 Jahren oder mit
Gefängniss nicht unter 6 Monaten wird bestraft, wer eine Frauensperson, die
sich im Zustand der Wehr- oder Willenlosigkeit befindet, zum ausserehelichen
Beischlaf missbraucht.
Die Gesetzgebung nimmt Veranlassung, die Vornahme unzüch-
tiger Handlungen an Personen, die wegen körperlicher oder geistiger
Funktionsstörung widerstandslos sind, mit schwerer Strafe zu belegen
und dem mit Gewalt an einer widerstandsfähigen Person erzwungenen
Beischlaf oder einer sonstigen unzüchtigen Handlung gleichzustellen.
Die österr. Gesetzgebung beschränkt sich auf die allgemeine
Forderung der Wehr- oder Bewusstlosigkeit zur Qualification des
Verbrechens, der deutsche Gesetzgeber führt die Begriffe der Willen-
losigkeit, Bewusstlosigkeit und Geisteskrankheit ein.
Die Bezeichnung „willenlos" umfasst sowohl Fälle, in welchen
durch physischen Zwang (Gefesseltsein, Geläbmtsein), als auch solche,
wo durch psychische Störung (der Wille einer Geisteskranken ist
308 Cap. XII. Verbrechen und Vergehen an Geisteskranken.
nur Schemwille, Oppenhoff) eine Frauensperson der Möglichkeit be-
raubt ist, sich für Gestattung oder Verweigerung des Beischlafs zu
entscheiden. Nach der deutschen Gesetzgebung, die ausdrücklich den
Begriff der Geisteskrankheit aufführt, wäre die Willenlosigkeit auf
Fälle zu beschränken, wo eine physische Unmöglichkeit besteht,
Widerstand zu leisten. In Oesterreich wären solche Fälle unter den
Ausdruck „Wehrlosigkeit" zu subsumiren. Der Ausdruck „bewusst-
los" passt für eine Reihe von Fällen transitorischer Aufhebung des
Selbstbewusstseins. Speciell sind hieher zu rechnen:
1) die Zustände der Ohnmacht, des Scheintods, Sopor etc.
2) die der Schlaftrunkenheit und des Schlafs.
Die Möglichkeit, dass an einer in solchem Zustand befind-
lichen Frauensperson der Beischlaf gegen ihren Willen voll-
zogen werde, ist übrigens nur unter der Bedingung denkbar,
dass ein Fremder sich in's Ehebett schliche und die Ehefrau
im Glauben, der Ehemann wohne ihr bei, den Beischlaf zu-
liesse. Unter allen andern Umständen wäre nur ein Versuch
des Verbrechens möglich.
Fälle: Casper-Liman, Hdb., biol. Thl., p. 706 (angeblich in Schlaftrunkenheit
erduldeter Beischlaf). Wald, ger. Med. II, p. 212. Taylor, naed. jurisprud., p. 710
(analoge Fälle, Anerkennung des schlaftrunkenen Zustands).
3) Zustände von Somnambulismus.
Fälle: Macario, Annal. med. psych. 1847. Jessen, Psychologie, p. 570.
Friedreich's Blätter, V, p. 61 (Ein 20j ähriges Mädchen, hysterisch, somnambul,
ecstatischen Zuständen unterworfen, denuncirte in magnetischem ScMafzustand
einen gewissen F., er habe sie geliebkost, am Knie erfasst, darauf sei sie in einen
bewusstlosen Zustand verfallen, von dessen Vorkommnissen sie keine Erinnerung
habe. Die Exploration ergab die Spuren einer verübten Schändung. Der Besuch
des F. zur Zeit des bewusstlosen Zustands wurde durch Zeugen constatirt und F.
gestand, dass er an dem bewusstlosen Mädchen den Beischlaf vollzogen habe).
4) Zustände von Volltrunkenheit, Vergiftung, Fieberdelirium, wenn
das Selbstbewusstsein völlig geschwunden war, was aus der
vorhandenen oder fehlenden Erinnerung für die That sich er-
mitteln lässt.
5) Fälle von epileptischem Sopor und Dämmerzustand, transitorische
Aufhebungen des Selbstbewusstseins bei Hysteroepileptischen
und Hysterischen. Bei Letzteren erleichtert die auch ausser-
halb der Anfälle nicht selten bestehende Unempfindlichkeit im
Bereich der Empfindungsnerven der Geschlechtsorgane und der
äusseren Haut die Ausführung des Verbrechens.
Fall von Schändung in hyst.-epil. Bewusstlosigkeit s. Casper-Liman, Fall 67.
Beischlaf an Willenlosen, Bewusstlosen, Geisteskranken. 309
Schwieriger ist die Präcisirung des Begriffs Geisteskrankheit
gegenüber dem in Rede stehenden Verbrechen. Der Gesetzgeber hat
ihn nicht definirt. Ebensowenig vermag dies befriedigend die Wissen-
schaft. Nach dem Geist der deutschen Gesetzgebung (§. 51) handelt
es sich hier um Zustände aufgehobener Willensbestimmung aus psy-
chischer Ursache, um Zustände, in welchen (§. 176) eine Frauens-
person durch psychische Momente in die Unmöglichkeit versetzt
war, die Bedeutung der mit ihr stattfindenden Handlung (Beischlaf)
und ihre Folgen zu übersehen und daraus für Gewährung oder Ver-
weigerung sich zu entscheiden.
In Oesterreich reihen sich solche Fälle theils unter den Begriff
der Wehrlosigkeit; theils unter den der Bewusstlosigkeit.
Wie die Praxis lehrt, betreffen die hieher. gehörigen Fälle fast
ausschliesslich Schwach- und Blödsinnige, bei denen die psychische
Infirmität vielfach angeboren ist.
Obwohl nicht streng wissenschaftlich unter den Begriff der
Geisteskrankheit gehörig, müssen diese Zustände doch rechtlich dem
in Rede stehenden Verbrechen gegenüber als geisteskranke erachtet
werden. Eine Begehung des Verbrechens ist nur als eine dolose
möglich. Der Nachweis des Dolus kann schwierig sein, ausser dann,
wenn es sich um einen Fall handelte, wo die Geisteskrankheit orts-
kundig war, dem Betreffenden bekannt war oder sich durch deutliche
Zeichen demselben sofort verrathen musste. Es gibt ferner Zustände
von Geistesstörung (beginnende Manie, Nymphomanie, hysterisches
Irresein, sexueller Wahnsinn), wo die Kranke selbst aus krankhaften
Motiven den Geschlechtsgenuss aufsucht, Männer provozirt, sinnlich
aufregt. In solchen Fällen dürften trotz erwiesenem Dolus Milderungs-
gründe anzunehmen sein.
Da nach dem Deutschen Strafgesetzbuch das Verbrechen nur
auf Antrag verfolgt wird, müsste in solchen Fällen die grossjährige
Geschädigte vorher entmündigt werden, damit der Vormund dann
die Klage auf strafgerichtliche Verfolgung erheben könnte.
Beob. 115. Beischlaf mit einer Schwachsinnigen. Am Pfingst-
montag 1872 Abends vollzog der übelbeleumundete, wegen Brandstiftung mit
Zuchthaus bestrafte J. mit der 26jährigen, notorisch geistesschwachen Tochter des
B. den Beischlaf. Der Vater wurde klagbar. J. gibt im Verhör Folgendes an :
Ich war mit der Ch. von Nachmittag an auf dem Tanzboden. Sie gab mir
Zeichen mit den Fingern und winkte mir, verliess den Tanzboden. Ich folgte
ihr, fand sie unter der Thür des Wirthshauses, kaufte ihr einen Lebkuchen und
ging mit ihr auf die Strasse bis an das Schulhaus. Dort gingen wir in den
Garten hinein. Sie hob dort aus freien Stücken die Röcke in die Höhe und legte
310 Cap. XII. Verbrechen und Vergehen an Geisteskranken.
sich auf den Boden. Ich legte mich auf sie und die Vereinigung der Geschlechts-
theile hatte stattgefunden, als der Vater mit Zeugen kam. Ich bekam Schläge
und entfloh aus Furcht, wegen des Vorgangs in Schande gestellt zu werden. Die
Ch. ist zwar ein wenig tappig, aber nicht so dumm, als sie die Leute machen
wollen. Sie hat ihren guten Verstand und insbesondere lässt sie sich gern den
Geschlechtstrieb befriedigen. Ich sage es offen, ich habe sie früher schon mehr-
mals gebraucht. Sie ist durchaus keine willenlose Person, mit der jeder Mann
anfangen kann, was er will.
Die Staatsanwaltschaft beantragt die Untersuchung, ob die Ch. als willenlos
oder geisteskrank zu betrachten sei. Das Gutachten charakterisirt sie als eine
kleine schwächliche Person von kleinem quadratischem Schädel, niederer Stirn,
verbildeten, zu kurzen Händen, verbildeten Füssen, zu kurzen Ohren. Das Hymen
ist zerstört. Die Ch. ist von schwacher Sinnesthätigkeit. Die Geisteskräfte sind
von Geburt auf so -schwäch, dass sie, obwohl 7 Jahre zur Schule geschickt,
weder schreiben noch rechnen, sondern nur buchstabiren lernte. Auch häusliche
und weibliche Arbeiten zu erlernen war sie nicht fähig. Ihr Benehmen ist
scheu, kindisch furchtsam. Vor dem Gerichtsarzt versuchte sie sich immer zu
verstecken.
Das Gutachten lautete auf wiederholt vollzogenen Beischlaf, leibliche und
geistige Entwicklung bis zur Stufe eines Kindes. Annahme von Schwachsinn
und Willenlosigkeit.
Wesentlich anders gestaltete sich die Sachlage durch Einvernahme der Ch.
und der Zeugen, woraus mindestens Bewusstsein der mit Ch. vorgenommenen
incriminirten Handlung sich ergab.
Die Ch. behauptete, J. habe sie mit sich fortgezogen, sie habe ihm gesagt,
sie dürfe nicht mit ihm gehen, er solle sie gehen lassen, sonst werde sie vom
Vater gescholten und geschlagen. Sie erzählte den Hergang mit allem Detail,
nur mit dem Unterschied, dass sie sich als die Genöthigte hinstellte und leugnete,
sich früher schon zum Beischlaf hergegeben zu haben.
Aus den Zeugenaussagen ergibt sich mit Wahrscheinlichkeit, dass sie es
wai-, welche dem J. nachlief und zwar aaf Verabredung. Sie folgte ihm schlau,
um den Verdacht von sich abzulenken, und verleugnete ihn unterwegs.
Die Staatsanwaltschaft bezweifelte, dass die Ch. wirklich so schwachsinnig
und willenlos sei, wie sie das Gutachten bezeichnete, und verlangte die Ermitt-
lung, ob sie allenthalben in der Gemeinde für blödsinnig gelte. Der Wachtmeister
der Gensdarmerie bestätigt dies, kann sie aber nicht als willenlos bezeichnen.
Ein neues Gutachten des Gerichtsarztes bezeichnet die Ch. als schwachsinnig
mittleren Grades, gibt zu, dass hier scheinbare Willensakte vorkommen, betont
aber, dass das Triebleben vorwiege imd die Stelle des Willens vertrete, dass
allerdings aber selbst der Schwachsinnige die Befriedigung dieses ihn ganz be-
herrschenden Triebs durch einen gchnell vorübergehenden Willensakt bethätigen
könne. Die Ch. sei als eine in mittlerem Grad schwachsinnige und als im gleichen
Grad willensschwache Person zu bezeichnen.
Ein Obergutachten betönt die individuellen Gradstufen der angeborenen
psychischen Schwächezustände. Im concreten Fall wird auf den körperlichen, auf
ein Stehenbleiben auf infantiler Stufe hindeutenden Habitus aufmerksam gemacht.
Dieser nähert sich durch die zahlreichen Verbildungen dem cretinischen. Auch
psychisch ist ein gewisser Grad von Geistesschwäche zu constatiren, indessen
Beisclilaf an Willenlosen, Geisteskranken etc. Beob. 117. 311
beweist das Verhalten vor, während und nach dem Akt, dass jene keine hoch-
gradige sein kann. Das ganze Benehmen dabei Seitens der Ch. bewies Vorsicht
und Schlauheit. Nicht minder beweist ihre protokollarische Einvernahme ein
völliges Verständniss des Falls und das Bestreben, ihre Schande zu bemänteln.
Das Obergutachten nimmt einen leichten Grad von Imbecillität an, welcher Zu-
stand zwar eine unzweifelhafte Willensschwäche, namentlich gegenüber einem so
mächtigen Trieb wie der Geschlechtstrieb, keineswegs aber eine völlige Willen-
losigkeit bedinge. Einstellung des gerichtlichen Verfahrens. (Eigene Beobachtung.)
Analoge Fälle: Zeitschr. f. Staatsarzneikde. 1847, p. 309. Heusser, Ann.
d. Justizpflege in Kurhessen, 1856, p. 340. Vierteljahrsschr. f. ger. Med. N. F.
XII, p. 349. Kierski ebenda, XI, 1869 (Stuprum an einer epilept. schwachsinnigen
Person). Bernay ebenda, XI, 1869 (Blödsinn. Verneinung der Frage der Willen-
losigkeit). Kornfeld, Irrenfreund, 1878, Nr. 12 (epilept. schwachsinnige Person.
Stuprum. Keine Verurtheilung). Friedreich's Blätter, 1880, p. 334 (Blödsinn.
Verurtheilung). Casper-Liman, Fall 77 u. 78.
Beob. 116. Zweifelhafter Geisteszustand einer Frauensperson
zur Zeit eines an ihr unternommenen Beischlafs. Am 6. April 1878
lief beim Staatsanwalt die Anzeige ein, dass die 23jährige ledige Eufemia, die
häufig irrsinnig und seit dem am 28. März erfolgten Tod ihrer Mutter wieder-
erkrankt sei, am 5. April Abends von 2 Burschen N. und D. in einen Stall
gelockt und dort geschändet worden sei. Die Gerichtsärzte fanden an der E.
nur Symptome von Hysterie mit geschlechtlicher Erregung — ein Zustand, der
Bewusstsein und Willensfreiheit nicht aufhebe. Die Staatsanwaltschaft holte ein
Gutachten der Grazer med. Fakultät ein.
Aus den genauen Erhebungen ergab sich, dass die E. in der Pubertät, an-
geblich nach einem Schrecken, einen Tobsuchtanfall von etwa lOtägiger Dauer
bekam, der sich zeither in typischer Weise, gewöhnlich zur Zeit der Menstruation
wiederholte und immer mehr das klassische Bild einer Nymphomanie annahm. Die
erste vom Gericht gestellte Frage musste deshalb dahin beantwortet werden, dass
die E. keineswegs Anfällen von Hysterie, sondern solchen periodischer Tobsucht
unterworfen war. In Beantwortung der 2. Frage wurde erklärt, dass in einem
solchen Zustand zwar nicht das Bewusstsein der eigenen Person aufgehoben sei,
diese aber das Vermögen, die sittlich rechtliche Bedeutung ihrer Handlungen zu
erkennen, zu überlegen und daraus sich für Begehung oder Unterlassung, Ge-
währung oder Versagung aus Motiven der Nützlichkeit oder Sittlichkeit frei zu
bestimmen, vollständig eingebüsst habe.
Die 3. Frage , ob die E. am Abend der an ihr verübten Schändung in
einem derart krankhaften Geisteszustand sich befunden habe , dass sie als ihrer
nicht selbst bewusst, im Sinn des §. 127 österr. St.-G.-B. erachtet werden müsse,"
wurde in folgendem Sinn erledigt.
Die E. war, wie aus den Akten hervorgeht, seit dem 28. März zweifellos
wieder nymphomanisch. Sie war es , wie aus den Zeugenaussagen sich klar
ergibt, bis zum Verschwinden mit den Burschen im Stalle und noch einige Tage
lang darnach. Die E. erzählte im geistesgesunden intervallären Zustand, wie die
Barschen sie erregt hätten und sie sich dem N. auf Grund seines Heirathsver-
sprechens hingegeben habe. N. gibt auch zu, dass er an der E. seit mehreren
Tagen bereits gemerkt habe , dass sie wieder irrsinnig sei , läugnet aber den
312 Cap. XII. Verbrechen und Vergehen an Geisteskranken.
Beischlaf mit ihr vollzogen zu haben. Die rechtzeitige Forschung nach Spuren
eines solchen wurde leider versäumt. Die Möglichkeit, dass die E. zur Zeit des
quäst. Beischlafs in einer Remission ihres tobsüchtigen Zustands sich befand, ist
nicht auszuschliessen, aber sicher stand die E. auch damals unter dem zwingen-
den Einfluss ihres krankhaft erregten Geschlechtstriebs , und war sie in ihrem
Bewusstsein durch krankhafte Vorgänge so gestört, dass sie der sittlichen Be-
deutung und der Folgen des etwa an ihr unternommenen Beischlafs sich nicht
bewusst war und aus Gründen der Sittlichkeit und Zweckmässigkeit sich nicht
für Gewährung oder Verweigerung jenes Aktes entscheiden konnte, somit als
willensunfrei zu bezeichnen war. Es muss noch darauf aufmerksam gemacht
werden, dass derartige Kranke wie die E. Männer durch ihr krankhaft unsitt-
liches Gebahren sinnlich erregen, oft geradezu zu geschlechtlichen Handlungen
provociren, endlich nicht selten Wunsch und Idee mit Wirklichkeit in ihrem
krankhaften Zustand verwechseln, Männer ihrer Umgebung gar nicht stattge-
fundener geschlechtlicher Handlungen bezichtigen und desshalb in solchen Fällen
die Sicherstellung des objektiven Thatbestands ganz besonders wichtig ist. (Eigene
Beobachtung, vgl. Irrenfreund 1878 Nr. 12.)
2. Beischlaf nach Versetzung in einen wehr-, willen- oder hewusstlosen
Zustand.
Gesetzl. Bestimmungen: Deutsches Str.-G.-B. §. 177. Mit Zuchthaus wird
bestraft, wer durch Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr
für Leib und Leben eine Frauensperson zur Duldung des ausserehelichen
Beischlafs nöthigt , oder wer eine Frauensperson zum ausserehelichen Bei-
schlaf missbraucht, nachdem er sie zu diesem Zweck in einen willen-- oder
bewusstlosen Zustand versetzt hat.
Oesterr. Str.-G.-B. §. 125. Wer eine Frauensperson durch gefährliche
Bedrohung , wirklich ausgeübte Gewaltthätigkeit oder durch arglistige Be-
täubung ihrer Sinne ausser Stand setzt, ihm Widerstand zu thun und sie in
diesem Zustand zu ausserehelichem Beischlaf missbraucht, begeht das Ver-
brechen der Nothzucht.
Oesterr. Str.-G.-Entw. §. 192. Wegen Nothzucht wird mit Zuchthaus
bis zu 15 Jahren oder mit Gefängniss nicht unter einem Jahr bestraft,
wer durch Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib
und Leben eine Frauensperson zur Duldung des ausserehelichen Beischlafs
nöthigt oder wer eine Frauensperson zum ausserehelichen Beischlaf miss-
braucht, nachdem er sie zu diesem Zweck in einen Zustand der Wehr- oder
Willenlosigkeit versetzt hat.
Das Gesetz fordert als Thatbestand des Verbrechens Versetzung
in einen Zustand der Wehr-, Willen- oder Bewusstlosigkeit. Von
den zahlreichen Fällen, wo rohe Gewalt, sei es durch Binden, Zu-
sammenwirken Mehrerer, Betäubung durch Schlag oder Drosselung etc.
das Opfer wehrlos macht, kann hier abgesehen werden. Wichtiger
sind die Zustände von Willen-, resp. Bewusstlosigkeit, wo durch raffi-
Beischlaf nach Versetzung in willenlosen Zustand. 313
nirte Mittel (Narcotica, Aether, Chloroform, Chloralhydrat , starke
Weine etc.) oder bei besonders Disponirten (meist Hysterische) dutch
sogenannten Magnetismus, Hypnotismus etc. ein temporärer Zustand
der Willen- und Bewusstlosigkeit herbeigeführt wurde.
Es kommt hier wesentlich auf die Constatirung der Bewusst-
losigkeit zur Zeit des Akts an. Sie kann mit grossen Schwierig-
keiten verbunden sein. Nur der concrete Fall mit allen seinen Neben-
und Thatumständen in pharmacodynamischer und psychologischer Hin-
sicht kann gewürdigt werden. Dass durch die obigen genannten Mittel
Zustände completer Bewusstlosigkeit erfolgen können, ist bekannt
genug. Häufig wird aber aus Scham und anderen Gründen eine volle
Bewusstlosigkeit behauptet, wo sie nicht vorhanden war. Dies gilt
namentlich von Alkoholexcessen, die nur einen Zustand des Ange-
trunkenseins herbeiführten, wo dann geschlechtliche Aufregung das
Uebrige that und der Fall in 's Gebiet der Vis grata gehörte. Ausser
dem Beweis der stattgefundenen geschlechtlichen Vereinigung muss
der Beweis der vollen Bewusstlosigkeit zur Zeit derselben geliefert
sein, um das Verbrechen constatiren zu können.
Entscheidend wird in dieser Richtung die Ermittlung der Er-
innerung für diesen Zustand hinsichtlich ihrer zeitlichen Feststellung
und Zeitdauer sein. Die wirklich bewusstlos Gewesene kann erst
durch örtliche Beschwerden oder eine eventuelle Schwangerschaft des
Beischlafs gewahr worden sein. Durch Kreuzverhör, Ermittlung des
Verhaltens während und nach dem Ereigniss wird sich der Zustand
des Bewusstseins zur Zeit desselben feststellen lassen. Wirkliche
Bewusstlosigkeit im gesetzlichen Sinn ist mit Erhaltung der Erinne-
rung für den Zeitabschnitt der Schändung unvereinbar.
Von der grössten Wichtigkeit ist aber auch die Constatirung
des wirklich vollzogenen Beischlafs.
Es gibt nervöse, sexuell reizbare Frauen, bei denen Chloroform
und ähnliche Stoffe Coitushallucinationen hervorrufen.
Fälle: Mittermaier, Archiv d. Criminalr. 1855, p. 293 u. 1856, p. 142 u.
Winslow, psj^chol. Journal 1855, p. 589 (talschliche Beschuldigung des Arztes
Seitens einer Chloroformirten, er habe sie im bewusstlosen Zustand missbraucht).
Ferner Kidd, Edinb. med. Journ. 1870 (ein mit dem Speculum untersuchtes, ohn-
mächtig gewordenes, durch ein Riechmittel wiederbelebtes Mädchen beschuldigt
fälschlich den Arzt, sie chloroformirt und missbraucht zu haben).
Beob. 117. Angebliche gewaltsame Entjungferung im willen-
(bewusst-) losen durch Rausch verursachten Zustand. Die 18jährige
L. (resp. ihre Angehörigen) klagte zwei Handwerksgesellen an , sie hätten sie,
nachdem sie durch zwei Gläser Branntwein in einen angetrunkenen Zustand ver-
314 Cap. XII. Verbrechen und Vergehen an Geisteskranken.
setzt war und in zwei Tanzlokalen getanzt hatte, nahe an der Thüre ihrer Woh-
nung niedergelegt und genothzüchtigt, während sie sich angeblich in einem ganz
bewusstlosen Zustand befand. Die Angeschuldigten leugneten den Beischlaf mit
ihr vollzogen zu haben. Die vollzogene Entjungferung wurde aber durch den
Zustand der Genitalien, Blut- und Samenflecke im Hemd der Klägerin, sicher-
gestellt.
Dieselbe gibt an, dass während sie noch das volle Bewusstsein von Allem,
was um sie und mit ihr vorging, hatte, sie zugleich das Gefühl der Ohnmacht
und das Bewusstsein gehabt habe, dass sie alle Herrschaft über sich A^erloren.
Die Angeschuldigten hätten sie in diesem Zustand auf die Treppe gelegt, ihr die
Beine gespreizt, die Röcke über die Brust zusammengelegt und nun den Beischlaf
vollzogen, wobei sie grosse Schmerzen erlitten. Nach einer ziemlich langen Zeit
Ruhe habe sich nun ein Anderer auf sie gelegt und dies habe sich wohl 4 — 5
Mal wiederholt. Obwolial sie keinen Augenblick das Bewusstsein verloren , ^ei
es ihr doch nicht möglich gewesen zu schreien, noch sich zu rühren. Aus den
Zeugenangaben ergibt sich, dass sie auf dem Heimweg und nach dem Vorfall
zwar betrunken war, taumelte, erbrach, aber vollständig bei Besinnung war, ver-
nünftig sprach und fast ohne Unterstützung nach Hause ging, auch die Furcht
äusserte, daheim Schläge zu bekommen.
Das Gutachten beweist, dass hier keine sinnlose Betrunkenheit resp. keine
Bewusstlosigkeit bestanden habe, Klägerin wohl im Stande gewesen sei zu schreien
und ein Glied zu rühren, wenn sie nur gewollt hätte, dass sie den Beischlaf eben
geschehen liess und hinterher die Angabe , es sei ihr in bewusstlosem Zustand
Gewalt angethan worden, nur aus Furcht vor den Eltern erlogen hatte. (Casper,
klin. Novellen, Fall 17.)
Beob. 118. Verbrechen der Schändung im hypnotischen Schlaf-
zustand. Ende April reichte Frau B. in Ronen in Begleitung ihrer 20jährigen
Tochter eine Klage des Inhalts ein , dass Zahnarzt Levy ihre Tochter stuprirt
habe. Dieses Verbrechen sollte gelegentlich zahnärztlicher Sitzungen ohne Wissen
der Tochter und in Gegenwart ihrer Mutter begangen worden sein ! Erst durch
L.'s eigenes Geständniss sei der Tochter und durch diese der Mutter die Schand-
that bekannt geworden. Dieses Geständniss wiederholte L. vor Gericht.
L. ist 33 J. alt, schön, stattlich; obwohl verheirathet , anderwärts noch
geschlechtliche Befriedigung suchend. Die B.'s sind kleine unansehnliche Frauen-
zimmer. Ihr Ruf ist tadellos.
Am 25. April 1878 war Frau B. zum erstenmal mit ihrer zahnkranken
Tochter bei L., zu dem die Beiden ein grosses Zutrauen hatten , erschienen. L.
hatte die sonderbarsten Fragen über Gesundheits- und Lebensverhältnisse der
Tochter gestellt, verlangt, er müsse Gewissheit durch eine Untersuchung liaben,
ob sie noch Jungfrau sei. Nach einigem Sträuben gestanden die einfältigen B.'s
dies zu. L. kam zum Schluss , dass bei dem anämischen Mädchen eine Behand-
lung nöthig sei, durch welche der Blutzufluss zu den Beckenorganen befördert
werde. Die B.'s glaubten ihm; L.'s Arbeitszimmer hatte 7 Meter Länge. Die
Frau B. wurde so placirt, dass sie mehr im Hintergrund des langen Zimmers
sass und fast den Rücken der Tochter zuwandte. Diese lag fast horizontal auf
dem Operationsstuhl des L., der sie geheissen hatte ihre Lippen auf die Nasen-
löcher zu halten. L. stand zwischen ihren Füssen. Schon nach wenigen Minuten
4
Beischlaf nach Versetzung in willenlosen Zustand. 315
fühlte die B. junior, dass sie das Bewusstsein verlor. Was dann geschah, weiss
sie nicht. Am 2. Tag dieselbe Sitzung unter denselben Umständen.
Am 3. Tag dauerte die Sitzung länger. Frau B. bemerkte, dass L. ihrer
Tochter etwas zu riechen gab, worauf sie einen Seufzer ausstiess. Als die B.
nach der Tochter sehen wollte, hielt sie L. zurück mit einigen beruhigenden
Worten. Gleich darauf nahm L. eine Serviette, wischte etwas damit auf und
warf das Handtuch in einen Winkel. Die Tochter kam allmälig zu sich, klagte
Brennen und Schmerz in den Genitalien. Nach dem eigenen Geständniss des
L. hat er noch wiederholt den Coitus an der jungen B. gelegentlich solcher
Sitzungen ausgeübt, aber er behauptet, dass sie sich dazu hergegeben habe und
nicht bewusstlos gewesen sei, was die B. mit aller Entschiedenheit in Abrede
stellte. Darum drehte sich natürlich das ganze Beweisverfahren.
War die Bewusstlosigkeit der B. etwa durch ein Anästheticum (Cloroform,
Aether, Lustgas) hervorgerufen worden? Die B. hatte nichts davon bemerkt und
diese Möglichkeit konnte aus den sonstigen Umständen mit Sicherheit ausge-
schlossen werden.
Befand sie sich vielleicht in einem krankhaften, durch sog. H3rpnotismus
bewirkten Schlafzustand, der Bewusstsein und damit j egliche Empfindung aufhob?
Die B. ist ein neuropathisches anämisches, geistesbeschränktes Mädchen,
das leicht einschläft, viel schläft. Sie ist im 5. Monat einer Schwangerschaft,
bietet zweifellose Zeichen von Hysterie. Sie ist analgetisch aber nicht anästhetisch,
ihr Muskelbewusstsein, Gehör und Sehvermögen sind intakt. Vaginalexploration
mit dem Finger wird schmerzhaft empfunden. Schliesst man ihr die Augenlider
mit dem Finger, so gerathen die Bulbi sofort in convulsives Zittern, dann in
Strabismus convergens, der Kopf sinkt nach hinten, die Extremitäten werden
schlaff und nach einer Minute befindet sie sich in einem tiefen Schlafzustand
mit erweiterten Pupillen, aus dem sie plötzlich wieder zu sich kommt. Die B.
ist somit leicht in hypnotischen Schlaf zu versetzen ; die Umstände, unter welchen
sie sich gelegentlich der Sitzungen befand, begünstigten das Eintreten eines
solchen. Ob sie damals wirklich hypnotisirt war, ist wissenschaftlich nicht
sicher zu stellen.
Das Geständniss L.'s und andere Inzichten bestimmten die Jury ihn schuldig
zu finden und zu 10 Jahren zu verurtheilen.
Die B. gebar nach dem 7. Monat ein todtes Kind, dessen Alter der Zeit jener
„Sitzungen" entsprach. (Brouardel, Ann. d'hygiene publ. 1879, Januar.)
Weitere Fälle: Bewusstlosigkeit durch Schlag oder Drosselung s. Rein-
hard, Casper Vierteljahrschr. 1854, H. 2 u. Buchner, Lehrb. d. ger. Med. 2. Aufl.,
p. 197. Durch Chloroform: Winkler, Vierteljahrsschr. f. ger. Med. N. F. XXIII,
Juli. Annal. d'hygiene 1874, Januar. Tourdes, Gaz. hebdomad. 1866. Schuh-
macher, Wien. med. Wochenschrift 1854. Durch Hypnotismus: Tardieu, op. cit.
Schwängerung im magnetischen bewusstlosen Zustand,
316 Cap. XIII. Fälschliche Beschuldigungen Seitens Geisteskranker.
Cap. XIII. Fälschliche Beschuldigungen von Seiten
Greisteskranker.
Literatur: v. Krafft, Vierteljahrschr. f. ger. Med. N. F. XIX, H. 2, 1873.
1. Sellbstanscliuldiguiigen.
Es ist ein weiser Grundsatz der modernen Strafrechtswissen-
schaft, dass sie auf das Geständniss im Beweisverfahren wenig gibt und
erst; wenn That und Thäterschaft erwiesen sind, an Strafe denkt.
Diese Vorsicht entspringt zum Theil der Erfahrung, dass Geistesge-
störte nicht selten sich wahnhafter Verbrechen beschuldigen, die gar
nicht stattgefunden haben oder wirkHch stattgefundene Verbrechen
aufgreifen und sich fälschhch als Thäter bezüchtigen. Fast aus-
nahmslos sind es Melancholische, die aus Affekt der Selbsterniedri-
gung oder Lebensüberdruss nach erniedrigenden Strafen oder dem
Tod auf dem Schaffot sich sehnend, oder aus Wahn und Hallucina-
tionen fälschlich sich als Verbrecher vor Gericht anklagen. Bei der
Sorgfältigkeit unseres modernen Strafprocesses haben solche Selbst-
anschuldigungen Geisteskranker weniger ein criminalistisches und
praktisches, als ein psychologisches Interesse. Vor Zeiten, wo das
Geständniss den vollen Beweis ausmachte, lag darin eine ernstliche
Gefahr für die Sicherheit der Rechtspflege und unzweifelhaft wurden
zur Zeit der Hexenprocesse eine Unzahl melancholischer und hystero-
dämonomanischer Kranker das Opfer wahnsinniger Denunciationen.
Heutzutage verfügen dagegen die Criminalordnungen der meisten
Länder in richtiger Würdigung der üngewöhnlichkeit der Selbstan-
klagen vor Gericht, dass bei Personen, die sich selbst als Verbrecher
anzeigen, der Richter sorgfältig auf ihren Geistes- und Gemüthszu-
stand zu achten habe.
Ebensowenig kann den Selbstanschuldigungen eines delirirenden
Inculpaten ein Werth im Indicienbeweis beigelegt werden, denn es
ist bekannt, dass der Inhalt des Delirium vielfach von den unmittel-
bar dem Ausbruch der Krankheit vorausgehenden Ereignissen be-
dingt wird, und begreiflich, dass entsprechend dieser Erfahrung ein
Angeklagter im Sinne der Anklage delirirt.
Beob. 119. Ein an Tj^phus erkrank ter Angeklagter delirirt
im Sinn der Anklage. Ein Notarschreiber, angeklagt seinem Herrn eine
Summe von 1700 frcs. veruntreut zu haben, leugnet beharrlich. Während der
Untersuchung erkrankt er an Typhus. In seinem Delir ruft er wiederholt : „Dieb,
Selbstanschuldigungen. 317
ich habe gestohlen — Bankbillete — 1700 — im Gefängniss — Guillotine —
entehrt, — her mit dem Richter — haltet den Dieb — ich bin ein Dieb —
verhaftet mich." Wieder genesen hatte er keine Erinnerung für die Zeit seines
Delirs und beharrte dabei unschuldig zu sein. Der Richter glaubte die im Delir
gemachten Aussagen nicht ignoriren zu dürfen, legte übrigens den Sachverstän-
digen die Frage vor, ob im Typhusdelir gemachte Aussagen von gerichtlichem
Belang sein könnten, vi^as diese natürlich verneinten. Da keine weiteren Schuld-
bew^ise zu gewinnen waren , wurde der Angeklagte freigelassen. (Legrand , la
folie devant les tribunaux p. 586.)
Beob. 120. Analoger Fall. W. ist angeklagt, einen Waldhüter er-
schossen zu haben, wahrscheinlich im Moment, wo dieser einen proces verbal
über ihn aufnahm. Einige Wochen nach der Verhaftung wurde er irre.' (Hallu-
cinationen, spricht von Blut, das vergossen, von Guillotine, hört die Gensdarmen
sich nähern, die ihn verhaften wollen.) Er ruft wiederholt : „ich habe geschossen,
ich gestehe es, lasst mich jetzt in Ruhe." Wieder genesen erklärt er sich für
nichtschuldig. Dagonet hatte sein Gutachten abzugeben und wies nach, dass
die Geständnisse Irrsinniger rechtlich keinen Werth haben können. Da weitere
Beweise nicht beizubringen waren , wurde W. freigesprochen. (Ebenda p. 585.)
Beob. 121. Fälschliche Selbstanschuldigung einer Geistes-
kranken. Eine junge Frau geht eines Tags vor Gericht und erzählt mit allem
Detail und sehr plausibeln Angaben, sie habe ihr 7jähriges rhachitisches Kind
durch Misshandlungen umgebracht. Sie sei eine unnatürliche Mutter. Es ergibt
sich, dass das Kind an einer Rückenmarkskrankheit gelitten hatte und plötzlich
gestorben war, während die Eltern abwesend waren, dass die Mutter es mit
rührender Sorgfalt gepflegt und durch seinen Verlust, sowie durch den Kummer,
in seiner Todesstunde abwesend gewesen zu sein, gemüthskrank geworden war
und fälschlich sich der Tödtung desselben bezüchtigt hatte. (Morel, Gaz. heb-
domad. 1863.)
Analoge Fälle: Diez, Selbstmord, p. 325. Brierre, Ann. med. psychol.
1851, p. 640. Zeitschr. d. Gesellsch. d. Aerzte Wiens 1859, Nr. 35, 36 (Eine Frau
klagt sich an, einen von ihr geborenen Knaben in's Wasser geworfen zu haben.
Es ergab sich, dass sie nie geboren hatte und wahnsinnig war). Zeitschr. für
Staatsarzneikunde 1850, p. 313. (Fälschliche Selbstanklage einer arbeitslosen
Melancholischen der Mitwissenschaft an einem angeblichen Mord, um in's Zucht-
haus zu kommen). Deutsche Klinik 1862, Nr. 9 u. 10. Forlani, l'isterismo 1869,
Fall 15 (Fälschliche Denunciation einer hysterisch Irrsinnigen, ihr Kind ermordet
zu haben. Die Untersuchung ergab, dass sie noch Vjrgo war). Legrand du Saulle,
la folie, p. 577 u. 581 (Im ersteren Fall benutzt ein des Lebens überdrüssiger
Geisteskranker die Gelegenheit, wo ein des Mordes üb-erführter Verbrecher hin-
gerichtet werden sollte, sich statt seiner des Mordes anzuklagen und so den Tod
zu finden). Schuhmacher, Friedreich's Blätter 1873, H. 4 (Eine Frauensperson
beschuldigt sich fälschlich des Kindsmords. Hysterie, früher Melancholie).
Maschka, Vierteljahrsschr. f gerichtl. Med. 1869, H. 2 (Melancholie bei geistiger
Schwäche. Fälschliche Selbstanklage, die Schwester vor 7 Jahren ertränkt zu
haben).
318 Cap. XIII. Fälschliche Beschuldigungen Seitens Geisteskranker.
2. Anschuldigungen Anderer,
Weitaus häufiger und für das Forum wichtiger sind die Fälle,
wo scheinbar Geistesgesunde, in Wirklichkeit aber Geisteskranke auf
Grund krankhafter Affekte, Hallucinationen und Wahnideen falsche
Denunciationen gegen Andere machen. Weitaus das bedeutendste
Contingent liefern Krankheitfezustände, bei denen eine äussere Be-
sonnenheit und ein logisches Raisonnement erhalten, gleichwohl aber
die Beziehungen zur Aussenwelt krankhaft verfälscht und feindliche
geworden sind.
Im Ca'pitel des hysterischen Irreseins wurde der grundlosen
böswilligen Denunciationen gedacht, denen die Umgebung von Seiten
Hysterischer, sei es aus krankhafter Einbildung, sei es aus Bosheit
oder aus dem Drang Aufsehen zu erregen, ausgesetzt ist. Die Neigung
zum Lügen und Intriguiren ist bei Hysterisch-Irren ein Grundzug des
Krankheitsbildes. Von besonderer Bedeutung sind hier die Denuncia-
tionen männlicher Personen der Umgebung, wohl auch von Aerzten,
dass sie mit der Kranken geschlechtlichen Missbrauch getrieben hätten.
Dass hier Justizmorde möglich, lehrt der vor Jahrzehnten in Frank-
reich verhandelte Process La Ronci^re, der mit der Schuldigsprechung
eines ehrenwerthen Arztes endigte, der von einer hysteropathischen,
geschlechtlich krankhaft erregten Clientin grundlos beschuldigt wurde,
sie missbraucht zu haben.
Weitere Fälle s. Morel, traite de malad, ment. p. 787. Brierre, la folie
raisonnante 1867, p. 51.
Eine grosse Zahl von falschen Denunciationen geht von an
Verfolgungswahnsinn Leidenden aus. Da der Kranke besonnen spricht,
seine Beschuldigung (aus Vergiftungswahn, Wahn ehelicher Untreue ete.)
den Wahn nicht direkt verräth, von ihm ganz plausibel gemacht wird,
so geschieht es nicht selten, dass eine weitläufige Untersuchung an-
gestellt wird, die im besten Fall mit der Schuldlosigkeit des Denun-
cirten und der Wahnsinnigkeitserklärung des Denuncianten endigt.
Wie solche Kranke mit Klagen wegen Lebensbedrohung debütiren,
belästigen sie auch die Gerichte wegen Ehrenkränkung, indem sie
ehrenrührige Worte von Anderen auf Grund von Sinnestäuschungen
vermeintlich vernommen haben oder auch mit Ehescheidungsklagen
auf Grund sexuellen Verfolgungswahns und Wahn ehelicher Untreue.
Das Hauptcontingent von Denuncianten bilden endlich die irr-
Anschuldigungen Anderer. 319
sinnigen Querulanten und Processkrämer. Leider merkt der hohe
Gerichtshof gewöhnlich erst nach Jahren, dass er es mit einem Irr-
sinnigen zu thun hat, der in einer Irrenanstalt unschädlich gemacht
werden muss.
Inzwischen behelligt der Kranke die Gerichte, und wird von
ihnen erfolglos gemassregelt. Hat man doch in manchen Ländern
noch eigens Strafen auf solches unbefugtes Queruliren gesetzt , das
in 99 unter hundert Fällen ein pathologisches ist, statt in der Cri-
minalordnung den Richter anzuweisen, solch obstinates Queruliren
für ein des Irrsinns verdächtiges Zeichen zu halten und den Queru-
lanten gerichtsär^lich untersuchen zu lassen.
Eine nicht selten vorkommende Denunciation Geisteskranker ist
nach ihrer Entlassung oder Entweichung aus einer Irrenanstalt die angeb-
lich widerrechtliche Freiheitsberaubung durch eine solche Anstalt. Pro-
cesshungrige Advokaten, skandalsüchtige Zeitungsschreiber nehmen sich
dann gerne des pikanten Falls an und machen ihn zur cause celebre.
Bedenkt man, wie die wenigsten Geisteskranken ein Bewusstsein ihrer
Krankheit haben, so kann mau sich nur wundern, dass solche Denuncia-
tionen nicht häufiger vorkommen. Natürlich haben nur solche Kranke
Aussicht mit ihrer Klage, bei den Laien durchzudi'ingen , die zeit-
weise ganz vernünftig sprechen und damit dem Bild der Krankheit,
das der Laie vom Roman und Theater her kennt, nicht entsprechen.
Wie die Erfahrung lehrt, handelt es sich fast immer um Fälle von
sogenannter moral insanitj, folie raisonnante und hysterischem Irresein,
überhaupt um Zustände, die sich vorwiegend durch irre Handlungen
aus krankhaftem Fühlen bei fehlenden Wahnideen und Sinnestäu-
schungen und leidlich erhaltener Intelligenz kundgeben, zuweilen aber
um Fälle wirklicher Verrücktheit, die recht schlagend beweisen, wie-
viel dem Laien von einem Geisteskranken geboten werden kann, bis
jener die Krankheit merkt.
Zur Ehre der deutschen und ausländischen Irrenärzte darf es
gesagt sein, dass soweit die Annalen der Wissenschaft reichen, noch
in jedem vorgekommenen Fall die Denunciation als eine grundlose
erwiesen und der Nachweis der wirklichen Geisteskrankheit erbracht
wurde.
Aber abgesehen von der Ehrenhaftigkeit der Irrenärzte schützt
eine sorgfältige Irrengesetzgebung vollkommen vor einem solchen ab-
scheulichen Verbrechen, dessen Zustandekommen, zur Beruhigung
ängstlicher Gemüther möge es gesagt sein, heutzutage noch weniger
Chancen hat als das Lebendigbegrabenwerden.
320 Cap. XIV. Versetzung in Geisteskrankheit.
Bekannte hieher gehörige Fälle der Neuzeit sind die Affaire Koch contra
Jessen; die Mutter im Irrenhause (Process Gabe). Fall 34 in Casper's Idin. No-
vellen (Ulrike v. Reinikendorf). Process Sagrera (Annal. med. psj^chol. 1865, Sept.).
S. ausserdem Annal. med. psych. 1865 Mai, Nov., 1870 Januar. AUgem. Zeitschr.
f. Psychiatr. 1870, H. 4 u. 5. Brierre, la folie raisonannte p. 57. Derselbe,
Annal. med. psychol., Juli 1873 (Affaire Sandon). Archivio italiano, Mai 1871
(fälschliche Annahme widerrechtlicher Einspei'rung einer Geistesgesunden, unge-
rechte Verurtheilung eines Arztes). Kornfeld, Archiv f. Psychiatrie V, H. 1.
Annal. med. psychol. 1879 Nov. Walter, Irrenfreund 1879 Nr. 7.
Cap. XIV. Versetzung in Geisteskrankheit.
Literatur: v. Krafft, Vierteljahrschr. f. ger. Med. N. F. XXI, H. 1, 1874.
Behrend, ebenda N. F. VII., H. 1 1867.
Gesetzl. Bestimmungen: Deutsches St.-G.-B. §. 224. Hat die Körperver-
letzung zur Folge, dass der Verletzte ein wichtiges Glied des Körpers, das
Sehvermögen auf einem oder beiden Augen, das Gehör, die Sprache oder
die Zeugungsfähigkeit verliert, oder in erheblicher Weise dauei'nd entstellt
wird, oder in Siechthum, Lähmimg oder Geisteskrankheit verfällt, so ist auf
Zuchthaus bis zu 5 Jahren, oder Gefängniss nicht unter einem Monat zu
erkennen.
Oesterr. St.-G.-B. §. 152. Wer gegen einen Menschen, zwar nicht in
der Absicht, ihn zu tödten, aber doch in anderer feindseliger Absicht auf
eine solche Art handelt, dass daraus eine Gesundheitsstörung oder Berufs-
unfähigkeit von mindestens 20tägiger Dauer, eine Geisteszerrüttung, oder
eine schwere Verletzung desselben erfolgte, macht sich des Verbrechens der
schweren körperlichen Beschädigung schuldig.
§. 156. Hat das Verbrechen für den Beschädigten, a) immerwährendes
Siechthum, eine unheilbare Krankheit oder Geisteszerrüttung ohne Wahr-
scheinlichkeit der Wiederherstellung, oder b) eine immerwährende Berufs-
unfähigkeit des Verletzten nach sich gezogen, so ist die Strafe des schweren
Kerkers zwischen 5 und 10 Jahren auszumessen.
§. 126. Die Strafe der Nothzucht ist schwerer Kerker zwischen 5 und 10
Jahren. Hat die Gewaltthätigkeit einen wichtigen Nachtheil der Beleidigten
an ihrer Gesundheit oder gar am Leben zur Folge gehabt, so soll die Strafe
auf eine Dauer zwischen 10 und 20 Jahren verlängert werden.
Oesterr. St.-G.-Entw. §. 234. Wer einen Anderen am Körper, oder an
der Gesundheit beschädigt, oder misshandelt, wird wegen Misshandlung mit
Gefängniss bis zu 6 Monaten, oder an Geld bis zu 500 Gulden bestraft.
§. 236. Hat die Misshandlung zur Folge, dass der Verletzte einen Arm,
Hand .... verliert, oder in Siechthum, Lähmung oder in eine Geisteskrank-
heit verfällt, oder eine bleibende Verunstaltung erleidet, so ist wegen schwerer
Körperverletzung auf Gefängniss nicht unter einem Monat zu erkennen.
Für eine schwere Gesundheitsstörung sieht das Gesetzbuch die
aus einer Körperverletzung oder Misshandlung erfolgte Geisteskrank-
Begriff und Nachweis der „Geisteskrankheit". 321
heit an. Für die forensische Praxis ergeben sich daraus eine Reihe
von subtilen Fragen^ deren Beantwortung zur Klärung des Thatbe-
standes erforderlich ist.
Zunächst entsteht die Frage, was unter Geisteskrankheit zu
verstehen sei?
Offenbar kann von der Gesetzgebung nur eine Hirnerkrankung
mit vorwaltenden psychischen Symptomen, die zu einem geschlossenen
Krankheitsbild vereinigt sind und einen gewissen Verlauf und Selb-
ständigkeit darbieten, gemeint sein, nicht aber elementare und trans-
itorische Störungen der Geistesfunktionen (Bewusstlosigkeit , Ohn-
macht, Hallucinationen, Delirium).
Auf die Dauer einer solchen ^Geisteskrankheit" nimmt die
Gesetzgebung an und für sich keine Rücksicht, indessen lässt der
Sinn der betreffenden Gesetzesparagraphen, in welchen Verlust von
Gliedmassen,. Siechthum, Lähmung, überhaupt Zustände, die gewöhn-
lich als dauernde, unheilbare angesehen werden, neben Geisteskrank-
heit namhaft gemacht sind, kaum einen Zweifel darüber zu, dass der
Gesetzgeber hier Fälle dauernder und unheilbarer Geisteskrankheit
vor Augen gehabt hat.
Ein Fehler der Gesetzgebung bleibt es immerhin, dass vor
„Geisteskrankheit" nicht das Wort „bleibende" Aufnahme gefunden
hat. Es lässt dies vermuthen, dass dem Gesetzgeber jene acuten,
nach einer Misshandlung nicht seltenen Anfälle von Irresein, die nur
eine temporäre Arbeitsunfähigkeit, keineswegs aber ein dauerndes
Siechthum begründen, unbekannt waren und eine nähere Bezeich-
nung der Art der Geisteskrankheit desshalb unterlassen wurde. Nur
das österr. Strafgesetzbuch, indem es eine Geisteszerrüttung ohne
Wahrscheinlichkeit der W^iederherstellung erwähnt, nimmt auf den
Ausgang ausdrücklich Rücksicht. Hier entsteht die weitere und
schwierige Frage nach der Prognose der Geistesstörungen, bezüglich
welcher auf die Lehrbücher der Psychiatrie verwiesen werden muss.
Von der grössten Wichtigkeit für den Thatbestand ist der Nach-
weis, dass die entstandene Geisteskrankheit auch wirklich die Folge
einer vorhergegangenen Misshandlung war.
Bei der Dunkelheit der Entstehungs weise des L-reseins und der
Mannigfaltigkeit der Ursachen desselben ist die Ermittlung des
Zusammenhangs einer etwa nach einer Misshandlung entstandenen
Geisteskrankheit mit jener keine leichte Aufgabe. Es kann hier eben-
sowohl vorkommen, dass eine gleichzeitige Prädisposition oder ein
anderweitiges, von der Misshandlung unabhängiges, ausschlaggebendes
V. Kraf ft-Ebing, gerichtl. PsyiOiopathologie. 2. Auflage. 21
322 Cap. XIV. Versetzung in Geisteskrankheit.
Moment übersehen und so der vorausgehenden Misshandlung eine zu
grosse Bedeutung beigelegt wird^ als auch dass die Bedeutung einer
solchen unterschätzt wird, indem sie eine geringfügige war und keine
sichtbaren Spuren am Körper des Gemisshandelten hinterliess.
Es wird zu häufig in der Praxis übersehen, dass eine Körper-
verletzung oder Misshandlung nicht bloss durch ihren mechanischen
Effekt (Erschütterung, Verletzung des Gehirns), sondern auch durch
den mit ihr verbundenen Affekt (Schrecken, Furcht, Zorn), durch den
psychischen Shok, welchen sie setzte, das centrale Nervensystem zur
Erkrankung bringen kann, wie dies ja bei Epilepsie und anderen
Nervenkrankheiten eine geläufige Erfahrung ist. Die oft sehr gering-
fügige Körperverletzung ist dann von ganz nebensächlicher Bedeu-
tung. Sie kann sogar ganz fehlen. Hier geschieht es dann nur zu
leicht, dass der ursächliche Zusammenhang zwischen Misshandlung
und Geisteskrankheit vom Sachverständigen negirt wird.
Klinische Anhaltspunkte: 1) Das durch einen mechanischen
Insult gesetzte Irresein hat einen idiopatliischen Charakter, entsprechend den durch
das Trauma bedingten ursächlichen schweren Verletzungen des Gehirns und
seiner Hüllen. Vielfach deuten die gleichzeitigen Symptome gestörter Motilität
und Sensibilität auch auf heerdartige Erkrankungen. Die zeitliche Verknüpfung
von Ursache und Wirkung kann eine zweifache sein.
a) Die Geisteskrankheit ist die direkte, anmittelbare Folge der Kopf-
verletzung.
Aus den Erscheinungen des Coma, oder den reaktiven einer Meningitis
entwickelt sich im unmittelbaren Anschluss das Bild einer tiefen und unheilbaren
Demenz. Wille (Archiv f. Psj^chiatrie VIII.) hat übrigens Fälle beigebracht, wo
völlige Genesung binnen einigen Monaten erfolgte. In diesen Fällen folgten auf
die Commotionserscheinungen Somnolenzzustände mit Delirium , schreckhaften
Hallucinationen, Angst, als reaktiven Symptomen. Zugleich bestanden Sinnes-
und motorische Störungen.
b) Zwischen Trauma und Ausbruch der Geisteskrankheit liegt ein Wochen
bis Monate dauerndes Stadium prodromorum, dessen genaue Beachtung für die
Constatirung des ursächlichen Zusammenhangs forensisch höchst wichtig ist.
Diese prodromalen Störungen bestehen psychischerseits ; in Gemüthsreizbarkeit,
Gedächtnissschwäche, rascher geistiger Ermüdung; vasomotorisch in Geneigtheit
zu Kopfcongestionen und Intoleranz für Alkoholica; sensorisch in Kopfschmerz,
Schwindel, nicht selten lokalisirt auch die Stelle des Trauma; sensoriell in Auf-
hebung der Funktion, häufiger aber Hyperästhesie im Gebiet der Seh- und Hör-
nerven; motorisch und sensibel im Fortbestehen von Lähmungen und Anästhesien,
oder selbst deren Ausbreitung als Zeichen einer fortdauernden Hirnerkrankung,
ferner in zeitweise wiederkehrenden apoplektiformen oder epileptischen Anfällen.
Je mehr diese Symptome sich zeitlich dem Trauma nähern, örtlich dem-
selben entsprechen, Progression zeigen, anderweitige Ursachen sich ausschliessen
lassen, um so sicherer wird ihre Dexitung sein.
Geisteskrankheit durch materielle Läsion oder psychischen Shok. 323
Das klinische Bild ist bei dieser zweiten Gruppe kein übereinstimmendes,
auffallend häufig ist hier paralytische Geistesstörung. Auch schwere organische
Manien mit raschem Ausgang in Blödsinn kommen hier vor.
Zu berücksichtigen ist, dass ein Schädeltrauma, auch ohne zu einer aus-
gesprochenen Geisteskrankheit zu führen, gleichwohl Wirkungen hervorrufen
kann, die die Integrität des geistigen Lebens gefährden. Das Trauma hinterlässt
nicht selten dauernd einen funktionellen Schwächezustand der psychischen (rasche
geistige Ermüdung) und namentlich der vasomotorischen Centren (Geneigtheit
zu Fluxionen, Intoleranz gegen Alkoholica durch Herabsetzung des vasomotorischen
Tonus). Bemerkenswerth ist dann eine grosse Geneigtheit zu Delirien und Affekten
Seitens des zum Locus minoris gewordenen Centralorgans, nicht selten auch eine
Verminderung des gemüthlichen Tonus im Sinn gesteigerter Gemüthserregbarkeit.
Bei derart geschaffener Belastung des Gehirns genügen geringfügige Anlässe, um
acute oder auch chronische Psychosen hervorzurufen.
Vgl. über durch Gehirnerschütterung und Kopfverletzung bedingtes Irresein
d. Verf. gleichnamige Schrift (Erlangen 1865) mit vollständiger Literatur. Ferner
Schule, Handb. d. Geisteskrankheiten, 2. Aufl. p. 265. Wille, Archiv f. Psych.
Vin, p. 619. Eine weitere materielle Entstehungsweise von Irresein nach Kopf-
verletzungen hat Koppe (Deutsch. Archiv f. klin. Med. XIII, 1874) nachgewiesen.
Bei Individuen von neuropathischer Constitution kann das durch eine Kopfverletzung
noch empfindlicher gewordene Gehirn, durch die mit dem Trauma verbunden
gewesene mechanische Beleidigung eines sensiblen Kopfnerven gefährdet werden.
In der Bahn des afficirten Nerven entwickelt sich eine (traumatische) Neuralgie.
Diese wirkt irritirend auf die Gehirnrinde und ruft reflektorisch neben motorischen
Störungen (epilept. Krämpfe) schwere psychische Symptome hervor.
2) Das durch den mit einer Misshandlung verbundenen psychischen
Shok entstandene Irresein , hat den Charakter einer Psychoneurose. Die
Entstehung dieser ist a) eine psychische, durch den in Folge der Misshandlung her-
vorgerufenen schmerzlichen Affekt, der wieder durch die Schmerzen in Folge der
Läsion, die Besorgnisse über ihre möglichen Folgen etc. unterhalten sein kann.
In solchen Fällen von rein psychischer Entstehungsweise finden sich Bilder
der Melancholie, hypochondrischen Depression, neuralgischen Dysthymie, des
hysterischen Irreseins.
Oder die Entstehung ist b) eine vasomotorische, durch die mit dem Schrecken
über die Misshandlung gesetzten Zustände von Gefässkrampf oder Gefässlähmung.
Die bei solcher Entstehungsweise sich findenden Krankheitsbilder sind Stupor,
primäre Dementia, Melancholia attonita, acute Tobsucht.
Als wichtige und rein psychisch bedingte Fälle von Geistesstörung in
Folge von Misshandlung sind solche zu erwähnen , die nach einem Stuprum
auftraten.
Für die Beurtheilung, ob die einer Misshandlung gefolgte Geistes-
krankheit durch materielle Läsion oder psychischen Shok bedingt sei,
wird die Entwicklungsweise, die Form und der Verlauf des Krankheits-
bilds massgebend sein. Im ersten Fall sind die einleitenden Krank-
heitserscheinungen mehr weniger schwere cerebrale, jedenfalls organisch
gesetzte, intellektuelle, im letzteren Fall affektartige funktionelle. Der
324 Cap. XIV. Versetzung in Geisteskrankheit.
Ausbruch ist dort, sofern nicht eine sofortige Vernichtung der psy-
chischen Funktionen entstand, ein allmäliger, durch ein Incubations-
stadium vermittelter, — hier ein plötzlicher und dem Trauma bald
folgender.
Das Krankheitsbild ist dort das einer schweren Hirnkrankheit
mit Symptomen tief geschädigter Intelligenz (Demenz, Delirien) und
sonstigen Erscheinungen schwererer Cerebralerkrankung (Lähmung von
motorischen Hirnnerven, Anästhesien, Störungen der Sinnesfunktionen,
Hemiplegie, epilept. Anfälle, aphasische Symptome etc.), hier das
einer Psychoneurose mit Symptomen einer Hysterie, Hypochondrie
und falls krampfhafte Erscheinungen auftreten, so sind die Krämpfe
psychisch vermittelt und mehr weniger coordinirte.
Meist werden sich bei psychisch vermittelter Entstehungsursache
gleichzeitige, und für die Schuldfrage schwerwiegende Prädispositionen
zu solcher Erkrankung nachweisen lassen, die wieder in von Hause
aus bestehender nervöser, vielfach erblicher Constitution, oder in
temporärer grösserer Erregbarkeit des Nervensystems (Menstruation)
bestehen können. Doch kommen auch Fälle vor, wo ohne alle
Prädisposition der Schrecken, welchen die Vergewaltigung hervor-
brachte, die Krankheit in's Leben rief.
Beol). 122. Geistiger Schwächezustand durch materielle Läsion
in. Folge von Trauma capitis. Am 15. Juni 1875 erhielt S. im Streit eine
Contusion an der linken Schläfe. Als Pat. am 3. Tag vernommen werden sollte,
war er verwirrt, sprachlos, hatte allgemeine Convulsionen, die besonders stark
in den oberen Extremitäten waren.
Am 12. Juli und 16. September bot Pat. folgendes Bild: Geistige Schwäche,
auch des Gedächtnisses , erschwerte Apperception , verwirrte blöde Miene , er-
schwerte Sprache, Die Vertheidiger des Angeklagten machten geltend, dass S.
schon vor der Verletzung geistesschwach gewesen sei und gestammelt habe.
Diese Behauptung erwies sich grundlos. Das nach Jahresfrist erhobene Gut-
achten des* Verf. findet bei dem 55 J. alten S. wesentlich die bereits erwähnten
Störungen. Die Sprache ist erschwert aber nicht stotternd. Da S. früher ganz
gesund war und im Anschluss an die Verletzung sofort erkrankte, muss diese
als Ursache seiner geistigen Schwäche und Sprachbehinderung erkannt werden.
Wahrscheinlich handelt es sich um einen Bluterguss in Windungen des Scheitel-
stirnlappens in Folge des Trauma. Der Zustand des Verletzten änderte sich nicht,
der Verletzer wurde zu 6 Monaten verurtheilt. (Ziino, Rivista sperimentale.)
Beob. 123. Geistesstörung als angebliche Folge einer Züchti-
gung. Ein Schulknabe, vom Lehrer hart gescholten, fiel sofort in einen starr-
krampfartigen Zustand, in welchem er noch zwei Ohrfeigen bekam. In der Folge
Status nervosus, Convulsionen, Tobsucht, schliesslich Genesung. Das Gutachten
erwies, 'dass hier eine rein psychische Ursache der Krankheit vorlag, nämlich
der Schrecken über die Zurechtweisung des Lehrers , dass die vom Knaben gar
Beob. 124. Geisteskrankheit nach Misshandlung: 125. nach Nothzucht. 325
nicht mehr appercipirten Ohrfeigen gar keine ursächliche Bedeutung hatten,
jedenfalls keine materielle Läsion herbeiführten und dass ein anderweitiger
Schrecken gewiss denselben Erfolg gehabt hätte, worauf der Lehrer von aller
Schuld freigesprochen wurde. (Eigene Beobachtung, s. Friedr. Blätter 1868, H. 4.)
Beob. 124. Geistesstörung in Folge einer Misshandlung. Die
ledige E., 23 Jahre, ohne Anlage zu Nervenkrankheiten, erlitt auf dem Feld eine
Misshandlung durch den Nachbar, der ihr nach einem Wortwechsel heftige Faust-
schläge auf die linke Scheitelgegend versetzte. Sie erkrankte sofort an links-
seitiger Cervicooccipitalneuralgie und war in grosser Aufregung über das ihr
widerfahrene Unrecht, die durch verschiedene zufällige Momente noch gesteigert
wurde. Es kam zu Status nervosus, dann zu hysterischem Irresein (klonische und
tonische Krampfanfälle, wobei die Cervicooccipitalneuralgie die Stelle einer Aura
und eines peripheren Reizes spielte, transitorische Delirien, hallucinatorische Repro-
duktionen der Scene auf dem Felde, Chorea-magnaartige Zustände, Hj^perästhesien,
Gemüthsreizbarkeit, psychische Verstimmung, deren Intensität und Vorhandensein
jeweils der Intensität und Dauer der neuralgischen Anfälle entsprach). Mehr-
jähriger Aufenthalt in der Irrenanstalt. Entlassung in gebessertem Zustand.
(Eigene Beobachtung. Friedreich's Blätter 1866.)
Beob. 125. Geisteskrankheit nach Nothzucht. L. , 18 Jahre,
Magd, erblich nicht disponirt, früher gesund, noch nicht menstruirt, wurde mit
14 Jahren das Opfer eines unsittlichen Attentats von Seiten ihres Pflegevaters.
Als sie vom ersten Schrecken sich erholt hatte, fühlte sie sich unbehaglich, wie
wenn ihr eine schwere Krankheit bevorstehe. Sie empfand Mattigkeit, Unfähig-
keit zur Arbeit , Kopfweh , quälenden Druck in der Herzgegend. Ein mehr-
wöchentlicher Aufenthalt im Spital besserte den Zustand, jedoch nur vorüber-
gehend. Es bildet sich ein hysterisches Leiden aus (vage neuralgische Schmerzen,
Myodynien, Globusgefühle, mit deren Exacerbation die Stimmung jeweils gedrückt
wurde und eine bedeutende Gemüthsreizbarkeit sich einstellte). Im Verlauf An-
fälle von partiellen klonischen Krämpfen, ohne Verlust des Bewusstseins. Mit
17 Jahren Hysteroepilepsie (allgemeine klonische Krämpfe mit erloschenem Be-
wusstsein). Mit 17^/4 Jahren gesellten sich psychische Störungen hinzu. Es kam
zu grossem unmotivirtem Stimmungswechsel. Mit den Pliasen psychischer De-
pression verband sich Präcordialangst, auf deren Höhe Taedium vitae und An-
triebe zum Zerstören auftraten. Sie zerriss dann die Kleider, verlangte ein Messer,
um sich umzubringen, wollte sich ertränken, machte auch einmal einen bezüglichen
Versuch. Im Verlauf Gehör- und Gesichtshallucinationen. Es redete in ihrem
Kopf, sie hörte Stimmen, die ihr sagten, sie bekäme ein Kind; dabei Vision
des Pflegevaters, der sein unsittliches Attentat zu wiederholen versuchte. Klagen
über erschwertes Denken, Gedächtnisslosigkeit, Verwirrung im Kopf Bei der
Aufnahme in die Irrenstation, Oktober 1872, allgemeine Hyperästhesie, die sich
in massenhaften Neuralgien und Myodynien kundgibt, gesteigerte cerebrale und
spinale Reflexerregbarkeit (Reflexzuckungen bei Berührung ge^^■isser neuralgischer
Punkte, bis zu allgemeinem Erzittern und Zusammenfahren), grundloser Stim-
mungswechsel, Gefühl von Verwirrung im Kopf, zwangsmässiges Fixirtsein ge-
wisser, auf die Krankheit sich beziehender Vorstellungskreise, Gehörs- und Ge-
sichtshallucinationen. Zeitweise deliröse Zufälle von 72 — 2stündiger Dauer, die
326 Cap. XIV. Versetzung in Geisteskrankheit.
jeweils durch das Phantasma des Pflegevaters, der sein schändliches Attentat
wiederholen will, ausgelöst sind. Erscheinungen gesteigerter Reflexerregbarkeit
(partielle Convulsionen, Zusammenfahren beim geringsten Geräusch) gehen voraus.
Die Anfälle erweisen sich als ein hallucinatorisches Delirium, das sich um das
Phantasma eines beabsichtigten Stuprum und dessen Abwehr dreht. Das Be-
wusstsein ist aufgehoben. Patientin schreckt auf, wehrt sich verzweifelt. Die
Bewegungen sind coordinirte. Zeitweise kommt es auch zu spinalen Reflex-
krämpfen (tonische und klonische Convulsionen) nebst krankhaftem Rollen der
Bulbi und Zähneknirschen, Aus dem Anfall kommt Patientin wieder zu sich
mit dumpfem Kopfschmerz, Schwindel, grosser Abgeschlagenheit, quälenden
Myodynien, grosser Gemüthsreizbarkeit, völliger Amnesie für die ganze Zeitdauer
des Anfalls. In der folgenden mehrmonatlichen Beobachtungszeit keine Aenderung
des Krankheitsbilds, das eine ungünstige Prognose bieten dürfte. (Eigene Beob-
achtung.)
Analoge Fälle s. Vierteljahrsschr. f ger. Med., N. F. XXI, H. 1, p. 61, 62.
Weitere Casuistik des traumatischen Irreseins : Adamkiewicz, Vierteljahrsschr.
f ger. Med. 1865, H. 1. Scholz, ebenda 1879, Juli. Hotzen, Friedreich's Blätter
1879, H. 5. V. Krafft, ebenda 1878, H. 6. Weiss, Archiv f Psychiatrie VI, H. 3.
Meynert, psychiatr. Centralbl. 1876, 11, 12. Behrend, Vierteljahrsschr. f gerichtl.
Med. 1867, H. 1. Wietfeld, Friedr. Blätter 1868, H. 3. Otto, Erlenmeyer's
Corr.-Blatt 1870, H. 2. Dubiau, Annal. med. psychol. 1875, Juli.
Durch ein Trauma capitis kann auch Aphasie entstehen
(vgl. Blumenstock, Friedr. Blätter 1878^ H. 5). In der Gesetzgebung
sind solche Fälle von „Verlust der Sprache" vorgesehen.
Auch hier ist die Entstehungsweise eine mechanische (Zei'störung der
Sprachregion und der Gegend der 3. linken Stirnwindung durch Zertrümmerung,
Bluterguss, encephalitische Processe etc.) oder eine psychische (Schreckaphasie
in Folge shokartiger Wirkung einer Gemüthsbewegung auf den Vasomotorius und
durch bedingte temporäre, regionäre Behinderung der Circulation durch Gefäss-
krampf oder Gefässlähmung). Im letzteren Fall besteht immer eine Prädis-
position in Form einer neuropathischen Constitution oder einer ausgesprochenen
Neurose (Hysterie , Epilepsie). Bei Aphasie durch zerstörende Vorgänge ist die
Aphasie meist dauernd, mit Geistesschwäche complicirt. Die Prognose ist un-
günstig und. selbst das Leben in Gefahr. Bei Aphasie aus psychischer Ursache
pflegt sich nach Tagen oder Wochen das Gehirn vom Shok zu erholen und
die Aphasie zu verschwinden. Die Constatirung der Aphasie, ihrer Entstehungs-
weise, ihres Umfangs, ihrer Dauer, die Stellung ihrer Prognose sind schwierige
klinisch-forensische Aufgaben , von deren richtiger Lösung richterlicherseits das
Strafmass des Beschädigers und die Entschädigungsansprüche des Beschädigten
abhängig sind.
Die Prognose ist immer mit Vorsicht und nur als eine wahrscheinliche
zu stellen.
Beob. 126. Am 13. Mai 1876 wurde M. T., 23 J. alt, Dorfmädchen, mit
einem Stocke an die linke Kopfhälfte getroffen, stürzte zusammen, blieb einen
Monat ohne Bewusstsein, hatte Secessus inscii und häufig Erbrechen. Am 18. Mai
Cap. XV. Zweifelhafte Haftfähigkeit. 327
constatirte die gerichtsärztliche Untersuchung Bewusst- und. Sprachlosigkeit,
Parese des linken Facialis, Fraktur der Schuppe des linken Schläfenbeins. Nach
einem Monat kehrte das Bewusstsein wieder, die Kranke begann wieder, jedoch
unverständlich zu sprechen. Die Wunde heilte allmälig nach Ausstossung von
Knochenfragmenten.
Am 18. Juni wurde Pat. wieder untersucht. Man ermittelte träge und un-
verständliche Antworten , Niedergeschlagenheit , unsicheren ungeschickten Gang,
Abnahme der Hörfähigkeit links, apathisches Wesen.
Gutachten : Sehr schwere Verletzung, mit Arbeitsunfähigkeit, Verunstaltung
und aller Wahrscheinlichkeit nach bleibendem körperlichem und geistigem
Siechthum.
Am 25. Sept. 1877 fand eine neuei-liche Untersuchung statt. Sie constatirte
Depression des linken Schläfenbeins, Parese der rechten Unterextremität, nieder-
geschlagenes gleichgültiges Wesen, volles Bewusstsein, Verständniss der Fragen,
jedoch Amnesie für Orts- und Personennamen und theilweise Unfähigkeit sie
nachzusprechen. Sie kennt die Gegenstände und weiss ihren Gebrauch anzu-
deuten. Das Allgemeinbefinden ist ein gutes. Die M. leidet an Aphasie, d. h.
ist unfähig ganze Wortreihen auszusprechen, obwoM das Bewusstsein und viel-
leicht auch die Intelligenz ganz intakt sind. Dieser krankhafte Zustand ist
bedingt durch pathologische Veränderungen der linken Hirnhemisphäre und
steht in engem ursächlichem Zusammenhang mit der Verletzung der linken Kopf-
hälfte. Dieser Zustand lauft selten in gänzliche Genesung aus, verschlimmert
sich vielmehr häufig und hat dann nicht nur gänzlichen Verlust der Sprache,
sondern auch den Ruin der Geistesthätigkeit im Gefolge. Die M. hat in Folge
der Kopfverletzung eine bleibende Beeinträchtigung der Sprache (§. 156 Abs. a.
österr. Str.-G.-B.) erlitten.
Am 21. Januar 1878 bot die M. bei der Hauptverhandlung wesentlich den
gleichen Befund wie bei der früheren Untersuchung. (Blumenstock, Friedreich's
Blätter 1878, H. 5.)
Weitere Fälle von traumat. -median. Aphasie: Casper-Liman , Handb.
Fall 138. Von psychisch bedingter Aphasie: Schlangenhausen, psychiatr. Central-
blatt 1876. Bonafont, Schmidt's Jahrb. 56. Bd., Jahrb. f. Kinderheilkde. 1874,
p. 3'69. Casper-Liman, Fall 158.
Cap. XV. Haftfähigkeit mit Bezug auf die psychische
Gesundheit.
Gesetzl. Bestimmungen: Deutsche St.-Pr.-O. §. 487.
Oesterr. St.-P.-O. §. 398.
Wie bei körperlichen Gebrechen, so kann auch gegenüber psy-
chischen Anomalien und wirklichen Erkrankungszuständen die Frage
entstehen, ob eine Untersuchungs- oder Strafhaft ohne Schaden für
die psychische Gesundheit eintreten könne. Dass die Gefangensetzung
häufig zum Ausbruch von Geistesstörung oder bedrohlicher Steigerung
schon vorher bestandener Anlass gibt, ist eine allenthalben gemachte
328 Cap. XV. Zweifelhafte Haftfähigkeit
Erfahrung. Eine werth volle Arbeit von Dr. Reich (Allgem. Zeitschr.
f. Psychiatrie XXVII.) weist nach, dass in vielen Fällen, allerdings
bei besonders Disponirten, das Auftreten des Irreseins nicht von der
Dauer und Art der Haft (Isolir- oder Collektivhaft) abhängig ist,
sondern dass die blosse Gefangensetzung durch den mit ihr verbundenen
Affekt schon genügt, um nach Stunden bis Tagen Seelenstörung (Tob-
sucht, entwickelt aus zornigem Affekt, oder Dämonomelancholie) zu
erzeugen oder bei anscheinend Geistesgesunden (Schwach-Blödsinnige,
Paralytiker im Beginn, Epileptiker) krankhafte Dispositionen oder
latente Krankheitszustände rasch zum Ausbruch zu bringen.
Bezüglich der verschiedenen Arten der Haft steht für die Isolir-
haft wenigstens fest, dass sie im Allgemeinen von Leuten von grosser
geistiger Beschränktheit, die der Reize von Aussen bedürfen, ferner
von Individuen von misstrauischem , verschlossenem, hochmüthigem
Charakter, von Menschen, die durch ihr excentrisches Wesen auch
im gewöhnlichen Leben geistig für nicht ganz normal gelten und in
der Regel Hereditarier sind, endlich von Solchen mit tiefer Zer-
knirschung und Gewissensbissen nicht ertragen wird. Bezüglich der
Strafhaft bestimmt die humane Strafgesetzgebung, dass im Fall einer
Geisteskrankheit mit dem Vollzug so lange zu warten ist, bis dieser
Zustand aufgehört hat.
Besteht bloss die Wahrscheinlichkeit, dass eine Erkrankung durch
die Strafhaft eintrete, so ist eine Nichtverhängung der Freiheitsstrafe
unzulässig, ausser die Qualität der Rechtsverletzung gestattete eine
Umwandlung der Freiheitsstrafe in Geldstrafe, wozu sich der Richter
gewiss verstehen wird, wenn ein bezügliches ärztliches Gutachten
vorliegt. Häufig geschieht es , dass der Vollzug der angetretenen
Freiheitsstrafe wiederholt durch Anfälle von Irresein unterbrochen
werden muss und schliesslich die Vollstreckung der Strafe unmöghch
oder nur mit äusserster Gefährdung der psychischen Existenz durch-
führbar erscheint. Es sind dies Fälle, wo die Erlassung des Restes
der Strafe auf dem Gnadenweg das einzige und von der Humanität
gebotene Auskunftsmittel bildet und in der Regel auch gewährt wird.
Anders ist es mit der Untersuchungshaft. Der von dem Ver-
theidiger oder Untersuchungsrichter aufgestellte Sachverständige kann,
wie ja auch bei körperlichen Erkrankungen, in die Lage kommen,
sich aussprechen zu müssen, ob sie ohne Schaden für die psychische
Gesundheit des Angeschuldigten ausführbar ist. In der Regel werden
bedrohliche Symptome oder schon wirklich aufgetretene Anfälle von
Geistesstörung vorhanden sein und unter Berücksichtigung der oben
mit Bezug auf die psychische Gesundheit. 329
angeführten allgemeinen Gesichtspunkte die Abgabe des Gutachtens
ermöglichen. Die Entlassung aus der Untersuchungshaft gegen Kaution,
die einstweilige Abgabe in ein Kranken- oder Irrenhaus wird dann
Sache des Richters sein.
Beob. 127. Zweifelhafte Haftfähigkeit. A., Gewerbsmann, 32 Jahre,
von jeher reizbar und melanchoRschen Temperaments, war zu einer 48stündigen
Gefängnissstrafe wegen Verbalinjurie verurtlieilt worden. Als er sie antreten
sollte, gerieth er aus vermeintlich gekränktem Ehrgefühl in eine Art Wahnsinn,
in welchem Zustande er Miene machte, sich das Leben zu nehmen. Er wurde
beruhigt , die Vollstreckung der Strafe vertagt und ein Gutachten erhoben , ob
die wirkliche Vollstreckung der Gefängnissstrafe den Gemüthszustand des A.
wieder afficiren und denselben zum Selbstmord treiben könne. A., von Hause
aus ein schwermüthiger Mensch, war, als er die Strafe antreten sollte, in einem
psychischen Ausnahmszustand. Er tobte, lärmte, musste Nachts bewacht werden,
äusserte Lebensüberdruss , schlief wenig, war am folgenden Morgen sehr erregt,
ganz mit sich und seiner Ehre beschäftigt, ass nicht, war mimisch verstört, hatte
Präcordialdruck, belegte Zunge, Unlust zur Arbeit, trägen vollen Puls. Er war
physisch und psychisch krank. Es ist möglich, dass ein neuer widriger Ge-
müthseindruck den früheren krankhaften Gesundheitszustand und vielleicht selbst
in höherem Grade hervorrufen wird. Es ist möglich, dass A. in einem solchen
Zustand Hand an sich legen würde. Die Gefängnissstrafe wurde in Geldstrafe
umgewandelt. (Henke's Zeitschr. 1826, H. 3.)
Aehnliche Fälle s. Lauber (Friedreich's Blätter 1871, p. 58, zweifelhafte
Fähigkeit eines melancholischen Bauern zum Strafvollzug), v. Krafft ebenda 1870,
p. 245 (jeweils auftretende Tobsucht mit Antritt der Strafhaft bei einer periodi-
schen, maniakalischen Anfällen unterworfenen Schwachsinnigen). Kuby, Friedr.
Blätter 1876, H. 5 (Umwandlung der Straf haft in Geldstrafe wegen Disposition
zu Melancholie Seitens des Verurtheilten).
Buch II.
Die Beziehungen zum Oivilrecht.
A. Allgemeiner Theil.
Cap. I. Die Dispositionsfähigkeit.
Literatur. Neumann, Arzt u. Blödsinnigkeitserklärung-. Breslau 1847. Taylor,
med. jurisprud. p. 832. Brierre, de l'interdiction des alienes. Paris 1852.
Castelneau, de l'interdict. des allen. Paris 1860. Friedel, Deutsche Gericlits-
zeitung 1868, p. 249. Hauptmann, Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie 1868, H. 1.
Sander, Vierteljahrsschr f. ger. Med. N. F. III, 2 und N. F. VIII, 1. Idem,
Archiv f. Psychiatrie I, 3. Liman, zweifelhafte Geisteszustände vor Gericht.
Berlin 1869. Idem, Archiv f. Psychiatrie I, 2. Falret, Ann. d'hygiene 1869,
p. 430. Legrand du Saulle, Ann. d'hygiene 1872, p. 129. Tardieu, la folie.
Paris 1872, p. 29. Roller, AUgem. Zeitschr. f. Psychiatrie 1872. Schlager,
Wiener med. Wochenschr. XVI, 97, 98. Schlager, Archiv f. Psychiatrie I.
Motet, les alienes devant la loi 1866. Ann. med. psychol. 1867, Sept. Mendel,
Vierteljahrsschr. f. ger. Med. N. F. XVIII, H. 2 und N. F. XX, H. 2.
Mit einem gewissen Lebensalter^ als welches in der österr. Civil-
gesetzgebung das zurückgelegte 24.^ in den meisten anderen Gesetz-
gebungen das zurückgelegte 21. Lebensjahr angenommen ist, tritt
das Individuum in das Alter der Mündigkeit (bürgerliche Selbständig-
keit, Verfügungsfreiheit, Dispositionsfähigkeit). Mit dem Antritt dieses
Lebensalters gelangt dasselbe in den Genuss gewisser Rechte und
wird die Erfüllung gewisser bürgerlicher Pflichten von ihm verlangt.
Die Rechte und Pflichten bestehen bis ans Lebensende fort,
sofern nicht besondere Gründe vorliegen oder eintreten, welche die
Voraussetzungen, unter welchen die Ausübung jener gesetzlich ge-
stattet ist, aufheben.
Cap. I. Die Dispositiousfähigkeit. 331
Diese Voraussetzungen lassen sich in dem Satz zusammenfassen,
■dass ein Individuum genügende Fähigkeit besitzen muss, um im
bürgerlichen Verkehr seine Interessen und Pflichten wahrzunehmen —
seine bürgerlichen Angelegenheiten selbständig zu besorgen.
Eine solche Fähigkeit involvirt aber neben einem gewissen, vom
■Gesetzgeber fixirten Lebensalter (physische Grossjährigkeit) :
1) Den Besitz einer genügenden Summe von Erfahrungen über
die Rechtsverhältnisse und Normen des bürgerlichen Verkehrs.
2) Die nöthige Urtheilskraft, um diese allgemeinen Erfahrungen für
den eigenen concreten Fall zu verwerthen.
3) Die erforderliche Selbständigkeit der Entschliessung, um eine
Wahl zu treffen.
Dieses Vermögen, sich in den Angelegenheiten des bürgerlichen
Lebens zurecht zu finden und die sich darauf gründende Dispositions-
fähigkeit fällt somit weder dem zeitlichen Umfang, noch den ge-
forderten Voraussetzungen nach zusammen mit der Zurechnungsfähig-
keit des Individuums. Der Alterstermin der ersteren ist ein bei weitem
späterer als der der eintretenden strafrechtlichen Reife, und mit Recht,
denn der Schwerpunkt der Zurechnungsfähigkeit liegt in der ethischen,
der der Dispositionsfälligkeit in der intellektuellen Sphäre. Die ethische
Entwicklung durch Erziehung, Beispiel, Unterricht beginnt schon in
der Kinderstube, und gelangt verhältnissmässig früh zum Abschluss.
Die Erkennung der Rechtsverhältnisse des socialen Verkehrs
beginnt erst mit dem Eintritt in das öffentliche Leben. Die For-
derungen des Sitten- und Strafgesetzes sind einfacher und fasslicher
^Is die Normen, Begriffe und Unterscheidungen des bürgerlichen Ge-
setzbuchs. Dort spricht das Gewissen das entscheidende Wort, hier
der Verstand und die Erfahrung. Die Voraussetzungen und Alters-
termine des Straf- und des Civilrechts sind damit nothwendig ganz
verschiedene. Dieser Unterschied ergibt sich aber auch daraus, dass
die Strafgesetzgebung nur eine Zurechnungsfähigkeit und keine
Grade derselben kennt, ein etwaiges geringeres Mass ethischer Reife
•oder durch organische Belastung geminderte Verantwortlichkeit nur
.als Milderungsgründe der Strafe zulässt, während die Civilgesetz-
gebung seit den Zeiten des römischen Rechts fortschreitende Grad-
stufen der Dispositionsfähigkeit (Kindheit , Unmündigkeit , Minder-
jährigkeit) annimmt und denselben ein verschiedenes Mass bürger-
licher Rechte zuerkennt.
So gibt beispielsweise das zurückgelegte 7. Lebensjahr nach dem österr.
allg. bürg. Gesetzbuch die Fähigkeit , Besitz zu erwerben ^ und ein zu Gunsten
332 Cap. I. Die Dispositionsfälligkeit.
gemachtes Versprechen .gültig anzunehmen (§. 865). So begründet das zurück-
gelegte 14. Lebensjahr die Eidesfähigkeit und eine beschränkte Testirfähigkeit
(§. 569), insofern mündlich vor Gericht und unter angemessener Erforschung des
Gerichts, ob die Erklärung des letzten Willens frei und mit Ueberlegung geschehen
sei, testirt werden kann.
Weitere Rechte gibt das zurückgelegte 18. Lebensjahr, nämlich das der
unbeschränkten Testirfähigkeit (§. 569), sowie die Fähigkeit, gültiger Testaments-
zeuge zu sein (§. 591).
Die volle Verfügungsfreiheit, wie sie mit zurückgelegtem 21. (24. österr.)
Lebensjahr eo ipso gegeben ist, besteht in dem Recht, 1) Besitz zu erlangen,
2) Verträge zu schliessen, eine Ehe einzugehen, 3) eine Vormundschaft, Curatel
zu führen, die väterliche Gewalt auszuüben, 4) Zeugenaussagen zu machen, einen
Eid zu leisten, 5) ein Amt zu verwalten, einen Dienst zu übernehmen oder dem
übernommenen länger vorzustehen, 6) innerhalb gewisser civilrechtlicher Schranken
und unter Beobachtung gewisser gesetzlicher Vorschriften letztwillig zu verfügen.
Der nachgewiesene Mangel der zur Verfügungsfreiheit erforderlichen Bedingungen
entbindet 1) von gewissen, zur Zeit dieses Mangels eingegangenen Pflichten, z. B.
einen Vertrag zu erfüllen, 2) von der Verpflichtung, für einen verursachten
Schaden civilrechtlich aufzukommen.
3) Es gelten besondere gesetzliche Bestimmungen bezüglich der Verjährung.
Nach dem preuss. A.-L.-R. I, Tit. IX, §. 540 gemessen Wahn- und Blödsinnige,
ingleichen Taubstumme in Rücksicht der Verjährung gleiche Rechte (vgl. f. ib.
§. 595 und Thl. II, Tit. XVIII, §. 346). Nach dem österr. A. B. G.-B. §. 1494 kann
gegen solche Personen, welche aus Mangel ihrer Geisteskräfte ihre Rechte selbst
zu verwalten unfähig sind, wie gegen Pupillen, Wahn- oder Blödsinnige, die
Ersitzungs- oder Verjährungszeit, wofern diesen Personen keine gesetzlichen
Vertreter bestellt sind, nicht anfangen. Die einmal angefangene Ersitzungs- oder
Verjährungszeit lauft zwar fort, sie kann aber nie früher als binnen 2 Jahren
nach dem gehobenen Hinderniss vollendet werden.
Die mit dem Alter der Mündigkeit angetretene Verfügungsfreiheit
erlischt nur auf Grund eines rechtskräftigen ürtheils bezw. Beschlusses
des zuständigen Richters, der sie aberkennt. Ebenso ist die Wieder-
einsetzung in die entzogenen bürgerlichen Rechte nur durch ein richter-
liches Urtheil möglich. Alle inzwischen stattgefundenen bürgerlichen Akte
sind rechtlich null und nichtig. Für den Entmündigten tritt ein Anderer
(Vormund, Curator) handelnd ein. Jener hat nichts mehr in Bezug
auf seine bürgerlichen Angelegenheiten zu sagen, er ist „mundtodt".
Die Aberkennung der Verfügungsfreiheit ist ein schwerer Ein-
griff in die Rechtssphäre des Individuums. Sie kann beim Mündigen
nur auf Grund eines processualischen Verfahrens (Entmündigungs-
verfahren), das das Vorhandensein von Zuständen, welche der Gesetz-
geber als unverträglich mit der Fortdauer der Ausübung der bürger-
lichen Rechte namhaft gemacht hat, erfolgen.
Ist dies aber der Fall, so ist sie obligatorisch.
Gesetzliche Bestimmungen. 338
A. L.-R. Thl. II, Tit. XVIII, §. 12 : Die Vormundschaft des Staats hat ein-
zutreten in allen F3,llen, wo Wahn- oder Blödsinnige nicht unter Aufsicht eines
Vaters oder Ehemanns stehen. Ferner §. 32, Tit. I, Thl. I: Diejenigen, welche
wegen nicht erlangter Volljährigkeit oder wegen eines Mangels an Seelenkräften
ihre Angelegenheiten nicht selbst gehörig wahrnehmen können, stehen unter der
besonderen Vorsorge und Aufsicht des Staats.
Das Osten-. A. B. G.-B. §. 21 bestimmt: Diejenigen, welche wegen Mangels
an Jahren, Gebrechen des Geistes oder anderer Verhältnisse wegen ihre Angelegen-
heiten selbst gehörig zu besorgen unfähig sind, stehen unter dem besonderen
Schutz der Gesetze. Dahin gehören Kindei-, die das 7., Unmündige, die das 14.,
Minderjährige, die das 24. Jahr ihres Lebens noch nicht zurückgelegt haben,
dann Rasende, Wahnsinnige und Blödsinnige, welche des Gebrauchs ihrer Ver-
nunft entweder gänzlich beraubt oder wenigstens unvermögend sind, die Folgen
ihrer Handlungen einzusehen. §.269: Für Personen, welche ihre Angelegenheiten
nicht selbst besorgen und ihre Rechte nicht selbst verwahren können, hat das
Gericht, wenn die väterliche oder vormundschaftliche Gewalt nicht stattfindet,
einen Curator oder Sachwalter zu bestellen. Nach §. 173 sind gerechte Ursachen,
wegen welcher eine Fortdauer der väterlichen Gewalt nachzusuchen ist: wenn
das Kind ungeachtet der Volljährigkeit wegen Leibes- oder Gemüthsgebrechen
ausser Stand ist, sich selbst zu verpflegen oder seine Angelegenheiten zu besorgen.
Aehnlich §. 251.
Die Gesetzgebung hat die einzelnen krankhaften Zustände naiTihaft gemacht,
bei welchen eine Curatel einzutreten hat.
Das preuss. Gesetzbuch kennt nur Zustände von Wahnsinn (Raserei), Blöd-
sinn und bezeichnet in Thl. I, Tit. I, §. 27, 9. A. L.-R. Rasende und Wahnsinnige
als Diejenigen, welche des Gebrauchs ihrer Vernunft gänzlich beraubt sind, als
Blödsinnige in §. 28 Diejenigen, welchen das Vermögen, die Folgen ihrer Hand-
lungen zu überlegen, mangelt.
Aehnlich lautet §. 21 des österr. A. B. G.-B., der Rasende, Wahnsinnige
und Blödsinnige, d. h. solche Personen aufführt, welche des Gebrauchs ihrer
Vernunft entweder gänzlich beraubt oder unvermögend sind , die Folgen ihrer
Handlungen einzusehen. Auch der Art. 489 des französ. Gesetzbuchs macht die
einzelnen Geisteszustände, die hier in Betracht kommen, namhaft und bestimmt,
dass derjenige Grossjährige, welcher sich in einem dauernden Zustand von
imbecillite, demence oder fureur befinde, zu entmündigen sei, selbst wenn er
lichte Zwischenräume habe.
Nach den Interpretationen französischer Juristen und Aerzte sind unter
imbecillite angeborene Geistesschwäche und Idiotismus, unter fureur alle Tob-
suchts- und aufgeregten Wahnsinnszustände, unter demence die Ausgangszustände
des Irreseins, wo es zur Vernichtung der Intelligenz gekommen ist, zu verstehen.
Die Bezeichnung „dauernd" (habituel) soll nur den Zweck haben, die viel-
fachen accidentellen und und elementaren Störungen der psychischen Funktionen,
wie sie bei den verschiedensten Körperkrankheiten sich finden können, von der
Entmündigung auszuschliessen. Jedenfalls begreift der Ausdruck „habituell"
nicht den Begriff der Unheilbarkeit in sich, denn die Entmündigung ist ja nicht
unwiderruflich. Nach dem Geist der französischen Civilgesetzgebung sind indessen
unter den vom Gesetz gebotenen Terminis nur allgemeine Zustände von Geistes-
störung, keineswegs bestimmte Formen zu verstehen. An anderen Stellen des
334 Cap. I. Die Dispositionsfähigkeit.
Code civil (livr. I, art. 174 und 504) findet sich unter gleichen Verhältnissen nur
der generelle Ausdruck demence, wie ja auch der Code penal dieses Wort aus-
schliesslich und gleichbedeutend mit Geisteskrankheit braucht.
Die Ausdrücke Wahnsinn und Blödsinn betrachtet die preussische und
österreichische Gesetzgebung als nicht gleichbedeutend xmd verbindet mit ihnen
verschiedene, übrigens wenig bedeutende rechtliche Folgen.
Die Blödsinnigen erachtet das preuss. Gesetz den Kindern von 7—14 Jahren
(Unmündige), die Wahnsinnigen den Kindern unter 7 Jahren gleich. Da nach
A. L.-R. Thl. I, Tit. IV, §. 20—22 alle Willenserklärungen von Kindern unter
7 Jahren ungültig, die von Unmündigen, sofern sie damit Vortheile erwerben,
nach §. 11 — 13 gültig sind, werden die Blödsinnigen höher gestellt als die Wahn-
sinnigen. Ferner war nach Thl. II, Tit. L §. 698 die Ehescheidung nur bei Wahn-
sinn, nicht aber bei Blödsinn zulässig.
Nach österr. Recht kommt es nicht auf den Namen der constatirten Geistes-
krankheit, sondern auf deren Grad an, wobei Derjenige, welcher als des Gebrauchs
der Vernunft gänzlich beraubt erkannt wird, nach §. 865 (als einem Kind unter
7 Jahren gleichstehend) ein zu seinem Vortheil gemachtes Versprechen nicht
annehmen kann, während bei Demjenigen, der nur wegen Unvermögens, die
Folgen seiner Handlungen zu übersehen, entmündigt wird, ein solches Hinderniss
nicht besteht.
Eine eingehende Kritik der bezüglichen Gesetzgebung ist nicht
Sache eines Lehrbuchs. Eine Interpretation der von jener gebotenen
Termini würde zu weit führen. Dass eine Namhaftmachung der ver-
schiedenen Zustände von Geisteskrankheit immer eine unvollkommene
sein wird und zu Irrungen führt, lehrt die Erfahrung auf dem Gebiet
der Criminalgesetzgebung. Hat doch diese Erkenntniss dazu geführt^
in der neuen Strafgesetzgebung die Namhaftmachung der einzelnen
Formen zu unterdrücken und nur noch den generellen Begriff „Geistes-
krankheit" festzuhalten. Die Civilgesetzgebung ist in dieser Beziehung
hinter der Strafgesetzgebung zurückgeblieben. Eine generelle Fassung
würde auch hier genügen, denn schliesslich ist die Entscheidung doch
immer in die Hände des Richters gegeben und der sachverständige
Nachweis der bürgerlichen Insufficienz wird ihn in den Stand setzen,
jeweils das Richtige zu treffen. Er befindet sich zudem in einer
besseren Lage als der Strafrichter, weil ja Proben dieser geistigen
socialen Insufficienz, falls der Entmündigungsantrag begründet ist,
zur Genüge vorliegen. Die Unhaltbarkeit der bezüglichen preussi-
schen Gesetzgebung, wo nicht nur einzelne psychopathische Zustände
namhaft gemacht, sondern auch in wissenschaftlich ganz unbrauch-
barer Weise definirt sind, ist bekannt.
Die Versuche von Neumann (op. cit.), die wissenschaftlich un-
haltbaren gesetzlichen Termini praktisch brauchbar zu machen, so-
wie der von Liman (op. cit. p. 428) vorgeschlagene Ausweg für die
J
Die Dispositionsfähigkeit aufhebende psychopathische Zustände. 335
Praxis, lassen den Wunsch nach einer radikalen Reform durch Aus-
merzung dieser Ausdrücke gleichwohl fortbestehen. Thatsächlich ist
der Sachverständige in Preussen in der Regel genöthigt, da wo die
Wissenschaft den Fall als Wahnsinn rubriciren müsste, sich für
Blödsinn „im Sinne des Gesetzbuchs" und umgekehrt auszusprechen.
Eine wichtige praktische Frage bleibt, abgesehen von aller ge-
setzlichen Terminologie; die Untersuchung, welche psychopathische
Zustände es sind, die die Verfügungsfreiheit beschränken oder auf-
heben und aus welchen, durch sie hervorgebrachten Störungen des
psychischen Mechanismus, sie diese rechtliche Wirkung haben dürften.
Vollständig ignorirt werden von der Gesetzgebung die melan-
cholischen und hypochondrischen Gemüthsleiden. Gleichwohl kommen
Fälle vor, wo derartige „vernünftige" Kranke einen Curator be-
nöthigen. Es ist bei solchen Kranken die sogenannte Abulie, ihre
Willen- und Muthlosigkeit, welche sie vielfach verhindert, ihre Rechte
und Interessen wahrzunehmen und ihren bürgerlichen und Berufs-
pflichten nachzukommen. Dann gibt es Melancholische, die auf Grund
von Präcordialangst , krankhafter Selbstunterschätzung, Gewissens-
hyperästhesie über frühere Sünden und Vergehen, um Busse zu thun,
den Himmel zu versöhnen, Hab und Gut den Armen oder der Kirche
schenken und damit sich finanziell ruiniren.
Auch die Zustände maniakalischer Exaltation, blosser Mania
sine delirio kennt das Gesetzbuch nicht. Trotz äusserlicher Besonnen-
heit sind solche Kranke unzweifelhaft der Vernunft beraubt (vgl. p. 110)
und mehr als jeder andere Geistesgestörte einer schleunigen Curatel
bedürftig, da sie in ihrem gesteigerten Selbstgefühl, ihrem Unter-
nehmungsdrang sich in die gewagtesten, ihre finanzielle Kraft weit
übersteigenden Spekulationen verwickeln, Zeit und Geld auf zweck-
losen Reisen vergeuden, in ihrer geschlechtlichen Erregung in Liebes-
affairen gerathen, in welchen sie ausgebeutet und geplündert werden,
Heirathsver sprechen machen, die Stand und Verhältnissen nicht an-
gemessen sind und so in kürzester Frist ein von Generationen müh-
sam erworbenes Vermögen verschwenden und verpuffen.
Dies gilt namentlich für die Fälle, wo die maniakalische Ex-
altation das Prodromalstadium einer Dementia paralytica bildet.
Aus dem Zustand des Wahnsinnigen ergeben sich 2 Umstände,
welche die Verfügungsfreiheit unmöglich machen. Einmal ist hier
eine neue psychische Persönlichkeit an die Stelle der alten getreten,
die nicht im Stand ist, die der früheren Persönlichkeit zukommenden
Rechte und Pflichten wahrzunehmen, andererseits besteht die Gefahr,
336 Cap. I. Die Dispositionsfälligkeit.
dass der Kranke Hab und Gut im Interesse der neuen krankhaften
Persönlichkeit, im Sinne seiner ausschweifenden Pläne und Wahn-
ideen vergeudet. Bei manchen dieser Kranken kehrt mit der Zeit
äusserlich wenigstens die Besonnenheit wieder. Thatsächlich treten
solche Kranke zuweilen wieder in's bürgerliche Leben ein und be-
kunden die Fähigkeit einer Selbstführung, Es sind dies jedoch nur
seltene Ausnahmen. Die wissenschaftliche Regel lautet, dass solche
Individuen immer mehr oder weniger unter der Herrschaft ihrer fixen
Idee stehen, dadurch Gefahr laufen, ihre materiellen Interessen und
bürgerlichen Pflichten zu schädigen.
Bei den secundären und congenitalen Schwächezuständen be-
stehen unendliche Gradunterschiede zwischen der blossen Dummheit
und Einfältigkeit einer- und dem apathischen Blödsinn und Idiotis-
mus andererseits.
lieber die Extreme wird kein Zweifel sein; die Mittelstufen
entziehen sich einer generellen Betrachtung und nöthigen zum Stu-
dium des concreten Falls. Es wird hier wesentlich nach den In-
tentionen des Gesetzgebers darauf ankommen , ob das Individuum
fähig ist, die Folgen seiner Handlungen zu beurtheilen und sich dar-
nach zu bestin^men. Es ist nicht zu läugnen, dass viele Schwach-
sinnige ganz gut im Stand sind, in den gewöhnlichen Verhältnissen
des Lebens ihre Interessen wahrzunehmen und ihre bürgerlichen
Pflichten zu erfüllen, aber es verdient andrerseits Beachtung, dass
solche Individuen wegen ihres eng begränzten ethischen und intellek-
tuellen Horizonts unbeständig in ihrem Wollen, leicht verführ- und
bestimmbar sind und von Vollsinnigen leicht übervortheilt und aus-
gebeutet werden.
Auch die Dispositionsfähigkeit der Taubstummen erscheint frag-
lich, theils wegen der hier in der Regel bestehenden Unvollkommen-
heit der Ausbildung der geistigen Fähigkeiten, theils wegen der un-
genügenden, im besten Fall auf die Schrift- oder Zeichensprache
beschränkten Mittheilungsfähigkeit. Die Gesetzgebung präsumirt gegen-
über Fällen von congenitaler oder vor Entwickelung des Seelenlebens
eingetretener Taubstummheit die Unfähigkeit bürgerlicher Selbst-
ständigkeit und hält sie so lange aufrecht, als nicht ärztlich das
erforderliche Mass geistiger Kräfte und Mittheikmgsfähigkeit con-
statirt wird.
Nach §. 275 des österr. A. B. G.-B. bleiben Taubstumme, wenn sie zugleich
blödsinnig sind, beständig unter Vormundschaft; sind sie aber nach Antritt des
25. Lebensjahrs ihre Geschäfte zu verwalten fähig, so darf ihnen wider ihren
Taubstamme. FragKche Dispositionsfähigkeit. 337
Willen kein Curator gesetzt werden, nur dürlen sie vor Gericht nie ohne einen
Sachwalter erscheinen.
Das A. L.-R. Thl. II, Tit. XVIII, §. 15 verfügt:
Taubstumm Geborene, ingleichen Diejenigen, welche vor zurückgelegtem
14. Jahr in diesen Zustand gerathen sind, müssen, sobald sie nicht mehr unter
väterlicher Aufsicht stehen, vom Staat bevormundet werden.
§. 819. Wenn auch der Fehler am Gehör und der Sprache behoben ist,
so muss dennoch erst untersucht werden, ob nicht etwa Blödsinn oder^chwäche
des Verstandes die Fortsetzung der Vormundschaft nöthig machen.
Das entscheidende Gewicht wird von der Gesetzgebung in den
Intelligenzzustand des Taubstummen gelegt.
Im Allgemeinen dürften sich gegenüber der Frage der Ver-
fügtmgsfreiheit zwei Kategorien von Taubstummen unterscheiden
lassen :
1) Solche, die mit Erfolg Unterricht genossen haben oder erst-
nach theilweise schon entwickeltem Seelenleben durch einge-
tretene Taubheit an der Fortentwicklung gestört wurden.
2) Solche, die congenital mit einem die Taubheit begründenden
unheilbaren Gehörfehler behaftet sind und keinen, oder keinen
erfolgreichen Unterricht genossen haben.
Die Ersteren wären im Allgemeinen den Schwachsinnigen, die
Letzteren den Blödsinnigen gleichzustellen. Nur selten (vgl. Casper-
Liman Hdb. p. 823) gelingt es dem Unterricht, einen entwicklungs-
fähigen Ts. bis zu Höhe der Dispositionsfähigkeit zu bringen. Es
sind desshalb gesetzliche Beschränkungen zum Schutz der Ts. und
die Präsumption ihrer bürgerlichen Insufficienz (beweisende Fälle
Casper-Liman Fall 301, 303, 305, 306, 307) berechtigt. Nur dann,
wenn der Ts. der Schriftsprache vollkommen mächtig ist, kann von
seiner Dispositionsfähigkeit die Rede sein. Die Expertise muss
übrigens, abgesehen von der Fähigkeit der Gedankenmittheilung, auch
die Intelligenz als solche prüfen, da die Ts.heit nach sich ziehenden
Hirnerkrankungen nicht selten an und für sich organisch und nicht bloss
funktionell die Entwicklung des Geistes schädigen. Es wäre wünschens-
werth wenn Ts. bürgerliche Akte nur öffentlich und schriftlich vor-
nehmen könnten.
Nahe stehen der Taubstummheit in civilrechtlicher Beziehung
die Zustände der Aphasie. ^) Hier handelt es sich um Unfähigkeit
') Literatur: Kussmaul, die Störungen der Sprache, Ziemssen's Handb. 1877.
Lefort, Annal. d'hygiene 1872, Oct. Falret ebenda 1869, April. Billod, Ann. med.
psych. 1877, Mai. Finance, Tetat mental des aphasiques, Paris 1878. Hughes-,
Journal „the Alienist" 1880.
V. Kraf ft-Ebing, geriohtl. Psycliopatliologie. 2. Auflage. 22
338 C^P- I- Die Dispositionsfähigkeit.
oder wenigstens erschwerte Fähigkeit die Gedanken sprachlich (münd-
lich^ schriftlich, durch Zeichen) zum Ausdruck zu bringen. In der
Kegel besteht gleichzeitig Geistesschwäche, da durch die Ursachen
(Trauma, ausgebreitete Gefässerkrankungen etc.) der Aphasie, die
Hirnrinde nicht bloss in der Gegend des Sprachcentrums, sondern
diffus erkrankt ist. Jedoch kommen auch reine d. h. nicht mit
Geistesschwäche complicirte Fälle von A. vor, so dass aus dem Vor-
handensein von A. nur das Bestehen einer Hirnkrankheit an und für
sich gefolgert werden kann und die Ermittlung des Geisteszustands
noch besonders stattfinden muss. Diese Ermittlung ist schwierig, die
Gefahr, dass bei gleichzeitiger Worttaubheit und Paraphasie der
aphasische Zustand mit Verwirrtheit oder Blödsinn verwechselt werde,
naheliegend. Das äussere Verhalten des Kranken, die Correktheit
seiner Handlungen, die Erkenntniss, dass er falsche Worte spricht
oder schreibt, die Befriedigung wenn man ihm das richtige Wort
vorsagt, seine Fähigkeit die Bedeutung des Objekts trotz fehlendem
Ausdruck dafür anzugeben, sprechen für erhaltene Geistesintegrität.
Da die A. unendlich viele klinische Modificationen, Gradstufen imd
Complicationen bietet, kann bezüglich der Frage der Dispositions-
fähigkeit jeder Fall nur als ein concreter betrachtet und als solcher
beurtheilt werden.
Uebersichtlich lassen sich 3 Gruppen Aphasischer aufstellen :
1) Die Intelligenz ist erloschen oder sie ist zwar vorhanden, aber
es besteht absolute Unmöglichkeit, sei es durch Worte, sei es
durch Schrift (Vergessensein der zum Schreiben nöthigen Be-
wegungsanschauungen, Agraphie), die Gedanken zu entäussern.
Ein solcher Kranker steht auf gleicher Stufe der Leistungs-
fähigkeit mit dem unentwickelten Taubstummen,
2) Der Umfang der intellektuellen Leistungen ist nur beschränkt,
aber diese sind nicht aufgehoben, ebensowenig die Fähigkeit
zur Mittheilung. Hier besteht ein analoges Verhältniss wie
beim entwickelten Taubstummen.
3) Die Intelligenz ist unversehrt, nur die Fähigkeit zur Gedauken-
mittheilung behindert. Es wird hier ganz auf den Grad dieser
Behinderung ankommen und allenfalls §.16 Tit. XVIII, Thl. II
A. L.R. heranzuziehen sein, wornach Diejenigen, welche erst
in späteren Jahren taubstumm geworden sind, nur alsdann
unter Vormundschaft genommen werden müssen , wenn sie
durch allgemeinverständliche Zeichen sich nicht ausdrücken
können und daher ihre Angelegenheiten zu besorgen ganz un-
Aphasie. Lucida intervalla. 33g
fällig sind. Solche Fälle sind oiFenbar auch im A. L.R., Thl. I,
Tit. V, Thl. II, Tit. XVIII vorgesehen, wornach Krankheiten und
körperliche Gebrechen, insofern die Geisteskräfte dadurch nicht
beeinträchtigt sind, vom Gesetzbuch nur insofern berücksichtigt
werden, als das Gebrechen ein Hinderniss abgibt, sich ver-
ständlich zu machen und daher seine Angelegenheiten zu be-
sorgen. Hier ist je nach Umständen Entmündigung oder Ver-
beiständung zulässig.
Im österr. bürgerl. Gesetzbuch lassen sich solche Fälle von
Aphasie unter §.21 und 269 subsumiren, in Frankreich unter §. 489
des Cod. civ.
Eine besondere Beachtung findet endhch von Seiten der Gesetz-
gebung der bei Geisteskrankheit mögliche Zustand des lucidum inter-
vallum.
Schon das römische Recht behandelt die Frage der wiedereintretenden
Verfügungsfreiheit in diesem intervallum. Ob eine etwa angeordnete Curatel
während dieser Zeit hinfällig sei, blieb Streitfrage unter den römischen Juristen.
Die Testir- und Zeugnissfähigkeit ward zugestanden. Der Code Napoleon nimmt
auf lue. intervalla keine Rücksicht und verfügt die Entmündigung, selbst wenn
lichte Zwischenzeiten vorhanden sind. (art. 489.) Das österr. Gesetzbuch enthält
keine ausdi-ückliche Verfügung wegen des lue. interv. Da die Dispositionsunfähig-
keit wegen Wahnsinns und Blödsinns durch die Krankheit und nicht durch die
etwaige Curatel bedingt ist, so steht kein Grund entgegen eine Handlungsfähig-
keit im Zustand des lucid. interv. anzunehmen, aber dieses mus'^s als zur Zeit
des Akts thatsächlich vorhanden erwiesen sein. Es ist dabei gleichgiltig, ob der
fraglich Dispositionsfähige schon unter Curatel stand oder nicht.
Preussen erkennt die Verfügungsfreiheit im 1. int. an, aber nur solange,
als nicht Curatel verhängt ist. Bezüglich der Abschliessung lästiger Verträge be-
stimmt die allg. preuss. Gerichtsordnung Thl. II, Tit. III, §. 9, dass Personen, welche
nur zuweilen an Abwesenheit des Verstandes leiden, im Allgemeinen zur Ab-
schliessung solcher nicht zugelassen, sondern unter Curatel gestellt werden sollen.
Im dringenden Fall hat der Richter übrigens, wenn nöthig mit Zuziehung eines
Arztes, das lue. int. zu constatiren, dem Contrahenten zum Akt einen Gerichts-
beistand zu ernennen und das Protokoll so abzufassen, dass aus demselben mit
Sicherheit hervorgeht, dass der Akt im 1. int. abgeschlossen wurde.
Sollte aber das Geschäft vor seiner Abschliessung durch einen neuen
Krankheitsanfall gestört werden, so sind alle bisherigen Verhandlungen als nicht
geschehen zu betrachten und es muss nach erfolgter Wiederherstellung des Contra-
henten die Verhandlung von Neuem aufgenommen werden.
Aus den bezüglichen gesetzlichen Bestimmungen ergibt sich un-
zweifelhaft ein gewisses Misstrauen, mindestens eine grosse Vorsicht
des Gesetzgebers gegenüber den lucid. intervallis. Die Wissenschaft
rechtfertigt dieselbe, indem sie lue. int. nur als seltene und äusserst
340 Cap. I. Die Dispositionsfälligkeit.
schwer von blossen Remissionszuständen der Krankheit unterscheid-
bare Lebenszustände anerkennt. Selbst beim periodischen Irresein,
wo man noch am meisten Berechtigung zur Annahme von 1. i. hätte,
ergibt eine genaue Beobachtung sie nur sehr selten als ganz rein.
Wissenschaftlich möglich sind sie bei Melancholie, Manie, Wahnsinn,
unmöglich in Zuständen von Verrücktheit und Blödsinn. Die Er-
fahrung, wornach bei secundärem Blödsinn während der Dauer fieber-
hafter Krankheiten temporäre Herstellung der „Intelligenz" beob-
achtet wurde, ist mit grosser Vorsicht aufzunehmen. Die Frage, ob
ein lue. int. vorhanden gewesen sei, ist eine ganz concrete, einer all-
gemeinen und Kriterien angebenden Betrachtung unzugängliche. Bei
der Seltenheit dieser Zustände muss eine starke Präsumption gegen
sie gerichtlich festgehalten werden. Wie im Criminalforum wäre es
auch in der civiKstischen Praxis am besten, dem lue. int. keine prak-
tische Geltung zu verstatten.
Beob. 128. Gestörte Hirnentwicklung durch apoplectisclien In-
sult. Fragliche aber vorhandene Dispositionsfähigkeit. Anna K.,
24 J. alt, leidet an rechtsseitiger Facialislähmung, das linke Auge ist amaurotisch
mit weiter unbeweglicher Pupille. Sprache stotternd. Convulsivische Bewegungen
auf der linken Gesichtshälfte beim Sprechen. Rechter Arm paretisch und etwas
zitternd. Die erwähnten Störungen sind die Residuen eines apoplectisclien Insults,
den Patientin mit 2 Jahren erlitt. Sie hat Lesen, Schreiben, Rechnen gelernt,
das Hauswesen geführt. Sie lernte mühsam, zeigte aber klares Selbstbewusstsein,
richtige Auffassung der Beziehungen zur Aussenwelt und die Fälligkeit Erfahrungen
und richtige Beobachtungen an sich und Anderen zu machen.
Das Gutachten bezeichnet die K. als zwar geistig beschränkt , nicht aber
als geistesschwach. Wohl aber ist die Fähigkeit den Grad ihrer intellektuellen
Entwickelung zur Geltung zu bringen, so beschränkt, dass sie der K. das Zeug-
niss geistiger Schwäche eingetragen hat. Es handelt sich hier um einen jener
nicht seltenen Fälle, wo die Behinderung der Entäusserung falsche Urtheile über
den geistigen Besitz hervorrief. (Vierteljahrschr. f ger. Med., 1873 H. 1.)
Beob. 129. Epileptischer Schwachsinn. Beantragte Blöd-
sinnigkeitserklärung. Eine 32 Jahre alte geschiedene, von ihrem Haus-
wirth geschwängerte, zur Anwendung von Abortiva verleitete, desslialb criminell
verfolgte Frau. Die Verwandten provociren die Blödsinnigkeitserklärung.
Das zu diesem Zweck erstattete Gutachten weist klar nach, dass Explorata
an epileptiscliem Schwachsinn leide, auf Grund hochgradiger erblicher Belastung.
Die einzelnen Züge des Kranklieitsbilds (vertiginöse und convulsive, seit dem
12, Jahr bestehende Anfälle, traumartiges Handeln im Anschluss an dieselben,
abnorme Reizbarkeit, grundloser Stimmungswechsel, wuthartige Ausbrüche etc.)
weisen mit Bestimmtheit auf die epileptische Basis hin. Das Bild geistiger
Störung wird vervollständigt .durch die Insufficienz der psychischen Leistungen
in jeder Hinsicht, durch Gedächtnissschwäche , Hallucinatioiien, Erscheinungen
Beob. 130. Taubstummheit. Fragliche Dispositionsfähigkeit. 341
von Delir emotit, Angstziitalle. Verlasser findet mit Recht keinen Anstand, eine
Frau, welche an so häufigen epileptischen Anfällen leidet, welche so nervös und
reizbar ist, dass sie durch ihr unangenehme "Geräusche verstimmt und zu Zornes-
ausbrüchen gereizt wird, welche im Allgemeinen schwachsinnig, eine ziemlich
bedeutende Gedächtnissschwäche und Urtheilslosigkeit verräth, sich ^^'illenlos
und indifferent bei wichtigen Lebensverhältnissen zeigt, für gewöhnlich deprimirter
Stiminung ist, in ihrer Stimmung aber durch jede körperliche Störung oder
äussere Einwirkung beherrscht wird, zeitweise Sinnestäuschungen unterworfen ist
und dieselben in ihrem Bewusstsein wie wirklich Erlebtes aufnimmt, welche end-
lich an Anfällen leidet, in denen sie unbewusst und ohne nachherige Erinnerung
verschiedene Handlungen begeht und ausserdem öfters Selbstmordversuche ge-
macht hat — für unfähig die Folgen ihrer Handlungen zu überlegen resp. für
blödsinnig im Sinn des Gesetzes zu erklären.
E. wurde für blödsinnig erklärt und von der Untersuchung gegen sie Ab-
stand genommen. (Sander, Vierteljahrschr. f. ger. Med. N. F. XVII. H. 2.)
Beob. 130. Taubstummheit. Fragliche Dispositionsfähigkeit.
Die taubstumme Jahn ersucht bei Gericht um die Einsetzung in ihre bürgerlichen
Rechte und in ihren Besitz, da sie physisch grossjährig und, wenn auch taub-
stiimm, nicht blödsinnig (§ 27-5 d. Oesterr. A. B. G.-B.) sei.
Die J. ist 29 Jahre alt, Dienstmagd. Sie soll bis zum 6. Monat gehört, durch
einen eiterigen Ohrenfluss das Gehör verloren haben. Sie wurde in einem Taub-
stummeninstitut während 6 Jahren unterrichtet und erwarb sich die Fähigkeit
des Lesens, Schreibens und Rechnens. Der Taubstummenlehrer erklärt, dass sie
wegen zu kurzen Verweilens im Institut nur ganz oberflächliche Kenntnisse er-
worben habe und ihr so mancher Begriff unklar geblieben sei. Die Gemeinde-
beamten halten sie für blödsinnig und fürchten, dass, wenn sie ihr Vermögen
zur Selbstverwaltung bekäme, ihre Schwester dasselbe an sich risse und die J.
der Gemeinde dann zur Last fiele. Die Schwester macht dagegen geltend, dass
die J. bis auf ihre Taubstummheit sei wie andere Leute, Lesens und Schreibens
kundig sei, zur vollsten Zufriedenheit ihrer Dienstherrschaft diene, Einkäufe
selbständig besorge etc. Im Termin vom März 1874 erscheint die J. Lesens
und Schreibens kundig, beantwortet die schriftlich gestellten Fragen grossentheils
richtig, manche jedoch ganz verkehrt. Der Satzbau ist ein unvollkommener, etwa
dem eines Kindes, das zu sprechen beginnt, ähnlich. Sie kennt den Werth des
Geldes, der Lebensbedürfnisse, verrichtet anstandslos Subtractionen , besitzt -aber
nur unklare Begriffe von abstrakten Dingen, z. B. Erbschaft, Kapital, Zins, kennt
nicht die Höhe ihres Vermögens, dessen Bestandtheile etc.
Die Sachverständigen geben ihr Gutachten dahin, dass J. zwar nicht blöd-
sinnig ist, aber nur eine unvollkommene Erziehung im Taubstummeninstitut ge-
nossen hat, abstrakte Begriffe, wie Vermögen, Zins, Schuldbrief etc. nicht oder
nur unvollkommen besitzt, als Magd zwar brauchbar ist, sich in der gewohnten
und beschränkten Alltagssphäre selbständig zu bewegen weiss, nicht aber in
Ausnahmsverhältnissen. So hält sie ihr Geld für gut angelegt, wenn sie es todt-
liegend im Bette verwahrt hat, für gesichert, wenn ihr Jemand einen Schuld-
brief ohne alle hypothekai'ische Deckung ausstellt. Die J. erscheine demnach
in so hohem Grad geistesbeschränkt, dass die Einsetzung in die Eigenverwaltung
ihres Vermögens bedenklich erscheine. .Das Gericht verhängte über die J. wegen
342 Cap. I. Die Dispositionsfähigkeit.
„Schwachsinns" die Fortdauer der Curatel. Die J. recurrirte durch einen Sach-
walter.
Das requirirte Zeugniss der Direction des Taubstummeninstituts hält die J.
für dispositionsfähig, findet es jedoch räthlich, wenn ihr Vermögen in der Kasse
des Instituts deponirt werde.
Die Angehörigen machen geltend, dass die J. seit Jahren ja selbständig
war, zur vollen Zufriedenheit diente, sich Geld sparte, für dessen Anlegung in-
einer Sparkasse besorgt war, kurz zeitlebens in ihren Verrichtungen ganz suffi-
cient und normal erschien. Die Dienstboten, mit welchen die J. diente, bezeugen
ihre völlige Brauchbarkeit, selbst zum Besorgen von Wechseln grösserer Geld-
beträge, den leichten geschäftlichen Verkehr mit ihr, so dass man nur selten ihr
etwas aufzuschreiben brauchte.
Im neuen Termine vom Juli 1875 erscheint die J. in Haltung und Be-
nehmen tadellos. Ihre Gesichtszüge deuten auf geistiges Leben, körperlich finden
sich ausser ihrer Taubstummheit keine Anomalien. Der Verkehr mit ihr geschieht
durch einen Taubstummenlehrer mittelst Zeichensprache. Es bedarf vielfach
einer mehrmaligen Umschreibung und concreterer Fassung, bis sie den Sinn der
Frage versteht. Sie äussert den Wunsch ihr Vermögen zu bekomhien, weil sie
dem Vormund misstraue; sie will es in der Sparkasse anlegen, berechnet im Kopfe
dass 1400 fl. zu 5 % 70 fl. Zins machen, hält Leute die 10 % geben für Betrüger,
will ihr Geld den Geschwistern vermachen, im Fall diese nicht mehr leben, den
Armen. Die Frage, ob ihr Vermögen in Baarem oder liegenden Gütern bestehe,
versteht sie nicht. Sie kennt die Bedeutung des Termins, der Sachverständigen,
weiss, dass man vor Gericht klagen kann, dass die Ehe untrennbar, „die Schwe-
ster darf ja auch nicht von ihrem Mann fort". Ihr Geld werde sie Niemand
geben, nicht einmal der Schwester, weil diese ohnehin genug habe.
Gutachten. Explorata ist nicht blödsinnig. Es kann sich hier nur um
die Frage handeln, ob sie fähig ist ihre Geschäfte zu verwalten. Die Entschei-
dung ist Sache des Richters, Aufgabe der Sachverständigen kann nur sein die
ps3^chologischen Bedingungen einer bürgerlichen Selbständigkeit hervorzuheben
. und zu untersuchen, ob diese Bedingungen im geistigen Mechanismus der J. vor-
handen sind. Der J. sind ohne Zweifel eine Reihe von Rechtsverhältnissen und
Normen des öffentlichen und Rechtslebens geläufig. Sie hat Begriffe von Eigen-
thum, kennt die sociale Bedeutung von Geld und Gut, besitzt eine gewisse Ein-
sicht in Rechtsmittel und Rechtswohlthaten. Thatsächlich sind aber diese Be-
griffe-, namentlich da, wo sie abstrakte und rechtliche Verhältnisse berühren,
dürftig. Wie bei so vielen geistig nicht vollkommen Ausgebildeten, entwickeln
sich ihre Begriffe nicht aus der Abstraktion einer grösseren Summe von That-
sachen, sondern aus der dürftigen Anlehnung an ein concretes Beispiel und der
Schlussfolgerung aus diesem. So weiss sie z. B., dass die Ehe nach Landes-
gesetzen untrennbar, aber die Berechtigung zu diesem Schluss schöpft sie aus
der Thatsache, dass die Schwester nicht von ihrem Mann fortkann. Eine andere
Frage ist die, ob neben diesem dürftigen geistigen Besitz auch die nöthige Ur-
theilskraft und Selbständigkeit der Entschliessung vorhanden sind, um im öffent-
lichen Leben jeweils das eigene Interesse wahrzunehmen.
Die geistige Sufficienz der J. ist zwar in der Küche und im Kleinverkehr
des Markt- und Alltagslebens erprobt, nicht aber im selbständigen Contakt mit
dem öffentlichen Recht und Gesetz. Sie. hat zwar ihr Programm, wie sie ihr
Beob. 131. Schwachsinn. Aphasie. Beantragte Curatel. 343
Geld zu verwahren gedenkt, aber es besteht keine Garantie, dass nicht Bitten,
Drohungen , Vorspiegelungen etc. die gutniüthige und geistig völlig von der
Schwester dominirte J. zur Aendei'ung ihrer Intentionen bewegen und die Sicher-
heit ihres Besitzes gefährden. Viel gewichtigere Bedenken veranlasst aber die
Unvollkommenheit des Gedankenaustauschs der J. mit der Aussenwelt. Sie ist
auf die kunstmässigen Zeichen — und die Schriftsprache beschränkt. Jener kann
sie nur im Verkehr mit dieser Sprache mächtigen Individuen sich bedienen, aber
selbst hier, wie sich im Termin ergibt, versteht sie den Sinn der Frage erst nach
wiederholter und variirter Stellung derselben, wobei der Dolmetsch ihr abstrakte
Vorstellungen erst iimschreiben, beispielsweise klar machen muss. Angenommen
selbst, dass Jedermann die künstliche Zeichensprache der Taubstummen verstände,
wäre doch der Gedankenaustausch der J. im Gebiet übersinnlicher Vorstellungen
ein unvollkommener durch die Unklarheü dieser. Aber auch die Schriftsprache
■der J. ist unvollkommen ausgebildet. Sie versteht einzelne Fragen gar nicht,
andere falsch , und ihre ganze Satzbildung entspricht der eines Kindes , das zur
Schule geht..
Die Sachverständigen geben ihr Gutachten dahin ab : Die H. J. ist nicht
blödsinnig, aber ihre übersinnlichen Begriffe sind unvollkommen ausgebildet und
soweit sie Normen des öffentlichen und des Rechtslebens betreffen, ungenügend.
Die Fähigkeit eines schriftlichen Verkehrs mit der Aussenwelt ist eine unvoll-
kommene. (Eigene Beobachtung.)
Beob. 131. Schwachsinn. Hemiplegie. Aphasie. Beantragte
Curatel. Es handelt sich um einen Greis mit Schwäche des Erkenntnissver-
mögens, mit Unfähigkeit, sich d,er entsprechenden Worte zu erinnern und zu
bedienen. E. ist nicht wahnsinnig, auch nicht blödsinnig. Für die einfachsten
Verhältnisse hat er sowohl Vorstellungen als Worte, nicht so aber für die Aussen-
welt und seine rein geistigen Beziehungen. Hier fehlen ihm nicht nur die Vor-
stellungen, sondern auch die Worte. Bei der vollkommenen körperlichen und
geistigen Hilflosigkeit des E., der Unmöglichkeit, sich auf unzweifelhafte Art mit
seinen Nebenmenschen zu verständigen, ist seine gesetzliche Inschutznahme ge-
boten , wenn auch sein Zustand weder als Wahn- noch als Blödsinn bezeichnet
werden kann. • (Heschl, Wien. med. Wochenschr. 1868, Nr. 21, 22, 23.1
Dahingehörige weitere Fälle: Annales d'hygiene publ. 1869, avril
(Aphasie). Annal. med. psycho]. 1867, Mai (Melancholie mit Sinnesdelirien im
Uebergang zu Blödsinn). Friedreich's Blätter 1871, H. 3 (psych. Schwächezustand
nach Melancholie). Henke, Zeitschr. XXV, H. 2 (VerfOlgungswahnsinn). Annal.
med. psychol. 1867, Mai (Alkoholism.. chron.). Vierteljaiirsschr. f. ger. Med.
N. F. VI, H. 2 (angeborene Geistesschwäche), ebenda 1873, H. 1 (epilept. Schwach-
sinn), ebenda N. F. VIII, H. 1 (Blödsinn im Sinn des Gesetzbuchs). Henke,
Zeitschr. Bd. 43 (Delir. tremens. Alkoholism. chron.). Casper-Liman, biol. TliL,
Fall 301 bis 307 (Taubstummheit). Irrenfreund 1867, Nr. 3 u. 4 (secundäre Geistes-
schwäche). Friedreich's Blätter 1875, Nr. 6 (paralyt. Blödsinn). Edel, Zeitschr.
f. Psj^ch. 1875, H. 5 (Provocation der Blödsinnigkeitserklärung bei einer hysterisch
Irrsinnigen. Zurückweisung der Klage, dass das Gericht die Geisteskrankheit
übersah). Sander, Archiv f. Psych. I, H. 3 (Blödsinn). Arndt, Viertel] ahrsschr.
f. ger. Med. N. F. XIX, H. 2 (Alkoh. chron. Fragliche Zulässigkeit der Grossjährig-
keitserklärung). Sander, Viertelj ahrsschr. f. ger. Med. N. F. XXIV, H. 2 (erbliche
Belastung, geistige Schwäche).
344 Gap. IL Das Entmündigungsverfahren.
Cap. II. Das Entmündigungsverfahren.
Gesetzl. Bestimmungen: A. L.-R. Till. II, Tit. XVIII §§. 13 u. 14. Wahn- resp.
Blödsinnige müssen durch richterliches Erkenntniss in Folge eines gericht-
lichen Verfahrens für das erklärt werden, was sie sein sollen.
Oesterr. A. B. G.-B. §. 273. Für wahn- oder blödsinnig kann nur
Derjenige gehalten werden, der nach genauer Erforschung seines Betragens
und nach Einvernehmung der vom Gericht dazu verordneten Aerzte gericht-
lich dafür erklärt ist.
Deutsch. C.-P.-O. §. 593. Eine Person kann für geisteskrank (wahn-
sinnig, blödsinnig u. s. w.) nur durch Beschluss des Amtsgerichts erklärt
werden. Der Beschluss wird nur auf Antrag erlassen.
Das processualische Verfahren, auf Grund dessen das Urtheil ob
Jemand unter Curatel zu stellen sei, gefäUt wird, ist durch Process-
ordnungen bestimmt. Derjenige, dessen Entmündigung beantragt wird,
erscheint dabei als der Beklagte, der darauf Antragende als Kläger.
Auf Grund der Anklagedocumente des Klägers , falls sie hinlänglich
erscheinen, verfügt der zuständige Richter des Beklagten die Anklage-
stellung. Es wird dem Angeklagten der Process gemacht, es werden
Zeugen verhört, Sachverständige vernomtnen und falls die Schuld resp.
die Dispositionsunfähigkeit des Exploraten gegenüber dem Gesetz er-
wiesen ist, vom Gerichtshof das Urtheil gefällt.
Bezüglich der Normen des processualischen Verfahrens differiren
die verschiedenen Processordnungen.
1. Das deutsclie Entmündigungsverfaliren.
Civilprocessordnung: §. 595. Der Antrag (auf Entmündigung) kann von
dem Ehegatten, einem Verwandten, oder dem Vormunde des zu Entmündigen-
den gestellt werden. • Gegen eine Ehefrau kann nur der Ehemann , gegen
eine Person, welche unter väterlicher Gewalt oder unter Vormundschaft steht,
nur von dem Vater oder dem Vormunde der Antrag gestellt werden. In
allen Fällen ist auch der Staatsanwalt bei dem vorgesetzten Landgericht zur
Stellung des Antrags befugt.
§. 596. Der Antrag kann bei dem Gerichte schriftlich eingereicht oder
zum Protokoll des Gerichtsschreibers angebracht werden. Er soll eine An-
gabe der ihn begründenden Thatsachen und die Bezeichnung der Beweis-
mittel enthalten.
§. 597. Das Gericht hat unter Benutzung der in dem Antrag ange-
gebenen Thatsachen und Beweismittel von Amtswegen die zur Feststellung
des Geisteszustands erforderlichen Ermittlungen zu veranstalten und die
geeignet erscheinenden Beweismittel aufzunehmen. Das Gericht kann vor
Das deutsche Entmündigungsverfahren. 3.45
Einleitung des Verfahrens die Beibringung eines ärztlichen Zeugnisses an-
ordnen.
§. 598. Der zu Entmündigende ist persönlich und unter Zuziehung
eines oder mehrerer Sachverständiger zu vernehmen. Die Vernehmung kann
unterbleiben, wenn sie nach Ansicht des Gerichtes schwer ausführbar oder
für die Entscheidung unerheblich Ist oder für den Gesundheitszustand des
zu Entmündigenden nachtheilig ist.
■§. 599. Die Entmündigung darf nicht ausgesprochen werden bevor
das Gericht einen oder mehrere Sachverständige über den Geisteszustand
des zu Entnlündigenden gehört hat.
§. 600. Sobald das Gericht die Anordnung einer Fürsorge für die
Person oder das Vermögen des zu Entmündigenden für erforderlich hält,
ist der Vormundschaftsbehörde zum Zweck dieser Anordnung Mittheilung
zu machen.
§. 604. Gegen den Beschluss, durch welchen die Entmündigung ab-
gelehnt wird, steht dem Antragsteller und dem Staatsanwalt die sofortige
Beschwerde zu.
§. 605. Der die Entmündigung aussprechende Beschluss kann im Wege
der Klage binnen der Frist eines Monats angefochten werden.
Das Recht zur Klage steht dem Entmündigten selbst, dem Vormund
und den im §. 595 bezeichneten Personen zu.
§. 607. Die Klage ist gegen den Staatsanwalt zu richten. Erhebt der
Staatsanwalt die Klage, so ist dieselbe gegen den Vormund des Entmündigten
als Vertreter desselben zu richten.
§. 612. Die Bestimmungen der 5§. 598 u. 599 finden in dem Verfahren
über die Anfechtungsklage entsprechende Anwendung.
Von der Vernehmung Sachverständiger darf das Gericht Abstand nehmen,
wenn es das vor dem Amtsgericht abgegebene Gutachten für genügend er-
achtet.
Die Ausführung des Urtheils, d. h. die Anordnung einer Vormundschaft
oder Curatel ist Angelegenheit der A^ormundschaftlichen Behörde, und findet ihre
gesetzliche Erledigung in einer besonderen Vormundschaftsordnung. Gegenstand
des Rechtsstreits ist nur die Feststellung der vorhandenen oder fehlenden Hand-
lungsfähigkeit.
Die lichtvolle Darstellung des obigen Verfahrens von Spinola (Archiv f.
Psychiatrie X, H. 3) betont die Thatsache, dass nicht mehr das Collegialgericht
1. Instanz, sondern der Amtsrichter im Entmündigungsprocess zuständig ist, dass
hier nicht mehr von Amtswegen eingeschritten wird , sondern nur über Antrag.
Ein Interimscurator ist nicht mehr unerlässlich , sondern dessen Bestellung dem
Ermessen des Amtsrichters überlassen. Jener wird aber nicht mehr vom Process-
i'ichter, sondern vom Vormundschaftsgericht ernannt. Die Entscheidung des
Amtsgerichts erfolgt nicht mehr durch Erkenntniss , sondern durch einfachen
Beschluss. Die Irrenanstaltsdirektion macht nunmehr die Anzeige von der Auf-
nahme eines Kranken nicht mehr beim Gericht, sondern beim Staatsanwalt, der
aber dafür zu sorgen hat, dass kein eines Vormunds bedürftiger Geisteskranker
eines solchen entbehre. Der Vorstand der Irrenanstalt hat auf Ersuchen des
Staatsanwalts oder auch von Zeit zu Zeit spontan vom Verlauf der Krankheit
Mittheilung zu machen, die Entlassung und unter welcher Eigenschaft, die Genesung,
346 Cap. II. Das (österr. und französ.) Entmündigungsverfahren.
den Todesfall anzuzeigen und namentlich wenn Unheilbarkeit eingetreten, den
Staatsanwalt zu benachrichtigen. Die Staatsanwaltschaft wird in den meisten
Fällen abwarten und selbst wenn der Patient unheilbar aber vermögenslos ist
und in einer öffentlichen Anstalt bleibt, -von der Einleitung des Entmündigungs-
verfahrens Umgang nehmen, andernfalls aber in der Lage sein, falls nicht der
Antrag von den Verwandten gestellt wird, von Amtswegen einzuschreiten.
2. Das österreicMsche Entmündigungsverfahren,
Gesetzgebung: A. B. G.-B. §.269, 270, 273. Civiljurisdictionsnorm §. 83. Ver-
ordnung d. Minist, d. Innern u. d. Justiz v. 14. Mai 1874 (R.-G.-Bl. Nr. 71)
s. f. Instruktion des k. k. O.-L.-Gerichts Wien v. 25. Januar 1874, Z. 24095
(Manz'sche Ausgabe d. A. B. G.-B. 1875, p. 78).
Es zerfällt a) in die Anzeige (Verwandte oder Irrenanstaltsdirektion) an
das Bezirksgericht, in welchem der zu Entmündigende seinen letzten Wohnsitz
hatte, dass _ derselbe irrsinnig sei mit dem Antrag ihn unter Curatel zu stellen.
b) Das Bezirksgei'icht prüft die zur Begründung des Gesuchs geltend ge-
machten Mittheilungen , indem es Vorerhebungen macht. (Protokollarische Ein-
vernahme der Angehörigen, Nachbarn, Gemeindebehörden etc.)
c) Hat sich das Gericht die Ueberzeugung verschafft, dass der Antrag be-
gründet ist, so werden 2 Gerichtsärzte mit der Ermittelung des Geisteszustands
beauftragt (Information) und d) eine Tagsatzung anberaumt, auf welcher der
Betreffende commissionell untersucht wird. Die Commission besteht aus dem
Bezirksrichter oder dessen Delegirten, A^ beiden Gerichtsärzten und dem Protokoll-
schreiber.
Der Befund dieser Untersuchung wird zu Protokoll genommen nebst den
Gutachten der Aerzte und das Protokoll von dem Richter geschlossen mit dem
Bemerken, dass er mit dem Tenor des vorstehenden Gutachtens einverstanden
sei. Ist der Richter damit nicht einverstanden, so ordnet er eine neue Tag-
satzung an.
d) Nach geschlossener Untersuchung gehen die Akten an das kaiserliche
Landesgericht. Dieses fällt nach Lage der Akten das Urtheil und publicirt
dasselbe, im Fall es auf Entmündigung lautet. Eine Berufung g'Cgen dieses
Urtheil ist nicht ziilässier.
3. Das Interdictionsverfahren nach französischem Kecht (Code Napoleon
art. 489—512. Code de procedure civile art. 890-897).
Der Antrag zur Entmündigung ist hier obligatorisch für die Anverwandten.
Er kann von dem Ehemann, der Ehefrau oder einem beliebigen Verwandten ge-
stellt werden. Ebenso kann der Staat von Amtswegen einschreiten. Die Gründe
für die Provokation, resp. die Thatsachen, welche für die Geistesstörung sprechen,
müssen schriftlich, begleitet von einem ärztlichen Zeugniss, eingereicht werden.
Das Gericht (Tribunal) beruft nun den Familienrath und hört dessen Ansicht,
bevor es das Verfahren einleitet.
Von diesena Familienrath sind übrigens Diejenigen, welche die Entmündigung
beantragt haben, ausgeschlossen.
Der ärztliche Sachverständige 'im Entmündigungsverfahren. 347
Nach Anhörung des Familienraths ist der zu Entmündigende zu vernehmen
vom Richter und Aktuar in Gegenwart des Staatsprokurators.
Nach dem ersten Interrogatorium kann das Tribunal dem Exploraten einen
vorläufigen Tutor bestellen , aber auch im Fall der Zurückweisung des Antrags
auf vollständige Entmündigung, ist das Tribunal befugt, nach Umständen dem
Exploraten einen Beistand zu ernennen, ohne dessen Mitwirkung Jener gewisse,
besonders wichtige Rechtshandlungen, wie Veräusserungen, Aufnahmen von An-
lehen etc. nicht vornehmen soll (Art. 499 C. civil).
Nach der französischen Civilprocessordnung ist die Zuziehung ärztlicher
Sachverständiger nur fakultativ und der Richter an deren Gutachten nicht ge-
bunden (Art. 323). Treten Sachverständige auf, so sollen es 8 sein, doch können
sich die Parteien darüber einigen, nur einen zu nehmen.
Die Entmündigung oder Verbeiständung tritt vom Tag der Fällung des
Urtheils an in Kraft. Dieses muss öffentlich bekannt gemacht werden. Es ist
binnen 10 Tagen auszufertigen und auf der öffentlichen Gerichtstafel, sowie den
Schreibstuben der Notare .des Bezirks anzuschlagen. Eine Berufung gegen das
Urtheil erster Instanz ist zulässig.
Der Ehemann ist der gesetzliche Vormund der Ehefrau, diese kann dazu
ei'nannt werden. Niemand, ausgenommen Ehegatten, Ascendenten und Descen-
denten, kann gehalten sein, länger als 10 Jahre eine Vormundschaft zu führen.
Der ärztliche Sachverständige im Entmündigungs-
verfahre n.
Die Stellung desselben ist die gleiche wie im Criminalprocess
(vgl. p. 20). Die Zuziehung ärztlicher Sachverständiger in diesem
Process ist so wenig zu umgehen, als bei der Frage der Zurechnungs-
fähigkeit. Sie erscheint aber auch nothwendig desshalb , weil der
Richter persönlich in Gegenwart des Angeklagten die Ueberzeugung
von dessen Handlungsunfähigkeit gewinnen soll, im Allgemeinen aber
ungeübt und unfähig sein dürfte, geeignete Fragen zu thun und
damit geeignete Antwort zu erhalten. Das Krankenexamen nament-
lich beim (geisteskranken erfordert Uebung und Sachkenntniss. Dess-
halb fällt auch in der Regel den Sachverständigen im Termine die
Führung des Colloquium mit dem Exploranden zu.
Wichtig ist die vorgängige Information über den Zustand des
Kranken. So wenig als im Criminalforum ist eine Berufung Sach-
verständiger erst zum Termin geeignet, Klarheit über einen frag-
lichen Geisteszustand zu verbreiten. Es bedarf hiezu genügender
Zeit der Beobachtung und des genauen Studiums des Vorlebens.
Die eigentliche exploratorische Aufgabe der Sachverständigen
fällt in die Zeit vor dem Termin, der für den Arzt nur nach For-
malität und wesentlich für den Richter da ist, damit dieser eine
348 Cap. II. Das Entmündigungsverfaliren .
persönliche Anschauung von dem Geisteszustand des ProVocaten ge-
winne. Das Material für die Information bilden die Vorakten und
die Informationsbesuche beim Exploranden. Für die etwa nöthige
Ergänzung jener durch Zeugenaussagen ist der Richter anzugehen.
Die Angaben der Umgebung und Verwandtschaft sind oft partheiisch
und nicht bona fide hinzunehmen. Dass negative Zeugenaussagen
nichts für Geistesintegrität beweisen^ ist selbstverständlich.
Von besonderem Werth ist das Zeugniss des Hausarztes, ferner
die sorgfältige Aufnahme der Anamnese, die Aufschluss über Gesund-
heitsverhältnisse, frühere Krankheiten, Lebensumstände, Charakter
und frühere Lebensführung gibt. Unerlässlich ist hier eine synthe-
tische Beurtheilung der Persönlichkeit , die Betrachtung ihrer Ge-
sammtleistungen , nicht einzelner Akte. Die sorgfältige Würdigung
der früheren Handlungsweise gibt hier werthvolle Winke „apertius
porro significatur dementia ex civilibus actibus* (Zachias),
Bei der veralteten Terminologie der Gesetzgebung wird die
richterliche Fragestellung auf Wahnsinn oder Blödsinn oder darauf
lauten, ob Provokat seiner Vernunft gänzlich beraubt oder unfähig
sei, die Folgen seiner Handlungen zu überlegen. Der Sachverstän-
dige wird sich so gut als möglich mit diesen Begriffen abzufinden
und die vom Gesetz gebotenen Schablonen dem concreten Fall an-
zupassen haben. Er wird erklären, dass Explorat, falls er verrückt
oder blödsinnig im Sinn der Wissenschaft, „wahnsinnig", falls er
wahnsinnig oder schwachsinnig nach wissenschaftlicher Terminologie^
„blödsinnig" im Sinne des Gesetzbuchs , sei. Vor Allem aber hat
er sich zu bemühen , ein klares Bild des Umfangs der geistigen
Funktionsstörungen zu liefern, die Unsinnigkeit der Zwecke oder der
Mittel oder der Beziehungen beider (Neumann op. cit.) in helles
Licht zu setzen und damit dem Richter, unbeirrt von aller Termi-
nologie , genügendes Beurtheilungsmaterial zu bieten. Dies dürfte
doch schliesslich der ganze Zweck des Gutachtens sein.
Für den schon durch Vorbesuche informirten Sachverständigen
wird die Abgabe des Gutachtens im Termin selbst keine Schwierig-
keiten bieten, ist er erst zum Termin berufen und erst in diesem
mit dem Provokaten bekannt geworden, so möge er sich hüten vor-
schnell zu urtheilen und erst nach dem Termin an die Erstattung
eines „motivirten" Gutachtens gehen.
Rückblicke und Desiderata. 349
Rückblick auf das E n t ni ü n d i g u n g s v e r 1' a h r e n in den v e r-
s c li i e d e n e n L ä n d e r -n und Desiderata.
Die Erfahrung lehrt, dass das Entmündigungsverfahren, wie es
in den verschiedenen Ländern zu Recht besteht, dem wirkHchen Be-
dürfniss nicht entspricht. Dieser Tadel muss theilweise auch für die
deutsche Civilprocessordnung aufrecht erhalten werden.
Jenes Verfahren schützt zwar den Staatsbürger vor ungerecht-
fertigter Beraubung seiner bürgerlichen Rechte, nicht aber den Geistes-
kranken vor Beraubung und materiellem Schaden, bevor er entmündigt
ist. Die Rolle, welche der Curator im Entmündigungsprocess spielt, ist
nicht sowohl die eines Vermögensverwalters als vielmehr die eines
Sachwalters des Kranken im Processverfahren gegen seine bestrittene
Handlungsfähigkeit.
Das processualische Verfahren des Entmündigungsprocesses ist
ein langsames, schwerfälliges. Es dauert oft Monate, bis es zur
Curatel kommt. Inzwischen sind die pecuniären Verhältnisse des
Kranken schlecht oder gar nicht gewahrt.
Es ist aber auch kostspielig und umständlich und passt offen-
bar nur auf Fälle, wo die Curatel dauernd oder für einen längeren
Zeitraum wünschenswerth ist, nicht für solche, wo der Erkrankte
nur kurze Zeit curatelsbedürftig ist. Es hat eine vollständige Hand-
lungsunfähigkeit vor Augen und führt eventuell eine solche herbei.
Damit steht es im Widerspruch mit der bürgerlichen Gesetzgebung,
die verschiedene Gradstufen einer Handlungsfähigkeit zulässt und
mit der wissenschaftlichen Erfahrung, dass Jemand geisteskrank sein
kann und doch nicht ganz ausser Stand, seine bürgerlichen Pflichten,
Rechte und Vortheile wahrzunehmen. Es gibt nur eine Zurechnungs-
fähigkeit, wohl aber verschiedene Grade der Handlungsfähigkeit.
Das übliche Entmündigungsverfahren ist vielfach inhuman, in-
sofern die processualische Behandlung des Kranken, die Mittheilung
des Urtheils an denselben, die Veröffentlichung desselben in den
Zeitungen schädlich auf seinen Gesundheitszustand einwirkt.
Das Entmündigungsverfahren schützt so den noch nicht ent-
mündigten Kranken keineswegs vqr finanziellem Schaden, die Curatel
kommt vielfach zu spät, indem der Kranke inzwischen wieder gesund
geworden oder finanziell ruinirt ist; sie ist drückend für manche
Kranke, die nicht so völlig der Vernunft beraubt oder die Folgen
ihrer Handlungen zu überlegen unvermögend sind, dass ihnen über-
haupt eine Mitwirkung in ihren Angelegenheiten abzusprechen wäre.
350 Cap. IL Das Entmimdigimgsvei'fahren.
Die Entmündigung ist eine Rechtswohlthat, wenn sie auch in
der Entziehung der Rechte besteht, aber nur dann wenn sie recht-
zeitig eintritt und die Art ihrer Verhängung dem Zustand, um dessen
willen sie ausgesprochen wird, entspricht. Wie überall in der foren-
sischen Paxis, zeigt sich auch hier die Noth wendigkeit einer indivi-
dualisirenden Behandlung der Fälle. Wird das Criminalforum dieser
Forderung durch Zulassung von Milderungsgründen gerecht, so muss
die civilistische Praxis dem Bedürfniss durch verschiedene Arten resp.
Gradstufen der Beschränkung der Handlungsfähigkeit entsprechen.
Der ersteren Forderung eines rechtzeitig eintretenden Schutzes
bedrohter materieller Interessen ist nur zu genügen durch Ernennung
eines provisorischen Curators, sobald die Erkrankung eines Gross-
jährigen zur Kenntniss der Behörde (Vormundschaftsbehörde) ge-
kommen ist, der letzteren Forderung einer individualisirenden Be-
handlung des Falls durch gesetzliche Zulassung milderer und ein-
greifenderer Arten der Bevormundung.
Der frühzeitig eintretende Rechtsschutz lässt sich nur dadurch
erreichen, dass eine Anzeigepflicht im Erkrankungsfall allen Bethei-
iigten gesetzlich obliegt, und dass die Behörde (Vormundschaftsgericht
in Deutschland, Commissioners in lunacj in England, Tribunal in
Frankreich nach Art. 497 des Code Napoleon) die Befugniss hat,
durch Verhängung einer provisorischen Curatel sofort einzuschreiten,
falls sie dies erforderlich findet, beziehungsweise der inzwischen Er-
krankte nicht in befriedigender Weise für die Besorgung seiner Ver-
mögensangelegenheiten schon durch Ernennung eines Generalbevoll-
mächtigten gesorgt hat. Nachahmenswerth für die einer Irrenanstalt
übergebenen Kranken ist auch die diskretionäre Gewalt,, welche der
jeder Anstalt beigegebene Aufsichtsrath nach dem französischen Irren-
gesetz besitzt, indem eines seiner Mitglieder, in der Regel wird dazu
ein Jurist genommen, fürsorglich einstweilen die Interessen des
Kranken vertritt.
Die Forderung einer Bemessung der gesetzlich zu treffenden
Massregeln nach dem Grad der Handlungsbehinderung, wie er durch
den geistigen Zustand des Betreffenden gegeben ist, lässt sich er-
füllen, wenn zwischen die volle Dispositionsfähigkeit und die voll-
ständige Dispositionsunfähigkeit ein Modus der bedingten Dispositions-
fähigkeit eingeschoben wird, wie ihn die französische Gesetzgebung
(Art. 499) in der Form des conseil judiciaire, der gerichtlichen Ver-
beiständung, hat. Die Akte des Kranken bedürfen hier der Gegen-
zeichnung des gerichtlichen Beistands, um gültig zu sein, ein Modus,
Desiderata. 351
der sich namentlich gegenüber heilbaren und schwachsinnigen Per-
sonen empfehlen würde. Die Letzteren hätten dann doch wenigstens
ein Recht, ihre Wünsche kund zu geben, und wären gleichzeitig vor
Schaden bewahrt, den Ersteren wäre nach ihrer Genesung der Schmerz
erspart, erfahren zu müssen, dass in ihren Intentionen entgegen-
stehender Weise über ihre Habe verfügt wurde, eine Wahrnehmung,
die zuweilen geradezu Rückfälle verschuldet.
Auch für periodische Fälle von Irresein, für die oben su*b 1 u. 2
charakterisirten Aphasischen (wo es sich immer um einen vorüber-
gehenden Zustand handeln dürfte) und die sub 1 bezeichneten Taub-
stummen dürfte diese gerichtliche Verbeiständung genügen.
Da wo der Explorat von Kindheit auf blödsinnig und entwick-
luugsunfähig ist oder an secundären Zuständen allgemeiner Verrückt-
heit und Blödsinns leidet oder an schweren Cerebralleiden unheil-
baren Charakters mit grosser Störung des Bewusstseins, wie z. B.
Dementia senilis, apoplectica, paraljtica, ist die Entmündigung am
Platz, ohne Schaden für seine Gesundheit und vom grössten privat-
rechtlichen Vortheil für ihn und seine Familie.
Wird die Entmündigung für die Fälle reservirt, wo die Hand-
lungsunfähigkeit durch ein dauerndes und unheilbares Hirnleiden
bedingt ist , so entfallen die schädlichen Wirkungen , welche das
processualische Entmündigungsverfahren und die Mittheilung des ge-
richtlichen Erkenntnisses auf heilbare Kranke vielfach ausübt.
In allen Fällen sollte übrigens der ärztliche Sachverständige
vorher über die Zulässigkeit einer gerichtlichen Verhandlung gehört
werden, wie er ja auch in Fällen zweifelhafter Haft- und Verhand-
lungsfähigkeit im Criminalforum sein Gutachten abzugeben hat.
Statt der für den Kranken wie die Familie gleich anstössigen
und vielfach in der gleichen Weise wie für Verschwender erfolgen-
den Publikation des Urtheils in den Amtsblättern und öffentlichen
Zeitungen wäre möglicherweise der in Frankreich übliche Modus
(Art, 501 C. civ.) der Publikation des Urtheils durch Anschlagung
an der öffentlichen Gerichtstafel und den Schreibstuben der Notare
des Bezirks ausreichend.
Die Zustellung des Urtheils an den Entmündigten ist eine leere
Formalität und könnte passender Weise unterbleiben oder an den
Vertreter des Kranken stattfinden.
352 Cap. III. Die Aufhebung der Curatel.
Cap. III. Die Aufhebung der Curatel.
Gesetzl. Bestimmungen: A. L.-R. Thl. II, Tit. XVIII, §. 815. Die Vormundschaft
über Rasende , Wahn- und Blödsinnige muss aufgehoben werden , wenn
dieselben zum völlig freien Gebrauch der Vernunft wieder gelangen.
Deutsche C.-P.-O. §. 616. Die. Wiederaufhebung der Entmündigung
erfolgt auf Antrag des Entmündigten oder seines Vormunds oder des Staats-
anwalts durch Beschluss des Amtsgerichts.
§. 617 .... Die Bestimmungen der §§. 596 — 599 finden entsprechende
Anwendung.
§. 619 .... Gegen den Beschluss, durch welchen die Entmündigung
aufgehoben wird, steht dem Staatsanwalt die sofortige Beschwerde zu.
§. 620. Wird der Antrag auf Wiederaufhebung von dem Amtsgericht
abgelehnt, so kann dieselbe im Weg der Klage beantragt werden. Zur
Erhebung der Klage ist der dem Entmüiidigten bestellte Vormund und der
Staatsanwalt befugt. Will der Vormund die Klage nicht erheben, so kann
der Vorsitzende des Processgerichts dem Entmündigten einen Rechtsanwalt
als Vertreter beiordnen. Auf das Verfahren finden die Vorschriften der
§§. 606 — 615 entsprechende Anwendung.
Oesterr. A. B. G.-B. §. 283. Ob ein Wahn- oder Blödsinniger den
Gebrauch der Vernunft erhalten habe , muss aus einer genauen Erforschung
der Umstände, aus einer anhaltenden Erfahrung und aus den Zeugnissen der
zur Untersuchung von dem Gericht bestellten Aerzte entschieden werden.
Die Norm des österreichischen Wiedereinsetzungsverfahrens ist folgende.
Der Entmündigte resp. sein Curator schreitet beim zuständigen Bezirks-
gericht um Wiedereinsetzung in die bürgerlichen Rechte ein. Das Gericht beruft
Sachverständige zur Erhebung des Geisteszustands, ordnet die Einvernahme von
Zeugen an, macht überhaupt Vorerhebungen, setzt eine Tagsatzung fest, auf
welcher der Entmündigte mit seinem Curator, Zeugen etc. vor Gericht erscheint
und explorirt wird. Das Befundprotokoll mit Vorakten und Gutachten wird dem
Landesgericht zum Richterspruch vorgelegt.
Code Napoleon art. 512. l'interdiction cesse avec les causes qui l'ont
determinee: neanmoins, la mainlevee ne sera prononcee qu'en obsei'vant les
formalites prescrites pour parvenir ä l'interdiction, et Tinterdit ne pourra
reprendre Texercice de ses droits qu'apres le jugement de mainlevee.
Die Entmündigung ist nicht unwiderruflich. Sobald die Be-
dingungen, um deren willen sie eintrat, nicht mehr vorhanden sind,
hat sie aufzuhören.
Die Aberkennung der bürgerlichen Rechte ist aber auf Grund
einer gerichtlichen Exploration und eines gerichtlichen Erkenntnisses
rechtskräftig geworden; die Wiedereinsetzung in diese Rechte kann
aus juridisch formellen und logischen Gründen nur durch eine neue
Exploration und durch richterlichen Spruch erfolgen.
Aufhebung der Curatel. 353
Die Aufhebung der Curatel muss der Natur der Sache nach
mit derselben Genauigkeit und Umständlichkeit des Verfahrens , wie
sie für die Verhängung derselben verfügt sind, erfolgen. Die Wieder-
einsetzung eines nur scheinbar Genesenen in seine bürgerlichen Rechte
kann nicht minder verhängnissvoll werden als die Nicht Verfügung der
Curatel.
Für den Sachverständigen ist wohl zu beachten, dass die tech-
nische Beurtheilung des Falls entschieden schwieriger ist als im
Entmündigungsprocess, Es ist im Allgemeinen leichter zu entschei-
den, ob Jemand erkrankt ist, als ob ein psychisch krank Gewesener
nun gesund sei, ob ein Geistesschwacher, der Proben seiner Insuffi-
cienz abgelegt hat, die gesetzlichen Bedingungen zur Entmündigung
in sich vereinige, als zu bestimmen, ob ein Solcher, der bisher unter
Curatel stand und keine Proben genügend freien Gebrauchs der Ver-
standeskräfte abzulegen Gelegenheit hatte, von der Curatel zu be-
freien sei.
Es ist in diesem Process übrigens wohl zu beachten, dass es
nicht sowohl auf die völlige geistige Gesundheit resp. Genesung im
wissenschaftlichen Sinne ankommt (viele im Irrenhaus Genesene sind
nur relativ genesen, d. h. mit einer geringfügigen geistigen Schwäche
behaftet, die sie aber keineswegs dispositionsunfähig macht), als viel-
mehr darauf, ob die Gründe, welche die Curatel veranlassten, wirk-
lich zur Entmündigung ausreichend waren (der Curator erhebt Ein-
sprache gegen die verhängte und interimistisch zu Recht bestehende
Curatel) oder ob sie noch fortbestehen (absolute oder relative Ge-
nesung) oder ob an die Stelle der zur Zeit der Entmündigung vor-
handen gewesenen Gründe nicht neue getreten sind (z. B. der Wahn-
sinn im Sinn des Gesetzes, auf welchen hin früher entmündigt wurde,
ist inzwischen in Blödsinn im Sinn des Gesetzes oder umgekehrt
übergegangen).
Es handelt sich also bei der Aufhebung der Curatel nicht um
die Frage der vollen Genesung, sondern um den Wegfall derjenigen
Gründe , welche die Entmündigung veranlassten , positiv um den
Wiederbesitz derjenigen Fähigkeiten (Vernunft, Vermögen die Folgen
der Handlungen zu übersehen), deren Mangel gesetzlich die Curatel
nöthig machte.
Ergibt die Untersuchung im Termin den Beweis , dass die
Gründe, welche zur Verhängung der Curatel bestimmt haben, nicht
mehr vorhanden, auch durch neue nicht ersetzt sind, so wird die
Curatel durch richterlichen Spruch, der zu veröflfentlichen ist, auf-
V. Krafft-Ebing, gerichtl. Psychopathologie. 2. Auflage. 28
354 Cap. III. Die Aufhebung der Curatel.
gehoben und vom Tag des Urtbeils an tritt der Betheiligte wieder
in den Vollbesitz seiner bürgerlichen Rechte.
Die Praxis lehrt, dass nur zu häufig von der Umgebung wirk-
lich noch vorhandene Geistesstörung verkannt wird oder dass die bei
der Aufhebung der Curatel interessirten Verwandten den Kranken
als gesund und handlungsfähig hinzustellen bemüht sind.
Angesichts dieser Thatsachen und der Dissimulationsgewandt-
heit mancher Kranker ist eine genaue Kenntniss der Vorakten, der
Gründe, aus welchen die Entmündigung verfügt wurde, des seitheri-
gen Krankheitsverlaufs, wiederholte und gründliche persönliche Ex-
ploration, ein gewisses Misstrauen gegenüber dem Kranken und sei-
ner etwa interessirten Umgebung dem Sachverständigen dringend
nöthig. Zuweilen muss die Sufficienz erst erprobt werden im Con-
takt mit der Welt. Die Leistungsfähigkeit im gewohnten Kreis des
häuslichen Lebens verbürgt noch nicht die Selbstführung im öffent-
lichen Leben.
Als allgemeine Kennzeichen einer wirklichen Genesung von
Geisteskrankheit lassen sich die volle und offene Anerkennung der
überstandenen Krankheit und die Wiederherstellung der alten psy-
chischen Persönlichkeit mit allen ihren Charaktereigenthümlichkeiten,
Vorzügen, Fehlern, Neigungen betrachten.
Fälle beantragter Auf hebung der Curatel s. Henke, Zeitschr. 1836 (secun-
däre Geistesschwäche. Fälschliche Annahme von Reconvalescenz). Ibid. XXV.
H. 2 (ursprünglich Hypochondrie, später religiöser Wahnsinn, schliesslich Ver-
rücktheit. Annahme, dass die Curatel aufzuheben sei!). Ibid. XXVII. H. 1
(Alkoholismus ehren. Der Bevormundete führt Klage gegen die Behörde wegen
seiner Bevormundung. Sein Nachbar und zwei Aerzte erklären ihn für gesund,
zwei weitere Aerzte in Superarbitrium ebenfalls. Aufhebung der Curatel).
Liman, zweifelhafte Geisteszustände. Fall 49. (Ein von Hause
aus Schwachsinniger, mit einzelnen Grössenwahnvorstellungen und zeitweise auf-
tretendem elementarem Verfolgungswahn, bürgerlich nach jeder Richtung insuffi-
cient, querulirt beständig um Aufhebung der über ihn verhängten Curatel. Be-
gründung der bürgerlichen Handlungsunfähigkeit.)
Fall 50. (Erotischer Wahnsinn. Entmündigung. Aus der Irrenanstalt gebessert
entlassen. Antrag der Verwandten auf Aufhebung der Curatel. Nachweis secun-
dären Schwachsinns und der Unfähigkeit, selbst die Angelegenheiten zu besorgen.)
Fall 51. (Verfolgungswahnsinn. Gerichtliche Wahnsinnigkeitserklärung.
Besserung in der Irrenanstalt. Aeusserlich geordnetes Verhalten. Antrag der
Angehörigen auf Aufhebung der Curatel, unterstützt durch ärztliche Zeugnisse.
Nachweis der Fortdauer der Krankheit.)
Fall 52, 53, 54. (Secundäre geistige Schwäche geringeren Grades. Nach-
weis, dass die Explorirten soweit genesen, dass sie als blöd- oder wahnsinnig
im gesetzlichen Sinne nicht zu erachten sind.)
Cap. IV. Streitige Dispositionslahigkeit nicht Entmündigter. 355
Friedreich's Blätter 1870 , H. 1 (senile Geistesstörung. Begründung der
bürgerlichen Handlungsunfähigkeit).
Friedreiclvs Blätter 1869, p. 387 (Genesung von Melancholie. Aufhebung
der Curatel).
Casper-Liman, Hdb., Fall 250 (Periodisches In-esein. Lange Intermission.
Wiedereinsetzung in die bürgerlichen Rechte).
Die Gesetzgebung und das Processverfahren bei der Aufhebung
der Curatel berücksichtigen nur die allgemeine Frage der wieder-
erlangten bürgerlichen Leistungsfähigkeit. Neben dieser ergibt sich aber
vielfach die nach der wiedererlangten beruflichen Fähigkeit und diese
kann bei verantwortlichen Berufsstellungen sehr wichtig sein. Mit Recht
macht Schlager (Zeitschr. f. Psychiatrie XXXIII, H. 5 u. 6) darauf
aufmerksam, dass diese durch .die Entlassung aus der Irrenanstalt mit
dem Prädikat „genesen" oder durch die Aufhebung der Curatel nicht
verbürgt ist. Die ,,Nothwendigkeit der Begutachtung wiedererlangter
psychischer Leistungsfähigkeit für bestimmte Berufsbeschäftigung ",
wobei es sehr auf Ursachen der Krankheit, besondere Umstände und
hygienische Schädlichkeiten der betreffenden Dienstleistung ankommen
kann, ist deshalb eine berechtigte Forderung. Während bei öffent-
lichen Beamten, Militärpersonen etc. die vorgesetzte Behörde von
deren wiedererlangter Dienstfähigkeit durch eine Expertise sich zu ver-
lässigen pflegt, unterbleibt diese Special exploration bei einer Reihe
von privaten, aber darum nicht minder verantwortlichen Berufs-
stellungen (Aerzte, Apotheker, Hebammen, Eisenbahnbedienstete u. s. w.).
Schlager weist darauf hin, dass in dieser Richtung die Gewerbegesetz-
gebung einer ergänzenden Zusatzbestimmung bedarf.
B. Specieller Theil.
Cap. IV. Streitige Dispositionsfälligkeit nicht Entmündigter.
Gesetzl. Bestimmungen: A. L.-R. Thl. I, Tit. IV, §. 24. So lange solchen
Personen noch kein Vormund bestellt ist, gilt die Vermuthung, dass sie ihren
Willen bei völliger Verstandeskraft geäussert haben. Für den Blödsinnigen,
auch wenn dieser noch nicht unter Vormundschaft gestellt ist, gilt übrigens
die Vermuthung, dass derjenige betrügerisch gehandelt habe, welcher durch
dessen Willenserklärung mit dem Schaden desselben sich zu bereichern
suchte.
356 Cap. IV. streitige Dispositionsfälligkeit nicht Entmündigter.
Oesterr. A. B. G.-B. §. 310. Personen, die den Gebrauch der Vernunft
nicht haben, sind an sich unfähig, einen Besitz zu erlangen. Sie werden
durch einen Vormund oder Curator vertreten.
§. 865. Wer den Gebrauch der Vernunft nicht hat, wie auch ein
Kind unter 7 Jahren, ist unfähig, ein Versprechen zu machen oder es an-
zunehmen.
§. 191. Untauglich zur Vormundschaft sind diejenigen, welche wegen
ihres minderjährigen Alters, wegen Leibes- oder Geistesgebrechen ihren
eigenen Geschäften nicht vorstehen können.
§. 176. Wenn ein Vater den Gebrauch der Vernunft verliert .... so
kommt die väterliche Gewalt ausser Wirksamkeit und es wird ein Vormund
bestellt.
Code Napol. art. 503. Die der Entmündigung vorausgehenden Akte
können nur dann für null und nichtig erklärt werden, wenn die Ursache der
Entmündigung notorisch schon zur Zeit des vorgenommenen Akts bestand.
Art. 504. Nach dem Tod eines Individuums können dessen bürgerliche
Akte wegen Geistesstörung nur dann angefochten werden, wenn vor dem
Absterben die Entmündigung schon erkannt oder nachgesucht war oder der
Beweis der Geistesstörung sich aus der angefochtenen Handlung selbst
ergibt.
Die Beziehungen des Entmündigten oder Verbeistandeten zu
der bürgerlichen Gesellschaft und der Civilgesetzgebung sind durch
gerichtliches Urtheil geordnet.
Nicht selten geschieht es aber, dass die bürgerlichen Akte eines
noch nicht Interdicirten auf Grund von behaupteter Störung der Geistes-
funktionen als rechtsgültige angezweifelt werden.
Diese Zweifel können sich beziehen:
1) auf die Verbindlichkeit, Verträge, Käufe, Verkäufe, die zur
Zeit einer angeblichen Störung der Geistesfunktionen zu Stande
kamen, zu erfüllen ;
2) auf die Fähigkeit, eine Ehe einzugehen;
3) einem Amt, einem Dienst länger vorzustehen, eine Vormund-
schaft zu führen, die eigenen Kinder zu erziehen, väterliche
Gewalt auszuüben u. s. w. ;
4) gerichtliches Zeugniss abzulegen, einen Eid zu leisten;
5) für einen angerichteten Schaden Ersatz zu leisten;
6) einen letzten Willen zu errichten.
Mit Ausnahme der Testirfähigkeit , bezüglich deren besondere
gesetzliche Erfordernisse bestehen, sind die sub 1 — 5 aufgeführten
bürgerlichen Handlungen nur concreto Fälle der Dispositionsfähigkeit
überhaupt und desshalb ganz nach den im allgemeinen Theil ge-
gebenen Gesichtspunkten und gesetzlichen Bestimmungen zu begut-
Streitige Dispositionstahigkeit nicht Entmündigter. 357
achten und zu behandeln. Der ganze Unterschied besteht nur darin,
dass hier die Dispositionsfähigkeit nicht aberkannt ist und somit
rechtlich präsumirt werden muss, bis der Nachweis geliefert ist, dass
die Voraussetzungen des Gesetzes zur Vornahme der Entmündigung
zur Zeit der eingegangenen Verbindlichkeit vorhanden waren oder
da, wo es sich um die bestrittene Ausübung eines Rechts oder einer
Pflicht handelt, die hiezu nöthigen Bedingungen nicht gegeben sind.
So lange dieser Nachweis nicht geliefert ist , gilt die Präsumption
der vollen Verfügungsfreiheit. Derjenige, welcher sie bestreitet, hat
den Beweis zu liefern, dass sie fehle. Gelingt aber der Nachweis der
fehlenden Vernunft oder des mangelnden Vermögens, die Handlungen
zu übersehen zur Zeit eines bürgerlichen Akts, so muss logischerweise
die Verpflichtung oder Berechtigung Demjenigen, dem dieser Mangel
nachgewiesen ist, für dessen Zeitdauer abgesprochen werden. Der
Wille eines Geistesgestörten ist Scheinwille.
Die Fälle streitiger Dispositionsfähigkeit sind äusserst mannig-
faltig und betreffen nicht bloss solche von Geistesstörung, sondern
auch von Störung der psychischen Funktionen aus anderweitigen
Ursachen, z. B. Fieberdelirium.
Bald ist es der inzwischen Genesene oder dessen Familie oder
der Curator, die die Erfüllung lästiger Verbindlichkeiten auf Grund
behaupteter geistiger Unfreiheit ablehnen, bald interessirte Partheien,
die die Rechtsgültigkeit eines Vertrags, z. B. einer geschlossenen Ehe
bestreiten, oder es sind Behörden, denen die Belassung eines Be-
amten in einem Amt oder Dienst oder auch die Zulässigkeit einer
Reaktivirung fraglich erscheint, oder es handelt sich um die Gültig-
keit von Vollmachten, welche ein allerdings Geisteskranker ausge-
stellt hat, wozu dieser, solange er nicht entmündigt ist, jedoch formell
befähigt erscheint.
Bezüglich der Ausstellung solcher Vollmachten, selbst wenn der
Aussteller schon Pflegling einer Irrenanstalt ist, kann die Gültigkeit
bloss desshalb an und für sich nicht aufgehoben sein. Dass der Be-
griff Geistesstörung nicht vollkommen gleichbedeutend mit Handlungs-
unfähigkeit ist, wurde oben auseinandergesetzt und entspricht auch
dem Geist der meisten Civil- Gesetzgebungen. Die Frage einer solchen
partiellen Handlungsfähigkeit ist eine concrete, durch ein ärztliches
Zeugniss oder Gutachten aufzuklärende. Der Richter wird keinen
Grund haben, die Gültigkeit einer bürgerlichen Handlung eines im
Irrenhause befindlichen noch nicht Interdicirten anzufechten, falls
die Handlungsfähigkeit mit Bezug auf den concreten Akt ärztlich
358 Cap. IV. Streitige Dispositionsfähigkeit nicht Entmündigter.
erwiesen ist und dem Handelnden durch jenen kein materieller
Schaden erwächst.
Die Expertise in Fällen streitiger Dispositionsfähigkeit hat nicht
selten mit grossen Schwierigkeiten zu kämpfen, namentlich dann, wenn
der Tod des Betreffenden inzwischen eingetreten ist, wenn sich Ver-
dacht auf Simulation ergibt, wenn die fragliche Geistesstörung eine
kurzdauernde war, die Zeugenangaben sich auf solche Personen be-
schränken, deren Interesse in dem Rechtsstreit betheiligt ist.
Beob. 132. Zweifelhafte Validität eines Kaufvertrags. Melan-
cholie. Der 67jälirige Bauer H. macht, an Melancholie leidend, 1863 einen
Selbstmordversuch, wird ein Jahr darauf von Apoplexia cerebri mit nachfolgender
Hemiplegie befallen und auf Antrag des Schwiegersohnes 1867 verbeistandet.
Sein Zustand chara-kterisirte sich damals als linksseitige Hemiplegie mit
Aphasie, insofern er ganz andere Worte hervorbrachte, als er beabsichtigte, und
mit psychischer Schwäche, insofern sein Gedäclitniss sehr geschwächt war, er
sich im Geldzählen verzählte, die Münzsorten nicht mehr unterscheiden konnte
und sehr gemüthsschwach war. Da das Gericht auf klares Bewusstsein erkannte,
weil H. mehrere gestellte Fragen noch verstehen und beantworten konnte, so
verfügte es bloss Verbeiständung auf Grund von Sinnenmangel, d. h. wegen der
Eigenthümlichkeit, Worte zu verwechseln und übersah dabei, dass H. seit zwei
Jahren melancholisch, d. h. geistesgestört war. H. appellirte und erreichte die
Aufhebung der Verbeiständung. Ina September und Dezember 1867 schloss nun
H. mit seinem Sohne zweiter Ehe einen Kaufvertrag zu Ungunsten seiner Tochter
erster Ehe, welcher nach seinem November 1868 erfolgten Tod auf Grund be-
standener Geistesstörung (bad. Landr. §. 489) vom Schwiegersohn als ungültig
beanstandet wurde.
Zur Ermittelung der entscheidenden Frage, ob H. bei Abschliessung des
Kaufvertrags bei gesundem Verstand gewesen sei, lassen sich nur in den Akten
enthaltene Zeugenaussagen benutzen. Aus diesen ergibt sich aber klar, dass H.
seit 1863 an Melancholie litt, die in einen psychischen Schwächezustand über-
ging, auf Grund eines organischen Gehirnleidens, das keine lucida intervalla
mehr zuliess, die auch erweislich nicht mehr eintraten. Das Gutachten verneinte
daher die richterlich gestellte Frage, ob H. zur Zeit des Kaufvertrags bei gesundem
Verstand gewesen sei. (Reich, Deutsche Zeitschr. f St.-A.-Kde. XXIX. H. 1.)
Beob. 133. Zweifelhafte Validität eines Kaufs. Manie. Ein
31j ähriger Kaufmann, früher wiederholt geisteskrank, kaufte bei einer öffentlichen
Versteigerung am 12. April 1865 ein Haus um einen unverhältnissmässig hohen
Preis. Schon am 16. musste er wieder der Irrenanstalt übergeben werden. Die
Angehörigen behaupteten, Pat. habe den unsinnigen Kauf im Zustand von Geistes-
störung abgeschlossen und trugen auf Ungültigkeitserklärung an._ Das Gericht
verlangte den Nachweis der Geistesstörung zur Zeit des Hauskaufs.
Das ärztliche Gutachten wies nach, dass P. am 12. April und schon vqrher
an maniakalischer Folie raisonnante gelitten habe, ein Zustand, der eine Selbst-
bestimmungsfähigkeit unmöglich macht, der aber bei der nar formalen Störung
des Vorstellens, der einfachen Exaltation der Selbstempfindung, dem Fehlen von
Beob. 134. 135. Streitige Dispositionstahigkeit. 359
Wahnideen es erklärlich macht, dass Pat. beim Kauf der Umgebung nur aufgeregt,
nicht aber geisteskrank erschien. (Ebenda XXIX. H. 1.)
Beob. 134. Angeborener Schwachsinn, streitige Dispositions-
fähigkeit. Baron N. lernte in Wien eine abgefeimte Betrügerin und Prostituirte
W. kennen und wurde, ohne ihre Antecedentien zu kennen, so von ihr bethört,
dass er ihr die Ehe versprach, sich von ihr Geld erpressen und bestehlen Hess.
Die W. heuchelte tolle Liebe und Eifersucht, brachte ihn ganz in ihre Gewalt
und erpresste von ilim eine Schuldverschreibung über 800 fl. und eine Schenkungs-
urkunde von 10,000 fl. für den Fall, dass er sie nicht heirathe. Mühsam gelang
es, den N., der sich der W. gegenüber äusserst einfältig und recht schwachsinnig
benommen hatte, über ihren Charakter aufzuklären und aus ihren Klauen zu
befreien. Die Klage der W. auf Erfüllung der Verbindlichkeiten des N. führte
zur gerichtsärztlichen Exploration von dessen Geisteszustand, wobei den Experten
(Dr. Haller und Dr. Schlager) die Frage gestellt wurde, ob N. zur Zeit, als er
das Heirathsversprechen gab und die Schenkungsurkunde ausstellte, in einem
solchen Geistes- und Gemüthszustand sich befand, dass er von der W. wissentlich
zu N.'s Nachtheil und Schaden missbraucht werden konnte.
Das sorgfältige Gutachten wies nach: N. leidet an congenitalem Schwach-
sinn, der sich durch Gemüthsaffekte und geschlechtliche Excesse an Intensität
vorübergehend steigert und durch Verwirrung des Gedankengangs, Unfähigkeit,
vernünftig zu urtheilen, Unselbständigkeit in den Entschlüssen dann besonders
manifestirt. Schon das Verhalten des N. im Umgang und sein Gesichtsausdruck
lassen diese Beschränktheit und Unselbständigkeit seines Geistes erkennen.
Dieser Zustand von Schwachsinn war schon zur Zeit, als N. mit der W. bekannt
wurde, in solcher Form und Intensität vorhanden, dass die W. ihn erkennen
konnte und musste und, wie aus Zeugenaussagen sich ergibt, auch wirklich
erkannte. Es ergibt sich, dass die W. den N. anfangs durch Schmeichelei, dann
durch Drohungen, Beschimpfungen, Misshandlungen vollständig einschüchterte,
dass man aus dem Verhalten des N. entnehmen konnte, dass er sich vor ihr
fürchte, dass die W. den Schwachsinn des K wissentlich und mit Vorbedacht
dahin ausbeutete, dass sie von ihm ein Heirathsversprechen erpresste und ihn
unter Benützung seiner Willens- und Geistesschwäche dahin brachte, ihr eine
Schuldurkunde über 800 fl. und eine Schenkungsurkunde über 10,000 fl. auszu-
stellen. Die Art, wie diese Handlungen zu Stande kamen, weist mit Bestimmtheit
darauf, dass sie im Zustand von krankhaftem Schwachsinn und Willensunfreiheit
geschehen sind und daher nicht als rechtsverbindlich angesehen werden können.
(Blätter f. St.-A. -Kunde 1867, Nr. 5—8.)
Beob. 135. Zweifelhafte Dispositionsfähigkeit eines Sterben-
den. Der Bauer W. litt seit Jahren an einem Herzklappenfehler, zu dem als
Terminalkrankheit eine Brustfellentzündung getreten war. Einige Tage vor seinem
Tode, von seiner Frau dazu gedrängt, verkaufte er sein Gut. Das Doi'fgericht
nahm eine Punktation auf. Die Verwandten reute hinterher der Verkauf, sie
behaupteten , W. sei zur Zeit desselben nicht mehr dispositionsfähig gewesen. "
Die Zeugenaussagen ergeben, dass W. wohl auf die einzelnen Fragen des Gerichts-
schreibers richtig Antwort gab, aber meist gleich wieder in einen somnolenten
Zustand verfiel und von seiner Frau zur Beantwortung der Fragen geradezu auf-
360 Cap. IV. Streitige Dispositionsfähigkeit nicht Entmündigter.
gerüttelt werden miisste. Die Frau stellte ihm die Fragen zudem so mundgerecht,
dass er jeweils nur mit ja oder nein zu antworten brauchte. Indessen that er
auch manche Aeusserungen und Bemerkungen ganz spontan und zur Sache ge-
hörig, manche freilich waren wieder irrig. So wusste er z. B, bei der endlichen
Vorlesung der Punktation nicht mehr die Summe, um welche er sein Gut ver-
kauft hatte.
Gutachten: W. wusste während der Handlung, um was es sich handle,
dennoch ist nicht anzunehmen, dass er dispositionsfähig war, denn er wnsste
zwar, um was es sich handle, aber er schlummerte dazwischen immer wieder ein,
musste aufgerüttelt werden, hatte nicht fortwährend Willen und Bewiisstsein, das
Gut zu verkaufen. Sein Wille war kein imunterbrochen freier. Sein Vermögen
zu urtheilen erlitt Unterbrechungen. Darauf deuten auch seine Aeusserungen.
Er hat stellenweise vergessen, um was es sich handelt, muss wieder darauf ge-
leitet werden. Erlitt an deutlicher Gedächtnissschwäche. So wie er war, konnte
er auch nicht mit Aufmerksamkeit und Verständniss der Vorlesung einer langen
Reihe von Punktationen zuhören und die einzelnen Gedanken alle verfolgen.
Seine Gedanken gingen w.ährend dieser Zeit unzweifelhaft vielfach ihren eigenen
Weg. Aus seinen Aeusserungen geht hervor, dass er zweimal ganz vergessen
hatte, um was es sich handle. Es fehlte ihm die Fähigkeit, eine Erinnerung
cohärent festzuhalten.
Die Fähigkeit zu disponiren besteht aber nicht darin, dass man einmal
oder zehnmal im Einzelnen richtig scliliessen kann, sondern dass man eine zu-
sammenhängende Reihe von Schlüssen zu maciien im Stande ist, um zu einem
Entschluss zu kommen ; das vermochte W. nicht.
Die einzelnen richtigen Urtheile haben die Laien zu einem unrichtigen
Urtheil über den Gesammtzustand gebracht ; sie denken sich unter einem nicht
dispositionsfähigen Menschen einen solchen, der über keine Frage richtig ent-
scheiden kann. W. war nicht dispositionsfähig. (Casper, Vierteljahrsschr. XXII.
p. 348.)
Weitere Fälle: Liman, zweifelhafte Geisteszustände, Fall 56 (fragliche
Fähigkeit zur Fortführung eines Dienstes). Fall 58 (Verfolgungsw^ahn mit psy-
chischer Schwäche. Dispositionsunfähigkeit und desshalb aiich zur Erziehung des
Kindes).
Casper-Liman, Hdb., Fall 171 (Chron. Alkoholismus. Fahrlässiger Bankerott,
zweifelhafte, aber erwiesene Dispositionsfähigkeit).
Behier, Ann. d'hyg. 1871 (wegen angeblichem Typhusdelirium bestrittene
Rechtsgültigkeit eines Kaufvertrags, wobei sich aber der vermeintliche Typhus
als einfache Angina erwies).
Tardieu, la folie, Beob. 26 (Paralyse in Remission. Nothwendigkeit ge-
richtlicher Verbeiständung). Stelzle, Friedreich's Blätter 1875, H. 5 (fragliche
Dispositionsfähigkeit zur Zeit eines 3 Monate vor dem Tod [Selbstmord] errichteten
Vertrags). Casper-Liman, Handb., Fall 251.
Cap. V. Psychopath. Zustände in Bezug auf Eheschliessung u. Scheidung. 361
Cap. V. Psychopathische Zustände in Bezug auf Ehefähigkeit
und Ehescheidung.
Literatur über Ehefähigkeit überhaupt: Legrand du Saulle, la folie p. 504.
Taylor, med. jurisprud. p. 837. Legrand, Gaz. des liöpit. 1866, Nr. 18.
Der Taubstummen: Friedreich's Bl. 1852, H. 5, 1855, H. 3, 1858, H. 6.
Casper's Vierteljahrsschr. XV, H. 1. Meyer, Corresp.-Bl. f. Psych. 4. Jahrg.
Nr. 13. Deutsch, die Rechte d. Taubst. Berlin 1853.
Der Epileptischen: Echeverria, Journal of mental science 1880.
Ueber Ehescheidung: Martini, Allg. Zeitschr. f. Psych. XV, p. 81.
Jessen, Geisteskrankheit als Ehescheidungsgrund. Kiel 1857. Legrand, etude
med. legale sur la Separation des ^orps, 1866. Derselbe, Gaz. des hop. 1866.
Nr. 31, 34, 37, 40.
Gesetz!. Bestimmungen zur Ehefähigkeit: Deutsche Ehegesetzgebung
§. 28. Zur Eheschliessung ist die Einwilligung (und die Ehemündigkeit) der
Eheschliessenden erforderlich.
Oesterr. A. B. G.-B. §. 47. Einen Ehevertrag kann Jedermann schliessen,
insofern ihm kein gesetzliches Hinderniss im Wege steht.
§. 48. Rasende, Wahnsinnige, Blödsinnige und Unmündige sind ausser
Stande, einen gültigen Ehevertrag zu errichten.
Code Napol. art. 146. II n'y a point de mariage lorsqu'il n'j a point
de consentiment.
Die Ehe ist ein bürgerhcher Vertrag^ dessen Grundvoraussetzung
der Besitz der vernünftigen Willensfreiheit beider Contrahenten zur
Zeit der Eingehung ist. Der Wille des Geistesgestörten ist Schein-
wille. Geistesstörung eines Contrahenten zur Zeit der Eheschliessung
macht desshalb den Vertrag ungültig ^ weil die vernünftige Willens-
freiheit und der davon abhängige Consensus in diesem Zustand
mangelte.
Geistesstörung kann demnach auch als Grund der Einsprache
gegen eine zu schliessende Ehe geltend gemacht werden. In Frank-
reich (art. 173 u. 174) kann diese Einsprache jedoch nur unter der
Bedingung angenommen werden, dass der Einsprechende auf die Ent-
mündigung anträgt und darüber binnen einer bestimmten Frist Ent-
scheidung erwirkt. Diese Bestimmung hat wohl den Zweck, nichtige
Einwände dabei Interessirter, die etwaige, die Verfügungsfreiheit nicht
beschränkende Anomalien des Temperaments, Excentricitäten etc. vor-
schützen, ^zu beseitigen und die in bestimmtem Termin aufgegebene
Bewirkung einer Entscheidung über den Antrag auf Interdiction soll
zur Constatirung der Geistesstörung überhaupt und eventuell des
Umfangs derselben bis zu dem Grad , dass dadurch die bürgei'liche
362 Cap. y. Psychopathische Zustände in Bezug
Verfügungsfähigkeit aufgehoben ist^ dienen. Dass Ehen in geistes-
krankem Zustand geschlossen werden, ist keine Seltenheit. Legrand
in seiner , gerichtsärztlichen Studie über die allgem. Paralyse macht
auf die Häufigkeit dieses Vorkommens bei den im Allgemeinen heiraths-
lustigen und von spekulativen Damen leicht zur Ehe zu beredenden
Paralytikern aufmerksam.
Die Ehefähigkeit Taubstummer ist auf die Fälle zu beschränken,
wo eine hinlängliche psychische Entwickelung stattgefunden hat, um
einen Vertrag schliessen und die väterliche Pflicht gegen Kinder er-
füllen zu können. Eine ärztliche Exploration hat dies im concreten
Fall festzustellen. Natürlich ist in solchen Fällen nur die schriftliche
Abgabe des Jaworts oder allenfalls durch Zeichensprache unter Zu-
ziehung eines vereideten Taubstummenlehrers möglich.
Zu Streitigkeiten bezüglich der Geistesintegrität zur Zeit einer
Eheschliessung führt zuweilen die auf dem Todtenbett (in extremis)
eingegangene oder verlangte, sei es dass die Fähigkeit der vernünfti-
gen Willensbestimmung vom Staatsbeamten oder den interessirten
Angehörigen schon vorher bestritten wird oder nachträglich die Be-
theiligten die Geistesintegrität als zweifelhaft hinstellen. Das im
Capitel Delirium und Testirfähigkeit Mitgetheilte dürfte zur Beur-
theilung solcher Fälle verwerthbar sein. §. 86 der österreichischen,
§. 50 der deutschen Ehegesetzgebung nehmen auf diese Eheschlies-
sung ohne vor gängiges Aufgebot Bedacht.
Geistesstörung kann auch Grund von Ehescheidung werden.
Schon bei den Römern war sie es, aber es kam auf den Grad der
Geistesstörung an und der Ehemann musste der Ehefrau, wenn die
Ehe desshalb getrennt wurde, den nöthigen Lebensunterhalt gewähren.
Die französische und österreichische Gesetzgebung lassen Geisteskrank-
heit als Ehescheidungsgrund nicht zu, wohl aber die preussische.
Nach §. 698 des preuss. Civilrechts kann Wahnsinn, wenn er unheil-
bar ist und schon ein Jahr gedauert hat, nicht aber Blödsinn (im
Sinne des Gesetzbuchs) Ehescheidungsgrund sein ^).
Diese gesetzliche Bestimmung gibt dem Sachverständigen An-
lass zur Beantwortung zweier schwieriger Fragen:
1. Zur Bestimmung der Heilbarkeit. Die Stellung der Prognose
in Fällen psychischer Krankheit gehört, Fälle von secundärer Geistes-
schwäche und paralytischen Blödsinn abgerechnet, zu den schwierig-
0 Vgl. Casper-Liman, Handb. p. 404. Die. bezügl. Grundsätze des Berliner
Stadtgerichts.
auf Ehetahigkeit und Ehescheidung. BeoVj. 186. 363
sten Aufgaben. Lässt sich die Prognose nicht mit absoluter Sicher-
heit geben, so spreche man sie „nach den bisherigen wissenschaft-
lichen Erfahrungen" aus. Es mag dann Sache des Richters sein,
ob er sich mit einer Unheilbarkeitswahrscheinlichkeit begnügen will
oder nicht.
2. Zur Bestimmung der Zeitdauer der Krankheit. Auch hier
können sich Schwierigkeiten ergeben, namentlich in periodischen
Fällen, wo die Periodicität nicht klar erkannt wurde und es über-
haupt streitig ist, ob die Krankheit auch im „freien'' Zwischenraum
als fortbestehend anzusehen ist. Ein solcher Fall lag dem Verfasser
zur Begutachtung vor. Eine Frau im Grosshzth. Baden, wo eine drei-
jährige Krankheitsdauer vom Gesetz (Landr, §. 232 a und Eheordnung
§. 43 i) zur Ehescheidung gefordert wird, war vom ersten Krankheits-
anfall scheinbar genesen und vom Arzt für gesund erklärt worden.
Die Beobachtung späterer Anfälle ergab ein periodisches Irresein mit
nicht reinen Intervallen. Es gelang nachzuweisen, dass schon im
ersten Symptome der Krankheit vorhanden waren. Wären die ein-
zelnen Anfälle Recidive des Leidens gewesen, so wäre die gesetzliche
Dauer der übrigens unheilbaren Psychose noch lange nicht erfüllt
gewesen. So aber gelang der Nachweis , dass schon vom ersten
Paroxjsmus an seit über drei Jahren die Krankheit continuirlich ge-
dauert hatte und nur zeitweise mehr oder weniger latent geworden
war. Die Ehescheidungsprovocation hatte demnach ein günstiges
Resultat.
Beob. 136. Zweifelhafter Geisteszustand einer hirnkranken
Frau, die eine Ehe eingehen will. Frau W. litt seit mehr als einem Jahr
an Diabetes mit doppelseitigem Cataract. Dieser wurde operirt. Am Tage nach
der Operation empfand sie in der linken Körperhälfte ein Gefühl von Einge-
schlafensein ; dazu kam Ameisenkriechen , Gefühl von Nadelstichen , Kälte,
Benommensein im Kopf, Schwindel, Schlaflosigkeit. Am 4. Oktober erfolgte
linksseitige Hemiplegie mit Delirium , das ihre Aufnahme in der Irrenanstalt
Charenton nöthig machte.
Sie war dort vom 14. Oktober bis 11. November 1873, kam dann in eine
Privatheilanstalt. Ihr Zustand besserte sich bedeutend. Ein Herr G. , der eine
Tochter von ihr hatte und diese legitimiren wollte, beschloss Frau W. zu heirathen.
Die Frage, welche dem Experten gestellt war, lautete: „Gefährdet die Hirnki'ank-
heit, an welcher Frau W. leidet, ihr Leben, ohne dass zugleich die Geistes-
funktionen gestört sind?"
Frau W. ist 62 Jahre alt, leidet an linksseitiger Hemiplegie nach einem
apoplektischen Insult. Ihr Leben ist dadurch gerade nicht in Gefahr, jedoch
kann jeden Augenblick ein neuer Insult demselben ein Ende machen. Sie leidet
an einem Zustand psj'chischer Schwäche, ist sich aber wohl bewusst der Be-
364 Cap. V. Ps_ycliopathisclie Zustände in Bezug auf Ehefähigkeit.
deutung und des Zwecks ihrer projektirten Heirath. Sie erscheint im Besitz der-
jenigen Geistesfähigkeiten, welche nöthig sind, um eine Ehe einzugehen. (Annal.
med. psychol. Mai 1874.)
Beob. 137. Fragliche Gültigkeit einer in extremis geschlosse-
nen Ehe. H. hatte mit seiner früheren Geliebten auf dem Sterbebette eine
Ehe eingegangen, deren Gültigkeit nachträglich von den Verwandten auf Grund
der tödtlichen Hirnkrankheit, an welcher H. gelitten hatte, bestritten wurde.
Die DDr. Tardieu und Lasegue hatten ihr Gutachten abzugeben. H. hatte vor
langen Jahren einen Anfall von Manie in einer Privatirrenanstalt durchgemacht,
sich aber vollkommen wieder erholt. In den letzten Jahren hatte er an immer
mehr sich steigerndem Gichtleiden gelitten.
Am 15. December Abends fühlte er sich unwohl, seine Physiognomie
erschien verändert. Am 16. wurde Facialislähmung iind Sprachstörung constatirt.
Nachmittags liegt Patient in einem Zustand von Prostration und allgemeiner
Resolution. Die Motilität und Sensibilität ist vermindert, es besteht Strabismus
diverg. bulb. sinist. Er ist ganz indifferent, reagirt nicht auf das, was um ihn
vorgeht. In diesem Zustand körperlicher und psychischer Prostration sind ihm
nur einzelne abgebrochene Worte entlockbar. Am frühen Morgen des 17. gesellt
sich Blasenlähmung hinzu, die Apathie wird grösser. In diesem Zustand wird er
von den Aerzten gesehen. Um 8 Uhr findet die Trauung statt, um 11 Uhr stirbt
H., im Zustand allgemeiner Erschöpfung und Lähmung.
Ueber den Zustand, in welchem sich H. bei der Trauung befand, fehlen
ärztliche Angaben. Die Zeugen geben an, er habe mit dem Kopfe genickt, als
der Priester ihn um seine Einwilligung fragte und „ja" gesagt.
Das Gutachten wies trotz der dürftigen Notizen nach , dass H. an einer
Gehirnkrankheit litt, zur Zeit der Trauung sich in einem halbcomatösen Zustand
befand, aus dem er zwar momentan durch eine energische Anrede zu einem
relativ bewussten Zustand und zu einer Antwort gebracht werden konnte, durch-
aus aber kein klares Bewusstsein der Aussenwelt und der Bedeutung seiner
Worte hatte. Jedenfalls war er nicht im Stande, die Bedeutung des Aktes zu
erfassen, geschweige sich für ja oder nein zu entscheiden. Die Gerichtshöfe er-
klärten auf Grund des Art. 146 (code civ. francais) den geschlossenen Akt für
null und nichtig. (Tardieu, la folie p. 251.)
Beob. 138. Trauung im Prodromalstadium eines Anfalls von
epileptischem transit. Irresein. üngültigkeitserkläru-ng der Ehe.
Franz L., 20 Jahre, Schuster, war seit vielen Jahren, in Folge eines Sturzes auf
dem Eis, epileptisch. Die Anfälle, welche ursprünglich nur von geringfügigen
Störungen gefolgt waren, wurden heftiger und von epileptischer Manie begleitet.
Am 26. Oktober 1841 gedachte er sich zu verheirathen. Am 24. stellte sich
heftiger Kopfschmerz ein, so dass er selbst befürchtete, wieder einen Anfall seiner
Krankheit zu bekommen. Am 26., einige Stunden vor der Hochzeit, Hess er sich
zur Ader, ohne dass der Kopfschmerz darauf nachliess. Während der Trauung
war er niedergeschlagen, scliweigsam und sprach nur sein ..Ja". Als er aus der
Kirche kam, steigerte sich der Kopfschmerz so sehr, dass er, zu Hause ange-
kommen, sich zu Bett legen musste. Er bekam einen Anfall epileptischer Manie,
rannte nackt in den Speisesaal, griff die erschreckte Gesellschaft an, schrie, dass
1
Cap. VI. Schadenersatzpflicht Geisteskranker. 365
er sie tödten wolle, bemächtigte sich eines Schusfeerkneifs und tödtete seinen
Schwiegervater, der ihm gerade in den Weg kam.
Nach drei Tagen kam er wieder zu sich. Er konnte sich nur noch des
Moments der Trauung erinnern, nicht aber dessen, was darauf folgte. Auf das
Ansuchen der Betheiligten erfolgte durch richterlichen Urtheilsspruch die Un-
gültigkeitserklärung der Ehe , da der Kranke während der Trauung nicht völlig
bei Verstand gewesen sei. (Journal of insanity, t. IL, p. 186.)
Weitere Fälle s. Legrand , la folie p. 567 (Wahnsinn , Ungültigkeits-
erklärung der zur Zeit dieses Zustands geschlossenen Ehe). Derselbe, Gaz. des
hopit. 1866, Nr. 18 (Einsprache des Arztes gegen die von einem paralytischen
Geisteskranken geschlossene Ehe). Med. Gaz. volum. VIII, p. 481.
Henke, Zeitschr., 32. u. 33. Ergänz. -H. (Fälle streitiger Ehefähigkeit Taub-
stummer.) Hecker , Irrenfreund 1876, Nr. 70 (secundäre Geistesschwäche der
Ehefrau. Klage des Mannes auf Scheidung).
Cap. VI. Schadenersatzpflicht Geisteskranker.
Der Geisteskranke ist seiner freien Willensbestimmung verlustig.
Wie er für seine strafbaren Handlungen desshalb criminell oder poli-
zeilich nicht verantwortlich gemacht wird^ so kann er auch civil-
rechtlich für den einem Andern oder einem Objekt zugefügten Scha-
den nicht belangt werden. Die Handlung ist gemeinrechtlich ein-
fach als eine casuelle anzusehen. Sie kann aber den Charakter einer,
fahrlässigen^ und darum civilrechtlich zuzurechnenden bekommen,
wenn Jemand durch eigenes Verschulden sich in einen unfreien Zu-
stand versetzte, z. B. durch Berauschung. Nach §. 130 b des öster-
reichischen A. B. Gr.-B. ist Jemand den Schaden, welchen er ohne
Verschulden oder durch eine unwillkürliche Handlung verursacht hat,
in der Regel zu ersetzen nicht schuldig, wohl aber (§. 1307) wenn
er aus eigenem Verschulden in einen vorübergehenden Zustand der
Sinnesverwirrung sich versetzt hat.
Das preuss. A. L.-R. Thl. I. Tit VI, §. 41 bestimmt, dass wenn
Wahn- oder Blödsinnige (oder Kinder unter 7 Jahren) Jemand be-
schädigen, nur der Ersatz des unmittelbaren Schadens aus ihrem
Vermögen gefordert werden kann. Doch haftet nach §. 43 dasselbe
nur insoweit, als dem Beschädiger dadurch der nöthige Unterhalt und
wenn es ein Kind ist, die Mittel zur standesgemässen Erziehung nicht
entzogen werden.
Ausserdem kann der Beschädigte nach §. 49, womit der §. 1308
des österr. Gesetzbuchs fast identisch ist, sich nicht an das Vermögen des
Beschädigers halten, wenn er dergleichen Personen durch sein eigenes
366 " Cap. VII. Zeugnissfähigkeit
wenn auch nur geringes Versehen zu der schädlichen Handkmg ver-
anlasst hat. Nicht selten geschieht es^ dass Geisteskranke (oder auch
Kinder) von Anderen als Werkzeug zu einem Verbrechen oder zu
einer schädlichen Handlung missbraueht werden. Wie criminell hier
die Strafe den intellektuellen Urheber trifft, so hat er auch civilrecht-
lich für den von ihm verursachten Schaden aufzukommen.
Ist auch die Haftpflicht des Geisteskranken nicht vorhanden
oder beschränkt, so kann der Beschädigte sich jedoch an das Ver-
mögen Derjenigen halten, die gesetzlich zur Aufsicht über den Kranken
verpflichtet sind (Eltern, Vormünder, Vorsteher von Irrenanstalten etc.),
falls diesen eine gröbliche oder nur massige Verletzung dieser Pflicht
und der erfolgte Sehaden als die direkte Folge dieser Pflichtverletzung
nachgewiesen werden kann. (A. L.-R. Thl. I, Tit. VI, §. 57 ; österr.
A. B. G.-B. §. 1309.) Die Herstellung dieses Thatbestands dürfte
mitunter schwierig sein. Andrerseits hat auch der Geisteskranke da,
wo gesetzliche Verpflichtungen für die Angehörigen oder sonstigen
Pfleger zur Anzeige der Erkrankung resp. Provokation der Ent-
mündigung bestehen, ein Rückhaltsrecht an diesen, falls ihm durch
die unterlassene Benachrichtigung der Gerichte und damit unmög-
liche Ergreifung rechtlicher Massregeln zu einem Schutz ein Schaden
erwachsen ist.
Cap. VII. Zeugnissfähigkeit in psychopathischen Zuständen.
Gesetzl. Bestimmungen: Deutsche C.-P.-O. §. 358 (St.-P.-O. §. 56). Unbeeidigt,
sind zu vernehmen Personen, welche zur Zeit der Vernehmung das 16. Lebens-
jalir noch nicht vollendet oder wegen mangelnder Verstandesreife oder wegen
Verstandesschwäche von dem Wesen und der Bedeutung des Eides keine
genügende Vorstellung haben.
Gerichtverfassungsgesetz §. 188. Zur Verhandlung mit tauben oder
stummen Personen ist, sofern nicht eine schriftliche Verständigung erfolgt,
eine Person als Dolmetscher zuzuziehen, mit deren Hilfe die Verständigung
in anderer Weise erfolgen kann. St.-P.-O. §. 63 (Eidesleistung Stummer).
Oesterr. St.-P.-O. §. 151, 170, 164, 171. Diejenigen Personen sind nicht
als Zeugen abzuhören, welche zur Zeit, als sie das Zeugniss ablegen sollen,
wegen Leibes- oder Gemüthsbeschaffenheit ausser Stande sind, die Wahrheit
anzugeben; Diejenigen, welche an einer erheblichen Schwäche des Wahr-
nehmungs- oder Erinnerungsvermögens leiden, dürfen nicht beeidigt werden.
Ein Geisteskranker kann kein vollgültiger Zeuge vor Gericht
sein , jedenfalls ist er wegen des mangelnden Judicium in jurante
nicht eidesfähig.
in psj-chopathischen Zuständen. 367
Die Unfähigkeit, ein vollgültiger Zeuge zu sein, wird dem Irren
auch im Zustand des lue. interv. zugeschrieben. Diese Anschauung
vertritt schon das römische Recht, das den Irren im lue. interv. w^ohl
als Zeugen bei der Errichtung von Testamenten z. B., nicht aber
als vollgültigen gerichtlichen Beweiszeugen anerkennt.
Trotz der legislatorischen Bedenken, welche der Einvernahme
eines Irren als gerichtlicher Zeuge gegenüberstehen , können Fälle
vorkommen, wo diese Einvernahme nützlich und nothwendig ist, z. B.
da, wo ein Irrenwärter der Körperverletzung eines ihm anvertrauten
Kranken beschuldigt ist und die einzigen Zeugen des fraglichen Ver-
brechens Kranke sind, oder ein Irrer der einzige Augenzeuge eines
Verbrechens überhaupt war.
Dass im neueren , auf Indicienbeweis gegründeten Beweisverfahren ein
solches Zeugniss von Bedeutung sein kann, beweist ein im Journ. of psycho!,
med. 1851 p. 279 und 436 mitgetheilter Fall, wo ein Mann, der zwar wahnsinnig
war und mit Geistern im Verkehr zu stehen glaubte , als einziger Augenzeuge
einer Mordthat eine so gute und klare Darstellung des vor seinen Augen ge-
schehenen Verbrechens gab , dass wesentlich auf dieses Zeugniss hin die Jury
sich veranlasst sah , den Mörder zu verurtheilen. In einem ähnlichen Process,
den die Annal. med. psj^chol. VII, p. 285 mittheilten , war ein isolirt lebender
Geisteskranker in seiner Wohnung von vier Strolchen beraubt und misshandelt
worden. Seine den Stempel innerer Wahrheit an sich tragende Schilderung des
Thatbestands trug wesentlich zur Verurtheilung jener bei.
Bemerkenswerth ist folgender im Journal of mental science 1870, april,
p. 120 mitgetheilter Fall. Ein Geisteskranker war von seinem Wärter misshandelt
worden und an den Folgen der Misshandlung (Rippenbruch mit folgender Pleuritis)
gestorben. Der einzige Zeuge dieser Miss'handlung war ein anderer Geisteskranker
gewesen. Dieser, seit zwei Monaten Convalescent , hatte an Melancholie mit
Hallucinationen gelitten und war noch zeitweise von Stimnienhören geplagt.
Seine Aussagen vor Gericht waren so correkt und glaubwürdig, dass trotz der
Einsprache des Vertheidigers die Jury das Zeugniss als ein vollgültiges (!) an-,
erkannte und den Krankenwärter verurtheilte.
Die Fähigkeit eines Irren, Zeugniss zu geben, d. h. über That-
sachen, die er mit seinen Sinnen wahrgenommen hat , gerichtlich
auszusagen, kann an und für sich nicht geläugnet werden, nur ist
sie eine Frage des concreten Falls, über die ein Gerichtsbeschluss
auf Grund eines vorgängigen sachverständigen Gutachtens zu ent-
scheiden hat.
Soweit die Sinnesapperception eines Irren nicht durch subjek-
tive Sinneswahrnehmungen oder Wahnideen gestört, das Gedächtniss
nicht an der treuen Reproduktion der aufgenommenen Eindrücke ge-
hindert ist, muss die Abhörung eines Irren zulässig sein. Ihn aber
368 Cap. VII. Zeiignissialiigkeit in psychopathisclien Zuständen.
als vollgültigen Zeugen anzuerkennen^ kann nicht statthaft sein, schon
abgesehen von der maugelnden Eidesfähigkeit, weil Wahnideen ver-
heimlicht, Illusionen und Gedächtnissschwäche übersehen werden kön-
nen. Namentlich gilt dies für jene eigenthümliche Störung in der
Reproduktionstreue, wie sie bei gewissen psychischen Schwächezu-
ständen (moral insanitj) vorkommt und eine ganz entstellte Auf-
fassung von Erlebnissen herbeiführt, ohne dass aber der Betreffende
sich dieser Entstellung bewusst wäre.
Der Schwerpunkt bezüglich der Glaubwürdigkeit eines geistes-
kranken Zeugen wird wesentlich in der Art und Weise seiner Dar-
stellung des Sachverhalts, der inneren Uebereinstimmung der von ihm
deponirten Thatsachen liegen und davon die innere Ueberzeugung der
Richter und Geschworenen abhängen.
Auch die Glaubwürdigkeit der Schwachsinnigen muss mit Vor-
sicht beurtheilt werden. Wenn auch hier keine Wahnideen und
Sinnestäuschungen die Aufnahme der Eindrücke der Aussenwelt
stören, so ist diese an und für sich lückenhaft und in Affekten viel-
fach ganz unzuverlässig. Dazu kommt aber, dass solche Individuen
zudem wegen ihrer sittlichen und intellektuellen Schwäche durch
die Autorität Anderer bestimmbar und durch Einschüchterung oder
Drohung zur Abgabe falschen Zeugnisses verleitbar sind.
Die Zeugnissfähigkeit Taubstummer ist auf die Fälle einzu-
schränken, wo eine genügende geistige Ausbildung erreicht wurde,
und ein schriftlicher Verkehr mit dem Betreffenden möglich ist. Der
Stand der ersteren muss durch Gerichtsarzt und Taubstummenlehrer
ermittelt sein.
Ist der eventuelle Zeuge nicht bloss im Stande, sinnliche concrete
Dinge, die ausser den Bereich seines Sinnenmangels fallen, aufzu-
fassen und zu reproduciren, sondern auch der rechtlichen und mora-
lischen Bedeutung eines Eides sich bewusst, so kann er als voll-
gültiger Zeuge angesehen werden.
Fälle zweifelhafter Zeugnissfähigkeit Taabstummer: Casper-Liman, Handb.
Fall 304 (taubstummes Ehepaar auf Zeugnissfähigkeit untersucht) ; s. f. Marc-
Ideler I, p. 316 u. 322. Beck, elements of med. jurisprud. p. 515.
Nie sollte die gerichtliche Vernehmung eines Irren den Charakter
einer feierlichen Gerichtshaudlung , sondern vielmehr den einer ein-
fachen, nach Umständen wiederholten Conversation besitzen, sonst
besteht die Gefahr, dass die Krauken verwirrt und befangen werden
und der Zweck vereitelt wird.
Cap. Vlll. Testirlahigkeit. 369
Nicht selten werden zum Tod Verletzte eidlich oder nicht eid-
lich bezüglich des Thatbestands eines an ihnen begangenen Ver-
brechens gerichtlich vernommen oder gerichtliche Bekenntnisse reu-
müthiger Sünder auf dem Todtenbett entgegen genommen. Bei dem
Umstand, dass Delirium und sonstige psychische Störungen hier im
Spiel resp. Motive von Bekenntnissen sein können, ist die Beachtung
des psychischen Zustands des Deponenten von Seiten der Gerichts-
behörde nicht zu vernachlässigen.
Fälle fraglicher Zeugnisslahigkeit vor Gericht: Taylor, med. jurispr. p. 829.
Liman , zweifelhafte 'Geisteszustände , Fall 57 (zweifelhafte Eidesfähigkeit bei
apoplekt. Blödsinn).
Bepb. 139. Zeugnissfähigkeit eines Schwachsinnigen. Am 8. Mai
wurde die Leiche des Pfarrers im Fluss gefunden. Alle Umstände deuteten auf
einen Unglücksfall. 18 Jahre darauf äusserte sich der schwachsinnige S., er habe
mit dem Schullehrer 0. den Pfarrer ertränkt. Es kam zur Untersuchung. 0.
läugnete und erklärte, S. sei ein Narr, der keinen Glauben verdiene.
S. wurde nun bezüglich seiner Glaubwürdigkeit und Zurechnungsfähigkeit
gerichtsärztlich untersucht. Das Gutachten erklärte, S. sei schwachsinnig, bei
der Verübung des Mords nur als Werkzeug von dem Schullehrer gebraucht
worden (er musste nämlich den Kopf des Geistlichen im Wasser niederhalten)
und nicht zurechnungsfähig, wohl aber ein ganz glaubwürdiger Zeuge.
S. 50 Jahre alt, ist gutmüthig, simpelhaft, schwerhörig, stotternd, sein
Gedächtniss gut, sein Denken schwerfällig. Ueber den Hergang des Mords machte
er immer dieselben detaillirten Angaben, aus denen Jiervorgeht, dass er nur ein
Werkzeug in der Hand des Lehrers war. Er habe gemeint, was der Herr schaffe,
müsse auch der Knecht schaffen. Das Bewusstsein des Unrechtmässigen seiner
Handlung kam ihm nie. Einer boshaften Anschuldigung des 0. ist S. nicht für
fähig zu erachten. (Oesterr. med. Jahrb. 1845, Mai.)
Cap. VIII. TestirfäMgkeit.
Literatur. Marc-Ideler II, p. 497. Wald, gerichtl. Psychol. p. 123. Legrand,
Annales d'hygiene 1868, Juli. Friedreich's Blätter 1853, H. 3. Beck, Cle-
ments of med. jurisprud. p. 499. Cäsper, klin. Novellen, p. 235. Livi,
Consultazione medico-legale. Firenze 1870. Legrand du SauUe, etude med.
legale sur les testam. Paris 1879. Ziino, Rivista sperim. 1876. Fascic. 3 — 4.
Grilli ebenda, Januar.
Zu den wichtigsten und folgenschwersten bürgerlichen Hand-
lungen gehört die Errichtung eines letzten Willens. Entsprechend
der Bedeutung eines solchen Akts fordert das Gesetz die genaue
Beobachtung gewisser Formen, von denen die Nichteinhaltung eines
V. Krafft-Ebing, gerichtl. Psycliopatliologie. 2. Aiiflage. 24
370 Cap. VIII. Testirfähigkeit. Gesetzliche Formen.
einzigen Erfordernisses schon genügt, um den ganzen Akt aus rein
formellen Gründen zu annulliren.
Die Formen, unter welchen die Errichtung eines Testaments gesetzlich
zulässig ist, sind nach Art. 969 des Cod. Nap.
1) die eigenhändige Aufsetzung des letzten Willens (testament olographe).
Die Urkunde muss Unterschrift, Datum und Wohnort enthalten, um
formelle Gültigkeit zu besitzen.
2) Das geheime Testament (test. mystique). Es wird vom Erblasser selbst
geschrieben oder einem Anderen diktirt, muss aber vom Erblasser unter-
zeichnet werden. Das Testament wird alsdann verschlossen und versiegelt
einem Notar vor Zeugen übergeben, worüber von diesem eine Urkunde
aufgenommen wird. Ist aber der Erblasser Schreibens unerfahren oder
unfähig, so muss ein weiterer Zeuge bei der Uebergabe zugezogen werden
(Art. 976 u. 977). Der Art. 978 schliesst Diejenigen, welche des Lesens
. unerfahren oder unfähig sind, von dieser Art der Testamenterrichtung aus.
3) Das öffentliche Testament (Test, fait par acte public). Die letzte Willens-
erklärung wird hier vor dem dazu bestellten öffentlichen Beamten ab-
gegeben und diirch diesen unter Beobachtung gewisser gesetzlicher Formen
aufgenommen.
Das österr. A. B. G.-B. kennt:
1) ein aussergerichtliches schriftliches d. h. eigenhändig geschriebenes und
unterfertigtes (§. 578) oder wenigstens vor drei Zeugen unterfertigtes
(§. 579) Testament, wobei nach §. 580, im Fall der Erblasser des Schreibens
unkundig, auch das Handzeichnen gültig ist, nach §. 581, falls derselbe
nicht lesen kann, der Aufsatz von einem Zeugen in Gegenwart der zwei
anderen vorgelesen und der Inhalt, als der letzten Willenserklärung ent-
sprechend, vom Erblasser bekräftigt werden muss.
2) Das aussergerichtliche mündliche (§§. 585 und 586), d. h. die mündliche
Erklärung des letzten Willens vor fähigen Zeugen, deren übereinstimmende
eidliche Aussage dann den Inhalt des letzten Willens vor Gericht bildet.
Gesetzlich erforderlich sind nur die eidlichen Aussägen von zwei Zeugen.
3) Das gerichtliche (§§. 587 — 590). Es kann schriftlich oder mündlich sein.
Im V ersten Fall muss es eigenhändig unterschrieben sein und persönlich
dem Gericht übergeben werden, das den Aufsatz gerichtlich versiegelt
und über das Geschäft ein Protokoll aufnimmt.
Die mündliche Erklärung ist eine protokollarische. Sowohl bei schriftlicher
als mündlicher gerichtlicher Testamentserrichtung muss das Gericht aus zwei
eidlich verpflichteten Gerichtspersonen bestehen, deren einer in dem Ort, wo die
Erklärung aufgenommen wird, das Richteramt zusteht.
Auch zu einer besonderen Vorsicht bezüglich der Beachtung des Geistes-
zustands des Testators verpflichtet das Gesetz den öffentlichen Beamten, der einen
letzten Willen errichten hilft.
Nach dem österr. A. B. G.-B. §. 569 können Minderjährige, die das 18. Jahr
noch nicht zurückgelegt haben, nur mündlich vor Gericht testiren. Das Gericht
muss durch eine angemessene Erforschung sich fest zu überzeugen suchen, dass
die Erklärung des letzten Willens frei und mit üeberlegung geschehen sei, die
Testirfähigkeit. Gesetzliche Erlordernisse. 371
Erklärung muss in ein Protokoll aurgenommen und dasjenige was sich ergehen
hat, beigerückt werden.
§. 147 des preuss. A. L.-R. (Thl. I, Tit. XI) verlangt vom Richter, dem
es bekannt ist, dass der Testator zuweilen an Abwesenheit des Verstandes leide,
dass er sich vollständig überzeuge, ob derselbe in dem Zeitpunkt, wo dieser
sein Testament aufnehmen lässt oder übergibt, seines Verstands wirklich mächtig
sei, und §. 148 bestimmt, dass falls der Richter dies zweifelhaft findet, er einen
Sachverständigen zuziehen muss. Leidet das Geschäft keinen Aufschub, so muss
der Richter die Handlung zwar vornehmen, aber zugleich alle Umstände, welche
ihm die Fähigkeit des Testators zu einer gültigen Willenserklärung zweifelhaft
erscheinen lassen, im Protokoll mit vorzüglicher Sorgfalt bemerken.
Ueber die geistige Verfassung , in welcher sich der Testirende befinden
muss, geben die Gesetzbücher ganz bestimmte Vorschriften. §. 565 d. österr.
A. B. G.-B. verlangt, dass der Wille des Erblassers bestimmt, nicht durch blosse
Bejahung eines ihm gemachten Vorschlags geäussert werde. Er miiss im Zustand
der vollen Besonnenheit, mit Ueberlegung und Ernst, frei von Zwang, Betrug
und wesentlichem Irrthum erklärt werden.
Nach §. 566 ist die Erklärung ungültig, wenn bewiesen wird, dass sie im
Zustand der Raserei, des Wahnsinns, Blödsinns oder der Trunkenheit statt-
gefunden hat.
Art. 901 des Code NapoL, womit derselbe Art', d. rhein. bürgerl. Gesetzb.
gleichlautend ist , bestimmt ; „pour faire une donation entre vivants ou un
testament, il faut etre sain d'esprit".
Dass die Geistesgesundheit Grundvoraussetzimg jeglicher gültigen letzten
Willenserklärung sei , geht auch daraus hervor , dass die Bestimmungen des
Art. 504 des französ. Gesetzbuchs sich nicht auf Schenkungen und Testamente
erstrecken, sondern es hier ei"nfach genügt, nachzuweisen, dass der Testator zur
Zeit des Akts , wenn auch nur momentan , der Vernunft beraubt war. Es ist
also bei der Angreifung eines Testaments nicht nöthig, dass nach Art. 504 die
Entmündigung noch zu Lebzeiten des Testators ausgesprochen oder nachgesucht
war, oder der Beweis der Geistesstörung sich aus der angegriffenen bürgerlichen
Handlung von selbst ergibt. Es genügt einfach der Nachweis, dass zur Zeit der
Testamentserrichtung der Betreffende nicht geistesgesund war. Das Gleiche ergibt
sich aus der negirenden Bestimmung des A. L.-R. Thl. I, Tit. XII, §. 21, wornach
Personen, die wegen Wahnsinns oder Blödsinfls unter Vormundschaft genommen
sind, solange diese dauert, letztwillige Verordnungen zu errichten unfähig sind.
Nach Rechtsgrundsätzen besteht immer eine Präsumption zu Gunsten des
Testaments, namentlich auch im Zweifelfall. Die Abwesenheit geistiger Gesund-
heit zur Zeit des Akts muss endgültig bewiesen sein, um diesen für nichtig er-
klären zu können. Wird das Testament angegriffen, so müssen von Seiten der
Anfechtenden thatsächliche Gründe beigebracht werden, damit eine gerichtliche
Untersuchung der Validität des Testaments verfügt werden kann. Die Beweislast
liegt dabei dem ob, der es anfechtet.
Eine weitgehende Vorsicht enthält indessen das preuss. Gesetz, A. L.-R. Thl. I,
Tit. XII, §. 22, wornach, wenn unter Vormundschaft genommene Wahn- und Blöd-
sinnige innerhalb eines Jahres vor angeordneter Vormundschaft eine ausser-
gerichtliche oder privilegirte Verordnung über ihren Nachlass gemacht haben.
Derjenige, welcher daraus einen nach den Gesetzen ihm nicht zukommenden
372 Cap. VIII. Testirfähigkeit.
Vortlieil fordert, nachweisen muss, dass der Verfügende damals, als er die letzt-
willige Verordnung errichtete, seines Verstandes mächtig gewesen sei.
Der positive Wortlaut der Gesetzbücher bestimmt die formellen
und gesetzlichen Bedingungen des rechtsgültigen Aktes letztwilliger
Verfügung. Ihre Kenntniss führt zur Untersuchung:
a) welche Bedingungen psychischerseits der Begriff der Geistes-
gesundheit gegenüber der Testirfähigkeit enthält;
b) welche Zustände krankhafter Störung der Geistesthätigkeit
diese Fähigkeit als aufgehoben oder beschränkt erscheinen
lassen;
c) welche Anhaltspunkte für die Ermittelung des geistigen Zu-
stands zur Zeit der Testamentserrichtung aufgestellt werden
können.
a) Die vom Gesetz geforderten geistigen Fähigkeiten zur Errichtung eines
Testaments.
Sie lassen sich dem ganzen Geist der Gesetzgebung nach in
folgenden 2 Bedingungen zusammenfassen:
1) Der Testirende muss das volle Bewusstsein von der Bedeutung
der letztwilligen Verfügung in materieller und legaler Beziehung^
die klare Einsicht in die Tragweite der von ihm gemachten
Bestimmungen für sich und die Betheiligten, sowie die Fähig-
keit besitzen, seinen Willen klar und deutlich, sei es mündlich
oder schriftlich, kund zu geben.
2) Diese Willenserklärung muss frei sein , d. h. unbeirrt durch
Zwang, Vorspiegelung, Drohung, krankhafte Störung der Gei-
stesthätigkeit. Fehlt eine dieser beiden Fähigkeiten, so kann
von der gültigen Erklärung eines letzten Willens nicht die
Rede sein.
Das Gesetz verlangt indessen offenbar nicht die höchste Klar-
heit des Verstandes und die grösste Festigkeit des Willens, sonst
würde es nicht (Code Napol. und darauf gegründete Gesetzgebungen)
den Verbeistandeten sowie den Minderjährigen, sobald er ein gewisses
Alter (16 Jahre Frankreich, 18 O esterreich) erreicht hat, als testir-
fähig anerkennen.
Es liegt in der Natur der Sache, dass vielfach jene Grund-
voraussetzungen der Testirfähigkeit fehlen werden. Dies kann ge-
schehen durch Pression von Seiten der Umgebung (geistesbeschränkte,
altersschwache Leute) oder durch eine affektvolle leidenschaftliche
Psychische Störungen, welche die Testirfähigkeit aufheben. 373
Stimmung, die die Thatsachen entstellt zum Bewusstsein bringt, oder
durch Störungen der Hirnthätigkeit, welche die Kundgebung des
Willens unmöghch machen (gew. Fälle von Aphasie) oder durch acute
Störungen des Selbstbewusstseins , welche die Bedeutung der Hand-
lung und ihrer Folgen nicht erkennen lassen, oder durch Geistes-
krankheit, welche die freie Willensbestimmung vernichtet und das
Bewusstsein fälscht. Angesichts dieser Thatsachen ist es sehr be-
gründet, wenn das Gesetz in der Verpflichtung zur Einhaltung
bestimmter Formen bei der Testamentserrichtung strenge ist und es
den Gerichtsbeamten bei öffentlichen Testamenten zur Pflicht macht,
sorgsam auf den Geisteszustand zu achten, sowie die Gegenwart einer
gewissen Zahl von Zeugen bei dem Akt fordert.
Leider steht nur die Kenntniss der Abweichungen des Seelen-
lebens von der Norm nicht in entsprechendem Verhältniss zur Wich-
tigkeit des Aktes sowie den Intentionen des Gesetzgebers. Nur zu
häufig geschieht es, dass Laien als -Zeugen, ja selbst Aerzte die
Störung der psychischen Funktionen am Krankenbett übersehen.
Es ist endlich eine falsche Humanität gegen Familie und
Kranken, wenn der Arzt auf eine etwa wünschenswerthe Ordnung
der Angelegenheiten aufmerksam zu machen zu einer Zeit unterlässt,
wo die Geisteskräfte durch die Krankheit noch nicht gelitten haben.
Gar mancher leidige Process wäre dadurch vermeidbar. Freilich
müsste der Arzt, um dieser Anforderung gerecht zu werden, das
Irresein genauer und nicht bloss dem Namerf nach kennen.
b) Psychische Störungen, welche die Testirfähigkeit während ihrer Daner
' aufheben.
Nicht bloss Geisteskrankheit im engeren Sinne, sondern auch
angeborene und consecutive Geistesschwäche und Taubstummheit,
acute und chronische Erkrankungen des Gehirns aller Art, Fieber-
delirium, die Zustände der Agonie und der Vergiftung können hier
in Betracht kommen.
Häufig kommt es zur Errichtung eines Testaments erst auf
dem Sterbebett. Es ergibt sich daraus die Noth wendigkeit einer
Betrachtung des geistigen Zustands Sterbender.
Bei einer Reihe von zum Tod führenden Krankheiten ergibt
die Beobachtung die Integrität der Geistesfunktionen bis kurz vor
dem Tod. Bei kaum einem Sterbenden dürfte aber der Tod bei
vollem Bewusstsein und voller geistiger Klarheit erfolgen. Wie der
374 Gap. VIII. Testirfähigkeit (Sterbender).
Mensch unbewusst in's Leben eintritt, so geht er aus demselben un-
bewusst oder im Zustand psychischer Umdämmerung.
Die Störungen der Geistesthätigkeit, welche beim Sterbenden in
Betracht kommen, sind 1) Delirium, 2) Zustände von Somnolenz, in
welchem nur noch auf starke Sinnesreize oder auf Aufmunterung hin
eine Aufnahme von Eindrücken aus der Aussenwelt erfolgt, gleich-
wohl aber der Kranke wie ein Automat zur Ausübung von Hand-
lungen, die natürlich keine klar bewussten und keineswegs mehr
freie sind, bewogen werden kann.
Während Somnolenz bei allen zum Tod führenden Krankheits-
zuständen sich einfinden kann, ist das Auftreten von Delirium, soweit
es nicht ein artificielles , durch Medicamente (Opium, Belladonna,
Chloroform etc.) bedingtes ist , auf Fälle von Erkrankung des Ge-
hirns und seiner Häute, von schweren acuten Allgemeinerkrankungen
mit hoher Temperaturkurve beschränkt. Es ist wenigstens Regel,
dass es nicht bei tödtlich endenden, chronischen, constitutionellen
Erkrankungen, bei Degenerationen der Organe, bei Blutungen, den
meisten chirurgischen Krankheiten, bei solchen der serösen Mem-
branen (Pleuritis, Pericarditis, Peritonitis) auftritt. Mit Bezug auf
diese Thatsachen ist es immer von Werth, in Fällen streitiger Testir-
fähigkeit auf dem Sterbebette, eine genaue Diagnose der Krankheit,
welche zum Tode führte, zu besitzen. Von einzelnen Autoren sind
Fälle bekannt gemacht worden, wo bei Hirn- und Geisteskranken
das bisher bestandene "Delirium in der Agonie zurückgetreten und
die Vernunft wiedergekehrt sein soll. Die bezüglichen Beobachtungen
von Brierre (Annal. m6d. psychol. 1850 p. 531) bei Hirnkranken
und Marshai (the morbid anatomy of the brain in mania, London
1815, Fall 2, 6, 8, 16, 21) an Geisteskranken sind nicht beweisend
und lassen vermuthen, dass ein blosses Zurücktreten der psychischen
Symptome der Krankheit mit einem völligen Schwinden derselben
verwechselt wurde. Die Frage der Testirfähigkeit könnte überdies
nur bei noch nicht entmündigten Geisteskranken gestellt werden:
üeber die Testirfähigkeit Sterbender enthalten die Territorial-
gesetzgebungen keine speciellen Vorschriften. Nach gemeinem Recht
kann ein Sterbender letztwillig verfügen „wenn er nur noch bei
Verstand und bei Bewusstsein ist und seinen Willen auf eine ver-
ständliche Art aussprechen kann."
Jedenfalls kann die Testirfähigkeit dem Sterbenden im Allge-
meinen nicht abgesprochen werden und ein darauf gegründeter Ein-
wand kann nur annehmbar sein, wenn er durch Beweise gestützt ist.
Beob. 140. Fieberdelirium. Zweifelhafte Testirfähig-keit. 375
Aus den Angaben der Zeugen, der Sachverständigen, der Kranken-
geschichte des behandelnden Arztes naüssen diese Beweise beigebracht
werden. Dass im Delirium die Testirfähigkeit aufgehoben sei,
lehrte schon das römische Recht. Ein constatirtes Delirium zur Zeit
der Errichtung eines letzten Willens ist jedenfalls den Geistesstörungen
gleich zu erachten. Beim Testament eines Sterbenden ist nament-
lich die Möglichkeit zu beachten, dass der somnolente Sterbende auf
Grund eindringlicher Nöthigung von Seiten der Umgebung und dirigirt
von dieser ein Testament macht, das zwar formell richtig redigirt und
logischen Inhalts aber wesentlich das Werk der Umgebung ist und
nicht mit klarem Bewusstsein und freier Willensbestimmung abge-
fasst wurde.
Beob. 140. Fieb erdeliri um. Zweifelhafte Testirfähigkeit.
Agostino F., Bürger von San Marino, 56 Jahre, von nervösem reizbarem Tempera-
ment, aus neuropathischer Familie, sonderbar in seinem Charakter, schon längere
Zeit an Cystitis und Gicht leidend, in seinen Gichtanfällen zu Delirien geneigt,
erkrankte am 9. Morgens an Peritonitis acutissima ' und starb am 11. Abends
5 Uhr. Am 10. Abends hatte er ein Testament zu Gunsten eines Freuiides ge-
macht und damit seine Familie enterbt. Seine Dispositionsfähigkeit zur Zeit des
Akts, erschien zweifelhaft. Zwei angesehene Aerzte hatten sie bejaht, ein dritter
sie für aufgehoben erklärt. Die Untersuchung ergab , dass am 10. Abeiids cere-
brale Complicationen sich zum Krankheitsbild gesellt hatten. Der Kranke fing
an verkehrt und unzusammenhängend zu reden, kannte Ort und Personen nicht
mehr, hatte Gesichtshallucinationen und Sehstörungen. In diesen Zeitraum fiel
der Akt, der bei geschlossener Thüre ausgefertigt wurde. Der Notar führte dem
Todtkranken die Feder. Dieser sagte am Schlüsse „ja". Als die Zeugen zum
Contrasigniren gerufen wurden, fanden sie die Hallucinationen gesteigert und
Patient im Delirium. Unter fortdauerndem Delirium und zj.inehmendem CoUaps
trat der Tod ein. Das Gutachten weisst klar und gründlich nach, dass ein Com-
plex psychopathischer Symptome zur Zeit der letzten Willenserklärung bestand,
der die Möglichkeit einer Dispositionsfähigkeit sowie die eines lue. interv. aus-
schloss. (Livi, Consultaz. med. legale. Firen'ze 1870.)
Weitere Fälle: Legrand, Annal. med. psychol., 1867 Mai. Testament
im letzten Stadium eines Typhus mit Delirium. Nachweis, dass der eine halbe
Stunde vorher in Stupor und Delir befindliche Kranke unmöglich seinen letzten
Willen frei und selbstbewusst mittheilen konnte. Das Dokument, in erster In-
stanz für ungültig erklärt, wurde in zweiter gleichwohl anerkannt.
Platner, Untersuchungen, edit. Hedrich, 1820, p. 239. Testament im Fieber-
delirium. Verwei"fung. Legrand, testaments, Beob. 1876.
Nicht selten wird die Testirfähigkeit von Individuen fraglich,
die zur Zeit der Errichtung des letzten Willens an einer chroni-
schen he'rdartigen Hirnkrankheit litten, insofern diese an
und für sich nicht zu den Geisteskrankheiten gerechneten Hirnaffec-
tionen (Encephalitis, Hirnabscess, Hirngeschwülste, blutiger Schlag-
376 Cap. VIII. Testirfähigkeit
fliiss etc.) in der Regel mit elementaren Störungen der psychischen
Funktionen, namentlich des Gedächtnisses, der Verknüpfung von Vor-
stellungen zu Urtheilen etc. der Apperception einhergehen.
Als Regel ist zu betrachten, dass eine herdartige Hirnkrank-
heit an und für sich die Testirfähigkeit nicht aufhebt und gewiss
ist die Beurtheilung eines Falles von Esquirol (Annales d'hygi^ne
1832, I, p. 203), in welchem das Testament eines Menschen bloss
auf Grund seiner durch Apoplexie bedingten Hemiplegie, ohne dass
psychische Störungen vorhanden waren, angefochten, aber die Klage
abgewiesen wurde, die einzig richtige.
Dass indessen die psychischen elementaren Störungen bei heerd-
artigen Hirnerkrankungen so bedeutend werden können , dass nicht
bloss das klare Bewusstsein der Bedeutung des Akts, sondern auch
die Selbstständigkeit der Willensbestimmung nothleidet, lehrt die Er-
fahrung. Die Frage der Testirfähigkeit wird solchen Fällen gegen-
über eine concrete und nach Umfang und Intensität dieser Störungen
zu beurtheilen sein.
Von besonderem Interesse für die Frage der Testirfähigkeit ist
hier der geistige Zustand der Apoplektiker. Die psychischen Funk-
tionen können nach einem apoplektischen Insult ganz unbeeinträch-
tigt sein und bleiben. Häufiger jedoch kommt es zu Störungen der-
selben, die sich in leichteren Fällen als Aenderungen des Charakters,
Gedächtnissschwäche, Gemüthsreizbarkeit , Schwierigkeit die Worte
bei der Unterhaltung zu finden, grössere Bestimmbarkeit durch die
Umgebung kundgeben.
In anderen Fällen bildet sich durch schwerere und difiuse Er-
krankung, welche der apoplektische Insult setzt, das Bild einer fort-
schreitenden Verblödung aus, die sich in grosser Gedächtnissschwäche,
namentlich für die Jüngstvergangenheit, im Verkennen der Um-
gebung und der Lage äussert, zuweilen von Verfolgungswahn,
(Angstgefühle, vage Furcht vor Dieben, ängstliche Unruhe, schreck-
hafte Hallucinationen) begleitet wird, bis zu apathischem Blödsinn
fortschreitet. In solchen Fällen ausgebildeter Dementia apoplectica
kann von Testirfähigkeit nicht mehr die Rede sein.
Beob. 141. Apoplektischer Schwachsinn. Testirfähigkeit? Ein
66j ähriger Beamter, ehrenwerther Charakter, hatte wiederholt seiner Tochter und
deren Mann, die er sehr liebte, erklärt, er werde ihnen sein ganzes Vermögen
zuwenden. Seit einem Jahr, in Begleitung von Congestivzufällen, Abnahme des
Gedächtnisses, erschwerter Gedankengang, Aenderang des Charakters, Indifferenz,
Egoismus, Urtheils- und Willensschwäche.
bei herdartiger Hirnkrankheit und bei Aphasischen. 377
Auf Anstiften seiner Frau verkaufte er seine Wertligegenstände, nahm
Geld auf seine Caution auf. Ein apoplektischer Anfall lähmt seine linke Seite.
Einige Tage später macht er ein Testament, das er aber um 2 Jahre zurückdatirt
und worin er seine Frau (die intellektuelle Urheberin des Testaments) als Uni-
versalerbin einsetzt. Diese Urkunde ist kaum leserlich, voll Dintenflecken, Correk-
ture'n, Fehlern. Einzelne Worte sind vergessen, andre hineingeflickt, die Zeilen
schief, die Buchstaben ungleich, zitterig. 14 Tage später starb der Testator in
einem neuen Anfall von Apoplexie.
Das Testament, das nichtswürdige Werk einer habgierigen, die Geistes-
schwäche ihres Mannes missbrauchenden Mutter, enterbte eine vor der Krank-
heit des Testators von ihm zärtlich geliebte Tochter. Ein Process wurde von
der Enterbten nicht angestrengt. (Legrand, la folie, p 243.)
Beob. 142. In krankhaftem Geisteszustand nach einer Apo-
plexie errichtetes Testament. Eine Wittwe hatte kurze Zeit nach einem
Schlaganfall den dritten Theil ihres Vermögens einer Person, mit der sie bisher
in grösster Feindschaft gelebt hatte, vermacht. Als ihr später das Testament
zx;fällig in die Hände kam, war sie sehr erstaunt, überhaupt ein solches gemacht
zu haben, noch mehr aber über dessen Inhalt. Sie versicherte von Allem was
zu jener Zeit mit ihr vorgegangen war, nicht das Geringste zu wissen und sich
nur zu erinnern, dass sie damals mit dem Gedanken, sich mit ihrer Feindin aus-
zusöhnen, beschäftigt war. (Albert, med. Correspondenzbl. bair. Aerzte, 1850,
Nr. 30.)
Weitere Fälle: s. Legrand, la folie, p. 233, 235 u. testaments, Beob. 24,
25, 26- 29. Müller, Entwurf der ger. Arzneiwissenschaft, II, p. 97. Beck, elements
of med. jurisprud. p. 502. Marc, übs. v. Ideler, II, p. 510, zweifelhafte Gültig-
keit eines von einem mit Geistesschwäche und Hemiplegie behafteten Manne ver-
fassten mystischen Testaments, das dieser zwei Monate vor seinem an chron.
Encephalitis erfolgten Tod errichtet hatte. Tardieu, etude med. legale sur la
folie, p. 39.
Neben der Schmälerung' des geistigen Besitzes kann auch die be-
hinderte Kundgebung desselben durch die bei herdartigen Hirnkrank-
heiten nicht seltene Aphasie in Betracht kommen. InFällen vollständiger
Aphasie, zugleich complicirt mit Agraphie, Worttaubheit und Schrift-
blindheit wird die Störung der Entäusserung des Willens gleichbedeutend
sein mit dem Verlust desselben (Dementia). Fast immer besteht
übrigens ein complicirender Defekt der Intelligenz, was für die Ex-
pertise des aphasischen Zustands wohl zu berücksichtigen ist.
Bei unvollkommener Aphasie ist die Möglichkeit einer gültigen
Testamentserrichtung nicht geradezu ausgeschlossen. Es kommt hier
wesentlich auf den Umfang der Störung der Gedankenmittheilung und
auf die concrete Form der Testamentserrichtung an. Unter allen
Umständen muss beim Aphasischen der Testamentserrichtung eine
genaue Untersuchung des Zustands vorhergehen und bei der Würdi-
378 Gap. VIII. Testirfähigkeit
gung des Testaments eines Aphasischen die Gefahr berücksichtigt
werden, dass ein worttaiiber oder schriftbHnder derartiger Kranker
ein ihm unterschobenes Concept unterschrieb oder abschrieb, ohne
dessen Sinn zu verstehen.
Fälle zweifelhafter Testirfähigkeit Aphasisclier : Americ. Journ. of insanity
1879. Legrand du Saulle, des testam., Beob. 32, 33.
Weitaus am häufigsten wird die Gültigkeit eines Testaments auf
Grund behaupteter Geisteskrankheit des Testators angefochten.
Der Wortlaut des Gesetzbuchs schliesst den Geisteskranken,
selbst wenn er nicht interdicirt ist, von der Fähigkeit Testamente
zu errichten aus. Bewiesene Geisteskrankheit zur Zeit der Testaments-
errichtung macht daher den Akt ungültig. Nur über den Umfang
des Begriffs „Geistesstörung" kann Zweifel bestehen. Offenbar liegt
es in der Absicht des Gesetzes, alle Zustände von Störung der Gei-
stesfunktionen, in denen weder Besonnenheit noch Urtheil und freie
Willensbestimmung intakt sind , dem sich durch Wahnideen und
Sinnestäuschungen äussernden Irresein gleich zu achten.
Die Einschränkung des Begriffs j, Geisteskrankheit" auf Zustände
von Wahnsinn und Blödsinn ist hier ebensowenig zulässig als im
Criminalforum. Auch das „Gemüthsirresein" ist vom Standpunkt der
Testirfähigkeit aus als Geisteskrankheit zu betrachten. (Vgl. den
Abschnitt über Dispositionsfähigkeit im Allgemeinen.)
Am häufigsten wird in Fällen, wo das Testament auf Grund
von Geistesstörung angefochten wurde, Verfolgungswahnsinn con-
statirt. Zuweilen handelt es sich auch um Zustände von Paralyse,
Verrücktheit, angeborenem oder secundärem Schwachsinn, Melan-
cholie, Dementia senilis.
Besondere Schwierigkeit für die Entscheidung können Fälle von
Dementia senilis bieten.
Es kann hier in Folge der senilen Involution des Gehirns, wie
ja überhaupt bei Schwachsinnigen, eine solche Willensschwäche und
Bestimmbarkeit bestehen, dass Einschüchterung von Seiten der Um-
gebung den Altersschwachen veranlasst, letztwillige Verfügungen zu
treffen, die den Willen der Umgebung, nicht den freien Willen des
Testators enthalten. Oder der Kranke leidet an einer solchen Ein-
busse seines Gedächtnisses und seiner intellektuellen Kräfte, dass er
zwar noch Sinneswahrnehmungen zu machen. Vorgesagtes mecha-
nisch zu reproduciren im Stand ist , auf concreto Fragen richtig
antworten kann, ohne im Besitz seiner höheren Geisteskräfte zu sein.
in allgemeinen Neurosen, im lucidum intervallum. 379
Bei Sinnen und Verstand sein ist jedenfalls nicht identisch mit
dem Besitz der Vernunft und der freien Selbstbestimmungsfähigkeit.
Diese sind aber zweifelsohne Forderungen der Gesetzgebung an jeden
Testirenden.
Dass auch bei gewissen allgemeinen Neurosen psychisch un-
freie Zustände j sei es durch Häufung elementarer Störungen oder
Complication mit temporärer allgemeiner Geistesstörung vorkommen,
wurde im Capitel des hysterischen und epileptischen Irreseins ge-
zeigt. Namentlich gewinnt das letztere Bedeutung durch die hier
plötzlich auftretenden und schwer nachweisbaren Traum- und Däm-
merzustände, in welchen der Kranke zwar eines combinirten Han-
delns fähig, gleichwohl aber des Selbstbewusstseins beraubt ist und
hinterher gar nicht weiss, was er ir^ solchem Zustand gethan hat.
Eine schwierige Frage ist endlich die der Testirfähigkeit im
lucidum intervallum von Delirium und Geisteskrankheit. Bei
gewissen acuten und Infectionskrankheiten wird ein nachgewiesener
Zustand von Delirium vor und nach dem Akt die Geistesintegrität
sehr zweifelhaft machen, in der Zwischenzeit zwischen zwei deliriösen
Anfällen von Wechselfieber wird sie kaum anzuzweifeln sein.
Das Bedenkliche der Annahme und Feststellung des zeitlichen
Umfangs des lucidum intervallum bei Geisteskranken wurde schon
oben hervorgehoben. Nur ärztliche Sachverständige können zur Ent-
scheidung in solchen schwierigen Fällen competent sein. Das öster-
reichische Gesetzbuch §. 567 verfügt:
„wenn behauptet wird, dass der Erblasser, welcher den Gebrauch
des Verstandes verloren hatte, zur Zeit der letzten Anordnung
bei voller Besonnenheit gewesen sei, so muss die Behauptung
durch Kunstverständige oder durch obrigkeitliche Personen, die
den Gemüthszustand des Erblassers genau erforschten, oder durch
andere zuverlässige Beweise ausser Zweifel gesetzt werden.
Beob. 143. Melancholie als Vorstadium einer Manie. Fehlende
Testirfähigkeit. Emilie T. heirathete im Januar 1868 den Schlosser B. Sie
wurde kränklich. Der Arzt rieth Schonung an. Am 10. August glaubt sich
Frau B. dem Tode nahe. Sie empfangt die Sterbesakramente und errichtet dann
ein öffentliches Testament, das ihren Mann zum Universalerben einsetzt. Nach
einigen Tagen ist sie anscheinend ganz genesen. Am 23. August bricht Tobsucht
aus. Sie kommt in die Irrenanstalt und stirbt dort nach einigen Wochen. Die
gesetzlichen Erben fechten das Testament auf Grund von Geistesstörung an. Der
Mann habe die Verstorbene schlecht behandelt imd diese keine Veranlassung ge-
habt, mit Uebergehung ihres betagten Vaters und ihrer Geschwister, den gefühl-
losen Gatten zum Erben einzusetzen. Kein Zeuge wusste etwas von dieser schlechten
380 Cap. VIII. Testirfähigkeit.
Behandlung, ebensowenig hatten Notar, Geistlicher, Zeugen etwa? von Geistes-
störung an der Testirenden bemerkt, die schon vor der Erkrankung einer Zeugin
die Absicht mitgetheilt hatte, dem Ehemann Alles zu vermachen und dieser einige
Tage nach der Errichtung des Testaments dessen Inhalt klar angegeben hatte.
Dem stand die Aussage des als Zeugen vernommenen Arztes Dr. B. entgegen,
der deponirte, am 9. Aug. habe die B. an Hallucinationen und grosser, durch
ihren körperlichen Zustand nicht begründeter Todesangst gelitten. Neben der
Angst sei ein Zustand von Apathie und Melancliolie vorhanden gewesen, ein
willenloses Wesen, welches den freien Entschluss zur Erriclitung des Testaments
nicht habe aufkommen lassen. Bei seinen Besuchen am Morgen und Abend des
10. August habe dieser Zustand unverändert fortgedauert; erst einige Tage nach-
her habe sich die geistige Aufregung der B. wieder gelegt. Die sachverständigen
Gütachten erklärten, die B. sei am 10. August nicht bei gesundem Verstand, so-
mit nicht im Zustand freier Entschlussfähigkeit gewesen. Gleichwohl wies die
Civilkammer die Klage ab, indem sie davon ausging, dass der ganze Beweis der
Klage auf der Aussage des Dr. B. »beruhe, diese aber mit den Angaben der
übrigen „beugen" im Widerspruch stehe und dadurch aufgehoben werde (!). Der
Appellationssenat erkannte nacli dem Klageantrag, das Oberhofgericht gab in letzter
Instanz- folgende Entscheidung:
1. Das Gesetz verlangt durchaus nicht, dass der Testator sich in absolut
gesundem Zustand und im ungeschmälerten Besitz der höchsten Klarheit des
Verstands und der grössten Festigkeit des Willens befinde, denn es darf ja auch
der Verbeistandete und der Minderjährige unter gewissen Voraussetzungen testiren.
Sobald Jemand fähig ist zu verstehen was ein letzter Wille bedeutet und was
Inhalt und Zweck eines von ihm ausgesprochenen letzten Willen ist, sowie seinen
Entschluss zur Errichtung desselben unbeeinflusst durch krankhafte Störungen seiner
Geistesthätigkeit zu fassen, ist der Begriff des gesunden Verstands im Sinne des
bad. L.R.S. 901 erfüllt. Sobald die eine oder die andere dieser Voraussetzungen
mangelt, ist die Testirfähigkeit nicht vorhanden.
2. Die Testirunfähigkeit der B. erscheint fraglich, denn ausser dem ärztlichen
Zeugniss spricht Alles für Testirfähigkeit. Das ärztliche Zeugniss muss aber von
grösserer Bedeutung sein als das des Laien, denn der Arzt erkennt vielfach eine
Geistesstörung richtig, während der in Vorurtheilen befangene Laie eine solche
nicht wahrnimmt. Es macht dabei nichts aus, dass Dr. B. nur als Zeuge, nicht
als Sachverständiger vernommen wurde. Seine Angaben finden eine wichtige
Stütze in denen des Pfarrers, der ein apathisches Wesen an der B. fand, wie es
nach seiner Erfahrung dem eigentlichen Ausbruch der Geistesstörung vorherzu-
gehen pflege. Sie erschien ihm nicht schwer körperlich, sondern eher gemüths-
krank. Auch der Notar bemerkte „Todesangst", die nach Dr. B. körperlich nicht
begründet war.
Ist auch nicht zu leugnen, dass eine Seite des gesunden Verstands, das
Erkenntnissvermögen, ungetrübt war, so fehlte doch das zweite Erforderniss eines
gesunden Verstands, die freie Willensbestimmung, nach dem durchaus unanfecht-
baren ärztlichen Zeugniss. Damit erscheint der den Klägern obliegende Beweis
als geführt.
Offenbar handelte es sich in diesem interessanten Gerichtsfall, in dem das
technische Urtheil des Sachverständigen gegenüber Verkennung des Zustands
durch Notar, Zeugen und Umgebung zur richtigen Würdigung kam, um das
Beob. 144. Melancholie mit freien Zwischenräumen. Testiri'ähigkeit? 381
melancholische Prodromalstadium einer Manie. (Annalen der bad. Gerichte,
XXXVIII, Nr. 20.)
Beob. 144. Melancholie mit freien Zwischenräumen. Frag-
liche Validät eines Testaments. Am 2. März 1864 starb der ledige
Joseph E. Im August 1850 hatte er ein öffentliches Testament gemacht, folgen-
den Inhalts : „Den nachbenannten fünf Kindern meiner Schwester A. vermache
ich folgende Liegenschaften : (folgt das genaue Verzeichniss derselben). Diese
Liegenschaften sollen gleichheitlich unter diese Kinder vertheilt werden."
Dieses Testament wurde von anderen Verwandten auf Grund behaupteter
Geisteskrankheit angefochten. Sie machten geltend, dass E. ein von Kindheit
auf geistig verkümmerter, seit 1836 notorisch blödsinniger Mensch gewesen sei,
der abgeschieden und in völlige Lethargie versunken in einem mehr thierischen
als menschlichen Zustand dahin gelebt, sein Dasein ohne allen Grund bedroht
gewähnt, ganze Nächte hindurch getobt habe. Er glaubte sich von Hexen be-
droht; fing mit Leuten, die er fiir seine Feinde hielt, Händel an, litt an Hallu-
cinationen, durch die er zu den verrücktesten Handlungen bewogen wurde.
Die beklagte Partei macht geltend, dass E. bis in sein spätestes Alter sein
Vermögen selbstständig verwaltet habe, in seiner Verfügungsfreiheit bei verschie-
denen VerträgeiT und Käufen nie von irgend wem beanstandet worden sei. Er
habe einmal heirathen wollen, aber seine Schwester G., die ihn zu beerben ge-
dachte , habe darüber solchen Skandal erhoben , dass er von diesem Vorhaben
wieder abgestanden sei. Von da an habe er allerdings manche trübe Stunde
gehabt aber geisteskrank sei er nie gewesen. Auf die Irrenliste hätten ihn seine
Verwandten nur aus Eigennutz und in der Besorgniss setzen lassen, er könne
einmal mit üebergehung ihrer zu Gunsten seiner Lieblingsschwester testiren. Die
Zurückgezogenheit und Menschenscheu des Erblassers seien durch bittere Er-
fahrungen motivirt, sein feindliches Verhalten gegen die Leute durch Neckereien
provocirt gewesen. Er habe wohl an Hexen geglaubt, aber nicht aus Wahnsinn
sondern aus Aberglauben.
.Bei der Errichtung des Testaments habe er Alles bis in's Detail angegeben,
wie es nach seinem Tod gehalten werden solle und damit hinlängliche Beweise
von ungetrübter Geisteskraft verrathen.
Die Vernehmung des Beamten und der Testamentszeugen ergab , dass E.
bei vollem Verstand war, selbst genau angab wie er Alles gehalten wissen wollte,
und dass Niemand Zweifel an der Klarheit seines Geistes hatte.
Aus Zeugenangaben ergibt sich, dass E. 1838 etwa ein Vierteljahr lang
Nachts in seiner Stube schimpfte und sich äusserte „ich sehe dich wohl, du
Teufel". 1843 schimpfte er oft ohne alle Veranlassung Leute, die an seinem
Hause vorübergingen. 1848 bemerkte man ebenfalls häufiges nächtliches Schimpfen.
Von Stumpfsinn hatte man nie etwas an ihm bemerkt.
Alle Zeugen stimmen darin überein, dass E. in der Gemeinde als geistes-
schwach, halbnärrisch galt, jedoch nur zeitweise irrsinnig war, im Uebrigen seine
Geschäfte gut besorgte, Käufe und Verkäufe selbständig abschloss.
In der Irrenliste von 1860 findet sich über ihn folgender Eintrag:
„J. E., Bauer, ledig, geb. 1789. Art der Seelenstörung Melancholie. Krank
seit 1835. Hat lichte Zwischenräume. Die Anfälle dauern nur kurze Zeit, erb-
liche Anlage, ist ungeiährlich, unheilbar, wurde nie ärztlich behandelt."
382 Cap. VIII. Testirfähigkeit.
Urtheil: Die Kläger sind mit ihrer Klage unter Verfällung in die Kosten
abzuweisen.
Gründe : Die Behauptung, dass Testator bei Errichtung des Testaments
nicht bei gesundem Verstand gewesen^ ist nicht erwiesen. Das Testament ent-
hält nichts Widersinniges. Der Testator kat klar und deutlich seinen Willen
kundgegeben und Alles genau bezeichnet. Der Geschäftsfertiger und die Zeugen
haben beurkundet, dass der Testator bei gesundem Verstand war. Alle übrigen
Zeugen bestätigen, dass der Testator zwar viele Eigenthümlichkeiten hatte, aber
wenn nicht gereizt, wie jeder andere Mensch war, sein Hauswesen gut besorgte
und sein Vermögen gut verwaltete. Die Irrenliste charakterisirt seine Krankheit
als Melancholie, die Anfälle dauern nur kurze Zeit, er hat lichte Zwischenräume.
Eine Berufung gegen dieses Urtheil wurde nicht ergriffen. (Eigene Beob-
achtung.)
Beob. 145. Verfolgungswahnsinn. Nullität des Testaments.
Ein gew. Baron ist seit etwa 1855 geistesgestört. Vergiftungswahn war das erste
Symptom und bestand bis zu seinem Tod. In den letzten 10 Jahren hatte er
nach der Reihe alle seine Domestiken beschuldigt, dass sie ihm nach dem Leben
strebten. Sie thaten ihm Gift in das Essen. Er hörte darauf bezügliche Stim-
men imd an dem gelblichen Schweiss, den er in seiner Wäsche fand, bemerkte
er die Spuren der Vergiftungsversuche. Auch glaubte er, dass man ihn bestehle,
dass man ihn durch geheime Mittel verliebt in eine Person seiner Umgebung
machen wolle. Er glaubte, dass der Pfarrer auf einen nahen Baum klettere, um
ihn auszuspioniren. Wiederholt hatte er daran gedacht, sich diesen Conspiratio-
nen durch Entfernung aus dem Lande zu entziehen. In seinem Testament setzte
er ein Kind zum Universalerben ein, weil dieses durch seine Anhänglichkeit ihm
ein Leben erträglich gemacht habe, das durch die vielen Verfolgungen und Qualen,
die man ihn erdulden liess, ihm so verbittert worden sei. Er auferlegte diesem
Kind, durch eine Summe von 6000 Francs seine Gruft immer in gutem Stand
zu erhalten, falls nicht seine Feinde durch beständige Demolirungen mehr Kosten
verursachten, als die Zinsen dieses Kapitals betrugen.
Er verordnete, dass Niemand ausser seinem^ Erben das Recht haben solle
sich iü dieser Gruft begraben zu lassen.
Er hatte sich schliesslich seine Speisen selbst bereitet und seine Nächte
mit geladenem Gewehr, in Erwartung seiner Verfolger zugebracht.
Aiii 8. August 1864 bekam B. einen Anfall von Hirncongestion, von dem
an Phj^siognomie und Sprache gestört waren. Auch seine Geistesfähigkeiten
hatten gelitten, was der Kranke selbst bemerkte. Wenigstens sagte er „je suis
tout idiot".
In seinem Testament vom 8. Mal 1865 hatte er seine Nichten enterbt, weil
er sie im Complot mit seinen Feinden und wegen seines Todes interessirt glaubte.
Er glaubte, sie hätten Bäcker und Fleischer bestochen, dass sie ihm vergiftete
Lebensmittel brachten. Das Gutachten wies nach, dass B. zur Zeit der Testaments-
errichtung wahnsinnig war und • auf Grund von Wahnideen seine natürlichen
Erben enterbt hatte. (Tardieu, la folie p. 400.)
Beob. 146. Dementia paralytica. Angefochtenes Testament. R.,
reicher Kaufmann, hatte 1 Monat vor seinem durch Selbstmord erfolgten Tode
Beob. 147. Altersblödsinn. Fehlende Testirlahigkeit. 383
ein Testament gemacht, in welchem er seinen Nichten, mit denen er im besten
Einvernehmen lebte , fast gar nichts, seinen Neffen , mit denen er zerfallen war^
fast das ganze beträchtliche Vermögen vermacht hatte. R. stammt aus erblich
belasteter Familie, fiel schon als Knabe durch seinen sonderbaren, eigensinnigen
Charakter auf, lebte später ausschweifend. 1859 trat ein Zustand hypochondrischer
Melancholie auf, von dem Pat. nicht ganz genas. In den letzten 2 Lebensjahren
zeigten sich Congestiverscheinungen, Pat. schlief sogar in Gesellschaft ein, litt an
Schwindel, Uebelkeit, Gedächtnissschwäche und erschwerter geistiger Leistungs-
fähigkeit. Sein Charaktei- und ganzes Wesen änderten sich. Aus einem Lebe-
mann ward ein Koijfhänger, der mehrmals täglich die Messe hörte, seine früheren
Freunde mied, gegen sie Misstrauen zeigte. Auch die früheren hypochondrischen
Wahnideen zeigten sich wieder neben Verfolgungswahn und Grössendelirien, da-
bei grosse Emotivität, Klagen über zunehmende geistige Unfähigkeit und Ge-
dächtnissschwäche , Abmagerung , Schlaflosigkeit , Appetitlosigkeit , tl^nsicherheit
der Sprache. In den letzten Monaten war er dement, unreinlich geworden —
das klassische Bild der aus hypochondrischer Melancholie hervorgegangenen Dementia
paralytica. In diesem Zustand befand er sich, als er das Testament errichtete,
dasselbe war ein eigenhändiges und leidlich gut geschrieben , was sich damit
leicht erklärt, dass R. dabei von Anderen geholfen bekam. Trotzdem fanden
sich bemerkenswerthe Widersprüche, Sonderbarkeiten darin und die anderen
Schriften, die von R.'s Hand sich aus jener Zeit vorfanden, waren evidente
Beweise seiner geistigen Insufficienz, Gedächtsnissschwäche, Verworrenheit. Auch
dass R. noch bis kurz vor seinem Tod in seinem. Geschäfte thätig war, resp.
seinen Namen unter ihm vorgelegte Geschäftsstücke setzte, konnte nicht das Ge-
wicht der Beweise für Geistesstörung beseitigen und war, als eine automatische
Leistung, ganz gut mit seiner Demenz und Bewusstseinsstörung verträglich. Das
Gutachten schloss mit Recht darauf, dass das Testament in einem Zustand vor-
geschrittener, seit mindestens 2 Jahren datirender Geistesstörung (Dementia para-
lytica) abgefasst worden war. (Biffi, Rivista spirementale 1878, fascic. 1.)
Beob. 147. Altersblödsinn. Ungültigkeitserklärung des Testa-
ments. Frau T. hat am 2-5. Mai 187-5 ein eigenhändiges Testament errichtet, in
welchem sie ihre Dienerin als Erbin ei'klärte und ist im März 1877 im Alter von
77 .Jahren gestorben. Das Testament wurde von den Verwandten wegen Dementia
senilis und Captatio angefochten und der Beweis dafür zu erbringen versucht.
Frau T. eine sehr intelligente Frau, hatte viel in ihrem Leben durchzu-
machen gehabt. Um 1870 bemerkte si,e selbst, dass ihr Gedächtniss nothlitt und
gerieth immermehr in Abhängigkeit ihrer Dienerin. 1873 — 1874 constatirte der
Hausarzt Willenlosigkeit, zunehmende Gedächtnissschwäche, so dass Frau T. schon
nach wenig Minuten dasselbe wieder fragen konnte,
Sie liess sich von ihrer Umgebung leiten wie ein Kind. Diese haben der
Greisin eine schlechte Gesinnung gegen die Verwandten beizubringen gewusst.
Frau T. wollte nichts für diese thun. Nach 2 Jahren, Anfang 1877, sah der Arzt
Frau T. wieder. Sie war kindisch geworden, trank viel starke Weine. In den
3 Wochen der Behandlung bis zu ihrem Tod völlige Willenlosigkeit und tiefe
Geistesschwäche, die sie ganz von ihrer Umgebung abhängig machten. Nur vor-
übergehend erinnerte sie sich an Thatsachen, die vor vielen Jahren sich ereignet
hatten. Schon am 21. März 1875 hatte der Arzt mit dem Notar die Ueberzeugung
384 Cap. VIII. Testirfähigkeit. .
ausgetauscht, dass Frau T. zu einer bürgerlichen Handlung nicht mehr fähig sei.
Dem entsprechen die Aussagen der Zeugen. Die der Gegenparthei können diese
Thatsachen nicht entkräften. Das Gutachten gibt eine gute Darstellung der
geistigen Funktionsstörungen des Altersblöden, weist den insufficienten Geistes-
zustand zur Zeit der Testamentserrichtung und die Unmöglichkeit von lucid.
interall. bei dem zu Grunde liegenden organischen progressiven Hirnleiden nach.
Das Testament wurde für ungültig erklärt. (Blanche, Ann. d'hyg. 1879, Oct.)
Beob. 148. Zweifelhafte Testirfähigkeit. Dementia senilis. Ein
80j ähriger Greis, der seit Jahren Zeichen körperlichen und geistigen Verfalls
bietet, erscheint nach dem Tod seiner Frau (Mai 1879) rechtlichen Schutzes be-
dürftig. Eine gerichtsärztliche Untersuchung findet seinen Geisteszustand be-
denklich. Ende Mai wird eine provi-sorische Curatel verfügt. Am 18. Juni 1879
errichtet der Kranke ein eigenhändiges Testament in Gegenwart explorirender
Aerzte, die seinen Geisteszustand unbedenklich finden. Das Testament war das
Werk einer' Gruppe interessirter Verwandten, von denen zwei zudem noch
am 23. Juni adoptirt wurden. Am 2. August 1879 starb der Testator. Das
Testament wurde von den übergangenen Erbberechtigten angefochten.
R , ein bis 1875 geistig gesunder aber schlaffer Mann, zeigte seitdem neben
den überhandnehmenden Zeichen des Seniums und körperlichen Kräfteverfalls
einen Rückgang seiner geistigen Funktionen. Er wurde vergesslich, liess sich
übervortheilen, beschwatzen, kam mit schriftlichen Leistungen nicht mehr recht zu
Stand, ermüdete rasch geistig, wurde in der letzten Zeit ganz apathisch, kümmerte
sich nur noch um sein Essen, war theilnahmlos während der letzten Krankheit
und beim Tod seiner Frau, hatte schon nach wenigen Stunden ihren Tod vergessen.
Die Gerichtsärzte fanden bei der 1. Exploration (23. Mai 1879) bedenkliche Lapsus
judicii et memoriae, namentlich in Bezug auf Jüngsterlebtes, geistige Apathie,
erschwertes Auffassungsvermögen neben den Zeichen vorgeschrittener seniler In-
volution. Bei der Testamentserrichtung hatte R. nur das Concept abzuschreiben.
Drei zugezogene Nichtfachärzte fanden bei oberflächlicher Exploration R. zwar
etwas apathisch und gedächtnissschwach, aber vollkommen fähig seinen letzten
Willen zu errichten. Bei der letzten gerichtsärztlichen Exploration (27. Mai 1879)
wurde der Beweis eines vorgeschrittenen Altersblödsinns erbracht.
Ein weiter erhobenes Gutachten bestätigt diesen Ausspruch. R. führte seit
Monaten nur noch ein vegetirendes Leben. Er war geistig tief geschwächt, un-
klar in seinen Relationen zur Aussenwelt, unfähig zur Besorgung seiner häus-
lichen Bedürfnisse, geschweige zur bürgerlichen Vertretung seiner materiellen
Interessen, wenn auch immerhin noch fähig ein für ihn concipirtes Testament
abzuschreiben und vorzulesen. Aber selbst die blosse Abschrift des Concepts
gelang erst nach wiederholtem Versuch mit sichtlicher Erschöpfung und nicht
fehlerfrei. Ein lucid. intervallum kann mit Rücksicht auf die Natur der Gehirn-
krankheit sicher als zur Zeit der Testamentserrichtung bestanden, ausgeschlossen
werden. R. befand sich damals nicht im Zustand der vollen Besonnenheit.
Er war sich der Bedeutung und Tragweite des Aktes nicht klar bewusst.
Er handelte nicht mit Ueberlegung und Ernst, sein Wille war Scheinwill^e. Das
Testament wurde verworfen. (Eigene Beobachtung.)
Beob. 149. Verfolgungswahn auf Grund seniler Dementia.
Fragliche Te stir f ähiü'ke it. Ein W. Pagan, Grundbesitzer, starb am
Beob. 149. Verfolgungswahn. Fragliche Testii-fähigkeit. 385
21. December 1869, 66V2 Jahre alt. Sein Testament, am 16. Juni errichtet, wurde
vom Sohn auf Grund von Geistesschwäche angefochten. Er machte geltend, dass
der Vater seit dem Tode seiner Frau , vor vier Jahren , geistig und körperlich
abgenommen habe. Sein Gedächtniss und die Intelligenz hätten nachgelassen,
Sprache und Gang seien gestört gewesen. Er habe momentane Anfälle von
Bewusstlosigkeit gehabt, Angstzufälle, ungegründeten Argwohn gezeigt, an eine
Conspiration gegen sein Leben geglaubt, in welche er Sohn und andere Verwandte,
die er enterbte, verwickelt wähnte. Diese Störungen waren familienkundig und
von verschiedenen Aerzten constatirt und behandelt worden. Wiederholt hatte
man daran gedacht, ihn in eine Irrenanstalt zu bringen. Sein Charakter hatte
sich sehr verändert — er wurde sehr reizbar, anspruchsvoll und wechselnd in
Stimmung und Begehren. Wahrscheinlich war auch eine geschlechtliche Erregung
vorhanden, wenigstens verfolgte er sechs junge Damen mit Heirathsanträgen.
Auch seinen Dienstboten war diese Aenderung seines Wesens nicht entgangen.
Oft war gar nicht mit ihm zu verkehren, er sprach zeitweise unzusammenhängend,
litt an theilweiser Aphasie, vergass oft mitten im Geschäft, was er vorhatte, ging
sich irre, hatte apoplektiforme Anfälle, war Nachts unruhig. Auch seine Schrift
wurde undeutlich.
Wahrhaft komisch sind die richterlichen Fragen an die Sachverständigen
in diesem keineswegs zweifelhaften Fall, z. B. ob, wenn Jemand , der in seinem
Zimmer allein befindlich, laut spreche, dies ein Zeichen von Geistesstörung sei?
ob P. geistesgesund wäre, wenn er nicht geglaubt hätte, dass eine Verschwörung
gegen ihn bestehe. Ein Professor Maclagan und ein Dr. Lowe fanden P. geistes-
gesund und erklärten die etwaigen verdächtigen Symptome aus einer Herz-
krankheit, die Circulationsstörungen im Hirn verursacht habe. (!) Aus den Reden
des Staatsanwalts und Gerichtspräsidenten ergibt sich wieder die bekannte Un-
wissenheit und das Laienraisonnement englischer Juristen gegenüber Fällen von
Geisteskrankheit. Die Jury erkannte mit sieben gegen fünf Stimmen die Geistes-
störung des Testators an. Der Gerichtshof protestirte gegen diesen Wahrspruch
der Geschworenen und setzte einen neuen Termin an, der aber nicht zu Stande
kam, da der Kläger für gut fand, seine Klage zurückzuziehen und das in offen-
barem Verfolgungswahn eines geistesschwachen Greises abgefasste Testament an-
zuerkennen. (Journal of mental science, Januar 1872.)
Weitere Fälle bei Verfolgungswahnsinn: Beck, med. jurisprud.'
p. 510 : zwei Fälle von grundlosem, in einem auf Vergiftungswahn beruhendem
Hass gegen die Angehörigen und daraus erfolgter Enterbung derselben. Reyscher,
Zeitschr. f. deutsch. Recht, herausg. v. Beseler, XIII, H. 2. Ein am Wahn der
Verfolgung durch seine Geschwister leidender Mann hatte zu Gunsten eines
Spitals, mit Ausschliessung jener, testirt. Das zwar formell richtige Testament
wurde dennoch gerichtlich für ungültig erklärt.
Esquirol, Annal. d'hygiene , III, p. 370. Ein Kranker, an Panphobie
leidend, im Wahn, dass seine Angehörigen ihm nach dem Leben strebten, hatte
sie enterbt. Umstossung des Testaments.
Ebenda, V, p. 370. Ein am Verfolgungswahnsinn Leidender enterbt seine
Angehörigen, da er sie für seine Feinde hält und legt ihnen seinen durch Selbst-
mord erfolgten Tod (Motiv: den Chicanen der Feinde zu entgehen) zur Last.
Zahlreiche weitere Fälle s. Legrand, le delire des persecutions, Paris 1871,
und testaments, Beob. 15, 17, 51, 52—61.
Y. Kr äff t-Ebing, gerichtl. Psychopathologie. 2. Auflage. 25
386 Cap. VIII. Testirfähigkeit.
Bei erotischer und religiöser Verrücktheit: Marc-ldeler II, p. 519.
Ein Mann hielt sich für ein Mädchen und für schwanger, trug Weiberkleider.
Er testirte zu Gunsten der Hospitäler. Cassation des Testaments. Legrand, des
testam., Beob. 6, 7, 12, 18, 42—47, 50.
Bei Paralyse: Legrand, etude med. legale sur la paralysie generale,
Paris 1866. Legrand, la folie, Nr. 26 u. des testam., Beob. 68 — 71. Tardieu, la
folie, p. 464.
Bei Dementia senilis: Legrand, la folie, Nr. 31 u. 33 u. des testam ents,
Beob. 8, 4, 5, 62, 81, 87. Henke's Zeitschr. 1821, II, H. 3. Beck, elements, p. 507.
Im lucid. Intervall.: Legrand, la folie, p. 253, f. Fall 32 (Testament
zwischen zwei Anfällen recidivirender Geistesstörung), f. des testam., Beob. 34, 35.
Marc-ldeler II, p. 515.
Bei Melancholie: Legrand, testam., Beob. 38. Bei consecut. Dementia:
ebenda, Beob. 65, 66. Bei Imbecillität : ebenda, Beob. 82, 86. Bei Epilepsie:
Beob. 78, 79, 80. Bei Hydrophobie: Beob. 85.
Bei Trunkenen: Legrand, testam., Beob. 19, 20. Beim chron. Alkoholismus
ebenda, Beob. 14, 21, 23. Kohlmann, Viertelj ahrsschr. f. ger. Med. N. F. XXXI, H. 2.
Auch bei geistig entwickelten Taubstummen (vgl. A. L.-R., ThLI, Tit. XII,
§. 26 und §. 123) kann die Testirfähigkeit zur Entscheidung kommen. Der Grad
der geistigen Entwickelung wird hier massgebend, eine ärztliche Exploration
geboten und, falls diese nicht stattfand, eine Präsumption gegen die Testir-
fähigkeit gegeben sein, Ist sie ärztlich constatirt, so dürfte die (schriftliche)
Vornahme des Akts in Form des öffentlichen Testaments vorzuziehen sein.
Einen merkwürdigen Fall, in welchem ein des Schreibens unkundiger, aber
geistig genügend entwickelter Taubstummer sogar zur Testamentserrichtung durch
Zeichensprache zugelassen wurde, indem die gemachten Zeichen durch geschworene
Zeugen aus der Umgebung des Testators gedeutet wurden, hat Marc (übers, v.
Ideler) II, p. 529 mitgetheilt. S. f Legrand du SauUe, des testam., p. 523.
c) AnlialtspTinlite für die BenrtUeiluiig des Geisteszustands des Testators,
Die Beurtheilung eines zweifelhaften Zustands geistiger Integri-
tät zur Zeit einer Testamentserrichtung bereitet dem Arzt wie dem
Eichter nicht selten grosse Schwierigkeiten. In der Regel ist wegen
inzwischen erfolgten Todes des Testators die Expertise auf die Prü-
fung der Lebens- und Krankengeschichte und auf das Dokument selbst
bezüglich seiner formellen und graphischen Redaktion, falls es ein
eigenhändiges gewesen, sonst aber auf die Aussagen und Wahr-
nehmungen beim Geschäft betheiligter GerLchtspersonen beschränkt.
Dieses Beurtheilungsmaterial ist aber vielfach ungenügend oder
wenigstens schwer zu verwerthen.
Die Umstände, aus welchen die Entscheidung versucht werden
mag, sind:
1) Das Vorleben des Testators bis zum Zeitpunkt der Errichtung
des Testaments einschliesslich der etwaigen Krankengeschichte, wie
Anhaltspunkte für die Beurtheihmg des Geisteszustands des Testators. 387
sie aus den eidlichen Angaben des behandelnden Arztes, dem Krank-
heitsjournal, den Mittheilungen der Angehörigen, Pfleger etc. zu
gewinnen ist. Im Fall einer vorhanden gewesenen Krankheit ist
ihre Dauer und Art von grosser Bedeutung, insofern Aeusserungen
derselben sich etwa bis zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung
erweisen, der Dauer und Art derselben nach lucida intervalla mit
Bestimmtheit sich ausschliessen lassen.
2) Die Ermittelung des geistigen und körperlichen Zustands
zur Zeit der Testamentserrichtung, die etwa durch Einvernahme von
Aerzten, Geistlichen, Pflegern, Gerichtsbeamten, Testamentszeugen
zu gewinnen ist.
Mit grosser Vorsicht sind diese Zeugnisse zu verwerthen, denn
in der Regel gehen sie von Laien aus, die befangen, im Rechts-
streit interessirt oder unfähig sind, eine Geistesstörung, ausser sie
gäbe sich durch Sinnestäuschungen und Wahnideen kund, zu er-
kennen. Negative Zeugenaussagen beweisen desshalb sehr wenig. Dass
das Gutachten des behandelnden Arztes, der als Sachverständiger zu
beeidigen und zu vernehmen wäre, von grosser Bedeutung sein muss, ist
selbstverständlich. Häufig entbehrt aber die Expertise sogar genauer
und verlässlicher Angaben über den psychischen Zustand zur Zeit
der Testamentserrichtung, insofern diese eine nicht öffentliche eigen-
händige war, die richtige Datirung des Dokuments fraglich ist ^) und
zu jener Zeitperiode der Testator gar nicht Gegenstand einer Beob-
achtung oder nur laienhafter war.
3) Die Feststellung des Geisteszustands vom Zeitpunkt der
Testamentserrichtung bis zum Tod.
Ergeben sich Zeichen einer Trübung der Geistesfunktionen nach
dem Akt, so wird jedenfalls dadurch eine starke Präsumption gegen
die Geistesintegrität zur Zeit des Akts bedingt, denn nur in den
seltensten Fällen tritt eine Geistesstörung ganz unvermittelt, ohne
Prodromi in die Erscheinung, Besonders ist hier auf etwaiges melan-
cholisches Vorstadium und Zeichen psychischer Schwäche das Augen-
merk zu richten. Stehen die Krankheitserscheinungen nach dem Akt
in genetischem Zusammenhang mit schon vor demselben aufgefundenen,
so wäre solange für den Zwischenraum die geistige Unfreiheit zu
präsumiren, bis es der Expertise gelänge zu beweisen, dass ein inter-
') Fälle bei Grilli u. Ziino (op. cit.), wo Irrsinnige bestimmt wurden, ihr
Testament zu antedatiren, um es als ausser der Krankheit abgefasst erscheinen
zu lassen und ein Hinderniss seiner Gültigkeit zu beseitigen.
388 Cap. VIII. Testirfähigkeit.
mittirendes Leiden vorlag oder der positive Beweis eines lucidum
intervallum erbracht werden könnte.
Von grosser Bedeutung principiell ist hier die Frage, ob ein
der Testamentserrichtung unmittelbar gefolgter Selbstmord als ein
Zeichen psychischer Krankheit angesehen werden könne. Unmöglich
kann diese Frage bejaht werden, denn einestheils lehrt die Erfahrung
(vgl. Brierre, du Suicidep. 361), dass nicht jeder Selbstmord auf Geistes-
krankheit beruht, sondern auch Folge eines die freie Willensbestim-
mung nicht an und für sich ausschliessenden Affektes sein kann,
andererseits ist an dem Grundsatz festzuhalten, dass sich aus einer
einzelnen Handlung nicht die Diagnose eines Zustandes machen lässt.
4) Das Testament selbst bezüglich seines Inhalts und seiner
graphischen Ausführung.
Schon in der allgemeinem Diagnostik der Geisteskrankheiten
wurde auf die Bedeutung der Schriften Geisteskranker aufmerksam
gemacht. Es kann von grossem Werth für die Beurtheilung eines
eigenhändigen Testaments sein, wenn Unsicherheit und Ungleichheit
der Schriftzüge motorische Störungen, die auf Dementia senilis, pa-
raljtica oder Alkoholismus chronic, speciell hinweisen können, ver-
rathen; wenn ausgelassene Worte, Unklarheit der Bestimmungen,
Wiederholungen von Worten und Verfügungen, Tintenflecke und
Schmierereien Gedächtnissschwäche und Bewusstseinsstörung ver-
muthen lassen, wenn, wie so häufig bei Verrückten, die Handschrift
eine ganz andere geworden ist, Neubildung von Worten, der frühe-
ren Persönlichkeit ganz fremde Orthographie etc. sich darin vorfinden.
Zu grossen Werth pflegt man richterlicherseits auf logischen
Inhalt und formell richtige Redaktion eines eigenhändigen Testaments
zu legen. So wenig als eine planmässige prämeditirte criminelle That
und logisches Denken und Sprechen die Zurechnungsfähigkeit ver-
bürgen, garantirt die vernünftige Schrift die Geistesgesundheit an
und für sich.
Umgekehrt ist es aber ebensowenig zulässig, aus einer para-
doxen, bizarren letztwilligen Verfügung vorweg die Geistesunfreiheit
des Testators abzuleiten. Die Bizarrerie und Excentricität eines
Geistesgesunden darf nicht mit der Wahnidee des Geisteskranken
verwechselt werden. Aus dem paradoxen Inhalt wird sich die Unter-
scheidung in der Regel nicht gewinnen lassen, wohl aber aus den
Motiven und dem Zusammenhang der anstössigen Idee mit dem ge-
sammten übrigen Seelenleben.
Anhaltspunkte zur Beurtheilung. Werth des Sektionsbefunds. 389
Beob. 150. Angefochtenes Testament auf Grund bizarren
Inhalts. Bizarrerie, nicht aber G-eistesstörung. Ein 82j ähriger Notar in
Neufchatel übergab einige Jahre vor seinem Tod einem Geistlichen ein versiegeltes
Päckchen unter der Auflage, es erst, wenn er gestorben, zu eröffnen. Der Notar
stirbt, man öffnet und findet — einen Vertrag mit Gott folgenden Inhalts : Vertrag
mit dem allmächtigen Gott einer- und mir, seinem unterzeichneten demüthigen
Diener andrerseits. Art. 1. Zweck dieses Vertrages ist der Handel mit Spirituosen.
Art. 2. Mein grossmächtiger Associe wird geruhen, als Einlagekapital seinen
Segen zu unserer Unternehmung zu geben. Ich meinerseits werde mein Kapital
und meine Kraft dazu geben und über den Erfolg Buch führen. Art. 3. Der
Gewinn wird zur Hälfte zwischen mir und meinem hohen Associe getheilt und
dessen Hälfte zu allen Unternehmungen , zu welchen der Geist meines Gottes
mich antreiben wird, verwendet werden. Art. 4. Sobald mich Gott von dieser
Welt abruft, soll die Liquidation meinem Neffen unverzüglich anheimfallen und
der Antheil meines Associe dem Geistlichen von N. (was in einer besonderen
Clausel nachträglich ausgesprochen war) zu Missionszwecken übergeben werden.
Das Geschäft hatte laut Hauptbuch 7393 Eres, als Gottes Antheil abgeworfen.
Die Erben wollten diese Summe auszahlen, die Behörde erkannte im Testament
das Produkt eines gestörten Geistes und versagte die Genehmigung. Eine ge-
richtliche Nachforschung ergab , dass N. ein sonderbarer pedantischer Mann war,
aber nie Spuren von Geistesstörung kundgegeben und seinen Weinhandel mit
grösster Umsicht betrieben hatte. Die Bücher waren musterhaft geführt und die
hinterlassenen Schriften ergaben keine Spur von Irresein. Die Expertise findet
mit Recht, dass keine Geistesstörung vorliege und vergleicht den sonderbaren
Vertrag mit den Gelübden, wie sie ja oft Menschen in grosser Gefahr oder bei
wichtigen Unternehmungen Gott machen. Von diesen unterschied sich der
pedantische Jurist nur dadurch, dass er den Vertrag schriftlich machte. Auch
der vernünftige Zweck des Vertrags , nämlich die Unterstützung Nothleidender,
die formell correkte Abfassung des Schriftstückes sprechen u. a. für geistige
Gesundheit. (Chatelain, Annal. med. psychol. 1866, Juillet.)
Weitere Fälle von bizarren Testamenten Geistesgesunder s. Casper-Liman,
Handb., p. 527. Wald, ger. Psychologie, p. 125. Legrand, la folie. p. 165—167
und Fall 2, 3, 6, 7, 11, 15. 19, ^20.
5) In manchen Fällen wird auch der etwaige Sektionsbefund
in dem Für und Wider der Gründe von den Partheien für die Ent-
scheidung des Geisteszustands herangezogen. Selbst den Fall ange-
nommen, dass der Sektionsbefund mit der nöthigen Sachkenntniss
erhoben und das Gehirn nach Griesinger's treffendem Ausspruch nicht
bloss mit Messer und Gabel zerschnitten wurde, dürfte es misslich
sein, aus dem Obduktionsprotokoll ein entscheidendes (Jrtheil über den
Geisteszustand des Testators sich zu bilden. Die Geisteskrankheiten
sind allerdings Gehirnkrankheiten, allein die Veränderungen vielfach
so fein, dass sie sich den bisherigen physikalischen Hilfsmitteln
entziehen.
Jedenfalls decken sich in der Mehrzahl der Fälle klinischer und
390 Cap. Vin. Testirfähigkeit.
anatomischer Befund keineswegs. Es kann bei kliniscli sehr schweren
Erscheinungen makroskopisch ein negativer sich finden und umge-
kehrt trotz bedeutender anatomischer Veränderungen eine erhebUche,
d. h. rechtlich in's Gewicht fallende psychische Veränderung fehlen.
Ein negativer Hirnbefund beweist somit nichts für die Geistes-
integrität, ein positiver kann nur im Zusammenhang mit anderen
ßeweismomenten verwerthet werden.
Von Bedeutung kann es dann immerhin sein, wenn die Autopsie
multiple herdartige Veränderungen im Gehirn, oder Hjdrocephalus
oder chronische Trübungen und Verdickungen der Hirnhäute mit
Atrophie der Hirnrinde (Paralyse) nachweist, zumal wenn es der
Epikrise gelingt den Beweis zu führen, dass diese schweren patho-
logisch anatomischen "Veränderungen zur Zeit der letztwilligen Ver-
fügung sicher schon bestanden haben.
A n li a n g.
Die Beziehungen zum Verwaltungs- und
Polizeirecht.
Irreugesetzgell)ung.
Gesetz 1. Bestimmungen: Irrengesetze in Deutschland s. AUg. Zeitsclir. für
Psychiatrie. XIX. Supplementh.; in Frankreich, Genf, Niederlanden, Belgien,
Norwegen, England, Schweden, XX. Suppl. ; in der Schweiz, Annal. med,
psychol. 1867, Juillet.
In Oesterreich: Verordnung des Minist, d. Inn. u. d. Justiz vom 14. Mai
1874 (R.-G.-Bl. Nr. 71).
Ein eigenes Gesetz haben nur Frankreich (Ges. vom 30. Juni 1838),
einzelne Cantone der Schweiz, Norwegen, Schweden, Belgien, Holland, deren
Gesetz fast ganz mit dem französ. Muster übereinstimmt, sowie England
(Victor. 8, 9, Capit. 100, 126).
In den übrigen europäischen Staaten ist dem Bedürfniss durch blosse
Verordnungen entsprochen. (Oesterreich s. obige Ministerialverordnung.
Preussen: Reskript d. Staatsrates v. 29. Sept. 1803 und ergänzende Cabinets-
ordre vom 5. April 1804; Reskript d. Minister, d. Medicinalangelegenheiten
vom 16. Febr. 1839.)
Der immer wieder auftretende Wunsch nach einem „Irrengesetz", das
den Irren zu einer besondren Species des Genus homo machen würde, er-
scheint nicht unbedenklich und seine Erfüllung würde eine Gefahr bezüglich
seiner, für eine mögliche Heilung unerlässlichen frühzeitigen Aufnahme in
eine Irrenanstalt herbeiführen. Beweis dafür das französische Irrengesetz.
Es ist wahr, der Irre bedarf in mehr als einer Hinsicht eines rechtlichen
Schutzes und staatlicher Fürsorge , aber ob dafür ein eigener Codex nöthig
sei, ist mindestens fraglich. Wenn Juristen Irrengesetze machen, so berück-
sichtigen sie fast ausschliesslich die Möglichkeit einer Freiheitsberaubung
eines Gesunden durch eine Anstalt und den Gesichtspunkt der Gemein-
gefährlichkeit Irrer. Verschärfte Aufnahmsbedingungen schrecken dann noch
mehr von der Benutzung der Irrenanstalt ab und schädigen den Heilzweck
392 Anhang: Bestimmungen über Aufnahme in und
dieser. Die Regelung der civilrechtlichen Verhältnisse Geisteskranker ist
durch das bürgerliche Gesetzbuch und die C.-Pr.-O. hergestellt. Die Bestim-
mungen über Aufnahmsbedingungen in Irrenanstalten gehören in das Statut
dieser. Schlechte Gesetze sind eine oft erst nach Decennien zu beseitigende
Calamität, schlechte Statute — gewöhnlich werden sie jedqch von längst
bestehenden und erprobten Anstalten entlehnt — sind leicht zu verbessern.
Die Beaufsichtigung der Anstalten ist Sache der politischen und Sanitäts-
behörden, wofür einfache Verordnungen und Instruktionen genügen. So
bleibt für eine etwaige Irrengesetzgebung nur die allerdings höchst wichtige
staatliche Fürsorge für die ausserhalb der Anstalten lebenden Irren übrig.
Auch dafür genügen ministerielle Verordnungen. Das Wichtigste bleibt
immer , dass eine wie immer legislativ geregelte staatliche Fürsorge und
Aufsicht nicht auf dem Papier bleibe und die autonome Gemeinde- oder
Provinzvertretang in ihren Verpflichtungen gegenüber den Irren staatlich
gehörig beaufsichtigt werde.
Literatur: Sander, staatl. Beaufsichtigung der preuss. Irrenanstalten, Horn's
Vierteljahrsschr. 1865, Nr. 2. Brefeld, zum Rechte der Geisteskranken, 1849.
Foville, les alienes, etude pratique sur la legislation et l'assistance publ. qui
leur sont applicables, 1870. Leidesdorf, Wien. med. Zeitschr. 1872, Nr. 51.
Brenner, Grundzüge eines Irrengesetzes, Friedreich's Bl. 1872, p. 372. Gauster,
Irrenfreund 1874, Nr. 8. Pelman, Zeitschr, f. Psychiatrie, Bd. 31. Roller,
psychiatr. Zeitfragen, Berlin 1874. Nasse, Zeitschr. f. Psych. 30, H. 4. Sick,
Württemb. Corr.-Bl. 1873, Nr. 37. Demaze, Gaz. med. de Paris 1873, Nr. 7,
8, 11, 13, 16. Brierre, AnnaL d'hygiene 1871. Oesterr. Zeitschr. f. prakt.
Heilkde. XVI. 2, 3. Annal. d'hygiene 1870, Juli. Beer, allg. Wien. med. Ztg.
1869, Nr. 6. Castiglione, Archiv, ital. 1867. Mundy, Journ. of mental science
1867, Oct. Roller, Zeitschr. f. Psych. 34, H. 4. Jastrowitz ebenda, H. 6.
Auzouy, Ann. med. psychol. 1876, Januar.
Der Geisteskranke bedarf nicht nur eines rechtlichen Schutzes
seiner materiellen Interessen, sondern auch des behördlichen Schutzes
seiner Person gegenüber der Grefahr der Misshandlung, Verwahrlosung,
Vernachlässigung, ungerechtfertigter Freiheitsberaubung, Andrerseits
hat aber auch die Gesellschaft ein Interesse daran, dass der vielfach
der öffentlichen Ordnung, Sittlichkeit und Sicherheit gefährliche
Kranke sich nicht selbst überlassen bleibe. Die Gesammtheit der
administrativen und polizeilichen Gesetze und Verordnungen, welche
in einem Staat bezüglich der öffentlichen Fürsorge für Geisteskranke,
ihres rechtlichen Schutzes, ihrer Gemeingefährlichkeit bestehen, pflegt
man als Irrengesetzgebung zu bezeichnen.
a. Bestimmungen über Aufnahme in und Entlassung aus
Irrenanstalten.
Das französische Irrengesetz gibt minutiöse Vorschriften und unterscheidet
freiwillige Aufnahmen von solchen von Amtswegen, Der Vorstand der Anstalt
über Entlassung aus Irrenanstalten. 393
ist zur freiwilligen Aufnahme eines Kranken nur ermächtigt, wenn ein Aufnahme-
gesuch ihm vorliegt, in welchem die Person, welche die Aufnahme für eine andere
nachsucht, ihre eigenen Relationen zu dieser, wie auch dieser selbst nachweist.
Begleitet muss dieses Gesuch sein von einem ärztlichen Certificat über die Natur
der Krankheit und die Gründe, welche die Aufnahme nöthig machen, endlich
von Dokumenten, welche die Identität der aufzunehmenden Person nachweisen.
Binnen 24 Stunden nach der Aufnahme in eine öffentliche Anstalt müssen
die Aufnahmsdokumente nebst einem Certificat des Anstaltsarztes, der Administra-
tivbehörde, in deren Bezirk die Anstalt liegt, vorgelegt werden. Fand die Auf-
nahme in ein Privatasyl statt, so hat die Behörde binnen drei Tagen vom Ein-
langen der Papiere an Sachverständige abzuordnen, die sich vom Gesundheits-
zustand des Internirten überzeugen und sofort davon der Behörde Bericht er-
statten. Binnen der gleichen Zeit hat die Behörde von jedem Aufgenommenen
die Personalien und Motive seiner Aufnahme sowohl dem Staatsprokurator des
Bezirks, in welchem der Aufgenommene domicilirte, als auch dem, in dessen
Bezirk die Anstalt liegt, mitzutheilen. 14 Tage nach der Aufnahme hat der An-
staltsarzt ein zweites Certificat über den Aufgenommenen der Behörde einzureichen.
Bei der Aufnahme von Amtswegen, d. h. in allen Fällen, wo die Bezahlung der
Pflegekosten aus öffentlichen Mitteln geschehen muss, erfolgt die Aufnahme über
Einschreiten des Maire durch den Präfekten und die Anstaltsdirektion ist nur
Vollzugsorgan.
Jede Anstalt hat ein von der Behörde controlirtes Journal über ihre Ki-anken
mit Angabe der Belege der Aufnahme, der Personalien, Abgänge etc. zu führen,
welches den die Anstalt inspicirenden Beamten jeweils vorzulegen und von diesen
zu vidiren ist.
Die Entlassung aus der Anstalt erfolgt auf die Erklärung der Anstaltsärzte,
dass der Kranke geheilt sei oder auf Verlangen des Kurators, der Person, welche
die Aufnahme beantragt hat, eines Verwandten oder sonst vom Familienrath
Bevollmächtigten. Bei Minderjährigen oder Entmündigten kann bloss der Kurator
die Entlassung beantragen. Hält der Anstaltsarzt die Entlassung für bedenklich
aus Gründen der öffentlichen oder persönlichen Sicherheit des Kranken, so setzt
er den Maire in Kenntniss, der die Entlassung sistiren kann, jedoch den Präfekten
binnen 24 Stunden zu benachrichtigen hat. Der Sistirungstermin des Maire er-
lischt binnen 14 Tagen, wenn inzwischen der Präfekt nicht anders verfügt hat;
binnen 24 Stunden nach der geschehenen Entlassung hat der Anstaltsbeamte der
Behörde Bericht davon zu erstatten mit der Angabe, wohin der Entlassene und von
welchen Personen er gebracht wurde, sowie der Mittheilung, in welchem Geistes-
zustand sich der Betreffende zur Zeit der Entlassung befand.
Dieses Irrengesetz gibt allerdings genügenden Schutz vor ungerechter Frei-
heitsberaubung eines Gesunden, schreckt aber durch unendliche Formalitäten das
Publikum vor Benutzung der Anstalt zu Heilzwecken ab und belastet die An-
staltsdirektion mit endloser administrativer Schreiberei. Wunderbarer Weise ist
man in Frankreich neuerdings der Ansicht, dass dieses Gesetz die persönliche
Sicherheit noch nicht genügend gewährleiste und sucht es daher noch zu verschärfen !
Die Missstände dieser Gesetzgebung sind von Dr. Pelman op. cit. bündig
und schlagend dargethan. Besonders grell springen sie in die Augen l^ei der Mehr-
zahl der Aufzunehmenden, denjenigen, wo die Aufnahme von Amtswegen erfolgt.
Der Präfekt, also eine Administrativperson, verfügt über die Zulässigkeit
394 Anhang : Irrenanstalten. Aufnahmsbestimmungen.
der Aufnahme. Die Heilbarkeit des Falls ist Nebensache, Hauptsache die Sicher-
heitsgefährlichkeit, denn nur gemeingefährliche Personen gestattet das Gesetz von
Amts wegen unterzubringen. Während selbstzahlende Kranke im Weg der frei-
willigen Aufnahme rasch an einen Ort der Hilfe gelangen können, zieht sich die
Aufnahme armer Personen ungebührlich lange auf dem büreaukratischen Admi-
nistrationsweg hin, und findet vielleicht gar nicht statt, vrenn der Erkrankte nicht
sicherheitsgefährlich ist, oder der Maire aus Ersparnissrücksichten für die Fonds
der Gemeinde sich nicht bemüssigt sieht, beim Präfekten um die Aufnahmsbe-
vpilligung einzuschreiten.
Hauptaufgabe der Irrenfürsorge sollte die Rettung Erkrankter vor der Ge-
fahr der Unheilbarkeit sein. Diese Aussicht ist aber bei einer frühzeitigen Auf-
nahme in eine Krankenanstalt am meisten vorhanden. Alle Gesetze sind tadelns-
werth, die mit einseitiger Rücksichtnahme auf die Sicherheit der persönlichen
Freiheit gegenüber der Gefahr der unrechtmässigen Einsperrung in eine Irren-
anstalt jener humanen Aufgabe eines solchen Instituts durch Erschwerung der
Aufnahme entgegenvs^irken. Eine Irrenanstalt ist indessen kein gevröhnliches
Ki-ankenhaus. Es vs^erden darin Menschen wider ihren Willen aufgenommen und
darin zurückgehalten. Die Nothwendigkeit (Sicherheit der eigenen oder fremder
Personen oder Eigenthums, Heilbarkeit oder Hilflosigkeit) dieses' Eingriffs muss
durch Kunstverständige constatirt und von der Staatsbehörde anerkannt sein.
Auf diese Forderung muss sich vernünftigerweise j edes Aufnahmegesetz beschränken.
Sie wird erfüllt durch ein ärztliches Zeugniss, das die Krankheit und die Noth-
wendigkeit der Aufnahme darthut und durch die Anzeige an und die Genehmigung
durch die vorgesetzte Behörde. Die Initiative zur Entlassung genesener oder
nicht mehr hilfloser oder gemeingefährlicher Pfleglinge muss billigervs?-eise den
behandelnden Aerzten überlassen bleiben, unbeschadet der Rechte der Kuratoren
und Angehörigen. Hält der Arzt die geforderte Entlassung wegen Gemeinge-
fälirlichkeit für unzulässig, so kann er sie verweigern, muss aber die Entscheidung
der zuständigen Sicherheitsbehörde einholen. In einzelnen österr. Ländern muss
von Solchen, die ungeheilte Kranke aus der Anstalt entnehmen, ein Revers aus-
gestellt werden, in welchem sich die Uebernehmer verpflichten, für den Kranken
zu sorgen und für allen durch ihn etwa entstehenden Schaden zu haften.
Bei Entlassung von wegen Gemeingefährlichkeit oder wegen eines im
kranken Zustand begangenen Verbrechens von einer Behörde übergebenen
Kranken besteht der Grundsatz, dass sie im Einvernehmen mit der Sicherheits-
behörde stattfinde.
Das Aufnahmsverfahren in öffentlichen Anstalten in Deutschland und Oester-
reich stimmt im Wesentlichen darin überein, dass von den Angehörigen oder
dem Vormund des Aufzunehmenden ein motivirter Antrag auf Versetzung in
eine Irrenanstalt gestellt, von einem approbirten Arzt (einige Länder verlangen
einen in öffentlichem Dienste stehenden) der Gemüthszustand untersucht und ein
Zeugniss ausgestellt wird. Die erw^achsenen Akten sendet die Behörde an die
Irrenhausdirektion, welche die Nothwendigkeit der Aufnahme (Hilflosigkeit, Ge-
fährlichkeit, Heilbarkeit) prüft und nach Ermessen die Genehmigung der Ober-
behörde zur Aufnahme einholt und, nachdem dieselbe erfolgt ist, den Kranken
aufnimmt. Wo Gefahr auf dem Verzug ist, kann die Irrenhausdirektion provi-
sorisch auf Grund eines ärztlichen Zeugnisses aufnehmen, muss aber sofort die
Behörde benachrichtigen und nachträglich deren Genehmigung erwirken. In
Staatliche Beaufsichtigung der Irrenanstalten. 395
einigen österr. Kronländern besteht die Einrichtung , dass die Direktion direkt
zur Aufnahme (provisorisch) auf Grund der vorgeschriebenen Belege ermächtigt
ist und erst nachträglich die Genehmigung der Behörde einholt , ein Vorgang,
der sich durch Kürze des Geschäftsganges mehrfach empfiehlt.
Eine nachahmenswerthe Einrichtung sind die in österr. Ländern bestehen-
den Beobachtungszimmer für zweifelhafte Geisteszustände. Sie bilden eine Ab-
theilung eines öffentlichen Krankenhauses, verlangen keine Dokumente von Auf-
zunehmenden, prüfen seinen Geisteszustand und übergeben ihn amtlich unter Aus-
stellung von ärztlichem Zeugniss und Krankengeschichte der benachbarten Irren-
anstalt, falls die Aufnahme dort erforderlich ist.
Die widerrechtliche Einsperrung eines Geistesgesunden in einer Irrenan-
stalt, falls sie je vorkommt, ist ein Verbrechen, dessen das Strafgesetz erwähnt,
die Aufnahme eines Irren ohne oder ohne die vorgeschriebenen Aufnahmsbelege
durch den Vorstand einer Irrenanstalt ist ein Disciplinarvergehen und unterliegt
der disciplinaren Behandlung.
b. Die staatliche Beaufsichtigung der Irrenanstalten.
Sie ist gesetzlich vorgeschrieben und geregelt. Die öffentlichen Anstalten
sind Staatsinstitute, ihre Leiter Staatsbeamte und für alle Vorgänge in der An-
stalt verantwortlich. Die Staatsbehörde hat Recht und Pflicht, jederzeit durch
abgeordnete Beamte nicht nur den Stand der ökonomischen Verwaltung des
Instituts, sondern auch die Gesundheitsverhältnisse desselben, die Art der Be-
handlung (mechanischer Zwang) und Verpflegung der Kranken, die Belege ihrer
Aufnahme zu prüfen, ihre Klagen entgegenzunehmen, ihren Geisteszustand zu
untersuchen und darüber zu wachen, dass Niemand unrechtmässig in die Anstalt
aufgenommen oder länger als nöthig zurückgehalten werde. Der Befund dieser
Commission ist der Behörde vorzulegen.
Das französ. Irrengesetz enthält die Verpflichtung der Präfekten, Gerichts-
präsidenten, Oberprokuratoren, Friedensrichter zu Visitationen der Irrenhäuser
und verfügt, dass der Oberprokurator dieselben in öffentlichen Anstalten halb-
jährlich, in privaten vierteljährlich vorzunehmen hat. Ausserdem existiren
Generalinspektoren des Irrenwesens und Commissionen zur Ueberwachung der
Anstalten, welche vom Präfekt ernannt werden.
Dem Bedürfniss einer Ueberwachung der Irrenhäuser ist in Deutschland
und Oesterreich durch Verordnungen entsprochen. Die öffentlichen Staats- und
provinzialständischen Anstalten werden jährlich von einer durch die zuständige
Oberbehörde ernannten Commission von Regierungs- und Medicinalbeamten
(leider gewöhnlich nicht speciell psychiatrisch gebildeten) einer Visitation unter-
worfen. Das Gleiche gilt je nach Bedürfniss für die Privatanstalten, die zudem
jährliche statistische Mittheilungen über ihr Asj-1 der Behörde vorzulegen haben.
Eine gerichtliche Ueberwachung findet ausserdem insofern statt, als der Eintritt
des noch nicht entmündigten Kranken dem zuständigen Gericht behufs Einleitung
des Kuratelverfahrens angezeigt werden muss und im Lauf desselben eine Unter-
suchung des Geisteszustandes des Internirten durch eine Gerichtscommission
stattfindet. Diese Bestimmungen sind einer Verbesserung fähig und einer Revision
bedürftig. Vernachlässigungen in der Pflege , Misshandlungen Kranker in öffent-
396 Anhang: Privatasyle. Zwangsweise
liehen Anstalten unterliegen der disciplinaren oder polizeilichen Ahndung und
falls damit eine Körperverletzung verbunden war oder ein unsittliclies Attentat
begangen wurde, dem Strafgericht, das in dem besonderen Verhältniss der Ptleger
zu den Verpflegten Erschwerungsgründe der Strafe erkennt.
Unglücksfälle, Selbstmord eines Kranken verpflichten zur Anzeige an die
Gerichtsbehörde, die eine Untersuchung einleitet und falls diese ein strafbares
Verschulden eines Angestellten ergibt, denselben in Anklagezustand versetzt.
c. Concession zur Errichtung von Privatasylen.
Sie wird von der Staatsbehörde ertheilt und kann nur patentirten Aerzten
oder Privaten, die sich zur Anstellung eines solchen verpflichtet haben, ertheilt
werden. Logischerweise sollten sie nur Solchen gegeben werden, die sich über
Fachkenntnisse in der Irrenheilkunde ausweisen, wie dies eine Ministerialver-
fügung vom 14. Mai 1874 für Oesterreich ausdrücklich bestimmt. Die gleiche
Verordnung verlangt die Vorlage des Programms oder Statuts der zu errichten-
den Anstalt, des hj^gienisch und psychiatrisch befriedigenden Plans des Gebäudes,
des Belegraums, des ärztlichen und Pflegepersonals und der Hausordnung. Ver-
änderungen in Leitung, baulichen Anlagen, Hausordnung müssen zur Genehmigung
angezeigt werden. Der ärztliche Leiter ist für alle Vorgänge in der Anstalt ver-
antwortlich, muss in der Anstalt wohnen und einen Jahresbericht liefern. Zur
Aufnahme ist ein ärztliches, nicht über 14 Tage altes Zeugniss nöthig. Die Auf-
nahme muss binnen 24 Stunden dem zuständigen Gericht angezeigt werden, so-
fern nicht der Kranke noch unter väterlicher Gewalt steht. Jede Anstalt muss
ein Hauptprotokoll führen, aus welchem alle Beziehungen des Kranken zur An-
stalt und den Gerichten ersichtlich sind. Mindestens dreimonatlich sind die An-
stalten von den Sanitätsorganen der Staatsverwaltung zu inspiciren.
Aehnliche Bestimmungen enthält das französische Irrengesetz in Betreff
der Qualification der Leiter und der Einrichtung solcher Asyle. Es belastet
ausserdem den Unternehmer mit einer Kaution.
d. Zwangsweise Verbringung in Irrenanstalten
(G-emeingefährlichkeit).
Die Gründe um deren willen Geisteskranke in Irrenanstalten Aufnahme
finden, sind die Heilbarkeit, Hilflosigkeit, Gefährlichkeit gegen die eigene Person
oder die Gesellschaft oder auch die Anstössigkeit des Kranken für die öffentliche
Sittlichkeit.
Die Aufnahme aus Gründen der Heilbarkeit ist Sache der Familie, aus
Gründen der Hilflosigkeit Sache der Gemeinde.
Ein Geisteskranker kann in -der Regel nur mit Zustimmung seiner Ver-
wandten oder seines Vormixnds in eine Irrenanstalt aufgenommen werden, in-
dessen gibt es Fälle, wo auch gegen den Willen dieser Personen die Aufnahme
eines Irren verfügt werden kann. Die zwangsweise Versorgung in einem Irren-
haus durch die Administrativ- oder Polizeibehörde ist zulässig, wenn Diejenigen,
Verbringung in Irrenanstalten (Gemeingefährlichkeit"). 397
welchen die Pflicht der Fürsorge und Pflege obliegt, diese gründlich vernach-
lässigen oder wenn der Kranke gemeingefährlich ist. Mit diesem Begriff der
Gemeingefährlichkeit wird viel Missbraucli getrieben. Familien und Gemeinde-
behörden suchen sich unter dieser Devise vielfach lästiger Kranker zu entledigen
— Pelman op. cit. erzählt von einem Idioten, den man polizeilich in die Anstalt
brachte, weil man fürchtete, die Schwangeren des Dorfes könnten sich an ihm
versehen — andrerseits betrachtet man gewisse äusserlich ruhige Kranke (Ver-
folgungswahnsinn) als unschädlicji und gefährdet damit die öffentliche Sicherheit.
Die Gemeingefährlichkeit ' eines Irren zu beurtheilen ist eine schwierige
Sache. Jene ist vielfach nur eine relative und von den Umständen abhängige.
Theoretisch betrachtet muss jeder Irre als gemeingefährlich bezeichnet werden.
Der friedlichste Blödsinnige und Idiot können, wenn gereizt, in gefährliche
Affekte gerathen oder auch, wenn nicht genügend überwacht, aus ünkenntniss
der Gefahr (z. B. Feuer) sich und Andern sehr gefährlich werden. Die Melan-
cholischen werden gefährlich durch ihre schmerzlichen Gefühle, Taed. vitae, Angst-
zufälle, Zwangsvorstellungen, die Maniakalischen durch ihren Bewegungs- und Zei*-
störungsdrang, die Wahnsinnigen und Verrückten durch ihre Wahnideen und
Sinnestäuschungen, die Epileptischen durch ihre Delirien, Angst- und Tobanfälle.
Am gefährlichsten sind diese und die Alkoholiker.
Damit im concreten Fall die Sicherheitsbehörde ein Individuum in eine
Irrenanstalt polizeilich einweisen kann, muss gefordert werden, entweder dass
eine gefährliche Handlung eines notorisch Geisteskranken vorliege oder das Gut-
achten eines Arztes, der die Gefährlichkeit aus wahrgenommenen Symptomen
oder dem Gesammtkrankheitsbild erweist und wobei Familie oder Gemeinde gleich-
zeitig nicht im Stande sind genügende Garantie für die Ueberwachung des Kran-
ken zu bieten.
In die erstere Kategorie gehören auch Individuen, die wegen Geisteskrank-
heit zur Zeit eines begangenen Verbrechens freigesprochen sind und wegen durch
Fortdauer der Geistesstörung notorischer Gemeingefährlichkeit von der Justiz
der Sicherheitsbehörde übergeben werden. Der Modus des Vorgehens in solchen
Fällen sollte gesetzlich geregelt und die Fortdauer der Ursachen der Gemein-
gefährlichkeit vor der Abgabe in ein Irrenhaus ärztlich constatirt werden.
Die Entlassung eines wegen Gefährlichkeit der Irrenanstalt übergebenen
Individuums ist eine verantwortliche Aufgabe für den Arzt der Anstalt. Sie
sollte nur im Einverständniss mit der Sicherheitsbehörde stattfinden. Häufig ist
sie unbedenklich, obwohl der Kranke nicht genesen ist, indem sein Zustand sich
so geändert hat (Uebergang in Blödsinn), dass eine Gefahr nicht zu besorgen ist.
Die englische Sitte, einen criminellen Kranken „during her majesty's pleasure"
zu interniren, ist eine Barbarei. Ist es doch vorgekommen, dass unglückliche
Mütter, die in puerperalem Irrsinn ihr Kind tödteten, noch nach dem Klimak-
terium als Matronen im Irrenhause sassen!
') Literatur s. Falret, Ann. med. psychol. 1869, Januar, März. Lunier,
ebenda, Sept. Gallard, Union med. 1875, Nr. 125. Brierre, Annal. d'hyg. 1869, Oct.
Demange, ebenda 1877, Nov., 1878, Mai. Gallard, ebenda 1876, Sept. Blanche,
des homicides, commis par les alienes. Paris 1878. Obersteiner, Mitthl. d. Vereins
der Aerzte in N.-Oesterreich 1879, Nr, 20.
398 Anhang: Staatliche Fürsorge und Beaufsichtigung
Die Zulässigkeit der polizeilichen Internirung Irrer besteht in allen Län-
dern. Der Art. 180 des französischen Irrengesetzes gibt diese Befugniss der zu-
ständigen Polizeibehörde in allen Fällen, wo der Kranke die öffentliche Ordnung
oder Sicherheit gefährdet, nach Aufnahme eines Protokolls, in welchem die Mo-
tive der nothwendigen Internirung enthalten sind. In einem dringenden Fall,
der aber durch einen Arzt oder durch eine öffentliche Thatsache constatirt sein
muss , kann die Polizei sofort den Irren seiner Freiheit berauben , muss aber
binnen 24 Stunden dem Präfekt Anzeige erstatten, der das Weitere verfügt. Im
ersten Monat jedes Halbjahrs hat der Anstaltsarzt einen Bericht über den Kranken
dem Präfekt zu erstatten , der über weitere Belassung in der Anstalt oder Ent-
lassung bestimmt. Hält der Arzt schon in der Zwischenzeit die Entlassung für
statthaft, so hat er unverzüglich den Präfekt zu benachrichtigen, der dann die
Entscheidung gibt.
Die Spitäler und Asjde sind verpflichtet, solche polizeilich zugewiesene
Kranke provisorisch aufzunehmen. Befindet sich im Ort kein solches, so hat der
Maire für vorläufige Unterbringung in einem Gast- oder Privathause Sorge zu
tragen. Nie darf ein solcher Kranker in einem Gefängniss vorläufig internirt
werden. Auch in Deutschland und Oesterreich hat die Sicherheitsbehörde das
Recht, einen notorisch gefährlichen Irren sofort der Irrenanstalt zuzuweisen unter
Einsendung eines Protokolls und ärztlichen Zeugnisses, welches letztere indessen
auch nachträglich beigebracht werden kann. Die Entlassung ist dem diskretio-
nären Ermessen des Anstaltsarztes anheimgestellt.
e. Die staatliche Fürsorge und Beaufsichtigung der ausserhalb
der Anstalt befindlichen Irren.
Eine solche ist nur da und dort und zudem unvollkommen durch Verord-
nungen durchgeführt, so wichtig sie auch wegen der Gefährlichkeit, Heilbarkeit,
Hilflosigkeit und des rechtlichen Schutzes solcher Kranken wäre. Am schlimmsten
ist es aber, dass so manche Verordnungen, so wohlthätig sie auch wären, nicht
streng durchgeführt werden. Besser steht es in dieser Hinsicht in Frankreich , wo
eigene Generalinspektoren, und in England, wo besondere Commissionen fcom-
missioners in lunacy) diesen wichtigen Theil der staatlichen Aufsicht über nicht
internirte Irre besorgen.
In Deutschland und Oesterreich übernehmen die staatliche Aufsicht die
Verwaltungs- und Sanitätsorgane des Bezirks. Die letzteren haben sich durch
gelegentliche oder eigens unternommene Visitationen in ihrem Bezirk von dem
Stand der Irrenfürsorge zu verlässigen, und etwaige Ungehörigkeiten der Behörde
anzuzeigen, die im Fall von Gefährlichkeit oder Hilflosigkeit die zwangsweise
Versetzung in die Irrenanstalt verfügen kann. Aus blossen Heilgründen kann
die Aufnahme eines Irren in eine Anstalt nicht zwangsweise verfügt werden,
denn die Art der Fürsorge für erkrankte Verwandte steht den Angehörigen privat-
rechtlich zu.
Um eine erfolgreiche Aufsicht über nicht internirte Irre durchführen za
können, ist es erforderlich, eine Meldungspflicht der Angehörigen an die Ver-
•waltungsbehörde im Fall einer Erkrankung einzuführen, ferner die Evidenzhaltung
über die Irren des Bezirks (Irrenliste). Ebenso ist es nothwendig, dass im Fall
der ausserhalb der Anstalt befindlichen Irren. 399
der Entlassung eines ungeheilten Irren aus der Anstalt (Lokalversorgung) die
Anstaltsbehörde der Administrativbehörde des Betr. diese Entlassung anzeige.
Das System einer provisorischen Entlassung, wie es in manchen Ländern
besteht, die Einforderung periodischer Berichte über den Entlassenen von den
Gemeinde- und Sanitätsbehörden schafft eine nützliche Mitwirkung in der Ueber-
wachung von Seiten der Anstaltsdirektion, der diese Berichte zugehen. Einen
Fortschritt in der öflFentl. Irrenfürsorge in Oesterreich bezeichnet das 1870 ent-
standene Organisationsgesetz des staatlichen Sanitätsdienstes, das die Gemeinden
zur Evidenzhaltung der in Anstalten nicht untergebrachten Irren und Cretins
verpflichtet. Diese Verpflichtung setzt einen Meldungszwang der eingetretenen
Erkrankung voraus , der durch eine alte Verordnung auch zu Recht besteht,
aber nicht durchgeführt ist. Ein vor vielen Decennien erlassenes Regierungs-
circular bestimmt, dass wenn an einem Menschen Symptome einer heftigen Sinnes-
verwirrung sich äussern, die Umgebung verpflichtet ist, der Behörde Anzeige zu
erstatten. Einen weiteren Schutz, wenigstens für die aus den Anstalten ent-
lassenen Kranken, enthält die statutarische Bestimmung, dass der Uebernehmer
einen Revers für die sorgfältige Pflege und Ueberwachung des Uebernommenen
ausstellen muss, der von der Gemeinde- oder der Polizeibehörde dahin zu bestä-
tigen ist, dass der Uebernehmer im Stand ist, den übernommenen Verpflichtungen
nachzukommen. Dass sich die Kuratoren um ihre Pfleglinge wenig kümmern, ist
eine auch anderwärts gemachte Erfahrung.
Eine positive Verpflichtung der Gemeinden und ihrer ärztlichen Organe
zur Ueberwachung der in ihrem Bezirk lebenden Irren enthält die österr. Ministe-
rialverordnung vom 14. Mai 1874. Sie fordert, dass diese Oi'gane darüber wachen,
damit nicht solche Kranke inhuman behandelt, unnöthig eingeschränkt werden
und ohne Curator bleiben. Mit der Ueberwachung der Ausführung dieser Vor-
schrift sind die politischen Staats- und Polizeibehörden und ihre Sanitätsorgane
beauftragt.
Vernachlässigungen in der Pflege der Irren von Seiten Derer, welchen eine
solche Pflege obliegt, können Gegenstand einer polizeilichen disciplinaren Ahndung
oder, wenn damit ein erheblicher Nachtheil für die Gesundheit verbunden war,
crimineller Verfolgung werden.
Sie können sich auf Verwahrlosung in' der Pflege , ungerechtfertigten
Zwang und Freiheitsberaubung. Verlassen in hilflosem Zustand, Misshandlung etc.
beziehen.
Staatlich muss an dem Grundsatz festgehalten werden, dass Zwangsmittel
und Freiheitsberaubung bei Irren ausserhalb der Anstalten ebenfalls nur unter
Vorwissen der Behörde zulässig sind.
Am klarsten spricht diesen Satz das belgische Irreugesetz aus , welches
bestimmt, dass Niemand weder in der eigenen noch fremden Familie wegen
Irreseins internirt werden darf, wofern sein Zustand nicht von zwei Aerzten, von
welchen der eine von der Familie, der andere vom Cantonsfriedensrichter auf-
gestellt wird, constatirt wurde.
Da wo solche Bestimmungen bestehen, kann das Vorgehen illegaler Freiheits-
beraiibung eines Geisteskranken zur Verfolgung kommen.
Ein solcher Fall findet sich in neue Jalirbücher f. sächs. Strafrecht v. Held,
Siebdrat und Schwartze, Bd. IX. H. 1.
Er betrifft die nächsten Anverwandten eines geistesschwachen alten Mannes.
400 Anhang: Verwahrlosung Geisteskranker.
die denselben, weil er im blossen Hemd im Dorf herumgelaufen war , jahrelang
in eine Stube eingeschlossen gehalten , im Uebrigen aber gut verpflegt hatten.
Da sie den übrigens ortskundigen Fall von Geistesstörung der Behörde anzu-
zeigen unterlassen hatten, waren sie vom Gericht erster Instanz zu langer Freiheits-
strafe wegen widerrechtlicher Freiheitsberaubung verurtheilt worden, wovon sie
jedoch das Obergericht freisprach.
Auch über gröbliche Verwahrlosung in der Pflege Geisteskranker hat
zuweilen der Richter zu entscheiden. Es gibt Länder, die sich einer weit vor-
geschrittenen Kultur und Humanität erfreuen und der Person ihrer unglücklichen
Irren nicht bloss einen kräftigen Rechtsschutz angedeihen lassen , sondern auch
ernst da strafend eingreifen, wo die Gebote der Humanität und des Rechts verletzt
wurden. Ein solcher Ernst in dem Schutz der unglücklichsten Angehörigen des
Staats berührt um so angenehmer, wenn damit die Lage von unglücklichen Irren
verglichen wird, deren Heimath von der Kultur nur gestreifte Alpenländer oder
Länder sind, wo religiöse Genossenschaften noch eine eximirte Stellung behaupten
und unglückliche Angehörige, die in Geistesnacht verfallen, im Stall an der Kette
oder in finstrer Zelle verborgen gehalten werden.
Es gibt auf dem Gebiet der öffentlichen Fürsorge für Irre legislatorisch
und praktisch noch gar viel zu thun.
Möchte diese Ueberzeugung in machthabenden Kreisen zum Durchbruch
gelangen !
Gericht!. Fälle von Verwahrlosung Irrer: Annal. med. psychol. 1874, Mai.
Blumenstock, Wien. med. Wochenschr. 1870, Nr. 21—24 (Fall Barbara Ubryk).
Oesterlen, Viertel) ahrsschr. f. gerichtl. Med. N. F. XXIII, Oct. Archivio italian.
1876, Juli— Sept.
j^ : ^^
rvv:---' ,
'■'jÄ'- "-'^
^ ■:- ^^ -y
r- ^^
M
■R1
^'' - ' '^ ^-■' y*^
N^;^
9i'
1 ^^■*"^'Ä^t
^^^^^&" -^
#^Ä3
z,^^^
?^
4ji
2^^-e--.
^
i^^
r ,>4-s
M»
'%*5?ä^