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Full text of "Lehrbuch der gerichtlichen psychopathologie : mit berücksichtigung der Gesetzgebung von Österreich, Deutschland und Frankreich"

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http://www.archive.org/details/lehrbuchdergeric1881kraf 


LEHRBUCH 


der 


Gerichtlichen  Psychopathologie 


MIT  BERÜCKSICHTIGUNG  DERI 


SESETZGEBUNa  W  ÖSTERREICH,  DEUTSCEAND  UND  FRANKREICH 


Dr.  R.  von  KRAFFT-EBING, 

0.  ö.  Professor  an  der  k.  k.  Universität  Graz,  Mitglied  der  societe  medico-psychologique   und   der 

soci^te  de  medecine  legale  in  Paris,  der  societe  de  medecine  in  Gent,  der  societe  de  medecine  mentale  de  Belgique 

der  societä  freniatrica  italiana  etc. 


Zweite  nmgearbeitete  Auflage. 


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K.  4pMi^i3i 


STUTTGART. 

VERLAG   VON   FERDINAND    ENKE. 

1881. 


Alle  Rechte  vorbehalten. 


Druck  von  Gebrüder  Kröner  in  Stuttgart. 


Vorwort  zur  ersten  Auflage. 


JJie  wohlwollende  Aufnahme,  welcher  sich  des  Verf.  „Grund- 
züge der  Criminalpsychologie"  und  „zweifelhafte  Geisteszustände  vor 
dem  Civilrichter"  zu  erfreuen  hatten,  gab  ihm  den  Muth,  der  Auf- 
forderung des  Herrn  Verlegers,  unter  Zugrundlegung  dieser  beiden 
kleineren  Arbeiten  ein  vollständiges  Lehrbuch  der  gerichtlichen 
Psychopathologie  zu  schreiben,  Folge  zu  leisten. 

Die  in  mehreren  grossen  Culturstaaten  bereits  stattgefundene 
oder  doch  im  Entwurf  vorgezeichnete  Aenderung  der  bezüglichen 
Gesetzgebung  liess  ein  derartiges  Unternehmen  zeitgemäss  erscheinen 
und  veranlasste  in  der  Ausarbeitung  zur  Bedachtnahme  auf  den 
österreichischen  Strafgesetzentwurf,  sowie  den  Entwurf  einer  deutschen 
Civilprocessordnung, 

Dem  praktischen  Zweck  des  auf  das  Bedürfniss  des  Gerichts- 
arztes, Eichters,  Staatsanwalts- und  Vertheidigers  Rücksicht  nehmen- 
den Buches  gemäss  war  möglichste  Kürze  und  Klarheit  der  Dar- 
stellung, Fernhaltung  von  jeglicher  Spekulation  und  Theorie,  Ver- 
meidung von  unnöthigen  Citaten  und  Literaturangaben  geboten. 
Dagegen  schien  es  zweckdienlich,  durch  zahlreiche  ausgewählte  Krank- 
heitsfälle und  Gutachten,  an  die  sich  eine  Angabe  der  bezüglichen 
Casuistik  schloss,  den  Text  zu  erläutern  und  dem  Praktiker  die 
Beurtheilung  analoger  Fälle  zu  erleichtern.  Der  Verf.  hofft,  dass 
dadurch  die  Brauchbarkeit  des  Buches  erhöht  werde  und  dasselbe 
auch  auf  den  Universitäten,  wo  das  Studium  der  gerichtlichen  Psycho- 
pathologie, trotz  seiner  Wichtigkeit  für  Gesellschaft  und  Rechtspflege, 
nur  ganz  vereinzelt  gepflegt  wird,  Eingang  finde. 


IV  Vorwort  zur  ersten  Auflage. 

Statt  des  bisher  üblichen  Ausdrucks  ^forensische  Psychologie* 
wählte  der  Verf.  zum  Titel  die  Bezeichnung  „forensische  Psycho- 
pathologie". Er  wollte  damit  den  veränderten  Standpunkt  der  Wissen- 
schaft bezeichnen,  die  nicht  mehr  in  blosser  und  einseitiger  psycho- 
logischer Analyse  aufgeht,  sondern  durch  Verwerthung  aller  auffind- 
baren Erscheinungen  eines  krankhaften  Hirnzustands  der  Lösung  der 
ihr  gestellten  Aufgaben  zustrebt. 

Die  Trennung  des  umfänglichen  Stoffs  in  seine  Haupttheile 
geschah  am  natürlichsten  nach  den  Beziehungen,  in  welchen  er  sich 
zu  den  drei  Hauptzweigen  der  Rechtspflege  ordnete.  Die  Auseinander- 
haltung von  Geisteskrankheiten  und  Zuständen  krankhafter  Bewusst- 
losigkeit  entsprach  ebenfalls  der  Fassung  der  neuesten  Criminal- 
gesetzgebung. 

Obwohl  nicht  in's  Gebiet  der  Pathologie  gehörig,  erschien  es 
doch  geboten,  die  Zustände  der  Kindheit  und  Unmündigkeit  wegen 
ihrer  Beziehungen  zur  Zurechnungsfähigkeitsfrage  und  ihrer  prakti- 
schen Wichtigkeit  in  die  Reihe  der  zu  behandelnden  Gegenstände 
aufzunehmen. 

Wichtigen,  heutzutage  nicht  mehr  zu  vernachlässigenden  klini- 
schen und  besonders  anthropologischen  Anschauungen  trägt  die  Unter- 
scheidung des  chronischen  Irreseins  in  „Geisteskrankheiten"  und  „psy- 
chische Entartungszustände"  Rechnung.  Ist  auch  die  wissenschaftliche 
Auffassung  dieser  letzteren  noch  nicht  vollkommen  geklärt,  so  kann 
diese  Sonderstellung  doch  nur  nützlich  sein,  indem  sie  Gesetzgebung 
und  Rechtsprechung  auffordert,  die  Repräsentanten  dieser  ohne  Zweifel 
pathologischen  Gruppe  zu  studiren,  ihre  Stellung  zum  Gesetz  und 
ihre  Verantwortlichkeit  gegenüber  diesem  zu  präcisiren. 

Feldhof  bei  Graz,  im  November  1875. 

Der  Verfasser. 


Vorwort  zur  zweiten  Auflage. 


Die  übereinstimmend  günstige  Kritik  sowie  der  unerwartet  rasche 
Absatz  der  ersten  Auflage  lassen  den  Verf.  hoffen,  dass  auch  die  vor- 
liegende zweite  Auflage  Erfolg  haben  und  zur  weiteren  Verallgemeine- 
rung einer  social  so  wichtigen  Wissenschaft  beitragen  wird.  Die  Winke 
der  Hr.  Kritiker  wurden  dankbar  benützt,  die  inzwischen  gemachten 
Fortschritte  der  Psychiatrie  gewissenhaft  verwerthet,  den  Aenderungen 
der  Gesetzgebung  wurde  Rechnung  getragen.  Die  neue  Auflage 
darf  als  eine  in  den  wichtigsten  Theilen  völlig  umgearbeitete  be- 
zeichnet werden.  Die  Grundeintheilung  des  Buches  wurde  beibe- 
halten, aber  eine  bessere  übersichtlichere  Anordnung  des  Stoffes  und 
eine  vertieftere  klinische  Darstellung  sowie  schärfere  Diagnostik  an- 
gestrebt. Durch  jeweilige  Vorausstellung  der  Literatur  und  der 
bezüglichen  Gesetzgebung  sowie  einer  klinischen  Uebersicht  des  be- 
treffenden Gegenstands  suchte  der  Verf.  die  Brauchbarkeit  des  Buches 
zu  vermehren,  die  Orientirung  in  demselben  zu  erleichtern  und  dessen 
speciellen  forensischen  Inhalt  noch  mehr  hervorzuheben. 

Die  Casuistik  ist  etwas  vermindert,  aber  sorgfältig  gesichtet  und 
durch  die  hervorragendsten  Fälle  aus  der  ganzen  neueren  Literatur 
bereichert.  In  der  Verweisung  auf  die  Casuistik  wurde  nur  auf 
Brauchbares  Rücksicht  genommen,  jedoch  innerhalb  dieser  Gränze 
die  möglichste  Vollständigkeit  angestrebt.  Dem  Entgegenkommen 
der  Verlagsbuchhandlung  ist  es  zu  danken,   dass   durch  Anwendung 


VI  Vorwort  zur  zweiten  Autlage. 

kleineren  Drucks  an  geeigneten  Stellen  der  erheblich  vermehrte  Inhalt 
der  zweiten  Auflage  den  Raum  der  ersten  nicht  wesentlich  über- 
schritten hat. 

Möge  das  Buch  auch  in  seiner  neuen  Gestalt  eine  freundliche 
Aufnahme  finden  und  seine  Erweiterung  und  Umarbeitung  als  Ver- 
besserung beurtheilt  werden. 

Graz,  5.  Februar  1881. 

Der  Verfasser. 


Inhalt. 


Seite 
Einleitung  und  Geschichte 1—9 

Entwicklungsstufen  des  Strafrechts  (2).  Die  gerichtl.  psychol.  An- 
schauungen der  italienischen  Juristen  im  XVI.  Jahrhundert  (4). 
Zacchias  (4).  Neugestaltung  des  Strafrechts  auf  psychol.  Grundlage  (6). 
Fortschritt  der  gerichtl,  Psychologie  zur  Psychopathologie  (7).  Ihre 
Bedeutung  für  die  Strafrechtspflege  (7).  Nothwendigkeit  des  Stu- 
diums für  Mediciner  und  Juristen  (8). 

Buch  I.    Die  Beziehuiigen  zum  Criminalrecht. 

A.    Allgemeiner  und  formeller  Theil. 

Cap.  I.     Das  Princip  der  forensischen  Psj^chologie.  —  Willensfreiheit     .       9 — 13 
Naturwissenschaftliche   (10)     und    moralstatistische    (11)    Bedenken 
gegen  die  Annahme  einer  absoluten  Willensfreiheit. 

Cap.  IL     Zurechnung  und  Zurechnungsfähigkeit 13 — 17 

Cap.  III.   Die  Zurechnungsfähigkeit  im  concreten  Fall.   Allgemeine  recht- 
liche Grundsätze 17  —  20 

Cap.  IV.     Stellung  und  Aufgabe  des  ärztlichen  Technikers  im  Criminal- 

forum 20—28 

Stellung  und  Aufgabe  (22).  Subjektive  (23)  und  objektive  Erforder- 
nisse. Genügende  Zeit  der  Beobachtung  (28).  Passender  Ort  (24). 
Studium  der  Akten  (24).  Persönliche  Exploration  des  Angeklagten  (25). 
Das  Gutachten  (26).     Dieses  nicht  bindend  für  den  Richter  (27). 

Cap.  V.     Der  ärztliche  Nachweis  geistiger  Krankheit 28 — 40 

Nothwendigkeit  einer  streng  klinischen  Methode  (28).  Geisteskrank- 
heiten sind  Hirnkrankheiten  mit  vorwaltenden  psychischen  Phäno- 
menen (29).  Diese  Hirnkrankheiten  äussern  sich  nicht  bloss  in 
psychischen  Symptomen  (29).  Wichtigkeit  einer  Berücksichtigung 
ihrer  Ursachen,  Erblichkeit  (30).  Sonstige  Ursachen  (30).  Unter- 
scheidende Merkmale  eines  Gemüthsaffekts  von  Jbeginnender  Gemüths- 


VIII  Inhalt. 

,  Seite 

krankheit  (31).  Verlauf  des  Irreseins  (32).  Körperliche  Sym- 
ptome (32).  Specielle  Diagnose  der  Geisteskrankheit  (33).  Trüg- 
lichkeit  der  Symptome  (33).  Nothwendigkeit  ihrer  synthetischen 
und  individualisirenden  Verwerthung  (34).  Der  äussere  Ausdruck 
der  Krankheit  (34).  Conversation  mit  dem  Exploranden  (35).  All- 
gemeine Regeln  für  eine  solche  (35).  Dissimulirende  Irre  (35). 
Werth  des  Studiums  der  Schriften  zweifelhaft  Kranker  (36).  Be- 
deutung der  Aenderung  des  Charakters  für  die  allgemeine  Diagnose 
des  Irreseins  (38).     Wahnideen  (39).     Hallucinationen  (40). 

Cap.  VI.     Die  Simulation  des  Irreseins 40 —  48 

Motive,  Schwierigkeit  der  Simulation.  Fehler  des  Simulanten.  Nach- 
weis der  Simulation  schliesst  Geisteskrankheit  nicht  aus.  Beob.  1. 
Simulation  von  transitorischem  Irresein  (44).  Beob,  2.  Simulation 
von  allgemeiner  Verwirrtheit,  später  von  epilept.  Anfällen  (46). 
Beob.  3.  Simulation  chron.  Irreseins  (47).  Vorgeschütztes  Irre- 
sein (48). 

B.    Specieller  und  klinischer  Theil. 

Cap,  VII.     Das  Alter  der  strafrechtlichen  Unreife 49 —  60 

Kindliches  Alter  (51).  Beob.  4.  Ein  kindlicher  Verbrecher  (52). 
Beob.  5.  Ein  kindlicher  Verbrecher  (52).  Kritisches  Alter  der 
strafrechtlichen  Reife.  Unterscheidungsvermögen  (53),  Pubertäts- 
entwicklung (55).  Beob.  6.  Mord  zweier  Kinder  durch  eine  12^2- 
j ährige  Dienstmagd  bei  mangelndem  Unterscheidungsvermögen  (56). 
Beob,  7.  Eine  14jährige,  in  der  Pubertätsentwicklung  befindliche 
Brandstifterin  (56).  Verlangsamte  geistig-körperliche  Entwicklung. 
Bedeutung  als  eines  Milderungsgrunds  (59).  Beob.  8.  Geistig  und 
körperlich  zurückgebliebener  19j  ähriger  Attentäter  (59). 

Cap.  VIII.     Psychische  Entwicklungshemmungen 60 —  78 

Ursachen  (61).  Klinische  Uebersicht.  Psychische  Symptome  (62). 
Physische  (64),  forensische  Beurtheilung  (65).  Strafbare  Handlungen 
Blödsinniger  (68).  Beob.  9.  Ein  blödsinniger  Menschenfresser  (68). 
Beob.  10.  Blödsinniger  Brandstifter  (69).  Strafbare  Handlungen 
Schwachsinniger  (69).  Beob.  11.  Schwachsinniger  Brandstifter  (70), 
Beob.  12.  Der  Knabenmörder  Carlino  Grandi  (71).  Beob.  13. 
Mord,  begangen  von  einem  hochgradig  Schwachsinnigen  über  An- 
stiften eines  Vollsinnigen  (73). 

Anhang :  Die  Taubstummheit 78—  81 

Beob.  14.  Diebstahl  eines  ohne  Unterricht  aufgewachsenen  Ts.  (80). 
Beob.  15.     Brandstiftung  durch  einen  unterrichteten  Ts.  (80). 

Cap.  IX.     Die  Geisteskrankheiten 81 

Die  Formen  des  Irreseins ■  88 

1.  Die  Melancholie 83—109 

Klin,  Uebersicht  (84),  Ursachen  der  Gefährlichkeit  Melancholischer 
(86).  Angst  und  Raptus  (87).  Gewaltthaten  aus  schmerzlichem 
Fühlen  (90).  Beob.  16,  Indirekter  Selbstmord  (91).  Beob.  17. 
Aehnlicher  Fall  (91).  Beob.  18.  Mord  des  Kindes  aus  schmerzlichen 
Gefühlen   (92).      Beob.    19.     Brandstiftung    (93).      Heimwehkranke 


Inhalt.  IX 

Seite 
Melancholiker  (95).  Beob.  20.  Brandstiftung  aus  Heimweh  (95). 
Gewaltthaten  aus  Zwangsvorstellungen  (96).  Beob.  21.  Mord  eines 
Mädchens  (97),  Beob.  22.  Mord  (98).  Mechanismus  und  gerichts- 
ärztliche Beurtheilung  (99).  Gewaltthaten  aus  Affekten  der  Angst 
(100).  Beob.  23.  Mordversuch  im  Angstanfall  eines  Melancholischen 
(102).  Beob.  24.  Tödtung  des  Kinds  im  Raptus  mel.  (102).  ,  Ge- 
waltthaten aus  Wahnvorstellungen  und  Sinnestäuschungen  (103). 
Beob.  25.  Mord  der  eigenen  Kinder  aus  Liebe  (105).  Beob.  26. 
Puerperalmelancholie.  Mord  der  Kinder  (106).  Beob.  27.  Mord 
der  Ehefrau  in  Verfolgungsdelir  (107). 

2.  Die  Manie 109—116 

Klinische  Uebersicht  der  maniakalischen  Exaltation  (109),  der  Tob- 
sucht (113).  Rechtsverletzungen  Seitens  Maniakalischer  (113). 
Beob.  28.  Kurpfuscherei.  Chron.  Manie  mit  Grössenwahn  (114). 
Beob.  29.     Gatten-  und  Kindsmord.     Tobsucht  (115). 

Anhang:  Das  periodische  Irresein 117 — 124 

Vorkommen.  Diagnostik  (118).  Dipsomanie  (119).  Beob.  30. 
Diebstahl.  Mania  periodica  (120).  Beob.  31.  Brandstiftung  in 
Mania  periodica  (121).     Beob.  32.    Dipsomania  menstrualis  perio- 

.     dica  (122).     Lucida  intervalla  (123). 

3.  Wahnsinn  (primäre  Verrücktheit) 124 — 153 

Allgemeine  Bedeutung  und  Diagnostik  dieser  Zustände. 

Verfolgungswahnsinn 126 

Klin.  Uebersicht  (126).  Forensische  Bedeutung  und  Gemeingefähr- 
lichkeit solcher  Kranker  (128).  Zeichen  beginnender  Gefährlich- 
keit (128).  Mordthaten  solcher  Kranker  (128).  Beob.  33.  Mord. 
Verfolgungswahnsinn  (129).  Beob.  34.  Mord.  Verfolgungswahn- 
sinn (131).  Beob.  35.  Dreifacher  Mord.  Verurtheilung  zu  lebens- 
länglichem Kerker  (132).  Beob.  36.  Verfolgungswahnsinn.  Mord- 
versuch im  Angstanfall  (132).  Beob.  37.  Verfolgungswahn  sinn. 
Mordversuch  an  einem  Prediger  (133).  Beob.  38.  Mordversuch 
in  Folge  von  Hallucinationen  bei  Verfolgungswahnsinn  (133). 
Hypochondrischer  Verfolgungswahn  (134).  Beob.  39.  Hypochondr. 
Verfolgungswahn.  Gattenmord  (134).  Beob.  40.  Aehnlicher  Fall. 
Mord  der  Tante  (135). 

Querulanten-  oder  Processkrämerwahnsinn 136 

Beob.  41.  Querulantenwahnsinn.  Misshandlungen  (138).  Beob.  42. 
Zweifelhafter  Fall  von  Querulantenwahnsinn  (140).  Beob.  43. 
Hypochondrische  Verrücktheit.  Wahn,  vom  Arzt  falsch  behandelt 
zu  sein.     Mordversuch  auf  diesen  (144). 

Religiöser  Wahnsinn 145 

Klinische  Uebersicht.  Strafbare  Handlungen  (146).  Diagnose  des 
religiösen  Wahnsinns  (146).  Beob.  44.  Mord  des  eigenen  Kindes, 
um  Gott  ein  Opfer  darzubringen  (147). 

Erotischer  Wahnsinn 151 

Beob.  45.     Erotischer  Wahnsinn.     Erpressungsversuch  (152). 

4.  Erworbene  geistige  Schwächezustände 153 — 169 

Geistige  Schwächezustände  nach  Melancholie  und  Manie       ....  154 


:  Inhalt. 

Seite 
Beob.   46.     Aus    Melancholie    hervorgegangene    Geistesschwäche. 

Mord  (155).    Beob.  47.   Schwachsinn  nach  acuter  Psychose.   Todt- 

schlag  (156). 

Geistige  Schwächezustände  nach  Trauma  capitis 158 

Beob.  48.  Schwachsinn  nach  Kopfverletzung.  •  Tödtung  ina  Affekt 
(159). 

Dementia  senilis 160 

Beob.  49.  Moral.  Verkümmerung  auf  Grund  einer  Dementia  senilis. 
Mord  der  Tochter  (161).  Beob.  50.  Unzüchtige  Handlungen  gegen 
einen  Knaben  (162). 

Dementia  paralytica 163 

Klinische  Uebersicht.  Diagnostische  Schwierigkeiten  (163).  Pro- 
dromalstadium des  Leidens  (164).  Stadium  der  deliranten  Auf- 
regung (165),  der  Dementia  (166).  Remissionen  (167).  Beob.  51. 
Brandstiftung  (167).     Beob.  52.     Mord  der  Ehefrau  (169). 

.  Das  alkoholische  Irresein       169 — 186 

Klinische  Uebersicht  (170).  Diagnostik  des  Alkohol,  chron.  (173). 
Strafbare  Handlungen  (173).  Beob.  53.  Trunkfällige  Entartung 
der  Sitten  und  des  Temperaments.  Verletzung  der  Ehefrau  im 
Rausch  und  Affekt  (174).  Beob.  54.  Alkohol,  chron.  Wahn  ehe- 
licher Untreue.  Mord  der  Ehefrau  (175).  Beob.  55.  Alkohol, 
chron.     Mordversuch  am  Vater  (176). 

Trunkfällige  Sinnestäuschung 177 

Beob.  56.  Tödtung  der  Ehefrau  aus  trunkfälliger  Sinnestäuschung 
(178). 

Delirium  tremens       179 

Klinische  Uebersicht.  Beob.  57.  Delirium  tremens.  Tödtung  der 
Ehefrau  (180). 

Delirium  der  Abstinenz  bei  Morpliiumsucht 181 

Beob.  58.  Opiophagie.  Diebstahl,  um  das  unentbehrliche  Opium 
zu  erlangen  (182). 

Alkoholpsychosen 182 

Beob.    59.      Alkohol,    chron.     Verfolgungswahnsinn.      Ermordung 
einer  Frau   und  eines  Kindes  (183).     Beob.  60.     Alkohol.  Verfol- 
gungswahn.  Mordversuch  (184).     Beob.  61.    Alkohol.  Verfolgungs-  i 
wahn.     Mord  in  hallucin,  ängstlicher  Erregung  (185). 
.  Das  epileptische  Irresein 186—213 

Psychische  Degeneration  der  Epileptischen  und  elementare  psychische 

Störungen ^  188 

Diagnostik  der  Epilepsie  (189).  Nächtliche  Anfälle  (190).  Zurech- 
nungsfähigkeit der  Epileptischen  (192).  Beob.  62.  Mordversuch 
eines  Epileptikers  (193).  Beob.  63.  Todtschlag  im  Affekt  (193). 
Beob.  64.     Böswillige  Verleumdung  (194). 

Transitorische  Anfälle  psychischer  Störung  bei  Epileptischen  .     .     .  194 

Allgemeine  Gesichtspunkte.     Klinische  Uebersicht.  - 

Stuporzustände     , 197 

Beob.  65.  Mord  eines  Mädchens.  Verletzung  von  Personen  im 
Stupor  epilept.  (197). 


Inlialt.  XI 

Seite 

Dämmerzustände  mit  impulsiven  Akten ■ .     .     .  198 

Beob.  66.  Impulsiver  Mord  im  Anfall  epileptischer  Bewusstlosig- 
keit  (198). 

Dämmerzustände  mit  Angst  (petit  mal) 199 

Beob.  67.   Petit  mal,   Mord  mehrerer  Personen  (200).    Beob.  68. 
Epilept.  Dämmerzustände  mit  Angst  (200). 
Dämmerzustände  mit  hallucinatorischem  Delir  (grand  mal)  .     .     .  201 

Beob.  69.     Tödtung   der  Eltern   in   halluc.  epilept.  Delir  (202). 
Beob.  70.    Schreckhaftes  halluc.  epilept.  Delir  mit  episodischem 
Himmelsdelir.     Mord  der  Gattin  und  4  anderer  Personen  (203). 
Dämmer-(Traum-)Zustände,  ähnlich  denen  des  Nachtwandeins  .     .  205 

Beob.  71.     Epilept.  Traumzustände.   Desertion  (206).     Beob.  72. 
Dämmer-  und  Traumzustände  mit  Angst.     Gefährliche'  Drohun- 
gen (208). 
Diagnostik  der  transitorischen  Irreseinszustände  Epileptischer  .     .  209 

Epileptische  Psychosen  als  protrahirte  epilept.  Delirien     ....  210 

Beob.  73.  Fall  von  protrahirtem  epilept.  Dämmerzustand  mit 
Delir  (211). 

7.  Das  hysterische  Irresein 218—232 

Der  hysterische  Charakter 213 

Klinische  Uebersicht  der  elementaren  psychischen  Störungen 
(213).  Forensische  Bedeutung  (214).  Znrechnungsfähigkeit  Hy- 
sterischer (214).  Beob.  74.  Hysterismus.  Fälschliche  Denuncia- 
tionen  und  Betrug  (216).  Beob.  75.  Hereditärer  Hysterismus. 
Vergiftungen  ohne  Motiv  (217).  Beob.  76.  Aehnlicher  Fall  (218). 
Beob.  77.  Geisterspuk,  ausgehend  von  einem  hysteropathischen 
Mädchen  in  der  Pubertät  (218). 

Transitorisches  Irresein  Hysterischer 220 

Beob.  78.  Acutes  hysterisches  Delirium.  Schwere  Verletzung 
der  Mutter  (221).  Beob.  79.  Ecstatische  hysterische  Zustände 
mit  religiösem  Delir.  Anklage  wegen  Betrug  (222).  Beob.  80'.' 
Hysterische  Traumzustände  mit  erotischen  Delirien.  Fälschliche 
Anklage  wegen  Nothzucht  (225). 

Chronische  Geistesstörung  Hysterischer 226 

Beob.  81.   Erotischer  Wahnsinn.   Fälschl.  Denunciationen  (227). 
Degenerative  Formen  (folie  raisonnante  etc.)  hysterischen  Irrsinns  228 

Beob.  82.  Moralisches  Irresein  auf  hysterischer  Grundlage  (229). 
Beob.  83.  Betrügereien  und  Schwindeleien  einer  hysterischen 
degenerativen  Persönlichkeit.  Pathol.  Affekte  und  Gefängniss- 
irresein (229). 

Cap.  X.     Die  psychischen  Entartungen       232 — 263 

Allgemeine  Vorbemerkungen.  Klinische  Uebersicht  (233).  Funk- 
tionelle Degenerationszeichen  (234).  Anomalien  des  Geschlechts- 
triebs (234).  Anatomische  Entartungszeichen  (236).  Psychische 
Entartungsphänomene  (237).  Geisteskrankheit  auf  degenerativer 
Grundlage  (238).  Forensische  Bedeutung  dieser  Entartungs- 
zustände  (239). 


XII  Inhalt. 

Seite 

1.  Das  moralische  Irresein 241 

Allgemeine  Bemerkungen.  Klinische  Uebersicht  (242).  Diagnose 
(245).  Rechtliche  Verantwortlichkeit  moralischer  Idioten  (246). 
Beob.  84.  Moralisches  Irresein.  Mord.  Fall  Lemaire  (247). 
Beob.  85.  Moralisches  Irresein  (249).  Beob.  86.  Moralisches 
Irresein.  Perverser  Geschlechtstrieb.  Mord  aus  krankhafter 
Wollust  (250).  Beob.  87.  Defekt  geschlechtlicher  und  socialer 
Empfindungen.  Castrirungsversuch  an  einem  Knaben  (252). 
Beob.  88.  Mord  des  Vaters.  Irrthümlich  geltend  gemachtes 
moralisches  Irresein  (253). 

2.  Das  impulsive  Irresein 254 

Klinische  Darstellung.  Diagnose.  Beob.  89.  Impulsives  Irresein. 
Brandstiftung  (257).  Beob.  90.  Impulsiver  Nothzuchtsversuch 
(259).  Beob.  91.  Impulsive  Stehlsucht  eines  Onanisten,  motivirt 
durch  Perversion  des  Geschlechtstriebs  (260).  Beob.  92.  Krank- 
haft impulsive  unsittliche  Handlungen  (261).  Beob.  98.  Im- 
pulsiver Mord  (262).  Beob.  94.  Zeitweise  Impulse  zur  Leichen- 
schändung (263). 

Cap.  XI.     Zustände  krankhafter  Bewusstlosigkeit 263 — 306 

Allgemeine  Gesichtspunkte.    Verhalten  der  Erinnerung  (265). 

1.  Abnorme  Zustände  des  Schlaf-  und  Traumlebens 266 

a.  Schlaftrunkenheit 266 

Beob.  95.     Tödtung  des  Kindes  (267).     Beob.  96.    Tödtung  des 

Vaters  (268). 

b.  Schlafwandeln 268 

Beob.  97.     Somnambulismus.     Intendirter  Mord  (270).  * 

2.  Zustände  krankhafter  Bewusstlosigkeit   durch   acute  Circulations- 

störung  im  Gehirn 271 

a.  Mania  transitoria 271 

Klinische  Uebersicht  (271).  Simulation  (272).  Beob.  98.  Mania 
transitoria  (273).    Beob.  99.    Mania  transitoria  (273).    Beob.  100. 

Mania  transitoria  nach  der  Entbindung  (273). 

b.  Raptus  melancholicus 274 

Klinische  Uebersicht  (274).    Forensische  Bedeutung  (274).    Beob. 

101.  Tödtung  eines  Kinds  durch  seine  Amme  im  Raptus  melan- 
cholicus (275). 

3.  Zustände  krankhafter  Bewusstlosigkeit  unter  dem  Einfluss  toxischer 

Substanzen 276 

a.  Rausch  und  bewusstloser  Rausch 276 

Beob.  102.    Mord  im  Stadium  eines  bewusstlosen  Rausches  (279). 

b.  Die  pathologischen  Alkoholzustände 281 

Bedingungen  und  Zeichen  solcher  (281).  Diagnostische  An- 
haltspunkte   (283).      Klinische    Bilder    (285).      Alkoholepilepsie 

(285).  Beob.  103.  Mord  der  eigenen  Kinder  in  hallucinatorischer 
Sinnesverwirrung  zur  Zeit  eines  alkoholeijileptischen  Schwindel- 
anfalls (285).  Acutes  Alkoholdelir  (287).  Beob.  104.  Verletzung 
der  Mutter  in  solchem  (287).     Mania  transitoria    a  potu  (288). 


Inhalt.  XIII 

Seite 
Beob.    105.     Mania  ebriosa.    Tödtung  (288).    Beob.   106.    Mania 

ebriosa.     Brandstiftung  (289). 

c.  Acutes  Irresein  durch  Vergiftung 289 

4.  Delirium  febrile,  inanitionis  und  Delirium  nei'vosum 291 

Beob.  107.  Mordversuch  und  Selbstverstümmelung  im  Inter- 
mittensdelir  (293).  Beob.  108.  Mord  der  Ehefrau  im  Typhus- 
delir  (294).  Beob.  109.  Tödtung  des  Kinds  im  Delirium  acutum 
(294).  Beob.  110.  Kindsmord  im  Delirium  eines  Puerperal- 
fiebers (295). 

5.  Die  Affektzustände 296 

a.  Der  physiologische  Affekt 296 

Beob.  111.    Vierfacher  Kindermord  im  Affekt  eines  vv^ahrschein- 

lich  Gemüthskranken  (299). 

b.  Der  pathologische  Affekt 300 

Es  handelt  sich  nicht  mehr  um  Affekt,  sondern  um  Irresein. 
Pathogenese  (300).     Entstehungsbedingungen  (301).     Beob.  112. 

Durch  Intensität  und  Dauer  ausgezeichneter  pathologischer  Affekt- 
zustand (302).  Beob.  113.  Pathologischer  Affekt.  Angriffe  auf 
einen  Vorgesetzten  (303).  Beob.  114.  Pathologischer  Affekt. 
Tödtung  des  Kindes  (305). 

Anhang. 

Cap.  XII.     Verbrechen  und  Vergehen  an  Geisteskranken 307 — 316 

Beischlaf  an  Willenlosen,  Bewusstlosen  und  Geisteskranken  .     .     .  307 

Beob.  115.     Beischlaf  mit  einer  Schvs^achsinnigen    (309).     Beob. 
116.     Beischlaf  mit  einer  Nymphomanischen  (311). 
Beischlaf  nach  Versetzung  in  einen  wehr-,  willen-  oder  bewusstlosen 

Zustand 312 

Beob.  117.     Angeblich    gewaltsame    Entjungferung    im    willen- 
losen,   durch    Rausch    verursachten   Zustand  (313).     Beob.  118. 
Verbrechen  der  Schändung  im  hypnotischen  Schlafzustand  (314). 
Cap.  XIII.     Fälschliche  Beschuldigungen  von  Seiten  Geisteskranker     .     316 — 320 

Selbstbeschuldigungen 316 

Beob.  119.  Ein  an  Typhus  Erkrankter  delirirt  im  Sinn  der 
Anklage  (316).  Beob.  120.  Analoger  Fall  (317).  Beob.  121. 
Fälschliche  Selbstanschuldigung  einer  Geisteskranken  (317). 

Anschuldigungen  Anderer - 318 

Cap.  XIV.     Versetzung  in  Geisteskrankheit 320 — 327 

Gesetzliche  Bestimmungen  und  Interpretationen  (321).  Irresein 
durch  mechanischen  Insult.  Diagnostische  Anhaltspunkte  (322). 
Irresein  durch  psychischen  Shok  (323)  und  diagnostische  Ge- 
sichtspunkte. Beob.  122.  Gelstiger  Schwächezustand  durch 
materielle  Läsion  in  Folge  von  Trauma  capitis  (324).  Beob.  123. 
Geistesstörung  als  angebliche  Folge  einer  Züchtigung  (324). 
Beob.  124.  Geistesstörung  in  Folge  einer  Misshandlung  (325). 
Beob.  125.     Geisteskrankheit  nach  Nothzucht  (325). 

Aphasie  als  Folge  von  Trauma  capitis 326 

Beob.  126.     Traumatische  amnestische  Aphasie  (326). 


XIV  Inhalt. 

Seite 
Cap.  XV.     Haftfähigkeit  mit  Bezug  auf  die  psychische  Gesundheit       .     327—329 
Beob.  127.     Zweifelhafte  Haftfähigkeit  (329). 

Buch  IL     Die  Beziehungen  zum  Civilrecht. 

A.     Allgemeiner  Theil. 

Cap.  I.     Die  Dispositionsfähigkeit 330 — 344 

Bedingungen  derselben  (331).  Rechte  (332).  Umstände,  welche 
die  bürgerliche  Verfügungsfreiheit  beschränken  oder  aufheben 
(332).  Gesetzliche  Bestimmungen  (333).  Mängel  derselben  (334). 
Gemüthskranke  (335).  Wahnsinn  (336).  Geistesschwäche  (336). 
Taubstumme  (336).  Aphasische  (337).  Lucida  intervalla  (339). 
Beob.  128.  Gestörte  Hirnentwicklung  durch  apoplectischen  Insult. 
Fragliche,  aber  vorhandene  Dispositionsfähigkeit  (340).  Beob. 
129.  Epileptischer  Schwachsinn.  Beantragte  Blödsinnigkeits- 
erklärung (340).  Beob.  130.  Taubstummheit.  Fragliche  Dis- 
positionsfähigkeit (341).  Beob.  131.  Schwachsinn.  Aphasie  (343). 

Cap.  II.     Das  Entmündigungsverfahren 344 — 351 

1.  Das  deutsche  Entmündigungsverfahren 344 

2.  Das  österreichische  Entmündigungsverfahren 346 

3.  Das  Interdictionsverfahren  nach  französischem  Recht 346 

Der  ärztliche  Sachverständige  im  Entmündigungsverfahren  .     .     .  347 

Rückblick  auf  das  Entmündigungsverfahren  in  den  verschiedenen 

Ländern  und  Desiderata 349 

Cap.  III.    Die  Aufhebung  der  Curatel 352—355 

B.     Specieller  Theil. 

Cap.  IV.  Streitige  Dispositionsfähigkeit  nicht  Entmündigter  ....  355 — 360 
Beob.  132.  Zweifelhafte  Validität  eines  Kaufvertrags.  Melan- 
cholie (358).  Beob.  133.  Analoger  Fall.  Manie  (358).  Beob.  134. 
Angeborener  Schwachsinn.  Streitige  Dispositionsfähigkeit  (359). 
Beob.  135.  Zweifelh.  Dispositionsfähigkeit  eines  Sterbenden  (359). 
Cap.  V.     Psychopathische    Zustände    in    Bezug    auf  Ehefähigkeit   und 

Ehescheidung 361 — 365 

Beob.  136.  Zweifelhafter  Geisteszustand  einer  hirnkranken  Frau, 
die  eine  Ehe  eingehen  will  (363).  Beob.  137.  Fragliche  Gültig- 
keit einer  in  extremis  geschlossenen  Ehe  (364).  Beob.  138. 
Trauung  im  Prodromalstadium  eines  Anfalls  epileptischer  tran- 
sitorischer  Geistesstörung  (364). 

Cap.  VI.     Schadenersatzpflicht  Geisteskranker 365 — 366 

Cap.  VII.     Zeugnissfähigkeit  in  psychopathischen  Zuständen  ....     366—369 
Beob.  139.     Zeugnissfähigkeit  eines  Schwachsinnigen  (369). 

Cap.  VIII.     Testirfähigkeit 369-390 

Gesetzliche  Bestimmungen 370 

Die  vom  Gesetz    geforderten    geistigen  Fähigkeiten  zur  Errichtung 

eines  Testaments 372 

Psychische  Störungen,    welche    die   Testirfähigkeit   während    ihrer 

Dauer  aufheben 373 


Inhalt.  XV 

Seite 
Pathologische  Zustände  Sterbender  (374).  Beob,  140.  Fieber- 
delirium. Zweifelhafte  Testiriahigkeit  (375).  Chronische  heerd- 
artige  Hirnkrankheiten  (375).  Beob.  141.  Apoplectischer  Schwach- 
sinn. Zweifelhafte  Testirfähigkeit  (376).  Beob.  142.  In  krankh. 
Geisteszustand  nach  einer  Apoplexie  errichtetes  Testament  (377). 
Aphasie  (377).  Geisteskrankheit  (378).  Beob.  143.  Melancholie 
als  Vorstadium  einer  Manie.  Fehlende  Testirfähigkeit  (379). 
Beob.  144.  Melancholie  mit  freien  Zwischenräumen.  Fragliche 
Validität  eines  Testaments  (381).  Beob.  145.  Verfolgungswahn- 
sinn, Nullität  des  Testaments  (382).  Beob.  146.  Dementia 
paralytica.  Angefochtenes  Testament  (382).  Beob.  147.  Alters- 
blödsinn. Ungültigkeitserklärung  des  Testaments  (383).  Beob.  148. 
Analoger  Fall  (384).  Beob.  149.  Verfolgungswahn  auf  Grund 
seniler  Dementia.  Fragliche  Testirfähigkeit  (384). 
Anhaltspunkte  für  die  Beurtheilung  des  Geisteszustands  des  Testators  386 

Beob.  150.     Wegen    bizarren    Inhalts    angefochtenes  Testament. 
Keine  Geistesstörung  (389). 

Anhang." 
Die  Beziehungen  zum  Verwaltungs-  und  Polizeirecht. 

Irrengesetzgebung 391 — 400 

Bestimmungen  über  Aufnahme  in  and  Entlassung  aus  Irrenanstalten  392 

Die  staatliche  Beaufsichtigung  der  Irrenanstalten 395 

Concession  zur  Errichtung  von  Privatasylen 396 

Zwangsweise  Verbringung  in  Irrenanstalten.     Gemeingefährlichkeit  396 
Die    staatliche   Fürsorge    und  Beaufsichtigung   der   ausserhalb    der 

Anstalten  befindlichen  Irren 398 


Einleitung  und  Geschichte. 


Literatur.  Morel,  traite  de  la  medecine  legale  des  alienes.  Paris  1866.  Beer, 
Vierteljalirschrift  für  Psychiatrie,  1868  Nr.  1,  1869  Nr.  3  u.  4.  Semelaigne, 
Journal  de  medecine  mentale,  v.  Holtzendorff,  Einleitung  in  das  Strafreclit. 
Berner,  Lehrbuch  des  deutschen  Strafrechtes,  7.  Aufl.  Livi,  Frenologia 
forense,  Milano   1863  —  68. 

Eine  Geschichte  der  gerichtlichen  Psychopathologie  kann  nur 
an  der  Hand  der  Entwicklungsgeschichte  der  Psychiatrie  uad  der 
Rechtswissenschaft  versucht  werden.  Insofern  sie  von  einem  fort- 
schreitenden Erkenntnissprocess  der  Menschheit  Zeugniss  gibt,  der 
die  edelsten  Güter  und  höchsten  Probleme  menschlicher  Existenz 
betrijfft,  ist  sie  ein  ebenso  lehrreicher  als  wichtiger  Theil  der  Cultur- 
geschichte  überhaupt.  Leider  kann  sie  nur  in  Fragmenten  geliefert 
werden.  Durch  Jahrtausende  finsterer  Barbarei  und  blinder  Ver- 
kennung krankhafter  Naturerscheinungen  führt  ihr  Weg  zu  den  ge- 
läuterten Stufen  heutiger  Erkenntniss;  das  allmälige  Hervordämmern 
von  Wahrheit,  Wissenschaft  und  Humanität  aus  Unwissenheit,  Aber- 
glaube und  Fanatismus  verkündet  sie,  während  sie  uns  an  die  trau- 
rigsten Verirrungen  des  Menschengeistes  in  Gestalt  von  Scheiter- 
haufen, Folter  und  Hexenprocessen  erinnert. 

Die  Geschichte  einer  Wissenschaft  wird  sie  erst  von  dem 
Zeitpunkt  an,  wo  die  Psychiatrie  im  Stand  war,  eine  wissenschaft- 
liche Diagnose  zu  stellen,  den  Irren  vom  Verbrecher  und  Behexten 
zu  unterscheiden  vermochte  und  wo  die  Rechtswissenschaft  an  Stelle 
der  objektiven  Schuldfrage  und  der  Bemessung  der  Schuld  nach 
Massgabe  des  materiellen  Schadens  das  subjektive  Moment  der  wider- 
rechtlichen und  freien  Willensbethätigung  setzte. 

V.  Krafft-Ebing,  gerichtl.  Psychopathologie.     2.  Auflage.  1 


2  Einleitung  und  Geschichte. 

Dieser  Erkenntnisshöhe  erfreut  sich  die  Culturentwicklung  erst 
seit  relativ  kurzer  Zeit.  Die  gerichtliche  Psychopathologie  ist  eine 
junge  Wissenschaft,  aber  ihre  Resultate  sind  bedeutungsvoll  für  die 
Fortentwicklung  der  Cultur  und  des  Rechts.  Sie  gestatten  schon 
heute  Ausblicke  auf  den  Fortschritt  der  Rechtswissenschaft,  die  ohne 
Psychopathologie  nicht  mehr  bestehen  kann. 

Die  Geschichte  des  Rechts  und  der  Beurtheilung  der  Verletzer  desselben 
lässt  4  Entwicklungsstufen  erkennen,  die  in  der  Rechtsgeschichte  jedes  Volkes 
zum  Ausdruck  kommen: 

1.  In  der  ältesten  Zeit  nimmt  der  Verletzte  selbst  das  Recht  der  Bestrafung 
für  sich  in  Anspruch.     Die  Strafe  ist  reine  Privatrache. 

2.  Später  ist  es  die  beleidigte  Gottheit,  die  eine  Sühne  verlangt.  Die  Strafe 
hat  den  Zweck  einer  Versöhnung  der  Gottheit,  deren  Zorn  abgewendet 
werden  soll. 

3.  Die  Genossenschaft  oder  Gesellschaft  fühlt  sich  in  ihrer  Sicherheit  bedroht 
und  versichert  sich  des  Verbrechers,  um  ihn  unschädlich  zu  machen. 

4.  Der  Staat  erkennt  in  der  Handlung  des  Verbrechers  eine  Verletzung  der 
öffentlichen  Ordnung,  des  Rechts-  und  Sittlichkeitsgefühls  der  Gesammt- 
heit  und  sucht  das  verletzte  Recht  wieder  herzustellen,  dem  verletzten 
Rechts-  und  Sittlichkeitsgefühl  Genugthuung  zu  verschaffen,  indem  er 
eine  gerechte  Vergeltung  übt. 

Ueber  die  3  ersten  Culturstufen  der  Rechtsentwicklung  und  Rechtsanschauung 
können  wir  kurz  hinweggehen.  Nur  die  äusserliche  Seite  des  Verbrechens  wird 
hier  berücksichigt.  Auf  den  Willen  des  Verbrechers  kommt  es  gar  nicht  an. 
Die  Höhe  des  materiellen  Schadens  oder  die  Furcht  eines  auf  niedriger  Cultur- 
stufe  stehenden  Volkes  vor  dem  göttlichen  Zorn  sind  massgebend  für  das  Aus- 
mass  der  Strafe.  Die  Strafen  sind  demgemäss  theils  übertrieben  hart,  theils  roh 
(talion)  und  auf  die  Wiederherstellung  der  verletzten  Privat-  (compositio)  oder 
Gesellschafts-Interessen  (fredum,  Wette)  zielend. 

Auf  solcher  Stufe  stehen  das  mosaische  Recht,  die  Rechtsprechung  der 
alten  Griechen,  der  Römer  bis  zur  Zeit  der  Imperatoren,  sowie  das  alte  ger- 
manische Recht. 

Doch  finden  sich  schon  im  mosaischen  Recht  Anfänge  einer  Unterscheidung 
von  Absichtlichkeit,  Fahrlässigkeit  und  Zufall  in  der  Verübung  strafbarer  Hand- 
lungen, und  auch  im  altrömischen  Recht  macht  sich  die  subjektive  Seite  der 
Zurechnung  des  Verbrechens  geltend,  insoferne  nur  das  dolose  Verbrechen  als 
criminell  betrachtet  wird,  jede  andere  Verletzung  der  Gesetze,  bei  der  keine 
Absicht  vorhanden  ist,  rein  als  casuelle  That  erscheint.  Bestimmter  leitender 
Grundsätze  entbehrt  indessen  das  altrömische  Recht ;  seine  Abgränzung  von  dem 
Civilrecht  ist  nicht  durchgeführt,  ja  es  liegt  vielfach  in  der  Willkür  des  Beschä- 
digten, ob  ein  an  ihm  begangenes  Verbrechen  als  reines  Privatdelikt  oder  als 
Auflehnung  gegen  die  öffentliche  Ordnung  verfolgt  werden  soll. 

Einer  verhältnissmässig  hohen  Ausbildung  dagegen  erfreute  sich  bei  den 
Römern  die  Civilgesetzgebung.  Wir  treffen  hier  schon  genaue  Bestimmungen  in 
Betreff  der  Verfügungsfreiheit  Derjenigen,  welche  sich  im  Zustand  der  incapacitas 
und   imbecillitas    befanden.     Es    scheint,    dass    die  Forschungen    eines  Aretaeus, 


Einleitung  und  Geschichte.  3 

Galenus,  Coelius  Aurelianus  über  das  Wesen  der  Geisteskrankheiten  nicht  fruchtlos 
für  die  römischen  Juristen  blieben.  Der  Verlust  der  Vernunft  zog  die  Ernennung 
von  Curatoren  nach  sich.  Ob  übrigens  Aerzte  bei  der  Ermittlung  des  Geistes- 
zustandes intervenirten,  ist  fraglich. 

Das  römische  Gesetz  nahm  lucida  intervalla  an  und  erkannte  bürgerliche 
Handlungen,  die  in  solchem  Zustand  vorgenommen  wurden,  als  rechtsgültig. 
Justinian  verfügte  sogar,  dass  während  der  lue.  intervalla  (intervalla  perfectissima) 
die  Curatel  zwar  suspendirt,  aber  der  Curator  als  solcher  bestehen  bleiben  solle 
damit  nicht  bei  jedem  Rückfall  die  Ernennung  eines  solchen  wieder  nöthig  werde. 

Mit  der  fortschreitenden  Cultürentwicklung  dfer  Menschheit  entrang  sich 
das  Strafrecht  dem  niedrigen  Standpunkt,  den  es  als  Privat-  oder  Gesellschafts- 
rache oder  als  Sühne  der  beleidigten  Gottheit  mit  Hintansetzung  aller  innerlicher 
Momente  des  Verbrechens  eingenommen  hatte,  und  erhob  sich  zur  Stufe  eines 
wirklichen  Rechts,  das  nicht  mehr  die  Grösse  des  materiellen  Schadens  allein 
sondern  auch  das  subjektive  Moment  der  widerrechtlichen  Willensbethätigung 
zum  Massstab  für  die  Bestrafung  des  Verbrechens  machte ,  die  Strafe  als  eine 
Forderung  der  Sittlichkeit  im  Interesse  einer  verletzten  öffentlichen  Ordnung 
auffasste  xmd  die  Bemessung  und  Vollstreckung  nicht  mehr  dem  Gefühl  und 
Ei-messen  der  in  ihren  Interessen  verletzten  Parthei  oder  Volksmenge,  sondern 
dem  unpartheiischen  Urtheil  eines  Vertreters  des  öffentlichen  Rechts  zuerkannte. 

Der  Träger  dieser  sittlichen  Idee  ist  das  auf  Innerlichkeit  dringende 
Christenthum  und  sein  nach  ethischer  Ausbildung  und  sittlicher  Veredlung 
ringendes  Streben  setzt  an  die  Stelle  einer  gehaltlosen  Vermögensstrafe  auf 
Besserung  hinzielende  Busse.  Damit  ändert  sich  nicht  bloss  der  Charakter  der 
Strafe,  sondern  auch  Strafmittel  und  Strafzweck,  wenn  auch  als  Nebenzweck  die 
dem  Bruch  göttlicher  Vorschriften  gebührende  Genugthuung  mitunterlauft. 

Die  Kirche  übernimmt  von  nun  an  das  Amt  des  Richters  (canonisches 
Recht)  und  verwaltet  es,  bis  der  Staat  zum  Culturstaat  imd  Träger  des  geistigen 
Fortschrittes  wird  und.j  ihr  das  Strafamt  entwindend,  der  Kirche  nur  mehr  eine 
disciplinare  Gewalt  einräumt. 

Während  so  das  Christenthum  einen  mächtigen  Hebel  der  Cultur  und 
Sittlichkeit  einsetzt,  vereiteln  Aberglauben  und  von  der  Kirche  genährte  Vor- 
urtheile  vielfach  die  Sicherheit  der  Rechtsprechung.  Auch  die  Rohheit  des  Zeit- 
alters lässt  den  eigentlichen  Besserungszweck  der  Strafe  noch  nicht  aufkommen 
und  profanirt  durch  auf  falsche  psychologische  Anschauungen  gegründete  Ab- 
schreckungszwecke die  Würde  der  Rechtsprechung,  indem  sie  grausame  Strafen 
über  den  Schuldigen  verhängt. 

Es  fehlt  auch  noch  an  der  nöthigen  Aufklärung,  der  feinern  Kenntniss 
der  psychischen  Zustände,  der  Entwicklung  der  Naturwissenschaften.  Es  ist  die 
Zeit  der  Tortur  und  der  Hexenprocesse ,  und  das  bedeutende  Gesetzbuch  des 
16.  Jahrhunderts,  die  Carolina,  sanktionirt  durch  barbarische  Strafen  die  aus 
Aberglauben,  Unwissenheit  "und  Rohheit  hervorgehenden  Anschauungen,  wenn  es 
auch  die  subjektive  Seite  der  Zurechnung  nicht  vernachlässigt. 

So  ist  der  Fortschritt  ein  langsamer,  indessen  macht  sich  die  zunehmende 
Civilisation  in  der  Milderung  der  Strafen  bemerklich  und  auch  die  Rechtswissen- 
schaft nimmt  immer  mehr  auf  den  Innern  Zustand  des  Verbrechers,  das  subjektive 
Moment  der  Zurechnung  Rücksicht.  Bahnbrechend  in  dieser  Richtung  wirken 
die  Naturrechtslehrer  des  17.  Jahrhunderts  (Grotius,  Hobbes,  Pufendorf)  und  die 


4  Einleitung  und  Geschichte. 

Bemühungen  eines  Thomasius,  den  Anschauungen  jener  auf  dem  Gebiet  des 
Strafrechts  Eingang  zu  verschaffen. 

Einen  entschiedenen  Fortschritt,  der  auch  den  Gesetzgebungen  der  andern 
Länder  zugute  kommen  sollte,  bekunden  die  Anschauungen  der  italienischen 
Juristen  des  16.  Jahrhunderts.  Sie  enthalten  die  Anfänge  des  Einflusses  ärztlicher 
Beobachtung  und  Erforschung  der  Zustände  des  krankhaften  Seelenlebens,  ja  die 
Zuziehung  der  Aerzte  zur  Aufklärung  des  Thatbestandes  wird  nun  seit  der  Ein- 
führung der  Carolina  (1532)  in  Deutschland  und  in  Rom  mit  der  Constituirung 
der  Ruota  romana  üblich. 

Eine  eingehende  Kenntniss  der  subjektiven  Bedingungen  der  Zurechnung, 
sowie  des  Wesens  der  Geisteskrankheiten  verrathen  schon  die  Grundsätze  der 
italienischen  Juristen  des  16.  Jahrhunderts.  Das  Kind  war  straflos  (infantem 
innocentia  tuetur),  das  Kind  bis  zu  10 V«  Jahren  galt  als  „infantiae  proximus  und 
non  doli  capax"  (Farinacius  question.  XCVIII.  Nr.  8). 

Bis  zum  12. — 14.  Jahre  galt  die  Präsumption  des  fehlenden  Unterscheidungs- 
vermögens, die  jedoch  durch  die  Regel:  „malitia  supplet  aetatem"  eingeschränkt 
war,  und  auch  der  Unmündige  konnte  gestraft  werden,  „si  proximus  pubertati 
Sit  et  ob  id  intelligat  se  delinquere". 

Die  Unmündigen  konnten  in  Criminalfällen  nicht  Zeugen  sein  und  ihre 
Strafbarkeit  fand  in  dem  Alter  einen  Milderungsgrund  bis  zum  25.  Jahre,  dem 
Alter  der  Grossj  ährigkeit.  Aber  auch  das  Greisenalter  gab  einen  solchen  vor 
dem  Gesetz  ab,  wie  aus  folgenden  Sätzen  hervorgeht : 

„Ignoscitur  his,  qui  aetate  defecti  sunt."  —  „Senectus  est  velut  alia  pueritia" 
(de  poen.  temperand.  XIII.  p.  20).  —  „Senes  sunt  diminuti  sensu  et  intellectu, 
ita  quod  repuerascere  incipient"  (Farinac.  Quest.  XIII.  Nr.  25). 

Die  Zurechnungsfähigkeit  des  Geisteskranken  war  ausgeschlossen:  „furiosus 
satis  ipso  furore  punitur",  ein  Satz,  der  schon  in  den  römischen  Rechts  quellen 
enthalten  ist. 

Bestanden  darüber  Zweifel,  ob  ein  Verbrechen  zur  Zeit  der  Geistesstörung 
oder  ausserhalb  derselben  begangen  wurde,  so  galt  der  Satz:  „si  dubitatur  quo 
tempore  deliquerit,  an  tempore  furoris,  an  tempore  sanae  mentis,  in  dubio  et 
potius  quod  deliquerit  tempore  furoris." 

Auch  die  Affekte  wurden  schon  als  mildernde  Umstände  erkannt:  „non 
excusant  in  totum  sed  tan  tum  faciunt  ut  mitius  delinquens  puniatur." 

Ferner:  „quidquid  in  calore  iracundiae  vel  fit  vel  dicitur,  non  prius  ratum 
est  quam  si  perseverantia  apparuit,  Judicium  animi  fuisse." 

Auch  auf  die  Ursache  des  Affektes  kam  es  an:  „simplex  iracundiae  calor 
non  excusat,  nisi  justa  causa  praecedat". 

Der  erste,  welcher  es  versuchte,  die  medicinisch-psychologischen  Erfahrungen 
als  wissenschaftliches  Ganzes  zu  behandeln,  ist  Paulus  Zachias  (vgl.  Beer,  Viertel- 
jahrschr.  f.  Psychiatrie,  II.  H.  3  u.  4,  p.  371),  Leibarzt  des  Papstes  und  Consulent 
der  Ruota  romana.  Das  Verdienst,  Material  für  die  Entwicklung  der  gerichtlich 
psychologischen  Wissenschaft  gesammelt  zu  haben,  gebührt  Fortunatus  Fidelis 
(de  relation.  medicorum  libri  IV,  Panorm.  1602).  In  seinen  Quaestiones  medico- 
legales  (Rom.  1621—50)  legt  Zachias  den  Grundstein  zum  Gebäude  der  gericht- 
lichen Ps5'-chologie.  In  seinen  Quaestiones  lib.  II,  lit.  1  handelt  er  „de  dementia 
et  rationis  laesione  et  morbis  Omnibus  qui  rationem  laedunt".  Dementia  ist  ihm 
der  Collektivbegriff  für  alle  Zustände,  in  welchen  der  Geist  irrt  oder  sich  schwach 


Einleitung  und  Geschichte.  5 

äussert.     Es   ergeben   sich   hier   dreierlei  Richtungen   gestörter  Geistesthätigkeit : 

a)  die  Energie  ist  vermindert  —  fatuitas  (Blödsinn,  Geistessciiwäche,  Stumpfsinn). 

b)  pervers  —  delirium  (phrenitis ),  c)  gänzlich  verloren  —  Insania  (völliger  Ver- 
lust der  Geisteskräfte). 

In  Bezug  auf  die  Entvi^icklung  dieser  Krankheitszustände  werden  primäre 
(idiopathische)  und  secundäre  (sympathische)  Geistesstörungen  unterschieden,  nach 
dem  Verlauf  continuirliche  und  zeitweilige  (remittirende  und  periodische). 

Wahrhaft  überi'aschend  sind  aber  die  feinen  diagnostischen  Bemerkungen, 
die  der  grosse  Arzt  des  16.  Jahrhunderts  im  Capitel  „de  signis  sanae  mentis" 
niedergelegt  hat. 

Die  Zeichen  einer  Geistesstörung  sind  nach  Z.  unendlich  mannigfaltig.  Sie 
sind  aus  den  Handlungen  (wozu  auch  die  motorischen  Störungen  gerechnet 
werden)  und  aus  den  Reden  vielfach  zu  entnehmen.  Indessen  können  die  Reden 
solcher  Kranker  ganz  vernünftig  sein  („ratiocinantur  ut  caeteri  sanae  mentis 
homines"),  wo  man  dann  die  Handlungen  derselben  vorzugsweise  berück- 
sichtigen muss  („porro  apertius  dementia  significatur  ex  civilibus  actibus"). 
Z.  kennt  schon  Geisteskranke  mit  partiellem  Delirium  („plures  circa  tantum 
unam  rem  insaniunt")  und  macht  auf  die  forensische  Wichtigkeit  dieser  Erschei- 
nung aufmerksam. 

Er  weiss,  dass  viele  Kranke  ihres  Erinnerungsvermögens  nicht  ermangeln 
(„justa  rerum  memoria  pollent"). 

Die  Reden  und  Handlungen  werden  nach  ihm  mehr  von  den  Juristen  zur 
Diagnose  benutzt,  während  die  Aerzte  mehr  die  Gemüthsatfekte,  die  Physiognomie, 
den  körperlichen  Habitus  und  gewisse  äussere  Zeichen  für  die  Diagnosis  ver- 
werthen.  Es  findet  sich  also  schon  bei  Z.  der  Anfang  einer  anthropologischen, 
physikalischen  und  klinischen  Diagnostik.  Auch  die  Ursachen  lehrt  er  beachten, 
spricht  aber  hier  noch  von  Verzauberung  und  Hexeneinfluss. 

Während  so  der  wissenschaftliche  Boden  für  den  Aufbau  der  gerichtlichen 
Psychologie  gewonnen  wird,  sind  andere  Bestrebungen,  den  Aberglauben  dei- 
Masse  zu  zerstören  und  die  Geisteskranken  als  Hirnkranke,  nicht  als  vom  Teufel 
Besessene  und  Verzauberte  zu  erkennen,  von  höchster  Bedeutung. 

Das  war  eine  schwere  Aufgabe,  denn  die  Kirche,  zum  Theil  auf  Grund 
neutestamentlicher  Anschauungen,  vertrat  die  Ansicht,  dass  es  sich  um  Hexerei 
und  Teufelswerk  handle,  die  Naturwissenschaft  war  auf  zu  tiefer  Stufe,  um  die 
Phänomene  des  krankhaften  Seelenlebens  begründen  zu  könne'n,  zudem  bewegte 
sich  das  Delirium  der  Kranken  vorwiegend  im  abergläubischen  Wahn  jener 
finsteren  Jahrhunderte  — •  klagten  sie  sich  doch  selbst  nächtlicher  Zusammenkünfte 
mit  dem  Teufel,  der  Cohabitation  mit  Incuben  und  Succuben,  des  Vampyrismus 
etc.  an ! 

Aufklärend  wirkten  schon  im  1.5.  Jahrhundert  Savonarola  (Practica  de 
aegritudinibus  a  capite  usque  ad  pedes.  Pavia  1486).  Anton  Guarneriiis:  Opus 
praeclarum  ad  praxin  medicam.  Lugdun.  1534.  Porta  (de  humana  physio- 
gnomia). 

Sie  sind  die  Vorläufer  Wier's,  der  in  seinem  denkwürdigen  Werk  „de 
praestigiis  daemonum"  1-517  den  Beweis  lieferte,  dass  die  Hexen  grösstentheils 
nur  Wahnsinnige  und  Hysterische  seien,  und  Kaiser  und  Reich  bat,  das  unschul- 
dige Blut  dieser  vermeintlichen  Hexen  zu  schonen. 

Bis  tief  in  das  18.  Jahrhundert  hinein  befindet  sich  indessen  das  Strafrecht 


6  ■  Einleitung  und  Geschichte. 

noch  ohne  feste  leitende  Grundsätze,  sind  Strafprocess  und  Strafmittel  noch  unter 
der  Barbarei  mittelalterlicher  Institutionen  (Folter).  Auch  die  medlcinisch- 
psychologischen  Wissenschaften  sind  noch  nicht  soweit  vorgeschritten,  um  Grund 
legend  für  die  Neubegründung  der  Rechtswissenschaft  wirken  zu  können,  ja  nur 
ihr  Recht  geltend  machen  zu  können,  in  Fragen  zweifelhafter  Geistesintegrität 
gehört  zu  werden.  Diese  Berechtigung  nachzuweisen  bemüht  sich  J.  Z.  Platner 
in  seinem  „programma  quo  ostenditur  medicos  de  insanis  et  furiosis  audiendos 
esse".  1740.  Sein  Sohn  Ernst  Platner  fasst  die  bisherigen  Resultate  der  Wissen- 
schaft in  seinen  Quaest.  medico-forenses  zusammen. 

Auch  die  Rechtswissenschaft  fühlt  endlich  das  Bedürfniss  einer  Verinner- 
lichung  und  einer  Begründung  ihres  Wirkens  auf  philosophischen  Grundsätzen 
(Strafrechtsphilosophie).  Einen  gewaltigen  Impuls  nach  der  humanen  Seite  geben 
die  Bestrebungen  eines  Beccaria,  Filangieri,  Voltaire  u.  A.,  deren  Ziel  die  Zur- 
geltungbringung  der  allgemeinen  Menschenreclite,  die  Gleichheit  vor  dem  Gesetz, 
die  Abschaffung  der  Leibeigenschaft,  die  Aufstellung  liumaner  Strafzwecke  (Besse- 
rung anstatt  einer  abgeschmackten  Abschreckungstheorie),  die  Humanisirung  des 
Strafverfahrens  (Abschaffung  der  Tortur)  und  der  Strafmittel  ist. 

Die  humanen  Bestrebungen  eines  Beccaria  finden  Anerkennung  nicht  nur 
bei  der  Wissenschaft,  sondern  auch  bei  den  Gewalthabern.  Ein  Friedrich  der 
Grosse  verbannt  die  Tortur  aus  seinen  Staaten,  ein  Kaiser  Josef  II.  die  Todes- 
strafe ;  allenthalben  fallen  die  entwürdigenden  Fesseln  der  Leibeigenschaft. 

Eine  Neugestaltung  des  Strafrechts  auf  wissenschaftlichen,  zum  Theil  der 
Kant'schen  Philosophie  entlehnten  Principien  (Theorie  des  psychologischen 
Zwangs)  versucht  Feuerbach,  dessen  Grundsätze  in  einer  Reihe  von  das  gemeine 
Recht  (CCC)  immer  mehr  verdrängenden  Particulargesetzgebungen  Eingang  finden. 

Mit  der  Begründung  des  Strafrechts  auf  psychologischer  Grundlage  ist 
auch  der  medicinischen  Psychologie  ein  mächtiger  Impuls  zur  Geltendmachung 
ihrer  Erfahrungen  und  Erweiterung  ihrer  Kenntnisse  gegeben,  während  die  fast 
gleichzeitige  Reform  des  Irrenwesens  durch  Errichtung  von  Irrenhäusern  (St.  Lukes 
in  London,  Bonifacio  in  Florenz),  durch  Entfernung  der  Ketten  (Pinel),  durch 
Chiarugi's  Werk  über  Irrenheilkunde  (della  pazzia  in  genere  ed  in  ispecie.  Firenze 
1793)  eine  mächtige  Förderung  erfährt. 

Der  zu  Anfang  des  Jahrhunderts  noch  unvollkommene  Ausbau  der  medi- 
cinischen Psychologie  und  Psychiatrie  führt  anfangs  zu  unbefriedigenden  Resultaten 
und  einseitig  philosophischer  spekulativer  Betrachtungsweise. 

Die  Unklarheit,  in  welcher  man  sich  über  das  Wesen  der  Seelenkrankheiten 
befindet,  führt  sogar  zu  Competenzstreitigkeiten  (Kant),  ob  der  philosophischen 
oder  medicinischen  Fakultät  die  Beurtheilung  geistig  unfreier  Zustände  zukomme, 
und  das  mühsam  für  die  medicinische  errungene  Recht  wird  noch  bis  in  die 
30er  Jahre  dieses  Jahrhunderts  (Regnault,  das  Urtheil  der  Aerzte,  übers,  von 
Bourel,  Cöln  1830)  bestritten. 

Die  in  der  Annahme  isolirter  Seelenvermögen  befangene,  grösstentheils 
spekulative  Psychologie  leistet  manclien  Irrthümern  (Monomanien,  partieller  Wahn- 
sinn) Vorschub,  der  bon  sens  der  Laien  und  Juristen,  welche  Störungen  der  In- 
telligenz als  Kriterien  der  geistig  unfreien  Zustände  fordern,  erschwert  die  Geltend- 
machung abnormer  Seelenzustände,  die  nicht  mit  Delirium  einhergehen,  in  foro. 

Aufklärend  wirken  die  von  Herbart  begründete,  von  Drobisch,  Domrich, 
Waitz,  Wundt  u.  A.  weiterentwickelte  empirische  Psychologie,  die  die  Solidarität 


Bedeutung-  der  gerichtl.  Psychopathologie.  7 

der  Seelenkräfte  erweist  und  die  Monomanien  ad  absurdum  führt,  die  klinische 
Psychiatrie,  indem  sie  ein  reiches  Material  von  Erfahrungen  in  foro  zur  Ver- 
fügung stellte  und  die  Erkenntniss  verschaffte,  dass  die  Objekte  psychiatrisch- 
forensischer Beurtheilung  krankhafte  Hirnzustände  sind,  deren  Diagnose  mit 
Aufbietung  aller  klinischen  und  anthropologischen  Hilfsmittel  der  modernen 
Naturwissenschaft  angestrebt  werden  muss,  statt  in  einer  blossen  psychologischen, 
oft  aus  der  Laienpsychologie  des  Alltagslebens  geschöpften  und  unhaltbare  meta- 
physische Kriterien  verwerthenden  Analyse  aufzugehen. 

Die  frühere  gerichtliche  „Psychologie"  ist  zur  Psychopathologie 
geworden.  Dieser  veränderte  Standpunkt  gibt  ihr  Anspruch  darauf, 
bei  der  Abfassung  des  Gesetzbuchs  wie  auch  bei  der  Klarlegung 
eines  concreten  zweifelhaften  Geisteszustandes  gehört  zu  werden.  Die 
immer  häufigere  Inanspruchnahme  der  Aerzte  in  foro  bezüglich  zweifel- 
hafter Geisteszustände,  die  grössere  Werthschätzung  ihrer  Gutachten, 
falls  sie  wirklich  den  Anforderungen  der  fortgeschrittenen  Wissen- 
schaft entsprechen,  sind  erfreuliche  Beweise  einer  Anerkennung  der 
•  noch  jungen  Disciplin. 

Aber  nicht  bloss  als  Leuchte  in  den  vielfach  so  dunklen  Fragen 
nach  der  Zurechnungsfähigkeit  des  Einzelnen  hat  die  gerichtliche 
Psychopathologie  eine  Bedeutung  —  viel  wichtiger  ist  sie  als  Er- 
kenntnissquelle für  den  Fortschritt  der  Rechtswissenschaft  überhaupt, 
deren  Neugestaltung  aus  metaphysischen  Anschauungen  und  starrem 
Formalismus  in  der  naturwissenschaftlichen  anthropologischen  Auf- 
fassungsweise der  geistigen  Vorgänge  des  Menschen,  wie  sie  die 
gerichtliche  Psychopathologie  vertritt,  werthvoUe  Bausteine  findet. 

In  Ländern  (Deutschland,  Oesterreich,  Italien),  wo  die  Gesetz- 
gebung bereits  reformirt  ist  oder  ihrer  Verbesserung  in  Kürze  ent- 
gegensieht, sind  Fortschritt  der  Gesetzgebung  und  Sicherheit  der 
Rechtsprechung  zum  nicht  geringen  Theil  das  Verdienst  der  Psycho- 
pathologie, die  als  Naturwissenschaft  vorauseilte  und  den  Fortschritt 
anbahnte.  In  Ländern  mit  nicht  fortgeschrittener  Gesetzgebung,  z.  B. 
England,  macht  sich  die  Kluft  zwischen  stehengebliebener  Gesetzgebung 
und  fortgeschrittener  Wissenschaft  in  täglich  peinlicher  werdender 
Weise  fühlbar  und  gefährdet  die  Sicherheit  der  Rechtsprechung  in 
bedauerlichem  Masse. 

Als  in  nicht  ferner  Zeit  anzuhoffende  Fortschritte  unserer 
Wissenschaft  sind  die  Klärung  gewisser  Zustände,  die  sich  äusserlich 
wie  blosse  moralische  Verkommenheit  anfühlen,  in  Wirklichkeit  aber 
krankhafte  sind,  die  Verwerthung  neuerer  Forschungen  über  die  Erb- 
lichkeit psychischer  Gebrechen,  über  den  Einfluss  gewisser  verborgener 
Nervenkrankheiten    (Epilepsie,    Hysterie)    auf  das    Zustandekommen 


8  Bedeutung  der  gei'ichtl.  Psychopathologie. 

unfreier  Geisteszustände  zu  verzeichnen.  Unzählige  Unglückliche, 
die  der  heutige  beschränkte  richterliche  Standpunkt  und  die  öffentliche 
Meinung  noch  als  Verbrecher  und  lasterhafte  Menschen  auffassen, 
wird  eine  spätere  Zeit  in  ihrer  wahren  Natur  erkennen  und  an  ihnen 
Vieles,  was  Wissenschaft  und  Rechtspflege  verschuldet  haben,  gut  zu 
machen  haben.  In  diesem  Sinn  ist  das  Werk  Morel's,  des  tiefsten 
Kenners  dieser  Zustände,  zu  verstehen:  „je  ne  mets  pas  un  instant  en 
doute  que  les  lois,  qui  r^glent  la  pdnalite  chez  tous  les  peuples  civi- 
lisds  ne  soient  destindes  un  jour  ä,  subir  des  modifications,  dont  Thon- 
neur  reviendra  aux  m^decins  qui  auront  appris  a  mieux  faire  con- 
naitre  les  nombreuses  modifications,  que  l'her^dite  imprime  ä  l'organi- 
sation.  (Traitd  des  malad,  mental,  p.  544.)  Ohne  Zweifel  wird  das 
anthropologische  Studium  des  Verbrechers  seine  Früchte  tragen  und 
zur  Gewinnung  festerer  Grundlagen  für  die  Frage  der  Zurechnungs- 
fähigkeit überhaupt,  wie  auch  der  Art  und  Weise  des  Strafvollzugs 
beitragen.  Die  Zeit  wird  kommen,  wo  unsre  Anschauungen  von  heute 
über  gewisse  Verbrecher  und  die  Strafe  in  ihrer  ethischen  und  recht- 
lichen Begründung,  besonders  da  wo  sie  als  Todesstrafe  erscheint, 
unhaltbar  werden,  wo  der  erstere  nur  noch  als  gemeingefährlicher 
Unglücklicher  dasteht,  die  letztere  aber  ebenso  monströs  und  unbe- 
greiflich ist,  wie  wir  heutzutage  an  Hexenwahn  und  Folter  vergan- 
gener Jahrhunderte  mit  Beschämung  zurückdenken.  Eine  wichtige 
Forderung,  die  schon  heute  die  gerichtliche  Psychopathologie  an 
den  Staat  zu  stellen  berechtigt  erscheint,  ist  die  einer  Verall- 
gemeinerung und  Verbreitung  ihrer  Erfahrungen.  Solange  Juristen 
nicht  wissen,  wie  geistig  abnorme  Zustände  sich  kundgeben,  solange 
sie  mit  den  Vorurtheilen  des  Laien  an  concreto  Fälle  herantreten 
und  nicht  wissen,  was  sie  fragen  sollen,  solange  unwissende  Aerzte 
unpassend  gestellte  Fragen  entscheiden  sollen,  von  deren  Beantwor- 
tung doch  oft  genug  Freiheit,  Ehre,  Leben  der  Betheiligten  abhängt 
—  so  lange  bleibt  die  forensische  Psychopathologie  troz  ihrer  socialen 
Bedeutung  und  erreichten  Entwicklungshöhe  eine  todte  Wissenschaft, 
deren  Resultate  für  das  Gemeinwohl  verloren  gehen. 

Diese  Unkenntniss,  Unsicherheit  und  Unwissenheit  im  Gerichts- 
saal in  Fragen  zweifelhafter  Geistesgesundheit  wird  nur  schwinden, 
wenn  auf  den  Universitäten  für  das  obligatorische  Studium  dieses 
Wissensgebiets  vorgesorgt  wird,  aber  nicht  bloss  für  künftige  Gerichts- 
ärzte, sondern  auch  für  Rechtsgelehrte.  Dies  geschieht  vorläufig 
wenigstens  in  —  Russland. 


Buch  I. 

Die  Beziehungen  zum  Criminalrecht. 

A.  Allgemeiner  und  formeller  Theil. 


Cap.  I.     Das  Princip  der  forensischen  Psychologie.  — 
Willensfreiheit. 

Literatur.  Die  Lehrbücher  von  Bern  er,  Schütze,  Oppenhoff  f.  Spielmann, 
Diagnostik  der  Geisteslirankheiten.  1855.  v.  Rönne,  die  criminalistische 
Zurechnungsfähigkeit.  Berlin  1870.  Wagner,  die  Gesetzmässigkeit  in  den 
scheinbar  willkürl.  menschl.  Handlungen  v.  Standpunkt  der  Statistik.  Ham- 
burg 1864.  Drobisch,  die  moral.  Statistik  und  die  menschl.  Willensfreiheit. 
1867.  Oettingen,  die  Moralstatistik.  2.  Aufl.  1874.  Frese,  Friedreich's  Blätter. 
1873.  Benedict,  zur  Psychophysik  der  Moral.  Wiebeke,  AUg.  Zeitschr.  für 
Psych.  23.  H.  4.  Witlacil,  Wien.  med.  Presse.  IX.  23.  Göring,  krit.  Unter- 
suchung über  d.  menschl.  Freiheit  und  Zurechnungsfähigkeit.  1876.  Hoppe, 
die  Zurechnungsfähigkeit.    1877. 

Die  Grundlage  des  heutigen  nicht  mehr  bloss  den  äusseren  Erfolg 
zur  Feststellung  der  Strafbarkeit  und  Strafhöhe  verwerthenden  Straf- 
rechtes ist  das  Axiom  der  Freiheit  des  menschlichen  Willens.  „Wo 
das  Vermögen  frei  zu  handeln  aufgehoben  ist,  da  findet  keine  Ver- 
bindlichkeit aus  den  Gesetzen  statt." 

Bevor  die  praktischen  Consequenzen  dieses  Princips  der  mensch- 
lichen Willensfreiheit  gezogen  werden,  erscheint  es  geboten  in  Kürze 
sich  über  ihr  wirkliches  Vorhandensein  und  in  welchem  Umfang  dies 
zugegeben  werden  kann,  zu  verständigen.  Eine  solche  Verständigung 
thut  noth  bei  der  Divergenz  der  Standpunkte,  welche  Philosoph,  Jurist 
und  Naturforscher  dem  Axiom  der  menschlichen  Willensfreiheit  gegen- 
über einnehmen. 


10  Cap.  I.    Das  Princip  der  forens.  Psychologie. 

Während  Theologie  und  Philosophie  die  menschliche  Willens- 
freiheit aus  dogmatischen,  teleologischen  und  metaphysischen  Gründen 
statuiren,  die  Jurisprudenz,  deren  Grundvoraussetzung  sie  bildet,  sie 
als  gegeben  annimmt,  weil  sonst  ein  Rechtsstaat  nicht  denkbar  wäre, 
ist  es  allein  die  Naturwissenschaft,  für  die  es  kein  Dogma,  kein 
apriorisches  Raisonnement,  keine  Autorität,  kein  Utilitätsprincip,  son- 
dern nur  eine  Beobachtung  gibt,  welche  die  Frage  offen  lässt  und 
sie  auf  dem  Wege  jener  zu  lösen  sucht. 

Leider  ist  die  menschliche  Willensfreiheit  keine  Eigenschaft  der 
Materie,  sondern  nur  das  Resultat  des  Zusammenwirkens  einer  Reihe 
von  funktionellen  Thätigkeiten  jener,  deren  Zusammenhang  und  Wesen 
keineswegs  klar  zu  Tage  liegt,  auch  nicht  Gegenstand  sinnlicher 
Beobachtung  ist,  sondern  nur  indirekt  sich  erschliessen  lässt. 

Gleichwohl  kann  es  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  nur  die 
Lösung  der  Frage  auf  naturwissenschaftlichem  Wege  Aussicht  auf 
Erfolg  und  Berechtigung  hat. 

Während  die  metaphysischen  Wissenschaften  in  der  Annahme 
einer  selbständigen  Seele  sich  gefallen  und  höchstens  anerkennen,  dass 
diese  Seele  zeitlich  an  ein  körperliches  Organ  gebunden  ist,  sich 
desselben  gleichsam-  als  ihres  Werkzeugs  bediene,  geht  die  natur- 
wissenschaftliche Betrachtung  der  der  sogenannten  Seele  zugeschrie- 
benen Funktionen  des  Menschen  von  der  thatsächlich  jeden  Augenblick 
sich  kundgebenden  Abhängigkeit  dieser  Funktion  vom  Körper  und 
dessen  Zuständen  aus  und  weist  diese  Seelen  Vorgänge  einem  be- 
stimmten Organ  des  Körpers  dem  Gehirn  als  Funktionen  zu,  Ist  die 
naturwissenschaftliche  Anschauung  die  richtige,  so  kann  kein  Zweifel 
darüber  bestehen,  dass  die  engsten  Beziehungen  zwischen  Organ  und 
Funktion  obwalten  müssen. 

Diese  Annahme  findet  ihre  hundertfältige  Stütze  in  der  natur- 
wissenschaftlichen Beobachtung  der  geistigen  Vorgänge  des  Menschen, 
im  physiologischen  und  pathologischen  Zustand  —  überall  im  socialen 
Verkehr  wie  am  Krankenbett  und  am  Secirtisch  stossen  wir  auf  That- 
sachen,  die  eine  direkte  Abhängigkeit  der  geistigen  Vorgänge  von 
den  Entwicklungs-,  Ernährungs-  und  Funktionsverhältnissen  nicht  nur 
des  Gehirns,  sondern  des  gesammten  Körpers  erweisen. 

Als  das  Organ  der  psychischen  Thätigkeiten  im  engeren  Sinn 
weist  die  Physiologie  die  Rindenschicht  des  Grosshirns  nach.  Die 
Feinheit  dieses  Organs  spottet  jeglicher  Beschreibung.  Unzählige 
Fasern  und  Zellen  bildet  die  Werkstätte  der  geistigen  Verrichtungen, 
vermitteln  den  Verkehr  mit  den  entferntesten  Provinzen,  sämmtlichen 


Willensfreiheit.     Ergebnisse  der  Moralstatistik.  H 

Organen  des  Körpers ,  erfahren  aus  der  Aussenwelt  Eindrücke,  ver- 
arbeiten sie,  senden  wieder  Innervationen  und  Impulse  an  die  Pro- 
vinzen, In  diesem  Organ  sammeln  sich  aber  auch  alle  Eindrücke 
aus  dem  Körper,  bald  bloss  zu  dunklen  Empfindungen,  bald  zu  deut- 
lichen Wahrnehmungen,  Gedanken,  Gefühlen,  Affekten  sich  um- 
gestaltend. 

Diesem  Organ  kommt  die  Mannigfaltigkeit  der  psychischen 
Processe  zu,  deren  Resultat  die  sogenannte  menschliche  Freiheit  ist. 
Aus  der  Feinheit  der  Elemente  dieses  Organs,  aus  den  zahllosen 
Fäden,  die  es  mit  allen  andern  Organen  verknüpfen,  begreift  sich 
ohne  Weiteres  die  Schwierigkeit  der  Leistung,  wie  sie  der  Begriff 
der  Zurechnungsfähigkeit  enthält,  und  die  Häufigkeit  einer  Störung 
dieser  Leistung. 

Die  Ergebnisse  der  Naturwissenschaften  werden  wesentlich  ge- 
stützt durch  eine  erst  in  der  Neuzeit  cultivirte  sociale ,  nämlich  die 
Moralstatistik,  die  jene  Lehre  vom  freien  Willen,  die  den  Menschen 
so  schmeichelhaft  ist,  bedenklich  reducirt,  wenn  nicht  gar  ganz  ver- 
nichtet. 

Aus  den  statistischen  Untersuchungen  eines  Quetelet,  aus  den 
Arbeiten  von  Wagner,  Drobisch,  Oettingen  u.  A,  ergibt  sich  die 
bemerkenswerthe  Thatsache ,  dass  die  scheinbar  ganz  willkürlichen 
Han(Jlungen,  wie  z,  B.  Selbstmord,  Heirathen,  Verbrechen,  in  an- 
nähernd gleichen  Quoten  alljährlich  wiederkehren  und  statistisch  so 
gering  variiren,  dass  z.  B.  die  Zahl  der  Selbstmorde,  Heirathen,  Ver- 
brechen, ja  selbst  gewisser  Kategorieen  von  Verbrechen  für  das  künftige 
Jahr  annähernd  genau  vorausbestimmt  werden  kann. 

Wie  lässt  sich  diese  Gesetzmässigkeit  der  scheinbar  willkür- 
lichen Handlungen  mit  der  freien  Willensbestimmung  in  Einklang 
bringen,  wie  annehmen,  dass  diese  noch  zur  Geltung  komme,  wo 
thatsächlich  und  statistisch  nachweisbar  scheinbar  ganz  freie  Hand- 
lungen in  bestimmten  Procentsätzen  alljährlich  sich  wiederholen,  aber 
auch  mit  gewissen  gesellschaftlichen  und  äusseren,  dem  freien  Wollen 
des  Einzelnen  entzogenen  Bedingungen  zu-  oder  abnehmen. 

Damit  erscheint  das  Einzelindividuum  als  ein  Sklave  seiner 
Verhältnisse,  wesentlich  dreier  Faktoren:  seiner  ursprünglichen  orga- 
nischen Anlage,  seiner  Erziehung,  seiner  äusseren  Verhältnisse  und 
Lebensschicksale.  Nur  auf  Faktor  2  und  3  hat  es  Einfluss,  und  zwar 
einen  sehr  bedingten,  der  erste  ist  seiner  Willkür  entzogen,  dieser 
ist  aber  gerade  der  wichtigste.  Der  Wille  des  Einzelnen  erscheint 
nur    insofern    als   eine  Potenz  und  zur  Geltung  kommend,    als  er  im 


12  "      Cap.  I.    Willensfreiheit. 

Stande  ist,  gewisse  gesellschaftliche  Bedingungen,  sei  es  nach  der 
guten  oder  schlimmen  Seite  hin,  zu  beeinflussen  und  umzugestalten, 
an  der  Erziehung  der  Massen  theilzunehmen  und  die  Principien  der 
allgemeinen  Sittlichkeit  zur  eigenen  Erziehung  zu  verwerthen.  Nach 
der  sittlichen  Seite  hin  vermag  dies  das  Individuum  durch  Einfluss- 
nahme  auf  die  Verbesserung  der  Gresetzgebung,  der  ethischen  und 
intellektuellen  Ausbildung  seiner  Mitmenschen,  durch  sein  eigenes 
sittliches  Beispiel  in  Wort  und  That,  als  Haupt  der  Familie,  als 
Lehrer  der  Jugend  u.  s.  w. ,  nach  der  unsittlichen  Seite  hin  durch 
schlechtes  Beispiel,  Verführung,  Hingabe  an  Laster,  Prostitution  u.  s.  w. 

Die  eminente  Bedeutung  einer  die  Gesetze  der  Vererbung  be- 
rücksichtigenden Wahl  in  der  ehelichen  Verbindung,  einer  den  Ge- 
setzen der  Natur  conformen  Lebensführung  und  einer  den  Forderungen 
der  Sittlichkeit  entsprechenden  Selbsterziehung  und  Einflussnahme  auf 
die  Erziehung  Anderer  ergibt  sich  deutlich  aus  diesen  Thatsachen. 

Mehr  als  den  Mangel  einer  absoluten  Willensfreiheit  beweisen 
indessen  diese  Zahlen  der  Moralstatistik  nicht,  indem  sie  uns  den  be- 
dingenden Einfluss  von  gewissen  constanten  anthropologischen,  klima- 
tischen und  socialen  Faktoren  auf  die  Zahl  unserer  scheinbar  freien 
Handlungen  zeigen. 

Trotz  sich  gleichbleibender  übriger  Verhältnisse  erfahren  diese 
Zahlen  doch  auch  wieder  Veränderungen  und  werden  durc^  Be- 
dingungen abgeändert,  die  zum  Theil  wenigstens  als  der  Ausdruck 
eines  freien  Wollens  betrachtet  werden  müssen.  So  geschieht  es, 
dass  durch  Aenderungen  im  Cultur-  und  sonstigen  socialen  Leben,  die 
doch  offenbar  von  einem  überlegten  Wollen  der  Gesammtheit  aus- 
gehen, z.  B.  durch  Veränderungen  der  Gesetzgebung,  Verbesserungen 
der  Sittlichkeit  etc.  auch  die  Zahlen  der  Moralstatistik  abgeändert 
werden. 

Wir  können  diese  Erscheinung  dann  als  den  Ausdruck  eines 
gewissen  Quantums  freien  Willens  der  Gesammtheit  und  als  die 
Resultante  des  Zuwachses  an  individuellem  freiem  Willen  betrachten, 
insofern  als  durch  Besserung  der  Erziehung,  der  allgemeinen  Sittlich- 
keit u.  s.  w.  auch  die  ethischen  Motive  des  Individuums  gegenüber 
den  organischen  Antrieben  und  schädlichen  äusseren  gesellschaftlichen 
Einflüssen  gewinnen  und  erstarken  und  so  der  Einzelne  einen  Zuwachs 
an  sittlichem  Wollen  bekommt. 

Immer  wird  dieses  „freie"  Einzelnwollen  nur  ein  relatives  und, 
abgesehen  von  der  körperlichen  Organisation  des  Einzelnen,  wesentlich 
abhängig  sein  von  der  Stufe  der  sittlichen  Entwicklung,  die  der  Staat 


Cap.  II.    Zurechnung  und  Zurechnungstahigkeit.  13 

erreicht  hat,  dem  das  Individuum  angehört,  und  von  demjenigen  Mass 
von  Erziehung,  gutem  Beispiel  etc.,  dessen  dasselbe  theilhaftig  ge- 
macht worden  ist. 

Bei  dem  verschiedenen  Grad  der  Culturhöhe  und  ethischen  Ent- 
wicklungsstufe der  Völker  und  dem  individuell  verschiedenen  Grad, 
in  welchem  der  Einzelne  vermöge  seiner  Anlage  und  Erziehung  die 
Früchte  dieser  Cultur  assimilirt  hat,  werden  sich  unendlich  verschiedene 
Gradstufen  eines  freien  Wollens  ergeben.  Dass  dieses  immerhin  be- 
achtenswerthe  individuelle  Mass  sittlicher  Freiheit  sich  je  zur  Höhe 
einer  absoluten  erhebe,  ist  für  den,  welcher  die  Abhängigkeit  des 
Seelenlebens  von  körperlichen  organischen  und  äusseren  gesellschaft- 
lichen Bedingungen  zu  würdigen  weiss,  kaum  glaublich,  wenn  auch 
ein  Ideal  für  den  Einzelnen  wie  die  gesammte  Gesellschaft.  Aber 
die  Gesammtheit  als  Rechtsstaat  macht  auch  gar  keine  Anforderungen 
an  das  individuelle  Wollen  als  ein  absolut  freies,  sie  begnügt  sich 
mit  der  Forderung  eines  relativ  freien,  auf  die  Verpflichtung  des 
Individuums  bis  zu  einem  gewissen  von  der  Gesellschaft  als  Norm 
festgehaltenen  Grade  dem  Andrängen  der  organischen  egoistischen, 
die  Interessen  und  Rechtssphäre  der  Andern  verletzenden  Regungen 
zu  Gunsten  abstrakter,  vernünftiger,  dem  Sitten-  und  Staatsgesetz 
entsprechender  Grundsätze  erfolgreichen  Widerstand  entgegenzusetzen. 

Auf  diesem  Vermögen  beruht  die  bürgerliche  Selbstbestimmungs- 
fähigkeit, die  wieder  die  Voraussetzung  der  Zurechnungsfähigkeit,  der 
rechtlichen .  Verantwortlichkeit  und  damit  die  anthropologisch-psjcho'- 
logische  Grundlage  des  gesammten  Rechtsstaats  bildet. 


Cap.  II.    Zurechnung  und  Zurechnungsfähigkeit. 

Den  Zustand ,  in  dem  sich  Jemand  befindet ,  der  fähig  ist, 
zwischen  Begehung  und  Unterlassung  einer  strafrechtlich  als  Ver- 
brechen oder  Vergehen  bezeichneten  Handlung  zu  wählen,  sich  für 
dieselbe  zu  bestimmen,  nennt  die  Strafrechtswissenschaft  den  der 
Zurechnungsfähigkeit. 

Das  Urtheil,  dass  Jemand  in  solcher  psychischer  Verfassung  eine 
strafbare  Handlung  begangen  hat,  derselben  schuldig  sei,  dass  sie  ihm 
zurechenbar  sei,  ist  die  Zurechnung. 

Als  die  Bedingungen  der  Zurechnung  ergeben  sich:  1.  ein 
objektiver  Thatbestand,  eine  rechtswidrige  That  (der  blosse  Wille 
oder  Gedanke   ist  nicht   strafbar);   2.  ein   subjektiver  —  die  That 


14  Cap.  IL    Zurechnung  und  Zurechnungsfähigkeit. 

muss  a)  gewollt,  auf  den  Willen  eines  Thäters  beziehbar  sein 
(blosses  zufälliges  Zusammentreffen  von  Thaterfolg  und  Thäter  be- 
gründen keine  Strafbarkeit),  b)  in  dem  Wollen  des  Thäters  muss 
die  Möglichkeit  eines  Nichtwollens  der  That  zugleich  enthalten  ge- 
wesen sein  (Wahlfähigkeit). 

Die  Voraussetzungen  eines  solchen  (freien)  Wollens  als  Bedingung 
der  Zurechnungsfähigkeit  sind : 

a)  Das  Unterscheidungsvermögen  (libertas  judicii),  d.  h.  die  Fähig- 
keit eines  Individuums  die  Beschaffenheit,  Verhältnisse  und 
Folgen  seiner  Handlung  zu  erkennen.  Dasselbe  involvirt  die 
Erkenntniss  von  der  Nützlichkeit  und  Nothwendigkeit  einer  ge- 
setzlichen und  staatlichen  Ordnung  des  menschlichen  Zusammen- 
lebens, die  Kenntniss  der  Bedeutung  der  Gesetze  für  diesen 
Zweck,  die  Folgen  ihrer  Uebertretung  für  die  eigene  Person 
und  Gesellschaft. 
ß)  Die  Möglichkeit,  sich  für  Ausführung  oder  Unterlassung  einer 
That  auf  Grund  dieser  Motive  zu  entscheiden  (libertas  consilii). 
Die  libertas  judicii  setzt  einen  gewissen  Grad  von  Erfahrung, 
intellektueller  Ausbildung  und  Bildungsfähigkeit,  die  libertas 
consilii  eine  ungehinderte  Ideenassociation  und  eine  ungetrübte 
Besonnenheit  zur  jeweiligen  und  sofortigen  Geltendmachung  jener 
vom  Unterscheidungsvermögen  gelieferten  Motive  voraus.  Wo 
diese  psychologischen  Bedingungen  erfüllt  sind ,  da  besteht 
psychologische  Zurechnungsfähigkeit.  Sie  fällt  zusammen  mit 
der  juristischen,  bildet  ihre  Voraussetzung. 

lieber  die  criminalistische  Zurechnungsfähigkeit  hinaus  reicht  die  moralische. 

Sie  ist  gegeben,  sobald  ein  Individuum  im  Stand  ist,  nicht  bloss  aus 
logischen,  von  der  Intelligenz  gelieferten  Motiven  des  Nützlichen  und  Schäd- 
lichen, des  Erlaubten  und  Verbotenen  eine  Handlung  zu  begehen  oder  zu  unter- 
lassen, sondern  diese  Fähigkeit  durch  ihm  zu  Gebote;  stehende  Motive  der  Sitt- 
lichkeit besitzt. 

In  der  Regel  werden  beim  Culturmenschen  nicht  bloss  logische ,  sondern 
auch  ethische  Motive  im  Bewusstsein  vorhanden  sein  und  den  Erfolg  bestimmen. 
Streng  genommen  setzt  die  juristische  Zurechnung  nur  eine  volle  Einsicht  in  die 
strafrechtliche  Verantwortlichkeit  voraus,  indessen  wird  im  Culturstaat  und  beim 
Culturmenschen  ein  Fehlen  aller  ethischen  Motive  praktisch  und  erfahrungsgemäss 
gleichbedeutend  sein  mit  einem  pathologischen  Geisteszustand  (sogen,  moralisches 
Irresein)  oder  einer  verkümmerten  Erziehung  und  insofern  eine  Berücksichtigung 
(mildernde  Umstände)  verdienen. 

Jedenfalls  ist  die  moralische  Zurechnungsfähigkeit  eine  höhere  Stufe  der 
juristischen  und  setzt  auch  eine  höhere  Culturstufe  des  Individuums  voraus. 
Dass,  der  sie  Bietende    (wie    dies    eine    logische   Forderung   wäre)    nicht    höher 


Cap.  II.    Zurechnung  und  Zurechnungsfähigkeit.  15 

bestraft  wird,  als  der  im  blossen  Besitz  der  juristischen  Befindliche,  ergibt  sich 
aus  der  einfachen  Thatsache,  dass  das  Strafgesetz  praktisch  auf  Principien  der 
Zweckmässigkeit  und  Nützlichkeit  gebaut  ist  und  vom  Staatsbürger  nicht  höhere 
ethische,  sondern  bloss  intellektuelle  Reife  fordert,  nur  ein  Erkenntnissvermögen, 
das  zur  Höhe  eines  Strafbarkeitsbewusstseins  sich  erhebt. 

Ebendesshalb    ist    das    Gebiet    der    strafrechtlichen    Zurechnung    auch    ein 
enger  begränztes  als  das  der  moralischen,    die    vor    dem  Forum    des  Gewissens, 
der  Religion    und    der  Familie    nicht    bloss   Geschehenes,    das    vom  Richter  gar^ 
nicht  oder  nur  auf  Antrag  bedroht   ist,    sondern  auch  Gewolltes    und  Gedachtes 
verurtheilt. 

Die  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  macht  eine  nähere  Unter- 
suchung der  Bedingungen  und  der  Entwicklung  der  Zurechnungs- 
fähigkeit als  Zustandes  erforderlich: 

Sowohl  das  Strafbarkeitsbewusstsein  als  die  Fähigkeit,  sich  auf 
Grund  der  von  demselben  geltend  gemachten  Motive  für  die  Begehung 
oder  Unterlassung  der  Handlung  zu  bestimmen,  benöthigen  als  Vor- 
bedingung eine  gewisse  geistige  Reife  und  Entwicklungshöhe. 

Die  Erreichung  derselben  ist  nur  möglich  auf  Grund  einer  in- 
dividuellen Entwicklungsfähigkeit  und  einer  dem  Individuum  zu  Theil 
werdenden  Erziehung. 

Die  erstere  setzt  ein  von  Geburt  aus  normales  Gehirn ,  sowie 
die  Abwesenheit  von  die  Entwicklung  desselben  störenden  Bedingungen 
voraus. 

Die  Entwicklung  des  Seelenlebens  ist  eine  stufen-,  nicht  sprung- 
weise. Sie  geht  Hand  in  Hand  mit  der  fortschreitenden  Ausbildung 
des  Grosshirns,  namentlich  seiner  Oberfläche. 

Die  auf  Sinneseindrücke  und  sinnhche  Regungen  des  kleinen 
Kindes  erfolgenden  Thätigkeitsäusserungen  stellen  noch  kein  Wollen 
dar,  so  wenig  als  die  triebartigen  des  Thieres. 

Erst  dadurch,  dass  sich  aus  den  einwirkenden  Empfindungs- 
eindrücken durch  Verschmelzung  gleichartiger  und  Differenzirung  un- 
gleichartiger allmälig  sinnliche  Vorstellungen  bilden,  die  sich  von 
der  sinnlichen  Quelle  immer  mehr  los  machen,  zu  allgemeinen  Vor- 
stellungen, Begriffen,  Urtheilen  und  Schlüssen  verarbeiten,  entwickeln 
sich  die  Elemente  eines  intellektuellen  Lebens. 

An  die  Stelle  blosser  Sinnesempfindungen  treten  Vorstellungen. 
Das  Bewusstsein  der  körperlichen  Einheit,  wie  es  durch  Gefühls- 
Tastempfindungen  und  Organgefühle  geschaffen  wird,  führt  zu  einer 
Vereinigung  derselben  innerhalb  dieses  Bewusstseins  der  körperlichen 
Einheit,  zu  einem  „Ich",  dass  sich  nun  der  Aussenwelt  und  jeder 
neu  aus  dieser  hereintretenden  Sinneserregung  gegenüberstellt.    Diese 


15  Cap.  II.    Zurechnung  und  Zurechnungsfälligkeit. 

Abgräbfeung  des  Ich  von  der  Aussenwelt  (seine  DifFerenzirung  in  ein 
Selbst-  und  ein  Weltbewusstsein)  ist  anfangs  noch  eine  unvollkom- 
mene, das  Kind  betrachtet  sich  noch  als  ein  Objekt  und  spricht  vor- 
erst von  sich  in  der  dritten  Person.  Sein  Eintreten  in  die  Phase  des 
Selbstbewusstseins  bezeichnet  der  Moment,  wo  es  von  sich  in  der 
ersten  spricht. 

Mit  der  Ausbildung  von  Vorstellungen  haben  sich  auch  dem 
Bewusstsein  die  Anschauungen  des  Erfolgs  früherer  Bewegungen  ein- 
verleibt, während  gleichzeitig  der  zu  complicirten  Muskelleistungen 
befähigende  Coordinationsapparat  durch  Uebung  an  Leistungsfähigkeit 
gewonnen  hat. 

Insoferne  die  im  Bewusstsein  auftretenden  Vorstellungen  sich 
mit  Bewegungsanschauungen  verbinden,  ist  eine  höhere  Stufe  in  der 
psychomotorischen  Seite  des  Seelenlebens  erreicht,  als  sie  das  Kind 
in  den  ersten  Lebensmonaten  darbot,  dem  bloss  sinnliche  Empfin- 
dungen und  Gefühle  den  Impuls  zu  seinem  triebartigen  Bewegen  bisher 
verliehen. 

Das  Kind  besitzt  nun  die  Möglichkeit  eines  WoUens,  insoferne 
dasselbe  ein  bewusstes  Begehren  mit  unbedingter  Erreichbarkeit  ist 
und  mit  den  ersten  Erfolgen  ist  auch  wirklich  ein  Wollen  gegeben. 
Aber  dieses  Wollen  ist  noch  lange  kein  freies,  es  ist  höchstens 
ein  zwangsmässiges.  Das  Kind  kann  nur  nach  einer  Richtung  han- 
deln, nämlich  im  Sinn  der  dem  Handeln  den  Impuls  gebenden  Vor- 
stellung. 

Allmälig  erweitert  sich  der  Vorstellungskreis,  das  Kind  macht 
Erfahrungen,  manche  Handlungen  machen  ihm  Schmerz  oder  andere 
üble  Folgen,  es  lernt  an  der  Hand  des  Unterrichts  und  des  Beispiels 
verschiedene  Arten  von  Wollen  und  deren  Motive  kennen,  es  erwirbt 
sich  allgemeine  Begriffe  von  der  Nützlichkeit,  Erlaubtheit  concreter 
Willensbestrebungen. 

Auf  dieser  Stufe  der  geistigen  Entwicklung  schlagen  die  in  den 
Vorstellungen  enthaltenen  Motive  nicht  mehr  unmittelbar  in  Bewe- 
gungen, Handlungen  um,  es  kommt  zu  einer  Mehrheit  von  Motiven 
und  damit  zur  Möglichkeit  eines  Nichtwollens  —  durch  hemmende 
contrastirende ,  controlirende  Vorstellungen.  Das  Auftreten  dieser 
Gegenvorstellungen  vermittelt  die  Ideenassociation ;  durch  sie  ist  die 
Möglichkeit  einer  Wahl,  d.  h.  einer  vernünftigen  Prüfung  und  Werth- 
schätzung  der  verschiedenen  möglichen  Arten  von  Wollen  je  nach 
der  Nützlichkeit,  Erlaubtheit  ihrer  Motive  mit  Bevorzugung  des  am 
meisten  gebilligten  gegeben. 


Cap.  III.    Die  Zureclinungsfähigkeit  im  concreten  Fall.  17 

Je  nach  dem  Reichthum  und  der  Klarheit  dieser  in  allgemeinen 
intellektuellen,  rechtlichen  und  ethischen  Vorstellungen  wurzelnden 
Motive,  je  nach  der  Leichtigkeit,  mit  der  jene  im  Bewusstsein  an- 
geregt werden,  ergeben  sich  unendlich  viele  Abstufungen  eines  sich 
selbst  bestimmenden  Wollens,  deren  Höhe  von  der  originären  Anlage, 
nicht  minder  aber  von  der  durch  Erziehung  vermittelten  Uebung  in 
ihrer  Geltendmachung  abhängt. 

Die  Rechtswissenschaft  hat  kein  praktisches  Interesse  an  einer 
feineren  Abstufung  jener  verschiedenen  Arten  von  Wollen,  sie  be- 
schränkt sich  auf  diejenige  Höhe  desselben,  wo  eine  Mehrheit  von 
Motiven,  die  sich  auf  die  Nützlichkeit,  Strafbarkeit  etc.  einer  inten- 
dirten  Handlung  beziehen,  dem  Individuum  zu  Gebot  steht  und  es 
befähigt,  zwischen  Begehung  und  Unterlassung  auf  Grund  jener  Motive 
zu  wählen. 

In  den  Gesetzbüchern  der  verschiedenen  Nationen  ist  ein  be- 
stimmter Alterstermin  festgesetzt,  von  welchem  an  diese  Reife  der 
geistigen  Entwicklung  vom  Individuum  vermuthet  wird. 


Cap.  III.    Die  Zurechnungsfähigkeit  im  concreten  Tall.  — 
Allgemeine  rechtliche  Grundsätze. 

Literatur.  Löifler,  deutsche  Klinik.  1869.  Nr.  41.  Meyer,  Archiv  f.  Psychiatrie. 
II.  H.  2.  Gutachten  der  Berlin,  med.  psj^chol.  Gesellschaft  ebenda  H.  2. 
Jessen,  über  Zurechnungsfähigkeit.  Kiel  1870.  Frese,  Allg.  Zeitschr.  f.  Psych. 
1870.  H.  1  u.  2.  V.  Rönne,  die  criminalist.  Zurechnungsf.  Berlin  1870.  Neu- 
mann, psychol.  Reflexionen  etc.  Oppeln  1870.  Ambrosoli,  Archiv,  italiano  per 
le  malatie  nervös.  1870.  Januar.  Livi,  Rivista  sperimentale.  1877.  Januar. 
Miraglia,  sulla  procedura  nei  giudizii  etc.  Napoli  1870.  Mittermaier,  Fried- 
reich's  Blätter.  1866.  1.  4.  5.  1867.  1.  3.  Brierre,  Joui-n.  of  mental  science. 
1869.  October. 

Gesetzl.  Bestimmungen.  Deutsche  St.-P.-O.  §.  203:  Vorläufige  Einstellung 
des  Verfahrens  kann  beschlossen  werden,  wenn  dem  weiteren  Verfahren 
Abwesenheit  des  Angeschuldigten  oder  der  Umstand  entgegen  steht,  dass 
derselbe  nach  der  That  in  Geisteskrankheit  verfallen  ist. 

§.  485 :  An  schwangeren  oder  geisteskranken  Personen  darf  ein  Todes- 
urtheil  nicht  vollstreckt  werden. 

§.  487 :  Die  Vollstreckung  einer  Freiheitsstrafe  ist  aufzuschieben ,  wenn 
der  Verurtheilte  in  Geisteskrankheit  verfällt. 

§.  493 :  Ist  der  Verurtheilte  nach  Beginn  der  Strafvollstreckung  wegen 
Krankheit  in  eine  von  der  Strafanstalt  getrennte  Krankenanstalt  gebracht 
worden,  so  ist  die  Dauer  des  Aufenthalts  in  der  Krankenanstalt  in  die 
Strafzeit  einzurechnen. 

V.  Krafft-Ebiug,  gerichtl.  P.sycliopatliologie.    2.  Auflage.  2 


\Q  Cap.  III.    Die  Ziirechnungsfähigkeit  im  concreten  Fall. 

Oesterr.  St.-P.-O.  §.  398:  Wenn  der  zum  Tode  oder  zu  einer  Freiheits- 
strafe Verurth eilte  zur  Zeit,  wo  das  Straturth.eil  in  Vollzug  gesetzt  werden 
soll,  geisteskrank  oder  körperlich  schwer  krank  ist,  hat  die  Vollziehung  so 
lange  zu  unterbleiben,  bis  dieser  Zustand  aufgehört  hat. 

Der  Gesetzgeber  vermuthet  die  Zurechnungsfähigkeit  von  einem 
gegebenen  Lebensabschnitt  an,  aber  diese  Vermuthung  involvirt  nicht 
eine  Präsumption  für  den  concreten  Fall.  Die  Frage  der  Zurechnungs- 
fähigkeit in  diesem  ist  eine  conditio  sine  qua  non  der  Schuldfrage 
überhaupt,  der  wesentliche  Bestandtheil  des  subjektiven  Thatbestandes. 
Das  Urtheil,  dass  Jemand  schuldig  sei,  enthält  implicite  den  Ausspruch 
der  Z.fähigkeit,  wesshalb  auch  im  schwurgerichtlichen  Verfahren,  falls 
die  Geschwornen  an  der  Willensfreiheit  des  Thäters  zweifeln,  von 
ihnen  die  richterlicherseits  gestellte  Frage,  ob  der  Thäter  schuldig 
sei,  einfach  zu  verneinen  ist.  Selbst  wenn  eine  solche  specielle  Frage 
nicht  gestellt  wäre,  sind  sie  berechtigt,  die  Schuldfrage  zu  ver- 
neinen, wenn  nach  ihrer  Ueberzeugung  die  Z.fähigkeit  als  Grund- 
lage und  Voraussetzung  aller  Schuld  fehlen  sollte.  Die  Beurtheilung 
der  Z.fähigkeit  als  ein  integrirender  Bestandtheil  des  Thatbestandes 
kann  selbstverständlich  nur  den  Geschworenen  oder  dem  Richter 
zufallen. 

Da  die  Frage  der  Z.fähigkeit  eine  concrete  und  Theilfrage  des 
Thatbestandes,  somit  offene  ist,  eine  Präsumption  nicht  zulässig  sich 
erweist,  kann  vom  Angeklagten  nicht  verlangt  werden,  dass  er  seine 
Unzurechnungsfähigkeit  beweise,  ebensowenig  billigerweise  sein  eigener 
oder  seines  Rechtsbeistandes  Antrag  auf  Stellung  der  Frage  nach  der 
Z.fähigkeit  abgewiesen  werden. 

Es  ist  dies  eine  Forderung  der  Humanität  und  Gerechtigkeit, 
wenn  sich  auch  nicht  verkennen  lässt,  dass  dieses  beliebte  Auskunfts- 
mittel zuweilen  missbräuchlich  von  der  Vertheidigung  in  verzweifelten 
Fällen  angewendet  wird.  Die  Zulässigkeit  dieser  Fragestellung  von 
dem  subjektiven  Ermessen  des  Gerichtshofes,  die  sich  auf  allenfalls  in 
der  Voruntersuchung  oder  Hauptverhandlung  hervorgetretene  Indicien 
gründet,  abhängen  zu  lassen,  ist  ungerecht  und  gefährlich.  Die  Er- 
fahrung lehrt,  dass  nur  zu  häufig  unfreie  Geisteszustände  auf  Grund 
leichtsinniger  Voreingenommenheit  oder  Unwissenheit  der  Richter  über- 
sehen werden.  Es  ist  jedenfalls  besser,  dass  eine  Gerichtsverhandlung 
in  die  Länge  gezogen,  als  dass  ein  Unschuldiger  bestraft  werde.  Es 
wird  Sache  des  Gerichtshofs  sein,  eine  vorgeschützte  Geistesunfreiheit 
auf  Grund  ungenügender  oder  fälschlicher  Annahmen  zurückzuweisen, 
nicht  aber  vom  Standpunkte  einer  bequemen,  aber  höchst  unsicheren 


Allgemeine  rechtliche  Grundsätze.     Verhandlungstahigkeit.  \Q 

Präsumption  der  Z.fähigkeit  der  Vertheidigung  die  Stellung  der  Frage 
überhaupt  zu  versagen. 

Die  Formulirung  derselben ,  ob  N,  N.  z.  B.  in  krankhafter 
Störung  der  Geistesthätigkeit  oder  in  Bewusstlosigkeit  zur  Zeit  der 
That  sich  befunden  habe^  ist  natürlich  Sache  des  Gerichtshofs. 

Der  Mangel  der  freien  Willensbestimmung  zur  Zeit  der  straf- 
baren Handlung  hebt  die  Zurechnung  auf  und  bildet  einen  Straf- 
ausschliessungsgrund.  Dieser  Mangel  muss  erwiesen  und  vom  Richter 
erkannt  sein.  Blosse  Indicien,  so  lange  sie  nicht  eine  richterliche 
Ueberzeugung  herbeiführen^  genügen  nicht  zur  Freisprechung,  jedoch 
dürfte  es  aber  dann  geboten  sein,  die  Schlussverhandlung  zu  vertagen 
um  damit  Zeit  zur  ferneren  Beobachtung  des  Angeklagten  zu  ge- 
winnen. Hat  der  Untersuchungsrichter  sich  die  Ueberzeugung  ver- 
schafft, dass  der  Angeschuldete  zur  Zeit  seiner  That  im  Zustand 
aufgehobener  Willensfreiheit  sich  befunden  habe,  so  ist  er  befugt, 
die  Untersuchung  wegen  mangelnder  Z.fähigkeit  einzustellen.  Der 
Betreffende  ist  dann  kein  Objekt  der  Strafrechtspflege  mehr,  wohl 
aber  kann  polizeilich  die  Frage  erhoben  werden,  ob  er  aus  Gründen 
der  Gemeingefährlichkeit  Gegenstand  öffentlicher  Fürsorge  sein  muss. 
Sehr  häufig  geschieht  es  jedoch,  dass  erst  dann,  wenn  die  Vorunter- 
suchung geschlossen  und  der  Verweisungsbeschluss  erfolgt  ist,  sich 
Zweifel  über  die  Z.fähigkeit  des  nunmehr  Angeklagten  erheben.  Da 
die  Anklage  einmal  erhoben  ist,  muss  nach  formellen  rechtlichen 
Anschauungen  der  Rechtsfall  zum  Austrag  kommen.  Zu  der  Frage 
nach  der  Z.fähigkeit  zur  Zeit  der  strafbaren  That  kommt  nun  die 
weitere,  ob  der  gegenwärtige  Geisteszustand  des  Angeklagten  derart 
sei,  dass  mit  ihm  verhandelt  werden  könne. 

Eine  Verhandlungsfähigkeit  in  psychischer  Beziehung  kann  nur 
Demjenigen  zugesprochen  werden,  der  sich  vertheidigen  kann.  Eine 
solche  Fähigkeit  setzt  nothwendig  das  Bewusstsein  der  Handlung, 
ihrer  Strafbarkeit,  die  Kenntniss  der  Rechtsmittel  und  Rechtswohl- 
thaten  voraus  und  dürfte  nur  in  den  seltensten  Fällen  Jemand  zuzu- 
erkennen sein,  der  sich  noch  unter  der  Fortwirkung  von  Bedingungen 
befindet,  die  zur  Zeit  seiner  That  ihm  die  Freiheit  der  Willens- 
bestimmung raubten. 

Wird  die  Frage  der  Verhandlungsfähigkeit,  die  natürlich  nur 
auf  Grund  einer  technischen  Untersuchung  beantwortet  werden  kann, 
verneint  oder  verfällt  der  Angeklagte  erst  während  der  Verhandlung 
in  einen  Zustand  geistiger  Unfreiheit,  so  wird  jene  vertagt  und  der 
Kranke  in  einer  Irrenanstalt  bis  zu  seiner  Herstellung  internirt. 


20  Cap.  IV.    Stellung  und  Aufgabe  -des 

Häufig  genug  sind  die  subjektiven  Momente  des  Thatbestandes 
so  beschafi'en,  dass  zwar  die  Voraussetzungen  der  Z.fähigkeit  nicht 
gerade  fehlen,  aber  doch  äussere  gesellschaftliche  (fehlende  oder 
schlechte  Erziehung) .  oder  innere  (organische)  Bedingungen  obwalten, 
welche  die  freie  Selbstbestimmung  beeinträchtigten  und  damit  die 
Schuld  minderten.  Unter  den  organischen  können  es  angeborene  oder 
erworbene  psychische  Schwächezustände ,  in  erblicher  Anlage  be- 
gründete Anomalien  des  Charakters  u.  s.  w.  sein,  die  das  Gewicht 
unsittlicher  Antriebe  vermehrten,  die  Widerstandskraft  schwächten, 
ungewöhnlich  starke  Afi'ekte  und  Leidenschaften  provocirten,  die  Klar- 
heit und  Besonnenheit  der  Beurtheilung  trübten. 

Die  frühere  Gesetzgebung  suchte  solchen  zahlreichen  Fällen 
durch  die  Lehre  einer  verminderten  Zurechnung  gerecht  zu  werden, 
die  neuere  durch  die  logischer  gedachte  Annahme  von  mildernden 
Umständen,  die  nur  leider  das  deutsche  Strafgesetz  nicht  bei  allen 
Vergehen  und  Verbrechen  (Mord!)  zulässt. 


Cap.  IV.     Stellung  und  Aufgabe  des  ärztlichen  Technikers 
im  Criminalforum. 

Literatur.  Henke,  Abhandl.  II.  p.  273.  Friedreich,  Lehrb.  d.  gerichtl.  Psychol. 
3.  Aufl.  p.  64.  Schlager,  Oesterr.  Zeitschr.  f.  prakt.  Heilkde.  1867.  Nr.  12—14. 
Flemming,  Psychosen,  p.  437.  Mittermaier,  Friedreich's  Blätter.  1873.  H.  3. 
Griesinger,  Archiv  f.  Psychiatrie.  1869.  I.  Liman,  ebenda.  1868.  I.  Eastwood 
Journal  of  mental  science.  1869.  April.  Mundy,  Oesterr.  Zeitschr.  f.  prakt. 
Heilkde.  1868.  Nr.  4—21.  Zippe,  Wiener  med.  Presse.  1873.  Nr.  51.  52. 
Livi,  Rivista  sperimentale.  1875.  Carrara,  ebenda.  1875.  Verga,  i  medici 
alienisti  e  i  corti  d'assise,  Milano  1873. 

Gesetzl.  Bestimmungen.  Deutsche  St.-P.-O.  §.  73:  Die  Auswahl  der  zuzu- 
ziehenden Sachverständigen  und  die  Bestimmung  ihrer  Anzahl  erfolgt  durch 
den  Richter. 

§.  74:  (Ablehnung  der  Sachverständigen.)  Das  Ablehnungsrecht  steht 
der  Staatsanwaltschaft,  dem  Privatkläger  und  dem  Beschuldigten  zu.  Der 
Ablehnungsgrund  ist  glaubhaft  zu  ntiachen. 

§.  78 :  Der  Richter  hat ,  soweit  ihm  dies  erforderlich  erscheint ,  die 
Thätigkeit  der  Sachverständigen  zu  leiten. 

§.  80 :  Dem  Sachverständigen  kann  auf  sein  Verlangen  zur  Vorbereitung 
des  Gutachtens  durch  Vernehmung  von  Zeugen  oder  des  Beschuldigten  weitere 
Aufklärung  verschafft  werden. 

Zu  demselben  Zwecke  kann  ihm  gestattet  werden,,  die  Akten  einzusehen, 
der  Vernehmung  von  Zeugen  oder  des  Beschuldigten  beizuwohnen  und  an 
dieselben  unmittelbare  Fragen  zu  stellen. 


ärztlichen  Technikers  im  Criminalforum.  21 

§.  81 :  Zur  Vorbereitung  eines  Gutaclitens  über  den  Geisteszustand  des 
Angeschuldigten  kann  das  Gericht  auf  Antrag  eines  Sachverständigen  nach 
Anhörung  des  Vertheidigers  anordnen,  dass  der  Angeschuldigte  in  eine  öffent- 
liche Irrenanstalt  gebracht  und  dort  beobachtet  werde.  Dem  Angeschuldigten, 
welcher  einen  Vertheidiger  nicht  hat,  ist  ein  solcher  zu  bestellen.  Gegen 
den  Beschluss  findet  sofortige  Beschwerde  statt.  Dieselbe  hat  aufschiebende 
Wirkung.  Die  Verwahrung  in  der  Anstalt  darf  die  Dauer  von  sechs  Wochen 
nicht  übersteigen. 

§.  82:  Im  Vorverfahren  hängt  es  von  der  Anordnung  des  Richters  ab, 
ob  die  Sachverständigen  ihr  Gutachten  schriftlicli  oder  mündlich  zu  erstatten 
haben. 

§.  83:  Der  Richter  kann  eine  neue  Begutachtung  durch  dieselben  oder 
durch  andere  Sachverständige  anordnen,  wenn  er  das  Gutachten  für  unge- 
nügend erachtet.  Der  Richter  kann  die  Begutachtung  durch  einen  anderen 
Sachverständigen  anordnen,  wenn  ein  Sachverständiger  nach  Erstattung  des 
Gutachtens  mit  Erfolg  abgelehnt  ist.  In  wichtigen  Fällen  kann  das  Gutachten 
einer  Fachbehörde  eingeholt  werden. 

§.  238 :  (Kreuzverhör.)  Die  Vernehniung  der  von  der  Staatsanwaltschaft 
und  dem  Angeklagten  benannten  Zeugen  und  Sachverständigen  ist  der  Staats- 
anwaltschaft und  dem  Vertheidiger  auf  deren  übereinstimmenden  Antrag  von 
dem  Vorsitzenden  zu  überlassen.  Bei  den  von  der  Staatsanwaltschaft  be- 
nannten Zeugen  und  Sachverständigen  hat  diese,  bei  den  von  dem  Angeklagten 
benannten  der  Vertheidiger  in  erster  Reihe  das  Recht  zur  Vernehmung. 

Der  Vorsitzende  hat  auch  nach  dieser  Vernehmung  die  ihm  zur  weiteren 
Aufklärung  der  Sache  erforderlich  scheinenden  Fragen  an  die  Zeugen  imd 
Sachverständigen  zu  richten. 

(Nach  §.  220  kann  der  Vorsitzende  des  Gerichts  auch  von  Amtswegen 
die  Ladung  von  Zeugen  und  Sachverständigen  anordnen,  dann  ist  aber  das 
Kreuzverhör  nicht  gestattet.  Die  Vernehmung  dieser  Zeugen  und  Sachver- 
ständigen steht  nur  dem  Vorsitzenden  zu.  Auch  wo  ein  Vertheidiger  nicht- 
auftritt,  ist  das  Kreuzverhör  ausgeschlossen.) 

§.  239:  Der  Vorsitzende  hat  den  beisitzenden  Richtern  auf  Verlangen 
zu  gestatten,  Fragen  an  die  Zeugen  und  Sachverständigen  zu  stellen. 

Dasselbe  hat  der  Vorsitzende  der  Staatsanwaltschaft  dem  Angeklagten 
und  dem  Vertheidiger,    sowie  den  Geschworenen  und  Schöffen  zu  gestatten. 

Oesterr.  St.-P.-O.  §.  134:  Bestehen  Zweifel  darüber,  ob  der  Beschuldigte 
den  Gebrauch  seiner  Vernunft  besitze  oder  ob  er  an  einer  Geistesstörung  leide, 
wodurch  die  Zurechnungsfähigkeit  desselben  aufgehoben  sein  könnte,  so  ist  die 
Untersuchung  des  Geistes-  und  Gemüthszustands  des  Beschuldigten  jederzeit 
durch  zwei  Aerzte  zu  veranlassen.  Dieselben  haben  über  das  Ergebniss  ihrer 
Beobachtungen  Bericht  zu  erstatten,  alle  für  die  Beurtheilung  des  Geistes-  und 
Gemüthszustands  des  Beschuldigten  einflussreichen  Thatsachen  zusammenzu- 
stellen, sie  nach  ihrer  Bedeutung  sowohl  einzeln  als  im  Zusammenhang  zu 
prüfen,  und  falls  sie  eine  Geistesstörung  als  vorhanden  betrachten,  die  Natur 
der  Krankheit,  die  Art  und  den  Grad  derselben  zu  bestimmen  und  sich  so- 
wohl nach  den  Akten  als  nach  ihrer  eigenen  Beobachtung  über  den  Einlluss 
auszusprechen,  welchen  die  Krankheit  auf  die  Vorstellungen,  Triebe  und 
Handlungen  des  Beschuldigten  geäussert  habe  und  noch  äussere  und  ob  und 


22  Cap.  IV.    Stellung  und  Aufgabe  des 

in  welchem  Masse  dieser  getrübte  Geisteszustand  zur  Zeit  der  begangenen 
Tkat  bestanden  liabe. 

§.  119:  Die  Wahl  der  Sachverständigen  steht  dem  Untersuchungsrichter 
zu.  Sind  solche  für  ein  bestimmtes  Fach  bei  dem  Gericht  bleibend  angestellt, 
so  soll  er  andere  nur  dann  zuziehen,  wenn  Gefahr  am  Verzuge  haftet  oder 
wenn  jene  durch  besondere  Verhältnisse  abgehalten  sind,  oder  in  dem  ein- 
zelnen Falle  als  bedenklich  erscheinen. 

§.  123:  .....  Die  Sachverständigen  können  verlangen,  dass  ihnen 
aus  den  Akten  oder  durch  Vernehmung  von  Zeugen  jene  Aufklärungen  über 
bestimmt  von  ihnen  zu  bezeichnende  Punkte  gegeben  werden,  welche  sie  füi- 
das  abzugebende  Gutachten  für  erforderlich  erachten.  Wenn  den  Sachver- 
ständigen zur  Abgabe  eines  gründlichen  Gutachtens  die  Einsicht  der  Unter- 
suchungsakten unerlässlich  erscheint,  können  ihnen,  soweit  nicht  besondere 
Bedenken  dagegen  obwalten,  auch  die  Akten  selbst  mitgetheilt  werden. 

§.  126:  Ergeben  sich  solche  Widersprüche  oder  Mängel  in  Bezug  auf 
das  Gutachten  oder  zeigt  sich,  dass  es  Schlüsse  enthält,  welche  aus  den 
angegebenen  Vordersätzen  nicht  folgerichtig  gezogen  sind,  und  lassen  sich 
die  Bedenken  nicht  durch  eine  nochmalige  Verständigung  der  Sachverstän- 
digen beseitigen,  so  ist  das  Gutachten  eines  anderen  oder  mehrerer  anderen 
Sachverständigen  einzuholen. 

Sind  die  Sachverständigen  Aerzte  oder  Chemiker,  so  kann  in  solchen 
Fällen  das  Gutachten  einer  medicinischen  Fakultät  der  im  Reichsrath  ver- 
tretenen Länder  eingeholt  werden.  Dasselbe  geschieht,  wenn  die  Rathskammer 
die  Einholung  eines  Fakultätsgutachtens  wegen  der  Wichtigkeit  oder  Schwie- 
rigkeit des  Falls  nöthig  findet. 

In  einer  Reihe  von  Fällen,  wo  die  Zurechnung  auf  Grund  äusse- 
rer Bedingungen  (physische  Gewalt,  Drohung,  Nothstand)  entfällt 
oder  die  Schuld  durch  mildernde  Umstände  (fehlende  oder  schlechte 
Erziehung,  jugendliches  Alter)  gemindert  wird,  benützt  der  Richter 
der  Thatfrage  das  Gewicht  dieser  psychologischen  Momente  für  die 
Bestimmung  von  Schuld  und  Strafe. 

In  den  äusserst  häufigen  Fällen  dagegen,  wo  die  freie  Willens- 
bestimmung durch  innere  organische  Momente  in  Frage  gestellt  er- 
scheint, bedarf  er  zur  Ermittlung  des  subjektiven  Thatbestandes  der 
Mitwirkung  des  ärztlichen  Technikers.  Die  Erkenntniss,  dass  diese 
inneren  organischen  Momente  gleichbedeutend  sind  mit  krankhaften 
Zuständen  des  Gehirns,  fordert  logischerweise  diese  Intervention  des 
ärztlichen  Sachverständigen. 

Recht  und  Pflicht  der  Medicin  in  solchen  Fragen  zweifelhafter 
geistiger  Gesundheit  ihr  Votum  abzugeben  ist  von  der  heutigen  Ge- 
setzgebung anerkannt  und  geregelt. 

Der  ärztliche  Sachverständige  ist  bei  der  Erfüllung  dieser  Auf- 
gabe  weder  Zeuge  noch  Gehilfe   des  Richters.     Er  ist  nicht  Zeuge, 


ärztlichen  Technikers  im  Criminalforum.  23 

da  er  nicht  bloss  Sinneswahrnehmungen  berichtet,  sondern  aus  einer 
Reihe  solcher  Thatsachen  wissenschaftliche  Schlüsse  zieht  und  den 
Richter  über  die  Bedeutung  jener  belehrt.  Er  ist  nicht  Gehilfe  des 
Richters,  da  er  weder  die  Schuld  noch  die  Strafe  der  Angeklagten 
mit  zu  ermessen  hat. 

Nicht  Zurechnungsfäh  igkeit  noch  Willensfreiheit, 
sondern  die  Feststellung  der  Geistesgesundheit  oder 
Krankheit  durch  eine  wissenschaftliche  Untersuchung  ist 
seine  Aufgabe. 

Als  subjektives  Erforderniss  für  eine  befriedigende  Expertise  er- 
gibt sich  die  eigentlich  selbstverständliche  aber  in  praxi  keineswegs 
immer  erfüllte  Forderung  einer  gründlichen  psychiatrischen  Bildung 
des  Experten.  Dank  der  bedauerlichen  Vernachlässigung  des  psychia- 
trischen Studiums  auf  Universitäten  besitzt  diese  Ausbildung  nicht 
jeder  Gerichtsarzt.  Nur  das  längere  Studium  der  Psychiatrie  in  der 
Irrenanstalt  oder  psychiatrischen  Klinik  vermag  sie  zu  verschaffen. 
Theoretisches  Studium  reicht  bei  einer  so  eminent  praktischen  und 
auf  Beobachtung  gegründeten  Wissenschaft  wie  sie  die  gerichtliche 
Psychopathologie  darstellt,  nicht  aus. 

Als  objektive  Erfordernisse  ergeben  sich  genügende  Zeit,  passen- 
der Ort  und  ausreichende  Mittel  für  die  Beobachtung  des  zweifelhaften 
Geisteszustands.  Die  Forderung  ausreichender  Zeit  ist  durch  die 
meist  erforderliche  Umfänglichkeit  der  Vorerhebungen  über  die  Per- 
son des  Exploranden,  die  in  der  Regel  in  ganz  ungenügender  Weise 
auf  dessen  Leumund  und  etwaige  Vorbestrafungen  sich  beschränken 
und  die  anthropologische  Seite  der  Persönlichkeit  unerörtert  Hessen, 
motivirt ;  nicht  minder  durch  die  Häufigkeit  zeitweiser  Latenz  des 
Irreseins,  durch  periodische  Wiederkehr  von  Anfällen,  durch  die 
Möglichkeit  von  Simulation,  Dissimulation  etc.  Es  können  Monate  erfor- 
derlich sein,  bis  der  Experte  im  Stande  ist,  ein  entscheidendes  Gut- 
achten abzugeben.  Nur  selten  und  bei  gut  charakterisirten  Formen 
von  Irrsein  wird  ein  solches     prima  vista  möglich  werden. 

Ein  einsichtsvoller  Richter  wird  diese  im  Gegenstand  der  Unter- 
suchung begründeten  Schwierigkeiten  begreifen,  den  Techniker  nicht 
drängen,  einer  weiteren  Beobachtungszeit  und  eventuellen  Ueber- 
führung  des  zu  Beobachtenden  in  ein  geeignetes  Lokal  (Irrenanstalt, 
Krankenhaus)  sich  nicht  widersetzen.  Ganz  zu  missbilligen  ist  die 
Berufung  des  Sachverständigen  erst  im  Lauf  der  Hauptverhandlung 
und  die  Forderung,  dass  er  sein  Gutachten  erst  im  Termin,  ohne 
Keuntniss  der  Lebensgeschichte  und  Vorakten  abgebe. 


24  Cap.  IV.    Stellung  und  Aufgabe  des 

Aerzte,  die  auf  ein  solches  Verlangen  eingehen,  handeln  unvor- 
sichtig. Es  ist  jedenfalls  ehrenvoller  in  solchem  Falle  sein  Parere 
in  suspenso  zu  lassen  und  fernere  Beobachtung  und  Vertagung  ver- 
langen als  durch  ein  Apercu  glänzen  zu  wollen.  Der  Fall  Chorinsky 
liefert  hiefür  ein  warnendes  Beispiel. 

Nicht  minder  wichtig  erscheint  ein  passender  Ort  für  die  Beob- 
achtung. In  schwierigeren  Fällen  (Simulation,  Dissimulation,  Er- 
mittlung epileptischer  Anfälle  u.  s.  w.)  wo  eine  unausgesetzte  Beob- 
achtung und  zwar  durch  Geübte  erforderlich  ist,  wird  die  Abgabe 
in  ein  Spital  oder  in  eine  Irrenanstalt  nicht  zu  umgehen  sein.  Die 
deutsche  St.-P.-O.  (§.  81)  hat  diese  letztere  vorgesehen.  Ob  aber 
für  alle  Fälle  die  gesetzlich  zulässige  Beobachtungsfrist  von  6  Wochen 
ausreicht,  muss  die  Erfahrung  lehren. 

Die  Hilfsmittel  zur  Beurtheilung  des  Geisteszustandes  ergeben 
sich  aus  dem  Studium  der  Akten  und  der  direkten  Explo- 
ration des  Beschuldigten.' 

Die  heutige  Gesetzgebung  sorgt  dafür,  dass  der  Richter  dem 
Experten  in  seiner  oft  so  schwierigen  Aufgabe  thunlich  Vorschub 
leiste,  ihm  Zweck  und  Anlass  der  Untersuchung  mittheile,  ihm  alles 
bisherige  Aktenmaterial  zur  Verfügung  stelle,  dasselbe  über  Antrag 
und  Bedarf  des  Sachverständigen  durch  neue  Zeugeneinvernehmungen 
und  Thatbestandsuntersuchungen  ergänze  und  jenem,  so  oft  und  so 
lange  er  es  für  nöthig  hält,  den  uneingeschränkten  Verkehr  mit  dem 
Exploranden  gestatte. 

Bei  verwickeiteren  Fällen  ist  es  nöthig,  dass  der  Experte  sich 
einen  Auszug  aus  den  Akten  bezüglich  der  für  seine  Zwecke  belang- 
reichen Thatsachen  und  Daten  anfertige  und  sofort  den  Untersuchungs- 
richter um  wünschenswerthe  oder  nothwendige  Ergänzungen  der  Vita 
anteacta  und  Species  facti  ersuche. 

Wie  Schlager  hervorhob,  sind  in  dem  Aktenmaterial  die  Anzeige- 
dokumente von  grossem  Werth,  insofern  sie  vorzüglich  über  das  un- 
mittelbare Verhalten  nach  der  That  und  die  näheren  Umstände  dieser 
Auskunft  geben.  Der  Zeitpunkt  der  begangenen  That  ist  sorgfältig 
zu  ermitteln,  damit  angeblich  vor  oder  nach  derselben  beobachtete 
Erscheinungen  und  Umstände  zeitlich  festgestellt  werden  können. 

Nicht  minder  wichtig  können  etwaige  Schriftstücke,  Briefe, 
Tagebücher  aus  der  Zeit  der  That,  sowie  die  Besichtigung  etwa  be- 
nutzter Werkzeuge  werden.  Von  Bedeutung  ist  ferner  das  That- 
bestandsprotokoll,  der  die  Umstände  der  Ergreifung  enthaltende  Ein- 
lieferungsrapport,   der   erste  Befundbericht  des   Gefängnissarztes,  das 


ärztlichen  Technikers  im  Criminalforum.  25 

Protokoll  über  die  erste  Vernehmung  des  Gefangenen  und  die  Ver- 
gleichung  mit  seinen  späteren  Angaben,  der  Bericht  des  Gefangen- 
wärters, die  Akten  über  Vorleben  und  etwaige  Vorbestrafungen,  das 
Benehmen  bei  den  Verhören  und  Confrontationen,  wie  es  das  Geberden- 
protokoll enthält.  Von  erhöhter  Wichtigkeit  sind  diese  Momente  bei 
fraglicher  transitorischer  Geistesstörung,  wo  noch  die  genaueste  zeit- 
liche Feststellung  der  einzelnen  Thatsachen,  sowie  das  Verhalten  der 
Erinnerung  des  Thäters  zu  berücksichtigen  sind.  Die  Angaben  der 
Zeugen,  soweit  sie  nicht  sinnlich  beobachtete  Thatsachen  berichten, 
sondern  ein  Urtheil  über  den  Geisteszustand  fällen,  sind  mit  Vor- 
sicht aufzunehmen,  da  sie  als  Laien  geistig  abnorme  Zustände  oft 
verkennen  oder  übersehen.  Mehr  Werth  haben  positive  Zeugenaus- 
sagen, aber  auch  hier  ist  Vorsicht  nöthig,  da  die  Zeugen,  zumal  Ver- 
wandte, beim  Ausgang  des  Processes  interessirt  sein  können.  Auch 
das  Leumundszeugniss  ist  mit  Vorsicht  aufzunehmen,  insofern  psycho- 
pathische Erscheinungen  nur  zu  leicht  vom  ethischen  Standpunkt  aus 
aufgefasst  und  falsch  beurtheilt  werden. 

Im  Vorleben  sind  "besonders  Erziehung,  frühere  Gesundheits- 
und Lebensverhältnisse,  etwa  früher  erlittene  Anfälle  von  Nerven- 
oder Geisteskrankheit,  etwa  früher  verhängte  Curatel  zu  beachten. 

Von  grösster  Bedeutung  ist  die  persönliche  Exploration  des 
Beschuldigten.  Wo  sie  fehlt  (Fakultätsgutachten),  ist  nur  selten  ein 
sicheres  Gutachten  möglich. 

Am  leichtesten  und  sichersten  ist  die  Beobachtung  in  der  Irren- 
anstalt, wo  mehrere  Aerzte  und  erfahrene  Wärter  zu  Gebot  stehen. 
Ist  der  Ort  der  Beobachtung  das  Gefängniss,  so  sind  die  (freilich 
nicht  immer  verlässlichen)  Angaben  der  Mitgefangenen  sowie  die 
Wahrnehmungen  des  (allerdings  meist  befangenen  und  Simulation  ver- 
muthenden)  Gefangenenaufsehers  zu  verwerthen.  Empfehlenswerth 
ist  der  Vorschlag  Schlager's  zu  Gefangenenaufsehern  in  grösseren  Ge- 
fängnissen erprobte  frühere  Irrenwärter  zu  bestellen. 

In  allen  Stadien  des  Strafverfahrens  kann  die  Aufgabe  den 
zweifelhaften  oder  zweifelhaft  gewordenen  Geisteszustand  eines  An- 
geschuldigten resp.  Angeklagten  zu  untersuchen  an  den  Sachverstän- 
digen herantreten.  Mag  die  Berufung  von  irgend  welcher  Seite  aus- 
gehen, nie  vergesse  der  Arzt,  dass  er  vollkommen  unpartheiischer 
Vertreter  einer  Wissenschaft  und  bei  der  Schuldfrage  und  dem  Aus- 
gang des  Falles  ganz  unbetheiligt  ist. 

In  Oesterreich  (St.-P.-O.  §.  222.  225)  kann  in  der  Hauptver- 
handlung  der  Vertheidiger  nur  solche  Sachverständige  vorführen,  die 


26  Cap.  IV,    Stellung  und  Aufgabe  des 

der  Gerichtshof  zulässt,  während  in  Frankreich,  England,  Deutsch- 
land (St.-P.-O.  §.  218.  219)  Ankläger  wie  Vertheidiger  so  viel  Sach- 
verständige ihrer  Wahl  vorladen  können  als  ihnen  beliebt. 

Am  schwierigsten  ist  die  Stellung  des  Sachverständigen  in  der 
Hauptverhandlung,  wo  er  in  freier  mündlicher  Darstellung  sein  Gut- 
achten abgeben  und  das  Kreuzverhör  des  Staatsanwalts,  Vertheidigers, 
Präsidenten,  der  Richter  und  Geschworenen  über  sich  ergehen  lassen 
muss  (Deutsch.  St.-P.-O.  §.  238.  239.  Oesterr.  St.-P.-O.  §.  249.  315) 
zudem,  wenn  erst  im  Termin  berufen  (Deutsch.  St.-P.-O.  §.  243. 
Oesterr.  St.-P.-O.  §.  220.  254),  kaum  Zeit  findet  sich  über  die  Per- 
sönlichkeit des  Exploranden  und  seine  Vorgeschichte  nur  nothdürftig 
zu  Orientiren.  In  solchen  Fällen  zeigt  sich  die  Kenntniss  und  Er- 
fahrung des  tüchtigen  Gerichtsarztes  in  hellem  Licht  und  erprobt 
sich  seine  Tüchtigkeit.  Er  sei  besonders  vorsichtig  in  der  Beant- 
wortung von  Suggestivfragen,  mit  welchen  der  Sta;atsanwalt  zuweilen 
den  Experten  zu  fangen  und  zu  verblüffen  sucht.  Es  wird  dann  Sache 
eines  einsichtsvollen  Präsidenten  sein,  von  seinem  Recht  (Deutsch. 
St.-P.-O.  .§.  240,  Oesterr.  St.-P.-O.  §.  249),  ungeeignete  oder  nicht 
zur  Sache  gehörige  Fragen  zurückzuweisen,  Gebrauch  zu  machen. 

Das  Resultat  seiner  Beobachtungen  und  die  Deutung  seines  Be- 
funds hat  der  Sachverständige  in  Form  eines  Gutachtens  klarzu- 
legen und  zusammenzufassen.  In  der  Voruntersuchung  hängt  es  vom 
Ermessen  des  Richters  ab,  ob  die  Form  desselben  die  schriftliche  oder 
mündliche  sein  soll,  in  der  Hauptverhandlung  sind  nur  mündliche 
Gutachten  zulässig.  Bei  der  Complicirtheit  geistig  abnormer  Zustände 
ist  es  im  Interesse  der  Uebersichtlichkeit  der  für  das  Gutachten  belang- 
reichen Thatsachen  noth wendig,  eine  Zusammenstellung  derselben  in 
Form  einer  Krankengeschichte  oder  mündlichen  Relation  dem  eigent- 
lichen Gutachten  vorauszuschicken.  Diese  Zusammenstellung  muss 
enthalten : 

1.  Die  sorgfältige  Erhebung  des  gesammten  geistigen  und  körper- 
lichen Vorlebens. 

2.  Die  Darlegung    des    geistigen  und   körperlichen   Zustands   zur 
Zeit  der  That  und  nach  derselben. 

Den  Tenor  des  eigentlichen  Gutachtens  hat  die  Begründung 
des  etwa  vorgefundenen  anomalen  Zustands  als  eines  krankhaften 
zu  bilden. 

In  der  Regel  ist  jener  durch  eine  bestimmte  richterliche  Fragestel- 
lung vorgezeichnet.  Es  ist  wünschenswerth,  dass  der  Richter  die  Fragen 
thunlichst   in  gemeinverständlicher   und  an  naturwissenschaftliche  Be- 


ärztliclien  Technikers  im  Criminali'orum.  27 

griffe  sich  anlehnender  Sprache  stelle,  juristische  Termini  möglichst 
vermeide  und  dadurch  von  vorneherein  Uebergriffen  in  fremdes  Ge- 
biet;  Streitigkeiten  und  Missverständnissen  vorbeuge. 

Andrerseits  ist  es  auch  Pflicht  des  Sachverständigen,  dass  seine 
Darlegungen  und  Schlussfolgerungen  in  klarer,  präciser  und  gemein- 
verständlicher Sprache  stattfinden.  Es  muss  ihm  freistehen  auf  eine 
unzweckmässige  Fragestellung  aufmerksam  zu  machen  und  eine  wün- 
schenswerthe  Verbesserung  derselben  zu  verlangen.  Nach  etwas  Ande- 
rem als  nach  Geistesgesundheit  oder  Krankheit  sollte  richterlicherseits 
nicht  gefragt  werden,  denn  weder  der  metaphysische  Begriff  der 
Willensfreiheit  noch  der  juristische  der  Zurechnungsfähigkeit  gehört 
in  die  Domäne  der  Medicin.  Nie  sollte  nach  einer  bestimmten  Form 
psychischer  Störung  gefragt  werden,  denn  diese  Formen  sind  nur 
conventioneile  und  decken  niemals  vollkommen  die  Fülle  der  Krank- 
heitsbilder. Das  Gutachten  kann  positiv,  zweifelhaft  oder  negativ 
lauten.  Zweifel  oder  Unmöglichkeit  einer  Entscheidung  müssen  offen 
bekannt  werden.  Das  ist  Gewissenssache.  Oft  genug  werden  sich 
Uebergangszustände  zwischen  Gesundheit  und  ausgesprochener  Krank- 
heit ergeben,  in  welchen  die  legalen  Bedingungen  der  Zurechnungs- 
fähigkeit zwar  nicht  gänzlich  mangeln,  aber  durch  die  Persönlichkeit 
belastende  organische  Momente  in  ihrer  Geltendmachung  beeinträch- 
tigt sind.  Es  ist  Aufgabe  des  Experten,  die  Bedeutung  dieser  Momente 
dem  Richter  klar  zu  machen  und  ihre  organische  Begründung  nach- 
zuweisen. 

Das  Gutachten  kann  und  darf  für  den  Richter  nicht  bindend 
sein.  Seinen  wissenschaftlichen  Werth  kann  er  freilich  nicht  beur- 
theilen,  wohl  aber  die  Richtigkeit  seiner  Prämissen,  die  Logik  seiner 
Sehlussfolgerungen.  Sind  die  dem  Gutachten  zu  Grunde  gelegten 
Annahmen  unrichtig,  lückenhaft,  die  Beweise  aus  den  Akten  mangel- 
haft benutzt,  die  gezogenen  Schlüsse  unberechtigt,  vielleicht  gar  ein- 
ander widersprechend  oder  unbestimmt,  ist  der  Fall  ein  besonders 
wichtiger,  schwieriger,  so  ist  der  Richter  berechtigt,  ja  selbst  ver- 
pflichtet, falls  eine  Aufklärung  von  den  gegenwärtigen  Experten  nicht 
zu  erlangen  ist,  sich  an  andere  zu  wenden  (Oesterr.  St.-P.-O.  §.  125. 
126).  Der  gleiche  Fall  ist  gegeben,  wenn  die  ersten  Sachverständigen 
verschiedener  Meinung  sind  und  Separatgutachten  vorliegen.  Ge- 
wöhnlich wendet  sich  dann  der  Richter  um  Aufklärung  an  eine  andere 
Medicinalinstanz  (Medicinalcollegium  der  Provinz  in  Preussen,  medic. 
Facultät  der  Universität  in  Oesterreich.) 

In  hohem  Grade  bedauerlich  ist  es,  wenn  der  Richter,  statt  bei 


28  Cap.  V.    Der  ärztliche  Nachweis  geistiger  Krankheit. 

allen  ihm  gesetzlich  zu  Gebot  stehenden  Medieinalinstanzen  Gutachten 
einzuholen,  nach  eigener  Anschauung  den  zweifelhaften  Geisteszustand 
beurtheilt. 


Cap.  V.    Der  ärztliche  Nachweis  geistiger  Krankheit. 

Literatur.  Tyler,  Americ.  Journal  of  insanity.  1865.  Oct.  v.  Kraift,  zur  allg. 
Diagnostik  der  Seelenstörungen  in  foro.  Deutsche  Zeitschr.  f.  Staatsarznei- 
kunde. XXVII.  Nr.  1.  Rüssel  Reynolds  British  med.  Journ.  1872.  Juni  22 
u.  29.  Casper-Liman,  Handb.  d.  ger.  Med.  6.  Aufl.  Bio!.  Theil.  §.  99.  Neu- 
mann,  der  Arzt  u.  die  Blödsinnigkeitserklärung. 

Die  frühere  forensische  „Psychologie''  hat  sich  ihre  Aufgabe 
unnöthig  erschwert,  indem  sie  ausschliesslich  die  psychischen  Phäno- 
mene des  Irreseins  ins  Auge  fasste  und  nach  nichts  weniger  als 
mustergültiger  psychologischer  Analyse  statt  Synthese  aus  ihnen  die 
Diagnose  des  Geisteszustands  zu  machen  sich  bemühte.  Sie  brachte 
sich  damit  in  Misskredit,  schuf  Krankheitsformen  ohne  klinische  Be- 
rechtigung, partielle  Geistesstörungen  und  andere  Ungeheuerlichkeiten, 
zog  einseitig  die  That  und  ihre  Umstände  in  Erwägung,  statt  jene 
nur  als  einen  einzelnen  Akt,  als  eine  isolirte  Entäusserurig  eines-  frag- 
lichen psychisch  krankhaften  Zustands  aufzufassen  und  leistete  damit 
der  Irrlehre  der  sog.  Monomanien  Vorschub.  Sie  erwog  die  Zurech- 
nungsfähigkeit an  dem  Vorhandensein  oder  Fehlen  gewisser  trüge- 
rischer psychologischer  Momente  des  Alltagslebens  (Motive,  Reue, 
Prämeditation,  List  u.  s.  w.)  oder  beschränkte  den  Begriff  der  Geistes- 
störung auf  das  Verhandensein  von  Wahnideen  und  Sinnestäuschungen. 

Die  moderne  forensische  Psychopathologie  dringt  auf  eine  synthe- 
tische ,  das  ganze  Individuum  in  seinen  leiblichen  wie  geistigen  Be- 
ziehungen, seiner  Vorgeschichte  wie  gegenwärtigen  Existenz  erfassen- 
den Beurtheilungsweise  und  verwerthet  bei  dieser  strengwissenschaft- 
lichen klinischen  Leistung  eine  Reihe  wichtiger  cerebral-pathologischer, 
klinisch-psychiatrischer  und  anthropologischer  Gesichtspunkte,  ja  selbst 
Anfänge  einer  physikalischen  Diagnostik.  Für  die  ärztliche  Diagnose 
zweifelhafter  Geisteszustände  hat  in  erster  Linie  zu  gelten,  dass  die 
Geisteskrankheiten  Gehirnerkrankungen  sind  und  sich  von  anderweitigen 
nur  dadurch  unterscheiden,  dass  hier  die  geistigen  Funktionen  vor- 
zugsweise in  Mitleidenschaft  versetzt  sind. 

Allerdings  sind  die  psychischen  Phänomene  die  ausschlaggeben- 
den, für  die  Beurtheilung  des  subjektiven  Thatbestands  zur  Zeit  einer 


Bedeutung  der  ursächlichen  Momente.  29 

strafbaren  Handlung  entscheidenden;  aber  sie  sind  nicht  die  einzigen 
Symptome  gestörter  Funktion  im  Krankheitsbild.  Sie  sind,  für  sich 
selbst  betrachtet,  weder  in  allen  Fällen  ausreichend  noch  zuverlässig, 
um  die  vorläufige  Diagnose  einer  Hirnkrankheit  zu  sichern  und  desshalb 
nothwendig  durch  anderweitige  Zeichen  einer  solchen  zu  ergänzen. 
Es  kann  sogar  räthlich  erscheinen,  von  der  specielleren  Diagnose 
„Geisteskrankheit"  und  den  für  eine  solche  sprechenden  (zweifelhaften) 
psychischen  Symptomen  vorerst  abzusehen  und  die  Frage  allgemein 
nach  dem  Bestehen  einer  angeborenen  oder  erworbenen  Gehirn-Nerven- 
krankheit zu  stellen.  Finden  sich  dann  daneben  psychopathische 
Symptome,  so  wird  die  Vermuthung,  dass  sie  im  Zusammenhang  mit 
jener  stehen,  nahezu  zur  Gewissheit.  Die  Expertise  muss  somit  zu 
einer  neuropathologischen,  die  Beurtheilungsweise  zu  einer  klinischen, 
die  forensische  „Psychologie"  zu  einer  Psychopathologie  vertieft  und 
erweitert  werden. 

Auf  diesem  vorgeschrittenen  wissenschaftlichen  Standpunkt  wird 
der  Gerichtsarzt  ein  geschätzter  Beistand  des  Richters  sein  und  seine 
Competenz  nie  mehr  bestritten  werden. 

In  der  Lösung  seiner  concreten  Aufgabe  —  Ermittlung  einer 
etwa  bestehenden  Hirnkrankheit  —  hat  der  Experte  zunächst  der  That- 
sache  eingedenk  zu  sein,  dass  Geisteskrankheit  als  eine  Krankheit 
des  Gehirns  wie  jede  andere  Krankheit  Ursachen,  Verlauf,  Symptome- 
verbindungen aufweist,  niemals  auf  ein  einzelnes  Symptom  beschränkt 
sein  kann.  Es  muss  vor  Allem  der  Ursache  einer  fraglichen  Geistes- 
störung nachgeforscht  werden.  Geisteskrankheit  ist  an  und  für  sich 
eine  ungewöhnliche  Erscheinung.  Sie  muss  genügend  motivirt  sein, 
sei  es  durch  eine  mächtig  wirkende  Disposition,  sei  es  durch  besondere 
Intensität  oder  Häufung  zufälliger  Ursachen.  Je  früher  und  patho- 
genetisch klarer  sich  die  Symptome  an  die  Ursache  anschliessen,  um 
so  grösser  ist  deren  Bedeutung. 

In  ätiologischer  Beziehung  ist  nicht  nur  die  Kenntniss  der 
früheren  Lebensgeschichte,  sondern  auch  die  der  Abstammung  des 
zu  explorirenden  Individuums  nöthig.  Vielfach  ist  die  geistige  Krank- 
heit nur  das  Endresultat  aller  früheren  Entwicklungs-  und  Lebens- 
verhältnisse eines  Menschen.  Die  Geisteskrankheit  ist  nicht  nur  eine 
Krankheit  des  Gehirns,  sondern  auch  zugleich  eine  solche  der  Person. 
Die  ganze  frühere  Persönlichkeit  muss  studirt  werden.  Neben  Er- 
ziehung und  Lebensschicksalen  ist  es  ganz  besonders  das  anthropo- 
logische Moment  der  ererbten  oder  angeborenen  psychischen  Consti- 
tution, das  nicht  bloss  bestimmend  für  die  Artung  der  Individualität, 


30  Cap.  V.    Der  ärztliche  Nachweis  geistiger  Krankheit, 

sondern  auch  vielfach  für  die  Entwicklung  einer  geistigen  Krankheit 
ist  und  für  die  Beurtheilung  geistiger  Besonderheiten  als  krankhafter 
oder  noch  physiologischer  grosse  Bedeutung  hat. 

Nirgends  zeigt  sich  jedenfalls  die  Thatsache  der  Vererbung  von 
Krankheiten  und  Krankheitsdispositionen  so  bedeutsam  als  auf  dem 
Gebiet  der  Geisteskrankheiten. 

Aber  nicht  bloss  Geisteskrankheit  im  engeren  Sinn  setzt  eine 
Disposition  zu  gleichnamiger  Erkrankung  bei  den  Nachkommen,  son- 
dern auch  schwere  Nervenkrankheiten  (Hysterie,  Epilepsie,  Hypo- 
chondrie) Trunksucht,  überhaupt  Alles  was  die  Constitution  der 
Erzeuger  schwächt,  kann  die  Nachkommenschaft  schon  im  Keime 
schädigen  und  zu  Candidaten  des  Irrsinns  machen. 

Die  Disposition  kann  eine  latente  bleiben,  sie  kann  sich  aber 
auch  in  mannigfachen  Funktionsanomalien  des  centralen  Nervensystems 
früh  schon  kundgeben. 

Hier  sind  Abnormitäten  des  Charakters,  des  Geschlechtstriebs, 
Convulsionen,  neuropathische  Zustände  bis  zu  ausgesprochenen  Nerven- 
krankheiten, pathologische  Affekte  und  Intoleranz  für  Alkohol  wichtige 
Zeichen  einer  constitutionellen  Schwäche,  einer  Belastung  des  centralen 
Nervensystems.  Nie  darf  der  Arzt  die  Frage  der  Erblichkeit  ausser 
Acht  lassen.  Sie  kann  ihm  die  werthvollsten  Fingerzeige  liefern. 
Aber  aus  der  Thatsache,  dass  Vater  oder  Mutter  neuropathisch  oder 
gar  irrsinnig  waren,  folgt  an  und  für  sich  nichts  für  die  Frage  des 
Irrsinns  beim  Nachkommen,  sofern  nicht  Belastungserscheinungen  oder 
geradezu  angeborenes  Irrsein  sich  erweisen  lassen  und  die  Krankheit 
überhaupt  durch  anderweitige  Thatsachen  erwiesen  ist. 

Auch  ohne  hereditäre  Einflüsse  kann  eine  neuropathische  Consti- 
tution oder  auch  wirkliche  Krankheit  im  Lauf  des  Lebens  erworben 
werden.  Dies  kann  u.  A.  geschehen  durch  entzündliche  Affektionen 
des  Gehirns  in  frühem  Lebensalter  (Convulsionen),  Kopfverletzungen, 
unmässige  Lebensweise,  schwere  schwächende  körperliche  Krankheiten, 
Onanie,  heftige  Gemüthsbewegungen,  Gefängnisshaft  u.  s.  w. 

Allen  derartigen  ursächlichen  Momenten  muss  die  Erforschung 
der  Vita  anteacta  gerecht  werden.  Selbst  anscheinend  unbedeutende 
Thatsachen  der  Lebensgeschichte  können  belangreich  werden,  z.  B, 
Convulsionen  in  der  Kindheit  insofern  sie  spätere  epilepsieartige  Er- 
scheinungen in  das  rechte  Licht  stellen  können.  Ganz  besonders 
häufig  kommen  Psychosen  in  der  Zeit  der  Pubertätsentwicklung,  der 
Menstruation,  der  Schwangerschaft,  der  Entbindung,  des  Klimacterium 
und  des  höheren  Greisenalters  vor. 


Physiologische  und  pathologische  Gemüthsdepression.  31 

An  und  für  sich  wird  dadurch  nichts  bewiesen,  aber  eine  ge- 
steigerte Vorsicht  der  Untersuchung  ist  in  solchen  Lebensphasen  nöthig 
und  an  und  für  sich  zweifelhafte  psychopathische  Erscheinungen 
gewinnen  in  denselben  eine  gewisse  Bedeutung. 

Der  Werth  der  ätiologischen  Erschliessung  des  Falls  wird  nur 
dadurch  scheinbar  geschmälert,  dass  zuweilen  keine  Ursache  auffindbar 
ist  oder  dass  eine  vorausgegangene  psychisch  deprimirende  Ursache 
es  zweifelhaft  erscheinen  lässt,  ob  die  gefolgte  psychische  Aenderung 
die  noch  physiologische  Reaktion  auf  jene  oder  bereits  ein  patho- 
logischer Zustand  ist. 

Da  wo  keine  veranlassende  Ursache  auffindbar  ist,  besteht  immer 
eine  mächtige  Disposition  oder  gar  eine  angeborene  Krankheit.  Hier 
verbreitet  dann  gerade  die  Anamnese  in  ihrer  anthropologischen  und 
klinisch- ätiologischen  Forschungsrichtung  Licht,  indem  sie  das  zweifel- 
hafte Krankheitsbild  als  die  Höheentwicklung  einer  meist  erblich  be- 
lasteten, von  Kindsbeinen  auf  defekten,  abnorm  angelegten  Persönlich- 
keit (Imbecillität ,  moral.  L^resein,  originäre  Verrücktheit)  nachweist 
und  in  der  Regel  neben  funktionellen  auch  anatomische  Degenerations- 
zeichen auffindet  (s.  u.  psychische  Entartungen). 

Schwierig  ist  immer  die  Beurtheilung ,  ob  eine  vorhandene  psychische 
Depression  als  die  natürliche  Reaktion  auf  eine  deprimirende  Ursache  oder  schon 
als  krankhafter  Zustand  aufzufassen  ist.  Die  schmei'zliche  noch  physiologische 
Verstimmung  und  die  beginnende  krankhafte  können  ganz  die  gleiche  Signatur 
haben.  Entscheidend  werden  hier  der  Verlauf,  die  genaue  Kenntniss  der  ge- 
wohnten Reaktionsweise  des  Individuums  und  die  minutiöse  Beachtung  der 
Detailsymptome  sein. 

Ist  die  deprimirende  Ursache  eine  geringfügige,  die  Depression  eine  un- 
gewöhnlich intensive  und  lange,  nimmt  die  Verstimmung  mit  der  Zeit  zu  statt  ab, 
dauert  sie  gar  fort,  nachdem  die  Veranlassung  der  Verstimmung  beseitigt  ist, 
so  wächst  die  Vermuthung  eines  pathologischen  Gemüthszustands.  Das  schmerz- 
liche Fühlen  des  Gesunden  ist  zudem  noch  angenehmen  Eindrücken  zugänglich, 
während  die  krankhafte  schmerzliche  Verstimmung  selbst  sonst  angenehme  Ein- 
drücke schmerzlich  appercipirt  und  nur  noch  Intensitätswechsel  kennt. 

Es  kommt  zudem  zu  spontanen  Steigerungen  der  Verstimmung,  zu  Affekten 
der  Furcht,  Sorge  aus  inneren  psychischen  und  organischen  Vorgängen,  während 
jene  beim  Geistesgesunden  im  Allgemeinen  niir  äusserlich  motivirt  sich  finden. 
Der  krankhaft  Verstimmte  hat  ferner  nicht  selten  geradezu  ein  Bewusstsein  der 
über  ihn  hereinbrechenden  Krankheit;  er  bietet  Störungen  in  seinen  sensorischen 
Funktionen  (Kopfweh,  Schwindel,  Gefühle  von  Hemmung  der  Gedanken,  Druck 
im  Kopf),  sowie  Präcordialbeklemmung,  Hyperästhesien  und  Neuralgien.  Auch 
die  Processe  der  Ernährung  leiden  bei  ihm  viel  mehr,  das  Körpergewicht  sinkt 
bedeutender  und  rascher  als  beim  physiologisch  Verstimmten. 


32  Cap.  V.    Der  ärztliche  Nachweis  geistiger  Krankheit. 

Von  grosser  Bedeutung  ist  das  Studium  des  Verlaufs  einer 
fraglichen  Greisteskrankheit.  Auch  das  Irresein  als  eine  Krankheit 
des  Gehirns  hat  seine  empirisch  festgestellten  Verlaufstypen.  Es  gibt 
psychische  Krankheitszustände  mit  typischem  Ablauf  der  einzelnen 
Zustandsformen  (vesania  typica)  mit  cyclischer  Ablösung  derselben 
(circuläres  Irresein)  und  periodischer  Wiederkehr  der  einzelnen  Krank- 
heitsanfälle (periodische  Melancholie,  Manie)  in  annähernd  gleichen 
Zeiträumen. 

Ganz  besonders  wichtig  ist  das  zeitliche  Gebundensein  solcher 
Anfälle  an  die  periodische  Wiederkehr  somatischer  Vorgänge  (Menses). 
Aber  auch  der  gesammte  Krankheitsprocess,  soweit  er  sich  im  Detail 
der  Symptome  äussert,  ist  ein  empirisch  gesetzmässiger.  Je  deutlicher 
die  Einzelsymptome  inneren  Zusammenhang  und  gesetzmässige  Be- 
gründung aufweisen ,  je  deutlicher  die  Exacerbationen  und  Remissio- 
nen ganzer  Symptomenreihen  mit  Tageszeiten  oder  körperlichen  Vor- 
gängen zusammenfallen,  um  so  sicherer  wird  der  Schluss,  dass  der 
Zustand  ein  krankhafter  ist. 

Das  Irresein  als  eine  Krankheit  eines  Körperorgans  geht  auch 
mit  körperlichen  Funktionsstörungen  einher.  Sie  sind  sehr 
werthvoll,  da  sie  nicht  wie  die  psychischen  absichtlich  vorgetäuscht 
werden  können.  Die  genaueste  Untersuchung  der  vegetativen  Punk- 
tionen muss  neben  der  psychischen  Beobachtung  stattfinden.  Ganz 
besonders  wichtige  somatische  Symptome  sind  Störungen  der  Ernährung 
(Körper wägung),  des  Schlafs,  der  Verdauungs-  und  Darmfunktion,  der 
Sekretionen,  krankhafte  Abweichungen  der  Eigenwärme  von  der  Norm. 
Sie  beweisen  wenigstens,  dass  das  Individuum  überhaupt  krank  ist, 
haben  einen  positiven  Werth  jedoch  nur  in  den  Anfangsstadien  des 
Irreseins.  In  den  Endstadien  desselben  können  sie  völlig  ausgeglichen 
sein  und  hat  ihr  Fehlen  dann  keine  Bedeutung. 

Insofern  das  Gehirn  auch  motorische,  sensible,  vasomotorische 
Funktionen  besitzt  und  die  dem  Irresein  zu  Grunde  liegenden  Hirn- 
veränderungen auch  die  Innervationsgebiete  dieser  Funktionen  vielfach 
treffen,  sind  Störungen  der  Sensibilität  und  Motilität  häufige  Begleiter 
psychopathischer  Zustände.  Sie  bahnen  die  speciellere  Diagnose  einer 
Hirnkrankheit  an,  ja  können  sogar  auf  das  Vorhandensein  ganz  be- 
stimmter Formen  von  Hirnkrankheit  mit  psychischen  Symptomen  einen 
Schluss  zu  einer  Zeit  gestatten,  wo  diese  letzteren  noch  gar  nicht 
deutlich  als  krankhafte  erkennbar  sind.  Dahin  gehören  neben  Puls- 
anomalien (Tardität,  Hinneigung  zudikroten  und  monokroten  Pulsformen) 
Anästhesien,  Hyperästhesien  und  Neuralgien,  Lähmungen  motorischer 


Schwierigkeiten.     Mangel  specifischer  Symptome.  3B 

Hirnnerven,  namentlich  Anomalien  der  Irisinnervation  (Pupillenver- 
änderungen) Sprachstörungen,  ferner  Krämpfe,  Lähmungen,  aphasische 
Symptome  u.  s.  w. 

Ist  durch  diese  vorausgehenden  Anhaltspunkte  die  allgemeine 
Diagnose  einer  Krankheit  und  speciell  einer  Hirnkrankheit  gesichert, 
so  bleibt  die  Prüfung  der  vorhandenen  psychischen  Phänomene  auf 
das  Bestehen  einer  Geisteskrankheit,  ihrer  Art  und  ihres  Umfangs 
übrig.  So  leicht  und  sicher  die  Diagnose,  ob  Jemand  psychisch  krank 
-sei,  in  vielen  Fällen  sogar  vom  Laien,  der  sie  freilich  nicht  begründen 
kann,  gemacht  wird,  so  gibt  es  doch  wieder  zahlreiche  Fälle,  die  das 
ganze  Wissen  und  Können  des  Sachverständigen  in  Anspruch  nehmen 
und  sofort  und  bestimmt  gar  nicht  entschieden  werden  können. 

Der  Grund  liegt  wesentlich  darin,  dass  die  Geistesstörung  keine 
specifischen  Symptome  aufweist,  die  vorhandenen  vieldeutig  sind  und 
nur  in  richtiger  Zusammenfassung  und  Interpretation  eine  Verwerthung 
gestatten. 

Das  Irresein  bietet  keine  specifischen  Symptome,  denn  hier  wie 
bei  jeder  anderen  Krankheit  handelt  es  sich  nur  um  abnorme  Be- 
dingungen der  Lebensvorgänge,  nicht  um  total  geänderte  Funktionen. 
Nicht  die  geänderte  Funktion  als  solche,  sondern  nur  die  Zurück- 
führung  dieser  auf  geänderte  Bedingungen  kann  über  das  Krankhafte 
des  Vorgangs  entscheiden.  Der  Unterschied  im  geistigen  Mechanis- 
mus des  Gesunden  und  des  Kranken  ist  wesentlich  der,  dass  beim 
Ersteren  die  geistigen  Vorgänge  im  Allgemeinen  im  Zusammenhang 
und  Einklang  mit  Eindrücken  und  realen  Vorgängen  der  Aussenwelt 
stehen,  beim  Geisteskranken  dagegen  aus  inneren  organischen  krank- 
haften Bedingungen  entstehen.  Sie  sind  der  Ausdruck  spontaner  sub- 
jektiver Vorgänge  im  Bewusstsein  und  in  der  Aussenwelt  nicht  oder 
nicht  genügend  motivirt. 

Es  ist  also  nicht  der  Inhalt,  sondern  die  Entstehung  und  Motivi- 
rung  der  psychischen  Vorgänge  entscheidend.  Es  gibt  keine  psychische 
Anomalie  beim  Geisteskranken,  die  nicht  gelegentlich  einmal  inner- 
halb der  Breite  psychischer  Gesundheit  vorkäme. 

Die  Uebergänge  geistiger  Gesundheit  in  Krankheit  sind  noch 
weniger  scharf  als  auf  somatischem  Gebiete,  wo  doch  exakte  physi- 
kalische Hilfsmittel  zur  Diagnose  verfügbar  sind,  eine  Norm  psychi- 
scher Gesundheit  ist  nur  als  Ideal  denkbar,  kein  Individuum  dem 
andern  vollkommen  gleich  und  zudem  sind  nicht  nur  Affekte,  Leiden- 
schaften, Abweichungen  vom  Fühlen,  Vorstellen  und  Streben  der 
Mehrheit    der   anderen  Menschen,   sondern   sogar  Verstandesirrthümer 

V.  Krafft-Ebing,  gericlitl.  Psychopathologie.    2.  Auflage.  3 


34  Cap.  V.    Der  ärztliche  Nachweis  geistiger  Störung. 

und  Sinnestäuschungen  noch  innerhalb  der  Breite  des  physiologischen 
Lebens  möglich  und,  wenn  auch  als  elementare  psychische  Störungen 
vielfach  zweifellos,  dennoch  mit  dem  Fortbestand  geistiger  Klarheit 
und  freier  Selbstbestimmung  vereinbar.  Die  aus  der  Natur  des  Ge- 
genstands sich  ergebenden  Schwierigkeiten  werden  oft  noch  da- 
durch erhöht,  dass  die  Entwicklung  der  fraglichen  psychischen  Störung, 
überhaupt  das  ganze  Vorleben  unbekannt  bleibt  oder  dass  jene  ganz 
unmerklich  aus  habituellen  Charakteranomalien,  aus  Leidenschaften, 
lasterhafter  unsittlicher  Lebensführung  sich  entwickelt  hat,  dass  Ver- 
dacht auf  absichtliche  Vortäuschung  oder  Vorenthaltung  von  Symptomen 
Seitens  des  Exploranden  sich  ergibt. 

Eine  Krankheit  ist  immer  ein  complicirter  Vorgang,  der  nie 
durch  ein  einziges  Symptom  gedeckt  wird.  Dies  gilt  auch  für  das 
Irresein.  Die  Auffassung  des  Krankheitsbilds  wird  immer  eine  syn- 
thetische sein  müssen.  Nur  im  Zusammenhalt  und  gesetzmässigen 
Zusammenhang  der  Symptome,  bei  richtiger  Combination  und  Inter- 
pretation der  disparaten  Erscheinungen,  bei  eingehendem  Studium 
ihrer  Aufeinanderfolge  und  gegenseitigen  Verknüpfung  gewinnt  das 
Einzelsymptom  Bedeutung.  Ein  analytisches  Herausgreifen  desselben, 
und  wäre  es  selbst  eine  Wahnidee,  kann  nie  zum  Ziel  führen.  Noch 
weniger  ist  dies  möglich  bei  Stimmungsanomalien,  Affekten,  unsitt- 
lichen Trieben,  verbrecherischen  Handlungen,  die  nur  im  Zusammen- 
halt mit  anderen  Symptomen  und  mit  der  historischeu  und  gegenwär- 
tigen Persönlichkeit  verwerthbar  sind. 

Das  Irresein  als  eine  Krankheit  der  Person  nöthigt  zudem  zu 
einer  individuellen  Beurtheilung  der  concreten  Phänomene.  Si  duo 
dicunt  idem  non  est  idem. 

Auch  hier  ist  die  Kenntniss  der  Individualität  unerlässlich.  Das 
Irresein  als  eine  krankhafte  Lebensäusserung  macht  eine  persönliche 
Exploration  des  fraglichen  Kranken  erforderlich.  Sonst  entgehen  der 
Diagnose  überaus  wichtige  direkte  Beurtheilungsmomente  (physiog- 
nomischer  Ausdruck,  Haltung,  Stimme  als  äusseres  Spiegelbild  der 
inneren  krankhaften  psychischen  Vorgänge)  die  als  Aenderungen  des 
Blicks,  der  Miene,  Geberden  und  Gesammthaltung  des  Körpers  dem 
erfahrenen  Beobachter,  schon  bei  der  ersten  Begegnung  selbst  zu  einer 
annähernden  Diagnose  einer  bestimmten  Form  von  Geistesstörung 
verhelfen  können,  insofern  jedem  psychopathischen  Zustand  eine  eigene 
Form  und  'ein  besonderer  Modus  der  gesammten  Bewegungs weise 
zukommt. 

Auch  die  Art  und  Weise  wie  der  fragliche  Kranke  sich  kleidet. 


Exploration.     Dissimulation.  '  35 

wohnt,  beschäftigt,  kann  sehr  wichtig  sein  und  die  Aufmerksamkeit 
auf  bisher  verborgen  gehaltene  Wahnideen  (Verfolgungs-,  religiöser 
Wahn)  lenken.  Wo  immer  möglich  besuche  man  den  Exploranden 
in  seiner  Wohnung  bezw,  Zelle  und  lasse  sich  denselben  nicht  vor- 
führen. Je  weniger  die  ganze  Exploration  den  Charakter  eines  Ver- 
hörs hat,  je  mehr  sie  einer  unbefangenen  Conversation  gleichkommt, 
um  so  eher  wird  der  Sachverständige  Erfolg  haben. 

Der  Schwerpunkt  für  die  psychische  Diagnose  liegt  in  der  Conver- 
sation mit  dem  fraglichen  Kranken.  Man  muss  aber  nicht  bloss  wissen 
was  man  fragen,  sondern  auch  wie  man  die  Unterredung  leiten  soll. 
Das  Objekt  der  Untersuchung  ist  ein  wechselndes  menschliches  Be- 
wusstsein,  das  von  der  Art  und  Weise  des  exploratorischen  Vorgehens 
und  Fragens  gewaltig  beeinflusst  wird.  Man  beginne  das  Gespräch 
mit  gleichgültigen  Dingen,  wähle  Befinden,  Beruf,  frühere  Lebens- 
schicksale des  Exploranden  als  Ausgangspunkt,  zeige  sich  theinahms- 
voll.  Man  erfährt  so  des  fraglichen  Kranken  Lebensansichten,  Wünsche, 
Pläne,  Stimmung,  Intelligenz,  Strebungen.  Man  lenkt  das  Gespräch 
auf  Herkunft,  Familie,  sociale,  politische,  religiöse  Fragen  und  achtet 
genau  darauf,  ob  sich  geänderte  Beziehungen  in  einer  dieser  Rich- 
tungen ergeben,  die  vielleicht  den  Schlüssel  zu  einer  Wahnvorstel- 
lung bieten.  Es  ist  Regel,  dass  Geisteskranke,  sobald  man  ihren 
Wahn  berührt,  denselben  preisgeben. 

Diese  Regel  hat  jedoch  Ausnahmen.  Es  gibt  Kranke  (Melan- 
cholische, Verrückte),  die  ihre  Wahnideen  zu  verbergen,  ihre  Störung 
zu  dissimuliren  wissen.  Um  so  wichtiger  ist  es  dann,  Haltung  und 
Benehmen,  Handlungen  und  Unterlassungen  des  verdächtigen  Kranken 
zu  Studiren  und  daraus  indirekt  das  Bestehen  krankhafter  Vorstel- 
lungen zu  erschliessen. 

Auch  die  genaue  Beachtung  des  Verlaufs  der  Krankheit  in 
somatischer  und  psychischer  Richtung  ist  wichtig,  insofern  sie  wenig- 
stens die  Gewissheit  gibt,  dass  die  noch  vor  einiger  Zeit  unzweifel- 
haft dagewesene  Krankheit  somatisch  und  psychisch  nicht  ausge- 
glichen ist,  der  Explorand  den  früheren  krankhaften  Phänomenen  seines 
Bewusstseins  nicht  anerkennend  gegenüber  steht  und  rückhaltlos  von 
ihnen  spricht,  sondern  nur  aus  zielbewusster  Absicht  (Wiedererlang- 
ung seiner  Freiheit)  und  äusserlich  beruhigt  sich  zu  beherrschen  ge- 
lernt hat. 

Fragen  und  Antworten  des  Colloquiums  sind,  womöglich  mit 
Hilfe  der  Stenographie,  genau  zu  protokolliren.  Nur  dadurch  wird 
ein    treuer  Status   praesens    des    vorliegenden  Krankheitsbilds   akten- 


36  Cap.  V.    Der"  ärztliche  Nachweis  geistiger  Störung. 

massig  gewonnen,  was  für  ein  etwaiges  Superarbitrium  vom  grössten 
Werth  ist. 

Während  der  Unterredung  hat  man  Zeit,  Blick,  Miene,  Geber- 
den, Haltung  des  zu  Untersuchenden  zu  studiren.  Daran  wird  sich 
die  genaue  Untersuchung  der  gesammten  körperlichen  Organe  und 
Funktionen  mit  besonderer  Rücksicht  auf  etwaige  Störungen  der  Mo- 
tilität und  Sensibilität,  auf  Degenerationszeichen  und  Schädelmessung 
anzuschliessen  haben. 

Es  gibt  Fälle,  wo  die  psychische  Exploration  mit  grossen  Schwierig- 
keiten verknüpft  ist,  insofern  es  sich  um  Individuen  handelt,  die  an 
Sprach-  oder  Gehörfehlern  leiden,  um  Personen,  die  so  verlegen  sind, 
dass  sie  geistesschwach  erscheinen.  Blosse  Dummheit  durch  Er- 
ziehungsmangel ist  nicht  mit  organisch  bedingter  Geistesschwäche, 
die  bloss  erschwerte  Entäusserung  des  geistigen  Besitzes  (Aphasie) 
nicht  mit  Besitzlosigkeit  zu  verwechseln. 

Endlich  gibt  es  Kranke  (apathisch  Blödsinnige,  Melancholische, 
Verrückte)  die  allem  Eindringen  gegenüber  ein  hartnäckiges  Still- 
schweigen beobachten.  Dann  hat  es  freilich  mit  dem  CoUoquium  sein 
Bewenden.  Ist  diese  Stummheit  an  und  für  sich  schon  bezeichnend, 
so  wird  in  solchen  Ausnahmsfällen  die  Aufzeichnung  des  ganzen  Ge- 
bahrens  (Geberdenprotokoll)  ausreichen  um  im  Zusammenhang  mit 
der  Anamnese  den  Fall  seiner  Klärung  zuzuführen.  Eine  treffliche 
Anleitung  zur  Exploration  zweifelhafter  Geisteszustände  hat  Neumann 
(op.  cit.  p.  45)  gegeben. 

Ein  wichtiger  Behelf  für  die  exploratorische  Aufgabe  ist  das 
Studium  der  Schriften  i)  der  Kranken.  Im  Allgemeinen  lässt  sich  be- 
haupten, dass  jeder  Hauptform  von  Geistesstörung  bestimmte  Eigenthüm- 
lichkeiten  der  Schreib-  und  Ausdrucksweise  zukommen  und  dass  sich 
der  Kranke  in  seinen  Schriften,  wo  er  sich  unbeobachtet  fühlt  und 
mehr  gehen  lässt,  mehr  verräth  als  im  mündlichen  Verkehr.  Dies 
gilt  namentlich  für  Kranke,  die  allem  Eindringen  ein  hartnäckiges, 
meist  durch  Wahn  und  imperative  Stimmen  befohlenes  Stillschweigen 
entgegensetzen.  Man  erstaunt  oft,  wie  Kranke,  die  sonst  ganz  ver- 
nünftig sprechen,  im  intimen  schriftlichen  Verkehr  mit  sich  und  An- 
deren den  grössten  Unsinn  produciren.  Eine  im  Inhalt  vernünftige 
Schrift  schliesst  aber  ebensowenig  Irresein  aus  als  vernünftiges  Reden. 


^)  Marce,  Annal.  d'hyg.  publ.  1864,  April.  Güntz,  Der  Geisteskranke  in 
seinen  Schriften,  1861.  Bacon,  the  Lancet,  1869.  II.  4.  Jvili.  Raggi,  gli  scritti 
dei  pazzi.    Bologna  1874.     Tardieu,  la  folie.    Paris  1872. 


Schriften  Geisteskranker,  ihr  diagnostischer  Werth.  37 

Die  Schriften  Geisteskranker  können  inhaltlich  zur  Ermittlung  ver- 
borgen gehaltener  Wahnideen,  stylistisch  zur  Kennzeichnung  ihrer 
Geistesfähigkeiten  überhaupt,  in  ihrer  äusseren  Ausstattung  zur  Beur- 
theilung  ihres  Bewusstseiuszustands,  graphisch  zur  Ermittlung  feinerer 
Störungen  der  Coordination  wesentlich  beitragen.  Am  wenigsten 
schreiben  Blödsinnige.  Der  kindliche  Satzbau,  die  Unbehilflichkeit 
und  Unklarheit  der  Diktion  bekunden  die  hochgradige  Geistesschwäche. 
Da  das  Schreiben  überhaupt  grössere  Klarheit  der  Gedanken  erfordert 
als  das  Sprechen^  so  ist  die  Schrift  ein  besonders  feines  Reagens  für 
psychische  Schwächezustände  (Güntz).  Auch  der  Melancholische  schreibt 
wenig.  Seine  geistige  Unlust  und  Hemmung  hindert  ihn  daran.  Die 
Monotonie  des  Vorstellens  spiegelt  sich  in  der  beständigen  Wieder- 
holung derselben  Klagen,  Befürchtungen,  Selbstbeschuldigungen  ab. 
Die  Schrift  ist  nicht  aus  einem  Gusse.  Man  sieht  es  ihr  an,  dass 
der  Kranke  nur  stossweise  seine  Hemmungen  überwand  und  absatz- 
weise seine  Gedanken  zum  Ausdruck  zu  bringen  vermochte.  Nicht 
selten  sind  die  Buchstaben  mit  zitternder  Hand  ausgeführt. 

Der  Maniacus  schreibt  viel,  mit  fester  Hand,  in  grossen  Zügen 
und  mit  rasch  hingeworfener  Schrift.  Sie  ist  ein  treues  Bild  seines 
beschleunigten  Vorstellens,  dem  vielfach  die  Hand  nicht  nachzukommen 
vermag,  so  dass  Worte  ausgelassen  werden,  Sätze  unvollendet  bleiben. 
Steigert  sich  die  Vorstellungsflucht,  so  wird  die  Schrift  zu  einem  kaum 
mehr  entzifferbaren  Chaos  von  Worten  und  Satzbruchstücken,  die  wirr 
in  einander  fliessen.  In  seiner  Schreibsucht  schreibt  der  Kranke  kreuz 
und  quer,  kümmert  sich  nicht  um  die  Qualität  des  Materials,  das  ihm 
zu  Gebot  steht. 

Besonders  viel  schreibeil  Verrückte,  namentlich  Querulanten, 
Erotomanen.  In  graphischer  Hinsicht  sind  vielfach  Aenderungen  der 
Handschrift,  barokke  Verzierungen,  Schnörkel,  Unterstreichungen  von 
Worten  und  Silben  bemerkenswerth. 

Die  Diktion  kann  tadellos  sein  oder  bombastisch,  bizarr,  je  nach 
Art  der  Wahnideen  und  Zustand  des  Bewusstseins.  Die  grössten  Bi- 
zarrerieen  können  sich  hier  finden.  So  erzählt  Mar9^  von  einem  Ver- 
rückten, der  einen  besonderen  Werth  auf  die  Zahl  3  legte  und  beim 
Schreiben  jeden  Buchstaben  3mal  setzte. 

Inhaltlich  sind  die  Schriftstücke  Verrückter  von  grossem  Werth, 
da  sie  oft  Wahnideen  enthüllen,  die  in  der  Conversation  sorgfältig 
verborgen  gehalten  wurden. 

Bei  manchen  Kranken  wird  das  Scriptum  ganz  unverständlich, 
durch  Gebrauch  von  Worten  der  Schriftsprache  in  anderem  Sinn,  durch 


38  Gap.  V.    Der  ärztliclie  Nachweis  geistiger  Störung. 

Silben  Verstellung  oder  Anhängen  von  bedeutungslosen  Silben  oder  auch 
Ersetzung  der  Schriftzeichen  durch  hieroglyphische,  symbolische.  Es 
kann  hier  zur  Neubildung  von  Worten  kommen,  ja  sogar  bis  zur  Neu- 
schaffung eines  Sprachidioms. 

Besondere  Eigenthümlichkeiten  haben  die  Schriften  der  zur 
Paralysegruppe  gehörigen  Kranken.  Die  hier  bestehende  Coordinations- 
störung  findet  ihren  graphischen  Ausdruck  in  undeutlicher,  schüler- 
hafter, zickzackartiger,  zitteriger,  Haar-  und  Grundstriche  nicht  mehr 
auseinanderhaltender  Handschrift. 

Häufig  besteht  Paragraphie  und  Agraphie,  so  dass  falsche  oder 
unvollständige  oder  fehlerhaft  geschriebene  Worte  zu  Tage  kommen 
oder  auch  Worte  ganz  ausfallen.  Die  Amnesie  kann  so  bedeutend  sein, 
dass  der  Kranke  kaum  geschriebene  Worte  oder  ganze  Zeilen  mehr- 
mals wiederholt. 

Die  grosse  Bewusstseinsstörung  hindert  ein  Gewahrwerden  dieser 
Lapsus.  Sie  lässt  auch  im  Verlauf  des  Schreibens  den  Kranken 
oft  den  eigentlichen  Zweck  desselben  vergessen,  so  dass  er  in  dem- 
selben Schreiben  sich  gleichzeitig  an  mehrere  Personen  wendet.  Aus 
gleichem  Grund  kommt  es  vor,  dass  er  aus  einem  danebenliegenden 
Schriftstück  oder  Buch  ganze  Sätze  einfliessen  lässt,  gleichzeitig  in 
mehreren  Sprachen  schreibt,  den  Brief  unbeendigt  übergibt,  Adresse, 
Datum,  Unterschrift  vergisst. 

Auch  die  äussere  Ausstattung  des  Schreibens,  dessen  Papier  viel- 
leicht aus  dem  Kehricht  gezogen,  über  und  über  mit  Tinte  befleckt 
ist,  deutet  oft  in  bezeichnender  Weise  auf  die  grosse  Bewusstseins- 
störung dieser  Kranken. 

Unter  den  Symptomen,  die  für  die  allgemeine  Diagnose  des  Irre- 
seins ganz  besonders  von  Bedeutung  erscheinen,  sind  noch  zu  erwähnen: 

Die  Umänderung  der  Persönlichkeit  (Charakter)  in  eine  neue 
krankhafte,  das  Vorhandensein  von  Wahnideen  und  von  Sinnestäusch- 
ungen. Auf  die  zwei  letzteren  pflegt  sich  die  Diagnostik  des  Laien 
zu  beschränken. 

a)  Charakterveränderung:  Der  dem  Irresein  zu  Grunde 
liegende  Krankheitsvorgang  bedingt  Aenderungen  des  früheren  Charak- 
ters, d.  h.  der  früheren  Gewohnheiten,  Neigungen,  Bestrebungen,  An- 
schauungen —  die  Persönlichkeit  wird  eine  andere.  Dieses  Symptom 
ist  ein  um  so  werthvolleres,  als  es  ein  frühes,  in  der  Regel  dem  Deli- 
rium der  Vorstellungen  und  Handlungen  lange  vorausgehendes  ist. 

Diese  pathologische  Charakterveränderung,  die  bis  zu  einer  völ- 
ligen Umkehrung  der  früheren  Anschauungen  und  Strebungen  sich  er- 


Wahnideen.     Kennzeichen  solcher.  39 

strecken  kann,  wird  um  so  bedeutsamer,  wenn  das  sie  kund  gebende 
Individuum  unter  Dispositionen  sich  befindet  oder  Einwirkungen  aus- 
gesetzt war,  die  erwiesenermassen  wichtige  Ursachen  für  Geisteskrank- 
heit sind. 

b)  Wahnideen.  Ein  häufiges  aber  keineswegs  untrügliches 
Zeichen  von  Irresein  bietet  der  Nachweis  von  Wahnvorstellungen.  Es 
v/äre  indessen  ein  grosser  Irrthum,  Geisteskrankheit  nur  da  anzuerken- 
nen, wo  jene  nachgewiesen  sind.  Der  Kranke  kann  sich  ja  in  einem 
(affektartigen)  Anfangsstadium  befinden,  in  welchem  Wahnideen  noch 
gar  nicht  vorhanden  sind,  er  kann  eine  Form  des  Irreseins  bieten,  in 
welcher  Wahnideen  gar  nicht  gebildet  werden.  Zudem  vermag  der 
Kranke  seine  Wahnideen  zu  verhehlen  und  sind  solche,  wenn  auch 
überhaupt  vorhanden,  nicht  dauernd  im  Bewusstsein  gegenwärtig.  Aber 
selbst  dann,  wenn  eine  irrige  Idee  constatirt  ist,  bedarf  dieselbe  noch 
einer  eingehenden  Prüfung,  um  den  Werthcharakter  einer  Wahnidee 
zu  erhalten.  Auch  der  Geistesgesunde  kann  horrende  Verstandesirr- 
thümer  produciren  und  darin  sogar  den  Irren  übertreffen,  während 
umgekehrt  der  Wahn  eines  Irren  nicht  immer  eine  objektive  Unmög- 
lichkeit zu  enthalten  braucht  (Wahn  ehelicher  Untreue,  Vergiftungswahn). 

Nicht  der  Inhalt  ist  hier  entscheidend,  sondern  die  Entstehungs- 
weise der  fraglichen  Wahnidee,  ihr  Verhalten  zum  historischen  und 
gegenwärtigen  Bewusstsein  des  Betreffenden. 

Sie  ist  diagnostisch  werthlos,  so  lange  ihre  Entstehungs weise 
nicht  ermittelt,  ihre  Interpretation  nicht  ■  gemacht  ist. 

Zur  Verwerthung  einer  fraglichen  Wahnidee  ist  Folgendes  ent- 
scheidend : 

a)  Der  Irrthum  des  Geistesgesunden  beruht  auf  einem  Fehler 
der  logischen  Schlussbildung  oder  auf  einer  aus  Unwissenheit,  Unacht- 
samkeit oder  aus  Befangenheit  durch  einen  Affekt  oder  Aberglauben 
entstandenen  falschen  Prämisse.  Der  Wahn  eines  Geisteskranken  ist 
das  Produkt  einer  Gehirnerkrankung.  Er  ist  Folge  einer  Sinnes- 
täuschung oder  Erklärungsversuch  einer  krankhaften  Stimmung  oder 
Primordialdelir.  Er  lässt  sich  auf  einen  solchen  Ursprung  zurück- 
führen, steht  somit  mit  anderweitigen,  elementaren,  psychischen  Störungen 
(Affekte,  krankhafte  Stimmungen,  Sensationen  etc.)  in  Beziehung,  er 
hat  eine  Pathogenese,  eine  gesetzmässige  Entwicklung,  ist  somit 
nichts  Zufälliges. 

/j)  Er  steht  vielfach  mit  den  früheren  gesunden  Anschauungen, 
der  früheren  Denkweise  und  Erfahrung  in  grellem  Widerspruch.  (Ein 
Physiker,  der  fliegen  zu  können,  ein  Mathematiker,  der  die  Quadratur 


40  Cap.  VI.    Die  Simulation  des  Irreseins. 

des  Cirkels  erfunden  zu  haben,  ein  Chemiker,  der  die  Kunst  Gold  zu 
machen  zu  besitzen  vermeint.) 

y)  Der  Wahn  des  Geisteskranken  hat  immer  eine  Beziehung 
zum  Subjekt,  Ein  Geistesgesunder  kann  aus  Dummheit,  Furcht  etc. 
an  die  Existenz  von  Hexen  glauben,  er  ist  damit  nicht  irrsinnig.  Ein 
Geisteskranker  glaubt  nach  Umständen  auch  an  Hexen,  aber  nur 
weil  er  sie  sieht,  hört,  an  sich  fühlt. 

ö)  Eben  dadurch,  dass  der  Wahn  des  Irren  Theilerscheinung" 
eines  pathologischen  Vorgangs  ist,  vermögen  auch  Logik  und  Kaisonne- 
ment  nichts  gegen  ihn.  Er  steht  und  fällt  mit  der  ursächlichen  Krank- 
heit. Man  kann  dem  Kranken  ebensowenig  seinen  Wahn  wegdisputiren 
als  seine  Krankheit  mit  Reden  kuriren.  Der  Gesunde  dagegen  wird 
seinen  Irrthum  einsehen  und  corrigiren,  sobald  er  ad  absurdum  ge- 
führt ist. 

c)  Auch  die  Hallucinationen,  die  zudem  bei  anderweitigen  Hirn- 
Nervenkrankheiten,  bei  Fiebern  und  Intoxicationen  vorkommen,  sind 
an  und  für  sich  nicht  entscheidend  für  Irresein,  Sie  beweisen  schlecht- 
hin nur  das  Bestehen  eines  krankhaften  Hirnzustandes.  Ihre  Bedeu- 
tung als  Theilerscheinung  einer  Psychose  ergibt  sich  nur  aus  dem 
Nachweis  einer  solchen. 

Dann  erst  erscheinen  die  Hallucinationen  in  ihrem  rechten  Lichte, 
insofern  sie  mit  anderweitigen  elementaren  Störungen  (Verstimmungen, 
Angstzufällen  etc.)  in  Connex  stehen,  vom  getrübten  Bewusstsein 
nicht  mehr  corrigirt  werden,  Einfluss  auf  das  Handeln  gewinnen. 

Verdacht  auf  Geisteskrankheit  wird  sich  indessen  immer  ergeben 
müssen,  wenn  Hallucinationen  vorhanden  sind,  namentlich  wenn  sie  sich 
in  mehreren  Sinnesgebieten  finden. 


Cap.  VI.    Die  Simulation  des  Irreseins. 

Literatur.  Jacobi,  Reiner  Stockliausen.  Stahmann,  Casper's  Vierteljahrsschr.  VI. 
Laurent,  „etude  sur  la  Simulation  de  la  folie",  1866.  v.  Krafft,  Friedreicli's 
Blätter.  1871,  Chipley,  Journal  of  mental  science.  1866,  April.  Nicholson, 
ebenda.  1870,  Januar.     Pelman,  Irrenfreund.  1874.  Nr.  10. 

Die  im  vorausgehenden  Capitel  aufgestellten  allgemeinen  Ge- 
sichtspunkte dürften  zur  Gewinnung  der  allgemeinen  Diagnose  „Geistes- 
krankheit" genügen.  Insofern  aber  die  psychischen  Symtome  des 
Irreseins  absichtlich  vorgetäuscht  werden  können,  verlangt  der  vor- 
sichtige Richter  vom  Arzt  noch  den  speciellen  Nachweis,  dass  sie 
echt  d.  h.  nicht  simulirt  sind. 


Die  Simitlation  des  Irreseins.  41 

Die  Erfahrung  lehrt,  dass  Simulation  von  Geistesstörung  selten 
ist  und  noch  seltener  einem  wirklich  Sachverständigen  gegenüber  Er- 
folg hat. 

Meist  sind  es  Angeschuldigte,  die  zu  diesem  verzweifelten  Mittel 
greifen,  um  sich  der  Schande,  der  drohenden  Strafe  zu  entziehen, 
seltener  bilden  der  Wunsch  der  Wehrpflicht  zu  entgehen,  eine  lästige 
Ehe  zu  lösen,  eingegangene  Verbindlichkeiten  nicht  erfüllen  zu  müssen, 
Motive  zur  Simulation.  Jedenfalls  sind  es,  bei  der  natürlichen  Scheu, 
die  das  Publikum  vor  Geisteskranken  und  Irrenanstalten  hat,  nur  ganz 
mächtige  Beweggründe,  die  einen  Geistesgesunden  zur  Simulation 
treiben,  ja  es  gibt  erfahrene  Irrenärzte  ^),  die  geradezu  behaupten,  dass 
Simulation  nur  bei  mehr  oder  weniger  schon  wirklich  Geistesgestörten 
vorkomme.  Diese  Annahme  ist  insofern  richtig,  als  Simulation  eine  ganz 
gewöhnliche  Erscheinung  bei  Hysterischen  ist,  zweifellos  Irrsinnige  zu 
ihrer  Störung  zuweilen  Symptome  hinzu  simuliren  oder  bestehende 
übertreiben,  und  notorische  Simulanten  häufig  genug  erblich  defekte, 
belastete  Individuen  sind. 

Daraus  ergibt  sich  vorweg  die  Regel,  mit  der  Vermuthung  der 
Simulation  nicht  leichtsinnig  zu  sein  und  wenn  eine  Präsumption  über- 
haupt zulässig  wäre,  eher  an  wirkliche  Krankheit  denn  an  Simulation 
zu  denken,  endlich  die  Forderung,  die  exploratorische  Aufgabe  erst 
mit  der  vollen  Ueberzeugung,  dass  Krankheit  nicht  nachweisbar  sei, 
nicht  aber  mit  dem  blossen  Nachweis  der  Simulation  als  beendet 
anzusehen. 

Bezüglich  der  Chancen  für  den  Simulanten  ist  zu  berücksichtigen, 
dass  Irresein  eine  Krankheit  ist,  die  wie  jede  andere  ihre  Ursachen, 
ihre  empirisch  wahre  gesetzmässige  Entwicklung,  ihren  Verlauf,  logischen 
Zusammenhang  der  Symptome  hat  und  als  eine  Gehirnkrankheit  nicht 
auf  psychische  Phänomene  ausschliesslich  beschränkt  ist. 

Hier  haben  die  somatischen  Symptome  gestörter,  durch  Gewichts- 
abnahme sich  dokumentirender  Ernährung,  die  motorischen  Störungen, 
Pulsanomalien,  Störungen  der  vegetativen  Processe,  des  Schlafes,  Speichel- 
fluss  u.  s.  w.  ihre  ganz  besondere  Bedeutung,  nicht  minder  der  Ver- 
lauf, in  sofern  er  ein  typischer  sein  kann  und  Beziehungen  zwischen 
Exacerbation  und  Remission  der  psychischen  Symptome  mit  somatischen 
Vorgängen  (Menses  etc.)  sich  allenfalls  erweisen  lassen.  Auch  verdient 
Beachtung,  dass  jedes  psychische  Krankheitsbild  auch  seine  äussere 
Facies  hat  und  beide  im  Einklang  stehen  müssen. 


^)  Jessen,  Allg.  Zeitschr.  f.  Psych.  XVI.  H.  1. 


42  Cap.  VI.    Die  Simulation  des  Irreseins. 

Aber  abgesehen  von  all  diesen  somatischen,  der  Willenssphäre 
fast  gänzlich  entzogenen  Zeichen,  stösst  auch  die  Hervorbringung  der 
psychischen  auf  die  grössten  Hindernisse.  Man  muss  sich  in  die  Lage 
des  Simulanten  denken,  um  die  Schwierigkeit  seiner  Aufgabe  würdigen 
zu  können.  Er  gleicht  dem  Schauspieler;  aber  während  dieser  seine 
Rolle  zugetheilt  bekommt,  sie  mit  Müsse  studirt  und  memorirt,  muss 
der  Simulant  Dichter  und  Schauspieler  zugleich,  ja  noch  mehr  —  er 
muss  beständig  Improvisator  sein.  Er  befindet  sich  fortdauernd  in 
Aktion,  wenn  er  unausgesetzt  beobachtet  wird,  während  der  Schau- 
spieler zeitweise  von  der  Bühne  abtreten  und  ausruhen  kann.  Zudem 
hat  der  Simulant  nicht  ein  Parterre  von  Laien,  sondern  von  Sachver- 
ständigen vor  sich,  die  ihm  scharf  auf  die  Rolle  passen  und  durch  kein 
Theaterbeiwerk  von  ihrer  kritischen  Aufgabe  abgezogen  werden.  Trotz 
all  dieser  Vortheile  dem  Simulanten  gegenüber,  ermüdet  der  Schau- 
spieler schon  nach  wenigen  Stunden.  So'  begreift  sich  die  Thatsache, 
dass  Simulanten  durch  die  geistige  Anstrengung,  die  sie  sich  auferlegen 
müssen,  wirklich  geisteskrank  werden  können.  Aber  der  Simulant 
hat  ausserdem  den  Nachtheil,  dass  er  Laie  ist  und,  wie  die  meisten 
Romanschriftsteller  und  Bühnendichter,  nur  Carricaturen  des  wirklichen 
Wahnsinns  creirt.  Er  greift  die  am  meisten  drastischen  Züge  des 
L'reseins  heraus  und  outrirt  sie  in  jämmerlicher  Weise.  Da  er  bei  seiner 
Unkenntniss  der  Originale  meint,  in  Unsinnreden,  Umhertoben  oder 
stumpfsinnigem  Gebahren  liege  das  Entscheidende  des  L-reseins,  gefällt 
er  sich  in  Darstellungen  von  vagem  Delir  mit  möglichst  barockem 
gegensätzlichem  Inhalt,  affenartigem  Umherspringen  und  Herumtollen 
oder  stupidem  Vorsichhinstieren. 

Er  wird  theatralisch  und  ostensibel  in  seinem  Delirium,  seinem 
Wahnsinn  fehlt  die  Methode,  sein  stumpfsinniges  Gebahren  wird  von 
Miene  und  Haltung  Lügen  gestraft.  Versucht  er  den  Melancholischen 
zu  spielen,  so  scheitert  er  an  der  Unmöglichkeit  der  Vortäuschung 
der  tiefen,  schmerzlichen  Verstimmung,  der  psychischen  Anästhesie. 
Auch  stehen  ihm  die  somatischen  Symptome  dieses  Leidens  und  seine 
Exacerbationen  und  Remissionen  nicht  zu  Gebote. 

Versucht  er  den  Tobsüchtigen  zu  copiren,  so  erlahmt  bald  sein 
W^ille  an  der  Durchführung  des  Bewegungsdrangs,  der  beim  wirklich 
Tobsüchtigen  spontan  auf  Grund  innerer  Reize,  ohne  alle  Mühe  und 
Willensintention  abläuft.  Der  Simulant  muss  sich  Ruhe  gönnen  und 
so  tobfer  nur  so  lange  als  er  sich  beobachtet  glaubt.  In  seinem  Toben 
zeigt  sich  immer  noch  eine  gewisse  Umsicht  und  Rücksicht.  Er  schont 
z.  B.  seine  eigenen  Kleider  und  zerstört  nur  fremdes  Eigenthum. 


Die  Simulation  des  Irreseins.  43 

A^nch  die  consequente  Durchführung  der  Rolle  des  Verrückten 
ist  einer  aufmerksamen  Beobachtung  gegenüber ,  die  bald  die  Maske 
lüftet  und  der  wahren  Persönlichkeit  in's  Gesicht  schaut,   unmöglich. 

Der  Simulant  meint,  er  müsse  hier  Alles  auf  den  Kopf  stellen, 
er  kennt  keine  Gesetze  der  Logik  und  Ideenassociation  mehr,  während 
doch  gerade  bei  diesen  Zuständen,  wenn  sie  primäre  sind,  der  logische 
Mechanismus  erhalten  ist,  wenn  secundäre,  der  Nachweis  früherer 
logischer  Beziehungen  in  vorausgehenden  affektiven  Stadien  sich  er- 
geben muss. 

So  heuchelt  der  Simulant  gern  eine  falsche  Apperception,  verräth 
aber  zugleich  in  seiner  möglichst  unsinnigen  Antwort,  dass  er  die 
Pointe  der  Frage  wohl  erkannt  hat. 

Die  Simulation  des  Blödsinns,  der  Stupidität  scheitert  an  der 
Schwierigkeit  völlige  Affektlosigkeit  zu  heucheln  und  ihr  mimischen 
Ausdruck  zu  verleihen.  Der  Simulant  kann  einen  lauernden  Zug  in 
seiner  Miene  nicht  unterdrücken  und  verräth  ab  und  zu  durch  Hand- 
lungen und  Geberden,  dass  er'  der  Vorgänge  in  der  Aussenwelt  wohl 
bewusst  ist  und  ihnen  beobachtend  gegenübersteht. 

Die  Exploration  eines  fraglichen  Simulanten  setzt  vor  der  anderer 
zweifelhafter  Geisteszustände  Nichts  voraus  als  genügend  lange  und 
unausgesetzte  Beobachtung,  wozu  eine  Irrenanstalt  der  geeignetste 
Ort  sein  dürfte. 

Das  Bewusstsein  des  Arztes,  dass  er  einfach  Sachverständiger 
ist,  wird  ihm  die  nöthige  Objektivität  und  Ruhe  gegenüber  der  Hals- 
starrigkeit und  Frechheit  eines  fraglichen  Simulanten  geben. 

Der  synthetische  Weg  der  Beobachtung  ist  der  einzig  richtige. 
Nicht  Einzelsymptome,  sondern  die  Würdigung  der  ganzen  Persön- 
lichkeit, Dicht  Präsumption,  sondern  vorurtheilslose  Auffassung  der 
gesammten  Thatsachen  müssen  die  Diagnose  herbeiführen. 

Gelingt  der  Nachweis,  dass  das  Bild  der  fraglichen  Krankheit 
einem  der  geläufigen  der  Classification  entspricht,  so  erweist  sich  das- 
selbe als  ein  empirisch  wahres  — ;  durchaus  nicht  darf  jedoch  aus  der 
Nichtübereinstimmung  desselben  mit  den  Schulbildern  des  Lehrbuchs 
der  umgekehrte  Schluss  gezogen  werden.  Alle  unsere  Eintheilungen 
sind  dogmatisch  und  bei  der  individuellen  Mannigfaltigkeit  dieser  Krank- 
heiten der  Person  niemals  erschöpfend.  Gibt  es  doch  degenerative 
Krankheitsbilder,  namentlich  auf  hereditärer  Grundlage,  denen  gerade 
das  Proteusartige,  in's  psychologische  Classificationsschema  nicht  ein- 
reihbare Individuelle  des  Krankheitsbilds  ein  anthropologisch-klinisch 
bedeutsames  Merkmal   aufdrückt,    und    sind  doch  gerade  häufig  Ver- 


44  Cap.  VI.    Die  Simulation  des  Irreseins. 

brecher,  bei  denen  man  sich  der  Simulation  zu  versehen  hat,  belastete, 
degenerative  psychische  Existenzen. 

Die  älteren  Lehrbücher  enthielten  eine  Reihe  von  Kunstgriffen  (Chloro- 
formirung,  Ekelkuren,  Douchen,  Electricität ,  Einsperrung  zu  tobenden  und  ekel- 
haften Kranken,  fingirte  lebensgefährliche  Angriffe,  Feuerlärm  etc.),  die  dazu 
dienen  sollten,  dem  Simulanten  seine  Rolle  zu  verleiden,  ihn  zu  entlarven.  Sie 
sind  theils  unsicher,  theils  inhuman  und  gefährlich,  jedenfalls  ein  Armuths- 
zeugniss  für  das  Wissen  und  Können  eines  Arztes,  der  ihrer  bedarf.  Ein  guter 
Kunstgriff  kann  es  sein  gegen  die  Umgebung  ina  Beisein  des  Simulanten  die 
harmlose  Bemerkung  fallen  zu  lassen,  der  Betreffende  dürfte  wohl  krank  sein, 
aber  am  Krankheitsbild  fehlten  die  und  die  Symptome.  Nicht  selten  geht  der 
Simulant  dann  in  die  gestellte  Falle,  adoptirt  sie  und  verräth  sie  damit  als  vsdll- 
kürlich  erzeugte  (Jacobi  —  Fall  Reiner  Stockhausen;  Jessen  —  Fall  Ramke). 

Beob.  1.  Simulation  von  transitorischem  Irresein.  Eine  junge 
Wittwe  simulirte  aus  Habsucht  eine  an  ilir  begangene  Nothzucht  und  gefolgte 
Geistesstörung.  Sie  spielte  ihre  Rolle  mit  solchem  Erfolg,  dass  ihr  Opfer,  einer 
der  reichsten  und  angesehensten  Kaufleute  in  S.  einen  Monat  im  Gefängniss 
schmachtete.     Die  Detail  des  denkwürdigen  Falles  sind  folgende: 

Am  2.3.  Nov.  187  .  war  Wittwe  E.  angeblich  nach  einem  an  ihr  verübten 
unsittlichen  Attentat  irrsinnig  geworden.  Sie  schrie,  warf  Alles  durcheinander, 
riss  sich  die  Haare  aus,  zerriss  ihre  Kleider  und  delirirte.  ,,Du  bist  es!  du  Räuber, 
schlechter  Kerl!  Gehe,  ich  will  nicht !  Du  meinst  Niemand  sehe  uns,  Wollüstling! 
aber  Gott  sieht  uns!  Zieh  deine  Hosen  an,  bedecke  deine  schimpfliche  Nacktheit, 
elender  Kerl!  Ah,  du  willst  nicht  die  Thür  öffnen  —  nun  ich  habe  noch  genug  Kraft 
um  mich  deiner  zu  erwehren.  Ich  will  nicht  dein  Geld!  Mein  Mann  möge 
kommen,  ich  werde  ihm  Alles  sagen,  zu  lange  schon  verfolgst  du  mich." 

Um  6  Uhr  ins  Irrenhaus  gebracht,  delirirte  und  tobte  sie  noch  in  dieser 
Weise  fort,  wurde  nach  einer  Stunde  ruhig  und  geordnet,  ass,  schlief  die  Nacht 
über  und  bot  am  folgenden  Morgen  nichts  Pathologisches  mehr.  Das  Ganze  hatte 
den  Anschein  einer  Mania  transitoria  nach  einer  heftigen  Gemüthsbewegung. 
Die  E.  war  zwar  nicht  zu  Psychosen  disponirt,  aber  sie  lebte  in  drückenden  küm- 
merlichen Verhältnissen.  Auffällig  war  zunächst  und  gegen  Man.  transit.  sprechend 
der  zusammenhängende,  logische  Charakter  der  deliranten  Aeusserungen,  anstatt 
der  Verworrenheit  und  wilden  Ideenflucht  wie  sie  sonst  bei  Man.  transit.  beob- 
achtet wird. 

Die  E.  hatte  verschiedene  Hautabschürfungen  und  Contusionen,  die  jedoch 
mehrere  Tage  alt  waren.  Eine  Untersuchung  ihrer  Genitalien  verweigerte  sie 
bis  zum  27.  Diese  ergab  nichts  Wesentliches,  obwohl  die  E.  heftige  Schmerzen 
in  den  Geschlechtstheilen  zu  haben  behauptete.  Mit  den  detaillirtesten  Angaben 
beschuldigte  sie  einen  angesehenen  Kaufmann,  bei  dem  sie  arbeitete,  dass  er  ein 
unsittliches  Attentat  an  ihr  begangen  habe.  Die  Art  der  gefundenen  Abschür- 
fungen machte  den  Eindruck,  als  ob  die  E.  sie  sich  selbst  zugefügt  hätte.  Der 
Arzt  äusserte  seinen  bezüglichen  Verdacht.  Die  E.  war  davon  betroffen  und  am 
folgenden  Morgen  bot  sie  einen  neuen  Anfall  von  Geistesstörung.  Die  E.  war 
die  4  Tage  über  in  einer  Abtheilung  von  Tobsüchtigen  verpflegt  und  beobachtet 
worden.  Ihr  diesmaliger  Anfall  war  eine  Copie  dessen,  was  sie  bei  anderen 
Kranken    gesehen    hatte,    nicht    eine    Wiederholung   ihres    ersten  Anfalls!      Sie 


Beob.  1.    Simulation  von  Iransitorischem  Irresein.  45 

schwatzte  verworren,  sprang,  sang,  tanzte.  Aber  ihre  sclieinbare  Ideenflucht 
bestand  bloss  in  der  sinnlosen  Aneinanderreihung  von  Worten,  ihre  Agitation 
entsprach  dem  nicht  und  bestand  in  einer  Reihe  ungeordneter,  zusammenhangs- 
loser Bewegungsakte.  Sie  wurde  bald  erschöpft,  musste  sich  Ruhe  gönnen  und 
zeigte  sich  nur  dann  „manisch",  wenn  sie  sich  beobachtet  wusste.  Mitten  in 
ihrer  Erregung  gab  sie  zudem  genau  Acht  auf  das,  was  der  Arzt  sagte  und  an- 
ordnete. Auch  die  gewöhnlichen  somatischen  Störungen  fanden  sich  in  diesem 
Anfall  angeblicher  Manie  nicht  vor,  der  3  Tage  und  2  Nächte  dauerte,  bis  die 
E.  endlich  erschöpft  einschlief,  um  nach  15  Stunden  geordnet  zu  erwachen.  Als 
man  nun  der  E.  sagte,  dass  man  sie  durchschaue,  simulirte  sie  eine  vage  Nerven- 
krankheit, mit  Ohnmächten,  Herausfallen  aus  dem  Bett  etc.,  bewusstlosem  Liegen- 
bleiben, bis  man  sie  liegen  Hess,  worauf  sie  dann  selbst  ins  warme  Bett  zurück- 
kroch. Nun  simulirte  sie  Hustenanfälle  mit  Blutspeien,  aber  als  die  Quelle  der 
Blutung  wurde  Reibung  der  Zunge  an  einem  cariösen  Zahn  nachgewiesen.  ■ 

Die  E.  hatte  früher  als  eine  rechtliche  Frau  gegolten,  ihre  Pflichten  als 
Gattin  imd  Mutter  gut  erfüllt,  in  der  Fabrik  des  reichen  Kaufmanns,  den  sie  so 
schwer  beschuldigte ,  Verdienst  gefunden.  Schon  früher  hatte  sie  den  Kaufmann 
verdächtigt,  dass  er  sie  mit  Anträgen  verfolge  und  dadurch  sich  Sympathien  und 
Geldunterstützungen  Seitens  wohlwollender  Familien  verschafft.  Die  E.  war 
mittlerweile  Wittwe  geworden.  Im  Oktober  erhielten  die  Freunde  der  E.  anonyme 
Briefe,  worin  ihr  Lebenswandel  verdächtigt  wiirde.  Im  Zusammenhalt  mit  ihren 
früheren  Klagen,  hielt  man  diese  Briefe  vom  Kaufmann  hejrührend,  der  ihr  die 
Freunde  abwendig  machen,  die  E.  ins  Elend  stürzen  wolle,  um  dann  leichter 
zum  Ziel  zu  gelangen.  Man  bewies  ihr  noch  mehr  Sympathie  und  unterstützte 
sie  noch  reichlicher. 

Am  21.  November  Abends  kam  die  E.  klagend  zu  ihren  Freunden  und 
jammerte,  dass  ihr  der  Kaufmann  Gewalt  angethan  habe.  Die  Sache  wnrde  ruch- 
bar.    Das  Weitere  ist  dem  Leser  bekannt. 

Auffällig  war  zunächst,  dass  E.  in  dem  gefährlichen  Hause .  geblieben  war, 
während  sie  doch  anderwärts  leicht  Verdienst  gefunden  hätte,  dass  sie  sich  beeilt 
hatte,  jeweils  die  ihr  angethanen  Beleidigungen  bekannt  zu  machen,  dass  der 
gerichtsärztliche  Befund  ihrer  Verletzungen  weder  der  Zeit  noch  der  Art  nach 
ihren  Angaben  entsprachen,  dass  die  Attentatsscene  mit  Rücksicht  auf  Ort 
und  Umstände  nicht  möglich  und  die  E.  eine  unschöne  decrepide  Person  von 
32  Jajiren  war. 

Der  Ruf  der  E.  war  besser  gewesen  als  ihre  frühere  Aufführung  an  fremdem 
Ort.  Sie  war  eine  coquette  Dirne  gewesen,  hatte  im  Ruf  einer  Ehebrecherin  ge- 
standen und  einer  Heuchlerin.  So  hatte  sie  einen  Geistlichen  mit  angeblichen 
Heiligenvisionen  angeführt  und  sonstigen  Schwindel  getrieben,  ihren  Mann  be- 
stohlen  und  Andere  in  Verdacht  gebracht,  schliesslich  sogar  einen  an  ihr  be- 
gangenen Mordversuch  fingirt,  sich  dadurch  unmöglich  gemacht  und  mit  einem 
Liebhaber  in  der  Welt  herumgetrieben.  Ihre  Schwindeleien  da  und  dort  hatte 
sie  immer  nur  gemacht,  um  sich  interessant  zu  machen,  Geldunterstützungen  zu 
erhalten.  .  Deshalb  hatte  sie  auch  den  Nothzuchtversuch  und  den  Anfall  von 
Geistesstörung  simulirt.  Das  sorgfältige  Gutachten  wirft  die  Frage  auf,  ob  dieses 
Simuliren  und  Heucheln  seine  Begründung  nicht  in  einem  Zustande  von  Hysterie 
finde.  Die  E.  ist  indessen  weder  erblich  belastet  noch  je  hysterisch  gewesen. 
Ihre  Anfälle  in  der  Beobachtungszeit  waren  e:anz  bestimmt  simulirt.     Die  E.  hat 


46  Cäp.  VI.    Die  Simulation  des  Irreseins. 

nur  geschwindelt  und  simulirt  wenn  sie  in  Notli  war,  Geld  brauchte.  Sie  war 
nie  wirklich  irrsinnig  und  ist  für  ihre  Handlungen  in  vollem  Umfang  verant- 
wortlich zu  erachten.    (Dr.  Marandon,  Annal.  med.  psycho!  Sept.  1879.) 

Beob.  2.  Simulation  von  allgemeiner  Verwirrtheit,  später  von 
epileptischen  Anfällen.  Delbes,  30  J.,  wurde  zur  Beobachtung  nach  der 
Irrenanstalt  gesandt  und  in  den  ersten  8  Tagen  in  der  Isolirzelle  beobachtet.. 
Er  schwatzte  sinnlos ,  meist  von  militärischen  Dingen ,  der  Zustand  ähnelte 
einer  chronischen  Manie  im  Uebergang  zum  Blödsinn,  obwohl  derselbe  erst  seit 
kurzer  Zeit  datirte.  Er  ass  anfänglich  nicht,  dann  auf  Nöthigung.  Auf  die  Frage 
nach  seinem  Alter  erwiederte  er:  „ja  mein  General,  ich  will  das  Pferd  tränken". 
Diesen  Aiisspruch  machte  er  zögernd,  wie  unsicher.  Somatische  Störungen  fanden 
sich  keine  vor.  Er  schlief  gut.  Nur  wenn  er  sich  beobachtet  wusste,  schwatzte 
er,  sonst  war  er  ruhig.  In  seiner  scheinbar  stumpfen  Miene  war  der  Ausdruck 
der  Spannung  nicht  zu  verkennen. 

Man  versetzte  ihn  in  die  Abtheilung  der  Aufgeregten  und  that  dergleichen 
als  ob  man  an  seine  Krankheit  glaube  oder  wenigstens  ihn  nicht  beachte. 
D.  stüdirte  die  Mitpatienten,  er  copirte  sie,  machte  ihre  lebhaften  Gestikulationen 
nach,  blieb  Nachts  wach  und  schwatzte  so  laut,  dass  es  der  Wärter  hören  musste. 
Schliesslich  wurde  ihm  seine  Rolle  beschwerlich.  Während  er  fortfuhr  in  Gegen- 
wart der  Aerzte  sinnlos  zu  schwatzen,  vergass  er  sich  soweit  mit  dem  Wärter 
ganz  vernünftig  zu  plaudern.  Nach  etwa  Monatsfrist  wurde  ihm  bedeutet,  man 
durchschaue  ihn  und  wenn  er  bis  morgen  nicht  vernünftig  sei,  so  werde  man 
Zwangsmittel  anwenden.  Am  anderen  Morgen  war  er  ruhig  imd  geordnet.  Er 
sprach  mit  den  Aerzten,  behauptete  sie  zum  erstenmal  zu  sehen,  nicht  zu  wdssen, 
wie  er  daher  gekommen.  War  diese  Amnesie  möglich,  hatte  D.  nicht  einfach 
seine  Taktik  geändert?  Verf.  hält  mit  Recht  Amnesie  für  möglich,  aber  diese 
behauptete  umfasste  ein  Jahr,  während  die  angebliche  Krankheit  erst  seit 
4  Monaten  datirte.  Aber  abgesehen  von  Allem  andern  erwies  sich  diese  Amnesie 
als  eine  erlogene,  da  D.,  wie  oben  erwähnt,  dem  Wärter  die  genauesten  Details 
über  diese  amnestische  Periode  seines  Lebens  mitgetheilt  hatte.  D.  spielte  längere 
Zeit  in  Kreuzverhören  ganz  gut  die  Rolle  des  Amnestischen,  endlich  gelang  es 
ihn  zu  ermüden,  zu  verwirren  und  durch  eine  unbedachte  Aeusserung,  er  wisse, 
dass  er  der  Fälschung  öffentlicher  Schriften  bezüchtigt  sei  (dieses  Factum  fiel  in 
die  amnestische  Zeit!)  zu  entlarven.  Am  folgenden  Tag  versuchte  er  seinen 
Lapsua  zu  bemänteln,  man  theilte  ihm  mit,  dass  seine  Simulation  erkannt  sei 
und  seine  Verurtheilung  bevorstehe.  Er  war  verblüfft,  in  einer  ungekünstelten 
Erregung.  Eine  Stunde  später  fand  man  ihn  auf  dem  Boden  liegend,  die  Daumen 
eingeschlagen,  Schaum  vor  dem  Mund,  die  Kiefer  zusammengepresst.  Gesichts- 
farbe indess  normal,  Pupillen  auf  Lichtreiz  reagirend,  Respiration  ruhig.  Als 
man  nach  Wasser  rief,  um  es  ihm  ins  Gesicht  zu  spritzen,  drehte  er  sich  nach 
der  Wand.  Am  andern  Morgen  fing  er  wieder  an  sinnlos  zu  schwatzen.  Als 
man  ihn  fragte,  wie  es  ihm  gehe,  sagte  er:  „heute  Nacht  habe  ich  meinen 
Sergeant  gesehen,  er  sagte  mir,  dass  ich  erschossen  werden  soll  und  ich  habe 
doch  nichts  begangen".  Weder  mimisch  noch  affektiv  bot  sich  für  diese  „Hallu- 
cination"  ein  stützendes  Merkmal. 

Der  gewissenhafte  Beobachter  setzte  das  Studium  objectiv  fort  und  ver- 
schaffte sich  Kenntniss  über  den  Anfang  des  der  Simulation  verdächtigen  Zustands. 
D.  hatte  schon  am  2.  Tage  begonnen  immer  weniger  zu  essen,  bis  er  ohnmächtig 


Beob.  2.    Simulation  von  Verwirrtheit,  epileptischen  Anfällen.  47 

wurde.  Dann  begann  das  sinnlose  Schwatzen.  Wiederholt  waren  auch  nervöse 
Krisen  ähnlich  hysterischen  Anfällen  beobachtet  worden,  die  der  eifahrene  Arzt 
für  nicht  simulirte  hielt. 

Die  Wechselfälschungen,  die  D.  im  Mai  bis  Juni  1874  begangen  hatte  und 
die  im  Betrag  von  über  4000  Frcs.  den  Gegenstand  der  Anklage  bildeten,  waren 
mit  grossem  Raffinement  ausgeführt  worden.  Schon  1867  war  er  wegen  Zech- 
prellerei kriegsgerichtlich  verurtheilt  worden,  1873  wegen  Betrugs. 

In  den  Verhören  wegen  seines  letzten  Verbrechens  hatte  er  mit  grosser 
Schlauheit  sich  benommen.  Sein  incohärentes  Schwatzen  trat  erst  auf  als  er  merkte, 
dass  seine  Sache  verloren  sei  und  er  einige  Jahre  Freiheitsstrafe  zu  gewärtigen  habe. 

In  D.'s  Familie  sind  keine  Fälle  von  Irresein  oder  Nervenkrankheit  vorge- 
kommen, er  war  immer  gesund  bis  auf  nervöse  Krisen,  wenn  er  eine  heftige 
Gemüthsbewegung  erfuhr,  auch  kann  nicht  geleugnet  werden,  dass  er  eine  neuro- 
pathische  Constitution  hat. 

Die  Anwendung  der  Zwangsmittel,  um  den  Simulanten  zur  Aufgebung  und 
zum  Eingeständniss  seiner  Simulation  zu  bewegen,  verschmähte  der  ehrenwerthe 
Experte  als  inhuman,  unsicher  und  gefährlich.  Ueber  Auftrag  des  Dr.  D.,  Ober- 
arzt des  Asyls,  wurde  dem  Simulanten  eine  24stündige  Frist  gegeben  und  mit 
der  Douche  gedroht,  falls  er  seine  Simulation  nicht  aufgebe.  Die  Frist  verstrich, 
D.  wurde  gedoucht,  bat  um  Gnade,  gestand  seine  Simulation  und  war  mit  einem 
Mal  umgewandelt.  Er  bekannte  sein  Verbrechen  und  suchte  es  nur  damit  zu 
beschönigen,  dass  er  den  Plan  dazu  in  einer  jener  Zeiten  von  geistiger  Schwäche, 
die  seinen  nervösen  Krisen  zu  folgen  pflegten,  gefasst  habe.  Die  folgende  Beob- 
achtung, die  freilich  durch  eine  Entweichung  des  D.  gestört  wurde,  ergab  keine 
Zeichen  eines  psychopathischen  Zustands.  Auch  für  Epilepsie  Hess  sich  kein 
Anhaltspunkt  gewinnen,  sodass  D.  gewiss  mit  Fug  und  Recht  seine  Strafe  erlitt. 
(Dr.  Marandon,  Annal.  med.  psychol.  Januar  1877.) 

Beob.  3.  Simulirtes  Irresein.  A.,  28  J.,  Gärtner,  wiederholt  wegen 
Diebstahl  und  Betrug  verurtheilt,  hatte  schon  9mal  erfolgreich  Geistesstörung 
simulirt  und  in  Irrenanstalten  reichlich  Gelegenheit  zum  Studium  wirklicher 
Kranker  gefunden.  Anlässlich  eines  neuen  Diebstahls  verurtheilt,  war  er  sofort 
wieder  in  seine  frühere  Rolle  gefallen  und  der  Irrenanstalt  zur  Beobachtung 
zugeführt  worden.  Somatisch  ist  er  nicht  krank.  Wenn  allein,  scheint  er  auf- 
geregt und  delirirt  von  einer  Frau,  die  ihn  verfolge.  Wenn  man  ihn  besucht, 
wächst  die  Unruhe  und  macht  er  ganz  sinnlose  Geschichten.  Mehrmals  hat  er 
seine  Kleider  zerrissen,  aber  immer  nur  an  den  Nähten.  Auf  Fragen  gibt  er 
recht  unsinnige  Antworten,  aus  denen  aber  ein  Verständniss  der  Frage  klar 
hervorgeht.  Sein  Gebahren  ändert  sich,  je  nachdem  er  sich  beobachtet  oder 
nicht  beobachtet  glaubt.  Der  Zustand  nähert  sich  dem  Bild  einer  Manie  mit 
Verfolgungswahn.  Als  der  Arzt  ihm  erklärt,  er  durchschaue  ihn  und  er 
riskire  nur  wirklich  geisteskrank  zu  werden,  ist  er  wie  umgewandelt  und  bekennt 
offen  seinen  Betrug.  Trotzdem  simulirt  er  im  Termine  wieder.  Er  scheint  zu 
halluciniren,  heuchelt  Amnesie  für  Alles,  zerreisst  plötzlich  seinen  Anzug,  schreit 
„verurtheilt  mich  nur"  und  spektakelt  so,  dass  er  weggeführt  werden  muss.  Beim 
Abführen  singt  er  die  Marseillaise.  •  Dieser  Simulationsversuch  war  denn  doch 
zu  plump.  Er  wird  verurtheilt.  In  der  Strafhaft  simulirt  er  wieder  in  der  Hoff- 
nung, in  ein  Asyl  zu  kommen,  wo  er  leichter  entweichen  kann.  Er  täuscht  auch 
wirklich  den  Gefängnissarzt,  aber  statt  in  ein  fremdes  Asyl  zu  kommen,  wie  er 


48  Cap.  VI.    Vorgeschütztes  Irresein. 

gehofft  hatte,  bringt  man  ihn  wieder  zu  Dr.  Billod,  wo  er  sofort  zum  zweiten 
Mal  entlarvt  wird.     (Annales  med.  psycho!.,  Juli  1868.) 

Weitere  Fälle:  Simulirter  Blödsinn:  Friedreich's  Blätter.  1865.  H.  5. 
Livi,  Archiv,  italiano.  1872.  Juli.  Bucknill  u.  Tuke,  Lehrb.  p.  374,  375.  Bonnet, 
Ann.  med.  psycho!  1866.  Nov.     Fischer,  Friedreich's  Blätter.  1877.  H.  3. 

Simulirte  allgem.  Verwirrtheit :  Annal.  med.  psychol.  1864.  Mai.  1875.  März. 

Manieartige  Aufregung:  Lombroso,  Archiv,  italiano.  1867.  Nov.  Zippe, 
Psychiatr.  Centralbl.  1875.  1  u.  2. 

Simulation  neben  gleichzeitiger  Psychose :  Laehr,  Arch.  f.  Psych.  I.  Ingels, 
Bulletin  de  la  societe  de  medecine  de  Gand.  1868.  (Ein  Irrer,  der,  um  in  einer 
Irrenanstalt  Versorgung  zu  finden,  zu  seiner  Krankheit  noch  eine  Psychose  simulirt 
hatte.)  Stark,  Friedreich's  Blätter.  1875.  H.  2.  (Angebliche  Amnesie  für  das 
Verbrechen  bei  zweifelloser  Geistesstörung.)  v.  Krafft,  Lehrb.  d.  Psychiatrie.  III. 
Fall  109.     (Circuläres  Irresein,  daneben  Simulation  von  Blödsinn.) 

An  die  Fälle  simulirter  Geistesstörung  reihen  sich  solche  wo 
Irresein  vorgeschützt  wird,  frühere  Anfälle  angeblicher  Seelen- 
störung oder  Beeinträchtigung  der  psychischen  Funktionen  durch  eine 
Kopfverletzung,  einen  apoplectischen  oder  epileptischen  Anfall  etc., 
für  die  Zeit  eines  begangenen  Verbrechens,  eines  eingegangenen  Ver- 
trags, dessen  Erfüllung  lästig  ist,  geltend  gemacht  werden.  In  foro 
gilt  natürlich  der  Satz  „onus  probandi  incumbit  alleganti",  aber  für 
den  Experten  kann  es  äusserst  schwierig  sein,  zu  ermitteln,  wie  weit 
die  subjektiven  Beschwerden  begründet,  zeitlich  und  ursächlich  auf 
ein  allegirtes  Moment  (z.  B.  bei  Klagen  auf  Schadenersatz  nach  Körper- 
verletzung) zurückführbar  sind.  Strenge  Objektivität  ist  hier  erfor- 
derlich. Die  Angaben  der  Angehörigen  und  des  fraglichen  Kranken 
sind  hier  mit  grosser  Vorsicht  zu  verwerthen. 

Dahin  gehörige  Fälle:  Deutsche  Zeitschr.  f.  Staatsarzneikunde.  1859, 
p.  167,  von  den  Verwandten' vorgeschützte  Geistesstörung,  um  den  Angehörigen 
der  Consci-iption  zu  entziehen. 

Annal.  med.  psychol.  1866,  März.  Ein  junger  Mensch  verletzt  im  Affekt 
seinen  Vater.  Die  Verwandten  schützen  Seelenstörung  A^or,  um  den  Thäter  der 
Strafe  zu  entziehen. 

Moos,  Archiv  d.  Augenheilkde.  1869,  Bd.  I,  Zwei  Ohrenkranke,  wegen 
Meineids  vor  Gericht,  schützen  zeitweise  Geistesstörung,  bedingt  durch  ihr  Ohren- 
leiden, vor. 

Buchner,  Friedreich's  Blätter  1869,  H.  5.  Livi  u.  Tamburini,  Rivista  speri- 
mentale  1875,  fascic.  4  u.  5.  (Die  Expertise  macht  moralisches  Irresein  geltend, 
bleibt  aber  den  wissenschaftlichen  Beweis  schuldig.)  Meyer,  Allgem.  Zeitschr.  f. 
Psych.  1867,  H.  3  (von  der  Vertheidigung  behauptete  Nymphomanie  u.  Dementia). 
Schuhmacher,  Deutsche  Zeitschr.  f.  Staatsarzneikde.  1868.  Derselbe,  Friedreich's 
Blätter  1871,  H.  1. 

Casper-Liman,  Handb.  6.  Aufl.  Fall  277,  278,  280  (vorgeschütztes  Schwan- 
gerschaftsgelüste), 281  (dito),  283  (Diebstahl,  vorgeschützte  Zerstreutheit). 


Cap.  VII.    Das  Alter  der  strafrechtlichen  Unreife.  49 


B.    Specieller  und  klinischer  Theil. 

Die  Aufgabe  der  gerichtlichen  Psychopathologie  besteht  in  der 
Ermittlung  des  Einflusses  organisch  bedingter  Störungen  des  geistigen 
Lebens  auf  die  zur  Höhe  des  vom  Gesetzgeber  geforderten  freien 
Wollens  nothwendigen  psychischen  Vorgänge  und  im  concreten  Fall 
in  dem  Nachweis,  dass  diese  Bedingungen  eines  (relativen)  freien 
Wollens  durch  eine  Hirnerkrankung  (Geistesstörung)  fehlen  oder  nur 
noch  mangelhaft  vorhanden  sind. 

Die  organischen  Momente,  aus  welchen  eine  Unfähigkeit  oder 
Unvollkommenheit  der  Selbstbestimmung  sich  ergibt,  lassen  sich  über- 
sichtlich zusammenfassen  als 

1.  Noch  nicht  erlangte  Reife  der  körperlichen  und  geistigen  Ent- 
wicklung eines  zur  Erreichung  jener  Reife  befähigten  Indi- 
viduums (Alter  der  strafrechtlichen  Unreife  —  Kindheit  und 
Unmündigkeit). 

2.  Hemmungen  der  Entwicklung,  welche  das  Gehirn  vor  erreichter 
Ausbildung  getroffen  haben  (Idiotie,  angeborener  Schwachsinn). 

3.  Krankheitsvorgänge,  welche  nach  erfolgter  Entwicklung  des 
Gehirns  die  psychischen  Funktionen  selbständig  und  in  mehr 
chronischer  Weise  in  Störung  versetzt  haben.  (Geisteskrank- 
heiten.) 

4.  Degenerative,  meist  erbliche  Einflüsse,  welche  bei  wenig  oder 
nur  formell  geschädigten  intellektuellen  Funktionen  vorzugs- 
weise in  Anomalien  der  affektiven  und  ethischen  Leistungen 
(Charakter)  sowie  des  Trieblebens  sich  kundgeben.  (Psychische 
Degenerationszustände.) 

5.  Transitorische,  meist  symptomatische  Störungen  der  psychischen 
Funktionen.    (Zustände  krankhafter  „Bewusstlosigkeit".) 


Cap.  VII.    Das  Alter  der  strafrechtlichen  Unreife. 
(Kindheit  und  Unmündigkeit.) 

Literatur.  Mittermaier,  Friedreich's  Blätter  1864,  H.  5,  1865,  H.  3.  Legrand  du 
Saulle,  Gaz.  des  hopitaux  1867,  Nr.  115,  118.  Derselbe,  Annal.  d'hygiene 
publ.  1868,  Oct.  De  Snieth,  über  moralische  u.  intellektuelle  Abnormitäten 
bei  den  Kindern.     Presse  medicale  1869,  Nr.  43. 

V.  Krafft-Ebing,  gericiitl.  Psychopathologie.     2.  Auflage.  4 


50  Cap.  VII.    Das  Alter  der  strafrechtlichen  Unreife. 

Gesetzl.  Bestimmungen.  Deutsches  St.-G.-B.  §.  55:  Wer  bei  Begehung  einer 
Handlung  das  zwölfte  Lebensjahr  nicht  vollendet  hat,  kann  wegen  derselben 
nicht  strafrechtlich  vei'folgt  werden. 

§.  56:  Ein  Angeschuldigter,  welcher  zu  einer  Zeit,  als  er  das  zwölfte, 
aber  nicht  das  achtzehnte  Lebensjahr  vollendet  hatte,  eine  strafbare  Hand- 
lung begangen  hat,  ist  freizusprechen,  wenn  er  bei  Begehung  derselben  die 
zur  Erkenntniss  ihrer  Strafbarkeit  erforderliche  Einsicht  nicht  besass. 

In  dem  ürtheil  ist  zu  bestimmen,  ob  der  Angeschuldigte  seiner  Familie 
überwiesen  oder  in  eine  Erziehungs-  oder  Besserungsanstalt  gebracht  werden 
soll.  In  der  Anstalt  ist  er  so  lange  zu  behalten,  als  die  der  Aiistalt  vor- 
gesetzte Verwaltungsbehörde  solches  für  erforderlich  erachtet,  jedoch  nicht 
über  das  vollendete  zwanzigste  Lebensjahr. 

§.  57:  Wenn  ein  Angeschuldigter,  welcher  zu  einer  Zeit,  als  er  das 
zwölfte,  aber  nicht  das  achtzehnte  Lebensjahr  vollendet  hatte,  eine  strafbare 
Handlung  begangen  hat,  bei  Begehung  derselben  die  zur  Erkenntniss  ihrer 
Strafbarkeit  erforderliche  Einsicht  besass,  so  kommen  gegeai  ihn  folgende 
(mildere)  Bestimmungen  zur  Anwendung: 


Die  Freiheitsstrafe  ist  in  besonderen,  zur  Verbüssung  von  Strafen  jugend- 
licher Personen  bestimmten  Anstalten  oder  Räumen  zu  vollziehen. 

Oesterr.  St.-G.-B.  §.  2:  Die  Handlung  oder  Unterlassung  wird  nicht  als 
Verbrechen  zugerechnet,  wenn  d)  der  Thäter  noch  das  vierzehnte  Jahr  nicht 
zurückgelegt  hatte. 

§.  237:  Die  strafbaren  Handlungen,  die  von  Kindern  bis  zum  vollendeten 
zehnten  Jahr  begangen  werden,  sind  bloss  der  häuslichen  Züchtigung  zu 
überlassen,  aber  von  dem  angehenden  elften  bis  vierzehnten  Jahr  werden 
Handlungen,  die  nur  wegen  Unmündigkeit  des  Thäters  nicht  als  Verbrechen 
zugerechnet  werden,  als  Uebertretungen  bestraft. 

§.  269:  Unmündige  (zehntes  bis  vierzehntes  Jahr)  können  auf  zweifache 
Art  schuldig  werden:  a)  durch  strafbare  Handlungen,  welche  nach  ihrer 
Eigenschaft  Verbrechen  wären,  aber  wenn  sie  Unmündige  begehen  (§.  237), 
nur  als  Uebertretungen  bestraft  werden;  b)  durch  solche  strafbare  Hand- 
lungen, welche  an  sich  nur  Vergehen  oder  Uebertretungen  sind. 

§.  270:  Die  von  Unmündigen  begangenen  strafbaren  Handlungen  der 
ersten  Art  sind  mit  Verschliessung  an  einem  abgesonderten  Verwahrungsorte, 
je  nach  Beschaffenheit  der  Umstände,  von  1  Tag  bis  6  Monaten  zu  bestrafen. 
Diese  Strafe  kann  nach  §.  253  verschärft  werden. 

§.  271  (Verschärfung  der  Strafe):  Die  Umstände,  auf  welche  bei  Be- 
stimmung der  Strafzeit  und  der  Verschärfung  Rücksicht  zu  nehmen  ist,  sind 
a)  die  Grösse  und  Eigenschaft  der  strafbaren  Handlung;  b)  das  Alter  des 
Schuldigen,  je  nachdem  dasselbe  sich  mehr  der  Mündigkeit  nähert;  c)  seine 
Gemüthsart  —  nach  der  sowohl  aus  der  gegenwärtigen  Handlung  als  aus 
dem  vorhergehenden  Betragen  sich  äussernden  Bosheit  oder  Unverbesser- 
lichkeit. ' 

§.  272:  Mit  dieser  Bestrafung  der  Unmündigen  ist  nebst  einer  ihren 
Kräften  angemessenen  Arbeit  stets  ein  zweckmässiger  Unterricht  des  Seel- 
sorgers oder  Katecheten  zu  verbinden. 

§.  273:    Die  von  Unmündigen    begangenen    strafbaren  Handlungen  der 


Kindliclies  Alter.  51 

zweiten  Art  (welche  das  Gesetz  nur  als  Vergehen  und  Uebertretungen  be- 
zeichnet) sind  insgemein  der  häuslichen  Züchtigung  zu  überlassen. 

Oesterr.  St.-G.-Entw.  §.  60 — 63  (wesentlich  conform  dem  Deutsch.  St.-G.-B. 
§.  55—58). 

Code  penal  frangais  Art.  66:  Ist  der  Angeklagte  noch  nicht  16  Jahre 
alt  und  wird  entschieden,  dass  er  ohne  Unterscheidungsvermögen  gehandelt 
habe,  so  wird  er  freigesprochen,  jedoch,  je  nach  Umständen,  seinen  Eltern 
zurückgegeben  oder  in  eine  Besserungsanstalt  gebracht,  um  dort  erzogen  und 
soviel  Jahre  als  das  Urtheil  bestimmt,  in  Haft  gehalten  zu  werden,  jedoch 
unter  keinen  Umständen  über  das  zurückgelegte  20.  Jahr  hinaus. 

(Ein  Gesetz  vom  5.  August  1850  modificirt  im  Interesse  der  Rettung 
sittlich  verkommener  jugendlicher  Individuen  diese  Bestimmung  dahin,  dass 
zweierlei  Anstalten  angeordnet  werden  —  colonies  penitentiaires  für  zu 
6  Monaten  bis  2  Jahren  Verurtheilte ,  sowie  für  wegen  Mangel  des  Unter- 
scheidungsvermögens Freigesprochene,  aber  in  ein  Correctionshaus  Verwiesene 
und  —  colonies  correctionelles  für  schwerer  gravirte  jugendliche  Verbrecher.) 

Code  penal  Art.  67  —  69  (mildere  Strafe  und  besondere  Strafvollzugs- 
bestimmungen bei  jugendlichen  Verbrechern,  welchen  Unterscheidungsver- 
mögen zuerkannt  wurde,  ähnlich  den  Bestimmungen  des  §.  57  des  Deutschen 
St.-G.-B.). 

In  den  Strafgesetzgebimgen  der  verschiedensten  Länder  hat  sich 
früh  das  Bedürfniss  geltend  gemacht,  einen  Alterstermin  festzusetzen, 
von  welchem  an  erst  eine  strafrechtliche  Verfolgung  zulässig  ist.  Die 
Motive  liegen  "auf  der  Hand.  Das  Rechtsbewusstsein  eines  Kindes 
ist  noch  nicht  soweit  entwickelt,  um  ein  Verständniss  für  die  sociale 
und  ethische  Bedeutung  von  strafbarer  Handlung  und  Strafe  auf- 
kommen zu  lassen.  Beide  stehen  für  dasselbe  fast  ausschliesslich  in 
einem  einfachen  Causalitätsverhältniss.  Das  Kind  besitzt  nicht  die 
Besonnenheit  und  Ueberlegungsfähigkeit  des  Erwachsenen,  es  kennt 
nicht  die  Tragweite  seiner  Handlungen  oder  denkt  nicht  an  die  mög- 
lichen Folgen  derselben.  Das  Vermögen  der  Reflexion  fehlt  gänzlich 
oder  diese  ist  eine  dürftige ,  weil  der  Motive  nur  wenige  sind :  das 
Handeln  findet  auf  Grund  unmittelbarer  sinnlicher  Impulse  statt.  Auch 
das  ethische  Bewusstsein  ist  ein  unklares,  unsicheres.  Es  besteht  in 
lückenhaften  moralischen  Urtheilen  der  Umgebung,  die  das  Kind  sich 
mnemonisch,  unterstützt  durch  häusliche  Zucht  und  Unterweisung  an- 
geeignet hat,  deren  tieferen  Sinn  es  aber  noch  nicht  versteht.  Die 
Geltendmachung  dieser  Reproduktionen  geschieht  nicht  in  Form  klarer 
Urtheile  über  die  Sittlichkeit  oder  Unsittlichkeit  einer  intendirten 
Handlung,  sondern  als  eine  halbbewusste  Eingebung  eines  erst  in  der 
Entwicklung  begriffenen  Gewissens. 

Da  wo  kein  Alterstermin  der  beginnenden  strafrechtlichen  Verantwortlich- 
keit festgesetzt  ist  (Frajpikreich),  ergeben  sich  beklagenswerthe  Missstände  in  der 


52  Cap.  VII.    Das  Alter  der  strafreclitliclien  Unreife. 

Rechtsprechung.  Es  ereignet  sich  dann  die  Monstrosität,  dass  von  der  öffentlichen 
Meinung  als  total  unreif  bezeichnete  Kinder  von  6 — 10  Jahren  vor  Gericht  gestellt 
werden  müssen  und  durch  das  Zusammensein  mit  älteren  depravirten  Verbrechern 
während  der  Dauer  der  Voruntersuchung  sittlich  verdox'ben  werden  oder  im  besten 
Fall,  da  ja  doch  vernünftigerweise  an  eine  Verurtheilung  nicht  gedacht  werden 
kann,  die  ganze  Verhandlung  zu  einer  leeren,  Richter  und  Greschworene  nur  be- 
lästigenden Formalität  wird. 

Unter  allen  Umständen  aber  bleibt  es  gefährlich,  die  Frage,  ob  ein  kind- 
liches Individuum  vor  Gericht  gestellt  werden  soll,  dem  Ermessen  und  der  Dis- 
cretion  des  Staatsanwalts  anheim  zu  geben  und,  falls  dieser  sich  dafür  entscheidet, 
Richtern  und  Geschworenen,  die  nur  zu  leicht  sich  von  dem  alten  und  verkehrten 
Satz  „malitia  supplet  aetatem"  leiten  lassen,  das  Schicksal  des  kindlichen -Ver- 
brechers anheim  zu  geben. 

Die  Wichtigkeit  der  Normirung  einer  Altersgränze  ergibt  sich 
aus  der  Häufigkeit,  mit  welcher  jugendliche  Individuen  die  Strafgesetze 
übertreten.  So  betrug  beispielsweise  1862  die  Zahl  der  wegen  Ver- 
brechen in  Frankreich  angeklagten  unter  16  Jahre  alten  Individuen  44, 
die  Zahl  der  wegen  Vergehen  angeklagten  5952,  in  Preussen  die 
Gesammtzahl  der  Angeklagten  unter  16  Jahre  jährlich  5085  bis  9225. 

Je  nach  Klima,  Race,  Culturzustand  der  Bevölkerung  hat  der 
Gesetzgeber  bei  den  verschiedenen  Nationen  den  Zeitpunkt  der  straf- 
gerichtlichen Verfolgbarkeit  bald  früher  bald  später  festgesetzt. 

Beob.  4.  Ein  kindlicher  Verbrecher.  Scheller,  ein  armer  Junge 
von  10  Jahren  im  Elsass,  hatte  einen  von  ihm  geliebten  Kameraden,  der  als 
Sohn  vermöglicher  Eltern  immer  schöne  Kleider  besass.  Seh.  hatte  den  Wunsch, 
auch  solche  Kleider  zu  besitzen.  Eines  Tags  lockte  er  seinen  Kameraden  in  den 
Wald,  erschlug  ihn  dort,  zog  die  Kleider  des  Ermordeten  an  und  ging  damit  in 
das  Dorf  zurück,  nachdem  er  seine  eigenen  schlechten  Kleider  am  Orte  des  Ver- 
brechens zurückgelassen  hatte  (!).  Begreiflich  wurde  der  Thäter  sofort  entdeckt. 
Er  wurde  vor  Gericht  gestellt.  Die  Geschworenen  nahmen  an,  dass  er  mit  Dis- 
cernement  gehandelt  habe,  und  erkannten  ihn  schuldig,  jedoch  mit  Annahme 
mildernder  Umstände ;  Verurtheilung  zu  10  Jahren  Zuchthaus.  (Mittermaier, 
Friedreich's  Bl.  1865.  V.) 

Beob.  5.  Ein  kindlicher  Verbrecher.  Ein  Junge  von  12  J.  stiess 
einem  14jährigen  Kameraden  ein  Messer  in  die  Brust.  Der  Getroffene  erlag  seiner 
Verletzung.  Die  beiden  Kinder  waren  immer  freundlich  mit  einander  gewesen, 
hatten  sich  aber  vielfach  geneckt.  Aus  einer  solchen  Neckerei  war  ein  Streit 
entstanden.  Der  ältere  Knabe  hatte  den  jüngeren  zu  Boden  geworfen;  dieser 
erhob  sich,  zog  sein  Messer  und  stiess  es  dem  anderen  in  die  Brust.  Der  Ver- 
theidiger  machte  geltend,  dass  der  Angeklagte  die  Folgen  nicht  vorhergesehen, 
sie  auch  nicht  gewollt  habe. 

Freisprechung  wegen  mangelnden  Unterscheidungsvermögens.  (Le  Droit, 
3.  Mai  1862.) 


Alter  der  fraglichen  strafrechtl.  Reife.   Unterscheidiingsvermögen.  53 

In  richtiger  Würdigung  der  successive  aber  nicht  plötzlich  ein- 
tretenden strafrechtlichen  Reife  haben  die  neueren  Gesetzgebungen 
eine  Altersperiode  der  zweifelhaften  Zurechnungsfähigkeit  festgesetzt, 
die  eine  intermediäre  Stufe  zwischen  der  fehlenden  Zurechnungs- 
fähigkeit des  Kindes  und  der  vollen  des  Erwachsenen  bildet.  Die 
Frage  nach  -der  criminellen  Verantwortlichkeit  ist  hier  eine  offene  und 
eine  Präsumption  für  und  wider  unzulässig.  Der  Staat  hält  sich  für 
verpflichtet  einzuschreiten ,  denn  das  Rechtsbewusstsein  ist  schon  er- 
wacht und  damit  das  kritische  Alter  der  strafrechtlichen  Reife  ein- 
getreten, aber  der  Fall  muss  als  ein  concreter  beurtheilt  werden,  denn 
jene  ist  noch  eine  unvollkommene  und  fragliche. 

Als  das  Kriterium  der  Zurechnungsfähigkeit  in  diesem  kritischen 
Alter  gilt  gesetzlich  das  Unterscheidungsvermögen  (Discernement). 

In  Deutschland  reicht  dieses  Alter  der  zweifelhaften  strafrecht- 
lichen Reife  bis  zum  zurückgelegten  18.,  in  Frankreich  bis  zum 
16,  Jahr. 

Der  Schwerpunkt  der  gerichtlichen  Beurtheilung  jugendlicher 
Verbrecher  liegt  also  in  dem  „Unterscheidungsvermögen".  Dem  Geist 
und  Wortlaut  der  Gesetzgebung  nach  kann  es  nur  als  das  Bewusst- 
sein  von  der  Bedeutung  der  strafbaren  That  in  ihren  rechtlichen 
Wirkungen,  das  zugleich  die  Kenntniss  ihrer  möglichen  Folgen  in 
sich  begriff,  interpretirt  werden.  (Besitz  der  „erforderlichen  Einsicht 
zur  Erkenntuiss  der  Strafbarkeit  der  bezüglichen  That".)  Die  Ent- 
scheidung der  Frage  nach  dem  U. vermögen  des  jugendlichen  Thäters 
ist  eine  sehr  schwierige.  Sie  kann  immer  nur  mit  Bezug  auf  den 
concreten  Fall  gestellt  werden.  Nur  der  Richter  der  Thatfrage  ist 
competent  zu  ihrer  Lösung,  nicht  der  Experte,  dessen  Gutachten  sich 
nur  auf  die  anthropologische  Untersuchung  der  individuellen  Ent- 
wicklungshöhe in  psychischer  und  somatischer  Hinsicht  mit  besondrer 
Rücksicht  auf  etwaige  organisch  bedingte  Störungen  der  Entwick- 
lung beziehen  kann  und  die  Tragweite  solcher  Störungen  klarzu- 
legen hat. 

Diese  Leistung  kann  eine  sehr  werthvolle  zur  Klärung  des 
Thatbestands  sein.  Wie  das  Studium  bezüglicher  Gerichtsverhand- 
lungen lehrt,  ist  die  Lösung  der  Vorfrage  nach  dem  vorhandenen  oder 
fehlenden  U.vermögen  vielfach  eine  unbefriedigende.  Ein  solches  wird 
nur  zu  häufig  aus  einzelnen  Kundgebungen  der  Intelligenz,  aus  isolirten 
moralischen  oder  intellektuellen  Urtheilen,  aus  einer  gewissen  Schlauheit 
oder  Bosheit  (malitia  supplet  aetatem!)  einseitig  erschlossen.  Das 
Zeugniss  des  Lehrers ,    welches  erhoben  wird ,  berücksichtigt  nur  die 


54  Cap.  MI.    Das  Alter  der  strafrechtlichen  Unreife. 

intellektuelle  Begabung  und  die  Fortschritte  im  Lernen,  das  des  Geist- 
lichen die  eingelernten  Katechismus-  und  MoralbegrifFe ;  der  Arzt  begnügt 
sich  mit  einer  flüchtigen  Untersuchung  der  Intelligenz  und  der  Körper- 
entwicklung, der  Richter  urtheilt  vorzugsweise  nach  dem  Satz  „malitia 
supplet  aetatem"  oder  nimmt  ein  inquisitorisch  und  durch  Suggestiv- 
fragen ermitteltes  oder  hineinexaminirtes  Schuldbewusstsein  für  ein 
schon  zur  Zeit  der  That  dagewesenes  und  wirklich  bestehendes,  während 
vielfach  solchen  halbkindischen  jungen  Leuten  erst  nach  der  That, 
wenn  sie  den  angerichteten  Schaden  überschauen,  die  Folgen  jener 
empfinden,  durch  die  Angehörigen,  die  Untersuchungsbeamten,  den 
Geistlichen  etc.  auf  ihr  Unrecht  aufmerksam  gemacht  worden  sind, 
die  Bedeutung  ihrer  strafbaren  Handlung  klar  wird.  Es  ist  zudem 
nicht  zu  übersehen,  dass  die  abstrakte  Kenntniss  des  Sitten-  und  Straf- 
gesetzes noch  nicht  die  Fähigkeit  involvirt,  den  eigenen  concreten  Fall 
unter  diese  allgemeinen  Gesichtspunkte  zu  subsumiren.  Dieses  Wissen 
von  Gut  und  Bös,  Recht  und  Unrecht  ist,  ähnlich  wie  beim  Schwach- 
sinnigen, ein  ziemlich  oberflächliches,  anerzogenes,  intellektuell  noch 
nicht  abgeklärtes,  das  sich  zudem  mehr  oder  weniger  instinctiv  geltend 
macht.  Urtheil  und  Erfahrung  sind  noch  dürftig,  die  Reflexion  eine 
oberflächliche,  im  Aff'ekt,  gänzlich  darniederliegende. 

Es  wird  für  die  Klärung  der  Thatfrage  viel  mehr  darauf  an- 
kommen, in  welcher  Umgebung  der  jugendliche  Verbrecher  bisher 
lebte,  ob  die  socialen  Verhältnisse  derart  waren,  dass  er  ein  Rechts- 
bewusstsein  bekommen  konnte  oder  musste,  ob  sich  dieses  in  seinem 
Vorleben  in  früheren  Urtheilen  und  Handlupgen  wirklich  bethätigt  hat. 

Es  wird  hiebei  auch  viel  auf  die  QuaHtät  der  verübten  straf- 
baren Handlung  ankommen.  Ein  Diebstahl  wird  früh  als  Unrecht 
erkannt,  nicht  aber  die  widerrechtliche  Aneignung  einer  gefundenen 
Sache  oder  das  Unrecht  einer  Münz-  oder  Urkundenfälschung,  nicht  die 
MögHchkeit,  dass  bei  einer  Brandstiftung  Menschenleben  zu  Grunde 
gehen,  der  Brand  durch  besondere  Umstände  weitere  Dimensionen 
als  der  Thäter  beabsichtigte,  annehmen  konnte.  Diese  Erkenntniss 
der  voraussichtlichen  Folgen  wird  immer  eine  unvollkommene  sein, 
wenn  auch  das  allgemeine  Wissen  von  Recht  und  Unrecht  nichts  zu 
wünschen  übrig  lässt.  Das  nachgewiesene  Fehlen  des  U. Vermögens 
führt  nothwendig  zu  einer  Freisprechung,  weil  die  eine  der  Grund- 
bedingungen der  Zurechnungsfähigkeit  fehlt.  Der  Nachweis  seines 
Vorhandenseins  verbürgt  aber  noch  nicht  die  Zurechnungsfähigkeit, 
deren  zweite  Grundbedingung  die  libertas  consilii  ist.  Ist  die  erste 
Grundbedingung  durch  Bejahung  der  Vorfrage  nach  dem  U. vermögen 


U.vermögen  beweist  noch  nicht  Zurechnungsfähigkeit.  55 

entschieden,  so  muss  die  Frage  nach  dem  Vorhandensein  der  zweiten 
gestellt,  die  Zurechnungsfähigkeit,  richtiger  die  Selbstbestimmungs- 
föhigkeit,  entschieden  werden.  Unterscheidungsvermögen  und  Zu- 
rechnungsfahigkeit  sind  ja  sich  nicht  deckende  Begriffe. 

In  einem  concreten  Fall,  in  welchem  der  jugendliche  Angeklagte 
von  den  Geschworenen  wegen  erwiesenen  U. Vermögens  schuldig  ge- 
sprochen war,  der  Vertheidiger  aber  eine  Zusatzfrage  nach  dem  Dasein 
der  Z.fähigkeit  verlangt  hatte,  aber  zurückgewiesen  worden  wai',  ver- 
nichtete das  preussische  Obertribunal  das  Urtheil  mit  den  Motiven, 
dass  mit  der  Bejahung  des  Urtheils  nur  der  aus  dem  jugendlichen 
Alter  zu  entnehmende  Zweifel  beseitigt  sei,  dabei  immer  aber  noch 
Zweifel  an  der  Z.fähigkeit,  wie  sie  beim  Erwachsenen  zulässig  seien, 
bestehen  könnten.  Diese  Anschauung  entspricht  einfach  den  allge- 
meinen Principien  der  Zurechnungsfähigkeitslehre.  Es  ist  gerade  bei 
jugendlichen  Individuen  häufig  denkbar ,  dass  trotz  U.vermögen  die 
Z.fähigkeit  fehlt,  einfach  weil  ein  genügend  erstarkter,  auf  rechtliche 
sociale  ethische  Anschauungen  sich  stützender  Wille  noch  nicht  vor- 
handen ist. 

Einsicht  in  die  Strafbarkeit  und  Folgen  einer  unerlaubten  Hand- 
lung garantirt  noch  nicht  die  sofortige  Geltendmachung  und  das  Ueber- 
gewicht  der  aus  jener  Einsicht  geschöpften  Gegenmotive. 

Das  psychologische  Studium  des  Unmündigen  zeigt  im  Gegen- 
theil  ein  grosses  Gewicht  der  sinnlichen  Antriebe,  einen  noch  wenig 
geübten  und  gekräftigten  Mechanismus  der  Selbstbestimmung,  wobei 
die  rechtlichen  und  moralischen  Urtheile  nur  mehr  lose  haften,  noch 
nicht  in  Fleisch  und  Blut  übergegangene  Bestandtheile  des  Ich  sind. 
Trägt  doch  diesen  Thatsachen  die  Gesetzgebung  Rechnung,  in- 
dem sie  den  jugendlichen  Verbrecher,  selbst  wenn  er  U.vermögen  be- 
sitzt, milder  straft  als  den  Erwachsenen !  Warum  sollte  das  gesetzlich 
anerkannte  Minus  nicht  auch  auf  Null  sinken  können? 

Es  ist  ein  Vorzug  des  deutschen  Str.-Ges.-B.,  dass  es  den  Zeit- 
punkt der  zweifelhaften  Fähigkeit  bis  zum  18.  Lebensjahr  hinaus- 
gerückt hat.  Gerade  in  diesen  Lebensabschnitt  fällt  die  geschlechtliche 
Evolution,  die  Pubertätsentwicklung,  deren  schwerwiegender  Einfluss 
auf  die  Integrität  der  psychischen  Funktionen  von  jedem  Anthro- 
pologen und  Psychiater  anerkannt  ist.  Geht  schon  die  normal  sich 
vollziehende  geschlechtliche  Entwicklung  mit  Aenderungen  der  Gefühls- 
lage, einer  totalen  Umgestaltung  des  ganzen  Wesens  mit  sehnsüchtig- 
weichen,  hypochondrischen,  weltschmerzlichen  Stimmungen,  mit  Nei- 
gung zu  Romantik   und  Phantasterei   vielfach   einher,    so  macht  sich 


56  Cap.  VII.    Das  Alter  der  strafrechtlichen  Unreife. 

dieser  Einfluss  noch  mehr  geltend,  wenn  diese  Entwicklung  gestört 
ist,  wenn  sie  zu  geschlechtlichen  Verirrungen  (Onanie)  führt,  wenn 
auf  Grund  einer  erblichen  Anlage,  die  sich  vorzugsweise  in  dieser 
Lebenszeit  geltend  macht,  psychische  Störungen  (melancholische  Ver- 
stimmungen,  Heimweh  mit  Sinnestäuschungen,  Präcordialangst  etc.) 
oder  Nervenkrankheiten  (Epilepsie,  Hysterie,  Veitstanz)  auftreten. 
Krankhafte  Affekte  führen  dann  leicht  zu  Brandstiftung,  der  haltlose 
Zustand  des  in's  Schwanken  gerathenen,  noch  nicht  consolidirten  Ich 
führt  zu  einer  Reihe  kindisch  muthwilliger  unbesonnener  mitunter  ge- 
fährlicher Streiche,  deren  Häufigkeit  jener  Lebenszeit  die  Bezeichnung 
der  „Flegeljahre"  verschafft  hat. 

Beob.  6.  Mord  zweier  Kinder  durch  eine  12V2Jälirige  Dienst- 
magd. Mangelndes  Unterscheidungsvermögen.  0.,  Dienstbote,  hat  am 
20.  August  das  20monatliche  und  am  19.  September  das  4jährige  Kind  ihrer 
Dienstherrschaft  mittelst  Taschentuchs  erstickt.  Sie  ist  das  Kind  eines  in  schlech- 
tem Ruf  stehenden  Trunkenbolds,  wuchs  ohne  Erziehung  auf.  Sie  ist  gut  ent- 
wickelt für  ihr  Alter,  wenn  auch  noch  nicht  menstruirt.  Sie  kam  früh  in  Dienst 
zu  fremden  Leuten,  lernte  von  einem  Knaben  die  Masturbation,  die  sie  häufig 
und  auch  mit  dem  ältesten  der  ihr  anvertrauten  Kinder  praktizirte.  Man  behielt 
sie  nie  lange  im  Dienst,  ihre  letzte  Herrschaft  war  mit  ihr  zufrieden  gewesen. 
Sie  hatte  sich  auf  ein  Jahr  verdingt,  aber  der  Dienst  reute  sie  bald.  Sie  hatte 
viel  Schererei  mit  den  Kindern  und  musste  doch  ihr  Jahr  aushalten.  Da  kam 
ihr  der  Gedanke,  sich  der  Kinder  zu  entledigen.  Die  Idee  des  Garottirens  kam 
ihr  plötzlich,  als  sie  sah,  wie  ein  Jäger  einem  Rebhuhn  die  Gurgel  zudrückte, 
der  Gedanke,  sich  eines  Schnupftuchs  zu  bedienen,  als  ein  Seiltänzer  gelegentlich 
einer  Vorstellung  spassweise  sagte,  das  sei  ein  gutes  Mittel,  die  kleinen  Kinder 
am  Schreien  zu  hindern.  Der  Gedanke  an  Sünde  oder  Verbrechen  kam  ihr  nicht 
in  den  Sinn,  obwohl  sie  beim  ersten  Mord  3  Tage  bis  zur  ungestörten  Ausführung 
ihres  Projekts  warten  musste.  Aach  nach  der  That  empfand  sie  keine  Gewissens- 
regung, So  fasste  sie  den  Gedanken,  sich  des  zweiten  Kinds  zu  entledigen ;  nur 
wartete  sie  mit  der  Ausführung  3  Wochen,  um  nicht  so  leicht  in  Verdacht  zu 
gerathen.  Der  zweite  Mord  war  etwas  schwieriger,  da  das  Kind  sich  wehrte.  Den 
Eltern  gegenüber  behauptete  sie,  das  Kind  sei  beim  Spielen  plötzlich  todt  um- 
gefallen. Der  Arzt  Hess  sich  diesmal  nicht  düpiren.  Sie  wurde  arretirt,  empfand 
keine  Gewissensbisse,  nur  war  es  ihr  unangenehm,  im  Gefängniss  zu  sitzen. 

Der  Experte  findet  wenig  entwickelte  Intelligenz  und  gänzlich  fehlenden 
moralischen  Sinn,  jedenfalls  hat  weder  eine  Gewissensregung  noch  der  Gedanke 
an  Strafe  dem  Impuls  zu  tödten  irgend  eine  Opposition  geleistet.  Jedenfalls  sei 
ihre  Zurechnungsfähigkeit  eine  sehr  beschränkte.  Die  Jury  erklärte  die  0.  für 
schuldig,  jedoch  habe  sie  ohne  Unterscheidungsvermögen  gehandelt,  wesshalb  sie 
bis  zu  ihrer  Grossjährigkeit  internirt  wurde.  (Mordret,  Annal.  med.  psycho! 
1878.  Nov.) 

Beob.  7.  Eine  14jährige  neuropathische  in  der  Pubertätsentwick- 
lung befindliche  Brandstifterin.  Am  5.  Dec.  zeigte  die  14  J.  alte  Glorieux 
ihrer  Herrin  ein  Büschel  Stroh,  das  sie  angebrannt  in  der  Scheune  gefunden  haben 


Beob.  7.    Eine  14jährige  Brandstifterin.  57 

\^llte  und  als  jene  dem  Vorfall  keine  sonderliche  Beachtung  schenkte,  gerieth 
die  G.  ins  Weinen  und  sagte:  „es  scheint  fast  als  meine  man,  ich  hätte  Feuer 
anlegen  wollen  und  das  ist  doch  ein  grosses  Verbrechen."  Am  6.  Abends  brannte 
das  Gehöfte.  Die  G.  raffte  ihre  Sachen  zusammen,  ging  fort  und  kam  erst  am 
folgenden  Morgen  wieder,  weinend  und  sagend,  dass  sie  sich  krank  fühle.  An- 
fangs läugnete  sie,  später  gestand  sie  ihre  That  mit  der  Motivirung,  dass  ihr  die 
Arbeit  zu  schwer  war,  sie  sich  immer  krank  fühlte  und  kein  anderes  Mittel 
wusste,  um  heim  zu  den  Eltern  zu  kommen.  Die  G.  war  erst  seit  14  Tagen  in 
diesem  Dienst.  Vorher  hatte  sie  einige  Monate  in  einem  anderen  gedient,  aber 
wegen  Kränklichkeit  nicht  bleiben  können. 

Die  G.  ist  im  Alter  der  Pubertät.  8  Tage  vor  der  That  hatte  sie  zum 
erstenmal  die  Menses  bekommen,  die  seither  nicht  mehr  wiedergekehrt  sind. 
Sie  ist  jeit  Jahren  kränklich  (Erbrechen,  Kopfschmerzen),  litt  an  Convulsioöen 
im  7.  Jahr.  Damals  litt  sie  an  Typhus,  der  einen  neuropathischen  kränklichen 
Zustand  hinterliess.  Einige  Monate  vor  der  Brandstiftung  hatte  sie  einen  heftigen 
Schrecken.  Einer  erblichen  Disposition  ist  sie  nicht  unterworfen.  Geistig  ist  sie 
zurückgeblieben  und  auf  noch  kindlicher  Stufe.  Sie  weiss  abstrakt,  dass  Brand- 
stiften ein  schweres  Verbrechen  ist,  aber  einer  Nutzanwendung  auf  den  eigenen 
concreten  Fall  war  sie  nicht  fähig.  Sie  will  es  nicht  mehr  thun.  Man  solle  sie 
doch  heim  lassen !  Sie  gestand  erst  und  treuherzig ,  als  man  ihr  versprochen 
hatte,  dass  ihr  nichts  geschehen  werde. 

Das  Gutachten  erweist  zunächst,  dass  hier  keine  Geisteskrankheit  oder 
Geistesschwäche  vorliegt,  sondern  eine  retardirte  geistige  Entwicklung,  die  die 
G.  noch  auf  kindlicher  Stufe  erscheinen  lasse.  Schwere  Arbeit,  Kränklichkeit 
machten  ihr  den  Dienst  bei  fremden  Leuten  unerträglich.  Sie  hatte  nur  eine 
Sehnsucht,  heimzukommen.  Kindlich  und  furchtsam,  wie  sie  war,  getraute  sie 
sich  nicht,  ohne  Grund  fortzulaufen.  Sie  hoffte  immer  auf  einen  glücklichen 
Zufall,  der  ihr  das  Verlassen  des  Dienstes  ermögliche.  Eines  Tags  schoss  ihr  der 
Gedanke  durch  den  Kopf,  diesen  Zufall  selbst  herbeizuführen.  Sie  kämpfte  gegen 
diesen  Gedanken,  er  wurde  immer  mächtiger.  „Es  trieb  mich  Feuer  zu  legen." 
Das  erstemal  löschte  sie  noch  selbst,  endlich  konnte  sie  nicht  mehr  Widerstand 
leisten.  Sie  dachte  dabei  nur  ans  Fortkommen,  nicht  an  die  möglichen  Folgen 
der  Handlung.  Oft  weinte  sie  im  Gefängniss,  „ja  wenn  ich  an  all  das  gedacht 
hätte,  würde  ich  es  nicht  gethan  haben". 

Mit  Recht  betont  der  Experte  bezüglich  der  Schuldfrage  das  Alter,  die 
zurückgebliebene  geistige  Entwicklung,  das  Heimweh,  die  Vorgänge  der  Pubertät 
mit  ihren  Rückwirkungen  aufs  psychische  Leben,  doppelt  bedeutsam  hier,  wo  es 
sich  um  ein  kränkliches  neuropathisches  Individuum  handelte,  die  zwingende 
organische  Macht  einer  durch  lebhafte  Unlustgefühle  (Nostalgie)  und  einen  neuro- 
pathischen hysteriformen  Zustand  unterhaltenen  verbrecherischen  Idee.  Ein  solcher 
Zustand  machte  die  G.  imfähig,  aus  freiem  Willen  zu  handeln  und  moralisch 
unverantwortlich  für  die  begangene  That.  Der  Urtheilsspruch  ist  nicht  mitgetheilt. 
(Schrevens,  Bulletin  de  la  societe  de  medecine  mentale  de  Belgique.  3.  fascic. 
Nr.  15.) 

Weitere  Fälle:  Casper,  klin.  Novellen,  p.  153—56.  Casper,  Vierteljahrs- 
schrift,  XIII.  p.  123.  Jessen,  Brandstiftungen,  p.  63,  68,  70,  78,  86,  88,  94,  100, 
105,  120,  123.  Schaible,  Deutsche  Zeitschr.  f.  Staatsarzneikde.  1865,  H.  1  (Brand- 
stiftung).   Derselbe,  ebenda  1867  (Diebstahl).    Hitzig's  Annalen,  1847.  Sept.  (Ver- 


58  Cap.  VII,    Das  Alter  der  strafrechtlichen  Unreife. 

suchter  Gattenmord  durch  die  löjähr.  Ehefrau  aus  Abneigung  gegen  den  Coitus). 
Casper-Liman ,  Handb.  Fall  289  (ein  junger  Schwindler).  Buchner,  Friedreich's 
Blätter.  1868.  Nr.  4  (Diebstahl).  Goeze,  Vierteljahrs  sehr.  f.  ger.  Med.  1874.  Nr.  1 
(Brandstiftung).     Kaunold,  Bair.  ärzt.  Intelligenzbl.  XXI.  4  (Nothzucht). 

Mit  der  Erreichung  eines  bestimmten  Alterstermins  setzt  der 
Gesetzgeber  die  strafrechtliche  Reife  beim  Individuum  voraus  und 
es  entfallen  desshalb  alle  Voruntersuchungen  über  vorhandenes  oder 
fehlendes  U. vermögen.  Es  kann  hier  nur  noch  die  Frage  der  Z.fähig- 
keit  gestellt  werden. 

Die  Bestimmung  einer  solchen  Altersgränze  ist  nothwendig,  aber 
es  wird  Niemand  einfallen  zu  glauben^  dass  mit  der  Erreichung  eines 
willkürlich  vom  Gesetz  angenommenen  Termins  auch  die  Bedingungen 
der  Z.fähigkeit  nun  sofort  eingetreten  sind.  Immer  wird  eine  milde 
Gesetzgebung  und  ein  Richter,  der  nicht  handwerksmässig  seinen 
Beruf  erfüllt j  diesem  Umstand  Rechnung  tragen  und  in  dem  jugend- 
lichen Alter,  auch  wenn  es  den  Zeitpunkt  der  unentschiedenen  straf- 
rechtlichen Reife  überschritten  hat,  einen  Milderungsgrund  der  Strafe 
erkennen. 

Da  nach  Forschungen  der  menschlichen  Entwicklungsgeschichte 
das  menschliche  Gehirn  erst  mit  vollendetem  21.  Jahr  seine  volle 
Entwicklungshöhe  erreicht  hat  und  die  psychische  Leistungs-,  resp. 
die  Zurechnungsfähigkeit  von  der  Entwicklungsstufe  des  psychischen 
Organs  abhängt,  so  dürfte  das  Alter  bis  zum  zurückgelegten  21.  Jahr 
als  Milderungsgrund  geltend  zu  machen  sein.  Es  ist  dabei  nicht  zu 
übersehen,  dass  der  Zeitpunkt  der  eintretenden  bügerlichen  Selbst- 
ständigkeit und  Verfügungsfreiheit  von  den  meisten  Civilgesetzgebungen 
erst  nach  zurückgelegtem  21.  Lebensjahr  angenommen  wird. 

Die  Annahme  verschiedener  Alterstermine  für  die  eintretende 
criminelle  und  civile  Reife  hat  von  Seite  mancher  Schriftsteller  Tadel 
erfahren,  indessen  kann  es  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  das  auf 
die  Kenntniss  des  Straf-  und  Sittengesetzes  sich  gründende  Vermögen 
und  die  durch  Festigung  des  Charakters  erworbene  Widerstands- 
fähigkeit gegen  die  Macht  sinnlicher  egoistischer  Antriebe  früher 
vorausgesetzt  werden  darf,  als  diejenige  Reife  der  Lebenserfahrung 
und  Besonnenheit,  welche  zur  bürgerlichen  Selbstständigkeit  nöthig  ist. 

Von  einzelnen  Gesetzgebungen,  z.  B.  der  österreichischen,  wird  ausdrück- 
lich das  jugendliche  Alter  als  Milderungsgrund  erwähnt.  So  betrachtet  §.  46  des 
österr.  St.-G.-B.  den  Umstand ,  dass  der  Thäter  in  einem  Alter  unter  20  Jahren 
(oder  schwach  an  Verstand  war  oder  in  seiner  Erziehung  sehr  vernachlässigt 
wurde),  als  Milderungsgrund  und  mindert  dadurch  die  Nachtheile,  welche  durch 
Annahme  eines  äusserst  frühen  Termins  der  vollen  Z.fähigkeit  (14.  J.)  sich  ergeben. 


Beob.  8.    Vei'spätete  Entwicklung.  59 

Es  ist  endlich  nicht  zu  übersehen,  dass  der  vom  Gesetzgeber 
fixirte  Zeitpunkt  der  eingetretenen  strafrechtlichen  Reife  sich  auf  die 
Abstraktion  vom  geistigen  und  körperlichen  Entwicklungsgang  einer 
Mehrzahl  von  dem  betreffenden  Volk  angehörigen  Individualitäten 
gründet.  Die  ungeheure  Mehrzahl  hat  sie  thatsächlich  im  angenom- 
menen Lebensalter  erreicht,  aber  von  dieser  Norm  gibt  es  viele  Aus- 
nahmen. Wie  die  körperliche  Entwicklung  z.  B.  die  Menstruation  bei 
dem  einen  Individuum  später  eintritt  als  bei  dem  andern,  so  geht  es- 
auch  bei  der  psychischen  Entwicklung.  Auch  ohne,  dass  gerade  eines 
jener  zahlreichen,  im  folgenden  Abschnitt  zu  erwähnenden  patho- 
logischen Momente  die  Hirnentwicklung  sistirte  oder  ihr  eine  patho- 
logische Richtung  gab ,  kann  es  vorkommen ,  dass  sie  einfach  eine 
retardirte  ist  und  man  20jährige  Menschen  trifft,  die  kaum  die  sittliche 
Reife  und  intellektuelle  Leistungsfähigkeit  eines  15jährigen  besitzen, 
namentlich  dann,  wenn  zu  der  durch  körperliche  Krankheit,  schlechte 
Ernährung  oder  anderweitige,  in  der  individuellen  Constitution  be- 
gründete Momente  bedingten  retardirten  Entwicklung  noch  der  Ein- 
fluss  einer  mangelhaften  oder  gänzlich  verwahrlosten  Erziehung  kommt. 
Diese  Umstände  fordern  gebührende  Beachtung,  denn  nur  für  Den- 
jenigen kann  die  Strafe  gerecht  und  von  Werth  sein,  der  ihre  sociale 
und  sittliche  Bedeutung  zu  würdigen  weiss  —  andernfalls  wird  sie  zur 
Grausamkeit  oder  wenigstens  zum  starren  Formalismus. 

Beob.  8.  Ein  in  seiner  geistigen  und  körperlichen  Entwick- 
lung zurückgebliebener  Attentäter.  Ein  19  Jahre  alter  SchloHsergeselle 
hatte  zweimal  einen  Kieselstein  in  den  Wagen  des  Königs  geworfen,  um  ihn  zu 
tödten.  Ein  drittes  Mal  hatte  er  gegen  diesen  Antrieb  angekämpft,  um  seiner 
Familie  den  Schmerz  zu  ersparen,  dass  er  ein  Mörder  werde,  sich  desshalb  auch 
mit  Cyankali  versehen  und  schliesslich,  um  sich  vor  sich  selbst  zu  schützen, 
selbst  vor  Gericht  sich  wegen  des  beabsichtigten  Königsmords  denuncirt.  Motiv 
seiner  That  war,  dass  er  auf  drei  Bittgesuche  um  Unterstützung  wegen  seiner 
traurigen  Lage  keinen  Bescheid  vom  König  erhalten  habe  und  dadurch  erbittert 
worden  sei. 

Sein  Benehmen  war  scheu,  läppisch.  Bei  Vorhalt  über  die  Schwere  seines 
Verbrechens  und  die  Möglichkeit  schwerer  Folgen  blieb  er  verhältnissmässig 
stumpf  und  gleichgültig.  Obwohl  ihm  Unterscheidungsvermögen  nach  seiner 
ganzen  Handlungsweise  nicht  abzusprechen  war,  ergab  sich  doch  aus  ebenderselben 
sein  geistiger  Standpunkt.  Dieser  entsprach  dem  eines  etwa  13jährigen  Knaben. 
Damit  stimmte  überein  die  Unzweckmässigkeit  der  angewandten  Mittel,  die  That 
angesichts  der  Schlosswache,  die  Unfähigkeit  einer  besonnenen,  verständigen 
Ueberlegung  der  Folgen.  Aber  auch  in  der  körperlichen  Entwicklung  war  Inculpat 
zurückgeblieben  und  zeigte  etwa  den  Habitus  eines  ISJährigen.  Das  Gutachten 
erklärte  ihn  desshalb  geistig  und  körperlich  so  beschaffen,  dass  er  zu  den  Un- 
mündigen im  Sinne  des  Strafrechts  gehörig,    resp.  als  unvermögend,  die  Folgen 


50  Cap.  VIII.    Psychische  Entwicklungshemmungen. 

seiner  Handlungen  zu  überlegen,    zu  erachten  sei.     (Casper,    klinische  Novellen, 
Fall  2.) 

Weitere  Fälle:  Friedreich's  Blätter.  1867.  H.  2.    Casper,  klin.  Novellen, 
Fall  3  u.  4.     Richter,  jugendl.  Brandstifter,  p.  28. 


Cap.  VIII.    Psychische  Entwicklungshemmungen. 

<t 

Literatur.  Georget,  discussion  med. -legale  sur  la  folie,  p.  140.  Ray,  treatise, 
p.  278.  Krauss,  der  Cretin  vor  Gericht.  Tübingen  1853.  Guy,  principles  of 
forensic  med.,  p.  246.  Spielmann,  Diagnostik,  p.  284.  Rösch,  deutsche  Zeit- 
schrift f.  Staatsarzneikunde,  1855,  p.  340.  Friedreich's  Blätter  1858,  p.  47. 
Auzouy,  Annales  med.-psychoL,  1863,  p.  46.  Morselli  u.  Tamburini,  Rivista 
sperimentale,  1875. 

Von  den  eigentlichen  Geisteskrankheiten  hebt  sich  eine  Gruppe 
psychischer  Infirmitäten  ab,  die  wesentlich  dadurch  charakterisirt  ist, 
dass  1)  das  geistige  Leben  in  toto  aber  vorwiegend  in  seinen  in- 
tellektuellen Funktionen  sich  defekt  zeigt ;  2)  dass  diese  Schädigung 
vor  erfolgter  Entwicklungsreife  des  Gehirns  eintrat  und  folgerichtig 
die  geistige  Entwicklung  auf  der  Stufe,  welche  sie  damals  einnahm, 
stehen  blieb  oder  sich  nur  noch  um  ein  Geringes  weiterbewegte; 
3)  dass  mit  dieser  psychischen  Entwicklungshemmung  häufig  auch 
körperliche  Zeichen  gestörter  Entwicklung  einhergehen,  die  zum  Theil 
auf  eine  mit  den  psychischen  Funktionsstörungen  gemeinsame  ana- 
tomische Störung  oder  selbst  Ursache  beziehbar  sind. 

Wir  begreifen  unter  der  Gruppe  der  psychischen  Entwicklungs- 
hemmungen die  Idiotie  mit  ihren  unzähligen  Mittelstufen  von  dem 
angeborenen  completen  Blödsinn,  der  Imbecillität  als  Zwischenstufe, 
bis  zu  jenen  der  Stufe  der  Vollsinnigen  sich  nähernden  Zuständen 
des  Schwachsinns.  Als  Unterabtheilung  der  Idiotie  sind  gewisse 
Fälle  von  ab  ovo  begründeter  Nullität  oder  Insufficienz  der  psychi- 
schen Leistungsfähigkeit  zu  bezeichnen,  bei  welchen  den  psychischen 
Störungen  eine  körperliche  Degeneration  parallel  geht.  Solche  Zu- 
stände werden  Cretinismus  genannt.  Sie  bilden  somit  eine  Art  der 
Idiotie.  Diese  bezeichnet  die  Gattung.  Als  eine  besondere  ätiolo- 
gische Varietät  des  Cretinismus  ist  der  alpine  (Alpen,  Himalaja,  Cor- 
dilleren)  zu  betrachten,  der  seine  Entstehung  besonderen  tellurischen 
Schädlichkeiten  verdanken  dürfte. 

Anhangsweise  gehören  hieher  gewisse  praktisch  und  vielfach 
klinisch,  wenn  auch  nicht  anatomisch  und  ätiologisch  der  Idiotie  nahe- 
stehende Zustände,  in  welchen  auf  Grund  angeborener  oder  früh  ent- 


Ursaclieii  der  psychischen  Entwicklungshemmungen.  Q\ 

standener  Taubheit  die  Sprachentwicklung  fehlte  und  damit  das  geistige 
Leben  verkümmerte  (Taubstummheit). 

Die  Ursachen  dieser  psychischen  Entwicklungshemmungen  können  a)  schon 
während  des  Fötallebens,  b)  während  der  Geburt,  c)  in  den  Entwicklungsjahren 
zur  Geltung  gekommen  sein. 

Die  der  ersten  Gruppe  angehörigen  Ursachen  bestehen  in  degenerativen 
Faktoren,  die  den  Zeugenden  eigen thümlich  waren  und  auf  den  Keim  übertragen 
wurden.  Sie  äussern  sich  in  Missbilduugen  des  Gehirns  resp.  des  Schädels,  die 
wieder  in  abnorm  früher  Verschliessung  der  Schädelnähte  und  dadurch  gehemmter 
Entwicklung  des  Gehirns  bestehen,  oder  in  selbstständigen  Entwicklungshem- 
mungen dieses  Organs  oder  einzelner  Theile  desselben.  Als  hereditär  degenerative 
Momente  von  Seiten  der  Erzeuger  hat  die  Statistik  Epilepsie,  Hirnkrankheiten, 
namentlich  Irresein,  Taubstummheit,  fortgesetztes  Heirathen  in  der  Blutsverwandt- 
schaft, Trunksucht,  Berauschung,  grosse  geistige  und  körperliche  Erschöpfung, 
sowie  constitutionelle  Syphilis  zur  Zeit  der  Zeugung  ermittelt.  Zu  diesen  schon 
das  Eileben  treffenden  Schädlichkeiten  sind  ferner  gewisse  tellurische  zu  rechnen, 
die  den  alpinen  und  endemischen  Cretinismus  erzeugen,  endlich  hohe  Grade  von 
Anämie,  Alkoholexcesse,  Schrecken,  Kummer,  Erschütterungen  des  mütterlichen 
Organismus  während  der  Schwangerschaft. 

Zu  den  Ursachen,  die  während  der  Geburt  zur  Einwirkung  gelangen,  ge- 
hören Beschädigungen  des  Schädels  durch  zu  enges  Becken,  forcirten  Zangen- 
geburten. Meist  wird  die  Idiotie  aber  erst  nach  der  Geburt  herbeigeführt  durch 
Kopfverletzungen,  schlechte  Hygieine ,  Rhachitis ,  Schlafen  des  Kinds  am  heissen 
Ofen,  Einschläferung  durch  Opiate,  Branntwein,  durch  acute  schwere  Erkrankungen, 
die  Hirncomplicationen  setzen,  namentlich  durch  acute  Exantheme,  endlich  durch 
Epilepsie  und  durch  irgendwie  entstandene  und  frühzeitig  getriebene  Onanie. 
Unzweifelhaft  ist  auch,  dass  Hemmung  und  Rückgang  der  psychischen  Entwick- 
lung auf  Grund  von  erblich  degenerativer  Prädisposition  noch  im  vorgeschrittenen 
Kindesalter  eintreten  kann  und  dass  namentlich  die  Pubertätszeit  für  solche  Ge- 
schöpfe verhängnissvoll  werden  kann,  insofern  ohne  alle  Veranlassung  eine  acute 
Hirnerkrankung  ausbricht,  auf  die  dauernder  Schwachsinn  oder  Blödsinn  als 
Folgezustand  bleibt. 

Die  Veränderungen  des  Gehirns  bestehen  bei  Idiotie  einfach  in  abnormer 
Kleinheit  bei  sonstiger  proportionaler  Ausbildung  (^Miniaturhirn)  oder  in  grösster 
Einfachheit  und  Armuth  der  Windungen  (Stehenbleiben  auf  niederer  Entwick- 
lungsstufe) trotz  ziemlich  gutem  Volumen,  oder  in  partiellen  Verkümmerungen, 
Defekten  einzelner  Hirntheile  auf  Grund  vorzeitiger  Nahtverschliessungen  des 
Schädels  oder  lokalisirter  Entzündungs-,  Erweichungsheerde  im  Gehirn  etc.,  end- 
lich in  Hydrocephalus  ext.  oder  internus  (Wasserkopf)  als  Residuum  entzündlicher 
Vorgänge  an  den  Hirnhäuten  oder  dem  Ependym  der  Hirnhöhlen. 

Die  Anomalien  des  Schädels  sind  oft  durch  vorzeitige  Nahtverschliessungen 
bedingt  (secundär  durch  Zurückbleiben  des  ganzen  Gehirns  oder  einzelner  Theile 
im  Wachsthum  oder  primär  in  Folge  entzündlicher  Ernährungsstörungen  an  den 
Nähten).  Nicht  selten  bleiben  jedoch  die  Nähte  offen  und  erfolgt  die  Wachs- 
thumshemmung  ganzer  Schädelknochen  durch  ungenügende  Ernährung  seitens 
früh  obliterirender  Gefässe.  In  beiden  Fällen  kommt  es  zu  Schädelverkleinerungen 
und  Verbildungen. 


(32  Cap.  VIII.    Psychische  Entwicklungshemmungen. 

Durch  die  in  Störungen  der  Hirn-  und  Schädelentwicklung  be- 
gründete Verkümmerung  der  psychischen  Entwicklung  bieten  diese 
psychischen  Insufficienzen  ein  bedeutendes  praktisches  Interesse  für 
das  Forum.  Mögen  sie  auch  einzeln  mit  einander  verglichen  ein 
Plus  oder  Minus  von  psychischer  Leistungsfähigkeit  darbieten,  so 
erreichen  sie  doch  nie  die  eines  normalen  oder  Durchschnittsmenschen. 
Ihre  criminelle  Verantwortlichkeit  ist  damit  in  Frage  gestellt.  Bei 
der  grossen  individuellen  Verschiedenheit  der  psychischen  Defekte 
kann  die  forensische  Beurtheilung  derselben  gegenüber  der  Frage  der 
Zurechnungsfähigkeit  nur  eine  concrete,  individuelle  sein.  Die  Er- 
kennung nnd  forensische  Beurtheilung  der  Insufficienz  ist  eine  leichte 
da,  wo  sie  einen  Idioten  zum  Träger  hat,  sie  wird  eine  sehr  schwierige 
da,  wo  sich  die  psychische  Leistung  dem  Niveau  des  Vollsinnigen  nähert, 
ohne  aber  dieses  zu  erreichen. 

Eine  genauere  Abstufung  dieser  Insufficienzen,  wie  sie  vielfach 
nach  der  Entwicklung  des  Sprachvermögens  versucht  wurde,  ist  für 
forensische  Zwecke  bedeutungslos.  Es  genügt  hier  zwei  Hauptkate- 
gorien aufzustellen,  die  der  Blödsinnigen  und  die  der  Schwach- 
sinnigen. Der  entscheidende  Unterschied  beruht  darin,  dass  bei 
ersteren  die  Bildung  übersinnlicher  Vorstellungen  (Begriffe,  Urtheile) 
mangelt,  bei  letzteren  zwar  möglich  wird,  aber  weder  den  Reichthum 
noch  die  Klarheit  wie  bei  Vollsinnigen  erreicht.  Dies  zeigt  sich  auch 
in  der  Sprache  des  Schwachsinnigen,  die  arm  und  fragmentarisch  sich 
erweist,  sobald  es  sich  um  Uebersinnliches  handelt. 

Klinische  Betrachtung  der  psychischen  Entwicklungshemmungen,  a)  Psychische 
Symptome:  Auf  der  tiefsten  Stufe  des  Blödsinns  fehlen  die  geistigen  Pro- 
cesse  fast  vollständig.  Die  Aufnahme  von  Sinneseindrücken  beschränkt  sich  auf 
die  Objekte,  an  welchen  der  Nahrungstrieb  befriedigt  wird  und  nur  das  sinnliche 
Bedürfniss  der  Befriedigung  des  Hungers  veranlasst  solche  tiefstehende  Organi- 
sationen zu  einem  triebartigen  Bewegen,  dem  der  bewusste  Zweck  fehlt.  Der 
Geschlechtstrieb  fehlt  noch  oder  ist  nur  in  Anfängen  vorhanden.  Auf  einer 
weiteren  Stufe  zeigt  er  sich  zwar  entwickelt,  aber  die  Art  seiner  Befriedigung 
erinnert  an  die  der  Thiere  und  zuweilen  beobachtet  man  hier  ein  zeitweiliges 
brunstartiges-  Hervortreten  desselben.  Die  Befriedigung  des  Nahrungstriebs  bildet 
noch  immer  den  Miltelpunkt  aller  psychischen  Vorgänge.  Statt  eines  bewussten, 
mit  einem  vorgestellten  Zweck  verbundenen  Strebens  besteht  ein  blosser  Be- 
wegungsdrang, der  nur  durch  äussere  Anregung  oder  ein  starkes  sinnliches  Be- 
dürfniss zur  Entäusserung  kommt  und  den  höchstens  Dressur  und  gewohnheits- 
mässige  Uebung  zu  mechanischen  Leistungen  befähigen.  Der  Blödsinnige  verharrt 
in  träger  Ruhe,  da  es  ihm  an  Motiven  zum  Bewegen  fehlt. 

Auf  der  tiefsten  Stufe  dieses  Zustands,  wo  überhaupt  gar  keine  sinnlichen 
Vorstellungen  zu  Stand  kommen,  beschränkt  sich  die  motorische  Seite  des  Hirn- 
lebens auf  reine  Reflexbewegungen  und  automatische  Akte,  zu  denen  höchstens 


Klinische  Betrachtung.  (53 

noch  ein  gewisser  Bewegungsdrang  und  ein  Bedürfniss  nach  Nahrung  sich  ge- 
sellen, wobei  aber  der  Blödsinnige  nicht  einmal  wie  das  Thier  im  Stande  ist, 
sich  seine  Nahrung  auszusuchen  und  ohne  Wahl  alle  Gegenstände,  deren  er 
habhaft  wird,  in  den  Mund  steckt.  Solche  niedrige  Organisationen  sind  absolut 
hülflos  wie  das  neugeborene  Kind.  Sie  würden  einfach  verhungern,  wenn  sie 
nicht  Gegenstand  der  Fürsorge  würden.  Der  Mangel  geistiger  Regungen  verleiht 
auch  dem  höher  stehenden  Blödsinnigen  in  seiner  ganzen  Haltung  ein  charakte- 
ristisches Gepräge  des  Schlaffen  und  Energielosen,  das  zum  Theil  auch  dadurch 
zu. Stande  kommt,  dass  die  Streckmuskeln  geringer  innervirt  sind  als  beim  Voll- 
sinnigen. Auch  ohne  dass  gerade  Paralysen  und  Muskelinsufficienzen  bestünden, 
haben  Gang  und  Haltung  desshalb  etwas  Plumpes,  Täppisches,  Haltloses, 
Hülfloses. 

So  verschiedenartig  die  Stufen  des  Blödsinns  auch  sein  mögen,  so  besteht 
die  trennende  Schranke  vom  Schwachsinn  doch  immer  darin,  dass  die  lücken- 
haften spärlichen  Vorstellungen  sich  nicht  vom  sinnlichen  Element  losmachen, 
nicht  zur  Bildung  abstrakter  begrifflicher  Elemente,  zur  Bildung  von  Begriffen 
und  Urtheilen  verwerthet  werden  können. 

Aber  auch  die  Reproduktion  etwa  gebildeter  Vorstellungen  ist  unvoll- 
kommen, grossentheils  nur  auf  äussere  Anregung  oder  ein  sich  erhebendes  sinn- 
liches Bedürfniss  erfolgend.  Die  ganze  Vorstellungsreihe  läuft  dabei  rein  mecha- 
nisch ab,  wie  sie  ursprünglich  gebildet  wurde.  Gemüthlicher  Regiingen  ist  der 
vollkommen  Blödsinnige  nicht  fähig:  Mitgefühl,  sociale  Gefühle  sind  ihm  versagt, 
nicht  einmal  das  Bedürfniss  eines  socialen  Lebens  ist  ihm  gegeben,  er  geniesst 
nur  dessen  Wohlthaten  ohne  alles  ethische  Verständniss  für  dessen  Bedeutung. 
Nur  nach  einer  Richtung  ist  eine  Reaktion  möglich,  nämlich  wenn  sein  dürftiges 
Ich  eine  Beeinträchtigung  erfährt.  Er  reagirt  darauf  mit  heftigen  Affekten  des 
Zorns,  die  geradezu  überwältigend  sind  und  in  einer  weit  über  das  Ziel  hinaus- 
gehenden brutalen  Weise  entäussert  werden. 

Sie  haben  durchweg  das  Gepräge  von  Wuthparoxysmen,  in  welchen  das 
Bewusstsein  völlig  schwindet  und  deren  sich  das  Individuum  hinterher  gar  nicht 
erinnert.  Zuweilen  kommt  es  auch  zu  spontanen,  ja  selbst  periodischen  Wuth- 
und Tobausbrüchen  unter  dem  Einfluss  fluxionärer  Hyperämie  des  Gehirns. 

Auch  bei  dem  Schwachsinnigen  ergeben  sich  erhebliche  Insufficienzen 
der  psychischen  Leistungen.  Schon  die  Sinnesthätigkeit  weist  Defekte  auf,  inso- 
fern die  Aufnahme  der  Sinneseindrücke  eine  langsamere  ist  und  viele  Sinnes- 
eindrücke ihm  entgehen.  Nothwendig  ergibt  sich  daraus  ein  geringerer  Reich- 
thum  an  Vorstellungen ,  zumal  da  auch  die  sinnlich  aufgenommenen  nicht  so 
vollkommen  verwerthet  werden  wie  beim  Vollsinnigen,  indem  Association  und 
Reprodiiktion  träger  und  lückenhaft  ablaufen. 

Die  Bildung  übersinnlicher  Begriffe  und  Urtheile  leidet  damit  Noth  und 
das  Urtheil  in  übersinnlichen  Dingen  ist  einseitig,  unklar  und  durch  fremde 
Autorität  stark  beeinflusst.  Der  Schwachsinnige  ist  leichtgläubig,  abergläubisch, 
wird  leicht  düpirt,  hat  keine  eigene  Meinung,  sondern  stützt  sich  auf  die  Anderer. 
Das  innere  Wesen,  die  feineren  Beziehungen  der  Dinge  entgehen  ihm  und  ebenso 
unfähig  ist  er,  wenn  er  einmal  die  Pointe  der  Sache  erfasst  hat,  sie  mit  dem 
richtigen  Wort  zu  bezeichnen.  Sein  Sprachschatz  ist  immer  ai-m,  sobald  es  sich 
um  übersinnliche  Dinge  handelt,  während  er  in  der  ihm  adäquaten  sinnlichen 
Sphäre  sich  genügend  auszudrücken  vermag.   Der  dem  Vollsinnigen  innewohnende 


(54  Cap.  VIII.    Psychische  Entwicklungshemmungen. 

Drang,  Grund  und  .Wesen  der  Dinge  und  der  mit  ihnen  geschehenden  Verände- 
rungen zu  erforschen,  fehlt  ihm  fast  gänzlich ;  er  nimmt  die  Dinge  wie  sie  sind 
oder  zeigt  höchstens  eine  Art  stupider  Neugierde. 

Ein  höheres  geistiges  Interesse,  ein  zielvolles  Streben  ist  ihm  fremd.  In 
der  Befriedigung  der  gewöhnlichen  materiellen  Bedürfnisse  geht  sein  ganzes 
Dasein  auf;  er  hat  keine  Zeit,  noch  weniger  Lust,  sich  mit  etwas  Abstraktem  zu 
beschäftigen,  das  ihn  langweilt  und  ihn  unverhältnissmässige  Anstrengung  kostet. 
Dieselbe  Unzulänglichkeit  wie  auf  intellektuellem,  zeigt  sich  auf  ethischem  Gebiet. 
Der  Schwachsinnige  ist  nothwendig  Egoist,  er  überschätzt  vielfach  seine  Person 
und  Leistungen,  weil  ihm  der  Massstab  zur  eigenen  Beurtheilung  fehlt.  Damit 
fordert  er  aber  den  Spott  der  Vollsinnigen  heraus  und  macht  sich  zur  Zielscheibe 
ihres  Witzes,  wie  dies  meist  im  socialen  Verkehr  des  Schwachsinnigen  der  Fall  ist. 

Das  Wohl  und  Wehe  der  Mitmenschen  berührt  ihn  nicht ;  nur  Beeinträch- 
tigung der  eigenen,  zudem  leicht  überschätzten  Persönlichkeit,  erzeugt  stürmische 
Affekte ,  die  dann  oft  die  Gränze  der  Norm  überschreiten.  Seine  freudigen 
Affekte  gehen  dann  wohl  in  tolle  Ausgelassenheit  über,  seine  depressiven  in  Wuth 
oder  Verwirrung,  die  namentlich  leicht  aus  dem  Affekt  der  Furcht  erfolgt  und  in 
kopfloses  Entsetzen  ausartet. 

Der  Schwachsinnige  kann  ein  brauchbares  Glied  der  Gesellschaft  sein, 
insofern  er  eine  eingelernte  gewohnte  Beschäftigung  gut,  ja  wenn  sie  eine  rein 
mechanische  ist,  noch  besser  als  ein  Vollsinniger  verrichtet,  eben  Aveil  er  seine 
Aufmerksamkeit  ihr  ganz  zuwendet  und  durch  Nichts  abgelenkt  wird,  aber  diese 
Leistung  verrichtet  er  maschinenmässig,  ohne  im  Stande  zu  sein,  sie  abzuändern, 
etwas  Neues  zu  combiniren  und  zu  produciren. 

Er  hat  keine  eigenen  und  neuen  Ideen,  sondern  zehrt  von  dem  dürftigen 
Vorrath  von  Kenntnissen  und  Erfahrungen,  die  er  mühsam  erworben  hat.  Noth- 
wendig fehlt  ihm  damit  Spontaneität  und  Aktivität,  das  plan-  und  zielvolle 
Streben  des  Vollsinnigen.  Ein  geringfügiges  Hinderniss  genügt,  um  ihn  ausser 
Fassung  zu  bringen,  indem  er  es  nicht  zu  überwältigen  vermag  und  bei  seiner 
UnSelbstständigkeit  bedarf  es  oft  eines  blossen  Abrathens,  um  den  Erfolg  seiner 
Willensbestrebungen  zu  vereiteln  und  diesen  ein  anderes  Ziel  zu  geben.  Wegen 
dieser  Leichtbestimmbarkeit  sind  Schwachsinnige  auch  durch  Drohung,  Ein- 
schüchterung, Autorität  Anderer  zu  schweren  Verbrechen  zu  bewegen  und  werden 
nicht  selten  gefügige  Werkzeuge  in  der  Hand  perverser  Verbrechernaturen. 
Höhere  ästhetische  moralische  ürtheile  und  Begriffe  sind  kaum  vorhanden.  An 
ihre  Stelle  treten  bloss  mnemonisch  erworbene  und  automatisch  rejjroducirte 
moralische  Ürtheile  Anderer ;  fast  alle  ästhetischen,  religiösen,  rechtlichen  Begriffe 
sind  somit  nur  Gedächtnissleistungen  und  Schulreminiscenzen.  Immerhin  kann 
das  Rechts-  und  Pflichtgefühl  ziemlich  gut  entwickelt  sein,  nie  ist  es  aber  so 
tief  auf  ethische,  im  Charakter  festwurzelnde  Gefühle  und  Anschauungen  gebaut, 
wie  beim  Vollsinnigen.  Es  besteht  vielmehr  in  einer  halbbewussten  Regung  und 
Eingebung  eines  sittliche  Ürtheile  Anderer  verwerthenden  Gewissens.  Desshalb 
ist  auch  die  Reue  über  eine  etwa  begangene  rechtswidrige  Handlung  eine  ober- 
flächliche. 

b)  Physische:  Neben  diesen  Störungen  der  psychischen  Funktionen  finden 
sich  in  zahlreichen  Fällen  aus  der  gleichen  anatomischen  Ursache  gesetzte  Funk- 
tionsstörungen im  Bereich  der  Motilität,  der  Sensibilität,  der  Sinnesorgane,  end- 
lich Schädelanomalien  und  anderweitige  lokale  Degenerationszeichen. 


Physische  Abnormitäten.  65 

Im  Gebiet  der  höheren  Sinne  kommen  Amblyopie,  Schwerhörigkeit,  un- 
vollkommenes Geruchs-  und  Geschmacksvermögen  bei  Blöd-  und  Schwachsinnigen 
vor.  Auch  die  Hautsensibilität  kann  abgestumpft  sein  bis  zur  Anästhesie. 
Häufig  besteht  Schielen,  seltener  durch  Krampf  als  durch  Lähmung  der  Augen- 
muskeln. Im  Gebiet  der  Sprachmuskeln  findet  sich  häufig  Stottern.  Mannigfache 
central  bedingte  motorische  Störungen  werden    an  den  Extremitäten  beobachtet. 

So  Krämpfe,  bald  partiell  und  auf  Zehen,  Arme  oder  Beine  beschränkt, 
bald  allgemein  und  veitstanzartig.  Häufig  sind  auch  epileptiforme  Zustände.  Sie 
können  eine  zweifache  Bedeutung  haben.  Entweder  sind  sie  der  psychischen' 
Infirmität  coordinirte  Symptome  und  durch  die  gleiche  anatomische  Ursache  be- 
dingt, oder  die  Epilepsie  ist  das  primäre  Uebel  und  hat  die  Idiotie  herbeigeführt. 

Von  Contracturen  finden  sich  spastischer  Klumpfuss,  Caput  obstipum. 
Mcht  selten  sind  paralytische  Zustände.  Es  gibt  tiefstehende  Idioten,  die  nicht 
gehen  können,  andere  haben  Schwierigkeit,  beim  Stehen  und  Gehen  das  Gleich- 
gewicht zu  erhalten.  Dabei  finden  sich  Anomalien  der  Muskelinnervation,  partielle 
Lähmungen,  Muskelatrophien,  Coordinationsstörungen. 

Die  sexuellen  Funktionen  zeigen  bei  den  Idioten  vielfach  bemerkenswerthe 
Anomalien.  Sie  fehlen  gänzlich  bei  den  Idioten  höchsten  Grades,  die  Genitalien 
sind  dann  häufig  klein  und  verkümmert,  die  Menstruation  tritt  spät  oder  gar  nie 
ein,  es  besteht  Impotenz  resp.  Sterilität.  Auch  bei  höherstehenden  Idioten  sind 
die  sexuellen  Triebe  in  der  Regel  vermindert,  selten  nur  gesteigert.  Sie  können 
dann  brunstartig  eintreten  und  mit  wahrer  Bestialität  befriedigt  werden.  In 
solchen  Fällen  kommt  dann  auch  wohl  Onanie  vor. 

Auf  central  bedingte  trophische  Anomalien  sind  der  nicht  seltene  Zwerg- 
wuchs, die  dicke  fleischige  Zunge,  die  wulstigen  Lippen,  die  schlechten,  bald 
absterbenden  Zähne,  die  Hypertrophie  der  Schilddrüse  und  des  Unterhautzell- 
und  Fettgewebes,  wie  sie  in  der  Regel  sich  bei  der  endemischen  Form  vorfinden, 
zu  heziehen. 

Die  forensische  Untersuchimg  solcher  Fälle  von  Blöd-  und 
Schwachsinn  hat  die  psychischen  Infirmitäten,  die  Störungen  in  der 
Funktion  motorischer,  sensibler  und  sensorieller  Apparate,  sowie  die 
mannigfachen  Degenerationszeichen  gebührend  zu  beachten  und  zu 
verwerthen.  Nicht  unerheblich  für-  den  Gerichtsarzt  ist  auch  die 
Untersuchung  des  Baues  des  Schädels  und  etwaiger  Anomalien,  na- 
mentlich der  abnormen  Kleinheit  oder  Grösse  desselben. 

Was  die  semiotische  Bedeutung  der  verschiedenen  SchädeldilFor- 
mitäten  betrifft,  so  bezeichnen  macrocephale  und  microcephale  Schädel 
immer  angeborene  Blöd-  und  Schwachsinnszustände.  Partielle  Diffor- 
mitäten  des  Schädels,  namentlich  wenn  eine  Compensation  eintrat, 
sind  mit  geistiger  Integrität  verträglich,  dürften  aber  immer  eine 
Disposition  zu  Hirnerkrankung  andeuten. 

Betreffen  sie  aber  den  Stirnschädel,  so  besteht  in  der  Regel 
Geistesschwäche,  weil  der  vordere  Theil  des  Gehirns  vorzugsweise 
den  intellektuellen  Funktionen  dient  und  compensatorische  Ausbiegungen 

Krafft-Ebing,  gerichtl.  Psychopathologie.    2.  Auflage.  5 


66  Cap.  VIII.    Psychische  Entwicklungshemmungen. 

an  andern  Theilen  des  Schädels  wirkungslos  bleiben.  Die  Stirn  er- 
scheint dann  flach,  nieder  (fliehend)  oder  im  queren  Durchmesser 
verkümmert.  Dieser  hemmende  Einfluss  auf  die  Entwicklung  des 
Stirnhirns  tritt  namentlich  da  ein,  wo  die  Stirn-,  die  Kronen-,  die 
Pfeilnaht  (Leptocephalie)  sich  zu  früh  schliessen. 

Unter  den  Schädelanomalien  an  der  Basis  verdient  die  vorzei- 
tige Verknöcherung  der  Synchondrose  zwischen  Keil-  und  Grundbein 
alle  Beachtung.  Sie  charakterisirt  sich  durch  eine  stärkere  Biegung 
des  Schädelgrunds  nach  oben,  einen  kleineren  Vereinigungswinkel 
zwischen  Keil-  und  Grundbein,  steileren  Clivus,  flachere  und  mehr 
quere  Stellung  der  Felsenbeine,  Schmalbleiben  der  grossen  Keilbein- 
flügel, Verengerung  der  mittleren  Schädelgrube.  Dadurch  wird  eine 
hemmende  Wirkung  auf  das  Wachsthum  von  Vorder-  und  Mittelhirn 
ausgeübt.  Die  gleichzeitig  vorhandenen  Anomalien  des  Gesichtsschädels 
(aufgeworfene  Nase  durch  Vorschiebung  des  Nasenrückens  bei  tief 
eingedrückter  Nasenwurzel),  weit  abstehende  Augen  bei  breiter  aber 
wenig  tiefer  Augenhöhle  (Glotzaugen),  vorgeschobene  Jochbeine  und 
Kiefer  (Prognathie)  erleichtern  die  Diagnose.  Diese  Schädelanomalie 
kommt  vorzugsweise  aber  nicht  ausschliesslich  der  alpinen  Form  des 
Cretinismus  zu. 

Bei  der  Beurtheilung  der  psychischen  Phänomene  ist  als  Grund- 
regel zu  beachten,  dass  man  synthetisch  und  nicht  analytisch  verfahre 
und  nicht  aus  einer  Leistung,  die  vielleicht  besonders  hervortritt,  die 
Gesammtleistungsfähigkeit  beurtheile.  Gerade  bei  originär  Blöd-  und 
Schwachsinnigen  kommt  zuweilen  eine  auffallende,  freilich  nur  einseitige, 
instinktive,  halbbewusste,  den  Trieben  der  Thiere  vergleichbare  Be- 
fähigung zu  gewissen  artistischen  Leistungen  vor,  die  umsomehr  in 
Erstaunen  setzt,  je  mehr  das  gesammte  übrige  psychische  Leben  ver- 
kümmert ist.  Dahin  gehören  hervorragende  Begabung  für  Mechanik, 
Zeichnen,  Musik,  ungewöhnliches  Wort-  und  Zahlen gedächtniss  etc. 
Es  scheint,  dass  solche  einseitige  Begabungen  nie  bei  der  accidentellen, 
sondern  nur  bei  der  durch  hereditär  degenerative  Momente  entstan- 
denen Idiotie  sich  vorfinden. i 

Solche  einseitige  Leistungen  bei  Sterilität  für  alle  übrigen  werden 
zuweilen  von  ,, Sachverständigen"  über  Gebühr  gewürdigt,  während 
der  Laie,  der  nach  der  Gesammterscheinung  und  Gesammtleistung 
der  Persönlichkeit  sich  sein  Urtheil  zu  bilden  pflegt,  die  Dürftigkeit 
der  psychischen  Leistung  richtig  herausfindet.  Wie  bei  der  Beur- 
theilung der  Zurechnungsfähigkeit  jugendlicher  Verbrecher  wird  auf 
das  Kriterium  des  Unterscheidungsvermögens  zu  grosser  und  einseitiger 


Unterscheidiuigsvermögen  Scliwachsinniger.  (37 

Werth  auch  bei  dem  Schwachsinnigen  gelegt.  Wie  dort  muss  auch 
hier  daran  erinnert  werden,  dass  Unterscheidungsvermögen  und  Zu- 
rechnungsfähigkeit nicht  einander  deckende  Begriffe  sind.  Aber  das 
Unterscheidungsvermögen  des  Schwachsinnigen  ist  zudem  nothwendig 
ein  ganz  anderes  als  das  des  Vollsinnigen.  Jedenfalls  muss  es  ganz 
concret  aufgefasst  werden. 

Der  wesentliche  Unterschied  liegt  hier  darin,  dass  der  Schwach- 
sinnige seine  moralischen  Urtheile  und  rechtlichen  Begriffe  nicht  aus 
einem  selbsterworbenen  Charakter  herausschöpft,  nicht  aus  einem  sitt- 
lichen und  iutellectuellen  Erkenntnissprocess  besitzt,  den  er  selbständig 
durchgemacht  hat,  sondern  dass  er  nur  die  moralischen  Begriffe  und 
rechtlichen  Urtheile  Anderer  verwerthet,  abstrakte  Katechismus-  und 
Moralbegriffe,  die  er  mühsam  seinem  Gedächtniss  einverleibt  hat. 
Ein  solches  abstraktes  Strafbarkeitsbewusstsein  involvirt  zwar  ein 
allgemeines  Wissen,  was  gut  und  böse  ist,  nicht  aber  die  Fähigkeit, 
dieses  Wissen  auf  den  eigenen  concreten  Fall  anzuwenden,  um  des 
Gruten  willen  sich  frei  für  das  Gute  zu  bestimmen.  Bei  Manchen  sind 
auch  statt  der  ethischen  Begriffe  „gut"  und  „böse"  nur  die  niederen 
egoistischen  der  Nützlichkeit  und  Schädlichkeit  entwickelt.  Legt  man 
solchen  Geschöpfen  die  abstrakte  Frage  vor,  ob  diese  oder  jene 
Handlung  Sünde  resp,  Verbrechen  sei,  so  bekommt  man  oft  eine 
ganz  befriedigende  Antwort  von  einem  Menschen,  der  vollkommen 
ausser  Stand  ist,  von  diesen  abstrakten  Begriffen  eine  Anwendung 
auf  den  eigenen  Fall,  auf  eigene  Bewusstseinszustände  zu  machen. 
Dann  genügen  die  erborgten  Begriffe  nicht  mehr. 

In  dieser  Richtung  wird  unendlich  oft  die  Verantwortlichkeit 
Schwachsinniger  überschätzt.  So  wenig  als  im  intellektuellen  Leben 
solcher  Menschen  eine  harmonisch  sich  vollziehende,  vielleicht  die 
eines  Vollsinnigen  übertreffende  Einzelleistung  das  Urtheil  über  die 
Gesammtleistungsfähigkeit  präoccupiren  darf,  ebensowenig  sollte  bei 
der  Beurtheilung  des  moralischen  Ichs  und  der  Höhe  des  Strafbar- 
keitsbewusstseins  durch  ein  isolirtes  abstraktes,  aber  richtiges  mora- 
lisches Urtheil  der  Begutachter  sich  täuschen  lassen.  Zu  einem  freien 
vernunftgemässen  Handeln  gehören  höhere  Fähigkeiten,  selbständig 
gebildete  und  tief  in's  Bewusstsein  eingelebte  rechtliche  und  ethische 
Begriffe  und  Urtheile  —  statt  dieser  finden  sich  bei  Schwachsinnigen 
vielfach  nur  Fragmente  einer  unvollkommenen  Schulbildung,  Gedächt- 
nissrudera  halbverstandener  Katechismusbegriffe. 

Um  zur  Klarheit  über  die  geistige  Stufe  eines  vermuthlich 
Schwachsinnigen    zu    kommen,   sind  wiederholte  Untersuchungen  und 


ßg  Cap.  VIII.    Psychische  Entwicklungshemmungen. 

eingebende  Erhebungen  über  das  gesammte  Vorleben  nöthig.  Das 
Urtheil  der  Laien,  beim  eigentlichen  Geisteskranken  ein  sehr  trüge- 
risches; hat  hier  einen  gewissen  Werth,  da  es  auf  die  Gesammtpersön- 
lichkeit  gebaut  und  somit  synthetisch  gewonnen  ist.  Zuweilen  ergibt 
sich  die  Insufficienz  geistig  Schwacher  erst  dann,  wenn  sie  aus  ihrem 
gewohnten  Lebenskreis  herausgetreten  und  in  irgend  eine  Ausnahms- 
stellung gerathen  sind.  Blosses  Conversiren  mit  dem  Exploranden 
genügt  nicht  zur  Beurtheilung,  Fähigkeit  zur  Conversation  verbürgt 
noch  nicht  geistige  Leistungsfähigkeit,  sondern  setzt  nur  Besitz  einer 
Summe  von  Vorstellungen  und  das  Vermögen  der  Ideenassociation 
voraus.  Bei  der  Exploration  kommt  es  nicht  bloss  auf  den  Inhalt  der 
Antwort,  sondern  auf  die  Geläufigkeit  des  Antwortens,  auf  die  Art 
der  Beantwortung  der  gestellten  Frage  an. 

Von  Bedeutung  ist  vielfach  der  Umstand,  wie  oft  man  fragen 
und  wie  oft  man  die  Frage  anders  formuliren  muss,  bis  sie  verstanden 
wird.  Es  ist  Eigenthümlichkeit  vieler  Schwachsinniger,  dass  sie  zuerst 
die  Frage  wiederholen,  ehe  sie  antworten,  oder,  wie  um  die  Meinung 
Anderer  zuerst  einzuholen,  die  Umgebung  fragend  ansehen.  Jeden- 
falls ergibt  sich  aus  der  Art  des  Antwortens  ein  werth vollerer  Ein- 
blick in  die  Anspruchsfähigkeit  und  damit  auch  in  den  Umfang  der 
Leistungsfähigkeit  des  psychischen  Mechanismus,  als  aus  dem  Inhalt 
der  Antwort.  Auch  muss  man  sich  hüten,  die  Frage  so  zu  formu- 
liren, dass  die  Antwort  darin  schon  vorbereitet  ist,  allenfalls  bloss 
mit  ^ja"  oder  „nein"  gegeben  zu  werden  braucht. 

Was  die  criminellen  Handlungen  der  Blödsinnigen  betrifft,  so 
sind  sie  durch  Affekte  vermittelt,  in  denen  sie  Todtschlag,  Körper- 
verletzungen und  andere  zerstörende  Gewaltakte  begehen,  oder  durch 
heftige  sinnliche  Begehren  (Nahrungstrieb,  Geschlechtstrieb),  die  eben- 
sowohl durch  eine  quantitative  Steigerung  der  natürlichen  Triebe, 
als  durch  den  Mangel  aller  sittlichen,  ästhetischen,  contrastirenden 
Vorstellungen  unwiderstehlich  werden,  oder  es  kommt  zu  gefährlichen 
Handlungen,  z.  B.  Brandstiftung,  für  die  jedes  Bewusstsein  der  Be- 
deutung und  Gefährlichkeit  fehlt,  und  die  nicht  selten  rein  imitatorisch, 
wie  bei  Kindern  hervorgerufen  sind.  Planmässiger,  von  Combination 
und  Ueberlegung  zeugender  Handlungen  ist  der  Blödsinnige  nicht 
fähig.  Die  Zurechnungsfähigkeit  ist  aufgehoben,  schon  einfach  aus 
dem  Grund,  weil  übersinnliche  Begriffe,  Urtheile  ästhetischen,  mora- 
lischen, rechtlichen  Inhalts  hier  nicht  möglich  sind. 

Beob.  9.  Ein  blö  dsinniger  Mens  chenfresser.  J.  F.,  40  J.,  geistes- 
blöd von  Kindheit  auf,    auch   körperlich   sehr  verkümmert,  wurde  im  Dorfe  als 


Beob.  10.    Ein  blödsinniger  Brandstifter.  69 

Tagewäcliter  verwendet.  Dabei  trug  er  öfters  den  zweijährigen  Sohn  seiner 
Schwester  lierum.  Am  12.  Oktober  1853  kam  er  mit  dem  Kind  nicht  vom  Feld 
heim.  Man  suchte  ihn  und  fand  ihn  endlich  im  Gebüsch.  Er  hatte  dem  Kind 
Kehle  und  Schlund  durchgebissen,  alle  Weichtheile  abgenagt  und  das  herab- 
strömende Blut  getrunken,  die  Haut  von  der  Brust,  dem  Unterleib  und  den  Armen 
herabgezogen,  die  Fett-  und  Fleisch theile  abgebissen  und  verzehrt.  Als  Motiv 
der  That  gab  er  an,  er  habe  Fleisch  essen  wollen,  um  gross  zu  werden.  Von 
einem  Bewusstsein  der  Bedeutung  seiner  That  fand  sich  keine  Spur.  (Casper's 
Vierteljahrsschr.  VIII.  p.  163.) 

Beob.  10.  Ein  blödsinniger  Brandstifter.  K,  22  J.,  uneheliches 
Kind,  zeigte  sich  in  der  Schule  bildungsunfähig,  lernte  nicht  lesen,  noch  schreiben 
und  rechnen.  Er  war  nur  zum  Viehhüten  brauchbar,  wurde  von  der  Umgebung 
seines  Blödsinns  wegen  stets  geneckt  und  vielfach  geschlagen,  was  ihn  erbitterte 
und  rachsüchtig  machte.  Eines  Nachts  träumte  ihm,  er  lege  Feuer  an.  Dies  fiel 
ihm  am  Morgen  ein  und  er  schritt  sofort  zur  That.  Nach  derselben  war  er  ganz 
unbefangen.  Als  das  Feuer  ausbrach,  lief  er  von  unbestimmter  Furcht  ergriifen 
in's  nächste  Dorf  und  erzählte  dort  vom  ausgebrochenen  Feuer.  Er  bekannte 
seine  That  ganz  unbefangen,  ohne  Furcht  vor  Strafe,  schien  überhaupt  der  Strafe 
wegen  Brandstiftung  ganz  unkundig  zu  sein. 

Er  hatte  einen  ungewöhnlich  schmalen  Kopf,  einen  stieren,  dummen,  stets 
gleichsam  fragenden  Blick,  eine  schlaife,  unbeholfene  Haltung,  schwache  Behaarung 
und  kleine,  aber  ausgebildete  Genitalien.  Den  rechten  Schenkel  zog  er  etwas 
nach.  Er  besass  Gedächtniss  und  einige  Urtheilsfähigkeit,  konnte  über  gewöhn- 
liche Verhältnisse  Auskunft  geben,  aber  die  mit  „warum"  anfangenden  Fragen 
kaum  beantworten.  Häufig  sperrte  er  den  Mund  auf  und  zupfte  gedankenlos  am 
Stuhle.     (Heinroth,  Gutachten  p.  6.) 

Bei  dem  Schwachsinnigen  wird  die  Fähigkeit  zur  Verletzung 
strafrechtHcher  Bestimmungen  eine  ausgedehntere,  jedoch  ist  derselbe 
nur  in  den  selteneren  Fällen  der  intellektuelle  Urheber  einer  straf- 
baren Handlung,  wie  dies  aus  seinem  defekten  psychischen  Mechanis- 
mus, seinem  Mangel  an  Initiative  und  Combinationsvermögen  sich 
a  priori  folgern  lässt.  Häufig  sehen  wir  ihn  aber  als  gefügiges  Werk- 
zeug im  Dienst  eines  Vollsinnigen,  der  ihn  beschwatzt  und  den  Plan 
concipirt  hat.  Wenn  der  Schwachsinnige  von  selbst  handelnd  auftritt, 
so  geschieht  dies  nur  aus  einem  Aifekt  oder  einer  Begierde.  Dann 
kommt  es  leicht  zu  Brandstiftung,  Todtschlag,  Sittlichkeitsverbrechen. 

Nicht  alle  Schwachsinnigen  können  als  unzurechnungsfähig  be- 
zeichnet werden.  In  dem  Mass,  als  ihr  Rechtsbewusstsein  entwickelt 
und  ein  wenn  auch  dürftiger  Charakter  vorhanden  ist,  sind  sie  einer 
rechtlichen  Verantwortlichkeit  fähig,  wobei  aber  nicht  zu  vergessen 
ist,  dass  die  sittlichen  und  rechtlichen  Gefühle  gering  entwickelt,  die 
Ueberschauung  der  That  und  ihrer  möglichen  Folgen  beschränkt  ist, 
vielfach  auch  die  sinnlichen  Antriebe  im  Missverhältniss  zu  den  schwa- 
chen sittlichen  Gegenmotiven  stehen.     Zudem  sind  die  Associationen, 


70  Gap.  VIII.    Psychische  Entwicklungshemmungen. 

überhaupt  der  ganze  Vorstellungsablauf  träge  und  die  Gegenmotive 
treten  verlangsamt  und  verspätet  ein,  so  dass  das  Ich  leicht  vom  An- 
trieb überrumpelt  und  zur  That  gedrängt  wird,  bevor  jene  Zeit  haben, 
sich  Geltung  zu  verschaffen. 

Wenn  wir  im  Allgemeinen  beim  Schwachsinnigen  eine  vermin- 
derte rechtliche  Verantwortlichkeit  annehmen  können,  so  dürfte  diese 
auf  ein  Minimum,  wenn  nicht  auf  Null  sinken,  sobald  auf  dem  Boden 
des  Schwachsinns  sich  ein  Affekt  entwickelt.  Die  schwachen  sittlichen 
Correktive  treten  in  solchem  Fall  gar  nicht  oder  zu  spät  ein. 

Nicht  zu  übersehen  ist,  dass  nicht  selten  auf  dem  Boden  des 
Schwachsinns  Geisteskrankheiten  (Melancholie,  Manie  u.  s.  w.)  vor- 
kommen, die  ihrerseits  wieder  zu  verbrecherischen  Handlungen  An- 
lass  geben  können. 

Beob.  11.  Ein  schwachsinniger  Brandstifter.  Im  Mai  1868  brannte 
Nachts  die  von  einer  gewissen  P.  mit  ihrem  Kind  bewohnte  Bauernhütte  ab. 
Die  Bewohner  retteten  sich  mit  Mühe.  Im  Sommer  1871  gestand  der  Bauernsohn 
Temel  einigen  Bekannten  aus  freien  Stücken ,  er  habe  damals  den  Brand  an  die 
seinem  Gehöft  benachbarte  Hütte  gelegt,  weil  der  Liebhaber  der  P.  ihn  immer 
bestohlen  und  der  P.  das  Gestohlene  zugetragen  habe.  Er  habe  jenen  oft  darüber 
zur  Rede  gestellt,  aber  immer  nur  Prügel  davon  getragen. 

T. ,  32  J. ,  ledig,  wurde  verhaftet  und  gestand  unumwunden  seine  That. 
Er  sei  eben  schwach  im  Verstand  und  habe  sich  nicht  zu  helfen  gewusst.  Ein 
Bettler  habe  ihm  diesen  Rath  gegeben  und  gesagt:  „Dreimal  anzünden  macht 
nichts,  erst  das  7.  Mal  wird's  eine  Sund'".  Wenn  er  unrecht  gehandelt  habe,  so 
sei  eben  der  Bettler  schuld.  Er  sei  bereit,  den  Schaden  zu  vergüten. .  Dass  die 
P.  mit  ihrem  Kind  in  den  Flammen  umkommen  könne,  habe  er  nicht  bedacht, 
noch  beabsichtigt.  Er  habe  nur  die  Hütte  wegen  der  Zuträgereien  weghaben 
wollen.  Nach  dem  Anzünden  sei  er  heimgelaufen  und  habe  die  Nacht  gut  ge- 
schlafen. Er  habe  nur  desshalb  sich  als  Thäter  bekannt,  weil  er  merkte,  dass 
der  W.-Bauer  ihn  im  Verdacht  desswegen  habe,  und  dem  könne  es  nur  ein  Wahr- 
sager verrathen  haben.  Die  Zeugenaussagen  constatiren,  dass  T.  von  Kindheit 
auf  schwachsinnig  war,  in  der  Schule  sich  bildungsunfähig  zeigte  und  kein 
Mädchen  desshalb  zum  Heirathen  bekommen  konnte.  Auch  zum  Viehhandel  und 
Wirthschaftsbetrieb  erwies  er  sich  unfähig,  wesshalb  seine  Verwandten  ihn  in 
der  Besorgung  seines  kleinen  Anwesens  unterstützen  mussten. 

Den  Gerichtsbeamten  macht  er  den  Eindruck  eines  Geistesschwachen,  der 
nicht  zu  beurtheilen  vermag,  was  recht  und  unrecht  sei.  In  den  Verhören  sitzt 
er  theilnahmlos  und  mit  den  Händen  spielend  da. 

Die  Beobachtung  in  der  Irrenanstalt  ergibt  Folgendes :  T.  ist  von  kleinem 
Wuchs,  die  Sprache  schwerfällig,  die  Gesichtszüge  ausdruckslos.  Er  ist  schwer- 
hörig. Die  Stimmung  ist  indifferent,  das  Gedächtniss  schwach,  die  Apperception 
und  Reproduktion  träge,  der  geistige  Horizont  ein  eng  begränzter  und  auf  die 
Sphäre  der  materiellen  Lebensbedürfnisse  beschränkt.  Er  nimmt  die  Schwäche 
seiner   geistigen  Thätigkeit   selbst  wahr,   er   sei  schwach  im  Kopf,   könne   nicht 


Beob.  12.    Der  Knabenmörder  Carlino  Grandi.  71 

recht  auffassen,  und  bei  der  Wirthschaft  hätten  ihm  immer  der  Bruder  und  die 
andern  Leute  helfen  müssen. 

Gutachten:  Inculpat  leidet  seit  seiner  frühesten  Jugend  an  einem  höheren 
Grad  von  Schwachsinn.  Die  Insufficienz  seiner  geistigen  Vermögen  zeigt  sich 
in  allen  Lebensaltern  und  Lebenslagen.  Schon  in  der  Schule  erweist  er  sich  als 
blöde  und  entwicklungsunfähig,  später  kann  man  ihm  nicht  einmal  ein  kleines 
Anwesen  allein  anvertrauen.  Die  öffentliche  Meinung  bezeichnet  ihn  als  einen 
Simpel  und  kein  Mädchen  ist  zu  bewegen,  ihn  zu  heirathen.  Nur  der  Einfach- 
heit seiner  Lebensbeziehungen  verdankt  er  es,  dass  er  nicht  schon  längst  gericht- 
lich für  blödsinnig  erklärt  und  unter  Curatel  gesetzt  wurde.  Für  seine  geistige 
Schwäche  bezeichnend  ist  ferner  der  Umstand,  dass  er  seine  Interessen  gegen- 
über dem  angeblichen  Dieb  nicht  wahrzunehmen  weiss.  Dessen  Prügel  machen 
ihn  furchtsam  und  verschliessen  ihm  den  Mund.  Die  Hilfe  der  Justiz  kennt 
er  nicht.  Selbst  unfähig,  um  einen  Plan  zur  Entledigung  von  einer  lästigen 
Nachbarschaft  auszudenken  ,  ist  er  ganz  geeignet ,  einen  von  einem  Andern  ge- 
machten zu  acceptiren.  Die  naive  Offenheit,  mit  der  er  That  und  Umstände  der- 
selben bekennt,  die  Ueberzeugung  von  der  Richtigkeit  der  foppenden  Erklärung 
des  Bettlers,  dass  erst  das  7.  Mal  Brandstiftung  eine  Sünde  sei,  das  Fehlen  aller 
Einsicht  und  Reue  in  der  Folge,  die  naive  Anschauung,  er  könne  durch  Bezahlung 
des  Schadens  die  ganze  Sache  abthun,  sind  hinlängliche  Beweise  für  den  völligen 
Mangel  ethischer  und  rechtlicher  Begriffe.  Nicht  minder  beweisen  sein  Nicht- 
darandenken,  dass  er  Menschenleben  durch  seine  That  gefährdete,  ferner  die  ein- 
fältige Art,  wie  er  selbst  sich  verrieth,  den  Mangel  aller  Voraussicht  und  Ueber- 
legung.  Das  Krankheitsbild  wird  vervollständigt  durch  sein  Benehmen  vor  Ge- 
richt und  in  der  Irrenanstalt,  durch  seine  Apathie,  Indifferenz,  sein  kindisches 
Benehmen,  seine  Physiognomie,  Haltung,  seine  Gedächtniss-  und  Auffassungs- 
schwäche, seinen  Mangel  an  jeglicher  Aktivität  und  Spontaneität. 

Explorat  besass  weder  das  Vermögen,  die  Beschaffenheit,  Verhältnisse, 
rechtliche  und  sittliche  Bedeutung  der  von  ihm  begangenen  That  einzusehen, 
noch  war  er  bei  seinem  intellektuellen  und  ethischen  Defekt  befähigt,  sich  für 
Begehung  oder  Unterlassung  seiner  That  aus  Gründen  der  Sittlichkeit  zu  ent- 
scheiden. Die  Möglichkeit  einer  Wahl  war  damit  ausgeschlossen.  Er  hatte  keine 
Widerstandskraft,  der  ihm  gebotenen  Versuchung  zu  widerstehen,  er  sah  aber 
auch  mit  seinen  geistig  blöden  Augen  keinen  anderen  Ausweg  aus  seiner  unbe- 
quemen Lage,  als  den,  welchen  er  betreten  hat.     (Eigene  Beobachtung.) 

Beob.  12.  .  Der  Knabenmörder  Carlino  Grandi.  In  der  Zeit  von 
1873 — 75  verschwanden  in  der  Gemeinde  V.  spurlos  4  kleine  Knaben.  Man  glaubte 
die  Kinder  geraubt,  welchen  Verdacht  ein  gewisser  Carlino  Grandi  zu  bestärken 
wusste.  Eines  Tags  verschwand  ein  fünfter  Knabe.  Man  hörte  sein  Hilfegeschrei 
aus  G.'s  Wohnung,  sprengte  die  verschlossene  Thüre,  fand  den  Knaben  blutend, 
geschunden.  G.  behauptete ,  der  Knabe  habe  sich  im  Fallen  verletzt.  Dieser 
erzählte,  G.  habe  ihn  in  seine  Wohnung  gelockt,  die  Thüre  verschlossen,  ihn  in 
eine  Grube  gesteckt,  mit  Erde  bedeckt.  Da  habe  er  um  Hilfe  geschrieen  und 
sich  gewehrt.  Man  durchwühlte  den  Boden  und  fand  die  Cadaver  der  4  ver- 
missten  Knaben.  Sie  waren  nicht  verletzt,  offenbar  lebendig  eingegraben  worden. 
G.  liess  sich  in  aller  Gemüthsruhe  verhaften. 

G. ,  geboren  1851  stammt  aus  einer  Familie,  die  sowohl  auf  Vaters-  als 
Mutterseite   dem   Trünke   ergeben   war.     Sein  Vater  war  psychopathisch,    excen- 


72  Cap.  VIII.    Psychisclie  Entwicklungshemmungen. 

irisch,  seine  Mutter  halb  cretinös,  neuropathisch,  eine  Schwester,  von  ihm,  Idiotin, 
starb  mit  7  Jahren. 

G.  war  imbecill,  entwickelte  sich  langsam,  brachte  es  nothdürftig  zum 
Lesen  und  Schreiben,  lernte  das  Anstreichen,  hielt  sich  aber  für  einen  Künstler. 
Sein  Benehmen  war  läppisch,  kindisch,  im  Zorn  war  er  masslos ,  biss  sogar  ein- 
mal dem  Bruder  in  den  Finger.  Seine  Lieblingsbeschäftigung  war  Müssiggang, 
Lesen  und  Schreiben.  Er  bildete  sich  viel  auf  seine  schriftlichen  Arbeiten  ein, 
namentlich  die  Romanze  seines  Lebens,  die  er  selbst  verfasst  und  mit  Vignetten 
geziert  hatte,  ein  Muster  von  Schwachsinn,  Unsinn  und  Selbstüberschätzung.  Er 
hielt  sich  für  einen  grossen  Philosophen  und  Dichter.  Man  trug  seiner  Imbecillität 
und  Schrullenhaftigkeit  in  der  Familie  Rechnung  und  hatte  so  mit  ihm  ein  leid- 
liches Auskommen.  Ausser  Hause  spielte  er  am  liebsten  in  kindischer  Weise 
mit  Knaben.  Den  Erwachsenen  war  er  theils  ein  Gegenstand  der  Belustigung 
und  des  Spotts ,  theils  des  Mitleids.  Da  er  bei  seiner  körperlichen  Missgestalt 
und  seinem  kindischen  Wesen  sich  überall  lächerlich  machte  und  doch  sich  für 
einen  grossen  Philosophen  und  Dichter  hielt,  blieb  er  tiefgekränkt  meist  zu 
Hause.  Seine  Stimmung  wechselte  beständig  zwischen  Ausgelassenheit  und 
schlechter  Laune,  er  beklagte  sich  häufig  über  Kopfweh  und  war  oft  schlaflos, 
dabei  grosse  Reizbarkeit.  Epileptische  Zufälle  wurden  nie  bemerkt,  1875  vorüber- 
gehender psychischer  Aufregungszustand.  G.  war  eifrig  in  religiösen  Hebungen, 
aber  der  ethische  Kern  der  Religion  war  ihm  unfassbar.  Wein  hatte  er  nie  ge- 
trunken, auch  nie  sich  mit  Weibern   abgegeben. 

Er  ist  von  Zwergwuchs ,  24  J.  alt,  schwächlich ,  von  blasser  Farbe.  Mit 
Ausnahme  von  etwas  Wollhaar  am  Kinn,  ist  er  am  ganzen  Körper  haarlos. 
Schädel  brachy-rhombocephal ,  Kopfumfang  54  cm,  Kinnladen  enorm  entwickelt. 
Gesicht  von  cretinösem  Habitus,  Strabismus,  Scoliose,  Becken  verschoben,  linkes 
Bein  länger  als  rechtes,  dieses  beim  Gehen  nachschleifend,  dabei  Pes  varus  und 
überzählige  Zehe  am  linken  Fuss.  Phimosis,  die  Genitalorgane  auf  der  Ent- 
wicklungsstufe eines  12jährigen  Knaben. 

Die  Zeugen  theilen  mit,  dass,  als  G.'s  Verbrechen  entdeckt  wurde,  er  ganz 
gleichmüthig  blieb  und  als  man  die  4  Leichen  ausgrub,  ein  Liedchen  trällerte. 
Als  er  von  den  Gensdarmen  eskortirt  wurde,  war  er  lustig  und  guter  Dinge, 
Hess  jene  und  den  König  hochleben.  Im  Gefängniss  benahm  er  sich,  wie  wenn 
er  auf  seine  That  stolz  sein  könnte.  Im  Verhör  läugnete  er  anfangs,  beschul- 
digte die  Nachbarn,  dass  sie  heimlich  die  Knaben  eingegraben  hätten,  verrieth 
sich  aber  gleichzeitig  als  Thäter  und  gab  seinem  Hass  gegen  die  Jungen,  die  ihn 
immer  verspottet  hatten,  Ausdruck.  Als  man  ihm  drohte,  bekannte  er  die  Wahr- 
heit und  motivirte  seine  grauenvollen  Thaten  mit  kleinen  Bosheiten,  die  ihm  seine 
Opfer  angethan  hätten.  Er  hoffte,  es  werde  ihm  nicht  den  Kopf  kosten,  er  habe 
Angst  vor  dem  Tod,  Verurtheilung  zu  Zwangsarbeit  sei  ihm  schon  recht,  er 
könne  ohnehin  nicht  heim,  da  man  ihn  daheim  umbringen  würde. 

Er  gedachte  noch  mehr  Jungen  umzubringen,  um  vor  ihren  Verspottungen 
und  Bosheiten  Ruhe  zu  bekommen.  Er  fand  dies  ganz  in  der  Ordnung  und 
lächelte  verschmitzt  dazu.  Kindische  Selbstüberschätzung ,  grosse  Freude ,  dass 
ganz  Italien  von  ihm  spreche,  dass  die  Gensdarmen  ihn  wie  im  Triumph  hieher- 
gebracht und  vor  der  Volkswuth  beschützt  hatten.  Die  Aufmerksamkeit,  welche 
ihm  im  Gefängniss  zu  Theil  wurde,  war  ihm  schmeichelhaft.  Den  Gefängniss- 
wärtern machte  er  den  Eindruck  eines  Kindskopfs  und  nicht  eines  schrecklichen 


Beob.  13.    Schwachsinn.    Mord,  über  Anstiften  eines  Vollsinnigen.  73 

Mörders,  dem  Gefängnissdirektor  den  eines  entarteten  und  unzurechnungsfähigen 
Menschen.  Einmal  im  Verlauf  seines  Gefängnissaufenthalts  wurde  ein  mehr- 
tägiger, ängstlicher  Erregungszustand  mit  Persecutionsdelir  beobachtet.  Von 
moralischem  Sinn,  Reue,  Gemüthsbewegung  fand  sich  nie  eine  Spur.  Er  fand, 
die  4  Jungen,  die  nun  im  Paradies  seien,  hätten  es  besser  als  er. 

Im  Gef ängniss ,  im  25.  Jahr  stellte  sich  unter  psychischer  Verstimmung 
die  Pubertät  ein.  Sein  Kopf,  seine  Schamtheile  bedeckten  sich  mit  Haaren,  die 
Genitalien  entwickelten  sich. 

Am  18.  Dec.  1876  wurde  G.  vor  die  Geschworenen  gestellt.  Es  that  ihm 
leid,  dass  er  als  Hauptperson  in  diesem  Drama  mit  zerrissenen  Stiefeln  erscheinen 
musste.  Er  betrat  wie  ein  Held  den  Saal  und  grüsste  herablassend.  In  die 
Einzelheiten  des  Processes  kann  hier  nicht  eingegangen  werden.  G.  war  der  alte 
läppische,  kindische,  verkehrte,  schwachsinnige,  moralisch  defekte  Mensch,  wie  er 
sich  in  der  Haft  erwiesen  hatte.  Trotz  übereinstimmender  Gutachten  von  3  der 
bedeutendsten  italienischen  Irrenärzte,  die  in  G.  einen  der  schwersten  Fälle  von 
psychischer  Entartung  nachwiesen,  erfolgte  G.'s  Verurtheilung  zu  20  Jahren  Kerker, 
in  Uebereinstimmung  mit  der  öffentlichen  Meinung,  die  durch  die  Unerhörtheit 
des  Verbrechens  gegen  G.  voreingenommen  war  und  den  Thatsachen  wissen- 
schaftlicher Forschung  nicht  folgen  konnte.  So  endete  dieser  denkwürdige  Ge- 
richtsfall, dessen  Detail  im  Original  nachgelesen  zu  werden  verdient.  (Bini,  Livi 
II.  Morselli,  Rivista  sperimentale  1877.) 

Beob.  13.  Mord,  begangen  durch  einen  hochgradig  Schwach- 
sinnigen über  Ans tiften  eines  Vollsinnigen.  Am  16.  April  1878  trug 
der  Bauer  J.  seinem  9jährigen  Ziehsohn  Heinrich  auf,  Heu  vom  Heuboden  durch 
das  Futterlocli  in  die  Tenne  herabzuwerfen.  Als  J.  nach  etwa  einer  halben 
Stunde  heimkam,  fragte  er  seinen  Sohn  Georg  und  den  16j.  Dienstbuben  Valentin, 
die  in  der  Nähe  der  Tenne  mit  Strohschneiden  beschäftigt  waren,  wo  der  Heinrich 
sei.  Diese  sagten,  sie  wüssten  es  nicht.  Um  9  Uhr  früh  kam  Georg  zum  Vater 
auf  den  Acker  und  theilte  ihm  mit,  der  Heinrich  sei  in  die  Tenne  hinabgefallen 
und  todt. 

Diese  Angabe  bestätigte  sich.  Die  Höhe  des  Futterlochs  über  dem  Tennen- 
boden betrug  2,6  m.  Das  Sektionsprotokoll  berichtet  von  Blutüberfüllung  des 
Gehirns  und  Rückenmarks,  blutigen  Ergüssen  im  Rückenmarkskanal  und  zwischen 
den  Hirnhäuten  und  nimmt  an,  dass  der  Tod  durch  stumpfe  Gewalt  (Absturz 
auf  den  Tennenboden  mit  dem  Kopf  voran)  an  Gehirnlähmung  erfolgt  sei. 

Am  22.  April  erstattete  die  Mutter  des  Verunglückten  die  Anzeige,  ihr 
Sohn  sei  nicht  verunglückt,  sondern  von  Georg  J.  zuerst  gewürgt  und  dann  in 
die  Tenne  hinabgeworfen  worden.  Sie  habe  dies  von  der  Schwester  des  Dienst- 
buben Valentin,  der  Augenzeuge  gewesen  sei,  erfahren. 

Am  24.  übergibt  der  Vater  seinen  des  Mords  geständigen  Sohn  dem 
Untersuchungsrichter.  Der  sofort  verhörte  G.  erscheint  dem  Untersuchungsrichter 
schwachsinnig  und  vermag  nur  in  schwer  verständlicher  lallender  Sprache  Fol- 
gendes anzugeben :  Ich  war  seit  heurigena  Jahr  dem  Heinrich  feind,  weil  er  mich 
immer  geärgert  imd  mir  Geld  und  andere  Sachen  entwendet  hat. 

Am  10.  April  kam  mir  plötzlich  der  Gedanke,  ihn  umzubringen.  Am  15. 
sagte  ich  zu  Valentin,  der  dem  H.  noch  mehr  feind  war:  „morgen  werde  ich  den 
H.  auf   den  Futterboden    hinaufführen    und    dann    umbringen".     Der  V.  meinte: 


74  Cap.  VIII.    Psychische  Entwicklungshemmungen. 

„ja,  ja,  hast  schon  recht."  Schon  seit  März  liatte  icli  den  Gedanken,  den  H.  ein- 
mal mit  dem  Hosenriemen  zu  erwürgen. 

Am  16.  früh  8V2  Uhr  hiess  ich  den  H.  auf  den  Futterboden  hinaufsteigen. 
Ich  und  V.  kamen  nach,  dieser  blieb  auf  der  obersten  Leitersprosse  stehen  und 
schaute  zu.  Ich  warf  dem  H.  den  Hosenriemen  um  den  Hals  und  zog  fest  zu. 
Der  H.  fiel  um.  Eine  Zeit  lang  würgte  ich  ihn,  bis  ich  glaubte,  er  sei  hin.  Der 
V.  meinte :  „lass  ihn  liegen".  Ich  that  dies.  Wir  gingen  hinab ,  der  V.  aufs 
Feld,  ich  zum  Vater.  Als  der  fragte,  wo  der  H.  sei,  sagte  ich:  „ich  weiss  nicht". 
Darauf  ging  ich  wieder  auf  den  Futterboden  und  sah,  dass  der  H.  noch  den 
Kopf  bewegte.  Da  hab  ich  ihn  mit  dem  Riemen  noch  eine  Weile  gewürgt,  ihn 
dann  zum  Futterloch  gezogen  und,  den  Kopf  voraus,  in  die  Tenne  hinabgestürzt. 
Ich  stieg  dann  hinab,  und  als  ich  sah,  dass  der  H.  sich  noch  immer  rührte,  habe 
ich  ihm  den  Kopf  3mal  auf  den  Boden  aufgeschlagen.  Dann  war  der  H.  hin. 
Meinen  Riemen  löste  ich  dann  vom  Hals  ab. 

Der  am  25.  einvernommene  Valentin  will  am  15.,  als  G.  ihm  sein  Vor- 
haben mittheilte,  ihm  gesagt  haben,  das  sei  eine  grosse  Sünde.  G.  habe  darauf 
Nichts  erwiedert.  Die  Umstände  des  Mords  schildert  V.  ganz  wie  G.,  mit  dem 
Bemerken,  G.  habe  zu  ihm  gesagt:  „wenn  du  etwas  gesehen  hast,  was  ich  gethan 
und  einem  Menschen  etwas  davon  sagst,  so  erschlage  ich  dich". 

Eine  Grosstante  des  G.  mütterlicherseits  war  blödsinnig,  seine  Schwester 
ist  schwachsinnig.  Er  soll  bis  zu  seinem  10.  Jahre  sich  normal  entwickelt  haben 
und  gesund  gewesen  sein.  Von  da  an  wurde  er  schwerhörig,  fing  an  undeutlich 
zu  sprechen  und  wurde  schwach  und  blöd  im  Kopf.  Er  war  sehr  vergesslich, 
jedoch  sparsam,  verwendbar  zur  Arbeit.  Er  lachte  oft  still  vor  sich  hin,  schlief 
wohl  auch  bei  der  Mahlzeit  ein.  Besondere  Bosheit  und  Rachsucht  war  nicht 
an  ihm  zu  bemerken.  Als  er  vor  2  Jahren  vom  Vater  wegen  Misshandlung  eines 
Buben  gezüchtigt  wurde,  widersetzte  er  sich  und  griff  dem  Vater  nach  dem 
Halse.  Im  Uebrigen  finden  die  Zeugen  den  G.  mit  einer  gewissen  Schwäche  im 
Kopf  behaftet,  halbdumm,  bei  der  Arbeit  nicht  extra  übel,  aber  auch  nicht  be- 
sonders anstellig.  Er  redete  und  la,chte  oft  mit  sich,  that  auch  sehr  viel  beten. 
Beim  Gottesdienst  benahm  er  sich  anständig. 

Einstimmig  sind  die  Zeugen  darüber,  dass  sowohl  G.  als  V.  dem  H.  feind 
waren  und  ihn  oft  misshandelten. 

Der  Staatsanwalt  findet,  dass  G.  in  seinem  beschränkten  Ideenkreise  ganz 
entsprechende  Antworten  gibt.  Gedrucktes  ziemlich  gut  liest,  bei  längerem  Ver- 
kehr in  stets  verständlicher  und  verständiger  Weise  antwortete,  leidlich  zählt, 
Geldsorten  kennt,  sich  an  frühere  Ereignisse  erinnert,  über  die  Wirthschafts- 
verhältnisse  seiner  Eltern  und  die  Geistesfähigkeit  seiner  Schwester  ganz  zutreffende 
Antworten  gibt. 

Georg  J.  erscheint  in  den  Explorationen  vom  24.,  27.,  30.  Septbr.  als  ein 
mittelgrosser,  etwa  22j.  Mensch  von  plumpem,  schwerfälligem  Gang.  Die  Haltung 
des  Körpers  ist  eine  vorgeneigte.  Die  Bewegungen  verrathen  eine  auffällige  Un- 
beholfenheit und  Ungeschicklichkeit.  Die  Miene  und  ganze  Haltung  entsprechen 
der  eines  Blödsinnigen.  Der  Schädel  ist  insofern  abnorm,  als  der  Gesichtsschädel 
bedeutend  in  der  Entwicklung  hinter  dem  Hirnschädel  zurücksteht.  Dieser  übertrifft 
den  Umfang  des  Durchschnittsschädels  (55  cm)  um  2  cm.  Der  Längsdurchmesser 
beträgt  19,5  cm,  indem  das  Hinterhauptbein  eine  ungewöhnliche  Vorbauchung 
zeigt.   Die  Entwicklung  des  Stirn-  und  Schädelbeins  entspricht  dem  Durchschnitts- 


Beob.  13.    Schwachsinn.    Mord  über  Anstiften  eines  Vollsinnigen.  75 

mass.  Der  linke  schräge  Schädeldurchmesser  ist  1  cm  kürzer  als  der  gleich- 
namige rechte.  Die  Ohren  sind  klein,  das  rechte  um  3  mm  kürzer  als  das  linke, 
dieses  nach  oben  sicli  zuspitzend.  Die  Hände  sind  auffallend  kurz  und  klein,  die 
Haut  trocken,  rauh,  rissig,  hypertrophisch,  namentlich  am  Rücken  und  den  Streck- 
seiten der  Unterextremitäten.  Die  Genitalien  sind  gut  entwickelt.  An  Oberlippe 
und  Kinn  ündet  sich  kaum  eine  Spur  von  Wollhaar,  die  Wangen  sind  vollkommen 
glatt.  Die  Schilddrüse  etwas  vergrössert.  Die  vegetativen  Organe  ohne  Befund. 
Die  Sprache  ist  schlecht  artikulirt,  kaum  verständlich,  mit  Nasengaumentimbre, 
aber  auch  die  Auffassung  ist  eine  sehr  erschwerte,  so  dass  nur  bei  den  aller- 
concretesten  Fragen  und  in  concretester  Form  Verständniss  erfolgt;  da  zudem 
die  Satzbildung  eine  durchaus  auf  kindlicher  Stufe  stehende,  vorzugsweise  in 
Particip  und  Inünitiv  sich  bewegende  ist,  wird  der  geistige  Verkehr  mit  J.  ein 
sehr  mühsamer. 

Man  erfährt  von  ihm,  dass  er  gleich  seiner  Schwester  mehrere  Jahre  in 
die  Schule  ging,  aber  wie  diese  nicht  viel  profitirte.  Er  vermag  seinen  Namen 
zu  unterschreiben,  bei  Leseversuchen  einige  Buchstaben  und  Silben  zusammen- 
zubringen, nicht  aber  Zahlen  abzulesen.  Addiren  und  Subtrahiren  ist  ihm  nicht 
geläufig.  Die  gewöhnlichen  Geldsorten  kennt  er  nothdürftig,  nicht  aber  Brief- 
marken und  Stempel,  auf  denen  ihm  der  Kopf  eines  Mannes  übrigens  auffällt. 

Ein  Buch  bezeichnet  er  als  solches,  einen  Wandkalender  als  „Papier". 
Eine  Uhr  kennt  er  und  liest  die  Stunde  ab,  vermag  aber  über  Zeitrechnung, 
Eintheilung  des  Tages  keinen  Bescheid  zu  geben,  wohl  aber  sagt  er  die  Wochen- 
tage und  Monate  auf,  wenn  man  ihm  den  Anfang  vorsagt.  Ostern  feiert  man 
für  die  Auferstehung ;  was  dies  bedeutet,  weiss  er  nicht,  ebenso  wenig  was  Weih- 
nachten ist.  An  Pfingsten  feiert  man  den  hl.  Geist.  Er  findet,  dass  dieser  ihm 
noch  keinen  Verstand  gebracht  habe.  Er  sei  ein  Tschepperl  wie  seine  Schwester 
Kuna.  Von  einem  Kaiser,  einer  rechtlichen  Ordnung,  einem  Vaterland  hat  er 
keine  Idee,  wie  überhaupt  ihm  die  übersinnliche  Welt  der  Begriffe  zu  fehlen 
scheint. 

Auch  seine  ethische  Sphäre  erscheint  höchst  unvollkommen.  Es  gibt 
einen  Gott  im  Himmel,  einen  Teufel  in  der  Hölle,  der  ist  grob.  Die  Menschen 
kommen  in  den  Himmel,  wenn  sie  beten.  Er  hofft  durch  fleissiges  Beten  auch 
in  den  Himmel  zu  kommen.  In  die  Hölle  kommt  man  wegen  der  Sünden.  Was 
dies  ist,  weiss  er  nicht,  auch  die  10  Gebote  sind  ihm  unbekannte  Dinge.  Wenn 
man  stirbt,  so  ist  man  todt  und  wird  eingegraben.  Er  hat  auch  den  H.  eingraben 
helfen  (grinst  gemüthlich  bei  dieser  Bemerkung).  Gott  hat  einen  Sohn  gehabt. 
Auf  vieles  Fragen  kommt  er  auf  dessen  Namen.  Warum  und  wie  er  gestorben, 
ist  ihm  unerfindlich.  Das  Vaterunser  plappert  G.  mechanisch  und  nicht  fehlerlos 
herunter,  wenn  man  ihm  den  Anfang  dieses  Gebets  vorsagt. 

Er  weiss,  dass  er  nun  im  Gerichtshaus,  weil  er  dem  Buben  den  Hals 
„abgewürgt"  hat.  Der  Andere  sei  aber  mehr  dem  Buben  feind  gewesen  und  der 
Vater  habe  ihn  auch  nicht  mögen.  Er  weiss  die  Thatsachen  des  Mords  und  der 
Verhaftung  zu  combiniren,  sie  stehen  für  ihn  in  causalem  Zusammenhang,  aber 
auf  ein  ethisch-rechtliches  Be-wusstsein  seiner  grauenvollen  That  wird  vergebens 
inquirirt.  Er  sieht  jetzt  ein,  dass  das  nicht  recht  war,  denn  er  ist  dafür  ein- 
gesperrt worden.  Seine  Zukunft  macht  ihm  keine  Sorge,  sein  einziger  Kummer 
ist,  dass  er  im  Gerichtshaus  keine  Jause  bekommt.  Wie  ein  kleines  Kind,  das 
den  kategorischen  Imperativ  in  flagranti  an  sich  erfahren  hat,    verspricht  er,   so 


yg  Cap.  VIII.    Psychische  Entwicklungshemmungen. 

was  nimmer  zu  thun.  Als  man  ihm  Angst  macht,  er  werde  jetzt  am  Ende  auch 
abgewürgt,  bittet  er  mit  kindisch  weinerlicher  Geberde,  man  möge  ihn  bald 
aussi"  lassen.  Wenn  man  ihm  über  seine  That  Vorwürfe  macht,  so  meint  er, 
die  Anderen,  namentlich  der  Valentin,  seien  noch  mehr  „harb"  auf  den  H.  ge- 
wesen, als  er,  der  Vater  habe  ihn  auch  nicht  gemocht,  der  Kleine  habe  ihm  die 
Nudeln  weggefressen  und  anderen  Schabernack  angethan,  nicht  gefolgt,  bei  der 
Arbeit  ihn  gestört.  Er  sei  ein  armer  Bub  gewesen  und  nun  im  Himmel,  wo  er 
selbst  auch  noch  hinzukommen  hoffe,  wenn  er  fleissig  bete.  Er  habe  auch  noch 
geholfen  ihn  auf  den  Friedhof  bringen  und  eingraben.  Das  entscheidende  Argu- 
ment aber,  das  schon  6.  den  Mitgefangenen  mitgetheilt  hat  und  das  er,  nachdem 
sein  Vertrauen  gewonnen  ist,  mit  der  unbefangensten  Miene  und  naiver  Dumm- 
heit in  stereotyper  Weise  vorbringt,  ist  die  Mittheilung,  dass  der  Valentin  ihn 
zum  Mord  des  Heinrich  direkt  aufgefordert  hat.  Er  habe  keine  Schuld  daran, 
er  sei  nicht  so  gescheidt  dazu.  Der  Andere  habe  gesagt,  er  solle  den  H.  nur 
abwürgen,  es  sei  keine  Sünde,  die  Andern  thäten  ja  auch  Leute  abwürgen,  habe 
der  V.  gemeint.  Es  sei  dem  H.  dann  leichter,  weil  er  doch  ein  armer  Bub  sei. 
V.  habe  ihm  wiederholt,  mindestens  3mal,  angesagt,  er  solle  den  H.  mit  einem 
Riemen,  Strick  oder  Tuche  abwürgen,  ihn  auch  aufmerksam  gemacht,  dass  man 
den  H.  durch  das  Futterloch  in  die  Tenne  hinabstürzen  könne.  An  diese  Rath- 
schläge  des  V.  habe  er  sich  dann  bei  der  Ausführung  der  That  erinnert.  Selber 
wäre  es  ihm  nie  so  eingefallen.  Er  hätte  den  H.  nicht  umgebracht,  wenn  es  der 
V.  nicht  „geschafft"  hätte.  V.  habe  ihm  gedroht,  wenn  er  den  H.  nicht  umbringe, 
werde  er  ihn  (Georg)  selbst  erschlagen.  Der  V.  sei  viel  mehr  dem  H.  feind 
gewesen  als  er.  Er  selbst  habe  den  H.  wohl  auch  nicht  gerne  gehabt,  da  dieser 
ihm  Schuhfetzen  vertragen,  Sachen  versteckt.  Kampeln  weggenommen  und  mit  dem 
Wetzstein  das  Strohmesser  stumpf  gemacht  habe,  aber  der  H.  habe  ihm  auch  die 
Hosen  geflickt  und  da  habe  er  den  Schabernack  sich  von  ihm  gefallen  lassen. 

Der  V.  habe  ihm  arg  zugesetzt,  er  müsse  den  H.  umbringen  und  als  er 
keine  Lust  hatte,  am  Tage  vor  dem  Mord  den  Krampen  genommen  und  gedroht, 
er  werde  ihn  damit  erschlagen. 

Noch  am  Morgen  der  That  habe  der  V.  ihm  keine  Ruhe  gelassen,  er  solle 
endlich  den  H.  abwürgen  und  ihm  genau  angesagt,  wie  er  Alles  auszuführen  habe. 
Als  er  noch  unentschlossen  auf  den  Heuboden  zum  H.  gekommen  sei,  habe  dieser 
einen  Krampen  nach  ihm  geworfen.  Dies  habe  ihn  verdrossen  und  da  habe  er 
ihn  bald  darauf  abgewürgt. 

Der  V.  habe  bei  dem  Mord  zugeschaut.  Als  die  Sache  geschehen,  habe 
der  V.  gemeint,  dem  H.  wäre  jetzt  leichter.  Der  V.  habe  ihm  dann  verboten, 
von  der  Sache  etwas  zu  sagen.  Als  er  den  H.  todt  daliegen  sah,  habe  er  sich 
geschreckt  und  gefürchtet,  der  H.  könne  noch  einmal  aufstehen  und  ihn  dann  selbst 
anpacken.  Es  sei  ihm  bei  diesem  Gedanken  um  und  umgegangen  und  im  Leib 
kalt  geworden.     Der  H.  sei  ganz  blau  an  Hals  und  Kopf  gewesen. 

Der  intelligente  Mithäftling  G.'s  berichtet,  dass  G.  wenig  schlafe,  viel  vor 
sich  „hinsimulire",  vor  sich  hin  spreche  und  lache,  sich  wie  ein  kleines  Kind  ver- 
spiele. Er  kratze  viel  seine  Haut,  die  räudig  sei,  helfe  etwas  bei  Cartonagearbeit, 
sei  aber  kaum  brauchbar,  schrecklich  unbeholfen,  wie  wenn  er  gefroren  wäre. 
Sein  Verbrechen  erzählte  er  mit  der  grössten  Unbefangenheit  und  völliger  Un- 
kenntniss  der  ethischen  rechtlichen  Bedeutung  seiner  That,  die  er  nur  begangen 
habe,  weil  der  V.  ihn  dazu  genöthigt  habe. 


Beob.  13.    Schwachsinn.    Mord  über  Anstiften  eines  Vollsinnigen.  77 

Grutachten.  Die  in  den  Akten  niedergelegten  anamnestisclien  Daten 
ergeben,  dass  Georg  J.  im  10.  Lebensjahr  gleichzeitig  mit  dem  Eintritt  eines 
Gehörleidens  einen  Rückgang  seiner  angeblich  bis  dahin  normalen  geistigen 
Entwicklung  erfuhr,  der  ihm  bei  der  Umgebung  die  Bezeichnung  eines  Halb- 
dummen, eines  sog.  „Zapfen"  eintrug.  Die  Gehörstörung  des  G.  hinderte  nicht 
in  dem  Masse  den  geistigen  Verkehr,  dass  auf  Rechnung  derselben  der  geistige 
Rückgang  gesetzt  werden  könnte.  Es  handelt  sich  offenbar  um  eine  Entwicklungs- 
hemmung gewisser  Theile  des  Gehirns,  wie  sie  bei  veranlagten  Individuen  nicht 
selten  eintritt.  Diese  Störung  der  Entwicklung  findet  auch  körperlich  ihren 
Ausdruck  in  dem  abnormen  Schädel,  der  Verkümmerung  der  Hände  und  Ohren, 
endlich  in  dem  völligen  Mangel  an  Barthaaren  bei  dem  geschlechtlich  sonst  ent- 
wickelten, schon  22  Jahre  alten  Menschen. 

Der  ganze  äussere  Habitus  des  J.,  sein  plumper,  schwerfälliger  Gang,  die 
Unbeholfenheit  der  Bewegungen,  die  vorgeneigte  Körperhaltung  entsprechen  dem 
klassischen  Bild  des  geistig  Tiefstehenden. 

Die  Sprache  ist  lallend,  der  Satzbau  kindlich,  das  Verständniss  für  gestellte 
Fragen  ein  sehr  geringes.  Man  kann  die  Frage  kaum  sinnlich  und  concret  genug 
stellen,  um  Verständniss  zu  erzielen. 

Der  geistige  Inhalt  ist  ein  sehr  dürftiger,  selbst  wenn  es  hier  und  da 
gelingt,  denselben  in  Fluss  zu  bringen.  Begriffe  fehlen  gänzlich.  J.  kann  noth- 
dürftig  lesen,  d.  h.  Silben  zu  Worten  zusammenlesen,  aber  es  fehlt  ihm  das 
Verständniss  für  den  Sinn  des  Gelesenen.  Seine  Rechenkunst  beschränkt  sich 
auf  die  nicht  fehlerlose  Addition  einfacher  Zahlen.  Der  Begriff  der  Zeit  und 
der  Zahl  ist  ihm  höchst  unklar,  wohl  aber  vermag  er  mechanisch  aus  seinem 
Gedächtniss  Wochentage  und  Monate  bei  einiger  Nachhilfe  der  Reihe  nach  auf- 
zusagen. Politische  rechtliche  Begriffe  fehlen  ihm  gänzlich,  seine  ethische  Sphäre 
ist  ganz  verkümmert,  sein  religiöser  Standpunkt  der  eines  etwa  5jährigen  Kindes. 
Ein  Bewusstsein  der  Strafbarkeit  seiner  That  ist  nicht  zu  ermitteln,  geschweige 
das  ihrer  ethischen  Bedeutung.  Erst  aus  ihren  unangenehmen  Folgen  erkennt 
er,  dass  er  gefehlt  hat,  aber  sie  erscheint  ihm  in  seinem  fehlenden  ethischen  und 
verkümmerten  intellektuellen  Bewusstsein  einfach  als  ein  dummer  Streich, 

Georg  J.  ist  ein  geistig  in  der  Entwicklung  zurückgebliebener  Mensch, 
unfähig,  die  ethisch  rechtliche  Bedeutung  seiner  Handlungen  zu  erkennen  und 
ihre  Folgen  vorauszusehen. 

Dass  J.  zu  mechanischer  Geistesthätigkeit,  Erinnerung,  Mittheilung  erlebter 
Thatsachen,  Ablesen  von  Worten,  Besorgung  aufgetragener  Hausai'beit  fähig  ist, 
kann  nicht  als  Gegenbeweis  seines  defekten  geistigen  Mechanismus  geltend  gemacht 
werden. 

In  grellem  Contrast  mit  seiner  Imbecillität  steht  die  Raffmirtheit  der  That, 
zu  der  bei  der  Passivität  des  J.  zudem  ein  genügendes  Motiv  fehlt.  Geistig  so 
defekte  Menschen  gelangen  zum  Mord  kaum  je  anders  als  unter  dem  Einfluss 
eines  mächtigen  Affekts.  Sie  handeln  dann  unmittelbar  und  mit  brutaler  Rück- 
sichtslosigkeit. Der  Widerspruch  löst  sich,  wenn  wir  die  von  J.  in  der  unbe- 
fangensten Weise  imd  in  3  Explorationen  stereotyp  gemachten  Angaben  über 
Anlass  xmd  Umstände  der  Mordthat  als  wahrheitsgemässe  anerkennen.  J.  erscheint 
dann  nur  als  ein  Werkzeug  in  der  Hand  eines  Vollsinnigen,  der  der  intellektuelle 
Urheber  des  Mordes  war. 

Die  Lösung  des  Räthsels  ist  die  criminal-psj'-chologisch  entsprechende. 


78  Anhang:    Die  Taubstummheit. 

Auch  die  Erklärung,  wie  der  letzte  Impuls  zur  That  eintrat,  erscheint 
nicht  schwer. 

J.  empfand  offenbar  nur  Animosität  gegen  den  ermordeten  Knaben,  weil 
er  ilim  Nudeln  wegass  und  ihm  Schabernack  zufügte.  Dafür  erwies  dieser  sich 
ihm  durch  zeitweises  Hosenflicken  wieder  nützlich.  Nie  hätten  jene  Motive  bei 
dem  torpiden,  jedenfalls  nicht  rachsüchtigen  Wesen  des  J.  genügt,  um  ihn  zur 
Verübung  einer  so  monströsen  That  zu  treiben. 

Aufstachelung  und  Plangebung  von  Seiten  eines  Dritten  wirkten  vor- 
bereitend, aber  sie  genügen  noch  nicht,  um  den  indolenten  J.  zum  Mörder  zu 
machen.   Er  lässt  sich  Zeit  dazu,  „werde  ihn  schon  einmal  gelegentlich  abwürgen". 

Da  wirft  der  muthwillige  Heinrich  den  Krampen  nach  ihm  und  diese  Be- 
leidigung genügt,  um  den  imbecillen  J.  in  die  nöthige  Affektwärme  zur  Ausführung 
der  That  zu  bringen. 

Es  besteht  noch  ein  Widerspruch  zwischen  den  Aussagen  des  J.  im  Verhör 
vor  dem  Untersuchungsrichter  und  denen  in  den  Explorationsterminen.  Er  löst 
sich  unter  der  Annahme,  dass  J.  zur  Zeit  jenes  Verhörs  noch  unter  dem  mora- 
lischen Einfluss  und  der  Inspiration  jenes  Vollsinnigen  stand,  der  ihn  verführte, 
ferner  dass  jene  Aussagen  nicht  wörtlich,  sondern  in  der  Interpretation  und 
Stilisirung  des  inquirirenden  Richters  in  den  Akten  niedergelegt  sind.  (Eigene 
Beobachtung,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psych.  Bd.  36.) 

Weitere  Fälle:  Casper  Liman,  Handb.  6.  Aufl.  Fall  295  (Diebstahl), 
296  (Meineid).  Combe,  Annal.  med.  psychol.  1866  (Unzuchtsvergehen).  Henke's 
Zeitschr.  23.  Ergänz.-Bd.  (Unzucht).  Deutsche  Zeitschr.  f.  Staatsarzneikde.  1864, 
H.  1.  1865,  H.  2  (Verführung  eines  Kinds  z\i  Blutschande).  Friedreich's  Blätter, 
1859,  H.  4  (Ermordung  der  untreuen  Geliebten).  Americ.  Journal  of  insanity. 
1867,  April  (Tödtung  des  Bruders). 

Brandstiftungen.  Siehe  Faber,  Deutsche  Zeitschr.  f.  Staatsarzneikde.  1870. 
Grabacher,  Psychiatr.  Centralbl.  1871.  Girotto  im  Archivio  italiano.  1872,  Juli. 
Emminghaus,  Vierteljahrsschr.  f.  ger.  Med.  1874,  H.  1.  Stahl,  Irrenfreund.  1871, 
Nr.  11.  Vierteljahrsschr.  f.  ger.  Med.  1874,  H.  1.  Krauss  ebenda.  1877,  H.  1. 
Arndt  ebenda.  H.  1.  Kelp,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psych.  1877,  H.  5.  Sury-Bienz 
(melanchol.  Verstimmung),  Corr.-Blatt  f,  Schweizer  Aerzte.  1877,  Nr.  19.  Bonnet, 
Annal.  med.  psychol.  1877,  Nov. 

S.  fei-ner  Palmerini,  Rivista  sperim.  1877,  fascic.  3  u.  4  (Fälschung).  Rein- 
hard, Vierteljahrsschr.  f.  ger.  Med.  1878,  H.  2  (Kindsmord).  Dali  Armi,  Fried- 
reich's Blätter.  1872,  H.  3  (Kindsmord).  Santlus  ebenda.  1874,  H.  1  (Erm.ordung 
der  Ehefrau).     Sizaret,  Annal.  med.  psychol.  1875,  Juli  (Diebstahl). 


Anhang:   Die  Taubstummheit. 

Literatur.  Fodere,  traite  de  med.  legale.  1813.  I,  p.  232.  Schnitzer,  die  Lehre 
von  der  Zurechnung.  1848.  Cap.  18.  Klose  in  Liebenhaar's  Magazin.  1844. 
Bd.  2.  Hoffbauer,  die  Psychologie  etc.  2.  Aufl.  §.  163.  Marc,  die  Geistes- 
krankheiten, übers,  von  Ideler.  I,  p.  309,  II,  p.  585.  Friedreich,  ger.  Psychol. 
3.  Aufl.  p.  330.  Krügelstein,  Henke's  Zeitschr.  XXIX,  1.  Deutsch,  die  Rechte 
der  Taubstummen.  Berlin  1853.  Casper-Liman,  Handb.  §.  149  —  151.  Lunier, 
Annal.  d'hyg.  publ.  1879,  Mai. 


Die  Taubstummheit.  79 

Gesetzl.  Bestimmungen.  Deutsch.  St.-G.-B.  §.  58:  Ein  Taubtsummer,  welcher 
die  zur  Erkenntniss  der  Strafbarkeit  einer  von  ihm  begangenen  Handlung 
erforderliche  Einsicht  nicht  besass,  ist  freizusprechen. 

Einer  besonderen  Berücksichtigung  und  milden  Behandlung  durch 
den  Criminalrichter  haben  sich  von  jeher  die  Taubstummen  zu  er- 
freuen gehabt.  Die  Humanität  und  fortschreitende  Wissenschaft  haben 
zwar  gegenüber  den  Taubstummen  Grosses  geleistet  und  viele  derselben 
mittelst  mühsamer  Zeichen-  und  Schriftsprache  zu  brauchbaren  Mit- 
gliedern der  Gesellschaft  herangebildet,  nie  aber  wird  es  dem  besten 
Unterricht  gelingen,  den  Taubstummen  zur  geistigen  Höhe  der  Voll- 
sinnigen zu  erheben  und  ihm  das  zu  ersetzen,  was  dem  geistigen 
Leben  dieser  Unglücklichen  durch  den  Mangel  des  bequemen  Aus- 
tauschs  des  eigenen  Bewusstseinsinhalts  mit  dem  andrer  Menschen 
abgeht.  Im  günstigsten  Fall  muss  durch  das  Fehlen  des  vermittelnden 
und  belebenden  Elements  der  Sprache  die  Schärfe  und  der  Umfang 
der  Begriffe  nothleiden.  Die  Voraussetzung  der  Zurechnungsfähig- 
keit bei  einem  angeschuldigten  Taubstummen  ist  jedenfalls  unstatt- 
haft, eine  Exploratio  mentalis  unerlässlich.  Von  der  durch  Unter- 
richt erlangten  Ausbildung  muss  die  Entscheidung  abhängen,  aber 
selbst  im  günstigsten  Fall  muss  die  Taubstummheit  als  solche  einen 
gewichtigen  Milderungsgrund  abgeben.  Von  der  Verantwortlichkeit 
eines  ohne  Unterricht  aufgewachsenen  oder  ohne  Erfolg  eines  solchen, 
theilhaftig  Gewesenen  kann  keine  Kede  sein,  ein  solcher  ist  rechtlich 
dem  Blödsinnigen  gleich  zu  achten.  Wenn  §.  58  des  Deutsch.  St.-G.-B. 
die  Zurechnungsfähigkeit  des  T.  von  der  vorhandenen  Erkenntniss 
der  Strafbarkeit  der  begangenen  That  abhängig  macht,  so  sind  dieselben 
Bedenken  wie  beim  Unmündigen  (s.  o.)  auch  hier  geltend  zu  machen. 
Ein  T.  kann  Unterscheidungsvermögen  besessen  haben  und  doch 
unzurechnungsfähig  sein.  Bekannt  ist  das  Misstrauen  der  T.  wie 
überhaupt  schwerhöriger  Leute  gegen  die  Umgebung.  Wie  bei 
Schwachsinnigen  sind  hier  die  Affekte  leicht  überwältigend  und  die 
Gränze  der  Norm  überschreitend. 

Zu  der  Schwierigkeit,  den  Geisteszustand  des  T.  zu  beurtheilen, 
kommt  bei  ihm  die,  genügendes  Material  für  die  Beurtheilung  aus 
dem  Verkehr  mit  ihm  zu  gewinnen.  Unerlässlich  ist  hier  die  Inter- 
vention eines  Taubstummenlehrers,  selbst  da,  wo  der  Gebrauch  der 
Schriftsprache  möglich  ist.  Jener  kann  übrigens  selbstverständlich 
nur  als  Dolmetsch  und  nicht  als  Experte  benutzt  werden.  Die  Ver- 
werthung  der  Zeichensprache  ist  eine  unsichere,  trügliche. 

Wie    der    Schwachsinnige    begeht    der    T.    nur   im   Affekt    oder 


gQ  Anhang:   Die  Taubstummheit. 

auf  Grund  eines  starken  sinnlichen  Begehrens  strafbare  Handlungen. 
(Brandstiftungen  aus  Rache,  Todtschlag  oder  Körperverletzung  im 
Affekt.) 

Eine  zuweilen  dem  Arzt  in  foro  gestellte  Aufgabe  ist  die,  zu 
ermitteln,  ob  T.  wirklich  besteht  und  nicht  simulirt  ist.  Wie  bei 
der  Simulation  von  Geisteskrankheit,  macht  sich  der  T.  Simulirende 
durch  Uebertreibung  verdächtig. 

Ein  wirklich  T.  (Casper-Liman,  op.  cit.  p.  412)  percipirt  die 
Erschütterung  des  Bodens,  die  man  hinter  ihm  etwa  durch  Aufstampfen 
hervorbringt,  während  ein  Simulant  davon  nichts  zu  empfinden  be- 
hauptet. Ebensowenig  will  dieser  die  Schwingungen  einer  zwischen 
die  Zähne  genommenen  Stimmgabel  empfinden.  Ueberraschungen  des 
Verdächtigen,  Beobachtung,  wie  er  aus  einem  Rausch  oder  einer 
Chloroformnarkose  zu  sich  kommt,  Versetzung  in  Affekte,  können  zur 
Entlarvung  beitragen.  Beachtung  verdient  auch,  dass  Simulanten 
unorthographisch  schreiben,  wie  sie  eben  die  Sprache  gehört  haben, 
während  unterrichtete  T.   streng  orthographisch  schreiben. 

Beob.  14.  Taubstummheit.  Fehlende  Ausbildung.  Diebstahl. 
Der  taubstumm  geborene  32jährige  E.  entwendete  einem  Schmiedgesellen  ein 
Portemonnaie,  das  diesem  aus  dem  Sack  gefallen  war,  während  er  im  Wirthshaus 
schlief.  Der  Fall  kam  vor  Gericht.  Nach  dem  Gesetz  muss  sich  in  solchen  Fällen 
der  Richter  dem  Angeklagten  durch  zwei  glaubwürdige,  dem  Angeklagten  bekannte 
Personen,  oder  durch  einen  Taubstmnmenlehrer  verständlich  machen.  Der  Richter 
wählte  ersteren  Modus.  Die  zwei  Personen  waren  der  Meinung,  sie  verstünden  den 
Taubstummen.  Der  Richter  erkannte  auf  Zurechnungsfähigkeit ;  indessen  erhoben 
sich  Zweifel  und  es  wurde  ein  Taubstummenlehrer  requirirt.  Dieser  ermittelte 
durch  Zeichen  bei  dem  Angeklagten,  dass  er  unausgebildet  war.  Dass  er  Stehlen 
für  Unrecht  halte,  war  nicht  zu  ermitteln.  Er  schien  keinen  Begriff  von  Eigen- 
thum  zu  haben.  Er  wusste  nur  aus  Erfahrung,  dass  das  Uni-echt  war,  wofür  er 
Prügel  erhielt.  Der  Staatsanwalt  beantragte  Freisprechung.  (Casper,  Viertel- 
jahrsschr.  XXI.  p.  239.) 

Beob.  15.  Taubstummheit.  Genossener  Unterricht.  Brand- 
stiftung. Franke,  24V2Jährig,  taubstumm  geboren,  wurde  vom  8.  bis  14.  Jahre 
in  einem  Taubstummeninstitut  unterrichtet,  lernte  lesen,  schreiben,  erwarb  sich 
Religionsbegriffe.  Vom  14.  bis  24.  Jahr  diente  er  als  Knecht.  Sein  Vater  be- 
handelte ihn  hart,  schlug  ihn  zuweilen.  Eines  Tages  gab  es  zwischen  Beiden 
Streit,  F.  gab  dem  Vater  eine  Ohrfeige,  schlug  die  Schwester,  zeigte  sich  sehr 
aufgeregt,  nahm  einige  Zündhölzer  vom  Schrank,  lief  in  den  Hof,  kehrte  aber 
gleich  wieder  zurück.  Kurz  nach  seiner  Rückkehr  brannte  es  auf  dem  Boden 
des  Pferdestalls.  Während  des  Brandes  klatschte  er  in  die  Hände  und  rief: 
„gut,  gut".  Verhaftet,  gestand  er  sogleich.  Der  Gerichtsarzt  erklärte  ihn  für 
zurechnungsfähig,  aber  weil  er  taubstumm  sei  und  als  solcher  gar  keinen  Begriff 
von  einem  Brand  und  seinen  Folgen  habe,  in  gemindertem  Grade.  Ein  Ober- 
gutachten fand  F.  seit  dem  14.  Jahre  nicht  mehr  geistig  fortgeschritten,  auf  dem 


Cap.  IX.    Die  Geisteskrankheiten.  81 

Standpunkt  eines  14jährigen  Knaben,  der  den  Vater  durch  den  Brand  nur  etwas 
erschrecken  wollte  und  dem  nur  eine  beschränkte  Zurechnungsfähigkeit  zuzu- 
erkennen sei.     (Casper,  Vierteljahrsschr.  XXII,  p.  136.) 

Weitere  Fälle:  (Mord:)  Marc-Ideler  I,  p.  316  u.  322.  (Todtschlag:) 
Jendritzka,  AUg.  Zeitschr.  f.  Psych.  14,  p.  558.  Casper-Liman,  Handb.  6.  Aufl. 
Fall  300.  Liman,  zweifelhafte  Geisteszustände,  Fall  48.  Marc-Ideler  I,  p.  327. 
Beck,  elements  of  med.  jurisprud.  p.  521  (Kindsmord). 

(Körperverletzung:)  Henke's  Zeitschr.  1832,  p.  321.  Goltdammer's  Archiv 
I,  p.  612.  (Diebstahl:)  Hitzig's  Annal.  I,  p.  392,  II,  353,  III,  167.  332.  Henke's 
Zeitschr.  28.  Ergänz.-H.  p.  86.    Friedr.  Bl.  1868,  H.  1. 

(Brandstiftung  aus  Rache:)  Santlus,  deutsche  Zeitschr.  f.  Staatsarzneikde. 
1867.     Friedr.  BL  1870,  H.  1. 


Cap.  IX.    Die  Geisteskrankheiten. 

Literatur.  Friedreich,  Handbuch  d.  ger.  Psychologie.  1853.  Griesinger,  Patho- 
logie u.  Therapie  d.  psych.  Krankheiten.  Spielmann,  Diagnostik  d.  Geistes- 
krankheiten. 1855.  Liman,  zweifelhafte  Geisteszustände  vor  Gericht.  1869. 
Legrand  du  SauUe,  la  folie  devant  les  tribunaux.  1864.  Mittermaier,  Fried- 
reich's  Blätter.  1863—67.  Tardieu,  etude  med.  legale  sur  la  folie.  1872. 
Maudsley,  die  Zurechnungsfähigkeit  d.  Geisteskranken.  1875.  Blandford,  die 
Seelenstörungen  u.  ihre  Behandlung,  a.  d.  Engl,  übers,  v.  Kornfeld.  Berlin  1878. 

Oesetzl.  Bestimmungen.  Deutsches  St.-G.-B.  §.  51:  Eine  strafbare  Handlung 
ist  nicht  vorhanden,  wenn  der  Thäter  zur  Zeit  der  Begehung  der  Handlung 
sich  in  einem  Zustand  von  Bewusstlosigkeit  oder  krankhafter  Störung  der 
Geistesthätigkeit  befand,  durch  welchen  seine  freie  Willensbestimmung  auf- 
gehoben war. 

Oesterr.  St.-G.-B.  §.  2:  Daher  wird  die  Handlung  oder  Unterlassung 
nicht  als  Verbrechen  zugerechnet:  a)  wenn  der  Thäter  des  Gebrauches  der 
Vernunft  ganz  beraubt  ist;  b)  wenn  die  That  bei  abwechselnder  Sinnes- 
verrückung  zu  der  Zeit,  da  die  Verriickung  dauerte,  oder  c)  in  einer  ohne 
Absicht  auf  das  Verbrechen  zugezogenen  vollen  Berauschung  oder  in  einer 
anderen  Sinnesverwirrung,  in  welcher  der  Thäter  sich  seiner  Handlung  nicht 
bewusst  war,  begangen  worden. 

Oesterr.  St.-G.-Entw.  §.  56:  Eine  Handlung  ist  nicht  strafbar,  wenn 
derjenige,  der  sie  begangen  hat,  zu  dieser  Zeit  sich  in  einem  Zustand  von 
Bewusstlosigkeit  oder  krankhafter  Hemmung  oder  Störung  der  Geistesfähig- 
keit befand,  welcher  es  ihm  unmöglich  machte,  seinen  AVillen  frei  zu  be- 
stimmen oder  das  Strafbare  seiner  Handlung  einzusehen. 

Code  penal  frangais  §.  64 :  II  n'y  a  ni  crime  ni  delit  lorsque  le  prevenu 
etait  en  etat  de  demence  (Geisteskrankheit)  au  temps  de  l'action. 

Dem  Geist  und  Wortlaut  der  neueren  Gesetzgebung  nach  ist 
der  Geisteskranke  unzurechnungsfähig,  er  steht  ausserhalb  des  Straf- 
gesetzes.    Theoretisch   und  praktisch  erwächst  der  ger.  Psychopatho- 

Krafft-Ebing,  gericMl.  Psychopathologie.    2.  Auflage.  6 


82  Cap.  IX.    Die  Geisteskrankheiten. 

logie  die  Aufgabe  zu  untersuchen:  was  ist  Geisteskrankheit?  welche 
sind  ihre  Kennzeichen?  aus  welchen  Gründen  ist  die  freie  Willens- 
bestimmung beim  Geisteskranken  aufgehoben?  Wesen  und  wissen- 
schaftlicher Nachweis  der  Geistesstörung  wurden  in  Cap.  V  erörtert. 
Die  Aufhebung  der  Willensfreiheit  ergibt  sich  daraus,  dass 

a)  aus  der  Hirnerkrankung  heraus  gesetzte,  somit  organisch  be- 
dingte spontane  Affekte,  leidenschaftliche  Stimmungen,  Triebe^ 
Strebungen,  Wahnideen  und  Sinnestäuschungen  Motive  von 
Handlungen  werden,  welche  Motive,  wie  alle  organisch  bedingten 
Nöthigungen,  mit  krankhafter  Intensität  sich  geltend  machen; 

b)  dass  den  irgendwie  entstandenen,  das  Handeln  herbeiführenden 
Motiven  keine  sittlichen,  ästhetischen,  rechtlichen  Gegenmotive 
entgegengesetzt  werden  können,  da  diese  entweder 

«)  durch  die  Hirnkrankheit  gleich  anderen  höheren  psychi- 
schen Leistungen  gänzlich  verloren  gegangen  sind  (psychi- 
sche Schwächezustände)  oder 

ß)  durch  in  Folge  der  Erkrankung  entstandene  Störungen  der 
Ideenassociation  nicht  in's  Bewusstsein  eintreten  können 
(Melancholie,  Manie); 

c)  indem  durch  Wahnideen  und  Sinnestäuschungen  das  Selbst-  und 
Weltbewusstsein  gefälscht  ist.  Diese  Störung  kann  soweit  gehen, 
dass  die  ganze  frühere  Persönlichkeit  in  eine  neue  krankhafte 
umgewandelt  ist  (Wahnsinn,  Verrücktheit),  so  dass  die  Hand- 
lung von  einer  ganz  anderen  psychischen  Persönlichkeit  als 
der  früheren  des  Thäters  aus  gesetzt  wird.  Die  juristische 
Persönlichkeit  ist  dieselbe  geblieben,  die  psychologische  eine 
andere  geworden. 

Die  Aufhebung  der  Z.fähigkeit  bei  wirklich  Geisteskranken  ist 
durch  die  Gesetzgebung  anerkannt  und  eine  berechtigte  Forderung 
der  Erfahrung. 

Gleichwohl  hat  es  Juristen  und  selbst  Aerzte  gegeben,  die  sich 
dagegen  sträubten,  alle  Geisteskranken  als  ausser  dem  Gesetz  stehend 
anzuerkennen,  und  sich  darauf  beriefen,  dass  auch  bei  Irren  Rechts- 
und Pflichtbewusstsein  vorkomme  und  dass  ja  die  disciplinären  Erfolge 
in  den  Irrenanstalten  bewiesen,  dass  Geisteskranke  sich  unter  Um- 
ständen beherrschen  können. 

In  der  Theorie  müssen  wir  allerdings  zugestehen,  dass  es  Geistes- 
kranke gibt,  welche  in  einem  gewissen  Grad  fähig  sind,  zwischen  der 
Begehung  oder  Unterlassung  einer  Handlung  zu  wählen  und  man 
erfährt  nicht  selten  von  Genesenen,  dass  sie  allerdings  Manches,  was 


Die  Formen  des  Irreseins.     1.  Die  Melancholie.  33 

sie  gethan,  hätten  unterlassen  können,  aber  in  der  Praxis  werden  wir 
nie  im  Stand  sein,  das  individuelle  Mass  von  Freiheit  des  Handelns, 
das  einem  Irren  etwa  noch  geblieben  ist,  zu  taxiren  und  ihn  dafür 
in  dessen  Umfang  verantwortlich  zu  erklären. 

So  bleibt  nichts  übrig  als  zu  generalisiren,  in  mitius  zu  urthei- 
len,  und  dem  alten  Satz  beizupflichten:  „furiosus  satis  ipso  furore 
punitur.* 

Was  aber  die  Möglichkeit  einer  Dressur  und  disciplinärer  Er- 
folge betrifft,  so  beruhen  sie  rein  auf  Causalität  und  keineswegs  auf 
Ethik.  Der  Betreffende  hat  einfach  gelernt  einzusehen,  dass  wenn 
er  dies  oder  das  thut,  er  Unangenehmes  zu  gewärtigen  hat.  Eine 
solche  Dressur  kann  man  auch  dem  Kind,  ja  selbst  dem  Thier  bei- 
bringen, wo  doch  Niemand  daran  denken  wird,  daraus  eine  Zu- 
rechnungsfähigkeit abzuleiten. 

Aus  den  erwähnten  falschen  Anschauungen  ging  auch  der 
unheilvolle  Satz  hervor,  dass  nur  dann  eine  aus  einem  Wahn  resul- 
tirende  That  straflos  sein  solle,  wenn  die  That,  im  Fall  der  Wahn 
Wirklichkeit  wäre,  gesetzlich  erlaubt  sein  würde.  Nach  dieser  Theorie 
wäre  z.  B.  ein  an  Verfolgungswahn  Leidender  straflos,  wenn  er  in 
vermeintlicher  Nothwehr  einen  Menschen,  der  ihm  scheinbar  nach 
dem  Leben  strebt,  ermordet,  nicht  aber  wenn  er,  bloss  um  dessen 
Chicanen  los  zu  werden,  ihn  tödtet. 

Ein  solches  falsches  Raisonnement  beruht  auf  der  Verwechselung 
der  moralischen  Z.fähigkeit  mit  der  juristischen.  Der  Criminaljustiz 
kann  es  ganz  gleichgültig  sein,  ob  eine  aus  einer  Wahnidee  erfolgende 
That  moralisch,  resp.  gesetzlich  zu  rechtfertigen  wäre,  sobald  nur 
nachgewiesen  ist,  dass  ihr  Motiv  eine  Wahnidee  und  diese  Symptom 
einer  Geisteskrankheit  war. 

Aus  allem  Bisherigen  dürfte  sich  mit  voller  Gewissheit  ergeben, 
dass  der  Geisteskranke  unter  allen  Umständen  ausserhalb  des  Ge- 
setzes steht. 


Die  rormen  des  Irreseins. 

1.  Die  Melancholie. 

Literatur,  v.  Krafft,  Beiträge  zur  Erkennung  und  richtigen  forensischen  Be- 
urtheilung  krankhafter  Gemüthszustände.  Erlangen  1867.  Kaatzer,  der 
indirecte  Selbstmord,  Dissert.  Marburg  1872.  v.  Krafft,  Mord  der  eigenen 
Kinder,  Friedreich's  Blätter.  1870,  H.  3.  Spielmann,  Diagnostik  der  Geistes- 
krankheiten, p.  398. 


34  *  Cap.  IX.    Die  Melancholie. 

Klinische  Uebersicht:  Die  Grunderscheinungen  des  melancholischen 
Irreseins  bilden  eine  äusserlich  nicht  oder  nicht  genügend  motivirte  schmerzliche 
Verstimmung,  ein  herabgesetztes  Selbstgefühl  und  eine  allgemeine  Erschwerung 
im  Ablauf  der  psychischen  Bewegungsvorgänge  bis  zur  zeitweisen  Hemmung 
derselben. 

Diese  schmerzliche  Verstimmung,  als  Ausdruck  einer  Hirnerkrankung,  macht 
sich  als  psychisches  Wehsein,  Missmuth,  trübe  Laune,  Niedergeschlagenheit  geltend. 
Sie  ist  eine  allgemeine,  lässt  keine  angenehmen  Gefühle  mehr  zu,  reagirt  auf 
sonst  freudige  Eindrücke  nur  noch  schmerzlich  oder  höchstens  wehmüthig. 

Die  Aussenwelt  erscheint  dem  Kranken  im  Spiegel  seines  veränderten 
Selbstbewusstseins  trüb,  schmerzlich  (psych.  Dysästhesie)  und  mit  zunehmender 
Hemmung,  wodurch  die  Sinneswahrnehmungen  gar  nicht  mehr  von  Gefühlen  der 
Unlust  oder  Lust  betont  werden  (psych.  Anästhesie),  verändert,  farblos,  freudlos, 
liebeleer,  hoffnungslos,  bis. zum  Bewusstsein,  dass  nur  noch  eine  Schein-  und 
Schattenwelt  übrig  geblieben  sei. 

Aber  auch  die  inneren  geistigen  Vorgänge  werden  nicht  mehr  durch 
ethische,  ästhetische,  sociale  Gefühle  betont.  Der  Kranke  hat  keine  Liebe  mehr 
zu  seiner  Familie,  keine  Lust  mehr  zum  Beruf,  keine  Freude  und  Erleichterung 
mehr  von  der  Religion.  Er  fühlt  sich  gemüthlos,  stumpf,  aller  Attribute  früherer 
menschlicher  Würde  verlustig,  er  beginnt  zu  zweifeln,  ob  er  noch  ein  Mensch, 
im  Besitz  der  göttlichen  Gnade  und  noch  zu  existiren  berechtigt  sei.  Auch  in 
seinem  Vor  Stellungsleben  empfindet  der  Kranke  Hemmungserscheinungen.  Sein 
Denken  ist  erschwert,  verlangsamt  bis  zum  zeitweisen  Stillstand  der  Gedanken. 
Diese  Hemmung  wird  ihm  in  peinlicher  Weise  als  Verdummung,  geistige  Oede, 
erschwerte  Erinnerungs-  und  Leistungsfähigkeit  bewüsst.  Der  Inhalt  der  spärlich 
fliessenden  Gedanken  ist  ein  schmerzlicher,  nur  widrige  Erlebnisse,  trostlose  Re- 
flexionen über  die  gegenwärtige  Lage  und  bange  Sorgen  bezüglich  der  zukünftigen 
werden  bewusst  und  festgehalten. 

Leicht  gewinnen  spontan  oder  durch  Sinneswahrnehmungen  hervorgerufene 
schmerzliche  Gedanken  eine  solche  Uebermacht,  dass  sie  mit  krankhafter  Inten- 
sität und  Dauer  im  Bewusstsein  verharren,  trotz  aller  Bemühungen  des  Kranken 
durch  andere  Gedanken  nicht  verdrängbar  sind.  Der  Kranke  fühlt  die  Ueber- 
wältigung  durch  solche  ihm  aufgedrungene  Gedankenkreise  (Zwangsvorstellungen) 
in  peinlichster  Weise  und  erschrickt  beim  Gedanken,  dass  er,  machtlos  ihnen 
hingegeben,  sie  nur  durch  Folgegebung  im  Sinne  der  befreienden  That  wird 
bannen  können. 

Solche  formale  Störungen  im  Vorstellungsmechanismus  sind  oft  die  ein- 
zigen auf  dem  Gebiet  des  intellektuellen  Lebens.  Auch  auf  der  motorischen 
Seite  der  geistigen  Vorgänge  besteht  eine  für  den  Kranken  peinliche  Hem- 
mung. Die  erschwerte  geistige  Bewegung  im  Vorstellungsgebiet,  die  Unlust- 
gefühle,  welche  sich  an  jeden  Vorgang  knüpfen,  der  Ausfall  von  geistigen  Inter- 
essen, welche  zu  einem  Handeln  treiben  könnten,  machen  den  Kranken  passiv, 
energielos.  Das  Bewusstsein  mangelnder  Leistungsfähigkeit,  geistiger  Ohnmacht 
und  üeberwältigung  durch  eine  gleichsam  eingedrungene  fremde  Macht  ver- 
nichten den  letzten  Rest  von  Selbstvertrauen,  lassen  ein  Begehren  nicht  mehr 
erreichbar  erscheinen  und  auf  ein  Streben  verzichten.  Der  Kranke  wird  träge, 
lässig  in  der  Erfüllung  seiner  Berufsgeschäfte  und  Pflichten,  gegen  die  er  eine 
bezeichnende  Gleichgültigkeit  entwickelt;    er   verweilt  lange  im  Bett,   zieht   sich 


Klinische  Uebersicht.  85 

Yon  der  Aussenwelt  zurück  und  fällt  einem  düsteren  Brüten  anheim.  Zu  diesen 
psychischen  Missgefühlen  gesellen  sich  körperliche  Missempfindungen.  Die  Kranken 
fühlen  sich  matt,  abgeschlagen,  unbehaglich,  wie  gelähmt  (geänderte  Gemein-, 
namentlich  Muskelgefühle),  sie  leiden  vielfach  an  Schmerzen  in  einzelnen  Nerven- 
bahnen, ihr  Körpergewicht  und  Turgor  vitalis  sinken,  sie  sehen  viel  älter  aus, 
als  sie  wirklich  sind,  Verdauungs-  und  Darmfunktionen  liegen  darnieder. 

Die  Herabsetzung  der  gesammten  vitalen  Energie  und  des  Selbstgefühls 
findet  ihren  klassischen  Ausdruck  in  der  zusammengesunkenen  Haltung,  der  leisen 
Rede,  den  zögernden  Bewegungen,  der  Schlaffheit  und  Schwäche  der  Muskulatur 
solcher  Kranker. 

Dazu  fehlt  dem  Kranken  die  Wohlthat  des  Schlafs,  der  gänzlich  ausbleibt 
oder  durch  schreckhafte  Träume  gestört  ist  und  nicht  die  Erquickung  und 
Stäi-kung  verschaift,  wie  sie  der  Schlaf  des  Gesunden  mit  sich  bringt. 

Die  motorische  Gebundenheit  und  gesunkene  Willensenergie  kann  sich  vor- 
übergehend bis  zur  völligen  Hemmung  steigern.  Der  Kranke,  obwohl  sein  Innen- 
leben der  Schauplatz  der  peinlichsten  Affekte  und  Vorstellungen  ist,  vermag  nicht 
mehr  in  einer  erleichternden  und  lösenden  That  der  quälenden  inneren  Spannung 
Luft  zu  machen.  Die  Mattigkeit  der  Vorstellungen,  ihr  contrastirender  Inhalt, 
die  mit  jedem  psychischen  Entäusserungsversuch  verbundene  Steigerung  der 
schmerzlichen  Selbstempfindung  hindern  ihn  daran. 

Ein  solcher  Zustand  einfacher  Melancholia  sine  delirio  findet  sich 
äusserst  häufig  als  einleitendes  Stadium  des  Irreseins,  als  intercurrirende  Störung 
bei  erblich  Belasteten,  bei  Epileptischen,  Hysterischen,  im  Verlaufe  der  Pubertäts- 
entwicklung, ferner  beim  Heimwehkranken  und  Hypochonder.  Leider  wird  nur 
zu  häufig  das  Krankhafte  desselben  übersehen,  da  die  Störung  im  äusseren  Bild 
vollständig  dem  schmerzlichen  Affekt  des  Gesunden  gleicht  und  der  Kranke ,  im 
Bewusstsein  seines  Leidens,  wenigstens  die  äussere  Ruhe  und  Besonnenheit  zu 
wahren  im  Stande  ist.  Das  düstere  Wesen  dieser  Kranken,  ihre  Reizbarkeit,  ihre 
unmotivirten  Verstimmungen  und  Aenderungen  der  gewohnten  Denk-  und  Em- 
pfindungsweise werden  als  Eigensinn,  Launenhaftigkeit,  Bosheit  angesehen,  und 
gewöhnlich  finden  sich  scheinbare  äussere  Veranlassungen,  die  dafür  herhalten 
müssen,  oder  vom  Kranken  selbst  vorgeschützte  Gründe,  um  die  angeblichen 
Launen ,  das  Sichgehenlassen ,  die  Faulheit  und  Vernachlässigung  gewohnter 
Pflichten  und  Rücksichten  zu  motiviren.  So  geht  es  oft  Monate  lang  fort,  bis 
eine  Steigerung  des  Leidens  und  Complicationen  mit  Sinnestäuschungen  und 
Wahnideen  oder  eine  schreckliche  Gewaltthat  der  Umgebung  die  Augen  über  das 
Pathologische  des  Zustands  öffnen. 

Eine  ganz  chronische,  wohl  als  constitutionelle  zu  bezeichnende  Verstim- 
mung (melancholische  folie  raisonnante)  findet  sich  vorwiegend  bei  weiblichen 
Individuen.  Erbliche  Belastung  dürfte  die  prädisponirende  Ursache  sein,  Uterus- 
affektionen, namentlich  Infarkte  und  Lageveränderungen  erweisen  sich  als  ein 
wichtiges  Gelegenheitsmoment.  Bei  erheblicher  Belastung  scheint  das  Leiden 
auch  ohne  Dazwischenkunft  einer  accidentellen  Ursache  sich  entwickeln  zu  können. 
Es  tritt  dann  schon  vor  der  Pubertät  oder  mit  dieser  auf  und  bleibt  dann 
Constitutionen. 

Von  Aerzten,  die  nicht  Specialisten  sind,  wird  diese  Krankheit,  die  sich 
übrigens  auch  aus  Hysterie  entwickeln  und  mit  hysterischen  Symptomen  einher- 
gehen kann,  mit  der  Hysterie  gewöhnlich  zusammengeworfen  und  in  ihrer  eigent- 


3(3  Cap.  IX.    Die  Melancholie. 

liehen  Bedeutung  verkannt.  Im  socialen  Leben  wird  sie  in  der  Regel  bloss  vom 
ethischen  Standpunkt  aus  beurtheilt  und  als  übler  Charakter  und  Launenhaftigkeit 
missdeutet.  Von  Falret  ist  sie  in  ihren  Hauptzügen  als  „Hypochondrie  morale 
avec  conscience  de  son  etat"  beschrieben. 

Klinisch  findet  sich  eine  habituelle  üble  Laune,  ein  stehender  depressiver 
Affekt,  der  sich  in  Reizbai'keit,  Unzufriedenheit,  Zank-  und  Schmähsucht,  Neigung 
zu  übler  Behandlung  der  Umgebung  kundgibt.  Das  Vorstellen  derartiger  Patienten, 
die  häufig  genug  für  boshafte  zänkische  Weiber,  eifersüchtige  Gattinnen,  herzlose 
grausame  Mütter  (misopedie,  Boileau  de  Castelnau)  gehalten  werden,  ist  beständig  in 
den  Zwang  des  schmerzlichen  Fühlens  gebannt.  Es  besteht  bei  ihnen  ein  beständiger 
schmerzlicher  Reproduktionszwang ,  ihre  ps}'^chische  Dys-  und  Anästhesie  liefert 
ihnen  nur  widrige  Eindrücke  aus  der  Aussenwelt.  Sie  sehen  nur  die  Schatten- 
seiten des  Lebens,  Alles  schwarz  und  trübe,  bekommen  von  Allem  nur  widrige 
Eindrücke  und  die  geringsten  widrigen  Ereignisse  verschlimmern  ihren  Zustand 
bedeutend.  Sie  sind  abulisch,  muthlos,  imlustig,  unfähig  zu  andauernder  Arbeit 
und  intellektueller  Leistung,  unglücklich,  verzweifelt  bis  zu  Taed.  vitae,  beständig 
unter  dem  Schwergewicht  ihrer  krankhaften  Gefühle,  widrigen  Aesthesen  und 
einem  fortwährenden  schmerzlichen  Reproduktionszwang  hingegeben.  Häufig 
sind  hier  auch  Zwangsvorstellungen.  Die  krankhafte  Natur  des  scheinbar  bloss 
üblen  Charakters  beweist  der  exacerbirende  und  remittirende  Verlauf,  das  jedes- 
mal stärkere  Hervortreten  der  Symptome  zur  Zeit  der  Menstruation,  die  Klage 
der  Krankeii  in  freieren  Zeiten,  dass  sie  wider  besseres  Wissen  und  Wollen  sich 
so  negirend  verhalten,  Anderen  Böses  thun,  schaden  müssen.  Dazu  kommt  das 
allerdings  seltene,  aber  in  Affekten  zu  beobachtende  Vorkommen  von  Angst- 
zufällen und  Persekutionsdelir,  endlich  das  integrirende  Mitgehen  neuropathischer 
Symptomencomplexe  (Stat.  nervosus,  Spinalirritation,  Hysterismus)  mit  den  Paro- 
xysmen  scheinbarer  böser  Laune  und  Gereiztheit.  Nicht  selten  leiden  solche 
Kranke  beständig  unter  der  Furcht,  irrsinnig  zu  werden. 

Wäre  der  Melancholische  immer  passiv  und  gehemmt,  so  würde 
das  Interesse,  welches  die  Strafjustiz  an  ihm  zu  nehmen  hätte,  ein 
sehr  geringfügiges  sein  und  höchstens  sein  Geisteszustand  gegenüber 
strafbaren  Unterlassungen,  die  er  sich  als  Beamter  u.  s.  w.  zu  Schulden 
kommen  Hesse  und  die  als  Faulheit  und  Nachlässigkeit  verkannt 
würden,  in  Betracht  kommen  (vgl.  Spangenberg,  neues  Archiv  des 
Criminalrechts  IV.  St.  4.  p.  327).  Erfahrungsgemäss  erscheint  in- 
dessen der  Melancholische  häufig  als  der  Vollbringer  sehr  schwerer 
Gewaltthaten  und  in  einer  Bewegungsunruhe,  die  dem  ungebundenen 
Bewegungsdrang  des  Tobsüchtigen  kaum  etwas  nachgibt.  Damit 
gewinnt  die  Melancholie  eine  eminente  Bedeutung  in  foro. 

Diese  Aktivität  des  Melancholischen  ist  eine  Reaktionserscheinung 
auf  qualvolle  und  den  Kranken  bis  zur  Verzweiflung  treibende  Be- 
wusstseinsvorgänge,  wobei  der  durch  diese  hervorgerufene  mächtige 
Affekt  temporär  wenigstens  die  inneren  Hemmungen  zu  überwinden 
vermag. 


Gewalttliaten  Melancholischer.     Raptus  melanchol.  87 

Der  Anlass  zu  solchen  affektartigen  Erschütterungen  und  Re- 
aktionen des  Kranken  kann  durch  peinliche  Eindrücke  oder  schmerz- 
liche Erinnerungen  mit  daraus  erfolgenden  Ueberraschungs-  und  Er- 
wartungsaffekten, ferner  durch  körperliche  Missgefühle  (Neuralgien  etc.) 
oder  psychische  (Gefühl  trostloser  psychischer  Anästhesie,  Gedanken- 
hemmung, Zwangsvorstellungen,  Willenlosigkeit,  Ueberwältigungs- 
gefühle  durch  die  Krankheit)  gegeben  sein. 

Dazu  kommen  als  wichtige  Handlungsmotive  und  Complicationen 
des  bisher  geschilderten  Bildes  einer  Mel.  sine  delirio  Angstempfin- 
dungen (Präcordialangst)  bis  zu  qualvoller  Affekthöhe,  ferner  Sinnes- 
täuschungen und  Wahnvorstellungen  (Mel.  cum  delirio,  mel.  Wahnsinn). 

Mitten  aus  der  tiefsten  Passivität  und  trostlosesten  Willenshemmung  heraus 
kann  die  psychomotorische  Sphäre  des  Kranken  durch  auftretende  Angstempfin- 
dungen entfesselt  werden  (raptus  mel.). 

Von  tief  eingreifender  Bedeutung  ist  dieser  Zuwachs  an  peinlichem  Be- 
wusstseinsinhalt  durch  die  Angstgefühle  für  das  Vonstattengehen  der  übrigen 
psychischen  Fanktionen.  Die  ohnehin  depressive  Stimmung  steigert  sich  acut  zu 
einer  verzweiflungsvollen,  die  sich  auch  mimisch  und  gestikulatorisch  als  Affekt 
der  Verzweiflung  kundgibt.  Nicht  minder  leidet  die  Apperception  der  Vorgänge 
in  der  Aussenwelt  unter  diesem  qualvollen  Bewusstseinszustand.  Es  kommt  zu 
completer  psychischer  Anästhesie,  zu  einer  qualvollen  Leere  und  Oede  im  Be- 
wTisstsein,  einfach  weil  gegenüber  diesem  gewaltigen  inneren  Erregungszustand 
die  äusseren  Reize  nicht  mehr  zur  Geltung  gelangen  können.  Dieser  Zustand  führt 
nicht  selten  temporär  selbst  zu  einer  vollkommenen  Aufhebung  der  Apperception 
und  zur  unklaren  Vorstellung  der  allgemeinen  und  eigenen  Nichtexistenz  resp. 
Vernichtung.  Eine  nothwendige  Rückwirkung  ist  eine  Störung  im  Ablauf  der 
Vorstellungen,  indem  derselbe  momentan  ganz  sistirt  ist  und  nur  noch  die  qual- 
volle unbestimmte  Vorstellung  der  Angst  den  Inhalt  des  Bewusstseins  ausmacht, 
oder  indem  ein  wirres  Durcheinanderwogen  peinlicher  unbeherrsch-  und  nicht 
mehr  associirbarer  Vorstellungen  das  Vorstellungsfeld  füllt.  Nie  fehlen  bedeu- 
tende Rückwirkungen  auf  die  motorische  Sphäre.  In  den  niederen  Graden  der 
Präcordialangst  treiben  sich  die  Kranken  ruhelos  und  zwecklos  umher  (melan- 
cholia  errabunda)  und  suchen  durch  eine  Reihe  zweckloser,  zum  Theil  zerstören- 
der Handlungen  eine  Lösung  der  psychischen  Spannung  ganz  instinktartig  zu 
«rstreben.  Je  mächtiger  und  plötzlicher  die  Präcordialangst  das  Bewusstsein 
überfällt,  desto  stürmischer,  gewaltiger,  zwangsmässiger  werden  diese  psycho- 
m.otorischen  Entladungen.  Es  kommt  dann  mit  fortschreitender  Trübun'g  des 
Bewusstseins  zu  allen  möglichen  zerstörenden  Handlungen,  zu  Mord,  Selbstmord, 
Brandstiftung,  zu  wuthartiger  Zerstörung  alles  dessen,  was  dem  Kranken  in  den 
Weg  kommt,  zu  Handlungen,  denen  kein  deutlich  bewusstes  Motiv  mehr  ent- 
spricht, die  nur  noch  der  dunkle  instinktartige  Drang  motivirt,  durch  irgend 
einen  motorischen  Akt  (Bergmann's  Kranke,  die  sich  die  Augen  ausriss)  eine 
Lösung  dieses  qualvollen  psychischen  Spannungszustands  anzustreben.  Schon  in 
den  niederen  Graden  des  Angstanfalls  haben  diese  erleichternden  Thaten  das 
Gepräge  des  Zwangsmässigen ,  Triebartigen,  und  in  dem  Mass,   als  das  Bewiisst- 


38  Cap.  IX.    Die  Melancholie. 

sein  sich  trübte  und  sie  unter  der  Schwelle  hemmender  bewusster  Vorstellungen 
hindurchgingen,  erscheinen  sie  als  wahre  psychische  Reflexakte.  In  den  höchsten 
Graden  handelt  es  sich  um  eine  Art  psychischer  Convulsionen,  vergleichbar 
jenen  mächtigen  motorischen  Entladungen,  die  ein  reflectorisch  ausgelöster  epi- 
leptischer Anfall  darstellt.  Nie  fehlt  nach  solchem  raptusartigem  Wüthen  eine 
bedeutende  Erleichterung  des  Bewusstseins ,  die  selbst  bis  zu  einer  Intermission 
der  Angst  gehen  kann  und  einfach  in  der  gelungenen  Lösung  eines  unerträglich 
gewordenen  Spannungszustandes  ihre  Erklärung  findet.  Mit  diesen  psychischen 
Symptomen  des  Angstanfalls  gehen  regelmässig  bemerkenswerthe  Störungen  der 
Circulation  und  Respiration  einher.  Meist  ist  die  Herzaktion  beschleunigt,  un- 
regelmässig, der  Puls  klein,  celer,  die  Haut  kühl,  blass,  im  Zustand  capillärer 
Anämie.  Häufig  besteht  Herzklopfen  nebst  eigenthümlichen  Sensationen  in  der 
Herzgegend,  die  mit  Gefühlen,  als  ob  das  Herz  durchstochen,  abgedreht  oder 
zusammengepresst  würde,  verglichen  werden.  Die  Respiration  ist  gewöhnlich 
gehemmt,  der  Thorax  verharrt  längere  Zeit  in  Bxspirationsstellung,  die  Athmung 
ist  eine  oberflächliche  frequente.  Nicht  selten  ist  auch  ein  globusartiges  Gefühl 
von  Zusammenschnürung  im  Halse  und  eine  eigenthümliche  Unsicherheit  der 
Stimme  bis  zum  Versagen  derselben.  Die  Sekretionen  sind  während  des  Angst- 
anfalls unterdrückt;  gegen  Ende  desselben  tritt  oft  eine  so  reichliche  Schweiss- 
sekretion  ein,  dass  der  Kranke  im  Schweiss  wie  gebadet  erscheint. 

Das  melancholische  Irresein  complicirt  sich  im  Verlauf  häufig  mit  Wahn- 
ideen und  Sinnestäuschungen.  In  der  Regel  entstehen  die  ersteren  auf  psycho- 
logischem Wege  als  (falscher)  Erklärungsversuch  der  krankhaften  Bewusstseins- 
vorgänge  (Stimmungsanomalien ,  Affekte ,  namentlich  Angst ,  Hemmungen  im 
Vorstellen  und  Streben  u.  s.  w.),  seltener  aus  Sinnestäuschungen.  Desshalb  lässt 
sich  die  auf  psychologischem  Wege  entstandene  Wahnidee  meist  auf  die  zu 
Grunde  liegende  elementare  psychische  Störung  zurückführen. 

So  führt  die  tief  veränderte  Selbstempfindung  des  Kranken,  die  wieder 
auf  das  Bewusstsein  der  Hemmung  der  Gefühle,  Vorstellungen  und  Strebungen 
sich  gründet  und  ihren  klinischen  Ausdruck  in  Niedergeschlagenheit,  Mangel  an 
Selbstvertrauen  findet,  zum  Wahn,  ruinirt,  ein  Bettler  zu  sein,  verhungern  zu 
müssen.  Die  psychische  Dysästhesie  spiegelt  die  Aussenwelt  in  feindlichem  Licht 
und  täuscht  Verfolgungen  und  drohende  Gefahren  vor.  Das  Gefühl  der  Hemmung 
und  Ueberwältigung  führt  bei  geistig  beschränkten  Individuen  zum  Wahn,  finsteren 
Mächten  anheimgefallen,  verhext,  verzaubert  zu  sein.  Die  psychische  Anästhesie, 
die  gar  keine  humanen  Gefühle  und  ethische  Regungen  mehr  zulässt,  erzeugt  den 
Wahn,  der  Attribute  der  menschlichen  Würde  verlustig,  in  ein  Thier  verwandelt, 
zu  sein,  und  insofern  sie  auf  religiösem  Gebiet  als  mangelnder  Trost  im  Gebet, 
Zerfallensein  mit  der  Religion  empfunden  wird,  kommt  es  leicht  zum  Wahn,  von 
Gott  Verstössen,  der  ewigen  Seligkeit  verlustig,  vom  Teufel  besessen  zu  sein. 

In  den  höchsten  Graden  der  psychischen  Anästhesie,  da  wo  auch  Sinnes- 
wahrnehmungen keine  Betonung  mehr  erfahren,  erscheint  die  Aussenwelt  nur 
noch  als  eine  Schein-  und  Schattenwelt  und  erweckt  trübe  Wahnideen  allgemeinen 
und  individuellen  Untergangs. 

Ganz  besonders  wichtige  Quellen  für  Wahnideen  sind  die  Präcordial- 
angst  und  überhaupt  ängstliche  Erwai'tungsaffekte.  Sie  führen  zum  Wahn,  dass 
eine  Gefahr  wirklich  drohe.  Diese  kann  individuell  wieder  in  imaginärer  Ver- 
folgung,  drohendem   Tod,   Vermögensverlust   objekfövirt  werden.     Dabei  kommt 


Walmideen  bei  Melancholischen.  «^       89 

der  Kranke  auf  Grundlage  seines  tief  herabgesetzten  Selbstgefühls  leicht  zum 
Wahn,  ein  Sünder,  Verbrecher  zu  sein,  dem  eine  solche  Busse  gebühre.  Zur 
weiteren  Motivirung  muss  dann  eine  frühere  wirklich  begangene  Gesetzesüber- 
tretung herhalten  oder  eine  harmlose,  gar  nicht  gesetzwidrige  frühere  Handlung 
oder  Unterlassung  erscheint  dem  hyperästhetischen  Gewissen  als  eine  solche. 

Auch  krankhafte  Empfindungen  im  Bereich  der  sensiblen  Nerven  (Paralgien. 
Anästhesien,  Neuralgien),  wie  auch  Anomalien  der  Geschmacks-,  Geruchs- 
empfindung etc.  —  können  auf  dem  Wege  der  allegorischen  Umdeutung  zu  Wahn- 
ideen werden.  Bewegt  sich  das  schmerzliche  Fühlen  und  Vorstellen  vorwiegend 
auf  dem  Gebiet  gestörter  Gemeingefühlsempfindung,  so  gewinnt  das  Krankheits- 
bild ein  hypochondrisches  Gepräge. 

Der  Inhalt  der  melancholischen  Wahnideen  ist  ein  äusserst  mannigfacher, 
der  alle  Varietäten  menschlichen  Kummers,  Sorgens  und  Fürchtens  in  sich  begreift. 
Da  er  immer  aus  dem  individuellen  Bewusstseinsinhalt  geschöpft  wird,  ist  es 
natürlich,  dass  er,  je  nach  individuellem  Reichthum  des  Seelenlebens,  nach  Ge- 
schlecht, Stand,  Bildung,  Zeit,  Alter  unendlich  variirt,  wenn  auch  gewisse  stehende 
Sorgen  und  Befürchtungen  der  Menschen  dem  Delirium  unzähliger  Melancho- 
lischer aller  Völker  und  Zeiten  übereinstimmende  Züge  und  Inhalt  aufdrücken 
(Griesinger). 

Der  gemeinsame  Charakter  aller  melancholischen  Delirien  ist  der  des 
Leidens  und  im  Gegensatz  zu  ähnlichen  in  der  primären  Verrücktheit  mit  Per- 
secutionsdelir,  des  durch  eigene  Schuld  motivirten. 

Auch  die  Sinnestäuschungen  sind  eine  ergiebige  Quelle  für  Wahnideen. 
Sie  können  in  allen  Sinnesgebieten  auftreten,  den  Kranken  in  eine  ganz  imaginäre 
Welt  versetzen. 

Wie  die  Vorstellungen  in  der  Mel.  einen  feindlichen,  schmerzlichen  Inhalt 
haben,  ist  auch  der  der  Hallucinationen  ein  schreckhafter,  beängstigender. 

Der  in  ängstlichem  Erwartungsaffekt  schmachtende  Kranke  hört  Stimmen, 
die  ihm  drohendes  Unheil,  Tod,  Einsperrung,  Verdammniss  verkünden.  Die 
Aussenwelt  erscheint  ihm  feindlich,  ganz  bedeutungslose  Worte  oder  Geräusche 
wandeln  sich  ihm  in  Drohungen,  Beschimpfungen,  Spott,  Hohngelächter  um. 

Ebenso  schreckhaft  sind  die  Visionen  derartiger  Kranker.  Sie  sehen  sich 
von  Gespenstern,  Teufeln  umgeben,  sehen  den  Henker,  der  sie  erwartet,  Mörder, 
die  sie  bedrohen.  Geschmackstäuschungen  erzeugen  den  Wahn,  dass  im  Essen  Gift 
oder  dass  es  verunreinigt  sei  —  Geruchstäuschungen  rufen  den  Glauben  hervor, 
von  Leichen  umgeben  zu  sein,  sich  im  Schwefelpfuhl  der  Hölle  zu  befinden; 
neuralgisch-paralgische  Sensationen  führen  zum  Wahn,  gemartert,  von  bösen 
Geistern  heimgesucht  zu  werden. 

Besonders  intensiv  und  gehäuft  treten  die  Sinnestäuschungen  in  Affekten 
auf,  namentlich  in  ängstlichen  Erwartungsaffekten. 

Wir  haben  die  elementaren  Störungen  ^  aus  denen  sich  das 
Krankheitsbild  der  Melancholie  zusammensetzt,  dargelegt.  Es  bleibt 
uns  übrig,  die  sich  aus  ihnen  ergebenden  Handlungen  und  deren 
Mechanismus  zu  besprechen.  Die  Gewaltthaten  des  Melancholischen 
entstehen : 


90     •  Cap.  IX.    Die  Melancholie.     Gewalttliaten 

1.  aus  schmerzlichen  Gefühlen  und  aus  Zwangsvorstellungen, 

2.  aus  Affekten  der  Angst  (Präcordialangst), 

3.  aus  Wahnideen  und  Sinnestäuschuno'en. 


Gewaltt baten    aus    schmerzlichem    Fühlen. 

Rein  auf  Grund  seines  schmerzlichen  FühlenSj  ohne  zu  deliriren, 
ohne  auffällige  Störung  seiner  Besonnenheit,  kann  der  Melancholische 
zu  den  schwersten  Gewaltthaten  hingerissen  werden.  Die  Gefühle 
psychischer  Djsästhesie ,  die  Welt  und  Leben  schlecht,  unerträglich 
erscheinen  lassen,  die  peinlichen  Affekte  der  Langeweile,  die  Hem- 
mung des  Vorstellens,  die  ängstlichen  Erwartungsaffekte  ungewisser, 
aber  jedenfalls  schrecklicher  Zukunft,  das  quälende  Bewusstsein  des 
nicht  mehr  Könnens,  Leistens,  Wollens,  das  entsetzliche  Gefühl,  sich 
des  krankhaften  Zustands  nicht  mehr  entschlagen  zu  können,  sind 
es,  die  sie  vorbereiten. 

Die  unmittelbare  Veranlassung  bildet  gewöhnlich  ein  Verzweif- 
lungs-  oder  TJeberraschungsaffekt. 

Eine  häufige  und  psychologisch  naheliegende  Gewaltthat  solcher 
Melancholischen  ist  der  Selbstmord.  Die  Mehrzahl  der  Selbst- 
mörder besteht  aus  Melancholischen.  Die  von  den  neueren  Gesetz- 
gebungen anerkannte  Straflosigkeit  des  Selbstmordversuchs  hebt  das 
forensische  Interesse  an  dieser  Art  von  Gewaltthaten  auf. 

Anders  ist  es  mit  den  Fällen,  wo  der  Melancholische  zwar  an 
ausgesprochenem  Taedium  vitae  leidet,  aber  aus  irgend  einem  Motiv 
den  Zweck  der  Lebensvernichtung  durch  eine  strafbare  Handlung  zu 
erreichen  sucht  (indirekter  Selbstmord).  Meist  ist  es  Feigheit  oder 
die  den  Melancholischen  eigenthümliche  Abulie,  oder  es  sind  religiöse 
Skrupel,  die  den  direkten  Selbstmord,  nach  welchem  keine  Busse  und 
Aussöhnung  mit  Gott  mehr  möglich  ist,  perhorresciren  lassen.  So 
kommt  es  denn  vor,  dass  Melancholische  Andere  ermorden,  todes- 
würdige Verbrechen  begehen  oder  solcher  fälschlich  vor  Gericht  sich 
anklagen,  um  durch  das  Schaffet  ihren  Zweck  zu  erreichen,  oder  auch 
dass  sie  eine  dritte  Person  dingen,  die  sie  aus  der  Welt  schaffen  soll. 
Die  gleiche  psychologische  Begründung  haben  Verbrechen,  die  nur 
begangen  werden,  um  in's  Zuchthaus  zu  kommen,  nach  dem  der 
Kranke  sich  in  seinem  schmerzlichen  Fühlen  sehnt.  In  ähnlicher 
Weise  wie  zum  Selbstmord  kann  der  Melancholische  zu  anderen  gegen 
Personen  oder  Objekte  gerichteten  zerstörenden  Handlungen  getrieben 
werden.     So  kommt  es  vor,  dass  der  Melancholische  im  entsetzlichen 


aus  schmerzlichem  Fühlen.     Beob.  16  und  17.  91 

Bewusstsein  des  nicht  mehr  Könnens  und  Wollens  sich  selbst  mit 
Aufbietung-  seiner  letzten  Kräfte  die  Probe  zu  liefern  versucht,  ob  er 
denn  wirklich  nichts  mehr  vollbringen  kann  und  diese  mit  der  Zer- 
störung seines  Mobiliars  oder  der  Inbrandsteckung  seines  Hauses  ab- 
legt, ebenso  leicht  kann  er  im  qualvollen  Gefühl  seiner  Langeweile, 
seiner  Todesbangigkeit,  des  grässlichen  Stillstands  seiner  Gedanken 
um  jeden  Preis  eine  Aenderung  seiner  Lage  erstreben  und  diese 
Spannung  durch  eine  Gewaltthat  gegen  einen  Andern  zu  lösen 
versuchen, 

Beob.  16.  Indirekter  Selbstmord.  Am  15.  Sept.  1851  näherte  sich 
in  einem  Theater  Lyons  ein  Mensch  von  20  Jahren  einer  jungen  Frau,  die  neben 
ihrem  Mann  sass,  stach  ihr  ein  Messer  in  die  Brust,  so  dass  sie  todt  auf  dem 
Platz  blieb,  und  wandte  sich  dann  ruhig  an  den  Mann  mit  den  Worten:  „Sie 
haben  mir  nichts  zu  Leid  gethan,  auch  Ihre  Frau  nicht.  Ich  kenne  Sie  nicht." 
Im  Verhör  erklärte  er  des  Lebens  überdrüssig  zu  sein  und  gemordet  zu  haben, 
um  hingerichtet  zu  werden.  Er  habe  es  vorgezogen,  durch's  Schaffet  zu  sterben, 
wodurch  ihm  Zeit  bleibe,  sich  mit  Gott  auszusöhnen.  Er  war  seit  geraumer  Zeit 
melancholisch  und  hatte  hin  und  her  gesonnen,  wie  er  sein  Leben  verlieren 
könne.  Zuerst  hatte  er  gedacht  Soldat  zu  werden  und  an  einem  Officier  sich 
so  zu  vergreifen,  dass  er  erschossen  werde;  dann  einen  Priester  am  Altar  zu 
ermorden,  da  dieser  ja  im  Zustand  der  Gnade  vor  Gott  sei;  später  gedachte  er 
ein  Attentat  auf  den  Präsidenten  der  Republik  zu  machen.  Als  er  in's  Theater 
kam,  lenkte  sich  seine  Aufmerksamkeit  zuerst  auf  ein  junges  Mädchen,  aber  es 
war  ihm  nicht  so  bequem  als  die  Frau,  welche  ihm  zum  Opfer  fiel.  Der  Kranke 
war  erblich  zum  Irresein  disponirt.  Sieben  Blutsverwandte  hatten  sich  schon 
um's  Leben  gebracht.     (Gaz.  des  tribunaux  1851.) 

Beob.  17.  Mord  des  Grossvaters  durch  einen  moralisch  und 
intellektuell  Schwachsinnigen  im  Zustand  einer  in  der  Pubertät 
aufgetretenen  Melancholie.  Am  7.  Februar  fand  man  den  Vater  Bartlie- 
lemy  todt  mit  zertrümmertem  Schädel  in  der  Küche  liegend.  Eine  mit  Blut  und 
Gehirnfetzen  befleckte  Hacke  fand  man  unter  einem  Bett  versteckt.  Aus  einem 
Schrank  fehlte  eine  Summe  Geldes.  Der  Schrank  war  mit  einem  Schlüssel  ge- 
öffnet worden,  den  B.  immer  bei  sich  trug  und  den  ihm  der  Mörder  wieder  in 
die  Tasche  gesteckt  hatte.  Am  Tage  nach  dem  Mord  bekannte  sich  der  Enkel 
des  B.  aus  freien  Stücken  zur  That. 

S.,  der  Mörder,  ist  von  Geburt  auf  schwachsinnig,  aber  bisher  harmlos, 
selbst  gutmüthig  gewesen.  Er  war  ein  scheuer,  die  Einsamkeit  liebender  Mensch. 
Vergebens  hatte  man  sich  bemüht,  ihn  ein  Handwerk  erlernen  zu  lassen. 

Seit  Oktober  fand  man  ihn  verändert,  melancholisch  verstimmt,  schweigsam, 
abulisch.  Kurze  Zeit  darauf  hatte  er  sich  mit  Benzin  zu  vergiften  versucht,  weil  er 
zu  nichts  auf  der  Welt  nutz  sei,  den  Leuten  zur  Last  falle.  Es  kommt  zu  neuen  Selbst- 
mordversuchen. Er  klagt  über  Kopfweh,  wird  errabund.  Am  Tage  des  Mords 
ist  er  noch  düsterer  und  in  sich  gekehrter  als  sonst.  Im  Verhör  gibt  er  an,  der 
Gedanke,  den  Grossvater  zu  ermorden,  sei  ihm  ganz  plötzlich,  3 — 4  Tage  vor 
demselben,    gekommen   und    habe    keinen  Widerstand   im  Bewusstsein  gefunden. 


92  Cap.  IX.    Die  Melancholie.     Gewalttliaten 

Er  habe  nur  geschwankt,  ob  er  den  Grossvater  oder  andere  Personen  umbringen 
solle.  Der  Umstand,  dass  jener  allein  daheim  war,  habe  die  Entscheidung  herbei- 
geführt. Die  Einzelheiten  der  That  erzählte  er  mit  voller  Treue  des  Gedächt- 
nisses. Er  schlug  auf  den  Alten  mit  einer  Hacke,  die  im  Zimmer  war,  los,  bis 
er  todt  war.  Eine  Regung  des  Mitleids  empfand  er  dabei  nicht.  Erst  als  der 
Ahne  todt  Avar,  kam  ihm  die  Idee,  ihn  zu  bestehlen.  Er  nahm  ihm  den  Schlüssel 
aus  der  Tasche,  holte  sich  etwa  400  Francs,  steckte  dem  Todten  wieder  den 
Schlüssel  zu,  wusch  sich  die  Hände  und  ging  fort. 

Er  trieb  sich  dann  in  Schenken  herum,  übernachtete  in  einer  solchen. 
Vorübergehend  kam  ihm  der  Gedanke  zu  fliehen.  Er  Hess  ihn  fallen  und  stellte 
sich  den  Gerichten.  In  den  Verhören  vorübergehend  einmal  Reue,  sonst  gemüth- 
liche  Indifferenz  gegenüber  der  schrecklichen  That.  Im  Gefängniss  von  Melan- 
cholie wenig  mehr  zu  bemerken,  dagegen  das  Bild  eines  Schwachsinnigen.  Die 
folgende  Beobachtung  in  der  Irrenanstalt  ergibt:  S.  ist  19  J.  alt,  noch  völlig 
bartlos,  die  Haut  ist  zart  wie  bei  Frauen,  die  Miene  kindlich.  Psj^chisch  ausge- 
sprochener Schwachsinn.  Läppisches  Läugnen  einer  Erinnerung  an  die  That,  über- 
haupt an  sein  früheres  Leben.  Als  man  ihm  mit  der  Douche  droht,  gibt  er  seine 
Schweigsamkeit  und  Erinnerungslosigkeit,  zu  der  ihm  zwei  Mitgefangene  den  Rath 
gegeben  hatten,  auf,  wird  gesprächig,  willig,  theilt  mit,  er  habe  den  Grossvater 
umgebracht,  um  guillotinirt  zu  werden,  da  er  durch  eigene  Hand  nicht  zu  sterben 
vermochte.  Ein  weiteres  Motiv  hatte  er  nicht.  Er  bleibt  gemüthlich  stumpf, 
gleichgültig.  Der  ermordete  prossvater  sowie  S.'s  Vater  sind  psychisch  abnorme 
Charaktere  und  der  letztere  ist  durch  Trunk  irrsinnig  geworden.  Auch  der 
Grossvater  bot  die  Zeichen  des  Alkohol,  chronicus. 

Die  Expertise  betrachtet  S.  als  einen  erblich  belasteten,  ethisch  und  intel- 
lektuell defekten  Menschen,  Wie  so  häufig  bei  solchen  Wesen  bringen  die 
Pubertätsvorgänge  Irrsinn  hervor.  Der  Beweis  des  Irreseins  wird  klinisch  und 
in  feiner  Würdigung  der  Thatumstände  erbracht.  Es  handelte  sich  um  einen 
ethisch  und  intellektuell  originär  defekten  Melancholischen.  (Die  That  wird  als 
eine  impulsive  aufgefasst.  Jedenfalls  ist  sie  wie  die  vorausgehenden  Selbstmord- 
versuche durch  unerträgliche  Unlustgefühle  bedingt.  Dass  sie  keinen  Gegensatz 
im  Bewusstsein  fand  und  so  grausam  zu  Stande  kam,  erklärt  sich  zum  Theil 
aus  der  psychischen  Anästhesie  des  Melancholischen,  zum  Theil  aus  der  originären 
moralischen  Defektuosität  des  S.)  Er  Avurde  einer  Irrenanstalt  zur  Versorgung 
übergeben.     (Annal.  med.  psychol.  1878,  Mai.) 

Analoge  Fälle  s.  Casper,  Lehrb.  Fall  157.  Zeitschr.  f.  Staatsarzneikde. 
1859,  p.  127.  Henke's  Zeitschr.  1837,  H.  4.  Brierre,  Annal.  med.  psychol.  1851, 
p.  626.  Ebers,  Zurechnung.  1866.  Fall  4.  Marc-Ideler,  II,  p.  135.  Bottex,  Ann. 
d'hygiene.  1834,  p.  242.  Hitzig's  Annalen,  Aug.  1852.  Taylor,  med.  jurisprud.., 
p.  863.  Ideler,  Lehrbuch,  p.  78.  Despine,  psychologie  naturelle,  t.  II,  p.  580,, 
582,  583.     Kaatzer,  Dissertation,  Marburg  1872. 

Beob.  18.  Melancholie.  Mord  des  Kindes  aus  schmerzlichen 
Gefühlen.  Am  frühen  Morgen  des  13.  Oktober  war  die  Feldwebelfrau  W.  mit 
ihrem  vor  4  Wochen  geborenen  Kind  auf  kurze  Zeit  allein.  Als  die  Wärterin 
zur  Wöchnerin  zurückkehrte ,  fand  sie  diese  auf  dem  Leib  liegend,  das  Gesicht 
in  die  Kissen  vergraben ,  das  Kind  unter  ihr  todt  und  blau.  Die  Mutter  drehte 
sich  um  und  wie  aus  tiefem  Schlaf  erwachend,  sagte  sie :  „Jetzt  haben  wir  einen 
schönen  Engel  im  Himmel."    Sie  blieb  dann  ruhig  im  Bett.    Die  gerufene  Gerichts- 


aus  schmerzlichem  Fühlen.     Beob.  19.  93 

commission  constatirte  den  Tod  des  Kinds  durch  Zuschnüren  des  Halses.  Die 
unglückliche  Mutter  erklärte  weinerlich :  „Ich  muss  es  sagen,  ich  habe  mein  Kind 
umgebracht,  ich  habe  nicht  anders  gekonnt.  Ich  weiss  nicht,  wie  mir  seit  drei 
Wochen  ist,  ich  habe  nirgends  Ruhe  und  diese  unerträgliche  Aufregung  und 
Unruhe  ist  so  weit  gestiegen,  dass  ich  schon  dreimal  versuchte,  mir  das  Leben 
zu  nehmen.  Da  dieses  Vorhaben  nicht  gelang,  habe  ich  geglaubt,  ein  solches 
an  meinem  Kind  ausführen  zu  müssen.  Der  Gedanke  kam  mir  plötzlich,  als  ich 
es  an  die  Brust  legte.  Ich  band  ihm  ein  Tuch  um  den  Hals  und  versuchte  zwei- 
mal es  zuzuziehen,  liess  aber  jedesmal  nach,  weil  das  Kind  heftig  schrie  und  ich 
Mitleid  mit  ihm  bekam.  Endlich  habe  ich  noch  einmal  heftig  zugezogen  und  da 
muss  das  Kind  gestorben  sein.  Ich  bereue  weder  die  Handlung,  noch  habe  ich 
Mitleid  mit  dem  Kind.  Meine  Verwandten  sind  mir  ganz  gleichgültig,  überhaupt 
Alles,  ich  habe  gar  kein  Mitgefühl  mehr." 

In  der  nächsten  Zeit  melancholische  Depression  mit  grosser  Abulie  und 
Taedium  vitae. 

Frau  W.  stammt  von  gesunden  Eltern,  vier  Brüder  starben  an  Hirnleiden. 
Von  jeher  zeigte  sie  ein  schmerzliches,  in  sich  gekehrtes  Wesen.  Im  ersten 
Wochenbett  war  sie  in  ähnlicher  Weise  gestört  gewesen  wie  jetzt.  Am  12.  Sept. 
hatte  sie  ohne  Beschwerde  zum  drittenmal  geboren.  Schon  nach  wenigen  Tagen 
traurig  und  klagend,  dass  derselbe  Zustand  wie  im  ersten  Wochenbett  wieder- 
kehre und  sie  fühle,  dass  sie  nicht  mehr  leben  könne.  Wiederholt  fand  man 
Messer  und  Stricke  bei  ihr  und  nur  die  grösste  Wachsamkeit  konnte  Selbstmord- 
versuche verhindern.  Sie  besorgte  still  und  gedrückt  ihre  Hausgeschäfte,  sorgte 
sich  um  ihr  und  ihrer  Kinder  Auskommen,  obwohl  die  Verhältnisse  gute  waren. 
Die  Abreise  ihres  Mannes  am  Tag  vor  der  That  machte  sie  untröstlich. 

Die  körperliche  Untersuchung  ergab  Spitzentuberculose  der  Lungen  und 
Zeichen,  die  auf  ein  tuberculöses  Hirnleiden  schliessen  Hessen.  Patientin  klagte 
über  Schwindel,  Gefühle  von  Schmerz  und  Druck  im  Hinterkopf.  Mit  Exacerba- 
tion des  Hinterhauptschmerzes  trat  häufig  Würgen  und  Erbrechen  ein.  Mit  Zu- 
nahme des  Kopfschmerzes  behauptete  sie,  jeweils  von  verkehrten  Gedanken, 
Angst  und  der  Idee,  verloren  zu  sein,  zu  Grunde  zu  gehen,  geplagt  zu  werden. 
Im  Uebrigen  Bild  einer  Melancholie  sine  delirio  mit  ausgesprochener  psychischer 
Anästhesie  und  Abulie.  Im  Februar  schwankender  Gang,  zunehmende  Parese  der 
Unterextremitäten,  Somnolenz,  Vergesslichkeit ;  am  28.  Febr.  Tod  im  Sopor.  Die 
Sektion  ergab  multiple  Tuberkeln  im  Kleinhirn.     (Eigene  Beobachtung.) 

Beob.  19.  Melancholie.  Brandstiftung.  Mord.  In  der  Nacht  auf 
den  11.  Oktober  brannte  die  Scheune  der  Wittwe  G.  und  gleichzeitig  wurde  die 
13jährige  Enkelin  der  G.  durch  einen  Pistolenschuss  tödtlich  verletzt.  Als  Urheber 
beider  Unglücksfälle  bekannte  sich  Posthalter  G.  mit  dem  Motiv,  dass  er  sich 
wegen  eines  unheilbaren  Krankheitszustandes  höchst  unglücklich  und  lebens- 
überdrüssig fühle  und  den  Entschluss  gefasst  habe,  erst  die  geliebte  Mchte,  dann 
noch  eine  andere  Person  und  dann  sich  selber  zu  tödten. 

G.  ist  32  J.  alt,  von  infantilen  Krankheiten  etc.  ist  nichts  in  Erfahrung  zu 
bringen.  Er  sei  begabt  gewesen,  aber  schon  als  Kind  still,  verschlossen,  nicht 
lebhaft,  leicht  gekränkt.  Auf  der  Universität  führte  er  ein  ausschweifendes  Leben, 
fühlte  sich  aber  dabei  nie  glücklich.  1858  als  Einjährigfreiwilliger  zog  er  sich 
eine  syphilitische  Affektion  zu,  wurde  angeblich  geheilt,  hielt  sich  aber  für  nicht 
geheilt  und    suchte    über   wilden  Zerstreuungen    das  Unglück  eines  vermeintlich 


94  Gap.  IX.    Die  Melancholie.     Gewalttliaten 

zerstörten  Lebens  zu  vergessen.  Er  wurde  über  der  Meinung,  unheilbar  zu  sein, 
trübsinnig,  vernachlässigte  seine  Studien,  konnte  schliesslich  das  Examen  nicht 
naachen,  wurde  Postmeister,  war  pünktlich,  sorgsam,  aber  sonderbar,  oft  trüb- 
sinnig, scheu,  misstrauisch,  zog  schliesslich  zur  Mutter,  wo  er  zurückgezogen 
lebte,  oft  seinen  Angehörigen  über  sein  vermeintlich  verfehltes  Leben  klagte  und 
Selbstmord  andeutete.  Er  wurde  immer  misstrauischer,  meinte,  Jedermann  habe 
von  seiner  (syphilitischen)  Krankheit  Kenntniss,  meide  und  verachte  ihn  desshalb. 
Er  litt  oft  an  Kopfschmerz,  Schwindel,  Herzklopfen,  Beängstigungen,  schlaflosen 
Nächten,  ohne  objektiv,  ausser  Verstopfung,  etwas  zu  bieten.  Er  trug  sich  mit 
dem  Gedanken,  bald  sterben  zu  müssen,  hatte  oft  heftige  Angstanfälle  und  machte 
(1870)  immer  mehr  den  Eindruck  eines  Gemüthskranken.  Man  bestimmte  ihn  zu 
einer  Kur  in  Kissingen.  Er  war  dort  aufgeregt,  ängstlich,  wankelmüthig ,  ver- 
muthete,  von  den  Aerzten  nur  i\ach  K.  geschickt  zu  sein,  damit  es  schneller  mit 
ihm  zu  Ende  gehe.  Er  wähnte  sich  als  wahnsinnig  erkannt  und  beobachtet, 
mied  desshalb  die  Menschen.  Sein  Zustand  besserte  sich  nicht,  ebensowenig  in 
einem  Seebad,  er  drängte  nach  Hause,  „um  doch  in  heimathlicher  Erde  sein 
Grab  zu  finden".     Schon  längst  fürchtete  man  Selbstmord. 

Am  Tag  der  That  hatte  ihn  das  Ausbleiben  der  geliebten  Nichte  vom 
gewohnten  Besuch,  sowie  die  Trunkenheit  zweier  Postillone  verdrossen.  Er 
gerieth  darüber  in  Verzweiflung,  fasste  den  Entschluss  zur  That,  bereitete  Alles 
vor,  ging  noch  in's  Wirthshaus ,  schenkte  einem  Bekannten  einen  Lieblingshund, 
ging  heim,  steckte  die  Scheune  in  Brand,  ging  dann  in's  Haus,  traf  seine  Nichte, 
sagte  zu  ihr:  „sieh  einmal,  so  geht  es  mir,  jetzt  kann  ich  nicht  mehr  länger 
leben."  Dann  hiess  er  das  Kind  niederknieen  und  für  ihn  beten.  Als  es  zum 
Beten  sich  niederliess,  schoss  er  den  Revolver  gegen  dessen  Kopf  ab.  Er  schloss 
sich  dann  in  sein  Zimmer  ein.  Sich  selbst  tödten  konnte  er  nicht  mehr,  weil 
ihm,  von  tiefem  Mitleid  für  das  Kind  erfasst,  die  Kraft  dazu  fehlte  und  sein 
Entschluss  durch  die  gehörten  Worte  „sie  lebt  noch"  gelähmt  wurde. 

Schon  als  die  Scheune  zu  brennen  anfing,  hatte  ihn  Reue  angewandelt, 
aber  da  man  ihm  immer  Inconsequenz  vorgeworfen,  war  sein  Entschluss  unum- 
stösslich. 

G.  sieht  älter  aus,  als  er  ist.  Er  ist  gut  genähi't,  ohne  Degenerationszeichen, 
Spuren  von  Syphilis  oder  einer  andern  Krankheit  sind  nicht  nachweisbar.  Sein 
Gesicht  drückt  stumpfe  Resignation  und  Schwermuth  aus.  Er  klagt  Kopfweh, 
Schwindel,  präcordiale  Beängstigungen,  schmerzhaftes  Ziehen  im  Rücken,  Perverse 
Empfindungen  in  Beinen  und  Armen  spiegeln  ihm  das  Gefühl  von  Lähmung  vor. 
Er  bestätigt  das  bereits  Mitgetheilte.  Sein  Verhältniss  zur  Nichte  ergab  sich  als 
ein  unbestimmtes  Gefühl  der  Liebe  zu  einem  Kind,  das  ihm  einst  mehr  werden, 
ihm  ein  verlorenes  Glück  wiederbringen  könnte.  Jedoch  mischte  sich  zu  GefüUen 
der  Eifersucht  vielfach  der  Gedanke,  dass  diese  Träume  von  Glück  doch  nie  wahr 
werden  könnten.  Er  sei  früher  zu.  feig  zum  Selbstmord  gewesen.  Der  Entschluss, 
die  Nichte  zu  tödten  etc.,  sei  eigentlich  diesem  Schwächegefühl  entsprungen.  Er 
habe  sich  durch  diese  Tödtung  in  eine  Zwangslage  versetzen  wollen,  in  welcher 
ihm  nur  der  Selbstmord  übrig  blieb.  Daneben  stand  das  Motiv,  die  Nichte  und 
ihren  Vater  aus  Liebe  zu  tödten  und  sie  damit  allen  Mühen  imd  Sorgen  des 
Lebens  zu  entziehen. 

Die  Grossmutter  und  Mutter  des  G.  haben  an  Melancholie  gelitten,  auch 
seine  Schwester  scheint  psychisch  nicht  intakt. 


ans  schmerzlichem  Fühlen.     Heimwehkranke.  95 

Das  Gutachten  erweist  eine  aus  Hypochondrie  hervorgegangene  Melancholie, 
bei  welcher  erbliche  Belastung  und  ausschweifende  Lebensweise  die  Ursachen 
abgaben. 

G.  wurde  unzurechnungsfähig  erklärt,  kam  in  eine  Irrenanstalt,  war 
172  Jahre  dort,  kam  dann  zu  seinem  Bruder  in  Versorgung,  wurde  eines  Tags 
neuerdings  von  Beängstigungen  befallen  und  suchte  selbst  um  Wiederaufnahme 
in  die  Anstalt  nach,  in  der  er  noch  lebt.  (Pincus,  Vierteljahrsschr.  f.  ger.  Med. 
Nr.  XXX.  H.  1. 

Zu  der  Gruppe  der  an  psychischer  Depression  Leidenden  gehören 
auch  die  Heimwehkranken.  Das  Heimweh  (Nostalgie)  ist  ein  Zustand 
melancholischer  Verstimmung^  der  von  einer  einfachen  Gemüths- 
depression  zu  den  ausgebildetsten  Formen  der  Melancholie  fortschreiten 
kann.  Die  psychischen  Ursachen  sind  hier  die  unbehagliche  Um- 
gebung und  Verhältnisse,  die  Verlassenheit,  in  denen  sich  der  Heim- 
wehkranke gegenüber  seiner  Lage  in  der  Heimath  fühlt  und  die  ihn 
zu  einer  schmerzlichen  Reflexion  über  seine  Lage  drängen.  Dazu 
kommt  die  aus  dieser  Reflexion  entstandene,  nicht  befriedigte  Sehn- 
sucht heimzukommen  und  vielfach  auch  die  Pubertätsperiode  mit  ihren 
mannigfachen  schädlichen  Einflüssen  auf  das  Gemüth.  Das  Vorstellen 
der  Heimwehkranken  bewegt  sich  unter  dem  Zwang  des  schmerz- 
lichen Fühlens  nur  im  engen  Gedankenkreise  heimathlicher  Verhält- 
nisse. Im  Verlauf  kommt  es  durch  den  Zwang  des  schmerzlichen 
Fühlens  an  und  für  sich  oder  durch  Sinnestäuschungen  (Visionen  der 
Heimath,  Stimmen  rufender  Angehöriger),  durch  Angstzufälle  oder 
Zwangsvorstellungen  leicht  zu  Brandstiftung,  als  dem  nächstliegenden 
und  leichtesten  Mittel,  die  Heimath  wieder  zu  erreichen  oder  sich 
quälender  Bewusstseinszustände  zu  entäussern. 

Aus  solchen  Fällen,  kritiklos  zusammengeworfen  mit  Affekthand- 
lungen kindischer  unentwickelter  Menschen,  die  aus  Rache  und  Zorn, 
ohne  deutliches  Bewusstsein  der  Bedeutung  der  Handlung  und  ihrer 
Folgen  anzündeten^  hat  eine  ältere  unwissenschaftliche  Anschauung 
eine  eigene  Species  von  Monomanien  —  die  Pyromanie  gemacht,  die 
nun  der  Geschichte  angehört. 

Beob.  20.  Brandstiftung|aus  Heimweh:  Julie  Krebs,  14  Jahre,  Kinds- 
mädchen, von  jeher  skrophulös,  schwächlich,  mit  Kopfschmerz,  Nervenreizbarkeit 
und  Kopfcongestionen  behaftet,  mittelmässig  begabt,  von  gutem  Charakter,  war 
am  7.  Januar  1842  zu  einem  Bauern  in  Dienst  gekommen.  Sie  hatte  sich  schwer 
von  Hause  getrennt,  war  zwar  gut  bei  ihrem  Dienstherrn  gehalten,  wurde  aber 
öfters  zurechtgewiesen  und  empfand  es  schwei',  dass  sie  viel  allein  sein,  nament- 
lich allein  schlafen  musste.  Sie  wurde  ängstlich,  äusserte  Heimweh,  weinte  viel 
und  verlor  den  Appetit.  Am  11.  steigerte  sich  ihre  Verstimmung  durch  einen 
erhaltenen  Verweis   und  [die  vergebliche  Erwartung  ihrer  Mutter,  deren  Stimme 


96  Cap.  IX.    Die  Melancholie.     Gewaltthaten 

sie  schon  zu  hören  glaubte.  Da  kam  ihr  um  Mittag  die  Idee,  Feuer  anzulegen, 
die  sie  um  3  Uhr  ohne  weitere  Motivirung  und  Reflexion  ausführte.  Sie  ging 
dann  wieder  an  die  Arbeit,  half  retten,  als  es  brannte,  erschien  ruhig,  leugnete 
eine  Entstehungsursache  des  Brandes  zu  kennen  und  wurde  nach  Hause  entlassen, 
wo  sie  krank  ankam,  Kopf-  und  Gliederschmerz  klagte  und  einige  Tage  zu  Bett 
lag.  Am  18.  Februar  bekannte  sie  ihre  Schuld,  sie  habe  es  aus  Heimweh  ge- 
than,  wolle  es  nie  wieder  thun.  Im  Gefängniss  Anämie,  Kopfschmerz,  Ohren- 
sausen, einmal  auch  eine  schreckhafte  Vision.  Die  Menstruation  fehlte  noch.  Die 
Aerzte  erklärten  die  Brandstiftung  für  eine  kindische  Handlung  und  durch  einen 
krankhaften  Affekt  (Heimweh)  unter  Mitwirkung  von  Kränklichkeit  und  Nerven- 
reizbarkeit hervorgebracht.    Freisprechung.    (Richter,  jugendl.  Brandstifter  p.  69.) 

Analoge  Fälle  von  Brandstiftung:  Aus  einfacher  schmerzlicher  Ver- 
stimmung: Richter,  jugendl.  Brandstifter,  Fall  5,  6,  9  ;  Hitzig,  Annalen  1830, 
H.  13;  Zangerl,  österr.  med.  Jahrb.  1834,  Bd.  15.  Pfaff's  Mittheilungen  1833, 
2.  Jahrg.  H.  3. 

Aus  Angstgefühlen:  Klein's  Annalen,  Bd.  12,  p.  53,  Bd.  13,  p.  103;  Henke, 
Abhandl.  III,  p.  211.   Meckel,  Beiträge  I,  p.  106. 

Aus  Zwangsvorstellungen:  Henke,  Zeitschr.  1836,  Bd.  31,  p.  119;  1837, 
24.  Ergänz.-Bd.  p.  55.  Richter,  op.  cit.  Fall  2,  12.  Brefeld,  üb.  Maturität,  1842, 
p.  105—125.  Meckel,  op.  cit.  H.  1,  p.  53. 


.    Gewaltthaten    aus    Zwangsvorstellungen. 

Eine  weitere  Möglichkeit  für  das  Zustandekommen  von  Gewalt- 
thaten in  der  Melancholie  bieten  die  sogenannten  Zwangsvorstellun- 
gen, d.  h.  mit  krankhafter  Intensität  und  Dauer  im  Bewusstsein  fixirte 
Vorstellungen.  Dem  schmerzlichen  Fühlen  der  Kranken  entsprechend 
ist  deren  Inhalt  immer  ein  widriger,  peinlicher.  Nicht  selten  sind 
sie  durch  ein  äusseres  erschütterndes  Ereigniss  (Gegenwart  bei  einem 
Unglücksfall,  Brand,  Mord,  Selbstmord  oder  Zeitungslektüre  von  einem 
solchen)  hervorgerufen,  häufiger  sind  sie  spontane,  den  Inhalt  des 
schmerzlichen  Fühlens  objektivirende,  mit  einem  Ueberraschungsaffekt 
bewusst  gewordene  Schöpfungen  der  kranken  Hirnrinde,  zuweilen 
auch  durch  eine  schmerzliche  Empfindung  (Neuralgie)  geweckte,  mit 
ihr  associirte  und  durch  sie  im  Bewusstsein  fixirte  Vorstellungen. 

Obwohl  der  Kranke  ihren  krankhaften  Inhalt  klar  erkennt,  ver- 
mag er  sich  doch  ihrem  peinlichen  Einfluss  nicht  zu  entziehen,  noch 
weniger  sie  zu  verdrängen.  Damit  ist  aber  die  Gefahr  gegeben,  dass 
sie  zu  Motiven  eiues  Handelns  werden,  sich  trotz  allem  Protest  und 
schwerem  Kampfe  des  Ich  einen  Uebergang  in  ein  Handeln  erzwingen, 
sei  es  weil  das  Gegengewicht  contrastirender  Vorstellungen  sich  nicht 
mehr  zu  behaupten  vermag,  sei  es  weil  das  mit  jeder  Stagnation  des 
Vorstellungprocesses    verbundene    Gefühl    unerträglicher    psychischer 


Beob.  21.    Melancholie  mit  Zwangsvorstellungen.     Mord.  97 

Belästigung  so  fürchterlich  wird,  dass  gegenüber  dieser  peinlichen 
Klemme  und  Spannung  im  Bewusstsein  die  verabscheute  That  und 
ihre  Folgen  als  das  geringere  Uebel  und  einzige  Mittel  erscheinen, 
um  von  diesem  trostlosen  Zustand,  dessen  Beseitigung  durch  er- 
zwungene Associationen  nicht  mehr  möglich  ist,  um  jeden  Preis  be- 
freit zu  werden.  Solche  Kranken  befinden  sich  in  einem  wahren 
psychischen  Nothstand  und  wie  schrecklich  ihr  Seelenkampf  sein 
muss,  beweisen  die  Fälle  wo  sie  sich  um's  Leben  brachten  oder 
verstümmelten,  um  der  Zwangsvorstellung  zum  Mord  geliebter  An- 
gehöriger etc.  nicht  erliegen  zu  müssen. 

Die  Thatsache,  dass  es  Zwangsvorstellungen  bei  melancholisch 
Verstimmten  gibt,  erklärt  uns  die  Erscheinung,  warum  Selbstmorde 
und  Verbrechen  zuweilen  epidemisch  auftreten  und  der  Mechanismus 
ihrer  Ausführung  dann  für  alle  Wiederholungen  der  gleiche  ist. 

Unzweifelhaft  ist  die  Vollziehung  öffentlicher  Hinrichtungen, 
Veröffentlichung  von  grauenhaften  Verbrechen  und  Selbstmorden  für 
zahlreiche  in  der  Gesellschaft  sich  bewegende  nervenkranke  und 
melancholisch  verstimmte  Menschen  eine  ernstliche  Gefahr  und  nicht 
selten  die  Veranlassung  zum  Entstehen  von  Zwangsvorstellungen. 

(Vgl.  einen  Aufsatz  des  Verf.  über  formale  Störungen  des  Vorstellens,  Viertel- 
jahrsschr.  f.  ger.  Med.  1870,  Jan.) 

Beob.  21.  Melancholie  mit  Zwangsvorstellungen.  Mord  eines  Mäd- 
chens. Am  12.  Juni  1874  tödtete  ein  gewisser  Thouviot  ein  ihm  unbekanntes 
zwanzigjähriges  Mädchen  in  einer  Restauration.  In  seinem  Notizbuch  findet  man 
folgende  Einzeichnung :  „Schon  lange  quält  mich  der  Gedanke,  ein  Verbrechen 
zu  begehen;  ich  wollte  von  Niemand  gekannt  sein  und  dass  Niemand  sich  um 
mich  kümmere.  Ich  bin  der  grösste  Heuchler,  den  die  Erde  trägt,  zu  nichts  auf 
der  Welt  gut.  Alles  fragt  mich,  warum  ich  getödtet  habe?  Ganz  einfacli,  um 
aus  der  Lage  herauszukommen,  in  der  ich  mich  befinde." 

Th.  ist  23  Jahre  alt.  Er  bekennt  seine  That  ohne  Umschweife.  Er  habe 
24  Stunden  mit  dem  Gedanken  gekämpft  einen  Mord  zu  begehen.  Er  ist  ein  un- 
eheliches Kind,  seine  Ascendenzverhältnisse  sind  nicht  zu  ermitteln.  Bis  zur  Puber- 
tät scheint  er  Nichts  Auffallendes  geboten  zu  haben.  Von  da  an  unstäte  Lebens- 
weise, beständiger  Berufswechsel,  überall  unbehaglich  und  unzufrieden.  Zeitweise 
verstimmt  und  von  der  Zwangsvorstellung  geplagt  einen  Mord  zu  begehen,  so 
zuerst  an  der  Magd  des  Hauses,  später  an  seiner  Mutter.  Er  entzieht  sich  der 
Gefahr,  diesen  Antrieben  zu  unterliegen,  jeweils  durch  die  Flucht.  In  der  Haft 
ist  Th.  ruhig,  abgespannt,  sorglos. 

Er  bleibt  bei  der  Angabe,  dass  der  Mord  die  Befriedigung  eines  Gedankens 
war,  der  ihn  seit  langer  Zeit  verfolgt  habe  und  verlangt  von  den  Richtern  nur 
das  Eine,  dass  er  enthauptet  werde.  Einmal  macht  er  einen  Selbstmordversuch 
durch  Erhängen.  Die  Insinuation,  dass  er  geisteskrank  sei,  weist  er  unwillig  zu- 
rück.   Aus  seinem  Vorleben  ist  bloss  zu  ermitteln,  dass  er  wiedei'holt  an  Schwindel 

V.  Krafft-Ebing,  gericlitl.  Psychopathologie.    2.  Auflage.  7 


98  Cap.  IX.    Die  Melancliolie. 

und  Verlust  des  Bewusstseins  gelitten  habe;  sonstige  Anhaltspunkte  die  auf  Epi- 
lepsie scliliessen  Hessen,  sind  nicht  zu  gewinnen.  Die  Begutachter  erklären  den 
Mord  als  im  unzurechnungsfähigen  Zustand  unter  dem  Einfluss  eines  impulsiven 
Deliriums  (monomanie  instinctive)  begangen.  Richtig  ist  wohl  die  Deutung  im 
Sinne  einer  Zwangsvorstellung  bei  einem  melancholisch  Deprimirten.  Th.  wurde 
einer  Irrenanstalt  übergeben.     (Archiv,  general.  de  medecine  1875  Januar.) 

Beob.  22.  Zwangs  Vorstellung  e  ines  Melancholischen.  Mord. 
C.  Sleight,  32  Jahre,  Lehrer  eines  Taubstummeninstituts,  das  von  taubstummen 
Eheleuten  geleitet  wurde,  ist  des  Mords  seiner  Herrin  angeklagt.  Noch  am  Abend 
vor  dem  Mord  hatte  er  Stunde  gegeben.  Am  Morgen  der  That,  um  572,  verliess 
der  Ehemann  das  Haus  —  um  7  Uhr  erschien  S.  auf  der  Polizei  mit  der  Anzeige, 
daheim  liege  eine  Frau  ermordet.  Befragt  wer  der  Mörder  sei,  deutete  er  auf 
seine  verwundete  Hand  und  bekannte  sich  als  Mörder.  Bisher  ruhig  und  gelassen, 
wurde  er  plötzlich  wüthend  und  packte  die  Beamten  an,  so  dass  man  sich  seiner 
versichern  musste.  Im  Hause  fand  man  die  Frau  auf  dem  Hausflur  mit  abge- 
schnittenem Halse,  ohne  Spuren  von  Gegenwehr  oder  Nothzucht.  S.  hatte  sich 
bisher  eines  tadellosen  Lebenswandels  erfreut.  Seit  einigen  Wochen  war  er  düster 
einsilbig  geworden,  hatte  Schlaflosigkeit  und  Kopfweh  geklagt,  so  dass  ein  Arzt 
einen  Anfall  von  Geistesstörung  befürchtete.  Zwei  Tage  vor  dem  Mord  fühlte 
er  sich  noch  übler,  war  ängstlich  deprimirt,  sprach  von  schrecklichen  Versuchun- 
gen, schrecklichen  Gedanken,  die  ihm  durch  den  Kopf  gingen,  und  Gedanken- 
verwirrung. Drei  Blutsverwandte  väterlicherseits  waren  geisteskrank,  ein  Bruder 
Selbstmörder.  S.  war  im  Gefängniss  gleichgültig  gegen  sein  Schicksal,  rieb  sich 
beständig  den  Kopf,  klagte  ein  Gefühl  wie  wenn  ein  eisernes  Band  drum  gelegt 
sei.  Er  war  in  beständiger  Unruhe,  oft  incohärent  und  abspringend  in  seinem 
Gedankengang.  Die  einzelnen  Thatumstände  erzählte  er  ohne  alle  Gemüthsbewe- 
gung  bis  in's  kleinste  Detail: 

„Ich  schlief  seit  Wochen  schlecht,  fühlte  mich  unglücklich,  einsam,  bekam 
heftige  geschlechtliche  Neigung  zur  Ermordeten,  bekämpfte  sie  mühsam,  fühlte 
endlich,  dass  ich  unterliegen  werde.  Die  Nacht  vor  dem  Mord  konnte  ich  nicht 
schlafen,  sah  eine  Menge  schwarzer  Teufelchen  um  mich  herumtanzen  und  sagen : 
du  bist  ruinirt,  hast  kein  Geld,  kannst  nicht  heirathen,  tödte  dich!  Ich  hatte 
das  Rasirmesser,  kämpfte  schrecklich,  kniete  nieder,  betete  zu  Gott  —  es  wurde 
besser,  aber  ich  konnte  nicht  schlafen.  Als  der  Mann  Morgens  fortging,  kam 
der  Gedanke  über  mich,  die  Frau  hat  dich  ruinirt,  tödte  sie !  Ich  kämpfte  wie- 
der schrecklich  gegen  diesen  Antrieb,  ging  endlich  mit  dem  Rasirmesser  in  ihr 
Zimmer.  Sie  schlief,  ich  umschlang,  küsste  sie,  fühlte  wie  gern  ich  sie  habe 
und  dass  ich  sie  umbringen  müsse.  Ein  Junge,  der  an  der  Hausthür  läutete, 
störte  mich.  Ich  fertigte  ihn  ab,  kehrte  zur  Frau  zurück,  umschlang  sie  noch- 
mals und  schnitt  ihr  den  Hals  ab.  Nun  fühlte  ich  mich  erleichtert,  ging  in  mein 
Zimmer,  wusch  die  Hände  und  wechselte  die  blutige  Wäsche.  Da  kam  mir  der 
Gedanke,  dass  ich  etwas  Schreckliches  angestellt,  und  ich  ging  zur  Polizei.  Ich 
weiss  jetzt  was  ich  Schlimmes  gethan,  aber  im  Augenblick  der  That  konnte  ich 
nicht  anders.  Ich  muss  verrückt  gewesen  sein."  Von  nun  an  weigerte  er  sich 
aber  entschieden  verrückt  zu  sein,  obwohl  ihm  sein  Vertheidiger  nahe  legte  wie 
nützlich  es  für  ihn  sei,  noch  für  verrückt  zu  gelten.  Er  wurde  auf  Grund  von 
Geistesstörung  freigesprochen.     (Journal  of  mental  science,  October  1871.) 


Gewaltthateii  aus  Verstimmung  oder  Zwangsvorstellungen.  99 

Analoge  Fälle  s.  Henke,  Abhandl.  V,  p.  268,  281.  Marc.  Ideler  I.  p.  61, 
IL  p.  48,  65,  66,  67.  Annales  med.  psychol.  1853,  p.  151,  1862,  p.  41.  Klein's 
Annalen  II.  p.  77.  (Ein  melancholischer  Vater  mordet  seine  Kinder,  nachdem 
er  vergebens  Gott  gebeten  ,  ihn  von  solch  schrecklichen  Gedanken  zu  befreien.) 
Journal  of  mental  science  1872  April  (Mord  der  Frau). 

Was  den  Mechanismus  des  Handelns  bei  den  durch  schmerzliche 
Verstimmung  oder  durch  Zwangsvorstellungen  motivirten  Gewaltthaten 
betrifft,  so  ist  nicht  zu  verkennen,  dass  er  viel  Gemeinsames  und  Be- 
zeichnendes aufzuweisen  hat.  Ausser  da  wo  ein  zufällig  hinzutretender 
heftiger  Affekt  im  Augenblick  der  That  die  Besonnenheit  trübt,  er- 
folgt die  Handlung  mit  bemerkenswerther  Kaltblütigkeit  und  richtiger 
Wahl  der  Mittel.  Nie  verfolgt  der  Thäter  egoistische  Zwecke.  Mit 
der  geschehenen  That  ist  ja  der  Zweck  erreicht,  der  nie  direkt  auf 
dieselbe  gerichtet  ist,  sondern  die  für  ihn  nur  das  Mittel  bildet.  Nie 
fehlt  die  psychische  Entlastung,  um  deren  willen  ja  in  der  Regel 
gehandelt  wird,  diese  kann  sogar  bis  zu  einer  temporären  Intermission 
der  Melancholie  reichen.  Auch  die  volle  Einsicht  in  die  Bedeutung 
der  That  und  ihrer  Folgen  ist  nun  vorhanden  und  viele  derartige  Un- 
glückliche überliefern  sich  selbst  der  Justiz. 

Die  gerichtsärztliche  Expertise  darf  nicht  in  der  Beurtheilung 
von  Handlung  und  Motiv  aufgehen  oder  sich  davon  beirren  lassen, 
wenn  nach  der  That,  die  eine  quasi  kritische  Bedeutung  hatte,  Zei- 
chen von  Irresein  fehlen.  Der  Zustand  vor  der  That  ist  es,  der 
wesentlich  den  Ausgangspunkt  der  Expertise  bilden  muss,  nur  darf 
sich  diese  nicht  auf  allgemeine  psychologische  Momente  und  Leu- 
mundsfragen beschränken.  Auch  die  kleinsten  Umstände  aus  der 
Lebensgeschichte,  die  nebst  Anlage  und  etwaiger  Erblichkeit  nach 
allen  somatischen,  ethischen  und  intellektuellen  Richtungen  hin  sorg- 
fältig zu  ermitteln  ist,  müssen  beachtet  werden.  Wichtig  ist  immer 
eine  der  That  vorausgegangene  Aenderung  des  ganzen  Wesens,  wenn 
z.  B.  der  früher  religiös  Indifferente  oder  Nüchterne  nun  (im  Gefühl 
seiner  Gemüthsbeklemmung  und  Herzensangst)  ein  eifriger  Kirchen- 
besucher geworden  ist  oder  sich  dem  Trunk  ergeben  hat,  wenn  ge- 
wisse Neigungen  und  Gewohnheiten  aufgegeben  wurden,  Gleichgültig- 
keit, Trägheit,  Vernachlässigung  sonst  beobachteter  Rücksichten  und 
Pflichten,  Mangel  an  Selbstvertrauen,  Befürchtungen  für  die  Zukunft, 
Reizbarkeit,  Weinerlichkeit,  Aufsuchen  der  Einsamkeit  bemerkt  wur- 
den, wenn  der  Explorand  sich  mit  Selbstmordgedanken  trug,  Selbst- 
mordversuche machte,  unruhiges  triebartiges  Umherlaufen  zeigte,  vage 
Andeutungen    von    einem    bevorstehenden   Unglücke    machte,  Klagen 


100  Cap.  IX.    Die  Melancholie. 

über  Unfähigkeit  zu  denken  und  arbeiten  fallen  Hess,  an  Kopfweh, 
Schlaflosigkeit,  Angstgefühlen,  Gefühlen  von  Hemmung  der  Gedanken, 
von  Druck  oder  Leere  im  Epigastrium  litt. 

Da  wo  eine  Zwangsvorstellung  Motiv  einer  Gewaltthat  wird, 
geht  dieser  immer  ein  mächtiges  Ringen  und  Kämpfen  mit  dem  bösen 
Antrieb  voraus.  Nicht  selten  mied  der  Kranke  sein  Opfer,  warnte 
es,  suchte  sich  selbst  der  Mittel  zur  That  zu  berauben.  Zudem  ent- 
behrt die  That  aller  äusseren  Motive,  ist  den  Interessen,  dem  ganzen 
sonstigen  rechtlichen  religiösen  ethischen  Bewusstsein  geradezu  ent- 
gegengesetzt. Nie  wird  die  Reue  fehlen,  da  ja  das  intellektive  und 
ethische  Bewusstsein  intakt  ist  imd  mit  der  Realisirung  der  nicht 
verbrecherischen,  sondern  einen  psychologischen  Selbsterhaltungs- 
zweck erfüllenden  That  wieder  zur  vollen  Geltung  kommt. 

lieber  die  Aufhebung  der  Bedingungen  der  Zurechnungsfähig- 
keit durch  derartige  rein  im  Rahmen  einer  Melancholia  sine  delirio 
sich  bewegende  Irreseinszustände  kann  kein  Zweifel  obwalten.  Das 
Strafbarkeitsbewusstsein  ist  zwar  virtuell  vorhanden,  aber  im  Augen- 
blick der  That  verdunkelt  und  machtlos  gegenüber  der  Gewalt  des 
schmerzlichen  Fühlens.  Die  Besonnenheit  und  freie  Wahl  sind  auf- 
gehoben durch  ein  krankhaftes  Fühlen,  das  einen  adäquaten  krank- 
haften Bewusstseinsinhalt  schafft,  jegliche  contrastirende  Vorstellung 
fernhält,  die  objektive  Welt  im  Spiegel  der  krankhaften  Verstimmung 
verfälscht  darstellt. 

Die  That  ist  nichts  Anderes  als  Reflex  psychischer  Dys-  und 
Anästhesie,  überwältigender  Affekte,  zwingender  Vorstellungen.  Ihre 
Motive  sind  somit  krankhafte  nicht  verbrecherische,  spontane  nicht 
gewählte,  der  Kranke  steht  unter  einem  psychologischen  Zwang,  den 
er  nicht  überwinden  kann,  sein  Handeln  ist  ein  zwangsmässiges  nicht 
willkürliches.  Könnte  er  anders  empfinden  und  vorstellen,  so  würde 
er  auch  anders  wollen  und  handeln. 

Gewaltthaten    aus    Affekten    der    Angst. 

Auch  das  Handeln  im  Angstanfall  hat  einen  eigenthümlichen 
aus  der  Art  der  Störung  nothwendig  sich  ergebenden  Mechanismus, 
dessen  Beachtung  gegenüber  andern  pathologischen  Zuständen  oder 
Simulationsversuchen  von  Werth  ist.  So  wenig  als  dem  psychisch 
Deprimirten,  wenn  er  durch  sein  schmerzliches  Fühlen  an  und  für  sich 
zur  Aktion  getrieben  wird,  ist  es  dem  Melancholischen  im  Angstan- 
fall  um  die  Erreichung    eines    objektiven  Zwecks   zu   thun,    sondern 


,  Gewalttliaten  ans  Affekten  der  Angst.  '[Ql 

einzig  und  allein  um  die  Beseitigung  eines  psychischen  Zustands,  der 
furchtbar j  unerträglich  geworden  ist  und  mit  einem  anderen,  gleich- 
viel um  welchen  Preis  vertauscht  werden  muss. 

Der  Kranke  fühlt  gleichsam  instinktiv,  dass  er  die  Lösung  des 
qualvollen  inneren  Spannungszustands  nur  durch  ein  äusseres  Ereigniss 
finden  kann,  und  bei  seinem  qualvollen  Bewusstseinszustand  vermag 
er  diese  Lösung  nur  in  einer  schaudervollen  That  zu  finden.  Zu- 
weilen wird  seinem  Handeln  die  bestimmte  Richtung  durch  schreck- 
hafte Sinnestäuschungen,  namentlich  durch  feindliche  Verkennung  der 
Umgebung  und  imperative  Gehörshallucinationen  oder  auch  durch  auf 
der  Höhe  des  Afiekts  sich  einstellende  Delirien  gegeben. 

Nahe  und  keiner  weiteren  Deutung  bedürftig  ist  Selbstmord 
als  Mittel  dem  unerträglich  gewordenen  Bewusstseinszustand  zu  ent- 
gehen, ebenso  nahe  liegt  aber  die  Vorstellung  durch  irgend  eine 
eklatante  Unthat,  und  bestünde  sie  selbst  im  Mord  der  liebsten  An- 
gehörigen, eine  Aenderung  der  Situation  herbeizuführen.  Die  hier 
bestehende  psychische  Anästhesie  erleichtert  das  Handeln  gegen  Andere, 
die  gleichzeitig  vorhandene  Analgesie  das  Zustandekommen  des  Selbst- 
mords. 

Aus  der  affektartigen  Trübung  des  Bewusstseins  erklärt  sich  die 
Thatsache,  dass  das  Handeln  nie  ein  planvolles  zweckmässiges,  sondern 
ein  blindes  gleichsam  convulsivisches  ist ;  aus  der  grässlichen,  keinen 
Gegensatz  im  Bewusstsein  verstattenden  Gefühlslage  ergibt  sich  noth- 
wendig  der  Eklat,  die  über  jedes  vernünftige  Ziel  hinausgehende  Rück- 
sichtslosigkeit und  Grausamkeit   des  Handelns   solcher  Unglücklicher. 

Der  Selbstmord  wird  z.  B.  in  der  fürchterlichsten  Weise  durch 
Einrennen  des  Kopfs,  Hinausspringen  zum  Fenster  ausgeführt,  obwohl 
weniger  schreckliche  und  zuverlässigere  Mittel  dem  Kranken  zu  Ge- 
bot standen,  oder  der  Kranke  begnügt  sich  nicht  mit  dem  einfachen 
Mord  des  Opfers,  sondern  verstümmelt  es  in  der  gräulichsten  Weise. 
Ort,  Mittel,  Zeugen  sind  gleichgiltig  bei  der  Ausführung,  der  Gegen- 
stand, an  dem  gehandelt  wird,  ist  ein  zufälliger. 

Unmittelbar  nach  gelungener  That  empfindet  der  Kranke  die 
instinktiv  angestrebte  Erleichterung.  Wie  wenig  es  den  Kranken  um 
die  That  als  solche  in  derartigen  Fällen  zu  thun  war,  beweisen  Fälle 
von  Brandstiftung  aus  Angstanfall,  wo  die  Thäter  beim  Löschen  dann 
die  eifrigsten  waren,  ohne  den  Hintergedanken,  den  Verdacht  dadurch 
von  sich  abzuwälzen. 

War  die  Gewaltthat  eine  leicht  gutzumachende,  so  fühlt  sich 
der  Kranke  erleichtert,  befreit,  beruhigt,  bis  ein  neuer  Anfall  ihn  aus 


102  '  Cap.  IX.    Die  Melancholie. 

seiner  Gleichgewichtslage  wirft;  war  sie  eine  schwere,  so  erfolgt  je 
nach  Umständen  Reue,  Selbstmord  oder  Selbstanzeige. 

In  Fällen  wo  der  Angstanfall  nicht  momentan  seinen  Höhepunkt 
erreichte,  ist  es  vorgekommen,  dass  der  Kranke  die  Umgebung  vor 
sich  warnte,  sich  ausser  Stand  gefährlich  zu  werden  zu  setzen  suchte, 
ja  selbst  kategorisch  seine  Unschädlichmachung  im  Gefängniss  oder 
Irrenhaus  verlangte. 

Wo  die  Angst  aber  plötzlich  mit  aller  Macht  das  Bewusstsein 
überfällt,  erfolgt  ein  blindes,  grösstentheils  bewusstloses  Wüthen. 

Die  Diagnose  ergibt  sich  aus  dem  Vorausgehenden,  namentlich 
aus  der  Beachtung  des  melancholischen  Gesammtzustands  und  des 
eigenthümlichen  Mechanismus  des  Handelns. 

Beob.  23.  Mordversuch  im  Angstanfall  eines  Melancholischen. 
K.,  Maschinenheizer,  beklagt  sich  seit  zwei  Jahren  über  oft  plötzlich  und  grund- 
los ihn  befallende  Anfälle  von  trauriger  Verstimmung.  Vor  15  Jahren  war  er 
vorübergehend  trübsinnig,  nachdem  ein  Nachbar  ihm  die  Treue  seiner  zärtlich 
geliebten  Frau  verdächtig  gemacht  hatte.  Obwohl  er  diesen  Verleumdungen 
keinen  Glauben  schenkte,  konnte  er  doch  den  Gedanken  daran  nie  los  werden. 
Seine  Geschäfte  besorgte  er  musterhaft,  aber  sein  Arbeitslokal  war  ungesund, 
seine  Umgebung  unbehaglich  und  nur  aus  Anhänglichkeit  an  seinen  Herrn  blieb 
er  auf  seinem  Posten. 

Vor  zwei  Tagen,  nach  der  Kirche,  fühlte  er  sich  unwohl,  appetitlos.  Nach- 
mittags wurde  ihm  besser.  Er  ging  in  ein  Nachbardorf,  machte  ein  Spielchen, 
trank  eine  halbe  Flasche  Wein.  Sein  Unwohlsein  kehrt  wieder,  er  ist  wie  be- 
rauscht, ein  Freund  bringt  ihn  nach  Hause.  Als  seine  Frau  heim  kommt,  wird 
er  plötzlich  sehr  aufgeregt,  zertrümmert  Mobiliar,  stürzt  sich  auf  seine  Frau  um 
sie  zu  erdrosseln,  diese  entflieht. 

Um  Mitternacht  findet  sich  K.  entkleidet  und  wieder  ganz  bei  Sinnen  im 
Bett.  Er  wundert  sich,  dass  seine  Frau  nicht  da  ist;  als  sie  Morgens  kommt, 
erfährt  er  zu  seinem  Entsetzen,  was  vorgefallen  ist.  Er  erinnert  sich  nur  noch 
des  Moments,  wo  er  in  einem  Anfall  ihm  unerklärlicher  Verwirrung  anfing  Mo- 
biliar zu  zerstören.  Er  geht  zum  Arzt,  erzählt  Alles  genau  mit  dem  bezeichnen- 
den Beisatz:  „wäre  meine  Frau  nicht  glücklich  entkommen,  so  wäre  ich  jetzt 
ein  Verbrecher."  Die  Untersuchung  ergab  ausser  massiger  psychischer  Depres- 
sion imd  schlechtem  Schlaf  nichts  Abnormes.  (Chatelain,  Annales  med.  psychol. 
Juillet  1871.) 

Beob.  24.  Melancholie.  Tödtung  des  Kinds  im  rajitus  melancho- 
licus.  Frau  H.,  33 V2  Jahre  alt,  ohne  erbliche  Anlage  zu  Nervenkrankheiten, 
von  stillem,  leutscheuem  empfindsamem  Wesen  von  Jugend  auf,  indess  gute  Ehe- 
frau und  Mutter,  erkrankte  im  dritten  Wochenbett  nach  dem  6.  Sept.  1872  (Kopf- 
weh, Schwindel,  Schlaflosigkeit,  Schwarzwerden  vor  den  Augen,  Selbstvorwürfe, 
dass  sie  ihr  Kind  schlecht  abwarte,  Meinung  die  Leute  sprächen  über  sie,  dass 
sie  im  Kopf  schwach  sei,  Glauben  sie  werde  behorcht,  Zerstreutheit,  so  dass  sie 
die  Sachen  nicht  finden  konnte).    Am  28.,  dem  Tag  vor  der  That,  fühlt  sie  sich 


Gewaltthaten  aus  Wahnvoi-stelliingeii.  \(y^ 

schwach,  äussert :  „heute  muss  ich  mich  zu  Tod  rasen,  die  Wöchner  müssen  sich 
alle  zu  Tod  rasen,  die  nicht  recht  im  Kopf  sind."  Angst,  Schweiss,  Klagen,  sie 
habe  sich  an  den  Kindern  versündigt,  sie  nicht  recht  abgewartet. 

Am  Morgen  des  29.  lief  sie  in  grosser  Verstörung  von  Hause  fort,  äusserte 
zu  Jemand,  der  ihr  begegnete:  „vergib  mir  meine  Sünd\  lass'  mich  in  Ruh'," 
bat  eine  Frau  um  Verzeihung,  da  sie  ihr  etwas  entwendet  habe.  Sie  machte 
den  Leuten  den  Eindruck  einer  Geistesgestörten,  kehrte  endlich  heim.  Der  Mann 
lief  fort,  um  den  Doktor  zu  holen.  Als  er  zurückkam,  hörte  er  die  8jährige 
Tochter  schreien:  „die  Mutter  hat  mich  gestochen."  Das  Kind  hat  acht  Wunden, 
eine  hat  das  Herz  verletzt.  Nach  V2  Stunde  ist  es  todt.  Die  Frau  lag  bewusst- 
los  mit  stierem  Blick  auf  dem  Boden,  das  blutige  Brodmesser  neben  ihr,  an 
ihrem  Hals  und  an  der  rechten  Hand  einige  Hautritze. 

Der  Arzt  fand  sie  blass,  regungslos  mit  kleinem  langsamem  Puls.  Momentan 
kam  sie  zu  sich,  fragte:  „was  gibts  denn?"  und  als  der  Mann  ihr  mitgetheilt 
was  geschehen,  sagte  sie:  „ach  du  lieber  Gott!"  Darauf  lag  sie  wieder  stumm 
und  besinnungslos  da.  In  den  folgenden  Tagen  im  Spital  keine  Aenderung. 
Apathisches  Wesen,  selbst  als  ihr  das  Begräbniss  der  Tochter  gemeldet  wird. 
Sie  behauptet  von  allem  Vorgefallenen  nichts  zu  wissen.  Wiederholt  Selbstan- 
klagen, z.  B.  sie  habe  Pflaumen  genommen,  man  möge  ihr  vergeben. 

-Nach  drei  Wochen  Wiederkehr  des  Bewusstseins ,  Schwinden  der  stumpf- 
sinnig schmerzlichen  Apathie.  Aufrichtiger  Schmerz  über  das  Unglück,  das  sie  an- 
gerichtet.    Rasche  Genesung.     Rückkehr  zum  Mann. 

In  der  Reconvalescenz  erzählt  sie,  dass  sie  in  einer  der  ersten  Nächte  des 
Aufenthalts  im  Krankenhause  den  lieben  Gott  vom  Himmel  herabsteigen  gesehen 
habe,  die  heilige  Dreifaltigkeit  mit  Jesu;  ein  andres  Mal  sei  ihre  Tochter  aus 
einem  Schatten  zu  ihr  herabgekommen,  ein  drittes  Mal  habe  sie  den  Gesang  ge- 
hört, unter  dem  man  das  Kind  begraben,  ein  viertes  Mal  deutlich  unter  ihrem 
Fenster  das  Rufen  der  Leute,  „dass  man  das  Luder  (sie  selbst)  auf  den  Mist 
schmeissen  solle". 

Das  Gutachten  erweist  das  Bestehen  der  Melancholie  vor,  während  und 
nach  der  That,  die  offenbar  in  einem  raptus  melancholicus  erfolgte,  worauf  auch 
die  Amnesie  für  dieselbe  und  die  grosse  Zahl  der  Wunden  der  Getödteten  hin- 
weisen. Die  Staatsanwaltschaft  Hess  die  Anklage  auf  Grund  des  Gutachtens 
fallen.     (Viertel] ahresschr.  f.  gerichtl.  Med.     N.  F.  XIX.  H.  2.) 

Analoge  Fälle:  Spielmann,  Diagnostik,  p.  414,  417:  Heixke,  Zeitschr. 
1834,  20.  Ergänzgs.-Heft  (Brandstiftung).  Friedreich,  Magazin  f.  Seelenkunde,  H.  1, 
p.  4L  Ideler,  Gutachten  d.  wissenschaftl.  Deputation  1854,  p.  115.  Pölchau, 
gerichtärztl.  Gutachten.  Riga  1868,  Fall  46.  Mildner,  Correspondenzbl.  f.  Psy- 
chiatrie, 1857  Nr.  17.  Brunner  Friedreich's  Blätter  1877.  11.4,5,6.  Journal  of  mental 
Science  1872  April  (Tödtung  der  Ehefrau  im  rapt.  mel.  Verurtheilung  zum  Tod). 


Gewaltthaten    aus    Wahnvorstellungen    und    Sinnes- 
täuschungen. 

Sie  sind  keine  seltene  Veranlassung  crimineller  Handlungen  bei 
Melancholischen.  Aus  dem  beängstigenden  Inhalt  jener  erklärt  sich 
die  Thatsache,    dass   sie   durchweg   einen   der   eigenen  oder  fremden 


104  Cap.  IX.    Die  Melancholie. 

Existenz  unheilvollen  Charakter  haben.  Selbstmord,  um  imaginären 
Qualen  und  Verfolgungen  zu  entgehen,  wahnhafte  Verbrechen  zu 
sühnen,  die  Welt  von  einem  Scheusal,  einem  Thier,  für  das  sich  der 
Kranke  hält,  zu  befreien,  mit  der  eigenen  Existenz  ein  Ende  zu 
machen,  da  ja  die  Welt  schon  zu  Grunde  gegangen  sei,  oder  auch 
auf  Grund  von  imperativen  Stimmen  etc.  ist  hier  nicht  selten. 

Nicht  minder  kommt  es  zu  Gewaltthaten  gegen  die  Umgebung, 
die  feindlich  verkannt,  für  verhext,  verzaubert  gehalten  wird.  Eine 
wichtige  criminelle  Kategorie  von  hieher  gehörigen  Fällen  bilden  die 
Mörder  der  eigenen  Kinder  —  aus  Liebe.  Es  sind  durchweg  von 
Noth  und  Schicksalsschlägen  tiefgebeugte,  in  Noth  und  Armuth  ver- 
zweifelnde Eltern,  die,  melancholisch  geworden,  im  Gefühl  ihrer 
psychischen  Dysästhesie  und  Leistungsunfähigkeit  nur  noch  ein  Leben 
voller  Noth  und  Elend,  ja  selbst  sicheren  Hungertod  voraussehen, 
oder  denen  die  Welt  durch  die  Brille  ihres  krankhaften  Pessimismus 
gesehen  in  den  düstersten  Farben  voller  Sünde  und  Verworfenheit 
erscheint. 

Sie  können  und  wollen  diese  Lebenslast  nicht  mehr  ertragen  und 
beschliessen  ihren  eigenen  anticipirten  Untergang,  aber  ihr  liebendes 
Elternherz  kann  sich  nicht  entschliessen,  ihr  Liebstes  in  dieser  hoffnungs-, 
freude-  und  liebeleeren  Welt  dem  vermeintlich  sicheren  Untergang 
allein  entgegengehen  zu  lassen.  So  ermorden  sie  zuerst  ihre  Kinder 
und  legen  dann  Hand  an  sich.  Häufig  missglückt  ihr  Selbstmord 
oder  sie  ziehen  es  vor  aus  oben  (s.  indirekter  Selbstmord)  angedeu- 
teten Motiven  durch  Henkershand  mit  ihren  im  Tod  vorausgegan- 
genen Kindern  wieder  vereinigt  zu  werden  und  werden  dann  Gegen- 
stand menschlicher  Beurtheilung  und  irdischen  Richterspruchs,  der 
leider  schon  vielfach  ungerecht  ausgefallen  ist,  indem  man  für  Aifekt 
und  Unsittlichkeit  hielt,  was  doch  nur  aus  psychischer  Dys-  und 
Anästhesie  und  Abulie  hervorgegangener  Wahn  war. 

Der  Mechanismus  des  Handelns  bei  Gewaltthaten  aus  Wahn 
oder  Sinnestäuschung  schliesst  äussere  Besonnenheit,  Prämeditation 
und  Planmässigkeit  nicht  aus,  so  lange  kein  Affektzustand  compli- 
cirend  hinzutrat.  Das  Verhalten  nach  der  That  ist  abhängig  davon, 
ob  die  Wahnvorstellung  eine  desultorische  (momentaner  Erklärungs- 
versuch der  Verstimmung,  Ueberraschungsaffekt,  Sinnestäuschung) 
oder  stabile  ist.  Im  ersten  Fall  wird  das  Verhalten  nach  der  That 
gleich  dem  in  den  vorausgehenden  Gruppen  sein,  volle  Erkenntniss 
des  Unrechts  und  Reue  sich  einstellen,  im  letzten  Fall  der  Thäter 
einsichtslos    und    gleichgiltig    bleiben.      Bei   jeder    That    aus    Wahn- 


Beob.  25.    Mord  der  eigenen  Kinder  aus  Liebe.  105 

Vorstellung  ist  der  Thäter  unfrei,  weil  der  Wahn  ein  pathologischer, 
die  Prämisse  eine  falsche  war,  die  Trübung  des  Bewusstseins  eine 
Correktur  unmöglich  machte. 

Beob.  25.  Mord  der  eigenen  Kinder  —  aus  Liebe.  Am  13.  Juni 
Morgens  8  Uhr  ging  der  verheirathete  Maurer  G.  von  der  Arbeit  heim,  trank 
unterwegs  für  2  Kreuzer  Cognac  wegen  Leibschmerzen  und  erschien  allen  Be- 
gegnenden in  seinem  Benehmen  geordnet,  verständig,  ruhig.  Zu  Hause  schickte 
er  seine  zwei  ältesten  Kinder  mit  einem  Auftrage  fort  zum  Grossvater  und  führte 
nun  von  seinen  jüngsten  drei  Kindern  eines  nach  dem  andern  auf  die  Obertenne 
des  Hauses,  wo  er  sie  mit  einem  Garnklöppel  erschlug.  Er  legte  die  drei  Leichen 
nebeneinander  auf  den  Boden  und  kehrte  dann,  heftigen  Leibschmerz  klagend 
imd  weinend,  in  die  Küche  zurück.  Gegen  seinen  Vater  und  andere  Personen, 
die  um  diese  Zeit  in's  Haus  kamen,  machte  er  unverständliche  Anspielungen  auf 
seine  schreckliche  That,  zu  den  heimkehrenden  Kindern  sagte  er:  „wie  wird  es 
uns  ergehen?"  Er  ging  nun  auf's  Gericht  und  bat,  nach  abgelegtem  Geständniss, 
dass  man  ihn  umbringen  möge.  Da  er  sah,  dass  man  ihm  nicht  sofort  willfahre, 
wurde  er  sehr  aufgeregt,  sclirie,  er  müsse  sterben  und  versuchte  sich  mit  einem 
Rasirmesser  zu  entleiben.  Er  war  nocli  einige  Zeit  sehr  aufgeregt,  sprach  nicht 
ganz  zusammenhängend,  kam  aber  bald  zu  sich  und  wurde  in  seinen  Aeusserungen 
ganz  verständig.  Er  beweinte  den  Tod  seiner  Kinder,  begriff  nicht,  wie  er  seinen 
geliebten  Kindern  das  Leid  thun  konnte,  es  sei  ihm  Alles  wie  ein  Traum,  aber 
er  sei  nicht  zu  rechtfertigen.  Für  manche  Umstände  nach  der  That  war  seine 
Erinnerung  eine  nur  summarische.  Im  Gefängniss  Freisein  von  psychischer 
Störung,  aufrichtige  Reue,  zeitweise  Wiederkehr  der  Kolikschmerzen. 

In  der  Familie  des  G.  lässt  sich  keine  erbliche  Anlage  zu  Irresein  nach- 
weisen. Normale  körperliche  Entwicklung,  verwahrloste  Erziehung,  früh  Hang 
zum  Stehlen.  Seit  seiner  Verheirathung  vor  10  Jahren  trieb  er  mit  den  Ver- 
wandten seiner  Frau  auch  Schmuggel.  Wegen  Verdachtes  auf  Diebstahl  wurde  er 
vor  Jahren,  ohne  davon  zu  wissen,  unter  polizeiliche  Aufsicht  gestellt.  Gute  Ehe, 
gutes  Einkommen,  braver  Familienvater,  der  Weib  und  Kinder  wahrhaft  liebte. 
Etwa  10  Monate  vor  seiner  That  verlor  er  seinen  Dienst,  weil  ein  Verdacht  des 
Diebstahls  auf  ihm  lastete.  Zugleich  erfuhr  er,  dass  er  seit  Jahren  unter  polizei- 
licher Aufsicht  stand.  Tiefe  Gemüthsbewegung  darüber,  die  sich  steigerte,  als  er 
erfolglos  sich  um  Wjederanstellung  verwandte  und  wegen  Wachebeleidigung  eine 
Arreststrafe  erstehen  musste. 

Nach  der  Entlassung  aus  dem  Gefängniss  war  sein  Lebensmuth  gebrochen. 
Er  suchte  zwar  nach  Arbeit,  aber  nichts  gelang  ihm  mehr,  sein  Benehmen  war 
von  da  an  tief  geändert.  Er  war  düster,  einsilbig,  leutscheu,  klagte  Schlaflosig- 
keit, Lebensüberdruss,  äusserte  oft,  er  hätte  sich  schon  umgebracht,  wenn  ilm 
nicht  Frau  und  Kinder  dauerten.  Er  glaubte  sich  entehrt,  gebrandmarkt  durch 
Verdacht  und  Polizeiaufsicht,  die  auf  ihm  lasteten,  glaubte  sich  mittellos,  war 
bekümmert  über  seine  misslichen  Vermögensverhältnisse,  obwohl  seine  Aktiva 
die  Passiva  um  mehrere  hundert  Gulden  überstiegen.  Dazu  kamen  häufige  und 
immer  mehr  sich  steigernde  Kolikschmerzen ,  die  ihn  zum  Aufsuchen  des  Bettes 
nöthigten,  wobei  er  über  Zittern,  Gliederschwäche,  Schlaflosigkeit,  Gefühle  von 
Stechen  und  Drehen  im  Kopf  klagte.  Er  weinte  viel,  magerte  ab,  litt  an  Ver- 
stopfung.    Er  äusserte  Lebensüberdruss  und  scheint    auch  bald  nach  der  Dienst- 


106  Cap.  IX.    Die  Melancholie. 

entlassung  einen  Selbstmordversuch  gemacht  zu  haben.  Dazu  gesellte  sich  die 
Sorge  um  die  Familie.  Wenn  er  sich  umbringe,  dachte  er,  werde  die  Frau, 
welche  zudem  schwanger  war,  die  Kinder  nicht  ernähren  können,  diese  würden 
Bettler,  verachtet  und  unter  Polizeiaufsicht  gestellt  wie  er,  ein  elendes  verachtetes 
Leben  führen.  Hieran  knüpfte  sich  der  Gedanke,  die  jüngsten  Kinder  um  ihrer 
und  der  Frau  willen  vor  seinem  Selbstmord  umzubringen.  Nach  seiner  Angabe 
sei  dieser  Gedanke  nie  recht  klar  und  bestimmt  in's  Bewusstsein  getreten,  er  habe 
denselben  jeweils  als  seiner  väterlichen  Liebe  unmöglich,  zurückgedrängt.  Selbst 
am  Tage  der  blutigen  That  habe  er  Morgens,  als  er  zur  Arbeit  ging,  nicht  diesen 
Gedanken  gehabt  und  hätte  ein  solches  Verbrechen  nie  für  möglich  gehalten. 

Körperlich  fanden  sich  keine  bemerkenswerthen  Störungen.  Seine  Reue 
war  eine  aufrichtige,  die  ermordeten  Kinder  sah  er  oft  Nachts  im  Traum.  Das 
Gutachten  erkannte  die  Geistesstörung  an,  nicht  aber  dife  völlige  Aufhebung  der 
Zurechnungsfähigkeit,  da  ausser  anderen  Gründen  die  vorhergangene  Lebensweise 
die  Krankheit  zum  Theil  herbeigeführt  habe,  G.  gegen  seine  Mordgedanken  und 
körperlichen  Beschwerden  nicht  Hilfe  und  Schutz  gesucht  habe  (!).  Der  Gerichtshof 
erkannte  die  Zurechnungsfähigkeit  als  aufgehoben,  worauf  G.  in  die  Irrenanstalt 
kam.  Dort  war  er  im  Allgemeinen  frei  von  Geistesstörung,  zeigte  jedoch  bei  zeitweisen 
Kolikanfällen  mit  Diarrhoe  jeweils  Verstimmung.  Nach  4  Jahren  trat  eine  vorüber- 
gehende hochgradige  Melancholie  mit  taedium  vitae,  Angstgefühlen,  beängstigen- 
den Visionen  der  gemordeten  Kinder  auf;  er  drängte  fort,  wolle  sie  sehen,  auf 
dem  Kirchhof  ausgraben,  müsse  die  andern  auch  umbringen.  Diese  Erkrankung 
war  eine  vorübergehende.  Als  G.  weitere  6  Jahre  in  gutem  psychischen  Zustand 
verblieb,  gewährte  man  seinen  Wunsch,  ihn  nach  Amerika  auswandern  zu  lassen. 
(Eigene  Beobachtung.) 

Beob.  26.  P  u  e  r  p  e  r  alm  e  1  an  cli  o  1  i  e.  Mord  der  Kinder.  Am 
26.  Januar  6  Uhr  früh  erschien  Frau  E.  bei  der  Gensdarmerie  und  machte  fol- 
gende Selbstanzeige:  Gestern  Nachmittag  ging  ich  in  Geschäften  mit  meinen 
2  Kindei-n  aus.  Ich  kaufte  ihnen  Kuchen,  da  sie  Hunger  hatten,  ging  dann  mit 
ihnen  längs  dem  Kanal  spazieren.  Schon  lange  plagte  mich  der  Gedanke,  sie  zu 
ertränken.  Ich  gedachte  ihn  endlich  auszuführen,  wartete  noch,  bis  es  dunkler 
war,  warf  die  Kinder  in's  Wasser,  ging  fort,  hörte  schreien,  ging  zurück,  traf  den 
älteren  meiner  Knaben  im  Begriff,  das  Ufer  zu  gewinnen  und  weinend,  dass  ihm 
,  sein  Kuchen  fortgeschwommen  sei.  Ich  stiess  ihn  in's  Wasser  zurück  und  er  ging 
unter.  Da  ich  ohne  die  Kinder  nicht  zum  Mann  heim  wollte,  brachte  ich  die 
Nacht  auf  den  Feldern  zu  und  da  bin  ich  nun,  um  mich  einsperren  zu  lassen 
und  die  Strafe  zu  erleiden,  die  mir  gebührt.  Der  Brigadier  Hess  sich  von  der 
Frau  in  ihr  Haus  führen,  wo  der  Mann  in  tödtlicher  Angst  sie  erwartete.  Sie 
bekannte  kaltblütig  ihre  That,  ebenso  mit  allen  Details  am  Thatort  und  bot  mit 
ihrer  kalten  Ruhe  einen  schneidenden  Gegensatz  zu  ihrem  von  Verzweiflung 
erfüllten  Gatten.  Dieselbe  Gleichgültigkeit,  als  man  die  Leiche  des  älteren  Knaben 
auffand.  Als  Motiv  gab  die  unglückliche  Mutter  an,  sie  habe  die  Kinder  dem 
Unglück,  dem  sie  selbst  verfallen,  entziehen  wollen  und  gedacht,  sie  seien  glück- 
licher im  Himmel.  Sie  hatte  schon  längst  den  Gedanken  gehegt,  sie  in's  Wasser 
zu  werfen  und  dem  Mann  und  den  Verwandten  diesen  Vorsatz  geäussert. 

Frau  E.  ist  37  J.  alt,  von  nervösem  Temperament,  blass,  abgemagert.  Sie 
leidet  an  Kopfschmerzen,  die  Schmerzempfmdlichkeit  der  Hautdecken  ist  herab- 
gesetzt.    Sie    ist    schlaflos,    die    sonst   unregelmässige  Menstruation   ist  seit  der 


Beob.  27.  Mord  der  Ehefrau.  Melancholie  mit  Verfolgungsdelirium.  107 

letzten  Entbindung  vor  2V'2  Monaten  nicht  wiedergekehrt.  Sie  macht  ganz  lucid 
und  präcise  Angaben  über  ihr  Vorleben.  Der  Gedanke,  die  Kinder  zu  tödten, 
sei  im  vorigen  Jahr,  im  6. — 7.  Monat  ihrer  Schwangerschaft,  aufgetreten.  Sie 
war  damals  deprimirt,  arbeitsunlustig.  Das  Wochenbett  ging  gut  vorüber.  Da 
sie  dem  Beruf  nachgehen  musste,  konnte  sie  das  Kind  nicht  stillen.  Sie  fühlte 
sich  in  der  Folge  matt,  schlief  wenig,  war  von  der  Idee,  ihre  Kinder  umzubringen, 
geplagt,  verstimmt,  niedergeschlagen,  unaufgelegt  zur  Arbeit,  wähnte  sich  von 
aller  Welt  beobachtet.  Sie  hatte  früher  die  Kinder  sehr  geliebt.  Als  sie  sie  in's 
Wasser  warf,  w'ar  sie  ganz  gefühllos.  Sie  glaubte  sie  im  Himmel  gut  versorgt 
und  von  dem  Schicksal  bewahrt,  so  unglücklich  zu  werden  wie  ihre  Mutter, 
d.  h.  so  gefühllos.  Sie  wünscht  nun  hingerichtet  zu  werden.  Ihre  psychische 
Anästhesie  besteht  unverändert  fort. 

Sowohl  in  der  Familie  des  Vaters  als  der  Mutter  finden  sich  zahlreiche 
Fälle  von  Geistesstörung.  Frau  E.  war  eine  brave,  sparsame  Mutter  und  Gattin. 
Sie  hat  in  6  Jahren  5mal  geboren.  Sie  plagte  sich  ab  und  nährte  sich  schlecht. 
Seit  der  4.  Schwangerschaft  bot  sie  Erscheinungen  melancholischer  Depression. 
Ende  der  5.  Schwangerschaft  nach  einer  Gemüthsbewegung  deutliche  Melancholie. 
Fat.  trägt  sich  mit  Selbstmordgedanken,  zeigt  tiefe  Depression  und  Abulie,  ver- 
nachlässigt ihr  Hauswesen,  kommt  körperlich  sehr  herunter,  klagt  Kopfweh,  isst 
wenig,  schlaft  fast  gar  nicht  mehr,  klagt,  dass  sie  unglücklich  sei,  ihr  Schicksal 
verdiene.     Ihr  Benehmen  gegen  den  Mann  war  ein  ganz  verändertes. 

Das  Gutachten  weist  klar  die  physischen  und  psj^chischen  Symptome  einer 
Melancholie  nach,  die  in  den  letzten  Monaten  der  5.  Gravidität  auf  Grund 
erschöpfender  Einflüsse  (gehäufte  Geburten,  schlechte  Ernährung,  Ueberanstren- 
gung  etc.)  bei  einer  erblich  Disponirten  sich  entwickelte  und  nach  der  Entbindung 
steigerte.  Die  That  ist  die  direkte  Folge  einer  tiefen  Störung  des  Gefühls  (psy- 
chische Anästhesie)  und  melancholischer  Wahnideen.  Keine  Verurtheilung.  Ver- 
setzung in  eine  Irrenanstalt.     (Ann.  med.  psychol.  1878,  Januar.) 

Analoge  Fälle:  S.  meinen  Aufsatz:  der  Mord  der  eigenen  Kinder, 
Friedreich's  Blätter  1870.  Ferner:  Burkart,  Vierteljahr sschr.  f.  gerichtl.  Med. 
Nr.  XXIV,  p.  2. 

Beob.  27.  Mord  der  Ehefrau.  Melancholie  mit  Verfolgungs- 
delirium. Am  Morgen  des  1.  Juli  1871  kamen  ein  Mann  und  eine  Frau  an's 
Gestade  des  Montepulcianersees  und  mietheten  eine  Barke  zur  Ueberfahrt.  Der 
Mann  hatte  keine  Schuhe  an  und  einen  verstörten  Blick.  Die  Frau  war  schmerz- 
lich bewegt  und  sagte  beim  Einsteigen :  „Das  ist  das  erste  und  letzte  Mal  für 
mich."  Ein  Fischermädchen  führte  das  düstere  schweigsame  Paar  über  den  See. 
Plötzlich  springt  der  Mann  auf,  sucht  die  Frau  in's  Wasser  zu  werfen.  Diese 
klammert  sich  an  ihn,  beide  stürzen  über  Bord.  Das  Mädchen  will  Hülfe  leisten, 
der  Mann  stösst  die  Barke  von  sich,  macht  sich  von  der  Frau  los,  diese  versinkt. 
Darauf  nöthigt  er  das  erschreckte  Mädchen,  ihn  wieder  aufzunehmen. 

Man  hat  den  Vorfall  am  Ufer  bemerkt,  verschiedene  Schiifer  nähern  sich 
dem  Boot.  Da  springt  der  Fremde  in's  Wasser  und  erreicht  schwimmend  das 
Land.  Man  verhaftet  ihn,  er  zieht  ein  Crucifix  heraus,  küsst  es  und  sagt:  „Seht, 
welch  ein  Mensch  ich  bin  und  was  ich  trage."  Er  empfiehlt  sich  und  sein 
Leben,  das  man  ihm  nehmen  wolle,  der  Gnade  Gottes.  Dass  er  seine  Frau  in's 
Wasser  geworfen,  leugnet  er,  das  sei  ein  Unglücksfall.  Er  habe  sie  sehr  geliebt, 
sei  erst  kurz  verheirathet.    Im  Gefängniss  sprach  er  nicht  oder  nur  unverständliche 


108  Cap.  IX.    Die  Melancholie. 

Worte,  hielt  immer  das  Crucifix  in  der  Hand,  bat,  dass  ihm  nichts  Böses  ge- 
schehe, er  sei  verfolgt  von  einem  schrecklichen  Geschick.  Im  Verhör  am  3.  Juli 
macht  er  den  Eindruck  eines  Simulanten  —  er  erinnert  sich  nur  an  nicht  gra- 
virende  Umstände,  schreibt  statt  seines  Namens  unleserliche  Worte.  Am  22.  Juli 
schmerzliche  Resignation.  „Man  sagt,  ich  hätte  meine  liebe  Frau  umgebracht. 
Nach  einem  solchen  Verbrechen  kann  ich  nicht  mehr  leben.  Möge  Gott  mir  das 
Leben  nehmen!" 

Am  25.  ganz  geordnet,  vernünftige  Antworten.  Von  seinem  Verbrechen 
vs^eiss  er  nichts,  kennt  es  nur  vom  Hörensagen.  Erst  seit  5  Tagen  sei  er  wieder 
ganz  bei  sich;  er  zeigt  aufrichtigen  Schmerz,  überlässt  dem  Tribunal  seine  Be- 
strafung. 

In  der  Folge  heftiger  Kopfschmerz,  Schlaflosigkeit,  ängstliche  Erwartungs- 
affekte, Vei'langen  nach  einem  Geistlichen,  da  er  bald  um's  Leben  gebracht  werde. 

Am  4.  Sept.  Aufnahme  in  der  Irrenanstalt. 

Virgilio  Biagiotti  ist  38  Jahre  alt,  Koch,  hat  den  besten  Leumund,  soll 
aber  beschränkt  und  abergläubisch  sein. 

Im  December  1870  beständiger  Kopfschmerz  nach  Ueberanstrengung  am 
Feuerherd.  Die  Umgebung  fand  ihn  geistig  verändert,  düster,  schweigsam, 
zerstreut. 

Im  Frühjahr  1871  ängstliche  Erwartungsaffekte,  Taedium  vitae,  Klagen, 
dass  ihm  das  Hirn  schwinde,  Zunahme  der  Kopfschmerzen.  Statt  früherer  reli- 
giöser Indifferenz  nun  religiöser  Schwärmer. 

Am  7.  Juni  hatte  er  geheirathet,  vorübergehend  geäussert,  seine  Braut 
verzaubere  ihn.  Bis  zum  28.  Juni  bestes  Einvernehmen.  Allen  Zeugen  machte 
er  während  dieser  Zeit  den  Eindruck  eines  Geistesgesunden. 

Am  29.  Morgens  Kopfschmerz.  Er  geht  zum  Pfarrer,  bittet  ihn,  Messe  zu 
lesen  für  ihn  und  seine  Sterbestunde,  kehrt  heim,  aufgeregt,  angstvoll,  verwirrt. 
Er  verlässt  das  Haus,  irrt  herum,  verlangt  da  und  dort  Rasirmesser,  um  sich 
umzubringen,  Soldaten  suchten  nach  ihm,  um  ihn  nach  Rom  zu  schleppen  und 
hinzurichten.  Um  2  Uhr  Nachts  klopft  er  einen  Freund  heraus,  um  ihm  das 
letzte  Lebewohl  zu  sagen. 

Am  Morgen  des  30.  fanden  ihn  Frau  und  Verwandte  auf  der  Landstrasse. 
Er  liess  sich  zur  Heimkehr  bereden,  übernachtete  mit  der  Frau  in  einem  Dorf, 
entwich  Morgens  ohne  Schuhe,  wurde  von  der  Frau  eingeholt  und  nach  dem  See 
begleitet,  wo  das  Mitgetheilte  sich  ereignete.  B.  will  nicht  für  geisteskrank  gelten, 
noch  je  es  gewesen  sein.  Seine  That  kennt  er  nur  aus  Mittheilungen  Anderer. 
Er  ist  schlaflos,  seufzt  viel,  fragt  oft,  ob  jetzt  die  Soldaten  kommen  und  mit 
ihm  fertig  machen. 

Gutachten :  Patient  hat  einen  kleinen  Schädel ,  ist  beschränkt  und  aber- 
gläubisch. Als  Koch  setzte  er  sich  thermischen  Schädlichkeiten  aus,  bekam 
Kopfweh,  Schwindel,  Congestionen,  fühlte  sich  unwohl,  wurde  düster,  schweig- 
sam. Der  Zustand  ging  in  Melancholie  über  mit  ängstlichen  Erwartungsaffekten, 
Verfolgungsdelirium,  Taedium  vitae.  Der  Mord  fand  wahrscheinlich  unter  dem 
Einfluss  eines  hallucinatorischen  Deliriums  statt,  jedenfalls  sind  vor  und  nach  der 
That  Zeichen  einer  idiopathischen  Geistesstörung  nachzuweisen.  Freisprechung. 
(Livi  im  Archivio  italiano  per  le  malatie  nervöse.  1872.) 


Die  Manie.  109 


2.    Die  Manie. 

Litei'atur.  Spielmann,  Diagnostik,  p.  441.  Santlus,  die  tobsüchtigen  Zustände 
beim  Menschen  und  ihr  Verhalten  zur  Imputation.  Friedreich's  Blätter 
1874,  H.  6. 

Klinische  Uebersicht:  Als  die  Grundlage  der  maniakalischen  Krank- 
heitszustände  ergeben  sich  affektive  Veränderungen,  die  sich  als  psychische  Lust, 
gesteigertes  psj^chisches  Wohlsein  dem  Bewusstsein  kundgeben  und,  ausser  durch 
ihre  subjektive  und  damit  krankhafte  Begründung,  zunächst  qualitativ  und  klinisch 
sich  nicht  von  analogen  Zuständen,  wie  sie  der  expansive  Affekt  des  Gesunden 
oder  die  beginnende  Alkoholintoxication  (Stadium  der  Weinwarmheit)  darstellen, 
unterscheiden  lassen. 

Diese  heitere  (maniakalische)  Verstimmung  gibt  sich  klinisch  als  Steigerung 
des  Selbstgefühls,  heitere  Laune,  Lustigkeit  bis  zur  Ausgelassenheit  zu  erkennen. 

Diese  Veränderung  im  Bew^usstsein  bedingt  noth\^'endig  eine  geänderte 
Apperception  der  Aussenv^'elt.  Statt  des  düsteren  Grau,  in  vs^elchem  sie  dem 
Melancholischen  auf  Grund  seiner  psychischen  Dysästhesie  erscheint,  kommt  sie 
dem  Maniakalischen  sinnlich  wärmer,  farbenprächtiger  und  interessanter  vor. 
Er  sucht  sie  desshalb  auf,  geht  gern  in  Gesellschaft,  auf  Reisen,  ganz  entgegen 
dem  Melancholischen,  der  sie  negirt,  verabscheut.  In  dieser  geänderten  Apper- 
ception liegt  ein  mächtiger  Zuwachs  an  psychischem  Lustgefühl,  der  noch  durch 
geänderte  Gemeingefühle  gesteigerten  körperlichen  Wohlseins,  erhöhter  Kraft  und 
psychischer  Leistungsfähigkeit  verstärkt  wird.  Damit  fehlt  die  Möglichkeit  einer 
Selbsterkenntniss  des  Zustands  als  eines  krankhaften. 

Ein  weiterer  Grundzug  der  Störung  ist  der  abnorm  erleichterte  Ablauf  der 
psychischen  Vorgänge,  mögen  sie  nun  Vorgänge  der  Reproduktion,  der  Asso- 
ciation und  Combination  oder  der  Umsetzung  der  Vorstellungen  in  motorische 
Leistungen  betreffen. 

Durch  die  erleichterte  Reproduktion  aus  dem  Schatz  des  Gedächtnisses, 
durch  die  erleichterte  Apperception  der  Aussenwelt,  den  beschleunigten  Ablauf 
der  Vorstellungen  besitzt  der  Kranke  einen  grösseren  Gedankenvorrath,  grössere 
Beredtsamkeit,  rascheres  Auffassen  der  Beziehungen,  vielfach  Witz  und  Ironie. 
Die  Erleichterung  im  Ablauf  der  psychischen  Processe  erhöht  das  Gefühl  geistigen 
Behagens  und  steigert  das  Selbstvertrauen  des  Kranken,  der  ja  jeden  Augen- 
blick Beweise  eines  potenzirten  Könnens  erhält.  Er  wird  dadurch  kühn,  unter- 
nehmungslustig. 

Die  Fülle  von  Vorstellungen,  die  ein  Handeln  anregen,  das  erleichterte 
Uebergehen  des  Vorstellungsreizes  in  einen  Bewegungsimpuls,  das  gesteigerte 
Selbstgefühl,  die  Unmöglichkeit,  bei  dem  beschleunigten  Vorstellungs.ablauf  und 
dem  durch  Lustgefühle  verfälschten  Bewusstsein  contrastirende ,  hemmende  Vor- 
stellungen geltend  zu  machen,  sind  die  Bedingungen  für  ein  krankhaft  gesteigertes 
Handeln.  Dieses  gibt  sich  zunächst  in  Unstetigkeit,  Begehrlichkeit,  Thatendrang 
kund.  Die  Kranken  wechseln  beständig  Ort  und  Beschäftigung,  schreiben  viel, 
sind  immer  auf  Visiten  und  Reisen,  voller  Hast  und  Unruhe,  lustig,  aufgeräumt, 
zu  Excessen  aller  Art  aufgelegt. 

Neben    dieser    allgemeinen  Steigerung    der    psychischen  Leistungen    findet 


110  Cap.  IX.    Die  Manie. 

sich  eine  ungewöhnliche  Erregbarkeit  für  sinnliche  und  gemüthliche  Reize.  Daraus 
erklärt  sich  die  Ueberschwänglichkeit  solcher  Kranker  und  die  Leichtigkeit,  mit 
welcher  sie  in  Gemüthsbewegungen  gerathen.  Während  sie  einerseits  in  ihren 
Lustaffekten  sich  nicht  zu  beherrschen  vermögen,  ihre  Freundschaft  und  Sympathie 
keine  Gränzen  kennt,  genügt  umgekehrt  ein  leichtes  Hinderniss,  ein  einfacher 
Widerspruch,  um  sie  in  Zorn  zu  versetzen,  wobei  aber  noth wendig  bei  dem 
raschen  Wechsel  und  Ausgleich  ihrer  psychischen  Erregungen  etwa  entstandene 
zornige  Affekte  und  leidenschaftliche  Stimmungen  äusserst  rasch  wieder  verfliegen. 

Ziemlich  constant  ist  bei  solchen  Kranken  auch  eine  Störung  des  Schlafs. 
Sie  schlafen  wenig,  der  Schlaf  ist  vielfach  unterbrochen,  sie  stehen  Nachts  auf, 
entwickeln  eine  auffallende  Geschäftigkeit,  treiben  sich  im  Hause  oder  auf  der 
Strasse  herum.  Vielfach  findet  sich  eine  jedenfalls  cerebral  bedingte  Erhöhung 
des  Geschlechtstriebs,  die  zu  sonst  dem  Kranken  vielleicht  ganz  fremden  Zwei- 
deutigkeiten, Obscönitäten,  selbst  geschlechtlichen  Excessen  führt.  Mit  der  krank- 
haften Steigerung  der  psychischen  Processe  geht  dann  auch  wohl  ein  gesteigertes 
Bedürfniss  nach  Genussmitteln  und  Nervenreizen  einher,  das  im  Aufsuchen  von 
Spirituosen,  starkem  Kaffee,  gewürzten  Speisen,  Rauchen  starker  Cigarren  be- 
friedigt wird. 

Bemerkenswerthe  Aenderungen  zeigt  auch  das  willkürliche  Muskelsystem. 
Der  sogenannte  Muskeltonus  erscheint  unter  dem  Einfluss  der  cerebralen  Erregung 
gesteigert,  die  Haltung  ist  eine  strammere.  Auch  die  Sicherheit  und  Promptheit 
der  Bewegungen  ist  eine  grössere  als  im  normalen  Zustand.  Der  Muskelapparat 
spricht  leichter  und  schneller  auf  den  psj^chischen  Impuls  an. 

Das  im  Vorstehenden  skizzirte  Krankheitsbild  bezeichnet  die 
Psychiatrie  mit  dem  Namen  der  maniakalischen  Exaltation. 
Seine  genaue  Würdigung  ist  forensisch  von  grossem  Werth,  da  einer- 
seits bei  dem  Fehlen  von  "Wahnideen  und  Sinnestäuschungen  und  bei 
der  scheinbar  gesteigerten  Leistungsfähigkeit  des  psychischen  Apparats 
es  dem  Laien  schwer  fällt,  den  Zustand  als  einen  krankhaften  zu  er- 
kennen, andrerseits  zahlreiche  Rechtsverletzungen  in  demselben  mög- 
lich sind,  für  die  eine  criminelle  Verantwortlichkeit  nicht  angenommen 
werden  kann. 

Solche  maniakalische  Exaltationszustände  verlaufen  theils  als 
selbstständige  Form  der  Manie,  theils  bilden  sie  das  Initialstadium 
der  vollendeten  Tobsucht  oder  der  Paralyse,  theils  finden  sie  sich 
intercurrent  im  Symptomen compl ex  der  Hysterie. 

Von  grossem  Interesse  sind  die  Fälle,  wo  sich  im  Verlauf  der 
maniakaUschen  Exaltation  triebartige  .Impulse  in  Form  von  Stehl-, 
von  Sammelsucht  oder  Wanderdrang  hinzugesellen. 

In  dem  Masse  als  die  übrigen  Krankheitserscheinungen  wenig 
entwickelt  sind  oder  der  Kranke  im  Stande  ist,  seine  unüberlegten 
unmotivirten  Handlungen  mit  Vernunftgründen  zu  bemänteln  (folie 
räisonannte),  erscheint  der  Zustand  dem  Laien  vielfach  als  ein  noch 


Maniakalische  Exaltation.     Diagnostische  Zeichen.  \W 

physiologischer,  er  hält  den  Kranken  bloss  für  muthwillig,  aufgeregt, 
ausgelassen  oder  angetrunken. 

Es  ist  indessen  nicht  schwer,  durch  diese  Maske  hindurch  den 
Zustand  als  einen  krankhaften  unfreien  zu  erkennen. 

Was  in  denselben  zunächst  auffällt,  ist  die  Unmotivirtheit  der 
Stimmungen,  die  Leichtigkeit,  mit  der  diese  wechseln  und  sich  zur 
Höhe  von  Affekten  erheben. 

Im  Ablauf  der  Vorstellungen  überrascht  die  Unmotivirtheit  der 
Associationen,  die  Verknüpfung  ganz  disparater  Vorstellungen,  der 
abspringende  Gedankengang,  die  Neigung  zu  Alliterationen,  ja  selbst 
zum  Sprechen  in  Versen,  nicht  minder  die  Unerschöpflichkeit  des 
Redestroms. 

Besonders  auffallend  ist  aber  die  Störung  der  Besonnenheit, 
die  sich  in  der  Nonchalance  und  Dreistigkeit  des  Auftretens,  dem 
Hinaussetzen  über  die  gewöhnlichen  Regeln  des  Anstands  und  der 
Sitte  bis  zur  Obscönität  und  cynischen  Frechheit,  der  Grobheit,  An- 
massung  und  Unverträglichkeit  im  socialen  Verkehr  wesentlich 
kundgibt. 

Auch  die  Handlungen  dieser  Kranken  bieten  manches  Patho- 
logische. Sie  sind  unmotivirt,  übereilt,  werden  mit  einer  bezeich- 
nenden Hast  und  Unruhe  ausgeführt.  Sie  erscheinen  damit  unüber- 
legt, vielfach  triebartig.  Dem  Kranken  ist  es  gar  nicht  um  den  Er- 
folg seiner  Handlung  zu  thun,  er  verfolgt  nicht  naheliegende  Vor- 
theile,  die  er  aus  seiner  Unternehmung  ziehen  könnte,  ja  vielfach 
kommt  er  nicht  zur  Vollendung,  er  beginnt  vorher  etwas  Anderes,  oft 
ganz  Heterogenes. 

So  werden  die  Kranken  bei  ihrem  krankhaft  gesteigerten  Wissen 
und  Leisten  auffällig  und  anstössig  durch  die  Gewalt  ihrer  Gefühle, 
Leidenschaften,  Triebe  und  durch  die  Verkehrtheit  ihrer  Handlungen. 

Noch  deutlicher  wird  das  Pathologische  der  Erscheinung,  wenn 
sie  mit  dem  früheren  Menschen  verglichen  wird,  namentlich  wenn 
dieser  ein  sonst  bedächtiger,  bescheidener,  sittsamer  ruhiger  Mensch 
war  und  alle  Veranlassungen  für  eine  solche  auffällige  Charakter- 
umwandlung fehlen. 

Nicht  selten  ergibt  sich  auch  aus  der  Anamnese  ein  melancho- 
lisches Vorstadium,  der  Kranke  leidet  an  Schlaflosigkeit,  seine  Un- 
ruhe zeigt  spontane  Remissionen  und  Exacerbationen,  seine  Strebungen 
und  Handlungen  sind  seinen  früheren  Gewohnheiten  ganz  entgegen- 
gesetzt. Bei  soli;hen  Kranken  ist  es  eben  vorwiegend  das  Handeln, 
welches    die   Störung    verräth,    jedoch    gibt    die    einzelne    Handlung 


112  Gap.  IX.    Die  Manie. 

keinen  Anhaltspunkt  für  das  Verständniss  des  Falls,  wohl  aber  die 
Beurtheilung  des  gesammten  Strebens  und  seine  Vergleichung  mit  der 
früheren  gewohnten  Anschauungs-  und  Handlungsweise. 

Ein  solcher  Zustand  von  massiger,  aber  ausgesprochener  maniakalischer 
Exaltation  findet  sich  nicht  selten  in  ganz  chronischer  Weise,  selbst  von  jahre- 
langer Dauer  und  wird,  da  der  Kranke  nicht  delirirt,  einer  gewissen  äusseren 
Besonnenheit  nicht  verlustig  ist,  vielfach  Proben  einer  bedeutenden  Leistungs- 
fähigkeit ablegt,  seine  übereilten  Handlungen  trefflich  zu  motiviren  vv'eiss  (folie 
raisonnante),  nur  zu  häufig  fälschlich  als  physiologischer  beurtheilt.  Das 
gesteigerte  Selbstgefühl  solcher  Kranken  äussert  sich  in  einem  herrischen  Benehmen 
gegen  Untergebene,  in  Zudringlichkeit  und  Vertraulichkeit  gegen  Höherstehende, 
ihre  geschlechtliche  Erregung  gibt  sich  kund  in  sexuellen  Excessen,  Obscönitäten, 
Frechheiten  gegen  ehrbare  Frauen,  ihr  exaltirtes  Vorstellen  und  Streben  in 
Thatendrang,  Begehrlichkeit  mit  stets  vs^echselndem  Objekt,  Aber  es  ist  diesen 
Kranken  keineswegs  um  die  Befriedigung  ihres  Begehrens  zu  thun,  sie  verfolgen 
keinen  ernstlichen  Zweck,  sind  nicht  bestrebt,  ihr  scheinbares  Ziel  zu  ei'reichen, 
sie  halten  bei  keiner  Beschäftigung  aus,  die  Thätigkeit  ist  bei  ihnen  eine  krank- 
hafte, nur  Mittel  zum  Zweck  und  selbst  die  Erfüllung  ihrer  Begierden  stellt  sie 
nicht  zufrieden.  Hir  krankhafter  Stimmungswechsel  zeigt  sich  in  grundlosen 
Zu-  und  Abneigungen,  bald  sind  sie  Feuer  und  Flamme  für  eine  Person  oder 
Idee,  bald  kalt  und  abstossend.  Ihre  Reizbarkeit  zeigt  sich  in  der  Unfähigkeit, 
Widerspruch  zu  ertragen,  in  ihrer  Leichtverletzlichkeit.  Während  sie  selbst  sich 
Alles  erlauben,  können  sie  von  Anderen  nichts  ertragen.  Sie  streiten,  lärmen, 
spötteln,  necken,  finden  rasch  die  Fehler  Anderer,  entwickeln  bei  der  Exaltation 
ihres  Vorstellens  beissenden  Witz  und  Spott,  gefallen  sich  darin,  Händel  zu 
stiften,  die  Leute  gegen  einander  aufzuhetzen,  Intriguen  anzuzetteln,  böswillige 
Gerüchte  auszustreuen. 

Die  Störung  ihrer  Besonnenheit  verräth  sich  darin,  dass  sie  dabei  gar 
nicht  bemerken,  wie  sie  überall  anstossen,  sich  und  Andere  compromittiren,  die 
gewöhnlichsten  Regeln  der  Klugheit,  der  Sitte,  des  Anstands  verletzen. 

* 

Trotzdem,  dass  die  äussere  Besonnenheit  und  die  intellektuelle 
Leistungsfähigkeit  der  von  maniakalischer  Exaltation  befallenen  Kranken 
erhalten  scheint,  muss  ihre  Zurechnungsfähigkeit  als  aufgehoben  bezeich- 
net werden.  Die  Freiheit  der  Willensbestimmung  ist  vernichtet  theils 
dadurch,  dass  die  natürlichen  Triebe  und  sinnlichen  Regungen  eine 
pathologische  Stärke  erreicht  haben,  theils  dadurch,  dass  der  Vor- 
stellungsprocess  zu  beschleunigt  abläuft,  als  dass  ein  ruhiges  Besinnen 
und  Ueberlegen  vor  dem  Handeln  noch  möglich  wäre,  womit  dieses 
einen  zwangsmässigen  Charakter  erhält,  selbst  wenn  es  deutlich 
motivirt  und  vollbewusst  zu  Stande  kommt. 

Endlich  ist  nicht  zu  übersehen,  dass  bei  solchen  Kranken,  gleich- 
wie im  analogen  Zustand  der  Berauschung,  eine  eigenthümliche  Stö- 
rung   der  Besonnenheit   besteht,    vermöge  welcher  die  ganze  Summe 


Die  TobsLiclit.     Rechtswidrige  Handlungen  Maniakalischer.  113 

der  sittlichen  ästhetischen  corrigirenden  Vorstellungen  temporär  ganz 
fehlt,  gar  nicht  zum  Bewusstsein  kommt. 

Eine  einfache  Steigerung  der  maniakalischen  Exaltation  zur  Höhe  der 
Krankheit  stellt  die  Tobsucht  dar.  Die  Beschleunigung  der  psychischen  Processe 
ist  hier  bis  zur  Ungebundenheit  gediehen.  Das  Ich  hat  alle  Direktive  verloren. 
Die  enorme  Erhöhung  der  gemüthlichen  Erregbarkeit  gibt  sich  hier  in  einem 
grossen  Wechsel  der  Stimmung  kund.  Tolle  Lustigkeit  und  maniakalischer  Jubel 
wechseln  mit  Phasen  zorniger  Erregung  und  schmerzlichen  Jammerns,  Singen, 
Pfeifen  und  Schreien  mit  Heulen  und  schmerzlicher  Zerknirschung. 

Die  hochgesteigerte  Beschleunigung  des  Vorstellungsablaufs  führt  zu  Ge- 
dankendrang, Ideenjagd,  und  da  keine  Einzelvorstellung  mehr  festgehalten  werden 
kann,  zu  Verworrenheit.  In  der  Regel  kommt  es  auf  der  Höhe  der  Krankheit 
auch  zu  Wahnideen  und  Sinnestäuschungen,  Jene  sind  vorwiegend  Grössen- 
delirien.  Bei  zorniger  Stimmungslage  können  aber  auch  Verfolgungsdelirien 
(namentlich  dämonomanische)  sich  finden. 

An  die  Stelle  von  deutlich  bewussten  und  geplanten,  wenn  auch  übereilten 
unfreien  Handlungen  treten  Bewegungsakte,  die  zwar  noch  den  Charakter  von 
gewollten  Handlungen  an  ,sich  tragen,  aber  nicht  mehr  durch  die  Aussenwelt 
oder  mit  einem  Bedürfnisse  motivirt,  sondern  sich  selbst  Zweck  sind,  nicht  mehr 
durch  deutlich  bewusste  Vorstellungen  ausgelöst  sind,  sondern  durch  innere  Reize 
vermittelt,  somit  automatisch,  triebartig  erscheinen.  Auf  der  Höhe  der  Krankheit 
steigert  sich  dieser  Bewegungsdrang  bis  zum  Zerstörungsdrang.  Daneben  können 
noch  durch  Lust-  oder  Zornaffekte  motivirte  Handlungen  (psychische  Reflexakte) 
und  durch  Delirien  und  Sinnestäuschungen  vermittelte  vorhanden  sein. 

Die  Gesammtheit  dieser  Störungen  im  Fühlen,  Vorstellen  und  Streben 
bildet  den  Zustand  der  Tobsucht.  Sie  entwickelt  sich  in  allmäliger  Steigerung 
aus  der  maniakalischen  Exaltation  oder  auch  in  acuter  primärer  Weise.  Bei  dem 
ausgesprochenen  Krankheitsbild  bietet  sie  kaum  einen  Gegenstand  des  Zweifels 
für  die  gerichtliche  Medicin. 

Rechtsverletzungen  durch  Maniakaiische  können  auf  mehrfache 
Weise  zu  Stande  kommen. 

Zunächst  ist  es  die  Steigerung  der  natürlichen  Triebe,  nament- 
lich des  Greschlechtstriebs,  welche  sie  veranlasst.  So  lange  die  mania- 
kaiische Exaltation  ihre  Höhe  noch  nicht  erreicht  hat,  kommt  es  bloss 
zu  unmoralischer  Lebensweise,  sexuellen  Excessen,  Besuch  von  Bor- 
dellen, Anknüpfung  sinnloser  Liebesabenteuer.  Erreicht  die  Tobsucht 
ihre  Höhe,  so  zeigt  sich  der  krankhaft  gesteigerte  Trieb  aller  Rück- 
sicht auf  Scham  und  Sitte  ledig  (Nymphomanie,  Satyriasis)  und  äussert 
sich  schamlos  in  Masturbation,  unzüchtigen  Angriffen  auf  das  andere 
Geschlecht  etc.,  wodurch  die  öffentliche  Sittlichkeit  schwer  compro- 
mittirt  und  Nothzuchts-  und  Unzuchtsverbrechen  bedingt  werden.  In 
analoger  Weise  kommen  durch  organische  Nöthigung  (Hunger ,  Ge- 
lüste) motivirte  Diebstähle  vor, 

li   V.  Kr  afft-Ebing,  gerichtl.  Psychoimthologie.    2.  Auflage.  o 


114  Cap.  IX.    Die  Manie. 

Eine  zweite  Quelle  von  Collisionen  mit  dem  Strafgesetz  ergibt 
sich  aus  der  Reizbarkeit  und  dem  gesteigerten  Selbstgefühl  der 
Kranken.  Sie  ertragen  keinen  Widerspruch,  keine  Hemmung  ihrer 
ausschweifenden  Plane,  reagiren  darauf  in  brüsker  brutaler  Weise 
und  die  nothwendige  Folge  sind  Ehrenkränkungen,  Duelle,  Körper- 
verletzungen, Beleidigung  und  Misshandlungen  öffentlicher  Organe, 
Auflehnung  gegen  die  Gesetze. 

Eine  weitere  wichtige  Quelle  von  strafbaren  Handlungen  sind 
die  triebartigen  Impulse  der  Kranken,  In  den  niederen  Graden  der 
Krankheit  äussern  sie  sich  als  scheinbar  rein  muthwillige  Verletzun- 
gen von  fremdem  Eigenthum  oder  von  Personen,  in  Form  von  vaga- 
bundirendem  Umhertreiben,  Hang  zum  Stehlen,  Alkoholexcesse  zu  be- 
gehen. Auf  der  Höhe  der  Krankheit  richtet  sich  der  Zerstörungs- 
drang gegen  Alles  was  ihm  in  den  Weg  kommt  und  es  ist  dann 
psychologisch  völlig  gleichgiltig,  ob  er  sich  gegen  werthlose  Objekte 
kehrt  oder  in  Brandstiftung  entäussert  wird  oder  zur  Beschädigung 
von  Personen  führt. 

Eine  vierte  Quelle  für  gesetzwidrige  Handlungen  bieten  endhch 
die  Wahnideen  und  Sinnestäuschungen  solcher  Kranker. 

Beob.  28.  Kur'pfuschere'i.  Chronisclie  Manie  mit  Grössenwahn- 
ideen.  Anfang  Juli  1872  erschien  der  46jährige  concessionirte  Bader  H.  aus 
der  bayrischen  Rheinpfalz  in  mehreren  Dörfern  des  Elsass,  um  dort  zu  praktiziren. 
Er  gab  sich  für  einen  reisenden  Doktor  aus,  zeigte  Zeugnisse  von  Patienten  als 
Legitimation  vor  oder  erklärte  sie  auch  für  überflüssig,  da  er  ja  selbst  den  andern 
Doktoren  Stunde  gebe.  Am  8.  Juli  unternahm  er  an  einem  kranken  Bauern,  der 
an  Caries  des  Oberschenkels  litt,  eine  Operation,  in  Folge  deren,  zum  Theil  durch 
schlechte  Nachbehandlung,  der  Kranke  an  Pj^ämie  starb. 

Am  15.  Juli  wurde  H.  verhaftet.  Er  gab  seine  Personalien  richtig  an, 
erklärte  sich  aber  für  einen  Wundarzt.  Wenn  der  kranke  Bauer  das  Wundfieber 
bekommen  habe,  so  könne  er  nichts  dafür.  H.  hatte  sich  seit  der  Operation  in 
verschiedenen  Dörfern  als  reisender  Doktor  ausgegeben,  am  14.  Abends  durch  sein 
excessives  Benehmen  so  sehr  Anstoss  erregt,  dass  er  arretirt  werden  musste. 
Dem  verhaftenden  Gensdarmen  schien  er  wahnsinnig  zu  sein,  so  etwas  „von 
Säuferwahnsinn".  Er  gab  sich  diesem  gegenüber  bald  für  einen  Doktor,  bald  für 
einen  Professor  aus.  Am  16.  Juli  wurde  H.  nach  Strassburg  überführt.  Sein 
Leumund  ist  kein  guter.  Er  war  seit  Jahren  dem  Trunk  so  ergeben,  dass  sich 
seine  Familie  von  ihm  trennte,  trieb  sich  vacirend  herum,  war  wiederholt  wegen 
Kurpfuscherei  und  am  31.  Juli  1871  wegen  Diebstahls  bestraft  worden.  Der 
Oberaufseher  des  Strafhauses  findet,  dass  H.  damals  gerade  so  gewesen  sei  wie 
jetzt,  ein  auffallendes,  unstetes  Benehmen  und  ein  übertriebenes  Selbstgefühl 
gezeigt  habe.  In  den  Verhören  gab  er  sich  für  einen  Wundarzt  aus,  der  vom 
König  selbst  nach  J.  geschickt  sei.  Er  gebe  dort  Stunden  in  Anatomie  und 
Pathologie,    sei    der  '"gesuchteste  Doktor   weit  und    breit.     Er   führe  für  3C0O  fl. 


Beob.  29.    Tobsuclit.    Gatten-  und  Kindsmord.  115 

ärztliche  Instrumente  mit  sich  (in  Wirklichkeit  nur  Messer,  Lanzette  und  etwas 
zahnärztlichen  Apparat),  sei  im  Stande,  als  Professor  seine  Stelle  auszufüllen. 
Er  habe  schon  viele  Leute,  die  von  anderen  Aerzten  aufgegeben  waren,  vom 
Tod  gerettet.  Als  Belege  für  seine  hohe  Befähigung  übergab  er  zu  Gerichtshanden 
einige  Zeugnisse  von  Bauern,  die  bescheinigten,  dass  er  ihnen  glücklich  Zähne 
gezogen  habe. 

H.  ist  von  kräftiger,  gedrungener  Gestalt,  Schädelbildung  normal,  vege- 
tative Processe  ungestört.  Die  direkte  Untersuchung  ergibt  deutliche  Zeichen 
krankhafter  Störung  der  Geistesthätigkeit.  Sein  Selbstgefühl  ist  krankhaft  ge- 
steigert, worauf  schon  die  Selbstgefälligkeit  und  der  Aplomb,  mit  dem  er  auftritt, 
hinweisen. 

Auch  der  Vorstellungsprocess  hat  eine  krankhafte  Steigerung  erfahren.  Er 
spricht  mit  grossem  Wortschwall,  kommt  gar  nicht  zu  Ende,  sein  Gedankengang 
ist  dabei  auffallend  abspringend.  Daneben  zeigen  sich  Grössenwahnideen.  Er 
behauptet.  Lateinisch  wie  Deutsch  zu  sprechen,  seine  Verwandten  sind  von  hohem 
Adel,  er  ist  enorm  geschickt,  gesucht  von  den  vornehmsten  Leuten,  bereitet  die 
jungen  Doktoren  auf's  Examen  vor,  gibt  Bücher  über  Zahnheilkunde  heraus, 
schreibt  Recepte,  die  2  Thaler  kosten,  hält  Consultationen  mit  den  berühmtesten 
Chirurgen ;  er  singe  auch  sehr  schön,  könne  allein  ein  Concert  geben,  auch  säen, 
jagen,  vorreiten  im  Regiment,  wenn  er  nur  einmal  seine  Kenntnisse  „austoben" 
könnte.  Er  fühle  sich  äusserst  wohl,  sehe  so  gut,  dass  er  den  Leuten  die  Därme 
aus  dem  Leib  heraussehen  könne. 

In  diesen  Rodomontaden  bewegt  sich  sein  Vorstellen,  er  ist  unerschöpf- 
lich in  der  Schilderung  seiner  Leistungen,  und  wenn  ihm  eine  Renommage  recht 
gelungen  ist,  lacht  er  vergnügt  vor  sich  hin  und  zwinkert  mit  den  Augen. 

Im  Gebiet  des  Strebens  fällt  zunächst  eine  gewisse  triebartige  Unruhe  auf, 
die  ihn  verhindert,  auch  nur  einen  Augenblick  in  einer  angenommenen  Stellung 
zu  verharren.  Dabei  beständiges  Mienenspiel  und  Gestikuliren  mit  den  Händen. 
Ausserdem  Tremor  der  Finger,  Zunge,  Beben  der  Gesichtsmuskeln. 

Aus  der  gegen  ihn  gerichteten  Untersuchung  macht  er  sich  nichts,  das  sei 
nur  Verleumdung  und  Lappalie.  Inculpat  leidet  an  einem  empirisch  wahren  Bild 
psychischer  Störung  —  an  Manie  mit  Grössenwahnideen.  An  eine  Simulation 
kann  nicht  gedacht  werden.  Der  Beweis  einer  krankhaften  Störung  der  Geistes- 
thätigkeit ist  damit  erbracht.    Freisprechung.    Irrenhaus.    (Eigene  Beobachtung.) 

Beob.  29.  Gatten- und  Kindsmord.  Tobsucht.  V., 29  J.,  stammt  von 
einer  geisteskranken  Mutter.  Ein  Bruder  war  geisteskrank,  3  Geschwister  starben 
in  zartem  Alter  an  Krämpfen.  Gesichts-  und  Zungenhälften  ungleichmässig  ent- 
wickelt. Er  bot  von  jeher  ein  schwaches  höchst  reizbares  Nervensystem,  zitterte 
leicht  nach  schwächenden  oder  erregenden  Einflüssen.  In  der  psychischen  Sphäre 
fiel  früh  schon  ein  eigenthümliches  auffallendes  Verhalten  auf,  er  war  bald 
exaltirt,  erregt,  geschwätzig,  zu  Excessen  und  Sonderbarkeiten  geneigt  —  bald 
spleenartig  verstimmt,  argwöhnisch,  denunciationssüchtig,  arbeitsunlustig,  unfähig. 

Er  war  Comptoirist,  heirathete  eine  weit  ältere  Frau,  lebte  in  guter  Ehe, 
wurde  Vater.  Er  wurde  allgemein  wegen  seiner  älteren,  angeblich  hässlichen 
Frau  geneckt,  man  verspottete  ihn  öffentlich  an  Fastnacht,  indem'^man  eine  alte 
Drossel  und  einen  jungen  Falken  darstellte.  Er  bemerkte  auch,  dass  man  über- 
all, wo  er  erschien,  über  ihn  witzelte,  wesshalb  er  sich  von  der  Gesellschaft  zu- 
rückzog. 


116  Cap.  IX.    Die  Manie. 

Am  7.  Juli  Abends  fanden  Gespräche  zwischen  V.  und  einem  CoUegen 
über  Kinder  und  Vaterschaft  statt,  die  ihn  tief  erregten.  Es  war  auch  von  einer 
anonymen  Mittheilung  die  Rede,  er  sei  nicht  der  Vater  seines  Kindes.  V.  schlief 
die  folgende  Nacht  nicht.  Am  8.  und  9.  war  er  geistig  erregt,  arbeitsunfähig, 
führte  verwirrte  Reden.  Am  9.  ging  er  bis  12  Uhr  Nachts  auf  und  ab,  kam  um 
2  Uhr  Morgens  im  blossen  Hemd  herunter  zu  den  Hausleuten  und  erklärte,  er  habe 
Frau  und  Kind  ermordet.  Die  erstere  fand  man  erwürgt,  das  Kind  mit  durch- 
schnittenem Hals ,  V.  hatte  selbst  an  Hals  und  Handgelenken  oberflächliche 
Schnitte.  Er  war  ganz  verwirrt,  faselte  von  Lichtbildern,  Electricität,  Fastnacht- 
gedichten, die  auf  ihn  gemünzt  seien,  der  Kopf  sei  ihm  ganz  verdreht,  man  habe 
ihm  die  ganze  Nacht  Schattenbilder  vorgemacht,  gesagt  „Hund  beiss"  etc.  Dieser 
Zustand  geistiger  Verwirrtheit  mit  vagen  Delirien,  Hallucinationen ,  melancholi- 
schen und  maniakalischen  elementaren  Störungen,  verkehrten  Handlungen  —  ein 
proteusartiges  Krankheitsbild,  das  den  Verdacht  auf  Simulation  nahe  legte,  dauerte 
bis  Dec.  Pat.  wurde  ruhig,  besinnlich,  er  litt  noch  viele  Monate  an  schlechtem 
Schlaf,  nervösem  Zittern,  es  kam  ihm  öfters  noch  vor,  es  seien  Leute  im  Zimmer, 
hatte  bei  geschlossenen  Augen  leicht  Flimmern,  Funkensehen,  Schwindel  und 
Schwanken,  ermüdete  rasch  köi'perlich  und  geistig.  Allmälig  gewann  er  sein 
relatives  d.  h.  früheres  psychisches  Gleichgewicht  wieder,  war  zu  seinen  gewohnten 
Geschäften  wieder  fähig.  Die  ganze  Krankheit  erschien  ihm  in  der  Erinnerung 
wie  ein  wüster  Traum. 

Das  treffliche  Gutachten  erweist  die  hereditäre  Belastung,  die  sich  in  dem 
psychisch  anomalen  Vorleben  genugsam  kund  gibt.  Bei  derartigen  Individuen 
mit  ohnehin  labilem  Gleichgewicht  genügen  geringfügige  Veranlassungen,  um  sie 
in  eine  vollständige  und  ausgebildete  Geisteskrankheit  zu  stürzen.  Veranlassungen 
waren  Missverhältnisse  in  der  Ehe,  bezügliche  Neckereien  etc.  V.  verfiel  unter 
diesen  ursächlichen  Momenten  unter  den  gewöhnlichen  Erscheinungen  (mangeln- 
der Schlaf,  Bevvegungsunruhe  etc.)  in  einen  genuinen  Anfall  von  tobsüchtiger 
Erregung  mit  Sinnestäuschungen,  mit  Aufhebung  des  vernünftigen  Selbstbewusst- 
seins  und  der  Selbstbestimmung,  in  welcher  Krankheit  er  die  That  verübte. 
Diese  Krankheit  dauerte  6  Monate,  sie  löste  sich  in  empirisch  wahrer  Weise  mit 
Zunahme  der  Ernähi-ung,  des  Körpergewichts.  Ob  V.  gegenwärtig  ganz  genesen 
ist,  ist  schwer  zu  sagen.  Er  war  früher  nicht  ganz  normal.  Er  hat  jedenfalls 
seine  frühere  relative  psychische  Gesundheit  wieder  erlangt.  (Dr.  Koster  Irren- 
freund 1875,  Nr.  7.) 

Weitere  Fälle:  Casper-Liman  Handb.  Fall  293  (Tobsucht,  Majestäts- 
beleidigungen). Henke's  Zeitschr.  1828,  H.  2  (acute  Tobsucht.  Excesse).  Zippe, 
Wien.  med.  Wochenschr.  1879.  Nr.  33 — 36  (chronische  Manie.  Verbrechen  der 
gefährl.  Drohung).  Livi,  Archiv,  italian.  1866,  H.  2  (Mordversuch  eines  Schwach- 
sinnigen in  maniakal.  Aufregung).  Valsuani  Archiv,  ital.  1867,  Juni  (Diebstahl). 
Combes,  Annal.  med.  psychol.  1867,  Sept.  (Mord  der  Ehefrau  im  Beginn  eines 
Anfalls  A^on  recidivirender  Manie). 


Anhang:    Das  periodische  Irresein.  117 


Anhang:  Das  periodische  Irresein. 

Literatur.  Flemming,  Ps3'chosen,  p.  262.  Spielmann,  Diagnostik,  p.  325.  Ueber 
Kleptomanie  in  period.  Aeusserungsweise  s.  Damerow,  AUg.  Zeitschrift  f. 
Psychiatr.  I,  p.  445.  Guislain,  die  Geisteskrankheiten,  übers,  von  Laehr,  p.  83. 
Girard,  Ann.  med.  ps3^chol.  Bd.  VI.  Bucknill  u.  Tuke  p.  224.  Kirn,  die  period. 
Psychosen.  1878.  v.  Krafft,  Lehrb.  d.  Psychiatrie  II,  p.  121.  —  Ueber  Dipso- 
manie: Bucknill  u.  Tuke,  Lehrb.,  p.  236.  Brühl-Cramer,  Trunksucht,  Berlin 
1819.  Erdmann,  Beiträge  z.  Kenntniss  d.  Innern  v.  Russland,  1823,  p.  155. 
Henke,  Abhandlungen,  Bd.  IV,  p.  296.  Henke's  Zeitschr.  1831,  H.  3.  Liman, 
Vierteljahrsschr.  f.  ger.    Med.  1865,  H.  1.    Lykken,  Schmidt's  Jahrb.  1879,  1. 

Die  bisher  abgehandelten  Formen  der  Melancholie  und  der  Manie 
können  periodisch  d.  h.  in  annähernd  denselben  Zeitintervallen  wieder- 
kehren. Am  häufigsten  ist  das  maniakalische,  sehr  selten  das  melan- 
cholische periodische  Irresein.  Eine  eigene  und  nicht  so  seltene  Va- 
rietät stellt  eine  in  regelmässigem  alterirendem  Wechsel  beider  For- 
men sich  abspielende  psychische  Störung  dar  (circuläres  Irresein). 

Die  Dauer  der  einfachen  sowie  der  cyclischen  Anfälle  des  perio- 
dischen Irreseins  beträgt  Wochen  bis  Monate.  Das  Krankheitsbild 
der  periodisch  sich  äussernden  Manie  (und  Melancholie)  unterscheidet 
sich  nicht  wesentlich  von  dem  gewöhnlichen ^  nur  beschränkt  es  sich 
in  der  Regel  auf  das  einer  blossen  maniakalischen  Exaltation  (oder 
Melancholie  sine  delirio).  Die  Stimmung  ist  verwiegend  eine  reiz- 
bare. Das  Vorherrschen  von  affektiven  Störungen,  die  meist  nur 
formal  geschädigte  Intelligenz,  die  unsittlichen  Impulse  aus  krank- 
kafter  organischer  Nöthigung  bei  erhaltener  Lucidität  und  Fähigkeit 
jene  zu  dementiren  und  zu  entschuldigen,  wenn  auch  nicht  zu  unter- 
lassen, geben  solchen  Zuständen  den  Anstrich  der  sog.  folie  raisonnante 
und  lassen  sie  in  den  Augen  des  Laien  nur  zu  leicht  als  bloss  un- 
moralische, nicht  als  krankhafte  erscheinen,  zumal  da  vielfach  die  Grund- 
züge der  Krankheitsform  nur  angedeutet  und  die  unsittlichen  Impulse 
in  den  Vordergrund  gerückt  sind.  Bei  ihren  organischen  Nöthigungen 
zu  unerlaubten  Handlungen,  ihrer  Leicht  verletzlichkeit ,  Händel-, 
Schmähsucht,  ihrer  Neigung  zu  Intrigue,  Spott,  Persiflage,  kommen 
solche  Kranke  zudem  häufig  mit  dem  Strafgesetz  in  Conflikt.  Wird  dann 
die  Grundstörung  übersehen,  werden  die  (krankhaft)  gesteigerten  oder 
perversen  Triebe  und  unsittlichen  Neigungen  zum  Gegenstand  einer 
ausschliesslichen  und  analytischen  Beurtheilung  gemacht  und  die 
formelle  Logik  und  verständige  Redeweise  trotz  unvernünftigem 
Handeln  ausschliesslich  berücksichtigt,   so   liegt  die   Gefahr  einer  irr- 


118  Cap.  IX.    Periodisches  Irresein.    Diagnostische 

thümlichen  Auffassung  des  krankhaften  Zustands  als  eines  bloss  un- 
sittlichen nahe.  Für  die  klinisch-forensische  Diagnose  ergeben  sich 
hier  als  wichtige  Anhaltspunkte : 

Bei  den  fraglichen  Kranken  lassen  sich  erbliche  Anlage,  Schädel- 
missbildungen oder  frühere  Schädelverletzungen  nachweisen. 

Die  Anamnese  ergibt,  dass  die  vermeintlich  bloss  unsittlichen 
Impulse  und  Handlungen  wiederholt  in  annähernd  denselben  Zeitinter- 
vallen, unter  ganz  denselben  Umständen  und  in  derselben  Ausführungs- 
weise stattgefunden  haben. 

Sie  erweist  ihr  Aufgetretensein  zugleich  mit  anderweitigen  psy- 
chischen (lleizbarkeit,  Unstätigkeit,  Geschwätzigkeit  etc.)  und  soma- 
tischen (Schlaflosigkeit,  Congestionen,  Salivation  etc.)  auffälligen  Er- 
scheinungen und  ihr  Gebundensein  an  periodisch  wiederkehrende  so- 
matische Vorgänge  (z.  B.  Menstruation). 

Der  Status  praesens  des  Inhaftirten  ergibt  Symptome  eines  ma- 
nischen oder  melancholischen  Zustands,  die,  wenn  auch  zeitweise  kaum 
angedeutet,  gelegentlich  bei  Affekten  und  Alkoholexcessen  deutlicher 
zu  Tage  treten. 

Da  bei  diesen  periodischen  Störungen  somatische  Symptome 
integrirende  Erscheinungen  des  Krankheitsbilds  zu  sein  pflegen,  ist 
auch  auf  solche  zu  achten.  So  kann  die  Beobachtung  gastrische  Stö- 
rungen, Fluxion  zum  Gehirn,  neuralgische  Beschwerden,  Anomalien 
der  Pupille,  Nystagmus,  partielle  Faciallähmungen,  zeitweisen  Speichel- 
fluss,  fortschreitende  Abnahme  des  Körpergewichts  ergeben. 

Das  fragliche  Krankheitsbild  zeigt  Schwankungen  in  seiner  In- 
tensität und  ist  eines  Tags  wie  abgeschnitten.  Jetzt,  im  intervallären 
Zustand  zeigen  sich  aber  Symptome  von  Belastung  oder  überhaupt  einer 
dauernd  fortbestehenden  Störung  der  Gehirnfunktionen  in  Form  von 
abnormer  Gemüthsreizbarkeit,  mehr  weniger  deutlich  ausgesprochenem 
Schwachsinn,  zeitweisen  Fluxionen  zum  Gehirn,  Intoleranz  für  Alkohol  etc. 

In  diesem  intervallären  Zustand  erscheint  der  fragliche  Kranke 
mimisch  und  psychisch  als  eine  ganz  andere  Persönlichkeit  wie  er 
sie  im  Paroxysmus  darbot.  Bei  genügender  Zeit  der  Beobachtung 
lässt  sich  etwa  ein  neuer  Anfall  beobachten  und  constatiren,  dass 
dessen  Symptome  und  Verlauf  bis  in  das  kleinste  Detail  das  treue 
Abbild  des  vorausgehenden  sind.  Damit  ist  die  Diagnose  der  Geistes- 
krankheit und  speciell  der  periodischen  gesichert. 

Aber  auch  die  incriminirten  Handlungen  dieser  Kranken  dürfen 
zur  Beweisführung  herangezogen  werden,  jedoch  darf  dies  nur  im 
Zusammenhang  mit  der  Gesammtheit  der  Symptome  geschehen. 


Merkmale  desselben.     Dipsomanie.  119 

Als  besonders  wichtige  Handlungen  bezw,  Theilerscheinungen 
des  Krankheitszustands  ergeben  sich  periodisch  wiederkehrender  Drang 
zum  Stehlen,  Brandstiften,  Saufen,  zu  Nothzucht  und  Unzucht,  Vaga- 
bundiren. 

Diese  Handlungen  haben  durchaus  das  Gepräge  des  Zwangs- 
mässigen,  durch  innere  Nöthigung  erfolgenden. 

Das  Individuum  ist  sich  eines  Motivs  vielfach  gar  nicht  klar 
bewusst,  sein  Thun  steht  meist  in  grellem  Widerspruch  mit  seinen 
Lebensgewohnheiten  in  der  intervallären  Zeit. 

So  ergibt  eine  genaue  Beobachtung  beim  Kleptomanischen,  dass 
es  dem  Kranken  vielfach  nicht  sowohl  um  den  Besitz  und  die  Ver- 
werthung  des  Objekts,  als  vielmehr  um  die  Befriedigung  eines  krank- 
haften Drangs  zu  thun  ist.  So  kommt  es  vor,  dass  er  oft  werth- 
lose,  für  ihn  ganz  unbrauchbare  Dinge,  ja  zuweilen  sich  selbst 
bestiehlt,  dass  er  das  Gestohlene  nicht  benutzt,  öffentlich  und  rück- 
sichtslos stiehlt,  sodass  die  Ertappung  der  That  auf  dem  Fuss  folgen 
muss.  Die  Störung  der  Besonnenheit  ergibt  sich  auch  vielfach  aus 
dem  Umstand,  dass  der  Kranke  gar  nicht  versucht,  das  Gestohlene 
zu  verbergen,  den  Verdacht  von  sich  abzulenken. 

Solche  kleptomanische  Antriebe  werden  vorzugsweise  im  Beginn 
und  in  der  Periode  des  Abklingens  periodisch  maniakalischer  Erregungs- 
zustände beobachtet. 

Ebenso  fremdartig  und  pathologisch  erscheint  der  krankhafte 
Trieb  zum  Saufen,  die  Dipsomanie  oder  Poljdipsia  ebriosa. 

Es  handelt  sich  hier  um  zeitweise ,  meist  streng  periodisch  auftretende 
zwangsmässige  Gelüste  nach  Alkoholexcessen  bei  Menschen,  die  in  der  intervallären 
Zeit  den  Alkoholgenuss  gründlich  verschmähen.  In  der  Regel  lässt  sich  erbliche 
Belastung,  namentlich  Alkoholismus  in  der  Ascendenz  nachweisen.  Das  Trieb- 
artige, Zwangsmässige  des  Bedürfnisses  ergibt  sich  aus  der  abscheulichen  Gier, 
mit  welcher  es  befriedigt  wird.  Es  ist  solchen  Dipsomanen  dann  gar  nicht  um 
die  Qualität,  sondern  nur  um  die  Quantität  zu  thun.  Mit  einer  unglaublichen 
Hast  und  Gier  bemächtigen  sie  sich  des  berauschenden  Getränks,  und  wäre  es 
selbst  der  ordinärste  Fusel  im  unsaubersten  Gefäss.  Sie  schreien  und  toben  bis 
ihr  Gelüste  befriedigt  wird.  Ist  der  Paroxysmus  dann  vorbei,  so  kommen  solche 
Unglückliche  mit  einem  wahren  Ekel  vor  sich  selbst  und  dem  Branntwein  wie- 
der zu  sich.  Sperrt  man  sie  im  Beginn  des  Paroxysmus  ein  und  befriedigt  nicht 
ihre  Gier,  so  verläuft  der  Anfall  als  Tobsucht. 

Die  Dauer  dieser  noch  wenig  erforschten  Krankheitszustände  beträgt  Tage 
bis  Wochen,  die  Wiederkehr  der  Anfälle  erfolgt  nach  Wochen  bis  Monaten. 
Schlaflosigkeit,  psychische  Unlust,  Bewegungsunruhe  leiten  den  Anfall  ein,  dessen 
Symptome  in  anhaltender  Schlaflosigkeit,  Erscheinungen  von  Intoxication ,  die 
aber  auffallend  gering  sind  und  auf  eine  ungewöhnliche  Toleranz  für  Alkohol 
im  Anfall  selbst  hindeuten,  und  in  maniakalischer  Aufregung  bestehen. 


][20  Gap.  IX.    Periodisches  Irresein.    Beob.  30. 

Ein  Stadium  der  Apathie,  tiefer  geistiger  und  körperlicher  Erschöpfung 
vermittelt  den  Uebergang  in  den  interparoxysmellen  Zustand. 

Beob.  30.  Diebstahl.  Mania  periodica.  Ackerknecht  Frye,  44 
Jahre,  hat  einen  Vater  und  eine  Schwester,  die  psychopathisch  waren,  eine  Ver- 
wandte der  Mutter  soll  geisteskrank  gewesen  sein.  Mit  26  Jahren  Typhus  abdom. 
Seitdem  geistig  angeblich  verändert.  Im  Alter  von  30—35  Jahren  häufig  Alkohol- 
excesse.  In  dieser  Zeit  auch  Verlust  eines  Erbschaftsprocesses.  Im  Mai  1865 
Entwendung  eines  Radbeschlags  und  einer  Wachstuchtischdecke.  1867  planloses 
Umherziehen,  nutzloses  Vergeuden  der  Ersparnisse,  Unstetigkeit.  Zunahme  dieses 
unsteten  Wesens  im  Winter  1867/68;  dabei  vager  Verfolgungswahn,  verkehrte 
Handlungen  (Entwendung  von  fremdem  Eigenthum,  Fällen  von  Bäumen,  Ver- 
setzen von  Grenzsteinen,  Zerstören  von  Gegenständen,  Störung  der  öffentlichen 
Ruhe  etc.).  Versetzung  in  die  Irrenanstalt  im  März  1868.  Genesen  entlassen 
am  4.  Juli. 

Anfangs  1873  Wiederkehr  der  alten  Unstetigkeit:  Unruhe,  Arbeitsscheu, 
Vagabundiren,  Betteln,  Belästigung  des  Publikums.  Anfang  März  Entwendung 
zweier  Stücke  Leinwand  von  einer  Bleiche,  Ende  Mai  Viktualiendiebstahl  mittelst 
Einbruchs.     Verhaftung.     Geständniss.' 

Dem  Untersuchungsrichter  erscheint  Frye  etwas  geistesschwach;  seinen 
Leinwanddiebstahl  entschuldigt  er  mit  der  nichtigen  Ausflucht,  der  Besitzer  sei 
ihm  16  Thaler  schuldig  gewesen.  Der  Arbeitgeber  des  Frye  fand  ihn  geistes- 
krank seit  18.  April.  Im  Arreste  Tobsucht,  Versetzung  in  die  Irrenanstalt.  Ge- 
nesen entlassen  am  30.  September.  Der  Genesene  bestreitet  seine  Zurechnungs- 
fähigkeit  zur  Zeit  der  Diebstähle,  behauptet  keine  Erinnerung  für  die  Zeit  seiner 
Krankheit  zu  haben  (!)  und  widerruft  sein  Geständniss  vom  3.  Juni. 

Gutachten:  Frye  war  zur  Zeit  seiner  Diebstähle,  d.  h.  seit  Anfang  März 
schon  geisteskrank. 

Gründe:  Frye  ist  erblich  disponirt,  1868  unzweifelhaft,  1867  und  1865 
höchst  wahrscheinlich  schon  geisteskrank  gewesen. 

Bei  der  Aufnahme  im  August  1873  war  er  unstät,  ideenflüchtig,  schlaflos, 
ruhelos,  einsichtslos,  in  seiner  Besonnenheit  gestört.  Es  handelt  sich  bei  ihm 
offenbar  um  Anfälle  eines  periodischen  Irrsinns.  Es  ist  dieser  Krankheitsform 
eigen,  dass  die  einzelnen  Anfälle  bis  in's  Detail  einander  gleichen. 

Die  ärztlichen  Berichte  vom  Jahre  1868  und  1873,  obwohl  von  verschie- 
denen Beobachtern,  stimmen  fast  wörtlich  über  die  Detailsymptome  der  Anfälle 
des  Frye  überein.  Sie  äussern  sich  in  Arbeitsscheu,  Unstetigkeit,  Schlaflosigkeit, 
Vagabundiren,  Eigenthumsbeschädigung.  Mit  Steigerung  des  krankhaften  Zu- 
standes  tritt  Ideenflucht,  Stehltrieb,  Zerstörungssucht  und  Neigung  zu  Thätlich- 
keiten  auf.  Im  Hintergrunde  ist  die  Idee  des  Verfolgt-,  Beeinträchtigtwerdens, 
wie  so  häufig  bei  solchen  Kranken. 

Die  Anfangssymptome  dieses  mit  krankhaften  Trieben  beginnenden  Leidens 
werden  von  Laien  in  der  Regel  als  moralische  Verkehrtheit  gedeutet.  Offenbar 
war  dies  auch  bei  Frye  der  Fall.  Sein  Diebstahl,  Anfangs  März,  muss  bereits 
als  ein  Symptom  der  Geisteskrankheit,  die  sich  später  mehr  und  mehr  ent- 
wickelte, aufgefasst  werden. 

Frye  ist  ja  ausserhalb  seiner  Anfälle  ein  ordentlicher  Mensch  und  tüch- 
tiger Arbeiter.  Seine  Amnesie  ist  erfahrungsgemäss  glaubhaft  (?)  und  ein  wei- 
terer Beweis    für   seine   krankhafte  Geistesstörung   während   deren   Dauer.     Frye 


Beob.  31.    Mania  periodica.    Brandstiftung.  121 

wird    voraussichtlich   noch    mehr   Anfälle    erleiden    und    ist    desshalb    rechtzeitig 
wieder  einer  Anstalt  zu  übergeben. 

Am  21.  April  1874  kehrte  Frye  freiwillig  in  diese  zurück,  nachdem  er 
seit  4 — 6  Wochen  verändert  war,  an  Kopfschmerz,  Schlaflosigkeit,  Arbeitsscheu 
gelitten  und  Neigung  zum  Vagabundiren  gezeigt  hatte.  Ein  eigentlicher  mania- 
kalischer  Zustand  ist  bis  jetzt  noch  nicht  eingetreten.  Frye  wurde  freigesprochen. 
(Koster  Irrenfreund  1874,  Nr.  12.) 

Beob.  31.  Mania  periodica.  Brandstiftung.  Am  Ostersonntag  den 
16.  April  1876  um  4  Uhr  Nachmittags,  während  in  der  ebenerdigen  Schankstube 
viele  Gäste  waren,  kam  die  Wirthin  Margarethe  Primster  aus  ihrer  Wohnung  im 
ersten  Stock  in  die  Wirthsstube  herab  und  sagte  lachend,  es  brenne  droben. 
Dann  lief  sie  vor  das  Haus  und  sah  lachend  und  schreiend  dem  Brand  zu.  Sie 
wurde  bald  darauf  verhaftet.  Im  Gefängniss  war  sie  schlaflos,  unstet,  ge- 
schwätzig, lachte  viel  vor  sich  hin.  Im  ersten  Verhör  vom  29.  April  fiel  sie 
durch  ihre  Heiterkeit,  ihr  lebhaftes  Mienenspiel  und  unstetes  Wesen,  ihren  ab- 
springenden Ideengang  auf.  Sie  behauptete,  an  dem  Brand  unschuldig  zu  sein, 
derselbe  sei  dadurch  entstanden,  dass  ihr  Mann,  als  er  sich  eine  Pfeife  anzündete, 
brennende  Streichhölzer  in  eine  Ecke,  in  welcher  Stroh  lag,  achtlos  geworfen  habe. 

Der  Untersuchung  constatirtei  indessen,  dass  sie  selbst  den  Brand  verursacht 
hatte.  Die  Umstände  ihrer  That  ist  sie  sich  augenscheinlich  nicht  mehr  bewusst. 
Ein  Motiv  zu  dieser  Brandstiftung  suchte  man  vergebens.  Benehmen  der  Thäterin 
und  Thatumstände  Hessen  eine  gerichtsärztliche  Untersuchung  ihres  Geistes- 
zustands nothw endig  erscheinen.  Die  P.  ist  59  J.  alt,  mittelgross,  von  schlaffer 
Muskulatur,  welker  Haut.  Der  Schädel  bietet  ausser  einer  schmalen  niederen  . 
Stirn  keine  Besonderheiten.  Pupillen  eng,  träge  reagirend.  Gesicht  geröthet. 
Miene  belebt,  lebhaftes  Mienenspiel,  rasche  Bewegungen  bei  sichtlicher  Bewegungs- 
unruhe.    Die  vegetativen  Organe  bieten  keine  Abnormitäten. 

Die  P.  hat  als  Kind  an  Convulsionen  gelitten,  später  Ruhr  und  eine 
schwere  Lungenentzündung  durchgemacht.  Die  Menstruation  dauerte  vom  16. — 48. 
Jahr.  Sie  hat  7  Mal  geboren.  Seit  dem  Ausbleiben  der  Menses  leidet  sie  häufig 
an  Schwindel,  Kopfschmerz,  Herzklopfen,  Einschlafen  der  Füsse,  schweren  und 
und.  ängstlichen  Träumen.  Angeblich  wegen  ihres  Kopfschmerzes  ergab  sie  sich 
in  den  letzten  Jahren  dem  Uebergenuss  von  Spirituosen.  Früher  arbeitsam  und 
vernünftig,  soll  sie  in  den  letzten  Jahren  oft  berauscht  gewesen  sein  und  eine 
Aenderung  ihres  Wesens  geboten  haben.  Sie  wirthschaftete  schlecht,  so  dass  die 
Familie  verschuldet  wurde.  Vor  einem  Jahr  überheizte  sie  einmal  den  Ofen 
und  steckte  Teller  in's  Feuer.  Seit  3  Jahren  hält  sie  die  Umgebung  für  nicht 
richtig  im  Kopf.  Nach  Pausen  von  4 — 5  Wochen,  in  welchen  sie  ruhig  ist,  meist 
im  Bett  liegt,  wenig  spricht,  sich  die  Hände  reibt  und  mit  allerlei  kindischen 
Spielereien  die  Zeit  vertreibt,  wird  sie  aufgeregt,  unstet,  schlaflos,  vagabundirt 
herum,  ergibt  sich  Alkoholexcessen,  schimpft  und  schreit  im  Dorfe  herum,  ist  in 
ihrer  Stimmung  äusserst  wechselnd,  launenhaft,  unverträglich,  äusserst  reizbai", 
zornmüthig  und  boshaft.  Solche  Zustände  dauern  4—6  Wochen,  worauf  sie 
wieder  ruhig  und  still  wird.  Seit  etwa  einem  Jahr  haben  ihre  Geistesfähigkeiten 
sichtlich  abgenommen,  auch  ist  sie  äusserst  reizbar  geworden,  so  dass  man  ihr 
nichts  recht  machen  kann. 

In  einem  derartigen  Aufregungszustand  befand  sich  die  P.  wieder  seit 
Anfang  April. 


122  Cap.  IX.    Periodiselies  Irresein. 

Bei  der  Exploration  am  5.  Mai  ist  sie  sehr  gesprächig,  voll  heiterer  Ein- 
fälle, äusserst  abspringend  in  ihrem  Ideengang.  Sie  lacht  viel,  bewegt  sich  mit 
Vorliebe  auf  dem  sexuellen  Gebiete,  glossirt  die  körperliche  Untersuchung  mit 
erotisch  gefärbten  Reden,  thut  dabei  hold  verschämt.  Ihre  Auffassung  der  Lage 
ist  eine  optimistische.  „Zu  essen  haben  wir,  lustig  sind  wir,  Laus'  haben  wir 
keine."  Sie  habe  es  ihr  Lebtag  nicht  so  gut  gehabt  wie  hier  (Spital).  Der 
Aufenthalt  hier,  der  ihr  sehr  komisch  vorkommt,  gebührt  ihr  nach  ihrer  Meinung, 
denn  sie  sei  ja  „damisch"  im  Kopf  Bezüglich  des  Brandes  bleibt  sie  bei  ihrer 
Behauptung,  ihr  Mann  habe  durch  unvorsichtiges  Wegwerfen  von  Zündhölzchen 
in's  Stroh  denselben  verursacht. 

Die  P.  schlaft  wenig,  treibt  sich  Nachts  viel  ausser  Bett  herum.  Sie  macht 
sich  beständig  zu  thun,  hält  aber  bei  keiner  Arbeit  aus,  nestelt  fast  fortwährend 
an  ihren  Kleidern  herum,  macht  sich  mit  ihren  Haaren  zu  schaffen,  mischt  sich 
in  die  Gespräche  der  anderen  Kranken,  ist  sehr  redselig,  spricht  mit  Vorliebe 
von  sexuellen  Verhältnissen  in  sehr  derben  Ausdrücken.  Sie  zeigt  deutliche 
Spuren  erotischer  Erregung,  entblösst  sich  gern  vor  den  Aerzten.  Ab  und  zu 
bricht  sie  in  ein  äusserlich  ganz  unmotivirtes  Lachen  aus.  Die  vegetativen  Pro- 
cesse  sind  ganz  ungestört,  ebensowenig  sind  motorische  Störungen  während  der 
mehrwöchentlichen  Beobachtungszeit  zu  constatiren. 

Am  30.  Juni  hörte  der  maniakalische  Zustand,  in  welchem  Pat.  eingeliefert 
worden  war,  plötzlich  auf  Die  P.  erschien  in  der  Folge  ruhig,  geordnet,  jedoch 
leicht  erregbar.  Am  2.  August  stellte  sich  ein  dem  vorausgehenden  Anfall  typisch 
c^ngruenter  ein  und  dauerte  bis  zum  15.  September.  In  der  Folge  kehrten 
solche  Anfälle  in  Zwischenräumen  von  1  Monat  regelmässig  wieder  und  dauerten 
jeweils  20—35  Tage.  Der  Beweis  einer  Mania  periodica  zur  Zeit  der  incriminirten 
That  wurde  erbracht  und  Pat.  zur  dauernden  Versorgung  einer  Irrenanstalt  zuge- 
wiesen.    (Eigene  Beobachtung.) 

Beob.  32.  Dipsomania  menstrualis  periodica.  Frau  Mateschko, 
Lehrersfrau,  47  J.,  Mutter  von  4  Kindern,  die  sämmtlich  neuropathisch  und  jäh- 
zornig sind,  stammt  von  einem  trunksüchtigen  Vater  und  einer  jähzornigen,  reiz- 
baren Mutter.  2  Schwestern  sind  im  Irrenhause.  Pat.  war  von  Kindheit  auf 
sehr  zornmüthig,  reizbar,  wurde  irrsinnig  zur  Zeit  ^der  Pubertät  im  15.  Jahre 
und  genas  nach  8  Monaten.  Seit  dieser  Zeit  kam  es  zu  periodischem  Irresein 
in  Form  von  Dipsomanie,  das  Anfangs  nur  in  Pausen  von  7«  Jahr,  später  viertel- 
jährlich, seit  17  Jahren  zur  Zeit  der  Menses  sich  einstellte.  Im  17.  Jahr  hatten 
sich  vorübergehend  Ohnmachtanfälle,  jedoch  ohne  alle  krampfhaften  Erscheinungen 
gezeigt.  Die  Dauer  der  dipsomanischen  Anfälle  betrug  4—12  Tage.  Sie  traten 
meist  prämenstrual  ein,  seltener  postmenstrual.  Im  ersten  Fall  fanden  sie  ge- 
wöhnlich mit  dem  Eintritt  des  menstrualen  Blutflusses  ihren  Abschluss.  Die 
ersten  Zeichen  des  nahenden  Anfalls  waren  heftige  Congestionen  zum  Kopf  Pat. 
wurde  dann  hochgradig  reizbar,  zornig,  brutal,  entwickelte  einen  vorzugsweise 
in  unangenehmen  Reproduktionen  sich  bewegenden  Gedankendrang,  unwider- 
stehlichen Drang  zum  Saufen,  wurde  unhaltbar,  schlaflos,  im  Bewusstsein  tief 
gestört,  stürzte  gierig,  was  sie  nur  von  alkoholischen  Getränken  bekommen  konnte, 
hinunter,  tobte,  schäumte  vor  Wuth,  wälzte  sich  am  Boden  wenn  man  sie  an 
der  Befriedigung  dieses  Drangs  zu  hindern  versuchte.  Es  soll  dann  vorgekommen 
sein,  dass  sie  sogar  zur  Petroleumsflasche  griff.  Wenn  sie  einige  Tage  fortge- 
trunken hatte,  stellten  sich  dann  Visionen  ein  (Männer  mit  Messern,  schreckhafte 


I 


Liicida  intervalla.  123 

Fratzen  etc.,  so  dass  Pat.  in  heftige  Angst  gerieth  und  zitterte).  Die  Lösung 
des  Anfalls  war  immer  eine  plötzliche.  Pat.  bekam  Erbrechen,  verfiel  in  tiefen 
Schlaf  und  erwachte  aus  diesem  lucid  ,  mit  nur  ganz  summarischer  Erinnerung 
für  die  Anfallserlebnisse.  Sie  bedurfte  dann  noch  einiger  Tage,  um  sich  von 
den  Folgen  des  Anfalls  und  der  Alkoholintoxication  zu  erholen. 

Intervallär  war  sie  hochgradig  reizbar,  zeigte  grossen  Stimmungswechsel, 
perhorrescirte  den  Genuss  von  Spirituosen.  In  den  letzten  Jahren,  wo  nur  selten 
ein  Menstrualtermin  ohne  dipsomanischen  Anfall  vorübergegangen  war,  hatten 
sich  mit  dadurch  bedingter  Häufung  der  Alkoholexcesse  immer  deutlicher  die 
somatischen  und  psj^chischen  Erscheinungen  des  Alkohol,  chron.  (speciell  intel- 
lectuelle  und  ethische  Defekte,  chronischer  Magencatarrh,  Vomitus  matutinus) 
eingestellt.     (Eigene  Beobachtung.) 

Weitere  Fälle:  Tamburini,  Rivista  sperim.  1876,  fascic.  1  u.  2  (perio- 
dische Manie.  Geflügeldiebstahl  in  krankhaftem  Hungergefühl  mit  Verzehren  des 
rohen  Fleisches).  Kelp,  Viertel] ahrschr.  f.  ger.  Med.  XVH.  H.  1  (Mel.  periodica. 
Diebstähle).  Liman,  zweifelh.  Geisteszustände,  Fall  38  (Diebstähle  im  man.  Stadium 
einer  Folie  circulaire). 

Die  Zeiträume  beim  (periodisch)  Irrsinnigen,  während  welcher 
die  Symptome  der  dem  Irresein  zu  Grunde  liegenden  Hirnstörungen 
latent  sind,  ohne  dass  der  Krankheitsprocess  ausgeglichen  ist,  pflegt 
man  lucida  intervalla  ^)  zu  nennen.  Sie  sind  von  dem  Reeidiv  zu 
unterscheiden,  bei  welchem  der  wiederholte  Krankheitsanfall  als  durch- 
aus neue  Krankheitsinvasion  erscheint  und  von  der  Remission,  wo 
nur  eine  Abnahme  der  In-  und  Extensität  der  übrigens  in  jedem  Zeit- 
abschnitt des  Krankh ei ts Verlaufs  deutlich  wahrnehmbaren  Symptome 
einer  psychischen  Krankheit  vorhanden  ist. 

Solche  lucida  intervalla  kommen  thatsächlich  vor,  aber  sie 
sind  selten.  Oberflächliche  Beobachtung  verwechselt  leicht  blosse 
Remissionen  mit  ihnen.  Am  reinsten  sind  sie  in  der  intervallären 
Zeit  des  periodischen  Irreseins,  möglich  in  den  affektiven  Formen 
des  Irreseins  überhaupt  und  im  Wahnsinn. 

Ihre  Bedeutung  wird  wesentlich  reducirt  durch  die  Thatsache, 
dass  die  Krankheit  hier  nur  äusserlich  schweigt,  innerlich  aber  fort- 
besteht, dass  es  schwierig,  ja  oft  unmöglich  ist,  das  lucidum  inter- 
vallum zeitlich  von  den  letzten  bemerkbaren  und  den  ersten  wieder- 
auftretenden Symptomen  der  Krankheit  abzugränzen,  dass  der  lucide 
Zustand  nicht  selten  nur  ein  vermeintlicher  ist ,  weil  der  Kranke 
Krankheitssymptome  absichtlich  verbirgt,   dissimulirt. 


0  Marc,  Geisteskrankheiten,  übers,  von  Ideler,  IL  p.  361.  Flemming, 
Psychosen  p.  262.  Legrand  du  Saulle,  la  folie  devant  les  tribun,  1864.  v.  Krafft, 
Friedreich's  Blätter  1871. 


]^24  Cap,  IX.    Wahnsinn.    Primäre  Verrücktheit. 

Der  Schein  der  Geistesgesundheit  verbürgt  noch  nicht  die  wirk- 
liche. Selbst  bei  den  periodischen  Fällen,  wo  man  noch  am  ehesten 
von  lucidum  intervallum  in  der  intervallären  Zeit  sprechen  könnte,  zeigt 
eine  aufmerksame  tägliche  Beobachtung,  dass  schon  nach  wenigen 
Anfällen  tiefere  Veränderungen  der  Hirnthätigkeit ,  Gemüthsreizbar- 
keit,  grundlose  Verstimmungen,  dauernde  Veränderungen  des  Cha- 
rakters in  pejus  mit  dann  und  wann  auftretenden  schlimmen  Nei- 
gungen und  Trieben,  Gedächtnissschwäche,  Schwachsinn,  Intoleranz 
für  Spirituosen  etc.,  die  Regel  sind. 

Auf  Grund  dieser  Thatsachen  ist  es  nicht  wohl  möglich,  lucida 
intervalla  im  Criminalforum  zur  Geltung  zu  bringen.  Die  neueren 
Strafgesetzgebungen  erwähnen  derselben  auch  nicht  und  fordern  nur 
den  Beweis  der  Geistesgesundheit  als  Grundlage  der  Schuldigsprechung. 
Ein  im  lucidum  intervallum  befindlicher  Irrer  ist  ebenso  wenig  geistes- 
gesund als  der  Wechselfieberkranke,  der  gerade  kein  Fieber,  als  der 
Epileptiker,  der  gerade  keinen  Anfall  hat,  körperlich  gesund  betrachtet 
werden  können.  Es  ist  unmöglich,  zu  bestimmen,  ob  auf  eine  im 
„lucidum  intervallum"  begangenen  That  nicht  psychopathische  Momente 
aus  der  Zeit  des  letzten  Krankheitsanfalls,  oder  Prodrome  des  folgen- 
den, Einfluss  übten.  Es  ist  mit  den  Erfahrungen  und  Grundsätzen  der 
gerichtlichen  Psychopathologie  nicht  vereinbar,  dass  Jemand,  der  kurz 
vor  und  nach  einer  That  erwiesenermassen  seelengestört  war,  und 
dessen  neulicher  Krankheitsanfall  nicht  als  Recidive  sich  deutlich  er- 
weisen lässt,  frei  gehandelt  und  somit  die  criminelle  Verantwortung 
für  seine  That  zu  tragen  habe.  Wo  sich  die  subjektive  Schuldfrage 
nicht  zweifellos  feststellen  lässt,  sollte  Milde  walten  und  auf  Strafe 
verzichtet  werden. 

3.   Wahnsinn  (primäre  Verrücktheit). 

Literatur.     Spielmann,   Diagnostik  p.   460.     Legrand,  dn  Saulle,  le  delire  des 
persecutions.  Paris  187L 

Vom  forensischen  und  auch  vom  klinischen  Standpunkt  aus 
besteht  die  Signatur  des  „Wahnsinns"  darin,  dass  hier  primär,  d.  h. 
ohne  vorausgehende  und  der  Wahnbildung  wesentlich  zu  Grund 
liegende  Gemüthsbewegungen ,  wie  in  der  Melancholie  und  Manie, 
Wahnideen  (und  Sinnestäuschungen)  sich  entwickeln,  die  zudem  grosse 
Beständigkeit  und  Neigung  zu  systematischer  Verknüpfung  zeigen,  im 
Verlauf  zu  ganz  geänderten  Beziehungen  der  Persönlichkeit  zur  Aussen- 
welt,  ja  selbst  zur  Umänderung  der  psychischen  Person  in  eine  ganz 


Allgemeine  diagnostische  Gesichtspunkte.  125 

andere  wahnhafte  führen.  Der  Standpunkt,  von  dem  aus  derartige 
Kranke  die  Aussenwelt  beurtheilen ,  ist  ein  ver-rückter ,  sie  sind 
wahn- sinnig. 

Damit  ergeben  sich  mannigfache  Collisionen  mit  Gesetz  und 
Gesellschaft  und  forensische  Beziehungen. 

Die  forensische  Bedeutung  solcher  Fälle  von  Wahnsinn  wird 
aber  noch  dadurch  gesteigert,  dass  die  Wahnideen  nicht  immer  gerade- 
zu das  Gepräge  solcher  an  sich  tragen,  im  Gegentheil  die  Möglichkeit 
einer  realen  Begründung  (z.  B.  Verfolgungswahn,  Wahn  ehelicher 
Untreue)  enthalten,  dass  diese  Kranken  ihre  Wahnideen  gegebenenfalls 
geschickt  zu  verbergen  wissen,  dass  ihre  äussere  Besonnenheit  meist 
erhalten,  ihr  Vermögen,  logisch  zu  schliessen  und  zu  urtheilen,  im 
Allgemeinen  vorhanden  ist.  Da  zudem  heftige  Gemüthsaufregungen 
nicht  oder  nur  gelegentlich  sich  einstellen ,  ist  die  Erkennung  und 
richtige  Beurtheilung  des  abnormen  Geisteszustands  nach  Umständen 
eine  sehr  schwierige  und  liegt  die  Gefahr  nahe,  dass  solche  tief  ge- 
störte Kranke  gar  nicht  als  solche  erkannt  oder  als  mit  einer  Schrulle 
oder  „fixen  Idee"  behaftet  erklärt  oder  ihre  aus  Wahnideen  resultiren- 
den  verkehrten  und  strafbaren  Handlungen  als  solche  des  Affekts,  der 
Leidenschaft,  des  Fanatismus,  der  Immoralität  falsch  beurtheilt  werden. 

Die  wissenschaftliche  Diagnose  hat  von  dem  Einzelsymptom 
Wahn  vorläufig  abzusehen   und  den  Gesammtzustand  zu  ermitteln. 

Diagnostisch  wichtig  ist: 

1.  dass  diese  Wahnsinnigen  oder  Verrückten  meist  von  Kinds- 
beinen auf  zur  Krankheit  disponirte  Individuen  sind,  und  dass  mannig- 
fache Belastungszeichen  funktionell  wie  anatomisch  nachweisbar  zu 
sein  pflegen.  Diese  Belastungserscheinungen  äussern  sich  neurotisch 
in  Zuständen  von  Neurasthenie,  hypochondrischen,  hysterischen,  epi- 
leptischen Symptomen,  Neigung  zu  Delirien  und  Hallucinationen  bei 
geringfügigen  somatischen  Anlässen  (Fieber,  vegetative  Erkrankun- 
gen etc.),  in  vasomotorischen  und  geschlechtlichen  Funktionsanomalien. 
Psychisch  und  charakterologisch  fallen  Anomalien  der  Stimmung,  des 
Temperaments  (abnorme  Gemüthsreizbarkeit),  Verschrobenheit  der  Ge- 
fühle, der  Anschauungen,  der  Logik,  der  Handlungsweise  auf  und 
vielfach  entwickelt  sich  die  eigentliche  Krankheit  unvermerkt  aus  der 
Besonderheit  einer  originär  abnormen  charakterologischen  Veran- 
lagung (Verfolgungswahn  aus  misstrauischer,  religiöser  Wahnsinn  aus 
bigotter  Charakterrichtung  etc.).  Somatisch  erscheinen  Anomalien  in 
der  Entwicklung  des  Schädels  wichtig.  Viele  dieser  verschrobenen 
Menschen    weisen   zugleich    verschobene    (rhombocephale)    Köpfe   auf. 


126  C^P-  IX.    Wahnsinn.    Verfolgungswahnsinn. 

2.  Die  krankhafte  Anlage  ist  naeist  eine  erblich  bedingte  durch 
Trunksucht,  Hysterie,  Epilepsie,  Verschrobenheit  des  Charakters  bis 
zu  ausgesprochenem  Irrsinn  der  Erzeuger.  Seltener  ist  die  Prädis- 
position durch  eine  infantile  Gehirnkrankheit,  eine  Kopfverletzung, 
Typhus,  Onanie  eine  erworbene. 

3.  Als  wichtige  Gelegenheitsursachen  zum  Ausbruch  der  Krank- 
heit ergeben  sich  physiologische  Lebensphasen  (Pubertät,  Klimacterium) 
oder  organische  Momente  wie  Uterinleiden,  acute  und  chronische  Krank- 
heiten, onanistische  Excesse. 

4.  Die  Wahnideen  und  Sinnestäuschungen  sind  nicht  die  ersten 
'   Symptome    der   Krankheit.      Es    geht    ihnen    ein   Monate    bis    Jahre 

dauerndes  Incubationsstadium  der  Ahnungen,  Vermuthungen,  Illusio- 
nen vorher.  Das  Höhestadium  der  Krankheit  stellen  Wahnideen  und 
Sinnestäuschungen  dar,  die  dann  häufig  die  Triebfedern  zu  strafbaren 
Handlungen  werden.  Da  jene  nicht  corrigirt  werden  können,  im 
Gegentheil  zu  einer  totalen  Aenderung  der  Persönlichkeit  und  ihrer 
Beziehungen  zur  Aussenwelt  führen,  ist  hier  nothwendig  die  Zu- 
rechnungsfähigkeit aufgehoben,  denn  die  etwaigen  strafbaren  Hand- 
lungen gehen  von  einem  neuen  krankhaften,  der  alten  Persönlichkeit 
ganz  fremden  Ich  aus  und  können  somit  jener  nicht  mehr  zugerechnet 
werden.  Je  nach  dem  Inhalt  der  Wahnideen  ergeben  sich  auf  diesem 
Krankheitsgebiet  verschiedene  Wahnsinnszustände. 

a.    Der    Verfolgungswahn  sinn. 

Klinische  Ueber sieht:  Den  Kern  dieser  forensisch  wichtigsten,  weil 
häufigsten  und  die  Gesellschaft  am  meisten  bedrohenden  Form  des  Wahnsinns 
stellt  der  Wahn  einer  Bedrohung  an  Leib,  Leben,  Ehre  oder  Besitzthum  durch 
offene  oder  geheime  Feinde  dar.  Charakterologisch  handelt  es  sich  meist  um  stille, 
leutscheue,  verschlossene,  leicht  verletzbare,  reizbare,  misstrauische  Persönlichkeiten. 
Das  Incubationsstadium  ist  ein  bis  zu  Jahren  dauerndes,  jedoch  kommen  auch 
acut  sich  entwickelnde  Fälle  vor.  Im  ersteren  Fall  gehen  Monate  bis  Jahre  die 
Symptome  einer  hysterischen,  hypochondrischen  Neurose  oder  einer  Neurasthenia 
spinalis  in  Folge  onanistischer  Excesse  vorher,  nicht  selten  auch  die  körperlichen 
Beschwerden  eines  Uterinleidens,  des  Klimacterium  oder  eines  chron.  Magencatarrhs. 
Die  Umgebung  kommt  dem  Kranken  anders  und  verdächtig  vor.  Er  fühlt  sich 
beobachtet,  zurückgesetzt,  man  will  ihm  nicht  wohl,  weicht  ihm  aus.  Später  be- 
merkt er,  dass  man  auf  ihn  deutet,  über  ihn  spöttelt,  auf  ihn  in  der  Predigt, 
in  der  Zeitung  stichelt.  Der  Kranke  wird  noch  scheuer,  reizbarer,  misstrauischer 
als  er  von  jeher  war,  er  zieht  sich  von  der  Aussenwelt  zurück,  stellt  wohl  auch 
gelegentlich  Personen  seiner  Umgebung  über  ihr  liebloses  feindliches  Benehmen 
zur  Rede.  Eine  zufällige  Störung  des  somatischen  Befindens  (fieberhafte  Krank- 
heit, schlaflose  Nächte,  Steigerung  uterinaler  oder  gastrischer  Beschwerden  etc.) 
führt  nach   längerer  oder  kürzerer  Zeit  auf  die  Höhe  der  Krankheit.     Es  treten 


Verfolgungswahnsinn.     Klinische  Uebersicht.  127 

Hallucinationen  auf.  Der  Kranke  hört  Stimmen,  die  ihn  an  Ehre  und  Leben  be- 
drohen, geheime  Plänen  wahnhafter  Verfolger  enthüllen.  Die  paralgischen  und 
neuralgischen  Sensationen  auf  Grund  klimacterischer,  uterinaler,  gastrointestinaler 
Befindensstörungen  oder  hysterischer,  hypochondrischer  und  durch  Onanie  bedingter 
neurasthenischer  Zustände  werden  im  Sinn  der  Verfolgung  empfunden.  Es  sind 
Insekten,  Schlangen  auf  der  Haut,  Thiere  im  Leib.  Die  Verfolger  zerstören  die 
Gesundheit  mit  giftigen  Gasen,  Pulvern,  geheimnissvollen  Maschinen  (Electricität, 
Sympathie,  Magnetismus  etc.),  sie  eskamotiren  Organe,  treiben  geschlechtlichen 
Unfug  (Coitushallucinationen,  Attentate  auf  die  Leibesfrucht),  Masturbation,  treiben 
den  Samen  ab  (Pollutionen),  Luft  in  die  Harnröhre,  stechen,  ziehen  an  den  Geni- 
talien, saugen  das  Rückenmark  aus,  verflüssigen  das  Hirn  etc.  Das  Essen  schmeckt 
nach  Arsenik,  Koth,  Urin,  alles  riecht  nach  Fäulniss,  verbrannten  Kleidern.  Man 
sucht  den  Kranken  mit  giftigen  Dünsten  zu  betäuben  (Kopfdruck  bei  Magencatarrh 
und  Neurasthenie),  hemmt  ihm  das  Denken,  macht  ihm  Schwindel,  sucht  ihn  um 
den  Verstand  zu  bringen,  um  sich  seiner  im  Irrenhaus  entledigen  zu  können. 

Endlich  setzen  sich  auch  die  bewussten  Gedanken  in  Hullucinationen  um 
—  die  Feinde  errathen  die  Gedanken,  spioniren  sie  aus. 

Ueberraschend  schnell  entwickelt  sich,  wesentlich  unterstüzt  durch  Stimmen, 
ein  systematischer  Verfolgungswahn.  Je  nach  politischer  Anschauung  und  socialer 
Stellung  erkennt  sich  der  Kranke  als  das  Opfer  einer  Bande  von  Jesuiten,  Social- 
demokraten,  Freimaurern  u.  s.  w.  oder  er  ist  verfolgt  von  der  Polizei,  von 
diesem  oder  jenem  Nebenbuhler,  Nachbar,  Hausgenossen.  Der  Kranke  erschrickt 
heftig,  um  seine  Besonnenheit  ist  es  geschehen.  Die  harmlosesten  Vorgänge  in 
der  Aussenwelt,  Reden  und  Handlungen  der  Umgebung,  selbst  physiologische 
Sensationen  des  eigenen  Körpers  werden  im  Sinn  des  Wahns  gedeutet.  Es  gibt 
schliesslich  keine  ungefärbte  Wahrnehmung  mehr  für  den  Kranken.  Einbildungen 
Illusionen,  Hallucinationen,  Wahnideen  fälschen  die  Vorgänge.  Um  die  Ruhe  und 
Besonnenheit  des  Kranken  ist  es  geschehen.  Als  natürliche,  so  zu  sagen  physiolo- 
gische Reaktion  auf  die  krankhaften  feindlichen  Wahrnehmungen  entstehen  affekt- 
artige Zustände  der  Bestürzung,  Angst,  Verzweiflung.  Zuweilen  erscheinen  daneben 
spontane  Zustände  heftiger  Präcordialangst.  Remissionen  und  selbst  Intermissionen 
des  Leidens  sind  in  allen  Phasen  desselben  möglich.  Mit  der  Zeit  gewöhnt  sich 
der  Leidende  an  seinen  qualvollen  Zustand,  indem  die  Hallucinationen  seltener 
werden,  die  Affekte  nachlassen,  die  Wahnideen  verblassen.  Es  entwickelt  sich 
ein  psychischer  Schwächezustand,  der  aber  nie  bis  zu  wirklichem  Blödsinn  vor- 
schreitet und  die  Fähigkeit  zu  urtheilen  und  zu  schliessen,  sowie  die  artistischen 
gewerblichen  Fähigkeiten  leidlich  unversehrt  lässt. 

Bevor  dieses  terminale  Toleranzstadium  eintritt,  kommt  es  nicht  seilen 
zur  Entwicklung  einer  weiteren  Reihe  von  Wahnvorstellungen  im  Sinn  des 
Grössenwahns  — -  die  bisher  unterdrückten  verfolgten  Kranken  werden  Fürsten. 
Weltregierer,  Propheten,  göttliche  Personen.  Mit  dem  bisherigen  Verfolgungs- 
wahn wird  nun  eine  logische  Beziehung  gefunden.  Der  Kranke  weiss  nim,  warum 
seine  Feinde  ein  Interesse  daran  hatten,  ihn,  das  in  frühster  Jugend  geraubte 
Fürstenkind  zu  schädigen,  oder  er  fasst  alle  bisherigen  Verfolgungen  als  ein 
Stadium  der  Prüfung  auf,  das  er  durchmachen  musste,  um  zum  Erlöser,  zu  einem 
zweiten  Messias  zu  werden. 

Die  beiden  Wahngruppen  lösen  sich  ab,  gehen  nebeneinander  \:t'i\  bis  auch 
hier  endlich  ein  terminales  Schwächestadium  eintritt. 


128  Cap.  IX.    Verfolgungswalmsinn.    Gefährlichkeit  dieser  Kranken. 

Die  forensische  Bedeutung  dieser  Fälle  von  Verfolgungswalm- 
sinn ist  eine  eminente.  Sie  ergibt  sich  daraus^  dass  dem  Kranken 
die  Aussenwelt  feindlich  gegenübersteht,  dass  er  in  irgend  einer  Weise 
einmal  feindlich  gegen  sie  auftritt  und  sich  dabei  in  der  Stellung  des 
in  seinen  Existenzbedingungen  und  edelsten  Gütern  bedrohten,  zu 
vermeintlicher  Nothwehr  Berechtigten  fühlt.  Dadurch  werden  diese 
Kranken  gemeingefährlich.  Es  ist  von  Wichtigkeit,  zu  wissen,  in 
welchen  Stadien  ihres  Leidens  diese  Gefährlichkeit  besonders  gross  ist. 

Im  Anfang  verhalten  sich  diese  Wahnsinnigen  immer  passiv, 
defensiv  gegenüber  der  wahnhaft  ungestalteten  Aussenwelt.  Sie 
meiden  sie,  verschliessen  Fenster  und  Thüren,  verstopfen  die  Schlüssel- 
löcher, wechseln  beständig  die  Wohnung.  Sie  kochen  sich  nach  Um- 
ständen selbst  die  Nahrung  oder  leben  nur  noch  von  rohen  Eiern  u.  dgl., 
versehen  sich  mit  Gegengiften,  flüchten  in  ferne  Länder,  nehmen  andere 
Namen  an,  um  sich  vor  ihren  Verfolgern  zu  schützen. 

Mit  der  ünerträglichkeit  des  immer  peinlicher  werdenden  Zu- 
stands  treten  sie  mit  der  Zeit  aus  ihrer  passiven  Stelle  heraus,  aber 
bevor  sie  zur  Selbsthülfe  schreiten,  geben  sie  gewöhnlich  Nothsignale 
und  Allarmzeichen  des  drohenden  Sturmes,  die  leider  nur  zu  häufig 
unbeachtet  bleiben. 

Sie  drohen  ihren  vermeintlichen  Verfolgern,  klagen  vor  Gericht 
gegen  den  Nachbar,  die  Gattin,  den  und  jenen  Bekannten,  Beamten, 
von  denen  sie  sich  verfolgt  wähnen ,  rufen  wohl  auch  die  Gerichte 
um  Schutz  an.  Nun  ist  es  hohe  Zeit,  den  Kranken  unschädlich  zu 
machen.  Würden  der  Arzt,  Gerichtsbeamte  oder  Polizist,  au  die 
sich  der  Kranke  im  Gefühl  seiner  Lebensbedrohung  um  Hülfe  und 
Schutz  wendete,  etwas  von  Psychiatrie  verstehen  und  den  Kranken 
statt  ihn  mit  einem  Recept  oder  einem  bedauernden  Achselzucken  zu 
entlassen,  sofort  der  Behörde  zur  Internirung  in  einer  Irrenanstalt 
anzeigen,  so  würde  gar  manche  Unthat  seitens  solcher  Unglücklicher 
vermeidbar  sein.  So  sieht  sich  der  Kranke  schliesslich  auf  einen  Akt 
der  Selbsthilfe    angewiesen   und  in  den  Stand  der  Nothwehr  versetzt. 

In  diesem  Stadium  kann  eine  vermeintlich  verdächtige  Miene, 
Geste,  ein  Zischeln,  Hüsteln,  ein  miss verstandenes  Wort  dem  Kranken 
einen  Verfolger  kennzeichnen  und  ihm  eine  drohende  Lebensgefahr 
signalisiren.  Nicht  minder  kann  eine  paralgische  Sensation ,  eine 
Geschmacks-  oder  Geruchstäuschung,  eine  gehörte  Stimme  das  Leben 
der  Umgebung  in  Gefahr  bringen. 

Die  Mordthaten  dieser  Kranken  tragen  das  Gepräge  einer  ver- 
meintlich   berechtigten  Nothwehr   an  sich.     Die  Kranken  morden  nie 


Gewaltthaten  solcher  Kranken.     Beob.  33.  129 

heimlich;  am  hellen  Tage  vielmehr,  vor  Zeugen  schlachten  sie  ihre 
Opfer  ab.  Sie  verhehlen  nicht  ihre  Motive,  freuen  und  rühmen  sich 
ihrer  gelungenen  That.  Bemerkenswerth  ist  die  Planmässigkeit  und 
Kücksichtslosigkeit ,  wie  sie  nur  das  Bewusstsein  vermeintlich  be- 
rechtigter Selbsthilfe  motiviren  kann. 

Jene  Planmässigkeit  wird  nur  da  vermisst,  wo  der  Kranke  aus 
einem  Angstanfall  heraus  oder  durch  plötzlich  aufgetretene  Hallu- 
cinationen  zur  Gewaltthat  hingerissen  wird.  Zuweilen  geschieht  es 
auch,  dass  solche  Kranke  auf  eine  ganz  gleichgiltige  Person  ein 
Attentat  machen,  irgend  eine  gesetzwidrige  Handlung  begehen  —  nur 
um  Gelegenheit  zu  bekommen  vor  den  Assisen  nachzuweisen  wie 
schändlich  sie  verfolgt  und  dabei  von  den  Behörden  im  Stich  gelassen 
waren.  Zuweilen  schreiten  sie  auch  zum  Selbstmord,  um  der  uner- 
träglichen Verfolgungsqual  ein  Ende  zu  machen. 

Dadurch  dass  diese  Wahnsinnsform  sich  latent  und  ganz  allmälig 
zu  entwickeln  pflegt,  das  Delirium  meist  ein  partielles  ist,  leicht 
dissimulirt  wird,  dass  die  äussere  Besonnenheit  lange  erhalten  bleibt,  die 
Motive  einer  strafbaren  That  vielfach  den  Charakter  der  Leidenschaft, 
Eifersucht,  des  Hasses,  der  Rache  an  sich  tragen,  die  Wahnideen 
nicht  gerade  objektive  Unmöglichkeiten  enthalten,  kann  die  Erken- 
nung der  schweren  Krankheit  und  ihres  Umfangs  Schwierigkeiten 
bieten.  Die  Berücksichtigung  der  Eingangs  angegebenen  anthropo- 
logischen und  klinischen  Merkmale,  des  Verlaufs,  der  Nachweis  von 
Hallucinationen  werden  bei  genügender  Zeit  zur  Beobachtung  den 
Fall  in  das  rechte  Licht  stellen. 

Beob.  33.  Mord.  Verfolgungswalinsinn.  Am  2.  April  1873  sali 
der  mit  einigen  Kameraden  aus  der  Schenke  kommende  Taglöhner  L.  einen  ge- 
wissen T.  des  Weges  daher  kommen.  Er  entriss  einem  andern  die  Flinte,  raffte 
Steine  zusammen,  eilte  auf  T.  los  mit  den  Worten  „kennst  du  mich?"  Als  T. 
verneinte,  sagte  er:  „Ich  bin  L.  den  du  in  R.  geschlagen  und  da  um  Gerechtig- 
keit zu  üben".  Er  schoss  den  T.  nieder,  lud  ruhig  wieder  seine  Flinte  und  ver- 
schwand. 1870  war  L.  von  T.  misshandelt  worden,  aber  seither  nicht  mehr  mit 
ihm  zusammengetroffen.  Einen  Monat  vor  der  That  hatte  er  seine  Absicht  ge- 
äussert, wenn  er  den  T.  irgendwo  treffe,  ihn  zu  tödten.  Am  4.  April  wurde  L. 
verhaftet.  Er  stellte  seine  That  als  einen  Akt  der  Nothwehr  hin,  machte  zudem 
Betrunkenheit  (nicht  erwiesen)  und  eine  Kopfschwäche,  an  der  er  seit  der  ihm 
widerfahrenen  Misshandlung  leide,  zur  Entschuldigung  geltend.  L.  ist  30  J.  alt, 
aus  einer  wegen  Raufsucht  gefürchteten  Familie.  Seine  Grossmutter  war  irrsinnig. 
Er  galt  als  ein  reizbarer,  heftiger,  gewaltthätiger- Mensch,  war  wiederholt  wegen 
Diebstahl  und  Körperverletzung  eingesperrt  gewesen.  Er  litt  häufig  an  Schwindel- 
•       anfallen  mit  Kopfschmerzen,  war  dem  Trunk  etwas  ergeben. 

Nach   dem  Steinwurf  an  den  Kopf,  den  ihm  T.  1870  zugefügt  hatte,  war 
V.  Krafft-Ebing,  gerichtl,  Psychopathologie.    2.  Auflage.  .  9 


1^0  Cap.  IX.    Verfolgungswahnsinn. 

er  noch  reizbarer  geworden  und  ertrug  den  Wein  nicht  mehr.  1871  wurde  er  tob- 
süchtig, brachte  4  Monate  im  Spital  zu,  aus  dem  er  zwar  nicht  genesen  aber  ruhig 
und  unschädlich  entlassen  wurde.  Er  machte  nicht  den  Eindruck  eines  Genesenen, 
sah  unheimlich  drein,  klagte  über  Verfolgungen  durch  Hexen,  die  er  Nachts  zu 
sehen  und  zu  fühlen  behauptete.  Man  fürchtete  sich  vor  ihm.  In  der  Haft  war  er 
oft  aufgeregt,  ängstlich,  klagte  über  Hexen  und  Gespenster,  die  ihn  verfolgten, 
über  Kopfweh,  war  oft  schlaflos,  führte  Selbstgespräche,  war  sehr  reizbar  und 
oft  ganz  verkehrt.  In  den  Verhören  entschuldigt  er  seine  That  mit  Trunkenheit 
und  erklärt  die  Zeugen  für  Hexenmeister.  2  erste  Gutachten  erklären  L.  nicht 
für  irrsinnig.  Nun  wird  ein  Facultätsgutachten  eingeholt.  L.  ist  mittelgross,  der 
Schädel  zeigt  die  Form  der  Kephalonie  (61  cm  Circumf.)  und  ist  rhombisch 
verschoben. 

Am  r.  Seitenwandbein  eine  vom  Steinwurf  herrührende  verschiebbare 
Hautnarbe.  L.  vermeidet  jeden  Druck  an  dieser  Stelle,  wischt  und  kratzt  häufig 
dort.  Der  r.  Mundfacialis  ist  paretisch.  Sonst  finden  sich  keine  körperlichen 
Anomalien.  L.  schläft  wenig,  klagt  über  permanenten  Kopfschmerz  auf  der  r. 
Schädelhälfte.  Er  ist  misstrauisch,  hält  sich  abseits,  antwortet  unwirsch,  wird 
oft  plötzlich  zornig  erregt,  wobei  eine  fluxionäre  Röthe  sein  Gesicht  überzieht. 
Er  klagt  dann,  dass  jeder  ihm  Feind  sei,  ihn  aus  der  Welt  schaffen  möchte.  Er 
habe  keinen  Augenblick  Ruhe.  Er  habe  doch  nichts  begangen.  Man  solle  ihn 
lieber  aufhängen  oder  kreuzigen  als  so  martern.  Nachts  kämen  Hunderte  um 
ihn  zu  tödten.  Auch  von  Hexen  sei  er  verfolgt.  Wenn  sie  erscheinen,  spüre  er 
ungeheure  Schmerzen  im  Kopf,  denn  sie  schlügen  ihn  mit  der  Hand  auf  Kopf 
und  Schultern,  zögen  ihn  an  den  Haaren,  wovon  er  dann  so  schreckliche  Schmerzen 
(an  der  Stelle  des  Trauma)  bekomme.  Wegen  dieses  Schmerzes  greife  er  so  oft 
nach  dem  Kopf  und  er  habe  sich  auch  die  Haare  so  kurz  schneiden  lassen,  da- 
mit ihn  die  Hexen  daran  nicht  ziehen  könnten.  Schon  nach  wenig  Tagen  be- 
zieht er  auch  den  explorirenden  Arzt  in  seinen  Wahnkreis ,  bekreuzigt  sich  vor 
ihm,  hält  ihn  vom  Teufel  geschickt  und  weigert  weitere  Auskunft.  Sonst  ist  er 
reizbar,  misstrauisch,  wischt  beständig  an  seinem  Kopf,  schläft  wenig,  geräth  zeit- 
weise in  heftigen  Zorn,  und  schreit  nach  einem  Gewehr,  um  seine  Verfolger  zu 
erschiessen.  Von  seiner  That  behauptet  er  nichts  zu  wissen,  jedoch  geht  aus 
einzelnen  Andeutungen  hervor,  dass  er  ebenfalls  die  Person  des  Ermordeten  in 
den  Kreis  seiner  Wahnideen  einbezog. 

Das  Gutachten  weist  nach,  dass  ein  Zustand  krankhafter  Geistesstörung 
(Verfolgungswahnsinn)  im  Anschluss  an  eine  Kopfverletzung  seit  1871  bestand 
und  der  „tobsüchtige"  Aufregungszustand  1871  nur  eine  Episode  im  Verlauf 
einer  chronischen  und  continuirlich  fortbestehenden  Geisteskrankheit  war.  Das 
empirisch  wahre  Krankheitsbild  lässt  darüber  keinen  Zweifel  zu.  Bedeutungsvoll 
ist,  dass  Wahnideen  (Gerissenwerden  an  den  Haaren  von  Hexen)  auf  krank- 
hafte Gefühle  (Kopfschmerz)  zurückgeführt  werden,  die  zudem  ihre  Lokalisirung 
an  der  Stelle  der  thatsächlich  erlittenen  Kopfverletzung  finden.  Eine  in  den 
Akten  sich  findende  Aeusserung  des  L.,  er  habe  den  T.  tödten  müssen,  um  nicht 
das  eigene  Leben  zu  verlieren,  deutet  darauf  hin,  dass  L.  sich  auch  von  T.  verfolgt 
und  behext  wähnte  und  somit  die  That,  wenn  auch  aus  Rache,  so  doch  einer 
Rache  aus  pathologischen  Motiven  (Wahnideen)  begangen  hat.  Keine  Verurthei- 
lung.    (Eigene  Beobachtung.) 


Beob.  34.     Mord.    Verfolgungswahnsinn.  131 

Beob.  34.  Mord.  Verfolgungswahnsinn.  Am  11.  August  1874, 
Morgens  wurde  der  allgemein  geachtete  Apotheker  Z.  in  Lodi  durch  einen  Stich 
mittelst  einer  Schusterahle  in  die  linke  Schläfe  verwundet,  verlor  sofort  das  Be- 
wusstsein  und  starb  nach  12  Stunden. 

Ein  gew.  Dossena,  66  J.  alt,  hatte  sich  wiederholt  geäussert,  dass  man  ihn 
verfolge  und  dass  Z.  das  Haupt  einer  Bande  sei,  die  ihm  mit  Gift  nach  dem 
Leben,  und  der  Gesundheit  strebe  und  dass  Z.  dieses  Gift  vertheile.  D.  wurde 
verhaftet  und  als  Thäter  erkannt. 

Aus  der  Untersuchung  ergab  sich,  dass  D.  mit  40  J.  an  einer  Leber-  und 
Herzaffektion  gelitten,  mit  56  J.  einen  Anfall  von  Hirncongestion  mit  Angstzu- 
ständen gehabt  und  in  den  der  That  vorausgehenden  Monaten  unter  Steigerung 
seiner  Leber-  und  Herzafifektion  Ruhelosigkeit  gezeigt  und  Angst  geäussert  hatte, 
dass  man  ihn  vergiften  wolle. 

D.  wurde  zu  lebenslänglichem  Kerker  verurtheilt.  In  der  dem 
Urtheilsspruch  folgenden  Nacht  schlug  er  einem  Mitgefangenen  mit  einem  Stein 
ein  Loch  in  den  Schädel,  weil  er  sich  von  ihm  verfolgt  wähnte.  Dies  gab  Grund 
zu  einer  neuerlichen  Expertise.  Diese,  sorgfältig  angestellt,  ergab  folgendes 
Resultat. 

D.  war  vor  seiner  Krankheit  ein  unbescholtener  Mann.  Z.  hatte  ihm  nie 
etwas  zu  Leid  gethan,  mit  Geduld  ihm  jeweils  auseinandergesetzt,  wenn  D.  ihn 
mit  Vorwürfen  wegen  angeblicher  Verfolgung  überhäufte,  dass  er  nichts  gegen 
ihn  habe.  D.  ist  erblich  disponirt.  Ein  Vetter  und  3  Basen  mütterlicherseits 
sind  Idioten  oder  schwachsinnig,  ein  Onkel  mütterlicherseits  blödsinnig  mit  An- 
fällen von  Irresein,  eine  Tante  väterlicherseits  blödsinnig,  ein  weiterer  Bluts- 
verwandter sowie  ein  Bruder  waren  wiederholt  irrsinnig.  D.  selbst  war  von 
Kindsbeinen  auf  verschroben,  eigenthümlich,  oft  hypochondrisch  verstimmt.  Mit 
56  J.  machte  er  einen  mehrmonatlichen  Anfall  von  Melancholie  durch,  von  dem 
er  sich  nicht  völlig  erholte.  Er  blieb  sonderbar,  reizbar,  ängstlich,  arbeitsunlustig, 
litt  an  Verdauungsbeschwerden,  asthmatischen  Anfällen.  Seitdem  ihm  der  Apo- 
theker Z.  gesagt  hatte,  dass  er  an  diesem  Uebel  möglicherweise  bald  sterben 
könne,  hegte  er  Misstrauen  gegen  diesen,  das  sich  unvermerkt  zum  Wahn  steigerte, 
dass  dieser  ihm  mit  Gift  nach  dem  Leben  strebe.  Seine  Beschwerden  hielt  er 
für  die  Folgen  von  Vergiftungsversuchen.  Er  hatte  wiederholt  Z.  ermahnt,  davon 
abzulassen,  später  ihm  und  Andren,  die  er  für  dessen  Complicen  hielt,  mit 
Schlimmem  gedroht,  daneben  beständig  Aerzte  berathen,  medicinirt  um  das  Gift 
unwirksam  zu  machen,  in  gleicher  Absicht  die  verkehrtesten  Proceduren  mit  sich 
vorgenommen  und  der  gesammten  Umgebung  das  grösste  Misstrauen  entgegen- 
gebracht. 

Ueberall  wähnte  er  schliesslich  Feinde  und  Complicen  des  Apothekers. 
In  einer  Nacht  war  er  ins  Spital  gelaufen  voll  Angst,  verlangte  man  solle  ihm 
eine  Wunde  verbinden,  die  ihm  zugefügt  worden  sei.  Der  Spitalarzt  fand  keine 
Spur  einer  Verletzung.  Kurz  vor  der  That  hatte  D.  wiederholt  über  Vergiftung 
geklagt  und  sich  so  verkehrt  benommen,  dass  die  Angehörigen  seine  Aufnahme 
in  ein  Spital  verlangten,  was  aber  der  herbeigerufene  Arzt  für  unnöthig  erklärte. 
Freiwillig  wollte  D.  nicht  ins  Spital,  da  er  alle  Aerzte  des  Landes  für  Complicen 
des  Apothekers  hielt  und  im  Spital  seinen  sicheren  Tod  voraussah. 

Am  Morgen  der  That  hatte  er  sich  sehr  unwohl  gefühlt  und  gemeint,  der 
Tod  durch  Vergiftung  stehe  ihm  unmittelbar  bevor.     Auch  im  Gefängniss  Fort- 


]^32  Cap.  IX.    Verfolgungswalinsinn.     Beob.  36. 

datier  des  Vergiftungswahns.  Das  Gift  wird  ihm  an  die  Kleider  gethan,  auf  die 
Haut  in  alle  Oeffnungen  des  Körpers  applicirt,  in  das  Essen  gestreut.  Seine 
nervösen  und  Digestionsbeschwerden,  seine  Schlaflosigkeit  sind  die  Symptome  dieser 
Vergiftung.  Die  Epikrise  erweist  die  übersehene,  seit  vielen  Jahren  bestehende 
Geisteskrankheit  und  die  Unzurechnungsfähigkeit  des  D.  zur  Zeit  seiner  That. 
(Biffi,  Archivio  italiano  1876.) 

Beob.  35.  Hallucinat.  Verfolgungswahnsinn.  3f acher  Mord.' 
Verurtheilung  zu  lebenslänglichem  Kerker.  Am  24.  Okt.  verliess 
ein  gew.  Berger,  mit  einer  Doppelflinte  bewaffnet,  sein  Haus,  schoss  die  des  Weges 
daher  kommenden  R.  u.  B.  todt,  lud  wieder,  erschoss  den  C.  vor  seiner  Haus- 
thüre  und  verwundete  schwer  einen  V.  Ein  Motiv  zu  dieser  That  la;g  nicht  vor. 
R.  war  dem  Mörder  ganz  unbekannt.  Die  Mehrzahl  der  Zeugen  wussten  nichts 
von  einer  Geistesstörung  des  B.,  andere  machten  ganz  vage  Angaben,  aus  denen 
sich  nichts  Palpables  über  sein  Vorleben  entnehmen  Hess.  Die  Untersuchung  er- 
gab, dass  B.  seit  einiger  Zeit  schlecht  schlief,  confusen  Lärm  hörte,  sich  von 
bösen  Geistern  bedroht  wähnte,  glaubte  er  sei  verzaubert,  in  der  Gewalt  der 
Spiritisten,  und  sich  bemühte  herauszubringen  wer  seine  vermeintlichen  Verfolger 
seien.  Er  glaubte  in  der  Folge,  jedermann  kenne  seine  Situation,  sah  sich  von 
allen  Seiten  am  Leben  bedroht  und  deutete  harmlose  Gesten  oder  Bemerkungen 
an  der  Umgebung  in  diesem  Sinn.  Am  Morgen  der  That  wähnte  er  sein  Haus 
umzingelt  von  seinen  Feinden,  verliess  es  voller  Angst  und  schoss  auf  seine  ver- 
meintlichen Feinde.  Er  meinte  sie  wollten  ihn  umbringen,  und  da  wollte  er 
ihnen  zuvorkommen.  Die  Expertise  ergab  das  Bestehen  eines  hallucinatorischen 
Verfolgungswahnsinns.  Nach  seiner  That  hatte  B.  einen  Selbstmordversuch  ge- 
macht. Trotz  des  übereinstimmenden  Gutachtens  von  5  Aerzten  wurde  B.  zum 
Tod  verurtheilt,  jedoch  zu  lebenslänglichem  Gefängniss  begnadigt.  (Marchant, 
Annal.  med.  psychol.  1875,  November.) 

Beob.  36.  Verfolgungswahnsinn.  Mordversuch  im  Angstanfall. 
Am  13.  Juni  erschien  der  26  J.  alte,  von  Bordeaux  zugereiste  H.  in  einem  Hofe  in 
Angers,  sprang  über  die  Mauer  in  den  Hof  eines  anderen  Hauses  und  schoss  auf 
die  ihm  nacheilenden,  ihn  für  einen  Dieb  haltenden  Bewohner  einen  Revolver  ab. 
Er  liess  sich  ruhig  verhaften,  erklärte,  in  der  Furcht,  man  wolle  ihn  tödten,  ge- 
schossen zu  haben,  um  die  Polizei  zu  Hilfe  zu  rufen.  Er  sei  schon  seit  längerer 
Zeit  verfolgt,  er  habe  sich  in  den  Hof  geflüchtet.  Im  Gefängniss  Furcht  vor 
Vergiftung  imd  Weigerung  der  Nahrung. 

H.  ist  erblich  veranlagt  zu  Irresein,  in  der  Kindheit  mehrere  Kopfver- 
letzungen. Der  Vater  gab  ihm  viel  Wein  zu  trinken.  Er  war  geistesbeschränkt 
von  Kindsbeinen  auf,  unfähig  zu  einem  geordneten  Beruf,  wechselte  denselben  be- 
ständig. Seit  1869  Charakteränderung,  grosse  Impressionabilität,  Misstrauen  gegen 
die  Umgebung,  dass  sie  ihn  aus  der  Welt  schaffen  wolle.  Ein  Metallknopf,  den 
er  im  Essen  fand.  Fleisch,  das  ihm  unnatürlich  vorkam,  der  unheimliche  Blick 
eines  Nachbars  verstärken  seinen  Verdacht.  Er  kauft  sich  einen  Revolver.  In 
einem  Brief  vom  10.  Juni  1870  an  die  Mutter  wähnt  er  sich  am  Leben  bedroht, 
nimmt  von  ihr  Abschied,  versieht  sich  des  Schlimmsten  von  seinem  Zimmer- 
nachbar. Er  wagt  sich  nicht  unter  den  Schutz  der  Polizei  zu  stellen,  denn  diese 
würde  ihn,  da  er  keine  Beweise  beibringen  könne,  für  verrückt  halten.  Er  habe 
unerträgliche  Magenschmerzen,  weil  man  ihm  immer  Gift  beibringe. 


Beob.  37.  38.     Weitere  Fälle.  133 

Am  11.  Juni  entfernte  er  sich  heimlich  aus  B.,  besuchte  einen  Freund  in 
P.,  genoss  aber  dort  nichts,  entfernte  sich  ohne  Abschied,  reiste  nach  Angers, 
machte  den  Mitreisenden  den  Eindruck  eines  Irrsinnigen,  wähnte  unterwegs  in 
einem  Tunnel  beschossen  worden  zu  sein,  irrte  in  A.  in  universellem  Verfolgungs- 
wahn herum  und  flüchtete  endlich,  in  der  Angst,  es  verfolge  ihn  Jemand,  in  den 
Hof.  Die  folgende  Beobachtung  ergab  das  Bild  einer  primären  Verrücktheit  mit 
Persecutionsdelir  im  Aufregungsstadium.  Der  Nachweis  der  That  als  Ausfluss 
von  Wahnideen  eines  Geistesgestörten  war  nicht  schwer.  H.  wurde  nicht  ver- 
urtheilt.     (Combes,  Annal.  med.  psych.  1876,  November.) 

Beob.  37.  Verfolgungswahnsinn.  Mordversuch  an  einem 
Prediger.  Die  C.  ist  48  J.  alt,  ohne  erbliche  Anlage,  fast  taub.  1855  wurde 
sie  wegen  Diebstahl  zu  5j ähriger  Freiheitsstrafe  verurtheilt.  Nach  Verbüssung 
dieser  Strafe  trieb  sie  sich  in  Paris  herum. 

Sie  wähnte,  die  Pfarrer  verkündeten  von  der  Kanzel  herab,  dass  sie  ge- 
stohlen habe,  überall  gab  man  ihr  dies  durch  bezügliche  Pantomimen  zu  ver- 
stehen, man  sprach  davon,  dass  sie  eine  Diebin  sei.  Namentlich  war  es  der 
Pfarrer  von  Montmartre,  auf  den  sie  dann  in  der  Kirche  den  Revolver  abfeuerte, 
der  ihr  diese  üble  Nachrede  gemacht  hatte.  Sie  hatte  ihn  vorher  gewarnt,  sich 
an  die  Gesandtschaft  und  die  Polizei  gewandt,  um  Hilfe  gegen  diese  unablässigen 
Verfolgungen  zu  finden.  Als  Alles  nichts  half,  schritt  sie  zum  Aeussersten.  Sie 
wollte  aber  den  Pfarrer  nur  verwunden ,  um  vor  die  Assisen  zu  kommen  und 
der  Welt  zeigen  zu  können,  wie  man  sie  misshandelte.  Keine  Reue.  Nachweis, 
dass  Pat.  an  allgemeinem  Verfolgungswahn  mit  Illusionen  zur  Zeit  des  Attentats 
litt  und  noch  leidet.  Freisprechung.  (Blanche  u.  Motet,  Annal.  med.  psychol. 
1872,  März.) 

Beob.  38.  Mordversuch  in  Folge  von  Hallu  cinatione  n  und 
Verfolgungswahn.  A.,  Maurerpolier,  38  J.,  von  Kindheit  auf  still,  sonderbar, 
Masturbant,  erkrankte  in  seinem  31.  Jahr  an  Verfolgungswahn.  Er  glaubte  sich 
von  Frauenzimmern  verfolgt,  bezog  Inserate  in  der  Zeitung  auf  sich,  hegte  Ver- 
giftungswahn, wähnte,  fliegendes  Gift  von  den  Freimaurern  und  der  Magie  be- 
kommen zu  haben.  Er  litt  ab  und  zu  an  Gesichts-  und  Gehörshallucinationen, 
Hirncongestionen,  sprach  verwirrt,  benahm  sich  sonderbar,  klagte  Herzensangst 
und  Kopfschmerz.  Eines  Tags  schoss  er  auf  offener  Strasse  vor  Zeugen  auf  einen 
Bauunternehmer,  von  dem  er  sich  verfolgt  und  um  seinen  wohlverdienten  Lohn 
betrogen  wähnte.  Unmittelbares  Motiv  der  That  war  die  Hallucination :  „Ich 
verlange  ein  Opfer,  ein  Opfer  sollst  du  bringen."  Nach  der  That  Erleichterung, 
Aufhören  der  Hallucinationen.  Keine  Reue.  A.  stellte  sich  selbst  den  Gerichten. 
Keine  Verurtheilung.     (Bernay,  Irrenfreund.  1877.  Nr.  7.) 

Weitere  Fälle:  Casper-Liman,  Handb.  Fall  255  (Mordversuch  an  einem 
Unbekannten,  der  für  einen  Spion  gehalten  wurde).  Henke's  Abhandl.  II.  p.  356 
(masturbat.  Verfolgungswahn.  Mord  des  Verfolgers,  um  Ruhe  zu  bekommen). 
Morel,  traite  des  mal.  ment.  p.  420  (Vergiftungswahn.  Brandstiftung,  um  vor  die 
Assisen  zu  kommen).  Annal.  d'hygiene  1867,  Oct.  (Mord  der  Geschwister  aus 
Vergiftungswahn).  Annal.  med.  psychol.  1877,  März  (Mord).  Zippe,  Wien.  med. 
Wochenschr.  1877,  Nr.  45—50  (Mord  der  Kinder,  um  sie  ihnen  vermeintlich 
drohenden  Verfolgungen  zu  entziehen).  Frese,  Friedr.  Bl.  1878,  H.  3  u.  4  (Mord- 
und  Brandstiftungsversuch).     Lasegue,    Arch.  gen.  de  med.  1878,   Jan.  (Mord  der 


134  Cap.  IX.    Verfolgungswahnsinn. 

Mutter).  Mordret,  Annal.  med.  psycliol.  1878,  März  (Mord  einer  Verwandten). 
Rivista  sperim.  1878  (schwere  Verletzung  eines  Kameraden).  Livi  u.  Tamburini 
ebenda  1876  (Mord  der  Frau  aus  Wahn  ehelicher  Untreue).  Devergie,  med.  legale, 
3.  edit.,  p.  714  (Vergiftungswahn.  Mordversuch).  Casper,  Vierteljahrsschr.  XXI. 
p.  1  (neuralg.  Verfolgungswahn.  Tödtung  einer  vermeintlichen  Hexe).  Lafitte, 
Ann.  med.  psych.  1866,  Mai  (Vergiftungswahn.  Mordversuch).  Teilleux  ebenda 
Sept.  (Brandstiftung).'  Bonnet  ebenda  1867,  Jan.  (Verfolgungswahn.  Inbrand- 
steckung  zweier  Häuser,  auf  denen  ein  böser  Zauber  ruht).  Buchner,  Friedr.  Bl. 
1870,  H.  1  (Verfolgungs-  und  Grössenwahn.  Hausfriedensbruch),  v.  Krafft  ebenda 
1872,  H.  5  (Mordversuch).  Journal  of  mental  science.  1872,  Juli  (Mord  eines 
Unbekannten,  um  vor  Gericht  zu  kommen).  Biffi,  Archiv,  ital.  1872,  Mai  (Mord 
der  Schwiegertochter).     Hofmann,  Friedr.  Bl.  1875,  H.  3  (Mord  der  Frau). 

Eine  eigene  Varietät  des  (hypochondrischen)  Verfolgungswahnsinns 
stellen  Fälle  dar,  in  welchen  der  durch  excessiven  Geschlechtsgenuss 
neurasthenisch  und  hypochondrisch  gewordene  Kranke  die  im  Bereich 
seiner  Genitalorgane  empfundenen  Schmerzen  und  seine  gestörten 
Gemeingefühle  überhaupt  dem  seiner  Meinung  nach  unreinen  und 
für  seine  Gesundheit  verderblichen  Beischlaf  beimisst,  sich  durch  den 
geschlechtlichen  Umgang  vergiftet,  behext,  verzaubert  wähnt  und  sich 
an  der  Ehefrau  oder  Gehebten  blutig  rächt.  Es  dürfte  sich  hier 
immer  um  durch  Masturbation  erkrankte  und  zugleich  schwachsinnige 
Individuen  handeln. 

Beob.  39.  Hypochondr.  Verfolgungswahnsinn.  Gatte nmord. 
Benedetto  Galimbato,  der  Thäter,  ist  23  Jahre  alt,  seit  zwei  Monaten  verheirathet. 
Keine  Erblichkeit.  Von  jeher  verschlossener,  geistesbeschränkter  Mensch,  Keine 
Ausschweifungen  oder  schwere  Krankheiten  im  Vorleben.  Heirath  aus  gegenseitiger 
Neigung.  Schon  wenige  Tage  nach  der  Hochzeit  zeigten  sich  die  Ehegatten  ver- 
stimmt. G.  überhäufte  seine  Frau  mit  Vorwürfen,  wurde  eifersüchtig  und  feindlich 
gegen  sie,  behaujjtete,  sie  sei  nicht  mehr  Jungfrau  gewesen,  als  er  sie  heirathete. 
Er  klagte  Unwohlsein,  behauptete,  seine  Frau  habe  ihn  zu  Grunde  gerichtet,  sei 
eine  Hexe,  habe  ihn  schon  vor  der  Hochzeit  behext,  die  Hochzeit  sei  nur  eine 
Hexencomödie  gewesen,  die  Frau  habe  ihm  seine  Mannheit  genommen,  seine 
ganze  Familie  verhext.  Er  wurde  mager,  blass,  übelaussehend,  düster,  einsilbig, 
verzweifelte  an  seinem  Seelenheil.  Am  20.  Januar  1874  hörte  man  in  der  Woh- 
nung der  Eheleute  Geschrei  und  ein  Getöse  wie  von  Axtschlägen.  Gleich  darauf 
verliess  G.  ganz  verstört  seine  Wohnung  und  rannte  fort  in  die  Felder.  Im  Hause 
fand  man  die  Frau  todt  in  einer  Blutlache,  gräulich  durch  Axthiebe  verstümmelt, 
die  Axt  neben  dem  Leichnam.  Des  andern  Tags  wurde  G.  im  Hause  eines  Ver- 
wandten aufgegriffen.  Er  war  in  grosser  nervöser  Erregung,  der  Blick  stier,  das 
Gesicht  entstellt.  Er  hielt  sein  Blut  für  faul,  seinen  Körper  ruinirt  durch  seine 
Frau.  Sie  habe  ihn  verhext,  ihn  seiner  Genitalien  beraubt,  seine  Familie  durch 
Zauberei  umgebracht.  Desshalb  habe  er  sie  getödtet.  Sie  habe  ihm  seinen 
eigenen  Tod  voraus  verkündet,  er  habe  schon  das  Messer  in  Bereitschaft  gesehen, 
mit  dem  sie  ihn  habe  umbringen  wollen ,  an  seinen  Genitalien  habe  er  Schmerz 
empfunden,  die  sie  ihm  durch  Zauberei  zugefügt.    Als  man  ihm  die  blutige  Axt 


Beob.  40.    Mord.    Hypochondrischer  Wahnsinn.  135 

vorzeigte,  gerieth  er  in  grosse  Aufregung  und  sagte:  „Mit  dieser  wird  man  mir 
das  Haupt  abhauen,  ich  bin  bereit."  Auf  diese  Ei-regung  folgte  ein  Zustand  von 
Prostration,  in  dem  er  zu  Antworten  nicht  mehr  zu  bringen  war.  Fortdauer  der 
Wahnideen,  dass  er  das  Leben  verliere.  Grosser  körperlicher  Verfall,  Verstopfung, 
Schlaflosigkeit. 

Das  Gutachten  erklärt  G.  für  einen  von  Kindsbeinen  auf  verschlossenen, 
beschränkten  Menschen,  der  bald  nach  der  Hochzeit  psychisch  erkrankte.  (Melan- 
cholie mit  Wahnvorstellungen  der  Verfolgung  und  Hallucinationen.)  Seine  That 
ist  das  direkte  Resultat  dieser  krankhaften  psychischen  Vorgänge.  (Livi,  Arch. 
ital.  Juli  1874.) 

Beob.  40.  Mord.  Hypochondrischer  Wahnsinn.  Am  2.  Juni 
betrat  eine  Juliane  H.  mit  dem  Neffen  der  Rosine  Seh.  deren  Zimmer  und  fand 
die  enthauptete  Leiche  der  Seh.  in  ihrem  Blute.  Josef  Seh.,  der  Neffe,  meinte, 
das  gehe  sie  nichts  an 5  der  Tochter  der  Hausfrau,  welche  ihn  fragte,  was  er 
gethan,  gab  er  zur  Antwort:  „sie  war  eine  Hexe."  Als  man  ihn  arretirte,  war 
er  beschäftigt,  sich  mit  einem  Hautlappen,  der  als  die  Nase  der  Ermordeten 
agnoscirt  wurde,  Nase  und  Mund  zu  reiben.  Der  Mord  war  mit  einem  kurzen 
Beil  an  der  schlafenden  R.  verübt  worden.  Spuren  von  Gegenwehr  fehlten.  Der 
Körper  war  gräulich  verstümmelt.  Neben  der  Leiche  fand  sich  ein  zollhoch  mit 
Blut  gefülltes  Halbglas,  von  welchem  Blut  Seh.  getrunken  hatte. 

In  einer  Schublade  hatte  der  Mörder  einen  Zettel  hinterlegt  mit  folgenden 
Worten :  „liebe  Leute,  bitte  um  verzeihen  denn  die  Rosi  habe  mich  verfolch  die 
ganze  Zeit,  des  wissen  sie  Andies  ich  3  Professione  in  der  Liebe." 

Der  24jährige  Inculpat  ist  der  uneheliche  Sohn  einer  schwachsinnigen 
Frau,  die  an  einem  Sprachfehler  litt  und  diesen  auch  auf  den  Inquisiten  und 
eines  seiner  Geschwister  vererbte.  Inculpat  war  geistig  schwach,  brachte  es  in 
der  Schule  nur  zu  leidlichem  Schreiben,  kam  nach  dem  Tod  der  Mutter  in  die 
Pflege  der  Tante  (der  Ermordeten),  die  ihn  verzärtelte,  ihm  Wein  bis  zur  Trunken- 
heit gestattete,  ihn  in  demselben  Bett  mit  Bettgeherinnen  schlafen  liess,  wo  er 
schon  mit  10  J.  zu  Unzucht  und  Coitus  verleitet  wurde,  später  ihn  in  ihr  eigenes 
Bett  zu  sich  nahm  und  wahrscheinlich  schon  früh  mit  ihm  Unzucht  trieb.  Sein 
Vormund  hatte  ihn  bei  4  Schustern  nach  einander  unterzubringen  versucht,  von 
denen  ihn  aber  3  schon  nach  8  Tagen  wegen  Bettnässen,  Gespensterfurcht  und 
Unfähigkeit  fortschickten. 

Seit  einem  Vierteljahr  zeigte  sich  Seh.  gegen  seine  Bettgenossin  verändert. 
Er  consultirte  im  November  1874  einen  Arzt  wegen  lästiger  Empfindungen  im 
Kopf  und  eingebildeter  Krankheiten  der  Geschlechtsorgane,  gestand  Onanie  und 
Unzucht  mit  der  Tante  zu  und  bat  den  Arzt  um  eine  Anstellung,  damit  er  dieser 
verhassten  Person  los  werde. 

In  der  Folge  misshandelte  und  verwundete  er  die  Tante,  behauptete,  der 
Geschlechtsumgang  mit  ihr  sei  ihm  zuwider,  sie  sei  eine  Hexe,  stinke,  habe  es 
ihm  angethan,  dass  er  kein  anderes  Frauenzimmer  bekomme.  Er  erbreche  immer, 
wenn  er  mit  ihr  za  thun  habe,  ihre  Hände  seien  roth,  die  seinigen  weiss.  Auch 
behauptete  er,  ein  Scharfrichter,  der  ihm  ein  Planetenbuch  gegeben,  habe  ihn 
verhext  mit  Krankheiten,  ihm'übrigens  gerathen,  ein  Ei  in  seinem  Urin  zu  sieden 
und  es  dann  in  einem  Ameisenhaufen  zu  vergraben. 

Im  Verhör  bekennt  der  kurzgewachsene,  mit  niedriger  Stirn  und  einem 
Sprachfehler  behaftete  Inquisit,    dass  er  den  Mord   um  9  Uhr  verübt  habe.     Der 


136  Clap.  IX.    Verfolgiingswahnsinn. 

Gedanke  daran  sei  ihm  gleich  nach  dem  Morgengebet  gekommen  und  da  habe 
er  gedacht,  er  komme  von  Gott  und  die  Sache  werde  auch  mit  Gott  ausgehen. 
Er.  brachte  sie  um,  weil  sie  eine  Hexe  mit  pechschwarzen  Haaren  sei,  weil  ihm 
der  Rotz  nicht  mehr  von  der  Nase  abfliessen  wollte  und  man  ohne  Rotz  keine 
Vernunft  habe.  Desshalb  habe  er  sich  zur  Abhilfe  ihre  Nase  auflegen  wollen. 
Sie  habe  ihm  dadurch  das  Glied  schlaff  gemacht  und  ihm  dadurch  das  höchste 
Glück,  die  Liebe,  genommen.    War  sie  nicht,  so  wäre  er  —  Kaiser. 

Gutachten.  Inquisit  ist  erblich  zu  Hirnabnormitäten  disponirt,  von 
Hause  aus  schwachsinnig.  Dazu  kommt  der  Einfluss  früh  getriebener  Unzucht 
und  der  Alkoholexcesse.  Seine  That  entspringt  nicht  aus  blosser  Rache,  sondern 
aus  hypochondrischen  Gefühlen  und  daraus  entstandenen  Wahnideen  der  Ver- 
folgung. Sie  geht  allerdings  aus  Motiven  des  Hasses  hervor,  aber  diese  sind 
pathologische,  in  Wahnideen  begründete.  Sie  ist  die  That  eines  Verrückten,  der 
nach  direktem  krankhaftem  Antrieb  durch  seine  Wahnideen  handelte,  daher  im 
Sinn  des  Gesetzes  zur  Zeit  der  That  seiner  Vernunft  gänzlich  beraubt  war. 
(Meynert,  psychiatr.  Centralbl.  1875,  Nr.  7.) 

Eine  forensisch  wichtige  Unterform  des  Verfolgungswahnsinns 
ist  der  Querulanten-  oder  Processkrämerwahnsinn. 

Er  unterscheidet  sich  nur  insofern  von  der  Grundform,  als  recht- 
liche und  nicht  vitale  Interessen  in  der  Meinung  des  Kranken  gefährdet 
sind,  wirkliche  Begebenheiten  und  nicht  eingebildete  den  Ausgangs- 
punkt des  Deliriums  bilden  und  der  Kranke  früh  schon  in  der  aktiven 
Stelle  des  Angreifers,  nicht  in  der  des  Angegriffenen  erscheint.  Nicht 
selten  treten  jedoch  in  diesem  Querulantenirresein  auch  die  gewöhn- 
lichen Delirien  des  Verfolgungswahns  episodisch  auf,  zuweilen  nimmt 
es  selbst  seinen  Ausgang  in  diesen. 

Klinische  üeber sieht:  Die  dem  Querulantenirresein  anheimfallenden 
Leute  sind  durchweg  belastete  und  meist  erblich  veranlagte,  mit  somatischen 
(Schädelanomalien)  Degenerationszeichen  und  früh  und  constant  sich  zeigenden 
psychischen  Anomalien  und  Defekten  behaftete  Menschen.  Der  grellste  und. 
wichtigste  Defekt  ist  eine  ethische  Verkümmerung,  die  sie  trotz  allem  „Reclits- 
bewusstsein"  nie  zu  einer  tieferen  sittlichen  Auffassung  des  Rechts  gelangen  lässt. 
Dieses  erscheint  ihnen  in  seiner  formalen  Verwerthung  nur  als  Mittel,  als  legale 
Waffe  zur  Erreichung  egoistischer  Zwecke. 

Aus  dem  gleichen  ethischen  Defekt  ergibt  sich  früh  ein  massloser  Egois- 
mus, der  die  Rechtssphäre  Anderer  missachtet,  die  eigene  beständig  vorzuschieben 
geneigt  ist  und  auf  eine  wirkliche  oder  vermeintliche  Verletzung  der  eigenen 
Interessensphäre  in  heftigster  Weise  reagirt. 

Die  Candidaten  dieser  Störungsform  fallen  schon  früh  durch  ihren  Eigen- 
sinn, Jähzorn,  ihre  brutale  Rechthaberei  und  masslose  Selbstüberschätzung  auf 
und  gerathen  durch  diese  schlimmen  Charaktereigeftschaften  fortwährend  mit  der 
Umgebung  in  Conflikt.  Meist  ist  auch  die  intellektuelle  Anlage  unter  dem 
Durchschnittsmittel.  Aber  auch  da,  wo  einzelne  geistige  Fähigkeiten  bestechend 
hervortreten,   fehlt  nicht  eine    auffällig   verschrobene,    trotz    scheinbarer  Schärfe 


Querulantenwahnsinii.  137 

der  Schlüsse  bedenkliche  Lapsus  verrathende  Logik,  die  nur  zu  leicht  in  Rabulisterei 
ausartet.  Häufig  ist  auch  die  Reproduktionstreue  mangelhaft  und  gibt  die  That- 
sachen  entstellt  im  Bewusstsein  wieder. 

Unzählige  derartige  Individuen  verbleiben  auf  dieser  Stufe  einer  originären 
Charakteranomalie  und  sind  eine  Geisel  für  ihre  Mitmenschen  als  Rabulisten  und 
Processer.     Bei  vielen  besteht  eine  förmliche  Processlust. 

Die  Gelegenheitsursache  zur  wirklichen  Krankheit  bildet  auf  dieser  Grund- 
lage irgend  ein  Rechtsstreit,  in  welchem  solche  Processer  unterlegen  sind,  oder 
auch  die  blosse  Versagung  vermeintlich  berechtigter,  in  Wirklichkeit  aber  unver- 
schämter Ansprüche.  Nicht  aus  lebhaftem  Rechtsgefühl,  wie  man  vielfach  annahm, 
sondern  aus  vermöge  ihrer  ethischen  und  intellektuellen  Verkümmerung  fehlen- 
dem LTnrechtsgefühl  gerathen  solche  Menschen  über  die  vermeintliche  Kränkung 
in  eine  leidenschaftliche  gereizte  Stimmung,  verlieren  rasch  die  Besonnenheit, 
haben  nur  noch  ein  Ziel,  die  Wiederherstellung  ihrer  vermeintlich  gekränkten 
Rechte.  Hinter  dieser  Aufgab«  bleiben  Beruf,  Familienpflichten  und  Wohlstand 
des  Hauses  zurück. 

Nach  einiger  Zeit  verlassen  sie  den  Schmollwinkel,  in  den  sie  sich,  brütend 
über  ihre  Niederlage  und  zerfallen  mit  der  Welt,  zurückgezogen  hatten.  Ver- 
trauend in  ihrem  krankhaften  Selbstgefühl  auf  die  eigene  Kraft,  und  ohne  Ver- 
trauen zu  den  Advokaten  bei  ihrem  krankhaften  Misstrauen,  haben  sie  sich 
inzwischen  selbst  die  Kenntniss  des  Gesetzes  und  der  Rechtsmittel  angeeignet. 
Ausgerüstet  mit  diesen  Waffen,  beschreiten  sie  nun  die  Bahn  •  des  Processens,  ver- 
fassen Klageschriften,  recurriren  in  allen  Instanzen. 

Noch  ist  ein  gewisser  Rest  von  Besonnenheit  vorhanden,  noch  wird  die 
leidenschaftliche  Erregung  einigermassen  beherrscht,  die  Sprache  im  Zaum  gehalten. 
Mit  fortgesetzter  Erfolglosigkeit  ihrer  Bemühungen  und  den  damit  verbundenen 
Demüthigungen  werden  sie  immer  verbissener,  einsichtsloser,  des  letzten  Restes 
ihrer  Besonnenheit  verlustig.  Was  bisher  noch  als  Leidenschaft  einer  psj^chologi- 
sirenden  Betrachtung  gegenüber  passiren  konnte,  wird  immer  mehr  zur  deutlichen 
psychischen  Krankheit,  die  keine  Einsicht,  keine  Rücksicht  und  Vernunft  mehr 
kennt.  Statt  zu  erkennen,  dass  ihre  Sache  erfolglos,  weil  sie  eine  ungerechte 
war,  suchen  sie  in  ihrem  Misstrauen  die  Ursache  ihres  Misserfolgs  in  der  Partei- 
lichkeit, Bestechlichkeit  der  Richter,  und  in  harmlosen  Begebnissen  finden  sie 
Beweise  für  diese  immer  mehr  sich  befestigende  LTeberzeugung.  Nun  fallen  die 
letzten  Rücksichten  für  diese  Kranken.  Ihre  immer  voluminöser  werdenden 
Rekurse,  Eingaben,  Denunciationen  strotzen  von  Invektiven  und  Amtsehrenbeleidi- 
gungen und  nöthigen  zu  gerichtlicher  Massregelung,  die  den  leidenschaftlichen 
Zustand  der  Kranken  verschlimmert. 

Sie  fühlen  sich  nun  als  Märtyrer  und  Betrogene,  der  ganze  Rechtshandel 
war  nur  eine  der  Justiz  unwürdige  Komödie.  Mit  wahnsinnig  consequenter  Hals- 
starrigkeit, mit  rabulistischer  Logik  und  unverschämter  Frechheit  bestreiten  dann 
solche  Menschen  nicht  bloss  die  Gerechtigkeit,  sondern  die  Rechtskraft  der 
gegen  sie  erflossenen  Urtheile.  Sie  weigern  Geldstrafe,  Entschädigung,  Steuer, 
vergreifen  sich  an  den  Executoren,  erklären  die  Richter  bis  hinauf  zu  den 
höchsten  Beamten  des  Staats  für  Diebe,  Schurken,  Meineidige.  Sie  fühlen  sich 
im  Kriegszustand  gegenüber  dem  elenden  Recht  und  seinen  schlechten  Vertretern, 
als  Vorkämpfer  für  Recht  und  Sittlichkeit,  als  Märtyrer  gegenüber  der  brutalen 
Gewalt.  —  Sie  werfen  sich  nicht  selten  zu  Beschützern  und  Winkeladvokaten  für 


138  Cap.  IX.    Querulantenwahnsinn. 

andere  „Unterdrückte"  auf,  wie  jener  von  Buchner  (Friedreich's  Bl.  1870,  p.  263) 
begutachtete  Querulant,  der  mit  einigen  Gleichgesinnten  einen  „Verein  der  Unter- 
di'ückten",  d.  h.  zum  Schutz  Derer,  die  vor  Gericht  Unrecht  bekamen,  gründete 
und  die  Constituirung  dieses  Vereins  dem  König  notificirte. 

Lange  werden  gewöhnlich  solche  Kranke  von  den  Laien  ver- 
kannt und  gemassregelt,  denn  trotz  aller  Einsichtslosigkeit  für  das 
Thörichte  und  Unziemliche  ihrer  Handlungsweise  besitzen  sie  eine 
bemerkenswerthe  Dialektik  und  Rechtskenntniss ,  sind  sie  treffliche 
Sachverwalter  ihrer  leider  nur  wahnsinnigen  Sache.  Da  sie,  kaum 
bestraft,  dasselbe  Vergehen,  meist  Amtsehrenbeleidigung,  sich  wieder 
zu  Schulden  kommen  lassen,  erscheinen  sie  als  verstockte  Bösewichter, 
bei  denen  Erschwerungs-  und  Strafschärfungsgründe  vorliegen,  während 
ihr  consequentes  unbeugsames  Verhalten  doch  nur  die  natürliche  noth- 
wendige  Folge  ihrer  Krankheit  ist. 

So  greift  die  für  solche  Kranke  nöthige  und  heilsame  Massregel 
der  Entmündigung  und  Internirung  in  einer  Irrenanstalt  leider  erst 
Platz,  nachdem  sie  Hab  und  Gut  verprocesst,  endlos  die  Gerichte  be- 
helligt, die  öffentliche  Ordnung  gestört,  die  Achtung  vor  dem  Gesetz 
untergraben,  ihre  Angehörigen  (wie  so  häutig)  mit  ihrem  Wahn  an- 
gesteckt, ja  selbst  blutig  sich  an  ihren  Feinden  gerächt  haben. 

Es  mag  vielfach  schwer  sein,  den  beginnenden  W^ahnsinn  von 
Leidenschaft  zu  unterscheiden.  Die  andauernde  und  tiefgehende 
affektvolle  Erregung,  die  originär  anomale  Persönlichkeit,  Schädel- 
anomalien etc.  werden  mindestens  zu  Zweifeln  an  der  Geistesintegrität 
berechtigen. 

Die  Verbissenheit,  Rücksichtslosigkeit  in  Wort  und  That,  die 
mangelnde  Reproduktionstreue  für  Thatsachen ,  die  alogischen  Ge- 
dankensprünge,  die  krankhafte  Rechthaberei,  Rabulisterei  und  Wort- 
klauberei, der  Zwang  und  die  Hast,  welche  sich  in  dem  ganzen  Ge- 
bahren  dieser  Unglücklichen  kundgeben,  der  zunehmende  Untergang 
der  Besonnenheit,  die  Einsichtslosigkeit  für  das  positiv  Schädliche 
ihrer  Handlungsweise,  die  wahnsinnige  Unbeugsamkeit,  das  krankhaft 
gesteigerte  Selbstgefühl,  die  Schreibsucht  mit  charakteristischer  Wort- 
verdrehung, Anstreichung  und  Fettschrift  von  Kraftstellen,  endlich 
ausgebreitete  Verfolgungsdelirien  und  selbst  Hallucinationen  werden 
die  Diagnose  im  Verlauf  sicherstellen. 

Beob.  41.  Querulantenwahnsinn.  Misshandlungen.  Am  21.  Nov. 
1878  auf  offener  Strasse  prügelte  der  Angeklagte  Müller  den  Fürsprech  Klein 
durch  und  ging  dann  gelassen  seiner  Wege.  Verhaftet  bezeichnete  er  den  K. 
als  den  Urheber  seines  finanziellen  Ruins.   Desswegen  und  um  andre  Leute  vor  ihm 


Beob.  41.    Querulantenwahnsinn.    Misshandlungen.  139 

zu  schützen  (!)  habe  er  den  K.  unschädlich  machen,  jedoch  nicht  tödten  wollen. 
Erst  unterwegs  habe  er  den  Gedanken  gefasst  und  sich  mit  einem  Prügel  ver- 
sehen. Die  innere  Unklarheit  der  Motive,  die  zweckwidrige  Wahl  der  Mittel, 
die  Gleichgültigkeit,  ja  selbst  Befriedigung  nach  der  That  mussten  Zweifel  über 
die  Geistesintegrität  des  M.  erwecken. 

M.  war  ein  fleissiger,  nüchterner,  etwas  selbstbewusster  Mann  gewesen,  der 
es  zu .  einigem  Wohlstand  gebracht  hatte.  1874  erlitt  M.  durch  Unredlichkeit 
eines  Geschäftsmanns  eine  Beleidigung  seines  Rechtsgefühls  und  eine  finanzielle 
Schädigung.  K.  war  als  Notar  bei  dem  bezüglichen  Rechtsgeschäft  betheiligt  ge- 
wesen. M.  war  tief  gekränkt,  vermuthete  sofort  in  dem  für  ihn  ungünstigen 
Ausgang  des  Rechtshandels  ein  Complot,  in  das  er  auch  K.  einbezog  und  betrat 
den  Weg  der  Klage  wegen  betrügerischer  Absicht.  Das  Gericht  verneinte  diese 
und  wies  M.  mit  seinen  Ansprüchen  auf  den  Civilrechtsweg.  M.  erkannte  sofort, 
dass  auch  das  Gericht  mit  seinen  Feinden  im  Einverständniss  war.  M.  wurde  ver- 
schlossen, unfreundlich,  heftig,  grob  gegen  Frau  und  Kind,  magerte  ab  und  hatte 
nur  noch  ein  Ziel,  sein  Recht  zu  bekommen,  das  er  mit  leidenschaftlicher  Er- 
regung festhielt  und  worüber  er  seinen  Beruf  als  Bäcker  vernachlässigte.  Wenn 
auch  M.  thatsächlich  in  seinen  Rechten  gekränkt  war,  so  erkannte  er  von  nun 
an  in  entschieden  falscher  Auffassung  in  allen  weiteren  Consequenzen  der  Affaire 
nur  Verrath  und  Betrug,  war  einem  Ausgleich  unzugänglich  und  erkannte  in 
dem  mehrfach  in  der  Folge  engagirten'  K.  seinen  schlimmsten  Feind.  M.  hatte 
nur  noch  ein  Ziel,  seine  Feinde  an  den  Pranger  zu  stellen.  Er  stürzte  sich  in 
endlose  Processe,  zweifelte  an  der  Fälligkeit  und  Ehrlichkeit  seiner  Rechtsbei- 
stände und  schob  den  Ruin  seines  Geschäfts  und  seinen  Misserfolg  vor  Gericht 
seinen  Feinden  in  die  Schuhe.  Er  drohte  ihnen,  wurde  desshalb  bestraft 
(1877),  dadurch  aber  nur  noch  verbissener  und  nachdem  er  nirgends  Recht  be- 
kommen konnte  und  Drohbriefe  an  die  höchsten  Justizbehörden  wirkungslos  ge- 
wesen waren,  weil  nach  seiner  Meinung  auch  diese  im  Complot  mit  seinen  Fein- 
den standen ,  machte  er  gefährliche  Drohungen  „Recht  oder  Blut",  die  ihm  eine 
4  monatliche  Correktionsstrafe  eintrugen.  Er  ertrug  sie  gelassen,  aber  verschlossen 
und  schweigsamer  als  sonst.  Nun  war  nach  seiner  Meinung  auch  seine  Ehre 
dahin  und  er  hatte  nur  noch  einen  Wunsch,  sich  an  seinem  vermeintlichen  Todt- 
feind  K.  zu  rächen. 

In  der  Beobachtungszeit  war  M.  äusserlich  ruhig  und  geordnet,  solange  nicht 
seine  Rechtssache  berührt  wurde.  Dann  wurde  er  heftig,  liess  durchblicken, 
dass  man  es  hier  nur  darauf  abgesehen  habe,  ihn  auch  noch  geisteskrank  zu 
machen,  entwickelte  ganz  verschrobene  Rechtsanschauungen,  behauptete  Fäl- 
schungen der  Protokolle  und  Unterschriften  und  stellte  die  einzelnen  Momente 
seines  Rechtshandels  ganz  falsch  dar.  Nach  wie  vor  hielt  er  an  der  Gerechtigkeit 
seiner  Sache  und  der  Erlaubtheit  seiner  Handlung  gegen  K.  als  eines  Aktes 
der  Selbsthülfe  unerschütterlich  fest. 

M.  zeigt  unsymmetrische  Körperhälften  insofern  die  linke  viel  geringer 
entwickelt  und  auch  weniger  leistungsfähig  ist.  Da  die  rechte  Schädelhälfte  nur 
_  26,5,  die  linke  29  cm  Umfang  hat,  darf  die  halbseitige  Verkümmerung  auf  eine 
Verkümmerung  der  r.  Gehirnhälfte  (Wachsthumshemmung)  bezogen  werden. 
Diese  Anomalie  deutet  auf  eine  Prädisposition  zu  Hirnkrankheiten  und  ist  ätio- 
logisch bedeutsam.  Ob  Heredität  im  Spiele,  ist  zweifelhaft,  da  M.  unehelich  ge- 
boren  wurde,  sein  Vater   unbekannt  ist.     Seine  Mutter  wird  als  verkommen  ge- 


140  Cap.  IX.    Querulantenwalmsinn. 

schildert,  ein  Stiefbruder  stottert  und   ist  trunksüchtig.     Von  jeher  galt  M.  für 
starrsinnig  und  hochfahrend. 

Die  Conclusionen  des  Gutachtens  sind  folgende :  1.  M.  ist  sicher  organisch, 
wahrscheinlich  auch  erblich  belastet.  2.  M.  leidet  schon  seit  Jahren  an  sog. 
Querulantenwahnsinn,  einer  speciellen  Form  des  Verfolgungswähnsinns.  3.  die 
incriminirte  That  ist  nur  als  eine  Aeusserung  des  besagten  Zustands  aufzufasseii. 
4.  M.  war  zur  Zeit  der  That  durch  seine  Krankheit  der  freien  Willensbestimmung 
beraubt.     (Burkhardt,  Vierteljahrsschr.  f.  ger.  Med.  N.  F.  XXXI,  H.  2.) 

Beob.  42.  Zweifelhafter  Geisteszustand  (Querulantenwahnsinn) 
eines  suspendirten  Postbeamten.  L.  32  J.,  suspendirter  Postbeamter,  aus 
einer  Familie,  in  welcher  Irrsinn  vorgekommen  ist,  als  Kind  an  Convulsionen 
leidend,  originär  verschroben,  einseitig  talentirt,  im  Grossen  und  Ganzen  aber 
schwach  begabt,  reizbar,  sehr  von  sich  eingenommen,  wurde  nach  bewegtem 
Vorleben  als  Student,  Soldat,  Schreiber  und  Journalist,  als  welcher  er  „bei  seiner 
scharfen  Feder  und  conservativen  Richtung  die  sogenannten  Liberalen  oft  tüchtig 
zerzaust  haben  will"  durch  Protection  Postbeamter  (1874),  wobei  er  bald  durch 
Unverträglichkeit  Anstoss  erregte.  Er  mischte  sich  überall  unberufener  Weise  in 
den  Dienst,  ärgerte  und  denuncirte  andere  Beamte,  passte  ihnen  auf  den  Dienst, 
beging  eine  Taktlosigkeit  nach  der  anderen,  verrieth  eine  masslose  Selbstüber- 
schätzung, während  er  doch  in  seiner  eigenen  Dienstführung  unverlässlich  und 
unbeholfen  war.  Schon  nach  wenigen  Monaten  erhält  er  wegen  anmassenden 
Benehmens  gegen  das  Publikum  eine  dienstliche  Rüge.  Er  geräth  in  grosse  Er- 
regung, bringt  zu  seiner  Rechtfertigung  eine  Masse  von  Insolenzen  des  Publikums 
zur  Anzeige,  die  sich  als  Fiktionen  und  Uebertreibungen  erweisen  und  versichert, 
dass  er  nur  das  Ansehen  der  k.  k.  Post  gewahrt  hätte.  Seine  Collegen  seien 
Feiglinge,  die  sich  Alles  gefallen  Hessen.  Neue  Rügen,  die  er  sich  durch  takt- 
loses Benehmen  gegen  Mitbeamte  und  Publikum  zugezogen,  steigern  seine  leiden- 
schaftliche Erregung.  Er  querulirt  um  AnnuUirung  dieser  Verweise ,  stellt  sich 
(Anfang  1875)  als  den  gekränkten  Gemassregelten  hin,  spricht  von  Demorali- 
sirung  des  Beamtenstands,  Parteilichkeit  der  Vorgesetzten,  sieht  sich  verdächtigt 
im  Amt,  während  er  sich  doch  nur  das  beste  Zeugniss  geben  kann.  Er  glaubt 
sich  im  Stand  der  Notliwelir,  müsse  in  Jedermann  einen  Denuncianten  erblicken 
und  klagt,  dass  dies  Gefühl  physisch  und  moralisch  aufreibend  auf  ihn  wirke. 
Neiie  Anmassungen  gegen  Beamte  und  Publikum  ziehen  ihm  neue  Verweise  zu. 
Zunehmende  Aufgeregtheit,  Leidenschaftlichkeit,  Selbstüberschätzung,  feindliche 
Entstellung  der  Thatsachen  lassen  den  Amtsvorgesetzten  schon  Ende  1874  an 
seiner  Geistesgesundheit  zweifeln.  Immer  deutlicher  tritt  L.  aus  der  Rolle  des 
vermeintlich  Angegriffenen  heraus  und  übernimmt  die  aktive  Rolle  des  Angreifers. 
Er  kehrt  in  den  Anfang  1875  gegen  ihn  abgeführten  Disciplinaruntersuchungen 
den  Spiess  um  und  droht  mit  Ehrenbeleidigungsklagen  gegen  die  betr.  Beamten, 
die  doch  er  beleidigt  hat,  verdächtigt  die  Ehre  und  Berufstreue  seiner  Vorge- 
setzten, denuncirt  grundlos  Untergebene,  gefällt  sich  in  offenbar  provocirten 
Reibereien  mit  ihnen,  bläht  geringfügige  Vorgänge  gleich  zu  Ehrenbeleidigungen 
auf  und  droht  mit  Landesgericht  und  Staatsanwalt.  Seine  Sprache  wird  immer 
massloser,  verletzender,  leidenschaftlicher.  Ueberall  erblickt  er  nur  eine  Krän- 
kung seiner  Rechte,  aber  er  fühlt  sich  Mann  genug,  um  einer  solchen  feigen  Be- 
amtenclique die  Larve  vom  Gesicht  zu  reissen.   In  endloser  Breite  häuft  er  grund- 


I 


Beob.  42.    Zweifelhafter  Geisteszustand  eines  Querulanten.  141 

lose  Beschuldigungen  gegen  ihm  angeblich  feindlich  gesinnte  Beamte,  droht  mit 
Straf-  und  Schwurgericht  als  Herstellungsmittel  seiner  verletzten  Ehre,  macht 
einen  Wortwechsel  im  Dienste  zu  einem  Verbrechen  der  öffentlichen  Gewalt- 
thätigkeit,  erstattet  Anzeige  bei  Gericht  und  beim  Ministerium.  Die  anmassende 
weitschweifige  Sprache  in  diesem  Bericht,  die  behäbige  Breite  des  Styls  mit  all- 
gemeinen Betrachtungen  über  Menschenrechte,  Ehre,  pikanten  angeblichen  Beleg- 
fakten und  Beispielen  der  Corruption  des  Beamtenthums  lassen  (April  1875) 
kaum  mehr  zweifeln,  dass  L.  bereits  wahnsinnig  ist. 

Seine  Rekurse  beim  Ministerium  haben  keinen  Erfolg.  L.  wird  Ende  April 
nach  P.  versetzt.  Auch  seine  gerichtlichen  Klagen  gegen  Beamte  endigen  mit 
der  Freisprechung  der  grundlos  Angeklagten.  Grollend,  mit  der  Welt  zerfallen, 
tritt  L.  seine  Stelle  in  P.  an.  Schon  im  August  1875  ist  sein  Vorstand  genöthigt, 
über  neue  Unverträglichkeiten  des  L.  im  Amte,  sowie  über  seine  dienstliche  Unzu- 
verlässigkeit  höheren  Orts  Klage  zu  führen.  Er  erklärt  den  Postmanipulations- 
dienst für  eine  geistlose  Arbeit,  prahlt  mit  seinen  vornehmen  Connexionen  und 
Verwandtschaften,  und  dass  das  Ministerium  ihn  in  Bälde  zum  Conceptfache 
avanciren  lassen  werde.  Es  sei  traurig,  dass  er  mit  solchen  Strohköpfen  dienen 
müsse. 

Daneben  verlangt  er  in  prätentiöser  Weise  Erleichterungen  vom  Dienste, 
beruft  sich  auf  ein  geringfügiges  äusseres  Augenleiden,  das  ihn  dazu  nöthige, 
spricht  von  seiner  Opferlust  als  Beamter,  während  seine  Vorgesetzten  finden, 
dass  er  den  Dienst  vernachlässigt  und  allerlei  Allotria  treibt. 

Wegen  seiner  Hetzereien  und  Ungebührliclikeiten  im  Dienste  interpellirt, 
dreht  er  die  Worte  herum,  schleudert  die  Anklage  gegen  die  Anderen  zurück 
und  häuft  wieder  neue  Invektiven. 

War  schon  L.  durch  sein  gehässiges  Benehmen  im  Dienste  in  P.  eine  an- 
stössige  Persönlichkeit  geworden,  so  führten  2  Scandale,  die  er  am  15.  u.  16.  Sept. 
1875  im  Amte  provocirte ,  dazu ,  ihn  unmöglich  zu  machen  und  nöthigten  seine 
Behörde,  ihn  vom  Amte  zu  suspendiren. 

Am  15.  Sept.  drohte  nämlich  L.  in  einem  wegen  geringfügiger  Ursachen 
provocirten  Wortwechsel  seinem  Vorstande,  er  werde  im  Wiederholungsfalle  ihn 
und  die  Postdirektion  in  Criminaluntersuchung  verwickeln,  die  Betrügereien  und 
Diebereien  der  Beamten  zur  Kenntniss  des  Ministeriums  bringen. 

Am  16.  Sept.  stiess  er  neue  Drohungen  aus,  nannte  alle  Postbeamten 
Diebe,- —  er  habe  mehr  Verstand  im  Kopfe,  als  alle  Anderen,  man  werde  noch 
vor  ihm  zittern. 

Das  am  24.  Sept.  erhobene  Gutachten  des  Bezirksarztes  schildert  L.  als 
einen  Menschen  von  grosser  Selbstüberschätzung,  der  den  Minister  als  einen  ver- 
trauten Freund  hinstellt,  sich  seiner  schriftstellerischen  Leistungen  rühmt,  sich 
seinen  Mitbeamten  weit  überlegen  dünkt,  allein  die  wahren  Begriffe  von  Ehre 
und  Muth  zu  haben  glaubt.  Das  Gutachten  erwähnt  seiner  Schreibwuth,  seiner 
unsittlichen  Impulse  und  kommt  zum  Schlüsse,  dass  bei  L.  ein  psychischer 
Exaltationszustand  von  pathologischem  Charakter  vorhanden  sei. 

In  seinem  langathmigen  Rekurse  an  das  hohe  Handelsministerium  ist  L. 
wieder  der  Beleidigte,  der  den  Sachverhalt  ganz  entstellt  und  leidenschaftlich 
schildert.  Als  einziger  Beleg,  dass  er  berechtigt  sei,  die  Beamten  des  Postamtes 
in  P.  Diebe  zu  nennen,  kommt  er  auf  eine  längst  abgethane  Angelegenheit  zurück, 


]^42  Cap.  IX.    Querulantenwahnsinn. 

nämlich,  dass  ein  dort  bediensteter  Beamter  vor  Jahren  einmal  von  einer  Wein- 
traubensendung genascht  hat. 

Im  weiteren  Verlaufe  seines  Rekurses  verliert  er  sich  in  endloses,  gar 
nicht  zur  Sache  gehöriges  Detail,  berichtet  eine  Menge  angeblich  von  ihm  ent- 
deckte Unzukömmlichkeiten  und  ehrenrührige  Handlungen  von  Beamten  im 
Dienste,  die  sich  aber  als  krankhafte  Fiktionen  oder  Uebertreibungen  ausweisen, 
und  entblödet  sich  sogar  nicht,  Familienverhältnisse  und  Privatklatsch  in  Bezug 
auf  die  denuncirten  Beamten  zu  erwähnen.  Den  Schluss  seines  Rekurses  bilden 
feuilletonistische  Betrachtungen  über  Bureaukratie  und  Beamtenmisere.  Er  hofft, 
dass  ein  Messiasminister  zur  Abstellung  dieser  Misere  erstehe,  fürchtet  aber,  dass, 
bis  sein  Rekurs  bis  zum  Minister  gelange,  alles  Gravirende  für  Andere  daraus 
weggewaschen,  und  er  nur  noch  als  Raisonneur  und  Sünder  dastehen  werde. 
Bemerkenswerth  ist  seine  Aeusserung,  dass  er  durch  alle  diese  Händel  und 
Invektiven  sich  nervös  angegriffen  fühle  und  zu  seinen  Arbeiten  dreimal  so  lange 
als  früher  brauche. 

Anfang  Oktober  1875  ging  der  suspendirte  L.  in  das  Postbureau,  den  Hut 
auf  dem  Kopfe  und  legte  2  Briefe  auf  den  Tisch.  Der  über  ein  solches  unan- 
ständiges Benehmen  indignirte  manipulirende  Beamte  sagte  zu  L.  bloss :  „im 
Vorhause  befindet  sich  der  Briefkasten" ;  darauf  provocirte  L.  einen  Scandal, 
warf  mit  „frecher  Kerl"  und  ■  „Zuchthaus"  um  sich  und  verliess  endlich  das 
Amtslokal. 

L.  zog  sich  in  der  Folge  nach  K.  zurück.  Eine  kolossale  Correspondenz 
mit  allen  möglichen  Standespersonen  füllte  seine  ganze  Thätigkeit  aus.  Er  gesteht 
selbst  zu,  weit  über  30  Briefe  täglich  geschrieben  zu  haben,  natürlich  sämmtlich 
voll  Klagen  über  Parteilichkeit  der  Gerichte,  ungerechtfertigte  Disciplinarmass- 
regelung,  Invektiven  gegen  Beamte  und  Denunciationen. 

Es  scheint,  dass  L.  in  letzter  Zeit  vor  seiner  Umgebung  sich  nicht  sicher 
genug  fühlte.  Er  gab  z.  B.  die  Briefe  nicht  in  die  gewöhnlichen  Postsammei- 
kästen, sondern  wai'tete  die  Ambulanz  ab,  um  seine  Schreiben  noch  ohne  post- 
amtliche  Revision  im  letzten  Augenblicke  wegzuschicken.  In  seiner  letzten 
Wohnung  soll  er  um  eine  doppelte  Thüre  und  dazwischen  einen  Strohsack 
petitionirt  haben,  damit  er  nicht  die  Gespräche  der  Anderen  höre. 

Vom  Stadtrathe  am  9.  Januar  1876  in's  Spital  zur  Feststellung  seines 
Geisteszustandes  gesendet,  legte  er  bei  der  Sicherheitsbehörde  sogleich  Protest 
gegen  diese  Freiheitsberaubung  ein  und  beschäftigte  sich  in  den  folgenden 
Tagen  ausschliesslich  mit  der  Abfassung  von  Briefen,  Beschwerden,  Eingaben. 
Mit  beissender  Schärfe  und  gewandter  Logik  versteht  er  es,  das,  was  um  ihn 
vorgeht,  zu  kritisiren,  ironisiren,  mit  Stichelreden  gegen  Aerzte  und  Wartpersonal 
vorzugehen,  mit  seinerzeitigen  gerichtlichen  Schritten  zu  drohen. 

Sein  Benehmen  ist  vornehm  herablassend,  selbstgefällig,  seine  Miene  süffisant. 
Er  prahlt  mit  seinen  Connexionen  und  vornehmen  Verwandtschaften,  mit  seinen 
literarischen  Leistungen,  von  denen  er  kleine  Proben  mittheilt.  Kommt  er  auf 
seine  Rechtshändel  zu  sprechen,  und  er  lenkt  mit  krankhaftem  Zwange  immer 
wieder  die  Conversation  darauf  hin,  so  geräth  er  in  nur  mühsam  verhaltene  Auf- 
regung, wirft  mit  endlosem  Redeschwall,  mit  Gesetzesparagraphen,  Strafakten, 
Untersuchungen  etc.  um  sich  und  stellt  sich  als  einen  Märtyrer  hin,  der  aber 
eines  Tages  seine  Feinde  zu  Schanden  machen  und  der  Welt  Dinge  erzählen  wird, 
die  ungeheure  Sensation  machen  werden. 


Beob.  42.    Zweifelhafter  Geisteszustand  eines  Querulanten.  143 

L.  besitzt  wahrhaft  pathologisclie  Begabung  und  Drang  zum  Dispntiren 
und  ist,  selbst  wenn  es  gelingt,  ihn  durch  die  Thatsachen  zu  widerlegen,  vor 
lauter  Sophistik,  Dialektik  und  Rabulisterei  unversehens  doch  im  Rechte  und  der 
gekränkte  Ehrenmann. 

Die  am  15.  Januar  erfolgte  Transferirung  in  die  Irrenanstalt  machte  einen 
mächtigen  Eindruck  auf  ihn. 

Er  sieht  ein,  dass  er  einen  zu  dicken  Schädel  gehabt  habe,  dass  man  nicht 
gegen  den  Strom  schwimmen  könne,  er  gibt  sogar  zu,  dass  er  leidenschaftlich, 
nervös  aufgeregt  gewesen  sei,  aber  insgeheim  ist  er  von  der  Gerechtigkeit  seiner 
Sache  unwandelbar  überzeugt. 

Schon  nach  wenigen  Tagen  übernimmt  er  auch  in  der  Irrenanstalt  die 
Stelle  des  Querulanten  und  Denuncianten,  verdächtigt  Wärter,  passt  ihnen  auf 
den  Dienst,  nöthigt  zu  disciplinarer  Untersuchung  gegen  sie,  die,  gerade  so  wie 
früher,  ein  negatives  Resultat  für  die  Verklagten  ergibt. 

L.  ist  ein  schlanker,  in  der  Ernährung  etwas  herabgekommener  Mann. 
Der  Blick  stechend,  die  Gesichtszüge  unsympathisch,  lauernd  und  Hochmuth 
deutlich  verrathend.  Im  Oberkiefer  finden  sich  als  von  Kindheit  auf  bestehende 
Abnormität  nur  2  Schneidezähne. 

Im  üebrigen  ist  der  Körper  wohlgebildet;  nur  besteht  convergirendes  Schielen, 
dessen  Entstehung  unaufgeklärt  ist.     Die  vegetativen  Funktionen  sind  ungestört. 

Gutachten.  Herr  L.  leidet  an  einer  empirisch  wahren,  unter  dem  Namen 
des  Processkrämer-  oder  Querulanten- Wahnsinns  wissenschaftlich  bekannten  Form 
von  Geistesstörung. 

Schon  bald  nach  seinem  Eintritte  in  das  Postfach  gerieth  der  originär 
verschrobene  L.  in  Conflikte  mit  den  Thatsachen  und  mit  der  Umgebung.  Er  ist 
unverträglich,  arrogant,  reizbar,  rechthaberisch,  streitsüchtig,  tritt  bald  als 
Denunciant  auf,  obwohl  er  am  wenigsten  bei  seiner  eigenen  Lässigkeit  und 
geringen  Brauchbarkeit  im  Dienste  Grund  hat,  sich  bemerklich  zu  machen. 
Disciplinarisch  gemassregelt,  wähnt  er  sich  verfolgt,  das  Opfer  einer  Intrigue, 
aber  bald  darauf  erscheint  er  in  der  Rolle  des  Angreifers,  der,  aller  Besonnenheit 
verlustig,  durch  die  Brille  seiner  Leidenschaft  gesehene  Kleinigkeiten  zu  Ver- 
brechen stempelt,  querulirt,  denuncirt,  intriguirt,  processirt,  in  wahnsinniger 
Selbstüberschätzung  sich  allein  im  Rechte  glaubt,  die  Anderen  für  Diebe  und 
Strohköpfe  erklärt,  die  grössten  Scandale  provocirt,  bis  seinem  wahnsinnigen, 
alles  rechtlichen  Grundes  baaren,  das  eigene  Lebensglück  zerstörenden  Treiben 
endlich  ein  Ziel  gesetzt  wird. 

L.  ist  ein  für  die  öffentliche  Ordnung,  ja  möglicher  Weise  die  öffentliche 
Sicherheit  gefährlicher  Kranker. 

Bei  der  langen  Dauer  des  Leidens,  der  progressiven  Entwicklung  desselben 
und  dem  Umstände,  dass  es  in  präexistirenden  Charakteranomalien  allein  seine 
Entstehung  findet,  muss  die  Hoffnung  auf  eine  völlige  Wiederherstellung  des 
unglücklichen  Kranken  als  eine  geringe  bezeichnet  werden. 

Die  ihm  zur  Last  gelegten  Disciplinarvergehen,  welche  seine  Suspendirung 
vom  Amte  zur  Folge  hatten,  sind  der  Ausfluss  seiner  bedauernswerthen,  mindestens 
seit  1874  nachweisbaren  Geisteskrankheit. 

Die  Behörde  sah  sich  auf  Grund  dieses  Gutachtens  veranlasst,  die  Sus- 
pension des  Kranken  vom  Amte  zurückzunehmen  und  denselben  wegen  Krankheit 
zu  quiesciren.     (Eigene  Beobachtung,  Irrenfreund  1876.) 


J44  Cap.  IX.    Querulantenwahnsinn.     Beob.  43. 

Weitere  Fälle:  s.  des  Verf.  Aufsatz  über  Querulantenwahnsinn  in  Allg. 
Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  35.  Bd.  (vollständige  Casuistik  bis  1876).  Ferner  Anes- 
hänsel,  Aerztl.  Mittheilungen  aus  Baden.  XXXII.  21.  Beckmann,  Erlenmeyer's 
Centralblatt  1880,  Beil.  1.     Sponholz  ebenda  1880,  Nr.  13. 

Eine  dieser  Gruppe  von  Kranken  nahestehende  bilden  wahn- 
sinnige Hypochonder,  die  sich  in  irgend  einer  Krankheit  vom  Arzt 
falsch  behandelt,  bleibend  in  ihrer  Gresundheit  geschädigt  glauben  und 
nun  gegen  ihre  Aerzte  Processe  auf  Schadenersatz  anstrengen,  ja 
"wohl  gar  an  Denen,  von  welchen  sie  sich  in  ihrer  Gesundheit  zu 
Grunde  gerichtet  wähnen,  sich  thätlich  vergreifen,  wenn  ihre  Be- 
schwerden und  Klagen  vor  Gericht  erfolglos  waren. 

Beob.  43.  Hypochondrische  Verrücktheit.  Wahn,  vom  Ar zt 
falsch  behandelt  zu  sein.  Mordversuch  auf  diesen.  Der  44jährige 
Kutscher  Bourgeois  ist  angeklagt,  am  18.  Januar  einen  Mordversuch  auf  Dr.  Bleynie 
gemacht  zu  haben,  weil  dieser  ihn  vor  Jahren  falsch  behandelt  habe.  Er  gibt 
selbst  Folgendes  zu  Protokoll: 

„Vor  16  Jahren  habe  ich  eine  Kälte  in  den  Eingeweiden  empfunden. 
Diese  hätte  in  8  Tagen  geheilt  werden  können.  Ich  wandte  mich  an  Dr.  F. 
Dieser  setzte  ein  Vesicator,  das  brachte  aber  meine  Organe  nur  noch  mehr  in 
Unordnung  und  zog  sie  ganz  zusammen.  Ich  wandte  mich  an  Dr.  B.,  der  mir 
warme  Bäder  anrieth.  Sie  halfen  nichts.  Nun  verordnete  er  Flussbäder.  Diese 
verschlimmerten  die  Kälte  in  meinem  Innern  auf  entsetzliche  Weise.  Ich  con- 
sultirte  andere  Aerzte,  aber  es  war  nicht  mehr  zu  helfen.  Ich  war  ruinirt,  die 
Eingeweide  nicht  mehr  an  der  rechten  Stelle,  ich  musste  mein  Geschäft  aufgeben." 

Seine  Angehörigen  und  Arbeitgeber  deponiren,  dass  er  seit  16  Jahren 
Hypochonder  ist,  einen  gränzenlosen  Hass  gegen  die  Aerzte  hat,  von  denen  er 
sich  ruinirt  glaubt.  In  einer  Schrift,  die  man  von  ihm  geschrieben  bei  ihm  fand, 
kommt  folgende  Stelle  vor:  „Arme  Kranke,  vertraut  Euch  nicht  den  Aerzten  an. 
Sie  sind  Unwissende  und  Mörder,  welche  tödten  können,  wie  es  ihnen  gutdünkt. 
Wenn  Ihr  ihnen  sagt,  dass  sie  sich  geirrt  haben,  so  lachen  sie  Euch  in's  Gesicht 
und  behandeln  Euch  als  Wahnsinnige.  Zehn  Jahre  Galeeren  würden  zu  ihrer 
Bestrafung  nicht  hinreichen." 

Gegen  Dr.  B.  wandte  sich  besonders  sein  Hass,  da  er  ihm  vor  12  Jahren 
Flussbäder  gegen  sein  Kältegefühl  veroi'dnet  habe.  Vor  10  Jahren  schon  machte 
er  ihm  bittere  Vorwürfe  auf  der  Strasse.  Vor  3  Jahren  kaufte  er  ein  Dolch- 
messer mit  der  offenen  Absicht,  den  Arzt  zu  tödten. 

Sechs  Wochen  vor  der  That  kaufte  er  Pistolen,  weil  er  sie  für  dienlicher 
hielt.  Er  bereitete  sich  kaltblütig  auf  seine,  nach  seiner  Meinung  verdienstliche 
That  vor. 

In  seinen  Papieren  findet  sich  die  Stelle :  „Es  ist  ein  Wunder  des  Himmels, 
dass  ich  noch  nicht  von  der  Hand  der  Aerzte  gestorben  bin  —  ich  war  dazu 
bestimmt,  ihre  Verbrechen  aufzudecken  und  zu  bestrafen." 

Er  schoss  nach  Dr.  B.  auf  offener  Strasse,  gestand  verhaftet  sein  Motiv 
ganz  offen,  nur  bedauernd,  dass  seine  That  nicht  gelungen  sei,  die  er  übrigens 
mit  besserem  Erfolg  zu  wiederholen  hoffe. 


Der  religiöse  Wahnsinn.  145 

Im  Gefängniss  war  er  ganz  besonnen  und  geordnet,  nur  sprach  er  besonders 
gern  von  seinen  Krankheiten.  Er  ist  mager,  bleich,  seine  Züge  haben  das  Gepräge 
eines  körperlichen  Leidens,  der  Schlaf  ist  unruhig,  er  ist  wählerisch  in  den  Speisen, 
weist  manche  als  seiner  Gesundheit  unzuträglich  zurück.  In  seinen  Reden  und 
Gewohnheiten  bemerkt  man  nichts  Unverständiges.  B.  wurde  für  irrsinnig  erklärt. 
(Marc,  die  Geisteskrankheiten,  übers,  von  Ideler,  IL  p.  9.) 

Aehnlicher  Fall:   Lorent,  Allg.  Zeitschr.  f.  Psych.  XXXIIL  H.  5  u.  6. 

b.    Der    religiöse    Wahnsinn. 

Klinische  Ueber sieht:  Auch  diese  Form  des  Wahnsinns  pflegt  sich 
aus  einer  von  Kindsbeinen  auf  verschrobenen  Charakterrichtung,  in  der  ein  Zug 
von  träumerischem  Wesen  bis  zu  ausgesprochenem  Mj^sticismus  und  Bigotterie 
früh  auffällt,  zu  entwickeln.  Die  geistige  Begabung  ist  gewöhnlich  eine  geringe, 
der  wahre  ethische  Kern  der  Religion  kommt  solchen  Individualitäten  über  der 
glänzenden  Aussenseite  des  Cultus  derselben  nicht  zum  Bewusstsein  und  ihr  alo- 
gischer Sinn  klaubt  am  Buchstaben  und  Wort  der  Bibel  und  göttlichen  Offen- 
barung herum,  statt  ihre  tiefere  Bedeutung  zu  erfassen.  Die  centrale  Sinnessphäre 
ist  abnorm  erregbar  und  führt  leicht  zu  Hallucinationen.  Früh  und  oft  abnorm 
stark  erwacht  die  geschlechtliche  Sphäre  und  führt  häufig  zu  Masturbation. 
Hysterische,  epileptische  und  hypochondrische  Neurose  ist  bei  solchen  Candidaten 
der  religiösen  Verrücktheit  nicht  selten  und  zuweilen  entwickelt  sich  der  Wahn- 
sinn aus  gehäuften  hysterisch-ecstatischen  Zuständen  oder  bei  Epileptikern  aus 
den  religiösen  Delirien  solcher  Kranken.  In  anderen  Fällen  wird  der  Grund  zu 
dem  Krankheitsbild  in  der  Pubertätszeit  gelegentlich  religiöser  Exaltationszustände, 
die  mit  Hallucinationen  einhergehen  und  sich  bis  zur  Ecstase  steigern  können, 
gelegt. 

Der  Krankheitsausbruch  ist  selten  ein  plötzlicher,  meist  geht  ein  Monate 
bis  Jahre  dauerndes  Incubationsstadium  vorher,  in  welchem  neben  hysterischen 
oder  hypochondrischen  Symptomen,  Erscheinungen  von  Neurasthenia  spinalis 
u.  a.  somatischen  Folgen  der  Masturbation  die  innere  Concentration,  Zerstreutheit, 
Vernachlässigung  der  Berufspflichten,  Bibelstudium  und  Vertiefung  in  religiöse 
Schriften  auffallen.  Zeiten  bussfertiger  Zerknirschung  wechseln  mit  solchen 
ahnungsvoller  Hoffnung,  Gehobenheit  und  erotischer  Erregung  (Schwärmen  für 
einzelne  Geistliche,  Heilige  u.  s?  w.).  Schwächende  Momente  (weitgetriebene 
Bussen,  Askese,  Masturbation,  acute  Krankheiten)  neben  Erregung  von  Gemüth 
und  Phantasie  durch  mystische  Lektüre,  fulminante  Predigten  und  allzueifrige 
Hingebung  an  religiöse  Hebungen  (besonders  Missionen)  führen  zu  einem  psy- 
chischen Aufregungszustand  mit  sublimen  Gefühlen  der  Gehobenheit  bis  zur 
Ecstase,  mit  himmlischen  Visionen,  zu  denen  sich  bald  prophezeiende  verheissende 
Stimmen  gesellen.  Bei  Weibern  finden  sich  gleichzeitig  Gefühle  sexueller  Erregung 
bis  zu  Coitusgefühlen  und  solchen  der  Verklärung. 

Die  Führung  im  weiteren  Krankheitsverlauf  übernehmen  Hallucinationen, 
und  ecstatische  Zustände,  die  unter  dem  Einfluss  von  Askese,  Masturbation  jeweils 
besonders  lebhaft  auftreten.  Ueberraschend  schnell  bilden  sich  bei  der  meist 
originär  verschrobenen  Persönlichkeit  Wahnideen  (Prophet,  Messias,  Mutter  Gottes) 
und  geht  der  lezte  Rest  von  Besonnenheit  verloren.  Etwaige  Zweifel  erscheinen 
als  Anfechtung  des  Teufels  und  werden  siegreich  überwunden. 

V.  Krafft-Ebing,  gerichtl.  Psychopathologie.    2.  Auflage.  10 


146  Cap.  IX.    Religiöser  Wahnsinn.    Forensische  Bedeutung. 

Jedoch  kommen  im  Verlauf  episodisch  Zeiten  der  tiefsten  Zerknirschung^ 
des  Zweifels  an  der  Würdigkeit  zum  göttlichen  Beruf,  des  Bedürfnisses  der 
Läuterung  und  Busse,  bis  zu  dämonomanischen  Anfechtungen  vor,  in  welchen 
die  Kranken  fasten ,  sich  Stillschweigen  auferlegen  und  Askese  bis  zur  Selbst- 
verstümmelung treiben.  Auch  bei  dem  relig.  Wahnsinn  lässt  sich  ein  Stadium 
der  Passivität  unterscheiden,  in  welchem  die  Kranken  sich  einfach  receptiv  ihren 
Gefühlsmetamorphosen  und  Hallucinationen  gegenüber  verhalten  und  ein  Stadium 
der  Aktivität,  in  welchem  der  fertige  Wahn  sich  geltend  zu  machen  sucht,  sei  es 
in  der  harmlosen  Rolle  des  Weltreformators  und  Erlösers,  sei  es  in  der  bedenk- 
lichen des  wahnsinnigen  Fanatikers.  Mit  der  Zeit  lassen  die  Hallucinationen 
und  ecstatischen  Gefühlsdurchströmungen  nach,  die  Affekte  verlieren  sich,  die 
Wahnideen  verblassen  und  existiren  nur  noch  als  Phrase  für  den  zum  ruhigen 
Bewohner  irgend  einer  Irrenanstalt  gewordenen  Kranken. 

Die  forensische  Bedeutung  des  religiösen  Wahnsinns  ist  heut- 
zutage glückhcherweise  eine  geringere  als  in  vergangenen  Jahr- 
hunderten, wo  er  häufiger,  sogar  epidemisch  vorkam  und  zu  den 
traurigsten  Verirrungen  und  schrecklichsten  Gewaltthaten  führte. 

Gefährlich  sind  solche  Kranke  auf  der  Höhe  ihrer  Krankheit 
Anderen  durch  Handlungen  des  Fanatismus ,  die  durch  von  Gott 
empfangene  Befehle  oder  missverstandene  verrückte  Auslegung  von 
Bibelstellen  motivirt  sind. 

Ein  gewöhnliches  Vorkommen  sind  Misshandlungen  von  Geist- 
lichen, Störung  des  Gottesdienstes,  Tempelschändung  und  Bilder- 
stürmerei, indem  solche  Kranke  die  Priester  für  Baalspriester  und 
Irrlehrer,  die  Kirchen  für  Götzentempel  erachten. 

Nicht  selten  ist  der  Mord  geliebter  Personen,  um  sie  der  Freuden 
des  Paradieses  theilhaftig  zu  machen,  ein  Gott  wohlgefälHges  Opfer 
im  Sinne  Abrahams  darzubringen,  sie  von  vermeintlich  begangenen 
Sünden  abzuhalten  und  für  das  ewige  Leben  zu  retten. 

Auch  durch  Verweigerung  des  Gehorsams,  der  Eidespflicht  gegen- 
über der  weltlichen  Obrigkeit,  durch  Aufregung  und  Ansteckungs- 
gefahr einer  bigotten,  rehgiös  erregten  Bevölkerung  durch  Schrift 
und  Wort  können  derartige  Wahnsinnige  forensische  und  sociale  Be- 
deutung bekommen.  Gefährhch  dem  eigenen  Leben  werden  solche 
Kranke  durch  Fasten,  durch  aus  eigenem  Antrieb  oder  auf  göttlichen 
Befehl  unternommene  Selbstverstümmelungen  bis  zur  Kreuzigung. 

Die  diagnostische  Frage  wird  sich  in  foro  darum  drehen ,  ob 
blosse  Leidenschaft  (Fanatismus)   oder  Wahnsinn  vorliegt. 

Die  synthetische  Erfassung  des  concreten  Falls,  welcher  die 
That  nur  als  eine  Einzelerscheinung,  eventuell  als  ein  Symptom  eines 
psychopathischen  Zustands   erscheint,    die  Würdigung   der  Gesammt- 


Beob.  44.    Religiöser  Wahnsinn.    Mord  des  eigenen  Kindes.  147 

persönlichkeit  in  anamnestischer  charakterologischer  und  kHnischer 
Hinsicht,  des  Entwickhmgsgangs  und  Verlaufs  der  fraglichen  Krank- 
heit, der  hegleitenden  neurotischen,  somatischen  und  Belastungszeichen, 
der  vielfach  vorhandenen  Anomalien  der  geschlechtlichen  Sphäre  werden 
zunächst  eine  Basis  für  die  Beurtheilung  schaffen,  auf  welcher  der 
Nachweis  von  Hallucinationen ,  ecstaseartigen  Zuständen,  epilepti- 
formen  u.  a.  Krampferscheinungön,  endlich  der  Nachweis  von  wesent- 
lich auf  Hallucinationen  gegründeten  Wahnideen,  ihre  Unerschütterlich- 
keit, die  alogische  Interpretation  von  Stellen  der  Bibel,  die  rück- 
sichtslose offene  weil  im  Namen  Gottes  erfolgende  Handlungsweise 
den  concreten  Fall  ins  richtige  Licht  stellen  werden. 

Beob.  44.  Religiöser  Wahnsinn.  Mord  des  eigenen  Kindes, 
um  Gott  ein  Opfer  darzubringen.  F.  stammt  angeblich  aus  gesunder 
Familie.  Er  galt  als  sehr  eigenwillig  und  eingebildet,  litt  wiederholt  an  Dysen- 
terie, machte  den  amerikanischen  Krieg  mit,  wurde  später  Schuster,  lej-nte  1871 
seine  spätere  Frau  kennen,  strengte  sich  sehr  an  um  ein  Heim  gründen  zu  können, 
heirathete  endlich  1875  mit  25  J.,  litt  1876  an  Diphtheritis,  kaufte  sich  dann  ein 
kleines  Besitzthum  in  einem  Dorfe,  wurde  Briefbote  und  schloss  sich  der  Metho- 
distengemeinde an.  1876  erlitt  er  einen  Anfall  von  Sonnenstich,  an  dessen  Folgen, 
namentlich  Kopfschmerz,  er  noch  1877  zu  leiden  hatte.  Er  war  von  geringer 
Bildung  aber  ein  braver  Mensch  und  liebte  seine  Familie  sehr.  Im  Anschluss 
an  eine  gehörte  Predigt  und  eine  Zeitungslektüre  im  Februar  1878  zeigte  er  eine 
tiefgehende  Sinnesänderung,  vertiefte  sich  in  religiöse  Betrachtungen,  wollte  sich 
mit  seinen  Feinden  aussöhnen  und  ein  neues  Leben  beginnen,  „ein  Leben  der 
Demuth  und  Ergebenheit  nach  dem  Worte  und  Geist  Gottes".  Er  fühlte  bald, 
dass  Gott  ihn  zu  einer  besonderen  Mission  bestimmt  habe  und  dass  er  dai'über 
Familie  und  Beruf  aufgeben  solle.  Gott  fragte  ihn,  ob  er  seine  Familie  verläug- 
nen  wolle  um  das  Evangelium  zu  predigen,  er  wolle  ihn  dafür-  erleuchten,  dass 
er  die  Satzungen  der  Bibel  verstehe  und  belehren.  Schon  als  Knabe  von  14  Jah- 
ren will  F.  Gottes  Stimme  vernommen  und  seither  sich  immer  in  Gottes  Schutz 
gefühlt  haben.  Im  Sommer  1878  liess  er  an  sich  die  Wassertaufe  durch  Ver- 
treter der  Adventistensecte  vollziehen.  Um  diese  Zeit  hatte  er  beim  Einschlum- 
mern eine  Vision.  Eine  schwere  schwarze  Wolke  legte  sich  auf  ihn,  er  hörte 
verständliche  und  unverständliche  Stimmen,  wurde  ^/4  Meilen  weg  zum  Hause 
seiner  Schwiegermutter  versetzt,  fühlte  einen  furchtbaren  Wirbelwind  mit  Ge- 
räiisch  von  Hagel  und  Donner,  sodass  das  naheliegende  Haus  seines  Schwagers 
weggefegt  wurde.  Er  lag  während  dieser  Vision  im  Gebet  und  war  ausserordent- 
lich aufgeregt.  Er  wurde  nun  Führer  der  Adventistengemeinde ,  die  ihn  wegen 
seiner  Vision  dazu  auserwählt  erkannte. 

Im  December  1878  forderte  Gott  von  ihm,  jeden  Umgang  mit  seiner  Frau 
zu  unterlassen.  Er  fügte  sich  diesem  Gebot.  Während  solcher  Zusammenkünfte 
mit  Gott  hatte  er  immer  ein  unbeschreibliches  Gefühl,  als  wenn  etwas  aus  seinen 
Fingern  ausströme,  ein  drückendes  Gefühl  in  der  Herzgegend  und  einen  eigen- 
thümlichen,  bis  15  Minuten  währenden  Bewusstseinszustand,  in  welchem  aber 
nicht  Bewusstlosigkeit  bestand.     9  Wochen  vor  dem  Mord  befahl  ihm  Gott,  dass 


148  Cap.  IX.    Religiöser  Wahnsinn. 

er  sein  Weib  nicht  mehr  fleischlicli  berühre.  Die  Eheleute  fügten  sich  dem 
göttlichen  Willen.  Zu  jener  Zeit  hatte  er  bei  einem  Gottesdienst  eine  unbezähm- 
bare Anwandlung  zu  schreien.  Er  schloss  daraus,  dass  ihn  Gott  auffordere, 
seiner  Familie  gänzlich  zu  entsagen,  fortzugehen  und  zu  predigen. 

Er  wurde  nun  reizbar,  unduldsam,  selbst  gegen  seine  Kinder,  die  er  .sonst 
sehr  liebte.  3  Wochen  vor  dem  Mord,  als  er  gerade  einen  Mittagsschlaf  halten 
wollte,  hatte  er  wieder  eine  Vision  —  eine  Wolke  senkte  sich  auf  ihn,  Kopf 
und  Brust  brannten,  eine  Windsbraut  kam  daher  gerauscht  und  er  hörte  das 
Rollen  des  Donners.  Er  sah  sich  im  Nachtgewand  m.it  einer  leuchtenden  Kerze 
in  einem  Zimmer.  Eine  Stimme  sagte  „Jesus  ist  hier".  Es  war  ihm,  als  wenn 
er  von  Glas  wäre,  d.  h.  er  fühlte  eine  eigene  Gefühllosigkeit. 

10  Tage  später,  nach  einer  Kränkung  durch  den  Schwager,  der  ihm  mit 
Erschiessen  drohte,  kam  über  ihn  ein  ungemein  peinliches  Gefühl.  Es  war  ihm 
als  ob  Gott  im  Hause  gegenwärtig  sei  und  ihn  auffordere,  ihm  irgend  ein  grosses 
Opfer  darzubringen.  Er  ass  nun  nur  noch  etwas  Brod  und  Zwieback,  trank  nur 
Wasser,  schlief  sehr  wenig  und  athmete  schwer  im  Schlafe. 

Er  fühlte  sich  während  dieser  Zeit  auserwählt  von  Gott  ein  grosses  Werk 
zu  verrichten,  etwa  wie  Christus.  Er  grübelte  beständig  über  den  Willen  Gottes 
nach  und  was  die  Visionen  zu  bedeuten  hatten,  auch  war  er  in  grosser  Angst 
über  die  Drohung  des  Schwagers  ihn  zu  erschiessen. 

Vier  Tage  vor  dem  Mord  verhiess  er  einem  schwindsüchtigen  Mädchen 
Genesung,  wenn  es  Vertrauen  zu  ihm  habe  und  einem  kranken  Adventisten  sagte 
er,  es  sei  ihm  geoffenbart,  dass  er  genesen  werde. 

Drei  Tage  vor  dem  Mord  fasste  er  die  Ueberzeugung,  dass  er  nach  Gottes 
Willen  fortgehen  und  predigen  solle,  nur  wusste  er  nicht  wohin,  Tags  dai'auf 
las  seine  Frau  in  einer  Adventistenzeitung  über  das  Opfer  Abrahams  und  fragte 
ihn,  ob  er  im  Stand  wäre,  ein  so  grosses  Opfer  darzubringen,  wenn  es  Gott  von 
ihm  verlangen  würde.  Er  war  zuerst  ei'schüttert ,  fand  dann  die  Sache  albern, 
musste  aber  am  folgenden  Tag  doch  darüber  nachgrübeln.  Endlich  kam  ihm  die 
Ueberzeugung,  dass  irgend  ein  Opfer  von  ihm  gefordert  werde,  nur  wusste  er 
nicht  ob  sein  Weib  oder  eines  seiner  Kinder. 

In  den  letzten  6  Wochen  hatte  der  Hausarzt  an  F.  eine  ungewöhnliche 
Aufgeregtheit,  religiöse  Erregtheit,  Abgeneigtheit  und  Unfähigkeit  zum  Beruf, 
dabei  ein  schweigsames,  mürrisches  Wesen  wahrgenommen.  F.  war  auffällig  ge- 
altert während  dieser  Zeit.  Einige  seiner  Freunde  fürchteten  schon  damals  den 
Ausbruch  von  Wahnsinn.  Am  30.  April  Abends  war  F.  mit  seiner  Frau  bei 
einem  Adventistenmeeting  und  hielt  dort  einen  fliessenden  Vortrag.  Bei  der 
Heimkehr  fand  ein  Wetterleuchten  statt  und  Mann  und  Frau  fanden  den  Himmel 
auffallend  roth.  Ueberdies  war  eine  schwarze  Wolke  im  Begriff  den  Mond  zu 
bedecken.  F.  erkannte  dies  als  ein  göttliches  Zeichen.  Morgens  zwischen  1  und 
2  Uhr  erwachte  F.  mit  den  gewöhnlichen  Gefühlen,  wie  er  sie  bei  Offenbarungen 
hatte.  Es  war  ihm  wie  wenn  Gott  ihn  auf  die  Probe  stellen  wollte  wie  Abra- 
ham, als  er  ihn  beauftragte,  sein  geliebtes  Kind  zu  opfern.  Seine  Frau  suchte 
ihm  diesen  Unsinn  auszureden.  Er  ging  in's  Nebenzimmer,  schliff  ein  grosses 
Messer  und  wollte  dann  gleich  an's  Werk.  Er  ging  jedoch  noch  einmal  in  das 
Zimmer  zur  Frau,  diese  rieth  ihm  ab,  aber  F.  meinte,  Gott  wende  alles  an  um 
seinen  Glauben  zu  erproben.  Die  Frau  sagte  endlich:  „Gehe  und  Gott  sei  mit 
dir."     Dass  F.  wirklich  Ernst  mache,  glaubte  sie  nicht. 


Beob.  44.    Opferung  des  eigenen  Kindes.  149 

„Ein  Augenblick  des  Todeskampfes  und  dann  ewiger  immerwährender 
Friede",  sagte  dann  F.  zu  sich  und  erkannte,  als  er  im  Nachtgewand,  seinen  Kopf 
mit  beiden  Händen  haltend  dastand,  sich  in  derselben  Position,  in  welcher  er 
sich  visionär  vor  3  Wochen  gesehen  hatte.  Nun  war  ihm  die  Deutung  klar.  Er 
stand  nun  noch  eine  Weile  mit  erhobenen  Armen  da,  um  Gott  Zeit  zu  geben, 
seinen  Willen  kund  zu  thun,  sank  dann  auf  das  Bett  hin,  sprang  wieder  auf  und 
durchstach  seinem  Töchterchen  das  Herz,  das  nur  noch  sagen  konnte  „oh  Vater" 
und  dann  verschied.  Es  gewährte  F.  Befriedigung,  dass  das  Kind  keine  Schmerzen 
litt,  worum  er  Gott  gebeten  hatte. 

F.  legte  sich  dann  ruhig  in's  Bett  zu  seinem  todten  Kinde  und  fühlte  eine 
grosse  Erleichterung.  Auf  die  Vorwürfe  der  Frau  antwortete  er:  „ich  gelobte  es 
dem  Allerhöchsten,  hoffte  aber,  dass  er  meine  Hand  aufhalten  würde."  Er  hatte 
die  Wassertaufe  empfangen  und  der  heilige  Geist  war  über  ihn  gekommen,  nun 
hoffte  er,  dass  er  noch  der  Feuertaufe  theilhaftig  werde.  Eine  bald  nach  der 
That  folgende  Offenbarung,  dass  das  Kind  am  dritten  Tage  auferstehen  werde, 
tröstete  ilm  und  er  schlief  bald  darauf  ruhig  ein.  Zwei  Adventisten,  die  am  andern 
Morgen  kamen,  erschraken  über  das  Opfer,  glaubten  aber  an  die  Auferstehung  (!~). 
F.  besorgte  am  Morgen  noch  seinen  Briefträgerdienst,  schrieb  dann  eine  Ein- 
ladung an  die  Bewohner,  sie  möchten  einer  wichtigen  Mittheilung  wegen  in  sein 
Haus  kommen.  Es  kamen  etwa  20  Personen.  F.  sprach  von  seinen  Visionen, 
zeigte  dann  zum  Entsetzen  der  Fremden  das  todte  Kind  und  verhiess  dessen  Auf- 
erstehung binnen  3  Tagen.  Ein  neuerliches  Wetterleuchten  am  Abend  des  Tages 
'  nach  dem  Mord  bestätigte  dem  F.  die  Gottgefälligkeit  seiner  That.  Der  verhaften- 
den Gerichtscommission  erzählte  F.  am  folgenden  Tage  ganz  ruhig  Motiv  und 
Umstände  der  That.  Seine  Frau  sass  harmlos  dabei  und  glaubte  immer  noch 
an  die  Auferstehung  des  Kindes  (!).  Auf  dem  Wege  nach  dem  Gefängniss,  das 
auch  Frau  F.  betreten  musste,  sang  F.  religiöse  Hymnen  und  suchte  die  Leute 
für  seine  Mission  als  Evangelist  zu  begeistern.  Die  Adventisten  glaubten  zum 
Theil  immer  noch  an  die  Auferstehung  des  Kindes,  ebenso  seine  Mutter;  als  dies 
aber  nicht  zutraf,  erkannte  diese  sofort,  dass  ihr  Mann  das  geliebte  Kind  in 
einem  Anfall  von  Irrsinn  hingemordet  habe.  F.  allein  kam  nicht  aus  der  Fassung. 
Er  meinte  das  Wort  „Tag"  sei  eben  im  Sinne  der  hl.  Schrift  zu  nehmen-,  die 
Länge  solcher  (Schöpfungs-)  Tage  könne  er  aber  nicht  bestimmen.  Sein  Wahn- 
sinn trat  immer  schärfer  zu  Tage.  Er  fühlte  sich  niemals  so  glücklich  und  fried- 
voll wie  seit  dem  Mord,  er  glaubte  sich  nahe  bei  Jerusalem  und  den  Aposteln, 
wähnte,  dass  in  ihm  Daniel,  Michael,  Cyrus,  Christus,  namentlich  aber  Jakob 
vertreten  seien.  Die  2300  Tage,  welche  im  Buch  Daniel  als  Termin  des  Aufer- 
stehens  Michaels  erwähnt  seien,  würden  die  Zeit  seines  Mordes  beenden. 

Bald  darauf,  im  Gefängniss,  hatte  er  eine  dritte  grosse  Vision  —  die  dritte 
Taufe  mit  Feuer  —  als  eine  Belohnung  seines  Glaubens.  Es  kam  über  ihn  eine 
enoi'me  Kälte,  es  war  ihm,  wie  wenn  er  mitten  in  einem  Wasserfall  und  Alles 
Feuer  in  seinem  Körper  sei.  Er  war  durch  mehrere  Tage  geblendet  und  wäh- 
rend dieser  Zeit  war  sein  Leben  mit  Offenbarungen  und  „kleineren"  Visionen 
erfüllt,  u.  A.  dass  die  Thüren  seines  Gefängnisses  am  2L  Mai  unter  bedeutsamen 
Himmelserscheinungen  geöffnet  würden,  dass  seine  auferstandene  Tochter  in  einer 
Wolke  von  Licht  erscheinen  und  ihm  das  Reich  Gottes  verkünden  werde. 

Die  Zeugen  berichten,  dass  F.  bis  zu  seiner  Convertirung  vor  2  Jahren 
ein  braver,   nicht  auffälliger   Mann  war,  seitdem   sein  Geschäft  vernachlässigte. 


150  Cap.  IX.    Religiöser  Wahnsinn. 

immer  mehr  religiöser  Schwärmerei  sich  hingab  und  in  der  letzten  Zeit  ganz 
umgewandelt  und  in  Gedanken  verloren  war.  Der  Gefangenwärter  bestätigt,  dass  F. 
vielfach  Hallucinationen  hat,  u.  A.  üble  Gerüche  empfand  und  darin  die  Gegenwart 
böser  Geister  erkannte.  Als  einmal  der  Wind  ein  Fenster  heftig  rüttelte,  meinte 
er,  das  sei  ein  Zeichen,  dass  er  ein  Eckstein  sei.  Der  Hausarzt  theilte  mit,  dass 
in  den  letzten  Monaten  vor  dem  Mord  ihm  F.  vielfach  von  seinen  Visionen  er- 
zählt und  sich  mit  dem  Erzengel  Michael  identificirt  habe,  als  welcher  er  einen 
Kampf  mit  dem  Satan  zu  bestehen  habe.  Im  Gefängniss  verhielt  sich  F.  ruhig, 
geordnet.  Von  der  Rechtmässigkeit  seiner  Handlung  war  er  fest  überzeugt,  wenn 
er  auch  mit  Wehmuth  und  Schmerz  des  Verlustes  der  geliebten  Tochter  gedachte. 
Ebenso  hielt  er  an  seiner  religiösen  Mission  und  Bedeutung  fest.  Sein  Gedächt- 
niss  und  sein  logisches  Vermögen  zeigten  keine  Defekte.  Auch  somatische  Stö- 
rungen wurden  keine  bemerkt.  F.  äusserte  wiederholt,  dass  wenn  Gott  neue 
Opfer  von  ihm  verlangen  würde,  er  dazu  bereit  wäre.  Er  machte  sich  keine 
Sorge  wegen  der  Zukunft,  war  gern  bereit  im  Gefängniss  auszuharren,  solange 
man  es  wünsche,  er  sei  in  Gottes  Hand.  Weil  das  Gefängniss  am  Cap  liegt  und 
das  Cap  oft  der  rechte  Arm  des  Staates  genannt  werde,  sei  seine  Einkerkerung 
schon  in  der  Bibel  besprochen,  denn  es  heisst  darin:  „Gott  wird  seinen  rechten 
Arm  ausstrecken  gleich  einem  Schwimmer"  (!).  Dieser  Satz  beziehe  sich  auf 
den  grossen  Schwimmkünstler  Boy  ton  und  beweise  zugleich  dadurch,  dass  die 
Gegenwart  die  Zeit  der  Erfüllung  der  hl.  Schrift  sei !  In  ähnlicher  Weise 
bezog  er  die  harmlosesten  Umstände  und  Vorgänge  seines  Gefängnisslebens  in 
originär  verrückter  alogischer  Weise  auf  die  Bibel.  Von  August  1879  an  ver- 
loren sich  die  Hallucinationen  und  der  Verkehr  mit  Gott,  aber  seine  Wahnideen 
bestanden  unerschütterlich  fort.  Er  behauptete,  er  und  seine  Frau  ständen  allein 
auf  der  Spitze  des  Berges  Zion.  Vorübergehend  meinte  er,  sein  Kind  unter  dem 
Einfluss  des  Teufels  getödtet  zu  haben,  zweifelte  an  dessen  Auferstehung  und 
sagte,  dass  sein  Leben  den  Kampf  darstelle,  der  im  Himmel  zwischen  St.  Michael 
und  dem  Satan  fortwährend  herrsche.  Sämmtliche  Aerzte  sprachen  sich  für 
Wahnsinn  aus.  Dr.  F.  fand  als  Ursache  erbliche  Anlage  (?),  religiöse  Aufregung, 
Sonnenstich,  Ueberanstrengung  im  Kampf  um's  Dasein,  einsame  Lebensweise  etc. 
und  constatirte  das  Fortbestehen  von  Wahnideen.  So  hält  sich  F.  für  die  dritte 
Person  der  Dreieinigkeit,  zu  ewigem  Leben  berufen,  für  einen  zweiten  Messias, 
der  die  Welt  gerettet  hat.  Viele  Stellen  der  Bibel  haben  direkt  Bezug  auf  ihn. 
Zuerst  hielt  er  sich  für  einen  Evangelisten,  dann  für  einen  der  grossen  Propheten, 
zuletzt  für  die  dritte  Person  in  der  hl.  Dreifaltigkeit.  Gott  hatte  ihn  nach  seiner 
Ansicht  als  ein  Werkzeug  gebraucht  und  die  Opferung  seines  Kindes  hatte  den 
Zweck,  eine  neue  Erlösung  und  Seligmachung  der  Menschheit  zu  bewirken.  Bei 
Christi  Versöhnungsopfer'  war  die  Seligmachung  nicht  einbegriffen  und  darum 
die  Opferung  seines  Kindes  nothwendig. 

Gegen  die  Insinuation,  dass  er  irrsinnig  sei,  protestirte  er  mit  aller  Ent- 
schiedenheit.    Wenn  dies  der  Fall  wäre,  dann  müsste  die  Bibel  aufhören. 

Er  wurde  gleichwohl  einer  Irrenanstalt  übergeben. 

Frau  F.,  ebenfalls  30  J.  alt,  stammt  aus  einer  mit  Irrsinn  behafteten  Fa- 
milie und  hatte  im  18.  Jahre  Anfälle  von  Convulsionen.  Wie  die  meisten  an- 
deren verblendeten  Adventisten  kam  sie,  als  am  dritten  Tage  das  gemordete  Kind 
nicht  auferstand,  zur  Vernunft  und  blieb  so  einen  Monat  lang.  Dann  erkrankte 
sie  unter  dem  Einfluss   der  Kerkerhaft,  ihrer  Gemüthsbewegungen  und  der  fort- 


Erotischer  Wahnsinn.  151 

dauernden  Einflüsse  ihres  verrückten  Mannes  selbst.  Eines  Tags  gerieth  sie  eben- 
falls in  einen  visionären  Zustand,  in  welchem  sie  die  Taufe  durch  den  hl.  Geist 
empfing,  in  einem  Lichtmeer  sich  befand  und  erfuhr,  dass  ihr  Kind  in  drei 
prophetischen  Tagen,  d.  h.  Tagen  von  unbestimmter  Länge,  auferstehen  werde. 
Im  Wesentlichen  waren  die  Visionen  und  Wahnideen  denen  des  Mannes  nach- 
gebildet. Frau  F.  wurde  nicht  bestraft  und  im  Oktober  ihrer  Haft  entlassen. 
Sie  bot  noch  in  der  Folge  Symptome  von  religiösem  Wahnsinn.  Die  übrigen 
18  Adventisten  nahmen  bis  auf  drei,  deren  Geisteszustand  dem  Verf.  zweifelhaft 
blieb,  bald  nach  dem  Morde  Vernunft  an  und  erwiesen  sich  als  blosse  Fanatiker, 
nicht  aber  als  Irrsinnige.     (Folsom,  Journal  of  mental  science,  Juli  1880.) 

Weitere  Fälle:  Calmeil,  la  Folie  IL  p.  252  (Ein  Kranker,  der  seinen 
Bruder  in  Gegenwart  der  Familie  in  Nachahmung  des  Opfers  Abrahams  das  Haupt 
abschlägt  und  dann  begeistert  ruft:  „der  Wille  des  himml.  Vaters  ist  erfüllt").  Ann. 
med.  psycho!  1868,  Mai  (Opferung  eines  Kindes  durch  seinen  Vater).  Marc-Ideler 
IL  p.  160  (Ein  religiös  Wahnsinniger  veranlasst  einen  bigotten  abergläubischen 
Ehemann,  ihm  die  Frau  auf  göttlichen  Befehl  abzutreten,  damit  er  mit  ihr  ge- 
schlechtlich verkehre).  Maschka,  Vierteljahrsch.  f.  ger.  Med.  N.  F.  ZXXI.  H.  2. 
(Religionsstörung).  Schwab,  Memorabilien  1874.  H.  6.  v.  Krafft,  Friedreich's  Bl. 
1865.  H,  2  (Tempelschändung).  Reich,  Deutsche  Zeitschr.  f.  Staatsarzneikunde 
XXIX.  H.  1  (Mordversuch  an  der  Ehefrau).  Hitzig's  Annalen  1847  (Mord  der 
Tochter  aus  religiös.  Fanatismus),  v.  Krafft,  Friedr.  Bl.  1869.  H.  3  (Misshand- 
lung des  Ortsgeistlichen),  v.  Krafft,  Lehrb.  d.  Psychiatrie.  Bd.  III.  p.  87,  88,  89. 
Livi,  Rivista  sperim.  1876  Jan.  (Mord  der  Geliebten). 

c.    Der    erotische    Wahnsinn. 

Der  Kern  dieses  Wahnsinns  ist  der  Wahn,  von  einer  Person 
des  anderen  Geschlechts,  die  regelmässig  einer  höheren  (xesellschafts- 
klasse  angehört,  ausgezeichnet  und  gellebt  zu  sein.  Die  Liebe  zu 
dieser  Person  ist  eine  romanhafte  überschwängliche  aber  platonische 
und  erinnert  an  die  Liebeleien  der  fahrenden  Ritter  und  Minstrels 
vergangener  Zeiten,  Eine  weichlich  sentimentale  Gefühlsrichtung,  ein 
träumerisch  schlaffes  energieloses  Wesen  gibt  sich  früh  bei  solchen 
Individuen  zu  erkennen.  Ein  lebhafter,  auf  natürliche  Befriedigung 
gerichteter  Geschlechtstrieb  fehlt  meist.  Bei  dem  linkischen  scheuen 
Wesen  dieser  Charaktere  gegenüber  dem  anderen  Geschlecht  werden 
direkte  Annäherungen  und  Liebeswerbungen  vermieden,  meist  jedoch 
von  den  Pubertätsjahren  an  einem  Ideal  gehuldigt.  In  Träumen  und 
Träumereien  spinnt  sich  der  Liebesroman.  Häufig  findet  sich  Mastur- 
bation. Nicht  selten  bestehen  Erscheinungen  einer  hysterischen  oder 
hypochondrischen  Neurose. 

Eines  Tags  erblicken  solche  Menschen  in  einer  gesellschaftlich 
höher  stehenden  Person  des  anderen  Geschlechts  die  Verkörperung 
ihres  Ideals.     Harmlose  Gesten  dieser  Person  sind  für  sie  Aufmunte- 


152  Cap.  IX.    Erotischer  Wahnsinn, 

rungen  sich  ihr  zu  nähern,  Inserate  in  der  Zeitung  beziehen  sie  auf  sich. 
Man  spricht  im  Hause  und  auf  der  Strasse  von  der  Angelegenheit, 
Es  kommt  zu  einem  hallucinatorischen  Rapport  mit  der  geliebten 
Person,  die  Stimmen  verkünden  eine  bevorstehende  Standeserhöhung 
wodurch  der  bisher  besteheude  gesellschaftliche  Unterschied  ausge- 
glichen wird.  Endlich  macht  der  Kranke  seine  Liebeserklärung.  Die 
Zurückweisung  seiner  Werbung  ist  ein  Akt  der  Intrigue.  Er  hat 
mächtige  Feinde.  Es  kommt  zu  reaktivem  Verfolgungsdelir.  Der 
Kranke  macht  sich  unmöglich  in  der  Gesellschaft,  indem  er  gegen 
die  Familie  der  geliebten  Person  zudringlich  wird,  Hausfriedensbruch 
begeht,  Entschädigung  für  die  verweigerte  Ehe  verlangt,  mit  der 
Presse,  den  Gerichten  droht,  endlich  wirklich  Scandale  provocirt,  die 
seine  Internirung  in  einer  Irrenanstalt  nöthig  machen. 

Beob.  45.  Erotische  Verrücktheit.  Erpr  essungs  v  er  such.  Am 
18.  Okt.  1874  denuncirte  Graf  B.  einen  früheren  Hauslehrer  Bacher,  dass  er  seine 
Frau  mit  Liebesbriefen  verfolge  und  in  letzter  Zeit  sogar  ihr  gedroht  habe,  wenn 
sie  nicht  ihm  eine  grössere  Summe  Geldes  zukommen  lasse,  werde  er  sie  öffent- 
lich compromittiren.  Bacher  gibt  die  incriminirte  Handlung  zu  und  motivirt  sie 
damit,  dass  die  Dame  ihm  ihre  Liebe  geschenkt,  er  ihr  seine  amtliche  Stellung 
geopfert  habe  und  nun  erwerbslos  sei. 

Bacher  ist  25  J.  alt.  Seine  Schwester  ist  ps3^chopathisch.  Er  selbst  er- 
krankte im  14.  Jahr  an  Scharlach  mit  Hirncomplication.  Er  wurde  in  Folge 
dieser  Erkrankung  schwerhörig,  bot  eine  Aenderung  seines  Charakters,  insofern 
er  ein  träumerisches  verschlossenes  Wesen  zeigte.  1872  und  1873  hatte  er  als  Haus- 
lehrer im  Dienst  des  Grafen  gestanden,  dann  ein  öffentliches  Amt  erhalten,  in 
welchem  er  zur  Zufriedenheit  bis  zum  Sommer  1874  diente.  Da  fing  er  an  seinen 
Beruf  zu  vernachlässigen,  den  Tag  über  vor  dem  Hause  der  Gräfin  zu  promeniren 
oder  im  Caffehause  vis  ä  vis  zu  sitzen.  Aus  einem  freundlichen  Gruss,  aus  harm- 
losen Vorkommnissen  folgerte  der  in  seiner  Logik  bedenklich  geschwächte  B. 
dass  die  Dame  in  ihn  verliebt  sei.  Er  verfolgte  sie  nun  mit  Liebesbriefen  und 
bezog  Inserate  in  den  Zeitungen  auf  sich,  sie  als  günstige  Antworten  der  Gräfin 
deutend.  Er  fand  Grund  Inserate  für  sich  zu  deuten,  weil  sie  zufällig  die  Haus- 
nummer des  Hauses  der  Gräfin  hatten,  ferner  weil  eines  mit  einer  Hand  in  auf- 
rechter Stellung  versehen  war  und  gleich  nach  der  Lektüre  er  die  Dame,  als 
sie,  das  Haus  verlassend,  ihre  Handschuhe  anzog,  eine  ähnliche  Handstellung 
einnehmen  sah.  Seine  Briefe  an  die  Dame  waren  decent,  aber  überschwänglich 
gehalten.  Er  warf  ihr  Treulosigkeit  vor,  machte  geltend,  dass  er  ihretwegen 
seine  Stellung  (thatsächlich)  niedergelegt  habe,  drohte  mit  Selbstmord  etc. 

An  seinem  Wahn  und  Liebesroman  hielt  er  unerschütterlich  fest,  obwohl 
er  keine  Beweise  der  Gunst  der  Gräfin  geltend  zu  machen  wusste.  Ausser  einem 
schwärmerischen  Gesichtsausdruck  und  einer  vornehmen  reservirten  Haltung  bot 
der  Kranke  äusserlich  nichts  Auffälliges.  Degenerationszeichen,  körperliche 
Störungen  waren  nicht  nachzuweisen.  Er  kam  in  die  Irrenanstalt,  wurde  nach 
einiger  Zeit   von  der  Familie  nach  Hause   genommen,  trieb  sich  beschäftigungs- 


Erworbene  geistige  Schwächezustände.  ,         153 

los  herum,  kehrte  dann  wieder  nach  dem  Wohnsitz  der  Gräfin  zurück,  schrieb  neuer- 
lich Liebes-  und  Drohbriefe,  die  seine  abermalige  Aufnahme  in  der  Irrenanstalt 
nöthig  machten.     (Eigene  Beobachtung.) 


4.   Erworbene  geistige  Schwächezustände. 

Literatur.     Spielmann,  Diagnostik,  p.  462.     Griesinger,  Pathologie  der  psych. 
Krankheiten,  p.  322. 

Gegenüber  den  angeborenen  oder  durch  Stehenbleiben  der  Hirn- 
entwicklung in  Folge  schädigender  Einflüsse  in  frühem  Alter  ent- 
standenen geistigen  Schwächezuständen  sind  solche  hervorzuheben, 
die  ein  vollentwickeltes  Gehirn  getroffen  haben.  Die  Geisteskrank- 
heiten sind  durch  diffuse  Erkrankungen  der  Grosshirnrinde  bedingt. 
Erscheinungen  dauernder  geistiger  Schwäche  bei  einem  Gehirn^  das 
vollentwickelt  war  und  bisher  normal  funktionirte,  deuten  auf  tiefere 
anatomische  Veränderungen  des  psychischen  Organs  (Atrophie). 

Durch  die  verschiedensten  Vorgänge  können  diffuse  atrophirende 
Veränderungen  der  Hirnrinde  hervorgebracht  werden. 

Nicht  selten  gleichen  sich  die  Ernährungsstörungen,  die  melan- 
cholischen und  maniakalischen  Krankheitsbildern  zu  Grunde  lagen,  nicht 
aus  und  führen  zu  geweblicher  Entartung.  Es  ergeben  sich  dann 
Zustände  geistiger  Schwäche  bis  zu  völliger  Verblödung  mit  Residuen 
der  primären  Krankheitszustände,  aus  welchen  sie  hervorgingen.  (Se- 
cundäre  Verrücktheit,  Verwirrtheit,  Schwachsinn,  Blödsinn.) 

In  anderen  Fällen  ist  der  geistige  Schwächezustand  die  Folge 
einer  spontan  oder  durch  Insolation,  Kopfverletzung  etc.  entstandenen 
Meningitis  und  Encephalitis.  Auch  heerdartige  Erkrankungen  (Apo- 
plexie, Atherose  der  Arterien  mit  encephalitischen  Erweichungsheer- 
den,  Geschwülste  etc.)  des  Gehirns  können  Geistesschwäche  (Atrophie) 
bedingen,  insofern  sie  multipel  auftreten  (Sklerose,  capilläre  Apople- 
xien) oder  durch  Druck,  Reizung,  durch  secundäre  Gefässdegeneration, 
Circulations-  und  Ernährungsstörungen  der  Hirnrinde  herbeiführen. 

Das  Krankheitsbild  ist  in  solchen  Fällen  im  Grossen  und  Ganzen 
das  eines  progressiven  Blödsinns  mit  Lähmungserscheinungen  und  durch 
zeitweise  Reizvorgänge  und  Circulationsstörungen  bedingten  psychi- 
schen Aufregungszuständen.  An  solche  Fälle  reihen  sich  andere,  in 
welchen  schleichende  Entzündungsprocesse  in  grösserer  Ausdehnung 
die  Hirnhäute  und  Hirnrinde  afficiren  und  in  dieser  Schwund  herbei- 
führen (Dementia  paralytica  und  verwandte  Zustände). 


154  Cap.  IX.    Schwächezustände  nach  Melancholie  und  Manie. 


a.    Geistige    Schwächezustände    nach    Melancholie 
und    Manie. 

Häufiger  als  es  bei  oberflächlicher  Untersuchung  den  Anschein  hat,  bleiben 
Zustände  verminderter  psychischer  Leistungsfähigkeit  nach  scheinbar  zu  völliger 
Heilung  gelangten  Fällen  psychischer  Erkrankung  zurück.  Wenn  auch  dem 
Laien  kaum  bemerkbar  und  nur  dem  feingeübten  Beobachter  oder  Dem  auffallend, 
welcher  den  Kranken  von  früher  her  kannte,  sind  diese  individuell  unendlich 
variirenden  Zustände  geistiger  Ihsufficienz  keineswegs  bedeutungslos  für  die  Be- 
urtheilung  der  Zurechnungsfähigkeit.  Eine  zu  irgend  einer  früheren  Lebenszeit 
überstandene  Hirn-  oder  Geisteskrankheit  sollte  bei  einem  Angeschuldigten  eine 
ernste  Mahnung  zur  Erforschung  seines  Geisteszustands  sein,  wenn  auch  der 
alte  Satz:  „Semel  furiosus  semper  praesumitur  furiosus"  nicht  die  Gültigkeit 
eines  Dogma  in  foro  beanspruchen  darf.  • 

Es  gibt  Fälle,  wo  sich  diese  psychische  Schwäche  nur  in  einer  gewissen 
Verlangsamung  und  Schwerfälligkeit  der  psychischen  Leistungen  bei  übrigens 
unversehrtem  Umfang  und  formalem  Ablauf  kundgibt.  Der  anscheinend  vollkommen 
Genesene  ist  aber  doch  nicht  mehr  ganz  so  leistungsfähig,  wie  vor  der  Krank- 
heit, er  ist  nicht  mehr  der  frühere  geschickte  Arbeiter  und  spekulative  gewandte 
Geschäftsmann,  obwohl  er  sich  ganz  gut  in  früheren  socialen  und  geschäftlichen 
Kreisen  zu  bewegen  vermag.  Bei  Anderen  fehlt  es  an  der  früheren  gewohnten 
Initiative  und  Energie,  sie  lassen  die  Ereignisse  an  sich  herankommen,  durch 
fremdes  Urtheil  sich  mehr  als  früher  bestimmen,  durch  Unvorhergesehenes  sich 
an  der  Verfolgung  ihrer  Ziele  beirren,  ihr  Urtheil  ist  weniger  klar  und  präcis, 
ihre  Ausdauer  und  Energie  vermindert.  Vielfach  zeigt  auch  die  ethische  Seite 
der  Persönlichkeit,  der  Charakter  Schwächen,  wenn  auch  der  Umfang  der  intel- 
lektuellen Leistungen  keine  nennenswerthe  Einbusse  erfahren  hat. 

Die  Empfindungsweise  ist  gegen  früher  dann  verändert  und  stumpfer,  die 
Beziehungen  zur  Welt  und  dem  früher  Hoch-  und  Werthgehaltenen  matter,  die 
ethischen  Gefühle  und  ästhetischen  Urtheile  haben  nicht  mehr  die  frühere  be- 
stimmende Kraft  und  Wärme  und  damit  ist  das  Gewicht  sittlicher  Motive  ver- 
mindert, was  der  Bekämpfung  eines  unsittlichen  oder  criminellen  Antriebs  gegen- 
über wohl  zu  beachten  ist. 

Was  endlich  der  Mehrzahl  dieser  psychischen  Schwächezustände  gemeinsam 
ist,  ist  die  Leichtigkeit,  mit  der  Affekte  provocirt  werden,  die  Eeizbarkeit  und 
Verletzlichkeit  der  Gefühle. 

Von  einer  solchen  leisen,  oft  nur  durch  Vergleichung  der  jetzigen  mit  der 
früheren  bekannten  Persönlichkeit  erkennbaren  Abschwächung  der  psychischen 
Gesammtleistungsfähigkeit  bis  zu  den  extremen  Graden  des  Blödsinns  finden  sich 
unzählige  Mittelstufen,  charakterisirt  durch  mehr  oder  weniger  grosse  Ideenarmuth, 
Trägheit  des  Vorstellens,  Lückenhaftigkeit  des  Gedächtnisses,  Energielosigkeit 
des  Strebens  bis  zur  Willenlosigkeit. 

Diese  Zustände  haben  im  Allgemeinen  grössere  Bedeutung  für 
das  Civilforum;  wo  die  bürgerliche  Verfügungsfreiheit  dieser  psychischen 
Invaliden    oft    angefochten  wird,  aber  auch  die  Zurechnungsfähigkeit 


Beob.  46.    Geistesschwäche,  aus  Melancholie  entstanden.    Mord.  155 

solcher  Individuen  kommt  dann  vmd  wann  in  Frage,  insofern  sie  bei 
ihrer  Reizbarkeit  und  der  Schwäche  ihrer  intellektuellen  und  sittlichen 
Energien  auf  Beleidigungen  brüsk  reagiren  und  schwere  Gewaltthaten 
begehen,  bei  ihrer  Lenkbarkeit  und  psychischen  Schwäche  sich  von 
perversen  Naturen  zu  Unterschlagungen,  Diebstählen  gebrauchen  lassen, 
bei  ihrer  Gedächtnissschwäche  falsche  Eide  ablegen,  bei  ihrem  krank- 
haft gesteigerten  oder  durch  sittliche  Motive  nicht  gehemmten  Ge- 
schlechtstrieb Unzuchtsverbrechen  oder  Verletzungen  des  öffentlichen 
Anstands  sich  zu  Schulden  kommen  lassen  oder  auf  Grund  der  Resi- 
duen früherer  Wahnideen,  intercurrent  noch  auftretender  tobsüchtiger 
Erregung  oder  melancholischer  Verstimmung  mit  Angstzufällen,  Ge- 
waltthaten begehen. 

Eine  Hauptsache  ist  auch  hier,  dass  man  nicht  aus  einzelnen 
erhaltenen  Leistungen  und  Urtheilen  sich  zu  voreiligen  diagnostischen 
Schlüssen  auf  die  Integrität  der  Gesammtpersönlichkeit  verleiten  lasse. 

Im  concreten  Fall  sind  die  Combinations-,  Aktions-  und  Re- 
produktionsfähigkeit, die  Schärfe  des  Urtheils,  der  Begriffe,  die 
Schnelligkeit  oder  Langsamkeit  des  Gedankenablaufs,  die  Art  des 
Strebens,  der  Stand  der  Gemüthserregbarkeit,  nicht  minder  aber  die 
ethischen  Anschauungen  und  ästhetischen  Urtheile,  die  zuweilen  vor- 
wiegend afficirt  sind,  zu  prüfen.  Eine  allgemeine  Formel  für  die 
Beurtheilung  der  Zurechnungsfähigkeit  lässt  sich  hier  nicht  geben, 
jeder  Fall  muss  als  ein  individueller  concreter  beurtheilt  und  aus  der 
Summe  der  intellektuellen  und  ethischen  Leistungen,  sowie  aus  dem 
Stand  der  Gemüthserregbarkeit  das  Urtheil  über  die  individuelle  Ge- 
sammtleistungsfähigkeit  und  Verantwortlichkeit  gebildet  werden. 

Bei  den  Zuständen  secundärer  Verrücktheit  und  Verblödung  wird 
die  Diagnose  keinen  Schwierigkeiten  begegnen.  Die  nachweisbare 
Entwicklung  dieser  Zustände  aus  melancholischen  oder  maniakalischen, 
Residuen  solcher  in  Form  von  Wahnideen,  Hallucinationen,  zeitweisen 
Erregungszuständen,  Augstanfällen ,  die  sonstige  Affektlosigkeit  und 
gemüthliche  Abgestorbenheit  solcher  Kranken ,  ihre  intellektuelle 
Schwäche  und  Zerfahrenheit,  die  Zeichen  einer  mehr  weniger  deutlichen 
Senescenz,  die  verwitterte  Miene  etc.  werden  zu  beachten  sein. 

Beob.  46.  Aus  Melancholie  hervorgegangene  Geistesschwäche. 
Mord.  Am  12.  Sept.  1878  schoss  Bunet  von  seiner  Hausthür  aus  den  Nachbar 
Bourdin  todt  und  setzte  sich  dann  ruhig  zum  Frühstück.  Eine  Stunde  später 
als  er  gerade  wieder  zur  Arbeit  wollte,  wurde  er  verhaftet,  gestand  seine  That 
mit  dem  Bemerken,  der  Nachbar  sei  ein  Dieb  gewesen.  Im  Verhör,  einige 
Stunden    später,    wiederholte   er    sein  Geständniss.     Er  hatte  seit  8  Tagen  schon 


156  Cap.  IX.    Schwächezustände  nach  Melancholie  und  Manie. 

daran  gedacht,  den  B.  umzubringen,  weil  dieser  ihm  immer  Trauben  im  Weinberg 
gestohlen  habe.  Am  Vortag  hatte  er  sich  eine  Flinte  und  Munition  gekauft.  Da 
B.  keine  rechte  Reue  zeigte,  sich  sonderbar  benahm  und  schon  2  mal  im  Irren- 
hause gewesen  war,  wurde  eine  Expertise  angeordnet. 

B.,  70  J.,  von  geistlosem  Blick  und  schlaffer  Haltung,  war  vor  25  Jahren 
nach  einem  Streit  und  Process  irrsinnig  geworden,  einige  Zeit  im  Irrenhaus 
gewesen,  hatte  seitdem  ein  einsames  Leben  geführt,  sich  und  seine  Wohnung 
vernachlässigt,  die  Leute  gemieden,  Miethe  und  Steuern  nicht  mehr  gezahlt;  er 
hatte  oft  geschrieen,  dass  man  es  in  der  Nachbarschaft  hörte,  behauptet,  sein 
Schwager  stehle  ihm  Holz,  hatte  zuweilen  seine  Nachbarn  bedroht  und  geschlagen, 
so  dass  sich  Jedermann  vor  ihm  fürchtete. 

In  der  Beobachtung  zeigt  er  sich  wortkarg,  geistig  und  gemüthlich  stumpf, 
verweigert  eine  Zeitlang  das  Essen,  weil  er  des  Lebens  müde  sei.  Er  glaubt 
sich  im  Recht,  den  Bourdin  erschossen  zu  haben,  weil  er  ein  Dieb  sei  und  man 
ihm  gesagt  habe,  auf  Diebe  dürfe  man  schiessen.  B.  habe  ihm  um  10  frcs. 
Trauben  gestohlen  und  da  habe  er  ein  Gewehr  um  24  frcs.  gekauft;  den  B.  zu 
verklagen,  hätte  doch  nichts  genutzt.  Als  man  ihm  sagte,  ein  Schuss  mit  Salz, 
um  B.  bloss  zu  schrecken,  wäre  genug  gewesen,  horcht  er  auf  und  meint:  „Ja, 
das  wäre  vernünftiger  gewesen."  Seine  Reue  über  die  That  gründet  sich  nur 
darauf,  dass  er  jetzt  im  Gefängniss  sitzt.  Der  Bedeutung  seiner  That  ist  er  sich 
nicht  bewusst. 

Das  Gutachten  erweist  eine  aus  Melancholie  vor  25  Jahren  hervorgegangene 
Geistesschwäche  mit  der  fixen  Vorstellung,  dass  man  ihn  in  seinem  Besitz  schä- 
digen wolle,  die  Unzurechnungsfähigkeit  und  Gemeirigefährlichkeit  des  Exploraten. 
(Annal.  med.  psychol.  1879,  Mai.) 

Beob.  47.  Schwachsinn  nach  acuter  Psychose.  Todtschlag  im 
Affekt.  Am  7.  März  1866  schlug  die  ledige  30jährige  Christine  N.  ihre  63jährige 
Mutter  mit  einem  Beil  dermassen  auf  den  Schädel,  dass  dieser  splitterte  und  die 
Getroffene  nach  14  Stunden  starb.  Die  That  fand  nicht  vor  Zeugen  statt.  Ch. 
hatte  schon  seit  langer  Zeit  mit  der  Mutter,  die  als  eine  grämliche,  reizbare  Frau 
bekannt  war,  in  Hader  gelebt.  In  den  letzten  Tagen  war  es  zu  lebhaften  Auf- 
tritten zwischen  Beiden  gekommen.  Nach  der  Aussage  der  Tochter  hatte  die 
Mutter  sie  geschimpft;  da  sei  auch  sie  in's  Schimpfen  gerathen,  habe  das  auf 
dem  Ofen  liegende  Beil  ergriffen  und  es  der  Mutter  auf  den  Kopf  geschlagen. 
Gleich  nach  der  That  war  Ch.  zur  Nachbarin  gegangen  und  hatte  dieser  gesagt; 
„Jetzt  ist  sie  hin ;  ich  habe  sie  todtgeschlagen.  Warum  hat  sie  mich  nicht  in  Ruhe 
gelassen." 

Die  Ch.  hatte  dabei  ganz  rothe  Wangen  und  war  in  grosser  Aufregung. 
Die  Nachbarin  fand  die  Erschlagene  in  ihrem  Blut,  das  Beil  neben  ihr.  Ch. 
erschien  bald  darauf,  machte  Toilette  und  wischte  das  Blut  vom  Fussboden  weg, 
ohne  sich  um  die  Mutter  zu  kümmern.  Verhaftet  erzählte  sie  unbefangen  alle 
näheren  Umstände  der  That,  die  sie  in  den  beständigen  Quälereien  Seitens  der 
Mutter  vollkommen  motivirt  fand.  Diese  habe  nie  als  Mutter  an  ihr  gehandelt, 
und  um  endlich  Ruhe  vor  ihr  zu  bekommen,  habe  sie  dieselbe  erschlagen.  Von 
einem  Bewusstsein  der  moralischen  und  rechtlichen  Bedeutung  der  That,  von 
Reue  fand  sich,  so  wenig  als  in  der  Folge,  keine  Spur. 

Ch.  stammt  von  einem  Trunkenbold  und  einer  nervösen,  reizbaren,  wunder- 
lichen Mutter,  deren  Schwester  irrsinnig  war.     Eine  Verwandte  mütterlicherseits 


Beob.  47.    Scliwachsiiin  nach  acuter  Psychose.    Todtschlag.  157 

starb  epileptisch.  Die  intellektuelle  und  ethische  Ausbildung  war  eine  düi-ftige; 
früh  schon  zeigten  sich  Egoismus  und  ein  stilles  verschlossenes  Wesen.  Die 
Pubertätszeit  verlief  ohne  Störung.  Im  19.  Jahr  wanderte  die  Ch.  mit  ihrer  Familie 
nach  Amerika  aus,  taglöhnerte  dort,  litt  an  chlorotischen  Beschwerden,  erkrankte 
1858  an  einer  Metritis  acuta,  zu  der  sich  nach  3  Tagen  die  Erscheinungen  eines 
Delir.  acutum  gesellten,  das  einen  6wöchentlichen  Aufenthalt  in  einer  Irrenanstalt 
nöthig  machte.  Seitdem  unregelmässige  profuse  Menses,  chlorotische  und  nervöse 
Beschwerden,  zunehmende  Reizbarkeit;  dumpfes  Hinbrüten,  verschlossenes  stilles 
Wesen,  hj'pochondrische  Verstimmungen,  Abnahme  der  Intelligenz,  zeitweises 
Gefühl  von  Verwirrung  im  Kopf. 

1858  kehrte  sie  mit  der  Familie  nach  Deutschland  zurück,  und  da  Ch.  das 
Leben  bei  der  händelsüchtigen  Mutter  und  dem  trunksüchtigen  Vater  nicht  zu- 
sagte, ging  sie  in  Dienste,  aus  denen  sie  erst  Weihnachten  1865  in's  elterliche 
Haus  zurückkehrte. 

Ihre  Dienstgeber  berichten  einstimmig  über  ihr  störrisches,  in  sich  gekehrtes 
Wesen,  ihren  Eigensinn,  ihre  grosse  Reizbarkeit,  über  zeitweise  Congestionen 
und  Zustände  von  Verwirrung,  in  denen  sie  confuse  Reden  führte  und  Geräthe 
zerbrach.  Wegen  zunehmender  dienstlicher  Unbrauchbarkeit  musste  sie  beständig 
den  Dienst  wechseln,  bis  sie  zuletzt  kein  Unterkommen  mehr  fand  und  heim- 
kehrte. Das  Zusammenleben  mit  der  zanksüchtigen  Mutter  musste  zur  Katastrophe 
führen,  die  von  jener  auch  vorausgeahnt  worden  war.  Ein  heftiger  Wortwechsel 
hatte  dazu  geführt.  Die  Tochter,  durch  die  Aeusserung  der  Mutter,  sie  sei  ein 
schlechtes  Mensch,  in  höchsten  Affekt  versetzt,  hatte,  von  einem  unbestimmten 
Gefühl  der  Rache  getrieben,  das  Beil  ergriffen  und  zugeschlagen.  Sie  sei  bei 
sich  gewesen,  habe  aber  nicht  gedacht,  dass  sie  die  Mutter  erschlagen  könne, 
auch  das  nicht  beabsichtigt.  Dass  es  so  abgelaufen,  sei  nicht  ihre  Schuld,  die 
Mutter  hätte  sie  in  Ruhe  lassen  sollen.  Im  Augenblick  der  That  sei  ihr  so  heiss 
und  wirr  im  Kopf  gewesen.  Die  Beobachtung  in  der  Irrenanstalt  ergab  das 
Bild  einer  Schwachsinnigen.  Sie  lebte  in  sich  abgeschlossen,  kümmerte  sich 
nicht  um  die  Umgebung,  liebte  die  Ruhe,  musste  zu  Allem  geheissen  werden, 
worauf  sie  das  Aufgetragene  maschinenartig  abwickelte.  Die  Denkprocesse  voll- 
ziehen sich  langsam,  mühsam,  ihre  ethischen  und  rechtlichen  Begriffe  reduciren 
sich  auf  einige  Katechismusreminiscenzen  und  Lesefrüchte  aus  Jugendschriften. 
Abstrakt  ist  ihr  geläufig,  dass  es  Sünde,  einen  Menschen  umzubringen,  aber  eine 
Anwendung  davon  auf  eigene  Verhältnisse  zu  machen  nicht  möglich.  Die  Mutter 
habe  eben  schlecht  an  ihr  gehandelt,  hätte  sie  in  Ruhe  lassen  sollen.  Eine 
wirkliche  Reue  besteht  nicht.  Sociale  Gefühle  finden  sich  nicht  vor.  Die  Kranke 
klagt  in  stereotj'-per  Weise  über  vage  neuralgische  Beschwerden,  die  offenbar  in 
grosser  Anämie  und  einem  Uterusinfarkt  ihre  Quelle  finden  und  in  hypochon- 
drischer Weise  krankhaft  überschätzt  werden.  Nichtbeachtung  ihrer  täglichen 
Referate  über  den  Gesundheitszustand  rief  heftige  Zornesausbrüche  hervor,  aber 
auch  ganz  spontan  stellten  sich  zeitweise  bedenkliche  Affekte  ein.  Eine  con- 
gestive  Röthe  des  Kopfs,  unheimliches  Blitzen  der  sonst  matten  Augen,  barsche 
Sprache,  geräuschvolles  Auftreten  und  Umhergehen  verriethen  ihren  Ausbruch; 
weitergehend  kam  es  zu  Verwirrung  der  Vorstellungen  und  zu  Verkennung  der 
Personen  und  einmal  konnte  nur  rechtzeitige  Isolirung  der  Patientin  die  Um- 
gebung vor  Thätlichkeiten  schützen.  Solche  pathologische  Affektzustände  gingen 
meist    rasch    vorüber    und    die  Kranke  klagte    dann  selbst  über  Hitze  und  Ver- 


]^58      '  Cap.  IX.    Scliwäcliezustäncle  nach  Trauma  capitis. 

wirrung  im  Kopf,  Zustände,  die  sie  seit  ilirer  Erkranltung  im  Jahr  1858  häufig 
empfunden  habe. 

Ein  gerichtsärztliches  Gutachten  kam  zum  Schluss:  „Cli,  ist  kein  Kretin, 
nur  im  mittleren  Grad  blödsinnig,  in  einem  Grad,  welcher  das  Bewusstsein  der 
Strafbarkeit  der  Handlung  und  die  Willkür  nicht  ausschliesst,  vielmehr  die  Zu- 
rechnungsfähigkeit nur  vermindert.  Höclist  wahrscheinlich  befand  sich  dieselbe 
—  stehend  auf  dieser  Stufe  der  Bildung  des  Gemüths  —  im  Moment  der  That 
im  Zustand  des  heftigsten  Affekts,  in  Folge  dessen  die  Willkür  fehlte;  möglicli 
ist,  dass  sie  die  Tliat  im  Zustand  vorübergehender  gänzlicher  Verwirrung  der 
Sinne  und  des  Verstandes,  also  mit  mangelnder  Willkü-r  verübte." 

Ein  allen  somatischen  und  psychischen  Details  der  Persönlichkeit  Rechnung 
tragendes  und  synthetisch  sie  verwerthendes  Obergutachten  erwies,  dass  Ch.  seit 
einem  1858  sie  befallen  habenden  acuten  Irresein  an  einem  consecutiven  psy- 
chischen Schwächezustand  (grosse  Gemüthsreizbarkeit,  Aenderung  des  Charakters, 
Abnahme  der  Intelligenz,  Verkümmerung  des  moralischen  Ichs,  an  dessen  Stelle 
ein  krankhafter  Egoismus  trat,  hypochondrische  Verstimmungen)  litt,  in  dessen 
Verlauf  zeitweise  heftige  affektvolle  Aufregungszustände  mit  ausgesprochenen 
Kopfcongestionen,  Hitze  und  Gefühl  von  Verwirrung  im  Kopf  sich  einstellten. 
In  die  Zeit  eines  solchen  Affektzustands  fiel  die  That.  Ch.  ist  in  einem  solchen 
Grad  geisteskrank,  dass  das  Bewusstsein  der  Strafbarkeit  der  von  ihr  begangenen 
Handlung  als  gänzlich  oder  beinahe  gänzlich  fehlend  angenommen  werden  muss. 
Freisprechung.     Irrenanstalt.     (Eigene  Beobachtung.) 

Weitere  Fälle:  Vierteljahrsschr.  f.  ger.  u.  öffentl.  Med.  1867,  H.  5.  Henke, 
Zeitschr.  1883,  19.  Ergänz.-H.  p.  93  (Blödsinn  nach  Melancholie.  Tödtung  der 
Mutter).  Yellowlees,  Journal  of  mental  science,  Januar  1877  (Mord.  Secundäre 
Geistesschwäche  nach  Melancholie).  Bulard,  Annal.  med.  psych.  1873,  November 
(allgem.  Verwirrtheit  nach  hysteromaniakalischen  Anfällen.  Mord  des  Ehemanns). 
Foville  ebenda  1866,  Januar  (Blödsinn  nach  Tobsucht.  Diebstahl),  v.  Krafft, 
Vierteljahrsschr.  f.  ger.  Med.  1867,  H.  1  (Blödsinn  nach  Melancholie.  Todtschlag 
der  Mutter  im  rapt.  mel.).  Knecht  ebenda  1868,  H.  2  (secundäre  Geistesschwäche. 
Brandstiftung.  5  Jahre  Zuchthaus).  Giraud,  Annal.  med.  psychol.  1878,  Juli 
(secundäre  allgem.  Verwirrtheit.     Mordversuch). 


b.    Geistige    Schwächezustände    nach    Trauma    capitis^). 

Von  nicht  geringer  Bedeutung  sind  geistige  Schwächezustände 
nach  Kopfverletzungen  und  Hirnerschütterungen. 

Sie  können  die  direkte  Folge  von  in  Folge  des  Trauma  entstandenen  ge- 
weblichen  Veränderungen  (Meningitis,  Encephalitis)  oder  die  allmälige,  bedingt 
durch  beständig  sich  wiederholende  Fluxionen  des  in  seinem  Gefässtonus  tief 
erschütterten  Gehirns  sein,  oder  bedingt  sein  durch  Epilepsie,  die  das  Trauma 
hervorgerufen  hat. 


1)  Literatur:  S.  v.  Krafft,  über  die  durch  Gehirnerschütterung  hervorge- 
rufenen psych.  Krankheiten.  Erl.  1868.    Brower,  Chicago  med.  Journal  1879,  p.  609. 


Beob.  48.    Schwachsinn  nach  Kopfverletzung.    Todtschlag.  159 

Die  geistige  Schwäche  kann  sich  von  einer  kaum  merkbaren  bis  zu  völligem 
Blödsinn  erstrecken.  Nicht  selten  sind  die  ethischen  Funktionen  vorwiegend  be- 
einträchtigt und  Umwandlung  des  Charakters  in  pejus,  unsittliche  Neigungen  und 
Antriebe  dann  die  vorwiegenden  Krankheitserscheinungen.  Eine  sehr  häufige 
Nuance  dieser  Schwächeziistände  post  trauma  capitis  ist  eine  grosse  gemüthliche 
Reizbarkeit,  die  zu  heftigen  Zornaffekten  Anlass  gibt.  Bei  der  so  häufigen  Herab- 
setzung des  Gefässtonus  sind  fluxionäre  Hirnzustände  auf  gemüthliche  und  Alkohol- 
reize leicht  möglich  und  geben  zu  pathologischen  Affekten  und  Alkoholzuständen 
(s.  u.  krankhafte  Bewusstlosigkeit)  Anlass. 

Eine  anamnestiscli  nachgewiesene  und  eventuell  am  Schädel  be- 
merkliche Kopfverletzung  ist  bei  einem  Angeklagten  nicht  zu  unter- 
schätzen^ aber  nur  dann  von  Bedeutung ,  wenn  Folgeerscheinungen 
(Lähmungen^  Sinnesstörungen,  epileptische  Symptome,  Kopfweh,  Ge- 
neigtheit zu  Fluxionen,  Alkoholintoleranz)  nachweisbar  sind.  Finden 
sich  dann  daneben  psychische  Symptome  (Aenderung  des  Charakters, 
gemüthliche  Reizbarkeit,  intellektuelle  und  ethische  Defekte),  so  wird 
ihre  Beziehung  auf  das  Trauma  kaum  mehr  einem  Zweifel  begegnen. 
Wie  häufig  evidente  Symptome  von  Geistesschwäche  nach  Kopfver- 
letzungen in  foro  übersehen  werden,  lehrt  die  Casuistik. 

Beob.  48.  Schwachsinn  nach  Kopfverletzung.  Tödtung  im 
Affekt.  Am  12.  Sept.  erschoss  der  31  Jahre  alte  verheirathete  Taglöhner  L. 
seinen  Nachbar  und  Vetter  H.  und  stellte  sich  nach  der  That  sofort  den  Gerichten. 
Um  11  Uhr  war  L.  vor's  Haus  gegangen,  um  Wasser  zu  holen.  Die  Frau  des  H. 
rief  ihrem  Mann  zu  „schau  doch  was  der  Narr  wieder  lacht!"  Es  entspinnt  sich 
ein  Wortwechsel  und  eine  kleine  Balgerei;  endlich  trennen  sich  Beide.  H.  fährt 
fort  L.  zu  verhöhnen,  dieser  greift  nach  einer  Pistole,  H.  sagt  spöttisch  „da  schiess" 
und  stellt  sieh  vor  seine  Hausthüre.  L.  drückt  ab  und  H.  fällt  tödtlich  getroffen  zu 
Boden.  Der  Mörder  eilt  heftig  erschrocken  zum  Ortsvorsteher  und  zeigte  den 
Vorfall  an,  den  er  aufrichtig  bereut. 

Die  H.'s  waren  schlimme  Nachbarn,  hatten  L.  beständig  geneckt,  während 
dieser  den  besten  Leumund  hatte. 

L.'s  auffallendes  Wesen  im  Verhör,  sein  eigenthümlich  stierer  Blick  waren 
dem  Untersuchungsrichter  auffällig  und  veranlassten  ihn  eine  gerichtsärztliche 
Expertise  zu  verordnen.  L.  war  bis  zu  seinem  21.  Lebensjahr  ein  ruhiger,  ver- 
ständiger, solider  Mensch.  Damals  wurde  er  schwer  am  Kopfe  verletzt  und  er- 
holte sich  erst  nach  langem  Krankenlager.  Von  da  an  war  er  nicht  mehr  der 
Alte.  Bald  schaute  er  wie  tiefsinnig  vor  sich  hin,  bald  war  er  auffallend  heiter, 
hatte  oft  einen  gerötheten  Kopf,  war  sehr  reizbar  und  geschwätzig.  Seine  Reiz- 
barkeit steigerte  sich  mit  den  Jahren,  er  misshandelte  Weib  und  Kinder  um  ge- 
ringfügiger Dinge  willen,  stierte  oft  vor  sich  hin,  wurde  gedankenlos;  ergab  sich 
kindischen  Spielereien,  so  dass  er  in  der  Gemeinde  nur  den  Beinamen  der  „Narr" 
bekam.  Auch  im  Gefängniss  benahm  sich  L.  kindisch;  in  den  Verhören  stierer 
Blick,  Geistesschwäche,  Incohärenz,  blödes  unmotivirtes  Lachen.  Er  beharrte 
bei   der  kindischen  Entschuldigung,  dass   er   nur  geschossen,  weil  H.  es  ihn  ge- 


IQQ  Cap.  IX.    Dementia  senilis. 

heissen  habe,  und  dass  er  nicht  gedacht,  die  Pistole  könne  losgehen.  Seine  Reue 
erwies  sich  als  eine  oberflächliche,  eine  rechte  Einsicht  in  die  volle  Bedeutung  der 
That  fehlte.  Die  Aussicht  auf  Strafe  Hess  ihn  gleichgültig.  Spuren  einer  Schädel- 
verletzung fanden  sich  keine  vor.  Das  Gutachten  machte  geltend,  dass  L.  nach 
einer  Kopfverletzung  schwachsinnig  und  sehr  reizbar  geworden,  in  einem  Zustand 
des  Affekts,  bei  fehlender  Freiheit  der  Willensbestimmung  die  That  vollbracht 
habe,  worauf  er  für  straflos  erklärt  und  einer  Irrenanstalt  übergeben  wurde. 
(Eigene  Beobachtung.) 

Weitere  Fälle:  Gaulke,  Casper  Vierteljahrsschr.  XXIV,  p.  319  (Mord 
der  Frau.  Verkannte  traumatische,  durch  die  Sektion  nachgewiesene  Hirnaffektion 
mit  psych.  Störung).  Friedreich's  Bl.  1855,  p.  76  (Traumatische  Psychose. 
Nothzucht  und  Mord.     Hinrichtung). 


c.    Dementia    senilis^). 

Der  allgemeine  körperliche  Involutionsprocess  im  höheren  Alter 
betrifft  auch  das  Gehirn  und  ätidert  Charakter  und  geistige  Leistungs- 
fähigkeit. Der  Greis  wird  bedachter  in  Ansichten  und  Urtheilen, 
er  lebt  vorwiegend  in  der  Vergangenheit ,  hat  weniger  Interesse  für 
die  Fragen  der  Gegenwart  und  der  Zukunft,  denkt  langsamer,  er- 
innert sich  schwerer  an  Thatsachen  der  Jüngstvergangenheit,  Sein 
Ideenkreis  wird  ein  eingeschränkter,  sein  Wille  ist  nicht  mehr  so  fest, 
vielmehr  leichter  bestimmbar.  Unvermerkt  kann  diese  senile  Charakter- 
änderung in  einen  geistigen  Schwächezustand  übergehen,  der  bis  zu 
tiefer  Demenz  vorschreitet.  Ungenügende  Ernährung  des  Gehirns 
durch  Atherose  der  Arterien  und  Fettherz  führen  in  solchen  Fällen 
einen  Schwund  desselben  herbei,  dessen  klinischer  Ausdruck  eben  der 
Nachlass  der  geistigen  Kräfte  ist.  Heerdartige  Erkrankungen  in  Form 
von  apoplektischen  und  Erweichungsheerden  compliciren  häufig  den 
Process  der  Atrophie  und  bedingen  Lähmungen  und  aphasische  Er- 
scheinungen. 

Klinische  Uebersicht.  Die  Dementia  senilis  entwickelt  sich  meist 
unvermerkt  aus  der  senilen  Charakteränderung.  Egoismus,  Geiz,  Misstrauen,  Lapsus 
judicii  et  memoriae  werden  immer  deutlicher.  Schwindel-,  Schlag-,  epileptiforme 
Anfälle  treten  nicht  selten  auf  und  hinterlassen  ausgesprochene  intellektuelle 
Defekte.  Häufig  zeigt  sich  schon  längere  Zeit,  bevor  sie  manifest  werden,  ein 
auffälliger  Nachlass  der  ethischen  Gefühle  und  sittlichen  Correktive.  Mit  dem 
Fortschritt  des  Leidens  stellt  sich  schwere  Gedächtnissstörung,  die  namentlich  die 
Ereignisse  der  Jüngstvergangenheit  aus  der  Erinnerung  verwischt  und  eine  die 
Kategorien  von  Zeit  und  Raum  gleichmässig  umfassende  tiefere  Bewusstseins- 
störung  ein.     Die  Ki'anken    finden   sich    auf  der  Strasse,  im  eigenen  Hause  nicht 


^)  Literatur:    Legrand  du  SauUe,  Annal.  d'hygiene  1868,  Oct. 


Dementia  senilis.     Beob.  49.  161 

mehr  zurecht,  finden  ihre  Sachen  nicht  mehr  und  wähnen  sich  bestohlen,  während 
sie  leicht  an  fremdem  Eigenthum  sich  vergreifen.  In  diesem  Bild  eines  geistigen 
Verfalls  können  melancholische  und  maniakalische  Zustandsbilder,  sowie  Verl'olgungs- 
delirium  auftreten.  Die  melancholischen  sind  durch  heftige  Angst ,  die  raptus- 
artige destruktive  Akte  vermittelt  und  durch  nihilistische  Wahnideen  ausgezeichnet. 
Die  manischen  Erregungszustände  bieten  alle  Nuancen  von  manischer  Exaltation 
bis  zu.  schwerer  Tobsucht.  Die  erstere  ist  häufig  von  Erotismus  begleitet  und 
führt  leicht  zu  Unzuchtsvergehen.  Das  Verfolgungsdelir  ist  ein  episodisches, 
abruptes,  fragmentares.  Neben  ganz  ungeheuerlichen  schwachsinnigen  Ideen  von 
Abschlachtung,  Untergang  der  Welt,  finden  sich  Delirien  des  Bestohlenseins ,  der 
Vergiftung.  In  reaktiven  Angstzuständen  sind  Selbstmordversuche  und  aggressive 
Akte  gegen  die  feindlich  verkannte  Umgebung  nicht  selten.  Namentlich  Nachts 
belebt  sich  das  Delirium  durch  Hallucinationen.  Die  Kranken  wehren  sich  gegen 
vermeintliche  Diebe  und  Mörder.  Der  Ausgang  des  Leidens  sind  Zustände  voll- 
ständiger Verblödung. 

Nicht  selten  kommen  solche  Kranke  vor  Gericht.  Am  häufigsten 
sind  Unzuchtvergehen,  namentlich  an  kleinen  Kindern,  motivirt  durch 
geschlechtliche  Erregmig  bei  gesunkener  ethischer  und  intellektueller 
Widerstandsfähigkeit.  Es  ist  wünschenswerth,  dass  überall,  wo  solche 
unzüchtige  Handlungen  von  Greisen  begangen  werden,  eine  gerichts- 
ärztliche Untersuchung  des  Geisteszustands  verfügt  werde,  da  jenen 
fast  immer  ein  maniakalisches  Exaltationsstadium  als  Einleitung  einer 
Dementia  senilis  oder  ein  vorgeschrittener  Zustand  von  Demenz  mit 
Erloschensein  der  ethischen  und  rechtlichen  Gefühle  zu  Grund   liegt. 

Die  melancholischen  Zustände  können  zum  Mord  der  Angehö- 
rigen führen,  mit  dem  Motiv,  um  sie  dem  Hungertod,  der  allgemeinen 
Vernichtung  u.   s.  w.  zu  entziehen. 

Verfolgungsdelir  und  Angstanfälle  bedingen  Attentate  auf  die 
feindlich  verkannte  Umgebung,  grundlose  Denunciationen  bei  Gericht  etc. 

Die  forensische  Diagnose  wird  die  Symptome  eines  organischen 
Hirnleidens  (Lähmungen,  Aphasie  etc.)  neben  den  psychischen  einer 
Charakterveränderung  (Reizbarkeit,  Misstrauen,  ethische  Defekte),  der 
geistigen  Schwäche  (Gedächtnissschwäche  namentlich  für  die  Jüngst- 
vergangenheit, rasche  geistige  Ermüdung,  Verwirrung,  Bewusstseins- 
störung.  Verkennung  der  Personen  etc.),  sowie  etwaige  Delirien  und 
Sinnestäuschungen  zu  verwerthen  haben. 

Beob.  49.  Moralische  Verkümmerung  auf  Grundlage  einer 
Dementia  senilis.  Mord  der  Tocliter.  Im  März  1861  erschien  vor 
dem  Tribunal  zu  Gi'enoble  ein  Greis  von  67  Jahren,  angeklagt  des  Mordes  seiner 
Tochter. 

Bis  vor  wenig  Jahren  war  sein  Benehmen  tadellos  gewesen ,  er  hatte  als 
ein  Muster  von  Sittlichkeit,  Religiosität   und   als    braver  Familienvater  gegolten. 

V.  Kraf ft-Ebing,  gerichtl.  Psychopathologie.    2.  Auflage.  11 


\Q2  Cap.  IX.    Erworbene  geistige  Schwächezustände. 

Allmälig  hatte  sein  Charakter  eine  tiefe,  unerklärliche  Umwandlung  er- 
fahren. Aus  dem  züchtigen  ehrbaren  Mann  war  ein  Geck  und  Wollüstling  ge- 
worden, bei  dem  man  vergebens  eine  Spur  von  Schamgefühl  suchen  mochte. 
Eine  Ursache  für  diese  Umwandlung  Hess  sich  nicht  finden,  wenn  es  nicht  senile 
Involution  seines  Gehirns  war,  die  zuweilen  eine  solche  moralische  Umwandlung 
hervorbringt.  Das  Leben  des  Reynaud  in  den  letzten  Jahren  war  eine  Kette 
von  sexuellen  Excessen;  er  hielt  sich  eine  Maitresse,  unterhielt  aber  ausserdem 
geschlechtliche  Beziehungen  mit  einer  jungen  Frau  von  26  Jahren.  Die  Briefe, 
die  er  an  diese  schrieb,  waren  voll  der  excentrischsten  Dinge,  er  machte  ihr  die 
unzüchtigsten  Propositionen,  er  drückte  sich  darin  mit  einer  Leidenschaft  und 
sinnlichen  Begierde  aus,  wie  sie  kaum  bei  einem  jungen  Manne  denkbar  ist. 

Wie  sehr  gesteigert  sein  Geschlechtstrieb  war,  beweisen  20  junge  Weiber, 
mit  denen  er  während  der  letzten  Jahre  geschlechtlichen  Umgang  pflog.  Das 
Verbrechen,  das  ihn  vor  die  Assisen  brachte,  bestand  darin,  dass  er  seine  Toch- 
ter, als  er  sie  mit  ihrem  Liebhaber  zusammen  traf,  ermordete  —  nicht  aus  sitt- 
licher Entrüstung  —  sondern  aus  Eifersucht.  Er  feuerte  auf  deren  Liebhaber 
einen  Schuss  ab,  der  diesen  im  Rücken  traf  im  Augenblicke,  als  er  durch's  Fen- 
ster entweichen  wollte,  dann  erdolchte  er  seine  Tochter.  Als  deren  Liebhaber 
entsetzt  der  Geliebten  zu  Hilfe  eilte,  traf  er  sie  im  Todeskampf.  Während  er 
bei  der  Sterbenden  ein  Gebet  verrichtete,  weidete  sich  der  Mörder  an  dem  An- 
blick des  geöffneten  Busens  seiner  Tochter  und  sagte:  „sie  war  doch  ein  schönes 
Weib,  eine  schöne  Maitresse." 

Reynaud  liess  sich  ganz  kaltblütig  verhaften,  zeigte  in  der  Folge  keine 
Einsicht,  keine  Reue  für  seine  schändliche  That.  Mit  wollüstigem  Behagen  und 
faunenhaftem  Lächeln  sass  er  auf  der  Anklagebank,  auf  der  er  mit  der  grössten 
Gelassenheit  seine  Verurtheilung  zu  lebenslänglichem  Kerker  vernahm.  (Despine, 
psychol.  naturelle,  tom.  IL  p.  598.) 

Beob.  50.  Unzüchtige  Handlungen  gegen  einen  Knaben.  Am 
29.  März  1862  näherte  sich  ein  Herr  von  TSV-'  Jahren  im  Jardin  des  plantes  in 
Paris  einem  13jährigen  Knaben,  der  Eidechsen  betrachtete  und  griff  ihm  nach 
den  Geschlechtstheilen  mit  den  Worten:  „ei  was  für  eine  nette  Eidechse."  Der 
Knabe  entfernte  sich,  aber  der  Alte  verfolgte  ihn  und  versuchte  wiederholt  ein 
Manöver.  Da  er  wegen  ähnlicher  Unsittlichkeiten  schon  lange  verdächtig  und 
polizeilich  überwacht  war,  erfolgte  seine  Verhaftung  in  flagranti. 

H.  ist  körperlich  gesund,  aber  seine  geistigen  Fähigkeiten  haben  abge- 
nommen. Er  spricht  zuweilen  abschweifend,  incohärent,  ohne  indessen  zu  deliriren. 
Sein  Gedächtniss  hat  sehr  gelitten,  doch  war  er  bisher  im  Stand,  seine  bürger- 
lichen Rechte  und  Pflichten  wahrzunehmen.  Von  seinem  Vergehen  behauptet 
er  nichts  zu  wissen  und  beruft  sich  auf  seine  tadellose  Vergangenheit.  Die  Ex- 
pertise schloss  auf  einen  beginnenden  Altersblödsinn,  der  die  Zurechnungsfähig- 
keit beschränkt  habe.  H.  wurde  nicht  verurtheilt.  (Legrand  du  Saulle,  la  folie  p.  530.) 

Weitere  Fälle:  Legrand  du  Saulle,  la  folie  p.  533  (Erotomanie).  Livi, 
Archiv,  italian.  1878,  H.  1  (Sittlichkeitsvergehen).  Motet,  Annal.  d'hyg.  publ.  1878 
Jan.  (Nothzucht  und  Blutschande),  v.  Krafft,  Friedreich's  Blätter  1878  (fragliche 
Amtsuntreue  eines  Steuerbeamten). 


Dementia  paralytica.  Ißß 


d.    Dementia   paralytica^). 

Unstreitig  von  grösster  Bedeutung  auf  dem  Gebiet  der  erwor- 
benen geistigen  Schwächezustände  ist  für  das  Forum  die  sog.  chronische 
Gehirnerweichung  der  Irren.  Sie  ist  es  durch  die  Häufigkeit  ihres 
Vorkommens  und  der  Conflikte  mit  dem  Strafgesetz,  zu  denen  sie 
führt.  Ueberdies  wird  sie  in  ihren  Anfangsstadien  nur  zu  häufig 
nicht  erkannt  und  werden  dadurch  ungerechte  Verurtheilungen  her- 
beigeführt. 

Klinische  Uebersicht:  Die  Dem.  paralytica  stellt  eine  chronische 
Hirnkrankheit  von  progressivem  Verlauf  und  durchschnittlich  -Sjähriger  Dauer  dar. 
Sie  endet  in  der  Regel  tödtlich  und  bietet  post  mortem  den  Befund  einer  diffusen 
chron.  Entzündung  der  Meningen  und  der  Hirnrinde.  Sie  zeigt  2  Hauptsymptom- 
reihen —  psychische  und  motorische.  Psychisch  findet  sich  das  Bild  einer  fort- 
schreitenden Dementia  mit  wandelbaren  Zustandsbildern  der  Melancholie,  namentlich 
der  hypochondrischen,  der  Manie,  des  Grössendeliriums.  Die  naotorischen  Störungen 
sind  allgemeine,  intensiv  und  extensiv  sehr  wechselnde,  coordinatorische,  progres- 
sive bis  zu  schliesslicher  vollständiger  Coordinationslähmung.  Sie  äussern  sich 
vorwiegend  im  Gebiet  der  Sprache  und  der  lokomotorischen  Leistungen.  Episodisch 
finden  sich  Paresen  einzelner  motorischer  Nerven  und  Muskelgruppen,  apoplek- 
tische  und  epileptiforme  Anfälle. 

Das  Leiden  beginnt  mit  einem  Prodromalstadium  von  monate-  bis  jahre- 
langer Dauer,  das  durch  Symptome  geistiger  Schwäche,  beginnender  Charakter- 
änderung, gelegentliche  Muskelinsufficienzen ,  Schwindel-,  apoplektische  Anfälle, 
Congestiverscheinungen,  aphasische  Symptome  gekennzeichnet  ist.  Daran  reiht 
sich  eine  maniakalische  Exaltation,  die  in  Tobsucht  mit  Grössenwahn  übergeht 
(klassische  Form)^  oder  die  Krankheit  setzt  aus  dem  Prodromalstadium  heraus 
mit  einem  hypochondrisch  melanchol.  Zustandsbild  ein.  Das  Leiden  kann  auch 
als  einfache  Dementia  ohne  complicirende  Zustandsbilder  (höchstens  mit  episo- 
dischen Tobanfällen)  verlaufen.  Im  Endstadium  besteht  tiefe  Dementia  mit  Ver- 
lust der  Sprache  (theils  Aphasie,  theils  Coordinationslähmung)  der  Gebrauchs- 
fähigkeit der  Extremitäten  (Ataxie,  Verlust  der  Bewegungsanschauungen)  und 
Marasmus.  In  jedem  Stadium  sind  tiefe  Remissionen  von  wochen- bis  jahrelanger 
Dauer  möglich. 

Von  forensischer  Bedeutung  wegen  diagnostischer  Schwierig- 
keiten sind  das  Prodromalstadium,  das  der  manischen  Exaltation  und 
die  Fälle  von  einfach  dementer  Paralyse. 


^)  Literatur:  Legrand  du  SauUe,  etude  med.  legale  sur  la  paral.  gen. 
Gaz.  des  hopit.  1866,  Nr.  124-130.  S.  f.  Friedreich's  Bl.  1867,  H.  2.  Simon, 
Gehirnerweichung  der  Irren  1871.  v.  Krafft,  Friedr.  Blätter  1866,  H.  2  (Remis- 
sionen der  Paralyse).  Maudsley,  Stehlen  als  Symptom  der  Paralyse,  the  Lancet 
1875,  Nov.     Mendel,  d.  progr.  Paralyse.  Berlin  1880. 


\Q4:  Csi]).  IX.    Erworbene  geistige  Scliwächezustände. 

Die  Prodromalperiode  kann  mehrere  Jahre  dauern  und  sich  auf 
eine  ganz  allmälig  platzgreifende  Aenderung  der  Sitten  und  Nei- 
gungen, des  gesammten  Charakters  beschränken.  Vielfach  betriflft 
diese  Aenderung  vorwiegend  die  ethische  Seite,  insofern  die  früher 
geläufigen  und  massgebenden  Begriffe  von  Anstand  und  Sitte  sich 
lockern  und  selbst  gänzlich  verloren  gehen.  Das  Thun  und  Treiben  des 
Kranken  erscheint  dann  dem  Laien  einfach  als  ein  unmoralisches. 
Die  Kranken  vernachlässigen  ihre  Geschäfte  und  ihr  Aeusseres,  treiben 
sich  in  Schenken  und  Bordellen  herum,  erlauben  sich  Eingriffe  in 
fremdes  Eigenthum,  gerathen  in  Raufhändel,  begehen  Verletzungen 
des  öffenthchen  Anstandes,  Ehebruch,  oder  kommen  wegen  Betrug, 
Urkundenfälschung,  betrügerischem  Bankerott  in  Untersuchung. 

Die  Beurtheilung  des  Kranken  in  diesem  Stadium  kann  schwie- 
rig sein.  Für  den  Kundigen  ist  diese  unmotivirte  stetig  vorschrei- 
tende und  scharf  ausgesprochene  Umänderung  des  ganzen  Wesens 
und  Charakters  jedenfalls  schon  ein  Fingerzeig  für  das  Pathologische 
des  Zustands.  Zu  der  scheinbaren  Immoralität,  ungewöhnlichen  Ge- 
müthsreizbarkeit  und  Unstätigkeit  gesellen  sich  aber  vielfach  jetzt 
schon  Zeichen  getrübter  Besonnenheit  und  Einbusse  an  intellektueller 
Leistungsfähigkeit.  Dem  Kranken  fehlt  die  Einsicht  in  sein  ver- 
kehrtes Gebahren,  er  fühlt  nicht,  wie  er  sich,  seine  Ehre,  seine  Fa- 
milie und  Geschäftsinteressen  compromittirt,  er  zeigt  eine  gewisse 
Schwäche  und  Lahmheit  des  Gedankengangs,  Vergesslichkeit,  seine 
Arbeit  kostet  ihn  grössere  Mühe  und  Zeitaufwand.  Der  früher  so 
umsichtige  Geschäftsmann  hat  sich  in  eine  gewagte  Spekulation  ein- 
gelassen, die  Kräfte  und  Credit  weit  überstieg,  Ehre  und  Existenz 
bedenklich  gefährdete.  Der  Börsenmann  Hess  wiederholt  schon  den 
Kastenschlüssel  stecken,  hat  in  seinem  Hauptbuch  erhebliche  Posten 
gar  nicht  gebucht,  andere  falsch  addirt,  formell  unrichtige  Wechsel 
ausgestellt,  Coupons  einzulösen  vergessen.  Der  Offizier  ist  salop  in 
seiner  Erscheinung  geworden,  unpünktlich  im  Dienste,  der  Beamte 
verschläft  die  Bureaustunden,  verlegt  wichtige  Aktenstücke  oder  wirft 
sie  gar  in  den   Papierkorb. 

Das  sind  Alles  nur  Lappalien,  wie  der  Kranke  selbst  meint, 
aber  dem  Kundigen  sind  sie  bedenkliche  Zeichen  einer  hereinbre- 
chenden Bewusstseinsstörung  und  Abnahme  des  Gedächtnisses. 

Auch  die  Einsicht  in  die  Bücher  und  Schriften  liefert  in  diesem 
Stadium  oft  schon  beachtenswerthe  Spuren  getrübter  geistiger  Klar- 
heit, Besonnenheit  und  Aufmerksamkeit  in  Form  von  Datum-  und 
Rechnungsfehlern,    fehlender    oder    unrichtiger  Interpunktion,   verges- 


Dementia  paralytica.  165 

senen  Worten  oder  Buchstaben,  Abweichungen  von  der  geraden  Linie, 
Unsauberkeiten  des  Papiers, 

Nicht  selten  zeigen  sich  jetzt  schon  ab  und  zu  Congestionen, 
Schwindelanfälle,  leichte  Störungen  der  Sprache,  Ungleichheit  der 
Pupillen,  temporäre  Facialislähmung,  aphasische  Symptome. 

Während  diese  Aenderungen  des  ganzen  Wesens  und  Charakters 
immer  mehr  sich  entwickeln,  die  psychische  Schwäche  immer  greif- 
barer wird,  kommt  es  häufig  zu  einer  intercurrenten  maniakalischen 
Exaltation,  in  welcher  jetzt  schon  ab  und  zu  desultorische  Grössen- 
wahndeliren  auftreten  können. 

Die  Erscheinungen  psychischer  Schwäche  werden  durch  diese 
Periode  gesteigerter  Hirnthätigkeit  maskirt,  der  Kranke  erscheint 
aktiver,  leistungsfähiger  als  in  gesunden  Tagen,  er  zeigt  Witz,  Scharf- 
sinn, Unternehmungsgeist  trotz  schwer  gestörter  Besonnenheit. 

Die  Anamnese,  die  trotz  der  blendenden  temporär  gesteigerten 
Aktivität  und  Leistungsfähigkeit  sich  kundgebenden  Erscheinungen 
von  Gedächtnissschwäche,  getrübter  Besonnenheit,  Willensschwäche, 
grösserer  Bestimmbarkeit  und  Reizbarkeit,  das  Studium  der  schrift- 
lichen Aufzeichnungen,  zeitweise  Kopfcongestionen,  Ohnmächten, 
apoplektische  Anfälle,  Zucken  und  Beben  der  Lippen,  Sprachstörung, 
ungleiche  Pupillen,  Paresen  und  Anästhesien  sichern  die  Diagnose. 
Um  so  sorgfältiger  muss  die  Anamnese  eruirt  werden,  als  solche 
Kranke,  wenn  im  Gefängniss  internirt,  durch  die  Isolirung,  durch 
schmale  Kost  und  mangelnde  Gelegenheit  zu  Excessen  aller  Art  bald 
eine  grosse  Zahl  ihrer  Krankheitserscheinungen  verlieren  und  ihre 
augenblickliche  Beobachtung  wenig  Positives  ergibt. 

Mannigfache  Conflikte  mit  dem  Strafgesetz  führt  der  in  dieser 
Periode  der  Krankheit  fast  regelmässig  als  Theilerscheinung  der  mania- 
kalischen Erregung  sich  findende  Hang  zu  Alkohol-  und  sexuellen 
Excessen,  sowie  zur  Wegnahme  fremden  Eigenthums  mit  sich.  Die 
geschlechtliche  Erregung  führt  zu  Familienscandalen,  groben  Ver- 
letzungen der  Sittlichkeit,  verliebten  Abenteuern,  Verführungen,  Duellen; 
das  Wirthshausleben  bei  durch  die  Krankheit  schon  gesetzter  abnor- 
mer Gemüthsreizbarkeit  und  Intoleranz  für  Alkohol  zu  Prügeleien, 
Injurien,  Körperverletzungen,  Auflehnung  gegen  die  Sicherheitsbehörde 
und  empfindlichen  Geld-  und  Freiheitsstrafen,  die  über  den  vermeint- 
lichen Trunkenbold  verhängt  werden. 

Endlich  bricht  das  Delirium  aus  und  verwandelt  mit  einem  Male 
die  Ahnungen  der  Umgebung  in  schreckliche  Gewissheit.  Der  Zu- 
stand ist  nun  kein  zweifelhafter  mehr,  aber  es  dauert  oft  noch  lange. 


166  Cap.  IX.    Erworbene  geistige  Scliwächezustände. 

bis  der  Kranke  unschädlich  gemacht  wird  und  bei  seinem  schranken- 
los gesteigerten  Wollen  und  Können  bedarf  er  nur  kurzer  Zeit,  um 
sich  und  die  Seinigen  finanziell  zu  ruiniren.  In  diese  Periode  der 
Krankheit  fallen  die  sinnlosen  Spekulationen,  Masseneinkäufe  und 
Greschenke.  Ungescheut  eignen  sich  die  Kranken  nun  auch  fremden 
Besitz  an,  da  sie  Alles  in  ihrem  Grössen wahn  für  ihr  Eigenthum 
halten. 

Die  vorgeschrittene  psychische  Schwäche,  Bewusstseinsstörung 
und  Gedächtnissschwäche,  der  Grössen  wahn,  die  Ueberstürzung  des 
Vorstellens  und  Strebens,  der  abspringende  Gedankengang,  die  schrift- 
lichen Leistungen,  in  denen  Bewusstseinsstörung,  Wahnideen,  formale 
Störung  im  Vorstelluugsablauf  und  beginnende  Unsicherheit  der  Hände 
sich  deutlich  manifestiren,  lassen  den  Fall  nicht  mehr  als  zweifelhaft 
erscheinen. 

In  dem  Stadium  der  Dementia  werden  die  Kranken  durch  ihre 
hochgradige  Bewusstseinsstörung  gefährlich.  Sie  wissen  nicht  mehr 
Mein  und  Dein,  Zeit  und  Ort  auseinander  zu  halten,  dringen  in  fremde 
Wohnungen  in  der  Meinung,  es  sei  die  eigene  und  tragen  daraus 
Gegenstände  fort,  ernten  auf  fremdem  Feld,  richten  in  zweckloser 
Geschäftigkeit  Schaden  an,  verschulden  Feuersbrünste,  indem  sie  in 
der  Meinung,  es  sei  der  Heerd  oder  Ofen,  wo  sie  nur  gerade  sind, 
Feuer  anzünden  oder  achtlos  brennende  Gegenstände  verstreuen. 
Aeusserst  häufig  in  diesem  Stadium  ist  Diebstahl,  meist  ungenirte 
Wegnahme  von  oft  ganz  werthlosen  Gegenständen  und  zwar  in  einer 
so  plumpen,  rücksichtslosen  Weise,  dass  die  Entdeckung  auf  dem 
Fusse  folgt. 

Die  Gedächtnissschwäche  solcher  Kranken  ist  dabei  eine  bezeich- 
nende. Schon  wenige  Augenblicke  nach  der  That  im  Besitz  des  ge- 
stohlenen Gegenstands  ertappt,  wissen  sie  oft  gar  nicht  mehr,  wie 
sie  dazu  gekommen  sind  und  leugnen  als  scheinbar  ganz  verschmitzte 
Spitzbuben,  einfach  weil  sie  nichts  mehr  davon  wissen.  Man  muss 
solche  Kranke  bezüglich  ihres  Stehlens  in  den  Asylen  beobachten. 
Nichts  ist  vor  ihnen  sicher  und  jeden  Abend  leert  der  Wärter  aus 
ihren  Taschen  eine  Menge  oft  werthloser  und  ganz  verschiedenartiger 
Gegenstände.  Reste  von  Grössenwahn,  Schwäche  des  Urtheils  und 
Sinnestäuschungen,  die  den  Gegenständen  einen  imaginären  hohen 
Werth  beilegen,  Verlorengegangensein  aller  Begriife  von  Mein  und 
Dein,  von  Recht  und  Sitte  motiviren  diese  Diebstähle. 

Die  Begutachtung  derartiger  weitgediehener  Fälle  ist  nicht 
schwierig.     Die    enorme    Bewusstseinsstörung,    Gedächtniss-    und  Ur- 


Dementia  paraiytica.  IQ'J 

tlieilsschwäche;  Gleichgültigkeit  und  Einsichtslosigkeit,  die  unverkenn- 
baren Zeichen  eines  schweren  Hirnleidens,  wie  sie  sich  in  Miene, 
Sprache,   Haltung,  Gang  kundgeben,  sichern  die  Diagnose. 

Die  erwähnten  Eigenthümlichkeiten  des  Bewusstseinszustands 
geben  dem  Mechanismus  des  Handelns  solcher  Kranker  zudem  ein 
ganz  besonderes  Gepräge.  Ihre  Handlungen  werden  mit  einer  be- 
merkenswerthen  Plumpheit,  Rücksichtslosigkeit^  Brutahtät,  Ungeschick- 
lichkeit und  Planlosigkeit  in  Scene  gesetzt  ^). 

Auffallend  häufig  im  Verlauf  dieser  schweren  todtbringenden 
Krankheit  sind  Remissionen  bis  zu  monate-,  selbst  jahrelanger  Dauer, 
die  so  bedeutend  sein  können,  dass  der  Unerfahrene  an  Herstellung 
glaubt,  der  Kranke  seinen  Beruf  wieder  aufzunehmen  vermag.  Nie 
sind  sie  aber  wirkliche  Intermissionen.  Zeichen  psychischer  Schwäche, 
leichte  Bestimmbarkeit,  Reizbarkeit,  Charakteranomalien,  mangel- 
hafte Krankheitseinsicht,  Schwindel-  und  Congestivanfälle  in  selbst 
den  ausgesprochensten  Fällen  von  Remission  weisen  darauf  hin,  dass 
die  Krankheit  nur  vermindert,   aber  nicht   gehoben  ist. 

Beob.  51.  Brandstiftung.  Dementia  paraiytica.  Gh.,  Sprachlehrer, 
56  Jahre,  hat  in  Bache  et  Venere  viel  excedirt.  Im  Juli  1864  starb  seine  Mai- 
tresse. Bald  darauf  zeigte  er  eine  totale  Aenderung  seines  Wesens.  Er  vernach- 
lässigte seinen  Beruf,  trieb  sich  planlos  in  der  Umgebung  der  Stadt  umher,  leb- 
haft gestikulirend  und  Selbstgespräche  führend.  Alte  Freunde  grüsste  er  auf 
der  Strasse  nicht  mehr,  im  Wirthshaus  war  er  oft  incohärent  in  seinen  Reden, 
vergesslich.  Mit  seinen  schriftlichen  Arbeiten  kam  er  nicht  mehr  recht  zu  Streich, 
immermehr  bot  sein  Aeusseres  das  Bild  geistiger  und  körperlicher  Verkomnaen- 
heit.  Anfangs  Oktober  wurde  er  mehrfach  auf  der  Strasse  mit  heraushängendem 
Penis  betroffen,  er  hielt  mehrfach  Frauenzimmer  auf  der  Strasse  an  und  wollte 
sie  brünstig  umarmen. 


0  Ein  Kranker  meiner  Beobachtung  drang  in  ein  fremdes  Haus  ein,  zog 
sich  aus  und  wollte  sich  zur  Tochter  des  Hauses  ins  Bett  legen.  Nicht  selten 
sind  Erscheinen  in  nacktem  Zustand,  Entblössungen  der  Genitalien,  Onanie  auf 
offener  Strasse.  (Fälle  bei  Tardieu,  sur  les  attentats  aux  moeurs  1878.  Mendel, 
die  progr.  Paralyse  der  Irren  1880,  p.  123.  Legrand  du  SauUe,  la  folie  p.  519.) 
Ein  Kranker,  den  Magnan  citirt,  wollte  ein  Fass  Wein  vor  dem  Gewölbe  eines 
Weinhändlers  sich  aneignen  und  ersuchte  2  J'olizeimänner,  ihm  beim  Wegrollen 
behilflich  zu  sein,  was  diese  auch  bona  fide  thaten.  Ein  Kranker  meiner  Beob- 
achtung trieb  am  hellen  Tag  eine  fremde  Kuh  von  der  Weide  nach  der  benach- 
barten Stadt,  um  sie  zu  veräussern. 

Darde,  du  delire  des  actes  dans  la  paral.  gen.,  Paris  1874,  erzählt  (Beob.  22) 
den  Fall  eines  Kranken,  der  einen  Hass  gegen  den  Spitalchirurgen  hatte  und 
mit  Stock  und  Dolch  bewaffnet  ganz  gemüthlich  2  Sicherheitswachmänner  nach 
der  Adresse  des  Arztes  fragte,  weil  er  ihn  umbringen  wolle ! 


'[QQ  Cap.  IX.    Erworbene  geistige  Schwäche.    Dementia  paralj^tica. 

Am  15.  Oktober  drang  Pulverdampf  aus  seinem  Zimmer.  Man  öffnete  und 
traf  ihn  mit  einer  Pistole  in  der  Hand,  halbverbranntes  Pulver  auf  dem  Tisch. 
Der  Polizei  erklärte  Ch.,  er  habe  sich  gegen  eingedrungene  Räuber  wehren  wollen. 
Die  Hausleute  hielten  sein  Gebahren  für  Bosheit,  weil  sie  ihn  wegen  verschie- 
dener Ungehörigkeiten  zur  Rede  gestellt  hatten.  Ch.  urinirte  nämlich  im  Hause, 
wo  es  ihm  passte  und  hatte  die  Schublade  einer  Mahagonikommode,  die  auf  dem 
Gange  stand,  zur  Befriedigung  seiner  Bedürfnisse  ausersehen.  Als  man  ihn  dar- 
über zur  Rede  stellte,  wurde  er  gewaltthätig,  prügelte  die  Hausfrau.  In's  Ge- 
fängniss  gebracht,  verunreinigte  er  Boden  und  Wände.  Im  Verhör  leugnete  er 
Verunreinigungen  und  Gewaltthaten.  Das  Gutachten  des  Gerichtsarztes  vom 
16.  Oktober  spricht  sich  dahin  aus: 

„Seine  Antworten  waren  verständig  und  liessen  erkennen,  dass  Gedächt- 
niss,  Erinnerung  und  Ueberlegung  ungetrübt  waren.  Er  sprach  vollkommen  ruhig 
und  zusammenhängend,  erzählte  den  Hergang,  suchte  die  Vorkommnisse  als  un- 
bedeutend, die  Entzündung  des  Pulvers  als  Ziifall  hinzustellen.  Soviel  ich  aus 
dieser  Unterredung  mit  dem  persönlich  mir  völlig  unbekannten  Mann  entnehmen 
konnte ,  war  er  gestern  Abend  weder  seelengestört  noch  betrunken ,  sondern 
scheint  von  sehr  heftigem,  leidenschaftlichem  Temperament  zu  sein  und  in  Zorn 
und  Aufregung  die  Handlungen  begangen  zu  haben." 

Ch.  wird  der  Haft  entlassen.  Am  23.  Nachts  wirft  er  dem  Hausherrn 
Fensterscheiben  ein.  Am  26.  geht  er  in  ein  fremdes  Haus,  wird  angehalten  und 
behauptet,  er  müsse  Kisten  auf  seinen  Speicher  tragen.  Am  28.  zündet  er  im 
Gasthaus  .einen  Teppich  an  und  lacht  dazu.  Den  Gästen  kam  er  verrückt  vor, 
da  er  Rock,  Weste  und  Halstuch  ausgezogen  hatte  und  seinem  Nebenmann  sans 
gene  auf  den  Rücken  spuckte.  Am  29.  brannte  ein  Haus  nahe  der  Stadt  ab. 
Ch.  war  kurz  vorher  mit  brennender  Cigarre  vorbeispaziert  und  hatte  wahr- 
scheinlich diese  in  den  daneben  befindlichen  Heuschober  geworfen.  In  der  Nähe 
des  Brandes  verhaftet  und  befragt  was  er  hier  treibe,  erklärte  er  Maulwürfe 
fangen  zu  wollen.  Vor  dem  Untersuchungsrichter  versuchte  er  seine  Cigarre 
wieder  in  Brand  zu  stecken. 

Ch.  blieb  bis  zum  7.  Januar  in  Haft.  Er  war  körperlich  wohl,  klagte  nur 
zeitweise  über  Leere  im  Kopf  und  Druck  im  Hinterkopf.  Gefrässig  und  unrein- 
lich war  er  in  hohem  Grade.  Er  fühlte  sich  ganz  behaglich,  empfand  keine  Lange- 
weile, lebte  in  den  Tag  hinein  ohne  Sorge  um  Vergangenheit  und  Zukunft.  In 
ihren  Pareres  vom  22.  November  und  3.  December  erklärten  sich  die  Gerichts- 
ärzte ausser  Stand,  ein  Gutachten  über  seinen  Geisteszustand  abzugeben.  Anfang 
Januar  fing  Ch.  an  mit  Koth  zu  schmieren,  unzusammenhängend  zu  sprechen, 
Geräthschaften  zu  demoliren.  Zur  Rede  gestellt  leugnete  er,  offenbar  aus  Ge- 
dächtnissschwäche. Sein  Bewusstsein  war  so  gestört,  dass  er  seine  Stiefel  suchte 
und  meinte  sie  seien  gestohlen,  obwohl  er  sie  anhatte. 

Bei  der  Aufnahme  in  der  Irrenanstalt  am  7.  Januar  bot  Ch.  das  Bild  einer 
vorgeschrittenen  Paralyse.  Ungleiche  Pupillen,  häsitirende  Sprache,  bebende  Lippen, 
schwankender  Gang,  unsichere  Schriftzüge.  Incontinentia  urinae  et  alvi.  Ge- 
frässigkeit.  Unreinlichkeit.  Enorme  Bewusstseinsstörung  und  Gedächtnissschwäche, 
grosse  Reizbarkeit  wnd  brutale  Gewaltthätigkeit. 

Das  Gutachten  erwies  die  schon  seit  Monaten  bestehende  Geistesstörung 
(Dem.  paralyt.)  und  die  Ch.  zur  Last  gelegte  Brandstiftung  als  die  Folge  einer 
mit  dieser  Krankheit  verbundenen  derartigen  Störung  des  Bewusstseins ,  dass  er 


Das  alkoholische  Irresein.  \QCf 

ausser  Stande  war,  sich  seiner  Handlungen,  geschweige  deren  Bedeutung,  Folgen 
und  Strafbarkeit  bewusst  zu  sein.     (Eigene  Beobachtung.) 

Beob.  52.  Mord  der  Ehefrau.  Dementia  paralj'tica.  Am  13.  Mai 
war  der  46jährige  Handwerlier  X.  voller  Freude  zu  den  Nachbarn  gegangen  und 
hatte  ihnen  mitgetheilt,  dass  seine  Frau  plötzlich  gestorben  sei.  Da  man  kurz 
vorher  im  Hause  Lärm  gehört  und  X.  oft  geäussert  liatte,  sich  seiner  Frau  ent- 
ledigen zu  wollen,  so  gingen  die  Nachbarn  in's  Haus  und  fanden  die  Leiche 
nackt  mit  deutlichen  Zeichen  der  Erdrosselung.  Der  X.  leugnete  Anfangs,  meinte 
es  handle  sich  um  einen  unglücklichen  Zufall,  bekannte  aber  endlich  sein  Ver- 
brechen, das  er  als  unüberlegt  und  im  Affekt  begangen  darstellte. 

Von  jeher  nervös  und  reizbar,  war  X.  durch  Alkoholexcesse  seit  einigen 
Jahren  so  brutal  und  gereizt  geworden,  dass  Jedermann  ihn  fürchtete.  Seine 
Frau  hatte  ihn  schon  lange  für  irrsinnig  gehalten.  Im  Verhör  Grössenwahn,  der 
offenbar  schon  lange  bestanden  hatte.  Er  wollte  sein  Geschäft  in's  Ungeheuere 
vergrössern  und  seiner  Frau,  da  sie  für  ihn  zu  gering  sei  und  ihm  selbst  nach 
dem  Leben  gestrebt  liabe,  sich  entledigen.  Dieses  Vorhaben  hatte  er  wiederholt 
rückhaltslos  geäussert.  Er  konnte  nicht  begreifen,  dass  man  wegen  ihrer  Tödtung 
so  viel  Aufhebens  mache.  Bezeichnend  war  die  Gleichgültigkeit  und  Sorglosigkeit 
des  Mörders.  In  der  folgenden  Beobachtung  Grössenwahn  (hält  sicli  vorüber- 
gehend für  Gott) ,  grosse   psychische  Schwäche ,  Hallucinationen ,  Sprachstörung. 

Die  Sachverständigen  erbrachten  den  Beweis,  dass  X.  im  Zustand  von 
Geistesstörung  (Dem.  paralj^t.)  den  Mord  begangen  habe.  (Annales  med.  psychol. 
Sept.  1875.) 

Weitere    Fälle:     Brandstiftung:    Annal.  med.  psj'chol.  Sept.  1871. 

Diebstähle:  Casper,  Lehrb.,  herausgeg.  v.  Liman ,  Fall  285,  286.  Journal 
of  mental  science,  January  1873.  Sander,  über  Stehlsucht  d.  Geisteskranken,  be- 
sonders in  der  paralj^t.  Form.  Casper,  Vierteljahrschr.  XXIV.  (mit  Angabe  der 
bezügl.  Literatur).  Brierre  in:  Annales  d'iij^giene,  1860  Octob.  Burman,  Journ. 
of  mental  science,  1873,  Jan.  1874,  Jul3^ 

Mord:  Ebers,  die  Zurechnung.  Glogau  1860,  Fall  8.  Lotze,  Archiv  f. 
Psych.  VII.  H.  2. 

Mordversuch :    Annal.  med.  psychol.  Mai  1873. 

Sittlichkeitsvergehen:  Westplial,  Archiv  f.  Psj'ch.  VII.  p.  622.  Liman, 
zweifelh.  -Geisteszustände,  p.  190.     Legrand,  la  folie,  p.  519. 

Bigamie:   Petrucci,  Ann.  med.  psycho!.  1875,  Mai. 

Fahrlässige  Vergiftung:  Diberg,  Archiv  f.  ger.  Med.  in  Russland  1869,  H.  4. 


5.    Das  alkoliolisclie  Irresein. 

(Alkoholismus  chronicus.     Trunkfällige  Sinnestäuschung.     Delirium  tremens. 

Alkoholpsychosen.) 

Literatur.  Henke's  Abhandl.  IV.  p.  299  (ältere  Literatur).  Legrand  du  Saulle, 
Ann.  med.  psychol.  1861,  Juli  und  la  folie  devant  les  tribunaux.  Paris  1864,  p.  253. 
Foville,  Ann.  d'hyg.  publ.  XLIII.  April  1875.  Roussel,  l'ivresse  publique.  Gaz. 
des  höpit.  1871,  69—75.  Schweizer  Correspondenzbl.  1872.  21.  Baer,  der  Al- 
koholismus. Berlin  1878.  Pelman,  im  neuen  Reich  1878  L  Foville,  l'Union 
med.  1873,  136,  137.  Magnan,  de  l'alcoolisme.  Paris  1874.    Delirium  tremens: 


170  ■  Cap.  IX.    Das  alkoliolisclie  Irresein. 

Goeden,  Dissertat.  Berlin  1825.  Martini,  Bemerkungen  über  Säuferwahnsinn. 
Bremen  1828.  Rose,  Pitha  u.  Billroth's  Chirurgie  I.  H.  2.  Graft"  u.  Stegmayer, 
einige  Worte  zur  Beurtheil.  des  Säuferwahnsinns.  Wiesbaden  1844.  Alkohol- 
psychosen: Dagonet,  traite  des  mal.  ment.  1876  p.  521.  v.  Krafft,  Lehrb.  d. 
Psychiatrie  II.  p.  173.   Nasse,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie  34.  H.  3. 

Die  schwersten  Schädigungen  erfährt  das  centrale  Nervensystem 
durch  fortgesetzten  Alkoholmissbrauch.  Die  Folgen  zeigen  sich  nicht 
bloss  bei  dem  diesem  Laster  Ergebenen,  sondern  meist  auch  bei  seinen 
Nachkommen.  Die  Statistik  belehrt  uns  über  die  geringe  Lebensfähig- 
keit und  die  grosse  Disposition  der  Descendenz  von  Säufern  zu  Nerven- 
krankheiten, namentlich  zur  Idiotie,  Epilepsie  und  Geisteskrankheiten. 
Der  hereditär  belastende  Einfluss  der  Alkoholausschweifungen  ist  ein 
eminenter.  Auf  dem  Boden  solcher  belastender  Einflüsse  (Epilepsie, 
Schwachsinn,  neuropathische  Constitution)  findet  sich  wieder,  zum  Theil 
durch  böses  Beispiel,  vorwiegend  aber  aus  Reizbedürfniss  für  die  schwa- 
chen Nerven,  Neigung  zum  Missbrauch  des  Alkohol  (periodisch  als 
Dipsomanie  oder  dauernd)  und  das  belastete  Gehirn  reagirt  darauf 
in  Form  der  schwersten  psychischen  Entartungszustände  (Blödsinn, 
moralisches  Irresein  mit  impulsiven  Akten). 

Die  Bedeutung  des  Alkoholmissbrauchs  für  das  Forum  und  die 
Gesellschaft  ergibt  sich  aus  der  statistischen  Tbatsache,  dass  in  Deutsch- 
land z.  B.  etwa  50*^/0, aller  Verbrechen  unter  dem  Einfluss  der  Alkohol- 
excesse  zu  Stande  kommen,  etwa  28*^/0  der  Aufnahmen  in  Irrenhäusern 
durch  das  Laster  des  Trunks  verschuldet  sind,  der  wirthschaftliche 
Ruin  unzähliger  Familien  dadurch  bedingt  ist. 

Klinische  Uebersicht:  Der  Grundcharakter  der  psychischen  Stö- 
rungen, welche  sich  aus  dem  fortgesetzten  Missbrauch  alkoholischer  Getränke 
ergeben,  ist  der  psychischer  Schwäche  und  fortschreitenden  Zerfalls  der  höheren 
ethischen  und  intellektuellen  Funktionen.  Ab  und  zu  kann  es  im  Verlauf  dieses 
chronischen  psychischen  Degenerationsvorgangs,  wohl  auf  Grund  vorübergehender 
Circulations-  und  Ernährungsstörungen,  zu  acuter  und  stürmischer  Betlieiligung 
der  psychischen  Funktionen  in  elementarer  oder  complicirter  Form  kommen ;  wo- 
bei es  sich  jedoch  nur  um  intercurrente  oder  exacerbirende  Phasen  dieses  Grund- 
vorgangs handeln  dürfte. 

Als  die  anatomischen  Substrate  dieser  Degeneration  der  höchstorganisirten 
Nervencentren  finden  sich  chronisch-entzündliche  Veränderungen  an  den  Meningen 
und  atrophirende  Processe  der  Rindenschicht  des  Grosshirns. 

Als  Folgen  oder  Complicationen :  vielfach  Hyperostose  des  Schädeldachs, 
massenhafte  Wucherung  Pacchioni'scher  Granulationen,  Hydrocephalus  externus 
und  internus,  Pachj^meningitis  interna  haemorrhagica.  Dazu  gesellen  sich  die 
deletären  Wirkungen  des  Alkohol  in  Gestalt  von  chronischem  Magencatarrh, 
Leber-  und  Nierenentartung,  Herzhypertrophie  und  Arteriosklerose.  Als  klinischer 
Gesammtausdruck  dieser  Degenerationsvorgänge  finden  sich  eine  Reihe  von  psy- 


Alkoholisches  Irresein.     Klinische  Uebersicht.  171 

chischen,  motorischen,  sensiblen,  sensoriellen  und  vegetativen  Funktionsstörungen, 
deren  Gesammtbild  sich  nach  dem  Vorgang  von  Magnus  Huss  als  Alkoholis- 
mus   chronicus  oder  Trunksucht  bezeichnen  lässt. 

Die  ersten  Symptome  der  Folgen  des  Lasters  in  der  psychischen  Sphäre 
pflegen  sich  in  der  Sphäre  der  ethischen  Leistungen,  in  einer  fortschreitenden 
Abnahme  der  ethischen  Gefühle  und  sittlichen  Correktive  kundzugeben.  Der 
Säufer  verräth  bedenkliche  Zeichen  von  laxerer  Anschauung  in  Beziehung  auf 
Ehre,  Sitte,  Anstand.  Die  sittlichen  Conflikte,  in  die  er  durch  sein  Laster  ver- 
setzt wird,  der  Ruin  seines  Geschäfts  und  seiner  Familie,  die  Verachtung,  die  er 
von  seinen  Mitbürgern  erfährt,  berühren  ihn  nicht  mehr  peinlich.  Es  vi^ird  ein 
unerträglicher  Egoist  im  Verkehr  mit  der  Familie  und  Gesellschaft,  cynisch,  an- 
massend,  brutal.   Mit  der  Zeit  entwickelt  sich  ein  Zustand  wahrer  moral  insanit}'. 

Schon  Clarus  hat  solche  Zustände  sittlicher  Verkommenheit  auf  degenera- 
tiver alkoholischer  Grundlage  als  „trunkfällige  Entartung  der  Sitten  und  des 
Temperaments"  (inhumanitas  ebriosa)  beschrieben. 

Ein  weiterer  Grundzug  im  Verlauf  dieser  psychischen  Degeneration  ist 
eine  Störung  der  affektiven  Funktionen,  eine  auffallende  Gemüthsreizbarkeit,  die 
zu  wenig  motivirten  und  über  alles  physiologische  Mass  hinausgehenden  Affekten 
des  Zornes  führt  (ferocitas  ebriosa).  Häufig  sind  auch  im  Verlauf  temporäre  Zu- 
stände tiefer  geistiger  Verstimmung,  krankhaften  Missmuths  (morositas  ebriosa) 
namentlich  des  Morgens  nach  dem  Erwachen.  Sie  disponiren  zu  Affekten  und 
führen  nicht  selten  zu  Selbstmord. 

Mit  dem  Fortschritt  dieser  Störungen  in  der  ethischen  und  affektiven  Sphäre 
stellen  sich  regelmässig  und  früh  solche  in  der  des  Willens  und  der  Intelli- 
genz ein. 

Die  Willensschwäche  zeigt  sich  in  der  Energielosigkeit  in  der  Durchfüh- 
rung von  Entschlüssen  und  Erfüllung  von  Pflichten.  Am  bemerkenswerthesten 
ist  sie  gegenüber  dem  anfangs  so  oft  gefassten  Entschluss,  dem  unheilvollen 
Laster  zu  entsagen.  Kein  Gewohnheitssäufer  ist  im  Stand,  diesen  Vorsatz  zur 
That  zu  machen,  selbst  zu  einer  Zeit,  wo  er  noch  Intelligenz  genug  besitzt,  um 
einzusehen,  an  welchem  Abgrund  er  sich  befindet.  Im  besten  Fall  verlangen 
diese  Unglücklichen  ihre  Internirung,  sogar  die  Aufnahme  in  eine  Irrenanstalt 
in  der  beschämenden  Selbsterkenntniss,  dass  sie  zu  einer  Selbstführung  nicht 
mehr  fähig  sind. 

Die  Abnahme  im  Umfang  der  intellektuellen  Leistungsfähigkeit  verräth 
sich  in  Schwäche  des  Gedächtnisses,  Stumpfheit  der  Apperception ,  Ideenarmuth. 
Immer  mehr  kommt  es  zu  ausgesprochenem  Schwachsinn.  Der  endliche  Ausgang 
des  Leidens  ist  ein  Zustand  tiefer  psychischer  Schwäche,  blödsinniger  Indifferenz, 
Apathie  und  Gemüthsstumpfheit. 

Ein  häufiges  und  frühes  Symptom  in  diesem  intellektuellen  und  ethischen 
Degenerationsvorgang  ist  bei  in  geschlechtlichen  Beziehungen  stehenden  Alkoho- 
listen der  Eifersuchtswahn  (Wahn  ehelicher  Untreue).  Er  erklärt  sich  zum  Theil 
aus  der  abnehmenden  geschlechtlichen  Potenz  des  Säufers,  zum  Theil  daraus, 
dass  die  Ehefrau  oder  Geliebte  dem  Verkehr  mit  dem  brutalen ,  reizbaren ,  ge- 
waltthätigen  Trunkenbold  thunlichst  aus  dem  Wege  geht  und  der  geistig  und 
sittlich  geschwächte  Säufer  daraus  Gründe  zu  Misstrauen  schöpft.  Gelegentlich 
zorniger  Affekte  und  Alkoholexcesse  können  Illusionen  und  Hallucinatiouen  auf- 
treten und  dem  Wahn  Nahrung  geben. 


]^72  Cap.  IX.    Das  alkoholische  Irresein. 

Die  Motivirung  des  Wahns  ist  eine  schwachsinnige.  Die  Kranken  be- 
haupten, dass  ihre  Frau  mit  anderen  Männern  verliebte  Blicke  wechsle,  sich 
vor  ihnen  entblösse,  ungebührlich  lange  von  Hause  fortbleibe,  Essen  imd  Geld 
dem  angeblichen  Liebhaber  zutrage.  Sie  entdecken  in  der  Wäsche  der  Frau 
verdächtige,  auf  geschlechtlichen  Verkehr  hindeutende  Merkmale. 

Früh  gesellen  sich  sensorische  und  sensorielle  Störiingen  zum  Krankheits- 
bild. Sie  bestehen  in  Kopfweh ,  Wüstsein  im  Kopf,  unruhigem ,  A^on  schreck- 
haften Träumen  gestörtem  Schlaf,  Schwindel,  Hyperästhesien  der  Sinnesorgane, 
subjektiven  Sinnesempfindungen  (Brausen,  Klingen,  Phantasmen  etc.),  die  besonders 
häufig  vor  dem  Einschlafen  sich  einstellen  und  den  Schlaf  hintanhalten.  Auch 
zu  Hallucinationen  (Sehen  A^on  Menschen  und  Thieren,  Hören  von  Stimmen) 
namentlich  Visionen,  besteht  eine  bedeutende  Disposition  im  Alkoholismus  chronic. 
Sie  haben  vorwiegend  einen  beängstigenden  schreckhaften  Charakter. 

Die  sensiblen  Störungen  bestehen  in  Parästhesien  und  eigenthümlichen 
Formicationsgefühlen  unter  der  Haut  der  (unteren)  Extremitäten ,  die  selbst  bis 
zu  den  Knieen  herauf  anästhetisch  werden  kann.  Diese  Gefühle  werden  immer 
intensiver  und  anhaltender,  verbreiten  sich  auf  Rumpf  und  Arme,  verbinden 
sich  mit  Tremor  der  unteren  Extremitäten,  ja  selbst  des  ganzen  Körpers,  mit 
Zuckungen  und  tonischen  Krämpfen  in  Füssen  und  Waden,  die  namentlich  vor 
dem  Einschlafen  auftreten. 

Zu  den  frühesten  Sj^mptomen  gehören  die  motorischen.  Sie  äussern  sich 
als  Tremor  der  Hände  und  Zunge,  fibrilläre  Zuckungen  der  Zungenmuskulatur. 
AUmälig  kommt  es  zu  wirklicher  Muskelschwäche.  Die  Hände  werden  kraftlos, 
unsicher,  die  Kniee  sinken  ein,  der  Gang  Avird  schlotternd;  schliesslich  kommt 
es  zu  wirklichen  Paresen.  Späte  und  nicht  constante  Symptome  im  Verlauf  des 
Leidens  sind  Accommodationsstörungen ,  Amblyopie,  epileptische  Krämpfe.  Die 
letzteren  treten  namentlich  nach  Alkoholexcessen  auf. 

Ein  frühes  Symptom  ist  auch  die  zunehmende  Intoleranz  des  Gehirns  gegen 
Alkohol.  Es  kommt  zu  pathologischen  Alkoholzuständen  (s.  u.),  hallucinatorischem 
Delirium  und  Convulsionen  (ivresse  convulsive)  schon  nach  relativ  geringen 
Alkoholexcessen. 

S5^mptome  schwerer  Schädigung  der  vegetativen  Processe  vervollständigen 
das  Krankheitsbild.  Die  Haut  der  Säufer  bietet  die  Zeichen  der  Anämie  neben 
capillären  Ectasien  und  venösen  Stasen ;  sie  ist  welk,  missfarbig,  die  Augen  sind 
halonirt,  die  Lider  ödematös,  die  Pupillen  meist  erweitert,  der  Blick  ausdruckslos, 
die  Gesichtszüge  schlaff.  Dazu  gesellen  sich  die  Symptome  gestörter  Verdauung, 
beginnender  Leber-  und  Merenentartung. 

Der  Alkoholismus  chron.  ist  keine  Leidenschaft,  sondern  eine 
Hirnkrankheit,  die  sich  durch  eine  Fülle  klinischer  Kennzeichen  und 
durch  anatomische  Befunde  als  solche  dokumentirt. 

Die  Zurechnungsfähigkeit  des  Trunksüchtigen  wird  damit  frag- 
lich. Eine  allgemeine  Bestimmung  ist  nicht  möglich,  denn  die  Wir- 
kungen der  Alkoholausschweifung  sind,  je  nach  Constitution,  Art  (Amyl- 
oder  Aethylalkohol),  Menge  und  Zeitdauer  des  Uebergenusses  ver- 
schieden.   Der  Geisteszustand  des  Säufers  bezüglich  der  Zurechnungs- 


Zurechnungsfähigkeitsfrage  bei  Alkoholismus  chronicus.  173 

frage  wird  immer  suspekt  erklärt,   aber  das  Mass  seiner  Verantwort- 
lichkeit aus  dem  concreten  Befund  ermittelt  werden  müssen. 

Es  wäre  schlimm,  wenn  man  in  einem  so  abscheulichen  Laster, 
wie  es  die  Alkoholausschweifung  darstellt,  einen  Freibrief  für  Ver- 
brecher erkennen  wollte,  aber  da,  wo  das  Laster  zur  wirklichen  Hirn- 
krankheit geführt  hat,  muss  mit  dieser  Thatsache  gerechnet  werden. 

Der  Nachweis  der  Hirnkrankheit  wird  sich  in  erster  Linie  auf 
die  somatischen  Symptome  des  Alk.  chron.  zu  stützen  haben.  Finden 
sich  daneben  Charakterveränderungen  und  ethische  Defekte,  so  wird 
ihre  Zurückführung  auf  eine  den  somatischen  Störungen  gemeinsame 
Ursache  gerechtfertigt  sein.  Bei  noch  nicht  weitgediehenen  Fällen 
von  Alk.  chron.  kann  der  Nachweis  jener  Schwierigkeiten  bieten,  da 
sie  mit  der  Entziehung  des  Alkohol  in  der  Gefäuguisshaft  rasch  zu- 
rückzutreten pflegen. 

Bei  vorgeschrittener  psychischer  Alkoholentartung  sind  die  Be- 
dingungen der  Zurechnungsfähigkeit  aufgehoben.  Im  Beginn  des 
Krankheitszustands  werden  sich  mildernde  Umstände  geltend  machen 
lassen,  namentlich  da,  wo  eine  strafbare  Handlung  in  einem  Alkohol- 
excess  oder  Affekt  des  sittlich,  intellektuell  und  vasomotorisch  ge- 
schwächten Säufers  begangen  wurde.  Unter  allen  Umständen  erscheint 
der  Trunkfällige  als  ein  gemeingefährliches  Individuum.  Er  gehört 
in  eine  polizeiliche  Verwahranstalt,  ein  Arbeitshaus  oder  Säuferasyl. 
Es  ist  zu  bedauern,  dass  die  Detention  meist  zu  spät  eintritt  oder  zu 
kurz  stattfindet.  Der  Alkohol,  chron.  ist  in  seinen  früheren  Stadien 
ein  heilbarer  Zustand,  aber  eine  monate-  bis  jahrelange  Entziehung- 
berauschender  Getränke  ist  dazu  im  günstigsten  Fall  erforderlich. 
Die  Irrenanstalten  sollten  zu  solchem  Zweck  nicht  missbraucht  werden. 
Die  gesetzliche  Regelung  einer  Versorgung  der  gemeingefährlichen 
Trinker  harrt  vorläufig  noch  ihrer  Erledigung. 

Die  Gefährlichkeit  der  Trunksüchtigen  und  die  Möglichkeit  straf- 
barer Handlungen  ergibt  sich  aus  ihrem  sittlichen  und  intellektuellen 
Schwachsinn,  der  unsittliche  egoistische  Gelüste  und  zudem  vielfach 
abnorm  heftige  Affekte  nicht  mehr  zu  beherrschen  vermag.  Diebstahl, 
Unterschlagung,  Meineid,  Unzucht,  Brutalitäten,  Körperverletzungen^ 
Todtschlag  an  Familienangehörigen  und  Fremden,  Auflehnungen  gegen 
das  Gesetz,  Misshandlung  der  Organe  desselben,  sind  die  gewöhnlichsten 
Vergehen  und  Verbrechen,  wegen  deren  sich  Säufer  zu  verantworten 
haben. 

Weitere  Möglichkeiten  für  Rechtsverletzungen  ergeben  sich  aus 
Hallucinationen,  Illusionen,  welche  die  Aussenwelt  feindlich  verkennen 


174  Cap.  IX.    Das  alkoholische  Irresein. 

lassen,  aus  episodischen  Verfolgungsdelirien,  AngstanfälleU;  impulsiven 
Akten  (Mord,  Brandstiftung)  und  Eifersuchtswahn. 

Mord  der  vermeintlich  ehebrecherischen  Gattin,  ihres  angeblichen 
Zuhälters  sind  dann  gewöhnliche  Vorkommnisse.  Die  That  trägt  den 
Charakter  der  Rachsucht,  der  Leidenschaft.  Ihr  Motiv  enthält  zu- 
dem nicht  eine  Unmöglichkeit  und  wird  oft  recht  plausibel  gemacht. 

Beob.  53.  Alkoholismiis  chronicus  mit  besonders  hervortreten- 
der Entartung  der  Sitten  und  des  Temperaments.  (Inhumanitas 
und  Ferocitas  ebriosa.)  Verletzung  der  Ehefrau  im  Zustand  des 
Rausches  und  Affekts.  Hilz,  50  J.,  Grundbesitzer,  stammt  von  Eltern,  die 
dem  Trunk  ergeben  waren.  Von  13  Geschwistern  leben  nur  noch  2 !  Sie  sind 
jähzornige,  brutale,  dem  Trunk  ergebene  Menschen. 

Fat.  war  seit  der  Jugend  potator  strenuus.  Schon  1871,  als  er  eine  keines 
guten  Rufes  sich  erfreuende  Frau  nahm,  war  er  ethisch  und  intellektuell  defekt.  In 
den  letzten  Jahren  hatte  er  sich  immer  mehr  dem  Schnapsgenuss  ergeben.  Von 
da  an  nahmen  seine  geistigen  und  körperlichen  Kräfte  rapid  ab.  Fat.  verkam 
ethisch  immer  mehr,  führte  die  unfläthigsten  Redensarten,  nannte  sein  Weib  vor 
Anderen  eine  H  .  .  .,  griff  ihr  unter  die  Röcke,  lud  Andere  ein,  seine  Frau  zu 
gebrauchen,  da  Libido  sexualis  und  Potenz  immer  mehr  bei  ihm  abnähmen. 
Die  Dienstboten  behandelte  er  brutal,  misshandelte  sie  sogar. 

Er  vernachlässigte  sein  Geschäft,  trieb  sich  in  Wirthshäusern  herum,  war 
fast  nie  mehr  ganz  nüchtern,  trank  sogar  Nachts  beim  Erwachen  Slivovic,  so 
dass  er  Morgens  vor  Trunkenheit  kaum  stehen  konnte.  Es  fiel  ihm  selbst  auf, 
dass  sein  Gedächtniss,  namentlich  für  Erlebnisse  der  Jüngstvergangenheit  gelitten 
hatte  und  er  den  Alkohol  immer  weniger  ertrug. 

Fat.  wurde  immer  brutaler,  reizbarer,  aufgeregter.  Wenn  er  angetrunken 
war,  hatte  er  den  Drang,  Alles  zusammenzuhauen.  Seine  Rauschzustände  be- 
kamen immer  mehr  pathologisches  Gepräge.  Er  schrie,  schimpfte,  weinte  durch- 
einander, sprach  ganz  sinnlos,  zerschlug  was  ihm  in  die  Hände  gerieth,  bedrohte 
die  Umgebung  sogar  mit  Messer  und  Revolver,  so  dass  sich  Jedermann  vor  ihm 
fürchtete. 

Seit  einigen  Jahren  traten  beim  Einschlafen  und  Nachts,  wenn  er  erwachte, 
auch  sensorische  und  sensorielle  Störungen  auf.  Das  Bett  tanzte  mit  ihm,  er  sah 
dunkle  Gestalten  durch  die  Luft  reiten  und  fahren ,  sah  Vögel ,  Mäuse ,  Ratten, 
Hunde  und  Katzen  im  Zimmer  herumfliegen.  Dabei  empfand  er  Rauschen,  Sausen, 
Summen  in  den  Ohren,  hörte  wüstes  Geschrei  und  hatte  Mühe,  zu  erkennen,  dass 
Alles  nur  Täuschung  sei.  Der  Schlaf  war  schlecht;  wenn  er  erwachte,  war  er 
meist  in  Schweiss  gebadet. 

Beim  Aufstehen  hatte  er  so  heftigen  Schwindel,  dass  er  sich  halten  musste, 
Kopfschmerzen,  Erbrechen  zähen  Schleimes,  allgemeines  Zittern,  so  dass  er  den 
Löffel  nicht  zum  Mund  führen  konnte.  Auf  erneuten  Schnapsgenuss  wurde  ihm 
dann  besser  und  verlor  sich  das  Zittern. 

Am  29.  December  1874  hatte  er  tagüber  viel  Schnaps  getrunken,  erschien 
zornig,  aufgeregt,  betrunken.  Nachmittags  heimgekehrt,  verlangte  er  von  der 
Frau  saure  Milch.  Als  sie  solche  nicht  gleich  zur  Hand  hatte,  gerieth  er  in 
heftigen  Zorn,  schoss  mit  dem  Revolver  zweimal  in  die  Wand  und  als  die  Frau 


Beob.  54.    Alkohol,  chron.    Wahn  ehelicher  Untreiie.    Mord.  175 

ihn  zu  begütigen  versuchte,  dieser  in  den  Leib.  Als  die  Frau  zusammenlirach, 
kam  er  etwas  zu  sich,  erschrack,  wollte  sich  dann  aufhängen. 

Seiner  That  erinnerte  er  sich  in  der  Folge  nur  ganz  traumhaft.  Er  wollte 
offenbar  seine  Frau  nur  erschrecken,  nicht  tödten. 

H.  erscheint  in  der  Untersuchungshaft  als  ein  ethisch  und  intellektuell  tief 
geschädigter  Mensch.  Er  macht  sich  keine  Sorgen  wegen  der  Zukunft,  empfindet 
keine  Reue  wegen  der  That.  Die  Miene  ist  moros,  stumpf,  die  weiss  belegte 
Zunge  zittert,  die  Haut  ist  welk,  schmutzig  gelblich,  die  Muskulatur  schlaff,  das 
Gesicht  geröthet,  die  Capillaren  erweitert,  die  Augen  halonirt,  das  linke  Facialis- 
gebiet  ist  weniger  innervirt  als  das  rechte.  Die  Hände  und  unteren  Extremitäten 
bieten  leichten  Tremor.     Die  Sensibilität  zeigt  keine  Störung. 

Der  Puls  ist  rar,  klein,  tard,  die  Herztöne  sind  dumpf,  der  Herzumfang 
etwas  vergrössert,  die  Leber  ragt  unter  dem  Rippenbogen  hervor.  Der  Appetit 
ist  schlecht,  der  Stuhl  träge.  Fat.  klagt  über  eingenommenen  Kopf,  Schwindel, 
Kopfweh,  Rauschen,  Sausen  in  den  Ohren,  namentlich  des  Morgens.  Catarrh. 
bronch.  chronic.  Schlaf  schlecht,  durch  häufiges  Aufschrecken  und  ängstliche 
Träume  gestört. 

Der  unfreiwillige  Verzicht  auf  Alkoholica  in  der  Haft  und  später  in  der 
Irrenanstalt  hatten  einen  bessernden  Einfluss  auf  die  tief  geschädigten  Organe, 
aber  Fat.  blieb  ethisch  und  intellektuell  geschwächt,  einer  Selbstführung  un- 
fähig. Versuche,  ihm  etwas  freiere  Hand  zu  gewähren,  führten  jeweils  zu  neuen 
Excessen. 

Ein  Beweis  für  die  sittliche  Verkommenheit  des  Fat.  ergibt  sich  daraus, 
dass  er,  als  einmal  seine  Frau  ihn  besuchte  und  mit  ihm  spazieren  ging,  den 
Coitus  im  Graben  der  sehr  frequenten  Landstrasse  von  ihr  begehrte  und  an 
dem  Ort  und  der  Gegenwart  des  Wärters  nichts  Anstössiges  fand !  (Eigene 
Beobachtung.) 

Beob.  54.  Alkohol,  chron.  Wahn  ehelicher  Untreue.  Mord  der 
Ehefrau.  Tomscheid,  36  J.,  Schlosser,  seit  9  Jahren  verheirathet,  Vater  von 
2  Kindern,  deren  eines  an  Convulsionen  starb,  ist  erblich  zu  Hirnkrankheiten 
nicht  veranlagt.  Er  war  gesund  bis  auf  T}'phus  mit  Fneumonie  1864.  Schon 
seit  den  Jugendjahren  war  T.  dem  Trunk  ergeben.  Die  Ehe  war  schlecht,  früh 
äusserte  er  schon  Wahn  ehelicher  Untreue  auf  nichtige  Verdachtgründe  hin  und 
misshandelte  öfters  seine  unschuldige  Frau.  Schon  1868  war  er  wegen  einer 
Rauferei  mit  Gefängniss  bestraft  worden.  Aus  dem  gleichen  Grund  zog  er  sich 
1876  eine  Gefängnissstrafe  zu.  In  den  letzten  Jahren  hatte  er  sich  immer  mass- 
loser dem  Trunk  ergeben,  sein  Geschäft  vernachlässigt,  die  Frau  misshandelt, 
zunehmende  Gereiztheit  und  Brutalität  und  immer  deutlicher  auch  die  somatischen 
Symptome  eines  Alkohol,  chron.  geboten.  Ende  November  1876  gerieth  er  in 
einen  Wortwechsel  mit  der  Frau  wegen  der  schon  längst  von  ihr  beabsichtigten 
Ehescheidung.  Er  kam  in  Wuth,  misshandelte  die  Frau  lebensgefährlich,  wurde 
verhaftet  und  wusste  von  dieser  offenbar  in  einem  affektartigen  psychischen 
Ausnahmezustand  begangenen  That  nicht  das  Mindeste.  Im  Gefängniss  gerieth 
er,  angeblich  aus  Kummer,  dass  die  Frau  ihren  Ehescheidungsprocess  betrieb, 
neuerdings  in  einen  Affektzustand,  in  welchem  er  sich  eine  Stichwunde  im  6.  linken 
Intercostalraum  beibrachte.  Auch  dafür  besass  er  mir  eine  höchst  summarische 
Erinnerung.    Sein  Geisteszustand  erschien  nun  fraglich.    Die  Untersuchung  ergab 


176  Cap.  IX.    Das  alkoholische  Irresein. 

intellektuelle  und  ethische  Schwäche,  extreme  Gemüthsreizbarkeit,  unerschütter- 
lichen Wahn  ehelicher  Untreue,  Tremor,  unruhigen  Schlaf,  häufiges  ängstliches 
Aufschrecken,  Kopfschmerz,  chronischen  Magencatarrh. 

Das  gerichtsärztliche  Gutachten  erwies  die  somatischen  und  psychischen 
Symptome  eines  Alkohol,  chron.  und  einen  psychischen  Ausnahmezustand  zur 
Zeit  der  That.     T.  wurde  nicht  verurtheilt. 

Schon  am  6.  December  1879  hatte  er  sich  wieder  vor  Gericht  zu  ver- 
antworten, da  er  neuerdings  im  Affekt  seine  Frau  gefährlich  bedroht  hatte.  Er 
bezeichnet  als  die  alleinige  Ursache  des  ehelichen  Unfriedens  seine  Frau.  Sie 
sei  eine  Xantippe.  An  Sonn-  und  Feiertagen  sei  es  gar  nicht  mit  ihr  auszuhalten 
(er  war  an  solchen  Tagen  immer  schwer  betrunken).  Sie  habe  ihm  nie  die 
eheliche  Treue  gehalten,  schon  ihrem  ersten  Mann  die  Treue  gebrochen  und  ihn 
früh  in's  Grab  gebracht.  Aus  Kummer  über  das  Betragen  seiner  Frau  habe  er 
sich  dem  Trunk  ergeben.  Positive  Beweise  für  ihre  Untreue  vermag  er  nicht 
beizubringen,  er  müsse  es  aber  aus  ihrem  (angeblich)  riesigen  Geldverbrauch 
und  ihrem  ungebührlich  langen  Ausbleiben,  wenn  sie  Commissionen  mache, 
schliessen.  Sie  habe  ein  sehr  freies  Benehmen  gegen  Männer,  liebäugle  mit  ihnen, 
wenn  sie  in's  Haus  kommen. 

Seine  47jährige  Frau  ist  eine  decrepide,  abgehärmte,  in  bestem  Rufe  stehende 
Person.  T.  kam  nun  in  die  Irrenanstalt.  Seine  Frau  Hess  sich  beschwatzen,  ihn 
nach  einiger  Zeit  wieder  nach  Hause  zu  nehmen.  Einige  Monate  hielt  sich  T. 
ordentlich.  Dann  fing  er  wieder  an  zu  trinken,  die  Frau  zu  misshandeln.  Eines 
Tags  zertrümmerte  er  ihr  im  Zorn  den  Schädel  und  versuchte  sich  durch  Auf- 
schlitzen des  Bauchs  zu  entleiben.  Er  wurde  gerettet  und  kam  nun  zu  dauern- 
der Versorgung  in  die  Irrenanstalt. 

Sein  ethisches  Bewusstsein  war  sehr  geschwächt,  seine  Reue  eine  höchst 
oberflächliche.  Er  entschuldigte  seine  schreckliche  That  mit  der  vermeintlichen 
ehelichen  Untreue  und  den  unablässigen  Zänkereien  seiner  Frau.  (Eigene  Be- 
obachtung.) 

Beob.  55.  Alkohol,  chron.  Mordversuch  a  m  V  a  t  e  r.  Am  23.  März 
1877  Abends  10  V2  kehrte  L.  ins  elterliche  Haus  zurück.  Er  war  nicht  betrunken, 
rannte  die  Thüre  des  väterlichen  Schlafzimmers  ein,  versetzte  dem  Vater  3  Messer- 
stiche, wandte  sich  dann  zum  Bett  der  Mutter,  die  entsetzt  geflohen  war  und  stiess 
wiederholt  und  ganz  wüthend  das  Messer  in  dasselbe.  L.  wurde  sofort  verhaftet, 
bekannte  seine  That  mit  dem  Motiv,  dass  er  über  den  Vater  erzürnt  gewesen  sei. 

L.  ist  ledig  und  wohnte  bei  den  Eltern.  Er  war  in  der  Jugend  nie  krank 
gewesen,  hatte  nie  etwas  Auffälliges  geboten,  war  mit  20  J.  Soldat  geworden, 
hatte  den  1870er  Krieg  mitgefnacht,  war  wegen  Trunksucht  oft  bestraft  imd  1875 
mit  schlechtem  Zeugniss  heimgeschickt  worden. 

Er  fauUenzte  daheim,  betrank  sich,  gerieth  desshalb  mit  den  ehrenwerthen 
Eltern  in  Streit,  als  sie  ihm  kein  Geld  mehr  zum  Trinken  geben  wollten.  Seit- 
dem grollte  er  dem  Vater,  drohte  ihm,  namentlich  seitdem  ihm  dieser  einen  dem 
Solin  gehörigen  Schuldscliein  fürsorglich  verwahrt  hatte.  L.  galt  seit  längerer 
Zeit  in  der  Gemeinde  als  niclit  geistig  gesund,  hatte  oft  ganz  verkehrte  Streiche 
gemacht,  war  Nächtelang  zwecklos  herumgeschweift,  war  sehr  reizbaj-  bis  zu 
Thätlichkeiten  geworden,  so  dass  ihn  Freunde  und  Bekannte  schliesslich  mieden. 
Wiederholt  hatte  er  öffentlich  seinem  Vater  mit  dem  Tod  p-edroht. 


Truiiklallige  Sinnestäuschung.  177 

L.  ist  mittelgross,  die  Stirn  schmal,  llieliend.  Der  Blick  ausdruckslos. 
Vegetative  Störungen  bestehen  nicht.  Er  spricht  wenig,  ist  theilnalimslos,  ruhig, 
zeigt  keine  Reue  über  seine  That.  Er  ist  reizbar,  kurz  angebunden,  gemüthlich 
stumpf,  geistig  geschwächt.  Man  solle  ihn  lieber  köpfen,  wenn  man  wolle ,  als 
hier  gefangen  halten.  Die  Insinuation  geisteskrank  zu  sein  weist  er  mit  Zorn 
zurück.  Die  Schwere  seiner  That  begreift  er  nicht.  Der  Vater  habe  ihn  eben 
gereizt,  ihm  Geld  vorenthalten,  das  ihm  gehörte.  Es  war  nicht  möglich,  an  sein 
moralisches  Gefühl  zu  appelliren.     Isie  fragte  er  nach  den  Eltern. 

Das  Gutachten  betont  die  Gefühllosigkeit  des  L.,  fasst  seine  Idee,  dass  der 
Vater  ihm  Geld  schulde,  als  Wahnidee  (richtiger  Schwachsinn)  auf  und  führt 
mit  Recht  diese  Störungen  auf  Trunksucht  zurück.  Das  Verbrechen  ist  kein 
pränleditirtes ,  es  erklärt  sich  aus  der  brutalen  Reizbarkeit  des  Trunksüchtigen. 
Solche  Impulse  sind  nicht  selten  bei  solchen  Individuen.  L.  ist  irrsinnig,  unzu- 
rechnungsfähig und  gemeingefährlich.  L.  wurde  in  einer  Irrenanstalt  internirt. 
Sein  Zustand  änderte  sich  nicht.     (Annal.  med.  psj^chol.   1879  März.) 

Weitere  Fälle:  Liman,  zweifelh.  Geisteszustände  Fall  32  (Fälschung), 
33  (Majestätsbeleidigung).  Sisteray,  Ann.  med.  psj^chol.  1876  Januar  (Bedrohung 
eines  Beamten  und  Diebstahl).  Ebenda  1872  Sept.  (Zechprellereien).  Dauby,  ebenda 
1875  Jan.  (Mord  des  Sohnes).  Kramer,  Friedreich's  Bl.  1868,  H.  3  (Mord,  Hin- 
richtung). Legrand  du  Saulle,  etude  med.  legale  sur  les  epil.  Beöb.  38  (gefährl. 
Drohungen).  Casper-Liman,  Handb.  6.  Aufl.  Fall  266  u.  267  (Diebstahl),  Fall  268 
(fahrlässiger  Bankerott).  Kelp,  AUg.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie  35,  H.  2  (Haus- 
friedensbruch, räuberische  Erpressung).  Lagardelle,  Ann.  med.  psych.  1877  Sept. 
(Doppelmord).  Delacour,  ebenda  1878  Juli  (Verwundung  des  Vaters).  Gewalt- 
thaten  aus  Eifersuchts  wahn:  Cohen  v.  Baren,  Zeitschr.  für  Psj^chiatrie  I,  p.  604 
(Mordversuch  an  der  Frau).  Casper-Liman,  Fall  254  (Mord  des  vermeintl.  Neben- 
buhlers). Deutsche  Zeitschr.  für  Staatsarzneikunde  1861  (Mord  und  Selbstmord- 
versuch). Schäfer,  Zeitschr.  für  Psych.  35,  p.  629.  v.  Krafft,  Lehrb.  d.  Psychiatrie 
III.  Beob.  130  (Mord  des  vermeintl.  Nebenbuhlers).  Liman,  zweifelh.  Geisteszu- 
stände Fall  35  (Körperverletzung  der  Ehefrau). 

Die  Bedeutung  des  Alk.  chron.  für's  Forum  wird  dadurch  noch 
erhöht,  dass  intercurrent  nicht  selten  hallucinatorische  Delirien  und 
Psychosen  sich  einstellen. 


a)   Tr  unkfällige    Sinnestäuschung  (sensuum  fallacia  ebriosa). 

Die  Thatsache,  dass  der  Trunkfällige  sehr  zu  Hallucinationen 
(besonders  des  Gesichtsinns)  disponirt  ist^  wurde  bei  der  Schilderung 
des  Krankheitshilds  des  Alk.  chron.  hervorgehoben.  In  der  Regel 
sind  diese  Hailuc.  flüchtig,  auf  ein  Sinnesgebiet  beschränkt  und  werden 
als  solche  erkannt.  Es  kann  unter  dem  Einfluss  schwächender  Mo- 
mente, hoher  Temperatur,  gehäufter  Alkoholexcesse  geschehen,  dass 
solche  Hailuc.  gehäuft,  in  mehreren  Sinnen  auftreten,  mit  Angst  und 
Trübung   des  Bewusstseins  einhergehen  und   einen  Stunden  bis  Tage 

V.  Kraf  ft-Eb  ing,  gerichtl.  Psychopathologie.    2.  Auflage.  12 


178  Cap.  IX.    Das  alkoholische  Irresein.     Beob.  56. 

dauernden  deliranten  Zustand  bilden.  Aus  dem  schreckhaften  Inhalt 
der  Visionen  und  Stimmen,  heftigen  reaktiven  Angstzuständen  und 
feindlicher  Verkennung  der  Aussenwelt  ergeben  sich  nach  Umständen 
schwere  Gewaltthaten. 

Beob.  56.  Trunkfällige  Sinnestäuschung'.  Tödtung  der  Ehefrau. 
Samsa,  36  J.  alt,  gleich  wie  seine  Frau  nnassloser  Wein-  und  Schnapspotator,  litt 
seit  Jahren  an  schlechtem  Schlaf,  wüstem  Kopf,  Zittern,  Erbrechen,  Kopfschmerz, 
Schwindel  Morgens  beim  Erwachen.  Er  war  immer  brutaler,  reizbarer  geworden, 
hatte  seine  Frau  oft  m.isshandelt,  ihr  sogar  mit  Umbringen  gedroht. 

Vom  1.  — 8.  December  soll  das  Ehepaar  circa  12  Maas  Schnaps  zusammen 
consumirt  haben  und  fast  immer  betrunken  gewesen  sein.  Vom  8.  — 16.  December 
hatte  S.  an  Delirium  tremens  gelitten  (er  hatte  heftige  Angst,  sah  Processionen 
A'on  Menschen,  Räuber,  Heilige,  Engel,  Christus,  Thiere,  hörte  Musik). 

Vom  16.  December  bis  4.  Januar  war  S.  zwar  frei  von  Hallucinationen, 
aber  er  fühlte  sich  schwach,  zitterig,  unfähig  zur  Arbeit,  hatte  Nebel  vor  den 
Augen,  schlief  schlecht,  träumte  schwer  von  Räubern,  die  zum  Fenster  einsteigen 
wollten,  fühlte  sich  schwindlig,  betäubt  im  Kopf,  war  appetitlos,  litt  an  Ohren- 
sausen. 

Am  4.  Januar  brachte  er  seinen  Sohn  zu  2  Stunden  entfernten  VexAvandten.^ 
trank  dort  gegen  1  Liter  Wein,  auf  dem  Heimweg  nocli  etwa  2 — 3  Viertelliter. 
Als  er  aus  dem  Wirthshaus  kam,  stand  ihm  der  Kopf  im  Feuer,  er  wusste  niclit 
mehr,  wo  er  war,  sah  sich  von  einer  Menge  Pferde,  Ochsen,  Mädchen  umwogt, 
rannte  in  schrecklicher  Angst  davon  und  kam  erst  nach  mehreren  Stunden  erschöpft 
nach  Hause.  Er  war  etwas  besinnliclier,  sprach  noch  mit  seiner  Frau,  trank  noch 
etwas  Wein  und  ging  schlafen.  üSTach  einiger  Zeit  fuhr  S.  über  einem  Geräusch 
von  zusammenschreienden  Menschenstimmen  auf,  er  sah  das  Fenster  mit  Räubern, 
die  ilire  Flinten  auf  ihn  gerichtet  hatten,  erfüllt,  dann  senkte  sich  ein  Nebel  vor 
seine  Augen. 

In  schrecklicher  Angst  sprang  er  vom  Bett  herunter,  nahm  sein  geladenes 
Gewehr,  vor  Angst  mehr  todt  als  lebendig.  Nun  trübte  sich  sein  Bewusstsein 
noch  mehr,  er  weiss  nur  noch,  dass  er  eine  schwache  Detonation  hörte,  dann  im 
Fenster  2  röthlich  gelbe  Engel  sah  und  als  er  auf  die  Erscheinung  zuging,  seine 
Frau  im  Blut  liegend  fand.  Darauf  riss  er  die  Thür  in  die  Mägdekammer  auf 
und  rief  um  Hilfe,  die  Frau  habe  sich  erschossen.  Die  Mägde  hatten  noch  einen 
Wortwechsel  vernommen,  dann  war  es  still  geworden.  Nach  einer  Weile  hörten 
sie  8  dumpfe  Schläge,  dann  die  Rede  der  Frau:  „Jesus,  Victor,  was  machst  Du, 
bist  Du  wieder  verrückt  geworden?"  Darauf  krachte  der  Schuss.  Die  Frau  war 
durch  den  Kopf  geschossen  und  lebte  nur  noch  wenige  Minuten. 

S.  war  in  der  Meinung,  die  Frau  habe  sich  selbst  erschossen.  Er  weh- 
klagte, lief  unstet  umher,  machte  auf  die  Umgebung  einen  pathologischen  Eindruck. 
Man  besorgte,  dass  er  sich  ein  Leid  anthue.  Die  um  V/2  Uhr  früh  angekommenen 
Gensdarmen  fanden  ihn  besinnlicher,  etwas  ängstlich.  Im  Verhör  behauptete  er, 
sein  Weib  habe  sich  erschossen.  Auffällig  war  sein  unbefangenes,  indifferentes 
Benelimen. 

S.  ist  von  fahler  Hautfarbe,  die  Venen  des  Gesichts  ei'weitert,  die  Augen 
halonirt,  die  Lider  ödematös,  das  Gesicht  gedunsen,  Gang  unsicher,  Hände  zitternd, 


I 


Delirium  tremens.  179 

Schlaf  unriilng,  von  lebhaften  Träumen  gestört.  Objektiv  findet  sich  leichte 
Milz-  und  Leberschwellung  und  Magencatarrh.  S.  klagt  über  Wüstsein,  Kopfweh, 
Ohrensausen,  Schwindel.  Er  hatte  oft  Präcordialbangigkeit,  hörte  Nachts  Leier- 
kastenmusik, sprach  viel  mit  sich,  zuckte  auch  oft  zusammen. 

LTnter  Tags  war  er  schweigsam,  in  Gedanken  versunken,  apathisch ,  zeigte 
weder  Reue  noch  sonst  eine  Gemüthsbewegung.  Schwäche  des  Gedächtnisses, 
überhaupt  geistige  Schwäche  bestand  unverkennbar.  Anfangs  behauptete  S. 
noch,  seine  Frau  habe  sich  erschossen,  er  hatte  nur  eine  ganz  summarische 
Erinnerung  an  die  Erlebnisse  der  Unglücksnacht.  Ende  Februar  fühlte  er  sich 
wohler,  erinnerte  sich  nun  seiner  hallucinatorischen  Erlebnisse,  fing  an,  am 
Selbstmord  der  Frau  zu  zweifeln  und  zu  vermuthen,  dass  er  sie  in  seiner  Angst 
und  trunkfälligen  Sinnesverwirrung  getödtet  habe.  Allmälig  kam  er  zur  vollen 
Klarheit  der  Situation  und  bot  auch  ausser  leichter  Abschwächung  der  Intelligenz, 
monocrotem  tardem  Puls,  leichtem  Tremor  der  Hände,  unruhigem  Schlaf  nichts 
Pathologisches  mehr.  Seine,  subjektiven  Beschwerden  beschränkten  sich  auf 
Ohrensausen  imd  Gedächtnissschwäche,  auch  ertrug  er  selbst  kleine  Quantitäten 
Wein  nicht,  es  wurde  ihm  dann  gleich  „kurios"  im  Kopf.     (Eigene  Beobachtung.) 

Weitere  Fälle:  Henke,  Zeitschr.  8.  Ergänz.-H.  p.  157.  Zeitschr.  f.  Psy- 
chiatrie, VI.  p.  8L  Friedreich,  Lehrb.  d.  ger.  Psychol.  1835,  p.  843.  Erlenmeyer, 
Correspondenzbl.  f.  Psych.  1859,  9.  10.  Bonnet,  Ann.  med.  psychol.  1867,  Sept. 
u.  1868,  Mai  (Mord  des  eigenen  Kindes),  v.  Krafft,  Lehrb.  d.  Psych.  III.  Beob.  137. 
Cohn,  Vierteljahrsschr.  f.  ger.  Med.  N.  F.  XXVI.  H.  1  (Mord  zweier  Kinder). 

b.    Delirium    tremens. 

Klinische  Ueber sieht:  In  Folge  entbehrten  oder  auch  gehäuftei^ 
Alkoholgenusses,  durch  zufällige  körperliche,  namentlich  mit  Fieber,  Schmerzen, 
Schlaflosigkeit  verbundejie  Krankheiten  oder  Verletzungen  verfällt  der  geschwächte 
Säufer  nicht  selten  einem  mit  Schlaflosigkeit  und  allgemeinem  Zittern  einher- 
gehenden deliranten  Zustand,  in  welchem  das  Bewusstsein  getrübt  ist.  Den  Kern 
des  Deliriums  bilden  Hallucinationen,  vorwiegend  des  Gesichts.  Sie  haben  einen 
wesentlich  schreckhaften  Inhalt  und  drehen  sich  vielfach  um  Thiervisionen :  der 
Kranke  sieht  sich  von  Massen  von  Thieren  umgeben,  die  oft  auf  ihn  einstürmen.^ 
nach  ihm  schnappen,  beissen.  Daneben  finden  sich  fratzenhafte,  spukartige  Ge- 
stalten. Diese  Visionen  steigern  sich  in  der  Dunkelheit,  beim  Verschluss  der- 
Augen.  Im  Verlauf  des  Deliriums  können  auch  Stimmen  schreckhaften,  feind- 
lichen oder  obscönen  Inhalts  neben  einfachen  Akusmen  vorkommen.  Die  hyper- 
ästhetischen und  paralgischen  Beschwerden  des  Alkohol,  chron.  sind  in  diesem 
Inanitionsdelir  meist  gesteigert  und  erwecken  im  getrübten  Bewusstsein  des 
Kranken  oft  die  illusorische  Wahrnehmung  von  Schlangen,  Würmern  auf  der- 
Haut ;  zufällige  Verletzungen  werden  leicht  als  Thierbisse,  Mordattentate  verkannt.. 
Nicht  selten  ist  auch  Vergiftungswahn  auf  Grund  eines  Magen- und  Mundcatarrhs. 
Die  Hallucinationen  sind  es  wesentlich,  welche  den  Kranken  in  beständige  Agi- 
tation versetzen,  ihn  sogar  nicht  selten  in  einen  elementaren  Verfolgungswahn 
mit  feindlicher  Verkennung  der  Umgebung  verfallen  lassen.  Die  Dauer  des  Del. 
tremens  beträgt  durchschnittlich  3—8  Tage,  jedoch  kommen  auch  den  Krankheits- 
zustand protrahirende  Relapse  vor.  Uebergänge  in  chronische  Geistesstörung - 
werden  beobachtet.  Die  Genesung  vom  Del.  tremens  stellt  sich  unter  reichlichen>, 
Schlaf  aus  einem  Stadium  körperlicher  und  psychischer  Prostration  ein. 


180  Cap.  IX.    Das  alkoholische  Irresein.     Beob.  57. 

Nicht  selten  und  aus  dem  Vorausgehenden  begreiflich  ist  das 
Vorkommen  von  Gewaltthaten,  deren  nächste  Ursachen  Hallucinationen^ 
Illusionen,  Verfolgungsdelirien,  Angstzustände  sein  können.  In  seiner 
Todesangst  kann  der  Kranke  auch  Selbstmordversuche  machen  oder 
in  Fluchtversuchen  sein  Leben  sonstwie  in  Gefahr  bringen. 

Beob.  57.  Delirium  tremens.  T ö d tung  de r  E lief r au.  Am  4.  Juli 
1865  Mittags  tödtete  der  43jährige  Fleischhaueriiieister  K.  seine  Ehefrau  durch 
Durchschneiden  des  Halses  mit  einem  Messer.  Seit  15  Jahren  dem  Alkohol- 
übergenuss  ergeben,  hatten  sich  bei  ihm  die  Folgen  seit  geraumer  Zeit  in  charak- 
teristischen Verdauungsstörungen,  Tremor  und  zeitweisen  Sinnestäuschungen 
(Hören  von  Stimmen,  Sehen  kleiner  Thierchen)  bemerkbar  gemacht. 

Seit  8 — 14  Tagen  vor  der  Katastrophe  litt  K.  unter  den  Vorboten  eines 
Delir.  tremens  (Fluxionen  zum  Gehirn,  Präcordialangst,  Schlaflosigkeit,  Kopf- 
schmerz, Sehen  schwarzer  Männer,  zeitweise  Besinnungslosigkeit,  Scliwäche, 
Zittern,  Unruhe,  Geschwätzigkeit).  Am  Morgen  der  That  stellten  sich  unter 
Fortdauer  dieser  Prodromi  massenhafte  schreckhafte  Visionen  (Todtenköpfe, 
Würmer,  blutige  Zähne  etc.)  und  Delirium  ein.  Er  meinte,  er  müsse  ein  Kalb 
holen,  ging  in  die  obere  Etage,  um  Geld  zu  sich  zu  stecken.  Seine  Frau  ging 
ihm  nach.  Plötzlich  hörte  man  einen  Schrei  und  fand  Frau  K.  mit  durch- 
schnittenem Hals  auf  dem  Boden.  K.  kam  herunter  und  sagte:  „Mit  mir  ist  was 
vorgegangen,  das  unglückliche  Messer  lag  da,  ich  muss  fort."  —  „Was  habe  ich 
getlian,  mit  mir  ist's  aus."  —  „Lasst  mich  gehen,  greift  mich  nicht  an."  — 
„Schwester,  ich  bin  unglücklich,  was  wollen  aber  die  vielen  (herbeigeeilten)  Leute 
—  welcher  Teufel  hat  mich  geblendet  —  meine  gute  Caroline  —  wer  hätte  ge- 
dacht, dass  ich  die  todtmachen  sollte?"  Er  habe  gar  nicht  gedacht,  er  hätte  ein 
Messer  bei  sich,  habe  gemeint,  er  habe  nur  den  Wetzstahl,  und  habe  seine  Frau 
kitzeln  wollen,  als  er  aber  Blut  gesehen,  habe  er  gedacht,  „du  bist  nun  einmal 
ein  Mörder."  Diese  Remission  nach  der  That  hielt  nur  kurze  Zeit  an,  er  faselte 
dann  wieder  von  anderen  Sachen,  z.  B.:  „Ei,  das  ist  ein  fettes  Kalb." 

Im  darauffolgenden  Verhör  behauptet  er,  er  sei  mit  seiner  Frau  in  Streit 
gerathen,  habe  ihr  gedroht,  sie  zu  erstechen.  Da  sei  ihm  das  Messer  aus  der 
Hand  und  auf  die  Frau  gefallen. 

Später'  gibt  er  zu,  ihr  damit  in  die  I^ehle  geschnitten  zu  haben. 

Er  sei  schwermüthig,  habe  seit  4  Tagen  nicht  geschlafen;  wenn  er  sich 
ärgere,  steige  ihm  das  Blut  in  den  Kopf,  und  dann  wisse  er  niclit,  was  er  thue. 
Im  Gefängniss  Schlaflosigkeit  und  Delirium  mit  Remissionen  bis  zum  8.  Juli. 
Darauf  kritischer  Schlaf  mit  profusen  Schweissen,  aus  dem  er  frei  von  Delir 
erwachte. 

Im  Verhör  vom  15.  Juli  ergab  es  sich,  dass  Pat.  von  allem  in  der  Zeit 
vom  3. — 9.  Juli  Vorgefallenen  nichts  wusste,  namentlich  nichts  von  seinen  Aussagen 
in  den  Verhören,  Er  wundert  sich,  wie  man  ihn  in  seinem  schlimmen  Zustand 
habe  verhören  können.  Man  hätte  ja  sehen  müssen,  dass  er  nicht  bei  sich  ge- 
wesen sei.     Seine  That  kennt  er  nur  aus  den  Mittheilungen  der  Umgebung. 

Das  Gutachten  erweist  den  Alkoholismus  clironicus,  das  Delir.  tremens  zur 
Zeit  der  That.  Die  anscheinende  Lucidität  des  Kranken,  in  welcher  er  die  ihn 
gravirenden  Aussagen    machte,   hing   mit  Remissionen   des  Delir   zusammen,    es 


Delirium  tremens- der  Morphiumsucht.  181 

waren  keine  Intermissionen,  denn  die  Krankheit,  namentlich  die  Delirien,  lassen 
sich  in  diesen  Zuständen  als  deutlich  fortbestehend  nachweisen,  zudem  fehlt  die 
Erinnerung  für  diese  Zeitperiode! 

Die  Remissionen  erklären  sich  aus  den  starken  Eindrücken  der  Aussenwelt 
(Anblick  der  im  Blut  daliegenden  Frau,  Versetzung  in's  Gefängniss,  Confrontation 
mit  der  Leiche  etc.)-  Die  Krankheit  entschied  sich  in  empirisch  wahrer  Weise 
erst  durch  einen  kritischen  Schlaf.  K.  hat  seine  Frau  unter  dem  alleinigen 
Einlluss  des  Säuferwahnsinns  getödtet.  Die  Tödtung  ist  ohne  Bewiisstsein  verübt 
worden,  die  Fähigkeit  der  Selbstbestimmung  war  dabei  nicht  vorhanden.  K.  wurde 
nicht  verurtheilt.  Das  Unglück,  das  ihn  betroffen,  machte  ihn  zu  einem  nüchternen 
Menschen.     (Leopold,  Vierteljahrsschr.  f.  ger.  Med.  N.  F.  XXIIL  Oct.  1875.) 

Weitere  Fälle:  de  Ranse,  Gaz.  de  Paris  1868.  4.  (Mord).  Buchner, 
Lehrb.  d.  ger.  Med.  2.  Aufl.  p.  168  (Brandstiftung).  Liman,  zweifelh.  Geistes- 
zustände, Fall  34  (Körperverletzung).     Ebers,  die  Zurechnung,  Fall  17. 

Im  Anschluss  an  das  Inanitionsdelir  der  Trunksucht,  das  nicht  selten  durch 
Entziehimg  des  gewohnten  Genuss-  und  Reizmittels  zum  Ausbruch  gelangt,  möge 
der  Thatsache  gedacht  werden,  dass  auch  bei  der  sog.  Morphiumsucht  und  zwar 
regelmässig  nach  der  Entziehung  des  gewohnten  und  zum  Bedürfniss  für  den 
Organismus  gewordenen  Alkaloids  psychische  Störungen  (Depression,  Angst  etc.) 
auftreten,  die  sich  bis  zum  Delirium  steigern  können.  Man  hat  passend  diesen 
Zustand  Delirium  tremens  der  Morphiumsucht  genannt.  Nach  Levinstein  bricht 
dieses  Delir  6 — 12  Stunden  nach  Entziehung  des  Morphium  aus.  Die  Kranken 
werden  unruhig,  unstet,  bis  zum  Toben.  Daran  reiht  sich  ein  hallucinatorisches 
Delir  (Visionen  von  Vögeln,  Stimmenhören,  Gefühl,  im  Wasser  zu  sitzen  etc.), 
oft  auch  hypochondrische  Ideen,  todt  zu  sein.  Zunehmender  Tremor,  Nystagmus, 
Muskelzuckungen,  andauernde  Schlaflosigkeit  und  Aufgeregtheit  sind  regelmässige 
weitere  Symptome  dieses  bis  48  Std.  dauernden  und  durch  neuerliche  Morphium- 
injektion sofort  schwindenden  Zustands. 

Die  forensische  Beurtheilung  eines  solchen  Delirs  wird  die  gleiche 
wie  die  des  Delir.  tremens  alkohol.  sein  müssen.  Aber  auch  da^  wo 
es  nicht  zu  ausgesprochenem  Delir  kommt,  ist  zu  berücksichtigen, 
dass  der  des  habituellen  Genusses  beraubte  Morphiophage  sich  in 
einem  psychischen  Ausnahm szustand  befindet  und  kein  Wille,  keine 
sittlichen  Erwägungen  über  die  Entbehrung  des  für  die  Innervation 
unentbehrlich  gewordenen  Genussmittels  hinaushelfen.  Die  Erlangung 
desselben  ist  das  einzige  Streben  solcher  Individuen  und  wir  haben 
gebildete  Kranke  gesehen,  die  in  ihrem  psychischen  Ausnahmszustand 
zu  dem  Schlimmsten  fähig  waren,  um  sich  in  den  Besitz  von  Mor- 
phium zu  setzen. 

Die  Zurechnungsfrage  soll  hier  nicht  gestellt,  aber  die  That- 
sache muss  betont  werden,  dass  es  solche  psychische  Ausnahmszu- 
stände  auf  Grund  von  Entbehrung  des  gewohnten  Morphium  gibt, 
die  solche  Individuen   in    einem   wahren  Nothstand  erscheinen  lassen. 


182  Cap.  IX.    Das  alkoholische  Irresein.     Alkoholpsychosen. 

Die  criminelle  Beurtheilung  eines  Diebstahls^  eines  Todtschlags,  wenn 
sie  das  Mittel  zum  Zweck  wären,  müsste  mit  dieser  Thatsache  rech- 
nen und  eingedenk  sein,  dass  es  sich  hier  nicht  um  Leidenschaft, 
sondern  um  organisch  bedingten  krankhaften  Zwang  handelt,  dem  zu 
widerstehen  eine  sittlich  gebrochene  Widerstandskraft  nicht  auszu- 
reichen vermöchte. 

Literatur.     Levinstein,  die  Morphiumsucht,  2.  Aufl.  1880. 

Beob.  58.  0 p i o p h a g i e.  Diebstahl,  um  das  unentbehrliche 
Opium  sich  zu  verschaffen.  D.,  Büglerin,  31  J.,  erblich  nicht  veranlagt, 
hatte  mit  7  J.  vorübergehend  nervöse  Zufälle.  1866  begann  sie  einen  kleinen 
Leinwandliandel.  Sie  ergab  sich  Ausschweifungen,  prosperirte  nicht  mit  ihrem 
Geschäft,  fing  gelegentlich  eines  Cholerineanfalls  an,  Laudanum  zu  trinken,  brachte 
es  1871  auf  45  grammes  täglich,  konnte  das  Gift  nicht  mehr  missen,  verkaufte, 
was  sie  nur  hatte,  um  Laudanum  zu  bekommen  und  gab  dafür  jährlich  bis 
1200  Frcs.  aus.  1872  bot  sie  das  Bild  einer  chronischen  Opiumvergiftung  (äusserste 
Muskelschwäche,  Abmagerung,  Marasmus,  Rückgang  der  intellektuellen  und  ethi- 
schen Funktionen)  und  unwiderstehliches  Bedürfniss  nach  Laudanum,  das  sie  liter- 
weise kaufte.  Eine  ärztliche  Behandlung  brachte  Besserung.  Sie  konnte  wieder  im 
Magazin  arbeiten.  Seit  März  1872  gerieth  sie  wieder  in  ihre  Leidenschaft,  Opium 
zu  essen.  Am  1.  Mai  stahl  sie  Spitzen,  verkaufte  sie  um  140  Frcs.  und  kaufte  Opium. 
Sie  kam  in  Untersuchung,  bekam  kein  Opium  mehr.  Im  Juni  fanden  sich  keine 
Vergiftungserscheinungen  mehr  vor,  aber  der  moralische  Sinn  fehlte  A^öllig.  Sie 
fand  es  sonderbar,  dass  man  von  ihrem  Diebstahl  so  \ie\  Aufhebens  mache. 
Sie  hatte  nicht  genug  Geld,  um  das  unentbehrliche  Opium  zu  kaufen,  desshalb 
hatte  sie  gestohlen. 

Das  Gutachten  betonte  das  unwiderstehliche  Bedürfniss  des  Genussmittels, 
den  Verlust  des  moralischen  Sinns  unter  dem  Einfluss  der  chronischen  Opium- 
vergiftung und  empfahl  die  Annahme  mildernder  Umstände.  Keine  Verurtheilung. 
(Lunier,  Annal.  med.  psychol.  September,  p.  236.) 


c-.    A  1  k  0  h  0  1  p  s  3^  c  h  0  s  e  n. 

Auf  dem  Boden  des  Alkoh.  chron.  können'  jederzeit  geschlossene 
psychische  Krankheitsbilder  auftreten,  die  sich  als  Melancholie,  Manie, 
paralytische  Geistesstörung  und  Verfolgungswahnsinu  charakterisiren 
und,  neben  den  klinischen  Erscheinungen  des  Grundzustands,  in  Sym- 
ptomengruppirung  und  Verlauf  Eigenthümlichkeiteu  darbieten.  Die 
Melancholie  auf  Grundlage  eines  Alk.  chron.  ist  eine  acute  Präcor- 
dialmelancholie  mit  erheblicher  Bewusstseinsstörung,  hochgradiger 
Angst  und  massenhaften  Sinnestäuschungen  (schreckhafte  Visionen  und 
anklagende  Stimmen,  vielfach  sexuell  beschuldigenden  Inhalts).  Als 
Reaktion  auf  Hallucinationen  und  Angst  sind  schwere  Gewaltakte 
gegen  die  Umgebung  und  das  eigene  Leben  möglich. 


Alkoholiolpsychosen.     Verfolgungswahn.  X83 

Die  maniakalischen  Zustände  sind  schwere  Tobsüchten^  in  denen 
Brandstiftung,  Eigenthumsbeschädigung  und  Lebensbedrohung  leicht 
vorkommt.  Die  Fälle  von  Verfolgungswahnsinn  der  Trinker  sind 
ausgezeichnet  durch  Gesichtshallucinationen  vorwiegend  schreckhaften 
Inhalts  neben  indifferenten  phantastischen  Gestalten  und  Thiervisionen, 
ferner  durch  Gehörshallucinationen  obscönen,  sexuell  anklagenden  In- 
halts und  äusserst  häufig  sich  findenden  Wahn  geschlechtlicher  Un- 
treue. Daneben  besteht  nicht  selten  Vergiftungs-  und  universeller 
Verfolgungswahn.  Heftige  reaktive  Angstzustände  kommen  hier  be- 
sonders häufig  vor.  Im  Verlauf  werden  nicht  selten  Grössendelirien, 
namentlich  religiösen  Inhalts  (Christuswahn)  beobachtet.  Der  Aus- 
bruch der  Krankheit  ist  gegenüber  den  anderen  Formen  des  Ver- 
folgungswahnsinns ein  acuter,  der  Verlauf  ein  subacuter  oder  chroni- 
scher. Gewaltthaten  gegenüber  der  feindlich  appercipirten  Aussen- 
welt  auf  Grund  von  Hallucinationen,  Illusionen,  Angstanfällen  sind  hier 
häufig.  Nicht  selten  sind  auch  blutige  Handlungen  der  Rache  für 
vermeintliche  eheliche  Untreue. 

Beob.  59.  Alkohol,  chroii.  Ermordung  einer  Frau  und  eines 
Kindes  im  Verfolgungs Wahnsinn.  Am  6.  Juni  Morgens  9  Uhr  erschlug 
der  42jährige  verheirathete  Bauer  B.  die  mit  ihrem  kleinen  Kind  allein  zu  Haiise 
gebliebene  Frau  des  Hausherrn,  indem  er  sie  mit  einer  Axt  zu  Boden  hieb  und 
mit  steigender  Wuth  seine  Hiebe  fortsetzte,  nachdem  beide  schon  todt  waren. 
Er  sagte  nach  begangener  That:  „Da  liegt  der  Strolch,  sie  ist  mir  schon  lange 
nachgeschlichen,  als  Katze,  als  Hund,  als  Schwein  —  nun  hab'  ich  aber  den  Satan 
todtgeschlagen  —  sie  ist  mir  nicht  als  Mensch  vorgekommen,  sondern  wie  eine 
schwarze  Katze."  Er  hatte  in  guten  Beziehungen  mit  der  Ermordeten  gelebt 
und  das  erschlagene  Kind  sehr  gern  gehabt.  Nach  der  That  war  B.  unbefangen. 
Vor  Gericht  erklärte  er,  ein  Gott  wohlgefälliges  Wei-k  gethan,  nämlich  den  Satan 
todtgeschlagen  zu  haben,  der  ihn  schon  lange  verfolgt  habe.  B.  stammt  aus  einer 
Familie,  in  der  Irresein  wiederholt  vorgekommen  ist.  Seine  Erziehung  ward  ver- 
nachlässigt; früh  zeigte  er  Hang  zu  Mysticismus  und  Aberglauben.  Vom  19.  bis 
•22.  Jahr  litt  er  an  epilepsieartigen  Zufällen.  Kurze  Zeit,  nachdem  er  eine  zweite, 
aber  unglückliche  Ehe  eingegangen  hatte,  trafen  ihn  Schicksalsschläge,  auch 
ergab  er  sich  dem  Branntwein.  Von  da  an  änderte  sich  sein  Wesen.  Er  wurde 
mürrisch,  verschlossen,  arbeitsscheu,  reizbar,  streitsüchtig.  Etwa  ein  Jahr  vor 
seiner  blutigen  That  wurde  er  aufgeregt,  irrte  umher,  wähnte  sich  von  Frei- 
denkern, bösen  Geistern,  dem  Satan  in  Gestalt  einer  Katze,  eines  Hunds  oder 
Schweins  verfolgt.  Dieser  Zustand  steigerte  sich  immer  mehr  bis  zum  1.  Juni. 
Er  glaubte  sich  allenthalben  vom  Satan  bedroht,  der  mit  kohlschwarzem  Gesicht 
auf  vier  Füssen  an  ihn  heranschleiche.  Er  lief  in  heftiger  Aufregung  mit  einer 
Axt  in  den  Bergen  herum  und  bedrohte  mit  wildrollenden  Augen  die  ihm 
Nahenden. 

Am  5.  Juni  kehrte  er  Abends  nach  Hause  zurück,  brachte  die  Nacht  mit 
lautem  Beten  zu,  rief  Gott  um  Hilfe  an  gegen  den  Satan,  hielt  Schatten  an  der 


134  Cap.  IX.    Das  alkoholisclie  Irresein.     Beob.  60. 

Wand  für  den  Bösen  und  besprengte  sie  mit  Weihwasser.  Am  Morgen  des  6.  sah 
er  überall  den  Satan  auf  sich  zukommen,  selbst  in  Gestalt  seiner  Angehörigen, 
er  wehrte  sich  wie  ein  Verzweifelter,  schrie  beständig :  „Weiche  von  mir,  Satan", 
so  dass  die  Hausgenossen  entsetzt  flohen  bis  auf  die  Hausfrau  mit  ihrem  Kind, 
die  ein  Opfer  seiner  Sinnesverwirrung  wurden.  B.  erzählt,  wie  er  am  Abend 
vorher  ganz  deutlich  bemerkte,  dass  sich  der  Satan  in  dem  erschlagenen  Kind 
aufgehalten  habe.  Er  habe  dies  daran  erkannt,  dass  das  vorher  roth  und  weisse 
Gesicht  des  Kindes  plötzlich  ganz  schwarz  geworden  sei.  Die  Nacht  über 
brachte  er  in  heftiger  Angst  und  dämonischen  Visionen  zu.  Am  andern  Morgen 
habe  er  Frau  und  Kind  auf  dem  Hausflur  getroffen,  da  sei  er  jener  nachgeeilt 
und  habe  gerufen:  „Du  bist  der  Satan."  „Ich  erwischte  sie  dann,"  fuhr  B.  fort, 
„und  schlug  sie  mit  der  Hacke  zu  Boden.  Ich  wusste  freilich,  dass  es  die  Frau 
des  Hausherrn  mit  ihrem  Kind  war,  aber  ich  wusste  auch,  dass  beide  der  Satan 
waren,  denn  Kind  und  Frau  waren  Abends  vorher  ganz  schwarz  geworden.  Ich 
hätte  den  Satan  nicht  todtschlagen  können,  ohne  Frau  und  Kind  zu  tödten,  da 
er  ja  in  ihnen  steckte.  Meine  That  reut  mich  nicht,  denn  ich  habe  Diener  des 
Satans  erschlagen." 

Im  Gefängniss  nächtliche  Visionen.  Seine  That  sieht  er  als  ein  Gott 
wohlgefälliges  Werk  an.  Seine  Rede  ist  wohlgeordnet,  mit  Ausnahme  der  wahn- 
sinnigen Prämisse,  logisch  und  richtig,  er  beweist  scharf  und  consequent  aus  der 
Bibel.  Nur  wenn  man  seinen  Wahn  berührt,  wird  er  aufgeregt.  Freisprechung. 
Im  Irrenhaus  anfangs  noch  Sonnenvisionen,  die  er  als  Zeichen  göttlicher  Gnade 
auffasst,  später  üebergang  in  Blödsinn.    Pat.  erlag  nach  Jahren  einer  Pneumonie. 

Die  Section  ergab  Pachymeningitis  int.  haemorrh.  und  chronische  Trübung- 
und  Verdickung  der  Pia  mater.     (Eigene  Beobachtung.) 

Beob.  60.  Alkohol.  Verfolgungswahn.  Mordversuch.  Am 
19.  Oktober  1877  Abends  7^2  Uhr  wurde  auf  den  Geistlichen  J.  von  L.,  als  ei' 
nach  seiner  Wohnung  ging,  von  einem  Manne  ge^gchossen,  der  dann  entfloh. 
Der  Verdacht  des  J.  lenkte  sich  sofort  auf  einen  gewissen  F.,  der  ihn  wiederholt 
mit  Drohbriefen  wegen  angeblichen  Ehebruchs  mit  seiner  Frau  verfolgt  hatte. 
F.  wurde  wenige  Stunden  später  verhaftet  und  gestand  sein  Verbrechen  mit  der 
Motivirung,  dass  J.  unerlaubte  Beziehungen  mit  seiner  Frau  gehabt,  ihn  habe 
vergiften  und  ihm  nicht  eine  verlangte  Entschädigung  von  10,000  Frcs.  habe 
zahlen  wollen. 

F.  ist  88  J.  alt.  Die  Eltern  waren  gesund,  ein  Bruder  starb  irrsinnig. 
F.  war  ein  tüchtiger  Arbeiter,  aber  dem  Trunk  ergeben.  Als  er  sich  vor  5  Jahren 
zum  zweiten  Mal  verheirathete,  glaubte  der  Geistliche  desshalb  der  jetzigen  Frau 
des  F.  von  der  Ehe  mit  ihm  abrathen  zu  müssen.  Einige  Jahre  lebte  F.  mit 
seiner  Frau  in  gutem  Einvernehmen.  Auf  Grund  ganz  harmloser  Vorkommnisse 
fasste  F.  Verdacht  gegen  seine  Frau.  Er  verlegte  sich  aufs  Horchen,  bekam  aus 
missverstandenen  Gesprächen  seiner  Frau  mit  ihrer  Mutter  Bestätigung  für  seinen 
Verdacht.  Von  Ostei-n  1875  an  fühlte  F.  sich  leidend,  litt  an  Verschleimung, 
Kolikschmerzen  (chron.  Magendarmcatarrh  durch  Alkoholexcesse).  Nun  schmeckte 
er  Benzin  in  der  Chocolade,  entdeckte  Mücken  und  Spinnen  in  der  Suppe.  Aus 
einer  harmlosen  Rede  der  Frau  entnahm  er  endlich,  dass  der  vermeintliche  Ehe- 
brecher der  Pfarrer  sei.  Nun  kommen  Gehörhallucinationen  bestätigenden  Inhalts. 
Er  hört  auch  sagen,  er  sei  eifersüchtig.  Im  Mai  schleicht  er  sich  eines  Abend& 
ans  Fenster  der  Sakristei  und  sieht  seine  Frau  bei  dem  Pfarrer  auf  einem  Teppich 


Alkohol.  Verfolgungswahn.     Beob.  (31.  135 

liegen.  Später  sieht  er,  wie  die  Schwiegermutter  seiner  Frau  Gift  zusteckt  und 
hört  sie  sagen:  „Thu  das  in  seine  Suppe,  dann  ist  Alles  gut.  Er  wird. Leibweh 
bekommen,  einschlafen  und  nicht  mehr  aufwachen.  Der  Herr  Pfarrer  hat  gesagt, 
dass  er  dich  nach  einem  Jahre  wieder  verheirathen  Avird."  Am  folgenden  Tag 
hört  F.  die  Frauen  sich  berathen,  wieviel  Gift  er  im  Essen  bekommen  solle. 
Täglich  findet  er  nun  im  Essen  Arsenik.  Er  hat  heftige  Leibschmerzen,  erbricht 
häufig,  die  Chocolade  ist  auffällig  gezuckert,  überall  findet  er  Aveisses  Pulver 
verstreut.  Als  er  einmal  etwas  von  seiner  Suppe  auf's  Feuer  giesst,  entsteht  ein 
Gestank  von  faulen  Eiern.  Er  isst  nun  auswärts,  bringt  nur  die  Nächte  daheim 
zu.  Da  hört  er  die  Frauen  sich  berathen,  wie  sie  ihn  Nachts  erdolchen  wollen. 
Nun  verlässt  er  dauernd  seine  Frau.  SjDäter  merkt  er,  dass  sie  sich  Jedem  hin- 
gibt. Er  verlangt  vom  Pfarrer  als  der  Ursache  seines  LTnglücks  10,000  frcs. 
Schadenersatz,  droht  ihm  wiederholt,  aber  erfolglos.  Er  fühlt,  dass  er  nur  die 
Wahl  zwischen  Selbstmord  und  einem  Verbrechen  hat.  In  seinem  Hass  gegen 
den  Pfarrer  wählt  er  das  letztere,  obwohl  er  weiss,  dass  er  in's  Gefängniss 
kommt. 

F.  hatte  nie  geistige  Getränke  gut  ertragen.  Seit  dem  Tode  der  ersten 
Frau  war  er  Gewohnheitstrinker  geworden.  Seit  Jahren  fand  man  ihn  sonderbar, 
geistig  geschwächt.  Die  Beobachtung  ergab  Zeichen  von  Schwachsinn  und  Ge- 
dächtnissschwäche. Das  Gutachten  erweist  das  Bestehen  eines  Verfolgungswahns 
(auf  alkoholischer  Grundlage)  und  die  Gemeingefährlichkeit  des  Kranken.  Keine 
Verurtheilung.    Abgabe  in  eine  Irrenanstalt.    (Broc,  Ann.  med.  psychol.  1880,  Mai.) 

Beob.  61.  Alkohol.  Verfolgungswahn.  Mord  in  hallucin.  ängst- 
licher Erregung.  Ein  gewisser  P.  ist  angeklagt,  in  der  Nacht  vom  10.  Mai  1866 
ein  Mädchen  in  einem  Bordell  zu  Colmar  ermordet  und  ein  anderes  schwer  ver- 
wundet zu  haben. 

P.,  35  J.  alt,  war  Taglöhner,  dann  Soldat,  ist  erblich  zu  Geistesstörung  dis- 
ponirt,  abergläubisch,  früh  dem  Trunk  ergeben,  sowie  Ausschweifungen.  Im  Rausch 
zeigte  er  immer  grosse  Zornmüthigkeit,  hatte  bereits  1859,  als  man  ihm  in  einem 
Bordell  keinen  Wein  geben  wollte,  seinen  Säbel  gezogen  und  war  dann  mit  der 
Waffe  in  der  Hand  wie  rasend  auf  der  Strasse  umhergerannt.  Die  folgenden  Jahre 
brachte  er  in  Kriegszügen  in  Afrika  zu.  Sittlich  und  intellektuell  verkommen 
kehrte  er  im  April  1866  nach  Frankreich  zurück.  Er  hatte  1300  frcs.  bei  sich. 
Er  begann  von  da  an  zu  halluciniren,  hörte  den  Pfarrer  und  seine  Hauswirthin 
sich  über  sein  schlechtes  Leben  unterhalten  und  von  ihm  Geld  zu  Seelenmessen 
begehren.  Später  hörte  er  eine  Frau,  eine  Epileptische,  die  er  für  eine  Zauberin 
hielt.  Nachts  kamen  eine  Menge  drohender  Gestalten  an  sein  Bett, 
die  mit  Ermordung  drohten,  Geld  begehrten.  Er  merkt,  dass  man  ihn  vergiften 
will,  schmeckte  Gift  im  Essen.  Sein  Verfolgungswahn  kehrt  sich  gegen  seine 
Hauswirthin.  Er  wird  ganz  die  Beute  von  Hallucinationen  und  Zauberspuk, 
gegen  den  er  bei  einem  Arzte  Hilfe  sucht.  Er  merkt,  dass  auch  die  Medicin 
nicht  helfen  kann,  entflieht  nach  Colmar,  aber  auch  dort  verfolgt  ihn  der  böse 
Zauber.  Ein  allgemeines  hallucinatorisches  Delir  befällt  ihn,  er  geräth  in  ein 
Bordell.  Nachts  wollen  ihn  2  Freudenmädchen  bestehlen.  Er  geräth  in  unbe- 
schreibliche Wuth,  zieht  sein  Messer,  bringt  80  Messerstiche  bei,  entrinnt  auf  die 
Strasse  ohne  Bewusstsein,  dass  er  die  Mädchen  erstochen  hat.  Er  weiss  nur 
noch,  dass  sie  plötzlich  eine  ganz  veränderte  Gestalt  angenommen  haben. 


186  Cap.  IX.    Das  epileptische  Irresein. 

Confrontirt  mit  seinen  Opfern  erkennt  er  sie  wieder.  Im  Gefängniss  Fort- 
dauer der  Hallucinationen.  Verbringung  in's  Irrenhaus.  P.  starb  Anfang  1872 
in  diesem.  Der  Wahn  der  Vei'folgung  und  Bezauberung  bestand  bis  zu  seinem 
Tod  fort.     (Dagonet,  Ann.  med.  psychol.  Mai  1866.) 

Weitere  Fälle:  Palmerini,  Rivista  sperimentale  1878,  p.  710  (Mord). 
Vierteljahrsschr.  f.  ger.  Med.  XXIX.  H.  2  (Diebstähle),  v.  Kraflft,  Vierteljahrsschr. 
f.  ger.  Med.  1869,  Juli  (Ermordung  der  Ehefrau).  Schäfer,  Zeitschr.  f.  Psych.  35, 
p.  219  (Misshandlung  der  Frau),  p.  222  (Tödtung  des  Schwiegervaters).  Sisteraj^, 
Ann.  med.  psychol.  1876,  Jan.  (Diebstahl,  Bedrohung  eines  Beamten).  Morselli  u. 
Angelucci,  Rivista  sper.  1880,  p.  101  (Mord  der  Ehefrau  aus  Wahn  ehel.  Untreue 
als  Theilerscheinung  von  Verfolgungswahn).  Grazianetti  ebenda  1880,  p.  161  (ver- 
suchter Gattenmord.     Verfolgungswahn.    Wahn  ehel.  Untreue  bei  einem  Säufer). 

6.   Das  epileptische  Irresein. 

Literatur.  Delasiauve,  die  Epil.,  deutsch  v.  Theile  1855.  Russel-Reynolds ,  d. 
Epil.,  deusch  v.  Beigel  1865.  Falret,  de  l'etat  mental  des  epilept.,  Paris  1861. 
Griesinger,  Archiv  f.  Psychiatrie,  I.  Annal.  med.  psychol.  1873,  Januar,  März, 
Mai.  Sander ,  Berlin,  klin.  Wochenschrift,  1873,  Nr.  42.  Echeverria,  Americ. 
Journ.  of  insanity  1873  April.  Legrand  du  Saulle,  etude  med.  legale  sur  les 
epil.  Paris  1877. 

Eine  hervorragende  Bedeutung  für  die  forensische  Praxis  ge- 
winnt die  Epilepsie  theils  dadurch,  dass  sie  häufig  ihren  Ausgang 
in  schwere  psychische  Degenerationszustände  nimmt,  theils  desshalb, 
weil  die  verschiedenartigsten  Symptomencomplexe  psychischer  Störung 
in  den  Verlauf  der  epileptischen  Neurose  complicirend  und  stellver- 
tretend eintreten  können. 

Die  Wichtigkeit  einer  Beachtung  des  Stands  der  psychischen 
Funktionen  bei  Epileptischen  hat  schon  Zacchias  hervorgehoben  und 
seit  ihm  haben  unzählige  Forscher,  theils  vom  forensischen,  theils 
vom  klinischen  Standpunkt  aus,  die  psychischen  Störungen,  die  sich 
bei  Epilepsie  finden  können,  zum  Gegenstand  ihres  Studiums  gemacht. 

So  mannigfach  und  schwer  übersehbar  wie  die  klinischen  Bilder, 
unter  welchen  sich  die  Neurose  abspielt,  sind  auch  ihre  psychischen 
Complikationen,  Transformationen  und  Aequivalente.  Wie  es  schwer 
erscheint,  gewisse  Formen  des  epileptischen  Anfalls  von  der  einfachen 
Ohnmacht  abzugränzen,  so  ist  es  misslich,  die  epileptische  Natur 
gewisser  psychischer  Veränderungen  von  ähnlichen  nicht  psychischen 
Symptomencomplesen  zu  unterscheiden.  Unsere  gegenwärtige  Er- 
kenntniss  von  den  mannigfachen  Variationen  und  Erscheinungsweisen 
der  epileptischen  Neuro-psychose  ist  eine  unbefriedigende,  und  manches 
psychische  Krankheitsbild  erscheint  uns  unverständlich,  weil  seine 
neurotische  Begründung  klinisch  noch  nicht  klar  zu  Tage  liegt. 


üebersicht  der  psj'chischen  Störungen  Epileptischer.  187 

Es  lassen  sich  bei  der  Betrachtung  der  psychischen  Verände- 
rungen, welche  Epileptiker  bieten  können,  wesentlich  3  Gruppen  von 
Erscheinungen  unterscheiden: 

1)  Die  allgemeine  und  dauernde  Veränderung  der  Persönlichkeit 
(intellektuell  und  charakterologisch),  zu  welcher  die  Epilepsie 
führen  kann.  Sie  bildet  den  Rahmen,  die  Basis  des  ganzen 
Krankheitsbilds. 

2)  Elementare  psychische  und  sensorielle  Störungen,  die  vor  und 
nach  epileptischen  Anfällen,  aber  auch  in  der  intervallären  Zeit 
sich  vorfinden  und  im  Allgemeinen  einen  flüchtigen  Charakter 
haben. 

3)  Transitorische  Symptomencomplexe  psychischer  Störung,  die  im 
Anschluss  an  convulsive  Anfälle,  oder  auch  stellvertretend  für 
solche  da  und  dort  im  Krankheitsverlauf  auftreten. 

Der  Inbegriff  der  ersteren  Gruppe  von  Erscheinungen  lässt  sich 
als  psychische  Degeneration  der  Epileptiker  bezeichnen,  die  acuten 
psychopathischen  Anfälle  in  diesem  chronischen  degenerativen  Verlauf 
wurden  früher  als  „Mania  epileptica"  zusammengefasst,  obwohl  diese 
Zustände  gar  nichts  mit  der  Manie  zu  thun  haben  und  diese  Mania 
epileptica  nur  als  ein  Sammelname  für  klinisch  sehr  differente  acute 
Anfälle  psychischer  Störung  betrachtet  werden  kann. 

Den  Inbegriff  aller  bei  Epilepsie  vorkommenden  chronischen  und 
acuten,  elementaren  und  complicirten  psychischen  Störungen  bezeichnen 
wir  als  epileptisches  Irresein. 

Ueber  die  Häufigkeit  desselben  gibt  uns  die  Statistik  Auskunft. 
Rüssel  Reynolds,  der  neueste  und  gründlichste  Monograph  der  Epilepsie 
fand  nur  38%  seiner  Kranken  gänzlich  frei  von  Seelenstörung,  die 
übrigen  zeigten  psychische  Abnormitäten. 

Inwieweit  diese  Minorität  wirklich  als  dauernd  und  gänzlich 
psychisch  intakt  betrachtet  werden  darf,  muss  dahingestellt  bleiben. 
Nur  eine  unermüdliche  Beobachtung  könnte  diese  Frage  entscheiden. 
Die  bekannten  historischen  Beispiele  von  geistig  intakten  Epileptikern 
(Cäsar,  Mohamed,  Napoleon)  sind  nicht  stichhaltig,  ihre  Biographie 
theils  unvollständig,  theils  Manches  enthaltend  was  darauf  deutet, 
dass  diese  Männer  nicht  bloss  convulsive  Erscheinungen  des  Leidens 
hatten.  Mit  Recht  macht  Sander  darauf  aufmerksam  (Berhn.  klin. 
Wochenschr.  1873,  Nr.  42),  dass  in  der  Praxis  und  im  geselligen 
Verkehr  Epileptiker  vorkommen,  bei  denen  die  Intelligenz  fast  ganz 
oder  ganz  intakt  erscheinen,  den  geschäftlichen  und  geselligen  An- 
sprüchen  vollständig   genügt,  ja   sogar   eine   gewisse  Beliebtheit   er- 


Xgg  Cap.  IX.    Das  epileptische  Irresein. 

langt  werden  kann,  aber  bei  näherem  Eingehen  die  inneren  Leiden 
der  Familie,  die  selbstquälerischen  hypochondrischen  Vorstellungen 
des  Kranken  selbst,  die  grundlos  wechselnde  Stimmung,  die  Reiz- 
barkeit, die  Unfähigkeit  sich  in  gegebene  Verhältnisse  loyal  zu  schicken^ 
die  Hartnäckigkeit  im  Festhalten  eigener  Ideen  und  Absichten  etc. 
kurz  psychische  Charaktereigenschaften ,  die  jedenfalls  in  innigem 
Zusammenhang  mit  der  Neurose  stehen,  zu  Tage  treten. 

Unzweifelhaft  sind  es,  wie  schon  Esquirol,  Morel  und  Foville 
gefunden  haben,  gerade  die  leichtern,  in  blosser  Vertigo  mit  fehlen- 
den oder  nur  partiellen  Convulsionen  bestehenden  Anfälle  (petit  mal),^ 
die  der  Geistesintegrität  mehr  Gefahr  bringen  als  die  gewöhnlichen 
convulsiven. 


a)    Die  psychische   Degeneration   der  Epileptiker   und  ihre 
elementaren    psychischen    Störungen. 

Klinische  Uebersicht:  Die  prägnantesten  Zeichen  der  psychischen 
Degeneration  sind: 

a)  Eine  fortschreitende  Abnahme  der  intellektuellen  Leistungsfähigkeit,  die 
in  leichteren  Fällen  als  blosse  Vergesslichkeit,  erschwerte  Urtheils-  und  Begriffs- 
bildung, lückenhafte  Apperception  der  Aussenwelt  sich  kund  gibt,  aber  auch  durch 
alle   Stufen   des   Schwachsinns  bis    zu  völligem    Blödsinn    sich   erstrecken  kann. 

Zuweilen  betrifft  diese  psychische  Degeneration  zunächst  und  vorzugsweise 
die  ethische  Seite  des  Individuums,  seinen  Charakter,  bei  wenig  gestörter  Intel- 
ligenz. Es  kommt  zu  Zuständen  wahrer  moral  insanity,  zu  Erlöschen  der  ethi- 
schen und  ästhetischen  Gefühle,  zu  Brutalität,  Grausamkeit,  unsittlicher  verbreche- 
rischer Lebensführung.  Zuweilen  treten  die  unsittlichen  verbrecherischen  Antriebe 
sogar  periodisch  auf  mit  ganz  impulsivem  Charakter. 

b)  Eine  ungewöhnlich  grosse  und  sich  immer  mehr  steigernde  Gemüthsreiz- 
barkeit.    Sie  vermittelt  das  Zustandekommen  heftiger  und  überwältigender  Affekte. 

c)  Ein  grundloser  Stimmungswechsel,  ein  Alterniren  von  psychischer  De- 
pression und  Exaltation,  wobei  jedoch  die  Zeiten  der  ersteren  weitaus  über- 
wiegend und  als  üble  Laune,  Verdriesslichkeit  oder  auch  als  auffallende  Gleich- 
gültigkeit, Kälte  gegen  die  Umgebung,  Misstrauen  gegen  diese  zum  Ausdruck 
kommen.  Neben  dieser  Morosität  findet  sich  nicht  selten  ein  Zug  von  Bigotterie 
und  muckerischer  Demuth,  die  in  eigenartiger  Verquickung  mit  der  ersteren 
Charakternüance  auftritt.  In  einer  PLeihe  von  Fällen  gehen  mit  dieser  psychischen 
Entartung  auch  Zeichen  eines  körperlichen  Verfalls  einher. 

Die  Gesichtszüge  bekommen  einen  eigenthümlich  stumpfen,  blöden  Aus- 
druck, das  subcutane  Fettgewebe  hypertrophirt  und  macht  die  Züge  grob,  sinnlich, 
die  Lippen  wulstig.  Es  kann  zu  Muskellähmungen,  die  in  der  Regel  einen  hemi- 
plegischen  Charakter  haben  und  gerne  mit  Contrakturen  sich  compliciren,  ferner 
zu  Facialislähmungen,  Glossoplegie  und  Aphasie  kommen. 

Daneben  kommen  als  weitere  somatische  Symptome  der  Neurose  Kopfweh, 
Alkoholintolei'anz,  zeitweise   Muskelspannungen    und  Muskelzuckungen,  Tremor, 


Psychische  Entartung  und  elementare  psychische  Störungen.  189 

Nystagmus,  Facialisparesen,  auffälliger  Wechsel  der  Gesichtsfarbe,  plötzliche  starke 
Schweisse  etc.  zur  Beobachtung. 

Die  elementaren  psychischen  und  sensoriellen  Störungen  treten  als  Vor- 
läufer oder  den  convulsiven  Anfall  abschliessende  Erscheinungen  auf,  oder  finden 
sich  in  der  intervallären  Zeit. 

a)  Die  dem  Anfall  vorausgehenden  haben  vielfach  die  Bedeutung  einer 
Aura  und  wiederholen  sich  dann  in  ganz  tj'^pischer  Weise  vor  jedem  folgenden. 
Dahin  gehören  schreckhafte  Hallucinationen  des  Gesichts  und  Gehörs,  subjektive 
Sinnesempfindungen  wie  Brausen  in  den  Ohren,  Photopsien  und  Chromopsien 
(rother  Flammenschein),  Präcordialbangigkeit,  rauschartige  Verwirrung  und  Um- 
neblung  des  Bewusstseins,  tiefe  geistige  Verstimmung  bis  zu  melancholischer 
Depression,  extreme  Steigerung  der  habituellen  Gemüthsreizbarkeit  und  Gedächt- 
nissschwäche. 

b)  Als  psychische  Störungen  im  unmittelbaren  Anschluss  an  einen  con- 
vulsiven Anfall  finden  sich  ps^^chische  Prostration  mit  grosser  Verworrenheit, 
Unfähigkeit  zu  denken,  tiefer  Störung  der  Apperception,  stuporartige  Zu- 
stände, die  von  einer  halben  Stunde  bis  zu  Tagen  dauern  können.  Dabei  kann 
grosse  gemüthliche  Depression  mit  excessiver  Gemüthsreizbarkeit  und  Taedium 
vitae  bestehen.  Nicht  selten  sind  Kopfweh,  schreckhafte  Sinnestäuschungen,  die 
wohl  die  hier  nicht  seltenen  Antriebe  zu  Mord  und  Selbstmord  erklären. 

Im  Anschluss  an  einen  epileptischen  Anfall  können  auch  kleptomanische 
Antriebe  vorkommen. 

c)  Als  intervalläre  elementare  Störungen  lassen  sich  zunächst  Stunden-  bis 
Tageweise  bestehende  Zustände  von  psj^chischer  Depression ,  übler  Laune ,  Ver- 
driesslichkeit  und  Zornmüthigkeit  bezeichnen.  Damit  können  sich  Zwangsvor- 
stellungen peinlichen  Inhalts,  schreckhafte  Hallucinationen,  Präcordialangst  und 
ganz  abruptes  transitorisches  Verfolgungsdelirium  auf  Grund  feindlicher  Apper- 
ception der  Umgebung  verbinden,  aber  auch  als  ganz  isolirte  Phänomene  ab  und 
zu  mitten  in  scheinbarer  psychischer  Gesundheit  auftreten.  Gefährliche  Angriffe 
auf  die  Umgebung  sind  die  nicht  seltene  Folge  solcher  plötzlicher  feindlicher 
Apperceptionen,  Präcordialangstgefühle  und  Zwangsvorstellungen. 

Die  Wichtigkeit  der  Berücksiclitigung  der  epileptischen  Neurose 
vor  Gericht  ergibt  sich  ohne  Weiteres  aus  den  theils  elementaren 
Störungen,  theils  tiefen  und  dauernden  Veränderungen  der  geistigen 
Persönlichkeit. 

Von  grösster  Bedeutung  ist  zunächst  der  Nachweis  der  Epilepsie 
als  Nervenkrankheit.  Nur  dadurch  wird  die  Beurtheilung  ethischer 
und  intellektueller  Ausfallserscheinungen  und  elementarer  Störungen 
eine  sichere  weil  klinisch  begründete. 

Die  Diagnose  der  Epilepsie  beruht  in  erster  Linie  auf  anfallsweise  auf- 
tretenden neurotischeii  Symptomen  (vasomotorische,  motorische,  psjrchische),  aber 
die  Intensität,  Extensität  und  Combination  der  Symptome  zu  einem  Symptomen- 
complex  ist  eine  höchst  verschiedenartige.  Als  Stellvertreter  des  klassischen 
epilept.  Insults,  wie  ihn  schon  Hippokrates  gekannt  und  beschrieben  hat,  erkannte 
die  heutige  Wissenschaft  momentanen  Verlust  oder  auch  blosse  Trübung  des  Be- 


190  Cap.  IX.    Das  epileptische  Irresein.     Diagnose. 

wusstseins  mit  Erblassen  des  Gesichts  (Absence)  oder  zugleich  mit  umschriebenen 
Miiskelkrämpfen  (Vertigo)  oder  mit  automatischen  traumhaft  impulsiven  Hand- 
lungen an.  Ja  selbst  eigenthümliche  Schwindel-  und  Schläfanfälle  sowie  Schweiss- 
paroxysmen  in  Verbindung  mit  motorischen,  vasomotorischen  Erscheinungen  (vgl. 
d.  Verf.  Lehrb.  d.  Psychiatrie  IL  p.  99)  werden  als  Aequivalente  eines  klassischen 
epileptischen  Anfalls  immer  glaubhafter.  Bedenkt  man  dazu  die  Schwierigkeit 
nächtliche  Anfälle  A'on  Epilepsie,  zumal  wenn  sie  bloss  vertiginöse  sind,  nachzu- 
weisen, ferner  die  thatsächliche  Möglichkeit,  dass  paroxystische  Symptome  der 
Neurose  Monate  bis  Jahre  fehlen  können,  so  begreift  sich,  wie  misslich  die  Ent- 
scheidung ist,  ob  Jemand  epileptisch  sei  oder  nicht.  Und  dennoch  kann  von 
dieser  in  foro  viel  abhängen. 

Die  ärztliche  Expertise  wird 

1.  darnach  zu  forschen  haben,  ob  die  fragliche  Epilepsie  ätio- 
logisch begründet  ist  (hereditäre  Belastung,  Missbildungen  des 
Schädels,  Kopfverletzungen,  Onanie)  und  welche  ihre  veranlassenden 
Ursachen  gewesen  sind  (Schrecken  etc.)? 

2.  Es  muss  der  Nachweis,  dass  epileptische  oder  epilepsieähnliche 
Insulte  irgend  einmal  früher  vorhanden  waren,  erbracht  werden.  Je 
mehr  solche  irgendwie  geartete  Insulte  sich  dem  Bild  der  klassischen 
oder  vertiginösen  E.  nähern,  Trübung  des  Bewusstseins,  vasomotorische 
(Gefässkrampf)  und  motorische  krampfhafte  Erscheinungen  vorhanden 
waren,  Aurasymptome  sie  einleiteten,  postepileptische  ihnen  folgten, 
desto  mehr  gewinnt  der  Verdacht  auf  E.  Begründung. 

Ganz  besonders  wichtig  sind  noch  der  anamnestische  Nachweis 
von  Convulsionen  in  der  Kindheit,  Anfällen  von  nächtlichem  Auf- 
schrecken und  Somnambulismus,  da  sie  erfahrungsgemäss  häufige  Vor- 
läufer der  epileptischen  Neurose  sind. 

Es  muss  ferner  die  Möglichkeit  nächtlicher  Anfälle  von  E.  er- 
wogen werden. 

Verdächtige  Zeichen  nächtlicher  E.  sind  zeitweises  Bettnässen, 
Ecchymosen  in  der  Haut  des  Gesichts  und  der  Sklera,  Herausfallen 
aus  dem  Bett,  Verletzungen  der  Zunge,  Kopfschmerz,  Verworrenheit 
des  Denkens,  Mattigkeit  und  Morosität  beim  Erwachen. 

3.  Der  Experte  muss  sich  vergewissern,  dass  ein  seiner  Beob- 
achtung zugänglicher  Insult  auch  wirklich  ein  epileptischer  und  nicht 
bloss  simulirter  ist. 

Vor  allem  muss  er  sich  hüten  aus  der  Nichtcongruenz  dieses 
Insults  mit  dem  klassischen  Anfall  ohne  Weiteres  auf  Simulation  zu 
schliessen.  Die  E.  ist  ein  Proteus.  Es  gibt  kein  Schema,  das  auf 
alle  Kundgebungen  der  Neurose  passte.  Der  epileptische  Insult,  wie 
immer  er   geartet  sei,    ist   kein  Symptom,    sondern  ein  Symptomen- 


Diagnose.     Gewaltthaten  Epileptischer.  191 

complex;  trotz  aller  etwaigen  Vielgestaltigkeit  des  Auftretens,  ist  der 
Vorgang  jedoch  ein  gesetzmässiger.  Da  Simulanten  gewöhnlich  nur 
die  klassischen  Anfälle  der  E.  kennen,  handelt  es  sich  in  praxi  meist 
nur  um  die  Frage  der  Echtheit  dieser.  Weder  das  brüske  Nieder- 
stürzen noch  der  gellende  initiale  Schrei  sind  dafür  entscheidend.  Viel 
wichtiger  sind  die  Leichenblässe  des  Gesichts  im  Beginn  des  Anfalls, 
das  Vorausgehen  eines  tonischen  Krampfstadiums  dem  klonischen,  der 
Arteriospasmus  (Krampfpuls)  in  jenem,  der  volle  Puls  in  diesem,  das  Vor- 
wiegen der  Krampferscheinungen  auf  einer  Körperhälfte,  das  stossweise 
Eintreten    der    klonischen    Krämpfe    in    immer    kürzeren    Intervallen. 

Dazu  kommt  das  Durchgehen  des  Krampfanfalls  durch  ein 
Soporstadium  mit  reaktionslosen  erweiterten  Pupillen,  mit  Unerregbarkeit 
der  Sinnesthätigkeit  und  Sensibilität  selbst  durch  die  stärksten  Reize, 
aufgehobenen  Reflexen  und  einer  eigenthümlichen  (vgl.  Voisin,  Annal. 
d'h Jg.  1868,  p.  344)  durch  sonstige  heftige  körperliche  Anstrengung 
nicht  hervorzubringenden  Pulskurve. 

4.  Die  E.  ist  eine  allgemeine  und  dauernde  Nervenkrankheit. 
Sie  lässt  nicht  bloss  in  Form  von  Anfällen,  sondern  auch  intervallär 
Spuren  ihres  Bestehens  erkennen.  Als  solche  sind  die  Aenderungen 
des  Charakters,  die  intellektuellen  und  ethischen  Ausfallserscheinungen, 
die  neurotischen,  somatischen,  sensoriellen  und  elementaren  psychischen 
Störungen  anzuerkennen.  Die  Häufung  solcher  gibt  jedenfalls  in  ihrer 
Bedeutung  sonst  zweifelhaften  Anfallssjmptomen  diagnostisch  eine  er- 
höhte Bedeutung  wie  andererseits  jene  obenerwähnten  Symptome  (man 
denke  an  ethische  Verkümmerung,  unsittliche  Impulse,  abnorme  Ge- 
müthsreizbarkeit !)  in  dem  Masse  gewinnen,  als  sie  in  zeitlichen  Zu- 
sammenhang mit  anfallartigen  Erscheinungen  gebracht  werden  können. 

Die  Erfahrung  lehrt,  dass  Epilepsie  nicht  nur  am  Krankenbett, 
sondern  auch  in  foro  häufig  übersehen  oder  verkannt  wird.  Ueberaus 
häufig  kommen  Epileptiker  vor  die  Schranken  des  Gerichts.  Ihre 
Reizbarkeit  vermittelt  krankhafte  Affekte,  in  denen  schwere  Gewalt- 
akte möghch  sind,  ihre  geschwächte  sittliche  und  intellektuelle  Wider- 
standsfähigkeit beraubt  sie  der  Möglichkeit  affektartige  Erregungen,, 
sowie  egoistische  und  unsittliche  Impulse  zu  beherrschen.  Ihr& 
Gedächtnissschwäche  lässt  ihre  Zeugenschaft  bedenklich  erscheinen 
und  kann  zu  falschem  Zeugniss,  Meineid  führen. 

Auf  Grund  elementarer  Störungen  (Hallucinationen,  Verfolgungs- 
delir,  Zwangsvorstellungen,  Angst  u.  s.  w.),  sowie  im  Zusammenhang 
mit  prä-  und  postepileptischen  Zuständen  von  Verwirrung,  Verstimmung 
sind  schwere  Gewaltthaten  möglich. 


192         Cap.  IX.    Das  epileptische  Irresein.    Zureclmungsfähigkeitsfrage. 

Die  Frage  nach  der  Zurechnungsfähigkeit  der  Epileptiker  kann 
nur  ganz  concret  beantwortet  werden. 

Die  Thatsache,  dass  zuweilen  Epileptiker  für  ihre  ganze  Lebens- 
dauer von  psychischen  Störungen  verschont  bleiben,  lässt  in  der 
Epilepsie  an  und  für  sich  keinen  Entschuldigungsgrund  für  strafbare 
Handlungen  erkennen ;  der  statistische  Erweis,  dass  solche  Fälle  eben 
doch  nur  Ausnahmsfälle  sind,  und  die  Mehrzahl  der  Epileptiker  tem- 
porär oder  dauernd  psychisch  krank  ist,  rechtfertigt  die  Forderung, 
dass  überall  wo  ein  Epileptiker  vor  Gericht  steht,  die  Frage  der 
Zurechnungsfähigkeit  von  Gerichtswegen  gestellt  werden  muss. 

Während  die  Aufhebung  der  Zurechnungsfähigkeit  bei  vor- 
geschrittenen Zuständen  epileptischer  Degeneration  keinem  Zweifel 
begegnen  kann,  ergeben  sich  die  grössten  Schwierigkeiten  für  die 
Beurtheilung  da,  wo  das  Individuum  geistig  intakt  scheint,  wenigstens 
zur  Zeit  der  Untersuchung,  gleichwohl  aber  die  Umstände  einer  von 
ihm  begangenen  That  (Sinnlosigkeit,  Grausamkeit,  getrübte  Erinne- 
rung) Bedenken  hervorrufen.  Die  Epilepsie  ist  allerdings  an  und  für 
sich  kein  Aufhebungsgrund  der  Zurechnungsfähigkeit,  aber  bei  der 
Flüchtigkeit  und  Häufigkeit  psychopathischer  Erscheinungen,  bei  der 
immer  vorhandenen  Möglichkeit,  dass  eine  strafbare  Handlung  im 
Zusammenhang  mit  einem  unbeobachteten  epileptischen  Anfall  (man 
denke  an  vertiginöse  und  nächtliche!)  stattfand,  vielleicht  in  eine  Zeit 
fiel,  wo  psychische  Umdämmerung  unvermerkt  in  klares  Bewusstsein 
überging,  hat  der  Richter  allen  Grund,  vorsichtig  in  der  Beurtheilung, 
und  mild  in  der  Bemessung  der  Schuld  zu  sein.  Die  Nichtbeachtung 
der  Epilepsie  in  foro  verschuldet  zahlreiche  Justizmorde.  Man  erkundige 
sich  in  Strafanstalten  nach  der  Häufigkeit  epileptischer  Insassen! 

Der  Grundsatz  des  Zacchias ,  die  Handlungen  der  Epileptiker 
falls  sie  3  Tage  vor  oder  nach  einem  Anfall  stattfanden,  straflos  zu 
lassen,  ist  gut  gemeint,  aber  nicht  praktisch.  Auch  hier  lässt  sich 
nicht  generalisiren.  Der  Eine  ist  schon  eine  halbe  Stunde  nach  dem 
Anfall  wieder  seiner  Sinne  mächtig,  der  Andere  erst  nach  Tagen. 

Wohl  aber  sollte  der  Grundsatz  in  foro  gelten,  dass  Epilepsie 
an  und  für  sich  ein  Milderungsgrund  für  ein  Verbrechen  sei  und 
der  alte  Satz  :  „in  dubio  pro  reo"  hier  volle  Geltung  finden  müsste. 
Die  Wohl  that  mildernder  Umstände,  welche  die  fortgeschrittene  Ge- 
setzgebung gewährt,  ist  gerade  hier  besonders  werthvoll,  wo  die 
ärztliche  Wissenschaft  oft  die  volle  Bedeutung  einer  das  ganze  Nerven- 
system beherrschenden  Neurose  geltend  machen  muss  und  doch  viel- 
fach ausser  Stande  ist,  weiter  in  der  Beurtheilung  des  Falls  zu  gehen. 


Beob.  62.     Epilepsie.    Mordversuch.  193 

Beob.  62.  Mordversuch.  Epilepsie.  F.,  22  J.,  Bauer,  erblich  zu 
Psychosen  disponirt,  vv^ar  bis  zur  That,  ausgenommen  epil.  Krämpfe  beim  Tod 
des  Vaters,  gesund  an  Geist  und  Körper,  sittsam  und  im  besten  Ruf  gewesen. 
Am  10.  August  Mordversuch  an  einer  von  ihm  geschwängerten  Magd.  Ein  Motiv 
lag  nicht  vor.  F.  hatte  die  Magd  gern  gehabt  und  zu  heirathen  beabsichtigt. 
Am  Tage  vorher  hatte  ihm  seine  Schwester  heftige  Vorwürfe  darüber  gemacht, 
dass  er  sich  mit  d%r  Magd  vergangen.  Im  Gefängniss  bietet  F.  bis  zum  26.  August 
nichts  Abnormes.  Am  genannten  Tag  epil.  Anfälle  bis  zu  2  Stunden  Dauer. 
Darauf  Unruhe,  Präcord ialangst.  Am  9.  Tage  mehrstündiger  Anfall  von  psychi- 
scher Störung  mit  tonischen  Krämpfen  und  folgender  Amnesie.  In  der  Irren- 
anstalt entwickelt  sich  ein  melanchol.  Krankheitsbild.  Aus  den  Verhören  geht 
hervor,  dass  sich  F.  seit  den  Vorwürfen  der  Schwester  wie  von  Sinnen  fühlte, 
er  sei  so  aufgeregt  gewesen,  habe  nicht  gewusst  was  er  that.  Nach  der  That 
hatte  er  aufrichtige  Reue  gezeigt.  Das  1.  Gutachten  betont  die  erbliche  Disposition, 
die  Epilepsie  und  die  bei  diesem  Leiden  häufigen  transitorischen  Geistesstörungen 
und  kommt  zum  Schluss,  dass  die  Zurechnungsfähigkeit  des  F.  zur  Zeit  seiner 
That  nicht  erweisbar  sei.  Das  2.  Gutachten  nimmt  an,  dass  erbliche  Anlage, 
Epilepsie,  habituell  auffallendes,  stilles,  wortkarges  Wesen  und  endliche  Geistes- 
störung mit  einander  in  engem  Zusammenhang  stehen  und  F.  wohl  zur  Zeit  seiner 
That  im  Beginn  einer  Geistesstörung  sich  befand.  Auch  die  That  selbst  —  ihre 
Unmotivirtheit ,  Plötzlichkeit,  die  eigenthümliche  Verwirrung  zur  Zeit  derselben, 
die  unklare  Erinnerung  für  ihre  Umstände  spricht  für  epilept.  Geistesstörung. 
Annahme,  dass  F.  damals  bereits  unter  dem  Einfluss  einer  Krankheit  stand,  die 
geeignet  war,  plötzliche  Antriebe  zu  gewaltthätigen  Handlungen  zu  erzeugen, 
den  Geist  zu  verwirren,  die  Ueberlegung  aufzuheben  und  somit  die  freie  Willens- 
bestimmung auszuschliessen.     (Irrenfreund  1870,  Nr.  11.) 

Beob.  63.  Todtschlag  im  Affekt.  Krankhafte  durch  Epi- 
lepsie bedingte  Gemüthsreizbarkeit.  Am  4.  April  nach  Mittag  tödtete 
der  Kohlen arbeiter  D.  seinen  Gefährten  M.  im  Wortwechsel  und  stellte  sich  dann 
selbst  den  Gerichten.  Kurz  vorher  hatte  D.  erfahren,  M.  habe  ihn  bei  den  Kameraden 
beschuldigt,  dass  er  die  gemeinsame  Trinkkanne  zum  Uriniren  benützt  habe.  M. 
gerieth  in  heftigen  Zorn,  setzte  sich  nicht  zum  gemeinsamen  Mahl,  ging  aufgeregt 
und  wuthentbrannt  im  Speisezimmer  auf  und  ab,  rief  den  M.,  der  des  Wegs  kam, 
herein,  hielt  ihm  seine  Aussage  vor  und  gab  ihm,  als  dieser  dabei  verblieb,  2 
Messerstiche,  die  den  sofortigen  Tod  zur  Folge  hatten.  In  den  Verhören  gibt 
D.  diesen  Sachverhalt  zu,  zugleich  aber  an,  dass  M.  ihn  schon  früher  geneckt 
habe  und  ihm  bei  dem  Wortwechsel  mit  drohender  Geberde  auf  den  Leib  ge- 
rückt sei.  Im  Termin  behauptet  er,  die  That  in  vorübergehender  Geistesstörung 
begangen  zu  haben,  an  welcher  er  seit  seiner  Soldatenzeit  öfter  leide. 

D.,  48  J.  alt,  Venetianer,  stammt  aus  belasteter  Familie,  litt  schon  als  Knabe 
an  epileptischen  Anfällen  mit  darauf  nicht  selten  folgendem  Stupor,  hatte  1873 
gelegentlich  ein'er  Verhaftung  ein  auffälliges  Benehmen  gezeigt  und  in  seinem 
Pass  die  Bemerkung  stehen  gehabt,  dass  er  an  Convulsionen  leide.  Er  galt  als 
hochgradig  gemüthsreizbar  und  soll  in  seinen  Affekten  wie  ein  Irrsinniger  aus- 
gesehen haben.  In  der  2  monatlichen  Untersuchungshaft  benahm  sich  D.  ruhig 
und  geordnet,  litt  aber  öfter  an  Anfällen  von  heftigem  Kopfschmerz  und  war 
dann  auffällig  gedrückt  und  .schweigsam.  Das  Gutachten  weist  nach,  dass  D. 
an  Epilepsie   seit  dem   10  Jahr   litt  und  wahrscheinlich   nqch  leidet,  wenigstens 

■V.  Krafft-Ebing,  gerichtl.  Psychopathologie.    2.  Auflage.  13 


]^94  ^^P-  ^^-    Epileptisclies  Irresein. 

erinnern  das  unbewusste  Uriniren  in  die  Trinkkanne  (Vertigo?)  und  die  eigen- 
thümlichen  Anfälle  von  Kopfschmerz  in  der  Haft  ganz  an  Zustände,  die  als  Ver- 
treter krampfhafter  Znfälle  bei  Epileptischen  beobachtet  werden.  Auch  die  krank- 
hafte Gemüthsreizbarkeit  des  D.  ist  eine  Charakteranomalie,  die  bei  Epileptikern 
ganz  gewöhnlich  ist  und  mit  hoher  Wahrscheinlichkeit  auf  Rechnung  einer  vor- 
handen gewesenen  oder  noch  fortbestehenden  E.  zu  setzen  ist.  Jedenfalls  waren 
bei  Begehung  der  incriminirten  Affekthandlung  pathologische,  i.  e.  organische 
Momente  im  Spiel,  welche  die  Widerstandsfähigkeit  gegen  den  Drang,  sich  Genug- 
thuung  für  eine  angethane  Beleidigung  zu  verschaffen,  erheblich  verminderten, 
wenn  nicht  gänzlich  aufhoben.     (Eigene  Beobachtung.) 

Beob.  64.  Böswillige  Verläumdung.  Epilepsie.  Zweifel- 
hafte Zurechnungsfähigkeit.  Die  0.  31  J.  alt,  ist  der  böswilligen  Ver- 
läumdung des  X.  angeklagt.  Dieser  hatte  mit  ihr  im  Concubinat  gelebt,  sie  dann 
verlassen  und  dadurch  ihre  Eifersucht  und  Rachsucht  erregt.  Sie  hatte  ihn  als  an- 
geblichen Mitschuldigen  einer  Mordthat  auf  schlaue  Weise  bei  der  Behörde  denuncirt. 
Als  sie  nun  verhaftet  war,  erhoben  sich  Zweifel  über  ihre  Zurechnungsfähigkeit. 
Die  0.  bot  bei  der  Exploration  geistig  und  körperlich  nichts  Bemerkenswerthes, 
machte  aber  geltend,  dass  sie  von  frühester  Jugend  auf  epileptisch  sei.  Diese 
Angabe  bestätigte  sich,  sowie  auch,  dass  ihr  Ideengang  oft  abspringend  war  und 
ihr  Verhalten  ein  so  ungeordnetes,  dass  man  sie  allgemein  als  närrisch  bezeich- 
nete. Sie  trieb  schamlos  Prostitution,  war  oft  grundlos  heftig,  reizbar,  in  ihren 
Affekten  masslos. 

Das  Gutachten  führt  aus,  dass  bei  E.  sich  häufig  tiefgehende  Aenderungen 
des  Charakters  finden,  grosse  Leidenschaftlichkeit,  überwältigende  Affekte,  grund- 
lose Verstimmung,  rachsüchtige  Launen.  Alle  diese  Züge  sind  bei  der  0.  vor- 
handen. Ist  sie  trotzdem  zurechnungsfähig?  Trotz  ihrer  Schlauheit  bei  Aus- 
führung der  Denunciation  ist  ein  Einfluss  der  E.  auf  Geisteszustand  und  Ver- 
brechen der  0.  nicht  zu  verkennen.  Ihre  sittliche  Widerstandskraft  gegen  den  Drang, 
in  eifersüchtiger  Rache  den  früheren  Geliebten  ins  Unglück  zu  bringen,  war  durch 
die  Krankheit  wesentlich  beeinträchtigt.  Wie  weit  dies  der  Fall  war,  lässt  sich 
nicht  präcisiren.  Die]  0.  ist  nicht  als  geisteskrank  zu  betrachten,  jedoch  dürfte 
dieses  patholog.  Moment  ihr  richterlich  zu  gut  kommen.  Keine  Verurtheilung: 
(Li vi,  Archiv,  italiano  1871.) 

Weitere  Fälle:  Vogt,  Friedreich's  BL  1870  (Mord  des  Kindes  im  Affekt 
der  Verzweiflung  einer  schwachsinnigen  Epileptischen).  Delasiauve,  op.  cit.  p.  487 
(Diebstahl).  Rupprecht,  Vierteljahrsschr.  für  ger.  Med.  N.  F.  V,  H.  1  (Diebstahl, 
Irrthum,  aus  Beschränktheit  oder  epil.  Lücke  der  Intelligenz?).  Liman,  zweifelh. 
Geisteszustände,  Fall  10  (epil.  Schwachsinn,  Diebstahl),  Fall  11  (Schwachsinn, 
Betrug),  12  (Betrug,  Diebstähle).  Casper-Liman,  Handb.  Fall  252  (Schwachsinn, 
Urkundenfälschung).  Arndt,  Vierteljahrsschr.  f.  ger.  Med.  1872  Oct.  (epil.  Schwach- 
sinn, Taschendiebstahl).  Snell,  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XXXVI.  H,  4  (Brudermord). 


b.  Die  transitorischen  Anfälle  psychischer  Störung  bei  Epileptischen. 

Literatur:  v,  Krafft,  transit.  Störungen  d.  Selbstbewusstseins  1868  p.  51  (ältere 
Literatur).  Trousseau,  med.  Klinik,  übers,  v.  Culmann  1867,  IL  1.  Lief.  p.  41. 
V.  Krafft,  Zeitschr.  f  Psychiatrie  1867,  November.   Annal.  med.  psychol.  1873, 


Transitorische  Anfälle  psychischer  Störung'.  195 

Januar,  März,  Mai.  Leidesdorl',  Wien.  med.  Jalirbücher  1875,  H.  28.  Samt, 
Archiv  für  Psych.  V.  H.  2,  VI.  H.  1.  Annal.  d'hyg.  publ.  1877,  Oct.  Eche- 
verria,  americ.  Journ.  of  insanity  1873,  April.  Legrand  du  Saulle,  Annal. 
d'iiygiene  1875,  April.  Weiss,  Wien.  med.  Wochenschr.  1876,  17.  18.  Gari- 
mond,  Ann.  med.  psychol.  1878,  H.  1  u.  2.  v.  Krafft,  epileptoide  Traum- 
zustände, Zeitschr.  f.  Psych.  1876  und  Friedreich's  Blätter  1877,  H.  2  u.  5, 
Legrand  du  Saulle,  etude  med.  legale,  p.  84.  Toselli,  Archivio  italiano  per 
le  malat.  nervös.  1879,  März. 

Zu  den  wichtigsten  Complicationen  der  Epilepsie  gehören  transi- 
torische Anfälle  geistiger  Störung.  Sie  sind  häufig,  flüchtig ,  nach 
Umständen  schwer  nachzuweisen,  bringen  vielfach  das  Leben  der 
Umgebung  in  Gefahr  und  haben  deshalb  eminente  Wichtigkeit  für 
das  Forum.  Es  ist  kein  Zweifel,  dass  nicht  selten  solche  Zustände 
verkannt  werden  und  daraus  ungerechte  Verurtheilungen  erfolgen. 

Trousseau,  einer  der  competentesten,  weil  erfahrensten  Autoren, 
steht  nicht  an  zu  erklären  (op.  cit.  p.  22) :  „Man  kann  annehmen, 
fast  ohne  Gefahr  sich  zu  täuschen,  dass  wenn  ein  Individuum  plötzlich, 
ohne  vorherige  Geistesstörung,  ohne  bis  dahin  ein  Zeichen  von  Geistes- 
krankheit von  sich  gegeben  zu  haben,  auch  ohne  leidenschaftlichen 
Antrieb  und  ohne  durch  Alkohol  oder  sonst  eine  das  Nervensystem 
heftig  erregende  Substanz  vergiftet  zu  sein,  einen  Mord  begeht,  dieses 
Individuum  epileptisch  ist,  dass  es  entweder  einen  grossen  Anfall, 
oder  was  häufig  vorkommt,  einen  blossen  comitialen  Schwindel  hatte. 

Die  neuere  Zeit  hat  bedeutende  Fortschritte  in  der  Erkenntniss 
dieser  Zustände  gemacht,  aber  es  lässt  sich  mit  Grund  vermuthen, 
dass  ihre  Erscheinungsformen  noch  nicht  erschöpfend  gekannt  sind 
und  dass  viele  Fälle  von  peracutem  Irresein,  namentlich  Mania  transi- 
toria,  Eaptus  melancholicus,  periodisch  wiederkehrendes  Irresein  in 
kurz  dauernden  Anfällen,  zahlreiche  Zustände  von  Somnambulismus, 
auf  epileptischer  Grundlage  stehen.  Beim  heutigen  Stand  unsres 
Wissens  ist  es  jedenfalls  geboten  an  der  Thatsache  festzuhalten,  dass 
transitorische  Irreseinszustände  einen  symptomatischen  Charakter  haben 
und  in  erster  Linie  die  Forschung  nach  dem  Bestehen  einer  epilep- 
tischen Neurose,  die  keineswegs  immer  offen  zu  Tage  liegt,  zu  richten. 

In  der  Regel  erscheinen  die  transitorischen  Irreseinszustände 
der  E.  als  Folgezustände,  seltener  als  Vorläufer  epileptischer,  irgend- 
wie gearteter  Insulte,  binnen  Stunden  oder  Tagen,  namentlich  da  wo 
solche  nach  längerer  Pause  gehäuft  wiedergekehrt  sind.  In  solchen 
Fällen  ist  dann  der  Zusammenhang  mit  der  epileptischen  Neurose  ein 
greifbarer.  Nicht  so  selten  treten  aber  die  vertiginösen  oder  klassi- 
schen Insulte   der  E.  mit    dem  Eintreten  jener  psychischen,   die  sich 


19(5  Cap.  IX.    Epileptisches  Irresein. 

dann  als  psychische  Aequivalente  auffassen  lassen,  zurück,  werden  von 
ihnen  gleichsam  verdrängt.  Die  psychischen  Anfälle  erscheinen  dann 
als  freistehende  (Epilepsia  larvata  oder  psych.  Epilepsie).  Da  Jahre, 
selbst  Jahrzehnte  lang,  die  gewöhnlichen  somatischen  Kundgebungen 
der  Neurose  schweigen  können,  gewinnen  die  Anfälle  psychischer 
Störung  das  Gepräge  selbstständiger.  Der  Zusammenhang  mit  der 
epileptischen  Neurose  lässt  sich  dann  nur  aus  dem  anamnestischen 
Nachweis  früher  dagewesener  epileptischer  Insulte  und  aus  der  Gleich- 
artigkeit der  psychischen  Anfälle  mit  den  bei  zweifellos  Epileptischen 
beobachteten  und  specifische  Merkmale  bietenden  herstellen. 

Ob  es  Fälle  von  E.  gibt,  die  blos  in  Form  psychischer  Anfälle 
sich  äussern,  muss  eine  offene  Frage  bleiben.  Beim  gegenwärtigen 
Stand  unseres  Wissens  ist  die  Forderung,  dass  irgendwie  geartete 
somatische  Insulte  zu  irgend  einer  Lebenszeit  nachweisbar  sind,  für 
die  Diagnose  „Epilepsie"  eine  unerlässliche.  Es  mag  seltene  Fälle 
geben,  in  welchen  psychische  Anfälle  den  somatischen  jahrelang  voraus- 
gehen, in  der  Mehrzahl  wird  ein  Fehler  der  Beobachtung  vorliegen, 
insofern  solche  (man  denke  an  vertiginöse !)  der  Ermittlung  entgingen. 

Die  klinischen  Erscheinungsbilder  des  transitorischen  Irreseins 
auf  epilept.  Grundlage  sind  mindestens  ebenso  mannigfaltig  als  die 
somatischen  Anfallssymptome.  Gemeinsam  ist  ihnen  nur  und  im  Zu- 
sammenhalt mit  den  somatischen  die  Trübung  bis  zur  Aufhebung 
des  Selbstbewusstseins,  die  Störung  des  Bewusstseins.  Dieser  Thatsache 
entspricht  eine  forensisch  höchst  wichtige  Lückenhaftigkeit  bis  zur 
Aufhebung  der  Erinnerung. 

Immer  wird  diese  summarisch,  lückenhaft  bis  zum  gänzlichen 
Fehlen  sich  herausstellen.  Es  gibt  Fälle,  wo  die  Erinnerung  un- 
mittelbar nach  dem  Anfall  vorhanden  ist,  aber  dann  verloren  geht 
(Samt).  Es  scheinen  dies  Fälle  zu  sein,  in  welchen  dem  psychopathi- 
schen Zustand  bald  ein  epileptischer  Insult  nachfolgt.  Ein  solcher 
kann  zweifelsohne  die  Erinnerung  total  verwischen. 

Die  Formen  der  Bewusstseinsstörung  als  Grundlage  der  transito- 
rischen epileptischen  Irrsinnszustände  können  Stupor-,  Dämmer-Traum- 
Mustände  (ähnlich  denen  des  Schlafwandelns)  sein.  Auf  dieser  Basis 
finden  sich  Delirien,  Sinnestäuschungen,  Angstzüstände ,  impulsive 
Akte  u.  a.  elementare  psychische  Störungen  als  Complicationen.  Durch 
die  verschiedenartige  Combination  dieser  ergeben  sich  klinisch  differente 
Krankheitsbilder ,  von  denen  einige  durch  die  eigenthümliche  und 
typische  Symptomengruppirung  charakteristisch  sind.  Die  Mannig- 
faltigkeit der  Erscheinungsformen  wird  noch  dadurch  gesteigert,  dass 


Transitorische  psychische  Störungen.     Stupor.  197 

sich  mehrere  Krankheitsbilder  combiniren  oder  in  einander  übergehen 
können. 

Klinische  Uebersicht:  Als  die  wichtigsten  und  häufigsten  Formen  des 
transitorischen  Irreseins  Epileptischer  ergeben  sich : 

a)  Stupor  zustände  von  Stunden-  bis  Tagedauer  in  Verbindung  mit 
Angst,  schreckhaften  Sinnestäuschungen,  Delirien  (Verfolgung  etc.). 

Dadurch  ist  die  Möglichkeit  von  strafbaren  Handlungen  gegeben.  Diese 
Stuporzustände  werden  kaum  je  als  freistehende  beobachtet.  Sie  finden  sich 
meist  im  Anschluss  an  einen  epileptischen  (klassischen)  Insult  oder  in  der 
Zwischenzeit  solcher,  wahrscheinlich  als  Shoksymptome  oder  in  vasomotorischer 
Entstehungsweise.  Die  Erinnerung  für  die  Anfallszeit  fehlt  gänzlich  oder  ist 
eine  summarische. 

Beob.  65.  Mord  eines  Mädchens.  Verletzung  mehrerer  Per- 
sonen. Stupor  epilepticus.  Höwe,  29  J.,  Knecht,  litt  seit  dem  6.  Jahr  an 
häufigen  Anfällen  von  Epilepsie  mit  gewöhnlich  folgendem,  bis  zu  mehreren 
Tagen  dauerndem  Stupor.  Wenn  er  dann  wieder  zu  sich  kam,  hatte  er  keine 
Erinnerung  für  die  Krankheitszeit,  klagte  Schwindel,  Kopfweh  und  war  moros. 
Seine  epilept.  Anfälle  traten  fast  regelmässig  in  Pausen  von  3  Wochen  auf.  Sie 
begannen  mit  einer  von  der  Magengegend  aufsteigenden  Aura.  Nicht  selten  war 
er  schon  mehrere  Tage  vor  seinen  Anfällen  verstimmt,  gedrückt. 

Am  16.  Juli  hatte  H.  wiederholt  die  Aura  verspürt.  Abends  war  ein  Anfall 
aufgetreten,  dem  in  der  Nacht  auf  den  17.  mehrere  gefolgt  sein  mögen,  wenig- 
stens war  am  17.  sein  Gesicht  verletzt.  Am  17.  traten  noch  mehrere  epil.  Insulte 
auf.  Vom  18.  an  ist  H.  Stupores,  liegt  und  steht  herum,  appercipirt  gar  nicht, 
gibt  nur  vereinzelte  einsilbige  Antworten  und  nimmt  keine  Nahrung  zu  sich. 
Am  19.  Nachmittags  erscheint  er  auf  dem  Hof,  wo  ein  Mädchen  und  ein  Knabe 
mit  Holzmachen  beschäftigt  sind.  Der  Knabe  fragt  theilnehmend,  ob  er  essen 
wolle.  H.  hebt  die  Hand,  um  nach  dem  Knaben  zu  schlagen.  Dieser  entflieht. 
H.  geht  dem  Mädchen,  das  über  eine  Hecke  zu  entrinnen  versucht,  nach,  schlägt 
ihm  mit  der  Faust  auf  den  Kopf,  bis  es  niedersinkt.  Auf  die  Angstrufe  des 
Knaben  eilen  die  Nachbarn  herbei  und  sehen,  wie  er  das  zu  seinen  Füssen  zap- 
pelnde Mädchen  anstarrt.  Auf  ihren  Ruf:  „Mein  Gott,  Joachim,  was  machst  du 
da?"  holt  er  sich  ein  auf  der  Diele  liegendes  Beil,  gibt  dem  Kind  mehrere 
Schläge  damit  auf  den  Kopf,  wendet  sich  dann,  gegen  die  entsetzten  fliehenden 
Zuschauer,  holt  eine  Frau  ein  und  haut  ihr  auf  die  Finger,  bis  sie  ohnmächtig- 
niedersinkt, versetzt  dann  einem  Hund,  der  ihm  entgegen  kommt,  mehrere  Beil- 
hiebe, hebt  dann  das  Hemd  vor  einem  Taglöhner,  den  er  gewahr  wird,  auf  und  zeigt 
ihm  mit  den  Worten:  „sieh  da"  den  Hintern.  Dann  steht  er  einige  Zeit  auf  der 
Strasse  und  geht  dann  nach  dem  gegenüberliegenden  Schäferhaus,  versucht  dessen 
Thür  einzuhauen,  haut  dann  nach  einem  Mann,  verfolgt  ihn,  holt  ihn  ein,  versetzt 
ihm  im  Handgemenge  noch  einen  leichten  Hieb,  wird  endlich  überwältigt  und 
gebunden.  Darauf  liegt  er  einige  Zeit  ganz  stille  (stuporös)  da,  zeigt  dann  einen 
vorübergehenden  wuthzornigen  Aufregungszustand,  der  wieder  in  Stupor  über- 
geht. Dieser  stuporöse  Zustand  dauerte  bis  zum  22.,  an  welchem  Tage  er  erstaunt 
zu  sich  kam,  weinend  fragte,  warum  er  gebunden  und  angekettet  sei.  Er  hatte 
absolut  keine  Erinnerung  von  den  Ereignissen  der  letzten  Tage,  fühlte  sich  noch 


198  Cap,  IX.    Epileptisches  Irresein.     Dämmerzustände 

schwach  und  matt.  Die  Verletzungen  des  erschlagenen  Mädchens  bestanden  in 
einem  Schädelbruch,  mehreren  Contusionen  und  5  Hiebwunden  des  Gesichts. 

Bis  zur  That  hatte  H.  als  ein  gutmüthiger,  fleissiger  Mensch  gegolten. 
Genau  3  Wochen  nach  jener  trat  neuerdings  ein  epilept.  Insult  und  in  einem 
weiteren  am  20.  September  der  Tod  ein.     (Jahn,  Henke's  Zeitschr.  1837,  4.  Heft.) 

Weitere  Fälle:  Samt  op.  cit.  Beob.  11  u.  12. 

ß)  Zustände  tiefer  geistiger  Umdämmerung  bis  zum  Verlust 
des  Bewusstseins  (analog  der  Vertigo  epil.)  mit  impulsiven  Akten  (als 
Analoga  der  partiellen  Muskelkrämpfe  bei  Vertigo). 

Sie  sind  von  der  grössten  Wichtigkeit,  da  sie  ganz  transitorisch  sind,  in 
der  Regel  nur  Minuten  dauern,  jedoch  kommen  auch  protrahirte  Anfälle  vor. 
Die  tiefe  Störung  des  Bewusstseins  beim  Kranken  entgeht  der  Umgebung  leicht 
bei  der  kurzen  Dauer  dieser  Anfälle.  Da  solche  Zustände  vielfach  Begleiter  der 
nur  vertiginösen  Epilepsie  sind,  ist  die  forensische  Beurtheilung  keine  leichte.  , 
Die  complete  Amnesie,  die  typische  Wiederkehr  derselben  Akte,  die  traumhaft 
vollzogen  werden  und  der  sonstigen  Persönlichkeit  des  Kranken  ganz  entgegen- 
gesetzt sind,  geben  zunächst  Anhaltspunkte  für  die  Expertise.  In  der  Regel 
stehen  diese  Anfälle  mit  solchen  von  Vertigo  in  Beziehung.  Die  impulsiven  Akte 
können  in  Diebstählen,  brutaler  Gewaltthätigkeit,  Beschimpfungen,  Brandstiftung, 
Unzuchtvergehen,  Mord,  Selbstmord  bestehen. 

Beob.  66.  Impulsiver  Mord  im  Anfall  epileptischer  Bewusst- 
1-osigkeit  im  Zusammenhang  mit  Vertigo  epil.  Felix  Fraiche  bot  vom 
5.-7.  Lebensjahr  sonderbare  impulsive  Akte,  z.  B.  Zerstören  der  ihm  besonders 
theuren  Spielsachen,  Geniessen  von  Speise,  nur  wenn  man  ihm  die  Hände  hielt. 
Er  litt  häufig  an  Zahnweh,  hatte  mit  13  Jahren  kaum  den  Habitus  eines  8jährigen 
Knaben,  entwickelte  sich  aber  dann  rapid.  Wenig  begabt,  von  furchtsamem,  in 
sich  gekehrtem  Wesen,  indessen  gelehrig  und  wissensbedürftig.  Er  war  sehr 
reizbar,  schrie  oft  Nachts  auf,  urinirte  zeitweise  in's  Bett,  litt  ab  und  zu  an 
Athembeklemmungen,  und  konnte  nur  schlafen,  wenn  Licht  im  Zimmer  brannte. 

Fr.  ist  von  extremer  Hässlichkeit.  Sein  Schädel  ist  difform,  die  Stirn 
niedrig,  doppelseitiges  convergirendes  Schielen,  Amblyopie  auf  dem  linken,  Myopie 
auf  dem  rechten  Auge.  Linke  Pupille  erweitert,  Stumpfnase,  angeborene  Läh- 
mung der  Ober-,  breite,  hj^pertrophische  Unterlippe,  vorgeschobener  Oberkiefer  mit 
3  enormen  Schneidezähnen,  rechtsseitige  geringere  Entwicklung  des  Gesichts- 
schädels und  sonstigen  Skeletts,  Verwachsung  der  Finger  der  linken  Hand  bis 
zur  Hälfte  der  2.  Phalanx  sind  die  hauptsächlichsten  Schönheitsfehler  dieses 
degenerirten  Individuums.  Er  litt  oft  an  Anfällen  von  Kopfweh;  ab  und  zu 
Schwindelanfälle,  ascendirende  heisse  Aura,  Absencen,  in  welchen  er  ohne  Be- 
wusstsein  handelte,  nächtliches  Funken-  und  Flammensehen,  verworrenes  Geräusch, 
Glockenläuten,  Aufschrecken  und  periodenweises  Bettnässen,  Herausfallen  aus 
dem  Bett,  blutiger  Speichel  auf  dem  Kopfkissen.  Intelligenz  kaum  unter  dem 
Niveau  der  Durchschnittsmenschen.  Niemand  ahnte,  dass  Fr.  an  Vertigo  bei  Tag 
und  an  epilept.  Insulten  bei  Nacht  litt. 

Am  11.  März  1877,  während  Fr.  Schulaufgaben  machte,  verliess  er  plötzlich 
die  Arbeit,  holte  einen  Dolch  im  Zimmer  seines  Vaters  und  tödtete  das  19jährige 
Dienstmädchen  mit  einem  Stich  zwischen  die  Schultern,  ohne  ein  Wort  zu  sagen. 


mit  impulsiven  Akten.     Dämmerzustände  mit  Angst.  199 

Gleich  kam  er  wie  aus  einem  Traum  zu  sich,  gedachte  sich  zuerst  zum  Fenster 
hinauszustürzen,  brachte  sich  aber  statt  dessen  eine  Dolchwunde  bei.  Der  eilend 
herbeigeholte  Arzt  findet  ihn  stupid,  unfähig,  ein  Motiv  für  seine  That  zu  finden. 
Die  Ermordete  war  vor  9  Jahren  in's  Haus  gekommen,  mit  Fr,  aufgewachsen. 
Sie  hatten  im  besten  Einvernehmen  gelebt.  Fr.  war  erst  nach  seiner  impulsiven 
That  aus  seiner  Vertigo  wieder  zu  sich  gekommen.  Er  weiss  kein  Motiv  für 
seine  absurde  bewusstlose  That.  Er  starrt  sie  an  wie  etwas  Fremdes,  ihm  nicht 
Zugehöriges.  Verf.  erweist,  dass  dieser  impulsive  Akt  einem  Epileptiker  zukam. 
Fr.  wurde  nicht  verurtheilt.     (Legrand  du  Saulle,  Ann.  med.  psychol.  1877,  Sept.) 

Weitere  Fälle:  Trousseau  op.  cit.  p.  25  (ganz  impulsiver  Angriff  auf 
die  Wärterin  im  Schlaf).  Ebenda  (Schwindelanfälle  einer  Dame,  in  welchen  sie 
in  Theater,  Kirche,  auf  der  Strasse  etc.  plötzlich  die  gröbsten  Schmähungen  und 
unkeuschsten  Worte  ausstösst  ohne  Bewusstsein  und  ohne  Erinnerung). 

Diebstähle :  Liman,  zweifelh.  Geisteszustände,  Fall  5.  Devergie,  med.  legale, 
3.  edit.  I.  p.  691. 

Brandstiftung:  Friedreich's  Blätter  1856,  H.  3,  p.  87.  Bonnefous,  Annal. 
med.  pEji-chol.  1867,  Juni. 

Gewaltthaten  und  Mord :  Trousseau  op.  cit.  p.  25.  Liman,  zweifelh.  Geistes- 
zustände, Fall  7.  Tamburini,  Rivista  sperim.  1876,  fascic.  5  u.  6.  Legrand  du 
Saulle,  etude  med.  legale  (Mord  mit  63  Messerstichen !). 

Unzüchtige  Handlungen :  Liman,  zweifelh.  Geisteszustände,  Fall  6  (ötfent- 
liche  Onanie).  Westphal,  Archiv  f.  Psych.  VI.  H.  3  (Entblössung  der  Genitalien 
a,uf  offener  Strasse).  Auzouy,  Ann.  med.  psj^ch.  1874,  Nov.  (Unzucht  mit  Kindern). 
Pürkhauer,  Friedreich's  Blätter  1879,  H.  5  (analoger  Fall). 

Selbstmordversuche :  Castro,  Rivista  sperim.  1877.  Dickson,  Brit.  med. 
Journ.  1867,  Nov. 

•,')  Dämmerzustände  mit  Angst  („petit  mal'')- 

Auf  dämmerhafter  Bewusstseinsstufe  findet  sich  hier  eine  schmerzliche 
Depression,  die  als  tiefes  geistiges  Weh  bis  zu  dämonomanischer  Allegorisirung 
«mpfunden  wird  und  mit  Angst,  Verwirrung  der  Gedanken  einhergeht.  Unter 
dem  Einfluss  dieser  ängstlichen  Umdämmerung  und  Beklommenheit  wird  der 
Kranke  unstet,  treibt  sich  j^lanlos  umher.  Er  gleicht  dem  von  Präcordialangst 
gefolterten  Melancholischen,  nur  mit  dem  Unterschied,  dass  die  Störung-  des  Be- 
wusstseins  und  die  tiefe  geistige  Verworrenheit  dem  epileptischen  Angstzustand 
ein  eigenthümliches  Gepräge  verleihen.  Vorübergehend  kann  dieser  sich  bis  zur 
Höhe  eines  raptus  melancholicus  erheben.  Jedenfalls  ist  bei  den  Fällen  von  frei- 
stehendem rapt.  mel.  immer  zunächst  an  eine  epileptische  Grundlage  zu  denken. 
Entprechend  der  tiefen  Trübung  des  Bewusstseins  im  Anfall  ist  die  Erinnerung 
nur  eine  summarische,  für  die  Exacerbationen  kann  sogar  ein  Erinnerungsdefekt 
bestehen. 

Auf  Grund  der  Angst  sowie  feindlicher  Verkennung  der  Um- 
gebung sind  Gewaltakte  gegen  diese  oder  auch  gegen  die  eigene 
Persönlichkeit  möglich.  Sie  tragen  das  Gepräge  psychischer  Reflex- 
akte wie  beim  Melancholischen  oder  haben  den  Charakter  impulsiver 
Handlungen.     Brutale  Gewalt  und  Rücksichtslosigkeit  zeichnen  diese 


200  C^P-  ^^-    Epileptisches  Irresein. 

destruirenden  Akte  aus.  Nicht  selten  erscheinen  diese  Anfälle  als 
freistehende.  Sie  sind  nach  den  Erfahrungen  Falret's,  mit  denen  die 
meinigen  übereinstimmen,  häufiger  bei  vertiginöser  E,  als  convulsiver 
oder  es  treten  wenigstens  klassische  epil.  Insulte  nur  ganz  ver- 
einzelt auf. 

Beob.  67.  Petit  mal.  Morcrmehrerer  Personen.  Micliot,  42  J.  alt, 
Handarbeiter,  stammt  von  einem  Vater,  der  einer  Apoplexie  erlag.  Ein  Bruder 
ist  epileptisch-irre.  M.  hat  als  Kind  an  Convulsionen  gelitten,  bis  zum  13.  Jahre 
zeitweise  in's  Bett  gepisst.  Mit  dem  20.  Jahr  (1852)  Anfall  von  Vertigo  epil. 
(wurde  dabei  blass  im  Gesicht),  der  sich  zur  Zeit  des  Vollmonds  jeweils  bis  1864 
Aviederholte.  M.  war  ein  braver  Soldat,  sehr  solid,  heirathete,  lebte  in  guter  Ehe. 
1864,  nach  einem.  Schrecken,  erster  Anfall  von  klassischer  Epilepsie.  Von 
1866—73,  neben  periodischen  vertiginösen  Anfällen  und  zeitweisem  nächtlichem 
Bettnässen,  etwa  3—4  genuine  epilept.  Anfälle  jährlich.  1873,  einige  Stunden 
nach  einem  solchen,  empfindet  M.  plötzliche  schreckliche  Antriebe  zu  schlagen, 
zu  beissen,  oder  sich  auf  Jemand  zu  stürzen.  Er  hat  noch  so  viel  Besonnenheit, 
seine  Frau,  die  sich  theilnehmend  ihm  näherte,  zu  entfernen.  Es  gesellt  sich 
heftige  Angst  zu  diesen  Antrieben.  M.  schläft  indessen  ein  und  fühlt  sich  beim 
Erwachen  wieder  wohl. 

Am  18.  April  1875  ist  M.  den  ganzen  Tag  traurig,  niedergeschlagen,  ver- 
stimmt. Abends  epilept.  convulsivischer  Anfall,  darauf  schlaflose,  unruhige  Nacht 
voll  schrecklicher  Phantasien  und  Flammen  und  Blitzen  vor  den  Augen. 

Am  19.  Morgens  planloses  dämmerhaftes  Fortlaufen  vom  Hause.  Bei  der 
Rückkehr  schindet '  er  seine  Katze,  verwundet  eine  Frau.  Seine  Nachbarn  wollen 
ihn  davon  abhalten,  er  reisst  sich  los,  diese  fliehen  entsetzt,  er  hackt  seine  Frau 
sammt  dem  Bett,  auf  dem  sie  lag,  in  Stücke,  rennt  10  Kilometer  weit  fort  nach 
Orleans,  schlägt  unterwegs  einer  Bettlerin  den  Kopf  ab,  sticht  einen  Priester 
zusammen,  ermordet  einen  Mann,  verwundet  dessen  Frau,  zerschmettert  einem 
9jährigen  Knaben  den  Schädel  und  sticht  ein  Individuum  todt.  Am  20.  April 
bei  der  Ankunft  in  Orleans  ist  das  Delirium  vorüber,  aber  das  Bewusstsein  noch 
nicht  aufgehellt.  Von  der  Katastrophe  im  eigenen  Hause  hat  er  keine,  von  dem 
unterwegs  Geschehenen  nur  eine  summarische  Erinnerung.  Am  29.  zwei  schwere 
epileptische  Insulte.     (Legrand  du  Saulle,  Ann.  med.  psychol.  1877,  Sept.) 

Beob.  68.  Epileptische  Dämmerzustände  mit  Angst  (petit  mal). 
Schmid,  Commis,  29  J.,  stammt  von  einer  neuropathischen ,  mit  Convulsionen 
behafteten  Mutter  und  litt  sel"bst  bis  zum  5.  Jahre  an  Convulsionen.  Von  da  bis 
zum  9.  Jahre  wurden  Zustände  von  Schlafwandeln  beobachtet.  In  der  Folge 
war  Pat.  sehr  nervös,  reizbar,  schreckhaft.  Vom  16.  Jahr  an  Anfälle  von  heftigem 
Kopfschmerz,  habituelle  Verstimmung,  moroses  Wesen,  grosse  Gemüthsreizbarkeit. 
Im  18.  Jahr  motivloser  Selbstmordversuch  mittelst  Zündhölzern.  Bis  zum  25.  Jahr 
öfters  Anfälle  von  unmotivirter  Angst  und  Beklemmung,  in  welchen  er  umherirrte 
und  im  Bewusstsein  erheblich  gestört  war.  Diese  Anfälle  (petit  mal)  dauerten 
einige  Stunden.  Mehrmals  jährlich  litt  Pat.  auch  an  Schwindelanfällen  mit 
Schwarzwerden  vor  den  Augen  imd  Trübung  des  Bewusstseins  (Vertigo) ;  Pat. 
■wurde  Geschäftsmann,  verband  sich  1875  mit  einem  Anderen.   Das  Geschäft  ging 


Dämmerzustände  mit  hallucinatorischem  Delirium.  201 

schlecht,  sein  Compagnon  war  unredlich.  Seit  Anfang-  April  1876  schlechter 
Schlaf,  Kopfweh,  schreckhafte  Träume,  Schwierigkeit,  beim  Erwachen  Traum  von 
Wirklichkeit  zu  unterscheiden,  gedrückte  Stimmung  bis  zu  Taed.  vitae. 

In  der  Nacht  auf  den  6.  Mai  1876  träumte  er,  dass  sein  unredlicher  Com- 
pagnon  vor  ihm  stehe  und  ihn  bedrohe.  Er  erwachte,  war  in  ganz  unbesinn- 
lichem Zustand,  suchte  nach  einer  Waffe,  um  seinen  Schlaf  kameraden,  da  er  ihn 
in  der  Verwirrung  mit  dem  Traumbild  identificirte,  zu  tödten.  Unter  seinem 
erfolglosen  Suchen  nach  einer  Waffe  kam  er  zu  sich  und  erkannte,  in  welcher 
Gefahr  er  sich  befunden  hatte,  einen  ganz  unschuldigen  Menschen  zii  tödten. 
Er  war  am  6.  früh  in  gedrückter  Stimmung,  ging  Nachmittags,  um  sich  zu  zer- 
streuen, in  den  Stadtpark  spazieren. 

Plötzlich  wurde  ihm  schwindlig,  schwarz  vor  den  Augen,  eine  entsetzliche 
Angst  überfiel  ihn.  Es  war  ihm,  wie  wenn  die  Leute  auf  ihn  eindrängen,  ihn  ver- 
folgten. Von  namenloser  Angst  getrieben,  rannte  er  davon,  ohne  zu  wissen  wohin. 
Auf  dieser  Flucht  sah  er  die  Umgebung  nur  noch  in  unbestimmten  Umrissen. 

Wie  lange  er  umherrannte,  weiss  er  nicht  anzugeben.  Endlich  brach  er 
athemlos  zusammen  und  bat  einen  herzugekommenen  Polizisten  um  Schutz.  Bei 
der  sofortigen  Aufnahme  im  Spital  erschien  er  ängstlich,  verstört,  im  Bewusstsein 
augenscheinlich  gestört.  Abends  wurde  er  lucid  und  frei  von  Angst.  Grosser 
Schädel  (58  Cf.).  An  der  linken  Seite  der  Zungenspitze  eine  Narbe.  Eigentliche 
epileptische  Insulte  stellte  Pat.  in  Abrede.  Da  die  folgende  Beobachtung  ausser 
einer  gewissen  Gedrücktheit  nichts  Erhebliches  ergab,  wurde  dem  Verlangen  des 
Pat.  nach  Entlassung  Folge  gegeben.     (Eigene  Beobachtung.) 

Weitere  Fälle:  Marc-Ideler,  IL  p.  379  (Mord).  Gaz.  des  tribun.  1857. 
21.  Aug.  (Verletzung  von  7  Personen).  Samt  op.  cit.  Beob.  1  (Suicidiumversuch). 
V.  Krafft,  Zeitschr.  f.  Psych.  1867,  H.  4  (Wäschediebstahl). 

§)  Dämmerzustände  mit  hallucinatorischem  Delir  („grand  mal"). 

Sie  stellen  eine  Weiterentwicklung  des  petit  mal  dar,  insofern  episodisch 
bei  diesem  Hallucinationen  und  eine  noch  tiefere  Trübung  des  Bewusstseins  auf- 
treten. Die  Uebergänge  zwischen  den  Formen  des  petit  und  grand  mal  sind 
jedenfalls  fliessende.  Das  grand  mal  ist  ein  brüsk  auftretendes  furibundes  hallu- 
cinatorisches  Delirium  bei  tiefer  Störung  des  Bewusstseins.  Das  Delirium  ist 
vorwiegend  ein  schreckhaftes ,  bewegt  sich  wesentlich  in  entsetzlichen  Visionen 
von  Blut,  Feuer,  Teufeln,  Mördern,  Gespensterspuck.  Die  Kranken  hören  Kano- 
naden, Füsiladen,  Brausen,  Stöhnen,  sehen  sich  von  Hexen,  Teufeln,  Bewaffneten, 
wilden  Thieren  umwogt,  zum  Schaffet  geführt,  Abgründe  vor  ihren  Füssen  etc. 
Als  Reaktion  auf  diesen  schrecklichen  Bewusstseinsinhalt  kommt  es  zu  ver- 
zweifelter Gegenwehr,  zu  wuthzornigen  Erregungszuständen,  in  welchen  der 
tobende,  unnahbare  Kranke  um  sich  haut,  beisst,  sticht  und  damit  der  Aussen- 
welt,  die  gar  nicht  oder  im  Sinne  des  Deliriums  feindlich  appercij^irt  wird,  höchst 
gefährlich  ist. 

Bemerkenswerth  ist  gegenüber  ähnlichen  Zuständen  krankhafter  Bewusst- 
losigkeit  (Mania  transitoria  etc.)  dass  der  Kranke  trotz  seiner  tiefen  geistigen 
Verworrenheit  einen  gewissen  Zusammenhang  in  seinen  deliranten  Aeusserungen 
vielfach  bietet,  sowie  einigermassen  combinirter,  anscheinend  planmässiger  Hand- 
lungen fähig  erscheint.  Nicht  selten  treten  in  diesem  Delirium  Episoden  von 
Stupor   sowie   auch  von  religiösem  Primordialdelir  auf  und  geben  dem  ohnehin 


202  C!ap.  IX.    Epileptisches  Irresein. 

durch  Verworrenheit  und  Bewusstseinsstörung  auffälligen  deliranten  Zustand  ein 
ganz  besonderes,  speciell  auf  Epilepsie  hinweisendes  Gepräge. 

Eine  erst  in  neuerer  Zeit  genauer  erkannte  Varietät  des  hallucinatorischen 
Delirs  Epileptischer  ist  ein  religiöses,  vorwiegend  expansives,  in  welchem  sich  die 
Kranken  im  Paradies  wähnen,  mit  Gott  in  Verkehr  zu  stehen  vermeinen,  von 
Gott  zur  Stelle  eines  Propheten,  Messias  etc.  erhoben  zu  sein  wähnen,  in  himmli- 
schen Freuden  schwelgen  und  vorübergehend  sich  dem  Zustand  einer  Ecstase 
nähern  können.  Mitten  in  dieser  „Gottnomenklatur"  kann  episodisch  ein  schreck- 
haftes Delir  auftreten  —  die  Pforten  der  Hölle  öffnen  sich,  ein  Gottesgericht  er- 
geht über  den  Kranken,  der  Teufel  will  sich  seiner  bemächtigen  etc.,  jedoch  geht 
der  Kranke  aus  solchen  Episoden ,  die  sich  mehrfach  im  Verlauf  eines  Anfalls 
wiederholen  können,  immer  wieder  als  eine  gottbegnadete  Persönlichkeit  hervor. 

Während  die  Zustände  von  petit  mal  meist  nur  bis  zu  einigen  Stunden 
dauern,  kann  das  grand  mal  mehrere  Tage  zum  Ablauf  erfordern. 

Die  Lösung  des  Anfalls  erfolgt  durch  einen  Zustand  von  Stupor  oder 
psychischer  Umdämmerung  d.  h.  die  Trübung  des  Bewusstseins  überdauert  das 
Delirium.  Die  Rückerinnerung  ist  eine  getrübte ,  summarische.  In  zahlreichen 
Fällen  besteht  sogar  vollständiger  Erinnerungsdefekt,  namentlich  dann  wenn  ein 
epileptischer  Insult  bald  auf  das  Delir  folgt.  Die  Zustände  des  grand  mal  finden 
sich  vorwiegend  bei  convulsiver  E.  und.  zwar  meist  als  Vorläufer,  seltener  im 
Anschluss  an  klassische  Insulte,  namentlich  serienweises  Auftreten  solcher. 

Die  schwersten  Gewalttliaten  kommen  in  der  persecutorischen 
Varietät  des  grand  mal  vor,  aber  auch  im  religiösen  Delir  bestehen 
Gefahren  für  die  Umgebimg,  insofern  diese  als  unheilig  verkannt  und 
bedroht  oder  auf  göttlichen  Befehl  durch  Tödtung  ebenfalls  der 
Freuden  des  Paradieses  theilhaftig  gemacht  wird. 

Beob.  69.  Tödtung  der  Eltern  in  hallucinator ischem  epi- 
leptischem Delirium.  Th.  Piednoir,  26  Jahre,  Winzer,  von  Kindheit  an 
epileptisch,  schwachsinnig,  krankhaft  misstrauisch  gegen  seine  Angehörigen,  die 
ihn  liebevoll  behandelten,  öfters  aufgeregt,  mit  folgendem  Stupor,  Anfällen  unter- 
worfen, in  denen  er  planlos  und  in  seinem  Bewusstsein  tief  gestört  umherirrte, 
häufig  hallucinirend ,  trieb  sich  am  Abend  des  22.  April  1870  pfeifend  auf  dem 
Hofe  seiner  Eltern  umher,  sprach  von  Gott  und  der  heiligen  Jungfrau,  die  des 
Nachts  ihn  besuchten  und  mit  ihm  sprächen.  Offenbar  befand  er  sich  wieder 
im  Beginn  einer  seiner  Paroxysmen.  Um  7V2  Uhr  legten  sich  die  Eltern  zu 
Bett.  Um  Mitternacht  erscheint  P.  nothdürftig  bekleidet,  in  aufgeregtem  Zu- 
stand im  Hause  seines  Pathen,  zerschlägt  ein  Fenster,  geht  dann  ins  Haus  seines 
Schwagers,  sagt  diesem,  er  sei  voll  Wuth,  habe  heute  Nacht  stark  geai-beitet. 
Man  führt  ihn  nach  Hause  und  findet  dort  die  Leichen  seiner  Eltern  mit  schreck- 
lich durch  Stockschläge  zertrümmerten  Köpfen.  P.  erklärt  seine  Eltern  aus  freien 
Stücken  mit  einem  Stock,  den  er  als  eine  Waffe  bezeichnet,  ermordet  zu  haben; 
es  habe  ihn  viel  Arbeit  gekostet.  Er  sei  der  Erbe  alles  Unglücks,  wisse  Alles. 
—  Im  Gefängniss  erschien  er  ruhig,  apathisch,  wie  im  Stupor.  Seine  Erinnerung 
an  die  That  ist  nur  eine  summarische,  eines  Motivs  ist  er  sich  nicht  bewusst, 
es  habe  so  geschehen  müssen,  ein  Andrer  hätte  ebenso  gehandelt  wie  er,  er 
habe  sich  zur  That  getrieben  gefühlt.     Es  sei  ein  grosses  Unglück  was  er  ange- 


Beob.  70.     Mord  in  hallucinatoriscliem  epileptischem  Delir.  203 

richtet,  er  bereue  es  tief,  aber  es  sei  so  seine  Bestimmung  gewesen.  In  der 
Nacht  auf  den  28.  träten  mehrere  epileptische  Anfälle  ein,  in  deren  einem  P. 
ein  Messer  verlangte.     Die  Erinnerung  an  diese  Anfälle  fehlte. 

Das  Gutachten  führte  aus,  dass  P.  an  epileptischem  Irresein  leide  und  in 
einem  Anfall  von  impulsivem  Delirium  seine  schreckliche  That  begangen  habe. 
Etwa  einen  Monat  nach  seiner  Verbringung  in  die  Irrenanstalt  starb  er  in  einem 
epileptischen  Anfall.     (Annal.  med.  psycho!     Mai  1871.) 

Beob.  70.  Mord  der  Gattin  und  vier  anderer  Personen. 
Schreckhaftes  hallucinatorisches  epilept.  Delir  mit  episodi- 
schem H  i  m  m  e  1  s  d  e  1  i  r.  Am  28.  April  tödtete  der  41  J.  alte  Bauer  Pionzo 
in  wenigen  Minuten  seine  Frau,  eine  andere  Frau  und  deren  3  Kinder.  Keine 
Erblichkeit,  keine  erhebliehen  Krankheiten.  Keine  Ausschweifungen,  gute  jEhe 
seit  10  Jahren.  Vor  8  Jahren  psychischer  Aufregungszustand  unter  Congestionen, 
der  auf  Aderlass  verschwand.  In  der  Folge  zeitweise  Anfälle  von  Schwindel  mit 
Gedankenverwirrung.  Am  26.  April  erschrack  P.  über  eine  todte  Katze  der  die 
Augen  heraushingen.  Er  konnte  sich  über  diesen  Vorfall  nicht  beruhigen,  er- 
blickte darin  ein  böses  Omen,  konnte  die  folgende  Nacht  nicht  schlafen.  Am  27. 
war  er  schreckhaft,  legte  sich  früher  als  gewöhnlich  zu  Bett,  erschrack  über  den 
Nachbar  Canis,  der  mit  einem  Dreizack  ihn  besuchte,  meinte  dieser  hege  Furcht 
oder  Misstrauen,  weil  er  bewaffnet  kam.  Er  schlief  wenig,  träumte  C.  habe  ihm 
Bücher  (die  er  gar  nicht  besass)  mitgenommen,  ging  am  27.  zu  0.  und  verlangte 
diese  Bücher,  indem  er  Schlaflosigkeit  und  Kopfweh  klagte.  Er  sah  seinen  Irr- 
thum  ein,  ging  wieder  zu  Bett.  Der  Kopf  wurde  ihm  schwer,  die  Gedanken 
confus,  er  versuchte  zu  arbeiten,  da  er  nicht  schlafen  konnte.  Um  8^2  Uhr  ging 
er  mit  der  Sichel  aufs  Feld.  Dort  bemerkte  ihn  das  Weib  des  C,  wie  er  weinte 
und  auf  die  Knie  niedersank.  Erschreckt  fragte  sie  ihn  was  er  habe.  Er  wolle 
fort  von  seinem  Weib.  Inzwischen  war  seine  Frau  herbeigekommen.  Die  beiden 
suchten  ihn  zu  trösten,  Er  erschien  ihnen  irrsinnig,  weigerte  ärztliche  Hilfe  in 
der  Meinung,  man  werde  ihm  schaden,  ihn  umbringen.  Als  man  mit  Bitten ,  er 
möge  sich  ärztlich  behandeln  lassen,  in  ihn  drang,  wurde  er  zornig,  bedrohte 
die  C.  so  dass  diese  floh,  bald  darauf  aber  mit  3  anderen  Frauen  zurückkehrte. 
P.  meinte,  sie  führten  Böses  im  Schild,  jagte  sie  davon.  Es  kamen  B.  und  seine 
Frau,  luden  die  Frau  des  P.  ein,  mit  ihnen  CaflFe  zu  trinken.  P.  wollte  es  nicht 
leiden,  da  man  seine  Frau  vergiften  wolle.  Diese  folgte  der  Einladung  B's.  P. 
ging  nun  zur  Wittwe  Ca.  Er  war  ganz  entstellt,  verlangte  eine  Sichel,  erhielt 
sie.  Er  ging  fort.  Unterwegs  schreckte  er  sich  über  ein  Weib,  über  eine  Blut- 
lache. Seine  Gedanken  verwirrten  sich  immer  mehr  —  es  kam  ihm  vor,  die  Be- 
sitzer der  umliegenden  Felder  seien  todt,  ohne  Erben,  er  selbst  nun  Besitzer.  Zu 
Hause  traf  er  seine  Frau,  die  vor  Schreck  am  Boden  kauerte.  Er  hielt  sie  für 
vergiftet,  leidend,  schleppte  sie  fort.  Sie  sagte  „du  bringst  mich  um".  „Nein, 
Marie,  ich  bin  dir  gut".  P.  der  ganz  entstellt  war,  packte  die  Frau  und  trug  sie 
aufs  Feld,  dort  lag  ein  grosser  Stein.  „Der  Besitzer  ist  doch  so  eifrig  im  Weg- 
schaffen der  Steine;  wie  kommt  dieser  grosse  Stein  daher?  Es  hat  ihn  Jemand 
daher  gebracht,  damit  ich  Böses  damit  anstelle".  Sofort  nahm  er  den  Stein  und 
schlug  seiner  Frau  den  Schädel  ein.  Da  sie  schrie,  stopfte  er  ihr  den  Mund  mit 
Erde  voll.  B.  u.  C.  eilten  herbei.  Er  rief  ihnen  entgegen  „Ihr  wollt  mich  aus- 
spioniren,  weil  ich  mein  Weib  getödtet,  ich  will  Euch  aber  vertreiben".   Die  Beiden 


204  Cap.  IX.    Epileptisches  Irresein. 

suchten  ihn  zu  bei'uhigen.  Auf  ihre  Frage,  warum  er  blutige  Hände  habe,  sagte 
er  „mein  Weib  hat  mich  gebissen,  aber  ich  werde  sie  getödtet  haben,"  Da  er 
ruhiger  wurde,  Hessen  ihn  die  Beiden  laufen.  P.  rannte  ins  Haus  des  B.,  wo  er 
dessen  Weib  und  3  Kindern  mit  einer  Feuerzange  den  Schädel  zerschmetterte, 
dann  in  der  Meinung,  er  fliege  gen  Himmel,  6  Meter  hoch  vom  Dach  herunter 
sprang.  Man  fesselte  ihn.  Er  sah  ganz  verstört  aus,  war  nicht  bei  sich.  Die 
Nacht  auf  den  29,  war  er  schlaflos  und  musste  bewacht  werden,  da  er  Wuth- 
anfälle  hatte.  Am  29.  früh  war  er  noch  verworren  und  wurde  beim  Verhör  auf- 
geregt, so  dass  man  dieses  aufgeben  musste.  Er  will  die  B,  getödtet  haben,  weil 
er  eine  Stimme  hörte  „bring  sie  um,  nehm  ihr  das  Blut,  esse  ihr  Fleisch.  Ich 
steckte  Stücke  des  Gehirns  in  die  Tasche ,  einen  Knochen  und  Zahn  in  den  Mund 
(thatsächlich)  und  da  ich  eine  Stimme  hörte,  ich  werde  jetzt  mit  allen  Getödteten 
ins  Paradies  eingehen,  sprang  ich  vom  Dach  herunter".  Am  30.  fand  ihn  der 
Arzt  im  Gefängniss  congestiv,  traurig,  niedergeschlagen.  Er  erzählte  die  Details 
der  That,  war  tief  erschüttert.  Er  habe  sich  seit  einigen  Tagen  unwohl,  schwer 
und  schwindlig  im  Kopf  gefühlt  und  eine  Stimme  gehört  „thue  das  und  du  wirst 
gerettet  werden".  Diese  Stimme  habe  ihn  zu  seiner  schrecklichen  That  getrieben. 
Um  1  Uhr  Nachmittags  stertoröses  Athmen,  Schaum  vor  dem  Mund,  einige  Zuckun- 
gen, worauf  P.  mit  blassem  Gesicht,  zusammengekniffenen  Lippen,  aufgerissenen 
Augen  und  reaktionslos  dalag.  Abends  10  Uhr  und  am  1.  Mai  mehrmals  Wieder- 
kehr solcher  bis  ^2  Stunde  dauernder  Anfälle,  die  der  Arzt  als  epileptische 
erkannte.  In  der  Zwischenzeit  war  er  bei  sich.  Bei  der  Ueberstellung  ins  Irren- 
haus am  24.  Mai  ruhig,  lucid,  geordnet.  Am  29,  wird  er  düster,  verstört,  ängst- 
lich, klagt  Unwohlsein,  Gedankenverwirrung,  Kopfweh.  Auf  Laxans  Erleichterung^ 
Am  80,  Abends  tief  verstört,  leicht  stuporös,  ängstlich,  feindliche  Apperceptionen, 
confuse  schreckhafte  Stimmen.  In  der  Nacht  auf  den  31.  schlaflos ,  Todesangst, 
starr  vor  Schrecken.  Am  31.  ganz  verworren,  will  nicht  essen,  Gesicht  heftig 
geröthet.  Plötzlich  wankt  er  auf  2  Wärter  zu  —  er  wird  starr,  Bewusstsein 
halberloschen ,  Gesicht  bleich,  Trachealrasseln,  keuchender  Athem.  Abgang  von 
Urin.  Bis  zum  2.  Juni  eine  ganze  Serie  von  unvollständigen  theils  klonischen 
theils  tonischen  epileptischen  Anfällen.     In  der  Folge  wieder  lucid. 

P.  ist  leicht  micro-brachycephal  (Circumferenz  53  Cm.)  und  geistig  etvva& 
beschränkt.  Er  hat  häufig  gastrische  Beschwerden,  die  dann  jeweils  mit  Gemüths- 
verstimmung  einhergehen.  Den  epil.  Insulten  geht  jeweils  ein  mehrtägiger  Zu- 
stand von  Gedrücktheit,  moralischer  und  intellektueller  Prostration,  Verworrenheit, 
ängstlicher  peinlicher  Unruhe  mit  taed.  vitae,  schreckhaften  imperativen  Halluci- 
nationen  vorher. 

Im  Anfall  ist  sein  Bewusstsein  nicht  aufgehoben,  nur  getrübt.  Eine  schreck- 
liche innere  Angst  bildet  dann  den  Inhalt  desselben.  Er  appercipirt  feindlich, 
sucht  sich  vermeintlichen  Qualen  und  dem  unerträglichen  Leben  durch  Selbstmord 
zu  entziehen. 

Nach  dem  Anfall  ist  er  erschöpft,  leicht  stuporös  verwirrt,  traurig  darüber, 
dass  er  noch  am  Leben.  Die  epil.  Anfälle  sind  incomplete  (petit  mal)  mit  vor- 
herrschender Affektion  der  psychischen  Sphäre.  Die  Mordthaten  fanden  im  Zu- 
stand eines  acuten  epileptischen  Delirs,  das  als  Aura  der  folgenden  Krampfan- 
fälle aufgefasst  werden  kann,  statt. 

P.  befand  sich  zur  Zeit  seiner  That  in  einem  krankhaften  ängstlichen  Zu- 
stand, in  welchem  er  delirirte,  überall  Feinde,  Verfolgung  sah,  von  Allem  schreck- 


Dämmer(Traum-)zustände  mit  complicirten  Handlungen.  205 

hafte  Eindrücke  bekam.  P.  folgte  einem  krankhaften  Impuls  als  er  seine  Schreckens- 
thaten  beging.  Er  ist  gemeingefährlich  und  bedarf  der  Aufnahme  in  einer  Irren- 
anstalt.    Keine  Verurth eilung.     (Toselli  und  Zavattero,  Rivisto  sperimentale.) 

Weitere  Fälle:  Journal  le  Droit  1867,  20.  Juni  (Mordversuch  an  der 
Frau).  Annal.  med.  psych.  1867,  Nov.  (Mord  der  Frau  und  Brandstiftung).  Falret, 
de  Tetat  mental  des  epil.  p.  33  (Mord).  Legrand  du  Saulle,  etude,  Beob.  10  (Mord- 
versuch). Ebers,  Zurechnung,  p.  129  (Tödtung).  Bergonzoli,  Rivista  sperim.  1876, 
März  (Verwundung).  Passauer,  Vierteljahrsclir.  f.  ger.  Med.  XXVI.  H.  2  (gefährl. 
Bedrohung).  Hecker,  deutsch,  med.  Wochenschr.  1876  Nr.  23  (Bedrohung),  v.  Krafft, 
'  Lehrb.  der  Psych.  III.  Beob.  78,  79,  87. 

e)  Dämmerzustände  mit  traumhaften,  aber  c  o  o  r  d  i  n  i  r  t  e  n 
Handlungen,  analog  denen  des  Schlafwandeins,  als  Folge  von 
Delirien  und  Zwangsvorstellungen. 

Es  handelt  sich  um  Zustände  transitorischer  Geistesstörung  auf  epileptischer 
Grundlage,  in  welchen,  ähnlich  wie  bei  dem  Nachtwandler,  das  Bewusstsein  auf 
traumhafter  Stufe  ist  und  combinirte,  anscheinend  planmässige  Handlungen  mög- 
lich sind.  Die  Veranlassungen  zu  diesen  Handlungen  sind  lebhafte  innere  Vor- 
stellungen, die  bei  dem  wechselnden  Zustand  des  Bewusstseins  bald  die  Bedeutung 
von  Delirien  bald  die  blosser  Zwangsvorstellungen  haben.  Die  Phantasiethätig- 
keit  dieser  Kranken  ist  mächtig  erregt  und  spiegelt  ihnen  ganze  Romane  vor,  in 
welchen  sie  die  hervorragende  Rolle  spielen.  Die  Apperception  der  Aussenwelt 
ist  eine  traumhafte  und  verfälscht  im  Sinne  der  den  Kranken  gerade  beherrschen- 
den Ideen.  Diese  sind  vorwiegend  expansive,  der  Kranke  kommt  sich  als  eine 
ausgezeichnete  Persönlichkeit,  als  ein  Fürst,  Gesandter,  Held  und  dgl.  vor,  jedoch 
sind  episodisch  auch  schreckhafte  Delirien  möglich  und  in  seltenen  Fällen  können 
sie  ausschliesslich  vorhanden  sein. 

Solche  Traumzustände  dauern  Stunden,  Tage,  selbst  Wochen.  Die  Delirien 
können  vorübergehend  cessiren  —  der  Kranke  dämmert  dann  ziellos  umher:  mit 
ihrem  Wiederauftreten  nimmt  der  Kranke  seine  wahnhafte  Rolle  wieder  auf  und 
zeigt  ein  scheinbar  bewusstes  combinirtes  Handeln. 

Episodisch  können  Zustände  von  petit  und  von  grand  mal,  Stupor,  impul- 
sive Akte  complicirend  auftreten;  die  Störung  des  Bewusstseins  zeigt  Intensitäts- 
wechsel in  der  Continuität  des  Krankheitsanfalls  von  relativer  Lucidität  bis  zur 
tiefen  traumhaften  Verworrenheit.  Dem  entsprechend  ist  die  Erinnerung  für  die 
einzelnen  Zeitabschnitte  eine  summarische  bis  defekte,  immer  aber  getrübte. 

Die  Anfälle  leiten  sich  mit  Umdämmerung  des  Bewusstseins  ein  und  in 
der  Regel  überdauert  eine  solche  noch  den  eigentlichen  deliranten  Zustand,  so 
dass  eine  scharfe  zeitliche  Abgränzung  jener  von  der  unvermerkt  verloren  gehen- 
den und  wieder  eintretenden  Lucidität  kaum  möglich  ist. 

Die  Kranken  sind  im  Anfall  wenig  auffällig,  ausser  durch  ihren  starren 
wie  verglasten  Blick,  ihren  dämmerhaften  mimischen  Ausdruck.  Sie  erscheinen 
zerstreut,  angetrunken.  Auffallend  häufig  leiten  auraartiger  Kopfschmerz,  Schwindel, 
schwere  Träume  den  Anfall  ein.  Zuweilen  werden  auch  Hallucinationen  beobachtet. 
Psychische  Prostration,  Abgeschlagenheit,  Benommenheit  des  Sensoriums,  Kopf- 
schmerz, Morosität  sind  gewöhnliche  Folgeerscheinungen  des  Anfalls  und  deuten 
nebst  dem  traumartigen  Handeln,  den  Erinnerungsdefekten,  dem  typisch  con- 
gruenten  Bild  der  Anfälle,  den  episodischen  Erscheinungen  von  Stupor  etc.  auf  die 


206  Gap.  IX.    Epileptisches  Irresein. 

epileptische  Natur  des  Zustands  hin.  Intervallär  linden  sich  nebst  den  gewöhn- 
lichen Symptomen  der  epil.  Neurose  zeitweise  Verstimmungen,  Zwangsvorstel- 
lungen, Aengstlichkeit  bei  ganz  bedeutungslosen  Handlungen,  Kopfschmerz, 
Schwindel,  Kopfdruck,  Schwäche,  Muskelspannungen,  Zuckungen,  vasomotorische 
Störungen,  besonders  aber  Nystagmus,  der  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  dauernd 
oder  wenigstens  anfallsweise  beobachtet  wird.  Die  epileptische  Neurose  ist  fast 
immer  hereditär  bedingt  und  sind  Convulsionen  in  der  Kindheit  nachweisbar 
selten  ist  sie  traumatisch  entstanden.  Klassische  epileptische  Insulte  sind  selten 
häufiger  Vertigo,  am  häufigsten  blosse  Angst-  und  Ohnmachtanfälle. 

Die  bis  jetzt  beobachteten  Handlungen  dieses  traumhaften  epi- 
leptischen Dämmerzustands  sind  Vagabundiren  (motivloses  Herum- 
dämmern)^  Desertion  überhaupt,  grundloses  Weglaufen  aus  dem  Dienste, 
Diebstähle,  Schwindeleien,  Majestätsbeleidigungen,  Mord. 

Beob.  71.  Epileptische  Traumzustände.  Desertion.  Theodor  B., 
Soldat  seit  1867,  wurde  den  29.  Januar  1871  der  Desertion  verdächtig  in  Landau 
verhaftet.  Er  hatte  sich  angeblich  seit  Spätherbst  in  der  Gegend  herumgetrieben, 
bald  als  Kundschafter,  bald  als  Baron  S.  Premierlieutenant,  bald  als  Vertreter 
eines  erkrankten  Feldgensdarmen  und  durch  Schwindeleien  sich  den  Unterhalt 
verschafft.  Schon  vom  15. — 22.  August  1870  war  er  von  der  Compagnie  weg- 
geblieben, in  Untersuchungsarrest  gekommen.  Am  23.  August  hatte  er  auf  dem 
Weitermarsch  über  seine  Füsse  geklagt  und  war  verschwunden.  Er  behauptet 
dann  krank  bei  einem  Bauern  gelegen,  sein  Regiment  gesucht  zu  haben,  als  er 
es  nicht  fand,  Ende  October  nach  Landau  zurückgekehrt  zu  sein  und  aus  Furcht 
vor  Strafe  weitere  Schritte  zur  Auffindung  seiner  Truppe  unterlassen  zu  haben. 
Dass  sein  zweckloses  Umherirren  in  so  ernster  Zeit  den  preussischen  Soldaten  in 
Misskredit  bringen  könne,  sei  ihm  nicht  zum  Bewusstsein  gekommen.  Seine 
Schwindeleien  gibt  er  grösstentheils  zu.  Auf  Widersprüche  in  den  Verhören 
aufmerksam  gemacht,  entschuldigt  er  sich,  dass  seine  Aussagen  in  Landau  in 
einer  seiner  schwachen  Stunden  gemacht  seien,  die  ihn  zuweilen  überkommen 
und  in  denen  er  nicht  wisse  was  er  thue.  Seit  dem  12.  Jahre  bis  vor  2  Jahren 
habe  er  zeitweise  solche  „bewusstlose  Zufälle"  gehabt  und  vermutlie,  dass  er 
auch  in  Landau  beim  Verhöre  an  einem  solchen  litt,  da  er  sich  gar  nicht 
mehr  besinnen  könne,  was  er  dort  ausgesagt. 

An  Desertion  bei  seinem  zwecklosen  Umherlaufen  habe  er  keineswegs  ge- 
dacht —  es  sei  nur  Folge  seiner  „Lodderei"  gewesen,  dass  er  sich  nicht  längst 
gemeldet. 

Die  Zurechnungsfähigkeit  des  B.  erschien  fraglich.  Schon  1868  wurde  sie, 
als  B.  desertirte  und  in  Folge  dessen  mit  8  Monaten  Festung  bestraft  wurde,  in 
Zweifel  gezogen,  in  einem  Gutachten  verneint,  in  einem  Obergutachten  bejaht. 

B.  stammt  von  gesunden  Eltern.  Nervenkrankheiten  sind  in  seiner  Fa- 
milie nicht  vorgekommen.  Als  Kind  von  10  Wochen  zweimal  24  Stunden  lang 
Krämpfe.  Normale  Entwicklung,  gute  Erziehung.  1863  Erlernung  der  Landwirth- 
schaft  bei  einem  Gutsbesitzer.  Strenge  Behandlung,  Kopfschläge  und  angedrohte 
Strafe  veranlassten  ihn  zur  Rückkehr  in"s  Elternhaus,  wo  er  bei  der  Ankunft 
Frost,  Kopfschmerz,  Gliederzittern  klagte,  bettlägerig  wurde,  in  der  Folge  sehr 
abgespannt  und  theilnahmslos  war,  dem  Hausarzte  den  Eindruck  eines  Gemüths- 


Beob.  71.     Epileptische  Traumzustände.     Desertion.  207 

kranken  machte.  Er  soll  damals  an  Ohrensausen  und  zeitweiser  Bewusstlosig- 
keit  gelitten  haben.  Genesen,  wurde  er  Wirthschaftsschreiber,  entfernte  sich 
öfters  grundlos  vom  Dienste,  trieb  sich  vagabundirend  herum  und  machte  der 
Umgebung  vielfach  den  Eindruck  eines  zeitweise  gedächtnissschwachen,  irrsinnigen 
Menschen.  Wegen  seines  unmotivirten  Fortlaufens  entlassen,  kam  er  auf  ein 
anderes  Gut,  wurde  aber  dort  unordentlich  in  seinen  Leistungen  und  klagte  öfters 
über  Blutandrang  zum  Kopfe.  Im  Herbste  1867  wurde  er  Soldat.  Anfangs  sehr 
befriedigend,  beging  er  in  der  Folge  allerlei  Verkehrtheiten,  Ungeschicklichkeiten. 
So  kam  er  bei  Zurechtweisungen  ans  dem  Concept,  bei  Schiessversuchen  riss 
er  beim  Abdrücken  beide  Augen  auf  und  verzog  das  Gesicht,  so  dass  ein  schlechter 
Schuss  die  Folge  war.  Sein  Vorgesetzter  schloss  aus  diesem  zwangsmässigen, 
uncorrigirbaren  Benehmen  auf  momentane  Geistesabwesenheit.  Auffällig  war 
seine  Furcht,  wenn  es  zum  Schwimmunterricht  ging.  Beim  Exerciren  sprang  er 
einmal  aus  dem  Glied  ohne  Veranlassung.  Ende  Juli  1868  klagt  er  in  einem 
Briefe  an  den  Vater,  dass  er  wieder  seine  alte  Krankheit  (Kopfweh,  Zittern, 
Frieren  etc.)  spüre  und  am  liebsten  in's  Lazareth  ginge.  Am  13.  August  1868 
verschwindet  er  beim  Gang  nach  der  Schwimmschule,  kommt  am  19.  Aug.  zurück, 
behauptet  er  sei  zu  Fuss  nach  seiner  14  Meilen  entfernten  Heimat  bis  an  die 
Wohnung  seines  Vaters  gegangen,  dann  aber  ohne  einzutreten  wieder  umge- 
kehrt (!).  Er  wisse  nicht  warum  er  fortgelaufen,  es  müsse  seine  alte  Kopfkrank- 
heit Schuld  sein,  die  sich  8  Tage  vor  der  Desertion  durch  Schwindelanfälle  wieder 
angekündigt.  Als  er  auf  dem  Wege  nach  der  Schwimmschule  gewesen,  habe 
ihn  wieder  ein  solcher  Schwindel  befallen,  so  dass  er  selbst  nicht  wisse,  wie  er 
von  G.  fortgekommen.  Das  damals  erhobene  Gutachten  constatirte  diese  tempo- 
rären Zustände  von  Bewusstseinsstörung  als  wirkliche  und  charakterisirte  sie 
als  epileptoide.  Das  Obergutachten  erkannte  in  B.  nur  einen  leichtsinnigen 
Menschen.  B.  gestand  aiich,  dass  er  nur  aus  Furcht  vor  dem  Schwimmen  da- 
vongelaufen und  damals  bei  voller  Besinnung  gewesen  sei. 

B.  ist  24  Jahre  alt,  kräftig,  Druck  auf  einzelne  Halswirbel  schmerzhaft, 
Gesichtsausdruck  verstört,  ängstlich,  das  Gesicht  leicht  erröthend.  Die  Pupillen 
auffallend  weit,  auf  Lichtreiz  träge  reagirend.  Die  Extremitäten  zeigen  leichten 
Tremor,  B.  will  öfters  nach  Geh-  und  Schreibanstrengungen  Waden-  und  Schreibe- 
krampf gehabt  haben,  auch  häufig  an  Kopfweh  und  unruhigem  Schlaf  leiden. 
Ein  gewisser  Grad  von  geistiger  Schwäche  ist  unverkennbar.  Ueber  seine  Deser- 
tionen macht  er  immer  dieselbe  Angabe.  Wie  er  so  etwas  habe  thun  können, 
wisse  er  selbst  nicht;  er  sei  öfters  nicht  richtig  im  Kopfe  und  könne  keinen 
ordentlichen  Gedanken  fassen.  Darin  beständen  seine  „bewiisstlosen  Zustände". 
Er  könne  sie  nicht  genauer  beschreiben;  zuweilen  habe  er  auch  ganz  kurz  dauernde 
Anfälle  solcher  Bewusstlosigkeit,  wo  er  dann  in  der  Rede  stecken  bleibe.  Auch 
sein  Gedächtniss  habe  in  den  letzten  Jahren  immer  mehr  gelitten.  Er  sei  über- 
haupt nicht  mehr  so  wie  früher.  Er  wisse  selbst  nicht,  was  mit  ihm  sei.  Wenn 
Jemand  scharf  mit  ihm  spreche,  gerathe  er  so  in  Angst  und  Unruhe,  bekomme 
dann  das  Zittex'n  sehr  stark  und  es  breche  Schweiss  am  ganzen  Körper  aus. 
Auch  könne  er  dann  gar  nicht  widerstehen  und  lasse  sich  zu  Allem  überreden. 
Diese  Angaben  des  B.  machen  den  Eindruck  der  Wahrheit. 

Das  Gutachten  resümirt  die  früheren  Lebens-  und  Gesundheitszustände 
und  kommt  zum  Schlüsse,  dass  hier  ein  empirisch  wahres  Krankheitsbild  —  ein 
epileptoides  Leiden  —  vorliegt,    ein  Leiden,    bei  dem  nicht  ausgesprochene  epi- 


208  ^^P-  I-^-    Epileptisches  Irresein. 

leptische  Anfälle  auftreten,  sondern  statt  solcher  vorübergehende,  kürzere  oder 
längere  Schwindel-  oder  auch  Traumzustände,  plötzliche  Angstanfälle  etc.  Nach 
Oriesinger  haben  von  solchen  Zuständen  Befallene  als  Kinder  oft  Krämpfe  mit 
Verlust  des  Bewusstseins  gehabt  oder  einmal  eine  Kopfverletzung  erlitten.  Sie 
bieten  in  der  intervallären  Zeit  gewöhnlich  eine  allgemeine  Abspannung,  Ver- 
stimmung, Aengstlichkeit,  Befangenheit.  Die  Aengstlichkeit  kann  sich  bei  ein- 
zelnen Kranken  regelmässig  bei  gewissen  Handlungen,  die  an  und  für  sich  gleich- 
gültig sind  (Schreiben,  Essen  etc.),  steigern.  Auch  werden  motorische  Symptome 
(leichte  Zuckungen  in  den  Händen,  um  den  Mund,  den  Bulbus,  Nackenstarrheit) 
und  andere  wahrscheinlich  nervöse  (Kälte  der  Füsse,  plötzliche  Röthe  des  Ge- 
sichtes, schnell  ausbrechender  starker  Schweiss)  hier  nicht  selten  beobachtet. 
Diese  Erscheinungen  finden  sich  sammt  und  sonders  am  Inculpaten ;  sie  würden, 
auch  wenn  er  nicht  darüber  klagte,  bewusstlose  Zustände  vermuthen  lassen.  B. 
leidet  an  einer  Gehirnkrankheit,  die  mit  periodisch  auftretenden  Anfällen  von 
Bewusstlosigkeit  resp.  mit  traumhaften  Zuständen  verbunden,  sich  auch  in  der 
Zwischenzeit  durch  gewisse  sensorielle  und  psj^chomotorische  Sj^mptome  äussert, 
in  Folge  deren  der  Kranke  als  unzurechnungsfähig  zu  betrachten  ist.  (Hecker, 
Vierteljahrsschr.  f  gerichtl.  Med.  N.  F.  XX.  H.  1.) 

Beob.  72.  E  p  i  1  e  p  t  i  s  c  h  e  D  ä  m  m  e  r  -  und  T  r  a  u  m  z  u  s  t  ä  n  d  e  m  i  t 
Angst.  Gefährliche  Drohungen.  Neuner,  29  J.,  Taglöhner,  litt  als  Kind 
an  Convulsionen,  bekam  mit  6.  J.  einen  Steinwurf  auf  die  Stirne  ohne  ei-kenn- 
bare  Folgen  ausser  mehrstündiger  Bewusstlosigkeit,  war  erwachsen  etwas  Trinker, 
hatte  1871  eine  acute  cerebrale  Affektion  überstanden  und  seit  1872  epileptische 
Anfälle  geboten ,  die  in  Pausen  von  mehreren  Monaten ,  aber  dann  gehäuft  auf- 
traten. Er  war  sehr  reizbar  geworden,  intolerant  gegen  Alkohol  und  intellektuell 
geschwächt.  In  den  letzten  Jahren  zeigten  sich  wiederholt  postepilept.  Dämmer- 
zustände, in  welchen  er  sich  irre  ging.  Meist  ging  als  Aura  den  Anfällen  die 
Vision  einer  phantastischen  rothen  Gestalt  voraus.  Seit  4  Monaten  hatte  Pat. 
keinen  Anfall  convulsiver  Epilepsie  mehr  gehabt,  dagegen  vor  1  Monat  einen 
Dämmerzustand,  in  welchem  er  mitten  in  der  Nacht  zu  seinem  Erstaunen  vor 
dem  1  Stunde  entfernten  Haus  seiner  Mutter  zu  sich  kam.  Er  wusste  kein  Motiv 
für  diese  nächtliche  Wanderung,  er  fand  sich  bloss  mit  Hose  und  Hemd  bekleidet, 
vermisste  seine  sonstigen  Kleider  und  ging  beschämt  nach  Hause.  In  den  letzten 
3  Wochen  hatten  sich  fast  täglich  nach  dem  Mittagessen ,  namentlich  wenn  er 
die  Speisen  heiss  genoss,  Dämmerzustände  von  mehrstündiger  Dauer  einge- 
stellt, in  welchen  er  von  ängstlicher  Unruhe  getrieben  umherschweifte,  einmal 
auch  in  Streit  mit  den  Leuten  in  einem  entfernten  Dorfe  gerieth. 

Am  12.  Nov.  1879  wurde  ihm  beim  Mittagessen  Tinwohl,  sonderbar  be- 
klommen. Er  hatte  wieder  die  Vision  des  rothen  Phantasma,  es  grauste  ihm, 
trieb  ihn  fort,  verfolgt  von  dem  Gespenst.  Er  löste  ein  Billet,  fuhr  auf  der 
Eisenbahn  nach  einer  benachbarten  Station.  Unterwegs  sah  er  beständig  rothen 
Flammenschein,  meinte  es  brenne,  er  sei  von  Feuer  umgeben,  war  ganz  verwirrt. 

Er  erinnert  sich  noch,  dass  er  in  P.  ausstieg.  Von  da  an  liat  er  nur  eine 
höchst  defekte  Erinnerung.  Es  kam  ihm  vor,  der  Bürgermeister  habe  4000  fl., 
die  für  ihn  deponirt  seien.  Er  ging  zu  diesem  ihm  ganz  fremden  Mann,  fordei'te 
das  Geld  und  drohte  mit  Erschiessen,  wenn  er  es  nicht  bekomme.  Er  wurde  ver- 
haftet, von  2  Männern  zur  Bahn  gebracht  und   nach  Graz  gefülirt.     Unterwegs 


Transitorisches  Irresein  Epileptischer.     Diagnose.  209 

war  er  ängstlich,  wollte  entspringen,  zerhieb  ein  Fenster.  Bei  der  Aufnahme 
Abends  auf  der  Klinik  war  er  im  Bewusstsein  schwer  gestört,  dämmerhaft,  hatte 
den  Sack  voll  Zündhölzchen,  äusserte,  er  habe  schon  angezündet  (ßeminiscenz 
der  Flammenvision),  es  müsse  noch  einmal  brennen,  damit  es  doch  einen  Jux 
und  etwas  zu  sehen  gebe.  Pat.  schläft  bald  ein,  schläft  die  Nacht  über  fest  und 
erwacht  am  13.  Morgens  zu  seinem  Erstaunen  im  Spital.  Vom  Beginn  der  Fahrt 
nach  Graz  bis  dato  besteht  ein  völliger  Erinnerungsdefekt. 

Am  15.  Nov.  trat  nochmals  ein  mehrstündiger  Zustand  von  Bewusstseins- 
störung  ein,  in  welchem  er  wieder  von  seinen  4000  fl.  faselte  und  aus  dem  er 
mit  ganz  summarischer  Erinnerung  zu  sich  kam.  In  der  folgenden  mehrmonat- 
lichen Beobachtung  wurden  keine  irgendwie  gearteten  epilept.  Symptome  an  N. 
mehr  bemerkt.     (Eigene  Beobachtung.) 

Weitere  Fälle:  Motivloses  ümhervagabundiren :  Legrand,  etude  medico- 
legale  p.  110  (unbewusste  zwecldose  Reise  von  Frankreich  nach  Bombay!)  p.  131. 
Despine,  psychol.  naturelle  II,  p.  143.  v.  Krafft,  Lehrb.  d.  Psychiatrie  III,  Beob.  84. 
Desertion:  Heller,  Vierteljahrsschr.  für  gerichtl.  Med.  1876.  Majestätsbeleidigung: 
V.  Krafft,  Lehrbuch  d.  Psych.  III,  Beob.  85.  Verleitung  zum  Raubmord:  Flechner, 
österr.  Zeitschr.  f.  prakt.  Heilkde.  XVII,  24.  Diebstähle,  Schwindeleien:  Flechner, 
Psychiatr.  Centralblatt  1874,  10,  11.  Mord  (Fall  Holtzap fei) :  Archiv  f.  Psychiatrie 
V,  p.  235,  307,  311;  VI,  862.     Casper-Liman,  Handb.  p.  609. 

Von  grösster  forensischer  Bedeutung  ist  die  Erkennung  der  ge- 
schilderten transitorischen  Irreseinszustände  als  epileptischer.  Dadurch 
gewinnt  die  Diagnose  derselben  eine  breite  klinische  Grundlage  und 
erscheinen  sie  nicht  als  zweifelhafte  oder  zufällige  Erkrankungen. 

Die  Diagnose  dieser  Zustände  fusst : 

1.  auf  ihrem  jähen  Ausbruch  und  Niedergang,  mit  mehr  weniger 
deutlich  nachweisbaren  und  den  sonstigen  paroxystischen  Kundgebun- 
gen der  epileptischen  Neurose    gleichen  Vorläufern  und  Nachzüglern. 

2.  Auf  der  Combination  der  Symptome  in  eigenthümlicher  für 
Epilepsie  sprechender  Weise.  (Bewusstseinsstörung,  traumartige  Ver- 
worrenheit bei  scheinbarer  Lucidität^  delirantes  Gepräge  des  ganzen 
Anfalls  mit  schreckhaften  Hallucinationen  und  Delirien ,  namentlich 
persecutorischen  untermischt  mit  religiösen,  episodisch  Angst,  Stupor.) 

3.  Die  Erinnerung  für  die  Ereignisse  der  Anfallszeit  ist  getrübt, 
summarisch  bis  defekt. 

4.  Die  Handlungen  sind,  wenn  auch  combinirt  und  anscheinend 
planmässig,  doch  traumhaft  und  vielfach  impulsiv.  Sie  wiederholen 
sich  in  typischer  Weise,  indem  sie  Theilerscheinungen  gleichgearteter 
Anfälle  und  jeweils  durch  dieselben  inneren  Ursachen  hervorgerufen 
sind.  Je  tiefer  die  Störung  des  Bewusstseins,  je  wirrer  das  Vor- 
stellen —  um  so  unmotivirter,  planloser  erscheinen  sie,  und  bei  dem  vor- 
wiegend, schreckhaften  Charakter  der  Delirien  und  Sinnestäuschungen, 
bei  der  feindlichen  Aperception  der  Aussenwelt  stellen  sie  vielfach  Aua- 

V.  Kraff t-Ebing,  gerichtl.  Psychopathologie.    2.  Auflage.  14 


210 


Cap.  IX.    Das  epileptische  Irresein. 


bräche  blinder  Wuth  dar,  die  in  quasi  convulsivischer  Aeusserungs- 
weise  nicht  in  der  Vernichtung  ihr  Ziel  findet,  sondern  fortfährt  zu 
zerstören,  bis  endlich  die  convulsivische  Bewegung  zur  Ruhe  gelangt  ist. 
Es  ist  bezeichnend  für  diese  Thaten  des  petit  und  grand  mal,  dass  die 
Opfer  dieser  Kranken  nicht  blos  getödtet,  sondern  vielfach  gräulich 
verstümmelt  werden,  Dutzende  von  Messerstichen,  Zertrümmerungen 
des  Schädels  bis  zur  Unkenntlichkeit  constatirt  werden.  Solche  Hand- 
lungen würden  die  grösste  Brutalität,  wahre  Thaten  des  Cannibalis- 
mus  darstellen,  wenn  sie  bewusst  ausgeführt  würden.  Sie  stehen 
damit  in  vollem  Gegensatz  zu  der  Gefühls-  und  Handlungsweise  im 
intervallären  Zustand.  Es  sollte  als  Grundsatz  in  foro  gelten,  dass 
überall  wo  schreckliche,  urplötzliche,  motivlose,  ohne  Berücksichtigung 
der  Umstände,  Mittel,  etwaiger  Zeugen,  gleichsam  instinctiv  ausge- 
führte Gewalttbaten  vorliegen,  zunächst  an  Epilepsie  •  gedacht  würde. 
Diese  Vermuthung  gewinnt  an  Berechtigung,  wenn  der  Thäter  am 
Thatorte  in  einem  tiefen  geistigen  Dämmerzustand  oder  im  Stupor 
betroffen  wurde. 

5.  Es  lassen  sich  anamnestisch  früher  vorhandengewesene  gleich- 
artige Anfälle  nachweisen.  Aus  der  Häufung  dieser  Kriterien  wird 
sich  die  epileptische  Natur  eines  Falles  von  transitorischem  Irresein 
mit  hoher  Wahrscheinlichkeit  ergeben  und  der  Expertise  den  Weg^ 
weiterer  klinischer  Forschung  gewiesen.  Jene  Wahrscheinlichkeit 
wird  zur  Gewissheit  insofern  der  Nachweis  irgendwie  gearteter  epil. 
Anfälle  im  früheren  Leben  gelingt.  Unterstützend  für  die  Diagnose 
erscheinen  endlich  die  intervallären  psychischen  und  somatischen  Zeichen 
der  epileptischen  Neurose,  die  Züge  des  epileptischen  Charakters  und 
epil.  psychischer  Degeneration, 

Im  Anschluss  an  die  geschilderten  transitorischen  Irreseinszustände  der  E. 
muss  der  Thatsache  gedacht  werden,  dass  auch  Anfälle  von  mehrere  Wochen 
bis  Monate  dauerndem  Irresein  bei  E.  vorkommen,  die  sich  durch  tiefe  Störung  des 
Bewusstseins,  grosse  Verworrenheit,  durch  das  delirante  Gepräge»des  Krankheits- 
bilds, episodische  Dämmer-  imd  Stuporzustände,  höchst  summarische  bis  defekte 
Erinnerung  für  die  Vorgänge  der  Krankheit,  plötzlichen  Ausbruch  und  Lösung 
durch  ein  Dämmer-  oder  Stuporstadium  hindurch  von  einer  gewöhnlichen  Psychose 
genugsam  unterscheiden.  Eine  genauere  Betrachtung  lehrt  diese  Zustände  als 
mehrmals  sich  wiederholende  und  in  einander  fliessende,  zugleich  protrahirteAn- 
fälle  des  bereits  geschilderten  transitorischen  Irreseins  erkennen.  Es  finden  sich 
in  dieser  Auffassung  Fälle  von  Stupoi",  petit,  grand  mal  und  religiösem  Delir  vor. 
Dabei  braucht  die  Wiederholung  der  Zustandsform  nicht  die  gleiche  zu  sein, 
eine  andere  kann  an  ihre  Stelle  treten. 

Damit  entstehen  bunte  und  nur  im  Zusammenhang  verständliche  Combi- 
nationen  verschiedener  epileptischer  Symptomenreihen  und  Zustandsbilder. 


Beob.  73.    Protraliirte  epilept.  Dämmerzustände  mit  Delirien.  211 

Beob.  78.  Traumatische  Epilepsie.  Melancholie.  (Wahrschein- 
licher Mord  des  Sohnes.)  Dann  wiederholte  protrahirte  epilep- 
tische Dämmerzustände  mit  Delirien.  Am  9.  Okt.  1877  kam  der  36  J. 
alte  Landmann  G.  schwerverwundet  durch  einen  Schuss  am  Kopf  in's  Spital  und 
machte  folgende  Angaben:  „Ich  hatte  ein  Söhnchen.  Es  war  auf  einem  Auge 
erblindet.  Da  es  mich  dauerte,  habe  ich  es  am  11.  Juli  in  meinem  Ziehbrunnen 
ertränkt.  Seitdem  kann  ich  es  vor  Unruhe  und  Gewissensbissen  nicht  aushalten. 
Endlich  habe  ich  mich  heute  mit  einer. Pistole  zu  entleiben  gesucht." 

G.  erschien  gedrückt,  bot  sonst  nichts  Auffälliges.  Die  schwere  Schuss- 
verletzung war  schon  Anfang  November  in  voller  Heilung  begriffen  —  da  zeigten 
sich  Anfang  November  Symptome  von  Geistesstörung.  G.  drängte  fort,  heim,  hörte 
Stimmen,  die  ihn  nach  Hause  riefen ,  wollte  durchs  Fenster  gehen ,  sprach  und 
handelte  ganz  verwirrt.  Am  16.  Nov.  wurde  er  desshalb  ins  Irrenhaus  zu  wei- 
terer Beobachtung  abgegeben. 

G.  ist  nicht  belastet,  entwickelte  sich  normal,  lebte  solid  und  gesund 
heirathete  mit  25  J.,  lebte  in  guter  Ehe  und  guten  Verhältnissen,  zeugte  2  Söhne, 
die  er  zärtlich  liebte. 

1872  gerieth  er  in  Streit  mit  einem  Verwandten,  erhielt  von  diesem  eine 
schwere  Contusion  am  Kopf,  war  mehrere  Tage  bewusstlos  und  mehrere  Wochen 
arbeitsunfähig,  hatte  damals  auch  Convulsionen. 

Im  Frühjahr  1877  verlor  der  4jährige  jüngere  Sohn,  der  Liebling  des  Vaters, 
ein  Auge.  G.  war  untröstlich,  bot  Alles  auf  das  Auge  zu  retten.  Umsonst.  Er 
wurde  traurig,  niedergeschlagen,  lässig  bei  der  Arbeit,  magerte  sehr  ab,  der  An- 
blick des  entstellten  Sohnes  war  ihm  entsetzlich.; 

Am  11.  Juli  kam  G.  heim,  fand  den  Sohn  nicht  vor,  wurde  besorgt,  er 
könne  in  den  Ziehbrunnen  gestürzt  sein,  rief  die  Nachbarn  herbei,  durchsuchte 
den  Brunnen.  Als  der  Leichnam  gefunden  wurde,  sagte  er:  „ich  bin  ein  vernich- 
teter Mann"  und  blieb  dann  stumm  und  niedergeschlagen.  Gericht  und  öffent- 
liche Meinung  constatirten  einen  Unglücksfall.  G.  wurde  immer  deutlicher 
melancholisch,  schlief,  ass  nur  mehr  wenig,  trug  sich  mit  Selbstmordgedanken, 
wollte  sich  auf  die  Eisenbahnschienen  legen.  Eines  Tags  gestand  er  dem  Knecht, 
er  habe  den  Sohn  im  Brunnen  ertränkt. 

In  der  Irrenanstalt  kam  G.  stumm  und  verstimmt  an.  Am  andern  Tag 
fragte  er,  ob  seine  Verletzungen  noch  geheilt  werden  könnten.  Er  bat  um  Ver- 
setzung in  eine  ruhige  Abtheilung  des  Hauses,  war  dankbar  für  die  ärztlichen 
Bemühungen  und  bot  bis  auf  ein  einsilbiges  gedrücktes  Wesen  nichts  Besonderes. 

Am  26.  November  fing  er  an  zu  halluciniren  (hörte  Musik)  und  zu  deliriren. 
Er  meinte,  seine  Frau  sei  im  Frühjahr  gestorben,  er  habe  keine  Kinder.  Er 
wusste  von  Allem,  was  geschehen  war,  nichts  mehr,  auch  nicht,  wie  er  herge- 
kommen war.  Er  hörte  Nachts  Musik,  sah  viele  Pferde  umherrennen,  glaubte 
sich  in  einem  Wirthshaus,  verlangte  man  solle  ihn  fortlassen,  sonst  bringe  er 
sich  um.  Einen  Verwandten,  der  zum  Besuch  kam,  erkannte  er  nicht.  Er  war 
im  Bewusstsein  tief  gestört,  dämmerte  herum ,  hielt  sich  abseits  von  der  Gesell- 
schaft und  schien  in  Gedanken  versunken.  Am  4.  Dec.  hörte  er  Nachts,  er  sei 
ein  Sohn  des  Teufels,  einen  andern  Tag  wollte  er  Soldat  werden,  ein  6.  Weib 
zu  den  5,  die  er  schon  besessen  habe,  heirathen. 

Am  14.  Dec.  klärt  sich  etwas  sein  Bewusstsein.  Er  erinnert  sich  seiner 
früheren  Lebensumstände,    seiner  Kinder,   weiss   aber   noch   nicht  Zeit  und    Ort, 


212  Cap.  IX.    Das  epileptische  Irresein. 

weiss  nichts  vom  Vorgefallenen.  Als  man  ihn  an  die  Erblindung  seines  Sohnes 
erinnert,  meint  er,  man  wolle  ihn  foppen,  noch  mehr  wundert  er  sich,  als 
man  seinen  Selbstmordversuch  erwähnt.  Es  zeigt  sich,  dass  er  von  allen  Erleb- 
nissen seit  April  nichts  weiss.  Als  man  ihm  den  Tod  des  Sohnes  und  sein  Ge- 
ständniss  mittheilt,  geräth  er  in  aufrichtige  Bewegung  und  hält  eine  solche  That 
begangen  zu  haben  für  unmöglich.  Am  18.  Dec.  erkennt  er  den  wieder  zum 
Besuch  gekommenen  Verwandten,  ist  aber  theilnahmslos,  fragt  nicht,  wie  es  zu 
Hause  gehe.  Als  ihm  der  Verwandte  alles  Geschehene  mittheilt,  ist  er  bestüi-zt, 
nachdenklich. 

Am  3.  Januar  1878  Exacerbation  des  Zustands  —  gedunsenes  Gesicht, 
freq^uenter  Puls,  erhöhte  Temperatur.  Pat.  schlaft  wenig,  behauptet,  er  müsse 
binnen  3  Tagen  sterben,  wenn  er  nicht  durch  das  Fenster  springe  und  in's  Paradies 
gelange. 

Am  22.  Januar  erinnert  er  sich  wieder,  dass  sein  Sohn  ein  Auge  verlor 
und.  äussert  tiefen  Schmerz  darüber.  Bruchstückweise  kommt  ihm  nun  die  Er- 
innerung an  das,  was  seit  dem  Unglücksfall  geschehen  ist,  wie  ihm  oft  Alles  wie 
ein  Traum  vorkam,  bis  ihm  der  Anblick  des  Sohnes  die  traurige  Wirklichkeit 
zeigte,  wie  sich  seiner  die  Idee  bemächtigte,  es  sei  besser,  der  Knabe  wäre  gestorben, 
wie  er  an  Selbstmord  und  an  gemeinsamen  Tod  mit  dena  geliebten  Kind  dachte. 

Im  Februar   und  März  wurde  G.    geistig   klar  und  erholte  sich  körperlich. 

Vom  14.  April  an  wurde  ein  neuer  Anfall  von  Irresein  bei  ihm  beobachtet. 
G.  wurde  ruhelos,  zerstreut,  blieb  zu  Bett,  klagte  Kopfschmerz.  Am  16.  Morgens 
9^'2  sprang  er  auf,  nahm  seine  Kleider  unter  den  Arm  und  wollte  durch's  Fenster. 
Als  man  ihn  daran  hinderte,  hieb  er  um  sich,  suchte  die  Leute  zu  beissen  und 
als  man  sich  seiner  versichert  hatte,  sagte  er:  „Wenn  Der  nicht  gewesen  wäre, 
hätte  ich  einen  guten  Tag  gehabt."  Auf  dem  Weg  nach  dem  Isolirzimmer  meinte 
er,  man  wolle  ihn  umbringen  und  verlangte,  man  solle  ihn  heimlassen.  Sein  Ge- 
sicht war  ganz  entstellt.  Den  Rest  des  Tages  und  die  folgende  Nacht  sang  er 
Volks-  und  Kirchenlieder.  Am  Morgen  des  17.  fieberte  er  etwas.  Am  19.  kam 
er  wieder  zum  Bewusstsein,  suchte  sich  erstaunt  zurecht  zu  finden.  Am  21.  war 
er  noch  blass,  dämmerhaft,  in  Prostration.  Er  erzählte,  dass  er  am  16.  heftiges 
Kopfweh  spürte,  Nachts  nicht  schlief,  ganz  confus  im  Kopfe  wurde,  Stimmen 
hörte,  er  solle  heimgehen.  Von  allem  Folgenden  hatte  er  keine  Erinnerung. 
Dieser  Anfall  soll  ganz  ähnlich  wie  der  im  November  beobachtete  gewesen  sein. 
G.  machte  die  wichtige  Mittheilung,  er  habe  vor  3  Jahren  nach  einer  Gemüths- 
bewegung  einen  ohnmachtartigen  Anfall  gehabt,  der  nach  ähnlichem  Anlass  ein 
Jahr  darauf  sich  wiederholt  habe. 

G.  zeigt  einen  gewöhnlichen  Schädelbau,  er  bietet  vegetativ  nichts  Besondres, 
sein  Sehvermögen  ist  geschwächt  und  bei  Fixation  kleiner  Gegenstände  stellt 
sich  Nystagmus  ein. 

Gutachten:  Von  Anfang  November  bis  14.  Dec.  war  G.  in  einem  stupor- 
artigen  Zustand  mit  Delirien.  Von  da  an  bis  Ende  Januar  ist  G.  in  einem 
Dämmerzustand  mit  Remissionen.  In  diesem  Zustand  hat  er  Amnesie  für  Alles, 
was  vom  Frühjahr  1877  bis  dato  vorgefallen  ist. 

Der  Anfall  Mitte  April  ist  nach  Verf.  ein  epileptoider.  Dafür  spricht  die  Gleich- 
artigkeit desselben  mit  dem  im  Nov.  beobachteten,  seine  plötzliche  Entstehung 
und  Lösung,  das  delirante  Gepräge  desselben,  die  schwere  Bewusstseinsstöi-ung, 
die  grosse  Gereiztheit,  die  Amnesie  u.  s.  w. 


Cap.  IX.    Das  hysterische  Irresein.  213 

Die  Ohnmachtant'älle  vor  Jahren  waren  epileptische  Insulte,  die  Epilepsie 
wohl  die  Folge  des  Trauma  capitis  von  1872. 

G.  litt  an  protrahirten  Anfällen  epilept.  traumat.  Irreseins. 

Hat  G.  seinen  Sohn  umgebracht?  Verf.  zweifelt  nicht  daran,  dass  G. 
wirklich  den  Sohn  getödtet  hat  und  nicht,  wie  es  so  häufig  bei  Melancholischen 
vorkommt,  einen  blossen  Unglücksfall  benutzte  um  sich  eines  Verbrechen  zu 
beschuldigen. 

Wie  war  der  Geisteszustand  zur  Zeit  der  That?  Diesen  näher  zu  bezeich- 
nen, \\agt  Verf.  nicht,  aber  er  hält  ihn  mit  Recht  für  einen  krankhaften,  unzu- 
rechnungsfähigen, wahrscheinlich  melancholischen.  G.  wurde  nioht  verurtheilt. 
(Toselli,  Rivista  sperim.  5.  Jahrgang,  fascic.  1  u.  2.) 

Weitere  Fälle  s.  Samt,  op.  cit.  Beob.   7  u.  8. 


7.   Das  hysterisclie  Irresein, 

Literatur.  Forlani,  Tisterismo  nei  suoi  rapporti  colla  follia  e  colla  responsabi- 
lita.  Vienna  1869.  Legrand  du  Saulle,  Lancette  francaise  1860,  XXXIL  145. 
Idem,  la  folie  devant  les  tribun.  1864,  p.  323.  Despine,  psycholog.  natu- 
relle, 1868,  tom.  11,  p.  145.  Falret ,  discussion  sur  la  folie  raisonn.  Annales 
med.  psychol.  1866,  Mai.  Brosius,  Irresein  der  Hysterischen,  Irrenfreund 
1866.  Guibot  u.  Morel,  l'union  med.  1865.  Wunderlich,  Pathologie  1854, 
p.  1490.  Morel,  traite  de  la  med.  legale  des  alienes  1866.  v.  Krafft,  Zurechgsf. 
d.  Hysterischen,  Friedreich's  Bl.  1872,  H.  1.  Jolly,  Ziemssen's  Handb.  XII, 
p.  461. 

Aehnlich  wie  bei  der  epileptischen  finden  sich  auch  bei  der 
hysterischen  Neurose  vielfach  psychische  Störungen.  Diese  können 
auf  elementare  psychische  Anomalien  beschränkt  sein  (hysterischer 
Charakter)  oder  in  Form  acuter  episodischer  Anfälle  von  Irresein  oder 
auch  als  chronische  Geistesstörung  das  Krankheitsbild  der  hysterischen 
Neurose  compliciren. 

Damit  gewinnt  diese  nicht  nur  Bedeutung  für  Familie  und  Haus- 
arzt, sondern  auch  für  das  Forum. 


a.    Der   hysterische    Charakter. 

Klinische  Uebersicht:  Elementare  Störungen  der  psychischen  Funk- 
tionen fehlen  in  keinem  Falle  von  H.  Ihre  Gesammtheit  lässt  sich  als  hysterischer 
Charakter  bezeichnen. 

Seine  Grunderscheinungen  sind  das  labile  Gleichgewicht  der  psychischen 
Funktionen,  die  enorm  leichte  Anspruchsfähigkeit  und  ungewöhnlich  intensive 
ileaktion  des  psychischen  Mechanismus  und  der  rasche  Wechsel  der  Erregungen 
(reizbare  Schwäche).  Im  Vordergrund  stehen  die  Anomalien  des  Gemüthslebens. 
Die  Kranken  sind  durch  innere  und  äussere  psychische  Reize  enorm  afficirbar. 
Auf   der  Höhe    des  Leidens   bewegt  sich  das  Fühlen  nicht  mehr  in  Stimmungen 


214  Cap.  IX.    Das  hysterische  Irresein. 

sondern  nur  noch  in  Affekten  (psych.  Hyperästhesie).  Da  die  psychischen  Vor- 
gänge vorwiegend  mit  Unlustgefühlen  betont  sind,  sind  Stimmungen  und  Affekte 
vorherrschend  depressive,  aber  bei  dem  raschen  Wechsel  des  Vorstellens  und  der 
hohen  Gemüthserregbarkeit  ist  die  Stimmung  keine  stabile,  ein  bunter  WeclTsel 
der  Gefühle,  Affekte,  oft  in  ganz  jähem  Umschlag  vom  Weinen  zum  Lachen  viel- 
mehr Regel.  Indem  sich  aus  den  lebhaft  betonten  Vorstellungen  Begehrungen 
entwickeln  und  diese  bestäiidig  wechseln ,  erscheinen  die  Kranken  launenhaft, 
wechselnd  in  ihren  Zu-  und  Abneigungen  gegen  Personen  und  Objekte.  Die 
Begehrungen  können  sehr  heftig  sein  (Gelüste)  gleichwie  die  Verabscheuungen. 
Insofern  perverse  Gefühlsbetonungen  möglich  sind,  ergeben  sich  Idiosjmcrasien. 
Bei  dem  Ueberwiegen  schmerzlicher  psychischer  Eindrücke  und  der  Massenhaftig- 
keit  schmerzlicher  Empfindungen  fühlen  sich  derartige  Kranke  schwer  leidend. 
Sie  werden  damit  Egoisten ,  unempfindlich  gegen  die  Leiden  Anderer.  Besorgt 
um  das  eigene  Wohl  und  Wehe  werden  sie  stumpf  in  ihren  socialen  und  ethi- 
schen Gefühlen ,  gleichgültig  gegen  ihre  Pflichten ,  gegen  das  Wohl  der  Ange- 
hörigen. Mit  dem  erkaltenden  Interesse  der  Aussenwelt  für  ihre  unablässigen 
Klagen  kommen  diese  Kranken  dazu  ihre  Leiden  zu  übertreiben ,  zu  simuliren,. 
sich  um  jeden  Preis  interessant  zu  machen  (Nadelnverschlucken,  Stigmatisation, 
Selbstbeschädigungen,  fmgirte  Attentate  etc.),  wobei  ihre  krankhaft  gesteigerte 
Phantasie  gute  Dienste  leistet  und  ihre  geschwächte  Sittlichkeit  vor  keinem  Be- 
trug und  keiner  Lüge  zurückschreckt.  Am  heftigsten  werden  die  Affekte  solcher 
Kranker  erregt,  wenn  sie  damit  nicht  reussiren,  sich  verlassen  und  nicht  be- 
achtet sehen.  Ihre  Bosheit  und  Rachsucht  kennt  dann  keine  Gränzen.  Als  ele- 
mentare Störungen  im  Vorstellen  findet  sich  ein  bald  beschleunigter ,  bald  ver- 
langsamter, mitunter  auch  abspringender  Ideengang.  Die  gemüthliche  und 
intellektuelle  Impressionabilität  der  Kranken  führt  leicht  Zwangsvorstellungen 
herbei.  Eine  geschwächte  Reproduktionstreue  in  Verbindung  mit  gesteigerter 
Phantasie  fälscht  die  Erinnerung  und  lässt  die  Kranken  in  der  Rolle  von  Lügnern 
erscheinen.  Gelegentlich,  namentlich  zur  Zeit  der  Menses  und  auf  der  Höhe  von 
Affekten,  können  Primordialdelirien  der  Verfolgung  auftauchen. 

Die  krankhaft  gesteigerte  Phantasiethätigkeit  lässt  die  Vorstellungen  so 
lebhaft  auftreten,  dass  ihre  Unterscheidung  von  wirklichen  Erlebnissen  kaum 
mehr  möglich  wird.  Nicht  selten  kommt  es  episodisch  sogar  zu  Hallucinationen 
(meist  des  Gesichtssinns  und  vorwiegend  schreckhaften  Inhalts)  und  Illusionen, 
namentlich  im  Gebiet  der  cutanen  Empfindung  (Schlangen,  Käfer  im  Bett,  auf 
der  Haut)  als  falsche  Interpretation  wirklicher  Sensationen. 

Vielfach  ist  auch  die  geschlechtliche  Sphäre  krankhaft  afficirt.  Am  häufig- 
sten ist  die  geschlechtliche  Empfindung  gesteigert  bis  zu  Wollustempfindungen 
(selbst  Coitushallucinationen  —  Incuben,  Succuben  des  Mittelalters)  und  entäussert 
sich  in  den  sonderbarsten  Handlungen  (Nacktgehen,  Sucht  sich  mit  zweifelhaften 
Cosmeticis,  selbst  Urin  zu  salben).  Zu  Zeiten  kann  wieder  Frigidität  überhaupt 
bestehen  oder  nur  als  Idiosyncrasie  gegen  den  Mann  oder  Geliebten ;  nicht  selten 
finden  sich  auch  temporär  perverse  sexuelle  Gefühle  mit  entsprechenden  Antrieben 
oder  äquivalenten  Erscheinungen  religiöser  [Exaltation.  Die  wohl  immer  be- 
theiligte vasomotorische  Sphäre  gibt  zu  Präcordialangst  und  Angstzufällen  viel- 
fach Anlass.  Das  Gebiet  des  (freien)  Wollens  erscheint  endlich  durch  die  sitt- 
liche und  Willensschwäche,  durch  die  Flüchtigkeit  und  Oberflächlichkeit  des 
Vorstellens,  durch  die  formal  und  inhaltlich  geänderte  Empfindungsweise,  durch 


Der  hysterische  Charakter.     Rechtsverletzungen.  215 

2i Wangsvorstellungen  jedenfalls  eingeschränkt  und  die  Kranke  ist  vielfach  nur 
mehr  der  Spielball  ihrer  Launen,  Gelüste,  Impulse,  Einbildungen.  So  kann  es 
geschehen,  dass  die  wichtigsten  Pflichten  vernachlässigt,  die  heiligsten  Gefühle 
verletzt  werden  und  den  absurdesten  Einfällen  und  Motiven  Folge  gegeben  wird. 

Interessiren  diese  elementaren  psychischen  Störungen  zunächst 
auch  nur  Familie  und  Hausarzt,  so  sind  es  gleichwohl  vielfach  nur 
einfache  Steigerungen  derselben  bei  fortschreitender  Willensschwäche 
und  Nachlass  der  Zugkraft  sittlicher  Motive  und  Correktive,  die  zu 
strafbaren  Handlungen  hindrängen. 

So  führen  krankhafte  Verstimmung,  Egoismus  und  Reizbarkeit 
leicht  zu  Ehrenkränkungen,  Verläumdungen,  gerichtlichen  Denun- 
ciationen ;  die  grundlose  Antipathie  gegen  gewisse  Personen  erzeugt 
leidenschaftliche  Stimmungen  gegen  diese,  die  die  Triebfedern  ver- 
brecherischer Handlungen  werden  können;  so  können  sich  die  natür- 
lichen Gefühle  der  Mutterliebe  in  krankhafte  Abneigung  gegen  die 
Kinder  (misopddie,  s.  Boileau,  Annal.  med.  psych.  1861.  p.  553) 
verwandeln  und  zu  Brutalität  und  zu  bestialischer  Grausamkeit  führen ; 
die  übergrosse  Einbildungskraft  und  mangelhafte  Reproduktionstreue 
gibt  Veranlassung  zu  falschen  gerichtlichen  Angaben  und  falschem 
Zeugniss;  der  Drang,  sich  interessant  zu  machen,  die  krankhafte  Lust, 
Aufsehen  zu  erregen,  führt  zu  Betrügereien,  Intriguen,  Simulation. 
Auf  abnorme  sexuelle  Gefühle  sich  gründende  Eifersucht  und  Arg- 
wohn gegen  den  Ehemann  erzeugen  nicht  selten  Skandalprocesse, 
Ehescheidungsklagen  etc. ,  oder  gegen  Dritte  Anklagen  wegen  un- 
züchtiger Handlungen;  aus  Zwangsvorstellungen,  perversen  Gelüsten, 
die  wieder  aus  abnormen  Gemeingefühlsempfindungen  entstehen  kön- 
nen, ergeben  sich  Diebereien  und  Unterschlagungen.  Wohl  die  Mehr- 
zahl aller  Fälle  von  wirklich  krankhaftem  Schwangerschaftsgelüste 
gehört  hieher. 

Eine  wichtige  Ursache  für  rechtswidrige  Handlungen  Hyste- 
rischer ist  endlich  ihre  krankhaft  gesteigerte  Gemüthsreizbarkeit.  Sie 
vermittelt  Affekte,  die  durch  Dauer  und  Verlauf  vielfach  einen  durch- 
aus pathologischen  Charakter  annehmen,  sich  mehr  dem  Bild  einer 
Tobsucht  als  eines  gewöhnlichen  Affekts  nähern. 

Ehrenkränkung,  Majestätsbeleidigung,  Widersetzlichkeit  gegen 
die  Obrigkeit  sind  dann  leicht  möglich. 

Die  Zurechnungsfähigkeitsfrage  Hysterischer  ist  eine  der  schwie- 
rigsten im  concreten  Fall  und  nur  concret  entscheidbar.  Während 
die  Zurechnungsfähigkeit  einer  einfach  Hysterischen  und  die  Unzu- 
rechnungsfähigkeit   einer   hysterisch   Seelengestörten   keinem   Zweifel 


216  Cap.  IX.    Das  hj^sterische  Irresein. 

unterliegt,  ergeben  sich  zwischen  diesen  Polen  der  Krankheit  mit 
der  Häufung  elementarer  psychischer  Störungen  eine  Unzahl  von 
Mittelzuständen  psychischen  Gesund-  und  Krankseins  mit  krankhaften 
Stimmungen  und  Affekten,  perversen  und  doch  aus  der  Krankheit 
hervorgegangenen  Trieben  bei  gleichzeitig  energielosem  und  durch 
mannigfache  formale  und  inhaltliche  Störungen  der  Vorstell ungs- 
processe  gestörtem  Wollen.  Es  zeigen  sich  Bizarrerien  und  Excen- 
tricitäten,  die  bald  als  blosse  Launen  sich  kundgeben,  bald  zur 
Verletzung  der  Rechtssphäre  Anderer  führen  können,  eigenthümliche 
Störungen  und  veränderte  Reaktionen  der  gesammten  Denk-  und 
Empfindungsweise  bis  zur  Immoralität  und  Gemüthlosigkeit ,  kurz 
eine  Summe  von  anomalen  psychischen  Zuständen,  die  äusserlich 
zwar  durchaus  als  Leidenschaften,  moralische  Gebrechen,  unsittliche 
Neigungen  sich  darstellen,  innerlich  aber  mehr  oder  weniger  nur  der 
Reflex  krankhafter  Stimmungen  und  Strebungen  sind  und  deswegen 
nicht  unbedingt  als  zurechenbar  sich  hinstellen  lassen.  Zu  all  dem 
kommt  noch  als  Grundzug  der  hysterischen  Neurose  die  Neigung,  zu 
übertreiben,  zu  lügen  und  simuliren,  wodurch  die  Herstellung  des 
Thatbestands  äusserst  erschwert  und  der  Experte  nur  zu  leicht  irre- 
geleitet wird. 

So  wenig  als  blosse  Verstimmungen ,  Launen ,  Gelüste  hyste- 
rischer Weiber  einen  Entschuldigungsgrund  für  strafbare  Handlungen  an 
und  für  sich  abgeben  können,  kann  jedoch  die  organische  Begründung 
ihrer  sittlichen  und  Willensschwäche,  ihrer  krankhaft  gesteigerten 
Triebe  und  ihrer  vielfach  perversen  Impulse ,  ihrer  krankhaften  Ge- 
müthsreizbarkeit  ignorirt  werden.  Die  Aufstellung  eines  Systeme 
mildernder  Umstände  in  der  neueren  Strafgesetzgebung  ist  eine  Wohl- . 
that  gegenüber  solchen  Zwitterzuständen  zwischen  psychischer  Gesund- 
heit und  Krankheit,,  und  es  dürfte  Fälle  geben,  wo  die  Schuld  sich 
bis  auf  ein  Minimum  vermindert. 

Beob.  74.  H  y  s  t  e  r  i  s  m  u  s.  Fälschliche  D  e  n  u  n  c  i  a  t  i  o  n  e  n  und 
Betrug.  Ein  junges  Mädchen,  nervös,  h}'^sterisch ,  sah  sich  von  seinem  Lieb- 
haber verlassen.  Sie  fasste  einen  tödtlichen  Hass  gegen  ihn.  Eines  Morgens 
fand  man  in  einem  Weinberg  eine  grosse  Zahl  Weinstöcke  abgeschnitten.  Die 
M.  beschwor,  dass  ihr  früherer  Geliebter  und  dessen  Bruder  die  Thäter  seien, 
sie  habe  sie  bei  der  AusführuHg  der  That  gesehen.  Die  beiden  wurden  trotz 
ihrer  Unbescholtenheit  verurtheilt.  Ein  Jahr  darauf  rannte  die  M.  mit  blutender 
Brust  und  schrecklichem  Geschrei  in"s  Dorf.  Sie  hatte  Verletzungen  an  Brust, 
Hals,  Schultern,  klagte  den  Onkel  der  beiden  Verurtheilten  an,  dass  er  sie  habe 
ermorden  wollen.  Dieser  wurde  zu  5  Jahren  Freiheitsstrafe  verurtheilt.  Einige 
Zeit   darauf  führte   sie   mit   einem    andren  Oheim    der  Beiden   dieselbe  Comödie 


Beob.  75.    H^^sterismns.    Vergiftungen  ohne  Motiv.  217 

auf,  allein  dieser  konnte  sein  Alibi  erweisen.  Nicht  lange  nachher  kam  die 
Mutter  der  M.  in  den  Stall  und  fand  den  Kühen  die  Eater  abgeschnitten.  Wieder 
beschuldigte  die  M.  den  früheren  Geliebten  und  dessen  Bruder  als  Thäter.  ebenso 
als  Anstifter  eines  bald  darauf  entstandenen  Brandes.  Schliesslich  debutirte  sie 
als  Wundermädchen.  Eines  Tages  fand  man  auf  ihrem  Kopfkissen  eine  kunst- 
reiche Blumenkrone  mit  den  Worten  „corona  martyr  M,  J."  Die  Krone  hatte  ihr 
angeblich  ein  Engel  gebracht.  Man  wallfahrtete  zu  der  vermeintlichen  Märtyrin. 
Die  M.  machte  ein  gutes  Geschäft  dabei.  Endlich  merkten  die  Leute  den 
Schwindel.  Sie  musste  die  Gegend  verlassen .  nahm  Dienste ,  kam  in  Unter- 
suchung wegen  Diebstahl,  heirathete,  machte,  als  der  Mann  starb,  ein  falsches 
Testament  und  kam  in's  Correktionshaus.  (Legrand,  la  folie  devant  les  tribun. 
p.  336.) 

Beob.  75.  Heredität.  Hysterismus.  Vergiftungen  ohne  Motiv. 
Christiane  Edmunds  ist  angeklagt  des  Mords  eines  6jährigen  Jungen,  der  unter 
Erscheinungen  von  Strychninvergiftung  starb,  nach  Genuss  von  Chokoladedrops, 
am  12.  Juni.  Die  Anklage  ermittelte,  dass  die  E.  zwischen  März  und  Juni  sicli 
bedeutende  Mengen  Strychnin  unter  falschen  Namen  verschafft,  Ende  Mai 
sich  aus  dem  Conditorladen ,  in  dem  die  vergiftete  Waare  gekauft  worden  war, 
Chokoladedrops  hatte  holen  lassen.  Sie  hatte  das  Paket  geöffnet,  die  Drops 
zurückgeschickt,  angeblich,  weil  sie  zu  gross  seien.  Diese  waren  vom  Verkäufer 
zurückgenommen  worden.  Der  Knabe  hatte  davon  später  gekauft  bekommen. 
Es  wurde  ermittelt,  dass  die  E.  in  anderen  Läden  das  gleiche  Manöver  ausgeführt 
und  wiederholt  Confekt  Kindern  ausgetheilt  hatte,  die  dann  unter  Symptomen  einer 
Strychninvergiftung  erkrankten.  Wiederholt  hatte  sie  den  allgemein  geachteten 
Conditor  denuncirt,  dass  sie  oder  ihre  Freunde  auf  Confekt,  das  sie  bei  ihm  ge- 
nommen ,  sich  imwohl  gefühlt  hätten  und  auf  eine  chemisch-polizeiliche  Unter- 
suchung gedrungen.  Ebenso  hatte  sie  nach,  dem  Tode  des  Kindes  wiederholt 
dem  Vater  desselben  anonyme  Briefe  zugesandt,  er  möge  gegen  den  Chokolade- 
verkäufer  eine  gerichtliche  Untersuchung  anhängig  machen.  Als  wahrscheinliches 
Motiv  ergab  sich  Folgendes;  Sie  hatte  die  Bekanntschaft  eines  verheiratheten 
Arztes  gemacht  und  Zuneigung  zu  ihm  gefasst.  Im  September  1870  gab  sie 
dessen  Fraii  vergiftete  Chokolade.  in  Folge  deren  die  Frau  erkrankte  und  die 
Edmunds  in  schlimmen  Verdacht  gerieth.  Es  scheint,  als  habe  sie  durch  syste- 
matische Verdächtigungen  des  Verkäufers  sich  von  dem  auf  ihr  selbst  lastenden 
Verdacht  befreien  wollen. 

Der  Vater  der  E.  starb  an  Dementia  paralytica,  ein  Bruder  derselben  starb 
epileptisch  blödsinnig,  eine  Schwester  war  hysterisch  und  versuchte  Selbstmord. 

Der  Vater  der  Mutter  der  E.  starb  in  einem  apoplektischen  Anfall,  blöd- 
sinnig und  gelähmt.  Eine  Nichte  der  Mutter  war  geistesschwach.  Die  Ange- 
klagte erlitt  1853  einen  Anfall  von  Lähmung,  wahrscheinlich  hysterischer,  blieb 
einige  Jahre  hysterisch ,  welche  Krankheit  auch  in  der  letzten  Zeit  noch  ab  und 
zu  sich  zeigte.  Als  Kind  war  sie  Nachtwandlerin.  Seit  ihrer  Bekanntschaft  mit 
dem  Doktor  war  eine  grosse  Aenderung  in  ihrem  Wesen  bemerkt  worden.  Sie 
war  sehr  erregt  und  leidend  in  Folge  der  ihr  gewordenen  Beschuldigung. 

Die  E.  ist  43  Jahre  alt ,  von  bisher  unbescholtenem  Lebenswandel.  Nach 
den  Angaben  der  Mutter  soll  sie  ganz  ihrem  Vater  nachgeartet  sein.  Dem  Ge- 
fängnissgeistlichen  machte   sie   einen   krankhaften  Eindruck.     Ihr  Blick  war  un- 


2.18  Cap.  IX.    Das  hysterische  In-esein. 

gewöhnlich,  vage.  Aus  Weinen  ging  sie  oft  unmotivirt  in  Lachen  über.  Sprach 
man  von  ihrer  That,  so  fing  sie  oft  an  laut  zu  lachen.  Sie  zeigte  kein  Ver- 
ständniss  für  die  Schwere  derselben.  Denselben  Eindruck  machte  sie  auf  die 
Aerzte.  Sie  erschien  ihnen  absolut  gemütlüos.  Dass  einen  Menschen  upizu- 
bringen Verbrechen  sei,  war  ihr  nur  formell  bewusst.  Sie  wollte  lieber  verur- 
theilt  als  für  geisteskrank  erklärt  werden.  Von  den  Aerzten  wurde  sie  als  Fall 
von  hereditärer  moral  insanity  erklärt.  Intellektuelles  Irresein ,  speciell  Wahn- 
ideen fanden  sich  keine  vor.  Der  Gerichtshof  verneinte  die  Frage,  ob  die  An- 
geklagte Recht  von  Unrecht  habe  unterscheiden  können.  Die  Jurj'  sprach  sie 
schuldig  und  sie  wurde  zum  Tod  verurtheilt.  Die  Verkündigung  des  (Jrtheils 
hörte  sie  mit  stoischer  Ruhe  ah.  Die  nach  altem  Brauch  an  zum  Tod  verur- 
theilte  Verbrecherinnen  gestellte  Frage  „ob  sie  schwanger  sei"  beantwortete  sie 
mit  „Ja".     Die  Untersuchung  ergab  das  Gegentheil. 

Die  wissenschaftliche  Epikrise  betont,  dass  es  sich  hier  um  keinen  ge- 
wöhnlichen Fall  von  Geistesstörung  handle,  wohl  aber  um  ein  erblich  durch- 
seuchtes Individuum,  das  zugleich  nervenkrank  war,  keinen  moralischen  Sinn 
besass  und  Straf-  und  Sittengesetz  nur  formell  zu  würdigen  wusste.  Es  ist  wahr- 
scheinlich, dass  ihre  letzten  Vergiftungsversuche  nur  durch  eine  abnorme  Lust, 
mit  Gift  zu  spielen,  motivirt  waren.  Die  oberste  Justizbehörde  vollzog  indessen 
doch  nicht  das  Todesurtheil,  sondern  sandte  diesen  Fall  von  „verbrecherischem 
Wahnsinn"  in's  Verbrecherasyl  von  Broadmoor.  (Journal  of  mental  science, 
1872,  April.) 

Beob.  76.  Hereditärer  Hysterismus.  Vergiftungen  ohne  Motiv. 
Eine  gewisse  Jeanneret,  Krankenwärterin  in  der  französischen  Schweiz,  ist  neun 
Giftmorde  angeklagt,  die  sie  an  ihr  anvertrauten  Patienten  mittelst  Atropin  aus- 
geführt hat.  Als  Motiv  gibt  sie  an,  sie  habe  bloss  medicinische  Experimente 
anstellen  und  die  Leiden  der  Kranken  lindern  wollen  (!).  Sie  bleibt  kalt  beim 
Todeskampf  ihrer  Opfer,  sagt  mit  Befriedigung  deren  Ende  voraus  zu  einer  Zeit, 
wo  ein  solches  Niemand  noch  ahnt  und  erwarten  kann.  Auch  nach  der  Ver- 
haftung bleibt  sie  ruhig  und  gleichgültig,  läugnet  nicht,  macht  sich  gar  nichtö 
aus  der  furchtbaren  Anklage.  Ihre  monströsen  Verbrechen  sind  ganz  unmotivirt, 
ja  ihrem  Interesse  oft  ganz  widerstrebend.  Die  J.  war  von  jeher  sonderbar  in 
Charakter  und  Gebahren,  unmotivirtem  Wechsel  der  Stimmung  unterworfen,  sie 
glaubte  sich  mit  allerlei  Krankheiten  behaftet  und  war  hochgradig  hysterisch. 
In  ihrer  Familie  waren  zahlreiche  geisteskranke  Blutsverwandte.  Eine  Expertise 
wurde  nicht  angestellt,  die  Angeklagte  verurtheilt.  (Chatelain,  Annai.  med. 
psych.,  Mars  1869.) 

Die  beiden  vorausgehenden  Fälle  haben  viel  Uebereinstimmendes.  Sie. 
erinnern  an  die  berüchtigte  Marquise  de  Brinvillers,  Zwanziger,  Gesche  Gottfried, 
die  Dutzende  von  Menschen  aus  blossem  Gelüste  mit  Giftmischerei  um's  Leben 
brachten.  Solche  Fälle  sind  psychologische  Räthsel.  Man  ist  versucht ,  hier 
pathologische  Begründung  solch  monströser  Gelüste  anzunehmen,  nicht  aber  einen 
eigenen  krankhaften  Vergiftungsinstinkt,  um  dessen  Erfindung  sich  ein  älterer 
Schriftsteller  (Harless)  ein  zweifelhaftes  Verdienst  erworben  hat. 

Beob.  77.  Geisterspuk  ausgehend  von  einem  hysteropathischeii 
Mädchen    in    der   Pubertät.      Am  29.  Nov.  1876    erstattete    die  Gensdarmerie 


Beob.  77.     Geisterspuk,  durch  eine  Hysterische  verursacht.  219 

Anzeige,  dass  im  Hause  des  Bauern  Kapper  Geistererscheinungen  vorkämen,  wegen 
deren  das  Publikum  in  wachsender  Aufregung  sei.  Dieser  Spuk  dauerte  mit 
Unterbrechungen  bereits  seit  dem  2-3.  Nov.  Am  Abend  dieses  Tags  waren  Marie, 
die  12jährige  Tochter  des  Bauern,  und  die  18jährige  Magd,  welche  seit  Jahren 
im  Stallgebäude  schliefen,  Nachts  in's  Wohnhaus  gelaufen  und  hatten  behauptet, 
es  geistere  bei  ihnen  und  sei  vor  Kratzen  und  Schlagen  an  ihrem  Bett  nicht 
auszuhalten.  Da  der  Spuk  fortdauerte,  so  mussten  die  beiden  Mädchen  aus- 
quartirt  werden.  Am  27.  flogen  sogar  Rüben  und  ein  Korb  in  der  Luft  herum 
und  wurde  die  Marie  davon  getroffen.  Am  28.,  als  der  bestürzte  Bauer  mit  seiner 
Tochter  zum  Pfarrer  ging,  flogen  auf  dem  Hin-  und  Herweg  Steine,  Schnee  und 
Erde  in  der  Luft  herum  und  als  sie  in  den  Stall  heimkamen,  gab  es  wieder 
einen  Rübenregen.  Solange  der  herbeigeholte  Pfarrer  anwesend  war,  war  Alles 
ruhig,  kaum  war  er  aber  fort,  so  flog  ein  Tragkorb  gegen  die  Marie,  die  neben 
ihrem  Vater  stand.  Zeitweise  kam  es  der  Magd ,  die  mit  der  Marie  im  Bett 
zusammenschlief,  vor,  als  ob  sie  Jemand  aus  dem  Bett  zu  werfen  versuche,  auch 
in  den  Arm  kneipe.  Auffällig  war  ihr  auch,  dass  immer  nur  an  der  Seite  des 
Bettes  das  Kratzen  und  Klopfen  vernehmbar  war,  an  welcher  die  Marie  lag. 

Die  M.  kam  nun  in  den  Pfarrhof.  Dort  und  auch  daheim  fiel,  solange  sie 
beim  Pfarrer  war,  nichts  Auffälliges  vor,  ausser  dass  einmal  ein  Stein  durch  das 
Fenster  in  die  Stube  flog.  Kaum  war  die  M.  wieder  daheim  ,  so  ging  der  Spuk 
von  Neuem  los.  Nun  flogen  sogar  Kürbisse  herum.  Am  7.  Decbr.  früh  fand 
man  die  Schuhe  der  weiblichen  Hausgenossen  mit  geschnittenen  Rüben  und 
Menschenkoth  angefüllt.  Am  8.  früh  waren  die  Schuhe  mit  gekochten  Bohnen 
gefüllt.  Auf  eines  der  Mädchen  konnte  kein  Verdacht  fallen,  da  sie  unter  Obhut 
des  Bauern  und  seiner  Familie  im  Zimmer  schliefen  und  ein  nächtliches  Auf- 
stehen nicht  bemerkt  worden  war.  Vom  8. — 11.  flogen  Semmeln  in  der  Luft 
herum.  Der  Spuk  war  am  ärgsten,  wenn  Neugierige  herbeiströmten.  Solange 
die  Gensdarmerie  im  Hause  anwesend  war,  fiel  nie  etwas  vor.  Die  M.  fürchtete 
sich  sehr  wegen  dieser  Spukgeschichte.  Zu  Zeiten  riss  es  ihr  gar  den  Löffel 
aus  der  Hand  und  schnellte  ihr  die  Arme  nach  oben.  Von  unsichtbarer  Macht 
ging  das  Licht  aus  und  die  Anwesenden  wurden  dann  mit  Wasser  begossen  oder 
auch  mit  Milch  und  Asche.  Der  Bauer,  ein  abergläubischer  beschi'änkter  Mensch, 
kam  immer  mehr  zur  Ueberzeugung ,  der  Geist  seines  verstorbenen  Schwieger- 
vaters habe  ihm  diesen  Spuk  angethan.  Der  Geistliche  Hess  den  Exorcismus 
los,  aber  darauf  wurde  die  Sache  noch  äi-ger. 

Die  Marie  sagte  meist  den  Spuk  vorher:  „jetzt  kommt's,  jetzt  geistert  es 
wieder".  Endlich  ertappte  der  Lehrer  die  M.  beim  Werfen  eines  Küchenmessers, 
Zündholzschächtelchens  und  wie  sie  von  aussen  Steine  und  Holzstücke  an  die 
Thür  warf. 

Damit  war  der  Spuk  erklärt  und  beendigt.  Die  M.  kam  nun  in  gerichts- 
ärztliche Beobachtung. 

Sie  ist  ein  geistig  und  körperlich  über  ihr  Alter  hinaus  entwickeltes, 
intelligent  aussehendes,  auffallend  zartes  Mädchen  von  feinem  Teint  und  neuro- 
pathischem  Ausdruck  der  Augen.  Der  asymmetrische  Schädel,  die  mangelhafte 
Entwicklung  der  zudem  gerieften  Zähne,  der  Bau  des  Thorax  deuten  auf  Rhachitis 
infantilis. 

Seit  dem  26.  November  leidet  die  M.  an  klonischen  und  Streckkrämpfen, 
Wein-  und  Lachkrämpfen,  Kopfweh,  ziehenden  Schmerzen  im  Kreuz  und  in  den 


220  Cap.  IX.    Das  hysterische  Irresein. 

Füssen.  Sie  wurde  zeitweise  betroffen,  wie  sie  starr  dastand,  blass  war  und  stier 
vor  sich  hinblickte.  Constant  und  mit  der  unbefangensten  Miene  läugnete  sie 
jegliches  Wissen  von  dem  Zustandekommen  der  Geistererscheinungen. 

Die  Marie  ist  die  Urheberin  des  Geisterspuks.  Sie  hat  ihn  aus  krank- 
hafter Lust  Aufsehen  zu  erregen  in  Scene  gesetzt.  Dieser  Drang  steht  mit  einer 
gleichzeitig  aufgetretenen  Hysterie  in  Verbindung,  die  wohl  durch  Vorgänge  der 
sich  vorbereitenden  Menstruation  vermittelt  ist  (Pubertätsneurose).  ISfach  mehr- 
wöchentlicher Beobachtung,  in  welcher  die  letzten  Spuren  des  Hysterismus 
schwanden,  wurde  Pat.  entlassen.     (Eigene  Beobachtung.) 

Weitere  Fälle:  Liman,  zweifelh.  Geisteszustände  p.  141  (Widersetzlich- 
keit gegen  Beamte.  Majestätsbeleidigung).  Buchner,  Friedr.  Bl.  1867,  H.  5 
(Verbalinjurien  und  Körperverletzungen  im  Affekt  begangen).  Legrand,  la  folie 
p.  336  (Simulation  von  Körperverletzung,  um  sich  interessant  zu  machen).  Fälle 
von  vorgegebenem  Attentat  auf  die  Geschlechtsehre  s.  Annal.  d'hyg.  publ.  1.  serie 
tom.  IV,  3.  Serie  tom.  XXII,  f.  d.  Fall  La  Ronciere.  Diebstähle  aus  Zwangs- 
vorstellungen, krankhaftem  Gelüste  s.  Casper,  klin.  Novellen  p.  254  (Fall  Malvina 
Torström),  Casper-Liman,  Handb.  Fall  279.  v.  Krafft,  die  Gelüste  der  Schwangeren. 
Friedr.  Bl.  1867,  H.  1.  Fälle  von  Stigmatisation:  Brück,  deutsch.  Klinik  1875,  1—3. 
Bourneville,  Science  et  miracle.  Louise  Lateau,  Paris  1875.  Impulsive  Akte: 
Morel,  traite  des  mal.  mentales  p.  676. 

b.    Transitorische    Symptom  encompl  exe    psychischer 
Stör ungbei    Hysterischen. 

In  ähnlicher  Weise  wie  bei  Epileptischen  kommen  auch  bei  Hysterischen 
episodisch  Zustände  Stunden  bis  Tage  dauernder  psychischer  Störung  vor.  Sie 
haben  ein  delirantes  Gepräge  und  das  Delirium  hat  meist  einen  erotischen  oder 
religiösen  Kern.  Tonische,  klonische  hysterische  Krampfzustände  oder  auch 
kataleptiforme  Erscheinungen  begleiten  gewöhnlich  das  psychopathische  Bild, 
wechseln  auch  wohl  mit  Delirien  ab.  In  der  Regel  steht  dieses  transitorische 
Irresein  mit  h5^sterischen  Krampfanfällen  in  Zusammenhang,  seltener  erscheint  es 
als  freistehender  psychischer  Anfall.  Gemüthsbewegungen ,  der  Vorgang  der 
Menstruation  sind  gewöhnlich  die  veranlassenden  Ursachen.  Als  Prodromi  werden 
Globus,  Myodynien,  krampfhafte  Erscheinungen,  grosse  Reizbarkeit  und  Gereizt- 
heit, Kopfweh,  Angst  beobachtet. 

Das  Bewusstsein  ist  im  Anfall  getrübt  bis  zur  Aufhebung  desselben.  Daraus 
öi-geben  sich  entsprechende  Erinnerungsdefekte.  Als  Formen  des  transit.  Irreseins 
Hysterischer  finden  sich  pathologische  Affekte,  raptus  mel. ,  Mania  transitoria, 
peracute  Manie  mit  erotischen  und  religiösen  Primordialdelirien,  moriaartige  Er- 
regungszustände bei  schwer  gestörtem  Bewusstsein  mit  kleptomanischen  Impulsen, 
Ano'Stzustände  mit  episodischen  Sinnestäuschungen  schreckhaften  Inhalts  (ähnlich 
dem  petit  mal),  Zustände  von  schreckhaftem  hallucinatorischem  Delir,  vielfach 
mit  dämonomanischem  Kern,  mit  episodischen  hysteroepileptischen  Krämpfen, 
traumhafter  Stufe  des  Bewiisstseins  und  entsprechendem  Erinnerungsdefekt  (analog 
dem  grand  mal);  endlich  ecstatische  Zustände  mit  religiösem  Delir  und  Himmels- 
visionen und  Anfälle  von  Somnambulismus. 

Im  Anschluss  an  diese  Anfälle  werden  Erscheinimgen  psychischer  Pro- 
stration, LTrina  spastica  beobachtet. 


Transitorisches  Irresein  Hysterischer.  221 

Die  forensische  Bedeutung  dieser  Zustände  ist  keine  so  grosse 
wie  bei  denen  der  Epileptischen,  da  sie  im  allgemeinen  seltener  sind, 
das  Bewusstsein  weniger  tief  gestört  und  der  Inhalt  der  Hallucina- 
tionen  und  Delirien  seltener  ein  schreckhafter  ist. 

Indessen  finden  sich  in  der  Literatur  Fälle  verzeichnet  wo  solche 
delirante  Zustände  zu  schweren  Gewaltthaten  (Mord,  Körperverletzung, 
Brandstiftung)  führten.  Die  erotischen  Delirien  können  zu  fälschlicher 
Beschuldigung  der  verübten  Nothzucht  und  Skandalprocessen  Anlass 
geben,  die  manischen  Zustände  zu  Diebstahl ;  die  ecstatischen  Zustände, 
insofern  sie  mit  Predigen,  Weissagen  etc.  einhergehen,  können  die  Volks- 
menge aufregen  und  die  Sicherheitsbehörde  zum  Einschreiten  nöthigen. 

Die  forensische  Beurtheilung  solcher  Zustände  wird  in  erster 
Linie  den  Nachweis  der  hysterischen  Neurose  zu  liefern,  früher  vor- 
handengewesene Anfälle  auszumitteln  haben.  Für  die  Beurtheilung 
des  Geisteszustands  zur  Zeit  der  That  werden  der  traumhafte  unbe- 
wusste  Charakter  der  Handlungen,  die  getrübte  oder  fehlende  Erinne- 
rung, die  hysterischen  Prodromi  und  Folgeerscheinungen  des  Paroxys- 
mus,  die  complicirenden  klonischen,  tonischen,  kataleptischen  oder 
chorea-magnaartigen  Symptome  zu  verwerthen  sein. 

Beachtung-  verdient,  dass  ähnlich  wie  bei  Epilepsie  die  hysterischen  Delirien 
und  Aequivalente  sich  protrahiren  und  wiederholt  recidiviren  können.  Es  ent- 
stehen dann  Wochen  bis  Monate  dauernde  delirante  Zustände  (hallucinatorisches 
schreckhaftes  oder  auch  religiöses  Delir,  Mischungen  beider,  Angstzustände  mit 
episodischem  Verfolgungsdelir  etc.)  mit  Remissionen  bis  Intermissionen. 

Beob.  78.  Hysterismus.  Acutes  Delirium.  Schwere  Verletzung 
der  Mutter.  Am  23.  August  Morgens  9  Uhr  stürzte  sich  Frau  B.  auf  dem 
Corridor  auf  ihre  Mutter  und  brachte  ihr  zwei  schwere  Verletzungen  am  Kopf 
mittelst  einer  Haue  bei.  Eine  Hausgenossin  kam  herzu  und  entwaffnete  die 
Tochter.  Während  jene  um  Hilfe  forteilte,  schlug  die  B.  von  Neuem  auf  die 
Mutter  mit  einem  Zinntopf  los.  Die  herbeigeeilten  Nachbarn  fanden  die  B.  mit 
entstellten  Gesichtszügen,  stieren  Augen,  unartikulirte  Schreie  ausstossend.  Sie 
wollte  sich  nochmals  auf  die  Mutter  stürzen. 

Im  unmittelbaren  Verhör  antwortete  sie  ganz  verworren,  im  Gefängniss 
glich  sie  anfangs  einer  Trunkenen.  Am  folgenden  Morgen  behauptet  sie,  von 
allem  Vorgefallenen  nichts  zu  wissen.  Sie  spricht  noch  allerlei  Ungereimtes,  u.  a. 
von  Vergiftung,  so  dass  ihr  Geisteszustand  dem  Richter  selbst  auffällig  ist. 

Frau  B.  ist  35  Jahre  alt,  von  nervösem  Temperament,  schwächlicher  Con- 
stitution, sehr  anämisch  und  bietet  alle  physischen  und  psychischen  Zeichen  von 
constitutioneller  Anämie  und  Status  nervosus  (kleiner,  langsamer  Puls,  Appetit- 
losigkeit, Cardialgie,  Verstopfung,  Beengungsgefühle,  Leucorrhöe,  unregelmässige 
Menses,  cutane  Hyperästhesie,  Schlaflosigkeit).  Ihre  Angaben  sind  präcis,  Intelligenz 
frei,  Gedächtniss  unsicher.  Von  jeher  nervenleidend.  Im  Gefängniss  melu'ere  An- 
fälle von  Asthma,  die  die  Versetzung  in  eine  Krankenabtheilnng  nöthig  machen. 


222  Csl]).  IX.    Das  hysterische  Irresein, 

Das  Gedächtniss  ist  vom  22.  Abends  an  aufgehoben.  Sie  erinnert  sich 
nur,  dass  sie  in  der  Nacht  auf  den  23.  schlaflos  war,  aufgeregt,  gequält  von 
schreckhaften  Gedanken,  verworrenen  Visionen.  Sie  ^eiss  nicht  genau  anzugeben, 
wann  ihr  das  Bewusstsein  wiedergekehrt  ist,  sie  meint  nur,  es  sei  ihr  vorge- 
kommen, als  ob  sie  sich  einen  Moment  mit  Blut  bedeckt  sah. 

Seit  sie  im  Gefängniss,  kommt  es  ihr  vor,  wie  schon  öfters,  dass  sie 
spricht  und  handelt,  ohne  zu  wissen,  was  sie  sagt  und  thut ;  sie  hat  schreckhafte 
Visionen,  die  sie  nur  mit  Mühe  als  solche  erkennt.  Sie  bedauert  aufrichtig  ihre 
Handlung,  Aveiss  sie  sich  nicht  zu  erklären.  Die  Mutter  war  oft  roh  gegen  sie, 
aber  nie  habe  sie  den  Gedanken  gehegt,  derselben  etwas  zu  Leid  zu  thun. 

Eine  Mutterschwester  ist  geisteskrank,  eine  andere  leidet  an  hysterischer 
Paralyse.  Die  Mutter  ist  eine  sonderbare  Frau,  maltraitirte  die  Tochter  viel  und 
ohne  Grund,  doch  betrug  sich  die  Tochter  immer  gut  gegen  sie. 

Der  Hausarzt  der  B.  deponirt,  dass  er  sie  schon  im  letzten  Winter  in 
einem  psychopathischen  Zustand  gesehen  hat  —  sie  war  in  grosser  ängstlicher 
Aufregung,  wähnte  sich  von  Feinden  verfolgt,  am  Leben  bedroht.  Man  sah  sie 
wiederholt  traurig,  in  sich  versunken.  Sie  hielt  Fenster  und  Thüren  sorgfältig 
verschlossen,  weil  sie  wähnte,  man  wolle  ihr  etwas  zu  Leid  thun. 

Am  Abend  vor  der  That  hatte  die  B.  mit  der  Mutter  eigen  Streit  gehabt 
und  war  tief  gekränkt  heimgegangen.  Die  Nacht  scheint  schlaflos  und  in  Auf- 
regung zugebracht  worden  zu  sein.  Um  8^/4  Morgens,  kurz  vor  der  That,  trat 
die  B.  verstört  und  aufgeregt  bei  einer  Nachbarin  ein,  klagte  sich  krank,  mit 
Kopfweh  geplagt,  sie  habe  seit  gestern  Morgen  weder  gegessen  noch  getrunken, 
sie  müsse  sterben,  wenn  nicht,  so  werde  die  Mutter  sie  vergiften,  wie  sie  es  mit 
vier  Kindern  und  dem  Mann  gethan.  Die  B.  machte  bei  diesen  Aeusserungen 
den  Eindruck  einer  Irren.  Gleich  nach  ihrem  Weggang  kam  es  zur  Katastrophe 
mit  der  Mutter. 

Das  Gutachten  weist  sachgemäss  den  Zusammenhang  der  That  mit  einem 
psychopathischen  Zustand  (hysterisches  Delirium,  „manie"  hysterique)  nach,  der 
als  etwa  48  Stunden  währende  acute  Steigerung  einer  auf  Erblichkeit,  nervöser 
Constitution  und  constitutioneller  Anämie  beruhenden  chronischen  hysterischen 
Psychose  anerkannt  werden  muss.  Diese  äussert  sich  ausser  den  sensiblen  Stö- 
rungen in  Aenderung  des  Charakters,  psychischer  Depression,  Hallucinationen 
und  Illusionen  schreckhaften  Inhalts  und  vagen  Wahnideen  der  Verfolgung. 
Auch  der  ganze  Mechanismus  der  That  trägt  das  Gepräge  des  Unfreien,  Unbe- 
wussten  an  sich  und  lässt  den  Gedanken  an  Simulation  nicht  aufkommen.  Die 
vorhandene  Amnesie  wurde  in  ihrer  semiotischen  Bedeutung  nicht  verwerthet. 
Die  B.  wurde  freigesprochen  und  in  die  Irrenanstalt  versetzt.  (Ann.  med.  psych. 
März  1874.) 

Beob.  79.  Hysterismus.  Ecstatische  Zustände  mit  religiösem 
Delirium.  Simulation.  Anklage  wegen  Betrug.  Die  0.,  15  Jahre  alt, 
Bauerntochter,  von  gesunden  Eltern  gezeugt,  ist  des  Betrugs  angeklagt,  da  sie 
als  gottbegnadete,  irdischer  Nahrimg  entbehrende  Seherin  sich  gerirte  und  dadurch 
die  Bevölkerung  anlockte  und  ausbeutete.  0.,  schon  als  Kind  schreckhaft,  zu 
Krämpfen  der  Luftwege  geneigt,  litt  von  Ostern  1872  an  an  theils  klonischen, 
theils  tonischen  Krämpfen  mit  Verlust  des  Bewusstseins,  zu  denen  sich  seit 
November  1873  ecstatisch-visionäre  Zustände  folgender  Art  gesellten.  Sie  streift 
mit  der  rechten  Hand  das  neben  ihr  hängende  Muttergottesbikl,  klopft  an  dasselbe, 


Beob.  79.    Hysterismiis.   Ecstatische  Zustände  mit  relig.  Deiiriiim.  223 

streckt  beide  Arme  nach  dem  hinter  ihr  hängenden  Crucifix,  öffnet  die  Augen, 
kniet  im  Bette  nieder  und  ahmt  nun  pantomimisch  die  Bewegungen  des  messe- 
lesenden Priesters  nach,  bis  die  himmlisclie  Speisung  kommt.  Sie  hebt  dann 
Hände  und  Augen  zum  Muttergottesbild,  führt  dann  die  Hände  zum  Munde,  worauf 
sie  das  Kauen  von  Speise  und  das  Schlucken  von  Getränk  täuschend  nachahmt. 
Nachdem  sie  der  Mutter  Gottes  ihren  Dank  bezeugt  hat,  legt  sie  sich  nieder, 
wird  dann  von  Convulsionen  befallen,  nach  deren  Aufhören  sie  ruhig  daliegt 
und  nur  pantomimisch  mit  der  Umgebung  verkehrt.  Da  die  Angehörigen  der 
abergläubischen  Bevölkerung  gegenüber  behaupteten,  die  0.  enthalte  sich  aller 
irdischen  Speise,  so  wurde  die  Sache  als  Wunder  proklamirt,  und  die  Leute 
strömten  nun  schaarenweise  herbei,  um  das  Mirakel  zu  sehen  und  der  Gott- 
begnadeten Geld-  und  Viktualienspenden  darzubringen.  Ein  von  der  Behörde 
abverlangtes  gerichtsärztliches  Gutachten  erklärte  die  0.  für  bleichsüchtig  und 
mit  Krämpfen  behaftet,  alle  übrigen  Erscheinungen  für  simulirte  und  durch 
Eitelkeit  oder  Gewinnsucht  der  Angehörigen  motivirte. 

Am  17.  Januar  1874  erschien  eine  Gerichtscommission  in  dem  Hause  des 
Wunderkinds,  um  den  Sachverhalt  zu  erforschen.  Sie  fand  das  Mädchen  in  einem 
Bett,  an  dessen  Kopfende  aus  Bildern,  Kränzen,  Schleifen  eine  Art  von  Altar 
errichtet  war.  Sie  0.  lag  in  ein  weisses  Hemd  gekleidet  da,  das  Kopfkissen 
ist  mit  Zierrathen  bestickt,  die  Wände  mit  Heiligenbildern,  Kränzen,  Schleifen, 
Crucifixen  behangen. 

Um  das  Bett  sind  die  Angehörigen  versammelt.  Der  Vater  fragt,  ob  die 
„Verrichtung"  beginnen  könne :  das  Mädchen  nickt  mit  dem  Kopfe.  Nun  werden 
Kerzen  angezündet  und  die  Gläubigen  eingelassen.  Nach  einer  Weile  schlug  die 
0.  die  Augen  zum  Marienbild  auf  und  machte  das  Kreuzeszeichen.  Dann  drehte 
sie  sich  auf  die  Seite,  öffnete  den  Mund,  Avie  um  Speise  zu  empfangen  und  fing 
nun  an,  pantomimisch  zu  kauen,  trinken  und  schlucken.  Dann  lag  sie  längere 
Zeit  wieder  ruhig  mit  geschlossenen  Augen  auf  dem  Rücken.  Plötzlich  schlug 
sie  die  Augen  nach  dem  Marienbild  auf,  kniete  nieder,  segnete  die  Umgebung. 
Auf  ein  gegebenes  Zeichen  löste  der  Vater  das  Tuch  ihr  vom  Kopf  und  setzte 
ihr  eine  schwarze  Haube  auf.  Nun  erfolgte  während  einer  Stunde  etwa  das 
pantomimische  Messelesen,  darauf  kam  es  zu  Convulsionen.  Sie  streckte  sich, 
verdrehte  die  Augen,  der  Oberleib  wurde  geschüttelt,  schnellte  auf  und  nieder, 
die  Hände  reckten  sich  krampfhaft,  die  Daumen  zogen  sich  ein,  ein  leichtes 
Frösteln  überlief  den  Körper,  Brust  und  Bauch  hoben  und  senkten  sich  wellen- 
förmig. Zwischendurch  traten  Pausen  auf,  in  welchen  die  0.  aufsass  und  den 
Segen  gab.  Nach  20  Minuten  lag  sie  wieder  ruhig  da,  verkehrte  nur  pantomimisch 
mit  der  Umgebung,  nahm  aber  wahr,  was  um  sie  vorging.  Sie  wurde  von  der 
Commission  unausgesetzt  bewacht.  Die  Möglichkeit  einer  Speisezufuhr  war 
während  6  Tagen  ausgeschlossen.  Die  bis  dahin  ziemlich  gut  genährte  0.  kam 
in  der  Ernährung  herunter,  die  Eigenwärme  sank,  der  Puls  wurde  schwächer. 
Wiederholt  fanden  sich  Koth  und  Urin  im  Bett. 

Die  ecstatisch  visionären  und  convulsiven  Anfälle  wiederholten  sich  genau 
wie  am  ersten  Tage.  Am  20.  fing  0.  an,  auf  Fragen  zu  antworten.  Sie  läugnete 
den  Genuss  von  irdischer  Speise,  erklärte  am  25.  December  von  der  Mutter  Gottes 
den  Auftrag  erhalten  zu  haben,  den  Brunnen  vor  dem  Haus  zu  weihen,  was  sie 
auch  wirklich  gethan  hat.  Sie  behauptete,  die  Jungfrau  Maria  erscheine  ihr  täglich 
und  habe  ihr  das  Sprechen  und  Essen  verboten. 


224  ^*P-  ^^-    ^^^  hysterisclie  Irresein. 

Die  0.  ist  von  einnelimendem  Aeussern,  noch  nicht  menstruirt.  Zeugen 
iiaben  Brod,  Aepfel  wiederholt  im  Bett  des  Mädchens  vorgefunden.  Von  den 
2  Aerzten  der  Commission  spricht  sich  Dr.  M.  für  religiösen  Wahnsinn,  entstanden 
aus  Hysterismus,  aus.  Die  Enthaltung  von  Nahrung  seit  dem  1.  Oktober  1873 
sei  simulirt  und  durch  krankhafte  Eitelkeit  motivirt.  Dr.  F.  hält  ausserdem  das 
Messelesen  für  willkürlich  gemacht  und  schliesst  dies  aus  einer  Pbeihe  von  Um- 
ständen. Anfang  März  1874  traten  bei  der  0.  zum  erstenmal  die  Regeln  ein. 
Sofort  verloren  sich  Krämpfe  und  Messelesen  und  hörte  sie  damit  auf,  für  die 
Menge  ein  Anziehungspunkt  zu  sein.  Von  allem,  was  zwischen  dem  30.  Sep- 
tember 1873  und  dem  Charfreitag  1874  mit  ihr  vorgegangen  war,  behauptete 
sie  gar  keine  Erinnerung  zu  besitzen.  Gerichtlich  wurde  noch  constatirt,  dass 
der  lljähi'ige  Bruder  der  0.  während  dieser  Zeit  sie  mit  Brod  und  Wasser 
heimlich  versorgt  hatte.  Sie  hatte  ihm  aufgetragen ,  Niemand  davon  etwas 
zu  sagen. 

Gutachten :  0.,  ein  Mädchen,  das  sowohl  durch  seine  äussere,  ungewöhnlich 
zarte  Erscheinung,  als  auch  durch  die  von  früher  Jugend  an  bestehende  Schreck- 
haftigkeit und  durch  Krämpfe  im  Bereich  der  Respirationsorgane  eine  nervöse 
Constitution  von  Geburt  an  verräth,  erkrankt  in  der  Entwicklungsperiode  an 
Krämpfen,  die  sich  immer  mehr  ausbreiten,  ein  polymorphes  Gepräge  annehmen 
und  nach  ihrem  ganzen  Verhalten  als  hysterische  zu  bezeichnen  sind.  Im  Ver- 
lauf gesellt  sich  zu  ihnen,  während  ihrer  Dauer,  Verlust  des  Bewusstseins  und 
schliesslich  kommt  es  zu  Hallucinationen,  religiösen  Wahnvorstellungen,  die  das 
Handeln  beeinflussen  und  zu  ecstatisch  visionären  Zuständen.  Mit  dem  erst- 
maligen Eintritt  der  Menstruation  schwinden  diese  Störungen.  Das  Krankheitsbild 
ist  ein  empirisch  wahres,  als  Pubertätsneurose  zu  bezeichnendes.  Diese  beginnt 
als  Hysterie,  nähert  sich  in  der  Folge  dem  Bild  einer  Hysteroepilepsie,  dann  den 
einer  Chorea  magna  und  geht  schliesslich  in  Geistesstörung  mit  Hallucinationen 
und  Delirien  über.  J.  0.  ist,  so  lange  sie  unter  dem  Einfluss  dieser  stand,  also 
vom  8.  Oktober  1873  bis  17.  März  1874,  im  Sinne  des  §.  2  lit.  a  des  österr. 
St.-G.-B.  als  des  Gebrauchs  der  Vernunft  ganz  beraubt  zu  bezeichnen.  Trotzdem 
sind  eine  Reihe  von  Erscheinungen  im  Krankheitsverlauf  offenbar  simulirte. 
Dahin  gehört  die  behauptete  Enthaltung  von  Speise,  die  willkürliche  Hinzuthat 
von  allerlei  Ceremonien  in  den  Anfällen,  das  Messelesen,  das  Fat.  zudem  an 
Sonntagen  länger  und  feierlicher  machte  als  an  Werktagen,  endlich  die  höchst 
unwahrscheinliche  Amnesie  für  die  ganze  Zeitdauer  der  Krankheit,  die  erfahrungs- 
gemäss  sonst  nur  für  die  ecstasisch  visionären  und  krampfhaften  Zufälle  mangelt. 
Diese  Bedenken  können  aber  den  gegebenen  Schluss  auf  Geisteslvrankheit  nicht 
erschüttern.  Diese  und  Simulation  sind  nicht  Gegensätze,  können  zusammen  vor- 
kommen. Mit  dem  positiven  Nachweis  geistiger  Krankheit  wird  die  gleichzeitig- 
erwiesene Simulation  gegenstandslos.  Es  ist  eine  häufige,  ja  als  zum  Krankheits- 
bild gehörige  Erscheinung  bei  hysterisch  Irren  zu  betrachten,  dass  eine  anfangs 
bewusste  und  halbgewollte,  schliesslich  aber  zwangsmässige  Neigung  zum  Ueber- 
treiben  und  Simuliren  auftritt.  Einen  mächtigen  Impuls  musste  dieser  Hang  bei 
der  0.  durch  das  Benehmen  der  Umgebung  bekommen,  die  schon  im  Beginn  des 
religiösen  Delirium  die  Krankheit  vom  Standpunkt  des  Wunders  auffasste,  und 
in  ihrem  beschränkten  abergläubischen  Sinn  mit  der  Kranken  eine  Art  Cultus 
trieb.     (Eigene  Beobachtung.) 


Beob.  80.    Hyster.  erot.  Delirien.   Denunciation  wegen  Nothzucht.  225 

Beob.  80.  Hysterismus.  Traumzustände  mit  erotischen  Delirien. 
Fälschliche  Denunciation  wegen  Nothzucht.  Ein  15j ähriges  Mädchen, 
Merlac,  beschuldigte  2  Geistliche,  sie  genothzüchtigt  zu  haben.  Sie  will  am 
12.  Mai  1868,  an  welchem  Tage  sie  mit  ihrer  8  Jahre  älteren  Cousine  N.  ein 
Kloster  besuchte,  einen  Priester  Henry  dort  getroffen  haben,  der  die  Rolle  eines 
Almoseniers  spielte  und  einige  Indecenzen  sich  gegen  eine  Schwester  und  ihre 
Cousine  erlaubt  habe.  Als  sie  am  anderen  Tag  wieder  mit  der  Cousine  in's 
Kloster  ging,  sei  sie  in  ein  Zimmer  gebracht  worden,  wo  sie  Henry  fand,  während 
■die  Cousine  verschwand.  H.  machte  ihr  Liebeserklärungen,  die  sie  enti'üstet 
zurückwies.     H.  sprang  dann  durch's  Fenster. 

Am  anderen  Tag  Abends  10  Uhr  führte  man  sie  wieder  in's  Kloster,  ver- 
liess  sie  dort,  worauf  die  Pförtnerin  sie  in's  Zimmer  des  H.  führte.  Dieser  ist 
toll  vor  Liebe,  setzt  ihr  zweimal  eine  Pistole  vor  die  Stirn,  als  sie  seinen  Wünschen 
sich  nicht  fügen  will,  jedoch  das  Pistol  versagt. 

Nach  einigen  Tagen  wird  sie  wieder  in's  Kloster  gebracht,  dort  eingesperrt 
während  48  Stunden  und  in  dieser  Zeit  vom  Abbe  genothzüchtigt.  Bei  diesem 
Verbrechen  leisten  mehrere  Klosterschwestern  dem  Abbe  Beistand. 

Einige  Tage  später  führt  die  Cousine  sie  zum  Beichtvater.  Dieser  hält 
ihr  eine  furchtbare  Standrede  wegen  ihres  Fehltrittes,  droht  ihr  mit  Gott,  der  sie 
Verstössen  werde,  da  sie  nun  schwanger  sei,  bezeichnet  ihr  aber  dann  das  Kloster 
als  ihre  Retraite,  wo  sie  an  Henry's  Seite  Königin  sein  könne,  wo  man  alle  Ver- 
gnügungen haben  könne,  selbst  solche,  die  man  im  gewöhnlichen  Leben  nicht 
kenne,  wo  sie  ihre  Sinne  befriedigen  könne,  wie  sie  wolle,  mit  ihren  Geliebten 
wechseln,  mit  Leichtigkeit  abortiren  könne. 

Ein  halbes  Jahr  später,  gelegentlich  eines  neuen  Besuches  bei  der  Cousine, 
macht  Henrj^  neue  Attentate  auf  sie.  Später  denuncirt  sie  sogar  einen  Abbe 
Videl,  dass  er  sie  schon  ein  Jahr  früher  als  Henry  geschändet  habe.  Auffallender- 
weise sind  die  den  beiden  Geistlichen  in  den  Mund  gelegten  Liebeserklärungen 
■die  gleichen. 

Hire  Memoiren  sind  überaus  widerspruchsvoll,  phantastisch,  romanhaft, 
schmutzig,  wollüstig,  wie  wenn  sie  aus  Romanen  geschöpft  wären,  deren  that- 
sächlich  das  Mädchen  viele  gelesen  hat,  während  ihre  Schilderungen  andererseits 
wieder  von  Mangel  an  wirklichen  Erlebnissen  in  sexuellen  Dingen  zeugen. 

Nach  1 72  Jahren  entdeckte  sie  sich  ihrer  Mutter.  Der  Vater  wird  klagbar. 
Es  wird  eine  Untersuchung  eröffnet,  aber  die  Klage  zurückgewiesen,  da  sich  die 
Angaben  als  erdichtet  herausstellen. 

Das  Mädchen  wurde  nun  wegen  falscher  Denunciationen  in  Anklagestand 
versetzt. 

Die  Merlac  ist  hereditär  zu  Psychosen  veranlagt.  Der  Vater  war  psycho- 
pathisch, vergiftete  sich  nach  der  Zurückweisung  seiner  Denunciation;  in  seiner 
Familie  finden  sich  Schwachsinnige  und  Epileptiker. 

Das  Mädchen  befand  sich  in  der  Pubertätszeit,  war  damals  geistig  und 
körperlich  nicht  normal  (Hysterismus),  wollte  sich  in  kindischer  Ueberspanntheit 
mit  seinen  Denunciationen  interessant  machen,  ohne  zu  bedenken,  was  es  that.  Sie 
war  von  Haus  aus  körperlich  und  geistig  eigenthümlich  constituirt.  Sie  bot  auf- 
fallende Abstumpfung  des  moralischen  Gefühls  und  erotische  Neigungen  zusammen- 
hängend mit  schwieriger,  unregelmässiger  und  schmerzhafter  Pubertätsentwicklung. 
V.  Krafft-Ebing,  gerichtl.  Psychopathologie.   2.  Auflage.  15 


226  Cap.  IX.    Das  hysterische  Irresein. 

Es  ist  wahrscheinlich,  dass  sie  in  Anfällen  eines  traumartigen  Zustandes  all  das^ 
Denuncirte  zusammenphantasirt  hat. 

Ihre  Genitalien  waren  so  beschaffen,  dass  von  einer  Immissio  penis  nicht 
die  Rede  gewesen  sein  konnte. 

Der  Verf.  hält  sie  für  vermindert' zurechnungsfähig.  (Cavalier,  Montpellier 
medical  1873,  Juli — December.) 

Weitere  Fälle:  Briquet  op.  cit.  p.  412  (Somnambulismus).  Morel,  traite 
de  la  med.  legale  p.  149,  152  (Ecstase  und  ecstat.  Delir).  Morel,  traite  des  mal. 
mental,  p.  675  (Brandstiftung  in  hysterodämonoman.  Delir).  Pelman,  Irrenfreund 
1872,  Nr.  1  (Tödtung,  Brandstiftung  in  hallucinator.  Delir).  Ann.  med.  psychol. 
1871,  Januar  (Hysteroepileptische  Deliiäen.  Brandstiftung,  wahrscheinlich  in  einem 
solchen  Anfall).  AUg.  Zeitschr.  f.  Psych.  Bd.  3,  H.  2  (Hysterismus.  Delirium. 
Fälschliche  Anklagen).  Lindsaj^,  Edinb.  med.  Journ.  1865,  Nov.  (Mania  transit. 
einer  Hysterischen  nach  einer  Gemüthsbewegung).  S.  ferner  v.  Krafft,  Lehrb.  d. 
Psychiatrie,  IIL  Beob.  90-95. 

c.    Chronische    Geistesstörung    bei    Hysterischen. 

Sie  ist  eine  nicht  seltene  Erscheinung  im  Verlauf  der  hysterischen  Neurose, 
die  intercurrent  und  gutartig  (Melancholie,  Manie)  oder  als  Ausgangszustand  des 
Nervenleidens  auftreten  kann.  In  diesen  lezteren  Fällen  handelt  es  sich  immer 
um  belastete  Persönlichkeiten.  Die  Hysterie  stellt  nur  ein  Stadium  einer  fort- 
schreitenden Entartung  des  centralen  Nervensystems  dar.  Sie  erscheint  dann 
gewöhnlich  schon  zur  Pubertätszeit,  nimmt  immer  schlimmere  Formen  und  Trans- 
formationen, namentlich  in  Hysteroepilepsie  an  und  geht  unvermerkt  in  finale 
Geistesstörung  über.  Die  Formen  dieses  hysterischen  Irreseins  sind  Verfolgungs-, 
erotischer  und  religiöser  Wahnsinn,  sowie  Zustände  fortschreitender  Entartung 
der  Persönlichkeit  in  sittlicher  und  intellektueller  Beziehung,  mit  vorherrschendem 
Irrefühlen  und  Irrehandeln,  das  zudem  vielfach  impulsiv  erscheint  (folie  rai- 
sonnante,  moral  insanity).  Die  Zustände  von  Verfolgungswahnsinn  auf  hysterischer 
Grundlage  bieten  vielfach  Verwerthung  von  krankhaften  Sensationen  im  Sinne 
physikalischer  Verfolgung  und  namentlich  erotisches  Verfolgungsdelir  auf  Grund 
entsprechender  Hallucinationen  und  Sensationen.  Anklagen  gegen  die  Umgebung, 
selbst  gegen  Aerzte  wegen  wahnhafter  Attentate  auf  die  Geschlechtsehre,  nächtlicher 
Schändung  (analog  den  Incuben  und  Succuben  vergangener  Jahrhunderte),  Wahn 
geschlechtlicher  Untreue  des  Mannes  oder  Geliebten  mit  Racheakten,  Ehescheidungs- 
klagen, Skandalprocessen  sind  nicht  seltene  Folgen  des  Wahnsinns. 

Gelegentlich  kommen  auch  Fälle  von  hysterodämonomanischer  Verrücktheit 
(früher  häufig  in  Klöstern)  mit  entsprechender  Lokalisation  der  bösen  Geister  durch 
Uterin-  Globus-  u.  a.  Sensationen  und  convulsiver  Reaktion  vor.  Sie  gehen  mit  Drang 
zum  Fluchen,  Gotteslästern  einher  und  können  Religionsstörung  herbeiführen. 

Die  Erotomanie  auf  hysterischer  Grundlage  gibt  zu  Verletzung  des  öfi'ent- 
lichen  Anstands,  zu  Prostitution,  Hausfriedensbruch  etc.  Anlass.  Der  religiöse  Wahn- 
sinn auf  hysterischer  Grundlage  spielt  eine  Rolle  in  der  Geschichte  der  Klöster, 
wird  vielfach  von  einer  bigotten,  fanatischen  oder  gewinnsüchtigen  Umgebung  zu 
religiösen  und  Erwerbszwecken  ausgebeutet  und  führt  zu  Untersuchungen  wegen 
Betrugs,  da  neben  wirklicher  Krankheit  häufig  eine  gute  Dosis  Simulation  vorhanden 
ist.     Dass  solche  „Stigmatisirte"  auch   heutzutage  nicht  selten  sind,   ist  bekannt. 


Chronische  hysterische  Geistesstörung.     Folie  raisonnante.  227 

Beob.  81.  Er otischer  Wahnsinn.  Fälschliclie  Denunciationen. 
Fräulein  H.,  38  Jahre,  beschuldigte  ihren  ehrbaren  alten  Vater,  dass  er  in  ihr 
von  innen  verschlossenes  Zimmer  den  Unterpräfekt  v.  L.  eingelassen  und  dass 
dieser  sie  und  ihre  Schwester  gemissbraucht  habe.  Sie  behauptete,  von  ihm  seit 
2  Jaliren  schwanger  zu  sein. 

Abgewiesen  mit  ihrer  Klage,  lauerte  sie  ihrem  imaginären  Verführer  be- 
waffnet auf.  Man  brachte  sie  in  eine  Irrenanstalt,  die  sie  gebessert  nach  einiger 
Zeit  verliess.  Sie  kam  in  die  Hände  eines  Advokaten,  der  sie  für  gesund  hielt 
und  eine  Klage  gegen  den  Vater  und  den  Arzt  der  Irrenanstalt  wegen  wider- 
rechtlicher Freiheitsberaubung  anstrengte.  Der  Beweis  ihrer  Geistesstörung  wurde 
erbracht,  die  Klage  abgewiesen.     (Legrand  du  Saulle,  la  folie  p.  337.) 

Weitere  Fälle:  Morel,  traite  des  mal.  mental,  p.  687  (erot.  Wahnsinn. 
Anklage  wegen  vermeintlicher  Schwängerung).  Brierre,  folie  raisonnante  p.  51 
(Denunciation  wegen  angeblicher  unsittlicher  Attentate).  Casper-Liman,  Handb. 
Fall  274  (Eifersucht  und  Wahn  ehelicher  Untreue.  Mordversuch  am  Mann). 
Forlanie,  op.  cit.  Fall  16  (ähnl.  Fall.  Mordversuch  am  Mann).  Ebenda  Fall  15 
(fälschliche  Selbstbeschuldigung  ein  Kind  geboren  und  umgebracht  zu  haben). 
Legrand  du  Saulle,  la  folie  p.  336  (Hj^steroerotomanie.  Diebstahl).  Bulard,  Annal. 
med.  psychol.  1873  (Mord  des  Ehemanns).  Fischer,  Friedreich's  Blätter  1877, 
H.  1  u.  2  (Mord  der  Schwägerin).  Kirn,  ebenda  1872  H.  2  (Brandstiftung  aus 
krankhafter  Rachsucht).  Motet,  Ann.  med.  psychol.  1871  Nov.  (impulsive  Dieb- 
stähle). 

Unter  den  hysterischen  Irreseinszuständen  degenerativen  Ge- 
präges verdient  noch  ganz  besondere  Beachtung  ein  nach  dem  Vor- 
gang von  Falret  und  Brierre  de  Boismont  als  folie  raisonnante  zu 
bezeichnendes  Krankheitsbild. 

Die  dieser  Störung  Anheimgefallenen  machen  social  und  ethisch  durchaus 
den  Eindruck  böser,  lügenhafter,  schmähsüchtiger  Weiber,  ohne  es  wirklich  zu 
sein.  Die  nähere  Beobachtung  solcher,  von  Familie,  Publikum,  Gerichtsbehörden 
meist  falsch  beurtheilter  Personen  ergibt  die  psychopathischen  Grundzüge  der 
Hysterischen,  aber  potenzirt  und  outrirt.  Es  besteht  hier  ein  durchaus  krank- 
haftes, in  den  Extremen  beständig  sich  bewegendes  Gefühlsleben-,  wir  vermissen 
nicht  die  Reizbarkeit  und  Leidenschaftlichkeit,  die  dem  Hysterismus  eigen  ist, 
die  Schmähsucht,  Lügenhaftigkeit,  Verstellungskunst,  den  krankhaften  Egoismus, 
die  Launenhaftigkeit,  grundlose  Antipathien,  Sympathien,  Bizarrerien  —  aber,  und 
diess  ist  das  Wesentliche  bei  solchen  Fällen  —  die  Kranken  sprechen  ganz  ver- 
nünftig, wissen  ihre  Zunge  trefflich  zu  gebrauchen ,  ihre  verkehrten  Handlungen 
prächtig  zu  entschuldigen,  durch  gewandte  Dialektik  ihre  sittlichen  Defekte,  per- 
versen Gefühle  und  krankhaften  Willensimpulse  zu  bemänteln,  so  dass  es  enorm 
schwer  hält,  in  foro  und  der  öffentlichen  Meinung  gegenüber  den  Beweis  ihrer 
Unzurechnungsfähigkeit  zu  liefern. 

Solche  Kranke  sind  eine  heillose  sociale  Plage  und  auch  in  den  Irren- 
anstalten wird  man  nicht  leicht  mit  ihnen  fertig. 

Eine  genaue  sachverständige  und  lange  genug  fortgesetzte  Beobachtung 
ergibt  aber  bei  all  diesen  Individuen  nicht  zu  verkennende  Merkmale  geistiger 
und  die  sittliche  Freiheit  aufhebender  Störung. 


228  Cap.  IX.    Das  hysterische  Irresein. 

Unter  der  Form  von  Launen  zeigt  sich  ein  deutlich  markirter,  ganz  un- 
motivirter,  beständiger  Gefiihlswechsel;  wir  finden  krankhafte,  bisweilen  periodisch 
erhöhte  Reizbarkeit,  pathologische  Affekte,  krankhaft  gesteigerte  und  vielfach 
unwiderstehliche  Triebe,  namentlich  in  der  Geschlechtssphäre,  die  zu  schamloser 
Prostitution,  Onanie,  zuweilen  auch  zu  ganz  verkehrtem  Gebahren,  wie  Anlegen 
von  Männerkleidern,  Neigung,  nackt  im  Zimmer  herumzulaufen,  Urin  za  trinken, 
sich  damit  zu  salben,  führen  können.  Das  Vorstellen  solcher  Kranker  ergibt, 
wenn  auch  von  eigentlicher  Wahnidee  frei,  den  charakteristischen  abspringenden 
Ideengang  Hysterischer,  krankhaftes  Fixirtsein  ganz  bizarrer  unvermittelter  Vor- 
stellungskreise, die  einen  zwingenden  Einfluss  auf  das  Handeln  gewinnen  können 
und  in  unüberlegten  bizarren  Handlungen,  absurden  Einfällen,  sonderbaren  Ge- 
lüsten ihre  Entäusserung  finden. 

Dabei  erscheinen  die  ganze  frühere  Anschauungsweise,  die  Neigungen, 
Gewohnheiten,  Strebungen  solcher  Individuen  im  grellen  Contrast  mit  der  früheren 
gesunden  Persönlichkeit,  die  nicht  durch  einige  Wahnvorstellungen  bloss  ver- 
fälscht, sondern  in  toto  umgewandelt,  entartet  ist. 

Das  ganze  Wollen  und  Streben  solcher  Kranker  erscheint  schliesslich  als 
ein  triebartiges,  unfreies,  impulsives,  aller  Reflexion,  alles  sittlichen  Haltes  baares, 
indem  nur  im  Sinn  der  momentan  das  Bewusstsein  beherrschenden  Gefühle  und 
Antriebe  gehandelt  werden  kann.  Dadurch  werden  theils  einfach  verkehrte, 
theils  unmoralische,  selbst  verbrecherische  Handlungen  hervorgerufen. 

Wenn  bei  irgend  einem  Menschen  sich  die  Reaktion  auf  ge- 
wisse Ereignisse  nicht  voraussagen  lässt,  so  sind  es  zunächst  solche 
hysterische  raisonnirende  Weiber,  die  ganz  dem  Spiel  ihrer  jeweiligen 
Einbildungen,  Einfälle,  Gelüste  preisgegeben  sind  und  die  sittliche 
Freiheit  vollständig  verloren  haben.  Eine  gute  Dosis  Verstellungs- 
kunst, ein  fast  instinctiver  Hang  zur  Simulation,  oft  willkürlich,  meist 
aber  zwangsmässig,  ist  eine  gewöhnliche  Zugabe  zu  einem  solchen 
Zerrbild  psychischer  Existenz,  wodurch  die  forensische,  an  und  für 
sich  schwierige  Beurtheilung  noch  erheblich  erschwert  wird. 

Dieberei,  Betrügerei,  Schwindelei,  Ehrabschneiden,  Vagabondage 
sind  die  Hauptzüge  des  socialen  Lebens  solcher  Personen.  Die  Mehr- 
zahl dieser  Kranken  bleibt  draussen  in  der  grossen  Welt,  wo  sie  gute 
Klienten  für  Advokaten,  Plagegeister  für  die  Familie  und  eine  un- 
ablässige Belästigung  für  Polizei  und  Richter  sind,  in  deren  Händen 
sie  sofort  Krämpfe  bekommen  und  den  ganzen  hysteropathischen 
Apparat  spielen  lassen,  um  wieder  loszukommen. 

Kommen  sie  in  Irrenanstalten,  so  leisten  sie  das  Unmögliche 
an  Zank,  Händelsucht,  Rechthaberei  und  Begehrlichkeit.  Aus  solchen 
entsprungen  oder  entlassen,  strengen  sie  sofort  Processe  wegen  wider- 
rechtlicher Freiheitsberaubung  an  und  finden  natürlich  Advokaten,  die 
sich  düpiren  lassen,  und  ein  skandalsüchtiges  Publikum,  die  sich  ihrer 
Sache  annehmen. 


Beob.  82.     Moral  insanity  auf  hyster.  Grundlage.     Beob.  83.  229 

Dass  die  chronischen  Irreseinszustände  Hysterischer  die  Zu- 
rechnungsfähigkeit ausschliessen,  bedarf  keines  Beweises.  Bezüglich 
der  Erkennung  solcher  krankhafter  Zustände  ergeben  sich  Schwierig- 
keiten ,  die  namentlich  dem  geschilderten  raisonnirenden  Krankheits- 
bild gegenüber  gross  sind.  Eine  sorgfältige  Beachtung  der  hiebei 
angeführten  diagnostischen  Kriterien,  eine  genügend  lange  Beobach- 
tung und  namentlich  eine  durchaus  zusammenfassende  Untersuchungs- 
methode wird  hier  vor  Irrthum  bewahren,  insofern  sie  die  Gesammt- 
persönlichkeit,  nicht  die  einzelnen  Akte,  die  ganz  das  Gepräge 
unsittlicher,  freigewollter  an  sich  tragen  können,  beurtheilt. 

Aber  auch  durch  fortgesetzte  Simulation  und  böswillige  will- 
kürliche Hinzumischung  von  Krankheitssymptomen  darf  das  Urtheil 
nicht  beirrt,  die  Ruhe  des  Beobachters  nicht  gestört  werden.  Ver- 
gessen wir  nicht,  dass  Simulation  Wahnsinn  nicht  ausschliesst,  dass 
manchen  psychischen  Störungen,  und  zu  ihnen  gehört  vorzugsweise 
der  Hysterismus ,  die  Neigung  zu  absichtlicher  Selbststeigerung  der 
Symptome  eigenthümlich  ist. 

Beob.  82.  Moral  insanity  auf  hyster.  Grundlage.  Ein  junges 
Mädchen,  war  um  die  Pubertätszeit  hysterisch  geworden  und  hatte  einen  auf- 
fallenden Hang  zum  Stehlen  gezeigt.  Man  brachte  sie  in  ein  Kloster,  wo  sich 
die  Erscheinungen  der  Krankheit  steigerten.  Sie  wurde  streitsüchtig,  eigensinnig, 
eitel,  lügenhaft,  schrieb  anonyme  compromittirende  Briefe,  denuncirte  einen  Geist- 
lichen, dass  er  sie  genothzüchtigt  habe.  In  die  Familie  zurückgekehrt,  las  sie 
nur  Romane,  sprach  unpassende  Dinge  und  benahm  sich  anstössig  auf  der  Strasse. 
Man  verheirathete  sie.  Zwei  Jahre  ging  es  gut.  Nach  dem  zweiten  Wochenbett 
ling  sie  an  Schnaps  zu  trinken.  Mann  und  Dienstboten  zu  prügeln,  mit  Freuden- 
mädchen sich  herumzutreiben.  Es  kam  zur  Trennung  der  Ehegatten.  Man  pro- 
jectirte  eine  Versorgung  in  einer  Irrenanstalt,  als  sie  plötzlich  mit  einem  Commis 
voyageur  verschwand.  Sie  lebte  dann  im  Concubinat,  kam  wegen  eines  Mord- 
versuchs ins  Gefängniss,  ergab  sich  endlich  der  Prostitution  und  endigte  in  einem 
Spital  für  Syphilitische  ihr  Dasein  im  Alter  von  27  Jahren.  (Legrand  du  Saulle, 
la  Folie  p.  336.) 

Beob.  88.  Betrügereien  und  Schwindeleien  seitens  einer  hyste- 
risch-degenerativen, moralisch  defekten  Persönlichkeit.  Patholo- 
gische Affekte  und  Gefängnissirresein.  Die  27jährige,  ledige  wegen 
Diebstahl  in  Untersuchungshaft  befindliche  Bauerntochter  Pigl  bot  eines  Tages 
Symptome  von  Melancholie  und  wurde  zur  Beobachtung  ihres  Geisteszustands 
dem  Krankenhaus  übergeben.  Ihr  Vater  ist  ein  Säufer,  ein  brutaler,  jähzorniger 
Mensch,  der  oft  in  psychischen  Ausnahmezuständen  sich  befinden  soll.  Ein  Kind 
ist  an  Convulsionen  zu  Grunde  gegangen.  Die  P.  entwickelte  sich  physisch  gut, 
menstruirte  im  16.  J.  ohne  Beschwerden,  hatte  seit  1875  ein  Liebesverhältniss, 
das  ihr  angeblich  viel  Aerger  und  Kummer  brachte.  Im  September  1877  hatte 
sie  geboren.    Seit  einem  profusen  Blutverlust  im  Wochenbett  soll  sie  neuropathisch 


230  ^^P-  I-^-    ^^^  hysterische  Irresein. 

geworden  sein  und  über  Schwäche  im  Kopf  geklagt  haben.  Thatsächlich  handelte 
es  sich  um  im  Puerperium  aufgetretenen  Hysterismus  mit  gelegentlichen  Krampf- 
anfällen. Die  P.  ist  seit  langer  Zeit  gerichtsbekannt.  Wie  aus  den  über  sie  vor- 
liegenden Akten  hervorgeht,  fiel  sie  schon  in  frühem  Alter  durch  Lügenhaftigkeit, 
Vagabundiren,  Prostitution,  Betrügereien  und  Diebstähle  auf,  that  nirgends  gut 
und  kam  schon  1867  mit  16  J.  wegen  Diebstahl  in  Untersuchung.  Sie  war  damals 
in  einem  Dienst.  Eines  Tags  kamen  ihrem  Herrn  16  fl.  weg  unter  Umständen, 
die  den  Verdacht  auf  die  P.  lenken  mussten.  [Sie  allein  hatte  Zugang  zu  dem 
Geld  gehabt,  nach  dem  Verschwinden  desselben  grossen  Aufwand  gemacht,  Ge- 
lage im  Wirthshaus  veranstaltet  etc.  Als  der  Herr  sie  öffentlich  des  Diebstahls 
beschuldigte,  klagte  sie  ihn  wegen  Ehrenbeleidigung,  behauptete  das  Geld  von 
einem  Offizier,  dem  sie  sich  gefällig  erwiesen  hätte,  bekommen  zu  haben.  Die 
Untersuchung  erwies  aber  ihre  j  Schuld ,  sie  gestand  ^schliesslich  und  wurde 
6  Wochen  eingesperrt. 

Am  16.  Juli  1871  neue  Bestrafung,  weil  sie  ihre  frühere  Dienstherrin,  von 
der  sie  wegen  unsittlichem  Lebenswandel  entlassen  werden  musste,  öffentlich 
Männerhure  schimpfte  und  das  infame  Gerücht  aussprengte,  deren  Mann  habe  mit 
ihr  ein  unsittliches  Verhältniss  gehabt. 

Am  26.  Juli  1871  Diebstahl  auf  dem  Jahrmarkt.     4  Wochen  Gefängniss. 

Am  24.  Mai  1873  machte  der  Droschkenkutscher  H.  Anzeige,  er  sei  be- 
stohlen  worden.  Am  frühen  Morgen  war  ein  junges  Frauenzimmer  gekommen 
und  hatte  ihn  zu  einer  Herrschaft  auf  den  folgenden  Tag  bestellt.  Abends  kam 
die  Person  wieder,  um  einen  Ring  zu  suchen,  den  sie  angeblich  verloren  hatte. 
Der  Kutscher  half  ihr  suchen.  Plötzlich  verschwand  sie  und  zugleich  ent- 
deckte Jener  den  Abgang  seiner  Brieftasche  mit  155  fl.  Die  Polizei  forschte  die 
P.  unter  dem  Pseudonym  „Amalie  Huber"  noch  Abends  in  einem  Gasthaus  aus, 
wo  sie  mit  einem  Unbekannten  zechte.  Man  fand  bei  ihr  noch  119  fl.  vor.  Sie 
beharrte  bei  ihrem  falschen  Namen,  log  einen  ganzen  Roman  über  ihre  Person 
zusammen  und  suchte  den  Richter  auf  falsche  Spur  zu  bringen.  Der  Fremde 
war  ihr  Geliebter,  ein  unbescholtener  Mann,  der  von  ihrem  Vorleben  nichts  wusste 
und  dem  sie  fremde  Personen  als  ihre  Eltern  bezeichnet  und  sich  selbst  als  eine 
wohlhabende  Bauerntochter  dargestellt  hatte.  Das  Leumundszeugniss  bezeichnet 
die  P.  als  eine  lüderliche  sittenlose  Person,  die  es  nirgends  lang  in  einem  Dienst 
aushalte,  herumvagire,  der  Prostitution  ergeben  sei,  betrüge,  stehle.  Auch 
ihre  Eltern  sind  genöthigt  ihr  dies  Zeugniss  auszustellen,  mit  dem  Bemerken,  dass 
sie  die  Tochter,  da  sie  nicht  mehr  gut  that,  1870  aus  dem  Hause  entfernen  mussten. 
Nach  Verbüssung  einer  7monatlichen  Gefängnissstrafe  wurde  die  P.  bereits  am 
6.  Mai  1874  wieder  arretirt.  Sie  hiess  damals  Gebauer  und  erschien  eines  Be- 
trugs schuldig. 

Am  4.  Mai  1874  war  sie  nämlich  bei  einem  Bauern  unter  falschem  Namen 
erschienen,  hatte  Müdigkeit  angegeben,  um  Erlaubniss  sich  auszuruhen  gebeten. 
Sie  fragte  den  Bauern  über  seine  Geschäftsverbindungen  aus,  erfuhr,  dass  er  mit 
einem  gewissen  R.  in  Beziehungen  stehe.  Am  5.  Mai  erschien  sie  bei  diesem 
mit  einem  Brief,  der  sie  als  Stieftochter  des  Bauern  legitimirte  und  um  einen 
Vorschuss  von  40  fl.  ersuchte.  Der  Bauer  sei  krank,  R.  möge  mit  der  Tochter 
zu  ihm  fahren,  das  Geld  bringen  und  gleich  ein  Fass  Wein  abholen,  oder  wenn 
er  nicht  gleich  kommen  könne,  das  Geld  dem  Mädchen  übergeben. 

Die    P.  machte   ihre    Sache   so   schlau,   dass    der    R.  anstandslos    ihr    das 


Beob.  83.     Hysterisch-degenerative  Geistesstörung.  231 

Geld  gab.  Nachmittags  kamen  ihm  Bedenken,  er  fuhr  zum  Bauer  und  so  kam 
der  Betrug  sofort  heraus.  Man  eruirte  die  P.  und  fand  bei  ihr  noch  24  fl.  vor. 
Sie  erzählte  wieder  einen  ganzen  Roman,  behauptete,  sie  sei  das  Werkzeug  ihres 
Geliebten  gewesen,  dieser  habe  den  Brief  concipirt,  sie  ihn  nur  abgeschrieben, 
aber  Alles  war  wieder  Lug  und  Trug.  Zugleich  erfuhr  man,  dass  die  P.  auf 
ähnliche  Weise  schon  im  März  einen  Geistlichen  um  20  fl.  beschwindelt  hatte. 
Neue  Verurtheilung. 

Am  18.  Oct.  1877  kamen  der  H.  Bettstücke  im  Werth  von  30  fl.  ablianden. 
Durch  Zufall  kam  heraus,  dass  Idie  P.  die  Diebin  war.  Erst  am  18.  Jan.  1878 
wurde  sie  endlich  unter  dem  Namen  „Juliane  Schütz"  eruirt  und  verhaftet.  In 
der  letzten  Zeit  hatte  sie  noch  verschiedene  Diebstähle  und  Schwindeleien  ver- 
übt. Als  sie  arretirt  wurde,  gerieth  sie  in  einen  pathologischen  zornigen  Affekt, 
zerriss  ihr  Kleid,  zerstörte  Geräthe ,  fiel  dann  in  einen  hysterischen  tonischen 
Krampfzustand,  aus  dem  sie  mit  Amnesie  für  Alles  Vorgefallene  zu  sich  kam. 

Im  Verhör  leugnete  sie  theils,  theils  beschönigte  sie  ihre  Diebstähle. 

Am  19.  Febr.  1878  liess  sie  sich  zum  Verhör  melden  und  erklärte:  „ich 
sehe  nicht  ein,  warum  ich  mich  allein  soll  strafen  lassen,  es  soll  alle  treffen,  die 
bei  der  Geschichte  betheiligt  sind."  Sie  beschuldigte  nun  ihren  früheren  Ge- 
liebten, dass  er  den  Diebstahl  begangen  habe  und  sie  nur  die  Hehlerin  gewesen 
sei.  Dieser,  ein  bestens  beleumundeter  Mensch,  der  schon  längst  mit  Verachtung 
sich  von  der  P.  abgewendet  und  dadurch  ihre  Rache  sich  zugezogen  hatte,  konnte 
sein  Alibi  beweisen.  3  Tage  nach  der  Confrontation  mit  dem  früheren  Geliebten 
wurde  die  P.  schlaflos,  ängstlich  verstört,  faselte  davon,  dass  Jener  eingesperrt 
sei,  man  möge  ihn  herauslassen,  er  sei  unschuldig,  sie  höre  ihn  immer  singen. 
Am  26.  Febr.  1878  wurde  die  P.  zur  Beobachtung  ihres  Zustands  dem  Spital 
übergeben.  Sie  war  ängstlich,  verworren,  klagte  über  Präcordialangst,  ascendirende 
Sensationen  zum  Kopf.  Sie  hörte  Stimmen,  sie  komme  nicht  mehr  aus  dem  Ge- 
fängniss,  sah  den  Teufel  und  hörte  von  ihm,  dass  sie  nun  in  seiner  Gewalt  sei. 
Sie  sah  immer  in  der  Phantasie  die  Gerichtsherrn  um  den  Tisch,  mit  den  Lichtern 
und  dem  Crucifix  drauf,  fürchtete  jeden  Augenblick,  das  Eintreten  der  Richter. 
Namentlich  Nachts  ist  Pat.  sehr  ängstlich,  voll  ängstlicher  Erwartungsaffekte.  Es 
lässt  sie  nicht  im  Bett,  sie  fürchtet  sich  allein  zu  sein. 

Am  12.  März  Nachts  hysterische  Streckkrämpfe  als  Vorläufer  der  Menses, 
die  unter  heftiger  Congestion,  einer  Temperatur  von  40"  und  heftiger  psychischer 
Aufregung  verlaufen.  Bis  Anfang  April  klingt  diese  „Gefängnissmelancholie" 
ab,  aber  es  stellt  sich  heraus,  dass  die  P.  inzwischen  in  schlauer  Weise  die 
Patienten  um  Geld  und  Werthsachen  bestohlen,  auch  mit  den  Wärtern  im  Hause 
und  den  Sträflingen  des  nahen  Stockhauses  kokettirt  hat.  Zur  Rede  gestellt, 
leugnet  sie  Alles.  Die  vermissten  Gegenstände  werden  bei  ihr  gefunden.  Sie 
geräth  in  einen  pathologischen  Affektzustand  —  singt,  schreit,  schimpft  auf  die 
Wärterinnen,  von  denen  sie  sich  denuncirt  wähnt,  droht  ihnen  mit  dem  Tod, 
stosst  sich  den  Kopf  an  die  Wand,  weigert  Nahrung,  tobt  bis  zur  Erschöpfung, 
wird  nach  24  Stunden  auf  eine  Morphiuminjektion  ruhig,  schläft  ein  und  erwacht 
mit  völliger  Amnesie  für  alles  Vorgefallene.  Sie  verspricht  alles  Mögliche,  aber 
nach  wenigen  Tagen  schon  begeht  sie  Hausdiebstähle,  wird  höchst  aufgei-egt  als 
man  sie  zur  Rede  stellt,  geräth  von  neuem  in  einen  pathologischen  Affekt.  In 
der  Folge  zeigen  sich  noch  ab  und  zu  Präcordialangst,  nächtliche  schreckhafte 
Phantasmen.    Pat.  erweist  sich  als  eine  jeden  moralischen  Halts  baare,  lügenhafte, 


232  C!ap.  X.    Die  psycMsclien  Entartungen. 

intriguante,  unverträgliche,  rohe,  reizbare  Person,  als  eine  wahre  Crux  des  Kranken- 
hauses. Trotz  aller  Verschlagenheit  ist  sie  geistig  beschränkt,  einsichtslos  für 
ihren  Lebenswandel  und  die  Selbstschädigung  ihrer  Interessen.  Der  Stirnschädel 
ist  schlecht  entwickelt,  der  Schädel  neigt  der  Form  des  Cranium  progeneum  zu, 
sein  horizontaler  Umfang  beträgt  nur  52  Ctm.  die  r.  Gesichtshälfte  ist  um  1  Ctm. 
schmäler  als  die  linke. 

Das  Gutachten  erwies  die  wohl  erbliche  und  in  Anomalien  des  Schädels 
sich  auch  anatomisch  kundgebende  degenerative  Persönlichkeit  der  Explorandin, 
ihre  ethische  und  intellektuelle  Verkümmerung  mit  daraus  nothwendig  sich  er- 
gebender unmoralischer  Lebensführung,  ihren  seit  einem  Puerperium  datirenden 
Hysterismus.  Bei  dergestalt  kranken  und  belasteten  Individuen  sind  pathologische 
Affekte  nicht  selten  und  sie  reagiren,  wenn  in  Haft  befindlich,  im  Sinn  von 
Psychopathien,  wie  dies  thatsächlich  bei  der  P.  der  Fall  war.  Die  P.  wurde  dies- 
mal nicht  bestraft.  Kaum  war  sie  entlassen,  so  beging  sie  neuerlich  Diebstahl 
und  Schwindeleien.     (Eigene  Beobachtung.) 

Analoge  Fälle:  Casper-Liman,  Handb.  p.  544  (Fall  Kaiserling)  p.  547 
(Fall  Glaser).     Liman,  zweifelh.  Geisteszustände  p.  151  (Fall  Schneider  Winkler). 


Cap.  X.     Die  psychischen  Entartungen. 

Literatur:  Morel,  traite  des  degenerescences  de  l'espece  humaine,  1857;  traite 
des  maladies  mentales,  1860 ;  traite  de  la  medecine  legale  des  alienes,  1866. 
De  l'heredite  morbide  progressive,  1867.  v.  Krafft,  die  Erblichkeit  d.  Seelen- 
störungen f.  d.  forensische  Praxis,  Friedreich's  Blätter  1868.  Legrand  du 
Saulle,  die  erbliche  Geistesstörung,  übers,  v.  Stark,  1874.  Hagen,  Chorinsky, 
eine  ger.  psychol.  Untersuchung,  Erlangen  1872.  Griesinger,  Archiv  f.  Psych. 
I.  p.  636  („organische  Belastung")-  Despine,  psychologie  naturelle,  Marseille 
1868.  Legrand  du  Saulle,  des  signes  physiques  de  la  folie  raisonnante.  Ann. 
med.  psychol.  1878.  Brierre,  la  folie  raisonnante,  Paris  1867.  Thomson,  die 
hereditäre  Natur  des  Verbrechens,  Journal  of  mental  science  1870  (AUg.  deutsche 
Strafrechtszeitg.  1870  Heft  5).  Derselbe:  Die  Psychologie  der  Verbrecher, 
Journ.  of  ment.  science  1870  October.  Pelman,  die  Zurechnungsfähigkeit  der 
Geisteskranken.  Zeitschrift  im  neuen  Reich  IL  1874.  Nicholson  PsychopathoL 
d.  Verbrecher,  Journ.  of  ment.  science  1873  Juli  —  October. 

So  verschiedenartig  auch  der  Begriff  der  Geisteskrankheit  auf- 
gefasst  wird,  so  kommt  ihm  doch  im  Allgemeinen  die  Auffassung  zu^ 
dass  es  sich  hier  um  erworbene  Erkrankungen  des  entwickelten 
Gehirns  handelt,  wobei  Störungen  der  psychischen  Funktionen  im 
Vordergrund  stehen,  der  Krankheitszustand  sich  zeitlich  von  der  bis- 
herigen gesunden  Lebensperiode  abhebt,  ein  Decursus  der  Krankheits- 
erscheinungen, nicht  selten  in  streng  gesetzmässiger  Weise,  sich  be- 
obachten lässt  und  Sinnestäuschungen  und  Wahnideen,  wenn  nicht 
regelmässig  und  integrirend,  so  doch  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  im 
Verlauf  der  Krankheit   auftreten.     Gegenüber   diesen  „Geisteskrank- 


Klinische  Uebersicht.  233 

heiten"  stehen  zweifellos  psychopathische  Zustände,  die  in  der  Regel 
schon  in  den  ersten  Lebensjahren  sich  verrathen,  in  originären  krank- 
haften, meist  erblichen  Veranlagungen  wurzeln,  mit  fortschreitendem 
Alter  sich  weiterentwickeln  wie  bei  psychisch  normal  Organisirten  die 
geistige  Gesundheit,  jedoch  die  intellektuelle  Seite  des  Seelenlebens 
höchstens  im  Sinn  eines  massigen  Schwachsinns  oder  formaler  Störun- 
gen des  Vorstellens  schädigen,  nie  oder  nur  selten  und  episodisch  zu 
Delirien  und  Hallucinationen  führen,  dagegen  aber  den  innersten  Kern 
der  psychischen  Persönlichkeit  afficiren,  in  Form  von  charakterologi- 
schen  Abnormitäten,  von  krankhaften  Erscheinungen  der  Gefühls-, 
Denk-  und  Handlungsweise,  des  Trieblebens  sich  kundgeben.  Auf 
diese  Individuen  passt  der  Ausspruch  des  Zacchias  „non  sentiunt,  non 
agunt,  non  ratiocinantur  ut  caeteri  sanae  mentis  homines." 

Insofern  derartige  Menschen  von  der  Art  der  Mehrzahl  ab- 
weichen und  zwar  meist  hereditär  und  ab  ovo,  zudem  ihre  Art  in 
ethischer  und  socialer  Hinsicht  eine  inferiore  ist  und  vielfach  auch 
körperlich  Abweichungen  vom  Bildungstypus  des  Menschen  vorkom- 
men, lassen  sich  solche  Zustände  als  (psychische)  Entartungen  den 
eigentlichen  Geisteskrankheiten  zur  Seite  stellen. 

Der  Ausdruck  „Entartung"  kann  aber  nur  in  funktioneller  speciell 
charakterologischer  Hinsicht  gebraucht  werden.  Die  anatomische  Be- 
gründung dieser  Zustände  (Missbildungen  des  Gehirns  und  Schädels, 
Abweichungen  vom  Bildungstypus  der  Hirnwindungen  etc.)  ist  nur 
vereinzelt  nachweisbar  und  auf  allgemeine  Gesetze  zur  Zeit  weder 
anthropologisch  noch  morphologisch  zurückführbar. 

Solche  Zustände  stehen  den  eigentlichen  Geisteskrankheiten  als 
psychische  Missbildungen  gegenüber  wie  dieser  Unterschied  zwischen 
Misswachs  und  körperlicher  Krankheit  besteht.  Sie  nöthigen  zu  einer 
gesonderten  Betrachtung  nicht  nur  klinisch,  sondern  auch  forensisch. 

Klinische  Uebersicht:  Die  klinische  Erscheinungsweise  dieser  Zu- 
stände ist  eine  überaus  mannigfaltige.  Nur  eine  synthetische  Betrachtungsweise 
mit  Verwerthung  nicht  bloss  psychologischer,  sondern  auch  wesentlich  anthropo- 
logischer, allgemein  cerebralpathologischer  und  klinisch  psychologischer  Thatsachen 
kann  jener  gerecht  werden.  Im  Allgemeinen  lässt  sich  sagen,  dass  bei  solchen 
krankhaft  organisirten  Existenzen  das  centrale  Nervensystem  der  locus  minoris 
ist,  abnorm  anspruchsfähig  und  erschöpfbar  erscheint,  und  dass  die  cerebralen 
Vorgänge  mit  Einschluss  der  psychischen  theils  mit  krankhafter  Stärke,  theils  in 
verkümmerter  oder  perverser  Weise  zu  Tage  treten. 

In  ätiologischer  Hinsicht  ist  geltend  zu  machen,  dass  solche  Existenzen 
meist  von  geisteskranken,  nervenkranken,  charakterologisch  abnormen  oder  trunk- 
süchtigen Erzeugern  abstammen,  oder  dass  in  frühen  Lebensjahren  schwere  Hirn- 
processe  (meningeale  Hyperämien  und  encephalitische  Processe,  spontan  entstan- 


234  C!ap.  X.    Die  psychischen  Entartungen.    ■ 

den  oder  gelegentlich  acuter  Infektionskrankheiten  aufgetreten),  oder  traumatische 
Schädlichkeiten  oder  Onanie  störend  in  die  Entwicklung  des  hereditär  disponirten 
oder  auch  nicht  belasteten  Gehirns  eingriffen.  Gegenüber  den  gewöhnlichen 
Insufficienzen  (Imbecillität,  Idiotismus)  besteht  hier  nur  der  Unterschied,  dass 
mehr  die  Charakterentwicklung,  die  ethische  Seite  und  das  Triebleben  afficirt 
wurden,  während  die  intellektuelle  Seite  leidlich  entwickelt  sein  kann. 

Im  Gebiet  der  vitalen  Funktionen  überhaupt  äussert  sich  die  organische 
Belastung  in  grosser  Mortalität  in  den  ersten  Lebensjahren,  überhaupt  geringerer 
mittlerer  Lebensdauer,  in  grosser  Morbilität,  namentlich  in  Bezug  auf  das  Eintreten 
von  Convulsionen  in  der  Kindheit  u.  a.  Nervenkrankheiten,  in  Neigung  zu 
Skrophulose  und  Tuberculose,  in  verfrühter  oder  verspäteter  geistiger  und  körper- 
licher Entwicklung. 

Dass  das  Gehirn  der  locus  minoris  ist,  ergibt  sich  aus  der  leichten  Mit- 
affektion  desselben  in  Form  von  Delirien,  Hallucinationen,  Sopor,  Somnolenz, 
fluxionären  Zuständen  etc.  gelegentlich  acuter  körperlicher  Krankheiten,  sowie 
aus  dem  Auftreten  von  schweren  Neurosen  zur  Zeit  von^und  im  Zusammenhang 
mit  physiologischen  Lebensphasen  (Pubertät,  Puerperium,  Klimacterium)  mit 
constitutionellem  Gepräge  und  progressiver  Entwicklung  zu  immer  schwereren 
Formen.  Solche  Gehirne  reagiren  ungewöhnlich  intensiv  auf  Alkohol  und  die 
vielfach  angeborene  funktionelle  Schwäche  der  nervösen  ['Centren  schafft  eine 
Inclination  zu  dem  Reiz-  und  Genussmittel,  das  der  Alkobol  darstellt.  Daraus 
ergeben  sich  einestheils  pathologische  Alkoholzustände ,  andrerseits  entwickeln 
sich  unter  dem  deletären  Einfluss  dieses  Giftes  und  auf  dem  Boden  der  organischen 
Belastung  die  schwersten  Formen  funktioneller  Entartung.  (Vgl.  p.  170  Alkohol, 
chron.) 

Als  funktionelle  Degenerationszeichen  sind  neben  der  Alkohol- 
intoleranz vielfach  epileptoide  Zustände,  grimassirende,  zuckende  Bewegungen  der 
Gesichtsmuskeln,  Contracturen  und  sonstige  Innervationsungleichheiten  der  Muskeln, 
namentlich  im  Facialisgebiet,  ferner  Nystagmus,  Strabismus,  Stottern,  neuro- 
pathischer  Ausdruck  des  Auges  zu  erwähnen. 

Ganz  besonders  häufig  ergeben  sicli'^  auch  anomale  Funktionen  in  der 
S  exualsphäre. 

Sie  bestehen  theils  darin:  1.  dass  der  Geschlechtstrieb  überhaupt  fehlt, 
womit  dann  in  der  Regel  ein  Defekt  ethischer  socialer  Gefühle  verbunden  sein 
dürfte,  2.  dass  der  Geschlechtstrieb  abnorm  stark,  zeitweise  sogar  brunstartig 
in  die  Erscheinung  tritt  und  noch  dazu  ganz  impulsiv  befriedigt  wird,  3.  dass- 
er  abnorm  früh,  vor  eingetretener  Entwicklung  der  Geschlechtsdrüsen  sich  ein- 
stellt und  in  Masturbation  Befriedigung  findet,  4.  dass  er  pervers  auftritt,  d.  h. 
in  der  Art  seiner  Befriedigung  nicht  auf  die  Erhaltung  der  Gattung  gerichtet  ist, 
ja  sogar  einer  naturgemässen  Befriedigung  instinktiv  widerstrebt  wird. 

Diese  letztere  Anomalie  ist  die  wichtigste.  Sie  gliedert  sich  wieder  in 
2  Gruppen,  je  nachdem  geschlechtliche  Neigung  zwar  zu  Personen  des  anderen 
Geschlechtes  besteht,  aber  die  Art  der  Befi'iedigung  des  Triebs  pervers  ist  oder 
indem  instinktiver  Abscheu  vor  'Vermischung  mit  Personen  des  anderen  Geschlechts 
vorhanden  ist,  dafür  aber  geschlechtliche  Neigung  zu  Personen  desselben  Ge- 
schlechts besteht  („conträre  Sexualempfindung,"  Westphal)  mit  Antrieb  zur  Be- 
friedigung des  Geschlechtstriebs  an  solchen. 

In  den  Fällen  ersterer  Ordnung  kann  der  Drang  zu  perverser  Befriedigung 


Anomaler  Geschlechtstrieb  als  funktionelles  Entartungszeichen.  235 

des  meist  auch  krankhaft  gesteigerten  Geschlechtstriebs  zu  den  schwersten  Ver- 
brechen führen,  insofern  die  geschlechtliche  Erregung  mit  dem  erzwungenen  oder 
gestatteten  Beischlaf  nicht  Befriedigung  und  Abschluss  erfährt,  sondern  erst  in  der 
Tödtung  und  Verstümmelung  des  Opfers  der  Lüste,  wozu  als  potenzirte  Wollust 
noch  das  Geniessen  von  Theilen  der  Leiche  oder  wenigstens  das  wollüstige 
Wühlen  in  ihren  Eingeweiden  (vv'ohl  durch  angenehme  damit  verbundene  Geruchs- 
empfindungen  motivirt)  befriedigt  wird. 

Die  Schilderungen  derartiger  Entarteten  aus  der  Zeit  ihrer  perversen  Hand- 
lungen deuten  auf  eine  wahrhaft  brunstartige  psychische  Erregung  und  auf  eine 
ganz  impulsive  Handlungsweise.  In  psychologisch  analoger  Weise  sind  Fälle  zu 
deuten,  in  welcher  der  erregte  Geschlechtstrieb  darin  Befriedigung  empfand,  dass 
auf  offener  Strasse  am  hellen  Tage  junge  Damen  verfolgt  wurden  und  der  Krankte 
in  seiner  geschlechtlichen  Brunst  vor  ihnen  seine  Genitalien  entblösste.,  sie  an 
sich  herandrängte  und  mit  seinem  Urin  besudelte.  In  einem  anderen  ähnlichen 
Fall  aus  der  neueren  Literatur  begnügte  sich  der  Betreffende  mit  dem  Stehlen  von 
—  Taschentüchern. 

Als  eine  sonderbare  Idiosyncrasie  in  Bezug  auf  die  perverse  Befriedigung 
des  Geschlechtstriebs  sind  gewisse  pathologische  Fälle  von  Leichenschändung 
hier  anzureihen. 

Die  Fälle  zweiter  Ordnung  von  „angeborener  Verkehrung  der  Geschlechts- 
empfindung" kommen  sowohl  bei  Weibern  (gewisse  pathologische  Fälle  von  Amor 
lesbicus)  als  Männern  vor. 

Es  besteht  hier  geradezu  Ekel  vor  geschlechtlichem  Umgang  mit  dem 
anderen  Geschlecht,  obwohl  der  geschlechtliche  Typus  vollkommen  differenzirt 
und  die  Entwicklung  der  Genitalien  eine  normale  ist. 

In  der  Regel  entsprechen  Charakter,  Denk-  und  Gefühlsweise  dem  Geschlechte, 
welchem  sich  der  Betreffende  angehörig  fühlt. 

Die  geschlechtlichen  Empfindungen  treten  meist  in  abnorm  frühem  Lebens- 
alter auf,  beherrschen  mit  pathologischer 'Stäi-ke  das  psychische  Sein;  zugleich 
bestehen  Symptome  „reizbarer  Schwäche"  in  der  Geschlechtssphäre  (wollüstige 
Empfindungen  bis  zu  magnetischen  Strömungen  bei  blosser  Gegenwart  der  geliebten 
Person,  Pollutionen  etc.).  Die  geschlechtliche  Empfindung  bleibt  eine  rein 
platonische  oder  findet  ihre  Befriedigung  in  gegenseitiger  Onanie  oder  in  mastur- 
batorischer  Reizung  der  geliebten  Person.  Nur  ganz  ausnahmsweise  findet  sich 
Päderastie. 

Dass  auch  bei  solchen  Individuen  mit  perverser  Geschlechtsempfindung 
analog  solchen  mit  normaler  die  Art  der  Befriedigung  des  Triebs  eine  perverse 
werden  kann,  insofern  der  geschlechtlich  Erregte  bis  zum  Mord  seines  Opfers 
gelangt,  lehrt  der  denkwürdige  von  Liman  bekanntgemachte  Fall  Zastrow  (Casper's 
Handb.  p.  509),  in  welchem  der  päderastisch  gemissbrauchte  Knabe  gebissen 
wurde,  den  After  geschlitzt  bekam,  an  der  Vorhaut  verstümmelt  und  schliesslich 
strangulirt  wurde '). 


^)  Es  fragt  sich,  ob  die  onanistischen  Manipulationen  der  mit  conträrer 
Sexualempfindung  Behafteten  unter  die  §§.  129  des  Österreich.  Strafgesetzbuchs, 
§.  190  d.  österr.  Strafgesetzentw.  u.  §.  175  des  deutschen  Strafges.  sabsumirbar 
sind,  wo  von  „widernatürlicher  Unzucht  zwischen  Personen  desselben  Geschlechts 
und  mit  Thieren"  die  Rede  ist.    Unter  widernatürl.  Unzucht  verstand  der  Gesetz- 


236  Cap.  X.    Die  psychischen  Entartungen. 

In  einer  grossen  Zahl  der  Fälle  psychischer  Entartung  finden 
sich  auch  anatomische^)  Degenerationszeichen  vor  und  geben  einen 
weiteren  Beweis  dafür,  dass  schon  in  den  ersten  Zeiten  der  Ent- 
wicklung schädigende  Einflüsse  sich  geltend  machten.  Dass  dies  in 
die  körperliche  Organisation  tiefeingreifende  Vorgänge  sein  müssen, 
beweisen  eben  diese  sinnfälligen  Abweichungen  vom  Bildungstvpus 
der  Art. 

Als  derartige  Degenerationszeichen  sind  anzusprechen:  gewisse 
Anomalien  der  Schädelbildung  (Mikro- ,  Makro-,  Rhombocephalie, 
Cranium  progeneum)  Disproportion  zwischen  Hirn-  und  Gesichts- 
schädel, ungleiche  Entwicklung  der  Gesichtshälften,  fehlerhafte  Stel- 
lung ,  abnorme  Grösse  oder  Kleinheit  der  Ohren ,  unvollkommene 
Differenzirung  derselben  von  der  Gesichtshaut,  rudimentäre  Entwick- 
lung einzelner  Theile  des  Ohrs,  Misswachs  der  Zähne,  falsche  Stellung 
derselben,  Ausbleiben  der  2.  Dentition,  abnorm  grosser  oder  kleiner 
Mund,  Hasenscharte,  Wolfsrachen,  vorstehendes  Os  incisivum,  zu 
steiler  schmaler  oder  zu  flacher  breiter  oder  einseitig  abgeflachter 
Gaumen,  limböse  Gaumennaht;  Retinitis  pigmentosa,  Coloboma  iridis, 
Albinismus,  Klumpfuss,  Klumphand,  ungleiche  Hände,  abnorm  kleiner 
Penis,  Phimosis  bei  übrigens  nicht  hypertrophischer  Vorhaut,  Epi-, 
Hypospadie,  Anorchidie,  Mikro-  und  Monorchidie,  Hermaphroditismus, 
Entwicklungsanomalien  der  weiblichen  Genitalien,  fehlende  oder  ab- 
norme Behaarung  am  Körper,  Bartwuchs  bei  Weibern  etc. 

Die  Entartimgsphänomene  in  der  psychischen  Sphäre  sind  äusserst 
mannigfach  und  individuell  sehr  verschieden. 


geber  die  in  der  Regel  nichts  weniger  als  pathologische  Päderastie.  Die  conträre 
Sexualempfindiing  und  mutuelle  Onanie  kannte  er  nicht.  Sie  sollte  straflos  sein, 
sobald  sie  portis  clausis  und  unter  Erwachsenen  vorkommt.  Unter  allen  Um- 
ständen müsste  solchen  Unglücklichen  die  angeborene  und  entschieden  pathologische 
Geschlechtsempfindung  zu  Gute  gehalten  werden.  Auch  die  Päderastie,  welche 
in  Oesterreich  mit  1 — 5j ährigem  Kerker,  in  Deutschland  und  nach  dem  österr. 
Strafgesetzen tw.  nur  mit  Gefängniss  bestraft  wird,  kann  eine  pathologische  Er- 
scheinung sein.  Jedenfalls  muss  die  gegenwärtige  wissenschaftliche  Erkenntniss 
solcher  Geschlechtsverirrungen  bei  der  Häufigkeit  ihrer  pathologischen  Begrün- 
dung eine  forensische  Expertise  im  gegebenen  Fall  fordern. 

Literatur:  s.  Casper,  Vierteljahrsschr.  I,  1852.  Casper,  klin.  Novellen, 
p.  36.  D.  Schriften  des  Ulrichs.  Leipzig  1864—80.  Westphal,  Archiv  f.  Psych. 
II,  p.  73.  Siehe  f.  ebenda  I,  p.  651,  III,  p.  225,  V,  p.  564,  VI,  p.  484,  p.  620. 
V.  Krafft  ebenda  VII.  Stark,  Zeitschr.  f.  Psych.  XXXI.  Mayer,  Friedr.  Blätter 
1875,  p.  41.     Hofmann,  Lehrb.  d.  ger.  Med.,  2.  Aufl.  p.  164. 

0  Vgl.  Legrand  du  SauUe,  Ann.  med.  psychol.  1878,  Mai. 


Psj'chische  elementare  Anomalien.  237 

Im  Gemüthsleben  fällt  zunächst  die  Reizbarkeit,  das  erleichterte 
Auftreten  von  Affekten  bis  zu  pathologischer  Höhe  (Sinnesverwirrung) 
auf^  aber  daneben  besteht  vielfach  eine  nicht  minder  auffällige 
Gemüthsstumpfheit,  da  wo  höhere  geistige  Interessen,  sittliche  Gefühle 
und  Pflichten  im  Spiele  sind.  Bei  einer  ganzen  Gruppe  dieser  Defekt- 
menschen ist  der  völlige  Mangel  oder  wenigstens  die  Unerregbarkeit 
ethischer  Gefühle  eine  tief  einschneidende  Gemüthsanomalie. 

Bei  vielen  derartigen  Individuen  zeigt  sich  ein  fortwährender 
Wechsel  zwischen  Stimmungsanomalien  im  Sinn  einer  grundlosen 
Exaltation  und  Depression.  Eine  indifferente  affektfreie  Stimmungs- 
lage ist  nicht  möglich. 

In  den  Exaltationsphasen  zeigt  sich  dann  ein  unstäter  Thätigkeits- 
drang  mit  sonderbaren ,  mitunter  selbst  bedenklichen  Gelüsten  und 
Impulsen. 

In  den  depressiven  Phasen  leidet  der  Betreffende  an  peinlicher 
Unentschlossenheit ,  Handlungsunfähigkeit ,  an  Zwangsvorstellungen, 
namentlich  zu  Selbstmord. 

Auf  dem  Gebiet  des  Vorstellens  findet  sich  Unfähigkeit  zu 
einem  anhaltenden  intensiven,  scharfen,  logischen  Denken  und  vielfach 
eine  bemerkenswerthe  Schwäche  in  der  Reproduktionstreue  der  Vor- 
stellungen. Auch  der  Ideengang  ist  oft  ein  auffällig  abspringender, 
unvermittelter,  unbegreiflicher. 

Nicht  selten  finden  sich  Zwangsvorstellungen  und  desultorische 
anticipirte  Primordialdelirien  im  Sinn  einer  primären  Verrücktheit. 
Auch  in  der  Willenssphäre  besteht  reizbare  Schwäche  — ;  Schwäche 
und  Inconsequenz  des  Wollens.  Bei  vielen,  namentlich  bei  erblich 
mit  einer  solchen  abnormen  psychischen  Constitution  Belasteten  er- 
scheinen impulsive  Akte,  ja  manchmal  fühlen  sich  diese  Menschen 
sogar  in  bestimmten  Zeitintervallen  getrieben,  dieselben  verkehrten, 
excentrischen,  ja  selbst  unsittlichen  Handlungen  zu  wiederholen,  ohne 
dass  sie  sich  eines  Motivs  hinterher  bewusst  wären.  Jedenfalls  spielt 
die  unbewusste  Sphäre  des  geistigen  Lebens  bei  ihnen  eine  grössere 
Rolle  als  beim  normalen  Menschen.  Ihre  Zwangsvorstellungen,  impul- 
siven Akte  und  sonderbaren  Gedankenverbindungen  erweisen  dies  und 
mit  Recht  hat  Morel  solche  „Hereditarier"  als  „instinktive"  Menschen 
bezeichnet.  Zuweilen  lassen  sich  diese  impulsiven  Akte  auf  affekt- 
artige Stimmungen,  Idiosyncrasien,  Zwangsvorstellungen  zurückführen. 
Meist  bleiben  sie  aber  dem  Beurtheiler  ebenso  unverständlich  als  dem 
Handelnden.  Es  finden  sich  eben  hier,  wie  Maudsley  a.  a.  O.  sehr 
richtig  bemerkt,  Eigenthümlichkeiten  im  Denken,  Fühlen  und  Handeln, 


238  Cap.  X.    Die  psychischen  Entartungen. 

die  bei  der  ungeheueren  Mehrzahl  der  übrigen  Menschen  nicht  vor- 
kommen und  die  den  ihnen  Unterworfenen,  wenn  auch  nicht  irre  im 
landläufigen  Sinn  des  Worts,  so  doch  abnorm  erscheinen  lassen.  Seine 
Gedankenverbindungen  sind  ungewöhnlich,  er  bringt  die  Dinge  in 
sonderbare  ungewöhnliche  Beziehungen,  seine  Gefühle  sind  abweichend 
von  denen  anderer  Leute  und  indem  er  auf  Einflüsse  reagirt,  die 
Andere  nicht  afficiren  würden,  vollbringt  er  ab  und  zu  sonderbare, 
anscheinend  ganz  zwecklose  Handlungen, 

Im  Gebiet  der  höheren  geistigen  Leistungen  fällt  das  Un- 
harmonische der  Gesammtheit  derselben  auf.  Geringe  Intelligenz 
neben  einseitig  hervorragender  Begabung  bis  zur  partiellen  Genialität, 
Willens-  und  Charakterschwäche,  die  sich  in  Mangel  eines  sittlichen 
Halts,  Unfähigkeit  zu  einer  geordneten  Lebensführung,  in  widerstands- 
loser Hingabe  an  unsittliche  Neigungen  kundgibt,  dabei  Verschroben- 
heit und  Einseitigkeit  gewisser  Gedanken-  und  Gefiihlsrichtungen,  die 
solche  Menschen  barokk,  überspannt,  leidenschaftlich,  in  der  Rolle 
von  Sonderlingen ,  Misanthropen ,  Narren  erscheinen  lässt ,  endlich 
capriciöse  Zu-  und  Abneigungen,  Einseitigkeit  gewisser  Begabungen 
und  Willensrichtungen  bei  Stumpfheit  und  Interesselosigkeit  für  viel 
näher  liegende  sociale  Fragen  und  Pflichten,  unruhiges,  unstätes,  trieb- 
artiges, launenhaftes  Wesen,  zielloses  Handeln  bilden  die  häufigsten 
und  hervorstechendsten  Züge  der  abnormen  Persönlichkeit.  Es  fehlt 
ihr  eben  der  sittliche  Halt,  ein  seiner  Ziele  bewusstes  Streben,  die 
Tiefe  des  Empfindens  und  Denkens  und  damit  die  Fähigkeit  einer 
Selbstführung  und  eines  Erfolgs  im  Ringen  nach  einer  Lebensstellung. 
Häufig  gibt  sich  die  allgemeine  Verschrobenheit  auch  in  Abgeschmackt- 
heiten des  Benehmens,  der  Kleidung  äusserlich  kund. 

Die  Geneigtheit  derartiger  Individuen  temporär  oder  dauernd 
in  wirkliche  Geisteskrankheit  zu  verfallen,  ist  eine  grosse.  Häufig 
geht  dann  die  verschrobene  Anlage  unvermerkt  in  jene  über,  indem 
die  Einseitigkeit  oder  Schwäche  der  Intelligenz,  die  Verschrobenheit 
der  Gefühle  und  Bestrebungen ,  die  Leidenschaften  und  Charakter- 
abnormitäten den  fruchtbaren  Boden  für  ein  an  sich  geringfügiges 
psychisches,  ursächliches  Moment  abgeben,  oder  die  Geistesstörung 
entwickelt  sich  organisch  aus  dem  Zwischenglied  einer  constitutionellen 
Neurose  (Hysterie,  Hypochondrie  etc.)  heraus.  Ganz  besonders  be- 
steht die  Gefahr  der  Erkrankung  in  physiologischen  Lebensphasen, 
namentlich  der  Pubertätszeit.  Auch  auf  Freiheitsberaubung  reagiren 
solche  Entartete  vielfach  im  Sinn  einer  Psychose. 

Die  Formen  dieses  Irreseins  auf  degenerativer  Grundlage  nähern 


Krankheitsbilder.  239 

sich  denen  des  unbelasteten  Gehirns,  aber  es  sind  Zerr-  und  Misch- 
bilder dieser^  insofern  in  buntem  anscheinend  gesetzlosem  Wechsel 
Symptomenreihen  und  Zustandsbilder  der  verschiedenen  Formen  der 
Psychosen  sie  zusammensetzen.  Häufig  ist  eine  periodische  Wieder- 
kehr von  Symptomenreihen  oder  Zustandsbildern  zu  bemerken. 

Wahnideen  sind  bei  diesen  degenerativen  Zuständen  nicht  häufig 
und  wo  sie  vorkommen,  ihrer  Entstehungsweise  nach  vorwiegend 
Primordialdelirien.  Die  Verschrobenheit  der  ursprünglichen  Anlage 
gibt  sich  dann  vielfach  in  einer  bemerkenswerthen  Absurdität,  Un- 
vermitteltheit und  Monstrosität  dieser  Wahnideen  zu  erkennen.  Vor- 
wiegend im  Krankheitsbild  sind  dagegen  das  Delirium  der  Gefühle 
und  Handlungen  bei  relativ  intakter  d.  h.  nur  formal  gestörter  (folie 
morale,  folie  lucide)  oder  dürftig  entwickelter  Intelligenz  (Schwach- 
sinn mit  impulsiven  Akten);  das  Krankheitsbild  bekommt  damit  einen 
eigenthümlichen  raisonnirenden  Anstrich  (folie  raisonnante),  die  logi- 
schen Processe  scheinen  intakt. 

Das  Delirium  der  Handlungen  hat  einen  impulsiven  instinktiven 
Charakter  und  zeichnet  sich  durch  einen  auffällig  unsittlichen  Inhalt 
der  Tendenzen  aus. 

In  dem  ganzen  Krankheitsbild  überrascht  endlich  das  unver- 
mittelte Nebeneinander  von  Lucidität  und  Verkehrtheit,  ein  gewisser 
Rest  von  Beurtheilungsfähigkeit  für  das  Verkehrte,  Krankhafte,  trotz 
aller  Unfähigkeit  den  Impulsen  Einhalt  zu  gebieten,  endlich  das 
Erhaltensein  oder  Hervortreten  von  gewissen  artistischen  und  intel- 
lektuellen Leistungen  inmitten  der  tiefen  und  allgemeinen  Störung 
des  Geisteslebens. 

So  erscheint  die  Krankheit  als  ein  Zerrbild  der  psychischen 
Persönlichkeit. 

Die  forensische  Bedeutung  dieser  Zustände  ist  eine  grosse.  Leider 
ist  ihre  ärztliche  Erforschung,  Dank  vorwiegend  psychologischer  Unter- 
suchungsweise, noch  nicht  zu  einer  wünschenswerthen  Klarheit  ge- 
diehen. Vor  den  Schranken  des  Gerichts  macht  sich  diese  Unsicher- 
heit in  peinlicher  Weise  fühlbar.  Zur  Schwierigkeit  der  ärztlichen 
Beurtheilung  des  Anomalen  solcher  Zustände,  die  eine  zusammen- 
fassende Kenntniss  des  ganzen  Vorlebens,  aller  früheren  Entwicklungs- 
und Lebenszustände  voraussetzt,  kommt  die  Verlegenheit  der  Laien, 
welche  zwar  das  Anomale  der  ganzen  Persönlichkeit  und  ihrer  Hand- 
lungen herausfühlen,  aber  an  ihr  das  nicht  finden,  was  ihr  „gesunder 
Menschenverstand"  als  unerlässlich  zur  Annahme  von  Irresein  fordert^ 
während    doch   andererseits   jene  Persönlichkeit  alle  Attribute  in  sich 


240  C^P-  -^-    -^^^  psychisclien  Entartungen. 

vereinigt;  die  zur  Charakteristik  eines  unsittlicl^en  leidenschaftlichen 
Charakters  gehören. 

Die  Formel  für  die  Beurtheilung  der  Zurechnungsfähigkeit  sol- 
cher psychisch  Entarteten  muss  noch  gefunden  werden.  Wo  die 
Entartung  temporär  oder  dauernd  in  wirkliches  Irresein  übergegangen 
ist^  wird  die  Aufhebung  der  Zurechnungsfähigkeit  keinem  Zweifel 
begegnen  und  nur  Gefahr  bestehen,  dass  aus  dem  luciden  und  pro- 
teusartigen  Krankheitsbild  der  nichtsachverständige  „Sachverständige* 
Simulation  herausdiagnosticirt. 

Da  wo  bloss  elementare  psychische  Funktionsanomalien  oder 
eine  allgemeine  Verschrobenheit  der  psychischen  Processe  ohne  wirk- 
liches Irresein  sich  finden,  wird  die  Annahme  mildernder  Umstände 
im  weitgehendsten  und  vom  Gesetzgeber  gestatteten  Sinn  das  Rich- 
tige sein.  Dem  Gerichtsarzt  wird  dabei  die  schwierige  und  verant- 
wortliche Aufgabe  zufallen,  nachzuweisen,  in  wieweit  die  impulsiven 
Antriebe ,  unsittlichen  perversen  Gelüste ,  leidenschaftlichen  Stim- 
mungen, affektvollen  Erregungen  solcher  Menschen  mit  krankhafter 
Stärke  und  organisch  bedingter  Nöthigung  sich  geltend  machen  und 
somit  dem  freien  Wollen  entzogene  Bedingungen  geschaffen  sind,  die 
bei  der  Mehrzahl  der  übrigen  Menschen  sich  nicht  vorfinden.  Billiger- 
weise dürfte  im  Zweifelfall  die  Präsumption  der  Krankheit  zu  gelten 
haben  und  der  Nachweis,  dass  die  strafbare  That  dennoch  aus  Leiden- 
schaft, Immoralität,  überhaupt  freien  Motiven  hervorgegangen  sei, 
erst  zu  liefern  sein.  Es  ist  nicht  zu  vergessen,  dass  degenerative 
Constitution  und  wirkliches  degeneratives  Irresein  ohne  scharfe  Gränze 
in  einander  übergehen  und  sicherlich  mit  genauerer  Erkenntniss  dieser 
eigenartigen  Zustände  diese  Gränze  zu  Gunsten  des  wirklichen  Irre- 
seins sich  immer  mehr  erweitern  wird. 

Bestimmte  klinische  Bilder  innerhalb  des  Rahmens  dieser  indi- 
viduellen Entartungszustände  aufzustellen,  erscheint  kaum  thunlich. 
Vom  Standpunkt  einer  psychologischen  Betrachtungsweise  aus  sind 
sie  nicht  klassificirbar.  Der  Schlüssel  zu  ihrem  Verständniss  liegt 
wesentlich  in  ihren  anthropologischen  (Heredität)  und  neurotisch- 
klinischen  Beziehungen.  Als  Aeusserungsweisen  der  psychischen  Ent- 
artungszustände lassen  sich  übersichtlich  ein  Gemüths-  und  ein  Hand- 
lungsirresein anführen,  ohne  dass  jedoch  damit  eigene  Formen  jener 
aufgestellt  werden  sollen. 


Das  moralische  Irresein.       .  241 


1.   Das  moralisclie  Irresein. 


Literatur.  Grolimann,  Nasses  Zeitsclir.  1819,  p.  162.  Heinrich,  Allg.  Zeitschrift 
f.  Psychiatr.  I,  p.  338.  Prichard,  treatise  on  insanity.  Prichard,  on  the  diffe- 
rent  l'ornis  of  insanity,  1842.  Morel,  traite  des  degenerescences,  1857.  Brierre, 
les  fous  criminels  de  l'A-ngleterre,  1869.  Solbrig,  Verbrechen  und  Wahnsinn, 
1867.  Griesinger,  Viertelj ahrschr.  f.  ger.  u.  öffentl.  Med.  N.  F.  VI.  Nr.  2. 
Despine,  etude  sur  les  facultes  intellectuelles  et  morales,  1868.  Krafft,  Die 
Lehre  v.  moral.  Wahnsinn;  Friedreich's  Blätter  1871.  Derselbe,  Verbrechen 
u.  Wahnsinn,  Allg.  deutsche  Strafrechtszeitg.  1872.  Stoltz,  Zeitschr.  f.  Psy- 
chiatrie 33.  H.  5  u.  6.  Livi,  Rivista  sperimentale  1876,  fascic.  5  u.  6.  Tamassia 
ebenda,  1877,  p.  550.  Gauster,  Wien.  med.  Klinik  III.  Jahrg.  Nr.  4.  Mendel, 
Deutsche  Zeitschr.  f.  prakt.  Med.  1876,  Nr.  52.  Maudsley,  Deutsche  Klinik 
1873,  2 — 3.  Wahlberg,  Der  Fall  Hackler  in  „gesammelte  kleinere  Schriften", 
Wien  1877.  Bannister,  Chicago  Journ.  1877,  Oct.  Palmerini,  Bonfigli,  Rivista 
sperim.  1877,  fasc.*3  u.  4.     Reimer,  Deutsche  med.  Wochenschr.  IV.  18 — 19. 

Eine  besonders  grell  zu  Tage  tretende  psychische  Degenerations- 
weise stellen  Zustände  dar,  in  welchen  das  Individuum,  obwohl  die 
Segnungen  der  Civilisation  und  Erziehung  ihm  zu  Theil  wurden, 
dennoch  nicht  jener  einen  integrirenden  Bestandtheil  des  Cultur- 
menschen  bildenden  Fähigkeit  theilhaftig  wird,  ethische  (mit  Inbegrijßf 
religiöser  ästhetischer)  Vorstellungen  zu  erwerben,  zur  Bildung  morali- 
scher Urtheile  und  Begriffe  zu  verknüpfen  und  als  Motive  und  Gegen- 
motive des  Handelns  zu  verwerthen. 

Ein  Gehirn,  dem  diese  auf  der  gegenwärtigen  Entwicklungsstufe 
civilisirter  Menschen  integrirende  Fähigkeit  abgeht,  erweist  sich  als 
ein  ab  ovo  inferior  angelegtes,  defektives,  funktionell  degeneratives, 
und  diese  Anschauung  gewinnt  eine  mächtige  Stütze  darin,  dass  alle 
Bemühungen  der  Erziehung,  wie  sie  Familie,  Religion  und  Schule  an- 
strengen, gleichwie  die  trüben  Erfahrungen,  die  ein  so  organisirtes 
Individuum  im  späteren  Leben  macht,  sein  ethisches  Fühlen  und  Ver- 
halten in  keiner  Weise  günstig  zu  beeinflussen  vermögen. 

Die  Ursache  ist  eben  eine  organische  und  für  diese  angeborenen 
Defektzustände  in  meist  hereditären  Bedingungen  zu  suchen,  unter 
welchen  Irresein,  Trunksucht,  Epilepsie  der  Erzeuger  die  hauptsächlich- 
sten sind. 

Gegenüber  diesen  angeborenen  Fällen  von  moralischer  Idiotie  als  Analoga 
der  intellektuellen  Idiotie  auf  psychisch  degenerativer  Grundlage  haben  wir  als 
Prodromi  oder  Begleiterscheinungen  schwerer  Gehirnprocesse  (Dementia  jjaralytica, 
senilis,  Alkoholismus  chronicus,  epileptisches  und  hysterisches  Irresein)  oder  als 
Folgezustände  schwerer  Gehirninsulte  (Kopfverletzungen ,  Apoplexie)  Fälle  er- 
V.  Kr  af  ft-Eblng.  gericbtl.  Psychopathologie.    2.  Auflage.  16 


242  Cap.  X.    Die  psychischen  Entartungen. 

worbener  Verkümmerung  des  moralischen  Sinns  erkannt,  die  nach  Umständen; 
schon  bestanden,  bevor  intellektuelle  Defekte  und  greifbare  Zeichen  von  Irresein 
überhaupt  sich  einstellten.  Dass  der  ethische  Defekt  früher  im  klinischen  Bild 
auftrat,  erklärt  sich  aus  der  Thatsache,  dass  die  ethischen  Leistungen  die  höchsten 
sind,  die  feinste  Organisation  des  Gehirns  voraussetzen  und  bei  Entartungsvorgängen 
im  psychischen  Organ  zunächst  und  besonders  tief  nothleiden. 

Das  moralische  Irresein  ist  keine  eigene  Form  von  Geistes- 
krankheit, sondern  ein  eigenthümlicher  Entartungsvorgang  auf  psy- 
chischem Gebiet,  der  den  innersten  Kern  der  Individualität,  ihre  ge- 
müthlichen,  ethischen,  moralischen  Beziehungen  trifft.  Da  er  den 
formalen  Ablauf  des  Vorstellens,  die  Bildung  intellectuell  gewonnener 
Urtheile  des  Nützlichen  und  Schädlichen  fast  unversehrt  lässt,  er- 
möglicht er  ein  logisches  Urtheilen  und  Schliessen,  das  dem  Un- 
kundigen den  Defekt  aller  moralischen  Urtheile  und  ethischen  Gefühle 
verhüllt  und  den  moralischen  Idioten  zwar  klinisch  wenn  auch  nicht 
ethisch,  in  der  Stelle  des  unmoralischen,  selbst  verbrecherischen  Menschen 
erscheinen  lässt. 

Klinische  Uebersicht:  Wie  Stolz  (op.  cit.)  nachweist,  hat  schon  Regio- 
montanus  1513  die  Idee  ausgesprochen,  dass  es  boshafte  unsittliche  Menschen 
gebe,  die  ihre  Bosheit  nicht  aus  sich  selbst  hätten  und  die  trotzdem  von  den 
Rechtsgelehrten  gehängt  würden.  Was  der  Naturforscher  des  16.  Jahrhunderts 
dem  Einfl-uss  der  Gestirne  (Geborensein  im  Zeichen  der  Venus)  zuschrieb,  sucht 
eine  fortgeschrittene  Zeit  aus  abnormen  Organisationsverhältnissen  des  Menschen 
zu  erklären. 

In  Deutschland  dürfte  Grohmann  (1819)  der  Erste  gewesen  sein,  der  eine 
ethische  Entartung  aus  organischer  Ursache  erkannte  und  sie  als  angeborene 
moralische  Insanie,  moralischen  Blödsinn  bezeichnete.  Einen  ersten  Versuch 
klinischer  Darstellung  und  Umgränzung  des  Krankheitsbildes  machte.  Prichard 
(1842).  Die  ätiologische  Bedeutung  des  krankhaften  Zustands  als  eines  degene- 
rativen, vorwiegend  hereditären,  lehrte  Morel  kennen.  Die  klinischen  Forschungen 
eines  Brierre,  Falret,  Solbrig  u.  A.  haben  dem  moralischen  Irresein  die  allgemeine 
ärztliche  Anerkennung  verschaift. 

Versuchen  wir  es,  die  klinischen  Merkmale  dieses  eigenthümlichen  Ent- 
artungszustandes zu  skizziren,  so  tritt  als  grellste  Erscheinung  und  für  ihn  die 
Signatur  abgebend,  eine  mehr  oder  weniger  vollkommene  moralische  Insensibilität, 
ein  Fehlen  der  moralischen  Urtheile  und  ethischen  Begriffe  zu  Tage,  an  deren 
Stelle  die  rein  aus  logischen  Processen  hervorgehenden  Urtheile  des  Nützlichen 
und  Schädlichen  treten.  Allerdings  können  die  Gebote  des  Sittengesetzes  ein- 
gelernt und  memnonisch  reproducirbar  sein,  aber  wenn  sie  je  in's  Bewusstsein 
eintreten,  so  bleiben  sie  von  Gefühlen,  geschweige  Affekten  unbetont  und  damit 
starre,  todte  Vorstellungsmassen,  nutzloser  Ballast  für  das  Bewusstsein  des  Defekt- 
menschen, der  daraus  keine  Motive  oder  Gegenmotive  für  sein  Thim  und  Lassen 
zu  zielien  weiss. 

Dieser  „sittlichen  Farbenblindheit",  diesem  „Irresein  der  altruistischen  Ge- 


Das  moralische  Irresein.  243 

fühle"  (Schule)  erscheint  die  ganze  Cultur,  die  ganze  sittliche  und  staatliche 
Ordnung  nur  als  eine  hemmende  Schranke  für  das  egoistische  Fühlen  und 
Streben,  das  nothwendig  zur  Negation  der  Rechtssphäre  Anderer  und  zu  Ein- 
griffen in  diese  führen  muss. 

Interesselos  für  alles  Edle  und  Schöne,  stumpf  für  alle  Regungen  des 
Herzens,  befremden  diese  unglücklichen  Defektmenschen  früh  schon  durch  Mangel 
an  Kindes-  und  Verwandtenliebe,  Fehlen  aller  socialen  geselligen  Triebe,  Herzens- 
kälte, Gleichgültigkeit  gegen  das  Wohl  und  Wehe  ihrer  nächsten  Angehörigen, 
durch  Interesselosigkeit  für  alle  Fragen  des  socialen  Lebens.  Natürlich  fehlt 
auch  jegliche  Empfänglichkeit  für  sittliche  Werthschätzung  oder  Missbilligung 
Seitens  Anderer,  jegliche  Gewissensregung  und  Reue.  Die  Sitte  verstehen  sie 
nicht,  das  Gesetz  hat  für  sie  nur  die  Bedeutung  einer  polizeilichen  Vorschrift 
und  das  schwerste  Verbrechen  erscheint  ihnen  von  ihrem  eigenartigen  inferioren 
Standpunkt  aus  nicht  anders  als  einem  ethisch  vollsinnigen  Menschen  die  einfache 
Uebertretung  einer  polizeilichen  Verordnung.  Gerathen  sie  in  Conflikt  mit  dem 
Einzelnen  oder  der  Gesellschaft,  so  treten  an  Stelle  der  einfachen  Herzenskälte 
und  Negation  Hass,  Neid,  Rachsucht  und  bei  ihrer  sittlichen  Idiotie  kennt  dann 
ihre  Brutalität  und  Rücksichtslosigkeit  keine  Schranken. 

Dieser  ethische  Defekt  macht  solche  inferior  Organisirte  unfähig,  auf  die 
Dauer  in  der  Gesellschaft  sich  zu  halten  und  zu  Kandidaten  des  Arbeits-,  Zucht- 
oder Irrenhauses,  welche  Aufbewahrungsorte  sie  endlich  erreichen,  nachdem  sie 
als  Kinder  bei  ihrer  Faulheit,  Lügenhaftigkeit,  Gemeinheit,  der  Schrecken  der 
Eltern  und  Lehrer,  als  junge  Leute  bei  ihrem  Hang  zur  Vagabondage,  Ver- 
schwendung, Excessen,  Diebstählen  die  Schande  der  Familien,  die  Plage  der 
Gemeinden  und  Behörden  gewesen  waren,  um  endlich  die  Crux  der  Irrenanstalten 
und  die  Unverbesserlichen  der  Strafhäuser  zu  werden. 

Neben  dem  Mangel  ethischer  altruistischer  Gefühle  und  dem  nothwendig 
sich  ergebenden  Egoismus  findet  sich  als  formale  affektive  Störung  eine  grosse 
Gemüthsreizbarkeit,  die  in  Verbindung  mit  dem  Mangel  sittlicher  Gefühle  zu 
den  grössten  Brutalitäten  und  Grausamkeiten  hinreisst  und  sogar  pathologische 
Affekte  begünstigt. 

Auf  intellektuellem  Gebiet  erscheint  der  Kranke  für  Den,  welcher  formell 
logisches  Denken,  Besonnenheit,  planmässiges  Handeln  als  entscheidend  ansieht, 
unversehrt.  Auch  das  Fehlen  von  Wahnideen  und  Sinnestäuschungen  im  Krank- 
heitsbild hat  schon  Prichard  hervorgehoben.  Trotzdem,  ja  selbst  trotz  aller 
Schlauheit  und  Energie,  wenn  es  sich  um  die  Verwirklichung  ihrer  unsittlichen 
Bestrebungen  handelt,  sind  solche  Entartete  doch  intellektuell  schwach,  unproduktiv, 
zu  einem  wirklichen  Lebensberuf,  zu  einer  geordneten  Thätigkeit  unfähig,  von 
mangelhafter  Bildungsfähigkeit,  einseitig,  verschroben  in  ihrem  Ideengang,  von 
sehr  beschränktem  Urtheil.  Nie  fehlt  bei  diesen  ethisch  Verkümmerten  zugleich 
der  intellektuelle  Defekt.  Viele  sind  sogar  geradezu  Schwachsinnige.  Sie  sind 
nicht  bloss  einsichtslos  für  das  Unsittliche,  sondern  auch  für  das  positiv  Verkehrte, 
ihren  eigenen  Interessen  Schädliche  ihres  Thuns  und  Lassens ;  sie  überraschen, 
trotz  aller  Beweise  von  instinktiver  Schlauheit,  durch  gleichzeitiges  Ausser- 
achtlassen  der  gewöhnlichsten  Regeln  der  Klugheit  bei  ihren  verbrecherischen 
Handlungen. 

Im  formaler  Beziehung  ist  auf  dem  Gebiet  des  Vorstellens,  neben  der  Un- 
fähigkeit der  Bildung  von  ethischen  Vorstellungen  und  der  Verknüpfung  derselben 


244  Cap.  X.    Die  psychischen  Entartungen. 

zu  moralischen  Urtheilen  und  Begriffen,  die  mangelhafte  Reproduktionstreue  der 
Vorstellungen  hervorzuheben. 

Auf  der  Seite  des  Strebens  zeigt  sich  der  ethische  und  intellektuelle  Defekt 
in  der  vollkommenen  Unfähigkeit  zu  einer  Selbstführung  und  Selbstcontrole. 
Im  Allgemeinen  zeichnen  sich  diese  Entarteten  durch  ihre  geistige  Schlaffheit 
und  Trägheit  aus,  die  nur  da  überwunden  wird,  wo  es  sich  um  Befriedigung 
ihrer  unsittlichen  verbrecherischen  Gelüste  handelt.  Sie  sind  geborene  Müssig- 
gänger  und  sittliche  Schwächlinge.  Vagabundiren,  Betteln,  Stehlen  sind  Lieblings- 
beschäftigungen, Arbeit  ist  ein  Gräuel. 

Ist  schon  das  „freie"  Handeln  zu  einem  zwar  willkürlichen,  aber  durch 
Fehlen  oder  Unerregbarkeit  sittlicher  Vorstellungen  sittlich  unfreien  herabgesunken 
und  erscheinen  dem  sittlich  blinden  Auge  des  Kranken  die  höchsten  Gebote  des 
Sitten-  und  Rechtsgesetzes  nur  als  überflüssige,  unverstandene  polizeiliche  Vor- 
schriften, so  kommt  dazu,  dass  vielfach  direkte,  aus  der  Hirnerkrankung  heraus- 
gesetzte, spontane,  organische  Antriebe  zu  theils  einfach  bizarren,  theils  unsitt- 
lichen und  verbrecherischen  Handlungen  erfolgen. 

Sie  haben  dann  weitere  psychisch  degenerative  Charakterzüge,  den  des 
ImpulsiA^en  und  nicht  selten  den  periodischer  Wiederkehr  (Vagabundiren,  Stehlen, 
alkoholische  und  sexuelle  Excesse).  Soweit  natürliche  Triebe  dem  Handeln  hier 
zu  Grund  liegen,  können  jene  zudem  einen  perversen  Charakter  an  sich  tragen. 
Dies  gilt  namentlich  bezüglich  des  Geschlechtstriebs,  dessen  Perversionen  grossen- 
theils  auf  dem  Boden  des  moralischen  Irreseins  vorkommen. 

Da  es  sich  hier  um  individuelle  Entartungszustände  handelt,  sind  die 
klinischen  Erscheinungsformen  äusserst  mannigfache  und  entziehen  sich  einer 
näheren  Differenzirung. 

Je  nach  der  Intensität  der  Störung  lassen  sich  Zustände  von  moralischem 
Schwach-  und  Blödsinn,  analog  den  Zuständen  von  intellektuellem  Schwach-  und 
Blödsinn  unterscheiden. 

Praktisch  lässt  sich  ein  Unterschied  zwischen  passiven  apathischen  und 
aktiven  reizbaren  „moral  insanity"  Individuen  aufstellen. 

Das  moralische  Irresein  ist,  wenn  angeboren,  meist  eine  stationäre  Infirmität. 
Zuweilen  ist  es  progressiv,  wesentlich  durch  die  Vorgänge  der  Pubertät,  durch 
Uterinleiden,  sexuelle  und  alkoholische  Excesse. 

Die  angeborenen  Fälle  zeigen  sich  sehr  disponirt  auf  gelegentliche  Schäd- 
lichkeiten im  Sinn  einer  Psychopathie  zu  reagiren.  Namentlich  Freiheitsberaubung 
genügt,  um  intercurrent  wirkliches  Irresein  hervorzurufen. 

Neben  pathologischen  Affekten  und  Alkoholzuständen  werden  als  Com- 
plikationen  bei  moral  insanity  nicht  selten  periodische  Psychosen  beobachtet, 
auch  Fälle  von  primärer  Verrücktheit  habe  ich  hier  vorgefunden. 

Die  Unterscheidung  des  moralisch  irrsinnigen  Scheinverbrechers 
von  dem  im  äusseren  Bild  ganz  gleichen  Gewohnheitsverbrecher  aus 
defekter  Erziehung  und  willkürlicher  Hingabe  an  das  Laster  ist  heut- 
zutage eine  Grundbedingung  für  die  Strafrechtspflege;  die  sonst  den 
Begriff  der  Schuld  und  Strafe  aufgeben  und  nur  noch  den  Stand- 
punkt der  Gemeingefährlichkeit  aufrecht  erhalten  könnte. 

Die  forensische  Diagnose  dieser  Zustände  hat  die  Aufgabe,  die 


Das  moralische  Irresein.  245 

psychischen  Anomalien  auf  eine  angeborene  defektive  Hirnorganisation 
zurückzuführen.  Die  Untersuchung  ist  hier  eine  streng  khnische  und 
ist  es  zweckmässig,  vorerst  die  specielle  Diagnose  bei  Seite  zu  lassen 
und  die  allgemeine  des  Bestehens  einer  cerebralen  Abnormität  über- 
haupt zu  geben. 

Für  das  moralische  Irresein  sind  entscheidend: 

1.  Die  Abstammung  von  irrsinnigen,  trunksüchtigen,  epileptischen 
Erzeugern. 

2.  Der  Nachweis  der  den  psychischen  Degenerationszuständen 
im  Allgemeinen  zukommenden  anatomischen  und  funktionellen  De- 
generationszeichen mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Verhältnisse 
des  Geschlechtslebens,  als  der  für  die  Entwicklung  des  moralischen 
Sinnes  wichtigsten  organischen  Grundlage. 

3.  Der  Nachweis  von  vasomotorischen  (Alkoholintoleranz)  und 
motorischen  (Contracturen,  Paresen  etc.  als  Residuen  cerebraler  meist 
infantiler  Affektionen,  epileptische  Symptome)  Funktionsstörungen. 

Ist  auf  diese  Criterien  die  allgemeine  Diagnose  eines  Cerebral- 
leidens  gegründet,  so  hat  die  specielle  zunächst  das  abnorm  frühe 
Auftreten  der  ethischen  Verkümmerung  geltend  zu  machen,  zu  einer 
Lebenszeit,  in  welcher  von  einem  Einfluss  bösen  Beispiels  nicht  die 
Rede  sein  konnte  und  vielfach  geradezu  bei  positiv  guten  Erziehungs- 
bestrebungen. Das  organische  Bedingtsein  der  moralischen  Schwäche 
wird  durch  die  absolute  Incorrigibilität  des  Entarteten  eine  weitere 
Stütze  erhalten. 

Dazu  kommt  der  Nachweis  intellectueller  Schwäche  bis  zum  aus- 
gesprochenen Schwachsinn,  der  krankhaften  Gemüthsreizbarkeit  bis 
zur  Höhe  wuthzorniger  jedenfalls  pathologischer  Affekte,  der  mangel- 
haften Reproduktionstreue  des  Vorstellens,  des  grundlosen  Wechsels 
zwischen  Exaltation  und  Depression,  des  impulsiven  perversen,  d.  h. 
auf  Perversion  der  natürlichen  Triebe,  Instinkte,  Gefühle  beruhenden, 
vielfach  selbst  periodisch  sich  äussernden  Charakters  der  Handlungs- 
weise. Dazu  kommt  die  Häufigkeit,  mit  welcher  solche  Individuen 
cerebrale  Zufälle  bekommen,  die  Leichtigkeit,  mit  welcher  sie  in  Irre- 
sein verfallen,  eine  cerebrale  Disposition,  die  sich  auch  bei  ihrer  Nach- 
kommenschaft bemerklich  macht.  Besonders  leicht  werden  solche 
Individuen  irre,  wenn  .sie  in  Gefangenschaft  gerathen.  Ihr  Irresein 
hat  dann  meist  das  proteiforme  Gepräge  des  auf  Grundlage  psy- 
chischer Degeneration  sich  entwickelnden  und  bringt  sie  leicht  in  den 
Verdacht  der  Simulation. 

Ist    auf  Grund    dieser  anthropologischen   und  klinischen  Zeichen 


246  Cap.  X.    Die  psychischen  Entartungen.  . 

die  Diagnose  einer  Hirnerkrankung  bezw.  psychischen  Entartung  her- 
gestellt und  die  Abhängigkeit  der  scheinbar  rein  sittlichen  Anomalie 
von  jener  nachgewiesen^  so  mögen  auch  die  allgemein  psychologischen 
Momente  der  Unwiderstehlichkeit,  der  Absurdität,  der  gegen  das  eigene 
Wohl  gerichteten  Triebe,  die  Spontaneität  und  Plötzlichkeit,  mit  der 
sie  auftreten,  ihre  Perversität  und  Monstrosität,  die  Unvorsichtigkeit, 
Rücksichtslosigkeit,  Grausamkeit,  mit  der  sie  befriedigt,  der  Cynismus, 
mit  dem  sie  zur  Schau  getragen  und  eingestanden  werden,  die  Gleich- 
gültigkeit, Kaltblütigkeit,  Reuelosigkeit  solcher  Menschen  Beachtung 
finden,  nur  darf  nicht  vergessen  werden,  dass  sie  auch  mehr  oder 
weniger  beim  Gewohnheitsverbrecher  vorkommen  und  sammt  und 
sonders  nur  als  Ergänzung  der  oben  angeführten  anthropologischen 
und  klinischen  Momente  von  Werth  sein  können.  Durch  den  Nach- 
weis dieser  werden  aber  auch  alle  die  landläufigen  Kriterien  der  Zu- 
rechnungsfähigkeit in  foro  —  unsittliche  Lebensführung,  schlechter 
Leumund,  äussere  Besonnenheit  und  kluge  Wahl  der  Mittel,  ver- 
brecherische Motive  der  That,  Mangel  von  Sinnesdelirien  und  Wahn- 
ideen u.  a.  Gemeinplätze,  in  denen  die  Ignoranz  der  Laien  sicher 
zu  sein  glaubt,  hinfällig. 

Am  allerwenigsten  kann  aber  ein  böser  Leumund  belastend 
für  die  Schuld  des  Angeklagten  sein,  im  Gegentheil,  ein  exemplarisch 
und  von  Kindesbeinen  auf  schlechter  Leumund  muss  geradezu  die 
Aufmerksamkeit  darauf  lenken,  ob  nicht  organische,  dem  freien  Wollen 
entzogene  Dispositionen  und  Motive  das  Individuum  unablässig  nach 
der  schlimmen  Seite  hinübertreiben,  und  was  die  unsittlichen  Motive 
betrifi't,  so  finden  sie  sich  auch  bei  Geisteskranken  und  verlieren  ihre 
ganze  Bedeutung,  sobald  das  primum  movens  der  unsittlichen  Impulse 
auf  eine  Hirnabnormität  zurückgeführt  wird. 

Die  Frage  nach  der  rechtlichen  Verantwortlichkeit  solcher  de- 
generativer Individuen  muss  beim  gegenwärtigen  Standpunkt  der 
Strafgesetzgebungen  als  eine  offene  bezeichnet  werden.  Möge  sie 
vom  Juristen  generell  und  im  concreten  Fall  gelöst  werden!  Der 
Gerichtsarzt  hat  seine  Aufgabe  gelöst,  wenn  er  im  gegebenen  Fall 
die  organische  Grundlage  der  scheinbar  rein  ethischen  Depravation 
nachgewiesen,  ihren  Umfang  festgestellt  und  das  Zwangsmässige  des 
scheinbar   willkürlichen  Gebahrens    solcher  Individuen   dargelegt   hat. 

Ein  Strafbark  ei  tsbewusstsein  ist  solchen  Menschen  im 
Allgemeinen  nicht  abzusprechen,  aber  es  beschränkt  sich  auf  eine 
einfache  Kenntniss  des  Rechts  ohne  alles  ethische  Verständniss  und 
ihr  Unterscheidungsvermögen   reducirt  sich   auf  die  Geltendmachung 


Das  moralische  Irresein.     Beob.  84.  247 

der  egoistischen  Motive  der  Nützliclikeit  oder  Schädlichkeit  einer  in- 
tendirten  Handlung.  Damit  erscheint  solchen  Menschen  in  ihrem 
defekten  ethischen  und  rechtlichen  Bewusstsein  Recht  und  Gesetz  nur 
als  einfache  polizeiliche  Verordnung. 

Viel  bedeutsamer  ist  aber  die  Insufficienz  derselben  gegenüber 
der  zweiten  Grundbedingung  der  Zurechnungsfähigkeit ,  der  freien 
Willensbestimmung. 

Jene  Correctur  und  Beschränkung  der  sinnlichen  egoistischen 
Impulse  durch  sittliche  ^  integrirende  Bestandtheile  des  Charakters 
bildende  Corrective,  wie  sie  der  ethisch  Vollsinnige  übt,  ist  hier  un- 
möglich, aber  nicht  wie  beim  Verbrecher  dadurch,  dass  das  Gewicht 
dieser  sittlichen  Corrective  durch  mangelnde  Ausbildung  oder  positiv 
schlechte  Erziehung,  trotz  guter  Naturanlage,  zu  schwach  sich  erwies 
oder  dass  die  egoistischen  Antriebe  durch  afFektvolle  leidenschaftliche 
Stimmungen  potenzirt  waren,  sondern  weil  eine  abnorme  Hirnorgani- 
sation die  Ausbildung  jener  Corrective  unmöglich  machte  oder  eine 
Hirnerkrankung  sie  untergehen  liess,  während  gleichzeitig  durch  eine 
solche  die  sinnlichen  Antriebe  pathologisch  gesteigert  und  entartet 
sind.  Damit  entfällt  die  Möglichkeit  eines  sittlich  freien  Wollens, 
einer  Freiheit  der  Wahl,  an  deren  Stelle  ein  Zwangswollen  tritt,  das 
nur  noch  im  Sinn  der  perversen  Gelüste  und  egoistischen  Antriebe 
sich  entäussern  kann. 

Solche  Entartete  haben  kein  Recht  und  keine  Fähigkeit,  in  der 
bürgerlichen  Gesellschaft  zu  existiren,  sie  sind  in  hohem  Grad  ge- 
meingefährlich, sie  sind  es  auf  Lebensdauer,  denn  gegenüber  ihrer 
organischen  Störung  erweist  sich  die  ärztliche  Kunst  machtlos.  Man 
halte  sie  hinter  Schloss  und  Riegel  auf  Lebenszeit,  aber  man  brandmarke 
sie  nicht  als  Verbrecher,  sie  sind  Unglückliche,  die  Mitleid  verdienen. 

Beob.  84.  Moralisches  Irresein.  Mord.  Lemaire,  19  Jahre,  blond, 
von  nicht  unangenehmem  Aeussern,  jedoch  mit  Strabismus  und  Klumpfuss  be- 
haftet, die  sich  auf  in  der  Kindheit  gehabte  Convulsionen  zurückführen  lassen, 
hatte  schon  von  frühester  Jugend  auf  die  schlimmsten  Neigungen,  Faulheit  und 
Insolenz  gezeigt,  sich  allen  Ausschweifungen  u.  a.  auch  der  Onanie  ergeben. 
Vergebens  suchte  man  bei  ihm  moralisches  Gefühl  —  seine  Eltern  hasste  er  und 
sprach  offen  aus,  dass  er  lieber  allein  Besitzer  ihres  kleinen  Vermögens  wäre. 
Schon  oft  hatte  er  seinen  Vater,  der  ihn  gut  behandelte,  am  Leben  bedroht,  so 
dass  dieser  sich  des  Schlimmsten  von  seinem  unnatürlichen  Sohn  zu  versehen 
hatte.  Als  die  Mutter  1865  starb,  sagte  Lemaire  nur:  „gut,  so  gibts  eine 
weniger  zu  füttern".  Der  Vater  wollte  sich  wieder  verheirathen  mit  einer  Frau 
B.,  die  mit  ihrer  17jährigen  Tochter  im  gleichen  Hause  wohnte.  Der  Sohn  miss- 
billigte dieses  Vorhaben.  Zwei  Tage  vor  der  Hochzeit  ermordete  er  Frau  B, 
und   sagte   kaltblütig   der   herbeigeeilten  Tochter:    „gut,    dass  ich  mich  gerächt 


248  Cap.  X.    Die  psychischen  Entartungen. 

habe,  nur  schade,  dass.ich  nicht  die  drei  Andern  (seinen  Vater,  Tochter  der 
Frau  B.  und  ein  Lehrmädchen)  habe  umbringen  können.  Uebrigens  bin  ich 
weder  ein  Narr,  noch  betrunken  und  habe  den  Tod  verdient."  Das  Verbrechen 
gestand  er  kaltblütig  —  er  habe  es  beschlossen,  sobald  sein  Vater  das  Heiraths- 
projekt  ihm  mittheilte.  Er  rühmte  sich  seiner  That  und  bedauerte  nur,  die 
Andern  verschont  zu  haben.  Nach  der  Ermordung  vs^ollte  er  sich  mit  deren 
Geld  aus  dem  Staub  machen  und  lustig  leben.  Ehe  er  ins  Gefängniss  geführt 
wurde,  schrieb  er  noch  an  einen  gewissen  G.  ein  Entschuldigungsschreiben,  dass 
er  einer  Einladung  nicht  Folge  leisten  könne.  In  den  Verhören  gab  sich  seine 
moralische  Insensibilität  in  schrecklicher  Weise  kund.  Er  gestand  offen  seine 
Laster  und  schlimmen  Neigungen  und  rühmte  sich  derselben  mit  unglaublichem 
Cynismus.  Seinen  Vater  umzubringen  war  ihm  geradesoviel,  als  einem  Andern 
eine  Fliege.  Bezeichnend  ist  seine  Aeusserung,  die  er  dem  Richter  that:  „wenn 
Sie  mich  leben  lassen,  um  spazieren  zu  gehen,  ist  mir's  recht,  wenn  ich  aber 
arbeiten  muss,  will  ich  lieber  sterben."  Ein  Zeuge  sagt  aus,  dass  L.  nach  dem 
Mord  seine  blutigen  Hände  lachend  zeigte,  mit  den  Worten:  „da  habe  ich  Hand- 
schuhe, um  zur  Hochzeit  meines  Vaters  zu  gehen."  Ein  andrer  Zeuge  ver- 
sichert ,  dass  L.  nichts  lieber  that  als  grosse  Criminalprocesse  zu  lesen ,  dass 
er  immer  nur  Mordpläne  im  Kopf  hatte  und  ihm  freimüthig  mittheilte,  er  müsse 
vier  Personen  umbringen.  Der  Staatsanwalt  hielt  die  Klage  aufrecht  und  konnte 
keine  Spur  von  Seelenstörung  finden.  L.  sei  eine  monströse  Erscheinung,  aber 
seine  ganze  Lebensführung  sei  eine  durchaus  logische.  Mit  einer  aus  der  grössten 
Perversität  geschöpften  Energie  habe  er  seine  That  vollbracht,  aber  immerhin 
im  vollen  Besitz  seines  freien  Willens ;  seine  intellektuellen  Funktionen  seien  in- 
takt. Der  Staatsanwalt  trägt  auf  Todesstrafe  an.  L.  übernimmt  selbst  seine 
Vertheidigung ,  entschuldigt  sich  mit  den  abscheulichsten  Verläumdungen  seines 
Vaters  iind  erklärt  schliesslich,  er  sei  nicht  verrückt.  Die  Todesstrafe  be- 
kümmert ihn  nicht,  er  zieht  sie  dem  Gefängniss  vor.  Er  sei  nicht  gewohnt  zu 
arbeiten  —  wenn  man  ihn  im  Bagno  arbeiten  mache,  lasse  er  sich  lieber  ver- 
hungern. Sein  Vertheidiger  plädirt  für  Wahnsinn ,  vermag  ihn  aber  nicht  zu 
begründen,  es  handle  sich  um  einen  sonderbaren  Fall,  um  ein  Mj^sterium.  Ein 
Gutachten  eines  ärztlichen  Technikers  wurde  nicht  eingeholt. 

Sein  Todesurtheil  begrüsste  L.  mit  Freuden^  von  Cassation,  von  Begnadi- 
gung wollte  er  nichts  wissen.  Er  schlief  ruhig,  ass  mit  Appetit  und  war  ganz 
munter.  Seine  gute  Laune  verliess  ihn  nicht  bei  der  Toilette  und  der  Hinrich- 
tung. Die  Section,  ausgeführt  von  Dr.  Marchai  de  Calvi,  ergab  folgenden  Befund: 
Ausser  einer  von  der  kaukasischen  Race  durchaus  abweichenden,  inferioren  und 
dem  Typus  der  mongolischen  sich  nähernden  Schädelbildung  sind  sämmtliche 
Schädelnähte  bereits  verknöchert.  Die  Schädelhöhle ,  namentlich  im  vordem 
Theil  enorm  klein  und  enge.  Das  Gehirn  mit  Inbegriff  der  Pia  wiegt  nur 
1183  gramm,  also  217  weniger  als  das  Durchschnittsgewicht.  Die  Pia  mit  der 
Corticalis  fest  verwachsen  (Spuren  von  Meningitis),  das  Stirnhirn  atrophisch,  allem 
Anschein  nach  (angeborene)  Hemmungsbildung.  Wir  brauchen  diesem  Fall  von 
Justizmord  Nichts  hinzuzufügen.  Die  organische  Ursache  der  scheinbaren  ethi- 
schen Depravation  liegt  hier  zu  klar  zu  Tage  —  Hemmungsbildung  des  Schädel- 
wachsthums  und  damit  des  Gehirns,  Meningitis  in  der  Kindheit  mit  Convulsionen 
und  zurückbleibendem  Strabismus  und  Klumpfuss  als  somatische ,  moralische 
Verkümmerung  und  ethische  Entartung  als  psychische  Merkmale  einer  anomalen 


Das  moralische  Irresein.     Beob.  85.  249 

Hirnorganisation.  Was  will  da  noch,  gegenüber  dem  Gewicht  solcher  Thatsachen, 
ein  formell  logisches  Denken ,  Urtheilen  und  Schliessen  heissen !  Eine  ärztliche 
Untersuchung  des  Stands  der  intellektuellen  Funktionen  wurde  übrigens  nicht  an- 
gestellt. Eine  nähere  Darstellung  des  merkwürdigen  Falles  s.  Journal  le  Droit 
du  25.  u.  26.  Fevrier  1867;  le  Siecle  du  26.  Fevrier  1867.  Despine  op.  cit.  tom. 
IL  p.  603.   Delasiauve,  Journal  de  medec.  mentale  1867  Nr.  5. 

Beob.  85.  Moralisches  Irresein.  Am  15.  Mai  1840  stahl  die  17jährige, 
übelbeleumundete,  schlechterzogene,  unehelich  geborene  Josefa  S.  von  A.  dem 
Bürger  K.  einen  Vorrath  von  Victualien  im  Werth  von  2  fl.  24  kr.  Sie  hatte 
das  Gestohlene  im  elterlichen  Hause  hinter  dem  Backofen  verborgen.  Sie  ge- 
stand, gab  das  erstemal  Rache,  das  zweitemal  Mangel  an  Lebensmitteln  als 
Motiv  an  und  wurde  wegen  ersten  kleinen  Diebstahls  zu  Btägiger  Freiheitsstrafe 
verurtheilt.  Sie  ist  eine  lügenhafte,  faule,  unwissende,  unmoralische,  dem  Trunk 
und  der  Lüderlichkeit  ergebene  Weibsperson,  war  nie  an  einen  regelmässigen 
Schulunterricht  zu  gewöhnen.  Die  folgenden  Lebensjahre  brachte  sie  mit  Strassen- 
bettel,  Landstreicherei,  Prostitution  und  betrügerischem  Hausirhandel  zu,  so  dass 
sie  im  Jahre  1844  dreimal  in  die  Hände  der  Polizei  wegen  Landstreicherei  fiel 
und  bestraft  wurde.  1850—54  war  sie  mehrfach  in  Untersuchung  wegen  zweck- 
losen Umherziehens,  wegen  muthwilliger.  Beschädigung  von  Gemeindeeigenthum, 
wegen  Beschädigung  von  Privaten  und  kleiner  Hausdiebstähle. 

Als  sie  einmal  1854  wieder  wegen  zwecklosen  Umhertreibens  verhaftet 
wurde,  fing  sie  masslos  auf  die  Behörde  zu  schimpfen  an  und  wurde  wegen  Be- 
leidigung öffentlicher  Diener  mit  14tägigem  Gefängniss  betraft.  Trotz  all  dieser 
Massregeln  blieb  sie  incorrigibel,  arbeitsscheu,  allen  Fehlern  ergeben,  einsichtslos 
für  ihre  Vergehen.  So  verweigerte  sie  1854  die  Unterschrift  in  den  Verhören 
„weil  sie  unschuldig  leide."  Das  ganze  weitere  Leben  war  eine  fortlaufende 
Kette  von  Wiedersetzlichkeiten  gegen  die  Behörden,  von  Untersuchungen  wegen 
Bettel,  Diebstahl  und  Vagabundiren,  bis  schliesslich  Ende  1854  ihre  Verurthei- 
lung  zu  einer  Kreisgefängnissstrafe  von  4  Monaten,  geschärft  durch  21  Tage 
Hungerkost  und  14  Tage  Dunkelarrest  erfolgte.  Sie  verweigerte  die  Unterschrift, 
zeigte  sich  gereizt,  klagte  über  Vergewaltigung  und  verlangte  vor  ein  anderes 
Gericht,  um  dort  abgeurtheilt  zu  werden.  Ins  Gefängniss  abgeführt,  wurde  sie 
aufgeregt  und  drohend,  schrie  und  schimpfte  in  massloser  Weise  gegen  die  Be- 
hörden, nannte  sie  Teufel,  zerstörte  die  Geräthschaften  ihrer  Zelle  und  machte 
einen  Selbstmordversuch  durch  Erdrosseln,  der  aber  noch  vereitelt  wurde.  Sie 
bekam  nun  die  Zwangsjacke  an,  zerriss  sie  aber  nach  2  Tagen  und  machte  so- 
fort einen  neuen  Selbstmordversuch.  AUmälig  Hessen  diese  unzweideutigen  Er- 
scheinungen tobsüchtiger  Erregung  nach ,  so  dass  sie  Anfang  December  ins 
Kreisgefängniss  verbracht  werden  konnte.  Der  Bericht  des  Gefängnissarztes  vom 
16.  December  über  ihre  dortige  Führung  lautet  folgendermassen : 

„J.  S.  beträgt  sich  seit  ihrer  Einlieferung  so  auffallend  störrisch,  ungehor- 
sam und  ordnungswidrig,  ist  so  allen  Ermahnungen  unzugänglich,  dass  sie  schon 
in  dieser  Beziehung  ganz  unpassend  in  einer  Strafanstalt  ist,  die  nur  unter  der 
Aufsicht  ■  von  Frauen  steht.  Nun  gerieth  sie  aber  schon  zum  4.  Mal  ohne  ge- 
gründete Veranlassung  in  den  Zustand  höchster  Leidenschaft  und  Wuth,  wobei 
sie  auf  Verletzung  anderer  Sträflinge  und  der  Aufseherin  es  absah,  so  dass  man 
sie   in   die   Zwangsjacke  stecken   musste.     Dabei  stösst   sie   die    abscheulichsten 


250  Cap.  X.    Die  psycMschen  Entartungen. 

Flüche  und  Verwünscliungen  aus.  Sie  stört  alle  Ordnung  und  Ruhe;  allein 
gelassen  kann  sie  nicht  werden,  da  sie  schon  Selbstmordversuche  gemacht  hat. 
Die  ganze  Erscheinung  der  S.  spricht  für  beginnende  Geistesstörung,  für  ein 
Vorläuferstadium  der  Tollheit." 

Am  6.  Januar  1855  wurde  sie  in  die  Irrenanstalt  verbracht.  Pat.  ist  von 
untersetzter  Gestalt,  skoliotischer  Kopfbildung,  schielt  mit  dem  linken  Auge  und 
leidet  an  doppelseitigem  Nj^stagmus.  Rückenwirbelsäule  etwas  k5rphotisch.  In 
ihrem  Reden  und  Aeussern  geordnet,  geräth  sie  sehr  leicht  in  heftigen  Affekt, 
wenn  man  ihre  früheren  Händel  mit  Polizei  und  Gerichten  berührt.  Sie  fängt 
dann  an  masslos  zu  fluchen  und  zu  schelten  und  geräth  leicht  in  völlige  Ver- 
wirrung. Ebenso  geschieht  es,  wenn  ihre  vielfachen  und  oft  ausschweifenden 
Begehren  nicht  sofort  erfüllt  werden.  Sie  kommt  dann  in  Wuth,  zerstört  Alles, 
was  ihr  in  die  Hände  fällt,  wird  gewaltthätig  gegen  die  Umgebung,  macht  auch 
wohl  Selbstmordversuche.  Oft  suchte  sie  auch  durch  Simulation  von  Krankheiten 
verschiedener  Art  die  Befriedigung  ihrer  Begehren  zu  erreichen,  oder  auch  durch 
Schlauheit  und  List  sich  unerlaubter  Weise  in  den  Besitz  der  gewünschten  Gegen- 
stände zu  setzen.  Bei  aller  List  und  gewandter  Redeweise  ist  doch  eine  grosse 
geistige  Beschränktheit  nicht  zu  verkennen.  Obwohl  eigentliche  Wahnvorstel- 
lungen nie  geäussert  werden,  hält  sie  sich  doch  beständig  für  ein  Opfer  der 
Justiz  und  mit  Unrecht  gemassregelt.  Ihre  Selbstempfindung  ist  entschieden 
krankhaft  verändert,  ihr  Selbstgefühl  gesteigert.  Sie  ist  beständig  voll  zum  Theil 
massloser  Ansprüche,  bestäxidig  unzufz'ieden  und  Erfüllung  ihrer  Begehren  steigert 
nur  ihre  Begehrlichkeit.  Der  Zustand  blieb  sich  gleich.  Eine  psychische  Be- 
handlung erwies  sich  fruchtlos.  Als  nach  einer  schlau  ausgeführten  Entweichung 
Patientin  wieder  eingeliefert  war,  wurde  sie  in  die  Irrenpflegeanstalt  verbracht, 
in  der  sie  allmälig  ruhiger  und  geordneter  wurde.  Als  man  endlich  ihrem 
Drängen  entlassen  zu  werden  1863  nachgab ,  fing  sie  bald  wieder  ihre  alte 
Lebensweise  an.  1866  kam  sie  wieder  in  Untersuchung,  weil  sie  aus  einem 
Beichtstuhl  dem  Geistlichen  ein  Paar  Schuhe  entwendet  hatte.  (Eigene  Beob- 
achtung.) 

Beob.  86.  Moralisches  Irresein.  Perverser  Geschlechtstrieb. 
Morde  aus  krankhafter  Wollust.  Vincenz  Verzeni  geb.  1849,  seit  dem 
11.  Januar  1872  in  Haft,  ist  angeklagt  1.  der  versuchten  Erdrosselung  seiner 
Muhme  Marianne,  als  dieselbe  vor  vier  Jahren  krank  zu  Bett  lag.  2.  Des  gleichen 
Verbrechens  an  der  27jährigen  Ehefrau  Arsuffi;  3.  der  versuchten  Erdrosselung 
der  Ehefrau  Gala,  indem  er  ihr  die  Kehle  zudrückte,  während  er  auf  ihrem  Leib 
kniete;  4.  ausserdem  verdächtig  folgender  Mordthaten:  « 

Im  December  begab  sich  die  14jährige  Johanna  Motha  Morgens  zwischen 
7  und  8  Uhr  auf  ein  benachbartes  Dorf.  Da  sie  bis  zum  10.  nicht  zurück  war, 
ging  ihr  Dienstherr  aus  um  sie  zu  suchen  und  fand  ihren  Leichnam  in  der  Nähe 
des  Dorfes  an  einem  Feldweg,  durch  eine  Unzahl  Wunden  gräulich  verstümmelt. 
Die  Gedärme  und  Genitalien  waren  aus  dem  geöffneten  Leib  herausgerissen  und 
fanden  sich  in  der  Nähe.  Die  Nacktheit  der  Leiche,  Erosionen  an  deren  Schen- 
keln Hessen  ein  unsittliches  Attentat  vermuthen,  der  mit  Erde  gefüllte  Mund 
deutete  auf  Erstickung.  In  der  Nähe  der  Leiche  unter  einem  Strohhaufen  fanden 
sich  ein  abgerissenes  Stück  der  rechten  Wade  und  Kleidungsstücke  vor.  Der 
Thäter  blieb  unermittelt. 


Das  moralische  Irresein.     Beob.  86.    Perverser  Geschlechtstrieb.         251 

Am  29.  August  1871  früh  Morgens  ging  die  28jährige  Ehefrau  Frigeni 
aufs  Feld.  -Da  sie  um  8  Uhr  nicht  zurück  war,  ging  ihr  Mann  fort,  sie  zu  holen. 
Er  fand  sie  als  Leiche ,  nackt  auf  dem  Feld ,  mit  einer  von  Erdrosselung  her- 
rührenden Strangrinne  am  Hals ,  mit  zahlreichen  Verletzungen ,  aufgeschlitztem 
Bauch  und  heraushängenden  Därmen. 

Am  29.  August  Mittags  als  Maria  Previtali,  19  Jahre  alt,  übers  Feld  ging, 
w^urde  sie  von  ihrem  Vetter  Verzeni  verfolgt,  in  ein  Getreidefeld  geschleppt, 
zu  Boden  geworfen  und  am  Halse  gewürgt.  Als  er  sie  einen  Moment  losliess, 
um  zu  spähen  ob  Niemand  in  der  Nähe  sei,  erhob  sich  das  Mädchen  und  er- 
reichte durch  sein  flehentliches  Bitten ,  dass  V.  es  laufen  liess ,  nachdem  er  ihm 
während  einiger  Zeit  noch  die  Hände  zusammengepresst  hatte. 

V.  wurde  vor  Gericht  gestellt.  Er  ist  22  Jahre  alt,  sein  Schädel  über 
mittelgross,  aber  asymmetrisch.  Das  rechte  Stirnbein  ist  schmäler  und  niederer 
als  das  linke,  der  Stirnhöcker  rechts  wenig  entwickelt,  das  rechte  Ohr  kleiner 
als  das  linke  (um  1  Centim.  in  der  Höhe  und  3  in  der  Breite):  beide  Ohren 
ermangeln  der  unteren  Hälfte  des  Helix,  die  rechte  Schläfenarterie  etwas  athero- 
matös.  Stiernacken,  enorme  Entwickelung  des  os  zygomat.  und  des  Unterkiefers, 
Penis  sehr  entwickelt,  Frenulum  fehlend ;  leichter  Strabismus  alternans  divergens 
(Insufficienz  der  mm.  recti  interni  und  Mj^opie).  Lombroso  schliesst  aus  diesen 
Degenerationszeichen  auf  eine  angeborene  Bildungshemmung  des  rechten  Stirn- 
lappens. Wie  es  scheint  ist  Verzeni  ein  Hereditarier  —  2  Onkel  sind  Cretins,  ein 
3.  Microcephal,  bartlos,  ein  Hode  fehlend,  der  andere  atrophisch.  Der  Vater 
bietet  Spuren  von  pellagröser  Entartung  und  hatte  einen  Anfall  von  Hypochon- 
dria  pellagrosa.  Ein  Vetter  litt  an  Hyperaemia  cerebri,  ein  anderer  ist  Gewohn- 
heitsdieb. 

Verzeni's  Familie  ist  bigott,  von  schmutzigem  Geiz.  Er  selbst  zeigt  ge- 
wöhnliche Intelligenz,  weiss  sich  gut  zu  vertheidigen ,  sucht  sein  Alibi  zu  be- 
w^eisen,  Andere  zu  A^erdächtigen.  In  seiner  Vergangenheit  Nichts,  das  auf  Geistes- 
krankheit deutet;  sein  Charakter  übrigens  auffällig,  er  ist  schweigsam,  liebt  die 
Einsamkeit.  Im  Gefängniss  cynisch,  Masturbant,  sucht  sich  um  jeden  Preis  den 
Anblick  von  Weibern  zu  verschaffen. 

Unter  Heranziehung  einschlägiger  Fälle  in  der  Literatur,  die  ein  hervor- 
ragendes anthropologisches  oder  ethnologisches  Interesse  bieten,  fasst  Lombroso 
die  Thaten  des  Angeklagten  als  Aeusserung  einer  krankhaften  Wollust  auf,  mit 
welcher  sich  zuweilen  homicide  Impulse  verbinden  und  spricht  sich  für  eine  ver- 
minderte Zurechnungsfähigkeit  V.'s  aus.  In  der  That  gestand  endlich  V.  seine 
Thaten  und  deren  Motive  ein.  Ihre  Begehung  habe  ihm  ein  unbeschreiblich 
angenehmes  (wollüstiges)  Gefühl  verschafft ,  ,das  von  Erection  und  Samen- 
ergiessung  begleitet  war.  Schon  wenn  er  seine  Opfer  am  Halse  kaum  berührt 
hatte,  stellten  sich  sexuelle  Empfindungen  ein.  Es  sei  ihm  ganz  gleich  in  Bezug 
auf  diese  Empfindungen  gewesen,  ob  die  Frauen  alt,  jung,  hässlicli  oder  schön 
waren.  Gewöhnlich  habe  schon  das  einfache  Drosseln  derselben  ihn  befriedigt 
und  dann  habe  er  seine  Opfer  am  Leben  gelassen  —  in  den  erwähnten  2  Fällen 
habe  die  geschlechtliche  Befriedigung  gezögert  einzutreten  und  da  habe  er  zu- 
gedrückt bis  seine  Opfer  todt  waren.  Seine  Befriedigung  bei  diesen  Garottirungen 
sei  grösser  gewesen  als  wenn  er  onanirte.  Die  Hautabschürfungen  an  den  Schen- 
keln der  Motta  seien  durch  seine  Zähne  entstanden,  als  er  ihr  mit  grossem  Genuss 
das  Blut   aussaugte.     Ein  Wadenstück   derselben  habe    er  ausgesogen  und  dann 


252  Cap.  X.    Die  psychischen  Entartungen.     Beob.  87. 

mitgenommen,  um  es  daheim  zu  rösten,  es  indessen  unterwegs  unter  einem  Stroh- 
haufen verborgen,  aus  Furcht,  dass  seine  Mutter  hinter  seine  Streiche  komme. 
Aiich  die  Kleider  und  Eingeweide  habe  er  ein  Stückweit  mitgenommen,  weil  es 
ihm  einen  Genuss  gewährte  sie  zu  beriechen  und  zu  betasten.  Die  Stärke,  die  er 
in  diesen  Momenten  höchster  Wollust  besessen ,  sei  enorm  gewesen.  Ein  Narr 
sei  er  nie  gewesen;  bei  der  Ausführung  seiner  Thaten  habe  er  gar  nichts  mehr 
um  sich  gesehen  (offenbar  durch  höchste  sexuelle  Erregung  aufgehobene  Apper- 
ception  und  instinktives  Handeln).  Nachher  sei  es  ihm  immer  sehr  behaglich 
gewesen,  ein  Gefühl  grosser  Befriedigung;  Gewissensbisse  habe  er  nie  gehabt. 
Nie  sei  es  ihm  in  den  Sinn  gekommen  die  Geschlechtstheile  der  von  ihm  ge- 
marterten Frauen  zu  berühren  oder  sie  zu  stupriren,  es  habe  ihm  genügt  sie  zu 
erdrosseln  und  ihr  Blut  zu  saugen.  In  der  That  scheinen  diese  Angaben  dieses 
modernen  Vampyrs  auf  Wahrheit  zu  beruhen.  Normale  geschlechtliche  Antriebe 
scheinen  ihm  fremd  geblieben  zu  sein  —  2  Geliebte,  die  er  hatte,  begnügte  er 
sich  zu  beschauen  —  es  ist  ihm  selbst  auffällig,  dass  er  keine  Gelüste  ihnen 
gegenüber  hatte,  sie  zu  drosseln  oder  ihnen  die  Hände  zu  pressen,  aber  freilich 
habe  er  mit  ihnen  nicht  denselben  Genuss  gehabt,  wie  mit  seinen  Opfern.  Von 
moralischem  Sinne,  Reue  ii.  dgl.  fand  sich  keine  Spur. 

Verzeni  sagte  selbst,  es  dürfe  gut  sein,  wenn  man  ihn  eingesperrt  lasse, 
denn  in  der  Freiheit  könne  er  seinem  Gelüste  keinen  Widerstand  leisten.  V. 
wurde  zu  lebenslänglichem  Kerker  verurtheilt.  (Lombroso:  Verzeni  e  Agnoletti 
Roma  1873.) 

Beob.  87.  Defekt  geschlechtlicher  und  socialer  Empfindungen 
als  Theilerscheinungen  eines  psychischen  Degenerationszustands. 
Castrirungsversuch  an  einem  Knaben.  E.,  30  J.,  vacirender  Weber- 
geselle, wurde  betreten,  als  er  einem  Knaben,  den  er  in  den  Wald  gelockt  hatte, 
das  Scrotum  wegschneiden  wollte.  Er  motivirte  dies  Verfahren  damit,  dass  er 
hineinschneiden  wollte,  auf  dass  die  Erde  sich  nicht  vermehre  •,  er  habe  in  seiner 
Jugend  oft  zu  gleichem  Zweck  in  seine  Geschlechtstheile  hineingeschnitten,  sei 
aber  vor  Schmerz  nie  zum  Ziel  gelangt.  An  Scrotum  und  Penis  fanden  sich 
wirklich  zahlreiche  Schnittnarben  als  Residuen  früherer  Selbstentmannungs- 
versuche. 

E.'s  Stammbaum  ist  nicht  zu  ermitteln.  Von  Kindheit  auf  war  E.  geistig 
abnorm,  hinbrütend,  nie  lustig,  sehr  reizbar,  jähzornig,  grüblerisch,  schwachsinnig. 
Er  hasste  die  Weiber,  liebte  die  Einsamkeit,  beging  ab  und  zu  ganz  abnorme 
Streiche.  In  den  letzten  Jahren  hatte  sich  sein  Hass  gegen  Frauenzimmer  ge- 
steigert, namentlich  gegen  Schwangere,  durch  die  nur  Elend  in  die  Welt  komme. 
Er  hasste  auch  die  Kinder,  verfluchte  seinen  Erzeuger,  hegte  communistische 
Ideen,  schimpfte  über  die  Reichen  und  die  Geistlichen,  über  den  Herrgott,  der 
ihn  so  arm  habe  auf  die  Welt  kommen  lassen.  Er  meinte,  es  sei  besser,  die 
noch  vorhandenen  Kinder  zu  castriren,  als  neue  auf  die  Welt  zu  setzen,  die  doch 
nur  zu  Armuth  und  Elend  verurtheilt  wären.  Er  habe  es  immer  so  gehalten, 
habe  sich  selbst  im  15.  Jahr  zu  castriren  versucht,  um  nicht  zum  Unglück  und 
zur  Vermehrung  der  Menschheit  beizutragen.  Er  hasse  das  weibliche  Geschlecht, 
weil  es  diesem  Zweck  diene.  Nur  zweimal  in  seinem  Leben  habe  er  sich  von 
Weibern  manustupriren  lassen,  sonst  nie  mit  ihnen  zu  thun  gehabt.  Geschlecht- 
liche Regungen  habe  er  nur  dann   und   wann,    aber  nie   zur  naturgemässen  Be- 


Das  moralische  Irresein.  —  Beob.  88.    Kein  moralisches  Irresein.  253 

friedigung  derselben.   Wenn  die  Natur  sich  nicht  selbst  helfe,  so  helfe  er  gelegent- 
lich durch  Onanie  nach. 

E.  ist  ein  starker,  muskulöser  Mann.  Die  Bildung  der  Genitalien  lässt 
nichts  Abnormes  erkennen.  Er  ist  von  finsterem,  trotzigem,  reizbarem  Wesen. 
Sociale  Gefühle  sind  ihm  vollständig  fremd.  Der  Schlaf  ist  mangelhaft.  Häufig 
wird  Kopfschmerz  geklagt. 

■  Das  Gutachten  betont,  dass  E.  ein  ab  ovo  pathologisches  Individuum,  ein 
abnormer  Charakter  von  Kindsbeinen  auf  war,  der  seiner  Umgebung  früh  schon 
den  Eindruck  eines  geisteszerrütteten  Menschen  machte.  Als  greifbare  Zeichen 
dieser  pathologischen  Erscheinung  ergeben  sich  neben  Schwachsinn,  intellektueller 
Verschrobenheit,  gemüthlicher  Reizbarkeit,  ein  anthropologischer  Defekt  —  ge- 
schlechtlicher Empfindungen  bis  zu  instinktiver  Abneigung  gegen  das  andei'e 
Geschlecht.  Aus  diesem  Mangel  des  Geschlechtsgefühls  als  organischer  Grundlage 
der  ethischen  Entwicklung  ist  E.  unfähig  zur  Bildung  socialer  Gefühle  und  erfährt 
seine  ganze  Anschauungsweise  und  Gedankenrichtung  jene  Verschrobenheit  und 
Unsittlichkeit,  die  in  allen  socialen,  ethischen  und  religiösen  Beziehungen  bei 
ihm  so  grell  und  widerlich  zu  Tage  tritt  und  endlich  seine  unsinnige  und  ver- 
brecherische Handlung  herbeiführt. 

E.  ist  kein  einfacher  Misanthrop,  der  auf  Grund  widriger  Lebensschicksale 
mit  Gott  und  der  Welt  zerfallen  ist  und  Schopenhauer's  Nirwana  als  ultima 
ratio  anerkennend,  die  ganze  Menschheit  auf  den  Aussterbeetat  setzen  möchte, 
sondern  ein  pathologisches  Individuum,  dem  ein  anthropologischer  Grundzug 
menschlicher  Artung  und  Gesittung  versagt  ist,  der  demgemäss  originär  nicht 
anders  denken  und  fühlen  kann  und  dessen  Ausspruch :  „Verflucht  sei,  der  mich 
gezeugt  hat!"  einen  schauerlich  ernsthaften  Hintergrund  erhält. 

Die  Zurechnungsfähigkeit  dieses  Defektmenschen  zu  bestimmen,  möge  der 
Richter  versuchen.  Bei  der  Unheilbarkeit  solcher  originär  anomaler,  degenerativer, 
psychischer  Zustände  und  der  erwiesenen  Gemeingefährlichkeit  des  Angeklagten 
dürfte  seine  dauernde  Internirung  in  einer  Humanitätsanstalt  sich  empfehlen. 
Keine  Verurtheihmg.   Versetzung  in  eine  Irrenpflegeanstalt.    (Eigene  Beobachtung^) 

Beob.  88.  Mord  des  Vaters.  Irrthümlich  geltend  gemachtes 
moralisches  Irresein.  Im  April  1875  wurde  vor  dem  Schwurgericht  zu 
Reggio  3  Söhnen,  die  ihren  Vater  ermordet  hatten,  der  Process  gemacht.  Man 
hatte  den  Vater  mit  fürchterlich  durch  Steinschläge  zertrümmertem  Schädel  auf- 
gefunden. Der  Hergang  war  dunkel.  Giro,  der  20jährige  Sohn,  bekannte  sich 
allein  als  Mörder,  Primo  und  Ferdinando  leugneten,  verwickelten  sich  in  Wider- 
sprüche. Alle  wurden  ^um  Tod  verurtheilt  und  zu  lebenslänglicher  Freiheits- 
strafe begnadigt.  Bigi ,  der  Vater  war  ein  brutaler,  reizbarer,  gewaltthätiger 
Mensch,  der  im  Verdacht  stand  selbst  seinen  Vater  ermordet  zu  haben,  mehrfach 
das  Gesetz  verletzt  und  wiederholt  die  Seinigen  am  Leben  bedroht  hatte,  so  dass 
diese  genöthigt  waren  die  Gensdarmen  zu  Hilfe  zu  rufen.  Bigi  war  offenbar 
geistesgestört  und  zwar  seit  einem  Anfall  von  Irresein,  den  er  1846  im  Irren- 
hause überstanden  hatte.  Giro  schlief  nach  der  Untliat  ruhig,  erzählte  des  andren 
Morgens  ganz  gleichgültig,  dass  der  Vater  hin  sei  und  dies  ihm  schon  längst 
hätte  passiren  sollen.  In  den  Verhören  blieb  C.  kalt,  cynisch,  reue-  und  gemüthlos 
selbst,  als  ihm  und  den  Brüdern  das  Todesurtheil  verkündet  wurde.  Der  Ver- 
theidiger  stellte  die  Frage  der  Zurechnungsfähigkeit. 


254  Cap.  X.    Die  psychischen  Entartungen. 

In  seinem  Vorleben  findet  sich  nichts  Pathologisches.  Er  war  ein  fleissiger, 
intelligenter ,  geistig  und  körperlich  in  keiner  Weise  abnormer  Mensch ,  dem 
Niemand  eine  solche  Unthat  zugetrau.t  hätte. 

Die  Expertise  stellt  die  Möglichkeit  einer  bis  dahin  latenten,  bei  der 
Ausführung  des  Verbrechens  belangreich  (?)  gewesenen  erblichen  Prädisposi- 
tion zum  Irresein  auf,  findet  indessen  Giro  in  keiner  Weise  geisteskrank  im 
gewöhnlichen  Sinn  des  Worts.  Aber  Giro  bietet  eine  krankhafte  (?)  Verkehrung 
des  moralischen  Sinns  —  er  leidet  an  moralischem  Irresein  (!)  für  dessen  Be- 
stehen aber  Verf.  nichts  als  Beleg  zu  bringen  weiss  als  erbliche  Anlage,  schlechtes 
moralisches  Beispiel  des  entarteten  Vaters ,  Grässlichkeit  der  That  und  absolute 
Gemüthlosigkeit  des  Thäters  (!),  der  sogar  zu  seiner  Verurtheilung  lacht.  Das 
Gutachten  plaidirt  für  eine  verminderte  Zurechnungsfähigkeit.  Die  Stützen  und 
Folgerungen  des  Gutachtens  sind  nicht  annehmbar.  Irresein  in  der  Ascendenz, 
Fehlen  des  moralischen  Sinns  und  monströse  Thatumstände  sind  keine  Beweise 
für  moralisches  Irresein,  das  sich  durch  eine  Reihe  scharf  ausgesprochener  psycho- 
pathischer und  neurotischer  klinischer  Merkmale  kundgibt,  immer  mit  intellek- 
tuellem Schwachsinn  vergesellschaftet  ist,  und  da  wo  es  als  erblicher  Degenera- 
tionszustand sich  findet,  von  frühster  Jugend  an  sich  bemerklich  macht,  nicht 
bis  zum  20.  Jahr  latent  bleibt  und  dann  erst  in  einer  verbrecherischen  That 
seine  Existenz  verräth.     (Rivista  sperimentale.) 

Weitere  Fälle:  Kuby,  Friedreich's  Blätter  1876,  H.  2,  3,  4,  (Gewohn- 
heitsverbrecher. Vermuthetes  aber  ausgeschlossenes  moral.  Irresein).  Gramer 
ebenda  1876,  H.  2.  3.  (moral.  Irresein.  Misshandlung  mit  Körperverletzung. 
Annahme  mildernder  Umstände).  De  Smeth,  Journal  de  Bruxelles  1871,  Juli 
(Diebstahl).  Lentz,  Bullet,  de  la  societe  de  med.  mentale  de  Belgique  1875,  Nr.  5. 
Ziliotto,  Rivista  sperim.  1878,  Fase.  1.  (strafbare  Drohungen).  Kitching,  Journ. 
of  mental  science  1867  ,  Juli  (Mord  des  Kameraden).  Journal  of  ment.  science 
1868,  Januar  (Schändung  und  Mord  eines  kleinen  Mädchens).  Muschka,  Prager 
Vierteljahrschr.  1866,  H.  1  (Mord  und  Anthropophagie.) 


2.   Das  impulsive  Irresein. 

Literatur.  Prichard,  on  the  different  forms  of  insanity,  1842,  p.  87  (instinctive 
madness).  Mc  Intosh,  Journ.  of  psychol.  med.,  Jan.  1863,  p.  103;  ibid.,  Okt.. 
1848  (impulsive  insanity).  Finkeinburg,  Gibt  es  Willensstörungen,  welche 
unabhängig  sind  von  Störungen  der  Intelligenz?  Neuwied  1863. 

Eine  forensisch  äusserst  wichtige  Aeusserungsweise  psychischer 
Degenerationszustände  ist  das  Auftreten  von  Handlungen,  deren  Mo- 
tive nicht  deutlich  bewusste  Vorstellungen  sind,  deren  Mechanismus 
nicht  nach  dem  Schema  der  Reflexion  über  verschiedene  Möglich- 
keiten von  Wollen  mit  Abwägung  der  Motive  und  Entscheidung  für 
das  am  meisten  gebilligte  ablauft,  sondern  bei  denen  die  zur  Hand- 
lung treibende  Vorstellung,  noch  ehe  sie  zur  vollen  Klarheit  über  die 
Schwelle   des  Bewusstseins   emporgehoben  ist,    schon  in   eine   Hand- 


Das  impulsive  Irresein.  255 

lung  sich  umsetzt  oder  sich  überhaupt  nie  zur  vollen  Klarheit  im 
Bewusstsein  erhebt.  Die  Handlung  erscheint  damit  dem  Handeln- 
den wie  dem  Beobachter  unmotivirt  und  darum  unverständlich,  die 
Art  ihrer  Ausführung  trägt  den  Charakter  des  Zwangsmässigen,  Im- 
pulsiven, Instinctiven  an  sich,  sie  wirkt  überraschend  auf  den  Han- 
delnden selbst. 

Sie  erscheint  als  eine  organische  Nöthigung  aus  dem  unbewuss- 
ten  Geistesleben  heraus,  vergleichbar  einer  Convulsion  auf  psycho- 
motorischem Gebiete, 

Ein  solches  Handeln  steht  den  Handlimgen  des  Affekts  am  näch- 
sten und  entbehrt  auch  häufig  nicht  einer  affektiven  Grundlage.  Es 
deutet  mindestens  auf  eine  abnorme  Erregbarkeit  (Convulsibilität)  des 
psychomotorischen  Apparats  hin,  insofern  hier  eine  Vorstellung  quasi 
in  statu  nascenti  genügt,  um  mit  Ausschaltung  der  Willens-  und  Be- 
wusstseinssphäre  unmittelbar  in  eine  Aktion  sich  umzusetzen.  Eine 
solche  Erscheinung  in  den  höchstorganisirten  Centren  des  Gehirns  er- 
scheint als  eine  niederere  Leistung  eines  zu  höherer  Funktion  befähig- 
ten Mechanismus  und  erweckt  die  Vermuthung  einer  degenerativen 
Begründung.  Thatsächlich  finden  sich  diese  impulsiven  Akte  fast 
ausschliesslich  bei  erblicher  psychischer  Entartung,  namentlich  da  wo 
sie  im  Gewand  einer  hysterischen  oder  epileptischen  Neurose  auftritt, 
seltener  auf  dem  Boden  einer  durch  Trunk,  Onanie  und  sonstige 
schwere  Hirninsulte  erworbenen. 

Die  zur  Handlung  treibenden  psychischen  Kräfte  sind  lebhafte 
organische  Gefühle,  namentlich  geschlechtliche,  die  zugleich  in  perverser 
Form  sich  geltend  machen  können;  oder  es  sind  affektvolle  Stimm- 
ungen (Verstimmung,  Heimweh)  nicht  selten  getragen  und  verstärkt 
durch  gestörte  Gemeingefühle,  Neuralgien  etc.  Im  Moment  der 
That  kann  die  sonst  dunkel  bleibende  treibende  Vorstellung  sich  zur 
Zwangsvorstellung  oder  zur  imperativen  Hallucination  (Vision  von  Blut, 
Flammenschein  bei  Epileptikern)  erheben  und  das  Handeln  bestimmen. 
In  anderen  Fällen  ruft  der  organische  Drang  (ein  sinnliches  Gefühl) 
eine  ererbte  oder  erworbene  Triebrichtung  (Stehlsucht,  Trunksucht  etc). 
wach  und  drängt  zu  ihrer  Befriedigung  (Schule).  Bemerkenswerth  ist 
der  nöthigende  weil  organische  Zwang  des  impulsiven  Antriebs,  der  wie 
ein  dunkles  Verhängniss  empfunden  wird  sowie  die  vasomotorischen 
und  sensiblen  Begleiterscheinungen  (neuralgische  Empfindungen, 
pressende  Gefühle  in  der  Herzgegend,  heftige  Angst)  die  in  dem 
Masse  sich  steigern,  als  die  Befriedigung  des  Drangs  eine  Verzöge- 
rung erfährt. 


256  Cap.  X.    Die  psychischen  Entartungen. 

Die  concreten  impulsiven  Antriebe  können  auf  Mord-  oder  Selbst- 
mord, Brandstiftung,  Diebstahl,  geschlechtliche  Befriedigung  ge- 
richtet sein. 

Die  Vollziehung  des  Akts  bedingt  ein  Gefühl  der  Erleichterung. 

Erst  nach  einiger  Zeit  tritt  klare  Erkenntniss  der  Situation, 
Reflexion  und  eventuell  Reue  ein. 

Die  Thatsache,  dass  es  impulsive,  nach  Umständen  ganz  ver- 
kehrte, mit  dem  gewöhnlichen  individuellen  Fühlen  und  Denken  ganz 
contrastirende  Handlungen  gibt,  ohne  dass  gleichzeitig  intellektuelles 
Irresein  im  Sinn  von  Wahnideen  bestünde,  ist  schon  längst  bekannt. 
Zusammengeworfen  mit  aus  psychischer  Dys-  und  Anästhesie  Me- 
lancholischer, aus  Zwangsvorstellungen  psychisch  und  nervös  kran- 
ker Individuen,  aus  pathologisch  gesteigerten  oder  nicht  mehr  einer 
Hemmung  zugänglichen  Trieben  Maniakalischer  entstandenen  ver- 
kehrten Handlungen  bei  gleichzeitig  nur  formal,  nicht  aber  inhalt- 
lich gestörter  Intelligenz,  hat  diese  Thatsache  ihren  Ausdruck  in  der 
Lehre  von  einer  mania  sine  delirio  (Pinel),  monomanie  instinctive 
(Esquirol),  moral  insanity  (Prichard),  folie  d'action  (Brierre),  instinc- 
tiven  Manie  (Finkeinburg),  Monomanie  (französische  Psychiatrie),  Pa- 
radoxie  des  Willens  (Knop)  gefunden. 

Die  heutige  Wissenschaft  verlangt  klinische  Analyse  und  Son- 
derung von  Erscheinungen,  die  nur  in  der  Thatsache  übereinkommen, 
dass  ein  Delirium  der  Handlungen  bei  ungestörter  Intelligenz  im  ge- 
wöhnlichen Sinne  des  Worts  besteht. 

Für  die  Rechtspflege  ist  es  von  grösster  Bedeutung,  Garantien 
dagegen  zu  besitzen,  dass  nicht  die  Lehre  vom  impulsiven  Irresein 
das  Feld  gewinne,  das  früher  die  berüchtigten  Monomanien  einnahmen, 
und  nicht  eine  Wafle  in  den  Händen  unredlicher  Vertheidiger  werde. 

Dies  ist  nicht  zu  besorgen,  sobald  das,  was  oben  über  die  psy- 
chischen Degenerationszustände  angeführt  wurde,  berücksichtigt  und 
das  Individuum  zum  Gegenstand  einer  anthropologischen  und  klini- 
schen Expertise  gemacht  wird.  Dann  stehen  wir  nicht  mehr  auf  dem 
Boden  der  Monomanie,  wo  die  That  selbst  zum  Ausgangspunkt  der 
Untersuchung  gemacht  und  aus  ihrer  Monstrosität,  Unmotivirtheit 
und  wie  die  beliebten  Gemeinplätze  alle  heissen  mögen ,  das  Urtheil 
über  die  Zurechnungsfähigkeit  gewonnen  wurde  —  im  Gegentheil, 
wir  sehen  vorerst  ab  von  der  That,  deren  Mechanismus  uns  nur  In- 
dicien  für  eine  specielle  Richtung  unsrer  Untersuchung  liefert  und 
erst  wenn  diese  uns  aufgeklärt  hat,  gewinnen  wir  in  der  Eigenthüm- 
lichkeit  der  Handlungsweise  die  Gegenprobe  für  die  Richtigkeit  einer 


i 


Beob.  89.     Impulsives  Irresein.     Brandstiftung.  257 

induktiv  begonnenen  und  deduktiv  abschliessenden  Kette  von  Schluss- 
folgerungen. 

Der  impulsive  Akt  als  solcher  hat  nur  die  Bedeutung  eines 
Einzelsjmptoms,  das  die  Vermuthung  eines  degenerativen  psychischen 
Zustands  hervorruft.  In  dem  Nachweis  eines  solchen  liegt  der  Schwer- 
punkt der  klinisch-  forensischen  Expertise.  Erst  mit  jenem  Nachweis 
kann  und  darf  die  Justiz  von  einer  Handiungsconvulsion  Notiz  nehmen. 

Dann  werden  allerdings  der  Mechanismus  solcher  Impulse,  ihre 
begleitenden  somatischen  Vorgänge,  ihre  etwa  periodisch  sich  äussernde 
Wiederkehr,  die  Perversion  der  zum  Handeln  treibenden  organischen 
Gefühle,  weitere  wichtige  Stützen  für  die  Beurtheilung  abgeben. 

Beob.  89.  Impulsives  Irresein.  Brandstiftung.  Am  28.  Juli  1872 
Morgens  1  Uhr  brannte  eine  Wagenremise  auf  dem  Schloss  H.  nieder.  Die  Ur- 
sache des  Brands  blieb  unbekannt.  Der  im  Schlosse  wohnende  Forstadjunkt  S. 
vermisste  einen  Theil  seiner  Garderobe,  so  dass  der  Verdacht  rege  wurde,  es 
liege  das  Verbrechen  einer  Brandstiftung  und  eines  Diebstahls  vor.  Bei  einer 
_gerichtlichen  Haussuchung  am  31.  Juli  fanden  sich  die  abhanden  gekommenen 
Kleider  des  S.  in  einer  Sophaschublade  in  _  dessen  Wohnung  vor.  S.  versicherte 
eidlich,  von  deren  Verbleib  nichts  gewusst  zu  haben.  Am  12.  August  bekannte 
er  sich  aus  freien  Stücken  als  Brandleger. 

S.  ist  22  Jahre  alt,  von  guter  Familie,  sein  Vorleben  tadellos.  Mit  tiefer 
Reue  entledigte  er  sich  seines  Geständnisses. 

„Ich  war  am  27.  Juli  Abends  in  heiterer  Gesellschaft,  in  der  sich  auch 
meine  Braut  befand,  trank  Wein  und  Bier.  Es  wurde  mir  unwohl,  ich  musste 
mich  erbrechen.  Ich  war  tiefsinnig  und  in  gedrückter  Stimmung  schon  seit  ge- 
raumer Zeit,  ohne  dass  ich  einen  Grund  dafür  anzugeben  wüsste.  Um  12^ji  Uhr 
trennte  sich  die  Gesellschaft.  Ich  war  vom  Weingenuss  wohl  etwas  eingenom- 
men, aber  nicht  berauscht.  Als  ich  heimkam  und  mich  der  Wagenremise  näherte, 
kam  mir  plötzlich  der  Gedanke:  zünd'  an  und  nehme  dir  das  Leben.  Von  dem 
Momente  an  war  ich  ganz  ausser  Gefühl,  besass  jedoch  die  Besinnung.  Mit 
Zündhölzern  und  Papier,  die  ich  im  Sack  hatte,  vollführte  ich  die  That,  eilte 
dann  in  meine  Wohnung,  benässte  mich  mit  Petroleum,  nahm  eine  gefüllte 
Petroleumflasche  in  die  Hand  und  war  im  Begriff,  auf  den  Heuboden  zu  steigen 
und  im  Feuer  mein  Leben  zu  endigen.  Auf  der  Leiter  verliessen  mich  die 
Kräfte,  ich  stürzte  zu  Boden  und  blieb  einen  Moment  wie  ohnmächtig  liegen. 
Nachdem  ich  mich  erholt,  ging  ich  auf  mein  Zimmer,  entkleidete  mich,  ging  zu 
Bett,  war  aber  derart  ergriffen,  dass  ich  am  ganzen  Leib  zitterte.  Jetzt  erwachte 
ich  vollkommen,  erkannte  die  Grösse  meiner  That,  das  Unglück,  in  das  ich  mich 
stürzte.  Angst,  Reue,  Schmerz  bemächtigten  sich  meiner,  ich  wusste  mir  nicht 
zu  helfen.  Nach  wenigen  Minuten  hörte  ich  Feuerruf,  rannte  davon,  nur  mit 
Hose  und  Hemd  bekleidet,  in's  benachbarte  Dorf,  wo  ich  die  FeuerweKr  vom 
Brand  verständigte.  Von  da  eilte  ich  auf  die  Brandstätte,  half  eine  Zeitlang 
löschen,  bekam  jedoch  plötzlich  Angst,  dass  ich  verrathen  werde,  und  beseitigte 
einen  Theil  meiner  Kleider,  um  vorgeben  zu  können,  sie  seien  mir  während  des 
Brandes  gestohlen  worden,  und  so  den  Verdacht  von  mir  ablenken  zu  können. 
V.  Krafft-Ebing,  gerichtl.  Psychopathologie.    2.  Auflage.  17 


258  Cap.  X.    Die  psj^chischen  Entartungen. 

Diese  Angabe  hielt  ich  auch  vor  Gericht  aufrecht  und  erhärtete  sie  eidlich.  Ich 
war  bei  der  Einvernahme  so  bestürzt  und  ganz  weg,  hätte  schon  damals  meinen 
Fehltritt  eingestanden,  schämte  mich  aber,  wesshalb  ich  lügenhafte  Angaben  in 
meiner  Zwangslage  beschwor.  In  der  Folge  peinigten  mich  Gewissensbisse,  ich 
verschob  die  Selbstanzeige  von  Tag  zu  Tag,  nahm  keine  Nahrung  zu  mir,  wurde 
ganz  verwirrt,  bis  ich  meinen  Entschluss  am  12.  August  ausführte.  Ich  weiss 
selbst  nicht,  wie  mir  so  etwas  (Brandstiftung)  auf  einmal  in  den  Sinn  gekommen 
ist.  Ich  war  eben  über  die  schlechte  Behandlung  meines  Vaters,  bei  dem  ich 
verläumdet  wurde,  gemtithskrank  und  lebensüberdrüssig  geworden,  wusste  keinen 
andern  Ausweg,  als  mir  das  Leben  zu  nehmen,  versuchte  es  wiederholt,  bekam  aber 
im  entscheidenden  Augenblick  jeweils  die  Besinnung  wieder  und  stand  davon 
ab.  Diese  gedrückte  Gemüthsstimmung  veranlasste  mich  zur  Brandlegung  und 
zwar,  um  mir  das  Leben  zu  nehmen." 

Inculpat  ist  mittelgross,  von  normaler  Schädelbildung.  Das  Auge  hat 
einen  eigenthümlich  matten  Glanz,  der  Blick  verräth  eine  gewisse  Unsicherheit 
und  schaut  träumerisch  in's  Weite.  Beim  Sprechen  zeigt  sich  eine  geringere 
Innervation  des  rechten  Mundwinkels. 

Vatersvater  starb  irrsinnig,  die  Mutter  an  einer  Gehirnentzündung. 

S.  war  von  Kindheit  auf  schwächlich,  nervös,  überspannt,  eingebildet, 
jähzornig.  Mit  12  Jahren  wurde  er  häufig  ohnmächtig.  Mit  11  Jahren  bat  er 
einmal  die  Mutter,  die  Sterbeglocke,  läuten  zu  lassen  imd  den  Geistlichen  zu 
rufen,  da  er  nun  sterben  müsse.  Gute  Begabung  in  der  Schule,  tadellose  Dienst- 
führung, später  aber  zerstreutes  Wesen.  Anfang  1872  Liebesverhältniss.  Der 
Vater  verweigerte  in  brüsker  Weise  die  Einwilligung  zur  Heirath.  Darüber  war 
S.  tief  gekränkt.  Seit  Juni  1872  schmerzliche  Verstimmung.  S.  wurde  düster, 
reizbar,  meinte,  man  habe  ihn  zu  Hause  verläumdet.  Scherze  der  Bekannten,  wann 
er  denn  heirathe,  verstimmten  ihn  noch  mehr.  Mitte  Juni  Anwandlungen  sich 
umzubringen.  Seine  Braut  fand  ihn  in  letzter  Zeit  verschlossener  als  je,  sein 
Vorgesetzter  auffallend  zerstreut,  oft  ganz  sinn-  und  gedächtnisslos.  In  der 
Abendgesellschaft  am  27.  Juni  erschien  er  still  und  schweigsam  wie  gewöhnlich.. 
Sonst  bot  sein  Benehmen  nichts  Auffallendes.  Von  dem  Brand  an  bis  zum  Ge- 
ständniss  scheint  er  von  quälenden  Gewissensbissen  gefoltert  gewesen  zu  sein. 
Er  meldete  sich  krank,  blieb  im  Zimmer,  ass  fast  gar  nichts.  In  der  lOmonat- 
lichen  Untersuchungshaft  keine  Symptome  von  psychischer  Störung. 

Ein  erstes  Gutachten  erklärte  die  That  in  einer  ohne  Absicht  auf  das 
Verbrechen  erfolgten  Berauschung  begangen,  ein  Obergutachten  nahm  zur  Zeit 
der  That  Melancholie  und  Verfolgungswahn  an.  S.  wurde  freigesprochen  und 
zur  Beobachtung,  ob  er  genesen,  in  die  Irrenanstalt  verbracht.  In  der  mehr- 
wöchentlichen Beobachtung  wurde  psychische  Gesundheit  constatirt,  aber  der 
Eindruck  eines  originär  eigenthümlichen  Menschen  gewonnen.  Ein  träumerisches, 
schlaffes,  energieloses  Wesen  fehlte  zu  keiner  Zeit.  Ein  Verdacht  auf  Onanie 
wurde  durch  S.'s  Eingeständniss  bestätigt.  Eine  tiefer  gehende  Reue  bestand 
für  die  That  offenbar  nicht.  Sie  erschien  ihm  wie  etwas  Fremdes,  nicht  aus 
seinem  eigenen  Ich  hervorgegangen.  Er  müsse  verrückt  gewesen  sein  damals, 
denn  sonst  könne  er  nicht  begreifen,  wie  er  dazu  gekommen.  Als  der  Gedanke 
„zünd'  an"  ihn  gepackt,  habe  er  sofort  und  blindlings  gehandelt  —  erst  hinter- 
her sei  es  ihm  gekommen,  was  er  gethan. 

Die  Epikrise  erweist    eine  Melancholia  sine  delirio  vor  und   zur  Zeit  der 


Beob.  90.     Impulsiver  Nothzuchtsversuch.  259 

That,  die  gleichsam  kritische  Bedeutung  dieser,  den  physiologischen  Affekt- 
zustand hinterher  und  zur  Zeit  der  Eidesleistung.  Die  That  selbst  war  weder 
durch  eine  imperative  Hallucination,  noch  einen  Raptus  melancholicus,  noch  eine 
Zwangsvorstellung  ausgelöst.  Es  war  eine  impulsive  Handlung,  wie  sie  bei  Here- 
ditariern  vorkommen  kann.  Ein  solcher  war  offenbar  S.  —  darauf  deuten  das 
Irresein  des  Grossvaters,  die  Hirnerkrankung  der  Mutter,  die  Ohnmächten,  Todes- 
gedanken, grundlosen  Stimmungswechsel  des  Knaben,  die  vielleicht  als  lokales 
Degenerationszeichen  aufzufassende  Ungleichheit  der  Facialisinnervation,  die  in 
späteren  Jahren  auffallende  Zerstreutheit,  sein  stilles,  verschlossenes  Wesen. 
(Eigene  Beobachtung.     Vierteljahrsschr,  f.  ger.  Med.  N.  F.  XX.) 

Beob.  90.  Impulsiver  Nothzuchtsversuch.  Am  4.  Juli  1874  ver- 
liess  ein  von  Triest  nach  Wien  reisender  Mann  von  etwa  45  J.  in  B.  den  Zug, 
ging  nach  dem  benachbarten  Dorfe  R.  und  machte  dort  an  einem  70  Jahr  alten, 
allein  in  einem  Hause  befindlichen  Weib  einen  Nothzuchtsversuch.  Sofort  arretirt, 
gab  er  an,  er  habe  die  Wasenmeisterei  aufsuchen  wollen,  um  seinen  aufgeregten 
Geschlechtstrieb  an  einer  Hündin  zu  befriedigen.  Er  leugnet  nicht  seine  Hand- 
lung, entschuldigt  sie  mit  Krankheit.  Er  leide  oft  an  solchen  Geschlechtsauf- 
regungen. Die  Hitze  und  die  schüttelnde  Bewegung  des  Waggons  bei  der  langen 
Eisenbahnfahrt  hätten  ihn  verwirrt  und  krank  gemacht.  Scham  und  Reue  waren 
nicht  an  ihm  zu  bemerken.  Sein  Benehmen  war  offen,  die  Miene  heiter,  die 
Augen  geröthet,  glänzend,  der  Kopf  heiss,  der  Puls  voll,  weich,  über  100  Schläge. 
Die  Angaben  des  Delinquenten  sind  präcise  aber  hastig,  der  Blick  unsicher  mit 
dem  unverkennbaren  Ausdruck  der  Lüsternheit.  Dem  herbeigerufenen  Gerichts- 
arzt macht  er  einen  pathologischen  Eindruck,  wie  Jemand,  der  an  beginnendem 
Säuferwahnsinn  leidet. 

Ingenieur  C.  ist  verheirathet,  Vater  eines  Kindes.  Die  Gesundheitsver- 
liältnisse  seiner  Eltern  sind  ihm  ganz  unbekannt.  Als  Kind  war  er  schwächlich, 
neuropathisch.  Mit  5  J.  erlitt  er  eine  schwere  Kopfverletzung,  von  der  eine 
schmerzhafte  Impression  herdatirt.  In  der  Jugend  öfter  Anfälle  von  „Ohnmacht". 
Vom  7.  Jahr  an  zeigte  er  eine  schwärmerische  Liebe  zu  Männern;  vom  14.  J.  an 
Onanie.  Mit  17  J.  erster  geschlechtlicher  Umgang  mit  Frauen.  Damit  verloren 
sich  sofort  die  früheren  Erscheinungen  conträrer  Sexual empfindung.  Vom  15.  J. 
an  Hämorrhoidalleiden  mit  Plethora  abdominalis.  Wenn  er  nicht  gerade  Blutab- 
gang aus  den  Hämorrhoiden  hatte,  wusste  er  sich  vor  geschlechtlicher  Erregung 
kaum  zu  helfen.  Häufig  wurde  er  dann  indecent  und  zu  unzüchtigen  Handlungen 
hingerissen.  Wenn  man  ihn  dann  zur  Thür  hinauswarf,  war  es  ihm  ganz  recht, 
denn  er  bedurfte  nach  seiner  Meinung  einer  solchen  Correktur  und  Unterstützung 
gegenüber  seinem  übermächtigen  ihm  selbst  lästigen  Trieb.  1861  Heirath.  Fiel 
seiner  Frau  lästig  durch  seine  grossen  Bedüi-fnisse.  1864—1867  Anfälle  recidiviren- 
der  Manie  mit  heftiger  geschlechtlicher  Erregung.  In  der  Folge  blieb  C.  von 
solchen  Anfällen  verschont,  litt  aber  sehr  unter  der  Uebermacht  seiner  geschlecht- 
lichen Bedürfnisse.  Wenn  er  nur  kurze  Zeit  von  der  Frau  entfernt  war,  so  kam 
über  ihn  eine  solche  Brunst,  dass  ihm  Weib  oder  Thier  ganz  gleich  zu  deren 
Stillung  erschien. 

Vom  Oktober  1873  an  musste  er  aus  dienstlichen  Rücksichten  fern  von 
der  Frau  leben.  Er  half  sich  anfangs  durch  Masturbation,  von  Ostern  1874  ab 
brauchte   er  Weiber  und  Hündinnen.     Von  Mitte  Juni  bis  7.  Juli  hatte  er  keine 


260  Cap.  X.    Die  psychisclien  Entartungen. 

Gelegenheit  zu  gesclilechtliclier  Befriedigung  gehabt.  Er  fühlte  sich  aufgeregt, 
abgespannt,  schlief  die  letzten  Nächte  nicht,  hatte  ein  Gefühl,  wie  wenn  er  irre 
würde.  Da  nahm  er  Urlaub ,  um  zur  Frattjmach  Wien  zu  reisen.  Unterwegs  in 
B.  konnte  er  es  vor  geschlechtlicher  Aufregung  l^d  Blutwallung  nicht  mehr  aus- 
halten. Da  verliess  er  das  Coupe  —  Alles  tanzte  vor  seinen  Augen,  er  sei  ganz 
verwirrt  geworden,  habe  nicht  gewusst,  wohin  er  gehe;  es  sei  ihm  momentan 
der  Gedanke  gekommen,  sich  in's  Wasser  zu  stürzen,  es  sei  ihm  wie  ein  Nebel 
vor  den  Augen  gewesen.  Da  habe  er  ein  Weib  erblickt,  seinen  Penis  entblösst 
und  es  zu  umarmen  versucht.  Das  Weib  schrie  jedoch  um  Hilfe  und  so  wurde 
er  arretirt. 

Nach  dem  Attentat  wurde  ihm  plötzlich  klar,  was  er  gethan.  Er  bekannte 
offen  seine  That,  deren  er  sich  in  allen  Details  erinnerte,  die  ihm  aber  als  etwas 
Krankhaftes  erscheint.     Er  habe  nichts  dafür  gekonnt. 

C.  litt  noch  einige  Tage  an  Kopfweh,  Congestionen ,  war  ab  und  zu  auf- 
geregt, unruhig,  schlief  schlecht.  Er  ist  geistesklar,  aber  ein  originär  eigenartiger 
Mensch,  von  schlaffem,  energielosem  Wesen.  Der  Gesichtsausdruck  hat  etwas 
faunartig  Lüsternes  und  Verschrobenes.  Der  Schädel  ist  im  Stirntheil  schmal 
und  etwas  fliehend.  Pat.  leidet  an  Hämorrhoiden.  Die  Genitalien  bieten  nichts 
Abnormes.     (Eigene  Beobachtung.) 

Beob.  91.  Impulsive  Stehlsucht  eines  Onanisten,  motivirt 
durch  Perversion  des  Geschlechtstriebs.  Ein  bisher  unbescholtener 
32  J.  alter  lediger  Bäckergehilfe  wurde  ertappt,  als  er  einer  Dame  ein  Taschen- 
tuch stahl.  Er  gestand  mit  aufrichtiger  Reue,  dass  er  bereits  80 — 90  derartige 
Sacktücher  entwendet  hatte.  Er  hatte  es  nur  auf  solche  abgesehen  und  zwar 
ausschliesslich  bei  jüngeren  und  ihm  zusagenden  Frauenzimmern. 

Inculpat  bietet  in  seiner  äusseren  Erscheinung  nichts  Auffälliges.  Er 
kleidet  sich  sehr  gewählt,  bietet  ein  eigenthümliches,  theils  ängstlich  depressives, 
theils  unmännlich  devotes  Wesen  und  Benehmen,  das  sich  oft  bis  zu  einem 
larmoyanten  Ton  und  Thränen  steigerte.  Auch  eine  unverkennbare  Unbehilflich- 
keit,  Schwäche  in  der  Auffassung,  Trägheit  in  der  Orientirung  und  Reflexion  gibt 
er  zu  erkennen.  Eine  seiner  Schwestern  ist  epileptisch.  Er  lebt  in  guten  Ver- 
hältnissen, war  nie  schwer  krank,  entwickelte  sich  gut.  In  der  Mittheilung  seiner 
Lebensgeschichte  zeigt  er  Gedächtnissschwäche,  Unklarheit,  auch  das  Rechnen 
fällt  ihm  schwer,  obwohl  er  früher  gut  gelernt  hatte  und  auffasste.  Sein  ängst- 
liches, unsicheres  Wesen  machte  den'  Verdacht  auf  Onanie  rege.  Inculpat  ge- 
stand, dass  er  seit  dem  19.  Jahr  diesem  Laster  in  excessiver  Weise  ergeben  war. 

Seit  einigen  Jahren  hatte  er  in  Folge  seines  Lasters  an  Abgeschlagenheit, 
Mattigkeit,  Zittern  der  Beine,  Rückenschmerzen,  Unlust  zur  Arbeit  gelitten.  Oefters 
kam  auch  eine  traurig-ängstliche  Verstimmung  über  ihn,  in  welcher  er  die  Leute 
mied.  Vor  den  Folgen  geschlechtlichen  .Verkehrs  mit  Frauenzimmern  hatte  er 
übertriebene  abenteuerliche  Vorstellungen  und  konnte  sich  nicht  dazu  entschliessen. 
In  letzter  Zeit  hatte  er  jedoch  an  Verehlichung  gedacht. 

Mit  tiefer  Reue  und  in'  schwachsinniger  Weise  gestand  nun  X.,  dass  er  vor 
^2  Jahr  im  Menschengedränge  beim  Anblick  eines  jungen  hübschen  Mädchens  sich 
heftig  geschlechtlich  erregt  fühlte,  sich  an  dasselbe  drängen  musste  und  den  Drang 
empfand,  durch  Wegnahme  des  Taschentuchs  sich  für  eine  ausgiebigere  Befriedigung 
seiner  geschlechtlichen  Erregung  zu  entschädigen. 


Beob.  92.    Krankhafte  unsittliche  impulsive  Handlungen.  261 

In  der  Folge  wurde  er,  sobald  er  ein  ihm  zusagendes  Frauenzimmer  ge- 
wahr wurde,  unter  liel'tiger  geschlechtlicher  Erregung,  Herzklopfen,  Erektion  und 
Impetus  coeundi  vom  Drang  erfasst,^  sich  an  die  betreffende  Person  zu  drängen 
und  ihr  —  faute  de  mieux  —  da^  Taschentuch  zu  entwenden.  Obwohl  ihn  keinen 
Moment  das  Bewusstsein  seiner  strafbaren  Handlung  verliess,  konnte  er  seinem 
Drange  nicht  Widerstand  leisten.  Dabei  fühlte  er  Angst,  die  theils  durch  den 
zwangsmässigen  geschlechtlichen  Trieb,  theils  durch  die  Furcht  vor  Entdeckung 
bedingt  war. 

Das  Gutachten  macht  mit  Recht  den  angeborenen  Schwachsinn,  den  zer- 
i'üttenden  Einfluss  der  Onanie  geltend  und  führt  das  abnorme  Gelüste  auf  einen 
perversen  Geschlechtstrieb  zurück ,  wobei  ein  interessanter  und  physiologisch 
auch  gekannter  Connex  zwischen  Geruchs-  und  Geschlechtssinn  bestehe.  Die  ün- 
widerstehlichkeit  des  krankhaften  Triebes  wurde  anerkannt.  X.  wurde  nicht 
bestraft.     (Zippe,  Wiener  med.  Wochenschrift  1879.    Nr.  23.) 

Vgl.  die  interessante,  offenbar  hierher  gehörige  Beob.  von  Passow  in  Viertel- 
jahrsschr.  f.  ger.  u.  öffentl.  Med.  1879,  I.  (Zwangsmässiges  Stehlen  von  Frauen- 
wäsche, deren  Anlegen  wollüstige  Empfindungen  verursachte).  Ferner  den  älteren 
Fall  von  Nichols,  americ.  Journ.  of  insanity  1850,  in  welchem  ein  Hereditarier  im 
Haus  und  auf  der  Strasse  zeitweise  vom  Drang  erfasst  wurde,  Frauenschuhe  zu 
stehlen  oder  zu  rauben. 

Beob.  92.  Hereditäre  psychische  Degeneration.  Krankhafte 
unsittliche  impulsive  Handlungen.  Stud.  med.  A.  in  Greifswald  war 
angeklagt,  im  Monat  December  1871  wiederholt  jungen  Mädchen  aus  anständigen 
Familien  auf  offener  Strasse  seine  aus  den  Beinkleidern  heraushängenden,  völlig 
entblössten  Geschlechtstheile,  die  er  bis  dahin  mit  den  Paletotschössen  verdeckt 
hatte,  gezeigt  zu  haben.  In  einzelnen  Fällen  hatte  er  sodann  die  fliehenden 
jungen  Damen  verfolgt  und  wenn  er  sie  erreicht  und  an  sich  herangedrängt 
hatte,  mit  seinem  Urin  beschmutzt.  Dies  geschah  zuweilen  am  hellen  Tage.  Nie 
hatte  er  dabei  ein  Wort  gesprochen. 

A.  ist  23  Jahre  alt,  kräftig  von  Körper,  sauber  im  Anzug,  decent  in 
seinen  Manieren.  Andeutung  von  Cranium  progeneum.  Chronische  Pneumonie 
der  rechten  Lungenspitze.  Emphysem.  Puls  60,  in  der  Erregung  nur  70 — 80 
Schläge.  Genitalien  normal.  Klagen  über  zeitweise  Verdauungsstörungen,  Hart- 
leibigkeit, Schwindel,  excessive  Erregung  des  Geschlechtstriebs,  die  schon  früh 
zu  Onanie  führte,  nie  aber,  auch  in  der  Folge  nicht,  auf  naturgemässe  Befrie- 
digung desselben  gerichtet  war.  Klagen  über  zeitweise  melancholische  Verstim- 
mung, selbstquälerische  Gedanken  und  perverse  Antriebe,  zu  denen  er  selbst 
kein  Motiv  finden  könne,  z.  B.  zum  Lachen  bei  ernsten  Veranlassungen,  sein 
Geld  in's  Wasser  zu  werfen,  im  strömenden  Regen  umherzulaufen. 

Der  Vater  des  Inculpaten  ist  von  nervösem  Temperament,  die  Mutter  ner- 
vösem Kopfweh  unterworfen.     Ein  Bruder  litt  an  epileptischen  Krämpfen. 

Inculpat  zeigte  von  Jugend  auf  nervöses  Temperament,  war  zu  Krämpfen 
und  Ohnmächten  geneigt,  gerieth  in  Zustände  von  momentaner  Erstarrung,  wenn 
er  hart  getadelt  wurde.  1869  studirte  er  Medicin  in  Berlin.  1870  machte  er 
als  Lazarethgehilfe  den  Ki'ieg  mit.  Seine  Briefe  aus  dieser  Zeit  verrathen  eine 
auffallende  Schlaffheit  und  Weichheit.  Bei  der  Rückkehr  nach  Hause  im  Früh- 
jahr 1871  fällt  seine  Gemüthsreizbarkeit  der  Umgebung  auf.    In  der  Folge  häufig 


262  Ca-P-  X-    Die  psychischen  Entartungen.    Beob.  93. 

Klagen  über  körperliche  Beschwerden;  Unannehmlichkeiten  wegen  eines  Liebes- 
verhältnisses. 

Im  November  1871  lebte  er  in  Greifs wald  eifrig  mit  seinen  Studien  be- 
schäftigt. Er  galt  als  solider  Mensch,  dem^ Niemand  etwas  Unanständiges  zu- 
traute. In  Briefen  an  seine  Eltern  aus  jener  Zeit  finden  sich  Klagen  über  „Weh 
im  Kopfe  und  Bangigkeit  bei  Alleinsein". 

In  der  Haft  ist  er  meist  ruhig,  gelassen,  zu  Zeiten  auch  wie  in  sich  ver- 
loren. Er  gesteht  oifen  seine  Schuld,  schiebt  seine  Handlungen  auf  Rechnung 
von  in  letzter  Zeit  excessiven  und  peinigenden  geschlechtlichen  Erregungen. 
Seiner  unzüchtigen  Handlungen  sei  er  sich  wohl  bewusst  gewesen  und  habe  sich 
ihrer  hinterher  geschämt.  Eine  geschlechtliche  Befriedigung  habe  er  bei  ihrer 
Begehung  weiters  nicht  empfunden.  Den  Gedanken  an  eine  Bestrafung,  an  den 
Ruin  seiner  Lebensstellung  durch  sein  Benehmen  scheint  er  nicht  recht  zu  fas- 
sen; er  betrachtet  sich  als  eine  Art  Märtyrer,  der  einer  bösen  Macht  zum  Opfer 
gefallen,  und  ergeht  sich  in  elegischen  sentimentalen  Betrachtungen  über  seine 
Lage.     Er  ist  ein  „instinktiver  Gemüthsmensch". 

Gutachten:  Inculpat  ist  eine  neuro-(psycho)pathische  Natur.  Der  Anreiz 
zu  den  incriminirten  Handlungen  ging  'aus  pathologischen  Bedingungen  hervor, 
die  sittliche  Widerstandsfähigkeit  war  aufgehoben  (?).  Die  incriminirten  Hand- 
lungen sind  sonach  aufzufassen  als  Resultat  eines  krankhaften  Geisteszustandes, 
durch  welchen  die  freie  Willensbestimmung  aufgehoben  war  (?).  (Arndt,  Viertel- 
jahrsschr.  f.  ger.  Med.  N.  F.  XVII.  H.  1.) 

Beob.  93.  Psychische  Degeneration.  Mord.  Eines  Nachmittags  ging 
ein  Commis  vor  einigen  Jahren  in  England  vor  die  Stadt  spazieren.  Er  traf  am 
Weg  einige  kleine  Mädchen  spielend  an.  Eines  derselben,  ein  nettes  Kind  von 
8 — 9  Jahren,  lockte  er  in  einen  Hopfengarten  an  der  Landstrasse,  die  andern 
beschenkte  er  mit  Halfpennystücken.  Nach  einer  Weile  kommt  er  allein  zurück 
und  geht  heim  in  sein  Bureau,  wo  er  einen  Eintrag  in  sein  Tagebuch  macht. 
Man  vermisst  das  Kind,  sucht  und  findet  es  getödtet,  in  Stücke  zet-fetzt,  schreck- 
lich verstümmelt;  manche  Theile ,  darunter  die  Geschlechtstheile,  konnten  nicht 
aufgefunden  werden,  womit  der  Verdacht  auf  Stupration  sich  aufdrängen  musste. 

Der  Commis  wird  verhaftet ,  man  findet  in  seinem  Tagebuch  die  Notiz : 
küled  to-day  a  young  girl,  it  was  fine  and  hot. 

Ein  solch  monströses  Verbrechen  musste  natürlich  sofort  den  Verdacht 
auf  Geistesstörung  rege  machen. 

Der  Bericht  fährt  wörtlich  fort :  Es  war  ein  instinktives  Verbrechen  — 
der  impulsive  Charakter  desselben,  die  Brutalität  und  Ruhe  dabei,  die  monströse 
Verstümmelung  des  Opfers,  die  völlige  Gleichmüthigkeit  nach  der  That  und  bei 
der  Vernehmung  deuteten  auf  eine  krankhafte  Organisation,  congenitale  Ab- 
normitäten. 

Und  in  der  That  fand  sich,  dass  ein  naher  Verwandter  seines  Vaters  an 
Manie  mit  Mordtrieben  litt  und  sein  Vater  einen  Anfall  acuter  Manie  gehabt 
'hatte.  Er  selbst  war  ein  eigenthümlicher  Mensch,  hatte  sonderbare  Eigenschaf- 
ten, war  oft  ohne  allen  Grund  zum  Weinen  aufgelegt  und  hatte  oft  beaufsichtigt 
werden  müssen,  weil  man  befürchtete,  er  werde  sich  einen  Tod  anthun.  Offen- 
bar gehörte  Alton  der  noch  wenig  aufgeklärten  Klasse  der  hereditären  abnormen 
Constitutionen  an,    wahrscheinlich  veranlasste   eine  geschlechtliche  Regung   ihn. 


Cap.  XL    Zustände  krankhafter  Bewusstlosigkeit.  263 

das  Kind  wegzulocken,  wahrscheinlich  befriedigte  er  an  ihm  seine  Lüste  und 
ging  der  sexuelle  Impuls  in  einen  verwandten  über,  den  Impuls  zum  Mord,  dem. 
aber  die  einfache  Tödtung  nicht  genügte.  Der  Unglückliche  fand  keine  Gnade 
vor  der  menschlichen  Gerechtigkeit.     (Journal   of  mental   science,  Januar  1868.) 

Beob.  94.  Psychische  Degeneration  auf  erblicher  Grundlage. 
Zeitweise  Impulse  zur  Leichenschändung.  Sergeant  Bertrand  ist  ein 
Mensch  von  zartem  Körperbau,  aber  von  auffallendem  Charakter,  von  Kindheit 
auf  verschlossen  und  mit  Hang  zur  Einsamkeit  behaftet. 

Im  25.  J.,  bis  zu  welcher  Zeit  er  sich  untadelhaft  benommen  hatte,  schlich  er 
sich  geheimnissvoll  wie  ein  Dieb  auf  die  Kirchhöfe  von  Paris.  Er  grub  dort  die 
Särge  von  weiblichen  Leichen  aus,  brach  sie  auf,  riss  die  Leichen  heraus,  be- 
friedigte an  ihnen  seinen  Geschlechtstrieb  und  verstümmelte  sie  dann  in  der 
schrecklichsten  Weise.  Bald  öffnete  er  ihnen  den  Leib,  bald  machte  er  grosse 
Einschnitte  in  die  Schenkel  oder  andere  Körpertheile ,  indem  er  sich  dazu  eines 
Messers  bediente,  das  er  stets  bei  sich  trug.  Diesen  schrecklichen  Handlungen 
überliess  er  sich  mitten  unter  Gefahren.  Man  lauerte  ihm  auf  und  erwischte, 
ihn  endlich.  Es  ergab  sich,  dass  B.  schon  Jahre  lang  an  psychischer  Depression 
litt,  seelengestörte  Verwandte  hatte,  der  Onanie  ergeben  war.  Der  GManke  an 
Leichenverstümmlung  war  ihm  plötzlich  gekommen,  als  er  einmal  auf  einem 
Kirchhof  eine  Leiche  einscharren  sah.  Aus  seinen  und  den  Aussagen  der  Zeugen 
geht  hervor,  dass  er  von  Zeit  zu  Zeit  ein  unwiderstehliches  Gelüste  habe,  die 
Gräber  zu  öffnen  und  die  Leichen  zu  verstümmeln.  Es  wurde  nachgewiesen, 
dass  dieser  Drang  ihn  periodisch,  etwa  alle  14  Tage  überfiel  und  von  heftigen 
Kopfschmerzen  angekündigt  wurde.  Das  Gefühl,  das  er  beim  Stupriren  und 
Zerstückeln  der  weiblichen  Leichen  gehabt,  könne  er  nicht  beschreiben,  er  sei 
unwiderstehlich  hingerissen  worden  und  habe  die  That  wiederholen  müssen, 
wenn  es  ihn  selbst  das  Leben  gekostet  hätte.  Im  Anfang  war  sein  Trieb  nur 
auf  Befriedigung  der  Geschlechtslust  gerichtet  gewesen,  erst  später  war  der  Trieb 
zum  Verstümmeln  hinzugetreten.  Die  Gerichtsärzte  nahmen  Monomanie  an.  Das 
Kriegsgericht  verurtheilte  ihn  zu  Ij  ährigem  Kerker.  (Lunier,  Annal.  med.  psychol. 
1849,  p.  351.) 

Weitere  Fälle:  Morel,  Annal.  d'hygiene  publ.  1869,  Juli  (Mord  u.  Brand- 
stiftung). Falret  ebenda,  Juli.  Tebaldi,  Archiv,  italian.  1873,  Juli  (Mord).  Annal. 
med.  psychol.  1879,  Januar  (Brandstiftung).  Liman,  Vierteljahrsschr.  f.  ger.  Med. 
N.  F.  XXXIII.  I.  (Diebstähle,  hyster.  degeneratives  Irresein). 


Cap.  XL    Zustände  krankhafter  Bewusstlosigkeit. 

Literatur:  v.  Krafft,  die  transitorischen  Störungen  des  Selbstbewusstseins. 
Erlangen  1868.  Schwartzer,  die  Bewusstlosigkeitszustände.  Tübingen  1878. 
Derselbe,  die  transitor.  Tobsucht.     Wien  1880. 

Gesetzl.  Bestimmungen:    Deutsches  St.-G.-B.  §.  51. 
Oesterr.  St.-G.-B.  §.  2  lit  c. 
Oesterr.  St.-G.-Entw.  §.  56. 


204  Cap.  XL    Zustände  krankhafter  Bewusstlosigkeit. 

Es  gibt  eine  Reihe  von  Störungen  des  Seelenlebens,  die  durch  die 
Flüchtigkeit  ihrer  Symptome,  welche  vorweg  auf  eine  symptomatische 
Begründung  derselben  hinweist,  ferner  durch  die  für  die  Dauer  der 
Störung  bestehende  tiefe  Trübung  des  Bewusslseins  bis  zur  Aufhebung 
desselben  und  die  damit  zusammenhängende  Unklarheit  bis  zum  völligen 
Fehlen  der  Erinnerung  für  die  Erlebnisse  des  irren  Zustands ,  sich 
von  den  gewöhnlichen,  mehr  selbständig  und  chronisch  und  mit  Er- 
haltung des  Bewusstseins  verlaufenden  psychischen  Erkrankungen  unter- 
scheiden. Dieser  Sonderstellung  ist  die  neuere  Gesetzgebung  gerecht 
geworden,  indem  sie  diese  Zustände  nach  dem  auffälligsten  Symptom, 
nämlich  der  Störung  des  Bewusstseins,  als  Bewusstlosigkeitszustände 
besonders  namhaft  macht  und  als  den  Geisteskrankheiten  gleichwerthige 
Aufhebungsgründe  der  Zurechnungsfähigkeit  hinstellt. 

Der  rechtlich  psychologische  Begriff  der  Bewusstlosigkeit  ist 
nicht  identisch  mit  dem  des  gewöhnlichen  Sprachgebrauchs ,  der 
darunter  Zustände  von  völligem  Schwinden  des  Bewusstseins  der 
Aussenwelt  (z.  B.  Ohnmacht)  und  eingestelltem  Verkehr  mit  dieser 
versteht.  Jener  forensische  Begriff  der  Bewusstlosigkeit  schliesst  die 
Möglichkeit  einer  traumartigen  psychischen  Fortexistenz  nicht  aus, 
in  welcher  das  Individuum  zwar  seiner  Sinne  und  seines  Verstand» 
nicht  mächtig,  gleichwohl  aber  durch  Traumbilder,  Hallucinationen 
und  Delirien  im  Stand  ist,  mit  der  Aussenwelt  zu  verkehren,  criminelle 
Handlungen  zu  begehen. 

Diese  Akte  können  zwar  das  Gepräge  von  gewollten  an  sich 
tragen,  aber  sie  sind  nicht  die  Handlungen  eines  überlegenden  frei- 
wollenden Wesens,  sondern  die  Produkte  innerer  krankhafter,  der 
Erkenntniss  und  dem  Wollen  des  Individuums  entzogener  Vorgänge, 
die  demnach  diesem  nicht  auf  Rechnung  gesetzt,  ihm  nicht  zugerechnet 
werden  können. 

Dass  sie  nicht  mit  (Selbst-)  Bewusstsein  vollbracht  wurden,  be- 
weist der  Umstand,  dass  der  Thäter  hinterher  von  ihnen  gar  nichts 
weiss  oder  im  besten  Fall  sich  ihrer  wie  der  Erlebnisse  eines  Traums 
erinnert. 

Die  Häufigkeit  solcher  abnormer  Zustände,  die  Schwere  der  in 
ihnen  zu  Stande  kommenden  strafbaren  Handlungen  gibt  ihnen  eine 
grosse  Bedeutung  für  das  Forum.  Dazu  kommt  ihre  Flüchtigkeit, 
welche  die  Ermittlung  des  subjektiven  Thatbestands  zur  Zeit  der 
strafbaren  Handlung  erschwert.  Um  so  wichtiger  ist  die  Erforschung 
der  somatischen  Grundlagen,  auf  welchen  der  bewusstlose  Zustand  sich 
entwickelt  hat.    Damit  wird  die  früher  vielfach  einseitig  psychologische 


Allgemeine  Gesichtspunkte.  265 

Beurtheilungsweise  dieser  Zustände  zur  klinischen  und  ein  sicherer 
Boden  für  das  Forum  gewonnen.  Als  solche  somatische  Bedingungen 
finden  sich  die  Vorgänge  des  Schlafens  und  Träumens ,  Neurosen 
(Epilepsie  und  Hysterie)  u.  a.  Hirnkrankheiten,  Zustände  gestörter 
Hirnernährung  durch  Fieber  und  Intoxication,  Vorgänge  der  Menstrua- 
tion^ des  Puerperiums. 

Vom  psychologischen  Standpunkt  aus  ist  das  sicherste  Kriterium 
das  Verhalten  der  Erinnerung  als  einer  der  besten  Beweise  für  ein 
bewusstloses  Handeln.  Aus  Dauer  und  Grad  der  Erinnerungsstörung 
lässt  sich  Zeitraum  und  Grad  des  bewusstlosen  Zustands  annähernd 
ermessen ,  ja  selbst  eine  Vermuthung  für  eine  ganz  bestimmte  Art 
krankhafter  Bewusstlosigkeit  gewinnen. 

Die  Erinnerung  kann  ganz  fehlen  (Amnesie)  oder  nur  eine 
fragmentare  sein  oder  sich  auf  den  Inhalt  der  deliranten  Vorgänge 
beschränken.  Sie  kann  im  luciden  Zustand  fehlen,  aber  im  neuer- 
lichen Anfall  vorhanden  sein  (doppeltes  Bewusstsein),  Sie  kann  endlich 
unmittelbar  nach  dem  Anfall  bestehen  (manche  Fälle  von  epileptischer 
und  alkoholischer  Bewusstlosigkeit),  aber  dann  rasch  und  dauernd 
verschwinden. 

Die  fehlende  Erinnerung  als  ein  subjektives  Symptom  bedarf 
der  Feuerprobe  des  Kreuzverhörs,  um  in  foro  Anerkennung  zu  finden. 
Ihr  behauptetes  Fehlen  ist  ein  ganz  gewöhnlicher  Kniff  der  Simulanten, 
aber  auch  die  Klippe,  an  welcher  sie  nothwendig  scheitern,  da  sie 
nicht  wissen,  wo  sie  ihre  Erinnerung  aufhören  und  wieder  beginnen 
lassen  sollen,  geringfügige  Umstände  aus  der  angeblich  amnestischen 
Zeit  wissen,  gravirender  sich  nicht  erinnern  und  damit  nothwendig 
sich  verrathen.- 

Die  concreten  Zustände  krankhafter  Bewusstlosigkeit  lassen  sich 
nach  den  ihnen  zu  Grund  liegenden  somatischen  Vorgängen  unter- 
scheiden in  a)  abnorme  Zustände  des  Schlaf-  und  Traumlebens 
(Schlaftrunkenheit  und  Schlafwandeln),  b)  Zustände  vasomotorisch 
bedingter  acuter  Circulationsstörung  im  Gehirn  mit  psychischen  Sym- 
ptomen (a.  Mania  transitoria  durch  fluxionäre  Hyperämie  der  Hirn- 
rinde ;  ß.  Raptus  melancholicus  bedingt  wahrscheinlich  durch  plötz- 
liche Gehirnanämie  in  Folge  Gefässkrampfs).  c)  Intoxikationszustände 
(«.  durch  Alkohol,  ß.  durch  anderweitige  toxische  Stofi"e).  d)  Zu- 
stände von  Fieber-  und  Inanitionsdelir.  e)  Zustände  von  sog.  patho- 
logischem Affekt  (pathologisch  durch  originäre  oder  erworbene  krank- 
hafte Hirnzustände). 

Daran  reihen  sich  die  acuten  meist  deliranten  Bewusstlosigkeits- 


266  C!ap.  XL    Zustände  krankhafter  Bewusstlosigkeit. 

zustände  auf  Grund  einer  epileptischen  oder  hysterischen  Neurose^ 
deren  Darstellung  bereits  (p.  194  und  220)  gegeben  wurde ,  da  sie 
nur  selten  als  freistehende  d.  h.  ohne  greifbaren  Zusammenhang 
mit  der  ursächlichen  Nervenkrankheit  vorkommende  Anfälle  sich 
finden. 


1.   Abnorme  Zustände  des  ScMaf-  nnd  Traumlebens. 

a.    Die    Schlaftrunkenheit. 

Literatur:  Krügelstein,  Henke's  Zeitschr.  Band  65,  p.  183,  455.    Band  6Q^  p.  316. 
Jessen,  empir.  PsychoL  p.  514,  622.     Casper-Liman ,  Handb.  6.  Aufl.  p.  696. 

Der  Zustand  der  Schlaftrunkenheit  ergibt  sich  daraus,  dass  die 
mit  dem  Erwachen  gewöhnlich  verbundene  sofortige  Wiederkehr 
von  Selbstbewusstsein  und  Besinnung  verzögert  wird,  so  dass  aus 
dem  Traumleben  mit  herüber  genommene  Vorstellungen  oder  Sinnes- 
täuschungen oder  falsche  Apperceptionen  aus  der  noch  nicht  zum 
Bewusstsein  gekommenen  realen  Welt  einen  Zustand  der  Sinnesver- 
wirrung herbeiführen,  den  man  passend  dem  der  Trunkenheit  gleich- 
gesetzt hat. 

Da  aber  in  solchem  Zustand  motorische  Reaktionen  auf  falsche 
Apperceptionen,  subjektive  Sinnesbilder  und  traumhafte  Vorstellungen 
möglich  sind,  kann  es  geschehen,  dass  Gewaltthaten  von  solchen 
Schlaftrunkenen  an  der  traumartig  verkannten  Umgebung  begangen 
werden. 

So  hat  man  Fälle  beobachtet,  wo  Leute  von  einem  beängsti- 
genden Traum  erweckt ,  in  vermeintlicher  Nothwehr .  gegen  wahn- 
hafte Diebe  und  Mörder,  ihre  nebenan  schlafenden  Angehörigen  oder 
Personen,  die  sie  aus  tiefem  Schlafe  erweckten,  feindlich  verkennend, 
tödteten. 

Die  Schlaftrunkenheit  als  solche  ist  ein  ganz  transitorischer, 
nur  wenige  Minuten  dauernder  Zustand.  Zuweilen  verzögern  aus 
einwirkenden  Sinnesreizen  entstandene  neue  Sinnesdelirien  das  Ein- 
treten der  Besonnenheit  und  unterhalten  die  hieraus  entstehende 
Sinnesverwirrung. 

Die  Erinnerung  für  die  Erlebnisse  des  schlaftrunkenen  Zustands 
ist  immer  nur  eine  summarische,  die  wirklichen  Ereignisse  projiciren 
sich  dem  wiedergekehrten  Bewusstsein,  wie  wenn  sie  geträumt  wären. 

Prädispositionen  für  die  Entstehung  von  Schlaftrunkenheit  schaffen 
alle  Umstände,  welche  den  Schlaf  besonders  tief  machen  —  die  ersten 


Schlaftrunkenheit.  267 

Stunden  des  Schlafs ,  jugendliches  Alter ,  Zeiten ,  in  denen  schon 
physiologisch  der  Schlaf  ein  besonders  tiefer  ist,  ferner  grosse  körper- 
liche und  geistige  Ermattung  durch  Strapazen,  lange  Entbehrung  des 
Schlafs,  vorausgegangener  Genuss  von  geistigeil  Getränken,  reichliche 
Mahlzeit,  heisse  Schlafstube.  Es  gibt  endlich  Constitutionen,  die 
einen  ungewöhnlich  tiefen  Schlaf  haben,  Familien,  in  denen  mehrere 
Glieder  zur  Schlaftrunkenheit  disponirt  sind.  Veranlassende  Ursachen 
sind  böse,  schwere  Träume,  die  den  Schlafenden  aufschrecken  — 
das  nächtliche  Aufschrecken  der  Kinder,  bei  denen  ja  die  Träume 
besonders  lebhaft  sind,  gehört  hieher  —  oder  plötzliches  Erweckt- 
werden durch  Dritte. 

Für  die  Ermittlung,  ob  wirklich  Schlaftrunkenheit  zur  Zeit  einer 
incriminirten  Handlung  bestand,  ist  es  wichtig,  zu  erforschen,  ob 
beim  Individuum  oder  anderen  Familiengliedern  ähnliche  Zustände 
vorgekommen  sind,  wie  sein  Schlaf  und  Erwachen  gewöhnlich  waren, 
welche  sonstige  prädisponirende  oder  gelegentliche  Momente  zusam- 
menwirkten, um  den  Schlaf  besonders  tief  zu  machen,  welche  äussere 
oder  innere  Ursachen  den  Schlaf  unterbrachen,  ob  die  That  wirklich 
in  die  Zeit  des  gewöhnlichen  Schlafes  fiel,  wie  lange  dieser  schon 
gedauert  hatte,  wie  lange  der  angeblich  schlaftrunkene  Zustand 
dauerte,  ob  nicht  zeitlich  zwischen  That  und  Erwachen  Reden  und 
Handlungen  fielen,  die  auf  wiedergekehrtes  Bewusstsein  und  Apper- 
ception  schliessen  lassen. 

Es  ist  selbstverständlich,  dass  die  That  zeitlich  unmittelbar  in 
den  Moment  des  Erwachens  oder  Erwecktwerdens  fallen  muss,  dass 
sie  keine  prämeditirte  sein,  nur  den  Charakter  einer  unbewussten, 
zufälligen  an  sich  tragen  kann. 

Wichtig  ist  endlich  die  genaue  Prüfung,  wie  sich  das  wieder- 
gekehrte Selbstbewusstsein  und  die  Erinnerung  zur  That  verhalten, 
welchen  Zeitabschnitt  und  welche  Punkte  diese  umfasst.  Bei  wirk- 
licher Schlaftrunkenheit  kann  die  Erinnerung  nur  eine  summarische 
sein  und  nur  den  subjektiven  Inhalt  des  Traumbewusstseins ,  nicht 
aber  den  objektiven  Sachverhalt  in  sich  begreifen.  Für  den  Richter 
werden  die  Vita  anteacta,  Leumund,  fehlende  Causa  facinoris  und  das 
Benehmen  nach  der  That  weitere  Indicien  liefern. 

Beob.  95.  Schlaftrunkenheit.  Tödtung  des  Kindes.  Ein  Con- 
stabler  hörte  aus  einem  Hause  mitten  in  der  Nacht  den  Angstruf:  „rettet  meine 
Kinder!"  Er  drang  in's  Haus  und  traf  eine  Mutter  im  Nachtkleid,  in  grösster 
Aufregung  und  Verwirrung.  Alles  im  Zimmer  war  in  wirrem  Durcheinander. 
Zwei  kleine  Kinder    fanden    sich  in   eine  Ecke  gekauert  vor.     Die  Frau  rief  be- 


268  Cap.  XL    Zustände  krankhafter  Bewusstlosigkeit. 

ständig:  „wo  ist  mein  Säugling?  Haben  sie  ihn  aufgefangen?  Ich  muss  ihn  zum 
Fenster  hinausgeworfen  haben."  Die  Unglückliche  hatte  ihr  Kind  durch  eine 
Fensterscheibe  auf  die  Strasse  hinausgeworfen,  ohne  das  Fenster  zu  erolTnen. 
Sie  hatte  geträumt,  ihre  kleinen  Jungen  riefen  ihr  zu,  das  Haus  stehe  in  Flammen 
und  in  der  erfolgten  schlaftrunkenen  Sinnesverwirrung  hatte  sie  ihr  Kind,  um 
es  vor  dem  Flammentod  zu  retten,  durch's  Fenster  geworfen.  (Bucknill  u.  Tuke, 
Lehrbuch,  1862,  p.  213.) 

Beob.  96.  Schlaftrunkenheit.  Tödtung  des  Vaters.  Gutsbesitzer  B., 
ein  junger,  vollsaftiger,  zu  Blutwallungen  geneigter,  reizbarer  Mann,  der  im 
Schlaf  lebhaft  träumte,  galt  in  seiner  Familie  als  zur  Schlaftrunkenheit  geneigt. 
Da  er  isolirt  wohnte  und  mit  Grund  Einbruch  befürchtete ,  hatte  er  immer 
Gewehr  und  Säbel  an  seinem  Bett.  Eines  Morgens  kommt  sein  Bruder,  um  ihn 
zur  Jagd  abzuholen.  B.  liegt  noch  im  Halbschlaf,  springt  mit  geschwungenem 
Säbel  auf  den  Eingetretenen,  der  ihn  aber  packt,  beim  Namen  ruft,  worauf  B. 
sofort  zur  Besinnung  kommt.  Einige  Zeit  darauf  tritt  sein  Vater  unter  ähnlichen 
Verhältnissen  Frühmorgens  in  die  Stube  und  wird  von  dem  schlaftrunkenen 
Sohn  erschossen.     (Schilling,  Casper  Vierteljahrschr.  XII.) 

Weitere  Fälle:  Succow,  Henke's  Zeitschr.  1851  (Tödtung  des  Vaters). 
Oesterr.  Zeitschr.  f.  prakt.  Heilkunde  1855,  p.  46  (Tödtung  eines  Kameraden). 
Büchner,  Henke's  Zeitschr.  Bd.  X  (Insubordination).  Wien.  med.  Presse  1871 
(Tödtung).  Wildberg's  Jahrb.  der  ges.  Staatsarzneikde  II,  p.  32  (Tödtung  der 
Ehefrau).  Meister,  Urtheile  und  Gutachten.  Frankfurt  1808  (Fall  Schidmaizig. 
Tödtung  der  Ehefi;au). 


b.    Das    Schlafwandeln. 

Literatur:  Hoffbauer,  die  Psychologie,  Halle  1808,  p.  157,  221.  Krügelstein, 
Henke's  Zeitschr.  1843,  H.  4.  Legrand  du  Saulle,  la  folie,  p.  275.  Jessen, 
empir.  Psychol.  p.  570—633. 

Der  Zustand  des  Bewusstseins  gleicht  hier  dem  des  Träumen- 
den, der  Unterschied  von  diesem  beruht  darin,  dass  der  Uebergang 
der  Traumbilder  und  Traumvorstellungen  in  motorische  Akte  nicht 
gehindert  ist.  Je  nachdem  jene  mehr  oder  weniger  geordnet  und 
einfache  Reproduktionen  gewohnter  Vorstellungsgruppen  des  wachen 
Lebens  sind  oder  mangelhaft  associirt  und  verworren,  ist  der  Schlaf- 
wandler zur  Vornahme  zweckmässiger  Handlungen,  zur  Fortsetzung 
und  Besorgung  von  Geschäften  des  wachen  Lebens  fähig,  oder  er 
dämmert  planlos  umher.  Dieser  Handlungen  ist  sich  das  Individuum 
nicht  bewusst,  sie  sind  rein  automatische  Akte.  Die  Sinnesapper- 
ception  ist  gänzlich  aufgehoben  oder  auf  die  dem  Inhalt  des  Traum- 
bewusstseins  entsprechenden  Objekte  eingeschränkt.  Die  Erinnerung 
für  die  Traumerlebnisse  und  natürlich  für  alles  wirklich  Geschehene 
fehlt  ganz  im  wachen  Zustand  oder  wirkliche  Begebenheiten  meint  der 


Das  Schlafwandeln.  269 

Schlafwandler  nur  geträumt  zu  haben.  Zuweilen  ist  die  Erinnerung 
an  das  in  früheren  Anfällen  Geschehene  auf  die  Zeit  der  jeweiligen 
Anfälle  beschränkt,  ein  eigenthümlicher  Zustand  von  Doppelleben  und 
Doppelbewusstsein. 

Das  Schlafwandeln  ist  eine  Nervenkrankheit,  wahrscheinlich 
nur  Theilerscheinung  anderer  Neurosen  (Epilepsie ,  Hysterie,  Status 
nervosus).  Es  findet  sich  vorwiegend  im  jugendlichen  Alter,  nament- 
lich zur  Zeit  der  Pubertätsentwicklung,  dauert  oft  Jahre  lang.  Die 
Anfälle  kehren  zuweilen  täglich  und  zu  bestimmten  Stunden  wieder. 
Immer  werden  sie  von  Schlaf  eingeleitet.  Leichte  Convulsionen  oder 
kataleptische  Muskelstarre  gehen  ihnen  zuweilen  vorher.  Der  Anfall 
geht  in  einen  Zustand  von  gewöhnlichem  Schlaf  wieder  zurück  oder, 
wenn  er  durch  äussere  oder  innere  Anregung  unterbrochen  wird, 
durch  ein  kürzeres  oder  längeres  Stadium  schlaftrunkenartiger  Ver- 
worrenheit in  den  wachen  Zustand  über. 

Die  Constatirung  der  Krankheit  bietet  in  der  Regel  keine 
Schwierigkeiten,  da  sie  eine  chronische  Neurose  ist,  anderweitige 
Zeichen  einer  solchen ,  Prädispbsitionen  zu  Nervenkrankheiten  sich 
etwa  vorfinden,  weitere  Anfälle  sich  beobachten  lassen. 

Dass  eine  criminelle  That  wirklich  in  einem  solchen  Anfall 
begangen  wurde,  muss  aus  einer  Reihe  von  Umständen  erschlossen 
werden.  Von  Werth  kann  es  bei  typischen  Anfällen  sein,  ob  die 
That  in  die  gewöhnliche  Zeit  derselben  fiel.  Das  Zustandekommen 
einer  zweckmässig  combinirten  That  schliesst  das  Schlafwandeln  nicht 
aus.  Bezüglich  der  That  selbst  und  ihrer  näheren  Umstände  können 
sich  wichtige  Anhaltspunkte  ergeben,  insofern  zur  Ausführung  dem 
wachen  Leben  unmögliche  Mittel  und  Wege  (Ueberklettern  von 
Dächern  etc.)  eingeschlagen  wurden. 

Auch  hier  ist  die  genaue  Ermittlung,  wie  sich  die  Erinnerung 
verhält,  von  grosser  Bedeutung. 

Nie  hat  der  Nachtwandler  die  Erinnerung  für  Das,  was  in  die 
Zeit  seines  Anfalls  fiel,  als  Erlebtes,  höchstens  als  Geträumtes,  in 
der  Regel  fehlt  alle  Erinnerung  wie  im  tiefen  Schlafe.  Jedenfalls  ist 
es  unmöglich,  dass  er  sich  an  ein  Faktum  erinnere,  das  in  die  Zeit 
seines  Anfalls  fällt,  während  er  zeitlich  vor-  oder  nachher  stattge- 
fundener Begebenheiten  sich  gar  nicht  erinnert  oder  sie  nur  geträumt 
zu  haben  vorgibt. 

Im  Anfall  selbst  ist  gegenüber  möglicher  Simulation  zu  be- 
achten, dass  die  Sinnesapperception  aufgehoben  ist  oder  sich  auf 
Das  beschränkt,  M^as  mit  den  Traumvorstellungen  im  Zusammenhang 


270  Cap.  XI.    Zustände  krankhafter  Bewusstlosigkeit. 

steht.  Nachtwandler  sind  nicht  leicht  zu  erwecken,  am  leichtesten 
noch  durch  Rufen  ihres  Namens.  Beachtenswerth  ist  der  starre,  wie 
amaurotische  Ausdruck  des  Auges. 

Beob.  97.  Somnambulismus.  Intendirter  Mord.  Ein  Mönch  von 
düsterem  Wesen  und  als  Schlafwandler  bekannt,  begab  sich  eines  Abends  in 
das  Zimmer  seines  Priors,  der  zufällig  noch  nicht  im  Bett  lag,  sondern  am 
Arbeitstische  sass.  Der  Mönch  hatte  ein  Messer  in  der  Hand,  die  Augen  offen 
und  ging  geraden  Wegs  auf  das  Bett  des  Pi'iors  los ,  ohne  diesen  und  das 
brennende  Licht  im  Zimmer  zu  bemerken.  Er  tastete  nach  dessen  Körper. im 
Bett,  stach  dreimal  das  Messer  in  dasselbe  und  kehrte  mit  befriedigter  Miene 
in  seine  Zelle  zurück,  deren  Thüre  er  zumachte.  Am  andern  Morgen  erzählte 
er  dem  entsetzten  Prior,  dass  er  geträumt  habe,  dieser  habe  seine  Mutter  ge- 
tödtet  und  deren  blutiger  Schatten  sei  ihm  erschienen,  um  ihn  zur  Rache  aufzu- 
fordern. Er  habe  sich  aufgerafft  und  den  Prior  erdolcht.  Bald  darauf  sei  er, 
in  Schweiss  gebadet,  in  seinem  Bett  erwacht  und  habe  Gott  gedankt,  dass  es 
nur  ein  schrecklicher  Traum  gewesen  sei.  Der  Mönch  war  entsetzt,  als  ihm  der 
Prior  erzählte,  was  vorgefallen  war.     (Legrand,  la  folie  p. 


Weitere  Fälle:  Maass,  prakt.  Seelenheilkde.,  1847,  p.  301.  (Ein  Schuster- 
geselle, seit  langer  Zeit  von  Eifersucht  geplagt,  steigt  schlafwandelnd  über's  Dach 
zu  seiner  Geliebten,  erdolcht  sie  und  kehrt  wieder  in's  Bett  zurück). 

Union  medicale,  16.  Dec.  1861.  (Ein  Nachtwandler  in  Neapel  erdolcht 
seine  Frau  auf  Grund  einer  Traumvorstellung,  dass  sie  ihm  untreu  sei.) 

Mesnet,  etude  sur  le  somnamb.  1860.  (Selbstmordversuche  einer  Frau 
in  ihren  Anfällen  von  Somnambulismus.) 

Dornblüth  (Henke,  Zeitschr.  32.  Jahrg.  2,  p.  145).  Eine  Nachtwandlerin, 
die  zugleich  an  einer  epileptiformen  Neurose  litt,  entwendet  und  verbirgt  in 
ihren  Anfällen  Gegenstände  und  zeigt  völlige  Amnesie  für  das  während  derselben 
Geschehene. 

Klose,  System  der  gerichtl.  Physik  p.  177,  Ein  Prediger,  der  wegen 
Schwängerung  eines  Mädchens  seines  Amtes  entsetzt  werden  sollte,  wird  freige- 
sprochen, als  er  nachweist,  dass  er  Nachtwandler  sei  und  wahrscheinlich  macht, 
dass  er  den  verbotenen  Umgang  in  solchem  Zustand  (?)  gepflogen  habe. 

Macario,  Annal.  med.  psycho!  1847,  p.  47.  Fall  eines  Mädchens,  das 
im  somnambulen  Zustand  geschlechtlich  missbraucht  wurde.  Es  hatte  nur  in 
den  Anfällen  Bewusstsein  vom  erduldeten  Beischlaf,  nicht  aber  in  der  interval- 
lären  freien  Zeit. 

Friedreich's  Blätter  1856,  H.  5,  analoger  Fall. 

Fahner,  System  d.  ger.  Arzneikde.  I,  p.  47.  Ein  Mensch  schützte  Nacht- 
wandeln vor ,  um  sich  der  Strafe  eines  Mordes  zu  entziehen ;  weiterer  Fall  von 
Simulation  s.  Ray,  treatise  on  insanity  p.  399. 


Mania  transitoria.  271 


2.  Zustände  von  krankhafter  Bewusstlosigkeit  durch  acute  Circulationsstörung 
im  Gehirn  (Vasoparese  oder  Gefässkrampf). 

a.    Mania    transitoria. 

Literatur:    v.    Krafft,   transitor.    Störungen   d.  Selbstbewusstseins  1868,   p.  76. 
Derselbe,  Irrenfreund  1871,  12.     Schwartzer,  d.  transitor.  Tobsucht. 

Eine  seltene  aber  forensisch  höchst  wichtige  Form  krankhafter 
Bewusstlosigkeit,  bei  welcher  für  die  ganze  Dauer  des  Anfalls  das 
SelbstbewusstseiD  völlig  erloschen  ist  und  demgemäss  auch  jegliche 
Erinnerung  fehlt,  stellt  die  sog.  Mania  transitoria  dar. 

Sie  setzt  mitten  aus  völliger  körperlicher  und  geistiger  Gesund- 
heit ein,  dauert  durchschnittlich  einige  Stunden  und  löst  sich  mit 
einem  kritischen  Schlaf,  aus  welchem  der  Erkrankte  ganz  lucid,  wenn 
auch  noch  für  einige  Stunden  im  Sensorium  benommen,  matt  und 
erschöpft  zu  sich  kommt. 

Klinische  Uebersicht:  Der  Anfall  verlauft  als  furibunde  Tobsucht 
(furor  transitorius)  oder  als  acutes  Delir  mit  hochgradiger  Verworrenheit  und 
massenhaften  Sinnesdelirien  vorwiegend  schreckhaften  Inhalts. 

Heftige  Kopfcongestionen ,  Schwindel,  Vergehen  der  Sinne,  Betäubungs- 
gefühl, bis  zu  apoplektischem  Umstürzen,  Gereiztheit,  Empfindlichkeit  gegen  Licht 
und  Geräusch  werden  als  Druck-  und  Reizerscheinungen  beginnender  Fluxion 
des  Gehirns  vielfach  beobachtet.  Zeichen  heftiger  Hirncongestion  sind  fast  regel- 
mässige Begleiter  des  Anfalls,  so  dass  die  Annahme  gerechtfertigt  ist,  es  handle 
sich  hier  um  ein  symptomatisches  Delirium  und  Reizerscheinungen  der  psychi- 
schen Centren  in  Folge  einer  intensiven  aber  rasch  sich  ausgleichenden  fluxionären 
Hyperämie. 

Dieser  Annahme  entspricht  auch  die  Aetiologie,  denn  als  prädisponirende 
Momente  finden  sich  meist  solche,  die  eine  Neigung  zu  fluxionärer  Hyperämie 
des  Gehirns  setzen :  plethorische  Constitutionen ,  Menschen ,  die  durch  Ueber- 
anstrengung,  Alkoholexcesse ,  Wochenbetten  ihr  Gehirn  reizbarer  und  weniger 
widerstandsfähig  gemacht  haben,  während  als  occasionelle  Momente'  ebenfalls 
fluxionsbefördernde  Einflüsse  auf's  Gehirn  in  Form  heftiger  plötzlicher  Gemüths- 
affekte,  Alkoholgenuss,  Einwirkung  grosser  Hitze,  Kohlendunst  in  erster  Linie 
stehen. 

Eine  auffallende  Disposition  geben  Männer  in  jugendlichem  Alter  kund, 
namentlich  Soldaten. 

Auch  bei  Gebärenden  während  der  dritten  und  vierten  Geburtsperiode, 
bei  Neuentbundenen  gleich  nach  der  Ausstossung  des  Kindes  finden  sich  zu- 
weilen solche  Anfälle,  die  sich  aus  heftiger  Hirncongestion  durch  die  während 
des  Gebärakts  allgemein  gesteigerte  Gefässerregung,  die  gleichzeitig  gehinderte 
Circulation  in  Folge  der  gehemmten  Inspiration  und  durch  die  hochgradige- 
Spannung  des  gesammten  Muskelapparats  erklären  dürften. 


272  Cap.  XI.    Zustände  krankhafter  Bewusstlosigkeit. 

Der  eigentliche  Anfall  setzt  plötzlich  ei^.  Mit  einem  Schlag  ist  das  Selbst- 
bewusstsein  erloschen,  der  Kranke  in  einem  tiefen  deliranten  Traumzustand. 
Der  Inhalt  des  Deliriums,  so  weit  er  aus  dem  Gebahren,  den  Mienen  und  Reden 
erschlossen  werden  kann,  ist  vorwiegend  ein  schreckhafter,  jedoch  kommen  auch 
Krankheitsbilder  vor,  bei  denen  eine  ausgesprochen  maniakalische  Stimmungs- 
lage, Ideenflucht,  Bewegungsdrang  vorhanden  sind.  In  der  Regel  ist  der  Nieder- 
gang des  Paroxysmus  und  seine  Ablösung  durch  tiefen  Schlaf  ebenso  jäh  als 
sein  Ausbruch.  Zuweilen  kommt  es  zu  Recrudescenzen  und  dadurch  kann  sich 
die  Dauer  auf  Tageslänge  erstrecken. 

Ein  solcher  Anfall  von  M.  trans.  zeigt  sich  meist  ganz  isolirt,  in  der  Regel 
nur  einmal  im  Leben. 

Schwere  Gewaltthaten  sind  in  diesem  Zustand  nichts  Seltenes. 
Forensisch  besteht  die  Hauptschwierigkeit  darin,  nachzuweisen,  dass 
ein  solcher  Zustand  wirklich  zur  Zeit  der  That  vorhanden  war ,  was 
bei  der  Flüchtigkeit  des  Krankheitsbilds  zuweilen  nicht  leicht  ist. 

Für  die  Beurtheilung  sind  wir  auf  Krankheitsdispositionen  und 
occasionelle  Momente,  That  und  Mechanismus  derselben,  Ermittlung 
der  Amnesie  und  ihrer  Dauer  angewiesen. 

Es  kann  hier  wichtig  werden ,  etwaige  Disposition  zu  Kopf- 
congestion  zu  constatiren,  etwaige  frühere  Anfälle,  etwaige  Symptome 
beginnender  Hirncongestion  vor  dem  Ausbruch  des  Paroxysmus  zu 
ermitteln,  ferner  ob  Umstände  der  That  vorausgingen  (Hitze,  Alkohol- 
genuss,  Affekte),  die  zum  Ausbruch  eines  solchen  erfahrungsgemäss 
Veranlassung  geben  können. 

Die  völlige  Aufhebung  des  Selbstbewusstseins  schliesst  jedes 
planmässige  besonnene  Handeln  aus.  Es  handelt  sich  um  Gewalt- 
thaten, die  ohne  Rücksicht  auf  Zeit,  Ort,  Mittel,  ohne  Motiv,  ge- 
räuschvoll, wuthartig  in  Scene  gesetzt  werden.  Zuweilen  trifft  man 
den  Thäter  noch  schlafend  am  Schauplatz  seiner  That.  Von  höch- 
stem Werth  ist  die  nie  fehlende  Amnesie  für  die  ganze  Zeitdauer 
des  Anfalls,  deren  Vorhandensein  und  Umfang  sich  im  Verhör  leicht 
ermitteln  lässt.  Diese  Amnesie  bedingt  auch  eine  bezeichnende  Un- 
befangenheit des  Thäters,  der  seine  That  mit  aller  Ruhe  leugnet,  ein- 
fach weil  er  sich  keiner  Schuld  bewusst  ist,  ebendesshalb  auch  nicht 
entflieht,  keine  Versuche  zur  Verwischung  der  Spuren  seiner  That 
macht. 

Eine  Simulation  des  Anfalls,  sofern  er  sich  vor  Zeugen  abspielte, 
ist  nicht  möglich.  Vorschützung  von  M.  trans.  (vgl.  den  lehrreichen 
Fall  bei  Schwartzer,  op.  cit.  p.  168)  für  die  Zeit  einer  strafbaren 
That  scheitert  an  dem  Umstand,  dass  das  Handeln  bei  M.  trans. 
ein   bewusstloses,    delirantes,   planloses   ist  und   der  Betreffende  nicht 


Mania  transitoria.  273 

weiss  wo  er  seine  Erinnerung  aufhören  und  wieder  anfangen  lassen 
soll,  während  bei  wirklicher  M.  trans.  der  ganze  Zeitabschnitt  des 
Anfalls  eine  scharf  sich  abhebende  Lücke  in  der  Continuität  des 
geistigen  Daseins  darstellt. 

Beob.  98.  Mania  transitoria.  D.,  Kanonier,  28  J.  alt,  früher  gesund, 
ohne  erbliche  Anlage,  ein  robuster  pastöser  Mann,  hatte  am  20.  Juli,  ehe  er  in 
den  Krieg  zog,  eine  starke  Gemüthsbewegung  beim  Abschied  von  seiner  Familie 
gehabt  und  bei  grosser  Hitze  sieben  Glas  Bier  getrunken.  Er  legt  sich  wohl  zu 
Bett,  schläft  ruhig  bis  Morgens  4  Uhr,  fängt  dann  plötzlich  an  zu  toben.  Alles 
zu  zertrümmern,  sich  zu  schlagen  und  zu  beissen.  Er  führte  ganz  incohärente 
Reden,  sein  Kopf  war  glühend  heiss  und  rolh.    Es  gelang,  ihn  zu  bändigen.    Um 

7  Uhr  früh  liess  das  Delirium  und  die  motorische  Erregung  nach,  der  über  100 
gesteigerte  Puls  ging  auf  60  herab,  die  Röthe  des  Gesichts  wich  einer  auffallen- 
den Blässe.  Das  Bewusstsein  kehrte  wieder ,  Patient  fiel  in  einen  tiefen  drei 
Stunden  währenden  Schlaf,  aus  dem  er  ohne  jegliche  Erinnerung  an's  Vor- 
gefallene und  geistig  ganz  wiederhergestellt  erwachte.  Patient,  der  nie  dem 
Trunk  ergeben  oder  epileptisch  gewesen  war,  klagte  in  den  folgenden  zwei 
Tagen  noch  etwas  Kopfweh  und  Schwindel ,  blieb  in  der  Folge  ganz  gesund. 
(Eigene  Beobachtung.) 

Beob.  99.  Mania  transitoria.  K,  20  Jahre,  Soldat,  etwas  dem  Trunk 
ergeben,  ohne  erbliche  Anlage  oder  epileptische  Zufälle,  hatte  1866  auf  einem 
Marsch  eine  Insolation  erlitten,  auf  die  ein  dreiwöchentliches  Fieber  mit  Delirium 
gefolgt   war.     1867  in  der  Erntezeit  neuer  Anfall  von  Insolation,   der  aber  nach 

8  Tagen  ohne  Folgen  vorüber  war. 

Am  3.  August  1870  hatte  N.  bei  grosser  Hitze  exercirt  und  mehrere  Gläser 
Bier  rasch  hintereinander  getrunken.  Nachmittags  2  Uhr,  auf  dem  Exercierplatz, 
klagte  er  plötzlich  Schwindel,  Kopfweh,  es  sei  ihm  schwarz  vor  den  Augen  und 
tanze  Alles  um  ihn.  Nun  erlosch  das  Bewusstsein  und  folgte  ein  Tobsuchtanfall, 
der  in  einem  überstürzenden  Gedankendrang  mit  zusammenhanglosem  Voci- 
feriren,  Deliriren,  Toben  und .Umsichschlagen  sich  wesentlich  äusserte.  Wieder- 
holt tauchte  die  Hallucination  eines  schwarzen  Phantasma  auf,  vor  dem  sich 
Patient  fürchtete. 

Das  Gesicht  war  roth,  heiss,  die  Augen  injicirt,  die  Carotiden  voll,  ge- 
spannt, der  Puls  über  100.  Um  6  Uhr  trat  Erschöpfung  und  Ruhe  ein.  Patient 
kam  zu  sich,  wunderte  sich,  gefesselt  und  im  Lazareth  zu  sein,  zeigte  völlige 
Amnesie  für's  Vorgefallene,  schlief  ein  und  erwachte  am  4.  Morgens  geistig  völlig 
klar  und  körperlich  gesund.  In  der  folgenden  14tägigen  Beobachtungszeit  konnte 
keine  Störung  des  Befindens  mehr  constatirt  werden.     (Eigene  Beobachtung.) 

Beob.  100.  Mania  transitoria  nach  der  Entbindung.  Frau  N., 
24  J.  alt,  früher  gesund,  regelmässig  menstruirt,  seit  I72  Jahren  verheirathet, 
hatte  eine  normale  Schwangerschaft  und  Geburt  überstanden ,  nur  traten  nach 
Ausstossung  der  Placenta  sehr  schmerzhafte  Nachwehen  ein.  Kaum  hatte  der 
Arzt  sie  verlassen,  als  er  zurückgerufen  werden  musste,  da  Frau  N.  plötzlich 
rasend  geworden  war.  Sie  kannte  Niemand,  wähnte  sich  von  Mördern  und 
Dieben  bedroht   und   wehrte   sich   verzweifelt.     Der  Uterus   war   fest  zusammen- 

V.  Kraf f t-Ebing,  gericlitl.  Psychopathologie.     2.  Auflage.  18 


274  Cap.  XL    Zustände  krankhafter  Bewusstlosigkeit. 

gezogen,  der  Puls  normal,  ein  Congestivzustand  nicht  nachweisbar.  Die  Kranke 
wurde  auf  krampfstillende  Mittel  bald  ruhig,  schlief  unter  profusen  Schweissen 
einige  Stunden  lang  fest  und  erwachte  dann  ganz  gesund  und  ohne  Erinnerung 
an's  Vorgefallene.     (Henke,  Zeitschr.  1828,  H.  3,  p.  108.) 

Weitere  Fälle:  Schwartzer,  op.  cit,  Fall  1 — 13,  u.  p.  142  (puerperaler 
Fall).  Casper-Liman ,  Hdb.  Fall  246  (Gewaltausbrüche  gegen  die  Umgebung). 
Gaz.  des  tribun.  1839,  Febr.  (Tödtung  des  Bruders,  lebensgefährl.  Verletzung  der 
Eltern),     v.  Krafft,  Lehrb.  d.  Psychiatrie  III,  Beob.  36,  87. 


b.    Raptus    melancholicus. 

Literatur:  Bonnet,  folie  transitoire  homicide.  Ann.  med.  psychol,  1862  April. 
Erlenmeyer,  über  Melancholia  transitoria,  Corr.-Blatt  f.  Psych.  1859,  8.  9. 
V.  Krafft,  transitor.  Störungen  d.  Selbstbewusstseins ,  p.  91.  Schwartzer, 
transit.  Tobsucht,  p.  75. 

Es  gibt  seltene  Fälle  von  heftiger  präcordialer  Angstempfindung 
bei  Geistesgesunden,  speciell  nicht  Melancholischen,  die  plötzlich  über- 
fällt, das  Selbstbewusstsein  trübt  bis  zur  temporären  Aufhebung 
desselben  und  stürmische  Handlungsreflexe  hervorruft. 

Eine  somatische,  speciell  neurotische  Grundlage  ist  für  solche  Anfälle 
transitorischer  Angst  wohl  immer  vorauszusetzen  und  in  der  Mehrzahl  der  Fälle 
auch  nachweisbar.  Sie  ist,  wie  alle  transitorischen  Irreseinszustände  eine  sympto- 
matische Erscheinung.  Raptus  mel.  findet  sich  nicht  selten  bei  durch  Masturbation 
erschöpftem  Nervensj^stem  (Neurasthenie),  beim  Alkoholismus  chronicus,  Hysterie, 
Epilepsie,  Hypochondrie.  Er  kann  in  ursächlichem  Zusammenhang  mit  Blut- 
verlusten (Puerperium),  überhaupt  Anämie  stehen,  ferner  mit  Herzklappenfehlern, 
Fettherz,  Magen erkrankung,  Störungen  der  Menstruation  (Menstruatio  suppressa). 
Gereiztheit,  Gedrücktheit,  Kopfschmerz,  Schwindel,  Herzklopfen  können  dem 
Anfall  als  Prodromi  vorangehen.  Der  eigentliche  Anfall  erreicht  fast  momentan 
seine  Höhe,  nur  selten  vermochten  die  Kranken  Äoch  die  Umgebung  vor  sich 
zu  warnen. 

Eine  sinnenverwirrende  Angst  mit  Trübung  bis  zum  Erlöschen  des  Selbst- 
bewusstseins und  mit  schreckhaften  Delirien  und  Sinnestäuschungen  sind  psychisch, 
entsetztes  blasses  Gesicht,  kleiner  äusserst  frequenter  Puls  mit  eng  contrahirter 
Arterie  (Gefässkrampf),  beschleunigte  oberflächliche  Respiration  sind  somatisch 
die  Hauptsymptome  des  Zustands.  Nach  Minuten  bis  zu  einer  halben  Stunde 
schwinden  Angst  und  Gefässkrampf.  Der  Kranke  kommt  zu  sich  wie  aus  einem 
schweren  Traum,  athmet  erleichtert  auf  und  besitzt  für  alles  Vorgefallene  gar 
keine  oder  nur  eine  sehr  lückenhafte  Erinnerung. 

Die  forensische  Bedeutung  dieses  Zustands  ergibt  sich  daraus, 
dass,  als  reiner  psychischer  Reflex  auf  die  entsetzliche  Angst  oder 
veranlasst  durch  Sinnestäuschungen  und  Delirien,  bewusstlose  Gewalt- 
akte (Selbstmord,  Mord,  Brandstiftung)  bis  zu  ganz  impulsivem  blin- 
dem Wüthen  und  Toben  vorkommen. 


Raptus  melancholicus.  275 

Das  Handeln  ist  ein  zielloses,  quasi  convulsivisches,  rücksichts- 
loses. Die  Bewusstseinsstörung  lässt  die  Wahl  passender  Mittel  nicht 
zu.  Der  Selbstmord  wird  z.  B.  durch  Hinausstürzen  zum  Fenster, 
Einrennen  des  Kopfes  an  der  Wand  versucht.  Ein  Mord  ist  ein  ganz 
zufälliger.  Es  handelt  sich  psychologisch  nicht  um  die  Ausführung 
einer  bestimmten  destruirenden  Handlung,  sondern  um  die  zwangs- 
mässige  Lösung  eines  entsetzlichen  Gemüthszustands,  mag  das  Objekt 
nun  ein  Menschenleben  oder  Mobiliar  sein.  Das  schreckliche  Fühlen, 
die  psychische  Anästhesie  und  aufgehobene  Schmerzempfindlichkeit 
bedingen  ein  rücksichtsloses,  über  alles  Ziel  hinausschiessendes  wuth- 
artiges  Handeln.  Nie  fehlt  die  lösende  gleichsam  kritische  Wirkung 
einer  Gewaltthat. 

Das  zwangsmässige  organisch  bedingte  Handeln,  die  Störung 
des  Bewusstseins,  durch  welche  eine  Erkenntniss  der  That,  ihrer  Be- 
deutung, Folgen  ausgeschlossen  ist,  vernichten  die  Bedingungen  der 
Zurechnungsfähigkeit. 

Die  forensische  Beurtheilung  hat  die  somatischen  Grundbedingun- 
gen  des   nur   als  Symptom   aufzufassenden  Rapt.  mel.  zu  erforschen. 

Besondere  Aufmerksamkeit  ist  dem  etwaigen  Vorhandensein 
larvirter  Neurosen,  namentlich  der  Epilepsie  und  gewissen  occasio- 
nellen  Bedingungen  (suppressio  mensium,  GemüthsafFekte  etc.)  zu 
schenken.  Nicht  selten  lassen  sich  auch  frühere  Anfälle  nachweisen. 
Endlich  ist  die  sich  für  die  Anfallsdauer  findende  Amnesie  zu  ver- 
werthen,  die  das  Benehmen  nach  der  That  zu  einem  unbefangenen 
macht.  Eine  erfolgreiche  Simulation  eines  solchen  Raptus  ist  bei 
der  Prägnanz  des  Krankheitsbildes  und  der  integrirenden  Mitbethei- 
ligung  körperlicher  Funktionen  nicht  denkbar. 

Beob.  101.  Tödtung  eines  Kinds  durch  seine  Amme  im  Angst- 
anfall. Marie  W.,  verheirathet ,  hatte  sich  als  Amme  nach  der  Stadt  vei-dingt. 
Sie  liebte  ihr  Pflegekind  sehr,  stand  mit  Jedermann  in  guten  Beziehungen  bis 
sie  einen  kleinen  Hausdiebstahl  beging.  Ihr  Herr  drohte  mit  gerichtlicher  Ver- 
folgung am  andern  Tage,  falls  sie  nicht  ein  Geständniss  ablege.  Des  Abends 
starrte  sie  vor  sich  hin  und  sagte:  „morgen  werde  ich  nicht  mehr  da  sein." 
Nachts  hörte  man  vom  Hof  her  Rufen  und  Schreien.  Man  fand  Amme  und 
Kind  in  einem  tiefen  Ziehbrunnen  und  zog  sie  mit  Mühe  heraus.  Das  Kind 
war  todt. 

Die  Amme  gab  Folgendes  zu  Protokoll:  „Die  Angst  vor  der  bevorstehenden 
Strafe  hatte  mich  sehr  unruhig  und  bekümmert  gemacht,  ängstlich  legte  ich 
mich  Abends  10  Uhr  zu  Bett.  Ich  schlief  unruhig,  glaubte  mich  vom  Herrn 
gerufen,  ging  mit  dem  Kind  auf  dem  Arme  hinaus  ohne  zu  wissen  wohin.  Ich 
weiss  nicht  was  weiter  mit  mir  geschehen  ist.  Est  als  ich  mit  dem  Kind  im 
Brunnen  lag,  brachte  mich    das   kalte  Wasser  zur  Besinnung.     Nun  schrie  ich, 


276  Cap.  XL    Zustände  krankhafter  Bewusstlosigkeit. 

bis  Hilfe  kam.  Ich  habe  das  Kind  sehr  geliebt,  weiss  mir  nicht  zu  erklären, 
wie  ich  dazu  kam,  mich  mit  dem  Kind  in  den  Brunnen  zu  stürzen.  Der  Teufel 
muss  mich  dazu  getrieben  haben." 

Das  gerichtsärztliche  Gutachten  verneinte  die  Unzurechnungsfähigkeit,  ein 
obergerichtsärztliches  erwies,  dass  hier  ein  unfreier  Zustand  vorlag  und  die  That 
unter  dem  Einfluss  von  Gehörshallucinationen  (?)  begangen  wurde.  Freisprechung. 
(Hitzig's  Annalen,  1848,  Sept.) 

Weitere  Fälle:  Henke,  Zeitschr.  1834,  20.  Ergänzgsh.  (Brandstiftung), 
ebenda  1840,  H.  1  (ein  Vater  zersplittert  seinem  Sohn  den  Schädel).  Mende 
ebenda,  1821  (Selbstmord).  Chätelain,  Ann.  med.  psych.  1871,  Juli  (Mordversuch 
an  der  Frau).  Westphal,  Charite-Annal.  III,  1878  (Tödtung  des  Kinds  durch 
die  Mutter  zur  Zeit  der  Menses).  Schwartzer,  op.  cit.,  p.  92.  Rupprecht,  Viertel- 
jahrschrift f.  ger.  Med.  XIX,  H.  2  (vermuthete  aber  ausgeschlossene  Simulation). 


3.   Zustände  krankhafter  Bewusstlosigkeit  unter  dem  Einfluss  toxischer 

Substanzen. 

a.    Rausch    und    bewusstloser    Rausch. 

Literatur:  Henke,  Abhandl.  I  u.  II,  p.  378,  IV,  p.  271.  Legrand  du  SauUe, 
la  folie  p.  253 — 74.  Casper-Liman ,  Handb.  p,  671.  Ritter,  Friedreich's 
Blätter  1869,  H.  4.  Delasiauve,  Ann.  med.  psychol.  1867,  März.  v.  Krafft, 
Allgem.  deutsch.  Strafrechtsztg.  1872.  Maschka,  Vierteljahrschr.  f.  ger.  Med. 
1868,  H.  1. 

Gesetz  1.  Bestimmungen:  Oesterr.  Strafgesetzen  tw.  §.452.  Wer  im  Zustand  einer 
die  Zurechnung  ausschliessenden  vollen  Trunkenheit  (§.  56)  eine  Handlung 
verübt,  welche  das  Gesetz  mit  einer  Verbrecherstrafe  bedroht,  ist  mit  Haft 
zu  bestrafen. 

Ueberaus  häufig  wird  von  der  Vertheidigung  als  die  Schuld 
mindernd  oder  aufhebend  geltend  gemacht,  dass  eine  strafbare  Hand- 
lung in  die  Zeit  einer  Berauschung  fiel.  Thatsächlich  ist  der  Zustand 
des  Berauschten  ein  abnormer  und  ganz  dazu  angethan  nach  Um- 
ständen die  rechtliche  Verantwortlichkeit  zu  beschränken  oder  selbst 
aufzuheben.  Nirgends  in  der  gerichtlichen  Psychopathologie  zeigt 
sich  jedoch  so  sehr  das  Bedürfniss  einer  individualisirenden  Beurthei- 
lung  als  in  der  Frage  nach  der  Zurechnungsfähigkeit  des  Berauschten, 
denn  die  Entscheidung  derselben  ist  ganz  abhängig  vom  Zustand  des 
Berauschten  zur  Zeit  seiner  That  und  dieser  wieder  die  Resultante 
theils  constitutioneller,  theils  accidenteller  Ursachen,  unter  denen  Art 
und  Menge  des  genossenen  Getränks,  die  Umstände,  unter  denen  es 
genossen  wurde,  eine  hervorragende  Rolle  spielen. 

Man  hat  sich  vielfach  bemüht,  Stadien  im  Verlauf  des  Rausches  aufzu- 
stellen (Weinwarmheit ,   Trunkenheit,   Besoffenheit)   und  nach  solchen  die  recht- 


Rausch  und  bewusstloser  Rausch.  277 

liehe  Verantwortlichkeit  zu  bemessen,  allein  der  Zustand  erträgt  nicht  eine  solche 
generalisirende  Eintheilung  in  Stadien,  diese  gehen  unvermerkt  in  einander  über 
und  constitutionelle  und  zufällige  Momente  machen  vielfach  den  Ablauf  der 
Erscheinungen  des  Rausches  zu  einem  irregulären. 

Auch  die  Vorschläge  und  Bestimmungen  gegenüber  der  Zurechnung  Be- 
rauschter auf  legislativem  Gebiet  boten  vielfache  Unklarheiten  und  Inconsequenzen. 

Während  die  Einen  rein  vom  psychologischen  und  klinischen  Standpunkt 
den  Rausch  als  eine  artificielle  Seelenstörung  ansehend,  für  volle  Aufhebung 
der  Zurechnungsfähigkeit  plaidirten  und  damit  einem  der  abscheulichsten  Laster 
einen  Freibrief  für  alle  möglichen  Rechtsverletzungen  ausstellten,  höchstens  von 
einer  polizeilichen  Bestrafung  des  Berauschtgewesenen  oder  einer  temporären 
Freiheitsberaubung  wegen  Gemeingefährlichkeit  etwas  wissen  wollten,  fehlte  es 
nicht  an  Anderen  (Hoffbauer),  die  als  Vertreter  des  moralischen  Standpunkts  im 
Rausch  keinen  Aufhebungsgrund  der  Zurechnungsfähigkeit  erkennen  konnten, 
selbst  wenn  Vernunft  und  sittliche  Freiheit  im  Augenblick  der  That  fehlen.  Als 
Motive  machten  diese  Moralisten  geltend,  dass  sonst  jeder  andere  moralische 
Fehler  (Wollust,  Zornmüthigkeit  etc.)  ebenso  entschuldigt  werden  müsse  und  es 
bald  keine  Strafe  mehr  geben  könne. 

Zwischen  diesen  extremen  Ansichten,  bewegte  sich  die  Gesetzgebung.  Dem 
thatsächliclien  Vorhandensein  eines  unfreien  Zustands  Rechnung  tragend,  ver- 
setzte sie  den  Rausch  unter  die  Reihe  der  die  Zurechnungsfähigkeit  ausschliessen- 
den  Momente ,  aber  nur  dann ,  wenn  er  eine  solche  Höhe  erreichte ,  dass  die 
„Vernunft"  aufgehoben  war.  In  manchen  Gesetzbüchern  fand  sich  noch  zudem 
die  lächerliche  Bestimmung,  dass  diese  den  Gebrauch  der  Vernunft  ausschliessende 
Phase  des  Rausches  nur  dann  Straflosigkeit  begründe,  wenn  Jemand  sich  nicht 
absichtlich  betrunken  habe,  um  in  diesem  Zustand  ein  prämeditirtes  Verbrechen 
zu  begehen,  als  ob  es  psychologisch  möglich  Aväre,  dass  Jemand  in  solchem  Zu- 
stand etwas  ausführen  oder  nur  sich  auf  etwas  besinnen  könne ,  das  er  in 
nüchternem  Zustand  prämeditirt  hat. 

Allen  übrigen  „nicht  zur  Aufhebung  des  Vernunftgebrauchs  gediehenen 
Rauschzuständen"  wurde  bloss  die  Wohlthat  mildernder  Umstände  oder  einer 
verminderten  Zurechnungsfähigkeit  zuerkannt ,  wobei  als  erschwerend  oder 
mildernd  in  Erwägung  gezogen  wurde ,  ob  Jemand  die  ungewöhnlich  starke 
Wirkung  berauscliender  Getränke  auf  seine  Individualität  oder  seine  Gemein- 
gefährliclikeit  im  Rausch  kannte,  oder  nicht  sich  derselben  bewusst  war,  allen- 
falls die  Qualität  des  berauschenden  Getränks  nicht  kannte,  oder  gleichzeitig  unter 
dem  Einfluss  eines  vielleicht  zudem  unverschuldeten  Affektes  stand,  der  die 
Wirkung  des  Getränks  erhöhte  u.  s.  w. 

Die  neuere  Gesetzgebung  hat  mit  dem  früheren  metaphysischen 
Begriff  „Vernunft"  gebrochen  und  an  Stelle  dieses  zweideutigen  Aus- 
drucks ein  psychologisches  und  klinisches  Kennzeichen  gesetzt  —  die 
Bewusstlosigkeit.  Daraus,  dass  sie  keine  besonderen  Bestimmungen 
über  die  Zurechnungsfähigkeit  der  Trunkenen  gab,  folgt,  dass  die  ein- 
fachen Rauschzustände,  in  denen  das  Bewusstsein  nicht  erloschen  ist 
(Bewusstlosigkeit  =  Aufhebung  des  Selbstbewusstseins),  an  und  für 
sich  die  Zurechnungsfähigkeit  nicht  aufheben,  nur  als  Milderungsgründe 


278  Cap.  XI.    Zustände  krankhafter  Bewusstlosigkeit. 

der  Strafe  gelten  können  und  dass  die  Aufhebung  der  Zurechnungs- 
fähigkeit bei  Berauschten  auf  die  Fälle  einzuschränken  ist,  in  welchen 
das  Selbstbewusstsein  zur  Zeit  der  That  erloschen  war. 

Es  ergeben  sich  damit  forensisch  zwei  verschiedene  Zustände 
des  Rauschs,  diejenige,  in  welcher  das  Bewusstsein  der  Aussenwelt 
und  der  eigenen  Persönlichkeit  noch  erhalten,  höchstens  getrübt  ist, 
und  diejenige,  in  welcher  dieses  Bewusstsein  aufgehoben  ist.  Wenn 
auch  hier  Uebergänge  angenommen  werden  müssen,  so  besteht  ein 
ziemlich  genaues  Unterscheidungszeichen  für  beide  Zustände  im  Stand 
der  Erinnerung,  die  für  jene  des  blossen  Angetrunkenseins  eine  intakte, 
mindestens  summarische,  für  den  Zustand  der  vollen  Berauschung 
eine  in  Bezug  auf  gewisse  Zeitabschnitte  oder  die  ganze  Periode 
total  fehlende  ist. 

Wo  immer  eine  strafbare  That  in  den  Zeitpunkt  einer  Berau- 
schung fiel,  für  den  in  der  Folge  Amnesie  besteht,  dürfte,  sobald 
diese  Amnesie  als  wirklich  vorhanden  constatirt  ist,  daraus  zu  fol- 
gern sein,  dass  der  Zeitraum,  welchen  sie  umfasst,  ein  Zustand  der 
^Bewusstlosigkeit"  war. 

Zur  Ermittlung  des  subjektiven  Thatbestands  in  Fällen  ein- 
facher Berauschung  wird  selten  die  Mitwirkung  des  ärztlichen  Tech- 
nikers requirirt.  Gewöhnlich  entscheidet  der  Richter  allein  über  die 
Zurechnungsfähigkeit  der  Trunkenen  auf  Grund  der  Zeugenaussagen, 
wobei  die  Quantität  und  Qualität  des  genossenen  Getränks,  die  That- 
umstände  und  allgemeine  psychologische  Kriterien  vorzugsweise  ver- 
werthet  werden.  Im  Sinn  der  neueren  Gesetzgebung  spielt  die  Er- 
mittlung einer  vorhanden  gewesenen  Bewusstlosigkeit  zur  Zeit  der 
That  eine  entsprechende  Rolle.  Der  Zeitpunkt  derselben  ist  genau 
festzustellen,  die  Bewusstlosigkeit  aus  den  Thatumständen ,  nament- 
lich dem  Verhalten  nach  der  That,  der  Unbefangenheit  des  Thäters 
zu  ermitteln.  Leider  wird  vielfach  richterlicherseits  der  Begriff  der 
Bewusstlosigkeit  im  gewöhnlichen  Sprachgebrauch,  nicht  im  rechtlich 
psychologischen  genommen  und  die  Bewusstlosigkeit  des  (sinnlos) 
Betrunkenen  desswegen  nicht  anerkannt,  weil  der  Betreffende  mit  der 
Aussenwelt  noch  verkehrte,  zusammenhängend  sprach  und  handelte, 
obwohl  ein  solches  Verhalten  durchaus  nicht  die  Möglichkeit  aus- 
schliesst,  dass  Jemand  gleichzeitig  des  Selbstbewusstseins  beraubt 
war,  resp.  nicht  wusste,  was  er  that. 

Ein  solcher  Zustand  der  Bewusstlosigkeit  schliesst  endlich  eine 
theilweise  momentane  Aufhellung  des  Bewusstseins,  die  eine  temporäre 
Beantwortung  gestellter  Fragen,  ein  zweckmässiges  Gebahren  gestattet. 


Rausch  und  bewusstloser  Rausch.     Beob.  102.  279 

nicht  aus.  Es  kommt  zuweilen  vor,  dass  bewusstlos  Betrunkene  un- 
mittelbar nach  der  Gewaltthat,  im  Moment  der  Verhaftung,  des  Ver- 
lassens  der  heissen  Atmosphäre  der  Trinkstube ,  zwar  Namen  und 
Alter  richtig  angeben,  eine  momentan  richtige  Apperception  besitzen, 
hinterher  aber  von  dem  ganzen  Zwischenfall  nichts  wissen.  Solche 
Thatsachen  werden  dann  leicht  im  Beweisverfahren  einseitig  für  die 
Anschauung  verwerthet,  dass  der  Betrunkene  nicht  sinnlos  betrunken, 
bewusstlos  gewesen  sein  könne,  obwohl  doch  der  Mangel  der  Er- 
innerung dafür  spricht. 

In  phänomenaler  Hinsicht  äussert  sich  die  Alkoholwirkung  im  Anfang 
gewöhnlich  in  Form  einer  durch  chemische  und  fluxionäre  Vorgänge  vermittelten 
Steigerung  der  psychischen  Funktionen.  Erinnerung,  Vorstellungsablauf  und 
Willensbestrebungen  sind  erleichtert.  Der  Schweigsame  wird  schwatzhaft,  der 
Ruhige  gestikulirend.  Ein  erhöhtes  Selbstgefühl  führt  zu  Dreistigkeit,  keckem 
Auftreten,  die  Stimmung  wird  eine  lustige,  ein  grösseres  Bedürfniss  nach  Muskel- 
bewegung, ein  wahrer  Bewegungsdrang  gibt  sich  in  Singen,  Schreien,  Lachen, 
Tanzen,  muthwilligen  und  vielfach  zwecklosen  Handlungen  kund.  Noch  sind 
die  Regeln  des  Anstands  dem  Bewusstsein  geläufig,  der  Betreffende  erkennt  selbst 
seinen  Zustand,  ist  sich  seiner  Handlungen  bewusst,  übt  noch  eine  gewisse  Selbst- 
beherrschung. 

Unvermerkt  aber  ei'löschen  mit  fortschreitender  Alkoholwirkung  eine  ganze 
Reihe  ästhetischer  Vorstellungen,  moralischer  Urtheile,  die  hemmend  und  contro- 
lirend  sonst  zu  Gebot  stehen.  In  diesem  Stadium  lässt  sich  der  Betrunkene 
völlig  gehen,  gibt  seine  Charakterfehler  und  ihm  anvertraute  Geheimnisse  preis 
—  in  vino  veritas  —  setzt  sich  über  Sitte  und  Anstand  hinweg,  wird  cynisch, 
brutal,  rechthaberisch  und  gewaltthätig,  und  da  er  das  Bewusstsein  seines  Zu- 
stands  verloren  hat,  nimmt  er  es  sehr  übel,  wenn  man  ihn  für  betrunken  er- 
klärt. Endlich  geht  dieser  Zustand  von  Umdämmerung  des  Bewusstseins  in 
Verlust  desselben  über,  die  Sinne  schwinden,  es  kommt  zu  Illusionen  und  Hallu- 
cinationen,  zu  Verworrenheit  und  ein  Zustand  tiefen  blödsinnigen  Stupors  mit 
lallender  Sprache,  taumelnden  unsicheren  Bewegungen,  beschliesst  .die  wider- 
liche Scene. 

Muthwillige  Beschädigungen  von  Personen  und  fremdem  Eigen- 
thum,  Verletzungen  des  öffentlichen  Anstands  bis  zu  Unzuchtsver- 
brechen, Ehrenkränkungen,  Majestätsbeleidigungen,  Todtschlag  etc., 
sind  häufige  Rechtsverletzungen  von  Seiten  Berauschter. 

Beob.  102.  Mord  im  Stadium  eines  bewusstlosen  Rausches.  M.  ein 
42j ähriger,  bisher  unbescholtener  Maurer,  hatte  seine  Frau,  die  mit  ihm  in  Un- 
frieden lebte ,  ohne  vorangegangenen  Streit  durch  Zerschmetterung  des  Kopfs 
mittelst  Beil  und  mehrerer  Beilhiebe  in  den  Rücken  getödtet  und  sich  dann 
selbst  zur  Inhaftnahme  gestellt.  Er  behauptete  in  Bewusstlosigkeit  die  That  voll- 
bracht zu  haben. 

M.    hatte   bisher   als    geistesgesund   und  besonnen  gegolten.     Spuren  einer 


280  C!ap.  XL    Zustände  krankhafter  Bewusstlosigkeit. 

körperlichen  Erkrankung  fanden  sich  nicht  vor.  Ausser  einer  Lungenentzündung 
vor  6  Jahren  war  er  nie  krank  gewesen.  Er  galt  als  ein  fleissiger,  intelligenter, 
sparsamer  Mann.  In  den  letzten  Jahren  hatte  er  viel  Kummer  über  seine  Frau 
gehabt,  die  Schulden  machte,  ihn  schlecht  behandelte,  prügelte,  ihm  die  eheliche 
Pflicht  verweigerte,  sich  von  ihm  scheiden  lassen  wollte.  Aus  Desperation  hatte 
er  oft  zur  Flasche  gegriffen,  doch  war  er  kein  habitueller  Trinker.  Trotz  der 
schlechten  Behandlung,  die  ihm  seine  Frau  widerfahren  liess,  hegte  er  doch 
keinen  Groll  gegen  sie  und  wollte  zu  einer  Ehescheidung  sich  nicht  herbeilassen. 
Einige  Tage  vor  der  Tödtung  hatte  die  Frau  wieder  mit  ihm  Streit  gehabt 
und  die  Eheleute  hatten  in  Folge  dessen  kein  Wort  mehr  mit  einander  ge- 
sprochen. Am  Morgen  des  Tags,  an  welchem  er  sie  erschlug,  hatte  er  wieder 
einen  Aerger  über  sie  gehabt,  unter  Tags  viel  Schnaps  getrunken,  auch  einmal 
vor  sich  hingesagt  „ich  komme  nicht  drüber  weg".  Bei  der  Heimkehr  von  der 
Arbeit  war  M.  betrunken  und  nicht  mehr  ganz  sicher  auf  den  Füssen.  Er  schimpfte 
auf  seine  Frau  und  eine  anwesende  Näherin,  nannte  die  erstere,  als  sie  heimkam, 
eine  alte  Vettel,  ging  aufgeregt  in  der  Stube  auf  und  ab,  schlug  plötzlich  mit 
der  Faust  auf  den  Tisch,  dass  der  Cylinder  einer  daraufstehenden  Lampe  zerbrach 
und  als  die  Frau  ruhig  sagte :  „In  dieser  Woche  ist  es  schon  der  zweite  Cylinder" 
misshandelte  er  seinen  Sohn,  bis  die  Grossmutter  den  weinenden  Knaben  ent- 
fernte. Die  Mutter  sagte  bloss:  „0  Gott!  er  wird  mir  noch  den  Knaben  zu 
Schanden  schlagen."  Sie  verliess  die  Stube,  M.  ging  aufgeregt  noch  eine  Weile 
auf  und  ab.  Kurze  Zeit  nachher  hörte  man  aus  der  Nebenstube  einen  Schrei 
und  gleich  darauf  kam  M.  heraus,  warf  die  Thüre  in's  Schloss,  zog  den  Schlüssel 
ab  und  entfernte  sich.  Man  sprengte  die  Thür  und  traf  die  Frau  sterbend.  Das 
Beil  lag  blutig  an  den  innej-en  Thürstock  gelehnt. 

Während  man  noch  die  Todte  umstand,  kam  M.  in  blossen  Strümpfen  und 
mit  einem  Strick  in  der  Hand  herein.  Er  war  ziemlich  aufgeregt  und  als  man 
ihm  sagte,  seine  Frau  habe  noch  eine  Viertelstunde  gelebt,  entgegnete  er:  „Arme 
Minna,  da  dauerst  Du  mich,  da  hast  Du  gewiss  noch  recht  ausstehen  müssen, 
ich  dachte.  Du  wärest  gleich  todt!"  Auf  Vorhalt  des  Gemeindevorstehers  er- 
wiederte  er:  „8  Jahre  war's  gut  gegangen,  die  letzten  8  Jahre  wollte  es  aber 
nicht  mehr  gehen;  ich  konnte  nicht  anders." 

Ueber  seinen  Verbleib  nach  der  That  gibt  er  an,  er  sei  fortgelaufen,  habe 
nicht  gewusst  wohin ,  auch  sei  er  zweimal  in's  Wasser  gefallen ,  dadurch  er- 
nüchtert worden  und  zur  Besinnung  gekommen.  Es  war  mir,  als  müsse  ich  zu 
Hause  etwas  Unrechtes  begangen  haben ,  und  ich  lief  desshalb  in's  Haus  zurück, 
um  zu  sehen,  was  geschehen  war. 

Als  er  die  Frau  todt  in  ihrem  Blut  sah,  sei  ihm  klar  geworden  „das  bist 
du  gewesen".  Auf  dem  Weg  nach  dem  Gefängniss,  den  er  fahrend  zurücklegte, 
schlief  er  längere  Zeit. 

Eine  erbliche  Anlage  zu  Hirnkrankheiten  war  nicht  zu  constatiren;  er  hatte 
gewöhnlich  massig  getrunken,  weil  er  den  Schnaps  nicht  vertragen  konnte. 

Das  Gutachten  führte  aus,  dass  Affekte  und  Trunkenheit  zusammenwirkten, 
um  einen  an  Bewusstlosigkeit  gränzenden  Zustand  zur  Zeit  der  That  zu  erzeugen, 
womit  auch  die  constatirte  Amnesie  für  diese  und  das  Verhalten  unmittelbar 
nachher  im  Einklang  stand.  Der  Angeklagte  wurde  des  Todtschlags  unter  mil- 
dernden Umständen  für  schuldig  erkannt  und  zu  5  Jahren  Gefängniss  verurtheilt, 
da    der  Gerichtshof  annahm,   M.  habe   sich  zur  Zeit  der  That  in  einem  Zustand 


Zustände  pathologischer  Alkoholreaktion.  281 

befunden,  welcher,  ohne  die  Fähigkeit  zur  Selbstbestimmung  gänzlich  auszu- 
schliessen,  an  einen  bewusstlosen  Zustand  angränzte.  (Vierteljahrschr.  f.  gerichtl. 
Med.    N.  F.  XVI.  H.  2.) 

Weitere  Fälle:  Friedreich' s  Bl.  1858,  p.  58  (Widersetzlichkeit  gegen  die 
Wache).  Maschka,  Vierteljahrschr.  f.  ger.  Med.  1868,  H.  1  (Mord),  s.  ebenda  1869, 
Juli  (Mord).     Deutsche  Zeitschr.  f.  Staatsarzneikde,  XXIX,   H.  1  (Brandstiftung). 


b.    Zustände    pathologischer    A  1  k  o  h  o  1  r  e  a  k  t  i  o  n. 

Literatur:  v.  Krafft,  deutsche  Zeitschr.  f.  Staatarzneikunde  1869  H.  2.  Schwartzer, 
transitor.  Tobsucht. 

Mit  der  Betrachtung  der  einfachen,  bis  zur  Bewusstlosigkeit 
allenfalls  gesteigerten  Rauschzustände  ist  die  Frage  der  Zurechnungs- 
fähigkeit des  Berauschten  noch  nicht  erledigt.  Die  Erfahrung  lehrt, 
dass  durch  eigenthümliche  constitutionelle,  oder  durch  ein  Zusammen- 
wirken besonderer  accidenteller  Bedingungen,  Alkoholexcesse  Intoxi- 
cationszustände  herbeiführen  können,  die  nicht  dem  Schema  eines 
gewöhnlichen  Rausches  entsprechen ,  sondern  sich  in  Wesen  und 
Verlauf  als  Anfälle  von  acutem,  tobsüchtigem  Irresein  kundgeben. 
Man  hat  solche  Fälle  als  Mania  ebriorum  acutissima  (m.  ebriosa, 
M.  a  potu)  generalisirend  bezeichnet,  da  ein  maniakalischer  Symptomen- 
complex  bis  zu  Ausbrüchen  tobsüchtiger  Wuth  und  triebartigen  Zer- 
störungsdranges vorzugsweise  das  Krankheitsbild  ausmacht. 

Eine  solche  pathologische  Reaktionsweise  auf  Alkohol  ist  meist 
durch  besondere  constitutionelle  prädisponirende  Ursachen  bedingt. 
Sie  kommen  wesentlich  darin  überein,  dass  sie  die  Widerstandskraft 
gegen  die  fluxionsbefördernde  Wirkung  des  Alkohol  verringern,  und, 
wohl  durch  gestörte  Innervation  der  vasomotorischen  Centren,  zu 
fluxionären  Hyperämien  im  Gebiet  der  den  psychischen  Funktionen 
dienenden  Theile  des  Grosshirns  Anlass  geben. 

Vielfach  ist  diese  Intoleranz  gegen  Alkohol  Zeichen  einer  erb- 
lichen Disposition  zu  Hirnkrankheiten.  Ihre  Träger  bieten  neben 
anderweitigen  Idiosynkrasien  oder  Bizarrerien  früh  die  Zeichen  eines 
äusserst  reizbaren  Gefässsystems.  Sie  sind  von  leicht  erregbarem 
Temperament,  zu  Affekten  geneigt,  die  ungewöhnliche  Heftigkeit  er- 
reichen, leiden  vielfach  an  Kopfweh,  Schwindel,  Nasenbluten,  senso- 
riellen Hyperästhesien  und  bekommen  sofort  Hirncongestionen  durch 
calorische  Schädlichkeiten. 

In  ihrer  Ascendenz  und  sonstigen  Blutsverwandtschaft  findet  man 
Hirnkrankheiten,  Epilepsie,  Geistesstörung,  Trunksucht,  Todesfälle  an 
Apoplexia  cruenta  und  serosa. 


282  Cap.  XI.    Zustände  krankhafter  Bewusstlosigkeit. 

Nicht  selten  ist  diese  pathologische  Reaktionsweise  des  Gehirns 
gegen  Alkohol  eine  erworbene.  Besonders  wichtig  sind  hier  Kopf- 
verletzungen und  Hirnerschütterungen,  abgelaufene  Entzündungen 
des  Gehirns  und  seiner  Häute,  idiopathische  psychische  Krankheiten 
und  Typhus,  nach  denen  oft  eine  bemerkenswerthe  Intoleranz  für 
Alkohol  zurückbleibt  und  Alkoholexcesse  Zufälle  transitorischer  Geistes- 
störung hervorbringen. 

Diese  abnorme  Reaktion  auf  Alkohol  kann  endlich  ein  frühes 
und  wichtiges  Symptom  momentan  noch  latenter  Hirnkrankheiten 
sein,  und  gewinnt  damit  eine  wichtige  semiotische  Bedeutung  für  die 
allgemeine  Pathologie  der  Hirnkrankheiten. 

So  beobachtet  man  sie  schon  in  frühen  Stadien  des  Alkoholis- 
mus chronicus,  in  der  Prodromalperiode  der  Dementia  paralytica  und 
anderen  idiopathischen  Hirnkrankheiten,  namentlich  auch  bei  Epilep- 
tischen, bei  denen  Alkoholexcesse  im  Allgemeinen  schlecht  ertragen 
werden  und  leicht  neue  convulsive  Anfälle  oder  auch  wuthartige 
Paroxysmen  hervorrufen. 

Aber  auch  ohne  solche  Prädisposition  kann  der  gleiche  Effekt 
eintreten,  wenn  mit  einer  Berauschung  Schädlichkeiten  zusammen- 
treffen, die  die  fluxionäre  Wirkung  des  Alkohol  cumuliren  oder  be- 
fördern. 

Dahin  gehören  in  erster  Linie  heftige,  plötzlich  einwirkende 
Affekte,  zu  denen  der  Trunkene  ohnedies  disponirt  ist,  körperliche 
Anstrengung  durch  Tanz  etc.,  sexuelle  Aufregung,  Trinken  bei  nüch- 
ternem Magen,  hohe  äussere  Temperatur  (dumpfe,  heisse  Trinkstube), 
Sonnenhitze,  Beimischung  narkotisirender  Stoffe  zum  Getränk  (ätherische 
Oele,   Absynth),   gleichzeitiges  Rauchen  starker  Cigarren. 

Ganz  besonders  sind  es  Affekte,  in  Verbindung  mit  Alkohol- 
excessen,  die  hier  in  Betracht  kommen.  Es  ist  dabei  nicht  zu  über- 
sehen, dass  zwischen  der  Einwirkung  beider  ein  längerer  Zeitabschnitt 
massiger,  durch  den  Alkohol  erzeugter  Hirncongestion  liegen  kann, 
in  dem  sich  der  Betreffende  noch  ganz  vernünftig  benimmt,  bis  plötz- 
lich durch  das  Plus  eines  einwirkenden  Affekts  ein  ganz  unfreier 
Zustand  herbeigeführt  wird.  Man  muss  sich  dann  hüten,  bloss  auf 
Rechnung  des  Affekts  zu  setzen,  was  gemischte  Wirkung  desselben 
und  des  Alkohol  war.  Solche  Fälle  von  combinirter  Wirkung  von 
Rausch  und  Affekt  sind  in  der  Praxis  äusserst  häufig. 

Gegenüber  solchen  pathologischen  Alkoholreaktionszuständen  wäre 
die  Heranziehung  des  ärztlichen  Technikers  in  foro  dringend  erforder- 
lich, denn  in  der  Regel  handelt  es  sich  um  die  ausschlaggebende  Beur- 


Pathologische  Alkoholreaktion.     Kriterien.  283 

theilung  constitutioneller  pathologischer  Momente,  für  die  dem  Juristen 
Verständniss  und  Competenz  abgeht,  andererseits  wäre  es  auch 
wünschenswerth,  wenn  die  richterliche  Fragestellung  nicht  den  hier 
unpassenden  und  verwirrenden  Begriff  der  Bewusstlosigkeit  wählte, 
sondern  die  Frage  auf  das  Vorhandengewesensein  eines  Zustands 
von  krankhafter  Störung  der  Geistesthätigkeit  stellte,  denn  thatsäch- 
lich  handelt  es  sich  hier  nicht  um  gewöhnlichen  Rausch,  sondern  um 
acutes  Irresein. 

Für  die  Ermittelung   des   subjektiven  Thatbestands  dürften  fol- 
gende Merkmale  zu  berücksichtigen  sein: 

1)  Menge  des  genossenen  Getränks  und  Wirkung  stehen  in  keinem 
Verhältniss,  weil  innere  organische  oder  accidentelle  Bedingungen 
eingriffen  und  die  Wirkung  beeinflussten. 

2)  Wie  quantitativ  ein  Missverhältniss  besteht,  so  zeigt  sich  diess 
auch  in  der  zeitlichen  Verknüpfung  von  Ursache  und  Wirkung. 
Die  acute  Psychose  bildet  häufig  nicht  das  Höhestadium  einer 
Berauschung,  folgt  vielfach  nicht  dem  gewöhnlichen  Stadien- 
und  Instanzenzug,  sondern  tritt  primär,  plötzlich,  gleich  im  Be- 
ginne des  (relativen)  Alkoholexcesses  auf,  oder  auch  es  liegt 
zwischen  Alkoholgenuss  und  Ausbruch  der  Psychose  ein  bis 
mehrere  Stunden  dauerndes  Stadium  latenter  Hirncongestion 
und  Intoxication,  so  dass  jene  erst  durch  ein  gelegenheitliches 
cumulatives  Moment  (Affekt)  nachwirkend  zum  Ausbruch  kommt, 

3)  Auch  qualitativ  unterscheiden  sich  solche  Zustände  vom  ge- 
wöhnlichen Rausch.  Es  kommt  zu  einem  mehr  oder  weniger 
zusammenhängenden  Delirium,  zu  einer  durch  Hallucinationen 
und  Illusionen  tief  gestörten  Apperception  der  Aussen  weit,  zu 
einer  völligen  und  dauernden  Aufhebung  des  Selbstbewusstseins, 
zu  maniakalischen  Ausbrüchen,  denen  nicht  ein  Gewolltes,  Vor- 
gestelltes zu  Grund  liegt,  sondern  die,  ganz  wie  bei  der  ge- 
wöhnlichen Tobsucht,  einen  spontanen,  durchaus  triebartigen 
Charakter  haben,  sich  bis  zur  Höhe  von  Wuthanfällen  und  zu 
masslosem  Zerstörungsdrang  steigern  können. 

4)  Dazu  gesellen  sich  Erscheinungen  lebhafter  Fluxion  zum  Gehirn, 
klopfende,  gespannte  Carotiden,  jagender,  voller  Puls,  heisser, 
gerötheter  Kopf,  injicirte,  glänzende  Augen. 

5)  Die  Bewegungen  sind  nicht  die  ataktischen,  taumelnden  der 
Betrunkenen,  sondern  unter  dem  Einfluss  der  cerebralen  (mania- 
kalischen) Irritation  werden  die  Bewegungen  kraftvoll,  ener- 
gisch,   die    Muskeln    ausserordentlicher   Kraftleistungen    fähig. 


284  Cap.  XL    Zustände  krankhafter  Bewusstlosigkeit. 

Zuweilen  stellt  sich  als  Zeichen  einer  bedeutenden  Hirnreizung 
auch  Zähneknirschen  ein. 
6)  Es   besteht  Amnesie  für   die  ganze  Zeitdauer  der  acuten  Psy- 
chose. 
Es   sollte   als   Regel   gelten,    dass   überall  da,   wo  für  die  Zeit- 
dauer eines  „Rausches"  Amnesie  besteht,  und  eine  strafbare  That  in 
diesen    Zeitabschnitt    fiel,     eine    gerichtsärztliche    Untersuchung    des 
Angeklagten   stattzufinden   hätte.     Für   die  Expertise    entfallen  dabei 
folgende  Gesichtspunkte: 

1)  Wie  verhält  sich  das  Vorleben  des  Angeklagten,  wie  seine  Ab- 
stammung mit  Bezug  auf  Hirnkrankheiten  in  der  Blutsverwandt- 
schaft ?  Haben  auf  sein  Gehirn  Verletzungen  oder  Krankheiten 
eingewirkt?  Ist  er  epileptisch,  Gewohnheitssäufer,  oder  mit 
Zeichen  einer  anderweitigen  chronischen  Neurose  behaftet?  Litt 
er  an  Congestionen,  Schwindel,  Kopfweh?  Wie  verhielt  er  sich 
in  Affekten?  Wie  war  seine  Reaktion  gegen  Alkohol  in  ver- 
schiedenen Lebensabschnitten?  Findet  sich  dabei  ein  Unter- 
schied zwischen  Sonst  und  Jetzt?  Hatten  seine  Alkoholexcesse 
auch  früher  schon  einen  pathologischen  Charakter? 

2)  Welche  Symptome  gingen  der  fraglichen  Alkoholpsychose  als 
Prodrome  voraus?  (Congestionen,  sensorielle  Hyperästhesien, 
Kopfschmerz,  Schwindel,   epileptische  Anfälle?) 

3)  Welche  waren  Quantität  und  Qualität  (Kohlensäure,  Fuselöl, 
Absynth)  des  genossenen  Getränks? 

4)  Lassen  sich  zur  Zeit  der  Berauschung  oder  nachher  zur  Wir- 
kung gelangte  accidentelle  Momente  ermitteln,  die  einen  cumu- 
lativen  Einfluss  auf  die  Alkoholwirkung  haben  konnten? 

5)  In  welchen  Zeitabschnitt  der  Berauschung  fällt  der  Ausbruch 
der  fraglichen  Psychose? 

6)  Welche  waren  ihre  Symptome  mit  besonderer  Berücksichtigung 
des  Verhaltens  der  Muskelkraft,  der  Circulation,  der  sensoriellen 

und  psychischen  Funktionen?  (Etwaige  Delirien,  Hallucinationen^        i 
maniakalische,  triebartige  Erscheinungen.) 

7)  Wie  verhält  sich  die  Erinnerung  für  die  Zeitdauer  der  frag- 
lichen Psychose?  Wie  weit,  zeitlich  und  qualitativ  ist  jene 
aufgehoben?  Wie  war  das  Verhalten  des  Inculpaten  nach  der 
That,  insoferne  durch  das  unbefangene  Gebahren  nach  derselben 
sich  ein  Anhaltspunkt  dafür  ergeben  kann,  dass  er  sich  des 
Vorgefallenen  gar  nicht  bewusst  war? 


Pathologische  Alkoholreaktion.     Alkoholepilepsie.  285 

Die  klinischen  Bilder  des  aus  Alkoholgenuss  unter  Einwirkung 
prädisponirender  oder  cumulativer  Ursachen  sich  entwickelnden  acuten 
Irreseins  sind  mannigfach  und  einer  DifFerenzirung  bedürftig. 

Es  kommen  vor:  Zustände  von  epileptischem  Delirium,  von  acutem 
hallucinatorischem  Delirium  und  Mania  transitoria.  Die  Epilepsie 
kann  dabei  Symptom  des  Alkohol,  chron.  sein  oder  es  handelt  sich 
um  nicht  durch  Trunk  entstandene  Epilepsie,  deren  Anfälle  nur  durch 
gelegentliches  und  von  solchen  Kranken  meist  schlecht  ertragenes 
Trinken  hervorgerufen  sind. 

a)  Die  deliranten  Zustände  der  durch  Alkoholmissbrauch  epileptisch 
Gewordenen  treten  meist  postepileptisch,  nach  serienartig  gehäuften 
Anfällen  auf.  Meist  sind  diese  durch  einen  Alkoholexcess  hervor- 
gerufen. Die  Symptome  einfacher  Berauschung  können  in  das  Bild 
des  epilept.  Delirs  übergehen.  Dieses  kann  sich  mit  denen  eines 
Delir.  tremens  compliciren.  Alle  Varietäten  des  gewöhnlichen  epilepti- 
schen Deliriums  können  auch  beim  Alkoholepileptiker  vorkommen, 
vorwiegend  aber  die  Form  des  grand  mal  mit  den  schrecklichsten 
Visionen,  namenloser  Angst  und  reaktivem  Wüthen  und  Toben. 
Dadurch  ist  das  Leben  der  Umgebung  sehr  gefährdet. 

Beob.  103.  Alkoholepilepsie.  Mord  der  eigenen  Kinder  in 
liallucinatorischer  Sinnesverwirrung  zur  Zeit  eines  epilep- 
tischen Schwindelanfalls.  Am  Morgen  des  17.  Mai  1867  tödtete  der 
Gärtner  Z.,  49  J.  alt,  Wittwer  nnd  Vater  von  6  Kindern,  2  derselben,  verletzte  2 
andere  schwer,  die  2  letzten  leicht,  so  dass  diese  sich  durch  die  Flucht  retten 
konnten.  Z.  hatte  seine  Kinder  zu  Bett  liegen  geheissen,  und  als  sie  schliefen, 
sprang  er  mit  wild  rollendem  Blick  und  in  grösster  Schnelligkeit  an  den  Betten 
herum,  links  und  rechts  Axthiebe  austheilend.  Die  2  entsprungenen  Kinder 
holten  Hilfe  herbei.  Z.  Hess  sich  widerstandslos  verhaften  und  sagte  blos:  Habt 
ihr  noch  keinen  Mörder  gesehen?  Hier  ist  einer,  nehmt  ihn!  Sein  Blick  war 
stier,  er  erschien  sehr  aufgeregt,  sprach  Nichts  auf  dem  Weg  zum  Gefängniss, 
gestand  seine  That  offen  ein,  zeigte  mit  seinen  Kindern  confrontirt  aufrichtige 
Reue  mit  der  Versicherung:  „er  habe  nicht  die  Absicht  gehabt  sie  zu  tödten,  es  sei 
nur  so  plötzlich  an  ihn  gekommen."  Seine  Mutter  litt  an  epilepsieartigen  Krämpfen. 
Er  lebte  in  gutem  Leumund,  guten  Verhältnissen,  liebte  seine  Kinder  aufrichtig. 
Seit  Jahren  war  er  dem  Branntwein  ergeben  und  bot  physisch  und  psychisch 
Symptome  von  chronischem  Alkoholismus.  Vor  3  Jahren  stürzte  er  in  angetrunkenem 
Zustand  kopfüber  in  einen  tiefen  Brunnen;  von  da  an  Beklemmung  und  Schwindel 
im  Kopf,  wenn  er  trank,  später  auch  im  nüchternen  Zustand  vertigoartige  Zu- 
fälle (Vergehen  der  Sinne  und  krampfartige  Zuckungen  der  Extremitäten).  Wieder- 
holt hatte  er  die  Idee  geäussert,  dass  man  ihn  für  einen  Dieb  halte,  zu  Grunde 
richten  wolle  und  dgl.  Am  9.  u.  10.  Mai  hatte  er  sich  betrunken,  am  10.  war 
er  besinnungslos  umgefallen. 

Am  15.  Mai  betrank  er  sich  völlig,  am  16.,  dem  Tag  vor  der  blutigen  That, 
war  er  zitterig,  wüst  im  Kopf,  unruhig  und  sang  geistliche  Lieder. 


286  Cap.  XL    Zustände  krankhafter  Bewusstlosigkeit. 

Abends  kam  ihm  zum  erstenmal  der  Gedanke,  die  Kinder  zu  ermorden, 
motivirt  durch  die  Vorstellung,  dass  es  denselben  doch  eigentlich  schlecht  gehe,  da 
er  nichts  besitze,  dass  sie  sich  das  Leben  hindurch  quälen  müssten,  desshalb 
verachtet  würden,  und  es  besser  für  sie  sei,  wenn  sie  nicht  lebten. 

Die  Nacht  hindurch  schlief  er  dann  ruhig.  Morgens  sagte  er  den  heim- 
kommenden Söhnen:  „Nun  da,  legt  Euch  nieder  —  entweder  schlage  ich  Euch 
mit  der  Axt  todt,  oder  ich  erhänge  mich."  Als  sie  nun  schliefen,  da  habe  er 
sich  entschlossen  sie  zu  tödten. 

Plötzlich  sei  da  das  Fenster  aufgefahren,  es  sei  gewesen,  wie  wenn  ein 
Schuss  durch  das  Zimmer  gehe,  ein  eigenthümlicher  Geruch,  wie  nach  Majoran 
habe  sich  darin  verbreitet  —  er  habe  sich  niederlegen  müssen. 

Die  Gedanken  seien  ihm  entschwunden  —  er  wisse  nur  noch  wie  er  die 
Axt  genommen  und  darauf  losgehauen: 

Erst  als  die  Leute  in  die  Stube  drangen,  sei  ihm  die  volle  Besinnung  wie- 
der gekommen  —  er  habe  gedacht:  „Ach  Gott,  was  habe  ich  gethan."  Während 
der  viermonatlichen  Untersuchungshaft  keine  Zeichen  geistiger  Störung,  ruhiges, 
arbeitsames  Verhalten,  aufrichtige  Reue. 

Gutachten:  Schon  der  grelle  Widerspruch  der  That  mit  dem  ganzen  bis- 
herigen Fühlen  und  Denken,  das  Fehlen  egoistischer  Motive  etc.  gibt  eine  Präsump- 
tion  für  eine  dagewesene  temporäre  Geistesstörung  ab.  Die  wissenschaftliche  Unter- 
suchung bestätigt  diese  Annahme.  Z's  Angaben  tragen  den  Stempel  der  Wahrheit 
an  sich;  sie  deuten  auf  intensive  subjektive  Sinneserregungen  zur  Zeit  der  That, 
Hallucinationen  mehrerer  Sinne  mit  traumartiger  Umneblung  des  Bewusstseins 
und  raschem  Wechsel  grosser  allgemeiner  Depression  und  Aufregung  —  ein 
Zustand,  in  welchem  die  Vorstellungen  des  gesunden  Lebens,  nach  denen  wir 
sonst  unsere  Handlungen  bestimmen,  geschwunden  oder  machtlos  sind,  und  die 
in  ihm  auftretenden  Antriebe  zu  Gewaltthaten  den  Charakter  des  Unfreiwilligen 
und  Unwiderstehlichen  bekommen.  Z.  hat  unzweifelhaft  in  einer  vorübergehenden 
Verwirrung  der  Sinne  und  des  Verstandes  seine  That  begangen. 

Auf  welchem  Hirnzustand  beruhte  aber  jene?  Z.  litt  an  chronischem  Al- 
koholismus ;  aber  ausserdem  zeigten  sich  bei  ihm  vertigoartige  epileptische  Zu- 
fälle, wie  auch  seine  Mutter  an  Epilepsie  litt.  Gerade  die  plötzlichen  Hallucina- 
tionen, das  Schwinden  der  Gedanken,  Vergehen  der  Sinne,  der  plötzliche  Antrieb 
zu  Gewaltthaten,  wie  sie  bei  Z.  sich  finden,  sind  bei  Epileptikern  häufig,  so  dass 
es  wahrscheinlich  wird,  man  habe  es  hier  mit  einem  Epileptiker  und  mit  einem 
Anfall  epileptischen  Schwindels,  dem  ein  Wuthanfall  folgte,  zu  thun.  Auch  die 
vagen  Vorstellungen  von  Verfolgung  und  Beeinträchtigung,  wurzelnd  auf  dem 
Boden  krankhafter  Angst  und  Unruhe,  Lebensüberdruss  etc.,  an  denen  Z.  schon 
lange  vor  der  That  litt,  sind  bei  Epileptikern  nicht  ungewöhnliche  interparoxys- 
male Erscheinungen.  Nicht  minder  sprechen  die  Umstände  der  That  selbst  — 
das  nicht  ganz  geschwundene  Bewusstsein  der  Aussenwelt,  das  lebhafte  Gefühl 
der  That  selbst,  die  nicht  ganz  fehlende,  nur  unklare,  und  von  einem  gewissen 
Punkt  an  unvollständige  Erinnerung,  die  dem  Anfall  folgende  Periode  körper- 
lichen und  geistigen  Torpors,  die  auch  in  der  Folge  beobachteten  leichten  epilep- 
tischen Zufälle  —  für  die  Annahme,  dass  Z.  zur  Zeit  der  That  in  einem  geistes- 
gestörten Zustand,  nämlich  einer  unter  dem  Einfluss  der  chronischen  Alkohol- 
vergiftung und  zunächst  eines  epileptischen  Schwindelanfalls  entstandenen,  mit 
Hallucinationen   verbundenen,   vorübergehenden  Verwirrung   der   Sinne  und  des 


Alkoholisches  acutes  hallucinatorisches  Delirium.  287 

Verstandes    sich    befunden  hat.     (Griesinger,    Vierteljahrschr.    f.    ger.  Med.  N.  F. 
VIII,  H.  2.) 

Weitere  Fälle:  v.  Krafft,  Lehrb.  d.  Psychiatrie  III,  Beob.  149,  150,  151. 
Ebers,  Zurechnung,  Glogau  1860  Fall  15  (Mord  im  postepilept.  Delir)  Fall  16. 
Legrand  du  Saulle,  etude  med.  legale  sur  les  epil.  p.  131,  184  (Mordversuch). 
Livi,  Rivista  sperimentale  1877  (Impulsiver  Mord  des  Bruders  im  Dämmerzustand). 

ß)  Acutes  hallucinatorisches  Delirium  mit  völliger  Bewusstlosigkeit 
und  consekutiver  Amnesie,  findet  sich  nur  bei  dem  Alkoholübergenuss 
habituell  Ergebenen  und  im  Anschluss  an  gehäufte  Excesse.  Es  macht 
den  Eindruck  eines  toxischen  Deliriums.  Seine  Prodromi  sind  die 
Symptome  eines  Rauschs,  in  dessen  Verlauf  plötzlich  das  Bewusstsein 
erlischt,  schreckhafte  Delirien  und  Sinnestäuschungen  auftreten.  Als 
Reaktion  auf  diese  schrecklichen  inneren  Vorgänge  sind  schwere 
Gewaltthaten  möglich.  Das  Delirium  kann  bis  zu  mehreren  Tagen 
andauern.  Mit  einem  gewöhnlichen  bezw.  bewusstlosen  Rausch  ist 
keine  Verwechslung  möglich.  Vom  Zustand  einer  trunkfälligen  Sinnes- 
täuschung unterscheiden  es  die  längere  Dauer  und  gänzliche  Bewusst- 
losigkeit,  von  einer  Mania  transitoria  a  potu  lassen  es  die  längere 
Incubation  und  Dauer  sowie  der  fehlende ,  jedoch  bei  M.  trans. 
kritische  Schlaf  unterscheiden. 

Beob.  104.  Alkoholdelir.  Verletzung  der  Mutter.  Legendre, 
27  J.  alt,  Kellner,  bevs^ohnte  mit  seiner  Mutter,  einer  herrschsüchtigen,  jähzornigen 
Frau,  eine  Schenke.  Seit  Jahren  dem  Trunk  ergeben,  war  er  in  letzter  Zeit 
sonderbar,  unzugänglich,  reizbar  geworden.  In  den  ersten  Tagen  des  Mai  hatte 
er  beständig  getrunken,  dabei  Unwohlsein,  Kopfweh,  Schlaflosigkeit  geklagt. 
Seine  Freunde  fanden  ihn  verändert,  verwirrt.  Am  5.  Mai  war  er  so  unwohl, 
dass  man  den  Arzt  holte.  Er  klagte  Stechen,  Klopfen  im  Kopf,  Gedankenver- 
wirrung, trieb  sich  unstät  herum,  misshandelte  einen  Nachbar,  malträtirte  mit 
der  Mistgabel  ein  Pferd  und  als  die  Mutter  ihn  beruhigen  wollte ,  wandte  er 
sich  wie  wüthend  gegen  sie  und  verletzte  sie  lebensgefährlich.  Er  eilte  dann 
in  den  Stall,  wo  er  mit  Mühe  gebändigt  wurde.  Der  Arzt  fand  ihn  heftig  er- 
regt, verworren,  hallucinirend ,  mit  allen  Zeichen  heftiger  Hirncongestion  und 
liess  ihm  zur  Ader.  Am  folgenden  Tag  war  seine  Besinnung  wiedergekehrt,  er 
war  ruhig,  ohne  Ahnung  vom  Vorgefallenen  und  voll  Reue  als  er  erfuhr  was 
er  gethan  hatte. 

Das  Gutachten  schloss  auf  einen  Zustand  von  Alkoholdelirium  zur  Zeit 
der  That,  das  aber  die  Verantwortlichkeit  blos  mindere.  Die  Geschworenen  waren 
einsichtsvoll  genug,  L.  freizusprechen.     (Annales  medico-psychol.  Mai  1871.) 

Weitere  Fälle:  Toulmouche,  Annal.  d'hygiene  1854  Juli  (Tödtung  der 
Ehefrau).  Bonnet,  Annal.  med.  psychol.  1874,  H.  5  (Misshandlung  2er  Frauen). 
Kompert,  Vierteljahrschr.  f.  ger.  Med.  XXVI,  H.  1  (Tödtung).  v.  Gellhorn,  Zeitschr. 
f.  Psych.  37,  p.  44  (schwere  Verletzung).  Lagardelle,  Ann.  med.  psych.  1877  Sept. 
(vorgeschütztes  Alkoholdelir  mit  Amnesie).  Ebenda  1880  p.  228  (Mord.  Todes- 
urtheil). 


288  Cap.  XI.    Zustände  krankh.  Bewusstlosigkeit.    Mania  ebriosa. 

y)  Die  Mania  transitoria  a  potu  s.  ebriosa  setzt  als  Bedingungen, 
ein  in  seinem  Gefässtonus  durch  erlittenes  Trauma,  Lues,  Epilepsie, 
Alkoh.  chron.  u.  a.  überstandene  oder  in  Ausbildung  begriffene  Hirn- 
krankheiten geschwächtes  Gehirn  voraus  oder  die  gefässlähmende 
Wirkung  des  Alkohol  gleichzeitig  cumulirende  Momente  (Affekte, 
calorische  Schädlichkeiten  etc.).  Bei  mächtiger  Disposition  können 
mittlere  Dosen  von  Spirituosen  Getränken  genügen,  um  einen  Anfall 
transitorischen  Irreseins  hervorzubringen,  der  als  wuthzornige  manische 
Erregung  oder  als  hallucinatorisches  Delirium  mit  manischen  Elementen 
(Ideenflucht,  psychomotorische  Reizerscheinungen)  ablauft. 

Das  Erscheinungsbild  der  Mania  a  potu  differirt  nicht  wesent- 
lich von  der  gewöhnlichen  transitor.  Manie ,  höchstens  dass  wie 
Schwartzer  (op.  cit.  p.  124)  richtig  bemerkte,  Intelligenz,  Vorstellungs- 
ablauf, Gedankenmittheilung  und  Apperception  hier  nicht  so  tief  ge- 
stört erscheinen.  Gleichwohl  besteht  aber  völlige  Amnesie  für  die 
Ereignisse  des  krankhaften  Zustands. 

Die  im  Obigen  angegebenen  allgemeinen  Kriterien  werden  diese 
Form  des  peracuten  Irreseins  leicht  von  einem  einfachen  (bewusst- 
losen)  Rausch  unterscheiden  lassen. 

Das  Wesentliche  ist  neben  der  Feststellung  der  klinischen  Er- 
scheinungen (Bewusstlosigkeit,  Amnesie,  Delirium,  Ideenflucht,  psycho- 
motorische Reizerscheinungen,  speciell  triebartiges  impulsives  Handeln, 
heftige  Fluxion  zum  Gehirn)  die  ätiologische  Begründung  der  pathol. 
Alkoholreaktion. 

Beob.  105.  Man.  ebriosa.  Tödtung.  S.,  Corporal,  bisher  ein  solider, 
ruhiger,  stiller  Mensch,  war  mit  vier  Soldaten  zur  Visitation  der  Wirthshäuser 
commandirt  worden.  In  einem  derselben  wurde  ihm  Grog  und  Rum  aufgewartet. 
Es  erhebt  sich  ein  Wortwechsel  und  Streit  unter  den  Gästen.  S.  fordert  seine 
Mannschaft  auf,  sich  ruhig  zu  verhalten  und  geht  in's  Nebenzimmer ,  um  den 
Streit  zu  schlichten.  Ueber  seinen  Bemühungen  die  Streitenden  zu  trennen,  ge- 
räth  er  selbst  in  solche  Aufregung,  dass  er  um  sich  schlägt  und  stösst.  Der 
Gastwirth  will  ihn  beruhigen,  nun  ruft  er  aber  seine  Soldaten,  stösst  und  sticht 
um  sich  wie  wüthend,  ersticht  einen  Arbeiter,  verwundet  einen  Anderen  und 
wird  mit  Mühe  von  seinen  Soldaten  gebändigt.  Verhaftet  und  entwaffnet  wird 
er  blass  und  lässt  sich  ruhig  auf  die  Wache  führen.  Dort  schläft  er  einige 
Stunden  ruhig  und  erwacht  dann  ganz  besonnen  aber  mit  völliger  Amnesie  für 
den  zwischen  dem  Ereigniss  des  Handgemengs  und  der  Verhaftung  liegenden 
Zeitabschnitt. 

Die  vom  Vertheidiger  geltend  gemachte  transitorische  Geistesstörung  wurde 
nicht  anerkannt,  die  Behauptung  des  Inculpaten,  dass  er  sich  an  nichts  erinnern 
könne,  für  eine  Ausflucht  gehalten  und  er  von  der  Göttinger  Juristenfakultät  zu 
.5j  ähriger  Festungsstrafe  verurtheilt.  (Zeitschr.  f.  Civil-  und  Criminalrechtspflege 
in  Hannover,  I.  p,  34 — 64.) 


Acutes  Irresein  durch  Vergiftung.  289 

Beob.  106.  Mania  eb  riosa.  Br  andsfi  f  tung.  L.,  39  J.,  früher  Soldat, 
später  Gastwirth,  lebte  in  unglücklicher  Ehe.  Eines  Nachts  ging  die  Frau  mit 
ihrem  Liebhaber  durch.  L.  war  am  folgenden  Morgen  darüber  sehr  betrübt  und 
erregt,  vermochte  tagüber  vor  Zorn  über  die  erlittene  Schmach  weder  zu  essen 
noch  zu  trinken,  bediente  unausgesetzt  die  wegen  eines  Jahrmarkts  sehr  zahlreichen 
Gäste  und  setzte  sich  Abends  9  Uhr,  von  der  Tagesarbeit  ermüdet,  an  den  Tisch. 
Mit  den  Worten  „das  war  heute  ein  verfluchter  Tag"  trank  er  rasch  ein  Glas 
Rothwein  aus,  und  ging  dann  ohne  ein  Wort  zu  sprechen  in's  Neben zimmer, 
wobei  er  die  Thüre  ziemlich  heftig  zuschlug.  Wenige  Minuten  darauf  bemerkte 
man  Gepolter,  Geprassel,  Brandgeruch  und  Rauch.  Man  öffnete  die  Thüre  und  fand 
das  Bettgewand  des  L.  in  Flammen  und  L.  beschäftigt',  Gewehrpatronen  in  dieses  Feuer 
zu  werfen.  Auf  die  Frage  was  er  treibe,  gab  L.  mit  wildrollenden  Augen  und  Donner- 
stimme die  Antwort:  „Packt  euch  sogleich  zum  Teufel,  oder  ich  schiesse  euch  alle 
nieder  wie  tolle  Hunde."  Da  er  nach  einem  auf  dem  Tisch  liegenden  Revolver  griff 
und  seine  Drohung  wiederholte,  eilte  man  zum  Gemeindevorsteher,  der  mit  genügen- 
der Mannschaft  sich  zu  L.  begab.  Das  Feuer  hatte  inzwischen  sich  verbreitet.  Mitten 
in  Feuer  und  Rauch  stand  L.  schrecklich  fluchend.  Er  schoss  auf  die  Eindringen- 
den den  Revolver  ab,  wurde  glücklich  niedergeworfen,  leistete  jedoch  noch  20 
Minuten  7  stai'ken  Männern  wüthenden  und  verzweifelten  Widerstand,  bis  es 
gelang  ihn  zu  binden  und  in  Arrest  zu  bringen.  Unterwegs  schmähte  er  in  lo- 
gischer und  consequenter  Rede  aber  unaufhaltsamem  Redestrom  seine  Angreifer, 
fluchte  und  brüllte  im  Arrest  noch  3  Stunden  lang  fort,  schlief  dann  gegen  Mitter- 
nacht ein,  kam  aus  tiefem  Schlaf  nach  16  Stunden  lucid  zu  sich.  Seine  Erinnerung 
reichte  nur  bis  zu  dem  Augenblick,  als  er  nach  Genuss  des  Glases  Rothweins  in 
sein  Wohnzimmer  gegangen  war.  L.  blieb  gesund.  Er  Avar  nicht  erblich  veran- 
lagt, hatte,  ohne  Gewohnheitstrinker  zu  sein,  früher  Spirituosen  gut  vei'tragen, 
war  früher  bis  auf  Wechselfieber  vor  Jahren  immer  gesund  gewesen,  so  dass 
als  Ursachen  des  Anfalls  nur  der  Aerger,  die  körperliche  Anstrengung  während  des 
Tags,  der  rasche  Genuss  eines  Glases  Wein  bei  nüchternem  Magen  angenommen, 
werden  konnten.     (Schwartzer,  transitor.  Tobsucht  p.  180.) 

Weitere  Fälle:  Friedreich's  Bl.  1853,  H.  6.  Schwartzer,  op.  cit.  p.  132, 
136.  Choulant,  Gutachten  p.  122.  Annal.  med.  psychol.  1844,  p.  231  (Körper- 
verletzungen). Rittmann,  Blätter  f.  Staatsarzneikunde  1867,  Nr.  4.  Casper,  Beitr. 
z.  med.  Statistik  1825,  p.  62. 


c.    A  c  XI  t  e  s    Irresein    d  u  r  c  li    Vergiftung. 

Literatur:    v.   KraiTt,    transitor.   Störungen   etc.,  p.  40.     Emminghaus,    allgem. 
Psj'chopath.,  p.  360,  Marc,  übers,  v.  Ideler,  IL,  p.  481. 

Im  Anschluss  an  die  pathologischen  Zustände ,  welche  der 
Alkohol  hervorbringt,  ist  der  Thatsache  zu  gedenken,  dass  Störungen 
der  Geistesfunktionen  vorübergehender  Natur  die  nicht  seltene  Folge 
vergiftender  Substanzen  aus  der  Classe  der  Narcotica  und  Aetherea 
sind.  In  diesem  Zustand  der  Vergiftung,  der  in  vagen  Hallucinatio- 
nen    und  Delirien,    tobsüchtiger  Erregung    bis  zu  Wuthanfällen,    Zu- 

v.  Krafft-Ebing,  gerichtl,  Psj'chopatliologie.    2.  .Uiflage.  19 


290  Gap.  XI.    Zustände  krankhafter  Bewusstlosigkeit. 

Ständen  heftiger  präcordialer  Oppression  mit  Angstanfällen  bestehen 
kann;  sind  rechtswidrige  Handlungen  möglich ^  deren  Nichtzurechen- 
barkeit  keiner  weiteren  Beweisführung  bedarf.  Von  den  Stoffen,  die 
hier  in  Betracht  kommen,  sind  Hyoscyamus,  Schierling,  Datura  Stram- 
monium,  Belladonna,  giftige  Schwämme  zu  erwähnen,  insofern  unab- 
sichtliche Vergiftungen  durch  dieselben  zu  Stand  kommen. 

Nicht  minder  verdienen  Beachtung  gewisse  aetherische  Oele, 
z.  B.  der  Absynth,  dessen  Verbrauch  namentlich  in  Frankreich  be- 
denklich überhand  genommen  hat,  und  dessen  übermässiger  Genuss 
eigenthümliche  Zustände  vorübergehender  Geistesverwirrung  ver- 
schuldet, die  oft  mit  Delirien  des  Verfolgtwerdens  einhergehen  und 
den  Berauschten  aggressiv  machen  (vgl.  Motet  considdration  sur 
l'alcoolisme  et  plus  particuli^rement  des  effets  toxiques  produits  par 
l'absynthe.  Paris  1859.    Legrand  du.  Saulle,  la  folie  p.  540). 

Toxische  Delirien  kommen  auch  beim  Missbrauch  von  Opium  und  Haschisch 
vor,  ferner  bei  Bleivergiftung.  Wunderlich  (Pathol.  1859  p.  1513)  beschreibt  als 
„transitorische  Bleimanie"  Zustände,  in  welchen  die  Kranken  schreien,  toben, 
wüthen,  alles  zerstören  was  ihnen  unter  die  Hände  kommt,  Angriffe  auf  Personen 
machen.  Dabei  oft  Zähneknirschen,  schreckhafte  Hallucinationen,  convulsivische 
und  epileptiforme  Anfälle.  Diese  Zustände  von  „Bleimanie"  dauern  Stunden  bis 
Tage,  lösen  sich  durch  Schlaf,  aus  dem  der  Kranke  matt,  ohne  alle  Erinnerung 
an's  Vorgefallene  zu  sich  kommt.  Als  Prodromi  finden  sich  zuweilen  unruhiger 
Schlaf  mit  schweren  Träumen,  Diplopie,  Schwindel,  Wüstheit  des  Kopfs,  Kopf- 
weh, melancholische  Verstimmung,  mit  oder  ohne  gleichzeitige  Symptome  der 
Bleivergiftung. 

Auch  der  zur  Anästhesirung  benützte  Aether  und  das  Chloro- 
form verdienen  Erwähnung,  insofern  vor  dem  Stadium  der  vollen 
Narcose  Delirium  auftreten  kann ,  das  zwar  meist  nur  ein  schwatz- 
haftes heiteres  Reproduciren  von  Vorstellungen  ist,  zuweilen  aber  auch 
den  Charakter  einer  wuthartigen  Aufregung  annimmt,  in  welcher  der 
Chloroformirte  aggressiv  wird. 

Fälle:  Brierre,  des  halluc.  p.  206.  (Furibundes  Delir  nach  vers\ichtem 
Selbstmord  mit  Datura),  wuthzornige  Erregung  nach  Chloroformirung  s.  Fi'iedreich's 
Blätter  1855,  H.  5,  Bouisson,  Journ.  med.  de  Montpellier  1847,  August,  Güntnei-, 
Seelenleben  d.  Menschen,  1868,  p.  173,  acute  Geistesstörung  durch  Vergiftung 
mit  Schwämmen,  s.  Oesterr.  Zeitschr.  f.  prakt.  Heilkde.  1856  Nr.  33  u.  Moniteur 
vom  13.  Febr.  1868.  Fälle  v.  Bleitollheit,  s.  Bartens  Zeitschr.  f.  Psych.  37,  p.  10 
u.  Class,  Würtemb.  med.  Correspondenzbl.  1852,  Nr.  51. 


J 


Delirium  febrile,  inanitionis  und  Delirium  nervosura.         _  291 

4.  Delirium  febrile,  inanitionis  und  Delirium  nervosum. 

Literatur:  Weber,  med.  chirurg.  transactions  XLVIII,  p.  135  (Schmidts  Jahrb. 
1867,  Bd.  133).  Brosius,  Irrenfreund,  1867,  H.  5.  Brierre,  des  halluc. 
3.  edit.  p.  229.  Siebenhaar,  encyclop.  Hdb.,  Art.  Fieberwahnsinn.  Kräpelin, 
Archiv  f.  Psychiatrie  XI,  H.   1. 

Eine  nicht  seltene  Erscheinung  im  Verlauf  körperlicher  Krank- 
heiten ist  eine  Mitaffektion  der  psychischen  Funktionen  in  Form  von 
Störungen  des  Bewusstseins  (Somnolenz ,  Sopor),  der  Apperception 
(Illusionen),  der  centralen  Sinnesempfindung  (Hallucinationen)  und 
des  Vorstellens  (formale  Störungen,  Beschleunigung  des  Vorstellungs- 
ablaufs, Störungen  der  Association,  Verworrenheit,  Störungen  des 
Inhalts  —  Delirien). 

Diese  symptomatische  oder  sympathische  Erregung  der  Hirnrinde 
beschränkt  sich  auf  elementare  Störungen  der  psychischen  Funktionen, 
namentlich  auf  die  Erzeugung  von  subjektiven  Sinneswahrnehmungen 
und  formalen  Störungen  des  Vorstellungsprocesses,  oder  es  kommt  zu 
allgemeiner  und  complicirter  Betheiligung  derselben,  wobei  sich  die 
erzeugten  Krankheitsbilder  von  einer  selbständigen  Psychose  indessen 
ausser  ihrer  Flüchtigkeit  durch  die  grosse  Incohärenz,  das  Ueber- 
wiegen  von  Hallucinationen  unterscheiden  und  mehr  das  Gepräge 
einer  hallucinatorischen  Verworrenheit  an  sich  tragen.  Bei  der  regel- 
losen Reizung  des  Vorstellungsorgans  durch  inadäquate  Reize,  dem 
Darniederliegen  der  höheren  Processe  der  Aufmerksamkeit  und  Re- 
flexion, die  das  überreich  gebotene  Material  zu  ordnen  vermöchte, 
kommt  es  nicht  leicht  zum  Bild  eines  systematisirten  Wahnsinns  mit 
abnormen  Gemüthsstimmungen,  festen  Wahnvorstellungen  und  totaler 
Umwandlung  der  Persönlichkeit. 

In  der  Regel  wird  Delirium  im  Verlauf  schwerer  fieberhafter 
Krankheiten ,  namentlich  den  sogenannten  Infectionskrankheiten 
(Masern,  Scharlach,  Blattern,  Rose,  Wechselfieber,  Typhus)  beobachtet. 

Es  findet  sich  besonders  in  zwei  Stadien  des  Krankheitsver- 
laufs, auf  der  Höhe  der  Krankheit  und  in  der  Reconvalescenz.  Dem 
Delirium  der  Acme  liegen  off'enbar  tiefere  Störungen  der  Blutmischung 
und  fluxionäre  Vorgänge,  erzeugt  durch  Krankheitsgift  und  Fieber- 
hitze zu  Grund.  In  manchen  Fällen  trat  Delir  schon  vor  dem  Fieber 
auf  (Incubationsstadium).  Bei  dem  Delirium  der  Reconvalescenten, 
das  auch  vielfach  dem  bei  Inanitions-  und  Erschöpfungszuständen 
beobachteten  entspricht,  dürfte  eine  ungenügende  Hirnernährung 
(Anämie)  das  ursächliche  Moment  bilden.  Ein  solches  Collapsdelirium 
findet  sich  nicht  selten  nach  Pneumonie,  Intermittens,  Typhus,  Rheu- 


292  Clap.  Xr.    Zustände  krankhafter  Bewusstlosigkeit. 

matismus  articul.  acut,  und  Cholera.  Es  dreht  sich  um  Hallucina- 
tionen  und  Delirien  indifferenten  oder  ängstlichen  Inhalts,  als  Reak- 
tion auf  dieselben  finden  sich  Angstzufälle  und  ängstliche  Unruhe, 
zuweilen  werden  auch  leicht  maniakalische  Erregungszustände  mit 
Verworrenheit  beobachtet. 

Das  Delirium  auf  der  Höhe  acuter  Krankheiten  hat  vielfach 
einen  mussitirenden  Charakter,  kann  aber  auch  als  ängstliche  Auf- 
regung mit  entsprechenden  Hallucinationen  und  Verfolgungsideen  oder 
als  furibundes  Delirium  erscheinen. 

Besondere  Beachtung  verdient  das  Wechselfieber,  bei  welchem 
nicht  nur  auf  der  Höhe  der  Fieberanfälle,  mit  heftiger  Steigerung 
des  Fiebers  und  der  Gehirncongestion,  furibunde  Delirien  auftreten 
können ,  sondern  auch  gleich  von  Anfang  an  statt  eines  Fieber- 
paroxysmus  ein  durch  massenhafte  Hallucinationen  schreckhaften  In- 
halts und  heftige  Angst  ausgezeichnetes  Delirium  sich  vorfinden  kann, 
in  welchem  schwere  Gewaltthaten  möglich  sind.  Diese  larvirte  Form 
des  Wechselfiebers  findet  sich  in  der  Regel  nur  bei  durchseuchten 
Individuen,  an  Orten  wo  Malaria  endemisch  herrscht.  Sie  kann  auch 
substituirend  für  Fieberanfälle  auftreten  und  dann  fieberlos  sein.  Die 
Dauer  beträgt  mehrere  Stunden.  Die  Bewusstseinsstörung  ist  tief 
und  die  Erinnerung  meist  fehlend. 

Nicht  selten  findet  sich  aber  auch  Delirium  bei  Krankheiten 
mit  niederer  Temperaturkurve,  oder  auch  bei  fieberlosen  Krankheits- 
zuständen,  wenn  das  Individuum  auf  Grund  einer  neuropathischen 
Constitution  ein  krankhaft  erregbares  Gehirn  besitzt.  So  können 
Neuralgien,  anhaltende  Schlaflosigkeit,  schmerzhafte  Verletzungen 
zum  Ausbruch  von  Delirium  Anlass  geben.  Dahin  gehört  wohl  das 
Delirium  traumaticum  s.  nervosum  (Dupuytren). 

Wunderlich  (Pathol.  II.  Abthl.  1.  p.  1320)  beschreibt  dieses  Delirium 
folgendermassen : 

Die  ersten  Spuren  zeigen  sich  schon  am  Tage  der  Verletzung  oder  Opera- 
tion, zuweilen  am  folgenden,  selten  am  dritten.  Der  Kranke  wird  aufgeregt, 
hastig  in  seinen  Bewegungen,  schwatzhaft,  auffallend  in  Blick  und  Benehmen. 
Nach  einer  schlaflosen  oder  durch  Träume  unruhigen  Nacht  werden  die  Ideen 
verwirrt,  die  Augen  glänzend,  das  Gresicht  geröthet.  Die  Unruhe  nimmt  zu,  der 
Kranke  empfindet  keine  Schmerzen  mehr,  fängt  an  zu  toben,  za  schreien,  zu 
singen,  den  Verband  abzureissen.  Der  Puls  ist  dabei  ruhig,  kein  Fieber  vor- 
handen. Zuweilen  tritt  die  „Tobsucht"  auch  plötzlich  ohne  Vorboten  ein.  Meist 
erfolgt  Genesung.  Nach  einigen  Tagen  langer  tiefer  Schlaf,  aus  dem  der  Kranke 
ohne  Erinnerung  mit  klarem  Bewusstsein  erwacht.  Zuweilen  kommt  es  zu 
Recidiven.  Endet  die  Krankheit  tödtlich,  so  geschieht  dies  meist  am  3.-5.  Tag 
in  Erschöpfung. 


Delirium.     Beob.  107.    Mordversuch  im  Intermittensdelir.  293 

Auch  durch  übermässigen  Wehenschmerz  während  der  Geburt  können  bei 
körperlich  geschwächten  neuropathischen  Frauen  psychische  Ausnahmezustände 
(wuthzornige  Aufregungszustände  und  delirante)  hervorgerufen  werden.  Insofern 
sie  zuweilen  die  Geburt  überdauern,  kann  das  Leben  des  Neugeborenen  Seitens 
der  Mutter  in  Gefahr  kommen. 

Fälle:  Jörg,  Zurechnungsf.  d.  Schwängern  u.  Gebärenden,  p.  324.  Schwörer, 
Thatbestand  d.  Kindsmords,  p.  18.  Friedreich,  ger.  Psychol.,  p.  697.  Esquirol, 
mal.  ment.  I,  p.  231.    Mar§e,  de  la  folie  des  femmes  enceintes,  Paris  1858,  p.  184. 

Der  Zustand  des  Delirium  kann  zu  "schweren  Gewaltthaten 
führen.  Rechtlich  gleich  zu  achten  ist  dasselbe  den  Traum-  und 
Intoxicationszuständen  ^  mit  denen  sich  auch  im  Krankheitsbild  viel 
Uebereinstimmendes  zeigt.  Dass  eine  criminelle  That  im  Zustand 
dos  Delirium  begangen  wurde,  muss  aus  allgemeinen  psychologischen 
Kriterien,  den  Thatumständen  und  den  Krankheitsumständen,  welche 
die  Existenz  einer  Störung  des  Allgemeinbefindens  mit  Trübung  der 
psychischen  Funktionen  zur  Zeit  der  Handlung  ergeben,  erschlossen 
werden.  Es  dürfte  gerathen  sein,  überall  wo  Jemand  während  einer 
Krankheit,  namentlich  einer  fieberhaften,  und  in  der  Reconvalescenz 
einer  solchen  eine  Gewaltthat  begangen  hat,  die  Möglichkeit,  dass 
sie  durch  ein  Delirium  motivirt  war,  zu  berücksichtigen.  Ganz  be- 
sonders gilt  dies  für  Zeiten  und  Orte,  wo  gerade  epidemische  Krank- 
heiten herrschen  oder  Malaria  endemisch  ist.  Erfahrungsgemäss 
können  selbst  nach  längerem  Zurücktreten  der  Intermittensanfälle 
larvirte  Intermittensdelirien  als  scheinbar  freistehende  psychische  acute 
Erkrankung  vorkommen. 

Beob.  107.  Mordversuch  und  Selbstverstümmelung  im  Inter- 
mittensdelirium.  G.  Bombardier,  30  Jahre,  seit  1863  an  Wechselfieber  lei- 
dend, das  6  Tage  vor  dem  zu  erwähnenden  Delirium  recidivirte,  ging  am 
6.  April  1864  in  eine  Badestube  um  zu  baden  and  hielt  sich  in  dem  heissen  Raum 
1^2  Stunden  auf.  Noch  im  Bade  fühlte  er  das  Nahen  eines  Fieberanfalls  und  kam 
müde  und  in  vollem  Hitzestadium  in  sein  Dorf  zurück,  wo  er  im  Hause  seiner 
Geliebten  diese  mit  ihrer  gelähmten  Mutter  allein  antraf.  Er  sank  bald  in  einen 
bewusstlosen  Zustand,  aus  dem  er  nach  etwa  einer  halben  Stunde  zu  sich  kam 
und  zu  seiner  Verwunderung  Alles  im  Zimmer  zertrümmert  und  durcheinander- 
geworfen fand.  Er  fühlte  einen  Schmerz  in  der  Gegend  der  Schamtheile  imd 
entdeckte,  dass  sein  Hodensack  abgeschnitten  war,  auch  die  gelähmte  Alte  lag 
verwundet  da. 

Seine  Geliebte  gab  an,  dass  er  schon  beim  Eintritt  in  die  Stube  ihr  auf- 
fallend verändert  vorkam,  bald  in  den  Verschlag,  bald  an  die  Ofenbank  rannte, 
vor  ein  Heiligenbild  kniete,  Kopf  und  Hände  auf  den  Boden  schlug  und  ein 
Messer  begehrte,  um  Alle  umzubringen.  Das  entsetzte  Mädchen  flieht  um  Hilfe 
zu  holen:  G.  bemächtigt  sich  eines  Messers  und  will  die  Alte  umbringen.  Diese 
tleht  um  Gnade.     Er  ruft  „schreie  nicht  Alte,  ich  werde   dich  nicht  umbringen, 


294  Cap.  XL    Zustände  krankhafter  Bewusstlosigkeit. 

das  wäre  eine  Sünde,  aber  ich  werde  mich  selbst  tödten".  Er  schneidet  sich 
den  Hodensack  ab,  legt  sich  hin  und  wird  so  nach  einer  halben  Stunde  ge- 
funden. Der  bald  darauf  erschienene  Arzt  findet  an  G.  keine  Spur  psychischer 
Störung,  auch  bleibt  er  in  der  Folge,  trotz  wiederholter  Intermittensanfälle,  frei 
von  Delirium,  ist  aber  öfters  leichten  Kopfcongestionen  unterworfen.  An  den  Vor- 
fall weiss  er  sich  nicht  zu  erinnern.  Er  war  früher  immer  gesund  gewesen, 
hatte  massig  gelebt;  ein  Bruder  ist  schwachsinnig.  (Erhardt,  Allgem.  Zeitschr. 
f.  Psychiatr.  XXIII.) 

Weitere  Fälle  von  Intermittensdelir :  Focke,  Zeitschr.  f.  Psych.  H.  5, 
p.  376.  Horn's  Archiv  1813,  Jan.,  Febr.  Meyer,  Henke's  Zeitschr.  1834,  H.  2,  (Mord). 
Walliser,  Schmidt's  Jahrb.  Bd.  180,  Nr.  110,  (Brandstiftung).  Nockher,  med. 
Vereinsztg.  1845,  Nr.  32.    Schwartzer,  transitor.  Tobsucht,  Fall  14. 

Beob.  108.  Mord  der  Ehefrau  im  Typhusdelirium.  B.  47  Jahre, 
schwächlich,  Taglöhner,  geistesbeschränkt,  seit  25  Jahren  verheirathet  in  guter 
Ehe  lebend,  erkrankte  nebst  seinem  Weib  und  anderen  Hausgenossen  um  den 
26.  April  an  Typhus  und  legte  sich  mit  seiner  Frau  zu  Bett.  Am  3.  Mai  fing  B.  an 
zu  deliriren.  Am  4.  Morgens,  in  Gegenwart  von  3  Kindern,  erschlug  B.  sein 
Weib  mit  einer  neben  dem  Bett  befindlichen  Axt,  indem  er  ihr  7  schwere  Wunden 
an  Gesicht  und  Hals  beibrachte.  Die  Zeugen,  welche  B.  gleich  nach  der  That 
sahen,  nahmen  an  ihm  einen  geistig  und  körperlich  krankhaften  Zustand  wahr. 
Auch  in  der  folgenden  6wöchentlichen  ärztlichen  Beobachtung  wurde  typhöses 
Fieber  mit  zeitweiligem  Delirium  constatirt. 

Nachweis  von  Delirium  während  der  That.  Freisprechung.  (Maschka, 
Gutachten,  1858,  p.  239.) 

Weitere  Fälle:  Maschka,  Gutachten,  1858,  p.  271  (Brandstiftung  im 
Typhusdelir).  Zippe,  Zeitschr.  f.  Psych.  34.  H.  2  (Mord  im  Delir  vor  der  Blattern- 
eriiption).  Bloch,  ärztl.  Mittheilungen  aus  Baden  1872.  4,  5  (Selbstmord  im 
Blatternfieberdelir). 

Beob.  109.  Tödtung  des  Kinds  im  Delirium  acutum.  Frau  Tiefen- 
brunn, 35  J.,  eine  bisher  unbescholtene,  etwas  bigotte  Frau  war  in  den  letzten 
Jahren  mit  ihrer  Familie  in  schlechte  Verhältnisse  gerathen.  Vor  4  Monaten 
hatte  sfe  zum  4.  Mal  ohne  besondere  Zufälle  entbunden.  Sie  erholte  sich  bei 
schlechter  Kost  und  schwerer  Arbeit  nicht  recht,  fühlte  sich  matt,  war  blutarm, 
abgemagert.  Die  Menstruation  war  seither  nicht  wiedergekehrt.  Wegen  Anämie 
hatte  sie  das  Kind  nicht  stillen  können.  Nach  einem  Streit  mit  dem  Gemeinde- 
vorsteher, an  den  sie  sich  vergebens  um  Unterstützung  wandte,  wurde  sie  am 
23.  Juni  gereizt,  streitsüchtig,  im  Bewusstsein  gestört.  Sie  sah  öfters  starr  nach 
einem  Fleck,  faltete  die  Hände  und  wiederholte  endlos  die  Worte :  „0  du  schöner, 
0  du  lieber  Himmel,  wie  schön  bist  du!"  In  der  Nacht  auf  den  24.  schlief  sie 
wenig,  delirirte  vom  Himmel,  Aussöhnung  mit  dem  Bürgermeister.  Am  24.  früh 
war  ihr  so  sonderbar  ängstlich.  Das  Kind  veränderte  fortwährend  Gestalt  und 
Grösse,  erschien  ihr  in  dunkelblauer  Farbe.  An  diesem  Tag  erschien  sie  Vor- 
mittags um  Almosen  bittend  im  Pfarrhof,  das  Kind  auf  dem  Arm.  Verstört  und 
zitternd  erschien  sie  dort.  Plötzlich  sah  sie  sich  von  schrecklichen  Gestalten 
umwogt.  Die  Besinnung  schwand  ihr.  Sie  hörte  noch  den  Caplan  sagen: 
„Schmeisst  es  nur  her."     Da  warf  sie  das  Kind  über  die  Treppe   hinunter.     Das 


Delirium.     Beob.   110.    Kindsmord  im  Puerperalfieberdelir.  295 

Kind  war  auf  der  Stelle  todt.  Es  wurde  ihr  schwarz  vor  den  Augen,  viele  Leute 
stürmten  auf  sie  ein.  Sie  besitzt  keine  Erinnerung  für  die  nächsten  2  Tage  und 
für  die  folgende  Krankheitszeit  nur  eine  summarische.  Nachdem  sie  ihr  Kind  weg- 
geworfen, war  sie  in  einen  rapt.  mel.-artigen  Zustand  gerathen,  hatte  den  Geistlichen 
zu  würgen  versucht.  Schreiend  und  tobend  wurde  sie  endlich  gebunden  in's  Spital 
gebracht  und  da  der  Zustand  andauerte,  am  25.  früh  auf  die  psychiatr.  Klinik. 
Pat.  ist  bei  der  Aufnahme  im  Bewusstsein  tief  gestört,  ängstlich,  feindlich  apper- 
cipirend.  Puls  125.  Temp.  39,0.  Zähneknirschen,  tetanische  Streckungen,  Schnauz- 
krampf, Zuckungen  der  Gesichtsmuskeln,  trocknende  Lippen  lassen  die  Diagnose 
auf  Delirium  acutum  stellen. 

Der  Verlauf  rechtfertigt  diese  Diagnose. 

Unter  heftigem  Fieber  (39 — 41,6)  und  einer  Pulsfrequenz  von  120—160 
bestehen  heftige  motorische  Reizerscheinungen  (Nackenstarre,  Bohren  mit  dem 
Kopf  in  den  Kissen,  Grimassiren,  zwangsmässiges  Stossen  und  Schlagen  mit  den 
Extremitäten),  schreckhafte  Delirien  von  Tod,  Vergiftung  mit  entsprechenden 
Visionen  und  hochgradiger  Angst,  bei  schwerer  Bewusstseinsstörung  mit  nur 
stundenweisen  Remissionen  bis  zum  8.  Juli  fort.  Von  da  an  Klärung  des  Be- 
wusstseins,  Nachlass  der  psychischen  Erregungsphänomene  und  motorischen 
Reizerscheinungen  unter  Rückgang  der  Temperatur  auf  37,6  und  des  Pulses  auf 
88  Schläge.  Pat.  ist  noch  sehr  erschöpft,  ruhebedürftig.  Ab  und  zu  Sorge,  dass 
ihr  etwas  geschehe  wegen  des  Kindes,  von  dessen  Schicksal  sie  doch  eine  dunkle 
Ahnung  hat. 

Auf  eine  gerichtsärztliche  Exploration  am  21.  Juli  stellt  sich  eine  Recidive 
ein,  die  bis  Anfang  August  dauert.  Pat.  erinnert  sich  nun  gar  nicht  naehr  ihrer 
That,  zeigt  vollständige  Amnesie  vom  24.  Juni  bis  zum  August. 

Am  4.  Oktober  wird  Pat.  genesen  entlassen.  Auf  Grund  des  Nachweises 
einer  schweren  fieberhaften  Erkrankung  mit  Delirien  (Delir.  acutum)  zur  Zeit 
der  That  verzichtete  die  Staatsanwaltschaft  auf  eine  strafgerichtliche  Verfolgung. 
(Eigene  Beobachtung.) 

Beob.  110.  Kindsmord  im  Delirium  eines  Puerperalfiebers. 
Die  25jährige  ledige  Taglöhnerin  N.,  ohne  erbliche  Anlage  zu  Nervenkrankheiten, 
mit  15  Jahren  menstruirt,  während  der  Menses  jeweils  mit  Kopfschmerzen  behaftet 
ungewöhnlich  reizbar  von  Gemüth,  wurde  im  25.  Jahre  schwanger.  Sie  ver- 
heimlichte ihren  Zustand  nicht,  traf  Voi-bereitungen  zum  Empfang  des  Kindes. 
Am  25.  Mai  gebar  sie  an  einem  Ort,  wo  gerade  Puerperalfieber  herrschte.  Die 
Geburt  war  schwer.  Acht  Tage  nach  derselben  stellten  sich  Kopfschmerz,  Appetit- 
verlust, Nachlass  der  Milchsekretion,  Durst  und  Eingenommenheit  des  Kopfes 
ein.  Am  6.  Juni  Nachmittags  fand  man  sie  noch  ruhig,  aber  mit  geröthetem 
Gesicht.  Am  7.  früh  hörte  man  sie  singen,  schreien,  am  Fenster  trommeln  und 
heftig  im  Zimmer  auf  und  abgehen.  Um  7  Uhr  kam  sie  den  Eintretenden  mit 
rollenden  Augen  und  geröthetem  Gesicht  entgegen  und  sagte:  „Ich  habe  nein 
Kind  umgebracht."  Gleich  darauf  fuhr  sie  wieder  fort  zu  singen  und  umherzu- 
gehen. Das  Kind  lag  erdrosselt  mit  gebrochenem  Schädel  am  Bett.  Die  Aerzte 
fanden  die  N.  im  Zustand  „maniakalischer"  Erregung  mit  bedeutender  Fluxion 
zum  Gehirn.  Sie  schrie,  sang,  gestikulirte  lebhaft  mit  den  Händen,  war  ganz 
verworren  und  beantwortete  Fragen  nur  theilwei.se.  Die  Zunge  trocken.  Puls  130. 
Haut  heiss.    Schmerz,  Spannung,  später  Fluktuation  im  Unterleib.   In  der  folgenden 


296  Cap.  XL    Zustände  krankhafter  Bewusstlosigkeit. 

Zeit  fieberhafte  Peritonitis.  Vom  13.  Juni  an  Besserung.  Von  allem  Vorgefallenen 
bis  zum  Eintritt  in's  Spital  hatte  Pat.  keine  Erinnerung.  Nachweis  eines  Deliriums 
im  Verlauf  eines  Puerperalfiebers  zur  Zeit  der  That.  (Pichler,  Lehrb.  d.  ger. 
Med.  p.  189.) 


5.   Die  AffektzB stände. 

Literatur:  Friedreich  Lehrb.  d.  ger.  Psychol.  p.  817  (ältere  Literatur).  Henke's, 
Abhandl.  II,  p.  309,  340,  371.  V.  p.  214.  Hoffbauer,  die  Psychologie  etc. 
§.  209.  Casper-Liman ,  Handb.  p.  707.  y.  Krafft,  transitor.  Störungen  etc. 
p.  99.     Schwartzer,  transit.  Tobsucht  p.  114 

Gesetzl.   Bestimmungen:     Deutsch.  St.-G.-B.  §.  53,  54,  213,  217,  224. 
Oesterr.  St.-G.-B.  §.  2.  lit.  g. 
Oesterr.  St.-G.-Entw.  §.  59  alin  3. 


a.    Der    physiologische    Affekt. 

Die  Affekte  sind  Zustände,  die  der  Breite  des  physiologischen 
Lebens  angehören,  wenn  auch  es  sich  nicht  bestreiten  lässt,  dass 
in  jedem  tiefer  gehenden  Affekt  erhebliche  körperliche  und  geistige 
Funktionsstörungen  zu  Tage  treten  und  die  Besonnenheit  momentan 
eine  bedeutende  Trübung  erfahren  kann.  Erfahrungsgemäss  kann 
unter  physiologischen  Bedingungen  in  einem  gewissen  Lebensalter  und 
bei  entsprechender  Erziehung  eine  Correktur  und  Beherrschung  der 
vom  Affekt  getragenen  Vorstellungen  und  Strebungen  geleistet  werden. 
Die  Rechtspflege  darf  desshalb  die  Handlungen  des  Affekts,  die  so 
häufig  zu  schweren  Rechtsverletzungen  führen,  nicht  ungestraft  lassen. 

Aber  der  Zustand  des  Affekts  ist  nun  einmal  eine  vorüber- 
gehende Störung  im  psychischen  Mechanismus,  ein  Zustand,  in  wel- 
chem die  psychische  Widerstandsfähigkeit,  soweit  sie  durch  rechtliche 
und   ethische  Vorstellungen    bedingt   wird,    eine  Schwelle  tiefer  liegt. 

Individualität,  Umstände,  Veranlassung  des  Affekts,  bilden  eine 
Reihe  von  die  subjektive  Schuldfrage  wesentlich  beeinflussenden,  für 
den  Erfolg  wichtigen,  und  bei  verschiedenen  Individuen  keineswegs 
gleichwerthigen  Momenten. 

Temperament,  Charakter,  Erziehung,  somit  Umstände,  für  die 
der  Betreffende  in  keiner  Weise  verantwortlich  gemacht  werden  kann, 
üben  einen  mächtigen  Einflüss  darauf,  wie  der  Affekt  verläuft. 

Die  Rechtspflege  ist  dieser  Thatsache  vollkommen  gerecht  ge- 
worden, indem  sie  die  strafbaren  Affekthandlungen  scharf  zu  sondern 
bemüht  ist  von  den  im  äusseren  Erfolg  zwar  gleichen,    aber  im  Zu- 


Die  Affektziistände.     Phj'siologischer  AlTekt.  297 

stand  psychischer  Ruhe  und  Gleichgewichts  beschlossenen  und  aus- 
geführten, und  die  ersteren  ganz  anders  qualificirt  und  viel  milder 
beurtheilt.  Nur  hat  die  Justiz  hier  nicht  zu  übersehen ,  dass  Affekt 
und  Ueberlegung  nicht  schroffe  Gegensätze  sind,  und  weder  der 
Affekt  die  Ueberlegung,  noch  diese  den  Affekt  ausschliesst. 

Zu  warnen  ist  auch  davor,  dass  aus  einer  gewissen  Dauer  des 
Affekts  bis  es  zur  That  kam,  nicht  irrig  gefolgert  wird,  dem  Affekt 
hätte  widerstanden  werden  können. 

Eine  solche  Anschauung  vergisst,  dass  bei  leidenschaftlichen 
Naturen  der  Affekt  sich  in  sich  selbst  steigern ,  bei  sittlich  und 
intellectuell  Hochstehenden  derselbe  lange  bekämpft  werden  kann, 
bis  ein  geringfügiges  Accidens,  irgend  eine  Gelegenheitsursache  den 
letzten  Rest  der  Besonnenheit  und  Selbstbeherrschung  vernichtet  und 
den  Affekt  in  einer  Handlung  explodiren  macht. 

Ebensowenig  kann  der  Leumund  entscheidend  in  die  Wagschaale 
fallen.  Mag  auch  ein  gutes  Vorleben  zu  Gunsten  des  Angeklagten 
sprechen  und  dafür  zeugen,  dass  er  eben  dem  zwingenden  Einfluss 
mächtiger  afficirender  Vorstellungen  erlegen  ist  („des  Todtschlags  im 
Affekt  sind  selbst  die  edelsten  Gemüther  fähig",  Feuerbach),  so  kann 
doch  nicht  ein  vorher  leidenschaftlicher,  jähzorniger  Charakter  be- 
lastend erklärt  werden^  so  lange  nicht  entschieden  ist,  ob  er  seine 
Begründung  in  verantwortlicher  selbstverschuldeter  Rohheit  oder  in 
unverschuldeter  fehlerhafter  Erziehung,  oder  Naturanlage  durch  un- 
günstige, organische  Bedingungen  fand. 

Der  Gesetzgeber  geht  noch  weiter,  indem  er  gewisse  Hand- 
lungen eines  unverschuldeten  Affekts  geradezu  straflos  erklärt.  Dahin 
gehört  die  Ueberschreitung  der  Grenzen  der  Vertheidigung  aus  Be- 
stürzung ,  Furcht ,  Schrecken  bei  Nothwehr ,  und ,  in  Frankreich 
wenigstens,  die  Tödtung,  welche  der  beleidigte  Ehegatte  an  der  ehe- 
brecherischen Frau  und  deren  Verführer,  wenn  er  sie  in  flagranti 
ereilt,  verübt. 

Affektzustände,  die  hier  namentlich  in  Betracht  kommen  und 
der  Milde  des  Richters  empfohlen  werden  müssen ,  sind  die  Affekt- 
handlungen aus  unglücklicher  Liebe  (Tödtung  der  Geliebten  mit 
Selbstmordversuch)  und  Eifersucht  (Tödtung  aus  verschmähter  und 
getäuschter  Liebe),  aus  Noth  und  Verzweiflung  (Tödtung  der  Ange- 
hörigen im  vermeintlich  hoffnungslosen  Kampf  ums  Dasein). 

Ein  solcher  affektvoller  psychischer  Ausnahmezustand,  dem  auch 
das  humane  Strafgesetz  unserer  Zeit  gerecht  geworden  ist,  findet  sich 
häufig   bei   unehlich  Gebärenden,    wo  Scham    über  die  verlorene  Ge- 


298  Cap.  XI.    Zustände  krankhafter  Bewusstlosigkeit. 

schlechtsehre ,  Sorge  um  die  Zukunft ,  Schrecken  bei  den  Zeichen 
herannahender  Geburt,  hilflose  Niederkunft,  Verlassensein  vom  Ge- 
liebten, Verstossensein  von  der  Familie,  lieblose  Behandlung  der  Um- 
gebung, materielle  Noth  und  Verzweiflung  so  häufig  zusammenwirken 
und  Conflikte  im  Bewusstsein  hervorrufen,  die  nicht  jedes  Weib,  am 
wenigsten  in  einem  Moment,  wo  das  Nervensystem  durch  die  Schmerzen 
der  Geburt  erschöpft  und  irritirt  ist,  nach  der  sittlichen  Seite  hin 
lösen  kann  und  die  vielfach  ihren  tragischen  Ausgang  in  der  Tödtung 
des  Kindes,  als  der  Quelle  all  des  Jammers  finden. 

Die  Beurtheilung  dieser  Kategorien  von  Fällen  kommt  meist 
dem  Richter  allein  zu ,  da  sie  eine  vorwiegend  psychologische  ist. 
Zudem  sind  einzelne  derselben  speciell  von  der  Gesetzgebung  vor- 
gesehen (§.  53.  213  Deutsch.  Str.-G.-B.)  und  besonders  qualificirt 
(§.  217). 

Der  Richter  wird  auch  die  anthropologische  Seite  der  Persönlich- 
keit zu  würdigen  und  einer  oiüginären  oder  erworbenen  Anomalie 
des  Charakters  (Excentricität,  Gemüthsreizbarkeit,  geistige  Beschränkt- 
heit bis  zu  Schwachsinn)  Rechnung  zu  tragen  haben. 

Hieher  gehörige  Fälle  von  strafbaren  Handlungen  aus  physiologischem 
Affekt :  aus  Liebe  oder  Eifersucht:  Casper-Liman ,  Fall  221,  222.  Marc- 
Ideler  I,  p.  58,  101  II,  p.  131.  Legrand  du  Saulle,  la  folie  p.  495.  Casper,  Viertel- 
jahrschr.  1854  p.  337.  Goltdammers  Archiv  III,  2.  p.  420.  Demme,  Annalen 
X.  p.  333.  Temme,  Archiv  VI,  p.  250,  256,  257  s.  f.  d.  denkwürdigen  Fall  (eines 
Richters,  der  seine  Frau  um  ihr  die  Qualen  des  Todeskampfs  abzukürzen,  er- 
schiesst)  in  Friedreich's  Bl.  1879  H.  5  u.  6.  Mord  der  Kinder  aus  Not h, 
Verzweiflung:  v.  Krafft,  Friedreich's  Blätter  1870  H.  3.  Casper,  Viertel- 
jahrschr.  XXII,  p.  170.  Henke,  Zeitschr.  1823  H.  3.  Hitzig's  Annalen  XIV.  H.  2. 
Kindsmord:  Maschka,  Gutachten  1853  p.  237  (geistesbeschränkte  Person,  die 
im  Affekt  der  Angst  und  Verzweiflung  ihr  neugeborenes  Kind  mordet.) 

Der  Richter  muss  endlich  der  Möglichkeit  eingedenk  sein,  dass 
ausser  Belastung,  Excentricität,  Schwachsinn  u.  a.  psychopathischen 
Momenten,  ein  erleichtertes  Auftreten  von  Affekten  Symptom  einer 
beginnenden  Geisteskrankheit  sein  kann.  Da  thatsächlich  das  Irresein 
in  der  Regel  mit  gemüthlichen  Störungen  (Aenderungen  der  Gemüths- 
erregbarkeit,  spontane  und  krankhaft  intensive,  weil  organisch  bedingte 
Affekte)  beginnt,  ist  hier  die  grösste  Vorsicht  nöthig,  damit  nicht 
eine  beginnende  Geistesstörung  übersehen  werde.  (Anhaltspunkte  zur 
Unterscheidung  von  Affekt  und  Gemüthskrankheif  s.  p.  31.)  Wie 
überall  auf  biologischem  Gebiet  ist  der  Uebergang  vom  physiologi- 
schen zum  pathologischen  kein  schroffer. 


Beob.  111.     Vierfacher  Kindermord  im  Affekt.  299 

Beob.  111.  Vierfacher  Kindermord  im  Affekt  (eines  wahrschein- 
lich Gemüthskranken).  G.,  34  J.,  verheirathet  seit  1871,  Vater  von  4  Kindern, 
im  Alter  von  1—5  Jaliren,  früher  Schneider,  seit  1877  Metzger,  kam  am  Morgen 
des  6.  März  gegen  6  Uhr  zu  seinem  Bruder,  mit  der  Erklärung:  „Jakob,  ich  habe 
meine  Kinder  ermordet  und  meine  Frau  ist  auch  todt."  Bei  der  gerichtlichen 
Umschau  fand  man  in  der  sonst  reinlichen,  geordneten  Haushaltung  die  Frau 
erhängt  und  G.'s  Kinder  erschlagen  oder  erdrosselt.  Auch  an  G.'s  Hals  fand  sich 
eine  Strangrinne.  Der  Befund  bei  der  Frau  machte  freiwilligen  Selbstmord  wahr- 
scheinlich. G.  hatte  nie  Spuren  eines  abnormen  Geisteszustands  geboten.  Seine 
Mutter  war  hochgradig  hysterisch  und  in  ihrer  Familie  waren  schwere  Verbrechen 
und  Geistesstörungen  vorgekommen.  Seine  Schulzeugnisse  lauten  gut,  sein  Vor- 
leben war  tadellos ;  in  letzter  Zeit  war  er  pecuniär  in  schlechten  Verhältnissen, 
zudem  durch  eine  Bürgschaft  und  die  Fürsorge  für  seine  taubstumme  Schwester 
gedrückt,  aber  verzweifelt  war  seine  Lage  keineswegs.  Am  5.  hatte  er  sich 
wieder  über  die  Schwester  geärgert,  auch  die  Bürgschaft  fiel  ihm  ein,  da  habe 
er  sich  lebenssatt  gefühlt  und  seine  Frau  gefragt,  ob  sie  mit  ihm  sterben  wolle. 
Dieser  war  es  recht.  Sie  einigten  sich,  dass  sie  auch  die  Kinder  mitnehmen 
wollten.  Die  Angelegenheit  wurde  ruhig  besprochen.  Bedenken  der  Frau,  dass 
es  eine  Sünde  sei,  beschwichtigt,  alle  Vorbereitungen  zum  Tod  getroffen.  G.  will 
vom  Entschluss  bis  zur  Ausführung  keine  hemmenden  A'^orstellungen  des  Unrechts 
etc.  gehabt  haben.  Erst  am  Tag  vor  der  That  erschien  er  den  Zeugen  traurig, 
etwas  verstört.  Abends  10  Uhr  hatte  er  einen  Brief  an  den  Arzt  in  die  Brief- 
lade geworfen,  in  welchem  stand:  „Lieber  Herr  R.,  kommen  Sie,  wenn  Sie  diese 
traurigen  Zeilen  gelesen,  sofort  zu  mir,  aber  gleich  mit  einigen  Herren  vom  Ge- 
richt, Sie  werden  mich  und  meine  Familie  todt  antreffen."-  Er  ging  dann  heim, 
bereitete  Alles  vor,  ging  mit  seiner  Frau  zu  Bett,  stand  um  12  Uhr  auf  und  er- 
drosselte langsam  2  seiner  Kinder  im  Schlaf.  Müde  von  dem  langen  Zuziehen 
der  Schnur,  griff  er  beim  3.  Kind  zum  Haubeil.  Als  er  Blut  sah,  griff  er  wieder 
zur  Schlinge,  mit  der  er  auch  das  4.  Kind  tödtete.  Dann  richteten  sich  die 
Eltern  zum  Tod,  legten  sich  die  Schlingen  um,  gaben  sich  die  Hand,  beugten  die 
Kniee  und  sagten:  Gott  sei  uns  armen  Sündern  gnädig.  Von  da  bis  Morgens, 
wo  er  zu  sich  kam ,  weiss  er  nichts  von  sich.  G.  hatte  seine  Kinder  lieb  ge- 
habt.    Er  war  kein  Trinker,  guter  Familienvater. 

Der  Gedanke  zur  grässlichen  That  kam  plötzlich  und  fand  ferner  keinen 
Gegensatz  im  Bewusstsein.  Seine  Liebe  zu  den  Kindern  zog  ihn  zu  jener  hin. 
Anhaltspunkte  für  einen  geistig  abnormen  Zustand  zur  Zeit  der  That  und  nach 
derselben  ergaben  sich  in  keiner  Weise.  Die  Aerzte  sprachen  sich  dahin  aus, 
dass  G.  sich  damals  in  einem  Affekt  der  Verzweiflung  befunden  habe  und  weisen 
darauf  hin,  dass  der  Affekt  die  Ueberlegung  nicht  ausschliesse. 

Auffällig  ist  die  Thatsache,  dass  G.  auch  in  der  folgenden  Zeit,  ohne 
„geisteskrank"  zu  sein,  nie  Reue  über  seine  That  empfand.  Erst  nach.  14  Tagen 
kam  ihm  Reue.  Bis  dahin  hatte  er  nur  an  Selbstmord  gedacht,  um  mit  den 
Seinigen  wieder  vereinigt  zu  werden. 

Körperlich  findet  sich  an  G.  nichts  Bemerkenswerthes.  Von  ärztlicher 
Seite  wird  die  Häufigkeit  von  Irresein  in  der  Familie  des  G.  hervorgehoben, 
dass  aus  solcher  belasteter  Familie  hervorgegangene  Affekte  leichter  über- 
wältigend wirken.  Die  That  sei  ein  erweiterter  Selbstmord.  Die  Thatsache  der 
Ueberlegung  mache  dabei  nichts  aus.     Ein  Affekt  könne  auch  Tage  lang  dauern. 


300  Cap.  XL    Zustände  krankhafter  Bewusstlosigkeit. 

Ein  abnormer  Charakter  muss  G.  doch  gewesen  sein,  denn  als  man  einmal  Be- 
denken äusserte,  ob  er  mit  der  Metzgerei  reüssire,  meinte  er,  er  würde  lieber 
seine  ganze  Familie  ermorden  und  sich  auch,  ehe  er  wieder  zur  Schneiderei  zu- 
rückkehre. Er  war  auch  ein  verschlossener  ernster  Charakter.  Allgemeines  Be- 
dauern, dass  das  Gesetz  keine  verminderte  Zurechnungsfähigkeit  mehr  kennt. 
Verurtheilung  zum  Tod,  der  Gnade  des  Königs  empfohlen  und  wirklich  zu  lebens- 
länglichem Zuchthaus  (!)  begnadigt.  (Burkart,  Vierteljahrschrift  f.  ger.  Med. 
N.  F.  XXIX,  H.  2.) 


b.    Der    pathologische    Affekt   (Sinnesverwirrung). 

Es  gibt  durch  eine  Gemüthsbewegung  hervorgerufene  Seelen- 
zuständc;  bei  welchen  gegenüber  einem  gewöhnlichen  Affekt  die 
Dauer  und  Intensität  der  Gemüthserschütterung  zunächst  auffällig 
erscheint  und  dem  psychischen  Ausnahmezustand  das  Gepräge  eines 
pathologischen  verleiht.  Eine  genauere  Untersuchung  in  solchen 
Fällen  lehrt,  dass  es  sich  hier  strenggenommen  nicht  mehr  um  Affekt^ 
sondern  um  transitorisches  Irresein  handelt ,  zu  welchem  der  Affekt- 
vorgang nur  den  Anstoss  gab.  Es  sind  fast  ausschliesslich  depressive 
Affekte  oder  die  sog.  gemischten  des  Zorns,  welche  eine  solche  tief- 
greifende Wirkung  haben,  während  die  expansiven  sich  rasch  aus- 
gleichen und  nicht  zum  Verlust  des  Selbstbewusstseins  führen.  Nicht 
ohne  Berechtigung  hat  man  deshalb  von  einem  „Wahnsinn  der  Zorn- 
trunkenheit" (Casper)  gesprochen.  Umfassender  dürfte  die  Bezeich- 
nung „pathologische  Affektzustände"  sein,  da  auch  Schrecken  u.  a. 
depressive  Affekte  einen  psychischen  Ausnahmezustand  herbeiführen 
können.  Das  Schwergewicht  muss  aber  darauf  gelegt  werden,  dass 
es  sich,  sowenig  als  beim  pathologischen  Alkoholzustand  um  Rausch, 
hier  um  Affekt,  sondern  um  transitorisches  Irresein  handelt.  Damit 
entzieht  sich  der  Zustand  der  Domaine  des  Richters  und  dessen  psy- 
chologischer Beurtheilung.  Er  wird  Gegenstand  klinisch  -  anthropo- 
logischer Expertise  des  Arztes. 

Die  Entstehungsweise  der  sog.  pathologischen  Affekte  muss  in 
der  tiefgreifenden  Wirkung  des  Affektvorgangs  auf  das  vasomotorische 
Nervensystem  gesucht  werden.  Offenbar  werden  dadurch  (Gefäss- 
krampf,  Gefässlähmung)  geänderte  und  entschieden  pathologische 
Circulationsbedingungen  im  Gehirn  geschaffen,  die  freilich  durch  einen 
Affekt  hervorgerufen,  aber  dann  selbständig  geworden  und  einer  raschen 
Ausgleichung  nicht  fähig,  ihren  klinischen  Ausdruck  in  einer  transi- 
torischen  Geistesstörung  finden. 

Daraus   erklärt   sich  die  abnorme  Intensität  und  Dauer  des  an- 


Der  pathologische  Affekt.  301 

scheinenden  Affekts,  der  nur  die  veranlassende  Ursache  eines  aus  ihm 
hervorgegangenen  Irreseins  war. 

Diese  abnorm  intensive  und  dauernde  hyperämisirende  (Gefäss- 
lähmung)  oder  anämisirende  (Gefässkrampf)  Wirkung  eines  AfFektvor- 
gangs  muss  auf  präexistirenden  funktionellen  Veränderungen  im  Central- 
organ  beruhen  und  auf  solche  zurückführbar  sein.  Es  kann  sich  um  eine 
Herabsetzung  der  psychischen  Widerstandsfähigkeit  (abnorme  Gemüths- 
reizbarkeit)  gegen  die  afficirende  Vorstellung  handeln  und  dadurch 
■secundär  die  den  Aflfektvorgang  begleitende  somatische  Betheiligung 
(Vasomotorius)  zeitlich  und  intensiv  abnorm  ausfallen ,  es  kann  auch 
das  vasomotorische  Centrum  abnorm  erregbar  oder  erschöpfbar  und 
direkt  vom  Affektshok  ungewöhnlich  stark  afficirt  werden.  Diese 
funktionelle  Aenderung  in  der  Erregbarkeit  psychischer  und  vasomo- 
torischer Centren  muss  klinisch-forensisch  sich  wieder  auf  krankhafte 
Veranlagung  oder  wirkliche  Erkrankung  bezw.  Schwächung  der 
nervösen  Centralorgane  begründen  lassen.  Thatsächlich  finden  sich 
überall  wo  darnach  geforscht  wird,  bei  pathologischen  Affektzuständen 
angeborene  oder  erworbene  funktionelle  Schwächezustände  des  Gehirns 
bezüglich  des  gemüthlichen  und  vasomotorischen  Tonus.  Es  handelt 
sich  hier  um  analoge  Bedingungen  wie  bei  den  pathol.  Alkohol- 
zuständen (vgl  p.  281.) 

Die  angeborene  und  deshalb  dauernde  Widerstandsunfähigkeit 
ist  Theilerscheinung  einer  organischen  meist  hereditären  Belastung 
(s.  psych.  Degenerationszustände  p.  237),  seltener  Folgeerscheinung 
einer  die  Entwicklung  des  Gehirns  in  jungen  Jahren  beeinträchtigen- 
den und  psychische  Defekterscheinungen  (Idiotie,  Schwachsinn)  hinter- 
lassenden Schädlichkeit  (acute  schwere  Krankheiten,  Masturbation, 
Convulsionen,  Trauma  capitis  etc.). 

Die  erworbene  Schwäche  gegen  Affekte  ist  eine  dauernde  oder 
vorübergehende. 

Im  ersten  Fall  ist  sie  Residuum  schwerer  Insulte  des  erwachsenen 
Gehirns  durch  Kopfverletzung,  Insolation,  Apoplexie,  Meningitis, 
Geisteskrankheit,  Typhus  etc.  oder  Symptom  bestehender  vielleicht 
noch  wenig  ausgesprochener  oder  latenter  Krankheitszustände  des 
centralen  Nervensystems  (Alkoholismus  chronicus ,  Lues  cerebralis. 
Dementia  paralytica,   Epilepsie,   Hysterie  etc.). 

Vorübergehend  kann  eine  funktionelle  Schwäche  des  Central- 
organs  gegeben  sein  durch  chronische  Krankheiten,  die  Schlaf,  Er- 
nährung, Blutbildung  beeinträchtigten,  durch  fortgesetzte  psychische 
Reize  (Affekte,  Leidenschaften,  Sorge,  Kummer,  intellectuelle  Ueber- 


302  Cap.  XL    Zustände  krankhafter  Bewusstlosigkeit. 

anstrengiing)  durch  den  schwächenden  Einfluss  von  Blutverkisten,  de& 
Stillens^  den  erfahr ungsgemäss  den  Tonus  der  Nervencentren  herab- 
setzenden Einfluss  des  Menstruationsvorgangs. 

Endlich  kann  ein  Affektvorgang  zu  transitorischem  Irresein  den 
Anstoss  geben,  insofern  gleichzeitig  cumulirende  und  den  vasomotori- 
schen Tonus  herabsetzende  Einflüsse  (hohe  äussere  Temperatur,  Alkohol- 
excesse)  wirksam  waren.  Auch  das  klinische  Bild  solcher  pathologi- 
scher Aff"ektzustände  entspricht  nicht  dem  des  Affekts,  sondern  viel- 
mehr dem  des  Irreseins. 

Es  kann  sich  als  stuporartige  Hemmung  des  Vorstellens  und 
Umneblung  des  Bewusstseins  oder  als  traumartig  verworrenes  wirres 
Durcheinanderjagen  der  Vorstellungen  bei  tief  gestörter  Apperception 
(Sinnesverwirrung),  als  hallucinatorisches  Delirium  mit  illusorischer 
Verkennung  der  Aussenwelt  oder  als  wuthzornige  Erregung  (ira  furor 
brevis !)  darstellen  und  damit  dem  Bild  der  Mania  transitoria  nähern. 

Dieser  Höhe-  der  AfFektwirkung  entspricht  ein  weiteres  klinisches 
Erkennungszeichen  —  die  tiefe  Beeinträchtigung  des  Selbstbewusst- 
seins  bis  zur  Aufhebung  desselben  und  die  daraus  sich  nothwendig 
ergebende  getrübte,  lückenhafte  bis  aufgehobene  Erinnerung. 

Die  Constatirung  der  obigen  aetiologischen  und  klinischen  That- 
sachen  wird  die  Grundlage  sein  müssen,  auf  der  sich  das  ärztliche 
Gutachten  aufbaut.  Unterstützend  für  die  ärztliche  Beurtheilung  wird 
dann  die  nachträgliche  Heranziehung  der  Handlungsweise  des  Thäters 
sein,  deren  Planlosigkeit  und  Rücksichtslosigkeit  eine  tiefere  Störung 
des  Seelenlebens  mindestens  wahrscheinlich  macht.  Die  Zurechnungs- 
fähigkeit für  die  Handlungen  des  pathologischen  Affekts,  als  eines 
Zustands  krankhafter  Bewusstlosigkeit  ist  gänzlich  ausgeschlossen. 

Beob.  112.  Durch  Intensität  (Am.nesie)  und  Dauer  ausge- 
zeichneter pathologischer  Affektzustand.  Kobyl,  24  J.,  Schreiber, 
stammt  von  einem  Vater,  der  als  eigenthümlicher,  jähzorniger,  eigensinniger, 
zeitweise  sehr  erregter  Mann  galt.  Dessen  Vater  litt  an  Alkoholismus  chron.  Der 
Bruder  der  Mutter  des  Vaters  war  irre  und  endete  durch  Selbstmord.  2  Geschwister 
des  K.  starben  unter  Convulsionen.  Er  selbst  litt  im  1.  Lebensjahr  längere  Zeit 
an  solchen,  entwickelte  sich  geistig  und  körperlich  ungemein  rasch,  war  von  jeher 
ein  aufgeregter,  reizbarer,  leidenschaftlicher,  selbstbewusster ,  eigenthümlicher 
Mensch  von  excentrischen  Anschauungen.  Nie  waren  bei  ihm  auf  Epilepsie  deutende 
Erscheinungen  beobachtet  worden.  Er  ging  1869  zum  Militär,  avancirte,  gerieth 
in  schlechte  Gesellschaft,  veruntreute  1875  einen  Geldbetrag,  wurde  mit  Kerker 
und  Degradation  bestraft,  fand  in  der  Folge  keine  befriedigende  Existenz,  lebte 
kümmerlich,  wurde  immer  reizbarer,  verbissener,  verschlossener.  1878,  im  Früh- 
jahr verliebte  er  sich  in  ein  Mädchen,  das  ihm  auch  Avancen  machte.  Am 
17.  Mai  heftige  Gemüthsbewegung,  da  er  merkte,  dass  die  Geliebte  einen  andern 


Beob.  113.     Pathologischer  Ati'ekt.     Strafbare  Handlungen.  303 

vorzog.  Am  19.  Mai,  nach  schlaflosen  Nächten  und  qualvoller  Eifersucht  hatte 
er  eine  Zusammenkunft  mit  dem  Mädchen,  das  neue  Versicherungen  seiner  Treue 
gab.  ,,Ich  nahm  ihre  Schwüre  nicht  mehr  für  bare  Münze.  Ehrlos,  ohne  Existenz 
und  unglücklich,  vi'ie  ich  war,  dachte  ich  an  Selbstmord".  Heimgekehrt  war  K. 
sehr  aufgeregt,  schmetterte  einen  Stuhl  auf  den  Boden,  stierte  ganz  verstört  vor 
sich  hin. 

•Seit  dem  20.  ging  er  immer  vor  dem  Hause  des  Mädchens  auf  und  ab. 
Am  23.  schrieb  er  einen  Abschiedsbrief,  worin  er  seinen  Selbstmord  andeutete. 
Am  24.  wird  K.  von  der  Polizei  in"s  Spital  gebracht.  Er  ist  fieberlos,  ganz  ver- 
stört, im  Bewusstsein  schwer  gestört,  inexplorabel,  spricht  nur  abgerissene  Sätze 
„wenn  ich  einen  Rasirer  hätte  —  ich  kann  so  nicht  gehen  —  sie  wartet  schon, 
ich  muss  ihr  ein  Sträusschen  bringen". 

Pat.  ist  gut  genährt,  ohne  Degenerationszeichen,  vegetativ  ohne  Befund, 
blass,  Pupillen  sehr  weit,  Zunge  leicht  zitternd.  Nach  schlafloser  Nacht  ist  Pat. 
am  25.  etwas  weniger  benommen,  weiss  aber  noch  nicht  wo  er  ist  und  drängt 
brüsk  fort. 

Am  27.  wird-  er  plötzlich  ganz  lucid.  Die  Erinnerung  fehlt  vollständig. 
Er  weiss  nur,  dass  er  am  24.  ganz  verstört  vor  dem  Hause  des  Mädchens  auf 
und  abging.  Den  ihm  vorgelegten  Abschiedsbrief  erkennt  er  als  von  ihm  ge- 
schrieben an,  aber  er  weiss  nichts  von  dessen  Existenz,  noch  wie  er  dazu  kam. 
Da  Pat.  bis  zum  5.  Juni  nichts  Auffälliges  bot,  wurde  er  entlassen.  Schon  am 
8.  Juni  wurde  er  wieder  aufgenommen,  da  er  brutal  gegen  seine  Mutter  sich  be- 
nommen hatte  und  einen  Revolver  anschaffen  wollte,  um  sich  und  das  Mädchen 
zu  erschiessen.  Der  diesmalige  Affekt  steigerte  sich  nicht  bis  zum  Verlust  des 
Selbstbewusstseins,  aber  K.  blieb  verbissen,  verschlossen,  gerieth  bei  geringfügigem 
Anlass  in  bedenklichen  Zornaft'ekt  und  vermochte  sich  nicht  zu  beherrschen.  Bei 
seiner  Unverträglichkeit  und  Verletzlichkeit  war  nur  schwer  mit  ihm  auszu- 
kommen. Eine  Behandlung  mit  subcutanen  Morphiuminjektionen,  tonisirendes 
Regime  und  Vermeidung  aller  Anlässe  zur  Aufregung,  brachte  erst  nach  Monaten 
die  frühere  relative  psychische  Gleichgewichtslage  wieder.    (Eigene  Beobachtung.) 

Beob.  113.  Pathologischer  Affekt.  Angriffe  auf  einen  Vor- 
gesetzten. Lieutenant  N.,  23  Jahr  alt,  wurde  wegen  wörtlicher  Beleidigung 
und  thätlichen  Angriffs  eines  Vorgesetzten  zur  Strafe  der  Dienstentlassung 
und  ISjähriger  Festungshaft  verurtheilt.  Während  der  Untersuchung  hatten  sich 
Zweifel  über  die  Integrität  seiner  Geisteskräfte  erhoben.  Zwei  Aerzte  stellten 
die  That  als  Ausfluss  eines  vorübergehenden  Wahnsinns  hin;  da  aber  das  Gut- 
achten derselben  nicht  genügend  motivirt  erschien,  wurde  das  Medicinalcollegium 
zur  Begutachtung  aufgefordert,  das  die  That  als  in  leidenschaftlichem  Gemüths- 
affekt  begangen  hinstellte.  Darauf  erfolgte  die  erwähnte  Verurtheilung.  Das 
Generalauditorium  verlangte  aber  ein  Gutachten  in  dritter  Instanz  von  der  wissen- 
schaftlichen Deputation,  das  im  Folgenden  auszugsweise  mitgetheilt  werden  soll. 
Geschichtserzählung:  Am  Sylvesterabend  186  .  .  war  in  einem  Separatzimmer 
einer  Restauration  eine  Gesellschaft  Damen  und  Herren  vom  Civil  und  Militär 
zusammen,  als  um  10  Uhr  N.  die  Thüre  öffnete  und,  den  Hut  auf  dem  Kopf  be- 
haltend, nach  1 — 2  Minuten  dauernder  Anstierung  der  Gesellschaft  sich  wieder 
entfernte.  Die  Gesellschaft  war  darüber  sehr  betroffen.  Hauptmann  S.  geht 
hinaus  und  macht  N.  auf  das  Unziemliche  seines  Benehmens  aufmerksam.   Dieser 


304  Cap.  XI.    Zustände  krankhafter  Bewusstlosigkeit. 

entgegnet  in  aufgebrachtem  Tone,  das  Gesagte  sei  ihm  gleichgültig  und  S.  ein 
ganz  gewöhnlicher  Mensch.  Ein  Herr  von  K.  kommt  hinzu ,  hält  dem  N.  eben- 
falls sein  Benehmen  vor  und  fragt,  ob  er  denn  nicht  gesehen,  dass  Offiziere  im 
Zimmer  waren.  N.  erklärt  keine  bemerkt  zu  haben  und  geht  die  Treppe  hinunter, 
wieder  hinauf,- schickt  einen  Kellner  ins  Zimmer  mit  der  Aufforderung  S.  möge  heraus- 
kommen. Auf  wiederholte  Weigerung  desselben  geht  er  im  Paletot  und  die  Mütze 
auf  dem  Kopfe  in's  Zimmer  zu  S.  und  sagt  ihm  mit  fester  Stimmer:  ich  habe  Dich 
zweimal  auffordern  lassen  herauszukommen,  Du  bist  nicht  gekommen;  ich  er- 
kläre Dich  für  einen  gemeinen  Schweinhund  und  fordere  Dich  hiermit  auf  Leben 
und  Tod.  S.  erwidert:  Du  weisst  ja  was  Du  weiter  zu  thun  hast.  N.  darauf: 
Ah,  Du  bist  feige ;  ich  erkläre  dich  noch  einmal  für  einen  nichtswürdigen  Schwein- 
hund, wie  kein  zweiter  auf  Gottes  Erdboden  geht.  S.  erklärt  ihn  für  verrückt 
und  schickt  einen  Offizier  nach  dem  Arzt.  N.  will  fort,  wird  aber  zurückgehalten. 
Plötzlich  springt  er  auf  S.  zu,  kratzt,  schlägt,  beisst  ihn,  bis  er  in  eine  Sophaecke 
gedrückt  wird.  Hier  beruhigt  er  sich,  trinkt  zwei  Flaschen  Selterswasser,  raucht 
eine  Cigarre  und  wünscht  dann  nach  Hause  zu  gehen.  Um  11 V2  Uhr  kommt 
der  Arzt,  versucht  vergebens  N.  nach  dem  Lazareth  zu  bringen.  N.  ist  immer 
noch  aufgeregt,  mit  funkelnden  Augen,  geröthetem  Gesicht,  130  Pulsschlägen.  Er 
behauptet  vom  Augenblick  an,  wo  er  den  Kellner  in's  Zimmer  schickte,  bis  da, 
wo  er  sich  im  Sopha  befand,  nichts  von  allen  Vorfällen  zu  wissen.  In's  Lazareth 
wollte  er  nicht  gehen,  er  sei  nicht  verrückt. 

N.  geht  ruhig  mit  einem  Hauptmann  X.  nach  seiner  Wohnung,  schläft  an- 
geblich die  Nacht  über  ruhig,  klagt  Morgens  Kopfweh  und  behauptet  von  einem 
thätlichen  Angriff  auf  S.  nichts  zu  wissen.  N.  war  seit  mehreren  Jahren  mit  S. 
befreundet  gewesen,  demselben  aber  durch  excentrisches  Benehmen  und  exaltirte 
Verehrung  für  dessen  Frau  unangenehm  geworden.  Er  hatte  sich  wiederholt 
aufgeregt  und  eigenthümlich  gezeigt,  gebeten  S.  möge  ihn  nicht  Verstössen,  sonst 
werde  er  wahnsinnig.  Er  war  oft  sehr  verstimmt  über  die  Differenzen  mit  S., 
fühlte  sich  krank  und  fing  an  zu  trinken.  Als  S.  ihm  endlich  den  Besuch  seines 
Hauses  verbot,  benahm  er  sich  kindisch,  weinte  und  war  ganz  haltlos.  Die  folgen- 
den zwei  Monate  hörte  sein  Verkehr  mit  S.  auf,  nachdem  dieser  gedroht  hatte, 
er  werde  sich  an  den  Obersten  des  Regiments  wenden,  was  N.  in  banger  Spannung 
fortwährend  erhielt.  N.  hatte  sich  am  Tage  des  Angrifi's  unwohl  gefühlt  und 
gewaltsam  zu  zerstreuen  versucht,  nicht  getrunken  und  auch  Dienstgeschäfte  ganz 
geordnet  besorgt.  Doch  fiel,  als  er  Abends  in  der  Restauration  speiste,  ver- 
schiedenen Offizieren  sein  aufgei:egtes,  ungewöhnliches,  unheimliches  Wesen  auf. 
Er  erfuhr  dort,  dass  S.  im  obern  Zimmer  in  Gesellschaft  sei  und  ging  in  der 
Absicht  hinauf,  es  entweder  zur  Versöhnung  oder  zum  völligen  Bruch  mit  S. 
kommen  zu  lassen.  Als  er  die  Thüre  öff'nete,  habe  er  gesehen,  dass  die  Gelegen-, 
heit  zu  einer  Unterredung  nicht  günstig  sei  und  sich  desshalb  wieder  entfernt, 
des  Folgenden  erinnert  er  sich  dann  nur  summarisch,  des  Angrifi's  auf  S.  gar 
nicht.  Die  Zeugen  des  Auftritts  schildern  N.  in  höchster  Aufregung,  mit  ge- 
röthetem Gesicht  und  rollenden  Augen.  Auf  verschiedene  derselben  machte  er 
den  Eindruck  nicht  recht  bei  .sich  zu  sein,  worauf  auch  eine  Reihe  von  Aeusse- 
rungen  N.'s  während  dem  Auftritt  hindeuten.  N.  hatte  seinen  Vater  früh  verloren, 
ist  von  der  Mutter  und  Schwester  verzogen  worden.  Eine  Halbschwester  N.'s 
leidet  an  unheilbarem  Wahnsinn.  Grosse  Eitelkeit,  Reizbarkeit,  etwas  Auf- 
geregtes und  Exaltirtes  in  seiner  äusseren  Erscheinung  wurden  von  jeher  an  ihm 


Beob.  115.     Pathologischer  Affekt.     Kindestödtung.  305 

bemerkt,  und  Hessen  ihn  allen  Bekannten  als  sonderbaren  Menschen  erscheinen. 
In  seiner  Dienstführung  war  er  sehr  tüchtig.  Habituell  litt  er  an  Kopfcongestion 
und  hatte  in  neuerer  Zeit  wieder  über  Blutwallungen  zum  Kopf  geklagt;  oft 
habe  er  mitten  im  Gespräch  früher  an  den  Kopf  gegritfen  und  gesagt:  wie  ist  mir, 
wie  wird  mir,  wie  war  das  doch,  wobei  er  nicht  wusste  was  er  soeben  gesprochen 
hatte.  Auch  ein  Gefühl  eines  Ei'griffenseins  von  Geist  und  Gemüth  hatte  er  wieder- 
holt zur  Zeit  vor  der  That ;  er  äusserte  sich :  ich  glaube,  der  Verstand  fängt  an  mir 
stille  zu  stehen.  Um  seine  Gemüthsbewegung  zu  übertäuben ,  scheint  er  auch 
einige  Zeit  lang  übermässig  Spirituosen  genossen  zu  haben.  Vom  1.  Januar  bis 
Ende  Februar  klagte  er  täglich  dem  Arzt  über  Kopfweh  und  Schlaflosigkeit. 

Gutachten:  1.  N.  ist  höchst  wahrscheinlich  erblich  zu  Psychosen  disponirt. 
Nachweis,  dass  die  erbliche  Anlage  nicht  zum  Ausbruch  zu  kommen  braucht, 
sondern  sich  nur  in  einer  gewissen  psychischen  Erregbarkeit,  Bizarrerie  des  Cha- 
rakters und  Wesens  äussern  kann,  was  bei  ihm  der  Fall  war.  2.  Die  geschilderte 
Temperaments-  und  Charakterbeschaffenheit  disponirte  N.  in  hohem  Grade  zu 
leidenschaftlichen  Ausbrüchen.  Die  Disposition  zu  Congestionen,  die  jahrelangen 
Affekte,  veranlasst  durch  leidenschaftliche  Liebe,  verletzte  Eitelkeit,  erlittene 
Zurückweisung  und  Gei-ingschätzung ,  die  zeitweisen  Excesse  in  Spirituosen  sind 
die  Hirnfunktion  erregende  Momente  und  Verhältnisse,  die  erfahrungsgemäss 
das  Gemüth  aufregen,  die  Besonnenheit  trüben  und  die  Willenskraft  schwächen. 
3.  Aehnliche  Auftritte  wie  die  incriminirende  That  kamen  bei  ihm  schon  öfter 
vor,  zuletzt  als  S.  ihn  aus  seinem  Hause  fortwies.  Auch  damals  konnte  er  sich 
an  vieles  Vorgefallene  nicht  erinnern.  4.  die  That  ist  nicht  bloss  Ergebniss 
eines  momentanen  Affektes.  N.  selbst  gesteht,  dass  es  seit  Monaten  in  ihm  gegen 
S.  gährte;  seine  That  ist  aber  auch  nicht  prämeditirt;  es  scheint,  dass  er  eine 
Versöhnung  mit  S.  wollte,  und  bei  den  ersten  Worten  desselben  von  seiner  Leiden- 
schaft fortgerissen  wurde.  Sein  Verhalten  am  Tage  der  That,  unmittelbar  vor 
und  nach  derselben  spricht  auch  nicht  für  Geisteskrankheit.  Auch  an  Mania 
transitoria  und  sogenannte  Amentia  occulta  lässt  sich  nicht  denken.  N.  befand 
sich  schon  lange  in  einem  Zustande  heftiger  Gemüthsaufregung,  der  nach  Ent- 
ladung drängte  und  unter  Rückwirkung  körperlicher  Krankheitszustände  ihn  hie 
und  da  der  Gränze  genähert  haben  mag,  wo  Selbstbeherrschung  und  Besonnen- 
heit unmöglich  werden.  An  einen  krankhaften  Seelenzustand  im  Sinne  des  Wahn- 
und  Blödsinnes  des  Gesetzbuchs  lässt  sich  nicht  denken,  doch  ist  N.  eine  Natur, 
die  unter  der  unglücklichen  Belastung  der  sub  1  und  2  genannten  Momente  zu 
leidenschaftlichen  Ausbrüchen  viel  disponirter  ist  als  gewöhnliche  Menschen.  Es 
gibt  gegenwärtig  noch  keine  wissenschaftliche  Kategorien  für  solche  eigenthüm- 
liche  Zustände,  die  mehr  in  Dispositionen  als  ausgeprägten  Formen  bestehen; 
immerhin  tässt  sich  aber  sagen,  dass  in  den  leidenschaftlichen  Handlungen  solcher 
Menschen  viel  Instinktives  ist,  d.  h.,  dass  bei  den  Stimmungen  und  Affekten,  die 
sie  zu  Handlungen  treiben,  organische,  ihrem  freien  Willen  entzogene  Momente 
mehr  oder  weniger  hineinspielen,  die  b,ei  der  grossen  Mehrzahl  der  Menschen 
nicht  vorhanden  sind.  (Griesinger,  Vierteljahrschr.  f.  ger.  u.  öffl.  Med.,  N.  F.  VI., 
H.  2  p.  269.) 

Beob.  114.     Pathologischer  Affekt.    Tödtung  des  Kindes.    Am 
24.  Februar  1863,  Morgens  9  Uhr,  traf  man  die  35  Jahre  alte,  verehelichte  L.  bis 
an  die  Brust  im  Flusse  stehend;   vor   sich    hatte  sie  ihr  Töchterlein  in  ein  Tuch 
V.  Krafft-Ebing,  gerichtl.  P.sychopathologle.    2.  Auflage.  20 


306  Cap.  XL    Zustände  krankhafter  Bewusstlosigkeit, 

gebunden,  das  laut  schrie.  Auf  den  Zuruf  sie  solle  sich  retten,  hörte  man  von 
ihr  nur  die  Worte:  „Mein  Kerl,  mein  Kerl;"  sie  rührte  sich  nicht  von  der  Stelle. 
Als  man  sie  holen  vs^oUte,  rief  sie:  „Lasst  mich  umkommen,  mein  Kerl  und 
Schv?iegervater  setzen  mir  zu  viel  zu,  ich  bin  gezwungen  mir  das  Leben  zu 
nehmen,  meine  Noth  ist  gross."  Als  man  die  Frau  aus  dem  Wasser  gezogen, 
bat  sie,  man  möge  ihr  das  Kind  abnehmen.  Das  Kind  war  todt,  ertrunken.  Die 
L.  schien  jetzt  erst  zur  Besinnung  zu  kommen  und  bejammerte  ihr  armes  Kind. 
Rohe  Misshandlung  von  Seiten  des  Mannes  und  des  Schwiegervaters,  beide 
Trunkenbolde,  hatten  sie  zum  verzweifelten  Entschluss  gebracht,  sich  und  das 
Kind  zu  ertränken.  In  dieser  Absicht  war  sie  von  Hause  fort.  Wie  sie  aus  dem 
Wasser  gekommen  und  gerettet  worden,  davon  hatte  sie  keine  Erinnerung.  Es 
vrarde  constatirt,  dass  ihr  der  Mann  vor  9  Monaten  eine  Kopfverletzung  zugefügt 
hatte.  Seitdem  hatte  sie  oft  über  Kopfschmerz  geklagt  und  wurde  oft  in  sich 
gekehrt  und  mit  stierem  Blick  dasitzend  gefunden.  Sonst  bot  die  Anamnese 
nichts  Pathologisches.  Ihr  Verhalten  in  der  Folge  war  resignirt,  fast  apathisch, 
die  Reue  nur  eine  ganz  oberflächliche. 

Das  Gutachten  lautete  dahin,  dass  Inculpatin  den  Entschluss  zur  That 
ohne  Zweifel  in  einem  geistesgesunden  Zustand,  wiewohl  in  einem  hohen  Grad 
des  Affekts  gefasst,  jedoch  das  Verbrechen  nicht  mit  freier  Willensbestimmung 
ausgeführt  habe.  „Ganz  erfüllt  von  ihrer  trostlosen  Lage,  die  ihr  endlich  imer- 
träglich  geworden,  aus  der  sie  nirgends  Rettung  sieht,  greift  sie  verzweiflungsvoll 
zum  letzten  Mittel  ihre  und  ihres  Kindes  Leiden  zu  enden,  aber  zu  sehr  ver- 
sunken in  den  einen  Gedanken,  an  ihr  Unglück,  gebricht  ihr  die  Kraft  zur 
schnellen  Ausführung  ihres  Entschlusses  und  bereits  vor  Kälte  erstarrt,  tödtet 
sie  unwissend  durch  diese  Zögerung  das  Kind."  Die  Geschworenen  verneinten 
die  Schuldfrage.     (Löwenhardt,  Vierteljahrschr.  f.  gerichtl.  Med.,  N.  F.  XIX.,  H.  2.) 

Weitere  Fälle  von  pathol.  Affektzustand:  Bei  (erblicher) 
Belastung:  Irrenfreund  1870.  9  (Mordversuch  an  der  Geliebten).  Tarchini 
Bonfanti,  Archiv,  italian.  1867,  Nov.  (Mordversuch).  Bouguet  u.  Combes,  Annal. 
med.  psych.  1866,  März  (Tödtung  des  Schwiegervaters).  Henke's  Zeitschr.  1829, 
11.  Ergänz.-H.  (Körperverletzung). 

Bei  Hirnkranken  und  Geschwächten:  Casper-Liman,  Fall  247 
(Tj^phus.  Seitdem  Alkoholintoleranz.  Tödtung).  Löwenhardt,  Vierteljahrsschr. 
f.  ger.  Med.  N.  F.  XIX.  H.  2  (Hirnkrankheit  nach  Kopfverletzung.  Tödtung  des 
Kinds).  Zippe,  Wien.  med.  Wochenschr.  1878,  Nr.  51  (Reconvalescent  v.  Insolation. 
Todtschlag). 

Bei  Epileptischen:  Bonfigli,  Rivista  sperim.  1878,  p.  470  (Tödtung). 
Henke's  Zeitschr.  1840,  H.  2  (Bedroliimg  der  Umgebung). 

Bei  Hysterischen:  Buchner,  Friedreich's  Blätter  1867,  H.  1  (tobsucht- 
artige Affektausbrüche). 

Bei  Angetrunkenen  und  Trunksüchtigen:  Friedreich's  Central- 
archiv,  VI,  H.  2  (Todtschlag).  Henke,  Abhandl.  II,  p.  371  u.  382  (analoger  Fall). 
Casper-Liman,  Fall  272  u.  273.  Bonnet,  Annal.  med.  psychol.  1879,  (.Tödtung 
der  Stieftochter).  Delacour  ebenda  1877,  Mai  (Blisshandlung  der  Eltern).  Lorent, 
Zeitschr.  f.  Psych.  29.  H.  6  (Tödtung  eines  Kameraden).  Brierre,  Annal.  med. 
psychol.  1866,  Juli  (Tödtung,  Verwundung  mehrerer  Personen).  Ettmüller, 
Vierteljahrsschr.  f.  ger.  Med.  XVI,  H.  2  (Tödtung  der  Ehefrau). 


Cap.  XII.    Verbrechen  und  Vergehen  an  Geisteskranken.  307 

Anhang. 

Cap.  XII.    Verbrechen  und  Vergehen  an  Geisteskranken. 

1.  Beisctlaf  an  Willenlosen,  Bewusstlosen  und  Creisteskranken. 

Literatur:  Tardieu,  etude.  med.  legale  sur  les  attentats  aux  moeurs,  7.  edit. 
1878,  p.  88.  Hofmann,  Lehrb.  d.  ger.  Med.  p.  166.  •  v.  Krafft,  allg.  deutsche 
Strafrechtsztg.  1877,  11.     Friedreich's  Blätter  1873,  H.  2. 

Gesetzl.  Bestimmungen:  Deutsches  St.-G.-B.  §.  176,  2.  Mit  Zuchthaus  bis  zu 
10  Jahren  wird  bestraft,  wer  eine  in  einem  willenlosen  oder  bewusstlosen 
Zustand  befindliche  oder  eine  geisteskranke  Frauensperson  zum  ausserehe- 
lichen  Beischlaf  missbraucht.  Sind  mildernde  Umstände  vorhanden,  so  tritt 
Gefängnissstrafe  nicht  unter  6  Monaten  ein.     Verfolgung  nur  auf  Antrag. 

Oesterr.  St.-G.-B.  §.  127.  Per  an  einer  Frauensperson,  die  sich  ohne 
Zuthun  des  Thäters  in  einem  Zustand  der  Wehr-  oder  Bewusstlosigkeit  be- 
findet, oder  die  noch  nicht  das  14.  Lebensjahr  zurückgelegt  hat,  unternommene 
aussereheliche  Beischlaf  ist  als  Nothzucht  anzusehen  und  nach  §.  126  (schwerer 
Kerker  zwischen  5  und  10  Jahren)  zu  bestrafen. 

§.  128.  Wer  einen  Knaben  oder  ein  Mädchen  unter  14  Jahren  oder 
eine  im  Zustand  der  Wehr-  oder  Bewusstlosigkeit  befindliche  Person  zur 
Befriedigung  seiner  Lüste  auf  eine  andere  als  die  im  §.  127  bezeichnete 
Weise  geschlechtlich  •missbraucht,  begeht,  wenn  diese  Handlung  nicht  das 
im  §.  129  Lit.  b  bezeichnete  Verbrechen  (Unzucht  wider  die  Natur)  bildet, 
das  Verbrechen  der  Schändung  und  soll  mit  schwerem  Kerker  von  1—5  Jahren, 
bei  sehr  erschwerenden  Umständen  bis  zu  10,  und  wenn  eine  der  im  §.  126 
erwähnten  Folgen  eintritt,  bis  zu  20  Jahren  bestraft  werden. 

Oesterr.  St.-G.-Entw.  §.  191.  Mit  Zuchthau«  bis  zu  5  Jahren  oder  mit 
Gefängniss  nicht  unter  6  Monaten  wird  bestraft,  wer  eine  Frauensperson,  die 
sich  im  Zustand  der  Wehr-  oder  Willenlosigkeit  befindet,  zum  ausserehelichen 
Beischlaf  missbraucht. 

Die  Gesetzgebung  nimmt  Veranlassung,  die  Vornahme  unzüch- 
tiger Handlungen  an  Personen,  die  wegen  körperlicher  oder  geistiger 
Funktionsstörung  widerstandslos  sind,  mit  schwerer  Strafe  zu  belegen 
und  dem  mit  Gewalt  an  einer  widerstandsfähigen  Person  erzwungenen 
Beischlaf  oder  einer  sonstigen  unzüchtigen  Handlung  gleichzustellen. 

Die  österr.  Gesetzgebung  beschränkt  sich  auf  die  allgemeine 
Forderung  der  Wehr-  oder  Bewusstlosigkeit  zur  Qualification  des 
Verbrechens,  der  deutsche  Gesetzgeber  führt  die  Begriffe  der  Willen- 
losigkeit, Bewusstlosigkeit  und  Geisteskrankheit  ein. 

Die  Bezeichnung  „willenlos"  umfasst  sowohl  Fälle,  in  welchen 
durch  physischen  Zwang  (Gefesseltsein,  Geläbmtsein),  als  auch  solche, 
wo   durch   psychische    Störung    (der   Wille   einer   Geisteskranken  ist 


308  Cap.  XII.    Verbrechen  und  Vergehen  an  Geisteskranken. 

nur  Schemwille,  Oppenhoff)  eine  Frauensperson  der  Möglichkeit  be- 
raubt ist,  sich  für  Gestattung  oder  Verweigerung  des  Beischlafs  zu 
entscheiden.  Nach  der  deutschen  Gesetzgebung,  die  ausdrücklich  den 
Begriff  der  Geisteskrankheit  aufführt,  wäre  die  Willenlosigkeit  auf 
Fälle  zu  beschränken,  wo  eine  physische  Unmöglichkeit  besteht, 
Widerstand  zu  leisten.  In  Oesterreich  wären  solche  Fälle  unter  den 
Ausdruck  „Wehrlosigkeit"  zu  subsumiren.  Der  Ausdruck  „bewusst- 
los"  passt  für  eine  Reihe  von  Fällen  transitorischer  Aufhebung  des 
Selbstbewusstseins.     Speciell  sind  hieher  zu  rechnen: 

1)  die  Zustände  der  Ohnmacht,  des  Scheintods,  Sopor  etc. 

2)  die  der  Schlaftrunkenheit  und  des  Schlafs. 

Die  Möglichkeit,  dass  an  einer  in  solchem  Zustand  befind- 
lichen Frauensperson  der  Beischlaf  gegen  ihren  Willen  voll- 
zogen werde,  ist  übrigens  nur  unter  der  Bedingung  denkbar, 
dass  ein  Fremder  sich  in's  Ehebett  schliche  und  die  Ehefrau 
im  Glauben,  der  Ehemann  wohne  ihr  bei,  den  Beischlaf  zu- 
liesse.  Unter  allen  andern  Umständen  wäre  nur  ein  Versuch 
des  Verbrechens  möglich. 

Fälle:  Casper-Liman,  Hdb.,  biol.  Thl.,  p.  706  (angeblich  in  Schlaftrunkenheit 
erduldeter  Beischlaf).  Wald,  ger.  Med.  II,  p.  212.  Taylor,  naed.  jurisprud.,  p.  710 
(analoge  Fälle,  Anerkennung  des  schlaftrunkenen  Zustands). 

3)  Zustände  von  Somnambulismus. 

Fälle:  Macario,  Annal.  med.  psych.  1847.  Jessen,  Psychologie,  p.  570. 
Friedreich's  Blätter,  V,  p.  61  (Ein  20j ähriges  Mädchen,  hysterisch,  somnambul, 
ecstatischen  Zuständen  unterworfen,  denuncirte  in  magnetischem  ScMafzustand 
einen  gewissen  F.,  er  habe  sie  geliebkost,  am  Knie  erfasst,  darauf  sei  sie  in  einen 
bewusstlosen  Zustand  verfallen,  von  dessen  Vorkommnissen  sie  keine  Erinnerung 
habe.  Die  Exploration  ergab  die  Spuren  einer  verübten  Schändung.  Der  Besuch 
des  F.  zur  Zeit  des  bewusstlosen  Zustands  wurde  durch  Zeugen  constatirt  und  F. 
gestand,  dass  er  an  dem  bewusstlosen  Mädchen  den  Beischlaf  vollzogen  habe). 

4)  Zustände  von  Volltrunkenheit,  Vergiftung,  Fieberdelirium,  wenn 
das  Selbstbewusstsein  völlig  geschwunden  war,  was  aus  der 
vorhandenen  oder  fehlenden  Erinnerung  für  die  That  sich  er- 
mitteln lässt. 

5)  Fälle  von  epileptischem  Sopor  und  Dämmerzustand,  transitorische 
Aufhebungen  des  Selbstbewusstseins  bei  Hysteroepileptischen 
und  Hysterischen.  Bei  Letzteren  erleichtert  die  auch  ausser- 
halb der  Anfälle  nicht  selten  bestehende  Unempfindlichkeit  im 
Bereich  der  Empfindungsnerven  der  Geschlechtsorgane  und  der 
äusseren  Haut  die  Ausführung  des  Verbrechens. 

Fall  von  Schändung  in  hyst.-epil.  Bewusstlosigkeit  s.  Casper-Liman,  Fall  67. 


Beischlaf  an  Willenlosen,  Bewusstlosen,  Geisteskranken.  309 

Schwieriger  ist  die  Präcisirung  des  Begriffs  Geisteskrankheit 
gegenüber  dem  in  Rede  stehenden  Verbrechen.  Der  Gesetzgeber  hat 
ihn  nicht  definirt.  Ebensowenig  vermag  dies  befriedigend  die  Wissen- 
schaft. Nach  dem  Geist  der  deutschen  Gesetzgebung  (§.  51)  handelt 
es  sich  hier  um  Zustände  aufgehobener  Willensbestimmung  aus  psy- 
chischer Ursache,  um  Zustände,  in  welchen  (§.  176)  eine  Frauens- 
person durch  psychische  Momente  in  die  Unmöglichkeit  versetzt 
war,  die  Bedeutung  der  mit  ihr  stattfindenden  Handlung  (Beischlaf) 
und  ihre  Folgen  zu  übersehen  und  daraus  für  Gewährung  oder  Ver- 
weigerung sich  zu  entscheiden. 

In  Oesterreich  reihen  sich  solche  Fälle  theils  unter  den  Begriff 
der  Wehrlosigkeit;  theils  unter  den  der  Bewusstlosigkeit. 

Wie  die  Praxis  lehrt,  betreffen  die  hieher.  gehörigen  Fälle  fast 
ausschliesslich  Schwach-  und  Blödsinnige,  bei  denen  die  psychische 
Infirmität  vielfach  angeboren  ist. 

Obwohl  nicht  streng  wissenschaftlich  unter  den  Begriff  der 
Geisteskrankheit  gehörig,  müssen  diese  Zustände  doch  rechtlich  dem 
in  Rede  stehenden  Verbrechen  gegenüber  als  geisteskranke  erachtet 
werden.  Eine  Begehung  des  Verbrechens  ist  nur  als  eine  dolose 
möglich.  Der  Nachweis  des  Dolus  kann  schwierig  sein,  ausser  dann, 
wenn  es  sich  um  einen  Fall  handelte,  wo  die  Geisteskrankheit  orts- 
kundig war,  dem  Betreffenden  bekannt  war  oder  sich  durch  deutliche 
Zeichen  demselben  sofort  verrathen  musste.  Es  gibt  ferner  Zustände 
von  Geistesstörung  (beginnende  Manie,  Nymphomanie,  hysterisches 
Irresein,  sexueller  Wahnsinn),  wo  die  Kranke  selbst  aus  krankhaften 
Motiven  den  Geschlechtsgenuss  aufsucht,  Männer  provozirt,  sinnlich 
aufregt.  In  solchen  Fällen  dürften  trotz  erwiesenem  Dolus  Milderungs- 
gründe anzunehmen  sein. 

Da  nach  dem  Deutschen  Strafgesetzbuch  das  Verbrechen  nur 
auf  Antrag  verfolgt  wird,  müsste  in  solchen  Fällen  die  grossjährige 
Geschädigte  vorher  entmündigt  werden,  damit  der  Vormund  dann 
die  Klage  auf  strafgerichtliche  Verfolgung  erheben  könnte. 

Beob.  115.  Beischlaf  mit  einer  Schwachsinnigen.  Am  Pfingst- 
montag 1872  Abends  vollzog  der  übelbeleumundete,  wegen  Brandstiftung  mit 
Zuchthaus  bestrafte  J.  mit  der  26jährigen,  notorisch  geistesschwachen  Tochter  des 
B.  den  Beischlaf.     Der  Vater  wurde  klagbar.     J.  gibt  im  Verhör  Folgendes  an : 

Ich  war  mit  der  Ch.  von  Nachmittag  an  auf  dem  Tanzboden.  Sie  gab  mir 
Zeichen  mit  den  Fingern  und  winkte  mir,  verliess  den  Tanzboden.  Ich  folgte 
ihr,  fand  sie  unter  der  Thür  des  Wirthshauses,  kaufte  ihr  einen  Lebkuchen  und 
ging  mit  ihr  auf  die  Strasse  bis  an  das  Schulhaus.  Dort  gingen  wir  in  den 
Garten  hinein.    Sie  hob  dort  aus  freien  Stücken  die  Röcke  in  die  Höhe  und  legte 


310  Cap.  XII.    Verbrechen  und  Vergehen  an  Geisteskranken. 

sich  auf  den  Boden.  Ich  legte  mich  auf  sie  und  die  Vereinigung  der  Geschlechts- 
theile  hatte  stattgefunden,  als  der  Vater  mit  Zeugen  kam.  Ich  bekam  Schläge 
und  entfloh  aus  Furcht,  wegen  des  Vorgangs  in  Schande  gestellt  zu  werden.  Die 
Ch.  ist  zwar  ein  wenig  tappig,  aber  nicht  so  dumm,  als  sie  die  Leute  machen 
wollen.  Sie  hat  ihren  guten  Verstand  und  insbesondere  lässt  sie  sich  gern  den 
Geschlechtstrieb  befriedigen.  Ich  sage  es  offen,  ich  habe  sie  früher  schon  mehr- 
mals gebraucht.  Sie  ist  durchaus  keine  willenlose  Person,  mit  der  jeder  Mann 
anfangen  kann,  was  er  will. 

Die  Staatsanwaltschaft  beantragt  die  Untersuchung,  ob  die  Ch.  als  willenlos 
oder  geisteskrank  zu  betrachten  sei.  Das  Gutachten  charakterisirt  sie  als  eine 
kleine  schwächliche  Person  von  kleinem  quadratischem  Schädel,  niederer  Stirn, 
verbildeten,  zu  kurzen  Händen,  verbildeten  Füssen,  zu  kurzen  Ohren.  Das  Hymen 
ist  zerstört.  Die  Ch.  ist  von  schwacher  Sinnesthätigkeit.  Die  Geisteskräfte  sind 
von  Geburt  auf  so  -schwäch,  dass  sie,  obwohl  7  Jahre  zur  Schule  geschickt, 
weder  schreiben  noch  rechnen,  sondern  nur  buchstabiren  lernte.  Auch  häusliche 
und  weibliche  Arbeiten  zu  erlernen  war  sie  nicht  fähig.  Ihr  Benehmen  ist 
scheu,  kindisch  furchtsam.  Vor  dem  Gerichtsarzt  versuchte  sie  sich  immer  zu 
verstecken. 

Das  Gutachten  lautete  auf  wiederholt  vollzogenen  Beischlaf,  leibliche  und 
geistige  Entwicklung  bis  zur  Stufe  eines  Kindes.  Annahme  von  Schwachsinn 
und  Willenlosigkeit. 

Wesentlich  anders  gestaltete  sich  die  Sachlage  durch  Einvernahme  der  Ch. 
und  der  Zeugen,  woraus  mindestens  Bewusstsein  der  mit  Ch.  vorgenommenen 
incriminirten  Handlung  sich  ergab. 

Die  Ch.  behauptete,  J.  habe  sie  mit  sich  fortgezogen,  sie  habe  ihm  gesagt, 
sie  dürfe  nicht  mit  ihm  gehen,  er  solle  sie  gehen  lassen,  sonst  werde  sie  vom 
Vater  gescholten  und  geschlagen.  Sie  erzählte  den  Hergang  mit  allem  Detail, 
nur  mit  dem  Unterschied,  dass  sie  sich  als  die  Genöthigte  hinstellte  und  leugnete, 
sich  früher  schon  zum  Beischlaf  hergegeben  zu  haben. 

Aus  den  Zeugenaussagen  ergibt  sich  mit  Wahrscheinlichkeit,  dass  sie  es 
wai-,  welche  dem  J.  nachlief  und  zwar  aaf  Verabredung.  Sie  folgte  ihm  schlau, 
um  den  Verdacht  von  sich  abzulenken,  und  verleugnete  ihn  unterwegs. 

Die  Staatsanwaltschaft  bezweifelte,  dass  die  Ch.  wirklich  so  schwachsinnig 
und  willenlos  sei,  wie  sie  das  Gutachten  bezeichnete,  und  verlangte  die  Ermitt- 
lung, ob  sie  allenthalben  in  der  Gemeinde  für  blödsinnig  gelte.  Der  Wachtmeister 
der  Gensdarmerie  bestätigt  dies,  kann  sie  aber  nicht  als  willenlos  bezeichnen. 
Ein  neues  Gutachten  des  Gerichtsarztes  bezeichnet  die  Ch.  als  schwachsinnig 
mittleren  Grades,  gibt  zu,  dass  hier  scheinbare  Willensakte  vorkommen,  betont 
aber,  dass  das  Triebleben  vorwiege  imd  die  Stelle  des  Willens  vertrete,  dass 
allerdings  aber  selbst  der  Schwachsinnige  die  Befriedigung  dieses  ihn  ganz  be- 
herrschenden Triebs  durch  einen  gchnell  vorübergehenden  Willensakt  bethätigen 
könne.  Die  Ch.  sei  als  eine  in  mittlerem  Grad  schwachsinnige  und  als  im  gleichen 
Grad  willensschwache  Person  zu  bezeichnen. 

Ein  Obergutachten  betönt  die  individuellen  Gradstufen  der  angeborenen 
psychischen  Schwächezustände.  Im  concreten  Fall  wird  auf  den  körperlichen,  auf 
ein  Stehenbleiben  auf  infantiler  Stufe  hindeutenden  Habitus  aufmerksam  gemacht. 
Dieser  nähert  sich  durch  die  zahlreichen  Verbildungen  dem  cretinischen.  Auch 
psychisch    ist    ein   gewisser  Grad    von  Geistesschwäche    zu  constatiren,    indessen 


Beisclilaf  an  Willenlosen,  Geisteskranken  etc.     Beob.  117.  311 

beweist  das  Verhalten  vor,  während  und  nach  dem  Akt,  dass  jene  keine  hoch- 
gradige sein  kann.  Das  ganze  Benehmen  dabei  Seitens  der  Ch.  bewies  Vorsicht 
und  Schlauheit.  Nicht  minder  beweist  ihre  protokollarische  Einvernahme  ein 
völliges  Verständniss  des  Falls  und  das  Bestreben,  ihre  Schande  zu  bemänteln. 
Das  Obergutachten  nimmt  einen  leichten  Grad  von  Imbecillität  an,  welcher  Zu- 
stand zwar  eine  unzweifelhafte  Willensschwäche,  namentlich  gegenüber  einem  so 
mächtigen  Trieb  wie  der  Geschlechtstrieb,  keineswegs  aber  eine  völlige  Willen- 
losigkeit  bedinge.  Einstellung  des  gerichtlichen  Verfahrens.  (Eigene  Beobachtung.) 
Analoge  Fälle:  Zeitschr.  f.  Staatsarzneikde.  1847,  p.  309.  Heusser,  Ann. 
d.  Justizpflege  in  Kurhessen,  1856,  p.  340.  Vierteljahrsschr.  f.  ger.  Med.  N.  F. 
XII,  p.  349.  Kierski  ebenda,  XI,  1869  (Stuprum  an  einer  epilept.  schwachsinnigen 
Person).  Bernay  ebenda,  XI,  1869  (Blödsinn.  Verneinung  der  Frage  der  Willen- 
losigkeit).  Kornfeld,  Irrenfreund,  1878,  Nr.  12  (epilept.  schwachsinnige  Person. 
Stuprum.  Keine  Verurtheilung).  Friedreich's  Blätter,  1880,  p.  334  (Blödsinn. 
Verurtheilung).     Casper-Liman,  Fall  77  u.  78. 

Beob.  116.  Zweifelhafter  Geisteszustand  einer  Frauensperson 
zur  Zeit  eines  an  ihr  unternommenen  Beischlafs.  Am  6.  April  1878 
lief  beim  Staatsanwalt  die  Anzeige  ein,  dass  die  23jährige  ledige  Eufemia,  die 
häufig  irrsinnig  und  seit  dem  am  28.  März  erfolgten  Tod  ihrer  Mutter  wieder- 
erkrankt sei,  am  5.  April  Abends  von  2  Burschen  N.  und  D.  in  einen  Stall 
gelockt  und  dort  geschändet  worden  sei.  Die  Gerichtsärzte  fanden  an  der  E. 
nur  Symptome  von  Hysterie  mit  geschlechtlicher  Erregung  —  ein  Zustand,  der 
Bewusstsein  und  Willensfreiheit  nicht  aufhebe.  Die  Staatsanwaltschaft  holte  ein 
Gutachten  der  Grazer  med.  Fakultät  ein. 

Aus  den  genauen  Erhebungen  ergab  sich,  dass  die  E.  in  der  Pubertät,  an- 
geblich nach  einem  Schrecken,  einen  Tobsuchtanfall  von  etwa  lOtägiger  Dauer 
bekam,  der  sich  zeither  in  typischer  Weise,  gewöhnlich  zur  Zeit  der  Menstruation 
wiederholte  und  immer  mehr  das  klassische  Bild  einer  Nymphomanie  annahm.  Die 
erste  vom  Gericht  gestellte  Frage  musste  deshalb  dahin  beantwortet  werden,  dass 
die  E.  keineswegs  Anfällen  von  Hysterie,  sondern  solchen  periodischer  Tobsucht 
unterworfen  war.  In  Beantwortung  der  2.  Frage  wurde  erklärt,  dass  in  einem 
solchen  Zustand  zwar  nicht  das  Bewusstsein  der  eigenen  Person  aufgehoben  sei, 
diese  aber  das  Vermögen,  die  sittlich  rechtliche  Bedeutung  ihrer  Handlungen  zu 
erkennen,  zu  überlegen  und  daraus  sich  für  Begehung  oder  Unterlassung,  Ge- 
währung oder  Versagung  aus  Motiven  der  Nützlichkeit  oder  Sittlichkeit  frei  zu 
bestimmen,  vollständig  eingebüsst  habe. 

Die  3.  Frage ,  ob  die  E.  am  Abend  der  an  ihr  verübten  Schändung  in 
einem  derart  krankhaften  Geisteszustand  sich  befunden  habe ,  dass  sie  als  ihrer 
nicht  selbst  bewusst,  im  Sinn  des  §.  127  österr.  St.-G.-B.  erachtet  werden  müsse," 
wurde  in  folgendem  Sinn  erledigt. 

Die  E.  war,  wie  aus  den  Akten  hervorgeht,  seit  dem  28.  März  zweifellos 
wieder  nymphomanisch.  Sie  war  es ,  wie  aus  den  Zeugenaussagen  sich  klar 
ergibt,  bis  zum  Verschwinden  mit  den  Burschen  im  Stalle  und  noch  einige  Tage 
lang  darnach.  Die  E.  erzählte  im  geistesgesunden  intervallären  Zustand,  wie  die 
Barschen  sie  erregt  hätten  und  sie  sich  dem  N.  auf  Grund  seines  Heirathsver- 
sprechens  hingegeben  habe.  N.  gibt  auch  zu,  dass  er  an  der  E.  seit  mehreren 
Tagen    bereits    gemerkt    habe ,    dass    sie   wieder  irrsinnig  sei ,   läugnet  aber  den 


312  Cap.  XII.    Verbrechen  und  Vergehen  an  Geisteskranken. 

Beischlaf  mit  ihr  vollzogen  zu  haben.  Die  rechtzeitige  Forschung  nach  Spuren 
eines  solchen  wurde  leider  versäumt.  Die  Möglichkeit,  dass  die  E.  zur  Zeit  des 
quäst.  Beischlafs  in  einer  Remission  ihres  tobsüchtigen  Zustands  sich  befand,  ist 
nicht  auszuschliessen,  aber  sicher  stand  die  E.  auch  damals  unter  dem  zwingen- 
den Einfluss  ihres  krankhaft  erregten  Geschlechtstriebs ,  und  war  sie  in  ihrem 
Bewusstsein  durch  krankhafte  Vorgänge  so  gestört,  dass  sie  der  sittlichen  Be- 
deutung und  der  Folgen  des  etwa  an  ihr  unternommenen  Beischlafs  sich  nicht 
bewusst  war  und  aus  Gründen  der  Sittlichkeit  und  Zweckmässigkeit  sich  nicht 
für  Gewährung  oder  Verweigerung  jenes  Aktes  entscheiden  konnte,  somit  als 
willensunfrei  zu  bezeichnen  war.  Es  muss  noch  darauf  aufmerksam  gemacht 
werden,  dass  derartige  Kranke  wie  die  E.  Männer  durch  ihr  krankhaft  unsitt- 
liches Gebahren  sinnlich  erregen,  oft  geradezu  zu  geschlechtlichen  Handlungen 
provociren,  endlich  nicht  selten  Wunsch  und  Idee  mit  Wirklichkeit  in  ihrem 
krankhaften  Zustand  verwechseln,  Männer  ihrer  Umgebung  gar  nicht  stattge- 
fundener geschlechtlicher  Handlungen  bezichtigen  und  desshalb  in  solchen  Fällen 
die  Sicherstellung  des  objektiven  Thatbestands  ganz  besonders  wichtig  ist.  (Eigene 
Beobachtung,  vgl.  Irrenfreund  1878  Nr.   12.) 


2.   Beischlaf  nach  Versetzung  in  einen  wehr-,  willen-  oder  hewusstlosen 

Zustand. 

Gesetzl.  Bestimmungen:  Deutsches  Str.-G.-B.  §.  177.  Mit  Zuchthaus  wird 
bestraft,  wer  durch  Gewalt  oder  durch  Drohung  mit  gegenwärtiger  Gefahr 
für  Leib  und  Leben  eine  Frauensperson  zur  Duldung  des  ausserehelichen 
Beischlafs  nöthigt ,  oder  wer  eine  Frauensperson  zum  ausserehelichen  Bei- 
schlaf missbraucht,  nachdem  er  sie  zu  diesem  Zweck  in  einen  willen-- oder 
bewusstlosen  Zustand  versetzt  hat. 

Oesterr.  Str.-G.-B.  §.  125.  Wer  eine  Frauensperson  durch  gefährliche 
Bedrohung ,  wirklich  ausgeübte  Gewaltthätigkeit  oder  durch  arglistige  Be- 
täubung ihrer  Sinne  ausser  Stand  setzt,  ihm  Widerstand  zu  thun  und  sie  in 
diesem  Zustand  zu  ausserehelichem  Beischlaf  missbraucht,  begeht  das  Ver- 
brechen der  Nothzucht. 

Oesterr.  Str.-G.-Entw.  §.  192.  Wegen  Nothzucht  wird  mit  Zuchthaus 
bis  zu  15  Jahren  oder  mit  Gefängniss  nicht  unter  einem  Jahr  bestraft, 
wer  durch  Gewalt  oder  durch  Drohung  mit  gegenwärtiger  Gefahr  für  Leib 
und  Leben  eine  Frauensperson  zur  Duldung  des  ausserehelichen  Beischlafs 
nöthigt  oder  wer  eine  Frauensperson  zum  ausserehelichen  Beischlaf  miss- 
braucht, nachdem  er  sie  zu  diesem  Zweck  in  einen  Zustand  der  Wehr-  oder 
Willenlosigkeit  versetzt  hat. 

Das  Gesetz  fordert  als  Thatbestand  des  Verbrechens  Versetzung 
in  einen  Zustand  der  Wehr-,  Willen-  oder  Bewusstlosigkeit.  Von 
den  zahlreichen  Fällen,  wo  rohe  Gewalt,  sei  es  durch  Binden,  Zu- 
sammenwirken Mehrerer,  Betäubung  durch  Schlag  oder  Drosselung  etc. 
das  Opfer  wehrlos  macht,  kann  hier  abgesehen  werden.  Wichtiger 
sind  die  Zustände  von  Willen-,  resp.  Bewusstlosigkeit,  wo  durch  raffi- 


Beischlaf  nach  Versetzung  in  willenlosen  Zustand.  313 

nirte  Mittel  (Narcotica,  Aether,  Chloroform,  Chloralhydrat ,  starke 
Weine  etc.)  oder  bei  besonders  Disponirten  (meist  Hysterische)  dutch 
sogenannten  Magnetismus,  Hypnotismus  etc.  ein  temporärer  Zustand 
der  Willen-  und  Bewusstlosigkeit  herbeigeführt  wurde. 

Es  kommt  hier  wesentlich  auf  die  Constatirung  der  Bewusst- 
losigkeit zur  Zeit  des  Akts  an.  Sie  kann  mit  grossen  Schwierig- 
keiten verbunden  sein.  Nur  der  concrete  Fall  mit  allen  seinen  Neben- 
und  Thatumständen  in  pharmacodynamischer  und  psychologischer  Hin- 
sicht kann  gewürdigt  werden.  Dass  durch  die  obigen  genannten  Mittel 
Zustände  completer  Bewusstlosigkeit  erfolgen  können,  ist  bekannt 
genug.  Häufig  wird  aber  aus  Scham  und  anderen  Gründen  eine  volle 
Bewusstlosigkeit  behauptet,  wo  sie  nicht  vorhanden  war.  Dies  gilt 
namentlich  von  Alkoholexcessen,  die  nur  einen  Zustand  des  Ange- 
trunkenseins herbeiführten,  wo  dann  geschlechtliche  Aufregung  das 
Uebrige  that  und  der  Fall  in 's  Gebiet  der  Vis  grata  gehörte.  Ausser 
dem  Beweis  der  stattgefundenen  geschlechtlichen  Vereinigung  muss 
der  Beweis  der  vollen  Bewusstlosigkeit  zur  Zeit  derselben  geliefert 
sein,  um  das  Verbrechen  constatiren  zu  können. 

Entscheidend  wird  in  dieser  Richtung  die  Ermittlung  der  Er- 
innerung für  diesen  Zustand  hinsichtlich  ihrer  zeitlichen  Feststellung 
und  Zeitdauer  sein.  Die  wirklich  bewusstlos  Gewesene  kann  erst 
durch  örtliche  Beschwerden  oder  eine  eventuelle  Schwangerschaft  des 
Beischlafs  gewahr  worden  sein.  Durch  Kreuzverhör,  Ermittlung  des 
Verhaltens  während  und  nach  dem  Ereigniss  wird  sich  der  Zustand 
des  Bewusstseins  zur  Zeit  desselben  feststellen  lassen.  Wirkliche 
Bewusstlosigkeit  im  gesetzlichen  Sinn  ist  mit  Erhaltung  der  Erinne- 
rung für  den  Zeitabschnitt  der  Schändung  unvereinbar. 

Von  der  grössten  Wichtigkeit  ist  aber  auch  die  Constatirung 
des  wirklich  vollzogenen  Beischlafs. 

Es  gibt  nervöse,  sexuell  reizbare  Frauen,  bei  denen  Chloroform 

und  ähnliche  Stoffe  Coitushallucinationen  hervorrufen. 

Fälle:  Mittermaier,  Archiv  d.  Criminalr.  1855,  p.  293  u.  1856,  p.  142  u. 
Winslow,  psj^chol.  Journal  1855,  p.  589  (talschliche  Beschuldigung  des  Arztes 
Seitens  einer  Chloroformirten,  er  habe  sie  im  bewusstlosen  Zustand  missbraucht). 
Ferner  Kidd,  Edinb.  med.  Journ.  1870  (ein  mit  dem  Speculum  untersuchtes,  ohn- 
mächtig gewordenes,  durch  ein  Riechmittel  wiederbelebtes  Mädchen  beschuldigt 
fälschlich  den  Arzt,  sie  chloroformirt  und  missbraucht  zu  haben). 

Beob.  117.  Angebliche  gewaltsame  Entjungferung  im  willen- 
(bewusst-)  losen  durch  Rausch  verursachten  Zustand.  Die  18jährige 
L.  (resp.  ihre  Angehörigen)  klagte  zwei  Handwerksgesellen  an ,  sie  hätten  sie, 
nachdem  sie  durch  zwei  Gläser  Branntwein  in  einen  angetrunkenen  Zustand  ver- 


314  Cap.  XII.    Verbrechen  und  Vergehen  an  Geisteskranken. 

setzt  war  und  in  zwei  Tanzlokalen  getanzt  hatte,  nahe  an  der  Thüre  ihrer  Woh- 
nung niedergelegt  und  genothzüchtigt,  während  sie  sich  angeblich  in  einem  ganz 
bewusstlosen  Zustand  befand.  Die  Angeschuldigten  leugneten  den  Beischlaf  mit 
ihr  vollzogen  zu  haben.  Die  vollzogene  Entjungferung  wurde  aber  durch  den 
Zustand  der  Genitalien,  Blut-  und  Samenflecke  im  Hemd  der  Klägerin,  sicher- 
gestellt. 

Dieselbe  gibt  an,  dass  während  sie  noch  das  volle  Bewusstsein  von  Allem, 
was  um  sie  und  mit  ihr  vorging,  hatte,  sie  zugleich  das  Gefühl  der  Ohnmacht 
und  das  Bewusstsein  gehabt  habe,  dass  sie  alle  Herrschaft  über  sich  A^erloren. 
Die  Angeschuldigten  hätten  sie  in  diesem  Zustand  auf  die  Treppe  gelegt,  ihr  die 
Beine  gespreizt,  die  Röcke  über  die  Brust  zusammengelegt  und  nun  den  Beischlaf 
vollzogen,  wobei  sie  grosse  Schmerzen  erlitten.  Nach  einer  ziemlich  langen  Zeit 
Ruhe  habe  sich  nun  ein  Anderer  auf  sie  gelegt  und  dies  habe  sich  wohl  4 — 5 
Mal  wiederholt.  Obwolial  sie  keinen  Augenblick  das  Bewusstsein  verloren ,  ^ei 
es  ihr  doch  nicht  möglich  gewesen  zu  schreien,  noch  sich  zu  rühren.  Aus  den 
Zeugenangaben  ergibt  sich,  dass  sie  auf  dem  Heimweg  und  nach  dem  Vorfall 
zwar  betrunken  war,  taumelte,  erbrach,  aber  vollständig  bei  Besinnung  war,  ver- 
nünftig sprach  und  fast  ohne  Unterstützung  nach  Hause  ging,  auch  die  Furcht 
äusserte,  daheim  Schläge  zu  bekommen. 

Das  Gutachten  beweist,  dass  hier  keine  sinnlose  Betrunkenheit  resp.  keine 
Bewusstlosigkeit  bestanden  habe,  Klägerin  wohl  im  Stande  gewesen  sei  zu  schreien 
und  ein  Glied  zu  rühren,  wenn  sie  nur  gewollt  hätte,  dass  sie  den  Beischlaf  eben 
geschehen  liess  und  hinterher  die  Angabe ,  es  sei  ihr  in  bewusstlosem  Zustand 
Gewalt  angethan  worden,  nur  aus  Furcht  vor  den  Eltern  erlogen  hatte.  (Casper, 
klin.  Novellen,  Fall  17.) 

Beob.  118.  Verbrechen  der  Schändung  im  hypnotischen  Schlaf- 
zustand. Ende  April  reichte  Frau  B.  in  Ronen  in  Begleitung  ihrer  20jährigen 
Tochter  eine  Klage  des  Inhalts  ein ,  dass  Zahnarzt  Levy  ihre  Tochter  stuprirt 
habe.  Dieses  Verbrechen  sollte  gelegentlich  zahnärztlicher  Sitzungen  ohne  Wissen 
der  Tochter  und  in  Gegenwart  ihrer  Mutter  begangen  worden  sein !  Erst  durch 
L.'s  eigenes  Geständniss  sei  der  Tochter  und  durch  diese  der  Mutter  die  Schand- 
that  bekannt  geworden.     Dieses  Geständniss  wiederholte  L.  vor  Gericht. 

L.  ist  33  J.  alt,  schön,  stattlich;  obwohl  verheirathet ,  anderwärts  noch 
geschlechtliche  Befriedigung  suchend.  Die  B.'s  sind  kleine  unansehnliche  Frauen- 
zimmer.    Ihr  Ruf  ist  tadellos. 

Am  25.  April  1878  war  Frau  B.  zum  erstenmal  mit  ihrer  zahnkranken 
Tochter  bei  L.,  zu  dem  die  Beiden  ein  grosses  Zutrauen  hatten ,  erschienen.  L. 
hatte  die  sonderbarsten  Fragen  über  Gesundheits-  und  Lebensverhältnisse  der 
Tochter  gestellt,  verlangt,  er  müsse  Gewissheit  durch  eine  Untersuchung  liaben, 
ob  sie  noch  Jungfrau  sei.  Nach  einigem  Sträuben  gestanden  die  einfältigen  B.'s 
dies  zu.  L.  kam  zum  Schluss ,  dass  bei  dem  anämischen  Mädchen  eine  Behand- 
lung nöthig  sei,  durch  welche  der  Blutzufluss  zu  den  Beckenorganen  befördert 
werde.  Die  B.'s  glaubten  ihm;  L.'s  Arbeitszimmer  hatte  7  Meter  Länge.  Die 
Frau  B.  wurde  so  placirt,  dass  sie  mehr  im  Hintergrund  des  langen  Zimmers 
sass  und  fast  den  Rücken  der  Tochter  zuwandte.  Diese  lag  fast  horizontal  auf 
dem  Operationsstuhl  des  L.,  der  sie  geheissen  hatte  ihre  Lippen  auf  die  Nasen- 
löcher zu  halten.    L.  stand  zwischen  ihren  Füssen.    Schon  nach  wenigen  Minuten 


4 


Beischlaf  nach  Versetzung  in  willenlosen  Zustand.  315 

fühlte  die  B.  junior,  dass  sie  das  Bewusstsein  verlor.  Was  dann  geschah,  weiss 
sie  nicht.     Am  2.  Tag  dieselbe  Sitzung  unter  denselben  Umständen. 

Am  3.  Tag  dauerte  die  Sitzung  länger.  Frau  B.  bemerkte,  dass  L.  ihrer 
Tochter  etwas  zu  riechen  gab,  worauf  sie  einen  Seufzer  ausstiess.  Als  die  B. 
nach  der  Tochter  sehen  wollte,  hielt  sie  L.  zurück  mit  einigen  beruhigenden 
Worten.  Gleich  darauf  nahm  L.  eine  Serviette,  wischte  etwas  damit  auf  und 
warf  das  Handtuch  in  einen  Winkel.  Die  Tochter  kam  allmälig  zu  sich,  klagte 
Brennen  und  Schmerz  in  den  Genitalien.  Nach  dem  eigenen  Geständniss  des 
L.  hat  er  noch  wiederholt  den  Coitus  an  der  jungen  B.  gelegentlich  solcher 
Sitzungen  ausgeübt,  aber  er  behauptet,  dass  sie  sich  dazu  hergegeben  habe  und 
nicht  bewusstlos  gewesen  sei,  was  die  B.  mit  aller  Entschiedenheit  in  Abrede 
stellte.     Darum  drehte  sich  natürlich  das  ganze  Beweisverfahren. 

War  die  Bewusstlosigkeit  der  B.  etwa  durch  ein  Anästheticum  (Cloroform, 
Aether,  Lustgas)  hervorgerufen  worden?  Die  B.  hatte  nichts  davon  bemerkt  und 
diese  Möglichkeit  konnte  aus  den  sonstigen  Umständen  mit  Sicherheit  ausge- 
schlossen werden. 

Befand  sie  sich  vielleicht  in  einem  krankhaften,  durch  sog.  H3rpnotismus 
bewirkten  Schlafzustand,  der  Bewusstsein  und  damit  j egliche  Empfindung  aufhob? 

Die  B.  ist  ein  neuropathisches  anämisches,  geistesbeschränktes  Mädchen, 
das  leicht  einschläft,  viel  schläft.  Sie  ist  im  5.  Monat  einer  Schwangerschaft, 
bietet  zweifellose  Zeichen  von  Hysterie.  Sie  ist  analgetisch  aber  nicht  anästhetisch, 
ihr  Muskelbewusstsein,  Gehör  und  Sehvermögen  sind  intakt.  Vaginalexploration 
mit  dem  Finger  wird  schmerzhaft  empfunden.  Schliesst  man  ihr  die  Augenlider 
mit  dem  Finger,  so  gerathen  die  Bulbi  sofort  in  convulsives  Zittern,  dann  in 
Strabismus  convergens,  der  Kopf  sinkt  nach  hinten,  die  Extremitäten  werden 
schlaff  und  nach  einer  Minute  befindet  sie  sich  in  einem  tiefen  Schlafzustand 
mit  erweiterten  Pupillen,  aus  dem  sie  plötzlich  wieder  zu  sich  kommt.  Die  B. 
ist  somit  leicht  in  hypnotischen  Schlaf  zu  versetzen ;  die  Umstände,  unter  welchen 
sie  sich  gelegentlich  der  Sitzungen  befand,  begünstigten  das  Eintreten  eines 
solchen.  Ob  sie  damals  wirklich  hypnotisirt  war,  ist  wissenschaftlich  nicht 
sicher  zu  stellen. 

Das  Geständniss  L.'s  und  andere  Inzichten  bestimmten  die  Jury  ihn  schuldig 
zu  finden  und  zu  10  Jahren  zu  verurtheilen. 

Die  B.  gebar  nach  dem  7.  Monat  ein  todtes  Kind,  dessen  Alter  der  Zeit  jener 
„Sitzungen"  entsprach.    (Brouardel,  Ann.  d'hygiene  publ.  1879,  Januar.) 

Weitere  Fälle:  Bewusstlosigkeit  durch  Schlag  oder  Drosselung  s.  Rein- 
hard, Casper  Vierteljahrschr.  1854,  H.  2  u.  Buchner,  Lehrb.  d.  ger.  Med.  2.  Aufl., 
p.  197.  Durch  Chloroform:  Winkler,  Vierteljahrsschr.  f.  ger.  Med.  N.  F.  XXIII, 
Juli.  Annal.  d'hygiene  1874,  Januar.  Tourdes,  Gaz.  hebdomad.  1866.  Schuh- 
macher, Wien.  med.  Wochenschrift  1854.  Durch  Hypnotismus:  Tardieu,  op.  cit. 
Schwängerung  im  magnetischen  bewusstlosen  Zustand, 


316         Cap.  XIII.    Fälschliche  Beschuldigungen  Seitens  Geisteskranker. 

Cap.  XIII.    Fälschliche  Beschuldigungen  von  Seiten 
Greisteskranker. 

Literatur:  v.  Krafft,  Vierteljahrschr.  f.  ger.  Med.    N.  F.  XIX,  H.  2,  1873. 

1.   Sellbstanscliuldiguiigen. 

Es  ist  ein  weiser  Grundsatz  der  modernen  Strafrechtswissen- 
schaft, dass  sie  auf  das  Geständniss  im  Beweisverfahren  wenig  gibt  und 
erst;  wenn  That  und  Thäterschaft  erwiesen  sind,  an  Strafe  denkt. 
Diese  Vorsicht  entspringt  zum  Theil  der  Erfahrung,  dass  Geistesge- 
störte nicht  selten  sich  wahnhafter  Verbrechen  beschuldigen,  die  gar 
nicht  stattgefunden  haben  oder  wirkHch  stattgefundene  Verbrechen 
aufgreifen  und  sich  fälschhch  als  Thäter  bezüchtigen.  Fast  aus- 
nahmslos sind  es  Melancholische,  die  aus  Affekt  der  Selbsterniedri- 
gung oder  Lebensüberdruss  nach  erniedrigenden  Strafen  oder  dem 
Tod  auf  dem  Schaffot  sich  sehnend,  oder  aus  Wahn  und  Hallucina- 
tionen  fälschlich  sich  als  Verbrecher  vor  Gericht  anklagen.  Bei  der 
Sorgfältigkeit  unseres  modernen  Strafprocesses  haben  solche  Selbst- 
anschuldigungen Geisteskranker  weniger  ein  criminalistisches  und 
praktisches,  als  ein  psychologisches  Interesse.  Vor  Zeiten,  wo  das 
Geständniss  den  vollen  Beweis  ausmachte,  lag  darin  eine  ernstliche 
Gefahr  für  die  Sicherheit  der  Rechtspflege  und  unzweifelhaft  wurden 
zur  Zeit  der  Hexenprocesse  eine  Unzahl  melancholischer  und  hystero- 
dämonomanischer  Kranker  das  Opfer  wahnsinniger  Denunciationen. 
Heutzutage  verfügen  dagegen  die  Criminalordnungen  der  meisten 
Länder  in  richtiger  Würdigung  der  üngewöhnlichkeit  der  Selbstan- 
klagen vor  Gericht,  dass  bei  Personen,  die  sich  selbst  als  Verbrecher 
anzeigen,  der  Richter  sorgfältig  auf  ihren  Geistes-  und  Gemüthszu- 
stand  zu  achten  habe. 

Ebensowenig  kann  den  Selbstanschuldigungen  eines  delirirenden 
Inculpaten  ein  Werth  im  Indicienbeweis  beigelegt  werden,  denn  es 
ist  bekannt,  dass  der  Inhalt  des  Delirium  vielfach  von  den  unmittel- 
bar dem  Ausbruch  der  Krankheit  vorausgehenden  Ereignissen  be- 
dingt wird,  und  begreiflich,  dass  entsprechend  dieser  Erfahrung  ein 
Angeklagter  im  Sinne  der  Anklage  delirirt. 

Beob.  119.  Ein  an  Tj^phus  erkrank ter  Angeklagter  delirirt 
im  Sinn  der  Anklage.  Ein  Notarschreiber,  angeklagt  seinem  Herrn  eine 
Summe  von  1700  frcs.  veruntreut  zu  haben,  leugnet  beharrlich.  Während  der 
Untersuchung  erkrankt  er  an  Typhus.    In  seinem  Delir  ruft  er  wiederholt :  „Dieb, 


Selbstanschuldigungen.  317 

ich  habe  gestohlen  —  Bankbillete  —  1700  —  im  Gefängniss  —  Guillotine  — 
entehrt,  —  her  mit  dem  Richter  —  haltet  den  Dieb  —  ich  bin  ein  Dieb  — 
verhaftet  mich."  Wieder  genesen  hatte  er  keine  Erinnerung  für  die  Zeit  seines 
Delirs  und  beharrte  dabei  unschuldig  zu  sein.  Der  Richter  glaubte  die  im  Delir 
gemachten  Aussagen  nicht  ignoriren  zu  dürfen,  legte  übrigens  den  Sachverstän- 
digen die  Frage  vor,  ob  im  Typhusdelir  gemachte  Aussagen  von  gerichtlichem 
Belang  sein  könnten,  vi^as  diese  natürlich  verneinten.  Da  keine  weiteren  Schuld- 
bew^ise  zu  gewinnen  waren ,  wurde  der  Angeklagte  freigelassen.  (Legrand ,  la 
folie  devant  les  tribunaux  p.  586.) 

Beob.  120.  Analoger  Fall.  W.  ist  angeklagt,  einen  Waldhüter  er- 
schossen zu  haben,  wahrscheinlich  im  Moment,  wo  dieser  einen  proces  verbal 
über  ihn  aufnahm.  Einige  Wochen  nach  der  Verhaftung  wurde  er  irre.'  (Hallu- 
cinationen,  spricht  von  Blut,  das  vergossen,  von  Guillotine,  hört  die  Gensdarmen 
sich  nähern,  die  ihn  verhaften  wollen.)  Er  ruft  wiederholt :  „ich  habe  geschossen, 
ich  gestehe  es,  lasst  mich  jetzt  in  Ruhe."  Wieder  genesen  erklärt  er  sich  für 
nichtschuldig.  Dagonet  hatte  sein  Gutachten  abzugeben  und  wies  nach,  dass 
die  Geständnisse  Irrsinniger  rechtlich  keinen  Werth  haben  können.  Da  weitere 
Beweise  nicht  beizubringen  waren ,   wurde  W.  freigesprochen.     (Ebenda  p.  585.) 

Beob.  121.  Fälschliche  Selbstanschuldigung  einer  Geistes- 
kranken. Eine  junge  Frau  geht  eines  Tags  vor  Gericht  und  erzählt  mit  allem 
Detail  und  sehr  plausibeln  Angaben,  sie  habe  ihr  7jähriges  rhachitisches  Kind 
durch  Misshandlungen  umgebracht.  Sie  sei  eine  unnatürliche  Mutter.  Es  ergibt 
sich,  dass  das  Kind  an  einer  Rückenmarkskrankheit  gelitten  hatte  und  plötzlich 
gestorben  war,  während  die  Eltern  abwesend  waren,  dass  die  Mutter  es  mit 
rührender  Sorgfalt  gepflegt  und  durch  seinen  Verlust,  sowie  durch  den  Kummer, 
in  seiner  Todesstunde  abwesend  gewesen  zu  sein,  gemüthskrank  geworden  war 
und  fälschlich  sich  der  Tödtung  desselben  bezüchtigt  hatte.  (Morel,  Gaz.  heb- 
domad.  1863.) 

Analoge  Fälle:  Diez,  Selbstmord,  p.  325.  Brierre,  Ann.  med.  psychol. 
1851,  p.  640.  Zeitschr.  d.  Gesellsch.  d.  Aerzte  Wiens  1859,  Nr.  35,  36  (Eine  Frau 
klagt  sich  an,  einen  von  ihr  geborenen  Knaben  in's  Wasser  geworfen  zu  haben. 
Es  ergab  sich,  dass  sie  nie  geboren  hatte  und  wahnsinnig  war).  Zeitschr.  für 
Staatsarzneikunde  1850,  p.  313.  (Fälschliche  Selbstanklage  einer  arbeitslosen 
Melancholischen  der  Mitwissenschaft  an  einem  angeblichen  Mord,  um  in's  Zucht- 
haus zu  kommen).  Deutsche  Klinik  1862,  Nr.  9  u.  10.  Forlani,  l'isterismo  1869, 
Fall  15  (Fälschliche  Denunciation  einer  hysterisch  Irrsinnigen,  ihr  Kind  ermordet 
zu  haben.  Die  Untersuchung  ergab,  dass  sie  noch  Vjrgo  war).  Legrand  du  Saulle, 
la  folie,  p.  577  u.  581  (Im  ersteren  Fall  benutzt  ein  des  Lebens  überdrüssiger 
Geisteskranker  die  Gelegenheit,  wo  ein  des  Mordes  üb-erführter  Verbrecher  hin- 
gerichtet werden  sollte,  sich  statt  seiner  des  Mordes  anzuklagen  und  so  den  Tod 
zu  finden).  Schuhmacher,  Friedreich's  Blätter  1873,  H.  4  (Eine  Frauensperson 
beschuldigt  sich  fälschlich  des  Kindsmords.  Hysterie,  früher  Melancholie). 
Maschka,  Vierteljahrsschr.  f  gerichtl.  Med.  1869,  H.  2  (Melancholie  bei  geistiger 
Schwäche.  Fälschliche  Selbstanklage,  die  Schwester  vor  7  Jahren  ertränkt  zu 
haben). 


318         Cap.  XIII.    Fälschliche  Beschuldigungen  Seitens  Geisteskranker. 


2.   Anschuldigungen  Anderer, 

Weitaus  häufiger  und  für  das  Forum  wichtiger  sind  die  Fälle, 
wo  scheinbar  Geistesgesunde,  in  Wirklichkeit  aber  Geisteskranke  auf 
Grund  krankhafter  Affekte,  Hallucinationen  und  Wahnideen  falsche 
Denunciationen  gegen  Andere  machen.  Weitaus  das  bedeutendste 
Contingent  liefern  Krankheitfezustände,  bei  denen  eine  äussere  Be- 
sonnenheit und  ein  logisches  Raisonnement  erhalten,  gleichwohl  aber 
die  Beziehungen  zur  Aussenwelt  krankhaft  verfälscht  und  feindliche 
geworden  sind. 

Im  Ca'pitel  des  hysterischen  Irreseins  wurde  der  grundlosen 
böswilligen  Denunciationen  gedacht,  denen  die  Umgebung  von  Seiten 
Hysterischer,  sei  es  aus  krankhafter  Einbildung,  sei  es  aus  Bosheit 
oder  aus  dem  Drang  Aufsehen  zu  erregen,  ausgesetzt  ist.  Die  Neigung 
zum  Lügen  und  Intriguiren  ist  bei  Hysterisch-Irren  ein  Grundzug  des 
Krankheitsbildes.  Von  besonderer  Bedeutung  sind  hier  die  Denuncia- 
tionen männlicher  Personen  der  Umgebung,  wohl  auch  von  Aerzten, 
dass  sie  mit  der  Kranken  geschlechtlichen  Missbrauch  getrieben  hätten. 
Dass  hier  Justizmorde  möglich,  lehrt  der  vor  Jahrzehnten  in  Frank- 
reich verhandelte  Process  La  Ronci^re,  der  mit  der  Schuldigsprechung 
eines  ehrenwerthen  Arztes  endigte,  der  von  einer  hysteropathischen, 
geschlechtlich  krankhaft  erregten  Clientin  grundlos  beschuldigt  wurde, 
sie  missbraucht  zu  haben. 

Weitere  Fälle  s.  Morel,  traite  de  malad,  ment.  p.  787.  Brierre,  la  folie 
raisonnante  1867,  p.  51. 

Eine  grosse  Zahl  von  falschen  Denunciationen  geht  von  an 
Verfolgungswahnsinn  Leidenden  aus.  Da  der  Kranke  besonnen  spricht, 
seine  Beschuldigung  (aus  Vergiftungswahn,  Wahn  ehelicher  Untreue  ete.) 
den  Wahn  nicht  direkt  verräth,  von  ihm  ganz  plausibel  gemacht  wird, 
so  geschieht  es  nicht  selten,  dass  eine  weitläufige  Untersuchung  an- 
gestellt wird,  die  im  besten  Fall  mit  der  Schuldlosigkeit  des  Denun- 
cirten  und  der  Wahnsinnigkeitserklärung  des  Denuncianten  endigt. 
Wie  solche  Kranke  mit  Klagen  wegen  Lebensbedrohung  debütiren, 
belästigen  sie  auch  die  Gerichte  wegen  Ehrenkränkung,  indem  sie 
ehrenrührige  Worte  von  Anderen  auf  Grund  von  Sinnestäuschungen 
vermeintlich  vernommen  haben  oder  auch  mit  Ehescheidungsklagen 
auf  Grund  sexuellen  Verfolgungswahns  und  Wahn  ehelicher  Untreue. 

Das  Hauptcontingent   von  Denuncianten    bilden    endlich    die  irr- 


Anschuldigungen  Anderer.  319 

sinnigen  Querulanten  und  Processkrämer.  Leider  merkt  der  hohe 
Gerichtshof  gewöhnlich  erst  nach  Jahren,  dass  er  es  mit  einem  Irr- 
sinnigen zu  thun  hat,  der  in  einer  Irrenanstalt  unschädlich  gemacht 
werden  muss. 

Inzwischen  behelligt  der  Kranke  die  Gerichte,  und  wird  von 
ihnen  erfolglos  gemassregelt.  Hat  man  doch  in  manchen  Ländern 
noch  eigens  Strafen  auf  solches  unbefugtes  Queruliren  gesetzt ,  das 
in  99  unter  hundert  Fällen  ein  pathologisches  ist,  statt  in  der  Cri- 
minalordnung  den  Richter  anzuweisen,  solch  obstinates  Queruliren 
für  ein  des  Irrsinns  verdächtiges  Zeichen  zu  halten  und  den  Queru- 
lanten gerichtsär^lich  untersuchen  zu  lassen. 

Eine  nicht  selten  vorkommende  Denunciation  Geisteskranker  ist 
nach  ihrer  Entlassung  oder  Entweichung  aus  einer  Irrenanstalt  die  angeb- 
lich widerrechtliche  Freiheitsberaubung  durch  eine  solche  Anstalt.  Pro- 
cesshungrige  Advokaten,  skandalsüchtige  Zeitungsschreiber  nehmen  sich 
dann  gerne  des  pikanten  Falls  an  und  machen  ihn  zur  cause  celebre. 
Bedenkt  man,  wie  die  wenigsten  Geisteskranken  ein  Bewusstsein  ihrer 
Krankheit  haben,  so  kann  mau  sich  nur  wundern,  dass  solche  Denuncia- 
tionen  nicht  häufiger  vorkommen.  Natürlich  haben  nur  solche  Kranke 
Aussicht  mit  ihrer  Klage,  bei  den  Laien  durchzudi'ingen ,  die  zeit- 
weise ganz  vernünftig  sprechen  und  damit  dem  Bild  der  Krankheit, 
das  der  Laie  vom  Roman  und  Theater  her  kennt,  nicht  entsprechen. 
Wie  die  Erfahrung  lehrt,  handelt  es  sich  fast  immer  um  Fälle  von 
sogenannter  moral  insanitj,  folie  raisonnante  und  hysterischem  Irresein, 
überhaupt  um  Zustände,  die  sich  vorwiegend  durch  irre  Handlungen 
aus  krankhaftem  Fühlen  bei  fehlenden  Wahnideen  und  Sinnestäu- 
schungen und  leidlich  erhaltener  Intelligenz  kundgeben,  zuweilen  aber 
um  Fälle  wirklicher  Verrücktheit,  die  recht  schlagend  beweisen,  wie- 
viel dem  Laien  von  einem  Geisteskranken  geboten  werden  kann,  bis 
jener  die  Krankheit  merkt. 

Zur  Ehre  der  deutschen  und  ausländischen  Irrenärzte  darf  es 
gesagt  sein,  dass  soweit  die  Annalen  der  Wissenschaft  reichen,  noch 
in  jedem  vorgekommenen  Fall  die  Denunciation  als  eine  grundlose 
erwiesen  und  der  Nachweis  der  wirklichen  Geisteskrankheit  erbracht 
wurde. 

Aber  abgesehen  von  der  Ehrenhaftigkeit  der  Irrenärzte  schützt 
eine  sorgfältige  Irrengesetzgebung  vollkommen  vor  einem  solchen  ab- 
scheulichen Verbrechen,  dessen  Zustandekommen,  zur  Beruhigung 
ängstlicher  Gemüther  möge  es  gesagt  sein,  heutzutage  noch  weniger 
Chancen  hat  als  das  Lebendigbegrabenwerden. 


320  Cap.  XIV.    Versetzung  in  Geisteskrankheit. 

Bekannte  hieher  gehörige  Fälle  der  Neuzeit  sind  die  Affaire  Koch  contra 
Jessen;  die  Mutter  im  Irrenhause  (Process  Gabe).  Fall  34  in  Casper's  Idin.  No- 
vellen (Ulrike  v.  Reinikendorf).  Process  Sagrera  (Annal.  med.  psj^chol.  1865,  Sept.). 
S.  ausserdem  Annal.  med.  psych.  1865  Mai,  Nov.,  1870  Januar.  AUgem.  Zeitschr. 
f.  Psychiatr.  1870,  H.  4  u.  5.  Brierre,  la  folie  raisonannte  p.  57.  Derselbe, 
Annal.  med.  psychol.,  Juli  1873  (Affaire  Sandon).  Archivio  italiano,  Mai  1871 
(fälschliche  Annahme  widerrechtlicher  Einspei'rung  einer  Geistesgesunden,  unge- 
rechte Verurtheilung  eines  Arztes).  Kornfeld,  Archiv  f.  Psychiatrie  V,  H.  1. 
Annal.  med.  psychol.  1879  Nov.     Walter,  Irrenfreund  1879  Nr.  7. 


Cap.  XIV.    Versetzung  in  Geisteskrankheit. 

Literatur:  v.  Krafft,  Vierteljahrschr.  f.  ger.  Med.  N.  F.  XXI,  H.  1,  1874. 
Behrend,  ebenda  N.  F.  VII.,  H.  1   1867. 

Gesetzl.  Bestimmungen:  Deutsches  St.-G.-B.  §.  224.  Hat  die  Körperver- 
letzung zur  Folge,  dass  der  Verletzte  ein  wichtiges  Glied  des  Körpers,  das 
Sehvermögen  auf  einem  oder  beiden  Augen,  das  Gehör,  die  Sprache  oder 
die  Zeugungsfähigkeit  verliert,  oder  in  erheblicher  Weise  dauei'nd  entstellt 
wird,  oder  in  Siechthum,  Lähmimg  oder  Geisteskrankheit  verfällt,  so  ist  auf 
Zuchthaus  bis  zu  5  Jahren,  oder  Gefängniss  nicht  unter  einem  Monat  zu 
erkennen. 

Oesterr.  St.-G.-B.  §.  152.  Wer  gegen  einen  Menschen,  zwar  nicht  in 
der  Absicht,  ihn  zu  tödten,  aber  doch  in  anderer  feindseliger  Absicht  auf 
eine  solche  Art  handelt,  dass  daraus  eine  Gesundheitsstörung  oder  Berufs- 
unfähigkeit von  mindestens  20tägiger  Dauer,  eine  Geisteszerrüttung,  oder 
eine  schwere  Verletzung  desselben  erfolgte,  macht  sich  des  Verbrechens  der 
schweren  körperlichen  Beschädigung  schuldig. 

§.  156.  Hat  das  Verbrechen  für  den  Beschädigten,  a)  immerwährendes 
Siechthum,  eine  unheilbare  Krankheit  oder  Geisteszerrüttung  ohne  Wahr- 
scheinlichkeit der  Wiederherstellung,  oder  b)  eine  immerwährende  Berufs- 
unfähigkeit des  Verletzten  nach  sich  gezogen,  so  ist  die  Strafe  des  schweren 
Kerkers  zwischen  5  und  10  Jahren  auszumessen. 

§.  126.  Die  Strafe  der  Nothzucht  ist  schwerer  Kerker  zwischen  5  und  10 
Jahren.  Hat  die  Gewaltthätigkeit  einen  wichtigen  Nachtheil  der  Beleidigten 
an  ihrer  Gesundheit  oder  gar  am  Leben  zur  Folge  gehabt,  so  soll  die  Strafe 
auf  eine  Dauer  zwischen  10  und  20  Jahren  verlängert  werden. 

Oesterr.  St.-G.-Entw.  §.  234.  Wer  einen  Anderen  am  Körper,  oder  an 
der  Gesundheit  beschädigt,  oder  misshandelt,  wird  wegen  Misshandlung  mit 
Gefängniss  bis  zu  6  Monaten,  oder  an  Geld  bis  zu  500  Gulden  bestraft. 

§.  236.  Hat  die  Misshandlung  zur  Folge,  dass  der  Verletzte  einen  Arm, 
Hand  ....  verliert,  oder  in  Siechthum,  Lähmung  oder  in  eine  Geisteskrank- 
heit verfällt,  oder  eine  bleibende  Verunstaltung  erleidet,  so  ist  wegen  schwerer 
Körperverletzung  auf  Gefängniss  nicht  unter  einem  Monat  zu  erkennen. 

Für   eine    schwere  Gesundheitsstörung  sieht  das  Gesetzbuch  die 
aus  einer  Körperverletzung  oder  Misshandlung  erfolgte  Geisteskrank- 


Begriff  und  Nachweis  der  „Geisteskrankheit".  321 

heit  an.  Für  die  forensische  Praxis  ergeben  sich  daraus  eine  Reihe 
von  subtilen  Fragen^  deren  Beantwortung  zur  Klärung  des  Thatbe- 
standes  erforderlich  ist. 

Zunächst  entsteht  die  Frage,  was  unter  Geisteskrankheit  zu 
verstehen  sei? 

Offenbar  kann  von  der  Gesetzgebung  nur  eine  Hirnerkrankung 
mit  vorwaltenden  psychischen  Symptomen,  die  zu  einem  geschlossenen 
Krankheitsbild  vereinigt  sind  und  einen  gewissen  Verlauf  und  Selb- 
ständigkeit darbieten,  gemeint  sein,  nicht  aber  elementare  und  trans- 
itorische  Störungen  der  Geistesfunktionen  (Bewusstlosigkeit ,  Ohn- 
macht, Hallucinationen,  Delirium). 

Auf  die  Dauer  einer  solchen  ^Geisteskrankheit"  nimmt  die 
Gesetzgebung  an  und  für  sich  keine  Rücksicht,  indessen  lässt  der 
Sinn  der  betreffenden  Gesetzesparagraphen,  in  welchen  Verlust  von 
Gliedmassen,.  Siechthum,  Lähmung,  überhaupt  Zustände,  die  gewöhn- 
lich als  dauernde,  unheilbare  angesehen  werden,  neben  Geisteskrank- 
heit namhaft  gemacht  sind,  kaum  einen  Zweifel  darüber  zu,  dass  der 
Gesetzgeber  hier  Fälle  dauernder  und  unheilbarer  Geisteskrankheit 
vor  Augen  gehabt  hat. 

Ein  Fehler  der  Gesetzgebung  bleibt  es  immerhin,  dass  vor 
„Geisteskrankheit"  nicht  das  Wort  „bleibende"  Aufnahme  gefunden 
hat.  Es  lässt  dies  vermuthen,  dass  dem  Gesetzgeber  jene  acuten, 
nach  einer  Misshandlung  nicht  seltenen  Anfälle  von  Irresein,  die  nur 
eine  temporäre  Arbeitsunfähigkeit,  keineswegs  aber  ein  dauerndes 
Siechthum  begründen,  unbekannt  waren  und  eine  nähere  Bezeich- 
nung der  Art  der  Geisteskrankheit  desshalb  unterlassen  wurde.  Nur 
das  österr.  Strafgesetzbuch,  indem  es  eine  Geisteszerrüttung  ohne 
Wahrscheinlichkeit  der  W^iederherstellung  erwähnt,  nimmt  auf  den 
Ausgang  ausdrücklich  Rücksicht.  Hier  entsteht  die  weitere  und 
schwierige  Frage  nach  der  Prognose  der  Geistesstörungen,  bezüglich 
welcher   auf  die  Lehrbücher  der  Psychiatrie  verwiesen  werden  muss. 

Von  der  grössten  Wichtigkeit  für  den  Thatbestand  ist  der  Nach- 
weis, dass  die  entstandene  Geisteskrankheit  auch  wirklich  die  Folge 
einer  vorhergegangenen  Misshandlung  war. 

Bei  der  Dunkelheit  der  Entstehungs weise  des  L-reseins  und  der 
Mannigfaltigkeit  der  Ursachen  desselben  ist  die  Ermittlung  des 
Zusammenhangs  einer  etwa  nach  einer  Misshandlung  entstandenen 
Geisteskrankheit  mit  jener  keine  leichte  Aufgabe.  Es  kann  hier  eben- 
sowohl vorkommen,  dass  eine  gleichzeitige  Prädisposition  oder  ein 
anderweitiges,  von  der  Misshandlung  unabhängiges,  ausschlaggebendes 

V.  Kraf ft-Ebing,  gerichtl.  PsyiOiopathologie.    2.  Auflage.  21 


322  Cap.  XIV.    Versetzung  in  Geisteskrankheit. 

Moment  übersehen  und  so  der  vorausgehenden  Misshandlung  eine  zu 
grosse  Bedeutung  beigelegt  wird^  als  auch  dass  die  Bedeutung  einer 
solchen  unterschätzt  wird,  indem  sie  eine  geringfügige  war  und  keine 
sichtbaren  Spuren  am  Körper  des  Gemisshandelten  hinterliess. 

Es  wird  zu  häufig  in  der  Praxis  übersehen,  dass  eine  Körper- 
verletzung oder  Misshandlung  nicht  bloss  durch  ihren  mechanischen 
Effekt  (Erschütterung,  Verletzung  des  Gehirns),  sondern  auch  durch 
den  mit  ihr  verbundenen  Affekt  (Schrecken,  Furcht,  Zorn),  durch  den 
psychischen  Shok,  welchen  sie  setzte,  das  centrale  Nervensystem  zur 
Erkrankung  bringen  kann,  wie  dies  ja  bei  Epilepsie  und  anderen 
Nervenkrankheiten  eine  geläufige  Erfahrung  ist.  Die  oft  sehr  gering- 
fügige Körperverletzung  ist  dann  von  ganz  nebensächlicher  Bedeu- 
tung. Sie  kann  sogar  ganz  fehlen.  Hier  geschieht  es  dann  nur  zu 
leicht,  dass  der  ursächliche  Zusammenhang  zwischen  Misshandlung 
und  Geisteskrankheit  vom  Sachverständigen  negirt  wird. 

Klinische  Anhaltspunkte:  1)  Das  durch  einen  mechanischen 
Insult  gesetzte  Irresein  hat  einen  idiopatliischen  Charakter,  entsprechend  den  durch 
das  Trauma  bedingten  ursächlichen  schweren  Verletzungen  des  Gehirns  und 
seiner  Hüllen.  Vielfach  deuten  die  gleichzeitigen  Symptome  gestörter  Motilität 
und  Sensibilität  auch  auf  heerdartige  Erkrankungen.  Die  zeitliche  Verknüpfung 
von  Ursache  und  Wirkung  kann  eine  zweifache  sein. 

a)  Die  Geisteskrankheit  ist  die  direkte,  anmittelbare  Folge  der  Kopf- 
verletzung. 

Aus  den  Erscheinungen  des  Coma,  oder  den  reaktiven  einer  Meningitis 
entwickelt  sich  im  unmittelbaren  Anschluss  das  Bild  einer  tiefen  und  unheilbaren 
Demenz.  Wille  (Archiv  f.  Psj^chiatrie  VIII.)  hat  übrigens  Fälle  beigebracht,  wo 
völlige  Genesung  binnen  einigen  Monaten  erfolgte.  In  diesen  Fällen  folgten  auf 
die  Commotionserscheinungen  Somnolenzzustände  mit  Delirium ,  schreckhaften 
Hallucinationen,  Angst,  als  reaktiven  Symptomen.  Zugleich  bestanden  Sinnes- 
und motorische  Störungen. 

b)  Zwischen  Trauma  und  Ausbruch  der  Geisteskrankheit  liegt  ein  Wochen 
bis  Monate  dauerndes  Stadium  prodromorum,  dessen  genaue  Beachtung  für  die 
Constatirung  des  ursächlichen  Zusammenhangs  forensisch  höchst  wichtig  ist. 
Diese  prodromalen  Störungen  bestehen  psychischerseits ;  in  Gemüthsreizbarkeit, 
Gedächtnissschwäche,  rascher  geistiger  Ermüdung;  vasomotorisch  in  Geneigtheit 
zu  Kopfcongestionen  und  Intoleranz  für  Alkoholica;  sensorisch  in  Kopfschmerz, 
Schwindel,  nicht  selten  lokalisirt  auch  die  Stelle  des  Trauma;  sensoriell  in  Auf- 
hebung der  Funktion,  häufiger  aber  Hyperästhesie  im  Gebiet  der  Seh-  und  Hör- 
nerven; motorisch  und  sensibel  im  Fortbestehen  von  Lähmungen  und  Anästhesien, 
oder  selbst  deren  Ausbreitung  als  Zeichen  einer  fortdauernden  Hirnerkrankung, 
ferner  in  zeitweise  wiederkehrenden  apoplektiformen  oder  epileptischen  Anfällen. 

Je  mehr  diese  Symptome  sich  zeitlich  dem  Trauma  nähern,  örtlich  dem- 
selben entsprechen,  Progression  zeigen,  anderweitige  Ursachen  sich  ausschliessen 
lassen,  um  so  sicherer  wird  ihre  Dexitung  sein. 


Geisteskrankheit  durch  materielle  Läsion  oder  psychischen  Shok.  323 

Das  klinische  Bild  ist  bei  dieser  zweiten  Gruppe  kein  übereinstimmendes, 
auffallend  häufig  ist  hier  paralytische  Geistesstörung.  Auch  schwere  organische 
Manien  mit  raschem  Ausgang  in  Blödsinn  kommen  hier  vor. 

Zu  berücksichtigen  ist,  dass  ein  Schädeltrauma,  auch  ohne  zu  einer  aus- 
gesprochenen Geisteskrankheit  zu  führen,  gleichwohl  Wirkungen  hervorrufen 
kann,  die  die  Integrität  des  geistigen  Lebens  gefährden.  Das  Trauma  hinterlässt 
nicht  selten  dauernd  einen  funktionellen  Schwächezustand  der  psychischen  (rasche 
geistige  Ermüdung)  und  namentlich  der  vasomotorischen  Centren  (Geneigtheit 
zu  Fluxionen,  Intoleranz  gegen  Alkoholica  durch  Herabsetzung  des  vasomotorischen 
Tonus).  Bemerkenswerth  ist  dann  eine  grosse  Geneigtheit  zu  Delirien  und  Affekten 
Seitens  des  zum  Locus  minoris  gewordenen  Centralorgans,  nicht  selten  auch  eine 
Verminderung  des  gemüthlichen  Tonus  im  Sinn  gesteigerter  Gemüthserregbarkeit. 
Bei  derart  geschaffener  Belastung  des  Gehirns  genügen  geringfügige  Anlässe,  um 
acute  oder  auch  chronische  Psychosen  hervorzurufen. 

Vgl.  über  durch  Gehirnerschütterung  und  Kopfverletzung  bedingtes  Irresein 
d.  Verf.  gleichnamige  Schrift  (Erlangen  1865)  mit  vollständiger  Literatur.  Ferner 
Schule,  Handb.  d.  Geisteskrankheiten,  2.  Aufl.  p.  265.  Wille,  Archiv  f.  Psych. 
Vin,  p.  619.  Eine  weitere  materielle  Entstehungsweise  von  Irresein  nach  Kopf- 
verletzungen hat  Koppe  (Deutsch.  Archiv  f.  klin.  Med.  XIII,  1874)  nachgewiesen. 
Bei  Individuen  von  neuropathischer  Constitution  kann  das  durch  eine  Kopfverletzung 
noch  empfindlicher  gewordene  Gehirn,  durch  die  mit  dem  Trauma  verbunden 
gewesene  mechanische  Beleidigung  eines  sensiblen  Kopfnerven  gefährdet  werden. 
In  der  Bahn  des  afficirten  Nerven  entwickelt  sich  eine  (traumatische)  Neuralgie. 
Diese  wirkt  irritirend  auf  die  Gehirnrinde  und  ruft  reflektorisch  neben  motorischen 
Störungen  (epilept.  Krämpfe)  schwere  psychische  Symptome  hervor. 

2)  Das  durch  den  mit  einer  Misshandlung  verbundenen  psychischen 
Shok  entstandene  Irresein ,  hat  den  Charakter  einer  Psychoneurose.  Die 
Entstehung  dieser  ist  a)  eine  psychische,  durch  den  in  Folge  der  Misshandlung  her- 
vorgerufenen schmerzlichen  Affekt,  der  wieder  durch  die  Schmerzen  in  Folge  der 
Läsion,   die  Besorgnisse    über  ihre  möglichen  Folgen  etc.  unterhalten  sein  kann. 

In  solchen  Fällen  von  rein  psychischer  Entstehungsweise  finden  sich  Bilder 
der  Melancholie,  hypochondrischen  Depression,  neuralgischen  Dysthymie,  des 
hysterischen  Irreseins. 

Oder  die  Entstehung  ist  b)  eine  vasomotorische,  durch  die  mit  dem  Schrecken 
über  die  Misshandlung  gesetzten  Zustände  von  Gefässkrampf  oder  Gefässlähmung. 
Die  bei  solcher  Entstehungsweise  sich  findenden  Krankheitsbilder  sind  Stupor, 
primäre  Dementia,  Melancholia  attonita,  acute  Tobsucht. 

Als  wichtige  und  rein  psychisch  bedingte  Fälle  von  Geistesstörung  in 
Folge  von  Misshandlung  sind  solche  zu  erwähnen ,  die  nach  einem  Stuprum 
auftraten. 

Für  die  Beurtheilung,  ob  die  einer  Misshandlung  gefolgte  Geistes- 
krankheit durch  materielle  Läsion  oder  psychischen  Shok  bedingt  sei, 
wird  die  Entwicklungsweise,  die  Form  und  der  Verlauf  des  Krankheits- 
bilds massgebend  sein.  Im  ersten  Fall  sind  die  einleitenden  Krank- 
heitserscheinungen mehr  weniger  schwere  cerebrale,  jedenfalls  organisch 
gesetzte,  intellektuelle,  im  letzteren  Fall  affektartige  funktionelle.    Der 


324  Cap.  XIV.    Versetzung  in  Geisteskrankheit. 

Ausbruch  ist  dort,  sofern  nicht  eine  sofortige  Vernichtung  der  psy- 
chischen Funktionen  entstand,  ein  allmäliger,  durch  ein  Incubations- 
stadium  vermittelter,  —  hier  ein  plötzlicher  und  dem  Trauma  bald 
folgender. 

Das  Krankheitsbild  ist  dort  das  einer  schweren  Hirnkrankheit 
mit  Symptomen  tief  geschädigter  Intelligenz  (Demenz,  Delirien)  und 
sonstigen  Erscheinungen  schwererer  Cerebralerkrankung  (Lähmung  von 
motorischen  Hirnnerven,  Anästhesien,  Störungen  der  Sinnesfunktionen, 
Hemiplegie,  epilept.  Anfälle,  aphasische  Symptome  etc.),  hier  das 
einer  Psychoneurose  mit  Symptomen  einer  Hysterie,  Hypochondrie 
und  falls  krampfhafte  Erscheinungen  auftreten,  so  sind  die  Krämpfe 
psychisch  vermittelt  und  mehr  weniger  coordinirte. 

Meist  werden  sich  bei  psychisch  vermittelter  Entstehungsursache 
gleichzeitige,  und  für  die  Schuldfrage  schwerwiegende  Prädispositionen 
zu  solcher  Erkrankung  nachweisen  lassen,  die  wieder  in  von  Hause 
aus  bestehender  nervöser,  vielfach  erblicher  Constitution,  oder  in 
temporärer  grösserer  Erregbarkeit  des  Nervensystems  (Menstruation) 
bestehen  können.  Doch  kommen  auch  Fälle  vor,  wo  ohne  alle 
Prädisposition  der  Schrecken,  welchen  die  Vergewaltigung  hervor- 
brachte, die  Krankheit  in's  Leben  rief. 

Beol).  122.  Geistiger  Schwächezustand  durch  materielle  Läsion 
in.  Folge  von  Trauma  capitis.  Am  15.  Juni  1875  erhielt  S.  im  Streit  eine 
Contusion  an  der  linken  Schläfe.  Als  Pat.  am  3.  Tag  vernommen  werden  sollte, 
war  er  verwirrt,  sprachlos,  hatte  allgemeine  Convulsionen,  die  besonders  stark 
in  den  oberen  Extremitäten  waren. 

Am  12.  Juli  und  16.  September  bot  Pat.  folgendes  Bild:  Geistige  Schwäche, 
auch  des  Gedächtnisses ,  erschwerte  Apperception ,  verwirrte  blöde  Miene ,  er- 
schwerte Sprache,  Die  Vertheidiger  des  Angeklagten  machten  geltend,  dass  S. 
schon  vor  der  Verletzung  geistesschwach  gewesen  sei  und  gestammelt  habe. 
Diese  Behauptung  erwies  sich  grundlos.  Das  nach  Jahresfrist  erhobene  Gut- 
achten des*  Verf.  findet  bei  dem  55  J.  alten  S.  wesentlich  die  bereits  erwähnten 
Störungen.  Die  Sprache  ist  erschwert  aber  nicht  stotternd.  Da  S.  früher  ganz 
gesund  war  und  im  Anschluss  an  die  Verletzung  sofort  erkrankte,  muss  diese 
als  Ursache  seiner  geistigen  Schwäche  und  Sprachbehinderung  erkannt  werden. 
Wahrscheinlich  handelt  es  sich  um  einen  Bluterguss  in  Windungen  des  Scheitel- 
stirnlappens in  Folge  des  Trauma.  Der  Zustand  des  Verletzten  änderte  sich  nicht, 
der  Verletzer  wurde  zu  6  Monaten  verurtheilt.     (Ziino,   Rivista  sperimentale.) 

Beob.  123.  Geistesstörung  als  angebliche  Folge  einer  Züchti- 
gung. Ein  Schulknabe,  vom  Lehrer  hart  gescholten,  fiel  sofort  in  einen  starr- 
krampfartigen Zustand,  in  welchem  er  noch  zwei  Ohrfeigen  bekam.  In  der  Folge 
Status  nervosus,  Convulsionen,  Tobsucht,  schliesslich  Genesung.  Das  Gutachten 
erwies,  'dass  hier  eine  rein  psychische  Ursache  der  Krankheit  vorlag,  nämlich 
der  Schrecken   über  die  Zurechtweisung  des  Lehrers  ,    dass  die  vom  Knaben  gar 


Beob.  124.  Geisteskrankheit  nach  Misshandlung:  125.  nach  Nothzucht.     325 

nicht  mehr  appercipirten  Ohrfeigen  gar  keine  ursächliche  Bedeutung  hatten, 
jedenfalls  keine  materielle  Läsion  herbeiführten  und  dass  ein  anderweitiger 
Schrecken  gewiss  denselben  Erfolg  gehabt  hätte,  worauf  der  Lehrer  von  aller 
Schuld  freigesprochen  wurde.    (Eigene  Beobachtung,  s.  Friedr.  Blätter  1868,  H.  4.) 

Beob.  124.  Geistesstörung  in  Folge  einer  Misshandlung.  Die 
ledige  E.,  23  Jahre,  ohne  Anlage  zu  Nervenkrankheiten,  erlitt  auf  dem  Feld  eine 
Misshandlung  durch  den  Nachbar,  der  ihr  nach  einem  Wortwechsel  heftige  Faust- 
schläge auf  die  linke  Scheitelgegend  versetzte.  Sie  erkrankte  sofort  an  links- 
seitiger Cervicooccipitalneuralgie  und  war  in  grosser  Aufregung  über  das  ihr 
widerfahrene  Unrecht,  die  durch  verschiedene  zufällige  Momente  noch  gesteigert 
wurde.  Es  kam  zu  Status  nervosus,  dann  zu  hysterischem  Irresein  (klonische  und 
tonische  Krampfanfälle,  wobei  die  Cervicooccipitalneuralgie  die  Stelle  einer  Aura 
und  eines  peripheren  Reizes  spielte,  transitorische  Delirien,  hallucinatorische  Repro- 
duktionen der  Scene  auf  dem  Felde,  Chorea-magnaartige  Zustände,  Hj^perästhesien, 
Gemüthsreizbarkeit,  psychische  Verstimmung,  deren  Intensität  und  Vorhandensein 
jeweils  der  Intensität  und  Dauer  der  neuralgischen  Anfälle  entsprach).  Mehr- 
jähriger Aufenthalt  in  der  Irrenanstalt.  Entlassung  in  gebessertem  Zustand. 
(Eigene  Beobachtung.     Friedreich's  Blätter  1866.) 

Beob.  125.  Geisteskrankheit  nach  Nothzucht.  L. ,  18  Jahre, 
Magd,  erblich  nicht  disponirt,  früher  gesund,  noch  nicht  menstruirt,  wurde  mit 
14  Jahren  das  Opfer  eines  unsittlichen  Attentats  von  Seiten  ihres  Pflegevaters. 
Als  sie  vom  ersten  Schrecken  sich  erholt  hatte,  fühlte  sie  sich  unbehaglich,  wie 
wenn  ihr  eine  schwere  Krankheit  bevorstehe.  Sie  empfand  Mattigkeit,  Unfähig- 
keit zur  Arbeit ,  Kopfweh ,  quälenden  Druck  in  der  Herzgegend.  Ein  mehr- 
wöchentlicher  Aufenthalt  im  Spital  besserte  den  Zustand,  jedoch  nur  vorüber- 
gehend. Es  bildet  sich  ein  hysterisches  Leiden  aus  (vage  neuralgische  Schmerzen, 
Myodynien,  Globusgefühle,  mit  deren  Exacerbation  die  Stimmung  jeweils  gedrückt 
wurde  und  eine  bedeutende  Gemüthsreizbarkeit  sich  einstellte).  Im  Verlauf  An- 
fälle von  partiellen  klonischen  Krämpfen,  ohne  Verlust  des  Bewusstseins.  Mit 
17  Jahren  Hysteroepilepsie  (allgemeine  klonische  Krämpfe  mit  erloschenem  Be- 
wusstsein).  Mit  17^/4  Jahren  gesellten  sich  psychische  Störungen  hinzu.  Es  kam 
zu  grossem  unmotivirtem  Stimmungswechsel.  Mit  den  Pliasen  psychischer  De- 
pression verband  sich  Präcordialangst,  auf  deren  Höhe  Taedium  vitae  und  An- 
triebe zum  Zerstören  auftraten.  Sie  zerriss  dann  die  Kleider,  verlangte  ein  Messer, 
um  sich  umzubringen,  wollte  sich  ertränken,  machte  auch  einmal  einen  bezüglichen 
Versuch.  Im  Verlauf  Gehör-  und  Gesichtshallucinationen.  Es  redete  in  ihrem 
Kopf,  sie  hörte  Stimmen,  die  ihr  sagten,  sie  bekäme  ein  Kind;  dabei  Vision 
des  Pflegevaters,  der  sein  unsittliches  Attentat  zu  wiederholen  versuchte.  Klagen 
über  erschwertes  Denken,  Gedächtnisslosigkeit,  Verwirrung  im  Kopf  Bei  der 
Aufnahme  in  die  Irrenstation,  Oktober  1872,  allgemeine  Hyperästhesie,  die  sich 
in  massenhaften  Neuralgien  und  Myodynien  kundgibt,  gesteigerte  cerebrale  und 
spinale  Reflexerregbarkeit  (Reflexzuckungen  bei  Berührung  ge^^■isser  neuralgischer 
Punkte,  bis  zu  allgemeinem  Erzittern  und  Zusammenfahren),  grundloser  Stim- 
mungswechsel, Gefühl  von  Verwirrung  im  Kopf,  zwangsmässiges  Fixirtsein  ge- 
wisser, auf  die  Krankheit  sich  beziehender  Vorstellungskreise,  Gehörs-  und  Ge- 
sichtshallucinationen.    Zeitweise   deliröse  Zufälle  von  72 — 2stündiger  Dauer,   die 


326  Cap.  XIV.    Versetzung  in  Geisteskrankheit. 

jeweils  durch  das  Phantasma  des  Pflegevaters,  der  sein  schändliches  Attentat 
wiederholen  will,  ausgelöst  sind.  Erscheinungen  gesteigerter  Reflexerregbarkeit 
(partielle  Convulsionen,  Zusammenfahren  beim  geringsten  Geräusch)  gehen  voraus. 
Die  Anfälle  erweisen  sich  als  ein  hallucinatorisches  Delirium,  das  sich  um  das 
Phantasma  eines  beabsichtigten  Stuprum  und  dessen  Abwehr  dreht.  Das  Be- 
wusstsein  ist  aufgehoben.  Patientin  schreckt  auf,  wehrt  sich  verzweifelt.  Die 
Bewegungen  sind  coordinirte.  Zeitweise  kommt  es  auch  zu  spinalen  Reflex- 
krämpfen (tonische  und  klonische  Convulsionen)  nebst  krankhaftem  Rollen  der 
Bulbi  und  Zähneknirschen,  Aus  dem  Anfall  kommt  Patientin  wieder  zu  sich 
mit  dumpfem  Kopfschmerz,  Schwindel,  grosser  Abgeschlagenheit,  quälenden 
Myodynien,  grosser  Gemüthsreizbarkeit,  völliger  Amnesie  für  die  ganze  Zeitdauer 
des  Anfalls.  In  der  folgenden  mehrmonatlichen  Beobachtungszeit  keine  Aenderung 
des  Krankheitsbilds,  das  eine  ungünstige  Prognose  bieten  dürfte.  (Eigene  Beob- 
achtung.) 

Analoge  Fälle  s.  Vierteljahrsschr.  f  ger.  Med.,  N.  F.  XXI,  H.  1,  p.  61,  62. 
Weitere  Casuistik  des  traumatischen  Irreseins :  Adamkiewicz,  Vierteljahrsschr. 
f  ger.  Med.  1865,  H.  1.  Scholz,  ebenda  1879,  Juli.  Hotzen,  Friedreich's  Blätter 
1879,  H.  5.  V.  Krafft,  ebenda  1878,  H.  6.  Weiss,  Archiv  f  Psychiatrie  VI,  H.  3. 
Meynert,  psychiatr.  Centralbl.  1876,  11,  12.  Behrend,  Vierteljahrsschr.  f  gerichtl. 
Med.  1867,  H.  1.  Wietfeld,  Friedr.  Blätter  1868,  H.  3.  Otto,  Erlenmeyer's 
Corr.-Blatt  1870,  H.  2.     Dubiau,  Annal.  med.  psychol.  1875,  Juli. 

Durch  ein  Trauma  capitis  kann  auch  Aphasie  entstehen 
(vgl.  Blumenstock,  Friedr.  Blätter  1878^  H.  5).  In  der  Gesetzgebung 
sind  solche  Fälle  von   „Verlust  der  Sprache"   vorgesehen. 

Auch  hier  ist  die  Entstehungsweise  eine  mechanische  (Zei'störung  der 
Sprachregion  und  der  Gegend  der  3.  linken  Stirnwindung  durch  Zertrümmerung, 
Bluterguss,  encephalitische  Processe  etc.)  oder  eine  psychische  (Schreckaphasie 
in  Folge  shokartiger  Wirkung  einer  Gemüthsbewegung  auf  den  Vasomotorius  und 
durch  bedingte  temporäre,  regionäre  Behinderung  der  Circulation  durch  Gefäss- 
krampf  oder  Gefässlähmung).  Im  letzteren  Fall  besteht  immer  eine  Prädis- 
position in  Form  einer  neuropathischen  Constitution  oder  einer  ausgesprochenen 
Neurose  (Hysterie ,  Epilepsie).  Bei  Aphasie  durch  zerstörende  Vorgänge  ist  die 
Aphasie  meist  dauernd,  mit  Geistesschwäche  complicirt.  Die  Prognose  ist  un- 
günstig und.  selbst  das  Leben  in  Gefahr.  Bei  Aphasie  aus  psychischer  Ursache 
pflegt  sich  nach  Tagen  oder  Wochen  das  Gehirn  vom  Shok  zu  erholen  und 
die  Aphasie  zu  verschwinden.  Die  Constatirung  der  Aphasie,  ihrer  Entstehungs- 
weise, ihres  Umfangs,  ihrer  Dauer,  die  Stellung  ihrer  Prognose  sind  schwierige 
klinisch-forensische  Aufgaben ,  von  deren  richtiger  Lösung  richterlicherseits  das 
Strafmass  des  Beschädigers  und  die  Entschädigungsansprüche  des  Beschädigten 
abhängig  sind. 

Die  Prognose  ist  immer  mit  Vorsicht  und  nur  als  eine  wahrscheinliche 
zu  stellen. 

Beob.  126.  Am  13.  Mai  1876  wurde  M.  T.,  23  J.  alt,  Dorfmädchen,  mit 
einem  Stocke  an  die  linke  Kopfhälfte  getroffen,  stürzte  zusammen,  blieb  einen 
Monat  ohne  Bewusstsein,  hatte  Secessus  inscii  und  häufig  Erbrechen.    Am  18.  Mai 


Cap.  XV.    Zweifelhafte  Haftfähigkeit.  327 

constatirte  die  gerichtsärztliche  Untersuchung  Bewusst-  und.  Sprachlosigkeit, 
Parese  des  linken  Facialis,  Fraktur  der  Schuppe  des  linken  Schläfenbeins.  Nach 
einem  Monat  kehrte  das  Bewusstsein  wieder,  die  Kranke  begann  wieder,  jedoch 
unverständlich  zu  sprechen.  Die  Wunde  heilte  allmälig  nach  Ausstossung  von 
Knochenfragmenten. 

Am  18.  Juni  wurde  Pat.  wieder  untersucht.  Man  ermittelte  träge  und  un- 
verständliche Antworten ,  Niedergeschlagenheit ,  unsicheren  ungeschickten  Gang, 
Abnahme  der  Hörfähigkeit  links,  apathisches  Wesen. 

Gutachten :  Sehr  schwere  Verletzung,  mit  Arbeitsunfähigkeit,  Verunstaltung 
und  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  bleibendem  körperlichem  und  geistigem 
Siechthum. 

Am  25.  Sept.  1877  fand  eine  neuei-liche  Untersuchung  statt.  Sie  constatirte 
Depression  des  linken  Schläfenbeins,  Parese  der  rechten  Unterextremität,  nieder- 
geschlagenes gleichgültiges  Wesen,  volles  Bewusstsein,  Verständniss  der  Fragen, 
jedoch  Amnesie  für  Orts-  und  Personennamen  und  theilweise  Unfähigkeit  sie 
nachzusprechen.  Sie  kennt  die  Gegenstände  und  weiss  ihren  Gebrauch  anzu- 
deuten. Das  Allgemeinbefinden  ist  ein  gutes.  Die  M.  leidet  an  Aphasie,  d.  h. 
ist  unfähig  ganze  Wortreihen  auszusprechen,  obwoM  das  Bewusstsein  und  viel- 
leicht auch  die  Intelligenz  ganz  intakt  sind.  Dieser  krankhafte  Zustand  ist 
bedingt  durch  pathologische  Veränderungen  der  linken  Hirnhemisphäre  und 
steht  in  engem  ursächlichem  Zusammenhang  mit  der  Verletzung  der  linken  Kopf- 
hälfte. Dieser  Zustand  lauft  selten  in  gänzliche  Genesung  aus,  verschlimmert 
sich  vielmehr  häufig  und  hat  dann  nicht  nur  gänzlichen  Verlust  der  Sprache, 
sondern  auch  den  Ruin  der  Geistesthätigkeit  im  Gefolge.  Die  M.  hat  in  Folge 
der  Kopfverletzung  eine  bleibende  Beeinträchtigung  der  Sprache  (§.  156  Abs.  a. 
österr.  Str.-G.-B.)  erlitten. 

Am  21.  Januar  1878  bot  die  M.  bei  der  Hauptverhandlung  wesentlich  den 
gleichen  Befund  wie  bei  der  früheren  Untersuchung.  (Blumenstock,  Friedreich's 
Blätter  1878,  H.  5.) 

Weitere  Fälle  von  traumat. -median.  Aphasie:  Casper-Liman ,  Handb. 
Fall  138.  Von  psychisch  bedingter  Aphasie:  Schlangenhausen,  psychiatr.  Central- 
blatt  1876.  Bonafont,  Schmidt's  Jahrb.  56.  Bd.,  Jahrb.  f.  Kinderheilkde.  1874, 
p.  3'69.     Casper-Liman,  Fall  158. 


Cap.  XV.    Haftfähigkeit  mit  Bezug  auf  die  psychische 
Gesundheit. 

Gesetzl.  Bestimmungen:  Deutsche  St.-Pr.-O.  §.  487. 
Oesterr.  St.-P.-O.  §.  398. 

Wie  bei  körperlichen  Gebrechen,  so  kann  auch  gegenüber  psy- 
chischen Anomalien  und  wirklichen  Erkrankungszuständen  die  Frage 
entstehen,  ob  eine  Untersuchungs-  oder  Strafhaft  ohne  Schaden  für 
die  psychische  Gesundheit  eintreten  könne.  Dass  die  Gefangensetzung 
häufig  zum  Ausbruch  von  Geistesstörung  oder  bedrohlicher  Steigerung 
schon  vorher  bestandener  Anlass  gibt,  ist  eine  allenthalben  gemachte 


328  Cap.  XV.    Zweifelhafte  Haftfähigkeit 

Erfahrung.  Eine  werth volle  Arbeit  von  Dr.  Reich  (Allgem.  Zeitschr. 
f.  Psychiatrie  XXVII.)  weist  nach,  dass  in  vielen  Fällen,  allerdings 
bei  besonders  Disponirten,  das  Auftreten  des  Irreseins  nicht  von  der 
Dauer  und  Art  der  Haft  (Isolir-  oder  Collektivhaft)  abhängig  ist, 
sondern  dass  die  blosse  Gefangensetzung  durch  den  mit  ihr  verbundenen 
Affekt  schon  genügt,  um  nach  Stunden  bis  Tagen  Seelenstörung  (Tob- 
sucht, entwickelt  aus  zornigem  Affekt,  oder  Dämonomelancholie)  zu 
erzeugen  oder  bei  anscheinend  Geistesgesunden  (Schwach-Blödsinnige, 
Paralytiker  im  Beginn,  Epileptiker)  krankhafte  Dispositionen  oder 
latente  Krankheitszustände  rasch  zum  Ausbruch  zu  bringen. 

Bezüglich  der  verschiedenen  Arten  der  Haft  steht  für  die  Isolir- 
haft wenigstens  fest,  dass  sie  im  Allgemeinen  von  Leuten  von  grosser 
geistiger  Beschränktheit,  die  der  Reize  von  Aussen  bedürfen,  ferner 
von  Individuen  von  misstrauischem ,  verschlossenem,  hochmüthigem 
Charakter,  von  Menschen,  die  durch  ihr  excentrisches  Wesen  auch 
im  gewöhnlichen  Leben  geistig  für  nicht  ganz  normal  gelten  und  in 
der  Regel  Hereditarier  sind,  endlich  von  Solchen  mit  tiefer  Zer- 
knirschung und  Gewissensbissen  nicht  ertragen  wird.  Bezüglich  der 
Strafhaft  bestimmt  die  humane  Strafgesetzgebung,  dass  im  Fall  einer 
Geisteskrankheit  mit  dem  Vollzug  so  lange  zu  warten  ist,  bis  dieser 
Zustand  aufgehört  hat. 

Besteht  bloss  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  eine  Erkrankung  durch 
die  Strafhaft  eintrete,  so  ist  eine  Nichtverhängung  der  Freiheitsstrafe 
unzulässig,  ausser  die  Qualität  der  Rechtsverletzung  gestattete  eine 
Umwandlung  der  Freiheitsstrafe  in  Geldstrafe,  wozu  sich  der  Richter 
gewiss  verstehen  wird,  wenn  ein  bezügliches  ärztliches  Gutachten 
vorliegt.  Häufig  geschieht  es ,  dass  der  Vollzug  der  angetretenen 
Freiheitsstrafe  wiederholt  durch  Anfälle  von  Irresein  unterbrochen 
werden  muss  und  schliesslich  die  Vollstreckung  der  Strafe  unmöghch 
oder  nur  mit  äusserster  Gefährdung  der  psychischen  Existenz  durch- 
führbar erscheint.  Es  sind  dies  Fälle,  wo  die  Erlassung  des  Restes 
der  Strafe  auf  dem  Gnadenweg  das  einzige  und  von  der  Humanität 
gebotene  Auskunftsmittel  bildet  und  in  der  Regel  auch  gewährt  wird. 
Anders  ist  es  mit  der  Untersuchungshaft.  Der  von  dem  Ver- 
theidiger  oder  Untersuchungsrichter  aufgestellte  Sachverständige  kann, 
wie  ja  auch  bei  körperlichen  Erkrankungen,  in  die  Lage  kommen, 
sich  aussprechen  zu  müssen,  ob  sie  ohne  Schaden  für  die  psychische 
Gesundheit  des  Angeschuldigten  ausführbar  ist.  In  der  Regel  werden 
bedrohliche  Symptome  oder  schon  wirklich  aufgetretene  Anfälle  von 
Geistesstörung   vorhanden   sein  und  unter  Berücksichtigung  der  oben 


mit  Bezug  auf  die  psychische  Gesundheit.  329 

angeführten  allgemeinen  Gesichtspunkte  die  Abgabe  des  Gutachtens 
ermöglichen.  Die  Entlassung  aus  der  Untersuchungshaft  gegen  Kaution, 
die  einstweilige  Abgabe  in  ein  Kranken-  oder  Irrenhaus  wird  dann 
Sache  des  Richters  sein. 

Beob.  127.  Zweifelhafte  Haftfähigkeit.  A.,  Gewerbsmann,  32  Jahre, 
von  jeher  reizbar  und  melanchoRschen  Temperaments,  war  zu  einer  48stündigen 
Gefängnissstrafe  wegen  Verbalinjurie  verurtlieilt  worden.  Als  er  sie  antreten 
sollte,  gerieth  er  aus  vermeintlich  gekränktem  Ehrgefühl  in  eine  Art  Wahnsinn, 
in  welchem  Zustande  er  Miene  machte,  sich  das  Leben  zu  nehmen.  Er  wurde 
beruhigt ,  die  Vollstreckung  der  Strafe  vertagt  und  ein  Gutachten  erhoben ,  ob 
die  wirkliche  Vollstreckung  der  Gefängnissstrafe  den  Gemüthszustand  des  A. 
wieder  afficiren  und  denselben  zum  Selbstmord  treiben  könne.  A.,  von  Hause 
aus  ein  schwermüthiger  Mensch,  war,  als  er  die  Strafe  antreten  sollte,  in  einem 
psychischen  Ausnahmszustand.  Er  tobte,  lärmte,  musste  Nachts  bewacht  werden, 
äusserte  Lebensüberdruss ,  schlief  wenig,  war  am  folgenden  Morgen  sehr  erregt, 
ganz  mit  sich  und  seiner  Ehre  beschäftigt,  ass  nicht,  war  mimisch  verstört,  hatte 
Präcordialdruck,  belegte  Zunge,  Unlust  zur  Arbeit,  trägen  vollen  Puls.  Er  war 
physisch  und  psychisch  krank.  Es  ist  möglich,  dass  ein  neuer  widriger  Ge- 
müthseindruck  den  früheren  krankhaften  Gesundheitszustand  und  vielleicht  selbst 
in  höherem  Grade  hervorrufen  wird.  Es  ist  möglich,  dass  A.  in  einem  solchen 
Zustand  Hand  an  sich  legen  würde.  Die  Gefängnissstrafe  wurde  in  Geldstrafe 
umgewandelt.     (Henke's  Zeitschr.  1826,  H.  3.) 

Aehnliche  Fälle  s.  Lauber  (Friedreich's  Blätter  1871,  p.  58,  zweifelhafte 
Fähigkeit  eines  melancholischen  Bauern  zum  Strafvollzug),  v.  Krafft  ebenda  1870, 
p.  245  (jeweils  auftretende  Tobsucht  mit  Antritt  der  Strafhaft  bei  einer  periodi- 
schen, maniakalischen  Anfällen  unterworfenen  Schwachsinnigen).  Kuby,  Friedr. 
Blätter  1876,  H.  5  (Umwandlung  der  Straf haft  in  Geldstrafe  wegen  Disposition 
zu  Melancholie  Seitens  des  Verurtheilten). 


Buch  II. 

Die  Beziehungen  zum  Oivilrecht. 


A.    Allgemeiner  Theil. 
Cap.  I.    Die  Dispositionsfähigkeit. 

Literatur.  Neumann,  Arzt  u.  Blödsinnigkeitserklärung-.  Breslau  1847.  Taylor, 
med.  jurisprud.  p.  832.  Brierre,  de  l'interdiction  des  alienes.  Paris  1852. 
Castelneau,  de  l'interdict.  des  allen.  Paris  1860.  Friedel,  Deutsche  Gericlits- 
zeitung  1868,  p.  249.  Hauptmann,  Allg.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie  1868,  H.  1. 
Sander,  Vierteljahrsschr  f.  ger.  Med.  N.  F.  III,  2  und  N.  F.  VIII,  1.  Idem, 
Archiv  f.  Psychiatrie  I,  3.  Liman,  zweifelhafte  Geisteszustände  vor  Gericht. 
Berlin  1869.  Idem,  Archiv  f.  Psychiatrie  I,  2.  Falret,  Ann.  d'hygiene  1869, 
p.  430.  Legrand  du  Saulle,  Ann.  d'hygiene  1872,  p.  129.  Tardieu,  la  folie. 
Paris  1872,  p.  29.  Roller,  AUgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie  1872.  Schlager, 
Wiener  med.  Wochenschr.  XVI,  97,  98.  Schlager,  Archiv  f.  Psychiatrie  I. 
Motet,  les  alienes  devant  la  loi  1866.  Ann.  med.  psychol.  1867,  Sept.  Mendel, 
Vierteljahrsschr.  f.  ger.  Med.  N.  F.  XVIII,  H.  2  und  N.  F.  XX,  H.  2. 

Mit  einem  gewissen  Lebensalter^  als  welches  in  der  österr.  Civil- 
gesetzgebung  das  zurückgelegte  24.^  in  den  meisten  anderen  Gesetz- 
gebungen das  zurückgelegte  21.  Lebensjahr  angenommen  ist,  tritt 
das  Individuum  in  das  Alter  der  Mündigkeit  (bürgerliche  Selbständig- 
keit, Verfügungsfreiheit,  Dispositionsfähigkeit).  Mit  dem  Antritt  dieses 
Lebensalters  gelangt  dasselbe  in  den  Genuss  gewisser  Rechte  und 
wird  die  Erfüllung  gewisser  bürgerlicher  Pflichten  von  ihm  verlangt. 

Die  Rechte  und  Pflichten  bestehen  bis  ans  Lebensende  fort, 
sofern  nicht  besondere  Gründe  vorliegen  oder  eintreten,  welche  die 
Voraussetzungen,  unter  welchen  die  Ausübung  jener  gesetzlich  ge- 
stattet ist,  aufheben. 


Cap.  I.    Die  Dispositiousfähigkeit.  331 

Diese  Voraussetzungen  lassen  sich  in  dem  Satz  zusammenfassen, 
■dass  ein  Individuum  genügende  Fähigkeit  besitzen  muss,  um  im 
bürgerlichen  Verkehr  seine  Interessen  und  Pflichten  wahrzunehmen  — 
seine  bürgerlichen  Angelegenheiten  selbständig  zu  besorgen. 

Eine  solche  Fähigkeit  involvirt  aber  neben  einem  gewissen,  vom 
■Gesetzgeber  fixirten  Lebensalter  (physische  Grossjährigkeit) : 

1)  Den   Besitz   einer  genügenden   Summe  von  Erfahrungen  über 
die  Rechtsverhältnisse  und  Normen  des  bürgerlichen  Verkehrs. 

2)  Die  nöthige  Urtheilskraft,  um  diese  allgemeinen  Erfahrungen  für 
den  eigenen  concreten  Fall  zu  verwerthen. 

3)  Die  erforderliche  Selbständigkeit  der  Entschliessung,    um  eine 
Wahl  zu  treffen. 

Dieses  Vermögen,  sich  in  den  Angelegenheiten  des  bürgerlichen 
Lebens  zurecht  zu  finden  und  die  sich  darauf  gründende  Dispositions- 
fähigkeit fällt  somit  weder  dem  zeitlichen  Umfang,  noch  den  ge- 
forderten Voraussetzungen  nach  zusammen  mit  der  Zurechnungsfähig- 
keit des  Individuums.  Der  Alterstermin  der  ersteren  ist  ein  bei  weitem 
späterer  als  der  der  eintretenden  strafrechtlichen  Reife,  und  mit  Recht, 
denn  der  Schwerpunkt  der  Zurechnungsfähigkeit  liegt  in  der  ethischen, 
der  der  Dispositionsfälligkeit  in  der  intellektuellen  Sphäre.  Die  ethische 
Entwicklung  durch  Erziehung,  Beispiel,  Unterricht  beginnt  schon  in 
der  Kinderstube,    und  gelangt  verhältnissmässig  früh  zum  Abschluss. 

Die  Erkennung  der  Rechtsverhältnisse  des  socialen  Verkehrs 
beginnt  erst  mit  dem  Eintritt  in  das  öffentliche  Leben.  Die  For- 
derungen des  Sitten-  und  Strafgesetzes  sind  einfacher  und  fasslicher 
^Is  die  Normen,  Begriffe  und  Unterscheidungen  des  bürgerlichen  Ge- 
setzbuchs. Dort  spricht  das  Gewissen  das  entscheidende  Wort,  hier 
der  Verstand  und  die  Erfahrung.  Die  Voraussetzungen  und  Alters- 
termine des  Straf-  und  des  Civilrechts  sind  damit  nothwendig  ganz 
verschiedene.  Dieser  Unterschied  ergibt  sich  aber  auch  daraus,  dass 
die  Strafgesetzgebung  nur  eine  Zurechnungsfähigkeit  und  keine 
Grade  derselben  kennt,  ein  etwaiges  geringeres  Mass  ethischer  Reife 
•oder  durch  organische  Belastung  geminderte  Verantwortlichkeit  nur 
.als  Milderungsgründe  der  Strafe  zulässt,  während  die  Civilgesetz- 
gebung  seit  den  Zeiten  des  römischen  Rechts  fortschreitende  Grad- 
stufen der  Dispositionsfähigkeit  (Kindheit ,  Unmündigkeit ,  Minder- 
jährigkeit) annimmt  und  denselben  ein  verschiedenes  Mass  bürger- 
licher Rechte  zuerkennt. 

So  gibt  beispielsweise  das  zurückgelegte  7.  Lebensjahr  nach  dem  österr. 
allg.  bürg.  Gesetzbuch  die  Fähigkeit ,    Besitz   zu  erwerben  ^    und    ein   zu  Gunsten 


332  Cap.  I.    Die  Dispositionsfälligkeit. 

gemachtes  Versprechen  .gültig  anzunehmen  (§.  865).  So  begründet  das  zurück- 
gelegte 14.  Lebensjahr  die  Eidesfähigkeit  und  eine  beschränkte  Testirfähigkeit 
(§.  569),  insofern  mündlich  vor  Gericht  und  unter  angemessener  Erforschung  des 
Gerichts,  ob  die  Erklärung  des  letzten  Willens  frei  und  mit  Ueberlegung  geschehen 
sei,  testirt  werden  kann. 

Weitere  Rechte  gibt  das  zurückgelegte  18.  Lebensjahr,  nämlich  das  der 
unbeschränkten  Testirfähigkeit  (§.  569),  sowie  die  Fähigkeit,  gültiger  Testaments- 
zeuge  zu  sein  (§.  591). 

Die  volle  Verfügungsfreiheit,  wie  sie  mit  zurückgelegtem  21.  (24.  österr.) 
Lebensjahr  eo  ipso  gegeben  ist,  besteht  in  dem  Recht,  1)  Besitz  zu  erlangen, 
2)  Verträge  zu  schliessen,  eine  Ehe  einzugehen,  3)  eine  Vormundschaft,  Curatel 
zu  führen,  die  väterliche  Gewalt  auszuüben,  4)  Zeugenaussagen  zu  machen,  einen 
Eid  zu  leisten,  5)  ein  Amt  zu  verwalten,  einen  Dienst  zu  übernehmen  oder  dem 
übernommenen  länger  vorzustehen,  6)  innerhalb  gewisser  civilrechtlicher  Schranken 
und  unter  Beobachtung  gewisser  gesetzlicher  Vorschriften  letztwillig  zu  verfügen. 
Der  nachgewiesene  Mangel  der  zur  Verfügungsfreiheit  erforderlichen  Bedingungen 
entbindet  1)  von  gewissen,  zur  Zeit  dieses  Mangels  eingegangenen  Pflichten,  z.  B. 
einen  Vertrag  zu  erfüllen,  2)  von  der  Verpflichtung,  für  einen  verursachten 
Schaden  civilrechtlich  aufzukommen. 

3)  Es  gelten  besondere  gesetzliche  Bestimmungen  bezüglich  der  Verjährung. 
Nach  dem  preuss.  A.-L.-R.  I,  Tit.  IX,  §.  540  gemessen  Wahn-  und  Blödsinnige, 
ingleichen  Taubstumme  in  Rücksicht  der  Verjährung  gleiche  Rechte  (vgl.  f.  ib. 
§.  595  und  Thl.  II,  Tit.  XVIII,  §.  346).  Nach  dem  österr.  A.  B.  G.-B.  §.  1494  kann 
gegen  solche  Personen,  welche  aus  Mangel  ihrer  Geisteskräfte  ihre  Rechte  selbst 
zu  verwalten  unfähig  sind,  wie  gegen  Pupillen,  Wahn-  oder  Blödsinnige,  die 
Ersitzungs-  oder  Verjährungszeit,  wofern  diesen  Personen  keine  gesetzlichen 
Vertreter  bestellt  sind,  nicht  anfangen.  Die  einmal  angefangene  Ersitzungs-  oder 
Verjährungszeit  lauft  zwar  fort,  sie  kann  aber  nie  früher  als  binnen  2  Jahren 
nach  dem  gehobenen  Hinderniss  vollendet  werden. 

Die  mit  dem  Alter  der  Mündigkeit  angetretene  Verfügungsfreiheit 
erlischt  nur  auf  Grund  eines  rechtskräftigen  ürtheils  bezw.  Beschlusses 
des  zuständigen  Richters,  der  sie  aberkennt.  Ebenso  ist  die  Wieder- 
einsetzung in  die  entzogenen  bürgerlichen  Rechte  nur  durch  ein  richter- 
liches Urtheil  möglich.  Alle  inzwischen  stattgefundenen  bürgerlichen  Akte 
sind  rechtlich  null  und  nichtig.  Für  den  Entmündigten  tritt  ein  Anderer 
(Vormund,  Curator)  handelnd  ein.  Jener  hat  nichts  mehr  in  Bezug 
auf  seine  bürgerlichen  Angelegenheiten  zu  sagen,  er  ist  „mundtodt". 

Die  Aberkennung  der  Verfügungsfreiheit  ist  ein  schwerer  Ein- 
griff in  die  Rechtssphäre  des  Individuums.  Sie  kann  beim  Mündigen 
nur  auf  Grund  eines  processualischen  Verfahrens  (Entmündigungs- 
verfahren), das  das  Vorhandensein  von  Zuständen,  welche  der  Gesetz- 
geber als  unverträglich  mit  der  Fortdauer  der  Ausübung  der  bürger- 
lichen Rechte  namhaft  gemacht  hat,  erfolgen. 

Ist  dies  aber  der  Fall,  so  ist  sie  obligatorisch. 


Gesetzliche  Bestimmungen.  338 

A.  L.-R.  Thl.  II,  Tit.  XVIII,  §.  12 :  Die  Vormundschaft  des  Staats  hat  ein- 
zutreten in  allen  F3,llen,  wo  Wahn-  oder  Blödsinnige  nicht  unter  Aufsicht  eines 
Vaters  oder  Ehemanns  stehen.  Ferner  §.  32,  Tit.  I,  Thl.  I:  Diejenigen,  welche 
wegen  nicht  erlangter  Volljährigkeit  oder  wegen  eines  Mangels  an  Seelenkräften 
ihre  Angelegenheiten  nicht  selbst  gehörig  wahrnehmen  können,  stehen  unter  der 
besonderen  Vorsorge  und  Aufsicht  des  Staats. 

Das  Osten-.  A.  B.  G.-B.  §.  21  bestimmt:  Diejenigen,  welche  wegen  Mangels 
an  Jahren,  Gebrechen  des  Geistes  oder  anderer  Verhältnisse  wegen  ihre  Angelegen- 
heiten selbst  gehörig  zu  besorgen  unfähig  sind,  stehen  unter  dem  besonderen 
Schutz  der  Gesetze.  Dahin  gehören  Kindei-,  die  das  7.,  Unmündige,  die  das  14., 
Minderjährige,  die  das  24.  Jahr  ihres  Lebens  noch  nicht  zurückgelegt  haben, 
dann  Rasende,  Wahnsinnige  und  Blödsinnige,  welche  des  Gebrauchs  ihrer  Ver- 
nunft entweder  gänzlich  beraubt  oder  wenigstens  unvermögend  sind,  die  Folgen 
ihrer  Handlungen  einzusehen.  §.269:  Für  Personen,  welche  ihre  Angelegenheiten 
nicht  selbst  besorgen  und  ihre  Rechte  nicht  selbst  verwahren  können,  hat  das 
Gericht,  wenn  die  väterliche  oder  vormundschaftliche  Gewalt  nicht  stattfindet, 
einen  Curator  oder  Sachwalter  zu  bestellen.  Nach  §.  173  sind  gerechte  Ursachen, 
wegen  welcher  eine  Fortdauer  der  väterlichen  Gewalt  nachzusuchen  ist:  wenn 
das  Kind  ungeachtet  der  Volljährigkeit  wegen  Leibes-  oder  Gemüthsgebrechen 
ausser  Stand  ist,  sich  selbst  zu  verpflegen  oder  seine  Angelegenheiten  zu  besorgen. 
Aehnlich  §.  251. 

Die  Gesetzgebung  hat  die  einzelnen  krankhaften  Zustände  naiTihaft  gemacht, 
bei  welchen  eine  Curatel  einzutreten  hat. 

Das  preuss.  Gesetzbuch  kennt  nur  Zustände  von  Wahnsinn  (Raserei),  Blöd- 
sinn und  bezeichnet  in  Thl.  I,  Tit.  I,  §.  27,  9.  A.  L.-R.  Rasende  und  Wahnsinnige 
als  Diejenigen,  welche  des  Gebrauchs  ihrer  Vernunft  gänzlich  beraubt  sind,  als 
Blödsinnige  in  §.  28  Diejenigen,  welchen  das  Vermögen,  die  Folgen  ihrer  Hand- 
lungen zu  überlegen,  mangelt. 

Aehnlich  lautet  §.  21  des  österr.  A.  B.  G.-B.,  der  Rasende,  Wahnsinnige 
und  Blödsinnige,  d.  h.  solche  Personen  aufführt,  welche  des  Gebrauchs  ihrer 
Vernunft  entweder  gänzlich  beraubt  oder  unvermögend  sind ,  die  Folgen  ihrer 
Handlungen  einzusehen.  Auch  der  Art.  489  des  französ.  Gesetzbuchs  macht  die 
einzelnen  Geisteszustände,  die  hier  in  Betracht  kommen,  namhaft  und  bestimmt, 
dass  derjenige  Grossjährige,  welcher  sich  in  einem  dauernden  Zustand  von 
imbecillite,  demence  oder  fureur  befinde,  zu  entmündigen  sei,  selbst  wenn  er 
lichte  Zwischenräume  habe. 

Nach  den  Interpretationen  französischer  Juristen  und  Aerzte  sind  unter 
imbecillite  angeborene  Geistesschwäche  und  Idiotismus,  unter  fureur  alle  Tob- 
suchts-  und  aufgeregten  Wahnsinnszustände,  unter  demence  die  Ausgangszustände 
des  Irreseins,  wo  es  zur  Vernichtung  der  Intelligenz  gekommen  ist,  zu  verstehen. 

Die  Bezeichnung  „dauernd"  (habituel)  soll  nur  den  Zweck  haben,  die  viel- 
fachen accidentellen  und  und  elementaren  Störungen  der  psychischen  Funktionen, 
wie  sie  bei  den  verschiedensten  Körperkrankheiten  sich  finden  können,  von  der 
Entmündigung  auszuschliessen.  Jedenfalls  begreift  der  Ausdruck  „habituell" 
nicht  den  Begriff  der  Unheilbarkeit  in  sich,  denn  die  Entmündigung  ist  ja  nicht 
unwiderruflich.  Nach  dem  Geist  der  französischen  Civilgesetzgebung  sind  indessen 
unter  den  vom  Gesetz  gebotenen  Terminis  nur  allgemeine  Zustände  von  Geistes- 
störung,   keineswegs   bestimmte  Formen   zu    verstehen.     An    anderen  Stellen  des 


334  Cap.  I.    Die  Dispositionsfähigkeit. 

Code  civil  (livr.  I,  art.  174  und  504)  findet  sich  unter  gleichen  Verhältnissen  nur 
der  generelle  Ausdruck  demence,  wie  ja  auch  der  Code  penal  dieses  Wort  aus- 
schliesslich und  gleichbedeutend  mit  Geisteskrankheit  braucht. 

Die  Ausdrücke  Wahnsinn  und  Blödsinn  betrachtet  die  preussische  und 
österreichische  Gesetzgebung  als  nicht  gleichbedeutend  xmd  verbindet  mit  ihnen 
verschiedene,  übrigens  wenig  bedeutende  rechtliche  Folgen. 

Die  Blödsinnigen  erachtet  das  preuss.  Gesetz  den  Kindern  von  7—14  Jahren 
(Unmündige),  die  Wahnsinnigen  den  Kindern  unter  7  Jahren  gleich.  Da  nach 
A.  L.-R.  Thl.  I,  Tit.  IV,  §.  20—22  alle  Willenserklärungen  von  Kindern  unter 
7  Jahren  ungültig,  die  von  Unmündigen,  sofern  sie  damit  Vortheile  erwerben, 
nach  §.  11  — 13  gültig  sind,  werden  die  Blödsinnigen  höher  gestellt  als  die  Wahn- 
sinnigen. Ferner  war  nach  Thl.  II,  Tit.  L  §.  698  die  Ehescheidung  nur  bei  Wahn- 
sinn, nicht  aber  bei  Blödsinn  zulässig. 

Nach  österr.  Recht  kommt  es  nicht  auf  den  Namen  der  constatirten  Geistes- 
krankheit, sondern  auf  deren  Grad  an,  wobei  Derjenige,  welcher  als  des  Gebrauchs 
der  Vernunft  gänzlich  beraubt  erkannt  wird,  nach  §.  865  (als  einem  Kind  unter 
7  Jahren  gleichstehend)  ein  zu  seinem  Vortheil  gemachtes  Versprechen  nicht 
annehmen  kann,  während  bei  Demjenigen,  der  nur  wegen  Unvermögens,  die 
Folgen  seiner  Handlungen  zu  übersehen,  entmündigt  wird,  ein  solches  Hinderniss 
nicht  besteht. 

Eine  eingehende  Kritik  der  bezüglichen  Gesetzgebung  ist  nicht 
Sache  eines  Lehrbuchs.  Eine  Interpretation  der  von  jener  gebotenen 
Termini  würde  zu  weit  führen.  Dass  eine  Namhaftmachung  der  ver- 
schiedenen Zustände  von  Geisteskrankheit  immer  eine  unvollkommene 
sein  wird  und  zu  Irrungen  führt,  lehrt  die  Erfahrung  auf  dem  Gebiet 
der  Criminalgesetzgebung.  Hat  doch  diese  Erkenntniss  dazu  geführt^ 
in  der  neuen  Strafgesetzgebung  die  Namhaftmachung  der  einzelnen 
Formen  zu  unterdrücken  und  nur  noch  den  generellen  Begriff  „Geistes- 
krankheit" festzuhalten.  Die  Civilgesetzgebung  ist  in  dieser  Beziehung 
hinter  der  Strafgesetzgebung  zurückgeblieben.  Eine  generelle  Fassung 
würde  auch  hier  genügen,  denn  schliesslich  ist  die  Entscheidung  doch 
immer  in  die  Hände  des  Richters  gegeben  und  der  sachverständige 
Nachweis  der  bürgerlichen  Insufficienz  wird  ihn  in  den  Stand  setzen, 
jeweils  das  Richtige  zu  treffen.  Er  befindet  sich  zudem  in  einer 
besseren  Lage  als  der  Strafrichter,  weil  ja  Proben  dieser  geistigen 
socialen  Insufficienz,  falls  der  Entmündigungsantrag  begründet  ist, 
zur  Genüge  vorliegen.  Die  Unhaltbarkeit  der  bezüglichen  preussi- 
schen  Gesetzgebung,  wo  nicht  nur  einzelne  psychopathische  Zustände 
namhaft  gemacht,  sondern  auch  in  wissenschaftlich  ganz  unbrauch- 
barer Weise  definirt  sind,  ist  bekannt. 

Die  Versuche  von  Neumann  (op.  cit.),  die  wissenschaftlich  un- 
haltbaren gesetzlichen  Termini  praktisch  brauchbar  zu  machen,  so- 
wie der   von  Liman  (op.   cit.  p.  428)  vorgeschlagene  Ausweg  für  die 


J 


Die  Dispositionsfähigkeit  aufhebende  psychopathische  Zustände.         335 

Praxis,  lassen  den  Wunsch  nach  einer  radikalen  Reform  durch  Aus- 
merzung dieser  Ausdrücke  gleichwohl  fortbestehen.  Thatsächlich  ist 
der  Sachverständige  in  Preussen  in  der  Regel  genöthigt,  da  wo  die 
Wissenschaft  den  Fall  als  Wahnsinn  rubriciren  müsste,  sich  für 
Blödsinn   „im    Sinne  des  Gesetzbuchs"  und  umgekehrt  auszusprechen. 

Eine  wichtige  praktische  Frage  bleibt,  abgesehen  von  aller  ge- 
setzlichen Terminologie;  die  Untersuchung,  welche  psychopathische 
Zustände  es  sind,  die  die  Verfügungsfreiheit  beschränken  oder  auf- 
heben und  aus  welchen,  durch  sie  hervorgebrachten  Störungen  des 
psychischen  Mechanismus,  sie  diese  rechtliche  Wirkung  haben  dürften. 

Vollständig  ignorirt  werden  von  der  Gesetzgebung  die  melan- 
cholischen und  hypochondrischen  Gemüthsleiden.  Gleichwohl  kommen 
Fälle  vor,  wo  derartige  „vernünftige"  Kranke  einen  Curator  be- 
nöthigen.  Es  ist  bei  solchen  Kranken  die  sogenannte  Abulie,  ihre 
Willen-  und  Muthlosigkeit,  welche  sie  vielfach  verhindert,  ihre  Rechte 
und  Interessen  wahrzunehmen  und  ihren  bürgerlichen  und  Berufs- 
pflichten nachzukommen.  Dann  gibt  es  Melancholische,  die  auf  Grund 
von  Präcordialangst ,  krankhafter  Selbstunterschätzung,  Gewissens- 
hyperästhesie über  frühere  Sünden  und  Vergehen,  um  Busse  zu  thun, 
den  Himmel  zu  versöhnen,  Hab  und  Gut  den  Armen  oder  der  Kirche 
schenken  und  damit  sich  finanziell  ruiniren. 

Auch  die  Zustände  maniakalischer  Exaltation,  blosser  Mania 
sine  delirio  kennt  das  Gesetzbuch  nicht.  Trotz  äusserlicher  Besonnen- 
heit sind  solche  Kranke  unzweifelhaft  der  Vernunft  beraubt  (vgl.  p.  110) 
und  mehr  als  jeder  andere  Geistesgestörte  einer  schleunigen  Curatel 
bedürftig,  da  sie  in  ihrem  gesteigerten  Selbstgefühl,  ihrem  Unter- 
nehmungsdrang sich  in  die  gewagtesten,  ihre  finanzielle  Kraft  weit 
übersteigenden  Spekulationen  verwickeln,  Zeit  und  Geld  auf  zweck- 
losen Reisen  vergeuden,  in  ihrer  geschlechtlichen  Erregung  in  Liebes- 
affairen  gerathen,  in  welchen  sie  ausgebeutet  und  geplündert  werden, 
Heirathsver sprechen  machen,  die  Stand  und  Verhältnissen  nicht  an- 
gemessen sind  und  so  in  kürzester  Frist  ein  von  Generationen  müh- 
sam erworbenes  Vermögen  verschwenden  und  verpuffen. 

Dies  gilt  namentlich  für  die  Fälle,  wo  die  maniakalische  Ex- 
altation das  Prodromalstadium  einer  Dementia  paralytica  bildet. 

Aus  dem  Zustand  des  Wahnsinnigen  ergeben  sich  2  Umstände, 
welche  die  Verfügungsfreiheit  unmöglich  machen.  Einmal  ist  hier 
eine  neue  psychische  Persönlichkeit  an  die  Stelle  der  alten  getreten, 
die  nicht  im  Stand  ist,  die  der  früheren  Persönlichkeit  zukommenden 
Rechte  und  Pflichten  wahrzunehmen,   andererseits  besteht  die  Gefahr, 


336  Cap.  I.    Die  Dispositionsfälligkeit. 

dass  der  Kranke  Hab  und  Gut  im  Interesse  der  neuen  krankhaften 
Persönlichkeit,  im  Sinne  seiner  ausschweifenden  Pläne  und  Wahn- 
ideen vergeudet.  Bei  manchen  dieser  Kranken  kehrt  mit  der  Zeit 
äusserlich  wenigstens  die  Besonnenheit  wieder.  Thatsächlich  treten 
solche  Kranke  zuweilen  wieder  in's  bürgerliche  Leben  ein  und  be- 
kunden die  Fähigkeit  einer  Selbstführung,  Es  sind  dies  jedoch  nur 
seltene  Ausnahmen.  Die  wissenschaftliche  Regel  lautet,  dass  solche 
Individuen  immer  mehr  oder  weniger  unter  der  Herrschaft  ihrer  fixen 
Idee  stehen,  dadurch  Gefahr  laufen,  ihre  materiellen  Interessen  und 
bürgerlichen  Pflichten  zu  schädigen. 

Bei  den  secundären  und  congenitalen  Schwächezuständen  be- 
stehen unendliche  Gradunterschiede  zwischen  der  blossen  Dummheit 
und  Einfältigkeit  einer-  und  dem  apathischen  Blödsinn  und  Idiotis- 
mus andererseits. 

lieber  die  Extreme  wird  kein  Zweifel  sein;  die  Mittelstufen 
entziehen  sich  einer  generellen  Betrachtung  und  nöthigen  zum  Stu- 
dium des  concreten  Falls.  Es  wird  hier  wesentlich  nach  den  In- 
tentionen des  Gesetzgebers  darauf  ankommen ,  ob  das  Individuum 
fähig  ist,  die  Folgen  seiner  Handlungen  zu  beurtheilen  und  sich  dar- 
nach zu  bestin^men.  Es  ist  nicht  zu  läugnen,  dass  viele  Schwach- 
sinnige ganz  gut  im  Stand  sind,  in  den  gewöhnlichen  Verhältnissen 
des  Lebens  ihre  Interessen  wahrzunehmen  und  ihre  bürgerlichen 
Pflichten  zu  erfüllen,  aber  es  verdient  andrerseits  Beachtung,  dass 
solche  Individuen  wegen  ihres  eng  begränzten  ethischen  und  intellek- 
tuellen Horizonts  unbeständig  in  ihrem  Wollen,  leicht  verführ-  und 
bestimmbar  sind  und  von  Vollsinnigen  leicht  übervortheilt  und  aus- 
gebeutet werden. 

Auch  die  Dispositionsfähigkeit  der  Taubstummen  erscheint  frag- 
lich, theils  wegen  der  hier  in  der  Regel  bestehenden  Unvollkommen- 
heit  der  Ausbildung  der  geistigen  Fähigkeiten,  theils  wegen  der  un- 
genügenden, im  besten  Fall  auf  die  Schrift-  oder  Zeichensprache 
beschränkten  Mittheilungsfähigkeit.  Die  Gesetzgebung  präsumirt  gegen- 
über Fällen  von  congenitaler  oder  vor  Entwickelung  des  Seelenlebens 
eingetretener  Taubstummheit  die  Unfähigkeit  bürgerlicher  Selbst- 
ständigkeit und  hält  sie  so  lange  aufrecht,  als  nicht  ärztlich  das 
erforderliche  Mass  geistiger  Kräfte  und  Mittheikmgsfähigkeit  con- 
statirt  wird. 

Nach  §.  275  des  österr.  A.  B.  G.-B.  bleiben  Taubstumme,  wenn  sie  zugleich 
blödsinnig  sind,  beständig  unter  Vormundschaft;  sind  sie  aber  nach  Antritt  des 
25.  Lebensjahrs    ihre  Geschäfte    zu  verwalten   fähig,    so   darf  ihnen   wider  ihren 


Taubstamme.     FragKche  Dispositionsfähigkeit.  337 

Willen  kein  Curator  gesetzt  werden,  nur  dürlen  sie  vor  Gericht  nie  ohne  einen 
Sachwalter  erscheinen. 

Das  A.  L.-R.  Thl.  II,  Tit.  XVIII,  §.  15  verfügt: 

Taubstumm  Geborene,  ingleichen  Diejenigen,  welche  vor  zurückgelegtem 
14.  Jahr  in  diesen  Zustand  gerathen  sind,  müssen,  sobald  sie  nicht  mehr  unter 
väterlicher  Aufsicht  stehen,  vom  Staat  bevormundet  werden. 

§.  819.  Wenn  auch  der  Fehler  am  Gehör  und  der  Sprache  behoben  ist, 
so  muss  dennoch  erst  untersucht  werden,  ob  nicht  etwa  Blödsinn  oder^chwäche 
des  Verstandes  die  Fortsetzung  der  Vormundschaft  nöthig  machen. 

Das  entscheidende  Gewicht  wird  von  der  Gesetzgebung  in  den 
Intelligenzzustand  des  Taubstummen  gelegt. 

Im  Allgemeinen  dürften  sich  gegenüber  der  Frage  der  Ver- 
fügtmgsfreiheit  zwei  Kategorien  von  Taubstummen  unterscheiden 
lassen  : 

1)  Solche,  die  mit  Erfolg  Unterricht  genossen  haben  oder  erst- 
nach  theilweise  schon  entwickeltem  Seelenleben  durch  einge- 
tretene Taubheit  an  der  Fortentwicklung  gestört  wurden. 

2)  Solche,  die  congenital  mit  einem  die  Taubheit  begründenden 
unheilbaren  Gehörfehler  behaftet  sind  und  keinen,  oder  keinen 
erfolgreichen  Unterricht  genossen  haben. 

Die  Ersteren  wären  im  Allgemeinen  den  Schwachsinnigen,  die 
Letzteren  den  Blödsinnigen  gleichzustellen.  Nur  selten  (vgl.  Casper- 
Liman  Hdb.  p.  823)  gelingt  es  dem  Unterricht,  einen  entwicklungs- 
fähigen Ts.  bis  zu  Höhe  der  Dispositionsfähigkeit  zu  bringen.  Es 
sind  desshalb  gesetzliche  Beschränkungen  zum  Schutz  der  Ts.  und 
die  Präsumption  ihrer  bürgerlichen  Insufficienz  (beweisende  Fälle 
Casper-Liman  Fall  301,  303,  305,  306,  307)  berechtigt.  Nur  dann, 
wenn  der  Ts.  der  Schriftsprache  vollkommen  mächtig  ist,  kann  von 
seiner  Dispositionsfähigkeit  die  Rede  sein.  Die  Expertise  muss 
übrigens,  abgesehen  von  der  Fähigkeit  der  Gedankenmittheilung,  auch 
die  Intelligenz  als  solche  prüfen,  da  die  Ts.heit  nach  sich  ziehenden 
Hirnerkrankungen  nicht  selten  an  und  für  sich  organisch  und  nicht  bloss 
funktionell  die  Entwicklung  des  Geistes  schädigen.  Es  wäre  wünschens- 
werth  wenn  Ts.  bürgerliche  Akte  nur  öffentlich  und  schriftlich  vor- 
nehmen könnten. 

Nahe  stehen  der  Taubstummheit  in  civilrechtlicher  Beziehung 
die  Zustände   der  Aphasie.  ^)     Hier   handelt    es    sich    um  Unfähigkeit 

')  Literatur:  Kussmaul,  die  Störungen  der  Sprache,  Ziemssen's  Handb.  1877. 
Lefort,  Annal.  d'hygiene  1872,  Oct.  Falret  ebenda  1869,  April.  Billod,  Ann.  med. 
psych.  1877,  Mai.  Finance,  Tetat  mental  des  aphasiques,  Paris  1878.  Hughes-, 
Journal  „the  Alienist"  1880. 

V.  Kraf ft-Ebing,  geriohtl.  Psycliopatliologie.    2.  Auflage.  22 


338  C^P-  I-    Die  Dispositionsfähigkeit. 

oder  wenigstens  erschwerte  Fähigkeit  die  Gedanken  sprachlich  (münd- 
lich^ schriftlich,  durch  Zeichen)  zum  Ausdruck  zu  bringen.  In  der 
Kegel  besteht  gleichzeitig  Geistesschwäche,  da  durch  die  Ursachen 
(Trauma,  ausgebreitete  Gefässerkrankungen  etc.)  der  Aphasie,  die 
Hirnrinde  nicht  bloss  in  der  Gegend  des  Sprachcentrums,  sondern 
diffus  erkrankt  ist.  Jedoch  kommen  auch  reine  d.  h.  nicht  mit 
Geistesschwäche  complicirte  Fälle  von  A.  vor,  so  dass  aus  dem  Vor- 
handensein von  A.  nur  das  Bestehen  einer  Hirnkrankheit  an  und  für 
sich  gefolgert  werden  kann  und  die  Ermittlung  des  Geisteszustands 
noch  besonders  stattfinden  muss.  Diese  Ermittlung  ist  schwierig,  die 
Gefahr,  dass  bei  gleichzeitiger  Worttaubheit  und  Paraphasie  der 
aphasische  Zustand  mit  Verwirrtheit  oder  Blödsinn  verwechselt  werde, 
naheliegend.  Das  äussere  Verhalten  des  Kranken,  die  Correktheit 
seiner  Handlungen,  die  Erkenntniss,  dass  er  falsche  Worte  spricht 
oder  schreibt,  die  Befriedigung  wenn  man  ihm  das  richtige  Wort 
vorsagt,  seine  Fähigkeit  die  Bedeutung  des  Objekts  trotz  fehlendem 
Ausdruck  dafür  anzugeben,  sprechen  für  erhaltene  Geistesintegrität. 
Da  die  A.  unendlich  viele  klinische  Modificationen,  Gradstufen  imd 
Complicationen  bietet,  kann  bezüglich  der  Frage  der  Dispositions- 
fähigkeit jeder  Fall  nur  als  ein  concreter  betrachtet  und  als  solcher 
beurtheilt  werden. 

Uebersichtlich  lassen  sich  3  Gruppen  Aphasischer  aufstellen : 

1)  Die  Intelligenz  ist  erloschen  oder  sie  ist  zwar  vorhanden,  aber 
es  besteht  absolute  Unmöglichkeit,  sei  es  durch  Worte,  sei  es 
durch  Schrift  (Vergessensein  der  zum  Schreiben  nöthigen  Be- 
wegungsanschauungen, Agraphie),  die  Gedanken  zu  entäussern. 
Ein  solcher  Kranker  steht  auf  gleicher  Stufe  der  Leistungs- 
fähigkeit mit  dem  unentwickelten  Taubstummen, 

2)  Der  Umfang  der  intellektuellen  Leistungen  ist  nur  beschränkt, 
aber  diese  sind  nicht  aufgehoben,  ebensowenig  die  Fähigkeit 
zur  Mittheilung.  Hier  besteht  ein  analoges  Verhältniss  wie 
beim  entwickelten  Taubstummen. 

3)  Die  Intelligenz  ist  unversehrt,  nur  die  Fähigkeit  zur  Gedauken- 
mittheilung  behindert.  Es  wird  hier  ganz  auf  den  Grad  dieser 
Behinderung  ankommen  und  allenfalls  §.16  Tit.  XVIII,  Thl.  II 
A.  L.R.  heranzuziehen  sein,  wornach  Diejenigen,  welche  erst 
in  späteren  Jahren  taubstumm  geworden  sind,  nur  alsdann 
unter  Vormundschaft  genommen  werden  müssen ,  wenn  sie 
durch  allgemeinverständliche  Zeichen  sich  nicht  ausdrücken 
können  und  daher  ihre  Angelegenheiten  zu  besorgen  ganz  un- 


Aphasie.     Lucida  intervalla.  33g 

fällig  sind.    Solche  Fälle  sind  oiFenbar  auch  im  A.  L.R.,  Thl.  I, 
Tit.  V,  Thl.  II,  Tit.  XVIII  vorgesehen,  wornach  Krankheiten  und 
körperliche  Gebrechen,  insofern  die  Geisteskräfte  dadurch  nicht 
beeinträchtigt  sind,  vom  Gesetzbuch  nur  insofern  berücksichtigt 
werden,    als    das  Gebrechen    ein  Hinderniss    abgibt,    sich  ver- 
ständlich  zu   machen   und  daher  seine  Angelegenheiten  zu  be- 
sorgen.   Hier  ist  je  nach  Umständen  Entmündigung  oder  Ver- 
beiständung zulässig. 
Im    österr.    bürgerl.    Gesetzbuch    lassen    sich    solche    Fälle    von 
Aphasie  unter  §.21  und  269  subsumiren,  in  Frankreich  unter  §.  489 
des  Cod.  civ. 

Eine  besondere  Beachtung  findet  endhch  von  Seiten  der  Gesetz- 
gebung der  bei  Geisteskrankheit  mögliche  Zustand  des  lucidum  inter- 
vallum. 

Schon  das  römische  Recht  behandelt  die  Frage  der  wiedereintretenden 
Verfügungsfreiheit  in  diesem  intervallum.  Ob  eine  etwa  angeordnete  Curatel 
während  dieser  Zeit  hinfällig  sei,  blieb  Streitfrage  unter  den  römischen  Juristen. 
Die  Testir-  und  Zeugnissfähigkeit  ward  zugestanden.  Der  Code  Napoleon  nimmt 
auf  lue.  intervalla  keine  Rücksicht  und  verfügt  die  Entmündigung,  selbst  wenn 
lichte  Zwischenzeiten  vorhanden  sind.  (art.  489.)  Das  österr.  Gesetzbuch  enthält 
keine  ausdi-ückliche  Verfügung  wegen  des  lue.  interv.  Da  die  Dispositionsunfähig- 
keit wegen  Wahnsinns  und  Blödsinns  durch  die  Krankheit  und  nicht  durch  die 
etwaige  Curatel  bedingt  ist,  so  steht  kein  Grund  entgegen  eine  Handlungsfähig- 
keit im  Zustand  des  lucid.  interv.  anzunehmen,  aber  dieses  mus'^s  als  zur  Zeit 
des  Akts  thatsächlich  vorhanden  erwiesen  sein.  Es  ist  dabei  gleichgiltig,  ob  der 
fraglich  Dispositionsfähige  schon  unter  Curatel  stand  oder  nicht. 

Preussen  erkennt  die  Verfügungsfreiheit  im  1.  int.  an,  aber  nur  solange, 
als  nicht  Curatel  verhängt  ist.  Bezüglich  der  Abschliessung  lästiger  Verträge  be- 
stimmt die  allg.  preuss.  Gerichtsordnung  Thl.  II,  Tit.  III,  §.  9,  dass  Personen,  welche 
nur  zuweilen  an  Abwesenheit  des  Verstandes  leiden,  im  Allgemeinen  zur  Ab- 
schliessung solcher  nicht  zugelassen,  sondern  unter  Curatel  gestellt  werden  sollen. 
Im  dringenden  Fall  hat  der  Richter  übrigens,  wenn  nöthig  mit  Zuziehung  eines 
Arztes,  das  lue.  int.  zu  constatiren,  dem  Contrahenten  zum  Akt  einen  Gerichts- 
beistand zu  ernennen  und  das  Protokoll  so  abzufassen,  dass  aus  demselben  mit 
Sicherheit  hervorgeht,  dass  der  Akt  im  1.  int.  abgeschlossen  wurde. 

Sollte  aber  das  Geschäft  vor  seiner  Abschliessung  durch  einen  neuen 
Krankheitsanfall  gestört  werden,  so  sind  alle  bisherigen  Verhandlungen  als  nicht 
geschehen  zu  betrachten  und  es  muss  nach  erfolgter  Wiederherstellung  des  Contra- 
henten die  Verhandlung  von  Neuem  aufgenommen  werden. 

Aus  den  bezüglichen  gesetzlichen  Bestimmungen  ergibt  sich  un- 
zweifelhaft ein  gewisses  Misstrauen,  mindestens  eine  grosse  Vorsicht 
des  Gesetzgebers  gegenüber  den  lucid.  intervallis.  Die  Wissenschaft 
rechtfertigt  dieselbe,    indem  sie  lue.  int.  nur  als  seltene  und  äusserst 


340  Cap.  I.    Die  Dispositionsfälligkeit. 

schwer  von  blossen  Remissionszuständen  der  Krankheit  unterscheid- 
bare Lebenszustände  anerkennt.  Selbst  beim  periodischen  Irresein, 
wo  man  noch  am  meisten  Berechtigung  zur  Annahme  von  1.  i.  hätte, 
ergibt  eine  genaue  Beobachtung  sie  nur  sehr  selten  als  ganz  rein. 
Wissenschaftlich  möglich  sind  sie  bei  Melancholie,  Manie,  Wahnsinn, 
unmöglich  in  Zuständen  von  Verrücktheit  und  Blödsinn.  Die  Er- 
fahrung, wornach  bei  secundärem  Blödsinn  während  der  Dauer  fieber- 
hafter Krankheiten  temporäre  Herstellung  der  „Intelligenz"  beob- 
achtet wurde,  ist  mit  grosser  Vorsicht  aufzunehmen.  Die  Frage,  ob 
ein  lue.  int.  vorhanden  gewesen  sei,  ist  eine  ganz  concrete,  einer  all- 
gemeinen und  Kriterien  angebenden  Betrachtung  unzugängliche.  Bei 
der  Seltenheit  dieser  Zustände  muss  eine  starke  Präsumption  gegen 
sie  gerichtlich  festgehalten  werden.  Wie  im  Criminalforum  wäre  es 
auch  in  der  civiKstischen  Praxis  am  besten,  dem  lue.  int.  keine  prak- 
tische Geltung  zu  verstatten. 

Beob.  128.  Gestörte  Hirnentwicklung  durch  apoplectisclien  In- 
sult. Fragliche  aber  vorhandene  Dispositionsfähigkeit.  Anna  K., 
24  J.  alt,  leidet  an  rechtsseitiger  Facialislähmung,  das  linke  Auge  ist  amaurotisch 
mit  weiter  unbeweglicher  Pupille.  Sprache  stotternd.  Convulsivische  Bewegungen 
auf  der  linken  Gesichtshälfte  beim  Sprechen.  Rechter  Arm  paretisch  und  etwas 
zitternd.  Die  erwähnten  Störungen  sind  die  Residuen  eines  apoplectisclien  Insults, 
den  Patientin  mit  2  Jahren  erlitt.  Sie  hat  Lesen,  Schreiben,  Rechnen  gelernt, 
das  Hauswesen  geführt.  Sie  lernte  mühsam,  zeigte  aber  klares  Selbstbewusstsein, 
richtige  Auffassung  der  Beziehungen  zur  Aussenwelt  und  die  Fälligkeit  Erfahrungen 
und  richtige  Beobachtungen  an  sich  und  Anderen  zu  machen. 

Das  Gutachten  bezeichnet  die  K.  als  zwar  geistig  beschränkt ,  nicht  aber 
als  geistesschwach.  Wohl  aber  ist  die  Fähigkeit  den  Grad  ihrer  intellektuellen 
Entwickelung  zur  Geltung  zu  bringen,  so  beschränkt,  dass  sie  der  K.  das  Zeug- 
niss  geistiger  Schwäche  eingetragen  hat.  Es  handelt  sich  hier  um  einen  jener 
nicht  seltenen  Fälle,  wo  die  Behinderung  der  Entäusserung  falsche  Urtheile  über 
den  geistigen  Besitz  hervorrief.     (Vierteljahrschr.  f   ger.  Med.,  1873  H.  1.) 

Beob.  129.  Epileptischer  Schwachsinn.  Beantragte  Blöd- 
sinnigkeitserklärung. Eine  32  Jahre  alte  geschiedene,  von  ihrem  Haus- 
wirth  geschwängerte,  zur  Anwendung  von  Abortiva  verleitete,  desslialb  criminell 
verfolgte  Frau.     Die  Verwandten  provociren  die  Blödsinnigkeitserklärung. 

Das  zu  diesem  Zweck  erstattete  Gutachten  weist  klar  nach,  dass  Explorata 
an  epileptiscliem  Schwachsinn  leide,  auf  Grund  hochgradiger  erblicher  Belastung. 
Die  einzelnen  Züge  des  Kranklieitsbilds  (vertiginöse  und  convulsive,  seit  dem 
12,  Jahr  bestehende  Anfälle,  traumartiges  Handeln  im  Anschluss  an  dieselben, 
abnorme  Reizbarkeit,  grundloser  Stimmungswechsel,  wuthartige  Ausbrüche  etc.) 
weisen  mit  Bestimmtheit  auf  die  epileptische  Basis  hin.  Das  Bild  geistiger 
Störung  wird  vervollständigt  .durch  die  Insufficienz  der  psychischen  Leistungen 
in  jeder  Hinsicht,    durch   Gedächtnissschwäche ,   Hallucinatioiien,   Erscheinungen 


Beob.  130.    Taubstummheit.    Fragliche  Dispositionsfähigkeit.  341 

von  Delir  emotit,  Angstziitalle.  Verlasser  findet  mit  Recht  keinen  Anstand,  eine 
Frau,  welche  an  so  häufigen  epileptischen  Anfällen  leidet,  welche  so  nervös  und 
reizbar  ist,  dass  sie  durch  ihr  unangenehme  "Geräusche  verstimmt  und  zu  Zornes- 
ausbrüchen gereizt  wird,  welche  im  Allgemeinen  schwachsinnig,  eine  ziemlich 
bedeutende  Gedächtnissschwäche  und  Urtheilslosigkeit  verräth,  sich  ^^'illenlos 
und  indifferent  bei  wichtigen  Lebensverhältnissen  zeigt,  für  gewöhnlich  deprimirter 
Stiminung  ist,  in  ihrer  Stimmung  aber  durch  jede  körperliche  Störung  oder 
äussere  Einwirkung  beherrscht  wird,  zeitweise  Sinnestäuschungen  unterworfen  ist 
und  dieselben  in  ihrem  Bewusstsein  wie  wirklich  Erlebtes  aufnimmt,  welche  end- 
lich an  Anfällen  leidet,  in  denen  sie  unbewusst  und  ohne  nachherige  Erinnerung 
verschiedene  Handlungen  begeht  und  ausserdem  öfters  Selbstmordversuche  ge- 
macht hat  —  für  unfähig  die  Folgen  ihrer  Handlungen  zu  überlegen  resp.  für 
blödsinnig  im  Sinn  des  Gesetzes  zu  erklären. 

E.  wurde  für  blödsinnig  erklärt  und  von  der  Untersuchung  gegen  sie  Ab- 
stand genommen.     (Sander,  Vierteljahrschr.  f.  ger.  Med.  N.  F.  XVII.  H.  2.) 

Beob.  130.  Taubstummheit.  Fragliche  Dispositionsfähigkeit. 
Die  taubstumme  Jahn  ersucht  bei  Gericht  um  die  Einsetzung  in  ihre  bürgerlichen 
Rechte  und  in  ihren  Besitz,  da  sie  physisch  grossjährig  und,  wenn  auch  taub- 
stiimm,  nicht  blödsinnig  (§  27-5  d.  Oesterr.  A.  B.  G.-B.)  sei. 

Die  J.  ist  29  Jahre  alt,  Dienstmagd.  Sie  soll  bis  zum  6.  Monat  gehört,  durch 
einen  eiterigen  Ohrenfluss  das  Gehör  verloren  haben.  Sie  wurde  in  einem  Taub- 
stummeninstitut während  6  Jahren  unterrichtet  und  erwarb  sich  die  Fähigkeit 
des  Lesens,  Schreibens  und  Rechnens.  Der  Taubstummenlehrer  erklärt,  dass  sie 
wegen  zu  kurzen  Verweilens  im  Institut  nur  ganz  oberflächliche  Kenntnisse  er- 
worben habe  und  ihr  so  mancher  Begriff  unklar  geblieben  sei.  Die  Gemeinde- 
beamten halten  sie  für  blödsinnig  und  fürchten,  dass,  wenn  sie  ihr  Vermögen 
zur  Selbstverwaltung  bekäme,  ihre  Schwester  dasselbe  an  sich  risse  und  die  J. 
der  Gemeinde  dann  zur  Last  fiele.  Die  Schwester  macht  dagegen  geltend,  dass 
die  J.  bis  auf  ihre  Taubstummheit  sei  wie  andere  Leute,  Lesens  und  Schreibens 
kundig  sei,  zur  vollsten  Zufriedenheit  ihrer  Dienstherrschaft  diene,  Einkäufe 
selbständig  besorge  etc.  Im  Termin  vom  März  1874  erscheint  die  J.  Lesens 
und  Schreibens  kundig,  beantwortet  die  schriftlich  gestellten  Fragen  grossentheils 
richtig,  manche  jedoch  ganz  verkehrt.  Der  Satzbau  ist  ein  unvollkommener,  etwa 
dem  eines  Kindes,  das  zu  sprechen  beginnt,  ähnlich.  Sie  kennt  den  Werth  des 
Geldes,  der  Lebensbedürfnisse,  verrichtet  anstandslos  Subtractionen ,  besitzt -aber 
nur  unklare  Begriffe  von  abstrakten  Dingen,  z.  B.  Erbschaft,  Kapital,  Zins,  kennt 
nicht  die  Höhe  ihres  Vermögens,  dessen  Bestandtheile  etc. 

Die  Sachverständigen  geben  ihr  Gutachten  dahin,  dass  J.  zwar  nicht  blöd- 
sinnig ist,  aber  nur  eine  unvollkommene  Erziehung  im  Taubstummeninstitut  ge- 
nossen hat,  abstrakte  Begriffe,  wie  Vermögen,  Zins,  Schuldbrief  etc.  nicht  oder 
nur  unvollkommen  besitzt,  als  Magd  zwar  brauchbar  ist,  sich  in  der  gewohnten 
und  beschränkten  Alltagssphäre  selbständig  zu  bewegen  weiss,  nicht  aber  in 
Ausnahmsverhältnissen.  So  hält  sie  ihr  Geld  für  gut  angelegt,  wenn  sie  es  todt- 
liegend  im  Bette  verwahrt  hat,  für  gesichert,  wenn  ihr  Jemand  einen  Schuld- 
brief ohne  alle  hypothekai'ische  Deckung  ausstellt.  Die  J.  erscheine  demnach 
in  so  hohem  Grad  geistesbeschränkt,  dass  die  Einsetzung  in  die  Eigenverwaltung 
ihres  Vermögens  bedenklich  erscheine.  .Das  Gericht  verhängte  über  die  J.  wegen 


342  Cap.  I.    Die  Dispositionsfähigkeit. 

„Schwachsinns"  die  Fortdauer  der  Curatel.     Die  J.  recurrirte   durch    einen  Sach- 
walter. 

Das  requirirte  Zeugniss  der  Direction  des  Taubstummeninstituts  hält  die  J. 
für  dispositionsfähig,  findet  es  jedoch  räthlich,  wenn  ihr  Vermögen  in  der  Kasse 
des  Instituts  deponirt  werde. 

Die  Angehörigen  machen  geltend,  dass  die  J.  seit  Jahren  ja  selbständig 
war,  zur  vollen  Zufriedenheit  diente,  sich  Geld  sparte,  für  dessen  Anlegung  in- 
einer  Sparkasse  besorgt  war,  kurz  zeitlebens  in  ihren  Verrichtungen  ganz  suffi- 
cient  und  normal  erschien.  Die  Dienstboten,  mit  welchen  die  J.  diente,  bezeugen 
ihre  völlige  Brauchbarkeit,  selbst  zum  Besorgen  von  Wechseln  grösserer  Geld- 
beträge, den  leichten  geschäftlichen  Verkehr  mit  ihr,  so  dass  man  nur  selten  ihr 
etwas  aufzuschreiben  brauchte. 

Im  neuen  Termine  vom  Juli  1875  erscheint  die  J.  in  Haltung  und  Be- 
nehmen tadellos.  Ihre  Gesichtszüge  deuten  auf  geistiges  Leben,  körperlich  finden 
sich  ausser  ihrer  Taubstummheit  keine  Anomalien.  Der  Verkehr  mit  ihr  geschieht 
durch  einen  Taubstummenlehrer  mittelst  Zeichensprache.  Es  bedarf  vielfach 
einer  mehrmaligen  Umschreibung  und  concreterer  Fassung,  bis  sie  den  Sinn  der 
Frage  versteht.  Sie  äussert  den  Wunsch  ihr  Vermögen  zu  bekomhien,  weil  sie 
dem  Vormund  misstraue;  sie  will  es  in  der  Sparkasse  anlegen,  berechnet  im  Kopfe 
dass  1400  fl.  zu  5  %  70  fl.  Zins  machen,  hält  Leute  die  10  %  geben  für  Betrüger, 
will  ihr  Geld  den  Geschwistern  vermachen,  im  Fall  diese  nicht  mehr  leben,  den 
Armen.  Die  Frage,  ob  ihr  Vermögen  in  Baarem  oder  liegenden  Gütern  bestehe, 
versteht  sie  nicht.  Sie  kennt  die  Bedeutung  des  Termins,  der  Sachverständigen, 
weiss,  dass  man  vor  Gericht  klagen  kann,  dass  die  Ehe  untrennbar,  „die  Schwe- 
ster darf  ja  auch  nicht  von  ihrem  Mann  fort".  Ihr  Geld  werde  sie  Niemand 
geben,  nicht  einmal  der  Schwester,  weil  diese  ohnehin  genug  habe. 

Gutachten.  Explorata  ist  nicht  blödsinnig.  Es  kann  sich  hier  nur  um 
die  Frage  handeln,  ob  sie  fähig  ist  ihre  Geschäfte  zu  verwalten.  Die  Entschei- 
dung ist  Sache  des  Richters,  Aufgabe  der  Sachverständigen  kann  nur  sein  die 
ps3^chologischen  Bedingungen  einer  bürgerlichen  Selbständigkeit  hervorzuheben 
.  und  zu  untersuchen,  ob  diese  Bedingungen  im  geistigen  Mechanismus  der  J.  vor- 
handen sind.  Der  J.  sind  ohne  Zweifel  eine  Reihe  von  Rechtsverhältnissen  und 
Normen  des  öffentlichen  und  Rechtslebens  geläufig.  Sie  hat  Begriffe  von  Eigen- 
thum,  kennt  die  sociale  Bedeutung  von  Geld  und  Gut,  besitzt  eine  gewisse  Ein- 
sicht in  Rechtsmittel  und  Rechtswohlthaten.  Thatsächlich  sind  aber  diese  Be- 
griffe-, namentlich  da,  wo  sie  abstrakte  und  rechtliche  Verhältnisse  berühren, 
dürftig.  Wie  bei  so  vielen  geistig  nicht  vollkommen  Ausgebildeten,  entwickeln 
sich  ihre  Begriffe  nicht  aus  der  Abstraktion  einer  grösseren  Summe  von  That- 
sachen,  sondern  aus  der  dürftigen  Anlehnung  an  ein  concretes  Beispiel  und  der 
Schlussfolgerung  aus  diesem.  So  weiss  sie  z.  B.,  dass  die  Ehe  nach  Landes- 
gesetzen untrennbar,  aber  die  Berechtigung  zu  diesem  Schluss  schöpft  sie  aus 
der  Thatsache,  dass  die  Schwester  nicht  von  ihrem  Mann  fortkann.  Eine  andere 
Frage  ist  die,  ob  neben  diesem  dürftigen  geistigen  Besitz  auch  die  nöthige  Ur- 
theilskraft  und  Selbständigkeit  der  Entschliessung  vorhanden  sind,  um  im  öffent- 
lichen Leben  jeweils  das  eigene  Interesse  wahrzunehmen. 

Die  geistige  Sufficienz  der  J.  ist  zwar  in  der  Küche  und  im  Kleinverkehr 
des  Markt-  und  Alltagslebens  erprobt,  nicht  aber  im  selbständigen  Contakt  mit 
dem    öffentlichen  Recht    und  Gesetz.     Sie.  hat   zwar    ihr  Programm,   wie    sie  ihr 


Beob.  131.    Schwachsinn.    Aphasie.    Beantragte  Curatel.  343 

Geld  zu  verwahren  gedenkt,  aber  es  besteht  keine  Garantie,  dass  nicht  Bitten, 
Drohungen ,  Vorspiegelungen  etc.  die  gutniüthige  und  geistig  völlig  von  der 
Schwester  dominirte  J.  zur  Aendei'ung  ihrer  Intentionen  bewegen  und  die  Sicher- 
heit ihres  Besitzes  gefährden.  Viel  gewichtigere  Bedenken  veranlasst  aber  die 
Unvollkommenheit  des  Gedankenaustauschs  der  J.  mit  der  Aussenwelt.  Sie  ist 
auf  die  kunstmässigen  Zeichen  —  und  die  Schriftsprache  beschränkt.  Jener  kann 
sie  nur  im  Verkehr  mit  dieser  Sprache  mächtigen  Individuen  sich  bedienen,  aber 
selbst  hier,  wie  sich  im  Termin  ergibt,  versteht  sie  den  Sinn  der  Frage  erst  nach 
wiederholter  und  variirter  Stellung  derselben,  wobei  der  Dolmetsch  ihr  abstrakte 
Vorstellungen  erst  iimschreiben,  beispielsweise  klar  machen  muss.  Angenommen 
selbst,  dass  Jedermann  die  künstliche  Zeichensprache  der  Taubstummen  verstände, 
wäre  doch  der  Gedankenaustausch  der  J.  im  Gebiet  übersinnlicher  Vorstellungen 
ein  unvollkommener  durch  die  Unklarheü  dieser.  Aber  auch  die  Schriftsprache 
■der  J.  ist  unvollkommen  ausgebildet.  Sie  versteht  einzelne  Fragen  gar  nicht, 
andere  falsch ,  und  ihre  ganze  Satzbildung  entspricht  der  eines  Kindes ,  das  zur 
Schule  geht.. 

Die  Sachverständigen  geben  ihr  Gutachten  dahin  ab :  Die  H.  J.  ist  nicht 
blödsinnig,  aber  ihre  übersinnlichen  Begriffe  sind  unvollkommen  ausgebildet  und 
soweit  sie  Normen  des  öffentlichen  und  des  Rechtslebens  betreffen,  ungenügend. 
Die  Fähigkeit  eines  schriftlichen  Verkehrs  mit  der  Aussenwelt  ist  eine  unvoll- 
kommene.    (Eigene  Beobachtung.) 

Beob.  131.  Schwachsinn.  Hemiplegie.  Aphasie.  Beantragte 
Curatel.  Es  handelt  sich  um  einen  Greis  mit  Schwäche  des  Erkenntnissver- 
mögens, mit  Unfähigkeit,  sich  d,er  entsprechenden  Worte  zu  erinnern  und  zu 
bedienen.  E.  ist  nicht  wahnsinnig,  auch  nicht  blödsinnig.  Für  die  einfachsten 
Verhältnisse  hat  er  sowohl  Vorstellungen  als  Worte,  nicht  so  aber  für  die  Aussen- 
welt und  seine  rein  geistigen  Beziehungen.  Hier  fehlen  ihm  nicht  nur  die  Vor- 
stellungen, sondern  auch  die  Worte.  Bei  der  vollkommenen  körperlichen  und 
geistigen  Hilflosigkeit  des  E.,  der  Unmöglichkeit,  sich  auf  unzweifelhafte  Art  mit 
seinen  Nebenmenschen  zu  verständigen,  ist  seine  gesetzliche  Inschutznahme  ge- 
boten ,  wenn  auch  sein  Zustand  weder  als  Wahn-  noch  als  Blödsinn  bezeichnet 
werden  kann.  •  (Heschl,  Wien.  med.  Wochenschr.  1868,  Nr.  21,  22,  23.1 

Dahingehörige  weitere  Fälle:  Annales  d'hygiene  publ.  1869,  avril 
(Aphasie).  Annal.  med.  psycho].  1867,  Mai  (Melancholie  mit  Sinnesdelirien  im 
Uebergang  zu  Blödsinn).  Friedreich's  Blätter  1871,  H.  3  (psych.  Schwächezustand 
nach  Melancholie).  Henke,  Zeitschr.  XXV,  H.  2  (VerfOlgungswahnsinn).  Annal. 
med.  psychol.  1867,  Mai  (Alkoholism..  chron.).  Vierteljaiirsschr.  f.  ger.  Med. 
N.  F.  VI,  H.  2  (angeborene  Geistesschwäche),  ebenda  1873,  H.  1  (epilept.  Schwach- 
sinn), ebenda  N.  F.  VIII,  H.  1  (Blödsinn  im  Sinn  des  Gesetzbuchs).  Henke, 
Zeitschr.  Bd.  43  (Delir.  tremens.  Alkoholism.  chron.).  Casper-Liman,  biol.  TliL, 
Fall  301  bis  307  (Taubstummheit).  Irrenfreund  1867,  Nr.  3  u.  4  (secundäre  Geistes- 
schwäche). Friedreich's  Blätter  1875,  Nr.  6  (paralyt.  Blödsinn).  Edel,  Zeitschr. 
f.  Psj^ch.  1875,  H.  5  (Provocation  der  Blödsinnigkeitserklärung  bei  einer  hysterisch 
Irrsinnigen.  Zurückweisung  der  Klage,  dass  das  Gericht  die  Geisteskrankheit 
übersah).  Sander,  Archiv  f.  Psych.  I,  H.  3  (Blödsinn).  Arndt,  Viertel] ahrsschr. 
f.  ger.  Med.  N.  F.  XIX,  H.  2  (Alkoh.  chron.  Fragliche  Zulässigkeit  der  Grossjährig- 
keitserklärung).  Sander,  Viertelj ahrsschr.  f.  ger.  Med.  N.  F.  XXIV,  H.  2  (erbliche 
Belastung,  geistige  Schwäche). 


344  Gap.  IL    Das  Entmündigungsverfahren. 


Cap.  II.    Das  Entmündigungsverfahren. 

Gesetzl.  Bestimmungen:  A.  L.-R.  Till.  II,  Tit.  XVIII  §§.  13  u.  14.  Wahn-  resp. 
Blödsinnige  müssen  durch  richterliches  Erkenntniss  in  Folge  eines  gericht- 
lichen Verfahrens  für  das  erklärt  werden,  was  sie  sein  sollen. 

Oesterr.  A.  B.  G.-B.  §.  273.  Für  wahn-  oder  blödsinnig  kann  nur 
Derjenige  gehalten  werden,  der  nach  genauer  Erforschung  seines  Betragens 
und  nach  Einvernehmung  der  vom  Gericht  dazu  verordneten  Aerzte  gericht- 
lich dafür  erklärt  ist. 

Deutsch.  C.-P.-O.  §.  593.  Eine  Person  kann  für  geisteskrank  (wahn- 
sinnig, blödsinnig  u.  s.  w.)  nur  durch  Beschluss  des  Amtsgerichts  erklärt 
werden.     Der  Beschluss  wird  nur  auf  Antrag  erlassen. 

Das  processualische  Verfahren,  auf  Grund  dessen  das  Urtheil  ob 
Jemand  unter  Curatel  zu  stellen  sei,  gefäUt  wird,  ist  durch  Process- 
ordnungen  bestimmt.  Derjenige,  dessen  Entmündigung  beantragt  wird, 
erscheint  dabei  als  der  Beklagte,  der  darauf  Antragende  als  Kläger. 
Auf  Grund  der  Anklagedocumente  des  Klägers ,  falls  sie  hinlänglich 
erscheinen,  verfügt  der  zuständige  Richter  des  Beklagten  die  Anklage- 
stellung. Es  wird  dem  Angeklagten  der  Process  gemacht,  es  werden 
Zeugen  verhört,  Sachverständige  vernomtnen  und  falls  die  Schuld  resp. 
die  Dispositionsunfähigkeit  des  Exploraten  gegenüber  dem  Gesetz  er- 
wiesen ist,  vom  Gerichtshof  das  Urtheil  gefällt. 

Bezüglich  der  Normen  des  processualischen  Verfahrens  differiren 
die  verschiedenen  Processordnungen. 

1.   Das  deutsclie  Entmündigungsverfaliren. 

Civilprocessordnung:  §.  595.  Der  Antrag  (auf  Entmündigung)  kann  von 
dem  Ehegatten,  einem  Verwandten,  oder  dem  Vormunde  des  zu  Entmündigen- 
den gestellt  werden.  •  Gegen  eine  Ehefrau  kann  nur  der  Ehemann ,  gegen 
eine  Person,  welche  unter  väterlicher  Gewalt  oder  unter  Vormundschaft  steht, 
nur  von  dem  Vater  oder  dem  Vormunde  der  Antrag  gestellt  werden.  In 
allen  Fällen  ist  auch  der  Staatsanwalt  bei  dem  vorgesetzten  Landgericht  zur 
Stellung  des  Antrags  befugt. 

§.  596.  Der  Antrag  kann  bei  dem  Gerichte  schriftlich  eingereicht  oder 
zum  Protokoll  des  Gerichtsschreibers  angebracht  werden.  Er  soll  eine  An- 
gabe der  ihn  begründenden  Thatsachen  und  die  Bezeichnung  der  Beweis- 
mittel enthalten. 

§.  597.  Das  Gericht  hat  unter  Benutzung  der  in  dem  Antrag  ange- 
gebenen Thatsachen  und  Beweismittel  von  Amtswegen  die  zur  Feststellung 
des  Geisteszustands  erforderlichen  Ermittlungen  zu  veranstalten  und  die 
geeignet   erscheinenden  Beweismittel   aufzunehmen.     Das    Gericht   kann   vor 


Das  deutsche  Entmündigungsverfahren.  3.45 

Einleitung  des  Verfahrens   die  Beibringung   eines   ärztlichen   Zeugnisses   an- 
ordnen. 

§.  598.  Der  zu  Entmündigende  ist  persönlich  und  unter  Zuziehung 
eines  oder  mehrerer  Sachverständiger  zu  vernehmen.  Die  Vernehmung  kann 
unterbleiben,  wenn  sie  nach  Ansicht  des  Gerichtes  schwer  ausführbar  oder 
für  die  Entscheidung  unerheblich  Ist  oder  für  den  Gesundheitszustand  des 
zu  Entmündigenden  nachtheilig  ist. 

■§.  599.  Die  Entmündigung  darf  nicht  ausgesprochen  werden  bevor 
das  Gericht  einen  oder  mehrere  Sachverständige  über  den  Geisteszustand 
des  zu  Entnlündigenden  gehört  hat. 

§.  600.  Sobald  das  Gericht  die  Anordnung  einer  Fürsorge  für  die 
Person  oder  das  Vermögen  des  zu  Entmündigenden  für  erforderlich  hält, 
ist  der  Vormundschaftsbehörde  zum  Zweck  dieser  Anordnung  Mittheilung 
zu  machen. 

§.  604.  Gegen  den  Beschluss,  durch  welchen  die  Entmündigung  ab- 
gelehnt wird,  steht  dem  Antragsteller  und  dem  Staatsanwalt  die  sofortige 
Beschwerde  zu. 

§.  605.  Der  die  Entmündigung  aussprechende  Beschluss  kann  im  Wege 
der  Klage  binnen  der  Frist  eines  Monats  angefochten  werden. 

Das  Recht  zur  Klage  steht  dem  Entmündigten  selbst,  dem  Vormund 
und  den  im  §.  595  bezeichneten  Personen  zu. 

§.  607.  Die  Klage  ist  gegen  den  Staatsanwalt  zu  richten.  Erhebt  der 
Staatsanwalt  die  Klage,  so  ist  dieselbe  gegen  den  Vormund  des  Entmündigten 
als  Vertreter  desselben  zu  richten. 

§.  612.  Die  Bestimmungen  der  5§.  598  u.  599  finden  in  dem  Verfahren 
über  die  Anfechtungsklage  entsprechende  Anwendung. 

Von  der  Vernehmung  Sachverständiger  darf  das  Gericht  Abstand  nehmen, 
wenn  es  das  vor  dem  Amtsgericht  abgegebene  Gutachten  für  genügend  er- 
achtet. 

Die  Ausführung  des  Urtheils,  d.  h.  die  Anordnung  einer  Vormundschaft 
oder  Curatel  ist  Angelegenheit  der  A^ormundschaftlichen  Behörde,  und  findet  ihre 
gesetzliche  Erledigung  in  einer  besonderen  Vormundschaftsordnung.  Gegenstand 
des  Rechtsstreits  ist  nur  die  Feststellung  der  vorhandenen  oder  fehlenden  Hand- 
lungsfähigkeit. 

Die  lichtvolle  Darstellung  des  obigen  Verfahrens  von  Spinola  (Archiv  f. 
Psychiatrie  X,  H.  3)  betont  die  Thatsache,  dass  nicht  mehr  das  Collegialgericht 
1.  Instanz,  sondern  der  Amtsrichter  im  Entmündigungsprocess  zuständig  ist,  dass 
hier  nicht  mehr  von  Amtswegen  eingeschritten  wird ,  sondern  nur  über  Antrag. 
Ein  Interimscurator  ist  nicht  mehr  unerlässlich ,  sondern  dessen  Bestellung  dem 
Ermessen  des  Amtsrichters  überlassen.  Jener  wird  aber  nicht  mehr  vom  Process- 
i'ichter,  sondern  vom  Vormundschaftsgericht  ernannt.  Die  Entscheidung  des 
Amtsgerichts  erfolgt  nicht  mehr  durch  Erkenntniss ,  sondern  durch  einfachen 
Beschluss.  Die  Irrenanstaltsdirektion  macht  nunmehr  die  Anzeige  von  der  Auf- 
nahme eines  Kranken  nicht  mehr  beim  Gericht,  sondern  beim  Staatsanwalt,  der 
aber  dafür  zu  sorgen  hat,  dass  kein  eines  Vormunds  bedürftiger  Geisteskranker 
eines  solchen  entbehre.  Der  Vorstand  der  Irrenanstalt  hat  auf  Ersuchen  des 
Staatsanwalts  oder  auch  von  Zeit  zu  Zeit  spontan  vom  Verlauf  der  Krankheit 
Mittheilung  zu  machen,  die  Entlassung  und  unter  welcher  Eigenschaft,  die  Genesung, 


346  Cap.  II.    Das  (österr.  und  französ.)  Entmündigungsverfahren. 

den  Todesfall  anzuzeigen  und  namentlich  wenn  Unheilbarkeit  eingetreten,  den 
Staatsanwalt  zu  benachrichtigen.  Die  Staatsanwaltschaft  wird  in  den  meisten 
Fällen  abwarten  und  selbst  wenn  der  Patient  unheilbar  aber  vermögenslos  ist 
und  in  einer  öffentlichen  Anstalt  bleibt,  -von  der  Einleitung  des  Entmündigungs- 
verfahrens Umgang  nehmen,  andernfalls  aber  in  der  Lage  sein,  falls  nicht  der 
Antrag  von  den  Verwandten  gestellt  wird,  von  Amtswegen  einzuschreiten. 


2.    Das  österreicMsche  Entmündigungsverfahren, 

Gesetzgebung:  A.  B.  G.-B.  §.269,  270,  273.  Civiljurisdictionsnorm  §.  83.  Ver- 
ordnung d.  Minist,  d.  Innern  u.  d.  Justiz  v.  14.  Mai  1874  (R.-G.-Bl.  Nr.  71) 
s.  f.  Instruktion  des  k.  k.  O.-L.-Gerichts  Wien  v.  25.  Januar  1874,  Z.  24095 
(Manz'sche  Ausgabe  d.  A.  B.  G.-B.  1875,  p.  78). 

Es  zerfällt  a)  in  die  Anzeige  (Verwandte  oder  Irrenanstaltsdirektion)  an 
das  Bezirksgericht,  in  welchem  der  zu  Entmündigende  seinen  letzten  Wohnsitz 
hatte,  dass  _  derselbe  irrsinnig  sei  mit  dem  Antrag  ihn  unter  Curatel  zu  stellen. 

b)  Das  Bezirksgei'icht  prüft  die  zur  Begründung  des  Gesuchs  geltend  ge- 
machten Mittheilungen ,  indem  es  Vorerhebungen  macht.  (Protokollarische  Ein- 
vernahme der  Angehörigen,  Nachbarn,  Gemeindebehörden  etc.) 

c)  Hat  sich  das  Gericht  die  Ueberzeugung  verschafft,  dass  der  Antrag  be- 
gründet ist,  so  werden  2  Gerichtsärzte  mit  der  Ermittelung  des  Geisteszustands 
beauftragt  (Information)  und  d)  eine  Tagsatzung  anberaumt,  auf  welcher  der 
Betreffende  commissionell  untersucht  wird.  Die  Commission  besteht  aus  dem 
Bezirksrichter  oder  dessen  Delegirten,  A^  beiden  Gerichtsärzten  und  dem  Protokoll- 
schreiber. 

Der  Befund  dieser  Untersuchung  wird  zu  Protokoll  genommen  nebst  den 
Gutachten  der  Aerzte  und  das  Protokoll  von  dem  Richter  geschlossen  mit  dem 
Bemerken,  dass  er  mit  dem  Tenor  des  vorstehenden  Gutachtens  einverstanden 
sei.  Ist  der  Richter  damit  nicht  einverstanden,  so  ordnet  er  eine  neue  Tag- 
satzung an. 

d)  Nach  geschlossener  Untersuchung  gehen  die  Akten  an  das  kaiserliche 
Landesgericht.  Dieses  fällt  nach  Lage  der  Akten  das  Urtheil  und  publicirt 
dasselbe,  im  Fall  es  auf  Entmündigung  lautet.  Eine  Berufung  g'Cgen  dieses 
Urtheil  ist  nicht  ziilässier. 


3.   Das  Interdictionsverfahren  nach  französischem  Kecht  (Code  Napoleon 
art.  489—512.     Code  de  procedure  civile  art.  890-897). 

Der  Antrag  zur  Entmündigung  ist  hier  obligatorisch  für  die  Anverwandten. 
Er  kann  von  dem  Ehemann,  der  Ehefrau  oder  einem  beliebigen  Verwandten  ge- 
stellt werden.  Ebenso  kann  der  Staat  von  Amtswegen  einschreiten.  Die  Gründe 
für  die  Provokation,  resp.  die  Thatsachen,  welche  für  die  Geistesstörung  sprechen, 
müssen  schriftlich,  begleitet  von  einem  ärztlichen  Zeugniss,  eingereicht  werden. 
Das  Gericht  (Tribunal)  beruft  nun  den  Familienrath  und  hört  dessen  Ansicht, 
bevor  es  das  Verfahren  einleitet. 

Von  diesena  Familienrath  sind  übrigens  Diejenigen,  welche  die  Entmündigung 
beantragt  haben,  ausgeschlossen. 


Der  ärztliche  Sachverständige  'im  Entmündigungsverfahren.  347 

Nach  Anhörung  des  Familienraths  ist  der  zu  Entmündigende  zu  vernehmen 
vom  Richter  und  Aktuar  in  Gegenwart  des  Staatsprokurators. 

Nach  dem  ersten  Interrogatorium  kann  das  Tribunal  dem  Exploraten  einen 
vorläufigen  Tutor  bestellen ,  aber  auch  im  Fall  der  Zurückweisung  des  Antrags 
auf  vollständige  Entmündigung,  ist  das  Tribunal  befugt,  nach  Umständen  dem 
Exploraten  einen  Beistand  zu  ernennen,  ohne  dessen  Mitwirkung  Jener  gewisse, 
besonders  wichtige  Rechtshandlungen,  wie  Veräusserungen,  Aufnahmen  von  An- 
lehen  etc.  nicht  vornehmen  soll  (Art.  499  C.  civil). 

Nach  der  französischen  Civilprocessordnung  ist  die  Zuziehung  ärztlicher 
Sachverständiger  nur  fakultativ  und  der  Richter  an  deren  Gutachten  nicht  ge- 
bunden (Art.  323).  Treten  Sachverständige  auf,  so  sollen  es  8  sein,  doch  können 
sich  die  Parteien  darüber  einigen,  nur  einen  zu  nehmen. 

Die  Entmündigung  oder  Verbeiständung  tritt  vom  Tag  der  Fällung  des 
Urtheils  an  in  Kraft.  Dieses  muss  öffentlich  bekannt  gemacht  werden.  Es  ist 
binnen  10  Tagen  auszufertigen  und  auf  der  öffentlichen  Gerichtstafel,  sowie  den 
Schreibstuben  der  Notare  .des  Bezirks  anzuschlagen.  Eine  Berufung  gegen  das 
Urtheil  erster  Instanz  ist  zulässig. 

Der  Ehemann  ist  der  gesetzliche  Vormund  der  Ehefrau,  diese  kann  dazu 
ei'nannt  werden.  Niemand,  ausgenommen  Ehegatten,  Ascendenten  und  Descen- 
denten,  kann  gehalten  sein,   länger  als   10  Jahre  eine  Vormundschaft  zu  führen. 


Der    ärztliche    Sachverständige    im    Entmündigungs- 

verfahre  n. 

Die  Stellung  desselben  ist  die  gleiche  wie  im  Criminalprocess 
(vgl.  p.  20).  Die  Zuziehung  ärztlicher  Sachverständiger  in  diesem 
Process  ist  so  wenig  zu  umgehen,  als  bei  der  Frage  der  Zurechnungs- 
fähigkeit. Sie  erscheint  aber  auch  nothwendig  desshalb ,  weil  der 
Richter  persönlich  in  Gegenwart  des  Angeklagten  die  Ueberzeugung 
von  dessen  Handlungsunfähigkeit  gewinnen  soll,  im  Allgemeinen  aber 
ungeübt  und  unfähig  sein  dürfte,  geeignete  Fragen  zu  thun  und 
damit  geeignete  Antwort  zu  erhalten.  Das  Krankenexamen  nament- 
lich beim  (geisteskranken  erfordert  Uebung  und  Sachkenntniss.  Dess- 
halb fällt  auch  in  der  Regel  den  Sachverständigen  im  Termine  die 
Führung  des  Colloquium  mit  dem  Exploranden  zu. 

Wichtig  ist  die  vorgängige  Information  über  den  Zustand  des 
Kranken.  So  wenig  als  im  Criminalforum  ist  eine  Berufung  Sach- 
verständiger erst  zum  Termin  geeignet,  Klarheit  über  einen  frag- 
lichen Geisteszustand  zu  verbreiten.  Es  bedarf  hiezu  genügender 
Zeit  der  Beobachtung  und  des  genauen  Studiums  des  Vorlebens. 

Die  eigentliche  exploratorische  Aufgabe  der  Sachverständigen 
fällt  in  die  Zeit  vor  dem  Termin,  der  für  den  Arzt  nur  nach  For- 
malität   und    wesentlich    für    den   Richter    da   ist,    damit    dieser    eine 


348  Cap.  II.    Das  Entmündigungsverfaliren . 

persönliche  Anschauung  von  dem  Geisteszustand  des  ProVocaten  ge- 
winne. Das  Material  für  die  Information  bilden  die  Vorakten  und 
die  Informationsbesuche  beim  Exploranden.  Für  die  etwa  nöthige 
Ergänzung  jener  durch  Zeugenaussagen  ist  der  Richter  anzugehen. 
Die  Angaben  der  Umgebung  und  Verwandtschaft  sind  oft  partheiisch 
und  nicht  bona  fide  hinzunehmen.  Dass  negative  Zeugenaussagen 
nichts  für  Geistesintegrität  beweisen^  ist  selbstverständlich. 

Von  besonderem  Werth  ist  das  Zeugniss  des  Hausarztes,  ferner 
die  sorgfältige  Aufnahme  der  Anamnese,  die  Aufschluss  über  Gesund- 
heitsverhältnisse,  frühere  Krankheiten,  Lebensumstände,  Charakter 
und  frühere  Lebensführung  gibt.  Unerlässlich  ist  hier  eine  synthe- 
tische Beurtheilung  der  Persönlichkeit ,  die  Betrachtung  ihrer  Ge- 
sammtleistungen ,  nicht  einzelner  Akte.  Die  sorgfältige  Würdigung 
der  früheren  Handlungsweise  gibt  hier  werthvolle  Winke  „apertius 
porro  significatur  dementia  ex  civilibus  actibus*  (Zachias), 

Bei  der  veralteten  Terminologie  der  Gesetzgebung  wird  die 
richterliche  Fragestellung  auf  Wahnsinn  oder  Blödsinn  oder  darauf 
lauten,  ob  Provokat  seiner  Vernunft  gänzlich  beraubt  oder  unfähig 
sei,  die  Folgen  seiner  Handlungen  zu  überlegen.  Der  Sachverstän- 
dige wird  sich  so  gut  als  möglich  mit  diesen  Begriffen  abzufinden 
und  die  vom  Gesetz  gebotenen  Schablonen  dem  concreten  Fall  an- 
zupassen haben.  Er  wird  erklären,  dass  Explorat,  falls  er  verrückt 
oder  blödsinnig  im  Sinn  der  Wissenschaft,  „wahnsinnig",  falls  er 
wahnsinnig  oder  schwachsinnig  nach  wissenschaftlicher  Terminologie^ 
„blödsinnig"  im  Sinne  des  Gesetzbuchs ,  sei.  Vor  Allem  aber  hat 
er  sich  zu  bemühen ,  ein  klares  Bild  des  Umfangs  der  geistigen 
Funktionsstörungen  zu  liefern,  die  Unsinnigkeit  der  Zwecke  oder  der 
Mittel  oder  der  Beziehungen  beider  (Neumann  op.  cit.)  in  helles 
Licht  zu  setzen  und  damit  dem  Richter,  unbeirrt  von  aller  Termi- 
nologie ,  genügendes  Beurtheilungsmaterial  zu  bieten.  Dies  dürfte 
doch  schliesslich  der  ganze  Zweck  des  Gutachtens  sein. 

Für  den  schon  durch  Vorbesuche  informirten  Sachverständigen 
wird  die  Abgabe  des  Gutachtens  im  Termin  selbst  keine  Schwierig- 
keiten bieten,  ist  er  erst  zum  Termin  berufen  und  erst  in  diesem 
mit  dem  Provokaten  bekannt  geworden,  so  möge  er  sich  hüten  vor- 
schnell zu  urtheilen  und  erst  nach  dem  Termin  an  die  Erstattung 
eines  „motivirten"  Gutachtens  gehen. 


Rückblicke  und  Desiderata.  349 


Rückblick    auf    das    E  n  t  ni  ü  n  d  i  g  u  n  g  s  v  e  r  1'  a  h  r  e  n     in     den    v  e  r- 
s  c  li  i  e  d  e  n  e  n    L  ä  n  d  e  r  -n    und    Desiderata. 

Die  Erfahrung  lehrt,  dass  das  Entmündigungsverfahren,  wie  es 
in  den  verschiedenen  Ländern  zu  Recht  besteht,  dem  wirkHchen  Be- 
dürfniss  nicht  entspricht.  Dieser  Tadel  muss  theilweise  auch  für  die 
deutsche  Civilprocessordnung  aufrecht  erhalten  werden. 

Jenes  Verfahren  schützt  zwar  den  Staatsbürger  vor  ungerecht- 
fertigter Beraubung  seiner  bürgerlichen  Rechte,  nicht  aber  den  Geistes- 
kranken vor  Beraubung  und  materiellem  Schaden,  bevor  er  entmündigt 
ist.  Die  Rolle,  welche  der  Curator  im  Entmündigungsprocess  spielt,  ist 
nicht  sowohl  die  eines  Vermögensverwalters  als  vielmehr  die  eines 
Sachwalters  des  Kranken  im  Processverfahren  gegen  seine  bestrittene 
Handlungsfähigkeit. 

Das  processualische  Verfahren  des  Entmündigungsprocesses  ist 
ein  langsames,  schwerfälliges.  Es  dauert  oft  Monate,  bis  es  zur 
Curatel  kommt.  Inzwischen  sind  die  pecuniären  Verhältnisse  des 
Kranken  schlecht  oder  gar  nicht  gewahrt. 

Es  ist  aber  auch  kostspielig  und  umständlich  und  passt  offen- 
bar nur  auf  Fälle,  wo  die  Curatel  dauernd  oder  für  einen  längeren 
Zeitraum  wünschenswerth  ist,  nicht  für  solche,  wo  der  Erkrankte 
nur  kurze  Zeit  curatelsbedürftig  ist.  Es  hat  eine  vollständige  Hand- 
lungsunfähigkeit vor  Augen  und  führt  eventuell  eine  solche  herbei. 
Damit  steht  es  im  Widerspruch  mit  der  bürgerlichen  Gesetzgebung, 
die  verschiedene  Gradstufen  einer  Handlungsfähigkeit  zulässt  und 
mit  der  wissenschaftlichen  Erfahrung,  dass  Jemand  geisteskrank  sein 
kann  und  doch  nicht  ganz  ausser  Stand,  seine  bürgerlichen  Pflichten, 
Rechte  und  Vortheile  wahrzunehmen.  Es  gibt  nur  eine  Zurechnungs- 
fähigkeit, wohl  aber  verschiedene  Grade  der  Handlungsfähigkeit. 

Das  übliche  Entmündigungsverfahren  ist  vielfach  inhuman,  in- 
sofern die  processualische  Behandlung  des  Kranken,  die  Mittheilung 
des  Urtheils  an  denselben,  die  Veröffentlichung  desselben  in  den 
Zeitungen  schädlich  auf  seinen   Gesundheitszustand  einwirkt. 

Das  Entmündigungsverfahren  schützt  so  den  noch  nicht  ent- 
mündigten Kranken  keineswegs  vqr  finanziellem  Schaden,  die  Curatel 
kommt  vielfach  zu  spät,  indem  der  Kranke  inzwischen  wieder  gesund 
geworden  oder  finanziell  ruinirt  ist;  sie  ist  drückend  für  manche 
Kranke,  die  nicht  so  völlig  der  Vernunft  beraubt  oder  die  Folgen 
ihrer  Handlungen  zu  überlegen  unvermögend  sind,  dass  ihnen  über- 
haupt   eine  Mitwirkung  in  ihren  Angelegenheiten  abzusprechen  wäre. 


350  Cap.  IL    Das  Entmimdigimgsvei'fahren. 

Die  Entmündigung  ist  eine  Rechtswohlthat,  wenn  sie  auch  in 
der  Entziehung  der  Rechte  besteht,  aber  nur  dann  wenn  sie  recht- 
zeitig eintritt  und  die  Art  ihrer  Verhängung  dem  Zustand,  um  dessen 
willen  sie  ausgesprochen  wird,  entspricht.  Wie  überall  in  der  foren- 
sischen Paxis,  zeigt  sich  auch  hier  die  Noth wendigkeit  einer  indivi- 
dualisirenden  Behandlung  der  Fälle.  Wird  das  Criminalforum  dieser 
Forderung  durch  Zulassung  von  Milderungsgründen  gerecht,  so  muss 
die  civilistische  Praxis  dem  Bedürfniss  durch  verschiedene  Arten  resp. 
Gradstufen  der  Beschränkung  der  Handlungsfähigkeit  entsprechen. 

Der  ersteren  Forderung  eines  rechtzeitig  eintretenden  Schutzes 
bedrohter  materieller  Interessen  ist  nur  zu  genügen  durch  Ernennung 
eines  provisorischen  Curators,  sobald  die  Erkrankung  eines  Gross- 
jährigen zur  Kenntniss  der  Behörde  (Vormundschaftsbehörde)  ge- 
kommen ist,  der  letzteren  Forderung  einer  individualisirenden  Be- 
handlung des  Falls  durch  gesetzliche  Zulassung  milderer  und  ein- 
greifenderer Arten  der  Bevormundung. 

Der  frühzeitig  eintretende  Rechtsschutz  lässt  sich  nur  dadurch 
erreichen,  dass  eine  Anzeigepflicht  im  Erkrankungsfall  allen  Bethei- 
iigten  gesetzlich  obliegt,  und  dass  die  Behörde  (Vormundschaftsgericht 
in  Deutschland,  Commissioners  in  lunacj  in  England,  Tribunal  in 
Frankreich  nach  Art.  497  des  Code  Napoleon)  die  Befugniss  hat, 
durch  Verhängung  einer  provisorischen  Curatel  sofort  einzuschreiten, 
falls  sie  dies  erforderlich  findet,  beziehungsweise  der  inzwischen  Er- 
krankte nicht  in  befriedigender  Weise  für  die  Besorgung  seiner  Ver- 
mögensangelegenheiten schon  durch  Ernennung  eines  Generalbevoll- 
mächtigten gesorgt  hat.  Nachahmenswerth  für  die  einer  Irrenanstalt 
übergebenen  Kranken  ist  auch  die  diskretionäre  Gewalt,,  welche  der 
jeder  Anstalt  beigegebene  Aufsichtsrath  nach  dem  französischen  Irren- 
gesetz besitzt,  indem  eines  seiner  Mitglieder,  in  der  Regel  wird  dazu 
ein  Jurist  genommen,  fürsorglich  einstweilen  die  Interessen  des 
Kranken  vertritt. 

Die  Forderung  einer  Bemessung  der  gesetzlich  zu  treffenden 
Massregeln  nach  dem  Grad  der  Handlungsbehinderung,  wie  er  durch 
den  geistigen  Zustand  des  Betreffenden  gegeben  ist,  lässt  sich  er- 
füllen, wenn  zwischen  die  volle  Dispositionsfähigkeit  und  die  voll- 
ständige Dispositionsunfähigkeit  ein  Modus  der  bedingten  Dispositions- 
fähigkeit eingeschoben  wird,  wie  ihn  die  französische  Gesetzgebung 
(Art.  499)  in  der  Form  des  conseil  judiciaire,  der  gerichtlichen  Ver- 
beiständung, hat.  Die  Akte  des  Kranken  bedürfen  hier  der  Gegen- 
zeichnung des  gerichtlichen  Beistands,  um  gültig  zu  sein,  ein  Modus, 


Desiderata.  351 

der  sich  namentlich  gegenüber  heilbaren  und  schwachsinnigen  Per- 
sonen empfehlen  würde.  Die  Letzteren  hätten  dann  doch  wenigstens 
ein  Recht,  ihre  Wünsche  kund  zu  geben,  und  wären  gleichzeitig  vor 
Schaden  bewahrt,  den  Ersteren  wäre  nach  ihrer  Genesung  der  Schmerz 
erspart,  erfahren  zu  müssen,  dass  in  ihren  Intentionen  entgegen- 
stehender Weise  über  ihre  Habe  verfügt  wurde,  eine  Wahrnehmung, 
die  zuweilen  geradezu  Rückfälle  verschuldet. 

Auch  für  periodische  Fälle  von  Irresein,  für  die  oben  su*b  1  u.  2 
charakterisirten  Aphasischen  (wo  es  sich  immer  um  einen  vorüber- 
gehenden Zustand  handeln  dürfte)  und  die  sub  1  bezeichneten  Taub- 
stummen dürfte  diese  gerichtliche  Verbeiständung  genügen. 

Da  wo  der  Explorat  von  Kindheit  auf  blödsinnig  und  entwick- 
luugsunfähig  ist  oder  an  secundären  Zuständen  allgemeiner  Verrückt- 
heit und  Blödsinns  leidet  oder  an  schweren  Cerebralleiden  unheil- 
baren Charakters  mit  grosser  Störung  des  Bewusstseins,  wie  z.  B. 
Dementia  senilis,  apoplectica,  paraljtica,  ist  die  Entmündigung  am 
Platz,  ohne  Schaden  für  seine  Gesundheit  und  vom  grössten  privat- 
rechtlichen Vortheil  für  ihn  und  seine  Familie. 

Wird  die  Entmündigung  für  die  Fälle  reservirt,  wo  die  Hand- 
lungsunfähigkeit durch  ein  dauerndes  und  unheilbares  Hirnleiden 
bedingt  ist ,  so  entfallen  die  schädlichen  Wirkungen ,  welche  das 
processualische  Entmündigungsverfahren  und  die  Mittheilung  des  ge- 
richtlichen Erkenntnisses  auf  heilbare  Kranke  vielfach  ausübt. 

In  allen  Fällen  sollte  übrigens  der  ärztliche  Sachverständige 
vorher  über  die  Zulässigkeit  einer  gerichtlichen  Verhandlung  gehört 
werden,  wie  er  ja  auch  in  Fällen  zweifelhafter  Haft-  und  Verhand- 
lungsfähigkeit  im  Criminalforum  sein  Gutachten  abzugeben  hat. 

Statt  der  für  den  Kranken  wie  die  Familie  gleich  anstössigen 
und  vielfach  in  der  gleichen  Weise  wie  für  Verschwender  erfolgen- 
den Publikation  des  Urtheils  in  den  Amtsblättern  und  öffentlichen 
Zeitungen  wäre  möglicherweise  der  in  Frankreich  übliche  Modus 
(Art,  501  C.  civ.)  der  Publikation  des  Urtheils  durch  Anschlagung 
an  der  öffentlichen  Gerichtstafel  und  den  Schreibstuben  der  Notare 
des  Bezirks  ausreichend. 

Die  Zustellung  des  Urtheils  an  den  Entmündigten  ist  eine  leere 
Formalität  und  könnte  passender  Weise  unterbleiben  oder  an  den 
Vertreter  des  Kranken  stattfinden. 


352  Cap.  III.    Die  Aufhebung  der  Curatel. 


Cap.  III.    Die  Aufhebung  der  Curatel. 

Gesetzl.  Bestimmungen:  A.  L.-R.  Thl.  II,  Tit.  XVIII,  §.  815.  Die  Vormundschaft 
über  Rasende ,  Wahn-  und  Blödsinnige  muss  aufgehoben  werden ,  wenn 
dieselben  zum  völlig  freien  Gebrauch  der  Vernunft  wieder  gelangen. 

Deutsche  C.-P.-O.  §.  616.  Die.  Wiederaufhebung  der  Entmündigung 
erfolgt  auf  Antrag  des  Entmündigten  oder  seines  Vormunds  oder  des  Staats- 
anwalts durch  Beschluss  des  Amtsgerichts. 

§.  617  ....  Die  Bestimmungen  der  §§.  596 — 599  finden  entsprechende 
Anwendung. 

§.  619  ....  Gegen  den  Beschluss,  durch  welchen  die  Entmündigung 
aufgehoben  wird,  steht  dem  Staatsanwalt  die  sofortige  Beschwerde  zu. 

§.  620.  Wird  der  Antrag  auf  Wiederaufhebung  von  dem  Amtsgericht 
abgelehnt,  so  kann  dieselbe  im  Weg  der  Klage  beantragt  werden.  Zur 
Erhebung  der  Klage  ist  der  dem  Entmüiidigten  bestellte  Vormund  und  der 
Staatsanwalt  befugt.  Will  der  Vormund  die  Klage  nicht  erheben,  so  kann 
der  Vorsitzende  des  Processgerichts  dem  Entmündigten  einen  Rechtsanwalt 
als  Vertreter  beiordnen.  Auf  das  Verfahren  finden  die  Vorschriften  der 
§§.  606 — 615  entsprechende  Anwendung. 

Oesterr.   A.   B.  G.-B.    §.  283.      Ob    ein    Wahn-    oder    Blödsinniger    den 
Gebrauch  der  Vernunft  erhalten  habe ,  muss  aus  einer  genauen  Erforschung 
der  Umstände,  aus  einer  anhaltenden  Erfahrung  und  aus  den  Zeugnissen  der 
zur  Untersuchung  von  dem  Gericht  bestellten  Aerzte  entschieden  werden. 
Die  Norm  des  österreichischen  Wiedereinsetzungsverfahrens  ist   folgende. 
Der  Entmündigte   resp.   sein    Curator  schreitet   beim   zuständigen  Bezirks- 
gericht um  Wiedereinsetzung  in  die  bürgerlichen  Rechte  ein.    Das  Gericht  beruft 
Sachverständige  zur  Erhebung  des  Geisteszustands,  ordnet  die  Einvernahme  von 
Zeugen   an,    macht   überhaupt  Vorerhebungen,    setzt    eine  Tagsatzung  fest,    auf 
welcher  der  Entmündigte  mit  seinem  Curator,  Zeugen  etc.  vor  Gericht  erscheint 
und  explorirt  wird.    Das  Befundprotokoll  mit  Vorakten  und  Gutachten  wird  dem 
Landesgericht  zum  Richterspruch  vorgelegt. 

Code  Napoleon  art.  512.  l'interdiction  cesse  avec  les  causes  qui  l'ont 
determinee:  neanmoins,  la  mainlevee  ne  sera  prononcee  qu'en  obsei'vant  les 
formalites  prescrites  pour  parvenir  ä  l'interdiction,  et  Tinterdit  ne  pourra 
reprendre  Texercice  de  ses  droits  qu'apres  le  jugement  de  mainlevee. 

Die  Entmündigung  ist  nicht  unwiderruflich.  Sobald  die  Be- 
dingungen,  um  deren  willen  sie  eintrat,  nicht  mehr  vorhanden  sind, 
hat  sie  aufzuhören. 

Die  Aberkennung  der  bürgerlichen  Rechte  ist  aber  auf  Grund 
einer  gerichtlichen  Exploration  und  eines  gerichtlichen  Erkenntnisses 
rechtskräftig  geworden;  die  Wiedereinsetzung  in  diese  Rechte  kann 
aus  juridisch  formellen  und  logischen  Gründen  nur  durch  eine  neue 
Exploration  und  durch  richterlichen  Spruch  erfolgen. 


Aufhebung  der  Curatel.  353 

Die  Aufhebung  der  Curatel  muss  der  Natur  der  Sache  nach 
mit  derselben  Genauigkeit  und  Umständlichkeit  des  Verfahrens ,  wie 
sie  für  die  Verhängung  derselben  verfügt  sind,  erfolgen.  Die  Wieder- 
einsetzung eines  nur  scheinbar  Genesenen  in  seine  bürgerlichen  Rechte 
kann  nicht  minder  verhängnissvoll  werden  als  die  Nicht  Verfügung  der 
Curatel. 

Für  den  Sachverständigen  ist  wohl  zu  beachten,  dass  die  tech- 
nische Beurtheilung  des  Falls  entschieden  schwieriger  ist  als  im 
Entmündigungsprocess,  Es  ist  im  Allgemeinen  leichter  zu  entschei- 
den, ob  Jemand  erkrankt  ist,  als  ob  ein  psychisch  krank  Gewesener 
nun  gesund  sei,  ob  ein  Geistesschwacher,  der  Proben  seiner  Insuffi- 
cienz  abgelegt  hat,  die  gesetzlichen  Bedingungen  zur  Entmündigung 
in  sich  vereinige,  als  zu  bestimmen,  ob  ein  Solcher,  der  bisher  unter 
Curatel  stand  und  keine  Proben  genügend  freien  Gebrauchs  der  Ver- 
standeskräfte  abzulegen  Gelegenheit  hatte,  von  der  Curatel  zu  be- 
freien sei. 

Es  ist  in  diesem  Process  übrigens  wohl  zu  beachten,  dass  es 
nicht  sowohl  auf  die  völlige  geistige  Gesundheit  resp.  Genesung  im 
wissenschaftlichen  Sinne  ankommt  (viele  im  Irrenhaus  Genesene  sind 
nur  relativ  genesen,  d.  h.  mit  einer  geringfügigen  geistigen  Schwäche 
behaftet,  die  sie  aber  keineswegs  dispositionsunfähig  macht),  als  viel- 
mehr darauf,  ob  die  Gründe,  welche  die  Curatel  veranlassten,  wirk- 
lich zur  Entmündigung  ausreichend  waren  (der  Curator  erhebt  Ein- 
sprache gegen  die  verhängte  und  interimistisch  zu  Recht  bestehende 
Curatel)  oder  ob  sie  noch  fortbestehen  (absolute  oder  relative  Ge- 
nesung) oder  ob  an  die  Stelle  der  zur  Zeit  der  Entmündigung  vor- 
handen gewesenen  Gründe  nicht  neue  getreten  sind  (z.  B.  der  Wahn- 
sinn im  Sinn  des  Gesetzes,  auf  welchen  hin  früher  entmündigt  wurde, 
ist  inzwischen  in  Blödsinn  im  Sinn  des  Gesetzes  oder  umgekehrt 
übergegangen). 

Es  handelt  sich  also  bei  der  Aufhebung  der  Curatel  nicht  um 
die  Frage  der  vollen  Genesung,  sondern  um  den  Wegfall  derjenigen 
Gründe ,  welche  die  Entmündigung  veranlassten ,  positiv  um  den 
Wiederbesitz  derjenigen  Fähigkeiten  (Vernunft,  Vermögen  die  Folgen 
der  Handlungen  zu  übersehen),  deren  Mangel  gesetzlich  die  Curatel 
nöthig  machte. 

Ergibt  die  Untersuchung  im  Termin  den  Beweis ,  dass  die 
Gründe,  welche  zur  Verhängung  der  Curatel  bestimmt  haben,  nicht 
mehr  vorhanden,  auch  durch  neue  nicht  ersetzt  sind,  so  wird  die 
Curatel    durch   richterlichen  Spruch,    der    zu  veröflfentlichen  ist,    auf- 

V.  Krafft-Ebing,  gerichtl.  Psychopathologie.    2.   Auflage.  28 


354  Cap.  III.    Die  Aufhebung  der  Curatel. 

gehoben  und  vom  Tag  des  Urtbeils  an  tritt  der  Betheiligte  wieder 
in  den  Vollbesitz  seiner  bürgerlichen  Rechte. 

Die  Praxis  lehrt,  dass  nur  zu  häufig  von  der  Umgebung  wirk- 
lich noch  vorhandene  Geistesstörung  verkannt  wird  oder  dass  die  bei 
der  Aufhebung  der  Curatel  interessirten  Verwandten  den  Kranken 
als  gesund  und  handlungsfähig  hinzustellen  bemüht  sind. 

Angesichts  dieser  Thatsachen  und  der  Dissimulationsgewandt- 
heit mancher  Kranker  ist  eine  genaue  Kenntniss  der  Vorakten,  der 
Gründe,  aus  welchen  die  Entmündigung  verfügt  wurde,  des  seitheri- 
gen Krankheitsverlaufs,  wiederholte  und  gründliche  persönliche  Ex- 
ploration, ein  gewisses  Misstrauen  gegenüber  dem  Kranken  und  sei- 
ner etwa  interessirten  Umgebung  dem  Sachverständigen  dringend 
nöthig.  Zuweilen  muss  die  Sufficienz  erst  erprobt  werden  im  Con- 
takt  mit  der  Welt.  Die  Leistungsfähigkeit  im  gewohnten  Kreis  des 
häuslichen  Lebens  verbürgt  noch  nicht  die  Selbstführung  im  öffent- 
lichen Leben. 

Als  allgemeine  Kennzeichen  einer  wirklichen  Genesung  von 
Geisteskrankheit  lassen  sich  die  volle  und  offene  Anerkennung  der 
überstandenen  Krankheit  und  die  Wiederherstellung  der  alten  psy- 
chischen Persönlichkeit  mit  allen  ihren  Charaktereigenthümlichkeiten, 
Vorzügen,  Fehlern,  Neigungen  betrachten. 

Fälle  beantragter  Auf hebung  der  Curatel  s.  Henke,  Zeitschr.  1836  (secun- 
däre  Geistesschwäche.  Fälschliche  Annahme  von  Reconvalescenz).  Ibid.  XXV. 
H.  2  (ursprünglich  Hypochondrie,  später  religiöser  Wahnsinn,  schliesslich  Ver- 
rücktheit. Annahme,  dass  die  Curatel  aufzuheben  sei!).  Ibid.  XXVII.  H.  1 
(Alkoholismus  ehren.  Der  Bevormundete  führt  Klage  gegen  die  Behörde  wegen 
seiner  Bevormundung.  Sein  Nachbar  und  zwei  Aerzte  erklären  ihn  für  gesund, 
zwei  weitere  Aerzte  in  Superarbitrium  ebenfalls.     Aufhebung  der  Curatel). 

Liman,  zweifelhafte  Geisteszustände.  Fall  49.  (Ein  von  Hause 
aus  Schwachsinniger,  mit  einzelnen  Grössenwahnvorstellungen  und  zeitweise  auf- 
tretendem elementarem  Verfolgungswahn,  bürgerlich  nach  jeder  Richtung  insuffi- 
cient,  querulirt  beständig  um  Aufhebung  der  über  ihn  verhängten  Curatel.  Be- 
gründung der  bürgerlichen  Handlungsunfähigkeit.) 

Fall  50.  (Erotischer  Wahnsinn.  Entmündigung.  Aus  der  Irrenanstalt  gebessert 
entlassen.  Antrag  der  Verwandten  auf  Aufhebung  der  Curatel.  Nachweis  secun- 
dären  Schwachsinns  und  der  Unfähigkeit,  selbst  die  Angelegenheiten  zu  besorgen.) 

Fall  51.  (Verfolgungswahnsinn.  Gerichtliche  Wahnsinnigkeitserklärung. 
Besserung  in  der  Irrenanstalt.  Aeusserlich  geordnetes  Verhalten.  Antrag  der 
Angehörigen  auf  Aufhebung  der  Curatel,  unterstützt  durch  ärztliche  Zeugnisse. 
Nachweis  der  Fortdauer  der  Krankheit.) 

Fall  52,  53,  54.  (Secundäre  geistige  Schwäche  geringeren  Grades.  Nach- 
weis, dass  die  Explorirten  soweit  genesen,  dass  sie  als  blöd-  oder  wahnsinnig 
im  gesetzlichen  Sinne  nicht  zu  erachten  sind.) 


Cap.  IV.    Streitige  Dispositionslahigkeit  nicht  Entmündigter.  355 

Friedreich's  Blätter  1870 ,  H.  1  (senile  Geistesstörung.  Begründung  der 
bürgerlichen  Handlungsunfähigkeit). 

Friedreiclvs  Blätter  1869,  p.  387  (Genesung  von  Melancholie.  Aufhebung 
der  Curatel). 

Casper-Liman,  Hdb.,  Fall  250  (Periodisches  In-esein.  Lange  Intermission. 
Wiedereinsetzung  in  die  bürgerlichen  Rechte). 

Die  Gesetzgebung  und  das  Processverfahren  bei  der  Aufhebung 
der  Curatel  berücksichtigen  nur  die  allgemeine  Frage  der  wieder- 
erlangten bürgerlichen  Leistungsfähigkeit.  Neben  dieser  ergibt  sich  aber 
vielfach  die  nach  der  wiedererlangten  beruflichen  Fähigkeit  und  diese 
kann  bei  verantwortlichen  Berufsstellungen  sehr  wichtig  sein.  Mit  Recht 
macht  Schlager  (Zeitschr.  f.  Psychiatrie  XXXIII,  H.  5  u.  6)  darauf 
aufmerksam,  dass  diese  durch  .die  Entlassung  aus  der  Irrenanstalt  mit 
dem  Prädikat  „genesen"  oder  durch  die  Aufhebung  der  Curatel  nicht 
verbürgt  ist.  Die  ,,Nothwendigkeit  der  Begutachtung  wiedererlangter 
psychischer  Leistungsfähigkeit  für  bestimmte  Berufsbeschäftigung ", 
wobei  es  sehr  auf  Ursachen  der  Krankheit,  besondere  Umstände  und 
hygienische  Schädlichkeiten  der  betreffenden  Dienstleistung  ankommen 
kann,  ist  deshalb  eine  berechtigte  Forderung.  Während  bei  öffent- 
lichen Beamten,  Militärpersonen  etc.  die  vorgesetzte  Behörde  von 
deren  wiedererlangter  Dienstfähigkeit  durch  eine  Expertise  sich  zu  ver- 
lässigen pflegt,  unterbleibt  diese  Special exploration  bei  einer  Reihe 
von  privaten,  aber  darum  nicht  minder  verantwortlichen  Berufs- 
stellungen (Aerzte,  Apotheker,  Hebammen,  Eisenbahnbedienstete  u.  s.  w.). 
Schlager  weist  darauf  hin,  dass  in  dieser  Richtung  die  Gewerbegesetz- 
gebung einer  ergänzenden  Zusatzbestimmung  bedarf. 


B.    Specieller  Theil. 
Cap.  IV.    Streitige  Dispositionsfälligkeit  nicht  Entmündigter. 

Gesetzl.  Bestimmungen:  A.  L.-R.  Thl.  I,  Tit.  IV,  §.  24.  So  lange  solchen 
Personen  noch  kein  Vormund  bestellt  ist,  gilt  die  Vermuthung,  dass  sie  ihren 
Willen  bei  völliger  Verstandeskraft  geäussert  haben.  Für  den  Blödsinnigen, 
auch  wenn  dieser  noch  nicht  unter  Vormundschaft  gestellt  ist,  gilt  übrigens 
die  Vermuthung,  dass  derjenige  betrügerisch  gehandelt  habe,  welcher  durch 
dessen  Willenserklärung  mit  dem  Schaden  desselben  sich  zu  bereichern 
suchte. 


356  Cap.  IV.    streitige  Dispositionsfälligkeit  nicht  Entmündigter. 

Oesterr.  A.  B.  G.-B.  §.  310.  Personen,  die  den  Gebrauch  der  Vernunft 
nicht  haben,  sind  an  sich  unfähig,  einen  Besitz  zu  erlangen.  Sie  werden 
durch  einen  Vormund  oder  Curator  vertreten. 

§.  865.  Wer  den  Gebrauch  der  Vernunft  nicht  hat,  wie  auch  ein 
Kind  unter  7  Jahren,  ist  unfähig,  ein  Versprechen  zu  machen  oder  es  an- 
zunehmen. 

§.  191.  Untauglich  zur  Vormundschaft  sind  diejenigen,  welche  wegen 
ihres  minderjährigen  Alters,  wegen  Leibes-  oder  Geistesgebrechen  ihren 
eigenen  Geschäften  nicht  vorstehen  können. 

§.  176.  Wenn  ein  Vater  den  Gebrauch  der  Vernunft  verliert  ....  so 
kommt  die  väterliche  Gewalt  ausser  Wirksamkeit  und  es  wird  ein  Vormund 
bestellt. 

Code  Napol.  art.  503.  Die  der  Entmündigung  vorausgehenden  Akte 
können  nur  dann  für  null  und  nichtig  erklärt  werden,  wenn  die  Ursache  der 
Entmündigung    notorisch    schon   zur  Zeit  des  vorgenommenen  Akts  bestand. 

Art.  504.  Nach  dem  Tod  eines  Individuums  können  dessen  bürgerliche 
Akte  wegen  Geistesstörung  nur  dann  angefochten  werden,  wenn  vor  dem 
Absterben  die  Entmündigung  schon  erkannt  oder  nachgesucht  war  oder  der 
Beweis  der  Geistesstörung  sich  aus  der  angefochtenen  Handlung  selbst 
ergibt. 

Die  Beziehungen  des  Entmündigten  oder  Verbeistandeten  zu 
der  bürgerlichen  Gesellschaft  und  der  Civilgesetzgebung  sind  durch 
gerichtliches  Urtheil  geordnet. 

Nicht  selten  geschieht  es  aber,  dass  die  bürgerlichen  Akte  eines 
noch  nicht  Interdicirten  auf  Grund  von  behaupteter  Störung  der  Geistes- 
funktionen als  rechtsgültige  angezweifelt  werden. 

Diese  Zweifel  können  sich  beziehen: 

1)  auf  die  Verbindlichkeit,  Verträge,  Käufe,  Verkäufe,  die  zur 
Zeit  einer  angeblichen  Störung  der  Geistesfunktionen  zu  Stande 
kamen,  zu  erfüllen ; 

2)  auf  die  Fähigkeit,  eine  Ehe  einzugehen; 

3)  einem  Amt,  einem  Dienst  länger  vorzustehen,  eine  Vormund- 
schaft zu  führen,  die  eigenen  Kinder  zu  erziehen,  väterliche 
Gewalt  auszuüben  u.  s.  w. ; 

4)  gerichtliches  Zeugniss  abzulegen,  einen  Eid  zu  leisten; 

5)  für  einen  angerichteten  Schaden  Ersatz  zu  leisten; 

6)  einen  letzten  Willen  zu  errichten. 

Mit  Ausnahme  der  Testirfähigkeit ,  bezüglich  deren  besondere 
gesetzliche  Erfordernisse  bestehen,  sind  die  sub  1 — 5  aufgeführten 
bürgerlichen  Handlungen  nur  concreto  Fälle  der  Dispositionsfähigkeit 
überhaupt  und  desshalb  ganz  nach  den  im  allgemeinen  Theil  ge- 
gebenen Gesichtspunkten   und    gesetzlichen  Bestimmungen    zu  begut- 


Streitige  Dispositionstahigkeit  nicht  Entmündigter.  357 

achten  und  zu  behandeln.  Der  ganze  Unterschied  besteht  nur  darin, 
dass  hier  die  Dispositionsfähigkeit  nicht  aberkannt  ist  und  somit 
rechtlich  präsumirt  werden  muss,  bis  der  Nachweis  geliefert  ist,  dass 
die  Voraussetzungen  des  Gesetzes  zur  Vornahme  der  Entmündigung 
zur  Zeit  der  eingegangenen  Verbindlichkeit  vorhanden  waren  oder 
da,  wo  es  sich  um  die  bestrittene  Ausübung  eines  Rechts  oder  einer 
Pflicht  handelt,  die  hiezu  nöthigen  Bedingungen  nicht  gegeben  sind. 
So  lange  dieser  Nachweis  nicht  geliefert  ist ,  gilt  die  Präsumption 
der  vollen  Verfügungsfreiheit.  Derjenige,  welcher  sie  bestreitet,  hat 
den  Beweis  zu  liefern,  dass  sie  fehle.  Gelingt  aber  der  Nachweis  der 
fehlenden  Vernunft  oder  des  mangelnden  Vermögens,  die  Handlungen 
zu  übersehen  zur  Zeit  eines  bürgerlichen  Akts,  so  muss  logischerweise 
die  Verpflichtung  oder  Berechtigung  Demjenigen,  dem  dieser  Mangel 
nachgewiesen  ist,  für  dessen  Zeitdauer  abgesprochen  werden.  Der 
Wille  eines  Geistesgestörten  ist  Scheinwille. 

Die  Fälle  streitiger  Dispositionsfähigkeit  sind  äusserst  mannig- 
faltig und  betreffen  nicht  bloss  solche  von  Geistesstörung,  sondern 
auch  von  Störung  der  psychischen  Funktionen  aus  anderweitigen 
Ursachen,  z.  B.  Fieberdelirium. 

Bald  ist  es  der  inzwischen  Genesene  oder  dessen  Familie  oder 
der  Curator,  die  die  Erfüllung  lästiger  Verbindlichkeiten  auf  Grund 
behaupteter  geistiger  Unfreiheit  ablehnen,  bald  interessirte  Partheien, 
die  die  Rechtsgültigkeit  eines  Vertrags,  z.  B.  einer  geschlossenen  Ehe 
bestreiten,  oder  es  sind  Behörden,  denen  die  Belassung  eines  Be- 
amten in  einem  Amt  oder  Dienst  oder  auch  die  Zulässigkeit  einer 
Reaktivirung  fraglich  erscheint,  oder  es  handelt  sich  um  die  Gültig- 
keit von  Vollmachten,  welche  ein  allerdings  Geisteskranker  ausge- 
stellt hat,  wozu  dieser,  solange  er  nicht  entmündigt  ist,  jedoch  formell 
befähigt  erscheint. 

Bezüglich  der  Ausstellung  solcher  Vollmachten,  selbst  wenn  der 
Aussteller  schon  Pflegling  einer  Irrenanstalt  ist,  kann  die  Gültigkeit 
bloss  desshalb  an  und  für  sich  nicht  aufgehoben  sein.  Dass  der  Be- 
griff Geistesstörung  nicht  vollkommen  gleichbedeutend  mit  Handlungs- 
unfähigkeit ist,  wurde  oben  auseinandergesetzt  und  entspricht  auch 
dem  Geist  der  meisten  Civil- Gesetzgebungen.  Die  Frage  einer  solchen 
partiellen  Handlungsfähigkeit  ist  eine  concrete,  durch  ein  ärztliches 
Zeugniss  oder  Gutachten  aufzuklärende.  Der  Richter  wird  keinen 
Grund  haben,  die  Gültigkeit  einer  bürgerlichen  Handlung  eines  im 
Irrenhause  befindlichen  noch  nicht  Interdicirten  anzufechten,  falls 
die    Handlungsfähigkeit    mit   Bezug    auf   den    concreten   Akt    ärztlich 


358  Cap.  IV.    Streitige  Dispositionsfähigkeit  nicht  Entmündigter. 

erwiesen    ist    und    dem    Handelnden    durch   jenen    kein    materieller 
Schaden  erwächst. 

Die  Expertise  in  Fällen  streitiger  Dispositionsfähigkeit  hat  nicht 
selten  mit  grossen  Schwierigkeiten  zu  kämpfen,  namentlich  dann,  wenn 
der  Tod  des  Betreffenden  inzwischen  eingetreten  ist,  wenn  sich  Ver- 
dacht auf  Simulation  ergibt,  wenn  die  fragliche  Geistesstörung  eine 
kurzdauernde  war,  die  Zeugenangaben  sich  auf  solche  Personen  be- 
schränken, deren  Interesse  in  dem  Rechtsstreit  betheiligt  ist. 

Beob.  132.  Zweifelhafte  Validität  eines  Kaufvertrags.  Melan- 
cholie. Der  67jälirige  Bauer  H.  macht,  an  Melancholie  leidend,  1863  einen 
Selbstmordversuch,  wird  ein  Jahr  darauf  von  Apoplexia  cerebri  mit  nachfolgender 
Hemiplegie  befallen  und  auf  Antrag  des  Schwiegersohnes  1867  verbeistandet. 

Sein  Zustand  chara-kterisirte  sich  damals  als  linksseitige  Hemiplegie  mit 
Aphasie,  insofern  er  ganz  andere  Worte  hervorbrachte,  als  er  beabsichtigte,  und 
mit  psychischer  Schwäche,  insofern  sein  Gedäclitniss  sehr  geschwächt  war,  er 
sich  im  Geldzählen  verzählte,  die  Münzsorten  nicht  mehr  unterscheiden  konnte 
und  sehr  gemüthsschwach  war.  Da  das  Gericht  auf  klares  Bewusstsein  erkannte, 
weil  H.  mehrere  gestellte  Fragen  noch  verstehen  und  beantworten  konnte,  so 
verfügte  es  bloss  Verbeiständung  auf  Grund  von  Sinnenmangel,  d.  h.  wegen  der 
Eigenthümlichkeit,  Worte  zu  verwechseln  und  übersah  dabei,  dass  H.  seit  zwei 
Jahren  melancholisch,  d.  h.  geistesgestört  war.  H.  appellirte  und  erreichte  die 
Aufhebung  der  Verbeiständung.  Ina  September  und  Dezember  1867  schloss  nun 
H.  mit  seinem  Sohne  zweiter  Ehe  einen  Kaufvertrag  zu  Ungunsten  seiner  Tochter 
erster  Ehe,  welcher  nach  seinem  November  1868  erfolgten  Tod  auf  Grund  be- 
standener Geistesstörung  (bad.  Landr.  §.  489)  vom  Schwiegersohn  als  ungültig 
beanstandet  wurde. 

Zur  Ermittelung  der  entscheidenden  Frage,  ob  H.  bei  Abschliessung  des 
Kaufvertrags  bei  gesundem  Verstand  gewesen  sei,  lassen  sich  nur  in  den  Akten 
enthaltene  Zeugenaussagen  benutzen.  Aus  diesen  ergibt  sich  aber  klar,  dass  H. 
seit  1863  an  Melancholie  litt,  die  in  einen  psychischen  Schwächezustand  über- 
ging, auf  Grund  eines  organischen  Gehirnleidens,  das  keine  lucida  intervalla 
mehr  zuliess,  die  auch  erweislich  nicht  mehr  eintraten.  Das  Gutachten  verneinte 
daher  die  richterlich  gestellte  Frage,  ob  H.  zur  Zeit  des  Kaufvertrags  bei  gesundem 
Verstand  gewesen  sei.     (Reich,  Deutsche  Zeitschr.  f  St.-A.-Kde.  XXIX.  H.  1.) 

Beob.  133.  Zweifelhafte  Validität  eines  Kaufs.  Manie.  Ein 
31j  ähriger  Kaufmann,  früher  wiederholt  geisteskrank,  kaufte  bei  einer  öffentlichen 
Versteigerung  am  12.  April  1865  ein  Haus  um  einen  unverhältnissmässig  hohen 
Preis.  Schon  am  16.  musste  er  wieder  der  Irrenanstalt  übergeben  werden.  Die 
Angehörigen  behaupteten,  Pat.  habe  den  unsinnigen  Kauf  im  Zustand  von  Geistes- 
störung abgeschlossen  und  trugen  auf  Ungültigkeitserklärung  an._  Das  Gericht 
verlangte  den  Nachweis  der  Geistesstörung  zur  Zeit  des  Hauskaufs. 

Das  ärztliche  Gutachten  wies  nach,  dass  P.  am  12.  April  und  schon  vqrher 
an  maniakalischer  Folie  raisonnante  gelitten  habe,  ein  Zustand,  der  eine  Selbst- 
bestimmungsfähigkeit unmöglich  macht,  der  aber  bei  der  nar  formalen  Störung 
des  Vorstellens,  der  einfachen  Exaltation  der  Selbstempfindung,  dem  Fehlen  von 


Beob.  134.  135.    Streitige  Dispositionstahigkeit.  359 

Wahnideen  es  erklärlich  macht,  dass  Pat.  beim  Kauf  der  Umgebung  nur  aufgeregt, 
nicht  aber  geisteskrank  erschien.     (Ebenda  XXIX.  H.  1.) 

Beob.  134.  Angeborener  Schwachsinn,  streitige  Dispositions- 
fähigkeit. Baron  N.  lernte  in  Wien  eine  abgefeimte  Betrügerin  und  Prostituirte 
W.  kennen  und  wurde,  ohne  ihre  Antecedentien  zu  kennen,  so  von  ihr  bethört, 
dass  er  ihr  die  Ehe  versprach,  sich  von  ihr  Geld  erpressen  und  bestehlen  Hess. 
Die  W.  heuchelte  tolle  Liebe  und  Eifersucht,  brachte  ihn  ganz  in  ihre  Gewalt 
und  erpresste  von  ilim  eine  Schuldverschreibung  über  800  fl.  und  eine  Schenkungs- 
urkunde von  10,000  fl.  für  den  Fall,  dass  er  sie  nicht  heirathe.  Mühsam  gelang 
es,  den  N.,  der  sich  der  W.  gegenüber  äusserst  einfältig  und  recht  schwachsinnig 
benommen  hatte,  über  ihren  Charakter  aufzuklären  und  aus  ihren  Klauen  zu 
befreien.  Die  Klage  der  W.  auf  Erfüllung  der  Verbindlichkeiten  des  N.  führte 
zur  gerichtsärztlichen  Exploration  von  dessen  Geisteszustand,  wobei  den  Experten 
(Dr.  Haller  und  Dr.  Schlager)  die  Frage  gestellt  wurde,  ob  N.  zur  Zeit,  als  er 
das  Heirathsversprechen  gab  und  die  Schenkungsurkunde  ausstellte,  in  einem 
solchen  Geistes-  und  Gemüthszustand  sich  befand,  dass  er  von  der  W.  wissentlich 
zu  N.'s  Nachtheil  und  Schaden  missbraucht  werden  konnte. 

Das  sorgfältige  Gutachten  wies  nach:  N.  leidet  an  congenitalem  Schwach- 
sinn, der  sich  durch  Gemüthsaffekte  und  geschlechtliche  Excesse  an  Intensität 
vorübergehend  steigert  und  durch  Verwirrung  des  Gedankengangs,  Unfähigkeit, 
vernünftig  zu  urtheilen,  Unselbständigkeit  in  den  Entschlüssen  dann  besonders 
manifestirt.  Schon  das  Verhalten  des  N.  im  Umgang  und  sein  Gesichtsausdruck 
lassen  diese  Beschränktheit  und  Unselbständigkeit  seines  Geistes  erkennen. 
Dieser  Zustand  von  Schwachsinn  war  schon  zur  Zeit,  als  N.  mit  der  W.  bekannt 
wurde,  in  solcher  Form  und  Intensität  vorhanden,  dass  die  W.  ihn  erkennen 
konnte  und  musste  und,  wie  aus  Zeugenaussagen  sich  ergibt,  auch  wirklich 
erkannte.  Es  ergibt  sich,  dass  die  W.  den  N.  anfangs  durch  Schmeichelei,  dann 
durch  Drohungen,  Beschimpfungen,  Misshandlungen  vollständig  einschüchterte, 
dass  man  aus  dem  Verhalten  des  N.  entnehmen  konnte,  dass  er  sich  vor  ihr 
fürchte,  dass  die  W.  den  Schwachsinn  des  K  wissentlich  und  mit  Vorbedacht 
dahin  ausbeutete,  dass  sie  von  ihm  ein  Heirathsversprechen  erpresste  und  ihn 
unter  Benützung  seiner  Willens-  und  Geistesschwäche  dahin  brachte,  ihr  eine 
Schuldurkunde  über  800  fl.  und  eine  Schenkungsurkunde  über  10,000  fl.  auszu- 
stellen. Die  Art,  wie  diese  Handlungen  zu  Stande  kamen,  weist  mit  Bestimmtheit 
darauf,  dass  sie  im  Zustand  von  krankhaftem  Schwachsinn  und  Willensunfreiheit 
geschehen  sind  und  daher  nicht  als  rechtsverbindlich  angesehen  werden  können. 
(Blätter  f.  St.-A. -Kunde  1867,  Nr.  5—8.) 

Beob.  135.  Zweifelhafte  Dispositionsfähigkeit  eines  Sterben- 
den. Der  Bauer  W.  litt  seit  Jahren  an  einem  Herzklappenfehler,  zu  dem  als 
Terminalkrankheit  eine  Brustfellentzündung  getreten  war.  Einige  Tage  vor  seinem 
Tode,  von  seiner  Frau  dazu  gedrängt,  verkaufte  er  sein  Gut.  Das  Doi'fgericht 
nahm  eine  Punktation  auf.  Die  Verwandten  reute  hinterher  der  Verkauf,  sie 
behaupteten ,  W.  sei  zur  Zeit  desselben  nicht  mehr  dispositionsfähig  gewesen. " 
Die  Zeugenaussagen  ergeben,  dass  W.  wohl  auf  die  einzelnen  Fragen  des  Gerichts- 
schreibers richtig  Antwort  gab,  aber  meist  gleich  wieder  in  einen  somnolenten 
Zustand  verfiel  und  von  seiner  Frau  zur  Beantwortung  der  Fragen  geradezu  auf- 


360  Cap.  IV.    Streitige  Dispositionsfähigkeit  nicht  Entmündigter. 

gerüttelt  werden  miisste.  Die  Frau  stellte  ihm  die  Fragen  zudem  so  mundgerecht, 
dass  er  jeweils  nur  mit  ja  oder  nein  zu  antworten  brauchte.  Indessen  that  er 
auch  manche  Aeusserungen  und  Bemerkungen  ganz  spontan  und  zur  Sache  ge- 
hörig, manche  freilich  waren  wieder  irrig.  So  wusste  er  z.  B,  bei  der  endlichen 
Vorlesung  der  Punktation  nicht  mehr  die  Summe,  um  welche  er  sein  Gut  ver- 
kauft hatte. 

Gutachten:  W.  wusste  während  der  Handlung,  um  was  es  sich  handle, 
dennoch  ist  nicht  anzunehmen,  dass  er  dispositionsfähig  war,  denn  er  wnsste 
zwar,  um  was  es  sich  handle,  aber  er  schlummerte  dazwischen  immer  wieder  ein, 
musste  aufgerüttelt  werden,  hatte  nicht  fortwährend  Willen  und  Bewiisstsein,  das 
Gut  zu  verkaufen.  Sein  Wille  war  kein  imunterbrochen  freier.  Sein  Vermögen 
zu  urtheilen  erlitt  Unterbrechungen.  Darauf  deuten  auch  seine  Aeusserungen. 
Er  hat  stellenweise  vergessen,  um  was  es  sich  handelt,  muss  wieder  darauf  ge- 
leitet werden.  Erlitt  an  deutlicher  Gedächtnissschwäche.  So  wie  er  war,  konnte 
er  auch  nicht  mit  Aufmerksamkeit  und  Verständniss  der  Vorlesung  einer  langen 
Reihe  von  Punktationen  zuhören  und  die  einzelnen  Gedanken  alle  verfolgen. 
Seine  Gedanken  gingen  w.ährend  dieser  Zeit  unzweifelhaft  vielfach  ihren  eigenen 
Weg.  Aus  seinen  Aeusserungen  geht  hervor,  dass  er  zweimal  ganz  vergessen 
hatte,  um  was  es  sich  handle.  Es  fehlte  ihm  die  Fähigkeit,  eine  Erinnerung 
cohärent  festzuhalten. 

Die  Fähigkeit  zu  disponiren  besteht  aber  nicht  darin,  dass  man  einmal 
oder  zehnmal  im  Einzelnen  richtig  scliliessen  kann,  sondern  dass  man  eine  zu- 
sammenhängende Reihe  von  Schlüssen  zu  maciien  im  Stande  ist,  um  zu  einem 
Entschluss  zu  kommen ;  das  vermochte  W.  nicht. 

Die  einzelnen  richtigen  Urtheile  haben  die  Laien  zu  einem  unrichtigen 
Urtheil  über  den  Gesammtzustand  gebracht ;  sie  denken  sich  unter  einem  nicht 
dispositionsfähigen  Menschen  einen  solchen,  der  über  keine  Frage  richtig  ent- 
scheiden kann.  W.  war  nicht  dispositionsfähig.  (Casper,  Vierteljahrsschr.  XXII. 
p.  348.) 

Weitere  Fälle:  Liman,  zweifelhafte  Geisteszustände,  Fall  56  (fragliche 
Fähigkeit  zur  Fortführung  eines  Dienstes).  Fall  58  (Verfolgungsw^ahn  mit  psy- 
chischer Schwäche.  Dispositionsunfähigkeit  und  desshalb  aiich  zur  Erziehung  des 
Kindes). 

Casper-Liman,  Hdb.,  Fall  171  (Chron.  Alkoholismus.  Fahrlässiger  Bankerott, 
zweifelhafte,  aber  erwiesene  Dispositionsfähigkeit). 

Behier,  Ann.  d'hyg.  1871  (wegen  angeblichem  Typhusdelirium  bestrittene 
Rechtsgültigkeit  eines  Kaufvertrags,  wobei  sich  aber  der  vermeintliche  Typhus 
als  einfache  Angina  erwies). 

Tardieu,  la  folie,  Beob.  26  (Paralyse  in  Remission.  Nothwendigkeit  ge- 
richtlicher Verbeiständung).  Stelzle,  Friedreich's  Blätter  1875,  H.  5  (fragliche 
Dispositionsfähigkeit  zur  Zeit  eines  3  Monate  vor  dem  Tod  [Selbstmord]  errichteten 
Vertrags).     Casper-Liman,  Handb.,  Fall  251. 


Cap.  V.  Psychopath.  Zustände  in  Bezug  auf  Eheschliessung  u.  Scheidung.     361 


Cap.  V.    Psychopathische  Zustände  in  Bezug  auf  Ehefähigkeit 
und  Ehescheidung. 

Literatur  über  Ehefähigkeit  überhaupt:  Legrand  du  Saulle,  la  folie  p.  504. 
Taylor,  med.  jurisprud.  p.  837.     Legrand,  Gaz.  des  liöpit.  1866,  Nr.  18. 

Der  Taubstummen:  Friedreich's  Bl.  1852,  H.  5,  1855,  H.  3,  1858,  H.  6. 
Casper's  Vierteljahrsschr.  XV,  H.  1.  Meyer,  Corresp.-Bl.  f.  Psych.  4.  Jahrg. 
Nr.  13.     Deutsch,  die  Rechte  d.  Taubst.    Berlin  1853. 

Der  Epileptischen:  Echeverria,  Journal  of  mental  science  1880. 

Ueber  Ehescheidung:  Martini,  Allg.  Zeitschr.  f.  Psych.  XV,  p.  81. 
Jessen,  Geisteskrankheit  als  Ehescheidungsgrund.  Kiel  1857.  Legrand,  etude 
med.  legale  sur  la  Separation  des  ^orps,  1866.  Derselbe,  Gaz.  des  hop.  1866. 
Nr.  31,  34,  37,  40. 

Gesetz!.  Bestimmungen  zur  Ehefähigkeit:  Deutsche  Ehegesetzgebung 
§.  28.  Zur  Eheschliessung  ist  die  Einwilligung  (und  die  Ehemündigkeit)  der 
Eheschliessenden  erforderlich. 

Oesterr.  A.  B.  G.-B.  §.  47.  Einen  Ehevertrag  kann  Jedermann  schliessen, 
insofern  ihm  kein  gesetzliches  Hinderniss  im  Wege  steht. 

§.  48.  Rasende,  Wahnsinnige,  Blödsinnige  und  Unmündige  sind  ausser 
Stande,  einen  gültigen  Ehevertrag  zu  errichten. 

Code  Napol.  art.  146.  II  n'y  a  point  de  mariage  lorsqu'il  n'j  a  point 
de  consentiment. 

Die  Ehe  ist  ein  bürgerhcher  Vertrag^  dessen  Grundvoraussetzung 
der  Besitz  der  vernünftigen  Willensfreiheit  beider  Contrahenten  zur 
Zeit  der  Eingehung  ist.  Der  Wille  des  Geistesgestörten  ist  Schein- 
wille. Geistesstörung  eines  Contrahenten  zur  Zeit  der  Eheschliessung 
macht  desshalb  den  Vertrag  ungültig  ^  weil  die  vernünftige  Willens- 
freiheit und  der  davon  abhängige  Consensus  in  diesem  Zustand 
mangelte. 

Geistesstörung  kann  demnach  auch  als  Grund  der  Einsprache 
gegen  eine  zu  schliessende  Ehe  geltend  gemacht  werden.  In  Frank- 
reich (art.  173  u.  174)  kann  diese  Einsprache  jedoch  nur  unter  der 
Bedingung  angenommen  werden,  dass  der  Einsprechende  auf  die  Ent- 
mündigung anträgt  und  darüber  binnen  einer  bestimmten  Frist  Ent- 
scheidung erwirkt.  Diese  Bestimmung  hat  wohl  den  Zweck,  nichtige 
Einwände  dabei  Interessirter,  die  etwaige,  die  Verfügungsfreiheit  nicht 
beschränkende  Anomalien  des  Temperaments,  Excentricitäten  etc.  vor- 
schützen, ^zu  beseitigen  und  die  in  bestimmtem  Termin  aufgegebene 
Bewirkung  einer  Entscheidung  über  den  Antrag  auf  Interdiction  soll 
zur  Constatirung  der  Geistesstörung  überhaupt  und  eventuell  des 
Umfangs    derselben   bis   zu  dem  Grad ,    dass  dadurch  die  bürgei'liche 


362  Cap.  y.    Psychopathische  Zustände  in  Bezug 

Verfügungsfähigkeit  aufgehoben  ist^  dienen.  Dass  Ehen  in  geistes- 
krankem Zustand  geschlossen  werden,  ist  keine  Seltenheit.  Legrand 
in  seiner  ,  gerichtsärztlichen  Studie  über  die  allgem.  Paralyse  macht 
auf  die  Häufigkeit  dieses  Vorkommens  bei  den  im  Allgemeinen  heiraths- 
lustigen  und  von  spekulativen  Damen  leicht  zur  Ehe  zu  beredenden 
Paralytikern  aufmerksam. 

Die  Ehefähigkeit  Taubstummer  ist  auf  die  Fälle  zu  beschränken, 
wo  eine  hinlängliche  psychische  Entwickelung  stattgefunden  hat,  um 
einen  Vertrag  schliessen  und  die  väterliche  Pflicht  gegen  Kinder  er- 
füllen zu  können.  Eine  ärztliche  Exploration  hat  dies  im  concreten 
Fall  festzustellen.  Natürlich  ist  in  solchen  Fällen  nur  die  schriftliche 
Abgabe  des  Jaworts  oder  allenfalls  durch  Zeichensprache  unter  Zu- 
ziehung eines  vereideten  Taubstummenlehrers  möglich. 

Zu  Streitigkeiten  bezüglich  der  Geistesintegrität  zur  Zeit  einer 
Eheschliessung  führt  zuweilen  die  auf  dem  Todtenbett  (in  extremis) 
eingegangene  oder  verlangte,  sei  es  dass  die  Fähigkeit  der  vernünfti- 
gen Willensbestimmung  vom  Staatsbeamten  oder  den  interessirten 
Angehörigen  schon  vorher  bestritten  wird  oder  nachträglich  die  Be- 
theiligten die  Geistesintegrität  als  zweifelhaft  hinstellen.  Das  im 
Capitel  Delirium  und  Testirfähigkeit  Mitgetheilte  dürfte  zur  Beur- 
theilung  solcher  Fälle  verwerthbar  sein.  §.  86  der  österreichischen, 
§.  50  der  deutschen  Ehegesetzgebung  nehmen  auf  diese  Eheschlies- 
sung ohne  vor  gängiges  Aufgebot  Bedacht. 

Geistesstörung  kann  auch  Grund  von  Ehescheidung  werden. 
Schon  bei  den  Römern  war  sie  es,  aber  es  kam  auf  den  Grad  der 
Geistesstörung  an  und  der  Ehemann  musste  der  Ehefrau,  wenn  die 
Ehe  desshalb  getrennt  wurde,  den  nöthigen  Lebensunterhalt  gewähren. 
Die  französische  und  österreichische  Gesetzgebung  lassen  Geisteskrank- 
heit als  Ehescheidungsgrund  nicht  zu,  wohl  aber  die  preussische. 
Nach  §.  698  des  preuss.  Civilrechts  kann  Wahnsinn,  wenn  er  unheil- 
bar ist  und  schon  ein  Jahr  gedauert  hat,  nicht  aber  Blödsinn  (im 
Sinne  des  Gesetzbuchs)  Ehescheidungsgrund  sein  ^). 

Diese  gesetzliche  Bestimmung  gibt  dem  Sachverständigen  An- 
lass  zur  Beantwortung  zweier  schwieriger  Fragen: 

1.  Zur  Bestimmung  der  Heilbarkeit.  Die  Stellung  der  Prognose 
in  Fällen  psychischer  Krankheit  gehört,  Fälle  von  secundärer  Geistes- 
schwäche und  paralytischen  Blödsinn  abgerechnet,  zu  den  schwierig- 


0  Vgl.  Casper-Liman,  Handb.  p.  404.    Die.  bezügl.  Grundsätze  des  Berliner 

Stadtgerichts. 


auf  Ehetahigkeit  und  Ehescheidung.     BeoVj.  186.  363 

sten  Aufgaben.  Lässt  sich  die  Prognose  nicht  mit  absoluter  Sicher- 
heit geben,  so  spreche  man  sie  „nach  den  bisherigen  wissenschaft- 
lichen Erfahrungen"  aus.  Es  mag  dann  Sache  des  Richters  sein, 
ob  er  sich  mit  einer  Unheilbarkeitswahrscheinlichkeit  begnügen  will 
oder  nicht. 

2.  Zur  Bestimmung  der  Zeitdauer  der  Krankheit.  Auch  hier 
können  sich  Schwierigkeiten  ergeben,  namentlich  in  periodischen 
Fällen,  wo  die  Periodicität  nicht  klar  erkannt  wurde  und  es  über- 
haupt streitig  ist,  ob  die  Krankheit  auch  im  „freien''  Zwischenraum 
als  fortbestehend  anzusehen  ist.  Ein  solcher  Fall  lag  dem  Verfasser 
zur  Begutachtung  vor.  Eine  Frau  im  Grosshzth.  Baden,  wo  eine  drei- 
jährige Krankheitsdauer  vom  Gesetz  (Landr,  §.  232  a  und  Eheordnung 
§.  43  i)  zur  Ehescheidung  gefordert  wird,  war  vom  ersten  Krankheits- 
anfall scheinbar  genesen  und  vom  Arzt  für  gesund  erklärt  worden. 
Die  Beobachtung  späterer  Anfälle  ergab  ein  periodisches  Irresein  mit 
nicht  reinen  Intervallen.  Es  gelang  nachzuweisen,  dass  schon  im 
ersten  Symptome  der  Krankheit  vorhanden  waren.  Wären  die  ein- 
zelnen Anfälle  Recidive  des  Leidens  gewesen,  so  wäre  die  gesetzliche 
Dauer  der  übrigens  unheilbaren  Psychose  noch  lange  nicht  erfüllt 
gewesen.  So  aber  gelang  der  Nachweis ,  dass  schon  vom  ersten 
Paroxjsmus  an  seit  über  drei  Jahren  die  Krankheit  continuirlich  ge- 
dauert hatte  und  nur  zeitweise  mehr  oder  weniger  latent  geworden 
war.  Die  Ehescheidungsprovocation  hatte  demnach  ein  günstiges 
Resultat. 

Beob.  136.  Zweifelhafter  Geisteszustand  einer  hirnkranken 
Frau,  die  eine  Ehe  eingehen  will.  Frau  W.  litt  seit  mehr  als  einem  Jahr 
an  Diabetes  mit  doppelseitigem  Cataract.  Dieser  wurde  operirt.  Am  Tage  nach 
der  Operation  empfand  sie  in  der  linken  Körperhälfte  ein  Gefühl  von  Einge- 
schlafensein ;  dazu  kam  Ameisenkriechen ,  Gefühl  von  Nadelstichen ,  Kälte, 
Benommensein  im  Kopf,  Schwindel,  Schlaflosigkeit.  Am  4.  Oktober  erfolgte 
linksseitige  Hemiplegie  mit  Delirium ,  das  ihre  Aufnahme  in  der  Irrenanstalt 
Charenton  nöthig  machte. 

Sie  war  dort  vom  14.  Oktober  bis  11.  November  1873,  kam  dann  in  eine 
Privatheilanstalt.  Ihr  Zustand  besserte  sich  bedeutend.  Ein  Herr  G. ,  der  eine 
Tochter  von  ihr  hatte  und  diese  legitimiren  wollte,  beschloss  Frau  W.  zu  heirathen. 
Die  Frage,  welche  dem  Experten  gestellt  war,  lautete:  „Gefährdet  die  Hirnki'ank- 
heit,  an  welcher  Frau  W.  leidet,  ihr  Leben,  ohne  dass  zugleich  die  Geistes- 
funktionen gestört  sind?" 

Frau  W.  ist  62  Jahre  alt,  leidet  an  linksseitiger  Hemiplegie  nach  einem 
apoplektischen  Insult.  Ihr  Leben  ist  dadurch  gerade  nicht  in  Gefahr,  jedoch 
kann  jeden  Augenblick  ein  neuer  Insult  demselben  ein  Ende  machen.  Sie  leidet 
an   einem  Zustand    psj'chischer  Schwäche,   ist   sich   aber   wohl    bewusst   der  Be- 


364  Cap.  V.    Ps_ycliopathisclie  Zustände  in  Bezug  auf  Ehefähigkeit. 

deutung  und  des  Zwecks  ihrer  projektirten  Heirath.  Sie  erscheint  im  Besitz  der- 
jenigen Geistesfähigkeiten,  welche  nöthig  sind,  um  eine  Ehe  einzugehen.  (Annal. 
med.  psychol.  Mai  1874.) 

Beob.  137.  Fragliche  Gültigkeit  einer  in  extremis  geschlosse- 
nen Ehe.  H.  hatte  mit  seiner  früheren  Geliebten  auf  dem  Sterbebette  eine 
Ehe  eingegangen,  deren  Gültigkeit  nachträglich  von  den  Verwandten  auf  Grund 
der  tödtlichen  Hirnkrankheit,  an  welcher  H.  gelitten  hatte,  bestritten  wurde. 
Die  DDr.  Tardieu  und  Lasegue  hatten  ihr  Gutachten  abzugeben.  H.  hatte  vor 
langen  Jahren  einen  Anfall  von  Manie  in  einer  Privatirrenanstalt  durchgemacht, 
sich  aber  vollkommen  wieder  erholt.  In  den  letzten  Jahren  hatte  er  an  immer 
mehr  sich  steigerndem  Gichtleiden  gelitten. 

Am  15.  December  Abends  fühlte  er  sich  unwohl,  seine  Physiognomie 
erschien  verändert.  Am  16.  wurde  Facialislähmung  iind  Sprachstörung  constatirt. 
Nachmittags  liegt  Patient  in  einem  Zustand  von  Prostration  und  allgemeiner 
Resolution.  Die  Motilität  und  Sensibilität  ist  vermindert,  es  besteht  Strabismus 
diverg.  bulb.  sinist.  Er  ist  ganz  indifferent,  reagirt  nicht  auf  das,  was  um  ihn 
vorgeht.  In  diesem  Zustand  körperlicher  und  psychischer  Prostration  sind  ihm 
nur  einzelne  abgebrochene  Worte  entlockbar.  Am  frühen  Morgen  des  17.  gesellt 
sich  Blasenlähmung  hinzu,  die  Apathie  wird  grösser.  In  diesem  Zustand  wird  er 
von  den  Aerzten  gesehen.  Um  8  Uhr  findet  die  Trauung  statt,  um  11  Uhr  stirbt 
H.,  im  Zustand  allgemeiner  Erschöpfung  und  Lähmung. 

Ueber  den  Zustand,  in  welchem  sich  H.  bei  der  Trauung  befand,  fehlen 
ärztliche  Angaben.  Die  Zeugen  geben  an,  er  habe  mit  dem  Kopfe  genickt,  als 
der  Priester  ihn  um  seine  Einwilligung  fragte  und  „ja"  gesagt. 

Das  Gutachten  wies  trotz  der  dürftigen  Notizen  nach ,  dass  H.  an  einer 
Gehirnkrankheit  litt,  zur  Zeit  der  Trauung  sich  in  einem  halbcomatösen  Zustand 
befand,  aus  dem  er  zwar  momentan  durch  eine  energische  Anrede  zu  einem 
relativ  bewussten  Zustand  und  zu  einer  Antwort  gebracht  werden  konnte,  durch- 
aus aber  kein  klares  Bewusstsein  der  Aussenwelt  und  der  Bedeutung  seiner 
Worte  hatte.  Jedenfalls  war  er  nicht  im  Stande,  die  Bedeutung  des  Aktes  zu 
erfassen,  geschweige  sich  für  ja  oder  nein  zu  entscheiden.  Die  Gerichtshöfe  er- 
klärten auf  Grund  des  Art.  146  (code  civ.  francais)  den  geschlossenen  Akt  für 
null  und  nichtig.     (Tardieu,  la  folie  p.  251.) 

Beob.  138.  Trauung  im  Prodromalstadium  eines  Anfalls  von 
epileptischem  transit.  Irresein.  üngültigkeitserkläru-ng  der  Ehe. 
Franz  L.,  20  Jahre,  Schuster,  war  seit  vielen  Jahren,  in  Folge  eines  Sturzes  auf 
dem  Eis,  epileptisch.  Die  Anfälle,  welche  ursprünglich  nur  von  geringfügigen 
Störungen  gefolgt  waren,  wurden  heftiger  und  von  epileptischer  Manie  begleitet. 
Am  26.  Oktober  1841  gedachte  er  sich  zu  verheirathen.  Am  24.  stellte  sich 
heftiger  Kopfschmerz  ein,  so  dass  er  selbst  befürchtete,  wieder  einen  Anfall  seiner 
Krankheit  zu  bekommen.  Am  26.,  einige  Stunden  vor  der  Hochzeit,  Hess  er  sich 
zur  Ader,  ohne  dass  der  Kopfschmerz  darauf  nachliess.  Während  der  Trauung 
war  er  niedergeschlagen,  scliweigsam  und  sprach  nur  sein  ..Ja".  Als  er  aus  der 
Kirche  kam,  steigerte  sich  der  Kopfschmerz  so  sehr,  dass  er,  zu  Hause  ange- 
kommen, sich  zu  Bett  legen  musste.  Er  bekam  einen  Anfall  epileptischer  Manie, 
rannte  nackt  in  den  Speisesaal,  griff  die  erschreckte  Gesellschaft  an,  schrie,  dass 


1 


Cap.  VI.    Schadenersatzpflicht  Geisteskranker.  365 

er   sie   tödten   wolle,    bemächtigte   sich   eines  Schusfeerkneifs   und   tödtete  seinen 
Schwiegervater,  der  ihm  gerade  in  den  Weg  kam. 

Nach  drei  Tagen  kam  er  wieder  zu  sich.  Er  konnte  sich  nur  noch  des 
Moments  der  Trauung  erinnern,  nicht  aber  dessen,  was  darauf  folgte.  Auf  das 
Ansuchen  der  Betheiligten  erfolgte  durch  richterlichen  Urtheilsspruch  die  Un- 
gültigkeitserklärung der  Ehe ,  da  der  Kranke  während  der  Trauung  nicht  völlig 
bei  Verstand  gewesen  sei.     (Journal  of  insanity,  t.  IL,  p.  186.) 

Weitere  Fälle  s.  Legrand ,  la  folie  p.  567  (Wahnsinn ,  Ungültigkeits- 
erklärung der  zur  Zeit  dieses  Zustands  geschlossenen  Ehe).  Derselbe,  Gaz.  des 
hopit.  1866,  Nr.  18  (Einsprache  des  Arztes  gegen  die  von  einem  paralytischen 
Geisteskranken  geschlossene  Ehe).     Med.  Gaz.  volum.  VIII,  p.  481. 

Henke,  Zeitschr.,  32.  u.  33.  Ergänz. -H.  (Fälle  streitiger  Ehefähigkeit  Taub- 
stummer.) Hecker ,  Irrenfreund  1876,  Nr.  70  (secundäre  Geistesschwäche  der 
Ehefrau.     Klage  des  Mannes  auf  Scheidung). 


Cap.  VI.     Schadenersatzpflicht  Geisteskranker. 

Der  Geisteskranke  ist  seiner  freien  Willensbestimmung  verlustig. 
Wie  er  für  seine  strafbaren  Handlungen  desshalb  criminell  oder  poli- 
zeilich nicht  verantwortlich  gemacht  wird^  so  kann  er  auch  civil- 
rechtlich  für  den  einem  Andern  oder  einem  Objekt  zugefügten  Scha- 
den nicht  belangt  werden.  Die  Handlung  ist  gemeinrechtlich  ein- 
fach als  eine  casuelle  anzusehen.  Sie  kann  aber  den  Charakter  einer, 
fahrlässigen^  und  darum  civilrechtlich  zuzurechnenden  bekommen, 
wenn  Jemand  durch  eigenes  Verschulden  sich  in  einen  unfreien  Zu- 
stand versetzte,  z.  B.  durch  Berauschung.  Nach  §.  130  b  des  öster- 
reichischen A.  B.  Gr.-B.  ist  Jemand  den  Schaden,  welchen  er  ohne 
Verschulden  oder  durch  eine  unwillkürliche  Handlung  verursacht  hat, 
in  der  Regel  zu  ersetzen  nicht  schuldig,  wohl  aber  (§.  1307)  wenn 
er  aus  eigenem  Verschulden  in  einen  vorübergehenden  Zustand  der 
Sinnesverwirrung  sich  versetzt  hat. 

Das  preuss.  A.  L.-R.  Thl.  I.  Tit  VI,  §.  41  bestimmt,  dass  wenn 
Wahn-  oder  Blödsinnige  (oder  Kinder  unter  7  Jahren)  Jemand  be- 
schädigen, nur  der  Ersatz  des  unmittelbaren  Schadens  aus  ihrem 
Vermögen  gefordert  werden  kann.  Doch  haftet  nach  §.  43  dasselbe 
nur  insoweit,  als  dem  Beschädiger  dadurch  der  nöthige  Unterhalt  und 
wenn  es  ein  Kind  ist,  die  Mittel  zur  standesgemässen  Erziehung  nicht 
entzogen  werden. 

Ausserdem  kann  der  Beschädigte  nach  §.  49,  womit  der  §.  1308 
des  österr.  Gesetzbuchs  fast  identisch  ist,  sich  nicht  an  das  Vermögen  des 
Beschädigers  halten,  wenn  er  dergleichen  Personen  durch  sein  eigenes 


366  "  Cap.  VII.    Zeugnissfähigkeit 

wenn  auch  nur  geringes  Versehen  zu  der  schädlichen  Handkmg  ver- 
anlasst hat.  Nicht  selten  geschieht  es^  dass  Geisteskranke  (oder  auch 
Kinder)  von  Anderen  als  Werkzeug  zu  einem  Verbrechen  oder  zu 
einer  schädlichen  Handlung  missbraueht  werden.  Wie  criminell  hier 
die  Strafe  den  intellektuellen  Urheber  trifft,  so  hat  er  auch  civilrecht- 
lich  für  den  von  ihm  verursachten  Schaden  aufzukommen. 

Ist  auch  die  Haftpflicht  des  Geisteskranken  nicht  vorhanden 
oder  beschränkt,  so  kann  der  Beschädigte  sich  jedoch  an  das  Ver- 
mögen Derjenigen  halten,  die  gesetzlich  zur  Aufsicht  über  den  Kranken 
verpflichtet  sind  (Eltern,  Vormünder,  Vorsteher  von  Irrenanstalten  etc.), 
falls  diesen  eine  gröbliche  oder  nur  massige  Verletzung  dieser  Pflicht 
und  der  erfolgte  Sehaden  als  die  direkte  Folge  dieser  Pflichtverletzung 
nachgewiesen  werden  kann.  (A.  L.-R.  Thl.  I,  Tit.  VI,  §.  57 ;  österr. 
A.  B.  G.-B.  §.  1309.)  Die  Herstellung  dieses  Thatbestands  dürfte 
mitunter  schwierig  sein.  Andrerseits  hat  auch  der  Geisteskranke  da, 
wo  gesetzliche  Verpflichtungen  für  die  Angehörigen  oder  sonstigen 
Pfleger  zur  Anzeige  der  Erkrankung  resp.  Provokation  der  Ent- 
mündigung bestehen,  ein  Rückhaltsrecht  an  diesen,  falls  ihm  durch 
die  unterlassene  Benachrichtigung  der  Gerichte  und  damit  unmög- 
liche Ergreifung  rechtlicher  Massregeln  zu  einem  Schutz  ein  Schaden 
erwachsen  ist. 


Cap.  VII.    Zeugnissfähigkeit  in  psychopathischen  Zuständen. 

Gesetzl.  Bestimmungen:  Deutsche  C.-P.-O.  §.  358  (St.-P.-O.  §.  56).  Unbeeidigt, 
sind  zu  vernehmen  Personen,  welche  zur  Zeit  der  Vernehmung  das  16.  Lebens- 
jalir  noch  nicht  vollendet  oder  wegen  mangelnder  Verstandesreife  oder  wegen 
Verstandesschwäche  von  dem  Wesen  und  der  Bedeutung  des  Eides  keine 
genügende  Vorstellung  haben. 

Gerichtverfassungsgesetz  §.  188.  Zur  Verhandlung  mit  tauben  oder 
stummen  Personen  ist,  sofern  nicht  eine  schriftliche  Verständigung  erfolgt, 
eine  Person  als  Dolmetscher  zuzuziehen,  mit  deren  Hilfe  die  Verständigung 
in  anderer  Weise  erfolgen  kann.     St.-P.-O.  §.  63  (Eidesleistung  Stummer). 

Oesterr.  St.-P.-O.  §.  151,  170,  164,  171.  Diejenigen  Personen  sind  nicht 
als  Zeugen  abzuhören,  welche  zur  Zeit,  als  sie  das  Zeugniss  ablegen  sollen, 
wegen  Leibes-  oder  Gemüthsbeschaffenheit  ausser  Stande  sind,  die  Wahrheit 
anzugeben;  Diejenigen,  welche  an  einer  erheblichen  Schwäche  des  Wahr- 
nehmungs-  oder  Erinnerungsvermögens  leiden,  dürfen  nicht  beeidigt  werden. 

Ein  Geisteskranker  kann  kein  vollgültiger  Zeuge  vor  Gericht 
sein ,  jedenfalls  ist  er  wegen  des  mangelnden  Judicium  in  jurante 
nicht  eidesfähig. 


in  psj-chopathischen  Zuständen.  367 

Die  Unfähigkeit,  ein  vollgültiger  Zeuge  zu  sein,  wird  dem  Irren 
auch  im  Zustand  des  lue.  interv.  zugeschrieben.  Diese  Anschauung 
vertritt  schon  das  römische  Recht,  das  den  Irren  im  lue.  interv.  w^ohl 
als  Zeugen  bei  der  Errichtung  von  Testamenten  z.  B.,  nicht  aber 
als  vollgültigen  gerichtlichen  Beweiszeugen  anerkennt. 

Trotz  der  legislatorischen  Bedenken,  welche  der  Einvernahme 
eines  Irren  als  gerichtlicher  Zeuge  gegenüberstehen ,  können  Fälle 
vorkommen,  wo  diese  Einvernahme  nützlich  und  nothwendig  ist,  z.  B. 
da,  wo  ein  Irrenwärter  der  Körperverletzung  eines  ihm  anvertrauten 
Kranken  beschuldigt  ist  und  die  einzigen  Zeugen  des  fraglichen  Ver- 
brechens Kranke  sind,  oder  ein  Irrer  der  einzige  Augenzeuge  eines 
Verbrechens  überhaupt  war. 

Dass  im  neueren ,  auf  Indicienbeweis  gegründeten  Beweisverfahren  ein 
solches  Zeugniss  von  Bedeutung  sein  kann,  beweist  ein  im  Journ.  of  psycho!, 
med.  1851  p.  279  und  436  mitgetheilter  Fall,  wo  ein  Mann,  der  zwar  wahnsinnig 
war  und  mit  Geistern  im  Verkehr  zu  stehen  glaubte ,  als  einziger  Augenzeuge 
einer  Mordthat  eine  so  gute  und  klare  Darstellung  des  vor  seinen  Augen  ge- 
schehenen Verbrechens  gab ,  dass  wesentlich  auf  dieses  Zeugniss  hin  die  Jury 
sich  veranlasst  sah ,  den  Mörder  zu  verurtheilen.  In  einem  ähnlichen  Process, 
den  die  Annal.  med.  psj^chol.  VII,  p.  285  mittheilten ,  war  ein  isolirt  lebender 
Geisteskranker  in  seiner  Wohnung  von  vier  Strolchen  beraubt  und  misshandelt 
worden.  Seine  den  Stempel  innerer  Wahrheit  an  sich  tragende  Schilderung  des 
Thatbestands  trug  wesentlich  zur  Verurtheilung  jener  bei. 

Bemerkenswerth  ist  folgender  im  Journal  of  mental  science  1870,  april, 
p.  120  mitgetheilter  Fall.  Ein  Geisteskranker  war  von  seinem  Wärter  misshandelt 
worden  und  an  den  Folgen  der  Misshandlung  (Rippenbruch  mit  folgender  Pleuritis) 
gestorben.  Der  einzige  Zeuge  dieser  Miss'handlung  war  ein  anderer  Geisteskranker 
gewesen.  Dieser,  seit  zwei  Monaten  Convalescent ,  hatte  an  Melancholie  mit 
Hallucinationen  gelitten  und  war  noch  zeitweise  von  Stimnienhören  geplagt. 
Seine  Aussagen  vor  Gericht  waren  so  correkt  und  glaubwürdig,  dass  trotz  der 
Einsprache  des  Vertheidigers  die  Jury  das  Zeugniss  als  ein  vollgültiges  (!)  an-, 
erkannte  und  den  Krankenwärter  verurtheilte. 

Die  Fähigkeit  eines  Irren,  Zeugniss  zu  geben,  d.  h.  über  That- 
sachen,  die  er  mit  seinen  Sinnen  wahrgenommen  hat ,  gerichtlich 
auszusagen,  kann  an  und  für  sich  nicht  geläugnet  werden,  nur  ist 
sie  eine  Frage  des  concreten  Falls,  über  die  ein  Gerichtsbeschluss 
auf  Grund  eines  vorgängigen  sachverständigen  Gutachtens  zu  ent- 
scheiden hat. 

Soweit  die  Sinnesapperception  eines  Irren  nicht  durch  subjek- 
tive Sinneswahrnehmungen  oder  Wahnideen  gestört,  das  Gedächtniss 
nicht  an  der  treuen  Reproduktion  der  aufgenommenen  Eindrücke  ge- 
hindert  ist,    muss  die  Abhörung  eines  Irren  zulässig  sein.     Ihn  aber 


368  Cap.  VII.    Zeiignissialiigkeit  in  psychopathisclien  Zuständen. 

als  vollgültigen  Zeugen  anzuerkennen^  kann  nicht  statthaft  sein,  schon 
abgesehen  von  der  maugelnden  Eidesfähigkeit,  weil  Wahnideen  ver- 
heimlicht, Illusionen  und  Gedächtnissschwäche  übersehen  werden  kön- 
nen. Namentlich  gilt  dies  für  jene  eigenthümliche  Störung  in  der 
Reproduktionstreue,  wie  sie  bei  gewissen  psychischen  Schwächezu- 
ständen (moral  insanitj)  vorkommt  und  eine  ganz  entstellte  Auf- 
fassung von  Erlebnissen  herbeiführt,  ohne  dass  aber  der  Betreffende 
sich  dieser  Entstellung  bewusst  wäre. 

Der  Schwerpunkt  bezüglich  der  Glaubwürdigkeit  eines  geistes- 
kranken Zeugen  wird  wesentlich  in  der  Art  und  Weise  seiner  Dar- 
stellung des  Sachverhalts,  der  inneren  Uebereinstimmung  der  von  ihm 
deponirten  Thatsachen  liegen  und  davon  die  innere  Ueberzeugung  der 
Richter  und  Geschworenen  abhängen. 

Auch  die  Glaubwürdigkeit  der  Schwachsinnigen  muss  mit  Vor- 
sicht beurtheilt  werden.  Wenn  auch  hier  keine  Wahnideen  und 
Sinnestäuschungen  die  Aufnahme  der  Eindrücke  der  Aussenwelt 
stören,  so  ist  diese  an  und  für  sich  lückenhaft  und  in  Affekten  viel- 
fach ganz  unzuverlässig.  Dazu  kommt  aber,  dass  solche  Individuen 
zudem  wegen  ihrer  sittlichen  und  intellektuellen  Schwäche  durch 
die  Autorität  Anderer  bestimmbar  und  durch  Einschüchterung  oder 
Drohung  zur  Abgabe  falschen  Zeugnisses  verleitbar  sind. 

Die  Zeugnissfähigkeit  Taubstummer  ist  auf  die  Fälle  einzu- 
schränken, wo  eine  genügende  geistige  Ausbildung  erreicht  wurde, 
und  ein  schriftlicher  Verkehr  mit  dem  Betreffenden  möglich  ist.  Der 
Stand  der  ersteren  muss  durch  Gerichtsarzt  und  Taubstummenlehrer 
ermittelt  sein. 

Ist  der  eventuelle  Zeuge  nicht  bloss  im  Stande,  sinnliche  concrete 
Dinge,  die  ausser  den  Bereich  seines  Sinnenmangels  fallen,  aufzu- 
fassen und  zu  reproduciren,  sondern  auch  der  rechtlichen  und  mora- 
lischen Bedeutung  eines  Eides  sich  bewusst,  so  kann  er  als  voll- 
gültiger Zeuge  angesehen  werden. 

Fälle  zweifelhafter  Zeugnissfähigkeit  Taabstummer:  Casper-Liman,  Handb. 
Fall  304  (taubstummes  Ehepaar  auf  Zeugnissfähigkeit  untersucht) ;  s.  f.  Marc- 
Ideler  I,  p.  316  u.  322.     Beck,  elements  of  med.  jurisprud.  p.  515. 

Nie  sollte  die  gerichtliche  Vernehmung  eines  Irren  den  Charakter 
einer  feierlichen  Gerichtshaudlung ,  sondern  vielmehr  den  einer  ein- 
fachen, nach  Umständen  wiederholten  Conversation  besitzen,  sonst 
besteht  die  Gefahr,  dass  die  Krauken  verwirrt  und  befangen  werden 
und  der  Zweck  vereitelt  wird. 


Cap.  Vlll.    Testirlahigkeit.  369 

Nicht  selten  werden  zum  Tod  Verletzte  eidlich  oder  nicht  eid- 
lich bezüglich  des  Thatbestands  eines  an  ihnen  begangenen  Ver- 
brechens gerichtlich  vernommen  oder  gerichtliche  Bekenntnisse  reu- 
müthiger  Sünder  auf  dem  Todtenbett  entgegen  genommen.  Bei  dem 
Umstand,  dass  Delirium  und  sonstige  psychische  Störungen  hier  im 
Spiel  resp.  Motive  von  Bekenntnissen  sein  können,  ist  die  Beachtung 
des  psychischen  Zustands  des  Deponenten  von  Seiten  der  Gerichts- 
behörde nicht  zu  vernachlässigen. 

Fälle  fraglicher  Zeugnisslahigkeit  vor  Gericht:  Taylor,  med.  jurispr.  p.  829. 
Liman ,  zweifelhafte  'Geisteszustände ,  Fall  57  (zweifelhafte  Eidesfähigkeit  bei 
apoplekt.  Blödsinn). 

Bepb.  139.  Zeugnissfähigkeit  eines  Schwachsinnigen.  Am  8.  Mai 
wurde  die  Leiche  des  Pfarrers  im  Fluss  gefunden.  Alle  Umstände  deuteten  auf 
einen  Unglücksfall.  18  Jahre  darauf  äusserte  sich  der  schwachsinnige  S.,  er  habe 
mit  dem  Schullehrer  0.  den  Pfarrer  ertränkt.  Es  kam  zur  Untersuchung.  0. 
läugnete  und  erklärte,  S.  sei  ein  Narr,  der  keinen  Glauben  verdiene. 

S.  wurde  nun  bezüglich  seiner  Glaubwürdigkeit  und  Zurechnungsfähigkeit 
gerichtsärztlich  untersucht.  Das  Gutachten  erklärte,  S.  sei  schwachsinnig,  bei 
der  Verübung  des  Mords  nur  als  Werkzeug  von  dem  Schullehrer  gebraucht 
worden  (er  musste  nämlich  den  Kopf  des  Geistlichen  im  Wasser  niederhalten) 
und  nicht  zurechnungsfähig,  wohl  aber  ein  ganz  glaubwürdiger  Zeuge. 

S.  50  Jahre  alt,  ist  gutmüthig,  simpelhaft,  schwerhörig,  stotternd,  sein 
Gedächtniss  gut,  sein  Denken  schwerfällig.  Ueber  den  Hergang  des  Mords  machte 
er  immer  dieselben  detaillirten  Angaben,  aus  denen  Jiervorgeht,  dass  er  nur  ein 
Werkzeug  in  der  Hand  des  Lehrers  war.  Er  habe  gemeint,  was  der  Herr  schaffe, 
müsse  auch  der  Knecht  schaffen.  Das  Bewusstsein  des  Unrechtmässigen  seiner 
Handlung  kam  ihm  nie.  Einer  boshaften  Anschuldigung  des  0.  ist  S.  nicht  für 
fähig  zu  erachten.     (Oesterr.  med.  Jahrb.  1845,  Mai.) 


Cap.  VIII.     TestirfäMgkeit. 

Literatur.  Marc-Ideler  II,  p.  497.  Wald,  gerichtl.  Psychol.  p.  123.  Legrand, 
Annales  d'hygiene  1868,  Juli.  Friedreich's  Blätter  1853,  H.  3.  Beck,  Cle- 
ments of  med.  jurisprud.  p.  499.  Cäsper,  klin.  Novellen,  p.  235.  Livi, 
Consultazione  medico-legale.  Firenze  1870.  Legrand  du  SauUe,  etude  med. 
legale  sur  les  testam.  Paris  1879.  Ziino,  Rivista  sperim.  1876.  Fascic.  3 — 4. 
Grilli  ebenda,  Januar. 

Zu  den  wichtigsten  und  folgenschwersten  bürgerlichen  Hand- 
lungen gehört  die  Errichtung  eines  letzten  Willens.  Entsprechend 
der  Bedeutung  eines  solchen  Akts  fordert  das  Gesetz  die  genaue 
Beobachtung  gewisser  Formen,    von  denen  die  Nichteinhaltung  eines 

V.  Krafft-Ebing,  gerichtl.  Psycliopatliologie.    2.  Aiiflage.  24 


370  Cap.  VIII.    Testirfähigkeit.    Gesetzliche  Formen. 

einzigen  Erfordernisses   schon   genügt,    um    den  ganzen  Akt  aus  rein 
formellen  Gründen  zu  annulliren. 

Die  Formen,  unter  welchen  die  Errichtung  eines  Testaments  gesetzlich 
zulässig  ist,  sind  nach  Art.  969  des  Cod.  Nap. 

1)  die  eigenhändige  Aufsetzung  des  letzten  Willens  (testament  olographe). 
Die  Urkunde  muss  Unterschrift,  Datum  und  Wohnort  enthalten,  um 
formelle  Gültigkeit  zu  besitzen. 

2)  Das  geheime  Testament  (test.  mystique).  Es  wird  vom  Erblasser  selbst 
geschrieben  oder  einem  Anderen  diktirt,  muss  aber  vom  Erblasser  unter- 
zeichnet werden.  Das  Testament  wird  alsdann  verschlossen  und  versiegelt 
einem  Notar  vor  Zeugen  übergeben,  worüber  von  diesem  eine  Urkunde 
aufgenommen  wird.  Ist  aber  der  Erblasser  Schreibens  unerfahren  oder 
unfähig,  so  muss  ein  weiterer  Zeuge  bei  der  Uebergabe  zugezogen  werden 
(Art.  976  u.  977).     Der  Art.  978  schliesst  Diejenigen,  welche  des  Lesens 

.    unerfahren  oder  unfähig  sind,  von  dieser  Art  der  Testamenterrichtung  aus. 

3)  Das  öffentliche  Testament  (Test,  fait  par  acte  public).  Die  letzte  Willens- 
erklärung wird  hier  vor  dem  dazu  bestellten  öffentlichen  Beamten  ab- 
gegeben und  diirch  diesen  unter  Beobachtung  gewisser  gesetzlicher  Formen 
aufgenommen. 

Das  österr.  A.  B.  G.-B.  kennt: 

1)  ein  aussergerichtliches  schriftliches  d.  h.  eigenhändig  geschriebenes  und 
unterfertigtes  (§.  578)  oder  wenigstens  vor  drei  Zeugen  unterfertigtes 
(§.  579)  Testament,  wobei  nach  §.  580,  im  Fall  der  Erblasser  des  Schreibens 
unkundig,  auch  das  Handzeichnen  gültig  ist,  nach  §.  581,  falls  derselbe 
nicht  lesen  kann,  der  Aufsatz  von  einem  Zeugen  in  Gegenwart  der  zwei 
anderen  vorgelesen  und  der  Inhalt,  als  der  letzten  Willenserklärung  ent- 
sprechend, vom  Erblasser  bekräftigt  werden  muss. 

2)  Das  aussergerichtliche  mündliche  (§§.  585  und  586),  d.  h.  die  mündliche 
Erklärung  des  letzten  Willens  vor  fähigen  Zeugen,  deren  übereinstimmende 
eidliche  Aussage  dann  den  Inhalt  des  letzten  Willens  vor  Gericht  bildet. 
Gesetzlich  erforderlich  sind  nur  die  eidlichen  Aussägen  von  zwei  Zeugen. 

3)  Das  gerichtliche  (§§.  587 — 590).  Es  kann  schriftlich  oder  mündlich  sein. 
Im  V  ersten  Fall  muss  es  eigenhändig  unterschrieben  sein  und  persönlich 
dem  Gericht  übergeben  werden,  das  den  Aufsatz  gerichtlich  versiegelt 
und  über  das  Geschäft  ein  Protokoll  aufnimmt. 

Die  mündliche  Erklärung  ist  eine  protokollarische.  Sowohl  bei  schriftlicher 
als  mündlicher  gerichtlicher  Testamentserrichtung  muss  das  Gericht  aus  zwei 
eidlich  verpflichteten  Gerichtspersonen  bestehen,  deren  einer  in  dem  Ort,  wo  die 
Erklärung  aufgenommen  wird,  das  Richteramt  zusteht. 

Auch  zu  einer  besonderen  Vorsicht  bezüglich  der  Beachtung  des  Geistes- 
zustands des  Testators  verpflichtet  das  Gesetz  den  öffentlichen  Beamten,  der  einen 
letzten  Willen  errichten  hilft. 

Nach  dem  österr.  A.  B.  G.-B.  §.  569  können  Minderjährige,  die  das  18.  Jahr 
noch  nicht  zurückgelegt  haben,  nur  mündlich  vor  Gericht  testiren.  Das  Gericht 
muss  durch  eine  angemessene  Erforschung  sich  fest  zu  überzeugen  suchen,  dass 
die  Erklärung   des  letzten  Willens  frei  und  mit  üeberlegung  geschehen  sei,   die 


Testirfähigkeit.     Gesetzliche  Erlordernisse.  371 

Erklärung   muss  in  ein  Protokoll  aurgenommen  und  dasjenige  was  sich  ergehen 
hat,  beigerückt  werden. 

§.  147  des  preuss.  A.  L.-R.  (Thl.  I,  Tit.  XI)  verlangt  vom  Richter,  dem 
es  bekannt  ist,  dass  der  Testator  zuweilen  an  Abwesenheit  des  Verstandes  leide, 
dass  er  sich  vollständig  überzeuge,  ob  derselbe  in  dem  Zeitpunkt,  wo  dieser 
sein  Testament  aufnehmen  lässt  oder  übergibt,  seines  Verstands  wirklich  mächtig 
sei,  und  §.  148  bestimmt,  dass  falls  der  Richter  dies  zweifelhaft  findet,  er  einen 
Sachverständigen  zuziehen  muss.  Leidet  das  Geschäft  keinen  Aufschub,  so  muss 
der  Richter  die  Handlung  zwar  vornehmen,  aber  zugleich  alle  Umstände,  welche 
ihm  die  Fähigkeit  des  Testators  zu  einer  gültigen  Willenserklärung  zweifelhaft 
erscheinen  lassen,  im  Protokoll  mit  vorzüglicher  Sorgfalt  bemerken. 

Ueber  die  geistige  Verfassung ,  in  welcher  sich  der  Testirende  befinden 
muss,  geben  die  Gesetzbücher  ganz  bestimmte  Vorschriften.  §.  565  d.  österr. 
A.  B.  G.-B.  verlangt,  dass  der  Wille  des  Erblassers  bestimmt,  nicht  durch  blosse 
Bejahung  eines  ihm  gemachten  Vorschlags  geäussert  werde.  Er  miiss  im  Zustand 
der  vollen  Besonnenheit,  mit  Ueberlegung  und  Ernst,  frei  von  Zwang,  Betrug 
und  wesentlichem  Irrthum  erklärt  werden. 

Nach  §.  566  ist  die  Erklärung  ungültig,  wenn  bewiesen  wird,  dass  sie  im 
Zustand  der  Raserei,  des  Wahnsinns,  Blödsinns  oder  der  Trunkenheit  statt- 
gefunden hat. 

Art.  901  des  Code  NapoL,  womit  derselbe  Art',  d.  rhein.  bürgerl.  Gesetzb. 
gleichlautend  ist ,  bestimmt ;  „pour  faire  une  donation  entre  vivants  ou  un 
testament,  il  faut  etre  sain  d'esprit". 

Dass  die  Geistesgesundheit  Grundvoraussetzimg  jeglicher  gültigen  letzten 
Willenserklärung  sei ,  geht  auch  daraus  hervor ,  dass  die  Bestimmungen  des 
Art.  504  des  französ.  Gesetzbuchs  sich  nicht  auf  Schenkungen  und  Testamente 
erstrecken,  sondern  es  hier  ei"nfach  genügt,  nachzuweisen,  dass  der  Testator  zur 
Zeit  des  Akts ,  wenn  auch  nur  momentan ,  der  Vernunft  beraubt  war.  Es  ist 
also  bei  der  Angreifung  eines  Testaments  nicht  nöthig,  dass  nach  Art.  504  die 
Entmündigung  noch  zu  Lebzeiten  des  Testators  ausgesprochen  oder  nachgesucht 
war,  oder  der  Beweis  der  Geistesstörung  sich  aus  der  angegriffenen  bürgerlichen 
Handlung  von  selbst  ergibt.  Es  genügt  einfach  der  Nachweis,  dass  zur  Zeit  der 
Testamentserrichtung  der  Betreffende  nicht  geistesgesund  war.  Das  Gleiche  ergibt 
sich  aus  der  negirenden  Bestimmung  des  A.  L.-R.  Thl.  I,  Tit.  XII,  §.  21,  wornach 
Personen,  die  wegen  Wahnsinns  oder  Blödsinfls  unter  Vormundschaft  genommen 
sind,  solange  diese  dauert,  letztwillige  Verordnungen  zu  errichten  unfähig  sind. 
Nach  Rechtsgrundsätzen  besteht  immer  eine  Präsumption  zu  Gunsten  des 
Testaments,  namentlich  auch  im  Zweifelfall.  Die  Abwesenheit  geistiger  Gesund- 
heit zur  Zeit  des  Akts  muss  endgültig  bewiesen  sein,  um  diesen  für  nichtig  er- 
klären zu  können.  Wird  das  Testament  angegriffen,  so  müssen  von  Seiten  der 
Anfechtenden  thatsächliche  Gründe  beigebracht  werden,  damit  eine  gerichtliche 
Untersuchung  der  Validität  des  Testaments  verfügt  werden  kann.  Die  Beweislast 
liegt  dabei  dem  ob,  der  es  anfechtet. 

Eine  weitgehende  Vorsicht  enthält  indessen  das  preuss.  Gesetz,  A.  L.-R.  Thl.  I, 
Tit.  XII,  §.  22,  wornach,  wenn  unter  Vormundschaft  genommene  Wahn-  und  Blöd- 
sinnige innerhalb  eines  Jahres  vor  angeordneter  Vormundschaft  eine  ausser- 
gerichtliche  oder  privilegirte  Verordnung  über  ihren  Nachlass  gemacht  haben. 
Derjenige,    welcher    daraus    einen    nach    den  Gesetzen  ihm  nicht   zukommenden 


372  Cap.  VIII.     Testirfähigkeit. 

Vortlieil  fordert,  nachweisen  muss,  dass  der  Verfügende  damals,  als  er  die  letzt- 
willige Verordnung  errichtete,  seines  Verstandes  mächtig  gewesen  sei. 

Der  positive  Wortlaut  der  Gesetzbücher  bestimmt  die  formellen 
und  gesetzlichen  Bedingungen  des  rechtsgültigen  Aktes  letztwilliger 
Verfügung.     Ihre  Kenntniss  führt  zur  Untersuchung: 

a)  welche  Bedingungen  psychischerseits  der  Begriff  der  Geistes- 
gesundheit gegenüber  der  Testirfähigkeit  enthält; 

b)  welche  Zustände  krankhafter  Störung  der  Geistesthätigkeit 
diese  Fähigkeit  als  aufgehoben  oder  beschränkt  erscheinen 
lassen; 

c)  welche  Anhaltspunkte  für  die  Ermittelung  des  geistigen  Zu- 
stands  zur  Zeit  der  Testamentserrichtung  aufgestellt  werden 
können. 


a)   Die  vom  Gesetz  geforderten  geistigen  Fähigkeiten  zur  Errichtung  eines 

Testaments. 

Sie  lassen  sich  dem  ganzen  Geist  der  Gesetzgebung  nach  in 
folgenden  2  Bedingungen  zusammenfassen: 

1)  Der  Testirende  muss  das  volle  Bewusstsein  von  der  Bedeutung 
der  letztwilligen  Verfügung  in  materieller  und  legaler  Beziehung^ 
die  klare  Einsicht  in  die  Tragweite  der  von  ihm  gemachten 
Bestimmungen  für  sich  und  die  Betheiligten,  sowie  die  Fähig- 
keit besitzen,  seinen  Willen  klar  und  deutlich,  sei  es  mündlich 
oder  schriftlich,  kund  zu  geben. 

2)  Diese  Willenserklärung  muss  frei  sein ,  d.  h.  unbeirrt  durch 
Zwang,  Vorspiegelung,  Drohung,  krankhafte  Störung  der  Gei- 
stesthätigkeit. Fehlt  eine  dieser  beiden  Fähigkeiten,  so  kann 
von  der  gültigen  Erklärung  eines  letzten  Willens  nicht  die 
Rede  sein. 

Das  Gesetz  verlangt  indessen  offenbar  nicht  die  höchste  Klar- 
heit des  Verstandes  und  die  grösste  Festigkeit  des  Willens,  sonst 
würde  es  nicht  (Code  Napol.  und  darauf  gegründete  Gesetzgebungen) 
den  Verbeistandeten  sowie  den  Minderjährigen,  sobald  er  ein  gewisses 
Alter  (16  Jahre  Frankreich,  18  O esterreich)  erreicht  hat,  als  testir- 
fähig  anerkennen. 

Es  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  dass  vielfach  jene  Grund- 
voraussetzungen der  Testirfähigkeit  fehlen  werden.  Dies  kann  ge- 
schehen durch  Pression  von  Seiten  der  Umgebung  (geistesbeschränkte, 
altersschwache    Leute)    oder    durch    eine    affektvolle    leidenschaftliche 


Psychische  Störungen,  welche  die  Testirfähigkeit  aufheben.  373 

Stimmung,  die  die  Thatsachen  entstellt  zum  Bewusstsein  bringt,  oder 
durch  Störungen  der  Hirnthätigkeit,  welche  die  Kundgebung  des 
Willens  unmöghch  machen  (gew.  Fälle  von  Aphasie)  oder  durch  acute 
Störungen  des  Selbstbewusstseins ,  welche  die  Bedeutung  der  Hand- 
lung und  ihrer  Folgen  nicht  erkennen  lassen,  oder  durch  Geistes- 
krankheit, welche  die  freie  Willensbestimmung  vernichtet  und  das 
Bewusstsein  fälscht.  Angesichts  dieser  Thatsachen  ist  es  sehr  be- 
gründet, wenn  das  Gesetz  in  der  Verpflichtung  zur  Einhaltung 
bestimmter  Formen  bei  der  Testamentserrichtung  strenge  ist  und  es 
den  Gerichtsbeamten  bei  öffentlichen  Testamenten  zur  Pflicht  macht, 
sorgsam  auf  den  Geisteszustand  zu  achten,  sowie  die  Gegenwart  einer 
gewissen  Zahl  von  Zeugen  bei  dem  Akt  fordert. 

Leider  steht  nur  die  Kenntniss  der  Abweichungen  des  Seelen- 
lebens von  der  Norm  nicht  in  entsprechendem  Verhältniss  zur  Wich- 
tigkeit des  Aktes  sowie  den  Intentionen  des  Gesetzgebers.  Nur  zu 
häufig  geschieht  es,  dass  Laien  als  -Zeugen,  ja  selbst  Aerzte  die 
Störung  der  psychischen  Funktionen  am  Krankenbett  übersehen. 

Es  ist  endlich  eine  falsche  Humanität  gegen  Familie  und 
Kranken,  wenn  der  Arzt  auf  eine  etwa  wünschenswerthe  Ordnung 
der  Angelegenheiten  aufmerksam  zu  machen  zu  einer  Zeit  unterlässt, 
wo  die  Geisteskräfte  durch  die  Krankheit  noch  nicht  gelitten  haben. 
Gar  mancher  leidige  Process  wäre  dadurch  vermeidbar.  Freilich 
müsste  der  Arzt,  um  dieser  Anforderung  gerecht  zu  werden,  das 
Irresein  genauer  und  nicht  bloss  dem  Namerf  nach  kennen. 

b)   Psychische  Störungen,  welche  die  Testirfähigkeit  während  ihrer  Daner 

'  aufheben. 

Nicht  bloss  Geisteskrankheit  im  engeren  Sinne,  sondern  auch 
angeborene  und  consecutive  Geistesschwäche  und  Taubstummheit, 
acute  und  chronische  Erkrankungen  des  Gehirns  aller  Art,  Fieber- 
delirium, die  Zustände  der  Agonie  und  der  Vergiftung  können  hier 
in  Betracht  kommen. 

Häufig  kommt  es  zur  Errichtung  eines  Testaments  erst  auf 
dem  Sterbebett.  Es  ergibt  sich  daraus  die  Noth wendigkeit  einer 
Betrachtung  des  geistigen  Zustands  Sterbender. 

Bei  einer  Reihe  von  zum  Tod  führenden  Krankheiten  ergibt 
die  Beobachtung  die  Integrität  der  Geistesfunktionen  bis  kurz  vor 
dem  Tod.  Bei  kaum  einem  Sterbenden  dürfte  aber  der  Tod  bei 
vollem  Bewusstsein  und  voller  geistiger  Klarheit  erfolgen.     Wie  der 


374  Gap.  VIII.    Testirfähigkeit  (Sterbender). 

Mensch  unbewusst  in's  Leben  eintritt,  so  geht  er  aus  demselben  un- 
bewusst  oder  im  Zustand  psychischer  Umdämmerung. 

Die  Störungen  der  Geistesthätigkeit,  welche  beim  Sterbenden  in 
Betracht  kommen,  sind  1)  Delirium,  2)  Zustände  von  Somnolenz,  in 
welchem  nur  noch  auf  starke  Sinnesreize  oder  auf  Aufmunterung  hin 
eine  Aufnahme  von  Eindrücken  aus  der  Aussenwelt  erfolgt,  gleich- 
wohl aber  der  Kranke  wie  ein  Automat  zur  Ausübung  von  Hand- 
lungen, die  natürlich  keine  klar  bewussten  und  keineswegs  mehr 
freie  sind,  bewogen  werden  kann. 

Während  Somnolenz  bei  allen  zum  Tod  führenden  Krankheits- 
zuständen  sich  einfinden  kann,  ist  das  Auftreten  von  Delirium,  soweit 
es  nicht  ein  artificielles ,  durch  Medicamente  (Opium,  Belladonna, 
Chloroform  etc.)  bedingtes  ist ,  auf  Fälle  von  Erkrankung  des  Ge- 
hirns und  seiner  Häute,  von  schweren  acuten  Allgemeinerkrankungen 
mit  hoher  Temperaturkurve  beschränkt.  Es  ist  wenigstens  Regel, 
dass  es  nicht  bei  tödtlich  endenden,  chronischen,  constitutionellen 
Erkrankungen,  bei  Degenerationen  der  Organe,  bei  Blutungen,  den 
meisten  chirurgischen  Krankheiten,  bei  solchen  der  serösen  Mem- 
branen (Pleuritis,  Pericarditis,  Peritonitis)  auftritt.  Mit  Bezug  auf 
diese  Thatsachen  ist  es  immer  von  Werth,  in  Fällen  streitiger  Testir- 
fähigkeit auf  dem  Sterbebette,  eine  genaue  Diagnose  der  Krankheit, 
welche  zum  Tode  führte,  zu  besitzen.  Von  einzelnen  Autoren  sind 
Fälle  bekannt  gemacht  worden,  wo  bei  Hirn-  und  Geisteskranken 
das  bisher  bestandene  "Delirium  in  der  Agonie  zurückgetreten  und 
die  Vernunft  wiedergekehrt  sein  soll.  Die  bezüglichen  Beobachtungen 
von  Brierre  (Annal.  m6d.  psychol.  1850  p.  531)  bei  Hirnkranken 
und  Marshai  (the  morbid  anatomy  of  the  brain  in  mania,  London 
1815,  Fall  2,  6,  8,  16,  21)  an  Geisteskranken  sind  nicht  beweisend 
und  lassen  vermuthen,  dass  ein  blosses  Zurücktreten  der  psychischen 
Symptome  der  Krankheit  mit  einem  völligen  Schwinden  derselben 
verwechselt  wurde.  Die  Frage  der  Testirfähigkeit  könnte  überdies 
nur  bei  noch  nicht  entmündigten  Geisteskranken  gestellt  werden: 

üeber  die  Testirfähigkeit  Sterbender  enthalten  die  Territorial- 
gesetzgebungen keine  speciellen  Vorschriften.  Nach  gemeinem  Recht 
kann  ein  Sterbender  letztwillig  verfügen  „wenn  er  nur  noch  bei 
Verstand  und  bei  Bewusstsein  ist  und  seinen  Willen  auf  eine  ver- 
ständliche Art  aussprechen  kann." 

Jedenfalls  kann  die  Testirfähigkeit  dem  Sterbenden  im  Allge- 
meinen nicht  abgesprochen  werden  und  ein  darauf  gegründeter  Ein- 
wand kann  nur  annehmbar  sein,  wenn  er  durch  Beweise  gestützt  ist. 


Beob.  140.    Fieberdelirium.     Zweifelhafte  Testirfähig-keit.  375 

Aus  den  Angaben  der  Zeugen,  der  Sachverständigen,  der  Kranken- 
geschichte des  behandelnden  Arztes  naüssen  diese  Beweise  beigebracht 
werden.  Dass  im  Delirium  die  Testirfähigkeit  aufgehoben  sei, 
lehrte  schon  das  römische  Recht.  Ein  constatirtes  Delirium  zur  Zeit 
der  Errichtung  eines  letzten  Willens  ist  jedenfalls  den  Geistesstörungen 
gleich  zu  erachten.  Beim  Testament  eines  Sterbenden  ist  nament- 
lich die  Möglichkeit  zu  beachten,  dass  der  somnolente  Sterbende  auf 
Grund  eindringlicher  Nöthigung  von  Seiten  der  Umgebung  und  dirigirt 
von  dieser  ein  Testament  macht,  das  zwar  formell  richtig  redigirt  und 
logischen  Inhalts  aber  wesentlich  das  Werk  der  Umgebung  ist  und 
nicht  mit  klarem  Bewusstsein  und  freier  Willensbestimmung  abge- 
fasst  wurde. 

Beob.  140.  Fieb  erdeliri  um.  Zweifelhafte  Testirfähigkeit. 
Agostino  F.,  Bürger  von  San  Marino,  56  Jahre,  von  nervösem  reizbarem  Tempera- 
ment, aus  neuropathischer  Familie,  sonderbar  in  seinem  Charakter,  schon  längere 
Zeit  an  Cystitis  und  Gicht  leidend,  in  seinen  Gichtanfällen  zu  Delirien  geneigt, 
erkrankte  am  9.  Morgens  an  Peritonitis  acutissima '  und  starb  am  11.  Abends 
5  Uhr.  Am  10.  Abends  hatte  er  ein  Testament  zu  Gunsten  eines  Freuiides  ge- 
macht und  damit  seine  Familie  enterbt.  Seine  Dispositionsfähigkeit  zur  Zeit  des 
Akts,  erschien  zweifelhaft.  Zwei  angesehene  Aerzte  hatten  sie  bejaht,  ein  dritter 
sie  für  aufgehoben  erklärt.  Die  Untersuchung  ergab ,  dass  am  10.  Abeiids  cere- 
brale Complicationen  sich  zum  Krankheitsbild  gesellt  hatten.  Der  Kranke  fing 
an  verkehrt  und  unzusammenhängend  zu  reden,  kannte  Ort  und  Personen  nicht 
mehr,  hatte  Gesichtshallucinationen  und  Sehstörungen.  In  diesen  Zeitraum  fiel 
der  Akt,  der  bei  geschlossener  Thüre  ausgefertigt  wurde.  Der  Notar  führte  dem 
Todtkranken  die  Feder.  Dieser  sagte  am  Schlüsse  „ja".  Als  die  Zeugen  zum 
Contrasigniren  gerufen  wurden,  fanden  sie  die  Hallucinationen  gesteigert  und 
Patient  im  Delirium.  Unter  fortdauerndem  Delirium  und  zj.inehmendem  CoUaps 
trat  der  Tod  ein.  Das  Gutachten  weisst  klar  und  gründlich  nach,  dass  ein  Com- 
plex  psychopathischer  Symptome  zur  Zeit  der  letzten  Willenserklärung  bestand, 
der  die  Möglichkeit  einer  Dispositionsfähigkeit  sowie  die  eines  lue.  interv.  aus- 
schloss.     (Livi,  Consultaz.  med.  legale.     Firen'ze  1870.) 

Weitere  Fälle:  Legrand,  Annal.  med.  psychol.,  1867  Mai.  Testament 
im  letzten  Stadium  eines  Typhus  mit  Delirium.  Nachweis,  dass  der  eine  halbe 
Stunde  vorher  in  Stupor  und  Delir  befindliche  Kranke  unmöglich  seinen  letzten 
Willen  frei  und  selbstbewusst  mittheilen  konnte.  Das  Dokument,  in  erster  In- 
stanz für  ungültig  erklärt,  wurde  in  zweiter  gleichwohl  anerkannt. 

Platner,  Untersuchungen,  edit.  Hedrich,  1820,  p.  239.  Testament  im  Fieber- 
delirium.    Verwei"fung.     Legrand,  testaments,  Beob.  1876. 

Nicht  selten  wird  die  Testirfähigkeit  von  Individuen  fraglich, 
die  zur  Zeit  der  Errichtung  des  letzten  Willens  an  einer  chroni- 
schen he'rdartigen  Hirnkrankheit  litten,  insofern  diese  an 
und  für  sich  nicht  zu  den  Geisteskrankheiten  gerechneten  Hirnaffec- 
tionen  (Encephalitis,    Hirnabscess,  Hirngeschwülste,   blutiger  Schlag- 


376  Cap.  VIII.     Testirfähigkeit 

fliiss  etc.)  in  der  Regel  mit  elementaren  Störungen  der  psychischen 
Funktionen,  namentlich  des  Gedächtnisses,  der  Verknüpfung  von  Vor- 
stellungen zu  Urtheilen  etc.  der  Apperception  einhergehen. 

Als  Regel  ist  zu  betrachten,  dass  eine  herdartige  Hirnkrank- 
heit an  und  für  sich  die  Testirfähigkeit  nicht  aufhebt  und  gewiss 
ist  die  Beurtheilung  eines  Falles  von  Esquirol  (Annales  d'hygi^ne 
1832,  I,  p.  203),  in  welchem  das  Testament  eines  Menschen  bloss 
auf  Grund  seiner  durch  Apoplexie  bedingten  Hemiplegie,  ohne  dass 
psychische  Störungen  vorhanden  waren,  angefochten,  aber  die  Klage 
abgewiesen  wurde,  die  einzig  richtige. 

Dass  indessen  die  psychischen  elementaren  Störungen  bei  heerd- 
artigen  Hirnerkrankungen  so  bedeutend  werden  können ,  dass  nicht 
bloss  das  klare  Bewusstsein  der  Bedeutung  des  Akts,  sondern  auch 
die  Selbstständigkeit  der  Willensbestimmung  nothleidet,  lehrt  die  Er- 
fahrung. Die  Frage  der  Testirfähigkeit  wird  solchen  Fällen  gegen- 
über eine  concrete  und  nach  Umfang  und  Intensität  dieser  Störungen 
zu  beurtheilen  sein. 

Von  besonderem  Interesse  für  die  Frage  der  Testirfähigkeit  ist 
hier  der  geistige  Zustand  der  Apoplektiker.  Die  psychischen  Funk- 
tionen können  nach  einem  apoplektischen  Insult  ganz  unbeeinträch- 
tigt sein  und  bleiben.  Häufiger  jedoch  kommt  es  zu  Störungen  der- 
selben, die  sich  in  leichteren  Fällen  als  Aenderungen  des  Charakters, 
Gedächtnissschwäche,  Gemüthsreizbarkeit ,  Schwierigkeit  die  Worte 
bei  der  Unterhaltung  zu  finden,  grössere  Bestimmbarkeit  durch  die 
Umgebung  kundgeben. 

In  anderen  Fällen  bildet  sich  durch  schwerere  und  difiuse  Er- 
krankung, welche  der  apoplektische  Insult  setzt,  das  Bild  einer  fort- 
schreitenden Verblödung  aus,  die  sich  in  grosser  Gedächtnissschwäche, 
namentlich  für  die  Jüngstvergangenheit,  im  Verkennen  der  Um- 
gebung und  der  Lage  äussert,  zuweilen  von  Verfolgungswahn, 
(Angstgefühle,  vage  Furcht  vor  Dieben,  ängstliche  Unruhe,  schreck- 
hafte Hallucinationen)  begleitet  wird,  bis  zu  apathischem  Blödsinn 
fortschreitet.  In  solchen  Fällen  ausgebildeter  Dementia  apoplectica 
kann  von  Testirfähigkeit  nicht  mehr  die  Rede  sein. 

Beob.  141.  Apoplektischer  Schwachsinn.  Testirfähigkeit?  Ein 
66j ähriger  Beamter,  ehrenwerther  Charakter,  hatte  wiederholt  seiner  Tochter  und 
deren  Mann,  die  er  sehr  liebte,  erklärt,  er  werde  ihnen  sein  ganzes  Vermögen 
zuwenden.  Seit  einem  Jahr,  in  Begleitung  von  Congestivzufällen,  Abnahme  des 
Gedächtnisses,  erschwerter  Gedankengang,  Aenderang  des  Charakters,  Indifferenz, 
Egoismus,  Urtheils-  und  Willensschwäche. 


bei  herdartiger  Hirnkrankheit  und  bei  Aphasischen.  377 

Auf  Anstiften  seiner  Frau  verkaufte  er  seine  Wertligegenstände,  nahm 
Geld  auf  seine  Caution  auf.  Ein  apoplektischer  Anfall  lähmt  seine  linke  Seite. 
Einige  Tage  später  macht  er  ein  Testament,  das  er  aber  um  2  Jahre  zurückdatirt 
und  worin  er  seine  Frau  (die  intellektuelle  Urheberin  des  Testaments)  als  Uni- 
versalerbin einsetzt.  Diese  Urkunde  ist  kaum  leserlich,  voll  Dintenflecken,  Correk- 
ture'n,  Fehlern.  Einzelne  Worte  sind  vergessen,  andre  hineingeflickt,  die  Zeilen 
schief,  die  Buchstaben  ungleich,  zitterig.  14  Tage  später  starb  der  Testator  in 
einem  neuen  Anfall  von  Apoplexie. 

Das  Testament,  das  nichtswürdige  Werk  einer  habgierigen,  die  Geistes- 
schwäche ihres  Mannes  missbrauchenden  Mutter,  enterbte  eine  vor  der  Krank- 
heit des  Testators  von  ihm  zärtlich  geliebte  Tochter.  Ein  Process  wurde  von 
der  Enterbten  nicht  angestrengt.     (Legrand,  la  folie,  p    243.) 

Beob.  142.  In  krankhaftem  Geisteszustand  nach  einer  Apo- 
plexie errichtetes  Testament.  Eine  Wittwe  hatte  kurze  Zeit  nach  einem 
Schlaganfall  den  dritten  Theil  ihres  Vermögens  einer  Person,  mit  der  sie  bisher 
in  grösster  Feindschaft  gelebt  hatte,  vermacht.  Als  ihr  später  das  Testament 
zx;fällig  in  die  Hände  kam,  war  sie  sehr  erstaunt,  überhaupt  ein  solches  gemacht 
zu  haben,  noch  mehr  aber  über  dessen  Inhalt.  Sie  versicherte  von  Allem  was 
zu  jener  Zeit  mit  ihr  vorgegangen  war,  nicht  das  Geringste  zu  wissen  und  sich 
nur  zu  erinnern,  dass  sie  damals  mit  dem  Gedanken,  sich  mit  ihrer  Feindin  aus- 
zusöhnen, beschäftigt  war.  (Albert,  med.  Correspondenzbl.  bair.  Aerzte,  1850, 
Nr.  30.) 

Weitere  Fälle:  s.  Legrand,  la  folie,  p.  233,  235  u.  testaments,  Beob.  24, 
25,  26-  29.  Müller,  Entwurf  der  ger.  Arzneiwissenschaft,  II,  p.  97.  Beck,  elements 
of  med.  jurisprud.  p.  502.  Marc,  übs.  v.  Ideler,  II,  p.  510,  zweifelhafte  Gültig- 
keit eines  von  einem  mit  Geistesschwäche  und  Hemiplegie  behafteten  Manne  ver- 
fassten  mystischen  Testaments,  das  dieser  zwei  Monate  vor  seinem  an  chron. 
Encephalitis  erfolgten  Tod  errichtet  hatte.  Tardieu,  etude  med.  legale  sur  la 
folie,  p.  39. 

Neben  der  Schmälerung'  des  geistigen  Besitzes  kann  auch  die  be- 
hinderte Kundgebung  desselben  durch  die  bei  herdartigen  Hirnkrank- 
heiten nicht  seltene  Aphasie  in  Betracht  kommen.  InFällen  vollständiger 
Aphasie,  zugleich  complicirt  mit  Agraphie,  Worttaubheit  und  Schrift- 
blindheit wird  die  Störung  der  Entäusserung  des  Willens  gleichbedeutend 
sein  mit  dem  Verlust  desselben  (Dementia).  Fast  immer  besteht 
übrigens  ein  complicirender  Defekt  der  Intelligenz,  was  für  die  Ex- 
pertise des  aphasischen  Zustands  wohl  zu  berücksichtigen  ist. 

Bei  unvollkommener  Aphasie  ist  die  Möglichkeit  einer  gültigen 
Testamentserrichtung  nicht  geradezu  ausgeschlossen.  Es  kommt  hier 
wesentlich  auf  den  Umfang  der  Störung  der  Gedankenmittheilung  und 
auf  die  concrete  Form  der  Testamentserrichtung  an.  Unter  allen 
Umständen  muss  beim  Aphasischen  der  Testamentserrichtung  eine 
genaue  Untersuchung  des  Zustands  vorhergehen  und  bei  der  Würdi- 


378  Gap.  VIII.     Testirfähigkeit 

gung  des  Testaments  eines  Aphasischen  die  Gefahr  berücksichtigt 
werden,  dass  ein  worttaiiber  oder  schriftbHnder  derartiger  Kranker 
ein  ihm  unterschobenes  Concept  unterschrieb  oder  abschrieb,  ohne 
dessen  Sinn  zu  verstehen. 

Fälle  zweifelhafter  Testirfähigkeit  Aphasisclier :  Americ.  Journ.  of  insanity 
1879.     Legrand  du  Saulle,  des  testam.,  Beob.  32,  33. 

Weitaus  am  häufigsten  wird  die  Gültigkeit  eines  Testaments  auf 
Grund  behaupteter  Geisteskrankheit    des  Testators    angefochten. 

Der  Wortlaut  des  Gesetzbuchs  schliesst  den  Geisteskranken, 
selbst  wenn  er  nicht  interdicirt  ist,  von  der  Fähigkeit  Testamente 
zu  errichten  aus.  Bewiesene  Geisteskrankheit  zur  Zeit  der  Testaments- 
errichtung macht  daher  den  Akt  ungültig.  Nur  über  den  Umfang 
des  Begriffs  „Geistesstörung"  kann  Zweifel  bestehen.  Offenbar  liegt 
es  in  der  Absicht  des  Gesetzes,  alle  Zustände  von  Störung  der  Gei- 
stesfunktionen, in  denen  weder  Besonnenheit  noch  Urtheil  und  freie 
Willensbestimmung  intakt  sind ,  dem  sich  durch  Wahnideen  und 
Sinnestäuschungen  äussernden  Irresein  gleich  zu  achten. 

Die  Einschränkung  des  Begriffs  j, Geisteskrankheit"  auf  Zustände 
von  Wahnsinn  und  Blödsinn  ist  hier  ebensowenig  zulässig  als  im 
Criminalforum.  Auch  das  „Gemüthsirresein"  ist  vom  Standpunkt  der 
Testirfähigkeit  aus  als  Geisteskrankheit  zu  betrachten.  (Vgl.  den 
Abschnitt  über  Dispositionsfähigkeit  im  Allgemeinen.) 

Am  häufigsten  wird  in  Fällen,  wo  das  Testament  auf  Grund 
von  Geistesstörung  angefochten  wurde,  Verfolgungswahnsinn  con- 
statirt.  Zuweilen  handelt  es  sich  auch  um  Zustände  von  Paralyse, 
Verrücktheit,  angeborenem  oder  secundärem  Schwachsinn,  Melan- 
cholie, Dementia  senilis. 

Besondere  Schwierigkeit  für  die  Entscheidung  können  Fälle  von 
Dementia  senilis  bieten. 

Es  kann  hier  in  Folge  der  senilen  Involution  des  Gehirns,  wie 
ja  überhaupt  bei  Schwachsinnigen,  eine  solche  Willensschwäche  und 
Bestimmbarkeit  bestehen,  dass  Einschüchterung  von  Seiten  der  Um- 
gebung den  Altersschwachen  veranlasst,  letztwillige  Verfügungen  zu 
treffen,  die  den  Willen  der  Umgebung,  nicht  den  freien  Willen  des 
Testators  enthalten.  Oder  der  Kranke  leidet  an  einer  solchen  Ein- 
busse  seines  Gedächtnisses  und  seiner  intellektuellen  Kräfte,  dass  er 
zwar  noch  Sinneswahrnehmungen  zu  machen.  Vorgesagtes  mecha- 
nisch zu  reproduciren  im  Stand  ist ,  auf  concreto  Fragen  richtig 
antworten  kann,  ohne  im  Besitz  seiner  höheren  Geisteskräfte  zu  sein. 


in  allgemeinen  Neurosen,  im  lucidum  intervallum.  379 

Bei  Sinnen  und  Verstand  sein  ist  jedenfalls  nicht  identisch  mit 
dem  Besitz  der  Vernunft  und  der  freien  Selbstbestimmungsfähigkeit. 
Diese  sind  aber  zweifelsohne  Forderungen  der  Gesetzgebung  an  jeden 
Testirenden. 

Dass  auch  bei  gewissen  allgemeinen  Neurosen  psychisch  un- 
freie Zustände  j  sei  es  durch  Häufung  elementarer  Störungen  oder 
Complication  mit  temporärer  allgemeiner  Geistesstörung  vorkommen, 
wurde  im  Capitel  des  hysterischen  und  epileptischen  Irreseins  ge- 
zeigt. Namentlich  gewinnt  das  letztere  Bedeutung  durch  die  hier 
plötzlich  auftretenden  und  schwer  nachweisbaren  Traum-  und  Däm- 
merzustände, in  welchen  der  Kranke  zwar  eines  combinirten  Han- 
delns fähig,  gleichwohl  aber  des  Selbstbewusstseins  beraubt  ist  und 
hinterher  gar  nicht  weiss,    was  er  ir^  solchem  Zustand  gethan  hat. 

Eine  schwierige  Frage  ist  endlich  die  der  Testirfähigkeit  im 
lucidum  intervallum  von  Delirium  und  Geisteskrankheit.  Bei 
gewissen  acuten  und  Infectionskrankheiten  wird  ein  nachgewiesener 
Zustand  von  Delirium  vor  und  nach  dem  Akt  die  Geistesintegrität 
sehr  zweifelhaft  machen,  in  der  Zwischenzeit  zwischen  zwei  deliriösen 
Anfällen  von  Wechselfieber  wird  sie  kaum  anzuzweifeln  sein. 

Das  Bedenkliche  der  Annahme  und  Feststellung  des  zeitlichen 
Umfangs  des  lucidum  intervallum  bei  Geisteskranken  wurde  schon 
oben  hervorgehoben.  Nur  ärztliche  Sachverständige  können  zur  Ent- 
scheidung in  solchen  schwierigen  Fällen  competent  sein.  Das  öster- 
reichische Gesetzbuch  §.  567  verfügt: 

„wenn  behauptet  wird,  dass  der  Erblasser,  welcher  den  Gebrauch 
des  Verstandes  verloren  hatte,  zur  Zeit  der  letzten  Anordnung 
bei  voller  Besonnenheit  gewesen  sei,  so  muss  die  Behauptung 
durch  Kunstverständige  oder  durch  obrigkeitliche  Personen,  die 
den  Gemüthszustand  des  Erblassers  genau  erforschten,  oder  durch 
andere  zuverlässige  Beweise  ausser  Zweifel  gesetzt  werden. 

Beob.  143.  Melancholie  als  Vorstadium  einer  Manie.  Fehlende 
Testirfähigkeit.  Emilie  T.  heirathete  im  Januar  1868  den  Schlosser  B.  Sie 
wurde  kränklich.  Der  Arzt  rieth  Schonung  an.  Am  10.  August  glaubt  sich 
Frau  B.  dem  Tode  nahe.  Sie  empfangt  die  Sterbesakramente  und  errichtet  dann 
ein  öffentliches  Testament,  das  ihren  Mann  zum  Universalerben  einsetzt.  Nach 
einigen  Tagen  ist  sie  anscheinend  ganz  genesen.  Am  23.  August  bricht  Tobsucht 
aus.  Sie  kommt  in  die  Irrenanstalt  und  stirbt  dort  nach  einigen  Wochen.  Die 
gesetzlichen  Erben  fechten  das  Testament  auf  Grund  von  Geistesstörung  an.  Der 
Mann  habe  die  Verstorbene  schlecht  behandelt  imd  diese  keine  Veranlassung  ge- 
habt, mit  Uebergehung  ihres  betagten  Vaters  und  ihrer  Geschwister,  den  gefühl- 
losen Gatten  zum  Erben  einzusetzen.  Kein  Zeuge  wusste  etwas  von  dieser  schlechten 


380  Cap.  VIII.    Testirfähigkeit. 

Behandlung,  ebensowenig  hatten  Notar,  Geistlicher,  Zeugen  etwa?  von  Geistes- 
störung an  der  Testirenden  bemerkt,  die  schon  vor  der  Erkrankung  einer  Zeugin 
die  Absicht  mitgetheilt  hatte,  dem  Ehemann  Alles  zu  vermachen  und  dieser  einige 
Tage  nach  der  Errichtung  des  Testaments  dessen  Inhalt  klar  angegeben  hatte. 
Dem  stand  die  Aussage  des  als  Zeugen  vernommenen  Arztes  Dr.  B.  entgegen, 
der  deponirte,  am  9.  Aug.  habe  die  B.  an  Hallucinationen  und  grosser,  durch 
ihren  körperlichen  Zustand  nicht  begründeter  Todesangst  gelitten.  Neben  der 
Angst  sei  ein  Zustand  von  Apathie  und  Melancliolie  vorhanden  gewesen,  ein 
willenloses  Wesen,  welches  den  freien  Entschluss  zur  Erriclitung  des  Testaments 
nicht  habe  aufkommen  lassen.  Bei  seinen  Besuchen  am  Morgen  und  Abend  des 
10.  August  habe  dieser  Zustand  unverändert  fortgedauert;  erst  einige  Tage  nach- 
her habe  sich  die  geistige  Aufregung  der  B.  wieder  gelegt.  Die  sachverständigen 
Gütachten  erklärten,  die  B.  sei  am  10.  August  nicht  bei  gesundem  Verstand,  so- 
mit nicht  im  Zustand  freier  Entschlussfähigkeit  gewesen.  Gleichwohl  wies  die 
Civilkammer  die  Klage  ab,  indem  sie  davon  ausging,  dass  der  ganze  Beweis  der 
Klage  auf  der  Aussage  des  Dr.  B.  »beruhe,  diese  aber  mit  den  Angaben  der 
übrigen  „beugen"  im  Widerspruch  stehe  und  dadurch  aufgehoben  werde  (!).  Der 
Appellationssenat  erkannte  nacli  dem  Klageantrag,  das  Oberhofgericht  gab  in  letzter 
Instanz-  folgende  Entscheidung: 

1.  Das  Gesetz  verlangt  durchaus  nicht,  dass  der  Testator  sich  in  absolut 
gesundem  Zustand  und  im  ungeschmälerten  Besitz  der  höchsten  Klarheit  des 
Verstands  und  der  grössten  Festigkeit  des  Willens  befinde,  denn  es  darf  ja  auch 
der  Verbeistandete  und  der  Minderjährige  unter  gewissen  Voraussetzungen  testiren. 
Sobald  Jemand  fähig  ist  zu  verstehen  was  ein  letzter  Wille  bedeutet  und  was 
Inhalt  und  Zweck  eines  von  ihm  ausgesprochenen  letzten  Willen  ist,  sowie  seinen 
Entschluss  zur  Errichtung  desselben  unbeeinflusst  durch  krankhafte  Störungen  seiner 
Geistesthätigkeit  zu  fassen,  ist  der  Begriff  des  gesunden  Verstands  im  Sinne  des 
bad.  L.R.S.  901  erfüllt.  Sobald  die  eine  oder  die  andere  dieser  Voraussetzungen 
mangelt,  ist  die  Testirfähigkeit  nicht  vorhanden. 

2.  Die  Testirunfähigkeit  der  B.  erscheint  fraglich,  denn  ausser  dem  ärztlichen 
Zeugniss  spricht  Alles  für  Testirfähigkeit.  Das  ärztliche  Zeugniss  muss  aber  von 
grösserer  Bedeutung  sein  als  das  des  Laien,  denn  der  Arzt  erkennt  vielfach  eine 
Geistesstörung  richtig,  während  der  in  Vorurtheilen  befangene  Laie  eine  solche 
nicht  wahrnimmt.  Es  macht  dabei  nichts  aus,  dass  Dr.  B.  nur  als  Zeuge,  nicht 
als  Sachverständiger  vernommen  wurde.  Seine  Angaben  finden  eine  wichtige 
Stütze  in  denen  des  Pfarrers,  der  ein  apathisches  Wesen  an  der  B.  fand,  wie  es 
nach  seiner  Erfahrung  dem  eigentlichen  Ausbruch  der  Geistesstörung  vorherzu- 
gehen pflege.  Sie  erschien  ihm  nicht  schwer  körperlich,  sondern  eher  gemüths- 
krank.  Auch  der  Notar  bemerkte  „Todesangst",  die  nach  Dr.  B.  körperlich  nicht 
begründet  war. 

Ist  auch  nicht  zu  leugnen,  dass  eine  Seite  des  gesunden  Verstands,  das 
Erkenntnissvermögen,  ungetrübt  war,  so  fehlte  doch  das  zweite  Erforderniss  eines 
gesunden  Verstands,  die  freie  Willensbestimmung,  nach  dem  durchaus  unanfecht- 
baren ärztlichen  Zeugniss.  Damit  erscheint  der  den  Klägern  obliegende  Beweis 
als  geführt. 

Offenbar  handelte  es  sich  in  diesem  interessanten  Gerichtsfall,  in  dem  das 
technische  Urtheil  des  Sachverständigen  gegenüber  Verkennung  des  Zustands 
durch   Notar,    Zeugen    und   Umgebung   zur   richtigen  Würdigung   kam,   um    das 


Beob.  144.    Melancholie  mit  freien  Zwischenräumen.    Testiri'ähigkeit?      381 

melancholische    Prodromalstadium    einer   Manie.      (Annalen    der    bad.    Gerichte, 
XXXVIII,  Nr.  20.) 

Beob.  144.  Melancholie  mit  freien  Zwischenräumen.  Frag- 
liche Validät  eines  Testaments.  Am  2.  März  1864  starb  der  ledige 
Joseph  E.  Im  August  1850  hatte  er  ein  öffentliches  Testament  gemacht,  folgen- 
den Inhalts :  „Den  nachbenannten  fünf  Kindern  meiner  Schwester  A.  vermache 
ich  folgende  Liegenschaften :  (folgt  das  genaue  Verzeichniss  derselben).  Diese 
Liegenschaften  sollen  gleichheitlich  unter  diese  Kinder  vertheilt  werden." 

Dieses  Testament  wurde  von  anderen  Verwandten  auf  Grund  behaupteter 
Geisteskrankheit  angefochten.  Sie  machten  geltend,  dass  E.  ein  von  Kindheit 
auf  geistig  verkümmerter,  seit  1836  notorisch  blödsinniger  Mensch  gewesen  sei, 
der  abgeschieden  und  in  völlige  Lethargie  versunken  in  einem  mehr  thierischen 
als  menschlichen  Zustand  dahin  gelebt,  sein  Dasein  ohne  allen  Grund  bedroht 
gewähnt,  ganze  Nächte  hindurch  getobt  habe.  Er  glaubte  sich  von  Hexen  be- 
droht; fing  mit  Leuten,  die  er  fiir  seine  Feinde  hielt,  Händel  an,  litt  an  Hallu- 
cinationen,  durch  die  er  zu  den  verrücktesten  Handlungen  bewogen  wurde. 

Die  beklagte  Partei  macht  geltend,  dass  E.  bis  in  sein  spätestes  Alter  sein 
Vermögen  selbstständig  verwaltet  habe,  in  seiner  Verfügungsfreiheit  bei  verschie- 
denen VerträgeiT  und  Käufen  nie  von  irgend  wem  beanstandet  worden  sei.  Er 
habe  einmal  heirathen  wollen,  aber  seine  Schwester  G.,  die  ihn  zu  beerben  ge- 
dachte ,  habe  darüber  solchen  Skandal  erhoben  ,  dass  er  von  diesem  Vorhaben 
wieder  abgestanden  sei.  Von  da  an  habe  er  allerdings  manche  trübe  Stunde 
gehabt  aber  geisteskrank  sei  er  nie  gewesen.  Auf  die  Irrenliste  hätten  ihn  seine 
Verwandten  nur  aus  Eigennutz  und  in  der  Besorgniss  setzen  lassen,  er  könne 
einmal  mit  üebergehung  ihrer  zu  Gunsten  seiner  Lieblingsschwester  testiren.  Die 
Zurückgezogenheit  und  Menschenscheu  des  Erblassers  seien  durch  bittere  Er- 
fahrungen motivirt,  sein  feindliches  Verhalten  gegen  die  Leute  durch  Neckereien 
provocirt  gewesen.  Er  habe  wohl  an  Hexen  geglaubt,  aber  nicht  aus  Wahnsinn 
sondern  aus  Aberglauben. 

.Bei  der  Errichtung  des  Testaments  habe  er  Alles  bis  in's  Detail  angegeben, 
wie  es  nach  seinem  Tod  gehalten  werden  solle  und  damit  hinlängliche  Beweise 
von  ungetrübter  Geisteskraft  verrathen. 

Die  Vernehmung  des  Beamten  und  der  Testamentszeugen  ergab ,  dass  E. 
bei  vollem  Verstand  war,  selbst  genau  angab  wie  er  Alles  gehalten  wissen  wollte, 
und  dass  Niemand  Zweifel  an  der  Klarheit  seines  Geistes  hatte. 

Aus  Zeugenangaben  ergibt  sich,  dass  E.  1838  etwa  ein  Vierteljahr  lang 
Nachts  in  seiner  Stube  schimpfte  und  sich  äusserte  „ich  sehe  dich  wohl,  du 
Teufel".  1843  schimpfte  er  oft  ohne  alle  Veranlassung  Leute,  die  an  seinem 
Hause  vorübergingen.  1848  bemerkte  man  ebenfalls  häufiges  nächtliches  Schimpfen. 
Von  Stumpfsinn  hatte  man  nie  etwas  an  ihm  bemerkt. 

Alle  Zeugen  stimmen  darin  überein,  dass  E.  in  der  Gemeinde  als  geistes- 
schwach, halbnärrisch  galt,  jedoch  nur  zeitweise  irrsinnig  war,  im  Uebrigen  seine 
Geschäfte  gut  besorgte,  Käufe  und  Verkäufe  selbständig  abschloss. 

In  der  Irrenliste  von  1860  findet  sich  über  ihn  folgender  Eintrag: 

„J.  E.,  Bauer,  ledig,  geb.  1789.  Art  der  Seelenstörung  Melancholie.  Krank 
seit  1835.  Hat  lichte  Zwischenräume.  Die  Anfälle  dauern  nur  kurze  Zeit,  erb- 
liche Anlage,  ist  ungeiährlich,  unheilbar,  wurde  nie  ärztlich  behandelt." 


382  Cap.  VIII.    Testirfähigkeit. 

Urtheil:  Die  Kläger  sind  mit  ihrer  Klage  unter  Verfällung  in  die  Kosten 
abzuweisen. 

Gründe :  Die  Behauptung,  dass  Testator  bei  Errichtung  des  Testaments 
nicht  bei  gesundem  Verstand  gewesen^  ist  nicht  erwiesen.  Das  Testament  ent- 
hält nichts  Widersinniges.  Der  Testator  kat  klar  und  deutlich  seinen  Willen 
kundgegeben  und  Alles  genau  bezeichnet.  Der  Geschäftsfertiger  und  die  Zeugen 
haben  beurkundet,  dass  der  Testator  bei  gesundem  Verstand  war.  Alle  übrigen 
Zeugen  bestätigen,  dass  der  Testator  zwar  viele  Eigenthümlichkeiten  hatte,  aber 
wenn  nicht  gereizt,  wie  jeder  andere  Mensch  war,  sein  Hauswesen  gut  besorgte 
und  sein  Vermögen  gut  verwaltete.  Die  Irrenliste  charakterisirt  seine  Krankheit 
als  Melancholie,  die  Anfälle  dauern  nur  kurze  Zeit,  er  hat  lichte  Zwischenräume. 

Eine  Berufung  gegen  dieses  Urtheil  wurde  nicht  ergriffen.  (Eigene  Beob- 
achtung.) 

Beob.  145.  Verfolgungswahnsinn.  Nullität  des  Testaments. 
Ein  gew.  Baron  ist  seit  etwa  1855  geistesgestört.  Vergiftungswahn  war  das  erste 
Symptom  und  bestand  bis  zu  seinem  Tod.  In  den  letzten  10  Jahren  hatte  er 
nach  der  Reihe  alle  seine  Domestiken  beschuldigt,  dass  sie  ihm  nach  dem  Leben 
strebten.  Sie  thaten  ihm  Gift  in  das  Essen.  Er  hörte  darauf  bezügliche  Stim- 
men imd  an  dem  gelblichen  Schweiss,  den  er  in  seiner  Wäsche  fand,  bemerkte 
er  die  Spuren  der  Vergiftungsversuche.  Auch  glaubte  er,  dass  man  ihn  bestehle, 
dass  man  ihn  durch  geheime  Mittel  verliebt  in  eine  Person  seiner  Umgebung 
machen  wolle.  Er  glaubte,  dass  der  Pfarrer  auf  einen  nahen  Baum  klettere,  um 
ihn  auszuspioniren.  Wiederholt  hatte  er  daran  gedacht,  sich  diesen  Conspiratio- 
nen  durch  Entfernung  aus  dem  Lande  zu  entziehen.  In  seinem  Testament  setzte 
er  ein  Kind  zum  Universalerben  ein,  weil  dieses  durch  seine  Anhänglichkeit  ihm 
ein  Leben  erträglich  gemacht  habe,  das  durch  die  vielen  Verfolgungen  und  Qualen, 
die  man  ihn  erdulden  liess,  ihm  so  verbittert  worden  sei.  Er  auferlegte  diesem 
Kind,  durch  eine  Summe  von  6000  Francs  seine  Gruft  immer  in  gutem  Stand 
zu  erhalten,  falls  nicht  seine  Feinde  durch  beständige  Demolirungen  mehr  Kosten 
verursachten,  als  die  Zinsen  dieses  Kapitals  betrugen. 

Er  verordnete,  dass  Niemand  ausser  seinem^  Erben  das  Recht  haben  solle 
sich  iü  dieser  Gruft  begraben  zu  lassen. 

Er  hatte  sich  schliesslich  seine  Speisen  selbst  bereitet  und  seine  Nächte 
mit  geladenem  Gewehr,  in  Erwartung  seiner  Verfolger  zugebracht. 

Aiii  8.  August  1864  bekam  B.  einen  Anfall  von  Hirncongestion,  von  dem 
an  Phj^siognomie  und  Sprache  gestört  waren.  Auch  seine  Geistesfähigkeiten 
hatten  gelitten,  was  der  Kranke  selbst  bemerkte.  Wenigstens  sagte  er  „je  suis 
tout  idiot". 

In  seinem  Testament  vom  8.  Mal  1865  hatte  er  seine  Nichten  enterbt,  weil 
er  sie  im  Complot  mit  seinen  Feinden  und  wegen  seines  Todes  interessirt  glaubte. 
Er  glaubte,  sie  hätten  Bäcker  und  Fleischer  bestochen,  dass  sie  ihm  vergiftete 
Lebensmittel  brachten.  Das  Gutachten  wies  nach,  dass  B.  zur  Zeit  der  Testaments- 
errichtung wahnsinnig  war  und  •  auf  Grund  von  Wahnideen  seine  natürlichen 
Erben  enterbt  hatte.     (Tardieu,  la  folie  p.  400.) 

Beob.  146.  Dementia  paralytica.  Angefochtenes  Testament.  R., 
reicher  Kaufmann,   hatte  1  Monat  vor   seinem  durch  Selbstmord    erfolgten  Tode 


Beob.  147.    Altersblödsinn.    Fehlende  Testirlahigkeit.  383 

ein  Testament  gemacht,  in  welchem  er  seinen  Nichten,  mit  denen  er  im  besten 
Einvernehmen  lebte ,  fast  gar  nichts,  seinen  Neffen ,  mit  denen  er  zerfallen  war^ 
fast  das  ganze  beträchtliche  Vermögen  vermacht  hatte.  R.  stammt  aus  erblich 
belasteter  Familie,  fiel  schon  als  Knabe  durch  seinen  sonderbaren,  eigensinnigen 
Charakter  auf,  lebte  später  ausschweifend.  1859  trat  ein  Zustand  hypochondrischer 
Melancholie  auf,  von  dem  Pat.  nicht  ganz  genas.  In  den  letzten  2  Lebensjahren 
zeigten  sich  Congestiverscheinungen,  Pat.  schlief  sogar  in  Gesellschaft  ein,  litt  an 
Schwindel,  Uebelkeit,  Gedächtnissschwäche  und  erschwerter  geistiger  Leistungs- 
fähigkeit. Sein  Charaktei-  und  ganzes  Wesen  änderten  sich.  Aus  einem  Lebe- 
mann ward  ein  Koijfhänger,  der  mehrmals  täglich  die  Messe  hörte,  seine  früheren 
Freunde  mied,  gegen  sie  Misstrauen  zeigte.  Auch  die  früheren  hypochondrischen 
Wahnideen  zeigten  sich  wieder  neben  Verfolgungswahn  und  Grössendelirien,  da- 
bei grosse  Emotivität,  Klagen  über  zunehmende  geistige  Unfähigkeit  und  Ge- 
dächtnissschwäche ,  Abmagerung ,  Schlaflosigkeit ,  Appetitlosigkeit ,  tl^nsicherheit 
der  Sprache.  In  den  letzten  Monaten  war  er  dement,  unreinlich  geworden  — 
das  klassische  Bild  der  aus  hypochondrischer  Melancholie  hervorgegangenen  Dementia 
paralytica.  In  diesem  Zustand  befand  er  sich,  als  er  das  Testament  errichtete, 
dasselbe  war  ein  eigenhändiges  und  leidlich  gut  geschrieben ,  was  sich  damit 
leicht  erklärt,  dass  R.  dabei  von  Anderen  geholfen  bekam.  Trotzdem  fanden 
sich  bemerkenswerthe  Widersprüche,  Sonderbarkeiten  darin  und  die  anderen 
Schriften,  die  von  R.'s  Hand  sich  aus  jener  Zeit  vorfanden,  waren  evidente 
Beweise  seiner  geistigen  Insufficienz,  Gedächtsnissschwäche,  Verworrenheit.  Auch 
dass  R.  noch  bis  kurz  vor  seinem  Tod  in  seinem. Geschäfte  thätig  war,  resp. 
seinen  Namen  unter  ihm  vorgelegte  Geschäftsstücke  setzte,  konnte  nicht  das  Ge- 
wicht der  Beweise  für  Geistesstörung  beseitigen  und  war,  als  eine  automatische 
Leistung,  ganz  gut  mit  seiner  Demenz  und  Bewusstseinsstörung  verträglich.  Das 
Gutachten  schloss  mit  Recht  darauf,  dass  das  Testament  in  einem  Zustand  vor- 
geschrittener, seit  mindestens  2  Jahren  datirender  Geistesstörung  (Dementia  para- 
lytica) abgefasst  worden  war.     (Biffi,  Rivista  spirementale  1878,  fascic.  1.) 

Beob.  147.  Altersblödsinn.  Ungültigkeitserklärung  des  Testa- 
ments. Frau  T.  hat  am  2-5.  Mai  187-5  ein  eigenhändiges  Testament  errichtet,  in 
welchem  sie  ihre  Dienerin  als  Erbin  ei'klärte  und  ist  im  März  1877  im  Alter  von 
77  .Jahren  gestorben.  Das  Testament  wurde  von  den  Verwandten  wegen  Dementia 
senilis  und  Captatio  angefochten  und  der  Beweis  dafür  zu  erbringen  versucht. 

Frau  T.  eine  sehr  intelligente  Frau,  hatte  viel  in  ihrem  Leben  durchzu- 
machen gehabt.  Um  1870  bemerkte  si,e  selbst,  dass  ihr  Gedächtniss  nothlitt  und 
gerieth  immermehr  in  Abhängigkeit  ihrer  Dienerin.  1873 — 1874  constatirte  der 
Hausarzt  Willenlosigkeit,  zunehmende  Gedächtnissschwäche,  so  dass  Frau  T.  schon 
nach  wenig  Minuten  dasselbe  wieder  fragen  konnte, 

Sie  liess  sich  von  ihrer  Umgebung  leiten  wie  ein  Kind.  Diese  haben  der 
Greisin  eine  schlechte  Gesinnung  gegen  die  Verwandten  beizubringen  gewusst. 
Frau  T.  wollte  nichts  für  diese  thun.  Nach  2  Jahren,  Anfang  1877,  sah  der  Arzt 
Frau  T.  wieder.  Sie  war  kindisch  geworden,  trank  viel  starke  Weine.  In  den 
3  Wochen  der  Behandlung  bis  zu  ihrem  Tod  völlige  Willenlosigkeit  und  tiefe 
Geistesschwäche,  die  sie  ganz  von  ihrer  Umgebung  abhängig  machten.  Nur  vor- 
übergehend erinnerte  sie  sich  an  Thatsachen,  die  vor  vielen  Jahren  sich  ereignet 
hatten.    Schon  am  21.  März  1875  hatte  der  Arzt  mit  dem  Notar  die  Ueberzeugung 


384  Cap.  VIII.    Testirfähigkeit.  . 

ausgetauscht,  dass  Frau  T.  zu  einer  bürgerlichen  Handlung  nicht  mehr  fähig  sei. 
Dem  entsprechen  die  Aussagen  der  Zeugen.  Die  der  Gegenparthei  können  diese 
Thatsachen  nicht  entkräften.  Das  Gutachten  gibt  eine  gute  Darstellung  der 
geistigen  Funktionsstörungen  des  Altersblöden,  weist  den  insufficienten  Geistes- 
zustand zur  Zeit  der  Testamentserrichtung  und  die  Unmöglichkeit  von  lucid. 
interall.  bei  dem  zu  Grunde  liegenden  organischen  progressiven  Hirnleiden  nach. 
Das  Testament  wurde  für  ungültig  erklärt.     (Blanche,  Ann.  d'hyg.  1879,  Oct.) 

Beob.  148.  Zweifelhafte  Testirfähigkeit.  Dementia  senilis.  Ein 
80j ähriger  Greis,  der  seit  Jahren  Zeichen  körperlichen  und  geistigen  Verfalls 
bietet,  erscheint  nach  dem  Tod  seiner  Frau  (Mai  1879)  rechtlichen  Schutzes  be- 
dürftig. Eine  gerichtsärztliche  Untersuchung  findet  seinen  Geisteszustand  be- 
denklich. Ende  Mai  wird  eine  provi-sorische  Curatel  verfügt.  Am  18.  Juni  1879 
errichtet  der  Kranke  ein  eigenhändiges  Testament  in  Gegenwart  explorirender 
Aerzte,  die  seinen  Geisteszustand  unbedenklich  finden.  Das  Testament  war  das 
Werk  einer' Gruppe  interessirter  Verwandten,  von  denen  zwei  zudem  noch 
am  23.  Juni  adoptirt  wurden.  Am  2.  August  1879  starb  der  Testator.  Das 
Testament  wurde  von  den  übergangenen  Erbberechtigten  angefochten. 

R ,  ein  bis  1875  geistig  gesunder  aber  schlaffer  Mann,  zeigte  seitdem  neben 
den  überhandnehmenden  Zeichen  des  Seniums  und  körperlichen  Kräfteverfalls 
einen  Rückgang  seiner  geistigen  Funktionen.  Er  wurde  vergesslich,  liess  sich 
übervortheilen,  beschwatzen,  kam  mit  schriftlichen  Leistungen  nicht  mehr  recht  zu 
Stand,  ermüdete  rasch  geistig,  wurde  in  der  letzten  Zeit  ganz  apathisch,  kümmerte 
sich  nur  noch  um  sein  Essen,  war  theilnahmlos  während  der  letzten  Krankheit 
und  beim  Tod  seiner  Frau,  hatte  schon  nach  wenigen  Stunden  ihren  Tod  vergessen. 
Die  Gerichtsärzte  fanden  bei  der  1.  Exploration  (23.  Mai  1879)  bedenkliche  Lapsus 
judicii  et  memoriae,  namentlich  in  Bezug  auf  Jüngsterlebtes,  geistige  Apathie, 
erschwertes  Auffassungsvermögen  neben  den  Zeichen  vorgeschrittener  seniler  In- 
volution. Bei  der  Testamentserrichtung  hatte  R.  nur  das  Concept  abzuschreiben. 
Drei  zugezogene  Nichtfachärzte  fanden  bei  oberflächlicher  Exploration  R.  zwar 
etwas  apathisch  und  gedächtnissschwach,  aber  vollkommen  fähig  seinen  letzten 
Willen  zu  errichten.  Bei  der  letzten  gerichtsärztlichen  Exploration  (27.  Mai  1879) 
wurde  der  Beweis  eines  vorgeschrittenen  Altersblödsinns  erbracht. 

Ein  weiter  erhobenes  Gutachten  bestätigt  diesen  Ausspruch.  R.  führte  seit 
Monaten  nur  noch  ein  vegetirendes  Leben.  Er  war  geistig  tief  geschwächt,  un- 
klar in  seinen  Relationen  zur  Aussenwelt,  unfähig  zur  Besorgung  seiner  häus- 
lichen Bedürfnisse,  geschweige  zur  bürgerlichen  Vertretung  seiner  materiellen 
Interessen,  wenn  auch  immerhin  noch  fähig  ein  für  ihn  concipirtes  Testament 
abzuschreiben  und  vorzulesen.  Aber  selbst  die  blosse  Abschrift  des  Concepts 
gelang  erst  nach  wiederholtem  Versuch  mit  sichtlicher  Erschöpfung  und  nicht 
fehlerfrei.  Ein  lucid.  intervallum  kann  mit  Rücksicht  auf  die  Natur  der  Gehirn- 
krankheit sicher  als  zur  Zeit  der  Testamentserrichtung  bestanden,  ausgeschlossen 
werden.     R.  befand  sich  damals  nicht  im  Zustand  der  vollen  Besonnenheit. 

Er  war  sich  der  Bedeutung  und  Tragweite  des  Aktes  nicht  klar  bewusst. 
Er  handelte  nicht  mit  Ueberlegung  und  Ernst,  sein  Wille  war  Scheinwill^e.  Das 
Testament  wurde  verworfen.     (Eigene  Beobachtung.) 

Beob.  149.  Verfolgungswahn  auf  Grund  seniler  Dementia. 
Fragliche    Te  stir  f  ähiü'ke  it.      Ein    W.    Pagan,    Grundbesitzer,    starb    am 


Beob.  149.    Verfolgungswahn.    Fragliche  Testii-fähigkeit.  385 

21.  December  1869,  66V2  Jahre  alt.  Sein  Testament,  am  16.  Juni  errichtet,  wurde 
vom  Sohn  auf  Grund  von  Geistesschwäche  angefochten.  Er  machte  geltend,  dass 
der  Vater  seit  dem  Tode  seiner  Frau ,  vor  vier  Jahren ,  geistig  und  körperlich 
abgenommen  habe.  Sein  Gedächtniss  und  die  Intelligenz  hätten  nachgelassen, 
Sprache  und  Gang  seien  gestört  gewesen.  Er  habe  momentane  Anfälle  von 
Bewusstlosigkeit  gehabt,  Angstzufälle,  ungegründeten  Argwohn  gezeigt,  an  eine 
Conspiration  gegen  sein  Leben  geglaubt,  in  welche  er  Sohn  und  andere  Verwandte, 
die  er  enterbte,  verwickelt  wähnte.  Diese  Störungen  waren  familienkundig  und 
von  verschiedenen  Aerzten  constatirt  und  behandelt  worden.  Wiederholt  hatte 
man  daran  gedacht,  ihn  in  eine  Irrenanstalt  zu  bringen.  Sein  Charakter  hatte 
sich  sehr  verändert  —  er  wurde  sehr  reizbar,  anspruchsvoll  und  wechselnd  in 
Stimmung  und  Begehren.  Wahrscheinlich  war  auch  eine  geschlechtliche  Erregung 
vorhanden,  wenigstens  verfolgte  er  sechs  junge  Damen  mit  Heirathsanträgen. 
Auch  seinen  Dienstboten  war  diese  Aenderung  seines  Wesens  nicht  entgangen. 
Oft  war  gar  nicht  mit  ihm  zu  verkehren,  er  sprach  zeitweise  unzusammenhängend, 
litt  an  theilweiser  Aphasie,  vergass  oft  mitten  im  Geschäft,  was  er  vorhatte,  ging 
sich  irre,  hatte  apoplektiforme  Anfälle,  war  Nachts  unruhig.  Auch  seine  Schrift 
wurde  undeutlich. 

Wahrhaft  komisch  sind  die  richterlichen  Fragen  an  die  Sachverständigen 
in  diesem  keineswegs  zweifelhaften  Fall,  z.  B.  ob,  wenn  Jemand ,  der  in  seinem 
Zimmer  allein  befindlich,  laut  spreche,  dies  ein  Zeichen  von  Geistesstörung  sei? 
ob  P.  geistesgesund  wäre,  wenn  er  nicht  geglaubt  hätte,  dass  eine  Verschwörung 
gegen  ihn  bestehe.  Ein  Professor  Maclagan  und  ein  Dr.  Lowe  fanden  P.  geistes- 
gesund und  erklärten  die  etwaigen  verdächtigen  Symptome  aus  einer  Herz- 
krankheit, die  Circulationsstörungen  im  Hirn  verursacht  habe.  (!)  Aus  den  Reden 
des  Staatsanwalts  und  Gerichtspräsidenten  ergibt  sich  wieder  die  bekannte  Un- 
wissenheit und  das  Laienraisonnement  englischer  Juristen  gegenüber  Fällen  von 
Geisteskrankheit.  Die  Jury  erkannte  mit  sieben  gegen  fünf  Stimmen  die  Geistes- 
störung des  Testators  an.  Der  Gerichtshof  protestirte  gegen  diesen  Wahrspruch 
der  Geschworenen  und  setzte  einen  neuen  Termin  an,  der  aber  nicht  zu  Stande 
kam,  da  der  Kläger  für  gut  fand,  seine  Klage  zurückzuziehen  und  das  in  offen- 
barem Verfolgungswahn  eines  geistesschwachen  Greises  abgefasste  Testament  an- 
zuerkennen.    (Journal  of  mental  science,  Januar  1872.) 

Weitere  Fälle  bei  Verfolgungswahnsinn:  Beck,  med.  jurisprud.' 
p.  510 :  zwei  Fälle  von  grundlosem,  in  einem  auf  Vergiftungswahn  beruhendem 
Hass  gegen  die  Angehörigen  und  daraus  erfolgter  Enterbung  derselben.  Reyscher, 
Zeitschr.  f.  deutsch.  Recht,  herausg.  v.  Beseler,  XIII,  H.  2.  Ein  am  Wahn  der 
Verfolgung  durch  seine  Geschwister  leidender  Mann  hatte  zu  Gunsten  eines 
Spitals,  mit  Ausschliessung  jener,  testirt.  Das  zwar  formell  richtige  Testament 
wurde  dennoch  gerichtlich  für  ungültig  erklärt. 

Esquirol,  Annal.  d'hygiene ,  III,  p.  370.  Ein  Kranker,  an  Panphobie 
leidend,  im  Wahn,  dass  seine  Angehörigen  ihm  nach  dem  Leben  strebten,  hatte 
sie  enterbt.     Umstossung  des  Testaments. 

Ebenda,  V,  p.  370.  Ein  am  Verfolgungswahnsinn  Leidender  enterbt  seine 
Angehörigen,  da  er  sie  für  seine  Feinde  hält  und  legt  ihnen  seinen  durch  Selbst- 
mord erfolgten  Tod  (Motiv:  den  Chicanen  der  Feinde  zu  entgehen)  zur  Last. 

Zahlreiche  weitere  Fälle  s.  Legrand,  le  delire  des  persecutions,  Paris  1871, 
und  testaments,  Beob.  15,  17,  51,  52—61. 

Y.  Kr  äff  t-Ebing,  gerichtl.  Psychopathologie.    2.  Auflage.  25 


386  Cap.  VIII.    Testirfähigkeit. 

Bei  erotischer  und  religiöser  Verrücktheit:  Marc-ldeler  II,  p.  519. 
Ein  Mann  hielt  sich  für  ein  Mädchen  und  für  schwanger,  trug  Weiberkleider. 
Er  testirte  zu  Gunsten  der  Hospitäler.  Cassation  des  Testaments.  Legrand,  des 
testam.,  Beob.  6,  7,  12,  18,  42—47,  50. 

Bei  Paralyse:  Legrand,  etude  med.  legale  sur  la  paralysie  generale, 
Paris  1866.  Legrand,  la  folie,  Nr.  26  u.  des  testam.,  Beob.  68 — 71.  Tardieu,  la 
folie,  p.  464. 

Bei  Dementia  senilis:  Legrand,  la  folie,  Nr.  31  u.  33  u.  des  testam ents, 
Beob.  8,  4,  5,  62,  81,  87.    Henke's  Zeitschr.  1821,  II,  H.  3.    Beck,  elements,  p.  507. 

Im  lucid.  Intervall.:  Legrand,  la  folie,  p.  253,  f.  Fall  32  (Testament 
zwischen  zwei  Anfällen  recidivirender  Geistesstörung),  f.  des  testam.,  Beob.  34,  35. 
Marc-ldeler  II,  p.  515. 

Bei  Melancholie:  Legrand,  testam.,  Beob.  38.  Bei  consecut.  Dementia: 
ebenda,  Beob.  65,  66.  Bei  Imbecillität :  ebenda,  Beob.  82,  86.  Bei  Epilepsie: 
Beob.  78,  79,  80.     Bei  Hydrophobie:  Beob.  85. 

Bei  Trunkenen:  Legrand,  testam.,  Beob.  19,  20.  Beim  chron.  Alkoholismus 
ebenda,  Beob.  14,  21,  23.  Kohlmann,  Viertelj  ahrsschr.  f.  ger.  Med.  N.  F.  XXXI,  H.  2. 

Auch  bei  geistig  entwickelten  Taubstummen  (vgl.  A.  L.-R.,  ThLI,  Tit.  XII, 
§.  26  und  §.  123)  kann  die  Testirfähigkeit  zur  Entscheidung  kommen.  Der  Grad 
der  geistigen  Entwickelung  wird  hier  massgebend,  eine  ärztliche  Exploration 
geboten  und,  falls  diese  nicht  stattfand,  eine  Präsumption  gegen  die  Testir- 
fähigkeit gegeben  sein,  Ist  sie  ärztlich  constatirt,  so  dürfte  die  (schriftliche) 
Vornahme  des  Akts  in  Form  des  öffentlichen  Testaments  vorzuziehen  sein. 

Einen  merkwürdigen  Fall,  in  welchem  ein  des  Schreibens  unkundiger,  aber 
geistig  genügend  entwickelter  Taubstummer  sogar  zur  Testamentserrichtung  durch 
Zeichensprache  zugelassen  wurde,  indem  die  gemachten  Zeichen  durch  geschworene 
Zeugen  aus  der  Umgebung  des  Testators  gedeutet  wurden,  hat  Marc  (übers,  v. 
Ideler)  II,  p.  529  mitgetheilt.     S.  f  Legrand  du  SauUe,  des  testam.,  p.  523. 

c)   AnlialtspTinlite  für  die  BenrtUeiluiig  des  Geisteszustands  des  Testators, 

Die  Beurtheilung  eines  zweifelhaften  Zustands  geistiger  Integri- 
tät zur  Zeit  einer  Testamentserrichtung  bereitet  dem  Arzt  wie  dem 
Eichter  nicht  selten  grosse  Schwierigkeiten.  In  der  Regel  ist  wegen 
inzwischen  erfolgten  Todes  des  Testators  die  Expertise  auf  die  Prü- 
fung der  Lebens-  und  Krankengeschichte  und  auf  das  Dokument  selbst 
bezüglich  seiner  formellen  und  graphischen  Redaktion,  falls  es  ein 
eigenhändiges  gewesen,  sonst  aber  auf  die  Aussagen  und  Wahr- 
nehmungen beim  Geschäft  betheiligter  GerLchtspersonen  beschränkt. 
Dieses  Beurtheilungsmaterial  ist  aber  vielfach  ungenügend  oder 
wenigstens  schwer  zu  verwerthen. 

Die  Umstände,  aus  welchen  die  Entscheidung  versucht  werden 
mag,  sind: 

1)  Das  Vorleben  des  Testators  bis  zum  Zeitpunkt  der  Errichtung 
des  Testaments    einschliesslich   der    etwaigen  Krankengeschichte,   wie 


Anhaltspunkte  für  die  Beurtheihmg  des  Geisteszustands  des  Testators.      387 

sie  aus  den  eidlichen  Angaben  des  behandelnden  Arztes,  dem  Krank- 
heitsjournal, den  Mittheilungen  der  Angehörigen,  Pfleger  etc.  zu 
gewinnen  ist.  Im  Fall  einer  vorhanden  gewesenen  Krankheit  ist 
ihre  Dauer  und  Art  von  grosser  Bedeutung,  insofern  Aeusserungen 
derselben  sich  etwa  bis  zum  Zeitpunkt  der  Testamentserrichtung 
erweisen,  der  Dauer  und  Art  derselben  nach  lucida  intervalla  mit 
Bestimmtheit  sich  ausschliessen  lassen. 

2)  Die  Ermittelung  des  geistigen  und  körperlichen  Zustands 
zur  Zeit  der  Testamentserrichtung,  die  etwa  durch  Einvernahme  von 
Aerzten,  Geistlichen,  Pflegern,  Gerichtsbeamten,  Testamentszeugen 
zu  gewinnen  ist. 

Mit  grosser  Vorsicht  sind  diese  Zeugnisse  zu  verwerthen,  denn 
in  der  Regel  gehen  sie  von  Laien  aus,  die  befangen,  im  Rechts- 
streit interessirt  oder  unfähig  sind,  eine  Geistesstörung,  ausser  sie 
gäbe  sich  durch  Sinnestäuschungen  und  Wahnideen  kund,  zu  er- 
kennen. Negative  Zeugenaussagen  beweisen  desshalb  sehr  wenig.  Dass 
das  Gutachten  des  behandelnden  Arztes,  der  als  Sachverständiger  zu 
beeidigen  und  zu  vernehmen  wäre,  von  grosser  Bedeutung  sein  muss,  ist 
selbstverständlich.  Häufig  entbehrt  aber  die  Expertise  sogar  genauer 
und  verlässlicher  Angaben  über  den  psychischen  Zustand  zur  Zeit 
der  Testamentserrichtung,  insofern  diese  eine  nicht  öffentliche  eigen- 
händige war,  die  richtige  Datirung  des  Dokuments  fraglich  ist  ^)  und 
zu  jener  Zeitperiode  der  Testator  gar  nicht  Gegenstand  einer  Beob- 
achtung oder  nur  laienhafter  war. 

3)  Die  Feststellung  des  Geisteszustands  vom  Zeitpunkt  der 
Testamentserrichtung  bis  zum  Tod. 

Ergeben  sich  Zeichen  einer  Trübung  der  Geistesfunktionen  nach 
dem  Akt,  so  wird  jedenfalls  dadurch  eine  starke  Präsumption  gegen 
die  Geistesintegrität  zur  Zeit  des  Akts  bedingt,  denn  nur  in  den 
seltensten  Fällen  tritt  eine  Geistesstörung  ganz  unvermittelt,  ohne 
Prodromi  in  die  Erscheinung,  Besonders  ist  hier  auf  etwaiges  melan- 
cholisches Vorstadium  und  Zeichen  psychischer  Schwäche  das  Augen- 
merk zu  richten.  Stehen  die  Krankheitserscheinungen  nach  dem  Akt 
in  genetischem  Zusammenhang  mit  schon  vor  demselben  aufgefundenen, 
so  wäre  solange  für  den  Zwischenraum  die  geistige  Unfreiheit  zu 
präsumiren,  bis  es  der  Expertise  gelänge  zu  beweisen,  dass  ein  inter- 


')  Fälle  bei  Grilli  u.  Ziino  (op.  cit.),  wo  Irrsinnige  bestimmt  wurden,  ihr 
Testament  zu  antedatiren,  um  es  als  ausser  der  Krankheit  abgefasst  erscheinen 
zu  lassen  und  ein  Hinderniss  seiner  Gültigkeit  zu  beseitigen. 


388  Cap.  VIII.    Testirfähigkeit. 

mittirendes  Leiden  vorlag  oder  der  positive  Beweis  eines  lucidum 
intervallum  erbracht  werden  könnte. 

Von  grosser  Bedeutung  principiell  ist  hier  die  Frage,  ob  ein 
der  Testamentserrichtung  unmittelbar  gefolgter  Selbstmord  als  ein 
Zeichen  psychischer  Krankheit  angesehen  werden  könne.  Unmöglich 
kann  diese  Frage  bejaht  werden,  denn  einestheils  lehrt  die  Erfahrung 
(vgl.  Brierre,  du  Suicidep.  361),  dass  nicht  jeder  Selbstmord  auf  Geistes- 
krankheit beruht,  sondern  auch  Folge  eines  die  freie  Willensbestim- 
mung nicht  an  und  für  sich  ausschliessenden  Affektes  sein  kann, 
andererseits  ist  an  dem  Grundsatz  festzuhalten,  dass  sich  aus  einer 
einzelnen  Handlung  nicht  die  Diagnose  eines  Zustandes  machen  lässt. 

4)  Das  Testament  selbst  bezüglich  seines  Inhalts  und  seiner 
graphischen  Ausführung. 

Schon  in  der  allgemeinem  Diagnostik  der  Geisteskrankheiten 
wurde  auf  die  Bedeutung  der  Schriften  Geisteskranker  aufmerksam 
gemacht.  Es  kann  von  grossem  Werth  für  die  Beurtheilung  eines 
eigenhändigen  Testaments  sein,  wenn  Unsicherheit  und  Ungleichheit 
der  Schriftzüge  motorische  Störungen,  die  auf  Dementia  senilis,  pa- 
raljtica  oder  Alkoholismus  chronic,  speciell  hinweisen  können,  ver- 
rathen;  wenn  ausgelassene  Worte,  Unklarheit  der  Bestimmungen, 
Wiederholungen  von  Worten  und  Verfügungen,  Tintenflecke  und 
Schmierereien  Gedächtnissschwäche  und  Bewusstseinsstörung  ver- 
muthen  lassen,  wenn,  wie  so  häufig  bei  Verrückten,  die  Handschrift 
eine  ganz  andere  geworden  ist,  Neubildung  von  Worten,  der  frühe- 
ren Persönlichkeit  ganz  fremde  Orthographie  etc.  sich  darin  vorfinden. 

Zu  grossen  Werth  pflegt  man  richterlicherseits  auf  logischen 
Inhalt  und  formell  richtige  Redaktion  eines  eigenhändigen  Testaments 
zu  legen.  So  wenig  als  eine  planmässige  prämeditirte  criminelle  That 
und  logisches  Denken  und  Sprechen  die  Zurechnungsfähigkeit  ver- 
bürgen, garantirt  die  vernünftige  Schrift  die  Geistesgesundheit  an 
und  für  sich. 

Umgekehrt  ist  es  aber  ebensowenig  zulässig,  aus  einer  para- 
doxen, bizarren  letztwilligen  Verfügung  vorweg  die  Geistesunfreiheit 
des  Testators  abzuleiten.  Die  Bizarrerie  und  Excentricität  eines 
Geistesgesunden  darf  nicht  mit  der  Wahnidee  des  Geisteskranken 
verwechselt  werden.  Aus  dem  paradoxen  Inhalt  wird  sich  die  Unter- 
scheidung in  der  Regel  nicht  gewinnen  lassen,  wohl  aber  aus  den 
Motiven  und  dem  Zusammenhang  der  anstössigen  Idee  mit  dem  ge- 
sammten  übrigen  Seelenleben. 


Anhaltspunkte  zur  Beurtheilung.    Werth  des  Sektionsbefunds.  389 

Beob.  150.  Angefochtenes  Testament  auf  Grund  bizarren 
Inhalts.  Bizarrerie,  nicht  aber  G-eistesstörung.  Ein  82j ähriger  Notar  in 
Neufchatel  übergab  einige  Jahre  vor  seinem  Tod  einem  Geistlichen  ein  versiegeltes 
Päckchen  unter  der  Auflage,  es  erst,  wenn  er  gestorben,  zu  eröffnen.  Der  Notar 
stirbt,  man  öffnet  und  findet  —  einen  Vertrag  mit  Gott  folgenden  Inhalts :  Vertrag 
mit  dem  allmächtigen  Gott  einer-  und  mir,  seinem  unterzeichneten  demüthigen 
Diener  andrerseits.  Art.  1.  Zweck  dieses  Vertrages  ist  der  Handel  mit  Spirituosen. 
Art.  2.  Mein  grossmächtiger  Associe  wird  geruhen,  als  Einlagekapital  seinen 
Segen  zu  unserer  Unternehmung  zu  geben.  Ich  meinerseits  werde  mein  Kapital 
und  meine  Kraft  dazu  geben  und  über  den  Erfolg  Buch  führen.  Art.  3.  Der 
Gewinn  wird  zur  Hälfte  zwischen  mir  und  meinem  hohen  Associe  getheilt  und 
dessen  Hälfte  zu  allen  Unternehmungen ,  zu  welchen  der  Geist  meines  Gottes 
mich  antreiben  wird,  verwendet  werden.  Art.  4.  Sobald  mich  Gott  von  dieser 
Welt  abruft,  soll  die  Liquidation  meinem  Neffen  unverzüglich  anheimfallen  und 
der  Antheil  meines  Associe  dem  Geistlichen  von  N.  (was  in  einer  besonderen 
Clausel  nachträglich  ausgesprochen  war)  zu  Missionszwecken  übergeben  werden. 
Das  Geschäft  hatte  laut  Hauptbuch  7393  Eres,  als  Gottes  Antheil  abgeworfen. 
Die  Erben  wollten  diese  Summe  auszahlen,  die  Behörde  erkannte  im  Testament 
das  Produkt  eines  gestörten  Geistes  und  versagte  die  Genehmigung.  Eine  ge- 
richtliche Nachforschung  ergab ,  dass  N.  ein  sonderbarer  pedantischer  Mann  war, 
aber  nie  Spuren  von  Geistesstörung  kundgegeben  und  seinen  Weinhandel  mit 
grösster  Umsicht  betrieben  hatte.  Die  Bücher  waren  musterhaft  geführt  und  die 
hinterlassenen  Schriften  ergaben  keine  Spur  von  Irresein.  Die  Expertise  findet 
mit  Recht,  dass  keine  Geistesstörung  vorliege  und  vergleicht  den  sonderbaren 
Vertrag  mit  den  Gelübden,  wie  sie  ja  oft  Menschen  in  grosser  Gefahr  oder  bei 
wichtigen  Unternehmungen  Gott  machen.  Von  diesen  unterschied  sich  der 
pedantische  Jurist  nur  dadurch,  dass  er  den  Vertrag  schriftlich  machte.  Auch 
der  vernünftige  Zweck  des  Vertrags ,  nämlich  die  Unterstützung  Nothleidender, 
die  formell  correkte  Abfassung  des  Schriftstückes  sprechen  u.  a.  für  geistige 
Gesundheit.     (Chatelain,  Annal.  med.  psychol.  1866,  Juillet.) 

Weitere  Fälle  von  bizarren  Testamenten  Geistesgesunder  s.  Casper-Liman, 
Handb.,  p.  527.  Wald,  ger.  Psychologie,  p.  125.  Legrand,  la  folie.  p.  165—167 
und  Fall  2,  3,  6,  7,  11,  15.  19,  ^20. 

5)  In  manchen  Fällen  wird  auch  der  etwaige  Sektionsbefund 
in  dem  Für  und  Wider  der  Gründe  von  den  Partheien  für  die  Ent- 
scheidung des  Geisteszustands  herangezogen.  Selbst  den  Fall  ange- 
nommen, dass  der  Sektionsbefund  mit  der  nöthigen  Sachkenntniss 
erhoben  und  das  Gehirn  nach  Griesinger's  treffendem  Ausspruch  nicht 
bloss  mit  Messer  und  Gabel  zerschnitten  wurde,  dürfte  es  misslich 
sein,  aus  dem  Obduktionsprotokoll  ein  entscheidendes  (Jrtheil  über  den 
Geisteszustand  des  Testators  sich  zu  bilden.  Die  Geisteskrankheiten 
sind  allerdings  Gehirnkrankheiten,  allein  die  Veränderungen  vielfach 
so  fein,  dass  sie  sich  den  bisherigen  physikalischen  Hilfsmitteln 
entziehen. 

Jedenfalls  decken  sich  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  klinischer  und 


390  Cap.  Vin.    Testirfähigkeit. 

anatomischer  Befund  keineswegs.  Es  kann  bei  kliniscli  sehr  schweren 
Erscheinungen  makroskopisch  ein  negativer  sich  finden  und  umge- 
kehrt trotz  bedeutender  anatomischer  Veränderungen  eine  erhebUche, 
d.  h.    rechtlich   in's  Gewicht  fallende  psychische  Veränderung   fehlen. 

Ein  negativer  Hirnbefund  beweist  somit  nichts  für  die  Geistes- 
integrität, ein  positiver  kann  nur  im  Zusammenhang  mit  anderen 
ßeweismomenten  verwerthet  werden. 

Von  Bedeutung  kann  es  dann  immerhin  sein,  wenn  die  Autopsie 
multiple  herdartige  Veränderungen  im  Gehirn,  oder  Hjdrocephalus 
oder  chronische  Trübungen  und  Verdickungen  der  Hirnhäute  mit 
Atrophie  der  Hirnrinde  (Paralyse)  nachweist,  zumal  wenn  es  der 
Epikrise  gelingt  den  Beweis  zu  führen,  dass  diese  schweren  patho- 
logisch anatomischen  "Veränderungen  zur  Zeit  der  letztwilligen  Ver- 
fügung sicher  schon  bestanden  haben. 


A  n  li  a  n  g. 

Die  Beziehungen  zum  Verwaltungs-  und 
Polizeirecht. 


Irreugesetzgell)ung. 

Gesetz  1.  Bestimmungen:  Irrengesetze  in  Deutschland  s.  AUg.  Zeitsclir.  für 
Psychiatrie.  XIX.  Supplementh.;  in  Frankreich,  Genf,  Niederlanden,  Belgien, 
Norwegen,  England,  Schweden,  XX.  Suppl. ;  in  der  Schweiz,  Annal.  med, 
psychol.  1867,  Juillet. 

In  Oesterreich:  Verordnung  des  Minist,  d.  Inn.  u.  d.  Justiz  vom  14.  Mai 
1874  (R.-G.-Bl.  Nr.  71). 

Ein  eigenes  Gesetz  haben  nur  Frankreich  (Ges.  vom  30.  Juni  1838), 
einzelne  Cantone  der  Schweiz,  Norwegen,  Schweden,  Belgien,  Holland,  deren 
Gesetz  fast  ganz  mit  dem  französ.  Muster  übereinstimmt,  sowie  England 
(Victor.  8,  9,  Capit.  100,  126). 

In  den  übrigen  europäischen  Staaten  ist  dem  Bedürfniss  durch  blosse 
Verordnungen  entsprochen.  (Oesterreich  s.  obige  Ministerialverordnung. 
Preussen:  Reskript  d.  Staatsrates  v.  29.  Sept.  1803  und  ergänzende  Cabinets- 
ordre  vom  5.  April  1804;  Reskript  d.  Minister,  d.  Medicinalangelegenheiten 
vom  16.  Febr.  1839.) 

Der  immer  wieder  auftretende  Wunsch  nach  einem  „Irrengesetz",  das 
den  Irren  zu  einer  besondren  Species  des  Genus  homo  machen  würde,  er- 
scheint nicht  unbedenklich  und  seine  Erfüllung  würde  eine  Gefahr  bezüglich 
seiner,  für  eine  mögliche  Heilung  unerlässlichen  frühzeitigen  Aufnahme  in 
eine  Irrenanstalt  herbeiführen.  Beweis  dafür  das  französische  Irrengesetz. 
Es  ist  wahr,  der  Irre  bedarf  in  mehr  als  einer  Hinsicht  eines  rechtlichen 
Schutzes  und  staatlicher  Fürsorge ,  aber  ob  dafür  ein  eigener  Codex  nöthig 
sei,  ist  mindestens  fraglich.  Wenn  Juristen  Irrengesetze  machen,  so  berück- 
sichtigen sie  fast  ausschliesslich  die  Möglichkeit  einer  Freiheitsberaubung 
eines  Gesunden  durch  eine  Anstalt  und  den  Gesichtspunkt  der  Gemein- 
gefährlichkeit Irrer.  Verschärfte  Aufnahmsbedingungen  schrecken  dann  noch 
mehr   von   der  Benutzung   der  Irrenanstalt  ab  und  schädigen  den  Heilzweck 


392  Anhang:  Bestimmungen  über  Aufnahme  in  und 

dieser.  Die  Regelung  der  civilrechtlichen  Verhältnisse  Geisteskranker  ist 
durch  das  bürgerliche  Gesetzbuch  und  die  C.-Pr.-O.  hergestellt.  Die  Bestim- 
mungen über  Aufnahmsbedingungen  in  Irrenanstalten  gehören  in  das  Statut 
dieser.  Schlechte  Gesetze  sind  eine  oft  erst  nach  Decennien  zu  beseitigende 
Calamität,  schlechte  Statute  —  gewöhnlich  werden  sie  jedqch  von  längst 
bestehenden  und  erprobten  Anstalten  entlehnt  —  sind  leicht  zu  verbessern. 
Die  Beaufsichtigung  der  Anstalten  ist  Sache  der  politischen  und  Sanitäts- 
behörden, wofür  einfache  Verordnungen  und  Instruktionen  genügen.  So 
bleibt  für  eine  etwaige  Irrengesetzgebung  nur  die  allerdings  höchst  wichtige 
staatliche  Fürsorge  für  die  ausserhalb  der  Anstalten  lebenden  Irren  übrig. 
Auch  dafür  genügen  ministerielle  Verordnungen.  Das  Wichtigste  bleibt 
immer ,  dass  eine  wie  immer  legislativ  geregelte  staatliche  Fürsorge  und 
Aufsicht  nicht  auf  dem  Papier  bleibe  und  die  autonome  Gemeinde-  oder 
Provinzvertretang  in  ihren  Verpflichtungen  gegenüber  den  Irren  staatlich 
gehörig  beaufsichtigt  werde. 

Literatur:  Sander,  staatl.  Beaufsichtigung  der  preuss.  Irrenanstalten,  Horn's 
Vierteljahrsschr.  1865,  Nr.  2.  Brefeld,  zum  Rechte  der  Geisteskranken,  1849. 
Foville,  les  alienes,  etude  pratique  sur  la  legislation  et  l'assistance  publ.  qui 
leur  sont  applicables,  1870.  Leidesdorf,  Wien.  med.  Zeitschr.  1872,  Nr.  51. 
Brenner,  Grundzüge  eines  Irrengesetzes,  Friedreich's  Bl.  1872,  p.  372.  Gauster, 
Irrenfreund  1874,  Nr.  8.  Pelman,  Zeitschr,  f.  Psychiatrie,  Bd.  31.  Roller, 
psychiatr.  Zeitfragen,  Berlin  1874.  Nasse,  Zeitschr.  f.  Psych.  30,  H.  4.  Sick, 
Württemb.  Corr.-Bl.  1873,  Nr.  37.  Demaze,  Gaz.  med.  de  Paris  1873,  Nr.  7, 
8,  11,  13,  16.  Brierre,  AnnaL  d'hygiene  1871.  Oesterr.  Zeitschr.  f.  prakt. 
Heilkde.  XVI.  2,  3.  Annal.  d'hygiene  1870,  Juli.  Beer,  allg.  Wien.  med.  Ztg. 
1869,  Nr.  6.  Castiglione,  Archiv,  ital.  1867.  Mundy,  Journ.  of  mental  science 
1867,  Oct.  Roller,  Zeitschr.  f.  Psych.  34,  H.  4.  Jastrowitz  ebenda,  H.  6. 
Auzouy,  Ann.  med.  psychol.  1876,  Januar. 

Der  Geisteskranke  bedarf  nicht  nur  eines  rechtlichen  Schutzes 
seiner  materiellen  Interessen,  sondern  auch  des  behördlichen  Schutzes 
seiner  Person  gegenüber  der  Grefahr  der  Misshandlung,  Verwahrlosung, 
Vernachlässigung,  ungerechtfertigter  Freiheitsberaubung,  Andrerseits 
hat  aber  auch  die  Gesellschaft  ein  Interesse  daran,  dass  der  vielfach 
der  öffentlichen  Ordnung,  Sittlichkeit  und  Sicherheit  gefährliche 
Kranke  sich  nicht  selbst  überlassen  bleibe.  Die  Gesammtheit  der 
administrativen  und  polizeilichen  Gesetze  und  Verordnungen,  welche 
in  einem  Staat  bezüglich  der  öffentlichen  Fürsorge  für  Geisteskranke, 
ihres  rechtlichen  Schutzes,  ihrer  Gemeingefährlichkeit  bestehen,  pflegt 
man  als  Irrengesetzgebung  zu  bezeichnen. 

a.   Bestimmungen  über  Aufnahme  in  und  Entlassung  aus 
Irrenanstalten. 

Das  französische  Irrengesetz  gibt  minutiöse  Vorschriften  und  unterscheidet 
freiwillige  Aufnahmen  von    solchen  von  Amtswegen,     Der  Vorstand  der  Anstalt 


über  Entlassung  aus  Irrenanstalten.  393 

ist  zur  freiwilligen  Aufnahme  eines  Kranken  nur  ermächtigt,  wenn  ein  Aufnahme- 
gesuch ihm  vorliegt,  in  welchem  die  Person,  welche  die  Aufnahme  für  eine  andere 
nachsucht,  ihre  eigenen  Relationen  zu  dieser,  wie  auch  dieser  selbst  nachweist. 
Begleitet  muss  dieses  Gesuch  sein  von  einem  ärztlichen  Certificat  über  die  Natur 
der  Krankheit  und  die  Gründe,  welche  die  Aufnahme  nöthig  machen,  endlich 
von  Dokumenten,  welche  die  Identität  der  aufzunehmenden  Person  nachweisen. 
Binnen  24  Stunden  nach  der  Aufnahme  in  eine  öffentliche  Anstalt  müssen 
die  Aufnahmsdokumente  nebst  einem  Certificat  des  Anstaltsarztes,  der  Administra- 
tivbehörde, in  deren  Bezirk  die  Anstalt  liegt,  vorgelegt  werden.  Fand  die  Auf- 
nahme in  ein  Privatasyl  statt,  so  hat  die  Behörde  binnen  drei  Tagen  vom  Ein- 
langen der  Papiere  an  Sachverständige  abzuordnen,  die  sich  vom  Gesundheits- 
zustand des  Internirten  überzeugen  und  sofort  davon  der  Behörde  Bericht  er- 
statten. Binnen  der  gleichen  Zeit  hat  die  Behörde  von  jedem  Aufgenommenen 
die  Personalien  und  Motive  seiner  Aufnahme  sowohl  dem  Staatsprokurator  des 
Bezirks,  in  welchem  der  Aufgenommene  domicilirte,  als  auch  dem,  in  dessen 
Bezirk  die  Anstalt  liegt,  mitzutheilen.  14  Tage  nach  der  Aufnahme  hat  der  An- 
staltsarzt ein  zweites  Certificat  über  den  Aufgenommenen  der  Behörde  einzureichen. 
Bei  der  Aufnahme  von  Amtswegen,  d.  h.  in  allen  Fällen,  wo  die  Bezahlung  der 
Pflegekosten  aus  öffentlichen  Mitteln  geschehen  muss,  erfolgt  die  Aufnahme  über 
Einschreiten  des  Maire  durch  den  Präfekten  und  die  Anstaltsdirektion  ist  nur 
Vollzugsorgan. 

Jede  Anstalt  hat  ein  von  der  Behörde  controlirtes  Journal  über  ihre  Ki-anken 
mit  Angabe  der  Belege  der  Aufnahme,  der  Personalien,  Abgänge  etc.  zu  führen, 
welches  den  die  Anstalt  inspicirenden  Beamten  jeweils  vorzulegen  und  von  diesen 
zu  vidiren  ist. 

Die  Entlassung  aus  der  Anstalt  erfolgt  auf  die  Erklärung  der  Anstaltsärzte, 
dass  der  Kranke  geheilt  sei  oder  auf  Verlangen  des  Kurators,  der  Person,  welche 
die  Aufnahme  beantragt  hat,  eines  Verwandten  oder  sonst  vom  Familienrath 
Bevollmächtigten.  Bei  Minderjährigen  oder  Entmündigten  kann  bloss  der  Kurator 
die  Entlassung  beantragen.  Hält  der  Anstaltsarzt  die  Entlassung  für  bedenklich 
aus  Gründen  der  öffentlichen  oder  persönlichen  Sicherheit  des  Kranken,  so  setzt 
er  den  Maire  in  Kenntniss,  der  die  Entlassung  sistiren  kann,  jedoch  den  Präfekten 
binnen  24  Stunden  zu  benachrichtigen  hat.  Der  Sistirungstermin  des  Maire  er- 
lischt binnen  14  Tagen,  wenn  inzwischen  der  Präfekt  nicht  anders  verfügt  hat; 
binnen  24  Stunden  nach  der  geschehenen  Entlassung  hat  der  Anstaltsbeamte  der 
Behörde  Bericht  davon  zu  erstatten  mit  der  Angabe,  wohin  der  Entlassene  und  von 
welchen  Personen  er  gebracht  wurde,  sowie  der  Mittheilung,  in  welchem  Geistes- 
zustand sich  der  Betreffende  zur  Zeit  der  Entlassung  befand. 

Dieses  Irrengesetz  gibt  allerdings  genügenden  Schutz  vor  ungerechter  Frei- 
heitsberaubung eines  Gesunden,  schreckt  aber  durch  unendliche  Formalitäten  das 
Publikum  vor  Benutzung  der  Anstalt  zu  Heilzwecken  ab  und  belastet  die  An- 
staltsdirektion  mit  endloser  administrativer  Schreiberei.  Wunderbarer  Weise  ist 
man  in  Frankreich  neuerdings  der  Ansicht,  dass  dieses  Gesetz  die  persönliche 
Sicherheit  noch  nicht  genügend  gewährleiste  und  sucht  es  daher  noch  zu  verschärfen ! 
Die  Missstände  dieser  Gesetzgebung  sind  von  Dr.  Pelman  op.  cit.  bündig 
und  schlagend  dargethan.  Besonders  grell  springen  sie  in  die  Augen  l^ei  der  Mehr- 
zahl der  Aufzunehmenden,  denjenigen,  wo  die  Aufnahme  von  Amtswegen  erfolgt. 
Der  Präfekt,  also  eine  Administrativperson,   verfügt  über  die  Zulässigkeit 


394  Anhang :  Irrenanstalten.    Aufnahmsbestimmungen. 

der  Aufnahme.  Die  Heilbarkeit  des  Falls  ist  Nebensache,  Hauptsache  die  Sicher- 
heitsgefährlichkeit,  denn  nur  gemeingefährliche  Personen  gestattet  das  Gesetz  von 
Amts  wegen  unterzubringen.  Während  selbstzahlende  Kranke  im  Weg  der  frei- 
willigen Aufnahme  rasch  an  einen  Ort  der  Hilfe  gelangen  können,  zieht  sich  die 
Aufnahme  armer  Personen  ungebührlich  lange  auf  dem  büreaukratischen  Admi- 
nistrationsweg hin,  und  findet  vielleicht  gar  nicht  statt,  vrenn  der  Erkrankte  nicht 
sicherheitsgefährlich  ist,  oder  der  Maire  aus  Ersparnissrücksichten  für  die  Fonds 
der  Gemeinde  sich  nicht  bemüssigt  sieht,  beim  Präfekten  um  die  Aufnahmsbe- 
vpilligung  einzuschreiten. 

Hauptaufgabe  der  Irrenfürsorge  sollte  die  Rettung  Erkrankter  vor  der  Ge- 
fahr der  Unheilbarkeit  sein.  Diese  Aussicht  ist  aber  bei  einer  frühzeitigen  Auf- 
nahme in  eine  Krankenanstalt  am  meisten  vorhanden.  Alle  Gesetze  sind  tadelns- 
werth,  die  mit  einseitiger  Rücksichtnahme  auf  die  Sicherheit  der  persönlichen 
Freiheit  gegenüber  der  Gefahr  der  unrechtmässigen  Einsperrung  in  eine  Irren- 
anstalt jener  humanen  Aufgabe  eines  solchen  Instituts  durch  Erschwerung  der 
Aufnahme  entgegenvs^irken.  Eine  Irrenanstalt  ist  indessen  kein  gevröhnliches 
Ki-ankenhaus.  Es  vs^erden  darin  Menschen  wider  ihren  Willen  aufgenommen  und 
darin  zurückgehalten.  Die  Nothwendigkeit  (Sicherheit  der  eigenen  oder  fremder 
Personen  oder  Eigenthums,  Heilbarkeit  oder  Hilflosigkeit)  dieses' Eingriffs  muss 
durch  Kunstverständige  constatirt  und  von  der  Staatsbehörde  anerkannt  sein. 
Auf  diese  Forderung  muss  sich  vernünftigerweise  j  edes  Aufnahmegesetz  beschränken. 
Sie  wird  erfüllt  durch  ein  ärztliches  Zeugniss,  das  die  Krankheit  und  die  Noth- 
wendigkeit  der  Aufnahme  darthut  und  durch  die  Anzeige  an  und  die  Genehmigung 
durch  die  vorgesetzte  Behörde.  Die  Initiative  zur  Entlassung  genesener  oder 
nicht  mehr  hilfloser  oder  gemeingefährlicher  Pfleglinge  muss  billigervs?-eise  den 
behandelnden  Aerzten  überlassen  bleiben,  unbeschadet  der  Rechte  der  Kuratoren 
und  Angehörigen.  Hält  der  Arzt  die  geforderte  Entlassung  wegen  Gemeinge- 
fälirlichkeit  für  unzulässig,  so  kann  er  sie  verweigern,  muss  aber  die  Entscheidung 
der  zuständigen  Sicherheitsbehörde  einholen.  In  einzelnen  österr.  Ländern  muss 
von  Solchen,  die  ungeheilte  Kranke  aus  der  Anstalt  entnehmen,  ein  Revers  aus- 
gestellt werden,  in  welchem  sich  die  Uebernehmer  verpflichten,  für  den  Kranken 
zu  sorgen  und  für  allen  durch  ihn  etwa  entstehenden  Schaden  zu  haften. 

Bei  Entlassung  von  wegen  Gemeingefährlichkeit  oder  wegen  eines  im 
kranken  Zustand  begangenen  Verbrechens  von  einer  Behörde  übergebenen 
Kranken  besteht  der  Grundsatz,  dass  sie  im  Einvernehmen  mit  der  Sicherheits- 
behörde stattfinde. 

Das  Aufnahmsverfahren  in  öffentlichen  Anstalten  in  Deutschland  und  Oester- 
reich  stimmt  im  Wesentlichen  darin  überein,  dass  von  den  Angehörigen  oder 
dem  Vormund  des  Aufzunehmenden  ein  motivirter  Antrag  auf  Versetzung  in 
eine  Irrenanstalt  gestellt,  von  einem  approbirten  Arzt  (einige  Länder  verlangen 
einen  in  öffentlichem  Dienste  stehenden)  der  Gemüthszustand  untersucht  und  ein 
Zeugniss  ausgestellt  wird.  Die  erw^achsenen  Akten  sendet  die  Behörde  an  die 
Irrenhausdirektion,  welche  die  Nothwendigkeit  der  Aufnahme  (Hilflosigkeit,  Ge- 
fährlichkeit, Heilbarkeit)  prüft  und  nach  Ermessen  die  Genehmigung  der  Ober- 
behörde zur  Aufnahme  einholt  und,  nachdem  dieselbe  erfolgt  ist,  den  Kranken 
aufnimmt.  Wo  Gefahr  auf  dem  Verzug  ist,  kann  die  Irrenhausdirektion  provi- 
sorisch auf  Grund  eines  ärztlichen  Zeugnisses  aufnehmen,  muss  aber  sofort  die 
Behörde    benachrichtigen    und   nachträglich    deren    Genehmigung    erwirken.      In 


Staatliche  Beaufsichtigung  der  Irrenanstalten.  395 

einigen  österr.  Kronländern  besteht  die  Einrichtung ,  dass  die  Direktion  direkt 
zur  Aufnahme  (provisorisch)  auf  Grund  der  vorgeschriebenen  Belege  ermächtigt 
ist  und  erst  nachträglich  die  Genehmigung  der  Behörde  einholt ,  ein  Vorgang, 
der  sich  durch  Kürze  des  Geschäftsganges  mehrfach  empfiehlt. 

Eine  nachahmenswerthe  Einrichtung  sind  die  in  österr.  Ländern  bestehen- 
den Beobachtungszimmer  für  zweifelhafte  Geisteszustände.  Sie  bilden  eine  Ab- 
theilung eines  öffentlichen  Krankenhauses,  verlangen  keine  Dokumente  von  Auf- 
zunehmenden, prüfen  seinen  Geisteszustand  und  übergeben  ihn  amtlich  unter  Aus- 
stellung von  ärztlichem  Zeugniss  und  Krankengeschichte  der  benachbarten  Irren- 
anstalt, falls  die  Aufnahme  dort  erforderlich  ist. 

Die  widerrechtliche  Einsperrung  eines  Geistesgesunden  in  einer  Irrenan- 
stalt, falls  sie  je  vorkommt,  ist  ein  Verbrechen,  dessen  das  Strafgesetz  erwähnt, 
die  Aufnahme  eines  Irren  ohne  oder  ohne  die  vorgeschriebenen  Aufnahmsbelege 
durch  den  Vorstand  einer  Irrenanstalt  ist  ein  Disciplinarvergehen  und  unterliegt 
der  disciplinaren  Behandlung. 


b.  Die  staatliche  Beaufsichtigung  der  Irrenanstalten. 

Sie  ist  gesetzlich  vorgeschrieben  und  geregelt.  Die  öffentlichen  Anstalten 
sind  Staatsinstitute,  ihre  Leiter  Staatsbeamte  und  für  alle  Vorgänge  in  der  An- 
stalt verantwortlich.  Die  Staatsbehörde  hat  Recht  und  Pflicht,  jederzeit  durch 
abgeordnete  Beamte  nicht  nur  den  Stand  der  ökonomischen  Verwaltung  des 
Instituts,  sondern  auch  die  Gesundheitsverhältnisse  desselben,  die  Art  der  Be- 
handlung (mechanischer  Zwang)  und  Verpflegung  der  Kranken,  die  Belege  ihrer 
Aufnahme  zu  prüfen,  ihre  Klagen  entgegenzunehmen,  ihren  Geisteszustand  zu 
untersuchen  und  darüber  zu  wachen,  dass  Niemand  unrechtmässig  in  die  Anstalt 
aufgenommen  oder  länger  als  nöthig  zurückgehalten  werde.  Der  Befund  dieser 
Commission  ist  der  Behörde  vorzulegen. 

Das  französ.  Irrengesetz  enthält  die  Verpflichtung  der  Präfekten,  Gerichts- 
präsidenten, Oberprokuratoren,  Friedensrichter  zu  Visitationen  der  Irrenhäuser 
und  verfügt,  dass  der  Oberprokurator  dieselben  in  öffentlichen  Anstalten  halb- 
jährlich, in  privaten  vierteljährlich  vorzunehmen  hat.  Ausserdem  existiren 
Generalinspektoren  des  Irrenwesens  und  Commissionen  zur  Ueberwachung  der 
Anstalten,  welche  vom  Präfekt  ernannt  werden. 

Dem  Bedürfniss  einer  Ueberwachung  der  Irrenhäuser  ist  in  Deutschland 
und  Oesterreich  durch  Verordnungen  entsprochen.  Die  öffentlichen  Staats-  und 
provinzialständischen  Anstalten  werden  jährlich  von  einer  durch  die  zuständige 
Oberbehörde  ernannten  Commission  von  Regierungs-  und  Medicinalbeamten 
(leider  gewöhnlich  nicht  speciell  psychiatrisch  gebildeten)  einer  Visitation  unter- 
worfen. Das  Gleiche  gilt  je  nach  Bedürfniss  für  die  Privatanstalten,  die  zudem 
jährliche  statistische  Mittheilungen  über  ihr  Asj-1  der  Behörde  vorzulegen  haben. 
Eine  gerichtliche  Ueberwachung  findet  ausserdem  insofern  statt,  als  der  Eintritt 
des  noch  nicht  entmündigten  Kranken  dem  zuständigen  Gericht  behufs  Einleitung 
des  Kuratelverfahrens  angezeigt  werden  muss  und  im  Lauf  desselben  eine  Unter- 
suchung des  Geisteszustandes  des  Internirten  durch  eine  Gerichtscommission 
stattfindet.  Diese  Bestimmungen  sind  einer  Verbesserung  fähig  und  einer  Revision 
bedürftig.    Vernachlässigungen  in  der  Pflege  ,  Misshandlungen  Kranker  in  öffent- 


396  Anhang:  Privatasyle.    Zwangsweise 

liehen  Anstalten  unterliegen  der  disciplinaren  oder  polizeilichen  Ahndung  und 
falls  damit  eine  Körperverletzung  verbunden  war  oder  ein  unsittliclies  Attentat 
begangen  wurde,  dem  Strafgericht,  das  in  dem  besonderen  Verhältniss  der  Ptleger 
zu  den  Verpflegten  Erschwerungsgründe  der  Strafe  erkennt. 

Unglücksfälle,  Selbstmord  eines  Kranken  verpflichten  zur  Anzeige  an  die 
Gerichtsbehörde,  die  eine  Untersuchung  einleitet  und  falls  diese  ein  strafbares 
Verschulden  eines  Angestellten  ergibt,  denselben  in  Anklagezustand  versetzt. 


c.    Concession  zur  Errichtung  von  Privatasylen. 

Sie  wird  von  der  Staatsbehörde  ertheilt  und  kann  nur  patentirten  Aerzten 
oder  Privaten,  die  sich  zur  Anstellung  eines  solchen  verpflichtet  haben,  ertheilt 
werden.  Logischerweise  sollten  sie  nur  Solchen  gegeben  werden,  die  sich  über 
Fachkenntnisse  in  der  Irrenheilkunde  ausweisen,  wie  dies  eine  Ministerialver- 
fügung  vom  14.  Mai  1874  für  Oesterreich  ausdrücklich  bestimmt.  Die  gleiche 
Verordnung  verlangt  die  Vorlage  des  Programms  oder  Statuts  der  zu  errichten- 
den Anstalt,  des  hj^gienisch  und  psychiatrisch  befriedigenden  Plans  des  Gebäudes, 
des  Belegraums,  des  ärztlichen  und  Pflegepersonals  und  der  Hausordnung.  Ver- 
änderungen in  Leitung,  baulichen  Anlagen,  Hausordnung  müssen  zur  Genehmigung 
angezeigt  werden.  Der  ärztliche  Leiter  ist  für  alle  Vorgänge  in  der  Anstalt  ver- 
antwortlich, muss  in  der  Anstalt  wohnen  und  einen  Jahresbericht  liefern.  Zur 
Aufnahme  ist  ein  ärztliches,  nicht  über  14  Tage  altes  Zeugniss  nöthig.  Die  Auf- 
nahme muss  binnen  24  Stunden  dem  zuständigen  Gericht  angezeigt  werden,  so- 
fern nicht  der  Kranke  noch  unter  väterlicher  Gewalt  steht.  Jede  Anstalt  muss 
ein  Hauptprotokoll  führen,  aus  welchem  alle  Beziehungen  des  Kranken  zur  An- 
stalt und  den  Gerichten  ersichtlich  sind.  Mindestens  dreimonatlich  sind  die  An- 
stalten von  den  Sanitätsorganen  der  Staatsverwaltung  zu  inspiciren. 

Aehnliche  Bestimmungen  enthält  das  französische  Irrengesetz  in  Betreff 
der  Qualification  der  Leiter  und  der  Einrichtung  solcher  Asyle.  Es  belastet 
ausserdem  den  Unternehmer  mit  einer  Kaution. 


d.   Zwangsweise  Verbringung  in  Irrenanstalten 
(G-emeingefährlichkeit). 

Die  Gründe  um  deren  willen  Geisteskranke  in  Irrenanstalten  Aufnahme 
finden,  sind  die  Heilbarkeit,  Hilflosigkeit,  Gefährlichkeit  gegen  die  eigene  Person 
oder  die  Gesellschaft  oder  auch  die  Anstössigkeit  des  Kranken  für  die  öffentliche 
Sittlichkeit. 

Die  Aufnahme  aus  Gründen  der  Heilbarkeit  ist  Sache  der  Familie,  aus 
Gründen  der  Hilflosigkeit  Sache  der  Gemeinde. 

Ein  Geisteskranker  kann  in  -der  Regel  nur  mit  Zustimmung  seiner  Ver- 
wandten oder  seines  Vormixnds  in  eine  Irrenanstalt  aufgenommen  werden,  in- 
dessen gibt  es  Fälle,  wo  auch  gegen  den  Willen  dieser  Personen  die  Aufnahme 
eines  Irren  verfügt  werden  kann.  Die  zwangsweise  Versorgung  in  einem  Irren- 
haus durch  die  Administrativ-  oder  Polizeibehörde  ist  zulässig,  wenn  Diejenigen, 


Verbringung  in  Irrenanstalten  (Gemeingefährlichkeit").  397 

welchen  die  Pflicht  der  Fürsorge  und  Pflege  obliegt,  diese  gründlich  vernach- 
lässigen oder  wenn  der  Kranke  gemeingefährlich  ist.  Mit  diesem  Begriff  der 
Gemeingefährlichkeit  wird  viel  Missbraucli  getrieben.  Familien  und  Gemeinde- 
behörden suchen  sich  unter  dieser  Devise  vielfach  lästiger  Kranker  zu  entledigen 
—  Pelman  op.  cit.  erzählt  von  einem  Idioten,  den  man  polizeilich  in  die  Anstalt 
brachte,  weil  man  fürchtete,  die  Schwangeren  des  Dorfes  könnten  sich  an  ihm 
versehen  —  andrerseits  betrachtet  man  gewisse  äusserlich  ruhige  Kranke  (Ver- 
folgungswahnsinn) als  unschädlicji  und  gefährdet  damit  die  öffentliche  Sicherheit. 

Die  Gemeingefährlichkeit '  eines  Irren  zu  beurtheilen  ist  eine  schwierige 
Sache.  Jene  ist  vielfach  nur  eine  relative  und  von  den  Umständen  abhängige. 
Theoretisch  betrachtet  muss  jeder  Irre  als  gemeingefährlich  bezeichnet  werden. 
Der  friedlichste  Blödsinnige  und  Idiot  können,  wenn  gereizt,  in  gefährliche 
Affekte  gerathen  oder  auch,  wenn  nicht  genügend  überwacht,  aus  ünkenntniss 
der  Gefahr  (z.  B.  Feuer)  sich  und  Andern  sehr  gefährlich  werden.  Die  Melan- 
cholischen werden  gefährlich  durch  ihre  schmerzlichen  Gefühle,  Taed.  vitae,  Angst- 
zufälle, Zwangsvorstellungen,  die  Maniakalischen  durch  ihren  Bewegungs-  und  Zei*- 
störungsdrang,  die  Wahnsinnigen  und  Verrückten  durch  ihre  Wahnideen  und 
Sinnestäuschungen,  die  Epileptischen  durch  ihre  Delirien,  Angst-  und  Tobanfälle. 
Am  gefährlichsten  sind  diese  und  die  Alkoholiker. 

Damit  im  concreten  Fall  die  Sicherheitsbehörde  ein  Individuum  in  eine 
Irrenanstalt  polizeilich  einweisen  kann,  muss  gefordert  werden,  entweder  dass 
eine  gefährliche  Handlung  eines  notorisch  Geisteskranken  vorliege  oder  das  Gut- 
achten eines  Arztes,  der  die  Gefährlichkeit  aus  wahrgenommenen  Symptomen 
oder  dem  Gesammtkrankheitsbild  erweist  und  wobei  Familie  oder  Gemeinde  gleich- 
zeitig nicht  im  Stande  sind  genügende  Garantie  für  die  Ueberwachung  des  Kran- 
ken zu  bieten. 

In  die  erstere  Kategorie  gehören  auch  Individuen,  die  wegen  Geisteskrank- 
heit zur  Zeit  eines  begangenen  Verbrechens  freigesprochen  sind  und  wegen  durch 
Fortdauer  der  Geistesstörung  notorischer  Gemeingefährlichkeit  von  der  Justiz 
der  Sicherheitsbehörde  übergeben  werden.  Der  Modus  des  Vorgehens  in  solchen 
Fällen  sollte  gesetzlich  geregelt  und  die  Fortdauer  der  Ursachen  der  Gemein- 
gefährlichkeit vor  der  Abgabe  in  ein  Irrenhaus  ärztlich  constatirt  werden. 

Die  Entlassung  eines  wegen  Gefährlichkeit  der  Irrenanstalt  übergebenen 
Individuums  ist  eine  verantwortliche  Aufgabe  für  den  Arzt  der  Anstalt.  Sie 
sollte  nur  im  Einverständniss  mit  der  Sicherheitsbehörde  stattfinden.  Häufig  ist 
sie  unbedenklich,  obwohl  der  Kranke  nicht  genesen  ist,  indem  sein  Zustand  sich 
so  geändert  hat  (Uebergang  in  Blödsinn),  dass  eine  Gefahr  nicht  zu  besorgen  ist. 
Die  englische  Sitte,  einen  criminellen  Kranken  „during  her  majesty's  pleasure" 
zu  interniren,  ist  eine  Barbarei.  Ist  es  doch  vorgekommen,  dass  unglückliche 
Mütter,  die  in  puerperalem  Irrsinn  ihr  Kind  tödteten,  noch  nach  dem  Klimak- 
terium als  Matronen  im  Irrenhause  sassen! 


')  Literatur  s.  Falret,  Ann.  med.  psychol.  1869,  Januar,  März.  Lunier, 
ebenda,  Sept.  Gallard,  Union  med.  1875,  Nr.  125.  Brierre,  Annal.  d'hyg.  1869,  Oct. 
Demange,  ebenda  1877,  Nov.,  1878,  Mai.  Gallard,  ebenda  1876,  Sept.  Blanche, 
des  homicides,  commis  par  les  alienes.  Paris  1878.  Obersteiner,  Mitthl.  d.  Vereins 
der  Aerzte  in  N.-Oesterreich  1879,  Nr,  20. 


398  Anhang:  Staatliche  Fürsorge  und  Beaufsichtigung 

Die  Zulässigkeit  der  polizeilichen  Internirung  Irrer  besteht  in  allen  Län- 
dern. Der  Art.  180  des  französischen  Irrengesetzes  gibt  diese  Befugniss  der  zu- 
ständigen Polizeibehörde  in  allen  Fällen,  wo  der  Kranke  die  öffentliche  Ordnung 
oder  Sicherheit  gefährdet,  nach  Aufnahme  eines  Protokolls,  in  welchem  die  Mo- 
tive der  nothwendigen  Internirung  enthalten  sind.  In  einem  dringenden  Fall, 
der  aber  durch  einen  Arzt  oder  durch  eine  öffentliche  Thatsache  constatirt  sein 
muss ,  kann  die  Polizei  sofort  den  Irren  seiner  Freiheit  berauben ,  muss  aber 
binnen  24  Stunden  dem  Präfekt  Anzeige  erstatten,  der  das  Weitere  verfügt.  Im 
ersten  Monat  jedes  Halbjahrs  hat  der  Anstaltsarzt  einen  Bericht  über  den  Kranken 
dem  Präfekt  zu  erstatten ,  der  über  weitere  Belassung  in  der  Anstalt  oder  Ent- 
lassung bestimmt.  Hält  der  Arzt  schon  in  der  Zwischenzeit  die  Entlassung  für 
statthaft,  so  hat  er  unverzüglich  den  Präfekt  zu  benachrichtigen,  der  dann  die 
Entscheidung  gibt. 

Die  Spitäler  und  Asjde  sind  verpflichtet,  solche  polizeilich  zugewiesene 
Kranke  provisorisch  aufzunehmen.  Befindet  sich  im  Ort  kein  solches,  so  hat  der 
Maire  für  vorläufige  Unterbringung  in  einem  Gast-  oder  Privathause  Sorge  zu 
tragen.  Nie  darf  ein  solcher  Kranker  in  einem  Gefängniss  vorläufig  internirt 
werden.  Auch  in  Deutschland  und  Oesterreich  hat  die  Sicherheitsbehörde  das 
Recht,  einen  notorisch  gefährlichen  Irren  sofort  der  Irrenanstalt  zuzuweisen  unter 
Einsendung  eines  Protokolls  und  ärztlichen  Zeugnisses,  welches  letztere  indessen 
auch  nachträglich  beigebracht  werden  kann.  Die  Entlassung  ist  dem  diskretio- 
nären Ermessen  des  Anstaltsarztes  anheimgestellt. 


e.    Die  staatliche  Fürsorge  und  Beaufsichtigung  der  ausserhalb 
der  Anstalt  befindlichen  Irren. 

Eine  solche  ist  nur  da  und  dort  und  zudem  unvollkommen  durch  Verord- 
nungen durchgeführt,  so  wichtig  sie  auch  wegen  der  Gefährlichkeit,  Heilbarkeit, 
Hilflosigkeit  und  des  rechtlichen  Schutzes  solcher  Kranken  wäre.  Am  schlimmsten 
ist  es  aber,  dass  so  manche  Verordnungen,  so  wohlthätig  sie  auch  wären,  nicht 
streng  durchgeführt  werden.  Besser  steht  es  in  dieser  Hinsicht  in  Frankreich ,  wo 
eigene  Generalinspektoren,  und  in  England,  wo  besondere  Commissionen  fcom- 
missioners  in  lunacy)  diesen  wichtigen  Theil  der  staatlichen  Aufsicht  über  nicht 
internirte  Irre  besorgen. 

In  Deutschland  und  Oesterreich  übernehmen  die  staatliche  Aufsicht  die 
Verwaltungs-  und  Sanitätsorgane  des  Bezirks.  Die  letzteren  haben  sich  durch 
gelegentliche  oder  eigens  unternommene  Visitationen  in  ihrem  Bezirk  von  dem 
Stand  der  Irrenfürsorge  zu  verlässigen,  und  etwaige  Ungehörigkeiten  der  Behörde 
anzuzeigen,  die  im  Fall  von  Gefährlichkeit  oder  Hilflosigkeit  die  zwangsweise 
Versetzung  in  die  Irrenanstalt  verfügen  kann.  Aus  blossen  Heilgründen  kann 
die  Aufnahme  eines  Irren  in  eine  Anstalt  nicht  zwangsweise  verfügt  werden, 
denn  die  Art  der  Fürsorge  für  erkrankte  Verwandte  steht  den  Angehörigen  privat- 
rechtlich zu. 

Um  eine  erfolgreiche  Aufsicht  über  nicht  internirte  Irre  durchführen  za 
können,  ist  es  erforderlich,  eine  Meldungspflicht  der  Angehörigen  an  die  Ver- 
•waltungsbehörde  im  Fall  einer  Erkrankung  einzuführen,  ferner  die  Evidenzhaltung 
über  die  Irren  des  Bezirks  (Irrenliste).     Ebenso  ist  es  nothwendig,   dass  im  Fall 


der  ausserhalb  der  Anstalt  befindlichen  Irren.  399 

der  Entlassung  eines  ungeheilten  Irren  aus  der  Anstalt  (Lokalversorgung)  die 
Anstaltsbehörde  der  Administrativbehörde  des  Betr.  diese  Entlassung  anzeige. 

Das  System  einer  provisorischen  Entlassung,  wie  es  in  manchen  Ländern 
besteht,  die  Einforderung  periodischer  Berichte  über  den  Entlassenen  von  den 
Gemeinde-  und  Sanitätsbehörden  schafft  eine  nützliche  Mitwirkung  in  der  Ueber- 
wachung  von  Seiten  der  Anstaltsdirektion,  der  diese  Berichte  zugehen.  Einen 
Fortschritt  in  der  öflFentl.  Irrenfürsorge  in  Oesterreich  bezeichnet  das  1870  ent- 
standene Organisationsgesetz  des  staatlichen  Sanitätsdienstes,  das  die  Gemeinden 
zur  Evidenzhaltung  der  in  Anstalten  nicht  untergebrachten  Irren  und  Cretins 
verpflichtet.  Diese  Verpflichtung  setzt  einen  Meldungszwang  der  eingetretenen 
Erkrankung  voraus ,  der  durch  eine  alte  Verordnung  auch  zu  Recht  besteht, 
aber  nicht  durchgeführt  ist.  Ein  vor  vielen  Decennien  erlassenes  Regierungs- 
circular  bestimmt,  dass  wenn  an  einem  Menschen  Symptome  einer  heftigen  Sinnes- 
verwirrung sich  äussern,  die  Umgebung  verpflichtet  ist,  der  Behörde  Anzeige  zu 
erstatten.  Einen  weiteren  Schutz,  wenigstens  für  die  aus  den  Anstalten  ent- 
lassenen Kranken,  enthält  die  statutarische  Bestimmung,  dass  der  Uebernehmer 
einen  Revers  für  die  sorgfältige  Pflege  und  Ueberwachung  des  Uebernommenen 
ausstellen  muss,  der  von  der  Gemeinde-  oder  der  Polizeibehörde  dahin  zu  bestä- 
tigen ist,  dass  der  Uebernehmer  im  Stand  ist,  den  übernommenen  Verpflichtungen 
nachzukommen.  Dass  sich  die  Kuratoren  um  ihre  Pfleglinge  wenig  kümmern,  ist 
eine  auch  anderwärts  gemachte  Erfahrung. 

Eine  positive  Verpflichtung  der  Gemeinden  und  ihrer  ärztlichen  Organe 
zur  Ueberwachung  der  in  ihrem  Bezirk  lebenden  Irren  enthält  die  österr.  Ministe- 
rialverordnung  vom  14.  Mai  1874.  Sie  fordert,  dass  diese  Oi'gane  darüber  wachen, 
damit  nicht  solche  Kranke  inhuman  behandelt,  unnöthig  eingeschränkt  werden 
und  ohne  Curator  bleiben.  Mit  der  Ueberwachung  der  Ausführung  dieser  Vor- 
schrift sind  die  politischen  Staats-  und  Polizeibehörden  und  ihre  Sanitätsorgane 
beauftragt. 

Vernachlässigungen  in  der  Pflege  der  Irren  von  Seiten  Derer,  welchen  eine 
solche  Pflege  obliegt,  können  Gegenstand  einer  polizeilichen  disciplinaren  Ahndung 
oder,  wenn  damit  ein  erheblicher  Nachtheil  für  die  Gesundheit  verbunden  war, 
crimineller  Verfolgung  werden. 

Sie  können  sich  auf  Verwahrlosung  in'  der  Pflege ,  ungerechtfertigten 
Zwang  und  Freiheitsberaubung.  Verlassen  in  hilflosem  Zustand,  Misshandlung  etc. 
beziehen. 

Staatlich  muss  an  dem  Grundsatz  festgehalten  werden,  dass  Zwangsmittel 
und  Freiheitsberaubung  bei  Irren  ausserhalb  der  Anstalten  ebenfalls  nur  unter 
Vorwissen  der  Behörde  zulässig  sind. 

Am  klarsten  spricht  diesen  Satz  das  belgische  Irreugesetz  aus ,  welches 
bestimmt,  dass  Niemand  weder  in  der  eigenen  noch  fremden  Familie  wegen 
Irreseins  internirt  werden  darf,  wofern  sein  Zustand  nicht  von  zwei  Aerzten,  von 
welchen  der  eine  von  der  Familie,  der  andere  vom  Cantonsfriedensrichter  auf- 
gestellt wird,  constatirt  wurde. 

Da  wo  solche  Bestimmungen  bestehen,  kann  das  Vorgehen  illegaler  Freiheits- 
beraiibung  eines  Geisteskranken  zur  Verfolgung  kommen. 

Ein  solcher  Fall  findet  sich  in  neue  Jalirbücher  f.  sächs.  Strafrecht  v.  Held, 
Siebdrat  und  Schwartze,  Bd.  IX.  H.  1. 

Er  betrifft  die  nächsten  Anverwandten  eines  geistesschwachen  alten  Mannes. 


400  Anhang:  Verwahrlosung  Geisteskranker. 

die  denselben,  weil  er  im  blossen  Hemd  im  Dorf  herumgelaufen  war ,  jahrelang 
in  eine  Stube  eingeschlossen  gehalten ,  im  Uebrigen  aber  gut  verpflegt  hatten. 
Da  sie  den  übrigens  ortskundigen  Fall  von  Geistesstörung  der  Behörde  anzu- 
zeigen unterlassen  hatten,  waren  sie  vom  Gericht  erster  Instanz  zu  langer  Freiheits- 
strafe wegen  widerrechtlicher  Freiheitsberaubung  verurtheilt  worden,  wovon  sie 
jedoch  das  Obergericht  freisprach. 

Auch  über  gröbliche  Verwahrlosung  in  der  Pflege  Geisteskranker  hat 
zuweilen  der  Richter  zu  entscheiden.  Es  gibt  Länder,  die  sich  einer  weit  vor- 
geschrittenen Kultur  und  Humanität  erfreuen  und  der  Person  ihrer  unglücklichen 
Irren  nicht  bloss  einen  kräftigen  Rechtsschutz  angedeihen  lassen ,  sondern  auch 
ernst  da  strafend  eingreifen,  wo  die  Gebote  der  Humanität  und  des  Rechts  verletzt 
wurden.  Ein  solcher  Ernst  in  dem  Schutz  der  unglücklichsten  Angehörigen  des 
Staats  berührt  um  so  angenehmer,  wenn  damit  die  Lage  von  unglücklichen  Irren 
verglichen  wird,  deren  Heimath  von  der  Kultur  nur  gestreifte  Alpenländer  oder 
Länder  sind,  wo  religiöse  Genossenschaften  noch  eine  eximirte  Stellung  behaupten 
und  unglückliche  Angehörige,  die  in  Geistesnacht  verfallen,  im  Stall  an  der  Kette 
oder  in  finstrer  Zelle  verborgen  gehalten  werden. 

Es  gibt  auf  dem  Gebiet  der  öffentlichen  Fürsorge  für  Irre  legislatorisch 
und  praktisch  noch  gar  viel  zu  thun. 

Möchte  diese  Ueberzeugung  in  machthabenden  Kreisen  zum  Durchbruch 
gelangen ! 

Gericht!.  Fälle  von  Verwahrlosung  Irrer:  Annal.  med.  psychol.  1874,  Mai. 
Blumenstock,  Wien.  med.  Wochenschr.  1870,  Nr.  21—24  (Fall  Barbara  Ubryk). 
Oesterlen,  Viertel) ahrsschr.  f.  gerichtl.  Med.  N.  F.  XXIII,  Oct.  Archivio  italian. 
1876,  Juli— Sept. 


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